Leibniz: Wege zu seiner reifen Metaphysik 9783050064499, 9783050059006

Leibniz concealed from his contemporaries his project for a scientia generalis, which was to compress all the knowledge

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German Pages 358 [360] Year 2014

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Table of contents :
Vorwort
1. Möglichkeit und Kontingenz. Zur Geschichte der philosophischen Terminologie vor Leibniz
2. Zum Problem der Kontingenz bei Leibniz. Die beste der möglichen Welten
3. Glück durch Wissen. Zur Bestimmung des Philosophen durch Leibniz
4. Leibniz’ Arbeiten zu einer Reform der Kategorien
5. Demonstrationes Catholicae – Leibniz’ großer Plan. Ein rationales Friedensprojekt für Europa
6. Die Polaritäten des Einen und des Vielen im Begriff der Monade
7. Gedanken zu den Philosophischen Schriften (AA VI,4)
8. Schwierigkeiten mit dem Körper. Leibniz’ Weg zu den Phänomenen
9. »De Affectibus«. Leibniz an der Schwelle zur Monadologie. Seine Vorarbeiten zum logischen Aufbau der möglichen Welten
10. Wurzeln und Austriebe des metaphysischen Rationalismus bei Leibniz
11. Ein Plädoyer für Leibniz’ strenge Rationalität. Einspruch gegen die behauptete Gleichrangigkeit von sanfter und strenger Rationalität
12. Leibniz’ Konzeptualismus. Ein Programm
13. Perzeption und Harmonie. Das Viele im Einen, die Welt in der Monade
14. Leibniz: Fiktion und Wahrheit
15. Neues über Zeit und Raum bei Leibniz
16. Ist unsere die beste der möglichen Welten? Was fordert Leibniz zur Affirmation seiner These?
17. Der rationale Kern der Theodizee
18. Die Natur des Subjekts und das Subjekt der Natur
Verzeichnis der historischen Personen
Quellennachweise
Was fordert Leibniz zur Affirmation seiner These?
17. Der rationale Kern der Theodizee
18. Die Natur des Subjekts und das Subjekt der Natur
Verzeichnis der historischen Personen
Quellennachweise
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Schepers · LEIBNIZ

Heinrich Schepers

LEIBNIZ Wege zu seiner reifen Metaphysik

Akademie Verlag

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

© Akademie Verlag GmbH, Berlin 2014 Ein Unternehmen von De Gruyter www.degruyter.com/akademie Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Übersetzung, des Nachdrucks, des Vortrags, der Entnahme von Abbildungen und Tabellen, der Funksendung, der Mikroverfilmung oder der Vervielfältigung auf anderen Wegen und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. Eine Vervielfältigung dieses Werkes oder von Teilen dieses Werkes ist auch im Einzelfall nur in den Grenzen der gesetzlichen Bestimmungen des Urheberrechtsgesetzes in der jeweils geltenden Fassung zulässig. Sie ist grundsätzlich vergütungspflichtig. Zuwiderhandlungen unterliegen den Strafbestimmungen des Urheberrechts. Einbandkonzept: hauser lacour Einbandgestaltung: pro:design, Berlin, unter Verwendung einer Abbildung der LeibnizHandschrift LH XL Bl. 132r der Gottfried Wilhelm Leibniz Bibliothek Hannover Druck und Bindung: Beltz Bad Langensalza GmbH, Bad Langensalza Das eingesetzte Papier ist alterungsbeständig nach DIN/ISO 9706. Printed in the Federal Republic of Germany ISBN 978-3-05-005900-6 eISBN 978-3-05-006449-9

INHALT Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 1. Möglichkeit und Kontingenz. Zur Geschichte der philosophischen Terminologie vor Leibniz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 2. Zum Problem der Kontingenz bei Leibniz. Die beste der möglichen Welten 18 3. Glück durch Wissen. Zur Bestimmung des Philosophen durch Leibniz . . . . . . 42 4. Leibniz’ Arbeiten zu einer Reform der Kategorien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51 5. Demonstrationes Catholicae – Leibniz’ großer Plan. Ein rationales Friedensprojekt für Europa . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 82 6. Die Polaritäten des Einen und des Vielen im Begriff der Monade . . . . . . . . . . . . . 95 7. Gedanken zu den Philosophischen Schriften (AA VI,4) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 110 8. Schwierigkeiten mit dem Körper. Leibniz’ Weg zu den Phänomenen . . . . . . . 153 9. »De Affectibus«. Leibniz an der Schwelle zur Monadologie. Seine Vorarbeiten zum logischen Aufbau der möglichen Welten . . . . . . . . . . . . 170 10. Wurzeln und Austriebe des metaphysischen Rationalismus bei Leibniz . . . . . 206 11. Ein Plädoyer für Leibniz’ strenge Rationalität. Einspruch gegen die behauptete Gleichrangigkeit von sanfter und strenger Rationalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 218 12. Leibniz’ Konzeptualismus. Ein Programm . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 227 13. Perzeption und Harmonie. Das Viele im Einen, die Welt in der Monade . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 232 14. Leibniz: Fiktion und Wahrheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 255 15. Neues über Zeit und Raum bei Leibniz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 270 16. Ist unsere die beste der möglichen Welten? Was fordert Leibniz zur Affirmation seiner These? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 288 17. Der rationale Kern der Theodizee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 308 18. Die Natur des Subjekts und das Subjekt der Natur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 323 Verzeichnis der historischen Personen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 347 Quellennachweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 351

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VORWORT Die hier chronologisch zusammengestellten Stücke aus den letzten 50 Jahren gehen, mit einer Ausnahme (7.), auf Vorträge und deren Veröffentlichung zurück. Meist wurden sie noch überarbeitet, vor allem wurden die fremdsprachigen Zitate mit Übersetzungen versehen und die Stellennachweise aktualisiert, gelegentlich wurden die Originaltexte hinzugefügt. Wie der Titel es ausdrückt, stellen diese Stücke meine Wege dar, einen Zugang zu finden zu Leibniz’ von ihm weitgehend verborgener, erst aus den nachgelassenen Schriften zu rekonstruierender Metaphysik. Der direkte Bezug auf die Handschriften und deren Bearbeitung in der Akademie-Ausgabe ließ die Auseinandersetzung mit der Sekundärliteratur zurücktreten, wofür ich hiermit um Verständnis bitte. Ich bin dem Motto des Aristoteles gefolgt »Plato amicus, sed magis amica veritas«, wobei ich nicht beanspruche, die historische Wahrheit gefunden zu haben, wohl aber, mich redlich darum bemüht zu haben, sie zu finden und angemessen darzustellen. Mein Dank gilt den Vielen, die mir über die Jahre vielfach geholfen haben. Mein besonderer Dank gilt dem Akademie Verlag, vor allem Herrn Peter Heyl, der dieses Vorhaben – mich ermunternd – aufgegriffen und es bis zu seiner Fertigstellung begleitet hat. Im Folgenden steht »AA« mit Angabe der Reihen- und Bandzahl für die Ausgabe Gottfried Wilhelm Leibniz, Sämtliche Schriften und Briefe. In acht Reihen hrsg. von der Berlin-Brandenburgischen und der Göttinger Akademie der Wissenschaften. Vormals von der Preußischen und später der Deutschen Akademie der Wissenschaften, Berlin 1923 ff. Reihen II und VI (Philosophischer Briefwechsel und Philosophische Schriften), hrsg. von der Leibniz-Forschungsstelle der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. – »GP« steht für die 1875–1890 in Berlin erschienenen 7 Bände der Ausgabe von Carl Immanuel Gerhardt, Die philosophischen Schriften von Gottfried Wilhelm Leibniz, 1875–1890 (Nachdruck bei Georg Olms, Hildesheim 1965). – »Cout.« steht für Opuscules et fragments inédits de Leibniz. Extraits des manuscrits de la Bibliothèque royale de Hanovre, hrsg. von Louis Couturat, Paris 1903 (Nachdruck bei Georg Olms, Hildesheim 1961). – »Grua« steht für die Ausgabe: G. W. Leibniz, Textes inédits d’après les manuscrits de la Bibliothèque provinciale de Hanovre, hrsg. in 2 Bänden von Gaston Grua, Paris 1948. Mit »LH« wird hingewiesen auf Leibniz-Handschriften und mit »LBr« auf Leibniz-Briefe in der Gottfried Wilhelm Leibniz Bibliothek – Niedersächsischen Landesbibliothek in Hannover.

MÖGLICHKEIT UND KONTINGENZ ZUR GESCHICHTE

DER PHILOSOPHISCHEN

TERMINOLOGIE

VOR

LEIBNIZ

Ebenso1 wie ein Terminus verschiedene Begriffe beinhalten kann, kann auch ein und derselbe Begriff durch verschiedene Termini wiedergegeben werden. Der Interpret muss also beides lernen, Begriffe auseinanderzuhalten und Termini zusammenzubringen. Begriffe werden durch Definition, Termini dagegen durch Denomination gewonnen. Es ist also naheliegend, dass identische Definientia verschieden bezeichnet werden können, und dass ein und dieselbe Bezeichnung für verschiedene Definientia gebraucht wird. Die Geschichte der Philosophie liefert ein Arsenal von Beispielen, und ihre Historie führt einen Katalog von Fällen, in denen die Missachtung dieser Fundamentalunterscheidung Anlass zu schwerwiegenden Fehlinterpretationen gegeben hat. Auch die Termini possibile und contingens, deren Bedeutungswandel diese Studie verfolgen möchte, letztlich, um damit einen Zugang zur Terminologie der Metaphysik von Leibniz freizulegen, haben im Laufe der Geschichte verschiedene Begriffe beinhaltet, Verschiedenes bedeutet. Es hat zwar nicht an Versuchen gefehlt, diese Verschiedenheit der Bedeutungen durch neue Bezeichnungen, also terminologisch, zu fixieren. Viel häufiger haben wir es aber mit der Tatsache zu tun, dass sich die Bedeutung eines Terminus allmählich und unreflektiert wandelt. Es ist Aufgabe des Interpreten, jeweils genau diejenige Bedeutung, die ein Terminus in dem ihm vorliegenden Text hat, zu ermitteln und ihn in Beziehung zu den Termini und Begriffen zu setzen, in deren Kontext er erst seine Farbe und seinen eigentlichen Sinn erhält. Das fällt besonders schwer bei den geläufigen Termini, die der Autor seinen Zeitgenossen ohne Erläuterung zumuten konnte, die jedoch uns heutigen Interpreten, bei Vernachlässigung der Geschichte ihrer, diesen 1

Diese Studie lag einem Vortrag zugrunde, den der Verfasser im Mai 1962 vor der Ortssektion der Societa` Filosofica Italiana in Pisa gehalten hat, wurde gedruckt in Filosofia (Torino) 14/4, Suppl. (1963) 901–914 und zugleich als Studie e Ricerche di Storia della Filosofia. 55. Turin 1963. Sie wird hier leicht überarbeitet zur Diskussion gestellt.

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HEINRICH SCHEPERS

Zeitgenossen gegenwärtigen Bedeutungen, immer wieder ein Bein stellen, über das wir nur zu leicht stolpern, fataler Weise sogar ohne es selber zu merken. Gewiss, Untersuchungen dieser Art sind zunächst sehr trocken und haben nur eine helfende Funktion. Aber, recht betrieben, als Analyse der Termini und als Synthese, besser gesagt, Synopse der Begriffe, ist die Begriffsgeschichte eine Hilfswissenschaft, die wohl unentbehrlich ist für jeden, der sich ein genuines Verständnis der uns überlieferten Texte zu eigen machen will. Bekanntlich haben die Logiker des Mittelalters zur besseren Handhabung der von Aristoteles in der Hermeneutik und der Analytica priora gegebenen Regeln über die Äquivalenzen und Oppositionen der modalen Aussagen in perfekter Analogie zum Quadrat der Urteilsformen (I) das Oppositionsquadrat der modalen Aussagen gebildet (II):

Da diese beiden Quadrate bei den verschiedenen mittelalterlichen Autoren nur in unwesentlichen Punkten voneinander abweichen, wenigstens im Hinblick auf die Fragestellung dieser Studie, bleibt es ohne Belang, dass wir sie gerade in der Gestalt heranziehen, in der sie uns von Wilhelm von Shyreswood überliefert worden sind.2 Es kommt mir lediglich darauf an, festzustellen, dass in allen diesen 2

Wilhelm von Shyreswood, Introductiones in logicam, ed. Martin Grabmann

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Quadraten contingens synonym mit possibile gebraucht wird. Man kann mit Recht fragen, ob eine solche Doppelung der Benennung überhaupt einen Sinn hat. Konsequenterweise hat wohl deshalb ein so bedeutender Logiker wie Johannes Buridan in seinen Summulae auf die Modalität contingens verzichtet3 und möglicherweise bereits vor ihm hat das auch der Verfasser der Thomas von Aquin zu unrecht zugeschriebenen Summa totius logicae Aristotelis getan.4 Selbst Petrus Hispanus beruft sich, wenigstens an einer Stelle, ausdrücklich auf die Überflüssigkeit des contingens.5 Diese Logiker bilden jedoch eine Minderheit, der gegenüber das Gros der Schultradition unverändert das Modalitätenquadrat mit dem konvertiblen contingens festgehalten hat. In der modernen mathematischen Logik hat man einen neuen Ansatz gewählt. Man unterscheidet ausdrücklich die dem contingens und possibile entsprechenden Begriffe als konträre Gegensätze voneinander und gelangt so zu Analoga der Äquivalenzen: contingens est esse = possibile est non esse und umgekehrt: possibile est esse − contingens est non esse. Was zur Folge hat, dass einerseits dem necesse est esse die Äquivalenzen non contingens est esse und non possibile est non esse, und andererseits dem impossibile est esse die Äquivalenzen non contingens est non esse, aber non possibile est esse zugeordnet werden6 (III). Um eine bessere Übersicht, über die Äquivalenzen und Oppositionen des sogenannten modernen Schemas zu gewinnen, seien die Modalitäten possibile, contingens, impossibile, necessarium der Reihe nach durch die Buchstaben P, C, I, N symbolisiert und die Verneinung durch das Zeichen −. Ein Zeugnis für genau diese eingeschränkten, sagen wir modernen Begriffe von Kontingenz und Möglichkeit im Unterschied zu den antiken des Aristoteles finden wir bereits in den frühen Schriften und Aufzeichnungen von Leibniz und zwar mit eindeutiger Beziehung auf das Quadrat der Urteilsformen:7 Aus der Tatsache jedoch, dass sich bei Leibniz keinerlei Reflexionen über die Restriktionen von contingens und possibile nachweisen lassen, muss man darauf

(Sitz.-Ber. d. Bayerischen Akad. der Wiss., Philos.-hist. Abt., Jg. 1937, Heft 10), München 1937, pp. 36, 45. 3 Vgl. C. Prantl, Geschichte der Logik im Abendlande, Bd. IV, pp. 22 sq., Anm. 87 und 88. In Anmerkung 87 ist in der dritten Zeile statt Socr. possibile est currere zu lesen Socr. non possibile est non currere. 4 S. Thomae Aquinatis Opuscula omnia, ed. P. Mandonnet, tom. V (Opuscula spuria), Paris 1927, p. 95 (s. unten Anm. 33). 5 Petrus Hispanus, Summulae logicales, ed. J. M. Bochenski, Turin 1947, 1.35: Et sciendum est quod in praedicta regula non fit mentio de contingente, eo quod contingens convertitur cum possibili. 6 Vgl. J. M. Bochenski – A. Menne, Grundriss der Logistik, Paderborn 1954, § 24. 7 Elementa juris naturalis, AA VI,1 (Darmstadt 1930) S. 466, vgl. S. 481.

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schließen, dass diese Restriktionen eine latente Vorgeschichte haben. Da es nun sehr mühsam wäre, die Reihe der Vorgänger von Leibniz bezüglich der restringierten Bedeutung dieser Termini durchzugehen, vor allem aber, weil ein solches Verfahren methodisch verfehlt wäre, werde ich versuchen, die Geschichte der Modalitäten von ihren Anfängen her in den Griff zu bekommen und zwar mit besonderer Berücksichtigung des modernen Kontingenzbegriffes, der uns jedoch, wie wir sehen werden, bereits bei einem Autor aus dem 12. Jahrhundert begegnet. Der Modallogik des Aristoteles liegen zwei sorgfältig voneinander zu unterscheidende Möglichkeitsbegriffe zugrunde, der Möglichkeitsbegriff der Hermeneutik und derjenige der Analytica priora. Das ist das gut fundierte Ergebnis der grundlegenden Abhandlungen von Albrecht Becker8 eines Schülers von Heinrich Scholz, und der darauf aufbauenden Untersuchungen von P. Bochenski.9 In der Hermeneutik definiert Aristoteles »möglich (ενδεχο µενον) ist alles das, was nicht unmöglich ist«; in der Analytica priora verschärft er die Definition: »möglich ist das, was nicht unmöglich und nicht notwendig ist«.10 Das heisst, der Möglichkeitsbegriff der Hermeneutik ist dadurch charakterisiert, dass er die Notwendigkeit mitumfasst und nur die Unmöglichkeit ausschließt; der Möglichkeitsbegriff der Analytik dagegen dadurch, dass Unmöglichkeit und Notwendigkeit ausdrücklich ausgeschlossen werden. 8 Albrecht Becker, Die Aristotelische Theorie der Möglichkeitsschlüsse, Berlin 1933 und Die Vorgeschichte des philosophischen Terminus ‘contingens’. (Quellen und Studien zur Gesch. u. Kultur des Altertums und des Mittelalters, Heft D, 7), Heidelberg 1938. 9 J. M. Bochenski, Notes historiques sur les propositions modales (Revue des Sciences Philos. et Theol., vol. 26, 1937, pp. 673–692) und La logique de The´ophraste (Collectanea Friburgensia, Nouvelle Serie, Fasc. 32), Fribourg 1947. 10 Aristoteles, Herm. 13, 22 a 14 – b 28 bzw. Anal. pr. I, 13, 32 a 18–20.

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Die von Aristoteles begründete und zu höchster Blüte gebrachte Theorie der modalen Schlüsse basierte ausschließlich auf dem Möglichkeitsbegriff der Analytik. Sein Schüler und Nachfolger im Lykeion, Theophrast hat jedoch den (offenbar von Aristoteles verworfenen) Möglichkeitsbegriff seiner eigenen, von der aristotelischen wesentlich abweichenden Modallogik zugrunde gelegt.11 Bemerkenswert ist, dass in der modalen Syllogistik des Mittelalters die Regel gilt, dass die Conclusio stets der schwächeren Prämisse zu folgen habe, eine Regel, die erst Theophrast von der assertorischen Syllogistik des Aristoteles auf die modale Schlusslehre übertragen hatte, so dass also nicht Aristoteles, sondern Theophrast ihr Ahnherr ist. Das ενδε χεσθαι der Aristotelischen Hermeneutik wurde von Marius Victorinus († um 360) bei seiner Übersetzung dieser Schrift mit contingere wiedergegeben. Das hatte zur Folge, dass wir in den Kommentaren des Boethius zur Hermeneutik des Aristoteles, die die Victorinische Übersetzung zugrunde legen, nunmehr drei Bedeutungen von contingens auseinanderhalten müssen. Denn zum einen begegnen uns in diesen Kommentaren unter dem Namen contingens sowohl der Kontingenzbegriff der Hermeneutik als auch der der Analytica priora, zum andern wird contingere von Boethius, mit Selbstverständlichkeit dem Gebrauch des klassischen Lateins folgend, im Sinne von accidere, evenire, also von Zutreffen angewandt, denn Marius Victorinus übersetzte naheliegenderweise auch das συµβαι νειν des Aristotelischen Textes mit contingere. Boethius gebraucht diesen Terminus später in seiner Consolatio philosophiae sogar nur noch in der klassischen Bedeutung und zwar sowohl bei dem mit Notwendigkeit als auch bei dem nicht mit Notwendigkeit Zutreffenden.12 Mit einer einfachen Symbolisierung lassen sich diese drei Bedeutungsvarianten leicht auseinanderhalten. Denken wir uns die Gesamtheit der Modalitäten in einem viergeteilten Kreis untergebracht, und zwar so in den vier numerierten Sektoren untergebracht, dass dem Sektor 4 das necesse, dem Sektor 3 das impossibile entspricht, und dass in Analogie zu den Oppositionsquadraten (vgl. II und III) die Sektoren 1 das non-impossibile, 2 dagegen das non-necesse umfassen. Dann können wir, symbolisiert durch die Nummern der Sektoren, unterscheiden: erstens das contingens der Hermeneutik als C1.2.4, zweitens das contingens der

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Das hat P. I. M. Bochenski (La logique de Theophraste, p. 102) Anlass gegeben, die bisher in der Aristotelesforschung anerkannte Priorität der Hermeneutik (mindestens die des 13. Kapitels) vor der Analytica priora anzuzweifeln. Sollte man nicht eher vermuten, dass Theophrast einen Standpunkt festgehalten und weiter ausgebaut hat, den sein Lehrer Aristoteles bereits verlassen hatte? Spräche dafür nicht auch die enge Anlehnung seiner Modallogik an die assertorische Syllogistik seines Meisters? 12 Vgl. A. Becker, Die Vorgeschichte, pp. 70–72.

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Analytica priora als C1.2 und drittens das klassische contingens, wie es uns in der Consolatio philosophiae begegnet, als C2.4. Die Schriften des Boethius bieten jedoch keinen Anhalt dafür, dass dieser C1.2 und C1.2.4 bewusst voneinander unterschieden hat.13 Eine solche, bewusste Unterscheidung dieser beiden Kontingenzbegriffe findet sich wohl erst in dem 1159 verfassten Metalogicon des Johannes von Salisbury, einem Schüler Abaelards, verbunden mit einer Ablehnung ihrer Bedeutungen unter ausdrücklicher Berufung auf die Bedeutung, die contingens inzwischen im allgemeinen Sprachgebrauch bekommen hat. Denn so würde, sagt er, weder dasjenige genannt, was bloß nicht unmöglich wäre (C1.2.4) noch dasjenige, was als nicht unmöglich und nicht notwendig hinreichend bezeichnet wäre (C1.2), sondern dasjenige, was zuweilen − d. h. nicht notwendigerweise − tatsächlich vorkommt, also auch nicht C2.4, sondern nur C2. Man könnte zwar sagen: es ist möglich, dass die Äthiopier weiß werden, oder es ist möglich, dass die Schwäne schwarz werden. Man könnte aber nicht sagen: es ist kontingent, dass die Äthiopier weiß werden oder es ist kontingent, dass die Schwäne schwarz werden.14 Wer so sprechen wollte, könnte sich zwar auf Aristoteles berufen, könnte aber nicht verhindern, dass man ihn für verrückt oder wenigstens für nicht ganz nüchtern hält. Der Usus, bei dem die Herrschaft, das Recht und die Norm des Sprechens liege, wie Johannes von Salisbury, Horaz zitierend, sagt, sei eben mächtiger als Aristoteles im Aufwerten oder Abwerten der Bedeutungen. Und dann prägt er ein Wort, das, übertragen, als Motto der begriffsgeschichtlichen Forschung dienen kann: artes scire non est scriptorum verba revolvere, sed nosse vim earum atque sententias.15 Wie aus dem von Johannes von Salisbury gewählten Beispiel deutlich wird, bezeichnet contingens im 12. Jahrhundert also in erster Linie das, was tatsächlich, wenngleich nicht mit Notwendigkeit, zutrifft; possibile dagegen das, was zutreffen kann. Und damit erhält contingens, soweit ich sehe zum ersten Mal, seine am stärksten eingeengte Bedeutung, die in unserer schematischen Darstellung einem neuen, dem modernen Typus C2 entspricht.16 Etwa 100 Jahre später, um die Mitte des 13. Jahrhunderts,

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Vgl. A. Becker, l.c. pp. 18, 32, 72. Man muss zugeben, dass Wilhelm von Shyreswood noch nicht wissen konnte, dass es in Australien schwarze Schwäne gab, und dass sie in der Zukunft sogar im Wappen Australiens prangen würden. 15 Johannes von Salisbury, Metalogicon libri quattuor, lib. III, cap. IV, 901–902, ed. C. C. I. Webb, Oxford 1929, pp. 137–139. (Vgl. A. Becker, l.c. pp. 75–78). 16 Ohne sogleich sprachphilosophische Konsequenzen daraus ziehen zu wollen, möchte ich auf die bemerkenswerte Konvergenz hinweisen, die in C2 zum Ausdruck 14

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beruft sich ebenfalls Roger Bacon in seinen Summulae dialectices auf den Sprachgebrauch seiner Zeit, wenn er sagt: Omnes enim concedunt quod Deum esse est possibile, non tamen quod Deum esse est contingens. Denn contingens drücke aus, dass etwas sich auch anders verhalten kann, d.h. es drücke in diesem Satz aus, dass es möglich ist, dass Gott nicht ist, was aber bedeuten würde: es ist nicht notwendig, dass Gott ist.17 Mit dieser aus dem falschen Gebrauch von contingens zu folgernden Absurdität unterstreicht Bacon besonders deutlich den von seinem Landsmann Johannes von Salisbury bereits hervorgehobenen Bedeutungswandel dieses Ausdruckes. Diese Stelle findet sich im Zusammenhang einer für uns ausserordentlich aufschlussreichen Aufzählung der verschiedenen geläufigen Bedeutungen von contingens und possibile. Aufschlussreich deshalb, weil wir hier zum ersten Mal mit aller wünschenswerten Deutlichkeit die von uns gesuchten Definitionen finden: Contingens uno modo comprehendit omnem propositionem, quae non est impossibilis sive sit necessaria, sive non (womit Bacon offenbar die Definition des C1.2.4 gibt); alio modo [contingens] est oppositum necessario, secundum quod dicimus: verorum aliud necessarium aliud contingens, und damit definiert Bacon ja ohne jeden Zweifel das C2. Das wird noch deutlicher, wenn Bacon, nachdem er das possibile primo modo, unter ausdrücklicher Berufung auf die Hermeneutik und die Analytica priora als konvertibel mit contingens, also als P1.2.4 definiert, ein alio modo possibile als oppositum impossibilis einführt, secundum quod dicimus, falsorum aliud possibile aliud impossibile, et isto modo se habet ad falsitatem sicut contingens secundo modo ad veritatem. Und jeglicher Zweifel darüber, dass es sich unserer Symbolisierung gemäß um ein P1 handelt, wird beseitigt dadurch, dass er noch hinzusetzt: Dicitur possibile propter veritatem, quam nondum habet et potest habere, contingens propter veritatem, quam habet et potest amittere.18 Wenn auch Bacon die Konvertibilität des possibile

kommt. Denn dem C2 entspricht genau der Sektor, in dem sich die drei früheren Bedeutungen von contingens überlagern, d. .h. genau der Sektor mit der größten Bedeutungsdichte. Mengentheoretisch ausgedrückt gilt: C2.4 + C1.2 = C1.2.4 (logische Summe, Vereinigung) C2.4 • C1.2.4 • C2.4 = C2 (logisches Produkt, Durchschnitt). Wenn etwas kontingent genannt wird im Sinne von C2, so ist es also auch Kontingent in jeder der bisherigen Bedeutungen; aber nicht umgekehrt. Wahrend also der zulässige Schluss vom modernen Kontingenzbegriff auf einen der drei anderen überlieferten Begriffe die Identität mit ihnen vortäuscht, zeigt die nicht zulässige Umkehrung, wie wichtig es ist, genau zu unterscheiden, in welchem Sinn dieser Terminus in dem jeweils zu interpretierenden Text zu verstehen ist. 17 Roger Bacon, Opera hactenus inedita, Ed. R. Steele, fasc. XV, Oxford 1940, p. 266. 18 L.c. pp. 266–267.

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primo modo und des contingens primo modo anerkennt, so macht er doch mit seinem oben zitierten Beispiel Deum esse est possibile deutlich, dass der Sprachgebrauch seiner Zeit diesen, die Möglichkeit und die Notwendigkeit mitumgreifenden Sinn wohl mit dem Wort possibile verbindet, nicht dagegen mit dem Wort contingens. Nicht weniger bemerkenswert ist, dass Bacon dem possibile secundo modo genau den engen, von uns mit P1 bezeichneten Bedeutungsbereich zuweist, den die Möglichkeit im modernen Quadrat der Modalitäten hat. Bacon stand damit jedoch nicht allein, wie Metaphysik-Kommentare des hl. Albertus Magnus und des hl. Thomas von Aquino (beide etwa 1268–70 verfasst) zeigen. Beide unterscheiden darin in enger Anlehnung an den Aristotelestext drei Bedeutungen von possibile. Albert kommentiert: Possibile igitur sive potens uno quidem modo, sicut dictum est, dicitur illud quod quidem non significat falsum, sed verum non ex necessitate (was genau C2 entsprechen würde). Alio autem modo dicitur possibile, quod quidem est falsum, sed tum ex necessitate (womit Albert genau Bacons possibile secundo modo, also P1, trifft). Und die dritte Bestimmung schließlich lautet: Tertio modo [possibile] dicitur, quod est contingens verum, et hoc est, quod se habet (zu ergänzen ist aeque) ad verum et falsum.19 Mit dieser Erklärung zielt Albert offenbar auf das contingens ad utrumlibet,20 also auf C1.2. Die analoge Paraphrase dieser Stelle bei Thomas bringt die beiden ersten Glieder dieser Dreiheit, wenn auch unter Vertauschung ihrer Reihenfolge, so doch mit Beibehaltung der Bedeutungen. Sie weicht aber bei dem dritten Glied erheblich von Alberts Kommentierung ab. Thomas erklärt nämlich: Tertio modo possibile dicitur, quod non sit verum (also quod sit falsum), tamen contingit in proximo verum esse.21 Anstatt wie Albert auf das contingens ad utrumlibet Bezug zu nehmen, restringiert Thomas also zunächst mit der Bestimmung quod non sit verum die Möglichkeit auf den Sektor P1 um dann mit der weiteren Bestimmung contingit in proximo verum esse innerhalb dieses Sektors die bloßen Möglichkeiten von denjenigen Möglichkeiten zu unterscheiden, die eine Tendenz zur 19

Albertus Magnus, Metaphysica, lib. 5, tract. 2, cap. 15, ed. B. Geyer, Opera omnia, Tom. XVI, 1, Münster 1959, p. 253, 41–47. 20 Vgl. Albertus Magnus, Comm. in lib. II. Peri hermeneias, tract. II, cap. 6, ed. A. Borgnet, vol. I, Paris 1890, p. 452 b: Si autem causa est indisposita et non inclinata ad unum plus quam ad aliud, dicitur contingens ad utrumlibet. 21 Vgl. Thomas von Aquino, In Metaphysicam Aristotelis commentaria, ed. Fr. M.-R. Cathala, ed. tertia. Turin 1935, 973: Dicitur enim uno modo possibile quod falsum est, sed non ex necessitate: sicut hominem sedere dum non sedet, quia ejus oppositum non est verum ex necessitate. Alio modo dicitur possibile [die Editionen Frette (Vives) und Cathala drucken hier versehentlich impossibile] quod est verum, sed non de necessitate, quia ejus Oppositum non est falsum de necessitate, sicut Socratem sedere dum sedet. Tertio modo . . .

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Verwirklichung haben, denen es kontingent ist, in Zukunft verwirklicht zu werden. Damit stoßen wir auf ein weiteres Moment, das in der Theorie der Modalitäten von Bedeutung ist: auf den in den Modalaussagen mitausgesagten Bezug auf die Zeit. Wir werden sogleich darauf zurückkommen. Zunächst wollen wir uns den Text ansehen, der den eben herangezogenen Kommentaren des hl. Albert und des hl. Thomas zugrunde liegt. Dabei stellen wir fest, dass dieser auch eine andere Interpretation zugelassen hätte. Er lautet nämlich in der unseren Scholastikern vorliegenden, wörtlichen Übersetzung des Wilhelm von Moerbecke Ergo possibile uno quidem modo, sicut dictum est, quod non ex necessitate falsum, significat, alio vero verum esse, alio contingens verum jam,22 und man sieht, dass diesen drei ursprünglichen Bestimmungen offenbar P15 C2.4 und C2 entsprechen. Gemeinsam ist diesen Texten von Aristoteles, Albert und Thomas also nur die Erklärung der eingeschränkten, blossen Möglichkeit (P1). Der zweiten der von Aristoteles gegebenen Bestimmungen jedoch, die offenbar auf C24 abzielte, dem wir bereits bei Boethius begegnet sind, scheint in der Terminologie des Hochmittelalters kein mit possibile oder contingens wiederzugebendes sprachliches Äquivalent entsprochen zu haben. Daher konnte diese Bestimmung wohl von beiden Autoren im Sinne von C1 durch das sed non ex necessitate ergänzt werden. Die dritte Bestimmung contingens verum schließlich, die bereits unserem C2 entsprechen würde, musste von beiden, da diese Deutung von Albert schon für die Interpretation der ersten, von Thomas für die der zweiten der drei Aristotelischen Bestimmungen herangezogen worden war, auf neue Weise interpretiert werden. Albert entschied sich also für das ihm aus der Analytica priora bekannte contingens ad utrumlibet, während Thomas, wie wir sahen, in seiner Interpretation auf den von seinem Lehrer in anderem Zusammenhang bereits betonten Bezug der Modalitäten auf die Zeit zurückgriff. Wiederum war es Roger Bacon, der darauf aufmerksam machte, dass die durch Vertauschung von contingens gegen possibile sich ergebenden Sätze bei gleicher Supposition zu verschiedenen Zeiten wahr sein können. Der Satz te esse episcopum est possibile sei nämlich wahr bevor der Angeredete Bischof ist, denn er sagt nur, dass dieser Bischof werden kann. Ist er aber bereits Bischof, dann sei der Satz wahr te esse episcopum est contingens, womit also gesagt sein soll, dass er zwar Bischof ist, dass es aber möglich ist, dass er nicht Bischof geworden wäre.23 Diese Bezugnahme auf die in den Modalaussagen enthaltene 22

Wilhelm von Moerbecke, Metaphysica V, 12, 1019 b 32, zitiert nach dem Abdruck in der Ausgabe der Metaphysica des Albertus Magnus, ed. Geyer, p. 253, 84–86. Zusammengenommen geben diese drei Bestimmungen eigentlich nur eine andere Aufgliederung der dem Möglichkeitsbegriff eigenen Bedeutungsbreite; mengentheoretisch ausgedrückt: P1+ C2.4+ C2 = P1.2.4 = C1.2.4

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consignificatio temporis diskutiert Albertus Magnus, den Roger Bacon während seiner Studienzeit in Paris persönlich kennengelernt hatte,24 in seinem Hermeneutik-Kommentar. Albert sieht den Zeitbezug darin, dass die Modalitäten possibile und contingens die Gegenwart in die Zukunft hinein erweitern, während die Modalitäten necessarium und impossibile bewirken, dass die Geltung der Aussage sich über alle Zeit erstreckt.25 Ausdrücklich polemisiert Albert gegen einige Logiker, die behaupten, dass zwar das Kontingent-Sein eine Erweiterung der Gegenwart in die Zukunft aussagt, das Möglich-Sein aber nicht, mit dem Hinweis darauf, dass auch das Mögliche sich vor seiner Verwirklichung in die Zukunft erstreckt.26 Wenn er diese Beziehung auch nicht umkehrt, wie wir es nach den bisher diskutierten Bedeutungen von possibile und contingens im Sprachgebrauch der Zeit erwarten dürften, d.h. wenn er auch nicht behauptet, dass nur das Möglich-Sein, nicht aber das Kontingent-Sein in die Zukunft weist, weil es bereits wirklich Gewordenes bezeichnet, so wehrt er damit doch eine bestimmte Bedeutung des Terminus contingens ab, diejenige nämlich, die von denjenigen Philosophen festgehalten wird, die, wohl in Anlehnung an Boethius, die kontingenten Sätze definieren als propositiones, quam cum non sint, eas tamen in futurum evenire possibile est,27 und die damit eigentlich nur das erfassen, was dem Mittelalter − und auch Albert selbst − unter dem Terminus contingens futurum geläufig ist. Ich muss es mir versagen, hier auf die außerordentlich komplexe Problematik, die seit Aristoteles mit diesem Begriff verbunden ist und die im Mittelalter bekanntlich zu Parteistellungen und heftigen Auseinandersetzungen Anlass gegeben hat, auch nur beiläufig einzugehen.28 Kehren wir noch einmal zu Roger Bacon zurück. In seiner 23

Roger Bacon, Summulae logicales, p. 267: possibile et contingens sic sumpta habent eandem supposicionem, pro diversis tamen temporibus eorum predicacionem recipientem, ut te esse episcopum est possibile antequam sis episcopus, te autem existente episcopo est contingens. 24 Vgl. Überweg-Geyer, 11. Aufl., Berlin 1927, p. 466. 25 Albertus Magnus, Tract. II, cap. 1, ed. cit. p. 440 a, b: Quatuor enim primi illorum modorum (sc. possibile, contingens, necessarium et impossibile) compositionem (quae consignificat tempus) ampliant extra tempus praesens. Possibile enim et contingens ampliant praesens ad futurum, et ad esse, et ad non esse: quia contingens est futurum, et potest esse et non esse. Necessarium autem et impossibile ampliant compositionem ad omne tempus: quia necessarium et impossibile ponunt compositionem in omne tempus: et ideo illi sunt modi speciales facientes totam enuntiationem modalem, necessarium simpliciter omni tempore inesse, et impossibile simpliciter nunquam inesse. 26 L. c. cap. 6, p. 452 a,b: non est verum quod quidam dicunt, quod contingens differat a possibili in hoc, quod contingens dicat extensionem temporis in futurum, et possibile non dicat illud: possibile enim ante actum acceptum extenditur in futurum. 27 Boethius, Commentaria in librum Aristotelis περι εë ρµενει ασ, ed. C. Meiser, I (Prima Editio), Leipzig 1877, p. 105 sq.

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Aufzählung der verschiedenen Bedeutungen der Termini contingens und possibile habe ich bisher übergangen, dass das contingens secundo modo (analogerweise auch das possibile secundo modo) noch dreifach unterteilt ist. Es kann sein: erstens ein contingens ad utrumlibet, sive aequale, sive infinitum (besser von anderen Autoren contingens indefinitum genannt), das in des Menschen freiem Willen liegt, wie z.B. te sedere contingens est; oder zweitens ein contingens natum, d.h. nicht im freien Willen liegend, sondern in der Natur der Sache, und dieses wird unterteilt in ein contingens ut in pluribus, nämlich das der Regel entsprechende, wie z.B. homines canescere in senectutem contingens est, und in ein contingens ut in paucioribus, nämlich das durch Zufall Geschehende, wie z.B. fodientes invenire thesaurum contingens est.29 Die Quelle für diese, in den Handbüchern der Schullogik tradierten contingentia specialia (so genannt zur Unterscheidung von dem contingens commune, das der Möglichkeit und der Notwendigkeit gemeinsam ist), ist bekanntlich bei Aristoteles zu finden.30 Zu beachten ist jedoch die verschiedene Beurteilung, die diese contingentia specialia in Bezug auf die von uns dargestellten verschiedenen Bedeutungen des Kontingenzbegriffes gefunden haben. Roger Bacon legt den Akzent auf das wirkliche Zutreffen und ordnet die speziellen Kontingenzen daher eindeutig unserem C2 zu, während er dem Modalitätenquadrat, gemäss der Lehrtradition, das C1.2.4 zugrundelegt. Albertus Magnus dagegen weist (in einem Kontext, der allerdings noch manche Schwierigkeiten enthält, die möglicherweise bereits durch die von B. Geyer in Angriff genommene kritische Edition behoben werden) dem contingens natum sowie dem contingens ad utrumlibet (das bei Bacon wohlgemerkt nicht zu finden ist) die Merkmale unseres C1.2 zu und beweist formal, warum im Quadrat der Modalitäten nicht auch diese beiden Begriffe, sondern nur das contingens commune, also nur das C1.2.4, zugelassen werden dürfen.31 Viele Autoren, die sich ausschließlich auf das klassische Modalitätenquadrat stützen oder auf die seit Petrus Hispanus mit ihm verbundenen Merkworte: Purpurea, Amabimus, Edentuli, Iliace, geben uns damit also ein hinreichendes Kriterium dafür an die Hand, dass der von ihnen gebrauchte Kontingenzbegriff mit C2.4 identisch ist. Diese Autoren treiben demnach Modallogik im Sinne von Theophrast. 28

Vgl. Ph. Boehner, The Tractatus de praedestinatione et de praescientia Dei et de futuris contingentibus of William Ockham (Franciscan Institute Publications, No. 2), St. Bonaventure, N.Y. 1945, pp. 43–88; und L. Baudry, La Querelle des futurs contingents (Louvain 1465–1475). Textes ine´dits. (E´tudes de Philosophie me´die´vale, fasc. XXXVIII), Paris 1950. 29 Roger Bacon, Summulae logicales, p. 266. 30 Anal. pr. I, 13 32 b 4–22. Eine Stelle, die im weiteren Verlauf der Analytik nirgends berücksichtigt wird und daher von P. Gohlke (Aristoteles, Erste Analytik, Paderborn 1953, Einl. p. 9) als Interpolation angesehen wird. 31 L. c., cap. 5, pp. 448a–451a.

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Man darf jedoch nicht annehmen, dass das Mittelalter die Modallogik ausschließlich im Sinne von Theophrast getrieben hat. Denn das würde bedeuten, dass der Text der Analytica priora, aus dem C1.2 und letztlich auch C2 hervorgegangen sind, im Mittelalter gar keine oder nur eine verwirrende Wirkung gehabt hat. Erstens wurden mit Hilfe der hier nicht zu erörternden Unterscheidungen des sensus divisus und sensus compositus, der Modalitäten de re und de dicto und vieler anderer mehr, die von Aristoteles entwickelten Modalschlüsse diskutiert und weitergebildet; und zweitens haben Logiker wie Ockham präzise Theorien sowohl über diejenigen modalen Schlüsse aufgebaut, in denen ein C1.2.4 bzw. P1.2.4 vorkommt, das bei ihm possibile heisst, als auch über diejenigen Schlüsse, in denen ein C1.2 erscheint, für das Ockham den Terminus contingens ausdrücklich reserviert.32 Allerdings gibt es auch eine Ausnahme in der Beschreibung des Modalitätenquadrates, nämlich im 13. Kapitel der Summa totius logicae Aristotelis des Pseudo-Thomas. Dieser Autor betont, als einziger soweit ich sehen kann, dass, wenn auch dem contingens im Quadrat die Konvertibilität mit possibile zukommt, so doch beiden Begriffen − in unserem Schema ausgedrückt − zusammen nicht mehr als ein Sektor zuzuweisen ist, nämlich derjenige, der genau unserem P1 entspricht.33 Diese Behauptung könnte die bisherige Interpretation der Modallogik des Mittelalters sprengen, wenn ihre Basis nicht so schmal und noch so wenig in der handschriftlichen Überlieferung gesichert wäre. Die Theorie der modalen Schlüsse ist im Hoch- und Spätmittelalter zu verwirrender Blüte gebracht worden. P. Bochenski weist darauf hin, dass allein Duns Scotus etwa dreihundert gültige modale Syllogismen bringt und Ockham sogar nicht weniger als etwa tausend.34 Damit wird verständlich, dass mit dem Niedergang der scholastischen Bildung auch diese überentwickelte Theorie in Verruf und später in Vergessenheit geraten ist und dass mit dem Wegfall dieser als Organon

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Wilhelm Ockham, Summa logicae, ed. Ph. Boehner (Franciscan Institute Publications, Text Series, No. 2), St. Bonaventure, N.Y. – Louvain – Paderborn 1951–54, pars II, cap. 27: in isto capitulo accipiendum est semper ‘contingens’ pro ‘contingenti ad utrumlibet’, ut illa sola propositio dicatur contingens, quae nec est necessaria nec impossibilis; pars III,1, cap. 23: accipio hic ‘possibile’ pro possibili quod est commune omni propositioni quae non est impossibilis. Vgl. ferner II, cap. 25 und III, 1, cap. 26. 33 Ed. cit., p. 95: Notandum, quod possibile dupliciter potest sumi: vel in toto suo significato, et tunc comprehendit necessarium et contingens: et sic quod necesse est esse, possibile est esse: et quod contingens est esse, possibile est esse. Alio modo sumitur solum pro contingenti; et sic sumitur in istis oppositionibus. Unde, licet quatuor sint enuntiationes modales, tres tamen earum faciunt diversitatem in oppositionibus et aequipolentiis; quia illa de contingenti et illa de possibili pro eodem sumuntur. 34 Vgl. J. M. Bochenski, Notes historiques, pp. 690–692.

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unhandlich gewordenen Theorie auch die Forderung entfiel, das Quadrat der Modalitäten in seiner traditionellen, durch das konvertible contingens charakterisierten Gestalt zu belassen. So finden wir z.B. bei Joachim Jungius, dem Autor der berühmten Logica Hamburgensis, das possibile im Quadrat der Modalitäten im strengen Sinn unseres P1 und folglich als konträren Gegensatz dazu das nonnecesse, das unserem C2 entspricht. Die Modalität contingens selbst dagegen wird von den übrigen, sogenannt einfachen Modalitäten, denen jeweils nur ein Sektor in unserem Schema entspricht, ausdrücklich als modus compositus unterschieden, dem beide unteren Sektoren zusammengenommen entsprechen (also unser C1.2) und der als solcher daher nicht homogen im Quadrat unterzubringen ist.35 Es braucht uns also nicht zu überraschen, dass Leibniz die Diskrepanz zwischen seinen Modalschemata und dem klassischen Quadrat der Modalitäten nicht gestört hat, ja man darf annehmen, dass er sie nicht einmal bemerkt hat. Darüberhinaus hat der Leibnizische Kontingenzbegriff aber eine zweite Wurzel, die mindestens bis ins 13. Jahrhundert reicht. Ich meine die Lehrtradition über die Einteilung der Sätze. Sobald uns in den ersten Werken von Leibniz begegnet, verdient sie unsere ganze Aufmerksamkeit, weil sie bereits von den Termini contingens und possibile im Sinne unseres C2, beziehungsweise P1 Gebrauch macht. Er teilt die Sätze in wahre und falsche, determinierte und indeterminierte ein. Von den determinierten würden die wahren notwendige Sätze, die falschen unmögliche Sätze genahnt, von den indeterminierten dagegen die wahren kontingente, die falschen aber mögliche Sätze.36 Die vollkommene Übereinstimmung mit dem modernen Schema ist unmittelbar einzusehen. Auch hier bietet Roger Bacon − den wir als Kronzeugen unsere Ausführungen haben heranziehen können – einen Text von größßter Bedeutung. Bacon gibt hier, wenngleich in anderer Terminologie, genau dieselbe Einteilung, wenn er einerseits den notwendigen Aussagen eine unfehlbare Wahrheit, den unmöglichen dagegen eine unfehlbare Falschheit und andererseits den möglichen Aussagen eine fehlbare Falschheit und den kontingenten eine fehlbare Wahrheit zuschreibt. Demnach sind kontingent, in vollkommener Übereinstimmung mit unserem C2, alle die Aussagen, die wahr sind, aber falsch werden können, und, ebenso in Übereinstimmung mit unserem P1, nennt er diejenigen Aussagen möglich, die falsch sind, aber wahr werden können.37 Man behalte die 35

Joachim Jungius, Logica Hamburgensis (1638), lib. II, cap. XII, ed. R. W. Meyer, Hamburg 1957, pp. 94–97. 36 Specimen certitudinis seu demonstrationum in Jure (1669), def. 45–48; AA VI,1 S. 398: Deinde iterum ratione Qualitatis propositio dividitur in veram et falsam, determinatam et indeterminatam, et vera determinata dicitur necessaria, falsa determinata impossibilis . . . Vera indeterminata contingens, falsa indeterminata possibilis. 37 Roger Bacon, Summulae logicales, p. 256: Si autem addat aliquam qualitatem

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fundamentale Beziehung im Auge, die zwischen Wahrheit und Sein, Falschheit und Nichtsein besteht, d.h. zwischen dem logischen und dem ontologischen Aspekt der Modalitäten. In einer anderen, aber mit der von Bacon völlig kongruenten Terminologie lässt sich diese Einteilung der Aussagen bereits bei Wilhelm von Shyreswood nachweisen, den Bacon weit über Albertus Magnus stellte.38 Dieser unterscheidet Aussagen, die per se von solchen, die per accidens notwendig oder unmöglich sind. Dabei entsprechen augenscheinlich einerseits dem necesse per se das verum infallibile, dem necesse per accidens das verum fallibile (C2), andererseits dem impossibile per se das falsum infallibile, dem impossibile per accidens das falsum fallibile (P1).39 Wenn auch mit irrelevanten Abweichungen in der Terminologie, so doch mit eindeutiger Konstanz der Bedeutungen hat sich diese Einteilung der Aussagen, mindestens in der deutschen Schulphilosophie, bis ins 18. Jahrhundert gehalten. Wir brauchen nur auf Conrad Dieterich,40 Johannes Clauberg41 und schließlich auf Leibniz’ Lehrer an der Leipziger Universität, Jakob Thomasius,42 hinzuweisen. Daher brauchen wir uns auch nicht zu verwundern, dass Leibniz diese Einteilung und die zugehörigen Definitionen seit seiner Studienzeit mit unreflektierter Selbstverständlichkeit bringt, was wir erst recht nicht mehr brauchen, nachdem wir uns vor Augen geführt haben, wie es historisch zu begründen ist, dass Leibniz dem Kontingenzbegriff im Quadrat der Modalitäten den modernen Platz anweisen konnte. super composicionem, tunc indubitanter facit proposicionem modalem. Et hoc contingit dupliciter; aut addit veritatem simpliciter, aut falsitatem simpliciter, et sic ista verum, falsum, vere, falso, aut veritatem vel falsitatem contractam. Si vero sit veritas contracta, aut est veritas infallibilis, et hec est necessitas, aut veritas fallibilis, et hec est contingens. Et sic alii.iiij. modi, scilicet necessarium, contingens, necessario, contingenter. Si vero sit falsitas contracta, aut igitur fallibilis est, et sic possibilitas, aut infallibilis, et sic inpossibilitas. 38 Vgl. M. Grabmann, Die Introductiones in logicam des Wilhelm von Shyreswood, ed. cit., p. 14. 39 Introductiones in logicam, p. 41: Et sciendum, quod impossibile dicitur duobus modis, uno modo, quod non potest nec poterit nec potuit esse verum et est impossibile per se ut: homo est asinus. Alio modo, quod non potest nec poterit esse verum, potuit tamen, ut cum dicam: ego non ambulavi et est impossibile per accidens. Et similiter dicitur necessarium per se, quod non potest nec potuit nec poterit esse falsum ut deus est. Necessarium autem per accidens est, quod non potest nec poterit esse falsum, potuit tamen ut: ego ambulavi. 40 Vgl. Conrad Dieterich, Institutiones Dialecticae, lib. II, cap. III, ed. nona, Giessen 1623, pp. 253–261. 41 Vgl. Johannes Clauberg Logica contracta, art. 165 sq., ed. tertia (anonym erschienen); Duisburg 1670. 42 Vgl. Jakob Thomasius, Erotemata logica, cap. 22, Leipzig 1670. Für das 18. Jahrhundert sei hingewiesen auf Andreas Rüdiger, De sensu veri et falsi, 2. Aufl., Leipzig 1722, lib. II, cap. 2, § 2, p. 260.

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An dieser Stelle stellt sich uns eine doppelte Aufgabe. Erstens wäre zu zeigen, dass dieser Ansatz zur Diskussion der Modalitäten es möglich macht, weittragende Brücken zwischen Logik und Ontologie zu schlagen. Und zum andern wäre darzustellen, wie aus dem so skizzierten Kontingenzbegriff ein Schlüsselbegriff wird zur Lösung der Leibniz so sehr bewegenden Probleme der Freiheit, der Prädestination und der Rechtfertigung Gottes für das Übel in der Welt. Jedenfalls hoffe ich, an einem speziellen Begriffspaar eine Wahrheit veranschaulicht zu haben, die H. J. de Vleeschauwer treffend mit den Worten ausgedrückt hat: A mesure que l’on connait mieux le Moyen-aˆ ge, les positions philosophiques de l’Antiquite´ et des temps modernes se rapprochent d’une maniere bien plus sensible qu’autrefois.43

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Herman Jan de Vleeschauwer, More seu ordine geometrico demonstratum (Mededelings van die Universiteit van Suid-Afrika, C 27), Pretoria 1961, p.8.

