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German Pages 206 [208] Year 2023
Leitfaden zum
deutschen Privatrecht mit
Einschluß -es Lehnrechts
von
Friedrich Gesell, früherem KammergerichtS-Affessor.
Berlin, 1852. Verlag der Trautwein'fchen Buch- und Musikalienhandlung
(I. Guttentag), Leipziger Strasse No. 73.
Einleitung. Begriff, Grundprinzipien und Duellen deö deutschen Privatrechts. 8. 1. Begriff und Grundprinzipien,
deutsche Privatrecht ist diejenige juristische Disciplin, welche sich mit den originell deutschen, oder, wenngleich dem jus naturale oder jus gentium, oder gar fremden Rechten ent sprungenen, doch originell deutsch ausgebildeten privat rechtlichen Normen beschäftigt. AuS dem kriegerischen Zustand der alten germanischen Stämme erklärt sich, daß der ganze Werth der germanischen Persönlichkeit auf der militairischen Tüchtigkeit beruhte. Der Germane war nur insofern Rechtssubjekt, als er die Waffen führen konnte. Daher ist das höchste Prinzip deö deutschen Rechts die Wehrhaf tigkeit. Nur der wehrhafte Mann erfreute sich der Freiheit; Wer, Wara, Bar (Baron) bezeichnet daher den freien Mann. Der nicht Waffenfähige, nicht Wehrhafte war rechtlos, und mußte sich nach dem Schutze eines Wehrhaften (Wehren) umsehen, wenn nicht dieser Schuh in natürlichen Verhältnissen begründet war. Ein natürliches Schutzrecht stand zu dem Vater über seine nicht wehr haften Söhne und die Töchter, in seiner Ermangelung seinem nächsten wehrhaften Verwandten; ferner dem Mann über die Frau — Vormundschaft, mund, mundium, mundcburdium, War da, Guardia, Guardianus (Vormund). Analog der Vormundschaft als Schutzverhältniß zwischen Per sonen bezieht sich der Ausdruck Wehre, Gewehre auf das Ver hältniß der Person zu den Sachen, zu welchen auch der Unfreie gehörte. Hieraus ergeben sich als Grundbegriffe des deutschen RechtS: 1
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1) die Freiheit als Vertheidigung der eigenen Person; 2) die Vormundschaft als Vertheidigung Anderer: 3) die Gewehre als die Vertheidigung der Sachen. 8. 2. Quellen.
A.
Geschriebenes Recht. a.
leges.
Lex ist in den Monumenten der fränkischen Zeit der technische Name für die Gewohnheitsrechte der Franken, welche in späterer Zeit in lateinischer Sprache ausgezeichnet worden sind; da hin gehören: 1) Lex Salica aus dem 6. Jahrhundert, zuerst ausgezeichnet Ende des 5. Jahrhunderts. 2) Die zwischen 511 und 534 verfaßte lex Ripuariorum, welche in ihrer vorliegenden Gestalt von Dagobert I. (zwischen 622 und 638) herrührt. 3) Die lex Alemannorum, ungefähr gleichen Ursprungs wie die vorstehende. 4) Die unter demselben Könige ausgezeichnete lex Bajuvariorum. 5) Die zwischen 466 und 51'6 verfaßte lex Burgundionum (Gundobada). 6) Die unter RothariS 643 verfaßte, von Carl von Tocco im 12. Jahrhundert glossirte lex Longobardorum (Lombarda). 7) Die unter Carl M. ausgezeichneten leges Frisionum, Saxonum, Angliorum et Werinorum hoc est Turingorum. 8) Die aus dem 7. Jahrhundert stammende lex Wisigothorum. Neben diesen für alle Franken als solche geltenden Volksrechten wurde das römische Recht auf Personen römischer Ab stammung und die Kirche angewandt: Ecclesia vivit lege Ro mana. b.
Capitularien oder Reichsrecht.
Die Capitularien, d. h. Gesetze, welche der fränkische Kö nig unter Zustimmung des Adels und der Bischöfe auf den Reichs tagen erließ und welche ein für die ganze Monarchie geltendes Reichsrecht bildeten, enthielten zum geringsten Theil privatrecht liche Bestimmungen. Capitularia specialia nannte man Auszüge auö diesen Gesetzen, welche den einzelnen Volksrechten beigefügt wurden. Sammlungen der Capitularien sind: 1) die des Abtö Ansegisuö in 4 Büchern, 827, genannt legi-
3 2) des Mainzer Diakonus Benedict Levita in 3 Büchern, 845. 3) Vier Zusätze zu diesen Sammlungen von unbekannten Verfassem. Diese Quellen sind gesammelt in: corp. jur. Germ, antiqui etc. consilio J. G. Heineccii adornavit P. Georgisch. Hal. 1738. 4. Barbarorum leges antiquae coli. J. P. Canciani. Venet. 1781 —1792. 5 Vol. fol. Corp. jur. Germanici antiqui edd. Ferd. Walter. 8 Vol. 8. Berol. 1824. Pertz, Monumenta Germ, historica.
