Leistung, Differenz und Inklusion: Eine rekonstruktive Analyse professionalisierter Unterrichtspraxis [1. Aufl.] 9783658312039, 9783658312046

Während der Zusammenhang von sozialer Ungleichheit und schulischem Leistungsprinzip durchaus im Fokus empirischer Forsch

309 99 12MB

German Pages XIII, 245 [252] Year 2020

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Table of contents :
Front Matter ....Pages I-XIII
Einleitung (Benjamin Wagener)....Pages 1-13
Metatheoretische Verortung: rekonstruktive Unterrichtsforschung im Rahmen der Praxeologischen Wissenssoziologie (Benjamin Wagener)....Pages 15-45
Methodologisch-methodischer Zugang: Dokumentarische Methode und Videographie des Unterrichts (Benjamin Wagener)....Pages 47-67
Design des empirischen Projekts (Benjamin Wagener)....Pages 69-87
Empirische Rekonstruktion von leistungsbezogenen Differenzkonstruktionen: praxeologische Typenbildung (Benjamin Wagener)....Pages 89-152
Soziogenetische Reflexionen und empirisch-rekonstruktive Perspektiven (Benjamin Wagener)....Pages 153-181
Praxeologische Professionalisierungsforschung im Kontext von Unterrichtsforschung (Benjamin Wagener)....Pages 183-221
Back Matter ....Pages 223-245
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Leistung, Differenz und Inklusion: Eine rekonstruktive Analyse professionalisierter Unterrichtspraxis [1. Aufl.]
 9783658312039, 9783658312046

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Benjamin Wagener

Leistung, Differenz und Inklusion Eine rekonstruktive Analyse professionalisierter Unterrichtspraxis

Leistung, Differenz und Inklusion

Benjamin Wagener

Leistung, Differenz und Inklusion Eine rekonstruktive Analyse professionalisierter Unterrichtspraxis

Benjamin Wagener Berlin, Deutschland Dissertation Westfälische Wilhelms-Universität Münster, 2019

ISBN 978-3-658-31203-9 ISBN 978-3-658-31204-6  (eBook) https://doi.org/10.1007/978-3-658-31204-6 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von allgemein beschreibenden Bezeichnungen, Marken, Unternehmensnamen etc. in diesem Werk bedeutet nicht, dass diese frei durch jedermann benutzt werden dürfen. Die Berechtigung zur Benutzung unterliegt, auch ohne gesonderten Hinweis hierzu, den Regeln des Markenrechts. Die Rechte des jeweiligen Zeicheninhabers sind zu beachten. Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informationen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag, noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen neutral. Planung/Lektorat: Stefanie Eggert Springer VS ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH und ist ein Teil von Springer Nature. Die Anschrift der Gesellschaft ist: Abraham-Lincoln-Str. 46, 65189 Wiesbaden, Germany

Danksagung

Ohne die Unterstützung verschiedener Personen und Kollektive wäre diese Studie in der hier vorliegenden Form nicht entstanden. Dafür möchte ich ihnen danken. Mein aufrichtiger Dank gilt den Lehrkräften und Schüler*innen, die bereit waren, die Türen zu ihrem Unterricht zu öffnen. Ihre Unterrichtspraxis ist das Kernstück dieser Arbeit. Besonders bedanken möchte ich mich bei Tanja Sturm, die mich beständig unterstützt und gefördert hat. Sie ermutigte mich, eine Arbeit, die nie als abgeschlossen gelten kann, zu einem Ende zu bringen. Ein herzlicher Dank gilt Ralf Bohnsack, der das Dissertationsprojekt von Anfang an mit großem Engagement begleitet hat. Bereits im Studium hat er mich auf eindrückliche Weise an das rekonstruktive Forschen herangeführt. Monika Wagner-Willi danke ich für den intensiven fachlichen Austausch, der sich auch in dieser Arbeit widerspiegelt. Sie hat gemeinsam mit Tanja Sturm das SNF-Projekt „Herstellung und Bearbeitung von Differenz im Fachunterricht der Sekundarstufe I“ geleitet, das ideale Rahmenbedingungen für mein Forschungsvorhaben bot. Danken möchte ich auch den Teilnehmer*innen der Forschungswerkstatt von Ralf Bohnsack sowie den Teilnehmer*innen des Kolloquiums von Tanja Sturm. Das gemeinsame Weiterdenken und Diskutieren haben einen wesentlichen Beitrag zu dieser Arbeit geleistet. Anika Elseberg danke ich für die kollegiale Unterstützung im Rahmen des SNF-Projekts. Den studentischen Hilfskräften sei gedankt für die sorgfältige Transkription der empirischen Daten. Marian Laubner danke ich für die Korrektur des Manuskripts sowie unsere konstruktiven Diskussionen.

V

VI

Danksagung

Nicht zuletzt möchte ich mich bei meinen Freunden und meiner Familie bedanken, die mich durch die Höhen und Tiefen, die mit diesem Projekt verbunden waren, begleitet haben. Ganz besonders sei meinen Eltern gedankt, die mich in meinen akademischen und persönlichen Vorhaben stets unterstützt haben.

Inhaltsverzeichnis

1 Einleitung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 1.1 Problemstellung und zentrale Forschungsdesiderate. . . . . . . . . . . . . 4 1.2 Empirische Zugänge zu (leistungsbezogener) ‚Heterogenität‘ bzw. ‚Differenz‘ in Schule und Unterricht. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5 1.3 Erkenntnisinteresse, Forschungsfragen und Forschungszugang. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8 1.4 Aufbau der Arbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10 2 Metatheoretische Verortung: rekonstruktive Unterrichtsforschung im Rahmen der Praxeologischen Wissenssoziologie . . . . . . . . . . . . . . . 15 2.1 Prämissen einer rekonstruktiven Unterrichtsforschung. . . . . . . . . . . 15 2.2 Die Praxeologische Wissenssoziologie und ihre Grundannahmen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18 2.2.1 Karl Mannheims Leitdifferenz: „kommunikatives“ und „konjunktives“ Wissen. . . . . . . . . . . 19 2.2.2 Die propositionale Logik: Um-zu-Motiv, Rolle, Norm und Identität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20 2.2.3 Die performative Logik: habitualisiertes und inkorporiertes Wissen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26 2.2.4 Das Spannungsverhältnis zwischen propositionaler und performativer Logik und dessen Relation im konjunktiven Erfahrungsraum. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28 2.3 Schule als Institution, Organisation und Kontext mehrdimensionaler konjunktiver Erfahrungsräume. . . . . . . . . . . . . . . . . . 31 2.4 Exkurs: ‚Behinderung‘ bzw. ‚Disability‘ als organisationsspezifische Identität im Unterschied zu gesellschaftlichen Identitäten und Milieus. . . . . . . . . . . . . . . . . . 36 VII

VIII

Inhaltsverzeichnis

2.5 Unterricht als Interaktionssystem und Organisationsmilieu: Leistungsbewertung als konstituierende Rahmung und Bestandteil von Macht. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39 3 Methodologisch-methodischer Zugang: Dokumentarische Methode und Videographie des Unterrichts. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47 3.1 Methodologisch-methodische Grundprinzipien der Dokumentarischen Methode . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 48 3.2 Das Erhebungsverfahren: Videographie des Unterrichts. . . . . . . . . . 51 3.3 Das Auswertungsverfahren: Dokumentarische Videointerpretation. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59 3.4 Modi der Interaktionsorganisation und ihre Differenzierung im Rahmen der Dokumentarischen Videointerpretation. . . . . . . . . . 63 4 Design des empirischen Projekts. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69 4.1 Formale Charakterisierung des Projektkontextes und des Untersuchungsfeldes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69 4.2 Das Schweizer Schulsystem mit Fokus auf die Sekundarstufe I . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 72 4.3 Formale Charakterisierung der einbezogenen Schulklassen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75 4.4 Zur Durchführung der Videographie im Fachunterricht . . . . . . . . . . 78 4.5 Zur Durchführung der Auswertung der Unterrichtsvideographien. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 82 4.6 Realisiertes Sample. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 86 5 Empirische Rekonstruktion von leistungsbezogenen Differenzkonstruktionen: praxeologische Typenbildung . . . . . . . . . . . 89 5.1 Typ I: Primäre Rahmung durch Moralisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . 90 5.2 Typ II: Primäre Rahmung durch Moralisierung und Konstruktion sozialer Identität. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 106 5.3 Typ III: Primäre Rahmung durch Pathologisierung und Konstruktion ‚behinderter‘ Identität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 118 5.4 Typ IV: Primäre Rahmung durch Sachbezug und Individualisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 130 5.5 Typ V: Primäre Rahmung durch Moralisierung mit prekärem Sachbezug. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143 5.6 Basistypik und Zusammenfassung der sinngenetischen Typenbildung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 150

Inhaltsverzeichnis

IX

6 Soziogenetische Reflexionen und empirisch-rekonstruktive Perspektiven. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153 6.1 Zur Schulformspezifik der Typologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155 6.1.1 Sekundarschulen mit ‚integrativer‘ Programmatik . . . . . . . . 155 6.1.2 Schulformübergreifende Aspekte. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 162 6.2 Zur Fachspezifik der Typologie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163 6.2.1 Mathematikunterricht. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 164 6.2.2 Deutschunterricht. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 168 6.2.3 Kunstunterricht. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 178 7 Praxeologische Professionalisierungsforschung im Kontext von Unterrichtsforschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183 7.1 Zu den konstituierenden Bedingungen professionalisierter Unterrichtsmilieus. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 184 7.1.1 Das (Spannungs-)Verhältnis von fachlicher Expertise und professionalisierter Praxis im klient*innenenbezogenen Interaktionssystem. . . . . . . . . . . . 185 7.1.2 Spezifische und diffuse Sozialbeziehungen vs. kommunikatives und konjunktives Wissen . . . . . . . . . . . . . . 186 7.1.3 Antinomien des Lehrerhandelns als widersprüchliche Einheiten im Unterschied zu der kreativen Bewältigung des (Spannungs-) Verhältnisses von Norm und Habitus in der konstituierenden Rahmung bzw. im Unterrichtsmilieu. . . . . 188 7.1.4 Implizite Reflexion als konstituierende und (meta-)normative Bedingung professionalisierter Unterrichtsmilieus. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 190 7.2 Zur normativen Bewertung professionalisierter Unterrichtsmilieus auf Grundlage einer praktischen Diskursethik in Relation zu den normativen Erwartungen erziehungswissenschaftlicher Theorie. . . . . . . . . . . . . 192 7.2.1 Rekonstruierte Modi der Interaktionsorganisation und der Sozialität im Unterricht. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 193 7.2.2 Exkurs: Zum Verhältnis von Fachlichkeit, ‚Sache‘, Bewertung und Person im professionalisierten Unterrichtsmilieu. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 195 7.2.3 Zum Verhältnis von Fachlichkeit, ‚Sache‘, Bewertung und Person im machtstrukturierten Interaktionsmodus (Typ I, II und III). . . . . . . . . . . . . . . . . . . 198

X

Inhaltsverzeichnis

7.2.4 Zum Verhältnis von Fachlichkeit, ‚Sache‘, Bewertung und Person im primär sachbezogenen Rahmen der Unterrichtsinteraktion (Typ IV). . . . . . . . . . . . . 204 7.2.5 Zum Verhältnis von Fachlichkeit, ‚Sache‘, Bewertung und Person im willkürlichen Interaktionsmodus (Typ V) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211 7.3 Implikationen für eine reflexive Lehrer*innenbildung aus praxeologischer Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215 7.3.1 Fall-rekonstruktive Arbeit im Studium als Initiierung und Förderung praktischer Reflexionspotentiale. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 217 7.3.2 Initiierung und Förderung praktischer Reflexionspotentiale im Rahmen der beruflichen Praxis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 220 Literaturverzeichnis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 223

Abbildungsverzeichnis

Abbildung 5.1

Abbildung 5.2

Abbildung 5.3 Abbildung 5.4

Abbildung 5.5

Abbildung 5.6

Fotogramm KFR 08:16, US Dulden des Abkürzens von Aufgaben mithilfe von „WhatsApp“ aufgrund guter Noten im Deutschtest und Ernennung Emres zum „Klassenbesten“ (07:51–08:35). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93 Simultanes Fotogramm KS 08:16, US Dulden des Abkürzens von Aufgaben mithilfe von „WhatsApp“ aufgrund guter Noten im Deutschtest und Ernennung Emres zum „Klassenbesten“ (07:51–08:35). . . . . . . . . . . . 94 Fotogramm KFR 08:16; Formale Komposition . . . . . . . . . 94 Fotogramm KFR 00:13; US Öffentliches Lösen der Aufgabe durch ‚Nicht-Profis‘, auch wenn eigene Lösung nicht vorhanden (00:12–00:46). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102 Synchrones Fotogramm KS 00:13; US Öffentliches Lösen der Aufgabe durch ‚Nicht-Profis‘, auch wenn eigene Lösung nicht vorhanden (00:12–00:46). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102 Fotogramme KFR 04:34 u. KS 04:34, Videosequenz Giulias Gedicht (00:00–10:53), US Sprachliche Fehler und die Bedeutung von Formulierungen (00:07–04:35). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113

XI

XII

Abbildung 5.7

Abbildung 5.8

Abbildung 5.9

Abbildung 5.10

Abbildung 5.11

Abbildung 5.12

Abbildung 5.13

Abbildungsverzeichnis

Fotogramme KFR 06:18 u. KS 06:18, Videosequenz Giulias Gedicht (00:00–10:53), US Vorzeigen von Gedichten und Aufhängen eines „sehr guten“ Gedichts (04:35–06:28). . . . . . . . . . . . 114 Fotogramm KFR 01:37; Videosequenz Input Deutsch (00:00–02:58), pUS Paralleles Unterrichtsgespräch (00:05–01:04). . . . . . . . . . . . . . . . . . 119 Fotogramm KFR 03:05; Videosequenz Einführung in die Gruppenarbeit „Knack die Box“ (00:58–03:58), US Bestimmen einer „verantwortlichen Person“ pro Gruppe (02:29–03:20). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123 Fotogramm KS 08:15; Videosequenz Die Bearbeitung von Zusatzaufgaben im Plenum (06:48–36:01), US Bearbeitung von Aufgabe 19: die „noch relativ einfache“ Unteraufgabe „a“ (08:01–08:54). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 132 Fotogramm KFR 00:49, Videosequenz Übungstest (00:00–01:17), pUS Inanspruchnahme von Nachhilfe wegen Nicht-Verstehen der Testaufgaben (00:18–01:16). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 134 Fotogramm KFR 00:35, Videosequenz Yanicks Schraffur (00:00–02:46), US Beurteilung der Schraffur im Vergleich zur Vorlage als Aufforderung (00:00–01:05). . . . . . . . . . . . . . . 141 Fotogramm KFR 01:07, Videosequenz „Herr Krause, darf ich jetzt auf’s Klo?“ (00:26–02:06), US Zeichnen mit dem Zirkel, Wegschauen und Korrekturaufforderungen (00:53–01:22). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 146

Tabellenverzeichnis

Tabelle 4.1 Sample des SNF-Projekts mit den Vergleichsdimensionen Schulform und Fachunterricht sowie der dissertationsspezifischen Erweiterung um das Unterrichtsfach Kunst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71 Tabelle 4.2 Realisiertes Sample (in die detaillierte Analyse einbezogene Schulklasse-Fachunterrichts-Einheiten). . . . . . . . 87

XIII

1

Einleitung

Mit schulischer ‚Leistung‘ und ‚Inklusion‘ greift die vorliegende empirische Arbeit1 zwei zentrale Begriffe auf, die im aktuellen erziehungswissenschaftlichen Diskurs (wiederholt) Konjunktur erfahren (vgl. Bünger et al. 2017a, S. 9; Sturm/Wagner-Willi 2018, S. 7). Das Thema der schulischen Leistungsbeurteilung – insbesondere in ihren zunehmend formalisierten und standardisierten Formen seit der Herausbildung des modernen Schulwesens (vgl. Furck 1964, S. 24 ff.; Vögeli-Mantovani 1999, S. 23 ff.; Reh et al. 2015; Verheyen 2018, S. 62) sowie als zentrale Aufgabe des professionellen Lehrer*innenhandelns (vgl. Terhart 2011) – ist phasenweise immer wieder Gegenstand erziehungswissenschaftlicher empirischer Forschung und theoretischer Diskussion. Die pädagogische Programmatik der ‚Inklusion‘ als eine „Kritik und Herausforderung des schulischen Leistungsprinzips“ (Sturm 2015a) wird dabei jedoch nicht bzw. kaum thematisiert (vgl. z. B. Schäfer/Thompson 2015; Bünger et al. 2017b; Reh/

1Die

empirische Analyse ist entstanden im Rahmen des vom Schweizerischen Nationalfonds (SNF) geförderten Forschungsprojekts „Herstellung und Bearbeitung von Differenz im Fachunterricht der Sekundarstufe I – eine Vergleichsstudie zu Unterrichtsmilieus in inklusiven und exklusiven Schulformen“ (Sturm/Wagner-Willi 2014; Wagner-Willi et al. 2018).

© Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 B. Wagener, Leistung, Differenz und Inklusion, https://doi.org/10.1007/978-3-658-31204-6_1

1

2

1 Einleitung

Ricken 2018).2 Hingegen erhält das Thema der schulischen ‚Inklusion‘ erst im Zuge jüngerer bildungspolitischer Entscheidungen und daraus resultierender Reformbemühungen über den sonder- und inklusionspädagogischen Diskurs hinaus zunehmend Relevanz (vgl. Sturm/Wagner-Willi 2018, S. 7). Als primärer ‚Motor‘ wird hier häufig das „Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (Convention on the Rights of Persons with Disabilities — CRPD)“ (UN 2006, 2008) genannt, welches durch Deutschland (2009) und die Schweiz (2014) sowie 161 weitere Nationalstaaten ratifiziert wurde (vgl. UN 2019). Durch die Ratifizierung haben sich diese Staaten zur Implementierung eines ‚inklusiven‘ Schulsystems verpflichtet (vgl. Biermann/Powell 2014, S. 680). Im Kontext einer fehlenden begrifflichen Konkretisierung von „Menschenrecht auf inklusive Bildung“ sowie „Behinderung“ und einer sich hieraus ergebenden „globalen Diffusion“ sind die jeweiligen Schulsysteme mit ihren etablierten Sonder- bzw. Fördereinrichtungen sowie „kulturell verankerten Paradigmen von Bildung und Behinderung“ (ebd., S. 680 f.) sowie „Leistung“ (Sturm 2015a) herausgefordert: In den Zuständigkeitsbereich der sog. Regelschule und der Allgemeinen Pädagogik fallen nun auch diejenigen Schüler*innen, die „die Leistungs- und Verhaltenserwartungen der ‚Regelschule‘ nicht erfüllen“ (Sturm/ Wagner-Willi 2018, S. 7). Beide, das ‚Leistungsprinzip‘ sowie das Prinzip der Menschenrechte, gelten als „Fundamentalnormen im Selbstverständnis“ moderner westlicher Gesellschaften (Neckel/Dröge 2002, S. 94). Im erziehungswissenschaftlichen Diskurs erscheint jedoch ‚Leistung‘ – analog zum „Menschenrecht auf Inklusion“ sowie „Behinderung“ (Biermann/Powell 2014, S. 680 f.) – als ein diffuser Begriff (vgl. Schäfer 2015, S. 17 f.; Bünger et al. 2017a, S. 8; Ricken 2018, S. 44).

2Zu

den prominenten frühen Arbeiten, in denen verschiedene Aspekte des Prinzips der schulischen Leistungsbeurteilung, wie deren Funktion und Sinnhaftigkeit, diskutiert worden sind (z. B. die Fragwürdigkeit der Notengebung oder die Diskrepanz zwischen humanistischem Bildungsideal und normierter Leistungsanforderung), zählen u. a. diejenigen von Carl-Ludwig Furck (1964), Karlheinz Ingenkamp (1971), Heinz Moser (1972) und Wolfgang Klafki (1985). Die gegenwärtige Konjunktur der Auseinandersetzung mit dem Leistungsbegriff führen Carsten Bünger et al. (2017a, S. 8) auf „sozioökonomisch anschlussfähige Scharnierstellen neuer Leistungsregime“ zurück, die sich als „pädagogische Kompensationsfiguren“ aus den „Debatten zur Illusion oder Ideologie einer leistungsgerechten Gesellschaft“ entwickelt haben. Dazu zählen sie u. a. „die Betonung individuellen Könnens“ (ebd.), wie sich dies etwa in (neuen) pädagogischen Konzepten des „individualisierten Unterrichts“ (Rabenstein 2017) widerspiegelt (vgl. auch Schäfer/ Thompson 2015; Reh/Ricken 2018).

1 Einleitung

3

Zugleich wird das ‚Leistungsprinzip‘ der (‚Regel‘-)Schule mit seiner historisch gewachsenen allokativen (vgl. Fend 2008, S.  44) bzw. hierarchisierenden und selektierenden Funktion (vgl. Schäfer 2015, S. 34; Stojanov 2015)3 insbesondere im deutschsprachigen Raum in einem antagonistischen Verhältnis zu der Programmatik einer ‚Schule für alle‘ stehend betrachtet (vgl. Sturm 2015a, 2018). Dabei ist die diagnostizierte Antagonie Bestandteil kontroverser Debatten sowohl in erziehungswissenschaftlichen Fachdiskursen (vgl. z. B. Cramer/Harant 2014; Straehler-Pohl/Gellert 2015) als auch in der medialen Öffentlichkeit (vgl. z. B. Petersen 2019). Diese Debatten kreisen u. a. um die Frage, ob „einzelne Individuen“ außerhalb der „Sonderschule“ nicht „potenziell schlechter gefördert“ würden (Cramer/ Harant 2014, S. 655). Demgegenüber wird auf eine ‚Perspektivenerweiterung‘ innerhalb der pädagogischen Programmatik schulischer ‚Inklusion‘ verwiesen: von einem ‚enger‘ gefassten Verständnis von ‚Inklusion‘, das auf die gemeinsame Beschulung von Schüler*innen mit und ohne ‚Behinderung‘ oder „sonderpädagogischer Förderung“ (KMK 2014) bzw. „besonderem Bildungsbedarf“ (EDK 2007) fokussiert, hin zu einem ‚weiteren‘ Konzept, das „sich grundsätzlicher mit dem pädagogischen und organisationalen Umgang mit Heterogenität auseinandersetzt“ (Werning 2014, S. 606). Dadurch werde „neben dem Merkmal Behinderung auch auf Prozesse der Exklusion aufgrund von Geschlecht, sozialer Herkunft, kultureller Herkunft, Sprache, intellektueller Fähigkeiten etc. fokussiert“ (ebd.). Zugleich wird diese ‚erweiterte‘ Perspektive auf ‚Inklusion‘ bzw. ‚Heterogenität‘ in der Hinsicht kritisiert, dass sie aufgrund ausgewählter askriptiver Kategorien andere, feldrelevante Differenzkategorien tendenziell

3Die

Verteilung von „Bildungs- und Berufsprivilegien“ durch die allgemeine Schule, die „an die Leistungserbringung der Heranwachsenden knüpft“, werden als Ausdruck einer „leistungsorientierten Gesellschaft“ betrachtet (Fend 2008, S. 46). Dieser „Allokationsfunktion“ (ebd., S. 50) der allgemeinen Schule als ‚meritokratisches Prinzip‘, das die soziale Differenzierung unabhängig von der (feudalen Logik der) sozialen Herkunft legitimieren soll (vgl. Schimank 2018) und seinen Ursprung im preußischen Gymnasium des 19. Jahrhunderts hat (vgl. Furck 1964, S. 24 ff.; Vögeli-Mantovani 1999, S. 23 ff.), steht wiederum die grundlegende Skepsis hinsichtlich einer derartigen ‚Leistungs‘- bzw. ‚Bildungsgerechtigkeit‘ gegenüber (vgl. ebd.; Stojanov 2015). Die soziale „Selektion“, die sich hinter dem Euphemismus „Allokation“ verberge (Stojanov 2015, S. 136), sei in großem Maße durch die soziale Herkunft bzw. die hierüber erworbenen „habituellen Signale“ (Schimank 2018, S. 35) vermittelt. In diesem Zusammenhang wird auch von der „Illusion der Chancengleichheit“ in Bezug auf das „Bildungswesen“ gesprochen (Bourdieu/Passeron 1971).

4

1 Einleitung

ausblende (vgl. Messiou 2017; Köpfer 2019).4 Für die Inklusionsforschung wird deshalb argumentiert: „focusing only on some students, rather than on all, is contrary to the principles of inclusive education“ (Messiou 2017, S. 152). In diesem Zusammenhang wird eine ‚Verschiebung‘ von „einer personenbezogenen Form der Zuschreibung“ zu „einer systemischen“ Perspektive gefordert (Sturm/ Wagner-Willi 2018, S. 7). Dieser Zugang zum Interaktionssystem ist jedoch mit besonderen empirisch-methodischen Anforderungen verbunden, denen sich die hier vorgelegte empirische Analyse stellen will.

1.1 Problemstellung und zentrale Forschungsdesiderate Wie dargelegt, wird der Anspruch einer ‚inklusiven‘ Schul- und Unterrichtsentwicklung (vgl. Ainscow 2008) in einem Spannungsverhältnis zu einem selektiv und hierarchisch nach ‚Leistung‘ organisierten Schulsystem – mit seinen Sondereinrichtungen am unteren und dem Gymnasium am oberen Ende der Hierarchie – gesehen (vgl. Blanck et al. 2013; Sturm 2015a, 2018). Insbesondere für den Sekundarbereich mit seiner (gesteigerten) Fokussierung auf Fachunterricht sowie schulleistungsbezogene Differenzierung wird dieses Spannungsverhältnis geltend gemacht (vgl. A. Sander/Christ 1994, S. 350 f.; Köbberling/Schley 2000, 221 ff.; Werning/Arndt 2015, S. 58). Demgegenüber wird ein deutlicher Mangel an empirischer Forschung zur ‚inklusiven‘ Beschulung auf der Sekundarstufe I verzeichnet (vgl. Preuss-Lausitz 2014, S. 12; Kiel/Weiß 2016, S. 279 f.). Dabei wird v. a. die empirische Erforschung des ‚inklusiven‘ Fachunterrichts gefordert (vgl. Seitz/Scheidt 2012; Preuss-Lausitz 2014, S. 12), da angenommen wird, dass „ein guter inklusiver Unterricht sich nicht allgemein, sondern im jeweiligen Fach – und mit den jeweiligen Fachlehrkräften – realisiert“ (Preuss-Lausitz 2014, S. 12) – wobei an dieser Stelle nicht thematisiert wird, was einen „guten inklusiven Unterricht“ auszeichnet. Die Beantwortung dieser Frage wird vielmehr in den Erfahrungen, also der Praxis, in den jeweiligen Organisationen selbst gesehen (vgl. ebd., S. 4). 4Derartige

personenbezogene Zuschreibungen werden auch in den geltenden ‚inklusionsbezogenen‘ bildungspolitischen bzw. -rechtlichen Dokumenten (z. B. EDK 2007; KMK 2014) gesehen, auch wenn diese sich nicht (mehr) auf einen separaten Förderort beziehen (vgl. Sturm/Wagner-Willi 2018, S. 7). Hierbei ist in Bezug auf die (deutschsprachige) Schweiz einschränkend darauf hinzuweisen, dass in den offiziellen bildungsrechtlichen Dokumenten primär der Begriff der ‚Integration‘ (an Stelle von ‚Inklusion‘) verwendet wird (vgl. z. B. EDK 2007).

1.2  Empirische Zugänge zu (leistungsbezogener) ‚Heterogenität‘ …

5

Gleichzeitig wird hinsichtlich eines „Umgangs mit Heterogenität“ (Werning 2014, S. 606), der Benachteiligungen und Diskriminierungen in Schule und Unterricht vermeiden soll, ein „Wandel in den professionellen Orientierungen von Lehrpersonen“ in Bezug auf die (Re-)Produktion von „Differenzkategorien“ wie ‚Geschlecht‘, ‚soziale Herkunft‘, ‚Ethnie‘ und ‚Behinderung‘ in ihrem Zusammenhang mit ‚Schulleistung‘ gefordert (Budde/Hummrich 2013). Solche „professionellen Orientierungen“ zeichnen sich durch eine „Reflexivität des eigenen Handelns“ aus i.S. eines „Wahrnehmens und Ernstnehmens von Differenzen und das Sichtbarmachen von darin eingeschriebener Benachteiligung“ (ebd.). Eine derartige ‚explizite‘ bzw. ‚explizierende‘ Reflexion ‚professioneller Orientierungen‘ oder auch des „Lehrerhabitus“ (Helsper 2018) wird dabei nicht nur für die ‚inklusive‘ Programmatik geltend gemacht, sondern in Bezug auf die Professionalität bzw. Professionalisierung von Lehrkräften im Allgemeinen (vgl. ebd.; Lange-Vester/Teiwes-Kügler 2014; Dirim/Mecheril 2018, S. 87 ff.). Zugleich wird konstatiert, dass die „Unterrichtsforschung und Schulentwicklungsforschung bezüglich der Professionalisierung“ – und hier v. a. im Kontext der ‚inklusiven‘ Programmatik – „derzeit noch das größte Forschungs-desiderat“ darstellt (Moser 2016, S. 668). Ein damit zusammenhängendes sowie weiteres zentrales Forschungsproblem besteht darin, dass „der Begriff der Heterogenität“, wie er im erziehungswissenschaftlichen Diskurs Verwendung findet – vergleichbar mit den o. g. Aspekten von ‚Leistung‘ und ‚Inklusion‘ –, diffus sowie „empirisch und theoretisch weitgehend ungeklärt“ ist (Budde 2012a, S. 526).

1.2 Empirische Zugänge zu (leistungsbezogener) ‚Heterogenität‘ bzw. ‚Differenz‘ in Schule und Unterricht In der aktuellen empirischen Schul- und Unterrichtsforschung lassen sich – grob gefasst – zwei kontrastierende Zugänge zum Gegenstand ­ ‚(Leistungs-) Heterogenität‘ bzw. ‚(Leistungs-)Differenz‘ unterscheiden: einerseits ein als objektivistisch zu bezeichnender Zugang, der sowohl „soziokulturelle Heterogenität“ als auch „Leistungsheterogenität“ in Schule und Unterricht „als von außen kommende, gleichsam ontologische ‚Tatsache‘“ voraussetzt (Budde 2012a, S. 528 f.). Dies zeigt sich etwa in empirischen Studien, die sich in Bezug auf die ‚inklusive‘ Programmatik einzelne ‚Heterogenitätskategorien‘, wie die binären Unterscheidungskategorien ‚behindert/nicht-behindert‘ bzw. ‚mit/ohne sonderpädagogischem Förderbedarf‘, an das Forschungsfeld herantragen, um einen

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1 Einleitung

Zusammenhang zwischen diesen und ‚sozialer Integration‘ – operationalisiert und gemessen anhand von geschlossenen Fragen zum Grad der ‚Beliebtheit‘ der Schüler*innen in der Schulklasse (vgl. z. B. Huber 2009; Schwab et al. 2013) – oder formalen Schulleistungsergebnissen (vgl. z. B. Kocaj et al. 2014) statistisch zu ermitteln.5 Mit diesem objektivistischen ‚Heterogenitätsverständnis‘ ist v. a. die Gefahr einer Reifizierung verbunden, d. h. einer ‚Vergegenständlichung‘ der für die Forschenden relevant erscheinenden und von ihnen vorgegebenen ‚Heterogenitätskategorien‘, die jedoch möglicherweise feldimmanent, d. h. für die handelnden Akteur*innen selbst, kaum oder keine Relevanz besitzen (vgl. Budde 2012a, S. 528; Messiou 2017) bzw. von ihnen gänzlich anders verstanden werden (vgl. Bohnsack 2010, S. 17 ff.). Dem stehen andererseits „praxeologische“ (Reckwitz 2008, S. 188, Herv. B.W.) Forschungszugänge6 gegenüber, die Unterricht als soziale Praxis auffassen und ‚Heterogenität‘ verstehen als „einen empirisch zu rekonstruierenden Prozess der Anwendung von Differenzierungspraktiken“ (Budde 2012a, S. 532, Herv. i. O.) bzw. als performative „Hervorbringung und Bearbeitung sozialer Differenzen“ (Fritzsche/Tervooren 2012, S. 26) in ihrer potentiellen Überlagerung und „Verwobenheit“ (ebd., S. 35; vgl. auch Rabenstein et al. 2013; Sturm/Wagner-Willi 2015a; Herzmann et al. 2017). Dabei folgen die Differenzkonstruktionen (ebenfalls) einer binären Logik: „Leistung ist nur gut oder schlecht im Verhältnis zu einem Maßstab. Ähnliches gilt für soziokulturelle Kategorien, die als Differenzmarkierung nur relativ in Bezug auf Gleichheit erscheinen können“ (Budde 2012a, S. 533, Herv. i. O.). Das „pädagogische Interesse“ richtet sich dabei v. a. auf drei Differenzdimensionen: auf die „Differenzen zwischen Pädagoginnen sowie Pädagogen und ihrer Klientel“, auf „Differenzen zwischen unterschiedlichen Adressatinnen und Adressaten pädagogischen Handelns“ sowie auf „die Bedeutung gesellschaftlicher Machtverhältnisse und Kategorisierungen bei der Entstehung 5Dies

gilt ebenso für empirische Studien, die einen Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft – von den Forschenden anhand vorgegebener, standardisierter ‚Heterogenitätskategorien‘ erfragt – und Schulerfolg – zumeist gemessenen anhand von Schulnoten oder eigens konstruierter fachlicher Tests – berechnen (vgl. z. B. Baumert et al. 2006; Kronig 2007). 6Andreas Reckwitz (2008, S. 188) zählt zu dem „praxeologischen Feld (…) neben Arbeiten im Anschluss an Bourdieu (1979; 1987) auch solche aus dem Umkreis der Ethnomethodologie (Garfinkel 1984 bis hin zu Boltanski/Thévenot 1991), einer an den späten Wittgenstein anschließenden Sozialwissenschaft (Schatzki 1996) und verwirrenderweise selbst solche, die an Foucault, namentlich an dessen späte Arbeiten zu den Techniken des Regierens und des Selbst anknüpfen (vgl. Foucault 2000), am Ende auch manche der neuen Medien- und Artefakttheorie (vgl. Schatzki u. a. 2001)“.

1.2  Empirische Zugänge zu (leistungsbezogener) ‚Heterogenität‘ …

7

dieser Differenzen“ (Fritzsche/Tervooren 2012, S. 25; vgl. auch Budde 2012a, S. 534; Dirim/Mecheril 2018, S. 199 f.). Die Bedeutung von Machtverhältnissen in der Unterrichtspraxis hinsichtlich der Konstruktion von (Leistungs-)Differenzen wird zwar häufig geltend gemacht (v. a. mit Bezug auf die Anerkennungstheorie von Judith Butler; vgl. ebd.; Ricken 2012, S. 348; Fritzsche 2018, S. 66 ff.). Die Frage, wie in methodologisch-methodischer Perspektive Machtverhältnisse innerhalb der ­ pädagogischen Praxis empirisch rekonstruiert werden können, wird dort jedoch kaum beantwortet bzw. erscheint dies klärungsbedürftig (vgl. für eine ähnliche Kritik in Bezug auf den methodologisch unklaren Handlungs- bzw. Praxisbegriff bei Butler Reh/Rabenstein 2012, S. 232). Analog betrifft dies den Zusammenhang zwischen der (Re-)Konstruktion von ‚Leistungsdifferenzen‘ und der „sozialen Herkunft“ bzw. der „unterschiedlichen sozialen Milieus“ (Rabenstein et al. 2013, S. 672) in der Interaktion zwischen Professionellen und Klientel. Dieser Frage wird zwar u. a. im Kontext von Studien zu sozialer Ungleichheit und Schulerfolg nachgegangen – hier vermittelt durch die Frage nach einem „Passungsverhältnis“ von „Schülerhabitus“ und „Schulkultur“ (Kramer/Helsper 2010; Kramer 2017). Gegenüber diesem Ansatz wird jedoch kritisch angemerkt, dass er – primär auf der Basis von Erzählungen selbst erlebter Praxis – den „individuellen Orientierungsrahmen (…) als bereits sedimentierte Spur, als Habitus und Ergebnis von Erfahrungen sozialer Positionierungen in der Schule im Unterricht selbst“ herausarbeitet (Rabenstein et al. 2013, S. 672), was letztlich zu einer „Verzerrung“ des Zusammenhangs von „Leistung und sozialen Differenzen“ führt (ebd., S. 680). Dagegen wird für das Verhältnis von ‚leistungsbezogenen‘ Differenzkonstruktionen und den „sozialen Milieus“ „im Vollzug von Unterricht“ ein deutlicher Mangel an empirischen Studien verzeichnet (ebd., S. 672, Herv. i. O.). Damit geht zugleich der Vorschlag einher, dieses Verhältnis als „Herstellung pädagogischer Differenzordnungen“ (ebd., S. 684) bzw. als „Unterrichtsmilieus“ (­Wagner-Willi/Sturm 2012) zu beschreiben, in denen soziale Herkunftsdifferenzen in ihrer Überlagerung sowohl aktualisiert als auch attribuiert werden (vgl. Rabenstein et al. 2013, S. 684; Sturm/Wagner-Willi 2015a). Dabei steht der Zusammenhang von Leistungsdifferenzen und sozialen Herkunftsdifferenzen in keinem linear-kausalen Zusammenhang (vgl. ebd.). Derartige pädagogische Differenzordnungen bzw. Unterrichtsmilieus sind vielmehr als dynamisch bzw. kontingent zu begreifen (vgl. Hirschauer 2014). Dadurch unterscheiden sie sich zudem von einer „intersektionalen“ Perspektive auf ‚Heterogenität‘, die den Zusammenhang fokussiert zwischen sozialer Ungleichheit und von den Forschenden „mehr oder weniger willkürlich ausgewählten Kategorien“, wie z. B. „die Auswahl der großen Trias (sex/race/class)“ (ebd., S. 176, Herv. i. O.).

8

1 Einleitung

Damit sind zugleich aber auch die praxeologisch-rekonstruktiven Forschungszugänge zum Gegenstand ‚(Leistungs-)Heterogenität‘ bzw. ‚­ (Leistungs-) Differenz‘ – analog zu den objektivistischen Zugängen – gefordert, die Gefahr der Reifizierung in Rechnung zu stellen (vgl. Fritzsche/Tervooren 2012, S. 26), also einer „Nostrifizierung“ i.S. der „Aneignung des Anderen nach eigenem Maß“ (Matthes 1992, S. 84) methodisch zu begegnen. Die ansatzweise methodische Kontrolle dieses Problems der „Standortgebundenheit“ (Mannheim 1952, S. 243) der Forschenden wird idealerweise durch das ­ methodologisch-methodische Prinzip der komparativen Analyse angestrebt. Diese hat die ‚Befremdung‘ des eigenen Blicks durch den systematischen Einbezug möglichst kontrastierender empirischer Vergleichshorizonte zum Ziel (vgl. Bohnsack 2010, S. 65).

1.3 Erkenntnisinteresse, Forschungsfragen und Forschungszugang Vor dem Hintergrund der in Abschnitt 1.1 skizzierten gegenstandsbezogenen Problemstellung und Forschungsdesiderate für den ‚inklusiven‘ Fachunterricht in der Sekundarstufe I – die zugleich allgemein für Professionalität bzw. Professionalisierung von Lehrkräften im Kontext von ‚­(Leistungs-)Heterogenität‘ bzw. ‚(Leistungs-)Differenz‘ im Unterricht geltend gemacht werden können – sowie ausgehend von der in Abschnitt 1.2 aufgezeigten epistemologischen Annahme, dass sich ‚(Leistungs-)Heterogenität‘ als Herstellung und Bearbeitung von ‚(Leistungs-)Differenzen‘ in den Interaktionen des Unterrichts selbst vollzieht, ist das empirische Erkenntnisinteresse der vorliegenden Arbeit auf die Konstruktionen von ‚leistungsbezogenen‘ Differenzen in der ‚inklusiven‘ Fachunterrichtspraxis der Sekundarstufe I gerichtet. Um dem ebenfalls in Abschnitt 1.2 aufgezeigten Problem der Reifizierung von Differenzkategorien zu begegnen, wird im Rahmen der komparativen Analyse (vgl. Bohnsack 2010, S. 65) zudem der gymnasiale Fachunterricht ohne eine ‚inklusive‘ Programmatik als empirischer Vergleichshorizont einbezogen. Aufgrund der (historischen) Bedeutung von ‚Leistung‘ dieser Schulform im Kontext des selektiven Schulsystems (vgl. Furck 1964; Vögeli-Mantovani 1999; Streckeisen et al. 2007), in dem das Gymnasium formal ‚exklusiv‘ v. a. ‚leistungsstarke‘ Schüler*innen adressiert7, wird i.S. einer Suchstrategie zunächst angenommen,

7In

der Schweiz, in der die vorliegende empirische Untersuchung verortet ist, lag die Maturitätsquote im Jahr 2016 bei 21,2 % (vgl. BFS 2018a).

1.3  Erkenntnisinteresse, Forschungsfragen und Forschungszugang

9

dass es sich hierbei um einen Maximalkontrast zu den formal ‚inklusiven‘ Schulformen der Sekundarstufe I handelt. Die zentrale forschungsleitende Fragestellung lautet somit: Wie werden leistungsbezogene Differenzen zwischen den Schüler*innen im jeweiligen Fachunterricht der Sekundarstufe I in formal ‚inklusiven‘ und – dazu vergleichend – gymnasialen bzw. formal ‚exklusiven‘ Schulformen von den Akteur*innen sozial-interaktiv hergestellt und bearbeitet? In der Vergleichsdimension Fachunterricht wird – (ebenfalls) auf minimale und maximale Kontrastierung als Suchstrategie zielend – der Mathematik-, der Deutsch- und der Kunstunterricht in die empirische Analyse einbezogen. Im Schweizer Schulsystem, in dem die vorliegende Arbeit verotet ist, zeichnen sich die Fächer auf formaler bzw. schulrechtlicher Ebene durch unterschiedliche Relevanzen in Bezug auf ‚Leistung‘ bzw. ‚Selektion‘ aus: So stellen Mathematik und Deutsch schultypübergreifend ‚selektionsrelevante‘ (bzw. ‚promotionsrelevante‘) Pflichtfächer dar, während dies für den Kunstunterricht nicht (generell) gilt, gleichwohl Schwerpunktbildungen im künstlerischen Bereich sowohl im Gymnasium als auch in der (‚inklusiven‘ bzw. ‚integrativen‘) Sekundarschule möglich sind (vgl. Art. 9 u. 11 Maturitäts-Anerkennungsreglement; EDK 2017).8 In diesem Zusammenhang stellt sich zudem die Frage, wie die jeweiligen „Fachkulturen“ (Hericks/Körber 2007; Willems 2007) mit ihren Sachprogrammen und Bewertungsnormen in Relation zu der Konstruktion von ‚leistungsbezogenen‘ Differenzen in der jeweiligen Unterrichtspraxis stehen. Darüber hinaus wird die Frage nach der Relation von ‚leistungsbezogenen‘ Differenzkonstruktionen zu Macht in der Unterrichtsinteraktion gestellt sowie die (methodologische) Frage nach ihrer Rekonstruktion. Schließlich wird danach gefragt, wie diese rekonstruktiv-analytischen Relationen im Verhältnis zu Professionalität bzw. Professionalisierung von Lehrkräften stehen und – damit zusammenhängend – zu den normativen Anforderungen, die an sie, u. a. im Rahmen der ‚inklusiven‘ Programmatik, gestellt werden. Für die Beantwortung dieser Forschungsfragen wurde ein ­qualitativ-rekonstruktiver Forschungszugang gewählt, der die Unterrichtsinteraktion in ihrem performativen Vollzug in den Blick nimmt. Dabei wird die Herstellung und Bearbeitung von ‚leistungsbezogenen‘ Differenzen anhand der grundlagen- bzw. metatheoretischen Kategorien der Praxeologischen Wissenssoziologie einerseits auf der Ebene der kommunikativen Norm bzw. Identität (der propositionalen Logik) und andererseits auf der konjunktiv-habituellen Ebene (der performativen Logik) verortet. Beide Wissensebenen bzw. Logiken stehen

8Es

handelt sich hierbei um schulrechtliche Dokumente der (deutschsprachigen) Schweiz, in der sich das Untersuchungsfeld der vorliegenden Arbeit befindet.

10

1 Einleitung

in einem grundsätzlichen Spannungsverhältnis zueinander (vgl. Mannheim 1980; Bohnsack 2017a). Im Rahmen dieses Spannungsverhältnisses stellt sich Unterricht als ein komplexes Interaktionssystem dar (vgl. Luhmann 2002), in dem sich gesellschaftliche bzw. soziale Identitätsnormen, die kommunikativen Regeln und Normen des (Fach-)Unterrichts bzw. der Organisation Schule (propositionale Logik) sowie die gesellschaftlichen Milieus ihrer Mitglieder (performative Logik) i.S. einer „doppelten Doppelstruktur“ (Bohnsack 2017a, S. 129) überlagern. Dort, wo in diesem Zusammenspiel eine kollektiv geteilte Handlungspraxis unter den Akteur*innen entsteht, konstituiert sich ein mehrdimensionales „Organisationsmilieu“ (Nohl 2007; Bohnsack 2017a, S. 128), das unter Berücksichtigung „fachkultureller“ Aspekte als „Unterrichtsmilieu“ bezeichnet wird (­Wagner-Willi/ Sturm 2012). Diese analytische Kategorie trägt der Kontinuität der Handlungspraxis Rechnung und berücksichtigt zugleich ihren prinzipiell dynamischen Charakter. Dabei ist dieser Zugang zum Interaktionssystem des Unterrichts mit besonderen empirisch-methodischen Anforderungen verbunden. Sich diesen zu stellen, ist Ziel der vorliegenden Analyse. Aufgrund der Fokussierung auf die Unterrichtsinteraktion in situ erfolgt die Rekonstruktion der Praxis des (Fach-)Unterrichts primär über die empirische Analyse von Unterrichtsvideographien mithilfe der in der Praxeologischen Wissenssoziologie fundierten Methode der Dokumentarischen Videointerpretation. Dabei wird sowohl die simultane Dimension (Fotogrammanalysen) als auch die sequentielle Dimension (Videosequenzanalysen) einbezogen (vgl. Bohnsack 2009; Fritzsche/Wagner-Willi 2015; Wagener/Wagner-Willi 2017). Darüber hinaus wurden im Rahmen des o. g. SNF-Projekts, in dem das vorliegende Dissertationsprojekt verortet ist, Interviews mit den Lehrkräften sowie Gruppendiskussionen mit den Schüler*innen geführt. Da der Fokus des Dissertationsprojekts auf der Ebene der „performativen Performanz“ (Bohnsack 2017a, S. 92) des Unterrichts liegt (Videographien), wird die Ebene der „proponierten Performanz“ (ebd.) nur ansatzweise einbezogen (Interviews).

1.4 Aufbau der Arbeit In Kapitel 2 wird der grundlagen- bzw. metatheoretische Rahmen dieser Arbeit genauer bestimmt. Zunächst werden die zentralen Prämissen einer rekonstruktiven Unterrichtsforschung definiert. Diese betreffen u. a. den Wechsel der Analyseeinstellung vom ‚Was‘ zum ‚Wie‘ bzw. von der Beobachtung erster Ordnung zur Beobachtung zweiter Ordnung sowie die methodische Kontrolle der eigenen Standortgebundenheit auf dem Weg der komparativen Analyse.

1.4  Aufbau der Arbeit

11

Daran anschließend werden die Grundannahmen der Praxeologischen Wissenssoziologie mit ihrer Leitdifferenz von propositionaler und performativer Logik, Norm bzw. Identität und Habitus bzw. Milieu, dargelegt. Die metatheoretischen Kategorien werden in einem nächsten Schritt auf Schule als institutioneller, organisationaler und interaktiver (Erfahrungs-)Zusammenhang übertragen. Es wird hier u. a. zwischen gesellschaftlichen bzw. sozialen und persönlichen bzw. organisationsspezifischen Identitätsnormen einerseits sowie gesellschaftlichen, interaktiven und organisationalen Milieus andererseits unterschieden. Dabei erfolgt die Konkretisierung der metatheoretischen Begriffe für den Unterricht als Interaktionssystem und Organisations- bzw. Unterrichtsmilieu i.S. einer habitualisierten bzw. perpetuierten Unterrichtspraxis auf Grundlage eines kollektiven Systemgedächtnisses. Voraussetzung für die Herausbildung eines Unterrichtsmilieus ist die implizite Reflexion des Spannungsverhältnisses von propositionaler und performativer Logik sowie dessen Bewältigung in der konstituierenden Rahmung. Zu den wesentlichen Bestandteilen der konstituierenden Rahmung zählen die Leistungsbewertung, aber auch die Sachbezüge des (Fach-)Unterrichts. In diesem Zusammenhang wird Macht als eine spezifische Variante der konstituierenden Rahmung bzw. als ein spezifischer Interaktionsmodus des Unterrichts definiert. Charakteristisch für einen machtstrukturierten Interaktionsmodus ist die essentialisierende bzw. totale Konstruktion von Identitäten. Im dritten Kapitel wird der methodologisch-methodische Zugang der Arbeit dargelegt und begründet. Dies betrifft zum einen die methodologisch-methodischen Grundprinzipien der in der Praxeologischen ­ Wissenssoziologie fundierten Dokumentarischen Methode als forschungsleitende Perspektive der empirischen Analyse. Zum anderen wird das zentrale Erhebungsverfahren – die Videographie des Unterrichts – sowohl im Kontext der aktuellen Methodendiskussion dargestellt als auch metatheoretisch bzw. methodologisch fundiert. Daraufhin wird das Auswertungsverfahren – die Dokumentarische Videointerpretation – mit ihrer Grundunterscheidung von Formulierender und Reflektierender Interpretation sowie der Typenbildung als zentrale Generalisierungsstrategie in der qualitativ-rekonstruktiven Forschung vorgestellt. Sowohl in Bezug auf die Videographie als auch auf die Dokumentarische Videointerpretation werden methodologische Erweiterungen vorgeschlagen – im ersten Fall in Bezug auf Macht als eine Konstruktionsleistung der Videographierenden, im zweiten auf die (begriffliche) Rekonstruktion der Interaktionsorganisation. Kapitel 4 befasst sich mit dem Design des empirischen Projekts. Zunächst werden der größere Projektzusammenhang – das SNF-Projekt „Herstellung und Bearbeitung von Differenz im Fachunterricht der Sekundarstufe I – eine Ver-

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1 Einleitung

gleichsstudie zu Unterrichtsmilieus in inklusiven und exklusiven Schulformen“ –, in dem die vorliegende Forschungsarbeit verortet ist, sowie das Untersuchungsfeld, in dem sie durchgeführt wurde, skizziert. In diesem Rahmen wird auch die Auswahl der Vergleichseinheiten in den Dimensionen Schulform und Fachunterricht genauer begründet. Nach einem Einblick in die einzelnen Schritte der Durchführung der Datenerhebung erfolgen die Darstellung der konkreten Schritte der Datenauswertung sowie des letztlich realisierten Samples der empirischen Analyse. In Kapitel 5 werden die empirischen Ergebnisse in Form einer praxeologischen Typenbildung präsentiert. Dabei werden die auf den einzelnen Fällen basierenden Rekonstruktionen im Zuge der komparativen Analyse im Rahmen einer sinngenetischen Typologie abstrahiert. Die Darstellung der fünf rekonstruierten Typen von Interaktionssystemen bzw. Unterrichtsmilieus, die sich hinsichtlich der Konstruktion leistungsbezogener Differenzen bzw. der Konstruktion persönlicher und sozialer Identitäten unterscheiden, wird jeweils am empirischen Datenmaterial illustriert. Im sechsten Kapitel wird die Frage nach der Soziogenese der sinngenetischen Typologie, d. h. ihrer (potentiellen) Verortung in einem mehrdimensionalen sozialen Erfahrungszusammenhang, gestellt. Derartige Erklärungsversuche können hier nur als ‚soziogenetische Reflexionen‘ vorgenommen werden, die keinen Anspruch auf Vollständigkeit erheben. Es bilden sich zwar empirisch-rekonstruktiv Tendenzen in Richtung einer Schulformspezifik sowie ­ einer Fachspezifik ab, jedoch können diese nicht ohne weitergehende Analysen generalisiert werden. Das siebte und abschließende Kapitel befasst sich mit dem Aspekt der Professionalisierung aus praxeologischer Perspektive im Kontext von Unterrichtsforschung. Dazu werden auf der Grundlage der empirischen Analyse sowohl die konstituierenden als auch die normativen Bedingungen professionalisierter Unterrichtsmilieus herausgearbeitet. Zum einen wird mit Bezug auf die Metatheorie dieser Arbeit argumentiert, dass die konstituierende Rahmung als konstituierende Bedingung für eine professionalisierte Praxis bzw. ein professionalisiertes Unterrichtsmilieu betrachtet werden kann. Von dieser formal-rekonstruktiven Kategorie professionalisierter Praxis ist wiederum deren normative Bewertung auf Grundlage einer praktischen Diskursethik zu unterscheiden, wie sie sich bspw. in machtstrukturierten Interaktionen dokumentiert. Diese sich in der professionellen Praxis implizit dokumentierende Diskursethik wird vor dem Hintergrund erziehungswissenschaftlicher Theorien mit Fokus auf ‚Inklusion‘ diskutiert. Ausgehend von den empirischen Rekonstruktionen wird dabei auch das Verhältnis von ‚Fachlichkeit‘, ‚Sache‘, ‚Leistungsbewertung‘

1.4  Aufbau der Arbeit

13

und ‚Person‘ im (Fach-)Unterricht eingehender betrachtet. Abschließend werden einige Implikationen für eine reflexive Lehrer*innenbildung abgeleitet – sowohl im Rahmen des Studiums als auch im Kontext des schulischen Alltags von Lehrkräften. Dabei wird metatheoretisch und empirisch fundiert argumentiert, dass – im Unterschied zu konventionellen Professionalitäts- bzw. Professionalisierungstheorien – eine derartige Lehrer*innenbildung weniger auf die Förderung explizit-theoretischer, sondern primordial auf implizite bzw. praktische Reflexionspotentiale zielen sollte. In diesem Zusammenhang kann die Arbeit dann auch einen Beitrag dazu leisten, das Verhältnis von Unterrichtsforschung und Professionalisierungsforschung zu klären.

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Metatheoretische Verortung: rekonstruktive Unterrichtsforschung im Rahmen der Praxeologischen Wissenssoziologie

Im Folgenden wird der erkenntnis- bzw. metatheoretische Rahmen dieser Arbeit bestimmt. Dazu werden zunächst zentrale Prämissen einer rekonstruktiven Unterrichtsforschung definiert. Daran anschließend werden die Grundannahmen der Praxeologischen Wissenssoziologie (vgl. Bohnsack 2017a) dargelegt und diese in einem nächsten Schritt auf Schule als gesellschaftlicher, organisationaler und interaktiver Erfahrungs zusammenhang übertragen. In einem weiteren Schritt erfolgt die Konkretisierung der metatheoretischen Begriffsklärung für Unterricht als Interaktionssystem und Organisationsmilieu. Dabei werden die für diese Arbeit zentralen Aspekte ‚Leistungsbewertung‘ und ‚Macht‘ als (potentielle) Bestandteile der konstituierenden Rahmung bzw. des Unterrichtsmilieus eingeführt.

2.1 Prämissen einer rekonstruktiven Unterrichtsforschung Die vorliegende Arbeit ist erkenntnistheoretisch und methodologisch im Paradigma der rekonstruktiven Sozialforschung verortet und empirisch auf den Untersuchungsgegenstand Schulunterricht gerichtet. Ein zentrales (­Qualitäts-) Merkmal qualitativ-rekonstruktiver Forschung besteht in der Theoriegenerierung, worin sie sich grundlegend – in ihrem Verhältnis von Empirie und Theorie – von der standardisierten bzw. hypothesenprüfenden Forschung unterscheidet (vgl. Bohnsack 2005; Przyborksi-Wohlrab-Sahr 2013, S. 28 ff.; Strübing et al.

© Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 B. Wagener, Leistung, Differenz und Inklusion, https://doi.org/10.1007/978-3-658-31204-6_2

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2  Metatheoretische Verortung: rekonstruktive Unterrichtsforschung …

2018, S. 85).1 Ihr Erkenntnisinteresse richtet sich auf die „Sinn- und Relevanzstruktur“ der „Sozialwelt“ (Schütz 1971, S. 6). Sie ist deshalb als rekonstruktiv zu bezeichnen, da die theoretischen Konstruktionen der Forschenden solche „zweiten Grades“ sind, d. h. „Konstruktionen jener Konstruktionen, die im Sozialfeld von den Handelnden gebildet werden“ (ebd., S. 7). In einer aktuellen Definition für die „qualitative Unterrichtsforschung“ heißt es, dass „der soziale Sinn rekonstruiert [wird – B.W.], der in wechselseitiger Bezugnahme von Personen aufeinander in zeitlichen, räumlichen und materiellen Gegebenheiten emergiert bzw. hervorgebracht wird“ (Proske/Rabenstein 2018, S. 9). Und weiter: „Unterricht wird als strukturierender und strukturierter ‚Interaktionsraum‘ (Soeffner 1989, 12) konstruiert, der auf ‚kollektive Bedeutungsgenese‘ ausgelegt ist, die wiederum ‚auf semantischer Ebene Verständigungen und daraus resultierende Kooperationen‘ ermöglicht“ (ebd.). An diese Definition anknüpfend, lassen sich zwei Differenzierungen vornehmen, die für den rekonstruktiven Ansatz dieser Arbeit von zentraler Bedeutung sind. Zum einen kann mit Niklas Luhmann (1970, S. 115) eine Unterscheidung zwischen Person und Interaktionssystem getroffen werden: „Unter sozialem System soll hier ein Sinnzusammenhang von sozialen Handlungen verstanden werden, die aufeinander verweisen und sich von einer Umwelt nicht dazugehöriger Handlungen abgrenzen lassen.“ Diese Differenzierung lässt sich generell auch für Unterricht geltend machen (vgl. Luhmann 2002; Asbrand/ Martens 2018, S. 88 ff.; s. dazu ausführlich Abschnitt 2.5). Weiter an Luhmann anschließend, können von den Konstruktionen zweiten Grades, d. h. von der Rekonstruktion des subjektiv gemeinten Sinns bzw. der Eigentheorien der Beforschten, auf die auch die „sozialwissenschaftliche Hermeneutik“ (Soeffner 1989) abzielt (und auf die in der o. g. Definition qualitativer Unterrichtsforschung von Proske und Rabenstein Bezug genommen wird), zum anderen eine Beobachtung „zweiter Ordnung“ (Luhmann 2002, S. 168, Herv. B.W.) unterschieden werden. Beobachtungen zweiter Ordnung gehen über eine Rekonstruktion der (Common Sense-)Theorien der Erforschten

1Auf

die Unterschiede (und Gemeinsamkeiten) rekonstruktiver und standardisierter Forschung – oder wie es konventionell auch heißt: zwischen qualitativer und quantitativer Forschung – wurde bereits ansatzweise im Rahmen der Einleitung dieser Arbeit eingegangen (s. Abschnitt 1.2). Für eine differenzierte Darstellung im Allgemeinen s. Bohnsack (2010, Kapitel 2) sowie Przyborski und Wohlrab-Sahr (2013, Kapitel 2); für die Unterrichtsforschung im Speziellen s. Helsper und Klieme (2013) sowie Reh und Rabenstein (2013).

2.1  Prämissen einer rekonstruktiven Unterrichtsforschung

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hinaus und wenden sich der Praxis der Beforschten, d. h. deren handlungsleitenden und impliziten Wissensbeständen, zu. Es geht dabei also nicht (nur) um das Was (Theorie), sondern (vorwiegend) um das Wie der Herstellung der sinnstrukturierten und -strukturierenden Handlungspraxis (vgl. Bohnsack 2005, S. 72 f.). Dies überwindet die Fokussierung auf die „Verständigungen“ auf „semantischer Ebene“ (Proske/Rabenstein 2018, S. 9), also die kommunikativen Verständigungen, die aufgrund ihrer Indexikalität generell einen prekären Charakter aufweisen (vgl. Garfinkel 1967a). Beobachtungen zweiter Ordnung beziehen außerdem die korporierten Anteile der Interaktion ein, die in der Unterrichtspraxis von besonderer Relevanz sind (vgl. Wagner-Willi 2005; ­Fritzsche/ Wagner-Willi 2015; Asbrand/Martens 2018). Ein derartiges „methodisch kontrolliertes Fremdverstehen“ (Bohnsack 2005, S. 69) der sinnhaften Interaktion setzt insbesondere die Erfassung des Kontextes voraus, in dem die Einzeläußerungen bzw. -akte ihren Ausdruck finden (vgl. ebd.). Ein solches rekonstruktives Vorgehen lässt sich von den Methoden der Alltagsverständigung der Beforschten nicht i.S. einer höheren Rationalität trennen. Es setzt vielmehr die Kenntnis dieser Methoden, der „formalen Strukturen“ bzw. „natürlichen Standards“ (ebd., S. 67) der Alltagskommunikation bzw. ­ -interaktion, voraus (vgl. ebd.). Damit verbunden ist eine „empirische Rekonstruktion der Forschungspraxis“ (ebd., S. 65, Herv. B.W.), die ihre Methodologie i.S. einer „naturalistischen Epistemologie“ (Luhmann 1987, S. 10) bzw. eines „methodologischen Pragmatismus“ (Luhmann 1990, S. 509) nicht erkenntnistheoretisch deduktiv ableitet, sondern in der rekonstruktiven Auseinandersetzung mit der empirischen Forschung abduktiv generiert. Dies bedeutet jedoch nicht, dass im Forschungsprozess vollständig auf theoretisches (Vor-) Wissen verzichtet wird. Im Unterschied zu den hypothesenprüfenden Verfahren, bei denen gegenstandsbezogene Theorien bzw. Hypothesen den Ausgangspunkt der Forschung bilden, ist es im Bereich der rekonstruktiven Forschung deren grundlagen- bzw. metatheoretische Fundierung, die den vergleichsweise offenen Forschungsprozess grundlegend rahmt. Die Metatheorien bilden zudem die Basis für die Generierung neuer Gegenstandstheorien auf der Grundlage der empirischen Rekonstruktion. So betont Bohnsack (2005, S. 71), „dass eine Generierung gegenstandsbezogener Theorien nur auf der Grundlage einer umfassenden Vertrautheit mit den ­Meta-Theorien gelingt“.2 Die aus der Relation von Metatheorie und empirischer Rekonstruktion generierte Gegenstandstheorie

2Für

eine ähnliche Argumentation s. Strübing et al. (2018, S. 90 ff.).

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2  Metatheoretische Verortung: rekonstruktive Unterrichtsforschung …

kann dann Anspruch auf Generalisierbarkeit erheben, wenn es ihr durch den Fallvergleich, die komparative Analyse, gelingt, „(Ideal-)Typen“ (ebd., S. 77, Herv. B.W.) zu bilden (s. dazu ausführlich Abschnitt 3.1 und Kapitel 5). Die Metatheorie, die den Rahmen dieser Arbeit darstellt, ist die Praxeologische Wissenssoziologie (vgl. Bohnsack 2017a). Sie schließt an die hier kurz skizzierten Prämissen rekonstruktiver Forschung an (sowie an weitere, die hier nicht explizit aufgeführt worden sind; vgl. Bohnsack 2005, 2010). Dabei ist das Praxeologische gleich in zweierlei Hinsicht relevant: Einerseits trägt es dem Erkenntnisinteresse dieser Arbeit Rechnung, welches auf die interaktive Unterrichtspraxis zielt, das praktische Wissen der Akteur*innen um ihre Konstruktionen von schulischer ‚Leistung‘ und damit verbundene Differenzen zwischen Schüler*innen. Andererseits verweist es auf die Fundierung der metatheoretischen Kategorien sowie der Methoden in der Forschungspraxis selbst (vgl. ebd.; Bohnsack 2017a). Zunächst werden die zentralen metatheoretischen Kategorien der Praxeologischen Wissenssoziologie dargelegt, um sie in einem nächsten Schritt in den Kontext des Untersuchungsgegenstands: die Praxis der Leistungsbewertung und damit verbundener Differenzkonstruktionen in Schule bzw. Unterricht, zu stellen.

2.2 Die Praxeologische Wissenssoziologie und ihre Grundannahmen Der Begriff der Wissenssoziologie geht auf Max Scheler (1926) zurück und wurde von Karl Mannheim (1952) übernommen und von diesem als „eine Lehre von der sogenannten ‚Seinsverbundenheit‘ des Wissens“ (ebd., S. 227) neu definiert. An die theoretischen Kategorien der Mannheim’schen Wissenssoziologie anknüpfend, haben Ralf Bohnsack und Kolleg*innen in der Auseinandersetzung mit methodisch-methodologischen Fragen einer empirisch-rekonstruktiven Sozialforschung – insbesondere im Kontext der in der Mannheim’schen Wissenssoziologie verorteten Dokumentarischen Methode (vgl. Bohnsack 2010, S. 31 ff.; s. dazu ausführlich Abschnitt 3.1 und 3.3) – sowie unter Bezugnahme auf weitere sozial- und geisteswissenschaftliche Theorietraditionen einen grundlagen- bzw. metatheoretischen Zugang zur Praxis entwickelt, den Bohnsack (2017a) als „Praxeologische Wissenssoziologie“ bezeichnet hat. Diese weiteren Theorietraditionen, auf die sich die Praxeologische Wissenssoziologie bezieht, erhalten auch in der vorliegenden Arbeit einen zentralen Stellenwert und sollen daher an dieser Stelle benannt werden: die Ethnomethodologie von Harold Garfinkel, die Habitustheorie von Pierre Bourdieu, die

2.2  Die Praxeologische Wissenssoziologie und ihre Grundannahmen

19

Sozialphänomenologie von Alfred Schütz, die Systemtheorie von Niklas Luhmann, die Identitäts- und Interaktionstheorie von Erving Goffman sowie die Ikonologie von Erwin Panofsky (vgl. ebd.).

2.2.1 Karl Mannheims Leitdifferenz: „kommunikatives“ und „konjunktives“ Wissen In Überwindung der Aporie von Sein und Bewusstsein, von Objektivismus und Subjektivismus, unterscheidet Mannheim (1964) zwei fundamental unterschiedliche Wissensformen: das „atheoretische“ (ebd., S. 100), die Handlungspraxis strukturierende Wissen, das von den Akteur*innen kaum expliziert werden kann, einerseits und das „kommunikative“ (Mannheim 1980, S. 289 ff.) Wissen auf der Ebene des Common Sense bzw. der Alltagstheorien, das von den Akteur*innen i. d. R. explizierbar ist, andererseits. Das atheoretische Wissen bezeichnet Mannheim auch als „konjunktives“ (ebd., S. 211 ff.), da es in der gemeinsamen Erfahrung bzw. Praxis erworben wird und diese zugleich – in habitualisierter Weise (vgl. Bohnsack 2017a, S. 63 ff.) – strukturiert. In einem solchen „konjunktiven Erfahrungsraum“ (Mannheim 1980, S. 219) bzw. „Milieu“ (Bohnsack 2017a, S. 35) ist ein unmittelbares gegenseitiges „Verstehen“ (Mannheim 1980, S. 272) möglich, so dass jenes auch als „Modus der primordialen Sozialität“ (Bohnsack 2017a, S. 42, Herv.i.O.) bezeichnet werden kann. Von einem unmittelbaren Verstehen innerhalb von konjunktiven Erfahrungsräumen bzw. Milieus unterscheidet Mannheim die Verständigung über diese hinweg, die er als „Interpretation“ (Mannheim 1980, S. 272) fasst und die auf dem o. g. expliziten, kommunikativ-generalisierten Wissen basiert. Diese – im Unterschied zu Verstehensprozessen – „prekäre“ (Bohnsack 2017a, S. 40) Ebene der Verständigung lässt sich auch als diejenige der „sekundären Sozialität“ (ebd., S. 42, Herv.i.O.) bezeichnen. Die von Mannheim beschriebene „genetische“ (ebd., S. 88) Einstellung der soziologischen Betrachtung fokussiert die Ebene primordialer Sozialität, also das ‚Wie‘ der handlungspraktischen Herstellung von Realität durch die Akteur*innen, die auf deren atheoretischen bzw. konjunktiven Wissensbeständen basiert (vgl. ebd.). Der konjunktive Erfahrungsraum steht „im Zentrum der Praxeologischen Wissenssoziologie und der Dokumentarischen Methode“ (ebd., S. 102). Dieser ist charakterisiert durch ein grundsätzliches Spannungsverhältnis bzw. eine „notorische Diskrepanz“ (ebd., S. 106) zwischen kommunikativem und konjunktivem Wissen bzw. – wie es in der neueren Entwicklung der Praxeologischen Wissenssoziologie nahezu synonym heißt – zwischen „propositionaler und

20

2  Metatheoretische Verortung: rekonstruktive Unterrichtsforschung …

performativer Logik“ (ebd., S. 63, Herv.i.O.) und konstituiert sich in der handlungspraktischen und habitualisierten Bearbeitung bzw. Bewältigung dieses Spannungsverhältnisses (vgl. ebd., S. 108). Damit wird auch dem Rechnung getragen, was Mannheim (1980, S. 296) als eine grundsätzliche „Doppeltheit der Verhaltensweisen in jedem einzelnen, sowohl gegenüber Begriffen als auch Realitäten“ bezeichnet hat (vgl. auch Bohnsack 2017a, S. 54). Im Folgenden werden diese beiden Logiken – die propositionale und die performative – und ihre Relation im konjunktiven Erfahrungsraum als für diese Arbeit zentralen metatheoretischen Kategorien näher beleuchtet.

2.2.2 Die propositionale Logik: Um-zu-Motiv, Rolle, Norm und Identität Die propositionale Logik basiert also im Wesentlichen auf der Struktur des kommunikativen Wissens, das wiederum in den Theorien des Common Sense verankert ist und einen weitgehend expliziten Charakter aufweist (vgl. Bohnsack 2017b, S.  235). Zu diesen auch als „Orientierungsschemata“ (Bohnsack 2012, Herv. B.W.) bezeichneten Common-Sense-Theorien zählen zum einen ­Motiv-Konstruktionen, wie insbesondere die in der Sozialphänomenologie von Alfred Schütz (1971, S. 24) beschriebenen „Um-zu-Motive“. Hierzu führt Schütz u. a. das Beispiel eines Mörders an, dessen Motiv es war, „das Geld seines Opfers zu bekommen“ (ebd.). Dabei handelt es sich um die Entwurfskonstruktion einer Handlung, die sich an einem zukünftigen Ereignis orientiert (vgl. ebd.). Eine alternative Lesart wäre, „daß der Mörder zu seiner Tat motiviert worden ist, da er in dieser oder jener Umgebung aufwuchs, diese oder jene Erfahrungen in seiner Kindheit machte etc.“ (ebd.). Diese retrospektiv-biographische Begründung des Handelns des Akteurs ordnet Schütz den „(echten) ‚Weil-Motiven‘“ (ebd.) zu, als ‚Motive der Um-zu-Motive‘. In seiner kritischen Analyse der Struktur von Common-Sense-Theorien konstatiert Bohnsack (2017a, S. 85 f.), dass die subjektiven Intentionen jedoch nicht am Handlungsablauf selbst beobachtbar sind (mit der Ausnahme institutionalisierten und rollenförmigen Handelns, auf das nachfolgend noch eingegangen wird), also von den Interpret*innen nur unterstellt werden können. Diese Problematik gilt für den Zugang zum „subjektiv gemeinten Sinn“ in der sozialphänomenologischen Rezeption der „Verstehenden Soziologie“

2.2  Die Praxeologische Wissenssoziologie und ihre Grundannahmen

21

Max Webers (1976, S. 4) generell (vgl. Bohnsack 2017a, S. 87).3 Die Sozialphänomenologie versucht, diesen Zugang wiederum durch ein zweckrationales Handlungsmodell methodisch zu sichern (vgl. Schütz 1971, S. 31 ff.; Bohnsack 2017a, S. 87). Dies führt dann jedoch – wie im obigen Fall des Weil-Motivs – zu tautologischen Schlussfolgerungen: Die selektive Betrachtung der problematisierten Handlung von ihrem Abweichungspotential her führt im zweiten Schritt zu einer selektiven Betrachtung (nach Art eines ‚Lichtkegels‘ im Sinne von Schütz) der ‚Ursachen‘ biografischer Entwicklung, innerhalb derer ebenfalls nach Abweichungen gefahndet wird. Da die Selektivität der Betrachtung und Bewertung des problematisierten Handelns als beispielsweise unmoralisch auf die Selektivität der Rahmung der Ursachen übertragen wird, ist es dann aber nicht – wie die Logik des Common Sense es suggeriert – die Ursache, welche die Wirkung bewirkt, vielmehr führt die Logik des Konstruktionsprozesses dazu, dass die Wirkung (das um-zu-motivierte Handeln) die Ursache (das Weil-Motiv) bewirkt“ (Bohnsack 2017a, S. 86, Herv.i.O.).4

Die Kategorien der Sozialphänomenologie können jedoch der Analyse der Common-Sense-Theorien der Beforschten, v. a. im Medium der Sprache, dienen. Im Rahmen der Praxeologischen Wissenssoziologie und der Dokumentarischen Methode werden sie dann als „Orientierungstheorien“ (Um-zu-Motive) und „Erklärungstheorien“ (Weil-Motive) bezeichnet (ebd., Herv.i.O.; vgl. auch Schütze 1987, S. 178 f.). Eine ‚gültige‘ Unterstellung von Um-zu-Motiven durch die Beobachtenden ist nur dann möglich, wenn zum anderen (ein Wissen um) institutionalisiertes und rollenförmiges Handeln vorliegt (vgl. Bohnsack 2017a, S. 87). Nach Schütz (1971, S. 28) handelt es sich dabei um „typische Motive des Handelnden“, um die „Konstruktion eines personalen Typs“, der „mehr oder weniger anonym“ (ebd.) ist, im Bereich der „sozialen Rolle, der sozialen Funktion oder des institutionalisierten Verhaltens“ (ebd., S. 29). Als Beispiel führt er die Rolle des

3Bohnsack

(2017a, S. 83 f. und 89 ff.) verweist auf den Unterschied zwischen der Rezeption von Webers Konzeption des „subjektiv gemeinten Sinn“ und des „Idealtypus“ bei Schütz (1971, 1974), der sich v. a. auf Webers handlungstheoretische (1976) und methodologische (1988a) Arbeiten bezieht, und der Rezeption von Webers eher forschungspraktischen Arbeiten (1988b) bei Mannheim (u. a. 1980) und Bourdieu (u. a. 1974). Letztere verweisen auf ein stärker praxeologisches Verständnis des „Idealtypus“ (vgl. Bohnsack 2017a, S. 89 ff.). 4Bohnsack (1983, S. 51) hat diese Art der tautologischen Konstruktion auch als „verdachtsgeleitete Wirklichkeitskonstruktion“ bezeichnet.

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2  Metatheoretische Verortung: rekonstruktive Unterrichtsforschung …

„Postbeamten“ an: „Ich halte es für selbstverständlich, daß mein Handeln (sagen wir, das Einwerfen eines frankierten und richtig adressierten Briefes in einen Postkasten) anonyme Mitmenschen (Postbeamte) veranlassen wird, typische Handlungen auszuführen (die Post zu befördern), und zwar in Übereinstimmung mit typischen Um-zu-Motiven (um ihre beruflichen Pflichten zu erfüllen), und daß am Ende der von mir entworfene Stand der Dinge (Austragen des Briefes beim Adressaten in angemessener Zeit) hergestellt sein wird“ (ebd.). Damit ist auch das beschrieben, was Thomas Berger und Thomas Luckmann (1969, S. 58) als „Institutionalisierung“ definiert haben: „Institutionalisierung findet statt, sobald habitualisierte Handlungen durch Typen von Handelnden reziprok typisiert werden.“ Diese Form der Alltagsinterpretation bzw. -kommunikation basiert auf einer „Reziprozität der Perspektiven“ (Schütz 1971, S. 12, Herv.i.O.), d. h. „Idealisierungen, welche die Herstellung von Intersubjektivität und die Zeitlichkeit betreffen“ (Bohnsack 2017a, S. 39 f.), und in der Ethnomethodologie auch als „pretence of agreement“ (Garfinkel 1981, S. 205) bezeichnet werden. Bohnsack (2017a, S. 41) weist mit Bezug auf Harold Garfinkel auf den generell „prekären“ Charakter dieses „Modus der Sozialität“ hin – im Unterschied zu einem Modus der „habituellen Übereinstimmung“ (ebd., S. 42) im Medium des Konjunktiven (vgl. ebd.; s. dazu ausführlicher Abschnitt 2.2.4). Die ‚Prekarität‘ des ersten Modus hat Garfinkel (1967a, S. 40 ff.) eindrücklich in seinen berühmten ‚Krisenexperimenten‘ dargestellt. Darin bat er u. a. seine Studierenden, mit den selbstverständlichen Routinen der Alltagskommunikation systematisch zu brechen, was zu erheblichen Irritationen beim Gegenüber führte (vgl. ebd.). In diesem Zusammenhang kommt zudem der Norm bzw. Regel als einem zentralen Element der propositionalen Logik bzw. des kommunikativen Wissens Bedeutung zu. Vor dem Hintergrund des idealisierenden „Anspruchs auf und Unterstellung von Sinneinverständnis“ (Garfinkel 1981, S. 205) wird, wie Bohnsack (2017a, S. 40) betont, „eine Abstimmung kommunikativer Absichten und intentionaler Orientierungen an allgemeine Regeln oder Normen vollzogen, welche es dem Individuum ermöglichen soll, sein Handeln in autonomer Weise zu kontrollieren und strategisch zu steuern“. Damit liegt sowohl der von Garfinkel begründeten Ethnomethodologie als auch dem Interpretativen Paradigma, das u. a. in der Ethnomethodologie und der Sozialphänomenologie gründet, insgesamt ein „deduktives Verständnis von Regel(-wissen) und Praxisvollzug“ (ebd., S. 49) zugrunde, welches letztlich in einem „infiniten Regress“ (ebd., S. 52) mündet. Dieses deduktive Regel-Praxis-Verständnis wird von Pierre Bourdieu auch als „Illusion der Regel“ (Bourdieu 1976, S. 203) bezeichnet. Dazu führt Bourdieu u. a. aus: „Es ist von Bedeutung, daß jeder Versuch (…) eine

2.2  Die Praxeologische Wissenssoziologie und ihre Grundannahmen

23

Praxis/Praktik auf der gehorsamen Erfüllung einer explizit formulierten Regel zu begründen, sich an der Frage nach den Regeln stößt, die die angemessenste Art und Weise sowie den günstigsten Zeitpunkt (…) der Anwendung der Regel oder (…) der praktischen Umsetzung eines Repertoires an Vorschriften oder Techniken bestimmen, mit anderen Worten an der Frage nach der Kunst der Ausführung/ Ausübung, worein sich, unausweichlich, der Habitus wieder einschleicht“ (ebd., S. 203 f., Herv.i.O.). Damit ist die grundsätzliche Diskrepanz zwischen Norm bzw. Regel und Habitus bzw. propositionaler und performativer Logik angesprochen, wie sie in der Praxeologischen Wissenssoziologie formuliert wird (vgl. Bohnsack 2017a). Bohnsack weist allerdings einschränkend darauf hin, dass Bourdieu letztlich keine Antwort darauf zu geben vermag, wie dieses ungleiche Verhältnis zwischen Norm bzw. Regel und Habitus empirisch zu erfassen ist (vgl. ebd., S. 50 f.). In den Bereich der Normen – und damit in den Bereich des kommunikativen Wissens – fällt schließlich die Kategorie der „Identitätsnormen“ i.S. Erving Goffmans (1967, S. 159, Herv. B.W.; vgl. Bohnsack 2017a, S. 157). Goffman unterscheidet zwischen der „sozialen Identität“ (Goffman 1967, S. 9) und der „persönlichen Identität“ (ebd., S. 67). Die soziale Identität definiert Goffman wie folgt: „Die Gesellschaft schafft die Mittel zur Kategorisierung von Personen und den kompletten Satz von Attributen, die man für die Mitglieder jeder dieser Kategorien als gewöhnlich und natürlich empfindet. (…) Wenn ein Fremder uns vor Augen tritt, dürfte uns der erste Anblick befähigen, seine Kategorie und seine Eigenschaften, seine ‚soziale Identität‘ zu antizipieren“ (ebd., S. 10). Diese antizipierten sozialen Attribute zeichnen sich dadurch aus, dass wir sie „in normative Erwartungen umwandeln“ (ebd.). Diese normativen Erwartungen unterscheidet Goffman im Rahmen seiner „Stigma“-Theorie als „virtuale soziale Identität“ von der „aktualen sozialen Identität“ als „die Kategorie und die Attribute, deren Besitz dem Individuum tatsächlich bewiesen werden konnte“ (ebd., Herv.i.O.). Während die aktuale soziale Identität in praxeologischer Lesart aufgrund ihres performativen Charakters eher dem Bereich des Habituellen bzw. Konjunktiven zuzuordnen ist (vgl. Bohnsack 2017a, S. 305), zählen virtuale soziale Identitäten v. a. als „implizite Normalitätserwartungen“ (ebd., S. 153) zum kommunikativen Wissen (vgl. ebd.).5

5Das

kommunikative Wissen ist demnach nicht immer explizierbar und kann auch impliziter Art sein. Für eine aktuelle Ausdifferenzierung des impliziten Wissens in seiner kommunikativen wie konjunktiven Dimension im Rahmen der Praxeologischen Wissenssoziologie s. Bohnsack (2017a, S. 142 ff.).

