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German Pages 164 Year 2006
Werner Wiater (Hg.)
Didaktik der Mehrsprachigkeit Theoriegrundlagen und Praxismodelle
Schriften der Philosophischen Fakultäten der Universität Augsburg Herausgegeben von Gunther Gottlieb, Henning Krauß und Werner Wiater Redaktion: Volker Dotterweich
Nr. 73
Philosophisch-erziehungswissenschaftliche Reihe
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Philosophisch-Sozialwissenschaftliche Fakultät Philologisch-Historische Fakultät
Werner Wiater (Hg.)
Didaktik der Mehrsprachigkeit Theoriegrundlagen und Praxismodelle
VERLAG ERNST VÖGEL • 81827 MÜNCHEN 2006
Gedruckt mit Unterstützung der Gesellschaft der Freunde der Universität Augsburg
Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.
ISBN 3-89650-227-1 ISBN 978-3-89650-227-8 ISSN 0933-7121
© 2006 by Ernst Vögel, München Alle Rechte vorbehalten, insbesondere die des Nachdrucks und der Übersetzung. Ohne schriftliche Genehmigung des Verlages ist es auch nicht gestattet, dieses urheberrechtlich geschützte Werk oder Teile daraus in einem photomechanischen oder sonstigen Reproduktionsverfahren zu vervielfältigen und zu verbreiten. Herstellung: Druck +Verlag Ernst Vögel GmbH, 93491 Stamsried
Inhaltsverzeichnis
In ha ltsverzeich nis Vorwort ....................................................................................................................................................................
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Zur Einführung: Gedanken zur Sprachenvielfalt ..............................................................
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I. Theoretische Grundlagen ................................................................................................................
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Werner Wiater Allgemeine Didaktik - Fachdidaktik - Sprachendidaktik ......................................
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Gerda Videsott Die Mehrsprachigkeit- Versuch einer begrifflichen Klärung...............................
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Werner Wiater Didaktik der Mehrsprachigkeit ......................................................................................................
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Daniela Zappatore Mehrere Sprachen - ein Gehirn ...................................................................................................
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II. Modelle für die Praxis in Schule und Unterricht ......................................................
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Werner Wiater Das Integrationsmodell ........................................................................................................................ 95 Doris Manschke Das Konzept der Nachbarsprachen in Europa ................................................................. l 05 Doris Manschke Das Immersionsmodell ......................................................................................................................... 117 Gerda Videsott Das Paritätische Mehrsprachigkeitsmodell .......................................................................... 133 Giordano Formizzi Das Modell der einsprachigen Weltkommunikation .................................................... 147 Schluss: Das Europäische Sprachenportfolio ...................................................................... 155
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Vorwort
Vorwort
VJ~der Mensch ist mehrsprachig. Neben der Hoch- und Amtssprache eines Landes
gibt es seit jeher eine größere Zahl von Regionalsprachen, Lokalsprachen, Dialekten, Milieusprachen und individuellen oder gruppenbezogenen sprachlichen Besonderheiten, die von den Bewohnern eines Landes gesprochen werden. Deren Vielzahl wird in Europa ab Mitte der 1960er Jahre durch andauernde Migrationsbewegungen mehr und mehr vergrößert, was Reichtum, Herausforderung, Chance und Problem zugleich ist. Eine der gesellschaftlichen Institutionen, die davon unmittelbar betroffen sind, ist die Schule. Für sie und in ihr müssen deshalb vorrangig Lösungen angesichts dieser gesellschaftlichen und individuellen Sprachenvielfalt gesucht und gefunden werden. Infolgedessen werden in nächster Zukunft Fragen der Mehrsprachigkeit die Bildungsund Schulpolitik aller europäischen Länder (und darüber hinaus) zentral beschäftigen. Drei Entwicklungen sind dafür maßgeblich: Erstens wird die Internationalisierung der Lebensverhältnisse aufgrund von Globalisierung und Informationstechnik zu immer mehr Begegnungen mit Menschen unterschiedlicher Kulturen führen, die sich zeitweilig in einem anderen Land niederlassen, was Konsequenzen für die nationalen Bildungssysteme und generell für die Sprach- und Sprechkompetenz der Bürger im Nationalstaat hat. Zweitens wird die Entwicklung der Weltbevölkerung zu noch größeren Migrationsbewegungen führen, als sie heute schon bestehen; bereits im letzten Jahrzehnt haben 20 Millionen Menschen in den Wohlstandsgesellschaften der westlichen Hemisphäre Arbeit, Schutz und ein menschenwürdiges Dasein gesucht. Drittens befindet sich Europa, speziell die Europäische Union, in einem großen Veränderungsprozess, für den die kontinuierliche Vergrößerung der EU ein sinnfälliger Beweis ist. Die Europäische Union hat seit ihrer letzten Erweiterung im Mai 2004 bereits 25 Mitgliedsstaaten und 20 gleichberechtigte Amtssprachen. Bedenkt man, dass weitere Beitrittsländer in finalen Gesprächen sind, andere Aufnahmegespräche mit der EU gerade aufgenommen werden, erscheint dieses Modell von EU-Amtssprachen (wegen der Übersetzungsnotwendigkeiten, die nicht mehr finanzierbar werden) kaum zukunftsfähig. Die Sprachen in der EU, deren regionale Verteilung - historisch bedingt - nicht mit den Grenzen der Einzelstaaten zusammenfällt (vgl. Südtirol!Italien, Elsaß/Frankreich, Belgien usw.) und die deshalb nicht einfach Nationalsprachen sind, zählen mit den anderen dort gesprochenen 'etablierten Regionalsprachen schon jetzt bis zu 60 Sprachen - allein in Europa. Dabei sind die Immigrantensprachen und Dialekte noch gar nicht eingerechnet. Angesichts dieser Entwicklungen ist es schwer vorstellbar, dass die traditionell an der einzelnen nationalen Hoch- bzw. Amtssprache ausgewählter Länder bzw. Nati-
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Vorwort
onen orientierte Fremdsprachendidaktik die sich daraus ergebenden Sprach- und Sprechsituationen wird bewältigen können. Ein weiteres, schulinternes Problem kommt hinzu. Die Verkürzung der Schulzeit beispielsweise am Gymnasium um ein Schuljahr bringt große Diskussionen um den Stellenwert und die Zahl der Unterrichtsstunden pro Schuljahr und Schulfach mit sich. Was die Sprachfächer in Deutschland (herkömmlich: Latein, Englisch, Französisch) anbetrifft, so treten diese dabei in eine doppelte Konkurrenz: zum einen mit neuen Fremdsprachen, die von den Schulen angeboten und von den Schülern nachgefragt werden (z. B. Italienisch, Spanisch, Chinesisch, Schwedisch, Portugiesisch), zum anderen mit neu etablierten Unterrichtsfächern (z. B. Informatik, Technik, Wirtschaft, Recht). Ferner ist der Bedarf der Schule an Zeit für die individuelle Förderung von Schülern/Schülerinnen mit Leistungs- und Verhaltensbesonderheiten erheblich gestiegen, seien diese nun Leistungsdefizite oder Leistungsexzellenzen. Zusätzlich stellen sich wichtige didaktische Fragen an den Fremdsprachenunterricht Wie hält man es mit der Vorstellung eines Bildungskanons, bei dem Schülerinnen und Schüler im Bereich der Muttersprache und der Fremdsprachen bildende Erfahrungen machen können? Wie reagiert man auf die Wünsche der Schüler/ Schülerinnen bei der Wahl von Fremdsprachen (z. B. Spanisch statt Französisch)? Wie viele Schuljahre soll Englisch unterrichtet werden, das neues Unterrichtsfach der Grundschule ist und bei dem in der Mittelstufe der Kompetenzzuwachs der Schüler stagniert? Müssen alle Fremdsprachen eigentlich das gleiche Kompetenzniveau erreichen? Wie löst man das Problem, dass in den Fremdsprachen inhaltliche Überschneidungen und Dopplungen/Verdreifachungen entstehen (z. B. in der Landesgeschichte, bei literarischen Strömungen, literaturgeschichtlichen Epochen oder sprach- und kommunikationstheoretischen Sachverhalten)? Müssten nicht beispielsweise im Geschichts- oder Geografieunterricht und in Sozial- und Wirtschaftskunde Themen wie Amerika und England sachgerecht mit englischsprachigen Texten, die Französische Revolution wiederum mit französischsprachigen, also bilingual unterrichtet werden? Und wie steht es mit dem Fächerangebot in Tschechisch, Polnisch, Dänisch oder Niederländisch, also mit den grenznahen Nachbarsprachen? Was hat es auf sich- um ein Weiteres anzusprechen- mit Türkisch, Russisch, Rumänisch, Hindi und anderen Muttersprachen der Schülerinnen und Schüler mit Migrationshintergrund? Gehören sie nicht als Ersatz für eine andere Fremdsprache in den Unterricht der Schule? Wie reagieren Muttersprach- und Fremdsprachenunterricht auf die neuen interkulturellen Herausforderungen? Welche Leitziele sollte Sprachenunterricht heute haben? usw. Fragen dieser Art verlangen nach einer Neupositionierung des Sprachunterrichts an der Schule. Es geht zentral um die Didaktik der Muttersprache und der Fremdsprachen. Dabei deutet sich an, dass die bisherige Praxis, die Fremdsprachen in Einzelfächern isoliert zu unterrichten, durch neue Konzepte erweitert, wenn nicht ersetzt werden muss. Synergieeffekte zwischen den Sprachen und eine größere Tauglichkeit
Vorwort
des Schulunterrichts für die Kommunikation in einem multikulturellen Umfeld legen es nahe, eine Didaktik der Mehrsprachigkeit zu diskutieren. Der vorliegende Band der Augsburger Schriftenreihe will einen Beitrag zu der Diskussion um die Bedingungen und Möglichkeiten einer Didaktik der Mehrsprachigkeit leisten. Dazu stellt er im ersten Teil theoretische Grundlagen eines solchen Konzepts dar, um im zweiten Teil dann Praxismodelle für die Schule zu präsentieren, die seit einiger Zeit im wissenschaftlichen Diskurs und in der schulischen Erprobung sind. Es wird gewissermaßen eine Zwischenbilanz gezogen, die eine vertiefte Auseinandersetzung mit dem Thema unterstützen könnte. Augsburg, März 2006
Werner Wiater
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Zur Einführung: Gedanken zur Sprachenvielfalt
Zur Einführung: Gedanken zur Sprachenvielfalt Der Turmbau zu Babel "Alle Menschen hatten die gleiche Sprache und gebrauchten die gleichen Worte. Als sie von Osten aufbrachen, fanden sie eine Ebene im Land Schinar und siedelten sich dort an. Sie sagten zueinander: Auf, formen wir Lehmziegel und brennen wir sie zu Backsteinen. So dienten ihnen gebrannte Ziegel als Steine und Erdpech als Mörtel. Dann sagten sie: Auf, bauen wir uns eine Stadt und einen Turm mit einer Spitze bis zum Himmel, und machen wir uns damit einen Namen, dann werden wir uns nicht über die ganze Erde zerstreuen. Da stieg der Herr herab, um sich Stadt und Turm anzusehen, die die Menschenkinder bauten. Er sprach: Seht nur, ein Volk sind sie, und eine Sprache haben sie alle. Und das ist erst der Anfang ihres Tuns. Jetzt wird ihnen nichts mehr unerreichbar sein, was sie sich auch vornehmen. Auf, steigen wir hinab, und verwirren wir dort ihre Sprache, so dass keiner mehr die Sprache des anderen versteht. Der Herr zerstreute sie von dort aus über die ganze Erde, und sie hörten auf, an der Stadt zu bauen. Darum nannte man die Stadt Babel (Wirrsal), denn dort hat der Herr die Sprache aller Welt verwirrt, und von dort aus hat er die Menschen über die ganze Erde zerstreut." (Gen. ll, 1-9) "1. Die Sprachen werden nicht gelernt als ein Teil der gelehrten Bildung oder der Weisheit, sondern als Werkzeug, solche Bildung zu gewinnen und sie anderen mitzuteilen. Zu lernen sind deshalb nicht alle Sprachen, was unmöglich, auch nicht viele, was unnütz ist, da es die für das Studium der Dinge so nötige Zeit rauben würde, sondern bloß die notwendigen. Notwendig sind aber für das tägliche Leben die Muttersprache, für den Verkehr mit den Nachbarvölkern deren Sprachen (für die Polen wäre es hier also das Deutsche, anderswo das Ungarische, Rumänische oder Türkische); für die Lektüre gelehrter Bücher, wie dies unter Gebildeten üblich, das Lateinische, für Philosophen und Mediziner Griechisch und Arabisch, für Theologen Griechisch und Hebräisch. 2. Diese Sprachen sind nicht alle in ihrem ganzen Umfang bis zur Vollkommenheit zu lernen, sondern nur so weit, als die Notwendigkeit es erfordert. Man braucht Griechisch und Hebräisch nicht so fließend zu sprechen wie die Muttersprache, weil es keine Menschen gibt, mit denen man sich darin unterhalten könnte. Es reicht, wenn man sie so weit lernt, ,daß man Bücher lesen und verstehen kann. 3. Das Studium der Sprachen muß parallel zu dem der Sachen fortschreiten, besonders in der Jugend, damit wir sachlich ebensoviel verstehen wie sprachlich ausdrücken lernen. Wir bilden Menschen und nicht Papageien (. ..)." (J. A. Comenius: Große Didaktik 1657)
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Zur Einführung: Gedanken zur Sprachenvielfalt
"4. So wie eine einzelne Sprache das Gepräge der Eigenthümlichkeit der Nation
an sich trägt; so ist es höchst wahrscheinlich, daß sich in dem Inbegriff aller Sprachen die Sprachfähigkeit und insofern derselbe davon abhängt, der Geist des Menschengeschlechts ausspricht.
Denn die Sprache ist ein selbständiges, den Menschen eben so wohl leitendes, als durch ihn erzeugtes Wesen; und der Irrthum ist längst verschwunden, daß sie ein Inbegriff von Zeichen von, außer ihr, für sich bestehenden Dingen, oder auch nur Begriffen sey. Nichts berechtigt uns anzunehmen, daß die Mehrheit der Sprachen nur die Absonderung der Nationen, als eine naturnothwendige Folge, begleite, und daß derselben nicht eine viel tiefere Thätigkeit des menschlichen Geistes zum Grunde liege. Wir wissen vielmehr, daß jede einzelne Wirksamkeit desselben eine gewisse Einseitigkeit an sich trägt, die aber durch andre, zu ihr passende vervollständigt wird; und wir sehen, daß sich mehrere, genau erforschte Sprachen in ihren Vorzügen und Mängeln gegenseitig ergänzen. Vermuthlich ist dies daher bei allen, wenn gleich viele vor ihrer völligen Ausbildung untergehen, der Fall; und vermuthlich ist der eigentliche Grund der Vielheit der Sprachen das innere Bedürfnis des menschlichen Geistes, eine Mannigfaltigkeit intellectueller Formen hervorzubringen, welche ihre Schranke auf uns gleieh unbekannter Weise, als die Mannigfaltigkeit der belebten Naturbildungen findet. Will man diese Aehnlichkeiten weiter verfolgen; so läßt sich vielleicht auch behaupten, daß eigentlich neue Sprachen nicht mehr entstehen; allein Spielarten viel mehr als in der, überhaupt weit fester begränzten physischen Natur. 5. Jede Sprache setzt dem Geiste derjenigen, welche sie sprechen, gewisse Gränzen, schließt, insofern sie eine gewisse Richtung giebt, andre aus. Die Erforschung aller Sprachen kann daher darauf führen, zu sehen, welches der weiteste Aufflug ist, den eine gestattet, und auf welche Weise die Gränzen des menschlichen Geistes von dieser Seite gleichsam historisch zu bestimmen sind. 6. Diese Hauptaufgabe, so weit es geschehen kann, zu lösen, die Sprachfähigkeit des Menschengeschlechts auszumessen, muß das eigentliche Geschäft einer Einleitung in das gesammte Sprachstudium seyn." (W. v. Humboldt: Einleitung in das gesammte Sprachstudium 1810/11) "Die Grenzen meiner Sprache bedeuten die Grenzen meiner Welt." (L. Wittgenstein: Tractatus logico-philosophicus 1921/1963) "Wir müssen die vielen Sprachen erhalten, um die vielen Kulturen erhalten zu können. Wir müssen die vielen Kulturen erhalten, um den inneren Frieden in Europa zu erhalten." (KSZE-Schlussakte, Helsinki 1975)
Zur Einführung: Gedanken zur Sprachenvielfalt
"Allgemeines Ziel Nr. 4: Jeder sollte drei Gemeinschaftssprachen beherrschen Das Beherrschen mehrerer Gemeinschaftssprachen ist zu einer unabdingbaren Voraussetzung dafür geworden, daß die Bürger der Union die beruflichen und persönlichen Möglichkeiten nutzen können, die sich ihnen mit der Vollendung des Binnenmarktes ohne Grenzen bieten. Diese Sprachkenntnisse müssen einhergehen mit der Fähigkeit zur Anpassung an von unterschiedlichen Kulturen geprägte Arbeits- und Lebensverhältnisse. Die Sprache ist außerdem eine wichtige Brücke, über die man die anderen kennenlernt Ihre Beherrschung trägt folglich zur Stärkung des Gefühls der Zugehörigkeit zu Europa mit seiner reichen kulturellen Vielfalt sowie zur Verständigung der europäischen Bürger bei. Das Erlernen von Sprachen hat eine andere Tragweite. Die Erfahrung zeigt, daß ein möglichst frühzeitiger Beginn ein nicht zu vernachlässigender Faktor für den Erfolg in der Schule ist. Der Kontakt zu einer anderen Sprache ist mit der Beherrschung der Muttersprache nicht nur vereinbar, sondern fördert diese sogar noch. Er bringt die geistige Entwicklung und Regsamkeit zur vollen Entfaltung. Natürlich erweitert er auch den kulturellen Horizont. Die Mehrsprachigkeit ist ein wesentliches Element sowohl der europäischen Identität und Zugehörigkeit als auch der kognitiven Gesellschaft. (. ..) Will man nun die tatsächliche Beherrschung von drei Gemeinschaftssprachen erreichen, wäre es wünschenswert, bereits im Kindergarten mit dem Erlernen einer Fremdsprache zu beginnen. Es erscheint unabdingbar, daß dieser Unterricht dann in der Primarstufe systematisch erfolgt und die zweite Fremdsprache in der Sekundarstufe angegangen wird. Es würde sich sogar anbieten, daß - wie dies in den Europaschulen der Fall ist - die zuerst erlernte Fremdsprache in der Sekundarstufe als Unterrichtssprache in verschiedenen Fächern benutzt würde. Nach Durchlaufen der Erstausbildung muß dann jeder zwei Fremdsprachen beherrschen." (Europäische Kommission: Weißbuch zur allgemeinen und beruflichen Bildung 1996) "Sprache ist das wichtigste Medium der zwischenmenschlichen Kommunikation und ein zentrales Element der Bildung. Sie vermag unterschiedliche Interessen auszugleichen und Gewalt zu vermeiden. Für Europa heißt das: Es ist wichtig, die Vielfalt der Sprachen als kulturellen Reichtum Europas anzuerkennen und die Sprachen der Nachbarn zu verstehen, um so gegenseitiges Verständnis und Verständigung zu ermöglichen. Voraussetzung ist die Offenheit und persönliche Bereitschaft des Einzelnen, eigenverantwortlich zu diesem Ziel beizutragen. In diesem Sinne ist Sprachenpolitik auch Friedenspolitik. Im europäischen Kontext werden neben der Muttersprache Kenntnisse in zwei weiteren modernen Fremdsprachen als Mindestqualifikation für jeden zukünftigen Europabürger gefordert. Welche Sprachen und wie viele, mit welchen Inhalten und bis zu welchem Niveau gelernt werden sollen, hängt von den individuellen Möglichkeiten und den
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Zur Einführung: Gedanken zur Sprachenvielfalt
konkreten Anwendungssituationen ab, aber auch von den Rahmenbedingungen, die für die Bürgerinnen und Bürger geschaffen werden (. ..).Vorrangiges Ziel gemeinsamer Anstrengungen von Bund, Ländern, Sozialpartnern, Bildungsträgern ist die Förderung der Mehrsprachigkeit. Für Deutschland als Land mit Grenzen zu neun anderen europäischen Staaten sollen die Sprachen der Nachbarn Teil dieser Mehrsprachigkeit sein. Daneben soll die Förderung der Migrantensprachen sowie der Minderheitensprachen in Deutschland wie auch die Förderung weiterer außereuropäischer Weltsprachen stehen. Die Förderung von Mehrsprachigkeit schließt die Förderung der deutschen Sprache im In- und Ausland ein: Bund, Länder und freie Bildungsträger sollen sich gemeinsam der Förderung der deutschen Sprache widmen. Vermehrte Anstrengungen sind notwendig, um die deutsche Sprache auch in den europäischen Institutionen zu stärken." (Bundesministerium für Bildung und Forschung 2001)
"Sprachen sind Entdeckungsräume von Realität. Durch jede Sprache, auch wenn es sich nur um eine Regionalsprache handelt, kommen unterschiedliche Realitätsfacetten ans Licht. Eine moderne Sprach- und Bildungspolitik, die sich von monoglatten und muttersprachlichen Ideologien emanzipiert hat, wird darauf achten, dass der Schritt über jede Sprachgrenze zum lebendigen Erfahrungsraum von Andersheit und so zum Erlebnis gelingender Kommunikation wird. (. .. ) Ich behaupte: man kann die Last der Mehrsprachigkeit in eine Lust verwandeln. Man muss dafür nur einfallsreich genug sein. Nicht auf die Strafe von Babel wollen wir starren. Dafür die Lust befördern, babylonische Sprachverhältnisse als Voraussetzung für die Entdeckung der Welt begreifen." (Iso Camartin, Schriftsteller 1999)
I. Theoretische Grundlagen
Allgemeine Didaktik- Fachdidaktik-Sprachendidaktik
Werner Wiater
Allgemeine Didaktik - Fachdidaktik - Sprachendidaktik Das Wort "Didaktik" leitet sich vom Griechischen "didaskein" (didachae, didaskalos) her und bedeutet so viel wie lehren, unterrichten, unterweisen, belehrt werden, etwas lernen, sich etwas aneignen. Die Didaktik befasst sich theoretisch und praktisch mit dem Zusammenhang, der zwischen Akten des Lehrens und Akten des Lernens besteht. Sie erforscht die Voraussetzungen, Bedingungen, Methoden und Wirkungen von Lehr-Lern-Prozessen. Ihr zentraler Gegenstandsbereich ist der Unterricht. Die Didaktik wird deshalb häufig auch als Wissenschaft und Lehre vom Unterricht, als Theorie des Unten'ichts oder als Theorie des Lehrens und Lernens bezeichnet. Sie ist ein Kernbereich der Schulpädagogik und ordnet sich dementsprechend in Forschung und Lehre der Pädagogik/Erziehungswissenschaft ein.
