Leibniz’ Metaphysik der Modalität 9783110454949, 9783110453416, 9783110453911

Gottfried Wilhelm Leibniz’s theory of modality takes a special place within early modern philosophy. Leibniz analyzes th

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German Pages 290 [292] Year 2016

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Table of contents :
Vorwort
Inhalt
Einleitung
1. Spinozas Argument für den Nezessitarismus
2. Göttliche Ideen – Leibniz’ Weg zu den Möglichkeiten
3. Göttliche Psychologie: Mögliche Individuen und mögliche Welten
4. Leibniz’ Theorie der Kompossibilität
5. Leibniz und das Problem des Nezessitarismus
Schlussbemerkungen
Literaturverzeichnis
Namensregister
Sachregister
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Leibniz’ Metaphysik der Modalität
 9783110454949, 9783110453416, 9783110453911

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Sebastian Bender Leibniz � Metaphysik der Modalität

Quellen und Studien zur Philosophie

Herausgegeben von Jens Halfwassen, Dominik Perler und Michael Quante

Band 130



Sebastian Bender

Leibniz � Metaphysik der Modalität

Gefördert durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) – PE 1305/1-1.

ISBN 978-3-11-045341-6 e-ISBN (PDF) 978-3-11-045494-9 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-045391-1 ISSN 0344-8142 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2016 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Druck und Bindung: Hubert und Co. GmbH & Co. KG, Göttingen ♾ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com

Vorwort Bei der vorliegenden Arbeit handelt es sich um eine überarbeitete Version meiner Dissertationsschrift, die im Oktober 2014 an der Philosophischen Fakultät I der Humboldt-Universität zu Berlin eingereicht und am 8. Mai 2015 verteidigt wurde (Dekan zu diesem Zeitpunkt war Michael Seadle). Dass meine Dissertation aus dem Bereich des bloß Möglichen herausgetreten ist und das Licht der Wirklichkeit erblickt hat, habe ich vielen Personen und Institutionen zu verdanken, die mich auf vielfältige Weisen unterstützt haben. Mein besonderer Dank gilt Dominik Perler, dem Betreuer dieser Arbeit, der mir sowohl in philosophischer als auch in praktischer Hinsicht jederzeit mit Rat und Tat zur Seite stand. Die von ihm empfangenen Denkanstöße, seine Anregungen zum philosophischen Weiterfragen sowie sein philosophie-historischer Sachverstand haben diese Arbeit nicht nur entscheidend geprägt, sondern sie überhaupt erst ermöglicht. Zweit- und Drittgutachter der Dissertation waren Christian Barth und Johannes Haag. Beide haben sich nicht nur die Mühe gemacht das Gesamtmanuskript zu lesen und in ihren Gutachten ausführlich zu kommentieren, sondern waren mir bereits in den Jahren zuvor unersetzliche Geprächs- und Diskussionpartner. Dafür möchte ich ihnen an dieser Stelle ganz herzlich danken. Ohne die großzügige Unterstützung, die ich als Stipendiat des Leibniz-PreisForschungsprojekts „Transformationen des Geistes – Philosophische Psychologie 1500 – 1750“ an der Humboldt-Universität erhalten habe, hätte ich dieses Dissertationsprojekt nicht realisieren können. Diese Unterstützung war nicht nur finanzieller Natur. Bereits als studentische Hilfskraft und später dann als Stipendiat hatte ich als Mitglied der Leibniz-Preis-Forschungsgruppe über Jahre hinweg Gelegenheit, mich mit zahlreichen Mitarbeitern und Gästen intensiv zu Themen der Philosophie der Frühen Neuzeit auszutauschen. Außerdem konnte ich auf vielen Workshops und Konferenzen sowie im wöchentlichen Kolloquium eigene Arbeiten vorstellen und mit außergewöhnlich kompetenten Gesprächspartnern diskutieren. Für all das, sowie für die wunderbare und freundschaftliche Atmosphäre, die in der Forschungsgruppe durchweg geherrscht hat, möchte ich mich hier ganz herzlich bedanken. Auch mein neunmonatiger Forschungsaufenthalt an der Yale University in New Haven wurde vom Leibniz-Preis-Projekt unterstützt. Dort hatte ich Gelegenheit mich in Ruhe der Arbeit an der Dissertation zu widmen, wobei mich mein dortiger Betreuer Michael Della Rocca intensiv und mit viel Einsatz unterstützt hat. Ihm habe ich zahlreiche Anregungen und philosophische Einsichten zu verdanken, wofür ich mich an dieser Stelle bedanken möchte. Als Philosoph ist für mich der permanente Austausch mit anderen Philosophinnen und Philosophen überlebenswichtig. Philosophische Diskussionen,

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Vorwort

kritische Nachfragen, die gemeinsame Lektüre von Texten, das Ausprobieren neuer Ideen im Gespräch, die Korrespondenz über E-Mail sowie das gegenseitige Kommentieren von entstehenden Artikeln und Buchkapiteln sind für mich unverzichtbar. In all diesen Hinsichten hat mich (zusätzlich zu den bereits genannten Personen) ein großer Personenkreis unterstützt. Ganz besonders bedanken möchte ich mich bei Hannah Altehenger, Max Barkhausen, Julia Borcherding, Gregory Brown, Sanja Dembić, Alexander Dinges, Brian Embry, Thomas Feeney, Helen Hattab, Till Höppner, Romy Jaster, Julia Jorati, Martin Klein, Thomas Krödel, Mark Kulstad, Vili Lähteenmäki, Matthew Leisinger, Jennifer Marušić, Jeffrey McDonough, James Messina, Anselm Oelze, Martin Pickavé, Marleen Rozemond, Paolo Rubini, Sonja Schierbaum, Kelley Schiffman, Stephan Schmid, Ariane Schneck, Cornelius Stöhr, Jonathan Vertanen, Barbara Vetter, Kenneth Winkler, Ramona Winter und Julia Zakkou. Sie alle haben mich bei der Arbeit an meiner Dissertation unterstützt, sei es in ihrer Funktion als Freund, Kritiker, Kommentator, Diskussionspartner, Korrekturleser oder Experte für lateinische Grammatik. Darüber hinaus möchte ich mich bei allen weiteren Personen bedanken, die mir als Gesprächspartner oder durch Diskussionsbeiträge auf Workshops und Konferenzen wichtige Anregungen gegeben haben. Ein besonderer Dank schließlich gilt meiner Familie, die mich auf meinem Weg stets motiviert und begleitet hat. Thema dieser Arbeit ist Gottfried Wilhelm Leibniz’ Metaphysik der Modalität. Leibniz war ein rastloser Vielschreiber, und es gibt noch keine vollständige Werkausgabe, die all seine Texte umfassen würde. Um auf Leibniz’ Werke Bezug zu nehmen, bediene ich mich einer Reihe von Abkürzungen, die im ersten Teil des Literaturverzeichnisses aufgeschlüsselt sind. Nahezu alle Zitate im Fließtext sind deutsche Übersetzungen aus dem Lateinischen und Französischen, Leibniz’ Originaltext findet sich in den entsprechenden Fußnoten. Wenn nicht anders angegeben, handelt es sich bei den Übersetzungen um meine eigenen. Sofern eine deutsche Übersetzung bereits vorlag, habe ich in der Regel diese verwendet (in vielen Fällen habe ich die Schreibweise gemäß den Regeln der neuen deutschen Rechtschreibung stillschweigend angepasst). Auch hierfür finden sich die entsprechenden Abkürzungen im ersten Teil des Literaturverzeichnisses. Verweise auf Werke anderer Autoren der Frühen Neuzeit sind im zweiten Teil des Literaturverzeichnisses aufgeschlüsselt. Der dritte Teil schließlich enthält alle zitierte Literatur nach 1800. In einigen Abschnitten in Kapitel 3 und 4 (insbesondere in 3.3 – 3.7 und 4.2– 4.9) greife ich – in übersetzter und zumeist stark revidierter Form – auf Material meines Aufsatzes „On Worlds, Laws and Tiles – Leibniz and the Problem of Compossibility“ zurück, der noch im Herbst 2016 in einem Sammelband zum Thema Leibniz on Compossibility and Possible Worlds erscheinen wird. Für die

Vorwort

VII

Erlaubnis dieses Material wiederzuverwenden bedanke ich mich bei den Herausgebern dieses Bandes sowie beim Springer-Verlag. Mit der Publikation dieses Buches verknüpfe ich zwei Hoffnungen. Erstens hoffe ich, dass es zur Klärung von Leibniz’ Metaphysik der Modalität beiträgt und dass es mir gelungen ist, Leibniz’ Konzeption auf angemessene Weise zu rekonstruieren. Meine zweite Hoffnung ist, dass nicht nur Spezialistinnen und Spezialisten der frühneuzeitlichen Philosophie Gefallen an diesem Buch finden, sondern dass es hin und wieder auch einer Nicht-Spezialistin in die Hand fällt. Frühneuzeitliche Überlegungen zur Modalität unterscheiden sich natürlich grundlegend von heutigen Art und Weisen über dieses Thema nachzudenken. Dennoch glaube ich, dass sie uns auch heute noch als Anregung dienen können und somit potentiell für ein breiteres philosophisches Publikum interessant sein können. Außerdem ist Leibniz ein faszinierender und scharfsiniger Philosoph,von dem jeder philosophisch Interessierte viel lernen kann. Frankfurt am Main im Mai 2016

Sebastian Bender

Inhalt Einleitung 1  Das Mysterium der Modalität 1  Systematischer Hintergrund: Drei Strategien im Umgang mit Modalität 5  Frühneuzeitlicher Hintergrund und Leibniz’ philosophische 10 Grundannahmen  Fragestellung und Aufbau der Untersuchung 17  Methodische Vorbemerkungen 20  Spinozas Argument für den Nezessitarismus 27 . Einleitung: Die spinozistische Herausforderung 27 29 . Spinozas Nezessitarismus . Nezessitarismus und Substanzmonismus 38 . Spinozas Argument für den Nezessitarismus in E1p29d und 45 E1p33d . Attribute bei Spinoza 53 . Spinozas Beweis für E1p5, Leibniz’ Einwand und die nicht57 kombinatorische Konzeption von Attributen . Spinozas Argument für den Nezessitarismus – zum Zweiten . Fazit 68

63

 Göttliche Ideen – Leibniz’ Weg zu den Möglichkeiten 71 . Einleitung: Ein Platz für possibilia? 71 . Descartes’ modaler Voluntarismus und Leibniz’ Kritik 75 . Leibniz’ Fundierung von Modalität in den Ideen Gottes 79 . Leibniz’ Attributskonzeption – ein kombinatorisches Modell 89 . Attribute, die notiones primitivae in Leibniz’ Kombinatorik und unsere Unkenntnis der Attribute 94 . Attribute als einfache Formen Gottes und Gottes kombinatorische Aktivität 98 . Gottes Essenz als der Grund aller möglichen Dinge 102 . Die Einfachheit Gottes und Leibniz’sche Attribute 108 . Spinozas Nezessitarismus und Leibniz’sche Möglichkeiten 114 . Fazit 118

X

Inhalt

 Göttliche Psychologie: Mögliche Individuen und mögliche Welten 120 120 . Einleitung: Die Struktur von Essenzen . Zwei Auffassungen möglicher Welten – eine Spannung in Leibniz’ Texten 122 . Die humeanische Interpretation 126 133 . Die holistische Interpretation . Begriffe unvollständiger Proto-Individuen 136 143 . Vollständige Begriffe . Vollständige Begriffe und mögliche Welten 152 . Eine Ambiguität in Leibniz’ Weltbegriff 154 156 . Relationale Prädikate . Fazit 160  Leibniz’ Theorie der Kompossibilität 162 . Einleitung: Die Rückkehr der spinozistischen Bedrohung? . Das Problem der (In)Kompossibilität 164 170 . Kompossibilität als logische Konsistenz . Kompossibilität als Übereinstimmung mit Gesetzen 174 . Göttliche Optimierungsstrategien 178 . Unabhängig und weltgebunden? 182 190 . Kompossibilität und mögliche Welten . Leibniz und die Mögliche-Welten-Semantik 195 . Die Maximierung von was? 198 207 . Fazit

162

 Leibniz und das Problem des Nezessitarismus 209 . Einleitung: Rationalistischer Theismus und Nezessitarismus 209 . Hintergrund I: Leibniz’ früher Nezessitarismus 211 . Hintergrund II: Drei Strategien Kontingenz zu bewahren 215 . Leibniz’ Prinzip des zureichenden Grundes (PZG) 229 . Ist das PZG ein notwendiges oder ein kontingentes Prinzip? 232 . Das PZG, Gottes Entscheidungen und Existenzfakten 242 . Mögliche Welten und andere Möglichkeiten („Schmelten“) 250 . Probleme mit Gott – Rationalismus vs. Theismus 253 . Fazit 255 Schlussbemerkungen

257

Inhalt

Literaturverzeichnis 265 265  Leibniz’ Werke  Andere Literatur vor 1800 266  Literatur nach 1800 266 Namensregister Sachregister

273 275

XI

Einleitung 1 Das Mysterium der Modalität Wir äußern im Alltag viele Sätze, mit denen wir uns darum bemühen, wahre Aussagen über die Welt zu machen. Zwei einfache Beispiele sind: (1) Auf meinem Schreibtisch liegen genau sechs Bücher. (2) Licht breitet sich im Vakuum mit einer Geschwindigkeit von 299 792 458 m/s aus. Wovon hängt ab, ob (1) und (2) wahr oder falsch sind? Die Antwort auf diese Frage fällt nicht schwer: Satz (1) etwa ist genau dann wahr, wenn auf meinem Schreibtisch tatsächlich genau sechs Bücher liegen. Trifft dies hingegen nicht zu, liegen also z. B. nur fünf Bücher auf meinem Schreibtisch, dann ist der Satz offenbar falsch. Ganz ähnlich verhält es sich im Fall von Satz (2). Er ist genau dann wahr,wenn die Lichtgeschwindigkeit im Vakuum tatsächlich exakt 299 792 458 m/s beträgt. Ob es sich bei (1) und (2) um wahre Aussagen handelt oder nicht, hängt also davon ab, wie genau die Welt beschaffen ist. Mit solchen Sätzen stellen wir Behauptungen darüber auf, was der Fall ist, und unsere Behauptungen erweisen sich dann als wahr, wenn die Tatsachen in der Welt diesen Behauptungen entsprechen. Dieser Umstand scheint so selbstverständlich und nahezu trivial zu sein, dass wir ihm normalerweise gar keine Beachtung schenken. Unsere Sprache erlaubt uns aber nicht nur solche Aussagen über die Welt zu treffen, deren Wahrheit oder Falschheit ausschließlich davon abhängt, was tatsächlich der Fall ist. Wir können auch Aussagen darüber treffen, was der Fall sein kann oder was der Fall sein muss, also Aussagen darüber, was möglich bzw. notwendig ist. Solche Aussagen werden von Philosophinnen als Modalaussagen bezeichnet. Beispiele dafür lassen sich leicht finden: (3) Es ist möglich, dass auf meinem Schreibtisch nur drei Bücher liegen. (4) Die Innenwinkelsumme von euklidischen Dreiecken beträgt notwendigerweise 180 Grad. (5) Sarah kann ihren linken Arm heben. (6) Ebola-Patienten müssen isoliert werden.

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Einleitung

(7) Wenn im Jahre 1950 ein Meteor die Erde zerstört hätte, würde ich jetzt nicht hier sitzen. Auch diese Sätze scheinen auf den ersten Blick vollkommen unproblematisch zu sein – wir verstehen die Sätze (3) – (7) schließlich genauso gut wie die Sätze (1) und (2). Bei genauerer Betrachtung werfen sie allerdings Fragen auf. All diesen Sätzen ist gemeinsam, dass sie nicht (oder zumindest nicht ausschließlich) Aussagen darüber treffen, was tatsächlich der Fall ist. Das ist ein für Modalaussagen charakteristisches Merkmal. Indem sie auf den Bereich des Möglichen und Notwendigen Bezug nehmen, weisen sie gleichsam über die Wirklichkeit hinaus. Genau dieser Umstand macht es aber schwierig zu verstehen, wovon die Wahrheit bzw. Falschheit von Modalaussagen abhängt. Im Falle der nicht-modalen Sätze (1) und (2) lag die Erklärung auf der Hand: Es sind schlicht die Tatsachen in der Welt, die bestimmen, ob diese Sätze wahr oder falsch sind. Doch genau diese Antwort steht im Falle von Modalaussagen nicht zur Verfügung. Um z. B. die in (3) getroffene Aussage zu überprüfen, wäre es vollkommen sinnlos und geradezu lächerlich, die Bücher, die tatsächlich auf meinem Schreibtisch liegen, zu zählen. Es geht ja gerade darum, was möglicherweise der Fall ist, und nicht darum, was tatsächlich der Fall ist. Würde man auf meinem Schreibtisch z. B. sechs Bücher vorfinden, so würde dies an der Wahrheit von (3) nichts ändern, da auf dem Schreibtisch genauso gut drei Bücher liegen könnten; (3) trifft keine Aussage darüber, wie die Welt wirklich ist, sondern darüber, wie sie sein könnte. ¹ Ein ganz ähnliches Phänomen können wir bei den Sätzen (4) – (7) beobachten. Die Pointe von (4) ist, dass euklidische Dreiecke nicht aus bloßem Zufall alle eine Innenwinkelsumme von 180 Grad aufweisen, sondern dass dies notwendigerweise der Fall ist. Auch wenn unsere Welt gänzlich anders wäre, hätten alle Dreiecke diese Eigenschaft. Satz (5) macht eine Aussage über eine Fähigkeit, die Sarah auch dann besitzt, wenn sie ihren linken Arm de facto gar nicht hebt. Es geht also auch in diesem Fall nicht darum, was tatsächlich der Fall ist, sondern um eine Möglichkeit – unabhängig davon, ob Sarah diese Möglichkeit auch realisiert oder nicht. Bei (6) handelt es sich um eine spezielle Modalaussage, nämlich um eine normative Aussage, die eine Verpflichtung zum Ausdruck bringt. Sie bleibt selbstverständlich auch dann wahr, wenn Ebola-Patienten tatsächlich nicht isoliert werden. (7) schließlich beschreibt ein kontrafaktisches Szenario. Bereits dieser Name verrät, dass es auch bei solchen Sätzen nicht darum geht, wie die Welt ist;  Das bedeutet natürlich nicht, dass wir Modalaussagen überhaupt nicht empirisch rechtfertigen können. Um z. B. die modale Behauptung, dass sich nichts schneller als Licht bewegen kann, zu rechtfertigen, muss auf umfangreiche und hoch-komplexe empirische Untersuchungen verwiesen werden.

1 Das Mysterium der Modalität

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stattdessen trifft (7) eine Aussage darüber, wie die Welt gewesen wäre, wenn sich bestimmte Dinge anders verhalten hätten.² Wie die Sätze (3) – (7) deutlich machen, gibt es eine große Vielfalt von Modalaussagen. Häufig wird zwischen einem Kernbereich der Modalität unterschieden, zu dem nur Möglichkeit und Notwendigkeit gehören, und einem erweiterten Bereich der Modalität, der auch dispositionale Eigenschafen, Kräfte, Fähigkeiten, Essenzen und vieles mehr umfasst.³ Aber in allen Fällen stellt sich dieselbe Frage: Wovon hängt die Wahrheit (bzw. Falschheit) von Aussagen ab, in denen modales Vokabular vorkommt? Warum sind z. B. die Aussagen, dass es möglich ist, dass auf meinem Schreibtisch genau drei Bücher liegen, oder dass die Innenwinkelsumme von Dreiecken notwendigerweise 180 Grad beträgt, wahr? Im Gegensatz zu nicht-modalen Wahrheiten nehmen modale Wahrheiten nicht (oder nicht ausschließlich) auf wirklich bestehende Tatsachen in der Welt Bezug. Aber auf was beziehen sie sich dann? Man könnte diese Schwierigkeit auch wie folgt beschreiben: Während in nicht-modalen Kontexten relativ leicht nachvollziehbar ist, was eine wahre Aussage wahr macht, nämlich einfach die Tatsachen in der Welt, ist dies bei modalen Wahrheiten alles andere als klar. Was sind die Wahrmacher von Aussagen wie (3) – (7)?⁴ Allgemein gefragt: Was macht modale Wahrheiten wahr? Was auf den ersten Blick vertraut und unproblematisch zu sein schien, wirkt also bei genauerer Betrachtung mysteriös und erklärungsbedürftig. In unserem Alltag verwenden wir modale Ausdrücke genauso selbstverständlich wie nichtmodale. Doch wie die eben angestellte Überlegung zeigt, ergibt sich dabei schnell ein philosophisches Problem: Auf was genau beziehen wir uns eigentlich, wenn wir modale Aussagen machen? Die vorliegende Arbeit befasst sich mit genau diesem philosophischen Problem. Gleichzeitig handelt es sich jedoch auch um eine historische Arbeit. Es soll daher nicht darum gehen, wie heutige Philosophinnen und Philosophen versuchen Modalität zu erklären. Stattdessen möchte ich mich ausführlich mit der von Gottfried Wilhelm Leibniz (1646 – 1716) entwickelten Metaphysik der Modalität auseinandersetzen.  Natürlich gibt es noch viele andere Arten von Modalaussagen, z. B. darüber, was physikalisch möglich oder notwendig ist. Eine wichtige Klasse bilden auch Sätze, die von epistemischen Modalitäten handeln. (Der Satz „Maria könnte im Wohnzimmer sein“ etwa bringt eine epistemische Modalität zum Ausdruck, wenn die Sprecherin damit sagen will, dass die Tatsache, dass Maria im Wohnzimmer ist, mit den ihr zur Verfügung stehenden Informationen kompatibel ist.)  Siehe für den ‚engen‘ und den ‚weiten‘ Sinn von Modalität Vetter , S.  (Vetter selbst kritisiert diese Unterscheidung allerdings). Ich werde im Folgenden in den meisten Fällen das weite Verständnis von Modalität voraussetzen.  Die Annahme von Wahrmachern (truthmakers) ist freilich umstritten. Für eine ausführliche Darstellung, siehe Armstrong .

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Einleitung

Warum Leibniz? Der Grund für diese Wahl ist, dass dieser Denker einen ganz besonderen Platz in der Geschichte der Metaphysik der Modalität einnimmt. Er dürfte wohl derjenige Philosoph sein, der die ausführlichste und am weitesten entwickelteste Theorie der Modalität vor dem 20. Jahrhundert ausgearbeitet hat.⁵ So war er z. B. der erste Philosoph, der systematischen Gebrauch von sogenannten möglichen Welten machte – einem Instrumentarium, ohne das heutige Zugänge zur Modalität kaum denkbar wären. Vor allem aber hat sich Leibniz intensiv unserer Ausgangsfrage nach den Wahrmachern modaler Wahrheiten gewidmet, und ich glaube, dass er eine philosophisch interessante Antwort auf diese Frage anzubieten hat, die es verdient, näher untersucht zu werden. Dies ist der erste Grund, aus dem mir eine Beschäftigung mit Leibniz’ Metaphysik der Modalität vielversprechend zu sein scheint. Ein zweiter Grund ist, dass seine Theorie auch aus einer rein philosophie-historischen Perspektive eine interessante Stellung einnimmt. Leibniz sieht sich nämlich mit einer ganz besonderen Herausforderung konfrontiert. Sein rationalistischer Vorgänger Spinoza, mit dem er viele zentrale Annahmen teilt, vertritt die extreme These, dass alles Mögliche wirklich und alles Wirkliche notwendig ist. Diese Position möchte Leibniz um jeden Preis vermeiden, und er hat deshalb ein ganz spezielles Interesse daran, eine funktionierende Theorie der Modalität – insbesondere eine Theorie der Möglichkeit und Kontingenz – auszuarbeiten. Gleichzeitig soll diese Theorie sowohl mit seinen rationalistischen als auch mit seinen theistischen Grundannahmen kompatibel sein. Leibniz steht also vor der Aufgabe einen rationalistischen Theismus zu entwickeln, der zugleich den Spinozismus vermeidet (im dritten Abschnitt dieser Einleitung werde ich auf alle drei Bedingungen näher eingehen). Damit befindet er sich wohl in einer philosophie-historisch einmaligen Situation. Eine Beschäftigung mit Leibniz’ Metaphysik der Modalität ist also sowohl aus philosophischen als auch aus philosophie-historischen Gründen von Interesse. Um Leibniz’ Theorie aus philosophischer Perspektive angemessen einschätzen zu können, sollten wir uns allerdings zunächst einen Überblick darüber verschaffen, welche grundsätzlichen systematischen Optionen es gibt, das Phänomen der Modalität zu erklären. Aus diesem Grund werde ich im zweiten Abschnitt dieser Einleitung die wichtigsten Ansätze in diesem Gebiet kurz vorstellen. Ziel ist dabei nicht, ausführlich in die zeitgenössische Debatte einzusteigen, sondern einen Eindruck zu gewinnen, was die grundsätzlichen Optionen und Strategien sind. Dieser kurze Überblick wird uns später bei der Rekonstruktion und Evaluation von  So schreibt etwa Newlands , S. : „When it comes to the metaphysics of modality, Leibniz holds a special pride of place among modern philosophers. He had far richer and more developed insights about modality than any of his near contemporaries, and arguably the depth and quality of his work on modal matters was unsurpassed until the th century.“

2 Systematischer Hintergrund: Drei Strategien im Umgang mit Modalität

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Leibniz’ Theorie helfen. Um diese Theorie angemessen interpretieren zu können, müssen wir natürlich auch mit den historischen Rahmenbedingungen und den theoretischen Annahmen, von denen Leibniz ausgeht, vertraut sein. Dies ist Aufgabe des dritten Abschnittes dieser Einleitung. Dort werde ich einerseits auf den frühneuzeitlichen Hintergrund eingehen, vor dem Leibniz Philosophie betreibt, und andererseits eine Reihe von Annahmen explizieren, die für Leibniz’ System charakteristisch sind und ohne die sich seine Metaphysik der Modalität nicht verstehen lässt. Vor dem Hintergrund des systematischen und historischen Rahmens werde ich dann im vierten Abschnitt der Einleitung die Fragestellung der vorliegenden Studie präzisieren und ihren Aufbau erläutern. Im fünften und letzten Abschnitt schließlich werde ich auf eine Reihe von methodischen Fragen eingehen.

2 Systematischer Hintergrund: Drei Strategien im Umgang mit Modalität Die Metaphysik der Modalität versucht, die Frage zu beantworten, was modale Wahrheiten wahr macht. Auf was beziehen wir uns, wenn wir modales Vokabular verwenden? Wie bereits deutlich geworden ist, wird dieses Projekt dadurch erschwert, dass es sich bei Modalität um ein außerordentlich schwer fassbares Phänomen handelt. Ich kann sehen, dass alle farbigen Dinge, die mir bisher unter die Augen gekommen sind, ausgedehnt sind. Den Umstand, dass alle farbigen Dinge notwendigerweise ausgedehnt sind, kann ich hingegen nicht sehen noch sonst irgendwie wahrnehmen.⁶ Modale Begriffe scheinen sich somit unserem Zugriff gewissermaßen zu entziehen. Man könnte diese Situation mit derjenigen vergleichen, in der wir uns laut Hume im Falle der Kausalität befinden. Ich kann sowohl das erste Ereignis (die „Ursache“) als auch das darauf folgende zweite Ereignis (die „Wirkung“) sehen. Die Kausalität, die die beiden Ereignisse (mutmaßlich) miteinander verknüpft, ist hingegen nicht sichtbar.⁷ Ganz ähnlich verhält es sich beim Thema der Modalität: Sie scheint uns bei genauerer Betrachtung gleichsam zwischen den Fingern hindurchzugleiten. In diesem Abschnitt werde ich drei unterschiedliche Arten, mit Modalität umzugehen, thematisieren: (i)

 Dieses Beispiel führt Sider , S.  an.  Siehe für diesen Vergleich ebenfalls Sider , S. . Tatsächlich ist die Parallele zwischen Modalität und Kausalität mehr als nur ein Vergleich. Fasst man Kausalität als notwendige Verknüpfung auf, wie die meisten Denker vor Hume und viele nach ihm, dann ist Kausalität selbst ein modales Phänomen.

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Einleitung

skeptische bzw. eliminativistische Ansätze, (ii) reduktionistische Theorien und (iii) nicht-reduktionistische Theorien. Aufgrund des schwer zu fassenden Charakters von Modalität ist es nicht überraschend, dass einige Philosophen daran gezweifelt haben, dass Modalität mehr als ein rein sprachliches Phänomen ist. Diese skeptische Haltung (die wiederum mit Humes Position bezüglich Kausalität vergleichbar ist) wurde besonders deutlich von Quine zum Ausdruck gebracht. Er schreibt: „[N]ecessity resides in the way in which we say things, and not in the things we talk about.“⁸ Laut Quine gibt es Modalität also gar nicht unabhängig davon, wie wir auf die Dinge in der Welt sprachlich Bezug nehmen – Modalität ist für ihn kein objektiver Bestandteil der Realität. Dadurch wird aber auch fraglich, ob modale Aussagen überhaupt objektiv wahr oder falsch sein können.⁹ Der Hauptgrund für Quines modalitätskritische Haltung ist sein Extensionalismus. Quine erkennt nur solche Entitäten an, die sich mit rein extensionalem Vokabular beschreiben lassen – mit Vokabular also, bei dem sich koreferentielle Ausdrücke in einem Satz austauschen lassen, ohne dass sich der Wahrheitswert dieses Satzes ändert. Modale Ausdrücke eröffnen aber, wie sich leicht zeigen lässt, intensionale Kontexte. So kann man in der Aussage (8) Es gilt notwendigerweise, dass 9 größer als 7 ist den Ausdruck „9“ nicht einfach durch einen koreferentiellen Ausdruck ersetzen, ohne dass sich der Wahrheitswert des gesamten Satzes ändert.¹⁰ Ersetzt man „9“ z. B. durch „die Zahl der Planeten“, und setzt man ferner voraus, dass (9) 9 = die Zahl der Planeten gilt, folgt dennoch nicht: (10) Es gilt notwendigerweise, dass die Zahl der Planeten größer als 7 ist. Satz (10) ist offensichtlich falsch, da es schließlich durchaus möglich gewesen wäre, dass es z. B. nur vier Planeten gibt. Dieses Beispiel zeigt, dass modale Ausdrücke intensionale Kontexte eröffnen. Damit wird Modalität für Quine aber problematisch, weil sie sich nicht ohne

 Quine , S. .  Vgl. für diesen Punkt Menzel , Abs. ...  Dieses Beispiel geht auf Quine , S.  –  zurück.

2 Systematischer Hintergrund: Drei Strategien im Umgang mit Modalität

7

weiteres in sein extensionales Weltbild integrieren lässt. Unabhängig von unserer Bezugnahme auf Objekte ist es ihm zufolge deshalb schlicht sinnlos, diesen Objekten modale Eigenschaften zuzuschreiben: „Being necessarily or possibly thus and so is in general not a trait of the object concerned, but depends on the manner of referring to the object.“¹¹ Wenn wir in unseren Sätzen modales Vokabular verwenden, treffen wir Quine zufolge also keine Aussagen über die objektive Realität. Er lehnt somit das Projekt einer Metaphysik der Modalität von vornherein ab und verfolgt eine Strategie, die man als skeptisch oder eliminativistisch bezeichnen könnte. Eine weniger radikale Reaktion auf die prima facie mysteriöse Natur von Modalität ist der Versuch, modale Fakten auf etwas Nicht-Modales zu reduzieren. Diesem Modell zufolge beziehen sich Sätze, die modales Vokabular enthalten, sehr wohl auf die objektive Realität. Allerdings ist Modalität kein irreduzibles Phänomen, sondern kann auf etwas rein extensional Beschreibbares zurückgeführt werden. Unterschiedliche reduktionistische Theorien sind seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts weit verbreitet und erfreuen sich auch heute noch großer Beliebtheit.¹² Das bekannteste Beispiel für eine reduktionistische Metaphysik der Modalität ist David Lewis’ modaler Realismus. ¹³ Wie viele andere Philosophen auch, geht Lewis davon aus, dass es neben der wirklichen Welt noch viele andere mögliche Welten gibt und dass sich die Modalitäten der Möglichkeit und Notwendigkeit mithilfe dieser möglichen Welten definieren lassen. Demnach ist p genau dann notwendig, wenn p in allen möglichen Welten wahr ist, und q ist genau dann möglich, wenn q in einigen möglichen Welten wahr ist. Außergewöhnlich ist jedoch Lewis’ These, dass diese Welten alle existieren, und zwar auf genauso reale und konkrete Weise wie die wirkliche Welt. Diese These hat zweifellos den Nachteil, dass sie schlicht unglaublich klingt. Wäre sie wahr, dann würden sprechende Ziegen, fliegende Schweine, diamantene Planeten, von Schlümpfen bewohnte Inseln und vieles mehr existieren, von dem wir normalerweise nicht glauben, dass es existiert. Der große Vorteil von Lewis’ modalem Realismus ist jedoch, dass seine möglichen Welten eine Reduktion von Modalem auf NichtModales erlauben. Ein Beispiel für ein solche Reduktion lässt sich leicht geben: Die modale Aussage, dass ich auch Arzt hätte werden können, ist deshalb wahr, weil es eine real existierende, mögliche Welt gibt, in der eine Person, die mir in

 Quine , S. .  Einen hervorragenden Überblick über reduktionistische Theorien der Modalität gibt Sider .  Die ausführlichste Darstellung dieser Theorie findet sich in Lewis .

8

Einleitung

vielen Hinsichten gleicht – ein sogenannter counterpart von mir – tatsächlich Arzt ist.¹⁴ Dies ist nicht der Ort, um Lewis’ These des modalen Realismus im Detail zu diskutieren. Ich möchte anhand dieses Beispiels jedoch auf ein Problem aufmerksam machen, mit dem letztlich alle Versuche, Modales auf Nicht-Modales zu reduzieren, konfrontiert sind. Lewis’ counterpart-Theorie zufolge ist die Aussage, dass ich hätte Arzt werden können, wahr, weil in einer anderen möglichen Welt ein counterpart von mir existiert, der Arzt ist. Hier könnte man jedoch fragen, warum mir die modale Eigenschaft, Arzt sein zu können, zukommen soll, nur weil eine ganz andere Person existiert, die tatsächlich Arzt ist.Was hat das eine mit dem anderen zu tun? Wenn wir Aussagen darüber machen, was ich hätte tun können, sprechen wir schließlich über mich und nicht über irgendwelche anderen Personen.¹⁵ Allgemein könnte man fragen, wie Lewis’ vollständig nicht-modales Pluriversum dem Phänomen der Modalität gerecht werden und dieses fundieren kann. Bei Lewis’ ‚Reduktion‘ von Modalität scheint nämlich einfach alles Modale zu verschwinden – damit entsteht aber der Eindruck, dass es sich (wie bei Quine) eher um eine Elimination als um eine Reduktion von Modalität handelt. Dies ist offenbar kein spezielles Problem von Lewis’ Theorie, sondern betrifft jedes reduktionistische Modell von Modalität. Es scheint ein grundsätzliches Problem solcher Theorien zu sein, dass nicht klar ist, wie es überhaupt möglich ist, den Bereich des Modalen in etwas Nicht-Modalem zu fundieren bzw. Modales auf der Basis von Nicht-Modalem zu erklären. Seit etwa zwei Jahrzehnten gibt es deshalb eine wachsende Zahl von Philosophinnen und Philosophen, die grundsätzlich in Frage stellen, ob eine solche Reduktion überhaupt angestrebt werden sollte. Sie schlagen stattdessen nichtreduktionistische Theorien der Modalität vor. Ziel solcher Theorien ist nicht, Modales mithilfe von etwas Nicht-Modalem zu erklären; vielmehr soll nach Erklärungen gesucht werden, die sich innerhalb des Bereichs des Modalen bewegen. Ein Teilbereich des Modalen soll mit einem anderen Teilbereich erklärt werden. So hält etwa Robert Stalnaker fest: „[M]odal notions are basic notions, like truth and existence, which can be eliminated only at the cost of distorting them. One clarifies

 Für eine genaue Diskussion der counterpart-Theorie, siehe Lewis , S.  – . Im Kern behält Lewis mit seinem modalen Realismus Quines Extensionalismus bei. Er weitet den Bereich dessen, was es gibt, allerdings gewaltig, und in einer für Quine inakzeptablen Weise, aus.  Auf dieses Problem macht bereits Kripke , S.  aufmerksam: „[I]f we say ‚Humphrey might have won the election (if only he had done such-and-such)‘, we are not talking about something that might have happened to Humphrey, but to someone else, a ‚counterpart‘. Probably, however, Humphrey could not care less whether someone else, no matter how much resembling him, would have been victorious in another possible world.“

2 Systematischer Hintergrund: Drei Strategien im Umgang mit Modalität

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such notions, not by reducing them to something else, but by developing one’s theory in terms of them.“¹⁶ Wie genau sind diese nicht-reduktionistischen Theorien der Modalität zu verstehen? Auch hier bietet es sich an, die Strategie solcher Ansätze anhand eines Beispiels zu illustrieren.¹⁷ Kit Fine hat in einem sehr einflussreichen Aufsatz die Feststellung gemacht, dass sich der Begriff der Essenz nicht angemessen durch den Begriff der Notwendigkeit definieren lässt.¹⁸ Gemäß einer (zumindest damals) verbreiteten Definition ist eine essentielle Eigenschaft eines Dinges x eine Eigenschaft, die x notwendigerweise besitzt (vorausgesetzt, dass x existiert). Diese Definition wird jedoch Fine zufolge dem Begriff der Essenz nicht gerecht. So gehen wir normalerweise davon aus, dass Sokrates zwar notwendigerweise Mitglied der Einermenge {Sokrates} ist, nicht aber davon, dass es zu Sokrates’ Essenz oder Natur gehört, Mitglied dieser Einermenge zu sein. Damit scheint Fine ein Beispiel gefunden zu haben, in dem ein Ding x eine Eigenschaft zwar notwendigerweise aber nicht essentiellerweise besitzt, woraus er den Schluss zieht, dass der Essenzbegriff nicht auf den Begriff der Notwendigkeit reduziert werden kann. Fine schlägt deshalb vor genau andersherum vorzugehen und die Erklärungsrichtung zu vertauschen. Ihm zufolge ist der Begriff der Essenz ein primitiver, nicht weiter reduzierbarer Begriff. Der Begriff der Notwendigkeit aber kann mit Hilfe des Begriffs der Essenz (bzw. des Begriffs der Natur) definiert werden: [E]ach class of objects, be they concepts or individuals or entities of some other kind, will give rise to its own domain of necessary truths, the truths which flow from the nature of the objects in question. The metaphysically necessary truths can then be identified with the propositions which are true in virtue of the nature of all objects whatever.¹⁹

Der Umstand, dass Sokrates notwendigerweise ein Mitglied der Einermenge {Sokrates} ist, wird z. B. dadurch erklärt, dass es zur Essenz dieser Menge gehört, Sokrates zu enthalten – die Notwendigkeit folgt aber nicht aus der Essenz von Sokrates.²⁰ Verallgemeinert könnte man sagen, dass sich laut Fine die globalen Modalitäten der Möglichkeit und Notwendigkeit auf lokale Modalitäten wie Essenzen zurückführen lassen.²¹

 Stalnaker , S. .  Für einen hervorragenden Überblick über nicht-reduktionistische Theorien der Modalität, siehe Vetter .  Siehe hierfür und für das Folgende Fine . Siehe auch Fine .  Fine , S.   Vgl. für diesen Punkt Vetter , S. .  Für die Unterscheidung zwischen lokalen und globalen Modalitäten, siehe Vetter (im Ersch.).

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Einleitung

Nicht-reduktionistische Theorien der Modalität versuchen also gar nicht erst, Modales auf Nicht-Modales zu reduzieren, sondern nehmen an, dass sich bestimmte Modalitäten – etwa Möglichkeit und Notwendigkeit – mit Hilfe anderer modaler Begriffe – etwa dem Begriff der Essenz – erklären lassen. Der Vorteil solcher Ansätze ist, dass ihnen zufolge die Wahrmacher modaler Aussagen wirklich existierende Entitäten sind. Man muss weder dubiose, rein mögliche Dinge annehmen, noch verpflichtet man sich auf die absurde Annahme einer Vielzahl konkreter, real existierender Welten. Die Aussage, dass Sokrates ein Mensch ist, ist z. B. einfach deshalb notwendig, weil es zur Natur bzw. Essenz von Sokrates gehört, ein Mensch zu sein. Doch auch nicht-reduktionistische Theorien der Modalität sind mit Problemen konfrontiert. So muss Fine etwa deutlich machen, was er überhaupt genau unter Essenzen versteht. Handelt es sich dabei um bestimmte Eigenschaften von Dingen, um abstrakte Entitäten oder um etwas ganz anderes? Solange diese Frage nicht beantwortet ist, bleibt auch unklar, worin genau Modalitäten wie Notwendigkeit begründet werden. In diesem Abschnitt ist deutlich geworden, dass es grundsätzlich drei Weisen gibt, mit dem prima facie mysteriösen Phänomen der Modalität umzugehen: (i) den Eliminativismus bzw. Skeptizismus, (ii) reduktionistische Theorien und (iii) nicht-reduktionistische Theorien. Der Eliminativismus leugnet, dass unsere modalen Aussagen überhaupt Wahrmacher haben, der Reduktionismus geht davon aus, dass es solche Wahrmacher zwar gibt, dass sie sich aber letztlich mit nicht-modalem Vokabular beschreiben lassen, und nicht-reduktionistischen Theorien zufolge gibt es etwas, das irreduzibel modal ist. Diese Einteilung wird bei der Rekonstruktion von Leibniz’ Metaphysik der Modalität hilfreich sein. Wie wir sehen werden, gibt es Kommentatoren, die Leibniz ein reduktionistisches Modell zuschreiben. Ich glaube allerdings, dass dieser Ansatz auf einem falschen Verständnis seiner Theorie beruht und dass er vielmehr eine nicht-reduktionistische Strategie verfolgt, die einigen zeitgenössischen Ansätzen (wie etwa demjenigen Fines) in mancher Hinsicht gar nicht unähnlich ist. Bevor wir solche Fragen mit Blick auf Leibniz aber überhaupt angemessen formulieren können, müssen wir uns zunächst klar machen, von welchen Voraussetzungen Leibniz ausgeht.

3 Frühneuzeitlicher Hintergrund und Leibniz’ philosophische Grundannahmen Der frühneuzeitliche Rationalismus vor Leibniz ist von zwei extremen Theorien der Modalität geprägt, die gegensätzlicher kaum sein könnten: von Descartes’ modalem Voluntarismus einerseits und von Spinozas Nezessitarismus andererseits.

3 Frühneuzeitlicher Hintergrund und Leibniz’ philosophische Grundannahmen

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Da sich Leibniz’ Ansichten zur Modalität in enger Auseinandersetzung mit diesen beiden Theorien entwickelt haben, sollten wir uns einen kurzen Überblick über sie verschaffen. (Tatsächlich ist insbesondere Spinozas Nezessitarismus so zentral für das Verständnis von Leibniz’ Metaphysik der Modalität, dass ich ihm ein eigenes Kapitel widmen werde.) Descartes geht davon aus, dass die Wahrmacher modaler Wahrheiten Essenzen sind. So hat z. B. ein Dreieck notwendigerweise eine Innenwinkelsumme von 180 Grad, weil dies aus der Essenz des Dreiecks folgt.²² Wie wir sehen werden, stimmt Leibniz soweit überein, und das ist auch gar nicht überraschend, da die Strategie, Modalität auf Essenzen zurückzuführen, im 17. Jahrhundert weit verbreitet war. Ungewöhnlich ist jedoch Descartes’ weitere Behauptung, dass Gott die Essenzen willentlich und wirkursächlich hervorbringt.²³ Dies ist die These des modalen Voluntarismus: Gott hat frei entschieden, diese Essenzen anstatt anderer Essenzen zu erschaffen. Was möglich und was notwendig ist, hängt für Descartes also letztlich von Gottes Willen ab.²⁴ Spinoza hingegen nimmt eine ganz andere Position ein. Zwar geht auch er davon aus, dass Essenzen die Wahrmacher modaler Wahrheiten sind. Gleichzeitig vertritt er aber zwei Thesen, die in scharfem Kontrast zu Descartes stehen. So behauptet Spinoza erstens, dass alle Essenzen aktualisiert sind – ihm zufolge gibt es also keine nicht-realisierten possibilia; alles Mögliche ist auch wirklich. Zweitens glaubt Spinoza, dass alle Wahrheiten notwendige Wahrheiten sind – er leugnet also, dass es irgendetwas Kontingentes gibt; für Spinoza existiert unsere Welt mit absoluter metaphysischer Notwendigkeit. Häufig werden diese beiden Thesen nicht ausdrücklich voneinander getrennt; stattdessen wird einfach von Spinozas Nezessitarismus gesprochen. Für diese Arbeit ist es aus methodischen Gründen jedoch sinnvoll, genau zwischen beiden Behauptungen zu unterscheiden, da Leibniz dies (wenigstens implizit) ebenfalls tut. Leibniz’ Metaphysik der Modalität bewegt sich im Spannungsfeld der Theorien Descartes’ und Spinozas. Um seine Position angemessen rekonstruieren zu können, müssen wir uns jedoch zunächst über einige Voraussetzungen,von denen er ausgeht, im Klaren sein. Es ist deshalb sinnvoll, kurz auf die folgenden sechs philosophischen Grundannahmen einzugehen, die Leibniz trifft: (i) Theismus, (ii) explanatorischer Rationalismus, (iii) Optimismus, (iv) Essentialismus, (v) Nominalismus und (vi) Aktualismus. Diese Thesen stecken den Rahmen ab, inner-

 Siehe für dieses Beispiel AT VII, .  Siehe etwa AT I,  – .  Für eine ausführliche Diskussion des cartesischen modalen Voluntarismus, siehe Abschnitt ..

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Einleitung

halb dessen Leibniz seine Metaphysik der Modalität entwickelt. Ich werde sie nun kurz der Reihe nach erläutern.

(i) Theismus Nahezu selbstverständlich, aber dennoch zentral, ist der Umstand, dass Leibniz’ Metaphysik der Modalität mit den Anforderungen seines Theismus kompatibel sein muss. Für Leibniz ist klar, dass ein persönlicher Gott, der außerhalb der Welt steht, die Welt erschaffen hat.²⁵ Er ist also den christlichen Lehren der Transzendenz Gottes und des Kreationismus verpflichtet. Damit geht nicht nur einher, dass Leibniz’ Theorie der Modalität Raum für einen persönlichen Gott lassen muss; Gott muss auch eine herausgehobene explanatorische Stellung innerhalb dieser Theorie einnehmen. Alles muss auf irgendeine Weise von Gott abhängen und mit Bezug auf Gott erklärt werden – damit also auch die Wahrmacher modaler Wahrheiten.²⁶ Leibniz’ Theismus beinhaltet also nicht nur die These, dass es einen transzendenten und persönlichen Gott gibt, sondern er besagt auch, dass Gott eine bestimmte Stellung innerhalb seiner Gesamttheorie – und damit auch im Rahmen seiner Metaphysik der Modalität – einnimmt. Wie bei vielen anderen frühneuzeitlichen Philosophen auch, ist Gott für Leibniz also so etwas wie der Dreh- und Angelpunkt der gesamten Theorie.

(ii) Explanatorischer Rationalismus Leibniz vertritt eine Reihe von Positionen, die gemeinhin als rationalistisch gelten. So behauptet er z. B., dass wir über eingeborene Ideen verfügen, und er schreibt dem Intellekt eine herausragende Rolle bei Erkenntnisprozessen zu.²⁷ Für den Kontext dieser Arbeit besonders wichtig ist jedoch der sogenannte explanatorische Rationalismus. Darunter verstehe ich in Anschluss an Jonathan Bennett die These, dass es keine prinzipiell unerklärbaren Fakten gibt.²⁸ Dies ist nichts anderes als das Prinzip des zureichenden Grundes, dem sowohl Spinoza als auch Leibniz verpflichtet sind. In den Prinzipien der Natur und Gnade formuliert Leibniz dieses

 Dass Gott außerhalb der Welt steht, betont Leibniz in Grua . Der Kreationismus kommt z. B. in G VII,  besonders deutlich zum Ausdruck.  Darauf, dass alles von Gott abhängen muss, weist insbesondere Newlands  hin.  Für einen hervorragenden Überblick über verschiedene Arten des Empirismus, damit indirekt aber auch des Rationalismus, siehe Garrett , S.  – .  Vgl. Bennett , S. , wo er den Begriff „explanatory rationalism“ einführt.

3 Frühneuzeitlicher Hintergrund und Leibniz’ philosophische Grundannahmen

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Prinzip wie folgt: „[N]ichts geschieht, ohne dass es dem, der die Dinge genügend kennt, möglich wäre, einen Grund anzugeben, der zureicht um zu bestimmen, warum es so und nicht anders ist.“²⁹ Diesem Prinzip zufolge gibt es auf jede Warum-Frage wenigstens prinzipiell eine nicht-triviale Antwort, und auch wenn wir diese Antwort nicht in jedem Fall kennen, können wir sicher sein, dass die Welt vollkommen verständlich und auf rational nachvollziehbare Weise strukturiert ist. In der Monadologie hält Leibniz fest, dass das Prinzip des zureichenden Grundes eines seiner beiden Grundprinzipien ist (das andere Prinzip ist das Prinzip des ausgeschlossenen Widerspruchs).³⁰ Damit ist klar, dass es für sein System eine große Bedeutung hat, und wir werden sehen, dass sich dies auch in seiner Metaphysik der Modalität bemerkbar macht. Viele Philosophen lehnen den explanatorischen Rationalismus als zu anspruchsvoll ab. David Hume z. B. akzeptiert, dass Erklärungen einfach irgendwann ein Ende finden,³¹ aber auch Descartes scheint davon auszugehen, dass Gott einige Entscheidungen willkürlich trifft, ohne dass es dafür einen Grund gäbe (das ist bereits bei der kurzen Darstellung seines modalen Voluntarismus deutlich geworden).³² Tatsächlich werden wir sehen, dass der explanatorische Rationalismus einige recht schwer verdauliche metaphysische Konsequenzen zu haben scheint (die Leibniz allerdings bereit ist, in Kauf zu nehmen).³³ Andererseits hat das Prinzip des zureichenden Grundes zweifellos einen gewissen philosophischen Charme.Wenn es zutrifft, kann nicht einfach an irgendeiner Stelle auf nicht weiter erklärbare Fakten verwiesen werden, die man ohne weitere Begründung zu akzeptieren gezwungen ist. Stattdessen werden umfassende Erklärungen angestrebt, in denen keine unerklärten Erklärer auftreten. Der explanatorische Rationalismus hat Konsequenzen für Leibniz’ Metaphysik der Modalität. Wird er vorausgesetzt, ist es z. B. nicht möglich, dass es überhaupt keinen Grund dafür gibt, warum modale Wahrheiten wahr sind – wie alle Wahrheiten verlangen dann auch modale Wahrheiten nach einer Erklärung. Dies macht deutlich, dass es einen engen Zusammenhang zwischen dem Prinzip des zureichenden Grundes und dem Wahrmacher-Prinzip gibt, das wir bereits weiter  PNG §/Holz Bd. , : „[…] rien n’arrive, sans qu’il seroit possible à celuy qui connoitroit assés les choses, de rendre une Raison qui suffise pour determiner, pourquoy il en est ainsi, et non pas autrement.“ In Kapitel  werde ich mich ausführlich mit dem Prinzip des zureichenden Grundes und insbesondere mit seinem modalen Status beschäftigen (siehe vor allem Abschnitte . – .).  Vgl. Monadologie §§  – .  Siehe für diesen Punkt Garrett , S.  – .  Für ein ausführliches Argument dafür, dass Descartes’ Gott willkürliche Entscheidungen trifft, siehe Abschnitt ..  Für die Details siehe Kapitel .

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Einleitung

oben kennengelernt haben: Wenn es einen Grund für jede Wahrheit geben muss, dann muss es etwas geben, das diese Wahrheit wahr macht. ³⁴ Aufgrund seines explanatorischen Rationalismus muss Leibniz also eine Erklärung dafür geben, warum modale Wahrheiten wahr sind. Wie wir im Laufe der Arbeit sehen werden, kommt der explanatorische Rationalismus jedoch auch an vielen anderen Stellen zum Einsatz.³⁵

(iii) Optimismus Eine weitere für Leibniz’ Philosophie charakteristische These ist sein Optimismus. Leibniz geht davon aus, dass unsere Welt – die wirkliche Welt – die beste aller möglichen Welten ist. Dies wirkt auf den ersten Blick nicht sonderlich plausibel. Wie kann diese Welt, mit all ihren Naturkatastrophen, Kriegen und Genoziden, die beste aller möglichen Welten sein? Aufgrund der beiden eben betrachteten Thesen steht Leibniz jedoch ein recht einfaches Argument zur Verfügung: Da Gott stets nach den besten Gründen handelt (Theismus + explanatorischer Rationalismus), hat er aufgrund seiner Allgüte, seiner Allmacht und seines Allwissens das bestmögliche Universum erschaffen. Dieses Argument stellt Leibniz ausführlich in der Theodizee dar, es zieht sich aber durch sein gesamtes Werk. Man könnte dieses Argument natürlich anzweifeln, indem man den Theismus in Frage stellt, und man könnte sogar genau umgekehrt argumentieren, dass die Existenz des Übels in unserer Welt gerade zeigt, dass Gott nicht existiert. Eine solche Entgegnung wäre für Leibniz jedoch inakzeptabel, da er den Theismus für eine bewiesene Tatsache hält, die sich gar nicht vernünftigerweise anzweifeln lässt. Ob Leibniz übrigens glaubt, dass die beste aller möglichen Welten notwendigerweise existiert, oder ob es sich dabei nur um ein kontingentes Faktum handelt, ist eine schwierige Frage, die ich im letzten Kapitel dieser Arbeit diskutieren werde. Neben dem metaphysischen Optimismus vertritt Leibniz auch noch eine Variante eines epistemischen Optimismus. Er glaubt, dass unserem Intellekt die Welt wenigstens im Prinzip vollständig zugänglich ist. Darin unterscheidet er sich von Philosophen wie etwa Locke, Hume oder Kant, die glauben, dass unseren Erkenntnisvermögen ganz prinzipielle Grenzen gesetzt sind (Kant etwa vertritt

 Auf diesen Zusammenhang zwischen dem Prinzip des zureichenden Grundes und dem Wahrmacher-Prinzip weist z. B. Simons , S.  hin.  Im Schlusskapitel wird es um den Status des explanatorischen Rationalismus selbst gehen. Die Frage dort wird sein, ob Leibniz glaubt, dass das Prinzip des zureichenden Grundes notwendigerweise gilt, oder ob es sich für ihn nur um ein kontingentes Prinzip handelt.

3 Frühneuzeitlicher Hintergrund und Leibniz’ philosophische Grundannahmen

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prominenterweise die These, dass wir die sogenannten „Dinge an sich“ grundsätzlich nicht erkennen können).

(iv) Essentialismus Es ist bereits weiter oben deutlich geworden, dass Essenzen für die frühneuzeitlichen Rationalisten eine wichtige Rolle spielen. Leibniz ist in dieser Hinsicht keine Ausnahme. Er geht davon aus, dass Essenzen – alternativ spricht er auch von Naturen, possibilia, Ideen oder Begriffen ³⁶ – die Wahrmacher für modale Wahrheiten sind. So schreibt er z. B.: „Notwendige Wahrheiten folgen aus Naturen.“³⁷ Ähnlich wie bei Descartes wird also auch für Leibniz der Umstand, dass ein Dreieck notwendigerweise eine Innenwinkelsumme von 180 Grad hat, dadurch erklärt, dass dies aus der Natur bzw. Essenz des Dreiecks folgt. Unsere Aufgabe wird unter anderem darin bestehen herauszufinden, was diese Essenzen überhaupt genau sind und wie sie die Modalitäten der Möglichkeit und Notwendigkeit fundieren. Im systematischen Teil dieser Einleitung habe ich eine Theorie der Modalität diskutiert, die ebenfalls häufig als essentialistisch bezeichnet wird: diejenige Kit Fines’.³⁸ Bei seiner Theorie handelt es sich um eine nicht-reduktionistische Theorie der Modalität. Bedeutet dies, dass Leibniz, der ebenfalls glaubt, dass Essenzen die Wahrmacher modaler Wahrheiten sind, eine nicht-reduktionistische Strategie verfolgt? Ich glaube zwar, dass dies tatsächlich zutrifft, dass wir dies an dieser Stelle aber noch nicht entscheiden können. Es könnte schließlich sein, dass Essenzen nicht den letzten Schritt in Leibniz’ Analyse darstellen und dass sie noch auf etwas Nicht-Modales reduziert werden können. In diesem Fall würde Leibniz eine reduktionistische Theorie der Modalität vertreten.

(v) Nominalismus Der Ausdruck „Nominalismus“ wird in der zeitgenössischen Metaphysik auf zwei unterschiedliche Weisen verwendet: Einerseits wird darunter die Ablehnung abstrakter Objekte verstanden, andererseits die Ablehnung von Universalien.³⁹

 Vgl. etwa AA ., ; AA ., ; AA ., .  AA ., : „Veritates necessariae consequuntur ex naturis.“  Vetter  etwa charakterisiert Fines’ Theorie sowie auch Theorien, die dieser ähnlich sind, als essentialistisch.  Vgl. Rodriguez-Pereyra a.

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Einleitung

Leibniz vertritt beide Thesen, er ist also sowohl im ersten als auch im zweiten Sinne Nominalist. Mir kommt es hier jedoch vor allem auf die erste These an, also darauf, dass Leibniz die Existenz abstrakter Entitäten ablehnt. Er geht davon aus, dass es nur konkrete Dinge gibt, was im Kontext seiner Metaphysik bedeutet, dass es nichts als individuelle Substanzen gibt: „Es reicht aus, lediglich Substanzen als Dinge (res) anzunehmen und nur über diese Wahrheiten zu behaupten.“⁴⁰ Zugleich hält Leibniz fest, dass er abstracta nicht als Dinge (res) betrachtet – sie haben in seiner Ontologie also keinen Platz und sind lediglich „compendia loquendi“.⁴¹ Leibniz’ nominalistische Position wirkt sich natürlich auch auf seine Metaphysik der Modalität aus. Die Wahrmacher modaler Wahrheiten – die Essenzen oder Naturen – können keine abstrakten Objekte sein. Modalität muss somit in etwas Konkretem fundiert sein.

(vi) Aktualismus Eine Aktualistin vertritt die These, dass alles, was es gibt, wirklich existiert.⁴² Auf den ersten Blick scheint diese Behauptung trivialerweise wahr zu sein.Wie könnte es etwas geben, das nicht wirklich existiert? Dennoch gehen einige Philosophen davon aus, dass es bloß mögliche Objekte gibt, die zwar nicht wirklich sind, die aber dennoch existieren. Und tatsächlich wirkt eine solche Position auf den zweiten Blick gar nicht so abwegig. Schließlich quantifizieren wir häufig über bloß mögliche, nicht-wirkliche Objekte, und wenn man voraussetzt, dass es alles, worüber wir quantifizieren, in irgendeinem Sinne geben muss, dann scheint daraus zu folgen, dass es mögliche Objekte gibt, die nicht Teil der Wirklichkeit sind. Diese Position wird als Possibilismus bezeichnet.⁴³ Aktualistinnen hingegen sind bestrebt, unsere modalen Aussagen, mit denen wir uns scheinbar auf die Existenz nicht-wirklicher Dinge verpflichten, so zu analysieren, dass wir ohne irgendwelche geheimnisvollen nicht-wirklichen Entitäten auskommen. Leibniz vertritt zweifellos eine aktualistische Position. Er glaubt, dass es nur Gott und die von ihm erschaffene Welt gibt und sonst nichts. Er schreibt: „Eine andere Gattung der existierenden Dinge einzuführen, und gleichsam eine andere Welt, die auch unendlich ist, kommt einem Missbrauch des Ausdrucks ‚Existenz‘

   

AA ., : „Sufficit solas substantias tanquam res poni, et de ipsis enuntiari veritates.“ AA ., . Für eine konzise und sehr ausführliche Diskussion des Aktualismus, siehe Menzel . Für eine Darstellung des Possibilismus, siehe ebenfalls Menzel .

4 Fragestellung und Aufbau der Untersuchung

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gleich.“⁴⁴ Wenn Leibniz von possibilia und von möglichen Welten spricht, müssen wir also stets bedenken, dass wir dafür eine aktualistisch akzeptable Interpretation geben müssen. Wir dürfen nicht davon ausgehen, dass er neben den wirklich existierenden Substanzen noch eine dubiose Klasse rein möglicher Dinge annimmt, die gleichsam auf weniger robuste Weise existieren. Die sechs genannten Thesen – (i) Theismus, (ii) explanatorischer Rationalismus, (iii) Optimismus, (iv) Essentialismus, (v) Nominalismus und (vi) Aktualismus – bilden gemeinsam die Grundlage für Leibniz’ Metaphysik der Modalität. Ich erhebe keineswegs den Anspruch, hier einen Überblick über Leibniz’ gesamtes philosophisches System geboten zu haben – dazu müsste man auf viele weitere Themen, wie z. B. die prästabilierte Harmonie, Leibniz’ Theorie der Monaden, sein Verständnis von Perzeption usw. eingehen. Mein Ziel war lediglich, einen Überblick über diejenigen Leibniz’schen Grundthesen zu geben, die für eine Analyse seiner Metaphysik der Modalität unmittelbar relevant sind. Allerdings dürfen wir nicht vergessen, dass diese sechs Thesen für Leibniz nicht einfach lose nebeneinander stehen, sondern dass sie in einem philosophischen System miteinander verknüpft sind (zu dem natürlich noch vieles andere gehört). Ich kann auf die komplizierten Zusammenhänge, die zwischen den einzelnen Annahmen bestehen, hier nicht im Detail eingehen. Klar ist jedoch, dass die beiden ersten Thesen, der Theismus und der explanatorische Rationalismus, im Zentrum von Leibniz’ System stehen und eng aufeinander bezogen sind. Man könnte auch von einem rationalistischen Theismus sprechen, worunter einerseits Leibniz’ These zu verstehen ist, dass Gott für alles, was er tut, einen hinreichenden Grund hat, andererseits aber auch die umgekehrte These, dass alles in der Welt mit Bezug auf Gott erklärt werden kann. Diese beiden Annahmen strukturieren große Teile von Leibniz’ Philosophie und spielen auch für seine Theorie der Modalität eine entscheidende Rolle.

4 Fragestellung und Aufbau der Untersuchung Thema dieses Buches ist Leibniz’ Metaphysik der Modalität. Es soll also nicht um die Frage gehen, wie Leibniz Möglichkeit, Notwendigkeit und Kontingenz analy-

 AA ., : „Introducere aliud genus rerum existentium, aliumque velut Mundum etiam infinitum. Est abuti existentiae nomine […].“ Siehe für Leibniz’ Aktualismus sehr konzise Ishiguro , S.  – .

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siert, sondern darum, welche Entitäten modale Wahrheiten fundieren. ⁴⁵ Die vorliegende Untersuchung beschäftigt sich demzufolge z. B. nicht vorrangig mit der berühmten Theorie der unendlichen Analyse, mit der Leibniz insbesondere in den 1680ern Jahren versuchte, Kontingenz zu erklären. Stattdessen werden metaphysische Fragen im Vordergrund stehen. Ausgangsfrage ist dabei, was für Leibniz die Wahrmacher modaler Wahrheiten sind. Aufgrund des letzten Abschnitts sind wir bereits in der Lage, darauf eine vorläufige Antwort zu geben: Für Leibniz sind Essenzen die primären Wahrmacher aller modalen Wahrheiten. Aber was sind diese Essenzen? Auch darauf hat Leibniz eine auf den ersten Blick einfache Antwort. In der Monadologie schreibt er: Es ist auch wahr, dass in Gott nicht allein die Quelle der Existenzen, sondern auch die der Essenzen liegt, insofern sie real sind, oder auch dessen, was es an Realem in der Möglichkeit gibt. Denn der Verstand Gottes ist der Bereich der ewigen Wahrheiten oder der Ideen, von denen diese abhängen, und ohne ihn gäbe es nichts Reales in den Möglichkeiten und nicht nur nichts Existierendes, sondern auch nichts Mögliches.⁴⁶

Für Leibniz sind Essenzen, und damit die Wahrmacher modaler Wahrheiten, also offenbar nichts anderes als Ideen in Gottes Intellekt. Diese auf den ersten Blick einfache Theorie wirft bei genauerer Betrachtung eine ganze Reihe von Fragen auf: Wie genau fundieren Ideen in Gottes Intellekt modale Wahrheiten? Was genau sind diese Ideen, und was ist ihre Struktur? Und worin sind wiederum Gottes Ideen fundiert? Darüber hinaus ergeben sich einige speziellere Fragen, die mit den Eigenheiten von Leibniz’ Theorie zusammenhängen. So spricht Leibniz sowohl von den Essenzen von Einzeldingen (d. h. von Essenzen oder Ideen individueller Substanzen) als auch von möglichen Welten. Aber wie verhalten sich mögliche Individuen und mögliche Welten zueinander? Darüber hinaus stellt Leibniz die Behauptung auf, dass nicht alles, was möglich ist, auch kompossibel miteinander ist – nicht alles Mögliche kann also zugleich von Gott erschaffen werden. Aber woran liegt es, dass einige possibilia nicht miteinander kompossibel sind? Mit all diesen Fragen werde ich mich in dieser Arbeit befassen. Da Leibniz seine Metaphysik der Modalität in expliziter Auseinandersetzung mit dem Spi-

 Die Unterscheidung zwischen Analyse und Metaphysik der Modalität trifft auch Newlands , S. .  Monadologie § /Holz Bd. , S. : „Il est vray aussi, qu’en Dieu est non seulement la source des existences, mais encor celle des essences, en tant que réelles, ou de ce qu’il y a de réel dans la possibilité. C’est parce que l’Entendement de Dieu est la Region des verités éternelles, ou des idées dont elles dependent, et que sans luy il n’y auroit rien de réel dans les possibilités, et non seulement rien d’existant, mais encor rien de possible.“

4 Fragestellung und Aufbau der Untersuchung

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nozismus entwickelt, empfiehlt es sich, zunächst einen genaueren Blick auf Spinozas Theorie der Modalität zu werfen. Wie bereits im letzten Abschnitt erwähnt, vertritt Spinoza zwei sehr ungewöhnliche Thesen. Erstens geht er davon aus, dass es keine nicht-aktualisierten Möglichkeiten gibt, und zweitens nimmt er an, dass alle Wahrheiten notwendige Wahrheiten sind. In Kapitel 1 werde ich auf Spinozas Gründe für diese beiden Thesen eingehen. Die restlichen vier Kapitel beschäftigen sich mit Leibniz’ Reaktion auf Spinozas radikale Position. Dabei ist es wichtig, zwischen der Frage nach den Wahrmachern modaler Wahrheiten einerseits und der Frage, wie sich Leibniz zum Nezessitarismus verhält andererseits, zu unterscheiden. Der Hauptteil der Arbeit (Kapitel 2– 4) widmet sich der ersten Frage; nur im letzten Kapitel (Kapitel 5) geht es unmittelbar um den Nezessitarismus. In Kapitel 2 werde ich dafür argumentieren, dass Leibniz nur deshalb nichtaktualisierte possibilia in Gottes Intellekt annehmen kann, weil er eine metaphysische Annahme trifft, die Spinoza nicht teilt: Leibniz setzt ein kombinatorisches Modell von Attributen voraus. Außerdem wird deutlich werden, dass Leibniz eine nicht-reduktionistische Theorie der Modalität vertritt und dass Leibniz letztlich alle modalen Wahrheiten in der Essenz Gottes fundiert oder begründet.⁴⁷ Kapitel 3 geht näher auf die Struktur der Leibniz’schen Essenzen ein und untersucht insbesondere das Verhältnis zwischen möglichen Welten und möglichen Individuen. Ich werde die These vertreten, dass selbst Gott weder Welten ohne Individuen noch Individuen ohne Welten denken kann. Kapitel 4 schließlich befasst sich mit dem Problem der Kompossibilität. Dort argumentiere ich, dass der Begriff der Kompossibilität bei Leibniz nur dann klar wird, wenn wir berücksichtigen, was er unter möglichen Welten versteht. Auch wenn Leibniz mit der Ausarbeitung einer Metaphysik der Modalität Erfolg haben sollte, bleibt die Frage, ob er eine Antwort auf den Nezessitarismus hat: Hätte Gott angesichts seiner Allmacht und Allgüte überhaupt eine mögliche Welt schaffen können, die nicht die beste ist? In Kapitel 5 wird deutlich werden, dass Leibniz unterschiedliche anti-nezessitaristische Strategien verfolgt. Ich werde für die These argumentieren, dass er den Nezessitarismus letztlich nur dann vermeiden kann, wenn er annimmt, dass das Prinzip des zureichenden Grundes kontingent (und nicht notwendig) ist. Dieser Lösungsvorschlag wird allerdings die Frage aufwerfen, ob Leibniz’ Theismus und sein explanatorischer Rationalismus wirklich miteinander vereinbar sind.

 In dieser Arbeit werde ich die deutschen Verben „fundieren (in)“ und „begründen (in)“ in der Regel synonym verwenden. Beide entsprechen dem englischen Ausdruck „to ground (in)“. Für eine gute Einführung in die moderne grounding-Debatte, siehe Schaffer .

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5 Methodische Vorbemerkungen Eine Beschäftigung mit Leibniz’ Metaphysik der Modalität sieht sich mit vielfältigen methodischen Herausforderungen konfrontiert, die sich grob in drei Gruppen gliedern lassen: Erstens gibt es einige allgemeine methodische Fragen, die sich für jede philosophie-historische Arbeit stellen. Zweitens ergeben sich im Rahmen der Beschäftigung mit Leibniz und seinen Schriften eine Reihe von spezifischen methodischen Problemen. Drittens schließlich gibt es einige methodische Probleme, die speziell mit dem Thema der Modalität zu tun haben. Ich möchte nun auf alle drei Komplexe kurz eingehen.

(i) Allgemeine Fragestellungen Man kann sich der Geschichte der Philosophie auf unterschiedliche Weise nähern. Eine Möglichkeit besteht darin, vorwiegend philologisch und historisch zu arbeiten und z. B. Terminologiegeschichte oder Ideengeschichte zu betreiben. Dieser Ansatz betrachtet die philosophischen Texte der Vergangenheit vorwiegend als historische Dokumente. Eine zweite Möglichkeit besteht darin, die Philosophiegeschichte gleichsam als Fundgrube zu gebrauchen, die lediglich einen Anlass bietet über rein systematische Fragestellungen nachzudenken. Obwohl diese beiden Zugangsweisen in bestimmten Kontexten durchaus ihre Berechtigung haben, glaube ich, dass sie auch Gefahren bergen. So übersieht ein rein historischphilologischer Zugang, der nicht ausreichend philosophisch informiert ist, häufig, dass die Philosophen der Vergangenheit auf ganz bestimmte philosophische Fragen und Probleme reagiert haben. Außerdem droht ein bloßes Nacherzählen von philosophischen Positionen, ohne dass nach den Gründen und Argumenten gefragt wird, die die jeweiligen Autoren bewogen haben, bestimmte Thesen zu vertreten. Ein rein systematischer Zugang hingegen läuft Gefahr, anachronistisch vorzugehen und Fragestellungen der zeitgenössischen Philosophie auf die Vergangenheit zu projizieren, die sich dort so gar nicht finden. Außerdem wird ein Ansatz, der historisch nicht ausreichend fundiert ist, leicht blind für die philosophischen Eigenheiten vergangener Autoren und Epochen. Einer der faszinierendsten Aspekte an der Beschäftigung mit der Geschichte der Philosophie ist ja gerade, dass früher häufig ganz andere Fragen und Probleme im Vordergrund standen als heute und dass philosophische Probleme mit völlig anderen Lösungsstrategien angegangen wurden. Aus diesen Gründen verfolgt die vorliegende Arbeit keine der beiden genannten Strategien. Stattdessen werde ich mich darum bemühen, einen philosophischen mit einem historischen Zugang zu verknüpfen. Wie genau ist das zu

5 Methodische Vorbemerkungen

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verstehen? Einerseits soll Leibniz’ Metaphysik der Modalität sorgfältig auf der Basis von Leibniz’ Texten und im Kontext der frühneuzeitlichen Philosophie rekonstruiert werden. Gleichzeitig möchte ich Leibniz aber auch als Philosophen ernst nehmen, also als einen Denker, der seine Thesen nicht aus einer bloßen Laune heraus vertritt, sondern sie argumentativ untermauert. Ich glaube, ein historisch-philologischer Zugang und ein systematisch-philosophischer Zugang zu Leibniz’ Texten schließen sich nicht aus. Im Gegenteil: Ich bin der Überzeugung, dass nur beides zusammen Leibniz’ Denken zum Leben erwecken kann. Im Verlauf dieses Buches werde ich deshalb nicht davor zurückschrecken, die Werkzeuge, die uns die zeitgenössische analytische Philosophie zur Verfügung stellt, an vielen Stellen einzusetzen. Ich glaube, dass eine (auch historisch) angemessene Rekonstruktion von Leibniz’ Argumenten nur möglich ist, wenn uns ein Instrumentarium zur Verfügung steht, das es ermöglicht, diese Argumente präzise nachzuvollziehen und zu evaluieren. Allerdings darf der Einsatz des analytischen Vokabulars und der analytischen Methoden nie unkritisch sein, sondern muss stets methodisch kontrolliert erfolgen. Was mit einem methodisch kontrollierten Einsatz analytischer Werkzeuge gemeint ist, lässt sich am einfachsten anhand eines Beispiels illustrieren. Im Folgenden werde ich häufig auf den Begriff möglicher Welten zurückgreifen, um Leibniz’ Position zu erläutern und seine Argumente zu rekonstruieren. Dies ist insofern zunächst einmal unproblematisch als Leibniz selbst permanent von möglichen Welten spricht. Gleichzeitig drohen hier allerdings auch Fallstricke. Versteht Leibniz unter möglichen Welten wirklich genau dasselbe wie wir heute? Und spielen mögliche Welten innerhalb seines Systems eine Rolle, die vergleichbar mit derjenigen in heutigen Theorien ist? Ich glaube, dass mögliche Welten in Leibniz’ Theorie der Modalität tatsächlich eine große Rolle spielen. Daraus sollten wir aber beispielsweise nicht den Schluss ziehen, dass er Möglichkeit und Notwendigkeit mit Hilfe möglicher Welten definiert, wie es in heutigen Theorien üblich ist. Damit würden wir einen modernen Ansatz auf Leibniz zurückprojizieren und ihm ein Projekt zuschreiben, das er gar nicht verfolgt.⁴⁸ Solange wir uns dieses Umstandes bewusst sind, ist es aber völlig legitim, das moderne Vokabular auch dort einzusetzen, wo Leibniz dies nicht tut. Mögliche Welten sind häufig ein sehr nützliches Hilfsmittel beim Nachdenken über modale Fragen, und ohne sie würde die Darstellung häufig unnötig kompliziert.

 Für eine ausführliche Diskussion möglicher Welten bei Leibniz, siehe Kapitel .

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Einleitung

(ii) Leibniz-spezifische Fragen Ich komme nun zu einigen methodischen Problemen, die für die Beschäftigung mit Leibniz spezifisch sind. Als erstes fällt auf, dass Leibniz niemals eine umfassende Darstellung seines Systems abgefasst hat.⁴⁹ Darin unterscheidet er sich von vielen seiner rationalistischen Vorgänger; Descartes, Malebranche und Spinoza etwa haben alle detaillierte Gesamtdarstellungen ihrer Theoriegebäude vorgelegt. Genauso wenig gibt es eine Schrift, in der Leibniz seine Metaphysik der Modalität umfassend darstellen würde. Wir sind also gezwungen, diese Theorie aus vielen (veröffentlichten und unveröffentlichten) Schriften sowie aus zahllosen Briefen und Notizen zu rekonstruieren. Dabei müssen wir einerseits zwischen Zentralem und weniger Zentralem unterscheiden. Andererseits ist häufig nicht von vornherein klar, wie sich die verschiedenen Überlegungen, die Leibniz in unterschiedlichen Schriften anstellt, zueinander verhalten. Wir sind also gleichsam mit einem großen Puzzle konfrontiert, bei dem wir zwar die Puzzleteile haben, das Gesamtbild aber nicht kennen. Glücklicherweise gibt uns Leibniz aber einige Hilfen an die Hand. So finden sich in seinen Schriften viele Querverweise, die gleichsam als Anleitung dienen können, wie zumindest einige der Puzzleteile miteinander zu verbinden sind. Ferner stellt Leibniz immer wieder sein System, oder zumindest wichtige Bestandteile dieses Systems, überblicksartig dar – etwa im Discours, der Theodizee, den Prinzipien der Natur und Gnade und der Monadologie. Auch geht er in all diesen Werken ebenfalls auf Fragen zur Modalität ein. Das zweite methodische Problem bei der Beschäftigung mit Leibniz’ Theoriegebäude ist, dass dieses Gebäude eigentlich Zeit seines Lebens ein work in progress war. Leibniz hat von frühester Jugend an bis zu seinem Tod an einer Vielzahl philosophischer Probleme gearbeitet. Dabei revidierte er seine Ansichten immer wieder und gab einige Thesen, die er zu einem früheren Zeitpunkt vertreten hatte, später wieder auf. Auf den ersten Blick kann man deshalb leicht den Eindruck eines recht unübersichtlichen Wirrwarrs bekommen. Doch dieser Eindruck trügt. Leibniz ändert zwar viele seiner philosophischen Positionen, aber er tut dies nicht wahllos und glücklicherweise auch nicht täglich. Man könnte sagen, dass Leibniz bei seinem Gebäude zwar immer mal wieder ein Fenster, eine Tür oder sogar eine Wand austauscht. Er reißt aber niemals das gesamte Gebäude samt Fundament ab und ersetzt es durch ein vollständig neues. Bestimmte zentrale philosophische Thesen behält Leibniz Zeit seines Lebens bei – etwa seinen ex Zwar hat Leibniz zwei umfangreiche Werke verfasst, die Nouveaux Essais und die Theodizee, doch auch dort konzentriert er sich jeweils nur auf eine bestimmte, klar abgegrenzte Fragestellung. Es handelt sich nicht um ausführliche Gesamtdarstellungen seines philosophischen Systems.

5 Methodische Vorbemerkungen

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planatorischen Rationalismus, seinen Nominalismus oder seine Idee, dass das metaphysische Fundament modaler Wahrheiten in Gottes Intellekt zu suchen ist. Auch wenn Leibniz immer wieder Feinjustierungen vornimmt, gibt es also durchaus eine Reihe von Kernthesen, an denen er Zeit seines Lebens festgehalten hat. Dennoch müssen wir natürlich Vorsicht walten lassen und dürfen nicht einfach davon ausgehen, dass eine philosophische These, die Leibniz einmal niedergeschrieben hat, für ihn von da an in Stein gemeißelt ist. Es hat sich eingebürgert, Leibniz’ philosophische Entwicklung in drei Phasen einzuteilen. So wird häufig vom frühen Leibniz (etwa bis 1684), vom mittleren Leibniz (etwa 1684– 1704) und vom späten Leibniz (etwa 1704– 1716) gesprochen.⁵⁰ An dieser Einteilung werde ich mich im Folgenden in den allermeisten Fällen orientieren. Wir sollten also stets im Hinterkopf behalten, dass wir uns bei unseren Bemühungen, auf der Basis von Leibniz’ Schriften ein mehr oder weniger einheitliches System herauszuarbeiten, nicht wahllos aus allen Schaffensperioden gleichermaßen bedienen dürfen, sondern stets den jeweiligen Kontext berücksichtigen müssen (dies wird insbesondere im letzten Kapitel deutlich werden, wo es um den Nezessitarismus geht). Die chronologischen Diskontinuitäten dürfen nicht einfach glatt gebügelt werden. Ein dritter Punkt, auf den wir achten sollten, ist, dass ein beträchtlicher Teil von Leibniz’ œuvre in Form von Briefen abgefasst ist. Leibniz stand Zeit seines Lebens mit vielen verschiedenen Denkerinnen und Denkern der unterschiedlichsten Traditionen in regem Austausch. Dabei geht er in vielen Kontexten (zum Teil stillschweigend) auf die Voraussetzungen seiner Gesprächspartner ein und argumentiert manchmal auf der Basis von Prämissen, von denen nicht immer klar ist, ob er sie selbst wirklich vertritt. Ein gutes Beispiel hierfür ist die Korrespondenz mit dem Jesuiten Des Bosses, wo Leibniz (selbst Lutheraner) sich mit der Herausforderung konfrontiert sieht, seine philosophischen Positionen mit den Lehren der römisch-katholischen Kirche zu vereinbaren. Wenn wir Leibniz’ Briefe heranziehen (und dies wird unvermeidlich sein), sollten wir also stets Rücksicht darauf nehmen, an wen diese Briefe adressiert sind. Viertens schließlich muss berücksichtigt werden, dass Leibniz ein sehr systematischer Philosoph ist. Dies ist gegenüber Interpretationen zu betonen, die in Leibniz einen rein eklektischen Denker sehen, der gar nicht bestrebt ist, ein einheitliches System zu schaffen.⁵¹ Obwohl Leibniz tatsächlich häufig etwas sprunghaft ist und schnell von einem Thema zum anderen wechselt, wird an vielen Stellen deutlich, dass er ein mehr oder weniger einheitliches System vor

 Siehe für diese Einteilung etwa Garber .  Solche Tendenzen finden sich z. B. bei Daniel Garber (siehe insbesondere Garber ).

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Einleitung

Augen hat. In den Ersten Wahrheiten, um ein besonders bekanntes Beispiel herauszugreifen, versucht er etwa, eine Vielzahl metaphysischer Thesen aus seiner Wahrheitstheorie abzuleiten. Ich will keineswegs behaupten, dass Leibniz’ gesamte Metaphysik auf seiner Logik basiert, wie von Russell und Couturat Anfang des 20. Jahrhunderts vorgeschlagen wurde.⁵² Es scheint mir jedoch klar zu sein, dass die vielen unterschiedlichen philosophischen Positionen, die Leibniz vertritt, nicht einfach lose nebeneinander stehen. Vielmehr sind all seine Thesen systematisch miteinander verknüpft, und einige Thesen, wie etwa das Prinzip des Widerspruchs oder das Prinzip des zureichenden Grundes, bilden den Kern des Systems, während andere, wie etwa Leibniz’ Theorie von Raum und Zeit, von diesem Kern abgeleitet sind. Dass Leibniz in diesem (schwächeren) Sinne ein systembildender Philosoph ist, ist, glaube ich, keine historiographische Fiktion, sondern eine Tatsache, die sich anhand seiner Schriften belegen lässt.⁵³

(iii) Modalitäts-spezifische Fragen Abschließend möchte ich auf zwei spezielle methodische Probleme zu sprechen kommen, die dem Umstand geschuldet sind, dass es sich bei dieser Arbeit um eine Studie zu Leibniz’ Metaphysik der Modalität handelt. Das erste Problem entsteht daraus, dass es viele unterschiedliche Arten von Modalität gibt. Während im Zentrum dieser Arbeit die metaphysischen Modalitäten stehen, also metaphysische Notwendigkeit und metaphysische Möglichkeit, gibt es daneben auch physikalische Modalitäten, moralische Modalitäten und epistemische Modalitäten, um nur einige zu nennen. Etwas kann z. B. moralisch notwendig (d. h. geboten) sein, ohne deshalb metaphysisch notwendig sein zu müssen. Oder aber wir können glauben, dass p der Fall sein kann (d. h. es ist epistemisch möglich), ohne dass p überhaupt metaphysisch möglich ist.⁵⁴ Das Problem ist, dass nicht nur in vielen Alltagsäußerungen, sondern auch in zahlreichen philosophischen Kontexten, häufig nicht auf den ersten Blick klar ist, von welcher Art von Modalität die Rede ist. Dies trifft manchmal auch auf Leibniz’ Texte zu. Ein einfaches Beispiel soll dies illustrieren: Leibniz äußert häufig Sätze wie „Gott muss das Beste schaffen“. Dieser Satz enthält einen modalen Ausdruck (nämlich das Verb ‚müssen‘). Aber von welcher Art von Modalität ist hier die Rede? Handelt es sich

 Vgl. Russell , S.  –  und Couturat , S. vii – xii.  Dennoch ist natürlich klar, dass Leibniz häufig Änderungen an seinem System vornimmt. Es handelt sich dabei um kein statisches Konstrukt.  In diesem Fall wäre der Raum des epistemisch Möglichen zumindest lokal größer als der Raum des metaphysisch Möglichen.

5 Methodische Vorbemerkungen

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um metaphysische Notwendigkeit oder vielleicht nur um eine moralische Notwendigkeit? Wie wir in Kapitel 5 sehen werden, schwankt Leibniz in diesem Fall zwischen beiden Antworten hin und her. Es kommt mir im Moment aber gar nicht darauf an, was die konkrete Antwort in diesem Fall ist. Dieses Beispiel soll vielmehr illustrieren, dass häufig jede Menge exegetische Arbeit geleistet werden muss, um überhaupt herauszufinden, von welcher Art von Modalität in einem bestimmten Kontext die Rede ist. In enger Verbindung zum ersten Problem steht das zweite methodische Problem, das sich im Zusammenhang mit modalen Fragestellungen ergibt. Modales Vokabular ist äußerst kontext-sensitiv. Wenn ich z. B. den Satz „Ich kann morgen nicht in Paris sein“ äußere, so kann dies, je nach Kontext, vielerlei bedeuten.⁵⁵ Es könnte z. B. sein, dass ich mich gerade in Australien aufhalte und dass mich selbst der nächstmögliche Flug mit dem schnellsten Flugzeug nicht mehr rechtzeitig nach Paris bringen würde. Selbst in diesem Fall würde ich mit meinem Satz aber natürlich nicht leugnen, dass es metaphysisch oder auch physikalisch möglich ist, dass ich morgen in Paris bin. Stünden uns schnellere Fortbewegungsmittel als Flugzeuge zur Verfügung, welche die Strecke von Sydney nach Paris in einer Stunde zurücklegen, dann wäre dies durchaus möglich. Man kann sich sogar Kontexte vorstellen, in denen der Satz „Ich kann morgen nicht in Paris sein“ eine moralische Modalität zum Ausdruck bringt. So könnte es z. B. sein, dass ich bereits das Versprechen abgegeben habe, den morgigen Tag mit Freunden in Berlin zu verbringen. In diesem Fall wäre es moralisch nicht möglich, dass ich morgen in Paris bin, auch wenn ich noch problemlos ein Flugzeug besteigen könnte, um dort hinzufliegen. Dieses Beispiel macht deutlich, wie kontext-sensitiv modale Ausdrücke sind. Betrachtet man sie isoliert, können sie in vielen Fällen sehr Unterschiedliches bedeuten. Dieser Umstand kann leicht zu Verwirrungen führen, wenn man versucht die Position eines Autors wie Leibniz zu rekonstruieren. Und tatsächlich haben Kommentatoren gerade im Kontext von Leibniz’ Theorie der Modalität in einigen Fällen exakt dieselben Passagen verwendet, um höchst unterschiedliche Interpretationen zu stützen (wie wir in Kapitel 3 und 4 sehen werden, tritt dieses Problem z. B. zutage, wenn es um die Evaluation kontrafaktischer Konditionale bei Leibniz geht). Um dieses methodische Problem in den Griff zu bekommen, hilft nur eines: Wir müssen stets den systematischen Gesamtzusammenhang im Auge behalten und überprüfen, ob sich eine bestimmte Interpretation einer Passage, die modales Vokabular enthält, gut in diesen Zusammenhang einfügt oder nicht. Auch in diesem

 Für ein ähnliches Beispiel, siehe Sider , S. . Für eine genauere Analyse, wie Leibniz’ modales Vokabular zu interpretieren ist, siehe Bender .

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Einleitung

Fall haben wir also nur dann eine Chance, Leibniz’ Positionen und Argumente nachvollziehen zu können, wenn wir ihn als Philosophen ernst nehmen und davon ausgehen, dass er nicht völlig inkonsistent ist und seine Auffassungen täglich ändert. Das Thema der Modalität verlangt also ganz besonders nach einer systematischen Rekonstruktion, die nicht in ein bloßes Nacherzählen verfällt.

1 Spinozas Argument für den Nezessitarismus 1.1 Einleitung: Die spinozistische Herausforderung Es ist eine tiefverwurzelte Intuition fast aller Menschen, dass unsere Welt auch anders sein könnte, als sie tatsächlich ist. Ich hätte heute mit dem Fahrrad statt mit der U-Bahn zur Uni fahren können, der Pluto hätte doppelt so groß sein können, wie er tatsächlich ist, und es hätten andere physikalische Konstanten im Universum herrschen können, als es tatsächlich der Fall ist (z. B. hätte die Lichtgeschwindigkeit 600 000 000 m/s statt 299 792 458 m/s betragen können). Anders ausgedrückt: Es ist kontingent, dass ich mit der U-Bahn zur Uni gefahren bin, dass der Pluto einen Durchmesser von 2390 km hat und dass die physikalischen Konstanten so sind, wie sie tatsächlich sind. In all diesen Fällen wäre es möglich gewesen, dass die entsprechenden Sachverhalte nicht bestehen. Neben Aussagen, die kontingenterweise wahr sind, erkennen wir auch nichtkontingente Aussagen an, die notwendigerweise wahr sind. So wären z. B. der Satz des Pythagoras oder der Satz des ausgeschlossenen Widerspruchs auch dann wahr, wenn unsere Welt ganz anders beschaffen wäre (im Falle des Satz des Pythagoras einen euklidischen Raum vorausgesetzt). Es ist somit unmöglich, dass diese Sätze falsch sind. Genau diese selbstverständlich anmutende Unterscheidung zwischen notwendigen und kontingenten Wahrheiten leugnet Spinoza. Er ist Nezessitarist und behauptet, dass alles mit absoluter Notwendigkeit geschieht. Für ihn ist die Tatsache, dass ich morgens mit dem Fahrrad zur Uni fahre, genauso notwendig wie der Satz des Pythagoras oder der Satz des ausgeschlossenen Widerspruchs. Kontingenz ist eine bloße Illusion, der wir Menschen uns hingeben, weil wir den Ursprung von uns selbst und der uns umgebenden Dinge nicht vollständig verstehen. Genauer gesagt vertritt Spinoza die beiden folgenden Thesen: (i) Alles, was wirklich ist, ist metaphysisch notwendig, und (ii) alles, was möglich ist, ist wirklich.¹ In der verbreiteten Redeweise von möglichen Welten ausgedrückt: Es gibt nur eine einzige mögliche Welt, und das ist die wirkliche Welt. Obwohl Spinoza nicht gerade als Philosoph bekannt ist, der große Rücksicht auf unsere Alltagsintuitionen nimmt, stellt sich dennoch die Frage, warum er eine solch verblüffende und prima facie äußerst unplausible These vertritt. Was veranlasst ihn dazu, den Gedanken, die Welt könnte auch anders sein, zu leugnen? Warum gibt er die Unterscheidungen zwischen Wirklichkeit, Möglichkeit und

 Siehe zu dieser Charakterisierung des Nezessitarismus Griffin , S. . Insbesondere mit Blick auf Leibniz ist es hilfreich zwischen diesen beiden Thesen genau zu unterscheiden.

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1 Spinozas Argument für den Nezessitarismus

Notwendigkeit auf, die für jegliches Nachdenken über Modalität unverzichtbar zu sein scheinen? In diesem Kapitel argumentiere ich dafür, dass Spinozas extreme Position des Nezessitarismus tief in seiner Metaphysik verwurzelt ist. Insbesondere vertrete ich die These, dass seine Konzeption von Attributen dem Bestehen kontingenter Tatsachen von vornherein entgegensteht. Spinozas Attribute sind so konzipiert, dass sie – sowie man einige grundlegende rationalistische Annahmen, die Spinoza trifft, hinzunimmt – nur eine einzige Art zulassen, die Welt zu strukturieren. Wenn sich diese Interpretation als zutreffend erweist, lässt sich Spinozas Behauptung, alles geschehe mit Notwendigkeit, auf einige wenige, recht spezifische aber grundlegende Charakteristika seiner Metaphysik zurückführen. Im nächsten Kapitel wird dann deutlich werden, dass Leibniz eine Konzeption von Attributen vertritt, die sich erheblich von derjenigen Spinozas unterscheidet, und dass dies eine wichtige Bedingung für seine Metaphysik der Modalität darstellt. Die Verbindung zwischen Spinozas Nezessitarimus und seiner Attributskonzeption ist alles andere als offensichtlich. Um sie deutlich zu machen, werde ich in zwei Schritten vorgehen. Zunächst werde ich zeigen, dass der Substanzmonismus – Spinozas These, dass es notwendigerweise nur eine Substanz gibt – in Spinozas Argumenten für den Nezessitarismus eine zentrale Rolle spielt. Im Anschluss werde ich dafür argumentieren, dass hinter Spinozas Argumenten eine bestimmte Konzeption von Attributen steht. Im Einzelnen gehe ich wie folgt vor: Zunächst diskutiere ich die hin und wieder anzutreffende Lesart, der zufolge Spinoza gar keine nezessitaristische Position vertreten hat (Abschnitt 1.2). Dagegen zeige ich, dass Spinoza durchgängig als Nezessitarist interpretiert werden sollte, auch wenn einige Passagen in der Ethik auf den ersten Blick so klingen, als würde er kontingente Tatsachen zulassen. Im Anschluss wende ich mich Don Garretts Interpretation zu, der zufolge der Nezessitarismus explanatorischen Vorrang gegenüber dem Substanzmonismus hat (Abschnitt 1.3). Ich zeige, dass dieser Vorschlag sowohl mit exegetischen als auch mit systematischen Problemen konfrontiert ist und dass man stattdessen davon ausgehen sollte, dass die Erklärungsrichtung für Spinoza umgekehrt verläuft. Auf dieser Basis nehme ich die Rekonstruktion von Spinozas Argumenten für den Nezessitarismus in E1p29d und E1p33d in Angriff (Abschnitt 1.4).² Dabei werde ich drei zentrale Prämissen identifizieren, wovon eine der Substanzmonismus ist. Damit ist der erste Argumentationsschritt abgeschlossen, und ich kann mich der Rolle der Attribute zuwenden. Um diese Rolle im Detail verstehen zu können,

 Ich zitiere Spinozas Ethik auf die übliche Weise. Eine genaue Erläuterung findet sich im Literaturverzeichnis.

1.2 Spinozas Nezessitarismus

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muss zunächst geklärt werden, was Attribute für Spinoza überhaupt genau sind: geistunabhängige Dinge in der Welt (dies ist die objektivistische Lesart) oder lediglich Aspekte der göttlichen Substanz, die von uns konstruiert sind und von unserem Verstand abhängen (dies ist die subjektivistische Lesart) (Abschnitt 1.5). Ich werde für eine Variante der objektivistischen Interpretation argumentieren. Im Anschluss diskutiere ich Spinozas Beweis für E1p5 (die These, dass keine zwei Substanzen ein Attribut teilen können) und Leibniz’ Einwand dagegen (Abschnitt 1.6). Ich zeige, dass den Überlegungen Spinozas eine nicht-kombinatorische Attributskonzeption zugrunde liegt. Auf dieser Basis wende ich mich erneut Spinozas Argumenten für den Nezessitarismus zu und zeige auf, dass sich die drei zentralen Prämissen, die ich in Abschnitt 1.4 identifiziert habe, auf noch basalere Annahmen Spinozas zurückführen lassen – unter anderem auf seine nicht-kombinatorische Attributskonzeption (Abschnitt 1.7). Das Kapitel schließt mit einem Fazit (Abschnitt 1.8).

1.2 Spinozas Nezessitarismus Am klarsten bringt Spinoza seinen Nezessitarismus in E1p29 und in E1p33 zum Ausdruck: In der Natur gibt es nichts Kontingentes, sondern alles ist aus der Notwendigkeit der göttlichen Natur bestimmt, in einer bestimmten Weise zu existieren und etwas zu bewirken.³ Die Dinge haben auf keine andere Weise und in keiner anderen Ordnung von Gott hervorgebracht werden können, als sie hervorgebracht worden sind.⁴

Als erstes gilt es zu beachten, dass die These, die in diesen beiden Passagen zum Ausdruck gebracht wird,viel weitreichender ist als ein bloßer Determinismus. Eine Deterministin behauptet lediglich, dass – die Naturgesetze und der bisherige Verlauf der Welt vorausgesetzt – alle Ereignisse festgelegt sind.⁵ Dennoch kann sie ohne weiteres das Bestehen kontingenter Tatsachen zugestehen: Der bisherige Verlauf der Welt hätte anders sein können, oder es könnten andere Naturgesetze gelten. Die These der Nezessitaristin ist jedoch stärker. Sie leugnet jegliche Möglichkeit eines anderen Weltverlaufs. Ihr zufolge ist es in der Tat absolut notwendig,

 Ep: „In rerum natura nullum datur contingens, sed omnia ex necessitate divinae naturae determinata sunt ad certo modo existendum et operandum.“  Ep: „Res nullo alio modo neque alio ordine a Deo produci potuerunt, quam productae sunt.“  Siehe für eine verbreitete Definition des Determinismus van Inwagen , S. .

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1 Spinozas Argument für den Nezessitarismus

dass die Ereignisse so abgelaufen sind, wie es tatsächlich geschehen ist, und auch die Naturgesetze gelten notwendigerweise. Der Nezessitarismus impliziert somit natürlich den Determinismus, aber eine Deterministin ist keineswegs auf den Nezessitarismus festgelegt. Die Aussagen in E1p29 und E1p33 könnten eindeutiger kaum sein. Dennoch gibt es immer wieder Zweifel daran, dass Spinoza tatsächlich Nezessitarist ist. So behaupten etwa Edwin Curley und Ursula Renz, dass Spinoza das Bestehen kontingenter Tatsachen akzeptiert.⁶ Und Jonathan Bennett schreibt Spinoza sogar eine inkonsistente Position zu. So verpflichte Spinoza sich einerseits auf den Nezessitarsimus, lege sich aber andererseits auch darauf fest, dass es kontingente Tatsachen gibt.⁷ Anlass zu solchen Zweifeln sind einige Passagen in der Ethik, die auf den ersten Blick tatsächlich mit der nezessitaristischen Interpretation unvereinbar zu sein scheinen (wie wir gleich sehen werden, klingen etwa E2ax1 und E2p8 so, als würde Spinoza sich dort auf das Bestehen kontingenter Tatsachen festlegen). Auf ein weiteres Problem hat Jonathan Bennett aufmerksam gemacht. Der Nezessitarismus macht es – zumindest auf den ersten Blick – unmöglich, eine sinnvolle Unterscheidung zwischen essentiellen und nicht-essentiellen Eigenschaften zu treffen.⁸ Werden nicht-essentielle Eigenschaften nämlich als solche Eigenschaften analysiert, die einem Ding nicht notwendigerweise zukommen, und setzt man außerdem voraus, dass es solche Eigenschaften gibt, legt man sich offenbar auf das Bestehen kontingenter Sachverhalte fest. Warum dennoch weder E2ax1 noch E2p8 noch Bennetts Einwand ein Problem für eine nezessitaristische Interpretation von Spinozas System darstellen, werde ich nun erläutern. Ich beginne mit E2ax1. Dort heißt es: „Die Essenz des Menschen schließt nicht notwendige Existenz ein (non involvit necessariam existentiam); d. h., nach der Ordnung der Natur kann es gleichermaßen geschehen, dass dieser oder jener Mensch existiert, wie dass er nicht existiert.“⁹ Spinoza scheint hier zu behaupten, dass die Existenz individueller Menschen kontingent ist, was bedeuten würde, dass z. B. Angela Merkel nicht mit Notwendigkeit existiert. Wie aber kann Spinoza das behaupten, wenn er Nezessitarist ist und glaubt, dass alles, was es gibt, mit metaphysischer Notwendigkeit existiert?

 Vgl. Curley , S.  –  und Renz , S.  – .  Vgl. Bennett , S.  – .  Vgl. Bennett , S. .  Eax: „Hominis essentia non involvit necessariam existentiam, hoc est, ex naturae ordine tam fieri potest, ut hic et ille homo existat quam ut non existat.“

1.2 Spinozas Nezessitarismus

31

Don Garrett schlägt folgende Lösung vor:¹⁰ Wie aus E1p33s1 ersichtlich ist, gibt es für Spinoza zwei Quellen der Notwendigkeit. Ein Ding ist entweder aufgrund seiner eigenen Essenz notwendig oder aufgrund einer externen Ursache. Umgekehrt ist ein Ding unmöglich, entweder weil seine Essenz einen Widerspruch enthält, oder weil es keine entsprechende externe Ursache gibt.¹¹ Diese Unterscheidung zwischen zwei Quellen der Notwendigkeit wendet Garrett auf den ersten Teil von E2ax1 an. Daraus, dass die Essenz eines Menschen nicht notwendigerweise Existenz einschließt, kann man demnach nicht automatisch schließen, dass es kontingente Fakten in der Welt gibt. Es bedeutet lediglich, dass die Essenz des Menschen nicht als die alleinige Quelle der Notwendigkeit eines bestimmten einzelnen Menschen in Frage kommt. Ein endlicher Modus (wie ein einzelner Mensch) hat also eine Essenz, die nicht von allein dafür sorgt, dass dieses Ding existiert – dazu müssen außerdem noch die externen Ursachen berücksichtigt werden.¹² Sowie man diese jedoch in Betracht zieht, wird klar, dass der Modus mit Notwendigkeit existieren muss. Mit Garretts Strategie, die Unterscheidung zweier Quellen der Notwendigkeit auf E2ax1 anzuwenden, lässt sich gut erklären, wie der erste Teil des Axioms mit dem Nezessitarismus vereinbart werden kann. Der zweite Teil (den Garrett gar nicht diskutiert) bleibt für seine Interpretation allerdings problematisch. Dort präzisiert Spinoza, dass es „nach der Ordnung der Natur“ sowohl geschehen kann, dass dieser oder jener Mensch existiert, sowie dass er nicht existiert. Damit scheint er aber gerade die zweite Quelle von Notwendigkeit zu meinen, nämlich die externen Ursachen eines Dings. Spinoza sagt hier also genau das, was er Garrett zufolge nicht sagen dürfte. Wie lässt sich der zweite Teil von E2ax1 aber dann mit dem Nezessitarismus vereinbaren? Wenn es nach „der Ordnung der Natur“ sowohl passieren kann, dass ein bestimmter Mensch existiert, als auch, dass er nicht existiert, ist die Existenz (bzw. Nicht-Existenz) dieses Menschen dann nicht kontingent? Ich glaube, fol-

 Siehe für das Folgende Garrett , S.  – .  Garrett weist zu Recht darauf hin, dass es sich hier nicht um zwei verschiedene Arten der Notwendigkeit handelt, sondern tatsächlich nur um zwei verschiedene Quellen. Aus heutiger Perspektive mag es fragwürdig erscheinen, Ursache-Wirkungs-Verhältnisse als notwendige Verknüpfungen zu betrachten. Spinoza vertritt jedoch die typisch rationalistische These, dass kausale Verhältnisse begriffliche Verhältnisse sind (oder zumindest auf begrifflichen Verknüpfungen beruhen; siehe hierzu Della Rocca , S.  – ). Wenn es aber eine begriffliche Wahrheit ist, dass eine bestimmte Ursache eine bestimmte Wirkung hervorbringt, dann ist dies natürlich auch notwendig.  Garrett , S. : „Hence, the individual members of a series of finite modes must have essences that, taken by themselves, do not necessitate the thing’s existence without regard to external circumstances.“

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1 Spinozas Argument für den Nezessitarismus

gende Lösung bietet sich an: Wenn Spinoza sagt, dass dieser oder jener Mensch „nach der Ordnung der Natur“ existieren oder nicht existieren kann, dann meint er einfach, dass ein bestimmter Mensch zeitweise existiert und zeitweise nicht. Es gibt Zeitabschnitte, zu denen die anderen endlichen Modi, die seine externen Ursachen ausmachen, bestehen, und es gibt Zeitabschnitte, zu denen dies nicht der Fall ist.¹³ Dies bedeutet aber nicht, dass es nicht notwendig wäre, dass ein bestimmter endlicher Modus (z. B. ein Mensch) zu einem bestimmten Zeitpunkt auf eine ganz bestimmte Weise existiert. Dafür dass diese temporale Lesart nicht nur systematisch, sondern auch exegetisch angemessen ist, gibt es deutliche Anhaltspunkte im Text. In E1p11d2 schreibt Spinoza: Dagegen ergibt sich der Grund, weshalb ein Kreis oder ein Dreieck existiert oder nicht existiert, nicht aus deren Natur, sondern aus der Ordnung der körperlichen Natur im Ganzen. Aus dieser [Ordnung] muss nämlich folgen, entweder dass das Dreieck notwendigerweise jetzt existiert oder dass es unmöglich ist, dass es jetzt existiert.¹⁴

Garrett hält also ganz richtig fest, dass die Essenz endlicher Modi nicht deren Existenz einschließt (das unterscheidet sie von Gott). Die Quelle ihrer Notwendigkeit liegt stattdessen in ihren externen Ursachen. Seine Interpretation muss aber erweitert werden, weil sie sonst den zweiten Teil von E2ax1 nicht erklären kann. Diese Erweiterung lautet wie folgt: In gewisser Weise ist es Spinoza erlaubt zu sagen, dass ein endlicher Modus M existieren oder nicht existieren kann (oder dass es bloß möglich ist, dass M existiert, M aber nicht wirklich ist). Diese modalen Ausdrücke müssen aber zeitlich gedeutet werden. Unter Voraussetzung der kompletten (notwendigen) Ursachenkette zu einem Zeitpunkt t (und natürlich der Essenz von M) ist es für Spinoza hingegen sehr wohl notwendig, dass M zu t existiert. Erst durch die Abstraktion von der Zeitkomponente lässt sich sinnvoll sagen, dass nach der Ordnung der Natur M sowohl existieren als auch nicht existieren kann. Dies bedeutet nichts anderes, als dass M in einigen Zeitabschnitten notwendigerweise existiert, in anderen hingegen notwendigerweise nicht. Obwohl es also zunächst so klingt, als würde Spinoza in E2ax1 kontingente Tatsachen in sein System einführen, ist diese Passage mit dem Nezessitarismus kompatibel.