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BESTE DER MÖGLICHEN

WELTEN

I Etwas1 ist oder ist nicht. Eine Aussage ist wahr oder falsch. Ein Ereignis trifft ein oder nicht. Tertium non datur.2 Auf dieser fundamentalen Zweiheit basiert auch die klassische Theorie der Modalitäten. Zwar scheinen Möglichkeit und Kontingenz ein Drittes zwischen Wahr und Falsch, Sein und Nichtsein zu bezeichnen. Das aber ist eine Täuschung, denn die Funktion auch dieser Modalitäten liegt 1

Collegium Philosophicum. Studien Joachim Ritter zum 60. Geburtstag. Hrsg. von den Mitgliedern des Collegiums. 1965. 326–350 Ausarbeitung eines Sektionsvortrages auf dem VII. Deutschen Kongress für Philosophie in Münster (Okt. 1962). – Alle in dieser Studie vorgenommenen Änderungen von Leibniz-Texten gegenüber den jeweils zitierten Ausgaben gehen auf eine erneute Kollation der Handschriften zurück. Zur Datierung der Leibniz-Zitate konnte der Verfasser auf die Kataloge und das Material der Akademieausgabe zurückgreifen, mit deren Handhabung ihn Prof. Erich Hochstetter, Direktor der Leibniz-Forschungsstelle der Universität Münster, vertraut gemacht hat. 2 Wenn im mathematischen Intuitionismus so wie in der theoretischen Physik neben dem Entschieden-Wahren und dem Entschieden-Falschen der Bereich des noch zu Entscheidenden besonderes Interesse gewinnt und mit ihm der Wahrscheinlichkeitslehre und der mehrwertigen Logik ein weites Arbeitsfeld eröffnet wird, so kann das nicht die Aufhebung des logischontologischen Zweiheitsprinzips von Sein und Nichtsein, Wahr und Falsch zugunsten eines dazwischenliegenden Unbestimmten zur Folge haben, es sei denn man streite ab, dass die Ontologie es mit einem subjektunabhängigen Sein oder Nichtsein und die Logik mit Wahrem oder Falschem an sich, d. h. unabhängig davon, ob es erkannt wird oder nicht, zu tun hat. Gewiss, man kann sagen, subjektunabhängige Wissenschaften seien dem Menschen und seiner Erkenntnis nicht angemessen (non humanae) und nur vom Standpunkt Gottes aus zu treiben, muss dann aber konsequent sein und die bisherige Ontologie und Logik mitsamt ihrer überkommenen Begrifflichkeit verwerfen und sich auch verstohlene Rückgriffe auf sie verbieten. Jedenfalls darf man sich nicht durch die Dreiteilung im Felde des Wissbaren eine Dreiteilung im Felde des Seienden vortäuschen lassen.

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gerade darin, das Sein oder Nichtsein zu beschreiben, nicht aber ein zwischen ihnen liegendes Drittes zu konstituieren. Denn von verschiedenen Aspekten aus können die Fragen interessant werden, ob ein Seiendes, ein Ereignis, notwendig oder nur kontingent ist, ob ein Nichtseiendes absolut unmöglich oder aber immerhin noch möglich ist. Weiter, eine Aussage ist zwar entweder wahr oder falsch, dennoch ist es, wenn sie wahr bzw. falsch ist, nicht uninteressant zu wissen, ob sie notwendigerweise und immer oder ob sie nur zufälligerweise, auf Grund gewisser Gegebenheiten wahr bzw. falsch ist, und ferner, wenn sie zur Zeit in unserem Wissen noch unbestimmt ist, ob sie sich in der Zukunft als wahr oder als falsch erweisen wird. Abstrakt ausgedrückt: Die vier seit Aristoteles klassischen Modalitäten (Möglichkeit, Kontingenz, Unmöglichkeit und Notwendigkeit) beschreiben Grundweisen des Seins und Nichtseins, des Eintreffens oder Nichteintreffens von Ereignissen, und schließlich des Erkannt- oder Gewußtseins von durch Aussagen ausgedrückten Erkenntnisinhalten. Die Verschiedenheit der Gegenstände, zu deren näherer Bestimmtheit die Modalitäten herangezogen werden, kann das Faktum verschleiern, dass alle diese Modalitäten am Leitfaden einer formalen Theorie entwickelt worden sind. Da diese formale Theorie ihrerseits für gewöhnlich an den modalen Aussagen entwickelt wird, entsteht andererseits der Anschein, Modalitäten seien ausschließlich Sache der formalen Logik. Das wiederum bedingt die aus dieser Sicht erwachsende Aufgabenstellung, die Beziehung der sogenannten logischen Modalitäten zu den ontologischen und epistemologischen Modalitäten aufzuklären. Gewiß, innerhalb der Logik werden zur Definition der Modalitäten keine außerlogischen Momente zugelassen (obgleich man die Bedeutung der zur Erläuterung herangezogenen Beispiele für die den Formalismen zugrundeliegende Ontologie nicht unterschätzen darf). Aristoteles gewinnt die Definitionen der Modalitäten zunächst auch nur dadurch, dass er sie formal gegeneinander abgrenzt: möglich ist das, was nicht unmöglich ist; notwendig ist das, was unmöglich nicht ist; unmöglich das, was notwendig nicht ist.3 Diese gegenseitige Abgrenzung im logischen Quadrat bietet eine formal eindeutige Charakterisierung.4 Und dennoch wird man nicht 3

Erst im Mittelalter kommt ein positives logisches Moment in dieses Definitionenschema dadurch, dass die Möglichkeit als Denkbarkeit, als Freiheit von Widerspruch, angesetzt wird (vgl. beispielsweise Thomas von Aquin: Summa theologiae I, 25, 3 c). 4 Aristoteles, Hermeneutik 13, 22 a 14–b 28 und Erste Analytik I, 13, 32a 18–20. Vergegenwärtigen wir uns das aristotelische Modalquadrat in der Form, wie es – von unwesentlichen Abweichungen in der Formulierung abgesehen – eingegangen ist in die Schulbücher der Logik und wohl zuerst geprägt wurde von Wilhelm von Shyreswood in seinen Introductiones in logicam, vgl. ed. M. Grabmann, Sitz.-Ber. Bayer. Akad. Wiss., philos.-hist. Abt. (1937) H. 10 (München 1957) S. 45.

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annehmen dürfen, dass Aristoteles seine ausführlichen ontologischen Bestimmungen der Notwendigkeit und Möglichkeit völlig außer acht gelassen hat, als er die später sogenannten logischen Modalitäten diskutierte und ihre Äquivalenz- und Oppositionsgesetze entwickelte. Zum mindesten wird man sagen müssen, dass seine hypoleptische Aufnahme und Systematisierung der in der Sprache enthaltenen Logik der modalen Beziehungen in unverlierbarer, innerer Affinität zu seinem Gebrauch eben dieser Sprache in seiner Metaphysik stehen. In dieser Affinität, scheint mir, liegt die rechtmäßige Begründung dafür, dass man auch bei der Diskussion der außerlogischen Modalitäten auf den formalen Schematismus der logischen Modalitäten zurückgreifen muss, um sich an ihm zu orientieren, um so mehr als man sich im Laufe der Geschichte auch immer wieder mehr oder weniger ausdrücklich und bewußt daran orientiert hat. Beiläufig sollen die folgenden Ausführungen daher die Doppelthese erhärten, dass jede historische Untersuchung modallogischer Aussagen ausgehen muss von dem den Modalitäten innewohnenden formalen Schematismus, gleichwohl aber jede angemessene systematische Diskussion der Modalitäten den Rahmen formallogischer Bestimmungen sprengt. Mit anderen Worten: es soll am Exempel darauf hingewiesen werden, dass die Modalitäten auf der Grenze zwischen Logik und Ontologie stehen, eine Brücke zwischen diesen Disziplinen schlagen. Aus dieser Stellung resultiert wohl nicht zum wenigsten – trotz der sich kaum verändernden formallogischen Grundlagen – die von der Metaphysik und Theologie (bei Leibniz auch besonders von der Jurisprudenz) lebendig gehaltene Diskussion ihrer materialen Bestimmungen und Konsequenzen. Insbesondere aber soll im folgenden gezeigt werden, wieviel das den Modalitäten zugrundeliegende formale Schema als Leitfaden zur Klärung der Leibnizschen Terminologie und damit zur Interpretation zentraler Thesen seiner Philosophie beitragen kann. II Bei einem Vergleich des formalen Schemas, das sich aus den Aufzeichnungen des jungen Leibniz5 konstruieren lässt, mit dem traditionellen aristotelischen

5

Elementa juris naturalis, Sämtliche Schriften u. Briefe, AA VI,1 (Darmstadt 1930) S. 466 (vgl. auch S. 481).

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Quadrat der Modalitäten stößt man auf eine merkwürdige Diskrepanz. Die im aristotelischen Quadrat synonymen Ausdrücke possibile und contingens begegnen uns bei Leibniz gleichsam auseinandergetreten als konträres Gegensatzpaar: contingens esse wird ausdrücklich definiert durch potest non esse. Damit werden die vier klassischen Modalitäten homogen. Ich veranschauliche dieses Schema durch einen viergeteilten Kreis, dessen Sektoren je eine der Modalitäten repräsentieren.6 Da beim jungen Leibniz keinerlei Reflexion über diese frappierende und wie sich herausstellen wird, für die Interpretation seines Kontingenzbegriffes höchst bedeutsame Abweichung zu finden ist, liegt der Schluss auf eine latente Vorgeschichte des von ihm gegebenen Schemas nahe, besonders deshalb, weil Leibniz ausdrücklich anmerkt, dass es einem nicht freigestellt sei, den Gebrauch der Worte in rebus ad vitam pertinentibus zu verdrehen, wenn man daraus folgende Härten und » scandala « vermeiden wolle. Das gilt insbesondere auch für die Modalitäten, denn gerade diese Forderung schickt er in der Confessio philosophi (1673) seinen Definitionen der Modalitäten voraus.7 Für die Untersuchung dieser latenten Vorgeschichte ist der von Albrecht Becker, einem Schüler von Heinrich Scholz, erbrachte und von J. M. Bochenski erhärtete Nachweis grundlegend, dass Aristoteles seine Systematisierung der modalen Logik auf zwei streng voneinander zu unterscheidende Möglichkeitsbegriffe aufgebaut hat.8 Demnach hat Aristoteles in der Hermeneutik als möglich (εωδεχο µενον, δυ νατον) alles das definiert, was nicht unmöglich ist, also auch das Notwendige, hat aber in der Ersten Analytik die Bedeutungsbreite dieser Termini eingeschränkt und nur noch das als möglich gelten lassen, was weder unmöglich noch notwendig ist.9 Becker wies ferner darauf hin, dass Marius 6

Die Sektoren seien jeweils nach den von ihnen repräsentierten Grundmodalitäten P, C, I, N benannt; zur besseren Übersicht über den formalen Schematismus gebe ich in Analogie zum Quadrat der Modalitäten die äquivalenten Modalitäten an, wobei eine Verneinung durch das Zeichen »-« wiedergegeben sein soll (-P- ist demnach zu lesen: non potest non). 7 Ed. Y. Belaval (Paris 1961) S. 46 [AA VI,3 S. 125.10–17]. 8 A. Becker, Die Aristotelische Theorie der Möglichkeitsschlüsse (Berlin 1933); Die Vorgeschichte des philosophischen Terminus contingens, in: Quellen u. Studien zur Gesch. u. Kultur des Altertums und des Mittelalters, Reihe D, H. 7 (Heidelberg 1938). J. M. Bochenski, Notes historiques sur les propositions modales. Rev. Sci. philos. theol. 26 (1937) 673–692; La logique de Theophraste, in: Collect. friburg. NS Fasc. 32 (Fribourg 1947). 9 Siehe oben Anm. 3.

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Victorinus, der im 4. Jahrhundert die Hermeneutik übersetzte und naheliegenderweise das εωδεχεσθαι des aristotelischen Textes mit dem im klassischen Latein soviel wie accidere, evenire bedeutenden contingere wiedergegeben hat, eben denselben Terminus contingere auch zur Übersetzung von συµβαινειν benutzte. Damit sei er zum Urheber einer künstlichen Terminologie geworden, die sich zunächst in den Schriften des Boethius niedergeschlagen habe, dessen zwei Kommentaren die Victorinische Übertragung dieser Schrift zugrunde lag. Da Boethius auch das εωδεχεσθαι der Ersten Analytik, das er wohl kaum von dem der Hermeneutik unterschieden haben wird, als contingere wiedergab, konnte Albrecht Becker bei ihm drei Bedeutungen dieses Ausdrucks feststellen.10 In unserem Schema lassen sich diese drei Bedeutungsvarianten von contingens leicht veranschaulichen, indem wir jeder von ihnen die ihr entsprechenden Sektoren zuordnen und diese Zuordnung durch entsprechende Indices kennzeichnen. Dabei springt in die Augen, dass der uns bei Leibniz begegnende Kontingenzbegriff: contingens est, quod potest non esse mit keiner der drei von Becker bei Boethius nachgewiesenen Bedeutungen übereinstimmt. Denn bei Boethius heißt es erstens, im Sinne der Hermeneutik: contingens est, quod non est impossibile (Cpcn); zweitens, im Sinne der Ersten Analytik: contingens est, quod est nec impossibile nec necessarium (Cpc); und drittens gebraucht er contingere im Sinne des klassischen Lateins als Synonym für accidere, evenire, für alles nämlich, was zutrifft, einerlei ob mit oder ohne Notwendigkeit (Ccn). Mit einem Wort, contingens bezeichnet bei Boethius in allen drei Fällen eine zusammengesetzte Modalität, wohingegen diesem Terminus bei Leibniz nur eine einfache, d. h. in unserem Schema eine nur einen Sektor beanspruchende Modalität entspricht (Cc oder schlicht C). Dieses einfache contingens, verschiedentlich auch contingens stricte genannt, dessen Akzent ebenso auf dem est wie auf dem potest non esse liegt, ist jedoch nicht erst von Leibniz eingeführt worden. Bereits im 12. Jahrhundert wird es im Rückgriff auf den allgemeinen Sprachgebrauch von Johannes von Salisbury, einem Schüler Abaelards, philosophisch reflektiert,11 und zwar in ausdrücklicher Polemik gegen die aristotelisch-boethianische Gleichsetzung von possibile und contingens, wie sie im klassischen Quadrat der Modalitäten vorliegt und noch bis in die Neuzeit hinein weitgehend die Terminologie der Scholastik bestimmt hat. Systematisiert wurde dieses contingens stricte wohl zuerst im 13. Jahrhundert von Wilhelm von Shyreswood12 und Roger Bacon13 in der Lehre von der Einteilung 10

Vgl. A. Becker: Vorgeschichte S. 18. 32. 70–72. Johannes von Salisbury, Metalogicon libri quattuor lib. III, cap. IV, 901f., ed. C. C. I. Webb (Oxford 1929) S. 137–139 (vgl. A. Becker, Vorgeschichte S. 75–78). 12 Wilhelm von Shyreswood, Introductiones in logicam S. 14. 11

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der Wahrheiten. Shyreswood unterscheidet die per se wahren, notwendigen von den per accidens wahren, kontingenten Sätzen; und analog die per se falschen, unmöglichen von den per accidens falschen, möglichen Sätzen. Dabei ist besonders festzuhalten die zunächst überraschende Bestimmung des Möglichen als desjenigen, was falsch ist, aber wahr sein kann, und die des Kontingenten als desjenigen, was wahr ist, dennoch aber falsch sein könnte. Mit irrelevanten Abweichungen in der Terminologie, jedoch mit eindeutiger Konstanz der Bedeutungen hat sich diese Einteilung der Wahrheiten mindestens bei den deutschen Philosophen bis ins 18. Jahrhundert gehalten. Wir können beispielsweise auf Conrad Dieterich,14 Johannes Clauberg15 und schließlich auf Leibniz’ Lehrer Jakob Thomasius und natürlich auf Leibniz selbst verweisen16 sowie später auf Andreas Rüdiger17 und recht betrachtet noch auf Kant. Das von Walter Bröcker18 aus der Kritik der reinen Vernunft (A 290, B 346) eruierte Modalschema Kants steht in vollständiger Korrelation zu dem in unserer Kreisfigur repräsentierten Schematismus. In fortschreitender Aufgliederung entspricht zunächst der ganze Kreis (PCIN) dem Kantschen Gegenstand überhaupt, der dann aufgeteilt wird in Möglichkeit und Unmöglichkeit (PCN + I) und schließlich bei Aufteilung des Daseins In notwendiges und zufälliges Dasein, in Notwendigkeit (N) Zufälligkeit oder Kontingenz (C), Nichtsein oder Potentialität (P) und Unmöglichkeit (I). Nachdem mit dem Verfall der hochentwickelten, wenn nicht gar überzüchteten Modallogik des Spätmittelalters das ihr zugrundeliegende aristotelische Modalquadrat keine Funktion mehr innerhalb der Logik hatte, war das neue, homogene Modalschema, dessen Hauptwurzel wir in der Lehre von der Einteilung der Wahrheiten erkannt haben, bestimmend geworden für die philosophische Terminologie, insbesondere, wie wir sehen werden, auch für die von Leibniz. Zum Abschluss dieser gedrängten Einleitung19 sei kurz auf die mit der Tradition des homogenen Quadrates überlieferten formalen Bestimmungen hinge-

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Roger Bacon, Summulae logicales, ed. R. Steele, Opera hactenus inedita fasc. XV (Oxford 1940) S. 256. 14 Conrad Dieterich, Institutiones Dialecticae, lib. II, cap. III, Gießen, 9. Aufl. 1623, S. 253–261. 15 Johannes Clauberg, Logica contracta, art. 165f. (anonym erschienen, Duisburg, 3. Aufl. 1670). 16 Jakob Thomasius, Erotemata logica, Leipzig 1670, cap. 22. Leibniz, Specimen certitudinis seu demonstrationum in Jure (1669) def. 45–48, AA VI,1 S. 398. 17 Andreas Rüdiger, De sensu veri et falsi, Leipzig, 2. Aufl. 1722, lib. II, cap. 2, § 2, S. 260. 18 W. Bröcker, Das Modalitätenproblem. Z. philos. Forsch. 1 [1946] 37. 19 Im weiteren Zusammenhang hat der Verfasser diese Vorgeschichte untersucht in

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wiesen, die wesentlich zur Klärung der Leibnizschen Terminologie beitragen können. Zum einen ist zu beachten, dass der oberen Hälfte NI unseres Schemas die Attribute per se, absolute, infallibilis, determinatus, immutabilis und weitere als äquivalent anzusehende Ausdrücke der Bestimmtheit entsprechen, und dass die untere Hälfte PC durch die entsprechenden Gegenbegriffe per accidens, hypothetice, fallibilis, indeterminatus, mutabilis, alles Ausdrücke der Unbestimmtheit, gekennzeichnet ist. Zum andern sei hingewiesen auf die beiden Diagonalen des Schemas: Während der Diagonalen NC der Charakter des Seins, des Wahren, des Gewußten zukommt, drückt die Diagonale IP das Nichtsein, das Falsche, das Nichtgewußte aus. Es ist gut, diese formalen Merkmale im Auge zu behalten, insbesondere wegen der nicht wenig befremdenden Zuordnung des Möglichen zum Falschen und Nichtexistenten und des Kontingenten zum Wahren und Seienden, befremdend, wenn auch nicht für die Umgangssprache, so doch für unsere bis heute weitgehend aristotelisch gefärbte philosophische Terminologie. Damit ist eine, wie sich erweisen soll, brauchbare, ja notwendige Handhabe zur Aufgliederung und Präzisierung der uns bei Leibniz begegnenden modalen Begriffsbildungen sowie der mit ihnen verknüpften außerlogischen Momente gewonnen. III Das mache die Zierde des Poeten aus, argumentiert Leibniz, etwas zu erdichten, das, wenn es auch falsch, so doch möglich ist. Beispielsweise seien die Gestalten des Argenis-Romans klar und deutlich vorstellbar, also möglich, wenn auch gewiß ist, dass sie niemals gelebt haben, noch jemals leben werden; es sei denn, man fröne dem Irrglauben, dass in der noch vor uns liegenden Zeit alles, was möglich ist, irgendwann einmal auch existieren werde. Obgleich aber die Gestalten dieses Romans niemals existieren würden, wäre ihre Existenz doch nicht unmöglich. Das anzunehmen, bedeute nämlich den Unterschied zwischen dem Möglichen und dem Wahren, dem Notwendigen und dem Kontingenten einfach aufzuheben.20 Was Leibniz damit meint, ersehen wir deutlicher aus dem Kontext der Studie: Möglichkeit und Kontingenz. Zur Geschichte der philosophischen Terminologie vor Leibniz. Filosofia (Torino) 14/4, Suppl. (1963) 901–914. 20 Confessio philosophi S. 54f. [AA VI,3 S. 128.23–129.4]: Hoc ipsum poetae elegantis est etsi falsa tamen possibilia comminisci. Barclaii Argenis possibilis, seu clare distincteque imaginabilis est, etsi certum sit numquam vixisse nec credo victuram esse, nisi quis sit in ea haeresi, ut sibi persuadeat temporum restantium infinito decursu omnia possibilia aliquando extitura, nec ullam fabulam somniari posse quae non saltem exiguo quodam modulo aliquando in mundo futura sit. Quod etsi concederemus, manet tamen Argenidem non fuisse impossibilem, etsi nondum extiterit. Qui secus sentiunt, necesse est discrimen possibilis et veri, necessarii et contingentis tollant, et detorta vocabulorum significatione, usui sese generis humani opponant.

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späterer Wiederholungen dieses Romanargumentes, in denen er ausdrücklich gegen Descartes,21 Hobbes und Spinoza sowie gegen Diodor und Wyclif geltend macht, dass nicht alles, was möglich ist, auch einmal existiert (oder umgekehrt, dass nicht nur das möglich ist, was einmal war, ist oder sein wird), weil sonst alles, was möglich ist, notwendig wirklich würde.22 Er will also offenbar sagen, dass bei Nichtanerkennung des Bloßmöglichen der Unterschied zwischen dem reinen Möglichsein und dem Wirklichsein wegfällt und folglich auch der zwischen notwendigem und kontingentem Sein und dass damit auch die Kontingenz und die Freiheit selbst aufgehoben werden.23 dass gerade die Berücksichtigung des Bloßmöglichen ihn davor bewahrt hat, alles für absolut notwendig zu halten, hat Leibniz auch ausdrücklich bekannt.24 Leibniz bleibt jedoch nicht bei dieser faktischen Anerkennung des Bloßmöglichen zur Begründung der Kontingenz stehen, er gibt vielmehr sogleich den außerlogischen, ontologischen Grund dafür an, dass das Bloßmögliche nicht wirklich werden kann: seine Inkompatibilität. Demnach ist zwar alles dasjenige, was sich widerspruchsfrei denken läßt, möglich; doch bleibt dasjenige, was inkompatibel ist mit der Existenz eines allwissenden Seienden, was sich nicht verträgt mit der harmonia rerum und daher von Gott bei seiner Auswahl des Besten zurückgewiesen wird, für immer bloß möglich.25 Der Begriff der bloßen 21

Leibniz’ Polemik gegen Descartes gilt der in den Principia philosophiae (III, § 47) vertretenen Hypothese, die Materie könne sukzessive alle Formen annehmen, deren sie fähig ist (vgl. Leibniz an H. Fabri [Ende 1676] AA II,1 S. 299 [AA II,12 464.15–17]; ferner De libertate [um 1689] in: Nouv. lettres et opuscules ine´dits, ed. A. Foucher de Careil [Paris 1857] 178f. [AA VI,4 S. 1654.5–7]). Die Berechtigung zu dieser Folgerung kann hier außer acht gelassen werden. Es wäre nur darauf hinzuweisen, dass Leibniz sie noch fast 30 Jahre später zieht, allerdings mit der Einschränkung, diese Meinung sei peutetre de M. des Cartes (Textes ine´dits, ed. G. Grua [Paris 1948] S. 478). 22 Vgl. die Aufzeichnung vom 2. Dez. 1676 (Opuscules et fragments ine´dits, ed. L. Couturat [Paris 1903] S. 529f. [AA VI,3 S. 582.5–8]), ferner die Bemerkungen zu Bellarmin [AA VI,4 S. 2577.15–22] (um 1681), die etwa 1689 anzusetzenden Aufzeichnung über den Ursprung der kontingenten Wahrheiten und den um 1702 wohl an I. Jaquelot gerichteten Brief (Grua S. 300, 325 und 478). Noch 1710 in der The´odice´e (§§ 171–174) sowie in einem Brief an Bourguet vom Dezember 1714 (in GP III S. 572f.) wiederholt er diese Argumentation. 23 An Antoine Arnauld schreibt er am 14. Juli 1686: si on vouloit rejetter absolument les purs possibles, on detruiroit la contingence et la liberte; car s’il n’y avoit rien de possible que ce que Dieu cre´e effectivement, ce que Dieu cre´e seroit necessaire, et Dieu voulant cre´er quelque chose, ne pourroit cre´er que cela seul, sans avoir la liberte´ du choix (GP II S. 55f. [AA II,2 S. 79.11–14]). 24 De libertate (um 1689) Foucher de Careil loc. cit. S. 178 [AA VI,4 S. 1653.25–27]. In dieser Aufzeichnung gibt Leibniz eine aufschlussreiche Genesis seines Freiheitsbegriffes.

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Möglichkeit ist also enger als der des widerspruchsfrei Denkbaren. Gegenüber der im Felde logischer Bestimmungen bleibenden Definition der Möglichkeit durch bloße Widerspruchsfreiheit treten mit der Bedingung der Verträglichkeit bei der Ausgrenzung der bloßen Möglichkeiten außerlogische Daten hinzu, die das kontingente Mögliche vom bloß Möglichen, als das Kompatible vom Inkompatiblen scheiden. Unter der Bedingung der Kompatibilität erscheint demnach da s Bloßmögliche, das Inkompatible, als das bedingt Unmögliche. Das bedingt Unmögliche, die impossibilitas hypothetica wiederum hat schon der junge Magister Leibniz im Dezember 1664 in einer von ihm damals wiederholt angestrebten Amalgamierung juristischer und philosophischer Termini zur Diskussion gestellt. Von der historischen Frage, ob es jemals wirkliche Zentauren gegeben hat, die eigentlich wissenschaftliche oder, wie er 1669 präzisiert, die philosophische Frage abtrennend, ob solche Wesen überhaupt möglich sind, beruft sich Leibniz auf einige Juristen, die den Zentauren nicht einmal eine hypothetische Seinsmöglichkeit zubilligen. Diese Bestreitung der potentia existendi hypothetica, mit anderen Worten diese hypothetische, bedingte Unmöglichkeit erläutert Leibniz bereits damals mit der zu verneinenden These, diese Welt habe von Gott anders geschaffen werden können, als sie geschaffen ist; zu verneinen sei diese These jedoch nicht, weil das für Gott absolut unmöglich wäre, sondern weil seine Weisheit bedingt, dass er nur das Beste wählt, und dieser Bedingung gemäß hätte die

25 Vgl. Confessio philosophi, S. 70 [AA VI,3 S. 134.21–22]: quae sunt incompatibilia Existentiae Entis omniscii seu harmoniae rerum adeoque nec fuere nec sunt nec erunt. Diesem zunächst auf Gottes Allwissenheit bezogenen Kompatibilitätsbegriff stellte Leibniz schon bald darauf den einer Interkompatibilität oder Kompossibilität von Möglichkeiten untereinander an die Seite, der den ursprünglichen Begriff später ganz verdrängte. Bereits in einer (wenn auch wieder gestrichenen) der Marginalien zur Confessio philosophi definiert Leibniz: impossibile est, cujus essentia sibi ipsi incompatibilis est, hält aber die alte Bestimmung bei, wenn er fortfährt: incongruum sive rejectum (qualia sunt quae nec fuere, nec sunt, nec erunt), cuius essentia est existentiae incompatibilis; existentiae, id est primo existentium, sive ei, quod per se ipsum existit, sive Deo (S. 54 [AA VI,3 S. 128 zu 24]). Aber auch noch im Dezember 1675 trägt er in sein Pariser Tagebuch ein: Impossibilis duplex notio, id quod essentiam non habet, et id quod existentiam non habet seu quod nec fuit nec est nec erit, quod incompatibile est Deo, sive existentiae sive rationi, quae facit, ut res sint potius quam non sint (Leibnitiana. Elementa philosophiae arcanae de summa rerum, ed. I. Jagodinski [Kasan 1913] S. 8 [AA VI,3 S. 463.29–31]). Noch Ende 1677 definiert Leibniz in einer Unterredung mit Niels Stensen die impossibilitas hypothetica als incompatibilis esse cum praesupposita Dei existentia, cuius perfectio . . . tale quid pati non potest (Grua S. 271 [AA VI,4 S. 1378.3–6]), hatte aber bereits am 2.(12.) Dezember 1676 ausdrücklich formuliert: Principium autem meum est, quicquid existere potest, et aliis compatibile est, id existere. (Couturat S. 530 [AA VI,3 S. 582.1–2]).

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Welt nicht anders, als sie ist, wirklich werden können.26 Wenn Leibniz hier auch nicht ausdrücklich die von den Juristen behauptete Nicht-Existenz von Zentauren ihrer Inkompatibilität mit der Schöpfung zuschreibt, so ist doch schon deutlich, dass der Sache nach die Begründung ihrer hypothetischen Unmöglichkeit nicht ihre Möglichkeit schlechthin ausschließt, denn ihrem Wesen nach sind Zentauren nicht widerspruchsvoll und bleiben demnach möglich, aber eben bloß möglich, da sie wegen bestimmter Bedingungen (ex hypothesi, ex suppositione) niemals wirklich werden können. Damit hätten wir in dieser frühen Interpretation der Bestreitung der hypothetischen Seinsmöglichkeit Leibniz’ ersten Ansatz zur Anerkennung des Bloßmöglichen und zugleich seinen ersten Schritt in Richtung auf den Begriff der Unverträglichkeit zu sehen. Als Fundamentalsatz müssen wir also festhalten: non omnia possibilia ad existentiam perveniant, seu quaedam esse possibilia, quae nec sunt, nec fuere, nec erunt, wie Leibniz sich (wohl bald nach 1677) in einem kurzen Beweisgang notiert, der mit der Formulierung endet: non utique omnia possibilia contingunt.27 Der von Leibniz bei den bisher referierten Argumentationen intendierte Begriff ist offenbar nicht, wie es zunächst den Anschein erweckt, der Begriff der Möglichkeit, sondern der der Kontingenz. Die bloße Möglichkeit bildet gleichsam die Folie, von der die Kontingenz, als das zur Existenz gelangende Möglichsein, abzuheben ist. Denn dadurch, dass Leibniz das Bloßmögliche als das mit dem Makel der Inkompatibilität Behaftete bestimmt, hebt er zugleich das Kontingente als das durch Kompatibilität ausgezeichnete Mögliche von ihm ab. Wenn aber nicht alles Mögliche, sondern nur das Kontingente zur Existenz gelangt – mit Ausnahme natürlich des einzig notwendigen Seienden, Gott, von dem man allerdings nicht sagen kann, dass er zur Existenz gelangt, weil er immer

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Specimen quaestionum philosophicarum ex jure collectarum, AA VI,1, S. 86: Verum Jurisconsulti quidem ita intelligendi sunt, ut negent de eo potentiam, ut sic dicam, existendi Hypotheticam, id est, nec fuisse, nec esse, nec fore. Uti, cum negatur, potuisse mundum a Deo aliter, quam factus est, creari, non quod impossibile sit, sed quia ob sapientiam Conditoris, qui optimum eligit, non erat futurum. Es sei hier auf seinen späteren Gebrauch des Ausdrucks moralische Unmöglichkeit hingewiesen, den er 1675 im Anschluss an eine Stelle aus dem Corpus juris civilis (Dig. 28, 7, 15) definiert: j’appelle impossible moralement ce qui n’est pas possible de faire sans commettre un peche. Or tout ce qui est impossible moralement, selon ce sens, est equivalent a` ce qui est impossible physiquement. Nam quae facta laedunt pietatem nostram, aut verecundiam, et generaliter quae contra bonos mores sunt, ea nec facere nos posse credendum est, ut aiunt leges (AA IV,1, S. 471; vgl. auch GP VII S. 278 (nach 1696) und VI S. 441, Causa Dei [1710] § 21). 27 E. Bodemann, Die Leibniz-Handschriften der königl. öffentl. Bibliothek zu Hannover (Hannover/Leipzig 1895) S. 103f. [AA VI,4 S. 1353.4].

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schon existiert –, dann muß es einen Grund geben, warum gerade dieses und nicht anderes existent wird und warum gerade auf diese und nicht auf andere Weise. Leibniz’ bekannte Antwort auf seine Grund-Frage lautet: Gott wählt seiner höchsten Weisheit und Güte gemäß das Beste. Einzig das allgemeine und erste Dekret des göttlichen Willens, das Beste zu wählen, ist als das Prinzip der Kontingenz und damit als der hinreichende außerlogische Grund für die Existenz alles Wirklichen anzusehen.28 Umgekehrt wendet Leibniz im Dezember 1676 gegen Spinoza ein: Wenn alles Mögliche existieren würde, brauchte man keinen Grund für die Existenz anzugeben, denn dann würde allein die Möglichkeit, d. h. die widerspruchsfreie Denkbarkeit, völlig genügen zur Begründung des Seins und des Geschehens; außerlogische Momente brauchten dann gar nicht in Betracht gezogen zu werden.29 Wenn wir uns die von Leibniz immer wieder festgehaltene Definition des Kontingenten vor Augen führen: contingens est, quod potest non esse, so wird deutlich, dass unsere Ausführungen zunächst nur der einen, in der Definition nicht einmal explizit gemachten Komponente des Begriffs gegolten haben, nämlich dem mit der Abhebung des Kontingenten von dem Bloßmöglichen gegebenen

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Grua S. 310 [AA VI,4 S. 1599.6–7] (um 1683): decretum voluntatis a quo solo principium contingentiae in rebus peti possit. Das allgemeine oder auch erste göttliche Dekret, dem alle besonderen Dekrete untergeordnet sind, wird zunächst immer nur formal bestimmt als Wahl oder Hervorbringen des Vollkommeneren (um 1681), des Vollkommensten (um 1681), des Besten (gegen 1695), schließlich als bestmögliches Handeln (vor 1695), vgl. beispielsweise Grua S. 228. 301. 345. 351 und GP VII, S. 309f. [AA VI,4 S. 1616 Fn 1]. Zur Beendung des theologischen Streites um die Ordnung und Reihenfolge der göttlichen Dekrete schlägt er, dem Dekret eine materiale Bestimmung unterlegend, in einem vermutlich mit I. Jaquelot um 1702 geführten Gespräch vor: le meilleur seroit de dire que Dieu ne forme qu’un seul decret, qui est celuy de choisir cet univers parmy les autres possibles (Grua S. 482). Mit Nachdruck sei hier – vor allem gegen eine Leibniz mißverstehende Polemik – darauf hingewiesen, dass die Optimität, auf die in dieser Studie ständig Bezug genommen wird, niemals eine Auszeichnung des Einzelnen an sich darstellt, dieses vielmehr stets in Relation zum Ganzen setzt: Quicquid est, si rerum summam spectes, Optimum est (Confessio philosophi S. 102). Wenn der bekanntlich erst 1737 in den Memoires de Trevoux für Leibniz’ Philosophie geprägte Begriff Optimismus mit einigem Recht auf diese angewandt werden darf, so jedenfalls nicht in seinem uns seit Voltaires Candide geläufigen Sinn einer Verschönerung oder Verharmlosung des bestehenden und noch auf uns zukommenden Übels. Offenen Auges die Welt mit all ihren Mängeln sehen und dennoch an der im Glauben gegründeten und in der metaphysischen Theorie erhärteten Überzeugung festhalten, Gott habe die beste der möglichen Welten erschaffen, das war Leibniz’ geistige Situation, die sein Denken in einen Konflikt führte, dessen Tiefe dem aufgeklärten Optimismus und Antioptimismus verschlossen geblieben ist. 29 Couturat S. 530 [AA VI,3 S. 582.1–2].

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Seinsmoment. Nicht weniger aufschlussreich ist aber die andere, ausdrücklich formulierte Komponente, das Moment des Nichtseinkönnens – wobei zu lesen ist: des Nichtsein-Könnens (potest non esse), nicht aber: des Nicht-Seinkönnens (non potest esse), das der Unmöglichkeit entspricht –, welches das Kontingente vom Notwendigen abhebt. Für beide Momente gibt Leibniz jeweils den außerlogischen Grund an: Radix contingentiae, Grund des Seins, ist einzig Gottes Dekret, das Optimum zu wählen. Grund des Nichtsein-Könnens ist allein Gottes Freiheit, der gemäß eine andere Welt als diese von Gott hätte geschaffen werden können. Beide Momente können daher von ihm in der These vereinigt werden: Gottes Dekret der Wahl des Besten ist ein freies. Zur Begründung dieser Freiheit Gottes und damit der Kontingenz der Welt und des Weltgeschehens beruft Leibniz sich auf die in der Scholastik erarbeitete Unterscheidung der Notwendigkeiten, die von der necessitas consequentis seu absoluta die necessitas consequentiae seu hypothetica abhebt. Absolute Notwendigkeit liegt vor, wo das Gegenteil einen Widerspruch impliziert, also unmöglich ist; sie kann folglich der göttlichen Wahl nicht beigemessen werden, da in dem gewählten Besten keine absolute Notwendigkeit enthalten ist. Andernfalls müßte man behaupten, dass nur das Beste möglich, alles andere aber unmöglich wäre. Das Vorliegen einer hypothetischen Notwendigkeit jedoch, die für Leibniz schon überall dort anzusetzen ist, wo die Wahl des Gegenteils wenn auch keinen Widerspruch, so doch eine Unvollkommenheit impliziert, ist bei der göttlichen Wahl nicht zu bestreiten; denn diese Wahl folgt mit Notwendigkeit (necessitas consequentiae) aus Gottes Weisheit und Güte, aus seiner höchsten Vollkommenheit, mit einem Wort aus Gottes Wesen.30 Seinem Wesen folgen, sich von der rechten Vernunft leiten lassen, sich an die Einsicht binden, ist für Leibniz die höchste Form der Freiheit, die in Gott in höchstem Maße verwirklicht ist.31 Hypothetische Notwendigkeit und Kontingenz widerstreiten sich demnach nicht, beide sind vielmehr formal identisch.32

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Vgl. Grua S. 297f. [AA VI,4 S. 2577.3–9]: Necessitas consequentiae est, cum quid ex alio necessaria consequentia sequitur; necessitas absoluta est cum contrarium rei implicat contradictionem. Ex Dei existentia seu summa perfectione certo et, si ita loqui placet necessaria consequentia sequitur Deum eligere optimum; tamen libere eligit optimum, quia in ipso optimo nulla est necessitas absoluta, alioqui contrarium eius implicaret contradictionem, et solum optimum esset possibile, caetera vero essent impossibilia, contra hypothesin (um 1681); vgl. auch Grua S. 386 (um 1692). Zum frühen Gebrauch dieser Unterscheidung vgl. AA VI,1 S. 541. 31 Vgl. Discours de me´taphysique (1686) Abs. III [AA VI,4 S. 1534.13–14]. 32 In einer Aufzeichnung, die [mit »27. November 1677 datieret] ist, identifiziert Leibniz zunächst expressis verbis die contingentia mit den per accidens sive ex hypothesi necessaria und belegt das nachträglich mit einem Hinweis auf J. C. Scaligers Exercitationes (Grua S. 275) [AA VI,4 S. 1380 Fn 2].

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Es ist offenbar, sollte aber dennoch hervorgehoben und festgehalten werden, dass für Leibniz im Angelpunkt dieser Argumentationen sein Gottesbegriff steht. Mit Descartes und Spinoza anzunehmen, dass alles Mögliche auch wahllos einmal wirklich wird, bedeutet für ihn, Gott abzusprechen, dass er das Gute wählt, und ferner, dass man keinerlei Grund hat, Gott eher gut als böse, eher gerecht als ungerecht zu nennen, ja dass es dann auch eine Welt, eine wirkliche Welt geben muß, in der die Gerechten bestraft und die Ungerechten belohnt werden, denn beides ist zweifellos möglich, weil widerspruchsfrei denkbar.33 Wenn jedoch einmal die bloßen Möglichkeiten anerkannt sind, notiert er sich wohl kurz darauf, dann haben wir einen Gott, nicht wie ihn Descartes oder Spinoza, sondern wie ihn die Christen lehren.34 Einerseits gegen Descartes, für den alle Wahrheiten von Gottes bloßem Willen abhängen und andererseits gegen Spinoza, für den alle Wahrheiten in Gottes Verstand gründen, bemerkt Leibniz, dass zwar alle notwendigen Wahrheiten ihren Grund in Gottes Verstand haben, dass aber die kontingenten Wahrheiten und damit die Dinge und Geschehnisse dieser Welt samt ihren Gesetzlichkeiten in Gottes Willen wurzeln, der gleichwohl stets von seinem Verstand, seiner Weisheit geleitet ist durch die Wahl des Besten.35 33

Vgl. die vom 2. Dezember 1676 – also bald nach seinem Besuch bei Spinoza – eigenhändig datierte Aufzeichnung (Couturat S. 529f. [AA VI,3 S. 581.24–25]), ferner Leibniz’ Bemerkung zu einem Brief, den er im Mai 1677 von A. Eckhard . erhalten hat (AA II,1 S. 352 [AA II,12 531 Fn 78]). 34 Vgl. E. Bodemann, Leibniz-Handschriften S. 104 [AA VI,4 S. 1352.21–22]. Dem, wie Leibniz formuliert, gefährlichen Irrtum der Schüler von Hobbes und Spinoza, dass alles mögliche Gute und Schlechte eintreffe ohne Rücksicht darauf, ob die Natur oder ihr Schöpfer ein Interesse daran haben, begegnet er (wohl um 1702) mit dem Hinweis darauf, dass die von ihm aufgewiesene Zurückweisung der inkompatiblen Möglichkeiten durchaus Zeichen der Ordnung, der Wahl und der Intelligenz erkennen lasse, womit er auch die philosophie des materialistes, von der sowohl die Lehre der absoluten Notwendigkeit als auch die des blinden Zufalls herkomme, zurückweist. Sein Syste`me nouveau de l’harmonie pre´e´tablie (1695), das dieses göttliche Kunstwerk darstelle, gebe – und hier folgt eine für die Wahl des Titels und für Leibniz’ Selbstverständnis seiner Philosophie bezeichnende, an Kants Kopernikanische Wende erinnernde Aussage – une tout autre face a` l’univers, aussi differente a` son avatage de celuy qu’on donnoit ordinairement au monde visible (E. Bodemann, Leibniz-Handschriften S. 62f., eine leicht veränderte Fassung bei Grua S. 486). – Die Ansicht Spinozas, Gott könne, da die Welt ewig und unendlich sei, nicht der Materie ermangeln, alle Arten der Dinge zu verwirklichen, schreibt Leibniz, tollit omnem pietatem et religionem, quamvis loquendi formulas utatur, quae videntur eam retinere « (Leibniz-Handschriften der Niedersächs. Landesbibl. Hannover LH I 7, 7 Bl. 12 r°). 35 Vgl. Leibniz an Bourguet am 11. April 1710 (GP III S. 550) und E. Bodemann, Leibniz-Handschriften S. 115: . . . leur source estant la volonte´ de Dieu regle´e par la sagesse (1689).

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Ja, in einem frühen Brief gebraucht Leibniz sogar noch die starke Formulierung, es sei unmöglich für Gott, nicht durch die Idealitas, die Harmonie der Dinge, zum Besten genötigt zu werden, was aber nichts von seiner Freiheit nähme.36 Später präzisiert er wiederholt – in Anlehnung an den ptolemäischen Satz der antiken Astrologie Astra inclinant non necessitant, der offenbar hier schon anklingt –, dass die Gründe, die den freien Willen zur Wahl des Besten veranlassen (Gott zur Wahl des in Wirklichkeit Besten, den Menschen zur Wahl des ihm als Bestes Erscheinenden) nicht nötigen, sondern neigen, d. h., ihn zu einer bestimmten Entscheidung geneigt machen, weil sie als die beste erkannt wird oder erscheint.37 Indifferenz sieht er als Zeichen der Unwissenheit an, und die könne man dem Allwissenden schlechterdings nicht zusprechen.38 Diese beiden dem jungen Leibniz vertrauten Momente, Gottes freie Wahl des Besten (also Ausschluss des Inkompatiblen, Bloßmöglichen) und die Harmonie der 36

An M. Wedderkopf, wohl Mai 1671, Akademie-Ausg. II,1 S. 118 [AA II,12 186.33–34]. 37 Vgl. Leibniz’ Bemerkungen zu Bellarmin aus der Zeit um 1681 (Grua S. 298–302, insbes. S. 301 [AA VI,4 N. 273 S. 1453.18–25]): Deus cur perfectissimum eligat nulla potest reddi ratio, quam quia vult, seu quia haec est prima voluntas divina perfectissimum eligere. Id est non ex rebus ipsis hoc sequitur, sed pure ex eo quod Deus vult. Et libere utique vult, quia extra voluntatem eius nulla reddi potest ratio cur velit. Liberum enim definio cuius nulla ratio reddi potest alia, quam voluntas, non igitur datur aliquid sine ratione, sed ratio illa voluntati intrinseca est und S. 300 [AA VI,4 S. 1452.15–21]: Radix libertatis humanae est in imagine Dei, uti enim Deus etsi semper optimum eligat, et, si alius fingeretur omniscius, is praedicere posset quid Deus sit electurus, tamen libere eligit, quia id quod non eligit manet sua natura possibile, itaque oppositum eius non est necessarium. Eodem modo homo liber est, ut licet semper id ex duobus eligat quod Optimum apparet, tamen non eligat necessario. Aliud enim est semper rationem reddi posse cur eligat, aliud est necessariam esse electionem; inclinant rationes, non necessitant, licet certo sequatur id ad quod inclinant. Vgl. auch die Bemerkung zu einem Brief von A. Arnauld, in der er 1686 als Prinzip der Moral konstatiert: tout esprit se portera a` ce qui luy paroist le meilleur (GP II S. 38 [AA II,2 S. 44.24]). In einer Aufzeichnung, die wohl erst um 1692 entstanden sein dürfte, lesen wir: Si necessitas eligendi Optimum tolleret libertatem, sequeretur Deum, angelos, beatos, nos ipsos libere non agere, cum a majore bonitate, vera vel apparente, ad agendum determinemur, und in einer seiner Marginalien zu einem Buch von Stephan Nye (27. März 1705): neque in summa verum puto totum Universum melius fieri potuisse. Et cavendum est ne nimio tuendae libertatis ardore divinae bonitati ac sapientiae injuriam faciamus, id est verae Theologiae principia evertamus. Si Deus semper optimum eligeret, an ideo liber non esset? Instantiae tantum probant nostram ignorantiam. (Grua S. 253, vgl. 276). 38 Scilicet indifferentia ab ignorantia oritur et quanto quisque magis est sapiens, tanto magis ad perfectissimum est determinatus (GP VII S. 304, Nov./Dez. 1697). Vgl. ebenfalls Grua S. 551 (nach 1689): Quanto perfectior est voluntas, tanto magis ab indifferentia abest.

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existierenden Dinge, enthalten offenbar bereits im Keim seine große These, diese Welt sei die beste der möglichen Welten, wenngleich diesem Keim noch die idealen Wachstumsbedingungen fehlen, die wohl erst durch den Fortschritt seiner mathematischen Studien und Entdeckungen in Paris zustande gekommen sind. Es scheint mir daher insbesondere der Mühe wert, zu untersuchen,wann Leibniz sein Prinzip einer unendlichen Vielheit möglicher Welten39 zuerst formuliert hat, auf welchem Wege er zu diesem, seinem eigentlichen Schlüsselgedanken zur Lösung des The´odice´e-Problems gelangt ist. Die uns 1664 bei ihm schon begegnende These,40 Gott wähle das Beste, bietet für sich genommen noch keinen Beleg für die Konzeption einer Vielheit möglicher Welten, denn zum einen hat sie eine lebendige, bis auf Platon zurückreichende und nicht mit dieser Konzeption verknüpfte Tradition, zum andern ist die unendliche Gesamtheit der nichterwählten (also niemals zur Existenz gelangenden) Möglichkeiten zunächst auch noch für Leibniz völlig ungegliedert.41 Erst mit der Forderung der Kompatibilität oder Kompossibilität einzelner Möglichkeiten untereinander hat Leibniz ein Prinzip an die Hand bekommen, das ihm ermöglichte, aus der ungegliederten Unendlichkeit von Möglichkeiten die jeweils miteinander verträglichen Möglichkeiten zu je einer der unendlich vielen möglichen Folgen oder, wie er später sagt, möglichen Welten zusammenzufassen.42 Die Kompatibilität stiftet Ordnung, eine relatio plurium distinctiva, insofern sie eine ratio quodvis a quovis distinguendi43 darstellt. Diese Perspektive, die Kompatibilität gleichsam als weltbildendes Prinzip aufzufassen, dürfte sich Leibniz erst in Paris nach 1673 bei der Behandlung arithmetischer Reihen eröffnet haben.44 Denn erst 1673 in dem Dialog Confessio philosophi führt er die Termini incompatibilia für die bloßen Möglichkeiten und 39

The´odice´e § 42: mon principe d’un infinite des mondes possibles. Siehe oben Anm. 25. 41 Leibniz an Wedderkopf, wohl Mai 1671 (Akad.-Ausg. II,1 S. 117 [AA II,12 186.27–28]): Deus . . . seligit ex numero omnium possibilium infinito. 42 Leibniz an Bourguet im Dezember 1714 (GP III S. 573): il y a plusieurs Univers possibles, chaque collection de compossibles en faisant un. 43 Couturat S. 535 und GP VII S. 290. 44 Gruas Hinweis (Textes ine´dits S. 16 Anm. 49), dass Leibniz’ Beschäftigung mit den Zahlenreihen seit 1673 die Bezeichnung der Welt als series rerum inspiriert haben dürfte, ist im Hinblick darauf, dass diese Bezeichnung seit Cicero (De Natura Deorum I, 4, § 9) geläufig war (vgl. J. Bendiek ofm, Über den Gebrauch von Reihen in den Gottesbeweisen. Franziskan. Stud. 45 [1965] 300), zu ergänzen durch die Akzentuierung des mathematischen Prozesses der Reihenbildung selbst, der sehr wohl als Modell gedient haben kann, für die Behandlung der Kompatibilität als weltbildendes Prinzip. Zur Charakterisierung der kontingenten Sätze hat Leibniz sich übrigens schon im Sommer 1669 der Kompatibilitätsforderung bedient (vgl. AA VI, 2, S. 390). 40

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series rerum für die kontingente Abfolge der Dinge und Ereignisse, die diese unsere Welt ausmachen, ein und argumentiert, wenn man Gottes Existenz leugnet, hebt man die ganze series rerum auf, anerkennt man sie aber, so setzt man damit auch die ganze Folge der Dinge. Noch ist keine Rede von einer Vielheit möglicher Folgen oder Welten, sondern nur von der einen Abfolge der Dinge, von den Geschöpfen, die waren, sind oder sein werden.45 Eine neue Wendung bahnt sich offenbar erst in der schriftlich ausgetragenen Diskussion mit einem bis heute noch nicht wieder ermittelten Partner an, dessen Einwände uns zusammen mit Leibniz’ Antworten als Marginalien zur Reinschrift dieses Dialoges überliefert sind. Der Glossator [Niels Stensen] wendet ein, es sei zwar völlig gewiß, dass die ganze Folge der Dinge im Verstande Gottes ist, aber als eine solche von möglichen und nicht als eine solche von wirklich existierenden Dingen.46 Denn es sei weder bewiesen, dass nicht auch andere Folgen der existierenden Dinge, noch dass nicht auch weitere Folgen nichtexistierender Dinge möglich und als solche ebenfalls im Verstande Gottes sind. Wenn aber im Verstande Gottes unendlich viele Folgen sind, dann könne mit der Setzung Gottes nicht diese eine, gerade wirkliche Folge der Dinge gesetzt sein.47 Darauf erwidert Leibniz zunächst, dass Folgen anderer Dinge an sich durchaus möglich seien (was ja nur auf eine abstrakte Formulierung der von ihm zu Anfang dieses Dialoges mit dem Romanargument bereits geforderten Anerkennung der bloßen Möglichkeiten hinauskommt), dass sie jedoch nicht verträglich (compossibiles) seien, wie er hier noch formuliert, mit der göttlichen Weisheit.48 Man setze, wenn man Gott setzt, nur deshalb die eine Folge der Dinge, weil Gott als Weisester nichts als das Beste will. Zwar seien in der Tat alle möglichen Folgen im Verstande Gottes, aber nur eine davon in Ansehung der besten.49 Damit formuliert Leibniz wohl zum ersten Mal den Gedanken einer 45

Confessio philosophi S. 38 [AA VI,3 S. 121.6–7]: certum est, sublato Dei tolli, posito poni totam seriem rerum. 46 S. 38 Marg. 1 [AA VI,3 S. 121 Fn 7]: posito Deo poni totam seriem rerum etc., ut sunt in idaea Dei certum est, seu ut possibiles; at ut actu exsistentes non est certum, cum nondum demonstravit non esse possibiles alias earundem rerum series, multo minus demonstravit non esse possibiles aliarum rerum series. 47 S. 42f. Marg. 2 [AA VI,3 S. 123 Fn 11]: non sequitur posito Deo, poni hanc rerum harum Seriem, quia possunt poni aliae. Nec ideo negatur poni necessario hanc Seriem, ac si aliquid aliud a deo independens requireretur, sed quia potuisset non posita hac Serie, aliam posuisse. Unde non est verum si A est, etiam B est, sed potest esse C vel D etc. Multo minus si B non est neque A erit. Imo si distinguimus inter idaeas rerum et res actu extra eas exsistentes sequitur quidem posito A poni omnes possibiles rerum series in idaea Dei, at non sequitur, poni necessario potius hanc quam illam Seriem in actu extra idaeas, vel ullam poni. 48 S. 38 Marg. 1 [AA VI,3 S. 121 Fn 7]: Possibiles sunt aliarum rerum series in se, sed non sunt compossibiles sapientiae divinae.