1. Allgemeine Didaktik Die Allgemeine Didaktik im Unterschied zur Fachdidaktik oder zu Spezialdidaktiken - zielt generell auf eine Erfassung und Beeinflussung aller bei Lehr- und Lern-Prozessen wirksamen Faktoren ab. Sie fragt nach deren grundsätzlichen, wesenhaften, überall vorfindliehen Elementen, Aspekten, Problemen und Relationen und ist dabei nicht auf die Schule begrenzt. Überall dort, wo durch Instruieren, Anleiten oder Anregen bei Personen oder Personengruppen Lernen initiiert, unterstützt, gesichert und überprüft wird, liegt ein Praxisfeld der Allgemeinen Didaktik vor. Im Einzelnen untersucht sie, (l) wie Informationen aufbereitet werden müssen, damit sie von einer bestimmten
Zielgruppe verstanden und angeeignet werden können,
(2) wie die Erfahrungen, Äußerungen und Handlungen von Zielgruppen-Mitgliedern aufgegriffen werden können, damit es bei diesen zu einem Lernzuwachs kommt und (3) welche (fachlichen und persönlichen) Kompetenzen von Mitgliedern einer bestimmten Gruppe durch Anregungen von außen weiterentwickelt werden können und wie das gelingen kann. In diesem Sinne geht es der Allgemeinen Didaktik stets um die Vermittlung von Wissen und Können, um das lernwirksame Aufgreifen und Nutzen vorhandener Erfahrungen bestimmter Adressaten sowie um deren Unterstützung beim Erwerb von Kompetenzen. In der Schule stellt die Allgemeine Didaktik fächer-, stufen- und lernbereichsunabhängig die grundsätzliche Frage nach der Auswahl und der Vermittlung bildungsrelevanter Inhalte und Ziele an Schüler/Schülergruppen mit je spe-
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Werner Wiater
zifischer Lernausgangslage; dabei integriert sie die Ergebnisse aller Wissenschaften, die sich mit dem Lernen in gesellschaftlichen Institutionen befassen (Psychologie, Soziologie, Politologie, Neurobiologie usw.). 1.1 Unterrichtstheorien
Im Zentrum der allgemeindidaktischen Diskussion steht nach wie vor der Schulunterricht. Unterricht nennt man einen Lehr-Lern-Prozess, der als Kommunikation/ Interaktion zwischen Schülern (Kinder/Jugendliche) und Lehrern (professionelle Erwachsene) in der gesellschaftlichen Institution Schule organisiert wird und bei dem die Schüler durch geplante Lernprozesse der Enkulturation, der Personalisation, der Sozialisation und der Qualifikation gebildet, erzogen und ausgebildet werden. Sie sollen dabei Sachkompetenz, Methodenkompetenz, Sozialkompetenz, Selbstkompetenz und Moralkompetenz erwerben. Unterricht besteht aus wechselseitig aufeinander bezogenen verbalen und nonverbalen Lehrer-Schüler- und Schüler-Schüler-Aktivitäten, die als sachbezogene Subjekt-Objekt-Interaktionen und als soziale Subjekt-Subjekt-Interaktionen (vgl. u. a. das "didaktische Dreieck" aus Lehrer, Stoff, Schüler) ablaufen. Der unterrichtliche Interaktionsprozess ist ein dialektischer, insofern er eine dialogische Grundstruktur hat, insofern es beim Aneignen des Lernstoffs im Schüler zu einer Synthese aus Vorgegebenem und Persönlichkeitsstruktur kommt und insofern das Schülerselbst für den Lehrer prinzipiell unverfügbar ist. Unterricht lässt sich ferner aus zwei Perspektiven betrachten: (l) Von "außen", d. h. aus der Perspektive des Beobachters/Forschers betrachtet, ist er eine analysierbare und strukturierbare Faktorenkomplexion. (2) Von "innen", d. h. aus der Perspektive der Betroffenen betrachtet, ist Unterricht eine subjektive Erfahrungs- und Deutungssituation. Die unterrichtstheoretische Reflexion rekurriert (auch heute noch) auf das in den 1960er Jahren von der Berliner Forschergruppe P Heimann, G. Otto und W. Schulz erarbeitete phänomenologisch-deskriptive und wertneutrale Theoriemodell des Lehrens. Dieses Modell unterscheidet bei der Strukturanalyse, d. h. in einer ersten Reflexionsstufe, sechs grundlegende Strukturfaktoren jedweden Unterrichts: Die anthropogenen Bedingungen und die soziokulturellen Bedingungen des Unterrichts sowie die Ziele, die Inhalte, die Methoden und die Medien des Unterrichts, die in Interdependenz zueinander stehen und für die Variabilität und Transparenz bei der Planung gefordert werden. Die bei-den erstgenannten Strukturfaktoren werden "Bedingungsfelder" genannt, da sich in ihnen die personellen und die institutionellen Rahmenbedingungen beschreiben lassen. Diese wirken auf die anderen vier Strukturfaktoren, als "Entscheidungsfelder" bezeichnet, insofern ein, als die Entscheidungen des Lehrers über die anzustrebenden Ziele des Unterrichts, die auszuwählenden Inhalte, die anzuwendenden Methoden und die einzubeziehenden Medien davon abhängen. Nach erfolgreichem Lehr-Lern-Prozess kommt es zu Veränderungen, d. h. Lern- oder Kompetenzzuwächsen, auf Seiten des Lernenden wie auch der Gemeinschaft/Institution/Gesellschaft. Die Faktorenanalyse, die zweite Reflexionsstufe in diesem Didaktikmodelt überprüft, welche Werte und Normen in
Allgemeine Didaktik- Fachdidaktik-Sprachendidaktik
den Unterricht einfließen bzw. eingeflossen sind, sowie ob der Unterricht dem jeweils aktuellen Stand der Forschung zum Menschen, zum Lehren, zum Lernen und zur qualitätsreichen und erfolgversprechenden Gestaltung von Unterricht entspricht. Im Einzelnen wird unter den sechs Strukturfaktoren des Unterrichts Folgendes verstanden: l. Mit den anthropogenen Voraussetzungen des Unterrichts ist die individuelle Vor-
geprägtheit von Schüler und Lehrer beim Lehr-Lern-Prozess gemeint.
2. Die soziokulturellen Voraussetzungen betreffen die institutionellen, organisatorischen, sozialen, kulturellen und politischen Rahmenbedingungen des Unterrichts. 3. Die Ziele, also .die fachlichen, pädagogischen und didaktischen Intentionen des Unterrichts, lassen sich je nach Abstraktheit/Konkretheit der Ausformulierung in die Lernzielarten Richtziele, Grobziele/Teilziele und Feinziele einteilen, die wiederum - entsprechend den drei wichtigsten Fähigkeitsbereichen des Menschen - nach kognitiven, emotional-sozialen und psychomotorischen Lernzielen unterschieden werden und sich auf verschiedenen Anspruchsniveaus befinden können (vgl. die Lernzieltaxonomien wie beispielsweise die kognitiven Lernziele mit den Niveaustufen: Wissen, Verstehen, Anwendung, Analyse,· Synthese und Beurteilung/Bewertung). 4. Die Inhalte sind die materiale Grundlage des Unterrichts und müssen vom Lehrer in einer vorgängigen fachwissenschaftlich/fachlichen Sachanalyse auf ihre Gegenstandsstruktur, auf die Vielfalt ihrer Perspektiven und Aspekte sowie auf ihre implizite Fachmethodik untersucht werden. Der Inhalt bildet mit den Zielen zusammen die Thematik/das Thema der Unterrichtsstunde. 5. Methoden nennt man die Wege des Lehrens und Lernens, die vom Lehrer und von den Schülern beschritten werden, um die Ziele des Unterrichts zu erreichen und dessen Inhalte zu erarbeiten. Sie lassen sich unterteilen in: a) pädagogische und didaktische Grundkonzepte oder wissenschaftliche Vorgehensweisen wie die Montessori-Methode, die Leselern-Methode, die Induktive Methode usw.; b) Verfahren bei der Unterrichtsgestaltung, seien es solche des lehrergesteuerten Unterrichts (vgl. Sozialformen, Kommunikationsformen, Aktionsformen, Artikulationsformen), seien es solche des offenen Unterrichts (vgl. Freie Arbeit/Materialgeleitetes Lernen, Tages-/Wochenplan, Lernzirkel!Stationentraining/Werkstatt), seien es solche eines teiloffenen Unterrichts (wie Projekt, Entdeckendes Lernen, Recherche usw.) oder sei,en es kleinere, schüleraktivierende Maßnahmen und Eingriffe im Unterricht (vgl. Mind-Mapping, Blitzlicht, Kugellager, Methode 365 usw.); c) Arbeits- und Lerntechniken der Schüler zum selbstständigen und sachgerechten Erarbeiten von Lerninhalten und Erreichen von Lernzielen (von der
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Internetrecherche über das Textmarkieren, das Quellenanalysieren, das systematische Beobachten, das Experimentieren bis hin zum Beherrschen von Mnemotechniken, zur Einrichtung des Arbeitsplatzes und zum Zeitmanagemenü 6. Medien im Sinne von Unterrichtsmedien - sind Träger gespeicherter Information und können personaler (Mimik, Gestik, Proxemik, Sprache, Sprechen) oder nichtpersonaler Art sein, wobei man dann zwischen traditionellen Medien wie Wandtafel, Schulbuch, Kassette, usw. und neuen Medien wie Computer, Internet und DVD unterscheidet. Sie stehen im Dienst der Vermittlung von Informationen (Medien als Werkzeug), üben aber gleichzeitig beim Schüler auch eigenständige Wirkungen aus und sind Übungsfeld der Medienerziehung. Diese Theorie von Unterricht ist nicht nur durch ein Mitglied der Berliner Forschergruppe, nämlich W. Schulz, sondern auch durch andere Didaktiker (z. B. W Klafki) um eine wertende Aussage zum Ziel allen Schulunterrichts ergänzt worden. In einer demokratischen Gesellschaft und unter Beachtung der Gedanken der Aufklärung (Freiheit, Gleichheit, Solidarität, Selbstbestimmung, Mitbestimmung usw.) muss diesen Didaktikern zufolge Unterricht auf eine demokratische Sozialerziehung sowie auf selbstständig, eigenverantwortlich, mitverantwortlich und kritisch/selbstkritisch handlungsfähige Individuen abzielen; aller Unterricht hat demnach der Förderung von Emanzipation und Mündigkeit bei den Lernenden zu dienen, und alle Unterrichtsinhalte, Unterrichtsziele, Unterrichtsmethoden und Unterrichtsmedien sind daraufhin zu befragen, inwieweit sie den Schüler/die Schülerin direkt oder indirekt zu Emanzipation/Mündigkeit befähigen helfen. Neben dem dargestellten gibt es noch weitere, heute diskutierte Theoriemodelle der Allgemeinen Didaktik, die von anderen wissenschaftstheoretischen Grundlagen ausgehen und das didaktische Feld anders akzentuieren. Es sind dies: a) die Bildungstheoretische Didaktik, die in den 1950er Jahren von dem Geisteswissenschaftler W. Klafki erarbeitet und hernach-mehrfach (1980, 1991) modifiziert - zur Kritisch-konstruktiven Didaktik weiterentwickelt wurde; das didaktische Handeln dient hier der Bildung des Heranwachsenden, die ihn durch die Auswahl geeigneter Lerninhalte (vgl. "Didaktische Analyse") zur Emanzipation (Selbstbestimmungs-, Mitbestimmungs- und Solidaritätsfähigkeit) führen soll, die ein Anrecht aller auf allseitige Persönlichkeitsentfaltung einschließt und die Auseinandersetzung jedes Schülers/jeder Schülerin mit den alle Menschen gleichermaßen betreffenden gesellschaftlichen Problemen/Weltproblemen ("epochaltypische Schlüsselprobleme") umfasst. b) das Hamburger Didaktikmodell von W. Schulz, eine Variante des oben dargestellten Berliner Didaktikmodells; dieses Theoriemodell betrachtet das Unterrichten des Lehrers und alle seine didaktischen Entscheidungen als gesellschaftlich und institutionell überformte Handlungen ("Didaktik als gesellschaftliches Handeln"), wodurch Lehrern und Schülern Handlungsmöglichkeiten eröffnet, aber auch verschlossen werden - vor allem durch die gesellschaftlichen Felder Arbeit, Herrschaft und Kultur.
Allgemeine Didaktik - Fachdidaktik - Sprachendidaktik
c) die Curriculare Didaktik, von S. B. Robinsohn 1967 initiiert, in den l980er Jah-
ren bedeutungslos geworden und durch die aktuelle Didaktik-Diskussion um Bildungsstandards, Kompetenzen und Kerncurricula nach TIMSS, PISA und IGLU wiederentdeckt; im Vordergrund des didaktischen Tuns steht hier der an präzise beschriebenen und genau überprüfbaren Lernzielen ausgerichtete Lernweg des Schülers zum Erreichen von lebensbedeutsamen Qualifikationen.
d) die Konstruktivistische Didaktik, auch Systemisch-konstruktivistische oder Subjektive Didaktik genannt, ein Theoriemodelt das seit Anfang/Mitte der l990er Jahre vertreten wird; ihm zufolge muss Didaktik als Verständigungs- und Vereinbarungsdidaktik konzipiert werden, da jeder Schüler wie ein autopoetisches und autoreflexives System in "relativer Autonomie" zu seiner Umgebung aktiv, eigenständig und individuell Bedeutungen in sich konstruiert, nicht aber von außen durch Belehrung direkt beeinflusst werden kann; die Folge davon ist, dass Lehren als Arrangieren von anregenden, multimedialen Lernumgebungen gesehen wird. Zusammenfassend lässt sich sagen: Die Allgemeine Didaktik befasst sich mit dem Zusammenhang, der zwischen Lehrprozessen und Lernprozessen besteht, egal wo diese stattfinden und welcher Art sie sind. Auf die Schule bezogen geht es um unterrichtliche Lehr-Lern-Prozesse, an denen Lehrer, Schüler und ein Gegenstand/ Stoff/eine "Sache" beteiligt sind, die unter bestimmten institutionellen Bedingungen organisiert werden und bei denen kulturelle Inhalte und die Werte/Normen der (demokratischen) Gesellschaft vermittelt bzw. angeeignet werden sollen. Als Wissenschaft ist die Allgemeine Didaktik eine der Phänomenologie, der Hermeneutik und der Empirie zugängliche Geistes- und Sozialwissenschaft, aus deren Forschungen eine Handlungsorientierung zur Bewältigung der schul- und unterrichtspraktischen Arbeit erwächst. GESELLSCHAFT SCHULE UNTERRICHT
Stoff
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Lehrer
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1.2 Unterrichtskonzeptionen
Die Unterrichtsgestaltung besteht aus Akten des Lehrens und Akten des Lernens. Soll der Unterricht mit Aussicht auf Erfolg durchgeführt werden, kann er nicht beliebig gestaltet werden, sondern bedarf theoretisch reflektierter Inszenierungsmuster, Stilformen oder Profilierungen. Diese lassen sich in drei grundlegenden Unterrichtskonzeptionen zusammenfassen, die jeweils unterschiedliche Schülerkompetenzen fördern.
a) Lehrergesteuerter Unterricht: direkte Instruktion Mit der Bezeichnung "lehrergesteuerter Unterricht" wird zum Ausdruck gebracht, dass Planung, Organisation und Evaluierung des Lehr-Lern-Prozesses in der Regie des Lehrers/der Lehrerin stehen. Der lehrergesteuerte Unterricht, der häufig in Lehrgängen durchgeführt wird, basiert auf direkter Instruktion. Unter direkter Instruktion ist weder Paukunterricht noch Drill in Form des lehrerzentrierten Frontalunterrichts zu verstehen, sondern eine Lehrform, bei der die Lerner aktiv und konstruktiv, allein, mit Tutoren oder in Gruppen arbeiten, bei denen sie aber zum Erreichen maximaler Lern- und Leistungsfortschritte der Expertise und Leitung eines Lehrers bedürfen. Aufgabe des ",nstrukteurs" ist es dabei, für die "Schüler" angemessene Lehrziele festzulegen, den Lernstoff in fachlich sinnvolle Lerneinheiten zu zerlegen, anhand von geeigneten Fragen und Problemstellungen das notwendigste Wissen zu vermitteln bzw. von ihnen hervorbringen zu lassen, es durch ausreichende Übung und Lernzeit zu sichern, bei Lernschwierigkeiten Hilfe anzubieten und den Lernfortschritt jedes Einzelnen zu kontrollieren. "Lehrergesteuertes Lernen" ist also eine Lehrform, die vom Lehrer schülerorientiert vorgeplant ist und so das Verstehen des Lernstoffs fördert sowie Wissensdefizite oder Verständnisprobleme durch sachlogischen Aufbau, systematisches Vorgehen und engen Inhaltsbezug zu vermeiden sucht. Wird in dieser Weise vorgegangen, hat die direkte Instruktion - wie empirische Untersuchungen belegen- bei größeren Lerngruppen die größten Leistungszuwächse und besten individuellen Lernergebnisse (auch bei schwächeren Lernenden) im Bereich so genannten intelligenten Wissens vorzuweisen. Mit intelligentem Wissen sind nicht mechanische Kenntnisse oder die passive Verfügbarkeit von Fakten gemeint; intelligentes Wissen ist vielmehr "ein wohlorganisiertes, disziplinär, interdisziplinär und lebenspraktisch vernetztes System von flexibel nutzbaren Fähigkeiten, Fertigkeiten, Kenntnissen und metakognitiven Kompetenzen", kurz: verfügbares Wissen (Weinert 1998, 115). Dieses ist nicht durch formale Techniken des Lernenlernens, auch nicht durch Schlüsselqualifikationen oder selbst bestimmte intrinsische Lernmotivation der Lernenden zu erreichen.
b) Offener Unterricht: indirekte Instruktion "Offener Unterricht" ist ein Sammelbegriff für unterschiedliche Reformansätze, die eine pädagogische, inhaltliche, methodische und organisatorische Offnung des Unterrichts für innovative, schülerorientierte Verfahren und Konzeptionen befürwor-
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ten. Im Offenen Unterricht erwerben Schüler/Schülerinnen vor allem Selbstständigkeit, Eigenverantwortlichkeit und metakognitive Kompetenzen. Hauptformen dieser Unterrichtskonzeption sind die Freie Arbeit, der Tages-/Wochenplan und das Stationentraining/der Lernzirkelldie Werkstatt. Gemeinsam ist ihnen, dass die Schüler aus bereitgestellten Lernmaterialien, die mit spezifischen Aufgabenstellungen versehen sind, auswählen können, ihr Arbeitstempo und die Wahl ihrer Lernpartner selbst bestimmen, dass sie mit allen Sinnen und mit dem Körper lernen können, dass sie ihren Lernweg und ihre Lernergebnisse selbst überprüfen und so zu einer realistischen Selbsteinschätzung ihres Leistungsvermögens, zu einer größeren Kompetenz in Lern- und Arbeitstechniken, zu mehr Freude am Lernen und mehr Konzentration beim Lernen finden können. Das Lernen der S~hülerinnen/Schüler wird hier indirekt über die Materialien mit den Arbeitsaufgaben, d. h. die Lernumgebung oder Lernumwelt gesteuert. "Eine Lernumgebung besteht aus einem Arrangement von Unterrichtsmethoden und -techniken, sowie Lernmaterial und Medien. Sie stellt gleichzeitig aber auch die aktuelle zeitliche, räumliche und soziale Lernsituation dar und schließt letztlich auch den jeweiligen kulturellen Kontext ein" (Mandl/Reinmann-Rothmeier 1999, 15). In dieser Konzeption wird der Lernerfolg auf "situiertes" Lernen an authentischen Problemen, in multiplen Kontexten, mit multiplen Perspektiven und im sozialen Austausch zurückgeführt.
c) Teiloffener Unterricht: kooperative Instruktion Außer intelligentes Wissen, Selbstständigkeit und Metakognitionen zu erwerben, müssen Schüler/Schülerinnen auch Gelegenheit bekommen, das Gelernte und Erfahrene richtig, aktiv und kreativ einsetzen zu können. Die dafür geeigneten Unterrichtsformen sind beispielsweise die Projektarbeit das Lernen in Lernteams, lebenspraktische Recherchen, Entdeckendes Lernen, Erfindendes Lernen usw. Hier kann von einer kooperativen Instruktion gesprochen werden, weil der Lerninhalt und die Lernziele nicht vom Lehrer allein für die Schüler vorentschieden sind; vielmehr wirken im teiloffenen Unterricht auch die Schüler mit eigenen Ideen und nicht vorhersehbarem Effekt bei Zielfindung und Inhaltsbestimmung mit. Zwar muss der Lehrer die Schüler auf diese unterrichtsmethodische Vorgehensweise vorbereiten (Vorabinformation, Einüben der Methoden, z. B. des Beobachtens, Experimentierens, der Arbeit in Gruppen usw., Abstecken des inhaltlichen "Terrains"), dennoch ist es für das Gelingen solchen Unterrichts unabdingbar, dass die Schüler aus Forscherdrang, Neugier, Interesse und auch aus dem Flow-Erlebnis solcher Arbeitsformen heraus, eigenständige und vom Lehrer nicht kalkulierbare Beiträge liefern und erarbeiten. Der Erfolg dieser Instruktionsstrategie hängt aber entscheidend davon ab, ob bei den Lernenden kognitive und metakognitive Kompetenzen (Vorwissen, Kenntnis des Wissensaufbaus und des eigenen Lernens usw.) in ausreichendem Maße vorhanden sind, ob bei ihnen die erforderlichen motivationalen und volitionalen Voraussetzungen gegeben sind, sowie ob sie über die notwendigen "Techniken" der
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Handlungsvollzüge und der Selbstmanipulation von Gefühlen, Einstellungen und Aufmerksamkeitsverteilungen verfügen (vgl. Weinert 1996, 29-36). 1.3 Unterrichtsprinzipien
Die moderne Didaktik fordert, dass sich der Lehrer/die Lehrerin bei der Unterrichtsplanung und der Unterrichtsgestaltung an bestimmten Unterrichtsprinzipien orientiert. Unterrichtsprinzipien sind Grundsätze oder Handlungsregeln, die für alle Fächer, Schulformen und Schulstufen gelten und deren Beachtung die Effizienz und die didaktisch-pädagogische Qualität von Unterricht vergrößert. Sie zu beachten, ist eine notwendige, aber nicht hinreichende Bedingung für das Gelingen guten Unterrichts, wie sich aus der Definition von Unterricht (vgl. Komplexität, Unverfügbarkeit) ableiten lässt. Bei den Unterrichtsprinzipien handelt es sich um realanalytische und zum großen Teil auch empirisch überprüfte Aussagen. In der Fachliteratur ist es üblich geworden, zwei Arten von Unterrichtsprinzipien zu unterscheiden: l) konstitutive oder fundierende Unterrichtsprinzipien, die formale, allgemein gültige Anforderungen an jedweden Unterricht stellen. Unterricht konstituiert sich als Unterricht, insofern es um die Vermittlung von Sachverhalten an eine bestimmte Zielgruppe geht (Schülerinnen/Schüler) und insofern in ihm Lernen aktiv betrieben wird. Entsprechend gelten Sachorientierung, Schülerorientierung und Handlungsorientierung zu dieser Art von Unterrichtsprinzipien.
2) regulierende Unterrichtsprinzipien oder Prinzipien der methodischen Gestaltung von Unterrichtseinheiten und Unterrichtsstunden. Dazu zählen die Unterrichtsprinzipien Aktivierung (Selbsttätigkeit), Differenzierung, Veranschaulichung, Motivierung, Ganzheit(iichkeit), Zielorientierung, Strukturierung und Ergebnissicherung (wobei anzumerken ist, dass diese Liste in der Fachliteratur durchaus offen und uneinheitlich ist und dass sie teilweise um Prinzipiennennungen ergänzt wird, bei denen es sich eher um Unterrichtsmethoden handelt). Die meist genannten Unterrichtsprinzipien sind Aktivierung/Selbsttätigkeit, Differenzierung, Veranschaulichung und Motivierung. a) Das Unterrichtsprinzip Selbsttätigkeit besagt, dass Schülerinnen/Schülern Gelegenheit gegeben werden soll, einen Sachverhalt mit Hilfe ihrer individuellen Lernund Handlungsmöglichkeiten zu bearbeiten, damit sie dabei ihre Selbstständigkeit, Selbstbestimmung und Selbstidentität entwickeln können. Durch das Prinzip der Selbstständigkeit/Aktivierung sollen die Schüler dazu kommen, sich möglichst aus eigenem Antrieb, mit eigenen Zielen, nach eigenen Methoden, mit selbst gewählten Lernpartnern und mit der Möglichkeit zur Lernselbstkontrolle mit einer schulischen Aufgabenstellung zu befassen. Damit verbindet sich die Erwartung, dass sie sich mehr und mehr ohne Hilfe des Lehrers oder Anderer
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erforderliche Informationen beschaffen sowie geeignete Lern- und Lösungswege finden, erproben und überprüfen können; sie sollen auf diese Weise sach-, selbst-, sozial- und methodenkompetenter, problembewusster und selbstständiger im Denken, Fühlen, Handeln und Wollen werden - was ihnen zu mehr Klarheit über sie selbst verhilft. Insofern hat dieses Unterrichtsprinzip sowohl eine didaktische als auch eine pädagogische Dimension. Unterrichtliche Möglichkeiten dazu gibt es - erstens - im lehrergesteuerten Unterricht z. B. durch Gruppenarbeit, Partnerarbeit, Einzelarbeit, Spiele, Referate, Lernen durch Lehren, Argumentationen, Simulationen, Computernutzung, Moderationen, entdeckendes/problem- oder phänomenorientiertes/experimentierendes Lernen. Die ,Hochform' selbstständigen Lernens ist aber - zweitens - der Offene Unterricht mit den methodischen Großformen Freie Arbeit!Materialgeleitetes Lernen, Tagesplan-/Wochenplariarbeit, Stationentraining/Lernzirkel, Werkstattunterricht Drittens findet das Prinzip auch im Projektunterricht sowie bei produktiv-ästhetischem Gestalten, bei Hausaufgabenerledigung und bei unterrichtsbezogenen Aktivitäten/ Aktionen außerhalb der Schule (vgl. Schulleben) Beachtung. b) Das Unterrichtsprinzip Differenzierung verlangt, dass die Heterogenität der Schülerinnen/Schüler einer Lerngruppe oder Klasse schul- und unterrichtsorganisatorisch berücksichtigt werden soll. Wird die Heterogenität der Schülerinnen und Schüler schulorganisatorisch berücksichtigt, spricht man von äußerer Differenzierung, wird ihr durch unterrichtsorganisatorische Maßnahmen Rechnung getragen, von innerer Differenzierung. Bei der äußeren Differenzierung handelt es sich um Maßnahmen, die einen Klassenverband oder eine Lerngruppe zeitweilig oder auf Dauer auflösen, bei der inneren Differenzierung bleibt der Klassenverband erhalten, und es werden die Schüler unter bestimmten Gesichtspunkten (thematisch-intentional, methodisch, medial, sozial ...) innerhalb des Unterrichts neu gruppiert. Im Unterricht lässt sich die Differenzierung durch Gruppenarbeit, Partnerarbeit und Einzelarbeit realisieren, durch eine variantenreiche, multimediale Lernumgebung (vgl. Offener Unterricht), aus der Schüler/Schülerinnen ihren Lern-, Arbeits- und Leistungsmöglichkeiten entsprechend auswählen können, durch ein breites Angebot an wählbaren Arbeitsgemeinschaften sowie durch spezifische Fördermaßnahmen und besondere Stunden Förderunterricht, sowohl für Schüler mit Lern- und Verhaltensproblemen als auch für solche mit Leistungsexzellenzen. c) Das Unterrichtsprinzip Veranschaulichung fordert, Lerninhalte so aufzubereiten, dass sich Schülerinnen/Schüler über SinneseindrÜcke eine genaue Vorstellung und eine sachgemäße Kenntnis davon verschaffen können.