 Vgl. für eine derartige temporale Interpretation von Möglichkeit bei Spinoza Schmid & Stoichita , S. .  Epd: „At ratio, cur circulus vel triangulum existit,vel cur non existit, ex eorum natura non sequitur, sed ex ordine universae naturae corporeae; ex eo enim sequi debet, vel jam triangulum necessario existere, vel impossibile esse ut jam existat.“

1.2 Spinozas Nezessitarismus

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Wenden wir uns nun der zweiten problematischen Passage zu: Die Ideen von Einzeldingen oder von Modi, die nicht existieren, müssen in der unendlichen Idee Gottes so einbegriffen sein,wie das Sein der Essenzen von Einzeldingen oder von Modi in Gottes Attributen enthalten ist.¹⁵

Hier scheint ein ganz ähnliches Problem vorzuliegen wie bei E2ax1: Spinoza spricht von Ideen von Modi, die nicht existieren. Wie ist das mit Spinozas These vereinbar, dass alles Mögliche zugleich auch wirklich ist? Ich denke, wir können hier auf dieselbe Lösung verweisen, wie im Fall zuvor: Man muss sich zu Spinozas Aussagen über Modi, die nicht existieren, eine temporale Bestimmung hinzudenken. Es ist also von Ideen von Modi, die momentan nicht existieren, die Rede. Damit steht E2p8 nicht im Widerspruch zum Nezessitarismus, denn eine Nezessitaristin behauptet ja schließlich nicht, dass alles auf einmal existieren muss. Glücklicherweise bietet der Folgesatz zu E2p8 einen weiteren textlichen Beleg für diese temporale Interpretation modalen Vokabulars (bzw. der Redeweise von Ideen von Modi, die nicht existieren). Dies ist deshalb exegetisch von Bedeutung, weil sich damit zeigen lässt, dass Spinoza an einer für den Nezessitarismus prima facie problematischen Stelle tatsächlich explizit die temporale Interpretation vertritt. In E2p8c schreibt Spinoza: Hieraus folgt, dass, solange (quamdiu) Einzeldinge nur insofern existieren, als sie in Gottes Attributen einbegriffen sind (comprehenduntur), [auch] ihr objektives Sein, also ihre Ideen, nur existieren, insofern die unendliche Idee Gottes existiert. Und sobald (ubi) es von Einzeldingen heißt, dass sie nicht nur insofern existieren, als sie in Gottes Attributen einbegriffen sind, sondern auch insofern, als man ihnen Dauer zuspricht, werden auch ihre Ideen eine Existenz in sich schließen, die es macht, dass man ihnen Dauer zuspricht.¹⁶

Spinoza bedient sich hier offenbar einer temporalen Redeweise.Wenn er sagt, dass Ideen von Einzeldingen „nur existieren, insofern die unendliche Idee Gottes existiert“, solange die entsprechenden Einzeldinge „nur insofern existieren, als sie in Gottes Attributen einbegriffen sind“, dann scheint dies zu implizieren, dass diese Einzeldinge zu einem früheren oder späteren Zeitpunkt wirklich existieren  Ep: „Ideae rerum singularium sive modorum non existentium ita debent comprehendi in Dei infinita idea, ac rerum singularium sive modorum essentiae formales in Dei attributis continentur.“  Epc: „Hinc sequitur, quod, quamdiu res singulares non existunt, nisi quatenus in Dei attributis comprehenduntur, earum esse objectivum sive ideae non existunt, nisi quatenus infinita Dei idea existit; et ubi res singulares dicuntur existere, non tantum quatenus in Dei attributis comprehenduntur, sed quatenus etiam durare dicuntur, earum ideae etiam existentiam, per quam durare dicuntur, involvent.“

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1 Spinozas Argument für den Nezessitarismus

müssen (oder, wie Spinoza sich ausdrückt, existieren müssen, „insofern, als man ihnen Dauer zuspricht“). Die temporale Interpretation hat nicht nur den Vorteil, dass sie eine konsistente nezessitaristische Interpretation von Spinozas Texten erlaubt. Sie fügt sich außerdem auch gut in Spinozas Theorie von Einzeldingen insgesamt ein. So könnte man fragen, warum z. B. der Modus meines Stuhls schon irgendwie im Attribut der Ausdehnung enthalten ist, bevor er existiert (wie eben gesehen spricht Spinoza in E2p8c davon, dass die Einzeldinge schon in den Attributen „einbegriffen“ sind). Der Stuhl scheint schließlich nicht im Begriff der Ausdehnung als solcher enthalten zu sein. Genau darin irren wir aber Spinozas Ansicht nach. Wir dürfen uns ihm zufolge ein Attribut nicht als homogenen Block vorstellen, der erst in einem zweiten Schritt noch ausgestaltet werden muss. Vielmehr sind Attribute immer schon auf eine bestimmte Weise modifiziert bzw. strukturiert.¹⁷ Es gehört somit zur Natur des Attributes der Ausdehnung, bestimmte Modi zu bestimmten Zeitpunkten hervorzubringen.Wären wir in der Lage, das Attribut der Ausdehnung vollständig zu erfassen, würden wir also erkennen, dass zu einem gewissen Zeitpunkt mein Stuhl eine seiner Modifikationen sein wird. Hieraus folgt auch, dass es für Spinoza keinen Sinn ergibt, von ausgedehnten Dingen zu sprechen, die bloß möglich, aber niemals wirklich sind. Diese Dinge wären nicht im Attribut der Ausdehnung enthalten (oder einbegriffen) und deshalb einfach widersprüchlich. Aus der temporalen Interpretation, die ich eben für E2ax1 und E2p8 vorgeschlagen habe, folgt sogar, dass Spinoza eine noch weitergehende These vertritt: Wenn ein Modus M zu einem Zeitpunkt t1 existiert und zu einem anderen Zeitpunkt t2 nicht existiert, dann wäre die Existenz von M zu t2 widersprüchlich. Streng genommen kann man also gar nicht sagen, dass M simpliciter im Attribut der Ausdehnung enthalten ist, sondern nur, dass M zu t1 darin enthalten ist.¹⁸ Allein die Tatsache, dass wir diese Widersprüchlichkeiten häufig nicht erkennen, verleitet uns zu der Annahme, dass viele Dinge nur kontingenterweise existieren. In E1p33s1 hält Spinoza fest: „Kontingent wird ein Ding hingegen lediglich im Hinblick auf unser Erkenntnisdefizit genannt.“¹⁹ Im Anschluss erläutert er, dass wir ein Ding nur deshalb als kontingent oder möglich bezeichnen, weil wir entweder nicht wissen, ob seine Essenz einen Widerspruch enthält, oder weil wir nicht richtig über dessen Ursachenkette informiert sind (im Normalfall wird wohl

 Vgl. zu diesem Punkt Perler b, S. .  Diesen Hinweis verdanke ich Michael Della Rocca.  Eps (Übersetzung leicht geändert): „At res aliqua nulla alia de causa contingens dicitur nisi respectu defectus nostrae cognitionis.“

1.2 Spinozas Nezessitarismus

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beides der Fall sein). Letzteres bedeutet, dass wir keinen vollständigen Überblick über alle Verknüpfungen in der ausgedehnten Welt haben (bzw. über das Netz der Ideen, welche die ausgedehnten Dinge repräsentieren). Wir können also genau genommen das Attribut der Ausdehnung, in dem alle möglichen ausgedehnten Modi schon immer einbegriffen sind und irgendwann auch tatsächlich auftreten, nicht vollständig erfassen.²⁰ Ich komme nun auf das Problem der nicht-essentiellen Eigenschaften zu sprechen. Bennett ist der Auffassung, dass es schwierig ist, „gute Philosophie zu betreiben“ ohne zwischen essentiellen und nicht-essentiellen Eigenschaften zu unterscheiden, und er wirft Spinoza vor, dass diese Unterscheidung im Widerspruch zum Nezessitarismus steht.²¹ In der Tat scheint der Nezessitarismus die Konsequenz zu haben, dass alle Eigenschaften essentielle Eigenschaften sind. Um diesen Einwand zu entkräften, könnte man wieder auf die zwei Quellen der Notwendigkeit verweisen, die Spinoza kennt. Diese Strategie wählt Garrett. Er führt aus, dass für Spinoza nicht jede notwendige Eigenschaft auch essentiell ist, da eine Eigenschaft auch aufgrund ihrer Ursachen (und nicht aufgrund ihrer Essenz) notwendig sein könne. Die Unterscheidung zwischen essentiellen und nicht-essentiellen Eigenschaften stehe damit nicht im Widerspruch zum Nezessitarismus. Bennetts Fehler bestehe darin, einfach ein modernes Verständnis von Essenz zu unterstellen, dem zufolge essentielle Eigenschaften mit notwendigen Eigenschaften identifiziert werden.²² Ich glaube, Garretts scharfsinnige Ausführungen zum Essenzbegriff machen klar, dass der Nezessitarismus im Prinzip mit der Unterscheidung zwischen essentiellen und nicht-essentiellen Eigenschaften vereinbar ist. Aber ist das auch die korrekte Interpretation von Spinozas Texten? Zwei Kommentare sind angebracht. Erstens ist die Situation exegetisch komplizierter, als Garrett sie darstellt. In E2def2 definiert Spinoza den Begriff der Essenz folgendermaßen: „Zur Essenz irgendeines Dinges gehört meinem Verständnis nach das, mit dessen Gegebensein das Ding notwendigerweise gesetzt und mit dessen Aufhebung das Ding notwendigerweise

 Hierin unterscheidet sich Spinoza von Descartes, für den das Attribut der Ausdehnung als solches betrachtet vollkommen unstrukturiert ist.  Vgl. Bennett , S. .  Vgl. Garrett , S.  – . Inzwischen ist die orthodoxe Auffassung, dass essentielle Eigenschaften solche sind, die einem Ding notwendigerweise zukommen, prominenterweise durch Kit Fine unter Beschuss geraten (vgl. etwa Fine ; siehe auch Abschnitt  der Einleitung). Man kann heute also nicht mehr sagen, wie noch Garrett , dass die moderne Analyse essentielle Eigenschaften mit notwendigen Eigenschaften identifizieren.

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1 Spinozas Argument für den Nezessitarismus

aufgehoben wird. […]“²³ Mit dieser Definition scheint Spinoza aber seine eigene Unterscheidung zweier Quellen der Notwendigkeit – Essenz und Ursache – zu unterlaufen. Wenn nämlich all das, womit ein Ding notwendigerweise gesetzt ist, zur Essenz dieses Dinges gehört, dann sind – contra Garrett – notwendige Eigenschaften und essentielle Eigenschaften koextensional (oder sogar identisch). Dies stellt zweifellos ein Problem für Spinoza dar. Wie auch immer man darauf reagiert – es ist zumindest unklar, ob Garretts Strategie, den Nezessitarismus mit der Existenz nicht-essentieller Eigenschaften zu vereinbaren, sich mit Spinozas Texten in Einklang bringen lässt. Vielleicht ist dies aber auch gar nicht nötig. Es ist nämlich zweitens überhaupt nicht klar, ob Spinoza tatsächlich zwischen essentiellen und nicht-essentiellen Eigenschaften unterscheiden möchte. Er wäre dann zwar in Bennetts Augen „kein guter Philosoph“ – vermutlich, weil die Aufgabe der Unterscheidung zwischen essentiellen und nicht-essentiellen Eigenschaften unseren Alltagsintuitionen widerspricht. Damit hat Spinoza aber bekanntlich ohnehin keine Probleme, und vielleicht ist es ja gerade eine der Pointen seiner nezessitaristischen Metaphysik, dass eine solche Unterscheidung letztlich ohne Grundlage ist. Natürlich kann Spinoza immer noch anführen, dass es auf epistemischer Ebene essentielle und nicht-essentielle Eigenschaften gibt. Endliche Wesen treffen diese Unterscheidung aber nur deshalb, weil sie nicht in der Lage sind, die Notwendigkeit aller Eigenschaften eines Dinges zu erkennen.²⁴ Bisher hat sich gezeigt, dass Garrett Recht hat, wenn er behauptet, dass sich Spinoza durchgehend auf eine nezessitaristische Position festlegt. Passagen wie E2ax1 und E2p8 stehen nicht in Widerspruch zum Nezessitarismus.²⁵ Bei ge-

 Edef (meine Hervorhebungen): „Ad essentiam alicujus rei id pertinere dico, quo dato res necessario ponitur et quo sublato res necessario tollitur; vel id, sine quo res et vice versa quod sine re nec esse nec concipi potest.“  Sam Newlands vertritt eine ähnliche Interpretation und argumentiert dafür, dass Spinoza als Antiessentialist zu lesen ist (vgl. Newlands ).  Eine weitere für den Nezessitarismus prima facie problematische Stelle, die ich im Haupttext nicht diskutiert habe, ist Epd. Dort schreibt Spinoza (Übersetzung von mir leicht geändert): „Was endlich ist und eine bestimmte Existenz hat, hat nun nicht von der absoluten Natur eines Attributes Gottes hervorgebracht werden können; was auch immer aus der absoluten Natur irgendeines Attributes Gottes folgt, ist nämlich unendlich und ewig (nach Lehrsatz ).“ („At id, quod finitum est et determinatam habet existentiam, ab absoluta natura alicujus Dei attributi produci non potuit; quicquid enim ex absoluta natura alicujus Dei attributi sequitur, id infinitum et aeternum est (per prop. ).“). Dies könnte man für unvereinbar mit dem Nezessitarismus halten, wenn man „absolute Natur“ als „vollständige Natur“ liest. Dann würde diese Stelle nämlich besagen, dass die Attribute Gottes, und damit Gottes Essenz, die einzelnen Modi nicht

1.2 Spinozas Nezessitarismus

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nauerer Betrachtung haben sich zwar einige Probleme mit Garretts Argumentation ergeben, diese ließen sich jedoch beheben. Damit haben sich sowohl Curleys Position, Spinoza glaube an das Bestehen kontingenter Tatsachen, als auch Bennetts Auffassung, Spinozas Theorie sei inkonsistent, als falsch erwiesen. Die bisherigen Betrachtungen haben aber nicht nur gezeigt, dass Spinoza Nezessitarist ist.Wir sind nun außerdem auch in der Lage, seine Position näher zu charakterisieren. Die folgenden drei Sätze sind seiner Auffassung nach wahr und miteinander äquivalent: (1) Alle Wahrheiten sind notwendige Wahrheiten. (2) Die wirkliche Welt ist die einzige mögliche Welt. (3) Jede Essenz ist (zu irgendeinem Zeitpunkt) aktualisiert. Es gibt also keine Essenz, die niemals aktualisiert ist. Anders gesagt, es gibt keine Essenz, die bloß möglich ist. Bei (1) handelt es sich einfach um die neutrale Formulierung des Nezessitarismus. (2) drückt diesen in der Redeweise von möglichen Welten aus.Warum schreibe ich diese Aussage Spinoza zu? Ist das nicht eine unzulässige, moderne Umformulierung? Obwohl sich Spinoza vielleicht nicht genau so ausdrückt, sollte eine Umformulierung in der Terminologie möglicher Welten unproblematisch sein.²⁶ So ist klar, dass es für Spinoza nur eine Substanz geben kann, und da diese

vollständig festlegen, diese also nicht notwendig sind. Garrett , S.  –  zeigt jedoch überzeugend, dass dies nicht die korrekte Lesart von „absoluter Natur“ ist.Vielmehr ist es so, dass einige Dinge einfach aus der Natur eines Attributes folgen, unabhängig davon, wie dieses Attribut im Einzelnen modifiziert ist. Diese allgemeinen Bestimmungen eines Attributes müssen natürlich (wie das Attribut selbst) unendlich und ewig sein – und genau das behauptet Spinoza in Epd. Garrett , S.  schreibt: „Now, some things about an attribute will follow from the very nature of the attribute regardless of how it is qualified or ‘affected,’ and thus will follow equally from it under all circumstances; accordingly, things of this kind must be infinite and eternal, in the sense of being necessarily pervasive and permanent throughout the whole range of the attribute.“ Andere Dinge hingegen folgen zwar nicht aus der absoluten Natur eines Attributes, werden aber dennoch von dessen vollständiger Natur dazu bestimmt, mit Notwendigkeit zu existieren.  Michael Della Rocca hat mich darauf aufmerksam gemacht, dass im Prinzip eine Position denkbar ist, der zufolge () und () nicht äquivalent sind. Man könnte nämlich annehmen, dass es mehrere mögliche Welten gibt, die sich alle exakt gleichen. Dann wäre zwar alles, was in der aktualen Welt geschieht, notwendig (schließlich ist es in allen möglichen Welten wahr). Dennoch gäbe es mehr als nur eine mögliche Welt. Es ist allerdings schwer vorstellbar, dass irgendein Philosoph diese Position ernsthaft vertritt. Spinoza würde sie schon allein deshalb ablehnen, weil sie das Prinzip der Identität des Ununterscheidbaren verletzen würde.

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1 Spinozas Argument für den Nezessitarismus

Substanz, gemeinsam mit ihren Modi, identisch mit der Welt ist, kann es auch nur eine Welt geben.²⁷ Dass (3) ebenfalls Spinozas Position entspricht, und außerdem mit (1) und (2) äquivalent ist, hat sich bei der Diskussion von E2ax1 und E2p8 gezeigt. Jede Essenz muss zu jedem Zeitpunkt in Gottes Attributen „einbegriffen“ sein, und natürlich kann sich keine Essenz außerhalb Gottes befinden, da alle nicht-göttlichen Entitäten von Gott abhängen. Es gibt in Spinozas metaphysischem Rahmen also keinen Platz für nicht-aktualisierte Essenzen. Spinoza verbindet seinen Nezessitarismus sowohl mit einem Aktualismus als auch mit einem Nominalismus. Seine Theorie ist aktualistisch, weil er annimmt, dass alles, was es gibt, zugleich auch wirklich sein muss. Und seine Theorie ist nominalistisch, weil es für Spinoza ausgeschlossen ist, dass Essenzen als abstrakte Objekte (platonischen Ideen ähnlich) in einem separaten Bereich existieren – solche Entitäten haben schlicht keinen Platz in Spinozas Ontologie. Sie können weder Substanzen sein, weil dies zu einem Substanzenpluralismus führen würde, den Spinoza ablehnt, noch können sie Modi der göttlichen Substanz sein, weil Modi in ein kausales Netz eingebunden sind und somit nicht abstrakt sind.²⁸ Da es außer Substanzen und Modi aber für Spinoza nichts gibt, kann es für ihn auch keine abstrakten Objekte geben. Für unsere spätere Diskussion von Leibniz’ Metaphysik der Modalität wird es wichtig sein, genau zwischen den Thesen (1), (2) und (3) zu unterscheiden. Während Spinoza alle drei Thesen für wahr hält, reagiert Leibniz auf sie zu verschiedenen Zeiten ganz unterschiedlich. So werden wir sehen, dass der frühe Leibniz (2) und (3) zwar ablehnt, (1) jedoch unter einer bestimmten Interpretation akzeptiert.

1.3 Nezessitarismus und Substanzmonismus Im letzten Abschnitt ist deutlich geworden, dass Spinoza eine konsequent nezessitaristische Position vertritt. Auch jene Stellen, an denen er sich auf den ersten Blick auf kontingente Tatsachen festzulegen scheint, erweisen sich bei näherer Betrachtung als mit dem Nezessitarismus vereinbar. Es kann somit kein Zweifel daran bestehen, dass Spinoza die sehr radikale Position vertritt, dass alles Wirkliche metaphysisch notwendig ist. Kontingenz ist für ihn nichts anderes als

 Natürlich schreibt man Spinoza damit keine Mögliche-Welten-Semantik zu. Auf den Zusammenhang zwischen Spinozas Substanzmonismus und seinem Nezessitarismus werde ich in . näher eingehen.  Ein Standardkriterium für abstrakte Objekte ist, dass sie „causally inert“ sind (RodriguezPereyra a, Abschnitt .).

1.3 Nezessitarismus und Substanzmonismus

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eine Illusion, der wir Menschen anheimfallen, weil wir nicht gut genug über unsere eigene Kausalgeschichte sowie über den kausalen Ursprung der uns umgebenden Dinge informiert sind. Ein solch extremer Skeptizismus mit Bezug auf das Bestehen nicht-realisierter Möglichkeiten wirft natürlich sogleich die Frage auf, was Spinozas Gründe dafür sind, die nezessitaristische Position zu vertreten. Warum leugnet er die so einleuchtend scheinende Idee, dass die Welt auch anders hätte sein können, als sie tatsächlich ist? Warum gibt er die Unterscheidungen zwischen Wirklichkeit, Möglichkeit und Notwendigkeit auf und lässt diese Modalitäten ineinander kollabieren? Normalerweise gehen wir schließlich nicht nur in philosophischen Debatten, sondern auch im alltäglichen Leben wie selbstverständlich davon aus, dass diese Unterscheidungen bestehen. Insbesondere wenn wir uns als handelnde Akteure begreifen, setzen wir für gewöhnlich voraus, dass wir uns zwischen unterschiedlichen Optionen entscheiden können und dass unsere Handlungen (um überhaupt als Handlungen gelten zu können) nicht mit absolut metaphysischer Notwendigkeit erfolgen.²⁹ In diesem und den folgenden Abschnitten werde ich Spinozas Gründe und Argumente für seine nezessitaristische Position rekonstruieren. Dabei wird sich herausstellen, dass diese tief in seinem metaphysischen Gesamtprojekt verwurzelt sind. In diesem Abschnitt werde ich zunächst zeigen, dass Spinozas Substanzmonismus – die These, dass es notwendigerweise nur eine Substanz gibt – explanatorischen Vorrang gegenüber dem Nezessitarismus hat. In diesem Punkt wende ich mich gegen Don Garretts Interpretation, der zufolge die Erklärungsrichtung genau andersherum verläuft. Deshalb werde ich nun zunächst erläutern, aus welchen Gründen Garrett glaubt, dass der Substanzmonismus explanatorisch vom Nezessitarismus abhängt. Im Anschluss werde ich darlegen, dass diese Interpretation sowohl mit exegetischen als auch mit systematischen Problemen konfrontiert ist und dass man die Erklärungsrichtung deshalb umkehren sollte. Warum glaubt Garrett, dass der Nezessitarismus explanatorische Priorität gegenüber dem Substanzmonismus genießt? Seine Überlegung lässt sich in drei  Es ist wichtig zu beachten, dass die Vereinbarkeit von Nezessitarismus und Freiheit ein wesentlich drastischeres Problem darstellt als die Vereinbarkeit von Determinismus und Freiheit. Eine Deterministin kann, wenn sie eine weit verbreitete Spielart des Kompatibilismus vertritt, immer noch dem Prinzip der alternativen Möglichkeiten zustimmen und sagen, dass eine Person in einer bestimmten Situation anders hätte handeln können (für eine solche Position, siehe z. B. Lewis ). Einer Nezessitaristin steht diese Option nicht offen. Wenn alles mit metaphysischer Notwendigkeit geschieht, dann muss das Prinzip der alternativen Möglichkeiten falsch sein. (Möglicherweise steht einer Nezessitaristin aber eine Version des Kompatibilismus zur Verfügung, die das Prinzip der alternativen Möglichkeiten ablehnt. Für diese Art des Kompatibilismus, siehe Frankfurt .)

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1 Spinozas Argument für den Nezessitarismus

Schritte einteilen. (1) Lehrsatz E1p5, wo Spinoza festhält, dass zwei Substanzen niemals das gleiche Attribut haben können, ist eine wichtige Prämisse in E1p14d, dem Beweis für den Substanzmonismus. (2) Der Beweis für E1p5 selbst ist problematisch und auf den ersten Blick wenig überzeugend. (3) Wenn wir den Nezessitarismus als zusätzliche implizite Prämisse voraussetzen, lässt sich ein wichtiger Teil von E1p5d reparieren. Mit dem letzten Schritt macht Garrett den Substanzmonismus vom Nezessitarismus abhängig – er importiert letzteren gewissermaßen als „blinden Passagier“ von E1p5 in Spinozas Argument für den Substanzmonismus in E1p14d. Betrachten wir jeden dieser drei Schritte im Einzelnen. Zunächst ist es in der Tat eindeutig, dass E1p5 eine zentrale Rolle in Spinozas Beweis für den Substanzmonismus spielt. Dieser Beweis funktioniert in groben Zügen wie folgt:³⁰ Ausgangspunkt ist die Feststellung, dass es eine Substanz gibt, die notwendigerweise existiert und alle Attribute hat, nämlich Gott. Nehmen wir nun an, es gibt neben Gott noch eine weitere Substanz (dies ist die reductio-Annahme). Diese zweite Substanz muss ebenfalls durch mindestens ein Attribut charakterisiert sein (wie Spinoza in E1def4 betont, sind Attribute konstitutiv für Substanzen³¹), und dabei muss es sich natürlich um ein Attribut handeln, über das Gott auch verfügt, da Gott schließlich alle Attribute in sich vereint. An dieser Stelle kommt E1p5 ins Spiel. Dort hält Spinoza fest, dass es „nicht zwei oder mehrere Substanzen derselben Natur, d. h. desselben Attributes, geben [kann].“³² Anders gesagt, keine zwei Substanzen können ein Attribut teilen. Gesteht man diese Annahme zu, ist die Existenz einer zweiten Substanz, neben Gott, tatsächlich ausgeschlossen. Diese Substanz müsste nämlich mindestens ein Attribut haben, und sie würde dieses Attribut automatisch mit der göttlichen Substanz teilen. Wie auch immer man den Beweis in E1p14d im Detail rekonstruiert – es ist klar, dass der Lehrsatz E1p5 in Spinozas Argument für den Substanzmonismus eine zentrale Rolle spielt. Zweitens hat Garrett ebenfalls Recht, wenn er sagt, dass der Beweis für E1p5 auf den ersten Blick recht unplausibel erscheint. Zunächst fällt auf, dass der Lehrsatz als solcher alles andere als einleuchtend ist. Warum sollten zwei numerisch voneinander verschiedene Substanzen kein Attribut teilen können? Im Rahmen der cartesischen Metaphysik etwa ist das der Normalfall. So nimmt Descartes z. B. an, dass es zahlreiche denkende Substanzen gibt, die alle das Attribut des Denkens teilen. Es ist nicht unmittelbar klar, was an einem derartigen

 Siehe für eine genaue Rekonstruktion Stoichita , S. .  Wie das genau zu verstehen ist, diskutiere ich ausführlich in Abschnitt ..  Ep: „In rerum natura non possunt dari duae aut plures substantiae ejusdem naturae sive attributi.“

1.3 Nezessitarismus und Substanzmonismus

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Bild problematisch sein soll. Um E1p5 plausibel zu machen, muss Spinoza also starke Argumente vorbringen. Vor diesem Hintergrund macht der Beweis in E1p5d allerdings einen auf den ersten Blick recht enttäuschenden Eindruck. Spinoza beginnt mit der Feststellung, dass sich zwei numerisch verschiedene Substanzen entweder durch ihre Attribute oder durch ihre Modi voneinander unterscheiden lassen müssen.³³ Dies ergibt sich einfach aus dem metaphysischen Rahmen, innerhalb dessen Spinoza operiert. E1ax1 zufolge ist alles entweder „in sich selbst“ oder „in einem anderen“.³⁴ Anders ausgedrückt, alles, was es gibt, ist entweder eine Substanz (eine selbstständige, unabhängige Entität) oder ein Modus (eine Entität, die von einer Substanz abhängt³⁵). Da Attribute Substanzen konstituieren und mit diesen identisch sind,³⁶ kann Spinoza sagen, dass nur Attribute und Modi für die Individuierung von Substanzen von Relevanz sind. Im Hintergrund von Spinozas Überlegung steht außerdem das Prinzip der Identität des Ununterscheidbaren (PIU). Diesem Prinzip zufolge können sich zwei Dinge nicht einfach nur numerisch voneinander unterscheiden. Wenn sie sich numerisch voneinander unterscheiden, müssen sie sich auch irgendwie hinsichtlich ihrer Eigenschaften voneinander unterscheiden (d. h. hinsichtlich ihrer Attribute oder Modi). Obwohl das PIU natürlich eine gewichtige metaphysische Annahme darstellt, werde ich es hier ebenfalls als Teil von Spinozas metaphysischem Rahmen akzeptieren.³⁷ Ausgehend von diesen metaphysischen Rahmenbedingungen argumentiert Spinoza in E1p5d in zwei Schritten. Zunächst hält er fest, dass zwei Substanzen, die sich hinsichtlich ihrer Attribute unterscheiden, kein Attribut teilen können, weil sie sich schließlich in genau diesem Punkt voneinander unterscheiden. Obwohl dieser Schritt bereits problematischer ist, als es den Anschein hat, konzentriere ich mich für den Moment auf den zweiten Schritt, der prima facie noch wesentlich unplausibler wirkt.³⁸ Dort behauptet Spinoza, dass, wenn man zwei Substanzen desselben Attributs miteinander vergleicht, die Modi „beiseite ge Siehe Epd: „Si darentur plures distinctae, deberent inter se distingui vel ex diversitate attributorum, vel ex diversitate affectionem (per prop. praeced.).“  Eax: „Omnia, quae sunt, vel in se, vel in alio sunt.“  Möglicherweise erlaubt Spinoza auch Modi von Modi (also Modi zweiter Ordnung). Doch auch ein solcher Modus höherer Ordnung hängt natürlich indirekt von einer Substanz ab.  Vgl. Epd.Was es heißt, dass Attribute die Substanz konstituieren, werde ich in Abschnitt . diskutieren.  Für eine konzise Diskussion der Rolle des PIU in Spinozas Metaphysik siehe Della Rocca , S. . In Kapitel  gehe ich ausführlich auf das PIU bei Leibniz ein.  In Abschnitt . widme ich mich ausführlich dem ersten Schritt dieses Beweises und diskutiere Leibniz’ Einwand dagegen.

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1 Spinozas Argument für den Nezessitarismus

lassen“ werden können. Stattdessen könne man sich auf die Substanz „in sich selbst, d. h. […] wahrheitsgemäß betrachtet“ konzentrieren.³⁹ Anders gesagt, Unterschiede hinsichtlich der Modi „zählen“ einfach nicht, wenn es um die Individuierung von Substanzen geht. Gesteht man dies zu (und akzeptiert ferner den ersten Schritt des Beweises sowie den metaphysischen Rahmen einschließlich des PIU), dann folgt tatsächlich, dass keine zwei Substanzen ein Attribut teilen können. Doch warum sollte man zugestehen, dass man einfach von den Modi absehen kann? Ist es nicht höchst unplausibel, das cartesische Szenario mehrerer denkender oder mehrerer ausgedehnter Substanzen einfach a priori auszuschließen? Genau an diesem Punkt hakt Garrett mit seinem dritten Schritt ein. Er glaubt, dass man mit Hilfe des Nezessitarismus erklären kann, warum es legitim ist, von den Modi abzusehen: If all modes follow from attributes in such a way that no attribute could possibly have given rise to a different set of modes, then we will indeed be entitled to set the modes to one side in our attempt to distinguish two different substances with the same attribute; for any difference in modes will necessarily be due to some difference of attributes, and hence the second alternative for distinguishing two substances (difference of modes) will reduce to the first (difference of attributes).⁴⁰

Daraus schließt er, dass man den Nezessitarismus bemühen sollte, um den Beweis für den Substanzmonismus zu reparieren: [I]f we construe the dependence of modes on attributes in the strict way dictated by a necessitarian interpretation of Spinoza, then we have a much more natural and persuasive basis for one crucial step of the demonstration of E1p5, and hence for one crucial step in his argument for monism.⁴¹

Garrett zufolge hängt der Substanzmonismus also argumentativ vom Nezessitarismus ab. Folgen wir seiner Interpretation und lesen Spinoza vom Beginn der Ethik an als Nezessitaristen, dann macht der Beweis für E1p5, und damit auch der Beweis für den Substanzmonismus in E1p14d, in der Tat einen wesentlich plausibleren Eindruck als zunächst angenommen.

 In Epd heißt es: „At si ex diversitate affectionum, cum substantia sit prior natura suis affectionibus (per prop. .), depositis ergo affectionibus et in se considerata, hoc est (per defin. . et axiom. .) vere considerata, non poterit concipi ab alia distingui, hoc est (per prop. praeced.) non poterunt dari plures, sed tantum una.“  Garrett , S. .  Garrett , S.  – .

1.3 Nezessitarismus und Substanzmonismus

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Garretts Strategie, den Nezessitarismus als implizite Prämisse in das Argument für den Substanzmonismus quasi zu importieren ist zweifellos elegant. Wie ich im Rest dieses Abschnitts zeigen werde, scheitert sie aber letztlich sowohl an exegetischen als auch an systematischen Schwierigkeiten. Zunächst fällt ein vergleichsweise einfacher Punkt ins Auge. In der Reihenfolge des ersten Teils der Ethik steht der Substanzmonismus (in E1p14) vor dem Nezessitarismus (in E1p29 und E1p33). Nimmt man an, dass Spinoza seine Folgerungen aus den Definitionen und Axiomen nicht in beliebiger Reihenfolge, sondern aufeinander aufbauend entwickelt, dann legt dies nahe, dass die Erklärungsrichtung entweder umgekehrt verläuft – dass also der Nezessitarismus argumentativ vom Substanzmonismus abhängt – oder dass gar kein argumentativer Zusammenhang zwischen den beiden Thesen besteht. Viel schwerer wiegt allerdings ein zweiter Punkt, der gegen Garretts Lesart geltend gemacht werden kann. In beiden offiziellen Argumenten für den Nezessitarismus (in E1p29d und in E1p33d) führt Spinoza den Substanzmonismus als Prämisse an. E1p29d beginnt mit den Worten: „Was auch immer ist, ist in Gott (nach Lehrsatz 15).“⁴² E1p15 ist eine direkte Konsequenz des Substanzmonismus und der Substanz-Modus-Ontologie.⁴³ Und in E1p33d bezieht sich Spinoza auf E1p14c, wo es heißt, „dass es in der Natur nur eine Substanz gibt“.⁴⁴ Spinoza verweist also in beiden Nezessitarismusbeweisen explizit auf den Substanzmonismus.⁴⁵ Vor diesem Hintergrund erscheint Garretts Strategie, den Nezessitarismus als implizite Prämisse in Spinozas Argument für den Substanzmonismus einzubauen, problematisch. Es droht unmittelbar ein Zirkel. Einerseits verwendet Spinoza offenbar den Substanzmonismus als Prämisse in seinen Beweisen für den Nezessitarismus. Andererseits beweist er Garrett zufolge den Substanzmonismus mithilfe des Nezessitarismus. Garretts Vorschlag führt also dazu, dass wir Spinoza ein mehr als fragwürdiges Argumentationsmuster unterstellen müssen. An dieser Stelle könnte man einwenden, dass der Nezessitarismus am Anfang des ersten Teils der Ethik zwar noch nicht explizit gemacht worden ist, dass er aber implizit bereits vorausgesetzt werden kann. Möglicherweise, so könnte man argumentieren, folgt er ja einfach aus einigen Definition und Axiomen, was den Verweis auf den Substanzmonismus in E1p29d und E1p33d überflüssig machen

 Epd: „Quicquid est, in Deo est (per prop. .) […].“  In Epd rekurriert Spinoza auf Ep, auf die Definitionen von Substanz (Edef) und Modus (Edef) sowie auf Eax, wo er ausführt, dass es außer Substanzen und Modi nichts gibt.  Epc: „Deum esse unicum, hoc est (per defin. .) in rerum natura non nisi unam substantiam dari […].“  Warum Spinoza so vorgeht, werde ich im Abschnitt . erläutern.

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1 Spinozas Argument für den Nezessitarismus

würde (vielleicht, so könnte man weiter argumentieren, hätte Spinoza den Nezessitarismus genauso gut auch anders beweisen können).⁴⁶ Eine solche Strategie kann aber nicht funktionieren. Es stimmt zwar, dass der Nezessitarismus aus den Definitionen und Axiomen des ersten Teils der Ethik logisch folgt (vorausgesetzt Spinoza hat recht), doch dies ist nicht weiter verwunderlich. Es ist schließlich gerade die Pointe von Spinozas geometrischer Methode, dass man jeden Lehrsatz der Ethik aus einigen wenigen Definitionen und Axiomen folgern können soll. Logisch gesehen stehen somit alle Lehrsätze auf einer Stufe, da sie sich einfach aus den Definitionen und Axiomen ableiten lassen können sollen. Wie Garrett selbst jedoch überzeugend gezeigt hat, gibt es neben diesen logischen Folgerelationen auch noch explanatorische Relationen zwischen den einzelnen Lehrsätzen der Ethik,⁴⁷ und diese explanatorischen Relationen sind in aller Regel asymmetrisch.Wie die Hinweise auf E1p29d und E1p33d gezeigt haben, ist Spinoza offenbar der Auffassung, dass der Nezessitarismus explanatorisch vom Substanzmonismus abhängig ist, nicht jedoch umgekehrt der Substanzmonismus vom Nezessitarismus. Daran ändert auch die Tatsache, dass der Nezessitarismus logisch aus den Definitionen und Axiomen des ersten Teils folgt, nichts, da dies schließlich trivialerweise für alle Lehrsätze gilt (bzw. gelten soll). Das verhindert jedoch nicht, dass asymmetrische explanatorische Relationen zwischen den Lehrsätzen bestehen. Garretts Interpretation hat also die unschöne Konsequenz, dass Spinoza selbst die explanatorischen Relationen zwischen den zentralen Lehrsätzen im ersten Teil der Ethik nicht klar waren. Ein solches Resultat sollte nach Möglichkeit vermieden werden. Vor diesem Hintergrund ist klar, dass wir Spinozas Äußerungen in E1p29d und E1p33d ernst nehmen müssen. Offenbar glaubt er, dass der Substanzmonismus explanatorisch vorrangig gegenüber dem Nezessitarismus ist und nicht umgekehrt. Aber warum genau verwendet Spinoza den Substanzmonismus als Prämisse in seinen Nezessitarismusbeweisen? Diese Frage kann nur eine genauere Analyse seiner Argumente beantworten. Aus diesem Grund werde ich im nächsten Abschnitt Spinozas Beweise für seinen Nezessitarismus in E1p29d und E1p33d rekonstruieren.

 Das scheint Garretts Strategie zu sein (vgl. Garrett , S. ).  Vgl. Garrett , S.  – .

1.4 Spinozas Argument für den Nezessitarismus in E1p29d und E1p33d

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1.4 Spinozas Argument für den Nezessitarismus in E1p29d und E1p33d In Abschnitt 1.2 haben wir gesehen, dass Spinoza Nezessitarist ist. Nun soll es um die wesentlich schwierigere Frage gehen, warum er diese radikale Position vertritt. Im letzten Abschnitt ist klar geworden, dass der Substanzmonismus in seiner Argumentation offenbar eine Rolle spielt.Welche Rolle dies genau ist, und was die anderen Prämissen des Arguments sind, soll nun eine Rekonstruktion der Nezessitarismusbeweise in E1p29d und E1p33d zeigen. Der Text von E1p29d lautet: [1] Was auch immer ist, ist in Gott (nach Lehrsatz 15), [2] und Gott kann nicht ein kontingentes Ding genannt werden, existiert er doch (nach Lehrsatz 11) notwendigerweise und nicht kontingenterweise. [3] Ferner, die Modi der göttlichen Natur sind aus ihr ebenfalls notwendigerweise und nicht kontingenterweise erfolgt (nach Lehrsatz 16), und zwar insofern die göttliche Natur entweder als absolut angesehen wird (nach Lehrsatz 21) oder als dazu bestimmt, in einer bestimmten Weise zu handeln (nach Lehrsatz 28). [4] Des Weiteren ist Gott nicht nur die Ursache dieser Modi, insofern sie einfach existieren (nach Folgesatz zu Lehrsatz 24), sondern auch (nach Lehrsatz 26) insofern sie als dazu bestimmt angesehen werden, irgendetwas zu bewirken. Wenn sie von Gott (nach dem genannten Lehrsatz) nicht dazu bestimmt sind, ist es unmöglich, nicht kontingent, dass sie sich selbst dazu bestimmen; und umgekehrt (nach Lehrsatz 27), wenn sie von Gott dazu bestimmt sind, ist es [ebenfalls] unmöglich und nicht kontingent, dass sie sich selbst zu unbestimmten machen. [5] Demnach ist alles aus der Notwendigkeit der göttlichen Natur bestimmt, nicht nur überhaupt zu existieren, sondern auch in einer bestimmten Weise zu existieren und etwas zu bewirken; und es gibt nichts Kontingentes. W. z. B. w.⁴⁸

Dieses Argument kann wie folgt rekonstruiert werden: (1) Alles ist in Gott. (E1p15)

 Epd: „Quicquid est, in Deo est (per prop. .); Deus autem non potest dici res contingens. Nam (per prop. .) necessario, non vero contingenter existit. Modi deinde divinae naturae ex eadem etiam necessario, non vero contingenter secuti sunt (per prop. .) idque vel quatenus divina natura absolute (per prop. .), vel quatenus certo modo ad agendum determinata consideratur (per prop. .). Porro horum modorum Deus non tantum est causa, quatenus simpliciter existunt (per coroll. prop. .), sed etiam (per prop. .) quatenus ad aliquid operandum determinati considerantur. Quod si a Deo (per eand. prop.) determinati non sint, impossibile, non vero contingens est, ut se ipsos determinent; et contra (per prop. .) si a Deo determinati sint, impossibile, non vero contingens est, ut se ipsos indeterminatos reddant. Quare omnia ex necessitate divinae naturae determinata sunt non tantum ad existendum, sed etiam ad certo modo existendum et operandum, nullumque datur contingens. Q. e. d.“

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1 Spinozas Argument für den Nezessitarismus

(2) Gott existiert notwendigerweise. (E1p11) (3) Die Modi werden von Gott notwendigerweise hervorgebracht. Dabei ist es egal, ob Gottes Natur als unbedingt oder als bedingt angesehen wird, ob es sich also um unendliche oder um endliche Modi handelt. (E1p16, E1p21, E1p28) (4) Gott ist auch die Ursache der Modi, insofern diese bestimmt sind etwas zu bewirken, nicht nur, insofern diese existieren. (E1p26) (5) Also existieren alle Modi notwendigerweise auf eine bestimmte Weise. Es gibt nichts Kontingentes. Prämisse (1) bringt den Substanzmonismus zum Ausdruck. Genauer gesagt macht Spinoza klar, dass er eine Version des Monismus vertritt, die Jonathan Schaffer als Prioritätsmonismus bezeichnet. Diese schwächere Form des Monismus kontrastiert Schaffer mit dem Existenzmonismus, dem zufolge es nur ein einziges Objekt gibt und sonst gar nichts.⁴⁹ Folgt man dieser These, dann sind Einzeldinge wie Tische oder Äpfel bloße Illusionen und existieren in Wirklichkeit nicht (vermutlich kann man Parmenides als einen solchen Existenzmonisten lesen). Prioritätsmonisten wie Spinoza und Schaffer hingegen behaupten lediglich, dass Tische und Äpfel weniger fundamental sind als das einzige, fundamentale Objekt (in Spinozas Fall die Substanz, in Schaffers Fall der Kosmos). Neben dem Substanzmonismus klärt uns (1) auch über das Verhältnis zwischen der Substanz und den weniger fundamentalen Dingen, den Modi, auf. Spinoza wiederholt seine Behauptung aus E1p15, wo er sagt, dass alle Dinge in Gott bzw. in der Substanz sind. Alltägliche Gegenstände wie Äpfel, Tische und Stühle sind demnach nichts anderes als Modi, die in der Substanz inhärieren. ⁵⁰ Nun ist die

 Für die Unterscheidung zwischen „priority monism“ und „existence monism“ siehe Schaffer , S.  – .  In der Literatur ist es sehr gängig, das Verhältnis zwischen Modi und Substanz als Inhärenzrelation zu beschreiben (siehe z. B. Melamed ). Tatsächlich sollte man aber etwas vorsichtig mit diesem Ausdruck umgehen. Spinoza selbst verwendet das Wort „Inhärenz“ so gut wie nie (für eine Ausnahme, siehe Brief ; Gebhardt IV,  – ). Dafür gibt es einen guten Grund. Die aristotelische Tradition geht davon aus, dass Akzidenzien in Substanzen inhärieren. Für spätscholastische Autoren wie z. B. Suárez sind diese Akzidenzien, obwohl sie in einer Substanz inhärieren, aber von dieser Substanz real distinkt, d. h. im Prinzip lassen sie sich von ihr trennen. Dies ist etwa beim metaphysischen Ausnahmefall der Eucharistie der Fall (vgl. Disputationes .. und Disputationes ..). Modi hingegen sind eine von Akzidenzien verschiedene ontologische Kategorie und inhärieren nicht in Substanzen (vgl. Disputationes .. – ). Sie lassen sich auch nicht von einer Substanz trennen. Modi sind nämlich lediglich modal von der

1.4 Spinozas Argument für den Nezessitarismus in E1p29d und E1p33d

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Tatsache, dass Spinoza eine Substanz-Modus-Ontologie vertritt, an sich natürlich nicht besonders spektakulär. Interessant ist jedoch, dass Spinoza diesen Punkt in E1p29d zur Sprache bringt. Er geht offenbar davon aus, dass dies relevant für sein Nezessitarismusargument ist. Prämisse (2) besagt, dass Gott notwendigerweise existiert. Obwohl dies der erste Schritt im Argument ist, der einen modalen Operator enthält, ist klar, dass auch (1) für Spinoza notwendigerweise gilt. Es ist unmöglich, dass eine andere Substanz außer Gott existiert (dies geht eindeutig aus der Formulierung in E1p14 hervor). Der Substanzmonismus gilt also nicht nur kontingenterweise, sondern mit Notwendigkeit. Prämisse (3) besagt, dass Gott sowohl endliche als auch unendliche Modi mit Notwendigkeit hervorbringt. Warum schreibe ich Spinoza diese Aussage zu? Schließlich ist im entsprechenden Abschnitt von E1p29d weder von unendlichen noch von endlichen Modi die Rede.Vielmehr spricht Spinoza dort davon, dass alle Modi aus Gottes Natur mit Notwendigkeit erfolgen, sowohl wenn wir seine absolute Natur betrachten als auch wenn wir seine Natur als in einer gewissen Weise bestimmt ansehen. Wie ist das zu verstehen? Garrett argumentiert überzeugend dafür, dass etwas dann aus der absoluten Natur eines Attributes folgt, wenn es nicht von der Beschaffenheit einer bestimmten Affektion, d. h. einem Modus, abhängt (die absolute Natur eines Attributes darf also nicht mit dessen vollständiger Natur identifiziert werden).⁵¹ Solche Dinge nennt Spinoza unendliche Modi. ⁵² Endliche Modi hingegen sind solche Modi, die von einer bestimmten Modifikation eines Attributes, d. h. von einem anderen Modus, abhängen. Wenn Spinoza in E1p29d sagt, dass einige Modi aus Gottes absoluter Natur folgen, dann hat er also die unendlichen Modi vor Augen, und wenn er von Modi spricht, die „bestimmt [sind], in einer bestimmten Weise zu handeln“, dann geht es ihm um die endlichen Modi. Sowohl von unendlichen als auch von endlichen Modi sagt Spinoza in E1p29d, dass sie mit Notwendigkeit aus Gottes Natur erfolgen. Prämisse (4) führt eine weitere Spezifikation ein. Nicht nur die Existenz eines endlichen Modus hängt mit Notwendigkeit von der Natur Gottes ab, sondern auch seine konkrete Beschaffenheit sowie seine kausale Rolle im gesamten Netz aller

Substanz verschieden, die sie modifizieren, nicht aber real verschieden. Vor diesem Hintergrund ist es plausibel, dass Spinoza vermeidet, das Verhältnis zwischen Substanz und Modi als Inhärenzrelation zu beschreiben. Er möchte keinesfalls suggerieren, dass Modi real verschieden von der Substanz sind.Wenn ich mich also in diesem Kapitel der heute üblichen Redeweise anschließe und sage, dass spinozistische Modi in der Substanz inhärieren, so verwende ich diesen Ausdruck nicht im technischen Sinn von Spätscholastikern wie Suárez.  Vgl. Garrett , S. .  Vgl. Ep.

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1 Spinozas Argument für den Nezessitarismus

Modi. So wird der Apfel auf meinem Schreibtisch etwa nicht nur hinsichtlich seiner Existenz durch Gott notwendigerweise hervorgebracht; jedes noch so spezifische Merkmal, wie z. B. die spezielle Rotfärbung des Apfels oder seine Dellen, folgt mit Notwendigkeit aus Gottes Natur. Darüber hinaus hat jeder Modus eine ganz spezifische kausale Kraft, die dafür verantwortlich ist, dass der Modus ganz bestimmte Wirkungen hervorbringt. Warum denkt Spinoza, dass (3) und (4) wahr sind?⁵³ Es ist vergleichsweise einfach zu sehen, warum Spinoza glaubt, dass unendliche Modi mit Notwendigkeit von Gott hervorgebracht werden. Unendliche Modi sind sehr allgemeine Charakteristika von Attributen – so sind z. B. Bewegung und Ruhe unendliche Modi des Attributs der Ausdehnung. Es ist intuitiv recht plausibel, dass, sowie das Attribut der Ausdehnung gegeben ist, auch diese Modi gegeben sein müssen. Da Gott das Attribut der Ausdehnung notwendigerweise hat, werden auch die unendlichen Modi der Ruhe und Bewegung mit Notwendigkeit hervorgebracht. Dasselbe gilt natürlich für jeden anderen unendlichen Modus. Doch warum glaubt Spinoza, dass auch die endlichen Modi mit Notwendigkeit aus Gottes Natur folgen? Warum soll jedes Merkmal eines jeden Modus, also z. B. auch ein Kratzer auf meinem Schreibtisch, durch Gottes Natur mit Notwendigkeit festgelegt sein? Grund dafür ist Spinozas radikales Verständnis des Verhältnisses zwischen der Substanz und ihren Modi. Um sein Bild besser nachvollziehen zu können, hilft ein Vergleich mit Descartes. Auch Descartes zufolge hängen Modi von ihren Substanzen ab: Ein bestimmter Modus, z. B. mein Gedanke an die Venus, muss stets ein Modus einer (in diesem Fall denkenden) Substanz sein. Mein Gedanke an die Venus kann also nicht einfach so existieren, unabhängig von einer Substanz, da es einfach in der Natur von Modi liegt, abhängig zu sein. Allerdings setzt für Descartes ein Gedanke an die Venus keine bestimmte Substanz voraus. Im Prinzip ist jede denkende Substanz in der Lage einen Gedanken an die Venus hervorzubringen. Genau in diesem Punkt weicht Spinoza von Descartes’ Modell ab. Dass ein Modus von der Substanz, in der er inhäriert, abhängig ist, heißt für ihn, dass er vollständig durch die Natur dieser Substanz bestimmt sein muss. Deshalb hängt jedes Detail meines Gedanken an die Venus von der Beschaffenheit der Substanz ab, in der dieser Gedanke inhäriert. Betrachten wir die Natur einer cartesischen Substanz, so finden wir keine detaillierten Anweisungen, die festlegen würden, wie genau die Modifikationen dieser Substanz aussehen. Ob und wann ich an

 Spinozas Begründung für () haben wir . kennengelernt. Seine Argumente für () finden sich in Epd-. Siehe hierzu Della Rocca , S.  – .

1.4 Spinozas Argument für den Nezessitarismus in E1p29d und E1p33d

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die Venus denke, ist für Descartes einfach eine kontingente Angelegenheit,⁵⁴ was im Rahmen der cartesischen Ontologie auch nicht weiter überraschend ist. Schließlich wirken unterschiedliche Substanzen aufeinander ein und mein Gedanke an die Venus kann z. B. ganz einfach durch die Venus verursacht sein, etwa wenn ich sie am Abendhimmel betrachte. Für Descartes liegt es also nicht allein an der Natur meiner Substanz, dass ich zu einem bestimmten Zeitpunkt an die Venus denke. Vielmehr ist entscheidend, dass ich mit anderen Substanzen kausal interagiere und dass meine Modi zum Teil durch diese Interaktion mit anderen Substanzen erklärt werden. Für Spinoza ist die Lage anders. Wäre es uns möglich, die Natur der spinozistischen Substanz vollständig zu erfassen, so wären wir zugleich vollständig darüber informiert, wann die Substanz welche Modi produziert (genauso wie bei Leibniz’schen Substanzen, wenn wir deren vollständigen Begriff kennen würden). Warum geht Spinoza von solch einem starken Abhängigkeitsverhältnis zwischen der Substanz und ihren Modi aus? Ein wichtiger Grund hierfür ist, dass er Substanzen als in einem sehr starken Sinne metaphysisch unabhängige Entitäten konzipiert. Zu Beginn der Ethik hält Spinoza fest: „Unter Substanz verstehe ich das, was in sich selbst ist und durch sich selbst begriffen wird.“⁵⁵ Eine Entität ist also genau dann eine Substanz, wenn sie begrifflich und kausal vollkommen unabhängig von anderen Entitäten ist. Diese Konzeption schließt das cartesische Szenario aus, dem zufolge z. B. die Venus meinen Gedanken an die Venus verursachen kann. In diesem Fall wäre ich, eine denkende Substanz, nicht kausal unabhängig, weil nämlich auf eine andere Substanz verwiesen werden müsste, um das Zustandekommen meines Zustands des An-die-Venus-Denkens zu erklären. Gemäß Spinozas Konzeption können die Modi einer Substanz also nicht durch irgendetwas erklärt oder verursacht werden, das außerhalb der Substanz liegt. Dem Prinzip des zureichenden Grundes zufolge muss es aber eine Erklärung für die Existenz bzw. Nichtexistenz eines jeden Modus, den die Substanz produziert, geben.⁵⁶ Wenn externe Ursachen ausgeschlossen sind, kommt dafür nur die Natur der Substanz selbst infrage. Daraus folgt, dass tatsächlich ausschließlich die Natur oder Essenz einer Substanz festlegen kann, welche Modi die Substanz hat. Und da hinreichende Gründe stets nezessitierende Gründe sind, ist außerdem klar, dass die Modi mit Notwendigkeit von der Substanz hervorgebracht werden müssen. Letztlich führt Spinozas radikales Verständnis der Substanz-Modus-Ontologie im Verbund

 Dies wird besonders in AT VIII-B,  –  deutlich.  Edef: „Per substantiam intelligo id, quod in se est et per se concipitur.“  Dass Spinoza das Prinzip des zureichenden Grundes vertritt, geht eindeutig aus Epd hervor. Wie Leibniz vertritt Spinoza also einen ausgeprägten explanatorischen Rationalismus. Siehe hierfür auch Abschnitt  der Einleitung.

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1 Spinozas Argument für den Nezessitarismus

mit seinem explantorischem Rationalismus also zu der These, dass auch die endlichen Modi einer Substanz mit Notwendigkeit aus deren Natur folgen. Bisher habe ich in Spinozas Argument in E1p29d vier Prämissen identifiziert (wobei (4) lediglich eine Spezifikation von (3) war) und Spinozas Motivation für jede dieser Prämissen erläutert. Nun sollten wir uns bemühen, die Fäden von Spinozas Argument zusammenzuführen. Ich glaube, im Kern basiert das Argument in E1p29d auf den folgenden drei Annahmen: (NE) Notwendige Existenz: Die göttliche Substanz existiert notwendigerweise. (SM) Substanzmonismus: Es existiert notwendigerweise nur die göttliche Substanz. Es hätte keine Substanz außer Gott geben können. (NA) Notwendige Abhängigkeit: Alle anderen Dinge folgen mit Notwendigkeit aus der Natur der göttlichen Substanz. Aus (NE), (SM) und (NA) folgt der Nezessitarismus. Wenn es notwendig ist, dass es nur eine fundamentale Entität gibt, die darüber hinaus notwendigerweise auf eine bestimmte Weise beschaffen ist, und wenn außerdem jeder nicht-fundamentale Aspekt der Realität von dieser fundamentalen Entität mit Notwendigkeit abhängt, dann kann es nichts Kontingentes geben. Um die Idee von Spinozas Beweis besser zu verstehen, ist es hilfreich, sich zu vergegenwärtigen, was passieren würde, wenn man jeweils eine der drei Prämissen weglassen würde. Es ist leicht zu sehen, dass wir ohne (NE) nicht zum Nezessitarismus gelangen würden. Zwar wäre es notwendig, dass es nur eine Substanz gibt, und es wäre ferner notwendig, dass diese Substanz mit Notwendigkeit bestimmte Modi hervorbringt. Die Substanz selbst wäre jedoch keine notwendige Entität. Es gäbe mehrere mögliche Welten, die alle genau eine Substanz enthalten, und diese Welten würden sich darin unterscheiden, welche Substanz existiert. Ohne (NE) wäre es also kontingent, dass unsere Welt die wirkliche Welt ist. Was würde geschehen, wenn wir (SM) weglassen würden? Dann gäbe es zwar eine Substanz, die mit Notwendigkeit existiert (nämlich Gott) und die mit Notwendigkeit bestimmte Modi hervorbringt, jedoch wäre es in diesem Szenario möglich, dass neben Gott auch noch andere Substanzen existieren. Neben der göttlichen Substanz, die in allen möglichen Welten existiert, gäbe es dann in einigen möglichen Welten auch noch weitere Substanzen. Obwohl diese Substanzen ihre Modi ebenfalls mit Notwendigkeit hervorbringen würden, wäre ihre eigene Existenz nicht notwendig. Es gäbe somit lediglich hypothetische Notwendigkeit:

1.4 Spinozas Argument für den Nezessitarismus in E1p29d und E1p33d

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Wenn eine Substanz existiert, dann hat sie notwendigerweise bestimmte Modifikationen.⁵⁷ Nun wird auch klar, warum Spinoza den Substanzmonismus in seinem Argument für den Nezessitarismus verwendet. Ohne diesen würde er die Möglichkeit von anderen, nicht-göttlichen Substanzen erlauben, und da diese Substanzen nicht mit Notwendigkeit existieren würden, würden dadurch kontingente Fakten eingeführt.⁵⁸ Zwar würden Gottes Modi immer noch mit Notwendigkeit existieren, die Modi der anderen, nicht-notwendigen Substanzen würden jedoch natürlich nicht mit Notwendigkeit existieren. Wir sind nun also nicht nur in der Lage anzuerkennen, dass Spinoza den Substanzmonismus als Prämisse in seinen Beweisen für den Nezessitarismus anführt, sondern es ist auch deutlich geworden, warum er so vorgeht. Offensichtlich gelangen wir auch dann nicht zur nezessitaristischen Konklusion wenn wir (NA) weglassen. In diesem Fall wäre es zwar notwendig, dass es nur eine Substanz mit unendlich vielen Attributen gibt, und vermutlich würden auch die unendlichen Modi aus den Attributen mit Notwendigkeit folgen, da unendliche Modi (wie Ruhe und Bewegung für das Attribut der Ausdehnung) sehr eng an die Grundstruktur eines Attributs gekoppelt sind. Die endlichen Modi würden jedoch nicht mit Notwendigkeit von der Substanz hervorgebracht. Stattdessen wäre es kontingent, dass die Substanz zu einem gegebenen Zeitpunkt t auf eine bestimmte Weise modifiziert ist. In diesem Szenario hätte die Welt zwar eine notwendige Grundstruktur (nämlich Attribute und unendliche Modi), weniger fundamentale Fakten jedoch wären kontingent. Dass Spinozas Argument für den Nezessitarismus wesentlich auf (NE), (SM) und (NA) beruht, wird auch in seinem zweiten Beweis für den Nezessitarismus deutlich, den er in E1p33d präsentiert. Dort schreibt er: Alle Dinge sind nämlich aus der gegebenen Natur Gottes notwendigerweise erfolgt (nach Lehrsatz 16) und aus der Notwendigkeit der Natur Gottes bestimmt, in einer bestimmten Weise zu existieren und etwas zu bewirken (nach Lehrsatz 29). Hätten die Dinge also von anderer Natur sein oder auf andere Weise zum Wirken bestimmt werden können, so dass die

 Der Begriff der hypothetischen Notwendigkeit ist von Leibniz entlehnt.  Koistinen , S.  –  scheint einen ähnlichen Punkt zu machen, wenn er schreibt: „In my interpretation, Spinoza’s argument for necessitarianism and hence for the impossibility of apparently possible alternative mode systems boils down to this. If besides the actual system of modes another alternative system were possible or conceivable, there should be, in addition to the actual substance, another substance. But Spinoza’s monism excludes such a possibility.“ Merkwürdigerweise taucht der Substanzmonismus allerdings nicht unter den offiziellen Prämissen in Koistinens Rekonstruktion von Spinozas Argument für den Nezessitarismus auf (vgl. Koistinen , S. ).

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1 Spinozas Argument für den Nezessitarismus

Ordnung der Natur eine andere wäre, dann könnte auch Gottes Natur eine andere sein, als sie jetzt ist; somit müsste (nach Lehrsatz 11) jene [andere Natur] ebenfalls existieren, und folglich könnte es zwei oder mehrere Götter geben, was (nach Folgesatz zu Lehrsatz 14) widersinnig ist. Deshalb haben die Dinge auf keine andere Weise und in keiner anderen Ordnung usw. W. z. b. w.⁵⁹

Verwunderlich an diesem Beweis ist zunächst die Tatsache, dass Spinoza sich auf E1p29, also den ersten Nezessitarismuslehrsatz, bezieht. Setzt er damit nicht schon voraus, was er erst beweisen will? Und verschiebt sich damit nicht die gesamte Beweislast auf E1p29d? Tatsächlich ist Spinozas Verweis auf E1p29 in E1p33d recht mysteriös. Darüber hinaus ist auch nicht unmittelbar ersichtlich, warum Spinoza zwei Beweise für den Nezessitarismus anbietet. Sieht man einmal von diesen verwirrenden textlichen Details ab, hat der Beweis in E1p33d eine recht klare Struktur. Folgende Rekonstruktion bietet sich an (ich ersetze den Ausdruck „Gott“ durch „Substanz“): (1) Alle Dinge (d. h. alle Modi) folgen mit Notwendigkeit aus der Natur der Substanz. (E1p16/E1p29) (2) Die Dinge hätten anders sein können. (reductio-Annahme) (3) Die Natur der Substanz hätte anders sein können, als sie tatsächlich ist. (aus (1) und (2)) (4) Da Substanzen notwendigerweise existieren, existiert diese andere mögliche Substanz ebenfalls. (aus (3) und E1p11) (5) Es gibt mehr als eine Substanz. (aus (4) und der Annahme, dass die wirkliche Substanz ebenfalls existiert) (6) Es kann nur eine einzige Substanz geben. (E1p14c) (7) Widerspruch zwischen (5) und (6).

 Epd: „Res enim omnes ex data Dei natura necessario secutae sunt (per prop. .) et ex necessitate naturae Dei determinatae sunt ad certo modo existendum et operandum (per prop. .). Si itaque res alterius naturae potuissent esse vel alio modo ad operandum determinari, ut naturae ordo alius esset, ergo Dei etiam natura alia posset esse, quam jam est; ac proinde (per prop. .) illa etiam deberet existere, et consequenter duo vel plures possent dari Dii, quod (per coroll. . prop. .) est absurdum. Quapropter res nullo alio modo neque alio ordine, etc. Q. e. d.“

1.5 Attribute bei Spinoza

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(8) Deshalb muss (2) falsch sein. Spinoza präsentiert sein Argument also als reductio-Argument. Der Kern seiner Überlegung lässt sich jedoch auch einfacher darstellen. Im Wesentlichen beruht der Gedankengang in E1p33d auf denselben Annahmen, die auch E1p29d zugrunde liegen. Prämisse (1) entspricht der These der notwendigen Abhängigkeit (NA), Prämisse (4) greift auf die These der notwendigen Existenz der Substanz zurück (NE), und Prämisse (6) führt den Substanzmonismus (SM) ein. Doch warum bezieht sich Spinoza zur Rechtfertigung von (NA) auf E1p29? Dieser Lehrsatz soll schließlich schon selbst den Nezessitarismus beinhalten und nicht nur die These der notwendigen Abhängigkeit (die ja, wie gesehen, in E1p29d auch nur als Prämisse auftaucht). Zur Erinnerung, in E1p29 schreibt Spinoza: „In der Natur gibt es nichts Kontingentes, sondern alles ist aus der Notwendigkeit der göttlichen Natur bestimmt, in einer bestimmten Weise zu existieren und etwas zu bewirken.“ Meine Vermutung ist, dass Spinoza die Sorge hatte, dass E1p29 allein, ohne den zugehörigen Beweis, lediglich als eine Version von (NA) missverstanden werden könnte und dass er deshalb einen weiteren Beweis für den Nezessitarismus in E1p33d anbietet. Betrachtet man E1p29 isoliert, könnte man tatsächlich auf die Idee kommen, dass es – obwohl es in der Natur nichts Kontingentes gibt – gleichwohl außerhalb der Natur etwas Kontingentes geben könne: eine andere Substanz mit einer anderen Struktur von Modi, sozusagen eine andere Natur. Dies würde erklären, warum Spinoza in E1p33d nochmals ausdrücklich betont, dass die Existenz eines solchen alternativen Systems von Modi ausgeschlossen ist. Und tatsächlich treten in E1p33d die drei von mir identifizierten Prämissen etwas deutlicher hervor, als dies in E1p29d der Fall ist. Dies ändert aber nichts an der Tatsache, dass beide Beweise im Grunde genommen dasselbe Argument enthalten. In diesem Abschnitt ist deutlich geworden, dass Spinozas Argument für den Nezessitarismus, so wie er es in E1p29d und E1p33d darstellt, im Wesentlichen auf drei Annahmen beruht: der notwendigen Existenz Gottes (NE), dem Substanzmonismus (SM) und der These der notwendigen Abhängigkeit (NA). Damit sind wir nun nicht nur in der Lage anzuerkennen, dass der Substanzmonismus für Spinoza eine wichtige Rolle in der Argumentation für den Nezessitarismus spielt, sondern auch warum dies der Fall ist.

1.5 Attribute bei Spinoza Bisher ist deutlich geworden, dass Spinoza erstens eine durchgängig nezessitaristische Position vertritt und dass sein Nezessitarismus zweitens eng mit seinem

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1 Spinozas Argument für den Nezessitarismus

metaphysischen Gesamtprojekt verknüpft ist – insbesondere mit seinem Substanzmonismus und seiner Substanz-Modus-Ontologie. Ich wende mich nun der zweiten Hauptthese dieses Kapitels zu: der These, dass Spinozas Nezessitarismus letztlich tief in seiner Konzeption von Attributen verwurzelt ist. Bevor ich im nächsten Abschnitt damit beginne, diese Behauptung zu begründen, muss jedoch zunächst geklärt werden, was Spinoza überhaupt genau unter Attributen versteht. Das ist die Aufgabe dieses Abschnitts. Die Definition von „Attribut“ findet sich zu Beginn der Ethik, in E1def4: „Unter Attribut verstehe ich das, was der Verstand an einer Substanz als deren Essenz ausmachend erkennt. (Per attributum intelligo id, quod intellectus de substantia percipit tanquam ejusdem essentiam constituens.)“ Diese Definition hat Kommentatoren immer wieder vor Rätsel gestellt.⁶⁰ Warum wählt Spinoza eine so merkwürdige Formulierung und fügt eine (wenigstens auf den ersten Blick) epistemische Dimension ein, obwohl es hier doch prima facie um eine rein metaphysische Frage geht? In diesem Zusammenhang wurden zwei unterschiedliche Lesarten der Definition vorgeschlagen. Die subjektivistische Interpretation von Spinozas Attributskonzeption betont die epistemische Komponente und liest „tanquam“ als „als ob (aber nicht tatsächlich)“. Vertreter der objektivistischen Interpretation hingegen lesen „tanquam“ als „als (und tatsächlich)“. Objektivisten zufolge konstituieren die Attribute somit tatsächlich die Essenz der Substanz. Subjektivisten hingegen lesen Spinoza so, dass Attribute nur die Arten und Weisen sind, wie ein endlicher oder unendlicher Verstand (je nach Interpretation) die Substanz erfasst. Dies bedeutet ihnen zufolge aber nicht, dass es Attribute wirklich unabhängig von einem Verstand, der sie erfasst, gibt.⁶¹ Bis vor kurzem galt die objektivistische Interpretation als Standardinterpretation. Und tatsächlich gibt es mindestens zwei Gründe, die gegen die subjekti-

 So listet etwa Haserot  nicht weniger als acht unterschiedliche Lesarten der Definition auf.  Der locus classicus der subjektivistischen Interpretation findet sich in Wolfson , S. : „The implications of this passage [Eps] are these: The two attributes appear to the mind as being distinct from each other. In reality, however, they are one. For by proposition X, attributes, like substance, are summa genera (‘conceived through itself’).The two attributes must therefore be one and identical with substance.“ An anderer Stelle charakterisiert Wolfson den Subjektivismus wie folgt: „According to the former [subjectivist] interpretation, to be perceived by the mind means to be invented by the mind, for of themselves the attributes have no independent existence at all but are identical with the essence of the substance“ (Wolfson , S. ). Wolfson ist aber keineswegs der erste Leser von Spinoza, der eine subjektivistische Lesart vorgeschlagen hat. Bereits Leibniz macht in seinen Kommentaren zur Ethik einen ähnlichen Vorschlag (vgl. AA ., ).

1.5 Attribute bei Spinoza

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vistische Auffassung sprechen.⁶² Erstens sagt Spinoza in E1p10s, dass „zwei Attribute als real unterschieden begriffen werden.“⁶³ Es würde wenig Sinn ergeben, Attribute als „real unterschieden“ voneinander zu bezeichnen, wenn sie nur so etwas wie Illusionen des Verstandes wären. Eine zweite Stelle, die die objektivistische Deutung nahelegt ist E1p4, wo Spinoza anmerkt, dass Substanzen und deren Attribute miteinander identisch sind. Da eine Substanz aber sicherlich unabhängig von einem erkennenden Verstand existiert, scheint dies zu implizieren, dass dies auch für die Attribute gilt. Neuerdings ist diese verbreitete Auffassung aber durch einen Artikel von Noa Shein unter Beschuss geraten.⁶⁴ Sie erhebt folgenden Einwand gegen die objektivistische Lesart: Wenn die Attribute tatsächlich real distinkt voneinander sind (wie Objektivisten behaupten), dann müssen, so Shein, auch Modi, die zu unterschiedlichen Attributen gehören, real voneinander verschieden sein. Dies scheint aber Spinozas Behauptung in E2p7s zu widersprechen, wo es heißt, „dass ein Modus von Ausdehnung und die Idee dieses Modus [also der entsprechende Modus des Geistes] ein und dasselbe Ding sind, aber in zwei Weisen ausgedrückt.“⁶⁵ Shein zufolge ist es also im Rahmen der objektivistischen Interpretation schwierig, die Einheit der Modi zu gewährleisten, die in E2p7s gefordert wird. Schließlich müssen Modi, die zu unterschiedlichen Attributen gehören, Objektivisten zufolge real voneinander verschieden sein.⁶⁶ Shein argumentiert weiter, dass Objektivisten aus diesem Grund attributneutrale oder trans-attributale Eigenschaften annehmen müssen.⁶⁷ Diese Konzeption erlaubt folgende Lösung des Problems: Ein ausgedehnter und ein denkender Modus können attribut-neutrale Eigenschaften teilen – insofern können sie miteinander identisch sein. Hinsichtlich derjenigen Eigenschaften, die von den jeweiligen Attributen abhängen, unterscheiden sie sich aber voneinander. Diese Strategie lässt somit die geforderte Einheit der Modi zu, ohne die reale Verschiedenheit der Attribute zu gefährden. Leider lässt sich diese Position so nicht halten. Shein führt aus:

 Die wichtigsten Einwände gegen die subjektivistische Lesart finden sich bereits in Gueroult . Siehe für eine konzise Zusammenfassung Shein , S.  – .  Eps: „[…] duo attributa realiter distincta concipiantur […].“  Für das Folgende, vgl. Shein , S.  – .  Eps: „Sic etiam modus Extensionis et idea illius modi una eademque est res, sed duobus modis expressa.“  Vgl. Shein , S. .  Vgl. Shein , S.  und S. . Della Rocca , S.  führt neutrale Eigenschaften ein. Für in dieser Hinsicht vergleichbar hält Shein Bennett , S. , Donagan , S.  –  und Gueroult , S.  – .

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1 Spinozas Argument für den Nezessitarismus

These trans-attribute properties or features cannot be perceived as such, since everything, for Spinoza, must be perceived under an attribute (1P10Schol). It seems, then, that what accounts for one of the most fundamental features of Spinoza’s metaphysical system, namely the unity of the modes of different attributes, is rendered unknowable in principle on the objectivist interpretation.⁶⁸

Man könnte diese epistemische Formulierung auch metaphysisch wenden: Attribut-neutrale Eigenschaften haben in Spinozas Metaphysik einfach keinen Platz, da ein Modus immer unter einem Attribut stehen muss und von diesem ontologisch abhängig ist. Eine solche Formulierung würde Shein allerdings vermutlich ablehnen, da damit bereits die objektivistische Interpretation vorausgesetzt würde. Ihre Pointe ist aber, dass sie weder die objektivistische noch die subjektivistische Interpretation für angemessen hält. Shein glaubt, dass Spinoza nur eine distinctio rationis zwischen Substanz und Attributen annimmt: These conceptions of the finite mind are not something added to the conception of substance; nor is there a gap between our conceptions of the substance and the substance itself. As we have just seen, the reason why there is no gap or anything illusory about the conception of attributes is that attributes are only rationally distinct from the substance; that is, in re they are the same. To conceive the attribute is to conceive the substance.⁶⁹

Ich stimme Shein hier sachlich in den meisten Punkten zu: Tatsächlich ist die Substanz mit den Attributen identisch. Und wenn man ein Attribut erfasst, erfasst man dadurch die Substanz (und zwar vollständig). Allerdings würde ich sagen, dass man die Substanz deshalb unter unterschiedlichen Attributen erfassen kann, weil sie tatsächlich unterschiedliche Attribute hat – dies entspricht aber natürlich wieder der objektivistischen Interpretation. Bin ich damit aber nicht Sheins Einwand gegen diese Interpretation ausgesetzt? Ich glaube nicht. Tatsächlich ist es problematisch, attribut-neutrale Eigenschaften einzuführen – diese haben in Spinozas Metaphysik tatsächlich schlicht und ergreifend keinen Platz. Aber ich glaube, darauf sind Vertreter der objektivistischen Lesart auch gar nicht festgelegt. Stattdessen sollten sie von attributübergreifenden Eigenschaften sprechen. Damit meine ich nicht Eigenschaften, die unabhängig von jeglichem Attribut bestehen oder erfasst werden können, sondern vielmehr Struktureigenschaften, die unter allen Attributen gleich sind. Ein ausgedehnter Modus und ein diesem korrespondierender denkender Modus teilen diese strukturellen Eigenschaften, die ihre Einheit garantieren, womit die Herausforderung, die sich laut Shein den Objektivisten stellt, erfüllt ist. Das bedeutet

 Shein , S. .  Shein , S. .

1.6 Spinozas Beweis für E1p5

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aber keineswegs, dass die strukturellen Eigenschaften unabhängig von den Attributen existieren könnten. Es gibt keine metaphysische Schicht von attributneutralen Eigenschaften,⁷⁰ die fundamentaler wäre als die der attributsgebundenen Eigenschaften. Was es gibt, sind Strukturmerkmale, die sich bei Modi unterschiedlicher Attribute gleichen können. Diese Modi nehmen dann sozusagen die gleiche Stelle im Netz ihres jeweiligen Attributes ein. Wenn also etwa ein ausgedehnter Modus, z. B. ein Tisch, eine bestimmte Ursachenkette hat und selbst bestimmte Dinge verursacht, so nimmt er dadurch eine spezifische Stelle im kausalen Netz aller ausgedehnten Modi ein, die sich funktional bestimmen lässt. Der parallele Modus unter dem Attribut des Denkens, also die Idee des Tisches, nimmt im Netz der Ideen dieselbe funktionale Rolle ein wie der Tisch im Netz der ausgedehnten Modi. Die Behauptung der objektivistischen Interpretation ist also nicht, dass bestimmte Eigenschaften unabhängig von jeglichem Attribut erkannt werden können. Stattdessen postuliert sie Strukturmerkmale, die unter mehreren Attributen erfasst werden. Aus diesem Grund ist diese Variante der objektivistischen Interpretation Sheins Vorwurf nicht ausgesetzt.

1.6 Spinozas Beweis für E1p5, Leibniz’ Einwand und die nicht-kombinatorische Konzeption von Attributen Im letzten Abschnitt ist deutlich geworden, dass spinozistische Attribute objektiv in der Welt existieren und nicht bloß subjektive Weisen sind, auf die wir die Substanz erfassen. Damit ist die Grundlage für meinen nächsten Argumentationsschritt gelegt. Ich möchte nun zeigen, dass Spinozas Attributskonzeption entscheidend für seine Begründung des Nezessitarismus ist. Genauer gesagt werde ich argumentieren, dass Spinoza eine nicht-kombinatorische Konzeption von Attributen vertritt und dass diese zentral für sein Argument für den Nezessitarismus ist. Ausgangspunkt meiner Analyse ist Lehrsatz E1p5 und der dazugehörige Beweis. Wie bereits in Abschnitt 1.3 gesehen, vertritt Spinoza in E1p5 die These, dass keine zwei Substanzen ein Attribut teilen können. In gewissem Sinne ist es natürlich nicht weiter überraschend, dass E1p5 relevant für den Nezessitarismus ist. Wie oben deutlich geworden ist, steht E1p5 an zentraler Stelle im Beweis für den  Shein glaubt, dass alle Objektivisten genötigt sind, eine solche Schicht einzuführen: „Although they differ as to what kind of unity they believe attaches to the modes, they all assign a seemingly ‘deeper’ or ‘super’ layer to the metaphysical structure, namely an attribute-neutral one, to account for the unity“ (Shein , S. ).

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1 Spinozas Argument für den Nezessitarismus

Substanzmonismus in E1p14d. Da der Substanzmonismus, wie gesehen, wichtig für die Argumentation in den Nezessitarismuslehrsätzen in E1p29d und E1p33d ist, muss somit automatisch auch E1p5 wenigstens indirekt von Relevanz sein. Um diese indirekte Abhängigkeit geht es mir hier jedoch nicht. Stattdessen möchte ich zeigen, dass zwischen der Attributskonzeption, die E1p5 zugrunde liegt, einerseits und dem Nezessitarismus andererseits eine sehr viel direktere Verbindung besteht. Diese Verbindung kann nur anhand einer genauen Analyse des Beweises für E1p5 aufgezeigt werden. Wir wissen bereits, dass Spinoza in E1p5d in den folgenden zwei Schritten vorgeht: (1) Wenn sich zwei Substanzen anhand ihrer Attribute unterscheiden, dann kann es keine zwei Substanzen geben, die ein Attribut teilen („Wenn bloß anhand einer Verschiedenheit ihrer Attribute, dann wird es zugestandenermaßen nur eine einzige desselben Attributs geben.“⁷¹). (2) Wenn sich zwei Substanzen hingegen hinsichtlich ihrer Modi unterscheiden, „dann wird eine Substanz, weil sie der Natur nach ihren Affektionen [also ihren Modi] vorangeht (nach Lehrsatz 1), wenn die Affektionen beiseite gelassen werden und sie in sich selbst, d. h. (nach Definition 3 und Axiom 6) wahrheitsgemäß betrachtet wird, nicht als von einer anderen unterschieden begriffen werden können.“⁷² In Abschnitt 1.3 habe ich den zweiten Schritt dieses Beweises diskutiert. Wenden wir uns nun dem ersten Schritt zu. Die Behauptung, dass zwei Substanzen nicht das gleiche Attribut haben können, wenn sie sich hinsichtlich ihrer Attribute unterscheiden, scheint auf den ersten Blick unproblematisch zu sein. Man kann hier z. B. wieder an cartesische Substanzen denken: Wenn Substanz A eine ausgedehnte cartesische Substanz ist und Substanz B eine denkende cartesische Substanz, dann haben diese Substanzen in der Tat kein Attribut gemeinsam. Der Fall ist für Spinoza allerdings komplizierter, da er, anders als Descartes, explizit erlaubt, dass Substanzen mehrere Attribute haben.⁷³ Dies erlaubt es Leibniz, in seinen Kommentaren zu Ethik einen sehr scharfsinnigen Einwand anzubringen. Er präsentiert folgendes Szenario: Stellen wir uns eine Substanz A und eine Substanz B vor, wobei A die Attribute c und d hat, während B die Attribute

 Epd: „Si tantum ex diversitate attributorum, concedetur ergo non dari nisi unam ejusdem attributi.“  Epd: „At si ex diversitate affectionum, cum substantia sit prior natura suis affectionibus (per prop. .), depositis ergo affectionibus et in se considerata, hoc est (per defin. . et axiom. .) vere considerata, non poterit concipi ab alia distingui […].“  Letztendlich ist es für ihn natürlich sogar notwendig, dass es nur eine Substanz gibt, die unendlich viele Attribute hat. Aber das kann hier natürlich noch nicht vorausgesetzt werden, da Ep ja später als Prämisse dienen soll, um genau dies zu zeigen.

1.6 Spinozas Beweis für E1p5

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d und e hat. Die beiden Substanzen lassen sich also anhand ihrer Attribute voneinander unterscheiden. Dennoch teilen sie ein Attribut, nämlich das Attribut d. ⁷⁴ Leibniz argumentiert, dieser Fall zeige, dass zwei Substanzen sehr wohl ein Attribut gemeinsam haben können. Lediglich der cartesische „Spezialfall“ ist ausgeschlossen: Substanz A und Substanz B können nicht dasselbe Attribut haben, wenn es jeweils ihr einziges Attribut ist. Dann wären A und Β nämlich in der Tat ununterscheidbar und somit (unter der Annahme, dass das PIU gilt) miteinander identisch. Auch diese etwas abgespeckte Version wäre natürlich immer noch eine sehr starke philosophische These. So könnte man (wenigstens prima facie) nicht mehr wie Descartes behaupten, dass es mehrere Körper oder mehrere denkende Substanzen gibt, weil diese ja jeweils nur ein Attribut haben (nämlich das Attribut der Ausdehnung bzw. das Attribut des Denkens). Die noch stärkere These aber, für die Spinoza in E1p5d argumentiert, ist durch Leibniz’ Gegenbeispiel gefährdet. Leibniz’ Einwand zeigt definitiv, dass Spinozas Beweis, so wie er in E1p5d geführt wird, lückenhaft ist. Die interessante Anschlussfrage ist nun natürlich, ob sich diese Lücke schließen lässt. Michael Della Rocca hat dafür argumentiert, dass Spinoza tatsächlich in der Lage ist, den Beweis zu reparieren.⁷⁵ Sein Vorschlag setzt bei Spinozas Verständnis von Attributen an. Hätte Leibniz Recht, so Della Roccas Argumentation, dann wäre man allein durch die Betrachtung von Attribut d nicht in der Lage, Substanz A von Substanz B zu unterscheiden. Attribut d ist nämlich genau dasjenige Attribut, das beide Substanzen gemeinsam haben. Um die beiden Substanzen in Leibniz’ Szenario voneinander unterscheiden zu können, müssen außerdem noch die anderen Attribute in Betracht gezogen werden (im Fall von Substanz A das Attribut c und im Fall von Substanz B das Attribut e). Genau das kann jedoch laut Della Rocca nicht der Fall sein, weil uns jedes Attribut für sich genommen in die Lage versetzen muss, die Essenz der entsprechenden Substanz zu erfassen: „So for Spinoza, if a substance has more than one attribute, each attribute by itself must enable us to conceive of the substance, and this can be the case only if each attribute that a substance has is unique to that substance. Thus Leibniz’s scenario is ruled out.“⁷⁶ Della Rocca zufolge genügt es also nicht, dass ein Attribut zur Essenz einer Substanz beiträgt. Vielmehr müssen

 Diesen Einwand bringt Leibniz in G I,  vor: „Nam duae substantiae possunt distingui attributis, et tamen habere aliquod attributum commune, modo etiam aliqua praeterea habeant propria. Ex. gr. A (c, d) et B (d, e) quorum illius attributum sit c. d, hujus d. e.“  Siehe für eine kurze aber konzise Präsentation seiner Antwort auf Leibniz’ Einwand Della Rocca , S. . Eine ausführliche Diskussion findet sich in Della Rocca , S.  – .  Della Rocca , S.  (meine Hervorhebung).

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1 Spinozas Argument für den Nezessitarismus

wir vermittels eines jeden Attributs in gewissem Sinne „vollen Zugriff“ auf die Substanz haben. Tatsächlich scheint Spinoza eine solche Auffassung von Attributen zu vertreten. So heißt es in E1p10s: „[J]edes einzelne [Attribut] drückt vielmehr die Realität oder das Sein von Substanz aus.“⁷⁷ Einen weiteren Beleg kann man in E2p47 erkennen, wo Spinoza sagt, dass der menschliche Geist eine adäquate Kenntnis (cognitio) der Essenz Gottes hat.Wenn jedoch die Kenntnis aller Attribute zur Kenntnis der Essenz einer Substanz nötig wäre, dann wäre ein adäquates Wissen von Gottes Essenz für uns Menschen unmöglich. Schließlich kennen wir nur zwei der unendlich vielen Attribute Gottes. Um Gottes Essenz zu erfassen, reicht es laut Spinoza aber offenbar aus, nur mit einigen seiner Attribute vertraut zu sein. Man kann also eine vollständige Erkenntnis der Essenz Gottes haben, ohne dass dafür eine Kenntnis aller Attribute nötig wäre. Im Hintergrund des Beweises für E1p5 scheint somit folgende zusätzliche Prämisse zu stehen: (Sp_Attr) Jedes Attribut einer Substanz ist, unabhängig von jedem anderen Attribut dieser Substanz, hinreichend dafür, die Essenz dieser Substanz zu erfassen.⁷⁸ Unter Zuhilfenahme dieser Zusatzprämisse lässt sich die Lücke im ersten Schritt in E1p5d tatsächlich schließen. Leibniz’ Gegenbeispiel ist damit ausgeschlossen, weil in diesem Szenario allein die Betrachtung des Attributs d nicht hinreichend wäre, um die Essenz der dazugehörigen Substanz zu bestimmen. (Sp_Attr) ist eine überraschende und folgenreiche Annahme. Zwar glaubt auch Descartes, dass das Attribut einer Substanz hinreichend dafür ist, die Essenz dieser Substanz zu erkennen. Dies ist aber deshalb nicht weiter verwunderlich, weil Descartes pro Substanz jeweils nur ein einziges Attribut zulässt. Sowie man jedoch wie Spinoza davon ausgeht, dass eine Substanz mehrere Attribute haben kann, verwandelt sich diese These in eine sehr starke metaphysische Annahme. Sie besagt dann immerhin, dass man, sobald man auch nur ein einziges Attribut einer Substanz erfasst, damit sofort die gesamte Essenz dieser Substanz erfasst.

 Eps: „[…] sed unumquodque realitatem sive esse substantiae exprimit.“  Vgl. Della Rocca , S. . (Sp_Attr) ist eine leicht geänderte Version der dortigen Prämisse (): „Each attribute of a substance, independently of any other attribute of that substance, is sufficient for conceiving of that substance.“ In Della Rocca , S.  heißt es hingegen: „For Spinoza, such a result would contradict the clause in the definition of attribute according to which each attribute constitutes the essence of substance.“ Wie ich im nächsten Abschnitt ausführen werde, entsteht hier aber nur dann ein Widerspruch, wenn man das Konstituieren der Essenz auf eine bestimmte Weise versteht.

1.6 Spinozas Beweis für E1p5

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Diese Konzeption von Attributen könnte man deshalb auch als nicht-kombinatorisch bezeichnen. Die Essenz einer Substanz muss nicht anhand der Kombination aller Attribute, die diese Substanz konstituieren, abgelesen werden. Stattdessen genügt ein einziges. Dies hat zur Folge, dass ein Attribut sozusagen nicht „wiederverwendet“ werden kann, was man sich leicht anhand eines Beispiels klar machen kann. Nehmen wir an, die Essenz einer Substanz S1 ist durch die Attribute a, b und c konstituiert. Es ist nun nicht möglich, Attribut a mit anderen Attributen, etwa e und f, zu kombinieren, um dadurch eine neue Essenz einer (von S1 verschiedenen) Substanz S2 zu bilden. Da (Sp_Attr) fordert, dass Attribut a hinreichend für die Essenz von S1 ist, ist dieser Fall ausgeschlossen. Denn wenn a auch für die Konstitution von S2 verwendet werden könnte, müsste es ja ebenfalls die gesamte Essenz von S2 ausdrücken. In diesem Fall wäre es aber nicht mehr dasselbe Attribut. Es müsste seine Natur ändern. Es stellt sich nun natürlich sogleich die Frage, ob Spinoza gute Gründe dafür hat, (Sp_Attr) anzunehmen. Warum glaubt er, dass jedes Attribut hinreichend dafür ist, die zugehörige Substanz zu erfassen? Anders gefragt, warum vertritt er eine nicht-kombinatorische Attributskonzeption? Della Rocca glaubt, dass (Sp_Attr) einfach aus der Attributsdefinition und Spinozas Essenzdefinition folgt.⁷⁹ Er schlägt folgendes Argument vor: (1) „Unter Attribut verstehe ich das, was der Verstand an einer Substanz als deren Essenz ausmachend (constituens) erkennt.“ (E1def4) (2) Essenz ist „dasjenige, ohne das das Ding weder sein noch begriffen werden kann, und das seinerseits ohne das Ding weder sein noch begriffen werden kann.“ (E2def2) (Sp_Attr) Jedes Attribut einer Substanz ist, unabhängig von jedem anderen Attribut dieser Substanz, hinreichend dafür, die Essenz dieser Substanz zu erfassen. Ob dieses Argument gültig ist oder nicht, hängt davon ab, wie man den Ausdruck „constituens“ deutet. Allerdings gibt es zwei Weisen „constituens“ zu verstehen. Zunächst könnte man annehmen, dass Spinoza hier ein mereologisches (oder kombinatorisches) Modell vor Augen hat. Demnach wäre ein Attribut sozusagen ein „Teil“ einer Substanz. Nur wenn man alle Attribute kennt, kennt man demnach

 Vgl. Della Rocca , S. . Wie bereits weiter oben erwähnt, weichen Della Roccas Formulierungen und Ausführungen in einigen Punkten von meinen ab.

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1 Spinozas Argument für den Nezessitarismus

auch wirklich die aus ihnen zusammengesetzte Substanz. Diesem Modell zufolge sind Attribute so etwas wie die basalen ontologischen Bausteine, aus denen Substanzen konstituiert werden. Setzt man diese Lesart voraus, dann folgt (Sp_Attr) aber nicht aus (1) und (2), da (1) dann so zu verstehen ist, dass ein Attribut zwar die Essenz der Substanz ‚konstituiert‘, nicht aber notwendigerweise die gesamte Essenz. Dem mereologischen Modell zufolge kann es also sein, dass noch mehr Attribute hinzukommen müssen, um die Essenz sozusagen zu vervollständigen. Nun ist bereits deutlich geworden, dass Spinoza eine solche Interpretation ablehnt und stattdessen eine nicht-kombinatorische Konzeption von Attributen vertritt. Doch dies hilft uns hier nicht weiter, da wir ja gerade an einem Argument für diese Position interessiert sind. Setzt man nämlich Spinozas nicht-kombinatorisches Modell an dieser Stelle bereits voraus – liest man „constituens“ also so, dass ein Attribut die gesamte Essenz einer Substanz konstituiert – dann wäre (1) lediglich eine Umformulierung von (Sp_Attr), wodurch das Argument zirkulär würde. Della Roccas Argument ist also nicht besonders hilfreich dabei, (Sp_Attr) zu begründen. Die eben angeführten Überlegungen legen eher den Schluss nahe, dass Spinoza davon ausgeht, dass er (Sp_Attr) überhaupt nicht begründen muss. Für ihn folgt es einfach deshalb trivialerweise aus E1def4 allein, weil er es für eine begriffliche Wahrheit hält, dass ein Attribut für sich genommen hinreichend für die Erkenntnis der kompletten Substanz ist. Spinoza setzt einfach immer schon die nicht-mereologische Lesart von „constituens“ voraus. Wenn das stimmt, ist es nicht verwunderlich, dass er (Sp_Attr) nicht weiter versucht zu begründen – aus seiner Sicht handelt es sich schließlich praktisch um die Definition selbst! Spinoza liefert also kein Argument für (Sp_Attr). Auch der eben diskutierte Versuch, ein Argument auf Basis weiterer Definition, Axiome oder Lehrsätze zu rekonstruieren, kann nicht funktionieren, da Spinoza schlicht glaubt, dass (Sp_Attr) eine Konsequenz einzig und allein von seiner Attributsdefinition in E1def4 ist. Sind wir also bei einer von Spinoza nicht weiter begründeten (und auch nicht begründbaren) These über die Natur von Attributen angelangt? Handelt es sich bei der nicht-kombinatorischen Attributskonzeption somit um ein fundamentales ontologisches Faktum?⁸⁰ Ich glaube, man kann zumindest über Spinozas Motive spekulieren, Attribute auf eine nicht-kombinatorische Weise zu konzipieren. Wie für Leibniz, so ist auch für Spinoza die Einfachheit und Einheit der göttlichen Substanz von zentraler

 An dieser Stelle danke ich Dominik Perler, der mich dazu angeregt hat hier weiter zu fragen.

1.7 Spinozas Argument für den Nezessitarismus – zum Zweiten

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Bedeutung.⁸¹ Allein die Existenz von Attributen als solche bedroht bereits diese Einfachheit und Einheit. Wenn sich die Substanz in verschiedene Attribute zergliedern lässt, kann sie dann überhaupt noch als basale und einfache ontologische Entität fungieren? Tatsächlich kritisieren einige Interpreten, insbesondere Hegel und Della Rocca, Spinoza für die Einführung von Attributen.⁸² So weit muss man aber vielleicht nicht gehen. Man kann aber nun sehen, warum Spinoza eine kombinatorische Konzeption von Attributen ablehnt. Die Substanz wäre dann gleichsam aus anderen, basaleren Entitäten zusammengesetzt, und sie ließe sich womöglich gar auseinander nehmen, womit aber sowohl die Einfachheit als auch die Einheitlichkeit der Substanz in Gefahr wäre. Ich glaube, dass Spinoza aus diesem Grund das nicht-kombinatorische Modell wählt. Diesem Modell zufolge konstituieren Attribute Substanzen nicht in dem Sinne, dass sie metaphysisch fundamentaler als diese wären.⁸³ Diese Überlegungen machen verständlich, warum sich viele Kommentatoren mit Spinozas Theorie der Attribute so schwer tun. Spinoza muss hier eine Balance wahren, die zentral für seine Metaphysik ist. Auf der einen Seite muss die Einfachheit und Einheit der Substanz gewährleistet werden. Auf der anderen Seite möchte er Attribute haben, die real voneinander distinkt sind. Damit wandelt er auf einem schmalen Grat, und es kann leicht passieren, dass eine der beiden Anforderungen unberücksichtigt bleibt. Die nicht-kombinatorische Attributskonzeption dürfte Teil seiner Strategie sein, in dieser Frage die Waage zu halten.

1.7 Spinozas Argument für den Nezessitarismus – zum Zweiten In diesem Abschnitt widme ich mich ein zweites Mal Spinozas Argumentation für den Nezessitarismus. Ich werde darlegen, dass sich das Argument, so wie ich es in Abschnitt 1.4 rekonstruiert habe, auf eine basalere Form zurückführen lässt. Diese basalere Form konstituiert den eigentlichen Kern von Spinozas Nezessitarismus-

 Für diesen Hinweis danke ich ebenfalls Dominik Perler. Mit den Kriterien der Einfachheit und Einheit folgen Spinoza und Leibniz natürlich der Tradition (auch wenn sie diese, wie so oft, neu interpretieren und radikalisieren). Zu Leibniz’ Umgang mit dem Problem der Einfachheit Gottes, siehe Abschnitt ..  Siehe Della Rocca . Für eine ausführliche Diskussion dieser Thematik (auch bei Hegel) Melamed . Ganz offenbar impliziert eine Realdistinktion für Spinoza keine Trennbarkeit.  Hier scheint dennoch ein Problem vorzuliegen. Wie kann die Substanz einerseits einfach, andererseits aber durch Attribute strukturiert sein? Schließlich sind die Attribute real voneinander verschieden. Ganz offenbar impliziert eine Realdistinktion für Spinoza keine Trennbarkeit.

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1 Spinozas Argument für den Nezessitarismus

Argument und basiert unter anderem auf der nicht-kombinatorischen Konzeption von Attributen, die wir eben kennengelernt haben, sowie auf Spinozas explanatorischem Rationalismus. Mein Vorschlag ist, dass der Nezessitarismus letztlich auf drei Annahmen beruht: (1) der These, dass Gott notwendigerweise existiert und alle Attribute hat; (2) der nicht-kombinatorischen Konzeption von Attributen; und (3) dem Prinzip des zureichenden Grundes. Ich werde zunächst jede dieser drei Annahmen kommentieren und dann erläutern, warum der Nezessitarismus aus ihnen folgt. Im Anschluss werde ich die Verbindung zwischen diesem Argument und dem in Abschnitt 1.4 diskutierten herstellen. Dass Gott alle Attribute hat und mit Notwendigkeit existiert, ist uns bereits bekannt. In E1p11 hält Spinoza fest: „Gott, anders formuliert eine Substanz, die aus unendlich vielen Attributen besteht (constans infinitis attributis), von denen jedes eine ewige und unendliche Essenz ausdrückt, existiert notwendigerweise.“⁸⁴ Charakteristischerweise vertritt Spinoza die (typisch rationalistische) Position, dass das Unendliche (also Gott) gegenüber dem Endlichen prioritär ist (wie später klar werden wird, nimmt Leibniz in dieser Hinsicht genau dieselbe Position ein). So sind Spinoza zufolge endliche Dinge überhaupt nur deshalb denkbar, weil sie vermittels eines unendlichen Wesens verstanden werden. Er schreibt: „Jede Idee […] eines wirklich existierenden Einzeldinges, schließt notwendigerweise eine ewige und unendliche Essenz Gottes in sich.“⁸⁵ Endliche Dinge, wie Tische, Bäume oder Äpfel, können streng genommen nur vollständig begriffen werden, wenn man auch über die Idee eines unendlichen Dinges verfügt. Diese Priorität des Unendlichen ist für Philosophen wie Spinoza und Leibniz der Grund, weshalb sie Gott als Ausgangspunkt für die Bildung ihrer philosophischen Systeme wählen. Die Essenzen endlicher Dinge sind gegenüber der Essenz Gottes derivativ. Die nicht-kombinatorische Konzeption von Attributen haben wir im letzten Abschnitt kennengelernt. Ihr zufolge können Attribute, die eine bestimmte Substanz S1 konstituieren, nicht dazu verwendet werden, um eine andere Substanz S2 zu konstituieren. Da jedes Attribut hinreichend für die Substanz, die es konstituiert, ist, liegt es einfach in der Natur eines Attributs, zu einer bestimmten Substanz zu gehören.

 Ep: „Deus sive substantia constans infinitis attributis, quorum unumquodque aeternam et infinitam essentiam exprimit, necessario existit.“  Ep: „Unaquaeque cujuscunque corporis, vel rei singularis actu existentis, idea Dei aeternam et infinitam essentiam necessario involvit.“ Empiristen gehen üblicherweise von der umgekehrten Erklärungsrichtung aus. So bilden wir etwa laut Locke die Idee Gottes, indem wir die Idee eines endlichen Dinges im Geiste gleichsam vergrößern und von seinen Grenzen abstrahieren (siehe Locke, Essay II, xxiii, §§ – ).

1.7 Spinozas Argument für den Nezessitarismus – zum Zweiten

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Das Prinzip des zureichenden Grundes schließlich ist eines der grundlegenden Prinzipien von Spinozas Philosophie.⁸⁶ Es besagt, dass es keine unerklärbaren, gleichsam nackten Tatsachen gibt, sondern dass es zumindest im Prinzip für alles eine Erklärung gibt.⁸⁷ Spinoza ist also, wie Leibniz, ein Vertreter des explanatorischen Rationalismus, dem zufolge die Wirklichkeit so strukturiert ist, dass es auf jede mögliche Warum-Frage eine erhellende Antwort gibt. Das Prinzip des zureichenden Grundes fordert also, dass es immer einen Grund dafür gibt, dass die Welt so und nicht anders ist.⁸⁸ Wieso folgt aus (1) – (3) der Nezessitarismus? Warum hat die nicht-kombinatorische Konzeption von Attributen gemeinsam mit dem Prinzip des zureichenden Grundes und der Annahme, dass Gott alle Attribute hat und notwendigerweise existiert, die Konsequenz, dass alles, was möglich ist, auch wirklich und metaphysisch notwendig ist? Betrachten wir zunächst nur (1) und (2). Wenn, wie in (1) behauptet, eine Substanz mit allen (unendlich vielen) Attributen notwendigerweise existiert, dann ist aus (2) klar, dass jedes Attribut hinreichend dafür ist, die Essenz Gottes zu erfassen. Somit erlaubt jedes Attribut für sich genommen einen vollständigen Zugriff auf Gottes Essenz. Damit ist es für Spinoza aber ausgeschlossen, dass bloß mögliche, nicht-aktualisierte Substanzen überhaupt auch nur konsistenterweise denkbar sind. Da Gottes Attribute nicht rekombinierbar sind, weil sie deshalb nicht in Essenzen anderer Substanzen eingehen können, und weil darüber hinaus Gott alle Attribute besitzt, sind andere mögliche Substanzen schlicht undenkbar.⁸⁹ Was aber grundsätzlich nicht denkbar ist, kann einem Rationalisten wie Spinoza zufolge auch nicht möglich sein, da es sich prinzipiell jeder Erklärbarkeit entziehen würde, was das Prinzip des zureichenden Grundes verletzten würde. Es ist nun klar, wie die nicht-kombinatorische Konzeption von Attributen zur nezessitaristischen Konklusion beiträgt. Spinoza vertritt (wie auch Leibniz) eine Metaphysik, der zufolge Substanzen durch Attribute konstituiert werden. Möchte man unter dieser Voraussetzung kontingente Tatsachen einführen, dann ist es  Am deutlichsten macht Spinoza das Prinzip des zureichenden Grundes in Epd: „Von jedem Ding muss sich eine Ursache oder ein Grund angeben lassen, weshalb es existiert, wie auch weshalb es nicht existiert.“ („Cujuscunque rei assignari debet causa seu ratio, tam cur existit quam cur non existit.“)  Für mehr zu Spinoza und seiner Beziehung zum Prinzip des zureichenden Grundes, siehe Della Rocca .  Auch hier unterscheiden sich Empiristen klar von Rationalisten wie Spinoza und Leibniz. Am deutlichsten in seiner Ablehnung ist Hume (vgl. Hume, Treatise I..). Für mehr zum Prinzip des zureichenden Grundes bei Leibniz, siehe Kapitel .  Wie im nächsten Kapitel klar werden wird, unterscheidet sich Leibniz in genau diesem Punkt von Spinoza.