24

2  Metatheoretische Verortung: rekonstruktive Unterrichtsforschung …

Die virtualen sozialen Identitäten lassen sich nach Bohnsack wiederum in „imaginative“ und „imaginäre soziale Identitäten“ (ebd.) differenzieren. Imaginative soziale Identitäten sind solche, von deren „Existenz“ (ebd.) die Akteur*innen ausgehen und an deren handlungspraktischer Umsetzung sie orientiert sind (vgl. ebd.). Bohnsack erläutert dies anhand eines Beispiels von Goffman zur „Beziehung des Medizinalassistenten zum Chefchirurgen“ (ebd., S. 156): Die „souveräne Praxis und Performanz des letzteren, also – in praxeologischer Begrifflichkeit gefasst – der Habitus des Chefchirurgen [wird] für den Medizinalassistenten zum Vorbild, zum imaginativen Erwartungshorizont, und in dem Sinne zur (…) imaginativen sozialen Identität“ (ebd., Herv.i.O.). Demgegenüber zeichnen sich imaginäre soziale Identitäten durch die Annahme ihrer „Nicht-Existenz“ bzw. durch ihren „Phantomcharakter“ (ebd.) aus, so dass sie für die Akteur*innen keine handlungspraktische Relevanz erhalten (vgl. ebd.). Auch hier bezieht sich Bohnsack auf ein Beispiel Goffmans: „For example, in an important sense there is only one complete unblushing male in America: a young, married, white, urban, northern, heterosexual Protestant father of college education, fully employed, of good complexion, weight and height, and a recent records in sports” (Goffman 1963, S. 128 f.). Obwohl diese Identitätsnorm laut Goffman in der amerikanischen Gesellschaft überaus wirkmächtig ist, kann sie letztlich niemand vollständig erfüllen (vgl. ebd.).6 Von diesen auf das Individuum bezogenen imaginären sozialen Identitäten lassen sich noch „imaginäre kollektive Identitäten“ (Bohnsack 2017a, S. 153) unterscheiden. Sie stellen sich bspw. als „fiktive konjunktive Erfahrungsräume“ (ebd., S. 172) dar, wie sie etwa aufgrund von „Stereotypisierungen nationaler (oder auch gender- oder klassenspezifischer) Zugehörigkeiten“ konstruiert werden (ebd., S. 175). Die virtuale soziale Identität und ihre hier dargestellten Unterkategorien werden somit als ein „gesellschaftliches Identifiziertwerden“ (ebd., S. 163) aufgrund ihrer exterioren und „kontrafaktischen“ (Luhmann 1997, S. 638) Erwartungsstruktur verstanden. Kontrafaktisch deshalb, da die normativen Erwartungen trotz ihres virtualen Charakters aufrechterhalten bleiben (vgl. ebd.; Bohnsack 2017a, S. 161). Demgegenüber betrifft die persönliche Identität die „Einzigartigkeit“ des Individuums,

6In

einem anderen empirischen Beispiel über Jugendliche, die im Rahmen einer Gruppendiskussion über eine für sie erstrebenswerte, aber gleichzeitig ihnen als absurd erscheinende Lebensweise (hier: ein weitgehend konsumfreies Leben auf einer Insel) sprechen (vgl. Bohnsack 2017a, S. 157 ff.), wird die von den Jugendlichen unterstellte ­„Nicht-Existenz“ (ebd.) dieser imaginären sozialen Identitätsnorm deutlich, die folglich für sie kein Orientierungspotential i.S. einer handlungspraktischen Umsetzung entfaltet.

2.2  Die Praxeologische Wissenssoziologie und ihre Grundannahmen

25

die sich nach Goffman aus einem „positiven Kennzeichen“ bzw. „Identitätsaufhänger“ ergibt, wie bspw. „das photographische Bild eines Individuums in den Köpfen anderer oder das Wissen um seinen speziellen Platz in einem bestimmten Verwandtschaftsnetz“ (Goffman 1967, S. 73). Die persönliche Identität ergibt sich jedoch erst durch einen „ganzen Satz von Fakten“ als ein „Informationskomplex“, der sowohl „namensgebunden“ als auch „körpergebunden“ sein kann (ebd., S. 74). Beides trifft allerdings auch auf die virtuale soziale Identität zu: Sowohl der Name als auch das Erscheinungsbild eines Individuums können zur Zuschreibung einer sozialen Identität, z. B. einer ethnischen Identität, führen (vgl. ebd, S. 79). Die Differenz zwischen persönlicher und (virtualer) sozialer Identität kann an Goffmans Begriff der „Informationskontrolle“ (ebd., S. 83) veranschaulicht werden: „Weil Information über persönliche Identität oft derart ist, daß sie sich genau dokumentieren läßt, kann sie dazu benutzt werden, sich gegen potentielle falsche Darstellung sozialer Identität abzusichern“ (ebd., S. 79). Goffman führt hier u. a. das Beispiel des Namens an, anhand dessen sein Träger als Angehöriger einer „ethnischen Gruppe“ (ebd., S. 76) identifiziert werden könnte. Die Änderung des Namens – ein Dokument persönlicher Identität (vgl. ebd., S. 77) –, um potentielle Benachteiligungen in der Öffentlichkeit aufgrund einer drohenden Zuschreibung sozialer Identität zu vermeiden, dient der Kontrolle hinsichtlich der persönlichen Identität (vgl. ebd., S. 79). Damit ist zum einen das bezeichnet, was uns als intentional gesteuerte Selbstpräsentationen im Medium des Texts – im Rahmen von Interviews oder Gruppendiskussionen – begegnet (vgl. Bohnsack 1998, S. 116 f.) und in der Praxeologischen Wissenssoziologie auch als „Eigentheorien der Beforschten“ (Bohnsack 2017a, S. 88) bezeichnet wird. Von der persönlichen Identität als Eigentheorie lässt sich ein zweiter Typ persönlicher Identität unterscheiden. Wenn Goffman schlussfolgert: „Persönliche Identität hat folglich mit der Annahme zu tun, daß das Individuum von allen anderen differenziert werden kann und daß rings um dies Mittel der Differenzierung eine einzige kontinuierliche Liste sozialer Fakten festgemacht werden kann, herumgewickelt wie Zuckerwatte, was dann die klebrige Substanz ergibt, an der noch andere biographische Fakten festgemacht werden können“ (Goffman 1967, S. 74), so geht es im Wesentlichen um Fremd-Identifizierungen einer Person (jenseits sozialer bzw. gesellschaftlicher Identifizierungen). Zu den „biographischen Fakten“ zählen dann auch die selektiven und tautologischen Biographiekonstruktionen, wie sie weiter oben im Rahmen der Konstruktion von ‚Weil-Motiven‘ skizziert worden sind (vgl. auch Bohnsack 2017a, S. 246 ff.). Zusammengefasst ergeben sich dadurch zwei Typen persönlicher Identität: Der eine betrifft die Konstruktion der „Einzigartigkeit“ (Goffman 1967, S. 73) der Person durch Andere im Rahmen von Fremd-Identifizierungen, wie sie u. a. als

26

2  Metatheoretische Verortung: rekonstruktive Unterrichtsforschung …

selektive Biographiekonstruktionen erfolgen. Der andere bezieht sich auf die Selbstdarstellung des Individuums (oder der Gruppe) insbesondere im Medium der Sprache, wo sie in den Bereich der Eigentheorien fällt und als (intentional gesteuerte) Informationskontrolle vom Habitus zu unterscheiden ist. Dabei ist eine Wechselwirkung zwischen beiden Typen nicht ausgeschlossen.

2.2.3 Die performative Logik: habitualisiertes und inkorporiertes Wissen Gegenüber der propositionalen Logik und ihrem zentralen Element der Norm als „kontrafaktische, imaginative und rationalisierende Konstruktion“ (Bohnsack 2017a, S. 55) verweist die performative Logik auf die performative Struktur des Vollzugs der Praxis bzw. den „Habitus“ als das „Faktische“ (ebd., S. 56). Diese Struktur ist, wie gesagt, eine grundlegend implizite (vgl. ebd., S. 143) bzw. „atheoretische“ (Mannheim 1964, S. 100). Daher ist die Darstellung der „Performativität“ (Bohnsack 2017a, S. 93) auf der verbalen Ebene – v. a. in Gesprächen – an bildhafte, „metaphorische Darstellungen“ gebunden, wie sie uns insbesondere in „Erzählungen und Beschreibungen“ (ebd., S. 92) begegnen.7 In diesem Fall handelt es sich um die „proponierte Performanz“ (ebd., Herv.i.O.), von der die „performative Performanz“ (ebd., Herv.i.O.) zu unterscheiden ist. Letztere betrifft die beobachtbare Praxis bzw. den „Modus Operandi“ (ebd., S. 95) in actu, also „Handlungen, Interaktionen, Gespräche in ihrem performativen Vollzug“ (ebd., S. 93). Die beobachtbare Praxis lässt sich wiederum in ein „inkorporiertes“ und ein „habitualisiertes Wissen“ (ebd., S. 143 ff.) differenzieren.8 Ersteres umfasst zunächst – auf einer elementaren Ebene – ein

7Zur

proponierten Performanz zählt Bohnsack auch das imaginative bzw. das imaginäre Wissen in der Dimension des Kommunikativen, wie die imaginativen und imaginären sozialen Identitäten, die ebenfalls einen impliziten Charakter aufweisen, worauf bereits hingewiesen wurde. Allerdings ist die Strukturlogik dieses Wissens gegenüber derjenigen des Konjunktiven bzw. Habituellen grundlegend verschieden (vgl. Bohnsack 2017a, S. 143). 8Terminologisch bezieht sich Bohnsack hier auf Bourdieu (1972), wendet den Begriff der Inkorporierung jedoch eher auf den Bereich körperbezogener Praktiken an, während Bourdieu ihn undifferenziert auf das implizite Wissen insgesamt anwendet. Den Begriff des habitualisierten Wissens verwendet Bohnsack eher im Bereich verbaler Praktiken, aber auch als Überkategorie für verbale und inkorporierte Praktiken (vgl. Bohnsack 2017a, S. 66 f.).

2.2  Die Praxeologische Wissenssoziologie und ihre Grundannahmen

27

„inkorporiertes Wissen in Zeuggebrauch und Motorik“, wie es Bohnsack (ebd.) in Anknüpfung an Martin Heidegger nennt. Dieses Wissen um den Herstellungsprozess, z. B. das „Hämmern mit dem Hammer“ (Heidegger, zit. n. Bohnsack 2017a, S. 67), das Binden eines Knotens (vgl. Mannheim 1980, S. 73 f.) oder das Fahrradfahren (vgl. Polanyi 1985), wird in „mimetischen Prozessen“ (Wulf 1999, S. 7) erworben und ist somit als ein „kollektives und sozial vermitteltes Wissen um diesen Modus Operandi des Zeuggebrauchs“ (Bohnsack 2017a, S. 67) begrifflich-theoretisch kaum explizierbar. Nur für sich betrachtet erhält dieses Wissen jedoch noch keine Bedeutung in der konjunktiven Dimension, d. h. als „inkorporiertes konjunktives Wissen“ (ebd., S. 143). Dieses konstituiert sich erst „in dem je konkreten und spezifischen Modus Operandi des Vollzugs bzw. der Variation eines generellen Modus Operandi, wie etwa demjenigen des Fahrradfahrens“, in dem sich der „je erfahrungsraumspezifische Habitus“ dokumentiert (ebd., S. 146). Am Beispiel des Fahrradfahrens zeigt sich dieses Wissen etwa in dem ‚geschickten‘ Unterwandern der Verkehrsregeln, ohne andere Teilnehmende am Straßenverkehr zu gefährden. Dies erfordert zwar auch ein Wissen über die kommunikativen Regeln, v. a. aber ein konjunktives Wissen im Umgang mit den anderen Verkehrsteilnehmenden sowie um die Geschicklichkeit des „Balancierens auf dem Fahrrad“ (Bohnsack 2017a, S. 145). Eine weitere Form des konjunktiven Wissens stellt das „habitualisierte konjunktive Wissen“ (Bohnsack 2017a, S. 143) dar. Dieses betrifft „die Struktur der interaktiven Bezugnahme“ (ebd., S. 95) der Akteur*innen. Während diese Formalstruktur auf der Ebene von Gesprächen (z. B. in Gruppendiskussionen) als „Diskursorganisation“ (ebd., Herv.i.O.) bezeichnet werden kann (vgl. auch Bohnsack/Przyborski 2006), ist das Pendant hierzu auf der Ebene der beobachtbaren Praxis mit ihren verbalen und körperbezogenen Anteilen die „Interaktionsorganisation“ (Bohnsack 2017a, S. 143, Herv. B.W.; Bohnsack et al. 2015, S. 25; s. dazu ausführlich Abschnitt 3.3). Dieses performative Wissen, das habitualisierte wie das inkorporierte in der konjunktiven Dimension, wird in der Praxeologischen Wissenssoziologie auch insgesamt als „Habitus“ bzw. als „Orientierungsrahmen im engeren Sinne“ (Bohnsack 2017a, S. 104, Herv.i.O.) bezeichnet.

28

2  Metatheoretische Verortung: rekonstruktive Unterrichtsforschung …

2.2.4 Das Spannungsverhältnis zwischen propositionaler und performativer Logik und dessen Relation im konjunktiven Erfahrungsraum Die performative Logik bzw. der Habitus steht, wie bereits weiter oben erwähnt, in einem grundsätzlichen Spannungsverhältnis zur propositionalen Logik mit ihren als exterior erfahrenen normativen Regeln, Rollen und Identitätserwartungen. Dabei wird letztere als solche durch den Habitus erst erfahrbar (vgl. Bohnsack 2017a, S. 103 f.). Im kollektiven bzw. „konjunktiven Erleben der habitualisierten Praxis und ihres Verhältnisses zur Norm“ (ebd., Herv.i.O.), d. h. in der Relation dieses Spannungsverhältnisses, konstituiert sich der „konjunktive Erfahrungsraum“ (Mannheim 1980, S. 219). Das darin eingelagerte Wissen um den Modus Operandi dieser Relation entspricht dem „Orientierungsrahmen im weiteren Sinne“ (Bohnsack 2017a, S. 104, Herv.i.O.).9 Von einem konjunktiven Erfahrungsraum als Orientierungsrahmen im weiteren Sinne, durch welchen die alltägliche Bewältigung des beschriebenen Spannungsverhältnisses erst möglich wird, lässt sich jedoch nur dann sprechen, wenn diese kollektiv geteilte Bewältigungspraxis einen repetitiven bzw. perpetuierenden Charakter aufweist. Dies setzt wiederum ein „kollektives Gedächtnis“ (ebd., S. 107, Herv. B.W.) voraus, das sich primär durch die selbsterlebte habitualisierte Praxis als ein „selbstreferentielles System“ (ebd., S. 108) unabhängig von zweckrationalen Common-Sense-Theorien ­ (Um-zu-Motiven) etabliert. Diese Eigendynamik gründet nicht auf der in der propositionalen Logik angesiedelten „Reziprozität der Perspektiven“ (Schütz 1971, S. 12, Herv.i.O.), sondern v. a. auf einer „Reziprozität der Akte“ auf der Ebene der performativen Logik „im Sinne eines interaktiven Bezuges auf die Akte der Anderen auf der Grundlage einer Habitualisierung der Verschränkung mit den eigenen Akten“ (Bohnsack 2017a, S. 106, Herv.i.O.). Zugleich ermöglicht das im kollektiven Gedächtnis eingelagerte Wissen um das Spannungsverhältnis von propositionaler und performativer Logik, von Norm und Habitus, dessen „implizite Reflexion“ (ebd., S. 107, Herv.i.O.): Durch das Wissen um kontingente Praxen in der Auseinandersetzung mit (denselben) gesellschaftlichen bzw. organisationalen Normen, Identitäts- und Rollenerwartungen emergiert ein Reflexionsprozess, durch welchen die differenten

9Bohnsack

(2017a, S. 104) weist darauf hin, dass es sich bei der Differenzierung des Orientierungsrahmens im engeren und weiteren Sinne um eine „rein theoretisch-analytische Trennung“ handelt, da in der empirischen Analyse immer nur der Orientierungsrahmen im weiteren Sinne rekonstruierbar ist.

2.2  Die Praxeologische Wissenssoziologie und ihre Grundannahmen

29

Praxen im Vergleich zu den normativen Erwartungen als „funktional äquivalent“ (Luhmann 1970, S. 23) erscheinen. Im Unterschied zur Reflexion auf theoretischer bzw. propositionaler Ebene ist diese Form der Reflexion als Komponente des konjunktiven Erfahrungsraums bzw. des Orientierungsrahmens im weiteren Sinne weitgehend implizit (vgl. Bohnsack 2017a, S. 107). Bohnsack stellt heraus, dass gerade durch diese Reflexion von Handlungsalternativen in Bezug auf dieselbe normative Erwartung die grundlegende Diskrepanz zwischen der propositionalen und der performativen Logik (implizit) erfahrbar wird (vgl. ebd.). Konjunktive Erfahrungsräume entstehen zum einen in realen Gruppen, wie z. B. Familien oder Peergroups, innerhalb derer die Akteur*innen im Rahmen von face-to-face-Interaktionen in eine gemeinsame Praxis eingebunden sind und über eine gemeinsame Interaktionsgeschichte verfügen. Zum anderen können Menschen ein gemeinsames Erfahrungswissen teilen, selbst ohne einander zu kennen. Mannheim (1928) verdeutlicht dies am Beispiel der Generation: Ein „Generationszusammenhang“ entsteht aufgrund der „Partizipation an den gemeinsamen Schicksalen“ (ebd., S. 309, Herv.i.O.). Für die Zugehörigkeit zu einem Generationszusammenhang bzw. einem generationsspezifischen Erfahrungsraum ist daher weniger die Geburt bzw. das Aufwachsen im gleichen historischen Kontext per se relevant, „sondern erst die daraus entstehende Möglichkeit an denselben Ereignissen, Lebensgehalten usw. zu partizipieren und noch mehr, von derselben Art der Bewußtseinsschichtung aus dies zu tun“ (ebd., S. 180). Solche verbindenden, aber nicht notwendigerweise in face-to-face-Interaktionen erlebten Ereignisse können historische Entwicklungen und Umbrüche wie etwa Kriege, die deutsche Teilung sowie der Mauerfall oder ­ technisch-digitale Veränderungen und die damit jeweils verbundenen gesellschaftlichen Transformationen darstellen. Das handlungspraktische Erleben solcher soziohistorischer Ereignisse und Wendungen unter denjenigen, die sich nicht persönlich kennen, ist daher kein identisches, sondern ein „strukturidentisches“ (Bohnsack 2010, S. 112) i.S. einer gemeinsamen „Erlebnisschichtung“ (Mannheim 1928, S. 180, Herv.i.O.). Eine gemeinsame Erlebnisschichtung kann somit sowohl durch die Aneignung in bestehenden Erfahrungsräumen (z. B. innerhalb der Familie) tradiert werden als auch aufgrund von biographischen Diskontinuitäten neu entstehen. Das Prinzip des Generationszusammenhangs wendet Bohnsack (2010, S. 112) auf die Konstitution von „Milieus“ im Allgemeinen an: Neben gruppenspezifischen bzw. „gemeinschaftlichen“ Milieus, wie sie sich z. B. in Familien oder Peergroups konstituieren, können auch „übergemeinschaftliche“ (ebd.) konjunktive Erfahrungsräume als Milieus definiert werden. Strukturidentische Erfahrungen werden demnach nicht

30

2  Metatheoretische Verortung: rekonstruktive Unterrichtsforschung …

nur im Rahmen der handlungspraktischen Einbindung in soziohistorische Ereignisse, sondern auch in anderen gesellschaftlichen und sozialisatorisch wirksamen Bereichen wie Bildungseinrichtungen, Geschlechterverhältnisse oder Migrationszusammenhänge erlebnismäßig erworben. Somit lassen sich – empirisch fundiert – neben generations- u. a. auch bildungs-, geschlechts- und migrationsspezifische Milieus unterscheiden (vgl. ebd.; Bohnsack/Nohl 2001). Diese beiden Kategorien von Erfahrungsräumen – die gruppenspezifischen einerseits und die übergemeinschaftlichen bzw. gesellschaftlichen andererseits – lassen sich jedoch lediglich analytisch trennen, da erstere empirisch grundsätzlich mehrdimensional in dem Sinne sind, dass sie aus Überlagerungen letzterer bestehen. Die Verortung in pluralen Erfahrungsräumen betrifft alle Menschen einer Gesellschaft (vgl. ähnlich Koller 2001). Differenz und Konjunktion stehen dabei in einem komplexen Verhältnis zueinander: Die gemeinsame Erlebnisschichtung des gruppenspezifischen Erfahrungsraums konstituiert sich in der Relationierung, d. h. in der Bearbeitung von Differenzen und Kongruenzen zwischen gesellschaftlichen Milieus einerseits und gegenüber gesellschaftlichen Normen und Rollenbzw. Identitätserwartungen (i.S. kommunikativer Wissensbestände bzw. der propositionalen Logik) andererseits. Das gemeinsame Erleben dieser Relationen und Differenzen zwischen unterschiedlichen gesellschaftlichen Erfahrungsräumen sowie ihrer Bewältigung bringen neue Erfahrungsräume hervor, die Bohnsack (2017a, S. 118, Herv.i.O.) auch als „reflexive Erfahrungsräume“ bezeichnet.10 Die Kategorie des konjunktiven Erfahrungsraums kann daher als ein „dynamischer Nexus“ (Mannheim 1980, S. 214) verstanden werden und unterscheidet sich somit kategorial von einem objektivistischen Heterogenitätsverständnis. Wie Jürgen Budde (2012b) im Rahmen einer Diskursanalyse zum Heterogenitätsbegriff kritisch herausarbeitet, geht die im erziehungswissenschaftlichen Diskurs häufig formulierte Frage nach einem „gelingenden Umgang mit Heterogenität“ (ebd., S. 2) in Schule und Unterricht oftmals mit einer objektivistischen bzw. ontologisierenden Perspektive auf soziale Unterschiede zwischen Schüler*innen einher (vgl. ebd., S. 24). Demgegenüber wird die

10Von

den konjunktiven Erfahrungsräumen sind die individuellen Erfahrungsräume zu unterscheiden, die nicht im Fokus dieser Arbeit stehen. In der Praxeologischen Wissenssoziologie kommt ersteren ein „primordialer Charakter“ (Bohnsack 2017a, S. 124) zu, da das Individuum immer schon in diese eingebunden ist. Dadurch lässt sich das Individuum auch nur aspekthaft in Bezug auf bestimmte konjunktive Erfahrungsräume erfassen (vgl. ebd.).

2.3  Schule als Institution, Organisation und Kontext …

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Bedeutung empirischer Forschungszugänge betont, welche die Herstellung und Aushandlung von Differenzen in unterrichtlichen Praktiken rekonstruieren (vgl. Budde 2012a, S. 536; Fritzsche/Tervooren 2012; Rabenstein et al. 2013; S ­ turm/ Wagner-Willi 2015a; Herzmann et al. 2017; s. auch Abschnitt 1.2). Im Folgenden werden die hier dargelegten grundlagen- bzw. metatheoretischen Kategorien auf das Untersuchungsfeld dieser Arbeit – Schule bzw. Unterricht – zu übertragen versucht. Dabei gilt es, v. a. der Besonderheit der Schule als Organisation Rechnung zu tragen. Im Unterschied zu den organisationsexternen (den gruppenspezifischen wie gesellschaftlichen) Milieus ist die Zugehörigkeit zur schulischen Organisation als Mitgliedschaft formal geregelt (vgl. Luhmann 1964; Nohl 2007, S. 64; Bohnsack 2017a, S. 134). Die „Selbstorganisation“ (Luhmann 2002, S. 108) bzw. Eigenlogik der Interaktion bzw. Praxis ihrer Mitglieder – v. a. der Schüler*innen und Lehrkräfte – basiert somit auf „der Unfreiwilligkeit des Zusammenseins“ (ebd.) und referiert zugleich auf „Organisation und Gesellschaft“ (ebd., S. 105). Aus praxeologischer Perspektive finden sich solche „Referenzen“ (ebd.) sowohl auf propositionaler als auch auf performativer Ebene, die in der organisationsinternen Interaktion in einem komplexen (­Spannungs-) Verhältnis zueinander stehen. Um dieses relationale Verhältnis näher zu bestimmen, bedarf es weiterer metatheoretischer Begriffsdefinitionen, die ebenfalls nachfolgend eingeführt werden.

2.3 Schule als Institution, Organisation und Kontext mehrdimensionaler konjunktiver Erfahrungsräume Schule kann zum einen als Institution i.S. der in Abschnitt 2.2.2 angeführten Institutionenbegriffe nach Schütz (1971) sowie Berger und Luckmann (1969) verstanden werden, die auf der Ebene des kommunikativen Wissens bzw. der propositionalen Logik angesiedelt sind. Dazu zählt das institutionalisierte Rollenhandeln wie bspw. das Melden im Unterricht oder die v. a. in der ­(Deutsch-) Schweiz übliche Begrüßung und Verabschiedung per Handschlag zwischen Lehrkraft und Schüler*innen bei Beginn und nach Beendigung des Unterrichts bzw. beim Betreten und vor dem Verlassen des Unterrichtsraums. Beide Beispiele sind auf der Ebene des „institutionalisierten Handelns“ (Bohnsack 2009, S. 147, Herv.i.O.) angesiedelt und geben noch keinen Aufschluss über das ‚Wie‘ der Herstellung der Praxis, den Habitus bzw. die performative Performanz (s. Abschnitt 2.2.3).

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2  Metatheoretische Verortung: rekonstruktive Unterrichtsforschung …

Mit dem institutionalisierten Rollenhandeln gehen die generalisierten Verhaltenserwartungen an die Rolle der Lehrkraft oder der Schülerin bzw. des Schülers einher (vgl. auch Asbrand/Martens 2018, S. 84). Diese lassen sich wiederum in Verbindung bringen mit der Kategorie der virtualen sozialen Identität von Goffman (s. Abschnitt 2.2.2), für welche die Orientierung am „Phantom Normalität“ („phantom normalcy“; Goffman 1963, S. 122) konstitutiv ist. Stigmatisierung i.S. Goffmans (1963/1967) impliziert die Konstruktion einer totalen Identität, indem ein vom „Phantom Normalität“ abweichendes Element der sozialen Identifizierung zum übergreifenden Rahmen der sozialen Identität wird, von dem her alles andere erklärt, d. h. kausal abgeleitet wird (s. dazu genauer Abschnitt 2.5). So ist die (virtuale) soziale Identität der sog. Regelschüler*innen mit der Vorstellung genereller Lern- und Leistungsfähigkeit verbunden – im Unterschied etwa zu der Vorstellung von den sog. „lernbehinderten Kindern“ (Nohl 2018, S. 18) in der Sonderschule.11 In Bezug auf die soziale Identität des Lehrers bzw. der Lehrerin kann hier noch einmal Goffmans Beispiel der „Beziehung des Medizinalassistenten zum Chefchirurgen“ aufgegriffen werden (s. Abschnitt 2.2.2), in dem die souveräne Praxis des Zweiten zur imaginativen sozialen Identität des Ersten wird, an der er sich zu orientieren sucht. Übertragen auf die Schule bedeutet dies bspw., dass die souveräne Performanz der anleitenden Lehrkraft in ihrer Unterrichtsführung und Interaktion mit den Schüler*innen zum Vorbild für den*die Referendar*in oder die*den Studierende*n im Rahmen eines Praktikums wird. Auch hier ist nicht von einer Habitualisierung der zum Vorbild werdenden Performanz zu sprechen. Letzteres zeigt sich in Goffmans Beispiel etwa darin, dass sich der Medizinalassistent von seiner (noch) „unzulänglich“ ausgeführten Rolle durch „Witze und Clownerien“

11Nohl

wendet das Beispiel der sog. „lernbehinderten Kinder“ in der Sonderschule auf Grundlage einer Diskursanalyse von Zeitschriften der Sonderpädagogik der Jahre 2002– 2004 (vgl. Pfahl 2012) auf den Institutionenbegriff von Berger und Luckmann (1969, S. 76–98) an und definiert diese als „ein Typus von Handelnden“, der zum selbstverständlichen „Allgemeingut“ geworden ist, das auch „in weiten Teilen sogar für die Gesellschaft insgesamt“ gültig sei (Nohl 2018, S. 18). Mit diesem selbstverständlichen gesellschaftlichen „Allgemeingut“ ist m. E. jedoch vielmehr das aufgerufen, was Goffmans Kategorie der (virtualen) sozialen Identität beschreibt – auch wenn es sich hier um eine v. a. für die Schule gültige Identität handelt, die sich von anderen sozialen Identitäten wie Gender oder Ethnie in ihrer gesellschaftlichen ‚Tragweite‘ zu unterscheiden scheint und von diesen noch einmal zu differenzieren gilt (s. dazu genauer Abschnitt 2.4). So nimmt Nohl auch selbst in einer Fußnote Bezug auf den Etikettierungscharakter solcher „Kategorisierungen“ wie „Lernbehinderung“ i.S. eines „total[en] identifiziert“-Werdens (ebd.).

2.3  Schule als Institution, Organisation und Kontext …

33

zu distanzieren versucht (Bohnsack 2017a, S. 308). Diese Form der „Rollendistanz“ (Goffman 1973) ist somit nicht Bestandteil des Habitus (vgl. Bohnsack 2017a, S. 308), wohl aber des Orientierungsrahmens im weiteren Sinne, da hierdurch das Spannungsverhältnis von Norm und Habitus markiert wird.12 Darüber hinaus sehen sich (angehende) Lehrkräfte ggf. mit gesellschaftlichen Identitäten jenseits der sozialen Identität des Schülers bzw. der (anleitenden) Lehrkraft konfrontiert, wie z.  B. Gender- oder ethnische Identitäten, die gewissermaßen von außen in die Schule ‚hineinragen‘. Der hier bewusst gewählte und im übertragenen Sinne verstandene Begriff des Hineinragens13 soll verdeutlichen, dass es sich bei der Schule nicht nur um eine Institution (im soziologischen Sinne), sondern – zum anderen – um eine (je spezifische) Organisation handelt (vgl. Nohl 2007, 2018; Bohnsack 2017a, S. 129; Wagener 2018), deren Mitglieder, z. B. die Lehrkräfte und die Schüler*innen, sich sowohl mit den organisationsinternen als auch-externen, also gesellschaftlichen, Rollen- und Identitätserwartungen auseinanderzusetzen haben. Hinzu treten die formalen Regeln und Programme sowie das Leitbild – die „Corporate Identity“– der Organisation, die zusammen als „Organisationskultur“ (Bohnsack 2017a, S. 129, Herv.i.O.) – oder im Fall von Schule als Schulkultur – ebenfalls Bestandteil der propositionalen Logik sind (vgl. ebd.). Dadurch unterscheidet sich der hier gebrauchte Schulkulturbegriff von solchen Konzepten, die Schulkultur primär auf der Ebene des Performativen verorten (z. B. Wulf et al. 2007). Einige Übereinstimmungen finden sich hingegen mit dem Schulkulturbegriff von Werner Helsper und Kolleg*innen (2001), und zwar dort, wo – i.S. der Praxeologischen Wissenssoziologie – Aspekte auf der Ebene des kommunikativen Wissens angesprochen sind (s. dazu genauer Bohnsack 2017a, S. 130).

12In

einem anderen Beispiel von Goffman kann Rollendistanz jedoch dem Habitus zugerechnet werden, indem sich der Chefchirurg gegenüber den anderen Mitgliedern seines Operationsteams wie „ein Gastgeber einer Party“ (Bohnsack 2017a, S. 306) verhält. Dadurch wird es ihm möglich, sich von seiner mit Autorität behafteten Rolle des Chefs zu distanzieren (und so für eine entspannte Arbeitsatmosphäre zu sorgen) und gleichzeitig die mit der Rolle des Chirurgen verbundenen Anforderungen souverän bzw. habitualisiert auszuführen (vgl. ebd.). In Georg Breidensteins Konzeption des „Schülerjobs“ scheinen implizit beide Formen der Rollendistanz – die noch nicht habitualisierte wie die habitualisierte – angelegt zu sein: „Man tut, was zu tun ist, ohne damit (vollständig) identifiziert zu sein“ (Breidenstein 2006, S. 11). 13Auch Bohnsack (2017a, S. 132) verwendet diesen Begriff, allerdings im Zusammenhang mit den in die Organisation „hineinragenden“ gesellschaftlichen Milieus.

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2  Metatheoretische Verortung: rekonstruktive Unterrichtsforschung …

Trifft bspw. eine schulische Organisation die Entscheidung, sich auf ‚Inklusion‘ auszurichten, wird sie Regeln und Verfahrensprogramme formalisieren, die u. a. mit spezifischen Rollendefinitionen und Mitgliedschaftsregeln verbunden sind (z. B. die Rollen des Schülers*der Schülerin „mit sonderpädagogischer Förderung“ [KMK 2014] bzw. „besonderem Bildungsbedarf“ [SKBF 2014] und der Sonderpädagogin*des Sonderpädagogen). Möglicherweise formuliert diese Schule auch ein Leitbild, das auf ihr ‚inklusives‘ Konzept verweist und mit dem sie sich nach außen präsentiert (z. B. durch Broschüren oder einen Online-Auftritt). Diese kommunikative Schulkultur vermag es zwar, einen gemeinsamen Handlungsrahmen ihrer Mitglieder zu „suggerieren“; entsprechend der notorischen Diskrepanz zwischen propositionaler und performativer Logik folgen sie jedoch „ihren spezifischen, nicht übergreifend geteilten Orientierungen“ (Vogd 2007, S. 27).14 Im Fall schulischer Inklusion bedeutet dies etwa, zu unterscheiden zwischen dem Etikett des ‚sonderpädagogischen Förderbedarfs‘ als „schulinterner Begriff für Behinderung“ (Sturm 2016a, S. 108) i.S. einer Identitätszuschreibung, die auf eine unerfüllte (schulische Leistungs-)Norm bzw. die Erwartung, diese Norm nicht zu erfüllen, zurückzuführen ist (vgl. Goffman 1967, S. 10; Weisser 2005, S. 32 ff.), also auf die Orientierung am „Phantom Normalität“ („phantom normalcy“) i.S. Goffmans (1963, S. 122), und der (habitualisierten) Handlungspraxis auf der performativen Ebene bzw. der Ebene der Unterrichtsinteraktion. So können etwa „Muster und Orientierungen der Hervorbringung von Differenzen sowie (…) damit verbundene Benachteiligungen und/oder Behinderungen“ (Sturm 2015b, o.S.), z. B. in Bezug auf „das soziale Miteinander und das fachliche Lernen“ (Sturm/Wagner-Willi 2015b, S. 233), mit der o. g. Etikettierung von Schüler*innen zusammenfallen (vgl. ebd.; Wagener 2018). Dies ist jedoch nicht als deterministisch zu betrachten (vgl. ebd.). Analog gilt dies für die Handlungspraxis der etikettierten Schüler*innen selbst: Die (Fremd- oder ­ Selbst-) Identifizierung als ‚behindert‘ lässt sich nicht mit einem ‚behinderten‘ Habitus bzw. Milieu gleichsetzen. Hier deuten sich jedoch gewisse metatheoretische Unklarheiten im Fachdiskurs um ‚Behinderung‘ bzw. ‚Disability‘ an, weshalb

14„Die

Interaktion Unterricht findet selbstverständlich in der Organisation statt, aber zugleich wäre es völlig unrealistisch, zu glauben, die Organisation könne die Eigendynamik des Unterrichts programmieren – sei es im Sinne eines Zweckprogramms als Auswahl von Mitteln für bestimmte Zwecke, sei es im Sinne eines Konditionalprogramms im Sinne des Schemas wenn/dann.“ (Luhmann 2002, S. 161)

2.3  Schule als Institution, Organisation und Kontext …

35

weiter unten etwas genauer auf dieses analytische Problem eingegangen werden soll (s. Abschnitt 2.4). Die Orientierungen der Organisationsmitglieder sind wiederum mehrdimensional strukturiert: Sie sind zum einen durch die gesellschaftlichen Milieus strukturiert, die (ebenfalls) von außen in die Organisation ‚hineinragen‘, und, wie in Abschnitt 2.2.4 beschrieben, u. a. bildungs-, geschlechts-, generations- oder migrationsspezifischer Art. In deren Relationierung sowie in der Auseinandersetzung mit den institutionalisierten bzw. gesellschaftlichen und organisationsinternen Normen, Rollen- und Identitätserwartungen können sich zum anderen neue konjunktive Erfahrungsräume als reflexive Erfahrungsräume (s. Abschnitt 2.2.4) innerhalb der Organisation konstituieren, die sich auch als „Organisationsmilieus“ (Nohl 2007, S. 70; Bohnsack 2017a, S. 128) bezeichnen lassen. Die von Mannheim (1980, S. 296) v. a. für die (ohne sie so zu benennen) gesellschaftlichen Erfahrungsräume beschriebene „Doppeltheit der Verhaltensweisen in jedem einzelnen, sowohl gegenüber Begriffen als auch Realitäten“, die von Bohnsack (2017a, S. 129) als „Doppelstruktur von performativer und propositionaler Logik“ bezeichnet wird, findet sich in den Organisationsmilieus somit in „doppelter Weise“ als „doppelte Doppelstruktur“ (ebd., Herv.i.O.). Damit einher geht eine „Verdoppelung der Zugehörigkeit“ (ebd., S. 134) der Mitglieder der Organisation, die zum einen aus der formal geregelten Mitgliedschaft der Organisation und zum anderen aus der ‚naturwüchsigen‘ Zugehörigkeit zu den konjunktiven Erfahrungsräumen (den organisationsexternen wie -internen) resultiert (vgl. ebd.). Weiterhin zeichnen sich die Organisationsmilieus durch eine „doppelte Mehrdimensionalität“ (ebd., S. 131) aus, die sich zum einen aus der oben beschriebenen Mehrdimensionalität der gesellschaftlichen Milieus ergibt, die zum anderen mit den verschiedenen Organisationsmilieus verwoben sind, welche ihrerseits auch mehrdimensional strukturiert sind.15 Mit Bohnsack lassen sich mindestens drei Kategorien von organisationalen Erfahrungsräumen bzw. Organisationsmilieus in sog. people ­processing-Organisationen unterscheiden, also solchen Organisationen, die über die Identität und Biographie ihrer Adressat*innen entscheiden (vgl. ebd., S. 132 ff.): • die interaktive Praxis der Mitarbeitenden einer Organisation und ihrer Klientel,

15Darin

zeigen sich auch Überschneidungen mit dem systemtheoretischen Konzept der „Polykontexturalität“ in Organisationen (Vogd 2011, S. 113; Jansen/von Schlippe/Vogd 2015, S. 4).

36

2  Metatheoretische Verortung: rekonstruktive Unterrichtsforschung …

• die interaktive Praxis der Mitarbeitenden untereinander, • die (aktenförmige) Interaktion der Organisation (über ihre Klientel) mit externen Instanzen (z. B. anderen Institutionen oder Organisationen). In schulischen Organisationen, die generell als people processing-Organisationen gelten können, sind es v. a. die Schüler*innen, über deren Biographie und Identität entschieden wird (bspw. diejenige der Gymnasialschülerin oder des Schülers mit sog. Förderbedarf aufgrund von Schulform- bzw. Bildungsgangempfehlungen und damit verbundenen Übergangsentscheidungen), woran die Lehrkräfte einen wesentlichen Anteil haben (können). Ein für die Organisation Schule spezifischer – und zentraler – Erfahrungsraum stellt dabei die Praxis der Interaktion der Lehrkräfte mit den Schüler*innen sowie deren interaktive Praxis untereinander im Interaktionssystem Unterricht dar.16

2.4 Exkurs: ‚Behinderung‘ bzw. ‚Disability‘ als organisationsspezifische Identität im Unterschied zu gesellschaftlichen Identitäten und Milieus Die weiter oben angesprochene metatheoretische Unklarheit in Bezug auf ‚Behinderung‘ als soziale Differenzkategorie deutet sich u.  a. bei Anne Waldschmidt (2011) an. Wenn sich Waldschmidt mit Bezug auf Bourdieu auf die Suche nach dem „Habitus des ‚Behinderten‘“ (ebd., S. 101) begibt, um dies aber sogleich ad absurdum zu führen (vgl. ebd.), so zeigt sich darin die Suche nach einer gesellschaftlichen Kategorisierung und Attribuierung, die ähnlich wirkmächtig ist wie die der gender- und klassenspezifischen Habitus (vgl. ebd., S. 102). So gelangt Waldschmidt zu der Schlussfolgerung: „Nicht zuletzt – das ist die Pointe der symbolischen Gewalt – akzeptieren auch die als behindert etikettierten Menschen ihren Status und übernehmen für die Selbstbewertung ‚die Logik des negativen Vorurteils‘ (Bourdieu 1997, S. 165): Der Satz ‚Ich bin behindert‘, immer wieder gedacht, ausgesprochen, in Affekte übersetzt und in sozialen Interaktionen reaffirmiert, wird Teil der eigenen Hexis und Gefühlswelt, zu einer persönlichen Erfahrung und einem Bestandteil von Wahrnehmungs- und

16Die

peermilieustrukturierten Interaktionen der Schüler*innen gewinnen ihre Relevanz für die Organisation wiederum erst durch dieses Interaktionssystem (vgl. Bohnsack 2017a, S. 134; ­Wagner-Willi/Sturm 2012).

2.4  Exkurs: ‚Behinderung‘ bzw. ‚Disability‘ …

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Bewertungsschemata, wirkt handlungsleitend in der Konstruktion der eigenen Alltagswelt“ (ebd., S. 102). Wie Goffman anschaulich zeigt, sind Interaktionen in verschiedenen sozialen Situationen jedoch durch verschiedene „Techniken der Bewältigung“ oder Praktiken des „Managements eines Stigma“ (Goffman 1967, S. 72) gekennzeichnet. Von einem Habitus der ‚behinderten‘ Schülerin bzw. des ‚behinderten‘ Schülers lässt sich höchstens dort sprechen, wo die vielfältigen Praktiken der Attribuierung, Selektion und Exkludierung bereits partiell auch inkorporiert sind. Damit ist fraglich, ob hier von einer ähnlichen Wirkmächtigkeit wie derjenigen des klassen- oder geschlechtsspezifischen Habitus (vgl. Waldschmidt 2011, S. 102) gesprochen werden kann. In jedem Fall geht es hier i.S. von Waldschmidt aber nicht, wie von Nohl (2018, S. 18) vorgeschlagen (s. auch Abschnitt 2.3), um einen „Typus von Handelnden“ i.S. von Berger und Luckmann (1969, S. 76–98), also um eine Rolle (s. Abschnitt 2.2.2), sondern um einen Habitus oder auch um eine Identität. Auf die – im Vergleich zum klassen- oder geschlechtsspezifischen Habitus – eingeschränkte Tragweite der Etikettierung ‚Behinderung‘ verweist auch die empirische Untersuchung von Anke Langner (2009) zum „Behindertwerden“ von Jugendlichen in einer Förderschule für „geistige Behinderung“. Zwar spricht auch Langner mit Bezug auf das Habituskonzept von Bourdieu von einer ‚Verleiblichung‘ des „Behindertwerdens“ als einer „dauerhaften Wirklichkeit einer Disposition des Einzelnen“ (ebd., S. 245), verweist jedoch zugleich auf deren organisationale Gebundenheit. In den auf der Basis von ethnographischen Beobachtungen und Interviews rekonstruierten Typen der „Identitätsarbeit“ wird ersichtlich, dass die Jugendlichen auf ganz unterschiedliche Weise mit den Stigmatisierungs- und Ausgrenzungserfahrungen in der Schule umgehen. Hier erweisen sich v. a. geschlechtsspezifische Aspekte und – in besonderem Maße – sozio-ökonomische Aspekte der Herkunftsfamilie als soziogenetisch, d. h. in Bezug auf die Sozialisationsprozesse, relevant (vgl. ebd.). Hinsichtlich des Vergleichs von „geistiger Behinderung“ und „Geschlecht“ kommt Langner zu dem Schluss, „dass das Geschlecht und die geistige Behinderung soziokulturelle Differenzmechanismen sind, die jedoch einen unterschiedlichen Kontext und eine unterschiedliche Funktionalität haben“ (ebd., S. 252). Es geht hier – aus praxeologischer Perspektive – um die Differenz zwischen Identität einerseits und Habitus bzw. Milieu andererseits, wobei ‚Geschlecht‘ und ‚Behinderung‘ in beiden Dimensionen hinsichtlich ihrer gesellschaftlichen Wirkmächtigkeit bzw. Tragweite analytisch nicht ohne Weiteres gleichsetzbar erscheinen. Dem trägt auch Waldschmidt (2014) ansatzweise Rechnung, wenn sie mit Bezug auf die Disability Studies und in Abgrenzung zu anderen

38

2  Metatheoretische Verortung: rekonstruktive Unterrichtsforschung …

„bedeutsamen Vielfaltsdimensionen“ (ebd., S.  189) wie Geschlecht oder Migration argumentiert, „dass auf Grund ihrer Fluidität und Instabilität (…) die Behinderungskategorie als Prototyp postmoderner Identitäten angesehen werden“ könne (ebd., S. 188, Herv. B.W.): „‚For us, disability is the quint-essential post-modern concept, because it is so complex, so variable, so contingent, ­ so situated. It sits at the intersection of biology and society and of agency and structure. Disability connot be reduced to a singular identity: it is multiplicity, a plurality‘ (Shakespeare/Watson 2002: 19)“ (ebd., S. 188 f., Herv.i.O.). Auf die vielfältigen Konstruktionen von ‚Behinderung‘ bzw. ‚behinderter‘ Identität verweist auch Anja Tervooren (2017, S. 22), v. a. im Kontext schulischer Organisationen. So zeigen Studien in der Primarschule, „dass sich die Kategorie Behinderung in den unterschiedlichen Räumen verschieden konstituiert. So werden etwa Kinder mit ähnlichen ‚mind-body characteristics‘ je nach Schule, die unterschiedliche Vorstellungen einer angemessenen Entwicklung vertreten, in verschiedener Weise als behindert klassifiziert“. Zurückgeführt wird dies darauf, „dass sich die jeweilige Definition von ‚special educational needs‘ an einer Mehrheit von Kindern, demgegenüber das behinderte Kind im Vergleich größere Schwierigkeiten beim Lernen hat, orientiert“ (ebd.). Es zeigt sich hier die Bedeutung der Organisation mit ihren spezifischen Rollen- und Identitätserwartungen für die Konstruktion von ‚Normalität‘ und ‚Abweichung‘ bzw. ‚Ability‘ und ‚Disability‘/‚Behinderung‘.17 Sind mit derartigen „Klassifizierungen“ Stigmatisierungen i.S. Goffmans verbunden, so impliziert das, wie bereits weiter oben dargelegt, die Konstruktion einer totalen Identität. Dabei wird ein vom „Phantom Normalität“ („phantom normalcy“; Goffman 1963, S. 122) abweichendes Element der sozialen Identifizierung zum übergreifenden Rahmen der sozialen Identität, von dem her alles andere erklärt bzw. kausal abgeleitet wird. Diese Form der Identitätskonstruktion, die als ein zentraler Bestandteil von Macht angesehen werden kann, ist charakteristisch für people processing-Organisationen (vgl. Bohnsack 2017a,

17Hier

verweist gerade der englischsprachige Begriff auf den Zusammenhang dieser Identitätskonstruktion und ‚Leistung‘ als zentralen schulischen Code (vgl. Luhmann 2002) i.S. einer Zuschreibung von ‚Können‘ oder ‚Nicht-Können‘ (vgl. auch Merl/Herzmann 2019). Auch in historischer Perspektive wird auf den Unterschied zwischen den gesellschaftlichen Milieus und der Konstruktion ‚behinderter‘ Identität durch die Organisation Schule und ihrer zentralen Norm der ‚Leistungsfähigkeit‘ verwiesen: So besuchten die „Hilfsschule“ v. a. „Angehörige der unteren Stände“, die durch „Armut“ gekennzeichnet waren (EllgerRüttgardt 2016, S. 18 f.). Dieser Zusammenhang bestehe in der späteren Sonderschule bis heute fort (vgl. Stechow 2016, S. 35).

2.5  Unterricht als Interaktionssystem und Organisationsmilieu …

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S. 132 ff.). Auf diesen Aspekt wird im nachfolgenden Abschnitt (2.5) näher eingegangen. Die zwei Diskursstränge, die sich hier in Bezug auf ‚Behinderung‘ abzeichnen: ‚Behinderung‘ einerseits aufzufassen als gesellschaftliche Identität und gesellschaftliches Milieu bzw. Habitus mit einer vergleichbaren gesellschaftlichen Wirkmächtigkeit bzw. Tragweite wie etwa ‚Gender‘ oder ‚Klasse‘, und ‚Behinderung‘ andererseits zu definieren als v.  a. organisationsspezifische Identitätskonstruktion (die partiell auch inkorporiert werden kann), befinden sich aktuell noch in der Diskussion. In der vorliegenden Arbeit wird die zweite Position vertreten, da eine Gleichsetzung sowohl metatheoretisch als auch in Bezug auf bisherige empirische Studien problematisch erscheint. Zugleich bedarf es weitergehender komplexer empirischer Analysen, um diese Frage zu klären. Für eine empirische Rekonstruktion der Konstruktion ‚behinderter Idenditität‘ in der vorliegenden Arbeit im Rahmen des Interaktionssystems Unterricht s. Abschnitt 5.3.

2.5 Unterricht als Interaktionssystem und Organisationsmilieu: Leistungsbewertung als konstituierende Rahmung und Bestandteil von Macht In der Sprache der Systemtheorie handelt es sich im Fall von Unterricht um ein System der „Interaktion unter Anwesenden“ (Luhmann 2002, S. 102), das „sowohl operativ geschlossen [ist] als auch selbstreferentiell operiert“ (ebd., S. 104; vgl. auch Asbrand/Martens 2018, S. 88 ff.; Hollstein et al. 2016). Praxeologisch gewendet, bildet dieses System, sofern es auf Dauer gestellt ist, ein kollektives (System-)Gedächtnis aus, wodurch die Bedingungen für die Konstitution eines konjunktiven Erfahrungsraums gegeben sind (s. Abschnitt 2.2.4). Dabei handelt es sich aufgrund der besonderen Struktur von (schulischen) Organisationen (s. Abschnitt 2.3) um ein (doppelt) mehrdimensionales Organisationsmilieu, das aus der relationalen Bewältigung des Spannungsverhältnisses zwischen den gesellschaftlichen und organisationalen Normen, Rollen- und Identitätserwartungen sowie organisationsinternen Sachprogrammen einerseits und den gesellschaftlichen (und ggf. weiteren organisationalen) Milieus, denen die Lehrkräfte und die Schüler*innen angehören, andererseits emergiert. Dies schließt den Umgang mit (existentiellen) Differenzen zwischen den spezifischen Orientierungsrahmen der Interaktionspartner*innen ein. Die Herausbildung einer kontinuierlichen kollektiven

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2  Metatheoretische Verortung: rekonstruktive Unterrichtsforschung …

­andlungspraxis setzt ein implizites Wissen um diese Differenzen bzw. H Inkongruenzen im kollektiven Gedächtnis voraus: Die Rahmeninkongruenzen werden durch die Einbindung in eine gemeinsame Praxis habitualisiert und zu Elementen eines konjunktiven Erfahrungsraums. Dieser als reflexiv zu bezeichnende Erfahrungsraum (s. Abschnitt 2.2.4) des Unterrichts lässt sich mit Monika Wagner-Willi und Tanja Sturm (2012) – unter Berücksichtigung „(schul-) fachkultureller“ Wissensbestände – auch als „Unterrichtsmilieu“ (ebd., Herv. B.W.) fassen. Damit unterscheidet sich diese metatheoretische Konzeption von Unterricht als reflexiver Erfahrungsraum (bzw. als Unterrichtsmilieu) von derjenigen der „Rahmenkomplementarität“ (Martens/Asbrand 2017; Asbrand/ Martens 2018, S. 135 ff.), welche die empirisch rekonstruierten differenten Orientierungsrahmen von Lehrkräften und Schüler*innen in einen theoretischen Zusammenhang mit der „institutionell gerahmten und asymmetrisch organisierten Interaktionsstruktur des Unterrichts“ (Asbrand/Martens 2018, S. 135) stellt. Die institutionell gerahmte Asymmetrie, also die „asymmetrische Rollenstruktur Lehrer/Schüler“ (Luhmann 2002, S. 108), die eine „komplementäre“ ist (ebd.; Asbrand/Martens 2018, S. 92), liegt allerdings auf der Ebene der propositionalen Logik, die nicht mit der Handlungspraxis, der performativen Logik, identisch ist (s. Abschnitt 2.2). Unterricht als kontinuierliche Praxis basiert jedoch auf einer „gemeinsamen Interaktionsgeschichte“ (Breidenstein 2010, S. 883), die, wie gesagt, implizit um die Inkongruenzen von Orientierungsrahmen weiß (vgl. auch Bohnsack 2020). In Organisationen wie derjenigen der Schule kann dieser übergreifende Rahmen auch als „konstituierende Rahmung“ (Bohnsack 2017a, S.  135, Herv.i.O.) bezeichnet werden, „da sie für Organisationen von konstitutiver Bedeutung ist“ (ebd.). In ihnen wird der Alltagspraxis der Klientel „qua Entscheidung eine Entscheidung attribuiert“ (ebd., Herv.i.O.), unabhängig davon, in welchem Kontext die Praxis der Klientel für sie selbst steht (z. B. im Kontext des Peermilieus). Eine derartige „Fremdrahmung“ (ebd.) wird – im Unterschied zur organisationsexternen Interaktion – „nicht in dieser selbst generiert, sondern fungiert als organisationale Strukturbedingung für den jeweiligen Interaktionsmodus“ (ebd.). So wird bspw. ein mündlicher Beitrag im Mathematikunterricht primär als Dokument für die individuelle Leistung der Schülerin*des Schülers gerahmt, auch wenn die eigentliche Motivation möglicherweise darin bestand, zur Lösung eines mathematischen Problems beizutragen. Dies gilt ebenso für das gemalte Bild im Kunstunterricht, welches dort – in erster Linie – nicht als kreativer Ausdruck einer biographischen Krise relevant wird (vgl. auch Bohnsack 2020, S. 32). Auf der Grundlage des kollektiven Gedächtnisses entsteht so eine wechselseitige Erwartbarkeit und Kontinuität des Handelns.

2.5  Unterricht als Interaktionssystem und Organisationsmilieu …

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Leistung bzw. Leistungsbewertung kann somit als eine konstituierende (Fremd-)Rahmung bzw. als deren wesentlicher Bestandteil verstanden werden, der für die Schule bzw. den Unterricht konstitutiv ist. So diagnostizieren auch Matthias Proske und Kerstin Rabenstein (2018, S. 8, Herv.i.O.) für den Schulunterricht: „Unterricht ist konstitutiv mit der Feststellung und Graduierung von Leistungen verbunden.“ Aus einer praktikentheoretischen Perspektive werden diese auch als „Kern pädagogischer Ordnungen“ (Rabenstein et al. 2013, S. 674) gefasst. Dabei ist Leistung als soziales Konstrukt aufzufassen, „das erst im Beurteilungsprozeß erzeugt“ wird (Luhmann 2002, S. 66), etwa nach dem Code „besser/schlechter“ (ebd., S. 73). Doch ist die konstituierende Rahmung nicht nur auf den ‚Leistungscode‘ beschränkt. Weitere zentrale Bestandteile sind etwa der (fachliche) Sachbezug und die Disziplinierung der Schüler*innen (vgl. Luhmann 2002; Bohnsack 2020). Auf die „(schul-)fachkulturellen“ Wissensformen als wesentlichen Aspekt von „Unterrichtsmilieus“ verweisen auch Wagner-Willi und Sturm (2012, o.S.). Wird Schüler*innenhandeln in der Unterrichtsinteraktion etwa entlang des ‚Leistungscode‘ gerahmt, so handelt es sich zunächst um eine „Erst-Codierung“ (Bohnsack 2017a, S. 136, Herv.i.O.). Tritt zu dieser eine „weitere codespezifische Transformation“ i.S. einer „Zweit-Codierung“ (ebd.) im Bereich der Identitätskonstruktion hinzu, sind wesentliche Komponenten einer machtstrukturierten Interaktion gegeben (vgl. ebd.). Eine solche Zweit-Codierung ist dann anzutreffen, wenn „die Fremdrahmung nämlich auf die Konstruktion der ­(Gesamt-) Person, der (totalen) Identität der Entscheidungsbetroffenen übertragen wird. Die Fremdrahmung ist dann mit Moralisierungen, Pathologisierungen und Zuschreibungen totaler (In-)Kompetenz verbunden, durch welche die Gesamtperson gebunden wird“ (ebd.). Bohnsack (2017a, S. 136) nimmt hier Bezug auf Garfinkels (1967b) Modell der Konstruktion „totaler Identität“ im Rahmen von „Degradierungszeremonien“ und verweist darauf, dass auch „Gradierungszeremonien“ zur Konstruktion totaler Identität führen können. Nach Garfinkel ist ein zentraler Aspekt der Degradierung die Moralisierung der Person i.S. einer „moral indignation“ (ebd., S. 206). Die Person wird öffentlich gesamthaft als (un-)moralisch gerahmt: „The paradigm of moral indignation is public denunciation. We publicly deliver the curse: ‚I call upon all men to bear witness that he is not as he appears but is otherwise and in essence of a lower species‘“ (ebd., S. 207, Herv.i.O.). Luhmann (1987, S. 319) bezeichnet dies auch als „Überattribuierung“, was bedeutet, „daß die Person als ganzes zur Beurteilung steht“. Die Konstruktion totaler Identität kann sowohl die Konstruktion von organisationsspezifischen als auch diejenige von gesellschaftlichen

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2  Metatheoretische Verortung: rekonstruktive Unterrichtsforschung …

I­dentitäten betreffen, die in der „definitorischen Fixierung des Individuums auf nur eine einzige aus der Vielfalt seiner anderen – auch möglichen – sozialen Identifizierungen“ besteht (Bohnsack 2017a, S. 136). Eine für die Organisation Schule spezifische Identitätskonstruktion betrifft z. B. die mit dem Leistungscode verbundene Konstruktion der persönlichen Identität des ‚guten‘ oder ‚schlechten Schülers‘ bzw. der ‚guten‘ oder ‚schlechten Schülerin‘. Analog versteht auch Herbert Kalthoff (2016) die Praxis der schulischen Leistungsbeurteilung als eine „organizational method“ (ebd., S. 654), indem durch die Sortierung von Schüler*innen in eine Rangfolge deren Identität konstruiert wird: „Through institutionalised processes of knowledge testing, teachers contribute to the identity formation of students and make them dis-tinguishable and recognisable“ (ebd., S. 102). Hingegen umfasst die Konstruktion einer gesellschaftlichen bzw. sozialen Identität etwa diejenige von Geschlecht, Klasse oder Ethnie (zur Unterscheidung von persönlicher und sozialer Identität s. Abschnitt 2.2.2). Dabei verweist eine derartige codebasierte Konstruktion von Differenz immer auf eine binäre Unterscheidung innerhalb desselben Systems (vgl. Luhmann 1984) wie bspw. ‚normal‘ vs. ‚behindert‘ (vgl. Tervooren 2000; Weisser 2005, S. 18 ff.).18 Aufgrund solcher Konstruktionsleistungen kommt Macht in der hier dargelegten Konzeption ein produktives Moment zu, wie Bohnsack (2017a, S. 247) mit Bezug auf Foucault (1977) betont. Exemplarische Rekonstruktionen beider Typen von Identitätskonstruktionen – die persönlichen bzw. organisationsspezifischen wie die gesellschaftlichen – finden sich in Kapitel 5 dieser Arbeit. Der Zusammenhang von Erst-Codierung und Zweit-Codierung im Kontext des Unterrichts findet sich bei Luhmann (2002, S. 66) in einer Charakterisierung der Leistungsbewertung als einer „gleichsam zirkulären Struktur der Gesamtkonstruktion von Leistung und Urteil“. Wenn Luhmann diese Gesamtkonstruktion weiter bestimmt als „die natürliche Alternative, alle Geschehnisse auf die Person zuzurechnen und mit deren Identität in die Zukunft zu transportieren“ (ebd., S. 67), wird die für das praxeologische Modell der Zweit-Codierung

18Mit

dem Modell des mehrdimensionalen Unterrichtsmilieus und der Unterscheidung von Erst- und Zweit-Codierung kann in gewisser Weise auch an das angeschlossen werden, was von Vertreter*innen einer erziehungswissenschaftlichen Intersektionalitätsforschung gefordert wird: ein „Konzept (…), das danach fragt, wie die sozialen Akteure in institutionell und strukturell gerahmten pädagogischen Handlungskontexten auf soziale Unterscheidungen zurückgreifen“ (Emmerich/Hormel 2013, S. 241), und diese Unterscheidungspraktiken in der unmittelbaren sozialen Interaktion sucht (vgl. Hummrich 2009, S. 32; Weber 2009, S. 75) – jedoch mit dem Unterschied, dass in der Analyse nicht auf a priori ausgewählte Differenzkategorien fokussiert wird (vgl. Hirschauer 2014, S. 176).

2.5  Unterricht als Interaktionssystem und Organisationsmilieu …

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wesentliche Struktur der Konstruktion totaler Identität sichtbar. Zwar führt Luhmann die Einschränkung an, dass diese „natürliche Alternative“ durch das „Zensurengedächtnis“ „zurückgestellt, zumindest abgeschwächt“ würde: „Die Person erhält die Chance, eine andere zu werden – freilich nur im System der besseren oder schlechteren Zensuren“ (ebd.). Die Einschränkung wird aber dadurch sogleich selbst wieder eingeschränkt, was bedeutet, dass die Konstruktion totaler Identität letztlich nicht aufgehoben wird. Dem trägt Luhmann in Bezug auf die Identitätskonstruktion im Bereich „sozialer Schichtung“, also der sozialen Herkunft der Schüler*innen, Rechnung, wenn er betont, dass das „Ziel der Herkunftsneutralisierung nur unvollständig erreicht“ wird (ebd.). Den Zusammenhang von Bildungserfolg und sozialer Herkunft diskutieren bekanntermaßen auch die Vertreter*innen der standardisierten Bildungsforschung (vgl. z. B. Baumert et al. 2006; Kronig 2007). Bourdieu und Passeron (1971), die sich ebenfalls im Wesentlichen auf den statistisch ermittelten Zusammenhang von Bildungserfolg und sozialer Herkunft beziehen, erklären diesen Zusammenhang mit der „mehr oder minder großen Affinität zwischen den kulturellen Gewohnheiten einer Klasse und den Anforderungen des Bildungswesens oder dessen Erfolgskriterien“ (ebd., S. 40). Damit wird auf das ‚Passungsverhältnis‘ von milieu- bzw. klassenspezifischem „Habitus“ (Bourdieu 1992, S. 56) und der (schulischen) Norm bzw. der ‚Schulkultur‘ verwiesen (vgl. auch Kramer 2017). Demgegenüber betont die Praxeologische Wissenssoziologie das grundsätzliche Spannungsverhältnis zwischen Habitus und Norm, in dessen handlungspraktischer Bearbeitung sich der Orientierungsrahmen im weiteren Sinne konstituiert. Dabei kommt dem Prinzip der Konjunktion eine zentrale Bedeutung zu – im Unterschied zum Distinktionsprinzip bei Bourdieu. Zudem bleiben bei Bourdieu Fragen nach einer Überlagerung verschiedener Habitus bzw. Milieus (z. B. klassen- und geschlechtsspezifische) und deren empirischer Rekonstruktion weitgehend unbeantwortet (vgl. auch Bohnsack 2017a, S. 296 ff.). Dieses metatheoretische und methodologische Problem wird in der vorliegenden Arbeit mithilfe der Konzeption der konstituierenden Rahmung und des Unterrichtsmilieus als perpetuierte Handlungspraxis bearbeitet. Die konstituierende Rahmung emergiert aus der Bearbeitung des (Spannungs-)Verhältnisses von gesellschaftlichen und schul-organisationalen Identitätsnormen, Rollenerwartungen und schul-organisationsspezifischen Sachprogrammen einerseits und den unterschiedlichen Milieus der Lehrkräfte und Schüler*innen andererseits. Um von Macht im praxeologischen Sinne sprechen zu können, bedarf es jedoch zusätzlich zur Erst- und Zweit-Codierung noch weiterer Bedingungen: Zum einen betrifft dies die gesteigerte Sichtbarkeit der Machtunterworfenen, in dem Fall der Schüler*innen. Diese stellt sich als eine Hierarchisierung der

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2  Metatheoretische Verortung: rekonstruktive Unterrichtsforschung …

Visibilität dar, „also ein für Machthierarchien typisches Sichtbarkeitsgefälle“ (Bohnsack 2017a, S. 250). Analog formuliert Norbert Ricken aus praktiken- und anerkennungstheoretischer Perspektive mit Bezug auf Leistung: „So wie gute SchülerInnen nicht einfach gute SchülerInnen sind, sondern als gute SchülerInnen hervorgebracht – präziser: sichtbar gemacht – werden müssen (und sich selbst hervorbringen bzw. sichtbar machen müssen), so liegt – zum einen – auch Leistung nicht einfach vor, sondern muss als spezifische dadurch hervorgebracht werden, dass sie material erkennbar, individuell zurechenbar und sozial anerkennbar gemacht wird“ (Ricken 2018, S. 53). Auf die Bedeutung der Sichtbarmachung für die Konstruktion der leistungsbezogenen Identität von Schüler*innen verweist in ähnlicher Weise, wie gesagt, auch Kalthoff (2013, S. 102), ohne diesen Aspekt jedoch weitergehend metatheoretisch auszuführen. Aus praxeologisch-machttheoretischer Perspektive steht der erhöhten Sichtbarkeit der Machtunterworfenen zum anderen die Unsichtbarkeit bzw. die „Invisibilität“ (Bohnsack 2017a, S. 250, Herv. B.W.) sowohl der Konstruktionsprozesse der Macht als auch der „persönlichen Identität“ der Machthabenden (ebd., S. 149, Herv.i.O.), etwa der Lehrkräfte, gegenüber (vgl. auch Foucault 1977, S. 241). Bei Luhmann (2002, S. 68) zeigt sich dies im Fall der Leistungsbewertung und der damit verbundenen Selektionsprozesse daran, dass „sich die Selektion als Entscheidung sichtbar“ macht, der „Entscheidungsvorgang“ hingegen auf „Intransparenz“ basiert (ebd., Herv.i.O.).19 Aus Perspektive der Praxeologischen Wissenssoziologie wird die „Invisibilisierung“ (Bohnsack 2017a, S. 246) des Entscheidungsvorgangs insbesondere durch die Einschränkung von Metakommunikation (auf verbaler Ebene) erreicht, die sich äquivalent auf korporierter Ebene durch die Einschränkung von Rollendistanz auszeichnet (vgl. ebd., S. 249). Die Invisibilität der Macht ist auch darin begründet, dass die Identitätskonstruktionen als „tautologische Konstruktionen in den Selbstverständlichkeiten

19Luhmann

(2002, S. 68 f.) verweist darauf, dass es sich bei schulischer Leistungsbewertung und Selektion nicht um Machtanwendung handelt, da dies voraussetzen würde, dass „mit negativen Sanktionen (hier: schlechten Zensuren) gedroht wird, um ein damit nicht zusammenhängendes Verhalten zu motivieren“, was jedoch „bei den Selektionsentscheidungen des Erziehungssystems faktisch ausgeschlossen“ ist (ebd., S. 69). In diesem Punkt unterscheidet sich das systemtheoretische Macht-Modell von dem praxeologisch-wissenssoziologischen, da ersteres die Androhung negativer Sanktionen und deren Bewusstsein für Macht voraussetzt, während letzteres die mit der Zweit-Codierung verbundene Konstruktion totaler Identität, die wiederum unsichtbar bleibt, als notwendige Bedingung von Macht ansieht (vgl. Bohnsack 2017a, S. 253).

2.5  Unterricht als Interaktionssystem und Organisationsmilieu …

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des Common Sense verankert sind und in diesem Sinne unsichtbar sind“ (ebd., S. 246). Daher lassen sie sich auch nicht den Individuen, z. B. den Lehrkräften, und deren Intentionen zurechnen. Macht operiert in diesem Verständnis vielmehr als Komponente des Unterrichtsmilieus „als selbstreferentielles System im Sinne einer Codestruktur“ (ebd.) auf der Ebene der Interaktionsorganisation (vgl. ebd., S. 249; s. dazu ausführlicher Abschnitt 3.4). So erkennen auch Breidenstein et  al. (2011, S.  21  ff.) im Anschluss an die Systemtheorie Luhmanns und in kritischer Distanz zum strukturfunktionalistischen Ansatz (vgl. Parsons 1987) die Selbstreferentialität der schulischen bzw. unterrichtlichen Praxis der Leistungsbewertung und Selektion an. Ebenso betonen sie – mit Bezug auf die Praktikentheorie (u. a. Reckwitz 2000; Schatzki et al. 2001) – die „implizite Logik“ (Breidenstein et al. 2011, S. 28, Herv.i.O.) dieser Praxis, die „in erster Linie nicht intendiert, interesseoder normgeleitet“ ist (ebd., S. 27). Gegenüber diesen wesentlichen Übereinstimmungen mit dem hier entfalteten praxeologischen Ansatz besteht allerdings ein zentraler Unterschied darin, dass in dem vorliegenden Modell, wie gesagt, dem Spannungsverhältnis zwischen (Identitäts-)Norm und (mehrdimensionaler) Handlungspraxis und deren relationaler Bewältigung in der Unterrichtsinteraktion als konstituierende Rahmung bzw. Erst-Codierung Rechnung getragen wird, die – im Falle von Macht – mit einer Zweit-Codierung im Bereich der Identitätskonstruktion verbunden ist.

3

Methodologisch-methodischer Zugang: Dokumentarische Methode und Videographie des Unterrichts

Ausgehend von dem in Kapitel 2 skizzierten praxeologischen Begriff des Unterrichtsmilieus als reflexiven Erfahrungsraum, in dem das (­Spannungs-)Verhältnis von gesellschaftlichen und schul-organisationalen Identitätsnormen, Rollenerwartungen und schul-organisationsspezifischen Sachprogrammen einerseits und den unterschiedlichen Erfahrungsräumen der Lehrkräfte und Schüler*innen andererseits bearbeitet bzw. bewältigt wird, was wiederum die Etablierung einer konstituierenden Rahmung voraussetzt, wurde ein methodologisch-methodischer Zugang gewählt, der auf die Analyse dieser mehrdimensionalen Praxis gerichtet ist. Einen solchen Zugang bietet die Dokumentarische Methode, deren grundlagen- bzw. metatheoretischer Rahmen die in Kapitel 2 umrissene Praxeologische Wissenssoziologie darstellt (vgl. Bohnsack 2010; Bohnsack 2017a). Die Dokumentarische Methode ist sowohl Methodologie als auch Methode, d. h. eine empirisch-methodische Verfahrensweise und deren (erkenntnis-)theoretischer Überbau. Während die zentralen metatheoretischen Kategorien – propositionale und performative Logik, konjunktiver Erfahrungsraum und Orientierungsrahmen sowie konstituierende Rahmung – nun vorausgesetzt werden, geht es im Folgenden darum, erstens drei wesentliche methodologisch-methodische Prinzipien der Dokumentarischen Methode zu skizzieren, die für diese Arbeit forschungsleitende Relevanz haben: den Wechsel der Analyseeinstellung vom ‚Was‘ zum ‚Wie‘, die komparative Analyse und die Typenbildung. Daran anknüpfend wird zweitens das eingesetzte Verfahren der Datenerhebung – die Videographie des Unterrichts – metatheoretisch verortet Elektronisches Zusatzmaterial Die elektronische Version dieses Kapitels enthält Zusatzmaterial, das berechtigten Benutzern zur Verfügung steht. https://doi.org/10.1007/ 978-3-658-31204-6_3. © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 B. Wagener, Leistung, Differenz und Inklusion, https://doi.org/10.1007/978-3-658-31204-6_3

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3  Methodologisch-methodischer Zugang: Dokumentarische Methode …

sowie methodologisch-methodisch reflektiert, woran drittens die Darstellung des Auswertungsverfahrens – die Dokumentarische Videointerpretation (vgl. Bohnsack 2009; Bohnsack et al. 2015; Wagener/Wagner-Willi 2017) – anschließt. Eine Übersicht über die konkreten Schritte der Datenerhebung und -auswertung findet sich dann in Abschnitt 4.5.