Einen Gegenstand oder Sachverhalt veranschaulichen heißt, bei jemandem eine Anschauung von ihm zu ermöglichen. Ihn durch ein mediales Arrangement sinnlich wahrnehmbar z~ machen, reicht als Veranschaulichung allein nicht aus. Wird er nämlich auf solche Weise präsentiert, erleichtert das zunächst nur seine Wahrneh-
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mung durch die Sinnesorgane. Damit es wirklich zu einer Anschauung über den Sachverhalt beim Menschen kommt, bedarf es einer inneren, denkenden Verarbeitung des Wahrgenommenen, der Bildung einer Vorstellung von ihm. Diese innere Befassung mit dem Gegenstand oder Sachverhalt ist (dynamisch) als Verstehensoder Erkenntnisprozess zu betrachten (als Operation), an dessen Ende (statisch) das klare innere Bild des Sachverhalts steht, seine Integration in die vorhandene, kognitive Struktur des Menschen vollzogen ist. Infolgedessen kann man zwischen äußerer Anschauung und innerer Anschauung unterscheiden. Mit der einen ist die sinnliche Wahrnehmung des Gegenstands oder Sachverhalts gemeint, mit der anderen dessen innere Verarbeitung zu einer zutreffenden Vorstellung. Es geht bei diesem Unterrichtsprinzip zentral darum, über die äußere Anschauung von Lerngegenständen beim Schüler/bei der Schülerin eine innere Anschauung anzubahnen. Der Schüler ist daran aktiv beteiligt. Im Unterricht hat der Lehrer/die Lehrerin vielfältige Wahlmöglichkeiten beim Einsatz von Veranschaulichungsmitteln. Zur Veranschaulichung kann der Lehrer (oder auch ein Schüler) sich mit seiner Mimik, Gestik, Sprache, Bewegung einbringen, sich also zu einem personalen Medium im Lernprozess machen. Er kann aber auch nichtpersonale Medien für das Lernen der Schüler heranziehen, so wenn er beispielsweise die Schüler mit dem "realen Objekt" im Original, als Präparat, als Modell, als Bild, als Schema oder in symbolischer Form (als Text, Farbe) konfrontiert. Dazu kann er mit den Schülern Exkursionen, Erkundungen und Experimente machen, auf biologische, chemische und physikalische Sammlungen oder tabellarische und modellhafte Darstellungen zurückgreifen, er kann Tafelanschriften konzipieren, passende Arbeitsblätter und Overheadfolien herstellen oder publizierte heranziehen, Schulbücher, Dias, Videos, CDs, Kassetten, DVDs, Computerprogramme, Multimedia und Internet einsetzen. Er kann aber auch zusammen mit den Schülern Medien herstellen, um sie den Entwicklungsprozess und die Wirkungsweise einer Medienproduktion erfahren zu lassen. d) Das Unterrichtsprinzip MoLivierung drückt aus, dass im Unterricht die Lern- und Leistungsbedürfnisse der Schülerinnen und Schüler berücksichtigt, geweckt und erhalten werden sollen. Motivierung umfasst alle Maßnahmen, die jemand ergreift, um bei einem anderen Motivation herbeizuführen, also Interesse, Aufmerksamkeit und Lernenwollen zu wecken. Beim Unterricht in der Schule geht es um das Zusammenwirken einer motivierenden Lernsituation und eines motivierten Schülers. Die Mobvierung erleichtert das Lernen und schafft Lern- und Leistungsbedürfnisse. Die Weckung der Schülermotivationen zum Lernen und Leisten soll die Aufmerksamkeit der Schüler auf den Lerninhalt und die Lernziele richten helfen, wobei meist nicht ausschließlich sachbezogen und zielimmanent motiviert werden kann, sondern auch zielunabhängige und appellierende Motivationsformen erforderlich sind, um die Schülerakzeptanz für einen vorgegebenen Lernstoff entstehen zu lassen. Vielmehr meint Motivation auch, dass die Schülerinnen/Schüler im Unterricht Gelegenheit bekommen, ihre
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Motive bei der Auswahl und der Thematisierung der Lerninhalte/Lernziele zur Geltung zu bringen. So wichtig die erste Artikulationsphase, die oft als Motivationsphase bezeichnet wird, auch ist, um Aufmerksamkeit, Lernbereitschaft und Leistungswille bei den Schülern auf das folgende Unterrichtsgeschehen zu lenken, sie reicht weder für die Einzelstunde, noch für eine dauerhafte Lernmobvierung der Schüler aus. Im Verlauf der Unterrichtsstunde sind deshalb neue Anreize und Motivationen vorzusehen wie z. B. Rhythmisierungen (Anspannung - Entspannung, kognitive Lernabschnitte - handlungsorientierte Lernabschnitte), Festhalten von Teilergebnissen, Rückversichern des Lernwegs bei den Schülern, Wechsel der Methoden und Medien usw. 1.4 Unterrichtsqualität
Dass Unterricht eine dialektische Interaktion zwischen Lehrern und Schülern bezogen auf einen Lerninhalt ist, wurde bereits erwähnt, dass die didaktische Qualität und Effektivität der Unterrichtsplanung und Unterrichtsgestaltung von der Beachtung bestimmter Unterrichtsprinzipien abhängt, ebenfalls. Die Frage nach der Unterrichtsqualität, also danach, worin "Güte", positive Merkmale und Werthaltigkeit des Unterrichts bestehen - oder anders ausgedrückt: die Frage "Was ist guter Unterricht?" - hängt von vorgängigen unterrichtstheoretischen Wertsetzungen ab und lässt sich allgemein und konkret beantworten. Auf dem Hintergrund der oben dargestellten Unterrichtstheorie der "Berliner Didaktik" ist Unterricht gut, wenn in ihm die Interdependenz, Variabilität und Kontrollierbarkeit beim Zusammenspiel der sechs Strukturfaktoren beachtet wurde und wenn die zugrunde liegenden Normen/Wertsetzungen transparent sind, neuere sozialund humanwissenschaftliche Forschungsergebnisse berücksichtigt und aktuelle Unterrichtsformen reflektiert eingesetzt wurden. Im Sinne W. Schulz' Weiterführung der "Berliner Didaktik" reicht das nicht; zentrales Gütekriterium ist hier, ob der Unterricht der Emanzipation der Schülerinnen/Schüler zuträglich ist und Schülerpartizipation und herrschaftsfreie Kommunikation alle Stadien des Planungs- und Realisierungsprozesses nachweislich bestimmt haben. Dem Ziel der Emanzipation (Fähigkeit zur Selbstbestimmung, Mitbestimmung, Solidarität) müsste der Unterricht auch nach W. Klafki genügt haben, um gut genannt werden zu können, allerdings ergänzt um Kriterien, die die Auswahl, Darstellung und Überprüfung der Inhalte/Themen/Ziele betreffen (vgl. das Vorläufige Perspektivenschema mit Gegenwartsbedeutung, Zukunftsbedeutung, Exemplarizität usw. des Themas). In der Curricularen Didaktik hängt das Urteil über die Unterrichtsqualität an der Frage, ob und wie im Unterricht Ziele gefunden, ausgewählt, umschrieben, realisiert und überprüft wurden, während für die Konstruktivistische Didaktik einzig wichtig ist, ob das lernende, Bedeutungen konstruierende Schüler-Subjekt seinen Anspruch auf eine modellierbare Lernumgebung und einen Lehrer als Lernberater im Unterricht eingelöst bekam.
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In der Praxis haben die verschiedenen Hintergrundtheorien zu pragmatischen Merkmalskatalogen für guten Unterricht geführt, die mittlerweile auch empirisch untermauert sind. So nennt H. Meyer (2004) die folgenden 10 Merkmale guten Unterrichts: l. Klare Strukturierung
2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10.
Hoher Anteil echter Lernzeit Lernförderliches Klima Inhaltliche Klarheit Sinnstiftendes Kommunizieren Methodenvielfalt Individuelles Fördern Intelligentes Üben Transparente Leistungserwartungen Vorbereitete Umgebung
Eine besondere Akzentuierung erfährt die Frage "Was ist guter Unterricht?" durch die seit 1994 durchgeführten internationalen Schulvergleichsuntersuchungen (TIMSS, PISA, IGLU), die für Deutschland enttäuschende Resultate brachten und in der deutschen Bildungspolitik stark rezipiert wurden. Diese machen das Urteil über die Unterrichtsqualität an den quantitativ erfassbaren Lernerträgen von bestimmten Schülern in ausgewählten Wissensdomänen fest, am Lern-Output, abgebildet in den Resultaten, die Schülergruppen bei der Bearbeitung spezifischer Aufgabenstellungen erzielen. Sie berücksichtigen nicht die Inputs (wie Rahmenbedingungen, Lehrpläne, Stundenpläne, Lehrerbildung) und kümmern sich auch nicht um Bildungs- und Erziehungsvorstellungen; sie orientieren sich vielmehr am angloamerikanischen Literacy-Konzept, demzufolge sich die Lerneffizienz des Schulunterrichts am quantitativ messbaren Niveau der Kompetenzen, über die die Schüler bei der Lösung von bestimmten Aufgabenarten verfügen, erweist. Die Qualität von Unterricht wird seitdem als messbare und (an zuvor formulierten Kriterien) bewertbare Beschaffenheit von Prozessen und Produkten des Lehr-Lern-Prozesses verstanden, welche mit quantitativen und qualitativen Methoden der Sozialforschung aus Lehrerangaben zum eigenen Unterricht, aus Schülerangaben zum Unterricht, mit Ratingbögen/Checklisten/Inventaren zum beobachteten Unterricht und mit Hilfe von Unterrichtsvideografien ermittelt werden kann. Als Beispiel soll der Beobachtungsbogen für die Qualitätsevaluation der Schulen Bayerns dienen (vgl. ISB 2005, 44 f.). Qualitätsmerkmale 1. Klassenführung
- Der Unterricht erfolgt auf der Basis eines Regelsystems, das Störungen von vornherein vermeiden hilft. - Die Lehrkraft behält den Überblick über unterrichtsbezogene und/oder unterrichtsfremde Aktivitäten der Schüler.
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- Die Lehrkraft sorgt für ein hohes Maß an tatsächlicher Lernzeit (Pünktlichkeit, kein Leerlauf). Dem Unterricht liegt eine klare Planung zugrunde, doch reagiert die Lehrkraft schüler- und situationsgemäß flexibel. 2. Unterrichtsklima -
Die Lehrkraft fördert eine positive Einstellung zu Lernen und Leisten. Die Beziehungen zwischen Lehrkraft und Schülern sind entspannt und angstfrei. - Die Schüler gehen freundlich und rücksichtsvoll miteinander um. - Der Umgangston der Lehrkraft ist freundlich und wertschätzend. - Alle Schüler werden in das Unterrichtsgeschehen einbezogen. 3. Motivierung - Die Lehrkraft bezieht den Erfahrungshorizont der Schüler und/oder Schülerinteressen in den Unterricht ein. - Die Lehrkraft macht den Schülern die Bedeutung/den Sinn von Unterrichtsinhalten bewusst - Die Aufgabenstellungen sind abwechslungsreich und anschaulich (hoher Aufforderungscharakter). - Die Lehrkraft verstärkt individuelle Lernfortschritte und/oder Verhaltensweisen durch Lob und Ermutigung. - Die Lehrkraft zeigt sich selbst an den Unterrichtszielen und -inhalten interessiert 4. Strukturiertheit
-
Der Unterricht knüpft an bisher Gelerntes an. Informationen werden klar strukturiert präsentiert Die Lehrkraft drückt sich gut verständlich aus. Fachsprache wird angemessen verwendet Die Aufgabenstellungen sind so präzise formuliert, dass den Schülern klar ist, was sie tun sollen. - Das Unterrichtstempo ist angemessen.
5. Zielorientierung - Der Unterricht baut zusammenhängendes, vernetztes Wissen auf. - Der Unterricht setzt die Lernziele des Lehrplans um. - Die angestrebten Lernziele werden klar aufgezeigt
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6. Individuelle Unterstützung
-
Die Lehrkraft gibt Hilfestellung, wenn Schüler etwas nicht verstehen oder können. Die Lehrkraft achtet nicht nur auf Leistungsergebnisse, sondern auch auf Lernerfolge und Lernschwierigkeiten. Die Lehrkraft stellt unterschiedliche Aufgaben, je nach Können der Schüler. Fehler der Schüler werden konstruktiv für das Lernen genutzt
7. Selbstständiges Lernen
-
Die Schüler haben Gelegenheit, fachliche und/oder methodische Kompetenzen zu erwerben bzw. zu erproben. Die Schüler haben Gelegenheit, Medienkompetenz zu erwerben bzw. zu erproben. Die Schüler haben Gelegenheit, personale und/oder soziale Kompetenzen zu erwerben bzw. zu erproben. Die Schüler erhalten Anregungen zur Reflexion und Verbesserung der eigenen Lernstrategien.
8. Variabilität
- Verschiedene methodische Vorgehensweisen (z. B. direkte Instruktion, Projektarbeit, Freiarbeit) kommen zum Einsatz. - Die Unterrichtsmethoden werden den angestrebten Zielen und Inhalten entsprechend variiert - Fachspezifische Arbeitsweisen kommen dem Alter der Schüler gemäß zur Anwendung. - In Phasen kooperativen Lernens können die Schüler voneinander lernen und/oder die Arbeit im Team üben. 9. Lernerfolgssicherung
-
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Die Aufgaben haben ein angemessenes Anforderungsniveau (weder Übernoch Unterforderung). Die Schüler lernen, ihr Wissen in unterschiedlichen Zusammenhängen anzuwenden. Der Unterricht enthält Phasen des Wiederholens und Übens. Das Erreichen der Lernziele wird überprüft. Die Hausaufgaben sind eine sinnvolle Ergänzung des Unterrichts.
-
Die Hausaufgaben werden kontrolliert und besprochen.
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1.5 Bildung und Erziehung durch Unterricht
Die Schule ist eine Bildungsinstitution, und über den Unterricht und das Schulleben sollen Schüler/Schülerinnen bildend lernen, d. h. sich Bildung aneignen. In der Schule wird ferner auf direkte und indirekte Weise Einfluss auf das Verhalten und die Einstellung von Kindern und Jugendlichen genommen, d. h. die Schule übernimmt neben und zusammen mit dem Elternhaus auch deren Erziehung. Mit dem Bildungsbegriff verbindet sich die Vorstellung, dass der Mensch die Welt und seine Lebenswirklichkeit kognitiv durchdringt und versteht (Weltverstehen, Sachbildung), dass er sich selbst und andere Menschen in ihrer Personalität begreift (Selbstverstehen, Selbstbildung) sowie, dass er sich entsprechend diesen Kenntnissen und Erkenntnissen in der Welt engagiert (Weltgestaltung, Sinngebung). Zur Bildung gehört ferner, dass der Mensch seine Vernunft einsetzt und sich von humanen Wertsetzungen leiten lässt. Der Gebildete verbindet also kulturelles Allgemeinwissen mit wertgeleiteten Haltungen (Einstellungen) und verantwortlichem Handeln. Was Gebildetsein inhaltlich ausmacht, lässt sich nur vor dem Hintergrund der historischen, gesellschaftlichen und politischen Bedingungen der jeweiligen Zeit angeben (vgl. Bildungsideale). Seit der Aufklärung ist jedoch die kritische Distanz gegenüber aller Fremdbestimmung (d. h. Selbstbestimmung/Emanzipation/Mündigkeit) ein unbestreitbares Merkmal von Bildung. Als pädagogischer Leitbegriff erscheint Bildung auch heute noch geeignet, den Sinn des pädagogischen Handeins und dessen emanzipatorische Relevanz für das Individuum zum Ausdruck zu bringen. So sollte Bildung heute den Menschen beispielsweise dazu befähigen, die Strukturen der Welt auf ihre Vernünftigkeit (was nicht gleichzusetzen ist mit Rationalität!) und ihre Auswirkungen kritisch zu analysieren, den technischen Fortschritt und die Naturbeherrschung zu hinterfragen, die Pluralität der menschlichen Lebensentwürfe als bereichernd zu akzeptieren. Ferner soll Bildung in einer Zeit des Wertewandels dem Menschen durch Argumentation, Kritik, Empathie und Solidarität Orientierung geben. Deshalb muss sie heute Allgemeinbildung (vgl. Klafki) sein, d. h. eine für jeden und alle zugängliche Bildung, eine allseitige Bildung nicht nur der kognitiven, sondern auch der emotionalen, körperlichen, ästhetischen, praktischen, handwerklichen und moralischen Fähigkeiten/Fertigkeiten des Menschen, sowie eine Bildung aufgrund der Auseinandersetzung mit zentralen, epochaltypischen Fragen, Problemen und Gefahren (z. B. Krieg/Frieden, Umwelt!Umweltzerstörung, gesellschaftlich produzierte Ungleichheit, interpersonale Beziehungen, Glück, Globalisierung/Nationalisierung usw.). Bildungsprozesse dieser Art anzuregen, ist die Aufgabe pädagogischer Institutionen wie der Schule; sie sollen die Heranwachsenden zu einem bildenden Lernen veranlassen, das persönliche Bildung, praktische Bildung und politische Bildung umfasst. Der Erziehungsauftrag der Schule ergibt sich aus zweierlei Überlegungen: Zum einen hat die Gesellschaft durch Gesetze und Verordnungen die Schule zur Lern-, Erziehungs- und Bildungshilfe für Kinder und Jugendliche verpflichtet, zum anderen macht das Entwicklungsalter, in dem Schülerinnen und Schüler die Schule
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besuchen, Einflussnahmen auf ihr individuelles und soziales Verhalten nötig. Denn der gesetzlich vorgegebene Erziehungsauftrag der Schule umfasst nicht nur die Vermittlung von Wissen, Kenntnissen und Fertigkeiten, sondern auch emotionales Wachstum, soziale Einstellungen, verantwortliche Verhaltensweisen und Selbstverpflichtungen. Einer heute geläufigen Definition entsprechend ist Erziehung eine notwendige, absichtsvolle und intergenerative Hilfe bei der Entwicklung des Heranwachsenden zu seiner Mündigkeit. Will man den Erziehungsbegriff im Blick auf seine unterschiedliche Verwendung in der pädagogischen Fachsprache noch stärker differenzieren, so kann man mit E. Weber (1999, 219) folgende Unterscheidung treffen: "Erziehung im weiten, umfassenden Sinne ist das Insgesamt aller pädagogisch gemeinten bzw. pädagogisch bedeutsamen Lern- und Enkulturationshilfen, die auch sämtliche Sozialisations- und Personalisationshilfen mit einschließen. Erziehung im engeren, spezifischen Sinne ist die moralische Erziehung, die alle Fragen der sozialen, kollektiven Gesittung betrifft und alle Sozialisations- und Personalisationshilfen einschließt, die dem Kind/Jugendlichen zur personalen, autonomen Sittlichkeit verhelfen." Das Ziel aller erzieherischen Bemühungen ist die Mündigkeit des Zöglings/Schülers. · Damit ist gemeint, dass er -
sein Leben weitestmöglich selbstbestimmt vernünftig und verantwortlich zu führen bereit und fähig ist;
- imstande ist, selbstständig zu denken, kritisch und selbstkritisch zu urteilen; - sich bei seinen Entscheidungen und Handlungen an soziale und rational-altruistische Werte bindet und sich den Fragen nach dem Sinn von Leben und Zusammenleben stellt. Die Mündigkeit des Schülers/der Schülerin als regulative Idee für alles pädagogische und didaktische Handeln in der Schule ist nicht herstellbar; sie ist vielmehr ein Lernprozess, den der Einzelne von sich aus vollziehen bzw. mitvollziehen muss. Hinter diesem Erziehungsverständnis steht ein ganzheitliches, an der Aufklärungsphilosophie orientiertes, personalistisches Menschenbild. Demzufolge kommt jedem Menschen von seiner Geburt an Personalität zu, nämlich personale Würde, Entscheidungs- und Wahlfreiheit, Weltoffenheit und Gerichtetheit auf die Gemeinschaft mit anderen Menschen. Um sich zur individuellen Persönlichkeit entfalten zu können, braucht er Hilfen durch Erziehung. Diese lassen sich einteilen in solche, die sein Verhältnis zu sich selbst, sein Verhältnis zu den Mitmenschen und sein Verhältnis zur Welt, im Sinne von Kultur, betreffen. Denn der Mensch ist ein individuelles Wesen, ein soziales Wesen und ein Kulturwesen zugleich. Differenziert man den Erziehungsauftrag aus, so braucht die sich zur Individualität entfaltende Person erzieherische Hilfestellung zum Erwerb von Ich-Kompetenz, von sozialer und kommunikativer Kompetenz sowie von Sachkompetenz.