§. 3.
B.
a.
Ungeschriebenes Recht, Landrecht und Formeln.
Wie in der ältesten Zeit in den Volksgerichten, an wel chen sämmtliche freie Gemeindemitglieder Theil nahmen, so bildete sich nach der Stiftung monarchischer Staaten in den Land, gerichten, welchen der vom König bestellte Gaugraf (Sciregerefa, Sheriff) präsidirte, ein Compler von ungeschriebenen Rechts normen, welcher wegen deS königlichen Ansehens und des Umfangs seiner Geltung Landrecht oder Kaiserrecht hieß. Seit dem 6. oder 7. Jahrhundert kamen Sammlungen der Formeln auf, die bei gerichtlichen und außergerichtlichen Geschäften gebraucht wmden — fomulae, dictati, von denen die wichtigste die Formelsammlung des Mönchs Marculf vom Jahre 653 ist. 8. 4.
b.
Weiöthümer.
Mit der im 9. Jahrhundert erfolgten Trennung Deutschlands von den übrigen Theilen des fränkischen Reichs kamen die geschrie benen Quellen außer Gebrauch, so daß der GerichtSbrauch das einzige Organ für die Rechtsbildung blieb. Dieses äußerte sich nicht nur in Erkenntnissen (Orderten) für den einzelnen Fall, sondern namentlich in den WeiSthümern. Die Urtheile im einzelnen Fall wurden nach alter Verfassung nicht vom Richter gesprochen, sondern von der Gemeinde gefun den und vom Richter nur vollstreckt. Mit der Zeit gelangte die Funktion des Urtheilfindens an eine bestimmte Zahl von Ge meindegliedern— Schöffen, scabini —• so daß alle übrigen den Umstand — circumstantia — bildeten, welcher daS Urcheil ver-
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werfen, „schelten" konnte. Machte er von diesem Recht keinen Ge brauch, so galt das Urtheil nicht nur intcr partes, sondern als eine für alle analogen Fälle gültige Norm. Wurde aber geschol ten, so erging ein Gesuch um Rechtsbelehrung an ein anderes Ge richt, und das Attest, welches dieses über die bei ihm geltende Norm ertheilte, hieß Weisthum. Das hohe Ansehen dieser Atteste rührt namentlich daher, daß die meisten von den kaiserlichen Pfalz gerichten oder den Schöffenstühlen bedeutender Städte aus gingen, von welchen viele andere ihr Recht entliehen, wie denn z. B. das Magdeburger Stadtrecht in Polen und Böhmen Geltung hatte. Solche angesehene Gerichte nahmen den Charakter von Ober-Höfen (Appellationsgerichten) an.
8. 5.
c.
Hof- und Lehnrecht.
Als den unfteien Leuten, welche ihre Sitze auf den herrschaft lichen Höfen anfänglich nnr der Gnade deö Herrn zu danken hat ten,. ein Besitz recht zucrkannt wurde, bildete sich zwischen ihnen unter einander und dem Herrn ein Rechtsverhältniß auS, und der Inbegriff der dafür geltenden Rechtsnormen hieß Hofrecht — jus curiae s. curtis. Sie erlangten mit der Ausdehnung der Höfe zu Territorien die Autorität von Landesgewohnheiten und standen häufig unter dem Schutz des Königs oder eines andern Großen. Diese Normen erhielten sich durch die Bauer sprachen, d. h. Rechtsbelehrungen in Form von Frage und Antwort, mit welchen die regelmäßigen Gerichtssitzungen — die ungebotenen Dinge, der Dingstuhl — eröffnet wurden. Auch geschah bei verschiede nen Veranlassungen und auf Grund von Weisthümern der Beisitzer deö Dingstuhlö (Hofschöppen) eine Aufzeichnung der Hosrechtönormen, welche für alle freien sowohl als hörigen.Personen dessel ben Hofs galten. Ein Beispiel sind die leges et statuta familiae b. Petri d. h. eine Sammlung von Weisthümern, welche der Bischof Burkhard von Worms für seine Hörigen (familia) ver anstaltete. In ähnlicher Weise entwickelte sich das Lehnrecht als Inbe griff der Rechtsnormen für das Verhältniß der freien, zum militairischen Gefolge des Königs oder eines geistlichen oder weltlichen Herrn gehörenden Personen, welche von ihm Grundstücke zu Lehen — beneficium — erhalten hatten. Als die Erblichkeit der Lehne anerkannt war, kam das Lehnrecht unter den Schutz des Königs, dessen LehuShof der höchste war, an welchen alle Urtheile gebracht („gezogen") werden konnten.
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8- 6.