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Vielheit von möglichen, genauer gesagt, bloß möglichen Folgen, die von der einen wirklichen Folge der Dinge unterschieden ist. Es bleibt auszumachen, wieviel er bei der Findung dieses Gedankens seinem Diskussionspartner verdankt. Die scharfe Abgrenzung des Bloßmöglichen von dem durch Gottes Wahl zur Existenz Gelangenden, also Kontingenten, die eigentliche Voraussetzung dieses Gedankens war ihm jedenfalls, wie oben nachgewiesen, bereits geläufig. Von dem Gedanken einer Vielheit möglicher Folgen zu dem einer Vielheit möglicher Welten dürfte es nur ein kleiner Schritt gewesen sein, der kaum noch nachzuweisen sein wird. Ein viel wichtigerer Punkt wird jedoch zumeist nicht beachtet, dass nämlich zwischen dem Leibnizschen Prinzip einer unendlichen Vielheit möglicher Welten und den seit alters geläufigen Behauptungen einer wirklichen oder möglichen Vielheit von wirklichen Welten streng zu unterscheiden ist. Es ist die Vielheit wirklicher, existierender Welten, die zur Frage stand, als Leibniz sich im Dezember 1676 notierte, dass es nicht nötig sei, viele Welten zu setzen, ja dass es heiße, den Namen Existenz mißbrauchen, wenn man eine andere Gattung von existierenden Dingen, gleichsam eine andere Welt einführen wolle.50 Die alten Probleme de pluralitate mundorum, de mundo in luna et in planetis, de mundis ante hunc mundum, haben natürlich auch Leibniz beschäftigt, aber man darf nicht übersehen, dass ihnen ein anderer Weltbegriff zugrunde liegt, dass es darum geht, ob diese Welten von geistigen Wesen bewohnt sind oder, wie Leibniz formuliert, quod non videantur deesse rebus spectatores.51 Auch wenn er wiederholt anmerkt, dass (wegen der Teilbarkeit der Materie) in jedem kleinsten Teil des Universums eine ganze Welt unzählbar vieler Kreaturen enthalten sei,52 so will er damit eine aktuelle Unendlichkeit wirklicher Welten behaupten, gebraucht also den Terminus »Welt« in diesem Zusammenhang wissentlich homonym. 49

S. 42f. Marg. 2 [AA VI,3 S. 122 Fn 11]: non ponitur series ob Deum positum nisi quia Deus sapientissimus non nisi Optimum vult. Omnes series possibiles sunt in idea Dei, sed una tantum sub ratione optimi. 50 Vgl. Couturat S. 529 [AA VI,3 S. 581.12–13]. Um 1671 war Leibniz eine solche Vielheit von Welten durchaus geläufig: omnes Mundi contigui sunt (LH XXXVII, 3 Bl. 155vo). 51 Vgl. De religione magnorum virorum (nach 1685) (Grua S. 39f.). Fontenelles 1686 erschienenen Entretiens sur la pluralite´ des mondes beschränken sich auf diese Fragestellung. 52 Vgl. Jagodinski S. 32f. [AA VI,3 S. 474.13–16] (11. Febr. 1676): Si verum est quamlibet partem materiae, utcunque exiguam, continere infinitas creaturas, sive esse Mundum, sequitur etiam materiam esse reapse in infinita puncta divisam. Verum autem hoc est, modo sit possibile, nam auget multitudinem existentium et harmoniam rerum, sive admirationem sapientiae divinae und ferner Couturat S. 622 [AA VI,3 S. 565.22–24] (Okt. 1676) und 522 [AA VI,4 S. 1647.24–25] (gegen 1689 in Italien) sowie GP VII S. 315 (wohl um 1695) und Grua S. 138 (9. Okt. 1698).

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Wenn Leibniz jedoch am 15. April 1676 die Hypothese einer anderen Welt erwägt, in der andere Naturgesetze gültig sein könnten,53 und im Januar 1678 zur Begründung der Kontingenz der Naturgesetze auf sie rekurriert,54 so scheint er damit bereits implizite Gebrauch zu machen von einer Vielheit möglicher Welten, erst recht wenn er etwa zur gleichen Zeit die notwendigen Wahrheiten als diejenigen von den kontingenten abhebt, die auch dann gültig wären, si Deus alia ratione mundum creasset;55 und wohl nur wenig später formuliert er bereits: Ex omnibus modis possibilibus quibus existere posset Universum seu series rerum unus modus perfectissimus est, is nimirum qui reapse existit.56 Der Gedanke ist damit also konzipiert, der Terminus mögliche Welt jedoch noch nicht geprägt. Leibniz selbst hat allerdings in der The´odice´e angegeben, er habe bereits in einem Dialog, den er 1673 Antoine Arnauld vorgelegt hätte, er meint offenbar die Confessio philosophi, dargelegt, dass Gott le plus parfait de tous les Mondes possibles erwählt hätte.57 Das ist sicherlich für den Gedanken richtig, der Terminus selbst läßt sich jedoch, soweit ich sehen kann, erst in einem Brief an eben diesen Antoine Arnauld vom 14. Juli 1686 nachweisen, in dem Leibniz ausdrücklich schreibt: »um mich besser verständlich zu machen, füge ich hinzu, ich meine, dass es unendlich viele mögliche Weisen diese Welt zu erschaffen gegeben hat gemäß den verschiedenen Plänen, die Gott entwerfen konnte, und dass jede mögliche Welt von den Hauptabsichten oder Zwecken Gottes, die allein in ihr verwirklicht werden konnten, abhing«.58

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naturae. 54

Vgl. Jagodinski S. 116 [AA VI,3 S. 513.]: posset enim in illo Mundo alia esse lex

In alio forte systemate mundi . . . etiam alia facienda esset virium aestimatio (LH XXXV, 9, 23 Bl. 18 v°). 55 Couturat S. 18 [AA VI,4 S. 1517.4–6]. 56 Grua S. 16 [AA VI,4 S. 1362.20–21], vgl. ferner S. 2. 85 [AA VI,4 S. 2231.1– 2233.7], (wohl Okt. 1679). 57 Preface und § 211. 58 Cela pourroit suffire, mais a` fin de me faire mieux entendre j’adjouteray, que je conc¸ois qu’il y avoit une infinite´, de manieres possibles de cre´er le Monde selon les differens desseins que Dieu pouvoit former, et que chaque monde possible depend de quelques desseins principaux ou fins de Dieu, qui luy sont propres, c’est a` dire de quelques decrets libres primitifs (conc¸us sub ratione possibilitatis) ou Loix de l’ordre general de cet Univers possible, auquel elles conviennent, et dont elles determment la notion, aussi bien que les notions de toutes les substances individuelles qui doivent entrer dans ce meˆ me univers. (GP II S. 51, [AA II,2 S. 73 Fn 46]). Wohl noch deutlicher wird seine Hypothese aus den Bemerkungen zu dem Brief von Arnauld vom 13. Mai 1686, in denen es heißt: Car comme il y a une infinite´ de mondes possibles, il y a aussi une infinite´ de loix, les unes propres a` l’un, les autres a` l’autre, et chaque individu possible de quelque monde enferme dans sa notion les loix de son monde (GP II S. 40, [AA II,2 S. 47.3–5]). Es spricht

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Es kommt nun sehr darauf an, wie man diesen Begriff mögliche Welt zu verstehen hat. Eine Welt A ist eine mögliche Welt kann heißen: A ist eine denkmögliche Welt, oder: es ist Gott möglich, die Welt A zu erschaffen, oder aber: es gibt eine Vereinigung aller miteinander verträglichen Möglichkeiten, diese Vereinigung konstituiert die mögliche Welt A. Dass Leibniz letztlich den Begriff einer möglichen Welt nicht im Sinne einer denkmöglichen Welt verstanden hat, beweist besonders einleuchtend der Schlussmythos der The´odice´e: Die Spitze der Pyramide der möglichen Welten stellt keine andere als unsere Welt dar. Niemand wird leugnen, dass im Sinne der logischen Widerspruchsfreiheit der die Welt konstituierenden Fakten eine bessere Welt als die unsere denkbar, also im weiteren Sinne möglich wäre. Also muß Leibniz sich unter einer möglichen Welt etwas anderes als eine nur denkmögliche Welt vorgestellt haben.59 Wenn wir mögliche Welt interpretieren als möglich für Gott, sie zu schaffen, so drückt die Aussage, diese Welt sei die bestmögliche, jedenfalls dann eine für Leibniz unannehmbare Schmälerung der Vollkommenheit Gottes aus, wenn damit gesagt werden soll, bessere Welten sind an sich zwar möglich, aber Gott war es nicht möglich, sie zu schaffen. Wenn aber damit gesagt werden soll, diese Welt ist die bestmögüche, weil alle anderen zwar denkbaren Welten an der Unverträglichkeit ihrer Konstituentien scheitern, d. h. an der Bedingung der Kompatibilität, dann verstehen wir mögliche Welt in dem letztgenannten Sinn. Ebensowenig wie das Widerspruchsprinzip für das hohe Mittelalter eine Beschränkung der Allmacht Gottes darstellte, war für Leibniz eine Schmälerung der göttlichen Vollkommenheit oder Beschränkung der göttlichen Freiheit durch sein Vollkommenheitsprinzip gegeben, demzufolge eine andere Wahl als die des Besten wenn auch keine

mehreres dafür, dass Leibniz den Begriff der möglichen Welt erst hier geprägt hat. Im Anfang 1686 verfaßten sogenannten Discours de me´taphysique kommt er explizit noch nicht vor, obgleich er der Sache nach durchaus im Abs. VII als vorausgesetzt anzusehen ist. Arnauld hat die Diskussion dieser Konzeption jedoch abgelehnt. (GP II S. 64, [AA II,2 S. 94.23–28].) 59 Es ist mir allerdings kein differenzierter Beleg bekannt, aus dem zu ersehen ist, dass Leibniz eine bessere Welt als die existierende für widerspruchsvoll gehalten hat. In einer Diskussion mit Gabriel Wagner (März 1698, bei Grua S. 390) gibt Leibniz sogar zu: Quot series rerum fingi possunt non implicantes contradictionem, tot mundi possibiles sunt. Jedoch muß man berücksichtigen, dass er bereits bei der Erörterung dieser These die possibilitas metaphysica, dergemäß man sich alle möglichen Welten distinkt einbilden kann, soweit sie widerspruchsfrei denkbar sind, unterscheidet von der possibilitas physica, die nur unserer wirklichen Welt zukomme, quia ex omnibus possibilibus nullus est [mundo] nostro melior et perfectior, und das will Leibniz hier behaupten auf Grund seines Prinzips ex omnibus seriebus possibilibus existit optima et perfectissima.

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logische – Leibniz sagt metaphysische − Unmöglichkeit, so doch eine Unvollkommenheit, eine moralische Unmöglichkeit einschließen würde. Da Gott nur das im ganzen gesehen Vollkommenste zur Wirklichkeit kommen läßt, kann Leibniz diese moralische Unmöglichkeit auch eine physische nennen.60 Wenn mögliche Welt also im Sinne einer Koordination von miteinander verträglichen Möglichkeiten verstanden werden muß, braucht Leibniz’ beste der möglichen Welten sich nicht von Voltaires Verhöhnung des flachen Optimismus der Aufklärung getroffen zu fühlen; denn die beste Welt im Sinne des Candide wäre von Leibniz überhaupt nicht als eine der möglichen Welten angesehen worden. Sie ist ein reines Gedankending, eine Fiktion. Für Leibniz jedoch sind die möglichen Welten keine Fiktionen. Sie haben Realität im Geiste Gottes.61 Gott übersieht in seiner Allwissenheit gleichzeitig alle Möglichkeiten in allen möglichen Welten, d. h. alle jeweils miteinander verträglichen Möglichkeiten, und erkennt, dass eine dieser möglichen Welten diejenige ist, die, wenn man das Ganze betrachtet, die beste ist.62 Erst diese Erkenntnis gibt ihm einen zureichenden Grund, diese und keine andere Welt zu schaffen, trotz ihrer Mängel, weil sie eben doch die beste der kompatibilitätsbedingten möglichen, eben die bestmögliche ist. Andererseits wissen wir, da wir in dieser Welt leben, dass Gott eine Welt und nicht nichts geschaffen hat. Also muß er auch einen Grund gehabt haben, warum er eine Welt und nicht nichts geschaffen hat, und dieser kann seiner Weisheit und Güte, seiner Vollkommenheit gemäß kein anderer sein als der, der besten der möglichen Welten zur Existenz zu verhelfen. Umgekehrt, gäbe es keine beste unter den möglichen Welten, hätte Gott gar keinen Grund gehabt, überhaupt eine zu schaffen.63 Wer die The´odice´e gelesen hat, erst recht wer bemüht war, sich beim Durcharbeiten von Leibniz’ Aufzeichnungen, Schriften und Briefen ein getreues Bild zu machen von diesem alles andere als weltfremden Menschen, kann nicht übersehen haben, welch tiefe christliche Resignation in seiner These von der besten der möglichen Welten zum Ausdruck kommt.64 Er wird gesehen haben, dass diese 60

Siehe oben Anm. 25 Ende, vgl. ferner GP VII S. 304 (Nov./Dez. 1697). Ja, in der The´odice´e (§ 333) weist er sogar eine Beschränkung der göttlichen Allmacht zurück: Dieu ne laisse pas d’etre toutpuissant, quoyqu’il ne puisse point faire mieux que de produire le meilleur. 61 Vgl. GP VII S. 311 (wohl vor 1695) und VI S. 440 (1710). 62 Vgl. The´odice´e § 42 und besonders § 225, ferner Causa Dei § 15, wo es heißt, man könne die possibilia contingentia, also die compatibilia betrachten, tum ut sejuncta, tum ut coordinata in integros Mundos possibiles infinitos. Jede dieser möglichen Welten sei Gott vollkommen bekannt, jedoch nur eine, die beste, würde, nachdem er alle miteinander verglichen habe, zur Existenz geführt (GP VI S. 440). 63 Vgl. The´odice´e §§ 8, 196 und 416.

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These Ausdruck einer männlichen Ergebenheit in den göttlichen Willen ist, einer Resignation, die, wie Leibniz einmal schreibt, in den Handlungen der göttlichen Liebe gründet und die in Ansehung der göttlichen Vollkommenheiten und Gottes unendlicher Weisheit, die alles auf bestmögliche Weise gemacht hat, allen Grund hat, mit allem, was bisher eingetroffen ist, zufrieden zu sein. Was aber, wie Leibniz sogleich hinzufügt, keinen Fatalismus oder Quietismus zur Folge haben dürfe und uns nicht daran hindern solle, das, was zu tun bleibt, soweit es uns eben möglich ist, gut zu tun; gut, soweit wir es begreifen können, gemäß der Maxime: Boni consulere praeterita, optima reddere conari futura.65 Spätestens seit 1676 begründet Leibniz die Optimität der existierenden Welt nicht nur theologisch, sondern auch ontologisch durch seine Lehre von der Quantifizierung der Essenzen und ihrem Daseinsstreben.66 Alle Möglichkeiten, auch die bloßen Möglichkeiten, sind für Leibniz, wie gesagt, keine entia fictitia.67 Abgesehen davon, dass sie im Verstande Gottes, der regio idearum, existieren, besitzen sie Wesenheit, Realität, einen Grad an Vollkommenheit. Er definiert ausdrücklich: alles das ist möglich, was irgendeinen Grad an Vollkommenheit besitzt,68 und argumentiert: Da aus der Existenz der Welt zu schließen ist, dass eher etwas als nichts existiert, müssen die Möglichkeiten oder Essenzen etwas an sich haben, woraus ihr Dasein folgt, gleichsam einen Drang zu existieren.69 Dieses Streben 64

Siehe E. Hochstetter, Zu Leibniz’ Gedächtnis, in: Leibniz zu seinem 300. Geburtstag, Lieferung 3 (Berlin 1948) S. 74. 65 An A. Morell am 11. Okt. 1697 (Grua S. 114): Cependant, il faut vous avouer que je n’ai jamais pu approuver les expressions de certains quietistes, qui veulent reduire l’ame a` un estat passif. Je veux croire qu’ils cachent un bon sens la` dessous, et qu’ils entendent une pure resignation en la volonte´ de Dieu. Mais cette resignation meˆ me vient des actes d’amour, en considerant les perfections divines et cette sagesse infinie, laquelle faisant tout le mieux qu’il est possible, en a sujet d’estre content de tout ce qui est deja arrive´. Mais on doit en meˆ me temps faire, autant qu’il est possible, que ce qui reste encore a` faire soit bien, autant que nous le pouvons comprendre. Vgl. oben Anm. 27. 66 Angeregt worden sein könnte diese Lehre durch die von Descartes in der dritten Meditation für seinen Gottesbeweis herangezogene Quantifizierung der realitas objectiva einerseits und der realitas actualis sive formalis andererseits. 67 Gegen einen Einwand G. Wagners hat Leibniz das ausdrücklich festgestellt (vgl. Grua S. 392f.). In der Auseinandersetzung mit Locke gibt er eine analoge Antwort, wenn er behauptet, Chimären seien nicht durch Nichtexistenz, sondern durch Widersprüchlichkeit gekennzeichnet (vgl. AA VI,6 S. 263–266). 68 Itaque tenendum est id omne possibile esse quod aliquem includit gradum perfectionis . . . Dico igitur: possibile est, cuius aliqua est essentia, seu realitas, seu quod distincte intelligi potest (Grua S. 288f. [AA VI,4 S. 1446.15 u. 1447.19–20], um 1681). 69 Quoniam aliquid potius existit quam nihil, necesse est in ipsa Essentia sive possibilitate aliquid contineri, unde existentia actualis sequatur, ac proinde realitatem sive possibilitatem quandam ad existendum propensionem inferre (Grua S. 16f. [AA VI,4

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nach Existenz macht ihre Realität aus. dass alle Möglichkeiten Realität haben, soll also nicht besagen, dass sie außerhalb der regio idearum bereits existieren.70 Die einzelnen Möglichkeiten werden durch ihre Realitätsgrade unterschieden oder, wie Leibniz auch formuliert, durch die Menge an Wesenheit (quantitas essentiae), die sie besitzen.71 Realität und Vollkommenheit sind also für ihn gleichbedeutend mit Streben nach Existenz. Von den in ihrem Daseinsstreben konkurrierenden Möglichkeiten gelangen jeweils die Möglichkeiten zur Existenz, die am meisten Realität, also den höchsten Grad an Vollkommenheit besitzen, was nicht bedeutet, dass ihnen je für sich genommen, sondern, wie Leibniz sagt, si summa rerum spectes ein Maximum an Vollkommenheit eignet. Alles in allem statuiert Leibniz im Februar 1676 als Prinzip: soviel wie an Essenz existieren kann, existiert; mit anderen Worten: es existiert ein quantitatives Maximum an Wesenheit, die harmonia rerum.72 Das bedeutet soviel wie: diese unsere existierende Welt stellt ein Maximum an Wesenheit dar, sie repräsentiert im ganzen gesehen die größtmögliche Vollkommenheit. Das allein macht den hinreichenden Grund aus dafür, dass sie und keine andere der unendlich vielen realiter möglichen Welten wirklich geworden ist. Es gibt, sagt Leibniz, in den Dingen immer ein Entscheidungsprinzip, das auf Grund eines Maximums oder eines Minimums zu gewinnen ist, nämlich: der größte Effekt wird mit kleinstem Aufwand erreicht.73 Dietrich Mahnke hat diese eigenartige Theorie vom Daseinsstreben der Essenzen mit guten Gründen aus Leibniz’ Beschäftigung mit der Wahrscheinlich-

S. 1363.10–12], 1679). Itaque omnia Entia quatenus involvuntur in primo Ente, praeter nudam possibilitatem habent aliquam ad existendum propensionem, proportione bonitatis suae, existuntque volente Deo nisi sint incompatibilia perfectioribus (GP VII S. 310, wohl 1688 [AA VI,4 S. 1617.18–28]). Primum agnoscere debemus . . . aliquam in rebus possibilibus seu in ipsa possibilitate vel essentia esse exigentiam existentiae, vel (ut sic dicam) existentiam (GP VII S. 303, Nov./Dez. 1697). 70 Die Konkurrenz der zur Existenz drängenden Möglichkeiten stellt also einen dem göttlichen Verstand immanenten Prozess dar. 71 Generalissimum autem possibilium discrimen est ipse gradus realitatis seu quantitas essentiae (Grua S. 17 [AA VI,4 S. 1363.22–24], 1679). 72 Recte expensis rebus, pro prineipio statuo, Harmoniam rerum, id est ut quantum plurimum essentiae potest existat. Sequitur plus rationis esse ad existendum, quam ad non existendum, et omnia extitura, si id fieri posset. Cum enim aliquid existat, nec possent omnia possibilia existere, sequitur ea existere, quae plurimum essentiae continent, cum nulla sit alia ratio eligendi caeteraque excludendi (Jagodinski S. 28 [AA VI,3 S. 472.11–15]). 73 GP VII S. 303 (Nov./Dez. 1697). Im gleichen Sinne äußert er schon in seinem Pariser Tagebuch im Dezember 1675 polemisch: Cartesius confugit ad immutabilitatem Dei; debebat appellare harmoniam rerum Dei, simplicissima enim eligere ad maxima praestanda sapientissimi est (Jagodinski S. 16 [AA VI,3 S. 466.23–25]).

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keitsrechnung abgeleitet.74 Nicht weniger scheint Leibniz jedoch durch seinen 1673–76 ebenfalls in Paris entwickelten Differentialkalkül zu ihrer Konzeption angeregt worden zu sein. Erst seine in diesem Kalkül entwickelte Methode de formis optimis, wie er sie später einmal sehr bezeichnend nennt,75 hat ihm die Berechnung und Handhabung von Maxima und Minima, also von Extremen ermöglicht, mit der er auch den Grund legte zur Aufstellung der Extremalprinzipien der klassischen Physik. Aber das muß im einzelnen noch untersucht werden. Jedenfalls ist nicht von der Hand zu weisen, dass insbesondere in der Bearbeitung der Probleme der Kontingenz der Metaphysiker Leibniz dem Mathematiker Leibniz verpflichtet ist.76 IV Damit soll diese kurze und in vieler Hinsicht einseitige Studie zum Kontingenzbegriff abgeschlossen werden,77 nicht ohne insbesondere anzumerken, dass Leibniz selbst als seine bedeutendsten Beiträge zur Lösung des Kontingenz- und Freiheitsproblems seine Aufdeckung der Analogie zum mathematischen Problem der Inkommensurabilien und zum Problem der unendlichen Analysis gewertet hat.78 Die Darstellung dieser Bemühungen, von denen Leibniz sagt, »die der nicht 74

Dietrich Mahnke, Leibnizens Synthese von Universalmathematik und Individualmetaphysik. Jb. Philosoph. u. phänomenol. Forsch.ung 7 (1925) S. 384f. 75 Ce qui me paroist le plus beau dans cette consideration est que ce principe de la perfection au lieu de se borner seulement au general, descend aussi dans le particulier des choses et des phenomenes, et qu’il en est a` peu pres comme dans la Methode de Formis Optimis, c’est a` dire maximum aut minimum praestantibus, que nous avons introduite dans la Geometrie au dela` de l’ancienne methode de maximis et minimis quantitatibus (GP VII S. 272, nach 1696). 76 N. Rescher, Contingence in the Philosophy of Leibniz. Philos. Rev. 61 (1952) 39. Dem von Rescher in diesem Beitrag gegen Leibniz’ wiederholte Aussagen gemachten Einwand, nicht der Satz vom Grunde, sondern das principe du meilleur sei das Prinzip der Kontingenz, ist übrigens entgegenzuhalten, dass das Vollkommenheitsprinzip die ontologische Explikation des Satzes vom Grunde darstellt, da abgesehen von dem göttlichen Dekret ja nichts anderes als die Meliorität die ratio existendi des Kontingenten ausmacht. 77 Last not least muß hier auch auf G. Grua, Jurisprudence universelle et the´odice´e selon Leibniz (Paris 1953) hingewiesen werden. Die Reichhaltigkeit der einschlägigen Stellenangaben machen dieses Werk für die Bearbeitung der angeschnittenen Fragen unentbehrlich. 78 Schon um 1678 bekennt er bezüglich der unendlichen Analysis der kontingenten Wahrheiten: Sed cognitio rerum Geometricarum atque analysis infinitorum hanc mihi lucem accendere, ut intelligerem, etiam notiones in infinitum resolubiles esse (Couturat S. 18 [AA VI,4 S. 1516.25–26]), und, um nur eine weitere aus einer großen Anzahl

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ZUM PROBLEM DER KONTINGENZ BEI LEIBNIZ

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leicht verstehen wird, er keine mathematischen Kenntnisse besitzt«,79 soll einer späteren Untersuchung vorbehalten bleiben. Ich mußte mich darauf beschränken, deutlich zu machen, dass der Kontingenzbegriff und die mit ihm in Korrelation stehenden Begriffe von Leibniz am Leitfaden eines überlieferten formalen Modalschemas gewonnen wurden und daher an eben diesem Leitfaden in bestmöglicher Weise zu interpretieren sind. Denn, wenn Leibniz etwas als Hilfsmittel angesehen hat, um aus dem Labyrinth der zeitgenössischen Diskussionen herauszufinden, dann war es die formale Klärung und gegenseitige Abgrenzung der Begriffe.

diesbezüglicher Stellen zu zitieren, im Dezember 1705 schreibt er in einem über und über korrigierten Entwurf für eine Vorrede zu einer Übersetzung der Darstellung der neununddreißig Artikel der anglikanischen Kirche von Gilbert Burnet: Materiam de libertate, contingentia, Fato, ac praedeterminatione inde ab adolescentia versavi, visusque sum mihi filum aliquod reperisse in hoc labyrintho, detecta contingentiae radice, cuius notio in metaphysicis aliquam cum incommensurabilium natura Geometrica Analogiam habet (Grua S. 457). 79 . . . quod non facile intelliget nisi qui aliquam tincturam matheseos habet, in einer 1689/90 in Italien verfaßten Aufzeichnung über die Kontingenz (Grua S. 303 [AA VI,4 S. 1650.11–12]).

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GLÜCK DURCH WISSEN ZUR BESTIMMUNG

DES

PHILOSOPHEN

DURCH

LEIBNIZ

Wir sind zusammengekommen, um mit der Besinnung auf den Philosophen, auf seine Bestimmung, unseren verstorbenen Freund Jakob Lanz zu ehren.1 Lassen Sie mich unsere Aufmerksamkeit auf das 17. Jh. lenken, auf Gottfried Wilhelm Leibniz insbesondere, dessen Intentionen und der lebenslange Versuch sie zu realisieren, exemplarisch sind für den Philosophen, der nicht für die Schule philosophiert, sondern für die Welt und in der Welt. Den entscheidenden Schritt zu seiner Selbstbestimmung als Philosoph tat der 20-jährige Leibniz nach Abfassung hervorragender akademischer Schriften – nur eine davon war die berühmte Ars combinatoria – und nach einer glänzenden juristischen Promotion, als er eine Professur ausschlug und die Enge der Universität für immer verließ. Das war insofern nichts Ungewöhnliches, als die meisten bedeutenden Philosophen der Zeit, von Descartes, Pascal und Spinoza auf dem Kontinent bis zu Hobbes, Locke und Berkeley auf der Insel, Gleiches taten. Die Universität war nicht das Feld, auf dem ein Philosoph sich bewähren konnte, schon garnicht einer, der, so sehr wie Leibniz, seine durch Vernunft und Glauben gesicherte Bestimmung darin sah, Theorie und Praxis verbindend in das öffentliche Leben einzugreifen, dessen Sorgen und Ideen alle Bereiche der Politik durchdrangen, die der Staaten ebenso wie die der Konfessionen, die der Wirtschaft, des Handels und der Finanzen ebenso wie die des Sozialen, der Kultur und der Wissenschaften, um alles ihm nur mögliche zu tun, damit alle Menschen über das Zeitliche hinaus die Glückseligkeit erreichen. Leibniz hat weder die Philosophie noch sich als Philosophen jemals ausdrücklich in frage gestellt. Er übernimmt die in der Schulphilosophie geläufige ciceronianische Definition philosophia est Studium sapientiae, gibt ihr aber einen

1

Dieser Beitrag ist im Archiv für Begriffsgeschichte, Band XXVI Heft 2, 1982, 184–192 erschienen.

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eigenen Sinn, wenn er den sapiens nicht definiert durch den Vollbesitz an Weisheit und Wissen, sondern durch die Intention, sich die Glückseligkeit aller zum Ziel zu setzen und alles zu tun, was zum Erreichen dieses Zieles dienlich ist. Wenn der junge Mann jemals Zweifel gehabt haben sollte an dieser hochgesteckten Bestimmung, dann hat er sie spätestens als 30-jähriger in Paris ausgeräumt, als er sich notierte: »Ich kenne niemanden, der glücklicher ist als ich, dem Gott diese Einsichten gegeben hat. Daher beneide ich auch keinen König. Ich bin sicher, dass Gott mir besondere Sorge zuwendet und meinen Geist, dem er einen so sicheren und leichten Weg zur Glückseligkeit eröffnet, zu mächtigen Freuden bestimmt hat.«2 Dieses Bewußtsein der Auserwähltheit dürfte Leibniz auch später noch über manche Enttäuschung hinweggeholfen haben. Die »Religion, der ich folge«, schrieb er wenig später, »macht mich sicher, dass die Liebe zu Gott in einem heißen Verlangen besteht, sich um das allgemeine Wohl zu kümmern, und die Vernunft lehrt mich, dass es nichts Vorteilhafteres für das öffentliche Wohl aller Menschen gibt, als zu ihrer Vervollkommnung beizutragen«.3 »Daher erwog der Jüngling«, erläutert Leibniz in einem seiner frühen Pseudonymen Entwürfe zur Einleitung seiner demonstrativen Enzyklopädie, »als er mit sich über die beste Art zu leben, gleichsam über seine private Verfassung zu Rate ging, vor allem anderen, dass ihm als Privatmann dasjenige das Beste erscheinen müsse, was für die Allgemeinheit am fruchtbarsten wäre, was zum Ruhme Gottes gehörte, den zu verwirklichen dem Einzelnen nicht weniger als der Menschheit angelegen sein müßte, dass aber dem Menschen an Mitteln das Vortreffliche zu erreichen keines geeigneter sei als der Mensch selbst, und unter den Menschen keiner, sagt er im Blick auf einen potentiellen Förderer, »ohne den Großes nicht zu leisten wäre, als der König, der Statthalter Gottes, nicht weniger in Sachen der Macht als der Wahrheit, wenn doch das seltene Glück der Zeiten uns einen solchen brächte«.4

2

Ego neminem me feliciorem novi, vel ideo quod mihi hoc intelligere Deus dedit, quare nulli Regum invideo; certusque sum Deum peculiarem gerere curam mei, id est ingentibus gaudiis mentem meam destinasse, cui hanc tam certam et facilem aperuit viam felicitatis. (AA VI, 3 S. 477). 3 . . . car la religion que je suis exactement, m’asseure que l’amour de Dieu consiste dans un desir ardent de procurer le bien general, et la raison m’apprend qu’il n’y a rien qui contribue d’avantage au bien general de tous les hommes, que ce qui la perfectionne. (VE S. 313 [AA VI,4 S. 7.21–24]). 4 Ergo de potissimo Vitae consilio, et velut Ratione status privati deliberans, ante omnia constituebat, id demum optimum privato videri debere quod publice fructuosissimum esset, quod ad gloriam DEi pertineret, quod effici non facientis minus quam generis humani interesset; mediorum autem homini ad praeclara nullum esse homine praestantius, et inter homines Rege Vicario DEi non potentia minus quam sapientia, si quem rara temporum felicitas talem tulisset. (AA VI,2 S. 513).

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Einsatz für das allgemeine Wohl bedeutete für Leibniz also nicht, das Beste zu tun an dem Platz, der ihm durch Herkunft und Bildung zugemessen wird, sondern bedeutete für ihn, nach Positionen zu streben, die ihn, wenn schon nicht an die Macht, so doch in die Nähe der Macht brachten, die nötig war, um seine Weltverbesserungspläne zu realisieren. Sicherlich mußte Leibniz sich selbst – nicht nur als junger Mann – unter diejenigen zählen, »welche mit Verstand ohne Macht von Gott versehen« und deren Amt bestimmen, »denen gebühret zu Rathe«. Wenn er aber unerschrocken fortfährt »denen die Macht gegeben, gebühret güthig gehör zu geben, gute Vorschläge nicht in den Wind zu schlagen«, dann begründet er seinen Anspruch gehört zu werden theologisch: »sondern zu gedencken, dass guthe aber verachtete Rathgeber vor dem allwißenden Richter dermahls eins, auch tacendo, ihnen als exprobatores ignaviae vel malitiae, zu schrecken stehen werden« (AA IV,1 S. 533). Niemand könne inmitten Elender wirklich glücklich sein (AA VI,1 S. 460), aber, davon ist Leibniz überzeugt, in dieser Welt brauche auch niemand, es sei denn, er will es, elend zu sein (AA VI,3 S. 476). Das Glück des menschlichen Geschlechts bestehe darin, zu tun, was man will, zugleich aber zu wissen, was zu wollen ist. Um dieses Wissen hat sich der Philosoph zu bemühen. Grundsätzlich gilt: Glück ist durch Wissen und Wollen, durch Aufklärung und Freiheit zu erreichen. Zur Klärung der Situation nimmt Leibniz einen alten Topos auf: »Nirgends sind wir weniger mächtig als in uns selbst« und aktualisiert ihn mit bezug auf die felicitas nostri temporis, auf das Bewußtsein des Jahrhunderts: »Herren der Welt sind wir geworden. Durch Entdeckungsreisen haben wir Länder und Meere, durch Teleskope und Mikroskope das Entfernteste und das Kleinste und durch Gutenbergs Lettern die Zeiten erobert. Nicht besiegt aber haben wir die Feinde in uns selbst. Feind ist der Mensch dem Menschen, der Körper dem Geist, der Geist sich selbst. Knaben gleich, die lernen, um das Gelernte gleich wieder zu vergessen, betreiben wir die Medizin des Körpers und des Geistes. Wir sind und bleiben Ignoranten, solange wir es unterlassen, uns auf unser Wissen zu besinnen, denn nur so können wir es praktisch nutzen.« Von den beiden Möglichkeiten sich auf das Wissen zu besinnen, lehnt der junge Leibniz die rhetorische ab, die Eloquenz, die die Affekte anspricht und gefährlich werden kann »durch die ins Volk geschleuderte Ekstase«, und sieht seine Aufgabe einzig darin, dem Verstand klare Begriffe zu vermitteln, die »wenn sie auch nur wenige erreichen, so doch die großen Geister, auf die allein die Hoffnung nach Besserung der Verhältnisse zu setzen ist« (AA VI,1 S. 460). Der Philosoph hat auch nicht wie der Dichter bloß angenehme Fiktionen, sondern das, was einen festen, alle widrigen Schicksale überdauernden Besitz des glücklichen Lebens garantiert, zu bieten (AA II,1 S. 111). Klarheit in Begriffen ist ihm erstes Gebot. Dunkelheit des Ausdrucks stehe Propheten und Alchimisten, Mystikern und Poeten wohl an, dem Philosophen könne nichts fremder sein. Zwar

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gäbe es Gründe, die Philosophen zur Verdunkelung ihrer Aussagen gezwungen hätten, etwa wenn es galt, sich der Tyrannen zu entledigen, Erfindungen nicht in falsche Hände geraten zu lassen. Wenn man aber accurate philosophiere, Definitionen, Divisionen und Demonstrationen gäbe, dann hätten alle Nebel zu verschwinden (AA VI,2 S. 419). Auch beklagt Leibniz die Libido, abstrakte Wörter auszudenken, die uns fast die ganze Philosophie verdunkelt habe und rät, sich an die konkreten Wörter zu halten – damals noch ein Grund, die deutsche Sprache dem Gelehrtenlatein vorzuziehen – und so weit wie möglich termini technici zu vermeiden (AA VI,2 S. 417f.). Die Bedeutung der wahren, reformierten Logik für die Bildung des Philosophen läge darin, dass sie wenn auch nicht die Prinzipien der Philosophie steile, nicht die Wahrheit der Dinge mache, sie dennoch zeige, vor allem aber den Philosophen mache (AA VI,2 S. 408). Diese Hochschätzung der formalen Bildung verbindet ihn mit der analytischen Philosophie unserer Tage. Leibniz faszinierte die Möglichkeit, alles Erkennbare in solche Ausdrücke zu fassen, die erkennen lassen, aus welchen irreduziblen, primitiven Begriffen sie aufgebaut sind. Er setzte dabei voraus, dass uns diese primitiven Begriffe eines Tages bei sorgfältiger Analyse in einer überschaubaren Anzahl vollständig zu Verfügung stehen und als Basis einer allgemeinen Charakteristik dienen können. Im Glauben an die Leistung der Logik, an die durchgängige Analysierbarkeit der Gedanken, an die Berechenbarkeit der Vernunft, im Vertrauen auf die Überzeugungskraft des transparent gemachten Denkens, hoffte Leibniz, die endlosen Logomachien5 der Schulen und Sekten zu beenden, setzte er alle Kräfte ein, eine allgemeine Wissenschaft, eine Scientia generalis als eine umfassende »demonstrative Enzyklopädie« zu konstituieren. Eine Enzyklopädie des Gewußten in seinen Grundzügen, mit Hilfe einer philosophischen Kunstsprache so angelegt, dass der durch einen calculus ratiocinator gesicherte deduktive Zusammenhang zwischen den Wahrheiten den zur Darstellung benutzten charakterischen Zeichen anzusehen ist, dass aber auch die künftigen Anreicherungen des Wissens konsequent aus diesem zugleich als eine ars inveniendi et judicandi angelegten Thesaurus folgen. Eine solche Enzyklopädie war ein Unternehmen, für das Leibniz sich immer schon auf die, wie er es ausdrückt, »konzertierte« Mitwirkung einer Gruppe fähiger Wissenschaftler angewiesen sah, das er gleichwohl nicht einer der von ihm geplanten Akademien zum Programm setzte. Deren Aufgabenbereich blieb in Realien, gleichsam im Vorfeld des in praktischer Absicht durchzuführenden gewaltigen theoretischen Unternehmens, das auch nichts gemein gehabt haben würde mit der berühmten Encyclopedie von Diderot und d’Alembert. In seiner

5

Vgl. J. und K. Lanz, Art. Logomachie im Historischen Wörterbuch d. Philosophie, Bd. 5, 1980.

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Scientia generalis sah Leibniz ein Instrument, durch Wissen und Aufklärung einen ökumenisch-kosmopolitischen Frieden zu stiften, angefangen bei den Konfessionen bis zu den Staaten Europas und der Verbreitung der für ihn wahren, christlichen Religion über die ganze Welt. Das alles implizierten auch die Zielvorstellungen, die bis in die Titel seiner Entwürfe drangen, wonach es darum gehen soll, die Wissenschaften einzurichten und zu vermehren, wie Bacon es schon formuliert hatte, den Geist zu vervollkommnen und durch Erfindungen zum öffentlichen Wohl, zur Gewinnung des Glückes für das ganze Menschengeschlecht beizutragen. Er verfaßte dazu eine Vielzahl von Entwürfen, einer davon beginnt: »Weil das Glück in der Zufriedenheit besteht und die ständige Zufriedenheit in der Sicherheit, die wir von der Zukunft besitzen, eine Sicherheit, die im Wissen, das wir von der Natur Gottes und unserer Seele haben, gründet, folgt daraus, dass das Wissen notwendig ist zum wahren Glück«.6 In diesem Sinn dient Philosophie also der Zukunftssicherung: Glück durch Wissen. Im Bewußtsein, was alles dazu noch zu leisten ist und welche Verantwortung er sich mit dieser Aufgabe aufgebürdet hat, hält Leibniz sich vor: »Nutze gut die Zeit, die die Vorsehung dir hienieden bestimmt hat und bedenke, dass deine künftigen Vollkommenheiten den Mühen entsprechen werden, die du dir hier gemacht hast, um sie zu erlangen« (LH IV,8 Bl. 52). Wie weit sind wir doch vom Stand der Glückseligkeit entfernt, läßt Leibniz einen Dialogpartner einwenden, wie viele werden von der Syphilis, vom Hochwasser, von Erdbeben weggerafft – zu schweigen von den bleibenden Krankheiten, mit denen manche geboren werden. Was nützt denen die scientia felicitatis, die der Organe beraubt sind, sie zu genießen? (Grua S. 589) und gesteht, melancholisch zu werden bei dem Gedanken an die Unzulänglichkeit der menschlichen Natur, an die Kürze des Lebens und an die Vernichtung unserer Verdienste und Vollkommenheiten im Moment des Todes, der die Früchte unserer Arbeit auf ein Nichts zu reduzieren scheine (LH IV,8 Bl. 51). Das zu entkräften, genügt Leibniz ein Hinweis auf die transitorische Natur unseres diesseitigen Lebens und die Unverletzbarkeit des Glückes, das auch nicht gemindert werde durch körperliche Leiden. Nicht allein die Märtyrer, uch die Wilden in Amerika belegten allein durch ihre Seelenstärke diejenigen, die sie foltern, mit Schimpf. Uns sei diese ursprüngliche Kraft abhanden gekommen, wir hätten sie durch Erziehung und Bildung zu ersetzen (Grua S. 590, vgl. IV,6 S. 166 über gaudium im Gegensatz zu laetitia). Jedoch, schreibt Leibniz in der Theodizee (§ 256f.), erwarte er nicht, dass 6

Puisque le bonheur consiste dans le contentement, et que le contentement durable depend de l’asseurance que nous avons de l’avenir, fonde´e sur la science que nous deuvons avoir de la nature de Dieu et de l’ame; de la` il s’ensuit, que la science est necessaire au vray bonheur (Couturat S. 153, VE S. 309 [AA VI,4 S. 3.17–20]).

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ein religiöser Orden gestiftet werde, um die Menschen zu den Vollkommenheitsgraden der indischen Gymnosophisten zu erheben, zur Größe eines Calanus etwa, der sich vor Alexander verbrannt hätte, und fügt hinzu, weil solche Leute den anderen zu überlegen, den Machthabern zu furchtbar wären. Es sei nicht notwendig, die wahre Philosophie zu verschleiern, hält Leibniz dem Cabbalisten J. G. Wächter vor (Grua S. 556), da doch zum Schutz der Tugend und der Gesellschaft nichts geeigneter sei als sie, scheut sich aber gleichwohl allen alles zu sagen – neque omnia omnibus prostituenda (AA VI,2 S. 419) – und wählt zumeist in seinen Veröffentlichungen wie in den liegengebliebenen Entwürfen eine, wenn auch leicht durchschaubare Pseudonymität. Bereits in seiner ersten nichtakademischen Schrift, in der glänzend komprimierten Nova methodus discendae docendaeque jurisprudentiae, auf die er zu recht stolz sein konnte, gibt er dafür die Begründung, er habe nicht den Ruhm, sondern den öffenüichen Nutzen angestrebt, andernfalls hätte er seinen Namen vorangestellt (AA VI,1 S. 364). Er wollte nicht bei den Vielen, nicht bei den Kommenden Ruhm; er wollte Reputation, einen guten Ruf bei den Wenigen, die das Handeln jetzt zu bestimmen haben. Diese Reputation galt es zu gewinnen und zu mehren, jedenfalls nicht in Gefahr zu bringen durch die Ankündigung undurchführbarer Projekte. Ein fast unmögliches Unterfangen angesichts seiner großen öffentlichen Vorhaben, so beispielsweise angesichts der geplanten Neukodifikation des römischen Rechts, seiner Denkschriften zur Sicherung des Friedens in Europa vom »Ägyptischen Plan« bis hin zu zahlreichen Bemühungen für die Wiedervereinigung der christlichen Konfessionen, angesichts seiner zeitlebens zu vervollkommenden Rechenmaschine, seiner gescheiterten Windkünste im Harzbergbau, angesichts der versprochenen vollständigen Weifengeschichte, die dann doch bis 1005 gediehen ist, und noch mehr angesichts der zurückhaltenden oder nur Wenigen anvertrauten Projekte seiner universellen Charakteristik, seines logischen Kalküls und damit der mit großen Ambitionen angestrebten Scientia generalis; von seiner die Phänomenalität der Körperwelt implizierenden Monadenlehre, die er seinen Zeitgenossen nicht zuzumuten wagte, ganz zu schweigen. Das erklärt, warum seine Vorsicht ständig wuchs und mit ihr der Haufen Konzept gebliebener Vorhaben. Da die Realisierbarkeit seiner großen Projekte, wie er wohl klarsichtig erkannte, vom Ansehen seiner Person bei den einflußreichen Persönlichkeiten an den Höfen Europas abhing, hütete er sich sorgfältig, Gedanken zu äußern, die nach seiner Einschätzung der geistigen Lage auf Unverständnis stoßen mußten, verbannte Schriften und Entwürfe in die Lade, hielt Briefe zurück, in denen er seine Ideen gelegentlich im Drang sich mitzuteilen zu deutlich ausgedrückt hatte, so etwa den an Nicolas Remond vom Juni 1714, der den ersten, stark komprimierten aber inhaltlich weitestgehenden Entwurf seiner Monadologie enthielt (GP III S. 622–624). Was übrigens den Ruhm betrifft, konnte Leibniz auf Reputation

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bedacht, des Nachruhms gewiß, damals etwa 50-jährig, in einer ihm wohl zu sehr als Topos, als Gemeinplatz erschienenen und darum wieder gestrichenen Passage festhalten, ich übersetze, »Der Ruhm, das, was den erhabenen Geistern die höchste Befriedigung zu bieten scheint, entzückt uns durch das bloße Trugbild eines Gutes, das erst sein wird, wenn wir nicht mehr sind. Die Unsterblichkeit, die die Geschichte den großen Menschen zusichert, ist eine Chimäre. Wir werden das Lob, das uns die Nachwelt zuteil werden läßt, nie kosten. Was es in der Gegenwart an Wirklichkeit des Ruhmes gibt, ist äußerst beschränkt. Selbst wenn man ins Chinesische übersetzt würde, beide Hemisphären erobert hätte, was würde das besagen angesichts des weiten Universums, in dem die Erde nur ein Körnchen ausmacht. Was man auch für einen Wirbel in seinem Haus, in seiner Straße oder gar auf der ganzen Erdkugel macht, nie wird man zur Berühmtheit im Universum gelangen«. Pathetisch schließt er diese Reflexion ab: »Niemals wird einer erreichen, sich die Gazette du soleil zu bringen«.7 Leibniz war sich bewußt, dass viele seiner Ideen unzeitgemäß waren, seinen Zeitgenossen als Phantastereien erscheinen mußten, und dass nur die Vorlage von Probestücken seiner Allgemeinen Charakteristik und seiner neuartigen logischen Kalküle die Skeptiker überzeugen konnten, ne videar incredibilia promittere (VE S. 498 [AA VI,4 S. 385.3]). Dafür fehlte es ihm an Zeit und an befähigten und von seinen Ideen erfüllten Mitarbeitern. So jedenfalls hat er es gesehen. Wir wissen heute, dass seine Vorhaben in vielen Stücken – zum großen Teil unabhängig von ihm realisiert worden sind, wenngleich das mit ihnen angestrebte Ziel, eine Scientia generalis, unerreicht geblieben ist und wohl auch bleiben wird. Es war nicht Leibniz’ Art, die von ihm beklagte Unzeitgemäßheit seiner Projekte durch Rückzug aus der Welt zu meistern, sich die Adressaten seiner Pläne in künftigen Generationen zu suchen. Dafür war er zu sehr auf unmittelbare Kommunikation angewiesen, man denke nur an den immensen Briefwechsel mit mehr als tausend Partnern; dafür war er zu sehr, wie Schleiermacher es ausdrückte, auf unmittelbare Wirksamkeit gerichtet. Mit großer Selbstverleugnung so Schleiermacher in der gleichen Rede, stand Leibniz immer im Dienst des Augenblicks, und auch bei einem noch längeren Leben würde es ihm nicht an Aufforderungen gefehlt haben, die ihn immer gehindert haben würden, an große Arbeiten von langem Atem zu denken (Sämtl. Werke III,3, 1835, S. 17f.). Leibniz selbst charakterisierte seine Rolle einmal, er habe die Rolle eines Generalantreibers zum öffentlichen Glück angenommen.8 7

On n’arrivera` jamais a` se faire mettre dans la gazette du soleil (LH IV,8

Bl. 51r). 8

. . . j’ay pris le personnage de Solicitor General du bien public und er wolle nicht aufhören, diejenigen anzutreiben und zu fordern, die es nötig hätten (GP III S. 262). Denn die Vernunft, die Gerechtigkeit und das Gewissen brächten es mit sich, »dass ein

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Es lag bestimmt nicht in Leibniz’ Absicht, Utopien zu verfassen. Zwar muten uns die meisten seiner weitgesteckten Zielvorstellungen utopisch an, er jedoch hat stets ihre, wenn auch nicht einfache, baldige Realisierung angestrebt. Setzte er erst einmal die erforderlichen Voraussetzungen als gegeben an, so konnte er sich mit zwingender Logik enthusiastisch auf den Schwingen seiner produktiven Phantasie tragen lassen, nicht zuletzt in der Hoffnung, verständige und potente Förderer ebenso wie tüchtige Mitarbeiter in seiner Begeisterung mitzureißen. Von bloßer, poetischer Phantastik unterscheiden sich diese Projekte durch das Fundament an Sachwissen und Gelehrtheit und durch die klare, konstruktive Urteilskraft, von der bereits der junge Mann erstaunliche Probestücke vorlegte, so etwa in seinen Überlegungen zur Reform der Jurisprudenz und ihres Studiums, in der politischen Schrift über das Suprematsrecht, besonders aber im »Ägyptischen Plan«, in dem er umfassend die Vorteile darstellte, die sich Frankreich bei Verlagerung seiner Aggressionspolitik vom Rhein an den Nil böten, ein Projekt, das damals nicht zur Vorlage kam, aber noch Napoleon imponieren sollte. Es reizte Leibniz, unmöglich Scheinendes rational zu durchleuchten, seine Möglichkeit sichtbar zu machen und darin den ersten Schritt zu seiner Verwirklichung zu sehen. Es war nicht die Resignation des Fuchses vor den zu hohen Trauben, die Leibniz nach und nach immer deutlicher erkennen ließ, dass sein Jahrhundert noch nicht reif war für seine Ideen. Seine Zeit war es wirklich nicht, und erst wir beginnen angesichts der Keime seiner frühen Saat – dreihundert Jahre später –, uns einen Begriff davon zu machen. Die wachsende Mißachtung gegenüber den public spirits, Leuten wie er, die sich für das gegenwärtige und zukünftige Gemeinwohl einsetzten, barg für ihn den Keim der allgemeinen Revolution, die, wie er klarsichtig bereits zu Beginn des Jahrhunderts voraussagte, Europa bedrohte. (Niemand vernahm es damals, da die Nouveaux Essais bis 1765 unveröffentlicht blieben.) An die Stelle dieser für das Allgemeine sorgenden Persönlichkeiten sei der honnete homme getreten, der sich darin genüge, nichts Niederträchtiges zu tun. So sei das bloße Prinzip Ehre die epidemische Krankheit der Zeit geworden, eine Krankheit, von der allein die Revolution sie heilen könne. Dass diese zum Besten führe, werde die Vorsehung schon bewirken, wenn auch nicht ohne Bestrafung derer, die durch ihre schlimmen Handlungen selbst zum Guten beigetragen hätten. Andersdenkenden, sagt Leibniz übrigens in diesem Zusammenhang, muß man die Freiheit lassen, ihre Meinungen zu verbreiten, es sei denn, sie lehren Verbrechen, was man nicht dulden dürfe, vielmehr auszurotten habe; die verbrecherische Lehre meine er, fügt er hinzu, nicht die Menschen, die sie vertreten; die könne man daran hindern. jeder das seine in seiner Sphaera activitatis tue, wodurch er vor Gott und dem Tribunal seiner conscienz entschuldigt sei«. Wenn wir schon nicht können, was wir wollen, sollten wir doch wollen, was wir können (AA IV,1 S. 536).