Allgemeine Didaktik- Fachdidaktik- Sprachendidaktik
2. Fachdidaktik Das Allgemeine steht begrifflich dem Speziellen und Besonderen gegenüber und ist von einem Sammelbegriff zu unterscheiden. Von "allgemein" spricht man, wenn etwas von vielen Dingen im gleichen Sinne aussagbar ist, gewissermaßen etwas an ihnen nicht singulär ist. Um eine solche Feststellung zu treffen, abstrahiert man bei den Dingen und Sachverhalten von zufällig Gegebenem und reflektiert auf das allen Gemeinsame, Strukturelle, Wesentliche. In einem solchen Sinne stehen sich auch die Allgemeine Didaktik und die Fachdidaktik gegenüber. Dementsprechend ist die Fachdidaktik die Wissenschaft und Lehre vom Lehren und Lernen in speziellen Aufgaben-, Problem- und Sachbereichen; in der Regel sind diese in Schulfächern organisiert. Im Unterschied zur Allgemeinen Didaktik arbeitet sie also schulfach- und lernbereichsbezogen. Entsprechend fragt die Fachdidaktik danach (1) wie die Inhalte und Methoden der Fachwissenschaften in den Schulfächern repräsentiert (Wissenschaftsorientierung) sind. (2) wie diese Schülern/Schülerinnen einer bestimmten Altersstufe, Schulart und Lernausgangslage (Schülerorientierung) vermittelt werden können und welche spezifischen Lehr-Lern-Methoden und Lehr-Lern-Möglichkeiten es bei der Erkenntnissuche und der Erkenntnisgewinnung im jeweiligen Unterrichtsfach gibt. (3) wie sich die Aussagen der Allgemeinen Didaktik zur Unterrichtsplanung und Unterrichtsgestaltung in den Fachunterricht transformieren lassen, sowie (4) welchen Beitrag die einzelnen Fächer zum Bildungs- und Erziehungsauftrag der Schule leisten. Des Weiteren diskutiert die Fachdidaktik die Frage, wie sie sich einerseits zur Allgemeinen Didaktik (Überordnung/Unterordnung, Integration, Interdependenz, Konvergenz, gegenseitiges Wissen) und andererseits zur jeweiligen Fachwissenschaft (Abbild/Selbstständigkeit/Anwendung) verhält. In Forschung und Lehre orientiert sich die Fachdidaktik an den Theorien der zugeordneten Fachwissenschaft und beachtet deren fachspezifische Methoden zur Erkenntnissuche und Erkenntnisgewinnung. Sie rezipiert bei der Planung von Unterrichtseinheiten und Unterrichtsstunden allgemeindidaktische Erkenntnisse (vgl. Lehr-Lernverständnis, Unterrichtstheorien, Unterrichtsprinzipien, Qualitätsmerkmale von Unterricht) und führt entsprechend Sachanalysen, Didaktische Analysen, Didaktische Reduktionen und Lernzielentscheidungen auf der Basis der Allgemeinen Didaktik durch. An fachspezifischen Gesichtspunkten lassen sich nennen: die implizite und explizite Methodik beim Unterrichtsthema, fachspezifische Medien und Lernorte, besondere Kontextfaktoren (anthropogene und soziokulturelle Lehr-Lern-Bedingungen), Schul-
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und Unterrichtskultur, Bedeutung des Elternhauses sowie die dem Fachinhalt entsprechenden Formen der Leistungsfeststellung und Unterrichtsevaluation als Auswertung der quantitativ und qualitativ ermittelbaren Effekte des Fachunterrichts. Erst seit der deutschen Bildungsreform zwischen 1965 und 1975 wird die Fachdidaktik mit wissenschaftlichen Methoden und theoretischem Anspruch betrieben. Vorher bestand sie hauptsächlich aus Praxisanleitungen und Methodenbüchern zu den einzelnen Unterrichtsfächern. Die Gruppierung der Unterrichtsfächer zu Aufgabenfeldern (sprachlich-literarisches, mathematisch-naturwissenschaftliches, gesellschaftswissenschaftliches Aufgabenfeld usw.) sowie die Tendenz zum fächerübergreifenden/fächerverbindenden Unterricht führt derzeit zu Überlegungen, die Einzelfachdidaktik zu Bereichsdidaktiken zusammenzufassen. Alle Schulfächer tragen zur Erlangung der Allgemeinbildung auf spezifische Weise bei. Wenn mit Allgemeinbildung eine Bildung für alle, in all ihren Fähigkeiten und in allen für das Verstehen von Welt und Mensch wichtigen Inhaltsbereichen gemeint ist, dann sind die Schulfächer, bildlich gesprochen, Fenster zur Weltwirklichkeit Sie betrachten Mensch und Welt unter einer spezifischen Perspektive und wenden dazu spezifische Methoden an. Die folgende Übersicht veranschaulicht das: Fach
Spezifische Aspekte der Allgemeinbildung
Kath./Ev. Religionslehre, Ethik die religiösen Dimensionen und die Reflexion über den Sinn Deutsch
zivilisatorische Basisqualifikationen (Lesen, Schreiben, Computernutzung), Verständigung als gedankliche und ästhetische Auseinandersetzung mit Mensch und Welt
alte Sprachen
Sprachbewusstsein und Horizonterweiterung in literarischer, mythologischer, rhetorischer, musischer und philosophischer Hinsicht
neuere Sprachen
Sprachgefühl, Flexibilität, Kommunikationsfähigkeit, Einsichten in das Wesen von Sprache und sprachlicher Verständigung und in den Zusammenhang von Sprache und Kultur
Mathematik
das quantitativ Erfassbare und durch mathematisches Wissen Gestaltbare; die Bedeutung zweckfreier Erkenntnis
Naturwissenschaften
die Strukturen und Bewegungen der Natur, ihrer Kräfte und Wechselwirkungen
Allgemeine Didaktik - Fachdidaktik - Sprachendidaktik
Fach
Spezifische Aspekte der Allgemeinbildung
Geschichte
der historisch fassbare Mensch und die Strukturen, Verläufe und Verhältnisse seiner Lebenswelt
Erdkunde
die Raumstruktur der Erde, ihr Werden, ihr Wandel und ihre Wirkungen
Sozialkunde/Sozial praktische die soziale Existenz des Menschen und die BeGrundbildung deutung der Politik Wirtschafts- und Rechtslehre/ Recht und Wirtschaft als gesellschaftsprägende Rechnungswesen Faktoren Kunsterziehungi_Textilarbeit/ Veranschaulichen, Ordnen und kreatives AusWerken drücken von Erscheinungsformen, Gedanken und Ideen in der Welt Musik
Ausdrücken von Gefühlen und Gedanken auf nonverbale interkulturelle Weise
Sport/Bewegung
Ausdruck des Bedürfnisses und der Freude des Menschen an musisch-tänzerischer, spielerischer und turnerischer Betätigung und Bewegung
3. Sprachendidaktik Die Didaktik der Sprachen fragt allgemeindidaktisch und fachdidaktisch danach, wie Sprachen lehr- und lernbar gemacht werden können und wie sie möglichst korrekt, effektiv und nutzbringend erlernt werden. Es geht ihr um die Sprache als Lerngegenstand. Dabei sind Differenzierungen vorzunehmen: Von der Muttersprache spricht man, wenn das Kind von seiner Mutter/seinem Vater sprachlich in deren Sprache sozialisiert wird, unabhängig davon, welche Sprache in seinem Lebensumfeld tatsächlich gesprochen wird. Hierfür wird auch der Begriff "Erstsprache" verwendet. Die dabei erfolgende sprachliche Sozialisation umfasst nicht nur das Sprechen einer bestimmten Sprache (einschließlich ihrer Dialekte), sondern auch das über diese Sprache vermittelte Menschen- und Weltbild, das sowohl für die Welterschließung als auch für die Persönlichkeitsentwicklung des Kindes/Jugendlichen von großer Bedeutung ist. Mit Deutsch als Muttersprache (DaM) ist gemeint, dass die Kinder/Jugendlichen mit der deutschen Sprache aufgewachsen sind, sowie dass Deutsch Sprache und Inhalt des Schulunterrichts ist; in der Regel ist der Muttersprachenunterricht in der deutschen Schule gemeint, nicht aber der Unterricht in der Muttersprache von Kindern/Jugendlichen mit Migrationshintergrund. Ist von Deutsch als Zweitsprache (DaZ) die Rede, dann denkt man an Schülerinnen/ Schüler mit Migrationshintergrund und einer nichtdeutschen Sprachsozialiation im Elternhaus, die in einer deutschsprachigen Umgebung (einschließlich der Schule)
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leben und dort die deutsche Standardsprache vermittelt bekommen, erwerben und gebrauchen (sollen). Im Unterschied zu DaZ bezeichnet DaF (Deutsch als Fremdsprache) den Fall, dass die deutsche Sprache und Literatur (überall auf der Welt) wie eine Fremdsprache erlernt wird bzw. werden kann, wobei der ursprünglich abgrenzende, xenologische Charakter dieses Sprachelernens heute durch eine interkulturelle Sichtweise überwunden ist. Beim Sprachenlernen sind die Bedingungen anders, je nachdem ob eine Sprache Zweitsprache oder Fremdsprache ist, ob die Fremdsprache in dem Land erlernt wird, in dem sie als Muttersprache gesprochen wird oder nicht, ob jemand nur eine oder zwei, drei, vier und mehr Fremdsprachen erworben hat. 3.1 Sprache
Die Sprache ist der Gegenstand jeder Sprachdidaktik. Sie ist (i. w. S. d. W.) ein strukturiertes System aus Lautzeichen und aus Regeln, nach denen die Zeichen zu Wörtern, Sätzen und Texten zusammengefügt werden. In der Sprache kommen bildliches Denken, Vorstellen, Fühlen und Wollen in individueller und gesellschaftlicher Verfasstheit zum Ausdruck und zur Darstellung; zugleich beeinflusst die Sprache aber auch Denken und Bewusstsein in der Gesellschaft z. B. durch Sprachstandards und durch den öffentlichen Sprachgebrauch (vgl. die Sprache der Medien, die Sprache in Chatrooms, die Sprache der SMS, die politische Rede, Höflichkeitsformeln usw.). Sprechen ist die Aktivierung und Aktualisierung von Sprache durch das Individuum, wobei die Struktur der Sprache einerseits die intersubjektive Verstehbarkeit des lautlich (und gestisch) Geäußerten sichert, andererseits aber auch Raum zu subjektiver, individueller und kreativer Sprachverwendung lässt. Sprache und Sprechen setzen artspezifische, menschliche Fähigkeiten voraus, sind genetisch fixiert und weisen eine Entwicklung auf. Formal und im Sinne der traditionellen Sprachforschung (vgl. Chomsky, de Saussure u. a.) kann man an ihnen im Einzelnen die Phonetik, die Phonologie, die Morphologie, die Syntax, die Semantik und die Pragmatik untersuchen; neuere Sprachforschung (vgl. Brinker 2000, Hornung 2002) interessiert sich mehr für die funktionalen Aspekte von Sprache und Sprechen, weiterhin für die sprachliche Form und ihre Leistungsfähigkeit, für die kommunikativen Aspekte bei der sprachlichen Gestaltung (Gesprächsanalyse), für Unterschiede zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit, für die Handlungsperspektiven beim Sprechen, für Textlinguistik und Schreibforschung, für Sprachvarietäten und Prosodie im Zusammenhang mit dem Sprachenlernen, für Fragen der Korpuslinguistik und der Kontaktlinguistik; sie befasst sich auch intensiv mit der Sprache in mehrsprachigen Lern- und Lebenssituationen. Gerade dieser letztere Untersuchungsaspekt hat H. Weinrich auf die Formel gebracht: "Sprache, das heißt Sprachen" (2003). Sprache bzw. die Sprachen sind dabei nicht nur Medium der Darstellung eines Sachverhalts, sondern auch Medium der Selbstdarstellung des Menschen und Medium des sozialen Austauschs.
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3.2 Spracherwerb
Die Sprachlernfähigkeit ist dem Kind angeboren; sind die biologischen Voraussetzungen (intakte Hör- und Sprechorgane, Funktionsfähigkeit der beteiligten Hirnregionen) gegeben, dann erwirbt das Kind aus seinem ureigenen Drang nach Interaktion und Kontaktaufnahme mit den Menschen seiner sozialen Umgebung (vgl. Piaget) durch deren Sprechanregungen das hochkomplexe Zeichensystem der Verständigung, die Sprache. Der Spracherwerb in der Muttersprache durchläuft dabei die folgenden Phasen: -
Lallen: Nachahmen und Wiederholen phonetischer Elemente der gehörten sprachlichen Zeichen (Lallmonologe, Echolalie) zwischen dem 2. und dem 12. Lebensmonat; Einsicht in den Zusammenhang von Gegenstand/Handlung und Wort sowie von Tonfall und Bedeutung; selbstständiges Verfügen über einige wenige Wörter.
- Systematischer Sprachaufbau im 2. und 3. Lebensjahr über Einwortsätze, Zweiwortsätze zu Mehrwortsätzen; Verfügen über größere Wortmengen (bis zu 900 Wörtern mit 3 Jahren). - Beherrschen komplexer Satzstrukturen (syntaktische Regeln, Grammatik) im 4. bis 5. Lebensjahr, Anwachsen des Wortbestands auf 2100 Wörter, Ausprägung schichtspezifischer Codes. ab dem Jugendalter (14. Lebensjahr) Steigerung des verfügbaren Vokabulars auf bis zu 20.000 Wörter (vgl. Szagun 1991). Das Sprachverhalten der Kinder lässt sich seitens der Erwachsenen durch verbale und nonverbale Kommunikation positiv beeinflussen. Förderlich ist dafür der Aufbau einer stabilen, emotionalen Beziehung zu konstanten Bezugspersonen, die als Sprach- und Sprechmodelle fungieren, die Unterstützung sozialer Kontakte der Kinder untereinander, das Ermuntern zum Sprechen, zu gezielten sprachlichen Äußerungen auf gestellte Fragen über Wünsche, Gefühle oder Erlebnisse und zum Mitmachen bei Dialogen sowie das konzentrierte, geduldige Zuhören und Anschauen der Kinder, wenn diese etwas sagen wollen. Dabei gilt in der frühen Kindheit die Regel, dass der Inhalt der kindlichen Kommunikation und die Sprechmotivation wichtiger sind als die Sprach- und Sprechkorrektheit, und dass eine Sprachkorrektur am besten durch eine verbessernde Wiederholung der kindlichen Äußerung geschieht, bei der die Verständnissicherung im Vordergrund stehen sollte. Die Erwachsenen sollten ihre Sprache am Sprach- und Verständnisniveau der Kinder ausrichten, ohne diese zu imitieren; wichtig ist, bei der eigenen Sprache das vorhandene Sprachniveau des Kindes leicht zu überschreiten und konsequent nonverbale Kommunikationsmittel (Gestik, Mimik, Betonung, Stimmlage usw.) mit einzusetzen. Der Zweitspracherwerb ist - nach heutigem Stand der Neurobiologie - von interindividuellen und intraindividuellen Faktoren abhängig, wobei der Zeitpunkt des L2-Erwerbs sowie die Sprachverarbeitungsstrategien, die Sprachverwendungen im
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Alltag und die Lernpräferenzen des Lerners für den Erfolg und das Kompetenzniveau von zentraler Bedeutung sind. Mit Beginn der 1980er Jahre begannen in Deutschland Versuche zur Etablierung einer (empirisch gesicherten) Theorie des Zweitspracherwerbs. Dabei wurden verschiedene Hypothesen aufgestellt (nach Bausch/Königs 1986, Henrici/Riemer 2003, Cavallini 2006):
1. Die Kontrastivhypothese (von Lader 1957) Orientiert am Behaviorismus und Sprache als durch Reiz-Reaktion erlerntes "verbal behavior" verstehend, geht die Kontrastivhypothese davon aus, dass Sle Erstsprache (L1) des Lerners den Erwerb der Zweitsprache (L2) und der Fremdsprachen durch Transfers beeinflusst: Was an Elementen und Regeln in L1 und L2 identisch ist, wird leicht gelernt, was nicht identisch ist, dagegen schwer und mit häufigen Fehlern.\ -1
2. Die Identitätshypothese (von Dulay und Burt 1974) Sie besagt, dass !Erstsprache und Zweitsprache prinzipiell identisch erlernt werden, nämlich indem das Kind angeborene, mentale Prozesse aktiviert und von äußeren Input-Faktorenfrei-in jeweils gleicher Abfolge durchmacht;,~
3. Die Interlanguage-Hypothese (von Selinker 1972) Hier wird die Auffassung vertreten, dass der Lerner sich beim Zweitspracherwerb aus Elementen der Erstsprache, durch Unterrichtsmaterialien, durch Strategien des Fremdsprachenlernens, durch die Kommunikation in der Zweit-/Fremdsprache, durch Übergeneralisierung usw. ein eigenes, spezifisches Sprachsystem entwickelt (= interlanguage), das aus Transfers besteht und entsprechend offen, aber auch fehleranfällig ist. 4. Die Akkulturationshypothese (von Schumann 1986) Diese Hypothese bedenkt, dass der Spracherwerb kulturbedingt und sprachenpolitisch beeinflusst abläuft und mit sozialer oder psychischer Nähe und Distanz zu tun hat. Endogene und exogene Faktoren bestimmen über das Gelingen oder Misslingen mit. 5. Die Monitorhypothese (von Krashen 1982) Die Monitorhypothese unterscheidet zwei Arten von Spracherwerbsprozessen, nämlich unbewusste Prozesse, die als eigentliche Erwerbsprozesse gelten, und bewusste Prozesse, bei denen zeitaufwändig Regeln und Erklärungen angeeignet werden, um sie dann anzuwenden und zu kontrollieren (= monitoring). 6. Die Input-Hypothese (von Krashen 1985; Heinrici 1988) Ihrzufolge ist der Spracherwerb vom Input abhängig, d. h. davon, wie das sprachliche Angebot aussieht (z. B. wie häufig die Sprache gesprochen wird, wie komplex oder
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vereinfacht sie dargeboten wird usw.) und wie das Angebot vom Lerner wahrgenommen, verstanden und umgesetzt wird.
7 Die Output-Hypothese (von Swain 1985) Hier entscheidet das Ausmaß der Sprachpraxis und der dafür aufgewendeten Anstrengung, einschließlich der Selbstreflexion und des Selbstmonitaring des Lerners, über den Spracherwerb.
8. Die Interaktionshypothese/Diskurshypothese (von Edmondson 1987) Entscheidend für den Spracherwerb sind hier Art und Umfang der Interaktion zwischen Lehrendem und Lernendem; es erfolgt ein gegenseitiges Erweitern und Anpassen beim Sprachgebrauch, beide verhandeln mithilfe der Sprache und über die Sprache.
9. Die Teachability-Hypothese (von Pienemann 1989) Der unterrichtlich gesteuerte Spracherwerb muss nach dieser Hypothese der ",nterlanguage" des einzelnen Schülers ebenso Rechnung tragen wie dessen sprachlichem Entwicklungsstand.
10. Die Universalgrammatik-Hypothese (nach Chomsky 1965; White 1989) Im Sinne eines Kern-Peripherie-Modells der Sprache wird angenommen, dass nur die sprachspezifischen Parameter und Strukturen beim Zweit- und Drittspracherwerb übertragen werden, nicht aber die angeborenen Sprachstrukturen (Grammatik, Wortklassen).
11. Die Problem/öse-Hypothese (nach Kellermann 1984; Faerch/Kaspser 1984) Im Unterschied zum behavioristischen Erklärungsmodell geht diese Hypothese von kognitiven Grundlagen aus und erklärt den Spracherwerb als strategisch angelegten Problemlöseprozess, bei dem der Lerner auf seine deklarativen und prozeduralen Kenntnisse aus der Erstsprache (und aus weiteren, erlernten Sprachen) zurückgreift, um Sprach- und Sprechprobleme in einer anderen Sprache zu lösen ("cross-linguistic influence"). 12. Die Kompensations-Hypothese (nach Grießhaber 2001, Hufeisen/Lindermann 1998) Bei älteren Lernenden und beim Erwerb einer zweiten oder dritten Fremdsprache geht man davon aus, dass es im Gehirn zu einer kompensatorischen Ressourcennutzung kommt; dabei sind außer sprachlichen Faktoren wie Sprachverwandtschaft und Sprachtransfer/Interferenz, dem Handlungskontext dem Handlungszweck, der "metalinguistic awareness", den Lernstrategien, den Lerntechniken und der Lernbiografie der Lernenden mehr Beachtung zu schenken.
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13. Die Konstruktivismus-Hypothese (von Tomasello 2003; Lauren 2006) In Abgrenzung zum linguistischen Strukturalismus favorisiert diese Hypothese, zurückgreifend aufWygotski, Piaget und Glasersfeld, den Konstruktivismus als Grundlagentheorie des Spracherwerbs; beim Sprachenlernen konstruiert der Lernende Bedeutungen individuell und im sozialen Austausch mit anderen Lernenden (Sprache = Interaktion) möglichst in authentischen Lebens- und Handlungssituationen, wobei er von seinem früheren Wissen und seinen Erfahrungen ausgeht und sich über die Versprachlichung von Wirklichkeitserfahrungen kognitiv weiterentwickelt. 3.3 lnterkulturalität Linguistik und Literaturwissenschaft werden seit Mitte der 1980er Jahre in der Muttersprachenforschung und seit Mitte der 1990er Jahre in der Fremdsprachenforschung interkulturell konzipiert; interkulturelles Lernen und interkulturelle Kompetenzen, verstanden als "cross-cultural activity", gelten seitdem als Aufgaben des Sprachenunterrichts. Die Philologie der Kulturenbegegnung trat an die Stelle des nationalkulturellen Kulturbegriffs der ästhetisch-geisteswissenschaftlichen Literaturwissenschaft. Nach A. Wierlacher (2003, 257) wird der Begriff ",nterkulturalität" in der Germanistik "als Bezeichnung eines auf Verständigung gerichteten, realen oder dargestellten menschlichen Verhaltens in Begegnungssituationen verstanden, an denen einzelne Menschen oder Gruppen aus verschiedenen Kulturen in diversen zeitlichen continua beteiligt sind". Er umfasst den Willen der Sprecher zum kulturbewussten Mitdenken des Anderen und Fremden, d. h. zur Verständigung und zum Verstehen, zur Überwindung des Ethnozentrismus durch wechselseitig kulturdifferente Wahrnehmungen ("doppelte Optik"), zur Selbstaufklärung über Fremdverstehen und die Erfahrung wechselseitiger Bedingtheit, zum Erkennen von kulturellen Überschneidungssituationen und der kreativen Rolle des Anderen und Fremden. Solch dialogisches Fremdverstehen erweitert die eigene Sicht, ohne dass es zu einem Konsens kommen und die eigenkulturelle Verankerung aufgegeben werden müsste; es ist vielmehr ein "kreatives Milieu", eine "zwischenkulturelle Mitte", die "niemandem die Selbstgewissheit angestammter oder entworfener Zugehörigkeit (nimmt); sondern (. ..) als neue und zusätzliche Seinsqualität ein Stück Lebensqualität und Zugehörigkeit (stiftet)". (a. a. 0., 262) Die Fremdsprachenforschung öffnete sich Mitte des letzten Jahrhunderts verstärkt der Landeskunde und der Kulturwissenschaft wobei sie sowohl kulturenbezogendisziplinär (kulturelle Studien zu Großbritannien, Frankreich, Italien usw.) als auch - später - kulturübergreifend-interdisziplinär (Postmoderne Literatur- und Kulturtheorie, Diskursanalyse, Semiotik zur Ermittlung von Gruppenstrategien und Hierarchien, z. B. in Massenkulturen, Geschlechtsbeziehungen) vorging. Interkulturell sind Landeskunde und Kulturwissenschaft In den Fremdsprachenphilologien sind Vergleiche zwischen den eigenen Kulturerfahrungen mit denen anderer von jeher selbstverständlich. Eine interkulturelle Dimension haben die Fremdsprachenphilologien allerdings erst seit etwa lO Jahren erhalten. Es setzte sich in Abhängigkeit
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von der interkulturellen Germanistik - die Erkenntnis durch, dass es in Wirklichkeit reine, "monolithische" Kulturen nur als Ergebnis nationalbezogener und ethnischer Diskurse gibt. "Das bedeutet, dass die andere - z. B. die englische, französische, italienische oder spanische - Kultur nicht mehr aus einer Art distanzierter ,Aquariumsperspektive' betrachtet wird, sondern in Zusammenhang mit anderen Kulturen und vor allem der eigenen Gesellschaft und Kultur." (Lusebrink 2003, 64) Kulturkontakt Kulturtransfer, Kultur- und Gesellschaftsvergleich, Fremdwahrnehmungsprozesse, interkulturelle Interaktionssituationen und interkulturelle Diskurspraktiken gewinnen seitdem in der Fremdsprachenforschung besondere Bedeutung (vgl. Franceschini 1998). Interkultureller Sprachunterricht zielt im Bereich des deutschen Sprachraums in der deutschen Schule auf das gemeinsame Lernen von deutschsprachigen und nichtdeutschsprachigen Kindern bzw. Jugendlichen. Mit dem gemeinsamen Sprachelernen sollen alle Lernenden auf das Zusammenleben in kulturell und sprachlich vielfältigen Gesellschaften vorbereitet werden. Durch die interkulturelle Kommunikation soll den Schülerinnen/Schülern interkulturelle Kompetenz vermittel werden: Toleranz, Anerkennung von Fremdheit und von soziokulturell überformten Kommunikationsmustern, die eigene kulturelle Prägung erkennen und sie in der Kommunikation mit Menschen anderer kultureller Herkunft überwinden, Verbindungen zwischen den eigensprachlichen und den fremdsprachlichen Erfahrungen herstellen. "Interkulturelle Kompetenz erfordert daher (Byram/Morgan 1994) auf der affektiven Ebene die Fähigkeit, ethnozentrische Auffassungen und Einstellungen dem Anderssein gegenüber aufzugeben, auf der kognitiven Ebene die Fähigkeit, Relationen zwischen der eigenen und der fremden Kultur herzustellen und dabei auch Widersprüche aushalten und Missverständnisse aushandeln zu können." (Krumm 2003, 417) 3.4 Didaktische Folgerungen
Sprachen werden erlernt; das kann ein Lernen aus angeborenen Stimuli heraus sein, einer internen oder externen Motivation folgen, nebenbei durch die alltägliche Praxis in einer Sprachgemeinschaft geschehen, autodidaktisch oder mittels gesteuerter Lehr-Lern-Prozesse erfolgen, in einer schulischen oder außerschulischen Institution organisiert werden. Lernen im kognitivistisch-konstruktivistischen Sinne ist der Oberbegriff für alle mentalen Prozesse, bei denen neue Kompetenzen erworben oder vorhandene verbessert werden. Damit ist die frühere Kontroverse zwischen Spracherwerbsforschung und (Fremdsprachen-)Sprachlehrforschung überwindbar. (vgl. Bausch/Königs 1986) Ist das Lernen der Sprache Gegenstand des Schulunterrichts, unterliegt es allgemeindidaktischen und fachdidaktischen Überlegungen. In allgemeindidaktischer Hinsicht werden ;:tn den Sprachenunterricht dieselben Anforderungen gestellt wie an jedes andere Schulfach. Er muss als eine (dialektische) Interaktionssituation ge-
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sehen werden, er muss auf der Grundlage erforschter didaktischer Theorien und Konzeptionen geplant sowie nach anerkannten Unterrichtsprinzipien gestaltet werden, und er muss den heute üblichen Qualitätskriterien der Evaluation genügen. Wie jeder andere Unterricht leistet der Sprachenunterricht einen spezifischen Beitrag zum allgemeinen Bildungs- und Erziehungsauftrag der Schule und zur Erfüllung von deren Funktionen in der Gesellschaft wie Qualifikation, Sozialisation, Personalisation, Enkulturation und Selektion (vgl. Wiater 2006a). Dabei erlangen und verbessern die Schülerinnen und Schüler im Unterricht des Deutschen und der anderen Sprachen (Fremdsprachen) ebenso die von den Lehrplänen vorgesehene Sachkompetenz, Sozialkompetenz, Selbstkompetenz und Methodenkompetenz wie in den anderen Fächern. Allerdings setzt der Sprachenunterricht eigene Akzente.
In fachdidaktischer Hinsicht tut sich bei der Sprachendidaktik ein weites Lehr- und Forschungsfeld auf. In den etwa vier Jahrzehnten des Bestehens einer Sprachendidaktik, die die Deutschdidaktik, die Fremdsprachendidaktik und die Sprachlehrlernforschung zusammenführt, hat sich die Zahl der Bezugswissenschaften immer mehr erhöht. Zu ihnen zählen zentral die (historische, die strukturelle und die angewandte) Linguistik, die Psycho- und die Soziolinguistik, die Neurolinguistik, die (theoretische und die experimentelle) Phonetik, die Literaturwissenschaften, die Kulturwissenschaften, die Landeskundeforschung, die Kommunikationswissenschaft, die Übersetzungswissenschaft die Vergleichende Sprachforschung, die Spracherwerbsforschung, die Sprachpsychologie und die Lernpsychologie sowie die Erziehungswissenschaften (Pädagogik, Schulpädagogik, Allgemeine Didaktik). Im engeren Sinne befasst sich die Sprachendidaktik speziell mit den sprachlichen Fähigkeiten der Kommunikation und der Argumentation (Sprechen, Hörverstehen, Schreiben, Lesen), mit der Sprachbewusstheit mit der Textproduktion und der Textrekonstruktion, mit dem Leseverstehen, mit dem Wortschatz, mit der Rechtschreibung und mit Fragen des interkulturellen Verstehens. Das Lehren und Lernen von Sprachen (d. h. die gesteuerte Aneigung von Muttersprache, Zweit- bzw. Drittsprache und einer oder mehreren Fremdsprachen) muss sowohl die Ergebnisse der Spracherwerbsforschung berücksichtigen als auch die Ergebnisse der an Pragmatik interessierten Sprachlehrforschung, die die Kontextualität, die Situativität und die Individualität sprachlicher Äußerungen untersucht, wie auch die Forschungsergebnisse zur Interkulturalität beim Verstehen von Sprache. Denn Spracherwerb und Sprachpraxis sind konstruktive und kreative Akte des lernenden Subjekts, bei denen es zur Hypothesenbildung über die Zielsprache und die Kommunikation in dieser Zielsprache kommt. Die kommunikative Praxis bringt dann einen Abgleich mit den gebildeten Hypothesen. Wird dieser Abgleich vom Sprecher nicht bewusst vorgenommen und auch nicht für eine permanente Revision der Sprachkompetenz genutzt, kommt es zu Regelverstößen, zur Stagnation, zur Fossilierung (Versteinerung) und nicht selten auch zu Ethnolekten. Letztere sind meist an Migrantensprachen angelehnt und enthalten Veränderungen bei der Grammatik, der Lexik und der Intonation der Zielsprache (vgl. Rösch 2005).