3.1 Methodologisch-methodische Grundprinzipien der Dokumentarischen Methode Der Zugang zum konjunktiven Erfahrungsraum bzw. Modus Operandi der Handlungspraxis basiert auf einem „Wechsel der Analyseeinstellung“ (Bohnsack 2010, S. 158, Herv. B.W.) vom „Was“ zum „Wie“ (ebd., Herv.i.O.), entsprechend der Unterscheidung von propositionaler und performativer Logik, und korrespondiert mit dem Wechsel von der „Beobachtung erster Ordnung“ zur „Beobachtung zweiter Ordnung“ (Luhmann 1990, S. 86 ff.; s. auch Abschnitt 2.1). Es geht dabei um den Wechsel von der Frage, „was kulturelle oder gesellschaftliche Phänomene oder Tatsachen sind, zur Frage, wie diese hergestellt werden“ (Bohnsack 2010, S. 158, Herv.i.O.). Diesem Wechsel tragen die methodischen Schritte der „formulierenden und reflektierenden Interpretation“ (ebd., S. 64, S. Herv.i.O.) Rechnung. Während die formulierende Interpretation auf der Ebene der propositionalen Logik verbleibt und den immanenten bzw. thematischen Gehalt der Darstellung rekonstruiert, zielt die reflektierende Interpretation auf die Rekonstruktion der performativen Logik, des Habitus, und auf die Explikation des Orientierungsrahmens, in welchem die „thematisch eingegrenzte Praxis“ (Fritzsche 2012, S. 101), z. B. Situationen der Bewertung von Schüler*innenprodukten, ihren Ausdruck findet. Der Orientierungsrahmen entfaltet sich prozesshaft im Interaktionsverlauf und dokumentiert sich homolog an unterschiedlichen ‚Stellen‘ desselben Falls (vgl. Bohnsack 2010, S. 135 ff.). Eine solche Rekonstruktion setzt wiederum die „Einklammerung des Geltungscharakters“ (Mannheim 1980, S. 88 ff.) voraus: „Die wissenssoziologische Analyseeinstellung bewahrt in beiden Interpretationsschritten bzw. auf beiden Ebenen der Interpretation Distanz gegenüber der Frage, ob die zu interpretierenden Darstellungen (…) den Geltungskriterien der Wahrheit oder der normativen Richtigkeit entsprechen“ (Bohnsack 2010, S. 64, Herv.i.O.). Neben den normativen Referenzen, die sich aus den wissenschaftlichen Gegenstandstheorien ableiten und die ebenfalls ‚einzuklammern‘ sind, sind es die Vorannahmen und Bewertungsmaßstäbe der Forschenden, die auf deren eigenen Sozialisationserfahrungen basieren, die als (implizite) Vergleichshorizonte die Analyse der

3.1  Methodologisch-methodische Grundprinzipien …

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fremden Handlungspraxis beeinflussen. Wie Fritzsche und Tervooren (2012, S. 26) mit Bezug auf Joachim Matthes (1992, S. 84) für die Untersuchung von Differenzkonstruktionen in sozialen Praktiken betonen, geht die Gefahr einer „Nostrifizierung“, also einer „Aneignung des Anderen nach eigenem Maß“ (ebd.) mit dem Risiko einer Reifizierung von Differenzen einher, z. B. solchen auf der Ebene der sozialen Identität (vgl. Goffman 1967), die für die Beforschten selbst möglicherweise jedoch gar keine Relevanz haben. Eine wesentliche Bedingung für die valide Rekonstruktion stellt daher die methodische Kontrolle der „Standortsgebundenheit“ (Mannheim 1952, S. 243) der Forschenden dar (vgl. Bohnsack 2010, S. 173). Diese wird annähernd dadurch erreicht, dass im Zuge einer komparativen Analyse die eigenen Vergleichshorizonte in Form von Gedankenexperimenten sukzessive durch empirische – in Form unterschiedlicher Fälle – ersetzt werden (vgl. ebd., S. 65). Neben der Validitätssteigerung der Rekonstruktion des Orientierungsrahmens durch die komparative Analyse ist die komparative Analyse zugleich Voraussetzung für die Abstraktion vom Einzelfall und für die Generalisierbarkeit der Rekonstruktion im Rahmen einer Typenbildung (vgl. ebd., S. 141; Bohnsack et al. 2018). Im Kontext der Dokumentarischen Methode lassen sich „sinngenetische“ und „soziogenetische Typenbildung“ (Bohnsack 2010, S. 150) unterscheiden. Von der soziogenetischen Typenbildung kann wiederum die „soziogenetische Interpretation“ (ebd.; Bohnsack 2018) differenziert werden. Bei der sinngenetischen Typenbildung wird der zunächst über den fallinternen Vergleich rekonstruierte Orientierungsrahmen im Zuge des fallexternen Vergleichs vom Einzelfall abstrahiert. Während am Anfang der Analyse noch das jeweilige Thema das Tertium Comparationis, also das den Vergleich strukturierende Dritte gebildet hat, wird nun „der derart abstrahierte Orientierungsrahmen oder Typus selbst zum Tertium Comparationis“ (Bohnsack et al. 2018, S. 25). Der über diesen Weg konstruierte fallübergreifende Typus, der auch als „Basistypik“ (ebd., S. 25, Herv.i.O.) bezeichnet werden kann, ist damit Resultat eines „hermeneutischen Zirkels“ entlang der Suche nach den „Gemeinsamkeiten im Kontrast und von Kontrasten in der Gemeinsamkeit“ (ebd., S. 26, Herv.i.O.): Durch den internen wie externen Fallvergleich wird einerseits das den Fällen gemeinsame „Orientierungsproblem“ (ebd.) abstrahiert; andererseits wird die Basistypik weiter spezifiziert, indem sich unterschiedliche Modi der Bearbeitung und Bewältigung des gemeinsamen Orientierungsproblems in verschiedenen Interaktionssystemen, z. B. als verschiedene Unterrichtsmilieus, herausarbeiten lassen (vgl. ebd.). Während also die sinngenetische Typenbildung von der Frage nach dem „genetischen Prinzip, nach dem Modus Operandi, das die Alltagspraxis in deren unterschiedlichen Bereichen homolog strukturiert“ (ebd., S. 28), geleitet

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3  Methodologisch-methodischer Zugang: Dokumentarische Methode …

ist, handelt es sich bei der Suche nach dem Erfahrungsraum, in dem wiederum dieser Modus Operandi bzw. Habitus seine Genese hat, um die Suche nach der Soziogenese (vgl. ebd.).1 Diese kann auf zwei Wegen erfolgen: zum einen durch die soziogenetische Interpretation, die in derselben Logik des hermeneutischen Zirkels wie die sinngenetische Typenbildung operiert und üblicherweise auf der Ebene der proponierten Performanz, den metaphorischen Beschreibungen und Erzählungen der Beforschten im Rahmen von Gruppendiskussionen oder narrativen Interviews, nach einem Zugang zu den Hintergründen des Erfahrungsraums, den sozialisatorischen Prozessen seiner Genese sucht (vgl. ebd., S. 318 ff.). Bei der soziogenetischen Typenbildung wird dieser Erfahrungsraum zum anderen „auf dem Wege des Ausschlusses, der Negation“ (ebd., S. 326, Herv.i.O.) ergründet, indem dieser Erfahrungsraum deutlich von anderen potentiellen Erfahrungsräumen abzugrenzen ist: Beispielsweise ist in Bezug auf unterschiedliche Orientierungsrahmen von Jugendlichen ein „dörflicher Orientierungsrahmen (…) dadurch definiert, dass er bei den nicht-dörflichen Jugendlichen nicht zu beobachten ist“ (ebd., Herv.i.O.). Jedoch ist erst durch die Mehrdimensionalität der soziogenetischen Typenbildung, die sich aus der Überlagerung mit anderen existentiellen Erfahrungsräumen etwa in den Dimensionen Gender, Generation, Bildung oder Migration ergibt, eine Generalisierung der Typik möglich. Der jeweilige Fall wird dann nicht nur von anderen Fällen differenzierbar innerhalb einer Typik verortet, sondern darüber hinaus innerhalb einer mehrdimensionalen Typologie (vgl. ebd., S. 326 f.). Die vorliegende Untersuchung hat das Ziel, auf dem Wege der komparativen Analyse von Videographien des (Fach-)Unterrichts und entlang der methodischen Schritte der formulierenden und reflektierenden Interpretation einen Orientierungsrahmen i.S. einer Basistypik zu rekonstruieren, um diesen durch Abstraktion und Spezifizierung zu einer Typik von Unterrichtsmilieus auf der Ebene der sinngenetischen Typenbildung zu verdichten.

1Mit der Unterscheidung von Sinn- und Soziogenese kann an Bourdieus (1982, S. 279) Konzept des Habitus als „strukturierende und strukturierte Struktur“ angeschlossen werden. Für eine kritische Diskussion der Differenzen zwischen Bourdieus Ansatz und demjenigen der Dokumentarischen Methode, die u. a. in einer „kausal-genetischen“ Einstellung bei Bourdieu gegenüber einer „soziogenetischen“ im Rahmen der Dokumentarischen Methode bestehen, s. Bohnsack (2010, S. 152) sowie ansatzweise Abschnitt 2.5.

3.2  Das Erhebungsverfahren: Videographie des Unterrichts

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3.2 Das Erhebungsverfahren: Videographie des Unterrichts Die vorliegende empirische Untersuchung ist, wie bereits erwähnt, in der vom Schweizerischen Nationalfonds geförderten Studie Herstellung und Bearbeitung von Differenz im Fachunterricht der Sekundarstufe I – eine Vergleichsstudie zu Unterrichtsmilieus in inklusiven und exklusiven Schulformen ­(Sturm/WagnerWilli 2014; Wagner-Willi et al. 2018) verortet (s. auch Abschnitt 4.1). Die Datengrundlage der SNF-Studie bilden schwerpunktmäßig Videographien des Fachunterrichts. Ergänzend wurden problemzentrierte Interviews (vgl. Witzel 2000) mit den Lehrkräften und Gruppendiskussionen (vgl. Loos/Schäffer 2001) mit den Schüler*innen durchgeführt.2 Die Datengrundlage der vorliegenden Arbeit bilden die im Fachunterricht videographisch erhobenen Daten, da sie einen unmittelbaren Zugang zu den unterrichtlichen Interaktionen bzw. zur performativen Performanz des Unterrichts eröffnen (vgl. Fritzsche/Wagner-Willi 2015, S. 132; Bohnsack 2017a, S. 93). Obwohl die Interviews und Gruppendiskussionen wichtige Erkenntnisse über die proponierte Performanz der Akteur*innen liefern und die Rekonstruktion von Homologien über die verschiedenen Datensorten hinweg eine Validierung des Modus Operandi ermöglicht (vgl. Bohnsack 2017a, S. 93), hätte der systematische Einbezug der Interviews und Gruppendiskussionen eine enorme Komplexitätssteigerung der Analyse bedeutet, die im Rahmen dieser Arbeit mit ihrem relativ großen Sample (s. Abschnitt 4.6) nicht zu bewältigen gewesen wäre (für Rekonstruktionen auf Basis der Interviews des SNF-Projekts s. Sturm/Wagner-Willi 2016a; WagnerWilli et al. 2018). Nichtsdestotrotz wurden Interviewaussagen der Lehrkräfte an relevanten Stellen in die Analyse einbezogen. Diese erhalten jedoch mehr den Stellenwert von Kontextinformationen – im Unterschied zu der methodologischmethodisch angeleiteten Interpretation des videographischen Materials. Bevor jedoch näher auf das Interpretationsverfahren eingegangen wird, sollen zunächst

2Die

Erhebung der Interviews und Gruppendiskussionen betrifft jedoch nur den im Rahmen des SNF-Projekts untersuchten Mathematik- und Deutschunterricht. Im Zuge der zusätzlichen Erhebung des Kunstunterrichts im Rahmen des Dissertationsprojekts, das von vornherein auf die Videographie ausgerichtet war, wurden keine Interviews mit den Kunstlehrer*innen erhoben.

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3  Methodologisch-methodischer Zugang: Dokumentarische Methode …

die ­methodologisch-methodischen Grundlagen von Videographie als Erhebungsmethode3 skizziert werden. Erstaunlicherweise wird trotz der mittlerweile großen Zahl videobasierter Studien in der Sozial- und Erziehungswissenschaft bis dato konstatiert, dass eine methodologisch-methodische Diskussion videographischer Verfahren noch am Anfang steht (vgl. Reh 2012, S. 154; Herrle/Kade/Nolda 2013, S. 601; Baltruschat/Wagner-Willi 2018, S. 245). Im deutlichen Kontrast dazu erscheinen die methodologisch-methodisch ausgefeilten textbasierten Erhebungsverfahren. Exemplarisch sind hier das Narrative Interview (Schütze 1978, 1983) oder das Gruppendiskussionsverfahren (Bohnsack 1989) zu nennen. Diese Diskrepanz lässt sich wissenschaftshistorisch mit einer längeren Phase der Entwicklung der qualitativen Methoden im Medium der Sprache bzw. des Texts im Zuge des „linguistic turn“ (Rorty 1967) auf der einen Seite und der generell marginalen Entwicklung der Methoden im Medium des Bildhaften bzw. der „Ikonizität“ (Bohnsack 2009, S. 27) auf der anderen plausibilisieren (vgl. ebd., S. 25 ff.).4 Definitionen, was unter Videographie zu verstehen ist, liegen zugleich in vielfältiger Weise vor und werden zum Teil kontrovers diskutiert (vgl. Tuma et al. 2013, S. 10). Weitgehende Einigkeit besteht jedoch in dem Verständnis, dass es sich bei videographischen Daten um solche handelt, die von Wissenschaftler*innen für Forschungszwecke produziert werden5, was sie wiederum von Videos und Filmen als Eigenprodukte der Beforschten unterscheidet (vgl. Bohnsack 2009, S. 118; Dinkelaker/Herrle 2009, S. 10; Tuma et al. 2013, S. 36 ff.; Baltruschat/Wagner-Willi, 2018, S. 242; Knoblauch/Vollmer 2018, S.  122). Bei Letzteren sind die „kulturellen Lebenszusammenhänge oder

3In der (­begrifflich-methodologischen) Trennung von Erhebungs- und Auswertungsverfahren unterscheidet sich die hier gewählte Darstellungsweise von anderen, in denen sowohl Erhebungs- als auch spezifische Auswertungsverfahren gemeinsam unter dem Label „Videographie“ präsentiert werden (z. B. Dinkelaker/Herrle 2009; Herrle/Kade/ Nolda 2013; Tuma et al. 2013). 4Anhand der vielfältigen methodologischen Beiträge zur qualitativen Videoanalyse in dem jüngst erschienenen gleichnamigen Handbuch (vgl. Moritz/Corsten 2018) zeichnet sich jedoch, ohne auf diese hier im Detail eingehen zu können, eine rege Beteiligung an der aktuellen (Weiter-)Entwicklung visueller Methoden ab. 5Knoblauch (2004, S.  126) bezeichnet diese erstaunlicherweise auch als „natürliche soziale Situationen“ und unterscheidet sie von „experimentellen“, also ­wissenschaftlich-standardisierten „Situationen“ (vgl. auch Tuma et al. 2013, S. 36 ff.). Zur Kritik an einer derartigen naturalistischen Perspektive auf Videographie s. Mohn (2006, S. 174).

3.2  Das Erhebungsverfahren: Videographie des Unterrichts

53

Milieus“ (Bohnsack et al. 2015, S. 13), in denen ihre Videos und Filme als Alltagsdokumente entstehen, Gegenstand der Analyse (vgl. ebd.).6 Demgegenüber konzentriert sich die videographische Forschung auf einen bestimmten Ausschnitt eines sozialen Feldes und „fokussiert“ – idealerweise – „die Handlungszusammenhänge, auf denen die Aufmerksamkeit von Akteuren“ liegt (Knoblauch 2001, S. 132). Videographische Forschung ist daher eng mit der Entwicklung ethnographischer Forschung verbunden (vgl. Amann/Hirschauer 1997; Knoblauch 2001, 2006; Breidenstein/Hirschauer 2001; für einen historischen Überblick s. Tuma et al. 2013, S. 19 ff.). Diese Verbindung betont bereits William Corsaro (1982), der sie sogar zur Maxime erhebt: „The main point of my argument is that AV [audiovisual – B.W.] recording should be part of conventional ethnography, and that we must preserve specific features of traditional ethnography to cope with the methodological problems of this new technology“ (ebd., S. 145 f.). Zu diesen Problemen zählt Corsaro u. a. den Feldzugang und die Genehmigung der Beforschten für die Videoaufnahmen, die Auswahl von Erhebungseinheiten sowie die Frage nach der Invasivität und dem Störpotential, welche mit dem Einsatz von Technik einhergehen (vgl. ebd., S. 146 ff.). Sie seien nur durch eine mit einem vorgängigen Feldaufenthalt verbundene Kenntnis des Feldes und dessen Akzeptanz gegenüber den Forschenden zu lösen, womit sich Corsaro von videobasierten Studien abgrenzt, die „a tendency to move too quickly“ (ebd., S. 146) aufweisen (ohne diese Tendenz jedoch inhaltlich weiter auszuführen). Die Einsicht, dass eine Vorab-Kenntnis über und eine Vertrautheit mit dem Untersuchungsfeld für den Einsatz von Videokameras notwendig ist, wird auch von weiteren Vertreter*innen der qualitativen Sozialforschung geteilt (vgl. z. B. Erickson 1988; Cicourel 1992; Dittrich et al. 2000; Heath/Hindmarsh 2002).7

6Eine Ausnahme bildet die Definition von Corsten (2010, S. 8), der die Begriffe „videobasierte Forschung“ und „Videographie“ synonym verwendet und darunter „im weitesten Sinne (…) alle Dokumente (…), die als filmisches Material und damit ggf. auch in Form einzelner Bilder (Einstellungen) vorliegen“ (ebd.), fasst. Eine Differenzierung zwischen Film bzw. Video und Videographie als Alltagsprodukte der Erforschten und als wissenschaftliche Erhebungsmethode stellt jedoch eine wesentliche Grundlage für deren Analyse und damit verbundene methodologisch-methodische Entscheidungen dar (vgl. Bohnsack et al. 2015, S. 13 ff.; Baltruschat/Wagner-Willi 2018; dazu ausführlicher Abschnitt 3.3). 7Ebenso beziehen sich die Vertreter*innen der quantitativ-standardisierten Unterrichtsforschung auf die ethnographische Tradition der Videographie (vgl. Janík/Seidel/Najvar 2009, S. 8 ff.). Jedoch enthalten sie sich weitgehend einer mit dieser Tradition verbundenen Reflexion des Feldzugangs, der Interaktion der Beforschten mit den Forschenden und der Technik etc. (vgl. z. B. die Beiträge in Janík/Seidel 2009).

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3  Methodologisch-methodischer Zugang: Dokumentarische Methode …

In Abgrenzung zu einem Verständnis von videographischer Forschung als „bloße Installation von Kameras“ sprechen Benjamin Jörissen und Christoph Wulf (2013, S. 645) auch von einer „teilnehmenden Videographie“ und heben damit die Rolle der Forschenden in der Forschungssituation hervor, die es, unter Berücksichtigung der eingesetzten Technik, zu reflektieren gilt (vgl. ebd.). Derartige methodologisch-methodische Reflexionen mit Bezug auf die Videotechnik und ihren Einsatz im Feld sowie damit verbundene Konsequenzen für die Datenauswertung liegen im Fokus der aktuellen Methodendiskussion. Dabei sind v. a. Vergleiche mit der teilnehmenden Beobachtung üblich (vgl. z. B. Knoblauch 2001, S. 130 f.; Wagner-Willi 2005, S. 255 f.; Dinkelaker 2010, S. 95 f.): Während sich die bei der Videographie stellenden Ausgangsfragen – ‚Wer bzw. was wird wann wo beobachtet und was wird dabei fokussiert?‘ – „nur graduell“ (Wagner-Willi 2005, S. 255) von denjenigen bei der teilnehmenden Beobachtung (und anderen qualitativen Beobachtungsverfahren) unterscheiden (vgl. ebd.), gelten als Vorteile videobasierter Erhebung die Reproduzierbarkeit der Daten und der hohe Detaillierungsgrad, der sich mit dem digitalen Fortschritt noch weiter steigert (vgl. Knoblauch 2004, S. 124), sowie die Möglichkeit, gleichzeitig ablaufende Prozesse zu erfassen (vgl. Dinkelaker 2010, S. 96). Damit wird eine höhere Intersubjektivität der Daten, die insgesamt zu einer höheren Validität als bei der teilnehmenden Beobachtung führe, begründet (vgl. Knoblauch 2001, S. 131). So stellt Corsten (2010, S. 8 f.) für die Unterrichtsforschung fest: „Wenn ich Unterrichtsverhalten von Lehrern und/oder Schülern beobachten möchte, sind Videodaten hinsichtlich der Gütekriterien der Exaktheit, Lückenlosigkeit und Zuverlässigkeit als Beobachtungsprotokoll kaum zu übertreffen.“ Videographische Daten gewähren zwar einen detaillierten Einblick in den komplexen Vollzug sozialer Handlungspraxis in ihrer – v. a. für Unterricht relevanten – körperlichen, akustischen, räumlichen und materialen Dimension (vgl. Fritzsche/Wagner-Willi 2015; Wagener/Wagner-Willi 2017). Gleichwohl ist zu berücksichtigen, dass sie kein ‚objektives Abbild‘ sozialer Realität sind, sondern „reduzierte, abstrahierte Zeichensysteme“ (Huhn et al. 2000, S. 187). So wird etwa die Dreidimensionalität des Raums auf eine Zweidimensionalität reduziert, und es werden „Farben, Formen und Geräusche bzw. Stimmen“ verzerrt (Wagner-Willi 2005, S. 254). Neben diesen technischen Aspekten sind es v. a. die Forschenden und deren Standortgebundenheit, die Einfluss auf die Aufnahme und deren Selektivität nehmen. Letztere dokumentiert sich insbesondere in der Wahl des Bildausschnitts, des Kamerastandorts und der -führung sowie der Einstellungsgröße (vgl. Fritzsche/Wagner-Willi 2015, S. 133). Im Zusammenhang mit der Selektivität wird auch die Frage diskutiert, ob statische Kamerapositionen gewählt oder

3.2  Das Erhebungsverfahren: Videographie des Unterrichts

55

flexible (Hand-)Kameras eingesetzt werden sollen (vgl. Baltruschat/Wagner-Willi 2018, S. 243). Für erstere spricht die bessere Vergleichbarkeit der Daten – sofern der Standort bei jeder Erhebung ähnlich gewählt wird – sowie eine möglichst umfängliche Abbildung des sozialen Geschehens bei totaler Einstellungsgröße (vgl. ebd.). Der Einsatz flexibler (Hand-)Kameras ermöglicht hingegen „mikroskopische Einblicke“ (ebd.). Für die Unterrichtsforschung wird jedoch üblicherweise die Kombination von statischen Kameras und totaler Einstellungsgröße empfohlen, um dem für Unterricht typischen „weiträumigen Zusammenspiel“ (ebd.) der Interaktionen Rechnung zu tragen (vgl. auch Asbrand/Martens 2018, S. 171). Demgegenüber birgt die größere Invasivität der flexiblen Handkamera ein höheres Risiko der Reaktanz des Feldes (vgl. Baltruschat/Wagner-Willi 2018, S. 243). Wie Sabine Reh und Julia Labede aus praktikentheoretischer Perspektive argumentieren, ermöglichen die Interaktionen der Beforschten mit der Handkamera bzw. den Forschenden andererseits, Aufschluss über die im Feld geltenden „Ordnungen“ (Reh/Labede 2012, S. 100) zu geben, z. B. die „pädagogischen Ordnungen“ (ebd.) bzw. – in der Sprache der Praxeologischen Wissenssoziologie – die Erfahrungsräume im Unterricht. Neben der Fremdheit der Forschenden gegenüber diesen organisationsspezifischen Ordnungen bzw. Erfahrungsräumen ist die Interaktion zwischen Forschenden und Beforschten im Feld immer auch durch Unterschiede zwischen gesellschaftlichen Erfahrungsräumen, z. B. generations-, geschlechts-, bildungs- oder migrationsspezifischen, geprägt (vgl. Wagner-Willi 2005, S. 252). Solche metatheoretischen Bezüge, wie sie hier angedeutet sind, werden seit längerer Zeit gefordert (vgl. Knoblauch 2001, S. 138) und finden sich in der Methodenliteratur immer häufiger. Ohne einen Anspruch auf Vollständigkeit erheben und auf die jeweiligen Ansätze näher eingehen zu können, sind hier zu nennen: Bezüge zum Konstruktivismus (vgl. ebd.), zur Akteur-Netzwerk-Theorie (vgl. Schubert 2006), zur Techniksoziologie (vgl. Motowidlo/Trischler 2018), zur Ethnomethodologie (vgl. Frers 2009), zur Praktikentheorie (vgl. Rabenstein/Reh 2008; Reh/Labede 2012), zur Subjektivations- und Anerkennungstheorie (vgl. Reh/Ricken 2012; Fritzsche 2018), zur Phänomenologie (vgl. Brinkmann/Rödel 2018) sowie zur Ritual- und Performativitätstheorie (vgl. Wulf et al. 2007). Im Folgenden werden weitere Verknüpfungen von Videographie und dem metatheoretischen Rahmen dieser Arbeit, der Praxeologischen Wissenssoziologie (s. Kapitel 2), vorgenommen (vgl. auch Wagner-Willi 2005; Fritzsche/Wagner-Willi 2015; Sturm 2015c; Asbrand/Martens 2018). Dabei geht es nun weniger um die Beziehung zwischen Forschenden und Beforschten in der unmittelbaren ­face-to-face-Interaktion, bspw. in der Unterrichtsituation, als um die Relation ihrer Gestaltungsleistungen als „abbildende“ und „abgebildete

56

3  Methodologisch-methodischer Zugang: Dokumentarische Methode …

Bildproduzent(inn)en“ (Bohnsack 2009, S. 140, Herv.i.O.), wie sie sich im videographischen Material als „wissenschaftliches Artefakt“ (Baltruschat/ Wagner-Willi 2018, S. 243) dokumentiert. Dabei wird vorausgesetzt, dass die Bildebene – genauso wie die verbale bzw. Textebene – ein selbstreferentielles System mit einer Eigenlogik darstellt (vgl. Bohnsack 2009, S. 27 f.). Analog zu der Unterscheidung einer Beobachtung erster und zweiter Ordnung geht es um die Differenz zwischen der Frage, was im Videomaterial dargestellt ist, und der Frage, wie dieses Was hergestellt wird, also die Frage nach dem Modus Operandi bzw. der performativen Performanz. Hier muss noch einmal unterschieden werden zwischen dem Modus Operandi bzw. der performativen Performanz derjenigen vor der Kamera – im Falle von Unterrichtsforschung sind dies i. d. R. die Schüler*innen und die Lehrkräfte – und dem Modus Operandi bzw. der performativen Performanz derjenigen hinter der Kamera, d. h. der Forschenden (vgl. ebd., S. 28 ff.; Bohnsack 2017a, S. 93). Bei Letzteren ist es v. a. die bereits angesprochene Standortgebundenheit, welche die Selektionsentscheidungen während der Aufnahme (implizit) anleitet und dadurch neue Beziehungen zwischen den Abgebildeten untereinander und zu ihrer räumlichmaterialen Umgebung herstellt (vgl. Bohnsack et al. 2015, S. 22 f.).8 Unabhängig von den impliziten Selektionsentscheidungen können allerdings auch ‚externe‘ Bedingungen, z.  B. die räumlichen Gegebenheiten im Klassenraum oder normative Vorgaben der Organisation, die Selektivität der Aufnahme beeinflussen (vgl. ebd.). Hierbei kommt dem Aspekt der Macht eine besondere Bedeutung zu (vgl. Erickson 2011, S. 49 ff.). Lars Frers (2009, S. 161) spricht mit Bezug auf Foucault auch von „power-knowledge“ zugunsten der Forschenden hinter der Kamera: „What the researcher sees and what she or he looks at gains particular attention. It is not only looked at, but it is scrutinized by science. Science will decide if it is right or wrong, will count, measure and explicate it, tear it out of context, connect it with unforeseen and uncontrollable other entities and finally present it in its own framework“ (ebd.). Aus der Perspektive der Praxeologischen Wissenssoziologie lässt sich diese ‚eigene Rahmung‘ nicht (nur) als Resultat einer Nachbearbeitung des Datenmaterials bzw. dessen Analyse verstehen, sondern (auch) als eine Neu- bzw. Fremdrahmung, die für Abbildungen im

8Auch

die Vertreter*innen einer „wissenssoziologischen Videohermeneutik“ (Raab/ Stanisavljevic 2018) betonen die Relation der Gestaltungsleistungen der abbildenden und abgebildeten Videoproduzent*innen für die Konstruktion des Videomaterials sowie deren Berücksichtigung in der Analyse (vgl. ebd., S. 61).

3.2  Das Erhebungsverfahren: Videographie des Unterrichts

57

Medium der Ikonizität, v. a. bei Fotografien und Videographien, „konstituierend“ (Bohnsack 2017a, S. 275) ist und somit – analog zur Praxis in Organisationen – eine konstituierende Rahmung bzw. Erst-Codierung darstellt (vgl. ebd.).9 Das oben angesprochene als Reaktanz diskutierte Phänomen bei der videographischen Forschung kann somit auch als Form der Bearbeitung dieser (potentiellen) Fremdrahmung bzw. der (Gefahr) der Macht durch die Forschung gedeutet werden. Wie in Abschnitt 2.5 dargelegt, lässt sich von Macht i.S. der Praxeologischen Wissenssoziologie erst sprechen, wenn sich die Erst-Codierung mit einer Zweit-Codierung im Bereich der Identitätskonstruktion verbindet. Am Beispiel einer professionellen Fotografie einer brasilianischen Familie (Bohnsack 2017a, S. 280) zeigen sich „Komponenten einer Degradierung“ (ebd.), die v. a. auf die Gestaltungsleistungen des abbildenden Bildproduzenten zurückzuführen sind: „zum einen wird die Lage der Familie mit den zur Verfügung stehenden gestalterischen Mitteln des Fotografen als eine ärmliche, prekäre und instabile inszeniert, und zum anderen wird ein deutlicher Zusammenhang zwischen der derart inszenierten Armut und der Familiengröße, der Kinderzahl hergestellt“ (ebd.). Für ein Beispiel aus der unterrichtsbezogenen Forschung lässt sich eine videographierte Unterrichtssequenz heranziehen (vgl. Baltruschat 2015), in der die Identität der Schüler*innen – die hier kaum ins Kamerabild gerückt werden – als eine ausschließlich „passiv-rezeptive“ (ebd., S. 288) konstruiert wird, während die Interaktionen zwischen den Schüler*innen und dem Lehrer weitgehend ausgeblendet werden (vgl. ebd.). Diese Konstruktionsleistungen liegen wiederum in der „impliziten Didaktik“ (ebd., S. 268) der abbildenden Bild- bzw. Videoproduzent*innen begründet. Eine weitere Form der machtstrukturierten Fremdrahmung findet sich dort, wo die Machtstruktur, die sich in den Interaktionen der abgebildeten Bildproduzent*innen dokumentiert, von den abbildenden Bildproduzent*innen implizit mitgetragen wird. Ein empirisches Beispiel für eine derartige ‚Ko-Konstruktion‘ findet sich in Abschnitt 5.1. Die „Rahmungsmacht“ (Bohnsack 2017a, S. 275) ist hier – analog zur organisationalen Praxis

9Dies

betrifft allerdings nur solche Abbildungen, bei denen Abbildende und Abgebildete nicht demselben konjunktiven Erfahrungsraum bzw. Milieu angehören (vgl. Bohnsack 2017a, S. 275), wie dies i. d. R. bei der professionellen Fotografie und der Videographie zu Forschungszwecken der Fall ist.

58

3  Methodologisch-methodischer Zugang: Dokumentarische Methode …

(s. Abschnitt 2.5) – nicht den Intentionen der Abbildenden zuzuschreiben, sondern Bestandteil der performativen Logik bzw. des Habitus.10 Die Relation zwischen den Gestaltungsleistungen der abbildenden und abgebildeten Bild- bzw. Videoproduzent*innen dokumentiert sich sowohl in der „Simultaneität“ als auch in der „Sequenzialität“ des Videomaterials (vgl. Bohnsack et al. 2015, S. 23 f., Herv.i.O.). Die Simultaneität umfasst „die korporierten Praktiken und Gestaltungsleistungen der abgebildeten BildproduzentInnen“ (ebd., S. 24, Herv.i.O.), die auch als „Simultaneität erster Ordnung“ oder als „Synchronizität“11 (ebd., S. 25, Herv.i.O.) bezeichnet werden können. Davon sind die o. g. Gestaltungsleistungen der Abbildenden i.S. einer „Simultaneität zweiter Ordnung“ (ebd., Herv.i.O.) zu unterscheiden. Nach Imdahl (1994, S. 300) ist die Simultaneität die zentrale Komponente der Eigenlogik des Bildes, was im Rahmen von Videographien dem Standbild bzw. dem „Fotogramm“ (Bohnsack 2009, S. 151, Herv. B.W.) entspricht. Analog zur Simultaneität erster Ordnung lässt sich die „Bewegungsabfolge der abgebildeten

10So

spricht auch Frers (2009, S. 161) im Zusammenhang mit Macht und mit Bezug auf Bourdieu vom „habitus of the researcher“, trennt diesen aber in gewisser Weise von der „knowledge and discourse“-Relation i.S. Foucaults ab. Den Zusammenhang mit dem Habitus sieht er dann v. a. in den von Bourdieu beschriebenen ‚Distinktionspraktiken‘ und wendet sie auf die unmittelbare Interaktion zwischen Forschenden und Beforschten im Feld an (vgl. ebd.). Für die Differenz zwischen dem Bourdieu’schen Habituskonzept und demjenigen der Praxeologischen Wissenssoziologie s. Abschnitt 2.5. 11Asbrand und Martens (2018) differenzieren noch einmal zwischen Simultaneität und Synchronizität: „Mit Synchronizität der Interaktionen sind Äußerungen, Handlungen und Ereignisse beschrieben, die gleichzeitig (und im Falle von Unterricht z. B. im selben Raum) stattfinden, aber unabhängig voneinander entstehen und verlaufen. Der Begriff der Simultanität beschreibt die Gleichzeitigkeit und Aufeinanderbezogenheit von Äußerungen, Handlungen und Ereignissen“ (ebd., S. 108, Herv.i.O.). Dabei grenzen sie sich von der Verwendung des Begriffs „Synchronizität“ bei Bohnsack (2009, S. 51) ab, der ihn dort zur Beschreibung der Differenz von Text und Bild und deren Relation zueinander verwendet. Auf eine weitere Definition – die oben genannte (Bohnsack et al. 2015, S. 25) –, die „Synchronizität“ als „Simultaneität erster Ordnung“ fasst, nehmen Asbrand und Martens (2018) jedoch keinen Bezug. Dies hängt offenkundig damit zusammen, dass sie der Differenz zwischen abbildenden und abgebildeten Bild- bzw. Videoproduzent*innen insgesamt weniger Beachtung schenken mit der pauschalen Begründung, dass „die Sinnstrukturen und Orientierungsrahmen der Bild- und Videoproduzentinnen und -produzenten (also in dem Fall der Forschenden) nicht Gegenstand der Unterrichtsforschung sind“ (ebd., S. 107). Damit klammern sie jedoch die notwendige methodische Kontrolle der Standortgebundenheit der Forschenden und die damit verbundene Reflexion der (ggf. machtstrukturierten) Selektivität der Aufzeichnung aus dem Forschungsprozess weitgehend aus.

3.3  Das Auswertungsverfahren: Dokumentarische Videointerpretation

59

BildproduzentInnen und aller abgebildeten Ereignisse“ als „Sequenzialität erster Ordnung“ (Bohnsack et al. 2015, S. 23, Herv.i.O.) fassen, die wiederum von der durch Einstellungswechsel der Forschenden (z. B. Kameraschwenk, Zoom, und ggf. nachträgliche Montage) bedingten Sequenzialität als „Sequenzialität zweiter Ordnung“ (ebd., S. 24, Herv.i.O.) zu differenzieren ist. Besteht der Anspruch, einer solchen metatheoretischen und methodologischen Reflexion der Eigenlogik des Bildhaften bzw. der Ikonizität in ihrer internen Relation von performativer Performanz der abbildenden und abgebildeten Bild- bzw. Videoproduzent*innen sowohl in der simultanen als auch in der sequentiellen Dimension sowie in ihrer externen Relation zu der verbalen Ebene der videographischen Daten auch in der Analyse Rechnung zu tragen, bedarf es eines Auswertungsverfahrens, das dieser Komplexität gerecht zu werden verspricht. Dieses stellt die in der Dokumentarischen Methode (s. Abschnitt 3.1) verortete Dokumentarische Videointerpretation dar, die im Folgenden vorgestellt werden soll.

3.3 Das Auswertungsverfahren: Dokumentarische Videointerpretation Die im vorangegangenen Unterkapitel angesprochene Dominanz des Textes gegenüber einer Marginalisierung des Bildhaften im Bereich der qualitativen Methoden und der damit verbundene Mangel an erkenntnistheoretischen bzw. methodologischen Fundierungen bilderzeugender Erhebungsverfahren schlägt sich auch in der Entwicklung entsprechender Auswertungsmethoden nieder (vgl. Bohnsack 2009, S. 25 ff.; Bohnsack et al. 2015, S. 11). So zeigt sich selbst bei anspruchsvollen Analyseverfahren, die Videodaten einbeziehen, wie z. B. jene, die in der Konversationsanalyse verortet sind (vgl. Heath 1997; Goodwin 2001; Knoblauch 2004), eine Priorisierung der Sprach- bzw. Textebene, wenn ihre Vertreter*innen konstatieren, dass das Visuelle bzw. die Ikonizität ohne Einbezug des Texts nicht hinreichend interpretierbar sei (vgl. Goodwin 2004, S. 157). Demgegenüber versucht die Dokumentarische Methode in ihrer Weiterentwicklung im Bereich der Bild- und Videointerpretation der Eigenlogik des Bildhaften gerecht zu werden (vgl. Bohnsack 2009; Bohnsack et al. 2015).12 Dabei bilden neben den in Kapitel 2 und Abschnitt 3.1 skizzierten metatheoretischen und

12Ähnliche

Bemühungen finden sich auch bei Dinkelaker und Herrle (2009).

60

3  Methodologisch-methodischer Zugang: Dokumentarische Methode …

­ ethodologisch-methodischen Grundlagen kunst- bzw. bild- und filmwissenm schaftliche Kategorien wesentliche Bezugspunkte (vgl. ebd.). Im Medium des Bildhaften entspricht der Wechsel der Analyseeinstellung vom ‚Was‘ zum ‚Wie‘ der Unterscheidung von „Ikonographie“ und „Ikonologie“ bei dem Kunsthistoriker Erwin Panofsky (1978), der sich explizit auf die Dokumentarische Methode Mannheims bezieht, und führt über den Weg der „vorikonographischen Beschreibung“ (ebd., S. 39; vgl. Bohnsack 2009, S. 30). Der Unterschied zwischen Vor-Ikonografie und Ikonografie13 kann an Panofskys Beispiel des „Hutziehens“ (Panofsky 1978, S. 37) verdeutlicht werden: Die Identifizierung der Geste des Hutziehens auf der vor-ikonografischen Ebene lässt sich erst auf der ikonografischen Ebene als ein „Grüßen“ (ebd.) interpretieren. Während also die ikonografische Interpretation auf die Unterstellung von Umzu-Motiven bzw. die Zuordnung institutionalisierten Vor-Wissens angewiesen ist (A zieht den Hut, um zu grüßen) und daher prinzipiell einen prekären Charakter aufweist (s. Abschnitt 2.2.2), setzt die ­ vor-ikonografische Interpretation die Suspendierung der Common-Sense-Konstruktionen voraus. Erst die genaue Beschreibung einer Handlung auf der vor-ikonografischen Ebene ermöglicht den Zugang zu dem ‚Wie‘ der Herstellung der Handlung, der performativen Performanz bzw. dem Habitus auf der Ebene der ikonologischen Interpretation (vgl. Bohnsack 2009, S. 30 f.). Während die vor-ikonografische und die ikonografische Interpretation gemeinsam dem Analyseschritt der formulierenden Interpretation entsprechen, ist die ikonologische Interpretation analog zur reflektierenden Interpretation (s. Abschnitt 3.1). Die korporierten Praktiken der abgebildeten Bild- bzw. Videoproduzent*innen lassen sich auf der vor-ikonografischen Ebene noch einmal differenzieren in „Gesten“14 mit ihrer Untereinheit der „Kineme“ und in „operative Handlungen“ (Bohnsack et al. 2015, S. 18, Herv.i.O.). Letztere bestehen zumeist aus der sequentiellen Abfolge mehrerer Gesten oder der simultanen Komposition verschiedener Kineme und setzen die Zuordnung von Motiven voraus, die allerdings am Bewegungsverlauf ablesbar sein müssen. So ist bspw. die Geste „Ausstrecken des rechten Armes und Zeigefingers“ als die operative Handlung „Aufzeigen“ („A streckt Arm und Finger, um auf sich aufmerksam zu machen“) interpretierbar (ebd., Herv.i.O.). Hingegen ist die Zuordnung, dass es sich hierbei um ein

13Im

Folgenden wird die im Kontext der Dokumentarischen Methode üblichere Schreibweise verwendet: Vor-Ikonografie und Ikonografie (vgl. Bohnsack 2009; Bohnsack et al. 2015). 14Die Gesten umfassen auch die Mimik (vgl. Bohnsack 2009, S. 147).

3.3  Das Auswertungsverfahren: Dokumentarische Videointerpretation

61

„Sich-Melden“ (ebd., Herv.i.O.) einer Schülerin handelt, die ihren Redewunsch im Unterricht anzeigen will, nicht am Bewegungsverlauf ablesbar und setzt ein institutionalisiertes bzw. rollenbezogenes (Vor-)Wissen voraus, das auf der Ebene der ikonografischen Interpretation liegt (vgl. ebd.). Die Frage danach, wie jemand aufzeigt, z. B. ambitioniert, lässig oder unsicher, ist dann die Frage nach der performativen Performanz bzw. dem Habitus auf der Ebene der Ikonologie (vgl. ebd.). Die Rekonstruktion der performativen Performanz bzw. des Habitus der abbildenden Bild- bzw. Videoproduzent*innen führt wiederum über den Weg der Rekonstruktion der „Formalstruktur“ bzw. „des formalen kompositionalen Aufbaus des Bildes“ (Bohnsack 2009, S. 38), wodurch auch die methodische Kontrolle der Standortgebundenheit der Forschenden angestrebt wird (vgl. Bohnsack et al. 2015, S. 22). Im Fall von Videographien zu Forschungszwecken betrifft dies (1) „die Art der Kameraeinstellung bzw. die Einstellungsgröße: die Detail-, Groß- und Naheinstellung, die halbnahe, amerikanische, halbtotale, totale und Weit- oder Panorama-Einstellung“, (2) die „Perspektivität“: „die Rekonstruktion des perspektivischen Zentrums, des Fluchtpunkts und des perspektivischen Modus: Frontal- und Übereck- oder Schrägperspektive sowie Übersicht und Aufsicht (Luftperspektive)“, (3) den Bildausschnitt bzw. die „Kadrierung“ sowie ggf. (4) „Einstellungswechsel und Montage“ (Bohnsack et al. 2015, S. 22 f., Herv.i.O.).15 Der Zugang zu den Gestaltungsleistungen der abbildenden Bild- bzw. Videoproduzent*innen bzw. die methodische Kontrolle ihrer Standortgebundenheit erfolgt am validesten durch die „Fotogrammanalyse“ (ebd., S. 139, Herv. B.W.). Zugleich ermöglicht sie mit Blick auf die Gestaltungsleistungen der abgebildeten Bildproduzent*innen das interaktionale Geschehen in seiner „Simultanstruktur“ als ein „kompositionsbedingtes, selbst sinnstiftendes Zugleich“ (Imdahl 1996, S. 23) zu erfassen und die „in dem eingefangenen Moment stattfindende Inter-

15Darüber

hinaus umfasst die Analyse der Formalstruktur von Videos oder Filmen als Eigenprodukte der Beforschten die Rekonstruktion der „planimetrischen Komposition“, d. h. „die formale Komposition des Bildes in der Fläche“ (Bohnsack 2009, S. 39, Herv.i.O.) als zentrales Element der Eigenlogik des Bildes. Diese auf Imdahl (1994) zurückgehende Dimension der Formalstruktur ist bei Videographien zu Forschungszwecken, bei denen die Gestaltungsleistungen der abgebildeten Bildproduzent*innen den primären Gegenstand der Analyse bilden, wie dies auch in der vorliegenden Arbeit der Fall ist, zu vernachlässigen (vgl. auch ­Fritzsche/Wagner-Willi 2015). Allerdings ist die Rekonstruktion der Standortgebundenheit der Forschenden zur methodischen Kontrolle unbedingt notwendig (vgl. Bohnsack et al. 2015, S. 14 f.).

62

3  Methodologisch-methodischer Zugang: Dokumentarische Methode …

aktion in ihrem räumlichen [und materialen – B.W.] Kontext sowie die vollzogenen Gebärden und die Mimik in ihrem simultanen körperlichen Kontext“ (Fritzsche/Wagner-Willi 2015, S. 139) zu analysieren. Dabei orientiert sich die Fotogrammauswahl einerseits an dem Kriterium der „Repräsentanz“ (Bohnsack 2009, S. 201, Herv.i.O.), d. h. an der Frage, inwieweit die ­körperlich-räumlichen Positionierungen der Abgebildeten als repräsentativ für eine Sequenz angesehen werden können. Andererseits zeigen sich in „Fokussierungsakten“ ­(Nentwig-Gesemann 2006, S. 28, Herv. B.W.), also in jenen Momenten, die sich durch Steigerungen in der Dichte der Gebärden und Interaktionen und/oder durch Diskontinuitäten bzw. Brüche auszeichnen, die Orientierungen der Akteur*innen in besonders konturierter Weise (vgl. Bohnsack 2009, S. 197). Die komparative Analyse zeitlich differenter Fotogramme gibt zudem Aufschluss über die Relation der simultanen und sequentiellen Ordnungen (s. Abschnitt 3.2). Davon ist allerdings die Sequenzanalyse zu unterscheiden, in der das videographische Material in seiner Sequenzstruktur einer Feininterpretation unterzogen wird. Unter einer Sequenz wird hier eine zusammenhängende Sinneinheit verstanden, die sich aus der Relation der Gestaltungsleistungen der abgebildeten Bildproduzent*innen wie der abbildenden Bildproduzent*innen auf der ­vor-ikonografischen Ebene konstituiert (vgl. Bohnsack 2009, S. 160 ff.). Die Auswahl der entsprechenden Sequenz erfolgt zum einen nach dem o. g. Prinzip der Fokussierung, zum anderen nach dem jeweiligen Erkenntnisinteresse.16 Zunächst werden die „Handlungs- und Interaktionselemente wie Gebärden, Blickkontakte, Mimik etc.“ (Fritzsche/Wagner-Willi 2015, S. 144) in ihrem sequentiellen Vollzug ebenfalls vor-ikonografisch beschrieben. In Bezug auf die verbalsprachliche Ebene werden hingegen unterschiedliche Vorgehensweisen vorgeschlagen: Während eine Trennung von Text- bzw. Sprach- und Bildebene bei Martens et al. (2015) im Rahmen der formulierenden Interpretation und in einer eigenen Arbeit (Wagener 2015) in der formulierenden und reflektierenden Interpretation

16Mit

der Auswahl einzelner Sequenzen (nach den genannten Kriterien) unterscheidet sich das hier gewählte Vorgehen von Ansätzen, die eine Interpretation des Gesamtvideos fordern, wie etwa die wissenssoziologische Hermeneutik, die dies auch für Videographien geltend macht (vgl. Reichertz 2018, S. 115). Der Begründung dieser Forderung, dass ein Video immer „eine Geschichte erzählt“ (ebd.), mit „einem Anfang und einem Ende“, kann hier durch die Definition einer Sequenz als eine zusammenhängende Sinneinheit begegnet werden. Eine sinnhafte „Verlaufskurve“ (ebd.) wird dann nicht nur durch die „Einzelfallanfertigung“ (ebd.) rekonstruierbar, sondern v. a. im Zuge der komparativen Analyse mehrerer (möglichst kontrastierender) Sequenzen. Im Rahmen der fallexternen komparativen Analyse gelangt man dann zur fallübergreifenden Typenbildung.

3.4  Modi der Interaktionsorganisation und ihre Differenzierung …

63

vorgenommen wird, integrieren Fritzsche und Wagner-Willi (2015) sowie Nentwig-Gesemann und Nicolai (2015) die verbalsprachlichen und korporierten Äußerungen in beiden Interpretationsschritten. Im Rahmen der reflektierenden Interpretation geht es dann wie bei der Fotogrammanalyse um die Frage nach dem ‚Wie‘ der Herstellung der (korporierten und verbalen) Handlungen und Interaktionen, der performativen Performanz bzw. dem Orientierungsrahmen. Hierbei kommt der Analyse der Formalstruktur der interaktiven Beziehungen der Akteur*innen – der „Modi der Interaktionsorganisation“ (Bohnsack et al. 2015, S. 25, Herv.i.O.) – eine zentrale Bedeutung zu. Die Beschreibung des konkreten methodischen Vorgehens im Rahmen der hier vorgelegten empirischen Analyse erfolgt in Abschnitt 4.5.

3.4 Modi der Interaktionsorganisation und ihre Differenzierung im Rahmen der Dokumentarischen Videointerpretation Bei der Rekonstruktion der formalen Interaktionsorganisation geht es allgemein um die Frage, ob In-/Kongruenzen zwischen Orientierungsrahmen von Akteur*innen bzw. Fremdrahmungen vorliegen (vgl. Bohnsack et al. 2015, S. 25). Von den bereits elaborierten „Modi der Diskursorganisation“ (ebd., Herv.i.O.) auf verbalsprachlicher Ebene (vgl. Bohnsack 1989; Przyborski 2004) lassen sich analog auf der korporierten Ebene die „Modi der Organisation korporierter Praktiken“ (Bohnsack et al. 2015, S. 25, Herv.i.O.) unterscheiden. Die Modi der Interaktionsorganisation – als Oberkategorie – lassen sich noch einmal in „Modi von Interaktionsbewegungen“ („Propositionen, Elaborationen und Konklusionen“) und „Modi der Sozialität“ (u. a. „inkludierende und exkludierende“) differenzieren (ebd., Herv.i.O.). Für Letztere finden sich Ansätze im Bereich der Analyse von Kind-Erwachsenen-Interaktionen in der Kindheitspädagogik (vgl. Nentwig-Gesemann/Nicolai 2015; N ­ entwig-Gesemann/Gerstenberg 2018). Für Erstere haben Wagner-Willi (2005) sowie Martens et al. (2015) erste Vorschläge im Rahmen der Unterrichtsforschung unterbreitet. Insgesamt steht jedoch die Entwicklung eines entsprechenden Begriffsinventars noch am Anfang (vgl. Bohnsack et al. 2015, S. 25). Im Folgenden werden weitere begriffliche Differenzierungen vorgeschlagen, wie sie auch in der vorliegenden Arbeit Verwendung finden. Dabei wird der Versuch unternommen, den Besonderheiten der Interaktion in Organisationen Rechnung zu tragen, die u. a. auf einer doppelten Zugehörigkeit ihrer Mitglieder basiert (rollenbezogene und konjunktive; s. Abschnitt 2.3) – im Unterschied zu Gesprächen in ‚natürlichen‘

64

3  Methodologisch-methodischer Zugang: Dokumentarische Methode …

Gruppen, auf deren Grundlage die Modi der Diskursorganisation entwickelt wurden (für eine systematische Übersicht der Modi der Diskursorganisation s. Przyborski 2004). Zur Differenzierung der Modi von Interaktionsbewegungen Während die im Rahmen der Gesprächsanalyse entwickelten Begriffe Proposition als das Aufwerfen eines Orientierungsgehalts zu Beginn einer Interaktionseinheit und Konklusion als deren Abschluss (vgl. Przyborski 2004, S. 69) auch prinzipiell im Zusammenhang mit der korporierten Dimension angewendet werden können (vgl. Asbrand/Martens 2018, S. 57 f.), lässt sich analog zu den Aus- und Weiterbearbeitungen der Proposition auf der verbalen Ebene – den Elaborationen – von „Enaktierungen“ (Martens et al. 2015, S. 193, Herv.i.O.) in Bezug auf die „nonverbale“ (ebd.) bzw. korporierte Dimension sprechen. Von einer korporierten Proposition lässt sich dort sprechen, wo proponierter und performativer Sinngehalt identisch sind bzw. zusammenfallen. Beim Kopfschütteln etwa ist die performative Sinnstruktur zugleich auch die propositionale. Im Bereich verbaler Propositionen liegt immer eine strukturelle Differenz von performativer und propositionaler Ebene vor – auch dort, wo der zum Ausdruck gebrachte Sinngehalt identisch ist (und auf diese Weise die Validität der Interpretation einer Äußerung zu erhöhen vermag). Darüber hinaus werden in der Gesprächsanalyse für Differenzen zwischen Orientierungsrahmen – sog. Rahmeninkongruenzen – „Divergenzen“ und „Oppositionen“ (Przyborski 2004, S. 72 ff., Herv.i.O.) unterschieden. „Eine Divergenz ist das Aufwerfen eines zu einer Proposition, zu einer Elaboration einer Proposition usw. widersprüchlichen Orientierungsrahmens unter Einbeziehung von Elementen aus jenen Diskursbewegungen, denen sie entgegensteht“ (ebd., S. 73, Herv.i.O.). Der Orientierungsrahmen von A wird durch denjenigen von B gewissermaßen „vereinnahmt“ (Bohnsack 2010, S. 229, Herv.i.O.), ohne dass dies jedoch offen verhandelt wird (vgl. ebd.). Bohnsack spricht hier auch von einer „Fremdrahmung“ (ebd.; s. auch Abschnitt 2.3). Während Fremdrahmungen in Diskursen und Interaktionen außerhalb von Organisationen, z. B. im Rahmen familialer Tischgespräche (vgl. ebd.), auftreten können, sind sie für Interaktionen in Organisationen konstitutiv (vgl. Bohnsack 2017a, S.  135), bspw. als Leistungsbeurteilung im Unterricht

3.4  Modi der Interaktionsorganisation und ihre Differenzierung …

65

(s. Abschnitt 2.5).17 Der Begriff der Fremdrahmung findet bereits in der Analyse der Interaktionsorganisation in Organisationen der Kindheitspädagogik Anwendung (vgl. Nentwig-Gesemann/Nicolai 2015, S. 57 f.; Bohnsack 2017, S. 67 f.). Analog wird er in der vorliegenden Arbeit für die Analyse der Interaktionsorganisation im Schulunterricht verwendet. Treten gegensätzliche Orientierungsrahmen mehr oder weniger offen zutage und lassen sich nicht miteinander vereinbaren, handelt es sich im Rahmen der Gesprächsanalyse um eine Opposition (vgl. Przyborski 2004, S. 72): „Als unauflösbar gelten Widersprüche, wenn es zu keinen gemeinsamen konsensfähigen thematischen Konklusionen kommt“ (ebd.). Im Bereich der Interaktion, insbesondere auf der korporierten Ebene, erscheint diese Kategorie jedoch nicht für alle Fälle, in denen Rahmeninkongruenzen offen sichtbar werden, geeignet bzw. bedarf sie einer methodologischen Differenzierung. Dafür soll hier auf die interaktionstheoretischen Arbeiten Goffmans, insbesondere auf dessen Konzept der „Rollendistanz“ (Goffman 1973), zurückgegriffen werden (s. auch Abschnitt 2.3 und 3.4). Laut Goffman ist die Rolle untrennbar mit der Norm verbunden: „Die Rolle besteht in der Tätigkeit, in der sich der Inhaber engagiert, handelte er lediglich im Sinn der normativen Forderungen, die jemandem in seiner Position auferlegt werden“, und ist daher von dem „tatsächlichen Verhalten“ (ebd., S. 95, Herv.i.O.) zu unterscheiden. Am Beispiel des Karussellfahrens beschreibt Goffman, dass Kinder ab einem bestimmten Alter, sobald das Karussellfahren für sie keine besondere Herausforderung mehr darstellt, sich gegenüber einer „ernsten Realisierung der Rolle“ (ebd., S. 120) betont lässig oder respektlos zeigen (vgl. ebd., S. 121). Das Kind drückt dadurch aus: „Was ich auch bin, ich bin nicht bloß jemand, der mit knapper Not auf einem hölzernen Pferd bleiben kann“ (ebd.). Goffman bezeichnet „diese ‚effektiv‘ ausgedrückte, zugespitzte Trennung zwischen dem Individuum und seiner mutmaßlichen Rolle“ als „Rollendistanz“ (ebd., Herv.i.O.). Sie bezieht sich ausschließlich auf Verhaltensweisen, die direkt auf die normativen Rollenerwartungen bezogen sind, gegen die „möglicherweise Unzufriedenheit und

17So stellt auch Przyborski (2004, S. 220) in ihrer Analyse einer Gruppendiskussion mit jungen Männern türkischer und arabischer Herkunft in Bezug auf die geschlossene Eingangsfrage des Interviewers, die auf die beruflichen Zukunftsentwürfe der Jugendlichen abzielt, fest: „Derartige Fragen nach Vorstellungen und Begründung zur beruflichen Zukunft haben Jugendliche meist von pädagogischen Instanzen, in der Schule, im Ausbildungsverhältnis, im Beruf oder auch von anderen – staatlichen – Kontrollinstanzen zu erwarten. Der Umgang mit dieser Frage erlaubt also Einblicke in die Art und Weise des Umgangs mit Fremdrahmungen, wie sie die Jugendlichen in ihrem Alltag immer wieder erleben.“

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3  Methodologisch-methodischer Zugang: Dokumentarische Methode …

Widerstand“ (ebd., S. 122) empfunden werden. Zentral dabei ist, dass es sich nicht um eine totale Ablehnung der Rolle handelt – die dann eher mit dem Begriff der Opposition im o. g. Sinne zu bezeichnen wäre: „Man kann es auch nicht Rollendistanz nennen, wenn das Kind rebelliert und die Rolle total ablehnt, indem es in einem Aufbrausen davonstampft, denn die speziellen Fakten über das Selbst, die vermittelt werden können, indem man die Rolle etwas wegschiebt, sind genau die, die nicht dadurch vermittelt werden können, daß man die Rolle umwirft“ (ebd.). Das Prinzip der Rollendistanz ist jedoch nicht nur bei flüchtigen Rollen wie derjenigen des „Karussellpferdreiters“ (ebd., S. 121) zu beobachten, sondern erhält seine Gültigkeit für soziale Rollen im Allgemeinen und lässt sich daher auch auf „regelmäßige Rollenträger“ (ebd. S. 98, Herv.i.O.), wie z. B. Schüler*innen und Lehrkräfte, übertragen (s. dazu auch die Beispiele zur Rollendistanz des Chefchirurgen und des Medizinalassistenten in Abschnitt 1.3). Verbindungen zeigen sich hier etwa zu Georg Breidensteins (2006) Konzeption des „Schülerjobs“, wenn er ihn folgendermaßen definiert: „Man tut, was zu tun ist, ohne damit (vollständig) identifiziert zu sein“ (ebd., S. 11). Dadurch ist der Begriff der ‚Rollendistanz‘ v. a. für Interaktionen in Organisationen geeignet, um – auf einer formalen Ebene – Distanzierungen von den normativen Rollenund Identitätserwartungen bzw. Fremdrahmungen zu beschreiben, wie sie aus dem Spannungsverhältnis von Norm und Habitus resultieren. Zwecks terminologischer Vereinfachung wird in der vorliegenden Arbeit jedoch als Analysebegriff – im Rahmen der Rekonstruktion der Interaktionsorganisation – derjenige der Distanzierung gebraucht (anstelle desjenigen der ‚Rollendistanz‘). Diese Distanzierungen haben den Charakter von impliziten Reflexionen auf dem Niveau des Orientierungsrahmens im weiteren Sinne (vgl. auch Bohnsack 2020). Zur Differenzierung der Modi der Sozialität Im Rahmen der Gesprächs-, aber auch in der Interaktionsanalyse, werden inkludierende und exkludierende Modi der Sozialität unterschieden (vgl. Przyborski 2004; Nentwig-Gesemann/Nicolai 2015). Ganz allgemein verweisen inkludierende Modi auf einen geteilten Orientierungsrahmen, während exkludierende Modi einen solchen ausschließen (vgl. Przyborski 2004, S. 318). Im Bereich der Interaktion in Organisationen können insgesamt drei (Sub-)Modi der Sozialität differenziert werden. Dazu zählen die bereits in Abschnitt 3.4 unterschiedenen Modi Macht und Willkür (vgl. auch Nentwig-Gesemann/Gerstenberg 2018, S. 142 ff.) sowie der „organisationale Rahmungsverlust“ (Bohnsack 2020, S. 77, Herv.i.O.). Ein machtstrukturierter Interaktionsmodus zeigt sich dort, wo zu einer organisationalen Fremdrahmung, der konstituierenden Rahmung bzw.

3.4  Modi der Interaktionsorganisation und ihre Differenzierung …

67

­ rst-Codierung, eine weitere Fremdrahmung, eine Zweit-Codierung, im Bereich E der Identitätskonstruktion tritt, die mit einer Degradierung (bzw. Gradierung) verbunden ist. Dieser Modus wird abgesichert, indem Metakommunikationsversuche auf verbaler bzw. Versuche der Distanzierung auf korporierter Ebene unterbunden werden (vgl. Bohnsack 2017a, S. 246 ff.). Ein willkürlicher Interaktionsmodus ist dadurch charakterisiert, dass Degradierungen (bzw. Gradierungen) i.S. der Zweit-Codierung zwar gegeben sind, aber der Bezug zur Erst-Codierung weitgehend fehlt. Generalisierte Verhaltenserwartungen basierend auf den organisationalen Rollenbeziehungen und Sachprogrammen haben hier keine Relevanz (mehr) für die Interaktion. Im Extremfall kommt es zur Auflösung des konjunktiven Erfahrungsraums (vgl. ebd., S. 270). Ein weiterer Modus ist derjenige des organisationalen Rahmungsverlusts. Bei diesem Modus fehlt zwar ebenso eine konstituierende Rahmung. Im Unterschied zu Willkür ist dennoch ein konjunktiver Erfahrungsraum gegeben. Dieser zeichnet sich dann primär z. B. durch eine Orientierung an der Praxis der Klientel aus (vgl. Bohnsack 2020, S. 77). Exemplarische empirische ‚Anwendungen‘ der hier vorgeschlagenen Differenzierungen von Modi der Interaktionsorganisation finden sich in Kapitel 5 sowie ausführlich in Anhang B (hier: machtstrukturierter Interaktionsmodus).

4

Design des empirischen Projekts

Nachdem der metatheoretische Rahmen und der methodologisch-methodische Zugang dieser Arbeit dargelegt wurden, soll im Folgenden die Konzeption und konkrete Durchführung des empirischen Projekts in Bezug auf das Untersuchungsfeld, das Sampling, die Datenerhebung und -auswertung dargestellt werden. Von zentraler Bedeutung ist dabei der größere Forschungskontext: die vom Schweizerischen Nationalfonds (SNF) geförderte Studie Herstellung und Bearbeitung von Differenz im Fachunterricht der Sekundarstufe I – eine Vergleichsstudie zu Unterrichtsmilieus in inklusiven und exklusiven Schulformen, in die das Dissertationsprojekt eingebettet ist.

4.1 Formale Charakterisierung des Projektkontextes und des Untersuchungsfeldes Das SNF-Projekt Herstellung und Bearbeitung von Differenz im Fachunterricht der Sekundarstufe I – eine Vergleichsstudie zu Unterrichtsmilieus in inklusiven und exklusiven Schulformen wurde von 2014 bis 2018 unter der Leitung von Tanja Sturm und Monika Wagner-Willi und der Mitarbeit von Anika Elseberg und mir am Institut Spezielle Pädagogik und Psychologie der Pädagogischen Hochschule der Fachhochschule Nordwestschweiz durchgeführt. Wir gingen den erkenntnisleitenden Fragen nach, wie in fachlich geprägten Unterrichtsmilieus der Sekundarstufe I interaktiv (Schulleistungs-)Differenzen hergestellt Elektronisches Zusatzmaterial Die elektronische Version dieses Kapitels enthält Zusatzmaterial, das berechtigten Benutzern zur Verfügung steht. https://doi.org/10.1007/ 978-3-658-31204-6_4. © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 B. Wagener, Leistung, Differenz und Inklusion, https://doi.org/10.1007/978-3-658-31204-6_4

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4  Design des empirischen Projekts

und bearbeitet werden und wie diese Differenzkonstruktionen mit Prozessen der Inklusion und Exklusion spezifischer sozialer Milieus von Schüler*innen in Lehr-Lernsituationen einhergehen. Die Auswahl der zu untersuchenden Fälle orientierte sich an dem Vergleich von Unterrichtsmilieus (s. Abschnitt 2.5) der Sekundarstufe I in den Dimensionen Schulform und Fachunterricht. Damit sollte v. a. das für den ‚inklusiven‘ Fachunterricht auf dieser Schulstufe bestehende Forschungsdesiderat bearbeitet werden (vgl. Seitz/Scheidt 2012; Preuss-Lausitz 2014). In Bezug auf die Schulform verglichen wir Sekundarschulklassen mit sog. integrativer1 Programmatik und formal ‚leistungsheterogener‘ Ausrichtung mit gymnasialen Schulklassen, die ‚exklusiv‘ sog. leistungsstarke Schüler*innen adressieren.2 In die Erhebung bezogen wir je Schulform zwei Klassen aus je zwei Schulen ein. Aus Gründen der Vergleichbarkeit wurde angestrebt, nur in Klassen des achten Schuljahres (mit Kindergarten: zehntes Schuljahr) zu erheben, da auf dieser Klassenstufe in sämtlichen Kantonen eine erste Selektion nach der Primarstufe abgeschlossen ist und der Fokus noch schulübergreifend auf der Allgemeinbildung liegt, während im neunten (bzw. elften) Schuljahr bereits eine Vorbereitung auf die Sekundarstufe II (Gymnasium, Fachmittelschule oder Berufsausbildung) bzw. auf die Berufsfindung erfolgt (vgl. SKBF 2014, 2018). Hinsichtlich der zweiten Dimension verglichen wir den Deutschmit dem Mathematikunterricht. Mit Blick auf den Fachunterricht interessierte uns, inwiefern die jeweiligen ‚Fachkulturen‘ die Differenzherstellung und -bearbeitung mitprägen.3 Die Fächerwahl gründet – wie auch die Wahl der Schulformen – auf dem Prinzip des „Kontrasts in der Gemeinsamkeit“ (Bohnsack 2010, S. 38). In Bezug auf die Auswahl der Unterrichtsfächer waren zunächst Common-Sense- und gegenstandstheoretische Überlegungen leitend: Gemeinsam ist beiden Schulfächern, dass sie promotions- bzw. selektionsrelevant sind und ihnen in Bezug auf die Allgemeinbildung hohe Relevanz beigemessen wird. Während das Fach Mathematik durch einen Fokus auf das logische Argument mit restriktiven ­Wenn-Dann-Klassifizierungen gekennzeichnet sei (vgl. Krummheuer 2003; Gellert/Hümmer 2008), wende sich das Fach Deutsch durch Wort und Schrift, Interpretation und Ausdruck kulturellen (Text-)Dokumenten in allgemeinund persönlichkeitsbildender Funktion zu. Zugleich stellt Deutsch die dominante Unterrichtssprache dar. 1Es

handelt sich hierbei um den sowohl in den rechtlichen und bildungspolitischen Dokumenten als auch im Feld überwiegend verwendeten Begriff. 2Die ‚integrativen‘ Sekundarschulen beziehen keinen gymnasialen Bildungsgang ein. 3Eine Zusammenfassung der zentralen Ergebnisse des SNF-Projekts findet sich im Abschlussbericht (vgl. Wagner-Willi et al. 2018).

4.1  Formale Charakterisierung des Projektkontextes …

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Im Rahmen des vorliegenden Dissertationsprojekts wurde das Sampling der SNF-Studie (s. Abschnitt 4.1) in der Vergleichsdimension Fachunterricht um das Unterrichtsfach Kunst erweitert. Der Kunstunterricht erschien i.S. einer auf minimale und maximale Kontrastierung ausgerichteten und ebenfalls zunächst Common-Sense- und gegenstandstheoretisch begründeten Suchstrategie für die Beantwortung der Frage nach fachkulturell geprägten ‚Leistungslogiken‘ bzw. ‚leistungsbezogenen‘ Differenzkonstruktionen geeignet. So ziele der Kunstunterricht im Wesentlichen auf die Ermöglichung „ästhetischer Erfahrungsprozesse“ (Kirchner/Otto 1998, S. 1) sowie auf das Schulen ästhetischer Urteilsbildung (vgl. Kirschenmann/Otto 1998, S. 103) und befinde sich im Vergleich zu anderen Fächern besonders stark im Spannungsfeld zwischen (ästhetisch-)subjektiver und dem Anspruch ‚objektiver‘ Beurteilung bzw. -bewertung (vgl. Peez 2009, S. 19). Zudem wird dem Fach auf formaler Ebene eine geringere Relevanz im Rahmen von Leistung und Selektion als den Fächern Deutsch und Mathematik beigemessen: So stellen letztere schultypübergreifend Pflichtfächer dar, während Schwerpunktbildungen im künstlerischen Bereich am Gymnasium (vgl. Art. 9 u. 11 MaturitätsAnerkennungsreglement) und an der Sekundarschule (vgl. EDK 2017) möglich sind – was jedoch in den einbezogenen Schulklassen nicht der Fall war. Der Kunstunterricht konnte jedoch nur in drei der vier einbezogenen Schulklassen erhoben werden, da die Unterrichtsvertretung in der gymnasialen Schulklasse 1 die Teilnahme am Forschungsprojekt letztlich ablehnte. In Tabelle 4.1 ist das Sample des SNF-Projekts mit der dissertationsspezifischen Erweiterung um das Fach Kunst dargestellt. Die kodierten Bezeichnungen der einzelnen Fälle setzen sich aus dem Anfangsbuchstaben des jeweiligen Fachs, der Abkürzung des Schultyps sowie der Nummerierung der Schulen zusammen.

Fachunterricht

Tabelle 4.1  Sample des SNF-Projekts mit den Vergleichsdimensionen Schulform und Fachunterricht sowie der dissertationsspezifischen Erweiterung um das Unterrichtsfach Kunst

Formale Organisaon der Sekundarstufe I

SAMPLE

2 Sekundarschulen mit ‚integraver‘ Programmak

2 Gymnasien ohne ‚integrave‘ Programmak

Mathemak

Klasse 1 M-InSek1

Klasse 2 M-InSek2

Klasse 3 M-Gym1

Klasse 4 M-Gym2

Deutsch

Klasse 1 D-InSek1

Klasse 2 D-InSek2

Klasse 3 D-Gym1

Klasse 4 D-Gym2

Kunst

Klasse 1 K-InSek1

Klasse 2 K-InSek2

Klasse 4 K-Gym2

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4  Design des empirischen Projekts

4.2 Das Schweizer Schulsystem mit Fokus auf die Sekundarstufe I Die Untersuchung wurde in Schulen in einer Stadt der deutschsprachigen Schweiz durchgeführt.4 Bevor jedoch die konkreten Schulen und Schulklassen beschrieben werden, soll kurz auf den formalen bildungssystemischen und -rechtlichen Kontext eingegangen werden. Der forschungsleitenden Fragestellung und dem Projektdesign entsprechend, wird dabei der Fokus auf die Sekundarstufe I als Teil der obligatorischen Schule gelegt. Das schweizerische Bildungssystem ist föderalistisch organisiert. Während die Verantwortung für die obligatorische Schule (Kindergarten, Primar- und Sekundarstufe I) von den Kantonen getragen wird, zeichnen für den nachobligatorischen Bereich (Sekundarstufe II und Tertiärbereich) Bund und Kantone gemeinsam verantwortlich. Insgesamt existieren 26 verschiedene Schulsysteme in der Schweiz (vgl. Schmid/Brusa 2012, S. 90). Der damit verbundenen großen Vielfalt von Lehrplänen und -mitteln wird seit 2007 mit der „Harmonisierung der obligatorischen Schule“ (HarmoS-Konkordat) begegnet, an der die Mehrheit der Kantone teilnimmt (sieben Kantone haben eine Teilnahme abgelehnt; vgl. EDK 2019a). Der Kanton, in dem die Untersuchung stattfand, zählt zu den teilnehmenden. Das HarmoS-Konkordat sieht eine obligatorische Schulzeit ab dem vollendeten vierten Lebensjahr vor. Sie umfasst die achtjährige Primarstufe (inkl. Kindergarten) sowie die dreijährige5 Sekundarstufe I. Letztere weist unterschiedliche Strukturmodelle auf, die sowohl inter- als auch intrakantonal differieren: Im „geteilten Modell“ werden die Schüler*innen nach Leistungsniveaus auf zwei bis vier Schultypen aufgeteilt und in separaten Klassen oder Schulen mit zum Teil unterschiedlichen Fächerangeboten, Lehrplänen und -mitteln unterrichtet. Dieses Modell ist das dominierende. Zusätzlich hat die Mehrheit der Kantone Schulen mit „kooperativem“ oder „integriertem Modell“ eingeführt (SKBF 2018, S. 83 f.). Im „kooperativen Modell“ sind die Schüler*innen auf leistungsdifferenzierte Stammklassen mit fächerspezifischen Niveaukursen aufgeteilt. Das „integrierte Modell“ führt Stammklassen ohne Leistungsselektion mit Niveaukursen in bestimmten Fächern. Grundlegend werden auf der Sekundarstufe I zwei

4Auf

genauere Angaben zum (geographischen) Standort der Schulen wird aus Gründen des Datenschutzes verzichtet. Deshalb werden im Folgenden auch keine kantonspezifischen Regelungen beschrieben. 5Eine Ausnahme bildet der Kanton Tessin mit einer vierjährigen Sekundarstufe I.

4.2  Das Schweizer Schulsystem mit Fokus auf die Sekundarstufe I

73

leistungsdifferenzierte Anforderungsprofile unterschieden: „Grundansprüche“ und „erweiterte Ansprüche“ (ebd.).6 Nach Angaben des Bundesamts für Statistik waren im Jahr 2016 von allen Schüler*innen des achten Schuljahrs 32 % einem Programm mit Grundansprüchen und 65,9 % einem Programm mit erweiterten Ansprüchen zugeordnet (vgl. BFS 2018b). Darüber hinaus wird im Rahmen des Sonderpädagogik-Konkordats aus dem Jahr 2007 von den sechzehn bisher beigetretenen Kantonen (vgl. EDK 2019b) die bevorzugte Integration von Kindern und Jugendlichen mit „Anspruch auf sonderpädagogische Massnahmen“ (Art. 3 Sonderpädagogik-Konkordat) bzw. mit „besonderem Bildungsbedarf“ (SKBF 2018, S. 42) gefordert. Das Konkordat beruft sich dabei u. a. auf das Behindertengleichstellungsgesetz (BehiG) aus dem Jahr 2002. Es unterscheidet zwischen einem „sonderpädagogischen Grundangebot“ 7 der Regel- und Sonderschulen und – falls das Grundangebot von den Schulen als unzureichend erachtet wird – „verstärkten Massnahmen“8 (Art. 4 u. 5 Sonderpädagogik-Konkordat). Grundlage für letztere ist die Ermittlung des „individuellen Bedarfs“ (ebd.) der betreffenden Schüler*innen mithilfe eines „standardisierten Abklärungsverfahrens (SAV)“ (EDK 2014). Dabei darf die abklärende Organisation nicht identisch mit der durchführenden sein (vgl. Art. 6 Sonderpädagogik-Konkordat). In einigen Kantonen erfolgt die Abklärung durch den Schulpsychologischen Dienst (SPD), so auch in dem Kanton, in dem die Erhebungen stattfanden. Die konkrete Ausgestaltung der sonderpädagogischen Programmatiken liegt ebenso in der Verantwortung der einzelnen Kantone (vgl. SKBF 2018, S. 42). Während laut Bildungsbericht 2018 noch keine schweizweiten Zahlen zur ‚integrativen‘ Beschulung vorliegen, ist der Anteil der Schüler*innen mit „besonderem Lehrplan (Sonderklassen- und schulen)“ (ebd.,

6Ausnahmen

bilden einige Privatschulen, die diese Profilunterscheidung nicht vornehmen (vgl. SKBF 2018, S. 84). 7Darin sind enthalten: „(a.) Beratung und Unterstützung, heilpädagogische Früherziehung, Logopädie und Psychomotorik, (b.) sonderpädagogische Massnahmen in einer Regelschule oder in einer Sonderschule, sowie (c.) die Betreuung in Tagesstrukturen oder die stationäre Unterbringung in einer sonderpädagogischen Einrichtung“ (Art. 4 Sonderpädagogik-Konkordat). Im Folgenden wird die schweizerdeutsche Schreibweise ­ („Massnahmen“) beibehalten. 8Diese zeichnen sich durch einzelne oder alle dieser Merkmale aus: „(a.) lange Dauer, (b.) hohe Intensität, (c.) hoher Spezialisierungsgrad der Fachpersonen sowie (d.) einschneidende Konsequenzen auf den Alltag, das soziale Umfeld oder den Lebenslauf des Kindes oder des Jugendlichen“ (Art. 5 ­Sonderpädagogik-Konkordat).

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4  Design des empirischen Projekts

S. 43) im Zeitraum 1999/2000–2015/2016 von ca. 5,1 % auf 3,4 % gesunken9 – mit deutlichen Unterschieden zwischen den Kantonen (vgl. ebd.). Von den (‚integrierten‘) Sekundarschulen ist das Gymnasium zu unterscheiden. Der Eintritt in das Gymnasium erfolgt entweder im Anschluss an die Primarstufe (sog. Langzeitgymnasium) oder nach dem zweiten oder dritten Schuljahr der Sekundarstufe I (sog. Kurzzeitgymnasium; vgl. ebd., S. 144). Die Aufnahmeverfahren differieren kantonal. Über die Zulassung wird i. d. R. entweder durch eine Abschluss- bzw. Aufnahmeprüfung entschieden oder aufgrund der bisherigen Schulnoten. Die Gymnasien können darüber hinaus Probezeiten von unterschiedlicher Dauer ansetzen, um vorläufige Zulassungsentscheide zu bestätigen bzw. zu revidieren (vgl. ebd., S. 145). Insgesamt beträgt die Schulzeit bis zur gymnasialen Matura10 mindestens zwölf Jahre (ohne Kindergarten). Mit der gymnasialen Matura wird die Zugangsberechtigung zu den Hochschulen (Universität, Fachhochschule und Pädagogische Hochschule) erworben. 2016 lag die gymnasiale Maturitätsquote bei 21,2 % (vgl. BFS 2018a). Daneben kann durch den Besuch einer Fachmittelschule auf der Sekundarstufe II die Fachmaturität erworben werden, die für ein Studium an einer Fachhochschule oder Pädagogischen Hochschule berechtigt (vgl. SKBF 2018, S. 170 f.). Auf der formal geregelten bzw. programmatischen Ebene lässt sich ein Spannungsfeld von ‚Integration‘ bzw. ‚Inklusion‘ und dem hierarchisch nach Leistung gegliederten Bildungssystem feststellen, wie dies auch für andere auf Leistungsselektion ausgerichtete stratifizierte Bildungssysteme gilt (vgl. Blanck et al. 2013, S. 268 f.). Dabei steht das Gymnasium mit seiner ‚exklusiven‘ Mitgliedschaftsregel, die sich nur an die ‚leistungsstärksten‘ Schüler*innen richtet, als maximaler Kontrast zu den ‚integrativen‘ Sekundarschulklassen, die jene Schüler*innen zulassen, welche den Leistungsanforderungen der Sekundarschulen und ihren Anspruchsprofilen nicht entsprechen. Aufgrund dieses Maximalkontrasts auf formaler Ebene wurden diese beiden Schultypen im Rahmen einer Suchstrategie in die empirische Untersuchung einbezogen.

9In

dem Bericht wird einschränkend darauf hingewiesen, dass die Statistik keine Aussage über eine tatsächliche Zu- oder Abnahme der Sonderbeschulung zulässt, was mit einer „Neudefinition der Kategorien“ (SKBF 2018, S. 43) im Bereich der Sonderpädagogik erklärt wird. 10Die Matura ist vergleichbar mit dem Abitur in Deutschland.

4.3  Formale Charakterisierung der einbezogenen Schulklassen

75

4.3 Formale Charakterisierung der einbezogenen Schulklassen Der Zugang zu den einbezogenen Schulen erfolgte mit Unterstützung der kantonalen Schulbehörde und/oder über die direkte Kontaktaufnahme mit den jeweiligen Schulleitungen. Die Schulleitungen organisierten wiederum den Kontakt mit den jeweiligen Lehrkräften, die an dem Forschungsprojekt teilnahmen. Im Folgenden werden die zwei ‚integrativen‘ Sekundarschulklassen und die zwei gymnasialen Klassen (in dieser Reihenfolge) inkl. ihrer fachspezifischen Besonderheiten (Mathematik, Deutsch und Kunst) näher beschrieben. Die Schulklasse der ‚integrativen‘ Sekundarschule 1 (InSek1) integriert den Bildungsgang mit „Grundansprüchen“ und denjenigen mit „erweiterten Ansprüchen“. Darüber hinaus wird vier von den insgesamt siebzehn Schüler*innen ein „besonderer Bildungsbedarf“ zugeschrieben. Bei zwei Schülerinnen betrifft dies nur bestimmte Fächer (darunter Deutsch und Mathematik), während zwei Schüler „verstärkte Massnahmen“ (s. Abschnitt 4.2) erhalten. Im vorliegenden Fall stellen diese v. a. eine sog. heilpädagogische Förderung bzw. Unterstützung dar. Darüber hinaus zeichnen sich der Deutschund der Mathematikunterricht durch eine Epochenstruktur aus, worin ein Alleinstellungsmerkmal innerhalb des Samples besteht. Der Fachunterricht findet jeweils in zweiwöchigen Epochen statt, die mit einer thematischen Einführung beginnen, auf welche die Arbeit an „Wochenplänen“ folgt. Die Wochenpläne werden i. d. R. im Umfang („Grund“- und „erweiterte Ansprüche“) sowie im Leistungsniveau (Schüler*innen ohne und mit „besonderem Bildungsbedarf“ bzw. „verstärkten Massnahmen“) differenziert. Die Epochen enden jeweils mit einer Prüfung. Während der „Input“ vorwiegend durch die jeweilige Fachlehrkraft durchgeführt wird, sind in den anderen beiden Phasen z. T. auch fachfremde Lehrkräfte anwesend.11 Das Klassenteam im Deutsch- und Mathematikunterricht besteht aus den Fachlehrkräften sowie zwei Schulischen Heilpädagoginnen (äquivalent zur Rolle der Sonderpädagogin in Deutschland), von denen

11So

wurde bspw. beobachtet, dass der Mathematiklehrer während der Wochenplanarbeit die formale Erledigung einer Aufgabe des Deutschunterrichts im Wochenplan eines Schülers abzeichnete oder auch ein Deutschdiktat durchführte. Hier deutet sich gewissermaßen das an, was im aktuellen schulpädagogischen Diskurs als ‚Aufweichung‘ des „Fachlehrerprinzips“ (Kiel/Weiß 2016, S. 285) und als Tendenz zur „Entfachlichung“ in Bezug auf den „individualisierten Unterricht“ (Rabenstein et al. 2015, S. 251) diskutiert wird.