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1 Spinozas Argument für den Nezessitarismus

naheliegend, verschiedene mögliche Kombinationen von Attributen zu erlauben, wodurch verschiedene mögliche Substanzen konstituiert werden, von denen aber nicht alle wirklich sein müssen.⁹⁰ Spinozas nicht-kombinatorische Attributskonzeption (2) gemeinsam mit einer Konzeption Gottes als das Subjekt aller Attribute (1) blockiert jedoch genau diesen Schritt. In seinem Bild kann Kontingenz also nicht über bloß mögliche, nicht-wirkliche Substanzen herbeigeführt werden. Aus (1) und (2) allein folgt der Nezessitarismus aber natürlich noch nicht. Es könnte ja immer noch sein, dass die Modifikationen der göttlichen Substanz kontingent sind und nicht mit Notwendigkeit hervorgebracht werden. An diesem Punkt kommt das Prinzip des zureichenden Grundes ins Spiel. Auf Modi angewendet besagt dieses Prinzip, dass es stets einen hinreichenden Grund dafür geben muss, warum ein Modus auf eine bestimmte Art und Weise und nicht anders beschaffen ist. Da Modi aber nicht durch sich selbst begriffen werden, kann der Grund für ihre Beschaffenheit auch nicht in ihnen selbst liegen – Modi sind also keine selbsterklärenden Entitäten. Stattdessen werden sie durch die Substanz,von der sie abhängen, begriffen und erklärt. Der Grund, warum ein Modus eine bestimmte Beschaffenheit aufweist, kann also nur in der Substanz liegen, die den Modus hervorbringt. Weil es für Spinoza außer Gott keine Substanzen gibt, kann der hinreichende Grund für Modi also allein in Gottes Natur liegen, und da Gott seine Natur mit Notwendigkeit hat, müssen auch die Modi mit Notwendigkeit aus dieser Natur folgen. Hätte Gott andere Modi, so müsste auch seine Natur anders sein, was unmöglich ist.⁹¹ Aus (1), (2) und (3) folgt also, dass alles Wirkliche notwendig ist und dass alles Mögliche wirklich ist. Da Gott ein notwendiges Wesen mit allen Attributen ist, und da Attribute nicht rekombinierbar sind, kann es außer Gottes Essenz keine möglichen Essenzen von Substanzen geben. Solche bloß möglichen Essenzen sind Spinoza zufolge noch nicht einmal vorstellbar. Dieser Weg kontingente Tatsachen in Spinozas System zu integrieren wird also durch (1) und (2) ausgeschlossen, und weil es darüber hinaus für jede Modifikation Gottes einen hinreichenden Grund dafür geben muss, warum sie so und nicht anders beschaffen ist, kann Kontingenz auch nicht auf der Ebene der Modi auftreten. Es ist leicht zu sehen, dass dieses Argument strukturell demjenigen aus Abschnitt 1.4 entspricht. Dort habe ich argumentiert, dass Spinozas Beweisführungen in E1p29d und E1p33d im Wesentlichen auf den folgenden drei Prämissen basieren:  Im nächsten Kapitel wird klar werden, dass dies genau der Weg ist, den Leibniz wählt.  Damit der Nezessitarismus wirklich folgt, muss natürlich das Prinzip des zureichenden Grundes selbst auch notwendig sein. Dies scheint Spinoza einfach vorauszusetzen. Zum modalen Status des Prinzips des zureichenden Grundes bei Leibniz, siehe Kapitel .

1.7 Spinozas Argument für den Nezessitarismus – zum Zweiten

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(NE) Notwendige Existenz: Die göttliche Substanz existiert notwendigerweise. (SM) Substanzmonismus: Es existiert notwendigerweise nur die göttliche Substanz. Es hätte keine Substanz außer Gott geben können. (NA) Notwendige Abhängigkeit: Alle Dinge folgen mit Notwendigkeit aus der Natur der göttlichen Substanz. Die Argumentation, die ich in diesem Abschnitt präsentiert habe, folgert den Nezessitarismus aus: (1) der These, dass Gott notwendigerweise existiert und alle Attribute hat; (2) der nicht-kombinatorischen Konzeption von Attributen; und (3) dem Prinzip des zureichenden Grundes. Die Gemeinsamkeiten zwischen den beiden Argumenten sind deutlich. Prämisse (1) entspricht (NE); in beiden wird die notwendige Existenz Gottes behauptet. Zwar erwähnt Spinoza in E1p29d und E1p33d nicht explizit, dass Gott alle Attribute hat. Da dies jedoch einfach im Begriff Gottes liegt,⁹² ist klar, dass diese Annahme auch dort implizit vorausgesetzt wird. Prämisse (2) übernimmt die Rolle von (SM).Wir sind nun in der Lage zu sehen, dass (2) die ganze Zeit im Hintergrund der Nezessitarismusbeweise in E1p29d und E1p33d stand. Durch die nicht-kombinatorische Attributskonzeption werden nicht-aktualisierte Essenzen bloß möglicher Substanzen ausgeschlossen. Genau diese Aufgabe übernahm in E1p29d und E1p33d der Substanzmonismus. Mit der nicht-kombinatorischen Attributskonzeption haben wir somit Spinozas tieferen Beweggrund für seine Ablehnung nicht-aktualisierter Essenzen kennengelernt. Auch in E1p29d und E1p33d steht also die Idee im Hintergrund, dass es schlicht inkonsistent ist, auf der Basis der zur Verfügung stehenden Attribute Essenzen anderer möglicher Substanzen bilden zu wollen. Diese Idee geht aber nur indirekt, vermittels des Substanzmonismus, in die beiden expliziten Formulierungen der Beweise ein. Prämisse (3), das Prinzip des zureichenden Grundes, schließlich übernimmt die Rolle von (NA). Tatsächlich ist dieses Prinzip Spinozas Hauptmotivation, (NA) zu vertreten. Die Modi hängen deshalb mit Notwendigkeit von Gottes Natur ab,

 Vgl. Edef.

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1 Spinozas Argument für den Nezessitarismus

weil es andernfalls keinen hinreichenden Grund für ihre Beschaffenheit gäbe. Da sie vollständig von der göttlichen Substanz abhängen, müssen sie auch vollständig durch diese erklärbar sein, und weil Gottes Natur notwendig ist, müssen auch die Modi notwendig sein. Dieser Abschnitt hat gezeigt, dass Spinozas Nezessitarismus seine Basis in einigen wenigen, sehr basalen metaphysischen Voraussetzungen hat. Dieses Resultat war insofern zu erwarten, als es schließlich das Programm der Ethik ist, sämtliche Lehrsätze aus einigen wenigen Definitionen und Axiomen abzuleiten. Tatsächlich ist es auch nicht weiter überraschend, dass der Nezessitarismus eng mit der Definition Gottes und dem Prinzip des zureichenden Grundes zusammenhängt.⁹³ Dass allerdings Spinozas Metaphysik der Attribute so entscheidend zur nezessitaristischen Konklusion beiträgt, ist ein auf den ersten Blick recht erstaunliches Ergebnis. Man kann schließlich nicht gerade behaupten, dass aus der Attributs-Definition in E1def4 unmittelbar hervorgeht, dass diese solch weitreichenden Konsequenzen für Spinozas Theorie der Modalität haben würde. Und dennoch hat sich gezeigt, dass die nicht-kombinatorische Konzeption von Attributen (die in E1def4 bereits angelegt ist) entscheidend dafür mitverantwortlich dafür ist, dass Spinoza Nezessitarist ist.⁹⁴

1.8 Fazit Ich fasse die wichtigsten Ergebnisse dieses Kapitels kurz zusammen. Abschnitt 1.2 hat gezeigt, dass Spinoza (trotz manchmal gegenteiligen Eindrucks) durchgängig als Nezessitarist gelesen werden kann und sollte. In Abschnitt 1.3 wurde (contra Garrett) klar, dass der Substanzmonismus in Spinozas Narrativ explanatorischen Vorrang gegenüber dem Nezessitarismus genießt. In Abschnitt 1.4 habe ich die Nezessitarismus-Beweise in E1p29d und E1p33d analysiert. Ergebnis dort war, dass diese im Wesentlichen auf drei zentralen Prämissen beruhen: (NE), der

 Insbesondere mit Bezug auf das Prinzip des zureichenden Grundes wurde dies auch von Kommentatoren immer wieder betont. Siehe z. B. Della Rocca  und Lin .  In der Literatur kommt diesem Resultat Olli Koistinen am nächsten. In Koistinen  argumentiert er, dass Spinozas Nezessitarismus aus den folgenden vier Prinzipien folgt: () der notwendigen Existenz von Substanzen; () der Substanz-Eigenschaft Ontologie; () dem Superessentialismus (der These, dass jede Eigenschaft einer Substanz dieser Substanz essentiell ist); () der These, dass mehrere Substanzen keine Attribute teilen können. Prämisse (), also Lehrsatz Ep, ist meiner Interpretation zufolge eine Konsequenz der nicht-kombinatorischen Attributskonzeption, die entscheidend für den Nezessitarismus ist.

1.8 Fazit

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notwendigen Existenz Gottes, (SM), dem Substanzmonismus und (NA), der These der notwendigen Abhängigkeit. In Abschnitt 1.5 habe ich für die objektivistische Interpretation von Attributen argumentiert. Auf dieser Basis konnte ich in Abschnitt 1.6 mittels einer Analyse von E1p5d (und Leibniz’ Einwand gegen den ersten Schritt des Arguments) zeigen, dass Spinoza eine nicht-kombinatorische Konzeption von Attributen vertritt. In Abschnitt 1.7 schließlich wurde klar, dass diese Attributskonzeption, gemeinsam mit Spinozas Definition Gottes und dem Prinzip des zureichenden Grundes, zum Nezessitarismus führt. Außerdem ist deutlich geworden, dass diese drei Annahmen auch den Kern der Beweise in E1p29d und E1p33d bilden – auch wenn dies nicht unmittelbar an der Oberfläche der Texte ablesbar ist. Dennoch bildet die Argumentation, die ich in Abschnitt 1.7 dargestellt habe, die Grundlage für die Argumente in E1p29d und E1p33d. Das vielleicht verblüffendste Resultat dieses Kapitels ist, dass Spinozas Theorie der Attribute so zentral für seine Theorie der Modalität ist. Erstere ist indirekt dafür verantwortlich, dass Spinoza Möglichkeit, Wirklichkeit und Notwendigkeit ineinander kollabieren lässt. Gemeinsam mit der These, dass Gott notwendigerweise existiert und alle Attribute hat und dem Prinzip des zureichenden Grundes führt sie zum Nezessitarismus. Modale Unterscheidungen, die wir sowohl im Alltag als auch in philosophischen Kontexten für gewöhnlich treffen, werden von Spinoza vollkommen eingeebnet. Wie ich bereits zu Anfang des Kapitels betont habe,vertritt Spinoza damit genau genommen zwei Thesen, die bei ihm allerdings stets zusammen auftreten und sich innerhalb seines Systems gar nicht voneinander trennen lassen: Erstens glaubt er, dass alles Mögliche wirklich ist, und zweitens, dass alle Wahrheiten notwendige Wahrheiten sind. Auch wenn Spinoza diese Thesen nicht explizit voneinander trennt, so sollten wir es dennoch tun, da wir andernfalls Leibniz’ Reaktion nicht vollständig verstehen werden. Aber warum sind die Details von Spinozas Argumenten, die in diesem Kapitel Thema waren, überhaupt von Relevanz für Leibniz’ Metaphysik der Modalität? Grund dafür ist erstens, dass Leibniz und Spinoza eine Reihe zentraler Grundannahmen teilen (z. B. einen ausgeprägten explanatorischen Rationalismus), und auf den ersten Blick ist gar nicht so klar, worin genau die Unterschiede zwischen den beiden Philosophen liegen. Um diese herausarbeiten zu können, müssen wir nicht nur mit den metaphysischen Grundlagen von Leibniz’ Theorie der Modalität, sondern auch mit den Voraussetzungen, von denen Spinoza ausgeht, gut vertraut sein. Zweitens entwickelt Leibniz seine Positionen gerade auf dem Gebiet der Modalität in intensiver und expliziter Auseinandersetzung mit Spinozas Philosophie. Dabei sollte man sorgfältig zwischen zwei Schritten unterscheiden (darauf

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1 Spinozas Argument für den Nezessitarismus

habe ich bereits in der Einleitung hingewiesen). Klar ist, dass Leibniz bereits sehr früh in seiner philosophischen Laufbahn davon ausgeht, dass nicht alles, was möglich ist, auch wirklich ist. Leibniz lehnt also Spinozas erste These – die Annahme, dass alle möglichen Essenzen aktualisiert sind – entschieden ab. Im nächsten Kapitel werde ich dafür argumentieren, dass dies nicht zuletzt daran liegt, dass er Spinozas nicht-kombinatorische Konzeption von Attributen nicht teilt. Stattdessen vertritt Leibniz eine kombinatorische Konzeption von Attributen, die es ihm erlaubt, sinnvoll von bloß möglichen, aber nicht-wirklichen Essenzen von Substanzen zu sprechen. In den anschließenden Kapiteln 3 und 4 wird die Struktur dieser Essenzen – also die Struktur der Wahrmacher modaler Wahrheiten – dann näher untersucht. Darüber hinaus hat sich Leibniz aber auch Zeit seines Lebens mit Spinozas zweiter These – also mit der im engeren Sinne nezessitaristischen Annahme, dass alle Wahrheiten notwendige Wahrheiten sind – auseinandergesetzt. Denn selbst wenn Leibniz’ Gott zwischen verschiedenen an sich möglichen Welten auswählen kann – wenn es also nicht-aktualisierte possibilia gibt – könnte es ja dennoch sein, dass er seine Wahl mit Notwendigkeit trifft. Wie sich Leibniz hinsichtlich dieser Frage positioniert, werde ich in Kapitel 5 diskutieren.

2 Göttliche Ideen – Leibniz’ Weg zu den Möglichkeiten 2.1 Einleitung: Ein Platz für possibilia? Im letzten Kapitel ist deutlich geworden, dass Spinozas Metaphysik keinen Platz für bloß mögliche, nicht-wirkliche Dinge lässt. Für Spinoza gibt es nur eine einzige mögliche Welt, und das ist die wirkliche Welt. Für Leibniz ist dies ein inakzeptables Resultat. Leibniz ist zwar genau wie Spinoza ein Anhänger eines ausgeprägten explanatorischen Rationalismus. Zugleich hängt er aber auch – und darin unterscheidet er sich von Spinoza – einem traditionellen theistischen Weltbild an. Gott hat aus einer freien Entscheidung heraus unsere Welt erschaffen, er hätte aber auch eine andere Welt aus einer unendlichen Menge möglicher Welten auswählen können. Neben den wirklich existierenden Dingen gibt es also mögliche Dinge, die nicht von Gott erschaffen wurden. Anders als bei Spinoza ist für Leibniz also nicht alles, was möglich ist, auch wirklich. Dies bedeutet, dass Leibniz in seiner Metaphysik Platz für nicht-realisierte Möglichkeiten schaffen muss, und er tut dies, indem er possibilia mit (den Inhalten von) Ideen in Gottes Intellekt identifiziert. Eine solche metaphysische Verankerung von Modalität in Gottes Intellekt erlaubt es Leibniz, Spinozas Modell eine Alternative gegenüberzustellen. Wie wir sehen werden, vermeidet Leibniz damit außerdem Descartes’ modalen Voluntarismus, dem zufolge Gott einfach frei entscheiden kann, was möglich und was notwendig ist. Leibniz’ modale Metaphysik ist eng mit seinem theistisch geprägten metaphysischen Rahmen verknüpft. Nur weil Gott erstens außerhalb der von ihm erschaffenen Welt existiert, und weil er zweitens den Charakter einer Person hat, bei der Intellekt und Wille getrennt sind, steht es Leibniz überhaupt offen, Modalität in Gottes Intellekt zu fundieren. Würden Intellekt und Wille (wie bei Spinoza) zusammenfallen, dann würde Gott alles, was er denkt, zugleich auch wollen und erschaffen. Und würde Gott nicht außerhalb der Welt stehen, hätten wir ebenfalls ein spinozistisches Bild. Spinozas mit der Welt identische, göttliche Substanz hat zwar Ideen (in der Form von Modifikationen, die unter das Attribut des Denkens fallen), doch wie wir im letzten Kapitel gesehen haben, handelt es sich dabei ausschließlich um Ideen wirklich existierender Dinge. Ideen bloß möglicher, nicht-wirklicher Dinge sind in einem spinozistischen Rahmen also von vornherein ausgeschlossen.

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2 Göttliche Ideen – Leibniz’ Weg zu den Möglichkeiten

Ein persönlicher Gott, der außerhalb der von ihm erschaffenen Welt steht, ist also eine Grundvoraussetzung für Leibniz’ Metaphysik der Modalität.¹ Wie ich in diesem Kapitel zeigen werde, ist der Theismus aber nicht die einzige Bedingung. Es gibt es noch eine weitere Voraussetzung, die weniger offensichtlich ist: Leibniz’ Konzeption von Attributen. Im letzten Kapitel ist deutlich geworden, dass Spinozas nicht-kombinatorische Attributskonzeption eine entscheidende Rolle bei seiner Ablehnung nicht-aktualisierter Essenzen spielt. In diesem Kapitel argumentiere ich, dass der Fall bei Leibniz genau andersherum gelagert ist. Leibniz vertritt eine kombinatorische Attributskonzeption, und dieses Modell – so meine These – legt die metaphysische Grundlage für die nicht-aktualisierten possibilia in Gottes Intellekt. Die Unterschiede zwischen Spinozas und Leibniz’ Modalitätstheorien können so (wenigstens teilweise) durch unterschiedliche metaphysische Hintergrundannahmen bezüglich Attributen erklärt werden. Kurz gesagt argumentiere ich in diesem Kapitel also für die folgende These: These 1: Leibniz vertritt eine kombinatorische Konzeption von Attributen. Dieses Modell ist eine Grundvoraussetzung für Leibniz’ Theorie nicht-aktualisierter possibilia. Leibniz’ Modell, modale Wahrheiten in Gottes Intellekt zu begründen, wirft eine grundsätzliche Frage auf: Warum hat Gott genau die Ideen, die er de facto hat? An diese Frage schließen sich weitere Fragen an: Wenn Gott andere Ideen hätte, wäre dann auch der modale Raum anders gestaltet? Wären also andere Dinge möglich und notwendig als es tatsächlich der Fall ist? Dies wäre eine äußerst merkwürdige Konsequenz. Tatsächlich hält Leibniz mehrfach fest, dass Gott nicht einfach andere Essenzen hätte denken können und dass die modalen Wahrheiten notwendigerweise so sind, wie sie sind.² Leibniz macht damit deutlich, dass er das System S5 akzeptiert, das sich durch das Axiom ¸P → □¸P auszeichnet.³ Der gesamte modale Raum hat also not-

 Dass Gott nicht Teil der Welt ist, macht Leibniz in einem Brief an Gabriel Wagner deutlich: „Diese Dinge wären wahr wenn das Wort ‚Welt‘ so verstanden würde, dass es auch Gott mit einschließen würde. Aber diese Verwendungsweise ist nicht angemessen. Man versteht unter dem Ausdruck ‚Welt‘ nur das Aggregat aller Dinge, die veränderlich oder von Imperfektionen abhängig sind.“ (Grua : „Haec vera forent vocem Mundi ita accipiendo ut etiam comprehendat Deum. Sed haec locutio commoda non est. Mundi nomine intelligi solet aggregatum rerum mutabilium seu imperfectionis obnoxiarum.“)  Siehe etwa DM § und G I, .  Natürlich glaubt Leibniz nicht nur, dass alles, was möglich ist, notwendigerweise möglich ist, sondern auch, dass alles,was notwendig ist, notwendigerweise notwendig ist. Er glaubt also auch,

2.1 Einleitung: Ein Platz für possibilia?

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wendigerweise die Struktur, die er hat. Es ist z. B. notwendigerweise notwendig, dass 2 + 2 = 4, und es ist notwendigerweise möglich, dass Kängurus keine Schwänze haben. Der Umstand, dass Leibniz S5 akzeptiert, ist auch nicht weiter überraschend, da seine Theorie andernfalls droht, das Prinzip des zureichenden Grundes zu verletzen. Wenn Gott auch andere Ideen hätte haben können, dann wäre es letztlich eine willkürliche Entscheidung Gottes, oder schlicht Zufall, an welche Essenzen er denkt. Diese Konsequenz muss Leibniz um jeden Preis vermeiden, da sie seinem explanatorischen Rationalismus zuwider laufen würde. Dies bedeutet aber, dass Leibniz eine Erklärung dafür liefern muss, dass Gott diejenigen possibilia denkt, die er de facto denkt. Leibniz’ Analyse von Modalität kann also nicht einfach bei den Ideen Gottes als unerklärten Erklärern enden. Stattdessen sind – und dies ist die zweite These dieses Kapitels – Gottes Ideen in Gottes Attributen, und damit letztlich in Gottes Essenz, fundiert. Meine zweite These lautet also: These 2: Leibniz zufolge wird Modalität metaphysisch in den Ideen in Gottes Intellekt fundiert. Dies ist aber nicht der letzte Schritt seiner Analyse. Gottes Ideen wiederum werden in Gottes Attributen, und damit letztlich in seiner Essenz, fundiert. Ich behaupte keineswegs, dass die gängige Auffassung, der zufolge Leibniz Modalität im Intellekt Gottes begründet, falsch ist. Meine These lautet vielmehr, dass Leibniz’ explanatorischer Rationalismus nach einer Erklärung dafür verlangt, dass Gott bestimmte Denkinhalte hat, und dass sich diese Erklärung letztlich in Gottes Essenz findet. Ohne eine solche Erklärung wäre das Prinzip des zureichenden Grundes verletzt, weil Gott seine Ideen dann primitiverweise hätte. Neben These 1 und These 2 thematisiere ich in diesem Kapitel außerdem ein potentielles Problem für Leibniz’ Theorie: Für die christliche Tradition, innerhalb derer Leibniz operiert, ist die Einfachheit Gottes von großer Bedeutung. Gott darf nicht aus verschiedenen Teilen zusammengesetzt sein, sondern muss ein Ding sein. Wie aber kann Gottes Einfachheit gewährleistet sein, wenn er gleichsam aus mehreren Attributen ‚zusammengesetzt‘ ist? Dieses Problem scheint sich durch meine Interpretation, die Leibniz eine kombinatorische Konzeption von Attributen zuschreibt, noch zu verschärfen. Wenn Attribute rekombinierbar sind, bedeutet dies nicht, dass Gott gleichsam auseinander genommen werden kann? Um diese Frage zu klären, müssen wir genauer betrachten, was es Leibniz zufolge bedeutet,

dass das für S charakteristische Axiom □P → □□P wahr ist. Da dieser Satz jedoch ohnehin aus den Axiomen von S folgt, muss er nicht extra angeführt werden.

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2 Göttliche Ideen – Leibniz’ Weg zu den Möglichkeiten

einfach zu sein. Zudem muss geklärt werden, ob Gottes Attribute tatsächlich als Teile aufgefasst werden sollten. Ich werde dafür argumentieren, dass Leibniz über Ressourcen verfügt, die genannten Probleme in den Griff zu bekommen. Insbesondere in seinen Schriften zur Trinitätslehre finden sich dafür vielversprechende Ansätze. Zum Abschluss dieses Kapitels werde ich diskutieren, ob Leibniz’ Fundierung modaler Wahrheiten in Gottes Intellekt uns bei der Frage weiterhilft, wie sich der frühe Leibniz zu Spinozas Nezessitarismus positioniert (eine ausführliche Diskussion dieser Thematik beim mittleren und späten Leibniz erfolgt dann in Kapitel 5). Ist Leibniz, auch wenn er nicht-aktuale possibilia in Gottes Intellekt anerkennt, nicht aus anderen Gründen auf eine nezessitaristische Position festgelegt? Erschafft Gott aufgrund seiner Allmacht und Allgüte nicht mit Notwendigkeit die beste aller möglichen Welten? Eine Analyse einiger Textstellen, unter anderem Leibniz’ Kommentar zu E1p33 aus Spinozas Ethik, wird zeigen, dass die Beantwortung dieser Frage stark davon abhängt, was genau man unter Nezessitarismus versteht. In gewisser Weise bringt Gott alles notwendigerweise hervor. Entscheidend ist aber, dass Gottes Rationalität zwischengeschaltet ist, dass es sich also nicht um eine sogenannte ‚blinde Notwendigkeit‘ handelt. Ich argumentiere dafür, dass es überhaupt nur bedingt hilfreich ist, den Dissenz zwischen Spinoza und dem frühen Leibniz unter dem Label des ‚Nezessitarismus‘ zu diskutieren. Das Problem besteht darin, dass der Begriff „Nezessitarismus“ nicht feinkörnig genug ist. Leibniz geht es in der zweiten Hälfte der 1670er Jahre und in den 1680er Jahren vornehmlich darum, die Realität von possibilia zu garantieren und eine nominalistisch akzeptable Theorie der Modalität zu formulieren. Im Einzelnen gehe ich wie folgt vor. Zunächst thematisiere ich kurz Descartes’ modalen Voluntarismus und Leibniz’ Kritik daran (Abschnitt 2.2). Dadurch wird klar, warum es für Leibniz keine Option ist, modale Wahrheiten in Gottes Willen zu begründen. Im Anschluss werde ich Leibniz’ Theorie, die modale Wahrheiten in Gottes Intellekt fundiert, genauer untersuchen (Abschnitt 2.3). Dabei erläutere ich, wie genau diese Fundierung für Möglichkeit und Notwendigkeit funktioniert. Außerdem gehe ich sowohl auf die Vorteile dieser Theorie als auch auf potentielle Probleme ein. Anschließend nehme ich Leibniz’ Konzeption von Attributen und Essenzen unter die Lupe und zeige, dass diese, im Gegensatz zu Spinozas, kombinatorisch geprägt ist (Abschnitt 2.4). Im nächsten Schritt gehe ich auf die Rolle einfacher Begriffe in Leibniz’ Kombinatorik ein und zeige, dass diese den Attributen entsprechen (Abschnitt 2.5). Im daran anschließenden Abschnitt wird deutlich werden, dass Leibniz Attribute als einfache Formen Gottes konzipiert (Abschnitt 2.6). Wie wir sehen werden, ist dies eine wichtige Voraussetzung dafür, dass Gott in seinem Verstand Ideen aller möglichen Dinge bilden kann. Gleichzeitig wird klar, warum es letztlich Gottes Essenz ist, die für Leibniz Modalität

2.2 Descartes’ modaler Voluntarismus und Leibniz’ Kritik

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begründet (Abschnitt 2.7). Schließlich gehe ich auf Gottes Einfachheit ein (Abschnitt 2.8) sowie auf den Nezessitarismusbegriff (Abschnitt 2.9). Das Kapitel endet mit einem Fazit (Abschnitt 2.10).

2.2 Descartes’ modaler Voluntarismus und Leibniz’ Kritik Um zu verstehen, warum Leibniz Modalität in Gottes Intellekt fundiert, ist es hilfreich, seine Position nicht nur mit derjenigen Spinozas zu kontrastieren, sondern auch mit dem cartesischen modalen Voluntarismus. In diesem Abschnitt werde ich deshalb zunächst kurz erläutern, was genau Descartes’ Position ist, um anschließend auf die Gründe einzugehen, aus denen Leibniz diese Position so entschieden ablehnt. Dabei wird deutlich werden, dass die Position des modalen Voluntarismus nicht mit Leibniz’ explanatorischem Rationalismus vereinbar ist, weil sie letztlich das Prinzip des zureichenden Grundes verletzt. Descartes macht in mehreren Passagen klar, dass er die Auffassung vertritt, dass alle Wahrheiten, sogar die modalen Wahrheiten, von Gottes Willen abhängen. So heißt es etwa im Gespräch mit Burman: [Burman]: Aber woher stammen jene Ideen von möglichen Dingen, die dem Willen vorhergehen? [Descartes]: Auch das hängt,wie alles andere,von Gott ab. Sein Wille ist nämlich nicht nur die Ursache der aktualen und zukünftigen Dinge, sondern auch der möglichen Dinge und der einfachen Naturen. Es gibt nichts, was man sich ausdenken kann oder sollte, von dem wir nicht sagen könnten, dass es von Gott abhängt. [Burman]: Aber folgt daraus nicht, dass Gott einem Geschöpf hätte befehlen können, ihn zu hassen? Und hätte er dies somit nicht zu etwas Gutem machen können? [Descartes]: Gott kann das nicht mehr tun [Jam non potest]; aber was er hätte tun können [quid potuerit], wissen wir nicht. Und warum sollte er nicht in der Lage gewesen sein, einem Geschöpf so etwas zu befehlen?⁴

Descartes glaubt also, dass notwendige Sätze wie ‚2 + 2 = 4‘ nur deshalb wahr sind, weil Gott dies so verfügt hat.⁵ Tatsächlich geht er sogar so weit, Gott als die  AT V,  – : „[]. – Sed unde igitur illae ideae rerum possibilium, quae voluntatem antecedunt? R. – Et illa et omnia alia pendent a Deo; illius enim voluntas non solùm est causa rerum actualium et futurarum, sed etiam possibilium et naturarum simplicium, nec quicquam fingi potest aut debet quod non a Deo pendere dicamus. []. – Sed an ergo potuisset Deus imperare creaturae ut se odisset, et hoc bonum ita instituisse? R. – Jam non potest; sed quid potuerit, nescimus; et quidni creaturae hoc imperare potuisset?“  Siehe dafür insbesondere auch AT I,  – .

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2 Göttliche Ideen – Leibniz’ Weg zu den Möglichkeiten

Ursache modaler Wahrheiten zu bezeichnen. Seine Theorie kann man wie folgt veranschaulichen: Gott bringt wirkursächlich die Natur oder Essenz des Dreieckes hervor, von der wiederum die notwendigen Sätze über Dreiecke abhängen.⁶ Gott hätte aber auch andere Essenzen, und somit auch andere notwendige Wahrheiten, wollen und verursachen können. In einem Brief an Mersenne hält Descartes fest, dass jede andere Position der Blasphemie gleichkäme, weil es dann Wahrheiten gäbe, die nicht von Gott gewollt und somit unabhängig von ihm wären.⁷ Dieser modale Voluntarismus hat Interpreten immer wieder verblüfft. Wie kann eine Proposition den Status einer notwendigen Wahrheit haben, wenn Gott jederzeit durch einen Willensakt bewirken kann, dass ihr Gegenteil wahr ist? Und wie kann etwas unmöglich sein, wenn Gott bewirken kann, dass es möglich ist? Heißt das nicht einfach, dass es schon immer möglich war?⁸ Ich kann auf diese Fragen hier nicht im Detail eingehen.⁹ Wichtig für unseren Zusammenhang ist, dass Descartes nicht behauptet, dass etwas zugleich notwendig und nicht notwendig oder zugleich möglich und unmöglich ist. Auf Burmans Frage, ob Gott z. B. den Gotteshass zu etwas Gutem hätte machen können,¹⁰ antwortet Descartes in der zitierten Passage, dass Gott das „nicht mehr“ tun kann, dass dies aber grundsätzlich in seiner Macht zu stehen scheint. Und ganz ähnlich hält er in einem Brief an Mesland fest: „Freilich hat Gott gewollt, dass einige Wahrheiten notwendig sind; dies bedeutet aber nicht, dass er sie notwendigerweise gewollt hat. Denn es ist eine Sache, zu wollen, dass sie notwendig sind, und eine ganz andere Sache, das notwendigerweise zu wollen, oder dazu nezessitiert zu werden.“¹¹ Descartes unterscheidet also offenbar zwischen zwei Arten der Notwendigkeit. Sätze wie ‚2 + 2 = 4‘ sind zwar notwendig, d. h. sie können im Rahmen der von

 Siehe für das Beispiel des Dreiecks AT VII, , wo Descartes von der Natur, Essenz oder Form des Dreiecks spricht. Er macht deutlich, dass sich die notwendigen Wahrheiten über Dreiecke aus dessen Essenz ergeben.  Siehe AT I, .  Außerdem ergeben sich einige Folgeprobleme für Descartes’ Gesamttheorie. Wenn Gott die notwendigen Wahrheiten ändern kann, kann er dann beispielsweise auch bewirken, dass er selbst kein notwendiges Wesen ist? Kann er also seine eigene Essenz gleichsam umprogrammieren? Wenn ja, dann hätte dies schwerwiegende Konsequenzen für Descartes’ Theorie, weil dann seine Gottesbeweise nicht mehr ohne weiteres funktionieren würden.  Für eine konzise Analyse, siehe Perler a, S.  –  und Perler b.  Descartes geht offenbar davon aus, dass moralische Wahrheiten, wie etwa, dass es schlecht ist, Gott zu hassen, zu den notwendigen Wahrheiten zu zählen sind.  AT IV,  – : „Et encore que Dieu ait voulu que quelques veritez fussent necessaires, ce n’est pas à dire qu’il les ait necessairement voulues; car c’est toute autre chose de vouloir qu’elle fussent necessaires, & de le vouloir necessairement, ou d’estre necessité.“

2.2 Descartes’ modaler Voluntarismus und Leibniz’ Kritik

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Gott erlassenen Ordnung niemals falsch werden. Allerdings sind solche Sätze nicht notwendigerweise notwendig, weil es grundsätzlich in Gottes Allmacht steht, ihre Notwendigkeit aufzuheben. Genau das gleiche gilt für Möglichkeitsaussagen. Zu sagen, dass etwas möglich ist, impliziert für Descartes nicht, dass es auch notwendigerweise möglich ist.¹² Descartes bestreitet also, dass der Übergang von □p nach □□p und der Übergang von ¸p nach □¸p gewährleistet ist. Er lehnt somit die modallogischen Systeme S4 und S5 und die damit einhergehenden Iterationsprinzipien für alle Formen von Modalität ab – auch für metaphysische Modalitäten.¹³ Dies ist ein sehr radikaler und kontraintuitiver Schritt. Die meisten Philosophinnen gehen davon aus, dass es einfach im Begriff metaphysischer Modalitäten liegt, dass sie notwendigerweise so sind, wie sie sind, dass also der gesamte modale Raum notwendigerweise eine ganz bestimmte Struktur aufweist. Dieser verbreiteten Auffassung zufolge hat eine Person, die denkt, dass Gott den Wahrheitswert von „2 + 2 = 4“ im Prinzip ändern kann, schlicht nicht verstanden, was es heißt, dass dieser Satz mit Notwendigkeit gilt. Diese Intuition teilt offenbar auch Leibniz. So hält er etwa im Discours fest, dass er die Auffassung, die ewigen Wahrheiten der Metaphysik und Geometrie seien nichts als Wirkungen von Gottes Willen, „höchst merkwürdig“ findet.¹⁴ Doch bei dieser Feststellung bleibt Leibniz nicht stehen. Er bietet darüber hinaus auch ein Argument gegen den cartesischen modalen Voluntarismus an. So weist er darauf hin, dass Gott etwas erst einmal erkennen muss, bevor er es per Dekret festlegen kann. Um etwa festlegen zu können, dass Kreise möglich sind, muss Gott zunächst die Natur (d. h. die Essenz) des Kreises klar und deutlich erkennen. Sowie aber die Natur des Kreises klar und deutlich von Gott erkannt wird, ist laut Leibniz bereits klar, dass Kreise möglich sind – andernfalls könnte Gott die Natur des Kreises nämlich gar nicht erkennen. Leibniz zieht daraus den Schluss, dass Gottes Intellekt seinem Willen gegenüber prioritär ist und dass modale Wahr-

 Siehe für diesen Punkt auch Perler , S.  –  und Perler a, S.  – . Perler macht darauf aufmerksam, dass Descartes an die mittelalterliche Unterscheidung zwischen ‚potentia absoluta‘ und ‚potentia ordinata‘ anknüpft. Innerhalb der von Gott verfügten Ordnung lassen sich bestimmte Wahrheiten auch von Gott selbst nicht ändern. Da Gott allmächtig ist, hätte er aber grundsätzlich eine gänzlich andere Ordnung wählen können, innerhalb derer auch andere modale Wahrheiten hätten gelten können.  Manchmal wird argumentiert, dass Gott eine Art prämodales Vermögen („pre-modal power“) hat (siehe etwa Newlands , S. ). Dieser Hinweis ist allerdings nicht sonderlich hilfreich, da der Begriff des Vermögens schließlich selbst modal ist. Bei Gottes Allmacht geht es Descartes vielmehr um höherstufige Modalitäten.  DM §/AA .,  – .

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2 Göttliche Ideen – Leibniz’ Weg zu den Möglichkeiten

heiten nicht auf Gottes Willen beruhen können.¹⁵ Descartes’ modaler Voluntarismus ist ihm zufolge also eine inkohärente philosophische Position. Leibniz’ Argument gegen den modalen Voluntarismus beruht unter anderem auf dem Prinzip des zureichenden Grundes. Seine Grundidee ist, dass Gott nicht einfach willkürlich einer Proposition einen bestimmten modalen Status, sozusagen wie ein Etikett, zuteilen kann. Vielmehr ergeben sich modale Wahrheiten, wie etwa notwendige Sätze über Kreise, aus den Naturen bzw. Essenzen dieser Dinge. Diese Essenzen können aber, so Leibniz’ Überlegung, nicht willkürlich von Gott festgelegt werden, weil es dann keinen hinreichenden Grund für ihre Beschaffenheit gäbe. Sie werden also lediglich von Gott erkannt, nicht gewollt. Leibniz lehnt Descartes’ modalen Voluntarismus also aus prinzipiellen Gründen ab: Der modale Voluntarismus verträgt sich nicht mit seinem explanatorischen Rationalismus. An dieser Stelle könnte man einwenden, dass Descartes’ Position gar nicht besagt, dass Gott die notwendigen Wahrheiten willkürlich festlegt. Vielmehr, so könnte man argumentieren, hat auch Descartes’ Gott gute Gründe dafür, die notwendigen Wahrheiten so und nicht anders festzulegen. Das Problem mit dieser Strategie ist, dass auch der Standard dafür, was als (guter) Grund zählt, irgendwo seinen Ursprung haben muss. Der Standard für Gründe hängt aber wiederum von bestimmten notwendigen Wahrheiten ab, etwa den Wahrheiten, die garantieren, dass gewisse Inferenzen möglich sind usw. Descartes’ Theorie besagt aber, dass Gott auch diejenigen notwendigen Wahrheiten erschafft, von denen abhängt, was überhaupt gute Gründe sind. Dadurch entsteht ein Regressproblem.Wenn Gott für diese Standards wiederum gute Gründe benötigt, dann braucht es höherstufige Standards, die festlegen, was höherstufige Gründe sind usw. Letztlich muss Gott also zumindest irgendwelche Standards dafür, was als guter Grund zählt, willkürlich festlegen. Für Leibniz ist dies ein inakzeptables Resultat. Descartes’ Bild, dem zufolge die Essenzen von Dingen, von denen alle modalen Wahrheiten abhängen, von Gott durch einen Willensakt kausal hervorgebracht werden, wird von Leibniz also abgelehnt. Hier schließt sich unmittelbar die Frage an, welchen Ursprung die Essenzen stattdessen haben. Genau wie Descartes

 Leibniz’ Argument findet sich in G I, : „Hi loquendi modi mihi plane absoni videntur. Deus determinavit, ut circulus esset possibilis. Quid enim? cum decretum hoc promulgaret, intelligebatne circulum, an non? Intelligebat, credo; nam intellectus est natura prior voluntate, seu voluntas intellectum supponit. Porro cum intelligeret, circulum utique clare distincteque intelligebat. Jam quicquid clare distincteque intelligitur (sive a Deo sive a nobis) possibile est. Ergo possibilitas circuli natura prior est tali Dei decreto. Breviter: voluntas Dei supponit rei volendae intellectum; intellectus hic involvit rei intellectae possibilitatem. Ergo voluntas supponit rei volendae possibilitatem. Si quis aliud dicit, eum, ut mitissime dicam, non intelligo.“

2.3 Leibniz’ Fundierung von Modalität in den Ideen Gottes

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geht auch Leibniz davon aus, dass alles (einschließlich der Essenzen) von Gott abhängt.¹⁶ Allerdings werden die Essenzen der Dinge nicht von Gott erschaffen, sondern sind schon immer in Gottes Intellekt enthalten. Wie das genau zu verstehen ist, und wie es Leibniz damit gelingt, sich nicht nur von Descartes’ modalem Voluntarismus, sondern auch von Spinoza abzugrenzen, wird im nächsten Abschnitt klar werden.

2.3 Leibniz’ Fundierung von Modalität in den Ideen Gottes Leibniz lehnt Descartes’ Bild, dem zufolge die Essenzen, die modale Wahrheiten fundieren, durch einen göttlichen Willensakt kausal hervorgebracht werden, aus den im vorigen Abschnitt genannten Gründen ab. Der modale Voluntarismus ist weder mit unseren (von Leibniz geteilten) modalen Alltagsintuitionen vereinbar noch mit seinem explanatorischem Rationalismus. Leibniz muss also eine Metaphysik der Modalität entwickeln, die den cartesischen Voluntarismus vermeidet. Da Leibniz mit Descartes die Auffassung teilt, dass modale Wahrheiten in Essenzen begründet sind (wie das genau zu verstehen ist, werden wir in Kürze sehen), bedeutet dies, dass er eine alternative Theorie dieser Essenzen anbieten muss. Der cartesische modale Voluntarismus ist aber nicht die einzige Front, an der Leibniz kämpft. Auch Spinozas Metaphysik der Modalität ist für ihn keine Alternative. Im vorhergehenden Kapitel ist deutlich geworden, dass Spinoza eine besonders radikale Sichtweise auf Fragen der Modalität hat. Für ihn gibt es metaphysisch gesehen keinerlei Unterschied zwischen Wirklichkeit, Möglichkeit und Notwendigkeit. Diese modalen Unterscheidungen kollabieren schlicht und ergreifend ineinander. Wir glauben nur aufgrund unserer epistemischen Beschränktheit, dass sie eine Entsprechung in der Realität haben. Für Spinoza gibt es also keine bloß möglichen Dinge, die nicht wirklich sind – alle möglichen Essenzen sind aktualisiert. Ein solches Bild lehnt Leibniz prominenterweise ab. Er betont immer wieder, dass es mögliche Dinge geben muss, die nicht wirklich sind. So hält er z. B. in seiner kurzen Schrift De Contingentia aus dem Jahre 1689 fest:

 Für diesen Punkt siehe insbesondere Newlands .

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2 Göttliche Ideen – Leibniz’ Weg zu den Möglichkeiten

Man muss sicherlich davon ausgehen, dass nicht alle möglichen Dinge (possibilia) Existenz erlangen. Andernfalls könnte man sich keinen Roman ausdenken, der nicht an irgendeinem Ort und zu irgendeiner Zeit existieren würde.¹⁷

Und ganz ähnlich erklärt Leibniz bereits 1675 (also zu einer Zeit, zu der er durchaus noch Sympathien für den Spinozismus hegte), dass „die unmöglichen Dinge sich von denjenigen unterscheiden, die weder sind noch sein werden noch gewesen sind“.¹⁸ Leibniz lehnt also Spinozas Auffassung, dass alle possibilia aktualisiert sein müssen, bereits zu einem sehr frühen Zeitpunkt explizit ab. Für ihn ist klar, dass es bloß mögliche Dinge und Sachverhalte, die niemals wirklich werden, geben muss. Aber was genau bedeutet es, dass es possibilia, die nicht wirklich existieren, in irgendeinem Sinne gibt? In De Contingentia quantifiziert Leibniz schließlich über mögliche Dinge. Das bedeutet, dass solche möglichen Dinge irgendeinen Platz in seiner Metaphysik haben müssen. Diese Forderung erkennt Leibniz auch bereits 1677 explizit an: „Wahrheiten haben ihren Ursprung in Naturen oder Essenzen. Deshalb sind auch Essenzen und Naturen Realitäten, die immer existieren.“¹⁹ In moderner Terminologie ausgedrückt sagt Leibniz hier erstens, dass jede wahre Proposition einen Wahrmacher (truthmaker) benötigt. In der Einleitung ist bereits deutlich geworden, dass dieses Wahrmacherprinzip eng mit dem Prinzip des zureichenden Grundes zusammenhängt. Jede wahre Proposition benötigt einen Wahrmacher, weil es einen Grund dafür geben muss, dass diese Proposition wahr ist. Zweitens macht Leibniz klar, dass auch Möglichkeits- und Notwendigkeitsaussagen – also Modalaussagen – Wahrmacher benötigen.Wenn er sagt, dass Essenzen und Naturen als Wahrmacher fungieren, dann denkt er sogar vorrangig an Modalaussagen (er verwendet die Ausdrücke ‚Essenz‘ und ‚mögliches Ding‘ häufig synonym²⁰). Ganz ähnlich hält Leibniz viele Jahre später in der Monadologie fest, dass, „wenn es Realität in den Essenzen oder Möglichkeiten oder auch in den

 AA ., : „Pro certo habendum est non omnia possibilia ad existentiam pervenire; alioqui nullus fingi posset Romaniscus qui non alicubi aut aliquando existeret.“  Der ganze Satz in AA .,  lautet: „Duo in hac consideratione notabilia, unum, quomodo differant impossibilia, ab iis quae nec sunt nec erunt nec fuerunt; alterum, quomodo plures ejusdem rei causae.“  AA ., : „Veritates oriuntur ex naturis seu essentiis. Ergo et essentiae seu naturae sunt quaedam realitates semper existentes.“  Siehe dafür zum Beispiel AA .,  und Monadologie §, wo Leibniz von einer „Realität in den Essenzen oder Möglichkeiten“ spricht.

2.3 Leibniz’ Fundierung von Modalität in den Ideen Gottes

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ewigen Wahrheiten gibt, dann muss diese Realität in etwas fundiert sein, das existiert und wirklich ist.“²¹ Die Wahrmacher von Modalaussagen sind also Essenzen, die eine „bestimmte Realität“ haben und „immer existieren“. Es muss also etwas in der Wirklichkeit geben, das die möglichen Dinge, die nicht wirklich sind, fundiert und ihnen „Realität verleiht“. Dies klingt auf den ersten Blick paradox. Schließlich soll es gerade um mögliche Dinge gehen, die nicht wirklich sind.Wie können solche nichtwirklichen Dinge ihren Grund in etwas haben, das „immer existiert“? Descartes’ Lösung steht Leibniz, wie wir gesehen haben, nicht zur Verfügung. Essenzen können nicht einfach von Gott gewollt und wirkursächlich hervorgebracht werden. Stattdessen verortet Leibniz Essenzen in Gottes Intellekt. Die Essenzen möglicher Dinge haben ihre Realität dadurch, dass Gott sie denkt. In der Monadologie schreibt Leibniz: Es ist auch wahr, dass in Gott nicht allein die Quelle der Existenzen, sondern auch die der Essenzen liegt, insofern sie real sind, oder auch dessen, was es an Realem in der Möglichkeit gibt. Denn der Verstand Gottes ist der Bereich der ewigen Wahrheiten oder der Ideen, von denen diese abhängen, und ohne ihn gäbe es nichts Reales in den Möglichkeiten und nicht nur nichts Existierendes, sondern auch nichts Mögliches.²²

Und in De rerum originatione radicali erklärt er denselben Gedanken wie folgt: Ich antworte, dass weder diese Essenzen noch die sogenannten ewigen Wahrheiten, die sich auf diese beziehen, fiktiv sind. Vielmehr existieren sie sozusagen in einer gewissen Region der Ideen, nämlich in Gott selbst, der Quelle der ganzen Essenz und Existenz aller übrigen Dinge.²³

Essenzen möglicher Dinge sind also nichts anderes als Ideen in Gottes Intellekt. Mit dieser These greift Leibniz einen Vorschlag auf, der sich so ähnlich bereits bei

 Monadologie §/Holz Bd. , : „[…] il faut bien que s’il y a une realité dans les Essences ou possibilités, ou bien dans les verités éternelles, cette realité soit fondée en quelque chose d’Existant et d’Actuel […].“  Monadologie §/Holz Bd. , : „Il est vray aussi, qu’en Dieu est non seulement la source des existences, mais encor celle des essences, en tant que réelles, ou de ce qu’il y a de réel dans la possibilité. C’est parce que l’Entendement de Dieu est la Region des verités éternelles, ou des idées dont elles dependent, et que sans luy il n’y auroit rien de réel dans les possibilités, et non seulement rien d’existant, mais encor rien de possible.“  G VII, : „Respondeo, neque essentias istas, neque aeternas de ipsis veritates quas vocant, esse fictitias, sed existere in quadam ut sic dicam regione idearum, nempe in ipso Deo, essentiae omnis existentiaeque caeterorum fonte.“

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2 Göttliche Ideen – Leibniz’ Weg zu den Möglichkeiten

mittelalterlichen Autoren findet, vor allem bei Duns Scotus und den Scotisten.²⁴ Auf diese Weise vermeidet Leibniz einerseits einen allgemeinen modalen Skeptizismus à la Spinoza, dem zufolge es gar keine nicht-aktualisierten Essenzen gibt. Andererseits vermeidet er auch Descartes’ modalen Voluntarismus, der Essenzen von Gottes Willen abhängig macht. Diese Strategie wirft die Frage auf, was Leibniz genau unter Ideen versteht. Grundsätzlich gibt es dafür im Rahmen der von Descartes ausgehenden frühneuzeitlichen Ideentheorie zwei Möglichkeiten. Mit Ideen können entweder Denkakte oder die Denkinhalte dieser Akte gemeint sein (in Descartes’ Terminologie: Ideen können materialiter und objective betrachtet werden).²⁵ Ein Denkakt ist nichts anderes als eine bestimmte Modifikation einer denkenden Substanz. Ein Denkinhalt hingegen ist dasjenige, was durch einen Denkakt repräsentiert wird. Leibniz macht deutlich, dass er mit dem Ausdruck „Idee“ stets die Denkinhalte, also den repräsentativen Gehalt von Denkakten, meint. In den Nouveaux Essais etwa hält er fest, dass eine Idee ein „unmittelbares inneres Objekt ist, und dass dieses Objekt ein Ausdruck der Natur oder der Beschaffenheit der Dinge ist“.²⁶ Außerdem weist Leibniz darauf hin, dass eine Idee nicht mit der „Form des Denkens“ (also mit dem Denkakt) identifiziert werden sollte, da Ideen dann verschwinden würden, sobald man aufhört, an etwas zu denken.²⁷ Angewandt auf Leibniz’ Theorie der Modalität bedeutet dies, dass Essenzen möglicher Dinge nichts anderes sind als die repräsentationalen Gehalte von Gottes Denkakten. In Anlehnung an Descartes’ Terminologie hält Leibniz explizit fest, dass „die objektive Realität [von Gottes Idee von Peter] die gesamte Natur oder Essenz von Peter konstituiert“.²⁸ Diese Art und Weise, modale Wahrheiten in Gottes Intellekt zu fundieren, hat einen großen Vorteil: Da Gott ein notwendiges Wesen ist und im Gegensatz zu uns Menschen all seine Denkakte permanent und mit Notwendigkeit hervorbringt, ist gewährleistet, dass die Wahrmacher modaler Wahrheiten – die Denkinhalte von Gottes Denkakten – „immer existieren“.²⁹

 Siehe zur scotistischen Theorie der Modalität Hoffmann . In Theodizee § äußert sich Leibniz Scotus gegenüber allerdings recht kritisch.  Siehe für diese Unterscheidung AT VII, . Zu diesem Thema, siehe auch Perler a, S.  – .  NE II, i, §/Holz Bd. ., : „[…] que c’est un objet immediat interne, et que cet objet est une expression de la nature ou des qualités des choses.“  Vgl. NE II, i, §/Holz Bd. ., .  AA ., : „[…] quarum realitas objectiva totam Petri naturam sive essentiam constituit […].“  Die Tatsache, dass Gott seine Denkakte mit Notwendigkeit hervorbringt, ist natürlich ebenfalls ein modales Faktum. Modale Fakten über Gott bilden allerdings eine Ausnahme in Leibniz’

2.3 Leibniz’ Fundierung von Modalität in den Ideen Gottes

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In den beiden oben zitierten Passagen macht Leibniz klar, dass sowohl Möglichkeiten als auch notwendige Wahrheiten (‚ewige Wahrheiten‘) in Gottes Intellekt fundiert sind. Wie genau ist dieses Fundierungsverhältnis im Einzelnen zu verstehen? In den frühen Confessiones hält Leibniz zunächst fest, dass etwas möglich ist, wenn es von einem aufmerksamen Geist klar begriffen wird (clare intelligitur).³⁰ Bei diesem ‚aufmerksamen Geist‘ handelt es sich offenbar um Gott.³¹ Einige Absätze später definiert Leibniz etwas Notwendiges als etwas, „dessen Gegenteil nicht begriffen werden kann“.³² Vor diesem Hintergrund ist klar, dass Möglichkeit recht einfach in Gottes Intellekt fundiert werden kann. Möglichkeit wird ganz direkt auf das zurückgeführt, was Gott begreift bzw. denkt, also auf Gottes Ideen. Eine mögliche (aber nicht wirkliche) individuelle Substanz ist deshalb möglich, weil Gott die Essenz dieser Substanz als Idee in seinem Geist hat. Essenzen oder possibilia sind nichts anderes als maximal spezifische Ideen von Einzeldingen in Gottes Geist.³³ Für notwendige Wahrheiten ist der Fall etwas komplizierter. Notwendigkeit wird zwar ebenfalls in Gottes Intellekt verankert, allerdings nicht so direkt wie Möglichkeit. Ein Satz p ist Leibniz’ Definition zufolge dann notwendig, wenn nicht einmal Gott konsistenterweise die Negation von p denken kann. Da Gott alles denkt, was er denken kann, kann man also sagen, dass etwas dann notwendig ist, wenn sich das Gegenteil nicht unter Gottes Gedanken findet. Dies legt den Gedanken nahe, dass der Wahrmacher aller Notwendigkeitsaussagen in gewisser Weise die Gesamtheit der göttlichen Ideen ist, also der komplette modale Raum mit allen Essenzen. Dies hätte allerdings die merkwürdige Konsequenz, dass alle notwendigen Wahrheiten exakt denselben Wahrmacher hätten, nämlich die Gesamtheit aller Essenzen in Gottes Geist. Aus diesem Grund ist anzunehmen, dass die Fundierung notwendiger Wahrheiten in Gottes Intellekt anders funktionieren muss. Ich vermute, dass Leibniz in etwa folgendes Bild vorschwebt: Notwendige Wahrheiten sind nicht in allen Essenzen in Gottes Geist begründet, sondern nur in lokalen Theorie, da sie nicht in den Ideen Gottes begründet sein können, weil dadurch ein Zirkel entstehen würde. Ich werde diesen Punkt weiter unten ausführlich diskutieren.  Vgl. AA ., : „Possibile est, quod intelligi potest, id est (ne vox potest in possibilis definitione ponatur) quod clare intelligitur, attendenti.“  Ob Leibniz’ Theorie zum frühen Zeitpunkt der Confessiones () bereits ausgereift war, darf bezweifelt werden. Dennoch handelt es sich bei den frühen Definitionen von Möglichkeit und Notwendigkeit zweifellos um Formulierungen, denen Leibniz auch später noch zustimmen würde.  AA ., : „Necessarium enim definivi, cuius contrarium intelligi non potest.“  Sie sind also nichts anderes als die vollständigen Begriffe, die in Leibniz’ Theorie (insbesondere zur Zeit des Discours de métaphysique) eine zentrale Rolle spielen. Auf die vollständigen Begriffe werde ich in Kürze näher eingehen.

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2 Göttliche Ideen – Leibniz’ Weg zu den Möglichkeiten

Gruppen von Essenzen. Eine notwendige Wahrheit wie ‚Menschen sind rationale Lebewesen‘ z. B. hat ihr Fundament in all jenen Ideen Gottes, die die Essenzen individueller Menschen repräsentieren. Um einzusehen, dass in diesem Fall „das Gegenteil von Gott nicht begriffen wird“, muss man nicht alle Essenzen in Gottes Geist kennen, sondern nur einen lokal begrenzten Ausschnitt. Dieser Lesart zufolge entspricht jeder notwendigen Wahrheit eine bestimmte lokal begrenzte Gruppe von Ideen bzw. Essenzen in Gottes Intellekt. Somit hat jede notwendige Wahrheit einen spezifischen (komplexen) Wahrmacher. Leibniz führt also sowohl Möglichkeit als auch Notwendigkeit auf die Inhalte von Denkakten in Gottes Intellekt zurück. Auf diese Weise werden modale Wahrheiten metaphysisch im göttlichen Geist verankert. Diese Fundierung von Modalität in den Ideen Gottes findet sich in praktisch allen Perioden in Leibniz’ Werk.³⁴ Sie ist für ihn aus mehreren Gründen attraktiv. Erstens steht ihm damit eine nominalistisch akzeptable Metaphysik der Modalität zur Verfügung. Wenn Essenzen nichts anderes als Ideen Gottes sind, dann handelt es sich bei ihnen letztlich um die repräsentationalen Gehalte konkreter Denkakte. Essenzen sind also keine abstrakten Entitäten, sondern konkrete Einzeldinge in Gottes Intellekt, was Leibniz als Nominalist sehr entgegenkommt.³⁵ Zweitens verträgt sich Leibniz’ Fundierung von Modalität in Gottes Geist gut mit seinem Aktualismus. Er ist nicht gezwungen anzunehmen, dass Dinge, die bloß möglich aber nicht wirklich sind, auf irgendeine mysteriöse (nicht-wirkliche) Weise existieren. Stattdessen kann er sinnvoll von bloß möglichen Dingen sprechen. Wenn er dies tut, kann er nämlich stets darauf verweisen, dass er damit streng genommen Ideen bzw. Repräsentationen in Gottes Intellekt meint. Da Gottes Denkakte, die diese repräsentationalen Gehalte aufweisen, aber genauso wirklich und konkret sind wie der Schreibtisch, vor dem ich gerade sitze, kann Leibniz sinnvoll von möglichen Dingen sprechen, ohne dabei Abstriche von seinem Aktualismus zu machen.³⁶ Ein dritter Vorteil von Leibniz’ Fundierung von Möglichkeit und Notwendigkeit in Gottes Intellekt besteht darin, dass sich diese Theorie harmonisch in seine Gesamttheorie einfügt. Ein wichtiger Angelpunkt von Leibniz’ System ist, dass

 Siehe z. B. AA .,  für eine frühe Stelle, AA .,  für eine Stelle aus den mittleren Jahren und G VI,  – /Theodizee § für eine späte Stelle.  Für eine besonders klare Stelle zu Leibniz’ Nominalismus, siehe seine kurze Schrift De realitate accidentium, insbesondere AA ., .  Natürlich unterscheiden sich Gottes Denkakte über bloß mögliche Dinge nicht grundlegend von seinen Denkakten, die sich auf wirkliche Dinge beziehen.

2.3 Leibniz’ Fundierung von Modalität in den Ideen Gottes

85

Gott alle möglichen Welten und alle möglichen Dinge in seinem Geist betrachtet und begutachtet, bevor er unsere Welt erschafft.³⁷ Aufgrund seiner Güte wählt er schließlich die beste aller möglichen Welten aus und bringt diese in Existenz.³⁸ Schöpfungstheorie und Modalitätstheorie stehen also in einem engen Zusammenhang und sind präzise aufeinander abgestimmt. Viertens schließlich kann Leibniz (wie oben bereits erwähnt) Descartes’ modalem Voluntarismus eine positive alternative Theorie gegenüberstellen. Modale Wahrheiten hängen nicht von willkürlichen Entscheidungen Gottes ab, sondern ergeben sich allein aus Gottes Intellekt, ohne dass sein Wille dabei irgendeine Rolle spielen würde. Die Essenzen, die als Wahrmacher von modalen Wahrheiten fungieren, sind nicht die kausalen Folgen einer Willensentscheidung Gottes, sondern eine notwendige Folge der Struktur von Gottes Geist. Damit ist für Leibniz die Wahrheit von S5 garantiert: Es gilt sowohl □P → □□P als auch ¸P → □¸P. Anders als bei Descartes werden Essenzen bei Leibniz also von Gott gedacht und nicht gewollt und verursacht. Somit hängen Essenzen zwar bezüglich ihres Seins vollständig von Gott ab, die Art der Abhängigkeit unterscheidet sich jedoch in zwei Hinsichten von der cartesischen Theorie. Erstens hängen Essenzen von Gottes Intellekt ab und nicht von seinem Willen, und zweitens ist die Art der Abhängigkeit keine kausale Abhängigkeit. Leibniz’ Begründung von Modalität in Gottes Ideen wirft allerdings auch eine Reihe von Fragen auf. Erstens fällt auf, dass Leibniz’ Theorie – zumindest auf den ersten Blick – eine Ausnahme zulassen muss: die Essenz Gottes. Wie andere Essenzen auch erklärt Gottes Essenz bestimmte modale Fakten, z. B. den Umstand, dass Gott notwendigerweise existiert. Anders als bei nicht-göttlichen Essenzen kann die Realität von Gottes Essenz aber nicht von Gottes Ideen abhängen. Es scheint sich vielmehr genau andersherum zu verhalten: Aufgrund seiner Essenz denkt Gott an bestimmte Ideen. Der oder die Wahrmacher modaler Fakten, die Gott betreffen, sind also nicht in Gottes Intellekt enthalten.³⁹ Wäre Gottes Essenz in Gottes Ideen fundiert, würde nämlich ein Zirkel vorliegen.⁴⁰ Dies wirft aber die Frage auf, worin die Essenz Gottes dann begründet ist. Ein weiteres Problem ist, dass Leibniz’ Theorie der Modalität uneinheitlicher zu sein scheint als zunächst

 Vgl. etwa G VI, /Theodizee §. Natürlich findet die Betrachtung aller möglichen Welten nicht zeitlich vor der Schöpfung statt.Wie üblich in diesem Zusammenhang bediene ich mich aber zeitlicher Ausdrücke, um logische Verhältnisse zum Ausdruck zu bringen.  Siehe z. B. Monadologie §.  Siehe für diesen Punkt Newlands , S. .  Für diesen Zirkelvorwurf siehe bereits Russell , S.  – . Russell charakterisiert Leibniz’ Überlegung als „skandalös“, geht allerdings fälschlicherweise davon aus, dass Gottes Essenz, so wie alle anderen Essenzen, in Gottes Intellekt begründet wird.

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2 Göttliche Ideen – Leibniz’ Weg zu den Möglichkeiten

gedacht: Während modale Wahrheiten, die sich auf nicht-göttliche Dinge beziehen,von Gottes Ideen abhängen, ist dies bei modalen Wahrheiten, die sich auf Gott beziehen, nicht der Fall. Leibniz scheint also eine spezielle Theorie für modale Fakten, die sich auf Gott beziehen, zu benötigen. Ich werde auf beide Punkte später (in Abschnitt 2.7) zurückkommen. Eine zweite Frage, die sich mit Blick auf Leibniz’ Theorie der Modalität stellt, betrifft die Struktur und die genauen Inhalte von Gottes Ideen. Neben möglichen Individuen spricht Leibniz auch häufig über mögliche Welten. Aber was genau ist überhaupt eine mögliche Welt? Handelt es sich dabei einfach um ein Sammelsurium möglicher Dinge oder kommt noch etwas hinzu? Eine genaue Klärung dieser Fragen kann erst im nächsten Kapitel erfolgen, jedoch ist es hilfreich, sich bereits jetzt zu vergegenwärtigen, was in etwa der repräsentationale Inhalt der Ideen in Gottes Intellekt ist.Wichtig ist zunächst, dass Leibniz dabei Essenzen von Einzeldingen vor Augen hat. In seinem metaphysischen Rahmen bedeutet dies, dass Gott vornehmlich Ideen von individuellen Substanzen hat. Gott hat also beispielsweise eine Idee von mir in seinem Geist. Genauso hat er aber auch eine Idee der möglichen (aber nicht wirklichen) Person Sherlock Holmes. Zentral ist, dass diese Ideen möglicher Substanzen vollkommen bestimmt sind. Im Hintergrund steht dabei Leibniz’ Theorie vollständiger Begriffe. Für jede individuelle Substanz gibt es einen vollständigen Begriff, der alle Eigenschaften dieser Substanz ausdrückt. Es liegt also nicht nur im Begriff meiner Substanz, dass ich ein Mensch bin, sondern auch, dass ich an diesem Morgen mit dem Fahrrad zur Uni gefahren bin, dass ich am Sonntagnachmittag Schokoladenkuchen gegessen habe usw. Leibniz’ Theorie vollständiger Begriffe ist in mehreren Hinsichten höchst ungewöhnlich. Erstens ist Leibniz einer der wenigen Philosophen, die davon ausgehen, dass Individuen überhaupt definiert werden können. In der aristotelischen Tradition etwa wurde wie selbstverständlich davon ausgegangen, dass lediglich Spezies definiert werden können, nicht aber Individuen, wie z. B. mein Stuhl.⁴¹ Leibniz’ Theorie vollständiger Begriffe ist zweitens ungewöhnlich, weil damit de facto die Unterscheidung zwischen essentiellen und akzidentiellen Eigenschaften aufgegeben wird. Wenn alle Eigenschaften in der Definition eines Dinges enthalten sind, dann kommen auch alle Eigenschaften einem Dinge essentiellerweise zu. Aus diesem Grund hat sich für Leibniz’ Position auch der Ausdruck Superessentialismus eingebürgert.⁴²

 Siehe hierfür z. B. Smith , Abschnitt ..  Vgl. vor allem Mondadori .

2.3 Leibniz’ Fundierung von Modalität in den Ideen Gottes

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Da Gott ein vollkommen rationales Wesen ist, das, anders als wir, alles begrifflich erfassen kann, und das darüber hinaus allwissend ist, verfügt er über einen vollständigen Begriff eines jeden Dinges. Tatsächlich sind seine Ideen möglicher Substanzen – die Essenzen – nichts anderes als diese vollständigen Begriffe. Die Wahrmacher von Modalaussagen sind also letztlich die vollständigen Begriffe, die Gott in seinem Intellekt hat. Betrachten wir z. B. die Möglichkeitsaussage, dass ich heute Morgen auch mit der U-Bahn statt mit dem Fahrrad zur Uni hätte fahren können. Diese Aussage ist deshalb wahr, weil Gott einen vollständigen Begriff eines Individuums in seinem Intellekt hat, das mir in vielerlei Hinsichten gleicht, mit dem Unterschied, dass in dem Begriff dieses Individuums enthalten ist, dass es heute Morgen mit der U-Bahn in die Uni gefahren ist. Dadurch macht dieser vollständige Begriff in Gottes Geist die erwähnte Modalaussage wahr. Weil Gott unendlich viele solcher Begriffe hat, kann er mit ihnen sozusagen den gesamten modalen Raum aufspannen. Eine dritte Frage, die sich mit Bezug auf Leibniz’ Fundierung modaler Wahrheiten in Gottes Intellekt stellt, betrifft den Grund dafür, dass Gott über bestimmte Ideen verfügt. Warum hat Gott genau diejenigen Ideen in seinem Geist, über die er de facto nachdenkt? Findet er diese einfach in seinem Intellekt vor? Ist sein Geist also primitiverweise mit bestimmten Inhalten ausgestattet? Und falls ja, warum denkt er nicht an andere Dinge? Und wenn er dies tun würde, wären dann andere Dinge möglich? Eine mögliche Antwort auf diese Fragen ist, dass Gott nichts anderes denken kann, weil dies inkonsistent wäre. Diesem Vorschlag zufolge denkt Gott alles, was konsistent denkbar ist. Er denkt also alles, was er denken kann. Folgt man dieser Interpretation, dann kommt Leibniz’ Fundierung von Modalität natürlich keiner Reduktion auf etwas Nicht-Modales gleich. Konsistenz ist selbst ein modaler Begriff und darf in einer Theorie, die das Ziel hat, Modalität auf etwas Nichtmodales zu reduzieren, nicht als primitives, irreduzibles Element auftreten.⁴³ Samuel Newlands hat vor kurzem vorgeschlagen, dass man Leibniz als Reduktionisten verstehen sollte. Newlands argumentiert, dass Leibniz’ Gott seine Denkinhalte primitiverweise hat. Dass Gott über diese Ideen und nicht über andere verfügt, ist demnach einfach ein primitives Faktum.⁴⁴ Eine solche Antwort kann aber nicht befriedigen, weil sie das Prinzip des zureichenden Grundes verletzt. Für einen strikten Anhänger dieses Prinzips (wie Leibniz) muss es eine Erklärung dafür geben, dass Gott das denkt, was er denkt.

 In der Einleitung habe ich sowohl reduktionistische als auch nicht-reduktionistische Theorien der Modalität diskutiert und bin auf ihre jeweiligen Vor- und Nachteile eingegangen.  Siehe Newlands , S.  – .

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2 Göttliche Ideen – Leibniz’ Weg zu den Möglichkeiten

Ich werde später aufzeigen, dass es für Leibniz einen solchen Grund tatsächlich gibt und dass sich Modalitäten wie Möglichkeit und Notwendigkeit für Leibniz letztlich auf die Essenz Gottes zurückführen lassen. Wenn ich damit Recht habe, verfolgt Leibniz kein reduktionistisches Projekt, da natürlich auch der Begriff der Essenz ein modaler Begriff ist.⁴⁵ Dennoch kann eine solche Analyse von Interesse sein. Wenn Notwendigkeit und Möglichkeit tatsächlich mithilfe des Essenzbegriffs analysiert werden, dann weist Leibniz’ Theorie eine gewisse Nähe zu bestimmten zeitgenössischen Theorien auf, etwa zu derjenigen Kit Fines.⁴⁶ Obwohl es sich bei solchen Theorien um keine reduktionistischen Theorien der Modalität handelt, kann ein solcher Zugang dennoch sehr erhellend sein. Unterschiedliche modale Begriffe werden in eine Beziehung gesetzt, wodurch eine begriffliche Landschaft aufgespannt wird. Auch nicht-reduktive Theorien der Modalität können also explanatorische Kraft entfalten.⁴⁷ Eine vierte Frage schließlich, die Leibniz’ Theorie aufwirft, ist weniger offensichtlich. Sie betrifft das metaphysische Programm, das im Hintergrund seiner Theorie steht. Was genau sind die metaphysischen Voraussetzungen, die Leibniz treffen muss, damit seine Theorie funktioniert? Ein Punkt ist vergleichsweise trivial. Wenn Leibniz Modalität in Gottes Intellekt fundiert, setzt er offenbar ein mehr oder weniger traditionelles theistisches Bild voraus. Es gibt einen persönlichen Gott, der über einen Intellekt verfügt, und dieser Intellekt unterscheidet sich von seinem Willen. Damit hebt sich Leibniz deutlich von Spinoza ab, der weder einen persönlichen Gott noch eine Trennung zwischen Wille und Intellekt anerkennt. Vor dem Hintergrund des letzten Kapitels ist klar, dass Leibniz’ metaphysisches Programm sich aber noch in einer weiteren Hinsicht von Spinozas unterscheiden muss. Wie wir gesehen haben, trägt Spinozas Attributskonzeption entscheidend dazu bei, dass nicht-aktualisierte possibilia bzw. Essenzen keinen Platz in seiner Theorie haben.Wir werden sehen, dass Leibniz Spinozas Konzeption von Attributen ablehnt und ihr ein kombinatorisches Modell gegenüberstellt. In den nächsten drei Abschnitten wird deutlich werden, dass erst diese metaphysische Annahme es Leibniz erlaubt, seine Theorie bloß möglicher possibilia in Gottes

 Dafür, dass Leibniz eine nicht-reduktive Konzeption von Modalität vertritt, argumentiert in einem anderen Zusammenhang auch Karofsky .  Fine analysiert Notwendigkeit mit Hilfe des Essenzbegriffs (siehe etwa Fine  und Abschnitt  der Einleitung).  Wie wir bereits in der Einleitung gesehen haben, schreibt etwa Stalnaker , S. : „[M]odal notions are basic notions, like truth and existence, which can be eliminated only at the cost of distorting them. One clarifies such notions, not by reducing them to something else, but by developing one’s theory in terms of them.“

2.4 Leibniz’ Attributskonzeption – ein kombinatorisches Modell

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Intellekt überhaupt zu formulieren. Ohne eine ausgearbeitete Theorie von Attributen, die eine Alternative zu Spinozas Modell anbietet,würde eine große Lücke in Leibniz’ Metaphysik der Modalität klaffen. Im Folgenden wird deutlich werden, wie Leibniz diese Lücke schließt.

2.4 Leibniz’ Attributskonzeption – ein kombinatorisches Modell Ich wende mich nun dem metaphysischen Programm zu, das den Hintergrund von Leibniz’ Metaphysik der Modalität bildet. In diesem Abschnitt werde ich für den ersten Teil von These 1 argumentieren, also dafür, dass Leibniz von einem kombinatorischen Modell von Attributen ausgeht. Leibniz’ Attributskonzeption lässt sich am einfachsten vor dem Hintergrund derjenigen Spinozas verstehen, die im ersten Kapitel Thema war. In seinem Kommentar zur Ethik setzt sich Leibniz explizit mit Spinozas Modell auseinander. In seinen Anmerkungen zu E1def4 (Spinozas Attributsdefinition) bemerkt er eine Ambiguität in Spinozas Definition, die wir bereits in Abschnitt 1.6 besprochen haben: Auch Definition 4 ist unklar, dass nämlich ein Attribut dasjenige sei, was der Verstand an einer Substanz als deren Essenz ausmachend erfasst. Man fragt sich nämlich, ob er [Spinoza] unter Attribut jedes reziproke Prädikat versteht, oder jedes essentielle Prädikat, ob reziprok oder nicht, oder schließlich jedes primäre bzw. nicht-beweisbare essentielle Prädikat einer Substanz.⁴⁸

Die Unterscheidungen, die Leibniz hier trifft, bedürfen einer Erläuterung, da er sich einer recht idiosynkratischen Terminologie bedient. Am einfachsten zu verstehen ist, was Leibniz mit essentiellen Prädikaten meint. Es handelt sich dabei schlichtweg um Prädikate, die sich (mittelbar oder unmittelbar) aus der Definition eines Dinges ergeben. Essentielle Prädikate kommen einem Ding somit notwendigerweise zu. Ohne sie würde das Ding nicht existieren.⁴⁹ Am Ende der zitierten Passage operiert Leibniz mit einer Unterscheidung zwischen primären essentiellen und nicht-primären essentiellen Prädikaten einer

 AA, ., : „[E]tiam obscura est, quod attributum sit id quod intellectus de substantia percipit, ut essentiam eius constituens. Quaeritur enim an per attributum intelligat omne praedicatum reciprocum, an omne praedicatum essentiale sive reciprocum sive non; an denique omne praedicatum essentiale primum seu indemonstrabile de substantia.“  Verwirrend ist, dass Leibniz in einem metaphysischen Kontext überhaupt von Prädikaten (und nicht von Eigenschaften oder weiterhin von Attributen) spricht.

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2 Göttliche Ideen – Leibniz’ Weg zu den Möglichkeiten

Substanz. Seine Erläuterung, dass primäre essentielle Prädikate „nicht beweisbare“ Prädikate sind, hilft beim Verständnis dieser Unterscheidung. Unter primären essentiellen Prädikaten scheint Leibniz diejenigen essentiellen Prädikate zu verstehen, die sich nicht in andere Prädikate zerlegen lassen – Begriffe also, die sich nicht durch andere Begriffe analysieren lassen, weil sie die Endpunkte einer solchen Analyse bilden. Mir kommt zum Beispiel das Prädikat ‚Mensch‘ essentiellerweise zu, es handelt sich aber nicht um ein primäres Prädikat, weil es sich noch weiter zerlegen lässt (nämlich in ‚rational‘ und ‚Lebewesen‘). Ist eine solche Analyse nicht mehr möglich, sind wir hingegen bei den primitiven Prädikaten angelangt.⁵⁰ Primäre Prädikate sind deshalb nicht beweisbar, weil sie sich unmittelbar aus der Realdefinition eines Dinges ergeben. Nicht-primäre essentielle Prädikate hingegen ergeben sich zwar ebenfalls aus der Realdefinition eines Dinges, aber nur mittelbar, mittels eines Beweises aus den primären Prädikaten.⁵¹ Am schwierigsten ist zu verstehen, was Leibniz unter einem reziproken Prädikat versteht. Wieder handelt es sich dabei offenbar um eine Teilklasse der essentiellen Prädikate. Anscheinend meint Leibniz damit diejenigen essentiellen Prädikate, die nicht nur notwendig, sondern auch hinreichend für das Erfassen einer Substanz sind. Kennt man ein reziprokes Prädikat, dann kennt man die gesamte Essenz der Substanz und umgekehrt (deshalb ‚reziprok‘). Wenn man ein solches reziprokes Prädikat versteht, hat man also bereits die gesamte Substanz erfasst und benötigt dafür nicht noch weitere Prädikate. Loemker erklärt das reziproke Prädikat folgendermaßen: „A reciprocal predicate is one which mutually implies and is implied by the substance and is therefore complete enough to include the total meaning of the subject.“⁵² Wenn Leibniz sagt, dass nicht klar sei, ob Spinoza mit Attributen bloß essentielle Prädikate oder aber diejenigen essentiellen Prädikate meint, die reziprok sind, macht er also genau die Ambiguität in Spinozas Attributsdefinition aus, die wir im ersten Kapitel (Abschnitt 1.6) konstatiert haben. Isoliert betrachtet kann E1def4 entweder so gelesen werden, dass Attribute bloß notwendig für das Erfassen der Essenz einer Substanz sind, oder aber so, dass sie notwendig und hinreichend

 Leibniz geht davon aus, dass uns die primären Prädikate nicht bekannt sind (siehe hierzu Abschnitt .).  Bemerkenswert an der Unterscheidung zwischen primären und nicht-primären Prädikaten in der zitierten Passage ist, dass Leibniz anscheinend bereits in seinem Kommentar zur Ethik davon ausgeht, dass individuelle Substanzen definiert werden können. Wie oben gesehen, ist dies eine Annahme, die eine Aristotelikerin strikt zurückweisen würde. Offenbar schwebte Leibniz also bereits  so etwas wie eine Theorie vollständiger Begriffe von individuellen Substanzen vor – eine Theorie, die erst in den er Jahren zur vollen Entfaltung kommt.  Loemker , S. .

2.4 Leibniz’ Attributskonzeption – ein kombinatorisches Modell

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dafür sind. Wie wir aus dem ersten Kapitel wissen, fasst Spinoza selbst seine Definition so auf, dass Attribute notwendig und hinreichend für das Erfassen der Substanz sind. In Leibniz’ Terminologie kann man also sagen, dass Spinoza Attribute als reziproke Prädikate versteht. Die Definition des reziproken Prädikats ist nämlich einfach äquivalent mit (Sp_Attr) aus Kapitel 1. Im Kommentar zur Ethik unterscheidet Leibniz also sorgfältig zwischen drei unterschiedlichen Lesarten von Spinozas Attributsdefinition. Bei Attributen handelt es sich entweder um alle essentiellen Prädikate, nur um die primären essentiellen Prädikate oder schließlich um alle essentiellen Prädikate, die zugleich reziprok sind. Wie aber versteht Leibniz selbst den Begriff des Attributs? Wenn er Spinoza in den Kommentaren zur Ethik für die Unklarheit seines Attributbegriffs kritisiert, sollte man erwarten, dass er selbst zu diesem Zeitpunkt bereits eine seiner Meinung nach bessere (oder zumindest klarere) Alternative anzubieten hat. Und tatsächlich hat Leibniz bereits 1676, also zwei Jahre vor den Kommentaren zur Ethik, in De Summa Rerum seine eigene Attributsdefinition formuliert: Ein Attribut ist ein notwendiges Prädikat, das sich durch sich selbst begreifen lässt, oder das nicht in mehrere andere [Prädikate] zerlegt werden kann.⁵³

Zwei Punkte gehen aus dieser Definition eindeutig hervor. Erstens definiert Leibniz ein Attribut als ein Prädikat, das lediglich notwendig für das Begreifen eines Dinges ist. Attribute sind also (zumindest im Normalfall) nicht hinreichend dafür, die vollständige Essenz einer Substanz zu erfassen. Somit ist klar, dass Attribute für Leibniz nicht reziprok sein müssen. Zweitens wird deutlich, dass Leibniz Attribute als primäre essentielle Prädikate auffasst. Bei Leibniz’ Attributen handelt es sich also um die basalsten Eigenschaften, die einem Ding zukommen. Attribute sind somit Eigenschaften, die nicht mehr auf andere Eigenschaften zurückgeführt werden können. In Leibniz’ eigener Terminologie ausgedrückt, geht aus seiner Definition also hervor, dass er unter Attributen primäre essentielle Prädikate versteht, die nicht notwendigerweise reziprok sind. Was folgt daraus für das Verhältnis zwischen Attributen und Essenzen? In derselben Liste von Definitionen aus De Summa Rerum bestimmt Leibniz Essenzen wie folgt:

 AA ., : „Attributum est praedicatum necessarium quod per se concipitur, seu quod in alia plura resolvi non potest.“

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2 Göttliche Ideen – Leibniz’ Weg zu den Möglichkeiten

Eine Essenz ist all das, was sich an einem Ding durch sich selbst begreifen lässt, d. h. das Aggregat aller Attribute. ⁵⁴

All diejenigen Eigenschaften eines Dinges, die durch sich selbst begriffen werden können, konstituieren Leibniz zufolge also gemeinsam die Essenz dieses Dinges. Anders ausgedrückt, alle Attribute zusammengenommen – das Aggregat aller Attribute – machen die Essenz eines Dinges aus. Essenzen sind Leibniz zufolge also nichts anderes als spezifische Kombinationen von Attributen. Dies legt ein kombinatorisches Bild von Essenzen und Attributen nahe: Unterschiedliche Essenzen unterscheiden sich deshalb voneinander, weil ihnen unterschiedliche Kombinationen von Attributen zugrunde liegen. Um die Essenz einer Substanz vollständig erfassen zu können, muss man natürlich alle Attribute kennen, aus denen sich die Essenz zusammensetzt. Dieser stark kombinatorische Aspekt von Leibniz’ Theorie kommt in folgender Passage besonders deutlich zum Ausdruck: Es kann so viele singuläre Substanzen geben, wie es unterschiedliche Kombinationen aller kompatiblen Attribute gibt. Und dies ist das Individuationsprinzip, über das es sinnlosen Streit zwischen vielen Scholastikern gab.⁵⁵

Leibniz schwebt also offenbar folgendes Modell vor: Attribute sind so etwas wie die basalen Elemente der Welt, aus denen alles ‚zusammengesetzt‘ ist.⁵⁶ Indem diese Attribute auf unterschiedliche Weisen miteinander kombiniert werden, lassen sich unterschiedliche Dinge, d. h. unterschiedliche individuelle Substanzen, erzeugen. Für Leibniz ist es zentral, dass man die basalen Elemente, die Attribute, immer wieder neu kombinieren kann, wodurch neue Substanzen entstehen. Dieses kombinatorische Modell ist charakteristisch für Leibniz’ Metaphysik individueller Substanzen.⁵⁷ Damit unterscheidet sich Leibniz deutlich von Spinoza. Für Spinozas Theorie von Attributen war es ja gerade entscheidend, dass diese nicht rekombinierbar sind. Wie im letzten Kapitel deutlich wurde, ist der Grund für die Nicht-Rekom-

 AA .,  (meine Hervorhebung): „Essentia est id omne quod in re per se concipitur, id est aggregatum omnium attributorum.“  AA ., : „Item tot posse esse substantias singulares quot sunt diversae combinationes omnium attributorum compatibilium. Et hinc patet principium individuationis, de quo irritae habentur multorum Scholasticorum concertationes.“  Wie genau diese Zusammensetzung zu verstehen ist, darauf werde ich in Abschnitt . näher eingehen.  Für die Betonung des kombinatorischen Aspekts siehe insbesondere Nachtomy . Zu den Details von Leibniz’ kombinatorischen Modell werde ich in Kapitel  kommen.

2.4 Leibniz’ Attributskonzeption – ein kombinatorisches Modell

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binierbarkeit, dass jedes spinozistische Attribut stets die gesamte Essenz Gottes ausdrückt. Dieses Bild lehnt Leibniz bereits zu Zeiten von De Summa Rerum ausdrücklich ab: Die Attribute Gottes sind unendlich, aber keines von ihnen schließt die gesamte Essenz Gottes ein. Die Essenz Gottes besteht nämlich darin, dass er das Subjekt aller kompatiblen Attribute ist.⁵⁸

Keines von Gottes Attributen drückt also die vollständige Essenz Gottes aus. Auch für Gott gilt, dass seine Essenz nur dann vollständig erfasst werden kann, wenn man die Kombination all seiner Attribute kennt. Dieses kombinatorisches Verständnis der Attribute Gottes scheint allerdings zu einem Problem zu führen: Wenn Gott durch mehrere Attribute konstituiert ist, wie kann dann noch seine Einfachheit gewährleistet sein? Tatsächlich bestimmt Leibniz Gott in der zitierten Stelle auch nicht als bloße Ansammlung von Attributen, sondern als das Subjekt aller Attribute. Doch wie ist das zu verstehen? Und lässt sich auf diese Weise die Einfachheit Gottes retten? Die Einfachheit Gottes stellt prima facie in der Tat eine ernsthafte Schwierigkeit für Leibniz’ Theorie dar. Klar ist, dass, wenn die göttliche Einfachheit gewährleistet sein soll, Gottes Attribute nicht wortwörtlich voneinander trennbar sein dürfen – seine Attribute dürfen also nicht real voneinander verschieden sein. Wie genau sich Leibniz’ Attributskonzeption zur Einfachheit Gottes verhält, werde ich in Abschnitt 2.8 klären. Da Leibniz’ Attribute, anders als Spinozas, nie die gesamte Essenz einer Substanz ausdrücken, können sie in mehreren Essenzen vorkommen. Instanzen von ein und demselben Attribut-Typ können genau genommen sogar in die Essenzen unendlich vieler Substanzen eingehen.⁵⁹ Genau diese Annahme liegt Leibniz’ Einwand gegen Spinozas These, dass mehrere Substanzen nicht dasselbe Attribut teilen können, zugrunde (ich habe Spinozas Argument für diese These in E1p5d ausführlich in Abschnitt 1.6 diskutiert). Leibniz argumentiert, dass zwei Substanzen sehr wohl ein Attribut teilen und dennoch unterscheidbar sein können. So kann etwa Substanz A die Attribute c und d haben und Substanz B die Attribute d und e. Obwohl A und B das Attribut d teilen, sind sie, weil sie unterschiedliche Essenzen haben, unterscheidbar. Die Essenz von A besteht in der

 AA ., : „Attributa Dei infinita, sed eorum nullum essentiam Dei involvit totam; nam essentia Dei in eo consistit, ut sit subjectum omnium attributorum compatibilium.“  Wie genau diese Redeweise zu verstehen ist, und warum Leibniz dadurch nicht darauf festgelegt ist, dass Gottes Attribute real voneinander verschieden sind, dazu wie gesagt mehr in Abschnitt ..

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2 Göttliche Ideen – Leibniz’ Weg zu den Möglichkeiten

Kombination von c und d während die Essenz von B in der Kombination von d und e besteht. Leibniz kann diesen Einwand gegen Spinozas Argument nur deshalb vorbringen, weil er sein kombinatorisches Modell von Attributen und Essenzen bereits voraussetzt.Wie wir im letzten Kapitel gesehen haben, setzt Spinoza genau an dieser Stelle an, indem er ein kombinatorisches Modell ablehnt und stattdessen von einer nicht-kombinatorischen Konzeption ausgeht. Die Uneinigkeit bezüglich der Frage ob zwei Substanzen ein Attribut teilen können oder nicht beruht also letztlich auf einer Uneinigkeit über die metaphysische Struktur von Attributen. Spinoza geht von einer nicht-kombinatorischen Konzeption aus, der zufolge jedes Attribut die gesamte Essenz einer Substanz ausdrückt. Leibniz hingegen geht von einem kombinatorischen Modell aus, dem zufolge Attribute nur einen Teil der Essenz ausmachen. Erst die Kombination aller Attribute ergibt die vollständige Essenz einer Substanz. In diesem Abschnitt habe ich für den ersten Teil von These 1 argumentiert, also dafür, dass Leibniz eine kombinatorische Konzeption von Attributen vertritt. In den folgenden beiden Abschnitten (2.5 und 2.6) werde ich für den zweiten Teil von These 1 argumentieren, also dafür, dass erst diese Attributskonzeption es Leibniz ermöglicht, Modalität in den Ideen Gottes zu verankern.

2.5 Attribute, die notiones primitivae in Leibniz’ Kombinatorik und unsere Unkenntnis der Attribute Im letzten Abschnitt ist deutlich geworden, dass Leibniz eine kombinatorische Attributskonzeption vertritt. Ein Attribut an sich betrachtet ist nicht hinreichend, um die Essenz einer Substanz zu charakterisieren, und Attribute sind deshalb, anders als bei Spinoza, nicht auf eine bestimmte Essenz festgelegt, sondern können zur Konstitution mehrerer Essenzen verwendet werden.⁶⁰ Ferner ist klar geworden, dass Attribute Eigenschaften sind, die sich nicht mittels anderer, fundamentalerer Eigenschaften analysieren lassen. Sie bilden gleichsam die einfachsten metaphysischen Bausteine in Leibniz’ Metaphysik, aus denen alles andere konstituiert wird.

 Sind Attribute deshalb eigenständige Dinge? Leibniz’ Definition eines Attributs als etwas, das durch sich selbst begriffen wird, legt dies nahe – insbesondere, weil es an die Definition von Substanz bei Spinoza erinnert. Andererseits ist auch klar, dass Attribute nicht ‚einfach so‘, ohne Substanz, existieren können. Leibniz muss also (genau wie Descartes) sagen, dass Attribute nicht real, sondern nur rational von den Substanzen, die sie charakterisieren,verschieden sind. Siehe zu diesem Punkt Abschnitt ..

2.5 Attribute, die notiones primitivae in Leibniz’ Kombinatorik

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Obwohl wir also nun einiges über Leibniz’sche Attribute wissen, handelt es sich dabei um reichlich abstrakte Charakterisierungen. Es wäre hilfreich, wenn Leibniz ein Beispiel für einen solchen ‚einfachsten metaphysischen Baustein‘ geben würde. Was sollen wir uns darunter vorstellen? Für Spinoza ist die Antwort auf diese Frage klar: Zwei Beispiele für Attribute sind die Attribute der Ausdehnung und des Denkens. Und obwohl es prinzipiell unendlich viele Attribute gibt und wir nur diese zwei erkennen können, scheinen diese beiden Attribute eine hinreichend klare Idee davon zu vermitteln, was ein Attribut im Allgemeinen ist.⁶¹ In Leibniz’ Fall lassen sich solche Beispiele leider nicht geben. In einer seiner Schriften zur Kombinatorik hält er ausdrücklich fest: Eine Begriffsanalyse, durch die wir in der Lage wären, zu primitiven Begriffen zu gelangen, d. h. zu solchen Begriffen, die durch sich selbst begriffen werden, liegt offenbar nicht in der menschlichen Fähigkeit.⁶²

Leibniz spricht hier nicht ausdrücklich von Attributen. Die Passage operiert auf der semantischen Ebene, auf der sich seine Kombinatorik abspielt, nicht auf der metaphysischen Ebene der Attribute. Bei den „einfachen Begriffen“, die „durch sich selbst begriffen werden“, handelt es sich aber offensichtlich um diejenigen Begriffe in Leibniz’ Kombinatorik, die für Attribute stehen.⁶³ Dies ist deshalb klar, weil die einfachen Begriffe ein entscheidendes Merkmal mit Attributen teilen: ihre Einfachheit. Einfache Begriffe sind solche Begriffe, die sich nicht in weitere Begriffe zerlegen lassen und die somit die entsprechenden Endpunkte einer begrifflichen Analyse bilden. Ihnen korrespondieren die Attribute, die die Endpunkte auf der metaphysischen Ebene bilden.⁶⁴ Wenn Leibniz also in der zitierten Passage sagt, dass wir niemals in der Lage sind, zu den einfachsten Begriffen vorzudringen, dann bedeutet dies auch, dass  Ganz so einfach wie bei Descartes ist die Sache jedoch nicht. Wie wir im letzten Abschnitt gesehen haben, sind Attribute für Spinoza immer schon auf eine höchst komplexe Weise strukturiert. Das Attribut der Ausdehnung etwa ist also nicht einfach Ausdehnung simpliciter, sondern Ausdehnung, die auf eine ganz bestimmte Weise modifiziert, d. h. strukturiert, ist.  AA ., : „Non videtur satis in potestate humana esse Analysis Conceptuum, ut scilicet possimus pervenire ad notiones primitivas, seu ad ea quae per se concipiuntur.“  Ich sage „stehen für“, weil ich Ausdrücke wie „repräsentieren“ oder „ausdrücken“ vermeiden möchte. Wie wir gleich sehen werden, braucht es für Leibniz’sche Repräsentationen Strukturen. Einfachen Begriffen aber fehlen genau solche Strukturen – sie sind eben einfach.  Es ist wichtig genau zwischen der semantischen Ebene, die in Leibniz’ Kombinatorik Thema ist, und der metaphysischen Ebene, auf der die Attribute angesiedelt sind, zu trennen. Leibniz selbst springt oft recht unbekümmert zwischen beiden Ebenen hin und her (wie wir oben gesehen haben, definiert er Attribute als notwendige Prädikate). Das entbindet uns als Interpreten aber nicht von der Aufgabe, die beiden Ebenen genau auseinanderzuhalten.

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2 Göttliche Ideen – Leibniz’ Weg zu den Möglichkeiten

wir keine Kenntnis der Attribute haben können. Leibniz ist also der Auffassung, dass uns die Natur von Attributen – den Bausteinen aller Substanzen – grundsätzlich unzugänglich ist.⁶⁵ Dies ist zunächst überraschend, da Leibniz im Allgemeinen einen starken (rationalistisch geprägten) epistemischen Optimismus vertritt und glaubt, dass uns die Realität wenigstens im Prinzip mit begrifflichen Mitteln vollständig zugänglich ist. Warum also glaubt er, dass wir keinen solchen Zugang zu den Attributen haben? Der Grund für Leibniz’ Skepsis liegt in seiner Theorie der Repräsentation. Für diese Theorie ist der Begriff der Struktur zentral. Jeglicher Form der Repräsentation – seien es vollkommen unbewusste Perzeptionen nackter Monaden, menschliche oder tierische Wahrnehmung oder begriffliche Repräsentation – liegt Leibniz zufolge eine Strukturisomorphie zugrunde.⁶⁶ So habe ich z. B. nur deshalb die Wahrnehmung eines Baumes, weil meine Perzeption des Baumes eine bestimmte Struktur aufweist, die den Baum ausdrückt. ⁶⁷ Diese Ausdrucksrelation ist auch für begriffliche Repräsentation von zentraler Bedeutung, was sich nicht zuletzt in Leibniz’ Kombinatorik niederschlägt. So stellt er dort etwa den Begriff ‚Mensch‘ als Produkt mehrerer Primzahlen dar.⁶⁸ Unser Begriff von Mensch muss also ein Komplex aus mehreren einfacheren Begriffen sein, um einen bestimmten Gehalt ausdrücken zu können. Was hat Leibniz’ Theorie der Repräsentation nun mit unserer Unkenntnis von Attributen zu tun? Das Problem besteht darin, dass Attribute gewissermaßen strukturlos sind. Da sie die Endpunkte einer Analyse bilden, können sie selbst keine komplexe Struktur mehr aufweisen. Andernfalls ließen sie sich ja noch in weitere Bestandteile analysieren. Da begriffliche Repräsentation (wie jede Form der Repräsentation) aber über Ähnlichkeit von Strukturen zustande kommt, können die strukturlosen Attribute nicht repräsentiert werden. Das einzige, was wir Menschen tun können, ist arbiträr Symbole, etwa Buchstaben oder Zahlen, festzulegen, die für die einfachsten Elemente stehen.Wir haben also keine „intuitive“ Erkenntnis der Attribute, sondern höchstens einen

 Siehe für diesen Punkt auch Nachtomy , S.  – .  Siehe hierfür insbesondere Quid sit idea? (AA .,  – ), wo Leibniz festhält, dass Ideen den Dingen, die sie repräsentieren, zwar nicht ähnlich sein müssen, diese aber ausdrücken müssen. Das ausdrückende Ding muss eine Struktur aufweisen, die der des ausgedrückten Dinges entspricht. Für eine ausführliche Diskussion, siehe Bender , S.  – .  Für eine genaue Analyse der Relation des Ausdrückens bei Leibniz, siehe Swoyer .  So schreibt Leibniz etwa in C  und in C , dass der Begriff ‚Mensch‘ mit Hilfe der Gleichung  x  =  dargestellt werden kann, wobei  für den Begriff ‚Lebewesen‘ und  für den Begriff ‚Rationalität‘ steht. Siehe hierzu insbesondere Couturat , S.  – . Vgl. auch Nachtomy , S.  – .

2.5 Attribute, die notiones primitivae in Leibniz’ Kombinatorik

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„symbolischen“ Zugang.⁶⁹ Diese symbolische Erkenntnis ist aber, wie Leibniz sich ausdrückt, „blind“,⁷⁰ weil sie keinen direkten Zugang zu den einfachsten Bausteinen, den Attributen, erlaubt.Weil sie keine Struktur aufweisen, repräsentieren einfache Begriffe (‚notiones primitivae‘) also streng genommen überhaupt nicht. Wir Menschen sind lediglich in der Lage, arbiträr festgelegte Stellvertreter zu definieren, die für einfache Begriffe bzw. Attribute stehen, ohne dass sie diese repräsentieren würden. Direkt können wir also niemals Kenntnis der Attribute selbst erlangen.⁷¹ Die angestellte Überlegung führt zu einem weiteren verblüffenden Ergebnis: Da Repräsentation stets an eine Relation der Strukturerhaltung gebunden ist, und weil Attribute vollkommen strukturlos sind, kann selbst Gott seine eigenen Attribute genau genommen nicht repräsentieren (wenigstens nicht in Leibniz’ technischem Sinne von Repräsentation). Im Gegensatz zu uns kann Gott seine Attribute jedoch intuitiv erfassen. Er hat also durch Reflexion einen ganz unmittelbaren Zugriff auf seine Attribute. Ich werde hier nicht die schwierige Frage diskutieren, wie diese intuitive Erkenntnis genau zu verstehen ist. Eine Analogie kann aber vielleicht dabei helfen zu verstehen, was Leibniz sich darunter vorstellt. Genauso wie rationale Lebewesen Leibniz zufolge durch Reflexion auf direkte Weise erfassen, dass sie einfache, unteilbare Substanzen sind,⁷² so erfasst auch Gott sein eigenes Wesen, und somit seine Attribute, auf eine ganz direkte Weise. Da wir einen solchen Zugang zu den einfachsten Begriffen bzw. Attributen nicht haben, können wir von ihnen lediglich symbolisches Wissen haben. Wir können sie jedoch nicht repräsentieren.

 Den Kontrast zwischen intuitiver und symbolischer Erkenntnis erläutert Leibniz in den Meditationes (AA .,  – ). Dort hält Leibniz auch fest, dass eine Erkenntnis einfacher Begriffe immer intuitiv sein muss.  Siehe ebenfalls AA .,  – .  Leibniz betont allerdings, dass wir einfache Begriffe in unseren Überlegungen verwenden dürfen, auch wenn wir deren Inhalt gar nicht kennen (vgl. AA ., ). Seine Idee scheint zu sein, dass uns dies dabei hilft, begriffliche Strukturen zu verstehen, auch wenn wir die letzten Bausteine, die einfachen Begriffe, nicht kennen.  Siehe hierzu z. B. Monadologie §.

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2 Göttliche Ideen – Leibniz’ Weg zu den Möglichkeiten

2.6 Attribute als einfache Formen Gottes und Gottes kombinatorische Aktivität Im letzten Abschnitt hat sich gezeigt, dass wir kein direktes Wissen von Attributen erlangen können. Trotz dieser epistemischen Einschränkung weist Leibniz Attributen innerhalb seines Systems eine wichtige Rolle zu, die wir verstehen können. Nach Leibniz’ Auffassung können wir so etwas wie die funktionale Rolle von Attributen verstehen. In diesem Abschnitt werde ich versuchen die Funktion, die Attribute in Leibniz’ System haben, genauer zu beschreiben. Zentral ist dabei insbesondere, dass Leibniz Gott als das Subjekt aller Attribute versteht. Auf diesen Punkt bin ich bisher nur am Rande eingegangen. Wie jedoch bald klar werden wird, ist dies zentral für Leibniz’ Theorie der possibilia in Gottes Intellekt. In Abschnitt 2.2 haben wir bereits gesehen, dass Leibniz Gott als Subjekt aller Attribute definiert: „Die Essenz Gottes besteht nämlich darin, dass er das Subjekt aller kompatiblen Attribute ist.“⁷³ Alternativ spricht Leibniz davon, dass „Gott das Subjekt aller absoluten einfachen Formen ist“, wobei er hinzufügt, dass ‚absolut‘ nichts anderes als ‚affirmativ‘ bedeutet.⁷⁴ Mit diesem Zusatz macht er klar, dass Gottes Attribute in keiner Weise limitiert sind, d. h. dass sie keinerlei Negation enthalten. Gottes Attribute sind also „rein positiv“. Diese beiden Punkte kommen besonders gut in folgender Passage zum Ausdruck: Ich nenne Perfektion jede einfache Qualität, die positiv und absolut ist, d. h. [eine Qualität,] die ohne jegliche Begrenzungen ausdrückt, was auch immer sie ausdrückt. Da aber eine derartige Qualität einfach ist, ist sie undefinierbar und nicht analysierbar. Denn andernfalls würde sie entweder keine einzige, einfache Qualität sein, sondern ein Aggregat mehrerer, oder, wenn es eine einzige ist, dann wäre sie von Limitierungen begrenzt und könnte so nur mit Hilfe von Negationen verstanden werden, was entgegen der Hypothese ist; vorausgesetzt wurde nämlich eine rein positive [Qualität].⁷⁵

Auf Basis dieser Charakterisierung der göttlichen Attribute schlägt Leibniz eine Verbesserung des traditionellen ontologischen Gottesbeweises vor. Laut Leibniz  AA ., : „[…] nam essentia Dei in eo consistit, ut sit subjectum omnium attributorum compatibilium.“ Warum Leibniz davon spricht, dass Gott das Subjekt aller kompatiblen Attribute ist, darauf gehe ich in Abschnitt . ein.  AA ., : „Deus est subjectum omnium formarum absolutarum simplicium, absolutarum id est affirmativarum.“  AA ., : „Perfectionem voco omnem qualitatem simplicem quae positiva est, et absoluta, seu quae quicquid exprimit sine ullis limitibus exprimit. [Qualitas] autem eiusmodi quia simplex, ideo est indefinibilis sive irresolubilis, alioqui enim vel non una erit simplex qualitas sed plurium aggregatum, vel si una erit limitibus circumscripta erit atque ita ope negationum intelligetur contra hypothesin, assumta [sic!] est enim pure positiva.“

2.6 Attribute als einfache Formen Gottes und Gottes kombinatorische Aktivität

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funktioniert dieser Beweis nämlich nur dann, wenn zuvor gezeigt wird, dass der Begriff eines perfekten Wesens (also Gottes) überhaupt möglich ist. Es muss also zunächst gezeigt werden, dass der Begriff eines Wesens, das alle positiven Attribute in sich vereint, keinen Widerspruch einschließt.⁷⁶ Ein solcher Beweis ist Leibniz zufolge leicht zu führen. Zwei vollständig positive Attribute – also zwei Attribute, die keinerlei Negation bzw. Limitation enthalten – können einfach deswegen niemals inkompatibel miteinander sein, weil dafür eines der Attribute das andere negieren müsste. Da jedoch vorausgesetzt wurde, dass alle Attribute positiv sind und deshalb keine Limitation bzw. Negation enthalten können, kann ein solcher Fall nicht eintreten.⁷⁷ Daraus schließt Leibniz: „Deshalb ist ein Seiendes, das alle Attribute hat, möglich.“⁷⁸ Nach dieser „Reparatur“ führt Leibniz dann einen mehr oder weniger traditionellen ontologischen Gottesbeweis. Ohne auf Details einzugehen, lässt sich die Grundidee der Leibniz’schen Version des ontologischen Beweises in etwa wie folgt zusammenfassen: Weil Gottes Essenz beinhaltet, dass Gott ein notwendiges Wesen ist, lässt sich Gottes Existenz nicht von seiner Essenz trennen. Da bereits gezeigt ist, dass diese Essenz konsistent ist, folgt daraus, dass Gott notwendigerweise existieren muss.⁷⁹ Gott ist also ein notwendiges Wesen und hat notwendigerweise alle Attribute. Die notiones primitivae aus Leibniz’ Kombinatorik, die im letzten Abschnitt besprochen wurden, sind somit Begriffe, die für Gottes Attribute stehen. Da letztlich alle Essenzen aus unterschiedlichen Kombinationen von Attributen bestehen, folgt daraus, dass Gott sozusagen das gesamte ‚Material‘, das für jegliche nur denkbare Essenz benötigt wird, in seinem eigenen Sein enthält. Diesen Gedanken macht Leibniz einige Jahre später, in den Meditationes de cognitione, veritate et ideis von 1684, explizit: Ob aber die Menschen jemals eine vollständige Analyse der Begriffe zustande bringen können und imstande sind, ihre Gedanken bis zu den ersten Möglichkeiten und zu den Begriffen, die nicht weiter zergliedert werden können, oder (was dasselbe bedeutet) bis zu den absoluten Attributen Gottes, nämlich zu den ersten Ursachen und dem letzten Grund der Dinge, zurückzuführen – dies wage ich jetzt gar nicht zu bestimmen.⁸⁰

 Diesen Punkt hebt Leibniz häufig hervor (z. B. in den Meditationes, AA .,  – ).  Siehe für dieses Argument AA ., . Für eine genauere Rekonstruktion und Diskussion dieses Beweises, siehe Nachtomy , S.  – .  AA ., : „[P]ossibile est ergo Ens quod omnia habeat attributa.“  Für eine ausführliche Diskussion von Leibniz’ Version des ontologischen Gottesbeweises, siehe Adams , S.  – .  AA ., /Perler & Haag , Bd. ,  –  (Übersetzung von Christian Barth und Paolo Rubini): „An vero unquam ab hominibus perfecta institui possit analysis notionum, sive an ad prima possibilia ac notiones irresolubiles, sive (quod eodem redit) ipsa absoluta Attributa Dei,

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2 Göttliche Ideen – Leibniz’ Weg zu den Möglichkeiten

Hier identifiziert Leibniz Gottes Attribute mit den ‚ersten Möglichkeiten‘ (‚prima possibilia‘), den ‚irreduziblen Begriffen‘ (die offenbar dasselbe sind wie die notiones primitivae), den ‚ersten Ursachen‘ und dem ‚letzten Grund der Dinge‘. Gottes Attribute sind prima possibilia, weil aus ihnen alle Essenzen möglicher individueller Substanzen konstruiert werden können.⁸¹ Wie aber ist zu verstehen, dass Gottes Attribute der ‚letzte Grund der Dinge‘ sind? Wie genau fungieren Attribute als prima possibilia? Um diese Fragen beantworten zu können, muss man sich zunächst klar machen, dass Gott einen gänzlich anderen Zugang zu seinen eigenen Attributen hat als wir. Wie in Abschnitt 2.5 gesehen, sind Menschen lediglich in der Lage, Attribute symbolisch darzustellen. Da Attribute aber einfach sind und keine interne Struktur aufweisen, können sie nicht repräsentiert werden. Aus diesem Grund haben wir Menschen keinen direkten Zugang zu Gottes Attributen. Bei Gott selbst ist dies anders, weil er zum Denken keine Symbole benötigt.⁸² Gott hat eine intuitive Erkenntnis seiner eigenen Attribute, was ihm einen direkten Zugang zur Natur eines jeden Attributs verschafft.⁸³ Durch einen reflexiven Akt der Selbsterkenntnis erlangt Gott unmittelbares Wissen von seinen eigenen Attributen.⁸⁴ Und da er alle Attribute in seinem Sein vereinigt, bildet Gott in seinem Intellekt auch Ideen aller Attribute. Bei diesen Ideen handelt es sich um nichts anderes als die oben diskutierten einfachen, nicht-analysierbaren Begriffe. Gott hat also eine vollständige Sammlung aller basalen Begriffe in seinem Verstand. Doch an diesem Punkt bleibt Gott nicht stehen. Wie Ohad Nachtomy überzeugend gezeigt hat, bildet Gott auf Basis dieser einfachen Begriffe – der prima possibilia – letztlich alle komplexen Begriffe, insbesondere die für Leibniz’ Theorie so zentralen vollständigen Begriffe individueller Substanzen.⁸⁵ Nachto-

nempe causas primas atque ultimam rerum rationem, cogitationes suas reducere possint, nunc quidem definire non ausim.“  Wie in Abschnitt . gesehen, schreibt Leibniz, dass „[es] so viele singuläre Substanzen geben [kann], wie es unterschiedliche Kombinationen aller kompatiblen Attribute gibt“ (AA ., ).  Das folgt daraus, dass Leibniz in den Meditationes sagt, dass eine perfekte Erkenntnis zugleich adäquat und intuitiv ist (AA ., ).  Wie ich in Abschnitt . erläutert habe, ist Leibniz’ Begriff der Repräsentation so eng an das Ausdrücken von Strukturen gebunden, dass Gottes Erfassen seiner Attribute nicht als Repräsentieren bezeichnet werden kann, da Attribute einfach und nicht weiter analysierbar sind.  Siehe für diesen Punkt insbesondere Nachtomy , S.  –  und Nachtomy , S.  – . Wie in Abschnitt . gesehen, ist hier unter einem reflexiven Akt ein Akt der Introspektion zu verstehen, durch den Gott direkten epistemischen Zugriff auf seine Natur erhält. In diesem Sinne von Reflexion sind reflexive Akte keine höherstufigen Akte, die sich auf andere geistige Akte richten. Vielmehr richtet sich Gott damit direkt auf sein eigenes Sein.  Vgl. für das Folgende Nachtomy , insbesondere S.  – .