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Gerade im Blick auf Schülerinnen und Schüler mit Migrationshintergrund, für deren Bildungserfolg die angemessene Beherrschung des Deutschen eine zentrale Voraussetzung ist, kommt alles auf eine differenzierte Didaktik des Deutschlernens (DaZ) an. Denn sie machen andere Fehler als die Schüler mit Deutsch als Muttersprache (DaM). Während DaM-Schüler meist morphologisch-syntaktische Probleme haben, brauchen DaZ-Schüler eine systematische Förderung im Bereich der Struktur (Grammatik, Syntax) und beim Wortschatz der deutschen Sprache. Auch wenn Migranten im mündlichen Sprachgebrauch oft recht geübt sind - nicht zuletzt auch wegen aktiver Vermeidungsstrategien gegenüber schwierigeren Formen -, so müssen doch die Besonderheiten schriftlicher Texte, die verschiedenen Register in den unterschiedlichen Kommunikationssituationen, intensiv geübt werden: Textaufbau, Merkmale verschiedener Textsorten, diskursstrukturierende Mittel, Verwendung von Fachsprachen (nicht nur Fachausdrücken), Strategien zum Leseverstehen (statt vagem Entnehmen des Inhalts). Aus diesem Grund muss die Sprachendidaktik zwischen DaM- und DaZ-Schülern einerseits und DaF-Schülern andererseits unterscheiden. "DaZ-Förderung braucht eigene Erfahrungs- und Handlungsräume und sollte v. a. in der Anfangsphase des Zweitspracherwerbs und bei Schülern, deren Zweitspracherwerb stagniert, von schulischen Lernprozessen entlastet werden. (. ..) So muss DaZ sehr viel mehr Sprachvermittlung leisten als der DaM-Unterricht und deutlich höheren Anforderungen genügen als jeder Fremdsprachenunterricht." (Rösch 2005, 7) Im DaZ-Unterricht muss die deutsche Sprache Lerngegenstand in allen Unterrichtsfächern sein und nicht etwa nur Mittel zum Bearbeiten von Sachaufgaben und Lerngegenständen der Fächer. Explizit sind dabei zu beachten: -
die sprachlichen Fertigkeiten des Hörens, Sprechens, Lesens und Schreibens in Deutsch,
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die Förderung der Sprachbewusstheit und der Sprachreflexion, verbunden mit der Sprachvermittlung und der Vermittlung grammatischer Terminologie,
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die Ausbildung von zweitsprachlichen Lernstrategien, z. B. zur Semantisierung von Begriffen,
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die sprachlich vereinfachte, kleinschrittig vorgehende Unterrichtsweise im Fachunterricht,
- die Einplanung von Sprachvergleichen zwischen dem Deutschen und der Herkunftssprache der Schüler. Zugleich ist der Problematik Rechnung zu tragen, dass die einzelnen Schülerinnen/ Schüler auch bei gleicher Herkunftssprache aufgrund unterschiedlicher anthropogener Bedingungen einer differenzierten, didaktischen Vorgehensweise bedürfen. Der DaM-Unterdcht zielt auf einen kompetenten, bewussten und kreativen Gebrauch der Muttersprache, auf die Bildung der Argumentations- und Urteilsfähigkeit
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sowie auf die Erfahrung und das Wissen der welterschließenden Funktion von Sprache. Im Einzelnen befasst sich die Sprachdidaktik Deutsch mit - dem Erwerb von Sprachwissen: Hochsprache/Standardsprache, Dialekt, Wortschatz, Grammatik, Fachsprachen, Literatur/Umgang mit Texten, -
dem Gebrauch von Sprache: mündliche und schriftliche Kommunikation/Darstellung/Argumentation/Verständigung, Semiotik, Semantik, Umgang mit unterschiedlichen Textsorten, Beschreibung und Strukturierung der Welt durch die Sprache(n), Leistung von Zeichensystemen allgemein,
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dem Verfügen über metasprachliches Wissen: Sprachbetrachtung, Sprachbeobachtungen, Sprachvergleiche, Sprachgeschichte, Sprachlernprozesse (Lesen, Schreiben, Sprechen), Sprachfunktionen, Ausdrückbarkeit von Sachverhalten,
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dem Entwickeln von Imagination: ästhetische Sensibilität, Vorstellungsbilder, kreative Ausdrucksformen,
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dem Aufbau einer interkulturellen Sichtweise: Empathie, Rollendistanz und Perspektivenwechsel, Toleranz, Ambiguitätstoleranz, Wissen um die eigene Identität und deren Zustandekommen, Kommunikationsbereitschaft mit Fremden, Strategien zur Bewältigung von Kommunikationssituationen mit Angehörigen anderer Sprach- und Kulturgemeinschaften, kulturspezifisches Wissen (Lange/ Neumann/Ziesenis 1998; Steinig/Huneke 2002; Bredel u. a. 2003).
Im Fremdsprachenunterricht geht es um die jeweilige Sprache als kognitiver Besitz und als Kommunikationsmittel, wobei beide Ziele in Lern-, Verstehens- und Produktionsprozessen mittels Interaktionen zwischen Lehrer und Schülern sowie Schülern untereinander erreicht werden. Das Konstruieren von entsprechendem Wissen und Können ist individuell, zugleich aber auch kollektiv und sozial. Als Besonderheit kommt beim Fremdsprachenlernen die kulturelle Geprägtheit des Lerngegenstands hinzu, die alle rationalen Prozesse durch emotionale Bewertungen beeinflusst. Die Ziele und Inhalte des Fremdsprachenunterrichts differieren nach den Schulstufen, in denen er erteilt wird: - Im Vorschul- und Primarbereich geht es wesentlich um Freude, Neugier und Interesse am handelnden Umgang mit fremden Sprachen, um eine spielerische Annäherung an Strukturen und Regeln fremder Sprachen, um ein Gespür für Prosodie, um Einblicke in die Lebensweise anderer Kinder sowie um eine Aufgeschlossenheit für Fremdes (vgl. Fröhlich-Ward 2003). -
Im Sekundar-I-Bereich stehen im Vordergrund: das Sprachwissen, die Sprechund Kommunikationskompetenz, die Kenntnis der Literatur und der Landeskunde fremdsprachlicher Völker, das Verständnis für und den Zugang zu deren Kultur und Geschichte. In der Regel werden hier mehrere Fremdsprachen mit unterschiedlicher Dauer und zur Wahl unterrichtet, teilweise auch Deutsch als
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Zweitsprache. Unterrichtsorganisatorisch findet hier mancherorts bilingualer Sachfachunterricht statt. Des Weiteren soll der Fremdsprachenunterricht der Auseinandersetzung des Jugendlichen mit sich selbst, seiner Position zwischen verschiedenen Kulturen und zwischen den Generationen stärkere Beachtung schenken (vgl. Finkbeiner 2003). - In der Sekundarstufe II ist zzt. die beherrschende Fremdsprache das Englische; Latein erscheint den meisten Fremdsprachendidaktikern in dieser Schulstufe (und überhaupt) überdimensioniert; Französisch ist noch häufig vertreten, Spanisch hat demgegenüber seine Unterrichtsanteile gesteigert, Russisch verringert, Chinesisch, Japanisch und nahezu alle Nachbarsprachen außer den genannten sind nicht nennenswert vertreten. Hörverstehen und Sprechen (Prosodie, correctness, fluem:y, communicative adequacy), die Alltagkultur und die kulturelle Tradition sowie das Fremdverstehen sind hier besonders zu betonen (vgl. Sehröder 2003). In methodischer Hinsicht hat der Unterricht in den neueren Sprachen nach 1945 verschiedene Phasen durchlaufen: - die Direkte Methode mit dem Vorrang des mündlichen Sprachkönnens in Alltagssituationen und mit der Einsprachigkeit als Prinzip, unterstützt durch audiolinguale Materialien (speech patterns); -
die Vermittelnde Methode, die die Direkte Methode an ausgewählten, bildenden Inhalten (Kanon) durchführte und um das Erlernen neuer Wörter aus Sinnzusammenhängen, um das induktive Vorgehen bei der zyklisch voranschreitenden Grammatikarbeit und um Übersetzungsübungen erweiterte und audiovisuelle Materialien einbezog;
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die Lernerorientierte Methode, die den Schwerpunkt vom Lehren auf das Lernen verlagerte und die anthropogenen, kultur- und milieubedingten Voraussetzungen und Bedürfnisse des Schülers/der Schülerin - im Sinne der Pragmalinguistik - zum Ausgangspunkt des Fremdsprachenlernens macht, Fremdsprachenlernen als kognitiven und kreativen Prozess versteht und neue methodische Prinzipien aufstellt: Der Lehrer als Helfer im Lernprozess, die Selbsttätigkeit des Schülers im Sinne eines selbstentdeckenden, induktiven und selbstkontrollierenden Lernens, kooperatives Lernen, multimediale Lernumgehungen zur Differenzierung und Individualisierung beim Lernen sowie die Orientierung des Lernprozesses an der Bedeutsamkeit und an der Bedeutungsgenerierung seitens des Lerners;
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die Interkulturelle Methode, bei der Fremdsprachenkenntnisse als "Kulturtechniken des Weltbürgers" gelten und sprach- und kulturkontrastive Verfahren in den Vordergq_md treten und mit pädagogischen Aufgaben wie Fähigkeit und Bereitschaft zu interkulturellen Kontakten, Akzeptanz der Verschiedenheit und
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Gleichrangigkeit von Sprachen und kulturspezifischen, menschlichen Verhaltensweisen, Sprachsensibilisierung und Einsichtnehmen in die eigene Soziokultur bis hin zur Friedenserziehung verbunden werden (Neuner 2003). Fremdsprachenmethodisch treten dabei Transfers ("cross-linguistic influence" beim Sprachenlernen), positive Interferenz (im Sinne einer kompensatorischen Ressourcennutzung) und negative Interferenz (als Ursache für Kompetenzfehler) und bei der Textarbeit Inferenz (als Worterschließung in unbekannten fremdsprachlichen Texten) in den Fokus der Aufmerksamkeit (Cavallini 2006; Drumbl 2004). Der Sprachunterricht in Deutsch und in den Fremdsprachen bewegt sich zurzeit didaktisch in Richtung auf ein Gesamtkonzept des Sprachenlernens, also in Richtung auf eine Sprachendidaktik. Der in der Schweiz seit 1998 diskutierte und teilweise realisierte Entwurf eines individuellen und gesellschaftlichen SprachenJemens während der Pflichtschulzeit orientiert sich dabei an soziolinguistischen Aspekten der Sprachen und Sprachgruppen des Landes, an psycholinguistischen Aspekten der Sprecher, ihres Lebensumfelds und ihrer Einstellung verschiedenen Sprachen gegenüber sowie an sprachdidaktischen Aspekten des Schulunterrichts wie Ziele der unterschiedlichen Sprachen, Sprachenfolge, interkulturelle und komparative Gesichtspunkte, Sprachenpolitik und Sprache als Kommunikationsmittel (Expertengruppe 1998). Solche Gesamtkonzepte für sprachliches Lernen "intendieren, dass die Beziehungen zwischen den verschiedenen unterrichteten und lebenspraktisch in der Gesellschaft vorhandenen Sprachen genauer geklärt werden. (. ..) Angeregt wird eine quasi arbeitsteilige Mitwirkung jedes Einzelsprachunterrichts an einer sprachlichen Bildung, die insgesamt die Zielperspektive verfolgt, dass der einzelne Mensch ein mehrsprachiges Selbstverständnis entwickelt (. ..) Allgemeine sprachliche Bildung nach diesem Verständnis, die am Leitbild des mehrsprachigen, über metasprachliche Kompetenz (. ..) verfügenden Menschen orientiert ist, soll die Ausbildung der jeweiligen Einzelsprache mit einer eigenwertigen Ausbildung sprachenübergreifender Fähigkeiten in Einklang bringen." (Gogolin 2003, 101)
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Allgemeine Didaktik - Fachdidaktik - Sprachendidaktik
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Die Mehrsprachigkeit -Versuch einer begrifflichen Klärung
Gerda Videsott
Die MehrsprachigkeitVersuch einer begrifflichen Klärung Mehrsprachigkeit definieren zu wollen heißt, sich mit der Beschreibung eines besonders komplexen Phänomens auseinanderzusetzen. Die grundlegende Schwierigkeit dabei ist, dass Sprache nicht univok definierbar ist. Es herrscht allenfalls ein gewisser Konsens darüber, dass Sprache v. a. eine Kommunikationsform ist, die als System von konventionellen Symbolen funktioniert, die sich auf ein intersubjektives Bedeutungsfeld beziehen und intentional angewandt werden_! Die Besonderheit der menschlichen Sprache liegt in ihrer Rekursivität: Durch die Kombination einer finiten Anzahl von Elementen können infinite Ausdrucksmöglichkeiten gebildet werden. 2 Dadurch erlangt sie einen qualitativ höheren Stellenwert als die Kommunikationsformen der Tiere (Hauser/Chomsky/Fitch 2002a), bei denen teilweise eine der Sprache ähnliche Fähigkeit (z. B. bei Delphinen, bestimmten Vogeltypen) festgestellt wurde. Dem entspricht die Hypothese, dass Sprache ein selektiver Vorteil im Evolutionskontext ist (Ganger/Stromswold 1998) und sich als eine frühe graduelle Adaptierung entwickelte (Johansson 2005). Die heute de facto vorhandene sprachliche Vielfalt (ca. 85.000 Sprachen) ist die Folge der biologischen und der kulturell-mimetischen Adaptierung (Johansson 2005). Aufgrund von geographischen und historisch-kulturellen Bedingungen entstanden bzw. veränderten sich "natürlich-historische" Sprachen; sie dienen nicht nur als Verständigungsmittel innerhalb der eigenen Gruppe, sondern auch als Abgrenzung von anderen Gruppen. Sie passte sich ebenfalls in Bezug auf Ort (Diatopie), [Gesellschafts-]Schicht (Diastratie), Situation (Diaphasie) und Medium (schriftlich/ mündlich) an, sodass Sprache nur als dynamischer Prozess, nicht aber als abstrakte und statische Grammatik adäquat erfasst werden kann (Langacker 2001; Taylor 2002a). Der Terminus Mehrsprachigkeit bezieht sich in der Regel auf die menschliche Fähigkeit, in mehreren verbalen Sprachen zu kommunizieren und impliziert die Koexistenz mehrerer Sprachen innerhalb eines individuellen oder sozialen Systems.\ Mehrsprachigkeit betrifft - trotz der v. a. in Westeuropa in den letzten zwei Jah~
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Sprache kann aber nicht als Synonym von Kommunikation gesehen werden, denn wenn man unter Kommunikation jegliche Art der Informationsübertragung versteht, impliziert Sprache nur die intentioneHe Anwendung der Symbole, die eine allgemein anerkannte Auffassung des Universums darstellen und voraussetzen Oohansson 2005). Die Eigenschaft der Rekursivität liegt in der Natur auch in der DNA vor (Schrödinger 1944). Weitere kennzeichnende Charakteristika der Sprache sind bekanntlich ihre Biplanarität, Arbitrarität und Äquivozität (Berruto 1994).
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Gerda Videsott
hunderten wiederholt angestrebten nationalstaatliehen Monolingualität (Romaine 1989) ca. 2/3 der Weltbevölkerung und ist somit als Regel, nicht als Ausnahme anzusehen (Crystal 1997). Allerdings ist als Problem für die Umschreibung von Mehrsprachigkeit anzumerken: a) Es konnte bisher noch keine allgemein anerkannte, eindeutige Klassifikation der Sprachen erarbeitet werden - was jedoch für die Feststellung von Mehrsprachigkeit notwendig wäre. 3 b) Die genaue Unterscheidung zwischen Sprache und Dialekt ist schwierig und beruht sowohl auf außer- als auch auf innerlinguistischen Faktoren. 4 c) Es konnte bisher noch kein genauer Maßstab für die Sprachkompetenz festge-
legt werden: Diese kann z. B. die gesamten oder nur gewisse Anwendungsbereiche einer Sprache umfassen, z. B. fachsprachlich/beruflicher vs. alltäglicher Kontext (Baker 2001).
d) Eine eindeutige Grenze zwischen Sprachkenntnis und Sprachbeherrschung konnte bisher nicht markiert werden (Romaine 1989). e) Die vier klassischen Sprachebenen Phonetik, Morphologie, Syntax und Semantik stellen laut neueren neurolinguistischen Untersuchungen verschiedene Teilfertigkeiten innerhalb des Sprachaktes dar (Paradis 2004). f) Beim Spracherwerb spielen außerlinguistische Faktoren eine große Rolle wie Alter, Geschlecht, Motivation, Intelligenz, Aneignungsprozess und Umfeld des Individuums (Mackey 1968; Pallotti 1998). Es ist deshalb schwer zu definieren, wer als mehrsprachiges Individuum bezeichnet werden kann und wer nicht (Stern 1992). Jedenfalls sollte man bei der Identifizierung eines mehrsprachigen Individuums dessen Sprachkenntnis, seinen alltäglichen Sprachgebrauch und den Umfang, in welchem es zwischen zwei oder mehreren Sprachen wechselt sowie diese miteinander vermischt bzw. trennt, berücksichtigen (Mackey 1968). In der Fachliteratur schwankt man zwischen einer minimalistischen und maximalistischen Auffassung von Mehrsprachigkeit (Baker 2001). Bei einer minimalistischen Auffassung wird das sprachliche Kompetenzniveau relativ niedrig angesetzt: Als mehrsprachiges Individuum wird z. B. jemand verstanden, der eine Lesefähigkeit in einer zweiten Sprache besitzt, die jener in der Muttersprache5 (annähernd) gleich ist (Macnamara 1969) -vom Extremfall abgesehen, dass 3
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Den meisten Klassifikationsversuchen ist der Versuch gemeinsam, die Sprachenaufgrund bestimmter konstitutiver Merkmale in Sprachfamilien einzuordnen (Typolinguistik; Glottochronologie) und durch Komparation den unter ihnen bestehenden Verwandtschaftsgrad festzustellen (Greenberg). Chomsky z. B. unterscheidet Sprache vs. Dialekt dadurch, dass die Sprache von einer Flagge und einer Militärarmee unterstützt wird und der Dialekt nicht (Chomsky/Smith 2000). Die Muttersprache ist jene Sprache, mit der sich ein Individuum identifiziert. Sie kann sich während des Lebens auch ändern (Romaine 1989).
Die Mehrsprachigkeit - Versuch einer begrifflichen Klärung
auch jemand, der nur einige Wörter in einer anderen Sprache versteht, ebenfalls als mehrsprachig angesehen wird (Edwards 2004). Bei einer maximalistischen Auffassung werden hingegen nur solche Individuen als mehrsprachig bezeichnet, die ein passives und aktives Sprachverständnis bzw. eine Sprachfertigkeit in allen Registern der beteiligten Sprachen aufweisen können (Thiery 1976) bzw. über eine muttersprachähnliche Sprachbeherrschung in zwei oder mehreren Sprachen verfügen (Bloomfield 1933).6 Ein Individuum, das zwei Sprachen in allen Aktivitätsdomänen gleichermaßen beherrscht, kann als balanced bilingual (Macmanara 1969), equilingual (Beatens-Beardsmore 1986) oder ambilingual (Halliday/Mcintosh/Strevens 1964) bezeichnet werden. Diese perfect bilinguals (Paradis 2004) machen nur etwa 5% der Mehrsprachigen aus (Cook 1995), während die meisten dominant bilinguals sind, also eine Sprache besser als die andere beherrschen (Fabbro 1996). Aufgrund der dargestellten Definitionsschwierigkeiten kommen bei der Mehrsprachigkeitsdebatte mehr die Einzelkompetenzen Hören bzw. Verstehen, Sprechen, Lesen und Schreiben und ihre möglichen Kombinationen wie Zusammenfassen, Gespräche führen und Mitschreiben in den Blick. Auf eine weitere Unterscheidung ist hinzuweisen: Individuelle Mehrsprachigkeit kann chronologisch gleichzeitig oder sequentiell erworben werden sowie implizit (auf natürliche Weise, durch Umwelteinflüsse) oder explizit (in einer bewussten Art, die aus einem Lernprozess besteht, der wiederum autodidaktisch oder lehrergesteuert sein kann). Aus der individuellen geht die gesellschaftliche Mehrsprachigkeit hervor, die institutionell verwirklicht wird. Ihr Vorkommen kann (z. B. Südtirol, Luxemburg), muss aber nicht mit jenem der individuellen Mehrsprachigkeit zusammenfallen, da gesellschaftliche Mehrsprachigkeit im Extremfall auch als Summe von unterschiedlich einsprachigen Individuen vorkommen kann (z. B. Belgien) und umgekehrt individuelle Mehrsprachigkeit auch in einem nominell einsprachigen Gebiet möglich ist (z. B. Einwandererfamilien in Frankreich, USA). Aus diesen kurzen Überlegungen geht die Komplexität des Phänomens Mehrsprachigkeit hervor, ebenso der Kontrast zwischen der wissenschaftlichen Verwendung des Begriffes und seinem umgangssprachlichen Gebrauch. Eine Antwort auf die Frage: "Was ist Mehrsprachigkeit?" kann deshalb nur lauten: ~hrsprachigkeit als Kompetenz, in mehreren Sprachen zu kommunizieren, ist kein einheitliches Phänomen. Eine Definition hängt von der konkreten und praktischen Anwendung bzw. Ausprägung von Mehrsprachigkeit ab. Es steht jedoch fest, dass eine zweite bzw. mehrere Sprachen (insofern man di~se unterscheiden kann) immer eine Bereicherung darstellen, da es sich um eine bzw. mehrere Möglichkeiten handelt, die Welt zu erfassen und zu begreifen.J 6
Wie bereits erwähnt, ist es unklar, inwieweit bei Mehrsprachigkeit auch die Dialektkompetenz berücksichtigt werden soll. In der Regel wird diese mitberücksichtigt (Fabbro 1996).
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Gerda Videsott
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Didaktik der Mehrsprachigkeit
Werner Wiater
Didaktik der Mehrsprachigkeit t"-
rAuf der Erde leben mehr als 6 Milliarden Menschen, die insgesamt mehr als 8.000
Sprachen sprechen, mehr als 220 davon innerhalb Europas. ßereits vor der letzten EU-Erweiterung im Jahre 1998 empfahl das Ministerkomil'te der Mitgliedsstaaten im Europarat für die modernen, europäischen Fremdsprachen ein "europäisches Sprachenportfolio", das den Sprachlernprozess der Lerner in der EU auf- und nachzeichnen sollte. Auf diese Weise sollte die sprachlich-kulturelle Vielfalt in Europa erhalten, die Kommunikationsfähigkeit der EU-Bürger in mehreren Sprachen vergrößert, ihr gegenseitiges Verstehen verbessert und ihre Eigenverantwortlichkeit für ihr Leben in einem vielsprachigen Europa gestärkt werden. Im "Jahr der Sprachen", 2001, verabschiedete dann der Europarat den "Gemeinsamen Referenzrahmen für Sprachen" (GERR), in dem die Vielfalt der Sprachen als etwas Positives und Schützenswertes betrachtet und in Europa eine funktionale Mehrsprachigkeit gefordert wird. Darunter versteht der Europarat dass die EU-Bürger lebenslang, je nach Kommunikations- und Interaktionsbedarf, zum Zwecke einer größtmöglichen Mobilität und eines besseren gegenseitigen Verstehens oder Zusammenarbeitens die notwendigen Voraussetzungen zur Kommunikation in jeder anderen Gemeinschaftssprache entwickeln können sollen. Dazu benötigen sie vor allem zwei Kompetenzen: (l) kommunikative Kompetenzen für den privaten, den öffentlichen, den schulischen und den beruflichen Bereich, und zwar: linguistische Kompetenzen (=lexikalische, grammatische, semantische, phonologische), soziolinguistische Kompetenzen (=angemessene Kenntnis und Bewältigung der sozialen Dimensionen des Sprachgebrauchs) und pragmatische Kompetenzen (=sich sprachlich mitteilen und verständlich machen); (2) allgemeine Kompetenzen wie allgemeines Weltwissen und soziokulturelles Wissen, Fertigkeiten zur Vermittlung zwischen verschiedenen Kulturen, Lernfertigkeiten und Persönlichkeitskompetenz. Dabei unterscheidet der GERR unterschiedliche Niveaustufen bei den kommunikativen Aktivitäten: a) die elementare Sprachverwendung, b) die selbstständige Sprachverwendung und c) die kompetente Sprachverwendung - jeweils in zwei Unterstufen. Der gemeinsame Referenzrahmen für Sprachen soll die Entwicklung von Lehrplänen, Schulbüchern/Lehrwerken und Sprachprüfungen in Europa vereinheitlichen helfen. Das Besondere dabei ist, dass die Sprachen und Kulturen nicht getrennt betrachtet werden, sondern gemeinsam die kommunikative Kompetenz des EUBürgers ausmachen, die von diesem-wiederum lebenslang (weiter-)entwickelt werden müsste. Einem solchen Grundverständnis vom Sprachenlernen verpflichtet sich die seit etwa einem Jahrzehnt ~rarbeitete Mehrsprachigkeitsdidaktik. Für die Didaktik der Mehrsprachigkeit gilt:
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Werner Wiater
l. Sie betrifft nur die neueren, heute international gesprochenen Sprachen, nicht
die alten Sprachen.