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4  Design des empirischen Projekts

i. d. R. eine im Unterricht anwesend ist. Zum Zeitpunkt der ersten Erhebungsphase12 (Herbst/Winter 2013) hatte das Klassenteam im laufenden Schuljahr mit der integrativen Unterrichtsform begonnen. Aufgrund des zeitlich späteren Beginns des SNF-Projekts (November 2014) und der damit verbundenen später beginnenden Planungsphase des Dissertationsprojekts konnte der Kunstunterricht erst im Frühjahr 2015 erhoben werden, als die Schüler*innen der Klasse InSek1 bereits im letzten Schuljahr der Sekundarstufe I waren, wodurch die Vergleichbarkeit teilweise eingeschränkt ist. Weiterhin unterscheidet sich der Kunstunterricht formal vom Deutsch- und Mathematikunterricht dahingehend, dass zum einen der Klassenverband aufgelöst ist und Schüler*innen aus zwei geteilten Parallelklassen gemeinsam unterrichtet werden. Aus der Klasse InSek1 sind es vier Schüler*innen, aus der Parallelklasse neun. Eine der teilnehmenden Schüler*innen (InSek1) weist einen „besonderen Bildungsbedarf“ auf, jedoch ohne verordnete „verstärkte Massnahmen“. Schulische Heilpädagog*innen waren während des videographierten Kunstunterrichts nicht anwesend. Zum anderen gilt hier nicht das Epochen- bzw. Wochenplankonzept. Stattdessen findet der Unterricht einmal wöchentlich als Doppelstunde à 45 Minuten statt. Die Schulklasse der ‚integrativen‘ Sekundarschule 2 (InSek2) gehört als einzige Klasse des Samples dem siebten (bzw. neunten) Jahrgang an. Dies steht im Zusammenhang mit einer auf die Umstrukturierung der Schulstufen abzielenden Schulreform im Kontext des HarmoS-Konkordats, die in den Erhebungszeitraum fiel. Alle Schulklassen sind jedoch ‚erste‘ Klassen der einbezogenen Schulformen, so dass eine Vergleichbarkeit gegeben ist (mit Ausnahme des später erhobenen Kunstunterrichts in InSek1). Zu der Klasse zählen siebzehn Schüler*innen, von denen vierzehn Schüler*innen dem Bildungsgang mit „erweiterten Ansprüchen“ angehören. Drei Schüler*innen wird ein „besonderer Bildungsbedarf“ attestiert. Das Klassenteam dieser Schulklasse besteht aus den Fachlehrkräften, zwei Schulischen Heilpädagoginnen sowie einem Praktikanten, der mit der Begleitung und Unterstützung eines Schülers mit der Diagnose „Autismus“ betraut ist. Eine der beiden Heilpädagoginnen ist immer im Unterricht anwesend. Sie verfügt zudem über einen eigenen Unterrichtsraum, in dem die Schüler*innen mit „besonderem Bildungsbedarf“ regelmäßig im Fach Mathematik und gelegentlich in anderen Fächern separat unterrichtet werden. Eine erwähnenswert erscheinende Besonderheit des Kunstunterrichts stellt

12Dies

betrifft die Erhebung im Deutsch- und Mathematikunterricht im Rahmen einer aus Mitteln der Pädagogischen Hochschule der Fachhochschule Nordwestschweiz finanzierten Vorstudie, die in dem Sample berücksichtigt worden ist.

4.3  Formale Charakterisierung der einbezogenen Schulklassen

77

der Abbruch der Erhebungsphase dar. So wurde die vereinbarte abschließende Erhebung, welche die Rückgabe einer benoteten Arbeit an die Schüler*innen umfassen sollte, auf unbestimmte Zeit verschoben mit der etwas vage formulierten Begründung des Lehrers, dass es zum aktuellen Zeitpunkt „nicht gut“ und „zu verfrüht“ sei. E-Mails unsererseits zur Absprache eines alternativen Erhebungstermins wurden nicht mehr beantwortet. Zum Zeitpunkt der Erhebung (Anfang des Jahres 2017) bestand die Schulklasse seit ca. fünf Monaten. Der Fachunterricht wird in Einzel- oder Doppeleinheiten à 45 Minuten erteilt. Die Schulklasse des Gymnasiums 1 (Gym1) zeichnet sich durch ein ­sprachlich-philosophisches Profil aus. Das Gymnasium 1 verfolgt kein explizit ‚integratives‘ Konzept und stellt formal einen hohen Leistungsanspruch an alle Schüler*innen. In die Schulklasse gehen neunzehn Schüler*innen. Zum Zeitpunkt der Erhebung (Herbst 2015) bestand die Klasse seit ca. zwei Monaten. Der Unterricht wird i. d. R. in 45-Minuten-Einheiten, häufig in Form von Doppelstunden, von der jeweiligen Fachlehrkraft durchgeführt. Die Anwesenheit mehrerer Lehrkräfte ist hier nicht üblich. Dies gilt für den gymnasialen Unterricht innerhalb des Samples insgesamt. Für einen Schüler in der Schulklasse des Gymnasiums 1 erhielten wir von den Eltern bzw. den Erziehungsberechtigten keine Genehmigung für die Videoaufzeichnungen (sowie die Teilnahme an den Gruppendiskussionen). In Absprache mit den Lehrkräften setzte sich der Schüler an einen Tisch außerhalb der Aufnahmewinkel der Kameras, so dass er weiterhin am Unterricht teilnehmen konnte. Die Schulklasse des Gymnasiums 2 (Gym2) zeichnet sich durch einen mathematisch-naturwissenschaftlichen Schwerpunkt aus. Sie besteht aus sechzehn Schüler*innen. Zum ersten Erhebungszeitpunkt (Frühjahr 2016) besteht die Klasse bereits ca. acht Monate, wobei zu diesem Zeitpunkt bereits einige Schüler*innen ‚abgeschult‘ worden waren. Der Unterricht wird i. d. R. in 45-Minuten-Einheiten – im Kunstunterricht sind es Doppeleinheiten – von der jeweiligen Fachlehrkraft durchgeführt. Eine weitere Besonderheit stellt die vergleichsweise hohe Anzahl von Schüler*innen (insgesamt fünf) dar, von deren Eltern bzw. Erziehungsberechtigten keine Genehmigungen für die Videoaufzeichnungen (sowie die Gruppendiskussionen) vorlagen. In Absprache mit der Lehrerin setzten sich diese Schüler*innen während der videographischen Erhebung gemeinsam an Tische außerhalb der Aufnahmewinkel der beiden Kameras, so dass sie weiterhin am Unterricht teilnehmen konnten. Mit dem Umsetzen der Schüler*innen gingen zum Teil größere Eingriffe in die ‚natürliche Ordnung‘ der Schulklasse bzw. des Unterrichts einher, da übliche Peerkonstellationen vorübergehend (während der Erhebung) räumlich aufgebrochen wurden.

78

4  Design des empirischen Projekts

4.4 Zur Durchführung der Videographie im Fachunterricht Die Datenerhebung fand über einen Zeitraum von insgesamt vier Jahren statt (Vorstudie: 2013; Erhebungen im Rahmen des SNF-Projekts: 2015–2017). Der Erhebung gingen jeweils Treffen mit den Lehrkräften voraus, in denen wir uns als Projektteam sowie das Thema und den Ablauf des Projekts vorstellten und die Erhebungstermine vereinbarten. In zwei Fällen, dem Kunstunterricht der integrativen Sekundarschulklasse 1 (K-InSek1) und des Gymnasiums 2 (K-Gym2), erfolgte die Kontaktaufnahme mit den Kunstlehrer*innen nach bzw. während der Erhebungsphase im Mathematik- und Deutschunterricht. Dies hatte den Grund, dass der Kunstunterricht als dissertationsspezifische Erweiterung nicht offiziell Teil des SNF-Projekts war und wir die Lehrkräfte nicht zu Beginn ihrer Teilnahme mit weiteren Erhebungsanfragen konfrontieren bzw. ‚abschrecken‘ wollten. Wir erhofften uns hingegen, dass eine mit fortgeschrittenem Feldaufenthalt verbundene Vertrauensbildung zu einer größeren Bereitschaft der Lehrkräfte führen würde, sich auf weitere Erhebungen einzulassen. In drei Fällen des Kunstunterrichts gelang dies nahezu problemlos. Beispielsweise vermittelte der Deutschlehrer der Klasse Gym2, der zugleich Klassenlehrer war, den Kontakt mit der Kunstlehrerin, die sich sofort bereiterklärte, an dem Projekt teilzunehmen. Die Terminabsprache für die Erhebungen in ihrem Unterricht erfolgte noch vor dem ersten persönlichen Treffen per E-Mail. Der Auszug aus dem ethnographischen Protokoll gibt einen Einblick in die Vorbesprechung zwischen der Kunstlehrerin, meiner Kollegin, Anika Elseberg, und mir: Anika und ich hatten uns mit der Kunstlehrerin gegen 13:30 Uhr im Gymnasium verabredet. Einen genauen Treffpunkt hatte sie uns nicht mitgeteilt, weshalb wir zunächst zu dem Unterrichtsraum gehen, in dem der Unterricht stattfinden soll. Nachdem wir dort vor verschlossener Tür stehen, begeben wir uns auf den Weg zum Lehrer*innenzimmer und fragen nach Frau Grütter13. Sie ist nicht im Lehrer*innenzimmer, und wir werden wieder zurück zu demselben Unterrichtsraum geschickt. Erneut dort angekommen, warten wir eine Weile, bis die Kunstlehrerin schließlich den Gang entlang gehend auf uns zukommt und uns freundlich begrüßt. Wir betreten gemeinsam den Raum und nehmen an einem der vier Gruppentische Platz. Wir bedanken uns zunächst für ihre spontane

13Alle

Namen sind anonymisiert.

4.4  Zur Durchführung der Videographie im Fachunterricht

79

Bereitschaft, an dem Projekt teilzunehmen, stellen kurz das Gesamt- sowie das Teilprojekt (mein Dissertationsvorhaben) vor und reichen ihr ein Exemplar des Elternbriefs (als Ersatz für die Projektbeschreibung), den sie sich kurz durchliest. (…) Die Lehrerin beschreibt die Klasse als „wild, aber toll“. Sie selbst sei erst seit vergangenem Sommer als Kunstlehrerin tätig, es sei ihre Zweitausbildung. Dann fragt sie, ob wir auch auf der Primarstufe erheben, was wir verneinen. Im Anschluss überlegen wir gemeinsam mögliche Kamerapositionierungen, mit dem Hinweis, dass fünf Schüler*innen nicht aufgenommen werden dürfen. Die Lehrerin erklärt uns, dass die Schüler*innen feste Sitzordnungen haben: An einem der Gruppentische an der Fensterseite sitzen immer ca. acht Schüler, an einem weiteren ca. vier Schüler und an einem der Tische an der Wandseite die vier Schülerinnen. Der vierte Tisch an der Wandseite bleibt normalerweise unbesetzt. Ihre Idee ist es, die Schüler*innen, die nicht gefilmt werden dürfen, während der Erhebung vollständig an der Wandseite sitzen zu lassen und die übrigen Schüler*innen an der Fensterseite. Weiterhin erklärt uns die Lehrerin die Themen der folgenden Unterrichtseinheiten: Sie wird in ein neues Thema einleiten, in dem es um „Schraffuren“ geht. Parallel dazu werden die Schüler*innen an einem fachübergreifenden Projekt (Kunst und Informatik) arbeiten. Die Aufgabe ist, sich vorzustellen, eines Morgens aufzuwachen und „Superkräfte“ zu haben. Die Schüler*innen sollen im Informatikunterricht Bilder dazu erstellen, die sie dann im Kunstunterricht verändern sollen („Bildmontagen“). Während des Gesprächs öffnet eine Schülerin die Tür. Sie begrüßt uns freundlich und wird dann von der Lehrerin, die sich mit uns auf Standarddeutsch14 unterhält, auf Schweizerdeutsch gebeten, draußen zu warten. Nach unserem Gespräch schaltet die Lehrerin den Beamer ein und verlässt anschließend den Raum. Wir setzen uns an den Tisch, der normalerweise unbesetzt bleibt, und warten auf den Unterrichtsbeginn. Die im Forschungsplan formulierte Idee, unterschiedliche Phasen einer Unterrichtseinheit (Einstieg, Erarbeitung und Abschluss) sowie verschiedene Sozialformen (lehrer*innengelenktes Unterrichtsgespräch, Einzelarbeit, Gruppenarbeit etc.) miteinander zu vergleichen, war leitend für die videographische Erhebung (vgl. Pauli/Reusser 2003). Im Laufe des Forschungsprozesses stellte sich jedoch heraus, dass die Phasen nicht immer eindeutig voneinander abzugrenzen waren. Vielmehr zeigten sich Überschneidungen zwischen den Phasen. Weiterhin war

14In

der vorliegenden Arbeit wird der Begriff ‚Standarddeutsch‘ verwendet, um eine Hierarchisierung, die der Begriff ‚Hochdeutsch‘ impliziert, zu vermeiden. ‚Standarddeutsch‘ entspricht auch dem in der Schweiz gebräuchlichen Begriff ‚Schriftdeutsch‘.

80

4  Design des empirischen Projekts

vorgesehen, Situationen der formalen Leistungsrückmeldung (z. B. Testrückgaben oder die Mitteilung der mündlichen Note) zu videographieren. Dies konnte jedoch nicht für alle Fälle realisiert werden (s. o.). Pro Fach und Klasse wurden durchschnittlich vier bis fünf Unterrichtsstunden aufgezeichnet. Der videographischen Erhebung ging jeweils eine Vorstellung des Projekts vor der Klasse, bei der wir auch Fragen der Schüler*innen zur Erhebung und Auswertung beantworteten, sowie eine teilnehmende Beobachtung des Fachunterrichts voraus. Beides hatte den Zweck der Vertrauensbildung im Feld und der ersten Sondierung der sozialen Konstellationen und räumlich-akustischen wie technischen Bedingungen, um die Kamerastandorte und die Platzierung externer Mikrofone zu bestimmen (vgl. Corsaro 1982; Huhn et al. 2000). Der folgende Auszug aus dem Protokoll der teilnehmenden Beobachtung des Kunstunterrichts des zweiten Gymnasiums (K-Gym2), die unmittelbar an die Vorbesprechung mit der Lehrerin (s. o.) anschloss, soll einen Einblick vermitteln: Etwa zehn Minuten vor Unterrichtsbeginn betreten die ersten Schüler*innen den Raum. Sie schauen mich neugierig und teilweise überrascht an. Ein Schüler sagt „Hallo“. Ein weiterer sagt an mich gerichtet: „Sie kommen doch von …“, worauf ich erwidere, dass wir von der Pädagogischen Hochschule kommen und schon mal im Februar da waren. Die Schüler verteilen sich, wie von der Lehrerin in der Vorbesprechung angekündigt, auf die beiden Gruppentische an der Fensterseite. Die vier Schülerinnen der Klasse setzen sich zusammen an den vorderen Gruppentisch an der gegenüberliegenden Wandseite. Die Lehrerin kommt anschließend wieder in den Raum zurück und teilt selbstgemalte Bilder der Schüler*innen sowie ein Bewertungsraster mit einer Note aus. Einige Schüler kommentieren daraufhin laut ihre Note („Was, eine 4,5?“) 15, woraufhin sich teilweise aufgeregte Interaktionen zwischen den Schülern entspannen. Viele vergleichen ihre Noten miteinander („Was hast du?“). Einige Schüler sprechen die Lehrerin direkt an und erkundigen sich nach dem Zustandekommen der Note. Die Schülerinnen scheinen auch ihre Noten untereinander zu vergleichen, tun dies aber in gemäßigter Lautstärke. Eine Schülerin geht zu einem Schüler und fragt ihn, welche Note er hat. (…) Als die Lehrerin sich kurz vor dem offiziellen Beginn der Lektion vor den Lehrer*innentisch stellt, gehen wir zu ihr, um die Klasse zu begrüßen und uns noch einmal kurz vorzustellen. Auf die Minute genau eröffnet die Lehrerin den Unterricht und übernimmt unsere namentliche und institutionelle Vorstellung. Daraufhin begrüßen wir die Schüler*innen,

15Die

Note 6 ist die beste Note im Schweizer Schulsystem, die Note 1 die schlechteste. Die Note 4 ist genügend. Es sind auch halbe Noten zugelassen, z. B. 4,5.

4.4  Zur Durchführung der Videographie im Fachunterricht

81

erwähnen unseren letzten Besuch im Februar und erklären, dass wir heute auch den Kunstunterricht als Teil meines Dissertationsprojekts beobachten und in den kommenden zwei Wochen – neben dem Mathematik- und dem Deutschunterricht – filmen würden. Nachdem wir die Schüler*innen fragen, ob sie noch Fragen haben, meldet sich ein Schüler und sagt an die Lehrerin gewandt: „Ich muss was reklamieren. Ich fühle mich ungerecht behandelt.“ Daraufhin bricht großes Gelächter unter den Schüler*innen aus. Die Lehrerin sagt, dass sie den Schüler*innen ein „Kompliment“ machen muss für die große Vielfalt der gemalten Bilder. Es gäbe jedoch eine „Genderfrage“. „Die Herren greifen auf symmetrische Kompositionen zurück.“ An die Schüler gewandt sagt sie weiter, dass Kompositionen dann „spannend“ sind, wenn sie nicht symmetrisch sind. Was „Farbe und Bildstimmung“ angeht, habe sie sich außerdem „mehr effort“ gewünscht, um die „Dramatik zu erhöhen“ und „die Stimmung darzustellen“. Ein Schüler fragt, ob sie „noch mal bei ihm schauen“ kann, woraufhin die Lehrerin auf den späteren Verlauf der Stunde verweist. (…) Bei der Videographie wurden gemäß einem bewährten Vorgehen zwei Camcorder eingesetzt, die in ergänzender Perspektive die Interaktionen der Lehrkräfte und der Schüler*innen aufzeichneten (vgl. Dinkelaker/Herrle 2009, S. 25; Asbrand/Martens 2018, S. 158 ff.), in dem Wissen, dass niemals alles in den Blick geraten kann (vgl. Baltruschat 2015, S. 267). Beide Kameras wurden an fixen Standorten – wenn möglich in den Raumdiagonalen – positioniert, die situativ, z. B. bei markanten Positionswechseln der Akteur*innen vor der Kamera, korrigierbar waren. Dies wurde insbesondere in räumlich getrennten, gleichzeitig stattfindenden Unterrichtssituationen relevant, wie sie sich häufiger in den Schulen mit ‚integrativer‘ Programmatik ereigneten. Bei der Aufnahme wurde i. d. R. eine totale Einstellungsgröße gewählt, um die teils weiträumigen und/ oder parallel stattfindenden Interaktionen zu erfassen. Aus diesem Grund wurde auf Zoom möglichst verzichtet. Zudem enthält der Kamerazoom, wie Frers (2009, S. 159) betont, ein ‚entwürdigendes‘ Moment, da sich die Beobachteten hierzu nicht verhalten können. In projektinternen Nachbesprechungen der ersten Videoaufzeichnungen je Klasse und Fachunterricht wurden außerdem notwendige Korrekturen der Kameraeinstellung (Perspektive, Kadrierung) und -führung für die nachfolgenden Aufnahmen festgelegt (vgl. Huhn et al. 2000). Während der Videographie wurden Videoprotokolle erstellt, um Ereignisse und Interaktionen, die außerhalb des Aufnahmewinkels stattfanden, systematisch zu erfassen. Weiterhin wurde die jeweilige Fachlehrkraft mit einem Funkmikrofon ausgestattet. Zudem wurden ein Stereomikrofon eingesetzt und situativ – mit dem Einverständnis der Schüler*innen – Diktiergeräte auf einzelnen Tischen verteilt (v. a. bei Gruppenarbeiten). Indem wir für die Erhebung in der

82

4  Design des empirischen Projekts

‚integrativen‘ Schulklasse 1 nur die Fachlehrkräfte, aber nicht die häufig gleichzeitig anwesenden Schulischen Heilpädagoginnen mit Mikrofonen ausstatteten, (re-)produzierten wir ein bestimmtes Verständnis von Unterricht, das dem hier praktizierten Unterricht entgegenstand. Aufgrund dieser Reflexion statteten wir in der zweiten ‚integrativen‘ Schulklasse auch die Vertreter*innen der Schulischen Heilpädagogik mit Mikrofonen aus.

4.5 Zur Durchführung der Auswertung der Unterrichtsvideographien Die Auswertung der videographischen Daten mithilfe der Methode der Dokumentarischen Videointerpretation (s. Abschnitt 3.3) erfolgte in mehreren Arbeitsschritten. Sie beziehen sich im Wesentlichen auf das von Bohnsack (2009, S. 176) vorgeschlagene Vorgehen, das von Fritzsche und Wagner-Willi (2015) für die Analyse von Unterrichtsvideographien angepasst wurde. Daran anknüpfend wurden gewisse Modifizierungen vorgenommen (vgl. auch ­ Wagener/WagnerWilli 2017). Im Folgenden werden die konkreten Auswertungsschritte in der Reihenfolge ihrer Durchführung im Überblick dargestellt. Um Redundanzen zu vermeiden, sei für Erläuterungen der Terminologie sowie der allgemeinen methodologischen Prinzipien der Formulierenden und der Reflektierenden Interpretation auf Abschnitt 3.3 verwiesen. Ergänzende Erläuterungen zu den einzelnen Schritten der Auswertung erfolgen nach der Übersicht. 1. Handlungs- und Interaktionsverlauf der videographierten Daten auf der Ebene von operativen Handlungen (korporierte Dimension) und Themen (verbale Dimension) 2. Auswahl einer Sequenz für eine detaillierte Interpretation anhand von „Fokussierungsakten“ (Nentwig-Gesemann 2006, S. 28) und thematischer Relevanz 3. Identifizierung und Benennung von Haupt-, Unter- und Parallelsequenzen 4. Auswahl eines Fotogramms oder mehrerer kontrastierender Fotogramme aus dieser Sequenz nach den Kriterien der Repräsentativität und Fokussierung 5. Fotogrammanalyse (simultane Performanz) 5.1 Formulierende Interpretation Vor-ikonografische und ikonografische Interpretation 5.2 Reflektierende Interpretation Ikonologisch-ikonische Interpretation der Gestaltungsleistungen der abbildenden Bildproduzent*innen (Kadrierung, Einstellungsgröße,

4.5  Zur Durchführung der Auswertung der Unterrichtsvideographien

83

Perspektivität), der abgebildeten Bildproduzent*innen und in ihrer Relation zueinander 6. Sequenzanalyse (sequentielle Performanz ausgewählter Haupt-, Unter- und Parallelsequenzen) 6.1 Formulierende Interpretation Erstellen eines Videotranskripts: Integration von Verbaltranskript und ­vor-/ikonografischer Beschreibung der korporierten Praktiken 6.2 Reflektierende Interpretation Interpretation des ‚Wie‘ der interaktiven Bezugnahme sowie der formalen Interaktionsorganisation 7. Integrierende Gesamtinterpretation Wie erwähnt, erfolgen die nachfolgenden Konkretisierungen der dargestellten Arbeitsschritte in Ergänzung zu der Darstellung der ­methodologisch-methodischen Prinzipien der formulierenden und reflektierenden Interpretation im Rahmen der Dokumentarischen Videointerpretation in Abschnitt 3.3: • Die Auswahl von Sequenzen nach thematischer Relevanz bzw. Erkenntnisinteresse (2.) erfolgte z. B. mit Blick auf Bewertungen von Schüler*innenaktivitäten bzw. -produkten. Es wurden aber auch solche Sequenzen ausgewählt, in denen es explizit nicht um Bewertungen ging, um auf diese Weise dem Prinzip der Kontrastierung Rechnung zu tragen. Zudem wurden Sequenzen ausgewählt, die unterschiedliche Sozialformen wie Frontalunterricht, Einzel- oder Gruppenarbeiten repräsentieren, um eine möglichst große Varianz von Unterrichtssituationen zu erfassen und diese auf Homologien und Differenzen bezüglich der Orientierungen der Akteur*innen hin zu untersuchen. Wie in Abschnitt 3.3 erläutert, hat für die Auswahl von Sequenzen über das thematische Kriterium hinaus dasjenige der Fokussierung besondere Relevanz. Je Fachunterricht wurden zwei bis vier Sequenzen von unterschiedlicher Länge einer Detailanalyse entlang der oben aufgeführten Schritte unterzogen. Für die Analyse ist jedoch nicht die Anzahl der Sequenzen ausschlaggebend, sondern die empirische ‚Sättigung‘ des rekonstruierten Orientierungsrahmens. • Eine Sequenz umfasste i. d. R. mehrere Hauptsequenzen (HS) bzw. Untersequenzen (US) (3.). Untersequenzen stellen sinnhafte Untereinheiten innerhalb einer (Haupt-) Sequenz dar. Darüber hinaus fanden sich im Datenmaterial Parallelsequenzen (PS) und parallele Untersequenzen (pUS). Unter einer Parallelsequenz ist eine (Haupt-) Sequenz zu verstehen, die in keinem unmittelbaren Interaktionszusammenhang mit einer sich simultan

84

4  Design des empirischen Projekts

bzw. synchron vollziehenden anderen Hauptsequenz steht. Eine parallele Untersequenz stellt hingegen eine Untersequenz dar, die zwar auf den übergeordneten Sinnzusammenhang auf der Ebene der Hauptsequenz verweist, jedoch mehr oder weniger unverbunden zu weiteren Untersequenzen steht. Ein Beispiel für parallel stattfindende Untersequenzen sind Interaktionen in verschiedenen Schüler*innengruppen, die sich im Rahmen einer an alle Schüler*innen gerichteten Gruppenarbeit simultan bzw. synchron vollziehen. • Die Fotogrammanalyse (5.) erfolgte immer vor der Sequenzanalyse (6.), um möglichst wenig (text-)sequentielles Vorwissen an die Bildebene heranzutragen und so den Zugang zur Selbstreferentialität des Bildes methodisch zu kontrollieren (vgl. Bohnsack 2009, S. 172 ff.). Zudem wurde durch die Vorlagerung der Fotogrammanalyse und die Rekonstruktion der Gestaltungsleistungen der Abbildenden versucht, die Selektivität bzw. Standortgebundenheit der Aufnahme quasi ‚rauszurechnen‘. • Der methodischen Kontrolle der eigenen Standortgebundenheit diente jedoch v. a. die komparative Analyse, die sowohl im Zuge der Fotogramm- als auch der Sequenzanalyse durchgeführt wurde, um die jeweils spezifischen Interaktionsstrukturen und Orientierungsrahmen der herangezogenen empirischen Fälle zu rekonstruieren (s. auch Abschnitt 3.1 und 3.3). • Im Rahmen der Sequenzanalyse (6.) wurden systematisch einzelne Interaktionszusammenhänge fokussiert und andere ausgeblendet. Da Unterricht i. d. R. aus einer Vielzahl von gleichzeitig stattfindenden Handlungen und Interaktionen besteht, ist deren vollständige Analyse forschungsökonomisch kaum realisierbar. Hierbei kam der Fotogrammanalyse eine besondere Bedeutung zu: Durch die Rekonstruktion der Simultanstruktur der Fotogramme, die zumeist aufgrund der Totaleinstellung der Kamera einen Großteil des Unterrichtsraums erfassten, konnten umfassende implizite Zusammenhänge sichtbar gemacht werden, die mit den systematisch fokussierten Interaktionszusammenhängen in der Sequenzanalyse relationiert und auf Homologien (und Differenzen) hin befragt wurden. So konnte der hohen Komplexität der Interaktionsstruktur des Unterrichts Rechnung getragen werden. • Ausgangspunkt der Sequenzanalyse war jeweils die feinsequentielle Beschreibung der korporierten Anteile der Sequenz unter Berücksichtigung der verbal-sprachlichen Elemente. Wie in Abschnitt 3.3 dargelegt wurde, finden sich im Kontext der Dokumentarischen Methode unterschiedliche Darstellungsweisen von verbalsprachlicher und korporierter Ebene. In der vorliegenden Arbeit wurde sich für eine Darstellungsweise entschieden, die als übersichtlich und nachvollziehbar erschien. Diese wird als Videotranskript bezeichnet (6.1). Es wird darunter die Integration von Verbaltranskript und

4.5  Zur Durchführung der Auswertung der Unterrichtsvideographien

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vor-ikonografischer Beschreibung der korporierten Praktiken auf der Ebene operativer Handlungen und von Gesten gefasst. Zudem erfolgt die Berücksichtigung der ikonographischen Ebene durch die Identifizierung und Integration von Personen (Namen) bzw. institutionalisierter Objekte/Gegenstände (Tafel, Lehrer*innenpult). Die Transkription der verbalsprachlichen Interaktionsanteile, die zum erleichterten Nachvollzug durch einen Wechsel der Schriftart kenntlich gemacht werden, basiert auf den Regeln des „­TiQ“-Systems („Talk in Qualitative Research“; Bohnsack 2010, S. 236; s. Anhang A). Dabei wird jeweils die schweizerdeutsche Schreibweise berücksichtigt (z. B. ‚ss‘ statt ‚ß‘) – auch dort, wo Standarddeutsch bzw. keine Mundart gesprochen wird –, um eine zu starke ‚Nostrifizierung‘ zu vermeiden. Es werden zwei Videotranskriptformate unterschieden: Ist die Interaktion verbalsprachlich dominiert, so folgt auch die Erstellung des Videotranskripts dieser Dominanz. Dort, wo es zu deutlichen Veränderungen auf der korporierten Ebene kommt, werden jene Anteile in das Transkript integriert. Zeichnet sich hingegen die Interaktion durch eine hohe Dichte auf korporierter Ebene aus, so folgt auch das Videotranskript der korporierten Dominanz. Die verbalsprachlichen Anteile werden dann in die vor-ikonografische Beschreibung der korporierten Ebene integriert. Wird mehr als eine Kameraperspektive einbezogen (in der vorliegenden Untersuchung maximal zwei), wird die vor-ikonografische Beschreibung, die auf der zweiten, zumeist ergänzenden Perspektive basiert, kursiv dargestellt. Beispiele für beide Varianten finden sich in Kapitel 5 sowie in Wagener und Wagner-Willi (2017).16 • Weiterhin wurden zum Schutz der personenbezogenen Daten die Namen aller Akteur*innen vor der Kamera sowie die von ihnen erwähnten und in den Videos erfassten Orte und Eigennamen pseudonymisiert.17 Die Lehrer*innen und Schüler*innen erhielten andere Namen, die ihren Klarnamen in soziokultureller Hinsicht möglichst ähneln sollten. Im Rahmen von Veröffentlichungen werden zudem ihre Gesichter in den Fotogrammen unkenntlich gemacht (‚verpixelt‘), so auch in der vorliegenden Arbeit.

16Dies unterscheidet sich von der ebenfalls als „Videotranskript“ bezeichneten Partitur ähnlichen Darstellung von Bild- und Textebene (und ggf. musikalischer Ebene) bei Bohnsack (2009, S. 179 ff.) und Hampel (2010, S. 63). Während diese sich für die Darstellung von Video- und Filmdokumenten mit vergleichsweise geringer Interaktionsdichte eignet (vgl. ebd.), erweist sie sich für die Darstellung komplexerer Interaktionszusammenhänge, wie sie sich in den Unterrichtsvideographien abbilden, als eher unübersichtlich. Ein ähnliches Problem betrifft m. E. auch die Darstellungsweise des videographischen Materials auf der Ebene der formulierenden Interpretation bei Asbrand und Martens (2018, S. 239 ff.). 17Ausnahmen bilden die Forschenden selbst.

86

4  Design des empirischen Projekts

4.6 Realisiertes Sample Zunächst zu der Frage: Was ist der Fall? Ein Fall steht für jeweils ein Interaktionssystem, das die Interaktion der Lehrkraft (bzw. Lehrkräfte) und der Schüler*innen umfasst (s. auch Abschnitt 2.3). Die letztlich realisierte Fallauswahl erfolgte i.S. des „theoretical sampling“ (Glaser/Strauss 1967, S. 45 ff.), das sich an den Grundfragen: „what groups or subgroups does one turn to next in data collection? And for what theoretical purpose?“ (ebd., S. 47, Herv.i.O.), orientiert. Die Fälle wurden somit in einem zirkulären Prozess in Abhängigkeit von der Theoriebildung ausgewählt, die in der vorliegenden Arbeit in einer praxeologischen Typenbildung mündete (s. Kapitel 5). Im Zuge der empirischen Analyse stellte sich heraus, dass es sich in dem Fachunterricht in fast allen Schulklassen mit einer ‚integrativen‘ Programmatik um jeweils zwei Interaktionssysteme handelt: jenes, das maßgeblich die Interaktionen zwischen den Fachlehrkräften und den Schüler*innen ohne das Etikett „besonderer Bildungsbedarf“ bzw. „verstärkte Massnahmen“ (s. Abschnitt 4.2) – also den sog. Regel-Schüler*innen – betrifft, einerseits sowie jenes, das in der Interaktion der Schulischen Heilpädagog*innen (und in der Klasse InSek2 des Praktikanten) mit den Schüler*innen mit „besonderem Bildungsbedarf“ bzw. „verstärkten Massnahmen“ besteht, andererseits. Eine Ausnahme bildet der Fall K-InSek1 mit seiner von D-InSek1 (und auch M-InSek1) abweichenden Programmatik (s. Abschnitt 3.1). Dort findet sich nur ein Interaktionssystem. Es wurden insgesamt elf Fälle, d. h. Interaktionssysteme, detailliert in die Analyse einbezogen. Diese sind, wie gesagt, nicht notwendigerweise identisch mit den videographisch erhobenen S­ chulklasse-Fachunterrichts-Einheiten (wobei es sich im Fall von K-InSek1 nicht um eine Schulklasse i.e.S. handelt; s. Abschnitt 4.3). Von den insgesamt elf erhobenen ­ Schulklasse-Fachunterrichts-Einheiten im Rahmen der SNF-Studie einschließlich der dissertationsspezifischen Erweiterung um das Unterrichtsfach Kunst wurden in der vorliegenden Arbeit schließlich acht dieser Einheiten in der detaillierten Auswertung berücksichtigt (s. Tab. 4.1): vier aus den ‚integrativen‘ Sekundarschulen und vier aus den Gymnasien (schulformbezogene Vergleichsdimension). In der Vergleichsdimension des Fachunterrichts liegt der Schwerpunkt der Analyse auf dem Mathematik- und dem Kunstunterricht. Die Erweiterung des Samples der SNF-Studie um den Kunstunterricht im Rahmen des Dissertationsprojekts hat sich empirisch als geeigneter Kontrast in Bezug auf die Typenbildung erwiesen (s. Kapitel 5 und 6). Zudem wurde der Deutschunterricht der Klassen InSek1 und Gym1 als weitere empirische Vergleichshorizonte einbezogen, was für die Typenbildung ebenso ergiebig war (s. Kapitel 5 und 6).

4.6  Realisiertes Sample

87

Aus Gründen der übersichtlicheren Darstellung wird die beschriebene Ausdifferenzierung der Interaktionssysteme innerhalb der Schulklasse-FachunterrichtsEinheiten in den ‚integrativen‘ Schulklassen nicht in Tabelle 4.2 abgebildet. Über die elf Fälle hinaus wurden im Zuge der soziogenetischen Reflexion zwei weitere Fälle ansatzweise einbezogen: M-InSek1 und D-InSek2 (s. Kap. 6).

Tabelle 4.2   Realisiertes Sample (in die detaillierte Analyse einbezogene SchulklasseFachunterrichts-Einheiten) Formale Organisation der Sekundarstufe I

Fachunterricht

SAMPLE

Mathematik

2 Sekundarschulen mit ‚integrativer‘ Programmatik Klasse 2 M-InSek2

Deutsch

Klasse 1 D-InSek1

Kunst

Klasse 1 K-InSek1

2 Gymnasien ohne ‚integrative‘ Programmatik Klasse 3 Klasse 4 M-Gym1 M-Gym2 Klasse 3 D-Gym1

Klasse 2 K-InSek2

Klasse 4 K-Gym2

5

Empirische Rekonstruktion von leistungsbezogenen Differenzkonstruktionen: praxeologische Typenbildung

Wie bereits in Abschnitt 3.1 dargelegt, ist das Ziel der empirischen Analyse der Unterrichtsvideographien die sinngenetische Typenbildung. Es konnten insgesamt fünf sinngenetische Typen rekonstruiert werden, die sich in Bezug auf ein allen einbezogenen Fällen gemeinsames Orientierungsproblem unterscheiden. Diese Basistypik stellt sich dar als Differenzierung bzw. Hierarchisierung der Schüler*innen nach Leistung in Relation zur Konstruktion ihrer persönlichen bzw. sozialen Identität. Es lassen sich fünf (Orientierungs-)Rahmen bzw. Unterrichtsmilieus unterscheiden, wie dieses Orientierungsproblem handlungspraktisch, d. h. in der unterrichtlichen Interaktion zwischen den Lehrkräften und den Schüler*innen, primär bearbeitet wird1: • Typ I: Primäre Rahmung durch Moralisierung • Typ II: Primäre Rahmung durch Moralisierung und Konstruktion sozialer Identität • Typ III: Primäre Rahmung durch Pathologisierung und Konstruktion ‚behinderter‘ Identität • Typ IV: Primäre Rahmung durch Sachbezug und Individualisierung • Typ V: Primäre Rahmung durch Moralisierung mit prekärem Sachbezug

1Primäre Rahmung bedeutet hier, dass immer auch weitere Rahmen in der Unterrichtsinteraktion existieren (können), dass aber nur jeweils eine als dominant erscheint.

Elektronisches Zusatzmaterial Die elektronische Version dieses Kapitels enthält Zusatzmaterial, das berechtigten Benutzern zur Verfügung steht. https://doi. org/10.1007/978-3-658-31204-6_5. © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 B. Wagener, Leistung, Differenz und Inklusion, https://doi.org/10.1007/978-3-658-31204-6_5

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5  Empirische Rekonstruktion von leistungsbezogenen …

Wie zuvor erwähnt, besteht ein zentrales Rekonstruktionsergebnis darin, dass in den meisten Fällen mit ‚integrativer‘ Programmatik zwei Interaktionssysteme nebeneinander existieren: dasjenige zwischen den Fachlehrkräften und den Schüler*innen ohne das Etikett „besonderer Bildungsbedarf“ bzw. „verstärkte Massnahmen“ sowie jenes zwischen den Vertreter*innen der Schulischen Heilpädagogik und den Schüler*innen mit „besonderem Bildungsbedarf“ bzw. „verstärkten Massnahmen“. Eine Ausnahme bildet der Fall K-InSek1, in dem – im Unterschied zu D-InSek1 – keine Schüler*innen mit „verstärkten Massnahmen“ (jedoch eine Schülerin mit dem Etikett „besonderer Bildungsbedarf“) sowie keine Schulischen Heilpädagog*innen anwesend sind. Das Interaktionssystem zwischen den Vertreter*innen der Schulischen Heilpädagogik und den genannten Schüler*innen repräsentiert Typ III, worin sich die Schulformspezifik der Typologie abzeichnet. In jenen Fällen zeigt sich eine Überlagerung von Typ III mit jeweils einem weiteren Typus. Unter dem Gesichtspunkt einer Darstellung der komparativen Analyse werden die Fälle typenweise zusammengefasst: Es wird einerseits das für den Typ fallübergreifend Gemeinsame und andererseits werden die je fallspezifischen Differenzierungen des Typs dargestellt auf der Grundlage (von Auszügen) der reflektierenden Interpretationen der den Typ repräsentierenden Fälle. Dabei werden nur die ersten Fälle ausführlich präsentiert. Um den Lesenden nicht zu viele Details der Analyse zuzumuten, werden nicht alle Schritte der Interpretation abgebildet. Eine exemplarische vollständige Analyse findet sich in Anhang B.

5.1 Typ I: Primäre Rahmung durch Moralisierung Typ I zeichnet sich durch eine primäre Orientierung an einer Übertragung der Hierarchisierung der Schüler*innen im Rahmen des Leistungscodes (‚besser/ schlechter‘) auf die Gesamtperson der Schülerin bzw. des Schülers aus, indem die Beurteilung des Produkts Konsequenzen für weitere Bereiche der jeweiligen Person der Schüler*innen nach sich zieht. Die Übertragung der Beurteilung des Produkts (Erst-Codierung) auf die Person führt zu Moralisierungen, Disziplinierungen und Konsequenzen für die Handlungsautonomie der Schüler*innen (Zweit-Codierung). Sie werden dadurch als grundsätzlich eigenverantwortlich bzw. ‚schuldfähig‘ hinsichtlich ihrer Handlungen gerahmt. Im Zuge dieser Konstruktion der persönlichen Identität zeigen sich Komponenten einer i.S. der Praxeologischen Wissenssoziologie „machtstrukturierten Interaktion“

5.1  Typ I: Primäre Rahmung durch Moralisierung

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(Bohnsack 2017, S. 272, Herv.i.O.; s. auch Abschnitt 2.5), die mit einer Sichtbarmachung bzw. Visibilisierung der Hierarchie, insbesondere der in der Hierarchie unten angesiedelten Schüler*innen, d. h. mit klassenöffentlichen Degradierungen bzw. Gradierungen, einhergehen. Der dadurch bedingten Konstruktion individueller „totaler Identität“ (Garfinkel 1967b, S. 205; Bohnsack 2017, S. 246) und ihrer Sichtbarkeit steht eine Verschleierung bzw. Invisibilisierung der machtstrukturierten Konstruktionsprozesse durch das Unterrichtsmilieu gegenüber, die sich insbesondere in der Unterdrückung von Metakommunikation (propositionale Ebene) bzw. Rollendistanz (performative Ebene) dokumentiert. Eine potentielle bzw. vordergründige ‚Offenheit‘ der Unterrichtsstruktur, die u. a. im Rahmen des Wochenplankonzepts mit einer stärkeren Beteiligung bzw. Einbindung der Schüler*innen und ihrer Peerstrukturen in die Unterrichtsorganisation bzw. -gestaltung einhergeht, wird durch diese ‚Leistungslogik‘ zum Teil gebrochen, indem die Leistungshierarchisierung mit der Eröffnung bzw. Einschränkung von Handlungsspielräumen verbunden ist. Diesen Typus repräsentieren v. a. der Fall D-InSek1 und hier insbesondere die Interaktion der Deutschlehrerin mit den Schüler*innen des Anforderungsprofils mit „Grund-“ und „erweiterten Ansprüchen“. Im Zusammenhang mit der ‚integrativen‘ Programmatik des Falls steht Typ I zudem in Relation zu Typ III: Primäre Rahmung durch Pathologisierung und Konstruktion ‚behinderter‘ Identität, der v. a. die Interaktion zwischen den Vertreter*innen der Schulischen Heilpädagogik und zwei Schülern, denen ein „besonderer Bildungsbedarf“ attestiert wird und die „verstärkte Massnahmen“ (Art. 5 Sonderpädagogik-Konkordat; s. auch Abschnitt 4.3) erhalten. Auf dieses Interaktionssystem wird genauer in Abschnitt 5.3 eingegangen. In den folgenden Videosequenzauszügen stehen die Interaktionen zwischen der Deutschlehrerin und den Schüler*innen und die sich dabei vollziehenden Gradierungen und Degradierungen bzw. die Konstruktionen der persönlichen Identität der Schüler*innen im Vordergrund. Es deutet sich hier außerdem die Relation zu Typ III an, der sich, wie gesagt, v. a. auf die Interaktion der Schulischen Heilpädagoginnen mit Schüler(*inne)n mit attestiertem „besonderen Bildungsbedarf“ und „verstärkten Massnahmen“ bezieht. Bevor jedoch der primäre Orientierungsrahmen der im videographischen Material abgebildeten Akteur*innen in den Blick genommen wird, erfolgt zunächst die Rekonstruktion der Gestaltungsleistungen der abbildenden Bildproduzent*innen im Rahmen der Fotogrammanalyse. Aufgrund des größeren Umfangs dieses Interpretationsschritts wird er exemplarisch nur im Rahmen der

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5  Empirische Rekonstruktion von leistungsbezogenen …

nachfolgenden Videosequenz (WhatsApp2) dargestellt. Aus demselben Grund wird auf die Darstellung der vor-ikonografischen und ikonografischen Interpretation der Fotogramme verzichtet und die Reflektierende Interpretation des sequentiellen Verlaufs nur hinsichtlich ihrer zentralen Ergebnisse präsentiert. Die vollständige Analyse der Videosequenz WhatsApp findet sich in Anhang B. D-InSek1, Videosequenz WhatsApp (07:27–08:35)3 Zum Kontext der Videosequenz Die Sequenz steht im Kontext der Einführung in die Unterrichtsprogrammatik „Verben und ihre Zeitformen“. Nach einem „Input“ durch die Deutschlehrerin, Frau Wyss4, erhalten die Schüler*innen die Aufgabe, selbstständig ein Arbeitsblatt zu dem genannten Thema zu bearbeiten, wofür eine Folie mit verschiedenen Zeitformen via Overheadprojektor an eine Leinwand projiziert wird. Die anwesenden Lehrkräfte – Frau Wyss, der Mathematik- und Klassenlehrer Herr Peters und die Schulische Heilpädagogin Frau Werner – bewegen sich im Laufe der Bearbeitungsphase durch den Klassenraum und wenden sich verschiedenen Schüler*innen zu. In der ausgewählten Sequenz, die sich durch eine gesteigerte interaktive Dichte auszeichnet und somit als „Fokussierungsakt“ (NentwigGesemann 2006, S. 28) bezeichnet werden kann, begibt sich Frau Wyss an den Gruppentisch in der Mitte des Raumes, an dem auch Herr Peters und Frau Werner neben zwei Schülern sitzen, und tritt mit einigen Schülern in Interaktion (Abbildung 5.1).

2Die

Bezeichnung der Videosequenzen dient v. a. der Erleichterung der vergleichenden Bezugnahme im Rahmen der komparativen Analyse. Die Kurzbezeichnungen basieren auf den zentralen Themen, die in den jeweiligen Videosequenzen verhandelt werden. 3Teile der Formulierenden und Reflektierenden Interpretation dieser Videosequenz finden sich – mit geringen Abweichungen – in Wagener und Wagner-Willi (2017) sowie in Wagener (2018). 4Sämtliche Namen sind anonymisiert.

5.1  Typ I: Primäre Rahmung durch Moralisierung

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Abbildung 5.1   Fotogramm KFR 08:16, US Dulden des Abkürzens von Aufgaben mithilfe von „WhatsApp“ aufgrund guter Noten im Deutschtest und Ernennung Emres zum „Klassenbesten“ (07:51–08:35)

Fotogrammanalyse Das Fotogramm KFR5 08:16 entstammt der Untersequenz (US) Dulden des Abkürzens von Aufgaben mithilfe von „WhatsApp“ aufgrund guter Noten und Ernennung Emres zum „Klassenbesten“ (07:51–08:35). Die Auswahl erfolgte nach den Kriterien der Repräsentativität und Fokussierung (s. Abschnitt 3.3 und Abschnitt 4.5). In dem Fotogramm zeigen die Abgebildeten für die US (sowie die gesamte Sequenz) repräsentative körperlich-räumliche Positionierungen: Einige Schüler sowie Herr Peters und Frau Werner sitzen am Gruppentisch in der Mitte des Raumes, während die anderen Schüler*innen an Tischen ringsherum sitzen. Weiterhin bildet das Fotogramm eine expressive Geste des Schülers Emre ab: das Ausstrecken seiner Arme und das ‚Deckeln‘ der linken Faust mit der rechten flachen Hand, während Emre ein breites Lächeln zeigt (2). In dem simultanen Fotogramm der zweiten Kameraperspektive sind die Akteur*innen, insbesondere die Gruppe um Frau Wyss, kaum zu erkennen (s. Abbildung 5.2). Da der Schwerpunkt der Analyse auf den Interaktionen zwischen der Deutschlehrerin und den Schülern am Gruppentisch liegt, bildet das Fotogramm KFR 08:16 die Grundlage für die Fotogrammanalyse. Das Fotogramm KS6 08:16 wird ergänzend einbezogen (Abbildung 5.3).

5KFR = Kamera 6KS = Kamera

mit Funk- und Richtmikrofon mit Stereomikrofon

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5  Empirische Rekonstruktion von leistungsbezogenen …

Abbildung 5.2   Simultanes Fotogramm KS 08:16, US Dulden des Abkürzens von Aufgaben mithilfe von „WhatsApp“ aufgrund guter Noten im Deutschtest und Ernennung Emres zum „Klassenbesten“ (07:51–08:35)

Abbildung 5.3   Fotogramm KFR 08:16; Formale Komposition

5.1  Typ I: Primäre Rahmung durch Moralisierung

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Die Gestaltungsleistungen der abbildenden Bildproduzent*innen Bei der Einstellungsgröße handelt es sich um die Totale. Im Zusammenhang mit der Kadrierung zeigt sich eine Selektivität, die einen Großteil des Klassenraumes zu erfassen beansprucht und gleichzeitig auf den langen Tisch im Zentrum des Raumes fokussiert – und dabei insbesondere auf die fünf Personen am vorderen Ende des Tisches: (v.l.n.r.) Fuat, Arda, Frau Wyss, Fritz und Emre. Letzteres dokumentiert sich zum einen darin, dass diese Personengruppe im Zentrum des Bildausschnittes abgebildet ist. Besondere Aufmerksamkeit kommt dabei der Deutschlehrerin Frau Wyss zu, die sich genau auf der vertikalen Bildmittelachse gelb-gestrichelte Linie befindet, deren Gesicht, Mimik sowie Gestik aufgrund der dorsalen Abbildung jedoch nicht bzw. kaum erkennbar sind. Außerdem tritt der Schüler Emre mit seiner speziellen Hand- bzw. Armhaltung hervor. Die Hervorhebung wird durch seine Positionierung im Goldenen Schnitt ­blau-gestrichelte Linie betont. Zum anderen verstärkt die Weitwinkelaufnahme die zentral perspektivische Projektion, welche die Personen und Objekte im Bildvordergrund besonders groß und die von der Kamera weiter entfernten Personen und Objekte besonders klein erscheinen lässt. Während also die Personengruppe im Bildvordergrund – und dabei insbesondere Frau Wyss, die der Kamera am nächsten steht – in den Fokus des*der Betrachters*in gerät, treten die übrigen Schüler*innen und Lehrer*innen (sowie die Forscherin) in den Hintergrund. (Eine Fokussierung auf die anderen Lehrer*innen – in ihrer Interaktion mit zwei Schülern – ist hingegen auch in der zweiten Kameraperspektive feststellbar; allerdings ist auch hier deren Mimik nicht erkennbar; s. Abbildung 5.2). Weiterhin liegt eine Übereckperspektive mit zwei Fluchtpunkten vor, die sich am oberen linken Bildrand Schnittpunkt der orangefarbenen Linien und außerhalb des rechten Bildrandes Schnittpunkt der grünen Linien befinden. Die Horizontlinie (gepunktet) verläuft somit unterhalb des oberen Bildrandes sowie leicht schräg aufgrund der unterschiedlichen Höhe der beiden Fluchtpunkte (resultierend aus einer leichten Schiefstellung der Kamera). Dadurch entsteht einerseits eine Draufsicht auf die abgebildeten Akteur*innen, andererseits der Eindruck eines leichten Gefälles nach links unten. Die Gestaltungsleistungen der abgebildeten Bildproduzent*innen Im abgebildeten Raum finden verschiedene Interaktionen simultan statt. Die Personen am vorderen Ende des langen Gruppentisches – Fuat, Arda, Frau Wyss, Fritz und Emre (v.l.n.r.) – scheinen aufgrund ihrer räumlichen Anordnung eine Gruppe zu bilden, wobei sie sich in ihrer körperlichen Bezugnahme aufeinander deutlich unterscheiden. Obwohl Frau Wyss die größte räumliche Nähe zu dem seinem Arbeitsblatt zugewandten Fritz aufweist und ebenfalls über den Tisch gebeugt ist, scheinen beide nicht (direkt) miteinander zu interagieren.

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5  Empirische Rekonstruktion von leistungsbezogenen …

Vielmehr ragt die Lehrerin mit ihrem gebeugten Oberkörper in den Interaktionsraum von Emre und Fuat, die sich gegenseitig anschauen, hinein. Emre unterscheidet sich dabei aufgrund seiner aufrechten und gleichzeitig zurückgelehnten Körperhaltung sowie seiner dynamisch-expressiven Geste körperlich von der Mehrheit der abgebildeten Personen, die wiederum Körperkontakt mit den Tischen aufweisen und sich teilweise über diese beugen, und ragt somit aus dem ­szenisch-choreographischen Gesamtbild heraus. Seine Geste – die rechte Hand bildet eine Faust, der die Innenfläche der gespreizten linken Hand oben aufliegt – stellt keine im schulischen Kontext bekannte institutionalisierte Geste dar (wie z. B. das Aufzeigen im Unterricht). Unter Hinzuziehung ‚externen‘ ikonografischen Wissens kann sie als überwiegend peerkulturell vulgäre und sexuell aufgeladene Geste der Degradierung interpretiert werden.7 Durch das Zurücklehnen seines Oberkörpers und das Ausstrecken seiner Arme stellt Emre die Geste in das Zentrum des Interaktionsraums zwischen sich und Fuat einerseits und vollzieht sie am Rande und oberhalb des (­Arbeits-)Tischgeschehens andererseits. Während Emre dabei Fuat frontal mit einem ausgeprägten bzw. umfänglichen Lächeln adressiert, zeigen sich in Fuats Mimik und Körperhaltung eine gewisse Verhaltenheit sowie Ambivalenz: Sein Lächeln erscheint wesentlich dezenter. Er schaut dabei zwar in Richtung Emre, wendet sich jedoch leicht nach rechts von ihm ab. Währenddessen schaut Arda (vermutlich) zu Fuat und ist gleichzeitig mit seiner Hand seinem Arbeitsblatt so zugewandt, als ob er jeden Moment zu schreiben beginnen würde. In dieser geteilten Aufmerksamkeit dokumentiert sich eine außerordentliche Relevanz der Interaktion zwischen Emre und Fuat bzw. der Aktion Fuats. Während ebenfalls am Gruppentisch die Schüler Cem und Basil (vermutlich) ihren Arbeitsblättern zugewandt sind, werden sie von den beiden Lehrkräften Herr Peters und Frau Werner ‚flankiert‘, die jeweils einem der beiden Schüler körperlich zugewandt sind (Herr Peters) bzw. zu sein scheinen (Frau Werner). Im Vergleich zu der Gruppe am Tischende im Bildvordergrund bilden

7Dieses

ikonografische Wissen stammt von Studierenden einer Lehrveranstaltung zu qualitativen Methoden der Bild- und Videointerpretation, die vom Verfasser im Wintersemester 2018/19 an der Universität Gießen durchgeführt wurde. Grundlage bildete die in Wagener und Wagner-Willi (2017) abgedruckte Analyse dieser Sequenz. Den Studierenden war die Geste als Ausdruck von Überlegenheit in migrantischen Peermilieus (insbesondere deutsch-türkischer Herkunft) bekannt und wurde von ihnen mit „Ich hab‘ dich gefickt“ sprachlich übersetzt. Auch in der Literatur finden sich Hinweise auf eine vergleichbare Bedeutung in weiteren kulturellen Kontexten, u. a. mit Bezug auf Chile und Frankreich (vgl. Clements/Meltzer Rady 2012, S. 10 ff.).

5.1  Typ I: Primäre Rahmung durch Moralisierung

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die vier Personen eine weitere Gruppierung, die von der anderen Gruppe räumlich (der Abstand am Tisch), aber auch angesichts der unterschiedlichen körperlichen Bezugnahme aufeinander von der anderen Gruppe abgekoppelt ist: Während sich in der stehenden Position von Frau Wyss eine gewisse Dynamik i.S. eines ‚Kommen-und-Gehen‘ andeutet, dokumentiert sich in der sitzenden Position der beiden anderen Lehrkräfte eine gewisse Dauerhaftigkeit. Die beiden Schüler erscheinen zwischen den beiden Lehrkräften ‚eingezwängt‘, wodurch es ihnen erschwert wird, eine Distanz zu ihrer Schülerrolle bzw. zum Lerngegenstand einzunehmen, während hingegen die anderen Schüler*innen auch die Möglichkeit haben, sich nicht direkt dem Lerngegenstand, sondern ihren Mitschüler*innen bzw. Peers zuzuwenden. Dieser unterschiedliche Freiheits- bzw. Grad der Eigenständigkeit dokumentiert sich deutlich im Vergleich zu den vier Schüler*innen, die an dem separaten Tisch an der Wand am rechten Bildrand sitzen: Sie werden nicht (direkt) beaufsichtigt und erhalten somit die Möglichkeit, die Arbeitsphase freier bzw. eigenständiger zu gestalten. Als eine Form von institutionalisierter Einschränkung dieser Freiheit kann jedoch die Trennwand auf diesem Tisch gelten, die offensichtlich eine zu große Interaktionsdichte unter den Schüler*innen verhindern soll, und welche diese in dem hier abgebildeten Moment auch nicht zu unterlaufen scheinen. Diese Massnahme der räumlichen ‚Abschirmung‘8 steht dabei in starkem Kontrast zu den – zumindest räumlichen – Interaktionsmöglichkeiten am Gruppentisch. Insgesamt dokumentiert sich im Fotogramm (bzw. in den simultanen Fotogrammen) eine doppelte Differenz: Die Separierung von Cem und Basil von den übrigen Schüler*innen einerseits sowie die hohe pädagogische ‚Betreuungsdichte‘ i.S. einer ‚Eins-zu-eins-Betreuung‘ durch die beiden Lehrkräfte andererseits. Insbesondere letztere korrespondiert mit der formalen Zuschreibung eines „besonderen Bildungsbedarfs“ der beiden Schüler sowie der Verordnung „verstärkter Massnahmen“. Die Zuschreibung wird hier durch das Arrangement der körperlich-räumlich separierten ‚Eins-zu-eins-Betreuung‘ performativ hervorgehoben, insbesondere im Vergleich zu den Mitschüler*innen, die eigenständiger und peerbezogener agieren (dürfen). Damit werden Komponenten einer machtstrukturierten Interaktion sichtbar, indem die formale Zuordnung zu einem Bildungsgang (Erst-Codierung) mit weiteren Konsequenzen für die Person der Schülerin bzw. des Schülers einhergeht (Zweit-Codierung).

8Ikonografisch

erinnern solche Trennwände an die Arbeitswelt (z. B. US-amerikanische Großraumbüros).

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5  Empirische Rekonstruktion von leistungsbezogenen …

Zur Relation der Gestaltungsleistungen der abgebildeten und abbildenden Bildproduzent*innen Der gesteigerten Sichtbarkeit der von den Differenzkonstruktionen betroffenen Schüler*innen – v. a. Emre und Fuat sowie Cem und Basil, deren Gesichter bzw. Mimik und somit deren persönliche Identität erkennbar sind – steht die überwiegende Unpersönlichkeit der Lehrkräfte gegenüber, was im Wesentlichen Resultat der Gestaltungsleistungen der abbildenden Bildproduzent*innen ist. Man könnte auch sagen, dass die sich hier andeutende Machtstruktur des Unterrichts von den abbildenden Bildproduzent*innen implizit unterstützt bzw. mitgetragen wird. Wie im Falle der abgebildeten Bildproduzent*innen ist dies jedoch nicht ihren Intentionen zuzuschreiben. Sequenzanalyse9 US Dulden des Abkürzens von Aufgaben mithilfe von „WhatsApp“ aufgrund guter Noten im Deutschtest und Ernennung Emres zum „Klassenbesten“ (07:51–08:35) Frau Wyss hat ihren Oberkörper nach rechts gedreht, ist über ein Papier, das vor Fritz liegt, gebeugt, sagt: Tue das mol schnell wechsele und denn chömmer grad witerluege.10 und dreht sich mit geneigtem Kopf nach links zur Tischmitte, während Fritz den Kopf weiterhin in Richtung Tisch bzw. Papier geneigt hat. Daraufhin gleitet Emre schnell mit seinem Oberkörper – nun von Frau Wyss verdeckt – auf den Tisch herab in Richtung des ihm gegenübersitzenden Fuats, der währenddessen nach unten schaut und etwas auf ein Papier schreibt. Emre flüstert Fuat etwas im Datenmaterial nicht Identifizierbares zu. Währenddessen dreht sich Arda nach links und beugt sich vor in Richtung Fuat. Fuat dreht sich daraufhin mit geneigtem Kopf nach links, stellt seinen angewinkelten rechten Unterarm zwischen sich und Arda auf die Tischplatte und lehnt seine linke Kopfseite gegen seine rechte Hand. Frau Wyss hebt nun ihren Kopf an und dreht ihn leicht nach rechts, woraufhin sich Emre aufrichtet. Sie sagt: Tuen = ihn jetzt nid ablenke jetzt het = er grad d = Üebig begriffe deet denn chasch du nochher au vonem @profitiere.@11 Während Emre abwechselnd schnell in Richtung des Tisches vor sich und Frau Wyss blickt, senkt Frau Wyss ihren Kopf wieder. 9Eine

Erläuterung der Transkriptionszeichen findet sich im Anhang. Wechsel das mal schnell und dann können wir gerade weitersehen 11Standarddeutsch: Lenk ihn jetzt nicht ab, jetzt hat er gerade die Übung begriffen, dann kannst auch von ihm nachher profitieren 10Standarddeutsch:

5.1  Typ I: Primäre Rahmung durch Moralisierung

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Gleichzeitig hebt Fuat seinen Kopf und schaut kurz in Richtung Frau Wyss, dann in Richtung Emre und wieder nach unten. Mit einem dezenten Lächeln sagt Emre: Okay. Dann sagt Emre mit einem kurzen Kopfnicken in Richtung Fuat: °Weisch Foti und so.°12 Fuat hebt nun seinen Kopf, schaut lachend in Richtung Emre und senkt den Kopf wieder. Währenddessen wippt Frau Wyss mit weiterhin gesenktem Kopf auf und ab und sagt: Foti und so. Dann richtet sie ihren Kopf kurz auf und dreht ihn in Richtung Emre. Dieser blickt grinsend kurz in ihre Richtung, dann zu Fuat und anschließend nach unten und sagt: WhatsApp. @°nei°;@ Frau Wyss senkt ihren Kopf wieder und sagt: @Joar klar@ Während Emre nun mit seiner linken Hand vor sich auf dem Tisch ein Papier kreisen lässt, schaut er abwechselnd unter sich und in Richtung Frau Wyss und sagt: Jo was denken Sie wie = wi = w = wieso wir so schnell fertig sind? @nei@ Frau Wyss richtet ihren Kopf nun wieder auf, dreht ihn leicht in Richtung Emre und sagt: So lang ihr guet in de Teschts, (1) denn bini dörte grosszügig.13 Während er nach unten blickt und weiterhin das Blatt kreisen lässt, sagt Emre: Ebe solang ich guet- wenn bekum ich min Dütschtescht?14 Daraufhin hebt Fuat seinen Kopf, schaut in Richtung Emre und sagt: Du hesch fünf kommma fünf.15 Während Frau Wyss fast gleichzeitig sagt: Solang du nach wie vor, fragt Emre, der Fuat anschaut: Fünf Komma fünf? Beide Jungen schauen nun in Richtung Frau Wyss. Diese sagt: Nein er het fünf Komma sechs kha, er isch besser gsi als de beschte ­vode-16 Während sie nun leicht ihren Kopf nach links in Richtung Fuat dreht, fragt sie: du hesch füf füf kha oder?17 Arda hört nun auf zu schreiben und blickt Frau Wyss an. Während Fuat in Richtung Frau Wyss schaut, sagt er: Fünf Komma (.) vier. Emre schaut kurz in Richtung Frau Wyss, dann zu Fuat und sagt: Ich ha fünf sechs kha? (.) damn ich bi besser als du gsi.18 Arda, der nun zwischen Fuat und Emre hin- und herschaut, fragt: Wo = wo = wo = wo (.) wo ej (.) wo? Emre

12Standarddeutsch:

Weißt schon, Fotos und so Solange ihr gut in den Tests, bin ich da großzügig 14Standarddeutsch: Eben, solange ich gut- wann bekomme ich meinen Deutschtest? 15Standarddeutsch: Du hast 5,5. [Die Note 6 ist die beste Note im Schweizer Schulsystem.] 16Standarddeutsch: Nein, er hatte 5,6, er war besser als der Beste von d ­ en17Standarddeutsch: Du hattest 5,5, oder? 18Standarddeutsch: Ich hatte 5,6? Damn! Ich war besser als du 13Standarddeutsch:

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5  Empirische Rekonstruktion von leistungsbezogenen …

richtet sich währenddessen auf, lässt sich nach hinten gegen den Stuhl fallen, streckt seine Arme oberhalb des Tisches nach vorne und schlägt mit der Innenfläche der rechten Hand auf die zur Faust gekrümmte linke Hand. Die Finger der rechten Hand sind dabei nach oben gespreizt. Währenddessen grinst er breit. Fuat schaut nun zuerst dezent lächelnd Emre an und dann in Richtung Frau Wyss, die ihren Kopf in Richtung Emre dreht und sagt: Ah sorry du hesch = en no gar nid kha; jä nei du bisch Klassebescht gsi. (.) Währenddessen beugt sich Emre über den Tisch und schaut mit weit geöffneten Augen in Richtung Frau Wyss. Dann richtet er sich wieder auf, schaut abwechselnd in Richtung Fuat und nach unten und nickt dabei mit dem Kopf, während er seine Unterlippe vorschiebt. Anschließend führt er grinsend und in Richtung Fuat schauend seinen rechten Zeigefinger hinter das rechte Ohr, kippt die Ohrmuschel leicht nach vorne und dreht gleichzeitig seinen leicht geneigten Kopf einmal kurz nach rechts. Anschließend legt er seinen rechten Arm wieder auf dem Tisch ab und schaut in Richtung Frau Wyss. Währenddessen sagt Frau Wyss: und du bisch ebe glau- und du bisch ebe glaub eins besser gsi als ihre Klassebescht woner() gsi isch; also vo dem her schön.19 Nachdem Emre signalisiert, dass er subversiv peerkulturell bzw. jenseits der Schüler*innenrolle bzw. der geforderten Aufgabenbearbeitung aktiv wird, was die Deutschlehrerin zunächst mit einer Disziplinierung und Belehrung Emres beantwortet, weihen die Schüler sie in eine offenbar regelwidrige Peerpraxis ein: das Abkürzen von Aufgabenbearbeitungen mithilfe des Smartphones („WhatsApp“20). Die Lehrerin lässt sich auf den Peerdiskurs ein und duldet die Praxis bzw. setzt die geltende Regel für die Schüler außer Kraft, was sie wiederum mit den ausgesprochen guten Noten im Deutschtest begründet (Erst-Codierung). Darauf, dass hier der formelle Rahmen verwischt, verweist auch die gemeinsame Verwendung des Schweizerdeutschen (im Unterschied zum unterrichtsoffiziellen Standarddeutsch). Die Gradierung der Schüler, insbesondere Emres, der von Frau Wyss als ‚Leistungsbester‘ gerahmt wird, geht mit der Zusprache verschiedener Privilegien (größere Handlungsautonomie bzw. Duldung von auf den Unterricht bezogenen regelwidrigen Praxen) einher

19Standarddeutsch:

Und du warst eben, glaube ich, eins besser als ihr Klassenbester, wo er () gewesen ist; also von dem her schön. 20Der „WhatsApp-Messenger“ ist ein mobiles Anwendungsprogramm für Smartphones, mit dem Textnachrichten sowie diverse Mediendateien kostenlos versendet werden können. Es gehört dem S ­ ocial-Media-Unternehmen Facebook.

5.1  Typ I: Primäre Rahmung durch Moralisierung

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(Zweit-Codierung), womit die Konstruktion totaler Identität verbunden ist. Die Orientierung wird von den Schülern geteilt, was sich insbesondere in dem ‚Wettkampf‘ um die bessere Note zwischen Emre und Fuat dokumentiert, der in der degradierenden Siegerpose Emres als Fokussierungsakt seinen Höhepunkt erfährt (s. auch Fotogrammanalyse). Die Konstruktion der persönlichen Identität der ‚leistungsstarken‘ Schüler erfolgt dabei am Rande der Klassenöffentlichkeit. Davon unterscheiden sich klassenöffentliche Degradierungen und Moralisierungen von Schüler*innen, die mit der Konstruktion der persönlichen Identität des ‚schlechten‘ oder ‚leistungsschwachen‘ Schülers bzw. der ‚schlechten‘ oder ‚leistungsschwachen‘ Schülerin verbunden sind, wie es sich in der nachfolgenden Videosequenz dokumentiert. D-InSek1, Videosequenz Profis (00:00–01:27)21 Zum Kontext der Videosequenz Vordergründig geht es hier um eine von der Deutschlehrerin angeleitete Besprechung eines Arbeitsblatts aus dem Wochenplan zur o. g. Unterrichtsprogrammatik im Plenum. Als weitere Lehrkraft ist die Schulische Heilpädagogin Frau Werner anwesend. Während vereinzelte Nachfragen zur bevorstehenden Leistungskontrolle seitens der Schüler*innen durch die Lehrerin beantwortet werden, beginnen einige Schüler an der Fensterfront – v. a. Nino, Marco, Paolo, Emre und Arda – in Richtung der auf der anderen Seite des Klassenraums stehenden Kamera zu schauen, zu grinsen und zu posieren (z. B. ‚Victory‘- oder ‚Daumen hoch‘-Geste). Auf die Disziplinierungsversuche der Lehrerin reagieren die Schüler amüsiert, beenden das Posieren zügig und kehren an ihre Plätze zurück. Nachdem die Schüler*innen untereinander weiter Gespräche führen, leitet Frau Wyss die gemeinsame Auseinandersetzung mit dem Arbeitsblatt des Wochenplans ein. Cem und Basil sind als einzige Schüler nicht anwesend. Sie haben zuvor mit der zweiten Schulischen Heilpädagogin, Frau Berger, den Raum verlassen. Der räumlich-separate Unterricht im Rahmen der formalen Epochenstruktur ist in dieser Klasse die Regel (Abbildung 5.4).

21Eine

weitere sowie erweiterte Darstellung und Interpretation dieser Videosequenz findet sich in Sturm (2017). Demgegenüber nimmt die nachfolgende Interpretation – entlang der Fragestellung der vorliegenden Arbeit – eine etwas abweichende Perspektive ein. Zudem wurde das Videotranskript in der korporierten Dimension gegenüber dem in Sturm (2017) geringfügig modifiziert, ohne dabei jedoch den v­ or-ikonografischen Gehalt zu verändern.

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5  Empirische Rekonstruktion von leistungsbezogenen …

Fotogrammanalyse

Abbildung 5.4   Fotogramm KFR 00:13; US Öffentliches Lösen der Aufgabe durch ‚NichtProfis‘, auch wenn eigene Lösung nicht vorhanden (00:12–00:46)

Abbildung 5.5   Synchrones Fotogramm KS 00:13; US Öffentliches Lösen der Aufgabe durch ‚Nicht-Profis‘, auch wenn eigene Lösung nicht vorhanden (00:12–00:46)

5.1  Typ I: Primäre Rahmung durch Moralisierung

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Die Gestaltungsleistungen der abgebildeten Bildproduzent*innen Im Vergleich mit dem ausgewählten Fotogramm der Videosequenz WhatsApp (s. Abbildung 5.1) zeigt sich hier eine Situation mit zum Teil deutlichen Veränderungen der körperlich-räumlichen Positionierungen der abgebildeten Akteur*innen und ihrer Bezugnahmen aufeinander. Diese manifestieren sich v. a. in einer verminderten interaktiven Dichte am zentralen Gruppentisch. Während Frau Wyss auf der Tafelseite des Gruppentisches sitzt, wodurch sie einen umfassenden Blick auf die Schüler*innen erhält, sitzen ihr gegenüber mit großem Abstand Joana, Alberta und Lesedi am Gruppentisch. Zusammen mit der Positionierung der anderen Schüler*innen an den Tischen, die ringsum an den Wänden stehen, dokumentiert sich insgesamt eine größere ­körperlich-räumliche Distanz zwischen der Deutschlehrerin und den Schüler*innen, als dies in dem Vergleichsfotogramm (Abbildung 5.5) der Fall ist. Weiterhin – und durch letzteres mitbedingt – dokumentiert sich eine klassenöffentliche Situation. Diese geht mit differenten Handlungsrahmen einher: So zeigen Lesedi und Nino auf, um auf sich aufmerksam zu machen. Demgegenüber haben alle anderen Schüler*innen ihre Köpfe geneigt und scheinen etwas zu notieren. Dadurch nehmen sie gegenüber Frau Wyss eine abgewandte Körperhaltung ein. Diese wird aufgrund der räumlichen Positionierung derjenigen Schüler*innen, die zu den Wänden ausgerichtet oder hinter den Trennwänden auf den Vierertischen sitzen, noch weiter verstärkt. Frau Wyss adressiert hingegen nicht die interaktionsbereiten Schüler*innen, sondern schaut in Richtung der Fensterfront. Dabei ist nicht eindeutig erkennbar, ob sie die beiden in ihrem Blickfeld sitzenden Schüler Emre und Marco oder bzw. und die hinter ihnen stehende Frau Werner adressiert. Frau Werners Gestik und Mimik sind wiederum nicht zu erkennen, da sie von Frau Wyss größtenteils verdeckt wird. Wie Frau Wyss erhält sie von hier aus einen gesamthaften Überblick über die Schüler*innen. In ihrer räumlich abseitigen Position dokumentiert sich jedoch eine Zurücknahme gegenüber der offensichtlich von der Deutschlehrerin gesteuerten Unterrichtsinteraktion. Zugleich befindet sie sich in räumlicher Nähe zu den Schüler*innen, v. a. zu Emre und Marco, hinter denen sie steht. In der körperlichen Nähe dokumentiert sich eine gewisse Homologie zur Videosequenz WhatsApp. Zugleich unterscheidet sich ihre Positionierung von ihrer eindeutigen körperlich dichten – und auf Dauer gestellten – Adressierung Cems (und Basils) im Vergleichsfotogramm der Videosequenz WhatsApp. Eine weitere zentrale Differenz besteht zudem darin, dass diese beiden Schüler in der vorliegenden Unterrichtssituation nicht anwesend sind, was unter Hinzuziehung des sequentiellen Kontextwissens auf eine vorangegangene räumlich-exkludierende Intervention durch die zweite Schulische Heilpädagogin zurückzuführen ist.

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5  Empirische Rekonstruktion von leistungsbezogenen …

Sequenzanalyse US Öffentliches Lösen der Aufgabe durch ‚Nicht-Profis‘, auch wenn eigene Lösung nicht vorhanden (00:12–00:46)

Die Deutschlehrerin stellt in der Klassenöffentlichkeit eine leistungsbezogene Differenz zwischen den Schüler*innen her: Mit der Zuschreibung hoher Kompetenz („Profis“) bei Lesedi und Nino ist implizit eine potentielle Absprache von Kompetenz (‚Nicht-Profis‘) bei anderen Schüler*innen verbunden (ErstCodierung). Letztere, v. a. Arda und Marco, versuchen sich der von ihnen geforderten Beteiligung am klassenöffentlichen Diskurs und einer damit verbundenen potentiellen Bloßstellung zu entziehen. Auch aufseiten der „Profis“ dokumentiert sich eine Distanzierung von der Fremdrahmung, wenn Nino mit einer Steigerung der Zuschreibung („Megaprofi“) reagiert, die er durch die Betonung

5.1  Typ I: Primäre Rahmung durch Moralisierung

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seiner Ahnungslosigkeit sogleich ins Gegenteil verkehrt. Die Distanzierung auf der verbalen Ebene wird durch das Nicht-Beenden des Aufzeigens auch korporiert zum Ausdruck gebracht. Demgegenüber wird die Fremdrahmung und die damit verbundene Machtstruktur kollaborativ von der Schulischen Heilpädagogin unterstützt, und die Distanzierungsversuche der Schüler*innen werden systematisch übergangen bzw. unterbunden. So wird auch Paolos Unterwanderungsversuch – der von Nino mitgetragene Versuch, dessen Ergebnisse vorzutragen – nicht zugelassen. In der Nachfrage der Deutschlehrerin, ob Paolo die Aufgabe denn auch ohne Ninos Ergebnisse lösen könne, dokumentiert sich, dass die Leistung zwingend dem Individuum (öffentlich) zuzurechnen sein muss. Wie dann letztlich im Fall von Marco zu sehen ist, geht damit eine Moralisierung der (Gesamt-)Person des Schülers einher (Zweit-Codierung), wenn die Deutschlehrerin auf Marcos Handeln jenseits des formellen Rahmens des Unterrichts verweist (das „Grinsen“ in die Kamera). Das Privileg, den formellen Rahmen zu überschreiten, muss sich jedoch erst durch gute Leistungen „verdient“ werden. Die sich hier dokumentierende Machtstruktur ist somit homolog zur Sequenz WhatsApp. Auch hier sind die in der Leistungshierarchie unten Angesiedelten einer größeren Sichtbarkeit ausgesetzt. (Im Steigerungsfall – bei Cem und Basil – geht die Degradierung bzw. Stigmatisierung anhand von Leistung dann jedoch mit dem vollständigen Ausschluss aus dem Unterricht einher.) Das gemeinsame Lachen der Anwesenden (mit Ausnahme von Marco) verweist einerseits darauf, dass die Schüler*innen wissen, auf welche vorangegangene, den formellen Rahmen des Unterrichts überschreitende SchülerAktivität die Lehrerin hier anspielt (vgl. Kontext der Videosequenz). Andererseits – und v. a. indem die beiden Pädagoginnen in das Lachen einstimmen – konstituiert sich darin ein geteilter Orientierungsrahmen, ein konjunktiver Erfahrungsraum, in dem die Machtstruktur gefestigt wird, da sie im gemeinsamen Lachen gegenüber potentiellen Widerständen ‚immunisiert‘ wird bzw. sich einer Metakommunikation entzieht. Marcos abschließender Ausdruck „Damn“ drückt dann auch die Ausweglosigkeit seiner Situation aus – was im diametralen Kontrast steht zur Verwendung desselben Wortes durch den ‚leistungsstarken‘ Emre als Siegesausruf im Wettkampf um die bessere Note in der Sequenz WhatsApp. Demgegenüber nehmen die beiden Schüler Cem und Basil, denen ein „besonderer Bildungsbedarf“ attestiert wird, aufgrund der (heil-)pädagogischen Intervention nicht an dieser Unterrichtssituation teil und sind damit von der durch Hierarchisierung nach Leistung geprägten Unterrichtsinteraktion ausgeschlossen. Dies gilt ebenso für die im Kontext dieser Sequenz stattfindende Besprechung formal prüfungsrelevanter Themen. Für die beiden Schüler gelten somit nicht dieselben Bedingungen bzw. Erwartungen formaler Leistungsbeurteilung, was sich auch in ihrer Abwesenheit in vergleichbaren Unterrichtssituationen, z. B. die

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5  Empirische Rekonstruktion von leistungsbezogenen …

klassenöffentliche Besprechung benoteter Tests im Fach Deutsch (vgl. Sturm 2016b), dokumentiert. Damit sind sie weitgehend von der konstituierenden Rahmung bzw. der Erst-Codierung ausgenommen. Dies manifestiert sich auch darin, dass ihnen keine eigenständige Bewältigung von Aufgaben bzw. Leistungsanforderungen zugestanden wird (vgl. Videosequenz WhatsApp), während den anderen Schüler*innen eine Eigenverantwortung für ihr Handeln grundsätzlich zugeschrieben bzw. diese von ihnen erwartet wird. Dies führt bei den Letztgenannten dann auch zu der aufgezeigten Moralisierung ihres Verhaltens bzw. ihrer Person, v. a. bei den ‚Leistungsschwächeren‘ – im Gegensatz zur Erweiterung der persönlichen Handlungsautonomie bei den ‚Leistungsstarken‘ (Zweit-Codierung). Im Vergleich der beiden Sequenzen zeigen sich somit die differenten Interaktionssysteme – zum einen die Interaktion der Lehrkräfte mit den Schüler*innen ohne „besonderen Bildungsbedarf“ und zum anderen diejenige mit den Schüler*innen mit „besonderem Bildungsbedarf“ – in konturierter Weise, sowohl in ihrer gemeinsamen Prozessierung (Sequenz WhatsApp) als auch in ihrer räumlichen Separation (Sequenz Profis). Wie erwähnt, wird das zweite Interaktionssystem noch eingehender in Abschnitt 5.3 beleuchtet.