2.6 Attribute als einfache Formen Gottes und Gottes kombinatorische Aktivität

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mys Idee ist folgende: Gottes reflexive Aktivität endet nicht einfach, wenn er durch Reflexion auf seine Essenz sämtliche einfachen Begriffe gewonnen hat. Vielmehr denkt Gott auf einer zweiten Stufe über diese Begriffe nach und verarbeitet sie sozusagen weiter. Wie genau ist das zu verstehen? Da Denken für Leibniz wesentlich kombinatorisch ist,⁸⁶ kombiniert Gott die einfachen Begriffe miteinander und formt auf diese Weise komplexe Begriffe. Aus den einfachen Begriffen A und B formt er z. B. den komplexen Begriff AB. Dieser Schritt wiederholt sich auf der nächsten Stufe, wo er z. B. die komplexen Begriffe AB und CD zu einem noch komplexeren Begriff ABCD verbindet. Dieser Prozess in Gottes Geist setzt sich immer weiter fort. Gott reflektiert über die Begriffe, die er auf der n-ten Stufe seiner reflexiven Aktivität gewonnen hat, und bildet durch Kombination neue, komplexere Begriffe auf der n+1-ten Stufe. Da Gott ein unendliches Wesen mit einem vollkommen aktiven Intellekt ist, wiederholt sich dieser Prozess ins Unendliche.⁸⁷ Auf diese Weise formt Gott letztlich unendlich viele unendlich komplexe Begriffe. Solche unendlich komplexen Begriffe sind aber nichts anderes als die vollständigen Begriffe individueller Substanzen.⁸⁸ Wie wir im nächsten Kapitel sehen werden, muss Nachtomys Modell in mehreren Hinsichten modifiziert werden. Erstens ist bisher noch überhaupt nicht klar, woher genau die Limitationen in den Begriffen individueller Substanzen kommen. Schließlich sind sowohl mögliche als auch tatsächlich von Gott erschaffene Geschöpfe stets in irgendeiner Weise limitiert. Da Gottes Attribute aber unendlich und ‚rein positiv‘ sind, ist schwer zu sehen, wie aus bloßer Kombination der einfachen Begriffe Begriffe limitierter Geschöpfe entstehen sollen. Zweitens wird sich herausstellen, dass Nachtomys Modell sich in der jetzigen Form nur schwer mit Leibniz’ Begriff einer möglichen Welt vereinbaren lässt. Mögliche Welten sind für Leibniz nicht bloße Ansammlungen individueller Substanzen, sondern ganzheitliche Gebilde, innerhalb derer die Individuen eng miteinander verknüpft sind.Wie deutlich werden wird, hat dies Konsequenzen für

 Siehe für diesen Punkt Rutherford , S.  – : „In [On the Art of Combination] we meet full-blown the theory of the combinatorial nature of concepts – the doctrine that all complex concepts are composed from, and analyzable into, simpler concepts – a constant feature of all of Leibniz’s later writings. It is evident that he regards this theory of concepts as following from more general metaphysical principles. In his view, all things, and thus all concepts, are defined in terms of the parts they contain (their ‘matter’) and the specific arrangement of these parts (their ‘form’).“  Dieser „Prozess“ ist natürlich nicht zeitlich zu verstehen. Leibniz denkt hier lediglich an logisch-begriffliche Abhängigkeitsverhältnisse. Siehe für diesen Punkt auch meine Diskussion in Abschnitt ..  Genau genommen handelt es sich noch nicht um die vollständigen Begriffe, sondern nur um monadisch vollständige Begriffe, da noch die relationalen Prädikate fehlen. Siehe dafür Kapitel , insbesondere Abschnitte . und ..

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2 Göttliche Ideen – Leibniz’ Weg zu den Möglichkeiten

die Bildung der Begriffe individueller Substanzen, die von Nachtomys Modell nicht eingefangen werden. Trotz dieser beiden Einwände ist Nachtomys Grundgedanke vollkommen richtig. Durch Reflexion auf seine eigenen Attribute bildet Gott alle einfachen Begriffe. Und indem er diese einfachen Begriffe kombinatorisch ‚weiterverarbeitet‘,⁸⁹ entstehen in seinem Verstand Begriffe aller möglichen individuellen Substanzen.⁹⁰ Vor diesem Hintergrund wird klar, warum die kombinatorische Attributskonzeption (siehe Abschnitt 2.4) für Leibniz’ Theorie bloß möglicher, nicht-aktualisierter Dinge unabdingbar ist (meine These 1). Gott kann die komplexen Begriffe von Individuen nur deshalb in seinem Geist bilden, weil diese sich durch Kombination aus den einfachen Begriffen – den prima possibilia – erzeugen lassen. Dieser ganze Prozess⁹¹ in Gottes Intellekt kann aber überhaupt nur dann stattfinden, wenn Attribute rekombinierbar sind und in mehreren Essenzen verwendet werden können. Leibniz braucht für seine Theorie der Modalität also eine kombinatorische Attributskonzeption. Erst diese ermöglicht es ihm, sich erfolgreich von Spinoza abzugrenzen und Platz für mögliche Dinge, die nicht wirklich sind, in seiner Metaphysik zu schaffen.

2.7 Gottes Essenz als der Grund aller möglichen Dinge Im letzten Abschnitt ist deutlich geworden, wie genau Leibniz’ kombinatorische Attributskonzeption seine Theorie der Modalität beeinflusst. Nur weil sich, anders als bei Spinoza, durch Rekombination von Attributen neue Essenzen bilden lassen, ist Gott überhaupt in der Lage, Ideen möglicher Substanzen zu bilden, die nicht wirklich sind. Erst das kombinatorische Modell von Attributen ermöglicht es Leibniz also, Modalität in den Ideen in Gottes Intellekt zu fundieren. Dieses Modell stellt somit eine metaphysische Grundvoraussetzung für Leibniz’ Theorie der Modalität dar.

 Wie genau diese Weiterverarbeitung stattfindet, werde ich, wie gesagt, im nächsten Kapitel klären.  Natürlich darf die Redeweise von ‚Entstehung‘ nicht wörtlich begriffen werden. Gott denkt nicht in einem zeitlichen Sinne ‚zuerst‘ über die einfachen Begriffe nach und kombiniert diese ‚danach‘ zu komplexen. Da Gott außerhalb der Zeit steht, können solche temporalen Ausdrücke nur metaphorisch gemeint sein. Sie drücken die logischen und begrifflichen Abhängigkeitsverhältnisse in Gottes Denken aus.  Auch hier ist natürlich kein zeitlicher Prozess gemeint.

2.7 Gottes Essenz als der Grund aller möglichen Dinge

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Ich glaube, wir sind nun auch in der Lage zu verstehen, warum Gott die Inhalte seiner Ideen nicht primitiverweise haben kann – eine Interpretation, die Samuel Newlands vertritt. Newlands schreibt Leibniz einen ‚Humeanismus bezüglich modaler Gesetze‘ zu.⁹² Auch dieser Lesart zufolge ist etwas deswegen möglich,weil Gott es denkt, und etwas ist unmöglich, weil Gott es nicht denkt. Die Tatsache jedoch, dass Gott bestimmte Dinge denkt, ist Newlands Interpretation zufolge einfach ein primitives Faktum, das nicht weiter erklärbar ist. Wie bereits in der Einleitung zu diesem Kapitel erwähnt, widerspricht Newlands Lesart dem Prinzip des zureichenden Grundes. Es muss eine Erklärung dafür geben, weshalb Gott genau diejenigen Ideen in seinem Geist hat, die darin tatsächlich enthalten sind. Andernfalls droht Leibniz’ Position in eine Art des cartesischen Voluntarismus zu kollabieren. Primitive Fakten über Gottes Verstand und willkürliche Festlegungen der modalen Wahrheiten durch Gott sind für Leibniz gleichermaßen inakzeptabel. Es muss einen Grund dafür geben, dass Gott bestimmte Ideen in seinem Intellekt hat. Wir sind nun zumindest teilweise in der Lage, diesen Grund anzugeben. Gott hat seine Denkinhalte, weil er diese zunächst durch Reflexion auf seine Attribute und dann durch Rekombination der so gewonnenen einfachen Begriffe aktiv hervorbringt. Dass Gott bestimmte Ideen in seinem Geist hat – und dass diese Ideen bestimmte modale Wahrheiten fundieren – ist also kein primitives Faktum, sondern eine Tatsache, die erklärt werden kann. Ich möchte nun für These 2 argumentieren, die noch einen Schritt weiter geht. These 2 besagt, dass letztlich alle modalen Wahrheiten in Gottes Essenz fundiert sind. Soeben haben wir gesehen, dass Gott seine Denkinhalte nicht primitiverweise hat, sondern weil er auf seine Attribute reflektiert und diese kombinatorisch zu neuen Essenzen verarbeitet. Doch hier könnte man wieder fragen: Warum hat Gott genau diese Attribute und nicht andere? Und warum reflektiert er auf sie und rekombiniert sie genau so, wie er es de facto tut? Die Antwort auf beide Fragen lautet: weil dies in seiner Essenz liegt. Gott hat die Attribute, die er hat, weil dies in seiner Essenz so festgelegt ist. Und auch seine intellektuelle Aktivität lässt sich auf seine Essenz zurückführen. Gott reflektiert auf seine Attribute und rekombiniert sie auf alle möglichen Weisen, weil Gott einfach alles denkt, was überhaupt denkbar ist. Da Denken für Leibniz notwendigerweise kombinatorisch ist, bedeutet das, dass Gott essentiellerweise alle möglichen Rekombinationen seiner Attribute denkt und so die Begriffe aller möglichen individuellen Substanzen bildet. In seiner Widerlegung von Spinoza von 1707 hält

 Siehe Newlands , S. .

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2 Göttliche Ideen – Leibniz’ Weg zu den Möglichkeiten

Leibniz fest: „Und die Realität der Essenzen selbst, aufgrund derer sie in Existenz fließen, rührt von Gott her. Die Essenzen der Dinge sind so ewig wie Gott. Und die Essenz Gottes selbst umfasst alle anderen Essenzen, so dass Gott selbst ohne diese nicht vollständig begriffen werden kann.“⁹³ Leibniz geht also so weit zu sagen, dass die Essenz Gottes gar nicht konsistent gedacht werden kann, wenn nicht berücksichtigt wird, dass diese Essenz alle anderen Essenzen in sich enthält. Ein ganz ähnliches Bild skizziert er in der Einleitung zu einer geheimen Enzyklopädie: Ein Begriff ist einfach, wenn er sich nicht in andere Begriffe zerlegen lässt – wenn das Ding nämlich keine Merkmale hat, sondern Zeichen seiner selbst ist. Man kann aber bezweifeln, dass ein derartiger Begriff den Menschen jemals distinkt erscheint, so nämlich, dass sie erkennen, dass sie ihn haben. Und in der Tat kann ein solcher Begriff nur von einem Ding sein, das durch sich selbst begriffen wird, nämlich von der höchsten Substanz, also Gott.Wir können derivative Begriffe aber nur mit Hilfe einfacher Begriffe haben, so dass tatsächlich nur durch den Einfluss Gottes etwas in den Dingen ist, und nur durch die Idee Gottes etwas im Geist gedacht wird – obwohl wir weder hinreichend distinkt verstehen, auf welche Art die Naturen der Dinge aus Gott hervorgehen, noch auf welche Art die Ideen der Dinge aus der Idee Gottes hervorgehen. Darin würde eine endgültige Analyse bestehen, oder ein adäquates Wissen aller Dinge durch ihre Ursache.⁹⁴

Diese Passage enthält in kondensierter Form Leibniz’ Theorie der Begriffe.Wie wir bereits wissen, sind einfache Begriffe solche Begriffe, die durch sich selbst begriffen werden – sie beziehen sich also auf Gott, bzw. auf die Attribute Gottes, weil Gott das einzige Ding ist, das vollständig durch sich selbst begriffen werden kann. Da nun alle nicht-primitiven Begriffe, also alle derivativen Begriffe, irgendwie von den primitiven Begriffen abhängen, muss letztlich alles von Gott abhängen. Damit meint Leibniz nicht nur die metaphysische oder kausale Abhängigkeit aller Dinge von Gott, sondern auch die Ideen bzw. Begriffe aller Dinge: Nichts kann „im Geist“ gedacht werden „ohne die Idee Gottes“. Alle nicht-göttlichen Essenzen hängen

 FC  (meine Hervorhebung): „Ipsaque realitas essentiarum qua scilicet in existentias influunt a Deo est. Essentiae rerum sunt Deo coaeternae. Et Dei ipsa essentia complectitur omnes alias essentias, adeo ut Deus sine ipsis concipi non possit perfecte.“  C : „Conceptus primitivus est, qui in alios resolvi non potest, cum res scilicet nullas habet notas, sed est index sui, an autem ullus ejusmodi conceptus hominibus distincte obversetur, ut scilicet eum se habere agnoscant, dubitari potest. Et quidem solius rei quae per se concipitur talis esse potest conceptus, nempe Substantiae summae hoc est DEI. Nullos tamen conceptus derivativos possumus habere, nisi ope conceptus primitivi, ita ut revera nihil sit in rebus nisi per DEI influxum, et nihil cogitetur in mente nisi per DEI ideam, etsi neque quomodo rerum naturae ex DEO, neque quomodo rerum ideae ex idea DEI profluant satis distincte agnoscamus, in quo consisteret analysis ultima seu adaequata cognitio omnium rerum per suam causam.“

2.7 Gottes Essenz als der Grund aller möglichen Dinge

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also nicht nur metaphysisch von der Essenz Gottes ab, sondern auch hinsichtlich ihres begrifflichen Gehalts.⁹⁵ Leibniz’ Theorie lässt sich also folgendermaßen zusammenfassen: Modale Wahrheiten sind in den Ideen in Gottes Intellekt fundiert, und diese Ideen sind wiederum in Gottes Essenz fundiert. Da die Fundierungsrelation transitiv ist,⁹⁶ bedeutet dies, dass modale Wahrheiten letztlich in Gottes Essenz fundiert sind. Es ergibt sich also folgendes Bild:

Modale Fakten, die nicht-göttliche Substanzen betreffen, werden also direkt in Gottes Ideen begründet und indirekt in Gottes Essenz. Letztlich ergibt sich also der gesamte modale Raum aus der Essenz Gottes. In Abschnitt 2.3 haben wir gesehen, dass modale Wahrheiten, die Gott selbst betreffen, eine Ausnahme von Leibniz’ Theorie darzustellen scheinen, weil sie nicht in seinem Intellekt begründet sein können. Die Tatsache etwa, dass Gott notwendigerweise existiert, ist zwar genauso in seiner Essenz begründet wie modale Wahrheiten, die nicht-göttliche Dinge betreffen, in deren Essenzen begründet sind. Der Unterschied ist aber, dass modale Wahrheiten über Gott nicht in dessen Ideen begründet sein können, weil dadurch ein Zirkel entstehen würde. Gottes Essenz wäre dann in einer Idee in seinem Intellekt fundiert; diese Idee wäre ihrerseits aber wiederum (wie alle Ideen Gottes) in seiner Essenz fundiert.

 Damit verfolgt Leibniz im Kern einen neuplatonischen Ansatz. Zum neuplatonischen Hintergrund, siehe ausführlich Mercer .  In der modernen Debatte zu grounding wird für gewöhnlich angenommen, dass die groundingRelation (Fundierungsrelation) transitiv ist. Schaffer , S.  hält z. B. fest, dass grounding irreflexiv, asymmetrisch und transitiv ist.

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2 Göttliche Ideen – Leibniz’ Weg zu den Möglichkeiten

Dieser Zirkel lässt sich vermeiden, wenn man annimmt, dass modale Wahrheiten über Gott nicht indirekt, vermittels seiner Ideen, in seiner Essenz fundiert sein können, sondern dass diese Fundierung direkt stattfindet. Für Modalitäten, die sich auf Gott beziehen, ergibt sich somit folgendes Bild:

Geht man von diesem Modell aus, dann ist Leibniz’ Metaphysik der Modalität einheitlicher als zunächst gedacht. Viele Interpreten gehen davon aus, dass Leibniz’ Theorie nur für nicht-göttliche Essenzen gilt. Modale Wahrheiten über Gott hingegen werden meist als Ausnahme von dieser Theorie betrachtet.⁹⁷ Wie wir soeben gesehen haben, sind aber letztlich alle modalen Wahrheiten in Gottes Essenz fundiert: Modale Wahrheiten über Gott sind direkt in Gottes Essenz fundiert, modale Wahrheiten über alle anderen Dinge hingegen indirekt. An diesem Punkt könnte man fragen, worin denn wiederum Gottes Essenz fundiert ist. Was verleiht Gottes Essenz die nötige „Realität“? Schließlich kann auch die Essenz Gottes nicht einfach freischwebend sein, sondern benötigt etwas wirklich Existierendes, das ihr Realität verleiht. Darüber hinaus kann man auch mit Bezug auf Gottes Essenz fragen, warum sie so ist, wie sie ist. Auch dafür muss es irgendeine Erklärung geben, da andernfalls wieder das Prinzip des zureichenden Grundes verletzt wäre. Braucht es also eine weitere Essenz, die die Beschaffenheit der Essenz Gottes erklärt? Und braucht es für diese Essenz wiederum eine weitere Essenz, die die Beschaffenheit der ersten Essenz erklärt? Sind wir hier also mit einem bösartigen infiniten Regress konfrontiert? Ich glaube, dass sich diese Probleme vermeiden lassen. Dazu müssen wir bedenken, dass Gottes Essenz laut Leibniz eine ganz spezielle Essenz ist. Sie unterscheidet sich dadurch von anderen Essenzen, dass sie explanatorisch von nichts außerhalb ihrer selbst abhängt. Sie ist also selbsterklärend und bedarf keiner weiteren Essenzen, um erfasst werden zu können. In seinen Randbemerkungen zu E1def3 aus Spinozas Ethik hält Leibniz fest:

 Siehe etwa Newlands , S. .

2.7 Gottes Essenz als der Grund aller möglichen Dinge

107

Aber nur das wird durch sich selbst verstanden, von dem wir ohne den Begriff eines anderen Dinges alle ‚Requisiten’ begreifen, d. h. das, was Grund der Existenz seiner selbst ist. Wir sagen nämlich für gewöhnlich, dass wir Dinge verstehen, wenn wir deren Entstehung begreifen, d. h. die Art, in der sie produziert werden. Daraus folgt, dass nur das durch sich selbst begriffen wird, was seine eigene Ursache ist, d. h. das, was notwendig ist, d. h. ein Ens a se. ⁹⁸

Dieses Ens a se ist offenbar nichts anderes als Gott. Der Begriff (bzw. die Essenz) Gottes zeichnet sich also dadurch aus, dass keine anderen Begriffe nötig sind, um ihn zu verstehen. Auf metaphysischer Ebene hat dies Leibniz zufolge die Konsequenz, dass Gott mit Notwendigkeit durch sich selbst existiert und seine eigene Ursache ist.⁹⁹ Gottes Existenz lässt sich also nicht von seiner Essenz trennen. Diesen Gedanken greift Leibniz in späteren Schriften häufig wieder auf, z. B. in De Contingentia, wo er schreibt: „In Gott unterscheidet sich Existenz nicht von Essenz.“¹⁰⁰ Nun wird klar, warum es für Leibniz kein Problem darstellt, Gottes Essenz in etwas wirklich Existierendem zu fundieren. Gottes Essenz ist einfach in Gott selbst fundiert. Dies ist deshalb unproblematisch, weil Gottes Essenz und Gottes Existenz gar nicht real voneinander verschieden sind. Wir können zwar begrifflich zwischen beiden unterscheiden, dieser begrifflichen Trennung entspricht jedoch keine metaphysische Trennung.¹⁰¹ Da Gottes Essenz Existenz einschließt, kann sie sich also gleichsam selbst realisieren und bedarf keiner weiteren Fundierung. Und weil sie selbsterklärend ist, eignet sich Gottes Essenz hervorragend als Regressstopper. Der Grund, weshalb sie so ist, wie sie ist, liegt einfach in ihr selbst. Leibniz verletzt also nicht das Prinzip des zureichenden Grundes, wenn er letztlich alle modalen Wahrheiten in Gottes Essenz fundiert. Vielmehr vermeidet er auf diese Weise eine Verletzung seines explanatorischen Rationalismus, da er nicht gezwungen ist, modale

 AA .. : „Per se vero intelligi non nisi id cuius omnia requisita concipimus, sine alterius rei conceptu, sive id quod sibi ipsi existendi ratio est. Intelligere enim nos vulgo res dicimus cum eorum generationem concipimus, sive modum quo producuntur. Unde per se intelligitur, id tantum quod causa sui est, sive quod necessarium est, sive Ens a se.“  Leibniz gibt die causa sui Redeweise später zwar auf, behält den Grundgedanken aber bei. Siehe hierzu Griffin , S. .  AA ., : „In Deo existentia non differt ab Essentia.“  Zu diesem Punkt schreibt Adams , S.  – : „The existence of God, the reality of the divine essence, and of all other essences as contained in it, and the truth of all necessary truths as grounded therein, form in a sense a single indissoluble metaphysical reality, the first of all realities. There is no getting beyond it to anything metaphysically deeper. It must therefore have the reason of its existence within itself, in accordance with Leibniz’s version of the Principle of Sufficient Reason.“

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2 Göttliche Ideen – Leibniz’ Weg zu den Möglichkeiten

Wahrheiten in etwas zu fundieren, das letztlich keine Erklärung hat, wie z. B. in primitiven Denkinhalten. Die Überlegungen dieses Abschnittes haben gezeigt, dass Leibniz’ Theorie der Modalität in doppelter Hinsicht bemerkenswert einheitlich ist. Erstens werden alle Arten von Modalität auf Essenzen zurückgeführt. Damit verfolgt Leibniz einen im Kern aristotelischen Ansatz. Modalitäten wie Möglichkeit und Notwendigkeit werden mit Hilfe des Essenzbegriffes erklärt. Leibniz’ Theorie ist deshalb natürlich nicht reduktiv, da der Begriff der Essenz selbst modal ist. Zweitens hat sich herausgestellt, dass Leibniz’ Theorie noch in einer weiteren Hinsicht eine große Einheitlichkeit aufweist. Letztlich begründet er alle Modalitäten in einer einzigen Essenz, nämlich in derjenigen Gottes. Leibniz’ Fundierung von Modalität kommt also sowohl mit einem Typ von Entität aus (Essenzen) als auch mit nur einem einzigen Token dieses Typs. Da Gottes Essenz alle anderen Essenzen in sich enthält, reicht sie zur Erklärung aller modalen Wahrheiten aus.

2.8 Die Einfachheit Gottes und Leibniz’sche Attribute In den letzten Abschnitten ist deutlich geworden, dass Leibniz’ Theorie der Attribute kombinatorisch geprägt ist. Instanzen ein und desselben Attributs können in die Konstitution verschiedener Essenzen eingehen. Wie wir gesehen haben, ist dies eine Voraussetzung dafür, dass Gott Ideen von Dingen außer sich selbst haben kann (sowohl von wirklichen als auch von bloß möglichen). Diese kombinatorische Attributstheorie wirft allerdings folgende theologische Frage auf: Wenn Gott aus mehreren Attributen besteht, die sich rekombinieren lassen, wie kann er dann ein einfaches Wesen sein? Leibniz ist der klassischen Doktrin der Einfachheit Gottes verpflichtet, der zufolge Gott keine Teile hat und auf keine Weise zusammengesetzt ist.¹⁰² Etwas technischer ausgedrückt bedeutet dies, dass es innerhalb von Gottes Natur keine Realdistinktionen geben darf. Weder dürfen die Attribute real voneinander verschieden sein noch darf Gott (als Subjekt der Attribute verstanden) real von den Attributen verschieden sein.¹⁰³ Um zu verstehen, wie Leibniz mit dem Problem der Einfachheit Gottes umgeht, müssen wir also zunächst klären,was es für Leibniz bedeutet, dass ein Ding x

 Siehe für einen locus classicus zur Einfachheit Gottes Thomas von Aquin, ST I, q. . Dort hält Thomas fest, dass Gott auf keine Weise komplex ist. Somit darf Gott auch nicht aus unterschiedlichen metaphysischen Komponenten bestehen. Thomas betont unter anderem, dass Gott weder aus Form und Materie besteht, noch dass er sich aus Essenz und Existenz zusammensetzt, noch aus Genus und Differenz, noch aus Subjekt und Akzidenz.  Siehe für diesen Punkt Vallicella .

2.8 Die Einfachheit Gottes und Leibniz’sche Attribute

109

real von einem Ding y verschieden ist. In Anschluss an Suárez und Descartes erläutert Leibniz die Realdistinktion folgendermaßen: „Alles, was vor einer Operation des Geistes real von etwas anderem so verschieden ist, dass keines von beiden – sei es gänzlich oder teilweise – Teil des anderen ist, kann von dem anderen getrennt werden.“¹⁰⁴ Zwei Dinge sind also genau dann real voneinander verschieden, wenn sie metaphysisch unabhängig voneinander sind, oder wenn, wie Leibniz sich ausdrückt, keines von beiden Dingen das andere für sein eigenes Sein (esse) benötigt.¹⁰⁵ Man könnte also sagen, dass bei Leibniz, so wie bei Suárez, für eine Realdistinktion zwei unterschiedliche res vorliegen müssen.¹⁰⁶ Vor diesem Hintergrund scheint Gottes Einfachheit durch Leibniz’ kombinatorische Attributskonzeption in der Tat stark gefährdet zu sein. Wenn Attribute Eingang in verschiedene Essenzen finden können, dann scheint dies vorauszusetzen, dass sie voneinander trennbar und damit real voneinander verschieden sind. Darüber hinaus stellt sich der Eindruck ein, dass die Attribute nicht nur voneinander real verschieden sind, sondern auch von Gott als Subjekt. Ist Leibniz’ Konzeption von Attributen und Essenzen, und damit auch seine Metaphysik der Modalität, also unvereinbar mit der Einfachheit Gottes? Tatsächlich besteht auf den ersten Blick eine starke Spannung zwischen der Einfachheit Gottes und Leibniz’ kombinatorischer Auffassung von Attributen. Es gibt grundsätzlich zwei Möglichkeiten, diese Spannung zu beseitigen bzw. wenigstens zu verringern: Erstens kann man versuchen den Begriff der Einfachheit abzuschwächen und eine gewisse Komplexität innerhalb von Gottes Natur erlauben. Zweitens kann man das Problem von der Seite der Attribute angehen und argumentieren, dass Attribute zwar auf eine gewisse Weise voneinander verschieden sind, dass diese Verschiedenheit jedoch keine Trennbarkeit impliziert. Ich glaube, dass Leibniz beide Strategien verfolgt, oder dass ihm zumindest beide Strategien zur Verfügung stehen. Leibniz äußert sich zu Gottes Einfachheit vor allem im Kontext seiner Diskussion der Trinität in einigen frühen Schriften der späten 1660er Jahre. Bevor ich auf die für unseren Kontext wichtigen Passagen zur Trinitätslehre eingehe, ist jedoch eine Vorbemerkung zur spätscholastischen Distinktionstheorie angebracht. In der ebenfalls frühen Disputatio metaphysica de principio individui wird deutlich, dass Leibniz neben der bereits erwähnten Realdistinktion auch die

 G IV, : „[O]mne quod ante mentis operationem realiter ab altero ita differt, ut neutrum sit pars alterius vel ex toto vel ex parte, potest ab altero separari.“  Vgl. G IV, : „Nam in adaequate differentibus neutrum altero ad suum esse indiget.“  Vgl. Suárez, Disputationes ...

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2 Göttliche Ideen – Leibniz’ Weg zu den Möglichkeiten

Vernunftunterscheidung, die distinctio rationis, kennt.¹⁰⁷ So sagt Leibniz z. B., dass Gattung und Art rational voneinander verschieden sind.¹⁰⁸ In diesem Zusammenhang ist wichtig, dass Suárez eine Unterscheidung zwischen zwei Arten der Vernunftunterscheidung eingeführt hat, die Leibniz, wie wir gleich sehen, geläufig war. Suárez unterscheidet zwischen der distinctio rationis ratiocinantis und der distinctio rationis ratiocinatae. ¹⁰⁹ Die distinctio rationis ratiocinantis ist eine quasi willkürlich getroffene, rein begriffliche Unterscheidung, die keinerlei Grundlage in der objektiven Realität hat. Bei der distinctio rationis ratiocinatae hingegen gibt es eine solche Grundlage, ein fundamentum in re, sehr wohl.¹¹⁰ Zu letzterer schreibt Suárez, dass sie bereits in der Sache existiert, bevor die Vernunft eine Unterscheidung trifft. Es handelt sich also nicht um eine willkürliche, sondern um eine metaphysisch fundierte Unterscheidungsoperation der Vernunft.¹¹¹ Wie das genau zu verstehen ist, werde ich gleich anhand eines Beispiels erläutern. Vor dem Hintergrund dieser scholastischen Theorie der Unterscheidungen können wir uns nun Leibniz’ Ausführungen zu Gottes Einfachheit in seiner Schrift Defensio trinitatis von 1669 zuwenden. Dort diskutiert er das Problem der Einfachheit Gottes zwar mit Bezug auf die Trinitätslehre und nicht mit Bezug auf die göttlichen Attribute. Dennoch können wir aus der Art und Weise, wie Leibniz versucht, dem Problem der Trinität Herr zu werden, etwas darüber lernen, wie er die Einfachheit Gottes konzipiert. Auf dieser Basis können wir dann Rückschlüsse darauf ziehen, wie Leibniz die Einfachheit Gottes mit seiner kombinatorischen Attributskonzeption vereinbaren kann.¹¹² In Defensio trinitatis wird deutlich, dass Leibniz das Problem der Vereinbarkeit von Einfachheit und trinitarischer Struktur von zwei Seiten angeht. Zunächst stellt  Scotus’ Formaldistinktion lehnt Leibniz aber genauso wie Descartes und Suárez ab (vgl. G IV,  – ).  Vgl. G IV, .  Vgl. Suárez, Disputationes Metaphysicae ...  Vgl. Suárez, Disputationes Metaphysicae ...  Vgl. Suárez, Disputationes Metaphysicae ..: „Nam distinctio rationis ratiocinatae sic dicta existimari potest, quia in re ipsa praeexistit antequam ratio ratiocinetur, ut quasi ex se ratiocinata dicatur, solumque requiratur ratio ad illam cognoscendam, non vero faciendam. […] ratiocinatae vero, quia non est omnino ex mero opere rationis, sed ex occasione quam res ipsa praebet, circa quam mens ratiocinatur.“  Tatsächlich sehen viele mittelalterliche Autoren einen engen Zusammenhang zwischen trinitarischer Struktur und den göttlichen Attributen. So wird etwa der Sohn als eine Emanation des göttlichen Intellekts beschrieben und der Heilige Geist als eine Emanation des göttlichen Willens. Friedman , S.  charakterisiert dies als ‚psychologisches Modell der Trinität‘: „Thus, according to basically any form of the strong use of philosophical psychology in trinitarian theology, the distinction between the divine persons is based upon some type of distinction between the divine attributes.“

2.8 Die Einfachheit Gottes und Leibniz’sche Attribute

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er klar, dass die These der Einfachheit Gottes nicht so verstanden werden darf, dass es überhaupt keine Unterscheidungen in Gottes Natur gibt: Gott kann nicht in so strengem Sinne Eines genannt werden, dass es in ihm realerweise, bzw. vor einer Operation des Geistes, nichts Distinktes geben würde.Wenn er nämlich Geist ist, so muss es in ihm Denkendes, Gedachtes und Denkakt geben, sowie das, was mit diesen zusammenfällt: Können, Wissen und Wollen. Es schließt aber einen Widerspruch ein, dass es zwischen diesen keinen realen Unterschied gibt. Weil sie sich nämlich formal voneinander unterscheiden, gibt es eine differentia rationis ratiocinatae zwischen ihnen; ein solcher Unterschied hat aber ein Fundament in der Sache. Deshalb gibt es in Gott drei real voneinander verschiedene Fundamente.¹¹³

Diese Passage ist gleich in mehreren Hinsichten bemerkenswert. Zunächst fällt auf, dass Leibniz die These der Einfachheit Gottes nicht so versteht, dass es überhaupt keine Struktur in Gottes Natur gibt. Das ist an sich nicht weiter überraschend. Verblüffend ist allerdings, dass Leibniz mehrfach betont, dass es Realdistinktionen innerhalb der Natur Gottes gibt. Dies scheint der Einfachheitsthese direkt zu widersprechen. Gleichzeitig identifiziert Leibniz die Realdistinktion allerdings mit der „differentia rationis ratiocinatae“, also mit derjenigen Art von Suárez’ Vernunftunterscheidung, die ein fundamentum in re hat. Das ist ein überraschender terminologischer Zug, da sich Leibniz damit zwar eindeutig auf Suárez bezieht, für Suárez die distinctio rationis ratiocinatae der Realdistinktion aber natürlich entgegengesetzt ist.¹¹⁴ Leibniz stellt jedoch sogleich klar, dass die Unterscheidungen, die es in Gottes Natur gibt, seine Einfachheit deshalb nicht gefährden, weil sie keine Trennbarkeit implizieren: Dies hat auch keine Unvollkommenheit in Gott zur Folge, weil Vielheit und Komposition nicht an sich unvollkommen sind, sondern nur insofern, als sie Trennbarkeit und somit die Zerstörbarkeit des Ganzen enthalten. Aber daraus folgt keine Trennbarkeit. Vielmehr ist […]

 AA ., : „Non potest dici DEUM ita strictissimè unum esse, ut non dentur in eo realiter seu ante operationem mentis distincta. Si enim mens est, impossibile est quin sint in eo: intelligens, intellectum, et intellectio, et quae cum his coincidunt: posse, scire, et velle. Horum verò reale discrimen non esse implicat contradictionem. Cum enim formaliter differant, erit eorum differentia rationis ratiocinatae, talis autem differentia habet fundamentum in re, erunt igitur in DEO tria fundamenta realiter distincta.“  Ebenfalls verblüffend ist die Tatsache, dass Leibniz in der zitierten Passage außerdem auch noch von formaler Verschiedenheit spricht, obwohl er an anderen Stellen die Formaldistinktion ablehnt.

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2 Göttliche Ideen – Leibniz’ Weg zu den Möglichkeiten

gezeigt worden, dass die Existenz einer Person der Gottheit ohne die anderen unmöglich ist und einen Widerspruch enthält.¹¹⁵

Leibniz erlaubt also eine Vielheit in Gott, solange diese Vielheit nicht zu einer Trennbarkeit führt. Für Leibniz gibt es somit (wie übrigens auch schon für Suárez und Spinoza) Realdistinktionen, die keine Trennbarkeit implizieren.¹¹⁶ Damit widerspricht Leibniz zwar seiner eigenen Definition der Realdistinktion aus Disputatio metaphysica de principio individui, doch dabei handelt es sich um einen rein terminologischen Punkt. Der Sache nach meint Leibniz nichts anderes als Suárez’ distinctio rationis ratiocinatae. Er erlaubt also nicht-mereologische Unterscheidungen innerhalb der Natur Gottes, die ein metaphysisches Fundament haben. Diese Erkenntnis können wir nun auch auf Leibniz’ Konzeption von Attributen übertragen. Vor dem Hintergrund seiner Trinitätslehre ist klar, dass Gott nicht einfach eine Ansammlung von Attributen sein kann, weshalb Leibniz (wie oben gesehen) auch betont, dass Gott das „Subjekt aller kompatiblen Attribute ist“.¹¹⁷ Damit ist nicht gemeint, dass zu den Attributen noch eine weitere Entität, nämlich das Subjekt, hinzukommt. Vielmehr möchte Leibniz mit dieser Redeweise klarmachen, dass Gott eine einfache, aber strukturierte Entität ist. Die Rede von einer Vielheit, die mit einer Einfachheit kompatibel ist, erinnert stark an Leibniz’ späte Theorie der Monaden. In der Monadologie schreibt Leibniz, dass „eine Vielheit in der Einheit oder in dem Einfachen“ eingeschlossen ist.¹¹⁸ Sowohl Gott also auch die Monaden sind zwar einfache Entitäten, weisen aber dennoch eine komplexe Struktur auf. Wie ist das genau zu verstehen? Ich glaube, hier kann eine Analogie helfen. Ein Elektron hat sowohl eine bestimmte Ladung als auch eine bestimmte Masse. Dies bedeutet aber nicht, dass ein Elektron bloß ein Aggregat bzw. eine bloße Ansammlung von Ladung einerseits und Masse andererseits ist. Vielmehr handelt es um ein Ding, das mehrere Komponenten in sich vereinigt. Man kann nicht einfach die Ladung und die Masse voneinander oder vom Elektron trennen. Ganz ähnlich verhält es sich mit Gott und seinen Attributen. Dass Gott das Subjekt aller Attribute ist, bedeutet nichts anderes, als

 AA .,  – : „Neque hoc imperfectionem in DEO infert, quia multitudo et compositio per se imperfecta non est, nisi quatenus continet separabilitatem, et ita corruptibilitatem totius. Sed separabilitas hinc non infertur. Quin potius […] demonstratum est impossibile esse, et implicare contradictionem, ut una Deitatis persona sine alia existat.“  Somit ist Trennbarkeit zwar hinreichend für das Vorliegen einer Realdistinktion. Umgekehrt ist das Vorliegen einer Realdistinktion aber nur notwendig, nicht hinreichend, für Trennbarkeit.  AA .,  (meine Hervorhebung).  Monadologie §/Holz Bd. , .

2.8 Die Einfachheit Gottes und Leibniz’sche Attribute

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dass es sich bei ihm um eine zwar strukturierte, aber dennoch einfache und einheitliche Entität handelt. Und ähnlich wie es beim Elektron sinnvoll ist, zu sagen, dass es ein metaphysisches Fundament für die begriffliche Trennung zwischen Ladung und Masse gibt, so gibt es auch ein metaphysisches Fundament dafür, begrifflich zwischen Gottes Attributen zu unterscheiden. Der Umweg über die Trinitätslehre hat gezeigt, dass es auch für Leibniz inakzeptabel wäre, wenn sich die göttlichen Attribute im wörtlichen Sinne voneinander trennen ließen. Da Gott nicht aus Teilen besteht, können die Attribute nicht von ihm abgetrennt werden und gleichsam zu neuen Essenzen „verarbeitet“ werden. Wie ist dann aber Leibniz’ kombinatorisches Modell von Attributen zu verstehen? Müssen Attribute nicht voneinander (und von Gott) trennbar sein, damit Gott mit ihnen in seinem Intellekt Essenzen von anderen Substanzen als ihm selbst bilden kann? Entscheidend ist hierbei, dass die „Trennung“ von Attributen lediglich in Gottes Intellekt stattfindet. Wenn Gott aus seinen Attributen neue Essenzen formt, so bedeutet dies nicht, dass Gott seine Natur in einem metaphysischen Sinne zunächst zerteilt, um seine Bestandteile dann neu zusammenzusetzen. Vielmehr erfasst Gott, indem er seine Attribute erfasst, unterschiedliche Aspekte seiner Natur, was ihm erlaubt, unterschiedliche einfache Begriffe zu formen. Durch seine kombinatorische Aktivität verbindet Gott diese einfachen Begriffe zu komplexen und schließlich zu Begriffen individueller Substanzen. Um diese einfachen Begriffe bilden zu können, ist es aber nicht erforderlich, dass Gottes Attribute voneinander trennbar sind. Es reicht völlig aus, wenn die göttlichen Attribute rational voneinander verschieden sind, solange darunter die distinctio rationis ratiocinatae verstanden wird, solange es also ein fundamentum in re für die Verschiedenheit der Attribute gibt. Gott muss also, trotz seiner Einfachheit, eine bestimmte metaphysische Struktur aufweisen. Nur so ist gewährleitet, dass die einfachen Begriffe, die Gott durch Reflexion auf seine eigene Essenz bildet, eine Entsprechung in der Wirklichkeit haben. Würde es sich nur um eine distinctio rationis ratiocinantis handeln, dann würde dies bedeuten, dass Gott die einfachen Begriffe einfach erfindet, ohne dafür einen Grund (ein fundamentum in re) zu haben. In diesem Fall würden seine Begriffe nicht angemessen die objektive Realität abbilden. Ist Leibniz’ Strategie, die Einfachheit Gottes auf diese Weise zu sichern, erfolgreich? Wie man diese Frage beantwortet, hängt davon ab, was man genau unter der Einfachheit Gottes versteht. Thomas von Aquin etwa würde Leibniz’ Aussage, „dass Gott nicht in so strengem Sinne Eines genannt werden [kann], dass es in ihm realerweise, bzw.vor einer Operation des Geistes, nichts Distinktes geben würde“, sicherlich nicht zustimmen.Thomas betont ausdrücklich, dass er keinerlei

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2 Göttliche Ideen – Leibniz’ Weg zu den Möglichkeiten

Art von metaphysischer Komplexität in Gott erlaubt.¹¹⁹ Da Thomas ferner neben der Realdistinktion und der Rationaldistinktion (die bei ihm Suárez’ distinctio rationis ratiocinantis entspricht) keine weitere Art der Verschiedenheit kennt – und weil reale Verschiedenheit in der Natur Gottes für ihn ausgeschlossen ist – ist er darauf festgelegt, dass es in Gott keinerlei Art von distinctio gibt, der irgendeine metaphysische Realität entspricht. Nimmt man jedoch in Kauf, dass Gott trotz seiner Einfachheit eine Art von metaphysischer Komplexität aufweisen darf, dann ist Leibniz’ Strategie durchaus schlüssig. Attribute sind dann so etwas wie Aspekte oder Strukturmerkmale von Gottes Natur, die zwar nicht voneinander trennbar sind, die aber dennoch echte metaphysische Realität haben. Gott ist wirklich auf eine bestimmte Weise strukturiert.¹²⁰ Ob man Leibniz’ Strategie, seine kombinatorische Attributskonzeption mit Gottes Einfachheit zu versöhnen, für erfolgversprechend hält, hängt also letztlich davon ab, wie man genau Gottes Einfachheit auffasst.

2.9 Spinozas Nezessitarismus und Leibniz’sche Möglichkeiten Ich habe in diesem Kapitel Leibniz’ Theorie der Modalität häufig mit derjenigen Spinozas kontrastiert. Es ist deutlich geworden, dass Leibniz’ Metaphysik Raum für nicht-aktualisierte possibilia bietet. In dieser Hinsicht unterscheidet sie sich von Spinozas Metaphysik, in der solche possibilia keinen Platz haben. Um Spinozas und Leibniz’ Positionen zur Modalität zu vergleichen, wird darüber hinaus auch häufig der Begriff des Nezessitarismus bemüht. Einer Nezessitaristin zufolge sind alle Wahrheiten notwendige Wahrheiten.Wie in Kapitel 1 gesehen, ist Spinoza dieser Position zweifellos verpflichtet. In der Literatur wird Leibniz’ Theorie der Modalität meist so dargestellt, dass sie sich ausschließlich aus seiner Opposition gegen Spinozas Nezessitarismus entwickelt hat.¹²¹ In diesem Abschnitt werde ich argumentieren, dass sich der Begriff des Nezessitarismus aber nur bedingt eignet, um Leibniz’ Position in den späten 1670er und den frühen 1680er Jahren mit derjenigen Spinozas zu vergleichen. Außerdem wird klar werden, dass Leibniz’ Motive, seine Modalitätstheorie zu entwickeln, etwas anders gelagert sind, als zumeist angenommen wird. Eine ausführliche Diskussion des

 Siehe ST I, q. .  Dies ist natürlich keine besondere Innovation von Leibniz. Die mittelalterlichen Versuche, Gottes Einfachheit mit einer metaphysischen Strukturiertheit zu verbinden, sind zahllos. Besonders einflussreich war Scotus’ Einführung der Formaldistinktion.  Ein gutes Beispiel dafür ist Adams , S.  – .

2.9 Spinozas Nezessitarismus und Leibniz’sche Möglichkeiten

115

Nezessitarismus, die insbesondere auch auf Leibniz’ spätere Ansichten eingeht, erfolgt dann in Kapitel 5. Im Gegensatz zu Spinoza erlaubt Leibniz nicht-aktualisierte possibilia. Sie existieren in Form von Ideen in Gottes Intellekt. Diese Konzeption eröffnet ihm die Option, sinnvoll von nicht-wirklichen möglichen Substanzen und von nichtwirklichen möglichen Welten zu sprechen.¹²² In diesem Punkt weicht Leibniz also eindeutig von Spinoza ab. Aber ist Leibniz nicht dennoch aus anderen Gründen auf eine nezessitaristische Position festgelegt? In vielen frühen und mittleren Schriften betont er schließlich selbst, dass Gott aufgrund seiner Allgüte und Allmacht gar nicht anders kann, als die beste aller möglichen Welten zu erschaffen. 1678 gesteht Leibniz in seinem Kommentar zu E1p33 zu: Dieser Lehrsatz kann wahr oder falsch sein, je nachdem wie man ihn erklärt. Unter der Annahme, dass der göttliche Wille das Beste wählt oder auf die perfekteste Weise funktioniert, konnten sicherlich nur diese Dinge hervorgebracht werden. Aber gemäß der Natur der Dinge, sofern sie an sich selbst betrachtet wird, hätten auch andere Dinge hervorgebracht werden können.¹²³

In dieser Passage trifft Leibniz eine wichtige Unterscheidung. Er betont, dass, wenn man von Gottes Allgüte abstrahiert, auch andere Dinge als die wirklichen Dinge möglich sind. Diese Dinge sind an sich betrachtet möglich, weil sie keinen internen Widerspruch aufweisen und von Gott gedacht werden. Mit dieser Position grenzt Leibniz sich von Spinoza ab. Wie wir im ersten Kapitel gesehen haben, glaubt Spinoza, dass andere Dinge als die wirklichen Dinge nicht einmal konsistent gedacht werden können. Dennoch stimmt Leibniz mit Spinoza darin überein, dass alle Dinge mit Notwendigkeit hervorgebracht wurden, sowie man Gottes gesamte Natur berücksichtigt. Ende der 1670er Jahre wird eine bestimmte Art von Notwendigkeit von Leibniz also gar nicht bestritten. Tatsächlich räumt er 1679 in De affectibus ein: „Alles Kontingente ist auf gewisse Weise notwendig.“¹²⁴ Ist Leibniz also zu dieser Zeit Nezessitarist? Diese Frage ist schwierig zu beantworten. Der Ausdruck ‚Nezessitarismus‘ ist eine Erfindung des zwanzigsten Jahrhunderts, und in gewisser Weise ist diese Schablone für einen Vergleich zwischen Spinozas und Leibniz’ Metaphysik der Modalität ungeeignet, weil der Begriff nicht feinkörnig genug ist. Wenn man fragt, ob eine Philosophin eine nezessitaristische Position vertritt, möchte man eigentlich nur wissen, ob sie eine

 Auf Leibniz’ Konzeption möglicher Welten gehe ich im nächsten Kapitel ein.  AA, ., : „Haec propositio vera falsave, prout explicatur. Ex hypothesi voluntatis divinae eligentis optima seu perfectissime operantis certe non nisi haec produci potuerunt, secundum ipsam vero rerum naturam per se spectatam, aliter produci res poterant.“  AA ., : „Omne contingens aliquo modo necessarium est.“

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2 Göttliche Ideen – Leibniz’ Weg zu den Möglichkeiten

Box vor alle wahren Sätze p schreibt oder nicht.Wie jedoch aus den eben zitierten Stellen klar wird, möchte Leibniz nur „auf gewisse Weise“ sagen, dass alle Dinge notwendigerweise geschehen. Es kommt ihm also auf die Art der Notwendigkeit an. Es geht Leibniz wesentlich darum, warum etwas notwendig ist.¹²⁵ Was könnte damit gemeint sein? Natürlich gehen auch wir heute von verschiedenen Arten der Notwendigkeit aus. So unterscheiden wir z. B. physikalische von metaphysischer Notwendigkeit. Solche Unterscheidungen trifft Leibniz zwar auch, doch darauf nimmt er hier nicht Bezug. Aus dem Kontext geht hervor, dass ausschließlich die metaphysische Notwendigkeit gemeint sein kann. Wie aber kann es verschiedene Arten von metaphysischer Notwendigkeit geben? Eine solche Unterscheidung scheint aus heutiger Perspektive recht merkwürdig zu sein. Um besser zu verstehen, was Leibniz meint, hilft eine Stelle aus der Theodizee, wo Leibniz Spinoza für die Annahme einer ‚blinden‘ Notwendigkeit kritisiert: „Spinoza […] scheint ausdrücklich eine blinde Notwendigkeit unterrichtet zu haben und dem Autor der Dinge Verstand und Willen abgesprochen zu haben.“¹²⁶ Unter blinder Notwendigkeit muss man sich wohl einen quasi-mechanischen Prozess vorstellen, der zwangsläufig zu einem bestimmten Ergebnis führt, ohne dass irgendein rationales Wesen an der Produktion dieses Ergebnisses beteiligt war. Dieser Vorstellung Spinozas setzt Leibniz das Bild eines persönlichen Gott entgegen, der verschiedene Optionen, die für sich genommen nicht widersprüchlich sind, abwägt und sich schließlich auf Basis von Gründen für eine davon entscheidet (nämlich für die beste). Es kommt Leibniz also darauf an, wie Notwendigkeit zustande kommt. Handelt es sich lediglich um einen zwangsläufigen, quasi-mechanischen Prozess oder ist ein rationales Wesen in den Prozess involviert, das Dinge bewertet und auf der Basis von Gründen handelt? Der Nezessitarismusbegriff kann diesen Unterschied nicht einfangen. Doch genau hier liegt eine von Leibniz’ Pointen: Gott erschafft zwar ‚auf gewisse Weise‘ notwendigerweise die beste aller möglichen Welten. Doch dies ist für Leibniz keine „schlimme“ Notwendigkeit, weil ein rationales Wesen entscheidend beteiligt war.¹²⁷ Die Notwendigkeit kommt nur deshalb zustande, weil es sich um ein perfektes rationales Wesen handelt, das alle Optionen vollständig erfasst und eine vollständige Begründung für seine Auswahl hat. Leibniz verwendet für diese Art der Notwendigkeit auch den Ausdruck „glückliche Notwendigkeit“.¹²⁸

 Siehe für diesen Punkt auch ausführlich Griffin .  Theodizee §/G VI, .  Vgl. zu diesem Punkt und zu Leibniz’ Ablehnung der blinden Notwendigkeit auch Laerke  und Griffin , S. .  AA ., : „Dicam cum S. Augustino illam necessitatem esse beatam.“

2.9 Spinozas Nezessitarismus und Leibniz’sche Möglichkeiten

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Um Spinozas Position mit derjenigen des frühen Leibniz zu vergleichen, eignet sich der Begriff des modalen Irrealismus zunächst einmal besser als der des Nezessitarismus.¹²⁹ Spinoza führt unsere alltägliche Intuition, dass etwas möglich sein kann, ohne wirklich zu sein, auf unsere epistemische Beschränktheit zurück. Damit leugnet er de facto jegliche Realität nicht-realisierter Möglichkeiten. Diese Position kann man als modalen Irrealismus bezeichnen. Einen solchen modalen Irrealismus attackiert Leibniz ganz bestimmt, da er seiner Meinung nach katastrophale Konsequenzen hätte. Dann wäre es nämlich nicht möglich, dass ein rationales Wesen (Gott) sich aus Gründen dafür entschieden hat, diese Welt zu erschaffen. Wie man die Frage beantwortet, ob Leibniz den Nezessitarismus ablehnt oder nicht, hängt also davon ab, wie man diesen genau definiert.Wenn damit diejenige Position gemeint ist, die ich als spinozistischen Nezessitarismus bezeichnet habe, dann lehnt er ihn ganz bestimmt ab, weil letzterer unmittelbar zu einer Position führt, der zufolge es keine nicht-aktualisierten possibilia gibt. Wenn aber mit Nezessitarismus gemeint ist, dass Gott notwendigerweise die beste aller möglichen Welten hervorbringt, weil er auf perfekte Weise rationale Überlegungen über unterschiedliche per se konsistente Optionen anstellt, dann ist Leibniz zumindest in den späten 1670er Jahren, und vermutlich auch noch in den frühen 1680er Jahren, Nezessitarist. Bei all diesen Überlegungen steht für Leibniz das Prinzip des zureichenden Grundes im Hintergrund. Wenn Gott nicht die beste aller möglichen Welten erschaffen würde, wäre dieses Prinzip verletzt, da Gott dann ohne Grund handeln würde. An diesem Zusammenhang zwischen dem Prinzip des zureichenden Grundes und dem Prinzip des Besten hält Leibniz Zeit seines Lebens fest. So schreibt er noch in den späten Prinzipien der Natur und Gnade: Denn da alles,was möglich ist (tous les Possibles), im Verstande Gottes im Verhältnis zu seiner Vollkommenheit nach Existenz strebt, muss das Ergebnis all dieser Strebungen die vollkommenste wirkliche Welt sein, die möglich ist. Und ohne dies wäre es nicht möglich, einen Grund anzugeben, warum die Dinge eher so und nicht anders geschehen sind.¹³⁰

Um zu der Schlussfolgerung zu gelangen, dass „alles Kontingente auf gewisse Weise notwendig ist“, muss aber natürlich auch das Prinzip des zureichenden

 Siehe zum Begriff des modalen Irrealismus Pruss , S.  – .  PNG §/Holz Bd. ,  (Übersetzung leicht geändert): „Car tous les Possibles pretendant à l’existence dans l’entendement de Dieu, à proportion de leur perfections, le resultat de toutes ces pretensions doit être le Monde Actuel le plus parfait qui soit possible. Et sans cela il ne seroit pas possible de rendre raison, pourquoy les choses sont allées plustôt ainsi qu’autrement.“

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2 Göttliche Ideen – Leibniz’ Weg zu den Möglichkeiten

Grundes selbst notwendig sein. Nur in diesem Fall ist es tatsächlich metaphysisch unmöglich, dass Gott sich für eine schlechtere Alternative entscheidet. Tatsächlich scheint Leibniz in den früheren Jahren, also in den ausgehenden 1670er Jahren und in den 1680er Jahren, das Prinzip des zureichenden Grundes für notwendig zu halten.¹³¹ Wie ich in Kapitel 5 argumentieren werde, gibt Leibniz diese Position aber in späteren Werken auf und schreibt dem Prinzip des zureichenden Grundes dann nur noch kontingente Geltung zu. Offenbar glaubt er dann, dass die in den 1670er Jahren erarbeitete Position, die man als Nezessitarismus mit persönlichem Gott bezeichnen könnte, zu nah am Spinozismus ist. In den späteren Jahren war Leibniz deshalb mehr und mehr bemüht, „echte“ Kontingenz (also Kontingenz, die nicht ‚auf irgendeine Weise‘ notwendig ist) im Rahmen seines rationalistischen und theistischen Systems zu etablieren.

2.10 Fazit In diesem Kapitel ist deutlich geworden, wie genau Leibniz Modalität in Essenzen fundiert. Modale Wahrheiten, die sich auf Gott beziehen, ergeben sich direkt aus Gottes Essenz. Alle anderen modalen Wahrheiten werden in einem ersten Schritt auf die Ideen in Gottes Geist zurückgeführt, die nichts anderes als die Essenzen möglicher Einzeldinge sind. In einem zweiten Schritt werden Gottes Ideen wiederum durch Gottes Essenz erklärt. Letztlich werden also alle modalen Wahrheiten auf eine einzige Essenz zurückgeführt, nämlich diejenige Gottes. Die göttliche Essenz fungiert als Quelle, Grund und Wahrmacher von Modalität. Da Gottes Essenz selbsterklärend ist und sich nicht real von Gottes Existenz unterscheidet, eignet sie sich sehr gut als Regressstopper. Leibniz steht damit eine Strategie zur Verfügung, die sowohl seinem Aktualismus als auch seinem Nominalismus gerecht wird. Mit dieser Strategie erreicht Leibniz aber vor allem, dass es für alle modalen Fakten eine hinreichende Erklärung gibt. Damit trägt seine Metaphysik der Modalität dem Prinzip des zureichenden Grundes Rechnung, und damit seinem explanatorischem Rationalismus. Anders ausgedrückt: Die Wahrmacher modaler Wahrheiten sind nicht selbst unerklärte Erklärer. Dass Leibniz eine vollständige Erklärung für alle modalen Wahrheiten anbietet, bedeutet aber nicht, dass er eine reduktive Theorie der Modalität vertritt. Im Gegenteil: Der Begriff der Essenz ist natürlich selbst ein modaler Begriff. Leibniz’ Projekt ist, die Begriffe der Möglichkeit und Notwendigkeit auf Basis des Es-

 Eine explizite, allerdings noch wesentlich frühere Passage findet sich in AA .,  – .

2.10 Fazit

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senzbegriffs zu erklären (und nicht umgekehrt).¹³² Leibniz vertritt also eine nichtreduktive Theorie der Modalität, die dennoch einen umfassenden explanatorischen Anspruch hat. Darüber hinaus ist Leibniz’ Theorie natürlich sehr stark theistisch geprägt. Ohne Gott, in dessen Intellekt die Essenzen aller möglichen Dinge in Form von Ideen existieren, hätten modale Fakten Leibniz zufolge nicht die Wahrmacher, die sie benötigen. Und da diese Essenzen wiederum in Gottes Essenz begründet sind, bildet Gott letztlich den Angelpunkt der gesamten Theorie. Zusammenfassend kann man also sagen, dass Leibniz mit seiner Metaphysik der Modalität versucht, seinen theistischen, rationalistischen, nominalistischen, aktualistischen, essentialistischen und nicht-reduktiven Bestrebungen Rechnung zu tragen.

 Darin besteht eine gewisse Ähnlichkeit zu heutigen nicht-reduktionistischen Theorien der Modalität. Siehe etwa Fine , wo es vor allem um den Notwendigkeitsbegriff geht. Für eine nicht-reduktive Theorie der Möglichkeit siehe z. B. Vetter  und Vetter . Vetter fundiert, ähnlich wie Fine, notwendige Wahrheiten in Essenzen. Möglichkeitsaussagen hingegen werden von ihr auf Dispositionen bzw. Potentialitäten zurückgeführt (siehe z. B. Vetter , S. ).

3 Göttliche Psychologie: Mögliche Individuen und mögliche Welten 3.1 Einleitung: Die Struktur von Essenzen Im letzten Kapitel haben wir die Grundzüge von Leibniz’ Metaphysik der Modalität kennengelernt. Leibniz fundiert modale Wahrheiten in Essenzen. Diese Essenzen werden (außer im Fall der Essenz Gottes) mit Ideen in Gottes Intellekt identifiziert. Dadurch erhalten sie die metaphysische Realität, die sie benötigen. Nur weil Gott permanent aktiv ist und Ideen in seinem Geist hervorbringt, gibt es (nicht-göttliche) Essenzen bzw. possibilia. Diese Essenzen – und ihre Anordnung – sind die Wahrmacher modaler Wahrheiten. Ziel des vorliegenden Kapitels ist, die Natur dieser Essenzen genauer zu untersuchen. Was ist ihre Struktur? Wir haben bereits gesehen, dass Gott die Essenzen individueller Substanzen – also deren vollständige Begriffe – durch seine kombinatorische Aktivität hervorbringt. Doch wie genau tut er dies? Was ist das ‚Material‘, das Gott benötigt, um diese vollständigen Begriffe denken zu können? Erst wenn wir in der Lage sind, diese Fragen zu beantworten, kennen wir die Struktur der Wahrmacher modaler Fakten. Wie schnell deutlich werden wird, lässt sich die Frage nach der Struktur der Essenzen in Gottes Intellekt nicht beantworten, ohne auch den Status möglicher Welten und deren Verhältnis zu den möglichen individuellen Substanzen, die diese Welten bevölkern, in den Blick zu nehmen. Die Ideen individueller Substanzen in Gottes Intellekt stehen nicht einfach zusammenhangslos nebeneinander. Vielmehr sind sie in bestimmte Gruppen unterteilt, die Leibniz als mögliche Welten bezeichnet. Leibniz’ mögliche Welten zeichnen sich unter anderem dadurch aus, dass die möglichen Substanzen innerhalb einer Welt eng miteinander zusammenhängen (wie das genau zu verstehen ist, werde ich weiter unten erläutern). Abhängig davon, wie eng man diesen Zusammenhang konstruiert, kann der Umstand, dass jede mögliche Substanz Mitglied einer möglichen Welt ist, Auswirkungen auf die Begriffe der Substanzen selbst haben. Das Verhältnis zwischen möglichen Individuen und möglichen Welten wurde von verschiedenen Interpreten ganz unterschiedlich verstanden. Eine Möglichkeit besteht darin, dass mögliche Welten für Leibniz nichts anderes sind als Ansammlungen oder Aggregate möglicher Substanzen. In diesem Fall hätten Individuen Priorität vor Welten, und die Tatsache, dass eine mögliche Substanz Mitglied einer möglichen Welt ist, hätte keinerlei Auswirkungen auf den Begriff

3.1 Einleitung: Die Struktur von Essenzen

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dieser Substanz.¹ Einer alternativen Lesart zufolge verhält es sich jedoch genau umgekehrt, und Welten haben begrifflichen Vorrang gegenüber Individuen (man könnte dies die „holistische Lesart“ nennen). Trifft diese Interpretation zu, dann kann Gott überhaupt nur dann Begriffe individueller Substanzen formen, wenn er bereits über Begriffe kompletter möglicher Welten verfügt.² In diesem Kapitel werde ich eine dritte Interpretationsmöglichkeit vorschlagen und dafür argumentieren, dass weder Welten begrifflichen Vorrang vor Individuen haben noch umgekehrt. Vielmehr besteht ein wechselseitiges Abhängigkeitsverhältnis zwischen beiden. Einerseits kann Gott keine Begriffe individueller Substanzen bilden, ohne auch deren Einbettung in eine mögliche Welt zu berücksichtigen. Andererseits kann er aber auch keinen Begriff einer möglichen Welt bilden, ohne die Individuen zu berücksichtigen, die in dieser Welt vorkommen. Meine These ist also, dass Begriffe individueller Substanzen und Begriffe möglicher Welten in einem wechselseitigen Abhängigkeitsverhältnis stehen und sich gegenseitig bedingen.³ Gott denkt demnach nicht ‚zuerst‘ die Begriffe individueller Substanzen, um diese dann anschließend zu möglichen Welten zusammenzusetzen.Vielmehr denkt er individuelle Substanzen stets als Bestandteile von Welten. Diese Interpretation hat mit der holistischen Lesart die Gemeinsamkeit, dass die Struktur der Essenzen in Gottes Geist nur dann verständlich wird, wenn das Verhältnis zwischen vollständigen Begriffen individueller Substanzen und Begriffen möglicher Welten berücksichtigt wird. Um meine Position zu erläutern und zu verteidigen, gehe ich wie folgt vor: Zunächst lege ich dar, dass sich aus unterschiedlichen Aussagen, die Leibniz über mögliche Welten trifft, eine Spannung ergibt. Einige Passagen legen nahe, dass mögliche Welten nichts als Ansammlungen möglicher Substanzen sind; andere Textstellen hingegen lassen eher ein holistisches Verständnis von Welten vermuten (Abschnitt 3.2). Daran anschließend diskutiere ich zunächst die Interpretation, der zufolge Begriffe von Individuen Vorrang gegenüber Begriffen möglicher Welten haben (Abschitt 3.3), und dann die alternative Deutung, gemäß der Begriffe von Welten Vorrang vor den Begriffen von Individuen haben (Abschnitt 3.4). Ich lege dar, warum beide Lesarten mit Problemen konfrontiert sind. Im Anschluss gehe ich zunächst auf die Theorie unvollständiger (Proto‐)Individuen ein, die Gregory Brown und Ohad Nachtomy entwickelt haben (Abschnitt 3.5). Auf dieser

 Davon gehen z. B. Cover & Hawthorne  aus.  Diese Interpretation wird vor allem von Wilson  vertreten.  Eine ähnliche These scheint Ohad Nachtomy manchmal zu vertreten (insbesondere in Nachtomy ).Wie ich später erläutern werde, legt sich Nachtomy allerdings an anderer Stelle darauf fest, dass Individuen Priorität gegenüber Welten haben. Siehe auch Bender (im Ersch. a), Abschnitt , wo ich bereits einen ähnlichen Vorschlag mache.

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3 Göttliche Psychologie: Mögliche Individuen und mögliche Welten

Grundlage entwickle ich dann meine eigene Interpretation und erläutere dabei insbesondere, welche Rolle Gesetze in Leibniz’ Theorie der vollständigen Begriffe individueller Substanzen spielen (Abschnitt 3.6). Es folgt eine Erörterung der Implikationen meiner Interpretation (Abschnitt 3.7). Schließlich gehe ich zum einen auf eine Ambiguität in Leibniz’ Weltbegriff ein (Abschnitt 3.8) und zum anderen auf sein Verständnis relationaler Prädikate (Abschnitt 3.9). Das Kapitel endet mit einem Fazit (Abschnitt 3.10).

3.2 Zwei Auffassungen möglicher Welten – eine Spannung in Leibniz’ Texten Wie wir gesehen haben, hängen für Leibniz modale Wahrheiten von Gottes Ideen ab.⁴ Die Gehalte der Ideen in Gottes Intellekt werden mit Essenzen identifiziert, die wiederum nichts anderes sind als die vollständigen Begriffe möglicher individueller Substanzen. Die Wahrmacher modaler Wahrheiten sind also (die Inhalte von) Ideen in Gottes Geist. Die Aussage, dass Caesar auch auf die Überschreitung des Rubikons hätte verzichten können, ist deshalb wahr, weil Gott einen vollständigen Begriff eines Individuums in seinem Geist hat, das Caesar in vielerlei Hinsicht gleicht (ein counterpart von Caesar), das jedoch nicht das Prädikat ‚Überschreiten des Rubikons‘ enthält. Bereits im letzten Kapitel ist klar geworden, dass Gott diese Essenzen (also die vollständigen Begriffe möglicher Individuen) irgendwie durch Kombination sogenannter einfacher Begriffe (notiones primitivae oder prima possibilia) generiert. Dieser Prozess wirft jedoch eine Reihe von Fragen auf: Wie funktioniert die Kombination einfacher Begriffe genau? Vollzieht Gott in seinem Intellekt noch weitere Schritte? Was ist die Struktur der Ideen möglicher individueller Substanzen in Gottes Intellekt? Anders gefragt: Welche Struktur haben die vollständigen Begriffe, die als Wahrmacher modaler Wahrheiten fungieren? Die Beantwortung dieses Fragekomplexes wird durch den Umstand erschwert, dass Leibniz nicht nur von Essenzen, möglichen Individuen und vollständigen Begriffen spricht, sondern sehr häufig auch von möglichen Welten. ⁵ Mögliche Welten sind ein zentraler Bestandteil seiner Gesamttheorie. Insbesondere in seiner rationalistischen Schöpfungstheorie spielen sie eine wichtige Rolle. Nur wenn Gott zwischen verschiedenen Weisen, das Universum zu erschaffen

 Davon ausgenommen sind natürlich wiederum diejenigen modalen Wahrheiten, die sich auf Gott beziehen.  Siehe z. B. Theodizee §§ – ,  – .

3.2 Zwei Auffassungen möglicher Welten – eine Spannung in Leibniz’ Texten

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(also zwischen verschiedenen möglichen Welten) auswählen kann, ist gewährleistet, dass er sich aus guten Gründen dafür entscheidet, unsere Welt zu erschaffen. Wenn Gott sozusagen von vornherein gar keine Wahl hatte, dann droht einmal mehr ein spinozistisches Szenario, in dem die Welt nur aufgrund einer „blinden Notwendigkeit“ existiert. Leibniz benötigt mögliche Welten also für seinen rationalistischen Theismus. ⁶ Aber was genau sind mögliche Welten? Es ist angesichts des theoretischen Rahmens offensichtlich, dass sie in Gottes Intellekt existieren müssen. Wie bei möglichen individuellen Substanzen (possibilia oder Essenzen) kann es sich bei möglichen Welten nicht um abstrakte Objekte oder gar um robust existierende Welten à la Lewis handeln. Genauso wie mögliche Dinge nichts anderes als Ideen in Gottes Geist sind, so sind auch mögliche Welten Entitäten, die lediglich in Gottes Intellekt existieren – mögliche Welten sind also Inhalte göttlicher Denkakte. Ferner steht für Leibniz fest, dass mögliche Welten Mengen möglicher Individuen sein müssen. Ein mögliches Individuum ist ein Mitglied oder ein Teil einer möglichen Welt und kommt in einer möglichen Welt vor. Genauer gesagt: Mögliche Welten sind Mengen von Begriffen individueller Substanzen in Gottes Intellekt.⁷ Aber um welche Arten von Mengen handelt es sich genau? Ein naheliegender Vorschlag ist, dass mögliche Welten nichts anderes als Ansammlungen oder Aggregate möglicher Individuen sind. In diesem Fall würde jede Menge von Begriffen individueller Substanzen eine Welt konstituieren. Leibniz hätte dann folgendes zweistufiges Modell: In einem ersten Schritt formt Gott die Begriffe möglicher Individuen. In einem anschließenden zweiten Schritt kombiniert er diese Individuen zu möglichen Welten. Haben wir erst einmal verstanden, wie genau die vollständigen Begriffe von Individuen in Gottes Geist geformt werden, dann ist der Schritt zu möglichen Welten nicht mehr schwierig, da sich alle Fakten über mögliche Welten vollständig als Fakten über Aggregate möglicher Individuen formulieren lassen. Mögliche Individuen sind gegenüber den möglichen Welten, in denen sie vorkommen, also prioritär. Eine solche Konzeption möglicher Welten werde ich im Folgenden als ‚humeanisch‘ bezeichnen, weil es keinerlei notwendige Verknüpfungen zwischen den basalen Entitäten gibt. Die basalen Entitäten sind vollkommen frei kombinierbar.⁸ Tatsächlich legt Leibniz manchmal ein humeanisches Bild möglicher Welten nahe, z. B. wenn er in De rerum originatione radicali unsere Welt als „Aggregat

 Für eine nähere Erörterung von Leibniz’ rationalistischem Theismus, siehe auch Kapitel .  Vgl. für diesen Punkt Mates , S.  – , der mögliche Welten als Mengen oder „collections of individual concepts“ (S. ) charakterisiert.  In Bender (im Ersch. a) spreche ich auch von „Humean combinatorialism“.

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3 Göttliche Psychologie: Mögliche Individuen und mögliche Welten

endlicher Dinge“ („Aggregatum rerum finitarum“) charakterisiert.⁹ Ganz ähnlich schreibt er in einem Brief an Bourguet, dass „das wirkliche Universum die Ansammlung [collection] aller möglichen existierenden Dinge [ist].“¹⁰ Diese Textstellen scheinen wenigstens auf den ersten Blick zu belegen, dass Welten für Leibniz tatsächlich nichts anderes sind als Ansammlungen bzw. Aggregate individueller Substanzen (Leibniz verwendet die Ausdrücke „Universum“ und „Welt“ synonym). Doch ist dies wirklich eine angemessene Beschreibung von Leibniz’ Theorie? In anderen Texten ist er weitaus weniger liberal, was die Generierung möglicher Welten angeht. So schreibt er etwa in der Theodizee: Denn man muss beachten, dass in jeder der möglichen Welten [mondes possibles] alles eng miteinander verknüpft [lié] ist: das Universum, welches es auch sein mag, ist völlig aus einem Stück, wie ein Ozean. Die geringste Bewegung erstreckt hier ihre Wirkung bis auf die weiteste Entfernung, wenn auch diese Wirkung im Verhältnis zur Entfernung immer weniger spürbar wird […].¹¹

In dieser und ähnlichen Passagen scheint Leibniz davon auszugehen, dass Welten keineswegs bloße Ansammlungen oder Aggregate möglicher individueller Substanzen sind. Vielmehr zeichnen sie sich durch eine besondere Form der Einheitlichkeit aus. Zu dieser Einheitlichkeit gehört offenbar, dass in jeder möglichen Welt alle Dinge (d. h. alle möglichen Substanzen) auf irgendeine Weise eng miteinander verknüpft (lié) sind.¹² Diese enge Verknüpfung aller möglichen Substanzen in allen möglichen Welten legt ein Bild nahe, das sich deutlich von einer humeanischen Konzeption möglicher Welten unterscheidet. Stattdessen charakterisiert Leibniz mögliche Welten häufig als organisierte Ganzheiten, deren einzelne Elemente – die individuellen Substanzen – eng aufeinander abgestimmt sind. Diesen Gedanken macht er in einem Brief an De Volder besonders deutlich: Meiner Meinung nach gibt es im Universum der erschaffenen Dinge freilich nichts, was für seinen perfekten Begriff nicht des Begriffs jedes beliebigen anderen Dinges im Universum bedürfte; denn ein jedes Ding beeinflusst jedes beliebige andere Ding so, dass,wenn man sich vorstellen würde, dass das Ding aufgehoben oder anders wäre, dann alle Dinge in der Welt anders werden würden als die, die jetzt existieren.¹³

 G VII, .  G III, : „[…] l’Univers actuel est la collection de tous les possibles existans […].“  Theodizee §/Holz Bd. ., .  Diesen Punkt hebt vor allem Rutherford , S.  –  hervor.  G II, : „Mea certe opinione nihil est in universitate creaturarum, quod ad perfectum suum conceptum non indigeat alterius cujuscunque rei in rerum universitate conceptu, cum un-

3.2 Zwei Auffassungen möglicher Welten – eine Spannung in Leibniz’ Texten

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Hier geht Leibniz davon aus, dass kein Begriff eines Einzeldinges, also kein vollständiger Begriff einer individuellen Substanz, ohne die Begriffe aller anderen Einzeldinge in derselben möglichen Welt gebildet werden kann. Auf den ersten Blick ist das eine verblüffende Behauptung.Wenn man für den Begriff eines jeden Dinges die Begriffe aller anderen Dinge braucht, wie kann man dann überhaupt jemals den Begriff irgendeines Dinges haben? Ob (und wie) sich dieses Problem vermeiden lässt, werde ich im Laufe dieses Kapitels klären. Eindeutig ist jedoch, dass Leibniz in seinem Brief an De Volder davon ausgeht, dass sich der Begriff einer individuellen Substanz nur dann bilden lässt, wenn deren Einbettung in ihre mögliche Welt auf irgendeine Weise „vorab“ berücksichtigt wird. In diesem Fall scheinen Welten aber nicht bloße Aggregate von Substanzen sein zu können. Leibniz legt vielmehr nahe, dass die Begriffe ganzer möglicher Welten Vorrang gegenüber den Begriffen individueller Substanzen haben. In Leibniz’ Texten gibt es also – wenigstens auf den ersten Blick – eine Spannung. Einerseits charakterisiert er Welten manchmal als bloße Aggregate oder Ansammlungen möglicher Substanzen. Dies legt eine humeanische Konzeption möglicher Welten nahe, der zufolge Begriffe von Individuen Vorrang gegenüber Begriffen von Welten haben. Andererseits betont Leibniz häufig, dass Welten als integrative Ganzheiten verstanden werden müssen. Dies legt eine holistische Konzeption möglicher Welten nahe, der zufolge sich Begriffe individueller Substanzen überhaupt nur dann formen lassen, wenn man bereits einen Begriff des Ganzen (also einer ganzen möglichen Welt) voraussetzt, von dem diese Substanz ein Teil ist. Was bedeutet dies für unsere Ausgangsfrage, also für die Frage, wie Gott in seinem Intellekt die Essenzen individueller Substanzen formt bzw. welche Struktur die vollständigen Begriffe in Gottes Intellekt haben? Um diese Frage beantworten zu können, müssen wir offenbar das Verhältnis zwischen möglichen Welten und möglichen Individuen bei Leibniz besser verstehen. Im Folgenden werde ich zeigen, dass Leibniz ein humeanisches Verständnis möglicher Welten ablehnt. Ich teile also mit der holistischen Interpretation die Auffassung, dass Gott die Begriffe individueller Substanzen nicht unabhängig von den Begriffen möglicher Welten formen kann. Im Gegensatz zur holistischen Konzeption glaube ich jedoch, dass die Begriffe möglicher Welten und die Begriffe individueller Substanzen in einem wechselseitigen Abhängigkeitsverhältnis stehen und Gott die einen nicht ohne die anderen denken kann.

aquaeque res influat in aliam quamcunque ita ut si ipsa sublata aut diversa esse fingeretur, omnia in mundo ab iis quae nunc sunt diversa sint futura.“

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3 Göttliche Psychologie: Mögliche Individuen und mögliche Welten

Bevor ich mich der humeanischen und der holistischen Interpretation ausführlicher zuwende, möchte ich kurz auf einen ganz grundsätzlichen Einwand eingehen, mit dem sich beide Interpretationen konfrontiert sehen, von dem ich aber glaube, dass er für keine von beiden ein Problem darstellt. Man könnte nämlich fragen, ob es überhaupt sinnvoll ist, Gott ein mehrstufiges Verfahren zuzuschreiben. Was heißt es, dass er einen Schritt vor bzw. nach einem anderen Schritt vollzieht? Als ein Wesen, das außerhalb von Raum und Zeit steht, finden solche Kategorien auf Gott keine Anwendung. Doch wie kann man dann überhaupt sinnvoll davon sprechen, dass Gott eine Sache ‚vor‘ einer anderen tut? Leibniz macht in der Tat deutlich, dass es keine zeitliche Priorität bei den Operationen Gottes gibt. Er betont jedoch, dass dies keineswegs bedeutet, dass es überhaupt keine Abhängigkeitsverhältnisse zwischen diesen Operationen gibt: Alle diese Operationen des göttlichen Verstandes aber geschehen, obgleich eine natürliche Ordnung und Priorität unter ihnen besteht, immer gleichzeitig [ensemble] und ohne dass es eine zeitliche Priorität unter ihnen gibt.¹⁴

Es ist Leibniz zufolge also vollkommen unproblematisch, davon zu sprechen, dass es im göttlichen Intellekt eine logische oder begriffliche Ordnung zwischen unterschiedlichen Operationen gibt. Die Tatsache, dass Gott außerhalb der Zeit steht, schließt also weder die humeanische noch die holistische Interpretation aus. Beide Lesarten stellen ja lediglich die Behauptung auf, dass es logische bzw. begriffliche Bedingungsverhältnisse zwischen unterschiedlichen Denkakten Gottes gibt. Dies ist aber ohne weiteres mit der Tatsache vereinbar, dass zeitliche Kategorien auf Gott keine Anwendung haben.

3.3 Die humeanische Interpretation In diesem Abschnitt werde ich zunächst ausführlicher die humeanische Konzeption möglicher Welten diskutieren. Im nächsten Abschnitt (3.4) folgt dann das holistische Erklärungsmodell. In beiden Fällen werde ich auf die Argumente eingehen, die von den jeweiligen Verfechtern für ihre Interpretationen geltend gemacht werden und erläutern,warum diese Gründe nicht überzeugen können. Im Anschluss (Abschnitte 3.5 – 3.7) werde ich meine eigene Interpretation entwickeln.

 Theodizee §/Holz Bd. .,  (meine Hervorhebung): „Et toutes ces operations de l’entendement Divin, quoyqu’elles ayent entre elles un ordre et une priorité de nature, se font tousjours ensemble, sans qu’il y ait entre elles aucune priorité de temps.“

3.3 Die humeanische Interpretation

127

Der humeanischen Interpretation zufolge sind alle Mengen möglicher Substanzen mögliche Welten. Man kann also alle möglichen Substanzen mit allen anderen möglichen Substanzen kombinieren, und jeder der so entstehenden Kombinationen entspricht einer möglichen Welt.¹⁵ Die möglichen Welten in Gottes Intellekt kommen demnach durch ein zweistufiges Verfahren zustande. Zuerst entwickelt Gott die vollständigen Begriffe aller möglichen Substanzen. Erst anschließend kombiniert er diese Begriffe auf alle möglichen Weisen miteinander, wobei jede dieser Kombinationen eine mögliche Welt ergibt. Die humeanische Interpretation geht also davon aus, dass Leibniz ein bottom-up Modell möglicher Welten hat: Mögliche Substanzen haben gegenüber möglichen Welten Priorität. Dieses Bild möglicher Welten ist uns aus modernen Theorien vertraut. So geht z. B. David Lewis davon aus, dass verschiedene mögliche Welten nichts anderes sind als unterschiedliche Verteilungen vollständig natürlicher intrinsischer Eigenschaften (wobei man z. B. an Ladung oder Masse denken könnte¹⁶) über die Raumzeit.¹⁷ Während Lewis kein Aktualist ist, vertritt David Armstrong in A Combinatorial Theory of Possibility die These, dass sich mögliche Welten einfach durch Rekombination der basalen Entitäten unserer Welt (für Armstrong Einzeldinge und Universalien) generieren lassen.¹⁸ Sowohl Lewis’ als auch Armstrongs Bild möglicher Welten ist humeanisch, weil es für beide zwischen den grundlegenden Entitäten (seien sie nun natürliche intrinsische Eigenschaften oder Ein-

 Dies kann man leicht anhand eines vereinfachten Beispiels illustrieren. Angenommen, es gäbe nur drei mögliche Substanzen a, b und c. Aus diesen drei Substanzen könnte Gott sieben unterschiedliche Welten konstruieren: w ; w ; w ; w ; w ; w ; w (ich gehe davon aus, dass es für Leibniz keine leere Welt gibt). Dieses Beispiel stellt aus mehreren Gründen eine grobe Vereinfachung dar. Erstens gibt es für Leibniz natürlich nicht nur drei, sondern unendlich viele mögliche Substanzen. Ferner ist nicht klar, ob Leibniz Welten mit nur einem einzigen Individuum zulässt – einige Interpreten gehen gar davon aus, dass für ihn alle mögliche Welten unendlich viele possibilia enthalten (siehe z. B. Mates , S. ). Dennoch wird das Grundprinzip klar, auf dem die humeanische Interpretation beruht. Alle möglichen individuellen Substanzen (bzw. deren Begriffe) sind frei miteinander kombinierbar.  Ob Ladung und Masse wirklich fundamentale, vollständig natürliche Eigenschaften sind, ist laut Lewis eine empirische Frage, die letztlich nur von der Physik beantwortet werden kann (siehe für diesen Punkt insbesondere Hall , Abschnitt ).  Zur These der „Humean supervenience“ siehe Lewis , S. ix-x, wo Lewis sie wie folgt charakterisiert: „It is the doctrine that all there is to the world is a vast mosaic of local matters of particular fact, just one little thing and then another. […] For short: we have an arrangement of qualities. And that is all. There is no difference without difference in the arrangement of qualities. All else supervenes on that.“ Lewis gesteht zwar ein, dass diese These nur kontingenterweise wahr ist. Allerdings sind Welten, in denen die humeanische Supervenienz nicht gilt, sehr weit von unserer Welt entfernt, weil sie sogenannte ‚alien properties‘ enthalten.  Siehe für eine ausführliche Darstellung dieses Modells insbesondere Armstrong .

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3 Göttliche Psychologie: Mögliche Individuen und mögliche Welten

zeldinge und Universalien) keinerlei notwendige Verknüpfungen gibt. Es gibt also exakt so viele mögliche Welten wie es Kombinationen der grundlegenden Entitäten gibt. In Leibniz’ metaphysischem Rahmen sind individuelle Substanzen bzw. Monaden die basalen Entitäten. Hätte er ein humeanisches Bild möglicher Welten, würde dies also bedeuten, dass sich mögliche Welten einfach durch unterschiedliche Kombinationen individueller Substanzen erzeugen ließen. Es gäbe dann genau so viele mögliche Welten, wie es unterschiedliche Kombinationen möglicher individueller Substanzen gibt. Damit wären individuelle Substanzen gegenüber möglichen Welten prioritär. Mögliche Welten wären nichts anderes als Aggregate bzw. Ansammlungen von (Begriffen von) Individuen. Einige Interpreten schreiben Leibniz ein solches Verständnis möglicher Welten (explizit oder implizit) zu. So gehen Cover & Hawthorne davon aus, dass die These, dass Substanzen unabhängige Entitäten sind, Leibniz auf eine humeanische Konzeption möglicher Welten verpflichtet.¹⁹ Weil Substanzen laut Leibniz kausal isoliert und somit unabhängig voneinander sind – so die Überlegung – müsse es möglich sein, jede Substanz mit jeder anderen Substanz zu kombinieren, wobei jede dieser Kombinationen einer möglichen Welt entspreche. (Wie genau die These der Unabhängigkeit von Substanzen zu verstehen ist, und wie sie sich am besten in Leibniz’ Theorie integrieren lässt, werde ich im nächsten Kapitel untersuchen.) Cover & Hawthorne heben selbst hervor, dass ihre Interpretation zur Folge hat, dass Individuen nicht an Welten gebunden sind (world-bound individuals), dass also ein und dieselbe Substanz in mehreren möglichen Welten vorkommen kann (transworld identity): By taking seriously Leibniz’s view that created substances are independent of all others, a simple argument for [transworld identity] is immediately to hand. I am a substance and I coexist with other substances at this world; if following the standard account, every world at which I exist is a world at which they exist, then my existence is not independent of their existence, but I am a substance, and my existence does not depend on theirs; hence there is a world where I exist but they don’t; hence I am not world-bound.²⁰

Interpretiert man Leibniz also als Vertreter einer humeanischen Konzeption möglicher Welten, so geht dies mit der These einher, dass ein und dasselbe In-

 Vgl. Cover & Hawthorne , S. .  Cover & Hawthorne , S. . Auch McDonough , S.  scheint die Position zu vertreten, dass Leibniz Identität von Individuen über Welten hinweg akzeptiert.

3.3 Die humeanische Interpretation

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dividuum in mehreren (genau genommen sogar in unendlich vielen) möglichen Welten existieren kann.²¹ Wenn jede denkbare Kombination individueller Substanzen eine mögliche Welt konstituiert, dann folgt daraus, dass jede Substanz in mehreren Welten vorkommt. Dieses Resultat widerspricht aber Leibniz’ Charakterisierung möglicher Welten, die er, wie oben gesehen, so beschreibt, „dass in jeder der möglichen Welten alles eng miteinander verknüpft ist“.²² Insbesondere die Art und Weise, auf die Leibniz kontrafaktische Konditionale evaluiert, zeigt, dass für ihn Substanzen an ihre Welten gebunden sind und nicht Teil anderer Welten sein können. So schreibt er z. B. an Arnauld: Es scheint uns offensichtlich, dass dieser aus Genua herbeigeschaffte Marmorblock genau der gleiche gewesen wäre, wenn man ihn dort gelassen hätte, weil unsere Sinne uns nur oberflächliche Urteile gestatten, aber eigentlich wäre das gesamte Universum mit all seinen Teilen aufgrund des Zusammenhangs der Dinge völlig anders, und es wäre von Anbeginn an ein anderes gewesen, wenn das Geringste anders geschehen wäre, als es ist.²³

Leibniz’ Idee ist offenbar folgende: Die kleinste Veränderung an einer einzigen Substanz hätte Auswirkungen auf alle anderen Dinge im Universum. Aufgrund von Leibniz’ Superessentialismus kann es sich bei dem wirklichen Marmorblock und bei dem Marmorblock, der (gemäß dem kontrafaktischen Szenario) in Genua gelassen wurde, streng genommen nicht um dasselbe Ding handeln. Der in Genua verbliebene Block ist vielmehr ein counterpart des wirklichen Marmorblocks in einer anderen möglichen Welt w. Weil dieser counterpart jedoch andere Eigenschaften als der Marmorblock in unserer Welt hat, müssen laut Leibniz auch alle anderen Substanzen in w andere Eigenschaften haben als die entsprechenden Substanzen in der wirklichen Welt. Genauer gesagt müssen sich sogar alle Dinge hinsichtlich ihrer intrinsischen Eigenschaften unterscheiden, weil für Leibniz alle extrinsischen Eigenschaften in den intrinsischen Eigenschaften individueller Substanzen fundiert sind und auf diese zurückgeführt werden können.²⁴  Das trifft natürlich nicht notwendigerweise auf jede Spielart der humeanischen Konzeption zu. Lewis etwa bestreitet, dass ein Individuum in mehreren möglichen Welten existieren kann. Er vertritt stattdessen eine counterpart Theorie (siehe hierfür z. B. Lewis , S.  – ).  Theodizee §/Holz Bd. ., .  Finster /G II, : „Il nous paroist bien que ce quarré de marbre apporté de Genes auroit esté tout à fait le même, quand on l’y auroit laissé, parceque nos sens ne nous font juger que superficiellement, mais dans le fonds à cause de la connexion des choses tout l’univers avec toutes nos parties seroit tout autre, et auroit esté un autre dès le commencement, si la moindre chose y alloit autrement qu’elle ne va.“  Siehe zu Leibniz’ Theorie der extrinsischen Eigenschaften und Relationen Mugnai  und Mates , S.  – . Siehe auch meine Diskussion in Abschnitt ..

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3 Göttliche Psychologie: Mögliche Individuen und mögliche Welten

Hätte Leibniz ein humeanisches Bild möglicher Welten, dann würde er kontrafaktische Konditionale anders evaluieren. Er könnte dann nämlich einfach sagen, dass es eine mögliche Welt gibt, in der es zwar statt unseres Marmorblocks einen anderen Marmorblock mit leicht anderen Eigenschaften gibt, in der aber dennoch die meisten Dinge exakt so sind wie in unserer Welt. Eine solche Welt wäre schließlich viel näher an unserer Welt als eine Welt, in der alle Dinge anders sind.²⁵ Solche Welten sind für Leibniz aber offenbar ausgeschlossen, weil er davon ausgeht, dass nicht nur die wirkliche Welt, sondern auch alle anderen möglichen Welten organisierte Ganzheiten sind, in denen alle Dinge aufs Engste miteinander verbunden sind. Mit Bezug auf die wirkliche Welt sagt Leibniz im Discours, dass jede individuelle Substanz mit jeder anderen verknüpft ist und dass sich aus dem Begriff eines jeden Dinges die Geschichte, Gegenwart und Zukunft des gesamten Universums ableiten lässt: Wenn man so die Verknüpfung der Dinge recht bedenkt, kann man sagen, dass es zu jeder Zeit in der Seele Alexanders Überreste dessen gab, was ihm zugestoßen ist und Zeichen dessen, was ihm noch zustoßen würde und sogar Spuren von allem, was sich im Universum ereignet, obwohl es nur Gott zukommt, alles dies wiederzuerkennen.²⁶

Die wirkliche Welt ist also als harmonisches Ganzes zu verstehen, bei dem die einzelnen Bestandteile (die individuellen Substanzen) so eng miteinander verknüpft sind, dass zumindest Gott aus der Essenz eines jeden beliebigen Dinges die Struktur des gesamten Universums herauslesen kann. Leibniz beschränkt diese These nicht auf die wirkliche Welt.Wie wir bereits gesehen haben, betont er in der Theodizee, dass diese „Verknüpfung der Dinge“ in allen möglichen Welten gilt: Denn man muss beachten, dass in jeder der möglichen Welten (mondes possibles) alles eng miteinander verknüpft (lié) ist: das Universum, welches es auch sein mag, ist völlig aus einem Stück, wie ein Ozean. Die geringste Bewegung erstreckt hier ihre Wirkung bis auf die weiteste Entfernung, wenn auch diese Wirkung im Verhältnis zur Entfernung immer weniger spürbar wird […].²⁷

 Dazu,was es genau bedeutet, dass sich zwei Welten nahe bzw. ähnlich sind, siehe Lewis , S. . Für eine gute Darstellung, siehe auch Krödel , S.  – .  DM §/Holz Bd. ,  (leicht geändert): „Aussi quand on considere bien la connexion des choses, on peut dire qu’il y a de tout temps dans l’ame d’Alexandre des restes de tout ce qui luy arrivé, et les marques de tout ce qui luy arrivera, et même des traces de tout ce qui se passe dans l’univers, quoyqu’il n’appartienne qu’à Dieu de les reconnoistre toutes.“  Theodizee §/Holz Bd. .,  (meine Hervorhebung).

3.3 Die humeanische Interpretation

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Dies zeigt, dass nicht jede beliebige Ansammlung möglicher Substanzen – nicht jedes Aggregat möglicher Substanzen – eine mögliche Welt konstituiert. Für Leibniz sind mögliche Welten Ganzheiten, die sich dadurch auszeichnen, dass die Dinge, die in ihnen vorkommen, in enger Verbindung miteinander stehen. Diese Verbindung ist allerdings nicht kausal zu verstehen, sondern im Sinne der prästabilierten Harmonie. Dass die Substanzen in einer „engen Verbindung“ zueinander stehen, bedeutet einfach, dass sich alle Substanzen gegenseitig perfekt und veridisch perzipieren bzw. repräsentieren, und nicht etwa, dass sie kausal miteinander interagieren.²⁸ In einem Brief an Des Bosses schreibt Leibniz, dass Substanzen „durch ihre eigenen Phänomene miteinander übereinstimmen und nicht durch irgendeine andere Verbindung oder Verknüpfung.“²⁹ Die enge Verbindung zwischen den Substanzen kommt also allein aufgrund der intrinsischen Eigenschaften – den Perzeptionen – dieser Substanzen zustande. In Verbindung mit dem Superessentialismus führt die These, dass es in allen möglichen Welten eine enge Verbindung zwischen den Substanzen gibt, dazu, dass jedes Individuum an seine Welt gebunden ist und nicht in mehreren Welten existieren kann. Würde nämlich z. B. ich mit anderen Substanzen zusammen in einer anderen Welt existieren, dann müssten auch meine Perzeptionen, und damit meine intrinsischen Eigenschaften, andere sein. Da ich aber all meine Eigenschaften essentiellerweise habe,würde es sich in diesem Fall gar nicht mehr um mich handeln, sondern um ein anderes Individuum mit einer anderen Essenz. Die humeanische Interpretation ist also nicht mit Leibniz’ These vereinbar, dass Individuen an ihre Welten gebunden sind. Es gibt aber noch eine allgemeinere Überlegung, die zeigt, dass sich ein humeanisches Verständnis möglicher Welten schlecht mit Leibniz’ Gesamtprojekt verträgt. Humeaner gehen davon aus, dass die fundamentalen Eigenschaften der Welt (und aller möglichen Welten) nicht-modale Eigenschaften sind. Hierfür ist wiederum Lewis ein besonders charakteristischer Fall, wie Ned Hall besonders konzise aufzeigt: [P]erfectly natural properties and relations are, Lewis thinks, non-modal. […] [T]he instantiation of a perfectly natural property by one (fundamental) particular, or of a relation by several, places absolutely no constraints of a logical or metaphysical kind on the instantiation of any other perfectly natural property or relation by that or any other particular or particulars.³⁰

 Dies betonen vor allem Koistinen & Repo .  G II, : „[…] hi per phaenomena sua consentiunt inter se, nullo alio per se commercio nexuque.“  Hall , Abschnitt .

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3 Göttliche Psychologie: Mögliche Individuen und mögliche Welten

Eine zentrale Implikation des humeanischen Ansatzes ist also, dass sich modale Fakten vollständig auf nicht-modale Fakten reduzieren lassen. Für Lewis werden z. B. die modalen Fakten, die mich betreffen, einfach dadurch wahr gemacht, dass ich vollständig reale counterparts in anderen möglichen Welten habe, die bestimmte Eigenschaften haben und in bestimmten Relationen zu anderen Dingen stehen. Trotz des Namens ‚modaler Realismus‘ ist Lewis’ Metaphysik somit letztlich (auf fundamentaler Ebene) vollständig frei von modalen Fakten. Ein solches Modell ist Leibniz fremd. Wie wir im letzten Kapitel gesehen haben, verfolgt Leibniz keineswegs ein reduktives Programm, in dem Modalität gleichsam „wegerklärt“ wird. Stattdessen vertritt er eine Position, die Möglichkeit und Notwendigkeit auf Essenzen zurückführt. Da der Begriff der Essenz aber selbst ein modaler Begriff ist, handelt es sich dabei um eine nicht-reduktive Erklärungsstrategie. Es gibt also zumindest eine enge (wenn nicht gar notwendige) Verbindung zwischen einer humeanischen Konzeption möglicher Welten auf der einen Seite und dem Bestreben, den Bereich des Modalen auf den Bereich des Nicht-Modalen zu reduzieren, auf der anderen Seite. Deshalb wird ein Philosoph, der – wie Leibniz – eine nicht-reduktive Erklärung von Modalität anstrebt, dem humeanischen Verständnis möglicher Welten in aller Regel abgeneigt sein. Tatsächlich macht Leibniz deutlich, dass die Begriffe individueller Substanzen ein reichhaltiges modales Profil haben. Dies zeigt sich daran, dass Leibniz betont, dass nicht alle Substanzen miteinander kompossibel sind. Wie genau der Begriff der Kompossibilität bei Leibniz zu verstehen ist, werde ich im nächsten Kapitel ausführlich diskutieren. Klar ist aber, dass es sich dabei um einen modalen Begriff handelt – ein Umstand, der sich nur schlecht mit der humeanischen Interpretation vereinbaren lässt. In diesem Abschnitt ist deutlich geworden, dass die humeanische Konzeption aus mehreren Gründen nicht mit Leibniz’ Verständnis möglicher Welten in Einklang zu bringen ist. Nicht jede beliebige Menge von Substanzen konstituiert eine Welt, sondern nur diejenigen Mengen von Substanzen, deren Perzeptionen perfekt aufeinander abgestimmt sind. Wie wir gesehen haben, lässt sich diese Interpretation aus mehreren Textstellen eindeutig ableiten. Sie wirft allerdings auch Fragen auf. Erstens ist nicht klar, wie Leibniz’ Verständnis möglicher Welten als Ganzheiten mit der Unabhängigkeit von Substanzen vereinbar ist. Auf dieses Problem werde ich in Kapitel 4, wo es um das Problem der Kompossibilität geht, genauer eingehen. Dort ist meine Strategie, Leibniz so zu lesen, dass Gott im Prinzip auch Mengen von Substanzen schaffen kann, die keine Welten sind, die also keine organisierten Ganzheiten formen. Eine zweite Frage, die sich angesichts Leibniz’ Verständnis möglicher Welten stellt, besteht darin, wie sich dieses Verständnis mit jenen Textstellen vereinbaren lässt, an denen Leibniz die wirkliche,

3.4 Die holistische Interpretation

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von Gott erschaffene Welt als Aggregat bezeichnet. Auf diese Frage werde ich in Abschnitt 3.8 zurückkommen.

3.4 Die holistische Interpretation Wie deutlich geworden ist, ist Leibniz’ Konzeption möglicher Welten alles andere als humeanisch. Mögliche Welten sind nicht einfach nur Ansammlungen individueller Substanzen, sondern organisierte Ganzheiten, deren Elemente in enger Verbindung miteinander stehen. In jeder möglichen Welt sind alle Perzeptionen aller Monaden vollständig aufeinander abgestimmt.³¹ Dieser Befund hat einige Kommentatoren dazu veranlasst, das humeanische Bild gleichsam umzudrehen und Leibniz genau andersherum zu lesen. Sie schreiben ihm ein holistisches Verständnis möglicher Welten zu und argumentieren, dass Gott zuerst Ideen möglicher Welten haben muss und sich die Begriffe individueller Substanzen erst anschließend aus diesen Weltideen ergeben. Dieser Interpretation zufolge genießen mögliche Welten (als Ganzheiten) Priorität gegenüber möglichen Individuen (den untergeordneten Teilen dieser Ganzheiten). Es handelt sich bei der holistischen Interpretation also um ein top-down Modell. Anlass zu solch einer holistischen Interpretation geben Textstellen wie z. B. Discours §14: Das Ergebnis jeder Ansicht des Universums, das von einem bestimmten Standpunkt aus betrachtet wird, ist eine Substanz, die das Universum in Übereinstimmung mit dieser Ansicht ausdrückt, wenn Gott es für gut befindet, seinen Gedanken zu verwirklichen und diese Substanz zu erschaffen.³²

Hier scheint Leibniz in der Tat davon auszugehen, dass mögliche Welten begrifflichen Vorrang gegenüber möglichen individuellen Substanzen haben. Wenn eine Substanz (bzw. der Begriff einer Substanz) das „Ergebnis“ einer bestimmten Perspektive auf das Universum ist, dann muss – so die Überlegung – der Begriff des ganzen Universum (d. h. der Begriff einer ganzen möglichen Welt) Vorrang gegenüber den Begriffen der individuellen Substanzen haben. Catherine Wilson kommt daher zu dem Schluss, dass Passagen wie Discours §14 zeigen, dass Leibniz (wenigstens implizit) von einer holistischen Konzeption

 Wie wir gesehen haben, wird dies besonders in Theodizee § deutlich.  DM §/Holz Bd. , : „[L]e resultat de chaque veue de l’univers, comme regardé d’un certain endroit, es tune substance qui exprime l’univers conformement à cette veue, si Dieu trouve bon de rendre sa pensée effective et de produire cette substance.“

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3 Göttliche Psychologie: Mögliche Individuen und mögliche Welten

möglicher Welten ausgeht. Wilson vertritt deshalb eine ‚Welten-zuerst‘-Interpretation („worlds-first“) und vergleicht dieses Modell sehr anschaulich mit der Herstellung eines Puzzles: [O]ur world, and every other possible world, is in a sense, given in advance.To make a puzzle, we start with a photograph or drawing, glue it to a backing and then cut it up with a jigsaw. And this, I submit, is what Leibniz’s theory of striving possibles comes to. The notion of a „world“ conceptually precedes the notion of a substance […]. In short: if we had no idea of what a world was, we could have no idea what a substance was.³³

Der holistischen Interpretation zufolge kann Gott nur deshalb die Begriffe individueller Substanzen bilden, weil er bereits Ideen aller möglichen Welten in seinem Intellekt hat. Begriffe möglicher Substanzen hängen also von den Begriffen möglicher Welten ab. Die holistische Interpretation hat zwei Vorteile. Erstens kann sie denjenigen Passagen Rechnung tragen, in denen Leibniz ausführt, dass mögliche Welten als Ganzheiten und nicht als Aggregate individueller Substanzen zu verstehen sind. Wenn Gott zuerst die Struktur einer ganzen Welt vor Augen hat und individuelle Substanzen sich lediglich aus unterschiedlichen Perspektiven auf diese Struktur ergeben, wird verständlich, warum mögliche Welten eine solch enge Verknüpfung zwischen den einzelnen Substanzen aufweisen. Ähnlich wie die Puzzleteile bei der Erstellung eines Puzzles, werden (der holistischen Lesart zufolge) individuelle Substanzen so maßgeschneidert, dass sie sich perfekt in das Gesamtbild einfügen. Die holistische top-down Interpretation kann also gut die enge Verbindung der Substanzen untereinander, sowie deren perfekte Abstimmung aufeinander, erklären. Ein zweiter Vorteil der holistischen Lesart ist, dass sie der Tatsache gerecht wird, dass Leibniz’sche Substanzen an Welten gebundene Individuen sind (dass es also keine Identität über Welten hinweg gibt). Damit vermeidet sie ein schwerwiegendes Problem der humeanischen Interpretation, hatte diese doch zur Folge, dass Individuen in mehreren Welten existieren können und somit nicht an ihre Welten gebunden sind. Gemäß der holistischen Interpretation sind die Begriffe individueller Substanzen vollständig von der möglichen Welt bestimmt, von der sie ein Teil sind. Individuelle Substanzen sind sozusagen nichts anderes als die Resultate bestimmter Perspektiven auf die möglichen Welten, in denen sie vor-

 Wilson , S. . Wilson charakterisiert ihr Modell selbst als „holistisch“ (Wilson , S. ).