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Während für Hegel der Philosoph grundsätzlich zu spät kommt, die Eule der Minerva ihren Flug erst in der Dämmerung beginnt, gehört für Leibniz die Morgenröte, der Aufbruch nach neuen Zielen wesentlich zur Bestimmung des Philosophen. Nicht von ungefähr betitelt er seine Scientia generalis in einem ihrer Entwürfe mit Aurora und in einem anderen mit Plus ultra (GP VII S. 54 u. 49 [AA VI,4 N. 159]), letzteres wohl in Anspielung auf Karl V., der stolz darauf war, sich über das Non plus ultra, das Herkules auf seine Säulen bei Gibraltar geschrieben haben sollte, um die Grenze der Welt anzuzeigen, hinwegsetzen zu können. In eben diesem Sinn soll der reformierte Philosoph die Enge der tradierten Philosophie hinter sich lassen und Neuland entdecken. Der Philosoph, wie Leibniz sich versteht, hängt sich dabei an keine Schule – Parteilichkeit bedingt stets Verlust an Wahrheit – und widersteht folglich auch den Ambitionen, selbst eine zu bilden, (ein Vorwurf, den er Descartes, in dem er den großen Befreier ehrt, nicht ersparen kann); er achtet dennoch die Alten – selbst im Kot der Scholastik habe er noch Goldkörner gefunden – und ist mehr darauf bedacht, aus den Schriften anderer zu lernen als sie zu kritisieren; er sucht stets »in Worten die Klarheit, in Sachen den Nutzen« und versteht es, die Theorie mit der Praxis zu verbinden, alles mit dem Ziel, durch Sicherung und Erweiterung des Wissens das Menschengeschlecht seiner wahren Vollkommenheit, dauerndem Glück näherzubringen.

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LEIBNIZ’ ARBEITEN ZU EINER REFORM DER KATEGORIEN

»Wenn1 der Tod mir die Zeit geben würde, die ich brauche um die Vorhaben zu verwirklichen, die ich bisher entworfen habe, würde ich ihm als Gegenleistung versprechen, mit größter Sorgfalt an ihnen zu arbeiten und keine weiteren zu beginnen, und hätte dennoch durch diesen Vertrag einen großen Aufschub.« Das schreibt der 50jährige Leibniz, veranlaßt durch ein Gerücht von seinem Ableben, an Thomas Burnett, dem er ein Jahr später nochmals versichert: »Wenn Gott mir noch Leben und Gesundheit gibt, werde ich mein Hauptanhegen durchführen. . . . Ich hoffe, dass er mir auch die Muße und Freiheit schenkt, die ich brauche um meine Gelübde zu erfüllen, die ich vor mehr als dreißig Jahren getan habe.«2 Es ist aus einer Vielzahl von Äußerungen, die bis in sein Todesjahr reichen, und mehr noch aus dem für sich sprechenden Material in seinem Nachlaß bekannt, was dieses sein Hauptanliegen seit etwa seinem 18. Lebensjahr gewesen ist, dessen Realisierung, wie er immer wieder klagt, Tausende von Ablenkungen verhindert haben. Es braucht hier nur daran erinnert zu werden, welche Kraft ihn die Aufgaben gekostet haben, denen er sich seiner Stellung am Hofe in Hannover gemäß widmen mußte, unter anderem der Harzbergbau, die Welfengeschichte, die Reunions- und Unionsverhandlungen der Konfessionen, um sich ein Bild zu machen von der Intensität, mit der Leibniz sich dem zugewandt hat, was er als

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Zeitschrift für Philosophische Forschung. Bd. 20, Heft 3 u. 4, 1966, 539–564. Briefe an Th. Burnett of Kemney vom 17. März 1696 und vom 11. Februar 1697: [Je vous suis bien oblige´ aussi de ce que vous ave´s este´ en peine de moy sur un bruit de ma mort. Si le mort me veut donner tout le temps qu’il faut pour achever les desseins que j’ay deja forme´s, je luy promettray en echange de n’en commencer point d’autres, et de travailler fort diligemment a` ceux que j’ay deja`, et neantmoins j’auray par ce contract un grand delay. Mais la mort ne se soucie gueres de nos desseins, ny de l’accroissement les sciences.] . . . [Si Dieu me donne encor de la vie et de la sante´, j’en feray ma principale affaire.] . . . [Enfin si Dieu me donne encor pour quelque temps de la sante´ et de la vie, j’espere qu’il me donnera aussi assez de loisir et de liberte´ d’esprit pour m’acquitter de mes voeux, faits il y a plus de 30 ans, pour contribuer a` la piete´ et a` l’instruction publique sur la matiere la plus importante de toutes.] (GP III S. 174f., 194 und 196f.). 2

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seine eigentliche Lebensaufgabe, seine vocatio angesehen hat: der Erstellung einer »demonstrativen Enzyklopädie« zum Wohl der Allgemeinheit und Sicherung der Wahrheit des christlichen Glaubens. Als Wichtigstes hat er die Erarbeitung der Methode und der mit ihr zu befestigenden Fundamente der Vernunftwissenschaften oder, wie er wiederholt formuliert, der ewigen Wahrheiten, angesehen.3 Schon Jahre vorher schrieb er, er habe die Mittel bereitgestellt, um in der allgemeinen Philosophie und der natürlichen Theologie alles demonstrativ zu behandeln, und sobald er seine historischen Arbeiten, die Welfengeschichte nämlich, vom Halse hätte, wolle er sich daran machen, die Elemente dieser Wissenschaften zu begründen.4 Die neue Methode aber, von der er sich die Möglichkeit einer solchen Begründung versprach, war die von ihm schon als Student konzipierte, in immer neuen Ansätzen angestrebte und, wie er sagt, leicht zu erlernende, aber schwierig zu erfindende Characteristica universalis. Die Idee dieser Charakteristik basiert bekanntlich auf zwei Prinzipien, erstens auf der Ersetzung aller Begriffe durch ihnen eigentümliche Charaktere, die so gebildet sind, dass man ihnen − um ein modernes Bild zu gebrauchen, wie einer chemischen Formel − die Struktur ihrer Zusammensetzung aus äußeren Elementen ansehen kann, und zweitens auf der Beschränkung der Schlußfolgerungen auf erlaubte Umformungen von Reihen solcher Charaktere, in Analogie zu den algorithmischen Rechenverfahren der Mathematiker, die in einem Calculus ratiocinator zusammenzufassen sind. Die Leibniz-Interpreten − vor allem die Logiker unter ihnen − haben sich bei ihrer Deutung der Charakteristik vornehmlich Leibniz’ Arbeiten zur Realisierung des zweiten Prinzips, der Erarbeitung einer den syllogistischen Formalismus weit übergreifenden Gestalt der Logik zugewandt, angeregt vor allem durch die erst seit Mitte des 19. Jahrhunderts ausgebildeten mathematisierten logischen Theorien, deren Elemente, wie Louis Couturat durch Edition und Interpretation aufzeigen konnte, im Nachlaß von Leibniz zwei Jahrhunderte lang weitgehend der Vergessenheit anheimgefallen waren.5 Über dem hohen Lob, das man Leibniz als 3

Das bezeugt noch ein im März 1716 geschriebener Brief an Biber, der im Auftrag des Königs von Polen mit Leibniz korrespondierte: Mon grand ouvrage historique m’empeche d’executer la pense´e que j’ay de mettre la Philosophie en demonstrations. ... car je voy qu’il est possible d’inventer une caracteristique generale, qui pourroit faire dans toutes les recherches capables de certitude, ce que l’Algebra fait dans les Mathematiques. (E. Bodemann, Briefwechsel, S. 15f.). Auch an Joh. Christ. Lange schreibt er noch am 5. Juni 1716: Si Deus mihi vitam prorogat, aliquod ejus (sc. verae characteristicae) specimen aliquando dare licebit. (Couturat, La Logique de Leibniz, S. 584). 4 Brief an Th. Burnett vom 10. Okt. 1710 (GP III S. 321). − Vgl. E. Hochstetter, Zu Leibniz’ Gedächtnis, Berlin 1948, S. 74. 5 Eine das allmähliche Bekanntwerden der Stücke aus Leibniz’ Nachlaß verfolgende Wirkungsgeschichte der Leibnizschen Philosophie wäre noch zu schreiben.

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formalem Logiker schuldig zollte und das, vereinseitigt, bekanntlich zu Kontroversen geführt hat über den Ursprung seiner gesamten Philosophie, blieb das andere Prinzip, die Bildung der wahren Charaktere, weitgehend unbeachtet, trotz der Bedeutung, die ihm bereits A. Trendelenburg zugesprochen hatte.6 Dabei lassen schon die bisher edierten Schriften keinen Zweifel darüber zu, dass Leibniz auf der Suche war nach einer die materiale Grundlage der geplanten realen Charakteristik konstituierenden Menge von Grundbegriffen, deren auf geeignete Weise zu bildenden Charaktere durch Zusammensetzung alle möglichen Begriffe so zum Ausdruck bringen sollten, dass ihre wechselseitigen Beziehungen aus ihnen zu errechnen sind. Die formale Seite dieses Projektes ist hinreichend bekannt. Weitgehend unbeachtet geblieben sind jedoch Leibniz’ zahlreiche Versuche, die einfachen Begriffe als die wahren Kategorien aufzufinden. Die Frage, ob das Leibnizsche Projekt überhaupt durchführbar ist, soll uns hier nicht interessieren, wir beschränken uns vielmehr darauf, zu zeigen, wie Leibniz es zu verwirklichen versucht hat und welche Schwierigkeiten sich ihm dabei tatsächlich entgegengestellt haben. Als Keim und zugleich als nie in Frage gestellte Grundvoraussetzung der Charakteristik muß man Leibniz’ Konzeption einer im logischen Zusammenhang der Dinge gründenden kombinatorischen Struktur der Begriffe ansehen. Der alte Gedanke der Kombinatorik erfährt bei ihm eine ganz neue Wendung. Während Ramon Lull, und die auf dessen Ars magna zurückgreifenden Kombinatoriker, deren Verfahren Leibniz in seiner Ars combinatoria kritisch referiert (AA VI,1 S. 189–194), sich darauf beschränken, eine jeweils feste Anzahl von Grundbegriffen mechanisch zu Sätzen zu kombinieren, geht Leibniz davon aus, dass alle Begriffe selbst entweder ursprünglich einfach sind oder aber sich durch Analyse als aus solchen ursprünglich einfachen Begriffen zusammengesetzt erweisen lassen, überträgt also die kombinatorische Struktur von den Sätzen auf die Begriffe. Lull und seinen Nachahmern wirft er darüber hinaus vor, dass sie die Anzahl ihrer Grundbegriffe willkürlich bestimmt hätten und auch in ihrer Auswahl nicht methodisch verfahren seien (AA VI,1 S. 193f.). Aus mehreren autobiographischen Reminiszenzen, auf die noch näher einzugehen sein wird, kennen wir die weit hinter die Ars combinatoria zurückreichende Genesis dieses Gedankens. Der erste Ansatz des Knaben, wie Leibniz sich in diesen Schilderungen selbst bezeichnet, richtete sich darauf, in Analogie zu den Prädikamenten oder Kategorien der Schullogik, die nach dem Muster der Arbor Porphyriana die Begriffe klassifizieren und anordnen, neuartige Prädikamente zu

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A. Trendelenburg, Über Leibnizens Entwurf einer allgemeinen Charakteristik (Historische Beiträge zur Philosophie III, Berlin 1867, S. 1–47, bes. S. 20f.).

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konstituieren, die eine Klassifizierung und Anordnung der Aussagen (propositiones, termini complexi) ermöglichen. Damals habe er jedoch noch nicht gewußt und auch von seinen Lehrern, denen er seine Ideen vorgetragen hätte, wäre er nicht darauf aufmerksam gemacht worden, dass das von ihm Geforderte (nämlich eine solche Anordnung der Sätze einer Wissenschaft, aus der ersichtlich wird, wie sie auseinander hervorgehen) längst von der Methode der Geometrie geleistet wurde. Dennoch habe er bei einer eindringenden Beschäftigung mit diesem Problem die Erkenntnis gewonnen, dass man zur Konstituierung der Abfolge der Sätze zunächst die Begriffe selbst besser anordnen müsse, dass man aber dazu vorher die geläufigen Prädikamente (die aristotelischen Ordnungsschemata der Begriffe) zu reformieren habe.7 Gegen den Einwand, Leibniz habe möglicherweise erst retrospektiv seine jugendlichen Arbeiten der Absicht einer Neubearbeitung der Kategorien unterstellt, muß man erinnern, dass er bereits in der Inhaltsübersicht seiner Ars combinatoria (1666) die Ausführungen über die Begriffsanalyse bis zu ersten, undefinierbaren Begriffen unter dem Titel De formandis praedicamentis Artis Combinatoriae ankündigt (AA VI,1 S. 168). Berücksichtigt man die weite, alle demonstrativen Wissenschaften übergreifende Aufgabenstellung der Ars combinatoria, so wird man auch nicht die zu bildenden Prädikamente in ihrer Allgemeinheit einschränken und einer grundsätzlichen Andersartigkeit wegen von der Konkurrenz mit den aristotelischen Kategorien ausschließen. Als Kategorien oder Prädikamente werden bei Leibniz, wie überhaupt in der Schulphilosophie seiner Zeit, im allgemeinen aber nicht nur die zehn aristotelischen summa genera (oder entsprechende Varianten davon) verstanden, sondern auch und im wesentlichen, das gesamte Ordnungsschema der Gattungen und Arten unter den einzelnen summa genera, mit anderen Worten das, was für die Kategorie der Substanz beispielsweise der Baum des Porphyrius leistet.8 Der Grundmangel der Arbor

7

Vgl. G. G. Guhrauer, Gottfried Wilhelm Freiherr von Leibnitz. Eine Biographie. Breslau 1846, II Anm. S. 55; GP VII S. 126, 185, 292 [AA VI,4 N. 115, 66 u. 129] und Couturat, S. 346 [AA VI,4 N. 162, S. 727–729]. 8 Vgl. beispielsweise J. Jungius, Logica Hamburgensis (1638), hrsg. v. R. W. Meyer, Hamburg 1957, S. 18: Praedicamenta κατεγορι αι sunt series Generum et Specierum sub uno Genere generalissimo coordinatorum und Joh. Heinr. Bisterfeld, Elementa logica, Leiden 1657 (Handexemplar von Leibniz), S. 77–84, der dreierlei Tafeln unterscheidet, nämlich erstens die tabula praedicamentalis die eine subordinatio omnium terminorum per genera et species usque ad individua darstelle und aus einer continuata combinatio divisionum generalium et specialium bestehe, zweitens die enzyklopädische Tafel, in der die Begriffe durch logische Deduktion miteinander verbunden seien und drittens die Tafel der Themata, eine Aufzählung der abzuhandelnden logischen Gegenstände. Über die Kategorienlehre in der Schulphilosophie orientiert eingehend der

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Porphyriana liegt für Leibniz jedoch in der im Grunde willkürlichen Fixierung der als Gattung bzw. als Differenz anzusehenden Begriffe. Diese Willkür will er aufheben und die Prädikamente so vielfach anordnen können, dass alle möglichen Gattungen und Arten zum Ausdruck gebracht werden können. Sein oft wiederkehrendes Beispiel9 ist, man könne mit gleichem Recht den Menschen, der klassisch als animal rationale definiert und damit vom Tier, dem animal irrationale unterschieden wird, definieren als rational animale und ihn damit, allerdings in einer von der Stammtafel des Porphyrius abweichenden Anordnung, den Genien und Engeln als rationalia non animalia gegenüberstellen. Damit tritt anstelle der übergeordneten Gattung Lebewesen die Gattung Vernunftwesen, die in dem überlieferten Schema der Kategorien der Substanz keinen Platz hatte. Die geforderte Kommutativität von Gattung und Differenz hebt den zwischen diesen beiden Prädikabilien seit Aristoteles bestehenden grundsätzlichen aber nicht ontologisch begründbaren Unterschied auf und ermöglicht damit die Anwendung der Kombinatorik zur Auffindung neuer Gattungen und Arten, besser gesagt aller möglichen Unterordnungen von Gattungen und Arten überhaupt. Damit wird die Kombinatorik zu einem Instrument, das Einblick gewährt in die logischen Verbindungen aller Dinge untereinander, in den allgemeinen connexus rerum.10 Zu jeder beliebigen Menge von Dingen läßt sich der Begriff finden, der ihnen und nur ihnen gemeinsam ist, die Gattung also, der genau diese Dinge angehören. Und wenn auch der menschliche Geist diese Gattungen nicht findet, so kennt doch Gott sie gewiß, und die Engel werden sie finden, und also ist sicher, dass das Fundament dieser Abstraktionen, dieser Gattungsbildungen, präexistiert. Das ist wörtlich die leitende Überzeugung des jungen Leibniz (vgl. AA VI,1 S. 192). Dass es erste Begriffe überhaupt gibt, die nicht mehr durch Definitionen, sondern, wie er sagt, durch Analogie verstanden werden müssen, setzt Leibniz voraus unter Bezugnahme auf den Aristotelischen Grundsatz, man brauche nicht für alles eine Definition zu suchen.11 Später wird er das formaler ausdrücken: »Wenn nichts durch sich begriffen wird, dann wird überhaupt nichts begriffen«.12 Aufsatz von G. Tonelli, La tradizlone delle categorie aristoteliche nella filosofia moderna sino a Kant (Studi Urbinati, 31 B, 1957, n. 1), anhand ausführlicher Zitate. 9 Vgl. beispielsweise GP VII S. 292 (um 1685) [AA VI,4 N. 5391–2] und ferner VI,6 S. 291f. (1703–1705). 10 Vgl. R. Kauppi, Über die Leibnizsche Logik, Helsinki 1960, S. 103 B. 11 AA VI,1 S. 195. − Leibniz’ griechisches Zitat ließ sich nicht nachweisen; zu vergleichen wäre Aristoteles, Anal. Post., 72 b 18–24 und 90 b 23–26. 12 Si nihil per se concipitur, nihil omnino concipietur. (Couturat, S. 430 [AA VI,4 N. 50 S. 157.5]); vgl. LH IV, 7B2 Bl. 57ro [AA VI,4 N. 48 S. 151,15–18] (etwa 1679): Dantur termini primi, nam si nihil per se concipimus, omnino nihil concipimus. Perinde enim esset ac si quaerenti responderem semper per voces quas non intelligit et harum

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In der Definition, genauer gesagt, in Definitionenkette, aufgefaßt als fortgesetzte Analyse eines Begriffes in seine formalen Teile, sieht der junge Leibniz das notwendige und zugleich hinreichende Mittel um zu diesen ersten Begriffen zu gelangen.13 Wenn erst die Prädikamente der Kombinatorik konstituiert sein werden, sagt er, werden die majora, d. h. im Unterschied zu den auch als minutiora bezeichneten allgemeineren Oberbegriffen, die spezielleren, aber komplexeren Unterbegriffe bis hin zu den konkreten Individuen, sichtbar werden. Dazu seien die ersten Begriffe, durch deren Vereinigung alle anderen aufgebaut werden, zu bezeichnen durch Merkzeichen, die gleichsam − und hier klingt zum erstenmal die spätere Redeweise an − ein Alphabet darstellen (AA VI,1 S. 202). In der Ars combinatoria demonstriert Leibniz, wie man, wenn man erst einmal die Grundbegriffe hat, mit Hilfe ihrer Kennzeichnung durch ihnen je eigentümliche Charaktere (ersatzhalber wählt er Zahlen)14 kombinatorisch zu jedem Subjekt alle seine Prädikate und umgekehrt zu jedem Prädikat alle seine Subjekte, mit anderen Worten alles Wißbare auffinden kann, sofern es sich aus Begriffen durch Analyse gewinnen läßt (AA VI,1 S. 195f.).15 Auf der Basis von zwar nicht schlechthin, wohl aber innerhalb der Geometrie einfachen Begriffen, erläutert er als Specimen mirabile Praedicamentorum artis Combinatoriae seine explicationem quaerenti rursus per alias quas non intelligit, utique si sic semper pergam, nihil intelliget. 13 Auf den resolutiven Charakter des Definierens dürfte Leibniz vor allem durch Hobbes (De corpore, I, 6, 14f.) aufmerksam geworden sein, dessen Deutung des logischen Schließens als eines rechnerischen Additions- und Subtraktionsverfahrens er in der Ars combinatoria (AA VI,1 S. 194) rühmt. 14 Wenn auch sein Einfall, dass sich die Begriffe, wenn sie richtig aufgelöst sind, durch Zahlen repräsentieren lassen, und darüber hinaus die Beobachtung, dass sich damit die Enthaltenseinbeziehung von Prädikat und Subjekt durch das Verhältnis von Faktor und Produkt rechnerisch begreifen läßt, von großer Bedeutung für die Konzeption seiner Charakteristik gewesen ist (vgl. Couturat, S. 346 [AA VI,4 N. 162]), so hat Leibniz doch von Anfang an danach gestrebt, geeignete Charaktere zu erfinden, und sich nicht zufriedengegeben mit dem Behelf der in Zahlen ausdrückbaren Möglichkeiten. Vgl. VI,1 S. 202 (1666): Commodum autem erit notas quam maxime fieri naturales und GP VII S. 205 [AA VI,4 N. 192 S. 920.8–10] (wohl um 1685): Cum autem nondum constituere licuerit, quomodo signa formari debeant, interim pro ipsis in futurum formandis exemplo Mathematicorum utamur literis Alphabeti aliisve notis arbitrariis quibuscunque, quas progressus aptissimas suppeditabit. − Optimum erit definitiones persequi per literas, deinde non difficile erit aptos excogitari characteres bemerkt er um 1693 in einem Konzept zur Charakteristik (LH IV, 7B 2 Bl. 39). 15 Dass sich die Kombinatorik nur auf Sätze von ewiger Wahrheit richtet, nur auf solche also, die wahr sind aufgrund ihrer Natur, nicht jedoch auf singuläre historische Sätze und nicht auf solche allgemeinen Sätze, deren Wahrheit nicht auf Demonstration, sondern nur auf Induktion beruht, betont Leibniz ausdrücklich (AA VI,1 S. 199).

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Theorie der kombinatorischen Analyse (AA VI,1 S. 168 und 199–202). Man beachte, dass, wenn auch das kombinatorische Verfahren ein synthetisches ist, es insofern Analyse genannt werden kann als es nicht in einer fortschreitenden mechanischen Synthese der einfachen Elemente besteht, sondern in einer aufbauenden Klassifizierung der Begriffe aufgrund einer Analyse ihrer vorgegebenen Definition auf die in ihnen implizierten Kombinationen von Grundbegriffen. Aufbauend ist diese Klassifizierung in dem Sinne, dass der ersten der Klassen die Grundbegriffe zugeordnet werden, der zweiten diejenigen Begriffe, die zu ihrer Bildung nicht mehr als zwei Grundbegriffe benötigen, und das wird so fortgesetzt, dass jeweils die Anzahl der zur vollständigen Definition letztlich benötigten Grundbegriffe die Ordnungszahl der Klasse angibt, der der Begriff zuzuweisen ist.16 Einen materiellen Beitrag zur Auffindung der Grundbegriffe selbst hat Leibniz damit allerdings noch nicht geleistet. Als einen solchen wird man aber seine Versuche ansehen dürfen, die Elemente des Naturrechts aus der Definition des vir bonus zu begründen. Die Möglichkeit einer solchen Begründung liegt für ihn darin, dass, wie er behauptet, die Jurisprudenz von klaren und deutlichen Vorstellungen, mit anderen Worten von Definitionen ausgeht, was sie zu einer Vernunftwissenschaft mache, deren Lehrsätze überdies, da sie insgesamt konditional seien und nicht von dem handelten, was ist, sondern von dem, was aus der angenommenen Existenz folgt, als Wenn-So-Sätze also von ewiger Wahrheit seien (vgl. VI,1 S. 460). dass aber gerade die Ableitung aus Definitionen den Notwendigkeitscharakter einer Wissenschaft bestimmt, beweist Leibniz anschließend mit Hilfe eines modalen Arguments: Was man klar und deutlich vorstellen kann, also das Definitum, ist zwar nicht immer wahr in dem Sinne, dass es tatsächlich existiert, wohl aber möglich, und somit wahr, wo nur Möglichkeit gefragt ist. Die Frage nach der Notwendigkeit aber ist zugleich auch eine Frage nach der Möglichkeit, denn wenn das Gegenteil einer Aussage unmöglich ist, so ist die Aussage selbst notwendig.17 Damit sind die notwendigen Verkettungen der Dinge und der über sie gemachten Aussagen für Leibniz schon daraus bewiesen, dass sie sich 16

Vgl. VI,1 S. 199–201. − Leibniz zeigt damit beiläufig aber ausdrücklich, wie sich aus diesem Verfahren, gleichsam als Zugabe, eine die geläufigen Sprachen übergreifende Scriptura universalis ergibt, und vergleicht sie kritisch mit den ihn bis dahin bekanntgewordenen Versuchen des Jesuiten Athanasius Kircher, eines ungenannten Spaniers und des Mainzer Hofarztes Joh. Joachim Becher. Von John Wilkins’ erstem Versuch in dieser Richtung, dem Mercury (London 1641), und von der darauf aufbauenden Ars signorum von George Dalgarno (London 1661) hatte er, als er die Ars combinatoria verfaßte, noch keine Kenntnis. 17 Offen bleibt allerdings, ob dieser Unmöglichkeitsbeweis auch stets erbracht werden kann.

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ableiten lassen aus einer klaren und deutlichen Vorstellung durch die kontinuierliche Abfolge der in ihr eingeschlossenen Definitionen. Insbesondere sei die Jurisprudenz aber deshalb eine Wissenschaft − im engeren Sinn einer streng deduktiven Disziplin − weil sie einzig aus der Definition vir bonus est, quisquis amat omnes alle ihre Sätze beweisen könne, behauptet Leibniz 1671 (vgl. VI,1 S. 467). Er präzisiert diese Behauptung, indem er zeigt, wie sich die in dieser Definition eingeschlossenen Begriffe (amare, felicitas, status, accidens, praedicatum, nomen, optimum, bonum, pernoscere) mit den in formaler Analogie zum deontischen Modalquadrat gewonnenen juristischen Modalitäten (justum, licitum, aequum, debitum u. a.) so kombinieren lassen, dass man beinahe eineinhalb Millionen Theoreme erhält (vgl. VI,1 N. 12,5 S. 465–480). Leibniz rechnet dabei Schritt für Schritt die einzelnen Phasen der in der Ausgangsdefinition vorzunehmenden Substitutionen vor. Alle die 1 485 600 Sätze, die er so gewonnen hat, sind reziprok, d. h. ihre Subjekte und Prädikate können jeweils füreinander substituiert werden. Die Menge der Sätze würde ans Unendliche grenzen und unmöglich aufzuzählen sein, fügt er hinzu, wenn man auch noch die universalen aber nicht reziproken Sätze, die durch Verstümmelung reziproker Sätze gebildet werden könnten, gleichsam als Korollarien zulassen würde. Wenn auch hieraus nur sichtbar wird, wie Leibniz seine kombinatorische Analyse verstanden wissen wollte (AA VI,1 S. 467), so ist doch der ihr zu Grunde liegenden Definitionenkette die Ausrichtung auf Grundbegriffe anzusehen: Videtis quantum sciendi compendium contineatur in definitionibus artisque Combinatoriae praedicamentis quae molimur (AA VI,1 S. 476). Die erste Analyse der Definition Amamus eum cuius felicitate delectamur (AA VI,1 S. 466) ist beschränkt auf die Auflösung des Begriffs felicitas und endet bei dem Transzendentalbegriff res und bei den Verbalformen der Kategorien actio und passio und des unter die Qualitätskategorie fallenden Begriffes intellectio, nämlich nosse, verstanden als intelligere in einem engeren Sinn. In einer zweiten eingehenderen Definitionenkette (AA VI,1 S. 482–485) werden auch die Begriffe, die dem eum cuius und dem delectamur entsprechen, weiter analysiert. Aus Is qui seu Persona entwickelt Leibniz die Begriffe voluntas, conatus, cogitatio, actio, mutatio, causa, natura prius und aus Delectatio seu Voluptas est perceptio harmoniae die Begriffe diversitas, identitas, compensatio, bzw. sentire, res und praesentia. Wobei anzumerken ist, dass er in einem anderen Zweig dieser Analyse bereits zuvor schon sentire als cogitare cum voluntate definiert hatte. Auch hier begegnen uns also Begriffe, die selbst zu den aristotelischen Prädikamenten oder Postprädikamenten zählen oder ihnen direkt untergeordnet sind. Deutlicher, wenn auch nicht ausdrücklich thematisiert, ist die Suche nach undefinierbaren Begriffen in den analysierenden Definitionenketten zu beobachten, die Leibniz in seiner frühen Zeit in Hannover (etwa 1677–1680) aus der

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Definition Justitia est Caritas sapientis und ihren Varianten herleitet. In einem dieser Konzepte (LH IV, 8 Bl. 4–5) [AA VI,4 N. 496] entwickelt er in erster Fassung ausführlich den Gedankengang der Analyse, den er dann am Rande formelhaft als Definitionenkette zusammenfaßt, um daran unter Zuhilfenahme einer Hypothese eine Anzahl von fundamentalen Theoremen zu begründen.18 Schwierigkeiten bereitet ihm dabei die Definition von voluptas.19 Zunächst stellt er sie, obgleich er sie schon, wie wir eben gesehen haben, 1671 als perceptio harmoniae definiert hatte, noch den undefinierbaren qualitates sensibiles gleich, deren Irreduzibilität außer Frage steht, dann aber, in der marginalen Zusammenfassung, streicht er die erste Formulierung20 und definiert »Lust ist Empfindung der Vollkommenheit«.21 und analysiert dann weiter die Vervollkommnung als eine Mehrung der Macht. Undefiniert bleiben in dieser Definitionenkette die Begriffe habitus, scientia, status, sensus, potentia und augeri. Weitere Analysen von Varianten dieser Definition der Gerechtigkeit finden sich auf zwei zusammengehörigen Bogen, deren einer den von Leibniz eigenhändig geschriebenen, unsere Interpretation bestätigenden Vermerk trägt: De Cogitationum Analysi.22 Es geht Leibniz hier allem Anschein nach nur paradigmatisch um die Begründung der Gerechtigkeit aus der Weisheit und Liebe. Seine Aufmerksamkeit gilt primär den 18

Eine spätere, wenig geänderte Fassung davon, zusammen mit einer deutschen Bearbeitung bei GP VII S. 73–77. [Vgl. AA VI,4 N. 4962–4966]. 19 Voluptatis nomen definiri non potest, id est non potest effici explicatione ut noscat aliquis quid voluptatis nomine intelligamus, sed opus est sensu. Quod in aliis huiusmodi rebus, ut calore, frigore, coloribus, usu venit. Sed si quaeratur causa voluptatis, hanc utcunque attingere possumus, saltem observando. Nam inductione constare videtur id omne quod nobis aliquam perfectionem conciliat in nobis excitare voluptatem, contra quicquid nostram naturam minuit, dolorem parere. (LH IV, 8 Bl. 4vo) [AA VI,4 N. 4961 S. 2794.4–9]. 20 Voluptatis nomen explicari non potest. Causae tamen voluptatis explicari possunt. Et vero inductione constare videtur multarum observationum: voluptatem esse sensum perfectionis (LH IV, 8 Bl. 4ro) [AA VI,4 N. 4962 S. 2798 zu 20]. 21 Voluptas est sensus perfectionis (a. a. O. [2798.23 u. zuvor 2794.18]). Diese Stelle gewährt einen interessanten Einblick in Leibniz’ Definitionsarbeit. Das, was ihm beim ersten Ansatz bloß durch Induktion gestützt erschien, bekommt für ihn bei weiterer Überlegung offenbar einen solchen Deutlichkeitsgrad, dass er es als Definition, als Analyse in frühere, einfachere Teile gelten läßt, und ist damit von ihm, muß man sagen, als konstitutives Requisitum des zu Definierenden erkannt worden. Demnach dürfte dieser Text allen anderen vorausgehen, die fließend Gebrauch machen von der Definition voluptas est sensus (später: perceptio) perfectionis. Die deutsche Fassung heißt: »Empfindung einer Vollkommenheit« (GP VII S. 86 [AA VI,4 N. 4965 S. 2806.15]). 22 Teilweise sind die Definitionsketten und -tabellen, die Leibniz wohl um 1679 auf diesen beiden Bogen (LH IV, 7 B 5 Bl. 11–14) [AA VI,4 N. 493] entworfen hat, von Couturat S. 331 und Grua S. 537–511 ediert worden.

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Endpunkten der Analyse. Da begegnen uns, nicht weiter analysiert, unter anderem wiederum voluptas (was darauf schließen läßt, dass dieser Versuch früher ist als der eben besprochene), existere, habere, requisitum, possibilitas, existentia, attributum, potentia, desinere. So aber erschien ihm die Analyse offenbar nicht durchführbar. Patet ex his nobis verba apta deesse lesen wir am Rand des Konzeptes, und damit dürfte Leibniz wohl gemeint haben, dass die Sprache nicht die erwünschten Möglichkeiten bietet, eine dichotomische Unterteilung der Begriffsinhalte bis zu ihren einfachen Elementen durchzuführen. Das bezeugt auch die sogleich wieder abgebrochene Kette Justus est charitativus homoeosophus. Charitativus est benevolus pantotropus, in der die Gräzismen homoeosophus und pantotropus die langen Erläuterungen similis sapienti quatenus est charitativus und similiter se habens erga quemlibet, quatenus est benevolus so ersetzen, dass das Definiens wieder genau aus zwei Elementen besteht. Auf dem zweiten dieser Bogen finden wir zwei weitere Ansätze in Form dichotomischer Tabellen. Der eine, ebenfalls bald abgebrochene, nimmt die zweigliedrigen Definitionen wieder auf und setzt sapienti-formis für homoeosophus und omniversus für pantotropus. Aus der zweiten dieser Analysen, die inhaltlich etwa der eben genannten Analyse entspricht, jedoch nicht eindeutig ihr vor- oder nachzuordnen ist, wird deutlich, wie streng diese Dichotomien angesetzt waren. Der Begriffsinhalt von Justus wird mit jedem Schritt in jeweils zueinander komplementäre Teile zerlegt, denen positive Begriffe entsprechen. Um die Einheit dieser Begriffe noch zu unterstreichen, drückt Leibniz sie in dieser Tabelle durch Partizipialformen aus und bindet sie damit an ein konkretes Subjekt. Allerdings zeigt sich, dass auch auf diese Weise die Analyse nicht bis zu den ersten Begriffen durchgeführt werden kann. Die Glieder, bei denen die Dichotomie endet, sind zwar begrifflich früher als die ihnen vorausgehenden, mit anderen Worten, sie genügen ihrer Funktion nominal, d.h. analytisch zu definieren, die Erwartung aber, die Leibniz in die Analyse gesetzt zu haben scheint, dass sie zu einfachen, als Elemente handhabbaren Begriffen gelangt, erfüllen sie nicht. In weiteren Manuskripten aus dieser Zeit finden wir Begriffsanalysen, die, wie z. B. in dem Entwurf Elementa verae pietatis [AA VI,4 N. 256] in den Zusammenhang eines certa methodo geführten Beweises gestellt sind, oder, wie in der wohl nur wenig späteren Aufzeichnung, die Leibniz am 10. (20.) April 1679 unter dem Titel De affectibus [AA VI,4 N. 269] zusammengefaßt hat, selber in demonstrativer Folge angeordnet sind.23 Die Aufzeichnung De affectibus die neben eigenen Definitionen solche aus Descartes und Spinoza in wiederholten Ansätzen in einen demonstrativen Zusammenhang zu bringen versucht, verzichtet

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Beide Stücke wurden zum erstenmal von Grua ediert, S. 7–17 und 512–537.

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auf das Ideal der kontinuierlichen Analyse. Bezeichnend für ihre Ansätze ist die Bildung von Gegensätzen im Ausgang von der Gegenüberstellung von actio und passio, worauf auch der Hinweis, den Leibniz unter den Titel gesetzt hat ubi agitur de potentia, actione et determinatione zu zielen scheint. Dennoch nehmen actio und passio nicht die Stellung von Grundbegriffen ein, da beide weiter aufgelöst werden mit Hilfe von mutatio, causa und affectus. Die Idee des Alphabetum cogitationum humanarum, von Leibniz mit 18 Jahren konzipiert,24 1666 erstmals publiziert,25 kommt allerdings erst in dem Jahrzehnt nach 1678 zur ausgeprägten Geltung. Leibniz beschreibt sie zwar ausführlich in dem großen Brief aus Mainz vom Oktober 1671, in dem er dem sich für ihn interessierenden Herzog Johann Friedrich von Hannover seine bisherigen wissenschaftlichen Leistungen und Pläne für die Zukunft vorstellt.26 Als er jedoch nach seinem Besuch 1673 in London, bei dem er mit Heinrich Oldenburg, dem Sekretär der Royal Society, und Robert Boyle über seine Charakteristik diskutiert hatte,27 Oldenburg ausführlicher in einem Brief mit seinen Gedanken vertraut macht (AA II,1 S. 239–242 [AA II,12 N. 117]), vermeidet er diese mit der Bedingung der Übersehbarkeit der Begriffe, ihrer Anzahl nach, gekoppelte Formulierung, vielleicht beeinflußt durch Pascals Fragment De l’esprit geometrique, das ihm in Paris zusammen mit Pascals Nachlaß zugänglich gemacht worden sein dürfte.28 Auch in der wohl im Sommer 1676 in Paris niedergeschriebenen Meditation De la Sagesse nennt er in diesem Zusammenhang nicht das Gedankenalphabet, wohl aber den »Katalog der einfachen Gedanken, oder wenigstens der, die nicht allzuweit von den einfachen entfernt sind«, den man als Frucht mehrerer Analysen jeweils verschiedener Materien zu erwarten hätte:29 24

Vgl. AA II,1 S. 240 [AA II,12 S. 377. 13–15] und Couturat,S. 1. 57 [AA VI,4 N. 1 S. 7.16–19]. 25 AA VI,1 S. 202: Nam termini primi, ex quorum complexu omnes alii constituuntur, signentur notis, hae notae erunt quasi Alphabetum. 26 AA II,1 S. 160 [AA II,12 S. 261. 24–30]: Dadurch alle Notiones compositae der ganzen Welt, in wenig simplices als deren Alphabet reduciret, und aus solches Alphabets combination wiederumb alle dinge, samt ihren theorematibus, und was nur von ihnen zu inventiren müglich ordinata methodo mit der zeit zu finden ein weg gebahnet wird. Welche invention, dafern sie wils Gott zu Werck gerichtet, als mater aller inventionen von mir vor das importanteste gehalten wird, ob sie gleich das ansehen noch zur zeit nicht haben mag: Ich habe dadurch alles was erzählet werden soll, gefunden, und hoffe noch ein mehrers zu wege zu bringen. 27 Vgl. die Marginalie in Leibniz’ Handexemplar von G. Dalgarnos Ars signorum (Couturat, La Logique de Leibniz, S. 544, [AA VI,3 N. 121 S. 170 Fn 2]. 28 Vgl. Hochstetter, a. a. O. S. 21f. und Couturat, S. 181 und 220 [AA VI,4 N. 205 S. 970.15–17 u. N. 206 S. 971.1–3]. 29 9) Le fruit de plusieurs Analyses des matieres particulieres differentes sera le

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Als Leibniz 1679 in Hannover ein zweites Mal versucht, Herzog Johann Friedrich für seine Charakteristik und die damit verbundenen Projekte zu gewinnen, greift er in seinen Entwürfen die alte Formulierung des Problems, Findung eines Alphabets der Grundbegriffe, wieder auf. Seine häufig mit autobiographischen Schilderungen verknüpften Äußerungen darüber stehen in Konzepten, die zum großen Teil den Eindruck machen, von ihm als Denkschriften verfaßt worden zu sein, um einflußreiche Persönlichkeiten − möglicherweise auch geeignete Mitarbeiter − für die Charakteristik, die Scientia Generalis und die demonstrative Enzyklopädie sowie für die Einrichtung von Gelehrten-Societäten zur Erarbeitung dieser Projekte zu gewinnen,30 und in mehr oder weniger abgeschlossenen Einleitungen und ausführlichen Gliederungsentwürfen des unter verschiedenen Titeln geplanten Werkes.31 Sie gruppieren sich, sicherlich nicht beziehungslos, zunächst um die Briefe an Herzog Johann Friedrich aus dem Jahre 1679,32 dann, nach dessen plötzlichem Ableben (28.12.1679), um diejenigen an seine Korrespondenten Theodor Haak und Detlev Clüver in London, die Robert Hooke, den Nachfolger Heinrich Oldenburgs als Sekretär der Royal Society mit seinem Projekt vertraut machen sollten,33 und schließlich, zwischen 1685 und 1687, um einen eindringlichen Brief an Herzog Ernst August, den Nachfolger Johann Friedrichs in Hannover (AA I,4 S. 314 bis 316). Möglicherweise noch vor diesem Schritt, sicherlich aber vor der Aufhebung des Ediktes von Nantes (22. Oktober 1685), hat Leibniz eine ausführliche Denkschrift verfaßt, deren erste Fassung noch eindeutig erkennen läßt, dass sie für Ludwig XIV. bestimmt war.34 Er hat sie jedoch gar catalogue des pense´es simples, ou qui ne sont pas fort e´loigne´es des simples. (GP VII S. 84 [AA VI,3 N. 89 S. 672.8–9]), 1676). 30 Vgl. Hochstetter, a. a. O. S. 39. 31 Das zunächst als anonymes geplante, dann unter dem Pseudonym Guilielmus Pacidius vorbereitete Werk trägt in den spätesten Entwürfen den Titel Initia et Specimina Scientiae generalis mit verschiedenen Erweiterungen, die an Francis Bacons Instauratio Magna anklingen. Offenbar frühere Titel waren in Anlehnung an Joseph Glanvills Plus ultra (GP VII S. 49 und Couturat, S. 217 [AA VI,4 S. 158]) und Jakob Böhmes Aurora (GP VII S. 54) geprägt. 32 Vgl. I, 2 S. 121–124, 155–158, 168, 188 und 225. 33 Vgl. die Briefe an Haak vom Februar 1680 und 16. Jan. 1681 [AA II,12 N. 227a u. 227d] und an Clüver vom 28. Mal und August 1680 [AA II,12 N. 223a u. 228a] (sämtlich bei GP VII S. 16–20). 34 GP VII S. 157–173 [AA VI,4 N. 161]. In der ersten, gestrichenen Fassung schreibt Leibniz unter anderem: Un prince est l’abrege de tout son peuple. On peut meme dire en quelque facon qu’il est aux autres ce que l’ame est aux corps, et qu’il fait plus que tout le reste und dann krönt er diese Huldigung mit einem wohl selbst verfaßten Hexameter, den er einem befreundeten Poeten zuschreibt: Tu quoque nunc floreas Ludovico Gallia rege / Acceptos uni disce referre DEos (LH IV,7 B 1 Bl. 3ro) [AA VI,4 N. 1611 S. 693.9–14].

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nicht erst aus der Hand gegeben. Offenbar waren es des Sonnenkönigs sanktionierte Mißachtung der verbrieften religiösen Toleranz und seine drastischen Bekehrungs- und Vertreibungsmaßnahmen gegen die Hugenotten, die Leibniz diese Zurückhaltung auferlegten. Aber es ist nicht unsere Absicht, hier den äußeren Umständen näher nachzugehen, die der Verwirklichung der Charakteristik günstig oder ungünstig waren. Wir möchten uns vielmehr darauf beschränken, die aus der Sache hervorgehenden Probleme in den Blick zu bekommen. Das Alphabetum cogitationum humanarum wird in einem Konzept aus den Jahren 1678/79 (LH IV, 7C Bl. 160–161) [AA VI,4 N. 67 S. 270.17–18] näherhin bestimmt als der Katalog der ursprünglichen Begriffe, d. h. derjenigen, die durch keinerlei Definitionen deutlicher gemacht werden können. Zwar gäbe es unendlich viele erste Begriffe (allein schon die unendlich vielen Qualitäten, die mit den einzelnen äußeren Sinnen aufgefaßt werden, seien unendlich viele, die man jedoch jeweils zu einigen wenigen aus jeder Art in Relation setzen könne), jedoch seien es nur wenige, die mit dem inneren Sinn wahrgenommen würden, oder mehreren Sinnen gemein seien. Das erläutert Leibniz am Lernvorgang des Schülers, der nur wenige Begriffe mitbringt, die der Lehrer in seinen Erklärungen so miteinander zu verbinden weiß, dass der Schüler alles, was er lernen soll, ohne weiteres verstehen kann. Wenn also jemand die ursprünglichen Begriffe, über die der Knabe verfügt, in einem Katalog sammelt, jedem der Begriffe ein eigentümliches Zeichen zuordnet und aus diesen Zeichen die zusammengesetzten Begriffe bildet, dann könne man den so entstandenen neuartigen Wörtern jeweils die in ihnen enthaltene Beziehung der Charaktere und damit der Begriffe untereinander unmittelbar ansehen, was bei den Wörtern der natürlichen Sprache nicht der Fall sei. Damit will Leibniz aber nicht anregen, eine Bestandsaufnahme der Begriffe, über die das Kind verfügt, zu machen, sondern nur ein documentum manifestum ein handgreifliches Beispiel geben.35 Es bleibt nun der Modus abzuhandeln, bemerkt er am Ende des Stückes, das Alphabetum notionum simplicium zu erforschen, und deutet nur an, dass das durch eine gewisse Analysis zu geschehen habe, die er bei gegebener Zeit erhellend darstellen werde, Sache der Synthesis oder Ars 35

An der fingierten Aufgabe, einen anderssprachigen Schiffbrüchigen oder einen kaum der Kindheit entwachsenen Knaben mit gewisser Methode unsere Sprache und mit ihr die Wissenschaft zu lehren, entwickelt Leibniz dieselbe Theorie in einem etwa aus der gleichen Zelt stammenden Konzept (Couturat, S. 158–160 [AA VI,4 N. 139] ) und merkt dabei an, dass zur Konstituierung der Elemente, d. h. der höchsten Gattungen oder ersten Begriffe, opus est analysi difficili ac diuturna, quam Magister ipse secum instituere cogetur. In einem weiteren Entwurf aus dieser Zeit (LH IV, 7 B3 Bl. 21ro) [AA VI,4 N. 143 S. 595.6–9] schreibt er in gleichem Sinn: Si lingua discenda sit desideremusque eo pervenire, ut primo quoque tempore cogitata exponere liceat, sufficiet nobis ea vocabula discere, quae sufficiant ad caetera omnia saltem circumscriptione explicanda.

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combinatoria sei es hernach, aus den ursprünglichen Begriffen die zusammengesetzten zu bilden. Auch in einem weiteren Konzept aus der Zeit wohl kurz nach 1679 (Leibniz erwähnt darin die in diesem Jahr entworfenen charakteristischen Zahlen) erinnert er sich, wie er als Knabe auf das Alphabetum cogitationum humanarum gestoßen sei und darauf, dass man durch Kombination der Buchstaben dieses Alphabets und durch Analyse der aus diesen Buchstaben gebildeten Wörter alles, was, wie er in der Reinschrift beifügt, auf Grund der Vernunft feststeht, erfinden und beurteilen könne (GP VII S. 185 und LH IV,5, 6 Bl. 1) [AA VI,4 N. 66]. dass er aber diese Idee damit, dass er sie seiner Jugend zuweist, nicht als unreif hinstellen will, bezeugt mehreres. Erstens, dass er in dem eben genannten Konzept feststellt, dass er nicht bereue, die Ars combinatoria geschrieben zu haben, trotz ihrer Mängel, die auf seine damalige Unkenntnis der Mathematik zurückzuführen seien, weil er mit ihr der Welt bereits damals ein Zeugnis seiner Erfindung gegeben habe und es nicht so aussehen könnte, als ob er erst jetzt dergleichen ersonnen hätte. Dann, dass er in einem Gliederungsentwurf zu einer Schrift über die ars inveniendi aus der gleichen Zeit einen Abschnitt vorgesehen hat, der De praedicamentis Artis Combinatoriae Universalis, seu de dictionario formato ex Alphabeto cogitationum humanarum handeln soll (Couturat, S. 165 [AA VI,4 N. 30 S. 84.12–13]). Und schließlich, dass er in seiner anonymen Stellungnahme zum unerlaubten Nachdruck der Ars combinatoria (Acta Eruditorum, Februar 1691), trotz seiner Einwände gegen das Jugendwerk nicht ohne Stolz einräumt, in ihm seien die Keime zur ars inveniendi zu finden und unter anderen neuen nicht zu verachtenden Überlegungen auch jene der höchsten Ehrung werte Erfindung der Analyse der menschlichen Gedanken in ein Alphabet der ursprünglichen Begriffe (AA VI,2 S. 545). Auch behauptete er etwa 1686–1689, er könne mit höchster mathematischer Gewißheit beweisen, dass ein solches Unternehmen die Konstitution einer exakten Sprache, wenigstens einer Art wahrhaft philosophischer Schrift, in der alle Begriffe auf ein Gedankenalphabet zurückgeführt werden können, möglich, ja sogar leichtlich innerhalb von einigen Jahren von einigen verständigen und mitdenkenden Männern in seinen ersten Anfängen zu erstellen sei.36 Und dennoch hatte Leibniz einige Jahre zuvor schon erhebliche Zweifel an dieser Konzeption geäußert. In einer Studie aus der Zeit um 168037 folgert er: es kann nur dann etwas begriffen werden, wenn zuvor etwas durch sich begriffen worden ist; wenn auch die Menge des Begriffenen unendlich groß ist, so ist, dafür spricht die Kombinatorik und die Ökonomie der Natur, es nicht nur möglich,

36 37

Vgl. GP VII S. 199 [AA VI,4 N. 189 S. 911.10–12]. De Organo sive Arte Magna cogitandi (Couturat, S. 430f. [AA VI,4 N. 50]).