2. Sie relativiert und reduziert die quantitative Vorrangstellung des Englischen als "Langzeitschulfremdsprache" und lässt Englisch nur als operative, für bestimmte Zwecke und Diskursbereiche geeignete, transnationale Verkehrssprache ("lingua franca" in einer intersociety, aber nicht in einer speech-society) zu. 3. Sie kritisiert die mangelnde fachwissenschaftliche und empirische Absicherung für Englisch als favorisierte Sprache des Fremdsprachenfrühbeginns (Vorschule, Grundschule). 4. Sie sieht in der derzeitigen Unterrichtsorganisation mit ihren Einzelfächern Deutsch, Englisch, Französisch usw., aber auch im bilingualen Unterricht oder in zusätzlichem Muttersprachenunterricht eine Perpetuierung des "monolingualen Habitus" (Gogolin 1994) in der Lehrerschaft und im Schulverständnis. 5. Sie verurteilt das dem herkömmlichen Fremdsprachenunterricht zugrundeliegende, additive Lernverständnis und fordert stattdessen die Berücksichtigung neurolinguistischer Forschungsergebnisse und des kognitivistisch-konstruktivistischen Lernbegriffs. 6. Sie orientiert sich bei den Leistungszielen des Fremdsprachenunterrichts nicht mehr am "native-speaker-Ideal" und auch nicht am Unterrichtsprinzip "Einsprachigkeit", sondern legt Wert auf "language Oearning) awareness" sowie auf allgemeine Fähigkeiten zum Lernen von und zum Umgang mit fremden Sprachen wie z. B. Sprachreflexion, Metakommunikation, Metalernen und Aspekte der Sprachenpolitik 7. Sie sieht im Sprachenlernen einen lebenslangen Lernprozess, der nicht auf die Schule als Lernort beschränkt ist, sondern andere Lernorte gewinnbringend einbezieht. 8. Sie macht den zeitlichen Umfang, die Auswahl der Lerninhalte und das Kompetenzniveau in der erlernten Sprache davon abhängig, wofür jemand die erlernte Sprache verwenden will; geschieht das Sprachenlernen zum Zwecke eines Sprachenstudiums, dann erfolgt es auf eine andere Art und auf einem anderen Niveau, als wenn es für die private, oder etwa für die berufliche Verwendung in einem anderen Land erworben wird. 9. Sie ist grundsätzlich lernerorientiert und befolgt die Interkomprehensions-Methode, die beim gesteuerten Erlernen einer neuen Zielsprache grundsätzlich das linguale, prozedurale und enzyklopädische Vorwissen des Schülers/der Schülerin als Transferbasis und für dessen selbsttätige Inferenzen nutzt. 10. Sie impliziert die Kenntnis mehrerer Fremdsprachen -also nicht nur einer einzigen wie üblicherweise gegenwärtig das Englische.
Didaktik der Mehrsprachigkeit
1. Begriffsklärung Didaktik ist die Wissenschaft und Praxis von Lehr-Lern-Prozessen; in der Schule thematisiert sie den Zusammenhang zwischen Unterrichten und Lernen und untersucht, wie es durch Akte des Lehrens zum Initiieren, Unterstützen und Sichern von Lernakten bei Schülern/Schülerinnen kommt Dabei legt sie ein kognitivistischkonstruktivistisches Verständnis von Lernen zugrunde. Mehrsprachigkeit (im Unterschied zu Zweisprachigkeit) ist das Verfügen über mehr als eine Fremdsprache neben der Muttersprache, verbunden mit dem Wissen um die kulturelle Einbettung der Sprachen. Im unterrichtlichen Kontext geht es weniger um die gesellschaftlichkollektive Mehrsprachigkeit (wenn in einem Land, einer Stadt oder einer sozialen Gruppe zwei oder. mehr Sprachen gleichermaßen benutzt werden) als um die individuelle Mehrsprachigkeit des Schülers/der Schülerin. Die Diskussion über die individuelle Mehrsprachigkeit konzentriert sich nach K.-R. Bausch (2003, 440 ff.) auf die folgenden beiden Aspekte: (a) ob und wie die Mehrsprachigkeit durch eine globale Sprachfertigkeit ausdrückbar in einem bestimmten Sprachstand, charakterisiert wird; zu unterscheiden sind hier rudimentäre Kenntnisse, near nativeness oder symmetrisch-äquilinguale Sprachfertigkeit in allen Fremdsprachen, Dominanz einer Fremdsprache und defizitärer Semilingualismus, und (b) ob und wie die Mehrsprachigkeit vom lernenden Individuum abhängig ist, wofür ein Grund die individuellen Kommunikationsabsichten und Sprachfertigkeiten sein können (z. B. im Sinne einer funktionalen Mehrsprachigkeit, die produktiv gleichermaßen auf Sprechen, Hören, Lesen und Schreiben ausgerichtet ist oder rezeptiv nur das Hören und Lesen einbezieht); ein anderer Untersuchungsgegenstand könnten in dieser Hinsicht die spezifischen Formen der mentalen Repräsentation/Speicherung der Sprachen im Gehirn des Sprachenlerners sein (d. h. kombinierte oder koordinierte Repräsentation); ein weiterer ergibt sich aus der Frage nach dem bestgeeignetesten Zeitpunkt des Fremdsprachen-Lernens (critical period hypothesis) sowie nach alters- und lernerspezifischen Lehr-LernMethoden. Aus den Fragestellungen und Forschungsanliegen zur Mehrsprachigkeit leitet K.-R. Bausch die Forderung ab, "eine eigenständige Didaktik und Methodik der Mehrsprachigkeit zu erarbeiten, (. ..) deren genuines Ziel auf die Ausbildung von echten Mehrsprachigkeitsprofilen gerichtet-wird". (a. a. 0., 443) Eine so verstandene Mehrsprachigkeit ergibt sich nicht aus der Addition fächerspezifischer Lernleistungen. "Mehrsprachige Personen können nicht nur mehrere Sprachen, sie besitzen auch eine besondere Sensibilität für das Funktionieren von Sprache, für sprachliche urid kulturelle Vielfalt. und für das Lernen von Sprachen." (Landesinstitut für Schule und Weiterbildung Bd. l, 15)
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Die Didaktik der Mehrsprachigkeit lässt sich (in Anlehnung an F.-J. Meißner/M. Reinfried) demnach wie folgt definieren:
Die Didaktik der Mehrsprachigkeit ist die Wissenschaft und Lehre vom kombinierten und koordinierten Unterrichten und Lernen mehrerer Fremdsprachen innerhalb und außerhalb der Schule. Ihr primäres Ziel ist die Förderung der Mehrsprachigkeit durch Erarbeitung sprachenübergreifender Konzepte zur Optimierung und Effektivierung des Lernens von Fremdsprachen sowie durch die Erfahrung des Reichtums der Sprachen und Kulturen. Im Einzelnen umfasst die Didaktik der Mehrsprachigkeit: -
die Vorrangstellung des lernenden Subjekts und seiner funktionalen Kommunikationskompetenz,
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die Zentrierung auf Fragen der Sprachtypologie, der Sprachfamilien, der Sprachähnlichkeiten, der Sprachparallelen und der sprachlichen Universalien zu Lasten der spezifischen und einzelnen Fremdsprachenkenntnis,
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die curriculare Abstimmung hinsichtlich der Inhalte, Ziele, Methoden und Medien zwischen den zu lernenden Sprachen,
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die Entscheidung über eine förderliche Sprachenabfolge,
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die Nutzung der Beziehungen zwischen verschiedenen Sprachen für das Lernen (vgl. Transfer, Interferenz),
-
das Erarbeiten interlingual nutzbarer Elemente (Wortschatz, Formen) und Strategien für das Verstehen unbekannter, fremdsprachlicher Texte (vgl. Inferenz),
-
den Aufbau sprachengemeinsamer kognitiver Schemata und das Erlernen von Dekodierungstechniken,
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lernerorientierte Methoden und die Individualisierung beim Sprachenlernen,
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die Vernetzung des schulischen mit dem außerschulischen Lernen und der vorgelernten mit der nachgelernten Sprachen im Sinne einer lifelong language learning perspective und
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Überlegungen zum interkulturell erziehenden Unterricht und zum multilingual bildenden Lernen in den Fremdsprachenfächern.
2. Modelle der Mehrsprachigkeitsdidaktik Dem heutigen Stand der allgemeindidaktischen und fachdidaktischen Forschung entsprechend, gehen alle Konzeptionen der Mehrsprachigkeitsdidaktik vom Schüler als autonomem, selbstgesteuerten und selbstreflexiven Lernersubjekt aus; ferner betonen sie einmütig, dass Fremdsprachenlernen ein ganzheitliches Lernen ist und Kognition, Emotion, Motivation, Erwartungen und Lernhaltungen des Schülers da-
Didaktik der Mehrsprachigkeit
bei gleichermaßen bedeutsam sind; schließlich verpflichten sie sich einer Theorie des Lehrens und Lernens fremder Sprachen auf neurowissenschaftlicher, lern- und instruktionspsychologischer Basis, bei der Instruktion und Konstruktion dialektisch zueinander stehen, das eine zugunsten des anderen nicht aufgehoben werden darf. Vor dem Hintergrund dieser gemeinsamen Grundlage lassen sich in der Diskussion um die Mehrsprachigkeitsdidaktik folgende Grundmodelle unterscheiden: Modell/: Mehrsprachigkeitsdidaktik als Sprachgruppendidaktik
Den Vorstellungen der Europäischen Kommission entspricht ein Modell der Mehrsprachigkeitsdidaktik, das unter der Abkürzung EuroCom, Europäische Intercomprehension, verbreitet wird. Die Verfechter dieses Modells argumentieren damit, dass nahezu alle europäischen Bürger mit ihrer Erst- oder Zweitsprache einer der drei großen Sprachzweige der indogermanischen Sprachfamilie - das sind romanische Sprachen, slawische Sprachen oder germanische Sprachen - angehören (für die romanischen Sprachen: H. G. Klein, T. D. Stegmann; für die germanischen Sprachen: B. Hufeisen; für die slawischen Sprachen: L. Zybatow, G. Zybatow). Aus dieser Feststellung folgern sie ein didaktisches Konzept, das allen Angehörigen der jeweiligen Sprachgruppe eine rezeptive Mehrsprachigkeit vermitteln kann, deren Teilkompetenzen modular aufbauend erworben werden, indem die Verwandtschaftsbeziehungen zwischen den Sprachen derselben Sprachzweige/Sprachgruppen genutzt werden. Vorrangig sind dabei die rezeptive Kompetenz des Lese- und des Hörverstehens sowie die Erarbeitung transferbasierter Erschließungsstrategien. "Als Nebenwirkung wird dem Lerner dabei ein Stück Europäität vermittelt, die es ermöglicht, die kulturelle Vielfalt Europas in ihren Zusammenhängen zu begreifen und Profilhaftes zu erkennen." (Klein 2002, 31) Eine weitere Nebenwirkung wird darin gesehen, "dass die Methode ohne zusätzlichen Spracherwerb auch das Verständnis und Kennenlernen der Sprachen der oft benachteiligten, so genannten kleineren und der Minderheiten-Sprachen fördert, die in ihrem Verbreitungsgebiet oft Mehrheitssprachen sind, aber von einem historisch gewachsenen Zentralismus und künstlichen Wertigkeiten eines marche linguistique benachteiligt werden". (a. a. 0.) Angewandt auf die romanischen Sprachen hieße das, dass nicht nur Französisch, Spanisch und Italienisch, sondern auch Portugiesisch, Rumänisch und Katalanisch einbezogen sind, wie auch okzitanische, sardische oder galizische Texte verstanden werden könnten. Beim Modell der Europäischen Intercomprehension und dem dazugehörigen Didaktikmodell EuroComDidact handelt es sich "um eine Transversaldidaktik, welche die einzelsprachlichen Didaktiken im Sinne des fächer- und sprachenübergreifenden Lernens miteinander vernetzt". (Meißner 2002, 45) Dabei liegt der Mehrwert dieser Mehrsprachigkeitsdidaktik gegenüber dem additiv, linearen monolingualen Unterricht in einer Fremdsprache darin, dass diese Mehrsprachigkeitsdidaktik zugleich eine Mehrkulturalitätsdidaktik ist. Denn sie sensibilisiert für den Zusammenhang
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zwischen Sprache und Kultur dadurch, dass sie bei der Mehrsprachigkeit und Mehrkulturalität der Muttersprache der Schüler ansetzt und so innerhalb der Sprache, die die Schüler von Haus aus sprechen, eine Fremdverstehenskompetenz anbahnt. Dieses Modell der Mehrsprachigkeitsdidaktik hält es für wichtiger, dass die Schüler einen verstehenden Umgang mit kulturellen Fremdheiten und eine transkulturelle/transnationale Kommunikationsfähigkeit lernen, als dass sie die verschiedenen Fremdsprachen als Lerngegenstand im gelenkten Spracherwerbsverfahren kennenlernen. Bei der Interkomprehension steht das "optimale Erschließen" im Zentrum. Bei dieser Methode wird zunächst das sprachliche, enzyklopädische und lerntechnische Vorwissen der Lernenden, ihre lexikalischen, semantischen, morphologischen, syntaktischen und modalen Strukturen in ihrer jeweiligen Grundlagensprache, systematisch aktiviert. Außerdem wird dem Weltwissen der Schüler/Schülerinnen besondere Aufmerksamkeit zuteil, denn es hilft beim Erschließen fremder Texte mit, den aus unbekannten Informationen ermittelten Sinn auf seine wahrscheinliche Richtigkeit einzuschätzen. Schließlich ist auch des Schülers Metawissen über mentale und lerntechnische Strategien beim optimalen Erschließen wichtig; denn diese kann der Lernende nutzbringend zur Bewältigung sprachlicher Probleme einsetzen. Bei allen Aufgabenstellungen dieser Art geht der Schüler/die Schülerin im Sinne des konstruktivistischen Lernbegriffs vor. "Auf Interkomprehension, d. h. auf intensive sprachenübergreifende Sprachverarbeitung und hochgradige Steuerung der Lernenden abhebende Methoden sind ein Beispiel par excellence für konstruktivistisches Lernen." (Meißner 2002, 51) Denn der Lerner ist hier bemüht, die Argumentationsstruktur des unbekannten (gesprochenen oder geschriebenen) Textes durch Transfers und über lexikalische und grammatische Hypothesen (Spontan-/Hypothesengrammatik) durch ein "Zwischensprachen-System", ein "Intersystem der Sprache", zu erschließen. Das Meta-Transfer-Wissen, das er dabei erwirbt, kann er für folgende Texterschließungen nutzen. Im Sinne der Sprachgruppendidaktik ist es erforderlich, dass jeder Schüler über bestimmte Teilkompetenzen verfügt, die er bei einer sprachlichen Erschließung nacheinander als Analyse-Schritte einzusetzen in der Lage ist (vgl. die "sieben Körbe"): 1. Absuchen des Textes auf enthaltenen internationalen Wortschatz. 2. Suche im Text nach dem Wortschatz, der in der ganzen Sprachgruppe gemeinsam vorhanden ist. 3. Ermitteln der für die Sprachgruppe charakteristischen Lautentsprechungsformen mit Hilfe von vorher erworbenen Kenntnissen über den Lautwechsel (historische Phonologie). 4. Untersuchen der Schreibweise (Grafie) und der Aussprachekonventionen. 5. Analyse der Morphosyntax auf relevante grammatische Phänomene.
Didaktik der Mehrsprachigkeit
6. Erfassung der Wortstellung und des Satzbaus. 7. Beobachtungen zu Präfixen und Suffixen anstellen. Mit Hilfe dieser sieben Analyse-Schritte setzt der Schüler/die Schülerin seine Kenntnisse über den Sprachenzusammenhang ein, um die Besonderheiten eines Fremdsprachentextes erfassen zu können. Dabei sind zusätzliche Informationen, so genannte "Miniporträts", über die Einzelsprachen von Nutzen. "Zum einen handelt es sich bei den ergänzenden Informationen um Angaben zur geographischen Verbreitung, der historischen Entwicklung der entsprechenden Sprache, der heutigen Sprecherzahl u. ä. Außerdem bieten die Miniporträts die Möglichkeit, Spezifika und Charaktersitika der jeweiligen Einzelsprache mehr oder weniger ausführlich darzustellen." (Zybatow/Zybatow 2002, 89) Dieses Modell der Mehrsprachigkeitsdidaktik, das die Sprachverwandtschaft in den drei großen, in der EU vertretenen Sprachgruppen für das Lehren und Lernen der Mutter- und Fremdsprachen in Europa nutzt, hat für Schule und Unterricht bedeutsame Konsequenzen: Bereits in Vorschule und Grundschule muss bilingual und bikulturell gelernt werden, und zwar spielerisch im Sinne des Konzepts der Begegnungssprachen in gemischten Gruppen aus deutschen und ausländischen Kindern. In der Sekundarstufe I soll in allen Schulformen eine so genannte "Fundamentalsprache" intensiv unterrichtet werden, zu der noch mindestens eine europäische Sprache hinzukommen muss. In der Sekundarstufe II sollen weitere europäische Sprachen als so genannte "Erschließungssprachen" hinzukommen; da dem Schüler zeitlich und räumlich fernere Kulturen nahegebracht werden sollen, können auch Arabisch, Chinesisch, Japanisch usw. oder auch Latein und Griechisch hier unterrichtet werden. Bei der Auswahl der Fundamentalsprache ist darauf zu achten, dass diese für Transfer und Inferenz besonders geeignet ist. Für die romanischen Sprachen trifft das für Französisch, für die Slawischen Sprachen für Russisch und für die germanischen Sprachen für Deutsch zu. Die Fundamentalsprache muss ferner eine lebende Sprache sein. Sie muss umfangreich und linguistisch vertieft erlernt werden, und es müssen hier Morphologie und Korrespondenzregeln für die Wortbildung thematisiert werden. Um die notwendigen linguistischen Kenntnisse zu vermitteln, um die Sprachenporträts zu erarbeiten und um die metakognitiven Kompetenzen und Lernstrategien aufzubauen, muss der Unterricht zeitweilig als Blockunterricht durchgeführt werden; dieser entsteht aus einem Stundenpool, der anteilig aus der Fundamentalsprache und aus den Erschließungssprachen gebildet wird. Dieser Unterrichtsblock befähigt die Schülerinnen und Schüler zur selbstständigen Durchführung der sieben Analyse-Schritte, die dann das Erlernen der Erschließungssprachen methodisch begleiten. Ferner sollte, eine Fremdsprache nicht länger als 5-6 Jahre lang unterrichtet werden. Empirische Untersuchungen haben nämlich ergeben, dass nach so viel Jahren ein Lern- und Leistungsplateau entsteht, von dem aus nur noch wenige Fortschritte feststellbar sind. Die auf diese Weise gewonnene Unterrichtszeit könnte für weiter~ Fremdsprachen genutzt werden; hier wären auch kurz laufende Sprachkurse, so genannte "Intensivkurse" unterzubringen.