3.4 Die holistische Interpretation

135

kommen. Da sich aber keine zwei möglichen Welten vollständig gleichen,³⁴ kann es auch keine zwei individuellen Substanzen geben, die in unterschiedlichen Welten existieren und dennoch miteinander identisch sind. Trotz dieser Vorteile stößt auch die holistische Interpretation sowohl auf systematische als auch auf exegetische Probleme. Insbesondere zwei Punkte fallen ins Auge. Erstens betont Leibniz immer wieder, dass einfache Substanzen (bzw. Monaden) die grundlegenden Bausteine der Realität sind.³⁵ Dies spricht gegen die holistische Interpretation. Denn wenn Substanzen die basalen Entitäten sind, aus denen die Welt zusammengesetzt ist, dann kann die Welt nicht gleichzeitig vorranging gegenüber ebendiesen Substanzen sein. Wäre dies der Fall, so würde Leibniz gefährlich nahe an ein spinozistisches Bild rücken, in dem das Ganze (Gott bzw. die Substanz) strikten Vorrang vor den Teilen (den Modi) hat und die Teile nur durch das Ganze begriffen werden können. In diesem Fall ließe sich Leibniz’ Substanzpluralismus – also die These, dass es nicht nur eine, sondern mehrere voneinander verschiedene individuelle Substanzen gibt – nicht aufrechterhalten. Wenn sich Einzeldinge nämlich nur als Teile einer Ganzheit (einer Welt) begreifen lassen, dann würde es sich bei ihnen gar nicht mehr um Substanzen (also um selbst-suffiziente Entitäten) handeln, sondern wie bei Spinoza lediglich um Modi. Aus diesem Grund betont Leibniz immer wieder, dass es keine „Weltseele“ gibt.³⁶ Damit macht er klar, dass er den spinozistischen Substanzmonismus ablehnt und durch einen Pluralismus ersetzt. Ein zweites Problem der holistischen Interpretation besteht darin, dass nicht klar ist, wie in Leibniz’ metaphysischem Rahmen überhaupt genau zu verstehen ist, dass Welten logische Priorität vor Individuen haben. Natürlich sind die individuellen Substanzen in Leibniz’schen Welten sehr eng miteinander verbunden. Doch diese enge Verbindung setzt voraus, dass etwas miteinander verbunden ist. Gäbe es in Gottes Intellekt zunächst nur die Idee einer ganzen möglichen Welt, ohne etwas, das miteinander verbunden werden kann, dann bliebe unklar, woher die Ideen individueller Substanzen überhaupt kommen. Tatsächlich macht Leibniz in der Theodizee klar, dass Gott irgendetwas braucht, das miteinander verbunden werden kann, um mögliche Welten zu generieren:

 Dies folgt aus dem Prinzip der Identität des Ununterscheidbaren, von dem Leibniz ein überzeugter Anhänger ist. Für eine ausführliche Diskussion dieses Prinzips, siehe RodriguezPereyra b.  Siehe z. B. Monadologie §§ – .  Vgl. z. B. FC . In FC  sagt Leibniz explizit, dass er Spinozas Substanzmonismus durch einen Substanzpluralismus ersetzen möchte.

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3 Göttliche Psychologie: Mögliche Individuen und mögliche Welten

Und durch dieses Mittel verteilt nun die göttliche Weisheit alle Möglichkeiten (tous les possibles), die sie bereits abgesondert ins Auge gefasst hat, in ebenso viele allumfassende Systeme und vergleicht dann diese untereinander.³⁷

Diese Passage zeigt, dass Gott in einem ersten Schritt isolierte possibilia denkt und diese erst anschließend in „viele allumfassende Systeme“, d. h. in viele mögliche Welten, integriert. Auf den ersten Blick klingt dies wieder eher nach der humeanischen Interpretation.Wie im nächsten Abschnitt klar werden wird, meint Leibniz mit den isolierten possibilia aber nicht die vollständigen Begriffe, sondern so etwas wie Begriffe unvollständiger Proto-Individuen. Klar ist in jedem Fall, dass diese Stelle aus der Theodizee eindeutig gegen die holistische Interpretation spricht. Die beiden genannten Einwände zeigen, dass Leibniz individuellen Substanzen eine robustere Realität zuschreibt, als die holistische Interpretation zulässt. Mögliche Individuen können somit nicht vollständig von möglichen Welten abhängig sein. Die Begriffe individueller Substanzen in Gottes Intellekt – die Essenzen – sind nicht einfach von den Begriffen ganzer möglicher Welten abgeleitete Begriffe. Andernfalls wäre erstens Leibniz’ Substanzpluralismus in Gefahr und zweitens wäre unklar, was überhaupt in unterschiedlichen möglichen Welten miteinander verbunden ist.

3.5 Begriffe unvollständiger Proto-Individuen In den letzten beiden Abschnitten ist deutlich geworden, dass weder die humeanische noch die holistische Lesart Leibniz’ Theorie möglicher Welten angemessen rekonstruieren kann. Keine dieser beiden Interpretationen konnte exegetisch oder systematisch überzeugen. Beide Deutungen werden zwar bestimmten Aspekten von Leibniz’ Konzeption gerecht, geraten aber mit anderen Aspekten in Konflikt. Dennoch können wir aus dem bisher Gesagten nicht nur negative, sondern auch zwei positive Schlüsse ziehen. Einerseits halten die Vertreter der holistischen Interpretation zu Recht fest, dass Leibniz mögliche Welten nicht als bloße Aggregate oder Ansammlungen von (Begriffen von) Individuen auffasst. Andererseits haben aber auch die Vertreter der humeanischen Interpretation damit Recht, dass Individuen eine robustere Realität

 Theodizee §/Holz Bd. ., : „[E]t par ce moyen la sagesse divine distribue tous les possibles qu’elle avait déjà envisagés à part en autant de systèmes universels, qu’elle compare entre eux.“

3.5 Begriffe unvollständiger Proto-Individuen

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haben müssen, als die holistische Lesart sie ihnen zugesteht. Andernfalls wären Leibniz’ Substanzpluralismus und die Unabhängigkeit von Substanzen in Gefahr. Beide diskutierten Interpretationen liegen also bezüglich bestimmter Aspekte von Leibniz’ Theorie richtig. Das Problem ist, dass sie jeweils einen Aspekt zu sehr betonen und dabei die anderen Aspekte von Leibniz’ Modell vernachlässigen. Ideal wäre ein Mittelweg, der die Vorteile beider Interpretationen vereint – eine Interpretation also, die mögliche Welten zwar als organisierte Ganzheiten auffasst, die aber gleichzeitig individuelle Substanzen nicht völlig von diesen Ganzheiten abhängig macht. Ist eine solche Interpretation unter exegetischen und systematischen Gesichtspunkten möglich? Ich glaube, diese Frage lässt sich positiv beantworten, und ich werde in diesem und den nächsten beiden Abschnitten eine Deutung vorschlagen, die den Anspruch hat, beiden Anforderungen gleichermaßen Rechnung zu tragen. Um meinen Vorschlag erläutern zu können, muss ich zunächst eine wichtige Unterscheidung einführen, die von vielen Leibniz-Kommentatoren (insbesondere von Gregory Brown und Ohad Nachtomy³⁸) getroffen wird: die Unterscheidung zwischen vollständigen Begriffen individueller Substanzen einerseits und unvollständigen Begriffen individueller Substanzen andererseits.³⁹ Dieser Abschnitt ist den unvollständigen Begriffen gewidmet, während es im nächsten Abschnitt darum gehen wird, wie aus den unvollständigen Begriffen vollständige Begriffe werden, und schließlich im übernächsten Abschnitt gezeigt werden soll, was die wichtigsten Implikationen meiner Lesart sind. In einem einflussreichen Artikel führt Gregory Brown die Unterscheidung zwischen ‚vollständigen individuellen Begriffen‘ („complete individual concepts“) einerseits und ‚monadisch vollständigen individuellen Begriffen‘ („monadically complete individual concepts“) andererseits ein.⁴⁰ Erstere sind die vollständigen Begriffe individueller Substanzen, die bei Leibniz allgegenwärtig sind.⁴¹ Diese Begriffe sind vollständig, weil sie jede nur denkbare Information über die Substanzen, von denen sie Begriffe sind, enthalten. Ein vollständiger Begriff enthält also zu jedem Prädikat entweder seine Affirmation oder seine Negation. Deshalb lässt sich aus dem vollständigen Begriff einer individuellen Substanz alles ablesen, was dieser Substanz jemals zustoßen wird.⁴²

 Vgl. Brown  und Nachtomy , S.  – .  Siehe auch Bender (im Ersch. a), Abschnitt , wo ich diese Unterscheidung ebenfalls kurz behandle.  Vgl. Brown , S. .  Siehe z. B. DM §.  Siehe vor allem DM §.

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3 Göttliche Psychologie: Mögliche Individuen und mögliche Welten

Was aber ist mit monadisch vollständigen individuellen Begriffen gemeint? Brown denkt dabei an Begriffe, die zwar die Bejahung oder Verneinung eines jeden einstelligen bzw. monadischen Prädikats enthalten, die jedoch keine relationalen Prädikate enthalten.⁴³ Es handelt sich also um unvollständige Begriffe individueller Substanzen. Sie sind zwar hinsichtlich ihrer monadischen Prädikate vollständig, global betrachtet jedoch unvollständig. Es kann kein Zweifel daran bestehen, dass Leibniz neben vollständigen auch unvollständige Begriffe kennt. So spricht er zum Beispiel im Briefwechsel mit Arnauld von einem „Adam vague“.⁴⁴ Der Begriff eines solchen ‚vagen Adams‘ teilt zwar viele Prädikate mit dem vollständigen Begriff des wirklichen Adam, wie z. B. das Prädikat ‚der erste Mann sein‘. Er ist aber bezüglich anderer Prädikate unbestimmt und deshalb unvollständig. Aus einem solchen vagen bzw. unvollständigen Begriff von Adam kann selbst Gott also nicht all das folgern, was dem wirklichen Adam (oder einem counterpart des wirklichen Adam in einer anderen möglichen Welt) jemals zustoßen wird (geschweige denn die Geschichte des gesamten Universums). Unter den zahllosen unvollständigen Begriffen gibt es offenbar auch solche, die zwar monadisch vollständig sind, die aber gleichzeitig keinerlei relationale Prädikate enthalten. Bedeutet dies auch, dass Leibniz diesen monadisch vollständigen individuellen Begriffen irgendeine besondere Rolle beimisst, wie Brown und Nachtomy behaupten? Ich glaube, ja. In der Theodizee führt Leibniz aus, dass Gott alle possibilia zunächst isoliert voneinander betrachtet und sie erst anschließend in verschiedenen Systemen (d. h. Welten) miteinander verbindet.⁴⁵ Bei den isoliert betrachteten possibilia kann es sich aber noch nicht um die vollständigen Begriffe individueller Substanzen handeln, da ja aus dem vollständigen Begriff alles über die mögliche Welt,von der diese Substanz ein Mitglied ist, folgt. Die ‚Vervollständigung‘ der isoliert betrachteten possibilia kann also erst durch die Einbettung in eine mögliche Welt zustande kommen.⁴⁶ Bei den isolierten possibilia handelt es sich also um Begriffe, die zwar monadisch vollständig sind, die aber noch keine relationalen Prädikate beinhalten. Man könnte sagen, dass sie

 Vgl. Brown , S. . Mit monadischen Prädikaten sind hier einfach nicht-relationale Prädikate gemeint. Mit Leibniz’ Monaden hat dieser Ausdruck also zunächst einmal nichts zu tun.  Finster /G II, . Ganz ähnlich spricht Leibniz in Theodizee § von mehreren Sextusen in unterschiedlichen Welten, die sich zwar ähnlich sind aber nicht vollständig gleichen. In Lewis’ Terminologie handelt es sich dabei um counterparts des wirklichen Sextus.  Vgl. Theodizee §.  Wie diese Vervollständigung genau funktioniert, werde ich im nächsten Abschnitt erläutern.

3.5 Begriffe unvollständiger Proto-Individuen

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Begriffe unvollständiger Proto-Individuen sind (Nachtomy bezeichnet sie auch als „‚thin‘ or incomplete individuals“⁴⁷). Wie genau kommen diese monadisch vollständigen Begriffe von Proto-Individuen zustande? Im letzten Kapitel haben wir bereits Nachtomys Modell dafür kennengelernt.⁴⁸ Wie wir gesehen haben, basiert es im Wesentlichen auf drei Voraussetzungen: (i) Gott, als ein perfektes Wesen, ist das Subjekt aller Attribute, und diese Attribute werden durch die einfachen Begriffen repräsentiert. (ii) Komplexe (= nicht-einfache) Begriffe sind Kombinationen aus einfachen Begriffen. (iii) Gott reflektiert auf all seine Attribute, reflektiert auf seine Reflexionen usw. Gottes reflexive Aktivität hat also eine iterative Struktur. Diese drei Voraussetzungen kombiniert Nachtomy und erhält hierdurch das folgende Bild:⁴⁹ Gott reflektiert auf sich selbst, erkennt dabei die Attribute, die seine Essenz konstituieren, und bildet so die einfachen Begriffe. Da Gott ein permanent denkendes Wesen ist, und weil sein Denken wesentlich kombinatorisch ist, kombiniert er diese einfachen Begriffe auf unterschiedliche Weisen miteinander und erhält so komplexe Begriffe. Dieser Prozess wiederholt sich auf der nächsten Stufe. Gott reflektiert auf die komplexen Begriffe, die er soeben geformt hat und kombiniert diese wieder miteinander. Wegen der iterativen Struktur von Gottes reflexiver Aktivität setzt sich dieser Prozess ins Unendliche fort. Auf diese Weise erhält Gott unendlich viele Begriffe. Da diese Begriffe unendlich komplex sind, und weil man davon ausgehen kann, dass sie hinsichtlich ihrer monadischen Prädikate vollständig bestimmt sind, ist es sinnvoll, Nachtomys unvollständige Begriffe mit Browns monadisch vollständigen individuellen Begriffen zu identifizieren. Es handelt sich bei ihnen um Begriffe von Proto-Individuen, weil sie nur den isoliert betrachteten possibilia entsprechen, von denen Leibniz in der Theodizee spricht. Für vollständige Begriffe individueller Substanzen fehlen noch die relationalen Prädikate. Bevor wir im nächsten Abschnitt sehen, wie aus den unvollständigen (lediglich monadisch vollständigen) Begriffen vollständige Begriffe werden, sind zwei Bemerkungen angebracht. Erstens ist zu betonen, dass es sich bei unvollständigen Begriffen von Proto-Individuen um Allgemeinbegriffe handelt, die auf mehrere Individuen in unterschiedlichen möglichen Welten zutreffen. Genau wie beim Begriff des ‚vagen Adam‘ sind die Begriffe von Proto-Individuen bezüglich einiger Prädikate unbestimmt. Sie machen insofern einen Spezialfall der vagen Begriffe aus, als dass sie bezüglich ihrer monadischen Prädikate vollständig be-

 Nachtomy , S. .  Siehe insbesondere Abschnitt ..  Für das folgende, siehe ebenfalls Bender (im Ersch. a), Abschnitt .

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3 Göttliche Psychologie: Mögliche Individuen und mögliche Welten

stimmt sind, während sie bezüglich ihrer relationalen Prädikate vollständig unbestimmt sind. Da es sich bei den Begriffen von Proto-Individuen um Allgemeinbegriffe handelt, wird Leibniz’ Prinzip, dass Individuen an ihre Welten gebunden sind, nicht verletzt. So wie man sagen kann, dass mehrere Adame in mehreren Welten existieren, solange man damit lediglich einen ‚vagen Adam‘ und nicht den vollständigen Begriff Adams meint, so kann man auch sagen, dass dasselbe ProtoIndividuum in mehreren Welten existiert.⁵⁰ Die zweite Bemerkung betrifft die Limitiertheit erschaffener Substanzen. Obwohl wir, genau wie alle anderen Geschöpfe, nach Gottes Abbild geschaffen wurden, sind wir keine perfekten Abbilder Gottes. Alle Geschöpfe sind in irgendeiner Weise limitiert, und erst dieser Umstand erklärt laut Leibniz, dass es Übel in der Welt gibt. Leibniz ist also ein Vertreter einer Privationstheorie des Übels. In den beiden folgenden Passagen (aus der Schrift Rationale Fidei Catholicae und aus der Theodizee) verleiht er dieser Position besonders klar Ausdruck: […] die Ursache des Übels besteht im Nicht-Sein oder in der Privation, d. h. in der natürlichen Limitation oder Schwäche der Dinge, oder, was dasselbe ist, sie geht auf die ursprüngliche Imperfektion zurück, die früher als die Erbsünde selbst ist […]. Diese Limitation und Imperfektion aber hängt von den Ideen der Dinge ab, d. h. von den Essenzen, und nicht von Gottes Willen […].⁵¹ [W]ir aber, die wir alles Sein aus Gott herleiten, worin sollen wie diese Ursache finden? Die Antwort lautet: Sie ist in der idealen Natur des Geschöpfes zu suchen, soweit diese Natur in den ewigen Wahrheiten enthalten ist, die, unabhängig von seinem Willen, im Verstand Gottes sind. Denn man muss beachten, dass es schon vor der Sünde eine ursprüngliche Unvollkommenheit im Geschöpf gibt, weil das Geschöpf seinem Wesen nach beschränkt ist […].⁵²

Die Quelle des Übels liegt also in den Essenzen der Geschöpfe und ist deshalb nicht von Gottes Willen abhängig. Nur weil die Essenzen der Geschöpfe ein gewisses Maß an ‚Nicht-Sein‘ aufweisen und somit limitiert sind, gibt es Übel in der

 Siehe für diesen Punkt auch Brown , S.  – .  AA ., : „[…] causa mali in non Ens seu privationem hoc est in naturalem rerum limitationem, sive imbecillitatem vel quod eodem redit in imperfectionem originalem ipso peccato originali anteriorem […]. Haec autem limitatio et imperfectio pendet ex rerum ideis, seu essentiis non ex Dei voluntate […].“  Theodizee §/Holz Bd. .,  – : „[M]ais nous qui derivons tout être de Dieu, où trouverons nous la source du mal? La response est, qu’elle doit être cherchée dans la nature ideale de la creature, autant que cette nature est renfermée dans les verités eternelles qui sont dans l’entendement de Dieu, independamment de sa volonté. Car il faut considerer qu’il y a une imperfection originale dans la creature avant le peché, parceque la creature est limitée essentiellement.“

3.5 Begriffe unvollständiger Proto-Individuen

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Welt.⁵³ In den zitierten Passagen macht Leibniz deutlich, dass nicht nur die wirklichen Geschöpfe, sondern jedes mögliche Geschöpf – also jede nicht-göttliche Essenz in Gottes Intellekt – ein gewisses Maß an Imperfektion und Limitation enthält. Da das Übel nicht in etwas Positivem besteht, sondern in einer bloßen Abwesenheit bzw. in einer Limitation, ist Gott auch nicht für das Übel verantwortlich: „Und darauf geht der Satz des Heiligen Augustinus zurück, dass die Ursache des Übels nicht von Gott kommt, sondern vom Nichts, d. h. nicht von etwas Positivem, sondern von einer Privation, d. h. von etwas, das wir Limitation der Geschöpfe nennen.“⁵⁴ Aber woher genau kommen diese Limitationen? Wenn, wie in Nachtomys Modell, die Begriffe von Proto-Individuen einfach nur dadurch entstehen, dass Gott die einfachen Begriffe, also die Begriffe seiner Attribute, miteinander kombiniert, dann scheinen immer nur weitere perfekte Begriffe entstehen zu können. Gottes Attribute sind schließlich unendlich und auf keine Weise limitiert. Nachtomy bleibt uns also eine Erklärung dafür schuldig, warum die Ideen von (sowohl wirklichen als auch möglichen) Geschöpfen in Gottes Intellekt Limitationen und Imperfektionen aufweisen. Offenbar muss die Rekonstruktion von Gottes intellektueller Aktivität noch um einen Zwischenschritt ergänzt werden. Gott kombiniert nicht die Begriffe seiner unendlichen Attribute miteinander, sondern limitierte, endliche Versionen dieser Attribute. Andernfalls würde er stets nur perfekte Begriffe bilden. Gott bildet also zunächst auf Basis der unendlichen und unlimitierten Begriffe seiner Attribute endliche und limitierte Begriffe. Diese Begriffe kombiniert er dann miteinander und erhält so monadisch vollständige Begriffe limitierter Proto-Individuen. Was genau ist mit ‚limitierten‘ bzw. ‚endlichen‘ Versionen der göttlichen Attribute gemeint? Man kann sich dies am besten anhand eines eher cartesischen bzw. spinozistischen Modells klarmachen, das Leibniz so nicht teilen würde. In Descartes’ und Spinozas Metaphysik gibt es das Attribut der Ausdehnung (für Spinoza ist dies gar ein Attribut Gottes). Dieses Attribut als solches ist vollkommen unbegrenzt und unendlich. Die unendliche Ausdehnung kann jedoch auf bestimmte Weisen modifiziert werden. Man kann sozusagen eine bestimmte begrenzte Portion der unendlichen Ausdehnung „herausschneiden“ (wenn auch nur gedanklich). Dadurch wird die vormals unbegrenzte Ausdehnung begrenzt bzw. limitiert. Eine Modifikation ist also nichts anderes als eine limitierte Version des (unendlichen) Attributs der Ausdehnung. Natürlich ist in Leibniz’ metaphysi-

 Für eine ausführliche Diskussion von Leibniz’ Privationstheorie, siehe Newlands .  AA ., : „Et huc redit S. Augustini sententia, quod causa mali non sit a Deo, sed a nihilo, hoc est non a positivo, sed a privativo, hoc est ab illa quam diximus limitatione creaturarum.“

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3 Göttliche Psychologie: Mögliche Individuen und mögliche Welten

schem Rahmen Ausdehnung kein Attribut Gottes. Dennoch hilft diese Analogie dabei, sich vorzustellen, was mit limitierten Versionen der unendlichen göttlichen Attribute gemeint ist. Dass Leibniz’ Bild tatsächlich beinhaltet, dass Gott limitierte, endliche Versionen seiner Attribute miteinander kombiniert, lässt sich gut an seinen ausführlichen Notizen zu Malebranches Recherche de la Verité ablesen.⁵⁵ An einer Stelle hält er dort zunächst fest, dass „die Idee des Unendlichen derjenigen des Endlichen vorhergeht.“⁵⁶ Damit verleiht Leibniz einer rationalistischen Grundthese Ausdruck, die sich so ähnlich auch bei Descartes und Spinoza findet. Dieser These zufolge sind endliche Dinge grundsätzlich nur vermittels etwas Unendlichem (also Gott) verständlich (Spinoza schreibt z. B., „dass jede Idee […] eines Einzeldinges […] notwendigerweise die ewige und unendliche Essenz Gottes einschließt“⁵⁷). Aus heutiger Sicht mutet diese rationalistische Überzeugung etwas merkwürdig an. Grund war offenbar der Grundsatz, dass alle Dinge nicht nur kausal, sondern auch begrifflich von Gott (also vom Unendlichen) abhängen.⁵⁸ Vor diesem Hintergrund wird verständlich, warum die rationalistischen Denker des 17. Jahrhunderts davon ausgingen, dass die Idee eines jeden Einzeldinges wenigstens implizit die Idee Gottes voraussetzt.⁵⁹ Diesen Gedanken wendet Leibniz konsequent auf die Ideen bzw. Essenzen erschaffener und erschaffbarer Dinge an. Er hält ausdrücklich fest, dass „[d]ie Ideen der Geschöpfe […] nichts als Limitationen der Idee des Schöpfers [sind].“⁶⁰ Die Essenzen individueller Substanzen sind also nichts anderes als limitierte ‚Versionen‘ der göttlichen Essenz. Da solche Essenzen kombinatorisch in Gottes Intellekt generiert werden, muss auch das ‚Ausgangsmaterial‘, das diesem kombinatorischen Prozess zugrunde liegt, bereits irgendwie limitiert sein. Dies zeigt, dass Gott, bevor er mit der Begriffsbildung beginnt, zunächst beschränkte, endliche Versionen seiner eigenen Attribute denken muss. Gott erkennt also zunächst seine eigene Essenz und somit auch seine eigenen (unendlichen und unbe-

 Es ist unklar, wann genau Leibniz diese Notizen angefertigt hat. Die Herausgeber der Akademieausgabe geben  –  als Zeitraum an.  AA ., : „L’ideé de l’infini est avant celle du fini.“  Ep: „Unaquaeque cujuscunque corporis, vel rei singularis actu existentis, idea Dei aeternam et infinitam essentiam necessario involvit.“ Siehe auch Abschnitt ..  Auf die genauen Gründe, die die Rationalisten dazu veranlassen, das Unendliche als prioritär gegenüber dem Endlichen aufzufassen, kann ich hier nicht näher eingehen. Siehe Newlands  für Spinoza und Leibniz sowie Schechtman  für Descartes.  Wie wir in Kapitel  gesehen haben, sind für Leibniz alle nicht-göttlichen Essenzen letztlich in der Essenz Gottes fundiert. Damit macht Leibniz endliche Wesen auch begrifflich von Gott abhängig.  AA ., : „Les idées des creatures ne sont que des limitations de l’idée du Createur.“

3.6 Vollständige Begriffe

143

schränkten) Attribute. Da er alles Denkbare denkt, denkt er in einem nächsten Schritt auch alle möglichen limitierten (endlichen) Varianten dieser Attribute.⁶¹ Aus diesen limitierten Begriffen erzeugt er dann durch Kombination Ideen unvollständiger Proto-Individuen.

3.6 Vollständige Begriffe Im letzten Abschnitt haben wir gesehen, wie Gott unvollständige Begriffe von Proto-Individuen in seinem Geist hervorbringt. Es schließt sich sogleich die Frage an, wie aus diesen unvollständigen Begriffen von Proto-Individuen vollständige Begriffe von Individuen werden. Erst wenn wir diese Frage zufriedenstellend beantwortet haben, sind wir in der Lage zu verstehen, (i) in welchem Verhältnis mögliche Individuen und mögliche Welten zueinander stehen und (ii) was genau die Struktur der Essenzen in Gottes Intellekt ist. Was muss also zu den monadisch vollständigen Begriffen von Proto-Individuen hinzukommen, damit diese zu vollständigen Begriffen individueller Substanzen werden? Viele Interpreten heben zu Recht hervor, dass Gesetze bei der Konstitution vollständiger Begriffe eine wichtige Rolle spielen.⁶² In einem bekannten Brief an Arnauld vom 14. Juli 1686 schreibt Leibniz: [U]m mich besser verständlich zu machen, möchte ich hinzufügen, dass es m. E. eine unendliche Vielfalt möglicher Arten gab, die Welt gemäß den verschiedenen Plänen, die Gott bilden konnte, zu erschaffen, und dass jede mögliche Welt von gewissen Hauptplänen oder Zwecken Gottes abhängt, die ihr eigen sind, d. h. von gewissen ursprünglichen freien Entschlüssen (als möglich verstanden) oder Gesetzen der allgemeinen Ordnung dieses möglichen Universums, dem sie zukommen, und dessen Begriff sie ebenso bestimmen, wie die Begriffe aller individuellen Substanzen, die in eben dieses Universum eintreten müssen. […] So können alle menschlichen Geschehnisse nicht umhin, so zu geschehen,wie sie tatsächlich geschehen sind, die Wahl Adams vorausgesetzt, jedoch nicht so sehr aufgrund des individuellen Begriffes von Adam, obgleich dieser Begriff sie einschließt, sondern aufgrund der Absichten Gottes, die auch in diesem individuellen Begriff von Adam enthalten sind, und die den Begriff des gesamten Universums bestimmen, und folglich ebenso denjenigen von Adam wie diejenigen aller anderen individuellen Substanzen dieses Universums. Denn infolge der Verbindungen, die es aufgrund der Verknüpfungen der Beschlüsse und Pläne Gottes zwi-

 So wie die Ausdehnung auf unendlich viele verschiedene Weisen begrenzt werden kann, so können natürlich auch die göttlichen Attribute auf unendlich viele Weisen begrenzt werden.  Besonders betont wird dieser Punkt von Wilson . Siehe auch Brown  und Sleigh .

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3 Göttliche Psychologie: Mögliche Individuen und mögliche Welten

schen allen Dingen gibt, drückt jede individuelle Substanz das ganze Universum aus, von dem sie gemäß einer bestimmten Beziehung ein Teil ist.⁶³

Leibniz macht hier deutlich, dass in irgendeiner Form Gesetze in die vollständigen Begriffe individueller Substanzen eingehen. Nicht nur der Begriff einer ganzen möglichen Welt wird durch die jeweiligen „Hauptpläne“ Gottes, d. h. durch seine „ursprünglich freien Beschlüsse“ bzw. die „Gesetze der allgemeinen Ordnung“, die in dieser Welt gelten, bestimmt. Auch die Begriffe aller individuellen Substanzen, die in dieser Welt vorkommen, sind durch die Gesetze dieser Welt bestimmt. Leibniz veranschaulicht dies einmal mehr am Beispiel von Adam. Die Absichten Gottes, die ihn dazu bewogen haben, unsere Welt zu erschaffen, bestimmen sowohl den „Begriff des gesamten Universums“ als auch „denjenigen von Adam wie denjenigen aller anderen individuellen Substanzen dieses Universums“. Jeder vollständige Begriff einer individuellen Substanz enthält also den Begriff der gesamten möglichen Welt, in der diese Substanz vorkommt. Darüber hinaus macht Leibniz klar, dass die „Gesetze der allgemeinen Ordnung“, die Teil eines jeden vollständigen Begriffs sind, die Verknüpfungen „zwischen allen Dingen“ festlegen. Die Gesetze sind also dafür verantwortlich, welche relationalen Prädikate einer Substanz zukommen.⁶⁴ Dabei ist jedoch wichtig, dass sie den Begriff einer individuellen Substanz, wie z. B. Adam, mitbestimmen. Dies ist eine auf den ersten Blick verblüffende Aussage. Wenn ein Gesetz in den Begriff eines Dinges eingeht, dann bedeutet dies, dass es unmöglich ist, dass dieses Ding unter anderen Gesetzen steht. Es ist für Leibniz also eine begriffliche Wahrheit, dass die vor mir stehende Tasse zu Boden fällt, wenn ich sie fallenlasse.

 Finster  – /G II,  (meine Hervorhebung): „[À] fin de me faire mieux entendre, j’adjouteray, que je conçois qu’il y avoit une infinité de manieres possibles de créer le Monde selon les differens desseins que Dieu pouvoit former, et que chaque monde possible depend de quelques desseins principaux ou fins de Dieu, qui luy sont propres, c’est à dire de quelques decrets libres primitifs (concus sub ratione possibilitatis) ou Loix de l’ordre general de cet Univers possible, auquel elles conviennent, et dont elles determinent la notion, aussi bien que les notions de toutes les substances individuelles qui doivent entrer dans ce même universe. […] Ainsi tous les evenemens humains ne pouvoient manquer d’arriver comme ils sont arrivés effectivement, supposé le choix d’Adam fait; mais non pas tant à cause de la notion individuelle d’Adam, quoyque cette notion les enferme, mais à cause des desseins de Dieu, qui entrent aussi dans cette notion individuelle d’Adam, et qui determinent celle de tout cet univers, et ensuite tant celle d’Adam que celles de toutes les autres substances individuelles de cet univers, chaque substance individuelle exprimant tout l’univers, dont elle est partie selon un certain rapport, par la connexion qu’il y a de toutes choses à cause de la liaison des resolutions ou desseins de Dieu.“  Vgl. für diesen Punkt Brown , S. .

3.6 Vollständige Begriffe

145

Das Gegenteil wäre nicht nur physikalisch, sondern auch logisch und metaphysisch unmöglich. Warum vertritt Leibniz eine solche Position? Im Hintergrund steht seine rationalistische Auffassung von Naturgesetzen. Dieser Auffassung zufolge sind Gesetze – anders als in einem lewisianisch-humeanischen Weltbild – nicht „gleichgültig“ gegenüber den Dingen, die unter sie fallen. Für eine Humeanerin gibt es keinen besonderen Grund, warum bestimmte Dinge unter bestimmten Gesetzen stehen. Dies ist einfach ein primitives Faktum, das sich allein durch empirische Nachforschung herausfinden lässt. Die Gesetze stehen gleichsam außerhalb der Dinge, und dieselben Dinge hätten genauso gut von anderen Naturgesetzen bestimmt sein können. Bei Leibniz ist dies anders. Für ihn sind Gesetze in den Naturen der Dinge begründet, die diesen Gesetzen folgen. Nur so kann es einen hinreichenden Grund für die Tatsache geben, dass bestimmte Dinge unter bestimmten Naturgesetzen stehen. Da die Naturen der Dinge für Leibniz von vollständigen Begriffen repräsentiert werden, bedeutet dies, dass die Gesetze in die vollständigen Begriffe der Dinge gleichsam ‚eingeschrieben‘ sein müssen. Die zitierte Passage aus dem Brief an Arnauld lässt keinen Zweifel daran, dass Leibniz eine solche rationalistische Gesetzesauffassung vertritt. Die Gesetze, die bestimmen, wie die Substanzen in einer möglichen Welt w miteinander verbunden sind, sind Teil des vollständigen Begriffs einer jeden Substanz in w. Wir können an dieser Stelle also festhalten, dass mindestens zwei Faktoren in den vollständigen Begriff eines Individuums eingehen: (i) der unvollständige (monadisch vollständige) Begriff eines Proto-Individuums und (ii) die Gesetze, die festlegen, wie dieses unvollständige Proto-Individuum mit den anderen Dingen in seiner Welt verbunden ist. Es scheint sich somit folgendes Bild zu ergeben: Der unvollständige (monadisch vollständige) Begriff eines Individuums steuert alle monadischen Prädikate zu einem vollständigen Begriff bei,während die Gesetze alle relationalen Prädikate beisteuern. Damit wären (i) und (ii) die beiden einzigen Faktoren, die den vollständigen Begriff einer individuellen Substanz bestimmen. Genau diese Interpretation vertritt Gregory Brown, der den Begriff eines vollständigen Individuums als Paar von (i) und (ii) definiert: For the complete concept of an individual is a pair – consisting of a monadically complete individual concept and the laws of the universe to which that individual belongs – from which those relational predicate concepts can be deduced.⁶⁵

Ich stimme mit Brown überein, dass (i) und (ii) Teil des vollständigen Begriffs eines Individuums sind. Im Folgenden werde ich jedoch dafür argumentieren, dass es  Brown , S. .

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3 Göttliche Psychologie: Mögliche Individuen und mögliche Welten

daneben noch einen dritten Faktor gibt, der in den vollständigen Begriff einer individuellen Substanz eingeht. Zunächst drängt sich jedoch die Frage auf, was Leibniz eigentlich genau unter Gesetzen versteht. Erst wenn wir hierauf eine Antwort haben, können wir verstehen, welche Rolle diese Gesetze genau in den vollständigen Begriffen spielen. Und erst wenn dies geklärt ist, können wir der Frage nachgehen, ob noch weitere Faktoren die vollständigen Begriffe bestimmen. Wenden wir uns also zunächst Leibniz’ Konzeption von Gesetzen zu. Ich glaube, man muss in diesem Zusammenhang zwischen mindestens drei unterschiedlichen Gesetzesbegriffen unterscheiden. Erstens gibt es die von uns Menschen formulierten Naturgesetze. Diese Gesetze – so Leibniz – sind nur Annäherungen an die Wirklichkeit und beschreiben die Welt nicht vollkommen präzise, was sich daran zeigt, dass sie Ausnahmen zulassen: die Wunder. Weil wir uns in einem epistemisch defizitären Zustand befinden und nicht in der Lage sind, die Ordnung des Universums vollständig zu erfassen, erkennen wir nur grobe Regelmäßigkeiten im Weltablauf, nicht aber die absolut präzisen Gesetzmäßigkeiten. Deshalb bezeichnet Leibniz die von Menschen aufgestellten Naturgesetze auch als „untergeordnete Maximen“.⁶⁶ Zweitens stellt Leibniz diesen untergeordneten Maximen ein göttliches Gesetz gegenüber, das ohne Ausnahme gilt: „[D]as allgemeinste Gesetz Gottes, das den gesamten Ablauf des Universums regelt, ist ohne Ausnahme.“⁶⁷ Es handelt sich also um ein Gesetz, das eine so „allgemeine Ordnung“⁶⁸ beschreibt, dass auch die ‚Wunder‘ – also Ereignisse, die den untergeordneten Maximen widersprechen – diese Ordnung nicht verletzen. Diese allgemeine Ordnung kann letztlich nur ein allwissendes Wesen, also Gott, vollständig erkennen. Wenn Leibniz im Discours und im Briefwechsel mit Arnauld von Gesetzen spricht, scheint er häufig sehr spezifische Charakterisierungen einzelner möglicher Welten im Auge zu haben. In dem oben zitierten Brief an Arnauld vom 14. Juli 1686 schreibt er etwa, „dass jede mögliche Welt von gewissen Hauptplänen oder Zwecken Gottes abhängt, die ihr eigen sind (qui luy sont propres), d. h. von gewissen ursprünglichen freien Entschlüssen (decrets libres primitifs) – als möglich verstanden – oder Gesetzen der allgemeinen Ordnung dieses möglichen Universums (loix de l’ordre general de cet Univers possible) […].“⁶⁹ Hier versteht Leibniz unter einem Gesetz offenbar so etwas wie den Plan Gottes für eine bestimmte mögliche Welt. Solche Gesetze sind

 DM §. Siehe für die Identifizierung von (menschlichen) Naturgesetzen und untergeordneten Maximen (‚maximes subalternes‘) auch Finster  – /G II, .  DM §: „[L]a plus generale des loix de Dieu qui regle la suite de l’universe, est sans exception.“  DM §.  Finster /G II,  (meine Hervorhebungen).

3.6 Vollständige Begriffe

147

also sehr spezifisch – so spezifisch, dass kein Gesetz in zwei oder mehr möglichen Welten gilt. Jedes Gesetz gilt nur für eine einzige mögliche Welt. Obwohl Leibniz von allgemeinen Gesetzen spricht, denkt er also offenbar eher an so etwas wie systematische Beschreibungen einzelner möglicher Welten. Neben den ungenauen, von Menschen formulierten Gesetzen und den maximal spezifischen göttlichen Gesetzen, verwendet Leibniz das Wort „Gesetz“ aber noch auf eine dritte Weise, die unserem heutigen Sprachgebrauch näher kommt als die welt-spezifischen Gesetze. Dies wird in einem Brief an De Volder vom 21. Januar 1704 deutlich: Ich sage nicht, dass eine (jede) Serie eine Folge ist, sondern dass eine (jede) Folge eine Serie ist und mit anderen Serien die Eigenschaft teilt, dass das Gesetz der Serie anzeigt, wo die Serie, wenn sie weitergeht, ankommen muss, bzw. [die Eigenschaft] dass, wenn der Anfang und das Gesetz des Fortschreitens festgelegt sind, die Terme nach einer Ordnung auftreten […].⁷⁰

Da Leibniz mögliche Welten häufig als „Serien“ bezeichnet⁷¹ (und weil er hier über Serien im Allgemeinen spricht), lässt sich diese Passage problemlos auf unseren Kontext anwenden. Offenbar versteht Leibniz Gesetze hier so, dass sich nicht aus diesen allein eine vollständige Beschreibung einer Serie, z. B. einer möglichen Welt, entnehmen lässt. Zusätzlich müssen auch noch bestimmte Ausgangsbedingungen bekannt sein. So verstanden ähneln Gesetze unserem heutigen Verständnis von deterministischen Naturgesetzen. Solche Gesetze sind zwar notwendig, um eine bestimmte mögliche Welt vollständig beschreiben zu können, sie sind dafür aber natürlich nicht hinreichend. ⁷² Setzt man diesen Gesetzesbegriff voraus, dann können mehrere Welten genau dieselben Gesetze haben, sich jedoch bezüglich ihrer Ausgangsbedingungen unterscheiden.Wir gehen normalerweise davon aus, dass es viele mögliche Welten gibt, in denen genau dieselben Naturgesetze wie in unserer Welt herrschen, die sich aber dennoch erheblich voneinander unterscheiden (sowohl bezüglich der Dinge, die in den unterschiedlichen Welten vorkommen, als auch bezüglich der Anordnung der Dinge). Dass Leibniz Gesetze häufig so auffasst, geht z. B. auch aus einer Stelle aus seinen Kommentaren zu Descartes’ Prinzipien hervor, wo er schreibt, dass unter bestimmten Umständen auch Gott nichts an der Welt ändern könne, es sei denn diese Änderung verträgt sich mit den von ihm bereits be-

 G II, : „Ego non dico seriem esse successionem, sed successionem esse seriem et habere hoc aliis seriebus commune, ut lex seriei ostendat quorsum in ea progrediendo debeat perveniri seu ut posito initio et lege progressus termini ordine prodeant […].“  Siehe z. B. AA .,  – .  Siehe für diesen Punkt auch Bender (im Ersch. a), Abschnitt .

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3 Göttliche Psychologie: Mögliche Individuen und mögliche Welten

schlossenen Gesetzen.⁷³ Leibniz setzt hier offenbar voraus, dass es mehrere mögliche Welten mit denselben Gesetzen gibt. Wir haben nun gesehen, dass Leibniz unter „Gesetz“ drei recht verschiedene Dinge versteht: (i) lediglich von epistemisch limitierten Wesen verwendete ‚untergeordnete Maximen‘, die nur Annäherungen an die wirkliche Ordnung der Natur darstellen; (ii) maximal spezifische Charakterisierungen möglicher Welten, aus denen sich alle Sachverhalte über die jeweilige Welt ableiten lassen (solche Gesetze gelten jeweils nur von einer möglichen Welt); (iii) allgemeine Charakterisierungen möglicher Welten, die zwar die allgemeinen Ordnungen dieser Welten beschreiben, aus denen sich aber ohne Kenntnis weiterer Informationen nicht alle Sachverhalte über die jeweilige mögliche Welt ableiten lassen (solche Gesetze gelten in mehreren möglichen Welten). Kommen wir nun zu den vollständigen Begriffen zurück. Am Anfang dieses Abschnitts haben wir gesehen, dass nicht nur der Begriff eines unvollständigen Proto-Individuums in den vollständigen Begriff einer individuellen Substanz eingeht, sondern auch die Gesetze der möglichen Welt, in der die Substanz existiert. Wie genau ist dies zu verstehen? Welcher der drei Gesetzesbegriffe muss hier zur Anwendung kommen? Da die vollständigen Begriffe von Gott erkannt werden und in seinem Intellekt existieren, scheiden (i) die ‚untergeordneten Maximen‘, derer sich lediglich epistemisch limitierte Wesen bedienen, von vornherein aus. Es bleiben also entweder (ii) die welt-spezifischen Gesetze oder (iii) die allgemeineren Gesetze, die die generelle Ordnung mehrerer Welten beschreiben (der Kürze halber werde ich im Folgenden von welt-spezifischen Gesetzen einerseits und von allgemeinen Gesetzen andererseits sprechen). Gregory Brown, der (wie oben gesehen) vollständige Begriffe als Paare von monadisch vollständigen Begriffen und Gesetzen auffasst, geht davon aus, dass mit diesen Gesetzen welt-spezifische Gesetze gemeint sind.⁷⁴ Andernfalls, so Browns Überlegung, würden Leibniz’sche Individuen in mehreren Welten existieren⁷⁵ – eine für Leibniz nicht akzeptable Konsequenz.⁷⁶ Deshalb müssen Brown zufolge vollständige Begriffe als Paare von unvollständigen Begriffen von ProtoIndividuen einerseits und welt-spezifischen Gesetzen andererseits verstanden werden.

 Vgl. G IV, .  Siehe etwa Brown , S. , wo er schreibt: „[E]ach complete individual concept contains laws that are unique to its world.“  Vgl. Brown , S. .  Siehe hierzu Abschnitt ..

3.6 Vollständige Begriffe

149

Eine solche Lesart legt Leibniz in seiner Korrespondenz mit Arnauld in der Tat nahe, z. B. wenn er in seinen Bemerkungen zu einem Brief Arnaulds vom 14. Juli 1686 schreibt: Denn da es eine unendliche Vielzahl möglicher Welten gibt, gibt es auch eine unendliche Vielzahl von Gesetzen, von denen die einen zu der einen, die anderen zu der anderen Welt gehören, und jedes mögliche Individuum irgendeiner Welt enthält in seinem Begriff die Gesetze seiner Welt.⁷⁷

Hier geht Leibniz zweifellos davon aus, dass welt-spezifische Gesetze Eingang in die vollständigen Begriffe individueller Substanzen haben. Dies scheint Browns Lesart zu bestätigen. Dennoch ergibt sich bei genauerer Betrachtung ein Problem mit dieser Interpretation. Laut Brown steuert der monadisch vollständige Begriff die monadischen Prädikate zu einem vollständigen Begriff bei, während die Gesetze die relationalen Prädikate beisteuern. Die welt-spezifischen Gesetze leisten aber viel mehr als das. Da sie jeweils nur auf eine einzige mögliche Welt zutreffen, enthalten sie letztlich eine komplette Beschreibung dieser Welt (aus moderner Perspektive mutet es freilich etwas merkwürdig an, solche Beschreibungen überhaupt als Gesetze zu bezeichnen). Damit enthalten sie aber nicht nur Informationen über die relationalen Prädikate – also darüber, wie die Substanzen in einer bestimmten möglichen Welt miteinander verbunden sind – sondern auch über die anderen Substanzen selbst. Damit erfüllen diese Gesetze jedoch Aufgaben, die sie Brown zufolge gar nicht erfüllen können. Darüber hinaus scheint Leibniz’ Aussage, dass jeder vollständige Begriff die welt-spezifischen Gesetze seiner Welt enthält, lediglich Ausdruck von Leibniz’ These zu sein, dass jeder vollständige Begriff Informationen über alles, was im Universum geschieht, enthält – Leibniz’ These der allumfassenden gegenseitigen Spiegelungen aller Substanzen.Wenn Leibniz also sagt, dass vollständige Begriffe welt-spezifische Gesetze enthalten, dann bringt er zwar diese These zum Ausdruck. Er erläutert aber nicht, wie die vollständigen Begriffe in Gottes Intellekt generiert werden. Aus diesen Gründen denke ich, dass die Bildung der vollständigen Begriffe in Gottes Intellekt anders beschrieben werden sollte, als Brown vorschlägt.Wie wir eben gesehen haben, fasst Leibniz im Briefwechsel mit De Volder (also ca. zwanzig Jahre nach seiner Korrespondenz mit Arnauld) Gesetze als allgemeine Gesetze auf,

 Finster /G II, : „Car comme il y a une infinité de mondes possibles, il y a aussi une infinité de loix les unes propres à l’un, les autres à l’autre et chaque individu possible de quelque monde enferme dans sa notion les loix de son monde.“

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3 Göttliche Psychologie: Mögliche Individuen und mögliche Welten

nicht als welt-spezifische Gesetze.⁷⁸ Bei diesen allgemeinen Gesetzen handelt es sich um Regeln, nach denen individuelle Substanzen – genauer gesagt ProtoIndividuen – miteinander verbunden sind.⁷⁹ Bilden wir nun, wie bei Brown, Paare von Begriffen unvollständiger ProtoIndividuen und (allgemeinen) Gesetzen, erhalten wir offenbar noch keine vollständigen Begriffe. Da sowohl die Proto-Individuen als auch die Gesetze allgemein sind und in mehreren Welten vorkommen können, sind auch die Begriffe, die sich durch Kombination beider Faktoren ergeben, nur unvollständig bestimmt. Dies lässt sich leicht durch ein Beispiel verdeutlichen. Nehmen wir an, wir verbinden drei Begriffe unvollständiger (monadisch vollständiger) Proto-Individuen a, b und c nach einem bestimmten Gesetz G miteinander und erhalten dadurch Welt w1. Nehmen wir außerdem an, dass wir in einem zweiten Szenario vier Proto-Individuen a, b, c und d ebenfalls nach dem Gesetz G miteinander verbinden, wodurch wir Welt w2 erhalten. Das Paar kommt sowohl in w1 als auch in w2 vor. Ein vollständiger Begriff kann jedoch nur auf ein einziges Individuum in einer einzigen Welt zutreffen, da Individuen bei Leibniz an ihre Welten gebunden sind. Paare von unvollständigen Proto-Individuen und allgemeinen Gesetzen sind also nicht hinreichend, um vollständige Begriffe zu generieren. Was fehlt? Der vollständige Begriff einer individuellen Substanz S soll alle Informationen über die mögliche Welt w, in der S existiert, enthalten. Bisher haben wir aber nur die monadischen Prädikate des Begriffs von S und die relationalen Prädikate des Begriffs von S, d. h. die Arten und Weisen, auf die S mit den anderen Dingen in w verbunden ist. Es fehlen aber noch die Informationen über die anderen Dinge selbst. ⁸⁰ Genau diesen Punkt betont Leibniz in einer Passage in einem Brief an De Volder vom 6. Juli 1701, die wir weiter oben bereits kennengelernt haben: Meiner Meinung nach gibt es im Universum der erschaffenen Dinge freilich nichts, was für seinen perfekten Begriff nicht des Begriffs jedes beliebigen anderen Dinges im Universum

 Siehe G II, .  Dieses Bild steht auch in der Theodizee im Hintergrund, wenn Leibniz schreibt: „Und durch dieses Mittel verteilt nun die göttliche Weisheit alle Möglichkeiten [tous les possibles], die sie bereits abgesondert ins Auge gefasst hat, in ebenso viele allumfassende Systeme und vergleicht dann diese untereinander“ (Theodizee §/Holz Bd. ., ).  So enthält z. B. das Paar keinerlei Informationen darüber, ob d existiert oder nicht. Dieses Paar greift also kein bestimmtes Individuum in einer bestimmten möglichen Welt heraus. charakterisiert sowohl Individuen in w als auch in w als auch Individuen in ganz anderen Welten. Aus diesem Grund können Paare wie nur Allgemeinbegriffe sein (also unvollständige Begriffe wie der Begriff eines vagen Adam) aber keine vollständigen Begriffe von Individuen.

3.6 Vollständige Begriffe

151

bedürfte; denn ein jedes Ding beeinflusst jedes beliebige andere Ding so, dass,wenn man sich vorstellen würde, dass das Ding aufgehoben oder anders wäre, dann alle Dinge in der Welt anders werden würden als die, die jetzt existieren.⁸¹

Hier macht Leibniz deutlich, dass der vollständige Begriff einer jeden Substanz alle Informationen über alle anderen Substanzen im Universum enthalten muss. Genau diese Informationen fehlen jedoch in Browns Bild. Durch die Gesetze sind zwar alle relationalen Prädikate bekannt, nicht aber die monadischen Prädikate aller anderen Substanzen. Obwohl es in der Passage aus dem Brief an De Volder primär um das „Universum der erschaffenen Dinge“ geht, also um die wirkliche Welt, macht Leibniz durch das kontrafaktische Konditional am Ende deutlich, dass seine Überlegung für alle möglichen Welten gilt. Es gehen also insgesamt drei Faktoren in den vollständigen Begriff einer individuellen Substanz ein: (i) der Begriff eines unvollständigen Proto-Individuums mit lediglich monadischen Prädikaten, (ii) die Gesetze bzw.Verbindungsregeln für die Verknüpfung von Proto-Individuen, (iii) die Begriffe der anderen Proto-Individuen, mit denen das erste Proto-Individuum im zweiten Schritt verknüpft wird. Diese drei Faktoren sind individuell notwendig und gemeinsam hinreichend für das Zustandekommen eines vollständigen Begriffs.⁸² Es bleibt die Frage, warum Leibniz im Arnauld-Briefwechsel häufig sagt, dass vollständige Begriffe individueller Substanzen welt-spezifische Gesetze enthalten, Gesetze also, die kompletten Beschreibungen einer ganzen möglichen Welt gleichkommen. Es bietet sich folgende Erklärung an: Natürlich enthalten vollständige Begriffe alle Informationen über die mögliche Welt, von der sie ein Teil sind. Somit enthalten sie also tatsächlich welt-spezifische Gesetze. Diese weltspezifischen Gesetze sind jedoch Ergebnis eines Konstruktionsprozesses in Gottes Intellekt und nicht, wie Brown behauptet, eine Komponente dieses Prozesses. Wenn man (wie Brown selbst auch) mit Gesetzen nur Regeln meint, nach denen Proto-Individuen miteinander verbunden werden und aus denen sich lediglich die relationalen Prädikate eines vollständigen Begriffs ergeben, dann handelt es sich dabei nicht um vollständige Weltbeschreibungen. Für vollständige Weltbeschreibungen sind darüber hinaus auch alle unvollständigen Begriffe der ProtoIndividuen nötig, die in die entsprechende Welt eingehen.

 G II, : „Mea certe opinione nihil est in universitate creaturarum, quod ad perfectum suum conceptum non indigeat alterius cujuscunque rei in rerum universitate conceptu, cum unaquaeque res influat in aliam quamcunque ita ut si ipsa sublata aut diversa esse fingeretur, omnia in mundo ab iis quae nunc sunt diversa sint futura.“  Siehe für diesen Punkt auch Bender (im Ersch. a), Abschnitt .

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3 Göttliche Psychologie: Mögliche Individuen und mögliche Welten

3.7 Vollständige Begriffe und mögliche Welten Ich habe dieses Kapitel mit der Frage begonnen, welche Struktur die Wahrmacher modaler Wahrheiten, die Essenzen in Gottes Intellekt, haben. Anstatt diese Frage direkt zu beantworten, habe ich mich beeilt, eine weitere Frage hinzuzufügen: die Frage, was genau mögliche Welten für Leibniz sind und wie das Verhältnis zwischen möglichen Welten und den Individuen, die in diesen Welten vorkommen, zu verstehen ist. Dieses Vorgehen war unvermeidlich, weil die Frage nach dem Status möglicher Welten untrennbar mit der Frage nach der Struktur der Essenzen in Gottes Intellekt verbunden ist. Wir sind nun in der Lage, beide Fragen auf einmal zu beantworten. Da die Essenzen in Gottes Intellekt nichts anderes als die vollständigen Begriffe sind, wissen wir nun, dass drei Faktoren die Strukturen der (nicht-göttlichen) Essenzen bestimmen. Im ersten Schritt formt Gott einfache Begriffe, indem er auf seine Attribute reflektiert und diese einfachen Begriffe zu komplexen Begriffe kombiniert. Diese Begriffe enthalten zwar alle monadischen Prädikate eines Individuums, nicht aber die relationalen. Es handelt sich deshalb um unvollständige Begriffe von Proto-Individuen. In einem zweiten Schritt verbindet Gott die Begriffe von mehreren Proto-Individuen nach unterschiedlichen Gesetzen miteinander. Dies tut er auf viele unterschiedliche Weisen, mit unterschiedlichen Mengen von Proto-Individuen und mit unterschiedlichen Gesetzen. Das jeweilige Gesetz reichert den Begriff eines Proto-Individuums gleichsam mit relationalen Prädikaten an. In einem dritten Schritt schließlich vervollständigt Gott die Begriffe, indem er in jeden Begriff eines jeden Dinges alle Informationen über alle Dinge, mit denen dieses Ding verbunden ist, einschreibt. Wie unschwer zu erkennen ist, denkt Gott am Ende dieses Prozesses nicht nur an vollständige Begriffe individueller Substanzen, sondern gleichzeitig auch an mögliche Welten. Indem Gott vollständige Begriffe denkt, formt er automatisch immer auch Ideen ganzer Systeme, in denen alle Dinge so eng miteinander verknüpft sind, dass sich aus dem Begriff eines jeden Individuums alle Informationen über das gesamte System ableiten lassen. Diese Systeme sind natürlich nichts anderes als mögliche Welten. Umgekehrt gilt genauso, dass Gott auch keine mögliche Welt denken kann, ohne zugleich die vollständigen Begriffe der Individuen, die in diesen Welten vorkommen, zu denken. Vor diesem Hintergrund wird verständlich, warum weder die humeanische noch die holistische Konzeption möglicher Welten Leibniz’ Modell gerecht werden kann. Gott denkt nicht in einem ersten Schritt die Ideen vollständiger Substanzen und setzt diese dann in einem zweiten Schritt zu möglichen Welten zusammen. Genauso wenig hat er zuerst komplette Welten in seinem Intellekt, aus denen sich die Ideen individueller Substanzen irgendwie „ergeben“. Vielmehr entstehen in

3.7 Vollständige Begriffe und mögliche Welten

153

Gottes Intellekt die Ideen individueller Substanzen (die vollständigen Begriffe) und die Ideen kompletter möglicher Welten auf ein und derselben Stufe. Indem Gott zunächst unvollständige Begriffe von Proto-Individuen nach bestimmten Gesetzen miteinander verbindet und anschließend jedem Begriff alle Informationen über alle anderen Begriffe, mit denen er verbunden ist, hinzufügt, entstehen in seinem Intellekt gleichzeitig vollständige Begriffe individueller Substanzen und Ideen ganzheitlicher möglicher Welten.⁸³ Diese Interpretation hat den Vorteil, dass sie klar macht, dass sich Individuen für Leibniz nur im Kontext von möglichen Welten denken lassen, ohne auf die holistische Lesart zurückzufallen. Umgekehrt gilt nämlich auch, dass sich mögliche Welten nicht ohne die Individuen, die sie bevölkern, denken lassen. Zwischen Welten und Individuen (bzw. zwischen den Begriffen von Welten und den Begriffen von Individuen) besteht also ein wechselseitiges Abhängigkeitsverhältnis. Genau diesem Umstand scheint Browns Modell nicht gerecht werden zu können. Indem Brown voraussetzt, dass welt-spezifische Gesetze – also Begriffe ganzer Welten – für die Bildung vollständiger Begriffe individueller Substanzen erforderlich sind, legt Brown sich implizit auf die holistische Lesart fest. Nachtomy hingegen scheint sich implizit auf die humeanische Lesart festzulegen. Zwar kommt auch er zu dem Schluss, dass es eine „mutual constitution between complete individuals and possible worlds“ gebe⁸⁴ und dass mögliche Individuen und mögliche Welten „mutually dependent“ seien.⁸⁵ So wie er die Konstitution vollständiger Individuen beschreibt, scheint mir diese Schlussfolgerung jedoch nicht gerechtfertigt zu sein: The relations between possible individuals arise „when“ God considers all possible incomplete individuals in his mind. At the moment when God considers all possible individuals simultaneously, their interrelations arise in his mind.⁸⁶

Durch diesen Prozess, so Nachtomy, entstehen gleichzeitig vollständige Individuen und mögliche Welten. Da in diesem Modell die Relationen zwischen den Individuen jedoch gleichsam ‚automatisch‘ entstehen, sowie Gott (unvollständige) Individuen gemeinsam betrachtet, ohne dass es dazu noch irgendwelcher Gesetze bedarf, scheinen bereits alle Informationen über die möglichen Welten in den (unvollständigen) Individuen enthalten zu sein. Damit handelt es sich bei

   

Siehe für diesen Punkt bereits Bender (im Ersch. a). Nachtomy , S. . Nachtomy , S. . Nachtomy , S. .

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3 Göttliche Psychologie: Mögliche Individuen und mögliche Welten

Nachtomys Interpretation aber um eine Variante der humeanischen Lesart, der zufolge Begriffe möglicher Individuen Priorität vor möglichen Welten haben.

3.8 Eine Ambiguität in Leibniz’ Weltbegriff Ich habe in diesem Kapitel immer wieder betont, dass Leibniz Welten nicht als Aggregate individueller Substanzen versteht. Mögliche Welten sind nicht bloße Ansammlungen möglicher Dinge, sondern Ganzheiten, die ein hohes Maß an innerer Verknüpfung aufweisen. Dennoch haben wir in Abschnitt 3.2 gesehen, dass Leibniz zumindest die wirkliche Welt manchmal als Aggregat bezeichnet. Auf den ersten Blick steht dies im direkten Widerspruch zu meiner (von vielen LeibnizKommentatoren geteilten) Behauptung, dass Welten keine Aggregate sind. Lässt sich dieser Widerspruch auflösen? Um diese Frage zu klären, müssen wir uns noch einmal den beiden Stellen zuwenden, die ich oben nur kurz diskutiert habe.⁸⁷ In De rerum originatione radicali bezeichnet Leibniz die wirkliche Welt als „Aggregat endlicher Dinge“ („Aggregatum rerum finitarum“),⁸⁸ und in einem Brief an Bourguet schreibt er, dass „das wirkliche Universum die Ansammlung (collection) aller möglichen existierenden Dinge [ist].“⁸⁹ Entscheidend ist, dass Leibniz in beiden Passagen von der wirklichen Welt bzw. vom wirklichen Universum spricht und nicht von möglichen Welten. Tatsächlich verwendet Leibniz den Ausdruck „Welt“ (sowie den Ausdruck „Universum“) auf zwei sehr unterschiedliche Weisen. Dies wird besonders in der Theodizee deutlich, wo er schreibt: Ich nenne Welt die ganze Folge und Ansammlung aller bestehenden Dinge, damit man nicht sage, dass verschiedene Welten zu verschiedenen Zeiten und an verschiedenen Orten bestehen konnten; denn diese müssten alle zusammen für eine Welt oder, wenn man will, für ein Universum gelten.⁹⁰

 Siehe Abschnitt ..  G VII, .  G III, : „[…] l’Univers actuel est la collection de tous les possibles existans […].“  Theodizee §/Holz Bd. .,  – : „J’appelle Monde toute la suite et toute la collection de toutes les choses existantes, afin qu’on ne dise point que plusieurs mondes pouvoient exister en differens temps et differens lieux. Car il faudroit les compter tous ensemble pour un monde, ou si vous voulés, pour un Univers.“ Aus diesem Zitat geht auch deutlich hervor, dass Leibniz keinen terminologischen Unterschied zwischen ‚Welt‘ und ‚Universum‘ macht.

3.8 Eine Ambiguität in Leibniz’ Weltbegriff

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Hier definiert Leibniz die Welt schlicht als die Ansammlung aller Dinge, die wirklich existieren. Wie er ausdrücklich betont, gibt es in diesem Sinne natürlich nur eine einzige Welt und nicht mehrere Welten. Dies hält Leibniz offenbar schlicht für eine begriffliche Wahrheit. Nur einen Absatz später allerdings spricht Leibniz von mehreren möglichen Welten: „Denn man muss beachten, dass in jeder der möglichen Welten (Mondes possibles) alles eng miteinander verknüpft ist.“⁹¹ Streng genommen widerspricht Leibniz hier also der Definition, die er nur einen Absatz zuvor eingeführt hat.Wenn unter „Welt“ nur die Menge aller wirklich existierender Dinge verstanden wird, und wenn es schon aus rein begrifflichen Gründen nur eine Welt geben kann, dann ist es streng genommen sinnlos, von mehreren möglichen Welten zu sprechen, die überhaupt nicht wirklich existieren. Aber natürlich ist Leibniz’ Redeweise von möglichen Welten deswegen keineswegs unsinnig. Wie bereits ausführlich diskutiert, sind darunter Entitäten in Gottes Intellekt zu verstehen: Mögliche Welten sind nichts anderes als die Inhalte göttlicher Ideen. Dies zeigt, dass sich Leibniz zweier ganz unterschiedlicher Verwendungsweisen des Ausdrucks „Welt“ bedient. Manchmal versteht er darunter das wirklich existierende Universum, also die Menge aller Substanzen, die Gott geschaffen hat (in diesen Kontexten taucht natürlich nur der Singular auf, da es in diesem Sinne von „Welt“ nur eine Welt geben kann⁹²). In anderen Kontexten bezieht sich Leibniz hingegen nicht auf etwas von Gott Geschaffenes, sondern auf die Inhalte von Gottes Ideen. So verstanden ist eine Welt eine Menge vollständiger Begriffe individueller Substanzen, unabhängig davon, ob die diesen Begriffen entsprechenden Substanzen wirklich existieren oder nicht (in diesem Zusammenhang ist es natürlich kein Problem, von Welten im Plural zu sprechen, da Gott unendlich viele unterschiedliche Weisen, das Universum zu erschaffen, denkt). Je nach Kontext versteht Leibniz unter Welt also entweder (i) die Menge aller von Gott geschaffenen Substanzen oder (ii) eine Menge vollständiger Begriffe in Gottes Intellekt.⁹³ Es muss also genau zwischen der metaphysischen Ebene und der begrifflichen Ebene unterschieden werden. Vor diesem Hintergrund wird verständlich, warum Leibniz in einigen Passagen von der Welt als einem Aggregat spricht. Er tut dies nur, wenn es um die wirkliche Welt geht, also um die Menge der von Gott geschaffenen Substanzen. Dies ist deshalb nachvollziehbar, weil es sich bei Substanzen um die grundle-

 Theodizee §/G VI, .  Leibniz ist also (wie bereits in der Einleitung erläutert) Aktualist.  Wie wir gesehen haben, konstituiert natürlich nicht jede beliebige Menge vollständiger Begriffe eine mögliche Welt, sondern nur Mengen, die ganz bestimmte Kriterien erfüllen.

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3 Göttliche Psychologie: Mögliche Individuen und mögliche Welten

genden Entitäten unserer Welt handelt, die ontologisch unabhängig voneinander sind. Im Prinzip hätte Gott jede einzelne Substanz ohne die anderen Substanzen erschaffen können.⁹⁴ Die einzelnen Substanzen sind also ontologisch vorrangig gegenüber der gesamten Welt. Aus diesem Grund ist es keineswegs widersinnig, dass Leibniz die wirkliche Welt gelegentlich als Aggregat oder Ansammlung von Substanzen bezeichnet. Damit verleiht er genau dieser ontologischen Ordnung Ausdruck. Bei möglichen Welten in Gottes Intellekt hingegen – also bei (bestimmten) Mengen vollständiger Begriffe – handelt es sich nicht um Aggregate. Gott kann vollständige Begriffe individueller Substanzen nur im Kontext ganzer möglicher Welten denken. Somit können letztere aber keine bloßen Aggregate oder Ansammlungen vollständiger Begriffe sein – und Leibniz behauptet dies auch nie. Da es in diesem Kapitel lediglich um Welten in diesem zweiten Sinne ging, also um die Inhalte der Ideen in Gottes Intellekt, und nicht um die aus wirklich existierenden Substanzen bestehende, wirklich existierende Welt, ist die These, dass Welten keine Aggregate sind, gerechtfertigt. Sie widerspricht nicht Leibniz’ Texten, solange man die Ambiguität in Leibniz’ Weltbegriff berücksichtigt.

3.9 Relationale Prädikate Ich komme nun zu einem zweiten potentiellen Einwand gegen meine Interpretation. Bisher bin ich in diesem Kapitel davon ausgegangen, dass die vollständigen Begriffe individueller Substanzen relationale Prädikate enthalten (in Form von Gesetzen). Diese Annahme wirkt auf den ersten Blick unproblematisch. Schließlich spricht Leibniz selbst ausdrücklich von den „Verbindungen, die es aufgrund der Verknüpfungen der Beschlüsse und Pläne Gottes zwischen allen Dingen gibt“.⁹⁵ Die ‚Pläne Gottes‘, bzw. die Gesetze, sind also dafür verantwortlich, dass „jede individuelle Substanz das ganze Universum [ausdrückt], von dem sie gemäß einer bestimmten Beziehung ein Teil ist.“⁹⁶ Aufgrund solcher und ähnlicher Passagen scheint der Schluss, dass zumindest bestimmte relationale Prädikate für Leibniz irreduzibel sind und sich nicht auf monadische Prädikate zurückführen lassen, gerechtfertigt. Dies scheint sich jedoch auf den ersten Blick nicht gut mit Leibniz’ Theorie der Relationen zu vertragen. Einer verbreiteten Interpretation zufolge verfolgt Leibniz ein reduktionis Auf die These der Unabhängigkeit von Substanzen gehe ich ausführlich im nächsten Kapitel ein (siehe insbesondere Abschnitt .).  Finster  – /G II, .  Finster  – /G II, .

3.9 Relationale Prädikate

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tisches Programm mit Bezug auf Relationen.⁹⁷ Sollte diese Interpretation zutreffen, ist es dann noch legitim, davon auszugehen, dass vollständige Begriffe individueller Substanzen irreduzible relationale Prädikate enthalten? An dieser Stelle kommt es wieder darauf an, genau zwischen den existierenden, von Gott erschaffenen Dingen einerseits und den Begriffen in Gottes Intellekt andererseits zu unterscheiden. In der erschaffenen Welt gibt es nichts außer den individuellen Substanzen bzw. Monaden und deren Modifikationen; Leibniz ist strikter Nominalist. Da Monaden „keine Fenster“ haben,⁹⁸ kann es auf der fundamentalen metaphysischen Ebene auch keine Relationen geben. Dazu müsste ein und dieselbe Eigenschaft in zwei Monaden zugleich sein, was Leibniz ablehnt. In einer bekannten Stelle aus einem Brief an Des Bosses schreibt er: Denn du wirst, glaube ich, auch kein Akzidenz annehmen, das zugleich in zwei Subjekten ist. Deshalb glaube ich mit Bezug auf die Relationen, dass die Vaterschaft in David und das Sohnsein in Salomon zwei verschiedene Sachen sind, während die beiden gemeinsame Relation ein rein mentales Ding (rem mere mentalem) ist, dessen Fundament (fundamentum) die Modifikationen der einzelnen Dinge sind.⁹⁹

Als Gott die Welt erschaffen hat, hat er also nicht zusätzlich zu den individuellen Substanzen mit ihren Modifikationen auch noch Relationen geschaffen. In diesem Sinne sind Relationen keine res für Leibniz – Relationen sind in diesem Sinne nicht real. Dennoch lehnt Leibniz die Redeweise von Relationen auch für die von Gott erschaffenen Dinge nicht rundheraus ab. Relationen sind zwar nur ‚mentale Dinge‘, aber sie haben ein ‚Fundament‘ in der Welt. Was ist damit gemeint? Offenbar glaubt Leibniz, dass es häufig durchaus sinnvoll sein kann, von Relationen zu sprechen, obwohl diese nicht zur basalen metaphysischen Ausstattung unserer Welt gehören. Er glaubt, dass sich Relationen auf die intrinsischen Eigenschaften der Relata (also der Monaden) reduzieren lassen.¹⁰⁰ Dass David der Vater von Salomon ist, bedeutet nichts anderes, als dass sowohl David als auch Salomon bestimmte Perzeptionen hervorbringen, die auf eine bestimmte Weise aufeinander abgestimmt sind. Es gibt aber keine zusätzliche Entität, etwa die

 Siehe z. B. Mates , S.  –  sowie Russell , S. .  Vgl. Monadologie §.  G II, : „Neque enim admittes credo accidens, quod simul sit in duobus subjectis. Ita de Relationibus censeo, aliud esse paternitatem in Davide, aliud filiationem in Salomone, sed relationem communem utrique esse rem mere mentalem, cujus fundamentum sint modificationes singulorum.“  Siehe hierfür insbesondere C , wo Leibniz erklärt, dass es keine „rein extrinsischen Denominationen“, also keine relationalen Eigenschaften, ohne fundamentum in re geben kann.

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3 Göttliche Psychologie: Mögliche Individuen und mögliche Welten

Relation des Vaterseins, die noch hinzukommen würde.¹⁰¹ Leibniz hat also in der Tat ein reduktionistisches Modell von Relationen. Relationen fungieren nicht als basale Entitäten in seiner Ontologie, und aus diesem Grund bezeichnet er sie als „mentale Dinge“, als „rein ideale Dinge“ und als „entia rationis“.¹⁰² Allerdings betont Leibniz auf der anderen Seite auch immer wieder, dass Relationen vollkommen real sind. Sie sind keine Fiktionen, die wir uns etwa bloß ausdenken würden. So hält er fest, dass Relationen „Realität haben, unabhängig von unserer Intelligenz“, und dass es sie gibt, auch wenn „niemand an sie denkt“.¹⁰³ Wie ist das zu verstehen? Offenbar bedeutet es nicht, dass Relationen von Gott erschaffen werden und genauso wie individuelle Substanzen in der Welt existieren. Wir haben eben gesehen, dass dies nicht der Fall ist. Stattdessen, so Leibniz, sind Relationen real, weil Gott an sie denkt: „[Eine Relation] kann auf eine gewisse Weise ein Ens rationis genannt werden, auch wenn sie zugleich real ist, weil all diese Dinge durch die Kraft des höchsten Intellekts konstituiert werden […].“¹⁰⁴ Dass Relationen entia rationis sind, bedeutet also keineswegs, dass sie nicht real sind. Genau wie possibilia erlangen sie ihre Realität dadurch, dass sie als Denkobjekte in Gottes Intellekt existieren.¹⁰⁵ Diesen Vergleich zieht Leibniz in den Nouveaux Essais: „Die Relationen und Ordnungen haben eine Art Vernunftsein (l’estre de raison), obwohl sie ihren Grund in den Dingen haben. Denn man kann sagen, dass ihre Wirklichkeit, wie die der ewigen Wahrheiten und der Möglich-

 Diese reduktionistische Strategie funktioniert sehr gut für sogenannte interne Relationen wie z. B. die Relation ‚… ist größer als…‘. Es scheint intuitiv plausibel zu sein, dass die Tatsache, dass x größer als y ist, vollständig auf den intrinsischen Eigenschaften von x und y superveniert. Schwieriger scheint dies für externe Relationen zu sein, wie z. B. die Relation ‚… ist  Meter entfernt von…‘. Externe Relationen scheinen nicht auf den intrinsischen Eigenschaften von x und y zu beruhen. So wie ich Leibniz verstehe, vertritt er letztlich die gewagte These, dass alle Relationen interne Relationen sind. Für ihn gibt es, trotz gegenteiligen Eindrucks, schlicht keine externen Relationen. Auch Relationen wie ‚…ist  Meter entfernt von…‘ supervenieren letztlich auf intrinsischen Eigenschaften der Relata (für die Unterscheidung zwischen internen und externen Relationen, siehe Lewis , S. ).  Leibniz bezeichnet eine Relation als „rem mere mentalem“ in G II, , als „une chose purement ideale“ in G VII,  und als „ens rationis“ in LH IV, , C, Bl.  r (zitiert bei Mugnai , S. ).  VE  (zitiert im Appendix in Mugnai , S. ): „[…] dantur denique et relationes, quae non per se producuntur, sed aliis productis resultant, et habent realitatem, citra intelligentiam nostram, vere enim insunt nemine cogitante.“  LH IV, , C, Bl.  r (zitiert bei Mugnai , S. ): „[Relatio] aliquo modo Ens rationis dici potest, etsi simul reale sit, quia ipsae res omnes vi summi intellecti constituuntur […].“  Siehe für diesen Punkt insbesondere Mugnai , S.  – .

3.9 Relationale Prädikate

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keiten, aus der höchsten Vernunft stammt.“¹⁰⁶ Relationen gehören also, genau wie Essenzen oder possibilia, zum ‚Reich der Ideen‘ in Gottes Verstand. Nun wird auch klar, warum meine Behauptung, dass die vollständigen Begriffe in Gottes Geist relationale Prädikate enthalten, ohne Probleme mit Leibniz’ Theorie der Relationen vereinbar ist. Um die Begriffe vollständiger Individuen zu formen, kommt Gott nicht ohne relationale Prädikate aus. Er benötigt diese, um die Begriffe unvollständiger Proto-Individuen miteinander zu verbinden und in Beziehung zu setzen. Erst durch die relationalen Prädikate ist es Gott möglich, einheitliche Systeme von Substanzen – mögliche Welten – zu denken. Und wie wir gesehen haben, kann Gott die vollständigen Begriffe nur im Kontext möglicher Welten bilden. Diese Prozesse in Gottes Intellekt haben aber nicht zur Folge, dass Gott Relationen als solche erschafft. In der wirklich existierenden Welt gibt es nur die individuellen Substanzen mit ihren (intrinsischen) Modifikationen. Diese bilden zwar, wie Leibniz sagt, das Fundament für Relationen,¹⁰⁷ dies führt jedoch nicht dazu, dass Relationen wirklich in der erschaffenen Welt existieren. Sie haben lediglich eine ‚mentale‘ oder ‚ideale‘ Realität im göttlichen Intellekt. Den Unterschied zwischen Relationen in der wirklich existierenden Welt einerseits und Relationen in Gottes Intellekt andererseits (und die Beziehung zwischen beiden Ebenen) fasst Massimo Mugnai in seinem Buch Leibniz’ Theory of Relations besonders konzise folgendermaßen zusammen: In creating the world, God follows a conceptual model, just as an architect, for example, builds a house on the basis of a prepared drawing. Relations are a constituent part of this model, but the created world is in effect composed only of individual substances, with their intrinsic modifications. In this world, relations do not exist in the same sense as that tables, horses and men exist. It can be said however that relations „are formally present“ in created things insofar as the very individuals which exist and the mutual relationships resulting from their existence were created on the basis of a model where relations have a decisive role.¹⁰⁸

 NE II, xxv, §/AA ., /Holz Bd. ., : „Les relations et les ordres ont quelque chose de l’estre de raison, quoyqu’ils ayent leur fondement dans les choses; car on peut dire que leur realité, comme celle des verités eternelles et des possibilités vient de la supreme raison.“ Siehe auch NE II, xxx, §/AA ., .  Siehe G II, .  Mugnai , S. . Mit der Formulierung, dass Relationen „formal“ in den Dingen präsent sind, bezieht sich Mugnai auf eine aufschlussreiche Stelle in einer Notiz aus dem Jahre  oder , wo Leibniz sich auf eine von den Jesuiten verurteilte nominalistische These bezieht, die wohl ziemlich genau seine eigene Position wiedergibt: „Congregatio IX generalis Soc. Jesu statuit non videri docendam hanc propositionem Relatio similitudinis paternitatis etc. non est formaliter aut in suo fundamento, sed est aliquid rationis, aut mera tantum intellectus comparatio, sed Quod fit per intellectum divinum, simul est formaliter in rebus, respectu ad intellectum“ (VE , zitiert

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3 Göttliche Psychologie: Mögliche Individuen und mögliche Welten

Es ist deutlich geworden, dass Leibniz in der Tat ein reduktionistisches Programm mit Bezug auf Relationen verfolgt. In der von Gott erschaffenen Welt existieren streng genommen keine Relationen. Relationen sind vollständig auf andere Entitäten reduzierbar, nämlich auf die individuellen Substanzen mit ihren intrinsischen Modifikationen. Es gilt jedoch genau zwischen den erschaffenen Dingen (also den individuellen Substanzen mit ihren Modifikationen) einerseits und den vollständigen Begriffen dieser Dinge in Gottes Intellekt andererseits zu unterscheiden. Dass Leibniz Reduktionist mit Bezug auf Relationen in der erschaffenen Welt ist, ist vereinbar mit der Tatsache, dass es irreduzible relationale Prädikate in Gottes Intellekt gibt. In diesem Sinne ist Leibniz also kein Reduktionist mit Bezug auf Relationen. Mit dieser Doppelstrategie wird Leibniz einerseits seinem Nominalismus gerecht, ist aber andererseits deshalb nicht gezwungen, Relationen als bloße Fiktionen anzusehen.

3.10 Fazit In diesem Kapitel haben wir die Struktur der Essenzen, also die Struktur der Wahrmacher modaler Wahrheiten, besser kennengelernt. Es ist deutlich geworden, dass die Ideen individueller Substanzen in Gottes Intellekt nicht isoliert nebeneinander stehen. Bestimmte Gruppen von ihnen bilden mögliche Welten, und die möglichen Substanzen in einer möglichen Welt sind eng miteinander verzahnt. Die Begriffe individueller Substanzen und die Begriffe möglicher Welten sind so eng miteinander verwoben, dass Gott die vollständigen Begriffe von Individuen gar nicht bilden kann, ohne deren Einbindung in mögliche Welten zu berücksichtigen. Leibniz eine humeanische Konzeption möglicher Welten zuzuschreiben wäre deshalb verfehlt. Daraus zu schließen, dass Leibniz ein holistisches Bild möglicher Welten hat, wäre allerdings ebenfalls problematisch.Vollständige Individualbegriffe sind nicht das bloße Resultat von Begriffen ganzer möglicher Welten. Stattdessen wurde deutlich, dass die Begriffe möglicher Individuen und die Begriffe möglicher Welten sich gegenseitig bedingen. Gott kann keine Ideen von Individuen formen, ohne zugleich an ganze Welten zu denken. Und genauso wenig kann er Ideen

im Appendix bei Mugnai , S. ). Relationen haben ihre Realität also, weil sie in Gottes Intellekt existieren. Zugleich sind sie aber auch „auf formale Weise in den Dingen“. Relationen sind also zwar selbst keine res und werden nicht von Gott erschaffen, aber sie haben ein Fundament in den Dingen, und auf dieses Fundament können Relationen reduziert werden. Dieses Fundament in den Dingen gibt es, weil die individuellen Substanzen nach einem Modell in Gottes Intellekt geschaffen wurden, das ohne Relationen nicht auskommt.

3.10 Fazit

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ganzer möglicher Welten denken, ohne dabei auch die Ideen der Individuen, die in diesen Welten vorkommen, zu denken. Leibniz’ Verständnis möglicher individueller Substanzen und möglicher Welten ist, glaube ich, von intrinsischem Interesse. Darüber hinaus dienen die Analysen in diesem Kapitel aber auch als Vorbereitung auf das nächste Kapitel, in dem es um das vieldiskutierte Problem des Kompossibilität gehen wird. Bei diesem Problem geht es um die Frage, warum Leibniz der Auffassung ist, dass einige mögliche Substanzen zusammen existieren können (also kompossibel sind), während andere dies nicht können (also inkompossibel sind).Wie wir sehen werden, hängen Leibniz’ Konzeption möglicher Welten und seine Theorie der Kompossibilität eng miteinander zusammen.Viele Themen dieses Kapitels werden uns also im nächsten Kapitel wieder begegnen.

4 Leibniz’ Theorie der Kompossibilität 4.1 Einleitung: Die Rückkehr der spinozistischen Bedrohung? In den beiden letzten Kapiteln haben wir Leibniz’ Theorie der Essenzen – seine Theorie der Wahrmacher modaler Wahrheiten – im Detail kennengelernt. Wir sollten an diesem Punkt kurz innehalten und uns vergegenwärtigen, warum Leibniz überhaupt eine solche Theorie entwickelt. Ausgangspunkt ist seine Ablehnung von Spinozas These, dass alles, was möglich ist, auch wirklich existiert. Im Gegensatz zu Spinoza betont Leibniz spätestens seit Mitte der 1670er Jahre, dass es auch nicht-aktualisierte possibilia geben muss. Diese These ist absolut unverzichtbar für seinen rationalistischen Theismus, der das Herz seines gesamten philosophischen Systems ausmacht. Nur wenn es verschiedene Möglichkeiten gibt, die Welt zu erschaffen, ist gewährleistet, dass Gott eine Auswahl auf Basis von Gründen treffen kann. Wie wir gesehen haben, entwickelt Leibniz eine Theorie, die genau das gewährleisten soll. Er identifiziert Essenzen bzw. possibilia mit den Inhalten der Ideen in Gottes Intellekt. Da Leibniz’ Gott ein persönlicher Gott ist, der außerhalb der Welt steht und bei dem (anders als bei Spinoza) Intellekt und Wille voneinander getrennt sind, existiert nicht automatisch alles, was Gott denkt. Es scheint also, als sei Leibniz in der Lage, Spinozas Metaphysik eine Theorie gegenüberzustellen, welche die Realität nicht-aktualisierter possibilia garantiert. Bei genauerer Betrachtung wirft Leibniz’ Theorie aber auch Fragen auf. Einerseits ist klar, dass es für ihn viele nicht-aktualisierte possibilia gibt. Schließlich erschafft Gott nur eine von unendlich vielen möglichen Welten. Alle anderen möglichen Welten, und damit auch alle anderen möglichen Dinge, die in diesen Welten vorkommen, erleiden das Schicksal, nicht erschaffen zu werden und somit nicht zu existieren. Andererseits betont Leibniz immer wieder, dass Gott bestrebt ist, so viel wie möglich zu erschaffen. Gottes Ziel ist es, wie Leibniz sich ausdrückt, das ‚Sein‘ bzw. die ‚Realität‘ im Universum zu maximieren. Daraus scheint zu folgen, dass Gott so viele Substanzen wie möglich erschaffen will. Wenn dies aber tatsächlich Gottes Ziel ist, wieso gibt es dann überhaupt bloß mögliche Substanzen, die nicht wirklich sind? Wenn Gott tatsächlich bestrebt ist, so viel wie möglich existieren zu lassen, warum hat er nicht alle possibilia, die er in seinem Intellekt hat, erschaffen? Einmal mehr droht Leibniz’ System die spinozistische Implikation zu haben, dass alles Mögliche wirklich ist. Es stellt sich somit die Frage, wie Leibniz daran festhalten kann, dass es unendlich viele nicht-aktualisierte possibilia in Gottes Intellekt gibt, obwohl Gottes Ziel ist, so viel wie möglich zu erschaffen.

4.1 Einleitung: Die Rückkehr der spinozistischen Bedrohung?

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Leibniz’ Antwort ist klar: Gott erschafft nicht alles, was möglich ist, weil nicht alle möglichen Substanzen miteinander kompossibel sind. Einige Substanzen können gar nicht zusammen existieren – sie sind miteinander inkompossibel – und Gott kann deshalb auch nicht alle Substanzen zugleich erschaffen. Aus diesem Grund, so Leibniz’ Überlegung, ist es selbst Gott nicht möglich, alle möglichen Substanzen zugleich zu erschaffen, womit die spinozistische Bedrohung abgewendet ist. Es stellt sich natürlich sogleich die Frage, was es denn überhaupt bedeutet, dass zwei oder mehr Substanzen miteinander kompossibel oder inkompossibel sind. Als Verfechter des Prinzips des zureichenden Grundes kann Leibniz nicht einfach davon ausgehen, dass es sich hierbei um primitive Fakten handelt. Es muss irgendeine Erklärung dafür geben, warum einige Dinge miteinander koexistieren können, während andere dies nicht können. Leibniz braucht also eine Theorie der Kompossibilität. In diesem Zusammenhang stellt sich insbesondere die Frage, wie innerhalb von Leibniz’ metaphysischem Rahmen überhaupt jemals zwei Substanzen miteinander inkompossibel sein können. Leibniz’sche Substanzen zeichnen sich schließlich dadurch aus, dass sie vollkommen unabhängig voneinander sind – sie sind ‚fensterlose Monaden‘. Wenn aber die Existenz einer Substanz vollkommen unabhängig von der Existenz bzw. NichtExistenz anderer Substanzen ist, wie kann dann überhaupt der Fall eintreten, dass zwei Substanzen miteinander inkompossibel sind? Sobald man Leibniz’ Substanzmetaphysik in Betracht zieht, scheint dies schon aus prinzipiellen Gründen ausgeschlossen zu sein. Leibniz scheint also mit einem Dilemma konfrontiert zu sein. Zumindest auf den ersten Blick lassen sich (i) die These der Unabhängigkeit von Substanzen und (ii) die These, dass nicht alle Substanzen miteinander kompossibel sind, nicht miteinander vereinbaren. Es hat somit den Anschein, dass es vor dem Hintergrund dieser grundlegenden Leibniz’schen Thesen nicht möglich ist, eine Theorie der Kompossibilität bzw. Inkompossibilität zu entwickeln, die allen Anforderungen seines Systems gerecht wird. In diesem Kapitel werde ich versuchen, dieses Problem der Kompossibilität zu lösen. Dabei gehe ich wie folgt vor: Zunächst stelle ich ausführlicher dar, was genau das Problem der Kompossibilität ist und worin die interpretatorische Herausforderung besteht (Abschnitt 4.2). Anschließend gehe ich auf insgesamt drei Lösungsvorschläge ein; sowohl auf die beiden traditionellen und nach wie vor gängigsten – die logische Interpretation (Abschnitt 4.3) und die Gesetzesinterpretation (Abschnitt 4.4) – als auch auf einen neuen Vorschlag von Jeffrey McDonough (Abschnitt 4.5). Ich zeige auf, dass keiner dieser Vorschläge eine befriedigende Rekonstruktion von Leibniz’ Theorie der Kompossibilität darstellt. Daran anschließend entwickle ich meine eigene Interpretation. Zunächst zeige

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4 Leibniz’ Theorie der Kompossibilität

ich, dass es im Prinzip in Gottes Allmacht steht, Substanzen gleichsam aus ihren Welten herauszulösen und sie isoliert oder in Kombination mit anderen Substanzen zu erschaffen (Abschnitt 4.6). Damit ist der Unabhängigkeit von Substanzen Rechnung getragen. In diesen Fällen würde Gott allerdings keine Welten erschaffen, sondern lediglich chaotische Ansammlungen von Substanzen. Auf diesen Überlegungen aufbauend erläutere ich, wie Leibniz Kompossibilität und Inkompossibilität versteht (Abschnitt 4.7). Dabei ist zentral, dass der Begriff der möglichen Welt dazu dient, den Begriff der Kompossibilität zu explizieren und nicht umgekehrt, wie häufig angenommen wird. Anschließend weise ich darauf hin, dass meine Interpretation zur Folge hat, dass Leibniz keinesfalls als ein früher Vertreter der Mögliche-Welten-Semantik gelesen werden sollte (Abschnitt 4.8). Schließlich gehe ich auf die Frage ein, ob meine Interpretation tatsächlich ein Kollabieren von Leibniz’ Theorie in den Spinozismus vermeiden kann (Abschnitt 4.9). Das Kapitel schließt mit einem Fazit (Abschnitt 4.10).

4.2 Das Problem der (In)Kompossibilität In diesem Abschnitt werde ich genauer erläutern, was das Problem der Kompossibilität (bzw. der Inkompossibilität) ist und wie es entsteht. Dabei werde ich auch einige metaphysische Annahmen, die dem Problem zugrunde liegen, näher betrachten. Am einfachsten lässt sich das Problem als Dilemma darstellen, das sich – zumindest auf den ersten Blick – aus (i) der These, dass Substanzen unabhängige Entitäten sind, und (ii) der These, dass nicht alle möglichen Substanzen miteinander kompossibel sind, ergibt.¹ Ich erläutere nun zunächst, wie diese beiden Thesen zu verstehen sind und erkläre anschließend, wieso sie, zumindest prima facie, in Konflikt stehen. (i) Unabhängigkeitsthese: Dass Substanzen unabhängige Entitäten sind, ist eine philosophische These mit einer langen Tradition, der Leibniz allerdings eine besondere Wendung gibt. Für Aristoteles sind Substanzen diejenigen Entitäten, die, anders als Akzidenzien, nicht in etwas anderem inhärieren – in diesem Sinne sind sie unabhängig. Das bedeutet aber natürlich nicht, dass aristotelische Substanzen z. B. auch kausal voneinander unabhängig sind. Unterschiedliche Substanzen wirken aufeinander ein, und durch kausale Prozesse können Substanzen entstehen und vergehen. Bei Leibniz ist dies anders. Für ihn ist eine Substanz

 Alternativ kann man das Problem der Kompossibilität auch als Trilemma einführen (siehe hierfür v. a. McDonough , S.  – ). Ich glaube, dass sich das von mir vorgestellte Dilemma problemlos in McDonoughs Trilemma übersetzen lässt und umgekehrt.

4.2 Das Problem der (In)Kompossibilität

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vollkommen unabhängig von allen anderen Entitäten außer Gott. Im Discours hält er fest, „dass jede Substanz gleichsam eine Welt für sich (comme un monde à part) ist, die von jeder anderen Sache mit Ausnahme Gottes unabhängig ist.“² Damit meint Leibniz einerseits, dass Substanzen kausal voneinander unabhängig sind. Keine geschaffene Substanz wirkt jemals auf eine andere Substanz ein. Jede Substanz bringt ihre Perzeptionen aus sich selbst hervor, ohne dass dafür eine Einwirkung einer anderen Substanz nötig wäre. Aber Substanzen sind nicht nur kausal, sondern darüber hinaus auch metaphysisch voneinander unabhängig. In der Verteidigung seines Neuen Systems gegen Bayles Einwände erklärt Leibniz: „Gott konnte jeder Substanz ihre Erscheinungen (ses phenomenes) unabhängig von denen der anderen geben […].“³ Gott hätte also jede Substanz vollkommen unabhängig davon erschaffen können, was er sonst geschaffen oder nicht geschaffen hat. Die Existenz einer Substanz ist also unabhängig von der Existenz oder Nicht-Existenz anderer Substanzen. Warum vertritt Leibniz eine solch extreme und kontraintuitive metaphysische These? Warum leugnet er das scheinbar so offensichtliche Faktum, dass die Dinge in der Welt permanent aufeinander einwirken und sowohl kausal als auch metaphysisch voneinander abhängig sind? Grund dafür ist Leibniz’ Theorie der vollständigen Begriffe. Die Essenz bzw. Natur einer Substanz enthält bereits alles, was dieser Substanz jemals zustoßen wird (also alle Modifikationen, die diese Substanz jemals hervorbringen wird). Um zu erklären, dass eine Substanz S zu einem Zeitpunkt t auf eine bestimmte Weise modifiziert ist, nimmt man also ausschließlich auf die Essenz von S Bezug. Daraus folgt, dass Substanzen metaphysisch unabhängige Entitäten sind.⁴ Weil alle Modifikationen oder Eigenschaften einer Substanz allein aus der Natur dieser Substanz folgen, hängt die Substanz in keiner Weise von anderen Dingen bzw. von anderen Essenzen ab.⁵ (ii) Inkompossibilitätsthese: Schon sehr früh in seiner philosophischen Laufbahn geht Leibniz davon aus, das nicht alles Mögliche auch kompossibel miteinander ist – zumindest einige mögliche Substanzen müssen also inkompossibel miteinander sein, d. h. sie können nicht gemeinsam existieren. Bereits  DM §/Holz Bd. , . „[…] que chaque substance est comme un monde à part, independant de tout autre chose hors de Dieu.“  G IV, /Holz Bd. , .  Genau genommen folgt dies allerdings nur, wenn man auch Leibniz’ These hinzunimmt, dass relationale Prädikate sich letztlich auf monadische Prädikate reduzieren lassen (siehe Abschnitt .). Andernfalls könnte es sein, dass die vollständigen Individualbegriffe relationale Begriffe beinhalten, die die Existenz anderer Dinge voraussetzen, damit sie erfüllt sind (für diesen Hinweis danke ich Christian Barth).  Damit eng zusammen hängt natürlich Leibniz’ Superessentialismus. Weil alle Eigenschaften einer Substanz aus ihrer Essenz folgen, sind auch alle Eigenschaften essentielle Eigenschaften.

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4 Leibniz’ Theorie der Kompossibilität

in De Summa Rerum hält Leibniz fest, „dass nicht alle Dinge, die per se möglich sind, mit den übrigen Dingen zusammen existieren können.“⁶ Diese These vertritt Leibniz bis zum Ende seines Lebens, wie ein Brief an Bourget aus dem Jahre 1714 zeigt, wo Leibniz schreibt, dass „nicht alle möglichen Dinge kompossibel sind.“⁷ Und in De Contingentia (also in seiner mittleren Schaffensperiode) illustriert Leibniz den Punkt wie folgt: „Vielmehr scheint es nicht geschehen zu können, dass alles Mögliche existiert, weil es sich gegenseitig hindern würde.“⁸ Warum vertritt Leibniz die Inkompossibilitätsthese? Grund dafür sind zwei grundsätzliche Annahmen, von denen Leibniz seit spätestens Mitte der 1670er Jahre ausgeht. Erstens glaubt er, dass es nicht-aktualisierte possibilia geben muss. Dies ist bereits mehrfach deutlich geworden. Zur Erinnerung sei an folgende Bemerkung aus De Contingentia erinnert: Man muss sicherlich davon ausgehen, dass nicht alle möglichen Dinge (possibilia) Existenz erlangen. Andernfalls könnte man sich keinen Roman ausdenken, der nicht an irgendeinem Ort und zu irgendeiner Zeit existieren würde.⁹

Gott erschafft also nicht alles, was per se möglich ist. Dabei ist daran zu erinnern, dass keine der nicht-realisierten Essenzen in Gottes Intellekt intern widersprüchlich ist: „Gott wählt zwischen den Möglichkeiten (les possibles), d. h. zwischen mehreren Wegen, von denen keiner einen Widerspruch einschließt.“¹⁰ Damit unterscheidet sich Leibniz’ Ansatz deutlich von Spinozas. Gott wählt zwischen verschiedenen, an sich möglichen Welten aus. Es existiert also nur eine von unendlich vielen möglichen Welten. Die zweite Grundannahme, von der Leibniz ausgeht, könnte man als Maximierungsthese bezeichnen. Leibniz behauptet in allen Phasen seines Schaffens, dass Gott zum Ziel hat, so viel wie möglich zu erschaffen; es soll also so viel wie möglich existieren. Besonders deutlich verleiht er dieser These in De Summa Rerum und etwas später in einem Brief an Malebranche Ausdruck:

 AA ., : „[…] non omnia possibilia per se existere posse cum caeteris […].“  G III, .  AA .,  (meine Hervorhebung): „Imo non videtur fieri posse, ut omnia possibilia existant, quia se mutuo impediunt.“ Manchmal spricht Leibniz auch von (In)Kompatibilität anstatt von (In) Kompossibilität: „Da aber einige Dinge mit einigen anderen Dingen inkompatibel sind, folgt, dass einige mögliche Dinge keine Existenz erlangen.“ (G VII, : „Sed quia alia aliis incompatibilia sunt, sequitur quaedam possibilia non pervenire ad existendum.“).  AA ., : „Pro certo habendum est non omnia possibilia ad existentiam pervenire; alioqui nullus fingi posset Romaniscus qui non alicubi aut aliquando existeret.“  G VII, .

4.2 Das Problem der (In)Kompossibilität

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Nach ausführlicher Abwägung nehme ich als Prinzip der Harmonie der Dinge an, dass die größtmögliche Menge an Essenz, die existieren kann, existiert. Daraus folgt, dass es einen größeren Grund gibt, zu existieren als nicht zu existieren.¹¹ Es muss auch gesagt werden, dass Gott so viele Dinge macht wie er kann […].¹²

Die Ausdrucksweise im ersten Zitat ist zweifellos etwas ungewöhnlich. Was heißt es, dass etwas eine größere oder kleinere Menge an Essenz hat? Offenbar meint Leibniz hier mit „Essenz“ nicht eine mögliche individuelle Substanz oder einen vollständigen Begriff.¹³ Dann würde die Redeweise von „Menge an Essenz“ nicht viel Sinn ergeben.Wenn man jedoch bedenkt, dass Leibniz den Ausdruck „Essenz“ häufig auch synonym mit „Sein“ (Ens), „Realität“ oder „Perfektion“ verwendet, wird die Sache klarer.¹⁴ Ein Engel ist z. B. perfekter als ein Regenwurm und hat deshalb auch mehr „Realität“ oder „Essenz“ als dieser. Dies liegt daran, dass die Perzeptionen des Engels viel distinkter sind als die Perzeptionen des Regenwurms.¹⁵ Während die Perzeptionen des Regenwurms größtenteils recht verworren sind, hat der Engel klares und deutliches Wissen von sehr vielen Dingen (als erschaffene Substanzen sind allerdings auch Engel nicht allwissend). Gottes Ziel ist also, die größtmögliche Menge an Essenz zu erschaffen. Daraus scheint unmittelbar zu folgen, dass so viele Substanzen wie möglich existieren, die so perfekt wie möglich sind. Es geht also nicht nur um die Anzahl der Substanzen, sondern auch um deren Qualität. Zehn superintelligente Engel sind vermutlich besser als elf Regenwürmer, obwohl es damit eine Substanz weniger gäbe. Warum vertritt Leibniz die Maximierungsthese? Aus heutiger Perspektive handelt es sich um eine verblüffende Behauptung. Für einen Denker des 17. Jahrhunderts ist sie aber keineswegs ungewöhnlich. Wie viele seiner Zeitgenossen teilt auch Leibniz die traditionelle Auffassung, dass Sein immer gut ist (und

 AA ., : „Recte expensis rebus, pro principio statuo, Harmoniam rerum, id est ut quantum plurimum essentiae potest existât. Sequitur plus rationis esse ad existendum, quam ad non existendum.“  G I, : „Il faut dire aussi que Dieu fait le plus de choses qu’il peut […].“  Diese Verwendung von ‚Essenz‘ ist uns aus den beiden letzten Kapiteln bekannt – z. B. wenn Leibniz in der Monadologie (§) von den „Essenzen oder Möglichkeiten“ („les Essences ou possibilités“) in Gottes Intellekt spricht.  In De libertate et necessitate hält Leibniz z. B. fest, dass alles, was möglich ist, „Essenz oder Realität“ hat (AA ., ). In C  heißt es: „Perfektion ist nichts anderes als die Menge an Realität (quantitas realitatis).“ Und in De rerum originatione radicali schreibt Leibniz: „Perfektion ist nämlich nichts anderes als die Menge an Essenz (essentiae quantitas)“ (G VII, ). Für weitere Stellen, siehe AA ., ; AA ., ; AA ., . Für eine gute Diskussion der Terminologie, siehe Griffin , S.  – .  Siehe PNG §/G VI, . Ich komme auf diesen Punkt in Abschnitt . zurück.

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4 Leibniz’ Theorie der Kompossibilität

dementsprechend Nicht-Sein und Limitation immer schlecht sind). Tatsächlich sind gemäß dieser These „Seiendes“ (ens) und „Gutes“ (bonum) lediglich unterschiedliche Weisen, auf ein und dasselbe Bezug zu nehmen.¹⁶ Kombiniert man diese These mit der Allgüte und der Allmacht Gottes, erhält man die Maximierungsthese: Da Gott allgütig und allmächtig ist, und weil die Welt umso besser ist je mehr Sein sie enthält, erschafft Gott so viel wie er kann. Leibniz nimmt also sowohl an, dass es nicht-aktualisierte possibilia gibt, als auch, dass Gott das Sein oder die Essenz im Universum maximiert. Daraus folgt offenbar, dass nicht alle möglichen Dinge miteinander kompossibel sein können – die Inkompossibilitätsthese. Denn wenn Gott so viel erschafft, wie er kann, er aber dennoch nicht alles erschafft, dann kann dies nur daran liegen, dass einige Substanzen nicht gemeinsam erschaffen werden können. Es ist deutlich geworden, dass Leibniz seit Ende der 1670er Jahre sowohl die Unabhängigkeitsthese als auch die Inkompossibilitätsthese vertritt und dass beide Thesen eng mit dem metaphysischen Rahmen, von dem Leibniz ausgeht, verknüpft sind. Allerdings ist schwer zu sehen, wie die beiden Thesen miteinander zu vereinbaren sind. Wie können Substanzen einerseits voneinander unabhängig sein, andererseits aber einander gleichsam blockieren? Genauer gesagt scheint sich folgendes Dilemma zu ergeben: Wenn die Tatsache, dass eine Substanz S1 existiert, unabhängig davon ist, ob eine Substanz S2 existiert oder nicht existiert, wie ist es dann jemals möglich, dass S1 inkompossibel mit S2 ist? Wie können sich, angesichts der Unabhängigkeitsthese, zwei Substanzen ‚gegenseitig behindern‘? Die Herausforderung besteht also darin, einen gehaltvollen, nicht-trivialen Begriff der Kompossibilität zu entwickeln, der nicht die Unabhängigkeitsthese verletzt. Dabei darf das Ergebnis natürlich nicht sein, dass alles mit allem kompossibel ist. Dann wäre zwar die Unabhängigkeit von Substanzen garantiert, aber es gäbe keine nicht-aktualisierten possibilia. Dass Leibniz sich der Schwierigkeiten, einen gehaltvollen Begriff der Kompossibilität zu entwickeln, vollkommen bewusst war, zeigt eine Notiz aus dem Jahre 1680: Es ist den Menschen aber immer noch unbekannt, woher die Inkompossibilität unterschiedlicher Dinge herrührt, oder wie es geschehen kann, dass unterschiedliche Essenzen einander entgegengesetzt sind.¹⁷

 So sagt z. B. Thomas in ST I, q. : „Respondeo dicendum quod bonum et ens sunt idem secundum rem, sed differunt secundum rationem tantum.“  G VII, : „Illud tamen adhuc hominibus ignotum est, unde oriatur incompossibilitas diversorum, seu qui fieri possit ut diversae essentiae invicem pungent.“

4.2 Das Problem der (In)Kompossibilität

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Obwohl sich Leibniz also darüber im Klaren war, dass er eine Erklärung des Begriffs der Kompossibilität schuldig ist, hat er zu diesem Zeitpunkt offenbar noch keine entsprechende Theorie anzubieten. Auch in späteren Schriften formuliert er eine solche Theorie niemals explizit. Die interpretatorische Aufhabe besteht also darin, herauszufinden, ob sich eine konsistente Konzeption der Kompossibilität aus Leibniz’ Texten rekonstruieren lässt. Bevor ich auf unterschiedliche Interpretationsvorschläge zur Lösung des Problems der Kompossibilität eingehe, sind noch zwei Vorbemerkungen nötig. Die erste betrifft den genauen Skopus der Frage nach der Kompossibilität. Es geht dabei nicht, wie man vielleicht auf den ersten Blick vermuten könnte, wortwörtlich um die Frage, welche Essenzen in Gottes Intellekt miteinander koexistieren können. Da Gott diese Essenzen ja alle zugleich denkt, ist die Antwort auf diese Frage natürlich, dass alle Essenzen zugleich existieren können. Bei der Frage nach der Kompossibilität geht es also vielmehr darum, was Gott gemeinsam erschaffen kann. Wenn zwei mögliche Substanzen miteinander inkompossibel sind, dann kann Gott also die Ideen dieser Substanzen zwar sehr wohl beide in seinem Geist haben. Er kann sie jedoch nicht gemeinsam erschaffen. Sind zwei Substanzen nicht miteinander kompossibel, können sie also nicht koexistieren (obwohl natürlich die entsprechenden Ideen oder Essenzen in Gottes Geist koexistieren können). Dennoch werde ich im Folgenden, wie Leibniz selbst, häufig von der Kompossibilität oder Inkompossibilität von möglichen Substanzen, Essenzen oder possibilia sprechen. Ist dies streng genommen nicht paradox? Nein; auf jeden Fall nicht, solange man bedenkt, wie diese Redeweise zu verstehen ist. Die Tatsache, dass Gott bestimmte Substanzen gemeinsam erschaffen kann und andere nicht, ist natürlich in der Beschaffenheit der Ideen in seinem Intellekt, die diese Substanzen repräsentieren, begründet. Gott hat zwar die Ideen inkompossibler Substanzen zugleich in seinem Geist. Wie wir sehen werden, kann er sie jedoch nicht als Teil ein und desselben Systems denken, und dieser Umstand ist für deren Inkompossibilität verantwortlich. Bei einer Diskussion der Kompossibilität ist es also unvermeidlich, auf die possibilia in Gottes Intellekt einzugehen, auch wenn diese als possibilia (also als Ideen in Gottes Intellekt betrachtet) betrachtet natürlich alle miteinander koexistieren können. Die zweite Vorbemerkung betrifft den Nezessitarismus. Normalerweise wird das Problem der Kompossibilität bei Leibniz vor dem Hintergrund des Nezessitarismus diskutiert.¹⁸ Darauf habe ich hier bewusst verzichtet. Das Problem der Kompossibilität hängt zwar mit der Frage, ob Leibniz Nezessitarist war, zusam-

 Siehe z. B. Messina & Rutherford , S. .