5.2 Typ II: Primäre Rahmung durch Moralisierung und Konstruktion sozialer Identität Typ II befindet sich in unmittelbarer Nähe zu Typ I. Bei Typ II tritt jedoch zur unterrichts- bzw. organisationsinternen Degradierung bzw. Stigmatisierung im Rahmen der Hierarchisierung nach Leistung eine Degradierung bzw. Stigmatisierung aufgrund der sozialen Herkunft, also eine gesellschaftliche Stigmatisierung, hinzu und potenziert und steigert die Degradierung insgesamt. Neben der Erst-Codierung nach Leistung und der Zweit-Codierung im Bereich der „persönlichen Identität“ tritt eine Zweit-Codierung hinzu im Bereich der gesellschaftlichen bzw. „sozialen Identität“ (Goffman 1967; Bohnsack 2017a, S. 157). Dabei handelt es sich um Ethnisierungen von Schüler*innen, die nicht dem dominanten (sprach-)kulturellen Milieu der Schulklasse bzw. der Lehrerin entstammen, sowie deren Visibilisierung.22 Diese Zweit-Codierung im Bereich

22Alternativ ließe sich mit F ­ rank-Olaf Radtke (2008) von der Konstruktion der „Ethnizität“ der Schüler*innen sprechen, da (auch) dieser Begriff aus soziologischer Perspektive die „soziale Hervorbringung“ ethnischer Identität betont (ebd., S. 653). Paul Mecheril (2010, S. 14) schlägt vor dem Hintergrund des diffusen und imaginären Charakters der mit ethnischer Zugehörigkeit verbundenen Kategorisierungen den Begriff „natio-ethnokulturell“ vor.

5.2  Typ II: Primäre Rahmung durch Moralisierung und Konstruktion …

107

der sozialen Identität stellt einen zentralen Bestandteil des Orientierungsrahmens der Lehrerin des Falls D-Gym1 dar, was sich homolog auch in solchen Unterrichtsinteraktionen dokumentiert, in denen es nicht explizit um die Beurteilung von S ­ chüler*innen-Produkten geht. Somit erscheint es sinnvoll, hier nicht von einem Subtyp von Typ I zu sprechen, sondern von einem eigenständigen Typus. Darüber hinaus deutet sich ein vergleichbarer Rahmen – zumindest in Bezug auf die Ethnisierung von Schüler*innen – im Fall D-InSek2 an, der jedoch nicht systematisch in die Typenbildung einbezogen wurde. Ein empirisches Beispiel zu diesem Fall findet sich im Rahmen der soziogenetischen Reflexion in Abschnitt 6.2.2. Im Folgenden wird zunächst eine exemplarische Unterrichtsinteraktion einbezogen, in der sich die Konstruktion der ethnischen Identität deutlich vollzieht, während jedoch die konstituierende Rahmung bzw. die Erst-Codierung einen stärker impliziten Charakter aufweist. In einer anschließenden Unterrichtsinteraktion ist dies in umgekehrter Weise der Fall: Hier erfolgt die Beurteilung von Produkten der Schülerinnen und die damit verbundene Konstruktion ihrer persönlichen Identität offensichtlicher, während die Konstruktion der ethnischen Identität diffiziler ist. D-Gym1, Videosequenz Karussell (11:55–16:10) Zum Kontext der Videosequenz Die Sequenz steht im Kontext der Einführung in die unterrichtliche Programmatik „Lyrik“ und einem von der Deutschlehrerin Frau Lange initiierten klassenöffentlichen Diskurs über die persönlichen Erfahrungen der Schüler*innen mit dem „Karussell“-Fahren, insbesondere im Rahmen eines lokalen Volksfests, das gerade stattfindet. Vor allem die Schüler*innen schweizerdeutscher Herkunft zeigen sich gesprächsbereit und berichten rege von ihren Erlebnissen mit dem Karussellfahren. Im Anschluss an diesen Diskurs, der nachfolgend in Auszügen dargestellt ist, verteilt die Lehrerin das Gedicht „Das Karussell“ (Rilke) und liest es laut vor, woraufhin sie eine formale und inhaltliche Interpretation des Gedichts im Rahmen eines öffentlichen Unterrichtsgesprächs initiiert (was jedoch nicht mehr Bestandteil der nachfolgenden Videosequenz ist). Die initiierte Interpretation lenkt die Lehrerin dann u. a. auf die im Gedicht beschriebenen Handlungen der Jungen und Mädchen beim Karussellfahren im Hinblick auf Geschlechts- und Altersunterschiede.

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5  Empirische Rekonstruktion von leistungsbezogenen …

Sequenzanalyse US Frage nach Kindheitserinnerungen an das Karussellfahren und das lokale Volksfest (12:22-12:36)

Durch ihre körperlich-räumliche Positionierung adressiert die Lehrerin die Schüler*innen in kollektiver Weise. Letztere zeigen wiederum durch ihre körperlichen Positionierungen insgesamt Bereitschaft an, dem von der Lehrerin strukturierten Unterricht zu folgen, sie orientieren sich an der konstituierenden Rahmung. Wenn die Lehrerin nach den Kindheitserfahrungen der Jugendlichen fragt, wird „Kindheit“ dabei nicht weiter von ihr spezifiziert und somit als eine bekannte Lebensphase vorausgesetzt. Zugleich werden die Schüler*innen dieser Phase als nicht mehr zugehörig gerahmt. Indem sie ein konkretes Karussell im Kontext der gerade stattfindenden lokalen Festivität ins Spiel bringt, werden v. a. diejenigen Schüler*innen angesprochen, die mit beidem, dem Volksfest und dem spezifischen „Karussell“, Erfahrungen verbinden bzw. werden derartige Erfahrungen unterstellt. Ihre weitere Frage, „worauf habt ihr gesessen“, bleibt wiederum unspezifisch und setzt voraus, dass bekannt ist, dass man sich in einem Karussell auf etwas setzen kann und dass sich die Sitzmöglichkeiten voneinander unterscheiden. Es wird hier also ein gemeinsamer Erfahrungszusammenhang zwischen den Schüler*innen und der Lehrerin hinsichtlich des lokalen Volksfestes und dem „Karussell“-Fahren proponiert bzw. unterstellt. Damit werden hier insgesamt Erfahrungen angesprochen, die außerhalb der Organisation Schule bzw. des Unterrichts angesiedelt sind und nun Teil des öffentlichen Unterrichtsdiskurses werden sollen. Unter Hinzuziehung des Kontextwissens lässt sich dabei vermuten, dass dies im Zusammenhang mit dem später eingeführten Unterrichtsgegenstand: Rilkes Gedicht „Das Karussell“, steht. Dies bleibt von der Lehrerin jedoch zunächst unthematisiert.

5.2  Typ II: Primäre Rahmung durch Moralisierung und Konstruktion …

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US „’ne schöne Erinnerung“ an das Karussellfahren mit der Mutter auf dem „X-Platz“ und die Beschaffenheit des „Pferdes“ (12:37–13:03)

Einige Schüler*innen zeigen sich bereit, mit der Lehrerin in Interaktion zu treten und somit – vermutlich – ihre persönlichen Kindheitserfahrungen klassenöffentlich zu teilen. Als Anna aufgerufen wird, rekurriert sie auf den von Frau Lange aufgeworfenen Ort („X-Platz“) und schließt damit an ihre Proposition an. Indem sie ihr damaliges Alter („sieben“) nennt, worauf kein Einwand durch Frau Lange erfolgt, verortet sie sich offenbar auch in der von Frau Lange proponierten Lebensphase. In ihrer anschließenden Erzählung zum Karussellfahren auf dem Volksfest zeichnet sie ein positives Bild ihrer Kindheit im familialen Erfahrungsraum bzw. hinsichtlich ihrer Beziehung zur Mutter, das sie ihrer aktualen Beziehung gegenüberstellt (die sie als durch Streitereien und Distanzierungen geprägt sieht). Die von Anna thematisierte familiale Beziehung wird zwar von der Lehrerin lachend ratifiziert, aber nicht weiter aufgegriffen. Dadurch und indem sie einen Teil ihrer Eingangsproposition wiederholt: die Frage nach den Karussellsitzen, wird der unterrichtliche Rahmen und dessen Grenzen, in denen sich die Darstellung der persönlichen Erfahrungen der Schüler*innen bewegen soll, implizit markiert (Erst-Codierung). Anna folgt dem und beschreibt

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5  Empirische Rekonstruktion von leistungsbezogenen …

ein „Pferd“, was von Frau Lange ratifiziert bzw. validiert wird. Frau Langes anschließende Frage, ob Anna neben ihrem Bruder auf dem Pferd gesessen hat, stellt eine erneute Steuerung des Diskurses dar. Mit der Frage werden nun auch durch sie selbst familiale bzw. außerorganisationale Erfahrungsräume eingebracht bzw. unterstellt. Dabei verweist die Annahme, dass Anna und ihr Bruder gemeinsam Karussell gefahren sind und nebeneinander saßen, auf eine virtuale soziale Identitätsnorm (vgl. Goffman 1967, S. 9 ff.) i.S. entwicklungstypischer Verhaltenserwartungen innerhalb der Familie bzw. zwischen Geschwistern, die hier an die Schülerin herangetragen wird. Darin dokumentiert sich (wiederholt) eine Fremdrahmung, da Anna einwendet, dass es nicht ihr Bruder, sondern ihre Mutter war, die mit ihr auf dem Karussell saß. Indem Frau Lange dies ratifiziert, aber nicht weiter darauf eingeht, wird dem Einwand der Schülerin zwar stattgegeben, aber zugleich werden die Grenzen des Diskurses gesetzt (Erst-Codierung). Dass die Fremdrahmung vor dem Hintergrund der später ­ erfolgenden Lenkung der initiierten Interpretation des Gedichts „Das Karussell“ (Rilke) in Richtung der geschlechts- und altersbezogenen Unterschiede der beschriebenen Jungen und Mädchen auf dem „Karussell“ erfolgt (s. Kontext), kann hier nur vermutet werden. Was hier als Versuch des Anknüpfens an die Erfahrungsräume der Schüler*innen zum Zwecke der Hinführung zum Unterrichtsthema „Lyrik“ und dem anschließend einzuführenden Gedicht „Das Karussell“ interpretiert werden kann (Erst-Codierung), ohne dass dies jedoch von der Lehrerin offen thematisiert wird, geht mit der Proponierung eines geteilten Erfahrungsraums im Kontext lokal-kultureller Traditionen (hier das lokale Volksfest) einher. Dass sich diese Proposition nicht an alle Schüler*innen richtet, dokumentiert sich im weiteren Verlauf des Unterrichtsdiskurses, wenn Frau Lange versucht, die Schülerin Manavi, die sich bisher nicht an dem öffentlichen Klassengespräch beteiligt hat, in den Diskurs einzubeziehen.

5.2  Typ II: Primäre Rahmung durch Moralisierung und Konstruktion …

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US Existenz und Beschaffenheit eines Festes in Indien im Unterschied zum lokalen Volksfest (15:00–16:09)

Ohne dass sie sich gesprächsbereit gezeigt hat, wird Manavi in den öffentlichen Unterrichtsdiskurs einbezogen. In diesem Rahmen wird sie durch ethnischkulturelle bzw. „natio-ethno-kulturelle“ (Mecheril 2010, S. 14; Tervooren 2017, S. 22) Stereotypisierungen klassenöffentlich als kulturell Fremde, als ‚Inderin‘, gerahmt, was mit der Unterstellung ihrer Unvertrautheit mit dem lokalen

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5  Empirische Rekonstruktion von leistungsbezogenen …

Brauchtum bzw. den kulturellen Traditionen (hier das Volksfest und das Karussellfahren) verbunden ist. Es ließe sich auch sagen, dass die Distanzierung bzw. Zurückhaltung der Schülerin bzw. ihre Abweichung von der erwarteten Beteiligung an dem öffentlichen Unterrichtsdiskurs über die (Kindheits-) Erfahrungen des Karussellfahrens (Erst-Codierung) durch die Zuschreibung einer ‚indischen‘ Identität Manavis und einer damit verbundenen Biographie erklärt wird (Zweit-Codierung). Die sich dabei andeutende totale Konstruktion der Identität der Inderin bzw. der Kulturfremden zeigt sich v. a. darin, dass Frau Lange an Manavis Erfahrungen mit dem lokalen Volksfest, die sie bereits im „letzten Jahr“ gemacht hat, nicht weiter interessiert ist. Im Verlauf des Frage-Antwort-Diskurses, in dem Manavi der Annahme einer Nicht-Existenz vergleichbarer Feste in Indien teilweise widerspricht und ansatzweise das aktuell stattfindende Fest beschreibt, worauf Frau Lange dann aber kaum eingeht, bestätigt sich, dass sich die Lehrerin nicht wirklich auf die persönlichen Erfahrungen der Schülerin einzulassen bereit ist, es sich also um keinen nachvollziehenden oder „verstehenden“ (Mannheim 1980, S. 272), sondern um einen „verdachtsgeleiteten“ (Bohnsack 2017a, S. 256 ff.) Zugang handelt. Dabei werden die Beiträge von Manavi durch die stereotypen ­Common-Sense-Vorstellungen der Lehrerin bzgl. der Beschaffenheit von Festen („auf irgendeine Bahn“ gehen, „was Gutes essen“) einerseits und von vermeintlich typischen Aspekten ‚der indischen Kultur‘ andererseits vereinnahmt. Letztere werden von der Lehrerin v. a. gestisch dargestellt: Kopfschmuck aus „Blumen“ sowie Essen mit Händen. Im Zusammenhang mit den teilweise uneindeutig erscheinenden Gesten wird auch der nicht (eindeutig) explizierbare bzw. imaginative Charakter der sozialen Identitätsnorm deutlich (worin sich eine gewisse Homologie zu den Gesten in der Eingangsproposition der Lehrerin hinsichtlich der Kindheitsphase dokumentiert). Dabei werden die fachlichen Bezüge, wie sie sich u. a. in der Interaktion mit Anna andeuten (etwa die Fragen nach der Beschaffenheit des Karussells bzw. des „Pferdes“ und dem Geschwister- bzw. Geschlechterverhältnis), weitgehend suspendiert. Eine homologe Konstruktion gesellschaftlicher bzw. sozialer Identität, d. h. diejenige der Ethnisierung (Zweit-Codierung), dokumentiert sich auch in der nachfolgenden Videosequenz, die im weiteren Verlauf derselben programmatischen Unterrichtseinheit verortet ist. Darin geht es nun primär um die Beurteilung von Produkten der Schüler*innen (Erst-Codierung), hier: ihre selbst erstellten Gedichte. In diesem Zusammenhang kommt es zur Konstruktion der persönlichen Identität der ‚guten‘ bzw. ‚schlechten‘ Schüler*innen (­Zweit-Codierung), die wiederum eine Potenzierung durch die Konstruktion der ethnischen Identität erfährt (weitere Zweit-Codierung).

5.2  Typ II: Primäre Rahmung durch Moralisierung und Konstruktion …

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D-Gym1, Videosequenz Giulias Gedicht (00:00–10:53)23 Zum Kontext der Videosequenz Die Schüler*innen erhalten von der Deutschlehrerin den Auftrag, eigene Gedichte zu schreiben, wobei sie frei in der Wahl des Sujets, der Form und der Sprache sind. Nach gradueller Beurteilung der Gedichte durch die Lehrerin sollen diese an eine über dem Lehrer*innenpult gespannte Schnur gehängt werden. Im Zuge der Bearbeitung der Aufgabenstellung wird das schriftliche Gedicht der Schülerin Giulia von der Lehrerin als korrekturbedürftig beurteilt und es kommt zur gemeinsamen Überarbeitung am Pult. Fotogrammanalyse – Gestaltungsleistungen der abgebildeten Bildproduzent*innen

Abbildung 5.6   Fotogramme KFR 04:34 u. KS 04:34, Videosequenz Giulias Gedicht (00:00–10:53), US Sprachliche Fehler und die Bedeutung von Formulierungen (00:07– 04:35)

Giulia wird in einer frontalen Positionierung zu den anderen Schüler*innen an das Lehrer*innenpult, das Territorium der Lehrerin, gebunden und dadurch exponiert. Frau Lange sitzt zur Seite und etwas zurückgelehnt und nimmt dadurch mit ihrem Oberkörper eine räumliche Distanz zu Giulia ein. Gleichzeitig stellt sie Körperkontakt mit Giulia her, indem sie mit ihrer rechten Hand Giulias Arm berührt. Die Geste erfolgt zum einen relativ dezent durch das Berühren des Arms nur mit den Fingerspitzen (sie umfasst Giulias Arm nicht), zum anderen raumergreifend – durch die gespreizten Finger – sowie nach unten weisend. Die Geste

23Teile

dieser Videosequenzanalyse finden sich in Wagener und Wagner-Willi (2017).

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5  Empirische Rekonstruktion von leistungsbezogenen …

lässt sich als ein vorsichtiges Unterdrücken einer potentiellen (Arm-) Bewegung von Giulia und zugleich als ‚platzanweisend‘ interpretieren. Darin und in dem gleichzeitigen Zurücknehmen des Oberkörpers dokumentiert sich eine Übergegensätzlichkeit von Übergriffigkeit – im Wortsinne – einerseits und deren partielle Zurücknahme bzw. dem Versuch ihrer Verdeckung andererseits. Demgegenüber erhalten die anderen Schüler*innen insgesamt mehr Handlungsspielräume, z. B. durch die Duldung einer gemeinsamen, peerbezogenen Bearbeitung der Aufgabe, was sich u. a. in den Gruppenkonstellationen in den ergänzenden Fotogrammen dokumentiert (KS 04:34 und 06:18; Abbildung 5.6 und 5.7). Währenddessen steht Alexa Frau Lange gegenüber und adressiert sie somit durch ihre gesamthafte Körperposition. Ihr farbiger Papierbogen deutet darauf hin, dass sie bereits zur Fertigstellung des Gedichts übergegangen ist – im Unterschied zu Giulia. Die Adressierung ist zugleich aufgrund der geneigten Kopfhaltung und des fehlenden Blickkontakts ebenfalls übergegensätzlich bzw. ambivalent: Sie signalisiert ihre Bereitschaft, ihr Produkt und damit sich selbst sichtbar machen zu lassen, sowie ihre Orientierung an den Anweisungen von Frau Lange. Zugleich distanziert sie sich davon. Zudem ist ihr Blick von dem Interaktionsgeschehen zwischen Frau Lange und Giulia abgewandt, d. h., sie wahrt demgegenüber eine gewisse Distanz bzw. Diskretion. Zur Diskretion und Distanz kommt aber auch – insbesondere durch die Kopfhaltung, die den Eindruck einer Art Büßerhaltung vermittelt – ein geduldiges Warten auf die Sanktionierung hinzu: Wird mein Gedicht aufgehängt und damit – im doppelten Sinne – erhöht oder nicht? Diese Spannung dokumentiert sich ebenso darin, dass Alexa ihr Produkt in gewisser Weise versteckt. Zur Gradierung kommt es dann einen kurzen Moment später, wenn Alexa – unter Aufsicht der Lehrerin – ihr Gedicht an die Schnur hängt (s. Abbildung 5.7).

Abbildung 5.7   Fotogramme KFR 06:18 u. KS 06:18, Videosequenz Giulias Gedicht (00:00–10:53), US Vorzeigen von Gedichten und Aufhängen eines „sehr guten“ Gedichts (04:35–06:28)

5.2  Typ II: Primäre Rahmung durch Moralisierung und Konstruktion …

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Die Einschränkung (bei Giulia) bzw. Erweiterung von Handlungsautonomie steht hier – homolog zu D-InSek1 bzw. Typ I – im Zusammenhang mit der Bewertung der Produkte (hier: die verschriftlichten Gedichte der Schüler*innen) und ihrer klassenöffentlichen Hierarchisierung, wie sich an der ‚Zurschaustellung‘ der graduell als gut bewerteten Gedichte durch das sukzessive Aufhängen an die Schnur über dem Lehrer*innenpult zeigt. Wie sich im folgenden Auszug der verbalen und korporierten Interaktion zwischen Frau Lange und Giulia in Bezug auf das Gedicht der Schülerin dokumentiert, kommt es im Zuge der Übertragung der Beurteilung des Produkts auf die Gesamtperson, der Konstruktion der persönlichen Identität, zur Ethnisierung Giulias und damit zur Konstruktion ihrer sozialen Identität. Sequenzanalyse US Sprachliche Fehler und die Bedeutung von Formulierungen (00:07–04:35) (Auszug)

Es dokumentiert sich eine sprachkulturell-milieuspezifische Rahmeninkongruenz zwischen Frau Lange und Giulia, bei der die Deutschlehrerin primär an einer syntaktisch-lexikalischen Korrektheit, die Schülerin jedoch v.  a. an einer semantischen Transformation ihres Gedichts in die deutsche (Standard-)Sprache orientiert ist. In Verbindung mit der Orientierung an der l­exikalisch-syntaktischen Korrektheit fordert Frau Lange von Giulia, das Gedicht auf Italienisch zu verfassen. Auf die Semantik geht die Lehrerin wiederum nicht ein. Wenn Frau

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5  Empirische Rekonstruktion von leistungsbezogenen …

Lange einen kausalen Zusammenhang herstellt derart, dass, weil dieser Text ihre, Guilias, Dichtung sei, sie das Gedicht auch auf Italienisch verfassen müsse, bedeutet dies, dass sie Giulia nicht als eine (schweizer-)deutsche oder möglicherweise transnationale, sondern als eine italienische Dichterin sieht. Ihr wird also eine Identität als Italienerin zugeordnet – in Abgrenzung von einer (schweizer-)deutschen oder transnationalen Identität – und dies nicht nur auf der f­ormal-sprachlichen Ebene, sondern auf der Ebene einer tiefergehenden Semantik, derjenigen der Dichtung. Somit tritt in diesem Fall neben der ErstCodierung nach Leistung und der Zweit-Codierung im Bereich der persönlichen Identität eine Zweit-Codierung im Bereich der sozialen Identität hinzu und potenziert die Stigmatisierung insgesamt. Wie in der Fotogrammanalyse herausgearbeitet wurde, geht diese machtstrukturierte Konstruktion mit der Unterdrückung von Distanzierungsmöglichkeiten auf der korporierten Ebene und dem Versuch ihrer Invisibilisierung einher. Im weiteren Verlauf der Interaktion zwischen Giulia und Frau Lange wird die Rahmeninkongruenz nicht aufgehoben, und sie endet schließlich damit, dass beide zu der Entscheidung gelangen, dass Giulia das Gedicht auf Italienisch schreibt. Im Kontrast dazu steht die Beurteilung der Produkte der schweizerdeutschen Schüler*innen, wie sich exemplarisch im folgenden Sequenzauszug derselben Unterrichtssituation zeigt: US Positive Beurteilung zweier Gedichte und anschließendes Aufhängen an der Schnur (04:35–06:28) (Auszug) Emira steht vorgebeugt am Lehrer*innenpult, an dem Fr. Lange und Giulia sitzen. Vor Fr. Lange liegt ein weißes Blatt Papier. Emira berührt es kurz mit dem linken Zeigefinger und sagt: Also die zwei. Fr. Lange hält das Blatt mit beiden Händen vor sich. Während sie zu lesen beginnt, beugt sich Giulia über ihr eigenes Gedicht und beginnt, mit einem Stift in der rechten Hand darauf zu schreiben. Fr. Lange liest: °Mit jedem Jahr steigt die Zahl aus (kleinem) Glückwunsch Nachrichten; ob auch meine Weisheit dabei steigt° @(1)@ super. (.) sehr gut. °teure Schminke Markenkleider Sack voll Geld ein neues Haus dies wünsch ich mir zum Ehrentag; doch wer das wohl° (1) doch (.) Sie beugt sich leicht vor, fährt mit dem linken Zeigefinger über das Blatt und sagt: wer das wohl bezahlen mag? Dann schaut sie Emira an und sagt: au- Frogezeiche24. Emira schaut sie kurz an, nickt mit dem Kopf und sagt: °Ähä.° Fr. Lange sagt: Ja gut., schaut

24Standarddeutsch:

Fragezeichen

5.2  Typ II: Primäre Rahmung durch Moralisierung und Konstruktion …

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wieder auf das Blatt und liest: dies ist mein erster Test; Währenddessen sagt Emira: °(Ja) däs-° und wedelt kurz mit der rechten Hand vor ihrem Oberkörper. Fr. Lange liest weiter: Meine (.) hä?, beugt sich leicht vor und richtet ihren linken Zeigefinger auf das Blatt. Emira beugt sich ebenfalls vor, richtet ihren rechten Zeigefinger zuerst auf das Blatt, führt ihn dann links um ihren Oberkörper herum nach hinten in Richtung der Tischreihen und sagt: Ähm das ist das andere mit dem ich °(begonnen habe).° Fr. Lange sagt, noch während Emira spricht: Genau. meine (.) Emira sagt: Neue Fr. Lange beugt sich wieder vor, richtet ihren linken Zeigefinger auf das Blatt und sagt: Und was- Emira beugt sich ebenfalls vor, richtet kurz ihre verschränkten Hände auf das Blatt und sagt zeitgleich: (Neue Be-) Fr. Lange sagt: Neue Bekanntschaft, Bekanntschaft gross, Gefangenschaft gross, dies ist mein Resultat; Verrat, Sie schaut Emira an, hebt den linken Zeigefinger und sagt: Zwei r und gross. Emira nickt währenddessen mehrmals. Frau Lange nimmt hier die Prüfung von Emiras Produkt am Lehrer*innenpult in Anwesenheit von Giulia vor. Dabei zeigt sie sich amüsiert über die Dichtung und bewertet sie äußerst positiv, im Unterschied zu Giulias Gedicht. Das Bewertungskriterium scheint hier nicht nur auf syntaktisch-semantischer, sondern auch auf der Ebene von ‚lyrischen Pointen‘ zu liegen. Diese setzen wiederum eine größere Vertrautheit im Umgang mit der Bezugssprache voraus. Zudem wechselt Frau Lange kurzzeitig ins Schweizerdeutsche, wenn sie einen grammatikalischen Fehler in Emiras Gedicht korrigiert. Dies fällt insofern auf, als dass sie dies während der Korrektur von Giulias Gedicht nicht tut. Diese Differenz in der Ansprache verweist auf etwas Habituelles und markiert, über die gemeinsame Vertrautheit in Bezug auf ‚lyrische Pointen‘ hinaus, die Zugehörigkeit zu demselben sprachlichen Erfahrungsraum jenseits der formalen Regel der Verwendung des Standarddeutschen im Unterricht – auch im Unterschied zur Kommunikation mit Giulia. Es wird somit deutlich, dass die Übertragung der Bewertung der syntaktischen und lexikalischen Unkorrektheiten in Giulias Gedicht von der Ebene des Produkts, d. h. von der Erst-Codierung auf die Zweit-Codierung, also auf die Gesamtperson (i.S. der Konstruktion einer totalen Identität), wesentlich durch Elemente spachkulturell-milieuspezifischer Fremdheit bzw. Rahmeninkongruenz überlagert und potenziert wird. Das bedeutet, dass die u­ nterrichts- und schulspezifische, also organisationsspezifisch von der Leistungsbewertung ausgehende Konstruktion der totalen Identität der ‚schlechten‘ Schülerin als eine Basisstruktur des unterrichtlichen Erfahrungsraums der Organisation Schule sekundär überlagert und potenziert wird durch eine ethnisierende Konstruktion totaler Identität, die auf

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5  Empirische Rekonstruktion von leistungsbezogenen …

gesellschaftlicher Ebene angesiedelt ist.25 Im Vergleich der beiden Videosequenzen wird deutlich, dass die Konstruktion der totalen Identität durch Ethnisierung wesentlich im Zusammenhang mit der Abweichung von den fachlichen Normen steht.

5.3 Typ III: Primäre Rahmung durch Pathologisierung und Konstruktion ‚behinderter‘ Identität Typ III findet sich in fast allen einbezogenen Fällen mit ‚integrativer‘ bzw. ‚inklusiver‘ Programmatik sowie fächerübergreifend (D-InSek1, M-InSek2 und K-InSek2) und betrifft die Interaktion der Vertreter*innen der Schulischen Heilpädagogik (Schulische Heilpädagoginnen sowie ein Praktikant in InSek2) mit Schüler*innen mit einem attestierten „besonderen Bildungsbedarf“. In einem Fall (D-InSek1) ist die primäre Rahmung hingegen ausschließlich mit der sonderpädagogischen Programmatik bzw. Rollendefinition „verstärkte Massnahmen“ (Art. 5 Sonderpädagogik-Konkordat; s. Abschnitt 4.3) verknüpft. Dies betrifft nur zwei der vier Schüler*innen mit zugewiesenem „besonderen Bildungsbedarf“. Eine weitere Ausnahme stellt der Kunstunterricht (K-InSek1) dar (Typ V; s. Abschnitt 5.5), in dem weder die beiden Schüler*innen, die „verstärkte Massnahmen“ erhalten, noch Schulische Heilpädagog*innen anwesend sind. Dort findet sich Typ III nicht. Die betreffenden Schüler*innen werden in der Unterrichtsinteraktion als weitgehend unselbstständig bzw. unterstützungsbedürftig sowie leistungsunfähig gerahmt. Damit verbunden sind eine auf Dauer gestellte Einschränkung ihrer persönlichen Autonomie und eine erhöhte Kontrolle durch die Schulischen Heilpädagoginnen (und zusätzlich durch einen Praktikanten in InSek2). Somit geht die Suspendierung der Leistungsordnung mit einer weitgehenden Entmündigung dieser Schüler*innen hinsichtlich der Beteiligung an der Unterrichtsorganisation einher. Es handelt sich dabei um Komponenten der Suspendierung eigenverantwortlichen Handelns, also Komponenten einer Pathologisierung – nicht im medizinischen, sondern im soziologischen Sinn26 (vgl. Bohnsack 1983, S. 75) –, die sich von

25Es

zeigen sich damit in gewisser Weise Übereinstimmungen mit den praktikentheoretisch formulierten Schlussfolgerungen von Rabenstein et al. (2013, S. 67) auf der Grundlage ihrer Unterrichtsbeobachtungen, dass Leistung als „leitende und übergreifende pädagogische Ordnung“ andere Ordnungen wie die „Geschlechter- oder Altersordnung“ umfasst. 26Dennoch

können m ­ edizinisch-psychiatrische Pathologisierungen den soziologischen durchaus ‚vor‘- oder ‚zwischengelagert‘ sein (bspw. die Diagnose „Autismus“ bei einem Schüler mit attestiertem „besonderen Bildungsbedarf“ in InSek2).

5.3  Typ III: Primäre Rahmung durch Pathologisierung und Konstruktion …

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der Moralisierung (vgl. ebd.; Garfinkel 1967b, S. 206) der Schüler*innen ohne attestierten „besonderen Bildungsbedarf“ in den Typen I und II aufgrund der Zuschreibung einer grundsätzlichen Eigenverantwortlichkeit für deren Handeln unterscheidet. Die differenten Interaktionssysteme und ihre jeweiligen Rahmen der Identitätskonstruktion in den ‚integrativen‘ Klassen zeichnen sich am deutlichsten in ihrer gemeinsamen Prozessierung ab, wie sich dies bereits in der Darstellung von Typ I auf der Grundlage von Videosequenzen aus D-InSek1 angedeutet hat (s. Abschnitt 5.1). In der folgenden Videosequenz desselben Unterrichts dokumentieren sich ebenfalls beide Rahmen der Identitätskonstruktion, wobei der Analysefokus nun auf die Interaktion zwischen der Schulischen Heilpädagogin Frau Werner und den Schülern Cem und Basil, die beide „verstärkte Massnahmen“ erhalten, gerichtet wird. Während des „Inputs“ – die Einführung in die neue Unterrichtsprogrammatik „Verben und ihre Zeitformen“ –, der von der Deutschlehrerin Frau Wyss angeleitet wird und der Videosequenz WhatsApp (s. Abschnitt 5.1) zeitlich vorgelagert ist, erhalten die Schüler*innen die explizit zur Kooperation anregende Aufgabe, Verbformen auf kleinbedruckten Papierstreifen auf dem Gruppentisch zu ordnen.

Abbildung 5.8   Fotogramm KFR 01:37; Videosequenz Input Deutsch (00:00–02:58), pUS Paralleles Unterrichtsgespräch (00:05–01:04)

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5  Empirische Rekonstruktion von leistungsbezogenen …

In der abgebildeten Unterrichtssituation (Abbildung  5.8) dokumentieren sich verschiedene simultane „Interaktionszentren“ (Wagner-Willi/Sturm 2015b, S. 237): Während die Mehrheit der Schüler*innen auf die Handlungen von Frau Wyss (und Joana) am Gruppentisch ausgerichtet ist, stehen Emre, Paolo und Nino in einer Interaktion abseits des Interaktionsgeschehens um Frau Wyss und somit zur Bearbeitung des o. g. Arbeitsauftrags. Ihre hierzu distanzierten Positionierungen sowie lässigen Körperhaltungen und Gesten (Paolo) verweisen auf keinen direkten Bezug zu dem öffentlichen Unterrichtsgeschehen, was wiederum von den anderen Anwesenden, v. a. den Lehrkräften, unbeachtet bleibt bzw. zu bleiben scheint (Frau Werner). Zugleich sind Cem und Basil ebenfalls abseits des öffentlichen Unterrichtsgeschehens positioniert (auf der gegenüberliegenden Seite des Gruppentischs). Sie befinden sich jedoch in unmittelbarer Nähe zu Frau Werner und Herrn Peters, worin sich eine homologe Konstellation zur Videosequenz WhatsApp (s. Abschnitt 5.1) dokumentiert. Während jedoch Herr Peters etwas Abstand zu Cem und Basil aufweist und auf das Interaktionsgeschehen um Frau Wyss ausgerichtet ist, steht Frau Werner in unmittelbarer Nähe zu den beiden Schülern und wird von Cem (vermutlich) körperlich adressiert. Im Vergleich der beiden abseitigen Gruppen dokumentiert sich eine zu anderen Videosequenzen aus D-InSek1 (WhatsApp, Profis; s. Abschnitt 5.1) homologe Differenz, die mit der Erweiterung persönlicher Autonomie aufseiten der ‚leistungsstarken‘ Schüler (v. a. Emre und Nino) aufgrund der Duldung von Rollendistanz bzw. Überschreitungen des formellen Unterrichtsrahmens einerseits und der Einschränkung durch (heil-)pädagogische Interventionen bei Cem und Basil andererseits einhergeht. In beiden Fällen ist dies mit der Konstruktion totaler Identität verbunden. Im letztgenannten Fall steht die Konstruktion totaler Identität im Zusammenhang mit der Absprache von Kompetenz und eigenverantwortlichem Handeln im Unterricht, wie sich in der folgenden Interaktion zwischen Frau Werner, Cem und Basil dokumentiert:

5.3  Typ III: Primäre Rahmung durch Pathologisierung und Konstruktion …

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Frau Werner tri von hinten an Basil, der auf Abstand hinter der rechten Tischseite steht, heran. Sie berührt ihn flüchg mit der linken Hand an dessen rechter Schulter und sagt: °(So) ihr zwei°. Sie blickt in Cems Richtung, sagt °(komm)°, führt die Hände mit gestreckten Zeigefingern am Mund zusammen, beugt sich dabei leicht nach vorne, dreht den Kopf etwas zu Basil und sagt noch etwas (unverständlich), sich wieder aufrichtend. Basil tri dabei zurück, während Cem (von rechts ins Kamerabild kommend) an Frau Werner herantri, den Kopf in ihre Richtung wendet und mehrmals nickt (während Basil dadurch im Kamerabild von Cem verdeckt wird). Frau Werner blickt zu Cem, der wieder einen Schri zurücktri (und damit aus dem Kamerabild herausgeht, während Basil damit wieder ins Bild kommt), während sie fragt: weißt du was aktiv und was. Frau Werner dreht den Kopf nach links zu Basil, ppt kurz mit ihren einander umfassenden Händen auf Brusthöhe in seine Richtung und sagt leise etwas (unverständlich). Dann führt sie ihre Hände mit gestreckten Zeigefingern wieder zum Mund, dreht den Kopf erneut in Cems Richtung, geht einen Schri auf ihn zu und fragt: weißt du was, deutet kurz mit ihren sich umfassenden Händen in Cems Richtung, aktiv und was passiv, was das heißt? Dabei hält Frau Werner ihre Hände vor der Brust und bewegt sie mehrmals rhythmisch vor und zurück. wenn ich dir sage, Frau Werner deutet mit dem linken Zeigefinger in Richtung Cem, du bist aktiv?. Einen Moment später sagt sie, mit Kopfnicken: genau. dann tut man etwas, ganz genau, dann macht man etwas. Dabei bewegt sie ihre Hände schnell aufeinander zu und wieder auseinander. Sie dreht sich zum Tisch, deutet darauf und sagt: schau mal (.) komm und Cem tri an den Tisch heran, wo er sich mit der linken Hand abstützt. Beide blicken dorthin, wo gerade Joana die Posion einiger Papierstreifen verändert. Basil, der hinter beiden steht, tri einen Schri zur Seite, und blickt zwischen Cem und Frau Werner auf den Tisch. Als Frau Werner Cem etwas zuflüstert und dieser sich anschließend fast synchron mit ihr über den Tisch beugt, tri Basil im Hintergrund einige Schrie zur Seite und an den Tisch heran, wodurch sich sein Sicheld auf den Tisch offenbar verbessert.

(Videotranskript, Videosequenz Input Deutsch, 00:00–02:58, pUS Paralleles Unterrichtsgespräch, 00:05–01:04) Cem und Basil sind zunächst auf das offizielle, von der Deutschlehrerin angeleitete Unterrichtsgeschehen ausgerichtet und zeigen keinen Interaktionsbzw. Unterstützungsbedarf an. Im Kontrast dazu steht Frau Werners Adressierung der beiden Schüler parallel zu dem von der Deutschlehrerin geführten Diskurs. Dabei markiert ihre Ansprache: „So ihr zwei“, eine nicht weiter explizierte Zusammengehörigkeit der Schüler, der ein unmittelbares Wegführen der beiden von der öffentlichen Unterrichtssituation folgt, ebenfalls ohne dies weiter zu erläutern. Mit ihrer Frage, ob sie bzw. Cem wüsste(n), was „aktiv“ und „passiv“ bedeutet, bezieht sie sich auf „die inhaltliche Voraussetzung der potentiellen Zuordnung der Begriffe zu den Verben“ (Sturm/Wagner-Willi 2016b, S. 217) in dem wesentlich von der Deutschlehrerin strukturierten Unterrichtsdiskurs. Damit geht einerseits eine Kompetenzabsprache gegenüber Cem und Basil in Differenz zu den anderen Schüler*innen einher. Dieser Absprache von Kompetenz steht Cems offensichtliche Kenntnis der grammatikalischen Bedeutung von „aktiv“ gegenüber. (Diese ist zwar aufgrund der Kamera- bzw. Mikrofonposition nicht durch seine verbale Antwort dokumentiert; sie geht jedoch aus der Validierung

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5  Empirische Rekonstruktion von leistungsbezogenen …

durch Frau Werner hervor.) Frau Werner initiiert anschließend die Rückkehr mit Cem an den Tisch, während Basil im Hintergrund verbleibt. Durch das Weg- bzw. Hinführen vom bzw. zum öffentlichen Unterrichtsgeschehen am Gruppentisch werden die beiden Schüler andererseits als unselbstständig gerahmt. Dies steht ebenfalls im Kontrast zu den anderen Schüler*innen, denen hier verschiedene Handlungsmöglichkeiten offenstehen, sich an der Unterrichtsinteraktion zu beteiligen bzw. sich dieser zu entziehen (vgl. Fotogramm KFR 01:37; Abbildung 5.8). Die Differenzkonstruktionen werden in einem eingespielt-routinierten Modus prozessiert, was insbesondere in der Inter­ aktion zwischen Frau Werner und Cem sichtbar wird. Gleichwohl lassen sich Distanzierungsversuche erkennen, hier v. a. seitens Basils, wenn dieser von Frau Werner zurücktritt oder ihrem Zurückführen an den Gruppentisch nicht folgt; aber auch von Cem, wenn dieser sich – in einem späteren Moment desselben Unterrichtsarrangements (vgl. Elseberg 2016) – einer erneuten Intervention der Heilpädagogin durch die Initiierung einer Interaktion mit seinen Mitschülern auf der anderen Tischseite entzieht. Indem die Heilpädagogin hier ihre Interventionen diskret vollzieht und das Interaktionsgeschehen um die Deutschlehrerin nicht zu stören sucht, dokumentiert sich einerseits dessen Respektierung sowie eine gewisse Unterordnung gegenüber diesem. Es lässt sich hier jedoch nicht von einer privaten Situation sprechen, so dass die Sichtbarkeit der Marginalisierung von Cem und Basil innerhalb des Klassengefüges aufrechterhalten bleibt. Durch das Agieren auf der „Hinterbühne“ (Goffman 1969, S. 99 ff.) wird somit andererseits die machtstrukturierte Differenzkonstruktion verdeckt gehalten bzw. einer öffentlichen Aushandlung entzogen.27 Bei M-InSek2 steht das Typ III repräsentierende Interaktionssystem von Schulischer Heilpädagogik und den drei Schüler*innen mit attestiertem

27Diese praktizierten ­ schüler*innen-bezogenen „Zuständigkeiten“ der Professionellen – der Schulischen Heilpädagogin(nen) gegenüber den beiden Schülern mit attestiertem „besonderem Bildungsbedarf“ und „verstärkten Massnahmen“, Cem und Basil, sowie der Deutschlehrerin gegenüber den Schüler*innen ohne dieses Etikett – bezeichnen Sturm und Wagner-Willi (2016b, S. 218) mit Bezug auf Dieter Katzenbach und Valeska Olde (2011) als ein sich gegenseitig bedingendes und stabilisierendes Praxismuster der „Delegation und Kompensation“. Die dadurch hervorgebrachte Marginalisierung Cems und Basils dokumentiert sich zudem in der sozial- und physisch-räumlich exkludierenden Praxis des von den Schulischen Heilpädagoginnen separat durchgeführten Unterrichts mit den beiden Schülern. Dieser weist eine Programmatik mit deutlich geringerer Komplexität als der von den Fachlehrkräften geführte Unterricht auf (vgl. insbesondere für das Fach Mathematik dieser Schulklasse: Sturm/Wagner-Willi 2016a).

5.3  Typ III: Primäre Rahmung durch Pathologisierung und Konstruktion …

123

„besonderen Bildungsbedarf“ in Relation zu dem Interaktionssystem, das sich v. a. aus den Interaktionen von Fachlehrkraft, der Mathematiklehrerin Frau Krüger, und den Schüler*innen des Bildungsgangs mit „erweiterten Ansprüchen“ konstituiert (Typ IV; s. Abschnitt 5.4). Auch hier dokumentiert sich in der Interaktion zwischen den Vertreter*innen der Schulischen Heilpädagogik und den Schüler*innen mit „besonderem Bildungsbedarf“ – Kira, Linda und Lirim – eine weitreichende Entmündigung dieser Schüler*innen bzgl. der Beteiligung an der von der Mathematiklehrerin strukturierten Unterrichtsorganisation bzw. -interaktion. Dabei zeigen sich jedoch graduelle Abstufungen, die wiederum mit unterschiedlich starken Einschränkungen der individuellen Handlungsautonomie einhergehen. Diese sind v. a. auf die Interventionen der Schulischen Heilpädagogin, Frau Franke, und des Praktikanten, Herr Egger, zurückzuführen, die – in (räumlich) gemeinsam mit den anderen Schüler*innen und der Mathematiklehrerin stattfindenden Unterrichtssituationen – zugleich zu verdecken versucht werden, wie sich u. a. im Rahmen der Einführung in eine Gruppenarbeit zeigt:

Abbildung 5.9   Fotogramm KFR 03:05; Videosequenz Einführung in die Gruppenarbeit „Knack die Box“ (00:58–03:58), US Bestimmen einer „verantwortlichen Person“ pro Gruppe (02:29–03:20)

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5  Empirische Rekonstruktion von leistungsbezogenen …

(Auszug Videotranskript, Videosequenz Einführung in die Gruppenarbeit „Knack die Box“, 00:58–03:58, US Bestimmen einer „verantwortlichen Person“ pro Gruppe, 02:29–03:20) Indem die „Wahl“ einer „verantwortlichen Person“ pro Gruppe, die dafür Sorge zu tragen hat, dass das Unterrichtsmaterial für die Gruppenarbeiten unbeschädigt bleibt, von der Mathematiklehrerin selbst durchgeführt wird, dokumentiert sich zum einen die erhöhte Steuerung der Unterrichtsorganisation durch Frau Krüger. Dies beinhaltet homolog die Einteilung der Gruppen, welche die Mathematiklehrerin zuvor selbst vorgenommen hat (die hier aber nicht abgedruckt ist). Mit der Orientierung der Lehrerin an einer erhöhten Steuerung ist auch die stellvertretende Disziplinierung Dans verbunden, worin sich der kontrollierte Zugriff auf die Peeraktivitäten zur Gewährung eines möglichst störungsfreien Unterrichtsverlaufs dokumentiert. Zum anderen dokumentiert sich in dem Auftrag eine erhöhte Anforderung an die Selbstständigkeit und Eigenverantwortlichkeit

5.3  Typ III: Primäre Rahmung durch Pathologisierung und Konstruktion …

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der Schüler*innen im Rahmen der Aufgabenbearbeitung. Dazu zählt auch die Gruppenbildung, deren Tempo durch die meisten Schüler*innen hier mehr oder weniger selbst bestimmt wird bzw. werden darf. Im Kontrast dazu steht die Handlung der Schulischen Heilpädagogin, die Kira mehrfach korporiert auffordert, sich der Gruppenbildung anzuschließen. Es dokumentiert sich darin eine Einschränkung der persönlichen Handlungsautonomie der Schülerin, die mit der Absprache eigenverantwortlichen Handelns verbunden ist. Dies wird v. a. im Vergleich zu Melek deutlich, die derselben Gruppe zugeteilt ist. Sie hat sich zu diesem Zeitpunkt ebenfalls noch nicht umgedreht, um sich den anderen Gruppenmitgliedern (Timur und Isabella) zuzuwenden. Melek wird hier jedoch nicht aufgefordert, ihre räumliche Position zu verändern. Zudem erfolgen Frau Frankes Interventionen in dezenter Weise, worin sich – homolog zu weiteren Videosequenzen – eine Übergegensätzlichkeit von körperlichem Übergriff und dem gleichzeitigen Versuch seiner Verdeckung dokumentiert. Kira leistet der ersten Aufforderung von Frau Franke jedoch nicht unmittelbar Folge. Indem sich Frau Franke weiterhin in ihrer Nähe positioniert (was im Videoprotokoll festgehalten ist), hält sie sich für einen weiteren kontrollierten Zugriff bereit. Dieser erfolgt, nachdem Melek sich eigenständig zu den anderen Gruppenpartner*innen umdreht, während Kira weiterhin in ihrer Position verweilt. In der erneuten Intervention, die in dem Eingriff in das Körperterritorium der Schülerin eine Steigerung erfährt (s. Abbildung 5.9), dokumentiert sich die Einschränkung der Möglichkeit zur Rollendistanz für die Schülerin, die die Aufforderung schließlich enaktiert. Die Entmündigung der Schüler*innen mit zugeschriebenem „besonderen Bildungsbedarf“ geht in der für diesen Mathematikunterricht regelmäßig stattfindenden physisch-räumlichen Separation dieser Schüler*innen so weit, dass systematisch mit Dritten über sie kommuniziert und ihnen auch eine eigenverantwortliche bildungsbiographische Planung aberkannt wird, wie sich im folgenden Ausschnitt einer Videosequenz dokumentiert: Im Zuge der Rückgabe eines unbenoteten Tests, die parallel zu der eines benoteten Tests an die Schüler*innen ohne „besonderen Bildungsbedarf“ im Klassenraum erfolgt, wird die Schülerin Linda von der Schulischen Heilpädagogin aufgefordert, zu erklären, was in den Testaufgaben zu tun war.

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5  Empirische Rekonstruktion von leistungsbezogenen …

(Auszug Videotranskript, Videosequenz Testrückgabe im Nebenraum, 08:23– 11:55, US Testaufgaben und deren zukünftige Zweckmäßigkeit, 09:44–11:55) Frau Franke wechselt hier von der Aufforderung zur Inhaltsangabe zur Aufforderung der Einschätzung der persönlichen Zweckmäßigkeit der Aufgabe, wobei sie in ihrer vage gehaltenen Frage einen Zukunftsbezug herstellt („mal“). Linda antwortet bildungsbiographisch-antizipierend mit Bezug zur Bildungsorganisation Universität bzw. Hochschule („Studieren“). Der Zugang zu dieser Organisation setzt wiederum hohe formalisierte bzw. objektivierte Leistungsbewertungen voraus. Dies steht im Kontrast zu der Ausnahme der Schüler*innen mit „besonderem Bildungsbedarf“ von der Notenvergabe, wie sie sich auch hier in dem unbenoteten Test widerspiegelt. Frau Franke wiederholt zunächst langsam ihre Antwort und ratifiziert sie. Indem sie dann den Forscher hinter der Kamera sowie Herrn Egger anschaut, bezieht sie Dritte in die Interaktion ein. In ihrem Grinsen dokumentiert sich zudem eine Form der Belustigung über bzw.

5.3  Typ III: Primäre Rahmung durch Pathologisierung und Konstruktion …

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ein Nicht-Ernstnehmen von Lindas Antwort. Dies wird jedoch nicht offen an sie herangetragen, wodurch sie nicht als ernstzunehmende Gesprächspartnerin anerkannt wird. Frau Franke geht auch nicht weiter auf Lindas Antwort ein, sondern gibt eine andere, mit einer alltagspraktischen Zweckmäßigkeit verbundene Alternative vor. Insgesamt wird hier Lindas bildungsbiographische Planung als völlig abwegig gerahmt.28 Die Kommunikation mit Dritten als ‚Eingeweihte‘ über die Identität der Schülerin verstärkt ihre Marginalisierung einerseits. Andererseits verhindert die nicht-offene Kommunikation gegenüber Linda eine Metakommunikation über die essentialisierende bzw. totale Identitätskonstruktion. Im Kunstunterricht derselben Schulklasse, K-InSek2, zeigt sich ein homologer Rahmen der Konstruktion der Identität der Schüler*innen mit „besonderem Bildungsbedarf“. Allerdings werden die Interventionen der Schulischen Heilpädagogin, Frau Seematter, und des Praktikanten in dem hier räumlich gemeinsam stattfindenden Unterricht nicht zu verdecken versucht. Dies steht im Zusammenhang mit einer weitgehend fehlenden konstituierenden Rahmung der Interaktion zwischen Fachlehrkraft, dem Kunstlehrer Herr Krause, und den Schüler*innen ohne „besonderen Bildungsbedarf“ (s. dazu ausführlich: Abschnitt 5.5). Beide Orientierungsrahmen dokumentieren sich in der folgenden Unterrichtssituation, welcher der Auftrag an alle Schüler*innen vorausgeht, ein Quadrat zu konstruieren (im Kontext einer umfangreichen, etwas überkomplex erscheinenden Gesamtaufgabe29).

28Die

Praxis der totalen Aberkennung des schul- bzw. bildungsbezogenen Aufstiegs steht dabei in Diskrepanz zu den formal-rechtlichen Regelungen, die eine kontinuierliche Überprüfung des Status „besonderer Bildungsbedarf“ vorsehen sowie eine Statusänderung nicht ausschließen (vgl. Art. 6 Sonderpädagogik-Konkordat). Es zeigt sich hier anschaulich, dass keineswegs ohne Weiteres von der Regel auf die Praxis geschlossen werden kann (s. auch Abschnitt 2.2). 29Der gesamte Arbeitsauftrag umfasst zunächst das Zeichnen eines Quadrats mit 26 cm Seitenlänge als Bildrahmen. In diesen sollen dann mindestens vier „ausgeschnittene Buntstifte“ geklebt werden, außerdem ein Bleistift mit passenden Proportionen zur Mine („Sechseck“) gezeichnet und um diesen herum ein Knoten gemalt werden, den die Schüler*innen zuvor „auswendig lernen“ sollten (Zitat Kunstlehrer).

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5  Empirische Rekonstruktion von leistungsbezogenen …

(Auszug Videotranskript, Videosequenz Konstruieren eines Quadrats, 11:43–12:10, US Fragen nach dem „Trick“ der Quadratkonstruktion sowie Organisation und Fragen zu den Arbeitsmaterialien, 11:43–12:10) Der Fokus der folgenden Interpretation liegt auf der Interaktion zwischen der Schulischen Heilpädagogin, Frau Seematter, und dem Praktikanten, Herr Egger, mit den Schüler*innen mit „besonderem Bildungsbedarf“, Linda, Kira und Lirim. Die Rekonstruktion des Orientierungsrahmens der Interaktion zwischen dem Kunstlehrer und den Schüler*innen ohne „besonderen Bildungsbedarf“ findet sich, wie erwähnt, in Abschnitt 5.5. In den Handlungen der Heilpädagogin: das Organisieren der Arbeitsmaterialien von Linda bzw. das Platzieren eines Hockers neben ihr, zeigt sich eine Übernahme von Unterrichtsaktivitäten für die Schülerin bzw. deutet sich eine auf

5.3  Typ III: Primäre Rahmung durch Pathologisierung und Konstruktion …

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Dauer gestellte individuelle Hinwendung zu ihr an, was insgesamt im Kontrast zu der (weitgehend) selbstständigen Organisation seitens der Schüler*innen ohne „besonderen Bildungsbedarf“ steht. Es dokumentiert sich darin ebenfalls eine Homologie zu der Übernahme von (produktbezogenen) Unterrichtsaktivitäten und der damit verbundenen Einschränkung der Handlungsautonomie der anderen Schüler*innen mit „besonderem Bildungsbedarf“, Kira und Lirim, in weiteren Videosequenzen dieses Kunstunterrichts, wobei Herr Egger hier (zunächst) eine größere Distanz gegenüber Lirim wahrt. Im weiteren Verlauf deutet sich zudem eine Ambivalenz in den Handlungen der Heilpädagogin in Bezug auf Linda an, wenn sie einen zweiten Papierbogen auf ihrem Tisch platziert. Da die anderen Schüler*innen nur einen Bogen (von Marvin) erhalten (Kontextwissen), scheint es sich hierbei um einen ‚Ersatzbogen‘ zu handeln. Der Schülerin wird offenbar ex ante ein geringeres Maß an Kompetenz zur Bewältigung der Aufgabe zugeschrieben. Zugleich ist damit die Erwartung verbunden, dass Linda die Aufgabe selbstständig(er) bearbeitet, was sich im Vergleich mit den stärkeren Interventionen – die vollständige Übernahme der Aufgabenbearbeitung – bei Kira und Lirim in anderen Sequenzen andeutet. Diese graduellen Abstufungen in der Zuschreibung bzw. Aberkennung von Kompetenz zur selbstständigen Aufgabenbewältigung sind homolog zu M-InSek2. Zugleich erfolgen die Handlungen parallel zu denjenigen des Kunstlehrers. Dies unterscheidet sich von der weitgehenden Orientierung der Heilpädagogin an der konstituierenden Rahmung durch die Mathematiklehrerin im gemeinsamen Unterricht in M-InSek2 sowie deren Versuch der Verdeckung ihrer Interventionen. Allerdings kann hier nicht von einer vollständigen Entkopplung von der konstituierenden Rahmung gesprochen werden, da die Handlungen immer noch einen Bezug zur Aufgabenstellung des Lehrers aufweisen. Sturm (2016a, S. 108) spricht in Bezug auf den „sonderpädagogischen Förderbedarf“, der vergleichbar ist mit dem „besonderen Bildungsbedarf“, auch von dem „schulinternen Begriff für Behinderung“.30 Dabei sind „die Schule und auch der Unterricht wesentlich an der Herstellung von Behinderung beteiligt“ (ebd.). Die soziale Pathologisierung (vgl. Bohnsack 1983, S. 75) der etikettierten Schülerinnen und Schüler ist mit der Suspendierung von Komponenten der Schülerrolle bzw. der sozialen Identität des Schülers bzw. der Schülerin verbunden. An ihre Stelle tritt, so ließe sich sagen, die Identität der ‚Behinderung‘, die mit vielfältigen Praktiken des Ausschlusses bzw. der Exkludierung und einer damit verbundenen Stigmatisierung

30So

wird auch in offiziellen Dokumenten mit Bezug auf den „besonderen Bildungsbedarf“ explizit von „Behinderung“ gesprochen (Sonderpädagogik-Konkordat; SKBF 2018, S. 41).

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5  Empirische Rekonstruktion von leistungsbezogenen …

(vgl. Goffman 1967) einhergeht. Da die Mitgliedschaft in der Organisation Schule weiterhin besteht, kann jedoch nicht von der Suspendierung der Schüler*innenrolle oder der Schüler*innenidentität insgesamt gesprochen werden. Somit ließe sich auch sagen, dass die Degradierungs- und Exklusionsprozesse hier nicht erst auf der Ebene der Zweit-Codierung ansetzen (wie in Typ I und II), sondern bereits auf derjenigen der Erst-Codierung. Die konstituierende Rahmung, v. a. die klassenbezogene Leistungsordnung, greift hier partiell nicht (mehr).31 Dies unterscheidet diese Form der Konstruktion sozialer Identität von derjenigen der Ethnisierung (Typ II). In beiden Typen geht die Degradierung über die unterrichtsinternen Konstruktionen persönlicher Identität hinaus. In dem einen Fall sind es jene auf sozialer bzw. gesellschaftlicher Ebene (ethnisierende Identitätskonstruktionen), im anderen Fall sind es jene auf organisationaler Ebene (Pathologisierung durch das Etikett „besonderer Bildungsbedarf“ – mit den o. g. Ausnahmen für K-InSek1).

5.4 Typ IV: Primäre Rahmung durch Sachbezug und Individualisierung Im Vergleich zu den Typen I, II und III zeichnet sich Typ IV durch eine primäre Orientierung der Fachlehrkräfte an einem sachbezogenen und reibungslosen Unterrichtsablauf aus. Durch die Fokussierung auf die ‚Sache‘ bzw. die Unterrichtsgegenstände tritt der ‚Beziehungs-‘ oder ‚Persönlichkeitsaspekt‘ – sowohl zwischen den Schüler*innen und den Fachlehrkräften als auch unter den Schüler*innen (z. B. Peermilieustrukturen) – in den Hintergrund bzw. wird unterdrückt. In diesem Zusammenhang werden individuelle moralische Beurteilungen und (öffentliche) De-/Gradierungen vermieden, so dass Übertragungen der Beurteilung des Produkts auf die Gesamtperson der Schülerin oder des Schülers hier nicht bzw. in geringerem Maße auftreten, und es somit auch nicht zu Konstruktionen individueller totaler Identitäten kommt. Diese Orientierung wird insbesondere durch einen kontrollierenden bzw. steuernden Lehrmodus in Bezug auf kollektive Prozesse bei gleichzeitig erhöhter individueller Autonomie bzw. Eigenverantwortlichkeit und erhöhter Anforderung an individuelle Autonomie bzw. Eigenverantwortlich-

31Der

Leistungscode spielt aber insofern eine Rolle, als dass erst durch ihn die Codierung als ‚leistungsunfähig‘ und damit die Pathologisierung möglich wird.

5.4  Typ IV: Primäre Rahmung durch Sachbezug und Individualisierung

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keit bei der Erreichung vorgegebener Ziele getragen bzw. unterstützt, der, wie gesagt, (potentielle) Störungen des Unterrichtsablaufs zu verhindern sucht. Da die individuelle Autonomie bzw. Eigenverantwortlichkeit jedoch einen ‚zwingenden‘ Charakter aufweist, muss hier von einer Individualisierung gesprochen werden. In diesem Rahmen werden die Schüler*innen in geringerem Maße in die Unterrichtsorganisation bzw. -gestaltung einbezogen (im Unterschied zu den Typen I, II und V). Damit verbunden ist eine kollektive Entmündigung und Aberkennung kollektiver Legitimität in Bezug auf die Metakommunikation über die Unterrichtsgestaltung: Jegliche Metakommunikation darüber, wie man sich dem Unterricht anders annähern könnte, wird unterbunden. Typ IV repräsentieren die Fälle M-Gym1, M-Gym2, K-Gym2 und M-InSek2. Die Zuordnung macht eine – schulformübergreifende – Fachspezifik sichtbar. Es zeigt sich jedoch an K-Gym2, dass diese nicht deterministisch ist. Die Fachspezifik wird insbesondere durch den direkten Vergleich des Mathematik- und des Deutschunterrichts der Schulklasse Gym1 deutlich. Die folgende Sequenz beginnt mit einer Ankündigung einer Aufgabe durch den Mathematiklehrer Herrn Fuchs am Lehrer*innenpult: So weit so gut, dann würde ich diese (.) Beilage damit auch schon wieder abschliessen. und ich würde zu:m (.) zu diesem Zusatzblatt, das ist dieses (.) A3-Blatt dieser Zusatzübung Termumformung (.) würd ich jetzt übergehen. beugt sich über den Visualizer, noert: „Zus“, richtet sich wieder auf, hält ein Bla mit der linken Hand auf Brusthöhe wir werden uns heute eigentlich ausschliesslich in diesem Blatt bewegen wenn wir Aufgaben lösen. legt das Bla auf dem Pult ab, beugt sich wieder über den Visualizer und noert weiter: „satzübungen Termumformung“, zieht darunter eine horizontale Linie und noert unterhalb der Linie: „A 19)“ °(und zwar waren wir) dort bei Aufgabe 19.° ihr seht wir haben jetzt auch (eigentlich) alle aus dieser Auf- aus diesem Aufgabenblatt eins haben wir alle zusammen gelö:st, das waren ( ) die Ba:sisaufgaben, die alle können müssen (.) hier auf diesem Aufgabenblatt zwei sind jetzt auch viele (.) Übungen die wir nicht im Unterricht machen werden, die sind aber dann eine gute Prüfungsvorbereitung, (.) und dann habt ihr noch das Aufgabenblatt drei das dicke Dossier mit den ganz ganz vielen (.) Aufgaben dort könnt ihr dann noch mal zusätzliche Aufgaben üben. auch ein bisschen euren Schwierigkeitsgrad steuern. (.) ich werde nachher zur späterer Stelle (.) einblenden was genau prüfungsrelevant ist, (.) das wird noch kommen.

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5  Empirische Rekonstruktion von leistungsbezogenen …

(Auszug Videotranskript, Videosequenz Die Bearbeitung von Zusatzaufgaben im Plenum, 06:48–36:01, US Ankündigung der Bearbeitung des „Zusatzblatts“, Resümee zu den „Basisaufgaben“ und Erläuterungen zur Bedeutung von „Zusatzaufgaben“ für die Prüfungsvorbereitung, 06:48–08:00) Im Kontext der Vorbereitung auf eine anstehende Klassenarbeit dokumentiert sich ein von dem Lehrer stark strukturierter Unterrichtsablauf in einem stark steuernden, textlich-visuell demonstrierenden Lehrmodus (mithilfe des Visualizers bzw. der Tischkamera). Die Verantwortung hinsichtlich der Kontrolle und Beurteilung des eigenen Lernprozesses wird hier weitgehend an die Schüler*innen übertragen und damit aus dem Unterricht ‚delegiert‘. Gleichzeitig wird dadurch der ‚Beziehungsaspekt‘ (eine kooperative Bearbeitung von Aufgaben) eingegrenzt.

Abbildung 5.10   Fotogramm KS 08:15; Videosequenz Die Bearbeitung von Zusatzaufgaben im Plenum (06:48–36:01), US Bearbeitung von Aufgabe 19: die „noch relativ einfache“ Unteraufgabe „a“ (08:01–08:54)

5.4  Typ IV: Primäre Rahmung durch Sachbezug und Individualisierung

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(Videotranskript, Videosequenz Die Bearbeitung von Zusatzaufgaben im Plenum, 06:48–36:01, US Lösen der Aufgabe 19: die „noch relativ einfache“ Unteraufgabe „a“, 08:01–08:54) Im Rahmen des weiterhin stark steuernden Lehrmodus erhalten die Schüler*innen die Möglichkeit zur Präsentation mathematischen Regelwissens. Dabei zeichnen sich die Aufgaben bzw. der Lösungsweg sowie der Bewertungskriterien durch eine hohe Standardisierung und Objektivierung aus. Dabei zeigen sich jedoch differente Formen der Beteiligung der Schüler*innen (s. Abbildung 5.10): von sehr ambitioniertem Aufzeigen (Giulia und Manavi) bis Nicht-Aufzeigen (das Gros der Schüler*innen), was dann vom Lehrer mit: „Ich sehe schon viele Hände das ist gut“, kommentiert wird. Er enthält sich hier also einer Visibilisierung individueller Differenzen und Kompetenzen.

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5  Empirische Rekonstruktion von leistungsbezogenen …

Das bedeutet, dass – im Vergleich zum Deutschunterricht derselben Klasse (Typ II; s. Abschnitt 5.2) – die konstituierende Rahmung i.S. je individueller Leistungsbewertung zwar nicht suspendiert wird, aber in den Hintergrund tritt. Indem Giulia hier als ‚relativ kompetente‘ Schülerin gerahmt wird (nach Giulias als korrekt beurteilter Antwort bezeichnet der Lehrer die Aufgabe als „noch relativ einfach“), zeigt sich ein weiterer fachspezifischer Unterschied zum Deutschunterricht: Einerseits spielt die für den Deutschunterricht zentrale Bedeutung s­yntaktisch-lexikalischer Korrektheit hier eine wesentlich geringere Rolle im Rahmen der Bewertung der Beiträge der Schüler*innen; andererseits wird das zu beurteilende Produkt bzw. die Performanz aufgrund der Fokussierung auf den ‚Inhalts-‘ bzw. ‚Sachaspekt‘ nicht mit der Konstruktion der sozialen und/oder persönlichen Identität verknüpft. Letzteres zeigt sich deutlicher im folgenden Sequenzauszug, in dem die Schüler*innen zur weiteren Selbstbeurteilung „aber wirklich alleine“ (Aufforderung des Lehrers) einen Übungstest vor der anstehenden Klassenarbeit lösen sollen.

Abbildung 5.11   Fotogramm KFR 00:49, Videosequenz Übungstest (00:00–01:17), pUS Inanspruchnahme von Nachhilfe wegen Nicht-Verstehen der Testaufgaben (00:18–01:16)

5.4  Typ IV: Primäre Rahmung durch Sachbezug und Individualisierung

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(Auszug Videotranskript, Videosequenz Übungstest, 00:00–01:17, pUS Inanspruchnahme von Nachhilfe wegen Nicht-Verstehen der Testaufgaben, 00:18– 01:16) Während der Bearbeitung des Tests durch die Schüler*innen kommt es zu einer von Arianne initiierten, diskret-dyadischen Interaktion zwischen ihr und dem Lehrer am Rande der Klassenöffentlichkeit (s. Abbildung 5.11). Dabei rahmt sich Arianne selbst als unterstützungsbedürftig. Der Lehrer geht auf das Anliegen der Schülerin in einer sachlich-diskreten Weise ein und empfiehlt ihr eine außerunterrichtliche zusätzliche pädagogische Unterstützung, bei der sie die Wahl hat, diese anzunehmen. Auch hier zeigt sich die Orientierung an der Erhöhung der individuellen Verantwortlichkeit bzw. eine erhöhte Anforderung an die individuelle Verantwortung zur Bewältigung der vorgegebenen Aufgabenstellungen, was hier konjunktiv von Lehrer und Schüler*innen geteilt wird. Der kontrollierende Zugriff auf das Individuum, wie er sich bei Typ I, II und III zeigt, ist in dem Sinne wenig ausgeprägt. Zudem wird auch hier der ‚Beziehungsaspekt‘, i.S. einer kooperativen Bearbeitung von Aufgaben durch die Schüler*innen untereinander, aufgrund der eingangs genannten Forderung des Lehrers, den Test eigenständig zu bearbeiten, zurückgestellt.

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5  Empirische Rekonstruktion von leistungsbezogenen …

In M-Gym2 zeichnet sich der primäre Rahmen durch die Absicherung des kontrollierenden Zugriffs (und die Invisibilisierung) auf den Prozess der unterrichtlichen Interaktion durch die Mathematiklehrerin, Frau Schiller, aus. Wie sich insbesondere am Beispiel der Peergroup der Mädchen zeigt, bei denen das Problem ist, dass sie „im Unterricht immer sehr stark zusammenhängen“ (Interviewaussage von Frau Schiller), erscheint es deshalb notwendig, das Peermilieu aufzubrechen, da dessen Eigenstrukturiertheit und Eigengesetzlichkeit den kontrollierenden Einfluss seitens der Lehrerin behindert. Dies dokumentiert sich insbesondere im Kontext einer Gruppenarbeit, wenn die Schüler*innen von der Lehrerin in Gruppen eingeteilt werden, die sich durch eine Aufteilung der Mädchen auf die Gruppen sowie die Trennung von (männlichen) Peergroups auszeichnet. Dabei deuten sich auch leistungsbezogene Kriterien an, was die Lehrerin im Interview bestätigt. Damit ist jedoch kein Zugriff auf die Identitätskonstruktionen der Schüler*innen und damit einhergehender individueller Degradierungen verbunden, worin eine wesentliche Homologie zu M-Gym1 und eine zentrale Differenz gegenüber D-InSek1 und D-Gym1 (Typ I und II) besteht. Denn während bei Letzteren die Beurteilung des Produkts auf die Beurteilung der Gesamtperson klassenöffentlich übertragen wird, wird sich hier einer Sichtbarmachung individueller ‚Inkompetenz‘ weitgehend enthalten – und dies auch als unterrichtliche Norm an die Schüler*innen herangetragen. Damit einhergehend sowie im Zusammenhang mit einer erhöhten Anforderung an die individuelle Autonomie der Schüler*innen hinsichtlich der Lern- und Leistungskontrolle wird – ebenso wie in M-Gym1 – die pädagogische Bearbeitung von ‚Leistungsschwäche‘ aus der Unterrichtsinteraktion suspendiert. Gegenüber der erhöhten Anforderung an die individuelle Autonomie bzw. die individuelle Eigenverantwortung bei der Erreichung vorgegebener Aufgaben wird den Schüler*innen jedoch die Legitimität der Verhandlung über die Unterrichtsorganisation bzw. die konstituierende Rahmung und damit auch über die Leistungsbewertung kollektiv abgesprochen, wie sich im folgenden Ausschnitt der Ankündigung der bereits erwähnten Gruppenarbeit dokumentiert:

5.4  Typ IV: Primäre Rahmung durch Sachbezug und Individualisierung

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Fr. Schiller steht am Medienpult. Der Visualizer ist eingeschaltet, im Kameraausschni ist ein Teil einer weißen Projekonsfläche an der Wand links hinter ihr sichtbar. Sie schaut in Richtung der in Tischreihen sitzenden Schüler*innen und sagt: Gu:t (.) also (.) müsst euch nicht zu fest auf den Plätzen installieren, Die meisten Schüler*innen schauen währenddessen in Richtung Lehrerin/Projekonsfläche. Thohmas, der an einem Einzelsch in der ersten Tischreihe sitzt, schaut ebenfalls zur Projekonsfläche, während er sein Handy in die Hosentasche schiebt. Dann schaut er zu Fr. Schiller und sagt: Gruppenarbeit. Noah, der weiterhin steht, schaut ebenfalls zur Projekonsfläche und sagt: Gruppenarbeit. Nacheinander rufen einige Schüler: Õ1::., so auch Jakob, der dabei lächelt. Fr. Schiller ru lächelnd ebenfalls: Õ::. und ein weiterer Schüler sagt zeitgleich: Gruppenarbeit. Währenddessen setzt sich Amisha auf ihren Platz. Nach einer Frage aus dem Bereich links außerhalb des Kamerabildes2 schaut Fr. Schiller kurz in diese Richtung, lehnt den Kopf etwas nach hinten, runzelt die Srn, presst die Lippen aufeinander, zieht die Mundwinkel leicht hoch und rollt die Augen in die entgegengesetzte Richtung. Halit ru in die Richtung der/des Fragestellenden: Ja es gibt immer eine Note, Darauin ru Jakob mit ironischem Unterton: Oh ja:. Aus dem Bereich links außerhalb des Kamerabildes schließt sich eine Bemerkung an. Währenddessen setzt sich Noah an seinen Platz, so dass nun alle Schüler*innen an den Tischen sitzen. Fr. Schiller: Also (.) ich sag euch erst mal was ihr machen müsst Mehrere Schüler: ((laute Rufe in die Klasse))

(Auszug Videotranskript, Videosequenz Einführung in die Gruppenarbeit, 00:05– 03:30, US Ankündigung der Gruppenarbeit und Protest, 00:05–00:21) Durch die schriftliche Fixierung der Ankündigung der Gruppenarbeit auf der Projektion deutet sich bereits an, dass diese nicht verhandelbar ist, was sich auch im weiteren Interaktionsverlauf dokumentiert: Wenn die Schüler*innen ihr Missfallen über die Gruppenarbeit anzeigen (u. a. durch den gedehnten Ausruf „Õ“), aber die Ernsthaftigkeit ihrer Distanzierung zum Teil relativieren (Jakob lächelt dabei), spiegelt die Lehrerin mimisch und verbal die Unentschlossenheit der Schüler*innen wider (sie lächelt ebenfalls, wenn sie das „Õ“ nachahmt), wodurch sie sich einerseits gegen jegliche Kritik immunisiert und andererseits den Schüler*innen die Legitimität zur Kommentierung der unterrichtlichen Verfahrensweise abspricht. Dies zeigt sich in homologer Weise in ihrer Reaktion auf die Frage nach der Benotung der Gruppenarbeit bzw. auf das Einklagen von Transparenz über die Kriterien der Benotung (denn darauf, dass „immer“ alles benotet wird, weisen die Schüler hier resignierend hin): Statt auf die Anfrage einzugehen, zeigt sie einen entnervten Gesichtsausdruck (sie verzieht die Mundwinkel und verdreht die Augen) und verweist auf das feststehende Unterrichtsprogramm. Durch die Suspendierung der Metakommunikation sowie durch die Orientierung an einem zügig-reibungslosen Unterrichtsablauf wird die mit der kollektiven Entmündigung der Schüler*innen verbundene Durchsetzung der konstituierenden Rahmung bzw. der „Rahmungshoheit“ (Gerstenberg 2014) abgesichert. Die Aberkennung der Legitimität, Einfluss auf die unterrichtlichen Verfahrensweisen zu nehmen, findet sich in homologer Weise in M-InSek2 in der Interaktion zwischen der Mathematiklehrerin, Frau Krüger, und den Schüler*innen

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5  Empirische Rekonstruktion von leistungsbezogenen …

des Bildungsgangs mit „erweiterten Ansprüchen“, d. h. denjenigen ohne einen „besonderen Bildungsbedarf“.32 Es handelt sich dabei um eine konstituierende Rahmung, welche sich konsequent auf der Ebene der konstituierten Regel, also der konventionellen Norm bewegt. Eine Metakommunikation über die konstituierende Rahmung und die Angemessenheit und Geltung der eingespielten Regeln der Verständigung ist weitgehend eingeschränkt. Dieser kollektiven Entmündigung steht wiederum – paradoxerweise – die erhöhte Anforderung an die individuelle Autonomie bzw. Eigenverantwortlichkeit der Schüler*innen entgegen, wie sich exemplarisch in der Situation einer öffentlichen Hausaufgabenüberprüfung zeigt. Dabei werden die Schüler*innen von der Lehrerin der Reihe nach aufgefordert, ihre Hausaufgaben vorzulegen:

32Der

primäre Rahmen der Interaktion zwischen den Schüler*innen mit attestiertem „besonderen Bildungsbedarf“ und den Vertreter*innen der Schulischen Heilpädagogik ist Typ III zuzuordnen und wurde bereits in Abschnitt 5.3 dargestellt.