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sondern sogar wahrscheinlich, dass es nur weniges gibt, das durch sich begriffen wird. Den Katalog derjenigen Begriffe, die durch sich begriffen werden und aus deren Kombinationen unsere übrigen Begriffe hervorgehen, bezeichnet er dann zunächst als Alphabetum Cogitationum humanarum, setzt seine Überlegungen jedoch fort mit dem Einwand: Es könnte aber sein, dass es nur ein einziges gibt, das durch sich verstanden wird, nämlich Gott selbst, und außerdem das Nichts, die Privation, und erklärt das admirabile similitudine durch seine dyadische Darstellung der natürlichen Zahlen, d. h. durch die Übersetzung der im Zehnziffernsystem ausgedrückten arabischen Zahlen in eine Folge von Zahlen, die nur aus den Ziffern 1 und 0, Gott und das Nichts repräsentierend, zusammengesetzt sind. Den Abschnitt über das Gedankenalphabet hat er dann konsequenterweise gestrichen. Die im Gleichnis geforderte Analyse der Begriffe bis hin zu Gott und dem Nichts, die den vollkommenen Beweis der Möglichkeit der Dinge liefern würde,38 ist jedoch, wie Leibniz sogleich angemerkt hat, »nicht in unserer Macht«, es müsse uns genügen, die mächtige Vielheit der Dinge auf einige wenige zurückzuführen, deren Möglichkeit anzunehmen oder zu fordern oder durch Erfahrung (experimentum) zu erweisen wäre. Ebenso lautet Leibniz’ vorsichtige Andeutung des Problems in den von ihm selbst veröffentlichten Meditationes de Cognitione, Veritate et Ideis (Acta Eruditorum, November 1684, GP IV, S. 425 [AA VI,4 N. 141]): An vero unquam ab hominibus perfecta institui possit analysis notionum, sive an ad prima possibilia ac notiones irresolubiles, sive (quod eodem redit) ipsa absoluta Attributa DEI, nempe causas primas atque ultimam rerum rationem, cogitationes suas reducere possint, nunc quidem definire non ausim. − Man beachte, welche Komplexität das Problem, gleichsam jenseits von Logik und Ontologie, für Leibniz hatte: die unauflöslichen ersten Begriffe sind die prima possibilia (Leibniz definiert wiederholt als natura prius dasjenige, was weniger zusammengesetzt und daher leichter zu verstehen ist)39 und diese sind zugleich die absoluten Attribute Gottes selbst, und als solche die ersten Ursachen und der letzte Grund der Dinge.

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Später, in einem Brief an Herzog Rudolf August von Wolfenbüttel vom 2/12. Januar 1697 [AA I,13 N. 75] (zuerst gedr. in Kleinere philos. Schriften hrsg. v. H. Köhler, Jena 1720, S. 92–102) empfiehlt Leibniz, die Analyse als geleistet voraussetzend, auf einer Medaille die Erschaffung aller Dinge durch die Allmacht Gottes aus dem Nichts durch die dyadische Erzeugung der natürlichen Zahlen aus der Null und der Eins zu versinnbildlichen. Über den möglichen Nutzen der Dyadik und der Zeichen des Fohi für das Gedankenalphabet sind die kritischen Bemerkungen zu vergleichen, die Leibniz am 15. Dezember 1707 in einem wohl für Bourguet verfaßten Schriftstück äußert (GP III S. 545). 39 Vgl. beispielsweise De affectibus [AA VI,4 N. 269 S. 1427.18–20] (10. April 1679), Grua, S. 525.

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In seinen Entwürfen aus den folgenden Jahren, die er möglicherweise erst auf der Reise zwischen 1687 und 1689 verfaßt hat, vermutlich in Wien, um sie dieses Mal dem Kaiser oder einem anderen fürstlichen Förderer, der Bereitschaft zeigt, das Unternehmen zu unterstützen, vorzutragen,40 sind es auch nicht mehr die absolut ersten Begriffe, sondern die ersten für uns, die, einmal konstituiert, ermöglichen werden, die Schlüsse nach Art der Zahlenrechnungen zu entscheiden, die Meinungsverschiedenheiten durch ein Calculemus! zu beenden (vgl. Couturat, S. 176 [AA VI,4 N. 205 S. 964.23–26]), und die jetzt, aber auch erst jetzt, das Alphabetum cogitationum humanarum ausmachen (Couturat, S. 220f. [AA VI,4 N. 206 S. 974.9–10]). Welche Gründe zu dieser Beschränkung geführt haben, wäre noch eingehend zu verfolgen. Als Ersatz für die schwierige vollständige Analyse der Begriffe hatte er bereits in einer späteren Notiz zu seiner Pariser Abhandlung De la sagesse (GP VII S. 84f. [AA VI,3 N. 896 S. 671.23–28]),) die Analyse der Wahrheiten vorgeschlagen, d. h. die Reduktion auf Identitäten, die nicht zur Bedingung hat, dass man die Begriffe bis in ihre ersten Elemente zerlegt, sondern schon am Ziel ist, wenn man die Identität von Subjekt und Prädikat bzw. von Antecedens und Consequens aufgewiesen hat.41 Als probates Mittel zu Grundbegriffen zu gelangen, hat Leibniz den Beweis der allgemein als Axiome geltenden Sätze angesehen. Es ist allerdings fraglich, ob seine diesbezüglichen Beweise und Aufzeichnungen dabei von vornherein auf dieses Ziel ausgerichtet waren, oder ob es ihm nicht prinzipiell nur um Sicherung der Erkenntnis ging − ein Ziel allerdings, dem die Konstitution des Gedankenalphabets letztlich auch dienen sollte. Bereits 1671/72 hatte er die Beweisbarkeit der sogenannten Axiome behauptet und an Beispielen, unter anderem am Satz vom Grunde, exemplifiziert (AA VI,2 N. 57). Jedenfalls notiert er sich auf der Reise 1688/89: Optima Methodus perveniendi ad Analysin notionum a posteriori, est quaerere demonstrationes propositionum, maxime Axiomaticarum, quae videntur aliis per se notae (Grua, S. 548 [AA VI,4 N. 194 S. 974.17–18]). Zu dem Zweck seien, schreibt er auf denselben Zettel, Auszüge zu machen aus einer Reihe von Autoren, die er teilweise mit den in Frage kommenden Werken anführt und die er auch an anderen Stellen als Verfasser guter Definitionen rühmt. Durchzusehen

40

Eines davon beginnt mit der Arbeitsnotiz: Dedicatio ad Monarcham qui volet (Couturat, S. 218 [AA VI,4 N. 206 S. 971.22]). 41 Vgl. auch die etwa 1688 geschriebene Gliederungsnotiz zur Scientia generalis (Couturat, S. 220 [AA VI,4 S. 974.1–3]), in der er festhält, dass er auf die Pascalsche Schwierigkeit der kontinuierlichen Analyse eingehen und zeigen will, dass zum vollkommenen Beweis eines Satzes nicht unbedingt vollkommen analysierte Begriffe zu verlangen sind.

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seien auch die Werke derjenigen, notiert er sich damals darüber hinaus, qui multos terminos exhibent dispositos ordine reali, ut ii qui praedicamenta ad minutiora deduxere und nennt dabei Hadrianus Junius, Franc¸ois-Antoine Pomey, John Wilkins und Joh. Joachim Becher. Die Gliederung ihrer hier in Frage kommenden Werke sowie die der entsprechenden von Joh. Jonston, George Dalgarno und Michael Pexenfelder hatte Leibniz schon etwa zehn Jahre vorher unter dem Titel De Rerum Classibus sie den zehn Kategorien des Aristoteles gegenüberstellend, exzerpiert (LH IV,7 C Bl. 53–54) [AA VI,4 N. 212].42 Lassen wir die Teilanalyse, die auf den bloßen Nachweis der Identität gerichtet ist, und auch die Analyse der Axiome, sowie auch die Diskussion des Problems der endlichen oder unendlichen Anzahl der Grundbegriffe und die damit verbundene Frage nach den Grenzen des menschlichen Verstandes,43 beiseite und wenden uns den größtenteils noch unveröffentlichten Konzepten zu, in denen Leibniz immer wieder von neuem versucht, vielfach nur wenig voneinander abweichende Definitionen, oft auch bloß durch einen Begriff repräsentiert, in eine systematische Ordnung zu bringen. In der erst bei eingehender Betrachtung verschwindenden Monotonie dieser Kataloge dürfte der Grund liegen für die stiefmütterliche Behandlung, die sie durch die Editoren erfahren haben. Das Interesse an ihnen wird erst wach, wenn man sie als Ganzes zu interpretieren versucht, wenn man sich fragt, was hat Leibniz mit dieser mühsamen Arbeit erreichen wollen? »Es ist der Mühe wert, die einfachen Termini aufzuzählen mit denen andere definiert werden können«.44 So beginnt einer der ersten von über 20 Versuchen. Unter diesem Leitwort werden wir sie alle interpretieren und damit aufzuweisen suchen, dass ihnen dasselbe Anliegen gemein ist: Aufzählen der Grundbegriffe in systematischer Anordnung zur Konstituierung neuer Kategorien. Mit anderen Worten, wir behaupten, dass diese Kataloge die Funktion übernehmen, die Leibniz zunächst der vollständigen Begriffsanalyse und der sich daran anknüpfenden Synthesis zugedacht hatte: die materielle Grundlegung der allgemeinen Charakteristik. Das belegen zunächst auch die folgende Überschriften und Einleitungssätze: »Katalog der ersten 42

Die fundamenta divisionum und oppositionum hat Leibniz auch aus Th. Zwingers Theatrum vitae humanae, Basel 1604, und später (etwa 1693) auch aus Joh. Heinr. Alsteds Encyclopaedia Herborn 1630 (LH IV, 7C Bl. 7 bzw. 13–16 [AA VI,4 N. 214 u. 235]), vgl. Couturat S. 354) exzerpiert. 43 Vgl. das noch in Paris, anscheinend als Brief, konzipierte Stück (Couturat S. 186f.) und De l’Horizon de la Doctrine humaine (LH IV, 5, 9 Bl. 1 u. 6 und 2–5, vgl. Couturat, S. 96) sowie die wohl erst gegen 1715 geschriebene Abhandlung Apokatastasis panton (hrsg. v. M. Ettlinger, Leibniz als Geschichtsphilosoph, 1921, Anhang). 44 Operae pretium est enumerare terminos simpliciores per quos alii possint definiri. (LH IV, 7B3 Bl. 19–20) [AA VI, N. 94 S. 388.22].

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Begriffe, aus denen die übrigen alle zusammengesetzt werden«45 und »Alles, was wir denken ist in diesen wenigen enthalten«,46 sowie in den »Gattungen der Begriffe«47 und schließlich in der Aufzeichnung »Prädikamente oder Katalog der geordnet dargestellten Begriffe und der begreifbaren Dinge oder einfachen Termini.«48 Wenn auch die meisten der Entwürfe zu solchen systematischen Begriffskatalogen keine Überschriften tragen (zum Teil sind sie auch nur eingebettet in Konzepten zu größeren Abhandlungen), so belegt doch der gleiche Aufbau, die Weise der Anordnung der Begriffe oder Definitionen eindeutig, dass sie alle diesem einen Zwecke dienen sollten. Von dem Unterschied zwischen ausgeführten Definitionen (teilweise mit ausführlichen Reflexionen verknüpft, die meistens zur Begründung der Definition dienen) und bloßen, mehr oder weniger gegliederten Aneinanderreihungen von Begriffen können wir absehen. Festzuhalten dagegen ist der Unterschied zwischen den Entwürfen, die sich an die Gliederung anderer Autoren anlehnen und solchen, in denen Leibniz selbst eine systematische Ordnung entwirft. Chronologisch lassen sich nach äußeren Merkmalen zumeist nach den Wasserzeichen) drei Gruppen bilden. Die erste umfaßt die Konzepte aus der Zeit zwischen 1678 und 1686. In die zweite Gruppe gehören die Entwürfe, die etwa 1688/89 wohl auf der Reise geschrieben worden sind, und die letzte Gruppe schließlich bilden die Tabellen aus der Zeit um 1703. Spätere Konzepte mit dieser Zielsetzung sind uns nicht bekanntgeworden. Der ersten Gruppe geht ein Stück aus der späten Mainzer Zeit voran (AA VI,2 N. 58). Damals hatte er den ihm 1671 bekanntgewordenen Essay towards a Real Character and a Philosophical Language (1668) von John Wilkins benutzt, um in enger Anlehnung an die darin enthaltene Gliederung der Begriffe eigene Definitionen zu verfassen. Im Gegensatz zu den analytisch miteinander verketteten Definitionenfolgen aus der Mainzer Zeit, von denen bereits die Rede war, macht Leibniz hier nicht den Versuch, die zur Definition herangezogenen Elemente ihrerseits wieder zu definieren, wenn auch seine einleitende Bemerkung: Generalis notio est quae alterius (specialis) pars est (AA VI,2 S. 487) darauf schließen läßt, dass er auch hier letztlich eine Analyse der Begriffsinhalte anstrebte. 45 Catalogus Notionum primariarum ex quibus caeterae pleraeque omnes componuntur (LH IV, 7C Bl. 52, um 1680) [AA VI,4 N. 149]. 46 Omnia quae cogitamus his paucis (das letzte Wort gestrichen!) fere continentur (LH IV, 7 B 3 Bl. 17ro, um 1680) [AA VI,4 N. 98 S. 398.7 u. 399.2]), 47 Genera Terminorum (LH IV, 7C Bl. 70, um 1685) [AA VI,4 N. 133] 48 Praedicamenta seu Catalogus conceptuum ordine propositorum rerumque conceptibilium seu terminorum simplicium (Couturat, S. 514, um 1685 [AA VI,4 N. 126 S. 531.4–5]).

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Dieses Konzept nun hat Leibniz etwa um 1687 in Hannover wieder hervorgeholt, mit Randbemerkungen versehen und fortgesetzt.49 Spuren einer Anlehnung an den Essay von Wilkins, nicht jedoch an den Inhalt, sondern nur an die Anordnung der Definitionen finden sich in mehreren Definitionskatalogen aus dieser Zeit.50 Charakteristisch ist dafür das Fortschreiten in Gegensatzpaaren, die zunächst nur locker miteinander in Beziehung gebracht werden, gleichsam als ob Leibniz sich damit eine provisorisch angeordnete Materialsammlung hat erarbeiten wollen.51 Seine grundsätzliche Kritik an Wilkins und an der Leibniz wohl erst 1673 bei seinem Londoner Aufenthalt bekanntgewordenen Ars signorum (1661) von George Dalgarno, wendet sich gegen die Beschränkung der Aufgabe der auch von diesen Autoren angestrebten Charakteristik auf die sprachliche Kommunikation. Wie er auf dem Schutzblatt der Ars signorum wohl noch 1673, sich auf eine Diskussion mit Boyle und Oldenburg beziehend, festhält, ist seine vera Characteristica Realis so angelegt, dass die menschliche Vernunft mit ihr ein überaus geeignetes Instrument gewinnt zur Erfindung, Bewahrung und Beurteilung − mit anderen Worten nicht nur zur Vermittlung.52 Daher konnte Leibniz auch kein Genügen finden am Inhalt von Wilkins’ Definitionen und nur ein vorläufiges an der mit ihnen vorgegebenen Gliederung. Für Leibniz gilt es nun den erstellten ersten Vorrat an Definitionen seinen Intentionen gemäß zueinander in Beziehung zu bringen. Am Kopf einer der ersten Zusammenstellungen von Begriffen notiert er sich (um 1678) wie man wohl die wahren Prädikamente bekommen könne. Man müsse die Begriffe in einer mächtigen Tabelle so anordnen, dass ihre Zusammensetzung durch Verbindungslinien 49

Vgl. VI,2 N. 58 und LH IV, 7C Bl. 45–46 [AA VI,4 N. 103]. − Auch hat er damals den Anfang des Registers des Wilkinsschen Werkes benutzt, um seine eigenen Definitionen in alphabetischer Folge zu ordnen (LH IV, 7 C Bl. 32) [AA VI,4 N. 11], so wie er das in Leipzig oder Altdorf zwischen 1665 und 1667 mit einer Reihe von juristischen Definitionen unter dem Titel Methodus getan hatte (AA VI,2 N. 25). Außerdem exzerpierte er um 1678 die Rubriken der Gliederung von Wilkins (LH IV, 7 C Bl. 33–34) [AA VI,4 N. 146] und merkte Verschiedenes in seinem uns noch erhaltenen Handexemplar und auf den drei herausgetrennten Tabellen (LH IV, 7D 1 Bl. 2–4) an. [Sie wurden in AA VI,2 als Tafel 27A u. B gedruckt.] 50 Das trifft besonders zu auf das Konzept LH IV, 7C Bl. 47–49 [AA VI,4 N. 10], das sich auf die beiden ersten Rubriken des Essay beziehen läßt und inhaltlich dem entspricht, was Leibniz bereits in Mainz (vgl. VI,2 S. 487–492) konzipiert hatte. Einige der neuen Formulierungen stimmen bereits mit den Lesarten der früheren Fassung überein. 51 Dichotomien in entgegengesetzte, d. h. einander komplementäre Glieder seien sehr gut um zu vermeiden, dass wir beim Aufzählen nichts auslassen, bemerkt Leibniz in seiner Pariser Abhandlung De la sagesse (vgl. GP VII S. 84 [AA VI,3 N. 896 S. 672.6–7]). 52 Couturat, La Logique de Leibniz, S. 544 [AA VI,4 N. 103].

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zu den jeweils einfacheren in sie eingehenden Begriffe gekennzeichnet werden kann. Dieses Verfahren, setzt Leibniz hinzu, wäre auch geeignet für die zu veröffentlichende neue Charakteristik.53 Durchgeführt hat er diesen Vorschlag nicht. Das so zu erstellende Bild der vielfachen Beziehungen der Begriffe untereinander wäre auch viel zu kompliziert geworden, da es alle Möglichkeiten die einzelnen Begriffe zu definieren zum Ausdruck bringen müßte. Im November 1678 schreibt Leibniz auch ausdrücklich, dass die Darstellung der Zusammengesetztheit eines Begriffes durch dichotomische Tabellen, die klassische Methode der Unterteilung einer Gattung in untergeordnete Arten, verschiedene Möglichkeiten zuläßt und nur eindeutig ist in bezug auf die untersten Arten.54 Nun sahen wir bereits, dass Leibniz um diese Zeit die vollständige Begriffsanalyse zugunsten der Aussagen oder Wahrheitsanalyse aufgegeben hat und damit zusammenhängend auch die Versuche, mit eindeutigen Tabellen oder Schemata einteilend bis zu den Grundbegriffen zu gelangen. Besonders aufschlußreich für die Interpretation der uns vorliegenden Definitionskataloge ist eine vier Folioseiten lange, stark durchgearbeitete Untersuchung, die dem Papier nach aus der Zeit um 1680 stammt (LH IV,7 C Bl. 105–106) [AA VI,4 N. 132]. Nach einer prädikamentalen Aufgliederung, die von Terminus bis zu Deus und Creatura reicht:55 Terminus possibile − impossibile ens − non 53

Si in una tabula ingenti dispositae notiones possent connecti per linearum ductus, v. g. honor referendus ad signum et praestantia, quia est signum praestantiae, possent ita addi lineis sub finem notae quaedam, flaminulae, vel simile, ut appareat modus connectendi seu fabricatio definitionis. Essent revera praedicamenta. Separari poterunt mathematica, technica, etc. sufficient metaphysica seu communia, et practica. Separatum quid pro physicis, pro actibus, pro jure. Hoc etiam aptum pro nova characteristica publicanda (LH IV, 7C Bl. 59) [AA VI,4 N. 148 S. 631.14–20]. Vgl. auch den Anfang des gleichzeitigen Konzepts LH IV, 7 B3 Bl. 21–22 [AA VI,4 N. 143 S. 595.3–6]: Magni momenti est in cogitando totam cogitabilium quae nostris mentibus obversari crebrius solent, varietatem, uno obtutu complecti posse. Ita enim rerum comparationes et connexiones intelligemus; rem propositam inveniemus, datam cum aliis combinabimus. 54 Vgl. die datierte Aufzeichnung Tabulae. Divisiones. Methodus. Genera et Species subalternae und das Consilium Encyclopaedia nova conscribenda methodo inventoria (Couturat, S. 403f. bzw. 39f.), ebenfalls von Leibniz datiert (25. Juni 1679), in dem es heißt: Species autem accurate distinguendae, non communi more per Dichotomias, sed per qualitatum quibus dignosci possunt combinationes. Zur Fragwürdigkeit des dichotomischen Prinzips vgl. bereits die Ausführungen in der Ars combinatoria (AA VI,1 S. 191f.). 55 In Kurzform geben wir einige der interessanteren der prädikamentalen Gliederungen so an, dass wir jeweils zwischen zwei senkrechten Strichen die Gegensatzpaare der einzelnen Glieder nennen, die zusammengenommen den ganzen U m f a n g der im vorhergehenden Glied kursivierten Begriffe ausmachen. Wird keiner der im vorhergehenden Glied aufgeführten Begriffe kursiviert, so bezieht sich die folgende

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ens56 concretum − abstractum suppositum − attributum substantia singularis seu realis − phaenomenon reale absoluta (Deus) − limitata (creatura) folgt eine Aufzählung der Attribute, die nützlich ist, da die supposita, d. h. die konkreten Dinge, gleich ob sie Substanzen oder Phänomene sind, durch ihre Attribute von uns erkannt werden. Die Aufgliederung wird daher fortgesetzt: attributa simplicia − composita secundum rerum naturam − respectu nostri und nach der Feststellung, dass es offenbar nur wenige Begriffe gibt, die der Natur nach erste sind und durch sich begriffen (concipi ), nein, verbessert sich Leibniz, eingesehen (intelligi) werden57 wohl aber viele, die wenigstens für uns erste sind und die wir durch sich begreifen, aber nicht durch sich einsehen (d. h. die wir wohl clare, nicht aber distincte58 wahrnehmen), folgt der für uns zentrale Text: »Wenn die einfachen Attribute der Dinge aufgezählt gegeben wären, hätten wir ein Alphabet der menschlichen Gedanken aus dem unsere gesamte Erkenntnis hervorgeht. Weil es aber schwierig ist, etwas Vollkommenes in dieser Gattung zu geben, ist das nach und nach anzustreben und sind wenigtens die wichtigsten und den primitiven am nächsten kommenden aufzuzählen, bei Bewahrung aller Möglichkeiten der kontinuierlichen Analyse, bis wir zu den einfachen gelangen.«59 Die Möglichkeit, Aufgliederung gleichmäßig auf beide. Von Leibniz zur Verdeutlichung angegebene Beispiele, die meistens Individuen oder unterste Arten des Gliedes darstellen, erscheinen in Klammern. Knüpft die Aufgliederung an ein zuvor nicht weiter aufgeteiltes Glied einer der vorangehenden Oppositionen an, so ist das durch Voranstellen von z w e i senkrechten Strichen kenntlich gemacht. 56 Das Non-Ens wird hier noch als possibile negativum definiert, was der früheren Einteilung des Aliquid in Ens und Non-Ens entspricht (AA VI,2 S. 457, 1670). Später wird das Non-Ens dem Impossibile zugeordnet (vgl. z. B. LH IV,7 B 2 Bl. 34 [AA VI,4 N. 196 S. 935.19–20]: Magni momenti, um 1688). 57 Im nachfolgenden Text (s. nächste Anm.), wie auch in LH IV, 7B3 Bl. 19 [AA VI,4 N. 97 S. 396.2] wird intelligi als distincte percipi definiert. 58 Simplicia secundum rerum naturam sunt quae per se intelliguntur. Tale attributum videtur esse ipsum Ens, et haec quidem a nobis distincte exhiberi difficile est. Sunt autem prima possibilia, seu Termini positivi, quos possibiles esse patet a priori, ex nuda eorum intuitione, etiamsi nulla praesupponerentur experimenta. Quam pauca autem hac ratione a nobis per se concipiuntur, etsi a nobis non per se intelligantur, et talia sunt quae clare nobis per se concipiuntur, etsi a nobis per se intelligantur, et talia sunt quae clare quidem sed non distincte percipimus, ita ut agnoscamus ea quidem et ab aliis discernamus, sed non per notas a nobis distincte explicabiles, ut Calor, Color, aliaque multa. (LH IV, 7C Bl. 105 r°/v°) [AA VI,4 N. 132 S. 560.11–19]. Vgl. dazu GP IV S. 422f. [AA VI,4 N. 141] (November 1684). 59 Si enumerata darentur Attributa rerum simplicia, haberemus Alphabetum cogitationum humanarum, ex quo cognitio nostra omnis exurgit. Quanquam autem difficile sit, aliquid in hoc genere perfectum dare, paulatim tamen tentandum est enumerandaque saltem potiora, et primitivis propiora, salva cuique facultate continuandi analysin, donec ad primitiva perveniatur.

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durch Analyse bis zu den letztlich einfachen Begriffen zu gelangen, wird also grundsätzlich bejaht, die von uns behauptete Identität der Fragestellung, Aufzählung der ersten Begriffe einerseits und Auffindung des Gedankenalphabets andererseits, nochmals belegt. Die Beschränkung auf die Aufzählung der wichtigsten und den ursprünglichen am nächsten kommenden Attribute ist methodisch, nicht prinzipiell, und will verstanden sein als Ausgangspunkt, nicht als Ersatz für die spätere vollständige Analyse. Aus dem anschließenden Text wird, wie sonst in keinem anderen, erhellend deutlich, wie Leibniz diese und offenbar auch viele der späteren Aufzählungen gewonnen hat. »Vor allem«, heißt es da, »scheint dem Geist der Stoff eines positiven Begriffs zu begegnen, ebeb die Realität oder das Wesen, worin alle die von uns gedacht – nein, perzpiert – werden, übereinkommen. Und daher nennen wir etwas ein Ding, ein Seiendes oder ein Subjekt. Danach begreifen wir die Substanz oder das ultimate Subjekt. Schließlich begreifen wir, so scheint es, die Gegenwart oder das, was jetzt ist.«60 Es ist deutlich, der Leitfaden der Aufzählung ist die Beobachtung des objektivierenden Erkenntnisvorgangs. Es werden vorangestellt die Stücke, die im Gang des Erkennens dem reflektierenden Geist offenbar zunächst begegnen. Man wird dabei erinnert an das Verfahren Descartes’, wenn es Leibniz hier auch nicht primär um Gewißheit, so doch um ursprüngliche Deutlichkeit und damit letztlich auch um Sicherung der Erkenntnis geht. Es darf in der Abfolge der Aufzählung kein Begriff vor einem solchen erscheinen, den er selbst zu seiner Erklärung nötig hat und der daher auch in methodischem Fortschreiten ihm hätte vorangehen müssen. Die weiteren Begriffe, die Leibniz aus der Beobachtung des Erkennens herleitet, sind: varietas, diversum, plura, simul, idem, unum; dann novitas seu mutatio, tempus;61 60

Ante omnia, Menti occurrere videtur materia conceptus alicuius positivi sive realitas vel essentia; in quo conveniunt omnia quaecunque a nobis [und hier schwankt er wieder zwischen cogitantur und percipiuntur, um sich erst beim fünften Ansatz zu entscheiden:] percipiuntur. Et ideo aliquid vocamus Ens vel Rem sive Subjectum. Postea concipimus substantiam seu subjectum ultimum. Deinde videtur a nobis concipi praesentia, seu quod nunc est. Kritisch schränkt Leibniz allerdings sogleich ein: Quanquam quicquid Menti obversatur revera nunc esse credituri eramus, nisi experimentis nudas apparentias imaginationes et somnia a phaenomenis realibus distinguere didicissemus. [AA VI,4 N. 132 561.4–7]. 61 Daran knüpft Leibniz eine subtile, man kann sagen anticartesische Meditation an über die grundlegende Gewißheit der Selbsterfahrung, über die Ich-Erkenntnis: An autem revera semper eadem sint, quae a nobis talia esse ponuntur, altioris est discussionis. Sufficit aliqua esse quae maneant eadem cum mutantur, ut Ego. Quodsi quis ne me quidem durare contendat ultra momentum is scire nequit an ipse existat. Hoc enim non aliter novit, quam quod semet experitur atque percipit. Omnis autem perceptio tempore indiget, itaque aut toto durante tempore huius perceptionis permanet, quod nobis sufficit, aut semet ipse non percipit, alioqui tantum momento perciperet, eo scilicet quo solo existit. Et cum

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schließlich die logischen und ontologischen Folgebegriffe: inferens, illatum, conditio, conditionatum, requisitum, requirens, causa, conferens, causa plena, determinans, determinatum, praedeterminans; ferner: coincidens, simile, qualitas, congruens, quantitas, homogeneum, terminus (als Grenze), extensio, motus. Doch bevor man zu motus käme, merkt Leibniz an, hätte man etwas über die Veränderung im allgemeinen zu sagen, über actio und passio nämlich, über potentia, conatus und anderes von dieser Art. Es folgen noch einige Bemerkungen über das, was über Zahlen und ratio (als Verhältnis) gesagt werden soll, und damit bricht diese Untersuchung ab, die man als richtungweisendes Arbeitsprogramm wird verstehen dürfen. In dem zeitlich und – dem Gehalt der Definitionen nach – auch inhaltlich dem soeben referierten sehr nahe stehenden Stück (LH IV, 7B3 Bl. 19–20) [AA VI,4 N. 97], das mit den bereits zitierten Worten anfängt: Operae pretium est enumerare Terminos simpliciores nimmt Leibniz die Begriffe, die er zuvor nur prädikamental aufgegliedert hatte, mit hinein in die Abfolge der die Erkenntnisphasen darstellenden Begriffe. Denn er leitet die Anordnung sogleich ein mit der Wendung Primum occurit, ohne hier zu sagen, wem. Gemeint ist natürlich dem erkennenden Geist, wie Leibniz das, sicherlich bereits zuvor, in dem eben besprochenen Stück ausgeführt hatte. Das Schema der Gliederung lautet: Cogitabile impossible − possibile positivum (Ens) − negativum (non Ens) subjectum (Res) − attributum (Modus rei) substantia − accidentia Darauf folgen, aber nicht an eine in Gegensätzen weiterschreitende Anordnung gebundene Meditationen über das Begründungsverhältnis von Subjekt und Attribut und über die substantia completa, die anknüpfen an die Struktur der Aussage, aus denen sich weiter herleiten die Begriffsbildungen: incompatibilia (incomponibilia), incondestructibilia, Bedingung und Folge, Identität, Eines, Vieles, prius und posterius natura bzw. tempore, Zahl. Dann bricht die Aufzählung mitten im Wort ab und es folgt eine Aneinanderreihung von Begriffen,62 die zum Teil die bereits definierten bloß

conscientia meae perceptionis memoriam involvat, adeoque praeteritum, neque enim eodem momento et cogito et cogitationem percipio, falso dicemus nosmet experiri, si neque is qui percepit, neque is qui perceptus est, ille est qui nunc cogitat seu meminit. Und nach einer längeren gestrichenen Ausführung über das Zeitproblem fährt er fort: Sublato autem hoc experimento sui, quod omnium primum est, alia cessant omnia, nam si incertum est an sim, incertum est an percipiam, itaque incertum quoque est an sint alia de quibus non aliunde judico, quam ex his quae percipio. Itaque aut nihil scimus, aut scimus nos durare etsi mutemur [a. a. O. 562.5–563.8]. 62 Ens. Possibile. (ergänzt werden: Necessarium, Contingens, certum). Concretum, Completum seu substantia. (wiederum ergänzt: Eadem, Diversa, Unum, Plura). Incomponibilia. Incontollibilia. Opposita. Conditio et Conditionatum. Inferens et Illatum. Prius (natura) et posterius (natura). Causa et effectus. Qualitatem habentia. Similia.

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wiederholt und schließlich mit den neu hinzukommenden Begriffen neue Definitionen und sich daran anknüpfende begründende Reflexionen geben. Sie endet mit einer Gliederung der cogitans und volens untergeordneten Begriffe63 und einer knappen Aufzählung der Sinnesqualitäten. Das Gesagte faßt Leibniz dann erneut zusammen mit den Worten: Paucis omnia revocantur ad haec, woran sich eine wiederum abgeänderte Aufstellung von Begriffen anschließt, die bei Ens beginnt und von Cogitans an ausführlichere Überlegungen über das Denken einfließen läßt, die Leibniz zu einem späteren Zeitpunkt, wie er am Kopf des Stückes notiert, noch eines Auszuges für wert gehalten hat,64 offenbar nachdem er das übrige dieses Konzeptes bereits verworfen hatte. Aus diesem gehe hervor, lautet das am Ende des Konzeptes erzielte Ergebnis, dass a l l e unsere Gedanken im Folgenden bestehen.65 (a. a. O. 396.23–397.14). In dem Konzept, das mit den Worten beginnt: »Alles, was wir denken besteht weitgehend in Folgendem«,66 geht Leibniz von einer Dreiteilung aus. Realitas, Varietas, Consequentia, Ordo und Mutatio enthalten alles generaliter; Extensio, Qualitas sensibilis und Cogitatio sind die Unterscheidungsmerkmale der Dinge und dazwischen liegen die Weisen, die Dinge zu unterscheiden, nämlich Quantitas, Qualitas und Positio. Den einzelnen Elementen dieser Dreiteilung ordnet er dann die uns aus den dargestellten Aufzählungen bekannten Begriffe unter: Zu Realitas gehören: Possibile, Positivum, completum, substantia, accidens, Deus, Creatura. Zu Varietas zählt er Idem et Diversum, Unum et Plura. Der Konsequenz

Dissimilia. Quantitatem habentia. Totum, Pars, Continuum. Continens et contentum. Extremum. Ordo. [a. a. O. S. 390.12–18]. 63 Cogitans: concipiens, sentiens; intelligens (seu distincte concipiens), percipiens seu distincte sentiens) − mit einer interessanten Zwischenbemerkung: ubi notandum intelligi esse signum essentiae verae seu possibilitatis; et percipi esse signum existentiae verae et actualis − cognoscens, recordans, volens, voluptatem percipiens, dolorem percipiens [a. a. O. S. 392.1–4]. 64 Quae pagina penultima et ultima de modo cogitandi merentur excerpi (LH IV, 7B3 Bl. 19 r°) [a. a. O. S. 388 Fn 1]. – Festgehalten sei hier davon die für den in vielen Lesarten zu beobachtenden Übergang von sentire zu percipere interessante Bemerkung: Videntur sentire et percipere se habere ut credere et scire (Bl. 20 r°) [S. 394.22–23]. 65 Caeterum ex his patet omnes cogitationes nostras in his consistere: Res et attributa. Idem et diversum. Consequentiae quae inter ipsa intercedunt. Ordo inter ipsa, quo unum alio prius aut posterius est natura, unde causa et effectus. Mutatio, tempus, Actio, Passio. Qualitas seu forma, similitudo et dissimilitudo. Quantitas et proportio, ubi totum, pars, positio, numeri. Extensio, ubi situs; unde Motus et Quies, Vis et Resistentia. Cogitatio, conceptus, intellectio; sensus, perceptio, sententia, scientia. Voluntas, affectus, habitus. Voluptas, confusae qualitates: calor, color, odor, sapor, sonus etc. 66 Omnia quae cogitamus his fere continentur (LH IV, 7B3 Bl. 17–18) [AA VI,4 N. 97].

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ordnet er die Begriffe incompatibilia, inconnegabilia, opposita, conditio et conditionatum und inferens et illatum zu. Wir können die Wiedergabe hier abbrechen, da die Absicht der Anordnung bereits deutlich ist: Bildung von Kategorien, von Klassen untereinander in prädikamentaler Abhängigkeit stehender Begriffe. Der auf der Rückseite des Blattes sich anschließende Text stellt eine Ausführung der ersten vier Punkte des Vorhabens dar. Leibniz definiert und ordnet die Begriffe, die Realitas, Varietas, Consequentia und Ordo zuzuordnen sind. Dann bricht das Konzept ab.67 Andere Konzepte beschränken sich, scholastisch ausgedrückt, auf die Entwicklung der Kategorie der Substanz aus dem Denkbaren oder Möglichen.68 So etwa der abgeschlossene Entwurf (LH IV, 7C Bl. 111–114) [AA VI,4 N. 301], in dem der Aufgliederung: Cogitabile Ens − Non ens Ens reale − Ens imaginarium (iris, somnium) Ens, unum per se − Ens, unum per accidens Ens Substantia − Accidens absoluta (Deus) − limitata (creatura) Substantia spiritualis − corporea mens secreta (Deus) − mens corpori unita (Anima nostra) die Bestimmung von mundus als aggregatum omnium corporum folgt und dann die Elemente einer Kosmologie entwickelt werden. Ihr wohl voran geht eine auf gleichem Papier geschriebene Einteilung (LH IV, 7C Bl. 109–110) [AA VI,4 N. 136], die ausgeht von dem bezeichnenden Wort (vocabulum significans), das Terminus oder Partikel oder aus beiden zusammengesetzt sein kann, und dann gliedert: Terminus concretus − abstractus substantia, res − accidens, modus um dann eingehend bei Reflexion zur Einzelsubstanz, die als terminus concretus completus bestimmt wird, zu verweilen und schließlich bei Deus (res perfecta seu absoluta) und Creatura (res limitata) abzubrechen. Bemerkenswert ist die ausdrückliche Ausschaltung der Abstrakta, mit deren Problematik Leibniz sich damals wiederholt beschäftigt hat.69 Man könne auf sie, wie er sagt, wenn nötig verzichten.70

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Von besonderem Interesse ist eine Randbemerkung, in der Leibniz den formalen Unterschied zwischen konkreten und abstrakten Termini bestimmt. Wenn zwei Begriffe ein und dem selben Ding entsprechen können, so sind sie konkret, wie z. B. das Warme und das Trockene, können sie das aber nicht, sind sie selbst zweierlei, so sind sie abstrakt, wie die Wärme und die Trockenheit (vgl. LH IV, 7B3 Bl. 17vo) [AA VI,4 N. 98]. 68 Vgl. dazu die bereits in der Nova Methodus discendae docendaeque jurisprudentiae (1667) skizzierte Ableitung der »gesamten Metaphysik« aus der Cogitatio (AA VI,l S. 284f.). 69 Vgl. z. B. Couturat, S. 243, 260, 356, 435 u. 512f. [AA VI,4 N. 36, 171, 165, 80, 126] und Grua, S. 576f. [AA VI,4 N. 135] 70 Einen Grund für das Ausscheiden der Abstrakta finden wir im Zusammenhang eines Konzeptes, das Leibniz mit der Überschrift versehen hat De Abstracto, Concreto, Substantia, Substantivo Adjectivo et similibus (LH IV, 7C Bl. 101, um 1685) [AA VI,4

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Die meisten Entwürfe aus dieser Gruppe gehen aus vom Cogitabile oder Possibile, von der Gegenüberstellung von Aliquid und Nihil, Ens und Non-Ens oder auch von Ens und Existens und konzentrieren sich auf die Diskussion der begrifflichen Bestimmungen der Einzelsubstanz, wobei wiederholt die Nähe, ja das Ineinandergehen des logischen und des metaphysischen Aspektes unübersehbar deutlich wird. So, wenn in der Genera Terminorum überschriebenen Tabelle (LH IV, 7C Bl. 70) [AA VI,4 N. 133], die mit einer Folge bloßer Oppositionen, von Aliquid und Nihil ausgehend, beginnt, nach einer Reihe von Definitionen zur Kategorie der Substanz und einer neuansetzenden Aufzählung (Ens, Existens, Substantia, Mutatio, tempus, simul, prius und posterius, causa und effectus) steht: Unaquaeque propositio cum alia aut simul aut prior aut posterior est und Leibniz unmittelbar fortfährt: Unumquodque E n s c o m p l e t u m seu s u b s t a n t i a exprimit omnia quae simul aut priora aut posteriora sunt. In solchen Ausführungen kündigten sich bereits, wie man sieht, die Gedanken des seit Grotefends Edition (1846) so genannten Discours de Me´taphysique (1686) an, wie überhaupt der Reiz dieser Konzepte darin besteht, dass sie das Werden und das Abhängigkeitsfeld von Leibniz’ Begriffsbildungen in vielen Einzelheiten offenbar machen. Allein erschöpfen darf sich ihre Interpretation nicht darin, sie nur partiell zu betrachten und einzelne Stücke daraus als Vorarbeiten zu den bekannteren Hauptschriften anzusehen. Wenn wir uns der zweiten Gruppe von mindestens sechs Konzepten zur Konstituierung prädikamentaler Gliederungen zuwenden, die den Wasserzeichen nach etwa um 1688/89, also wohl auf der Italien-Reise und damit, wie man annehmen darf, ohne direkten Rückgriff auf die Konzepte der letzten Jahre verfaßt sind, so trifft man auf dasselbe Bild. Leibniz trifft keine Enscheidung für eine bestimmte Anordnung der Begriffe, wenn er auch immer wieder dieselben Begriffe in ähnlicher Reihenfolge aufführt. Sehen wir uns z. B. das Konzept LH IV, 7B2 Bl. 73–74 [AA VI,4 N. 184] an. Es gliedert zunächst mit ausführlichen Definitionen: Ens − Existens, Idem − Diversum, Unum − Plura, continens − contentum, compositum − disparatum, inferens − illatum, conditio −

N. 134] und das zunächst auch mit einer Definitionenfolge von Ens, Existens, Aliquid, Nihil usw. in Anlehnung an die Mainzer Gliederung (AA VI,2 S. 487f.) begann. Die Begründung lautet: Terminus substantiam singularem exprimens involvit omnia praedicata sui subjecti, seu est termlnus completus. Si solis concretis utamur in ratiocinando ablegatis omnibus abstractis (quod utique fieri potest) omne substantivum, seu omnis terminus cui nihil deest, seu in quo subjectum non subintelligitur, substantiam exprimet, ut homo id est res humanitate praedita, capito id est res capitosa. Et omnis terminus quia omnia praedicata sui subjecti seu omnia sua compraedicata involvit (seu omnis terminus completus), substantiam singularem exprimet.

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conditionatum, requisitum − requirens; dann, von Oppositionen absehend: Natura prius, Producens, Relevans, Conferens, Causa, Similia, Homogenea, Pars − totum, Numerus, Magnitudo, Ratio (als Verhältnis), nochmals Homogenea, Positio und Ordo. Dann folgt eine Zusammenfassung: Omnia ad haec videntur revocari posse: Aliquidditas, Essentia, Existentia, Realitas, Perfectio, Convenientia, Veritas, Consequentia, Ordo, Causalitas, Mutatio, Magnitudo, Perceptio, Sensus, Appetitus, Cogitatio, Qualitates Sensibiles. Aber auch damit hat Leibniz nicht das selbstgesteckte Ziel erreicht. Denn nach Zwischenschaltung einer Bemerkung zur formalen Auswertung dieser Begriffskataloge in der Charakteristik,71 die übrigens nochmals unsere These belegt, dass diese Arbeiten ihrer materialen Grundlegung dienen, folgen nicht weniger als fünf weitere Dispositionen zur Gliederung der Grundbegriffe, die letzte und ausführlichste von ihnen unter der Überschrift Generales Notiones. Das gleiche Bild bieten die sieben ausführlichen Konzepte aus der dritten Gruppe, die, wiederum den Wasserzeichen nach, aus der Zeit um 1703 stammen. Sie gehen alle von der bereits in Mainz 1671/72 gewonnenen Definition Ens est quod distincte concipi potest oder einer leichten Variante davon aus. Der wohl früheste dieser Entwürfe (LH IV, 7 C Bl. 95) gliedert sich wie folgt: Ens − Existens Abstractum − Concretum Substantia vera − Semisubstantia Actus purus, mera Entelechia (Deus) − Activa et passiva simul (Creatura vivens) Immaterialis (Spiritus) − Matenaiis (Animatum) Vegetans tantum (Planta) − Vegetans sentiens (Animal) Animal sentiens tantum (Brutum) − Animal simul cogitans (Homo)72 Semisubstantia (Massa) Massa pura − Massa sensibilis 71

In characteristica . . . Omnis distincta Notio resolvitur in tale quid AB . CD < LY < N ubi Litera quaevis ut E explicari potest per F . G vel per HK vel per YM et < per # vel non #. [AA VI,4 N. 184 S. 873.18–22]. Diese so kompliziert scheinende Formel soll nichts anderes darstellen als die äquivalente Substitution (symbolisiert durch #) der kontinuierlich analysierbaren Begriffe (symbolisiert als Summe von jeweils ein Ganzes ausmachenden Teilbegriffen). Wir können uns dafür auf eines der anderen Konzepte dieser Gruppe berufen, in dem Leibniz das Definitum A als Terminus, die Definition BC als Valor termini ansetzt und das symbolisiert durch A # BC, dann die Analyse als Ersetzen der Termini durch ihre Werte definiert und schließlich erklärt: Continuata resolutio est, si pro termino ponatur valor, et pro terminis valorem ingredientibus rursus eorum valores, et ita porro und eingeklammert [quantum licet aut necesse est, nam si perveniatur ad terminos irresolubiles, ibi quiescendum est, nec amplius progredi licet: si resolutio talis sit, ut appareat lex progressionis, non amplius necesse est] (LH IV, 7B2 Bl. 36ro) [AA VI,4 N. 197 S. 935.10–13]. 72 Mit der interessanten Bemerkung: Homo est solum Animal cogitans nobis notum. Quodsi alia darentur ut veterum angeli, addenda alia differentia esset. Itaque veteres definiebant hominem animal rationale mortale. Quanquam ex ipsis erant qui daemones quoque suos mortales statuebant quibus alia adhuc differentia pro homine fuisset quaerenda.

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Massa habens partes inter se quiescentes (Atomum)73 − motas (Corpus)74 Punctum physicum. Der anscheinend darauf folgende Entwurf (LH IV, 7 C Bl. 96) ist besonders stark durchgearbeitet. Er versucht vor allem verschiedene Ansätze zur Einteilung der Entia concreta, und bricht schließlich mitten in einer Definition des Concretum completum ab. Der dritte dieser Entwürfe (LH IV, 7C Bl. 93–94) führt die Gliederung weiter über die Accidentia zu den Modificationes und berührt noch kurz die Kategorie der Relation, und ein viertes (die chronologische Folge wäre noch zu bestimmen), stark überarbeitetes Konzept (LH IV, 7C Bl. 91–92) entwickelt nach den Modifikationen abschließend die Kategorie der Position. Wie eine Reinschrift der vorhergehenden Entwürfe mutet das saubere Konzept LH IV, 7C Bl. 89–90 an. Es kommt jedoch nur bis zur Ausführung der Kategorie Modificatio, die aber mit einer in höchster Eile geschriebenen Reflexion darüber endet, dass alle Bestimmungen darüber letztlich auf die Qualitätskategorie zurückgeführt werden müßten. Und dann liegen noch zwei weitere Konzepte aus dieser dritten Gruppe vor (LH IV, 7C Bl. 75–76 und 77–78) von denen das erste nicht über die Kategorie der Substanz hinausgeht, dafür aber ein neues Problem formuliert: Alia est rerum alia est Terminorum divisio (Bl. 76vo). Das zweite Konzept (die einzige Gliederung übrigens, in der die Monade ausdrücklich vorkommt) beginnt: Attributa sunt und versucht die logischen Modalitäten und das, was Leibniz in früheren Entwürfen unter der Kategorie Consequentia zusammengefaßt hatte, in neuen Ansätzen definierend zueinander in Beziehung zu bringen. Dass Leibniz alle diese Konzepte als Vorarbeiten zu dem geplanten großen Werk, zu der demonstrativen Enzyklopädie, angesehen hat, als eine Arbeit also, die mit den von uns beschriebenen Entwürfen noch nicht am Ende war, und dass er darüber hinaus sie nicht entmutigt liegen gelassen hat, bezeugt, außer einer Bemerkung in einem Brief an Louis Bourguet vom 22. März 1714, er habe eine Unmenge von Definitionen hergestellt, die er eines Tages noch zu ordnen sich vorgenommen hätte (vgl. GP III S. 569), auch eine weitere Arbeit, die in diesem Zusammenhang erwähnt werden muß. Ebenfalls in der Zeit um 1703 hat Leibniz eine zehn vollgeschriebene Foliobogen starke Folge von systematisch geordneten Definitionen verfaßt (LH IV, 7D2,1 Bl. 1–19) die Couturat als das umfangreichste Fragment zur geplanten Enzyklopädie ansieht, das Leibniz uns hinterlassen hat.75 73

Dazu die Erläuterung: Et licet revera nullum corpus exacte Atomum in natura detur, sufficit tamen apparenter Atomum dari cuius divisio vel motus partium valde exiguarum inter se non curatur. 74 Der Körper, der also definiert ist als Masse, die aus untereinander bewegten Teilen besteht, heißt es weiter, ist exacte solidum, sed apparenter, seu grosso modo. 75 Vgl. Couturat, La Logique de Leibniz, S. 171–173.

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Trendelenburg hatte schon darauf hingewiesen, dass Leibniz sich bei der Abfassung dieser Definitionen an die in der Begriffstabelle aus George Dalgarnos Ars signorum (1661) vorgegebene Gliederung gehalten hat.76 Leibniz ging hierbei ebenso vor, wie er das früher mit den von John Wilkins vorgegebenen Tabellen gehalten hatte, er definierte, jedoch nicht ausnahmslos, die Begriffe, verband sie z. T. mit ausführlicheren Bemerkungen und, wo er es für nötig hielt, schaltete er noch eigene Begriffe mit ihren Definitionen und Erläuterungen dazwischen. Das Konzept hat er dann seinem Sekretär Joh. Friedrich Hodann zur Reinschrift übergeben, der ihm seit Ende 1702 als Gehilfe bei seinen historischen Arbeiten zur Seite stand und der bereits in seinen Bewerbungsbriefen Interesse für die Charakteristik bezeugt hatte.77 Hodann bekam dann von Leibniz den Auftrag, am Leitfaden der Tabelle von Dalgarno, aus den einschlägigen Lexika des Ausonius Popma, Matthias Martinius, Joh. Micraelius und dem Thesaurus Linguae Latinae, eine alphabetisch geordnete Folge von Definitionen zu exzerpieren und lieferte 45 Foliobogen voller Definitionen (LH IV, 7D2,5 Bl. 1–90). Überall da, wo er keine geeigneten gefunden hat, bildete Hodann eigene Definitionen und schloß das Werk, wie er im Kolophon angibt, am 28. Mai 1704 ab (Couturat, S. 510). Den Anfang dieses Lexikons hat Leibniz Index explicatus überschrieben und auch noch mit eigenhändigen Ergänzungen versehen. Ob dieser Index explicatus Leibniz bei der Abfassung des ausführlichen Konzeptes (LH IV,7 D 2,1 Bl. 1–19) vorgelegen hat, ist noch festzustellen. Jedenfalls erwähnt er ihn darin nicht. Die Reinschrift, die Hodann anfertigte (ediert von Couturat, S. 437–509), hat Leibniz an einigen wenigen Stellen verbessert. Eine weitere Form, die Hodann aus dieser Reinschrift, dem Index explicatus und weiteren Definitionen aus den genannten Autoren, in engster Anlehnung an Dalgarnos Tabelle alle Begriffe ergänzend, die Leibniz übergangen hatte, und alle auslassend, die Leibniz hinzugefügt hatte, kompilierte (LH IV, 7D2,3 Bl. 1–36), hat Leibniz nur mit der Überschrift versehen Tabula explicata den Zusatz et aucta hat er sogleich wieder gestrichen. Diese am wenigsten Leibniz’ eigene Definitionsarbeit enthaltende Zusammenstellung hat Trendelenburg ediert und einem Vortrag zugrunde gelegt.78 76

A. Trendelenburg, Monatsberichte der Kgl. Preuß. Akad. d. Wiss. zu Berlin aus dem Jahre 1861, Erste Hälfte, Berlin 1862, S. 170f. 77 Vgl. E. Bodemann, Briefwechsel, S. 92. − Der von Couturat (S. 29f.) edierte und seiner Primitivität wegen dem jungen Leibniz zugeschriebene Brief mit einem Entwurf zur Charakteristik, der uns in einer von Hodann geschriebenen Form vorliegt, scheint nicht eine von ihm angefertigte Abschrift, sondern ein von ihm selbst verfaßter Empfehlungsbrief an Leibniz zu sein. Das Ende des Briefes wird Leibniz nicht seinerseits ergänzt, sondern nur von dem abgetrennten zweiten Blatt des Briefes übertragen haben. 78 In den oben zitierten Monatsberichten, 1862, S. 171–219, vgl. den AkademieVortrag Über das Element der Definition in Leibnizens Philosophie (A. Trendelenburg, Historische Beiträge III, S. 48–62).