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Modell//: Mehrsprachigkeitsdidaktik als integrierte Herkunftssprachendidaktik
Dieses Modell einer Didaktik der Mehrsprachigkeit setzt bei der Beobachtung an, dass sich in multilinguistischen Gesellschaften die Angehörigen von Minderheitensprachen von der Mehrheitssprache bewusst abgrenzen ("divergente Akkomodation"). Dafür lassen sich verschiedene Gründe finden: Lernschwierigkeiten mit der Zielsprache, Angst vor Verlust der Affinität zur eigenen Sprachengemeinschaft und ihrer Kultur, Befürchtung einer persönlichen Abwertung in der eigenen ethnolinguistischen Gruppe (List 2003). Daraus erwächst nicht nur ein gesellschaftliches Problem, sondern auch ein Sprachenproblem in der Europäischen Union. Der europäischen Statistik zufolge weisen etwa 30% der in Europa lebenden Menschen unter Dreißig Migrationserfahrung auf und kommen mit höchst unterschiedlichen Muttersprachkompetenzen. Ihre gesellschaftlich relevanten Integrationsprobleme und ihre schulisch bedeutsamen Sprachprobleme veranlassen dazu, eine besondere Mehrsprachigkeitsdidaktik zu konzipieren. Diese Mehrsprachigkeitsdidaktik muss die Herkunftssprachen solcher Kinder und Jugendlicher einbeziehen, das Lehren und Lernen fremder Sprachen mit dem Ziel der interkulturellen Erziehung verbinden und in der Schule sprachliche Diversifikation möglich machen. Zurzeit werden die Migrantensprachen innerhalb der Europäischen Union noch weitgehend vernachlässigt, wie überhaupt auch außereuropäische Weltsprachen. Die bisherige Zentrierung auf europäische Sprachen im Sinne der Nachbarsprachen verkennt aber, dass die außereuropäischen Sprachen längst die alltägliche Sprechpraxis in Europa bestimmen, am Arbeitsplatz, im Freizeitbereich, im Geschäftsleben, in den Medien, im Privatbereich usw. (vgl. Christ 2003, 102 ff.). Grundsatz einer jeden Mehrsprachigkeitsdidaktik ist es, das beim Lernenden vorhandene Sprachwissen und Sprachkönnen als Potenzial und Ressource für das Erlernen weiterer Sprachen zu nutzen. Das gilt natürlich auch für die Schülerinnen und Schüler mit Migrationshintergrund und einer anderen Muttersprache als Deutsch. Auch bei ihnen nützt es dem Erwerb einer Zweit- und Drittsprache, ganz im Sinne der Sprachbewusstheit ("language awareness"), Verbindungen zwischen den Sprachen herzustellen und Gemeinsames oder Unterschiede transparenter werden zu lassen. Überlegungen, die Herkunftssprachen der Schüler einer Klasse in einer Didaktik der Mehrsprachigkeit zusammenzuführen, die den Unterricht in der Herkunftssprache, den Zweitsprachenunterricht in Deutsch und den Fremdsprachenunterricht aufeinander bezieht, sind deshalb nicht krisen- oder defizitorientiert sondern ressourcenorientiert Dem Herkunftssprachenunterricht kommt dabei eine auxiliäre Funktion zu. Die Mehrsprachigkeit wird dabei nicht nur generell, sondern auch persönlich als Gewinn erfahrbar, und Kinder und Jugendliche könnten dadurch ihren Schul- und Bildungserfolg vergrößern. Der Herkunftssprachenunterricht bekommt innerhalb einer solchen Mehrsprachigkeitsdidaktik einen neuen Stellenwert. Da die Zahl der rückkehrwilligen Migranten relativ gering ist, dient er nicht vorrangig der späteren Eingliederung der jungen Menschen in ihre Herkunftskultur (Re-Integrationshilfe), sondern der besseren sprach-
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lieh-kulturellen Integration in den europäischen Kulturraum. Wenn auch bislang noch nicht empirisch genug abgesichert ist, ob die Beherrschung der Muttersprache positive Auswirkungen auf das Erlernen einer Zweitsprache hat, so gilt doch als generell akzeptiert, dass "Fördermaßnahmen in der Zweit- und Schulsprache Deutsch und der Herkunftssprachenunterricht als komplementäre pädagogische Strategien verstanden (werden), zugewanderten Minderheiten die gesellschaftliche Integration ohne Aufgabe der eigenen komplexen sprachlichen und kulturellen Identität zu ermöglichen". (Thürmann 2003, 164) Nimmt man Abschied von der Vorstellung, der Herkunftssprachenunterricht sei etwas für rückkehrwillige Migranten und belaste oder behindere den Zweitspracherwerb, dann bleibt als Konsequenz nur, ihn einzuordnen in die umfassende schulische Förderung der Mehrsprachigkeit. Wie der Unterricht in Deutsch und in den europäischen Fremdsprachen insgesamt, so übernimmt auch der Unterricht in der Herkunftssprache der Schüler mit Migrationshintergrund die Aufgabe, dass "junge Menschen auf eine Zukunft vorbereitet werden, die sich innerhalb und außerhalb des eigenen Landes durch sprachliche und kulturelle Pluralität auszeichnet". (a. a. 0., 165) Auch aus diesem Modell einer Mehrsprachigkeitsdidaktik ergeben sich gravierende Konsequenzen für den Schulunterricht. Zu einem solchen Konzept passt es nicht, wenn der Herkunftssprachenunterricht in der bisherigen Form von separaten Klassen für Ausländer mit Anteilen des Pflichtlernstoffs in deren Muttersprache organisiert wird; ebenso wenig entspricht es diesem Konzept, wenn der Herkunftssprachenunterricht ein zusätzliches Angebot der Schule ist. Die Herkunftssprache muss vielmehr in den Rang einer eigenen Fremdsprache erhoben werden, die eine andere verpflichtende Fremdsprache ersetzen kann; für deren Erteilung gelten dieselben rechtlichen Voraussetzungen (vgl. z. B. Lehrerbildung, Stundentafel, Leistungsüberprüfungen) wie für die anderen Fremdsprachen. Wo dies wegen der Diversifikation der vielen Migrantensprachen nicht gut organisierbar ist, empfiehlt sich entweder eine Kooperation zwischen mehreren benachbarten Schulen zur Bildung von Klassen, die beispielsweise an einem oder zwei Schulmorgen stundenweise zentral zusammengefasst werden, oder die Einrichtung von "two-way-immersion"-Klassen, bei denen Schüler aus jeweils zwei unterschiedlichen Sprachkontexten zeitweilig bilingual oder epochal nacheinander in beiden Muttersprachen unterrichtet werden. Der Unterricht nach diesem Modell muss in allen Sprachen auf Sprachvergleiche Wert legen (Beispiel: Kasus: im Deutschen 4 Fälle mit genusverschiedener Artikeldeklination und besonderer Endung beim Genitiv; im Russischen: 6 Fälle, kein Artikel, unterschieden durch Endungen; im Türkischen: 5 Fälle, kein Artikel, unterschieden durch Endungen - vgl. Dirim/Frick 2005, 31 ff.). Sprachvergleiche erleichtern das nachhaltige Lernen in verschiedenen Sprachen, erhöhen das Verständnis der Schüler für ihre eigene und für die fremden Sprachen und tragen zur Verbesserung des Klimas zwischen Schülern mit unterschiedlichen Herkunftssprachen bei. Im Unterricht sollen alle Gelegenheiten genutzt werden, die Sprachenbewusstheit systematisch aufzubauen. _Damit es dabei zu einer echten Mehrsprachigkeit kommt, müssen die unterrichtenden Lehrer sich als Team verstehen und kooperieren. Dazu besteht
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immer dann eine Notwendigkeit, wenn Verbindungen zwischen den Sprachen, die die Schüler der Klasse lernen, herstellbar sind. Zeitweilig sollte dann der Klassenunterricht zugunsten eines Großgruppenunterrichts mit sprachgemischten Arbeitsgruppen und mit leistungsheterogen gemischten Lerngruppen aufgelöst werden, bei dem die beteiligten Lehrkräfte Teamteaching praktizieren. Hinsichtlich des Lehrereinsatzes an der Schule wäre zu bedenken, dass die muttersprachlichen Lehrer der Herkunftssprachen zugleich auch als Fremdsprachenlehrer für deutsche Schüler in den jeweiligen Sprachen eingesetzt werden, dass die Schule sich in Unterricht und Schulleben für Institutionen und Personen öffnet, in/bei denen die Sprache als Muttersprache gesprochen wird, und dass via Internet ein Tandem-Lernen der Herkunftssprachenschüler und der diese Sprache als Fremdsprache lernenden Schüler mit Schulen im entsprechenden Ausland organisiert wird. Im Herkunftssprachenunterricht muss innerhalb der deutschen Schule zwecks genereller Kommunizierbarkeit Wert auf den Erhalt, die Förderung und die Entwicklung der Standardsprache besonderer Wert gelegt werden. Modell 111: Mehrsprachigkeitsdidaktik als Förderung mehrsprachiger Identität
Wie bei den Ausführungen über die Allgemeine Didaktik erwähnt, befasst sich die Didaktik nicht nur mit der Frage, wie Schüler und Schülerinnen fachliche Kompetenzen in einem gesteuerten Lehr-Lern-Prozess erwerben können, sondern auch mit der Überlegung, wie personale Kompetenzen bei Lernenden unterrichtlich gefördert werden können. Zu den besonderen Kompetenzen, die beim Sprachenlernen zu beachten sind, gehört der Erwerb einer mehrsprachigen Identität. Ohne Frage ist die Sprache maßgeblich für die Ausprägung kollektiver und individueller Identität für die Bewohner eines gleichsprachigen geografischen Raumes und darin wiederum für Mitglieder abgegrenzter sozialer Gruppen. Die durch die Sprache bewirkte gemeinsame Gebundenheit bringt- nach Untersuchungen seit den 1970er Jahren - eine kulturale und kulturelle Identität und ein kulturelles Gedächtnis mit sich, die im schnellen gesellschaftlichen Wandel der Gegenwart etwas Beharrendes, Stabilisierendes und Gemeinschaft Stiftendes an sich haben (Wierlacher 2003, 4). Das war immer so und gilt auch für heutige Generationen. Allerdings kommen in dieser Gesellschaft für den Einzelnen heute, bedingt durch gesellschaftliche Dynamik, Mobilität und Migration, Erfahrungen hinzu, die für ihn Zweifel aufkommen lassen, ob er seine Identität noch ausschließlich durch die Gemeinschaft der mit ihm die gleiche Sprache Sprechenden definieren kann. Diese Zweifel erwachsen aus der Notwendigkeit des Einzelnen, unter den veränderten gesellschaftlichen Bedingungen erfolgreich, zufrieden und sinnerfüllt leben zu können. Viele erleben den Zwang, mehrere Identitäten ausbilden zu müssen, als Immigranten oder Transmigranten Altes und Neues, Eigenes und Fremdes zu einer Collage von Bereichsidentitäten zusammenfügen zu müssen. Das Resultat solcher Bemühungen könnte (und sollte) eine transnationale, multilinguale und multikulturelle Konturierung der eigenen Identität sein. Diese "wachsende Vielfalt möglicher Identitäten mit grenzüberschrei-
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tenden Konturen (. ..) erweckt den Eindruck, dass gegenwärtig viel mehr von einem die Welt integrierenden ,transkulturellen' Verflochten- und Durchdrungensein des nicht mehr homogenen Eigenen und Fremden gesprochen werden sollte, statt von deren gegenseitiger ,interkultureller' Konturierung". (Kostalova 2003, 242) Auf die Schule bezogen heißt das beispielsweise: Schülerinnen und Schüler müssten zu einer transkulturellen Identität mit mehrsprachigen Kompetenzen finden, bei der das Trennende zwischen Muttersprache, Zweitsprache, Drittsprache oder Fremdsprache verschwindet. Eine solche Vorstellung vom Zusammenhang zwischen Sprache und Identität, besser, von multiplen sprachlichen und kulturellen Identitäten, bringt die Gefahr mit sich, dass sich manche Gesellschaftsmitglieder dadurch verunsichert und überfordert fühlen und mit Xenophobie, Abwertung der Angehörigen anderer Sprachgruppen und mit deren' Ausgrenzung reagieren. Hier eröffnet sich ein besonderes Aufgabenfeld für die Mehrsprachigkeitsdidaktik. Durch die Auswahl von Inhalten, Zielen, Methoden und Medien im Erst-, Zweit-, Dritt- und Fremdsprachenunterricht kann durch sie beim Schüler/bei der Schülerin eine transnationale, multilinguale und multikulturelle Identitätsfindung angeregt und unterstützt werden. Eine "Collage von Bereichsidentitäten", bei der der Bereich "Sprache" zentral ist, unterstellt nun aber auch einen neuen Kulturbegriff Dazu muss der traditionelle Kulturbegriff überwunden werden, der Kultur mit Nationalkultur gleichsetzt und sie an den Traditionen, Lebenspraktiken, Weltanschauungen sowie geistigen und künstlerischen Produktionen eines abgrenzbaren Lebensraumes festmacht. Stattdessen bedarf es eines dynamischen Kulturbegriffs, der weniger an vorhandenen geistigen Objektivationen orientiert ist, denn an Prozessen kultureller Praxis. "Nach diesem Verständnis ist Kultur keine geschlossene Entität, sondern stetem Wandel unterworfen. Ferner lebt der einzelne Mensch nicht in einer Kultur, sondern er erlebt und gestaltet eine Vielzahl einander überlappender, überlagernder und nicht selten verschmelzender Traditionen, Weltauffassungen und Ausdrucksformen." (Gogolin 2003, 97) An der Kulturpraxis des Einzelnen lässt sich das leicht demonstrieren: "Er kann sich (. ..) zu Zeiten eher als Deutscher fühlen, zu anderen Zeiten eher als Kosmopolit; er kann seinen Musikgeschmack an der internationalen Popmusik ausgebildet haben, gleichwohl zuweilen lieber Mazart hören; er kann sich durch seine Ausdrucksweise als dem intellektuellen Milieu zugehörig zu erkennen geben, jedoch hin und wieder auch eine Vorliebe für die Jargons anderer Milieus laut werden lassen." (a. a. 0.) Dynamik und Überlappungen dieser Art bestimmen alle Bereiche des Individuellen und Kollektiven, insbesondere aber auch die Realität der gesprochenen Sprachen in Europa und das System jeder dieser Sprachen (vgl. z. B. die Anglizismen in den Sprachen). Infolgedessen muss der Bereich, der es mit der sprachlichen Verständigung der Menschen zu tun hat, der Sprachenunterricht, konsequent auf eine transkulturelle Perspektive hin ausgerichtet werden. Aus dem 3. Mehrsprachigkeitsmodell ergeben sich wiederum spezifische Folgerungen und Forderungen an den Schulunterricht:
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(1) Die schulische Ausbildung in Sprachen hat zwei gleichwertige Inhaltsbereiche, nämlich "die Vermittlung von unmittelbar verwertbaren Fertigkeiten und Kenntnissen aus möglichst mehreren Einzelsprachen und die Anleitung zum Erwerb allgemeiner, grundlegender übersprachlicher Fähigkeiten, die zur Bewältigung kommunikativer Aufgaben unter den Bedingungen von kultureller und sprachlicher Vielfalt verhelfen". (Gogolin 2003, 101) Dazu ist Kulturwissen zu den Einzelsprachen mit dem Wissen um die allgemeinen und die speziellen Funktionen von Kultur für die Lebenspraxis im jeweiligen Land zu verbinden; die bisherige Landeskunde erfüllt diese Aufgabe nicht! (2) Die Ziele eines Unterrichts, der bei den Schülerinnen und Schülern ein "mehrsprachiges Selbstverständnis" (Christ 1998) aufbauen will, müssen auf der sprachlichen Seite die Beherrschung der Verkehrssprache sein und auf der kommunikativinteraktiven Seite das Beherrschen von Strategien, wie man die alltägliche fremdsprachliche Sprachenvielfalt managet, wie man sich in einem Land fremdsprachlich angemessen verhält, wie man dort Situationen richtig deutet bzw. die Situationsdeutung des Kommunikationspartners herausfindet und wie man bei Unsicherheit eine Verständigung herbeizuführt Allgemeine Ziele sind in diesem Unterricht ferner die Friedenserziehung, Empathie und Toleranz gegenüber Anderssein und Fremdheit, Aufgeschlossenheit und Interesse für andere Sprachen und Kulturen sowie Kompetenz in der Lösung von Konflikten. (3) Zur Umsetzung dieser Ziel-Inhaltsbereiche eignen sich besonders gut das Begegnungssprachenkonzept und das Nachbarsprachenkonzept weil Kinder und Jugendliche hierbei die Sprachpraxis mit der Kulturpraxis zusammen erleben. Wo dies nicht möglich ist, muss der Einzelsprachenunterricht Möglichkeiten zur Begegnung der Schüler/Schülerinnen mit Sprechern der jeweiligen Fremdsprache systematisch herstellen und nutzen (vgl. Schüleraustausch, Reisen, Klassenfahrten, Chats, Videokonferenzen usw.). Denn die Heterogenität in der Kulturpraxis als Grundmerkmal pluraler Gesellschaften kann immer nur dann unmittelbar erfahren werden, wenn die beteiligten Schülerinnen und Schüler, die als Gruppe eine gemeinsame Sprache sprechen, ihre ganz unterschiedlichen Weltsichten, kulturell überformten Ausdrucks- und Verhaltensweisen untereinander austauschen. Hinzukommen müssen die Reflexion über die Gründe und Hintergründe dafür und der Diskurs über die Ursachen der Heterogenität von Weltsichten und Lebenspraktiken, über deren unterschiedliche Wertschätzung in der jeweiligen Gesellschaft, über das Entstehen und die Bedeutung von Traditionen sowie über die Definitionsmacht und die Interessen, die dahinter ermittelt werden können. An dieser Stelle wird die Sprachenpolitik ein Gegenstandsbereich der Mehrsprachigkeitsdidaktik. Die Zusammenschau von Muttersprache, Zweitsprache und Fremdsprache kann in einem solchen Konzept der Gefahr vorbauen, das Kultur hier als Nationalkultur missverstanden und das Fremde vom Eigenen abgegrenzt wird. Denn unabdingbar notwendig ist es, dass Schülerinnen und Schüler die Differenzerfahrungen, die sich aus ihrer jeweiligen sprachlich-kulturellen Bindung ergeben, aufarbeiten, d. h. auf Ähnlichkeiten und
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Gemeinsamkeiten absuchen, deren Funktionieren in der Alltagspraxis ermitteln und deren Folgen für das Zusammenleben und das Leben des Einzelnen in der Gesellschaft durchschauen. Unterrichtsorganisatorisch muss dafür gesorgt werden, dass Reflexionen dieser Art auch tatsächlich durchgeführt werden. Da sie den einzelsprachlichen Rahmen des Fremdsprachenunterrichts überschreiten, sollten sie als Projekte aller Mutter- und Fremdsprachenlehrer einer Schule geplant werden, sei es als klassen- und jahrgangsstufenübergreifende Projekttage mit ausgewählten Spezialthemen oder als fest etablierte Projektwoche einmal pro Halbjahr. Jeder Einzelsprachenunterricht liefert dabei einen Beitrag zur sprachlichen Bildung und zu der angestrebten multilingualen und multikulturellen Identität der Schülerinnen und Schüler. (4) Der Unterricht nach dem dritten Mehrsprachigkeitsmodell muss konsequent lernerorientiert sein. Diese Forderung gilt nicht nur für die Auswahl von Themen und Inhalten, sondern in besonderer Weise für die Prozesse des Sprachenlernens. Jeder Schüler in jeder Klasse verfügt über andere sprachlich-kulturelle Vorerfahrungen als seine Mitschüler - aufgrund seines Elternhauses, seiner sprachlichen Sozialisation, seines Status, seiner Biografie, seines Freundeskreises, seiner Reisen, seiner Internetnutzung usw. Diese sprachliche Heterogenität muss einerseits als Ausgangslage (Vorwissen, Verstehensbedingungen, Voreinstellungen als anthropogene Bedingungen) des gesteuerten schulischen Lernens ernst genommen werden und andererseits Ausdruck in einer differenzierten (individualisierten) Unterrichtsplanung finden. Sie ist aber zugleich auch Lerngegenstand in einem Unterricht, der auf mehrsprachige Identität ausgerichtet ist. Denn sie bietet vielfältige Anlässe für eine Thematisierung von Differenzerfahrungen, die beim Spracherwerbsprozess ebenso wichtig sind wie bei der Auseinandersetzung mit literarischen Texten.
3. Zusammenfassung: Allgemeine schulische Maßnahmen zur Förderung der Mehrsprachigkeit Die referierten Modelle der Mehrsprachigkeitsdidaktik sind idealtypische Stilisierungen. Die in ihnen enthaltenen Gedanken zur Verbesserung und Koordinierung des Deutsch- (DaM und DaZ) und Fremdsprachenunterrichts an den deutschen Schulen lassen sich fruchtbringend miteinander kombinieren. Auch eignen sie sich als theoretische Fundierung für die Bildung von Hypothesen innerhalb der Sprachen-Lehrlernforschung. Dessen ungeachtet bilden sie einen Fundus, aus dem innovative Ideen für die Unterrichtspraxis genommen werden können. Beispiele dafür enthält die folgende Liste: l. Die Schulen sollten die Schülerinnen und Schüler aus mehreren Fremdsprachen
auswählen lassen.
2. Ist eine Fremdsprache drei Jahre lang unterrichtet worden, dann sollte ersatzweise eine andere Sprache angeboten werden.
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3. Beim Fremdsprachenlernen sollte die Schule die einzelnen Schüler selbst entscheiden lassen, auf welchem Niveau sie ihr Sprachlernbedürfnis befriedigen wollen, also auf allgemeine Lernziele verzichten(= Individualisierung des Fremdsprachenunterrichts). 4. In der Grundschule (ggf. schon in der Vorschule) sollte eine Fremdsprache als Begegnungssprache (ohne Leistungsprogressions-Ziele) durch das Miteinanderlernen von gleichaltrigen Schülern unterschiedlicher Muttersprache praktisch erlernt werden. Im Sekundarbereich I sollte Englisch nicht die einzige Fremdsprache sein, und es sollte in der Hälfte der Unterrichtszeit in Sachfächern bilingualer Unterricht erteilt werden (vgl. Auslandsschulen, Europaschulen). 5. Die Schule sollte realitätsbezogene Anwendungsbereiche der unterrichteten Fremdsprachen anbieten, die sich auf das Schulische (z. B. Theaterstücke in der Fremdsprache) und auf das Außerschulische (z. B. Deutschkurse für Ausländer, Schüleraustausch) erstrecken. 6. Statt einer Philologieorientierung sollte die Schule beim Fremdsprachenlernen eine stärkere Orientierung an Fragen der Kultur, der Wirtschaft, der Technik und der Naturwissenschaften auf der ganzen Welt praktizieren, wofür die Fremdsprachen dienlich sind. 7. Im Unterricht sollten durch neue Methoden und Medien Fremdsprachen effizienter lernbar gemacht und die Schüler für mehr Fremdsprachen interessiert werden (z. B. Cyberspace-Nutzung, Internet, Multimedia, E-mails, Chat, Newsnet, Usenet, File-Transfer-Protocol, elektronische Wörterbücher usw.). Dadurch könnte auch die rezeptive Mehrsprachigkeit vergrößert und die selbstständige Nutzung von Lernstrategien und Lerntechniken beim Sprachenlernen verbessert werden. 8. An die Stelle einer induktiven Vorgehensweise mit Stofforientierung, Schulbuchdominanz und Gruppenorientierung sollte eine Lernerorientierung treten, bei der durch Inferenz und Transfer Fremdsprachenlernen als individuelle translinguale Konstruktion entstehen kann. 9. Der Weg zur Mehrsprachigkeit in der Schule sollte nicht dem Zufall überlassen werden, sondern könnte unter Nutzung bilingualer Modelle und einer wohl überlegten Sprachenfolge zur didaktischen Verzahnung der individuellen Sprachlernerfahrungen beim Schüler führen. 10. Die Schüler sollten für die zwischensprachliche Kommunikation besondere Strategien erlernen: langsam, einfach, deutlich, wiederholend/redundant, ohne Ethnolekt oder Kindersprache zu sprechen. 11. Die traditionell monolingual-philologische Lehrerausbildung mit Priorität auf der Sprachrichtigkeit sollte durch Hinzunahme von interkulturellen, personbezogeninterkommunikativen und soziolinguistischen Studieninhalten, die sich an den EU-Sprachen und deren Entwicklungsgeschichte orientieren, ergänzt werden.
Didaktik der Mehrsprachigkeit
Kulturelles Lehren und Lernen, die Arbeit an Sprachen mit ihrem prozeduralen und deklarativen Wissen, die Erarbeitung von interlingualen Transfers auf der Basis eines mehrsprachigen mentalen Lexikons mit Spontan- und Hypothesengrammatik und von einer interlingualen Fehlerprophylaxe (vgl. z. B. Interferenzprobleme, so genannte faux amis) sowie die Vergrößerung der Sprachenbewusstheit sollten in den Vordergrund treten. 12. In der Fremdsprachendidaktik müssten mehr als bisher die Möglichkeiten der empirischen Sprachlehdern-Forschung genutzt werden, speziell im Bereich der Didaktik der Mehrsprachigkeit
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Mehrere Sprachen
ein Gehirn
Daniela Zappatore
Mehrere Sprachen -ein Gehirn. Einflussvariablen und Schlussfolgerungen für eine Didaktik der Mehrsprachigkeit Für die Entwicklung einer Didaktik der Mehrsprachigkeit spielen Kenntnisse über die Organisation des sprachlichen Systems von Mehrsprachigen eine zentrale Rolle. Verhaltensdaten (Codeswitching, Interferenzen, Dolmetschertätigkeiten etc.) geben Auskunft über die Repräsentation mehrerer Sprachen auf mentaler Ebene: Die Resultate weisen sowohl auf eine gemeinsame oder partiell unterschiedliche Repräsentation als auch auf eine differenzierte Darstellung der Sprachen hin. Eine Klärung dieser widersprüchlichen Resultate wird von den neueren neurolinguistischen Studien, vor allem von Studien, die auf den neuen bildgebenden Verfahren, fMRI (funktionelle Kernspintomographie) und PET (Positronenemissionstomographie), basieren, erhofft. Diese nicht invasiven Techniken haben zunehmend das Interesse der Forschungsgemeinschaft und der Offentlichkeit geweckt, da sie es erlauben, kognitive Prozesse - so auch Sprache - bei ihrer Verarbeitung im gesunden Gehirn abzubilden. Im Gegensatz zu Läsionsstudien, die über lange Zeit die Hauptquelle für Einblicke in Gehirn und Sprache darstellten, erlauben diese Verfahren, Einflussvariablen auf das cerebrale Sprachsystem in experimentellen Designs systematisch zu untersuchen. Die anfängliche Grundfragestellung lautete: Sind die Sprachen eines Sprechers in überlagernden oder in unterschiedlichen Hirnarealen repräsentiert? Bei einem überlagernden Aktivierungsmuster sind die aktivierten Areale der Ll und der L2 (und Ln+l) im Vergleich an demselben Ort lokalisiert, bei einer differenzierten Repräsentation aktivieren Ll und L2 entweder unterschiedliche Hirnareale oder innerhalb eines Areals unterschiedliche Subregionen. Überlagernde Aktivierungen würden darauf hindeuten, dass Mehrsprachige ihre verschiedenen Sprachen in ein und demselben System verarbeiten, während eine differenzierte Darstellung auf eine getrennte Verarbeitung verweist. Letzteres würde auch bedeuten, dass eine mehrsprachige Person für jede zusätzliche Sprache ein neues cerebrales System aufbauen müsste. Bei der ersten Annäherung an dieses Forschungsgebiet erscheinen die Resultate widersprüchlich: Einige Studien zeigen für die unterschiedlichen Sprachen eines Sprechers ein überlagerndes Aktivierungsmuster, andere hingegen weisen auf das Gegenteil hin: Die Sprachen sind in unterschiedlichen Gebieten lokalisiert. Auf Grund dieser Datenlage verlagerte sich zunehmend der Fokus in den vergangenen Jahren auf die Untersuchung von Variablen, die die Repräsentation von Sprachen im Gehirn beeinflussen. Die hiesigen Ausführungen wollen eine Ordnung der Resultate nach psycholingui,stischen Kriterien vorschlagen. Die Studien sind im ersten Teil in zwei Hauptgruppen unterteilt: (l) Studien zur Sprachproduktion und (2) Studien zur
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Sprachperzeption. Diese zwei Gruppen sind zusätzlich in Untergruppen unterteilt, in Abhängigkeit zur Ebene der Sprachverarbeitung (Einzelwort, Satz, Text), aus der das Stimulusmaterial entnommen wurde. Die Ausführungen im zweiten Teil dieses Beitrages diskutieren spezifisch untersuchte Einflussvariablen auf die cerebrale Repräsentation mehrerer Sprachen. Einige Studien werden sowohl im ersten als auch im zweiten Teil besprochen.
1. Überlagernde oder differenzierte Repräsentation? 1.1 Spraychproduktion
Einzelwörter Die erste Studie zur Repräsentation zweier Sprachen bei Zweisprachigen (Klein et al. 1994; 1995) untersuchte das Verarbeiten von Einzelwörtern in drei lexikalischen Aufgabenstellungen: das Nennen eines Synonyms, eines Übersetzungsäquivalents und eines Reimworts. Die Probandengruppe bestand aus kompetenten Zweisprachigen (Englisch und Französisch), die ihre L2 nach dem Alter von 5 Jahren gelernt hatten. Die Resultate zeigen grundsätzlich identische Aktivierungsmuster, mit Ausnahme einer stärkeren Aktivierung in einer subkortikalen Struktur, dem linken Putarnen. Diese Aktivierung, so die Autoren, sei auf die erhöhten Anforderungen während der Produktion der später gelernten L2 zurückzuführen. Eine zweite Studie (Klein et al. 1999) testete Chinesen, die erst in ihrer Jugend Englisch gelernt hatten (späte Zweisprachige), anhand einer Verbproduktionsaufgabe. Wiederum aktivierten beide Sprachen ein überlagerndes Aktivierungsmuster, wobei keine Unterschiede in der Aktivierung subkortikaler Strukturen gefunden wurden. Chee und Mitarbeiter (1999 a) verglichen zwei Gruppen von Chinesisch-EnglischZweisprachigen, die entweder vor dem Alter von 6 Jahren beiden Sprachen exponiert waren oder die die zweite Sprache nach dem 12. Lebensjahr gelernt hatten. Die Aufgabe bestand im Vervollständigen von Wörtern, die für das Englische im lateinischen Alphabet, für das Chinesische in Ideogrammen präsentiert wurden. Es wurden überlagernde Aktivierungsmuster gefunden, unabhängig vom Zeitpunkt des Erwerbs und von der Inputmodalität Price et al. (1999) und Hernandez et al. (2000; 2001) erforschten die Repräsentation von Sprachen bei Zweisprachigen anhand einer Übersetzungs- und einer Bildbenennungsaufgabe. Alle drei Studien fanden, dass die Sprachen der Zweisprachigen (obwohl die L2 zu unterschiedlichen Zeitpunkten erworben worden war) in überlagernden Arealen repräsentiert sind. Es fanden sich aber auch zusätzlich aktivierte Areale abhängig von der Aufgabenstellung (Price et al. 1999): Übersetzen aktiviert Areale, die mit der Verarbeitung von Semantik und Artikulation assoziiert werden, während der selektive Zugang zu einer Sprache in der Bildbenennungsaufgabe Strukturen involviert, die für das Verarbeiten von Wörtern auf phonologischer Ebene zuständig sind.