5.4  Typ IV: Primäre Rahmung durch Sachbezug und Individualisierung

139

(Auszug Videotranskript, Videosequenz Paralleler Mathematikunterricht: Hausaufgabenüberprüfung im Klassenraum, 03:14–06:53, US Überprüfung der Hausaufgaben und diverse Begründungen für ihr Fehlen, 04:37–06:14) Der individuelle Stand der Bearbeitung der Aufgaben wird zwar öffentlich kommentiert. Damit ist jedoch keine individuelle Degradierung bzw. Moralisierung derjenigen verbunden, deren Aufgaben nur unzureichend sind oder vollständig fehlen. Stattdessen adressiert die Lehrerin kollektiv alle Schüler*innen, als sie wiederholend den Bildungsgang ­ („E-Zug“33) nennt. Im Kontext der unzureichenden Bearbeitung der Hausaufgaben verweist sie damit auf die Verhaltens- und Leistungserwartungen, die mit dem Bildungsgang verbunden sind und die sie hier offenbar verletzt sieht bzw. zu deren Einhaltung sie implizit ermahnt. Damit ist ganz wesentlich die Erwartung verbunden, die vorgegebenen Aufgaben eigenverantwortlich zu bearbeiten. Die darin außerdem implizit enthaltene Infragestellung der legitimen Mitgliedschaft dieses Bildungsgangs wird hier ebenfalls nicht Einzelnen öffentlich zugeschrieben. Die Rechtfertigungsversuche der Schüler – die Notwendigkeit, für eine Leistungsüberprüfung in einem anderen Fach („NT“34) zu „lernen“, die mit einer Priorisierung gegenüber den Anforderungen im Fach Mathematik einhergeht – werden von ihr mit sach- bzw. regelbezogenen Belehrungen („repetieren“ statt „lernen“ vor einer Prüfung) als illegitim abgetan. Homolog zu M-Gym2 wird den Schüler*innen hier das Recht abgesprochen, Einfluss auf die sachbezogene Verfahrensweise des Unterrichts zu nehmen. Auf weitere Metakommunikationsversuche seitens der Schüler*innen geht die Lehrerin nicht ein, wodurch die hier gesteigerte kollektive Rahmungshoheit abgesichert wird. Die kollektive Entmündigung der Schüler*innen hinsichtlich der Beteiligung an der Unterrichtsorganisation bzw. -gestaltung ist ebenso Bestandteil des primären Rahmens in K-Gym2. Homolog zum Mathematikunterricht dokumentieren sich ein strikter Sachbezug in der Unterrichtsinteraktion sowie eine erhöhte Anforderung an die Eigenverantwortlichkeit der Schüler*innen. Im Unterschied zum Mathematikunterricht, in dem die geforderte individuelle Autonomie v. a. auf die Aneignung des standardisierten Lösungswegs bezogen wird, geht es in diesem Kunstunterricht primär um die eigenverantwortliche kreative Bewältigung der Aufgabenstellungen.

33„E-Zug“ = Bildungsgang

bzw. Anforderungsprofil mit „erweiterten Ansprüchen“

34„NT“ = „Naturwissenschaft/Technik“

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5  Empirische Rekonstruktion von leistungsbezogenen …

(Auszug Videotranskript, Videosequenz Arbeitsauftrag Schraffuren, 07:19–10:53, US „Böse Kritik“ an bisheriger Aufgabenbearbeitung und Nichtlesens des Aufgabenblatts wegen „Analphabetismus“, 07:19–08:24) Die kollektiv an alle Schüler*innen gerichtete Kritik an deren Produkten („Schraffuren“), die von der Lehrerin mit einer Kritik am Rollenverhalten verknüpft wird, impliziert feststehende Vorstellungen über die zu erreichende

5.4  Typ IV: Primäre Rahmung durch Sachbezug und Individualisierung

141

sachbezogene Qualität und den Weg dorthin. Homolog zum Mathematikunterricht enthält sich die Lehrerin jedoch individueller Identifizierungen durch die kollektive Adressierung und die Versachlichung des Leistungsproblems. Letzteres dokumentiert sich auch in ihrem Verweis auf die „anstehende Aufgabe“ sowie darin, dass die Schüler*innen die Gelegenheit erhalten, ihre Leistungen zu verbessern. Auf die distanzierenden Reaktionen der Schüler(*innen) auf die Kritik und die Verpflichtung zur Wiederholung der Aufgabe, die sich v. a. in ironisierenden und nicht-sachbezogenen Kommentaren äußern, geht Frau Grütter wiederum nicht ein. Damit einher geht die Absprache der Legitimität der (vorausgegangenen) Kritik der Schüler*innen an der unterrichtlichen Verfahrensweise und damit auch an entsprechenden Entscheidungen mitzuwirken. Demgegenüber zeigt sich die Bereitschaft der Lehrerin, individuell auf sachbezogene Einwände einzugehen, in individuellen Interaktionen jenseits des gesamtklassenöffentlichen Diskurses, wie sich am Beispiel einer Interaktion35 mit einem Schüler im Rahmen der Aufgabenbearbeitung dokumentiert:

Abbildung 5.12   Fotogramm KFR 00:35, Videosequenz Yanicks Schraffur (00:00–02:46), US Beurteilung der Schraffur im Vergleich zur Vorlage als Aufforderung (00:00–01:05)

35Die

sprachliche Interaktion erfolgt vorwiegend im Schweizerdeutschen. Hier abgedruckt ist die standarddeutsche Transkription. Die Videosequenz mit Transkription des Schweizerdeutschen findet sich in Anhang C.

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5  Empirische Rekonstruktion von leistungsbezogenen …

5.5  Typ V: Primäre Rahmung durch Moralisierung mit prekärem Sachbezug

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(Videotranskript, Videosequenz Yanicks Schraffur, 00:00–02:46, US Vergleich von Schraffur und Kopiervorlage sowie Erwartung einer „spannenden“ Gestaltung, 00:00–01:05) Frau Grütter beginnt direkt mit der sachbezogenen Beurteilung der Schraffur – und zwar auf Anfrage von Yanick. Dabei kommt es nicht zur Übertragung der Beurteilung des Produkts auf die Gesamtperson. Dies zeigt sich u. a. darin, dass das Produkt nicht zum Zweck der Zurschaustellung vor der Klasse aufgehängt wird, wie dies etwa in D-Gym1 der Fall ist (s. Abschnitt 5.2), sondern zum Zweck der distanzierten Betrachtung, der Objektivierung (s. auch Abbildung 5.12). Dabei versucht Frau Grütter, aktiv die Perspektive von Yanick zu berücksichtigen, wenn sie sagt: „Aber jetzt einfach mal so zum Schauen findest du das findest das jetzt spannend so zum Anschauen?“, und abwechselnd auf die Kopie und zu Yanick schaut. Indem sie bei der Beurteilung darauf verweist, dass es ihr „Bestreben“ sei, die Zeichnung „irgendwie spannend“ zu gestalten, bezieht sie außerdem ihre eigene Standortgebundenheit ein. Dadurch wird Yanick geradezu zur Metakommunikation – wie er sie hier auch vornimmt – ermuntert. Zudem betont sie die erwartete sachbezogene, kreative Eigenverantwortung des Schülers („Aber du bist ja eben Gestalter und äh musst mit der Schraffur die Frisur darstellen aber nicht genau da abmalen“).

5.5 Typ V: Primäre Rahmung durch Moralisierung mit prekärem Sachbezug Typ V ist primär durch einen willkürlichen Charakter geprägt (vgl. Bohnsack 2017, S. 270 ff.). Dieser zeichnet sich gegenüber den machtstrukturierten Unterrichtsmilieus, wie sie sich insbesondere in den Typen I und II bzw. in den Fällen D-InSek1 und D-Gym1 finden, dadurch aus, dass in Umkehrung der üblichen Struktur der Leistungsbewertung nicht vom Sachbezug auf die (Gesamt-)Person der Schülerin bzw. des Schülers, sondern von deren moralischer Beurteilung auf die Sachhaltigkeit bzw. Nicht-Sachhaltigkeit ihrer Äußerungen bzw. Produkte geschlossen wird. Dies geht in der Regel damit einher, dass die Erst-Codierung und damit der Sachbezug und somit auch die konstituierende Rahmung prekär sind bzw. fehlen, also ein „organisationaler Rahmungsverlust“ (Bohnsack 2020, S. 77, Herv.i.O.) vorliegt. Typ V repräsentieren die Fälle K-InSek1 und K-InSek2. Während dies in K-InSek2 nur das Interaktionssystem von Fachlehrkraft und Schüler*innen ohne Zuschreibung eines „besonderen Bildungsbedarfs“ betrifft, lassen sich in K-InSek1

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5  Empirische Rekonstruktion von leistungsbezogenen …

keine differenten Interaktionssysteme rekonstruieren. Dies mag daran liegen, dass in K-InSek1 keine Schulischen Heilpädagog*innen sowie keine Schüler*innen, die „verstärkte Massnahmen“ erhalten, anwesend sind (jedoch eine Schülerin mit „besonderem Bildungsbedarf“), welche hingegen in D-InSek1 – und in den anderen Fällen mit integrativer Programmatik – das Interaktionssystem, das Typ III zuzuordnen ist, bilden (s. Abschnitt 5.3). Der weitgehende Verlust des Sach- und Bewertungsbezugs bzw. der konstituierenden Rahmung bei gleichzeitiger Degradierung (Moralisierungen und Absprache von Kompetenz) dokumentiert sich besonders prägnant in den Interaktionen des Kunstlehrers mit Schüler*innen in Fall K-InSek2. Der Kontext der nachfolgenden Videosequenz bezieht sich dabei auf die Sequenz Konstruieren eines Quadrats, die in Abschnitt 5.3 mit Blick auf das Interaktionssystem von Schulischer Heilpädagogik und Schüler*innen mit attestiertem „besonderen Bildungsbedarf“ (Typ III) dargestellt wurde: Nachdem die Schüler*innen ein Quadrat zeichnen mussten, sollen sie nun innerhalb des Quadrats ein Sechseck mithilfe eines Zirkels konstruieren (als „Bleistiftmine“).

(Videotranskript, Videosequenz „Herr Krause, darf ich jetzt auf‘s Klo?“, 00:26– 02:06, US Bitte zur Toilette gehen zu dürfen nach Erledigung der Aufgabe und Zweifel an der Eigenständigkeit der Aufgabenbearbeitung, 00:26–00:52) Durch die unmittelbare Verneinung des Lehrers, der keine Begründung folgt, wird Pablo zum einen die Befriedigung seines (elementaren) Bedürfnisses des Toilettengangs verweigert, zum anderen wird er als nicht ernstzunehmender

5.5  Typ V: Primäre Rahmung durch Moralisierung mit prekärem Sachbezug

145

Gesprächs- bzw. Verhandlungspartner gerahmt. Pablo rekurriert dann auf die Aufgabenstellung, die Herr Krause als Bedingung für die Erlaubnis, die Toilette zu benutzen, gestellt hat: das Zeichnen von Kreisen mit einem Zirkel (Kontextwissen), verweist auf deren Erfüllung und fordert wiederum die Erfüllung der Vereinbarung seitens des Lehrers ein. In seinem Lachen und übertriebenen Rückwärtstorkeln dokumentiert sich eine Ambivalenz: einerseits der Versuch der Distanzierung von der „demütigenden“ (Goffman 1972, S. 32) – und sich vor anderen Schüler*innen vollziehenden – Fremdrahmung; andererseits fügt er sich in die ihm zugewiesene Rolle bzw. Identität des ‚Bittstellers‘ ein. Diese Identität geht mit Autonomieentzug vor dem Hintergrund der Moralisierung des Verhaltens einher. Herr Krause setzt daraufhin die Moralisierung Pablos fort, indem er ihm unterstellt, die Unwahrheit zu sagen, was darauf zurückzuführen ist, dass dem Schüler die Kompetenz abgesprochen wird, den Arbeitsauftrag angemessen auszuführen, wie es sich auch im weiteren Verlauf der Interaktion dokumentiert. Indem Herr Krause auf Pablo zugeht (und die Interaktion mit Emilia beendet), deutet sich an, dass nun eine Überprüfung von Pablos ‚Behauptung‘ erfolgen wird. Pablo beharrt auf der Gültigkeit seiner Aussage und lässt sich auf die Kontrolle durch den Lehrer ein, indem er zu seinem Platz geht. „ganz knapp“ impliziert, dass die Zeichnung jedoch möglicherweise nicht „ganz“ perfekt gelungen ist, wodurch er eine Bewertung seiner Zeichnung vorwegnimmt, die mit der Gefahr verbunden ist, dass ihm erneut (Kontextwissen) der Gang zur Toilette verwehrt wird. Auch der Verweis auf die „Blume“ als eine Gestalt, die mit den Kreisen zur Konstruktion eines Sechsecks in Zusammenhang steht, verweist auf die Vorwegnahme einer Bewertung durch den Lehrer. Das Zeichnen einer „Blume“ bildet offenbar einen negativen Gegenhorizont, also eine spezifisch fehlerhafte Darstellung, wovon sich Pablo, der für seine bisherigen Versuche kritisiert wurde (ebenfalls Kontextwissen), distanziert. Es kommt dann zu einer erneuten Moralisierung durch Herrn Krause, nachdem dieser einen Blick auf die Zeichnung geworfen hat: Offenbar ist die Zeichnung korrekt angefertigt, da er hierzu keine Stellung bezieht, worin sich der prekäre Sachbezug dokumentiert. Indem er von Pablo dann ein ‚Vorzeichnen‘ unter seiner Aufsicht fordert, unterstellt er ihm implizit, dass er die Zeichnung nicht eigenständig angefertigt hat, was er dann anschließend auch explizit macht, ohne dies aber (erneut) zu begründen. Weiterhin führt er hier ‚Schnelligkeit‘ als Beurteilungskriterium bzw. als Erwartungshorizont an. Pablo fügt sich bereitwillig der Forderung des Lehrers. Das Maß an erhöhter Kontrolle, welches Distanzierungsmöglichkeiten einschränkt, vollzieht sich auch ­körperlich-performativ in dem Aufstützen des Lehrers auf den Tisch und dem Beugen über den Schüler bzw. dessen Arbeitsmaterialien.

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5  Empirische Rekonstruktion von leistungsbezogenen …

Abbildung 5.13  Fotogramm KFR 01:07, Videosequenz „Herr Krause, darf ich jetzt auf’s Klo?“ (00:26–02:06), US Zeichnen mit dem Zirkel, Wegschauen und Korrekturaufforderungen (00:53–01:22)

(Videotranskript, Videosequenz „Herr Krause, darf ich jetzt auf’s Klo?“, US 00:53–01:22)

5.5  Typ V: Primäre Rahmung durch Moralisierung mit prekärem Sachbezug

147

Die Kontrolle wird hier fortgesetzt, und Pablo wird von Herrn Krause zur Korrektur aufgefordert, was eine negative Kritik an Pablos Handlung impliziert. Die Kontrolle wird jedoch brüchig, wenn der Lehrer die Aufmerksamkeit auch auf andere Schüler*innen zu richten scheint. Pablo zeigt sich hingegen bereit, Herrn Krauses Forderungen umzusetzen, und fragt mehrfach nach dessen Bestätigung, während Herr Krause die Aufmerksamkeit weiterhin nicht auf Pablos Zeichnung richtet und auch nicht auf dessen Nachfragen reagiert. In der körperlichen Positionsänderung des Lehrers, durch die er eine noch größere physische Distanz zu Pablo und dessen Zeichnung einnimmt (s. Abbildung 5.13), kommt es zur maximalen Steigerung des Verlusts des Sachbezugs. Pablo fordert daraufhin Herrn Krauses Aufmerksamkeit deutlicher ein und verbalisiert seine Handlungsschritte (in rudimentärer Weise): Was der Lehrer nicht sieht bzw. nicht bereit ist zu sehen, wird ihm nun akustisch vorgeführt. Herr Krause richtet dann seine Aufmerksamkeit wieder auf Pablo bzw. dessen Zeichnung und belehrt ihn über die korrekte Handhabung des Zirkels, was wiederum eine negative Bewertung seines Handelns impliziert. Demgegenüber erfolgt an keiner Stelle eine explizite Kommentierung der Zeichnung, wodurch der Sachbezug (weiterhin) prekär bleibt. Das ambivalente Moment in der Kontrollhandlung setzt sich dann fort: Einerseits besetzt Herr Krause Pablos Tisch mit seiner Hand und markiert damit seine Anwesenheit und eine Einschränkung von Distanzierungsmöglichkeiten, andererseits behält er weitere Aktivitäten im Raum im Blick, worin sich der prekäre Bezug zum Produkt des Schülers fortsetzt. Während sich in der dargestellten Videosequenz der prekäre Sachbezug auch in der physischen Distanz des Lehrers zum Schülerprodukt manifestiert, kann er sich ebenso – was zunächst paradox erscheinen mag – im Zusammenhang mit körperlichen Interventionen, sowohl das Produkt als auch die Körperterritorien der Schüler*innen betreffend, dokumentieren. Dies zeigt sich exemplarisch in der nachfolgenden Interaktion des Falls K-InSek1, in welcher der Schüler selbst zum Objekt der Interventionen des Lehrers wird.

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5  Empirische Rekonstruktion von leistungsbezogenen …

Herr Gerber steht links neben Nino, der einen Pinsel in der rechten Hand hält. Während si ch Herr Gerber leicht vorbeugt, legt er ein buntes Bild vor Nino auf dem Tisch ab. Nino blickt kurz auf das Bild, tunkt den Pinsel zuerst in ein Glas mit Wasser und dann in eine Farbpalee, bevor er darauf zu malen beginnt. Zur gleichen Zeit sagt Paolo, der ebenfalls einen Pinsel in der rechten Hand hält und dessen Kopf über dem vor ihm liegenden Bild geneigt ist: Ich bin fertig. ich hab die hässlichste Zeichnung, uund, schaut darauin Herrn Gerber an, sagt dann °das ist okay°. und neigt dabei seinen Kopf in einer kreisenden Bewegung wieder in Richtung des vor ihm liegenden Bildes. Während Herr Gerber um den Tisch in Richtung Paolo geht, sagt er: Aah.(.) was isch? Paolo beugt sich währenddessen über das vor ihm liegende Bild, auf dem schemenha zwei Personen nebeneinander abgebildet sind. Er setzt den Pinsel im Augenbereich der rechten Person an, sagt dabei: Das ist die hässlichste Zeichnung aber ich bin zufrieden. und beginnt kurze Pinselstriche zu ziehen. Herr Gerber stellt sich links neben Paolo, b eugt sich über ihn, stützt sich dabei mit der linken Hand auf der Tischkante ab und führt die rechte Hand an seinen Rücken. Dann dreht er seinen Kopf grinsend in Richtung S -Kamera, blickt kurz in die Kamera und dreht dann seinen Kopf wieder zurück in Richt ung des vor Paolo liegenden Bildes. Zeitgleich beginnt Lukas, der auf dem vo r ihm liegenden Papier zeichnet, zu lachen, schaut in Richtung Herr Gerber und neigt darauin seinen Kopf wieder. Währenddessen tup Nino den Pinsel an dem Rand des Glases, das v or ihm steht, ab und blickt dabei erst in Richtung Herr Gerber, dann in Richtung Kamera und neigt den Kopf ebenso wieder. Herr Gerber, der weiterhin über Paolo gebeugt ist, sagt nun: Achtung nicht, worauin Paolo ruckarg seine beiden Hände vom Tisch anhebt und sagt: Ich bi=bi (erst). Herr Gerber fährt fort: nicht so schräg. nicht so schräg. Paolo hebt währenddessen seine Hände in einem ca. 45 -Grad-Winkel an, hat dabei mehrere Finger leicht abgespreizt und dreht die Handflächen etwas nach aussen, während er in der rechten Hand den Pinsel zwischen Daumen und Zeigefinger hält. Dabei richtet er seinen Oberkörper auf, dreht ihn etwas nach rechts, dreht seinen leicht geneigten Kopf ebenfalls nach rechts und sagt: Okay dann mach ich nichts mehr Währenddessen richtet sich Herr Gerber leicht auf und dreht seinen Oberkörper etwas in Richtung Paolo. Während sein Kopf weiterhin in Richtung des Bildes geneigt ist, führt er seine rechte Hand in Richtung des Kopfes der auf dem Bild rechts abgebildeten Person und sagt: Das ist Zeitgleich neigt Paolo seinen Kopf etwas efer und zieht die Schultern leicht an. Dabei hebt er kurz die linke Hand mit leicht gespreizten Fingern auf Schulterhöhe, so dass der Handrücken in Richtung Herr Gerber zeigt, sagt: e-egal. und lässt die Hand wieder sinken. Herr Gerber wendet seinen Kopf nun in Richtung Paolo, legt seine rechte Hand auf dessen linke Schulter und sagt: Mandel, mandel (.) augen Während Paolo nun den Kopf zu seiner linken Schulter dreht und den Oberkörper nach rechts zur Seite schiebt, sagt dieser: Aufhören bitte. Währenddessen lässt Herr Gerber Paolos Schulter los und grei nach dem Pinsel in Paolos rechter Hand, grei anschließend mit beiden Händen nach dem Bild, zieht es zu sich heran und sagt: Warum? Paolo richtet sich nu n etwas auf, zieht seinen rechten Arm nach hinten, nimmt die rechte Hand vom Tisch, so dass sie sich unterhalb der Tischplae befindet, und sagt: Ich möchte nicht mehr weiterarbeiten. Dabei blickt er kurz in Richtung Nino und Lukas, beugt sich dann etwas vor und schaut in Richtung des nun vor Herrn Gerber liegenden Bildes. Herr Gerber führt währenddessen den Pinsel zu der oberhalb des Bildes liegenden Farbpalee und sagt: Jetzt wird=s schwierig gell?

(Videotranskript, Videosequenz Paolos Bild, 00:00–00:36, US Ich hab die hässlichste Zeichnung, 0:00–0:18) Es kommt hier – homolog zur Interaktion des Lehrers mit dem Schüler in K-InSek2 – zu keiner Verhandlung über das Produkt bzw. Ergebnis des

5.5  Typ V: Primäre Rahmung durch Moralisierung mit prekärem Sachbezug

149

Schülers36, obwohl sich dieser darum bemüht und sich dabei sogar einer gewissen Provokation zur Hervorlockung der Stellungnahme von Herrn Gerber bedient: „Ich bin fertig. ich hab die hässlichste Zeichnung, uund, °das ist okay°. (…) das ist die hässlichste Zeichnung aber ich bin zufrieden“. Seitens des Lehrers erfolgt jedoch keine Stellungnahme zur ‚Sache‘ bzw. deren Bewertung sowie deren Kriterien. Dies unterscheidet sich von einer Interaktion, bei der zwar ein Sachbezug hergestellt, eine sachbezogene Bewertung zwar vorgenommen, deren Metakommunikation aber verhindert wird, wie sich dies anschaulich in Fall K-Gym2 (Typ IV) dokumentiert (s. Abschnitt 5.4). Auch im weiteren Interaktionsverlauf nimmt Herr Gerber keine Stellung zum Produkt – er benennt lediglich ein Detail: „Mandelaugen“ – und interveniert stattdessen in die korporierten Praktiken von Paolo. Die Produkt- oder Ergebnisorientierung nimmt dabei nicht nur die Form an, dass permanent interveniert bzw. das gewünschte Ergebnis fragend-anleitend herbeigeführt wird. Vielmehr greift der Lehrer gegen den Willen des Schülers direkt in das Werk und auch in das Körperterritorium Paolos ein. Dass die Verfügung über das eigene Werk nicht zugestanden wird, zeigt sich insbesondere auch daran, dass dem Schüler nicht zugestanden wird, wann für ihn das Werk abgeschlossen ist. Die Gegenwehr des Schülers gegen derartige Interventionen führt zum einen zur Forcierung der Interventionen, die dann aber auch die Widerstände des Schülers heftiger werden und partiell auch absurd erscheinen lassen. Zum anderen führt sie zur Degradierung: zur Aberkennung von Moral und Kompetenz. Letzteres stellt sich dann als eine Interaktionsstruktur dar, die mit Foucault als „strategische Auswertung des Unzukömmlichen“ (zit.n. Bohnsack 2017a, S. 267) bzw. mit Goffman als „Looping“ (1972, S. 43) bezeichnet werden kann. Im Unterschied zu Macht (vgl. Bohnsack 2017a, S. 267) geht dies im Fall von Willkür jedoch nicht mit der Konstruktion totaler Identität einher, da hier die Erst-Codierung bzw. die konstituierende Rahmung, der Bezug zur Sache und deren Bewertung, weitgehend fehlen. Die sich hier vollziehende Eliminierung der Kommunikation über das Produkt stellt eine Steigerung der Eliminierung von Metakommunikation über die Unterrichtsinteraktion und die Degradierung dar. Dadurch wird dem Schüler das Werk gewissermaßen enteignet. Es findet keine Versachlichung und Objektivierung statt. Der Schüler wird zum Vollstrecker des Lehrerwillens. In dem Sinne macht der Lehrer Paolo selbst zum Objekt.

36Bei

dem Werk des Schülers handelt es sich um eine Nachbildung von Paul Gaugins „Nafea Faa Ipoipo“, das zwei Frauen in einer Südseelandschaft darstellt.

150

5  Empirische Rekonstruktion von leistungsbezogenen …

5.6 Basistypik und Zusammenfassung der sinngenetischen Typenbildung Im Folgenden wird die sinngenetische Typenbildung noch einmal zusammenfassend dargestellt. Es konnten insgesamt fünf sinngenetische Typen rekonstruiert werden, die sich in Bezug auf das allen Fällen gemeinsame Orientierungsproblem bzw. die Basistypik: die Differenzierung bzw. Hierarchisierung der Schüler*innen nach Leistung in Relation zur Konstruktion ihrer persönlichen bzw. sozialen Identität, unterscheiden: Typ I zeichnet sich aus durch eine primäre Orientierung an einer Übertragung der Hierarchisierung der Schüler*innen im Rahmen des Leistungscodes (‚besser/ schlechter‘) auf die Gesamtperson der Schülerin bzw. des Schülers, indem die Beurteilung des Produkts Konsequenzen für weitere Bereiche der jeweiligen Person der Schüler*innen nach sich zieht. Die Übertragung der Beurteilung des Produkts (Erst-Codierung) auf die Person führt zu Moralisierungen, Disziplinierungen und Konsequenzen für die Handlungsautonomie der Schüler*innen (Zweit-Codierung). Sie werden dadurch als grundsätzlich eigenverantwortlich bzw. ‚schuldfähig‘ hinsichtlich ihrer Handlungen gerahmt. Im Zuge dieser Konstruktion der persönlichen Identität zeigen sich Komponenten einer i.S. der Praxeologischen Wissenssoziologie „machtstrukturierten Interaktion“ (Bohnsack 2017a, S. 272, Herv.i.O.), die mit einer Sichtbarmachung bzw. Visibilisierung der Hierarchie, insbesondere der in der Hierarchie unten angesiedelten Schüler*innen, d. h. mit klassenöffentlichen Degradierungen bzw. Gradierungen, einhergehen. Der dadurch bedingten Konstruktion individueller „totaler Identität“ (Garfinkel 1967b, S. 205; Bohnsack 2017a, S. 246) und ihrer Sichtbarkeit steht eine Verschleierung bzw. Invisibilisierung der machtstrukturierten Konstruktionsprozesse durch das Unterrichtsmilieu gegenüber, die sich insbesondere in der Unterdrückung von Metakommunikation (propositionale Ebene) bzw. Rollendistanz (performative Ebene) dokumentiert. Eine potentielle bzw. vordergründige ‚Offenheit‘ der Unterrichtsstruktur, die mit einer stärkeren Beteiligung bzw. Einbindung der Schüler*innen und ihrer Peerstrukturen verbunden ist, wird durch diese ‚Leistungslogik‘ zum Teil gebrochen, indem die Leistungshierarchisierung mit der Eröffnung bzw. Einschränkung von Handlungsspielräumen verbunden ist.

5.6  Basistypik und Zusammenfassung der sinngenetischen Typenbildung

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Typ II befindet sich in unmittelbarer Nähe zu Typ I. Bei Typ II tritt jedoch zur unterrichts- bzw. organisationsinternen Degradierung bzw. Stigmatisierung im Rahmen der Hierarchisierung nach Leistung eine Degradierung bzw. Stigmatisierung aufgrund der sozialen Herkunft, also eine gesellschaftliche Stigmatisierung, hinzu und potenziert und steigert die Degradierung insgesamt. Neben der Erst-Codierung nach Leistung und der Zweit-Codierung im Bereich der „persönlichen Identität“ tritt eine Zweit-Codierung hinzu im Bereich der „sozialen Identität“ (Goffman 1967, S. 9 ff.; Bohnsack 2017a, S. 157). Dabei handelt es sich um Ethnisierungen von Schüler*innen, die nicht dem dominanten sprach-kulturellen Milieu der Klasse bzw. der Lehrerin entstammen, sowie deren Visibilisierung. Diese Zweit-Codierung im Bereich der sozialen Identität stellt einen zentralen Bestandteil des Orientierungsrahmens der Lehrerin dar, was sich homolog auch in solchen Unterrichtsinteraktionen dokumentiert, in denen es vordergründig nicht um die Beurteilung von Schüler*innen-Produkten geht. Somit erscheint es sinnvoll, hier nicht von einem Subtyp von Typ I zu sprechen, sondern von einem eigenständigen Typus. Typ III zeichnet sich dadurch aus, dass die Schüler*innen, denen die geringste Leistungsfähigkeit attribuiert wird, in der Unterrichtsinteraktion als weitgehend unselbstständig bzw. unterstützungsbedürftig gerahmt werden. Damit verbunden sind eine auf Dauer gestellte Einschränkung ihrer persönlichen Autonomie und eine erhöhte Kontrolle ihrer Handlungen. Die weitgehende Suspendierung der Leistungsordnung geht daher mit einer weitreichenden Entmündigung dieser Schüler*innen hinsichtlich ihrer Beteiligung im Unterricht einher. Es handelt sich dabei um Komponenten der Suspendierung eigenverantwortlichen Handelns, also Komponenten einer Pathologisierung – nicht im medizinischen, sondern im soziologischen Sinne (vgl. Bohnsack 1983, S. 75). Typ III findet sich nur in Fällen mit ‚integrativer‘ bzw. ‚inklusiver‘ Programmatik, jedoch fächerübergreifend, und betrifft v. a. die Interaktion der Vertreter*innen der Schulischen Heilpädagogik mit Schüler*innen mit einem attestierten „besonderen Bildungsbedarf“ (der in einem Fall mit der spezifizierten Rollendefinition „verstärkte Massnahmen“ verknüpft ist). Die Pathologisierung unterscheidet sich von der Moralisierung (vgl. ebd.; Garfinkel 1967b, S. 206) der Schüler*innen ohne attestierten „besonderen Bildungsbedarf“ in den Typen I und II, denen wiederum eine grundsätzliche Eigenverantwortlichkeit für ihr Handeln zugeschrieben wird.

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5  Empirische Rekonstruktion von leistungsbezogenen …

Typ IV zeichnet sich durch eine primäre Orientierung an einem sachbezogenen und reibungslosen Unterrichtsablauf aus. Durch die Fokussierung auf die ‚Sache‘ bzw. die Unterrichtsinhalte und -gegenstände tritt der ‚Beziehungs-‘ oder ‚Persönlichkeitsaspekt‘ – sowohl zwischen den Schüler*innen und den Lehrkräften als auch unter den Schüler*innen (z. B. Peermilieustrukturen) – in den Hintergrund bzw. wird unterdrückt. In diesem Zusammenhang werden individuelle moralische Beurteilungen und (öffentliche) De-/Gradierungen vermieden, so dass Übertragungen der Beurteilung des Produkts auf die Gesamtperson der Schülerin oder des Schülers hier nicht bzw. in geringerem Maße auftreten, und es somit auch nicht zu Konstruktionen individueller totaler Identitäten kommt. Diese Orientierung wird insbesondere durch einen stark kontrollierenden bzw. steuernden Lehrmodus in Bezug auf kollektive Prozesse bei gleichzeitig erhöhter individueller Verantwortung und erhöhter Anforderung an individuelle Verantwortung zur Bewältigung der Aufgabenstellungen getragen bzw. unterstützt, der, wie gesagt, (potentielle) Störungen des Unterrichtsablaufs zu verhindern sucht. Da die individuelle Verantwortung einen ‚zwingenden‘ Charakter aufweist, lässt sich hier von einer Individualisierung sprechen. In diesem Rahmen werden die Schüler*innen in geringerem Maße in die Unterrichtsorganisation bzw. -gestaltung einbezogen (im Unterschied zu den Typen I, II und V). Damit verbunden ist eine kollektive Entmündigung und Aberkennung kollektiver Legitimität in Bezug auf die Metakommunikation über die Unterrichtsgestaltung: Jegliche Metakommunikation darüber, wie man sich dem Unterricht anders annähern könnte, wird unterbunden. Typ V ist primär durch einen willkürlichen Charakter geprägt (vgl. Bohnsack 2017a, S. 270 ff.). Dieser zeichnet sich gegenüber den machtstrukturierten Unterrichtsmilieus, wie sie sich insbesondere in den Typen I bis III finden, dadurch aus, dass in Umkehrung der üblichen Struktur der Leistungsbewertung nicht vom Sachbezug auf die (Gesamt-)Person der Schülerin bzw. des Schülers, sondern von deren moralischer Beurteilung auf die Sachhaltigkeit bzw. N ­ icht-Sachhaltigkeit ihrer Äußerungen bzw. Produkte geschlossen wird. Dies geht in der Regel damit einher, dass die Erst-Codierung und damit der Sachbezug und somit auch die konstituierende Rahmung prekär sind bzw. fehlen, also ein „organisationaler Rahmungsverlust“ (Bohnsack 2020, S. 77; Herv.i.O.) vorliegt. In einem Fall (K-InSek1) wird zudem der Schüler selbst zum Objekt von Manipulationen.

6

Soziogenetische Reflexionen und empirisch-rekonstruktive Perspektiven

Wie in Abschnitt 3.1 dargelegt, geht es bei der Frage nach der Soziogenese um die Frage nach dem Erfahrungsraum, in welchem der sinngenetisch rekonstruierte Modus Operandi bzw. primäre (Orientierungs-)Rahmen seine Genese hat. Die Suche nach diesem Erfahrungsraum kann prinzipiell auf zwei Wegen erfolgen: einerseits auf dem Weg der soziogenetischen Typenbildung, bei der i.S. einer „Negation“ (Bohnsack 2018, S. 326, Herv.i.O.) dieser Erfahrungsraum von anderen potentiellen Erfahrungsräumen abzugrenzen ist; andererseits auf dem Weg der soziogenetischen Interpretation, die i. d. R. nach den sozialisatorischen Prozessen seiner Genese auf der Grundlage der proponierten Performanz sucht, d. h. in den metaphorischen Beschreibungen und Erzählungen im Rahmen von Gruppendiskussionen bzw. Interviews. Das Niveau der Präzisierung ist davon abhängig, ob es gelingt, die Typik in ihrer Mehrdimensionalität zu erfassen (s. dazu genauer Abschnitt 3.1). Im Bereich einer praxeologischen Unterrichtsforschung, die auf die Rekonstruktion der Interaktionssysteme bzw. Orientierungsrahmen im Unterricht zielt, an deren Herstellung die Lehrkräfte einen wesentlichen Anteil haben, bezieht die soziogenetische Interpretation insbesondere eine „berufsbiografische Perspektive“ ein, „da sie uns genauere Einblicke in das handlungsleitende und theoretisierende Wissen der professionellen Akteur*innen vermittelt sowie in deren implizite und explizite Reflexionspotentiale“ (ebd.). Dabei ergänzen und validieren sich die beiden genannten Wege – die soziogenetische Interpretation und die soziogenetische Typenbildung – idealerweise wechselseitig (vgl. Bohnsack 2018, S. 327). Die Suche nach Gemeinsamkeiten und Kontrasten von Erfahrungsräumen bzw. Unterrichtsmilieus in dem vorliegenden empirischen Projekt war zunächst – wie dies im rekonstruktiven Paradigma üblich ist (vgl. ebd., S.  326) – von Common-Sense- und gegenstandstheoretischen Überlegungen angeleitet © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 B. Wagener, Leistung, Differenz und Inklusion, https://doi.org/10.1007/978-3-658-31204-6_6

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6  Soziogenetische Reflexionen und empirisch-rekonstruktive …

(s. Abschnitt 4.1). Es wurden zwei übergeordnete Vergleichsdimensionen unterschieden: Schulform und Fachunterricht. Hinsichtlich der Dimension Schulform wurden Schulklassen mit einer integrativen Programmatik und gymnasiale Schulklassen ohne eine integrative Programmatik berücksichtigt. In Bezug auf die Dimension Fachunterricht wurden der Deutsch-, der Mathematik- und der Kunstunterricht in das Sampling einbezogen. Im Zuge der komparativen Analyse können entlang dieser Dimensionen auch empirisch Differenzen i.S. differenter Orientierungsrahmen bzw. Unterrichtsmilieus rekonstruiert werden (s. Kapitel 5). Diese Differenzen unterscheiden sich jedoch im Grad ihrer Eindeutigkeit und sind daher als soziogenetische Tendenzen zu verstehen, die Ansatzpunkte für weitergehende empirische Rekonstruktionen bilden. Da der Einbezug der im Rahmen des SNF-Projekts erhobenen Interviews mit den beteiligten Lehrkräften über ihren Unterricht, also die von ihnen proponierte Performanz, in der vorliegenden Arbeit nicht systematisch erfolgt, können diese nur ansatzweise zur Klärung der Soziogenese der Typologie herangezogen werden. Zudem zielten die problemzentrierten Interviews (vgl. Witzel 2000) nicht auf (berufs-)biographische Aspekte der Lehrkräfte, die Aufschluss über die sozialisatorische Genese ihres professionellen handlungsleitenden Wissens geben könnten.1 Zudem liegen keine Interviews mit den Kunstlehrer*innen vor. Wo dies sinnvoll erscheint, wird jedoch der Versuch unternommen, über (Rück-)Bezüge zu den Gegenstandstheorien, aber auch über Bezüge zu weiteren empirischen Vergleichshorizonten, plausible Hinweise für die Soziogenese zu gewinnen. Um die Gefahr eines „‚Ethnozentrismus des Gelehrten‘“ (Bourdieu 1993, S. 370), die mit der theoretischen Bezugnahme verbunden ist, zu minimieren, werden die gegenstandstheoretischen Bezüge vor dem Hintergrund der rekonstruierten Ergebnisse kritisch beleuchtet. Es handelt sich somit um eine diskursive Suchbewegung. Dabei sind die theoretischen Bezüge keineswegs als umfassend bzw. vollständig zu verstehen, da sie eine selektive Auswahl anhand der empirischen Ergebnisse darstellen. Schließlich vermag die ­ (gegenstands-)theoretische Reflexion die empirische Rekonstruktion nicht zu ersetzen.

1Gleichwohl

wurden im Rahmen des SNF-Projekts die formalen Ausbildungsdaten der Lehrkräfte erfragt (Berufsabschluss, studierte Fächer, Ort und Dauer der Ausbildung, Dauer der Tätigkeit als Lehrkraft) sowie weitere soziale Hintergrundinformationen (Alter, Geschlecht, Migrationshintergrund, Familienstand, Religion).

6.1  Zur Schulformspezifik der Typologie

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6.1 Zur Schulformspezifik der Typologie Die wesentliche Differenz in der Vergleichsdimension Schulform besteht in dem ausschließlichen Vorkommen von Typ III Primäre Rahmung durch Pathologisierung und Konstruktion ‚behinderter‘ Identität in den Schulklassen mit einer ‚integrativen‘ Programmatik, worin die Schulformspezifik der Typologie deutlich wird. Wie sich anhand der empirischen Rekonstruktionen zeigt (v. a. in Abschnitt 5.3), steht dieser Typus in einem klaren Zusammenhang mit den Rollen der Schulischen Heilpädagogik sowie dem Etikett des „besonderen Bildungsbedarfs“ bzw. der Verordnung „verstärkter Massnahmen“, und dies unabhängig vom Fachunterricht.2 Der Frage nach der tiefergehenden Soziogenese dieser schulformspezifischen Differenz lässt sich mithilfe weiterer soziogenetischer Interpretationen nachgehen.

6.1.1 Sekundarschulen mit ‚integrativer‘ Programmatik Auf der Ebene der proponierten Performanz zeigen die Auswertungen der Interviews mit den Lehrkräften sowie der Gruppendiskussionen mit den Schüler*innen der Schulklasse InSek1, dass von allen Akteur*innen klare rollenbezogene Zuständigkeiten proponiert werden, die mit der Hierarchisierung der Schüler*innen nach Leistung einhergehen: Während die jeweilige Fachlehrkraft vorwiegend für die ‚leistungsstärkeren‘ Schüler*innen zuständig ist, sind es die Schulischen Heilpädagoginnen v. a. für die „zwei ganz Schwachen“ (Interviewaussage einer Schulischen Heilpädagogin der Klasse InSek1; vgl. Sturm/WagnerWilli 2016a, S. 79).3 In der Kategorisierung dieser Schüler*innen als „ganz schwach“ durch die Schulische Heilpädagogin wird der essentialisierende oder

2Diese

Schulformspezifik, welche eine fachunabhängige ist, bestätigt sich auch am Fall K-InSek1, in dem Typ III nicht rekonstruiert werden konnte. Dort sind allerdings weder Vertreter*innen der Schulischen Heilpädagogik noch Schüler*innen, die „verstärkte Massnahmen“ erhalten, im Unterricht anwesend, aber eine Schülerin mit dem Etikett „besonderer Bildungsbedarf“. 3In den Interviews geht es zwar primär um den Mathematikunterricht der Klasse InSek1, der nicht Teil des Samples der detaillierten Analyse der vorliegenden Arbeit ist. Es deuten sich jedoch Homologien zwischen der proponierten Performanz in den Interviews und der performativen Performanz in den Unterrichtsinteraktionen von D-InSek1 an (s. Abschnitt 5.1 und 5.3).

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6  Soziogenetische Reflexionen und empirisch-rekonstruktive …

totale (vgl. Garfinkel 1967b) Charakter der Identitätskonstruktion sichtbar, wie er sich homolog auf der Ebene der beobachteten Unterrichtsinteraktion, der performativen Performanz, dokumentiert. Auf der Ebene der performativen Performanz geht die Orientierung an den spezifischen pädagogischen Zuständigkeiten mit den für Typ III charakteristischen sozialen Pathologisierungen der als „ganz schwach“ kategorisierten Schüler*innen einher, was ebenso für die Unterrichtspraxis der Klasse InSek2 gilt. Dabei dokumentiert sich in Situationen des gemeinsam organisierten Unterrichts in beiden Klassen eine gewisse Ambivalenz im Handeln der Vertreter*innen der Schulischen Heilpädagogik, welche sich auszeichnet durch eine Orientierung an der maßgeblich von der Fachlehrkraft strukturierten konstituierenden Rahmung einerseits und eine eigenständige Interventionspraxis, v. a. – aber nicht nur – gegenüber den Schüler*innen mit dem Etikett des „besonderen Bildungsbedarfs“, andererseits. In Unterrichtssituationen, die entlang der pädagogischen Zuständigkeiten räumlich separiert stattfinden, wie sie insbesondere für den Mathematikunterricht beider Klassen typisch sind, kommt es wiederum zu größeren Abweichungen der Sachprogramme, wie auch im folgenden Vergleich einer Testrückgabe im Mathematikunterricht in InSek2 deutlich wird. Dabei wird zunächst der von der Mathematiklehrerin im Klassenraum durchgeführte Unterricht betrachtet, an dessen Beginn die Testrückgabe erfolgt:

(Auszug Videotranskript, Videosequenz Testrückgabe im Klassenraum, 00:00– 13:40, US Ankündigung der Testrückgabe und Erläuterungen zum Ablauf, 00:00– 01:32) Frau Krüger, die Mathematiklehrerin, informiert die Schüler*innen zunächst über das genaue Procedere der Testrückgabe. Dieses lässt zwar deren Beteiligung

6.1  Zur Schulformspezifik der Typologie

157

i.S. von Fragen zum Test zu, wird aber durch sie eng strukturiert. Die Reihenfolge ist klar festgelegt: Zuerst werden die „Lösungen“ besprochen, erst danach erhalten die Schüler*innen Einsicht in ihre bewerteten Tests. Indem Letzteres nur zeitlich begrenzt im Unterricht erfolgen soll, wird zudem die Möglichkeit des Unterwanderns formaler Unterrichtsregeln (das Täuschen beim Nachschreiben) einzuschränken versucht. Darin dokumentiert sich auch die Anforderung an die selbstständige und eigenverantwortliche Bearbeitung des Tests, wie sie für den Mathematikunterricht repräsentierenden Typ IV charakteristisch ist (s. Abschnitt 5.4). Darauf verweist ebenfalls die Bemerkung zur Programmatik des Tests, dass dieser an „Teste-dich-selbst“ orientiert war: Es wird damit einerseits die Eigenverantwortung der Schüler*innen für die Kontrolle über den eigenen Lernprozess proponiert. Zugleich bezieht sich die Lehrerin mit der Formulierung „wir haben geübt“ selbst in diesen Prozess ein. Damit sagt sie andererseits, dass die Testaufgaben einer festgelegten und für die Schüler*innen erwartbaren Struktur folgten. Im deutlichen Kontrast hierzu steht die Testrückgabe durch die Schulische Heilpädagogin im Nebenraum, die zeitlich etwas später stattfindet:

(Videotranskript, Videosequenz Testrückgabe im Nebenraum, 08:23–11:55, US Ankündigung der Testrückgabe und Erläuterung des Tests an den Forscher, 08:23–09:11) Im Vergleich zur Testrückgabe im Klassenraum, die an den Beginn der Unterrichtsstunde gestellt wird und einen größeren Raum in der Unterrichtskommunikation einnimmt, stellt sie hier einen Einschub in ein anderes

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6  Soziogenetische Reflexionen und empirisch-rekonstruktive …

Unterrichtsthema dar. Zum einen zeigt sich darin der weniger standardisierte bzw. skripthafte Unterrichtsablauf, und zum anderen erhält die Testrückgabe durch den Einschub hier insgesamt eine geringere Relevanz im Unterrichtskontext. Indem Frau Franke auf Lindas Anmerkung (deren Inhalt nicht zu identifizieren ist) kaum eingeht und stattdessen dem Forscher (marginal) den Test erläutert, wird die Kommunikation mit den Schüler*innen zugunsten einer Kommunikation mit Dritten über die Schüler*innen zurückgestellt. Die sich hier abzeichnende Entmündigung der Schüler*innen im Rahmen der Unterrichtsinteraktion, wie sie Typ III kennzeichnet, stellt eine deutliche Differenz zur Kommunikation der Mathematiklehrerin mit den ‚Regel‘-Schüler*innen dar, die von ihr zuerst über den Ablauf der Testrückgabe informiert werden. Wie aus den Erläuterungen der Schulischen Heilpädagogin gegenüber dem Forscher hervorgeht, besteht der Test auf programmatischer Ebene „einfach“ aus dem „ersten Teil“ von „Teste dich selbst“ (im Unterschied zum Vergleichsfall). Im Zusammenhang mit der fehlenden Benotung des Tests erfolgt die ‚Leistungsüberprüfung‘ hier als eine Art simplifizierter ‚Imitation‘ der benoteten Leistungsüberprüfung im Klassenraum und ohne vergleichbare „Karriererelevanz“ (Luhmann 2002, S.  71). Prägnant zeigt sich dies in der Aberkennung der eigenverantwortlichen bildungsbiographischen Planung einer Schülerin (Lindas antizipiertes „Studium“), nachdem sie von der Schulischen Heilpädagogin nach dem Nutzen der Testaufgaben gefragt wird (s. Abschnitt 5.3). Die weitgehende Aberkennung der individuellen Leistungsfähigkeit stellt auch die Grundlage für den Ausschluss der etikettierten Schüler*innen aus dem Mathematikunterricht der Klasse InSek1 dar, da der Unterricht für diese Schüler*innen, wie der Mathematiklehrer im Interview proponiert, „zu schwierig ist weil die sind (.) die wenigsten sind da in der Lage jetzt solche (.) solche mathematischen äh (.) Schritte schon zu vollziehen; die sind an ganzz anderen Themen“ (Sturm/Wagner-Willi 2016a, S. 85). Zugleich dokumentiert sich hier eine Differenz zu der essentialisierenden Perspektive der Schulischen Heilpädagoginnen auf diese Schüler*innen: Während sie die Schüler*innen als „ganz schwach“ total identifizieren, proponiert der Mathematiklehrer eine Kontingenz der Leistungsfähigkeit bzw. eine ‚Entwicklungsperspektive‘ („schon zu vollziehen“; ebd.). Hierin zeigt sich eine Homologie zu der weitgehenden Enthaltung einer Konstruktion totaler Identität in den videographierten Unterrichtsinteraktionen der anderen Fälle des Mathematikunterrichts. Zudem argumentiert der Mathematiklehrer von der Sache her. Sie ist Bezugspunkt für die Hierarchisierung nach Leistung. Indem sie als äußerst standardisiert und (kognitiv) anspruchsvoll bzw. komplex proponiert wird und – wie sich v. a. auf der Ebene der performativen Performanz in allen Fällen des Mathematikunter-

6.1  Zur Schulformspezifik der Typologie

159

richts zeigt – als individuell anzueignen gilt, stellt dies zugleich eine Legitimation für den Ausschluss der Schüler*innen dar, welche diese Anforderungen aus Sicht der Lehrkräfte (noch) nicht erfüllen (für einen vergleichbaren empirischen Befund zum inklusiven Mathematikunterricht vgl. z. B. Korff 2014, S. 161 ff.; Straehler-Pohl/Gellert 2015, S.  223  ff.). Das Problem der Vermittelbarkeit wird somit auf die Personen der Schüler*innen übertragen, nicht jedoch auf die Organisation des Unterrichts (vgl. auch Luhmann 2002, S. 152). Die Möglichkeit der Abweichung von den fachlichen Standards bzw. ein Infragestellen der (eigenen) unterrichtlichen Verfahrensweise wird nicht proponiert. Dies steht insofern im Kontrast zu der beobachteten performativen Performanz des Deutschund v. a. des Kunstunterrichts, als der Unterricht dort häufiger gemeinsam organisiert wird bzw. im selben Raum und unter Bezugnahme auf dieselbe fachliche Programmatik stattfindet. Im Rahmen der Schulformspezifik deutet sich somit auch eine Fachspezifik an (s. dazu ausführlich Abschnitt 6.2). Im Diskurs um schulische Inklusion wird der Begründungszusammenhang für die differenten pädagogischen Zuständigkeiten – und die damit einhergehenden differenten Identitätskonstruktionen – v. a. in der jeweils unterschiedlichen beruflichen Sozialisation von ‚Regel‘-Lehrkräften und Sonder- bzw. schulischen Heilpädagog*innen mit ihren differenten Ausbildungen vermutet und – damit zusammenhängend – in der historischen Tradition der formal nach Leistung gegliederten Schulsysteme, wie sie insbesondere die deutschsprachigen Länder auszeichnen (vgl. Sturm 2013, 2018; B. Lindmeier 2017, S. 52 ff.).4 Zudem wird angenommen, dass die formale Kategorisierung der Schüler*innen durch das Etikett des sog. sonderpädagogischen Förderbedarfs (in Deutschland) bzw. des sog. besonderen Bildungsbedarfs (in der Deutschschweiz) mit dauerhaften Stigmatisierungen der betroffenen Schüler*innen einhergehen (vgl. Powell/Pfahl 2012, S. 727). Bereits Urs Haeberlin (1993, S. 174) sieht im Zusammenhang einer solchen „Zuteilungsdiagnostik“ die Gefahr, „daß sich ein Menschenbild verfestigt, welches zufällig entstandene bürokratische Strukturen zu festen Wesensmerkmalen von Menschen macht“, d. h. zu essentialisierenden oder totalen Identitätskonstruktionen führt, wie sie sich als Konstruktion ‚behinderter‘ Identität in Typ 4In Bezug auf diese gegenstandstheoretische Argumentation ist differenzierend darauf hinzuweisen, dass das Studium der Sonderpädagogik (mit Vertiefungsrichtung Schulische Heilpädagogik) in der Schweiz – zumindest im Zuge der Tertiarisierung der Lehrer*innenbildung ab den 1990er Jahren (vgl. Criblez 2010) – als weiterführendes Studium im Anschluss an ein Lehrdiplom absolviert wird, worin es sich von dem grundständigen Studium der Sonderpädagogik in Deutschland unterscheidet. Zudem werden auch andere Studiengänge wie Sozialpädagogik als Voraussetzung für das weiterführende Studium der Schulischen Heilpädagogik anerkannt (vgl. EDK 2015, S. 9).

160

6  Soziogenetische Reflexionen und empirisch-rekonstruktive …

III dokumentieren. Analog konstatiert Hans Eberwein (1998) mit Bezug auf Heilund Sonderpädagogik: „Heil- und Sonderpädagogik haben, historisch betrachtet, den sogenannten Behinderten gerade nicht ganzheitlich, sondern immer schon ‚behinderungsspezifisch‘ gesehen“ (ebd., S. 349), worauf auf den totalen Charakter der Identitätskonstruktion verwiesen ist. Eberwein sieht in historischer Perspektive die Ursache einer solchen „Professionalisierung“ in einer Orientierung der Disziplin(en) „am Image des Arztes und Psychologen“ sowie einer „Medizinisierung der Sonderpädagogik“, v. a. unter dem „Einfluss von Psychiatrie und Pathologie“ (ebd., S. 353). Vergleichbar argumentiert Bettina Lindmeier (2017, S. 59 f.), dass „die Differenz der besonderen Klientel und die Zuschreibung einer reduzierten, deformierten Bildsamkeit, wie sie exemplarisch im Schwachsinnskonzept des ausgehenden 19. Jahrhunderts deutlich wird“, immer noch „maßgeblich“ für das heutige „Professions- und Disziplinverständnis der Sonderpädagogik“ ist. Insbesondere mit dem Aufbau der „Hilfsschule“ wurden „Erfolg und Scheitern der Kinder endgültig als Folge der je persönlichen ‚Ausstattung‘“ betrachtet (ebd.; vgl. auch EllgerRüttgardt 2016, S. 19 f.). Diese historische Argumentation bezieht sich zwar im Wesentlichen auf Deutschland, jedoch lässt sich auch in der Deutschschweiz eine ähnliche institutionelle und organisationale Entwicklung im gleichen Zeitraum mit der Entstehung von „Spezial- oder Hilfsklassen“ für „‚Schwachbegabte‘“ bzw. „‚Erziehungsanstalten für Schwachsinnige‘“ nachzeichnen (Wolfisberg 2005, S. 57; vgl. auch Bühler 2017). Im Zusammenhang mit der formalen Konstitution der Schule trete die Praxis der differenten pädagogischen Zuständigkeiten der beiden Professionen, wie sie sich auch in den vorliegenden Fällen zeigt, in gesteigerter Weise in der Sekundarstufe – im Unterschied zur Primarstufe – auf, „auf Grund der höheren Bedeutung des Fachwissens und des Fachlehrkraftprinzips“ (B. Lindmeier 2017, S. 61) sowie der „durch Leistungsmessung verstärkten Leistungsorientierung“ (Werning/Arndt 2015, S.  58; vgl. dazu empirisch-qualitativ: Köbberling/ Schley 2000, S. 222 ff.; Streckeisen 2007, S. 302). Empirisch-rekonstruktiv zeigen sich jedoch ebenso in programmatisch ‚inklusiven‘ Schulen der Primarstufe Konstruktionen totaler Identitäten von „Regelschul-“ und „Integrationskindern“ (Sturm 2013, S. 139) anhand der Leistungsnorm5, was ebenfalls mit differenten pädagogischen Zuständigkeiten der Professionellen korrespondiert

5Dies

deutet sich ebenso in den ethnographischen sowie praktikentheoretisch fundierten (Schatzki) Untersuchungen des ‚inklusiven‘ Grundschul- und Sekundarschulunterrichts von Petra Herzmann und Kolleg*innen an (vgl. Herzmann et al. 2017; Merl/Herzmann 2019).

6.1  Zur Schulformspezifik der Typologie

161

(vgl. Widmer-Wolf 2016). Differenzen gegenüber der Praxis in den ‚integrativen‘ Sekundarschulklassen in der vorliegenden Arbeit zeigen sich in den zitierten empirisch-rekonstruktiven Studien auf Basis von Gruppendiskussionen mit Lehrkräften der Primarstufe (Sturm 2013; ­Widmer-Wolf 2016) allerdings dort, wo sich zum einen leistungsbezogene Differenzkonstruktionen nur „auf Teilaspekte der Schüler/innen“ beziehen, welche die Lehrkräfte „in der Logik fachbezogener Erwartungen und Abweichungen im Unterricht konstruieren“ (Sturm 2013, S. 141). Dabei werden von den Lehrkräften gesehene fachbezogene „‚Defizite‘“ der Schüler*innen als prinzipiell „überwindbar“ betrachtet (ebd.). Zum anderen zeigen sich Differenzen in Bezug auf die Zusammenarbeit von ‚Regel‘-Lehrkräften und Schulischen Heilpädagog*innen, wo „Klassenteams (…) unterschiedliche Förderarrangements in unterschiedlichen Konstellationen von Schülerinnen und Schülern Eingang in den Unterricht“ finden und „flexible Lösungen entwickelt“ werden (Widmer-Wolf 2016, S. 179). Diese Praxis dokumentiert sich insbesondere im Typ „Situationsteams“ (ebd., S. 179 f.), in dem die Lehrkräfte die potentielle Stigmatisierung einer auf Dauer gestellten individuellen pädagogischen Intervention reflektieren (vgl. ebd.). Insgesamt verweist dieser ansatzweise Schulstufenvergleich auf eine tendenziell größere Variationsbreite der Handlungspraxen auf der Primarstufe, dem empirisch jedoch weiter nachgegangen werden müsste. In Bezug auf die empirische Rekonstruktion der biographischen Genese des beruflichen Habitus von Lehrkräften liegen bereits ausgearbeitete methodologische Forschungsprogramme vor. Dabei geht es v. a. um die Frage, wie das Spannungsverhältnis von (schulischen) Normen und Habitus über die Zeit der Ausbildung und des Berufseinstiegs von den Lehrkräften bearbeitet wird. Die damit verbundenen Forschungsarbeiten beziehen sich u. a. auf die Habitus von ‚Regel‘-Lehrkräften in Deutschland und der Schweiz (vgl. Hericks et al. 2018). Die dort rekonstruierte Basistypik, die noch einmal in einen „konsolidierenden Basistyp“ (Distanzierung von wahrgenommenen Normen) und einen „modifizierenden Basistyp“ (Versuch der Integration wahrgenommener Normen in das eigene Handeln) differenziert wird, sowie weitere Untertypen finden sich sowohl bei den deutschen als auch bei den Schweizer Lehrkräften gleichermaßen (Hericks et al. 2018, S. 58 ff., Herv.i.O.). Über die Ausbildung und den Berufseinstieg hinaus können für die Genese des „professionellen Lehrerhabitus“ (Helsper 2011, S. 165) allerdings auch gesamtbiographische Aspekte relevant sein (vgl. ebd.). Für die Schulische Heil- bzw. Sonderpädagogik sowie für die „inklusionsorientierte Lehrerbildung“ (Laubner/C. Lindmeier 2017, S.  173) stehen derartige berufsbiographische Rekonstruktionen hingegen allgemein noch

162

6  Soziogenetische Reflexionen und empirisch-rekonstruktive …

aus (vgl. ebd.; B. Lindmeier 2017, S. 71 ff.). Zugleich wird auf deren besondere Relevanz sowie Dringlichkeit hingewiesen (vgl. ebd.; Dlugosch 2003, S. 203).6

6.1.2 Schulformübergreifende Aspekte Während sich die mit der sozialen Pathologisierung einhergehende Konstruktion ‚behinderter‘ Identität in den Interaktionssystemen der Vertreter*innen der Schulischen Heilpädagogik und der etikettierten Schüler*innen (Typ III) durchgängig zeigen, dokumentieren sich in Bezug auf die Fachlehrkräfte bzw. die Interaktionssysteme, in die sie eingebunden sind, wiederum deutliche Unterschiede im praktischen Umgang mit den leistungsbezogenen sowie den gesellschaftlichen bzw. sozialen Identitäten (Typen I, II, IV und V). Es lässt sich daher nicht von einem pauschalen „Wahrnehmungsrahmen ‚Schulklasse als homogene Lerngruppe‘“ sprechen, wie dies Reh (2005, S. 84) in Bezug auf die „Mentalität“ (ebd.) von (‚Regel‘-) Lehrkräften diagnostiziert. Wenn Reh „Mentalität“ definiert „im Sinne eines sowohl strukturierten wie auch strukturbildenden Raumes für Wahrnehmungsprozesse“ (ebd., S. 77), der sich mit der Entstehung des modernen Schulwesens und der Jahrgangsklassen herausgebildet hat, erkennt Uwe Hericks (2006, S. 99) hier Übereinstimmungen mit dem Habitus-Konzept. Hingegen betont Luhmann (2002, S. 127 f.), dass die „Homogenisierung der Eintrittspopulation“ als „Fiktion der Startgleichheit“ der Schule, wie sie sich im 18. Jahrhundert etabliert hat, zu unterscheiden ist von der Selbstreferentialität des Interaktionssystems Unterricht (vgl. ebd.). In Bezug auf die formale Einführung der Jahrgangsklasse verweist Luhmann zwar auf die Möglichkeit, „Leistungsunterschiede der Schüler zu beobachten, die man anderenfalls auf Herkunft oder Alter zurechnen müsste“ (ebd., S. 162). Zugleich betont er aber, dass „die Organisation die Interaktion nicht steuern kann“ (ebd., S. 164, Herv.i.O.) und dass die Unterschiede, „obwohl sie in der Umwelt produziert wurden“, sich „nicht ignorieren“ lassen: „Sie fallen im Unterricht auf, und sie sind pädagogisch relevant“ (ebd., S. 127). In der Sprache der Praxeologischen Wissenssoziologie handelt es sich hierbei um das mehrdimensionale (Spannungs-)Verhältnis von propositionaler und performativer Logik und deren Bewältigung in der konstituierenden Rahmung bzw. im Unterrichtsmilieu

6Insbesondere

in Bezug auf den Schweizer und den deutschen Kontext bieten sich hier interessante Vergleichsperspektiven an, da die sonderpädagogischen Ausbildungen, wie bereits erwähnt, in beiden Ländern different strukturiert sind.

6.2  Zur Fachspezifik der Typologie

163

(s. Abschnitt 2.5). Die Soziogenese der Differenzen der rekonstruierten Unterrichtssysteme bzw. -milieus (Typen I, II, IV und V) lässt sich wiederum – so deutete sich bereits an – in der Vergleichsdimension Fachunterricht bzw. in den „Fachkulturen“ (Hericks/Körber 2007, S. 31, Herv.i.O.) suchen.

6.2 Zur Fachspezifik der Typologie Wenn Uwe Hericks und Andreas Körber „Fachkulturen“ definieren als „Gemeinsamkeiten im denkenden, fragenden, forschenden und lehrenden Umgang mit relevanten Ausschnitten der Wirklichkeit“, die „über den Weg der fachlich geprägten Habitusformen von Lehrkräften“ „handlungsleitende Vorstellungen über die Charakteristik des eigenen Faches“ und „seine konstituierenden Elemente“ „transportieren“ (Hericks/Körber 2007, S.  31, Herv.i.O.), so zeigen sich einige Übereinstimmungen mit der metatheoretischen Kategorie der konstituierenden Rahmung bzw. des Unterrichtsmilieus (vgl. auch Sturm 2016, S. 157 f.). Es ließe sich daher – praxeologisch formuliert – von einem ‚Fachmilieu‘ oder – etwas präziser – von einem fachlich geprägten Unterrichtsmilieu sprechen, das auch in Abgrenzung steht zu einem Kulturbegriff, der primär auf der propositionalen bzw. kommunikativen Ebene angesiedelt ist, wie dies für den Begriff der Organisations- bzw. Schulkultur definiert wurde (s. Abschnitt 2.3).7 Für die empirische Rekonstruktion von „Fachkulturen“ erachten Hericks und Körber drei Aspekte für relevant: Zum einen geht es um die Beantwortung der Frage, „ob die Ausprägung der für eine Fachkultur konstitutiven Merkmale für das jeweilige Fach spezifisch sind“, d. h., ob sie von denen anderer Fächer abgrenzbar sind. Zum anderen betonen sie „die Möglichkeit, dass Fächer keine in sich homogenen Fachkulturen besitzen“, sondern Aspekte unterschiedlicher „Fachkulturen“ aufweisen können. In diesem Zusammenhang fordern sie, „die konstituierenden Merkmale sowohl innerhalb eines Faches als auch im überfachlichen Vergleich zu identifizieren und zu analysieren“. Schließlich geht es um das Verhältnis von „Fachkulturen“ und „Unterrichts- bzw. Schulentwicklungsprozessen“. Gemeint ist hier, inwiefern die „Fachkulturen“

7Als

eine Fachkultur im praxeologischen Sinne wäre bspw. die auf der propositionalen bzw. kommunikativen Ebene angesiedelte Selbstpräsentation einer Fachdisziplin oder Fachdidaktik zu sehen, etwa die (online) veröffentlichten Selbstbeschreibungen der jeweiligen Arbeitsbereiche oder Studiengänge an den Hochschulen.

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6  Soziogenetische Reflexionen und empirisch-rekonstruktive …

„sich als stabil bzw. veränderbar erweisen, wenn sie unter institutionellen oder pädagogisch-schulorganisatorischen ­ ‚Veränderungsdruck‘ geraten“ (ebd., S. 36). Während der letzte Punkt v. a. in den Bereich der normativen Bewertung fällt – etwa im Kontext der ‚inklusiven‘ Programmatik (s. dazu ausführlich Abschnitt 7.2) –, korrespondieren die ersten beiden Aspekte mit dem rekonstruktiven Fachvergleich, wie er in der vorliegenden Arbeit im Rahmen der komparativen Analyse angestrebt wird.8 In der Vergleichsdimension Fachunterricht sind die rekonstruierten Differenzen nicht so eindeutig abgrenzbar wie in der Dimension Schulform, so dass von keinen „homogenen Fachkulturen“ (ebd.) ausgegangen werden kann. Dennoch zeigen sich zum Teil deutliche Tendenzen.

6.2.1 Mathematikunterricht Das Interaktionssystem, in das v. a. die Mathematiklehrkräfte und diejenigen Schüler*innen, die nicht das Etikett des „besonderen Bildungsbedarfs“ tragen, eingebunden sind, ist – unabhängig von Schulform sowie von Geschlecht und Alter der Lehrkräfte – Typ IV Primäre Rahmung durch Sachbezug und Individualisierung zuzuordnen. In den empirischen Rekonstruktionen auf der Ebene der performativen Performanz (s. Abschnitt 4.4) dokumentiert sich im Mathematikunterricht eine hohe Objektivierung und Standardisierung der Unterrichtsinhalte (insbesondere des Lösungswegs) und der Bewertungskriterien, was v. a. im Kontrast zum Kunstunterricht steht – mit einer gewissen Ausnahme: Fall K-Gym2 (dazu genauer weiter unten). Die Fokussierung auf die Sache sowie deren Standardisierung bzw. Objektivierung wird ebenso auf der Ebene der proponierten Performanz in dem bereits zitierten Interview mit dem Mathematiklehrer der Klasse InSek1 deutlich: „solche mathematischen (.) äh Schritten“, die es „zu vollziehen“ gilt (Sturm/Wagner-Willi 2016a, S. 85). Darauf, dass es sich hierbei um ein Charakteristikum des Mathematikunterrichts (der Sekundarstufe) handelt, verweisen auch die differenzierten Rekonstruktionen von Uwe Gellert und Anna-Marietha Hümmer (2008) auf Basis videographierter Unterrichtssequenzen. Unter Bezugnahme auf die bildungssoziologische Theorie Basil Bernsteins (1990, 1996) gelangen sie

8Da

der primäre Fokus dieser Arbeit nicht auf der Fachkulturforschung liegt, sei an dieser Stelle auf die Diskussion im Fachdiskurs verwiesen: u. a. Liebau und Huber (1985), Huber (1991, 2001), Lüders (2007), Willems (2007).

6.2  Zur Fachspezifik der Typologie

165

zu dem Ergebnis, dass es sich um einen „stark klassifizierten und gerahmten, regulativen und instruktionalen Diskurs“ (Gellert/Hümmer 2008, S. 305) handelt. Dabei gelten die „Wenn-dann-Konstruktionen, die eine große Rolle innerhalb der Schülerbeiträge spielen“, „als Spezifikum mathematisch-fachsprachlicher Formulierungen“ (ebd.). Diese „Wenn-dann-Konstruktionen“ „transportieren die in der Mathematik übliche Symbolik sprachlich und spiegeln durch ihre verkürzende Eigenschaft die Effizienz mathematischer Sprache und die Verknüpfung zwischen mathematischem Satz und Beweis wider“ (ebd.). Wesentlich dabei ist der „implizite“ Charakter der Vermittlung der „Kriterien des erwarteten mathematischen Diskurses“ (ebd.), was eine wesentliche Bedingung für die Etablierung der konstituierenden Rahmung darstellt (s. Abschnitt 2.5). Eine weitere Differenz in der performativen Performanz, die sich im Fachvergleich (aber auch im Schulformvergleich) zeigt, betrifft die Sichtbarmachung individueller Leistungsunterschiede bzw. die Übertragung der Leistungsbewertung auf die Gesamtperson, der sich die Mathematiklehrkräfte weitgehend enthalten, während v. a. die Deutschlehrkräfte (aber auch die Vertreter*innen der Schulischen Heilpädagogik) an einer Sichtbarmachung der Hierarchie bzw. an den damit verbundenen De-/Gradierungsprozessen mitwirken. Dies zeigt sich besonders konturiert im Vergleich von Mathematik- und Deutschunterricht derselben Schulklasse (M-Gym1 und D-Gym1) sowie im Fall von M-InSek2, wo die beiden primären Rahmen (Typ III und Typ IV) in ihrer gleichzeitigen Prozessierung miteinander kollidieren. Im Mathematikunterricht tritt in dem dominierenden sachbezogenen Rahmen die Identitätskonstruktion in den Hintergrund. Darin besteht wiederum eine Differenz gegenüber den Interpretationen von Gellert und Hümmer (2008): „er [der Lehrer – B.W.] kategorisiert die Schüler*innen durch die Verstärkungen in verschiedene hierarchische Leistungsklassen und weist ihnen damit spezifische Leistungsniveaus zu“ (ebd., S. 306). Die Differenz gegenüber den Fällen des Mathematikunterrichts in der vorliegenden Arbeit hinsichtlich der klassenöffentlichen Hierarchisierung nach Leistung ließe sich allerdings dadurch plausibilisieren, dass es sich bei dem von Gellert und Hümmer untersuchten Unterricht um die erste Stunde einer fünften Gymnasialklasse in Deutschland handelt. Wie die Autor*innen interpretieren, werden „vom Lehrer explizit und implizit Regeln eingeführt (…), an denen sich die Schüler, was ihr Verhalten, aber auch ihre unterrichtsinhaltliche Mitarbeit anbetrifft, im beginnenden Schuljahr orientieren sollen“ (ebd., S. 307). Dabei werden „erwartetes und inakzeptables Verhalten klar markiert bzw. sanktioniert“ (ebd.). So sagt der Lehrer bspw. nach einem öffentlichen Beitrag eines Schülers, ohne dass dieser sich zuvor gemeldet hatte: „zu S0 gewandt ooh jetzt sagst du was erstens na also reinrufen ist ja nicht so ganz ne/wichtig ist dass man erst

166

6  Soziogenetische Reflexionen und empirisch-rekonstruktive …

rangenommen wird aber, na gut, sehen wir mal heute drüber hinweg- (.) ist äh achtzehn wichtig/Ss melden sich (..) das war S1\“ (ebd., S. 296). Neben dem Rollenverhalten bezieht sich die Vermittlung auch auf die erwarteten Standards sachbezogener Beiträge: „ja (.) prima (.) ja was ich besonders prima finde ist (.) du hast ja ich habe nur gefragt was sind die wichtigen Zahlen aber du hast automatisch das gleich super erklärt, ja also da s s s ist schon ganz prima (.) also oft sagen sagt man nur das Ergebnis das Ergebnis ist Lehrer macht ein weinerliches Gesicht und imitiert dabei eine Schülermeldung (.) einige trauen sich nicht aber du hast das gleich freiwillig erklärt (.) so wünsche ich mir das“ (ebd., S. 303). Im Unterschied zum Grundschulunterricht, der mit seinen „kindgemäßen Lernformen in den Punkten Verhaltensformen und fachliche Strukturierung weniger streng geregelt ist“, müssen die neuen Gymnasialschüler*innen „diese neuen strengen Regeln erst erlernen“ (Gellert/Hümmer 2008, S. 303; vgl. auch Zevenbergen 2001). Zugleich sind die in der vorliegenden Arbeit rekonstruierten Fälle in eine andere formale Schulstruktur eingebettet (s.  Abschnitt  4.1); so sind die Schüler*innen mit einem durchschnittlichen Alter von dreizehn bis vierzehn Jahren wesentlich älter als die Schüler*innen einer fünften Gymnasialklasse in Deutschland (ca.  10  Jahre). Übersetzt in die Sprache der Praxeologischen Wissenssoziologie geht es dabei um die beginnende Etablierung der konstituierenden Rahmung, so dass hier noch nicht von einer routinisierten bzw. perpetuierten gemeinsamen Handlungspraxis i.S. eines Unterrichtsmilieus gesprochen werden kann. Die weitgehende Verständigung in Bezug auf die Rollen- und Verhaltenserwartungen, d. h. auf der Ebene des kommunikativen Wissens bzw. der propositionalen Logik, ist daher eine prekäre (s. Abschnitt 2.2.2). Insgesamt verweisen somit die „negativen Sanktionierungen“ und „positiven Verstärkungen“ (Gellert/Hümmer 2008, S. 306) des Mathematiklehrers weniger auf De-/Gradierungen i.S. der Konstruktion der persönlichen Identität des ‚guten‘ oder ‚schlechten‘ Schülers als primäre Rahmung der Unterrichtsinteraktion. Dieser Zusammenhang deutet sich auch in der ethnographischen Untersuchung von Kalthoff (2000) in einer neunten Klasse eines deutschen Internatsgymnasiums an: „Im Beispiel des Mathematikunterrichts begründet eine Schülerin ihre zuvor vom Lehrer als falsch markierte Antwort (…). Darauf reagiert der Lehrer nicht mit einer Begrenzung des Rederechtes oder mit Ironie, sondern mit einem Fachkommentar“ (ebd., S. 436). Neben dem dominierenden Sachbezug deutet sich hier ebenfalls die Enthaltung einer Konstruktion der persönlichen Identität der ‚schlechten‘ Schülerin an, da hier nicht die Bewertung des Produkts (als „falsch“) auf die Bewertung der Gesamtperson, etwa durch die

6.2  Zur Fachspezifik der Typologie

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„Begrenzung des Rederechts“ (ebd.) oder einen abwertenden Kommentar, übertragen wird. Erklärungsbedürftig bleibt die für Typ IV charakteristische erhöhte Anforderung an die Selbstständigkeit und Eigenverantwortlichkeit der Schüler*innen hinsichtlich der Aneignung des standardisierten Lösungswegs sowie der Lernstands- bzw. Leistungsüberprüfung, d. h. der Individualisierung, im Kontrast zur erhöhten Einschränkung der Peeraktivitäten und der kollektiven Entmündigung der Schüler*innen in Bezug auf ihre Mitsprache bzw. Partizipation an der Unterrichtsgestaltung, die wiederum mit der Einschränkung von Metakommunikation verbunden ist.9 Wie am Fall von K-Gym2 deutlich wird, handelt es sich hierbei jedoch nicht um eine exklusiv für den Mathematikunterricht typische Praxis. Im Unterschied zum Mathematikunterricht bezieht sich die erhöhte Anforderung an die individuelle Autonomie in diesem Kunstunterricht jedoch nicht auf den standardisierten Lösungsweg, sondern auf die kreative Bewältigung der Aufgaben. In Bezug auf die Einschränkung der Partizipation der Schüler*innen im Mathematikunterricht zeigen sich ebenfalls Homologien zu den Analysen von Gellert und Hümmer (2008): „Es geht zudem auffällig hervor, dass Schüler-Schüler-Interaktionen im Plenumsgespräch dieses Unterrichts nicht ­ existieren, da jeder Wortbeitrag eines Schülers sich an den Lehrer zu wenden hat, um von diesem zugelassen zu werden“ (ebd., S. 305). In der Sprache Bernsteins stellen die Autor*innen dies in den Zusammenhang mit der für den pädagogischen Diskurs des Mathematikunterrichts charakteristischen „starken Klassifikation und Rahmung“ (ebd.). Wie gesagt, zeigt sich allerdings ein vergleichbarer Modus Operandi – in Bezug auf den dominierenden Sachbezug sowie die Aberkennung der Legitimität, über den Unterricht zu verhandeln – auch im gymnasialen Kunstunterricht (Fall K-Gym2), so dass hier nicht von einer ausschließlich typischen Praxis des Mathematikunterrichts gesprochen werden kann. Straehler-Pohl und Gellert (2015) weisen zudem darauf hin, dass „Schulmathematik sehr unterschiedliche Formen annehmen“ kann, etwa „als eine rigorose, explizit an Prinzipien orientierte und spezialisierte Praxis“ oder

9Werner

Helsper (2016a, S.  60) spricht in diesem Zusammenhang von einer „Individualisierungsambivalenz“ als „Ausdruck von Heteronomie“. Diese führt er auf die „übergreifende gesellschaftliche“ Norm der autonomen Lebensgestaltung bzw. -führung zurück, die im Widerspruch zu den „starken Zwangsrahmungen“ der Schule stünde. Ob und warum insbesondere die Mathematiklehrkräfte in der vorliegenden Untersuchung dieser gesellschaftlichen Norm folgen, ist jedoch fraglich.