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Dass Leibniz diese immense Arbeit sich gemacht und von seinem Sekretär Hodann hat technisch weiterbearbeiten lassen, besagt aber nicht, dass er mit ihr seine selbst gestellte Aufgabe erfüllen zu können, noch weniger, dass er sie damit erfüllt zu haben glaubte, denn gleich auf der dritten Seite seines Konzeptes kritisiert Leibniz Dalgarnos Gliederung und erläutert sein eigenes Vorhaben mit den vor Anfertigung der Reinschrift gestrichenen Worten: Collector praecedentium Terminorum Mathematicorum non satis rem intellexit nec in delectu judicio est usus, sed mihi nunc non aliud fuit propositum, quam definire Terminos quos exhibuit, aliis interdum re ita ferente obiter adjectis (LH IV, 7D2,1 Bl. 2ro). Damit wird man auch diese Konzepte, so umfassend und umfangreich sie auch sein mögen, dem Haufen seiner Vorarbeiten für das bis zu seinem Lebensende ihm vorschwebende große Werk zuzählen müssen. Soweit uns das Material bekannt ist, liegt kein Beleg dafür vor, dass Leibniz später noch einmal Gelegenheit gefunden hat, sich diesem Projekt zu widmen. Es blieb ihm nur der wiederholt ausgesprochene Vorsatz, es eines Tages zu vollenden. Bis zuletzt hat Leibniz, wie wir eingangs erinnert haben, die Charakteristik und die für sie und mit ihr zu leistenden Aufgaben ausführen wollen. Wir haben uns darauf beschränkt, gleichsam den äußeren Verlauf seiner Arbeiten zu verfolgen, mit dem Augenmerk auf die Reformation der klassischen Kategorien, und haben die Probleme ausgespart, die Leibniz mit dem Fortschritt seiner Untersuchungen erwuchsen und bestimmend, hemmend oder fördernd, ihren Gang beeinflußt haben: die kalkülmäßige Behandlung der erarbeiteten Definitionen in ihrer gegenseitigen Abhängigkeit beispielsweise oder ihre Beziehungen zu den übergreifenden Theorien der prästabilierten Harmonie und der Monadologie. Dennoch dürfte angeklungen sein, wie vielfach die Beziehungen, wie stark die Verflechtung zu den Fragenkomplexen ist, die scheinbar nichts mit dem von uns behandelten Thema zu tun haben. War es, außer der beklagten Mußelosigkeit, diese Komplexität, in der Leibniz sein Denken stets gehalten hat, war es die Neigung, ja Verpflichtung zur Reflexion des Details, zur Einbeziehung der verschiedenen Aspekte, der er sich viel zu sehr verbunden fühlte, als dass er sie zugunsten einer voreiligen Systematisierung hätte zurückstellen können, die der Grund gewesen ist für das Nichterreichen seines Ziels? Das bleibt auszumachen. Abzusehen ist dabei prinzipiell von der nicht historischen, sondern spekulativen Frage, ob das Unternehmen, die analytische Invention der Kategorien und eine ihr vorausgehende systematische Aufzählung der Grundbegriffe, überhaupt durchführbar ist. Zunächst wäre eingehend zu untersuchen, welche Schwierigkeiten, welche Probleme Leibniz jeweils bewogen haben, die gerade erstellten Gliederungen wieder zu verwerfen, sie durch neue − oft nur knapp skizzierte − zu ersetzen und das lange Jahre hindurch immer von neuem zu wiederholen. Erschwert wird die Interpretation durch das Fragmentarische, man kann sagen Kladdenhafte dieser

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LEIBNIZ’ ARBEITEN ZU EINER REFORM DER KATEGORIEN

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Versuche. Man muß sich vergegenwärtigen, das der größte Teil dieses Materials aus Aufzeichnungen besteht, in denen Leibniz sich selbst erst einmal Klarheit zu verschaffen gesucht hat über die Möglichkeiten das Problem anzugehen. Wie es bekanntlich seine Art war, verwahrte er alle seine Aufzeichnungen, die mit der Zeit einen Berg bildeten, in dem er sich später wohl selbst nicht mehr zurechtgefunden hat. Die glückliche Fügung, die uns in den Besitz des sicherlich größten Teils dieser Zeugnisse seiner Denkarbeit gesetzt und uns damit, wie bei kaum einem zweiten Denker seines Ranges, einen Einblick in die Werkstatt seines Geistes ermöglicht hat, hat uns dafür aufgebürdet, die ungeheure Fülle des hinterlassenen Materials zu sichten, chronologisch zu ordnen und, maßvoll mit dem Blick auf das Ganze das ins Unreine Geschriebene von dem Gebilligten, die situationsbedingte Äußerung von der innersten Überzeugung abhebend, zu interpretieren; eine Aufgabe, von deren Lösung die Leibniz-Forschung trotz vieler bedeutender Beiträge noch sehr weit entfernt ist.79 Es mindert nicht Leibniz’ Größe, die ihr Maß hat an der Dimension der Aufgaben, die er sich stellte, wenn wir in betreff unseres Themas zu dem Schluß kommen: eine Kategorientafel, die eine prädikamentale und zugleich kombinatorisch und damit im Sinne der geplanten Charakteristik handhabbare Aufgliederung des Seins und des Gedachten leistet, hat Leibniz ebensowenig wie die Charakteristik selbst fertiggestellt. Wie sehr ihn dabei das Bewußtsein, einer epochalen Aufgabe gegenüberzustehen, leitete, bezeugt seine frühe, von der Geschichte bereits bestätigte Äußerung gegenüber Herzog Johann Friedrich in einem Brief vom 8. April 1679 (AA I,2 S. 157): Si je venois a` mourir dans ces entrefaits, je ne scay pas combien de siecles pourroient e´couler avant que quelcun reprist ce dessin.

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Vgl. E. Hochstetter, Leibniz-Interpretation (Revue internationale de Philosophie, N 76: Leibniz, 1966, Fasc. 2). o

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DEMONSTRATIONES CATHOLICAE – LEIBNIZ’ GROSSER PLAN EIN RATIONALES FRIEDENSPROJEKT FÜR EUROPA

Es1 waren große Herausforderungen vor die sich Leibniz schon in jungen Jahren gestellt sah, nichts weniger als das römische Recht – und selbst die Jurisprudenz – zu reformieren, als die christlichen Kirchen zu vereinigen, und mehr noch das Menschengeschlecht zu einem dauerhaften Frieden zu führen. Leibniz wußte sich durchaus im Besitz der geistigen Kraft, solche Herausforderungen anzugehen, und hatte das Sendungsbewußtsein, das als die ihm auferlegte Pflicht anzusehen. Immer, wenn ich nachdenke über das, was Gott mir an die Hand gegeben hat, indem er in mir diese Gedanken wachsen ließ, glaube ich mich verpflichtet, hart daran zu arbeiten, so sehr, dass die Menschen davon bewegt sein werden.2 Und er fährt nach knapper Andeutung seines Vorhabens fort: »Sollte ich während dieser Unternehmung sterben, so weiß ich nicht, wie viele Jahrhunderte vergehen werden, bevor jemand dieses Projekt wieder aufgreift«.3 Dem jungen Gelehrten fehlte es nicht am Willen, wohl aber an der Macht, an den äußeren Mitteln, seine politischen Ideen zu verwirklichen. Um in den Besitz von Macht und Mitteln zu kommen, arbeitete er hart an der Vervollkommnung seiner Fähigkeiten und am Ausbau der ihm gebührenden Reputation.

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Vorgetragen auf dem VI. Internationalen Leibniz-Kongreß, Hannover 18.–23. Juli 1994, überarbeitet gedruckt in: Pluralität der Perspektiven und Einheit der Wahrheit im Werk von G. W. Leibniz. Beiträge zu seinem philosophischen, theologischen und politischen Denken. Hrsg. v. F. Beiderbeck und St. Waldhoff. Berlin 2011. S. 3–14. 2 Toutes les fois que je fais reflexion sur ce que Dieu m’a mis en main, en me faisant naistre ces pense´es, je me croy oblige´ d’y traivailler fermement, et de telle sorte que les hommes en soyent touche´s. . . . car si je venois a` mourir dans ces entrefaites, je ne sais pas combien de siecles pourroient e´couler avant que quelcun reprist ce dessein. Car j’ai deja reconnu qu’il passeroit tousjours pour chimerique, quoyque j’en pourroit e´crire, si je n’en fais pas voir l’effect. (AA I,2 S. 156f. an Herzog Johann Friedrich am 8. April 1679). 3 Leibniz an Herzog Johann Friedrich, 8. April (AA I,2 S. 156 [1679]).

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Dass Leibniz in seiner ganzen Einstellung und Ausrichtung seines Lebens ein ausgesprochen politischer Philosoph war, brauche ich in diesem Kreise und angesichts des Kongreßthemas nicht zu betonen, wohl aber ist zu zeigen, dass die Demonstrationes Catholicae, über die ich sprechen möchte, einen eminent politischen Plan darstellen und von Leibniz auch als ein solcher behandelt worden sind. Aber, waren die Demonstrationes Catholicae wirklich Leibniz’ großer Plan? Man wird mir vorwerfen, ich mache aus der Mücke einen Elefanten. Denn genaugenommen habe ich nur einen Brief als Zeugen für meine These, dass der aus der frühen Mainzer-Zeit, genauer aus den Jahren 1668/69, stammende Plan der Demonstrationes Catholicae4 den Schlüssel zum Verständnis, anders gesagt, den umfassenden Rahmen, für die dem ersten Anschein nach so divergierende Vielheit der Themen und der sie behandelnden Schriften liefert, die Leibniz unveröffentlicht hinterlassen hat. Dieser Brief, den Leibniz im Herbst 1679 an seinen Herzog Johann Friedrich schrieb, bietet, wie ich zeigen werde, ein bemerkenswertes Zeugnis nicht allein für den Inhalt des Plans und seine Vorgeschichte, sondern auch für Leibniz’ Einschätzung der damaligen geistigen Situation in Europa und der damit gegebenen Bedingungen zu seiner Realisierung, ebenso aber auch für unsere Beurteilung seines Verfassers und seiner Aktivitäten. Als Herzog Johann Friedrich im Sommer 1679 die Absicht äußert, seine dritte Italienreise anzutreten, nimmt Leibniz die Gelegenheit gleichsam beim Schopfe, sein Schweigen zu brechen und ihm einen Plan anzuvertrauen, der, wie er hofft, das Interesse der kurialen Congregatio de propaganda fide und damit des Papstes finden soll. In dem in Rom hochgeschätzten Konvertiten Johann Friedrich sieht Leibniz den geeigneten Anwalt, der ihm, wie er glaubt, eine Unbedenklichkeitserklärung erwirken könnte, die sein Vorhaben von vornherein vom Verdacht der Häresie ausnimmt.5 Wie begründet Leibniz’ Ängste waren in einen solchen, damals nicht ungewöhnlichen Verdacht zu geraten, geht schon aus dem Vorwort zu seiner Nova 4

AA VI,1 N, 14. AA II,1 S. 488: Et comme ces gens (scil. quelques theologiens scholastiqves et sur tout des moines) ont un grand ascendant sur les esprits; te´moin la peine qu’ils ont donne´ a` Galilei, je luy dis nettement alors, et pour proceder avec candeur, et sans aucune reservation, que je ne ferois point de difficulte´ de me rendre, et d’avouer cecy publiqvement, si on me pouuoit obtenir une declaration a Rome, disant qve ces interpretations, qvi me paroissent les vrayes, sont au moins tolerables et n’ont rien d’heretiqve ny de contraire a` la foy. Et qve cela estant je me ferois fort de mettre tout dans un si grand jour, qve peutestre mon travail pourroit contribuer qvelqve chose dans son temps a` la reunion. 5

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Methodus discendae docendaeque Jurisprudentiae von 1667 hervor,6 wo er eine Reihe bedeutender Neuerer nennt, denen der Neid der Kollegen und der Hass der Masse Verfolgungen beschert habe und die – was Leibniz nicht erwähnt, jedermann aber beim Hören dieser Namen vertraut sein mußte – wohl alle auf den Index librorum prohibitorum gekommen sind, von denen einige sogar Kerkerhaft, Hausarrest oder freiwilliges Exil auf sich nehmen mußten; Galilei und Descartes die Namhaftesten unter ihnen. William Harvey wohl die Ausnahme. dass selbst der greise Arnauld sich in den nächsten Jahren durch abenteuerliche Flucht aus Frankreich der inquisitorischen Verfolgung entziehen mußte, bestätigt diese Befürchtungen nur. Für unsere These ist es nicht so wichtig, ob Leibniz’ Hoffnungen, eine solche Deklaration von Rom zu bekommen und dort Interesse für sein Vorhaben zu finden, berechtigt waren; auch nicht, ob Johann Friedrich seinem Anliegen entsprochen hätte; nicht einmal, ob der Herzog diesen Brief überhaupt erhalten hat. Eher schon wäre wichtig zu wissen, ob Leibniz diesen Brief, von dem wir nur zwei Konzeptfassungen auf denselben zwei Bogen Papier besitzen,7 wie manche andere schwerwiegende Briefe, letztlich doch zurückbehalten hat. Das ließe darauf schließen, dass er seinen Plan, jedenfalls in dieser Gestalt, damals noch für ungeeignet gehalten hat, den Papst zu überzeugen. Der Brief hätte, so wie er formuliert ist, allenfalls als Grundlage für eine Voranfrage bei Johann Friedrich dienen können und sollte, wie Leibniz abschließend vorschlägt, noch vor Antritt der Reise detailliert von ihm erläutert werden. Es waren zwar andere Deklarationen, solche, die Leibniz nicht für sich selbst, sondern für die Gläubigen allgemein und für den Souverän insbesondere, in einem weiteren Brief 8 Johann Friedrich in Rom zu erwirken vorschlägt: für die Gläubigen Deklarationen betreffs der Hostienverehrung, der Auslegung des Kirchenbanns, der Justifikation und der Strafen, für den Souverän Deklarationen in Fragen der Konzessionen betreffs der Kommunion in beiden Gestalten, der Priesterehe und der Säkularisation der Kirchengüter. Leibniz bietet ebenfalls an, eine Schrift so zu verfassen, wie sie ein Katholik schreiben würde, um einen Protestanten zur Konversion zu bringen, so gefällig wie möglich geschrieben, ohne jedoch seinem eigenen Glauben damit Gewalt anzutun. Habe Rom dem zugestimmt, ermuntert Leibniz seinen Herzog weiter, so könne er sicher weitergehende Forderungen stellen und ohne das Kirchenrecht zu verletzen mit Zustimmung von Rom, von Wien und von Paris für immer die Bistümer Hildesheim und Osnabrück annektieren. Abschließend bittet er um Rückgabe des Briefes, wie das schon bei dem 6 7 8

Vgl. AA VI,1 S. 264f. AA I,2 N. 187 und AA II,1 N. 213 (LBr. F 12, Bl. 150–151). AA I,2 N. 188, Herbst 1679.

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ersten geschehen sei. Es ist nicht sicher, ob mit diesem ersten der von uns herangezogene Brief gemeint ist. Von den erwähnten beiden Konzeptfassungen, die wir noch besitzen, dürfte Johann Friedrich wohl keine in der Hand gehabt haben. Ihr Inhalt könnte ihm allerdings mündlich vorgetragen worden sein. Wir kennen jedenfalls keine Reaktion Johann Friedrichs, weder auf diese beiden Briefe, noch auf die zitierte frühere Überlegung. Zur Ausführung seines Mandates, wenn ich es so ausdrücken darf, konnte es auch nicht mehr kommen, da der Herzog schon auf der Hinreise nach Italien im Dezember 1679 in Augsburg erkrankte und starb. Wichtig aber für uns ist, dass Leibniz seinem Plan der Demonstrationes Catholicae eine solch große Bedeutung beigemessen hat, dass er die Erwartung hegen konnte, mit ihm bei den Mächtigsten in Europa zu reüssieren. Leibniz schildert Joh. Friedrich in diesem Brief die Vorgeschichte seines Projekts. Wir erfahren, dass Joh. Chr. Frh. v. Boineburg, einer der damals einflußreichsten Politiker im Reich, Konvertit wie Joh. Friedrich, der einzige, dem Leibniz sich anvertraut hat, von diesem Vorhaben hingerissen war und Leibniz auf dem Weg nach Paris (im März 1672) Briefe für Arnauld, dessen Urteil er für gewichtig hielt, mitgegeben hat. Leibniz beteuert, er sei in Paris mit der größtmöglichen Umsicht vorgegangen, um sich nicht zur falschen Zeit zu entdecken. Der frühe Tod Boineburgs (15.12.1672) habe ihm die Möglichkeit genommen, Arnauld die Briefe zu überreichen und so habe er es unterlassen, sich ihm gegenüber über den großen Plan, mit dem er eines Tages etwas Entscheidendes zum Kirchenfrieden, zur Reunion der Konfessionen, beizutragen gedachte, zu äußern. Leibniz verschweigt hier das Consilium Aegyptiacum, mit dem er 1669 Boineburg noch mehr imponiert hatte.9 Er verleugnet seinen genialen Einfall, der die Demonstrationes Catholicae aus aktuellen politischen Gründen zurückzustellen gebot und dessen Ausarbeitung damals seine Schaffenskraft stark okkupiert haben muß. Noch unter dem Eindruck des 30jährigen Religionskrieges und der Bedrohung durch die Truppen des Sultans, machte sich das geistige Europa Gedanken zur Sicherung des Friedens. Da hatte der junge Gelehrte im Dienste des Kurfürsten von Mainz den genialen Einfall, König Ludwigs XIV. kriegerische Ambitionen von Europa abzulenken, von den Niederlanden insbesondere, mittels einer sorgfältig ausgearbeiteten Vorstellung, wie nützlich und zudem wie leicht es für Frankreich wäre, Aegypten zu erobern. Leibniz war sich des Unerhörten seines gründlich ausgearbeieten Vorschlags bewußt, den er keineswegs als Utopie oder Gedankenspiel angesehen wissen wollte, sondern als ein dringend zu realisierendes, aktuelles Projekt. Gleichwohl bediente er sich geschickt des literarischen

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Vgl. AA IV,1 N. 10–18.

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Genres der utopischen Fabel, novo quodam Romanisci genere, um den König und seine Minister mit seinen Gedanken vertraut zu machen, indem er in einem ausgearbeiteten Specimen Historiae Futurorum aus der Sicht eines künftigen Historikers über die vor 100 Jahren erfolgte Eroberung Aegyptens durch Ludwig XIV. Bericht erstattet.10 Leibniz war Realist genug, um die Dringlichkeit des Aegyptischen Plans und die Möglichkeiten seiner Verwirklichung abzuschätzen, wie er auch Realist genug war, unter den gegebenen ungünstigen Umständen, diesen Plan zurückzubehalten, so wie er zuvor auch Realist genug gewesen war, um dieses damals aktuellere Vorhaben, seinem nicht weniger ernsthaft verfolgten Plan der Demonstrationes Catholicae vorzuziehen. Leibniz hat aber, selbst wenn er Einzelheiten, die wohl nur den Aegyptischen Plan betrafen, auf das zunächst zurückgestellte Vorhaben bezieht, diesen gegenüber seinem Herzog nicht für die Demonstrationes Catholicae ausgegeben. Für diese hatte er bereits wirklich entscheidende Vorarbeiten geleistet. Das beweisen die im 1. Band der Reihe VI abgedruckten Schriften, unter denen der Conspectus Demonstrationum Catholicarum von 1668/69 für den Herausgeber Willy Kabitz bestimmend wurde für die Einordnung aller theologischen Stücke in eine Abteilung unter eben dem Titel Demonstrationes Catholicae. Die Gründe für das Nichtvorlegen des sorgfältig ausgearbeiteten, literarisch anspruchsvoll verfaßten, letztlich aber nicht abgeschlossenen Aegyptischen Plans – weder Ludwig XIV. noch irgendwer sonst hat davon Kenntnis erhalten – hat Paul Ritter 1930 überzeugend dargelegt.11 Sie sind auch im Kommentar zur Akademie-Ausgabe12 nachzulesen. Die Qualität des Plans, der noch Napoleon nach seinem eigenen Aegyptischen Feldzug in bewunderndes Erstaunen versetzen sollte, war jedenfalls derart, dass Leibniz davon ausgehen konnte, dass ihm mit seinem rechtzeitigen Vortrag – auch ohne dass Ludwig XIV. ihn ausgeführt hätte – nicht nur ein gut dotierter Platz in der Königlichen Akademie der Wissenschaften sicher gewesen wäre, sondern auch und vor allem, seine Position und Reputation sich schlagartig so verbessert hätten, dass ernsthaft an die Realisierung des großen Plans der Demonstrationes Catholicae zu denken gewesen wäre. Das dürften für Leibniz Gründe genug gewesen sein, die Demonstrationes Catholicae zunächst zurückzustellen. Boineburg hatte Ludwig XIV. den Aegyptischen Plan ohne seinen Inhalt preiszugeben mit den Worten avisiert: »Weil das Geheimnis die Seele eines solchen Vorhabens ist, dessen Ausführung wie ein Donnerschlag wirken muß, behält sich der Autor vor, das Beste und Wichtigste davon persönlich vorzutragen«, das heißt, unter vier Augen.13 Das hätte Boineburg 10 11 12

AA IV,1 S. 225–242. Paul Ritter, Leibniz’ Ägyptischer Plan, Darmstadt 1930. AA IV,2 S. 666–672.

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sicherlich auch mit Bezug auf die Demonstrationes Catholicae schreiben können, wären sie bereits zum Abschluß und ihm zur Kenntnis gelangt. Das alles lag nun einige Jahre zurück, als Leibniz in Hannover dann aber auch noch mehr als zwei Jahre brauchte, um den Entschluß zu fassen, Johann Friedrich in sein Vorhaben einzuweihen. Offen bleibt, ob er das auch getan hat, denn es spricht einiges dafür, dass er den entscheidenden Brief nicht aus der Hand gegeben hat. Anlaß, seine Bedenken zurückzustellen, und den Brief immerhin in zwei Fassungen zu formulieren, war wohl für ihn die Aussicht, an höchster Stelle Gehör zu finden, nämlich bei Papst Innozenz XI. selbst, den er sehr schätzte, besonders weil er jüngst Bossuets, in Leibniz’ Augen, moderate Exposition de la foy catholique gegen Widerstände in der Kurie approbiert hatte. Anlaß war auch, wie Leibniz schreibt, die Furcht, eine solch günstige Gelegenheit zur Ansprache eines so dringend benötigten Förderers, nochmals, wie in Paris, zu verpassen. Wir können jedenfalls daraus ersehen, dass Leibniz die Demonstrationes Catholicae als einen eminent politischen Plan behandelte, der alle Sorgfalt diskreter Diplomatie verdient. Bereits im Konzept eines früheren Briefes an Johann Friedrich, wohl vom Juni 1679, finden wir eine Überlegung, die mit einiger Sicherheit nicht auf das darin unmittelbar Vorangehende zu beziehen ist, sondern auf Johann Friedrichs richtiges Vorgehen in Rom. Leibniz schreibt: »Meine Meinung wäre, es also einzurichten, dass Eure Durchlaucht es als rem a se venientem dem Heiligen Vater ad examinandum communicire, oder wenn Sie wollen, als eine Sache so an den König in Frankreich gerichtet und Eurer Durchlaucht communiciret [behandeln]«.14 Gemeint kann hier nur sein, der Plan der Demonstrationes Catholicae. Im selben Briefkonzept notiert er den Vorschlag, In negotio Eruditionis eine Sozietät von auserwählten gelehrten Männern zu gründen, unter denen die Arbeit aufzuteilen wäre. Im Sinne hat er die Arbeit an der zu erstellenden Charakteristik, die er Johann Friedrich schon im April15 als eines der wichtigsten Vorhaben zum Vorschlag bei der Congregatio de propaganda fide beschrieben hatte, und damit auch als ein Projekt, für das der Papst, nicht nur ideell zu gewinnen wäre. Niemandem mehr als Leibniz selbst war bewußt, was an Macht und Mittel erforderlich war, um sein universell angelegtes Vorhaben durchzusetzen. Bewußt war ihm auch, dass es nicht genügte, es bekannt zu machen und anderen die Ausführung zu überlassen. Er wußte gut genug, was alles noch zu leisten war, 13

Et puisque le secret est l’aˆ me d’un telprojet, dont l’exe´cution doit e´clater en foudre, l’auteur se reserve de dire la meilleure partie et l’essentiel meˆ me en personne. (AA I,1 S. 252). 14 AA I,1 S. 182. 15 AA I,1 S. 167–169.

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allein schon um die von ihm klar formulierten philosophischen Voraussetzungen zu erfüllen, und er schätzte, wohl zu recht, den von ihm zu leistenden Anteil so hoch ein, dass er ihm von niemanden hätte abgenommen werden können. Das sind die historischen Fakten. Was aber beinhalten die Demonstrationes Catholicae eigentlich? Anders ausgedrückt: Was bezwecken diese umfassenden Beweise, denn so müßte dieser Titel verstanden werden, letzlich? In ihrem abschließenden Hauptteil planen sie nichts weniger als überzeugend zu beweisen, – dass die Hierachie der Kirche sich auf göttliches Recht stützen kann, – dass die Grenzen zwischen der weltlichen und der kirchlichen Macht exakt festliegen, – dass alle Menschen, selbst die Kleriker, der weltlichen Macht Gehorsam schulden (mais usque ad aras), – dass als Gegenleistung alle Menschen, selbst die souveränen Herrscher, der Kirche in Glaubenssachen vorbehaltlos Gehorsam schulden, soweit jedenfalls wie es ihnen möglich ist. Sollte jemand nämlich der Meinung sein, einen klaren Widerspruch zu sehen, der es ihm unmöglich macht zu glauben, dann wäre er zwar Häretiker, aber nur im materiellen Sinne und als solcher nicht des Heils beraubt. Mit anderen Worten, Leibniz will zeigen, dass wir der weltlichen Obrigkeit nach dem Vorbild der frühen Christen einen, wie er sagt, passiven Gehorsam schulden, der Kirche aber einen aktiven, das soll heißen, einen Gehorsam, soweit er in unserer Macht steht. Wir können davon ausgehen, dass diese extemporierte Aufstellung der Ziele innerhalb des kurzen Briefes keineswegs vollständig und mit Sicherheit auch nicht abschließend formuliert war. Sie genügt uns aber, um zu erkennen, welche Ausrichtung Leibniz seinem Wirken geben wollte und da wird deutlich, dass die Bedeutung, die er der Theologie beigemessen hat, nicht einem zeitweiligen Lippenbekenntnis entsprach, sondern, wie wir sagen, für ihn existentiell war, lebensbestimmend. Wie er einmal an Landgraf Ernst von Hessen-Rheinfels schrieb: Unsere Bestimmung ist es, eines Tages – in der himmlischen Heimat – ein geistiges Leben zu führen, in dem die von der Materie getrennten Substanzen uns sehr viel mehr beschäftigen werden als die Körper.16 Der frühe Conspectus von 1668/6917 sah neben dem Beweis der Autorität der Katholischen Kirche auch noch einen Beweis der Autorität der Heiligen Schrift vor, ohne das aber weiter auszuführen. Diesem, sagen wir kirchenpolitischen Teil, stellte Leibniz zwei weitere Teile voran. In dem einen sollte der Beweis für die Existenz Gottes und der

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AA I,4 S. 410 am 8. Dezember 1686. AA VI,1 N. 14.

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Unsterblichkeit der Seele, in dem anderen sollte die Möglichkeit der Christlichen Mysterien bewiesen werden, der Trinität und der Inkarnation, der Eucharistie und der Auferstehung der Körper. Leibniz wollte die Argumente derjenigen entkräften, die vorgeben zeigen zu können, dass es sich bei den Mysterien des Glaubens um reine Absurditäten und Widersprüche handelt. Um hier überzeugende Vernunftgründe beibringen zu können, will er tragfähige Fundamente legen. Zunächst müßten als Prolegomena die Elemente der wahren Philosophie entwickelt werden: Klare Begriffe von Gott, von der Seele, von der Person der Substanz und den Akzidenzien gewonnen werden, eine ganz andere Metaphysik also ausgebaut werden, eine die weitergetrieben sei als jede, über die wir verfügen. Leibniz fordert eine Metaphysik, die weiter geht als die Aristotelische, als die Atomistische und, versteht sich, als die Cartesische. Es müsse, fordert er weiter, eine neue Logik entwickelt werden, die fähig mache, die Grade der Wahrscheinlichkeit abzuschätzen, um Tatsachenentscheidungen in Fragen des Rechts und der Moral zu begründen. Eine Logik, die trotz ihrer großen Bedeutung, allein schon für die Rechtssprechung, sich noch nirgends dargestellt fände – und wir müssen hinzufügen, die auch von ihm nicht mehr geliefert worden ist. Auch die Physik bedürfe subtilerer Begriffe, um mit den Schwierigkeiten fertigzuwerden, die gegen die Schöpfungsgeschichte, die Sintflut und die Auferstehung der Körper aufgeworfen werden. Seine Arbeiten zur Theoria Motus,18 seine Hypothesis Physica19 und die erst kürzlich edierten Vorarbeiten von 1678 zur Dynamik: De concursu corporum,20 läßt er mit guten Gründen hier unerwähnt. Und schließlich müsse grundlegend von einer wahren Moral geklärt werden, was eigentlich die Begriffe Recht und Rechtfertigung, Freiheit und Glück, Glückseligkeit und seligmachende Schau wirklich bedeuten. Leibniz schließt die Liste seiner philosophischen Desiderate – die wohl alle bei Kennern seines Nachlasses Reminiszenzen an hier oder dort gefundene, mehr oder weniger ausgearbeitete Schriften wecken – mit der selbstbewußten Feststellung, es gäbe nichts, das der wahren Politik, Erlangung des Glücks für das gesamte menschliche Geschlecht, wie er hinzufügt, schon hier auf Erden, mehr entspräche als das, was er sich vorgenommen habe. Diese von Leibniz geforderten Elemente einer wahren Philosophie sollten bekanntlich abgesichert werden durch seine neue Methode, durch die noch zu entwickelnde Charakteristik, später durch die umfassendere Scientia generalis, die ihre Beweise absolut unwidersprechlich machen sollte. Diese neue Ecriture ou 18

AA VI,2 N. 40, 41 u. 48 (Mainz, 1671). AA VI,3 N. 1 u. 2 (Paris, 1672). 20 G. W. Leibniz, La re´forme de la dynamique. De corporum concursu (1678) et autres textes ine´dits. Hrsg. v. Michel Fichant, Paris 1994. 19

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characteristique, wäre für sich schon etwas, an Wichtigkeit von nichts zu übertreffendes, das man der Congregatio de propaganda fide vorschlagen könnte, bedenke man allein seine Nützlichkeit für die Mission und den allgemeinen Handel. Unzweifelhaft nötig, um hier zum Ziel zu kommen, seien allerdings grandes assistances – und damit meint er die Verfügung über Personen und Mittel. Was uns hier interessiert ist die Bedeutung, die dieser Plan für Leibniz selbst gehabt hat und das Licht, das er auf die Motive seiner Aktivitäten wirft und nicht zuletzt auf die Art und Weise, seine Theorie in Praxis zu überführen. Noch mehr geht uns als Editoren an, welche Konsequenzen daraus für die Sichtung und Edition seines Nachlasses zu ziehen sind. Die These lautet: Leibniz hat den Plan der Demonstrationes Catholicae nie aufgegeben, er hat vielmehr sein ganzes Lebenswerk seiner Realisierung gewidmet. Das wird man auch dann noch sagen können, wenn man die vielen Aktivitäten des Tages berücksichtigt, die sich immer wieder in den Vordergrund seines Interesses gedrängt haben. Diese Einsicht hat eine für unser Vorgehen als Editoren maßgebliche Klassifizierung seiner nachgelassenen Schriften zur Folge. Sieht man ab von den Auftragsarbeiten und von den durch die jeweils aktuelle Diskussion veranlaßten Gelegenheitsschriften, dann kann man neben die Exzerpte zur Materialsammlung, zunächst die Schriften stellen, die der Vervollkommnung seines eigenen Wissens dienten – wozu in erster Linie nach seiner eigenen Aussage, schon in diesem Brief, das gehört, was Leibniz als Mathematiker und Physiker erforscht und geschrieben hat –, dann aber die Schriften, die zur Vorbereitung seines großen Vorhabens dienten – über die ich beim letzten Kongreß berichtet habe – einschließlich der Probestücke und anderer Schriften, mit denen er Dritte, Förderer sowohl wie Gelehrte, von der Durchführbarkeit seines Plans überzeugen wollte. Vieles davon hat er zwar integriert in seine Vorarbeiten zur Scientia Generalis, die letztlich der gleichen Zielsetzung dienten, der Sicherung des irdischen, sowohl wie des ewigen Glücks durch Vervollkommnung der Vernunft. Den Platz aber für die Metaphysik, für das Naturrecht, für die Theologie, genauer für die Apologie des christlichen Glaubens, weisen erst die Demonstrationes Catholicae aus. Sicherlich ist für ihn in den 80er Jahren die Realisation der Scientia Generalis in den Vordergrund des Interesses und damit der Aktivitäten getreten, man wird aber nicht sagen dürfen, dass damit der große Plan der Demonstrationes Catholicae überholt oder gar ersetzt gewesen wäre. Denn gerade solche Aktivitäten, wie der sog. Discours de Me´taphysique (1686) einerseits und das Systema Theologicum (1686) andererseits, das Leibniz selbst ein Examen religionis christianae nannte, beweisen das Gegenteil. Der demnächst erscheinende 4. Band der Philosophischen Schriften aus der Periode 1677–1690 wird das inhaltlich und strukturell vor Augen führen.

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Waren, so können wir skeptisch fragen, Leibniz’ Vorhaben, insbesondere der Plan der Demonstrationes Catholicae, nichts als Träume der Vernunft? Sicher verfolgte er mit ihnen hochgesteckte Ziele, die ihm aber keineswegs unerreichbar schienen. Sein Ansatz war vielmehr von der Art und Präzision der Methoden, die uns heute auf den Mond und die eben in diesen Tagen die Weltraumsonde Galileo in die Nähe des Jupiter brachten. Leibniz selbst weist in seinen Demonstrationes politicae21 von 1669 auf einen Ausspruch des großen Lordkanzlers Francis Bacon hin, der dem, der die Realisierung einer bedeutenden Sache bezweifelte, vorhielt, dass allerdings derjenige, der vorgibt aus freier Hand exakte Kreise und geometrische Figuren zeichnen zu können, Großes nur verspräche, dass der aber, der diese Aufgabe mit Hilfe von Lineal, Zirkel und Winkelmaß lösen zu können behaupte, keineswegs als ein Prahler anzusehen sei. Im Bewußtsein, in der mathematischen Methode und später eines Tages in der nach seiner Überzeugung ausarbeitbaren Scientia Generalis – mit Charakteristik und logischem Kalkül – über ebenbürtige, ja sogar leistungsfähigere Instrumente der Vernunft verfügen zu können, hat Leibniz diese großen Aufgaben unbeirrt aufgegriffen. Leibnizens normae sind die Regeln der Vernunft, nur ihre Anwendung könne langen Debatten ein Ende setzen, nur sie könnten überzeugende Entscheidungen begründen. Wo aber, fragt er, gäbe es über Wichtigeres zu entscheiden, als über das, was unser künftiges Heil betrifft? Überzeugt davon, dass nur völlige Gewißheit den Seelenfrieden bringt, der die Grundlage der allgemeinen Befriedung und die Glückseligkeit des menschlichen Geschlechts sichern kann, strebt Leibniz nach demonstrativen Gründen, die eine solche Gewißheit erzeugen können.22 Er war sich bewußt, dass man Irr- und Ungläubige nicht zum Glauben zwingen kann, ja dass es keinen Zwang geben kann, Bestimmtes zu glauben, dass bloße Ermahnungen zwecklos sind. Man muß schon Gründe beibringen. Aber es gibt auch gute Gründe, behauptet Leibniz, die die Religion stützen. Darüber hinaus gäbe es auch für jeden die Verpflichtung nach Gründen zu suchen und sich vernünftigen Gründen nicht zu verschließen, die den Glauben, wenn auch nicht beweisen, so doch wenigstens die gegen ihn vorgebrachten Argumente als widersprüchlich erkennen lassen und zeigen, dass die Mysterien des Glaubens nicht absurd, sondern möglich, dass sie keinesfalls gegen die Vernunft sind, wenngleich sie in der Regel das von der Vernunft Faßbare übersteigen. 21

AA IV,1 N. 1 S. 4: Si superbum putas, in tanta re certitudinem polliceri, incomparabilis Baconi Verulamii Angliae Cancellarii eleganti sententia me tuebor. Quisquis libero manuum impetu rectissimas semper lineas, aequabiles circulos, regularissimas omnis generis figuras descripturum se praedicat, is profecto magnum aliquid promiserit. Sed qui regula, qui circino, qui norma adhibitis idem praestare profiteatur, ille, opinor, non admodum jactator erit. 22 Vgl. AA II,1 S. 441, AA I, 2 S. 112.

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Der wohl weniger opportunistisch gemeinte, eher schon provozierend gewählte Titel Demonstrationes Catholicae wird entschärft, wenn man ihn schlicht als Aussage über die alles umfassende Bestimmung der anzukündigenden Beweise versteht. Demonstrationes Catholicae im Unterschied zu den beschränkteren Zielsetzungen von Demonstrationes Politicae, wie Leibniz diejenigen nannte, die er 1669 im Auftrag Boineburgs schrieb, um die Königswahl in Polen zu beeinflussen,23 oder wenig später diejenigen, die einen Teil des Consilium Aegyptiacum ausmachen sollten24. Gemeinsam war all diesen Versuchen der Anspruch, endlich Beweise zu liefern. Der Conspectus von 1668/69 läßt formal noch wenig erkennen, außer dass man das geplante Voranstellen von Elementa als den programmatischen Rückgriff auf die Elemente Euklids und ihre gesicherte Methode auffassen muß. Mit der stolzen Wendung, er wende eine seltene und neue Weise zu schreiben an,25 eröffnet Leibniz seine – zu spät gekommene – Schrift zur polnischen Königswahl. An Stelle von scholastischen Syllogismen gälte es, Beweisverfahren einzusetzen, für die neben Euklid, Hippokrates und Aristoteles, nicht zuletzt die Juristen der römischen Pandekten als Gewährsmänner gelten könnten. Leibniz reklamiert damals 1669, wohl ohne Spinozas Darstellung von Descartes’ Principia Philosophiae von 1663 zu kennen, als Erster es gewagt zu haben more geometrico außerhalb der Mathematik zu schreiben.26 Dieses Jahrhundert habe endlich damit begonnen, die Gewißheit der Mathematik in andere Wissenschaften einfließen zu lassen. Galilei habe als Erster die Physik bewässert, Descartes habe mit ungleichem Erfolg einen Aquaedukt zu den Höhen der Metaphysik gebaut und Hobbes habe diese fruchtbaren Wässer wieder in die Ebene der Philosophia civilis geleitet. Und so, müssen wir daraus folgern, hat Leibniz auch seine katholischen Beweise ansetzen wollen. »Wir haben gelernt, die Bewegungen der Körper zu berechnen«, mahnt Leibniz an, »kümmern uns aber wenig, um die inneren Bewegungen unseres Geistes. die nicht minder bestimmten Gesetzen folgen. Von den Uhren besitzen wir Demonstrationen, von dem, was das Heil so vieler Völker betrifft, nichts als Deklamationen.«27 – Daran hat sich bis heute nicht viel geändert. »Vielleicht kommt doch noch ein anderes, ein würdigeres Zeitalter,

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AA IV,1 N. 1. AA IV,1 N. 12. 25 Raram novamque scribendi rationem affero (AA IV,1, S. 3.13). 26 Ausim dicere, a me primo sic scribi. In seinem Handexemlar verbessert er: sic in istis scribi (AA IV,1, S. 4). 27 Me vero incuriae humanae admiratio perculit: qui motus corporum ad calculos revocamus, iidem motus animorum nobis intimos, nec minus certa lege constantes, obiter percurrimus; de horologio aliquo demonstrationes, de salute tot populorum declamationes habemus. (AA IV,1, S. 4.11–13). 24

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DEMONSTRATIONES CATHOLICAE



LEIBNIZ’ GROSSER PLAN

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in dem aller Haß besiegt sein wird und die Wahrheit triumphiert«, schreibt schon der junge Leibniz 1667 am Ende seiner Nova Methodus discendae docendaeque jurisprudentiae.28 Sind es heute vornehmlich wirtschaftspolitische Interessen, die nach einem Zusammenwachsen Europas schreien oder dem entgegenstehen, so hatte Leibniz noch die Idee, den Traum würden wir eher sagen, dass der Glaube, die Religion, das bindende Glied zwischen den Völkern liefern und dass die Vernunft die Apologie des Glaubens leisten könne, und darüber hinaus auch die Aussöhnung der Konfessionen und die Überzeugung der Irr- und Ungläubigen von der Wahrheit des Christentums, in dem, die natürliche Religion sich verwirklicht habe. In einem Specimen demonstrationum catholicarum, einer Schrift von etwa 1683/84, mit dem Zusatztitel Apologia fidei ex ratione, mahnt Leibniz an, man müsse darauf achten, dass die Republica Christiana, qua nulla unquam rationi congruentior fuit, ein Staat, der von keinem anderen jemals an Vernunft übertroffen wurde, keinen Schaden nähme durch den aufkommenden, wie er sagt, perversen Gebrauch der Vernunft.29 Die Vernunft ist unser Alles, selbst in Sachen des Glaubens, denn es gibt nichts Vernünftigeres als die wahre Religion. Und es gibt nichts, zu dem das Menschengeschlecht verpflichteter wäre, als zur Vervollkommnung der Vernunft.30 Überzeugt davon, dass die Vernunft nicht nur das Organ ist, die Wahrheiten zu erkennen, sondern selbst die Vereinigung aller ewigen Wahrheiten und somit die Norm aller faktischen Wahrheiten und letztlich auch den Grund ihrer Existenz darstellt, setzte Leibniz darauf, mit der Vernunft die Probleme zu lösen, Beweise zu geben, die unwiderlegbar überzeugen und entscheidend zur Besserung der Verhältnisse beitragen. Es ging Leibniz darum, mit der Vernunft unsere Vernunft so zu vervollkommnen, dass sie das Gute erkennt, und nicht anders kann, als es zu verwirklichen. Dass Leibniz verschiedentlich empfiehlt, kontroverstheologische Schriften vom Standpunkt des anderen, des Katholiken, zu schreiben und das gelegentlich auch selbst befolgt, darf nicht ausgelegt werden, als hätte er sich in den Dienst nehmen lassen. Dagegen sprechen deutlich die von ihm ausgeschlagenen Gelegenheiten durch Konversion einen persönlichen Vorteil zu ziehen, etwa einen Platz in Paris, als Bibliothekar des Königs, einen Kardinalshut, als Präfekt der Vaticana, oder eine Anstellung beim katholischen Kaiser in Wien. Leibniz muß sich wohl bewußt gewesen sein, zur von ihm angestrebten Reunion der Kirchen 28

AA VI,1 S. 364: Veniet fortasse aliud tempus dignius nostro, quo debellatis odiis, veritas triumphabit. 29 AA VI,4 S. 2324.10–12. 30 AA I,2 S. 156.

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mehr und glaubwürdiger etwas beitragen zu können, wenn er die Gründe, die so bedeutende Konvertiten seiner Umgebung, wie Boineburg, Johann Friedrich, Ernst von Hessen-Rheinfels, mit denen allen ihn viel verband, nicht für seine Person gelten ließ. Er setzte darauf, dass die von ihm beizubringenden demonstrativen Argumente a l l e und a l l g e m e i n von der R i c h t i g k e i t des christlichen Glaubens überzeugen. Deshalb und in diesem weiteren Sinn sein Anspruch: Demonstrationes Catholicae. In zwei sekretierten Konzepten zur Scientia Generalis, wohl aus der Wiener Zeit 1688, spricht er in diesem Sinn von einer Catholica rerum humanarum emendatio, die allerdings vom Konsens des ganzen Menschengeschlechts abhänge, und daher mehr zu wünschen als zu erhoffen, (magis voto, quam spei) und wohl nur durch Umsturz der öffentlichen Dinge zu leisten sei. So bliebe es allenfalls der Mühe wert, das zu Leistende in Form einer Fabel, d.h. als Utopie niederzuschreiben.31 Noch in seinen letzten Lebensjahren verfolgte Leibniz das Ziel, de mettre la philosophie en demonstrations und dachte dabei an eine Gesamtdarstellung mit dem Titel Elements de la Philosophie generale et de la Theologie naturelle. Das ist aus brieflichen Mitteilungen bekannt32 und bietet ein abschließendes Argument für unsere Annahme, im großen Plan der Demonstrationes Catholicae das bleibende Leitmotiv seines Schaffens gefunden zu haben.

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AA VI,4 S. 366.8–12: . . . profecto haec rerum humanarum emendatio Catholica, nihil aliud nunc quidem quam pulchram fabulam praestabit; de qua ad verae historiae modum Romaniscus aliquis non injucunde nec inutiliter scriberetur saltem ut magnitudo bonorum paucis forte credita appareret, quorum homines ex suae naturae viribus, id est Dei munere velut in terrestri paradiso essent capaces, nisi ipsi sibi deesse mallent. Ähnlich AA VI,4 S. 976.1–5. 32 Vgl. Leibniz an Th. Burnett of Kemney am 30. Okt. 1710 (GP III, S. 321) und an Biber im März 1716: mon grand ouvrage historique m’empeche d’executer la pense´e que j’ay de mettre la philosophie en demonstrations . . . car je voy qu’il est possible d’inventer une caracteristique generale, qui pourroit faire dans toutes recherches capables de certitude, ce que l’Algebra fait dans les Mathematiques (E. Bodemann, Leibnizens Briefwechsel, S. 16).

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DIE POLARITÄTEN DES EINEN UND DES VIELEN IM BEGRIFF DER MONADE

Mes meditations fondamentales roulent sur deux choses, sc¸avoir sur l’unite´ et sur la multitude1 Das2 Eine und das Viele sind gewissermaßen p o l a r e Begriffe, die einander bedingen. Hegel versteht unter Polarität die Bestimmung des Verhältnisses der Notwendigkeit zwischen Verschiedenen, die Eines sind, insofern mit dem Setzen des Einen auch das Andere gesetzt ist.3 Dass für Leibniz, der eher von Komplementarität gesprochen hätte, ein solches Verhältnis der wechselseitigen und notwendigen Bedingtheit zwischen dem Einen und dem Vielen besteht, wird deutlich an den verschiedenen Ausprägungen, in denen uns diese Polarität bei unserem Philosophen begegnet. Polarität in dem besonderen Sinn, dass beide Pole in dem Einen sind, mit der Eigentümlichkeit, dass das Eine nicht nur Gegenpol, sondern Prinzip des Vielen ist. Das Thema dieses Symposions gibt mir Gelegenheit zu zeigen, dass man Leibniz’ Metaphysik als die Arbeit an der rationalen Explikation der verschiedenen Ausprägungen der Polarität des Einen und des Vielen ansehen kann, Ausprägungen, die im Begriff der Monade kulminieren. Erinnern möchte ich anfangs an einige unverrückbare Ausgangspositionen der Leibniz’schen Metaphysik: Es gibt keinen influxus physicus, keine absolute Zeit, keinen absoluten Raum, keine absolute Bewegung. Gleichwohl steht alles

1

Leibniz an Kurfürstin Sophie für Elisabeth Charlotte von Orleans im November 1696, AA I,13 S. 90: »Meine grundlegenden Meditationen kreisen um zwei Dinge, nämlich um die Einheit und um die Vielheit«]. 2 Unita` e molteplicita` nel pensiero filosofico e scientifico di Leibniz. Simposio internazionale Rom 3.–5, Oktober 1996. Die Akten hrsg. v. A. Lamarra u. R. Palaia, Florenz 2000, S. 171–184. 3 Vgl. G. W. F. Hegel, Enzyklopädie, § 248, Zusatz (ed. Glockner, Bd. 9, S. 57).

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mit allem in wirkendem Zusammenhang, gleichwohl bewegen wir uns, handeln und leiden wir mit- und gegeneinander in Raum und Zeit. Das bedarf der Erklärung. Descartes sicherte methodisch das Ego, gab jedoch für Leibniz nur unbefriedigende Lösungen für das Verhältnis des Ego zu den anderen res cogitantes, erst recht zu den res extensae, so zum eigenen Leib. Leibniz griff tief in das Arsenal der philosophia perennis, um dieses Cartesische ego zu seiner Monade aufzurüsten. − In gewisser Hinsicht kann man in ihm den konsequentesten Cartesianer in metaphysicis sehen, kann man die Monadenlehre als die strenge Befolgung des von Descartes mit seinem cogito, ergo sum eingeschlagenen Weges verstehen. − dass dabei gerade die Begriffspolaritäten des Einen und des Vielen eine bedeutende Rolle spielen, möchte ich zeigen. Das V i e l e kommt bei Leibniz zumeist als das u n e n d l i c h V i e l e vor und ist als solches implizit immer gemeint, wenn von Allheiten, von omnes, omnia, vom distributiven totum, vom Universum oder der Welt die Rede ist. Bekanntlich ist für Leibniz die Welt kein totum, kein einheitliches Ganzes, das sich aus Individuen zusammensetzt, gleichwohl aber eine unendliche Vielheit von in prästabilierter Harmonie zusammenwirkender Monaden. Das E i n e ist für ihn vorzüglich das reale Eine, die wirkliche, unzerstörbare, weil unteilbare Einheit, das Individuum, die substantia singularis, die Monade. Es war die Mathematik, die Leibniz erkennen ließ, dass das Verhältnis der Einheit zur unendlichen Vielheit mit höchstem Maß an Rationalität begriffen werden kann. dass die Metaphysik neben der Einheit ausschließlich die unendliche Vielheit zum Gegenstand hat, gründet darin, dass es keine ratio sufficiens gibt, bei dem einem oder anderem vom realen Einem verschiedenen stehen zu bleiben, wenn nicht beim Unendlichen, bei dem in jeder Hinsicht Allesumfassenden. Und wiederum gibt es keinen Grund, warum, wenn aus diesem Unendlichem eines und nur eines ausgewählt werden soll, ein anderes als das Beste zu nehmen ist. Leibniz’ Metaphysik speist sich aus vielen Quellen, die von ihm in den klaren Fluß eines rationalen Begründungszusammenhangs von möglichster Einfachheit gebracht werden. Es ist müßig zu fragen, welcher Quelle die größere Bedeutung zukommt, wichtig aber zu sehen, wie sie alle von ihm t r a n s f o r m i e r t werden, bevor sie in seine Lehre von den Monaden einfließen. Es ist diese originäre Transformation der Quellen, die Leibniz von einem Ekklektiker unterscheidet. Lassen Sie mich in der hier gebotenen Knappheit die wichtigsten Quellen, bei denen in verschiedener Form das Eine und das Viele zur Geltung kommen, in Erinnerung rufen − von Fall zu Fall mit ausführlichen Zitaten.

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DIE POLARITÄTEN DES EINEN UND DES VIELEN

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Da ist erstens und schon früh die von Leibniz bevorzugte nominalistische Lösung der I n d i v i d u a t i o n : Omne individuum sua tota entitate individuatur,4 eine Lösung, die ihn beunruhigt, bis es ihm gelingt, mit seiner Konzeption der notio completa durch die m a x i m a l e Bestimmtheit des individuellen Wesensbegriffs zu klären, was tota entitate bedeutet. Da ist zweitens der hippokratische Aphorismus συ µπνοια πα ντα, der das Zusammenfließen aller Teile behauptet, mit einem Wort, die S y m p a t h i e , die Leibniz, trotz Ablehnung des influxus, als grundlegende Hypothese vom menschlichen Organismus auf die ganze Welt überträgt: Itaque quod Hippocrates de corpore humano dixit, de ipso universo verum est, o m n i a c o n s p i r a n t i a e t s y m p a t h e t i c a e s s e , seu nihil in una creatura fieri, cuius non effectus aliquis exacte respondens ad caeteras omnes perveniat.5 So verstanden, gebietet das, die ganze Welt, alle Kreaturen, in die maximale Bestimmtheit jedes individuellen Wesensbegriffes einzubeziehen. Dieser Aphorismus wird die Grundlage für seine hypothe`se de la concommitance und später für die der prästabilierten Harmonie, genial veranschaulicht durch seine Erfindung der petites perceptions. Da ist drittens der platonische Begriff der H a r m o n i e , dem Leibniz eine präzise Bestimmung gibt als unitas in multitudine6 oder auch als diversitas identitate compensata,7 und mit dem Prinzip quanto major et varietas et in varietate unitas, hoc majorem esse harmoniam8 bis hin zum Gradmesser der Perfektion entwickelt: ideo sequitur Harmoniam esse cogitabilium quatenus scilicet cogitabilia sunt perfectionem,9 so dass nur die Wesen existieren, die gemeinsam das Höchstmaß an Perfektion entwickeln, eben αë ρµονικω τατα10 sind. Da ist viertens die plotinische E m a n a t i o n , das Hervorgehen des Vielen aus dem Einen und zugleich das Verbleiben des Vielen im Einen, in seiner Ursache,

4

duiert«]. 5

AA VI,1 S. 11 [: »Jedes Individuum wird durch seine ganze Seiendheit indivi-

AA VI,4 S. 1618 [: »Daher ist das, was Hippokrates vom menschlichen Körper sagt, vom ganzen Universum wahr, dass nämlich alles zusammenstimmt und sympathisch ist, was bedeutet, dass nichts in einer Kreatur geschieht dessen beliebige, exakt sich entsprecheden Effekte nicht zu allen anderen kommen«]. 6 Vgl. AA II,1 S. 333 [: »Einheit in der Vielheit«]. 7 Vgl. AA VI,3 S. 116 [: »durch Identität kompensierte Vielheit«]. 8 Vgl. AA VI,4 S. 1359 [: »Je größer die Vielfalt und in der Vielfalt die Einheit, desto größer die Harmonie«]. 9 AA VI,4 S. 1360 [: »es folgt daher, dass die Harmonie der Denkbaren, insofern sie denkbar sind, in der Vollkommenheit besteht«]. 10 Vgl. AA VI,4 S. 1637.