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4 Leibniz’ Theorie der Kompossibilität

men; dieser Zusammenhang ist aber nur indirekt. In erster Linie braucht Leibniz einen gehaltvollen Begriff der Kompossibilität, um seinen rationalistischen Theismus zu sichern. Gott muss eine Auswahl zwischen verschiedenen möglichen Welten haben, damit er aus Gründen handeln kann. Dies ist nur gewährleistet, wenn nicht alle Dinge miteinander kompossibel sind. Erst im Anschluss stellt sich die Frage, ob der rationalistische Theismus Leibniz auch auf eine Form des Nezessitarismus verpflichtet. Aber selbst wenn man davon ausgeht, dass Leibniz tatsächlich auf den Nezessitarismus festgelegt ist,¹⁹ ändert dies nichts an der Tatsache, dass er eine Theorie der Kompossibilität für seinen rationalistischen Theismus benötigt – ganz unabhängig davon, ob man Leibniz als eine Art Nezessitarist liest oder nicht.²⁰ Aus diesem Grund halte ich es für besser, die Frage nach dem Nezessitarismus genau von der Frage nach der Kompossibilität zu trennen. Darüber darf man natürlich nicht den engen Zusammenhang, der zwischen den beiden Fragen besteht, übersehen. Eine fundierte Theorie der Kompossibilität ist sehr wohl eine notwendige Bedingung dafür, den Nezessitarismus zu vermeiden, wenn auch keine hinreichende. Im nächsten Kapitel werde ich auf das Problem des Nezessitarismus zurückkommen.

4.3 Kompossibilität als logische Konsistenz Was meint Leibniz, wenn er sagt, dass zwei oder mehr Substanzen kompossibel bzw. inkompossibel miteinander sind? In diesem und den beiden folgenden Abschnitten werde ich drei unterschiedliche Antworten auf diese Frage diskutieren: (i) die logische Interpretation, (ii) die Gesetzesinterpretation und (iii) eine kürzlich von Jeffrey McDonough vorgeschlagene Interpretation.²¹ Jeder dieser Vorschläge betont wichtige Aspekte von Leibniz’ Theorie. Allerdings glaube ich, dass alle drei Interpretationen sowohl mit exegetischen als auch mit systematischen Problemen konfrontiert sind. Keiner der Vorschläge lässt sich vollständig mit dem metaphysischen Rahmen, den Leibniz voraussetzt, in Einklang bringen.  Diese Auffassung vertritt etwa Griffin .  Wie ich am Ende des zweiten Kapitels deutlich gemacht habe, schreibt auch eine nezessitaristische Lesart Leibniz nicht automatisch eine spinozistische Position zu. Leibniz und Spinoza würden sich immer noch darin unterscheiden, welche Art von Notwendigkeit sie annehmen. Auch einer nezessitaristischen Interpretation zufolge handelt Leibniz’ Gott aus rationaler Überlegung heraus.  Die Ausdrücke „logische Interpretation“ („logical interpretation“) und „Gesetzesinterpretation“ („lawful interpretation“) gehen zurück auf Wilson , S. . Einige Kommentatoren sprechen stattdessen von „analytischer“ und „synthetischer“ Interpretation (so zuerst D’Agostino ).

4.3 Kompossibilität als logische Konsistenz

171

Die auf den ersten Blick wohl naheliegendste Lesart ist die logische Interpretation. In einer Notiz, die um das Jahr 1690 entstanden ist, definiert Leibniz Kompossibilität wie folgt: „Kompossibel: das, was keinen Widerspruch mit etwas anderem [cum alio] einschließt.“²² Diese und ähnliche Textstellen haben einige Kommentatoren vermuten lassen, dass Leibniz unter Kompossibilität (wie unter per se Möglichkeit) nichts anderes als logische Konsistenz versteht. Demnach wären zwei oder mehr Substanzen genau dann miteinander kompossibel, wenn sich aus ihrer Koexistenz kein logischer Widerspruch ergibt. Umgekehrt wären zwei oder mehr Substanzen genau dann miteinander inkompossibel, wenn ihre Koexistenz zu einem logischen Widerspruch führen würde. Eine solche Interpretation wird unter anderem von Nicholas Rescher und Benson Mates vertreten.²³ Beide heben zu Recht hervor, dass Leibniz’sche Substanzen an ihre Welten gebunden sind und nur Mitglied einer einzigen möglichen Welt sein können. Wie wir im letzten Kapitel gesehen haben, betont Leibniz, dass in allen möglichen Welten eine „enge Verbindung“ zwischen den Substanzen besteht.²⁴ Diese Verbindung ist in der Tat so eng, „dass jede einzelne Substanz das ganze Universum auf ihre Weise ausdrückt, und dass in ihrem Begriffe alle Ereignisse mit allen ihren Umständen und die ganze Folge der äußeren Dinge enthalten ist.“²⁵ Es besteht also eine begriffliche Verbindung zwischen dem Begriff einer individuellen Substanz einerseits und dem Begriff der möglichen Welt, in der diese Substanz vorkommt, andererseits. Im letzten Kapitel habe ich vorgeschlagen, dass dies so zu verstehen ist, dass jeder Begriff einer individuellen Substanz sowohl die Gesetze der möglichen Welt enthält, von der diese Substanz ein Teil ist, als auch die Begriffe der anderen Substanzen, die mit ihr gemeinsam eine Welt bilden. Vor diesem Hintergrund ist verständlich, dass viele Kommentatoren davon ausgehen, dass keine Substanz von ihrer Welt getrennt werden kann. Dahinter steht folgende Überlegung: Da jede mögliche Substanz in jeder möglichen Welt

 AA ., : „C o m p o s s i b i l e quod cum alio non implicat contradictionem.“ Eine ähnlich Passage findet sich in AA ., : „Incomponibile est A ipsi B, si posita propositione A existit, sequitur B non existit. Et eo casu etiam B incomponibile est ipsi A.“ Hier ist allerdings nicht vollkommen klar, ob ‚sequitur‘ wirklich in einem rein logischen Sinn zu verstehen ist.  Siehe z. B. Mates , S.  –  und Rescher , S.  – . Mates , S.  schreibt etwa: „A pair of individual concepts, A and B, are compossible if no contradiction follows from the supposition that there are corresponding individuals for both of them.“  Dies wird besonders in Theodizee § deutlich.  DM §/Holz Bd. ,  (Übersetzung leicht geändert): „Que chaque substance singuliere exprime tout l’univers à sa manière, et que dans sa notion tous ses evenemens sont compris avec toutes leurs circomstances et toute la suite des choses exterieurs.“

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4 Leibniz’ Theorie der Kompossibilität

begrifflich mit ihrer Welt und den in ihr vorkommenden Substanzen verbunden ist, scheint es, dass selbst Gott Substanzen nicht getrennt von ihren Welten erschaffen kann.Vertreter der logischen Interpretation argumentieren daher, dass es schlicht unmöglich ist, dass eine Substanz ohne die Dinge, auf die ihr Begriff verweist, existiert. Und ihnen zufolge ist es natürlich genauso unmöglich, dass eine Substanz mit anderen Substanzen, die nicht in ihrem Begriff enthalten sind, zusammen existiert.²⁶ Die Relationen der Kompossibilität und Inkompossibilität sind der logischen Interpretation zufolge also rein begriffliche bzw. logische Relationen. Es steht demnach noch nicht einmal in Gottes Allmacht, inkompossible Substanzen gemeinsam zu erschaffen. Obwohl diese Überlegung auf den ersten Blick sehr plausibel wirkt, ist die logische Interpretation ganz offensichtlich mit einem schwerwiegenden Problem konfrontiert. Sie steht in unmittelbarem Widerspruch zur Unabhängigkeitsthese. Wenn es logisch unmöglich ist, eine Substanz von ihrer Welt zu trennen und sie isoliert zu erschaffen, dann hängt diese Substanz metaphysisch von anderen Substanzen ab. Einige Interpreten sind in der Tat bereit, dieses Resultat in Kauf zu nehmen. So schreibt etwa Mates: „Leibniz gave up the traditional conception of substance.“²⁷ Und weiter: „[W]ith his doctrine of the ‘universal interconnection of things’, he cannot accept this traditional conception completely.“²⁸ Eine solche Interpretation, die de facto einer Aufgabe der Unabhängigkeitsthese gleichkommt, kann jedoch nicht überzeugen. In seiner Korrespondenz mit Des Bosses macht Leibniz unmissverständlich klar, dass es durchaus in Gottes Allmacht steht, eine Substanz isoliert zu erschaffen, ohne die gesamte mögliche Welt zu erschaffen, von der die Substanz ein Bestandteil ist. Des Bosses äußert, genau wie viele Kommentatoren heute, die Sorge, dass die enge Verbindung zwischen den Substanzen der Unabhängigkeitsthese widerspricht. Er wendet ein, dass „Gott deshalb keine der nun existierenden Monaden erschaffen konnte ohne alle anderen einzurichten.“²⁹ Darauf entgegnet Leibniz:

 So z. B. Rescher , S.  – : „No substance can – even in hypothesis – be pried loose from its world-environment and transposed into some other possible world.“  Mates , S. .  Mates , S. . Ganz ähnlich schreiben Koistinen & Repo , S.  zu den Passagen, wo Leibniz sagt, dass Gott jede Substanz als eine „Welt für sich“ erschaffen könnte, dass es zweifelhaft sei, dass Leibniz damit eine echte Möglichkeit meint.  G II, : „[…] non potuit ergo Deus ullam ex his quae nunc existunt Monadibus creare, quin alias omnes conderet.“

4.3 Kompossibilität als logische Konsistenz

173

Die Antwort darauf ist leicht, und sie ist bereits gegeben worden. Er [Gott] konnte es absolut tun, er konnte es jedoch nicht hypothetischerweise tun, weil er entschieden hat, alle Dinge auf die weiseste und harmonischste Weise zustande zu bringen.³⁰

Trotz der engen Verbindung zwischen den Substanzen steht es also in Gottes Allmacht, jede beliebige Substanz isoliert zu erschaffen. Leibniz lässt damit keinen Zweifel daran, dass er die Unabhängigkeit von Substanzen sehr ernst nimmt. Dass Substanzen unabhängig voneinander sind, heißt für ihn nicht nur, dass sie nicht kausal aufeinander einwirken. Es bedeutet auch, dass wenigstens prinzipiell jede mögliche Substanz allein existieren kann (d. h. natürlich allein mit Gott, der ja notwendigerweise existiert), ohne dass dafür die Existenz oder Nicht-Existenz anderer geschaffener Substanzen nötig wäre. In seinem Brief an Des Bosses macht Leibniz deutlich, dass Gottes Dekrete (d. h. sein Wille) dafür verantwortlich sind, dass er keine isolierten Substanzen erschaffen hat. Was Gott tun kann bzw. nicht tun kann, wird aber durch seinen Intellekt und nicht durch seinen Willen festgelegt. Wir können also festhalten, dass Leibniz der Auffassung ist, dass Gott im Prinzip Substanzen getrennt von den möglichen Welten, in die sie normalerweise eingebettet sind, erschaffen kann. Daraus folgt, dass sich die logische Interpretation nicht mit der Unabhängigkeitsthese vereinbaren lässt. Da Substanzen metaphysisch unabhängige Entitäten sind, können die Relationen der Kompossibilität und Inkompossibilität keine logischen Relationen sein. Kompossibilität kann also nicht als ein Spezialfall logischer Konsistenz aufgefasst werden. Diese Spannung zwischen logischer Interpretation und der Unabhängigkeit von Substanzen wurde in jüngster Zeit häufig betont.³¹ Über dieser Kritik sollten wir jedoch nicht vergessen, dass die logische Interpretation eine Reihe von Vorteilen aufweist. Erstens hat sie eine klare Antwort auf die Frage, wie Leibniz dem gefürchteten spinozistischen Szenario, in dem alles Mögliche wirklich ist, entkommen kann. Dieses Szenario ist einfach deshalb ausgeschlossen, weil die Existenz aller möglichen Dinge zu einem Widerspruch führen würde. Zweitens kann die logische Interpretation diejenigen Textstellen erklären, wo Leibniz Kompossibilität tatsächlich als Widerspruchsfreiheit zu definieren scheint. Andere Interpretationen müssen eine alternative Deutung dieser Textstellen anbieten. Drittens betonen die Vertreter der logischen Interpretation zu Recht, dass in Leibniz’ möglichen Welten eine enge Verbindung zwischen den einzelnen möglichen Substanzen besteht. Es handelt sich dabei um begriffliche Verbindungen und deshalb sind Leibniz’sche Substanzen an ihre

 G II, : „Responsio est facilis et dudum data. Potuit absolute, non potuit hypothetice, ex quo decrevit omnia sapientissime agere et harmonikotatos.“  Siehe z. B. Messina & Rutherford , S.  und McDonough , S.  – .

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4 Leibniz’ Theorie der Kompossibilität

Welten gebunden. Daraus scheint tatsächlich zu folgen, dass Substanzen nur im Kontext ihrer Welten existieren können. Der letzte Punkt ist besonders knifflig. Einerseits scheint aus der Weltgebundenheit möglicher Substanzen zwingend zu folgen, dass Substanzen nur gemeinsam mit den anderen Substanzen ihrer möglichen Welt existieren können – so wie die Vertreter der logischen Interpretation behaupten. Und dafür gibt es prima facie auch einen sehr guten Grund. Schließlich enthält ja der Begriff einer individuellen Substanz die anderen Dinge der möglichen Welt, zu der die Substanz gehört (wie insbesondere in Leibniz’ Briefwechseln mit Arnauld und De Volder deutlich wird). Andererseits macht Leibniz unmissverständlich deutlich, dass Gott jede Substanz zumindest im Prinzip auch getrennt von ihrer Welt erschaffen kann. Damit scheint er der Weltgebundenheit von Substanzen direkt zu widersprechen. Wie können Substanzen zugleich weltgebundene und unabhängige Entitäten sein? Ob, und wenn wie, sich dieser scheinbare Widerspruch auflösen lässt, werde ich weiter unten (in den Abschnitten 4.6 und 4.7) klären. Zunächst müssen wir uns aber zwei anderen Versuchen, Leibniz’ Begriff der Kompossibilität zu erhellen, zuwenden.

4.4 Kompossibilität als Übereinstimmung mit Gesetzen Die der logischen Interpretation traditionell entgegengesetzte Lesart ist die sogenannte Gesetzesinterpretation (lawful interpretation). Eine Variante dieser Interpretation wurde Anfang des 20. Jahrhunderts bereits von Bertrand Russell vertreten: And without the need for some general laws, any two possibles would be compossible, since they cannot contradict one another. Possibles cease to be compossible only when there is no general law whatever to which both conform.³²

Der klassischen Gesetzesinterpretation zufolge erklärt also nicht logische Konsistenz oder Inkonsistenz das Bestehen von Kompossibilitäts- und Inkompossibilitätsrelationen. Stattdessen wird der Begriff der Kompossibilität mithilfe des Begriffs des Gesetzes definiert. Diesem Vorschlag zufolge sind zwei oder mehr Substanzen genau dann miteinander kompossibel, wenn sie unter ein und demselben Gesetz stehen können – wenn sich die Substanzen also als Teil eines Systems begreifen lassen, das durch bestimmte Gesetze charakterisiert ist. Ian Hacking, ein Vertreter dieser Interpretation, schreibt: „Compossibility is a more  Russell , S. .

4.4 Kompossibilität als Übereinstimmung mit Gesetzen

175

demanding relation than mere consistency. […] Compossibility must be something like consistency under general laws of nature.“³³ Und ganz ähnlich äußern sich Cover & Hawthorne: „[I]ncompossibility claims are only ever true in relation to a certain set of presumed particular lawful decrees.“³⁴ Anders als die logische Interpretation legt die Gesetzesinterpretation viel Gewicht auf die Unabhängigkeitsthese. Üblicherweise heben die Vertreter dieser Lesart hervor, dass Leibniz’ Gott jede Substanz auch isoliert von ihrer Welt – als eine ‚Welt für sich‘ – hätte erschaffen können. Sie legen also besonderes Augenmerk auf genau diejenigen Passagen, die im letzten Abschnitt gegen die logische Interpretation geltend gemacht wurden. Cover & Hawthorne – charakteristische Vertreter der Gesetzesinterpretation – ziehen aus der Tatsache, dass Substanzen für Leibniz unabhängige Entitäten sind, den Schluss, dass Gott alle Substanzen in einer möglichen Welt kombinieren kann und diese Welt erschaffen kann.³⁵ In diesem Sinne sind Cover & Hawthorne zufolge alle möglichen Substanzen miteinander kompossibel.³⁶ Die Tatsache, dass Leibniz dennoch häufig davon spricht, dass bestimmte Substanzen inkompossibel miteinander sind, erklären sie damit, dass sich nicht alle Substanzen unter bestimmten Gesetzen in einer Welt vereinigen lassen: „[I]ncompossibility claims are, in effect, claims of hypothetical impossibility – on the hypothesis of a certain set of lawful decrees (where typically the actual decrees are the ones in view) – rather than claims of impossibility per se.“³⁷ Demnach lassen sich substanzielle Kompossibilitätsaussagen nur dann treffen, wenn bestimmte von Gott erlassene Dekrete bzw. Gesetze berücksichtigt werden. Kompossibilitätsaussagen können also nur relativ zu solchen Gesetzen sinnvoll evaluiert werden. Obwohl die Gesetzesinterpretation problemlos der Unabhängigkeitsthese gerecht wird, ist zumindest die (von Russell, Hacking und Cover & Hawthorne vertretene) klassische Variante der Gesetzesinterpretation mit einer ganzen Reihe von Problemen konfrontiert. Es lassen sich mindestens drei Punkte ausmachen, die gegen diese Lesart sprechen. Erstens setzt sie eine humeanische Konzeption möglicher Welten voraus. Cover & Hawthorne etwa gehen davon aus, dass mögliche Substanzen frei miteinander kombinierbar sind und dass jede dieser Kombinationen einer möglichen Welt entspricht.Wie wir aber bereits im letzten Kapitel gesehen haben, ist dies nicht Leibniz’ Bild. Für ihn gibt es keine ‚Superwelt‘, in der

    

Hacking , S.  (meine Hervorhebung). Cover & Hawthorne , S. . Vgl. Cover & Hawthorne , S. . Vgl. Cover & Hawthorne , S. . Cover & Hawthorne , S. .

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4 Leibniz’ Theorie der Kompossibilität

alle möglichen Substanzen zusammengefasst sind. Nicht jede Menge möglicher Substanzen ergibt auch eine mögliche Welt. Dies würde der These der Weltgebundenheit Leibniz’scher Substanzen widersprechen.³⁸ Ferner hat Cover & Hawthornes Ansatz zur Folge, dass dieselben Substanzen unter unterschiedlichen Gesetzen stehen können. Dies ist aber nicht mit Leibniz’ rationalistischer Gesetzesauffassung vereinbar. Im letzten Kapitel ist deutlich geworden, dass Substanzen nicht neutral gegenüber den Gesetzen sind, die für sie gelten. Da diese Gesetze in die Naturen der Substanzen integriert sind, ist jede Substanz vermöge ihrer intrinsischen Natur auf bestimmte Gesetze festgelegt. Zweitens ist nicht klar, wie die Gesetzesinterpretation die Gefahr des Spinozismus bannen kann. Wenn die Existenz aller möglichen Substanzen keinen logischen Widerspruch darstellt, warum erschafft Gott sie dann nicht alle? Schließlich hat er zum Ziel, so viel wie möglich zu erschaffen. Die Gesetzesinterpretation scheint also in Konflikt zur Maximierungsthese zu stehen. Wenn Gott alle Substanzen auf einmal erschaffen kann, warum tut er es dann nicht? Drittens wird häufig eingewendet, dass die Gesetzesinterpretation keinen gehaltvollen Begriff der Kompossibilität gewährleisten kann.³⁹ In §6 des Discours schreibt Leibniz „[d]ass Gott nichts außer der Ordnung tut, und dass es nicht einmal möglich ist, Ereignisse zu ersinnen, die nicht der Regel gemäß sind.“⁴⁰ Er illustriert dies mit folgendem Beispiel: Denn nehmen wir zum Beispiel an, dass jemand ganz zufällig eine Anzahl Punkte zu Papier brächte, wie es diejenigen tun, die die lächerliche Kunst der Geomantie ausüben, so sage ich, dass es möglich ist, eine geometrische Linie zu finden, deren Begriff nach einer gewissen Regel konstant und gleichförmig ist, dergestalt, dass diese Linie durch alle diese Punkte läuft und auch noch in derselben Ordnung, in der die Hand sie aufgezeichnet hat. […] So kann man sagen, dass die Welt, auf welche Weise auch immer Gott sie geschaffen hätte, immer regelmäßig und in einer bestimmten allgemeinen Ordnung gewesen wäre.⁴¹

 Wie wir im letzten Kapitel gesehen haben, nehmen Cover & Hawthorne diese Konsequenz tatsächlich in Kauf.  Siehe für diesen Einwand auch Brown , S.  – .  DM §/Holz Bd. , : „Que Dieu ne fait rien hors de l’ordre, et qu’il n’est pas même possible de feindre des evenemens qui ne soyent point reguliers.“  DM §/Holz Bd. ,  – : „Car supposons par exemple que quelcun fasse quantité de points sur le papier à tout hazard, comme font ceux qui exercent l’art ridicule de al Geomance, je dis qu’il est possible de trouver une ligne geometrique dont la notion soit constant et uniforme suivant une certaine regle, en sorte que cette ligne passe par tous ces points, et dans le même ordre que la main les avoit marqués. […] Ainsi on peut dire que de quelque maniere que Dieu auroit créé le monde, il auroit tousjours esté regulier et dans un certain ordre general.“

4.4 Kompossibilität als Übereinstimmung mit Gesetzen

177

Für die klassische Gesetzesinterpretation stellen Passagen wie diese ein Problem dar. Ihr zufolge sind zwei Substanzen genau dann kompossibel miteinander, wenn sie sich konsistent unter ein Gesetz bringen lassen. In dieser Passage scheint Leibniz aber davon auszugehen, dass sich im Prinzip jede Kombination von Substanzen unter einem Gesetz vereinigen lässt. Egal wie Gott die Welt geschaffen hätte, sie wäre „immer regelmäßig und in einer bestimmten Ordnung gewesen.“ Damit droht die Gesetzesinterpretation aber trivial zu werden. Wenn sich tatsächlich alle Substanzen konsistent mithilfe eines Gesetzes vereinigen lassen, wie Leibniz in der zitierten Passage zu behaupten scheint, dann müssten auch alle Substanzen miteinander kompossibel sein. Damit würde die Gesetzesinterpretation aber das Ziel, einen gehaltvollen, nicht-leeren Kompossibilitätsbegriff zu etablieren, verfehlen. Sie droht einmal mehr in die spinozistische Position, dass alles Mögliche wirklich ist, zu kollabieren. Die klassische (von Russel, Hacking und Cover & Hawthorne vertretene) Version der Gesetzesinterpretation kann also keine befriedigende Antwort auf das Problem der Kompossibilität geben⁴² – schon allein deshalb nicht, weil sie falsche Voraussetzungen bezüglich dessen macht, was mögliche Welten, was vollständige Individualbegriffe und was Gesetze für Leibniz sind. Wir sollten deshalb dennoch die Idee, dass Kompossibilität etwas mit Gesetzen zu tun hat, nicht rundheraus ablehnen. Wie wir im letzten Kapitel gesehen haben, sind die Gesetze einer Welt in die vollständigen Begriffe der Substanzen, die Mitglieder dieser Welt sind, eingeschrieben. Vor diesem Hintergrund hat Margaret Wilson vorgeschlagen, die logische Interpretation und die Gesetzesinterpretation miteinander zu verbinden.⁴³ Ihrer Auffassung nach sind zwei Substanzen genau dann inkompossibel, wenn in ihren vollständigen Begriffen unterschiedliche Gesetze auftauchen – und genau dies macht es logisch unmöglich, beide zugleich zu erschaffen. Wilsons Lesart ist damit natürlich, genau wie die logische Interpretation, dem Vorwurf ausgesetzt, nicht mit der Unabhängigkeitsthese vereinbar zu sein. Dennoch ist der Vorschlag, dass Kompossibilität bzw. Inkompossibilität von Substanzen irgendwie mit den in die Substanzen eingeschriebenen Gesetzen zusammenhängt, vielversprechend. Ich werde später darauf zurückkommen. Grundsätzlich können wir an dieser Stelle festhalten, dass zumindest die klassische Gesetzesinterpretation einer Reihe von Einwänden ausgesetzt ist. Mindestens drei Probleme lassen sich identifizieren. Erstens erklärt auch die Gesetzesinterpretation nicht, wie Substanzen gleichzeitig unabhängig voneinander und dennoch an ihre Welten gebunden sein können. Im Moment scheint es so,

 Dies zeigt bereits Brown  auf. Brown weist auch als erster auf den Konflikt mit DM § hin.  Vgl. Wilson .

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4 Leibniz’ Theorie der Kompossibilität

als stünden diese beiden Thesen von Leibniz in direktem Widerspruch zueinander. Zweitens droht die Gesetzesinterpretation entweder in den Spinozismus zu kollabieren oder aber der Maximierungsthese zu widersprechen. Wenn es logisch möglich ist, dass inkompossible Substanzen gemeinsam existieren, warum erschafft Gott dann nicht alle möglichen Substanzen? Drittens droht der Begriff der Kompossibilität trivial zu werden. Wenn Gott in der Tat alle Substanzen unter ein Gesetz bringen kann, dann wären alle Substanzen miteinander kompossibel, obwohl ja genau dieses Resultat durch die Einführung des Begriffs der Kompossibilität vermieden werden sollte.

4.5 Göttliche Optimierungsstrategien Sowohl die logische Interpretation als auch die (klassische) Gesetzesinterpretation lassen sich nur schlecht mit grundlegenden Eckpfeilern von Leibniz’ System in Einklang bringen. Die logische Interpretation lässt sich nicht mit der Unabhängigkeitsthese vereinbaren, und die Gesetzesinterpretation scheint weder effektiv die Gefahr des Spinozismus bannen zu können noch der Weltgebundenheit Leibniz’scher Substanzen gerecht werden. Es ist daher nicht verwunderlich, dass in jüngster Zeit alternative Lösungen für das Problem der Kompossibilität vorgeschlagen wurden. So hat Jeffrey McDonough angeregt, dass Leibniz’ Begriff der Kompossibilität nur dann verständlich wird, wenn man sich klar macht, wie Gott genau bei der ‚Maximierung der Essenz‘ vorgeht. McDonough weist darauf hin, dass sich Leibniz oft geometrischer Metaphern bedient, um diesen Vorgang zu illustrieren. Die Situation, in der sich Gott befindet, könne mit der einer Fliesenlegerin verglichen werden, die versucht, so viel Fläche eines festgelegten Areals wie möglich mit einer vorgegebenen Anzahl an Fliesen auszufüllen. McDonough nennt dies die „packing strategy“.⁴⁴ Tatsächlich verwendet Leibniz häufig solche und ähnliche Analogien, um zu verdeutlichen, welche Überlegungen Gott ‚vor‘ der Schöpfung anstellt. Am klarsten ist folgendes Beispiel aus De rerum originatione radicali: Hier wird aufs deutlichste einsichtig, dass aus den unendlich vielen Verbindungen des Möglichen und den unendlich vielen möglichen Reihen diejenige existiert, durch die das meiste an Essenz oder Möglichkeit zur Existenz gebracht wird. […] Das verhält sich so wie bei gewissen Spielen, bei denen auf einer Tafel alle Felder nach bestimmten Gesetzen auszufüllen sind.Wenn man nicht gewisse Kunstregeln einhält,wird man am Ende durch ungünstig liegende Felder gehindert und gezwungen, mehr Felder offenzulassen, als man ausfüllen

 Siehe McDonough , S. .

4.5 Göttliche Optimierungsstrategien

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konnte oder wollte. Aber es gibt einen gewissen Grundsatz, nach welchem die weitestgehende Ausfüllung der Felder am leichtesten erreicht wird. […] [S]o folgt, wenn wir einmal annehmen, das Seiende gelte mehr als das Nichtseiende, oder es gäbe einen Grund, weshalb etwas eher existiert als nicht existiert, oder dass von der Möglichkeit zur Wirklichkeit überzugehen ist, daraus, dass – wenn auch nichts weiteres bestimmt ist – soviel zur Existenz gelangen wird, wie nach der Fassungskraft der Zeit oder des Ortes (oder der möglichen Ordnung des Seins) möglich ist, ganz so, wie Mosaiksteinchen derart zusammengesetzt werden, dass auf die vorgesehene Fläche möglichst viele gehen.⁴⁵

So wie man bei „gewissen Spielen“ versucht, eine bestimmte Fläche optimal mit Spielsteinen auszufüllen, so versucht auch Gott, so viel ‚Sein‘ oder ‚Essenz‘ wie möglich in die Welt zu packen. Ausgehend von diesen geometrischen Analogien entwickelt McDonough einen neuen Lösungsvorschlag für das Problem der Kompossibilität. Er beginnt mit einem vereinfachten Modell, das in zwei Hinsichten von Leibniz’ Metaphysik abweicht: Ein endliches Universum soll optimal mit ausgedehnten Substanzen angefüllt werden (dieses Modell ist insofern vereinfacht, als für Leibniz das Universum unendlich ist und es wenigstens für den späten Leibniz auf fundamentaler Ebene nur immaterielle, unausgedehnte Monaden gibt).⁴⁶ McDonough schlägt vor, dass man dieses Szenario vor dem Hintergrund von Leibniz’ geometrischen Analogien so verstehen sollte, dass keine zwei Substanzen per se miteinander inkompossibel sind. Dennoch lassen sich nicht alle Substanzen, die zur Verfügung stehen, gleichzeitig in das begrenzte Universum einfügen, da hierzu einfach der Platz fehlt. Es gibt also verschiedene Arten, das Universum anzufüllen, die sich nicht alle gleichzeitig realisieren lassen. Anders gesagt, verschiedene Arten, das Universum anzufüllen, sind miteinander inkompossibel. Die beste aller möglichen Welten ist diejenige, in der optimal ‚gepackt‘ wird, in der also am wenigsten Leerräume bleiben. Doch auch in dieser Welt existieren natürlich nicht alle möglichen Substanzen.

 G VII,  – /SLM  –  (Übersetzung leicht modifiziert): „Hinc vero manifestissime intelligitur ex infinitis possibilium combinationibus seriebusque possibilibus existere eam, per quam plurimum essentiae seu possibilitatis perducitur ad existendum. […] Et sese res habet ut in ludis quibusdam, cum loca omnia in Tabula sunt replenda secundum certas leges, ubi nisi artificio quodam utare, postremo spatiis exclusus iniquis, plura cogeris loca relinquere vacua, quam poteras vel volebas. Certa autem ratio est per quam repletio maxima facillime obtinetur. […] [I]ta posito semel ens praevalere non-enti, seu rationem esse cur aliquid potius extiterit quam nihil, sive a possibilitate transeundum esse ad actum, hinc, etsi nihil ultra determinetur, consequens est, existere quantum plurimum potest pro temporis locique (seu ordinis possibilis existendi) capacitate, prorsus quemadmodum ita componuntur tessellae ut in proposita area quam plurimae capiantur.“ Für ähnliche Stellen siehe DM § und Theodizee §.  Siehe hierfür und für das folgende McDonough , S.  – .

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4 Leibniz’ Theorie der Kompossibilität

McDonoughs Interpretation des vereinfachten Modells mit einer endlichen Welt und ausgedehnten Substanzen weist eine Reihe von Vorteilen auf.⁴⁷ Erstens wird sie der Unabhängigkeitsthese gerecht. Im Prinzip schließt keine Substanz die Existenz einer anderen Substanz ein oder aus. Lediglich unterschiedliche Arten, das Universum anzufüllen, schließen einander aus. Zweitens kann diese Interpretation der Maximierungsthese Rechnung tragen. Gott wählt diejenige Art das Universum anzufüllen aus, welche am meisten Sein realisiert und am wenigsten Leerräume enthält – also die Welt mit der besten ‚packing strategy‘. Drittens schließlich, und dies ist zentral, führt die Maximierungsthese in McDonoughs (vereinfachtem) Modell dennoch nicht zum Spinozismus. Nicht alles Mögliche existiert, weil schlicht und ergreifend nicht alle möglichen Dinge in der endlichen Welt Platz finden. Doch lässt sich dieses vereinfachte Modell einer endlichen Welt mit ausgedehnten Substanzen auch auf Leibniz’ Metaphysik mit einer unendlichen Welt und unausgedehnten Monaden übertragen? Die Tatsache, dass unser Universum für Leibniz unendlich ist, stellt an sich kein großes Problem für McDonough dar. Er schlägt vor, dass auch unendliche körperliche Welten sich immer noch hinsichtlich der „Dichte der Perfektion“ unterscheiden können.⁴⁸ Zwei Arten, eine unendlich große Welt mit ausgedehnten Substanzen auszufüllen, können sich also insofern voneinander unterscheiden, als sie den unendlichen Raum unterschiedlich gut ausfüllen. Verwendet man z. B. ausschließlich kugelförmige Substanzen, um ein solches Universum anzufüllen, so bleiben große Zwischenräume übrig.Verwendet man daneben auch noch anders geformte Substanzen, mit denen man diese Zwischenräume auffüllen kann, ergibt sich eine Welt, in der das ‚Sein‘ oder die ‚Essenz‘ ‚dichter‘ ist, weil sozusagen besser gepackt wurde. Da eine solche Welt mehr enthält, wird sie natürlich (unter der Voraussetzung, dass Sein gut ist) auch besser sein. Während unendliche ausgedehnte Welten für McDonoughs Modell also kein Problem darstellen, lässt sich Leibniz’ Idealismus nur schlecht mit seiner Interpretation in Einklang bringen.⁴⁹ Es ist nicht klar, was es für immaterielle Monaden  Diese Vorteile werden von McDonough selbst hervorgehoben (vgl. McDonough , S. ).  Vgl. McDonough , S. , wo er von „density of perfection“ spricht.  Ich werde an dieser Stelle nicht auf die vieldiskutierte Frage eingehen, in welchen Phasen seines Schaffens Leibniz Idealist war und in welchen nicht. Es besteht weitestgehend Einigkeit darüber, dass zumindest der späte Leibniz eine idealistische Position vertritt. Körper sind demnach nichts anderes als (wohlfundierte) Phänomene, die in irgendeinem Sinne von immateriellen Monaden abhängen. Für eine sehr konzise Darstellung von Leibniz’ Idealismus, siehe Rutherford , S.  – . Für eine Interpretation, die dem mittleren Leibniz noch keinen Idealismus zuschreibt, siehe Garber . Einen guten Überblick über die aktuelle Diskussion gibt McDonough .

4.5 Göttliche Optimierungsstrategien

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bedeuten würde, sich auf eine Weise zu blockieren, die irgendwie analog dazu ist, wie es die ausgedehnten Substanzen im vereinfachten Szenario tun. Aber genau das sollte ja erklärt werden. Die interpretatorische Herausforderung besteht ja gerade darin, verständlich zu machen, was es heißt, dass sich immaterielle, voneinander unabhängige Monaden ‚gegenseitig behindern‘. Stattdessen zieht McDonough den Schluss, dass für Leibniz tatsächlich jede mögliche Substanz auch wirklich existiert. Dies führt ihm zufolge jedoch deshalb nicht zum Spinozismus, weil Gott entweder weniger Substanzen oder dieselben Substanzen auf unterschiedliche Weise hätte erschaffen können – McDonough versteht Leibniz’sche Substanzen als Determinablen, also als Entitäten, die auf unterschiedliche Weisen und mit unterschiedlichen Eigenschaften erschaffen werden können.⁵⁰ Diese Strategie kann jedoch nicht überzeugen. Erstens macht Leibniz an vielen Stellen klar, dass er nicht glaubt, dass jede mögliche Substanz existiert, z. B. wenn er sagt, „dass nicht alle möglichen Dinge (possibilia) Existenz erlangen“.⁵¹ Zweitens kann kein Zweifel daran bestehen, dass Leibniz Substanzen als Determinanten ansieht, also als vollkommen bestimmte Entitäten, und nicht als Determinablen. ⁵² Im letzten Kapitel haben wir gesehen, dass er in seiner Korrespondenz mit Arnauld einen ‚vagen Adam‘ ablehnt. Begriffe von Individuen müssen für Leibniz vollständig sein, andernfalls handelt es sich nicht um Individual- sondern um Allgemeinbegriffe. Vollständige Begriffe enthalten jede nur denkbare Information über die Substanzen, die sie repräsentieren. Substanzen sind somit vollkommen bestimmt und können folglich nur Determinanten sein. Hier könnte man einwenden, dass Substanzen für Leibniz sehr wohl potentielle Zustände, Kräfte,Vermögen und Fähigkeiten haben. In diesem Sinne könnte man sie in der Tat als Determinablen bezeichnen. Doch auch diese Kräfte oder Vermögen sind stets vollständig bestimmt. Es handelt sich immer um ein Vermögen bzw. eine Fähigkeit, eine ganz bestimmte Perzeption hervorzubringen und nicht um „nackte Vermögen“,⁵³ die auf kein bestimmtes Ziel ausgerichtet wären. Für Leibniz gibt es also nicht einfach ein allgemeines Vermögen zu denken,  Siehe McDonough , S. : „Each substance might, on such a reading, thus be thought of as like a determinable that might be created in infinitely many different determinate ways. In creating the best of all possible worlds, God would be committed to creating all determinables but not all determinates, and thus would be committed to realizing all possible substances but not all possible ways of being.“ Für McDonoughs Punkt, dass damit der Nezessitarismus vermieden wird, siehe McDonough , S.  – .  AA ., .  Zur Unterscheidung zwischen Determinablen und Determinanten (Übersetzungen von ‚determinables‘ und ‚determinates‘) siehe Sanford .  Von „nackten Vermögen“ spricht Leibniz etwa in NE II, x, §/AA ., .

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4 Leibniz’ Theorie der Kompossibilität

sondern nur ganz viele spezifische Vermögen dieses oder jenes zu denken.⁵⁴ Auch alle Arten von potentiellen Zuständen sind also derart, dass es nichts Unbestimmtes in ihnen gibt. Generell gilt also, dass Substanzen, da sie vollständige Begriffe realisieren, als Determinanten und nicht als Determinablen verstanden werden müssen. Ein weiteres Problem von McDonoughs Interpretation ist, dass sie, ähnlich wie die Gesetzesinterpretation, der Weltgebundenheit Leibniz’scher Substanzen nicht gerecht wird. Da keine zwei Substanzen per se inkompossibel sind, kommen viele Substanzen in mehreren möglichen Welten vor. Im Hintergrund scheint mir hier einmal mehr ein humeanisches Verständnis möglicher Welten zu stehen: McDonough lässt eine freie Kombinierbarkeit von Substanzen zu, um die Unabhängigkeitsthese zu retten. Die Kosten dieser Strategie sind meiner Auffassung nach aber zu hoch. Wie deutlich geworden ist, vertritt Leibniz gerade keine humeanische Konzeption möglicher Welten.Wir sehen uns also einmal mehr mit dem Problem konfrontiert, dass die Unabhängigkeit und die Weltgebundenheit Leibniz’scher Substanzen miteinander unvereinbar zu sein scheinen. Im nächsten Abschnitt werden wir sehen, ob sich dieses Problem lösen lässt.

4.6 Unabhängig und weltgebunden? In den letzten drei Abschnitten haben wir gesehen, dass keine der bisher vorgeschlagenen Interpretationen das Problem der Kompossibilität auf befriedigende Weise löst. Jede der drei Interpretationen betont zwar einen wichtigen Aspekt von Leibniz’ Metaphysik, verliert dabei aber andere Aspekte aus den Augen. Die logische Interpretation hebt zu Recht die enge Verbindung der Substanzen untereinander in Leibniz’schen möglichen Welten und die Weltgebundenheit von Substanzen hervor, vergisst darüber aber die Unabhängigkeit von ebendiesen Substanzen. Umgekehrt legen sowohl die Vertreter der Gesetzesinterpretation als auch McDonough viel Wert auf die Unabhängigkeitsthese, vernachlässigen dabei aber die Weltgebundenheit von Substanzen. Gleichzeitig ist nicht klar, wie diese Interpretationen die spinozistische Konsequenz, dass alle possibilia wirklich existieren, vermeiden können. Im Folgenden werde ich versuchen, eine Interpretation zu entwickeln, die allen Anforderungen von Leibniz’ System gerecht wird. Dabei empfiehlt es sich,

 Siehe hierzu Barth . Wie Barth zurecht betont, werden die Denkvermögen häufig jedoch nur unvollständig ausgeübt, da andere Vermögen sie an ihrer vollständigen Ausübung hindern. Zieht man jedoch alle Denkvermögen einer Substanz in Betracht, gibt es keine Unbestimmtheit.

4.6 Unabhängig und weltgebunden?

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schrittweise vorzugehen. In diesem Abschnitt werde ich zunächst erläutern, wie Leibniz’sche Substanzen zugleich weltgebunden und dennoch unabhängig voneinander sein können. In einem zweiten Schritt werden wir sehen, wie uns dies dabei helfen kann, Leibniz’ Begriff der Kompossibilität besser zu verstehen (Abschnitt 4.7). (Eine Konsequenz meiner Rekonstruktion, auf die ich in Abschnitt 4.8 eingehen werde, ist, dass Leibniz nicht als früher Vertreter einer Mögliche-WeltenSemantik gelesen werden kann.) Drittens schließlich wende ich mich dem Problem des Spinozismus zu, also der Frage, warum Gott nicht alle möglichen Substanzen erschafft, wenn sowohl die Unabhängigkeitsthese als auch die Maximierungsthese gelten (Abschnitt 4.9). Beginnen wir mit der ersten Frage: Wie kann Leibniz sowohl die These vertreten, dass die Existenz einer Substanz S unabhängig von der Existenz bzw. NichtExistenz anderer Substanzen ist, als auch die These, dass S an eine bestimmte mögliche Welt gebunden ist? Dies scheint zu einem direkten Widerspruch zu führen. Die Weltgebundenheit von S scheint zur Folge zu haben, dass S nur dann existieren kann, wenn auch die anderen Substanzen aus ihrer möglichen Welt existieren. Damit wäre S aber von der Existenz dieser Substanzen abhängig. Ich glaube, dass es sich hier nur um einen scheinbaren Widerspruch handelt und dass sich die Unabhängigkeit von Substanzen und deren Weltgebundenheit im Rahmen von Leibniz’ Metaphysik durchaus miteinander vereinbaren lassen, solange man berücksichtigt, was Leibniz genau unter einer möglichen Welt versteht. Um zu sehen, wie dies möglich ist, müssen wir zunächst auf diejenigen Passagen zurückkommen, die am deutlichsten zeigen, dass Leibniz beide Thesen – die Unabhängigkeitsthese und die These der weltgebundenen Substanzen – vertritt. Wie wir gesehen haben, macht Leibniz in seinem Brief an Des Bosses vom 29. April 1715 unmissverständlich klar, dass Gott jede Substanz auch isoliert von anderen Substanzen erschaffen kann. Gegen Des Bosses’ Einwand, dass selbst Gott aufgrund der engen Verbindung der Dinge untereinander keine Monade ohne alle anderen hätte erschaffen können, entgegnet Leibniz, dass dies sehr wohl in Gottes Macht steht: [Unabhängigkeit] [Des Bosses:] Gott konnte deshalb keine der nun existierenden Monaden erschaffen, ohne alle anderen zu schaffen. [Leibniz:] Er konnte es absolut tun, er konnte es jedoch nicht hypothetischerweise tun, weil er entschieden hat, dass alle Dinge auf die weiseste und harmonischste Weise geschehen.⁵⁵

 G II, .

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4 Leibniz’ Theorie der Kompossibilität

Substanzen sind also Entitäten, die unabhängig von der Existenz bzw. NichtExistenz anderer Dinge sind (Gott bildet hier natürlich wie immer eine Ausnahme). Dass Leibniz allerdings gleichzeitig der Auffassung ist, dass Substanzen an ihre Welten gebunden sind, ist schon im letzten Kapitel deutlich geworden. Besonders charakteristisch sind sein Brief an De Volder vom 6. Juli 1701 und sein bekannter Brief an Arnauld vom 14. Juli 1686, die beide bereits ausführlich diskutiert wurden. In beiden Briefen hebt Leibniz hervor, dass im Begriff jeder Substanz die Begriffe aller anderen Substanzen im Universum sowie die Gesetze dieses Universums eingeschlossen sind (wie wir gesehen haben, lässt sich dieser Punkt für alle möglichen Welten verallgemeinern): [Weltgebundenheit] Meiner sicheren Meinung nach gibt es nichts im Universum der erschaffenen Dinge, das für seinen perfekten Begriff (ad perfectum suum conceptum) nicht den Begriff (conceptu) eines jeden anderen Dinges im Universum bedürfte, weil jedes Ding jedes beliebige andere Ding so beeinflusst, dass, wenn man sich vorstellen würde, dass es aufgehoben oder anders wäre, alle zukünftigen Dinge in der Welt von jenen, die jetzt sind, verschieden wären.⁵⁶ [J]edes mögliche Individuum (chaque individu possible) irgendeiner Welt enthält in seinem Begriff (notion) die Gesetze seiner Welt.⁵⁷

Wenn jeder vollständige Begriff einer individuellen Substanz den Begriff der gesamten möglichen Welt enthält, von der diese Substanz ein Teil ist, dann kann offenbar keine mögliche Substanz Mitglied von zwei oder mehr Welten sein. Mögliche Substanzen sind also an ihre Welten gebunden. Die zitierten Passagen scheinen sich auf den ersten Blick tatsächlich zu widersprechen. Dennoch glaube ich, dass eine genaue Lektüre dieser Texte Hinweise darauf gibt, wie sich die Spannung zwischen der Unabhängigkeit und der Weltgebundenheit von Substanzen aufheben lässt. So fällt auf, dass Leibniz in seinem Brief an Des Bosses von Monaden, also von erschaffenen Substanzen, spricht, während er Arnauld und De Volder gegenüber von den Begriffen dieser Substanzen spricht (notion auf Französisch und conceptus auf Latein). Wir haben bereits in anderen Kontexten gesehen, dass man sorgfältig zwischen diesen beiden Ebenen unterscheiden muss. Während die Begriffe von Substanzen Ideen in Gottes Intellekt sind, existieren die Substanzen bzw. die Monaden selbst außerhalb von Gott. (Obwohl dieser Unterschied kaum augenfälliger sein könnte, kann es leicht passieren, dass er unter den Tisch fällt. Dafür ist nicht zuletzt Leibniz selbst verantwortlich, da er nicht immer klar zwischen den beiden Ebenen trennt.)

 G II, .  Finster /G II, .

4.6 Unabhängig und weltgebunden?

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Vor diesem Hintergrund bietet sich folgende Interpretation an: Die Begriffe von Substanzen in Gottes Intellekt sind insofern an ihre Welten gebunden, als sich die vollständigen Begriffe von individuellen Substanzen nur im Kontext ihrer möglichen Welt denken lassen. Jeder Individualbegriff kommt nur in einer möglichen Welt vor, weil er begrifflich mit den Gesetzen dieser Welt und den anderen Individuen verknüpft ist. Es wäre unsinnig anzunehmen, dass Gott mehrere Ideen (Begriffe) desselben Individuums in unterschiedlichen Welten hat. Die Idee jeder möglichen Substanz ist in die mögliche Welt, zu der die (Idee der) Substanz gehört, eingebettet. Wenn es jedoch um die Schöpfung geht, also darum Substanzen zu erschaffen, die den vollständigen Begriffen korrespondieren, dann steht es durchaus in Gottes Allmacht, jede Substanz einzeln, unabhängig von den anderen Substanzen, mit denen sie in seinem Intellekt eine Welt teilt, zu erschaffen. Ein Beispiel soll dies illustrieren: Gott hat in seinem Geist die Idee bzw. den Begriff einer Substanz A und er kann diese Idee nur haben, wenn er auch über eine Idee der möglichen Welt w verfügt, von der A ein Mitglied ist. Neben der Idee von A sind auch noch die Ideen von B, C, D und viele andere vollständige Begriffe Mitglied von w. All diese Ideen kommen nur in w vor, sie sind also weltgebunden. Die Tatsache, dass Gott für den Begriff oder die Idee von A die Idee von w mit all ihren Mitgliedern braucht, bedeutet aber noch lange nicht, dass Gott B, C, D usw. auch erschaffen muss, wenn er A erschafft. A kann also unabhängig von der Existenz oder Nicht-Existenz von B, C, D usw. existieren. Der Begriff von A kann somit nicht ohne die Begriffe von B, C, D usw. existieren, aber die Substanz A kann sehr wohl ohne die Substanzen B, C, D usw. existieren (auch wenn dieses Szenario de facto natürlich nicht eintritt, weil Gott alles „auf die weiseste und harmonischste Weise“ einrichtet). A kann also zumindest prinzipiell unabhängig von den anderen Dingen in w existieren. Man muss also genau unterscheiden zwischen (i) den Begriffen in Gottes Intellekt und (ii) den Substanzen, die Gott auf Basis dieser Begriffe erschaffen kann. Der Umstand, dass Gott den Begriff einer Substanz A nur dann bilden kann, wenn er auch über den Begriff einer anderen Substanz B verfügt, führt nicht dazu, dass er A und B auch zusammen erschaffen muss. Es steht durchaus in Gottes Macht A auch ohne B (und umgekehrt B ohne A) existieren zu lassen.⁵⁸

 Hier könnte man fragen, wie dies möglich ist, wenn doch der vollständige Begriff einer Substanz S die Begriffe aller anderen Substanzen der entsprechenden Welt beinhaltet. Fehlen S dann nicht genau die Eigenschaften, die den Begriffen der anderen Substanzen korrespondieren, wenn diese anderen Substanzen gar nicht existieren? Ich glaube, dies wäre in der Tat ein Problem, wenn echte relationale Prädikate in den vollständigen Begriffen individueller Substanzen vorkommen würden. Denn damit ein relationales Prädikat instanziiert ist, müssen natürlich beide

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4 Leibniz’ Theorie der Kompossibilität

Die eben angestellten Überlegungen haben folgende interessante Konsequenz: Für Leibniz entspricht nicht jedes Schöpfungsszenario auch einer möglichen Welt. Nicht alles, was Gott erschaffen kann, wird durch mögliche Welten in seinem Intellekt repräsentiert. Wenn Gott z. B. nur die Substanz A erschafft, dann erschafft er gleichsam nur ein Bruchstück einer möglichen Welt aber keine ganze mögliche Welt. Die „Welten für sich“ – ein Ausdruck, den Leibniz manchmal für isolierte Substanzen verwendet⁵⁹ – sind also genau genommen gar keine Welten. Wenn Gott (im Prinzip) jede Substanz allein, als ‚Welt für sich‘ existieren lassen kann, dann ist klar, dass er (im Prinzip) auch mehrere isolierte Substanzen zugleich erschaffen kann. Er würde dann mehrere vollständige Begriffe aus unterschiedlichen möglichen Welten herausgreifen und die entsprechenden Substanzen existieren lassen. Damit würde er allerdings bloß eine chaotische Ansammlung von Substanzen und keine Welt erschaffen, wie Leibniz in den Erläuterungen zu seinem Neuen System gegen Bayles Einwände deutlich macht: Gott konnte jeder Substanz ihre Erscheinungen unabhängig von denen der anderen geben, aber auf diese Weise würde er sozusagen ebenso viele Welten ohne Verbindung untereinander geschaffen haben, wie es Substanzen gibt: so wie man etwa sagt, dass man in seiner eigenen Welt ist, wenn man träumt, und dass man in die gemeinsame Welt eintritt, wenn man erwacht.⁶⁰

Die Perzeptionen der Substanzen in einer solch losen Ansammlung von Substanzen wären nicht aufeinander abgestimmt, und die Substanzen würden deshalb auch nicht zusammen existieren und somit keine Welt ausmachen.⁶¹ Gott

Relata (und nicht nur eines von beiden) existieren. Streng genommen enthalten vollständige Begriffe aber nur solche Prädikate, die zwar auf die Begriffe anderer Substanzen verweisen und die sich ohne diese Begriffe gar nicht bilden lassen würden – dabei handelt es sich aber genau genommen nicht um relationale Prädikate. Auf der Ebene der Perzeptionen bedeutet dies, dass eine Substanz zwar viele Perzeptionen hat, die auf andere Substanzen verweisen. Das Haben dieser Perzeptionen setzt jedoch nicht die Existenz dieser Substanzen voraus.  Vgl. DM §/Holz Bd. , . Dort hält Leibniz fest: „[C]haque substance est comme un monde à part, independant de tout autre chose hors de Dieu.“  G IV, /Holz Bd. , : „Dieu pouvoit donner à chaque substance ses phenomenes independans de ceux des autres, mais de cette maniere il auroit fait, pour ainsi dire, autant de mondes sans connexion, qu’il y a de substances; à peu près comme on dit, que quand on songe, on est dans son monde à part, et qu’on entre dans le monde commun quand on s’eveille.“  Koistinen & Repo betonen ebenfalls, dass Welten für Leibniz stets harmonisch sind, dass also alle Perzeptionen in allen Welten perfekt aufeinander abgestimmt sind. Allerdings schließen sie daraus, dass selbst Gott keine unharmonischen Mengen von Substanzen schaffen kann: „As to the fact that Leibniz says here that God could have created substances whose phenomena are not harmonious with each other, it is rather doubtful that Leibniz means this as a real possibility“

4.6 Unabhängig und weltgebunden?

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kann also alle möglichen chaotischen Ansammlungen von Substanzen erschaffen. Er kann diese Substanzen jedoch nicht innerhalb ein und desselben Systems erschaffen. Wir sind nun in der Lage zu verstehen, wie Leibniz’sche Substanzen zugleich unabhängig voneinander und dennoch weltgebunden sein können. Gott kann in der Tat jede mögliche Substanz unabhängig von der Existenz oder Nicht-Existenz anderer Substanzen erschaffen. Damit ist die Unabhängigkeit von Substanzen garantiert. Dennoch kann jede Substanz nur in einer einzigen Welt existieren, da nicht alles, was Gott erschaffen kann, auch eine Welt ist. Nur wenn Gott eine Substanz gemeinsam mit ganz bestimmten anderen Substanzen erschafft, entsteht dadurch auch eine Welt. Die Tatsache, dass es in Gottes Allmacht steht, isolierte Substanzen und chaotische Ansammlungen von Dingen zu erschaffen, widerspricht also keineswegs der Weltgebundenheit von Substanzen. Obwohl Gott sowohl einheitliche und harmonische Welten als auch separate Substanzen und ‚chaotische Haufen‘ von Substanzen erschaffen kann, gibt es zwischen diesen beiden verschiedenen möglichen Ausübungen seiner Macht einen wichtigen Unterschied. Die oben zitierte Passage aus dem Brief an Des Bosses macht deutlich, dass Leibniz das, was Gott absolut gesehen tun kann, genau von dem unterscheidet, was Gott unter der Annahme einer bestimmten Hypothese tun kann. Damit greift Leibniz die scholastische Unterscheidung zwischen potentia absoluta und potentia ordinata auf.⁶² Gottes uneingeschränkte Allmacht umfasst all das, was logisch möglich ist, während die geordnete Allmacht durch bestimmte Gesetze der Ordnung eingeschränkt ist, die Gott sich sozusagen selbst auferlegt hat. Auf unseren Zusammenhang angewendet bedeutet dies, dass Gott zwar absolut gesehen isolierte Substanzen oder chaotische Ansammlungen von Substanzen erschaffen kann. Unter der Voraussetzung, dass er sich einmal dafür entschieden hat, ein einheitliches System – eine Welt – zu erschaffen, kann er dies jedoch nicht.⁶³ Es gibt also modale Feinabstufungen innerhalb der Allmacht Gottes, die beachtet werden müssen, wenn man Aussagen darüber trifft, ob Gott (Koistinen & Repo , S. ). Damit widersprechen sie aber der Unabhängigkeitsthese, und ihre Interpretation kollabiert letztlich in die logische Interpretation.  Siehe z. B. Scotus, Ordinatio I, d. . Siehe auch Perler a, S. , wo die Unterscheidung zwischen potentia absoluta und potentia ordinata auf Descartes angewendet wird.  Auf diesen Punkt machen auch Messina & Rutherford , S.  aufmerksam. Sie unterscheiden zwischen „what God can do absolutely and what God can do in meeting the objective of actualizing a world.“ Was Gott kraft seiner uneingeschränkten Allmacht tun kann, erläutern sie wie folgt: „[…] God could decide not to create a world, choosing instead to create one or more separate substances, which lacked the unity of a world. In this case God would actualize the individual substance without actualizing the free decrees contained in its complete concept. Thus, God would create the substance, without creating it as part of a world.“

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4 Leibniz’ Theorie der Kompossibilität

etwas tun kann oder nicht tun kann. Bezieht man sich auf die uneingeschränkte Allmacht, auf die potentia absoluta, kann Gott chaotische Ansammlungen von Substanzen erschaffen. Spricht man hingegen von der durch eine ‚Hypothese‘ beschränkte Allmacht, von der potentia ordinata, kann Gott nur harmonische Mengen von Substanzen erschaffen, d. h. nur solche Menge, die auch Welten konstituieren.⁶⁴ An dieser Stelle muss auf eine versteckte, aber relevante Ambiguität in Leibniz’ Gebrauch der Ausdrücke „mögliche Welt“ und „mögliche Substanz“ hingewiesen werden. Offiziell bezeichnet Leibniz damit Begriffe bzw. Ideen in Gottes Intellekt.⁶⁵ Allerdings spricht Leibniz auch häufig davon, dass Gott diese oder jene mögliche Welt oder diese oder jene mögliche Substanz tatsächlich erschaffen hat oder hätte erschaffen können. So spricht er prominenterweise davon, dass Gott die beste aller möglichen Welten erschaffen hat.⁶⁶ Offensichtlich weicht Leibniz damit aber von seiner offiziellen Definition dieser Ausdrücke ab. Denn Leibniz will natürlich nicht sagen, dass Gott die Begriffe der Dinge erschaffen hat – diese existieren ja bereits in seinem Geist, im ‚Bereich der Ideen‘, und sie sind genau wie Gott ewig und nicht erschaffbar. Spricht Leibniz von der (möglichen) Erschaffung einer möglichen Welt, so meint er natürlich, dass die den Begriffen korrespondieren Substanzen von Gott erschaffen werden und nicht die Begriffe selbst.⁶⁷ Leibniz verwendet also Ausdrücke wie „mögliches Ding“, „mögliche Substanz“ und „mögliche Welt“ auf zwei unterschiedliche Weisen. Offiziell sind damit Begriffe in Gottes Intellekt gemeint. Häufig bezieht sich Leibniz aber auch auf die Entitäten, die existieren würden, wenn Gott sich entschieden hätte, etwas zu erschaffen, das den Begriffen in seinem Geist entspricht. Dies sind aber natürlich keine Begriffe, sondern Substanzen.⁶⁸

 Siehe zu der Unterscheidung zwischen potentia absoluta und potentia ordinata bei Leibniz Mondadori . Ich diskutiere dieses Thema ausführlich in Bender .  Siehe z. B. Theodizee §/G VI,  – ; Monadologie §/G VI, ; G VII, . Ich habe diesen Punkt ausführlich in Abschnitt . diskutiert.  Vgl. z. B. Theodizee §/G VI, .  Darauf weist auch McDonough , S.  hin.  Es handelt sich hier nicht um dieselbe Ambiguität wie die in Abschnitt . diskutierte. Dort habe ich darauf hingewiesen, dass Leibniz mit dem Ausdruck „Welt“ manchmal bestimmte Mengen von Begriffen in seinem Intellekt meint, manchmal aber auch die wirklich existierende Welt. Hier hingegen habe ich zwischen den Begriffen in Gottes Intellekt einerseits und den möglichen (aber nicht notwendigerweise wirklichen) Entitäten außerhalb Gottes andererseits unterschieden. Letztere würden existieren, wenn Gott etwas erschaffen würde, das den Begriffen in seinem Intellekt entspricht. Natürlich sind einige dieser Entitäten auch wirklich, weil Gott ja schließlich unsere Welt erschaffen hat. Aber viele sind eben auch nur möglich. Mögliche Sub-

4.6 Unabhängig und weltgebunden?

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Vor dem Hintergrund dieser Differenzierung fällt es leichter nachzuvollziehen, wie genau Leibniz die Unabhängigkeit von Substanzen einerseits und deren Weltgebundenheit andererseits versteht. Die Weltgebundenheit betrifft beide Bereiche, also sowohl Gottes Intellekt als auch die Entitäten, die Gott erschafft (bzw. erschaffen würde), wenn er eine Möglichkeit realisiert (bzw. realisieren würde). Jeder vollständige Begriff lässt sich, wie gesehen, nur im Kontext einer bestimmten möglichen Welt denken, und in diesem Sinne sind vollständige Begriffe weltgebunden. Aber auch die Substanzen, die den vollständigen Begriffen korrespondieren würden, wenn Gott diese realisieren würde, sind an ihre Welten gebunden, weil auch sie nur in einer Welt existieren können. Denn nur wenn sie gemeinsam mit genau denjenigen Substanzen existieren, die sie durch ihre Perzeptionen ausdrücken, existieren sie in einem einheitlichen System, das den Status einer Welt hat. Anders verhält es sich mit der Unabhängigkeit möglicher Substanzen. Wenn mit „möglichen Substanzen“ Begriffe in Gottes Intellekt gemeint sind, dann sind diese nicht unabhängig. Im Gegenteil: Wie im letzten Kapitel deutlich wurde, sind vollständige Begriffe sehr stark voneinander abhängig. Der Begriff von Adam lässt sich z. B. überhaupt nicht denken, ohne auch die Begriffe seiner Nachfahren und aller anderen Dinge in seiner Welt zu denken. Wenn mit „möglichen Substanzen“ hingegen diejenigen Entitäten gemeint sind, die Gott erschafft bzw. erschaffen würde, wenn er sich für eine andere Welt entschieden hätte (also nicht Begriffe in seinem Intellekt, sondern Dinge außerhalb Gottes), dann sind diese unabhängig. Die Unabhängigkeitsthese trifft also nur auf mögliche Substanzen in diesem zweiten Sinn zu, nicht aber auf die Begriffe in Gottes Geist. Ich möchte diesen Abschnitt mit der Beantwortung eines Einwandes schließen. Man könnte fragen, ob meine Behauptung, dass von Gott erschaffene isolierte Substanzen keine Welten wären, sondern bloße Bruchstücke von Welten, nicht mit vielen Texten von Leibniz unvereinbar ist. Schließlich spricht Leibniz von den isolierten Substanzen auch als „Welten für sich“. Impliziert dies nicht, dass auch von ihren Welten losgelöste Substanzen wiederum Welten wären? Eine genaue Betrachtung der entsprechenden Textstellen zeigt, dass dies nicht der Fall ist. Wenn Leibniz von „Welten für sich“ spricht, dann meint er damit nicht Welten im technischen Sinne. Vielmehr bedient er sich einer Metapher, und er macht dies auch deutlich. Hier sind zwei der wichtigsten Stellen:

stanzen und mögliche Welten in diesem Sinne sind also nicht mit Ideen in Gottes Geist zu identifizieren.

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4 Leibniz’ Theorie der Kompossibilität

[J]ede Substanz ist gleichsam eine Welt für sich [comme un monde à part], die von jeder anderen Sache mit Ausnahme Gottes unabhängig ist.⁶⁹ Gott konnte jeder Substanz ihre Erscheinungen unabhängig von denen der anderen geben, aber auf diese Weise würde er sozusagen [pour ainsi dire] ebenso viele Welten ohne Verbindung untereinander geschaffen haben, wie es Substanzen gibt.⁷⁰

Wie leicht zu sehen ist, qualifiziert Leibniz in beiden Passagen die Redeweise von Welten. Er sagt nicht, dass eine isolierte Substanz eine Welt ist, sondern dass sie „sozusagen“ oder „gleichsam“ eine Welt ist. Würde Gott eine isolierte, separate Substanz erschaffen, würde er damit also keine Welt erschaffen. Von der Perspektive dieser Substanz aus gesehen würde es aber tatsächlich so aussehen, als ob sie Teil einer Welt wäre, da sie ja genau die gleichen Perzeption hätte, wie in dem Fall, in dem alle anderen Mitglieder ihrer Welt existieren. Da diese Perzeptionen jedoch nicht veridisch sind, bildet diese einsame Substanz nur eine ‚Als-obWelt‘ aber keine richtige Welt.

4.7 Kompossibilität und mögliche Welten Im letzten Abschnitt haben wir gesehen, dass Substanzen für Leibniz sowohl unabhängig als auch weltgebunden sind und dass dies zu keinem Widerspruch in seinem System führt. Zwar kann jede mögliche Substanz nur in einer Welt existieren. Kraft seiner uneingeschränkten Allmacht kann Gott Substanzen im Prinzip aber auch getrennt von ihren Welten erschaffen (solche isolierten Substanzen wären allerdings keine möglichen Welten in Leibniz’ Sinn). Unter der Annahme, dass Gott eine Welt – also ein geordnetes System von Substanzen – erschaffen will, ist dies hingegen nicht möglich. Wie genau hilft uns dies bei dem Problem der Kompossibilität? Folgende Lösung bietet sich an: Mögliche Substanzen sind genau dann miteinander kompossibel, wenn sie auch unter der Annahme, dass Gott eine Welt (also ein einheitliches Ganzes) erschaffen will, zugleich existieren können. Um den Begriff der Kompossibilität zu verstehen, müssen wir also die modalen Feinabstufungen innerhalb von Gottes Allmacht berücksichtigen und unsere Aufmerksamkeit darauf richten, was Gott kraft seiner eingeschränkten Allmacht (potentia ordinata)

 DM §/Holz Bd. , : „[…] chaque substance est comme un monde à part, independant de tout autre chose hors de Dieu.“  G IV, /Holz Bd. , : „Dieu pouvoit donner à chaque substance ses phenomenes independans de ceux des autres, mais de cette maniere il auroit fait, pour ainsi dire, autant de mondes sans connexion, qu’il y a de substances.“

4.7 Kompossibilität und mögliche Welten

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tun kann. Anders ausgedrückt: Nur mögliche Substanzen, die gemeinsam, als Bestandteile einer Welt existieren können, sind auch kompossibel. Mögliche Substanzen hingegen, die von Gott nicht als Teil eines Systems erschaffen werden können, sind inkompossibel.⁷¹ Diesem Vorschlag zufolge können Kompossibilität und Inkompossibilität wie folgt definiert werden: Kompossibilität: Zwei oder mehr Substanzen sind genau dann miteinander kompossibel, wenn Gott sie in ein und derselben Welt erschaffen kann – wenn sie als Bestandteile ein und desselben Systems existieren können. Inkompossibilität: Zwei oder mehr Substanzen sind genau dann miteinander inkompossibel, wenn Gott sie nicht in ein und derselben Welt erschaffen kann – wenn sie nicht als Bestandteile ein und desselben Systems existieren können.

Da Gott im Prinzip zugleich Substanzen erschaffen kann, die nicht Mitglieder derselben Welt sind, folgt aus diesem Vorschlag natürlich, dass Gott inkompossible Substanzen gleichzeitig existieren lassen kann – allerdings nicht als Mitglieder ein und derselben Welt. Dies wirft natürlich die Frage auf, ob nicht auch diese Rekonstruktion in eine spinozistische Position zu kollabieren droht. Auf diesen Einwand werde ich ausführlich in Abschnitt 4.9 eingehen. Zuvor möchte ich jedoch die vorgeschlagene Interpretation erläutern und einige weniger gravierende Einwände diskutieren. Es stellt sich zunächst die Frage, was es genau bedeutet, dass zwei oder mehr Substanzen Mitglieder derselben möglichen Welt sind. Die Antwort auf diese Frage hängt wieder davon ab, was man hier genau unter ‚möglichen Substanzen‘ und unter ‚möglichen Welten‘ versteht: das System der Substanzen, das Gott erschaffen würde, wenn er eine mögliche Welt existieren lassen würde, oder die Begriffe in Gottes Intellekt. Meint man damit ein System von Substanzen, so gehören zwei oder mehr mögliche Substanzen genau dann zu derselben möglichen Welt, wenn ihre Perzeptionen perfekt aufeinander abgestimmt sind. Meint man hingegen Begriffe in Gottes Intellekt, so gehören zwei oder mehr vollständige Begriffe dann zur selben Welt, wenn sie erstens dieselben Gesetze enthalten und zweitens jeder Begriff die anderen Begriffe in seinem Begriff mit einschließt.⁷² Da es meinem Vorschlag zufolge nicht logisch ausgeschlossen ist, dass inkompossible Substanzen zugleich existieren, sondern nur unter der Annahme,

 Für einen ähnlichen Vorschlag, siehe Messina & Rutherford . Sie bezeichnen ihren Vorschlag als „kosmologische Interpretation“. Ihre Interpretation unterscheidet sich von meiner jedoch unter anderem darin, dass sie raum-zeitliche Einheit als Kriterium dessen,was als eine Welt zählt, ansehen.  Dies habe ich ausführlich in Kapitel  diskutiert.

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4 Leibniz’ Theorie der Kompossibilität

dass Gott eine Welt erschaffen möchte, könnte man ihn als Variante der Gesetzesinterpretation betrachten. Dieser Klassifikation bin ich nicht grundsätzlich abgeneigt. Allerdings unterscheidet sich mein Vorschlag in einer Hinsicht sowohl von der klassischen Gesetzesinterpretation als auch von den anderen in den Abschnitten 4.3 – 4.5 betrachteten Interpretationen. All diese Interpretationen gehen davon aus, dass der Begriff der Kompossibilität gegenüber dem Begriff der möglichen Welt prioritär ist. Mögliche Welten werden für gewöhnlich als „kompossible Mengen möglicher Individuen“ definiert.⁷³ Dieser Standardauffassung zufolge muss man zunächst den Begriff der Kompossibilität verstehen, bevor man überhaupt den Begriff der möglichen Welt verstehen kann. Folgt man hingegen meinem Vorschlag, verläuft die Erklärungsrichtung genau umgekehrt, und der Begriff der Welt wird dazu verwendet, den Begriff der Kompossibilität zu explizieren.⁷⁴ Viele Vertreter sowohl der logischen Interpretation als auch der Gesetzesinterpretation würden den Bikonditionalen, die Kompossibilität und mögliche Welten miteinander verknüpfen, durchaus zustimmen. Sie würden sie aber genau andersherum lesen und ihnen somit eine andere explanatorische Aufgabe zuweisen. Die vorgeschlagene Interpretation des Begriffs der Kompossibilität wirft sogleich die Frage auf, wie denn diejenigen Passagen zu lesen sind, in denen Leibniz suggeriert, dass Kompossibilität sich auf logische Konsistenz zurückführen lässt (und Inkompossibilität auf logische Inkonsistenz). Zur Erinnerung: Im Jahre 1690 schreibt Leibniz: „Kompossibel: das, was keinen Widerspruch mit etwas anderem [cum alio] einschließt.“⁷⁵ Wenn Gott jedoch (absolut gesprochen) zugleich inkompossible Substanzen erschaffen kann, wie lassen sich dann solche Stellen erklären? Dieser Einwand kann beantwortet werden, indem man darauf verweist, dass Gott inkompossible Substanzen zwar zugleich erschaffen kann, nicht aber zusammen oder gemeinsam, d. h. nicht als Teile eines Systems. In der zitierten Textstelle sagt Leibniz, dass zwei oder mehr Dinge miteinander kompossibel sind, wenn das eine mit dem anderen keinen Widerspruch einschließt. Substanzen sind also dann miteinander kompossibel, wenn ihre Koexistenz zu keinem Wider-

 Siehe z. B. Rescher , S. ; Mates , S. ; Nachtomy , S. .  Der Vorschlag, die Erklärungsrichtung umzukehren, findet sich bereits bei Koistinen & Repo  und bei Messina & Rutherford , S. . Koistinen & Repo gehen jedoch (im Gegensatz zu mir) davon aus, dass Gott ausschließlich Welten erschaffen kann, während Messina & Rutherford (wie bereits in Fußnote  erwähnt) den Begriff der Welt anders als ich verstehen. Auch Russell , S.  scheint zumindest an einer Stelle bereits davon auszugehen, dass der Begriff der Kompossibilität mithilfe des Begriffs der möglichen Welt erklärt wird und nicht umgekehrt.  AA ., : „C o m p o s s i b i l e quod cum alio non implicat contradictionem.“

4.7 Kompossibilität und mögliche Welten

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spruch führt. Umgekehrt sind zwei oder mehr Substanzen inkompossibel, wenn ihre Koexistenz zu einem Widerspruch führt. Die logische Interpretation erweist sich also insofern als richtig, als dass es in der Tat logisch unmöglich ist, dass inkompossible Substanzen koexistieren. Nicht einmal Gott kann A und B gemeinsam, als Mitglieder derselben Welt erschaffen, wenn A und B inkompossibel sind. Dies bedeutet jedoch nicht (wie Vertreter der logischen Interpretation behaupten), dass es überhaupt keinen Sinn gibt, in dem Gott A und B zugleich erschaffen kann. Zwar können A und B nicht zusammen existieren (A cum B). Kraft seiner uneingeschränkten Allmacht kann Gott aber A und B zugleich erschaffen, ohne damit eine Welt zu erschaffen, ohne also A und B zusammen zu erschaffen. Diese Überlegung zeigt, dass meine Interpretation den Textstellen, wo Leibniz Kompossibilität mit logischer Konsistenz in Verbindung bringt, Rechnung tragen kann. Wie verhält es sich mit denjenigen Stellen, auf die McDonough hingewiesen hat (siehe Abschnitt 4.5)? Dort versteht Leibniz Gottes Auswahl der besten aller möglichen Welten in Analogie zu geometrischen Optimierungsstrategien. Leibniz vergleicht das Auffinden der Welt mit dem meisten Sein bzw. der höchsten Perfektion anschaulich mit der Aufgabenstellung in Brettspielen, bei denen eine bestimmte Fläche mit einer festgelegten Anzahl Spielsteine optimal ausgefüllt werden soll. McDonough hatte diese und ähnliche Analogien so verstanden, dass jeder Spielstein für eine Substanz steht und dass es Gottes Ziel ist, die Substanzen so miteinander zu kombinieren, dass die Welt möglichst viel Sein oder Realität enthält. Das Problem mit dieser Interpretation war, dass sie ein humeanisches Verständnis möglicher Welten voraussetzt und der Weltgebundenheit Leibniz’scher Substanzen nicht gerecht wird. Aber wie sollen die entsprechenden Textstellen stattdessen gelesen werden? Ich glaube, man sollte die Brettspielanalogie (und ähnliche Vergleiche) nicht so verstehen, dass jeder Spielstein für eine (mögliche) Substanz steht. Schließlich sind die Spielsteine als solche noch nicht mit anderen Spielsteinen verknüpft und somit noch gar nicht begrifflich mit einer bestimmten möglichen Welt verbunden. Es liegt deshalb auf der Hand, sie mit den (Begriffen von) Proto-Individuen zu identifizieren, die wir im letzten Kapitel kennengelernt haben. Diese Proto-Individuen haben ebenfalls die Eigenschaft, noch nicht mit anderen Individuen begrifflich verknüpft zu sein und sind deshalb an keine bestimmte mögliche Welt gebunden. Vor diesem Hintergrund lässt sich Gottes Optimierungsstrategie, die Leibniz mit der Brettspielanalogie illustriert, wie folgt verstehen: Gott bildet zunächst die Begriffe von Proto-Individuen in seinem Geist (also Begriffe, die lediglich monadische aber keine relationalen Prädikate enthalten). Gottes Ziel ist es dann,

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4 Leibniz’ Theorie der Kompossibilität

diese Proto-Individuen mittels einer „gewissen Kunstregel“⁷⁶ so miteinander zu verbinden, dass dabei eine mögliche Welt mit so viel Realität wie möglich herauskommt. Natürlich erfasst Gott alle Weisen, auf die die Proto-Individuen miteinander verbunden werden können (also alle möglichen Welten) auf einmal, und er erschafft schließlich diejenige Welt, in der das Sein am dichtesten „gepackt“ ist, wo also möglichst viele Substanzen optimal miteinander verbunden sind. McDonoughs Grundintuition der „packing strategy“ ist also keineswegs falsch und lässt sich gut in meine Interpretation integrieren. Man muss nur beachten, dass die Grundelemente in den geometrischen Metaphern (also die Spielsteine, die Fliesen, o. ä.) nicht in Analogie zu Substanzen (also zu vollständigen Individuen) gesehen werden dürfen. Stattdessen stehen diese Grundelemente für Begriffe von Proto-Individuen in Gottes Intellekt, welche noch nicht in Welten integriert sind und die deshalb auch noch keine Begriffe vollständiger Individuen bzw. Substanzen sein können. Auf dieselbe Weise lässt sich auch noch ein weiterer Einwand entkräften. Wir haben oben (in Abschnitt 4.4) gesehen, dass Leibniz in §6 des Discours festhält, „dass die Welt, auf welche Weise auch immer Gott sie geschaffen hätte, immer regelmäßig und in einer bestimmten allgemeinen Ordnung gewesen wäre“. Er illustriert dies damit, dass sich jede willkürliche Verteilung von Punkten auf einem Blatt Papier durch eine geometrische Linie verbinden (also ‚ordnen‘) lässt. Dies wird häufig so verstanden, dass sich jede beliebige Ansammlung von Substanzen unter ein und dasselbe Gesetz bringen lässt und deshalb in einer Welt gemeinsam existieren kann. Damit droht der Begriff der Kompossibilität aber trivial zu werden, weil dann alles mit allem in einer Superwelt koexistieren könnte und somit alles mit allem kompossibel wäre. Auch diesem Einwand kann begegnet werden, indem man genau zwischen Begriffen von vollständigen Individuen und unvollständigen Proto-Individuen unterscheidet. Gott kann zwar jede beliebige Ansammlung von Proto-Individuen durch ein Gesetz miteinander verbinden. Sind die Proto-Individuen aber einmal verbunden, so werden sie zu vollständigen Individuen und lassen sich darüber hinaus nicht auch noch mit anderen Individuen aus anderen möglichen Welten verbinden. Die Punkte auf dem Blatt Papier stehen also nicht für die Begriffe von Substanzen, sondern für die Begriffe unvollständiger Proto-Individuen. Leibniz behauptet in Discours §6 also nicht, dass sich alle Substanzen miteinander in einer Welt verbinden lassen, wie oft behauptet wird. In diesem Abschnitt ist deutlich geworden, dass Leibniz den Begriff der Kompossibilität eng mit dem Begriff der möglichen Welt verknüpft. Nur mögliche

 G VII,  – .

4.8 Leibniz und die Mögliche-Welten-Semantik

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Substanzen, die gemeinsam in einer Welt existieren können, sind miteinander kompossibel. Da es Gottes Ziel ist, eine Welt – d. h. ein geordnetes Ganzes – zu erschaffen, kann er kraft seiner geordneten Allmacht also nur kompossible Mengen von Substanzen erschaffen. Kraft seiner uneingeschränkten Allmacht kann er hingegen (zumindest prinzipiell) auch inkompossible Mengen von Substanzen, die keine Welten konstituieren, erschaffen. Wie wir gesehen haben, garantiert diese Interpretation sowohl die Unabhängigkeit als auch die Weltgebundenheit von Substanzen. Es stellt sich jedoch die Frage, ob sie auch der Maximierungsthese und der These nicht-aktualisierter possibilia gerecht werden kann. Wenn es in Gottes uneingeschränkter Allmacht steht, auch mögliche Substanzen zu erschaffen, die inkompossibel miteinander sind, warum tut er es dann nicht? Schließlich würden dann mehr Substanzen existieren, als es tatsächlich der Fall ist. Zwar würden diese Substanzen keine Welt bilden, aber es scheint so, als würde durch diese Nicht-Welt mehr Sein realisiert als durch die beste aller möglichen Welten. Droht damit die von mir vorgeschlagene Interpretation nicht wieder in den Spinozismus zu kollabieren? Ist sie also nicht demselben Vorwurf ausgesetzt wie die klassische Gesetzesinterpretation? Es scheint, als könne nur die Maximierungsthese oder die These nicht-aktualisierter possibilia wahr sein, nicht aber beide zugleich. Ich glaube, dass man auch diesen Einwand gegen meine Interpretation entkräften kann. Der Schlüssel dazu ist ein besseres Verständnis der Maximierungsthese. Wir müssen uns klarer darüber werden, was genau maximiert wird. Bevor ich diese Aufgabe im übernächsten Abschnitt in Angriff nehme (Abschnitt 4.9), möchte ich im nächsten Abschnitt jedoch zunächst auf eine bemerkenswerte Konsequenz meiner bisher entwickelten Interpretation hinweisen: Es zeigt sich, dass Leibniz aus ganz prinzipiellen Gründen nicht als ein früher Vertreter der Mögliche-Welten-Semantik gelesen werden kann.

4.8 Leibniz und die Mögliche-Welten-Semantik Die heutzutage bekannteste und am weitesten verbreitete Analyse modaler Ausdrücke ist die Mögliche-Welten-Analyse. Ihr zufolge werden Notwendigkeit und Möglichkeit mittels der beiden folgenden Bikonditionale auf mögliche Welten reduziert:

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4 Leibniz’ Theorie der Kompossibilität

Eine Proposition ist notwendig genau dann, wenn sie in allen möglichen Welten wahr ist. Eine Proposition ist möglich genau dann, wenn sie in einigen möglichen Welten wahr ist.⁷⁷

In zeitgenössischen Debatten ist es durchaus üblich, diese beiden Sätze als „Leibniz’sche Bikonditionale“ zu bezeichnen.⁷⁸ In der älteren Forschungsliteratur wird Leibniz sogar häufig als ein Vertreter der Mögliche-Welten-Analyse avant la lettre dargestellt.⁷⁹ Viele Philosophinnen und Philosophen sehen in Leibniz so etwas wie den Großvater der Mögliche-Welten-Analyse.⁸⁰ Tatsächlich ist Leibniz der erste Philosoph, der möglichen Welten einen zentralen Platz in seinem System zuweist, und wie wir gesehen haben, spielen sie in seiner Metaphysik der Modalität tatsächlich eine nicht unwesentliche Rolle. In jüngster Zeit haben jedoch viele Kommentatorinnen darauf hingewiesen, dass dies keineswegs bedeutet, dass Leibniz Modalität auch mittels möglicher Welten analysiert. ⁸¹ In der Tat zeigt bereits eine ganz prinzipielle Überlegung, dass Leibniz keine Mögliche-Welten-Analyse von Möglichkeit und Notwendigkeit anstrebt. Eine solche Analyse ist für viele Philosophinnen und Philosophen des zwanzigsten und einundzwanzigsten Jahrhunderts vor allem deshalb attraktiv, weil sie eine Reduktion von Modalität verspricht. Der Bereich des Modalen wird auf den Bereich des Nicht-Modalen reduziert.⁸² Wie wir bereits wissen, ist dies aber überhaupt nicht Leibniz’ Ansatz. Zwar möchte auch Leibniz modale Begriffe wie Möglichkeit und Notwendigkeit analysieren. Er analysiert diese Begriffe jedoch mithilfe des Essenzbegriffs und verfolgt somit eine nicht-reduktive Strategie. Sein Ziel ist nicht, Modales auf Nicht-Modales zu reduzieren. Obwohl heute, wie bereits erwähnt, von den meisten Interpreten anerkannt wird, dass Leibniz keine Mögliche-Welten-Analyse anstrebt, wird in der Regel nicht bezweifelt, dass er die „Leibniz’schen Bikonditionale“ zumindest für wahr hält. Schließlich kann man diese Bikonditionale auch dann für wahr halten, wenn man Möglichkeit und Notwendigkeit nicht auf mögliche Welten reduzieren möchte.⁸³

 Siehe z. B. Sider , S. .  Siehe auch hierfür Sider , S. .  Siehe z. B. Mates , S. .  Diese Formulierung findet sich unter anderem in Adams , S. . Adams selbst lehnt diese Zuschreibung allerdings ebenfalls ab (wenn auch aus anderen Gründen als ich).  Siehe z. B. Adams , S.  –  und Karofsky .  Siehe hierfür die Diskussion in Kapitel  (Abschnitt .). Am bekanntesten ist Lewis’ MöglicheWelten-Analyse, der zufolge andere mögliche Welten genauso existieren wie die wirkliche Welt. Sider  gibt einen äußerst hilfreichen Überblick über verschiedene reduktive Theorien der Modalität.  Siehe hierfür Fine , S. .

4.8 Leibniz und die Mögliche-Welten-Semantik

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Man liest sie dann nicht im Sinne einer Definition, sondern als Erläuterungen oder Veranschaulichungen des Notwendigkeits- und des Möglichkeitsbegriffs. Mögliche Welten dienen als ein Modell, das bei der Analyse modaler Aussagen häufig hilfreich ist. Es sollte jedoch klar sein, dass auch dies nicht Leibniz’ Bild sein kann. Wie deutlich geworden ist, gibt es für Leibniz Möglichkeiten, die nicht durch mögliche Welten repräsentiert werden. Gott kann isolierte Substanzen und uneinheitliche Ansammlungen von Substanzen erschaffen, aber in keinem dieser beiden Fälle würde er eine mögliche Welt realisieren. Es gibt also Schöpfungsszenarien, die keiner möglichen Welt entsprechen. Dies zeigt, dass das Bild von Leibniz als einem frühen Vertreter der Mögliche-Welten-Analyse, der Möglichkeit und Notwendigkeit mithilfe möglicher Welten definiert, falsch ist. Es zeigt auch, dass er noch nicht einmal die ‚Leibniz’schen‘ Bikonditionale für wahr hält. Ich glaube, dass gerade der zweite Punkt häufig übersehen wird. So scheinen sowohl Vertreter der logischen Interpretation als auch Vertreter der klassischen Gesetzesinterpretation implizit vorauszusetzen, dass Leibniz den ‚Leibniz’schen‘ Bikonditionalen verpflichtet ist, wodurch sie zu falschen Schlüssen gelangen. So leugnen Vertreter der logischen Interpretation, dass Gott mögliche Substanzen von ihren Welten trennen kann und sie entweder allein oder zugleich mit anderen Substanzen aus anderen Welten erschaffen kann. Ich vermute, dass sie so vorgehen, damit die ‚Leibniz’schen‘ Bikonditionale erfüllt sind. Der logischen Interpretation zufolge ist etwas nur dann möglich, wenn es in mindestens einer möglichen Welt wahr ist.Vertreter der klassischen Gesetzesinterpretation möchten ebenfalls die Wahrheit der Bikonditionale gewährleisten, verfolgen dabei aber die entgegengesetzte Strategie. Sie gehen davon aus, dass jede beliebige Ansammlung von Substanzen eine mögliche Welt konstituiert. Damit erreichen sie letztlich dasselbe Ziel, wenn auch auf andere Weise. Auch dieser Deutung zufolge wird jede Möglichkeit durch eine mögliche Welt repräsentiert. Obwohl die logische Interpretation und die klassische Gesetzesinterpretation auf den ersten Blick einander entgegengesetzte Interpretationen des Begriffs der Kompossibilität sind, beruhen beide auf der grundlegenden Annahme, dass Leibniz an die Wahrheit der ‚Leibniz’schen‘ Bikonditionale glaubt. Sie versuchen auf verschiedene Arten, dieser Annahme Rechnung zu tragen und geraten dabei auf unterschiedliche Weisen mit Leibniz’ Texten in Konflikt. Die logische Interpretation lässt sich nicht mit der Unabhängigkeit von Substanzen vereinbaren, während sich die klassische Gesetzesinterpretation nicht mit der Weltgebundenheit von Substanzen vereinbaren lässt. Dieses Resultat lässt sich vermeiden, wenn man die beiden Interpretationen gemeinsame, zugrundeliegende Annahme aufgibt: Für Leibniz wird nicht jede Möglichkeit durch eine mögliche Welt repräsentiert. Er ist also sozusagen noch nicht einmal der Großonkel der

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4 Leibniz’ Theorie der Kompossibilität

Mögliche‐Welten-Semantik (geschweige denn deren Großvater) – schließlich hält er noch nicht einmal die nach ihm benannten ‚Leibniz’schen‘ Bikonditionale für wahr. Allerdings sollte man daraus nicht den Schluss ziehen, dass mögliche Welten gar keine, oder nur eine untergeordnete Rolle in Leibniz’ System spielen.⁸⁴ Wie wir gesehen haben, nehmen sie nicht nur in Leibniz’ Schöpfungsgeschichte einen zentralen Platz ein, sondern auch in Leibniz’ Metaphysik der Modalität. Dies ist im Verlauf dieser Arbeit bereits mehrfach deutlich geworden, und ich möchte hier nur kurz auf drei Punkte hinweisen: Erstens sind (wie in diesem Kapitel gezeigt) mögliche Welten nötig, um zu erklären, warum einige mögliche Substanzen kompossibel miteinander sind, andere hingegen inkompossibel. Zweitens hat sich (im dritten Kapitel) herausgestellt, dass Gott die Begriffe von Individuen gar nicht ohne die Begriffe möglicher Welten formen kann. Und drittens haben wir mehrfach festgestellt, dass Leibniz mögliche Welten für die Evaluation kontrafaktischer Konditionale benötigt.⁸⁵ Dies macht deutlich, dass mögliche Welten gleich in mehreren Kontexten von Bedeutung für Leibniz’ Metaphysik der Modalität sind. Dieser Zusammenhang ist aber nicht ganz so unmittelbar, wie die ‚Leibniz’schen‘ Bikonditionale vermuten lassen. Nicht jedem möglichen Schöpfungsszenario entspricht auch eine mögliche Welt.

4.9 Die Maximierung von was? Ich komme nun auf die Frage zurück, ob die bisher entwickelte Interpretation nicht genauso in den Spinozismus kollabiert wie die herkömmliche Gesetzesinterpretation. Wir scheinen mit folgendem Problem konfrontiert zu sein: Meiner Lesart zufolge kann zwar auch Gott keine Welt erschaffen, die alle möglichen Substanzen enthält, es können also nicht alle möglichen Substanzen zusammen in einer Welt existieren. Es ist aber auch deutlich geworden, dass Leibniz sich ohne Zweifel auf die Unabhängigkeitsthese verpflichtet. Kraft seiner uneingeschränkten Allmacht (potentia absoluta) kann Gott jede Substanz unabhängig von der Existenz oder Nicht-Existenz anderer Substanzen erschaffen. Im Prinzip kann Gott also alle Substanzen auf einmal existieren zu lassen – auch wenn eine solche Ansammlung von Substanzen keine Welt wäre, und viele inkompossible Substanzen zugleich existieren würden. Meiner Lesart zufolge kann Gott also zwar alle mög-

 Davon gehen etwa Karofsky  und Lagerlund & Myrdal  aus.  Dies habe ich unter anderem in Abschnitt . diskutiert. Siehe hierzu auch Mondadori  sowie Griffin , S.  – .

4.9 Die Maximierung von was?

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lichen Substanzen zugleich erschaffen, er tut es aber nicht. Aber warum nicht? Schließlich hat Gott zum Ziel das ‚Sein‘ bzw. die ‚Realität‘ im Universum zu maximieren. Aber warum erschafft er dann nicht alle möglichen Substanzen? Es stellt sich also die Frage, wie Leibniz zugleich der Maximierungsthese und der These nicht-aktualisierter possibilia Rechnung tragen kann. Warum realisiert Gott nicht alle möglichen Substanzen, wenn dies in seiner Allmacht steht? Es scheint, als sei er aufgrund seiner Allgüte dazu sogar verpflichtet. Schließlich ist für Leibniz alles Sein auch gut. Würde Gott also weniger erschaffen als in seiner Macht steht, so würde er sich schuldig machen, da er dann nicht die beste aller möglichen Welten erschaffen würde. Auch der Verweis auf die geordnete Allmacht (potentia ordinata) hilft hier nicht weiter. Es stimmt zwar, dass Gott unter der Voraussetzung oder ‚Hypothese‘, dass er eine Welt schaffen will, nicht alle Substanzen zugleich erschaffen kann. Es fragt sich aber sogleich,warum Gott überhaupt eine Welt schaffen will,wenn er auf andere Weise mehr Substanzen existieren lassen kann.Wenn die Maximierung des Seins Gottes oberstes Ziel ist, warum sollte er dieses Ziel einem anderen Ziel – nämlich demjenigen, eine Welt zu schaffen – unterordnen? Es scheint rein theoretisch nur drei Möglichkeiten zu geben, Leibniz so zu interpretieren, dass seine Position weder inkonsistent wird noch ihn auf die spinozistische These verpflichtet, dass alle Mögliche wirklich ist. Erstens kann man die Maximierungsthese einfach aufgeben. Zweitens könnte Gott noch andere, mit der Maximierung des Seins im Universum in Konflikt stehende Ziele haben. Wäre dies der Fall, so würde Gott deshalb nicht alle möglichen Substanzen erschaffen, weil er das Ziel der Maximierung mit anderen Zielen sozusagen ausbalancieren muss. Drittens schließlich könnte es sein, dass die Maximierungsthese anders verstanden werden muss als zunächst gedacht.Vielleicht ist die ‚Maximierung der Essenz‘ oder die ‚Maximierung des Seins‘ ja gar nicht dann erreicht, wenn so viele Substanzen wie möglich existieren. Dann würde Gott einfach deshalb nicht alle möglichen Substanzen existieren lassen, weil dies der Maximierungsthese widersprechen würde. Die erste Option ist kein Ausweg, da sie im direkten Widerspruch zum Text steht. Es ist ein nicht zu leugnendes Faktum, dass Leibniz’ Gott anstrebt, in irgendeinem Sinn „so viel wie möglich“ zu erschaffen.⁸⁶ Da er damit dank seiner Allmacht auch erfolgreich sein wird, existiert auch tatsächlich so viel wie möglich. Es hätte also nicht mehr existieren können als in Wirklichkeit existiert.

 Dies haben wir in Abschnitt . gesehen. Ich werde in Kürze auf einige weitere aufschlussreiche Textstellen eingehen.

200

4 Leibniz’ Theorie der Kompossibilität

Die zweite Möglichkeit, Leibniz eine konsistente, nicht-spinozistische Position zuzuschreiben, ist vielversprechender. Man könnte argumentieren – und einige Interpreten haben dies auch getan – dass Leibniz zwar tatsächlich die Maximierungsthese vertritt. Maximierung ist, so der Vorschlag, aber nicht das alleinige Ziel Gottes. Daneben hat Gott noch das Ziel, eine Welt mit möglichst einfachen Gesetzen zu erschaffen. Da sich nicht beide Ziele in höchstem Maße realisieren lassen, muss Gott die Waage zwischen beiden halten und so viel wie möglich mit so einfachen Gesetzen wie möglich realisieren. Diese Lesart wird prominenterweise von Nicholas Rescher vertreten. Er geht davon aus, dass Leibniz’ Kriterium dafür,welche Welt die beste aller möglichen Welten ist, ein „conflictadmitting two-factor-criterion“ ist.⁸⁷ Die beiden bestimmenden Faktoren sind laut Rescher „Varietät und Reichhaltigkeit der Phänomene“ („variety and richness of phenomena“) einerseits und „Gesetzesartigkeit oder Ordnung“ („lawfulness or order“) andererseits.⁸⁸ Es gibt einige Textstellen, wo deutlich wird, dass Leibniz in der Tat davon ausgeht, dass Gott nicht nur ein maximal angefülltes Universum anstrebt, sondern auch ein Universum mit möglichst einfachen und eleganten Gesetzen. So heißt es im Discours: Gott hat aber diejenige [Welt] gewählt, die die vollkommenste ist, das heißt diejenige, die zu gleicher Zeit die einfachste den Hypothesen nach, aber die reichste den Erscheinungen nach ist.⁸⁹

Rescher hat also Recht damit, dass Leibniz’ Gott einfache Gesetze und eine größtmögliche Ordnung zum Ziel hat. Allerdings geht aus der Textstelle nicht hervor, dass dieses Ziel mit der Maximierung des Seins (oder, wie Leibniz sich an dieser Stelle ausdrückt, mit der Maximierung der „Erscheinungen“) in Konflikt steht. Es könnte schließlich sein, dass Gott beide Ziele gleichermaßen in höchstem Maße realisieren kann – dass er also sowohl so viel wie möglich erschaffen kann als auch so einfache Gesetze wie möglich realisieren kann. Er müsste dann die beiden Faktoren nicht gegeneinander abwägen und müsste somit bei keinem von beiden Abstriche machen. Dies ist sicherlich eine Möglichkeit, die durch die zitierte Passage offen gelassen wird. Tatsächlich scheint Leibniz’ Bild aber sogar noch ein wenig anders zu sein. In einem Brief an Malebranche setzt er die beiden im Discours erwähnten

 Rescher , S. .  Rescher , S. . Siehe auch Rescher , S.  – .  DM §/Holz Bd. , : „Mais Dieu a choisi celuy qui est le plus parfait, c’est à dire celuy qui est en même temps le plus simple en hypotheses et le plus riche en phenomenes.“

4.9 Die Maximierung von was?

201

Faktoren, die von Rescher als in Konflikt stehend betrachtet werden, explizit zueinander in Beziehung: Es muss auch gesagt werden, dass Gott so viele Dinge macht, wie er kann, und was ihn dazu verpflichtet, einfache Gesetze zu suchen, ist sein Ziel, Platz für so viele Ding zu finden, wie es möglich ist zusammenzustellen; und wenn er sich anderer Gesetze bedient hätte, so wäre dies, als wolle man versuchen, ein Gebäude mit runden Steinen zu bauen, was uns mehr Raum kosten würde, als sie einnehmen.⁹⁰

Hier macht Leibniz deutlich, dass er keineswegs einen Konflikt zwischen Gottes Ziel einfache Gesetze zu realisieren einerseits und der Maximierung des Seins andererseits sieht. Vielmehr geht er davon aus, dass Gott eine Welt mit möglichst einfachen Gesetzen erschafft, damit er möglichst viel erschaffen kann. Einfache Gesetze sind demnach ein Mittel, um das Ziel der Maximierung zu erreichen.⁹¹ Es ist also keineswegs so, dass Gott einen Kompromiss zwischen zwei nicht vollständig umsetzbaren Zielen eingehen müsste. Sein Hauptziel ist die Maximierung des Seins oder der Essenz im Universum, und nur weil Gott dieses Ziel hat, hat er auch das Ziel, ein Universum mit möglichst einfachen Gesetzen zu erschaffen. Warum genau Leibniz glaubt, dass einfache Gesetze dabei helfen, so viel Sein wie möglich zu produzieren, kann ich hier nicht ausführlich diskutieren.⁹² Ein Beispiel kann aber helfen etwas besser nachzuvollziehen, warum Leibniz diese auf den ersten Blick recht überraschende These vertritt.⁹³ Ein Gesetz, das für Leibniz eine große Rolle spielt, ist das Kontinuitätsprinzip, das er auch als ein „Prinzip der allgemeinen Ordnung“ bezeichnet.⁹⁴ In den Nouveaux Essais formuliert er dieses Prinzip wie folgt: Nichts geschieht auf einen Schlag; und es ist einer meiner größten und bewährtesten Grundsätze, dass die Natur niemals Sprünge macht. Das nannte ich das Gesetz der Kontinuität […].⁹⁵

 G I, : „Il faut dire aussi que Dieu fait le plus de choses qu’il peut, et ce qui l’oblige à chercher des loix simples, c’est à fin de trouver place pour tout autant de choses qu’il est possible de placer ensemble; et s’il se servoit d’autres loix, ce seroit comme si on vouloit employer des pierres rondes dans un batiment, qui nous ostent plus d’espace qu’elles n’occupent.“  Darauf weist explizit Rutherford , S.  –  gegen Rescher hin.  Für eine solche Diskussion, siehe Rutherford , S.  – .  Siehe für das Folgende ebenfalls Rutherford , S.  – , der, wie ich im Folgenden, ebenfalls das Kontinuitätsprinzip verwendet, um deutlich zu machen, warum Leibniz glaubt, dass einfache Gesetze für die Maximierung nötig sind.  G III, .  AA ., /NE,Vorwort/Holz, Bd. ., XXIX: „Rien ne se fait tout d’un coup, et c’est une de mes grandes maximes et des plus verifiées, que la nature ne fait jamais des sauts: ce que j’appellois la loi de la continuité.“ Die präzise Fassung des Kontinuitätsprinzips findet sich in GM VI, /

202

4 Leibniz’ Theorie der Kompossibilität

Dieses Prinzip ist für Leibniz nicht notwendig, sondern bloß kontingenterweise wahr. Es hängt also von Gottes Weisheit und Güte ab, eine Welt zu erschaffen, die dem Kontinuitätsprinzip genügt. Aus dem Kontinuitätsprinzip folgert Leibniz unter anderem, dass Gott eine kontinuierliche Serie von Arten von Lebewesen erschafft, die keine Lücken aufweist. Gäbe es solche Lücken zwischen den unterschiedlichen Arten, so würde die Natur unerlaubte „Sprünge“ machen.⁹⁶ Dieses Beispiel erlaubt uns besser zu verstehen, warum Leibniz annimmt, dass einfache Gesetze als Mittel dazu dienen, so viel wie möglich zu erschaffen. Wenn Gott dem Kontinuitätsprinzip (einem ‚einfachen Gesetz der generellen Ordnung‘) folgt, so lässt er keine Lücken zwischen den unterschiedlichen Spezies und erschafft somit eine Serie, die maximal „angefüllt“ ist – also eine Welt, in der ‚Sein‘ oder ‚Essenz‘ maximiert ist.⁹⁷ Das Beispiel des Kontinuitätsprinzips illustriert, warum Gottes Ziel, ein Universum mit möglichst einfachen Gesetzen zu erschaffen, nicht in Konflikt zu seinem Ziel der Maximierung des Seins steht. Gott erschafft ein geordnetes Universum deshalb, weil er auf diese Weise sein Ziel der Maximierung am besten erreichen kann. Damit ist klar, dass auch der zweite Vorschlag, Leibniz’ Position auf konsistente Weise zu rekonstruieren, nicht funktionieren kann. Gottes oberstes Ziel ist es, so viel wie möglich – so viel ‚Essenz‘ wie möglich – zu erschaffen, und dieses Ziel wird nicht gegen ein anderes Ziel aufgewogen. Wir werden allerdings gleich sehen, dass Ordnung und Harmonie dennoch auch einen intrinsischen Wert für Leibniz haben und nicht nur einen rein instrumentellen Wert,wie man nach den bisherigen Ausführungen vermuten könnte. Dies liegt (wie gleich klar werden wird) daran, dass die Menge an Essenz, die ein System besitzt, unter anderem davon abhängt, wie harmonisch bzw. geordnet dieses System ist. Da sich auch die zweite Option, Leibniz vor den spinozistischen Konsequenzen seiner Maximierungsthese (in Kombination mit der Unabhängigkeits-

Herring, Bd. , : „Wenn sich der Unterschied zweier Fälle in der Reihe der gegebenen bzw. vorausgesetzten Elemente unbegrenzt verringern lässt, so muss er notwendig in den gesuchten bzw. sich aus der ersten Reihe ergebenden Elementen unter jede beliebig kleine Größe sinken. Oder verständlicher gesagt: Wenn sich (bei den gegebenen Größen) zwei Fälle stetig einander nähern, so dass schließlich der eine in den anderen übergeht, muss notwendig bei den abgeleiteten bzw. abhängigen (gesuchten) Größen dasselbe geschehen.“  In einem Brief an Varignon aus dem Jahre  (Herring, Bd. , ) hält Leibniz fest: „Ich meine also gute Gründe zu der Annahme zu haben, dass alle die verschiedenen Klassen von Wesen, deren Gesamtheit das Universum ausmacht, in den Ideen Gottes, der ihre wesentlichen Abstufungen distinkt erkennt, nur ebenso viele Ordinaten ein und derselben Kurve sind, deren Einheit es nicht duldet, dass man zwischen zwei von ihnen irgendwelche anderen als die wirklich vorhandenen einschiebt, da dies Unordnung und Unvollkommenheit anzeigen würde.“  Für eine ausführliche Diskussion von Leibniz’ Kontinuitätsprinzip, siehe Bender .