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„auch als zufällig, nur vage bestimmt und unspezifisch“ (ebd., S. 162). Allerdings ordnen sie die Mehrheit der Unterrichtsinteraktionen in ihren umfangreichen Untersuchungen in verschiedenen Schulformen (Gymnasium und Hauptschule) „nicht diesen beiden Extremen zu“ (ebd.); vielmehr sei „schulmathematischer Praxis“ „häufig eine Dynamik eigen, bei der von anfangs schwach – oder schwächer – klassifizierten Formen zu stark – oder stärker – klassifizierten Formen fortgeschritten wird“ (ebd.). So stellen sie auch in Bezug auf den Hauptschulunterricht fest: „Überraschend an der Unterrichtspraxis ist vor allem die sehr starke Klassifikation des Unterrichtsinhalts, die aufgrund der Ausrichtung der Hauptschule an einem vermeintlich praktisch begabten Modell des Lerners nicht zu erwarten gewesen wäre“ (ebd., S. 169). Die hier zitierten Studien sowie die empirisch rekonstruierten Ergebnisse in der vorliegenden Arbeit beziehen sich überwiegend auf einen lehrer*innenzentrierten Mathematikunterricht, in dem die fachlichen „Dinge“, die ‚Sache‘, „didaktisch zugerichtet und gegenüber der möglichen Vieldeutigkeit ihres Gebrauchs vereindeutigt“ sind (Breidenstein et al. 2015, S. 75). Während hingegen für den „individualisierten Unterricht“ zunächst vermutet wird, dass die Bedeutung der ‚Sache‘ bzw. ‚Dinge‘ „im Kontrast zu einer solchen Verortung der Dinge im lehrerzentrierten Unterricht“ steht (ebd.), so zeigt sich in den entsprechenden Unterrichtsbeobachtungen ebenfalls eine „Standardisierung der Schülertätigkeiten“, bei der „die mathematischen Prozesse in den Algorithmus des Materials hinein verlagert sind und die Schülertätigkeit jenseits des Verständnisses der mathematischen Prozesse weitgehend auf dem praktischen Wissen über die Handhabung des Materials beruht“ (ebd., S. 147, Herv.i.O.). In Bezug auf die Aufgaben handelt es sich wiederum „nahezu ausschließlich um geschlossene Aufgaben mit eindeutigen, leicht zu kontrollierenden Lösungen“ (ebd.).10

6.2.2 Deutschunterricht Im Unterschied zum Mathematikunterricht (und zum Kunstunterricht der Klasse Gym2) findet sich die Konstruktion der persönlichen Identität der ‚guten‘ bzw. ‚schlechten‘ Schüler*innen durch Moralisierung und De-/Gradierung, wie sie für

10Zu

vergleichbaren Beobachtungen im Wochenplanunterricht gelangen Rabenstein und Podubrin (2010): „Unseren Beobachtungen nach geht […] die Adressierung der Lernenden als mehr oder weniger selbstständige Schüler einher mit einem stark formalisierenden Umgang mit dem Unterrichtsgegenstand und der ‚Sache‘“ (ebd., S. 111).

6.2  Zur Fachspezifik der Typologie

169

Typ I – aber auch Typ II – charakteristisch ist, insbesondere im Deutschunterricht. Die Frage, warum es dort zu derartigen Konstruktionen der persönlichen Identität der Schüler*innen kommt, also die Frage nach ihrer tiefergehenden Genese, lässt sich ohne Zugang zur proponierten Performanz der Lehrkräfte kaum beantworten. Hinweise auf die v. a. theoretischen Konzepte von Deutschlehrkräften geben u. a. die qualitativen Interviewstudien von Ingrid Kunze (2004) zu „subjektiven Theorien“ von Deutschlehrer*innen der Sekundarstufe I in Deutschland und von Dorothee Wieser (2008) zu „Vorstellungen“ von Referendar*innen verschiedener Schulstufen zum Literaturunterricht (ebenfalls in Deutschland). So stimmen die (angehenden) Lehrkräfte weitgehend darin über ein, dass der Deutschunterricht – und hier insbesondere der Literaturunterricht – der Persönlichkeits- bzw. Identitätsbildung der Schüler*innen dienen soll (vgl. Kunze 2004, S. 308; Wieser 2008, S. 227 ff.). Zu einem ähnlichen Ergebnis gelangt Katharina Willems (2007) in ihrer ethnographischen Studie zum „doing gender“ (West/Zimmerman 1987) im Deutsch- im Vergleich zum Physikunterricht an einem deutschen Gymnasium: „In Deutsch ist die Ausrichtung des Faches an völlig anderen Prämissen orientiert: Individualität und Subjektivität prägen habituelle und feldorientierte Vorstellungen“ (ebd., S. 273). Diese „Illusio der Individualität, welche für Deutsch greift“ (ebd.), sieht Willems v. a. an die Mädchen adressiert, während der Physikunterricht als „exklusives“, auf „Faktenwissen“ basierendes Fach stärker an die Jungen gerichtet sei (ebd., S. 258). Die Orientierung an der Persönlichkeits- bzw. Identitätsbildung bzw. die „Illusio der Individualität“, wie sie für den Deutschunterricht typisch zu sein scheint, bilden eine mögliche Erklärungsdimension – auf einer abstrakten Ebene – für die Konstruktion der persönlichen Identität der Schüler*innen in den Typen I und II bzw. im Deutschunterricht. Darüber hinaus deutet sich in der Arbeit von Willems die Relevanz gesellschaftlicher bzw. sozialer Identitäten im Deutschunterricht an (in dem Fall die Geschlechtsidentität), wie sie auch Typ II Primäre Rahmung durch Moralisierung und Konstruktion sozialer Identität kennzeichnet, wobei es sich hier v. a. um die Konstruktion der ethnischen Identität von Schüler*innen handelt. Ethnisierungen von Schüler*innen im Deutschunterricht zeigen sich ebenso in der ethnographischen Studie von Martina Weber (2003) zur „Heterogenität im Schulalltag“ in deutschen Gymnasien und Gesamtschulen auf Grundlage von Unterrichtsbeobachtungen und Interviews mit Lehrerkräften und Schüler*innen. Im gymnasialen Deutschunterricht wird neben der Konstruktion der Geschlechtsidentität v.  a. diejenige der „türkischen“ Identität – in Abgrenzung zur „deutschen“ Identität – sichtbar sowie zum Teil diejenige

170

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der klassenspezifischen Identität (ebd., S. 242 ff.). In diesem Zusammenhang kommt es auch zu Überlagerungen der gesellschaftlichen bzw. sozialen Identitätskonstruktionen, wie dies u. a. im Interview mit einem Deutschlehrer deutlich wird, wenn er über „das moderne Proletariat“ spricht, das „heute ausländisch daherkommt“ (ebd., S. 251). Die proponierten ethnischen Differenzen erachtet er gerade für den Deutschunterricht und hier v. a. für den Literaturunterricht als relevant, da er diesen als einseitigen Vermittlungsort „unseres Kulturkreises“ und „unserer Kulturgeschichte“ versteht, was er insbesondere in seiner Auswahl spezifischer (‚bildungsbürgerlicher‘) Literatur realisiert sieht (ebd.).11 In der Unterrichtsinteraktion zeigt sich dies bspw., wenn der Lehrer zu einer Schülerin, die ihm im Zuge der Verteilung von Referatsthemen mitteilt, dass sie sich das letzte noch zur Auswahl stehende Buch genommen hat, sagt: „(…) oh, das finde ich aber gut. Ich wollte sowieso, dass das ein türkisches Mädchen liest“ (ebd., S. 254 f.). Bei dem Buch handelt es sich um den Emanzipationsroman „Effi Briest“ (ebd.). Im Interview äußert sich der Lehrer dazu weiter: „Und wenn ich Glück habe, dann hat sie dieses Buch emotional erreicht. Und dann passiert etwas Neues. Dann kommt so eine Reflexion, die sie dann auch vorgenommen hat, da gibt es Parallelen zu vielen türkischen Familien, also dass eine Tochter sehr früh verheiratet wird, und ich fand sehr schön diesen Satz, dass da gefragt wurde bei ihrer Verlobung, ob sie denn nun glücklich sei. Und dass sie dann so brav in den Konventionen bleibt in dieser Antwort, dass sie sich das vorstellt, dass das Glück sein müsste, was sie da gerade empfindet oder so etwas, ne? Sie weiß ja gar nicht, ob sie glücklich ist. Das hat Cemile erreicht, und da setzt dann etwas anderes bei ihr an. Also ihre eigene Biographie reibt sich oder stößt sich oder kriegt Nahrung durch das, was sie da liest, und das kann sie eigentlich ganz gut wenden“ (Interviewaussage des Deutschlehrers; Weber 2003, S. 253). Es dokumentiert sich hier die Vorstellung einer Überlegenheit dessen, was der Lehrer als „unsere Kultur“ und „unsere Kulturgeschichte“ bezeichnet, d. h. von vermeintlich „deutschen“ Identitätsnormen, die sich hier v. a. auf die weibliche Emanzipation beziehen. Im Umkehrschluss wird die „türkische“ (Familien-)Kultur bzw. das ‚türkische Milieu‘ insgesamt (als traditionell und nicht emanzipiert) degradiert. Vor diesem Hintergrund gilt es, Einfluss auf die (biographische) Identität der Schülerin zu nehmen: Sie soll die vermeintlichen

11Der

Lehrer problematisiert zwar im Interview, dass er nur „sehr wenig über die türkische Geschichte“ weiß, kommt dann jedoch zu dem Schluss: „aber vor allem also so im Deutschunterricht nehme ich für mich in Anspruch, dass ich die Akzente so herum setze, wie ich sie setze“ (Weber 2003, S. 251).

6.2  Zur Fachspezifik der Typologie

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„türkischen“ Identitätsnormen anhand derer, die in der vom Lehrer ausgewählten Literatur transportiert werden, kritisch hinterfragen. In diesem Rahmen erfolgt dann auch die Bewertung des Produkts (hier das Referat) der Schülerin. (Darüber hinaus beziehen sich die überlagernden sozialen Identitätskonstruktionen des Lehrers ebenso auf die männlichen Jugendlichen; vgl. ebd., S. 251.) Im Fall von D-Gym1 bzw. in Typ II kommt es ebenfalls zu Ethnisierungen in der Unterrichtsinteraktion. Hier erfährt die Konstruktion der persönlichen Identität der ‚guten‘ bzw. ‚schlechten‘ Schüler*innen durch klassenöffentliche De-/Gradierungen eine Steigerung aufgrund der Konstruktion der gesellschaftlichen bzw. sozialen Identität insbesondere derjenigen Schüler*innen, die nicht dem dominanten sprach-kulturellen Milieu des Unterrichts entstammen. Wie sich am Beispiel von Giulias Gedicht zeigt (s. Abschnitt 5.2), erfolgt die Fremdidentifizierung der Schülerin als Italienerin (in Abgrenzung zu einer ‚schweizerdeutschen‘ oder transnationalen Identität) im Zusammenhang mit der Fokussierung der Lehrerin auf die syntaktisch-lexikalisch korrekte Anwendung der (standard-)deutschen Sprache (die Giulia hier aus Perspektive der Lehrerin nicht erreicht). Diese Fokussierung auf die formal-korrekte Anwendung der deutschen Sprache, die für den Deutschunterricht konstitutiv ist, kann etwa im Mathematikunterricht derselben Klasse (M-Gym1) nicht beobachtet werden, was auch derartige Ethnisierungen einschließt (s. Abschnitt 5.4). Darüber hinaus zeigt sich im Fall D-Gym1, dass Konstruktionen der ethnischen Identität auch dort zum Tragen kommen, wo Formalsprache nicht das Thema der Interaktion bildet. Dies dokumentiert sich etwa bei der didaktischen Hinführung zu dem Gedicht „Das Karussell“ (Rilke), bei der die Schülerin Manavi als Inderin und in diesem Zusammenhang als unvertraut mit den (vermeintlich homogenen) lokalen Bräuchen und Traditionen des Karussellfahrens adressiert bzw. identifiziert wird (ohne dass ihre formalsprachlichen Fehler von der Lehrerin korrigiert werden). Zudem wird Manavi nicht von der Lehrerin über die ‚hiesige Kultur‘ belehrt, sondern sie soll v. a. die ‚indischen Bräuche‘ beschreiben – in Abgrenzung zu den ‚schweizerdeutschen‘. Es handelt sich dabei offenbar um einen Versuch der Integration der sprachlichen und ‚ethnischen‘ Heterogenität in den Unterrichtsdiskurs, der v. a. mit stereotypenhaften Fremdrahmungen und der Konstruktion der totalen ethnischen Identität einhergeht (s. Abschnitt 5.2). Im Fall des Deutschunterrichts in der Studie von Weber (2003) deutet sich hingegen eine kollektive Degradierung der „türkischen Kultur“ oder des ‚türkischen Milieus‘ – gegenüber der Gradierung der ‚deutschen Kultur‘ oder des ‚deutschen Milieus‘ –, also die Konstruktion totaler kollektiver Identitäten an, in deren Rahmen dann auch die Bewertung der Schüler*innenprodukte erfolgt. Im Unterschied dazu geht die individuelle Degradierung der Schülerin Giulia in D-Gym1 primär von der

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6  Soziogenetische Reflexionen und empirisch-rekonstruktive …

Beurteilung ihres textlich-sprachlichen Produkts aus, in deren Zusammenhang es zur Ethnisierung der Schülerin kommt.12 Dieser Unterschied in Bezug auf die Konstruktion der sozialen Identität durch Ethnisierung zeichnet sich auch in einem weiteren Fall, D-InSek2, ab, der zwar nicht systematisch in die Typenbildung einbezogen wurde, in dem sich aber zumindest an einer Stelle ein partiell vergleichbarer Orientierungsrahmen wie in D-Gym1 andeutet. In der folgenden Videosequenz steht die Interaktion zwischen der Deutschlehrerin, Frau Leone, und den Schüler*innen im Mittelpunkt. Sie findet statt, nachdem das neue Unterrichtsthema – Redewendungen in der deutschen Sprache – eingeführt und einige deutsche Beispiel-Redewendungen im Plenum besprochen wurden (z. B. „Das Kind mit dem Bade ausschütten“).

12Auch

in der qualitativen Untersuchung von Gomolla und Radtke (2009) zur „Herstellung ethnischer Differenz in der Schule“ dokumentiert sich in einem „Gruppeninterview“ mit Lehrkräften eines deutschen Gymnasiums der Zusammenhang von ethnischer Identität und der Hierarchisierung nach Leistung im Deutschunterricht (ebd., S. 249). Zudem nehmen die Lehrkräfte ‚Binnen‘-Differenzierungen bzw. -Hierarchisierungen innerhalb der als „Ausländer“ bezeichneten Schüler*innen-Gruppe vor: Schlechte Leistungen werden von ihnen mit „Sprachproblemen“ und „mangelnder Unterstützung im Elternhaus“ begründet (ebd., S. 250) und „hauptsächlich im Deutschunterricht“ verortet (ebd., S. 2). Allerdings geht aus den vorwiegend theoretisierenden Aussagen nicht hervor, ob damit klassenöffentliche Identifizierungen und Degradierungen der Schüler*innen in der Unterrichtsinteraktion verbunden sind, wie dies in Typ II der Fall ist.

6.2  Zur Fachspezifik der Typologie

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(Videotranskript, Videosequenz Redewendungen in „verschiedenen Sprachen“, 15:07–21:01, US Redewendungen auf „Türkisch“ und „Albanisch“, 16:57– 18:14) Den Schüler*innen scheint klar zu sein, wen die Lehrerin hier anzusprechen versucht, wenn sie nach einer „Redewendung“ in der „Erstsprache“ fragt, zumindest erfolgen sogleich Distanzierungen durch Melek, während sich Edonita interaktionsbereit zeigt und schließlich eine „albanische“ Redewendung aus „meinem Land“ in den öffentlichen Diskurs einbringt, was wiederum von der Lehrerin validiert wird. Dass sich die Lehrerin hier nur auf solche Schüler*innen bezieht, die von ihr nicht als (schweizer-)deutsch identifiziert werden, zeigt sich spätestens dann, wenn die Lehrerin explizit über „die Türken“ spricht. Als solche identifiziert sie Melek und Erdem, die sich dem wiederum zu entziehen versuchen. Die Distanzierungsversuche der Schüler*innen werden wiederum von der Lehrerin durch ihre mehrfachen Aufforderungen zu unterbinden versucht, wodurch die Konstruktion der ethnischen Identität verfestigt wird. Dabei verweist sie auf die ‚türkische Sprachkultur‘, die ebenfalls, d. h. analog zur ‚deutschen‘, „Sprichwörter und Redewendunge-“ beinhalte. Wenn die Lehrerin im Anschluss an Edonitas Erläuterungen des albanischen Sprichworts fragt, ob dies als „Spruch“ gelten kann, deutet sich eine Vereinnahmung bzw. Fremdrahmung entlang fachlich-normativer Kriterien des Deutschunterrichts an (Erst-Codierung). Indem sie dann Edonita auffordert, die Redewendung bzw. das Sprichwort auf Albanisch aufzusagen, wird wiederum die „Erstsprache“ der Schülerin explizit in den Unterrichtsdiskurs integriert. In den anschließenden Kommentierungen der Lehrerin dokumentiert sich hingegen erneut ansatzweise die Erst-Codierung, wenn sie einerseits die albanische Version als „relativ kurz“ bewertet und andererseits eine (erneute) Übertragung ins Deutsche bzw. ein deutsches Äquivalent einfordert – ungeachtet dessen, dass eine Übertragung nicht ohne Weiteres möglich ist, worauf auch die Schülerin verweist. Indem eine angedeutete Bewertung des Übersetzungsversuchs der Schülerin erfolgt („Joa::r“, i.S. von: ‚Das kann als Redewendung durchgehen, aber eigentlich auch nicht‘), werden hier erneut implizit Kriterien angelegt, was als Redewendung gilt bzw. nicht gilt. In der Uneindeutigkeit der Bewertung zeigt sich zudem eine Differenz zur hohen Objektivierung und Standardisierung des Lösungswegs und der Bewertungskriterien im Mathematikunterricht. Die Reaktionen der Mitschüler*innen auf Edonitas Beiträge sind hingegen nicht eindeutig interpretierbar, es deutet sich jedoch ein Ausdruck allgemeiner Befremdung bzw. Abwertung an (Lachen und der Ausruf „Bäh“).

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In Edonitas Reaktion auf die Mitschüler*innen dokumentiert sich wiederum eine Ambivalenz: Sie identifiziert sich einerseits mit ihrer Herkunftskultur bzw. ihrem -milieu und markiert andererseits ihre Zugehörigkeit zur schweizerdeutschen (Sprach-)Kultur/-Milieu, wenn sie auf Schweizerdeutsch sagt: „das isch halt so normal bi uns“13. Dadurch weist sie eine Bewertung ihrer (Gesamt-) Person als ‚schlechte‘ Schülerin und zugleich eine totale Identifizierung als (sprach-)kulturell Fremde zurück. Die Lehrerin interveniert hier nicht und lässt damit auch die Peers in ihrer Aushandlung gewähren – worin sich zudem erneut eine Differenz gegenüber dem Mathematikunterricht zeigt, in dem die Eigenstrukturiertheit des Peermilieus im Unterricht tendenziell unterdrückt wird. In der Identifizierung der Schüler*innen als „Türken“ zeigen sich zwar Homologien zum Deutschunterricht in der Untersuchung von Weber (2003), jedoch ist damit keine totale Abwertung bzw. Marginalisierung der ‚türkischen Kultur‘ verbunden. Vielmehr deutet sich hier ein (systematischer) Versuch an, die Mehrsprachigkeit – und damit verbunden die ethnische Identität – in den Unterrichtsdiskurs ‚positiv‘ zu integrieren. In D-Gym1 dokumentiert sich der (systematische bzw. didaktische) Versuch der Integration von Mehrsprachigkeit in den Unterricht in ähnlicher Weise wie in D-InSek2, wenn neben der ‚Fremdsprachigkeit‘ auch die verschiedenen schweizerdeutschen Mundarten (sowie „Nonsens“) explizit in die Unterrichtskommunikation einbezogen werden, wie sich an der nachfolgenden Konkretisierung des Arbeitsauftrags der Lehrerin, eigene Gedichte zu erstellen, zeigt. Hier wird zudem eine Differenzierung zwischen „Schweizerdeutsch“ und „Fremdsprache“ markiert14:

13Standarddeutsch:

„Das ist halt so normal bei uns“ wird, obwohl von der Lehrerin ausdrücklich „Nonsens“ erlaubt wird, in diesem Kontext das Gedicht der Schülerin Giulia als fehlerhaft gerahmt (s. Abschnitt 5.2). Letztendlich führt dies wieder zur „Trivialisierung“, wie dies Luhmann (2002, S. 77) mit Bezug auf Heinz von Foerster nennt: „Eine nichttriviale Maschine könnte vielleicht Gefallen daran finden, die englischen Sätze mit türkischen Vokabeln zu garnieren – sei es wegen des besseren Klanges oder aus rhythmischen Gründen, sei es um nebenbei zu zeigen, daß sie auch die türkische Sprache beherrscht. Das wird jedoch in der Schule weder gelehrt noch gelernt“ (ebd.). Im Zusammenhang mit einer n­ icht-erfolgenden Distanzierung von den fachlichen Normen (hier die korrekte Formalsprache) kommt es dann zu der in Abschnitt 5.2 dargestellten Konstruktion der persönlichen und sozialen Identität der Schülerin.

14Interessanterweise

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(Videotranskript, Videosequenz Aufgabenstellung Gedichte, 11:10–15:39, US Dichten zu diversen Themen und in diversen Sprachen sowie „Nonsens“, 11:10– 11:48) Im Zusammenhang mit dieser schulformübergreifenden Integration der Herkunftssprachen in den Diskurs des Deutschunterrichts – des „Schweizerdeutschen“ (mit seinen dialektalen Varianten) sowie der „Erst“- bzw. „Fremdsprachen“ – stellt sich die Frage, ob es sich hierbei möglicherweise um ein typisches Phänomen der „Sprachsituation in der Deutschschweiz“ (Sieber 1990, S. 79) handelt bzw. diese ggf. eine relevante Norm für die Lehrkräfte von D-Gym1 und D-InSek2 darstellt (vgl. Hericks et al. 2018, S. 56). Diese „Sprachsituation“ wird von Peter Sieber als ein spezifisches ­„Dialekt-Standard-Verhältnis“ (Sieber 1990, S. 78) gefasst, das für den Deutschunterricht in der Deutschschweiz eine besondere Relevanz besitze (vgl. ebd.; Sieber/Sitta 1986). In diesem Kontext beschreibt Sieber mit Bezug auf Otto von Greyerz eine „Lernerorientierung“, die „in der Aufwertung der Mundart als der dem Kind gemässen Form der Muttersprache, in der ihm Welt begegnet und mit der es sich seine eigene Welt schafft“ (ebd., S. 117), besteht. Diese Orientierung ermögliche die „Hereinnahme der deutschschweizerischen Sprachsituation in den Sprachunterricht (…), hinter die man auch heute nicht mehr zurückgehen kann“ (ebd., S. 130). In Siebers unterrichtstheoretischen Ausführungen deuten sich außerdem Bezüge zum Aspekt der Identitätskonstruktion an, die sich bei ihm als „biographische Zugänge“ (ebd., S. 134) zu den Schüler*innen darstellen: „Für den Sprachunterricht – und insbesondere auch für die Lehrerbildung – sind deshalb biographische Zugänge, in denen den je eigenen Erfahrungen mit Sprache in verschiedenen Verwendungssituationen nachgegangen wird, hilfreich und notwendig“ (ebd.). Zudem findet sich die Forderung einer besonderen Berücksichtigung der „Spracherwerbssituation“ „der Ausländerkinder“ – im Unterschied zu derjenigen „der Deutschschweizer Schüler“ (ebd., S. 137). Sehr

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ähnlich heißt es auch in einem aktuelleren bildungspolitischen Dokument, dem „Lehrplan21“15, mit Bezug auf die Mehrsprachigkeit, die explizit „weitere Erstsprachen“ einschließt: „In der Schweiz hat die Mehrsprachigkeit eine identitätsstiftende Bedeutung. Der Umgang mit Mehrsprachigkeit und kultureller Vielfalt auf kleinem Raum ist Bereicherung und Herausforderung zugleich, sowohl für das Sprachenlernen als auch für das Zusammenleben. (…) Zur vielsprachigen Schweiz gehören auch zahlreiche Mundarten, die vier Landessprachen und weitere Erstsprachen (Herkunftssprachen)“ (D-EDK 2016, S. 58). Die mit der Konstruktion der persönlichen Identität verbundene gesellschaftliche bzw. soziale Stigmatisierung, wie sie Typ II kennzeichnet (im Unterschied zur kollektiven Degradierung in der Untersuchung von Weber [2003]), kann jedoch nicht den Intentionen der Lehrkräfte bzw. ihrer Didaktik zugeschrieben werden, sondern muss als Bestandteil des Unterrichtsmilieus betrachtet werden (vgl. auch Nohl 2014, S. 224). Ob es sich bei der für Typ II charakteristischen Konstruktion der sozialen Identität durch Ethnisierung tatsächlich um ein der Tendenz nach typisches Milieu des Deutschunterrichts in der (Deutsch-)Schweiz handelt, bleibt jedoch eine weiterhin empirisch zu beantwortende Frage, unter Berücksichtigung der proponierten Performanz. Die beobachtete innerfachliche Differenz in Bezug auf den Fall D-InSek1, in dem die Thematisierung von Mehrsprachigkeit und damit einhergehende Ethnisierungen nicht zu beobachten sind, obschon die Mehrheit der Schüler*innen verschiedene ‚Erst-Sprachen‘ sowie einen sog. Migrationshintergrund angibt, kann zum einen darin bestehen, dass dies für die Lehrerin keine Relevanz hat. Eine weitere mögliche Erklärung bestünde darin, dass es sich bei der Programmatik des videographierten Unterrichts um die deutsche Grammatik handelt, d. h. die Vermittlung standardisierter Sprachregeln, was evtl. weniger Anschlussmöglichkeiten für die Integration von Mehrsprachigkeit und der ethnischen Identität in den Unterrichtsdiskurs eröffnet (analog zum Mathematikunterricht) als etwa Lyrik (D-Gym1) bzw. sprachkulturelle Redewendungen (D-InSek2). In dieser Erklärungsdimension erhält die innerfachliche Spezifik in Bezug auf das Sachprogramm eine Bedeutung für die Konstruktion der gesellschaftlichen bzw. sozialen Identität im Deutschunterricht.

15Der

von der Deutschschweizer Erziehungsdirektorenkonferenz (EDK) herausgegebene „Lehrplan21“ versteht sich als „bildungspolitisch legitimierter Auftrag der Gesellschaft an die Volksschule. Er legt die Ziele für den Unterricht aller Stufen der Volksschule fest und ist ein Planungsinstrument für Lehrpersonen, Schulen und Bildungsbehörden“ (D-EDK 2016, S. 6).

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6  Soziogenetische Reflexionen und empirisch-rekonstruktive …

6.2.3 Kunstunterricht Hinsichtlich der Soziogenese von Typ V Primäre Rahmung durch Moralisierung mit prekärem Sachbezug lassen sich ebenfalls keine eindeutigen Aussagen anhand der vorliegenden empirischen Analysen treffen. Indem Typ V in zwei von drei Fällen des Kunstunterrichts auftritt (K-InSek1 und K-InSek2), zeichnet sich zwar eine fachspezifische Tendenz ab. Diese ist jedoch keineswegs deterministisch, wie sich am Fall K-Gym2 zeigt, der Typ IV zuzuordnen ist. Interessanterweise wird allerdings auch im fachdidaktischen Diskurs eine Differenzierung bzw. „Polarisierung des kunstpädagogischen Feldes“ (Peez 2014, S. 36) konstatiert. Diese lässt sich grob einteilen in eine stärker bildkompetenzorientierte und eine stärker subjektkunstorientierte Richtung (vgl. ebd.; Brenne 2011, S. 353). Erstere geht v. a. auf Gunter und Maria Otto zurück, die das Bild und dessen „Auslegung“ (Otto/Otto 1987) in das Zentrum des Kunstunterrichts stellen. Dabei geht es darum, das zunächst subjektive Wahrnehmen „in objektive und allgemeinverbindliche Auslegungen zu überführen“ (Brenne 2011, S. 353). In der Weiterentwicklung dieses Ansatzes wird die Aufgabe des Kunstunterrichts in der Vermittlung einer „Bild- und Darstellungskompetenz“ (Kirschenmann et al., zit. n. Peez 2014, S. 39) gesehen. Diese sei in „ausgearbeiteten Kompetenzstufen vermittelbar“, wobei die „Ausformulierung und Ausarbeitung individueller Positionen und deren intersubjektive Validierung“ unbeachtet blieben (Brenne 2011, S. 353). Eine derartige „‚Nachahmungsdidaktik‘“ sei gerade heute, „im Zeitalter von Bildungsstandards“, en vogue (ebd.). Zweitere ist v. a. mit den Arbeiten Gert Selles verbunden und zielt auf die Förderung einer „subjektorientierten ‚Lebenskunst‘ oder einer ‚Ästhetik der Existenz‘“ (Peez 2014, S. 36). In diesem Verständnis „liegt die Abkehr von einer Fachdidaktik begründet, die solche Prozesse in operationalisierte Vermittlungsschritte zerlegt und auf den Erwerb von Fertigkeiten und den Gewinn von Erkenntnissen reduziert“ (Buschkühle 2003, S. 19). Selle selbst formuliert dies noch radikaler: „Aber die Möglichkeit zur kurzweiligen Befreiung beider Subjekte vom pädagogischen Zwang besteht aufgrund des legitimationsfreien Raumes, in dem kunstpädagogische Praxis heute gedacht werden darf. Von Lehre kann in solchen Momenten keine Rede sein, eher von einem Lern-Geschehen. Das ist

6.2  Zur Fachspezifik der Typologie

179

keine pädagogische Kategorie, sondern eine existentielle“ (Selle 1998, S. 190).16 In der kunstpädagogischen Literatur finden sich jedoch auch theoretische Verknüpfungen beider skizzierter Richtungen, z. B. bei Wanzenried (2004). Ausgehend von dieser „Polarisierung des kunstpädagogischen Feldes“, deuten sich dennoch – auf einer abstrahierten Ebene – einige Bezüge zu den empirisch rekonstruierten Unterrichtsinteraktionen an: In K-Gym2 zeichnen sich diese durch einen dominierenden Sachbezug aus, u. a. aufgrund der konsequenten Bezugnahme auf die Produkte der Schüler*innen, der Suspendierung nicht-sachbezogener Kommunikation, wie sie sich im Übergehen der ­ ­nicht-sachbezogenen Kommentare der Schüler dokumentiert (s. Abschnitt 5.4), sowie der Objektivierung von Anforderungs- bzw. Bewertungskriterien. Letzteres zeigt sich bspw. in der Verschriftlichung der Anforderungen oder in der angeleiteten distanzierten Betrachtung von Produkten (z. B. der „Schraffuren“ der Schüler*innen; s. Abschnitt 5.4). Damit rückt diese Praxis in die Nähe eines kunstpädagogischen Ansatzes, der sich durch „Objektivierungen“ als „Grundlage für Lernzielerhebungen und mechanistische Transferübungen“ auszeichnet (Brenne 2011, S. 353). So führt bspw. auch die Kunstlehrerin in K-Gym2 zu Beginn der Unterrichtseinheit mit der Programmatik „Schraffuren“ zunächst verschiedene Schraffurtechniken an der Tafel vor, welche die Schüler*innen zunächst üben sollen, bevor sie mit der ‚Transferaufgabe‘: das Schraffieren von „Frisuren“, beginnen. Allerdings wird dann im weiteren Verlauf dieses Unterrichts, wie bereits weiter oben beschrieben, von den Schüler*innen die je individuelle kreative Bewältigung der Aufgabe abgefordert. Zudem geht der konsequente Sachbezug – wie im Mathematikunterricht – mit der Einschränkung von Partizipationsmöglichkeiten der Schüler*innen bzgl. der Unterrichtsorganisation bzw. der Absprache der Legitimität, über diese zu verhandeln, einher. Wie dies ebenso für Typ IV charakteristisch ist, wird sich bei K-Gym2 im Rahmen der Bewertung der Produkte einer Übertragung der Bewertung auf die (Gesamt-)Person der Schülerin bzw. des Schülers weitgehend enthalten. Dies

16Eine

dieser didaktischen Konzeption des Kunstunterrichts nahestehende Unterrichtspraxis zeigt sich auch in den Beobachtungen des Kunstunterrichts in einer deutschen Grundschule von Kathrin Audehm (2011). Sie verweisen auf eine Unterrichtspraxis, in der die Erst-Codierung weitgehend fehlt, wie dies auch für Typ V gilt: „Innerhalb der beobachteten Unterrichtsstunden wird auf ästhetische Kategorisierungen (als Kriterien der Bewertung und Leistungsanerkennung) oder didaktische Klassifikationen (durch Benotung oder kategoriale Einstufung der Schülerinnen) durch die Lehrer weitgehend verzichtet“ (ebd., S. 111).

180

6  Soziogenetische Reflexionen und empirisch-rekonstruktive …

steht wiederum im Kontrast zu Typ V bzw. den Fällen K-InSek1 und K-InSek2. Wie dort zu beobachten ist, bildet die Bewertung der Person des Schülers (oder der Schülerin) aufgrund von Moralisierungen und der Absprache von Kompetenz den Ausgangspunkt der pädagogischen Interaktion. Der Sachbezug bzw. die Bezugnahme auf das Produkt sind dabei marginal. Diese Praxis ließe sich durch ein Unterrichtsverständnis plausibilisieren, das nicht den fachlichen – objektivierten – Gegenstand, sondern das „Subjekt“ (Selle 1998) ins Zentrum der Interaktion stellt (vgl. ebd.). So konstatiert auch Kersten Reich für einen derartigen Kunstunterricht: „Als Didaktiker liegt der Erfolg hier sehr stark in der Fähigkeit, die Beziehungsseite des Unterrichts vor der Inhaltsseite zu entwickeln“ (Reich 2003, S. 87). Damit soll jedoch ebenfalls nicht gesagt sein, dass die sich in der rekonstruierten Praxis von Typ V dokumentierende moralisierende Bewertung der Person intendiert sei (weder von Seiten der Lehrkräfte noch von Seiten der Fachdidaktik). Dies gilt ebenso für die grenzüberschreitenden Praktiken, die den Schüler selbst zum Objekt der Lehrer-Interventionen machen, wie sich dies v. a. in Fall K-InSek1 dokumentiert. Geht man zudem davon aus, dass die beiden kunstpädagogischen Ansätze, wie dies Brenne (2011, S. 353) diagnostiziert, mit historischen Konjunkturen verbunden sind, so korrespondiert dies durchaus mit den Ausbildungsdaten der Kunstlehrkräfte: Die Kunstlehrerin der Klasse Gym2 absolvierte ihr kunstpädagogisches Studium in den 2010er Jahren. Hingegen gibt der Kunstlehrer der Klasse InSek1 primär eine künstlerische Ausbildung an und studierte darüber hinaus anthroposophische Pädagogik in den 1970er Jahren. Von dem Kunstlehrer der Klasse InSek2 liegen keine (berufs-)biographischen Angaben vor. Trotz der soziogenetischen Plausibilität, die in einer derartigen Verknüpfung von Gegenstandstheorie und rekonstruierter Praxis liegt, sollte auch hier eine empirische Überprüfung auf der Ebene der proponierten Performanz erfolgen. In diesem Zusammenhang bietet sich ebenfalls ein berufsbiographischer Zugang an, um die ausbildungsbezogene Sozialisation der Fachlehrkräfte zu berücksichtigen. Dies gilt gleichermaßen für die anderen ‚Fachkulturen‘ bzw. fachlich geprägten Unterrichtsmilieus. Wie mehrfach betont, handelt es sich bei diesem ‚Fachkultur‘-Vergleich nicht um einen Determinismus, worauf insbesondere die rekonstruierten Differenzen innerhalb der Fächer verweisen. Die Genese der innerfachlichen Differenzen ist womöglich auch in (gesellschaftlichen und organisationsspezifischen) Milieudimensionen zu suchen, in welche die Akteur*innen eingebunden sind und die hier nicht systematisch erfasst wurden. Auf einen ähnlichen mehrdimensionalen Zusammenhang verweisen auch Eckart Liebau und Ludwig Huber (1985), die

6.2  Zur Fachspezifik der Typologie

181

sich in ihren theoretischen Ausführungen zur „Fachkultur“ v. a. auf Bourdieu beziehen: „Die Disziplinen existieren nicht allein auf der Welt, sondern sind systematisch in die verschiedenen Bereiche und Dimensionen gesellschaftlicher Herrschaft und damit in die gesellschaftlichen Konflikte einbezogen. Sie sind ohne ihre Außenbeziehungen nicht zu verstehen“ (ebd., S. 337). Zugleich erkennen sie – im Anschluss an Luhmann – die „Tendenzen zur Selbstproduktion und -reproduktion der Fachkulturen“ i.S. „‚autopoietischer Systeme‘“ an (ebd.). Aus praxeologisch-wissenssoziologischer Perspektive gilt es allerdings, die Relation zwischen den „Außenbeziehungen“, d.  h. den gesellschaftlichen Milieus, aber auch den institutionalisierten Rollen und (Identitäts-)Normen, einerseits sowie den ‚Fachkulturen‘ und den organisationsinternen Rollen und Normen andererseits nicht gesellschaftstheoretisch abzuleiten (sensu Bourdieu), sondern als Spannungsverhältnis des Unterrichtssystems empirisch zu rekonstruieren (s. Abschnitt 2.5), wie dies auch in der vorliegenden Untersuchung angestrebt wurde. Die ‚Fachkultur‘ wäre dann zum einen als ein strukturidentischer Erfahrungsraum zu betrachten, der mehr oder weniger unabhängig von den Interaktionssystemen der je spezifischen schulischen Organisation existiert, wie sich dies in dem vorliegenden Fachvergleich – zumindest in Bezug auf die Sekundarstufe – andeutet. Dessen Genese ist jedoch nicht unabhängig von organisationalen Strukturen zu sehen, da sich die Sozialisation von Lehrkräften in einer ‚Fachkultur‘ neben den ausbildenden Organisationen auch in der je spezifischen schulischen Organisation, in der sie tätig sind, vollziehen kann. Gerade in Bezug auf Letzteres muss dann auch empirisch rekonstruiert werden, ob es sich nicht um organisationsspezifische ‚Fachkulturen‘ bzw. fachlich geprägte Unterrichtsmilieus handelt.

7

Praxeologische Professionalisierungsforschung im Kontext von Unterrichtsforschung

Wie insbesondere im vorangegangenen Kapitel – im Rahmen der soziogenetischen Reflexionen der rekonstruierten Typologie mit ihrer Schulform- und Fachspezifik – deutlich wurde, sind die Aspekte der beruflichen Sozialisation bzw. der Professionalisierung (u. a. im Kontext von Ausbildung, der schulischen Organisation mit ihrer spezifischen Programmatik und der ‚Fachkultur‘) von zentraler Bedeutung für die rekonstruierte pädagogische Praxis und ihre verschiedenen Ausprägungen bzw. Typen. Betrachtet man Professionalisierung aus einer „mikrosoziologischen Sicht“ (Hericks 2006, S. 100) – etwa im Unterschied zu „makrosoziologisch beschreibbaren Eigenschaften und Merkmalen herausgehobener Berufe“ (ebd.), wie der pädagogischen Berufe –, so bedeutet dies, „dass der gemeinsame Kern der hier gemeinten Berufe in einer spezifischen Typik der von ihnen zu lösenden Handlungsprobleme verortet und von da aus nach den Kompetenzen gefragt wird, die Professionelle zur Bearbeitung dieser Probleme benötigen“ (ebd., S. 100 f.). Mit dieser mikrosoziologischen Sichtweise ist zum einen auf den „Prozesscharakter von Professionalisierung“ (ebd., S. 93) verwiesen, der allerdings nicht nur auf eine berufsbiographische Perspektive beschränkt bleibt (vgl. ebd.), sondern insbesondere auf die Prozesshaftigkeit der Interaktion zwischen den (pädagogischen) Professionellen und ihrer Klientel, wie sie auch in der vorliegenden Arbeit in den Blick genommen wird, fokussiert (vgl. Bohnsack 2020). Zum anderen fragt diese Sichtweise sowohl nach den generellen konstituierenden als auch nach den normativen Bedingungen professionalisierter Praxis. Die hier eingenommene interaktionsanalytische Perspektive auf Professionalisierung schließt an Diskussionen um „pädagogische Professionalität“ (Combe/Helsper 1996; Helsper/Tippelt 2011) an – in Abkehr vom „Allerweltsbegriff“ der „Profession“ (Helsper/Tippelt 2011, S. 269) – und geht zudem über © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 B. Wagener, Leistung, Differenz und Inklusion, https://doi.org/10.1007/978-3-658-31204-6_7

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7  Praxeologische Professionalisierungsforschung im Kontext von …

eine mit „Professionalisierung“ bezeichnete Differenzierung einer „(berufs-) biographischen Perspektive“ einerseits und einem „Akademisierungsstreben“ andererseits (ebd., S. 275) hinaus. Es geht vielmehr darum, „Professionalität [bzw. Professionalisierung – B.W.] im Kern über die Handlungs- und Anforderungsstruktur zu bestimmen“ (ebd., S. 272): „Nicht Profession als Zustand und Status, sondern als die Spezifik der Handlungsstruktur und ihres Prozessierens wird zum zentralen Bezugspunkt“ (ebd.). In diesem rekonstruktiven Verständnis sind dann auch die konstituierenden wie die normativen „Kompetenzen“ (Hericks 2006, S.  100) pädagogischen Handelns von einem kompetenztheoretischen Professionalitätsverständnis zu unterscheiden, das in der Tradition standardisierter Forschung steht (vgl. Baumert/Kunter 2006; zur Differenz von rekonstruktiver und standardisierter Forschung s. Bohnsack 2005). Im Folgenden werden die beiden genannten Aspekte von Professionalisierung bzw. professionalisierter Praxis – die konstituierenden wie die normativen – vor dem Hintergrund der empirischen Rekonstruktionen in dieser Arbeit eingehender betrachtet. Dafür ist es zunächst notwendig, den Professionalisierungsbegriff grundlagen- bzw. metatheoretisch zu präzisieren, so dass er an die hier rekonstruierte Praxis des (Fach-)Unterrichts anzuschließen vermag bzw., der rekonstruktiven Forschungslogik folgend, aus dieser heraus erschlossen wird (vgl. Bohnsack 2020). Von einer derart generierten rekonstruktiv-analytischen Kategorie der Professionalisierung sind dann wiederum die normativen Implikationen professionalisierter Praxis zu unterscheiden. Die Letztgenannten können noch einmal differenziert werden in die normativen bzw. diskursethischen Prinzipien, wie sie der rekonstruierten Praxis selbst inhärent sind, einerseits und die normativen Bewertungen und Erwartungen aus sozial- und erziehungswissenschaftlicher Perspektive, wie sie z. B. in Gegenstandstheorien zum ‚inklusiven‘ (Fach-)Unterricht formuliert werden, andererseits (vgl. ebd.; Wagener 2018, S. 87 ff.).

7.1 Zu den konstituierenden Bedingungen professionalisierter Unterrichtsmilieus Die folgenden Überlegungen hinsichtlich der konstituierenden Bedingungen professionalisierter Praxis bzw. professionalisierter Unterrichtsmilieus aus praxeologischer Perspektive (vgl. Bohnsack 2020) erfolgen in einer diskursiven Auseinandersetzung mit den professions- bzw. professionalisierungstheoretischen Positionen der Systemtheorie (vgl. u. a. Stichweh 1996; Luhmann 2002), der Interaktionstheorie (vgl. u. a. Schütze 1996) sowie der Strukturtheorie (vgl.

7.1  Zu den konstituierenden Bedingungen professionalisierter Unterrichtsmilieus 185

u. a. Oevermann 1996; Helsper 2001a). Alle drei Ansätze machen – mehr oder weniger konsequent – die Bedeutung der Praxis und ihre Eigenlogik gegenüber der Ebene der Norm bzw. Theorie für Professionalität bzw. Professionalisierung geltend, worin sich jeweils Überschneidungen mit der Perspektive der Praxeologischen Wissenssoziologie ergeben. Zugleich ermöglicht die in Teilen kritische Bezugnahme auf die genannten Ansätze eine Konturierung des praxeologischen Zugangs zu Professionalisierung.

7.1.1 Das (Spannungs-)Verhältnis von fachlicher Expertise und professionalisierter Praxis im klient*innenenbezogenen Interaktionssystem Professionalisiertes Handeln ist aus systemtheoretischer Sicht auf „klientenbezogene Tätigkeiten“ innerhalb von people-processing-Organisationen bezogen (Luhmann 2002, S. 148; Stichweh 1996, S. 60), die „unter der Bedingung der Unsicherheit des Erfolgs ihrer eigenen Eingriffe“ stehen (Luhmann 2002, S. 148). Somit ist „nicht die akademische Ausbildung allein schon als Merkmal für Professionalität“ relevant, und somit auch nicht so sehr die „Kenntnis von Prinzipien und Regeln“ (ebd., S. 151), d. h. die „theoretische Expertise“ (Bohnsack 2020, S. 7), sondern v. a. die „Verfügung über eine ausreichend große Zahl komplexer Routinen, die in unklar definierten Situationen eingesetzt werden können“ (Luhmann 2002, S. 149). Die Unterscheidung von Expertise und professionalisierter Praxis ist auch darin begründet, dass die Professionellen „nicht auf demonstrative Offenlegung, das Mitkommunizieren des noch unsicheren Status des Wissens setzen“ können (Stichweh 2013, S. 260). Eine dauerhafte theoretische Reflexion (und Explikation) der Praxis würde ein routiniertes Handeln schließlich außer Kraft setzen. Professionalisierte Praxis bezieht sich hingegen auf die Selbstreferentialität des Interaktionssystems von Professionellen und Klientel, etwa des Interaktionssystems Unterricht (vgl. ebd.) bzw. – praxeologisch-wissenssoziologisch formuliert – des Unterrichtsmilieus. Dabei rücken die Lehrkräfte nicht als Expert*innen für die Fachinhalte oder das (sonder-/heil-)pädagogische Wissen als ein theoretisches Wissen über etwas in den Fokus, sondern sie sind primär mit ihrem handlungspraktischen Wissen in der Vermittlung und in der Gestaltung des (Fach-)Unterrichts gefordert. Mit der Differenzierung zwischen theoretischer Expertise und professionalisierter Praxis lässt sich grundlagen- bzw. metatheoretisch weiter an die für die Praxeologische Wissenssoziologie zentrale Differenz einer propositionalen Logik einerseits und einer performativen Logik andererseits anschließen. Damit wird grundlegend

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7  Praxeologische Professionalisierungsforschung im Kontext von …

zwischen dem institutionalisierten, rollenförmigen Wissen und der konjunktiven Handlungspraxis unterschieden, welche in einem notorischen Spannungsverhältnis zueinander stehen (s. Abschnitt 2.2).1

7.1.2 Spezifische und diffuse Sozialbeziehungen vs. kommunikatives und konjunktives Wissen Auf den ersten Blick zeigen sich Übereinstimmungen des hier skizzierten praxeologischen Professionalisierungsverständnisses mit dem strukturtheoretischen Professionalisierungsansatz, wie er von Ulrich Oevermann (1996) im Anschluss an den Parsons’schen Strukturfunktionalismus ausgearbeitet wurde.2 Auch Oevermann nimmt eine Unterscheidung von „Expertise“ und „der Strukturlogik des professionalisierten Handelns“ vor (Oevermann 1996, S. 70 f.). Zudem differenziert er zwischen den „Rollenbeziehungen“, die er auch als „spezifische Beziehungen“ bezeichnet, einerseits und den „diffusen Sozialbeziehungen“ andererseits. Damit schließt Oevermann an die Unterscheidung von „gemeinschaftlichen“ und „gesellschaftlichen“ Beziehungen bei Parsons an, die Mannheim (1980) präzise als Differenz von kommunikativem und konjunktivem Wissen gefasst hat und die Bohnsack (2017a) u. a. mit Bezug auf Bourdieu als Differenz von Norm und Habitus bezeichnet (s. auch Abschnitt 2.2). Wenn Oevermann jedoch im „professionalisierten Habitus“ (ebd., S. 105, Herv.i.O.) die „widersprüchliche Einheit von Rollenhandeln und Handeln als ganze Person, von Elementen einer spezifischen und einer diffusen Sozialbeziehung“ sieht (ebd., Herv. B.W.), so bleibt hier aus praxeologisch-wissenssoziologischer Perspektive ein zentrales epistemologisches wie methodologisches Problem

1Der hier skizzierte Professions- bzw. Professionalisierungsbegriff unterscheidet sich u. a. von jenem, der die Akademisierung sowie die ‚freie‘ Berufsausübung (z. B. Ärzt*innen, Jurist*innen) als wesentliche Voraussetzungen einer Professionalisierung ansieht und in diesem Zusammenhang den Lehrer*innenberuf als eine „halbfreie ­Quasi-Amtsprofession“ (Streckeisen et al. 2007, S. 25) versteht. Mit der Differenzierung von akademischer Expertise einerseits und professionalisierter Praxis andererseits ist zudem die konventionelle Unterscheidung zwischen einer „Professionalität von Sonderpädagoginnen und Sonderpädagogen“ und einer „Professionalität von allgemeinen Pädagoginnen und Pädagogen“ (C. Lindmeier/Weiß 2017, S. 4) zu vernachlässigen. 2Für eine Rezeption des strukturtheoretischen Professionalisierungsansatzes in der Schulpädagogik s. z. B. Helsper (2001a) und Rademacher (2010) sowie in der Sonderpädagogik u. a. Dlugosch (2003) und Schott-Leser (2019).

7.1  Zu den konstituierenden Bedingungen professionalisierter Unterrichtsmilieus 187

ungeklärt: Letztere betont die „Aspekthaftigkeit und Mehrdimensionalität (…) spezifischer Relationen von Habitus“, die jeweils in Abhängigkeit von den „Vergleichshorizonten und der Fragestellung“ in den Blick der Analyse geraten (Bohnsack 2017a, S. 126). Der interpretatorische Zugriff auf die „ganze Person“ (z. B. des Professionellen, aber auch der Klientel) entspricht hingegen der Konstruktion totaler Identität i.S. der Ethnomethodologie (vgl. Garfinkel 1967b) und ist eine wesentliche Bedingung für Macht (vgl. Bohnsack 2017a, S. 244 ff.; s. auch Abschnitt 2.5 und Kapitel 5). Die in der Praxeologischen Wissenssoziologie fundierte Dokumentarische Methode nimmt wiederum das mehrdimensionale Spannungsverhältnis zwischen Norm und Habitus bzw. dessen Bewältigung im konjunktiven Erfahrungsraum als Orientierungsrahmen im weiteren Sinne in komparativer Analyse in den Fokus.3 Die Aspekthaftigkeit und Mehrdimensionalität der in dieser Arbeit rekonstruierten Typologie hinsichtlich der Praxis von (leistungsbezogenen) Differenzkonstruktionen im Unterricht (s. Kapitel 5) konnte ansatzweise im Zuge der soziogenetischen Reflexion herausgearbeitet werden (s. Kapitel 6). So zeigt sich, dass der allen Fällen gemeinsame Orientierungsrahmen (im weiteren Sinne) einer Differenzierung bzw. Hierarchisierung der Schüler*innen nach Leistung in Relation zur Konstruktion ihrer persönlichen bzw. sozialen Identität in seinen jeweiligen Ausprägungen sowohl schulform- als auch – in der Tendenz – fachunterrichtsmilieuspezifisch bzw. ‚fachkulturell‘ gelagert ist. Innerhalb der Dimensionen deuten sich zudem weitere Überlagerungen an, u. a. in Bezug auf spezifische Ausprägungen innerhalb einer ‚Fachkultur‘/eines ‚Fachunterrichtsmilieus‘, die ebenfalls nicht als deterministisch zu verstehen sind und denen empirisch weiter nachgegangen werden müsste. Darüber hinaus können weitere (gesellschaftliche) Milieu-Dimensionen eine Rolle spielen, die hier nicht systematisch berücksichtigt wurden. Im Fall von people-processing-Organisationen wie der Schule stellt sich die Mehrdimensionalität grundlegend als eine komplexe Relation dar zwischen

3Dies

unterscheidet sich von den überwiegend auf Einzelfallanalysen basierenden Rekonstruktionen latenter Sinnstrukturen im Rahmen der Objektiven Hermeneutik (vgl. Oevermann et al. 1979). Diese erfolgen i. d. R. vor dem Hintergrund der internen Vergleichshorizonte der Interpret*innen, wodurch eine methodische Kontrolle der eigenen Standortgebundenheit kaum gewährleistet ist. Darüber hinaus lässt sich die Strukturlogik der (professionalisierten) Praxis nur aus dem jeweiligen Kontext ihrer Einzeläußerungen valide erschließen (s. auch Abschnitt 3.1). Dem steht insbesondere das methodische Prinzip der „Kontextfreiheit“ (Wernet 2009, S. 21) in der Objektiven Hermeneutik diametral entgegen.

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7  Praxeologische Professionalisierungsforschung im Kontext von …

den gesellschaftlichen und organisationalen Normen, Rollen- und Identitätserwartungen sowie den organisationsinternen Sachprogrammen einerseits und den gesellschaftlichen wie organisationalen Milieus, denen die Lehrkräfte und die Schüler*innen angehören, andererseits. Im Kontext von Unterricht sind es v. a. die Lehrkräfte, die gefordert sind, dieses komplexe mehrdimensionale Spannungsverhältnis in einer Weise zu bearbeiten, dass sich ein routiniertes Interaktionssystem auf Basis eines kollektiven Systemgedächtnisses konstituieren kann. Der sich so herausbildende organisationale Erfahrungsraum wird in der vorliegenden Arbeit als „konstituierende Rahmung“ (Bohnsack 2017a, S. 135, Herv.i.O.) bzw. als „Unterrichtsmilieu“ (Wagner-Willi/Sturm 2012) bezeichnet. ‚Gelingt‘ den Lehrkräften die Etablierung einer solchen konstituierenden Rahmung, kann von einer professionalisierten Praxis bzw. einem professionalisierten Unterrichtsmilieu gesprochen werden: „In der Herstellung dieser Rahmung im Kontext eines konjunktiven Erfahrungsraums (…) vollzieht sich Professionalisierung“ (Bohnsack 2020, S. 32).

7.1.3 Antinomien des Lehrerhandelns als widersprüchliche Einheiten im Unterschied zu der kreativen Bewältigung des (­ Spannungs-) Verhältnisses von Norm und Habitus in der konstituierenden Rahmung bzw. im Unterrichtsmilieu In dieser Perspektive lassen sich dann auch die in der Tradition der Strukturtheorie stehenden „Antinomien des Lehrerhandelns“ (Helsper 2001a) sowie auch die interaktionstheoretisch begründeten und empirisch rekonstruierten „Paradoxien professionellen Handelns“ (Schütze 1996, S. 196), etwa diejenige von „Vertrauensvorschuß vs. Realitätsprinzip“ (ebd., S. 208), praxeologisch wenden: Zum einen werden die Antinomien nicht a priori als gegeben bzw. als „grundlegend“ (Helsper 2001a, S. 85), z. B. diejenige der „Autonomie und Heteronomie“ (ebd.), vorausgesetzt. Vielmehr ist es Aufgabe der Analyse zu rekonstruieren, welche Normen für die Professionellen selbst in ihrer Praxis Relevanz erhalten (vgl. auch Hericks et al. 2018). Zum anderen geht es weniger darum, diese Antinomien bzw. Paradoxien als „antagonistische Spannungen und Widersprüche“ (Helsper 2001a, S. 85) bzw. als „unaufhebbar“ (Schütze 1996,

7.1  Zu den konstituierenden Bedingungen professionalisierter Unterrichtsmilieus 189

S. 193) in den Blick zu nehmen.4 Stattdessen zielt die praxeologische Analyse auf die empirische Rekonstruktion der je „kreativen Bewältigung“ (Bohnsack 2020, S. 38) dieser Antinomien und Paradoxien in der konstituierenden Rahmung bzw. im Unterrichtsmilieu. Dieses Prinzip ist dann nicht nur für das pädagogische Handeln im Speziellen und das professionalisierte Handeln im Allgemeinen konstitutiv, sondern es ist zugleich Konstitutionsprinzip jedweden konjunktiven Erfahrungsraums – des gesellschaftlichen und des interaktiven wie auch des organisationalen mit seiner gesteigerten Komplexität (s. auch Abschnitt 2.3). In der vorliegenden Arbeit konnten insgesamt fünf Typen bzw. primäre Rahmungen der Unterrichtsinteraktion rekonstruiert werden, die das o.g. übergreifende Spannungsverhältnis bzw. Orientierungsproblem (die Differenzierung bzw. Hierarchisierung der Schüler*innen nach Leistung in Relation zur Konstruktion ihrer persönlichen bzw. sozialen Identität) mehr oder weniger erfolgreich i.S. der Etablierung einer konstituierenden Rahmung bzw. einem Unterrichtsmilieu handlungspraktisch zu bewältigen wissen (s. Kapitel 5): • Typ I: Primäre Rahmung durch Moralisierung • Typ II: Primäre Rahmung durch Moralisierung und Konstruktion sozialer Identität • Typ III: Primäre Rahmung durch Pathologisierung und Konstruktion ‚behinderter‘ Identität • Typ IV: Primäre Rahmung durch Sachbezug und Individualisierung • Typ V: Primäre Rahmung durch Moralisierung mit prekärem Sachbezug Während bei den Typen I bis IV eine konstituierende Rahmung mit einer ­Erst-Codierung im Bereich der Leistungsbewertung und des Sachbezugs, d. h. mit einer interaktiven Bezugnahme auf die organisationalen Rollenerwartungen

4Auch Andreas Wernet (2003, S.  47) argumentiert, „dass das Konzept der Professionalisierung pädagogischen Handelns als Modell der Vermittlung widersprüchlicher Handlungsanforderungen und als Aufrechterhaltung einer widersprüchlichen Einheit nicht triftig ist“. Denn in Bezug auf die ‚Autonomie-Heteronomie-Antinomie‘ hat die Lehrkraft die Möglichkeit, „sich situativ eindeutig zwischen einer autonomen oder heteronomen Adressierung zu entscheiden“ (ebd., S. 46, Herv.i.O.). Wernet schlägt daher alternativ das „Modell der Vermeidung widersprüchlicher Adressierung“ vor (ebd.). Allerdings ist dies bei ihm (ebenfalls) von vornherein normativ angelegt, wenn er dieses Modell als „Adäquanzmodus“ (ebd., S. 47) pädagogischen Handelns bezeichnet und diesen wiederum aus einer unterstellten prinzipiell mangelnden „Rollenkompetenz“ bzw. „Rollenambivalenz des Schülers“ ableitet (ebd., S. 46 f.).

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7  Praxeologische Professionalisierungsforschung im Kontext von …

und die generalisierten Regeln und Sachprogramme – mit ihren jeweiligen Unterschieden –, rekonstruiert werden kann, ist hingegen eine konstituierende Rahmung bei Typ V nicht oder nur marginal gegeben. Aus praxeologischer Perspektive finden sich somit die konstituierenden Bedingungen einer professionalisierten Praxis bzw. eines professionalisierten Unterrichtsmilieus in den Typen I bis IV, während es sich bei Typ V um kein professionalisiertes Unterrichtsmilieu handelt.

7.1.4 Implizite Reflexion als konstituierende und (meta-)normative Bedingung professionalisierter Unterrichtsmilieus Voraussetzung für die kreative Bewältigung der Antinomien, der Paradoxien bzw. des Spannungsverhältnisses von Norm und Habitus in der konstituierenden Rahmung ist wiederum die implizite Reflexion der Professionellen in ihrer Interaktion mit der Klientel (s. auch Abschnitt 2.3). Fritz Schütze (1996, S. 193) betont ebenso, dass das mit den Paradoxien verbundene „Störpotential als solches zwar bearbeitbar ist“; dieses müsse jedoch „immer wieder professionsethisch, in der eigenen Selbsterfahrung und persönlichen Handlungsreflexion sowie sozialwissenschaftlich reflektiert werden“. In Bezug auf die „Selbsterfahrung und persönliche Handlungsreflexion“ (ebd.) ist allerdings die „Reflexion innerhalb der eigenen Praxis“ (Bohnsack 2020, S. 59, Herv.i.O.), die implizite Reflexion bzw. die „‚reflection-in-action‘“ (Schön 1983, zit. n. Bohnsack 2020, S. 59), von der theoretischen „Reflexion über den eigenen Habitus“ (ebd., S. 60, Herv.i.O.) sowie auch von der sozialwissenschaftlichen Reflexion der Praxis zu unterscheiden, wie sie u. a. im Zusammenhang mit der Professionalisierung von Lehrkräften im Rahmen des strukturtheoretischen Ansatzes gefordert werden: „Es geht dabei um die Herausbildung eines ­wissenschaftlich-reflexiven, forschenden Habitus, der in der Lage ist, auch eigene ideale Ziele, normative Entwürfe und Orientierungen (Wernet 2006) einer Relativierung und Geltungsprüfung zu unterziehen“ (Helsper 2018, S. 129). Wie bereits mit Bezug zur Systemtheorie argumentiert wurde, birgt eine derartige theoretische SelbstReflexion, insbesondere wenn sie auf Dauer gestellt sein soll, was „die Herausbildung eines wissenschaftlich-reflexiven, forschenden Habitus“ (ebd., Herv. B.W.) impliziert, die Gefahr einer Überforderung der Professionellen bzw.

7.1  Zu den konstituierenden Bedingungen professionalisierter Unterrichtsmilieus 191

der „Destabilisierung der eigenen Praxis“ (Bohnsack 2020, S. 60).5 Wie hingegen in Abschnitt 2.2 dargelegt wurde, ermöglicht das im kollektiven Systemgedächtnis eingelagerte Wissen um das Spannungsverhältnis von propositionaler und performativer Logik, von Norm und Habitus, ein implizites Wissen um kontingente Praxen in der Auseinandersetzung mit (denselben) gesellschaftlichen bzw. organisationalen Normen, Identitäts- und Rollenerwartungen, wodurch die differenten Praxen im Vergleich zu den normativen Erwartungen als „funktional äquivalent“ (Luhmann 1970, S. 23) erscheinen. Die implizite Reflexion in der Interaktion mit der Klientel ist dann zugleich Grundlage bzw. Bestandteil einer „professionsethischen“ Reflexion (Schütze 1996, S. 193), wie sie allerdings aus p­raxeologisch-wissenssoziologischer Perspektive als eine zunächst in der Praxis selbst implizierte „Diskursethik“ „auf dem Niveau von Normen versus Metanormen“ zu rekonstruieren ist (Bohnsack 2020, S. 67; s. hierzu genauer Abschnitt 7.2). Von den rekonstruierten „Metanormen“ ausgehend, ist dann eine Bewertung der Praxis als „‚gelungene‘ oder ‚weniger gelungene‘ Professionalisierung“ möglich (ebd., S. 102). Von einer derartigen diskursethischen Bewertung sind wiederum die normativen Erwartungen an die professionalisierte Praxis aus der Perspektive der Sozialwissenschaftler*innen bzw. der sozialwissenschaftlichen Theorie zu unterscheiden (vgl. auch Wagener 2018, S. 87 ff.). Wie bereits weiter oben angesprochen, besteht darin eine zentrale Differenz gegenüber dem strukturtheoretischen Professionalisierungsansatz, da dort etwa die „Autonomisierung des sich bildenden Subjekts“ des Schülers/der Schülerin als „normative pädagogische Zielsetzung“ (Oevermann 1996, S. 154) vorausgesetzt wird. Dieses normative Ziel wird wiederum aus einem „entwicklungspsychologisch“ begründeten Mangel an persönlicher Autonomie auf Schüler*innenseite abgeleitet, woraus sich letztlich ein „pädagogisches Arbeitsbündnis“ (ebd., S. 152) ergibt, das von vornherein asymmetrisch bzw. hierarchisch strukturiert ist (jenseits der rollenförmigen Asymmetrie). Auf Lehrer*innenseite beruhe die Orientierung an der Norm der „Aufforderung zur Autonomie“ (Helsper 1996, S. 561) wiederum auf einem gesamtgesellschaftlichen „Individualisierungsparadoxon“ (ebd.), an dem die Professionellen beteiligt seien. Die Norm wird damit in zweifacher Weise der professionalisierten Praxis ex ante zugeschrieben (und nicht aus ihr selbst heraus rekonstruiert). In

5Zudem

erscheint aus praxeologisch-wissenssoziologischer Perspektive generell fragwürdig, ob eine (theoretisch-explizite) Reflexion des eigenen Habitus möglich ist (vgl. auch Martens/Wittek 2019, S. 298 f.).

192

7  Praxeologische Professionalisierungsforschung im Kontext von …

dieser Logik erscheint die „antinomische Grundfigur einer pädagogischen Aufforderung zur Autonomie“ aber auch dort, wo empirisch fundiert „unterschiedliche Strukturvarianten“ (ebd., S.  551  ff.) der Antinomie in der Unterrichtsinteraktion herausgearbeitet werden (vgl. ebd.), als ein unausweichliches Dilemma für die Professionellen, woraus letztendlich „antinomische Steigerungen“ (ebd., S.  562) folgen würden. Wie sich hingegen in der rekonstruierten praxeologischen Typologie in der vorliegenden Arbeit zeigt, erhält das ‚Autonomieproblem‘ auf ganz unterschiedliche Weise Relevanz im Unterrichtsmilieu. Insbesondere Typ III (Primäre Rahmung durch Pathologisierung und Konstruktion ‚behinderter‘ Identität) steht im maximalen Kontrast zur Norm des ‚Sei autonom!‘, wie im Folgenden eingehender diskutiert wird.

7.2 Zur normativen Bewertung professionalisierter Unterrichtsmilieus auf Grundlage einer praktischen Diskursethik in Relation zu den normativen Erwartungen erziehungswissenschaftlicher Theorie Im Anschluss an Habermas (1976) und dessen „Diskursethik“ bezeichnen „Metanormen“ als „reflexive Normen“ die „ethischen, insbesondere kommunikativen, also diskursethischen, Prinzipien der Herstellung normativer Prinzipen resp. der (metakommunikativen) Verständigung und der Verhandlung über diese“ (Bohnsack 2020, S. 110, Herv.i.O.). Während die diskursethischen Prinzipien bei Habermas jedoch v. a. auf der Ebene „theoretisierender Reflexionspotentiale“ (ebd., S. 111), also auf der Ebene der propositionalen Logik, angesiedelt sind, so erhalten sie in praxeologischer Perspektive v. a. als in der professionalisierten Praxis und ihrer performativen Logik „implizierte diskursive Prinzipien, die Prinzipien einer praktischen Diskursethik“ (ebd., Herv.i.O.), Relevanz für die normative Bewertung der Praxis. Die diskursiven Prinzipien beziehen sich im Wesentlichen auf die Formalstruktur des Interaktionssystems der Professionellen und ihrer Klientel und lassen sich im Bereich der Unterrichtsinteraktion als Modi der Interaktionsorganisation sowie der Sozialität rekonstruieren (s. auch Abschnitt 3.4).

7.2  Zur normativen Bewertung professionalisierter Unterrichtsmilieus …

193

7.2.1 Rekonstruierte Modi der Interaktionsorganisation und der Sozialität im Unterricht In den in der vorliegenden Arbeit rekonstruierten Typen von Unterrichtsinteraktionen konnten verschiedene Modi der Interaktionsorganisation bzw. der Sozialität rekonstruiert werden, die hier noch einmal kurz zusammenfassend dargestellt werden (s. dazu ausführlich Kapitel 5). Einerseits betrifft dies einen machtstrukturierten Interaktionsmodus, wie er sich v. a. in Typ I (Primäre Rahmung durch Moralisierung), Typ II (Primäre Rahmung durch Moralisierung und Konstruktion sozialer Identität) sowie Typ III (Primäre Rahmung durch Pathologisierung und Konstruktion ‚behinderter‘ Identität) dokumentiert. Dieser Interaktionsmodus ist dadurch charakterisiert, dass im Rahmen der für die Schule konstitutiven Hierarchisierung nach Leistung die Bewertung der Produkte der Schüler*innen (konstituierende Rahmung bzw. Erst-Codierung) auf die Bewertung der Gesamtperson übertragen wird (Zweit-Codierung). Dies geht einher mit der Erweiterung der persönlichen Handlungsautonomie bei den ‚leistungsstärkeren‘ Schüler*innen und ihrer Einschränkung bei den ‚leistungsschwächeren‘ Schüler*innen. Die damit verbundenen klassenöffentlichen Gradierungs- und Degradierungsprozesse führen letztlich zur Konstruktion der totalen Identität der ‚leistungsstarken‘ bzw. ‚leistungsschwachen‘ Schüler*innen (vgl. Garfinkel 1967b). In Typ III erfährt die Konstruktion von Leistungsschwäche eine Steigerung in dem Sinne, dass mit der Konstruktion der ‚Leistungsschwächsten‘ eine Absprache eigenständigen bzw. selbstverantwortlichen Handelns sowie ein (partiell auch räumlicher) Ausschluss aus der gemeinsamen Unterrichtsinteraktion einhergeht, was insgesamt zu einer sozialen Pathologisierung dieser Schüler*innen und damit zur Konstruktion einer ‚behinderten‘ Identität führt. Dies betrifft ausschließlich Schüler*innen mit einem attestierten „besonderen Bildungsbedarf“. Indem die Schüler*innenrolle bzw. -identität weitgehend suspendiert wird, setzen die Degradierungs- und Exklusionsprozesse dann nicht mehr erst auf der Ebene der Zweit-Codierung an (wie in Typ I und II), sondern bereits auf derjenigen der Erst-Codierung. Die konstituierende Rahmung, v. a. die klassenbezogene Leistungsordnung, greift hier also partiell nicht mehr. In Typ II tritt hingegen zur Zweit-Codierung im Bereich der persönlichen Identität eine Zweit-Codierung im Bereich der sozialen Identität hinzu, die sich durch Ethnisierungen von Schüler*innen auszeichnet, die nicht dem dominanten sprach-kulturellen Milieu des Unterrichts bzw. der Lehrerin angehören. Für alle drei Typen gilt, dass im Zuge der Konstruktion totaler Identität Versuche der Metakommunikation (auf verbalsprachlicher Ebene) bzw.

194

7  Praxeologische Professionalisierungsforschung im Kontext von …

der Einnahme von Rollendistanz (als Äquivalent zur Metakommunikation auf korporierter Ebene) seitens der Schüler*innen unterbunden werden. Von derartigen machstrukturierten Interaktionen unterscheidet sich wiederum Typ IV, der sich durch einen strikten Sachbezug und einen stark steuernden bzw. kontrollierenden Unterrichtsablauf auszeichnet (konstituierende Rahmung bzw. Erst-Codierung). Im Gegensatz zu den Typen I, II und III ist damit zwar eine weitgehende Enthaltung individueller Identifizierungen bzw. einer Übertragung der Leistungsbewertung auf die Gesamtperson verbunden. Allerdings zeigt sich hier die Tendenz, dass jegliche nicht-sachbezogene Kommunikation bzw. Interaktion seitens der Schüler*innen eliminiert sowie den Schüler*innen kollektiv die Legitimität zur Verhandlung über die eingespielten Regeln der Unterrichtsorganisation, die konstituierende Rahmung, abgesprochen wird. Paradoxerweise geht dies mit einer erhöhten Anforderung an ihre individuelle Autonomie bzw. Verantwortung bzgl. der Bewältigung von Aufgabenstellungen und der Leistungsanforderungen sowie auch der Einschätzung des eigenen Lern- bzw. Leistungsstands einher – und damit verbunden auch der individuellen Verantwortung für die Kompensation bei entsprechenden Defiziten. Auch wenn sich hier keine Konstruktionen totaler Identität zeigen, so dokumentieren sich in der Unterdrückung von Metakommunikation dennoch Komponenten von „Rahmungsmacht“ (Bohnsack 2017a, S. 255).6 Typ V zeichnet sich hingegen durch einen willkürlichen Interaktionsmodus aus, in dem in Umkehrung der üblichen Struktur der Leistungsbewertung nicht vom Sachbezug auf die (Gesamt-)Person der Schülerin bzw. des Schülers, sondern von deren moralischer Beurteilung auf die ‚Sachhaltigkeit‘ bzw. ‚Nicht-Sachhaltigkeit‘ ihrer Äußerungen bzw. Produkte geschlossen wird. Die konstituierende Rahmung bzw. Erst-Codierung ist in diesem Typus prekär bzw. uneindeutig. Wie bereits in Abschnitt 7.1 dargelegt, kann Typ V – im Unterschied zu allen anderen Typen – nicht als ein professionalisiertes Unterrichtsmilieu bezeichnet werden. Jenseits der konstituierenden Bedingungen professionalisierter Praxis lassen sich nun auf Grundlage der rekonstruierten diskursethischen Prinzipien, wie sie sich als implizite Reflexionen bzw. Metanormen in den differenten Interaktionsmodi dokumentieren, normative Bewertungen vornehmen. Die nachfolgend skizzierten normativen Überlegungen nehmen ihren Ausgangspunkt bei

6Wobei

i.S. Bohnsacks von Rahmungsmacht erst im Zusammenspiel unterschiedlicher Komponenten die Rede sein kann (s. Abschnitt 2.5).

7.2  Zur normativen Bewertung professionalisierter Unterrichtsmilieus …

195

dem Verhältnis von ‚Sache‘, Bewertung und Person, wie es in den rekonstruierten Typen auf unterschiedliche Weise Relevanz erhält, und werden in Relation zu ausgewählten erziehungswissenschaftlichen Theorien diskutiert.

7.2.2 Exkurs: Zum Verhältnis von Fachlichkeit, ‚Sache‘, Bewertung und Person im professionalisierten Unterrichtsmilieu Grundlagen- bzw. metatheoretisch kann ein gemeinsamer Bezug auf ‚die eine Sache‘, ein geteiltes Verständnis ‚derselben Sache‘ nicht vorausgesetzt werden, da die Akteur*innen aufgrund der „gesellschaftlichen Seinsverbundenheit des Wissens“ (Mannheim 1952, S. 227) bzw. ihrer milieuspezifischen „Standortgebundenheit“ und Perspektive (ebd., S. 243; vgl. auch Bohnsack 2017a, S. 178) immer schon unterschiedliche Zugänge zur ‚Sache‘ aufweisen. Dazu stehen wiederum die proponierten normativen Anforderungen seitens der Lehrkräfte sowie der Standards eines Fachs (z. B. der Mathematik bzw. Mathematikdidaktik) in notorischer Diskrepanz. Wie z. B. Zevenbergen (2001) (empirisch) sowie Gellert und Hümmer (2008) (makrosoziologisch) für den Mathematikunterricht geltend machen, haben die milieugebundenen Vorerfahrungen der Schüler*innen einen entscheidenden Einfluss darauf, „die konstitutiven Regeln des Unterrichts zu beherrschen“ (ebd., S. 307; vgl. auch Straehler-Pohl/Gellert 2015, S. 163). Wie in den Kapiteln 2.1 und 2.2.2 dargelegt, sind wiederum die unterrichtsbezogenen „Verständigungen“ auf „semantischer Ebene“ (Rabenstein/Proske 2018, S. 9), wie sie die Sozialphänomenologie primär in den Blick nimmt (vgl. Schütz 1971), grundsätzlich durch Indexikalität gekennzeichnet (vgl. Garfinkel 1967a) und erscheinen aufgrund der notwendigen Unterstellung reziproker Perspektiven insgesamt prekär (vgl. Bohnsack 2017a, S. 41). Am empirischen Fall zeigt sich der prekäre Charakter einer derartigen Verständigung in Bezug auf ‚die eine Sache‘ bzw. ‚das eine Thema‘ prägnant in der sachbezogenen Rahmeninkongruenz im Deutschunterricht des Gymnasiums 1 bei dem Versuch, das Gedicht der Schülerin Giulia in die deutsche Standardsprache zu transformieren (s. Abschnitt 5.2): Giulia ist primär an einer semantischen Transformation ihres Gedichts orientiert, während sich die Lehrerin – trotz ihrer expliziten Bekundungen, dass sie Giulia „versteht“ – nicht wirklich auf Giulias eigensinniges Verständnis ihres Gedichts einlässt, sondern v. a. an einer korrekten formalsprachlichen Transformation orientiert ist. Wenn Frau Lange dann einen kausalen Zusammenhang derart herstellt, dass Giulia, weil dieser Text ihre Dichtung sei, das Gedicht auch auf Italienisch verfassen müsse,

196

7  Praxeologische Professionalisierungsforschung im Kontext von …

bedeutet dies, dass die Lehrerin Giulia nicht als eine (schweizer-)deutsche oder möglicherweise transnationale, sondern als eine italienische Dichterin sieht. Ihr wird dadurch eine Identität als Italienerin zugeordnet – in Abgrenzung von einer (schweizer-)deutschen oder transnationalen Identität – und dies nicht nur auf der ­formal-sprachlichen Ebene, sondern auf der Ebene einer tiefergehenden Semantik, derjenigen der Dichtung. Wie Tobias Röhl für den Unterricht im Allgemeinen betont, sind die „Dinge und Materialien“ beiderseitig als kontingent zu verstehen, da sie „(…) auf ganz unterschiedliche Weise für Lehrer/innen und Schüler/innen relevant [sind – B.W.]“ (Röhl 2016, S. 330). Mit Luhmann (2002, S. 31) lässt sich analog von einer „doppelten Kontingenz“ des Interaktionssystems sprechen. Vermittlung und Aneignung können daher nicht als „einseitiger, linearer Prozess“ (Röhl 2016, S. 330) verstanden werden. In diesem Zusammenhang sprechen Reh und Wilde (2016, S. 104) auch von der „nicht-hintergehbaren Differenz“ des „Unterrichtens und des Unterrichts“. Diese sehen sie in einem „kulturell-historisch spezifischen Wissen, einem außerhalb des Unterrichts produzierten Wissen“, einem in den „Unterrichtsfächern kanonisierten Wissen auf der einen Seite und der ‚Sache‘, zu der etwas im Unterricht wird, auf der anderen Seite“ (ebd., S. 104). Letztere wird erst in „Praktiken, in Akten des Zeigens und in den Reaktionen darauf konstituiert“ (ebd.). Praxeologisch-wissenssoziologisch gewendet, handelt es sich dabei um die grundlegende Differenz zwischen der propositionalen Logik, der „fachlichen Expertise“ (Bohnsack 2020, S. 99), und der performativen Logik, des konjunktiven bzw. milieugebundenen Wissens. Das (Spannungs-)Verhältnis beider Logiken ist wiederum Voraussetzung bzw. Bestandteil der konstituierenden Rahmung, und zugleich setzt professionalisiertes Handeln die Bewältigung dieses (Spannungs-)Verhältnisses in der konstituierenden Rahmung voraus (vgl. ebd.). An dieser Stelle deuten sich erneut Differenzen zwischen der ­praxeologisch-wissenssoziologischen Perspektive und dem strukturtheoretischen Ansatz an (vgl. auch Bohnsack 2020, S. 85 ff.). Wenn in Bezug auf die „Sachantinomie“ (Helsper 2016b, S. 119) konstatiert wird, dass erstens eine „Spannung einer Orientierung an der Sache und einer Orientierung an der Person“ vorliegt und zweitens die Gefahr des Scheiterns der „Vermittlung“ der ‚Sache‘ „gegenüber der Person der Schüler“ besteht, wenn die „Orientierung an der Sache dominiert“, sowie drittens „die Sachlogik verloren zu gehen“ droht, wenn „eine Orientierung an der Person“ dominiert (ebd.), dann scheint hier davon ausgegangen zu werden, dass jeweils nur die eine „Sache“ bzw. „Sachlogik“ existent ist und dass „Sachlogik“ und „Personlogik“ prinzipiell voneinander unterschieden werden. Auch wenn zwar gefordert wird, dass Lehrkräfte an die persönlichen ‚Sachzugänge‘ von Schüler*innen anschließen müssen, so werden die „Lehr-

7.2  Zur normativen Bewertung professionalisierter Unterrichtsmilieus …

197

kräfte“ dennoch als die „Sachwalter des Faches und der fachlich-sachlichen ‚objektiven‘ Wissensbestände (…), die sie gegenüber den Schülern zur Geltung bringen und vertreten müssen“ (ebd.), verstanden.7 Wenn zudem davon ausgegangen wird, dass die Vermittlung der Sache „nur möglich [ist – B.W.], wenn neben die Fachlogik eine ‚Personenlogik‘ im Lehrerhandeln tritt“ (ebd., S. 119), so bleibt hier – wie dies bereits weiter oben für den strukturtheoretischen Ansatz allgemein konstatiert wurde – unklar, inwieweit damit ein Zugriff auf die „ganze Person“ der Schüler*innen intendiert ist, also Schwierigkeiten im Rahmen der ‚sachbezogenen‘ Verständigung durch die Konstruktion der persönlichen (oder auch der gesellschaftlichen bzw. sozialen) Identität zu kompensieren bzw. zu korrigieren gesucht werden. Wie anhand der empirischen Rekonstruktionen in der vorliegenden Arbeit gezeigt wurde, handelt es sich bei derartigen Identitätskonstruktionen um eine wesentliche Voraussetzung für Macht (s. Abschnitt 5.1, 5.2 und 5.3). In der Anerkennung der differenten (oder auch fehlenden) ‚Sachbezüge‘ der Schüler*innen sieht auch Hericks (2006, S. 110 ff.) eine zentrale Aufgabe von Lehrkräften, betont aber zugleich – unter Bezugnahme auf systemtheoretische Positionen – die Notwendigkeit der wechselseitigen Annäherung an diese. Dabei setzt der Zugang zu den persönlichen und milieuspezifischen Aneignungsprozessen zum einen die Wahrnehmung der „doppelten Kontingenz“ (Luhmann 2002, S. 31) im professionalisierten Handeln voraus. In dieser Perspektive geht es somit nicht nur darum, die Kongruenzen und Diskrepanzen von den normativen fachlichen Anforderungen, die wiederum selbst kontingent sein können, in der Interaktion mit den Schüler*innen zu fokussieren. Vielmehr sind die Lehrkräfte, so Bohnsack (2020, S. 90), in Bezug auf die konstituierende Rahmung gefordert, dafür „Sorge [zu – B.W.] tragen, den Zweifel und die damit verbundenen Kontingenzen durch etwaige kommunikative Strategien der Didaktisierung und Methodisierung, die den Anschluss an die Sach-Verständnisse der Schüler*innen suchen müssen, nicht zum Verschwinden zu bringen, sondern vielmehr zu befördern“. Eine derartige Praxis setzt wiederum die Kompetenz zur

7Dass

dabei nur eine „Sachlogik“ angenommen wird, deutet sich auch in der Interpretation einer Unterrichtssituation an, in der „die nicht verhandelbare Regel der neuen Rechtschreibung (…) zu einer verhandelbaren Sache“ wird, indem sie „an die subjektive Einschätzung und ästhetische Vorliebe von Lena gebunden wird“ (Helsper 2016b, S. 120). Das empirische Beispiel wird vom Autor als Illustration dafür angeführt, wie „die Dominanz der Personorientierung die Logik und Faktizität der Sache brechen kann“ (ebd., Herv. B.W.).