Mehrere Sprachen - ein Gehirn
Vingerhoets et al. (2003) widmete sich der Repräsentation dreier Sprachen, von denen zwei (Französisch und Englisch) spät, d. h. nach dem Alter von 10 Jahren gelernt wurden. Die Probanden hatten zum Zeitpunkt der Studie in den beiden spät gelernten Sprachen ein mittleres bis gutes Kompetenzniveau erreicht. Alle drei Aufgabenstellungen (Wortgenerierung, Bildbenennung und Textleseverständnis) aktivierten in allen drei Sprachen ein überlagerndes Netzwerk. Die spät gelernten Sprachen wiesen jedoch eine verstärkte Aktivität und zusätzliche, auch bilaterale Aktivierungen auf.
Text Kim et al. (1997) verglichen eine Gruppe Frühzweisprachiger mit einer Gruppe Spätzweisprachiger. In ihrer Analyse konzentrierten sich die Autoren auf die klassischen Sprachzentren im Gehirn: das Broca- und das Wernicke-Areal. Es fanden sich für die beiden Gruppen Unterschiede im Aktivierungsmuster im Broca-Areal: Frühzweisprachige aktivieren dieselben Regionen für beide Sprachen; in der Gruppe der Spätzweisprachigen hingegen sind die beiden Sprachen in diesem Areal in unterschiedlichen kortikalen Subregionen repräsentiert. Anders die Resultate für das Wernicke-Areal: Beide Gruppen aktivieren für beide Sprachen überlagernde Areale. Ähnlich wie Kim et al. (1997) verglichen auch Wattendorf et al. (2001) Frühmehrsprachige, die innerhalb der ersten drei Jahre zwei Sprachen erworben hatten und späte Mehrsprachige, die erst nach dem 9. Lebensjahr eine Zweitsprache gelernt hatten. Alle Probanden hatten des Weiteren nach dem 10. Lebensjahr mindestens eine weitere Sprache gelernt. Dies war die erste Studie, die sich der cerebralen Repräsentation dreier Sprachen widmete. Die Analyse fokussierte ausschließlich das BrocaAreal, welches die Brodmannareale1 (BA) 44 und 45 umfasst. Beide Erstsprachen der Frühmehrsprachigen aktivieren im BA 44 eine überlagernde und, im Vergleich zur L1 der späten Mehrsprachigen, größere Subregion. Die L1 und die L2 der späten Mehrsprachigen dagegen weisen in diesem Gebiet ein differenziertes Aktivierungsmuster auf, wobei die L2 benachbarte Subregionen aktiviert. Auch die L3 verhält sich in den beiden Gruppen unterschiedlich. In der Gruppe der Frühmehrsprachigen aktiviert die L3 im Vergleich zu den ersten beiden Sprachen weniger neuronales Substrat im BA 44. Im BA 45 hingegen findet sich kein Unterschied zwischen den frühen und den späten Sprachen dieser Gruppe. Anders bei den späten Mehrsprachigen: die Drittsprache aktiviert - ähnlich wie die Zweitsprache - eine zusätzliche, benachbarte Subregion im BA 44 und weist im BA 45 eine höhere interindividuelle Variabilität des Aktivierungsmuster~ für alle Sprachen der späten Mehrsprachigen auf. 1
Am Anfang des 20. Jahrhunderts erstellte K Brodmann ein Karte des Gehirns, auf der der Kortex basierend auf der·Anordnung der verschiedenen Zelltypen (so genannte Zytoarchitektur) in Arealen eingeteilt ist
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1.2 Sprachperzeption
Einzelwörter Illes et al. (1999) untersuchten das semantische Verarbeitungssystem bei SpanischEnglisch-Zweisprachigen, die ihre L2 nach dem Alter von 10 Jahren gelernt hatten. Die Aufgabenstellung bestand zum einen in einer semantischen (abstrakt/konkret) und einer nicht-semantischen (Groß-/Kleinbuchstaben) Entscheidungsaufgabe. Die Resultate deuten auf ein gemeinsames semantisches Verarbeitungssystem für beide Sprachen hin. Chee et al. (2001) verglichen zwei Gruppen von Englisch-Chinesisch-Zweisprachigen, die entweder vor dem Alter von 5 Jahren beide Sprachen erworben oder erst nach dem Alter von 12 Jahren Englisch gelernt hatten. Die Probanden wurden gebeten, entweder semantische Urteile abzugeben oder die Großschreibung der Buchstaben zu beurteilen. Beide Gruppen waren in Englisch weniger kompetent als in Chinesisch. Die Gruppe der frühen Zweisprachigen weist überlagernde Aktivierungen für beide Sprachen auf. Die späten Zweisprachigen zeigen ein mit den Frühzweisprachigen vergleichbares Aktivierungsmuster. Zusätzlich aktiviert in dieser Gruppe die schlechter beherrschte L2 weitere Areale. In einer weiteren Studie fokussierten Chee und Mitarbeiter (2003) das lexikalischsemantische neuronale Verarbeitungssystem bei Frühzweisprachigen (ChinesischEnglisch). Die Aufgabenstellung bestand aus einer Wortrepetitionsaufgabe in vier Variationen. Wiederum fanden die Autoren für beide Sprachen ein gemeinsames Netzwerk. Interessanterweise führte die gleichzeitige Präsentation der Wörter in beiden Sprachen zu einer Erhöhung der Aktivität Rodriguez-Fornells et al. (2002) verglichen eine Gruppe von Probanden, die zweisprachig mit Spanisch und Katalanisch aufgewachsen waren, mit einer Gruppe von Probanden, die in ihrer Kindheit nur eine Sprache, Spanisch, erworben hatten. Die Aufgabe bestand darin, Einzelwörter zu lesen und nur auf die spanischen Wörter zu reagieren. Die katalanischen Wörter und die Pseudowörter galt es zu ignorieren. Die Resultate zeigen überlagernde Aktivierungsmuster, mit einem partiellen Unterschied: Die zweisprachigen Probanden weisen eine verstärkte Aktivierung in Arealen für die phonologische Verarbeitung von Wörtern auf.
Sätze Chee et al. (1999 b) erforschten das Verständnis geschriebener Sätze in zwei orthographisch, phonologisch und syntaktisch unterschiedlichen Sprachen (Englisch und Chinesisch). Die Probanden waren kompetente Zweisprachige, die beiden Sprachen
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vor dem Alter von 6 Jahren exponiert waren. Trotz der sprachlichen Unterschiede zwischen den beiden Sprachen findet sich keine differentielle Repräsentation. Neville und Mitarbeiter (1997) verglichen vier Gruppen von Versuchspersonen: 1) Gehörlose, die als L1 American Sign Language (ASL) erworben und Englisch erst spät und ohne auditiven Input gelernt hatten; 2) hörende Frühzweisprachige; 3) hörende, kompetente, späte Zweisprachige, die ASL nach dem Alter von 17 Jahren gelernt hatten; 4) Hörende ohne Kenntnisse in ASL. Die Verarbeitung von Sätzen in Gebärdensprache führt sowohl bei den gehörlosen als auch bei den hörenden, frühzweisprachigen Probanden zu grundsätzlich identischen Aktivierungsmustern in der linken Hirnhälfte und zu Aktivierungen in der rechten Hemisphäre. Demgegenüber aktiviert die dritte Gruppe primär linksseitige Areale mit nur einer sehr schwachen Aktivität in der rechten Hirnhälfte.
Text Perani et al. (1996) untersuchten das Textverständnis bei späten Zweisprachigen, welche die Zweitsprache erst nach dem 7. Lebensjahr erlernt hatten. Verglichen wurde die Aktivierung beim Hören einer Geschichte in der Erst- und der schlechter beherrschten Zweitsprache, sowie in einer unbekannten dritten Sprache. Die Resultate zeigen ein Netzwerk von Arealen, das in der L1 signifikant stärker aktiv ist. Die Zweitsprache dagegen aktiviert ein weniger ausgedehntes Netzwerk an Spracharealen, v. a. ist in dieser Gruppe keine signifikante Aktivität im Broca-Areal messbar. Überraschenderweise zeigt die unbekannte dritte Sprache ein mit der Zweitsprache vergleichbares Aktivierungsmuster. Die Hauptunterschiede zwischen Erst- und Zweitsprache kamen in Arealen zum Vorschein, die für die Verarbeitung auf Satzebene zuständig sind, sodass die Forscher dies als Hinweis für eine (zumindest teilweise) differentielle Repräsentation der Sprachen annehmen. In einer Folgestudie (Perani et al. 1998) bestand die Aufgabe wiederum im Anhören von Geschichten. In einem ersten Schritt wurden sehr kompetente Frühzweisprachige mit sehr kompetenten Spätzweisprachigen, die ihre Zweitsprache nach dem 10. Lebensjahr gelernt hatten, verglichen. Obwohl die zweite Sprache zu unterschiedlichen Zeitpunkten erworben wurde, aktivieren beide Gruppen für beide getesteten Sprachen stark überlagernde Hirnstrukturen. In einem zweiten Schritt wurden zwei Gruppen Spätzweisprachiger verglichen: die Gruppe der sehr kompetenten Spätzweisprachigen der zweiten Studie mit der Gruppe der in ihrer Zweitsprache nur mittelmäßig kompetenten Sprecher aus der vorhergehenden Studie. Die Resultate dieses zweiten Vergleichs ergaben eine unterschiedliche Repräsentation der Sprachen. Tabelle 1 fasst die, Resultate der Studien in Bezug auf eine überlagernde oder differentielle Repräsentation der Sprachen zusammen.
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Tabelle I: Überlagernde oder differenzierte Repräsentation Sprach produktion
Einzelwörter Klein et al. I994, I995
überlagernd
Klein et al. I999
überlagernd
Chee et al. I999 a
überlagernd
Price et al. I999
überlagernd, aber auch teilweise differenzierte Repräsentation
Hernandez et al. 2000
überlagernd
Hernandez et al. 200I
überlagernd
Vingerhoets et al. 2003
überlagernd, aber auch teilweise differentielle Repräsentation
Kim et al. I997
überlagernd im WernickeAreal, sowohl überlagernde als auch differentielle Repräsentation im Broca-Areal
Wattendorf et al. 200I
überlagernde und differentielle Repräsentation im BrocaAreal
Text
Sprachverständnis
Einzelwörter Illes et al. I999
überlagernd
Chee et al. 200 I
überlagernd, zusätzliche Areale für die späte gelernte L2
Chee et al. 2003
überlagernd
Rodriguez-Fornells überlagernd, aber auch teilweise differenzierte Repräsenet al. 2002 tation
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Sätze
Text
Chee et al. 1999 b
überlagernd
Neville et al. 1997
überlagernd, mit partiellen Unterschieden
Perani et al. 1996
überlagernd, aber auch teilweise differenzierte Repräsentation
Perani et al. 1998
überlagernd
Aus Tabelle 1 lassen sich folgende vier Generalisierungen ableiten: a) Einzelwörter zeigen überlagernde Aktivierungsmuster, unabhängig von der spezifischen Aufgabenstellung. b) Die Textproduktion führt zu einer zumindest partiell differenzierten Repräsentation der Sprachen. c) Satzverständnisaufgaben weisen überlagernde Aktivierungen auf.
d) Das Textverständnis zeigt eine Tendenz in Richtung überlagernde Aktivierungsmuster mit verschiedenen partiellen Unterschieden. Auch lässt sich aus der Übersicht folgern, dass die Frage nach überlagernder oder differentieller Darstellung der Sprachen im Gehirn nicht generell beantwortet werden kann. Die Aktivierungsmuster sind zum einen davon abhängig, ob Sprachproduktion oder -perzeption getestet wird; zum anderen sind sie durch die unterschiedlichen Ebenen der Sprachverarbeitung, d. h. Wort-, Satz- oder Textebene, bedingt. Welche Areale aktiviert werden, hängt zudem auch von der konkreten Aufgabenstellung ab: Übersetzen aktiviert andere (zusätzliche) Areale als z. B. Bildbenennung, Reimen, semantische Entscheidungen treffen etc. Wie lassen sich diese Folgerungen aus linguistischer Sicht interpretieren? Untersuchungen mit Einzelwörtern testen lexikalische oder lexikalisch-semantische Aspekte der Sprache. Diese sprachliche Komponente scheint keine oder kaum Unterschiede zwischen den verschiedenen Sprachen eines Sprechers aufzuweisen. (Unterschiede sind dennoch nicht gänzlich auszuschließen. Sie kommen jedoch auf der makroanatomischen Ebene, auf der wir uns mit PET und fMRI bewegen, nicht zum Vorschein, siehe hierzu Chee et al. 2003.) Dies könnte als Hinweis gewertet werden, dass Zweiund Mehrsprachige über ein Lexikon und nicht über mehrere Lexika verfügen. Unterschiede zeigen sich hingegen bei Textaufgaben, die zusätzlich zum Lexikon die Verarbeitung von Sprache auf syntaktischer, textgrammatischer und pragmatischer
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Ebene erfordern. Differentielle Repräsentationen wurden speziell im Broca-Areal berichtet, weshalb die Unterschiede - zumindest teilweise - durch die syntaktischstrukturelle Ebene bedingt sind.
2. Der Zeitpunkt des Erwerbs Zwei Textproduktionsstudien (Kim et al. 1997; Wattendorf et al. 2001) erforschten den Einfluss des Zeitpunkts des Erwerbs auf die cerebrale Repräsentation von Sprachen. Kim et al. (1997) fanden für das Wernicke-Areal überlagernde Aktivierungen unabhängig vom Zeitpunkt des Erwerbs. Das Broca-Areal hingegen reagiert sensibel auf den Zeitpunkt des Erwerbs der unterschiedlichen Sprachen. Wattendorf et al. (2001) bestätigten diesen letzten Punkt. Die Autoren folgern aus den unterschiedlichen Aktivierungsmustern im Broca-Areal, dass Frühzweisprachige ein neuronales Netzwerk ausbilden, welches es erlaubt, später gelernte Sprachen in dasselbe Netzwerk zu integrieren. Wird die Zweitsprache jedoch erst nach dem 9. Lebensjahr gelernt, wird in diesem Areal für jede zusätzliche Sprache eine benachbarte Subregion aktiviert, d. h., es muss für jede zusätzlich gelernte Sprache ein neues Netzwerk aufgebaut werden. Der Zeitpunkt des Erwerbs erweist sich auch bei Sprachperzeption als eine wichtige Variable. Neville et al. (1997) zeigten, dass Gehörlose und Frühzweisprachige bei Gebärdensprache die rechte Hirnhälfte ko-aktivieren, während dies bei Spätzweisprachigen nur schwach der Fall ist. Die Ko-Aktivierung der rechten Hirnhälfte ist somit nicht nur vom sensorischen Input abhängig, sondern auch vom Zeitpunkt des Erwerbs. Auch Perani et al. (1996) fanden bei einer Textverständnisaufgabe Differenzen zwischen Erst- und Zweitsprache, die auf den Zeitpunkt des Erwerbs zurückführen sind. Die Unterschiede sind in Arealen (v. a. im Broca-Areal) lokalisiert, die - so die Autoren - für die Verarbeitung auf Satzebene zuständig sind. Wartenburger et al. (2003) untersuchten den Einfluss des Zeitpunkt des Erwerbs, wie auch des Kompetenzniveaus (s. unten), beim Fällen von grammatischen und semantischen Urteilen. Sie verglichen drei Gruppen: (1) Frühzweisprachige mit hoher Kompetenz, (2) Spätzweisprachige mit hoher Kompetenz in der L2 und (3) Spätzweisprachige mit niedriger Kompetenz in der L2. Die Aktivierungsmuster der Gruppen (1) und (2) erwiesen sich während der semantischen Aufgabe als vergleichbar. Die grammatische Aufgabe hingegen führt in Gruppe (2) zu einer ausgedehnteren Aktivierung der Areale für morphologische und syntaktische Verarbeitung. Diese Resultate aus den Sprachperzeptionsstudien stimmen mit den oben genannten Resultaten aus Sprachproduktionsstudien überein: Areale für morphologische, syntaktische und phonologische Verarbeitung reagieren auch hier sensibel auf den Zeitpunkt des L2-Erwerbs. Im Gegensatz dazu spielt diese Variable für das Werni-
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cke-Areal und die lexikalisch-semantische Verarbeitung offensichtlich kaum eine Rolle.
3. Kompetenz Perani und Mitarbeiter (1998) untersuchten die Auswirkung unterschiedlicher Kompetenzniveaus auf die Repräsentation zweier Sprachen. Der doppelte Vergleich (kompetente Früh- vs. kompetente Spätzweisprachige und kompetente Spätzweisprachige vs. mittelmäßig kompetente Spätzweisprachige) zeigt, dass bei hoher Kompetenz beide Sprachen, unabhängig ob früh oder spät gelernt, dasselbe Aktivierungsmuster aufweisen, während unterschiedliche Kompetenzniveaus trotz vergleichbarem Erwerbsalter zu einer differentiellen Darstellung führen. Zu einem vergleichbaren Resultat kommt auch die oben genannte WartenburgerStudie, die neben dem Zeitpunkt des Erwerbs auch den Einfluss des Kompetenzniveaus erforschte. Hierfür verglichen Wartenburger und Mitarbeiter die Gruppen von Spätzweisprachigen (Gruppe (2) und (3)). Für beide Gruppen und bei beiden Aufgaben findet sich eine stärkere Aktivität für die L2 im Vergleich zur Ll. Die semantische Aufgabe führt jedoch zusätzlich zu Unterschieden in den aktivierten Arealen zwischen den beiden Gruppen. Die Resultate dieser beiden Studien können dahingehend interpretiert werden, dass die erreichte Kompetenz eine determinierende Rolle beim Sprachverständnis und bei der Verarbeitung von lexikalisch-semantischen Inhalten spielt, während sich bei Sprachproduktion und Sprachverarbeitung auf struktureller Ebene der Zeitpunkt des Zweitsprachenerwerbs als die kritischere Variable erweist.
4. Funktionelle und strukturelle Variabilität Die unterschiedlichen Aktivierungen zwischen den kompetenteren und weniger kompetenten Mehrsprachigen in den oben genannten Studien sind ein Hinweis darauf, dass es durch zunehmende Kompetenz zu einer Veränderung des Aktivierungsmusters, d. h. zu einer funktionellen Reorganisation kommt. Tatsuno et al. (2005) sind der Frage nach der modulierenden Wirkung des Kompetenzzuwachses auf das Broca-Areal nachgegangen. Sie verglichen eine Gruppe von 13-jährigen Schülernl-innen und eine Gruppe von 19-jährigen Studierenden. Alle Probanden hatten ihre L2 nach dem 12. Lebensjahr ausschließlich schulisch gelernt. Die Aufgabe bestand in der Identifikation von Verben und Vergangenheitsformen auf Japanisch (L1) und Englisch (L2). Bei zunehmender Kompetenz in der L2 zeigt die untersuchte Hirnstruktur eine abnehmende Aktivität. Zuvor hatten Sakai et al. (2004) zeigen können, da_ss bei derselben Aufgabe und in demselben Areal die Aktivität bei 13-jährigen Anfängern nach einer 2-monatigen Übungsphase zunimmt. Die Aktivität
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im Broca-Areal scheint somit zu Beginn des Lernprozesses zuerst zuzunehmen, um später bei höherer Kompetenz wieder abzunehmen. Neben der Kompetenz führen auch die Häufigkeit des Gebrauchs einer Sprache und die Exposition zu funktionellen Veränderungen. Vingerhoets und Mitarbeiter (2003) beobachteten, dass sich bei einer Textleseaufgabe - bei vergleichbaren Zeitpunkten des L2-Erwerbs (nach dem 10. Lebensjahr) und vergleichbaren Kompetenzniveaus der Probanden - Unterschiede im Aktivierungsmuster zeigen in Abhängigkeit davon, ob die Probanden häufiger oder weniger häufig einer Sprache ausgesetzt sind. Perani et al. (2003) fanden einen ähnlichen Effekt bei Frühzweisprachigen (Spanisch und Katalanisch), die ihre Zweitsprache mit 3 Jahren erworben hatten. Sie verglichen zwei Gruppen: (1) Probanden, die ursprünglich mit Spanisch und (2) Probanden, die mit Katalanisch aufgewachsen waren. Der Zeitpunkt des L2-Erwerbs wie auch das Kompetenzniveau in beiden Sprachen (hohes Kompetenzniveau) sind in beiden Gruppen vergleichbar, dennoch zeigen die ursprünglich mit Katalanisch aufgewachsenen Probanden eine ausgedehntere und verstärkte Aktivierung in der Zweitsprache als die Vergleichsgruppe. Die Autoren führen dies darauf zurück, dass die Katalanisch-Gruppe im Alltag weniger stark dem Spanischen ausgesetzt ist als die Spanisch-Gruppe dem Katalanischen. Sie heben auch hervor, dass Exposition und Gebrauch nicht mit Kompetenz gleichgestellt werden dürfen und dass bei vergleichbarer Kompetenz ein erhöhtes Maß an Exposition zu einer Reduzierung der Aktivität und der aktivierten Areale führen kann. Erfahrung führt nicht nur zu Veränderungen auf funktioneller, sondern auch auf struktureller Ebene. Mechelli et al. (200Li) zeigten, dass das Erwerben weiterer Sprachen zu einer Zunahme in der Dichte der grauen Masse im inferioren parietalen Kortex führt. Am höchsten ist die Zunahme bei den Frühbilingualen in der linken Hemisphäre. Dieselbe Struktur reagiert auch sensibel mit einer Erhöhung in der Dichte der grauen Hirnmasse bei zunehmender Kompetenz. Somit ist die Dichte bei sehr kompetenten Frühbilingualen am höchsten und nimmt mit zunehmendem Alter des L2-Erwerbs und mit niedrigerem Kompetenzniveau ab. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass das Gehirn ein hohes Maß an Flexibilität (Plastizität) aufweist, das ihm erlaubt, die Organisation des cerebralen Sprachsystems sowohl auf funktioneller als auch auf struktureller Ebene in Abhängigkeit von der Erfahrung und in Bezug auf die von der Umwelt gestellten Anforderungen zu verändern und anzupassen.
5. Verarbeitungsstrategien Die bisherigen Ausführungen haben nur wenige Hinweise auf die getesteten Sprachen gegeben. Die Studien von Chee et al., Kim et al. und Wattendorf et al., genauso wie ein allgemeiner Vergleich der Studien, lassen darauf schließen, dass die
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typologische Distanz zwischen Sprachen keinen Einfluss auf deren Repräsentation im Gehirn hat. Dennoch lässt sich nicht pauschal sagen, dass das Gehirn überhaupt nicht zwischen Sprachen unterscheidet. Das Gehirn scheint zwar nicht nach Sprachfamilien oder nach typologischer Distanz zu differenzieren, es kann aber auf spezifische Aspekte, die einer Sprache eigen sind, reagieren. Die Studie von Paulesu et al. (2000) untersuchte keine Zweisprachigen, sondern "Einsprachige" in ihrer Erstsprache und verglich die Hirnstrukturen, die beim Lesen von Englisch im Gegensatz zum Lesen in Italienisch aktiviert werden. Neben einem gemeinsamen cerebralen System für das Lesen fanden die Forscher Unterschiede zwischen den beiden Sprachen: Das Englische involviert zusätzliche Areale für Objektnennung und semantische Prozesse. Paulesu und Mitarbeiter erklären, dass das Lesen in einer inkonsistenten und komplexen Orthographie, wie des Englischen, den Zugriff auf das orthographische Lexikon für die Wahl der korrekten Aussprache bedingt. Die Wortform wird als Ganzes behandelt und oft ist es notwendig, die Bedeutung des Wortes abzurufen, um die korrekte Aussprache (z. B. Akzent) zu wählen. Lesen auf Italienisch hingegen zeigt eine verstärkte Aktivität in Arealen, die für die phonologische Verarbeitung bekannt sind. Diese Aktivierung wird als Hinweis darauf gedeutet, dass der Leser in einer Sprache wie Italienisch von der konsistenten Zuordnung zwischen Graphemen und Phonemen Gebrauch macht. Die Differenzen sind folglich auf die unterschiedlichen Orthographiesysteme zurückzuführen, die verschiedene Verarbeitungsstrategien wirksam werden lassen. Dass sich Unterschiede in den Verarbeitungsstrategien mit Bild gebenden Verfahren zeigen lassen, bestätigten auch zwei Studien von A. Rodriguez-Fornells. RodriguezFornells et al. (2002) präsentierten spanische und katalanische Wörter sowie Pseudowörter einer Gruppe von einsprachig aufgewachsenen Probanden und einer zweiten Gruppe Spanisch-Katalanisch Frühzweisprachiger. Die Probanden waren aufgefordert, nur auf die spanischen Wörter zu reagieren. Die zweisprachigen Probanden zeigen eine verstärkte Aktivierung in Arealen für die phonologische Verarbeitung von Wörtern. Frühzweisprachige - so die Autoren - rufen nicht die Bedeutung der Nicht-Zielwörter ab, sondern wählen einen indirekten, phonologischen Zugang zum Lexikon der Zielsprache. Die Gruppen der einsprachig oder zweisprachig aufgewachsenen Probanden bedienen sich somit beim Lösen dieser Aufgaben unterschiedlicher Verarbeitungsstrategien. Auch Rodriguez-Fornells et al. (2005) verglichen Frühzweisprachige (Deutsch-Spanisch) mit einsprachig aufgewachsenen Probanden (nur Deutsch). Die Aufgabe bestand in einer Bildbenennung. Für die Gruppe der Frühzweisprachigen alternierten die Sprachen blockweise, die "monolingualen" Probanden lösten die Aufgabe ausschließlich auf Deutsch. Die Verhaltensdaten wiesen auf Interferenzerscheinungen zwischen den bei