4.9 Die Maximierung von was?

203

these) zu bewahren, als exegetisch nicht haltbar herausgestellt hat, sollten wir uns der dritten Interpretationsmöglichkeit zuwenden. Vielleicht haben wir ja den Inhalt der Maximierungsthese bisher falsch verstanden. Möglicherweise ist die größtmögliche Menge an ‚Essenz‘, ‚Sein’ oder ‚Realität‘ gar nicht dann erreicht, wenn alle möglichen Substanzen auf einmal existieren. Sollte sich herausstellen, dass dies tatsächlich der Fall ist, dann hätten wir eine Lösung für das Problem des drohenden Spinozismus. Wenn die Realisierung der größtmöglichen Menge an Essenz nicht gleichbedeutend mit der Aktualisierung aller möglichen Substanzen ist, dann lassen sich die Maximierungsthese und die These nicht-aktualisierter possibilia (unter gleichtzeitiger Aufrechterhaltung der Unabhängigkeitsthese) miteinander vereinbaren. Der Spinozismus ließe sich so vermeiden. Um zu sehen, ob eine solche Lösung des Problems plausibel sein kann, müssen wir uns klarer darüber werden, was der Maximierungsthese zufolge genau maximiert wird. Wir wissen bereits, dass Leibniz davon spricht, dass Gott die „Menge an Essenz“ („essentiae quantitas“) bzw. die „Menge an Realität“ („quantitas realitatis“) im Universum maximiert.⁹⁸ Dies ist für ihn gleichbedeutend damit, dass die „Perfektion“ maximiert wird.⁹⁹ Wie genau ist das zu verstehen? Bezüglich individueller Substanzen ist Leibniz’ Antwort klar: Die Perfektion einer Substanz bemisst sich daran, wie distinkt ihre Perzeptionen sind. In den Prinzipien der Natur und Gnade schreibt er: Da aber jede distinkte Perzeption der Seele eine unendliche Zahl verworrener Perzeptionen einschließt, die das ganze All in sich einhüllen, kann die Seele sogar die Dinge, von denen sie eine Perzeption hat, nur insoweit erkennen, als sie distinkte und hervorgehobene Perzeptionen besitzt; und Perfektion kommt ihr nach dem Maße ihrer distinkten Perzeptionen zu (et elle a de la perfection, à mesure de ses perceptions distinctes).¹⁰⁰

Eine Substanz mit vielen distinkten Perzeptionen ist also perfekter – d. h. sie hat mehr Essenz oder Realität – als eine Substanz mit vielen verworrenen Perzeptionen. Oben habe ich dies anhand des Beispiels eines Engels erläutert. Ein Engel ist deshalb perfekter als beispielsweise ein Regenwurm, weil er wesentlich dis-

 Siehe Abschnitt ..  Laut Leibniz ist Perfektion nichts anderes als Menge an Essenz bzw. Menge an Realität (siehe C  und G VII, ). Siehe auch AA ., , wo Leibniz schreibt: „P e r f e c t i u s est quod plus habet r e a l i t a t i s vel Entitatis positivae.“  PNG §/G VI, /Holz Bd. ,  –  (meine Hervorhebung; Übersetzung leicht geändert): „Mais comme chaque perception distincte de l’Ame comprend une infinité de perceptions confuses, qui enveloppent tout univers, l’Ame même ne connoit les choses dont elle a perception, qu’autant qu’elle en a des perceptions distinctes et relevées; et elle a de la perfection, à mesure de ses perceptions distinctes.“

204

4 Leibniz’ Theorie der Kompossibilität

tinktere Perzeptionen als der Regenwurm hat.¹⁰¹ Es ist also recht klar, was Leibniz meint, wenn er sagt, dass eine individuelle Substanz mehr Realität oder Essenz hat als eine andere individuelle Substanz. Wie aber bemisst sich die Essenz oder Realität einer ganzen Gruppe von Substanzen?¹⁰² Auf den ersten Blick ist ein additives Modell naheliegend. Demnach erhält man das Maß an Perfektion oder Realität einer Gruppe von Substanzen, indem man die Menge an Realität, die den einzelnen Substanzen in dieser Gruppe zukommt, einfach aufaddiert. Hat z. B. Substanz A zwei Einheiten Realität, Substanz B fünf Einheiten und Substanz C sieben Einheiten, so hat die Gruppe dieser drei Substanzen vierzehn Einheiten Realität. Diesem Modell zufolge ist die Perfektion einer Gruppe von Substanzen nichts anderes als die Summe der Perfektionen der einzelnen Substanzen. Wenn dies die korrekte Interpretation der Perfektion von Gruppen von Substanzen ist, dann wird die Perfektion einer Gruppe individueller Substanzen durch Hinzufügen einer weiteren Substanz stets erhöht. Da für Leibniz jede mögliche Substanz ein mehr oder weniger perfektes Abbild Gottes ist, hat jede Substanz auch ein gewisses Maß an positiver Realität, auch wenn dieses sehr niedrig ausfallen kann. Das additive Modell hat also zur Folge, dass die Gruppe mit dem höchsten Maß an Perfektion die Gruppe aller möglichen Substanzen ist. Damit scheint der Spinozismus aber unausweichlich zu sein. Wenn die Gruppe aller möglichen Substanzen am meisten Essenz oder Realität realisiert, dann ist Gott moralisch verpflichtet, alle möglichen Substanzen zu erschaffen (schließlich ist eine Schöpfung mit mehr Realität immer auch moralisch besser als eine mit weniger Realität). Aber geht Leibniz wirklich von einem additiven Modell aus? Ist die Perfektion einer Gruppe von Substanzen tatsächlich nichts anderes als die Summe der Einzelperfektionen der Substanzen? Zumindest gegen Ende seines Lebens scheint Leibniz ein solches additives Modell abzulehnen und stattdessen für eine andere Konzeption zu plädieren. In dieser Konzeption spielt der Begriff der Harmonie eine zentrale Rolle. In einem Brief an Wolff schreibt er im Jahre 1715:

 Es geht hier freilich um den perzeptuellen Gesamtzustand. Es mag sein, dass es lokal Perzeptionen gibt, die beim Regenwurm distinkter sind, etwa wenn der Regenwurm auf den Körper des Engels einwirkt (auch Engel haben laut Leibniz Körper). Global betrachtet hat der Engel aber wesentlich distinktere Perzeptionen als der Regenwurm (siehe für die Unterscheidung zwischen lokaler und globaler Distinktheit Schmid , S. ).  Brown , S.  (Fn. ) macht ebenfalls den Unterschied zwischen der Perfektion individueller Substanzen einerseits und der Perfektion möglicher Welten andererseits. Ich spreche hier nicht von möglichen Welten, sondern verwende den neutralen Ausdruck „Gruppe“, weil meiner Interpretation zufolge nicht alle Gruppen von Substanzen auch Welten sind.

4.9 Die Maximierung von was?

205

Perfektion ist die Harmonie unter den Dingen, oder die Beobachtbarkeit dessen, was allgemein ist, bzw. die Übereinstimmung oder Identität in der Vielfalt; du könntest auch sagen, dass es der Grad an Betrachtbarkeit (gradum considerabilitatis) ist. Denn Ordnung, Regelmäßigkeit und Harmonie laufen auf dasselbe hinaus. Du könntest auch sagen, dass es der Grad an Essenz ist, wenn Essenz aus den harmonischen Eigenschaften beurteilt wird, die der Essenz sozusagen Gewicht und Bedeutung verleihen.¹⁰³

Dies ist zweifellos eine schwierig zu verstehende Textstelle, in der Leibniz viele für seine Metaphysik zentrale Begriffe miteinander auf interessante Weise in Beziehung setzt.Wir sollten deshalb versuchen diese Passage schrittweise zu verstehen. Zunächst ist festzuhalten, dass es hier nicht um die Perfektion einzelner individueller Substanzen geht (wie z. B. in der oben zitierten Stelle aus den Prinzipien der Natur und Gnade), sondern um die Perfektion von Gruppen oder Systemen von Substanzen (Perfektion wird als „Harmonie der Dinge“/„harmonia rerum“ bestimmt). Wie gewohnt wird Perfektion wieder mit dem „Grad an Essenz“, d. h. mit der Menge an Essenz, identifiziert. Leibniz erläutert dann aber weiter – und dies ist entscheidend – dass die Essenz auf Basis der „harmonischen Eigenschaften“ („ex proprietatibus harmonicis“) ‚berechnet‘ wird. Dies ist eine bemerkenswerte Aussage. Offenbar lehnt Leibniz das additive Modell ab und geht davon aus, dass die Menge der Essenz einer Gruppe von Substanzen sich nicht durch bloßes Aufsummieren der Essenzen der einzelnen Substanzen ergibt. Stattdessen zählt auch, wie harmonisch sich diese Substanzen in ein System einfügen lassen. Erst Harmonie verleiht der Essenz laut Leibniz „Gewicht und Bedeutung“. Dies wirft sogleich die Frage auf, was denn hier genau unter Harmonie zu verstehen ist. Auch dies teilt uns Leibniz in der Briefstelle mit. Er identifiziert Harmonie mit Ordnung (ordo) und Regularität (regularitas) und definiert sie als „Übereinstimmung oder Identität in der Vielfalt“. Was ist damit gemeint? Ich verstehe Leibniz hier so, dass eine Gruppe von Substanzen genau dann harmonisch ist, wenn ihre Perzeptionen perfekt aufeinander abgestimmt sind und die Begriffe dieser Substanzen dieselben Gesetze enthalten und sich gegenseitig widerspiegeln. Dabei handelt es sich natürlich um genau die Gruppen von Substanzen, die Leibniz als Welten bezeichnet. Welten enthalten eine Vielfalt von Substanzen, die eine Übereinstimmung aufweisen – alle Substanzen repräsentieren, aus unterschiedlichen Perspektiven, dasselbe – und die vollständigen Begriffe der Substanzen enthalten identische Gesetze. Damit erfüllen Welten das von Leibniz formulierte Kriterium für Harmonie.  LW : „P e r f e c t i o est harmonia rerum, vel observabilitas universalium, seu consensus vel identitas in varietate; posses etiam dicere esse gradum considerabilitatis. Nempe ordo, regularitas, harmonia eodem redeunt. Posses etiam dicere esse gradum essentiae, si essentia ex proprietatibus harmonicis aestimetur, quae ut sic dicam faciunt essentiae pondus et momentum.“

206

4 Leibniz’ Theorie der Kompossibilität

Die Perfektion, Realität oder Essenz einer Gruppe von Substanzen ist also offenbar von zwei Faktoren abhängig: (i) davon, wieviel Realität jeder einzelnen individuellen Substanz zukommt und (ii) davon, wie harmonisch bzw. geordnet die Substanzen sind. Wenn Leibniz sagt, dass Gott die Essenz oder die Realität im Universum maximiert, dann bedeutet dies also nicht, dass er so viele Substanzen wie möglich erschafft, sondern dass er so viele miteinander harmonierende Substanzen wie möglich erschafft.¹⁰⁴ Dies hat eine für unseren Kontext interessante Konsequenz: Wenn man zu einer harmonischen und geordneten Menge von Substanzen (d. h. zu einer Welt) weitere Substanzen hinzufügt, so würde man zwar eine Gruppe oder Ansammlung mit mehr Substanzen erhalten. Die Menge an Essenz oder Realität würde sich aber verringern, da die entstehende Ansammlung kein harmonisches Ganzes mehr ausmachen würde. Und wenn Gott alle möglichen Substanzen erschaffen würde, so hätte er zwar die Anzahl von Substanzen maximiert. Er hätte aber nicht die Essenz oder Realität der Schöpfung maximiert, weil sich nicht alle Substanzen in einem harmonischen System integrieren lassen. Eine Analogie kann hier helfen Leibniz’ Bild besser zu verstehen. Schlägt man auf einer Klaviertastatur alle Cs, Es und Gs an, so erklingt ein C-Dur Akkord. Schlägt man hingegen alle achtundachtzig Tasten zugleich an, so ist der C-Dur Akkord in dem entstehenden einen Klang zwar ebenfalls irgendwie enthalten, das Resultat ist aber eine chaotisch klingende Kakophonie. Wenn bei der Bestimmung der Realität oder Essenz eines Systems tatsächlich nur die ‚harmonischen Eigenschaften‘ in Betracht gezogen werden, so könnte man sagen, dass der C-Dur Akkord ‚mehr Essenz‘ hat als die Kakophonie aller Töne, obwohl bei letzterer natürlich mehr Tasten angeschlagen werden. In Analogie dazu kann man sagen, dass die (harmonische) wirkliche Welt mehr Essenz hat als die (chaotische) Ansammlung aller möglichen Substanzen. Ich glaube, wir sind nun in der Lage zu verstehen, warum die Maximierungsthese (in Kombination mit der Unabhängigkeitsthese) nicht dazu führt, dass alle möglichen Substanzen aktualisiert werden. Wenn Leibniz davon spricht, dass Gott Essenz, Realität oder Perfektion maximiert, oder dass er so viel wie möglich existieren lässt, dann ist damit nicht gemeint, dass Gott einfach die Anzahl der Substanzen maximiert. Stattdessen maximiert Gott die Anzahl der Substanzen, die harmonisch zusammen existieren können. So verstanden lässt sich die Maximierungsthese gut mit der These der nicht-aktualisierten possibilia vereinbaren. Da dasjenige Schöpfungsszenario, das die größtmögliche Menge an Essenz realisiert (die beste aller möglichen Welten) nicht alle possibilia enthält, führt die Tatsache,

 Für eine ähnliche Lesart, siehe Brown , S.  – .

4.10 Fazit

207

dass Gott das Sein oder die Essenz maximiert, auch nicht dazu, dass alle möglichen Substanzen wirklich existieren. Ich habe Leibniz’ Position in diesem Abschnitt so rekonstruiert, dass die Perfektion bzw. die Menge an Essenz eines Systems von Substanzen von zwei Faktoren bestimmt wird: (i) davon, wie perfekt die einzelnen Substanzen sind und (ii) davon, wie harmonisch das ganze System ist. An dieser Stelle könnte man fragen, worin sich meine Rekonstruktion von Reschers Interpretation unterscheidet. Auch Rescher spricht schließlich von zwei ähnlichen Faktoren: von Ordnung einerseits und Reichhaltigkeit der Phänomene andererseits. Im Unterschied zu Rescher gehe ich allerdings nicht davon aus, dass Gott einerseits die Menge an Essenz maximieren will und andererseits das damit in Konflikt stehende Ziel verfolgt eine größtmögliche Ordnung zu schaffen. Gott hat (und dies betont Leibniz häufig) nur ein einziges übergeordnetes Ziel: die Maximierung der Menge an Essenz oder Perfektion im Universum. Dieses Ziel erreicht er, indem er so viele Substanzen wie möglich, die so perfekt wie möglich sind, in einem harmonischen System zusammen erschafft.¹⁰⁵

4.10 Fazit Das Thema der Kompossibilität ist eines der am schwierigsten zu verstehenden Gebiete der gesamten Leibniz’schen Philosophie. Gleichzeitig ist ein tragfähiger Begriff der Kompossibilität für Leibniz unverzichtbar, da sein System andernfalls spinozistische Konsequenzen zu haben droht, die er um jeden Preis vermeiden will. In diesem Kapitel habe ich versucht seine Theorie der Kompossibilität so zu rekonstruieren, dass sie mit all den grundlegenden metaphysischen Thesen, die er vertritt, vereinbar ist. Dies ist keine leichte Aufgabe. Ich glaube aber, dass sie lösbar ist, wenn man (i) verstanden hat, wie sich in Leibniz’ metaphysischen Rahmen die Unabhängigkeit von Substanzen und ihre Weltgebundenheit miteinander vereinbaren lassen, und (ii) dass Leibniz keine humeanische Konzeption möglicher Welten hat. Zu Beginn des Kapitels habe ich erwähnt, dass das Thema der Kompossibilität häufig in Zusammenhang mit Leibniz’ Verhältnis zum Nezessitarismus diskutiert

 Allerdings können auch die beiden von mir benannten Faktoren miteinander in Konflikt stehen. So kann z. B. eine größere Anzahl von Substanzen zu Lasten der Harmonie gehen (darauf hat mich zu Recht Christian Barth hingewiesen). Im Unterschied zu Rescher geht es in meiner Interpretation jedoch in beiden Faktoren um die Maximierung der Essenz. Rescher hingegen geht davon aus, dass Gott bei der Erschaffung unserer Welt zwei ganz unterschiedliche grundlegende Ziele vor Augen hat.

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4 Leibniz’ Theorie der Kompossibilität

wird. Ich habe mich bewusst dafür entschieden, diese beiden Fragen voneinander zu trennen. Man sollte zumindest vorläufig genau zwischen Leibniz’ rationalistischem Theismus auf der einen Seite und einer potentiellen anti-nezessitaristischen Position auf der anderen Seite unterscheiden. Ob sein rationalistischer Theismus Leibniz letztlich auf eine nezessitaristische Position festlegt, werde ich im nächsten Kapitel untersuchen.

5 Leibniz und das Problem des Nezessitarismus 5.1 Einleitung: Rationalistischer Theismus und Nezessitarismus „Nun sag, wie hast du’s mit dem Nezessitarismus?“ Das ist so etwas wie die Gretchenfrage der Leibniz’schen Philosophie. Leibniz wird nicht müde zu betonen, dass die wirkliche Welt nur kontingenterweise existiert. Aber ist er zu dieser Behauptung auch berechtigt? Und was genau ist hier mit Kontingenz gemeint? Hätte Gott wirklich eine andere Welt mit anderen Substanzen erschaffen können? Viele Interpretinnen und Interpreten zweifeln daran, dass sich im Rahmen von Leibniz’ System echte Kontingenz überhaupt aufrechterhalten lässt. So wurde z. B. häufig argumentiert, dass Leibniz’ Theorie vollständiger Begriffe nezessitaristische Implikationen hat. Laut Leibniz folgen alle Eigenschaften, die den Dingen in der Welt zukommen, aus den Begriffen dieser Dinge, was deren Kontingenz in der Tat zu gefährden scheint. Es ist allerdings umstritten, ob Leibniz’ Theorie vollständiger Begriffe ihn tatsächlich auf eine nezessitaristische Position verpflichtet. Eine Streitfrage ist z. B., ob der vollständige Begriff einer individuellen Substanz auch die Eigenschaft der Existenz (bzw., im Fall nichtaktualisierter Substanzen, die Eigenschaft der Nicht-Existenz) mit einschließt.¹ Ist dies nicht der Fall, so führt Leibniz’ Theorie vollständiger Begriffe auch nicht zum Nezessitarismus.² Der Hauptgrund, aus dem viele Kommentatoren befürchten, dass Leibniz’ System keinen Raum für Kontingenz lässt, ist denn auch ein anderer. Das Problem ist, dass die These, die ich als rationalistischen Theismus bezeichnet habe, auf mehr oder weniger direktem Wege zum Nezessitarismus zu führen scheint. Anlass zu dieser Sorge gibt folgende, scheinbar zwingende Überlegung: Da Gott notwendigerweise ein perfektes Wesen ist und sich stets von den besten Gründen leiten lässt, liegt es in seiner Natur, sich für die beste aller möglichen Welten zu entscheiden. Er wählt und erschafft somit notwendigerweise das Beste. Würde er dies nicht tun, so würde es ihm entweder an Allmacht, an Allwissen oder an Allgüte mangeln.Weil es darüber hinaus auch ein notwendiges Faktum ist, dass die wirkliche Welt die beste aller möglichen Welten ist, folgt unweigerlich, dass Gott unsere Welt mit Notwendigkeit erschafft. Dieses zumindest prima facie sehr überzeugende Argument für den Nezessitarismus lässt sich folgendermaßen darstellen:

 Siehe hierzu z. B. Curley  und Adams , S.  – .  Diese Position hat bereits Russell  vertreten.

210

5 Leibniz und das Problem des Nezessitarismus

(1) Gott wählt und erschafft notwendigerweise die beste aller möglichen Welten. (2) Unsere Welt (die wirkliche Welt) ist notwendigerweise die beste aller möglichen Welten. (3) Also: Gott erschafft unsere Welt notwendigerweise – d. h. die wirkliche Welt existiert notwendigerweise.³ Dieses Argument ist logisch gültig. Man muss also entweder die Konklusion des Arguments akzeptieren oder eine der beiden Prämissen verneinen. Es ergeben sich somit drei Möglichkeiten, auf die nezessitaristische Herausforderung zu reagieren: (i) Man nimmt in Kauf, dass die wirkliche Welt notwendigerweise existiert; (ii) man behauptet, dass unsere Welt nur kontingenterweise die beste aller möglichen Welten ist; oder (iii) man leugnet, dass Gott die beste aller möglichen Welten notwendigerweise ausgewählt hat. Obwohl auf den ersten Blick keine dieser Optionen besonders attraktiv zu sein scheint, experimentiert Leibniz mit allen drei Strategien – zum Teil in unterschiedlichen Perioden seines Schaffens, häufig aber auch parallel. In diesem Kapitel werde ich mich (nach einem Überblick über alle drei Optionen) auf die dritte Strategie konzentrieren, der zufolge Gott de facto zwar die beste aller möglichen Welten auswählt, dies aber nicht mit Notwendigkeit tut. In diesem Fall ist es metaphysisch möglich, dass Gott eine mögliche Welt erschafft, die nicht die beste Welt ist.Wie sich herausstellen wird, bedeutet dies, dass es Gott zumindest im Prinzip offensteht, ohne hinreichenden Grund zu handeln. Die dritte Strategie hat also zur Folge, dass das Prinzip des zureichenden Grundes (im Folgenden: PZG) nur kontingenterweise gilt. Wenn es Gott möglich ist, eine suboptimale Welt zu erschaffen, dann ist es auch möglich, dass das PZG falsch ist. Das Problem (oder zumindest ein Problem) dieses Resultats ist, dass Leibniz in verschiedenen anderen Kontexten davon auszugehen scheint, dass das PZG ein notwendiges Prinzip ist. Ich möchte hier nur kurz auf drei Fälle hinweisen, die ich später noch ausführlich diskutieren werde. Erstens scheint Leibniz das PZG an einer Stelle in den Ersten Wahrheiten aus seiner Wahrheitstheorie herzuleiten (also aus seiner Theorie, dass in jedem wahren Satz der Form ‚A ist B‘ der Begriff von B im Begriff von A enthalten ist). Geht man davon aus, dass Leibniz seine Wahrheitstheorie für notwendig hält, dann muss auch alles, was aus dieser Theorie folgt, notwendig sein – also auch das PZG. Zweitens scheint Leibniz an einigen Stellen eine notwendige Version des Prinzips der Identität des Ununterscheidbaren

 Siehe für eine ähnliche Darstellung Rescher , S. .

5.2 Hintergrund I: Leibniz’ früher Nezessitarismus

211

aus dem PZG herleiten zu wollen. Ein solches Argument kann aber nur funktionieren, wenn das PZG selbst notwendig ist. Wäre es kontingent, so könnte man nichts Notwendiges daraus folgern. Drittens schließlich möchte Leibniz ausgehend vom PZG zeigen, dass die Annahme eines absoluten Raumes und einer absoluten Zeit nicht nur falsch, sondern unmöglich bzw. widersprüchlich ist. Auch dieses Argument scheint nur dann funktionieren zu können, wenn man davon ausgeht, dass das PZG ein notwendiges Prinzip ist. Ich werde diese drei Fälle weiter unten ausführlich diskutieren. Zumindest auf den ersten Blick hat es aber den Anschein, als würde Leibniz sich bezüglich des modalen Status des PZG in Widersprüche verwickeln. Ein Großteil dieses Kapitels wird deshalb der Frage gewidmet sein, ob sich dieser scheinbare Widerspruch auflösen lässt. Ich glaube, dass dies tatsächlich möglich ist, was allerdings noch lange nicht bedeutet, dass damit alle Probleme gelöst sind. Am Ende wird sich zeigen, dass sich Leibniz’ Position zwar so rekonstruieren lässt, dass er eine konsistente Position bezüglich des modalen Status des PZG vertritt. Es wird allerdings gleichzeitig auch deutlich werden, dass dies mit beträchtlichen Kosten verbunden ist und dass sich Leibniz’ Rationalismus und sein Theismus letztlich nur bedingt miteinander versöhnen lassen. Im Einzelnen werde ich wie folgt vorgehen. Zunächst gehe ich auf Leibniz’ sehr frühe nezessitaristische Position ein, die er unter anderem in einem Brief aus dem Jahre 1671 vertritt (Abschnitt 5.2). Schon bald darauf gibt Leibniz den Nezessitarismus jedoch auf und sucht nach Strategien, das Bestehen von Kontingenz zu sichern. Ich stelle seine drei Hauptstrategien vor (Abschnitt 5.3). Daran anschließend erläutere ich, wie er genau das PZG versteht (Abschnitt 5.4) und diskutiere dann ausführlich, was für die Notwendigkeit und was für die Kontingenz des PZG spricht (Abschnitt 5.5). Im Anschluss argumentiere ich für eine Interpretation, die den scheinbaren Widerspruch hinsichtlich des modalen Status des PZG vermeidet (Abschnitt 5.6) und gehe auf einen Einwand gegen diese Interpretation ein (Abschnitt 5.7). Abschließend diskutiere ich die Frage, ob Leibniz’ Rationalismus und Theismus letztlich miteinander vereinbar sind (Abschnitt 5.8). Das Kapitel schließt mit einem Fazit (Abschnitt 5.9).

5.2 Hintergrund I: Leibniz’ früher Nezessitarismus Zu Beginn seiner philosophischen Laufbahn, im Alter von fünfundzwanzig Jahren, war Leibniz bereit die nezessitaristischen Konsequenzen seiner damaligen philosophischen und theologischen Positionen ohne Einschränkungen in Kauf zu nehmen. In einem bekannten Brief an Magnus Wedderkopf aus dem Jahre 1671 schreibt er:

212

5 Leibniz und das Problem des Nezessitarismus

Es ist nämlich notwendig, alles auf irgendeinen Grund zurückzuführen, wobei man nicht stehen bleiben darf, bis man beim ersten Grund angelangt ist; andernfalls muss man zugeben, dass etwas existieren kann, ohne dass es einen hinreichenden Grund für seine Existenz gibt, was den Beweis der Existenz Gottes und vieler anderer philosophischer Theoreme zerstören würde. Was ist also der letzte Grund für den göttlichen Willen? Der göttliche Intellekt. Denn Gott will diejenigen Dinge, die er als die besten und harmonischsten erkennt, und er wählt diese gleichsam aus der unendlichen Zahl sämtlicher Möglichkeiten aus. […] Da Gott aber ein vollkommen perfekter Geist ist, ist es unmöglich, dass er nicht von der perfektesten Harmonie affiziert wird, und dass er somit nicht durch die Idealität der Dinge zum Besten genötigt wird (necessitari). […] Es folgt daher, dass alles, was geschehen ist, geschieht oder geschehen wird, das Beste und daher notwendig ist, aber, wie ich gesagt habe, mit einer Notwendigkeit, die nichts von der Freiheit wegnimmt, weil sie nichts vom Willen und dem Gebrauch der Vernunft wegnimmt.⁴

Dieser frühe Brief ist in vielerlei Hinsicht bemerkenswert.⁵ Als erstes sticht ins Auge, dass Leibniz hier rundheraus behauptet, dass alles in der Welt mit Notwendigkeit geschieht, ohne diese Aussage in irgendeiner Hinsicht zu qualifizieren. Er nimmt also ganz explizit eine nezessitaristische Position ein und vertritt damit genau die These, die er später vehement ablehnen wird. In De libertate aus dem Jahre 1679 (also acht Jahre nach seinem Bekenntnis zum Nezessitarismus) schreibt Leibniz rückblickend, dass er zu weit gegangen sei, als er sich denjenigen angeschlossen habe, „die alles für absolut notwendig erachten; diese urteilen, dass es für die Freiheit hinreichend ist, dass sie nicht von Zwang gefährdet ist (ut a coaetione tuta sit), obwohl sie der Notwendigkeit unterworfen ist.“⁶ Leibniz’ Hinweis auf das Thema Freiheit macht auf einen zweiten Punkt aufmerksam. Es fällt auf, dass er in seinem Brief an Wedderkopf kein Problem darin sieht, Gottes Freiheit mit dem Umstand zu vereinbaren, dass Gott notwendigerweise das Beste wählt. Dies ist deshalb bemerkenswert, weil Leibniz in

 AA .,  – : „Omnia enim necesse est resolvi in rationem aliquam, nec subsisti potest, donec perveniatur ad primam, aut admittendum est, posse aliquid existere sine sufficiente ratione existendi, quo admisso, periit demonstratio existentiae Dei multorumque theorematum Philosophicorum. Quae ergo ultima ratio voluntatis divinae? intellectus divinus. Deus enim vult quae optima item harmonicotaτα intelligit eaque velut seligit ex numero omnium possibilium infinito. […] Cum autem Deus sit mens perfectissima, impossibile est ipsum non affici harmonia perfectissima, atque ita ab ipsa rerum idealitate ad optimum necessitari. […] Hinc sequitur, quicquid factum est, fit aut fiet, optimum ac proinde necessarium esse, sed ut dixi necessitate nihil libertati adimente, quia nec voluntati et rationis usui.“  Für eine gute Diskussion des Wedderkopf-Briefes, an der ich mich im Folgenden zum Teil orientieren werde, siehe Adams , S.  – .  De libertate, FC : „[…] qui omnia absolute necessaria arbitrantur, et libertati sufficere judicant ut a coaetione tuta sit, etsi necessitate submittatur, neque infallibile seu verum certo cognitum a necessario discernunt.“

5.2 Hintergrund I: Leibniz’ früher Nezessitarismus

213

späteren Jahren stets betont, dass drei Bedingungen erfüllt sein müssen, damit eine Handlung frei ist: (i) Einsicht (eine Person muss die unterschiedlichen Handlungsoptionen intellektuell erfassen), (ii) Spontanität (die Person muss die kausale Urheberin der Handlung sein) und (iii) Kontingenz (die Handlung darf nicht metaphysisch notwendig sein).⁷ Natürlich ist Leibniz Zeit seines Lebens Kompatibilist. Die Tatsache, dass er Kontingenz zu einer notwendigen Bedingung für Freiheit macht, zeigt aber, dass er einen Kompatibilismus vertritt, der mit dem Prinzip alternativer Möglichkeiten vereinbar ist. Eine Handlung kann demnach nur dann frei sein, wenn man auch anders hätte handeln können.⁸ Wenn Gott aber mit absoluter Notwendigkeit das Beste erschafft – und genau dies nimmt Leibniz in seinem Brief an Wedderkopf an – dann ist die Kontingenzbedingung nicht erfüllt. Leibniz hat hier also offenbar noch ein anderes, eher spinozistisch geprägtes Freiheitsverständnis als in späteren Jahren. Wie er in De libertate (rückblickend) erklärt, war er zur Zeit des Wedderkopf-Briefes der Auffassung, dass eine Handlung auch dann frei sein kann, wenn sie mit Notwendigkeit ausgeführt wird. Dieser Konzeption zufolge ist es hinreichend für Freiheit, dass man nicht unter Zwang handelt. Für den sehr frühen Leibniz kann also auch eine mit Notwendigkeit ausgeführte Handlung frei sein, solange man aus eigenen Gründen heraus handelt. Ein dritter interessanter Punkt im Brief an Wedderkopf ist, wie Leibniz genau für die nezessitaristische Konklusion argumentiert. Seine Überlegung basiert einerseits auf starken rationalistischen Annahmen und andererseits auf theistischen Voraussetzungen. Die Passage beginnt mit dem PZG – genauer gesagt mit einer modal starken Version dieses Prinzips, der zufolge es notwendigerweise für alles einen hinreichenden Grund bzw. eine Erklärung gibt (wie genau das PZG zu verstehen ist, werde ich in Abschnitt 5.4 erläutern). Es muss somit auch für Gottes Willensakte einen „letzten Grund“ (also eine vollständige Erklärung) geben, und dieser Grund kann, so Leibniz, nur in Gottes Intellekt liegen. Intellekt und Wille stehen also nicht gleichberechtigt nebeneinander; vielmehr ist der Wille vom Intellekt abhängig und diesem untergeordnet.  Siehe z. B. Theodizee §. Diese drei Bedingungen sind individuell notwendig und gemeinsam hinreichend für das Vorliegen einer freien Handlung. Ich kann hier Leibniz’ Theorie der Freiheit nicht im Detail diskutieren (siehe hierfür z. B. Murray ). Wichtig ist an dieser Stelle, dass die drei genannten Bedingungen sowohl für die menschliche Freiheit als auch für die Freiheit Gottes gelten.  Für eine kompatibilistische Position, die ohne das Prinzip alternativer Möglichkeiten auskommt, siehe Frankfurt . Für einen Kompatibilismus, der dieses Prinzip berücksichtigt, siehe z. B. Lewis . Natürlich gibt es daneben auch noch die inkompatibilistische Position, dass der Determinismus und das Prinzip alternativer Möglichkeiten grundsätzlich unvereinbar miteinander sind (siehe etwa van Inwagen ).

214

5 Leibniz und das Problem des Nezessitarismus

Diese Asymmetrie zwischen Intellekt und Wille ist für Denker, die einen starken explanatorischen Rationalismus vertreten, charakteristisch. Der Grund für diese Tendenz liegt auf der Hand.Wenn der Wille sich einfach unabhängig vom Intellekt für diese oder jene Option entscheiden könnte, dann wäre nicht ersichtlich, aus welchem Grund eine Person diese oder jene Entscheidung trifft – damit aber wäre das PZG verletzt. Würde Gottes Wille unabhängig von Gottes Intellekt agieren, so würde also die Gefahr unerklärlicher Willensakte drohen. Damit würde aber auch sogleich unmittelbar ein Voluntarismus drohen, der dem von Rationalisten typischerweise vertretenen Intellektualismus genau entgegengesetzt ist. Aus dem PZG folgt also, dass es für die Willensakte Gottes einen „letzten Grund“ geben muss, und dieser Grund kann nur im göttlichen Intellekt liegen. Da Gottes Intellekt aber (notwendigerweise) so beschaffen ist, dass er von der „perfektesten Harmonie affiziert wird“ – so Leibniz weiter – ist es gar nicht möglich, dass Gott nicht „zum Besten genötigt wird (necessitari)“. Es folgt also, dass Gott notwendigerweise das Beste auswählt und erschafft. Somit existiert die beste aller möglichen Welten mit absoluter Notwendigkeit. Es ist unverkennbar, dass in diesem Argument der explanatorische Rationalismus die treibende Kraft ist. Der Theismus allein würde noch nicht zum Nezessitarismus führen. So könnte eine Theistin auch eine voluntaristische Position einnehmen, der zufolge Gottes Wille Vorrang vor Gottes Intellekt hat. Ein solcher Voluntarismus,wie er etwa von Scotus und Ockham vertreten wurde, hat zur Folge, dass es nicht für alles einen hinreichenden Grund gibt. Gottes Entscheidungen und Handlungen lassen sich dieser Theorie zufolge nicht vollständig erklären – auf die Frage, warum Gott dieses und nicht jenes will, gibt es einer Voluntaristin zufolge nicht immer eine befriedigende Antwort, weil Gott ebensogut auch anders hätte entscheiden können. Dies zeigt, dass der Theismus für sich genommen noch keine nezessitaristischen Konsequenzen hat. Leibniz gelangt in seinem Brief an Wedderkopf also nur deshalb zu der Schlussfolgerung, dass alles mit Notwendigkeit geschieht, weil er den Theismus mit seinem explanatorischen Rationalismus verknüpft. Nur weil Gottes Willensakte vollständig erklärbar sein müssen, ist es Leibniz zufolge unmöglich, dass Gott nicht das Beste wählt. Natürlich müssen sowohl der Theismus als auch der Rationalismus notwendigerweise wahr sein, damit der Nezessitarismus aus ihnen folgt. Die Konklusion eines Arguments kann schließlich nur dann notwendig sein, wenn auch alle Prämissen notwendig sind.⁹ (Diesen Punkt sollten wir im Hin-

 Das stimmt so natürlich nicht ganz. Aus p & □q etwa folgt □q, auch wenn die Konjunktion nur

5.3 Hintergrund II: Drei Strategien Kontingenz zu bewahren

215

terkopf behalten. Weiter unten werde ich argumentieren, dass eine von Leibniz’ zentralen anti-nezessitaristischen Strategien darin besteht, nur eine kontingente Version des PZG vorauszusetzen.) Der Wedderkopf-Brief zeigt, dass Leibniz ganz zu Beginn seiner philosophischen Laufbahn (im Jahre 1671) ganz explizit eine nezessitaristische Position vertreten hat. Allerdings änderte er schon sehr bald seine Meinung. So vermerkt er bereits auf seiner eigenen Abschrift des Briefes: „Dies habe ich später korrigiert. Denn dass die Sünden unvermeidlich (infallibiliter) geschehen werden und dass sie notwendig geschehen werden, das sind zwei verschiedene Sachen.“¹⁰ Leibniz gibt den Nezessitarismus also offenbar schon sehr bald nach dem Abfassen des Briefes auf. Aber wie ist dies angesichts des Arguments, das Leibniz dort selbst explizit formuliert hat, überhaupt möglich? Wenn Gott mit Notwendigkeit das Beste wählt, und wenn unsere Welt notwendigerweise die beste aller möglichen Welten ist, dann scheint es schlicht unausweichlich zu sein, dass unsere Welt notwendigerweise existiert. Für Kontingenz scheint kein Raum zu sein. Die unterschiedlichen Strategien, die Leibniz entwickelt, um dieses Resultat trotzdem zu vermeiden, sind Thema des nächsten Abschnitts.

5.3 Hintergrund II: Drei Strategien Kontingenz zu bewahren Der Brief an Wedderkopf zeigt, dass Leibniz sich der Kraft des theologischen Arguments für den Nezessitarismus – und der Gefahr, die es für sein System darstellt – voll und ganz bewusst war. Er diskutiert es in den folgenden fünfundvierzig Jahren unzählige Male, und seine Reaktionen fallen dabei höchst unterschiedlich aus. Ihnen allen ist aber gemeinsam, dass Leibniz stets versucht, in seinem System auf unterschiedliche Weisen Raum für Kontingenz zu schaffen. Im Großen und Ganzen lassen sich drei Strategien unterscheiden. Seine erste Strategie ist, die Konklusion zwar in gewisser Weise anzuerkennen, dabei jedoch zu betonen, dass es sich um keine „schlimme“, kontingenzgefährdende Notwendigkeit handelt. Die zweite Strategie besteht darin zu sagen, dass unsere Welt nur kontingenterweise die beste aller möglichen Welten ist. Vor allem in diesem Zusammenhang spielt eine wichtige Rolle, dass Leibniz kontingente Sätze manchmal als solche definiert, die sich nicht in endlich vielen Schritten auf Identitätssätze zurückführen lassen. Leibniz’ dritte Strategie schließlich ist, die kontingenterweise wahr ist. Sieht man von solchen trivialen Fällen ab, gilt das genannte Prinzip aber.  AA ., : „Haec postea correxi. Aliud enim infallibiliter eventura esse peccata, aliud necessario.“

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5 Leibniz und das Problem des Nezessitarismus

erste Prämisse zu leugnen. Demnach wählt Gott das Beste nicht mit Notwendigkeit aus, sondern nur kontingenterweise. Ich werde diese drei Strategien nun der Reihe nach diskutieren.

Strategie I: per se Möglichkeit und die Unterscheidung zwischen intrinsischen und extrinsischen Modalitäten Die erste Strategie haben wir in ihren Grundzügen bereits kennengelernt.¹¹ Gegen Ende der 1670er und Anfang der 1680er Jahre führt Leibniz eine Unterscheidung ein zwischen dem, was an sich (per se) oder intrinsischerweise möglich ist, und dem, was unter der Voraussetzung, dass Gott das Beste wählt, möglich ist. Auf die Frage, ob aus seiner Theorie denn nicht folge, dass alles mit Notwendigkeit existiert, antwortet er in De libertate et necessitate: Warum nicht? Weil es einen Widerspruch einschließt, dass das, von dem Gott will, dass es existiert, nicht existiert? Ich leugne, dass diese Proposition absolut wahr ist. Andernfalls wären diejenigen Dinge, die Gott nicht will, nicht möglich. Sie bleiben aber möglich, auch wenn sie nicht von Gott ausgewählt werden. Es ist doch möglich, dass auch das existiert, von dem Gott nicht will, dass es existiert, da es seiner Natur nach existieren könnte, wenn Gott wollen würde, dass es existiert.¹²

Und auf den Einwand, dass Gott doch gar nicht wollen kann, dass etwas Derartiges existiert,¹³ entgegnet Leibniz: Dies gestehe ich zu; dennoch bleibt etwas seiner Natur nach möglich, auch wenn es nicht mit Bezug auf den göttlichen Willen möglich ist. Wir haben nämlich dasjenige als seiner Natur nach möglich definiert, das in sich keinen Widerspruch einschließt, auch wenn auf gewisse Weise gesagt werden kann, dass seine Koexistenz mit Gott einen Widerspruch einschließt. Es wird aber nötig sein, konstante Wortbedeutungen zu verwenden, damit jede Art absurder Rede vermieden wird.¹⁴

 Siehe insbesondere Abschnitt .. Für eine ausführliche Darstellung siehe Adams , S.  –  sowie Griffin .  AA ., : „Quid ita? quia implicat contradictionem non existere quod Deus vult existere? Nego hanc propositionem absolute veram esse. Alioqui ea quae Deus non vult non essent possibilia. Manent enim possibilia, etsi a Deo non eligantur. Possibile est quidem existere, etiam illud quod Deus non vult existere, quia posset existere sua natura, si Deus id existere vellet.“  Diesen Einwand bringt ein imaginärer Gesprächspartner vor: „At Deus non potest velle ut existat“ (AA ., ).  AA ., : „Fateor, manet tamen possibile sua natura, etsi non sit possibile respectu divinae voluntatis. Quia sua natura possibile definivimus, quod in se non implicat contradictionem,

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Hier räumt Leibniz ein, dass Gott notwendigerweise das Beste auswählt – Gott kann gar nicht wollen, dass etwas Suboptimales existiert. Dennoch soll die wirkliche Welt kontingent sein und nicht notwendigerweise existieren. Wie kann das sein? Leibniz begründet seine Behauptung damit, dass andere, nicht-wirkliche Dinge auch dann „ihrer Natur nach“ möglich sind, wenn sie nicht von Gott erschaffen werden (bzw. gar nicht von Gott geschaffen werden können). Dass etwas „seiner Natur nach“ möglich ist, bedeutet einfach, dass sein Begriff bzw. seine Essenz keinen Widerspruch einschließt, sodass es sich konsistent denken lässt. Man könnte auch sagen, dass solche Dinge intrinsisch möglich sind.¹⁵ In den letzten drei Kapiteln haben wir uns intensiv mit der Metaphysik dieser intrinsischen Möglichkeiten, also mit der Metaphysik Leibniz’scher possibilia, beschäftigt. Es ist deutlich geworden, dass es sich um Ideen in Gottes Intellekt handelt, die letztlich in Gottes Essenz begründet sind. Obwohl etwas intrinsisch Mögliches stets in sich konsistent, also widerspruchsfrei, sein muss (andernfalls wäre es ja unmöglich), kann es sehr wohl mit Gottes Willen unvereinbar sein. Leibniz gesteht zu, dass die possibilia, die nicht von Gott aktualisiert worden sind, „nicht mit Bezug auf den göttlichen Willen möglich [sind]“. Er hält explizit fest, dass ihre „Koexistenz mit Gott einen Widerspruch einschließt“. Man könnte auch sagen, dass diejenigen möglichen Dinge, die nicht zur besten aller möglichen Welten gehören, zwar intrinsisch aber nicht extrinsisch möglich sind. Da sie nicht mit einer notwendigen Substanz (Gott) koexistieren können, ist ihre Existenz ausgeschlossen, obwohl sie an sich betrachtet widerspruchsfrei sind. Parallel zur Unterscheidung zwischen intrinsischer und extrinsischer Möglichkeit findet sich in Leibniz’ Texten auch eine Unterscheidung zwischen intrinsischer und extrinsischer Notwendigkeit (wie wir gleich sehen werden, versteht Leibniz allerdings unter Notwendigkeit simpliciter zumeist nur die intrinsische Notwendigkeit). Demnach ist etwas intrinsisch notwendig, wenn seine Existenz aus der Natur bzw. Essenz des Dinges folgt. Die einzige Substanz, auf die diese Beschreibung zutrifft, ist Gott.¹⁶ Etwas ist hingegen extrinsisch notwendig,wenn es zwar nicht aufgrund seiner eigenen Essenz existiert, aber aus der Existenz einer intrinsisch notwendigen Sache folgt. ¹⁷ Diese Unterscheidung wendet Leibniz auf

etsi ejus coexistentia cum Deo aliquo modo dici possit implicare contradictionem. Sed opus erit constantes adhibere vocabulorum significationes ut species omnis absurdae locutionis evitetur.“  Vgl. Griffin , S. .  Vgl. Griffin , S. .  Dies wird z. B. in AA .,  deutlich, wo Leibniz zwischen absoluter Notwendigkeit (d. h. intrinsischer Notwendigkeit) und Notwendigkeit der Folge (d. h. extrinsischer Notwendigkeit) unterscheidet: „Necessitas consequentiae est, cum quid ex alio necessaria consequentia sequitur,

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Gott und die wirkliche Welt an. Unsere Welt ist zwar extrinsisch notwendig,weil sie aus der Existenz Gottes folgt, sie ist aber nicht intrinsisch notwendig, weil die von Gott geschaffenen Dinge nicht aufgrund ihrer eigenen Essenzen existieren.¹⁸ Obwohl Leibniz die Unterscheidung zwischen extrinsischer und intrinsischer Notwendigkeit manchmal trifft, drückt er sich in der Regel anders aus und spricht so, als seien nur intrinsisch notwendige Dinge ‚wirklich‘ notwendig. So schreibt er z. B. in seinem Kommentar zur Ethik: „Denn das, dessen Essenz nicht Existenz einschließt, ist nicht notwendig.“¹⁹ Im Einklang damit definiert Leibniz Kontingenz wie folgt: „So wie andere nehme ich an, dass dasjenige kontingent ist, dessen Essenz nicht Existenz einschließt.“²⁰ Diese Äußerungen sind sehr typisch für die Zeit um 1680. Da Gott die einzige Substanz ist, aus deren Essenz folgt, dass sie existiert, folgt aus diesen Definitionen, dass nur Gott notwendigerweise existiert – alle anderen Substanzen hingegen existieren nur kontingenterweise. Dennoch sind diese Substanzen natürlich „extrinsisch notwendig“ und so gesteht Leibniz denn auch ein, dass „[a]lles Kontingente auf gewisse Weise notwendig [ist].“²¹ Wie ist Leibniz’ erste Strategie einzuschätzen? Zunächst ist festzuhalten, dass sie mit dem rationalistischen Theismus nicht nur kompatibel ist, sondern diesen erst ermöglicht. Gott wählt zwischen verschiedenen intrinsisch möglichen Dingen – bzw. zwischen verschiedenen möglichen Welten – aus, und er trifft seine Auswahl auf Basis von Gründen. Anders als bei Spinoza ist somit Raum für einen persönlichen Gott, der zum Ziel hat, das Bestmögliche zu erschaffen. Gottes Ziele und Überlegungen spielen also eine entscheidende Rolle bei der Erklärung, warum die Welt so ist, wie sie ist.²² Aber vermeidet Leibniz’ Theorie der per se Möglichkeiten auch den Nezessitarismus? Garantiert sie, dass unsere Welt nicht mit Notwendigkeit, sondern kontingenterweise existiert? In einem gewissen Sinne tut sie dies natürlich. Wenn etwas „dessen Essenz nicht Existenz einschließt“ bereits kontingent ist, dann gewährleistet Leibniz’ Vorschlag ohne Probleme, dass unsere Welt kontingent ist. Das Problem mit dieser Antwort ist, dass man den Eindruck bekommt, dass das ursprüngliche Problem schlicht und ergreifend ‚wegdefiniert‘ wird. Natürlich ist unsere Welt kontingent, wenn dies bloß bedeutet, dass nicht alle Substanzen

necessitas absoluta est, cum contrarium rei implicat contradictionem.“ Vgl. für eine parallele Unterscheidung auch AA ., . Siehe für die Unterscheidung zwischen intrinsischer und extrinsischer Notwendigkeit ebenfalls Griffin , S.  – .  Siehe Griffin , S.  – .  AA ., : „Hoc enim necessarium non est, cujus essentia existentiam non involvit.“  AA ., : „Ego cum aliis contingens sumo pro eo cuius essentia non involvit existentiam.“  AA ., : „Omne contingens aliquo modo necessarium est.“  Siehe hierzu Abschnitt .. Vgl. auch Adams , S. .

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aufgrund ihrer eigenen Essenzen existieren – dies trifft schließlich nur auf Gott zu. Die Ausgangsfrage war jedoch eine andere, nämlich ob eine andere mögliche Welt als die wirkliche tatsächlich hätte existieren können. Nun könnte man natürlich argumentieren, dass dies einfach eine andere Frage ist, die lediglich von Interpreten des 20. Jahrhunderts an Leibniz herangetragen wird.²³ Ein solcher Hinweis würde jedoch zu kurz greifen. Schließlich formuliert Leibniz selbst in seinem Brief an Wedderkopf eine nezessitaristische Position, die er dann (wie sein Vermerk auf der Abschrift zeigt) später für problematisch hält. An dieser kritischen Einstellung ändert auch die Unterscheidung zwischen intrinsischer und extrinsischer Notwendigkeit nichts. Leibniz strebt letztlich eine Position an, der zufolge die Welt auf keine Weise notwendig ist – weder intrinsisch noch extrinsisch. Dennoch ist die Unterscheidung zwischen intrinsischen und extrinsischen Modalitäten natürlich nicht nur für den frühen, sondern auch für den mittleren und späten Leibniz sehr wichtig. Es ist für seine Theorie von zentraler Bedeutung, dass die Welt nicht aufgrund ihrer eigenen Essenz existiert, da Gott andernfalls nicht auf der Basis von Gründen zwischen verschiedenen, intrinsisch möglichen Welten entscheiden könnte. Nur so kann der rationalistische Theismus gesichert werden. Das Problem des Nezessitarismus kann die Strategie der per se Möglichkeiten aber nur teilweise lösen. Leibniz macht zwar deutlich, dass unsere Welt nicht intrinsischerweise notwendig ist. Letztlich möchte er darüber hinaus aber auch vermeiden, dass es extrinsisch notwendig ist, dass unsere Welt existiert.

Strategie II: Die Kontingenz des Besten und die Unendliche-Analyse-Theorie der Kontingenz Vor diesem Hintergrund ist es nicht überraschend, dass Leibniz bereits Anfang der 1680er Jahre damit beginnt, andere Strategien zu entwickeln, um dem Nezessitarismus zu begegnen. Er lehnt nicht nur ab, dass unsere Welt intrinsisch notwendig ist, sondern auch, dass Gott sie notwendigerweise erschafft. Der Satz „Gott erschafft unsere Welt“ soll also eine kontingente und keine notwendige Wahrheit ausdrücken. Somit muss entweder kontingent sein, dass unsere Welt die beste aller möglichen Welten ist, oder es muss kontingent sein, dass Gott das Beste (was auch immer es ist) erschafft.²⁴ Betrachten wir zunächst die erste Option.

 Auf diese Weise versucht etwa Adams , S.  Leibniz zu verteidigen.  Vgl. Adams , S.  – .

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Auf den ersten Blick wirkt es äußerst unplausibel zu sagen, dass unsere Welt nur kontingenterweise die beste aller möglichen Welten ist. Ist es nicht offensichtlich, dass es sich dabei nur um ein notwendiges Faktum handeln kann?²⁵ Um zu verstehen, wie Leibniz auf die Idee kommt, dies zu leugnen, müssen wir kurz auf seine ungewöhnliche Analyse von Kontingenz eingehen, die er in den 1680er Jahren entwickelt hat. Dieser Analyse zufolge ist ein wahrer Satz „S ist P“ genau dann kontingent, wenn er nur durch eine unendliche Analyse der beiden Terme auf einen Identitätssatz zurückgeführt werden kann. Bei notwendigen Sätze hingegen kann dies in endlich vielen Schritten erreicht werden. In De Contingentia fasst Leibniz diese Theorie knapp und klar wie folgt zusammen: Und in diesem Geheimnis verbirgt sich die Unterscheidung zwischen den notwendigen und den kontingenten Wahrheiten, die nicht leicht erkennt,wer nicht irgendein Lösungsmittel der Wissenschaften besitzt, dass man nämlich bei notwendigen Sätzen durch beliebig fortgesetzte Analyse zu einer identischen Gleichung gelangt; und das eben heißt, die Wahrheit mit geometrischer Strenge zu beweisen. Bei kontingenten Sätzen aber geht der Fortschritt der Analyse über die Gründe der Gründe ins Unendliche, so dass man niemals einen vollen Beweis besitzt, obwohl immer ein Grund für die Wahrheit besteht und von Gott allein vollkommen eingesehen wird, der allein mit einem Geistesblitz die unendliche Reihe durchläuft.²⁶

Leibniz fasst den Begriff der Kontingenz hier als beweistheoretischen Begriff auf:²⁷ Ein Satz der Form „S ist P“ ist genau dann kontingenterweise wahr, wenn der Begriff des Prädikats zwar im Begriff des Subjekts enthalten ist, sich dies aber nicht in endlich vielen Schritten beweisen lässt. Damit trennt Leibniz zwei Eigenschaften von Sätzen, die häufig für untrennbar gehalten werden: Analytizität und Notwendigkeit. In aller Regel gehen Philosophinnen (sowohl in der Frühen Neuzeit als auch heute) davon aus, dass analytische Sätze notwendige Wahrheiten ausdrücken. Nicht so Leibniz. Für ihn sind alle wahren Sätze analytische Sätze, d. h. alle Wahrheiten sind letztlich begriffliche Wahrheiten. Gemäß der beweistheoretischen Analyse sind aber nicht alle

 Dies ist zumindest unter der Voraussetzung, dass moralische Qualität in der Verteilung nichtmoralischer Eigenschaften begründet ist, einleuchtend.  AA ., /Holz Bd. , : „Et hic arcanum detegitur discrimen inter Veritates Necessarias et Contingentes, quod non facile intelliget, nisi qui aliquam tincturam Matheseos habet. Nempe in propositionibus necessariis analysi aliquousque continuata devenitur ad aequationem identicam; et hoc ipsum est in geometrico rigore demonstrare veritatem; in contingentibus vero progressus est analyseos in infinitum, per rationes rationum, ita ut nunquam quidem habeatur plena demonstratio, ratio tamen veritatis semper subsit, etsi a solo Deo perfecte intelligatur, qui unus seriem infinitam uno mentis ictu pervadit.“  Vgl. Adams , S. .

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analytischen Sätze auch notwendigerweise wahr. Nur wenn sich ein Satz in einer endlichen Anzahl von Schritten auf einen Identitätssatz zurückführen lässt, ist der Satz auch notwendig. Ist dazu jedoch eine (nicht durchführbare) unendliche Analyse nötig, so handelt es sich um eine kontingente Aussage. In so einem Fall, so Leibniz, führt die Negation von „S ist P“ nicht zu einem Widerspruch.²⁸ Man könnte den Eindruck gewinnen, dass Leibniz’ beweistheoretischer Ansatz dazu führt, dass der Unterschied zwischen kontingenten und notwendigen Fakten zu einem rein epistemischen Unterschied wird, wodurch Kontingenz zu einer bloßen Illusion würde. Diesem Einwand liegt die Überlegung zugrunde, dass zwar wir Menschen als endliche Wesen keine unendliche Analyse durchführen können, dass Gott dies aber sehr wohl kann. Wenn Gott zeigen kann, dass „S ist nicht P“ zu einem Widerspruch führt – so der Gedanke – dann gibt es Kontingenz eigentlich nicht wirklich. Wie bei Spinoza wäre dann der Eindruck, dass es kontingente Fakten gibt, lediglich unseren beschränkten intellektuellen Fähigkeiten geschuldet.²⁹ Nicholas Rescher und Robert Adams haben jedoch überzeugend dargelegt, dass dieser Einwand unbegründet ist.³⁰ Tatsächlich kann laut Leibniz auch Gott keine unendliche Analyse durchführen, da dies schlicht unmöglich ist.³¹ Eine solche Analyse würde ja per definitionem nie enden. Da Gott jedoch die gesamte unendliche Reihe „auf einen Schlag“ („uno mentis ictu“) erfasst, weiß er a priori, dass in einem wahren Satz „S ist P“ das Prädikat im Subjekt enthalten ist.³² Leibniz’ Theorie führt also nicht dazu, dass die Unterscheidung zwischen notwendigen und kontingenten Wahrheiten zu einer bloß epistemischen Unterscheidung wird. Gott befindet sich nicht in einer grundlegenden anderen epistemischen Situation als wir – auch er kann keine unendliche Analyse ausführen.

 Vgl. Adams , S.  – . Adams weist zurecht darauf hin, dass die Ausdrücke „… schließt einen Widerspruch ein“ und „schließt keinen Widerspruch ein“ hier als beweistheoretische Begriffe verstanden werden müssen. Etwas kann begrifflich falsch sein, ohne in diesem technischen Sinne einen Widerspruch einzuschließen.  Dieser Einwand wurde unter anderem von Russell , S.  –  vorgebracht.  Vgl. Rescher , S.  und Adams , S.  – .  Vgl. FC  – . Siehe insbesondere FC , wo Leibniz schreibt: „[…] ita multo magis veritates contingentes seu infinitae subeunt scientiam Dei et ab eo non quidem demonstratione (quod implicat contradictionem), sed tamen infallibili visione cognoscuntur. Dei autem visio minime concipi, ut scientia quaedam experimentalis quasi ille in rebus a se distinctis videat aliquid, sed ut cognitio a priori (per veritatem rationes) […].“  Vgl. auch das Zitat aus der vorigen Fußnote, wo Leibniz sagt, dass Gott kontingente bzw. „unendliche“ Wahrheiten nicht beweisen kann, sie aber durch eine „Schau“ (visio) erfasst.

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Allerdings ist er in der Lage, kontingente Wahrheiten intuitiv und a priori zu erkennen.³³ Vor dem Hintergrund der beweistheoretischen Analyse des Kontingenzbegriffs wird deutlich, wie Leibniz behaupten kann, dass unsere Welt nur kontingenterweise die beste aller möglichen Welten ist. Am deutlichsten kommt Leibniz’ Idee in einer Notiz vom Ende der 1680er Jahre zum Ausdruck: Es ist wahr, dass die Proposition: ‚Gott will das Werk, das seiner am würdigsten ist‘, notwendig ist. Es ist aber nicht wahr, dass er es notwendigerweise will. Denn die Proposition: ‚Dieses Werk ist das würdigste‘ ist keine notwendige Wahrheit; sie ist eine unbeweisbare, kontingente Wahrheit, eine Tatsachenwahrheit.³⁴

In dieser Passage vertritt Leibniz die Auffassung, dass Gott zwar notwendigerweise das Beste erschafft, es aber zugleich kontingent ist, was das Beste ist. Unsere Welt ist also lediglich kontingenterweise die beste aller möglichen Welten.³⁵ (In moderner Terminologie könnte man sagen, dass der Satzes „Gott erschafft das Beste“ auf zwei Weisen interpretiert werden kann: Wird dieser Satz de dicto verstanden, ist er notwendigerweise wahr, wird er hingegen de re verstanden, ist er nur kontingenterweise wahr.³⁶) Leibniz’ Überlegung muss in etwa folgendermaßen verstanden werden: Da unsere Welt unendlich viele Substanzen enthält und unendlich komplex ist, und da dies auch auf viele andere mögliche Welten (wenn nicht gar auf alle) zutrifft, kann der Satz „Unsere Welt ist die beste aller möglichen Welten“ nicht durch eine Analyse mit endlich vielen Schritten bewiesen werden.³⁷ Um zu bestimmen, wie perfekt eine Welt genau ist – und um unterschiedliche mögliche Welten miteinander zu vergleichen – müssen also unendlich viele Faktoren berücksichtigt

 Dies macht deutlich, dass Leibniz nicht nur Notwendigkeit und Analytizität voneinander trennt, sondern auch Notwendigkeit und Apriorizität. Die Wahrheit eines Satzes kann (zumindest von Gott) a priori erkannt werden, ohne dass dieser Satz deshalb notwendig sein muss.  Grua : „Il est vrai que cette proposition: ‚Dieu veut l’ouvrage le plus digne de luy‘ est nécessaire. Mais il n’est pas vray qu’il le veuille nécessairement. Parce que cette proposition: ‚cet ouvrage est le plus digne‘ n’est pas une vérité nécessaire, c’est une vérité indemonstrable, contingente, de fait.“  So deutlich äußert sich Leibniz selbst in den er und er Jahren allerdings selten. In den entsprechenden Texten ist er hinsichtlich der Frage, ob Gott mit Notwendigkeit das Beste erschafft, zumeist neutral (siehe etwa Grua  und AA ., ).  Darauf weist bereits Adams , S.  –  hin.  Darauf weisen viele Interpreten hin. Siehe z. B. Adams , S. ; Rescher , S.  – ; Broad , S. .

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werden. Setzt man den beweistheoretischen Begriff der Kontingenz voraus, folgt daraus, dass unsere Welt tatsächlich nur kontingenterweise die beste aller möglichen Welten ist.³⁸ Diese Antwort auf die nezessitaristische Herausforderung vertritt Leibniz vor allem in den 1680er und 1690er Jahren. Die Motivation für sein Vorgehen ist klar: Er kann daran festhalten, dass Gott mit Notwendigkeit das Beste erschafft (weil dies aus seiner Natur folgt) und dennoch behaupten, dass unsere Welt nicht mit Notwendigkeit (auch nicht mit extrinsischer Notwendigkeit) existiert. Wie ist diese zweite Strategie, der zufolge unsere Welt deshalb kontingent ist, weil es kontingent ist, dass sie die beste Welt ist, zu bewerten? Ich glaube, es lassen sich mindestens zwei philosophische Probleme ausmachen. Der erste Einwand, der von vielen Kommentatoren vorgebracht wurde, richtet sich gegen Leibniz’ beweistheoretische Konzeption von Kontingenz insgesamt.³⁹ Es entsteht (wie schon bei der ersten anti-nezessitaristischen Strategie) der Verdacht, dass hier ein philosophisches Problem durch Definition gelöst werden soll. Leibniz’ beweistheoretische Definition von Kontingenz scheint einfach nicht sonderlich viel mit dem Begriff von Kontingenz zu tun zu haben, den wir normalerweise verwenden. So scheint es selbstverständlich zu sein, dass begriffliche Wahrheiten stets auch notwendige Wahrheiten sind.⁴⁰ Ob es einer endlichen oder einer unendlichen Analyse bedarf, um den begrifflichen Zusammenhang zwischen Subjekt und Prädikat zu erkennen, scheint von der Frage nach der Notwendigkeit oder Kontingenz eines Satzes schlicht unabhängig zu sein. Leibniz scheint sich im Rahmen seiner beweistheoretischen Konzeption von Kontingenz somit eines höchst idiosynkratrischen Begriffs der Kontingenz zu bedienen, der kaum etwas mit „echter“ Kontingenz gemeinsam hat. Nun könnte man natürlich argumentieren, dass Leibniz seine Definitionen so wählen kann, wie er möchte, und dass der eben vorgebrachte Einwand deshalb kein interner Einwand gegen Leibniz’ System ist.⁴¹ Das Problem mit dieser Antwort ist, dass Leibniz den Kontingenzbegriff nicht etwa als neuen, rein technischen Begriff einführt, der überhaupt keinen Bezug zu unserem gewöhnlichen Verständnis von Kontingenz hat. Wenn Leibniz sagt, dass unsere Welt kontingen-

 Ich kann hier nicht auf die vielfältigen Komplikationen eingehen, die mit dieser Strategie einhergehen. Für die beste und ausführlichste Diskussion, die ich kenne, siehe einmal mehr Adams , S.  – .  Siehe z. B. Mates , S.  – .  Dies wird allerdings auch von einigen zeitgenössischen Philosophen angezweifelt, etwa von Kaplan .  So argumentiert Adams , S. , der in der beweistheoretischen Konzeption von Kontingenz Leibniz’ Hauptlösung für die nezessitaristische Herausforderung sieht.

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terweise und nicht notwendigerweise existiert, dann meint er damit nicht etwas völlig anderes als wir heute (oder auch als seine Zeitgenossen). Er beansprucht durchaus, dass die von ihm entwickelte Theorie unser vortheoretisches Verständnis von Kontingenz einfängt. Es ist aber schwierig zu sehen, wie die beweistheoretische Konzeption von Kontingenz dieser Rolle gerecht werden kann.⁴² Abgesehen von diesem allgemeinen Problem mit der Theorie der unendlichen Analyse ist Leibniz’ zweite Strategie aber noch einem weiteren Einwand ausgesetzt. Leibniz geht stets davon aus, dass kontingente Wahrheiten von Gottes Willen abhängen, notwendige Wahrheiten hingegen von Gottes Intellekt. Wenn Leibniz’ Antwort auf den Nezessitarismus jedoch ist, dass die Kontingenz unserer Welt dem Umstand geschuldet ist, dass unsere Welt kontingenterweise die beste Welt ist, dann würde Gottes Wille auch bei kontingenten Wahrheiten keine Rolle spielen. Welche Welt die beste aller möglichen Welten ist, erkennt Gott durch Reflexion auf die möglichen Welten in seinem Intellekt. Wenn der Satz „Unsere Welt ist die beste aller möglichen Welten“ kontingent ist, dann würden kontingente Fakten also ebenfalls von Gottes Intellekt und nicht von seinem Willen abhängen. Das ist ein äußerst merkwürdiges Ergebnis. Gottes Intellekt scheint einfach die falsche Quelle für kontingente Tatsachen zu sein. Schließlich entscheidet Gott ja nicht in irgendeiner Weise, an welche Möglichkeiten bzw. möglichen Welten er denkt. Vielmehr denkt er diese möglichen Welten notwendigerweise so, wie er sie denkt.⁴³ Aus den beiden genannten Gründen ist es also kein Zufall, dass in Leibniz’ Schriften die Strategie, die Kontingenz unserer Welt damit zu erklären, dass unsere Welt kontingenterweise die beste Welt ist, ab den 1690er immer mehr in den Hintergrund rückt.⁴⁴ In der Theodizee (1710) ist zum Beispiel überhaupt nicht mehr von der unendlichen Analyse die Rede, und Leibniz erwähnt dort auch nie, dass es kontingent ist, welche mögliche Welt die beste Welt ist. Stattdessen geht er dort davon aus, dass Gott zwar mit Sicherheit das Beste wählt, dass diese Wahl aber nicht notwendig ist.

 In diesem Zusammenhang führt Curley , S.  –  aus: „[…] it is not easy to see what this has to do with contingency. That this world is the best possible world is presumably a necessary fact, which is not rendered any the less necessary by the number of other possible worlds being infinite rather than finite.“  Dies wurde vor allem bei Leibniz’ Kritik an Descartes deutlich (siehe Abschnitt .). Leibniz verpflichtet sich eindeutig auf das modallogische System S, dem zufolge der modale Raum notwendigerweise die Struktur hat, die er hat. Dies lässt sich aber nicht damit vereinbaren, dass unsere Welt bloß kontingenterweise die beste aller möglichen Welten sein soll. Für eine andere Interpretation, siehe vor allem Adams , S.  – . Laut Adams verpflichtet sich Leibniz lediglich auf S.  Dafür argumentiert auch Rescher , S.  – .

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Strategie III: Die Kontingenz von Gottes Wahl, das Prinzip des Besten und das PZG Dies bringt mich zu Leibniz’ dritter Strategie, die nezessitaristische Bedrohung, der seine Theorie ausgesetzt ist, abzuwenden.Vergegenwärtigen wir uns zunächst noch einmal das Argument für den Nezessitarismus und die derzeitige dialektische Lage. Das Argument lautete wie folgt: (1) Gott wählt und erschafft notwendigerweise die beste aller möglichen Welten. (2) Unsere Welt (die wirkliche Welt) ist notwendigerweise die beste aller möglichen Welten. (3) Also: Gott erschafft unsere Welt notwendigerweise – d. h. die wirkliche Welt existiert notwendigerweise. Wir haben gesehen, dass es Texte gibt, in denen Leibniz unmissverständlich festhält, dass Gott mit Notwendigkeit das Beste tut, in denen er also (1) als wahr anerkennt. Eine Passage, in der er dies besonders deutlich macht, findet sich in einer zwischen 1680 und 1684 entstandenen Notiz: „Aus Gottes Essenz bzw. aus höchster Perfektion folgt mit Gewissheit und, wenn man so reden will, mit notwendiger Konsequenz, dass Gott das Beste wählt.“⁴⁵ Solche Äußerungen finden sich in der Regel in Kontexten, in denen Leibniz (2) ablehnt, also in Kontexten, in denen er die eben betrachtete zweite Strategie verfolgt. In anderen (zum Teil zeitgleich entstandenen) Texten hingegen verfolgt Leibniz die umgekehrte Strategie.⁴⁶ Dort leugnet er die erste Prämisse des nezessitaristischen Arguments, und nimmt an, dass Gott nicht mit Notwendigkeit (zumindest nicht mit metaphysischer Notwendigkeit) die beste aller möglichen Welten wählt und erschafft. So schreibt er z. B. im Discours, dass „[der erste frei Entschluss Gottes] besagt, immer das zu tun, was das Vollkommenste ist.“⁴⁷ Wenn  AA ., : „Ex Dei Essentia seu summa perfectione certo et si ita loqui placet necessaria consequentia sequitur Deum eligere optimum.“ Selbst diese Äußerung ist nicht ganz eindeutig, da unklar ist, wie genau Leibniz’ Qualifizierung „si ita loqui placet“ zu verstehen ist.  Natürlich sind diese beiden Strategien nicht miteinander kompatibel. Insbesondere die er Jahre sind für Leibniz eine Methode des Experimentierens, in der er verschiedene Lösungsstrategien für das Problem der Kontingenz ausprobiert. Ein Großteil der hier zitierten Passagen stammt aus unveröffentlichten Notizen. Wir sollten also gar nicht erwarten, dass Leibniz in dieser Phase bereits eine vollständige und konsistente Theorie vor Augen hat.  DM §/Holz Bd. , : „[…] le premier decret libre de Dieu, qui porte de faire tousjours ce qui est le plus parfait […].“

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Freiheit Kontingenz voraussetzt (wie Leibniz behauptet), dann folgt aus dieser Stelle, dass Gott kontingenterweise das Beste wählt. Dies zeigt, dass Leibniz bereits Mitte der 1680er Jahre auch die Option in Erwägung zog, dass sich Gott nicht mit Notwendigkeit für das Beste entscheidet. Aber wie ist das möglich? Gehört es nicht zu Gottes Essenz, dass er stets das Beste tut? Und wenn dies zu seiner Essenz gehört, ist es damit nicht auch notwendig, dass Gott das Beste wählt? In einer vermutlich Anfang der 1680er Jahre entstandenen Schrift verwendet Leibniz seine Theorie der unendlichen Analyse, um zu erklären, warum Gottes Wahl kontingent ist: Das erste Prinzip bezüglich der Existenzen ist die Proposition: Gott will das Perfekteste auswählen. Diese Proposition kann nicht bewiesen werden, es ist die erste aller faktischen [d. h. kontingenten] Propositionen bzw. der Ursprung aller kontingenten Existenz.⁴⁸

Zumindest in dieser frühen Phase wendet Leibniz die Unendliche-Analyse-Theorie der Kontingenz also nicht nur im Kontext der zweiten Strategie an, sondern auch, wenn er die dritte Strategie verfolgt, der zufolge es kontingent ist, dass Gott das Beste wählt. Leibniz’ Idee scheint zu sein, dass sich Gottes moralische Perfektion nur in unendlich vielen Schritten aus seiner Essenz ergibt.⁴⁹ Demnach gehört es zwar zu Gottes Essenz, das Beste zu wählen, allerdings lässt sich dies nicht mittels einer endlichen Analyse zeigen. In anderen Kontexten hingegen wählt Leibniz einen anderen Ansatz. Dort geht er davon aus, dass Gott gar nicht aufgrund seiner Natur oder Essenz das Beste wählt. Insbesondere in der Theodizee kann man diese Tendenz beobachten. Leibniz schreibt dort: Die Liebe Gottes zu sich selbst ist ihm wesentlich (essentiel); die Liebe zu seinem Ruhm oder der Wille, sich diesen zu verschaffen, ist das aber durchaus nicht; die Liebe, die er zu sich selbst hegt, hat ihn also nicht zu den Handlungen nach außen gezwungen (necessité); diese waren vielmehr frei.⁵⁰

 AA ., : „Principium primum circa Existentias est propositio haec: Deus vult eligere perfectissimum. Haec propositio demonstrari non potest, est omnium propositionum facti prima, seu origo omnis existentiae contingentis.“  Darin erkennt Rescher , S.  Leibniz’ Hauptstratgie: „God’s moral perfection follows from His metaphysical perfection, but the deduction would require an infinity of steps.“  Theodizee §/Holz Bd. ., : „L’amour que Dieu se porte, luy est essentiel, mais l’amour de sa gloire, ou la volonté de la procurer, ne l’est nullement: l’amour qu’il a pour luy même ne l’a point necessité aux actions au dehors, elles ont été libres.“

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Dies ist eine bemerkenswerte Äußerung. Mit „äußeren Handlungen“ ist natürlich die Schöpfung gemeint, und von dieser sagt Leibniz hier, dass Gott sie keineswegs essentiellerweise gewollt hat. Es ist also nicht Teil von Gottes Essenz, dass er das Beste will, und er will dieses somit auch nicht notwendigerweise. Nur einen Abschnitt später betont Leibniz denn auch, dass es metaphysisch möglich ist, dass sich Gott nicht für das Beste entscheidet, auch wenn dies nicht „moralisch“ möglich ist: Gott wählte zwischen verschiedenen Entschlüssen, die alle möglich waren: Also konnte er, im metaphysischen Sinne, wählen oder tun, was nicht das Beste war; im moralischen Sinne konnte er das jedoch nicht.⁵¹

Leider erläutert Leibniz nie, was er genau meint, wenn er sagt, dass etwas moralisch möglich (bzw. unmöglich) ist. Klar ist aber, dass er hier die moralische Möglichkeit von der metaphysischen Möglichkeit abgrenzt. Er nimmt an, dass es zumindest metaphysisch möglich ist, dass Gott nicht die beste Welt auswählt. Eine ganz ähnliche Äußerung findet sich in einer Schrift, die bereits in den 1680er Jahren entstanden ist (und in der Leibniz, wie so oft, mit mehreren Strategien gleichzeitig experimentiert): Dass Gott aus mehreren vollkommenen Dingen ein weniger vollkommenes Ding auswählt, impliziert keine Unvollkommenheit in Gott und widerspricht auch nicht seiner Macht, sondern widerspricht seinem Willen bzw. dessen erstem Beschluss. Und auch dass Gott anders entscheidet, impliziert keinen Widerspruch.⁵²

Leibniz trifft hier eine interessante Unterscheidung zwischen der Vollkommenheit Gottes einerseits und der Vollkommenheit seiner Schöpfung andererseits. Er geht offenbar davon aus, dass Gott auch dann vollkommen (und somit auch allgütig) wäre, wenn er nicht das Beste gewählt hätte, wenn also die Schöpfung nicht so

 Theodizee §/Holz Bd. ., : „Dieu a choisi entre de differens partis tous possibles: ainsi metaphysiquement parlant, il pouvoit choisir ou faire ce qui ne fut point le meilleur, mais il ne le pouvoit point moralement parlant.“  AA ., : „Ut ex pluribus perfectis Deus eligat, minus perfectum non implicat imperfectionem in Deo, nec potentiae ejus contrarium est, sed voluntati seu primo ejus decreto. Nec implicat contradictionem eum aliter statuere.“ (Hier ist Leibniz wohl ein Fehler in der Interpunktion unterlaufen. Das erste Komma sollte nach „perfectum“ und nicht nach „eligat“ stehen.) Adams , S.  zitiert diese Passage ebenfalls und schreibt: „I find [this statement] astonishingly un-Leibnizian and do not think it fits into his philosophical system.“

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5 Leibniz und das Problem des Nezessitarismus

vollkommen wie möglich wäre.⁵³ (Die Formulierung „aus mehreren vollkommenen Dingen ein wenig vollkommenes Ding auswählen“ klingt zweifellos etwas merkwürdig. Ich verstehe Leibniz hier so, dass Gott von mehreren möglichen Optionen, die alle recht gut sind, nicht die beste auswählen muss (man bedenke, dass es für Leibniz nur eine beste mögliche Welt gibt und nicht mehrere Welten, die gleich gut sind). Daraus folgt, dass Gottes Wahl der besten Option nur kontingenterweise erfolgt und nicht mit Notwendigkeit. Da Leibniz außerdem auch von dem Grundsatz Minus bonum habet rationem mali ausgeht,⁵⁴ scheint aus der Passage sogar unmittelbar zu folgen, dass Gott Schlechtes tun kann.) Leibniz greift hier eine mittelalterliche Überlegung auf, die sich bereits bei Thomas von Aquin findet. Thomas schreibt: „Da also die göttliche Güte ohne andere Dinge sein kann, und selbst durch andere Dinge nicht vermehrt wird, steht Gott, weil er seine eigene Güte will, unter keiner Notwendigkeit, andere Dinge zu wollen.“⁵⁵ Die Idee hier ist, dass Gottes Allgüte – und damit Gottes Vollkommenheit insgesamt – vollständig unberührt davon ist, was außerhalb von Gott existiert. Denn wenn Gottes Güte bzw. Vollkommenheit irgendwie von anderen Dingen beeinflusst werden könnte, dann würde Gott ja von diesen Dingen abhängen, was absurd wäre. Gott ist in sich vollkommen, und seine Vollkommenheit kann nicht von der Schöpfung abhängig sein. Ein ähnliches Bild scheint auch Leibniz zu haben, wenn er sagt, dass es nicht zu Gottes Essenz gehört, das Beste zu erschaffen, und dass Gott dies nur kontingenterweise tut. Dies bedeutet aber nicht, dass Gottes Güte nicht zu seiner Essenz gehört. Vielmehr meint Leibniz, dass es, trotz seiner Vollkommenheit, in Gottes Macht steht, nicht das Beste zu tun. Klar ist in jedem Fall, dass Leibniz insbesondere in seinen späteren Schriften, zum Teil aber bereits in den 1680er Jahren, die erste Prämisse des nezessitaristischen Arguments („Gott wählt und erschafft notwendigerweise die beste aller möglichen Welten“) häufig ablehnt. Er geht also in vielen Kontexten davon aus, dass das Prinzip des Besten – also das Prinzip, dass Gott stets das Beste tut – ein kontingentes Prinzip ist. Wie ist diese dritte Strategie zu bewerten? Ist es im Rahmen von Leibniz’ Theorie plausibel, den Nezessitarismus zu vermeiden, indem man annimmt, dass

 Natürlich ist laut Leibniz auch die bestmögliche Schöpfung nicht vollständig vollkommen. Dies ist einfach der prinzipiellen Endlichkeit bzw. Limitiertheit aller möglichen Geschöpfe geschuldet.  Siehe z. B. Theodizee §.  SCG I, , n. : „Cum igitur divina bonitas sine aliis esse possit, quinimmo nec per alia ei aliquid accrescat; nulla inest ei necessitas ut alia velit ex hoc quod vult suam bonitatem.“ In Grua  bezieht sich Leibniz explizit auf Thomas und auf die Passage, aus der die eben zitierte Stelle stammt. Siehe hierzu auch Adams , S. .

5.4 Leibniz’ Prinzip des zureichenden Grundes (PZG)

229

Gott nur kontingenterweise die beste aller möglichen Welten auswählt? Angesichts der rationalistischen Annahmen, die Leibniz trifft, ist es zweifellos überraschend, dass Leibniz diese Option überhaupt in Erwägung zieht. Würde Gott nicht das Beste wählen, so würde er nämlich ohne hinreichenden Grund handeln. Wenn Leibniz davon ausgeht, dass Gott sich nur kontingenterweise für das Beste entscheidet, setzt er also offenbar voraus, dass auch das PZG lediglich ein kontingentes Prinzip ist.⁵⁶ Aber ist dies eine plausible Annahme? Gerät damit nicht Leibniz’ gesamtes rationalistisches System ins Wanken? Das PZG ist schließlich ein zentraler Eckpfeiler dieses Systems, und zumindest prima facie entsteht in mehreren Kontexten der Eindruck, dass es sich um ein notwendiges Prinzip handelt – zum Beispiel wenn er es verwendet, um andere notwendige Wahrheiten zu beweisen, wie z. B. das Prinzip der Identität des Ununterscheidbaren oder die Unmöglichkeit eines absoluten Raumes und einer absoluten Zeit. Es stellt sich also die Frage, welchen modalen Status das PZG für Leibniz hat.⁵⁷ Leibniz scheint mit einem Dilemma konfrontiert zu sein:Wenn Gottes Wahl des Besten tatsächlich kontingent ist, dann scheint auch das PZG kontingent sein zu müssen. In anderen Kontexten hingegen scheint Leibniz wie selbstverständlich davon auszugehen, dass das PZG notwendig ist. Diesem scheinbaren Widerspruch werde ich mich in den nächsten Abschnitten zuwenden. Nur wenn sich diese Spannung auflösen lässt, besteht Hoffnung, Leibniz’ dritte anti-nezessitaristische Strategie zufriedenstellend zu rekonstruieren. Und da die ersten beiden Strategien nicht besonders vielversprechend zu sein scheinen, und weil Leibniz in späteren Jahren immer mehr zur dritten Strategie tendiert, ist eine solche Rekonstruktion unverzichtbar, um Leibniz’ Antwort auf den Nezessitarismus zu verstehen.

5.4 Leibniz’ Prinzip des zureichenden Grundes (PZG) Bevor wir uns der Frage zuwenden, was genau der modale Status des PZG für Leibniz ist, sollten wir uns zunächst im Klaren darüber sein, was dieses Prinzip

 Dass Leibniz davon ausgeht, dass das PZG verletzt wäre, wenn Gott nicht das Beste wählen würde, geht aus PNG §/Holz Bd. ,  hervor: „Denn da alle Möglichkeiten (tous les Possibles) im Verstand Gottes in Proportion zu ihrer Perfektion nach Existenz streben, muss das Resultat all dieser Strebungen die perfekteste wirkliche Welt sein, die möglich ist. Und ohne dies wäre es nicht möglich einen Grund dafür anzugeben, warum die Dinge so und nicht anders geschehen sind.“  Darauf, dass die Frage nach dem modalen Status des PZG eine schwierige Frage ist, weist bereits Adams , S.  hin. Eine systematische Untersuchung zu dieser Frage liegt allerdings noch nicht vor. Ich diskutiere dieses Thema ausführlich in Bender (im Ersch. b).

230

5 Leibniz und das Problem des Nezessitarismus

genau besagt. Dies ist keine so leichte Aufgabe, wie man vielleicht denken könnte. Leibniz formuliert viele unterschiedliche Versionen des PZG, und es ist nicht immer eindeutig, ob all diese Formulierungen tatsächlich miteinander äquivalent sind.⁵⁸ Ich glaube, die folgenden sechs Passagen bilden diese Vielfalt der Formulierungen recht gut ab: [A] Unsere Vernunftüberlegungen sind auf zwei große Prinzipien gegründet, das des Widerspruchs […] Und das des zureichenden Grundes, vermöge dessen wir bedenken, dass sich keine Tatsache als wahr oder existierend, keine Aussage als wahr herausstellen kann, ohne dass es einen zureichenden Grund gäbe, warum es sich so und nicht anders verhält, obschon diese Gründe uns oft nicht bekannt sein können.⁵⁹ [B] [N]ichts ist ohne Grund, oder kein Effekt ist ohne Ursache.⁶⁰ [C] [N]ichts geschieht, ohne dass es dem, der die Dinge genügend kennt, möglich wäre, einen Grund anzugeben, der zureicht um zu bestimmen, warum es so und nicht anders ist.⁶¹ [D] […] das ist das Prinzip des zureichenden Grundes, was besagt, dass nichts geschieht, ohne dass es dafür einen Grund gäbe, warum es so und nicht anders ist.⁶² [E] Denn die Natur der Dinge verlangt, dass jedes Ereignis zuvor seine passenden Bedingungen, Voraussetzungen oder Dispositionen hat, deren Existenz den hinreichenden Grund des Ereignisses ausmacht.⁶³ [F] Dies ist das Prinzip, dass ein hinreichender Grund nötig ist, dafür, dass eine Sache existiert, dass ein Ereignis geschieht, dass eine Wahrheit stattfindet.⁶⁴

 Für sehr hilfreiche Diskussionen des PZG bei Leibniz, siehe Frankel , Sleigh  und Look .  Monadologie §§ – /Holz Bd. , : „Nos raisonnemens sont fondés sur deux grands Prinicipes, celuy de la Contradiction […] Et celuy de la Raison suffisante, en vertu duquel nous considerons qu’aucun fait ne sauroit se trouver vray ou existant, aucune Enonciation veritable, sans qu’il y ait une raison suffisante, pourquoy il en soit ainsi et non pas autrement, quoyque ces raisons le plus souvent ne puissant point nous être connues.“  C : „[…] nihil esse sine ratione, seu nullum effectum esse absque causa.“  PNG §/Holz Bd. , : „[…] rien n’arrive, sans qu’il seroit possible à celuy qui connoitroit assés les choses, de rendre une Raison qui suffise pour determiner, pourquoy il en est ainsi, et non pas autrement.“  G VII, : „[…] c’est le Principe du besoin d’une Raison suffisante; c’est que rien n’arrive, sans qu’il ait une raison pourquoy cela soit ainsi plustost qu’autrement.“  G VII, : „Car la nature des choses porte, que tout evenement ait prealablement ses conditions, requisits, dispositions convenables, dont l’existence en fait la raison suffisante.“  G VII, : „Ce principe est celuy du besoin d’une Raison suffisante, pour qu’une chose existe, qu’un événement arrive, qu’une verité ait lieu.“

5.4 Leibniz’ Prinzip des zureichenden Grundes (PZG)

231

Aus moderner Perspektive wirkt es etwas merkwürdig, dass Leibniz in diesen Passagen zwanglos zwischen der Rede von Ereignissen (in [C], [D], und [E]), Dingen (in [F] spricht er von „chose“) und (wahren) Propositionen (in [A] und [F]) hin- und herspringt. [F] macht allerdings deutlich, dass er sich dieser unterschiedlichen Dimensionen durchaus bewusst war. Leibniz geht offenbar davon aus, dass man leicht von einem zum anderen gelangt.Wenn er davon spricht, dass ein Ding einen hinreichenden Grund hat, dann muss dies wohl so verstanden werden, dass dieses Ding zu einem bestimmten Zeitpunkt t in einem bestimmten Zustand ist und dass dieses Ereignis einen hinreichenden Grund hat.⁶⁵ Alternativ könnte man argumentieren, dass es einen zureichenden Grund für ein Ding x gibt, wenn es einen zureichenden Grund für die Tatsache gibt, dass x existiert. Außerdem geht Leibniz davon aus, dass jedem Ereignis eine wahre Proposition entspricht, weshalb die Redeweise von Ereignissen mit hinreichenden Gründen leicht in die Redeweise von Wahrheiten mit hinreichenden Gründen übersetzt werden kann. Hier könnte man einwenden, dass dies auf die umgekehrte Richtung nicht zutrifft. Notwendige Wahrheiten, z. B. mathematische Sätze, beziehen sich normalerweise nicht auf Ereignisse. Aber haben notwendige Wahrheiten überhaupt hinreichende Gründe? An diesem Punkt scheint Leibniz keine eindeutige Antwort zu geben. Häufig sagt er, dass der hinreichende Grund für eine notwendige Wahrheit ist, dass ihr Gegenteil einen Widerspruch einschließt.⁶⁶ An anderen Stellen hingegen schränkt er das PZG auf kontingente Wahrheiten ein.⁶⁷ Diese Unentschlossenheit kann vielleicht wie folgt erklärt werden: Wenn der hinreichende Grund für eine notwendige Wahrheit ist, dass deren Gegenteil einen Widerspruch einschließt, dann ist die These, dass notwendige Wahrheiten hinreichende Gründe haben (zumindest im Kontext von Leibniz’ Theorie) einfach trivialerweise wahr. Die philosophisch interessante These ist, dass Wahrheiten, die kontingente Ereignisse beschreiben, hinreichende Gründe haben. Es ist deshalb nicht weiter überraschend, dass Leibniz das PZG häufig nur mit Bezug auf Ereignisse formuliert und die notwendigen Wahrheiten außer Acht lässt. Ein weiterer Punkt, der aus moderner Sicht etwas verwundert, ist, dass Leibniz die Ausdrücke „Grund“ und „Ursache“ manchmal synonym verwendet (etwa in [B]). Heute trennen wir diese beiden Kategorien für gewöhnlich strikt voneinander. Hintergrund für Leibniz’ Identifikation ist wohl sein rationalistischer Ursachen-

 Natürlich ist dies nur unter bestimmten ontologischen Voraussetzungen ein Ereignis. Siehe zur Beziehung zwischen Ereignissen, Objekten, Tatsachen und Eigenschaften Casati .  Vgl. Monadologie §§ – . Siehe hierfür auch Melamed & Lin .  Vgl. etwa G VII, .

232

5 Leibniz und das Problem des Nezessitarismus

Begriff, dem zufolge das Auftreten einer Ursache das Auftreten einer Wirkung in einem starken Sinne erklärt. Dies ist deshalb möglich, weil für Leibniz Ursachen und Wirkungen begrifflich miteinander verbunden sind. Aus diesem Grund ist es nicht überraschend, dass er „Ursache“ und „Grund“ häufig synonym verwendet.⁶⁸ Sieht man einmal von diesen Detailbetrachtungen ab, ist klar, dass das PZG ein sehr anspruchsvolles Prinzip ist. Wenn es zutrifft, dann kann (zumindest prinzipiell) auf jede Warum-Frage eine zufriedenstellende Antwort gegeben werden, und es gibt für alles eine Erklärung, warum es so und nicht anders ist. Natürlich darf das PZG nicht als epistemisches Prinzip aufgefasst werden. Es besagt nicht, dass wir de facto in der Lage sind, für alles eine Erklärung zu geben, sondern lediglich, dass ist es prinzipiell möglich ist, für alles einen Grund anzugeben. Ferner ist klar, dass das PZG ein sehr weitreichendes metaphysisches Prinzip ist. Die Welt muss so strukturiert sein, dass es keine „nackten“ Tatsachen gibt. Solche Tatsachen würden explanatorische Lücken erzeugen, und dann gäbe es nicht für alles einen hinreichenden Grund. Wie wir gleich sehen werden, glaubt Leibniz z. B., dass aus dem PZG folgt, dass es weder einen absoluten Raum noch eine absolute Zeit gibt, und dass es keine zwei Substanzen geben kann, die numerisch verschieden sind, sich aber exakt gleichen. Dies sind natürlich sehr substantielle metaphysische Thesen, die zeigen, dass das PZG für Leibniz ein Prinzip mit weitreichenden metaphysischen Konsequenzen ist.

5.5 Ist das PZG ein notwendiges oder ein kontingentes Prinzip? Was ist der modale Status des PZG? Wir haben gesehen, dass Leibniz in Kontexten, in denen er die dritte anti-nezessitaristische Strategie verfolgt, die Kontingenz dieses Prinzips vorauszusetzen scheint. Dabei stand folgende Überlegung im Hintergrund: Hätte Gott sich nicht für unsere Welt, sondern für eine andere mögliche Welt entschieden, so hätte er nicht das Beste gewählt und somit ohne hinreichenden Grund gehandelt. Da es aber in der Tat möglich ist, dass Gott nicht das Beste wählt, ist Gott in der Lage, das PZG zu verletzen. Also muss das PZG kontingent sein.

 Die beiden Ausdrücke können allerdings nicht vollkommen synonym, da es für Gottes Existenz zwar einen Grund aber keine Ursache gibt (siehe hierfür Mates , S. ). Leibniz scheint (anders als Spinoza) davon auszugehen, dass Ursachen ihren Wirkungen immer extern sind.

5.5 Ist das PZG ein notwendiges oder ein kontingentes Prinzip?

233

Aber ist dies nicht eine merkwürdige Behauptung? Schließlich handelt es sich beim PZG um ein grundlegendes metaphysisches Prinzip. Wäre es nicht überraschend, wenn einer der beiden wichtigsten Eckpfeiler von Leibniz’ System (neben dem Prinzip des ausgeschlossenen Widerspruchs) nur kontingenterweise wahr wäre? Dieser Verdacht lässt sich präzisieren. Tatsächlich scheint Leibniz in mindestens drei unterschiedlichen Kontexten die Notwendigkeit des PZG vorauszusetzen: (i) Leibniz’ Hauptargument für das Prinzip der Identität des Ununterscheidbaren beruht auf dem PZG. Wenn das Prinzip der Identität des Ununterscheidbaren notwendig ist, so muss scheinbar auch das PZG notwendig sein. (ii) Leibniz’ Hauptargument für seine relationale Theorie des Raumes und der Zeit beruhen ebenfalls auf dem PZG. Wenn Raum und Zeit aber notwendigerweise relational sind, so muss auch das PZG notwendig sein, damit das Argument funktioniert. (iii) In den Ersten Wahrheiten folgert Leibniz das PZG aus seiner Wahrheitstheorie, die er höchstwahrscheinlich für notwendig hält. Auch dies legt den Schluss nahe, dass das PZG ein notwendiges Prinzip ist. Ich werde diese drei Argumente nun der Reihe nach diskutieren.

(i) Die Notwendigkeit des PIU Das Prinzip der Identität des Ununterscheidbaren (im Folgenden: PIU) ist eines der wichtigsten metaphysischen Prinzipien in Leibniz’ System. In Leibniz’ Worten besagt es, dass „alle Substanzen sich ihrer Natur nach unterscheiden und dass es keine zwei Substanzen gibt, die sich lediglich numerisch (solo numero) unterscheiden.“⁶⁹ Zwei unterschiedliche Dinge a und b dürfen sich also nicht nur der Zahl nach unterscheiden, sondern müssen dies auch hinsichtlich anderer Eigenschaften tun. Allerdings sind in Leibniz’ Version des PIU nicht alle Eigenschaften erlaubt, da das Prinzip sonst trivialerweise wahr wäre. Die Eigenschaft, identisch mit Aristoteles zu sein, kommt z. B. notwendigerweise nur Aristoteles zu. Wären Eigenschaften dieser Art erlaubt, so wäre das PIU ein zwar wahres aber uninteressantes Prinzip. Leibniz vertritt aber die anspruchsvolle Version des PIU, der zufolge sich zwei numerisch verschiedene Dinge a und b stets auch hinsichtlich ihrer qualitativen Eigenschaften unterscheiden müssen. Die meisten Interpreten gehen davon aus, dass Leibniz das PIU als ein notwendiges Prinzip ansieht.⁷⁰ Obwohl die textlichen Belege für diese Ansicht we G II, : „[…] omnes substantias esse diversae naturae nec duo solo numero differentia in natura dari.“  Siehe etwa Russell , S. ; Rescher , S. ; Parkinson , S.  – ; Adams , S.  – ; Rodriguez-Pereyra b.

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5 Leibniz und das Problem des Nezessitarismus

niger klar sind, als man vielleicht vermuten könnte, gibt es zumindest einige Stellen, wo Leibniz dies explizit behauptet. So schreibt er an Arnauld, „dass es nicht möglich ist, dass es zwei völlig ähnliche oder nur der Zahl nach verschiedene Individuen gibt.“⁷¹ Obwohl die Frage, was der modale Status des PIU ist, an sich auch sehr interessant ist, werde ich im Folgenden davon ausgehen, dass das PIU für Leibniz in der Tat notwendig ist, da die Diskussion andernfalls zu kompliziert wird.⁷² Leibniz’ Hauptargument für das PIU basiert auf dem PZG. In den Ersten Wahrheiten erläutert Leibniz dieses Argument sehr knapp wie folgt:⁷³ Hieraus folgt auch, dass es in der Natur nicht zwei einzelne, nur der Zahl nach verschiedene Dinge geben kann; überall nämlich muss ein Grund angegeben werden können, warum sie verschieden sind, welcher Grund in irgendeinem Unterschied in ihnen selbst zu suchen ist.⁷⁴

Die Überlegung, die Leibniz hier anstellt, lässt sich als reductio verstehen: Nehmen wir einmal an, es gäbe zwei numerisch verschiedene aber ununterscheidbare Substanzen a und b. Dem PZG zufolge muss es für den Umstand, dass a und b voneinander verschieden sind (ebenso wie für alle anderen Tatsachen), einen Grund geben. Einen solchen Grund kann es aber gar nicht geben. Da angenommen wurde, dass sich a und b lediglich numerisch voneinander unterscheiden, können wir auf keinen Unterschied in den (qualitativen) Eigenschaften verweisen. Und was sonst könnte die numerische Verschiedenheit von a und b erklären?⁷⁵ Auf ihre Verschiedenheit zu verweisen, wäre keine Erklärung, sondern lediglich eine Wiederholung der ursprünglichen Behauptung. Deshalb, so Leibniz, ist der Umstand, dass a und b voneinander verschieden sind, überhaupt nicht erklärbar. Setzt man das PZG voraus, ist also ein Szenario, in dem zwei numerisch verschiedene aber ununterscheidbare Substanzen existieren, ausgeschlossen. Das PZG impliziert also das PIU.⁷⁶  G II, /Finster  (meine Hervorhebung): „[…] qu’il n’est pas possible qu’il y ait deux individus entierement semblables ou differens solo numero.“  Für eine ausführliche Diskussion des modalen Status des PIU, siehe Jauernig  sowie Rodriguez-Pereyra b.  Ich konzentriere mich hier auf das Argument aus den Ersten Wahrheiten. Leibniz’ Argument für das PIU aus dem Briefwechsel mit Clarke diskutiere ich hier nicht.  C /Schmidt : „Sequitur etiam hinc non dari posse < in natura > duas res singulares solo numero differentes: utique enim oportet rationem reddi posse cur [dicantur] < sint > diversae, quae ex aliqua in ipsis differentia petenda est.“  Auch Ortseigenschaften sind nicht dafür nicht geeignet, weil solche Eigenschaften relationale Eigenschaften sind, die sich aus der relativen Positionierung verschiedener Individuen ergeben.  Ich kann hier nicht auf Details von Leibniz’ Argumentation eingehen. Siehe für eine genaue Rekonstruktion Rodriguez-Pereyra .

5.5 Ist das PZG ein notwendiges oder ein kontingentes Prinzip?

235

Wenn dieses Argument tatsächlich zeigen soll, dass es notwendigerweise keine zwei Substanzen geben kann, die sich vollkommen gleichen – und dies ist offenbar Leibniz’ Intention⁷⁷ – dann kann das Argument nur funktionieren, wenn das PZG ebenfalls notwendig ist. Aus einem kontingenten PZG könnte man höchstens ein kontingentes PIU folgern, das in unserer Welt gilt, aber kein notwendiges PIU, das in allen möglichen Welten gilt. Geht man davon aus, dass Leibniz nicht vollkommen den Überblick über die Modalitäten in seinem Argument für das PIU verloren hat, dann muss man also den Schluss ziehen, dass Leibniz zumindest in den Ersten Wahrheiten das PZG für notwendig hält.

(ii) Die Unmöglichkeit eines absoluten Raumes und einer absoluten Zeit Leibniz vertritt eine relationale Theorie von Raum und Zeit. Er lehnt Newtons und Clarkes Auffassung, dass Raum und Zeit absolut sind, ab und vertritt stattdessen die Position, dass Raum und Zeit nichts anderes als die Relationen zwischen den Dingen sind.⁷⁸ Was ist der modale Status dieser These? Geht Leibniz davon aus, dass der Relationismus bezüglich Raum und Zeit notwendigerweise wahr ist oder handelt es sich dabei lediglich um ein kontingentes Faktum über unsere Welt? In seiner Korrespondenz mit Clarke votiert Leibniz eindeutig für die modal stärkere These: Wenn Raum und Zeit etwas Absolutes wären, d. h., wenn sie etwas anderes als eine gewisse Ordnung der Dinge wären, dann wäre das, was ich sage, ein Widerspruch. Aber da es sich nicht so verhält, ist die Hypothese [dass Raum und Zeit absolut sind] widersprüchlich, d. h. eine unmögliche Fiktion.⁷⁹

Diese Passage zeigt eindeutig, dass Leibniz einen absoluten Raum und eine absolute Zeit für unmöglich hält. Im Umkehrschluss folgt daraus, dass er seinen Relationismus als notwendig betrachtet.⁸⁰ Warum ist dies für unseren Kontext relevant? Der Grund dafür ist, dass Leibniz, ähnlich wie im Fall des PIU, auch für seine relationale Theorie von Raum  Schließlich sagt Leibniz in der Konklusion, dass es keine „nur der Zahl nach verschiedene Dinge geben kann“ (meine Hervorhebung).  Ich werde Leibniz’ Theorie von Raum und Zeit hier nicht im Detail diskutieren. Für eine gute Einführung, siehe Jolley , S.  – .  G VII, : „Si l’espace et le temps estoient quelque chose d’absolu, c’est à dire, s’ils estoient autre chose que certains ordres des choses, ce que je dis seroit contradiction. Mais cela n’estant point, l’hypothese est contradictoire, c’est à dire, c’est une fiction impossible.“  Für eine nähere Betrachtung dieses Themas siehe Lin (im Ersch.).