198

7  Praxeologische Professionalisierungsforschung im Kontext von …

Distanzierung von der fachlichen Expertise und ihren normativen Anforderungen, also der Proposition, voraus. Um das professionalisierte Handeln jedoch aufrechterhalten zu können, setzt die Distanzierung von den proponierten normativen Anforderungen nicht vorrangig auf theoretischer bzw. propositionaler Ebene an (s. auch Abschnitt 7.1.1), sondern vollzieht sich primordial auf der Ebene der impliziten Reflexion i.S. von „Rollendistanz“ (Goffman 1973; s. dazu ausführlich Abschnitt 2.2 und 2.3).

7.2.3 Zum Verhältnis von Fachlichkeit, ‚Sache‘, Bewertung und Person im machtstrukturierten Interaktionsmodus (Typ I, II und III) Es kann jedoch als problematisch angesehen werden, wenn, wie in den Typen I, II und III der Fall, der Zugang zur Person (der Schüler*innen) und ihrer eigensinnigen Aneignung der ‚Sache‘ im Rahmen einer „verdachtsgeleiteten Wirklichkeitskonstruktion“ (Bohnsack 1983, S. 45 ff.; Bohnsack 2017a, S. 256 ff.) erfolgt, die mit der Konstruktion totaler Identitäten verbunden ist. Wie Bohnsack ursprünglich am empirischen Fall einer „psychosozialen Drogen- und Jugendberatung“ rekonstruiert (ebd.), nehmen dabei „Konstruktionen der Personen der Klientel seitens der beruflichen Akteur*innen ihren Ausgangspunkt bei den Abweichungen von oder Übereinstimmungen mit deren Vorstellungen und Geltungsansprüchen (…), welche sie selbst resp. der Fachdiskurs von der Sache (und bspw. deren leistungsbezogener Bewertung) haben“, so dass „die defizitäre Bewertung des Sachbezugs (…) auf die gesamte (totale) Identität der Klient*innen übertragen“ wird (Bohnsack 2020, S. 96). In den Typen I und II betrifft dies, wie dargestellt, die Konstruktion der persönlichen Identität im Rahmen der Hierarchisierung der Schüler*innen nach Leistung, indem die Beurteilung ihrer Produkte auf die Beurteilung ihrer (Gesamt-)Person übertragen wird. Bei den als (besonders) ‚leistungsschwach‘ konstruierten Schüler*innen geht dies mit Prozessen der Degradierung einher. Wie Christine Wiezorek mit Bezug auf die Anerkennungstheorie von Axel Honneth (1998) argumentiert, handelt es sich dabei um „Missachtungsformen, die in der Anerkennungsproblematik gleichsam angelegt sind“ (Wiezorek 2005, S. 347). Diese betreffen u. a. „die Abwertung der Person des Schülers in Folge seiner schlechten schulischen Leistungsfähigkeit sowie die Bewertung der schulischen Leistungsfähigkeit des Schülers in Folge seiner Wahrnehmung und Wertschätzung als ganzer Person“ (ebd.). Die „Anerkennungsproblematik“ in Bezug auf die „Wertschätzung der schulischen Leistung des Schülers“ sieht

7.2  Zur normativen Bewertung professionalisierter Unterrichtsmilieus …

199

Wiezorek im Zusammenhang mit der „Anerkennungsproblematik um die Entsprechung schulischer Wissens- und Bildungsgehalte zu den subjektiven Lernproblematiken des Schülers“ (ebd., S. 346), die wiederum mit „Missachtungsformen“ i.S. der „Geringschätzung und Abwertung seines Zugangs [des Schülers – B.W.] auf Welt und seiner subjektiven Lernproblematiken“ (ebd., S. 343) verbunden ist. Wie die Autorin auf der Grundlage ihrer Rekonstruktionen von biographisch-narrativen Interviews schlussfolgert, können derartige „Anerkennungsproblematiken (…) Weichenstellungen für die biographische Entwicklung des Subjektes“ darstellen (ebd. S. 349, Herv.i.O.), die sich in einem Fall zu einer „destabilisierenden biographischen Entwicklung“ zuspitzt und die Form einer „biographischen Verlaufskurve“ (ebd., S. 347) annimmt.8 Vor dem Hintergrund solcher potentiellen Auswirkungen auf die Biographie- und „Identitätsentwicklung“ (ebd., S. 336) der Klientel wäre es aus normativer Perspektive angeraten, derartige tautologische Konstruktionen totaler Identität seitens der Professionellen zu vermeiden. Als Voraussetzung dafür können die o.g. normativen Anforderungen an Lehrkräfte angesehen werden, zwar den Anschluss an die eigensinnigen ‚Sachbezüge‘ der Schüler*innen zu suchen und diese auch zu fördern, die persönlichen ‚Sachbezüge‘ aber zugleich von einer Beurteilung anhand der fachlichen Normen zu trennen. Letztgenannte sollten zudem einer Metakommunikation nicht entzogen werden und – damit verbunden – „revidierbar“ (Hericks 2006, S. 125) sein. Bei Typ II ist die Konstruktion der persönlichen Identität nach Leistung zudem mit einer Zweit-Codierung im Bereich der gesellschaftlichen bzw. ethnischen Identität verbunden. Wie am oben angeführten empirischen Beispiel aus dem Deutschunterricht (D-Gym1) ersichtlich wird, kommt es zu einer Steigerung der individuellen Stigmatisierung durch eine gesellschaftliche Stigmatisierung aufgrund der Identifizierung der Schülerin Giulia als ‚italienische Dichterin‘ – im Unterschied etwa zu einer ‚(schweizer-)deutschen‘ oder ‚transnationalen Dichterin‘ (s. Abschnitt 5.2). Aus normativer Perspektive kann diese Praxis als

8„Die

schulbiographische Entwicklung Michael Wagners führt schließlich zu einer prekären Identitätsformation: Einerseits erfährt er sich in Bezug auf seine Schulbiographie nicht als autonom handlungs- und gestaltungsfähiges Subjekt, und dies geht partiell mit Rückzugstendenzen einher (…). Zum anderen fehlt ihm gerade in Bezug auf den sowohl seitens der Schule als auch der Familie herausragenden Identitätsaspekt Leistung in beiden Bereichen die anerkennende Rückversicherung, die er aber benötigt, um sich als ein (einzigartig) spezifisch reagierendes Wesen selbst wertschätzen lernen zu können (…).“ (Wiezorek 2005, S. 335, Herv.i.O.)

200

7  Praxeologische Professionalisierungsforschung im Kontext von …

ein Verstoß gegen das Gebot der „Herkunftsneutralisierung“ der öffentlichen Schule (Luhmann 2002, S. 67) bewertet werden. Im Zusammenhang mit dem Aspekt des ‚fachlichen Lernens‘ erscheint ein solcher Zugang zur Person noch problematischer, wenn die (totale) Konstruktion der sozialen bzw. ethnischen Identität im Unterricht – und ihrer ‚Wertschätzung als solche‘ – letztlich zur Ver- bzw. Behinderung von Lernprozessen führt. Wie dies am angeführten Beispiel einer Unterrichtsinteraktion des Falls D-Gym1 zu beobachten ist – ohne dies jedoch den Intentionen der Lehrerin zuzurechnen –, bleibt der Schülerin aufgrund einer sprachkulturellen Rahmeninkongruenz ihr Wunsch nach der Transformation ihres Gedichts in die deutsche Sprache verwehrt (s. Abschnitt 5.2). In Bezug auf einen derartigen „Prozess der Reproduktion sozialer und ethnischer Differenz durch die Schule“, die zu einer potentiellen „Transformation von ungleichen Lernvoraussetzungen in ungleichen Schulerfolg“ führt (Radtke 2008, S. 667), richtet Radtke die Forderung an die Didaktik, dass „die Frage zu klären [sei – B.W.], wie ethnische Differenz thematisiert werden kann, ohne in Stereotypen und Essenzialismus zu enden“ (ebd., S. 668). Die damit angesprochene, in der Interkulturellen Pädagogik prominente Programmatik der „reflexiven Distanzierungsmöglichkeiten“ (Nohl/von Rosenberg 2012, S. 853) setzt allerdings auf der Ebene der theoretischen Reflexion an, was sie wiederum von einem „Habitus-Konzept“ der Reflexion unterscheidet, „insofern der Habitus auch strukturierend auf Reflexionsgewohnheiten einwirkt“ (ebd., S. 854). Ausgehend von der notorischen Diskrepanz von fachlicher Expertise – wozu auch die geforderte didaktisch-theoretische Reflexion (vgl. Radtke 2008) zu zählen ist – einerseits und der professionalisierten Praxis andererseits, muss die Forderung daher als Frage umformuliert werden: Wie kann es gelingen, eine implizite Reflexionsfähigkeit herauszubilden, die Essentialisierungen bzw. totale Konstruktionen auf der Ebene der gesellschaftlichen Identität innerhalb des Interaktionssystems des Unterrichts vermeidet? Bei Typ III besteht wiederum das Problem, dass die Steigerung der totalen Konstruktion der persönlichen Identität durch Leistung bei den Schüler*innen mit dem Etikett des „besonderen Bildungsbedarfs“ dazu führt, dass bei ihnen die Leistungsordnung weitgehend ausgesetzt wird und von ihnen die eigenverantwortliche Bewältigung von Aufgabenstellungen und Leistungsanforderungen nicht (mehr) erwartet wird. Dadurch werden einige zentrale Aspekte der Schüler*innenrolle suspendiert. Mit Bruno Hildenbrand ließe sich hier die Frage anschließen: „Was bedeutet es, wenn Schüler am ersten gesellschaftlichen Ort ihres Lebens, an dem sie systematisch als Rollenträger zu behandeln sind, genau in dieser Eigenschaft missachtet werden?“ (Hildenbrand, zit.n. Wiezorek 2005, S.  347). Das schulformspezifische Problem der ‚integrativen‘ bzw.

7.2  Zur normativen Bewertung professionalisierter Unterrichtsmilieus …

201

‚inklusiven‘ Programmatik, so zeigt die empirische Rekonstruktion, besteht aber auch darin, dass mit dem Etikett des „besonderen Bildungsbedarfs“ bestimmte Rollen- und Identitätserwartungen einhergehen, die eng mit der Konstruktion der Identität der ‚(Lern-)Behinderung‘ bzw. von ‚Disability‘ und damit verbundenen Erwartungen einer verminderten Leistungsfähigkeit verknüpft sind, was wiederum zu dauerhaften Exklusionsprozessen der Betroffenen führt. Dabei geht es nicht nur um ‚Behinderungen‘ des „fachlichen Lernens“, sondern auch „des sozialen Miteinanders“ (Sturm/Wagner-Willi 2015b, S. 233).9 Justin Powell und Lisa Pfahl (2012) verweisen in diesem Zusammenhang auf das Dilemma, das mit einer derartigen Kategorisierung von Schüler*innen einhergeht: „In den Bildungseinrichtungen sind es im Besonderen die Prozesse des Klassifizierens von Schülern und Schülerinnen, die dazu führen, dass Einzelne als ‚defizitär‘ oder ‚abweichend‘ wahrgenommen werden. Zugleich stellt das Klassifizieren von Schülern und Schülerinnen den Mechanismus dar, an den die Vergabe von Ressourcen und die Gewährung von Rechten in Bildungseinrichtungen geknüpft ist“ (ebd., S. 727; vgl. auch Sturm 2016a, S. 115 f.). Diese mit der Gefahr der Essentialisierung einhergehenden „zufällig entstandenen bürokratischen Strukturen“ (Haeberlin 1993, S. 174) hat Schütze (1996) analog in Bezug auf die „Aktenförmigkeit von Teilen des beruflichen Handelns“ (ebd., S. 205) in der Sozialarbeit herausgearbeitet – als eine der möglichen Formen ihrer Bedeutung in der professionellen Praxis (vgl. ebd., S. 202 ff.). In dieser Bedeutungsform kann die Akte „eine Realität sui generis gewinnen und den Zugang zur tatsächlichen Erleidensgeschichte der Klienten (insbesondere was deren eigene Sichtweise ihrer Leidensgeschichte anbelangt) verstellen“ (ebd., S. 203, Herv.i.O.). Es geht dabei (ebenfalls) um den selektiven Zugriff auf die Biographie der Klientel i.S. einer tautologischen Struktur als Voraussetzung für die Konstruktion totaler Identität. In Bezug auf Typ III wird dies prägnant am empirischen Beispiel des separativ organisierten Mathematikunterrichts der Klasse InSek2 deutlich, wenn es im Zuge der Besprechung eines Mathematiktests zur Absprache der selbstverantwortlichen bildungsbiographischen Planung der Schülerin Linda durch die Schulische Heilpädagogin Frau Franke kommt (s. Abschnitt 5.3). Hingegen besteht nach Schütze – in normativer Perspektive – der „professionelle Umgang mit den Akten (…) gerade darin, die Fehlerpotentiale der Aktenführung fortlaufend zu reflektieren und gegen die Erkenntnischancen der Aktenverwendung

9Dieser

Befund bezieht sich auf die untersuchten Schulklassen in der vorliegenden Arbeit und ist nicht als deterministisch zu verstehen.

202

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(einschließlich ihres Beitrags zur biographischen Arbeit) abzuwägen und dabei das Wohl der jeweiligen individuellen Klientin bzw. des jeweiligen Klienten im Auge zu haben“ (ebd., S. 206). Praxeologisch-wissenssoziologisch gewendet, bedeutet dies in Bezug auf Typ III sowie die organisationsinterne Kategorie des „besonderen Bildungsbedarfs“, sich der Konstruktion totaler Identitäten von ‚(Lern-)Behinderung‘ bzw. ‚Disability‘ zu enthalten, was wiederum die implizite Fähigkeit zur Distanzierung von den institutionalisierten und formalisiertorganisationsspezifischen Identitäts- und Rollenerwartungen voraussetzt – im Unterschied zu einer Reflexion, die ‚nur‘ auf theoretischer Ebene ansetzt (analog zur normativen Programmatik im Bereich der Interkulturellen Pädagogik; s. o.). Dies schließt – und dies kann für alle drei machtstrukturierten Typen geltend gemacht werden – einerseits die Bereitschaft ein, sich auf die eigensinnigen Zugänge der Schüler*innen zur ‚Sache‘ einzulassen und diese von ihrer Bewertung anhand der normativen fachlichen Anforderungen zu trennen. Zum anderen erfordert dies die Kompetenz bzw. Bereitschaft, Metakommunikation seitens der Schüler*innen über die fremdrahmenden Unterrichtsprozesse, die konstituierende Rahmung, zuzulassen und zugleich sich selbst von den normativen Sach- und Rollenanforderungen distanzieren zu können. Die Fähigkeit zur „Rollendistanz“ (Goffman 1973) auf Seiten der Lehrkräfte beinhaltet dann allerdings auch die Bereitschaft, den Schüler*innen ebenso Möglichkeiten zur Rollendistanz (als Äquivalent zur Metakommunikation auf korporierter Ebene) zu eröffnen. Beides – Metakommunikation und Rollendistanz – bilden schließlich wesentliche Bedingungen für die Etablierung eines reflexiven Erfahrungsraums bzw. eines Unterrichtsmilieus, der bzw. das nicht primär durch einen machtstrukturierten Interaktionsmodus und die Konstruktion totaler Identitäten dominiert ist (vgl. ähnlich Sturm 2016a, S. 153 ff.). Mit dieser normativen Perspektive auf die (Vermeidung der) Konstruktion totaler Identitäten und ihrer stigmatisierenden wie exkludierenden Konsequenzen in der Unterrichtsinteraktion lässt sich insgesamt auch an normative Programmatiken zu ‚Inklusion‘ anschließen, die sich einem „weiten Inklusionsverständnis“ (Werning 2014, S. 603) verpflichtet sehen, das zum Ziel hat, „to eliminate social exclusion that is a consequence of attitudes and responses to diversity in race, social class, ethnicity, religion, gender, and ability“ (Ainscow 2008, S. 241). Ein solches Inklusionsverständnis bleibt nicht auf die (­Identitäts-) Kategorie der ‚(Lern-)Behinderung‘ begrenzt, sondern zielt auf die Vermeidung von Diskriminierungen innerhalb der Praxis von (Bildungs-)Organisationen allgemein (vgl. Messiou 2017). In Bezug auf die Institution und Organisation Schule stellt Sturm (2015a, S. 29) den „Anspruch auf Inklusion“ in einen Zusammenhang mit der schulischen

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Leistungsnorm und sieht darin eine „Kritik an der Hierarchisierung von Leistungsdifferenzen“, sofern sie „behindernd wirkt“ auf „Lernende mit unterschiedlichen biographischen Erfahrungen“ (ebd.). In diesem Inklusionsverständnis bildet die Leistungsnorm als Kern „pädagogischer Differenzordnung“ (Rabenstein et al. 2013), die wiederum andere Ordnungen bzw. (gesellschaftliche) Milieus und Identitäten, die in die Organisation Schule ‚hineinragen‘, überlagert, ein „‚Einfallstor‘ für ‚inkludierende‘ und ‚exkludierende‘ Prozesse“ (Wagener/Wagner-Willi 2017, o.S.), wie dies die vorliegenden empirischen Rekonstruktionen zeigen. Dabei sind diese Prozesse schulformübergreifend, also nicht an die ‚inklusive‘ bzw. ‚integrative‘ Programmatik der Organisation gebunden, wie sich exemplarisch an der Überlagerung der individuellen und gesellschaftlichen Stigmatisierung im Deutschunterricht des Gymnasiums ­(D-Gym1) dokumentiert. ‚Inklusion‘ und ‚Exklusion‘ können in diesem Sinne als ein „relationales Verhältnis“ (Sturm et al. 2020) verstanden werden, das ‚Inklusion‘ und ‚Exklusion‘ auf propositionaler Ebene von ‚inkludierenden‘ und ‚exkludierenden‘ Interaktionen auf performativer Ebene unterscheidet (vgl. ebd.). Die Frage aufgreifend, „wie der Anspruch eines reflektierten und egalitären Miteinanders von Differenz und Gemeinsamkeit in Schule und Unterricht aussehen kann“ (Sturm 2015a, S. 29), bildet ein professionalisiertes Unterrichtsmilieu, das sich durch eine Interaktionssteuerung bzw. eine praktische Diskursethik auszeichnet, die sich der Konstruktion totaler Identität, wie sie sich exemplarisch in den Typen I, II und III dokumentiert, enthält, eine normative Reflexionsfolie, einen positiven Horizont. Darin deuten sich auch gewisse Übereinstimmungen mit dem Konzept einer „reflexiven Inklusion“ als „professionelle Haltung“ (Budde/Hummrich 2013) an: „Reflexive Inklusion zielt in dieser Anlehnung sowohl auf das Wahrnehmen und Ernstnehmen von Differenzen und das Sichtbarmachen von darin eingeschriebener Benachteiligung als auch auf den Verzicht auf Festschreibung und Verlängerung impliziter Normen durch deren Dekonstruktion“ (ebd.; vgl. auch Budde 2018, S. 54; Bräu 2018, S. 218). Aus praxeologisch-wissenssoziologischer Perspektive ist dabei jedoch – analog zu den Konzepten einer „kritisch-reflexiven Auseinandersetzung mit dem ‚Kulturellen‘“ (Nohl/von Rosenberg 2012, S. 850) in der Interkulturellen Pädagogik – zwischen einer Reflexion auf theoretisch-expliziter bzw. propositionaler Ebene und der die professionalisierte Praxis bedingende implizite Reflexion auf Ebene der Performanz zu unterscheiden, die wiederum als eine „(praktische) Diskursethik“ i.S. impliziter „Meta-Normen“ (Bohnsack 2020, S. 109, Herv.i.O.) in die Interaktionssteuerung der konstituierenden Rahmung bzw. des Unterrichtsmilieus ‚eingelassen‘ ist.

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Eine Enthaltung der Konstruktion totaler Identität kann jedoch nicht allein als normative Bedingung für ein dem Anspruch nach ‚inklusives‘ professionalisiertes Unterrichtsmilieu betrachtet werden. Dies zeigt sich in normativer Perspektive mit Blick auf einen primär sachbezogenen Rahmen der Unterrichtsinteraktion, wie ihn Typ IV kennzeichnet.

7.2.4 Zum Verhältnis von Fachlichkeit, ‚Sache‘, Bewertung und Person im primär sachbezogenen Rahmen der Unterrichtsinteraktion (Typ IV) Bei Typ IV zeigen sich, wie dargelegt, keine Konstruktionen totaler Identität. Hier besteht jedoch das Problem, dass im dominierenden sachbezogenen Rahmen der Unterrichtsinteraktion so gut wie kein Zugang zu den persönlichen Aneignungsprozessen der Schüler*innen erfolgt. Er steht somit im deutlichen Kontrast zum machtstrukturierten Interaktionsmodus. Aufgrund der erhöhten Anforderung an die individuelle Autonomie bzw. Verantwortung in Bezug auf die Bewältigung der fachlichen Aufgaben sind sich die Schüler*innen weitgehend selbst überlassen. Insbesondere im Mathematikunterricht, in dem sich Typ IV durchgängig dokumentiert, geht dies mit einer erhöhten Standardisierung sowohl der Sachinhalte und -programme als auch der Unterrichtsorganisation und -kommunikation einher. Die Problematik einer derartigen Standardisierung der ‚Sache‘ und ihrer Vermittlung beschreiben Breidenstein et  al. (2015, S.  75) in Bezug auf Beobachtungen des Mathematik- und Physikunterrichts in einer deutschen gymnasialen Oberstufe, in dem die Sachinhalte „didaktisch zugerichtet und gegenüber der möglichen Vieldeutigkeit ihres Gebrauchs vereindeutigt“ werden. Dabei stehen die „Eigenständigkeit der Dinge“ und die „Eigensinnigkeit der Schüler“ jedoch „nicht immer im Einklang mit den didaktischen Absichten“ (Röhl 2013, zit.n. Breidenstein et al. 2015, S. 75). Typ IV beschränkt sich jedoch nicht nur auf den Mathematikunterricht, sondern findet sich ebenso in einem Fall des Kunstunterrichts (K-Gym2). In allen Fällen dieses Typs geht der dominierende Sachbezug mit der erhöhten Steuerung bzw. Kontrolle der Unterrichtsorganisation durch die Lehrkraft einher, was wiederum mit der Einschränkung von Metakommunikation seitens der Schüler*innen sowie mit der Ausklammerung jeglicher ‚nicht-sachbezogener‘ Kommunikation bis hin zum ‚Aufbrechen‘ des Peermilieus (im Fall M-Gym2), verbunden ist.

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Wie weiter oben in Bezug auf das Verhältnis von ‚Sache‘ und Person im professionalisierten Unterrichtsmilieu sowohl metatheoretisch als auch – auf dieser Grundlage – normativ herausgearbeitet wurde, kann die Bereitschaft bzw. Fähigkeit, sich den kontingenten ‚Sachbezügen‘ der Schüler*innen nicht zu verschließen oder diese gar aus der Unterrichtsinteraktion auszuklammern, sondern stattdessen den Zugang zu diesen zu suchen, als zentrale Anforderung an ein professionalisiertes Unterrichtsmilieu gesehen werden. Damit geht jedoch die Einschränkung einher – wie dies in normativer Perspektive in Bezug auf den machtstrukturierten Interaktionsmodus und der Konstruktion totaler Identität als negativer Horizont dargestellt wurde –, den Zugang zu den persönlichen, eigensinnigen Aneignungsformen der Schüler*innen, die in Diskrepanz zu den proponierten fachlichen Normen stehen, von ihrer fachlichen Beurteilung zu trennen. In Bezug auf den Mathematikunterricht und dessen „Fachkultur“ (Hericks/Körber 2007; s. auch Abschnitt 6.2), die in der Tendenz durch die beschriebene hohe Objektivierung und Standardisierung der Sachinhalte, der Bewertungskriterien sowie der Unterrichtsorganisation charakterisiert ist, scheinen sich hier besondere Herausforderungen zu ergeben, insbesondere im Kontext einer normativen Programmatik wie der schulischen ‚Inklusion‘ (vgl. Baldino/Cabral 2006; Korff 2014, S. 161 ff.; Straehler-Pohl/Gellert 2015, S. 223 ff.). Wie Straehler-Pohl und Gellert (2015) mit Bezug auf Bourdieu konstatieren, „wird deutlich, dass Mathematikunterricht ein großes Machtpotenzial zur Exklusion von Menschen zu haben scheint. Diese Macht kann die Mathematik wegen ihres vermeintlich objektiven und neutralen Status als Wissensdisziplin besonders effektiv entfalten“ (ebd., S. 13). Als konstitutive Bedingungen für die „symptomatische“ Exklusion aus dem Mathematikunterricht sehen sie, in Anschluss an Roberto Baldino und Tania Cabral (2006), insbesondere dessen „Sprache“ sowie die „Leistungsbewertung“ (Straehler-Pohl/Gellert 2015, S. 224). Macht im praxeologisch-wissenssoziologischen Verständnis setzt jedoch die Konstruktion totaler Identitäten voraus, wie sie mit De-/Gradierungsprozessen und der Einschränkung von Metakommunikation bzw. Rollendistanz auf der Ebene der Interaktion verbunden sind. Wie sich in den vorliegenden empirischen Fällen des Mathematikunterrichts zeigt, enthalten sich die Fachlehrkräfte tendenziell derartiger Konstruktionen. Macht in diesem Sinne sowie damit verbundene ‚Exklusionsprozesse‘ vollziehen sich in dem gleichzeitigen (und häufig räumlich separierten) Prozessieren der beiden differenten Rahmen von Typ IV und Typ III in den Schulklassen mit einer ‚integrativen‘ Programmatik. Auf Ebene der performativen Performanz (der beobachteten Unterrichtsinteraktion) dokumentiert sich dies im Fall M-InSek2, während es sich in Fall M-InSek1 auf Ebene der proponierten Performanz (auf Basis von Interviews und

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­ ruppendiskussionen) ebenfalls andeutet (s. Abschnitt 6.1.1 und 6.2.1). In Bezug G auf Letztgenannte zeigt sich, dass die fachlichen Inhalte bzw. die ‚Sache‘ den Bezugspunkt für die Hierarchisierung nach Leistung bildet. Indem sie als äußerst standardisiert und (kognitiv) anspruchsvoll bzw. komplex proponiert wird und – wie sich v. a. auf der Ebene der performativen Performanz in allen Fällen des Mathematikunterrichts zeigt – als eigenverantwortlich anzueignen gilt, stellt dies zugleich die Legitimation für den Ausschluss derjenigen Schüler*innen dar, die diese Anforderungen aus Sicht der Lehrkräfte (noch) nicht erreichen. Das Thema normativer Erwartungen an den Mathematikunterricht im Kontext einer ‚inklusiven‘ Programmatik wird innerhalb des Fachdiskurses kontrovers diskutiert. Straehler-Pohl und Gellert (2015, S. 230) nehmen eine „ideologiekritische“ Perspektive auf normative Anforderungen an ein „professionelles Lehrerhandeln“ im Kontext einer ‚inklusiven‘ Programmatik ein, indem sie eine „exkludierende Unterrichtspraxis“ als Reaktion erachten „auf das Dilemma, der tagtäglich erfahrenen Diskrepanz zwischen Anspruch und Möglichkeit eine Art von Sinn zuzuschreiben, der es Lehrkräften erlaubt, ihren Beruf überhaupt weiter ausüben zu können“ (ebd., S. 231). Anhand von Beobachtungen des Mathematikunterrichts an einer deutschen Hauptschule in einem „sogenannten Berliner Problemkiez“ (ebd., S. 213) gelangen sie zu der Erkenntnis, dass die „von außen unvorteilhaft wirkende Unterrichtspraxis nicht Resultat einer ‚fehlgeleiteten ­De-Professionalisierung‘ (…), sondern vielmehr Resultat einer kontextbezogenen ‚erfolgreichen Professionalisierung‘ unter widrigen Umständen“ ist (ebd., S. 231). In ihrer auf Žižek und dessen psychoanalytisch geprägte Perspektive (Lacan) bezogenen „ideologiekritischen Re-Markierung der Interpretation des Mathematikunterrichts an der Berliner Hauptschule“ erkennen sie hier ein „strukturelles Problem“, das vom Einzelfall losgelöst ist (ebd., S. 241). Dieses „strukturelle Problem“ sehen sie in makrosoziologischer Perspektive in der Reproduktion sozialer Ungleichheit i.S. gesellschaftlicher (­Arbeits-)Verteilungsprinzipien begründet, deren ‚ausschließende Effekte‘ sich (insbesondere) im Mathematikunterricht dokumentieren (vgl. ebd., S. 242). Wie die Autoren interpretieren, handelt es sich bei dem Hauptschulunterricht um einen „Grenzfall, in dem die Wissensvermittlung anscheinend vollkommen zugunsten einer ausschließlichen sozialen Regulation suspendiert ist“ (ebd., S. 213). Dies zeigt sich auf der Ebene der beobachteten Unterrichtsinteraktion einer siebten Klasse darin, dass das Anforderungsniveau der Aufgaben „sowohl bezüglich der mathematischen als auch der ästhetischen Herausforderung so niedrig angesetzt [ist – B.W.], dass die Schülerinnen und Schüler sie kaum als ernsthafte Lernmöglichkeit wahrnehmen können“ (ebd., S. 233). In diesem Zusammenhang kommt es zu wiederholten Widerständen

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seitens der Schüler*innen gegen die Unterrichtsorganisation, was in einem Fall zur Suspendierung einer Schülerin zunächst aus dem Unterricht und schließlich aus der Schule führt (vgl. ebd., S. 234). Was zunächst nur für den Mathematikunterricht zu gelten scheint, erweist sich im Interview mit der Mathematiklehrerin jedoch als eine fachunterrichtsübergreifende Problematik in dieser Schule, wenn die Lehrerin darüber erzählt, dass ihr die Kolleg*innen dazu rieten, ihre eigenen fachlichen Ansprüche so weit zu senken, dass sie ein Diktat „wortwörtlich an die Tafel schreiben“ solle, was sie dann auch umsetzte (ebd., S. 239). Wie die Lehrerin dann mit einer gewissen Frustration weiter berichtet, „waren’s trotzdem nur Vieren, Fünfen, Sechsen, obwohl der ganze Text da stand“ (Interviewaussage der Lehrerin; ebd., S. 239).10 Wie Straehler-Pohl und Gellert überzeugend interpretieren, wird „hierbei ausgeblendet“, „dass es letztendlich die absurde pädagogische Aktivität eines an die Tafel geschriebenen Diktats selbst ist, welche die Schüler geradezu dazu aufruft, die Aufgabe nicht ernst zu nehmen“ (ebd.).11 Wie die Autoren weiter interpretieren, liegt diese Unterrichtspraxis, die sie als „disziplinierende Pädagogik“ bezeichnen, in den „geringen Erwartungen“ der Lehrkräfte gegenüber der „speziellen Klientel“ begründet (ebd.): „die vermeintlich minderbemittelte und undisziplinierte Schülerschaft verlangt den Lehrern diese Pädagogik regelrecht entgegen ihren offiziellen Idealen ab“ (ebd., S. 240). An dieser Stelle nehmen die Autoren jedoch ihre makrotheoretische (sowie psychoanalytisch inspirierte) Perspektive ein, wenn sie konstatieren, dass „eine Pädagogik der leeren Gesten als kontextsensible Antwort einer Institution (…) notwendig ist, um an den segregierten Rändern der Gesellschaft ‚den Laden überhaupt am Laufen zu halten‘“. Dies ermögliche letztlich „den betroffenen Lehrkräften den ­ Genuss-im-Scheitern, ohne den der laufende Betrieb wohl zusammenbrechen würde (wie es bei dem in Deutschland anscheinend einmaligen Fall der Berliner Rütli-Schule auch tatsächlich passierte)“ (ebd.). Und weiter: „Stattdessen soll lediglich sichergestellt werden, dass diese soziale Gruppe keine Gefahr für das Funktionieren der Gesellschaft (und der Arbeitsteilung) auf der Makroebene darstellt“ (ebd., S. 242). In dieser Perspektive

10Es

handelt sich dabei um die Benotung des Diktats. Anders als in der Schweiz (s. Abschnitt 4.4) stellt in Deutschland die Note 1 die beste und die Note 6 die schlechteste Note dar. 11Dass die Schüler*innen keineswegs ‚leistungsunfähig‘ sind, zeigt sich in der Beschreibung einer Unterrichtsinteraktion, in der die schließlich suspendierte Schülerin die ihr gestellten Mathematikaufgaben ohne Schwierigkeiten löst (vgl. Straehler-Pohl/Gellert 2015, S. 234 f.).

208

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erscheint dann auch „Macht“ v. a. als von außen in Schule und Unterricht hineinkommend (ebd., S. 15).12 Aus praxeologisch-wissenssoziologischer Perspektive ist Macht jedoch als Bestandteil des Interaktionssystems bzw. Unterrichtsmilieus zu betrachten. Auf Ebene der Interaktionssteuerung stellt sie einen spezifischen Modus der relationalen Bewältigung des Spannungsverhältnisses zwischen den gesellschaftlichen und organisationalen Normen, Rollen- und Identitätserwartungen sowie organisationsinternen Sachprogrammen einerseits und den gesellschaftlichen und organisationalen Milieus, denen die Lehrkräfte und die Schüler*innen angehören, andererseits dar (s. auch Abschnitt 2.5). In dem empirischen Beispiel der Hauptschule in dem sog. Problemkiez, in dem die Mehrheit der Jugendlichen einen sog. Migrationshintergrund aufweist sowie auf Sozialhilfe angewiesen ist (vgl. ebd., S. 165), scheint es sich hier v. a. um ein organisationsspezifisches Spannungsverhältnis zwischen diesem Milieu und dem (‚Mittelschichts‘-)Milieu der Lehrkräfte sowie der ‚fachkulturellen‘ und organisationsspezifischen Normen, Rollen- und Identitätserwartungen zu handeln (vgl. auch Nohl 2007, S. 68 ff.). Im Rahmen der deutlichen Diskrepanzen bzw. des Spannungsverhältnisses scheint sich ein Organisationsmilieu konstituiert zu haben, das sich durch „verdachtsgeleitete Wirklichkeitskonstruktionen“ (Bohnsack 2017a, S. 256 ff.) seitens der Lehrkräfte auszeichnet, die wiederum zu stabilen, totalen Identitätskonstruktionen führen (etwa zu der totalen Identität der ‚disziplinlosen und minderbemittelten ausländischen‘ Klientel). Indem diese Fremdrahmungen wesentlich die Unterrichtsinteraktion leiten, führen die Widerstände der Schüler*innen gegen diese Fremdrahmung im Steigerungsfall zum Ausschluss aus dem Unterricht bzw. der Organisation. Dieser Modus der Interaktionssteuerung basiert, wie gesagt, auf einer impliziten Reflexion, die in der konstituierenden Rahmung eingelassen ist. In diesem Sinne ist Straehler-Pohl und Gellert zuzustimmen, dass Macht nicht den Lehrkräften zuzuschreiben ist – zumindest nicht ihren Intentionen.13

12„Somit

wird es notwendig, die Lehrperson nicht bloß als Macht ausübenden Akteur zu betrachten, sondern ihre Macht vor allem als Inkorporation der Macht der Institution Schule zu verstehen beziehungsweise der Funktion, die die Schule für die Gesellschaft übernimmt“ (Straehler-Pohl/Gellert 2015, S. 15 f.). 13Ein konträres Organisationsmilieu findet sich in der Untersuchung einer Hauptschule im Ruhrgebiet, in der ebenfalls ein Großteil der Schüler*innen einen „Migrationshintergrund“ aufweist und in „schwierigen materiellen Verhältnissen“ lebt (Wiezorek 2006, S. 259). Hier zeigt sich, dass die Lehrkräfte und der Schulleiter an einem wertschätzenden Zugang zu den spezifischen Problemlagen und Bedürfnissen ihrer Klientel orientiert sind (vgl. auch Helsper 2018, S. 108 ff.).

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Wie ebenfalls darzulegen versucht wurde, handelt es sich dabei um ein implizites Wissen um kontingente Praxen in der handlungspraktischen Auseinandersetzung mit dem genannten Spannungsverhältnis, die – auch aus normativer Perspektive – mit der Möglichkeit alternativer impliziter Entscheidungen einhergehen. Die Kontingenz von Entscheidungen, v. a. solche bezüglich der Leistungsbeurteilung, erkennen zunächst auch Straehler-Pohl und Gellert (2015, S. 230) mit Bezug auf Baldino und Cabral (2006) an. Allerdings stellen sie diese sogleich wieder infrage: „Was hierbei verdeckt bleibt, ist, dass das Scheitern durch die Existenz von Handlungsalternativen bloß dann erst zwangsläufig kontingent wird, wenn man als notwendig voraussetzt, dass reale Akteure durch die Wahl und die Ausführungen der ‚richtigen‘ Handlungen auch in situ Scheitern in Erfolg hätten umwandeln können. Die Möglichkeit einer tatsächlichen Realisierung des Mottos ‚Mathematik für alle‘ hängt also davon ab, dass die unendliche Optimierbarkeit von schulischem Handeln und schulischem Alltag als notwendige Realität konstituiert wird“ (ebd., S. 231). Im Zuge ihrer makrosoziologisch und psychoanalytisch fundierten „Ideologiekritik“ gelangen sie dann zu dem oben zitierten Schluss, dass Lehrkräfte in „extremen Kontexten“ letztlich nicht anders können, als zu exkludieren (ebd.).14 Demgegenüber betrachten Roberto Baldino und Tania Cabral (2006) die ‚exkludierenden‘ Mechanismen des Mathematikunterrichts im Kontext von

14Damit

soll das Potential einer Reform des formal nach Leistungsniveaus gegliederten Schulsystems, das auch Straehler-Pohl und Gellert (2015, S. 90) als Teil des von ihnen identifizierten „Strukturproblems“ der Exklusion betrachten, für die normativ gewünschte Transformation der Praxis (vgl. u. a. Blanck et al. 2013; Stojanov 2015, S. 149) keineswegs in Abrede gestellt werden. Zu berücksichtigen bleibt jedoch die metatheoretisch und empirisch fundierte notorische Diskrepanz zwischen Regel bzw. Norm und Habitus bzw. (Unterrichts-)Praxis (vgl. Bohnsack 2017a), die von Luhmann in systemtheoretischer Perspektive in Bezug auf Reformbemühungen innerhalb des Erziehungssystems allgemein geltend gemacht wird: „So verständlich die Genetik des Reformbegehrens ist, so wenig ergibt sich daraus allein schon eine Prognose des Erfolgs“ (Luhmann 2002, S. 166). Die Diskrepanz zwischen formaler Reform und Handlungspraxis zeigt sich auch empirisch in der vorliegenden Arbeit in den ‚integrativen‘ Schulklassen, in denen die Schüler*innen mit einem sog. besonderen Bildungsbedarf in der Unterrichtsinteraktion von Exklusionsund Stigmatisierungsprozessen betroffen sind. Aus praxeologischer (und normativer) Perspektive kommt es v. a. darauf an, wie die notorische Diskrepanz zwischen der organisationsspezifischen Programmatik, den organisationsinternen und gesellschaftlichen Identitätsnormen sowie der eigenen Praxis und der Praxis der Klientel handlungspraktisch, d. h. in der impliziten Reflexion, jeweils bewältigt wird.

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‚Inklusion‘ zwar ebenso als unvermeidbar.15 Andererseits stellen sie, ebenfalls mit Bezug auf Žižek, die Kontingenz sowohl des Urteils bzw. der Leistungsbewertung als auch der ‚Exklusion‘ in Rechnung. Hinzu trete die Kontingenz der ‚Werte‘, auf denen Bewertung und ‚Exklusion‘ basieren: „We have already considered the contingency at one end of the judgement, on the end of the object, ‚assessment‘. On the other end, the end of the notion, in our case, the end of ‚exclusion‘ there is also contingency; it is at this end that values come into consideration. Values too are contingent!“ (ebd., S. 40). Anstelle von ‚Werten‘ („values“) ließe sich hier auch von Bewertungsnormen sprechen. Hinsichtlich dieser Normen unterscheiden die Autor*innen solche, die sich auf die fachlichen Standards beziehen („values stemming from strict mathematical knowledge“), und alternative Bewertungsnormen, die sich nicht zwingend auf die fachlichen Standards beziehen.16 Simone Seitz (2006) fordert darüber hinaus in Bezug auf eine „inklusive Didaktik“ im Allgemeinen, „einen dynamischen Wechsel zwischen unterschiedlichen Perspektiven auf das Heterogenitätsgeflecht von Lerngruppen“. Eine solche „mehrperspektivische Herangehensweise (Prengel 2003)“ versteht „die Konstruktionen und Motivationen der Lernenden als anthropologisch fundiert, kulturell und lebensweltlich gebunden, individualbiografisch geworden und daher insgesamt als dynamisch“. Dadurch werden die „(lernprozess-)diagnostischen Anteile (…) zu einem integralen Teil des Unterrichts, denn die vielfältigen Lernausgangslagen verändern ihre Gestalt im Prozess der Auseinandersetzung mit einer ‚Sache‘ (vgl. Koch-Priewe 1995, 98)“ (ebd.).17

15„So,

the issue is not how to assess without excluding, this is impossible since, as we have seen, exclusion is the essence of assessment“ (Baldino/Cabral 2006, S. 40). 16Zu den möglichen alternativen Bewertungsnormen und ihre Kommunikation gegenüber bzw. mit den Schüler*innen führen sie ein Beispiel aus ihrer eigenen Unterrichtspraxis an: „We organise the classroom in small groups of at most four students and assess the engagement of each group with the learning task according to previously established and discussed working rules. In this assessment it does not matter whether the group got the mathematical results right or how many exercises they were able to solve. Only the engagement in the discussion is required, so that the classroom is free from mathematical anxiety“ (Baldino/Cabral 2006, S. 41). 17Aus praxeologischer Perspektive muss in Bezug auf die „Motivationen der Lernenden“ (Seitz 2006) differenzierend darauf hingewiesen werden, dass diese nicht mit der Praxis der ‚Lernenden‘ bzw. Schüler*innen gleichzusetzen sind und eine Verständigung, die auf der (wechselseitigen) Unterstellung von Um-zu-Motiven basiert, insgesamt ‚prekär‘ ist (s. Abschnitt 2.2.2).

7.2  Zur normativen Bewertung professionalisierter Unterrichtsmilieus …

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Analog sieht Natascha Korff (2014, S. 169), die wiederum an Seitz anschließt, neben dem „‚Willkommenheißen der Vielfalt‘ und dem Blick für die soziale ‚Gemeinsamkeit in der Vielfalt‘“, die „Bereitschaft, mit den Schülerinnen und Schülern und anderen Lehrkräften gemeinsam inhaltliche Überschneidungen und Begegnungsmöglichkeiten zu suchen“, als wesentliche Aspekte für die „notwendigen Professionalisierungsprozesse für inklusiven (Mathematik)Unterricht“. Für die professionalisierte Praxis sieht sie die Lehrkräfte „vor allem auf ein fundiertes fachdidaktisches und fachliches Wissen angewiesen“ (ebd.). Es zeigen sich hier Übereinstimmungen zwischen diesen (­mathematik-) didaktischen Ansätzen und den weiter oben skizzierten praxeologisch fundierten normativen Erwartungen an ein (‚inklusives‘) professionalisiertes Unterrichtsmilieu, das Anschlüsse an die persönlichen sachbezogenen Zugänge der Schüler*innen sucht und diese zugleich von der Beurteilung anhand der fachlichen Standards zu trennen vermag. Ohne die Bedeutung des fachlichen (und fachdidaktischen) Wissens und dessen Normen schmälern zu wollen, sind sie aus praxeologischer Perspektive, wie dargelegt, nicht primär Voraussetzung für die professionalisierte Praxis. Vielmehr gilt es, deren Kontingenzen in der Interaktion mit der Klientel bzw. den Schüler*innen implizit zu reflektieren und sich implizit in ein distanziertes Verhältnis zu ihnen setzen zu können. Wie aber auch dargelegt wurde, können „etwaige kommunikative Strategien der Didaktisierung und Methodisierung“ (Bohnsack 2020, S. 90) – wie auch immer diese gestaltet sein mögen – diese Prozesse befördern (vgl. auch Sturm 2016a, S. 153 ff.).

7.2.5 Zum Verhältnis von Fachlichkeit, ‚Sache‘, Bewertung und Person im willkürlichen Interaktionsmodus (Typ V) Während der Sachbezug sowohl im machtstrukturierten Interaktionsmodus als auch (wie der Name schon sagt) im primär sachbezogenen Interaktionsrahmen gegeben ist, erscheint er im willkürlichen Interaktionsmodus hingegen prekär. Wie beschrieben, wird hier in Umkehrung der üblichen Struktur der Leistungsbewertung nicht vom Sachbezug auf die (Gesamt-)Person der Schülerin bzw. des Schülers geschlossen, sondern von deren moralischer Beurteilung auf die ‚Sachhaltigkeit‘ bzw. ‚Nicht-Sachhaltigkeit‘ ihrer Äußerungen bzw. Produkte. Wie sich prägnant am empirischen Beispiel des Kunstunterrichts der ‚integrativen‘ Sekundarschulklasse 2 (K-InSek2) zeigt (s. Abschnitt 5.5), unterstellt der Kunstlehrer dem Schüler Pablo, bevor er sich dessen überhaupt vergewissert hat, die Aufgabe (das Zeichnen von Kreisen mit dem Zirkel) nicht

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eigenständig gelöst zu haben, und verweigert ihm in diesem Zusammenhang den Gang zur Toilette. Während der Schüler unter der Aufsicht des Lehrers die Aufgabe wiederholen muss, nimmt der Lehrer jedoch kaum Bezug auf das Produkt des Schülers (weder verbal noch korporiert). Stattdessen fordert der Schüler selbst die Aufmerksamkeit des Lehrers und dessen Bewertung des Produkts wiederholt ein. Aufgrund der fehlenden bzw. uneindeutigen Bezüge auf die ‚Sache‘ sowie die generalisierten Regeln und Rollenerwartungen in der Unterrichtsinteraktion ist die konstituierende Rahmung nicht oder nur marginal vorhanden. Diese Bezüge sind jedoch Voraussetzung dafür, dass sich eine (implizit) erwartbare und routinisierte Praxis auf Basis eines kollektiven Systemgedächtnisses, d. h. ein Unterrichtsmilieu, etablieren kann.18 Auch Wernet (2003) betont die „rollenförmige Adressierung des Schülers“ als eine wesentliche Bedingung professionalisierter Praxis. Allerdings fordert er dessen Ausschließlichkeit als „adäquates“ und „konsistentes“ pädagogisches Handeln und leitet dies in seinem Handlungsmodell der „pädagogischen Permissivität“ aus einer unterstellten mangelnden „Rollenkompetenz im Sinne der souveränen Verfügung über Rollenambivalenz, Rollenkomplementarität, Rollendistanz und Rollenflexibilität“ der Schüler*innen ab (ebd., S. 118). Diesen Mangel bezeichnet er in Anschluss an Parsons und Oevermann als „spezifisch sozialisatorisch-soziale Kompetenzdefizite“ (ebd., S. 119). In der „Vermeidung von widersprüchlichen Adressierungen“ (ebd., S. 46) durch die Kommunikation der „purifizierten Eindeutigkeit des schulischen Handlungsmusters“ (ebd., S. 120), d. h. der generalisierten Regeln und Rollenerwartungen, sieht Wernet den „Lehrerberuf“ unter der Annahme der besagten Defizite der Schüler*innen als „sozialisatorisch helfenden Beruf“: „nicht, indem er vermittelnde berufspraktische Dispositionen zum Ausdruck bringt, sondern indem er handlungspraktisch die Eindeutigkeit des schulischen Handlungsmusters wirklich werden lässt“ (ebd.). Im Gegensatz zu einer derartigen defizitorientierten Perspektive auf die „Rollenkompetenz“ der Schüler*innen ist der Bezug zu den generalisierten Rollenerwartungen aus praxeologischer Perspektive, wie gesagt, Voraussetzung

18Zwar

kann sich eine reziproke Erwartbarkeit und routinierte Praxis i.S. eines konjunktiven Erfahrungsraums auch jenseits der konstituierenden Rahmung einstellen, z. B. durch eine geteilte Orientierung am Peermilieu und dessen Bedürfnissen. Allerdings wäre dies aus praxeologischer Sicht nicht mehr als ein professionalisiertes Milieu zu bezeichnen (vgl. Bohnsack 2020, S. 77).

7.2  Zur normativen Bewertung professionalisierter Unterrichtsmilieus …

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für die Etablierung der konstituierenden Rahmung i.S. einer ‚konsistenten‘ Praxis, die wiederum eine wechselseitige Erwartbarkeit des Handelns, der „Reziprozität der Akte“ (Bohnsack 2017a, S. 106), voraussetzt. So wird dann auch nicht angenommen, dass Schüler*innen per se nicht über Rollenkompetenz verfügen. Die generalisierten Rollenerwartungen werden jedoch wesentlich in der konstituierenden Rahmung ‚vermittelt‘. Die Diffusität des willkürlichen Interaktionsmodus erschwert es somit schließlich auch, den „Schülerjob“ (Breidenstein 2006) überhaupt ausführen und somit auch „Rollendistanz“ (Goffman 1973) einnehmen zu können.19 Dies erscheint insbesondere in solchen Situationen problematisch, in denen Verfügungen über die Schüler*innen durch unerwartete Eingriffe in ihre Produkte und Körperterritorien, also manipulative Interventionen, erfolgen, wie sie sich etwa im Fall K-InSek1 dokumentieren. Dort greift der Lehrer unvermittelt in das Kunstwerk eines Schülers und damit auch in dessen Körperterritorium ein. Die (meta-)kommunikative Bezugnahme auf den Eingriff, das Produkt sowie dessen Bewertung, die von dem Schüler ebenfalls eingefordert werden, bleiben hier ebenso, d. h. homolog zu K-InSek2, marginal. So führen dann auch die etwas absurd anmutenden Oppositionen des Schülers gegen die Interventionen zu einer Steigerung der Moralisierung sowie der Interventionen durch den Lehrer i.S. eines „looping“ (Goffman 1973, S. 43).20 Iris Nentwig-Gesemann und Frauke Gerstenberg (2018) beschreiben eine homologe Praxis der manipulativen Intervention in Bezug auf eine Interaktion zwischen einer pädagogischen Fachkraft und einem Kind in einer Kita: „Sie [die Fachkraft – B.W.] reguliert das Verhalten des Kindes von außen, ohne an dessen Bedürfnisse anzuknüpfen bzw. anknüpfen zu können, da sie mit ihrer wahrnehmenden Aufmerksamkeit von den Kindern abgewandt ist. Vielmehr handelt es sich hier um ein willkürliches Durchsetzen des eigenen Rahmens – ohne Formen der Metakommunikation, die ihr Verhalten für die Kinder in irgendeiner Weise vorhersehbar, adressierbar und dadurch kalkulierbar machen könnten“ (­Nentwig-Gesemann/Gerstenberg 2018, S. 146; vgl. auch Bohnsack 2017a, S. 270 ff.). Die Unvorhersehbarkeit bzw. Unerwartbarkeit derartiger Interventionen erschwert es der Klientel, sich gegenüber diesen Interventionen zu ­verhalten (v. a. sich von diesen zu distanzieren).

19Wie

in Abschnitt 2.3 und 3.4 ausgeführt wurde, zeigen sich Überschneidungen zwischen dem Konzept der Rollendistanz von Goffman und demjenigen des Schülerjobs von Breidenstein. 20Zur Differenz von Opposition und Rollendistanz im Rahmen der Rekonstruktion der Interaktionsorganisation s. Abschnitt 3.4.

214

7  Praxeologische Professionalisierungsforschung im Kontext von …

Indem in Typ V die Bezugnahme auf die ‚Sache‘ – sowohl der fachlichen als auch der persönlichen Sachbezüge der Schüler*innen – prekär erscheint, stellt sich über die Frage nach den konstitutiven Bedingungen von Professionalität bzw. Professionalisierung (die hier, wie gesagt, nicht bzw. kaum gegeben sind) hinaus, auch unterrichtstheoretisch die Frage, ob in diesem Fall (noch) von Unterricht gesprochen werden kann (vgl. Geier/Pollmanns 2016). Im Zuge ihrer systemtheoretisch fundierten empirischen Analyse einer Unterrichtssituation konstatieren Hollstein et al. (2016, S. 71, Herv.i.O.): „Die für den Schulunterricht typischen Merkmale treten dann konturierter hervor, wenn die zu lernende Sache thematisiert wird. Nun werden klare Leistungsanforderungen formuliert, an denen die Schüler sich und ihre Klassenkameraden messen können“.21 Vergleichbar – mit Bezug auf die ‚Sache‘ – ziehen Reh und Wilde (2016, S. 119) aus ihrer praktikentheoretisch fundierten sowie historischen Interpretation einer Unterrichtssituation aus dem Geschichtsunterricht den Schluss: „Die Frage nach dem, was Unterricht ist, ist aus historischer und empirischer Perspektive – das haben wir anzudeuten versucht – also einfach zu beantworten: Unterricht ist in der modernen Schule und bis heute Fachunterricht, in dem gleichzeitig auf besondere Weise und in Differenz zu anderen Kontexten, in denen Wissen erzeugt wird, mithilfe bestimmter Praktiken die ‚Sachen‘ formiert und Subjekte konstituiert werden.“ Im willkürlichen Modus werden jedoch – so konnte ebenfalls empirisch gezeigt werden – die Schüler*innen-‚Subjekte‘ weitgehend unabhängig von der (hier kaum gegebenen) ‚Formierung der Sache‘, v. a. durch Moralisierungen, konstituiert und zum Teil selbst zu ‚Objekten‘ des Lehrer*innenhandelns gemacht. Vor dem Hintergrund des empirischen Befunds, dass sich Typ V in zwei von drei Fällen des Kunstunterrichts dokumentiert, scheinen sich in Bezug auf einen „subjektorientierten“ Kunstunterricht, der sich vom „pädagogischen Zwang“ zu lösen sucht (Selle 1998, S. 190; s. auch Abschnitt 6.2.3), Herausforderungen derart zu ergeben, eine Balance zwischen „der Beziehungsseite des Unterrichts“ und seiner „Inhaltsseite“ (Reich 2003, S. 87) zu finden. Im Rahmen einer „inklusiven Kunstpädagogik“ (Sindermann 2018) wird etwa neben einer „Prozessorientierung und Ergebnisoffenheit des künstlerischen Handelns, Erfahrungs- anstelle von Werkorientierung sowie dem Bezug zur Lebenswelt der Lernenden“ – in Abkehr von einer „defizitorientierten“ Sichtweise – auch danach gefragt, „wie es

21Aus

den normativen Anforderungen einer ‚inklusiven‘ Programmatik heraus ergeben sich in Bezug auf die Leistungsmessung und -hierarchisierung, wie weiter oben beschrieben, besondere Herausforderungen für den Unterricht (vgl. Sturm 2015a).

7.3  Implikationen für eine reflexive Lehrer*innenbildung aus …

215

Lernenden gelingen kann, die inhaltliche und formale Ebene von Kunst erlebend und mit Blick auf den eigenen Lebensweltbezug zu erschließen“ (ebd., o.S.). Auch darin zeigen sich Übereinstimmungen mit der oben entfalteten normativen bzw. diskursethischen Perspektive auf ein professionalisiertes Unterrichtsmilieu. Die hier dargelegten normativen Bewertungen sowie Erwartungen an ein professionalisiertes Unterrichtsmilieu, die wiederum auf den rekonstruierten Metanormen der unterrichtlichen Interaktionssteuerung basieren, können als unabhängig von einer spezifischen Programmatik wie z. B. derjenigen der schulischen Inklusion betrachtet werden. Sie sind vielmehr als allgemeine diskursethische Prinzipien zu verstehen, die für eine (pädagogische) Professionalisierung allgemeine Gültigkeit beanspruchen können. Gleichwohl zeigen sich Verbindungen zu gegenstandstheoretischen Diskursen um schulische Inklusion. In gewisser Weise lässt sich damit auch an Georg Feusers und Thomas Maschkes Forderung der „Entwicklung einer ‚Allgemeinen Lehrerbildung‘ für eine ‚Allgemeine Pädagogik‘“ (Feuser/Maschke 2013, S. 8) anschließen, die auf die „Realisierung einer inklusionskompetenten Allgemeinen Pädagogik“ (Feuser 2013) zielt.22 Vor dem Hintergrund der dargelegten konstituierenden und normativen Bedingungen professionalisierter Unterrichtsmilieus sollen nun abschließend noch einige Implikationen für eine Professionalisierung im Kontext von Lehrer*innenbildung aus praxeologischer Perspektive formuliert und (ansatzweise) diskutiert werden.

7.3 Implikationen für eine reflexive Lehrer*innenbildung aus praxeologischer Perspektive Die Herausbildung einer reflexiven Haltung hinsichtlich des eigenen professionellen Handelns wird, wie dargelegt, sowohl in der allgemeinen Schulpädagogik (u. a. Helsper 2018) als auch in der Interkulturellen Pädagogik (u. a.

22Feuser

(2013) sieht für die Realisierung einer „inklusionskompetenten Allgemeinen Pädagogik“ allerdings auch grundlegende Veränderungen auf der formalen Ebene der Schulsysteme sowie der Lehrer*innenbildung in den deutschsprachigen Ländern als notwendig an. Dies betrifft im ersten Fall eine ‚Ent-Gliederung‘ des Schulsystems mit seinen nach Leistung kategorisierten Bildungsgängen und im zweiten Fall die Integration bzw. ‚Verschmelzung‘ der sonderpädagogischen Studiengänge und derjenigen des ‚Regel‘-Lehramts (vgl. ebd.; Sturm 2016a).

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7  Praxeologische Professionalisierungsforschung im Kontext von …

Radtke 2008) sowie in der Inklusionspädagogik (u. a. Budde/Hummrich 2013) als eine zentrale Anforderung an die Professionalisierung von Lehrkräften identifiziert. In Folge des „Diktums der Gleichbehandlung“ (Helsper 2018, S. 130)23, der „Herkunftsneutralisierung“ (Luhmann 2002, S. 67) oder der „egalitären Differenz“24 (Prengel 2001) geht es jeweils im Kern um die normative Erwartung an die pädagogische Praxis, Unterschiede zwischen Schüler*innen nicht auszublenden und zugleich (habitualisierte) Essentialisierungen, Stigmatisierungen und Diskriminierungen in der Interaktion mit den Schüler*innen zu vermeiden. Wie auf Grundlage der empirisch-rekonstruierten Modi der Interaktionsorganisation bzw. -steuerung und im Zuge ihrer normativen Bewertung aufzuzeigen versucht wurde, entspricht dies – aus praxeologischer Perspektive – im Wesentlichen der Vermeidung eines machtstrukturierten Interaktionsmodus, welcher durch die Konstruktion totaler Identitäten charakterisiert ist. Aus dieser Perspektive gilt es jedoch, wie ebenfalls darzulegen versucht wurde, zwischen einer expliziten, theoretischen Reflexion und der impliziten, handlungspraktischen Reflexion zu unterscheiden. Letztgenannte ist primordial für die professionalisierte Praxis. Im Folgenden geht es deshalb um die Frage, wie implizite bzw. „praktische Reflexionspotentiale“ (Bohnsack 2020, S. 123, Herv.i.O.) im Kontext von Lehrer*innenbildung initiiert bzw. gefördert werden können. Dabei kann noch einmal zwischen einer Initiierung und Förderung im Rahmen des Studiums und einer solchen im Rahmen der beruflichen Praxis unterschieden werden. Während im ersten Fall das Potential v. a. in der fall-rekonstruktiven Arbeit gesehen werden kann, lässt sich im zweiten Fall an rekonstruktive Prinzipien der Evaluationsforschung (vgl. Bohnsack/Nentwig-Gesemann 2010) anschließen.

23Helsper

(2018, S. 131) versteht darunter „dyadische Arbeitsbündnisse“, die „individuelle Besonderheiten aufnehmen“ und in einem „Klassenarbeitsbündnis“ zu integrieren sind, das „die für alle Schüler gleichermaßen geltenden Orientierungen und Regeln [beinhaltet – B.W.], die es erlauben, legitim Unterschiede zu machen, weil jedem Schüler der Anspruch eingeräumt wird, gleichermaßen in seiner Individualität Anerkennung zu finden“. Zur Kritik des Konzepts des „Arbeitsbündnisses“, v. a. im Zusammenhang mit der Förderung von Autonomie, s. Abschnitt 7.1. 24„Die begriffliche Verbindung egalitäre Differenz eröffnet eine Perspektive, in der nach Verschiedenheit und nach Gleichberechtigung von Menschen gefragt wird. Egalität und Differenz werden nicht als gegensätzlich, sondern als einander wechselseitig bedingend verstanden.“ (Prengel 2001, S. 93, Herv.i.O.; vgl. auch Sturm 2015a, S. 29)

7.3  Implikationen für eine reflexive Lehrer*innenbildung aus …

217

7.3.1 Fall-rekonstruktive Arbeit im Studium als Initiierung und Förderung praktischer Reflexionspotentiale Wie in Abschnitt 7.1 dargelegt, besteht die Anforderung an das professionalisierte Handeln der Lehrkraft darin, das Spannungsverhältnis, das sich aus der gesellschaftlichen und organisationsinternen habitus- bzw. milieuspezifischen Mehrdimensionalität der Akteur*innen und den gesellschaftlichen und organisationsinternen (Identitäts-)Normen und Regeln ergibt, in der Etablierung einer konstituierenden Rahmung bzw. eines Unterrichtsmilieus kreativ zu bewältigen. Dies setzt wiederum ein implizites Wissen um kontingente Praxen, eine implizite bzw. praktische Reflexion, voraus. Das Potential einer fall-rekonstruktiven Arbeit im Rahmen der Ausbildung bzw. des Studiums ­ besteht dann zum einen darin, (alternative) implizite bzw. „praktische Reflexionspotentiale“ zu initiieren bzw. zu fördern (Bohnsack 2020, S. 123, Herv.i.O.). Diese erschließen sich, wie dies in der vorliegenden Arbeit anhand der empirischen Rekonstruktionen auf Basis von Unterrichtsvideographien verdeutlicht wurde, auf dem Wege der komparativen Analyse empirischer Vergleichsfälle. Insbesondere die Berücksichtigung von (maximalen) Kontrasten bietet die Möglichkeit der methodisch kontrollierten (impliziten) Vergegenwärtigung alternativer Praxen. Diese können den Studierenden dann als „positive oder negative Gegenhorizonte“ (ebd., Herv.i.O.) erscheinen. Im Unterschied zu einer normativen Einordnung, wie sie in Abschnitt 7.2 anhand sozialwissenschaftlicher Theorien – mit einem Fokus auf die ‚inklusive‘ Programmatik – vorgenommen wurde, müssen derartige Bewertungen den Studierenden jedoch selbst überlassen werden. Wie Bohnsack betont, geht es bei der fall-rekonstruktiven Arbeit im Rahmen des Studiums nicht primär darum, „ein relativ gesichertes sozialwissenschaftliches Expertenwissen auf dem Wege seiner ‚Konkretisierung‘ zu vermitteln“ (ebd.), wie sich dies hingegen u. a. im Anspruch einer „kasuistischen Kompetenz einer Sinnerschließung des Konkreten“ (Helsper 2018, S. 134) andeutet. Wie in Abschnitt 7.1 dargelegt, besteht in der Anforderung einer derartigen „‚doppelten Professionalisierung‘“ (Helsper 2001b) die Gefahr der Überforderung der Professionellen. Stattdessen geht es darum, (alternative) praktische Reflexionspotentiale durch die implizite Vermittlung kontingenter Praxen zu fördern, was sich zudem von „‚Best-Practice-Situationen‘ als Anleitungen für die eigene Praxis“ grundlegend unterscheidet (Bohnsack 2020, S. 124). Dies schließt m.E. jedoch nicht aus, mit den Studierenden über die eigenen Präferenzen bzw. die Präferenzen aus sozialwissenschaftlicher Perspektive ins Gespräch zu

218

7  Praxeologische Professionalisierungsforschung im Kontext von …

kommen, bspw. mit Bezug auf das im Kontext der Inklusionspädagogik identifizierte ‚Spannungsverhältnis‘ zwischen dem Leistungsprinzip der Schule und den normativen Erwartungen der ‚inklusiven‘ Programmatik (vgl. Sturm 2015a, 2018). Vor dem Hintergrund der metatheoretisch sowie empirisch fundierten notorischen Diskrepanz zwischen Norm und Handlungspraxis kann jedoch generell nicht von einer unmittelbaren ‚Übersetzung‘ der theoretisch-normativen Vermittlung auf die Ebene der Handlungspraxis ausgegangen werden (vgl. auch Wagener 2018, S. 89). Bei dem Einsatz von Unterrichtsvideographien in der fall-rekonstruktiven Arbeit ist allerdings ebenso zu berücksichtigen, dass es sich hierbei um „wissenschaftliche Artefakte“ (Baltruschat/Wagner-Willi 2018, S.  243) handelt, in die verschiedene (implizite) Selektionsentscheidungen der Forschenden eingegangen sind. Wie in Abschnitt 3.2 ausgeführt wurde, dokumentiert sich in den Gestaltungsleistungen der abbildenden Bildproduzent*innen die eigene „implizite Didaktik“ (Baltruschat 2015, S. 268), die wiederum mit (machtstrukturierten) Fremdrahmungen der Abgebildeten verbunden sein können. Wie Baltruschat mit Bezug auf den „naiven“ Einsatz von Unterrichtsvideos in der Lehrer*innenbildung kritisch konstatiert, „erscheint eine derartige Form der Lehrerbildung als außerordentlich problematisch“, wenn die Studierenden „selbst nicht bereits über ein habitualisiertes Praxiswissen verfügen, das als Korrektiv zu den in den Videos aufscheinenden Einseitigkeiten und der Eliminierung wesentlicher Dimensionen des Unterrichts dienen kann“ (ebd., S. 290 f.). Ist dieses „habitualisierte Praxiswissen“ noch nicht vorhanden, kann v. a. ein methodisches Wissen um den sozialen Herstellungscharakter von Videodaten hilfreich sein, um sich in ein distanziertes Verhältnis zu deren Propositionen setzen zu können. Dies führt wiederum direkt zu dem zweiten Aspekt fall-rekonstruktiver Arbeit im Rahmen des Studiums. Es geht nämlich zum anderen darum, die rekonstruktiven Methoden zu schulen, wie sie der Alltagsverständigung (der Professionellen) ohnehin schon eigen sind (vgl. Schütze 1993, S. 197; Bohnsack 2020, S. 124; s. auch Abschnitt 2.1)25: Neben der Förderung der kritischen Distanznahme gegenüber

25Schütze

(1993, S. 197, Herv.i.O.) formuliert dies mit Bezug auf die Soziale Arbeit folgendermaßen: „Z. T. systematisieren sie [die wissenschaftlichen Analysemethoden – B.W.] das an naturwüchsiger dokumentarischer Methode der Interpretation (vgl. Mannheim 1964a, S. 120 ff.; Garfinkel 1973, S. 103, 235 ff.; Bohnsack 1983, Kapitel 1), was ein kundiger, sensibler Sozialarbeiter in seiner alltäglichen Berufspraxis immer schon anwendet.“

7.3  Implikationen für eine reflexive Lehrer*innenbildung aus …

219

den sozialwissenschaftlichen Annahmen bzw. Theorien über die Praxis (von Lehrkräften)26 ist ein weiteres Potential in dem Einüben von „Habitussensibilität“ (T. Sander 2014) zu sehen. Dabei geht es jedoch nicht um einen ‚verstehenden‘ Zugang zur „Gesamtperson“ der Schülerin*des Schülers ­(Lange-Vester/TeiwesKügler 2014, S. 200), da dies mit Risiken der totalen Identifikation verbunden ist (s. Abschnitt 7.1) – auch wenn unklar bleibt, ob dies von den Autorinnen (vgl. ebd.) so intendiert ist –, sondern vielmehr um die Bereitschaft, ihnen die Gelegenheit zu geben, „ihr jeweiliges Relevanzsystem zu entfalten, sich also zu dem zu äußern, was sie für relevant erachten und dies in einer Weise zu tun, die ihnen entspricht“ (Kubisch 2014, S. 123). Dies setzt zugleich die Einnahme von „Rollendistanz“ (Goffman 1973), also die Distanzierung von den normativen Rollen- und Identitätserwartungen an die Schüler*innen, sowie die Bereitschaft zur Metakommunikation mit ihnen bzw. das Zulassen von Rollendistanz aufseiten der Schüler*innen voraus (vgl. auch Bohnsack 2020, S. 119), wie dies auch insgesamt als normative Erwartungen an ein professionalisiertes Unterrichtsmilieu – etwa im Kontext von ‚Inklusion‘ (vgl. auch Sturm 2016a, S. 155 ff.) – formuliert werden kann (s. Abschnitt 7.2).27 In einem Unterrichtsmilieu, das sich durch die Bereitschaft auszeichnet, die Entfaltung der Relevanzsysteme der Schüler*innen zuzulassen und zu fördern, wird dann auch ihre Autonomie anerkannt (vgl. auch Bohnsack 2020, S. 129).

26Nach

Bohnsack (2020) handelt es sich dabei um Gegenstandstheorien, die nomologischdeduktiv, d. h. hypothesenprüfend, aus der konventionellen Erkenntnistheorie mit ihrer „Zweck-Mittel-Rationalität“ (ebd., S. 120), wie sie auch den Common Sense auszeichnet, abgeleitet werden und dadurch in einem hierarchisierenden Verhältnis zu den Forschungsteilnehmer*innen und ihren Relevanzsystemen stehen. Dem stehen solche Gegenstandstheorien gegenüber, die abduktiv aus der Rekonstruktion der Praxis gewonnen werden. Diese beziehen sich wiederum auf Erkenntnis- bzw. Metatheorien, die selbst in der Praxis fundiert sind (vgl. ebd.). Wie in Abschnitt 2.1 dargelegt, können Letztgenannte auch i.S. einer „naturalistischen Epistemologie“ (Luhmann 1987, S. 10) verstanden werden. 27Die Fähigkeit zur Rollendistanz als eine zentrale Anforderung an das professionalisierte Lehrer*innenhandeln findet sich bereits bei Sybille Reinhardt: „Die Virtuosität im Handeln schließlich, die die Balancierung inkompatibler Rollenbeziehungen darstellt, setzt Distanz gegenüber der gespielten Rolle voraus. Nur diese Fähigkeit, die eigene Rolle zu reflektieren und Weisen der Interpretation zu durchdenken, macht die je nach Situation flexible Anwendung von Rollenvorschriften möglich“ (Reinhardt 1972, zit.n. Wernet 2003, S. 28). Jedoch scheint hier die Reflexion der „Rolle“ v. a. auf der theoretischen im Unterschied zur impliziten Ebene verortet zu werden.

220

7  Praxeologische Professionalisierungsforschung im Kontext von …

7.3.2 Initiierung und Förderung praktischer Reflexionspotentiale im Rahmen der beruflichen Praxis Die genannten Potentiale und methodischen Prinzipien einer fall-rekonstruktiven Arbeit im Rahmen des Studiums, die i. d. R. auf ‚fremden‘ empirischen Fällen basiert, lassen sich ebenso auf die Initiierung und Förderung von praktischen Reflexionspotentialen im professionellen Alltag von Lehrkräften beziehen. Es geht dann v. a. darum, „sich der in der eigenen Interaktion mit der Klientel implizierten diskursethischen Prinzipien ansatzweise und selbstkritisch zu vergewissern“ (Bohnsack 2020, S. 127). Wie dies in Abschnitt 7.1 und 7.2 metatheoretisch und empirisch-rekonstruktiv dargelegt wurde, handelt es sich hierbei um implizite bzw. „reflexive Normen“ bzw. „Meta-Normen“ (ebd., S. 80), welche die Interaktion der Lehrkräfte mit den Schüler*innen konstituieren und die sich als Modi der Interaktionsorganisation bzw. der Sozialität auf dem Wege der komparativen Analyse methodisch kontrolliert rekonstruieren und begrifflich explizieren lassen. Aufgabe der Sozialwissenschaftler*innen ist es, jene explizierte Handlungspraxis den Lehrkräften als Reflexionsfolie zur Verfügung zu stellen. Durch die Präsentation verschiedener empirischer Vergleichshorizonte lassen sich dann kontingente Praxen aufzeigen. Auf diesem Wege eröffnen sich den Professionellen ggf. alternative Handlungsmöglichkeiten, und selbstverständlich gewordene Routinen können (implizit) hinterfragt werden (vgl. ebd.; Sturm 2016a, S. 131 ff.; Wagener 2018, S. 89). Ein solches Vorgehen wurde bereits empirisch fundiert im Rahmen der Dokumentarischen Evaluationsforschung herausgearbeitet (vgl. B ­ohnsack/ Nentwig-Gesemann 2010), die erkenntnistheoretisch (ebenfalls) in der Praxeologischen Wissenssoziologie (vgl. Bohnsack 2017a) verortet ist. Wie die Autor*innen mit Bezug auf die Kommunikation zwischen den Forschenden und den Forschungsteilnehmenden betonen, hat „der Beobachter zweiter Ordnung (…) gegenüber demjenigen erster Ordnung einen anderen, nicht aber einen privilegierten Zugang zur Realität“ (Bohnsack/Nentwig-Gesemann 2010, S. 271, Herv.i.O.).28 In diesem Sinne betreffen die „diskursethischen Prinzipien“ (Bohnsack 2020, S. 80), wie sie weiter oben für die Interaktion zwischen

28Mit

Luhmann (1990, S. 510) gesprochen, läge im umgekehrten Fall, d. h. mit dem Anspruch eines privilegierten Zugangs der Sozialwissenschaftler*innen zur Realität der Unterrichtspraxis, eine „Hierarchisierung des Besserwissens“ vor.

7.3  Implikationen für eine reflexive Lehrer*innenbildung aus …

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den Professionellen und der Klientel, aber auch zwischen den Sozialwissenschaftler*innen und den Studierenden geltend gemacht wurden, homolog die Interaktion zwischen den Sozialwissenschaftler*innen und den ‚beforschten‘ Lehrkräften. Das bedeutet, dass die Bewertung bzw. Evaluation der von den Forschenden eingebrachten Rekonstruktionen der professionellen bzw. professionalisierten Handlungspraxis vorrangig den Lehrkräften selbst überlassen werden sollte, i.S. „der Möglichkeit einer Selbstevaluation der Erforschten“ (ebd., S. 128).29 Die normativen Präferenzen der Sozialwissenschaftler*innen, wie sie z. B. in Bezug auf die in dieser Arbeit rekonstruierte Unterrichtspraxis in Abschnitt 7.2 formuliert wurden, können schließlich als Gesprächsangebote in den Diskurs einfließen. Wie bereits in Bezug auf die fall-rekonstruktive Arbeit im Rahmen des Studiums bzw. der Ausbildung argumentiert wurde, bleibt jedoch stets ungewiss, welche Auswirkungen dies auf die tatsächliche Handlungspraxis der Akteur*innen hat, z. B. ob eine Transformation der Praxis stattfindet. Dies ist prinzipiell eine empirisch zu beantwortende Frage.

29Allerdings

muss einschränkend darauf hingewiesen werden, dass es sich erst dann um eine umfassende Dokumentarische Evaluation handelt, wenn alle stakeholder – im Fall von Unterricht also auch die Schüler*innen – in den Diskurs einbezogen werden (vgl. Bohnsack/Nentwig-Gesemann 2010, S. 271 ff.).

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