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der Schöpfung in Gott. Nur sie erkennt Leibniz, streng metaphysisch gesprochen, als den einzigen modus causandi in Gott − und mit Gott in den Substanzen − an; wohlgemerkt bei radikaler Negation der Möglichkeit eines influxus realis von einer Substanz auf die andere, mit Ausnahme eben des göttlichen Schöpfungsaktes.11 Die Emanation wird zum Prinzip aller in ihrer Ursache verbleibenden momentanen Besonderungen, comme les pense´es emanent de nostre substance.12 Er definiert die causa per emanationem, der Schulmetaphysik folgend, als eine solche, ubi nulla intercedit mutatio neque tempus,13 auch als causa efficiens sine mutatione sui.14 Die Emanation ist momentan und als solche ohne Veränderung. Daher muß Leibniz das Prinzip aller Veränderungen in der Substanz selbst als creatio continua, als fortwährend wechselnde Emanationen, als fulgurations continuelles15 begreifen. Sufficit aliqua esse, quae maneant eadem cum mutantur, ut Ego,16 eben das mit memoria ausgestattete Ich. Da ist fünftens das bereits erwähnte fundamentale Cogito, ergo sum D e s c a r t e s ’ , und damit die res cogitans, das Ego. Fundamental, weil Leibniz mit diesem Argument die Metaphysik auf ein sicheres Fundament gestellt sieht und Descartes rühmt, er habe mit ihm die Metaphysik von der Scholastik befreit. Dieses Ego wird für Leibniz der Prototyp der Substanz, insofern jeder an seinem Ich erfahren kann, was Substanz eigentlich bedeutet. Leibniz kann aber nicht beim cogito bleiben, er muß ihm sein varia a me cogitantur17 als gesichertes Korrektiv an die Seite stellen: cum cogito, statim multa cogito, et unum in multis.18 Und da ist zugleich der ärgerliche cartesische D u a l i s m u s der res cogitantes und der res extensae, der ihn zur Ausbildung seiner Hypothese von der a l l e s u m f a s s e n d e n prästabilierten Harmonie, nicht allein der von Seele und Körper, zwingt. Da sind sechstens die P r i m o r d i a l i t ä t e n posse, scire, velle [»Können, Wissen, Wollen«] in ihrer unendlichen Fülle und Perfektion, die Leibniz mit der A u g u s t i n i s c h e n Tradition auf die drei Personen der Trinität überträgt: die Macht auf den Vater; das Wissen auf den Logos, den Sohn; den Willen, die Liebe 11

Vgl. AA VI,4 S. 1647. AA VI,4 S. 1549 [: »wie die Gedanken aus unserer Substanz emanieren«] u. 1580. 13 AA VI,4 S. 637 [: »die durch Emanation wirkende Ursache ist eine solche, bei der weder Änderung noch Zeit statt hat«]. 14 AA VI,2 S. 490 [: »eine Wirkung ohne eigene Veränderung«]. 15 Vgl. Monadogie § 47 [: »kontinuierliche Ausblitzungen«]. 16 AA VI,4 S. 562 [: »es genügt, dass etwas da ist, was dasselbe bleibt, während die Eigenschaften sich ändern, wie das Ich«]. 17 AA VI,4 S. 1499f. [: »Vielfältiges wird von mir gedacht«]. 18 AA VI,2 S. 283 [: »Wenn ich denke, denke ich zugleich Vieles und Eines im Vielen.«]. 12

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auf den Hl. Geist.19 Es ist genau diese trinitarische Struktur, die er ansatzweise schon als Student der Substanz zugrundelegt20 und festhält, wenn er die Monade als originäre Kraft, als vis primitiva, mit Perzeption qua Wissen und mit Appetitus qua Willen bzw. Streben begreift. Damit nimmt er die überlieferten A t t r i b u t e G o t t e s , die Allwissenheit und die Allmacht, in gewissem, aber präzisen Sinn für jede Substanz in Anspruch, bis hin zur durchaus ernst gemeinten Charakterisierung der selbstbewußten, apperzipierenden Monaden als petites divinite´s.21 Es sind nur Grade der Deutlichkeit, die die Monaden voneinander und von Gott, der Urmonade, unterscheiden, allerdings wesentlich durch ihre ihnen als Geschöpfen naturgemäß eigene Limitation.22 Unaquaeque substantia habet aliquid infiniti quatenus causam suam, Deum, involvit, nempe a l i q u o d o m n i s c i e n t i a e e t o m n i p o t e n t i a e v e s t i g i u m ; nam in perfecta notione cujusque substantiae individualis continentur omnia ejus praedicata tam necessaria quam contingentia, praeterita praesentia et futura; imo unaquaeque substantia exprimit totum Universum secundum situm atque aspectum suum, quatenus caetera ad ipsum referuntur, et hinc necesse est quasdam perceptiones nostras etiamsi claras, tamen confusas esse, cum infinita involvant, ut coloris, caloris et similium.23 Da ist siebtens der m a t h e m a t i s c h e P u n k t , den er als ausdehnungslose Einheit, zugleich aber als die unendliche Vielheit von Winkeln, die alle in ihm ihren Ausgang nehmen, begreift und zum Modell macht für die als metaphysischer Punkt aufgefaßte Monade mit der unendlichen Vielheit der in ihr erzeugten Phänomene. Da ist achtens die potentiell unendliche Vielheit des m a t h e m a t i s c h e n K o n t i n u u m s , aus der Leibniz die aktuell unendliche Vielheit der Monaden ableitet.

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Vgl. AA VI,4 S. 2365 und AA I,16 S. 164.2–4. Vgl. AA VI,1 S. 156. 21 Vgl. Monadologie § 84. 22 Vgl. Monadologie § 60. 23 AA VI,4 S. 1618 [: »Jede Substanz hat etwas vom Unendlichen als seine Ursache, nämlich Gott, sie birgt nämlich eine gewisse Spur des Allwissens und der Allmacht in sich, denn im vollkommenen Begriff einer jeden individuellen Substanz sind alle ihre Prädikate enthalten, sowohl die notwendigen, wie die kontingenten, sowohl die vergangenen, wie die gegenwärtigen und zukünftigen. Eine jede Substanz drückt sogar das ganze Universum aus, gemäß ihrem Standpunkt und ihrer Perspektive, weil doch die anderen sich auf sie beziehen. Daher ist es notwendig der Fall, dass gewisse unserer Perzeptionen obwohl sie klar sind doch verwirrt bleiben, da sie Unendliches einschließen, wie das Wahrnehmen von Farbe, Wärme und Ähnlichem.«]. Vgl. AA VI,3 S. 524 u. Grua S. 139. 20

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Da ist neuntens der potentiell ins Unendliche teilbare m a t h e m a t i s c h e K ö r p e r , den Leibniz unterscheidet von dem aus aktual unendlich vielen lebenden Organismen zusammengesetzten organischen Körper, dessen jedweder Teil, wie ihm eigentümlich, wiederum einen solchen Organismus darstellt. Da ist zehntens die r e a l e E i n h e i t der Monaden, der Leibniz die bloß p h ä n o m e n a l e V i e l h e i t der Körper gegenüberstellt, die in Wirklichkeit nichts als Aggregate sind und ebensowenig aus einfachen Substanzen zusammengesetzt wie Linien aus Punkten. Les esprits et les ames sont des unite´s, les corps sont des multitudes.24 Da ist schließlich die a r i s t o t e l i s c h - s c h o l a s t i s c h e Begriffstheorie, wonach das Prädikat eines wahren Satzes stets in seinem Subjekt enthalten ist: praedicatum inest subjecto, wonach, anders gesprochen, das Subjekt die unendliche Vielheit seiner Prädikate enthält; eine Theorie, die Leibniz mittels der Erweiterung seiner endlichen Analyse der notwendigen Wahrheiten auf die unendliche Analyse der kontingenten, faktischen Wahrheiten, von den allgemeinen Begriffen auf die individuellen übertragen kann, und die ihn zur Ausbildung seines Konzepts einer notio completa substantiae singularis befähigt, eines Konzeptes, mit dem er das logische Fundament seiner Monadologie legt. Nur wenn man Leibniz’ Monadologie, eingebettet in seine Theorie der möglichen Welten, aus solchen Quellen gespeist sieht und sich bemüht, die rationale Leistung nachzuvollziehen, die zu ihrer konsequenten Ausgestaltung geführt hat, wird man zu kurz greifende Interpretationen vermeiden. Viele Interpretationen, die sich mehr auf den Buchstaben, weniger auf den Geist der Texte verlassen, differenzieren nicht genügend zwischen einerseits den t a s t e n d e n Formulierungen in Schriften, die lediglich der eigenen Klärung dienten, den h i n f ü h r e n d e n , d i s k u r s b e d i n g t e n Formulierungen in Briefen, den p o p u l ä r e n Formulierungen, die auf Erfahrungen und Erfahrbares zurückgreifen, um das Gemeinte in gewisser Hinsicht anschaulicher zu machen, nicht aber, um Metaphysik auf Empirie oder Gnoseologie zu gründen, und andererseits den s t r e n g e n Formulierungen in rigore metaphysico, in denen Leibniz exakt ausdrückt, was er für wahr hält, und die als Richtschnur gelten müssen zur Deutung der anderen. J’avoue qu’on est oblige´ de parler ainsi en s’accordant a` la language populaire, ce qu’on peut faire dans un certain sens, sans blesser la verite´, mais quand il s’agit de s’expliquer exactement, je maintiens que, a` parler dans la rigeur philosophique . . .25

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Grua S. 140.

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Leibniz bedient sich gerne uns vertrauter Begriffe und Bilder, um uns einen Einstieg in seine Metaphysik zu erleichtern, nimmt uns aber dabei gleichsam an die Hand zum Absprung in ihre rationale Überhöhung. Es ist ein bekanntes Sprachphänomen, dass wir Neues nur verstehen im Ausgang von Vertrautem und im steten Rückgriff darauf, so bekannt, dass man seit einiger Zeit vielfach glaubt, die ordinary language sei überhaupt fundamental. Dabei darf die vertraute Sprache doch keine Fessel sein, sie hat vielmehr als Leiter, wenn nicht gar als Sprungbrett zu dienen für das Denken des Neugedachten, für das Formulieren des noch nicht Gesagten. Vergegenwärtigen wir uns den Prozeß der Begriffsbildung. Die ursprüngliche, vulgäre Bedeutung der Wörter wird transformiert in eine streng metaphysische. Musterbeispiel: das Holz, genauer das zum Bauen verwendete Holz, die υÏ λη, die bei Aristoteles zur materia prima wird. Der metaphysische Begriff borgt Bedeutungsanteile aus dem vulgären, hebt sich aber deutlich von ihm ab, ohne seine Herkunft zu verbergen. Man würde ihn jedoch völlig verkennen, wenn man seine neue Identität, die ihm durch präzise Definitionen und Zuschreibungen verliehen wurde, nicht voll anerkennt. Denn erst sie, diese neue Identität, macht ihn zum Träger neuer Gedanken. Leibniz scheut sich bekanntlich nicht, diesen Prozeß bis zur Umkehrung des ursprünglichen Sinnes zu treiben. Aus bisher Passivem macht er Aktives. Aus dem ursprünglich rezipierenden Perzipieren macht er ein Produzieren, aus dem uns begegnenden Phänomen wird ein von uns, in uns erzeugtes. Aus dem das ankommende Licht reflektierenden Spiegel wird der lebende Spiegel, der seine Bilder selbst, ja sogar aus sich selbst spontan erzeugt. So radikal wie Leibniz seine Gedanken entfaltet, so behutsam versucht er sie anderen zu vermitteln. Er mildert den rigor metaphysicus durch eine dem Partner gewohnte Sprechart, pour concilier le langage metaphysique avec la practique.26 So baut er dem Empiriker Locke im Vorwort der Nouveaux Essais eine in der Erfahrung nachvollziehbare Darstellung, die ihm aber verhüllt seinen Begriff der Monade in nuce näher bringen soll. Es sind die petites perceptions, die als Einzelne konfus, in ihrer Gesamtheit klar die Eindrücke vermitteln, die die Körper außer uns auf uns machen − wir wissen, dass das eine uneigentliche Redeweise ist − Eindrücke, die das Unendliche einschließen, Eindrücke, die auf die Verbindung

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Theod. § 290 [: »Ich bekenne, dass man verpflichet ist, in Anlehnung an die gewöhnliche Sprache zu sprechen, soweit man das tun kann ohne die Wahrheit zu verletzen. Aber wenn es darum geht sich deutlich zu erklären, behaupte ich, müsse man mit philosophischer Strenge reden«]. 26 AA VI,4 S. 1553 [: »um die metaphysische Sprechweise mit der Praxis zu versöhnen«].

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hinweisen, die jedes Seiende mit dem ganzen Rest des Universums hat; Eindrücke, denen zufolge Leibniz sagen kann, dass das Gegenwärtige schwanger geht mit dem Zukünftigen, belastet ist mit allem Vergangenen, anders ausgedrückt, dass alles miteinander konspiriert, sympathisiert, oder wie es Hippokrates formulierte: συ µπνοια πα ντα,27 und, wie Leibniz fortfährt, dass so durchdringende Augen wie die Gottes aus der geringsten der Substanzen den ganzen Lauf der Dinge des Universums zu erkennen vermögen.28 Es komme zwar nur der höchsten Vernunft, der nichts entgeht, zu, distinkt die volle Unendlichkeit zu erfassen mit allen Gründen und Folgen. Alles, was wir über diese Unendlichkeiten vermögen, sei, sie mehr oder weniger konfus zu erkennen, aber wenigstens distinkt zu wissen, dass es sie gibt.29 Die Vielheit der petites perceptions, die beispielsweise das Rauschen des Meeres ausmachen, beruht zwar auf einer nachvollziehbaren Wahrnehmungserfahrung, hat gleichwohl aber die Funktion eines Erklärungsmodells für metaphysische Besonderungen, so wie auch die Deutlichkeit und Verworrenheit von Perzeptionen letztlich nicht gnoseologisch zu verstehen sind. Es ging Leibniz darum, die Probleme, die sich unserem Begreifen entgegenstellen, durch die Konzeption der bis ins Unendliche abfallenden Grade der Deutlichkeit, durch eine der Mathematik entlehnte Anschauung zu beseitigen. Es sind die Grade der Deutlichkeit, mit denen Leibniz auch Aktivität und Passivität erklärt. Gott ist reine Aktivität, alle seine Perzeptionen sind in höchstem Grade distinkt. Die nackten Monaden sind beinahe völlig passiv, ihre Perzeptionen sind im annähernd höchsten Maße konfus. Gelegentlich formuliert Leibniz sogar: Substantiae habent materiam metaphysicam seu potentiam passivam quatenus aliquid confuse exprimunt, activam quatenus distincte.30 Diese unmerklichen Perzeptionen konstituieren das Individuum. Wir können auch sagen, mit diesen unendlich vielen unmerklichen Perzeptionen konstituiert sich die Einheit des Individuums. Mit ihnen erklärt Leibniz die, wie er sagt, bewundernswerte prästabilierte Harmonie von Seele und Körper und auch die aller Monaden oder einfachen Substanzen, um den unhaltbaren, weil unverständlichen influxus der einen auf die anderen durch ein rationaleres Konzept zu ersetzen.

27

Vgl. AA VI,3 S. 87. Vgl. AA VI,6 S. 55. 29 Vgl. AA VI,6 S. 57. 30 AA VI,4 S. 1504 [: »Die Substanzen haben eine metaphysische Materie, das bedeutet, sie besitzen eine passive Potenz insofern sie etwas verwirrt ausdrücken, so wie sie eine aktive Potenz haben, insofern sie etwas deutlich ausdrücken«]. 28

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Wir tun Leibniz keinen Tort an, wenn wir seine Scheu vernachlässigen und seine Gedanken in aller uns möglichen Deutlichkeit konsequent mit metaphysischer Strenge explizieren. Wir wissen, für unseren Philosophen gibt es, streng metaphysisch gesprochen, nichts als Monaden mit ihren Perzeptionen und Appetitus. Je crois qu’il n’y a que des monades dans la nature, le reste n’etant que les phenomenes qui en resultent.31 Imo rem accurate considerando dicendum est, nihil in rebus esse nisi substantias simplices [scil. Monades] et in his perceptionem atque appetitus.32 Man könne nicht einmal begreifen, dass es bei den einfachen Substanzen etwas anderes gibt, und folglich gäbe es auch nichts anderes in der Natur, schreibt er 1714 an Remond.33 Die P e r z e p t i o n ist ein m o m e n t a n e r Z u s t a n d , ein etat passager, qui enveloppe et repre´sente une multitude dans l’unite´ ou dans la substance simple.34 Sie bedeutet la repre´sentation de la multitude dans le simple oder expressio multorum in uno,35 nämlich in der Monade; der A p p e t i t u s hingegen bedeutet den Übergang von einer Perzeption zur nächsten.36 Man kann die Perzeption als E m a n a t i o n aus der Monade verstehen und die appetitus als fulgurations continuelles, als das kontinuierliche Fortschreiten von Perzeption zu Perzeption. Insofern die Monade ihr Sein aus Gott hat, insofern Gott sie im Dasein hält durch eine creatio continua, können die einzelnen Momente ihrer Existenz als E m a n a t i o n e n verstanden werden, die o h n e Ve r ä n d e r u n g das Emanat in sich behalten, gleichermaßen als Perzeptionen der Urmonade, und kann die zeitgebärende Veränderung, genau genommen der Übergang von einem Sachverhalt zu einem kontradiktorischen, als kontinuierliche Folge göttlicher Ausblitzungen, als fulgurations, wiederum gleichermaßen als Appetitus der Urmonade, verstanden werden. 31

Erdmann S. 745 B [: »Ich bin überzeugt, dass es in der Natur nichts anderes gibt als Monaden, das Übrige sind nichts als Phänomene, die aus ihnen resultieren«]. 32 GP II, S. 270 [: »Wenn man die Sache gründlich betrachtet, muß man sogar sagen, dass es unter den Dingen nichts gibt außer einfachen Substanzen und in ihnen Perzeptionen und Appetitus.«]. 33 Vgl. GP III, S. 622. 34 Monadologie § 14 [: »Die Perzeption ist ein vorübergehender Zustand, der die Vielheit in der Einheit, in der einfachen Substanz einschließt und repräsentiert«]. 35 Vgl. GP IV, S. 475 [: »die Darstellung der Vielheit im Einfachen« oder »der Ausdruck von Vielen in Einem«] u. GP VII, S. 327. 36 Vgl. Leibniz an G. S. Treuer nach dem 1. Juni 1708 (LBr. 939, Bl. 3).

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Ad temporis naturam intelligendam requiritur ut consideretur m u t a t i o seu contradictio praedicata de eodem, diverso respectu, qui respectus − später sagt er meistens ordo − nihil aliud est, quam consideratio temporis, er könnte auch sagen constitutio temporis. Und er fügt noch hinzu: Spatium et tempus non sunt res, sed relationes reales. Nullus est locus absolutus, nec motus.37 Um diesen radikal neuen, m e t a p h y s i s c h e n Begriff der Perzeption, der weder mit dem des Wahrnehmens noch mit dem des Denkens verwechselt werden darf, anschaulich zu machen, gebraucht Leibniz gerne zwei, wie ich meine, k o m p l e m e n t ä r e M o d e l l e , das der Stadt, des point de vue, und das des lebenden Spiegels, des miroir vivant. Im S t a d t g l e i c h n i s ist die Stadt n u r v i r t u e l l a u ß e r h a l b der sie perzipierenden Betrachter. In Wirklichkeit existiert sie nur in den Betrachtern, in jedem auf die ihm eigentümliche Weise, entsprechend seinem point de vue, und es gibt so viele Betrachter, wie es verschiedene Standpunkte gibt.38 Heute könnten wir das computertechnisch erläutern: die Stadt ist nur simuliert, wirklich sind allein die Computer-Daten, die zur Erzeugung der Simulation benötigt werden. Erst durch das Fortschreiten von Datensatz zu Datensatz können Veränderungen sichtbar gemacht werden, die Simulation wird, wie man sagt, animiert. Bei Leibniz ist das allerdings ein kontinuierlicher Prozeß. Im Modell des l e b e n d e n S p i e g e l s dagegen ist das Gespiegelte, letztlich die ganze Welt, n u r v i r t u e l l a u ß e r h a l b des Spiegels. In Wirklichkeit erzeugt der Spiegel, einem autarken inneren Prinzip folgend, spontan sein Bild der Welt. Anschaulicher wird das Modell des Spiegels, wenn man sich ihn nicht flach, sondern konvex, besser noch, als eine Kugel vorstellt, und diese Kugel auf die Größe eines Punktes reduziert, der, wie erinnert wurde, die unendlich vielen Winkel in sich vereinigt, die von ihm ausgehen. Darüberhinaus hat man in seiner Lebendigkeit den Übergang von Bild zu Bild, also die Funktion des Appetitus zu sehen.39 Komplementär sind diese Modelle insofern als im Stadtgleichnis durch die V i e l h e i t der Betrachter e i n e Stadt repräsentiert wird, im Spiegelgleichnis dagegen e i n Spiegel in sich die V i e l h e i t der Welt vereinigt.

37

AA VI,4 S. 1621 [: »Um die Natur der Zeit zu verstehen, ist es nötig, die Veränderung zu betrachten, das bedeutet, die von einem und demselben in verschiedener Hinsicht ausgesagte Kontradiktion. Diese Hinsicht ist nichts anderes als die Erwägung der Zeit.« – »Raum und Zeit sind keine Dinge, sondern wirliche Relationen. Es gibt weder einen absoluten Ort noch eine absolute Bewegung.«], vgl. auch S. 1641. 38 Vgl. AA VI,4 S. 1618. 39 Vgl. GP III, S. 72.

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Beide Modelle sind zum einen bei radikaler Negation der Möglichkeit eines Einflusses von einer Substanz auf die andere, also von der Außenwelt auf die Monade − Stichwort: Fensterlosigkeit –, und zum anderen, nicht zu vergessen, bei radikaler Weigerung, den Raum und die Zeit als absolut gegeben anzuerkennen, dazu bestimmt, die P e r z e p t i o n zu erklären. Sie zeigen, dass die erzeugten Perzeptionen, wie ich es erläutern möchte, als momentane Querschnitte durch die Geschichte der unzerstörbaren Monade aufgefaßt werden können und als solche die Ordnung des Nebeneinander, des Koexistenten, nämlich den R a u m überhaupt erst konstituieren. Der Fortgang der Geschichte kommt indessen, und mit ihm die Konstitution der Ordnung des Nacheinander, nämlich der Z e i t 40 − und mit ihr der Bewegung und des Lebens − erst durch die appetitus, durch das Finalgesetzen gehorchende Fortschreiten von Perzeption zu Perzeption zustande. N i c h t e r s t K a n t , L e i b n i z w a r e s , der zum Verstehen seiner Philosophie ausdrücklich eine K o p e r n i k a n i s c h e We n d e a` force de raisonner verlangte.41 Leibniz lehrt uns zu sehen, dass die bloß phänomenale Vielheit des uns in der Erfahrung Begegnenden auf der realen Vielheit des von der jeweils einen Monade als Phänomene in ihr selbst Erzeugten und Verbleibenden basiert. Auch, dass die reale Vielheit der göttlichen Schöpfung, die Vielheit der von Gott in die Existenz gebrachten Monaden, aus der idealen Vielheit der göttlichen Ideen, qua possibilia, hervorgeht, von denen bekanntlich nur diejenigen existent werden, die miteinander kompatibel ein Maximum an Perfektion erreichen und so die beste der möglichen Welten ausmachen. Maximal ist die originäre Vielheit aller Possibilien in Gottes Verstand (in mente Dei), oder wie es Leibniz gegenüber Arnauld genauer ausdrückt, in der regio possibilitatis. Diese ist vom Ort der platonischen Ideen zu unterscheiden, wo sub ratione generalitatis die ewigen Wahrheiten und die allgemeinen Begriffe angesiedelt sind. Alle Individualbegriffe, logisch gesprochen, alle vollständigen Begriffe (notiones completae), die Leibniz gelegentlich auch lebende Ideen (ideae vivae)42 nennt, und damit auch alle faktischen Wahrheiten sind in der Region der Möglichkeiten, das bedeutet in seinem Verstand, beheimatet.43 Jede dieser Possibilien möchte ich − ohne die Wirksamkeit Gottes zu verletzen – als ein mögliches Individuum auffassen, das sich autark individualisiert durch seine spontan von ihm selbst entworfene Weltgeschichte. Weltgeschichte 40 41 42 43

Vgl. GP IV, S. 568. Vgl. E. Bodemann, LH S. 63, GP VII, S. 120, 542 u. Grua S. 137f., 486. Cout. S. 10. GP II 49 [AA II,2 S. 70 Fn 25].

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wohlverstanden in ihrem umfassendsten Begriff, der die ganze Welt seit Beginn der Schöpfung bis hin zum Ende aller Tage umfaßt. In notione perfecta substantiae individualis in puro possibilitatis statu a Deo consideratae ante omnium existendi decretum actuale, jam inest quicquid ei eventurum est, si existeret, imo tota series rerum, cujus partem facit. Itaque non quaeretur an Adamus sit peccaturus, sed an Adamus [ex sponte sua] peccaturus ad existendum sit admittendum.44 Hier liegt, nebenbei bemerkt, offenbar der Kern von Leibniz’ Lösung des Freiheitsproblems. Jedes Possibile ist von jedem anderen streng unterschieden. Mit seinem principium identitatis indiscernibilium, dem Prinzip der Identität des Nichtunterscheidbaren, sichert Leibniz die E i n m a l i g k e i t jeder der Possibilien in dieser unendlichen Vielheit. Daher würde Leibniz, nebenbei angemerkt, keinerlei transworld identity anerkennen. Die Possibilia, die jeweils miteinander kompatibel sind, machen zusammen je eine vollständige mögliche Welt aus. Wir können sagen, ihre Weltgeschichten passen zueinander, sie koexistieren in einer der möglichen Welten. Nur die Possibilia einer, nämlich die der besten dieser unendlich vielen möglichen Welten, werden von Gott zur Existenz gebracht, nur sie werden in vollem Sinn Realia, wenngleich Leibniz allen Possibilia einen Grad von Perfektion zuspricht, der sie befähigt, nach Existenz zu streben. Da jedes Possibile, so gesehen, die ganze Welt entwirft, der es angehört, kann Leibniz auch sagen, dass Gott aus einem einzigen Possibile dessen ganze Welt erkennt. Gelegentlich begreift er die Possibilia sogar als die verschiedenen points de vue Gottes. Leibniz wählt zur leichteren Veranschaulichung dieser Theorie gerne Personen mit uns vertrauten Lebensumständen, so etwa Adam, Judas, Cäsar, Alexander und Tarquinius. Die konsequente Rationalität seiner Theorie wird aber erst sichtbar durch eine schrittweise erfolgende, möglicherweise schwindelerregende, aber unvermeidliche Extrapolation. Wir müssen extrapolieren auf die volle Geschichte der exemplarisch genannten Personen, da sie wie alle anderen einfachen Substanzen mit der Schöpfung in die Welt gekommen sind und nur durch Annihilation aus ihr, besser gesagt, mit ihr, wieder verschwinden können. 44

AA VI,4 S. 1619 [: »Im vollkommenen Begriff einer jeden individuellen Substanz, von Gott im reinen Stand der Möglichkeit betrachtet vor jeglichen wirksamen Dekreten zu existieren, ist bereits alles, was ihr zukommen wird, falls sie zur Existenz kommt, enthalten, ja sogar die ganze Reihe der Dinge, deren Teil sie ist. Daher ist nicht zu fragen, ob Adam sündigen wird, sondern ob Adam, der von seiner Freiheit Gebrauch machend sündigen wird, zur Existenz zuzulassen ist.«]

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DIE POLARITÄTEN DES EINEN UND DES VIELEN

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Wir müssen ferner extrapolieren auf die volle Geschichte aller Individuen dieser Welt, nicht allein der Geister, sondern aller einfachen Substanzen überhaupt, bis hin zu den sogenannten nackten Monaden. Denn auch sie repräsentieren, wenn auch nicht bewußt, nicht mit entsprechender Deutlichkeit, gleichwohl die ganze Welt. Es ist schon merkwürdig sich vorstellen zu müssen, dass in irgendeiner Form unter uns noch die Monaden Alexanders, Cäsars und Leibniz’ existieren, aber auch schon die Monaden, die im Jahr 3000 vielleicht besser als wir Leibniz interpretieren werden. Damit aber nicht genug, denn drittens müssen wir beachten, dass jedem Individuum dieser Welt, jedem real existierenden Individuum, mögliche Individuen in jeder einzelnen der unendlich vielen möglichen Welten entsprechen. Gegen Descartes und Spinoza betont Leibniz immer wieder non existere omnes mentes possibiles, quod ex eo demonstro, quia omnia existentia inter se commercium habent.45 Die Ursache für dieses commercium ist Gott, der selbst keine Ursache hat und einzig ist. Necesse est o m n i a [existentia] exprimere e a n d e m naturam, sed diverso modo, nämlich auf vollkommene Weise das Universum und, sofern sie Geister sind, auch Gott.46 Ante creationem sind diese möglichen Welten alle homogen. Sie füllen, um eine Wendung Wittgensteins zu gebrauchen, den g a n z e n l o g i s c h e n R a u m − und Leibniz würde analog ergänzen, sie füllen auch die g a n z e l o g i s c h e Z e i t . Fassen wir die Possibilien als Gedanken Gottes auf, so können wir sagen, es gibt keine ungedachten Gedanken, keinen Gedanken, den Gott unterdrückt hätte: il n’y a point de rapport, qui echappe a` son omniscience.47 Nur wenn alle möglichen Welten als solche vollausgebildet, nur wenn sie alle gleichberechtigt zur Wahl stehen, kann Leibniz behaupten, dass Gott in seiner allumfassenden Weisheit und in seiner unendlichen Güte, ohne Willkür zu üben, die beste ausgewählt hat. Il faut que la cause du monde [Dieu] ait eu regard ou relation a` t o u s c e s m o n d e s p o s s i b l e s pour en determiner un.48 Aber erst wenn die Possibilien als s p o n t a n sich selber konstituierende Individuen aufgefaßt werden, erst wenn man Leibniz’ Hypothese de la

45

AA VI,4 S. 1503 [: »Es existieren nicht alle möglichen Geister, was ich daraus beweise, dass alle Existierenden eine Verbindung miteinander haben«]. 46 Vgl. AA VI,4 S. 1503 [: »Es ist notwendig, dass alle Existierenden dieselbe Natur ausdrücken, wenn auch auf verschiedene Weise«], vgl. auch S. 1625. 47 AA VI,4 S. 1550 [: »Es gibt keine Beziehung, die seiner Allwissenheit entgeht«]. 48 GP VI, S. 106 [: »Es muss so sein, dass die Ursache der Welt (Gott) alle möglichen Welten berücksichtigt hat, um eine zu bestimmen«].

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spontaneite´49 voll zur Geltung bringt, kann man seine m e t a p h y s i s c h e Begründung der Freiheit verstehen. Allerdings tritt bei den apperzipierenden Geistern ergänzend die moralische Begründung durch das finale Prinzip des Besten für das von ihnen zu verantwortende Handeln hinzu. Wir lesen: Quand il s’agit de s’expliquer exactement, je maintains que nostre s p o n t a n e i t e´ ne souffre point d’exeption.50 tous nos phenomenes, c’esi a` dire, tout ce qui nous peut jamais arriver, ne sont que des suites de nostre estre.51 Ce qui arrive a` chacune n’est qu’une suite de son ide´e toute seule.52 Tout estat present d’une substance luy arrive s p o n t a i n e m e n t , et n’est qu’une suite de son estat precedent.53 Ex notione Substantiae individualis sequitur etiam in Metaphysico rigore, omnes substantiarum operationes, actiones passionesque esse s p o n t a n e a s , exceptaque creaturarum a Deo dependentia, nullum intelligi posse influxum earum realem in se invicem, cum quicquid cuique evenit, ex ejus natura ac notione profluat, etiamsi caetera alia abesse fingerentur, unaquaeque enim universum integre exprimit.54 Die Schöpfung ist, so gesehen, Gottes Bestätigung der Optimität des freien Weltentwurfes einer jeden der e x i s t i e r e n d e n Monaden. Sie konnten sich nur nicht die Welt aussuchen, die existent werden wird, und können natürlich auch nicht sein wie Gott, wenn auch ihm ähnlich, und selbstverständlich kann auch keine Monade genau so sein, wie eine andere (sie wäre kein Klon, sondern würde mit ihr zusammenfallen).

49

GP IV, S. 476. Theod. § 290 [: »Wenn es darum geht, sich exakt auszudrücken, behaupte ich, dass unsere Spontaneität keine Ausnahme duldet«]. 51 AA VI,4 S. 1550 [: »alle unsere Phänomene, d. h. alles, was uns jemals zustoßen kann, sind nichts als Folgen aus unserem Sein«] . 52 AA VI,4 S. 1551 [: »Das, was einer jeden Substanz zustößt, ist nichts anderes als eine Folge allein aus ihrer Idee«]. 53 AA II,2 S. 53.15–16 [: »Jeder gegenwärtige Zustand einer Substanz kommt ihr spontan zu und ist nichts als eine Folge aus ihrem vorhergehenden Zustand«]. 54 AA VI,4 S. 1620 [: »Aus dem Begriff einer individuellen Substanz folgt auch mit metaphysischer Strenge, dass alle Handlungen der Substanzen, alle Akte und alles Erleiden spontan sind, mit Ausnahme der Abhängigkeit der Kreaturen von Gott. Kein realer Einfluß zwischen ihnen ist zu verstehen, da alles, was jedem geschieht aus seiner Natur und seinem Begriff hervorgeht, auch wenn man fingiert, dass alle anderen abwesend, denn eine jede drückt das ganze Universum aus«]. 50

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DIE POLARITÄTEN DES EINEN UND DES VIELEN

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Die hier nur im Anriss vorgestellten Ausprägungen der Polarität des Vielen und des Einen sollten einen Eindruck vermitteln von der komplexen Mannigfaltigkeit, die Leibniz im Begriff der Monade zur Einheit gebracht hat, in einem Begriff, dessen Fülle er seinen Zeitgenossen vorenthalten hat, aus wohlberechtigter Furcht − jedenfalls aus seiner Sicht −, auf Unverständnis zu stoßen.55 Wir verfügen heute über soviel von ihm hinterlassene, zeitlebens sekretierte Papiere, dass wir uns davon ein besseres Bild machen können als alle Zeiten zuvor. Wir werden aber seinen wirkungslos gebliebenen Gedanken kein neues Leben einhauchen können. Uns bleibt nur zu berichten und nachzudenken.

55

S. 624.

Vgl. die nicht abgesandte Erklärung für Nicolas Remond vom Juli 1714, GP III,

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GEDANKEN ZU DEN PHILOSOPHISCHEN SCHRIFTEN (AA VI,4)

Leibniz hat von den im Band VI,4 edierten, zu einem bedeutenden Teil publikationsreifen Schriften, von drei Ausnahmen abgesehen, keine weiteren veröffentlicht. Selbst Vertrauten hat er nicht mehr als andeutungsweise etwas von ihrem Inhalt mitgeteilt. Gleiches gilt schon für die Schriften, die er in Mainz nach der Nova Methodus discendae docendaeque jurisprudentiae verfaßte, sieht man ab von der gegen seinen Willen veröffentlichten kleinen Abhandlung De atheismo eradicando, von den beiden Abhandlungen zur Theorie der Bewegung, von den Specimina juris und von seiner Vorrede zum Buch von Marius Nizolius mit seinem Brief an Jakob Thomasius. Vollständig gilt das aber für alle in Paris verfaßten philosophischen Schriften. Uns drängt sich die Frage nach den Gründen für dieses erstaunliche Verhalten auf. Eine Antwort findet man in den Motiven, die Leibniz zur Abfassung dieser Schriften geleitet haben. Leibniz war ein eminent politischer Philosoph. Sein Denken und Handeln war einzig darauf gerichtet, die Welt, in der er lebte, mit den Mitteln der Vernunft und mit festem Glauben an die geoffenbarten Wahrheiten zum Besseren zu führen. Seine politische Bedeutung läßt sich messen an der Größe der Aufgaben, zu deren Lösung er sich mit starkem Selbstvertrauen und einem außergewöhnlichen Sendungsbewußtsein berufen fühlte: Rechtssicherheit herzustellen durch Reform der Jurisprudenz und der Legislation auf der Grundlage des Naturrechts, Einigung im Glauben herbeizuführen durch vernunftgerechte Interpretation der Glaubenssätze, Glück kraft Wissen zu vermitteln durch Organisation der Arbeiten zur Vervollkommnung der Wissenschaften und durch ihre Ausstattung mit einem neuen Organon, einer neuen Logik, die das zu leisten im Stande wäre, aber auch durch eine umfassende, neue Einsicht in den Grund der Dinge, die zugleich die Freiheit des Menschen und die Rechtfertigung Gottes für das Übel in der Welt offenlegen sollte. Auf allen Feldern geistiger Aktivität sah er seine Stärken im radikalen, bei den ersten Wurzeln ansetzenden Gebrauch der Vernunft.

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GEDANKEN ZU DEN PHILOSOPHISCHEN SCHRIFTEN (VI, 4)

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Bekannt gemacht hatte er sich in Mainz, nachdem er eine juristische Professur in Altorf und damit die akademische Laufbahn ausgeschlagen hatte, mit seiner neuen Methode zur Reform der Rechtslehre, der Bemühungen folgten, das römische Gesetzeswerk von Grund auf zu revidieren. Nur Boineburg vertraute er seinen großen Plan an, ein Werk zu verfassen, das sich nichts Geringeres als die Versöhnung zwischen den Konfessionen und den Frieden in Europa zum Ziel setzte, mit dem Titel Demonstrationes Catholicae. Als er Gelegenheit bekam, zunächst in diplomatischer Mission nach Paris zu reisen, stellte er dieses Vorhaben zurück, um einen aktuellen Geheimplan auszuarbeiten, mit dem er die Aggressionen Ludwigs XIV. von Europa nach Ägypten an die Flanken des Osmanischen Reiches lenken wollte. Von Herzog Johann Friedrich nach Hannover berufen, gewann er dessen Vertrauen und wagte es im dritten Jahr seines Aufenthaltes, diesen mit seinen Vorhaben bekannt zu machen, zunächst mit dem der Charakteristik, dann auch mit seinem großen Mainzer Projekt. In ihrem Hauptteil sahen die Demonstrationes Catholicae Beweise vor für die Existenz Gottes, die Unsterblichkeit der Seele und überhaupt für die ganze natürliche Theologie, gefolgt von Beweisen zur geoffenbarten Theologie, in denen die Möglichkeit der Mysterien der christlichen Religion, die Trinität, die Inkarnation, die Eucharistie und die Auferstehung der Leiber aufgewiesen werden sollte. Abgeschlossen sollten sie werden durch Beweise zur Stützung der kirchlichen Hierarchie durch das göttliche Recht und, abgeleitet daraus, zum aktiven und passiven Gehorsam der Gläubigen. Als Fundament wollte Leibniz die ihrerseits bewiesenen Elemente der wahren Philosophie voranstellen: eine neue Logik mit Einschluß der Charakteristik, eine viel besser entwickelte Metaphysik, die die wahren Begriffe von Gott und der Seele, der Person, der Substanz und ihrer Akzidenzien vermittelt, ferner eine profundere Physik, mit der die Geschichte der Schöpfung, der Sintflut und der Auferstehung erklärt werden kann, viertens eine wahre Moral, um zu wissen, was Gerechtigkeit und Rechtfertigung, was Freiheit, Wohlgefallen, Glückseligkeit und glückselige Schau ist, und abschließend die wahre Politik, die das Wohl der Menschheit – schon hier auf Erden und in diesem Leben – zum Ziel hat. Dieser nur Boineburg und Johann Friedrich anvertraute Plan, ersterem, um mit ihm beim Sonnenkönig, letzterem, um bei der römischen Congregatio de propaganda fide und damit beim Papst vorstellig zu werden, deutet die Weite und die Schwerpunkte von Leibniz’ Aktivitäten an, zugleich aber auch ihre Intention. Uns ermöglicht dieser Plan, die verstreuten Schriften aus dem Geist ihrer Konzeption zu verstehen, das Motiv zu ihrer Abfassung nicht in der Lösung einzelner Probleme zu sehen, die sich beiläufig stellten, sondern in der Herstellung eines allgemeinen Zustandes beständiger Freude, schon hier und jetzt. Dieses Ziel war nicht in kleinen Schritten zu erreichen, sondern nur mit einem gleichsam

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revolutionären Werk, das die Wissenschaft, die Grundlage unseres vernünftigen Handelns, auf ein neues, sicheres Fundament stellt. Einbezogen in seine Erarbeitung war ebenso die Reflexion auf das Subjekt des vernünftigen Handelns, auf das freie Individuum und seinen Schöpfer wie auch auf die Rechtssicherheit als die Bedingung, um überhaupt in der menschlichen Gesellschaft vernünftig handeln zu können. So machen die Scientia Generalis, die Metaphysik einschließlich der Naturphilosophie, die Theologie und die Jurisprudenz die Hauptabteilungen dieses Bandes aus. Der Zwang zur Geheimhaltung seines großen Vorhabens gründete in den feudalen Herrschaftsverhältnissen. Nur von einem Mächtigen konnten die von Leibniz für notwendig erachteten Veränderungen installiert und gefördert werden, zumal ihre Realisierung die Anstellung gelehrter Mitarbeiter über einen größeren Zeitraum erforderte. Auch traute er niemand anderem als sich zu, diese Vorhaben, deren Dimension und Schwierigkeit nur ihm bewußt sein konnten, durchzuführen. Leibniz’ Strategie bestand darin, zunächst seine Fähigkeiten auszubilden. So hatte er beispielsweise in Paris seine mathematischen Kenntnisse auf eine Höhe gebracht, die ihn bekanntlich zum Erfinder der Infinitesimalrechnung werden ließen, darüber hinaus aber auch von anderen Errungenschaften, von denen die starken Bände der Reihe der Mathematischen Schriften aus der Pariser Zeit ein überzeugendes Zeugnis ablegen. Dann galt es, eine angemessene Position zu erlangen und sich vor allem durch eine ausgedehnte wissenschaftliche Korrespondenz eine hohe Reputation zu verschaffen, um bei günstiger Gelegenheit mit den im Geheimen ausgearbeiteten Projekten samt Probestücken ihres Gelingens, ohne ein Scheitern befürchten zu müssen, bei einem potenten Förderer vorstellig werden zu können. In seiner Erklärung gegenüber Herzog Johann Friedrich, er habe den Dienst in Hannover einer Bestallung in der Akademie zu Paris vorgezogen, haben wir mehr als einen Akt der Höflichkeit zu sehen. Selbstbewußt fährt er fort, er habe sich in der Mathematik vervollkommnet und sich mit schöneren Entdeckungen als denen von Galilei und Descartes einen Namen gemacht, das aber nur, um besser die Pietät – wir würden sagen, die allgemeine Religiosität – fördern zu können, und das mit Projekten, die wohl erst nach Jahrhunderten wieder aufgenommen werden würden, falls er vor ihrer Fertigstellung ableben müsse. Wir wissen nicht, ob Johann Friedrich sich der Sache angenommen hätte, er starb im Dezember 1679 auf dem Weg zum Papst. Leibniz begrub sein Projekt nicht. Zeugnisse seiner fortgesetzten Ambitionen geben die in diesem Band im weiteren Rahmen dieses Projekts angeordneten Arbeiten. Die Auswahl der Schriften, die aufgrund ihrer Thematik und ihrer nach äußeren und inneren Merkmalen anzunehmenden Entstehungszeit in den Rahmen dieses Bandes gehören, erbrachte 612 Dokumente, die auf 522 Nummern und Unternummern verteilt wurden. Abgesehen von 114 Exzerpten und Marginalien in

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GEDANKEN ZU DEN PHILOSOPHISCHEN SCHRIFTEN (VI, 4)

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Büchern und abgesehen von Notizen, Vorarbeiten und Aufzeichnungen, die Leibniz wohl lediglich zur Klärung seiner Gedanken niederschrieb und die nie dazu bestimmt waren, so gnadenlos, wie es eine historisch-kritische Edition tun muß, der Öffentlichkeit preisgegeben zu werden, bleiben mindestens 80 abgeschlossene, publikationsreife Abhandlungen übrig, von denen Leibniz gerade drei in Gelehrtenzeitschriften veröffentlichen ließ. Nur selten hat er die Entstehungszeiten dieser Schriften notiert, auch gab er keinerlei Hinweise zu ihrer Ordnung. Interessieren mag, dass seine originären Aufzeichnungen, bis auf etwa zwölf Prozent in französischer und gut einem in deutscher Sprache, durchgängig in Latein niedergeschrieben sind. Das Ideal der von Couturat beschriebenen Gesamt-Edition, aus der man sehen würde, was Leibniz an jedem seiner Tage gedacht und aufgeschrieben hat, ist nicht realisierbar. Schon deshalb nicht, weil die meisten Schriften nicht bestimmten Tagen, sondern nur längeren oder kürzeren Perioden, und das auch nur mehr oder weniger genau, zuzuordnen sind. Innerhalb dieser sich zudem überschneidenden Perioden ist es schon schwierig, eine einigermaßen gut begründete Abfolge der einzelnen Stücke herzustellen. Diese Schwierigkeit wird um so größer, je mehr Disziplinen einbezogen werden sollen, erst recht, wenn sie alle in die lineare Ordnung der Tage zu bringen sind. Selbst das Einbringen der vielfältigen Korrespondenz würde die Schwierigkeiten nicht verkleinern. Diese ideale Edition ist schon deshalb nicht zu verwirklichen, weil die durch Leibniz’ Universalität und ihre Historizität geforderte fachliche Kompetenz bei keinem Editor zu finden wäre, auch nicht bei den Mitarbeitern einer Arbeitsstelle. Wollte man einen riesigen Arbeitsstab mit einer solchen Aufgabe betrauen, ergäben sich kaum zu überwindende Koordinierungsprobleme, selbst dann, wenn dieser Stab unter einem Dach vereinigt werden könnte, was seinerseits schon eine Illusion darstellt. Es müßte schon ein Leibniz’scher Engel den Editoren die Abfolge der hinterlassenen Papiere eingeben. Aber, wer würde eine solche Edition, in der die Probleme, die ihn interessieren, bändeweit auseinander liegen, überhaupt haben wollen? Die Aufgabe ist wohl nur so zu meistern, wie diese Edition es versucht, dass nämlich die zu datierenden Stücke nach thematischen Abhängigkeiten gruppiert bearbeitet werden und die Chronologie innerhalb dieser Gruppen verhältnismäßig autark hergestellt wird. Soweit das geleistet ist, können über eine riesige Datenbank die Stücke ähnlichen Datums zur Synopse gebracht werden, wobei dann möglicherweise die eine oder andere Korrektur der Chronologie anfallen wird. A. SCIENTIA GENERALIS. CHARACTERISTICA. CALCULUS UNIVERSALIS. Leibniz war überzeugt von der grundsätzlichen Vernünftigkeit des Überlieferten, aber zugleich auch davon, dass es großer Denkarbeit bedurfte, diese Vernünftigkeit ans Licht zu bringen und zum Wohl der Allgemeinheit wirksam werden zu

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lassen. Vor der Vernunft Bestand haben kann nur das, was verstanden wird. Verstanden wird das, dessen Zusammensetzung aus einfacher zu Verstehendem klar erkannt wird. Da alle unsere Begriffe, sofern sie nicht selbst einfach und damit unzerlegbar sind, durch ihre Definitionen in einfachere Begriffe zerlegt werden können, führt deren fortgesetzte Definition schließlich zu den primitiven Begriffen. Nur weil es solche gibt und wir sie unmittelbar verstehen, können wir überhaupt etwas verstehen. Wahre Aussagen können wir nur daran erkennen, dass die Analyse des Subjektbegriffes und die des Prädikatbegriffes identische Elemente in beiden zum Vorschein bringt, kurz gesagt, dass das Prädikat im Subjekt enthalten ist. Wenn unser Denken darin besteht, mit den Zeichen, die wir den Dingen geben, so umzugehen, dass wir mit den Umformungen der Zeichen die Beziehungen der Dinge zueinander, die Sachverhalte, ausdrücken können, dann kommt es nur darauf an, geeignete Zeichen zu finden, mit denen sich so operieren läßt, dass falsche Aussagen unmittelbar, wie Rechenfehler, sichtbar werden. Daraus resultiert das Programm der Charakteristik, alle Begriffe bis hin zu den einfachen zu zerlegen und sie so zu kennzeichnen, dass ihre Zusammensetzung erkennbar bleibt, und Rechenoperationen mit den Charakteren zu entwickeln, die die Wahrheit der mit ihnen gebildeten Aussagen demonstrieren. Da es sich aber um eine reale Charakteristik handeln sollte, die die Gesamtheit aller unser Wissen ausmachenden Begriffe umfaßt, mußte die praktische Durchführung zunächst darin bestehen, dieses Wissen übersichtlich zu sammeln, ein Gesamtinventar, ein geordnetes Aerarium humanae cognitionis anzulegen. Vorerst einmal sollten jedoch gute Definitionen aus den Büchern kompetenter Autoren gezogen, dann aber auch alles in Tabellen angeordnete Wissen in einem Atlas universalis bereitgestellt werden. Da sich die so gefundenen Definitionen und Theoreme in der Regel nicht in der gebotenen elementaren Prädikationsstruktur formuliert vorfanden, sondern in der Komplexität und Ungenauigkeit der natürlichen Sprache, galt es, diese so zu reduzieren, dass alles Exzerpierte ohne Wahrheitsverlust in seine elementare Form überführt werden kann. Es bedurfte also zunächst einer Analyse der formalen Elemente der natürlichen Sprache und erst dann der Entwicklung von Kalkülen zur Beherrschung des Umgangs mit den so gewonnenen elementaren Formalismen, anders gesagt, es bedurfte der Reduktion der geläufigen auf eine rationale Grammatik, schließlich einer philosophischen Sprache, die ihrerseits in einer philosophischen Schreibung, in der Charakteristik, ausdrückbar wird. Sekundiert wurde diese analytische Arbeit durch die Suche nach der prädikamentalen Ordnung der Dinge, durch Reflexion auf das, was beim Denken an Begriffen erforderlich ist, um überhaupt etwas über etwas aussagen zu können. Hier bestimmen dichotomische Einteilungen unter Einsatz von Begriff und Gegenbegriff, von Position und Negation und von den klar definierten