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5 Leibniz und das Problem des Nezessitarismus

und Zeit ausgehend vom PZG argumentiert. In seinem dritten Brief an Clarke schreibt er: Ich sage also: Wenn der Raum ein absolutes Seiendes wäre, dann würde daraus etwas folgen, wofür es unmöglich einen hinreichenden Grund gäbe – was gegen mein Axiom ist. Ich beweise dies folgendermaßen. Der Raum ist etwas absolut Gleichförmiges, und ohne die dort platzierten Dinge unterscheidet sich kein Punkt des Raumes in irgendeiner Hinsicht von einem anderen Punkt des Raumes. Daraus folgt nun – unter der Annahme, dass der Raum etwas in sich selbst, zusätzlich zur Ordnung der Körper untereinander, ist – dass es unmöglich einen Grund gibt, warum Gott, mit Blick auf dieselbe Anordnung der Körper untereinander, die Körper so im Raum platziert hat und nicht anders, und warum nicht alles andersherum angeordnet wurde, z. B. durch eine Vertauschung von West und Ost.⁸¹

Leibniz’ Überlegung hier lässt sich wie folgt zusammenfassen: Wenn Raum und Zeit absolut wären, dann würde Gott ohne zureichenden Grund handeln, sobald er die Welt auf eine bestimmte Weise erschafft. Er hätte nämlich genauso gut alle Dinge z. B. einen Meter weiter rechts im absoluten Raum, zwei Meter weiter oben oder auch spiegelverkehrt erschaffen können. Ebenso hätte er genauso gut eine Welt erschaffen können, in der alles z. B. eine Stunde früher geschieht. Unter der Voraussetzung eines absoluten Raumes und einer absoluten Zeit gibt es also unendliche viele mögliche Welten, die unserer Welt hinsichtlich ihrer Güte bzw. Perfektion exakt gleichen. Denn warum sollte z. B. eine Welt, die sich von unserer Welt lediglich darin unterscheidet, dass sie einen Meter weiter rechts im absoluten Raum positioniert ist, besser oder schlechter als unsere Welt sein? Unter diesen Umständen hätte Gott aber keinen zureichenden Grund, eine dieser Welten gegenüber einer anderen zu bevorzugen. Würde er sich für eine von ihnen entscheiden, so würde er grundlos handeln, was eine Verletzung des PZG zur Folge hätte. Auch mit Bezug auf dieses Argument können wir dieselbe Frage stellen, wie bei Leibniz’ Argument für das PIU: Wenn die Konklusion des Arguments notwendig sein soll (und davon geht Leibniz aus), muss dann nicht auch das PZG notwendigerweise gelten, damit das Argument funktioniert? Wenn das PZG nur kontingent wäre, dann würde aus Leibniz’ Argument höchstens folgen, dass un G VII, : „Je dis donc que si l’espace étoit un être absolu, il arriveroit quelque chose dont il seroit impossible qu’il y eût une raison suffisante, ce qui est contre nôtre Axiome.Voicy comment je le prouve. L’Espace est quelque chose d’uniforme absolument, et sans les choses y placées, un point de l’espace ne differe absolument en rien d’un autre point de l’espace. Or il suit de cela, supposé que l’espace soit quelque chose en luy même, outre l’ordre des corps entre eux, qu’il est impossible qu’il y ait une raison, pourquoy Dieu, gardant les mêmes situations des corps entre eux, ait placé les corps dans l’espace ainsi et non pas autrement, et pourquoy tout n’a pas eté mis à rebours (par exemple) par un échange de l’orient et de l’occident.“

5.5 Ist das PZG ein notwendiges oder ein kontingentes Prinzip?

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sere Welt keinen absoluten Raum und keine absolute Zeit hat, bzw. dass der Relationismus in unserer Welt gilt. Es würde aber nicht folgen, dass dies in allen möglichen Welten der Fall ist.Wie wir aber aus dem ersten Zitat wissen, ist Leibniz’ These, dass Raum und Zeit notwendigerweise relational sind (und dass es somit unmöglich ist, dass Raum und Zeit absolut sind). Damit das Argument vom PZG zum Relationismus funktioniert, muss das PZG also allem Anschein nach notwendig sein. Bevor ich zum dritten Argument für die Notwendigkeit des PZG komme, ist es wichtig, auf die verschiedenen Rollen des PZG in den beiden eben betrachteten Argumenten hinzuweisen. Tatsächlich ist die Struktur des Arguments für das PIU aus den Ersten Wahrheiten recht anders als die des Arguments für die relationale Theorie von Raum und Zeit im Briefwechsel mit Clarke. Im Allgemeinen kann man zwischen zwei verschiedenen Typen von PZG-Argumenten bei Leibniz unterscheiden.⁸² Der erste Argumenttyp hat folgende Struktur: Wenn es grundsätzlich nicht möglich ist, einen Grund oder eine Erklärung für einen (angeblichen) Unterschied oder eine (angebliche) Verschiedenheit anzugeben, dann kann es einen solchen Unterschied oder eine solche Verschiedenheit nicht geben. Kurz gesagt: Es kann keine primitiven Unterschiede geben – jeder Unterschied muss metaphysisch fundiert sein.⁸³ In den Ersten Wahrheiten gibt Leibniz explizit das Schema an, nach dem solche Argumente funktionieren: Es folgt auch: Wenn alles sich auf der einen Seite verhält wie auf der anderen im Gegebenen, dann wird sich auch im Geforderten oder Folgenden auf beiden Seiten alles auf dieselbe Weise verhalten,weil kein Grund einer Verschiedenheit beigebracht werden kann, der überall von dem Gegebenen gefordert werden muss. Ein Folgesatz hiervon aber oder vielmehr ein Beispiel dafür ist das Postulat des Archimedes am Anfang des Buches vom Gleichgewicht, dass, wenn die Waagebalken und die aufgelegten Gewichte auf beiden Seiten gleich sind, sich alles im Gleichgewicht befindet.⁸⁴

 Für das Folgende orientiere ich mich an Cover & Hawthorne , S.  – , die ebenfalls zwischen zwei Typen von PZG-Argumenten unterscheiden. Sie sprechen von „No Reason Arguments“ einerseits und „Divine Preference Arguments“ andererseits.  Hier wird einmal mehr der Zusammenhang zwischen PZG und Fundierung („grounding“) deutlich.  C /Schmidt : „Sequitur etiam cum omnia ab una parte se habent ut ab alia parte in datis [determinantibus], etiam in quaesitis seu consequentibus omnia se eodem modo habitura utrinque. Quia nulla potest reddi ratio diversitatis, quae utique ex datis petenda est. Atque hujus corollarium vel exemplum potius est postulatum Archimedis initio aequiponderantium, quod brachiis librae et ponderibus positis aequalibus, omnia sint in aequilibrio.“

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5 Leibniz und das Problem des Nezessitarismus

Würde in Leibniz’ Beispiel die Waage zu einer Seite ausschlagen, so gäbe es dafür keinen hinreichenden Grund. Da es keinen Unterschied im „Gegebenen“ gibt, so Leibniz’ Überlegung, kann es auch keinen Unterschied in den „Konsequenzen“ geben. Grundsätzlich müssen also alle Unterschiede fundiert sein, weil sie andernfalls unerklärlich sind. Wir können solche Argumente auch Fundierungs-Argumente nennen. Das Argument für das PIU ist ein solches Fundierungs-Argument. Wie wir gesehen haben, argumentiert Leibniz dort, dass zwei numerisch verschiedene Substanzen sich stets auch hinsichtlich ihrer qualitativen Eigenschaften unterscheiden müssen, da es andernfalls keinen Grund für ihre numerische Verschiedenheit gäbe – ihre numerische Verschiedenheit wäre also nicht metaphysisch fundiert. Der zweite Argumenttyp funktioniert anders und hat folgende Struktur: Wenn p in der wirklichen Welt @ der Fall wäre, dann gäbe es eine von @ verschiedene Welt w, die sich hinsichtlich ihres Perfektionsgrades nicht von @ unterscheidet. Gott hätte deshalb keinen Grund @ der Welt w vorzuziehen oder umgekehrt. Wäre p der Fall, würde dies also eine Verletzung des PZG nach sich ziehen. Deshalb kann p nicht in der wirklichen,von Gott erschaffenen Welt der Fall sein. Argumente dieses Typs könnte man als Präferenz-Argumente bezeichnen,⁸⁵ da davon ausgegangen wird, dass Gott stets eine begründete Präferenz für seine Wahl haben muss. Leibniz’ Argument gegen den absoluten Raum und die absolute Zeit im vierten Brief an Clarke ist ein solches Präferenz-Argument. Dort wird das eben skizzierte Schema wie folgt angewendet: Wenn Raum und Zeit absolut wären, dann gäbe es eine mögliche Welt w, die unserer exakt gleicht, außer dass alles einen Meter weiter nach rechts gerückt ist (bzw. in der alles eine Stunde früher passiert). Dann hätte Gott aber keinen Grund gehabt, unsere Welt statt w auszuwählen. Daraus folgert Leibniz, dass die Annahme falsch sein muss und unsere Welt keinen absoluten Raum und keine absolute Zeit haben kann. Es ist wichtig zu sehen, dass diese zwei Argumenttypen – Fundierungs-Argumente einerseits und Präferenz-Argumente andererseits – sich deutlich voneinander unterscheiden. Während Leibniz in den Präferenz-Argumenten auf Gottes Entscheidungsgründe Bezug nimmt, kommen die Fundierungs-Argumente ohne einen solchen Bezug aus. Daraus ergibt sich aber ein Problem für die Präferenz-Argumente, auf das bereits mehrfach von Kommentatoren hingewiesen

 Vgl. Cover & Hawthorne , S.  – . Siehe für diesen Zusammenhang auch ausführlich Jauernig , die eine sehr genaue Rekonstruktion dieser Argumenttypen vornimmt.

5.5 Ist das PZG ein notwendiges oder ein kontingentes Prinzip?

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wurde.⁸⁶ Die Konklusionen dieser Argumente scheinen modal schwächer zu sein, als Leibniz behauptet. Dies lässt sich anhand des Arguments für den Relationismus gut verdeutlichen. Leibniz scheint davon auszugehen, dass es lediglich Gottes kluger Entscheidung geschuldet ist, dass es keinen absoluten Raum und keine absolute Zeit gibt. Damit würde die relationistische These aber lediglich kontingenterweise gelten und nicht mit Notwendigkeit.Wenn man dem PräferenzArgument folgt, gewinnt man also den Eindruck, dass es durchaus mögliche Welten gibt, in denen Raum und Zeit absolut sind. Gott wählt bloß keine solche Welt aus. Tatsächlich möchte Leibniz aber die stärkere These vertreten, der zufolge ein absoluter Raum und eine absolute Zeit „unmögliche Fiktionen“ und „widersprüchlich“ sind.⁸⁷ Sein Präferenz-Argument aus dem Briefwechsel mit Clarke scheint eine solch starke These aber nicht zu stützen. Man könnte somit einmal mehr den Eindruck gewinnen, dass Leibniz den Überblick über die Modalitäten in seinen eigenen Argumenten verloren hat. Im nächsten Abschnitt werde ich dafür argumentieren, dass sich dieses Problem beheben lässt. Ich glaube, dass sich in Leibniz’ Briefwechsel mit Clarke neben dem Präferenz-Argument auch ein Fundierungs-Argument für den Relationismus versteckt, das es Leibniz erlaubt, eine Konklusion mit der korrekten modalen Stärke zu vertreten. Die Aufgabe der schwächeren Präferenz-Argumente ist im Wesentlichen, einen Gesprächspartner (in diesem Fall Clarke) wenigstens von der modal schwächeren These zu überzeugen, dass es in unserer Welt keinen absoluten Raum und keine absolute Zeit gibt. Insofern sein eigenes System betroffen ist, benötigt Leibniz aber ein Argument, aus dem folgt, dass dies in keiner möglichen Welt der Fall ist. Wie ich in Abschnitt 5.6 zeigen werde, verfolgt Leibniz in seiner Korrespondenz mit Clarke beide Strategien.

(iii) Das Argument in den Ersten Wahrheiten In den Ersten Wahrheiten folgert Leibniz das PZG aus seiner Wahrheitstheorie. Dieser Theorie zufolge ist in jeder wahren Proposition der Form „S ist P“ der Begriff des Prädikates zumindest implizit im Begriff des Subjekts enthalten.⁸⁸ Alle Wahrheiten sind somit analytische Wahrheiten. Nachdem Leibniz seine Wahrheitstheorie eingeführt hat, fügt er stolz hinzu, dass „vieles von erheblicher Be-

 Vgl. etwa Cover & Hawthorne , S. . Siehe insbesondere auch Lin (im Ersch.).  Dies geht aus G VII,  hervor, eine Passage, die ich oben zitiert habe.  Diese Theorie habe ich bereits in Abschnitt . besprochen und gehe hier deshalb nicht näher auf sie ein.

240

5 Leibniz und das Problem des Nezessitarismus

deutung“ daraus folgt.⁸⁹ Die erste These „von erheblicher Bedeutung“, für die Leibniz auf Basis seiner Wahrheitstheorie argumentiert, ist das PZG: Sofort entsteht nämlich daraus das bekannte Axiom, dass nichts ohne Grund oder keine Wirkung ohne Ursache ist. Sonst würde es eine Wahrheit geben, die nicht a priori bewiesen werden könnte oder die nicht in identische Sätze aufgelöst würde, was gegen das Wesen der Wahrheit ist […].⁹⁰

Leibniz’ Idee hier lässt sich in etwa wie folgt rekonstruieren: Seiner Wahrheitstheorie zufolge ist jeder wahre Satz entweder ein expliziter oder ein impliziter Identitätssatz. Die Tatsache, dass S P ist, kann also erklärt werden, indem man auf die entsprechende Identitätsrelation verweist. Ist P nur implizit in S enthalten, so muss in einer solchen Erklärung auf eine Analyse von S verwiesen werden, die zeigt, dass P in der Tat in S enthalten ist. Aus Leibniz’ Wahrheitstheorie folgt also, dass man (zumindest im Prinzip) für jeden wahren Satz „S ist P“ zeigen kann, warum dieser Satz wahr ist.⁹¹ Es gibt also für jeden wahren Satz einen Grund bzw. eine Erklärung – „S ist P“ ist nicht einfach primitiverweise wahr. Der Befund, dass es für jede Wahrheit einen Grund oder eine Erklärung gibt, ist aber nichts anderes als das PZG. Leibniz’ Wahrheitstheorie impliziert also das PZG.⁹² Leibniz’ Erklärungen in den Ersten Wahrheiten machen deutlich, dass seine Wahrheitstheorie und das PZG sehr eng miteinander verknüpft sind. Dass jede Wahrheit einen hinreichenden Grund hat, bedeutet einfach, dass es für jede Wahrheit einen a priori Beweis gibt, also eine Analyse, die zeigt, dass das Prädikat im Subjekt enthalten ist. In einem Text, der etwas zur gleichen Zeit wie die Ersten Wahrheiten entstanden ist, hält Leibniz fest: […] und das Prinzip des anzugebenden Grundes, d. h., dass ein Grund angegeben werden muss, d. h. dass jede wahre Proposition, die nicht durch sich selbst erkannt wird, einen Beweis a priori hat, oder dass für jede Wahrheit ein Grund angegeben werden kann, oder, wie man für gewöhnlich sagt, dass nichts ohne Grund ist.⁹³

 C /Schmidt .  C /Schmidt : „Statim enim hinc nascitur axioma receptum nihil esse sine ratione, seu nullum effectum esse absque causa. Alioqui veritas daretur, quae non posset probari a priori, seu quae non resolveretur in identicas, quod est contra naturam veritatis […].“  Und auch wenn man, wie Leibniz in den er und er Jahren, davon ausgeht, dass in einigen Fällen eine unendliche Analyse nötig ist, um zu zeigen, dass P in S enthalten ist, gäbe es trotzdem einen Grund für die Wahrheit von „S ist P“.  Für diesen Zusammenhang, siehe auch Look .  G VII, : „[…] et principium reddendae rationis, quod scilicet omnis propositio vera, quae per se nota non est, probationem recipit a priori, sive quod omnis veritatis reddi ratio potest, vel ut vulgo ajunt, quod nihil fit sine ratione.“

5.5 Ist das PZG ein notwendiges oder ein kontingentes Prinzip?

241

Demnach scheint Leibniz zumindest in den 1680er Jahren der Auffassung gewesen zu sein, dass das PZG nicht nur aus dem Prinzip, dass in jedem wahren Satz das Prädikat im Subjekt enthalten ist, folgt, sondern dass diese beiden Prinzipien sogar äquivalent sind. Was hat dies mit dem modalen Status des PZG zu tun? Es ist davon auszugehen, dass Leibniz seine Wahrheitstheorie für notwendig hält. Er scheint sogar zu glauben, dass diese Theorie einfach aus dem Begriff der Wahrheit folgt. So schreibt er an Arnauld, dass „der Begriff des Prädikats auf irgendeine Weise in dem des Subjekts enthalten ist, praedicatum inest subjectio, oder aber ich weiß nicht, was Wahrheit ist.“⁹⁴ Wenn aber die Wahrheitstheorie notwendigerweise gilt, und wenn das PZG logisch aus dieser Theorie folgt (oder gar mit ihr äquivalent ist), dann muss, so scheint es, das PZG ebenfalls notwendig sein. Das Argument für das PZG in den Ersten Wahrheiten legt also nahe, dass Leibniz das PZG als ein notwendiges Prinzip auffasst. Was aus etwas Notwendigem folgt, muss selbst notwendig sein. In diesem Abschnitt haben wir gesehen, dass Leibniz sich sowohl auf die Kontingenz als auch auf die Notwendigkeit des PZG zu verpflichten scheint. Zumindest prima facie sind wir also mit einem Dilemma konfrontiert. Einerseits spricht einiges dafür, dass Leibniz das PZG für kontingent hält. So verfolgt er in vielen seiner Schriften eine anti-nezessitaristische Strategie (Strategie III), der zufolge Gott die beste aller möglichen Welten kontingenterweise ausgewählt hat. Gott hätte sich auch für eine andere Welt entscheiden können, hat aber de facto die beste erschaffen. Eine Verletzung des PZG wäre also möglich gewesen. Zumindest in Kontexten, in denen Leibniz Strategie III verfolgt, setzt er also voraus, dass das PZG kontingent ist. Andererseits ist deutlich geworden, dass die Untersuchung anderer Aspekte von Leibniz’ System dafür spricht, dass er das PZG für notwendig hält. Die Art und Weise wie er das PZG mit vielen anderen seiner metaphysischen Thesen verknüpft, z. B. mit dem PIU, mit seinem Relationismus bezüglich Raum und Zeit und mit seiner Wahrheitstheorie, scheint keinen anderen Schluss zuzulassen. Wir sind also mit einem schwerwiegenden Problem konfrontiert. Leibniz ist ein sehr systematischer Denker, und er betont häufig, dass das PZG (neben dem Prinzip des ausgeschlossenen Widerspruchs) einer der beiden Hauptpfeiler seines Systems ist.⁹⁵ Wenn wir aber gar nicht wissen, was der modale Status des PZG ist, dann sind die Aussichten, den Rest seines Systems zu verstehen, nicht sonderlich

 G II, /Finster  (meine Hervorhebung): „[L]a notion du predicat est comprise en quelque façon dans celle du sujet, praedicatum inest subjecto; ou bien je ne sçay ce que c’est que la verité.“  Siehe etwa Monadologie §§ – .

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5 Leibniz und das Problem des Nezessitarismus

gut. Was sollen wir also tun? Sollen wir uns damit zufrieden geben, dass Leibniz’ Äußerungen zum modalen Status des PZG schlicht inkonsistent sind? Oder ist es möglich, eine einheitliche Interpretation zu entwickeln, die ohne Widersprüche auskommt? Im nächsten Abschnitt werde ich dafür argumentieren, dass letzteres mit gewissen Einschränkungen tatsächlich möglich ist.

5.6 Das PZG, Gottes Entscheidungen und Existenzfakten Wie könnte eine Interpretation aussehen, die Leibniz eine konsistente Position hinsichtlich des modalen Status des PZG zuschreibt? Ist eine solche Interpretation angesichts der vielfältigen Spannungen in Leibniz’ Texten überhaupt möglich? Ist es nicht offensichtlich, dass Leibniz sich manchmal auf die Notwendigkeit und manchmal auf die Kontingenz des PZG festlegt und sich damit in einen Widerspruch verwickelt? Dies wäre ein äußerst unbefriedigendes Ergebnis, insbesondere in Anbetracht der eben erwähnten Tatsache, dass Leibniz ein ausgesprochen systematischer Philosoph ist. Trotz der scheinbaren Spannung in Leibniz’ Texten erscheint mir eine konsistente Interpretation möglich. Mein Vorschlag ist, in Kurzform, folgender: Zumindest im Rahmen seiner anti-nezessitaristischen Strategie III hält Leibniz das PZG tatsächlich für kontingent. Der Grund dafür sollte mittlerweile klar geworden sein: Wenn es Gott möglich ist, nicht das Beste zu wählen, dann kann er das PZG verletzen. Allerdings bedeutet dies nicht automatisch, dass es auch mögliche Welten gibt, die das PZG als solche oder an sich betrachtet verletzen. Lässt man Gottes Gründe und Entscheidungsprozesse außen vor, so meine These, dann gibt es in einem bestimmten Sinne keine mögliche Welt, die das PZG verletzt und ‚nackte Tatsachen‘ enthält, die grundsätzlich unerklärbar wären. Dies ist letztlich der Grund dafür, dass Leibniz sich häufig so ausdrückt, als sei das PZG notwendig, was deshalb nachvollziehbar, weil eine eingeschränkte Version des PZG tatsächlich notwendig ist. Meiner Interpretation zufolge vertritt Leibniz also die beiden folgenden Thesen: (1) Global betrachtet ist das PZG ein kontingentes Prinzip. (2) Es gibt keine mögliche Welt, die das PZG als solche verletzt. Eine eingeschränkte Version des PZG is also notwendig. Es gibt also eine uneingeschränkte sowie eine eingeschränkte Version des PZG, und diese beiden Versionen unterscheiden sich hinsichtlich ihrer modalen

5.6 Das PZG, Gottes Entscheidungen und Existenzfakten

243

Stärke. Diese Unterscheidung, die häufig nicht explizit gemacht wird, erklärt die scheinbaren Inkonsistenzen in Leibniz’ Texten. Soweit die Kurzform. Ich werde diese Interpretation nun zunächst ausführlicher erläutern und anschließend zeigen, wie sie im Einzelnen die drei im letzten Abschnitt dargestellten Problemfälle (wo Leibniz die Notwendigkeit des PZG vorauszusetzen scheint) löst. Wie in Abschnitt 5.3 deutlich geworden ist, legt sich Leibniz im Rahmen seiner anti-nezessitaristischen Strategie III zumindest implizit darauf fest, dass das PZG kontingent ist. Gott hat die beste aller möglichen Welten aus freien Stücken erschaffen, seine Wahl hätte aber auch auf eine andere, weniger gute Welt fallen können, auch wenn Gott damit entgegen der besten Gründe gehandelt hätte. Die Existenz einer solch suboptimalen Welt – bzw. die Tatsache, dass eine solch suboptimale Welt existiert – wäre also nicht erklärbar und würde somit eine Verletzung des PZG darstellen. Es ist jedoch wichtig festzuhalten, dass dies nur deshalb der Fall ist, weil Gott – ein allmächtiges und allwissendes Wesen, das aus Gründen heraus handelt – in Leibniz’ Theorie eine so zentrale Rolle einnimmt. In den kontrafaktischen Szenarien, in denen Gott entgegen der besten Gründen handelt, ist das PZG falsch. Was aber geschieht, wenn wir Gottes Gründe einen Moment lang außer Acht lassen und die nicht-wirklichen Welten isoliert, also unabhängig von Gottes Entscheidungsprozessen, betrachten? Da Intellekt und Wille bei Leibniz voneinander getrennt sind, können sowohl endliche rationale Wesen als auch Gott selbst eine solche Perspektive einnehmen. Mögliche Welten und mögliche Individuen können also rein intellektuell betrachtet werden, ohne dass sie zugleich hinsichtlich ihrer Perfektion und Güte evaluiert würden. Fällt diese Evaluation weg, dann ‚verschwinden‘ aber auch die möglichen Verletzungen des PZG; letztere bleiben gleichsam unsichtbar, solange die nicht-wirklichen möglichen Welten lediglich als Möglichkeiten betrachtet werden. Das PZG wäre nur dann falsch, wenn Gott sich für eine suboptimale Welt entscheiden würde und diese tatsächlich erschaffen würde. In diesem Fall würde die entsprechende Welt aber nicht als reine Möglichkeit, sondern als existierend betrachtet. Dies zeigt, dass ausschließlich Existenzfakten überhaupt für die potentielle Falschheit des PZG, und damit für dessen Kontingenz, verantwortlich sind. Alle anderen Fakten in allen Leibniz’schen möglichen Welten stehen in Einklang mit dem PZG und sind somit stets vollständig erklärbar. So lässt sich zum Beispiel für jedes Ereignis in jeder möglichen Welt eine Ursache angeben. In keiner möglichen Welt geschehen Dinge ‚einfach so‘, sondern es lässt sich stets für alles eine welt-interne Erklärung angeben. Dies sollte uns auch nicht weiter überraschen. Wie in Kapitel 2 deutlich geworden ist, lässt sich die Struktur aller möglicher Welten letztlich auf Gottes Essenz zurückführen, und damit auf eine selbst-erklärende Entität: Gott.

244

5 Leibniz und das Problem des Nezessitarismus

Dieser Interpretation zufolge verletzen Leibniz’ mögliche Welten an sich betrachtet (also qua mögliche Welten bzw. insofern sie bloß möglich sind) niemals das PZG. Betrachtet man eine mögliche Welt isoliert – unabhängig von Gottes Abwägungen und Entscheidungen – dann sieht man dieser Welt sozusagen nicht an, ob ihre Erschaffung bzw. ihre Existenz zur Falschheit des PZG führen würde, da sich dies nicht anhand interner Merkmale einer solchen Welt ablesen lässt. Dennoch würde natürlich die Erschaffung und Existenz einer anderen Welt als der besten aller möglichen Welten sehr wohl das PZG verletzen, da Gott in diesem Fall ohne hinreichenden Grund gehandelt hätte. Dies ist aber nur dann erkennbar, wenn man Gott, seine Entscheidungsprozesse sowie andere mögliche Welten, mit denen die vorliegende Welt verglichen wird, miteinbezieht. Das PZG ist also nur deshalb kontingent, weil es metaphysisch möglich ist, dass suboptimale mögliche Welten existieren. Nun wird auch verständlich, warum Leibniz das PZG häufig so behandelt, als wäre es ein notwendiges Prinzip. Er tut dies, wenn er nicht von Gottes Entscheidungsprozessen oder von der Existenz von möglichen Welten spricht, sondern wenn er lediglich über die metaphysische Struktur von möglichen Substanzen und möglichen Welten als solchen nachdenkt, ohne dabei einen direkten Bezug zu Gottes Handlungen herzustellen. Eine solche Anwendung des PZG ist natürlich eingeschränkt, und eine eingeschränkte Version des PZG kann – im Gegensatz zur uneingeschränkten Version – sehr wohl mit Notwendigkeit gelten.⁹⁶ Diese Interpretation hat nicht nur den Vorteil, dass sie ohne Inkonsistenzen auskommt. Sie macht außerdem deutlich, dass das PZG – trotz seiner Kontingenz – innerhalb von Leibniz’ System durchaus die Rolle eines basalen metaphysischen Prinzips spielen kann. Obwohl das PZG global betrachtet nur kontingent ist, ist Leibniz durchaus berechtigt, aus dem PZG Schlüsse bezüglich der fundamentalen Struktur aller möglicher Welten zu ziehen. Dies liegt daran, dass keine mögliche Welt isoliert betrachtet Verletzungen des PZG aufweist. Um zu zeigen, wie mein Vorschlag im Detail funktioniert, werde ich nun auf die im letzten Abschnitt untersuchten Argumente für die Notwendigkeit des PZG zurückkommen. Meine Interpretation erlaubt in allen drei Fällen eine konsistente Rekonstruktion, ohne dass dabei zentrale Elemente von Leibniz’ Theorie aufgegeben werden müssen.

 Natürlich hängt dies von der Art der Einschränkung ab.

5.6 Das PZG, Gottes Entscheidungen und Existenzfakten

245

(i) Die Notwendigkeit des PIU – zum Zweiten Dem ersten in Abschnitt 5.5 erläuterten Argument zufolge muss das PZG notwendig sein, weil Leibniz sonst nur eine kontingente Version des PIU aus dem PZG ableiten könnte. Da das PIU notwendig sein soll, scheint es – damit das Argument funktioniert – unausweichlich, dass auch das PZG notwendig ist. Kann dieser Schluss vermieden werden und Leibniz’ Argument für das PIU auch mit einem kontingenten PZG funktionieren? Dieses Problem lässt sich beheben, wenn wir genau zwischen der eingeschränkten und der uneingeschränkten Version des PZG unterscheiden. Das uneingeschränkte PZG ist kontingent, weil es Gottes Freiheit und seine möglichen alternativen Entscheidungen miteinbezieht.Wie wir gesehen haben, kann das PZG deshalb lediglich aufgrund von Existenzfakten falsch werden, d. h. durch die Existenz suboptimaler möglicher Welten. Es gibt also keine mögliche Welt, die das PZG als solche – d. h. als reine Möglichkeit betrachtet – verletzt. Damit ist aber eine eingeschränkte Version des PZG notwendig, und deshalb ist es auch unproblematisch das notwendige PIU aus dieser notwendigen Version des PZG abzuleiten.⁹⁷ Die Tatsache, dass Gott in der Lage ist, minderwertige Welten auszuwählen, beeinflusst den modalen Status dieses Prinzips deshalb überhaupt nicht.⁹⁸ Vor diesem Hintergrund wird Leibniz’ Schluss, dass es auch für Gott unmöglich ist, eine Welt mit zwei numerisch verschiedenen Substanzen, die sich exakt gleichen, zu erschaffen, verständlich. Leibniz bringt in seinem Argument für das PIU also keineswegs die Modalitäten durcheinander. Damit die Rekonstruktion nicht fehlerhaft wird, man muss jedoch beachten, dass Leibniz in diesem Zusammenhang mit einem eingeschränkten PZG operiert. Der Skopus des notwendigen PZG erfasst nur das, was Gott erschaffen kann: mögliche Substanzen und mögliche Welten.⁹⁹ Gottes Entscheidungen hingegen werden von dem eingeschränkten (und notwendigen) PZG nicht erfasst.

 Dies gilt natürlich nur unter der Annahme, dass Leibniz’ Argument für das PIU überhaupt funktioniert.  Hier ist eine Präzisierung angebracht: Natürlich gilt das PIU auch für die Substanz Gottes, und Gott ist verschieden von den Welten. Da die Natur Gottes aber ebenfalls nicht Gottes Wahl unterliegt, ist mein Argument durch diese Qualifizierung nicht beeinträchtigt.  Wie in der vorigen Fußnote bereits erwähnt, gilt das notwendige PIU natürlich darüber hinaus auch für die Substanz Gottes.

246

5 Leibniz und das Problem des Nezessitarismus

(ii) Die Unmöglichkeit eines absolutes Raumes und einer absoluten Zeit – zum Zweiten Dem zweiten in Abschnitt 5.5 erläuterten Argument zufolge muss das PZG notwendig sein, weil Leibniz sonst nicht daraus ableiten könnte, dass ein absoluter Raum und eine absolute Zeit unmöglich sind und dass der Relationismus somit notwendig ist. Kann auch dieser Schluss vermieden werden? Sind Leibniz’ Argumente für den Relationismus mit einem kontingenten PZG kompatibel? Auch hier hilft die Unterscheidung zwischen einer eingeschränkten und einer uneingeschränkten Version des PZG weiter. Der einzige Grund für die Kontingenz des PZG ist der Umstand, dass Gott eine Welt hätte auswählen können, die nicht die beste ist. Aber keine mögliche Welt enthält nicht erklärbare Tatsachen – auch wenn die Realisation einer suboptimalen Welt selbst eine nicht erklärbare Tatsache wäre. Es gibt also auch keine möglichen Welten mit einem absoluten Raum oder einer absoluten Zeit, denn eine solche Welt würde das PZG als solche, d. h. als reine Möglichkeit betrachtet, verletzen. Leibniz’ Schluss vom PZG auf die Notwendigkeit des Relationismus ist also gerechtfertigt. Im letzten Abschnitt haben wir gesehen, dass Leibniz’ Argument für das PIU etwas anders funktioniert als sein Argument für den Relationismus. Beide Argumente basieren auf dem PZG, aber während das erste Argument ein Fundierungs-Argument ist, ist das zweite ein Präferenz-Argument. Der entscheidende Unterschied zwischen diesen beiden Argumenttypen ist, dass Fundierungs-Argumente ohne einen Bezug auf Gott und Gottes Entscheidungsgründe auskommen, während Präferenz-Argumente genau darauf Bezug nehmen. Leibniz’ Fundierungs-Argumente basieren auf der Annahme, dass es für jeden Unterschied in der Welt einen Grund geben muss – jede Verschiedenheit muss metaphysisch fundiert sein. Leibniz erweckt in aller Regel den Eindruck, dass die Konklusionen solcher Argumente notwendigerweise gelten. Wir sind nun in der Lage zu verstehen, warum er diese Annahme trifft. Fundierungs-Argumente (wie z. B. das Argument für das PIU) funktionieren grundsätzlich auf einer innerweltlichen Ebene – ein Bezug zu Gott und seinen Präferenzen sowie ein Vergleich zwischen verschiedenen möglichen Welten finden nicht statt. Meiner Interpretation zufolge verletzt keine mögliche Welt als solche das PZG – das innerweltliche PZG gilt also mit Notwendigkeit, während das PZG global betrachtet kontingent ist. Vor diesem Hintergrund wird verständlich, warum Leibniz davon ausgeht, dass die Konklusionen von Fundierungs-Argumenten grundsätzlich notwendigerweise wahr sind. Dies liegt einfach daran, dass es in diesen Argumenten um rein innerweltliche Betrachtungen geht. Wir können also festhalten, dass Leibniz mit

5.6 Das PZG, Gottes Entscheidungen und Existenzfakten

247

Hilfe der Fundierungs-Argumente Schlüsse aus dem PZG zieht, die die metaphysische Grundstruktur aller möglichen Welten betreffen. Wie bereits im letzten Abschnitt deutlich wurde, scheint es mit Blick auf die Präferenz-Argumente jedoch ein Problem zu geben. Die Konklusionen dieser Argumente scheinen modal schwächer zu sein, als Leibniz behauptet. So scheint aus Leibniz’ Argument für den Relationismus in seinem Briefwechsel mit Clarke lediglich zu folgen, dass es in unserer Welt keinen absoluten Raum und keine absolute Zeit gibt. Wenn Raum und Zeit absolut wären, dann hätte Gott keinen Grund, unsere Welt einer möglichen Welt vorzuziehen, die unserer Welt exakt gleicht, aber an anderer Stelle im absoluten Raum bzw. in der absoluten Zeit positioniert ist. Auch meine Interpretation scheint dieses Problem nicht lösen zu können. Da in Präferenz-Argumenten auf Gottes Überlegungen und Entscheidungen Bezug genommen wird, ist das PZG, das dort zur Anwendung kommt, nicht das eingeschränkte notwendige PZG, sondern das kontingente globale PZG. Aus diesem globalen PZG können aber keine notwendigen Schlussfolgerungen gezogen werden. Müssen wir also damit leben, dass Leibniz die Modalitäten in seinem Argument für den Relationismus zumindest an dieser Stelle durcheinander bringt? Ich glaube, ein solcher Schluss wäre verfrüht. Ein Blick auf den Kontext in Leibniz’ drittem und viertem Brief an Clarke zeigt, dass Leibniz seine Position, dass der Relationismus notwendigerweise wahr ist, durchaus gut begründen kann. Zunächst fällt auf, dass Leibniz, bevor er sein Präferenz-Argument präsentiert, schreibt: „Um die Einbildung derer zu widerlegen, die den Raum für eine Substanz, oder zumindest für ein absolute Seiendes halten, habe ich mehrere Argumente.“¹⁰⁰ Leibniz behauptet hier, dass das nachfolgende Präferenz-Argument nicht sein einziges Argument für den Relationismus ist. Dies legt die Vermutung nahe, dass ihm ein anderes Argument zur Verfügung steht, aus dem in der Tat folgt, dass ein absoluter Raum und eine absolute Zeit unmöglich sind. Ich glaube, dass dies tatsächlich der Fall ist und dass sich im Briefwechsel mit Clarke neben dem Präferenz-Argument auch ein Fundierungs-Argument findet.¹⁰¹ So heißt es im vierten Brief: Zu sagen, dass Gott das gesamte Universum entlang einer geraden oder sonstigen Linie fortbewegen kann, ohne sonst irgendetwas daran zu verändern, ist eine weitere chimärische

 G VII,  – : „Pour refuter l’imagination de ceux qui prennent l’espace pour une substance, ou du moins pour quelque être absolu, j’ay plusieurs demonstrations.“  Dieses Argument wird allerdings von den meisten Interpreten übersehen (z. B. von Lin, im Ersch.).

248

5 Leibniz und das Problem des Nezessitarismus

Annahme. Denn zwei ununterscheidbare Zustände sind derselbe Zustand, und folglich ist dies eine Veränderung, die nichts verändert.¹⁰²

Obwohl Gott in dieser Passage erwähnt wird, handelt es sich bei diesem Argument um ein Fundierungs-Argument. Es lässt sich in etwa wie folgt zusammenfassen: Man stelle sich vor (per impossibile), es gäbe einen absoluten Raum.¹⁰³ Unter dieser Annahme könnte man angeblich verschiedene Szenarien nicht voneinander unterscheiden. Es gäbe z. B. keinen Grund, warum unsere Welt von einer Welt verschieden wäre, in der alles einen Meter weiter rechts existiert. Nimmt man einen absoluten Raum an, gäbe es also Unterschiede, die nicht metaphysisch fundiert sind. Da solche Fälle ausgeschlossen sind, kann es keinen absoluten Raum geben. Dieses Argument ähnelt dem Argument für das PIU aus den Ersten Wahrheiten (Leibniz erwähnt das PIU sogar explizit). Es kommt ohne einen Verweis auf Gottes Auswahl- oder Entscheidungsprozesse aus und gilt somit (meiner Interpretation zufolge) notwendigerweise. Leibniz ist somit auch gerechtfertigt, daraus zu schließen, dass sein Relationismus ebenfalls mit Notwendigkeit gilt.Wir sind also nicht gezwungen anzunehmen, dass Leibniz den Überblick über die Modalitäten in seinen eigenen Argumenten für den Relationismus und gegen den Absolutismus verloren hat.

(iii) Das Argument aus den Ersten Wahrheiten – zum Zweiten Ich komme nun auf Leibniz’ Überlegungen in den Ersten Wahrheiten zurück. Wie wir in Abschnitt 5.5 gesehen haben, folgert er dort das PZG aus seiner Wahrheitstheorie. Da er diese Wahrheitstheorie offenkundig für notwendig hält, müsste demnach auch das PZG notwendig sein (weil etwas, das aus etwas Notwendigem folgt, selbst notwendig ist). Dies würde aber mit der Kontingenz des PZG im Widerspruch stehen. Lässt sich auch dieses Problem beheben? Ich glaube, dass dies möglich ist und dass eine ähnliche Lösung wie in den beiden ersten Fällen (bei Leibniz’ Argumenten für das PIU und den Relationismus) zur Verfügung steht. Mein Vorschlag ist, dass es Leibniz in den Ersten Wahrheiten einmal mehr nur um eine notwendige,

 G VII, : „De dire que Dieu fasse avancer tout l’universe, en ligne droit ou autre, sans y rien changer autrement, c’est encor une supposition chimerique. Car deux etats indiscernables sont le même etat, et par consequent c’est un changement qui ne change rien.“  Gegen die absolute Zeit lässt sich natürlich ein Argument führen, das analog zum Argument gegen den absoluten Raum funktioniert. Aus Platzgründen verzichte ich hier aber darauf dieses Argument darzustellen.

5.6 Das PZG, Gottes Entscheidungen und Existenzfakten

249

aber eingeschränkte Version des PZG geht. Diese eingeschränkte Version leitet er tatsächlich aus seiner Wahrheitstheorie ab, dies ist aber problemlos mit der Tatsache vereinbar, dass das globale PZG kontingent ist. Die eingeschränkte Version des PZG, um die es meiner Meinung nach in den Ersten Wahrheiten geht, besagt: (EW) Wenn eine Substanz S in Zustand Z ist, dann muss Z allein durch die Natur von S erklärt werden können.¹⁰⁴ Dass Leibniz dieses (zugegebenermaßen extreme) Prinzip vertritt, wissen wir bereits. Besonders deutlich drückt er sich im Discours aus, wo er hervorhebt, „dass das, was jeder [Substanz] zustößt, ganz allein die Folge ihrer Idee oder ihres vollständigen Begriffs ist, weil diese Idee schon alle Prädikate oder Ereignisse einschließt.“¹⁰⁵ Leibniz folgert viele für ihn zentrale Thesen aus (EW), z. B. dass Substanzen in keinerlei kausalem Kontakt zueinander stehen. Für den gegenwärtigen Kontext ist aber nur wichtig, dass (EW) eine eingeschränkte Variante des PZG voraussetzt. Leibniz’ Pointe in den Ersten Wahrheiten ist, dass jeder Zustand von allen möglichen Substanzen in allen möglichen Welten einer Erklärung bedarf und dass diese Erklärung in den Naturen der Substanzen liegen muss. Ähnlich wie im Fall des PIU und des Relationismus können wir auch hier sagen, dass dieses Prinzip durchaus notwendig ist. Die Tatsache, dass Gott im Prinzip in der Lage ist, das PZG zu verletzen, indem er eine Welt schafft, die nicht die beste ist, ändert nichts daran, dass alle Zustände aller Substanzen in allen möglichen Welten vollständig durch die Naturen dieser Substanzen erklärbar sind. Die Notwendigkeit dieses eingeschränkten PZG ist also kompatibel mit der Kontingenz des globalen, uneingeschränkten PZG. Das einzige Szenario, das durch die Notwendigkeit von (EW) ausgeschlossen wird, ist eine Verletzung des PZG, die mittels eine Verletzung von (EW) herbeigeführt wird. Wie würde ein solches Szenario aussehen? In einem solchen (für Leibniz unmöglichen) Fall wäre eine Substanz S zum Zeitpunkt t in einem Zustand Z, obwohl zum Zeitpunkt t in Z zu sein überhaupt nicht Teil der Natur (des vollständigen Begriffs) von S ist. Z tritt einfach so auf, ohne dass es dafür einen zureichenden Grund in der Natur von S gibt. In diesem Szenario wäre (EW), und deshalb a fortiori auch das PZG, falsch.

 Dies ist eine leicht abgewandelte Variante eines Prinzips, das Della Rocca , S.  formuliert: „If x is F, then the state of being F must be due to, explained by, x’s nature exclusively.“  DM §/Holz Bd. , : „[…] que ce qui arrive à chacune [substance] n’est qu’une suite de son idée ou notion complete toute seule, puisque cette idée enferme déja tous les predicats ou evenemens.“

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5 Leibniz und das Problem des Nezessitarismus

Dass dieser Fall für Leibniz ausgeschlossen ist, liegt auf der Hand. Gott hat die vollständigen Begriffe aller Substanzen in seinem Intellekt. Wenn er sich dafür entscheidet, eine bestimmte Substanz zu erschaffen, so tut er nichts anderes als eine Entität zu erschaffen, die einem dieser vollständigen Begriffe korrespondiert. Wenn es möglich wäre, gegen (EW) zu verstoßen, dann wäre es möglich, dass von Gott erschaffene Substanzen Zustände hervorbringen, die nicht in ihren Begriffen enthalten sind. Das hätte aber die absurde Konsequenz, dass ein vollständiger Begriff und die ihm korrespondierende Substanz gleichsam auseinanderdriften könnten. Gott könnte dann die von ihm selbst erschaffenen Substanzen weder erkennen noch kontrollieren. Aus diesem Grund ist es (Leibniz’ metaphysischen Rahmen vorausgesetzt) verständlich, dass (EW) laut Leibniz mit Notwendigkeit gilt. Im Kontext der Ersten Wahrheiten geht es Leibniz also nicht um die Rolle, die das PZG bei den Überlegungs- und Auswahlprozessen spielt, die vor der Schöpfung in Gottes Geist ablaufen. Vielmehr geht es, wie bereits im Falle des PIU und des Relationismus, um eine eingeschränkte Version des PZG, die mit Notwendigkeit gilt. Dies beschließt meine Diskussion der Argumente, die nahezulegen schienen, dass das PZG für Leibniz ein notwendiges Prinzip ist. Die Unterscheidung zwischen einer eingeschränkten und einer uneingeschränkten Version des PZG zeigt, dass die scheinbaren Inkonsistenzen in seinem System behoben werden können. Das PZG, das PIU, der Relationismus bezüglich Raum und Zeit und die analytische Wahrheitstheorie sind alle in einem System miteinander verknüpft, und Leibniz hat dabei keineswegs den Überblick über die Modalitäten oder über die Struktur seiner eigenen Argumente verloren. Während das PZG global zwar in der Tat kontingent ist, weil Gott dagegen verstoßen kann, sind mögliche Welten, die das PZG also solche verletzen, dennoch ausgeschlossen. Das PIU, der Relationismus und das Prinzip (EW) können somit notwendig sein, ohne mit der Kontingenz des (globalen) PZG zu kollidieren.

5.7 Mögliche Welten und andere Möglichkeiten („Schmelten“) Meine Interpretation im letzten Abschnitt beruht im Wesentlichen auf der These, dass keine mögliche Welt qua Möglichkeit gegen das PZG verstößt. Während es zwar möglich ist, dass das PZG falsch wird, weil Gott sich nicht für das Beste entscheidet, bedeutet dies nicht, dass es mögliche Welten gibt, die an sich betrachtet Erklärungslücken aufweisen. Streng genommen können nur Existenzfakten zur Falschheit des PZG führen. An dieser Stelle könnte man die Frage aufwerfen, wie sich dieser Vorschlag zu meiner Interpretation Leibniz’scher

5.7 Mögliche Welten und andere Möglichkeiten („Schmelten“)

251

möglicher Welten verhält, die ich im letzten Kapitel entwickelt habe. Dort habe ich Leibniz die These zugeschrieben, dass nicht alles, was Gott erschaffen kann, eine Welt ist. Kraft seiner uneingeschränkten Allmacht kann Gott im Prinzip auch chaotische Mengen von Substanzen erschaffen, die nicht die Koordination und interne Verknüpfung aufweisen, die laut Leibniz für Welten charakteristisch ist. Es ist ferner deutlich geworden, dass solche ungeordneten Anhäufungen von Substanzen – nennen wir sie Schmelten – keinen sehr hohen Perfektionsgrad aufweisen. Auf den gegenwärtigen Kontext angewendet, bedeutet dies natürlich, dass ihre Existenz das PZG verletzen würde (Gott hätte schließlich problemlos etwas viel Besseres erschaffen können – er hätte also ohne Grund gehandelt, wenn er eine Schmelt erschaffen hätte). Es stellt sich aber die Frage, ob mögliche Schmelten – anders als mögliche Welten – das PZG auch unabhängig von Gottes Entscheidungsprozessen betrachtet verletzen. Falls die Antwort auf diese Frage positiv ausfällt, gilt es zu fragen, ob sich dies auf meine in diesem Kapitel entwickelte Interpretation auswirkt.¹⁰⁶ Es gibt grundsätzlich zwei Möglichkeiten, diesem Einwand zu begegnen. Man kann entweder (i) zugestehen, dass Schmelten tatsächlich unerklärbare Tatsachen enthalten, oder (ii) man muss zeigen, dass dies weder für Welten noch für Schmelten möglich ist. Ich tendiere zwar grundsätzlich zur zweiten Möglichkeit, glaube aber, dass keine dieser beiden Optionen eine ernsthafte Gefahr für meine Interpretation darstellt. Folgende Überlegung scheint für die erste Möglichkeit zu sprechen: In einer Schmelt sind (anders als in einer Welt) die einzelnen Substanzen nicht perfekt aufeinander abgestimmt, weshalb es nicht viel Sinn ergibt, von transeunten kausalen Beziehungen zwischen den einzelnen Substanzen zu sprechen. In einer Leibniz’schen Welt wird transeunte Kausalität durch aufeinander abgestimmte Perzeptionsentwicklungen fundiert (auch wenn es natürlich auch dort streng genommen keine transeunte Kausalität gibt, da es sich um ein reduktives Modell handelt). Dass eine Billardkugel eine andere anstößt, bedeutet metaphysisch genau gesprochen, dass die Zentralmonade der ersten Kugel Perzeptionen desselben Ereignisses hat, die in bestimmter Hinsicht deutlicher sind als die Perzeptioenn der Zentralmonade der zweiten Kugel.¹⁰⁷ Der Grund für die Bewegung der angestoßenen Kugel findet sich in der anstoßenden Kugel. Da die Perzeptionen der Substanzen in Schmelten aber gar nicht aufeinander abgestimmt sind, kann es auch kein Fundament für transeunte Kausalbeziehungen geben. Es

 Diese Frage hat Michael Della Rocca in einer Diskussion sowie in einer E-Mail-Korrespondenz aufgeworfen.  Natürlich müssen auch die Perzeptionen der untergeordneten Monaden entsprechend aufeinander abgestimmt sein.

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5 Leibniz und das Problem des Nezessitarismus

scheint also, dass es nicht für alles eine Ursache gibt, wodurch das PZG falsch würde.¹⁰⁸ Dafür dass eine Substanz S in einer Schmelt einen bestimmten Zustand Z hervorbringt, gibt es keinen Grund in einer anderen Substanz. In einem gewissen Sinne könnte man also sagen, dass es in Schmelten grundlose Ereignisse gibt. Dennoch spricht auch einiges für die zweite Möglichkeit, auf den oben genannten Einwand zu reagieren. Wir müssen nämlich bedenken, dass es transeunte Kausalität für Leibniz streng genommen natürlich gar nicht gibt und dass sich letztlich jeder Zustand einer Substanz einzig und allein durch die Natur der Substanz selbst erklären lässt (dies ist nichts anderes als das Prinzip (EW)). Geschaffene Substanzen sind also nicht nur kausal, sondern auch explanatorisch voneinander unabhängige Entitäten. Auch in Schmelten bringen die (unkoordinierten) Substanzen nur solche Zustände hervor, die aus ihrer Natur folgen. In diesem Sinne lässt sich also auch für chaotische Ansammlungen von Substanzen festhalten, dass jedes Ereignis eine Erklärung hat. Das Prinzip (EW), das Leibniz aus seiner Wahrheitstheorie ableitet, und das nichts anderes als ein eingeschränktes PZG ist, gilt also auch in Schmelten, nicht nur in Welten. Wie verhält es sich mit den beiden anderen in diesem Kapitel untersuchten Fällen? Wir wissen, dass es keine Welt mit absolutem Raum und absoluter Zeit gibt. Aber gibt es vielleicht Schmelten, in denen so etwas vorkommt? Ich glaube, auch dies kann verneint werden. Wenn wir Leibniz’ Idee, dass Raum und Zeit metaphysisch in den Perzeptionen von Monaden begründet sind, ernst nehmen, dann gibt es Raum und Zeit überhaupt nur in möglichen Welten. Da in Schmelten die nötige Koordination zwischen den Monaden fehlt, kann man gar nicht sinnvoller Weise sagen, dass die Perzeptionen der Monaden ein raum-zeitliches System fundieren. Wenn etwa in einer Schmelt Substanz a Substanz b als drei Meter entfernt repräsentiert, Substanz b aber Substanz a als 2000 Lichtjahre entfernt (ein Szenario, das in Welten natürlich nicht vorkommen kann), dann kann man die Frage, welchen Abstand a und b voneinander haben, überhaupt nicht sinnvoll beantworten. Die Substanzen a und b lassen sich nicht als Teile ein und desselben raum-zeitlichen Systems denken (bzw. a und b können nicht gemeinsam ein raum-zeitliches System fundieren).¹⁰⁹ Wie sieht es mit dem PIU aus? Gibt es Schmelten mit numerisch verschiedenen Substanzen, die sich perfekt gleichen? Auch hier tendiere ich zu einer negativen Antwort, auch wenn dieser Fall etwas weniger klar ist als in den beiden anderen Fällen. Das Fundierungs-Argument für das PIU scheint nämlich sehr allgemein zu

 Dass Leibniz das PZG häufig mittels kausaler Terminologie einführt, haben wir in Abschnitt . gesehen.  Siehe für einen ähnlichen Punkt auch Messina & Rutherford , S.  – .

5.8 Probleme mit Gott – Rationalismus vs. Theismus

253

gelten, was nahelegt, dass es für Gott schlicht unmöglich ist, zwei bloß numerisch verschiedene Substanzen zu erschaffen – auch nicht im Rahmen einer Schmelt. Das PZG scheint also modal so stark zu sein, dass weder Welten noch Schmelten es als solche betrachtet verletzen. Aus diesem Grund favorisiere ich die erste Reaktion auf den Einwand. Demnach wäre, auch wenn Gott eine Schmelt erschaffen würde, das PZG nur aufgrund der Existenz dieser Schmelt falsch, nicht aber aufgrund der internen Struktur der Schmelt. Doch selbst wenn sich herausstellen sollte, dass sich diese Lösung so nicht aufrechterhalten lässt, hätte dies keine dramatischen Auswirkungen auf meine Interpretation. Auch wenn das PZG in einigen Schmelten falsch ist, würde das PZG immer noch eine beträchtliche modale Stärke aufweisen. Wir könnten dann sagen, dass das PZG notwendig ist, solange wir seinen Bereich auf Welten einschränken, kontingent hingegen, sobald wir auch Schmelten in Betracht ziehen. Anders ausgedrückt: Nehmen wir lediglich Gottes geordnete Allmacht in den Blick, so ist das PZG ein notwendiges Prinzip. Wenn wir hingegen von Gottes uneingeschränkter Allmacht sprechen, so ist das PZG kontingent.¹¹⁰ Die Unterscheidung zwischen Welten und Schmelten würde somit zwar eine Modifikation bzw. Präzisierung meiner Interpretation erfordern, an der grundsätzlichen Idee jedoch nichts ändern.

5.8 Probleme mit Gott – Rationalismus vs. Theismus In den letzten Abschnitten ist deutlich geworden, dass Leibniz’ explanatorischer Rationalismus sehr weitreichend ist. Nicht nur innerhalb der wirklichen Welt lässt sich für jedes Ereignis eine hinreichende Erklärung angeben; auch in allen anderen möglichen Welten ist dies möglich. Es gibt also keine mögliche Welt, in der explanatorische Lücken auftreten würden. Das PZG fungiert somit innerhalb von Leibniz’ System als grundlegendes metaphysisches Prinzip, das die Grundstruktur aller möglichen Welten entscheidend prägt. Dennoch handelt es sich um ein kontingentes Prinzip.Weil Gott, der außerhalb aller möglichen Welten existiert, im Prinzip dazu in der Lage ist, sich für eine Welt zu entscheiden, die nicht die beste ist, kann er das PZG verletzen. Nur diese Strategie erlaubt es Leibniz, Gottes Freiheit zu sichern, da Kontingenz (zumindest für den späten Leibniz) eine notwendige Bedingung dafür ist, dass eine Handlung frei ist. Andernfalls hätte Gott keine echte Wahl.

 Für die Unterscheidung zwischen geordneter und uneingeschränkter Allmacht, siehe Abschnitt ..

254

5 Leibniz und das Problem des Nezessitarismus

Aber kann man unter diesen Umständen wirklich noch davon sprechen, dass Leibniz’ System durch und durch rationalistisch ist? Stehen sich Gottes Freiheit und der Rationalismus nicht im Wege? Wir scheinen insbesondere mit folgendem Problem konfrontiert zu sein: Alle kontingenten Wahrheiten hängen von Gottes Entscheidungen ab, und es ist de facto natürlich so, dass Gott seine Entscheidungen aus den besten Gründen heraus trifft. Wenn aber das PZG selbst zu den kontingenten Fakten zählt, dann hängt es ebenfalls von Gottes Entscheidungen ab. Es stellt sich die Frage, ob Gott dafür, dass er sich für die Wahrheit des PZG entscheidet, einen hinreichenden Grund hat. Wenn nein, dann scheint er seine Entscheidung einfach grundlos getroffen zu haben, wodurch das PZG falsch wäre – dann würde es also gar nicht gelten (auch nicht kontingenterweise), was zu einem Widerspruch führt.Wenn Gott hingegen einen Grund dafür hat, sich für das PZG zu entscheiden, dann liegt das PZG seiner Entscheidung bereits zugrunde. Dies führt entweder zu einem Regress unendlich vieler kontingenter PZGs, da man immer wieder fragen könnte, ob es einen Grund für die Entscheidungsgrundlage gibt, oder das PZG muss notwendig sein, was der Annahme, dass es kontingent ist, widerspricht. Diese Überlegung zeigt, dass sich ein Theismus, der Gott (wenn auch nur prinzipiell) eine Freiheit zugesteht, die es ihm erlaubt, vollständig grundlos zu handeln, nur schlecht mit einem konsequenten Rationalismus verträgt. Letztlich scheint Leibniz mit einer Wahl zwischen zwei Optionen konfrontiert zu sein, welche beide nicht sonderlich attraktiv erscheinen. Erstens kann er sagen, dass es streng genommen gar nicht wirklich möglich ist, dass Gott nicht das Beste wählt. Demzufolge mögen andere Welten zwar an sich betrachtet möglich sein, aber ihre Koexistenz mit Gott würde einen Widerspruch einschließen. Das ist natürlich nichts anderes als Leibniz’ Strategie der per se Modalitäten (Strategie I). Wie wir gesehen haben, vermeidet diese Strategie aber lediglich, dass unsere Welt intrinsischerweise notwendig ist – eine extrinsische Notwendigkeit bleibt bestehen, weil die Existenz einer anderen Welt einen Widerspruch nach sich ziehen würde (sie wäre zwar nicht intern widersprüchlich, aber ihre Koexistenz mit Gott wäre inkonsistent). Unter diesen Umständen wäre zwar die uneingeschränkte Erklärbarkeit von allem erreicht, aber Gottes Freiheit wäre (wie Leibniz selbst häufig anerkennt) nicht mehr gewährleistet. Wichtige theistische Annahmen würden also zugunsten des Rationalismus aufgegeben. Die zweite Möglichkeit, zu der Leibniz in späteren Jahren zu tendieren scheint, besteht darin Gottes Freiheit zu garantieren und zuzugestehen, dass er eine schlechtere Welt hätte erschaffen können. Damit verliert das PZG den Status eines notwendigen Prinzips, wodurch Leibniz’ rationalistische Annahmen zugunsten seines Theismus abgeschwächt würden. Dies macht deutlich, dass sich Rationalismus und Theismus letztlich nicht ohne Abstriche in ein und demselben philosophischen System integrieren lassen.

5.9 Fazit

255

Trotz alledem sind Leibniz’ Anstrengungen dies dennoch zu tun bemerkenswert. Er treibt die Kombination von Rationalismus und Theismus so weit wie wohl kein anderer Denker vor oder nach ihm. Obwohl das PZG global betrachtet für ihn ein kontingentes Prinzip ist, bestimmt es die metaphysische Grundstruktur aller möglichen Welten. In Kontexten, in denen es um Gott und dessen Entscheidungen geht, stößt Leibniz allerdings auf kaum lösbare Probleme. Dennoch sind seine Versuche, einen konsequenten Rationalismus mit einem konsequenten Theismus zu kombinieren, der eine echte Freiheit Gottes garantiert, so faszinierend, dass sie Philosophinnen und Philosophen bis heute in ihren Bann ziehen.

5.9 Fazit In diesem Kapitel ist deutlich geworden, dass Leibniz im Laufe seiner langen philosophischen Laufbahn mit unterschiedlichen anti-nezessitaristischen Strategien experimentiert hat. Insbesondere beim späten Leibniz steht die Idee im Vordergrund, dass Gott das Beste nicht mit Notwendigkeit tut, sondern kontingenterweise. Diese Art und Weise dem Nezessitarismus zu begegnen ist für Leibniz allerdings mit philosophischen Kosten verbunden: Wenn Gott eine Welt wählen kann, die nicht die beste aller möglichen Welten ist, dann ist er im Prinzip in der Lage, ohne Grund zu handeln. Damit aber wäre das PZG – ein Grundpfeiler von Leibniz’ System und der Kern seines explanatorischen Rationalismus – nur kontingenterweise wahr. Aber ist es plausibel, dass das PZG – und damit der explanatorische Rationalismus – für Leibniz nur kontingenterweise gilt? Auf den ersten Blick ist dies ein überraschendes Resultat. Wie ich in diesem Kapitel gezeigt habe, lässt sich dieser Befund jedoch gut mit solchen Passagen aus Leibniz’ Werk vereinbaren, die auf den ersten Blick den Eindruck erwecken, dass das PZG notwendig sein muss. Dazu müssen wir bedenken, dass keine mögliche Welt an sich betrachtet das PZG verletzt, sondern dass dessen Kontingenz ausschließlich daher rührt, dass Gott in der Lage ist, nicht das Beste zu tun. Vor diesem Hintergrund wird deutlich, dass das PZG trotz seiner Kontingenz als metaphysisches Grundprinzip in Leibniz’ philosophischem System fungieren kann. Mit der sorgfältigen Unterscheidung zwischen einem uneingeschränkten PZG einerseits und einem PZG, dessen Skopus auf die eine oder andere Weise begrenzt ist, andererseits lassen sich also viele exegetische Probleme beheben. Allerdings ist auch deutlich geworden, dass zwischen Leibniz’ explanatorischem Rationalismus und seinem Theismus eine grundsätzliche Spannung besteht. Es drängt sich z. B. die Frage auf, warum Gott entschieden hat, dass das PZG selbst wahr ist. Hatte er dafür einen Grund oder hat er diese Entscheidung grundlos getroffen?

256

5 Leibniz und das Problem des Nezessitarismus

Solche Fragen machen deutlich, dass die Kombination von Rationalismus und Theismus nicht unproblematisch ist. Ob es überhaupt möglich ist, beide Thesen gleichzeitig konsistenterweise zu vertreten, wage ich hier nicht zu entscheiden.

Schlussbemerkungen Modalität ist ein vertrautes und auf den ersten Blick unproblematisches Phänomen. Wir machen im Alltag permanent Aussagen darüber, was möglich und was notwendig ist. Bei genauerer Betrachtung fällt jedoch schnell auf, dass nicht ohne weiteres klar ist, worauf wir uns damit überhaupt beziehen. Modalaussagen sagen schließlich nicht (oder zumindest nicht ausschließlich) etwas darüber aus, was tatsächlich der Fall ist, sondern vielmehr darüber, was der Fall sein könnte bzw. was der Fall sein muss. Ihre Wahrheit oder Falschheit wird also nicht einfach von den Tatsachen in der Welt bestimmt.¹ Aber wovon hängt dann ab, ob sie wahr oder falsch sind? Auf was nehmen wir Bezug, wenn wir z. B. sagen, dass es möglich ist, dass am Ende der Straße ein Haus steht, obwohl dort tatsächlich niemals ein Haus gebaut wurde? Gibt es so etwas wie bloß mögliche Objekte, die aber nicht wirklich existieren? Diese Fragen machen deutlich, dass es sich bei Modalität um ein erklärungsbedürftiges Phänomen handelt. Wie ich in der Einleitung ausgeführt habe, gibt es in der Metaphysik der Modalität unterschiedliche Ansätze, dieses Phänomen theoretisch zu fassen. Ausgangspunkt all dieser Theorien ist die Frage, was die Wahrmacher modaler Wahrheiten sind.² Für Leibniz stellt sich die Frage nach den Wahrmachern modaler Wahrheiten in ganz besonderer Weise. Er sieht sich nämlich mit der speziellen Herausforderung konfrontiert, den spinozistischen Kollaps von Möglichem, Wirklichem und Notwendigem abwenden zu müssen, da er andernfalls seinen rationalistischen Theismus nicht aufrechterhalten kann. Für letzteren ist es unerlässlich, dass Gott zwischen verschiedenen Alternativen – d. h. zwischen verschiedenen Möglichkeiten, die Welt zu erschaffen – wählen kann und dass nicht alles, was an sich betrachtet möglich ist, auch wirklich existiert. Leibniz muss also gegen Spinoza zeigen, dass es in einem bestimmten Sinne possibilia gibt, die niemals aktualisiert werden. Gleichzeitig verbietet es sich für Leibniz, auf eine Erklärung von Möglichkeit – bzw. auf eine Erklärung von Modalität insgesamt – ganz zu verzichten, da sich dies nicht mit seinem explanatorischen Rationalismus vertragen würde. Er muss possibilia, Möglichkeit und Notwendigkeit also fundieren, und aufgrund seines Aktualismus und Nominalismus muss dasjenige, worin sie fundiert werden, etwas Konkretes und wirklich Existierendes sein. Berücksichtigt man ferner Leibniz’

 Zumindest nicht auf die gewöhnliches Weise, auf die die Wahrheit von Aussagen wie „Auf meinem Schreibtisch liegen sechs Bücher“ von den Tatsachen in der Welt bestimmt wird.  Wer die Redeweise von Wahrmachern ablehnt, kann diese Frage wie folgt umformulieren: Was bestimmt die Wahrheit bzw. Falschheit modaler Aussagen?

258

Schlussbemerkungen

theistische Annahmen, dann liegt es für ihn auf der Hand, modale Wahrheiten von Gott abhängig zu machen, und tatsächlich begründet er Modalität in Gottes Intellekt. Genauer gesagt werden Essenzen, die als Wahrmacher modaler Wahrheiten fungieren, mit den Inhalten von Ideen bzw. Gedanken in Gottes Intellekt identifiziert. Besonders prägnant fasst Leibniz diese Theorie in der Monadologie zusammen: „Denn der Verstand Gottes ist der Bereich der ewigen Wahrheiten oder der Ideen, von denen diese abhängen, und ohne ihn gäbe es nichts Reales in den Möglichkeiten und nicht nur nichts Existierendes, sondern auch nichts Mögliches.“³ Mit diesem Modell wird Leibniz seinem Theismus, seinem Aktualismus, seinem Nominalismus und seinem Essentialismus gerecht. Ich habe außerdem dafür argumentiert, dass Gott seine Ideen nicht primitiverweise hat, sondern dass diese in Gottes Essenz begründet sind (welche wiederum selbsterklärend ist). Damit wird Leibniz’ Theorie auch den hohen Anforderungen seines explanatorischen Rationalismus gerecht. In dieser Arbeit habe ich Leibniz’ Metaphysik der Modalität, deren Grundzüge ich eben noch einmal skizziert habe, ausführlich analysiert und habe dabei unter anderem die Art der Fundierungsrelation, die Rolle von Attributen bei Spinoza und Leibniz, die genaue Struktur der Essenzen, das Verhältnis zwischen möglichen Individuen und möglichen Welten, das Problem der Kompossibilität sowie Leibniz’ Verhältnis zum Nezessitarismus diskutiert. Da die Ergebnisse der einzelnen Kapitel jeweils am Ende in einem Fazit kurz zusammengefasst wurden, werde ich sie hier nicht noch einmal alle wiederholen. Stattdessen möchte ich abschließend auf zwei Punkte zu sprechen kommen, die mir von besonderer Relevanz zu sein scheinen. Erstens werde ich kurz auf ein Thema eingehen, das in dieser Arbeit in unterschiedlichen Kontexten immer wieder aufgetaucht ist: den Umstand, dass Leibniz eine nicht-reduktionistische und nicht-humeanische Theorie der Modalität vertritt. Dabei möchte ich einige Verbindungslinien aufzeigen, die erst jetzt, nachdem wir einen Überblick über Leibniz’ Gesamtkonzeption gewonnen haben, deutlich werden. Zweitens möchte ich auf ein mögliches Problem für Leibniz’ Theorie aufmerksam machen, welches einmal mehr mit Spinoza, dem Nezessitarismus und dem Rationalismus zu tun hat. Ich beginne mit dem ersten Punkt. Ich habe in dieser Arbeit eine Interpretation vertreten, der zufolge Leibniz’ Metaphysik der Modalität sowohl nicht-reduktionistisch als auch in einer bestimmten Hinsicht nicht-humeanisch ist. Nicht

 Monadologie §/Holz Bd. , : „Il est vray aussi, qu’en Dieu est non seulement la source des existences, mais encor celle des essences, en tant que réelles, ou de ce qu’il y a de réel dans la possibilité. C’est parce que l’Entendement de Dieu est la Region des verités éternelles, ou des idées dont elles dependent, et que sans luy il n’y auroit rien de réel dans les possibilités, et non seulement rien d’existant, mais encor rien de possible.“

Schlussbemerkungen

259

alle Kommentatoren würden sich dieser Lesart anschließen. So schreibt etwa Samuel Newlands in einem kürzlich erschienenen Aufsatz: Instead of building primitive combinatorial restrictions into the basic essences themselves, which sounds a bit hand-wavy, Leibniz could instead claim that these rules are just generalizations about what God actually thinks. To put it cheekily, Leibniz could be more of a Humean about „modal laws.“ In virtue of what is p-and-not-p not possibly true? In virtue of the fact that God doesn’t think that p-and-not-p. To some, that answer gets matters backward. But the promise of a reductive grounding account of modality should be attractive to an advocate of the principle of sufficient reason (PSR) like Leibniz. And we might well wonder, is a buck-stopping, table-pounding „God just can’t!“ explanatorily better off than a buckstopping, table-pounding „God just doesn’t!“? Certainly the latter answer seems more in the spirit of Leibniz’s general project of providing theistic grounds for modal truths: base what God (and creatures) can and cannot do on what God actually does and does not do.⁴

Newlands zeichnet hier zweifellos ein interessantes Bild von Leibniz’ Gesamtprojekt. Als ich mit der Arbeit an der vorliegenden Untersuchung begonnen habe, hätte ich ihm in vielen Punkten vorbehaltlos zugestimmt. Dies hat sich jedoch grundlegend geändert, und ich bin nun der Überzeugung, dass Newlands hier einige Annahmen trifft, die überhaupt nicht „dem Geiste von Leibniz’ generellem Projekt“ entsprechen. Newlands geht offenbar davon aus, dass so etwas wie eine Wahlverwandtschaft zwischen explanatorischem Rationalismus einerseits und reduktionistischen Theorien der Modalität andererseits besteht. Er nimmt also an, dass reduktionistische Theorien für einen Vertreter des Prinzips des zureichenden Grundes, und damit natürlich auch für Leibniz, grundsätzlich attraktiver sind als nicht-reduktionistische Ansätze. Deshalb schlägt Newlands vor, Leibniz als eine Art Humeaner mit Bezug auf modale Fakten zu lesen. Modale Wahrheiten sind demnach nur so etwas wie Verallgemeinerungen darüber, was Gott de facto denkt. Modales wird dieser Interpretation zufolge auf Nicht-Modales reduziert. Wie im Laufe dieser Studie deutlich geworden ist, glaube ich nicht, dass dies Leibniz’ Modell ist. Einen Grund dafür haben wir in Kapitel 2 kennengelernt. Wäre Leibniz tatsächlich ein Humeaner bezüglich modaler Fakten, dann gäbe es keine Erklärung dafür, warum Gott diese Ideen und nicht andere Ideen denkt. Dabei würde es sich einfach ein primitives Faktum handeln – ein Umstand, der nicht mit Leibniz’ explanatorischem Rationalismus vereinbar wäre.Wie aber kann ich dem Einwand begegnen, dass ein „God just can’t!“ keinen explanatorischen Vorteil gegenüber einem „God just doesn’t!“ hat? Meine Antwort ist, dass Leibniz

 Newlands , S.  – . Siehe hierfür auch Kapitel  (insbesondere Abschnitt .).

260

Schlussbemerkungen

durchaus eine Erklärung dafür hat, warum Gott diese Ideen und nicht andere denkt. Diese Tatsache ist letztlich in seiner Essenz begründet. Daneben gibt es aber noch einen zweiten Grund, aus dem es mir fragwürdig zu sein scheint, Leibniz eine reduktionistische Strategie zuzuschreiben. Newlands setzt einfach voraus, dass eine Anhängerin des Prinzips des zureichenden Grundes grundsätzlich reduktionistische Erklärungsansätze gegenüber nicht-reduktionistischen Strategien vorziehen sollte. Grund für diese Annahme ist vermutlich, dass reduktionistische Erklärungen beanspruchen, etwas auf den erstens Blick Unverständliches – wie z. B. das Phänomen der Modalität – auf etwas Verständliches zurückzuführen, um so eine vollständige Erklärung zu erreichen. Dies übersieht jedoch, dass reduktionistische Theorien der Modalität aus der Perspektive eines Vertreters des Prinzips des zureichenden Grundes einen entscheidenden Nachteil haben. Es ist bei solchen Theorien nämlich häufig gar nicht klar, wie genau die Verbindung zwischen explanandum und explanans aufzufassen ist.Wie genau, so könnte man fragen, erklärt einer reduktionistischen Theorie der Modalität zufolge etwas Nicht-Modales etwas Modales? Auf Leibniz’ Fall angewandt könnte man fragen: Warum sollten Verallgemeinerungen darüber, was Gott de facto denkt, überhaupt irgendetwas mit Modalität zu tun haben? Der explanatorische Rationalismus verlangt dafür eine Erklärung, und es ist nicht ersichtlich, wie eine solche Erklärung aussehen könnte. Ich glaube, es ist deshalb kein Zufall, dass sich reduktionistische Ansätze (gerade mit Bezug auf Modalität) eher bei explanatorischen Empiristen finden, also bei den Antagonisten der explanatorischen Rationalisten (nicht umsonst werden solche Strategien häufig mit dem Namen Humes assoziiert).⁵ Anders als Newlands suggeriert, ist es also nicht so, dass Leibniz wegen seiner Verpflichtung auf das Prinzip des zureichenden Grundes vor nicht-reduktionistischen Theorien zurückschreckt. Ein reduktionistisches Programm entspricht somit keineswegs dem ‚Geist von Leibniz’ Gesamtprojekt‘. Im Gegenteil: Zumindest im Fall der Modalität geht Leibniz sogar davon aus, dass eine vollständige Erklärung dieses Phänomens nur durch eine nicht-reduktionistische Strategie erreicht werden kann. Wie in dieser Arbeit deutlich geworden ist, begründet Leibniz Möglichkeit und Notwendigkeit in einem ersten Schritt in den Essenzen (= Ideen) in Gottes Intellekt. In einem zweiten Schritt werden diese Essenzen dann in der Essenz Gottes fundiert – also in einer Entität mit einem reichhaltigen modalen Profil. Da die Essenz Gottes selbsterklärend ist, vermeidet diese nicht-reduktionistische Strategie gerade eine Verletzung des explanatorischen Rationalismus,

 Für den Ausdruck „explanatory empiricism“, siehe Garrett , S.  – .

Schlussbemerkungen

261

während eine humeanische Interpretation à la Newlands an irgendeiner Stelle auf primitive, nicht weiter erklärbare Fakten verweisen müsste. Dieser Punkt lässt sich auch auf Leibniz’ Theorie der Kompossibilität und auf seine Konzeption möglicher Welten übertragen. Einer humeanischen Interpretation zufolge wären Kompossibilitätsrelationen lediglich primitive Relationen zwischen verschiedenen possibilia. ⁶ Miteinander kompossibel wäre demnach all das, was Gott de facto zusammen denkt. Damit würde man die modale Relation, miteinander kompossibel zu sein, auf eine nicht-modale Relation (nämlich zusammen von Gott gedacht zu werden) reduzieren. Doch ein solches Vorgehen würde ebenfalls das Prinzip des zureichenden Grundes verletzen, da es keine Erklärung dafür gäbe, warum bestimmte mögliche Substanzen miteinander kompossibel sind, andere hingegen nicht. Auch im Fall der Kompossibilität vermeidet die Interpretation, die ich in dieser Arbeit entwickelt habe, die Probleme, mit der reduktionistische bzw. humeanische Lesarten konfrontiert sind. Ich habe dafür argumentiert, dass Kompossibilitätsrelationen keine primitiven Relationen sind, sondern dass sie sich mit Hilfe des Begriffs der möglichen Welt definieren lassen (mögliche Substanzen sind dann miteinander kompossibel, wenn sie Mitglieder derselben Welt sind). Und da, wie in Kapitel 3 deutlich geworden ist, Leibniz auch nicht von einer humeanischen Konzeption möglicher Welten ausgeht, bedeutet dies, dass er auch im Fall der Kompossibilität keine reduktionistische, sondern eine nicht-reduktionistische Strategie verfolgt.⁷ Allgemein können wir also festhalten, dass Leibniz’ Metaphysik der Modalität von einem nicht-reduktionistischen und nicht von einem reduktionistischen Geist geprägt ist. Darüber hinaus ist zu konstatieren, dass Leibniz nicht trotz, sondern wegen seiner Verpflichtung auf den explanatorischen Rationalismus ein nicht-reduktionistisches Programm verfolgt. Nur so kann vermieden werden, dass auf irgendeiner Ebene primitive, unerklärbare Fakten auftreten. Ich komme nun zu meinem zweiten Punkt in diesen Schlussbemerkungen. Viele Philosophinnen gehen davon aus, dass ein enger Zusammenhang zwischen Rationalismus und Nezessitarismus besteht. So wird häufig argumentiert, dass ein strikter explanatorischer Rationalismus nezessitaristische Implikationen hat.⁸ Da Leibniz den Nezessitarismus vermeiden möchte, ist es deshalb vielleicht keine Überraschung, dass meine Interpretation in Kapitel 5 de facto eine gewisse Ab-

 Einen solchen Vorschlag macht Wilson , S. .  Dies folgt natürlich nur, wenn auch mögliche Welten nicht als primitive, nicht-erklärte Erklärer fungieren.  Siehe zu dieser Thematik besonders konzise Lin . Ich werde hier die unterschiedlichen Argumente, die ins Feld geführt werden, nicht diskutieren.

262

Schlussbemerkungen

schwächung von Leibniz’ Rationalismus zur Folge hat (dort habe ich unter anderem für die These argumentiert, dass das Prinzip des zureichenden Grundes für Leibniz nur kontingenterweise wahr ist). Vielleicht führt aber sogar schon Leibniz’ Annahme, dass nicht-aktualisierte possibilia überhaupt denkbar sind – eine These, die mit der Problematik des Nezessitarismus zunächst einmal nichts zu tun hat – zu gewissen Problemen innerhalb seines Systems, die ihn ohnehin zu einer Abschwächung seines Rationalismus zwingen (ganz unabhängig von der nezessitaristischen Bedrohung). Mein Verdacht gründet auf folgender Überlegung: Rationalisten wie Leibniz und Spinoza gehen davon aus, dass Denkbarkeit („conceivability“) und Möglichkeit zusammenfallen.⁹ Wie ist das zu verstehen? In der zeitgenössischen Philosophie vertreten einige Philosophinnen die These, dass Denkbarkeit Möglichkeit impliziert,¹⁰ und Rationalisten würden dem auf jeden Fall zustimmen. Sie vertreten darüber hinaus aber auch noch die umgekehrte These, dass Möglichkeit Denkbarkeit impliziert. So definiert Leibniz in den Confessiones Möglichkeit sogar über Denkbarkeit: „Möglich ist, was gedacht werden kann (quod intelligi potest) […].“¹¹ Allgemein können wir also festhalten, dass Rationalisten charakteristischerweise von folgendem Prinzip ausgehen: (RAT) Alles Denkbare ist möglich, und alles Mögliche ist denkbar. Eine wichtige Motivation für (RAT) ist einmal mehr das Prinzip des zureichenden Grundes. Wenn etwas möglich wäre, ohne denkbar zu sein – wenn also etwas möglich wäre ohne wenigstens prinzipiell vom Intellekt erfasst werden zu können – dann wäre grundsätzlich unverständlich, warum es möglich ist. Das Bestehen einer solchen Möglichkeit bliebe also unerklärt. Spinoza nun geht (aus Gründen, die wir in Kapitel 1 besprochen haben) davon aus, dass nur das, was wirklich existiert, auch denkbar ist, woraus er mithilfe von (RAT) folgert, dass auch nur das, was wirklich existiert, möglich ist. Leibniz hingegen möchte den Bereich des Denkbaren – und damit den Bereich des Möglichen – erweitern und auch nicht-aktualisierte possibilia zulassen. Genau hierin könnte man aber ein Problem sehen. Man könnte nämlich den Eindruck gewinnen, dass nicht-aktualisierte possibilia auch für Leibniz tatsächlich nicht denkbar sind, weil ihre Existenz nicht mit Gott kompatibel ist. Weil Gott notwendigerweise existiert und immer das Beste schafft – so könnte man argu Hier ist natürlich wieder von metaphysischer Möglichkeit die Rede.  Einen hervorragenden Überblick über die entsprechende Debatte bieten Gendler & Hawthorne .  AA ., : „Possibile est, quod intelligi potest […].“

Schlussbemerkungen

263

mentieren – ist streng genommen auch nur dasjenige denkbar, was auch wirklich existiert. Wenn man versucht, nicht-aktualisierte possibilia mit Gott zusammen zu denken, verwickelt man sich demnach in einen Widerspruch. Etwas bloß Mögliches wäre dann nie völlig verständlich, woraus folgt, dass entweder (RAT) verletzt ist, oder dass es nichts bloß Mögliches geben kann. Damit scheint Leibniz vor folgender Wahl zu stehen: Entweder er akzeptiert einen uneingeschränkten explanatorischen Rationalismus. Dann droht aber nicht nur der Nezessitarismus, sondern sogar die Undenkbarkeit nicht-aktualisierter possibilia. Alternativ kann er aber auch seinen Rationalismus, und damit auch das Prinzip (RAT), abschwächen. Genau dies scheint Leibniz zu tun, wenn er sagt, dass nicht-aktualisierte Möglichkeiten zwar an sich denkbar sind, nicht aber in Kombination mit Gott. Diese Überlegung hat eine interessante Konsequenz. Leibniz muss seinen Rationalismus offenbar nicht nur abschwächen, um den Nezessitarismus zu vermeiden (wie ich in Kapitel 5 gezeigt habe). Er muss dies überraschenderweise auch tun, um überhaupt seinen rationalistischen Theismus aufrechterhalten zu können, da andernfalls die Denkbarkeit nicht-aktualisierter possibilia nicht gewährleistet werden kann. Diese Überlegung zeigt einmal mehr, dass Leibniz stets im Spannungsfeld von Rationalismus und Theismus operiert.

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Treatise

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Essay

Locke, John. An Essay Concerning Human Understanding, hrsg. von Peter H. Nidditisch, Oxford: Clarendon (1975). Zitiert nach book, chapter und section.

Gebhardt

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E

Spinoza, Baruch de. Ethik in geometrischer Ordnung dargestellt, hrsg. und übersetzt von Wolfgang Bartuschat, Hamburg: Meiner (1999). Ich bediene mich der üblichen Zitierweise der Ethik. Die erste Ziffer weist den Teil aus, und das darauffolgende Kürzel weist die Art der Passage aus. Dabei steht „a“ für Axiom, „app“ für Anhang (appendix), „c“ für Folgesatz (corollarium), „d“ für Beweis (demonstratio), „def“ für Definition, „p“ für Lehrsatz (propositio) und „s“ für Anmerkung (scholium). „E1p11d“ bezieht sich also z. B. auf den Beweis von Lehrsatz 11 im ersten Teil der Ethik.

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SCG

Thomas von Aquin. Summa contra Gentiles (= Liber de veritate Catholicae fidei contra errores infidelium qui dicitur summa contra gentiles), hrsg. von P. Marc, Turin: Marietti (1961 ff.). Zitiert nach Buch, Lectio und Absatz.

3 Literatur nach 1800 Adams, Robert M. (1979): „Primitive Thisness and Primitive Identity“. In: Journal of Philosophy 76, S. 5 – 26. Adams, Robert M. (1994): Leibniz. Determinist, Theist, Idealist. New York, Oxford: Oxford University Press.

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Namensregister Adams, Robert 99, 107, 114, 138, 140, 143, 196, 209, 212, 216, 218 – 224, 227 – 229, 233 Alexander der Große 130 Aristoteles 164, 233 Armstrong, David 3, 127 Arnauld, Antoine 129, 138, 143, 145 f., 149, 151, 174, 181, 184, 234, 241, 265 Augustinus 116, 141 Barth, Christian 99, 165, 182, 207 Bayle, Pierre 165, 186 Bennett, Jonathan 12, 30, 35 – 37, 55 Bourget, Louis 166 Broad, Charlie Dunbar 222 Brown, Gregory 121, 137 – 140, 143 – 145, 148 – 151, 153, 176 f., 204, 206 Burman, Frans 75 f. Caesar 122 Casati, Roberto 231 Clarke, Samuel 234 – 239, 247 Couturat, Louis 24, 96, 265 Cover, Jan 121, 128, 175 – 177, 237 – 239 Curley, Edwin M. 30, 37, 209, 224 D’Agostino, Fred 170 Della Rocca, Michael 31, 34, 37, 41, 48, 55, 59 – 63, 65, 68, 249, 251 Des Bosses, Bartholomäus 23, 131, 157, 172 f., 183 f., 187 Descartes, René 10 f., 13, 15, 22, 35, 40, 42, 48 f., 58 – 60, 71, 74 – 79, 81 f., 85, 94 f., 103, 109 f., 141 f., 147, 187, 224, 266 De Volder, Burchard 124 f., 147, 149 – 151, 174, 184 Donagan, Alan 55 Duns Scotus 82, 110, 114, 187, 214 Euklid

1 f., 27

Fine, Kit 9 f., 15, 35, 88, 119, 196 Frankel, Lois 230

Frankfurt, Harry 39, 213 Friedman, Russell 110 Garber, Daniel 23, 180 Garrett, Don 12 f., 28, 31 f., 35 – 37, 39 f., 42 – 44, 47, 68, 260 Gendler, Tamar 262 Griffin, Michael 27, 107, 116, 167, 170, 198, 216 – 218 Gueroult, Martial 55 Hacking, Ian 174 f., 177 Hall, Ned 127, 131 Haserot, Francis S. 54 Hawthorne, John 121, 128, 175 – 177, 237 – 239, 262 Hoffmann, Tobias 82 Hume, David 5 f., 13 f., 65, 260, 266 Ishiguro, Hidé

17

Jauernig, Anja 234, 238 Jolley, Nicholas 235 Kant, Immanuel 14 Kaplan, David 223 Karofsky, Amy 88, 196, 198 Koistinen, Olli 51, 68, 131, 172, 186 f., 192 Kratzer, Angelika 48 Kripke, Saul 8 Krödel, Thomas 130 Laerke, Mogens 116 Lagerlund, Henrik 198 Lewis, David 7 f., 39, 123, 127, 129 – 132, 138, 145, 158, 196, 213 Lin, Martin 68, 231, 235, 239, 247, 261 Locke, John 14, 64, 266 Loemker, Leroy 90 Look, Brandon 230, 240 Malebranche, Nicolas 22, 142, 166, 200 Mates, Benson 123, 127, 129, 157, 171 f., 192, 196, 223, 232

274

Namensregister

McDonough, Jeffrey 128, 163 f., 170, 173, 178 – 182, 188, 193 f. Melamed, Yitzhak 46, 63, 231 Menzel, Christopher 6, 16 Mercer, Christia 105 Mersenne, Marin 76 Mesland, Denis 76 Messina, James 169, 173, 187, 191 f., 252 Mondadori, Fabrizio 86, 188, 198 Mugnai, Massimo 129, 158 – 160 Murray, Michael 213 Myrdal, Peter 198 Nachtomy, Ohad 92, 96, 99 – 102, 121, 137 – 139, 141, 153 f., 192 Newlands, Samuel 4, 12, 18, 36, 77, 79, 85, 87, 103, 106, 141 f., 259 – 261 Ockham, William of

214

Parkinson, George H. R. 233 Perler, Dominik 34, 62 f., 76 f., 82, 99, 187 Pruss, Alexander 117 Quine, Willard Van Orman

6–8

Renz, Ursula 30 Repo, Arto 131, 172, 186 f., 192 Rescher, Nicholas 171 f., 192, 200 f., 207, 210, 221 f., 224, 226, 233 Rodriguez-Pereyra, Gonzalo 15, 38, 135, 233 f. Rubini, Paolo 99 Russell, Bertrand 24, 85, 157, 174 f., 192, 209, 221, 233 Rutherford, Donald 101, 124, 169, 173, 180, 187, 191 f., 201, 252

Sanford, David H. 181 Schaffer, Jonathan 19, 46, 105 Schechtman, Anat 142 Schmid, Stephan 32, 204 Shein, Noa 55 – 57 Sider, Theodore 5, 7, 25, 196 Simons, Peter 14 Sleigh, Robert 143, 230 Smith, Robin 86 Spinoza, Baruch de 4, 10 – 12, 19, 22, 27 – 72, 74 f., 79 f., 82, 88 – 95, 102 f., 106, 112, 114 – 118, 123, 135, 141 f., 162 – 164, 166, 170, 173, 176 – 178, 180 – 183, 191, 195, 198 – 200, 202 – 204, 207, 213, 218, 221, 232, 257 f., 262, 266 Stalnaker, Robert 8 f., 88 Stoichita, Pedro 32, 40 Suárez, Francisco 46 f., 109 – 112, 114, 266 Swoyer, Chris 96 Thomas von Aquin 266

108, 113 f., 168, 228,

Vallicella, William 108 Van Inwagen, Peter 29, 213 Vetter, Barbara 3, 9, 15, 119 Wedderkopf, Magnus 211 – 215, 219 Wilson, Catherine 121, 133 – 134, 261 Wilson, Margaret D. 143, 170, 177 Wolff, Christian 204, 265 Wolfson, Harry A. 54

Sachregister Abstraktion 10, 15 f., 32, 38, 84, 95, 123 Aggregat 72, 92, 98, 112, 120, 123–125, 128, 131, 133 f., 136, 154–156 Aktivität 98, 101, 103, 113, 120, 139, 141 Aktualismus 11, 16 f., 38, 84, 118 f., 257 f. Akzidenz 46, 84, 108, 157, 164 Allmacht 14, 19, 74, 77, 115, 164, 168, 172 f., 185, 187 f., 190, 193, 195, 198 f., 209, 243, 251, 253 analytisch 21, 170, 220–222, 239, 250 a priori 42, 221 f., 240 Aristotelismus 46, 86, 108, 164 Attribut 19, 28 f., 33–38, 40–42, 47 f., 51, 53–74, 88–104, 108–110, 112–114, 139, 141–143, 152, 258 Ausdehnung 5, 34 f., 42, 48, 51, 55–59, 95, 141–143, 179–181 Begriff 5, 9 f., 12, 15, 19, 21, 34 f., 49, 51, 55, 58, 61, 64, 66 f., 74, 77, 83 f., 86–88, 90–92, 94–97, 99–104, 107–109, 113– 115, 117 f., 120 f., 123–125, 127 f., 130, 132–141, 143–145, 148–155, 157, 159 f., 164 f., 168–172, 174, 176, 178, 181, 183– 186, 188–194, 196–198, 204 f., 207, 209 f., 217, 220 f., 223, 232, 239, 241, 250, 261 – einfacher Begriff 74, 94–97, 99–104, 113, 122, 139, 141, 152 – vollständiger Begriff 49, 83, 86 f., 90, 100 f., 120–123, 125, 127, 136–141, 143– 146, 148–153, 155–157, 159 f., 165, 167, 177, 181 f., 184–186, 189, 191, 205, 209, 249 f. cognitio 34, 60, 99, 104, 221 counterpart 8, 122, 129, 132, 138 Denkakt 82, 84, 111, 123 Denkbarkeit 262 f. Denkinhalt 73, 82, 87, 103, 108 Determinismus 29 f., 39, 147, 213 Disposition 3, 119, 230

Eigenschaft 2, 7–10, 30, 35 f., 41, 55–57, 68, 86, 89, 91 f., 94, 127, 129–132, 147, 157 f., 165, 181, 185, 193, 205 f., 209, 220, 231, 233 f., 238 – akzidentielle Eigenschaft 86 – essentielle Eigenschaft 9, 30, 35 f., 165 – Einfachheit 62 f., 73, 75, 93, 95, 108–114 Einheit 23, 55 f., 62 f., 106, 108, 112 f., 159, 187, 189–191, 202, 204, 242 Eliminativismus 6 f., 10 Emanation 110 Empirismus 12, 65, 260 Entität 6, 10, 16, 18, 38, 41, 49 f., 63, 66, 84, 108, 112 f., 123, 127 f., 135, 155–158, 160, 164 f., 173–175, 181, 184, 188 f., 243, 250, 252, 260 Erkenntnis 60, 62, 96 f., 100, 112 Essentialismus 11, 15, 17, 119, 258 Essenz 3, 9–11, 15 f., 18 f., 30–38, 49, 54, 59–62, 64–67, 70, 72–74, 76–94, 98– 109, 113, 118–123, 125, 130–132, 136, 139–143, 152, 159 f., 162, 165–169, 178– 180, 199, 201–207, 217–219, 225–228, 243, 258, 260 Existenz 7–9, 11, 14, 16–18, 29–34, 36–38, 40, 45–53, 55, 57, 63–65, 67–69, 71, 80–82, 84 f., 89, 94, 99, 104 f., 107 f., 110, 112, 115, 117–119, 123 f., 129, 131, 134 f., 140, 148, 150 f., 155, 158–163, 165–169, 172–174, 176, 178–191, 193– 196, 198 f., 203, 206 f., 209 f., 212, 214– 219, 223–226, 228–232, 234, 243–245, 248, 251, 253 f., 257, 262 f. Extensionalismus 6–8 Fiktion 24, 158, 160, 235, 239 – fiktiv 81 Form 23, 46, 54, 63, 71, 76 f., 82, 96, 101, 104, 107 f., 110, 113, 115, 119, 121, 124 f., 132, 144, 156, 159 f., 170, 198, 210, 220, 239 – einfache Form 74, 98 Freiheit 11, 39, 71, 123, 127, 132, 143 f., 146, 175, 182, 212 f., 225 f., 243, 245, 253–255

276

Sachregister

Gehalt 82, 84, 96, 105, 122, 220 Geist 55, 60, 64, 83–87, 101–104, 109–111, 113, 118, 120–123, 143, 159, 169, 185, 188 f., 193, 212, 250, 259–261 Geschöpf 75, 101, 140–142, 228 Gesetz 103, 122, 143–153, 156, 171, 174– 178, 184 f., 187, 191, 194, 200–202, 205 – Naturgesetz 29 f., 145–147 Gott 11–14, 16–19, 23 f., 29, 32 f., 36, 38, 40, 43, 45–48, 50–53, 60, 62–79, 81– 88, 93 f., 97–123, 125–127, 130, 132– 136, 138–144, 146–153, 155–160, 162– 170, 172–181, 183–195, 197–204, 206 f., 209 f., 212–229, 232, 236, 238 f., 241– 251, 253–255, 257–263 Gottesbeweis 76 – ontologischer Gottesbeweis 98 f. Grund 4, 13 f., 17, 32, 44, 46, 48 f., 53, 55, 57, 63–66, 68 f., 78, 80 f., 83, 86–88, 92, 96, 99 f., 102 f., 107, 110, 113, 117 f., 135, 142, 145, 150, 156, 158, 163, 165– 167, 170, 174, 179, 210, 212–214, 220, 229–232, 234–238, 240, 242, 244, 246– 255, 259 f. Güte 14, 19, 74, 85, 115, 168, 199, 202, 209, 227 f., 236, 243 Handlung 3, 39 f., 45, 47, 117, 170, 210, 213 f., 226 f., 229, 236, 244, 253–255, 259 Humeanismus 103, 123–134, 136, 145, 152– 154, 160, 175, 182, 193, 207, 258 f., 261 Idealismus 180 Idee 12, 15, 18, 23, 33, 35, 38 f., 50, 53, 55, 57, 64, 67, 71–75, 79, 81–87, 94–97, 100–106, 108, 115, 118–120, 122 f., 129, 133–135, 140–143, 152 f., 155 f., 159–162, 169, 177, 184 f., 188 f., 202, 217, 220, 222, 226, 228, 240, 249, 252 f., 255, 258–260 immateriell 179–181 Individuum 18 f., 86 f., 101 f., 120–123, 125, 127–129, 131, 133–136, 139–141, 143, 145, 148–154, 159–161, 181, 184 f., 192– 194, 198, 234, 243, 258

Inhalt 71, 82, 84, 86 f., 97, 103, 122 f., 155 f., 162, 203, 258 Intellekt 12, 14, 18 f., 23, 71–75, 77, 79, 81– 89, 98, 100–103, 105, 110, 113, 115, 119 f., 122 f., 125–127, 134–136, 141–143, 148 f., 151–153, 155–160, 162, 166 f., 169, 173, 184–186, 188 f., 191, 194, 212–214, 217, 224, 243, 250, 258, 260, 262 Intellektualismus 214 Kausalität 5 f., 31, 38 f., 47–49, 57, 78 f., 85, 104, 128, 131, 142, 164 f., 173, 213, 249, 251 f. Kombinatorik 74, 94–96, 99 – kombinatorisch 19, 61, 63, 70, 72–74, 88 f., 92–94, 98, 101–103, 108–110, 113 f., 120, 139, 142 – nicht-kombinatorisch 29, 57, 61–70, 72, 94 Kompossibilität 19, 132, 161–164, 166, 168–174, 176–179, 182 f., 190–194, 197, 207, 258, 261 – inkompossibel 161, 163, 165, 168–171, 175, 177, 179, 182, 191, 193, 195, 198 – kompossibel 18, 132, 161, 163–166, 168– 171, 174 f., 177 f., 190–192, 194 f., 198, 261 Kontingenz 4, 11, 14, 17–19, 27–32, 34, 37 f., 45 f., 49–51, 53, 65 f., 115, 117 f., 209, 211, 213, 215, 217–226, 228 f., 231 f., 235 f., 241–250, 253–255 Kontinuitätsprinzip 201 f. Limitation 98 f., 101, 140–143, 148, 168, 228 Logik 24, 44, 85, 101 f., 126, 135, 145, 163, 170–178, 182, 187, 191–193, 197, 210, 241, 265 f. Materie 108 Mereologie 61 f., 112 Modus 31–36, 38, 41–43, 45–58, 66–68, 71, 78, 82, 135, 141, 157, 159 f., 165, 253 mögliche Welt 4, 7 f., 14, 17–19, 21, 27, 37, 50, 70 f., 74, 85 f., 101, 115–117, 120–139, 143–156, 159–162, 164, 166, 170–177, 179, 182–186, 188–200, 204, 206 f., 209 f., 214 f., 217–220, 222–225, 228 f.,

Sachregister

232, 235–239, 241–247, 249–253, 255, 258, 261 Möglichkeit 1–4, 6–11, 13, 15–21, 24 f., 27, 29, 32–35, 37–39, 44, 49–52, 61, 65–67, 69–88, 90, 99–103, 108 f., 114 f., 117– 125, 127 f., 131–134, 136 f., 141, 143, 146, 149 f., 153 f., 159–169, 171–181, 183–185, 187–204, 206 f., 210–219, 224, 226– 230, 232, 234, 237, 241–246, 248–254, 256–258, 260–263 Monade 17, 96, 112, 128, 133, 135, 138, 157, 163, 172, 179–181, 183 f., 251 f. Monismus 46 Moral 24 f., 76, 204, 220, 226 f. Natur 7, 9 f., 12, 15 f., 22, 29–32, 34, 36 f., 40, 43, 45–53, 58, 61 f., 64, 66–68, 75– 78, 80, 82, 96, 100 f., 104, 108 f., 111– 115, 117, 120, 126, 140, 145, 148, 165, 175 f., 201–203, 205, 209, 216 f., 223, 226, 230, 233 f., 245, 249, 252, 265 f. Negation 83, 98 f., 137, 221 Neuplatonismus 105 Nezessitarismus 10 f., 19, 23, 27–40, 42– 45, 50–54, 57 f., 63–70, 74, 114 f., 117 f., 169 f., 181, 207–215, 218 f., 223–225, 228 f., 232, 241–243, 255, 258, 261–263 Nominalismus 11, 15–17, 23, 38, 74, 84, 118 f., 159 f., 257 f. Normativität 2 Notwendigkeit 1–5, 7, 9–11, 15, 17, 19, 21, 24 f., 27–32, 35–39, 45, 47–53, 58, 64– 79, 82–85, 88, 90 f., 95, 99, 107 f., 112, 115–118, 123, 128, 132, 147, 151, 170, 195–197, 202, 209–226, 228 f., 232–237, 239, 241–250, 253–255, 257, 260 – blinde Notwendigkeit 74, 116, 123 Optimismus

11, 14, 17, 96

Perfektion 98, 117, 167, 180, 193, 203–207, 225 f., 229, 236, 243 Perzeption 17, 96, 131–133, 157, 165, 167, 181, 186, 189–191, 203–205, 251 f. Platonismus 38 possibilia 11, 15, 17–19, 70–74, 80, 83, 88, 98–100, 102, 114 f., 117, 120, 122 f., 127,

277

136, 138 f., 158 f., 162, 166, 168 f., 181 f., 195, 199, 203, 206, 216 f., 257, 261–263 potentia absoluta 77, 187 f., 198 potentia ordinata 77, 187 f., 190, 199 Prädikat 89–91, 95, 101, 122, 137–140, 144 f., 149–152, 156 f., 159 f., 165, 185 f., 193, 220 f., 223, 239–241, 249 – essentielles Prädikat 89–91 – primäres Prädikat 90 – reziprokes Prädikat 89–91 Prinzip der Identität des Ununterscheidbaren 37, 41 f., 59, 135, 210, 229, 233– 238, 241, 245 f., 248–250, 252 Prinzip des ausgeschlossenen Widerspruchs 13, 233, 241 Prinzip des zureichenden Grundes 12–14, 19, 24, 49, 64–69, 73, 75, 78, 80, 87, 103, 106 f., 117 f., 163, 210 f., 213–215, 225, 229–255, 259–262 Qualität

98, 167, 220, 233 f., 238

Rationalismus 10, 12, 50, 211, 214, 253– 256, 258, 261–263 – explanatorischer Rationalismus 11–14, 17, 19, 23, 49, 64 f., 69, 71, 73, 75, 78 f., 107, 118, 214, 253, 255, 257–261, 263 Raum 12, 24, 27, 72, 77, 83, 87, 105, 114, 126, 180, 191, 201, 209, 211, 215, 218, 224, 229, 232 f., 235–239, 241, 246– 248, 250, 252 Realdefinition 90 Realdistinktion 63, 108 f., 111 f., 114 Realität 6 f., 50, 60, 74, 79–82, 85, 96, 104, 106, 110, 113 f., 117, 120, 135 f., 158–160, 162, 167, 193 f., 199, 203 f., 206 Reduktionismus 6–10, 15, 19, 87 f., 119, 157 f., 160, 258–261 Reflexion 97, 100–103, 113, 139, 224 Relation 44, 96 f., 101, 105, 122, 129, 131 f., 138–140, 144 f., 149–153, 156–160, 165, 172 f., 175, 185 f., 193, 233–235, 237, 261 Relationismus 235, 237, 239, 241, 246–250 Repräsentation 84, 95–97, 100

278

Sachregister

Scholastik 46 f., 92, 109 f., 187 Schöpfung 85, 178, 185, 204, 206, 227 f., 250 Seele 130, 203 Serie 31, 147, 202, 220, 265 – Gesetz der Serie 147 Skeptizismus 6 f., 10, 39, 82 Spontanität 213 Substanz 16–18, 28 f., 37–43, 46–68, 70 f., 82 f., 86 f., 89–94, 96 f., 100–105, 113, 115, 120–125, 127–140, 142–146, 148– 165, 167–195, 197–199, 203–207, 209, 217 f., 222, 232–235, 238, 244 f., 247, 249–253, 261 Substanzmonismus 28, 38–40, 42–47, 50 f., 53 f., 58, 67–69, 135 Substanzpluralismus 38, 135–137

175, 177, 193, 211 f., 214, 217, 221, 227, 229, 235–237, 239, 245–247, 249, 253 Ursache 5, 11, 31 f., 34–36, 45 f., 49, 65, 75 f., 80 f., 99 f., 104, 107, 129, 140 f., 144, 230–232, 240, 243, 252

Theismus 11 f., 14, 17, 19, 72, 211, 214, 253– 256, 258, 263 – rationalistischer Theismus 4, 17, 123, 162, 170, 208 f., 218 f., 257, 263 Theologie 108, 211, 215 Transzendenz 12 Trinität 74, 109 f., 112 f.

Wahrheit 1–5, 11–16, 18 f., 23 f., 27, 31, 37, 62, 69 f., 72, 74–80, 82, 84–87, 103, 105–108, 114, 118, 120, 122, 144, 152, 155, 160, 162, 197, 210, 220–224, 230 f., 233–235, 237, 239–241, 248–250, 254, 257–259 – ewige Wahrheiten 18, 77, 81, 83, 140, 158, 258 – notwendige Wahrheiten 11, 15, 19, 37, 69 f., 76, 78, 83 f., 114, 119, 219 f., 222–224, 229, 231 Wahrmacher 3 f., 10–16, 18 f., 70, 80–85, 87, 118–120, 122, 152, 160, 162, 257 f. Wille 11, 71, 74 f., 77 f., 82, 85, 88, 115 f., 140, 162, 173, 212–214, 216 f., 224, 226 f., 243 Wirklichkeit 2–4, 7, 10 f., 14, 16 f., 19, 21, 23, 27, 32–34, 37–39, 46, 50, 52, 54, 62, 64–66, 69–71, 79–81, 83 f., 86, 102, 106–108, 113–115, 117, 124, 127, 129 f., 132, 138, 141, 146, 148, 151, 154–156, 158 f., 162, 171, 173, 177, 179, 181 f., 188, 196, 199, 202, 204, 206 f., 209 f., 217– 219, 221, 225, 229, 238, 243, 253 f., 257, 262 f. Wirkung 5, 31, 48, 77, 124, 130, 159, 175, 230, 232, 240

Unabhängigkeit 2, 6, 37, 41, 48 f., 54–57, 60 f., 76, 109, 125, 128, 132, 137, 140, 155 f., 158, 163–165, 168, 170, 172–175, 177 f., 180–187, 189 f., 195, 197 f., 203, 206 f., 214, 223, 243 f., 251 f., 262 unendliche Analyse 18, 220 f., 223 f., 226, 240 Unendlichkeit 16, 33, 36 f., 46–48, 51, 54, 58, 60, 64 f., 71, 87, 93, 95, 101, 127, 129, 139, 141–143, 149, 155, 162, 166, 178–180, 203, 212, 219–222, 226, 236, 254 Universum 14, 27, 122, 124, 129 f., 133, 138, 143 f., 146, 149–151, 154–156, 162, 168, 171, 179 f., 184, 199–203, 206 f., 247 Unmöglichkeit 27, 30–32, 45, 47, 51, 60, 66, 76, 80, 103, 112, 118, 144 f., 172,

Vermögen 77, 181 f. Vernunft 110, 159, 212 Vernunftunterscheidung 56, 110–114 Verstand 15, 18, 29, 54 f., 61, 64, 72, 74, 77, 81, 89, 98, 100, 102 f., 107 f., 111, 113, 116 f., 120, 123, 125 f., 140, 143, 146– 148, 155, 159, 182, 193 f., 199, 203, 206 f., 221 f., 229, 231, 258 Voluntarismus 79, 103, 214 – modaler Voluntarismus 10 f., 13, 71, 74– 79, 82, 85

Sachregister

Zeit

22–24, 32, 38, 67, 70, 80, 83, 85, 93, 101 f., 115, 117, 126, 130, 154, 166, 173,

279

178 f., 191, 196, 200, 211, 213, 218, 229, 232 f., 235–241, 246–248, 250, 252 Zentralmonade 251