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Modalitäten der Aussage und des Seins weitgehend die Methode zur Auffindung und geordneten Aufzählung der Genera terminorum bis hin zu einer mit dem Baum des Porphyrius zu vergleichenden Art von Arbor Leibnitiana (bes. in N. 184). Angenommen, das würde alles eines Tages geleistet sein, dann würden die so gewonnenen und gekennzeichneten Aussagen nach ihrem Wahrheitsgehalt zu beurteilen, sogar zu berechnen sein und könnten ihrem Zusammenhang entsprechend demonstrativ so angeordnet werden, dass zugleich deutlich wird, wo neue Wahrheiten zu finden sind, kurz gesagt, dann läge die von Leibniz angestrebte demonstrative und zugleich inventive Enzyklopädie vor. Dieses so einfach klingende Vorhaben war selbstverständlich nicht ganz so leicht durchzuführen. Da mußte zunächst von einer Gruppe gelehrter Mitarbeiter die immense praktische Sammel- und Sichtungsarbeit geleistet werden. Dann waren da aber vor allem die nicht delegierbaren theoretischen Probleme, neben der erwähnten Reduktion der Strukturen der natürlichen Sprache auf eine rationale Grammatik die Entwicklung eines allgemeinen Kalküls zur Durchführung der erforderlichen, wahrheitserhaltenden Transformationen und schließlich die Erfindung eines Systems geeigneter Charaktere, um die angestrebte isomorphe Repräsentation des Wissens berechenbar machen zu können, ganz zu schweigen von der nötigen Reflexion auf die ontologischen Grundlagen, auf die anzusetzende prädikamentale Ordnung der Begriffe, und von der erprobenden analytischen Arbeit an ausgewählten Definitionen. In seinen programmatischen Äußerungen, die in der wiederholten Aufforderung Calculemus gipfeln, unterstellt Leibniz diese Schritte als so gut wie geleistet, stellt jedenfalls nicht in Frage, dass sie geleistet werden können. Es galt aber auch zu planen, was und vor allem wie im einzelnen etwas von den Helfenden beigetragen werden kann. Hinter vielen der theoretischen Überlegungen zur Methode und zur Gliederung des Stoffes kann man die Sorge um die künftige Praxis herauslesen. Manche Abschnitte lesen sich wie Anweisungen für künftige Mitarbeiter oder eher noch wie Merksätze für das Schreiben solcher Anweisungen (N. 29). Aufschlußreich ist eine kurze Aufzeichnung (N. 52), aus der hervorgeht, dass Leibniz seine Helfer in dem Glauben lassen wollte, sie arbeiteten ausschließlich an der Erstellung einer nach seinen Vorgaben geordneten Enzyklopädie, die zwar an sich einen Eigenwert hätte, eigentlich aber nur die Grundlage für die Erarbeitung der geheimzuhaltenden universellen Charakteristik bieten sollte. Wäre diese vorläufige Enzyklopädie einmal vollendet, dann wäre, meinte er, auch die Charakteristik so gut wie fertig. Bestätigt wird dies durch das sicher zur Veröffentlichung vorgesehene Consilium de Encyclopaedia nova conscribenda methodo inventoria (N. 81), in dem Leibniz den systematischen Aufbau der auf Vernunft und Erfahrung begründeten Disziplinen so erläutert, dass daraus ein Arbeitsplan resultieren könnte, ohne den Zweck dieser Arbeiten, die

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Charakteristik, auch nur anzudeuten. Aus der Korrespondenz mit Johann Friedrich kann man ersehen, welche Gedanken sich Leibniz machte zur Organisation einer solchen Gruppe, etwa in einem Orden, und wie sie, ohne auf fremde Förderung angewiesen zu sein, aus den erhofften Erträgen aus dem Harzbergbau finanziert werden könnte. Die Charakteristik und der mit ihr zu verbindende Kalkül wurden aber nicht um ihrer selbst willen angestrebt. Sie waren gedacht als neuartige Instrumente zur Erarbeitung eines großen Werkes, das die Intentionen der Demonstrationes Catholicae aufnehmen sollte, für das Leibniz ab 1679 den Namen Scientia Generalis prägte. Diese Allgemeinwissenschaft sollte in ihrer endgültigen Präsentation der Gesamtheit des aktuellen Wissens zugleich die Methoden ihrer Erstellung und ihrer Erweiterung lehren. Deutlich muß jedenfalls unterschieden werden zwischen der geplanten und Plan gebliebenen Scientia Generalis selbst und den Arbeiten, die den größten Teil dieses Bandes ausmachen und in erster Linie zur Ausarbeitung eines vorbereitenden Werkes, in der Art eines Vorläufers, bestimmt waren, mit dem zunächst Förderer und Mitarbeiter angesprochen und von der Bedeutung und der Durchführbarkeit des Vorhabens überzeugt werden sollten. Von dem mit der pragmatischen Zielsetzung, allem Streit ein Ende zu machen und so zum Glück der Menschheit zu führen, konzipierten, definitiven Werk unterscheiden sich nämlich sowohl die zunächst in Angriff genommenen Initia wie die mit diesen zu erzeugenden Specimina. Zu den Initia und deren Vorbereitung gehören die Arbeiten, die zur formalen Bewältigung des Projekts nötig waren, das, was Leibniz die Elemente der ewigen Wahrheit nennt, sowie die Charakteristik und der logische Kalkül. Den Specimina sind die ausdrücklich so genannten Probestücke zuzuzählen, aber auch solche, die wegen ihres thematischen Zusammenhanges und zur Verdeutlichung der Verzahnung von uns anderen Abteilungen zugewiesen wurden. Beide sind gedacht zur Vorbereitung des großen Werkes, einmal, um das geeignete Werkzeug zu schaffen, zum anderen, um dessen Anwendungen auf konkretes Material überzeugend vorzuführen. Beide wurden entwickelt, um mit ihnen Gelehrte zur Mitarbeit zu motivieren, denn Leibniz übersah von Beginn an, dass er eine solch gewaltige Arbeit nicht allein würde bewältigen können, und vorab, um einen potenten Förderer zu gewinnen. Das hätte damals niemand anderes als der Sonnenkönig, der Kaiser oder der Papst sein können, und Leibniz hatte sie auch alle drei im Visier. Das Werkzeug konnte für Leibniz nichts anderes sein als eine ontologisch fundierte neue Logik, das Material die Begriffe und die mit ihnen ausgedrückten allgemeinen Sätze, primär die Definitionen. Während er die Entwicklung dieses Werkzeugs wohl selbst in der Hand behalten wollte, wäre das Heranschaffen, Sichten und Redigieren der elementaren Definitionen eine Aufgabe für seine Mitarbeiter gewesen. Die zu leistende praktische Vorarbeit am Material sollte

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zunächst im Zusammenstellen der Definitionen aller wissenschaftlichen Begriffe unter Heranziehung der Gelehrtenliteratur bestehen, dann in der Redaktion dieser Definitionen in eine material und formal normierte Sprache. Zum ersten gehört die Feststellung von Homo- und Synonymien, zum zweiten die Reduktion der Grammatik auf ihre rationale Basis. Diese Reduktionsarbeit obliegt primär der Sprachanalyse, dann aber vor allem dem logischen Kalkül. Die Bildung guter Definitionen, einschließlich der Suche nach solchen in der Gelehrtenliteratur, und ihre analytische Verkettung zielt zunächst auf das Materiale. Es folgt eine aus einer rationalen Grammatik gewonnene, die traditionelle Logik überholende kalkülmäßige Behandlung der Begriffe und Wahrheiten. Unter den Schriften dieser Abteilung befindet sich eine große Anzahl abgeschlossener Abhandlungen. Es ist jedoch unschwer zu erkennen, dass die unfertig gebliebenen Stücke, abgesehen von den Fällen, wo sie als solche von uns ausgewiesen und behandelt worden sind, nicht als Vorarbeiten zu den abgeschlossenen angesehen werden können. Sie haben ihr eigenes Gewicht. In jedem Falle belegen diese Aufzeichnungen, dass Leibniz seine Gedanken beim Niederschreiben zu klären pflegte, auch dass er, der von sich sagte, er habe kein gutes Gedächtnis, wie er einmal bekennt, befürchtete, sie bei der Vielzahl seiner Aktivitäten zu vergessen; beklagte er doch, dass die Tage nicht lang genug seien, das aufzuschreiben, was ihm beim Aufwachen einfiel. Man findet übrigens keine Stücke, in denen Leibniz, gleichsam mit Gedanken spielend, eine von seinen Grundüberzeugungen abweichende Meinung verfolgt, es sei denn, er formuliert einen zu bedenkenden Einwand. Trotz der Vielfalt der Einfälle und der Verflechtung der Stücke miteinander lassen sich Schwerpunkte herausheben: das Verhältnis von Ding und Begriff, von Wahrheit und Erkenntnis; die prädikamentale Ordnung der Dinge in Definitionstabellen und Aufzählungen der einfachen Begriffe; die Analyse der Begriffe mit Definitionsketten und die Charakteristik; die Analyse der natürlichen Sprache und der allgemeine Kalkül; schließlich die alles umfassende Idee einer Scientia Generalis und die daraus hervorgehende neuartige, demonstrative Enzyklopädie. Zunächst stand die schon in der Ars combinatoria vorgetragene Idee der Charakteristik mit der praktischen Umsetzung in eine neue Art von Enzyklopädie im Vordergrund. Dann konkretisierte sich das Vorgehen auf das Verfassen eines Buches, das nicht selbst die angestrebte Scientia Generalis darstellen sollte, sondern ein Werk, mit dem die Arbeit an dem großen Projekt, an dem viele beteiligt werden mußten, vorbereitet werden sollte. Die verschiedenen Vorschläge für den Titel enthalten den Kern Initia et Specimina Scientiae Generalis, de instauratione et augmentis scientiarum ad publicam felicitatem und lassen zugleich die Zweckbestimmung des Projekts deutlich werden, die Instauration alles Gewußten, und vorrangig seine Augmentation, also Sicherung und Erweiterung der

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Wissenschaften zum allgemeinen Wohl. Sie lassen aber auch erkennen, dass es sich dabei zunächst lediglich um die Bereitstellung der Initia handelt, worunter Leibniz die Klärung der Grundlagen und die Erarbeitung des formalen Werkzeugs verstanden wissen will, und um die Vorstellung von Specimina, von Probestücken der Leistungsfähigkeit dieses Werkzeugs und der Methode, nicht aber, wie gesagt, um das endgültige Werk. Mehr zur Überzeugung der zu gewinnenden Mitarbeiter und vorab der Förderer sind die zu integrierenden Abschnitte und die separaten Schriften gedacht, die auf die Geschichte, den Stand und den Zweck der Forschung eingehen, in die Leibniz gelegentlich zum Nachweis seiner Kompetenz einschlägige Angaben zu seiner wissenschaftlichen Biographie einfließen läßt. Wenn er später in Wien in seinen offensichtlich an die Adresse des Kaisers und seiner Berater gerichteten Abhandlungen wie Projet et essais pour arriver a` quelque certitude pour finir une bonne partie des disputes, et pour avancer l’art d’inventer (N. 202–205) das pragmatische Interesse, Sicherheit zu geben, um die endlosen Streitereien zu beenden, in den Vordergrund rückt, so klingt in ihnen doch an und zeigt sich in weiteren Schriften dieser Zeit, dass die Scientia Generalis mit der sie begründenden Charakteristik das eigentlich angestrebte Projekt bleibt. Dass Leibniz gerüstet war, sein Vorhaben bei günstiger Gelegenheit vorzustellen, bezeugen sechzehn abgeschlossene Schriften mit appellativem Charakter, die, obgleich sie dasselbe Ziel verfolgen, immer wieder anders formuliert die Schwerpunkte der Argumentation verlagern. Gemeinsam ist allen, dass sie von der Charakteristik und der Scientia Generalis höchstens andeutungsweise sprechen. Das Hauptgewicht legt Leibniz zunächst darauf, dass das verfügbare Wissen gesammelt, gesichtet, geordnet und erschlossen wird. Gleichsam arbeitsteilend wendet er sich mit dem Consilium de Encyclopaedia nova conscribenda methodo inventoria (N. 81) primär an Gelehrte, die auf Vernunft gründenden Wahrheiten aus ausgewählten Büchern hervorragender Autoren zu exzerpieren, während er mit dem etwa gleichzeitigen Consilium de scribenda historia naturali und mit der Consultatio de naturae cognitione und ihrem vorangestellten Arbeitsplan (AA IV, 3 N. 132 u. 133) Naturforscher auffordern will, die aus Beobachtung und Experiment und somit aus Fakten zu gewinnenden Wahrheiten zu inventarisieren. Um den Vorzug seiner Methode und seine eigene Befähigung überzeugend hervortreten zu lassen, gibt Leibniz kurze Abrisse zur Geschichte und zum Stand der Forschung, einschließlich seiner eigenen Beiträge, ausdrücklich in De republica literaria (N. 107) und in der Contemplatio de historia literaria statuque praesenti eruditionis (N. 1142), beiläufig aber auch in vielen der exoterisch angelegten Schriften. Wenn Leibniz in N. 128 eine neue Logik reklamiert und seine Idee eines Ariadnefadens durch das Labyrinth des angesammelten Wissens entwickelt, verrät

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er die Methode selbst nicht. Auch dann, wenn er den Vorzug seiner wissenschaftlichen Methode vor der populären beschreibt (N. 139) und die Fiktion eines unserer Sprache unkundigen Exoten macht, dem unser Wissen möglichst einfach vermittelt werden soll, bleibt es bei anregenden Andeutungen. Den Endzweck des Projekts, die wahre Vervollkommnung des Menschen, umschreibt er in einer gesonderten Abhandlung (N. 140), nimmt ihn unter dem Aspekt des öffentlichen Wohls in die verschiedenen dafür vorgesehenen Titel seines Prodromus auf und kommt immer wieder darauf zu sprechen. Zwei französische Entwürfe, die Nouvelles ouvertures (N. 160) und besonders die Recommandation (N. 161), scheinen, wenigstens zunächst, an die Adresse Ludwigs XIV. gerichtet zu sein. Leibniz gibt darin beiläufig Aufschluß über seine Strategie: wenn die (primäre) Enzyklopädie vorläge, seien daraus die fundamentalen Wahrheiten zu gewinnen mittels eines Kalküls, der ebenso einfach und exakt funktioniere wie diejenigen der Arithmetik und Algebra. Von diesem Kalkül könne er im voraus Beweise geben pour animer les hommes a` ce grand ouvrage und er wäre auch bereit, dieses artifice considerable durch einige bereits erzielte Ergebnisse zu autorisieren. Es selbst möchte er lieber nicht offenlegen pour ne le pas prostituer a` contretemps et sans effect. Während diese Empfehlung ausdrücklich für den honneˆ te homme verfaßt wurde, stellen die Elementa rationis (N. 162) sein Vorhaben eher den Gelehrten vor, nicht ohne den großen Fürsten anzusprechen, auf dessen Förderung er sich angewiesen sah. Sie enden mit einem Appell an sich selbst, sich endlich zu äußern, einem Entschluß, dem er dann doch nicht gefolgt ist. Spongia exprobrationum (N. 163) hat Leibniz eine dieser Schriften genannt, die das Ideal eines interdisziplinären Gelehrten rühmt, um möglicherweise Gleichgesinnte zur Mitarbeit zu begeistern. Die letzten fünf dieser das Projekt empfehlenden Schriften (N. 203 bis 207) hat er in Wien verfaßt und abgeschlossen. Man darf vermuten, dass die drei französischen für den Kaiser und seine Berater gedacht waren und nicht von ungefähr den Zweck des Projektes pragmatischer ansetzen. Nicht das Glück der Menschheit, sondern erst einmal methodisch unbezweifelbare Gewißheit zur Beendigung der Streitigkeiten und zur Gewinnung großer Fortschritte in der Wissenschaft zu erlangen, lautet jetzt das Nahziel und seine dringende Forderung, Hilfe von den Intelligentesten zu bekommen. Im ersten Teil seiner Paraenesis (N. 206) zählt Leibniz in großer Vollständigkeit die Themen des geplanten Vorläufers auf, erwägt in einer Randbemerkung eine Widmung Ad Monarcham qui volet und eine Vorrede mit einer Erklärung seiner Kompetenz. Die Aufzählung beginnt mit der Zielsetzung, einleitend eine Vorstellung von dem Glück geben zu wollen, zu dem das menschliche Geschlecht befähigt sei und das es auch erlangen könne, und schließt mit dem Anspruch, die Scientia Generalis als die Methode der Unfehlbarkeit zum Richter bei menschlichen Kontroversen zu machen, da sie alle

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unsere Irrtümer als nichts anderes als leicht zu erkennende und zu verbessernde Rechenfehler erweise. Ein Punkt in dieser Gliederung sieht eine Paraenesis ad viros pios vor, die Leibniz offensichtlich im zweiten Teil zu formulieren versucht. Dieser endet mit der Beschreibung der Scientia Generalis als der Grundwissenschaft, die die Ursachen der Dinge, die Harmonie des Universums, die Prinzipien und die Ökonomie der Wahrheiten erforscht. Sie ist die Theorie des Weisen und übernimmt als solche die Funktion der Metaphysik des Aristoteles und sei wie diese eine ζητουµε νη, eine nie abgeschlossene, immer zu suchende Wissenschaft. Er überlegt beiläufig auch, ob nicht eine Utopie seine Argumentation stützen könnte, und wir dürfen annehmen, dass das folgende Stück mit seinen Gedanken De insula utopica (N. 207) diesen Plan ausführt. Bezeichnenderweise gipfelt auch diese Abhandlung nicht in der Ausbreitung seines vollen Projekts, sondern wiederum in der Aufforderung, zunächst ein Inventar des verfügbaren Wissens anzulegen. Es ist deutlich, Leibniz brauchte und forderte Helfer. Ihre Finanzierung war nur durch jemanden zu gewährleisten, der über große Einnahmen verfügte und bereit war, einen Teil vornehmlich für dieses Projekt einzusetzen. Selbst von seiner Befähigung, ja von seiner Berufung überzeugt, mußte es ihm vor allem darauf ankommen, zunächst einen Monarchen und dann die zur Mitarbeit zu motivierenden Gelehrten zu überzeugen. Es kam ihm aber auch darauf an, die Reichweite dieses Plans und alle von ihm getroffenen Vorbereitungsarbeiten zu seiner Realisierung geheim zu halten. Geheimgehalten hat Leibniz diesen Plan wohl vor allem, weil er befürchtete, dass er beim ersten Hören wegen seiner scheinbar leichten Durchführbarkeit Leute auf den Plan rufen könnte, die das Vorhaben, mangels Einsicht in die Schwierigkeit der zu lösenden Probleme, mit weniger als dem gehörigen Tiefgang schnell zum Scheitern bringen würden, bevor er die für ein Gelingen unabdingbaren Vorbereitungen abgeschlossen hätte. Weitgehend abgeschlossene Stücke, die dieser Vorbereitung dienten und Punkte in den verschiedenen Gliederungen ausmachen, sind erstens solche, die die logisch-ontologischen Grundlagen reflektieren und wiederholte Versuche machen, die Prädikamente neu zu bestimmen, aber auch solche, die sich mit Problemen der klassischen Methodenlehre auseinandersetzen, mit der Analyse und der Synthese, der Beurteilung und der Erfindung, soweit diese Themen nicht beiläufig in den anderen Stücken mitbehandelt werden, drittens solche, die eine lingua philosophica anstreben, und schließlich solche, die den allgemeinen Kalkül einschließlich des formalen Aspekts der Charakteristik ausbauen. Sie alle sind unter die Initia der Scientia Generalis zu subsumieren. Als ihre Specimina wären, folgt man den verschiedenen Gliederungen, Stücke anzusehen, die den Spezialwissenschaften angehören, vornehmlich der Mathematik und der Mechanik, aber auch der Theologie und der Jurisprudenz. Sieht man von den Definitionenketten in den

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juristischen Stücken und von mathematischen Beispielen ab, so liegen uns allerdings keine dieser angekündigten Specimina vor. Leibniz hat sie wohl erst zu gegebener Zeit ausarbeiten wollen. Auch das von ihm so betitelte Specimen demonstrationum catholicarum (N. 410) bricht bereits nach der Vorrede ab. Unter den Stücken, die die logisch-ontologischen Grundlagen reflektieren und in vielfachen Ansätzen zu sichern versuchen, befindet sich auch das einzige dieser Abteilung, das Leibniz veröffentlichte, die Meditationes De Cognitione, Veritate, et Ideis (N. 141), in dem er seine Position bezüglich des von Descartes aufgestellten Wahrheitskriteriums der klaren und distinkten Erkenntnis durch seine Bestimmungen festlegte. Sie können grob auf drei Gruppen verteilt werden. Die meisten davon bemühen sich um die Aufzählung der einfachen Begriffe, nicht derjenigen, die am Ende der Begriffsanalyse herauskommen, sondern umgekehrt derjenigen, die gleichsam am Anfang stehen, die ein Begreifen überhaupt erst möglich machen und gefunden werden durch Reflexion auf die Bedingungen des Denkens, auf das, was uns beim Denken zunächst begegnet, oder, wie Leibniz es auch ausdrückt, auf das, was alles von uns Denkbare enthält. Hingewiesen sei hier auf N. 97, 98, 100, 143 und 149. In diese Gruppe gehören auch die verschiedenen Folgen von Definitionen, so die N. 134, 183, 184, 196–201. Diese Arbeiten sind in der Regel nicht abgeschlossen, auch kann man von keiner sagen, sie enthalte die endgültige Aufzählung. Andere Aufzeichnungen dieser Gruppe klären die Frage nach der Realität der Wahrheit, nach der Verbindung zwischen Begriff und Ding (N. 6–9) und insbesondere nach der Realität der Abstracta, so die abgeschlossenen Abhandlungen De abstractis, De abstracto et concreto und De realitate accidentium (N. 135, 208 u. 209) und letztlich auch die programmatische Schrift Inquirenda logico-metaphysica (N. 210), die zeigt, dass Leibniz bei weitem nicht alle Probleme als gelöst ansah. Weitere Schriften schlagen die Verbindung zur Logik und zur Metaphysik, erarbeiten gleichsam die logische Grundlage für die metaphysische Lehre von der Substanz, so, wenn in N. 76 argumentiert wird, es könne so viele Substanzen, so viele Possibilia geben, wie es unterschiedliche Kombinationen aller kompatiblen Attribute gibt, oder wenn in den Notationes generales (N. 131) bereits der vollständige Begriff der singulären Substanz als species infima bestimmt wird, als der Begriff des im höchsten Maße individuierten Seienden, ähnlich der Bestimmung des Engels bei Thomas von Aquin, und auch das Streben der Possibilia zur Existenz umschrieben wird. Aufzeichnungen zur analytischen und synthetischen Methode, insbesondere auch zur kombinatorischen, sowie zur judikativen und inventiven Kunst nehmen Ansätze aus der traditionellen Logik auf, um sie im Sinne der Scientia Generalis und in Anwendung auf sie umzuformen. Die Stücke N. 29 und 30 enthalten Reflexionen über die Wahl der beim Erarbeiten und Systematisieren der

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demonstrativen Enzyklopädie zu befolgenden Methoden. In N. 79 wird die Kombinatorik, insofern sie die Koordination der Dinge leistet, gleichsam als die Geometrie der Metaphysik dargestellt. Weitere Unterscheidungen steuern die N. 82 und 83 bei. Eindeutig zur Veröffentlichung bestimmt war De Synthesi et Analysi universali seu Arte inveniendi et judicandi (N. 129). Im Unterschied zu der in der Algebra per saltum vorgehenden Analyse will Leibniz mit seiner noch wenig bekannten reduktiven Methode schrittweise zu sicheren Ergebnissen gelangen. In N. 166 beklagt er, dass die synthetische Methode, die Kunst nämlich, Theoreme und Probleme einer Wissenschaft im Ausgang von den ersten Elementen zu behandeln, noch gar nicht ausgebildet worden sei. Seine Vorschläge laufen darauf hinaus, aus der Kombination einfacher Termini Hypothesen zu bilden, aus denen durch wiederholte Kontraktionen beweisbare Sätze hervorgehen, die durch erneute Kontraktionen zur Vollständigkeit der möglichen Variationen führen. Zur Verdeutlichung wurden einige Stücke trotz ihrer Nähe zur Mathematik aufgenommen, so beispielsweise De incerti aestimatione (N. 34), die Demonstratio axiomatum Euclidis (N. 54), die Elementa matheseos ad usum tironum (N. 77), die Stücke N. 91–96 und 102–104 sowie die Idea libri cui titulus erit Elementa matheseos universalis (N. 124) und eine Anzahl weiterer Stücke zur analytischen und synthetischen Methode, die in ihrer Gesamtheit erst in noch nicht absehbarer Zeit in der Reihe VII erscheinen werden. Mit der Methodus disputandi befaßt sich Leibniz ausdrücklich in den Stücken N. 137 und 138. Leibniz’ Arbeit an der Reduktion der Sprache auf ihre rationale Grammatik setzt bereits mit seinen frühen Aufzeichnungen N. 14, 15, 19–22 und 24 ein. Es folgen die Abhandlungen N. 35, 37 und 38. In einigen Stücken konzentriert er sich auf die formalen Redeteile (N. 100, 101), denen er ausführlichere Arbeiten wie Analysis particularum (N. 155) und De partibus orationis (N. 167) widmet. Die Verbindung zur Charakteristik thematisiert Leibniz ausdrücklich in N. 168. Sein Interesse am Aristarch von Vossius (N. 146) ist ebenfalls durch diese Untersuchungen bedingt. Die Abhandlung Lingua philosophica (N. 186) ist die ausgereifteste dieser Gruppe. In ihr formuliert Leibniz knapp und eindeutig das Ziel seiner radikalen Reduktion der natürlichen Sprache: Omnia in oratione resolvi possint in nomen substantivum E n s , seu R e s , copulam seu verbum substantivum e s t , nomina adjectiva et particulae formales. Es bleiben also letztlich nur die dem Ding prädizierten Attribute, modifiziert durch formale Partikeln, die ihre Relation zum Ding und zueinander ausdrücken. So kann alles von einem Ding Aussagbare in seiner notio completa gesammelt auf eine einheitliche Grundform gebracht werden. Diese wiederum kann einerseits mit dem charakteristischen Kalkül in demonstrative Zusammenhänge gebracht werden, andererseits in der Metaphysik zur elementaren Konstitution der einfachen Substanz dienen.

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Die Charakteristik entwickelte Leibniz unter einem Doppelaspekt, einem formalen und einem materialen. Zunächst mußte die Bedingung des Funktionierens erfüllt sein. Dazu war eine geeignete Art von Charakteren zu finden, mit denen die nötigen Rechenoperationen durchgeführt werden konnten. Dann waren diese Charaktere den Sachen und Begriffen so eindeutig und konstant zuzuordnen, dass Operationen mit ihnen isomorph den Verhältnissen zwischen den Sachen entsprechen. In jedem Fall sollten die Charaktere den Komplexionsgrad der mit ihnen ausgedrückten Begriffe leicht erkennbar repräsentieren. Zunächst erprobte Leibniz dafür einen weitgehend arithmetischen Ansatz, der sich Teilungsverhältnisse und schließlich Primzahldarstellungen zunutze machte. Später bevorzugte er einen von ihm selbst erfundenen algebraischen, mengentheoretischen Ansatz über die Relation der Inklusion und die Operationen der logischen Addition und Subtraktion. Die Arbeit am logischen Kalkül nimmt Leibniz mit den Stücken N. 46–49 auf, in denen die wahrheitserhaltende Substitution durch Identisches formal die Funktion der Verkettung materialer Definitionen übernimmt. In den Kalkülen vom April 1679 (N. 56–64) untersucht er die strukturellen Bedingungen, denen Charaktere zu entsprechen haben, um das, was sie ausdrücken, provisorisch mit arithmetischen Operationen der Division und Multiplikation behandeln zu können. So formuliert er Regeln, aus denen mit Hilfe charakteristischer Zahlen, genauer teilerfremder Zahlenpaare, die Gültigkeit der Konsequenzen und der syllogistischen Modi folgt, darüber hinaus aber dank der einzusetzenden realen Charaktere nicht nur kraft der Form, sondern auch, wo diese nicht hinreicht, vi materiae, kraft der bestimmten Begriffe geschlossen werden kann. Wenig später entwickelt er anstelle der arithmetischen neue logische Operationen über die Relation des Enthaltenseins, mit denen er im Specimen calculi universalis und den Addenda (N. 69–70) die Fundamente zu seiner Begriffslogik legt. Fast sieben Jahre danach nimmt er in den Generales Inquisitiones de Analysi Notionum et Veritatum (N. 165) seine formalen Untersuchungen in einer anfangs noch nicht, dann aber bis 200 durchgezählten Folge von Abschnitten wieder auf, die nur äußerlich den Eindruck erwecken, es handele sich hier um eine systematische Darstellung. Er formuliert darin Gesetze, die ausdrücklich sowohl Aussagen als auch Begriffe zum Gegenstand ihrer Variablen haben können mit der Tendenz der Reduktion aller Folgerungen auf Aussagen und aller Aussagen auf Termini. Beispielsweise enthält allein der § 189, wie das siebte und letzte Prinzip besagt, ein geschlossenes Axiomensystem: was nicht aus diesen wenigen Prinzipien folgt, folgt nicht kraft der Form. Besondere Aufmerksamkeit hat die Forschung den späteren Abhandlungen N. 177 und 178 gewidmet. Mit der wachsenden Einsicht in die Gesetze der Logik wuchs vor allem in den letzten 100 Jahren auch die Erkenntnis in die überragenden Leistungen unseres Philosophen. Man erkannte, dass diese

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abstrakten Kalküle über die Relationen der Identität und der Inklusion und die logischen Kalküle über die Relationen der Identität und der Inklusion und die logischen Operationen der Vereinigung und des Durchschnitts sowie der Differenz und des Komplements Interpretationen der von Leibniz formulierten Gesetze und ihrer Konsequenzen erlauben, die von Systemen der Booleschen Algebra und der Modallogik bis zur Verbandstheorie reichen. Allgemein kann man sagen, dass die Kalküle von Leibniz entwickelt wurden als das Instrument der reduktiven Transformation der Aussagen bis zur Einsicht in ihre Wahrheit, dem Enthaltensein des Prädikats im Subjekt, wenn nicht sogar der Identität von Subjekt und Prädikat, es sei denn, in die Wahrheit des Gegenteils, der Negation. dass diese Kalküle jedoch über das Formale hinaus tendieren, wird in N. 190–192 daraus deutlich, dass Leibniz statt von Variablen von Charakteren spricht, worunter er immer sichtbare Zeichen, die bestimmte Gedanken ausdrücken, versteht, und die Kunst der Charakteristik derart beschreibt, dass sie zum einen darin bestehe, diese Charaktere so zu bilden und in Ausdrücken anzuordnen, dass sie unter sich dieselben Relationen haben wie die Gedanken zueinander, und zum anderen darin, den Übergang von einem solchen Ausdruck zum anderen durch nichts anderes als Substitution und Äquipollenz zu regeln. Als solche stelle die Charakteristik das verum organon scientiae generalis dar. Wenn Leibniz sein Ziel auch nicht erreicht hat, so war sein methodisches Vorgehen doch richtungweisend. Beiläufig formulierte er logische Gesetze, die einen bedeutenden Platz in der modernen Logik einnehmen, ohne dass man sich heute ihrer Herkunft stets bewußt ist. Die Syntax der Logik, deren Kernstücke die Umbenennung, die Substitution und die wahrheitserhaltende Transformation nach den Gesetzen der Folgerung und der Äquivalenz darstellen, hat er unbestritten als Erster klar erkannt und musterhaft artikuliert. Die noch nicht gekannte, neue Logik, die er entwickeln wollte, war keine, die neben die traditionelle Syllogistik treten sollte, sondern eine, die diese in sich aufhebt. Das sieht man an seinen Versuchen, die vier aristotelischen Typen der Aussagen, die syllogistischen Modi, die unmittelbaren Folgerungen des logischen Quadrats und die Konversionen in seinem Sinne auszulegen, wenn nicht gar zum Prüfstein für seine Kalkülansätze zu machen. Leibniz war seiner Zeit weit voraus. Wir können das heute vielfach belegen. Er selbst hatte diese Erfahrung schon früh an der ausgebliebenen Rezeption seiner logischen Theorie der Bedingung gemacht. Zur Bewältigung seines großen Projekts hätte er damals wenigstens über eine elektronische Datenbank verfügen müssen und über die heute sogenannte künstliche Intelligenz, über Instrumente, die Leibniz nicht nur für möglich gehalten, sondern mit seinen weit in die Zukunft reichenden Innovationen erst möglich gemacht hat. Denken wir nur an die Dyadik und den Kalkül, die beiden Standbeine der Informatik. Es waren seine

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Schöpfungen, die aber, nicht zuletzt zeitbedingt, damals nicht zum Einsatz kommen konnten. B. METAPHYSICA. Von der Intention, die Scientia Generalis zu entwickeln, insofern sie es grundsätzlich mit allgemeinem Wissen, mit notwendigen Wahrheiten zu tun hat, die in einen demonstrativen Zusammenhang zu bringen sind, besser gesagt, deren Zusammenhang durch demonstrative Verfahren offenbar werden soll, unterscheidet sich Leibniz’ metaphysisches Interesse, das auf das Individuum und die kontingenten Sachverhalte, die es ausmachen, gerichtet ist, insbesondere auf den Beweis seiner Freiheit. Die Mittel, die Leibniz in der Metaphysik einsetzt, sind logischer Natur, insofern er strukturelle Gesetzmäßigkeiten von den notwendigen Wahrheiten auf die kontingenten überträgt. Für beide ist die Inklusion des Prädikats im Subjekt das einzige Kriterium der Wahrheit. Die zu ihrer Feststellung nötige Analyse ist bei den notwendigen Wahrheiten in endlich vielen Schritten abschließbar, bei den kontingenten allerdings erst in unendlich vielen, so dass eigentlich nur Gott sie leisten kann. Leibniz, der Mathematiker, konnte sich, um das Prinzip zu durchschauen, wie bei der Summation unendlicher Reihen mit dem sicheren Ansatz begnügen. Um diese Analyse ansetzen zu können, erfindet er den vollständigen Begriff der singulären Substanz, in dem alles enthalten ist, was ihr je begegnete und begegnen wird, anders ausgedrückt, was je von ihr in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft ausgesagt werden kann. Dazu holt Leibniz den Begriff gleichsam aus der Sphäre des Allgemeinen, des rein Logischen, auf den Boden des Faktischen, was nur dadurch möglich wird, dass er das Faktische an den einzelnen Individuen bestimmt sein läßt und das notwendigerweise in einer Vollständigkeit, die rein gar nichts offen läßt und jede Alternative einem weiteren, wenn auch bloß möglichen Individuum zuschreibt. In der Terminologie der Diskussion mit Arnauld macht er das begreifbar als den Abstieg aus der regio generalitatis in die regio possibilitatis, innerhalb deren diese Welt einen durch Existenz ausgezeichneten logischen Ort hat. Hier zeigt sich besonders die enge Durchdringung von Logik und Ontologie, die es, nebenbei gesagt, schwer macht, die Schriften eindeutig den entsprechenden Abteilungen zuzuweisen. Wenn Leibniz eine logische Bestimmung wie das Enthaltensein des Prädikats im Subjekt diskutiert, hat er bereits die Sachverhalte, die wirklichen und die möglichen, vor Augen, in denen sich diese Bestimmung konkretisiert. Denken und Sein sind für ihn isomorph. Daher gelingt ihm so leicht der Übergang von der notio completa als einem logischen Begriff zum metaphysischen Gegenstand, zur substantia singularis selber, die durch ihren vollständigen Begriff gerade so und nicht anders, unverwechselbar bestimmt ist. Zwei scheinbar gegensätzliche Grundüberzeugungen waren maßgebend für die weitere Entwicklung seiner Metaphysik, zum einen, dass es mit Ausnahme des

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göttlichen Schöpfungsaktes keine Wirkung einer Substanz auf eine andere gibt, zum anderen, dass alles mit allem im Zusammenhang steht, genauer gesagt, jede Substanz mit der ganzen Welt, und das seit ihrer Schöpfung bis zu einer Gott vorbehaltenen Annihilation. Das gilt natürlich für alle Substanzen, die somit in einem abgestimmten Verhältnis, wie Leibniz später sagt, in prästabilierter Harmonie zueinander stehen müssen, aber nicht so, dass Gott eine solche verfügt, sondern so, dass aus dem freien Wirken der Substanzen sich diejenigen harmonisch zueinander fügen, die sich miteinander vertragen, und in dem Maß, wie ihnen das gelingt, die Bedingung zu ihrer Existenz legen. Eine weitere Überzeugung behauptet, dass alles, was ist, zwar ist, und insofern es ist, auch notwendig ist, gleichwohl aber anders hätte sein können. Mit anderen Worten, dass es außer dieser realen Welt andere, bloß mögliche Welten gibt, unendlich viele sogar. Warum diese und nicht eine andere Welt existiert, muß einen Grund haben. Der kann kein anderer sein als der, dass diese Welt sich ihrem Schöpfer als die beste von allen präsentiert. Die logische Absicherung der Kontingenz als die eine wirkliche, zur Existenz gelangte Möglichkeit neben unendlich vielen bloßen Möglichkeiten, die wie sie ihren Ort im Denken Gottes haben, gehört ebenso zu den fundamentalen Ansätzen seiner Metaphysik wie die Bestimmung der Kontingenz als ein Glied in der Folge von miteinander verketteten Ereignissen, die in ihrer Gesamtheit anders hätten verlaufen können, wenn nicht Gottes Entschluß gewesen wäre, gerade sie aus der Vielheit der möglichen Folgen zur Existenz zu bringen, und das mit gutem Grund, da sie sich ihm als die beste darstellte. Substanzen sind durch Handeln bestimmt, genauer durch freies, nicht fremdbestimmtes Handeln, und umgekehrt das Handeln dadurch, dass es nur Individuen, singulären Substanzen, freien Kreaturen zukommt. In ihrem Handeln konstituiert sich die Substanz selbst und mit ihr die Welt, in deren Zusammenhang sie steht. Hätte eine Substanz anders gehandelt, als sie wirklich gehandelt hat, würde sie einer anderen, bloß möglichen Welt angehören. Damit ist metaphysisch das Freiheitsproblem gelöst und zugleich das der Theodizee. Gott erschafft weder Judas noch den Sachverhalt, dass Judas verraten hat, auch nicht das Abstraktum des Jesusverrats, sondern wählt die Welt, die trotz oder wegen dieses Geschehens in allem sich im Vergleich mit allen anderen möglichen Welten als die beste erweist. Judas war metaphysisch frei, sich so zu bestimmen, danach mußte er gleichsam dazu stehen in einer Welt, in der alles mit hypothetischer Notwendigkeit, kontingent geschieht. Entscheidend für diese Metaphysik ist, dass Gott vernünftig handelt, dass es e i n e Vernunft ist, die als die Gesamtheit der ewigen Wahrheiten Gottes Verstand ausmacht und die unser menschliches Wissen bestimmt, anders gesagt, dass es nur e i n e Logik gibt.

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Damit dieses Handeln, das konstitutiv ist für die Substanz und für ihre Welt, verständlich wird, drückt Leibniz es durch den Akt des Perzipierens aus, meint damit aber etwas Grundverschiedenes von dem Akt der Wahrnehmung, der einen äußeren Gegenstand voraussetzt. Er versteht schon damals darunter einen, wie er später sagen wird, in der Monade verbleibenden Vorgang, die Repräsentation oder auch Expression der ganzen jeweils gegenwärtigen Welt. Der hinzukommende Appetitus sorgt für den Übergang von einer solchen Weltperzeption zur nächsten und konstituiert damit die Ordnung der Zeit, während mit der Perzeption selbst die Ordnung des Raumes festgelegt wird. Das den Geistern vorbehaltene Erinnerungsvermögen macht ihre Identität aus und bezieht ihre Vergangenheit ein, mit der Zukunft gehen sie schwanger. Das Studium der vielen kleinen Schriften dieser Abteilung neben dem Discours de Me´taphysique und den anderen abgeschlossenen Abhandlungen lohnt die Mühe. Wer Leibniz’ Metaphysik aus der Monadologie kennt, wird hier fast jeden seiner Gedanken – wenigstens im Keim – wiederfinden und auch wohl einige mehr. Die verschiedenen Begründungszusammenhänge, in denen sie erscheinen, kaum jemals in gleicher Formulierung, doch stets in derselben kohärenten Intention, werfen oft neues Licht auf schwer zu verstehende Folgerungen. Wir haben es bei Leibniz nicht mit einer linearen Entwicklung von Erkenntnis zu Erkenntnis zu tun, sondern eher mit einem Vorgehen, das dem Lösen eines Knotens von Knoten gleicht, bei dem jeder Schritt mit der neuen Erkenntnis neue Einsichten in die noch verbleibenden Schwierigkeiten öffnet. Das macht auch die zeitliche Einordnung der oft in knappen Sätzen große Zusammenhänge anreißenden Aufzeichnungen schwierig. Anders als in den Briefen treffen wir hier auf unbefangene Äußerungen seiner Reflexionen, gleichwohl in mitteilbarer Form, jedoch meistens so komplex formuliert, dass sich vielfach aus frühen Äußerungen bereits die späteren Konsequenzen ziehen lassen. Allein die Einführung der unendlichen Analyse (N. 303) erzeugt um Anfang 1686 einen deutlich neuen Schub. Was Leibniz über die Welt behauptet, gilt auch für seine Philosophie und nicht zuletzt für seine Schriften: alles steht mit allem in Zusammenhang, alles fließt aus e i n e m Prinzip, alles Kontingente aus dem e i n e n Notwendigen, alles folgt e i n e r Vernunft, alles gehorcht dem Satz des Widerspruchs, nichts geschieht ohne Grund, alles wird von und in der individuellen Substanz perzipiert. Das schwer zu verstehende metaphysische Prinzip, dass sich aus jeder Substanz die ganze Welt in einmalig festgelegter Perspektive erkennen lassen soll, findet heute seine konkrete Anwendung in der Genforschung, in der eindeutigen Erkennbarkeit, sogar Reproduzierbarkeit des ganzen Individuums aus einer seiner Zellen. Wir finden in dieser Periode noch nicht den Namen, wohl aber einen sich immer deutlicher artikulierenden Begriff der Monade.

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Dass bestimmte Ideen in uns sind, bedeutet, dass unserem Denkvermögen Fähigkeiten eingeprägt sind, und zwar so, dass den Operationen des Denkens das vollkommen entspricht, was bei den Dingen geschieht. Die Frage nach dem, was die Idee ist, beantwortet Leibniz mit der klaren Formulierung der Isomorphie von Denken und Sein (N. 259). Wollte man Leibniz einen Standort in dem nicht endenden Nominalismusstreit zuweisen, müßte man ihn, der sich selbst einen provisorischen Nominalisten nannte, bei den Konzeptualisten einordnen. Die Elementa verae pietatis (N. 256) beweisen in ihrem Hauptstück aus einer Kette von Definitionen und dem Satz vom Grunde, dass diese Welt die beste der möglichen Welten ist, genauer, dass diese Welt als die vollkommenste Gott, dem Weisesten, nicht hätte nicht gefallen und als solche nicht hätte nicht existieren können. Leibniz spricht abstrakt von possibilia, versteht darunter jedoch konkrete Dinge mit ihrer ganzen Geschichte, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft als m ö g l i c h e , von denen die einen kontingenterweise zur Existenz in dieser unserer Welt gelangen, die anderen bloß möglich bleiben; ein Punkt, den Leibniz gegenüber Descartes und Spinoza, Wyclif und Hobbes immer wieder betont. Daraus, dass Möglichkeiten existieren, die auch nicht existieren könnten, folgt, dass die einen eine bessere Disposition zu existieren, einen höheren Grad an Realität, eine größere Vollkommenheit besitzen als die anderen. dass Existenz selbst keinen Realitätsgrad darstellt, hatte er bereits bewiesen (N. 253). Eine besondere Stellung nimmt das Arbeitspapier De affectibus (N. 269) ein, in dem Leibniz die Leistungsfähigkeit seiner Methode der verketteten Definitionen erprobt. Mit immer wieder neuen Formulierungen sucht er den geeigneten Ansatz, zwischendurch mit Rückgriff auf Descartes, um den Affekt zu definieren als die Determination eines jeden Geistes, einzig aus seiner Natur eine bestimmte Folge von Gedanken zu erzeugen. Dieses Stück kann aufgefaßt werden als ein früher, nach mehreren Ansätzen abgebrochener und nie wiederholter Versuch, den Prozeß der Selbstkonstitution der beim Entwickeln ihrer Perzeptionen nach einem Maximum an Vollkommenheit strebenden Monade zu beschreiben. Das geschieht unter Einsatz der mit ontologischer Deutung vorbildlich entwickelten logischen Gesetze der Folgerung und der Modalität. De modo distinguendi phaenomena realia ab imaginariis (N. 299) läuft darauf hinaus, dass nicht alle möglichen Geister existieren, sondern nur die, die in einem beständigen commercium zueinander stehen und als solche mit uns dieselbe Natur vollkommen ausdrücken, womit Leibniz dem seit Descartes drohendem Solipsismus entkommt. Die Reduktion der Aktivität und Passivität, des Handelns und Leidens auf Grade der Deutlichkeit des Perzipierens macht die Substanz gleichsam autark. Passivität wird nicht von außen erlitten, sondern hat seinen Grund in weniger deutlichen, in konfuseren Expressionen dessen, was ist. Substanzen haben eine forma substantialis, eine potentia activa, insofern sie deutlich,

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und eine materia metaphysica, eine potentia passiva, insofern sie konfus ausdrücken. Körper, die eine solche forma substantialis nicht besitzen, sind nur Phänomene oder allenfalls Aggregate wirklicher Substanzen. In N. 301 spannt Leibniz den Bogen vom höchsten Begriff, dem cogitabile, bis zu einer wissenschaftlichen Kosmologie und Kosmogonie mit bemerkenswerten Hypothesen. Auch im Specimen inventorum de admirandis naturae generalis arcanis (N. 312) zeigt Leibniz, wie die Naturgesetze aus seiner logisch begründeten Metaphysik fließen. Ansetzend bei der ausdrücklichen oder impliziten Inklusion des Prädikats im Subjekt als Kennzeichen jeder allgemeinen affirmativen wahren Aussage und bei der Funktion der Prinzipien des Widerspruchs und des zureichenden Grundes bezüglich der notwendigen und der kontigenten Sätze (mit einer Fußnote, dass Gott jene Art zu schaffen gewählt hat, die ein Mehr an Realität oder Vollkommenheit einschließt) hängt Leibniz an den Anselmschen Gottesbeweis zwei indirekte Beweise seiner Existenz und kommt über die notio concreta substantiae singularis zur weiteren Darstellung seiner Metaphysik bis hin zur Erklärung, dass aufgrund der Harmonia rerum alles, was in der Seele geschieht, allein aus den Gesetzen der Perzeption expliziert werden kann. Im letzten Drittel geht er über zur Behandlung der Gesetze der körperlichen Natur. Wie Raum und Zeit, so sind auch Ruhe und Bewegung nur relativ. Streng gesprochen, wird auch keine Kraft von einem auf den anderen Körper übertragen, vielmehr bewegt sich jeder auf Grund einer ihm innewohnenden Kraft. Leibniz begründet hier die Äquivalenz von Ursache und Wirkung als Erhaltung der Kraft und ferner, gegen Descartes’ These von der Erhaltung der Bewegungsgröße, die Erhaltung dessen, was er in seiner Dynamik lebende Kraft nennen wird. Verkürzt und stärker auf den metaphysischen Aspekt konzentriert, entwickelt er seine Thesen in N. 324. Hier schließt er mit der klaren Formulierung der Phänomenalität der Körper und zugleich mit der Lehre von der Unvergänglichkeit der beseelten körperlichen Substanzen, die natürlicherweise weder entstehen noch vergehen, sondern nur transformiert werden. Die Schriften aus den Jahren 1683–1685, in denen Leibniz kritisch Stellung nimmt zur Cartesischen Metaphysik, stehen in dieser Abteilung, im Unterschied zu den späteren, die mehr naturphilosophische Probleme betreffen. Er schätzte den Ansatz Descartes’ beim unbezweifelbaren cogito ergo sum sehr hoch ein, sah wohl darin das Antichambre de la ve´ritable philosophie, und man kann mit einigem Recht sagen, dass die Monadenlehre die rational konsequenteste Fortführung dieses Ansatzes darstellt, auch wenn er selber das nie so ausgedrückt hat. Um so größer muß sein Interesse gewesen sein, Fehlentwicklungen zurückzuweisen. Besorgt über die gefährlichen Konsequenzen für den Glauben, die der Mißbrauch der neuen Philosophie nach sich zieht, setzt er sich insbesondere in N. 289 und in einer Anzahl weiterer Stücke kritisch mit Descartes auseinander.

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Besonders gefährlich sei gewesen, die ewigen Wahrheiten von Gottes Willen abhängig zu machen, die finalen Ursachen aus der Physik zu verbannen, Gottes Weisheit und Gerechtigkeit mit der Behauptung, dass sukzessive a l l e s Mögliche wirklich wird, zu zerstören, das Wesen der Materie in die Ausdehnung zu legen, was die Möglichkeit raubt, die Realpräsenz in der Eucharistie zu erklären, insbesondere aber, alle anderen Philosophen verachtet und sich zum Haupt einer Sekte gemacht zu haben. dass das clare et distincte kein zureichendes Kriterium der Wahrheit ist, macht Leibniz zum Thema einer der drei von ihm veröffentlichten Abhandlungen (N. 141), die anderen beiden (N. 369 u. 376) sind übrigens ebenfalls gegen Descartes und seine Anhänger gerichtet. Systematisch zusammengefaßt hat Leibniz Anfang 1686 innerhalb weniger Mußetage seine Meditationen in dem von ihm so genannten petit discours de me´taphysique (N. 306) in der Absicht, diesen von Antoine Arnauld, den er als exzellenten Theologen und logisch gebildeten Philosophen hoch schätzte, beurteilen zu lassen (I, 5 N. 334). Wie unerhört neu seine Gedanken waren, kann man der anfänglichen brüsken Ablehnung entnehmen, die allein schon die Zusammenfassung, der Sommaire der 37 Artikel auslöste, das einzige übrigens, was Arnauld zu sehen bekommen hat. Bekanntlich knüpfte sich daran eine der für seine Philosophie aufschlußreichsten Korrespondenzen. Diese erste grandiose Zusammenfassung seiner Metaphysik ist meisterlich in drei großen Sätzen komponiert: Gott, das Individuum und die Welt, die Schöpfung und Gott. Während der erste Satz mit der Darstellung der absoluten Vollkommenheit Gottes, aus der als oberstem Weltprinzip die Güte dieser Welt entspringt, eröffnet wird, entwickelt der zweite aus dem Begriff der singulären Substanz und der Besonderheit der geistigen im Unterschied zu den körperlichen Substanzen die Lehre von der Freiheit und die Bedeutung von Kausalität und Finalität. Der abschließende dritte Satz widmet sich der Rückkehr der Geister zu Gott, der Wirkung Gottes auf den Menschen, dem Verhältnis von Gnade und Willensfreiheit, der Gesellschaft der unsterblichen Personen in der durch Christus entdeckten cite´ de Dieu und der höchsten Glückseligkeit, die Gott denen bereitet, die ihn lieben. Leibniz will so den Nutzen seines Systems für die Lösung des Leib-SeeleProblems zeigen, vor allem aber den für das Verständnis der Religion. Nach eigener Aussage in dem zitierten Brief an den Landgrafen Ernst von HessenRheinfels (I, 5 N. 334) wollte unser Philosoph damit neues Licht auf die Schwierigkeiten lenken, die die Fragen der Gnade und der Mitwirkung Gottes, der Natur der Wunder, der Ursache der Sünde und des Ursprungs des Übels, der Unsterblichkeit der Seele aufwerfen sowie auf solche der Ideen und weiterer nicht mehr spezifizierter Themen. Während die großen Dogmen der Trinität und der Inkarnation, die Heilige Schrift und die Kirche, die Sakramente und die religiöse Praxis der Behandlung in

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der Theologie vorbehalten bleiben, machen Freiheit und Gnade Gegenstände der Metaphysik aus. Man kann mit gutem Recht behaupten: D a s große Thema der Metaphysik von Leibniz ist die Freiheit. Diesem sind alle anderen untergeordnet. Man geht nicht zu weit, wenn man behauptet, dass die Lehre von der Vielheit der möglichen Welten sowie auch die Lehre von der die ganze Welt repräsentierenden Monade einzig den Zweck haben, die Freiheit des Menschen angesichts der Vorsehung Gottes und, verbunden damit, die Rechtfertigung Gottes angesichts des Übels in der Welt begreifbar zu machen. Zum Handeln werden wir stets durch einen Grund bestimmt, durch das größere Gut, sei es ein wahres oder eines, was uns nur als solches erscheint. Diese sokratische Maxime bestimmte aber unser Handeln schon bei unserer Selbstkonstitution als das Individuum, das durch Gottes Entscheidung der Existenz in und mit dieser Welt teilhaftig wurde. Leibniz erklärt den Unterschied zwischen einem gewissen und einem notwendigen Eintreffen des Zukünftigen mit der Unterscheidung zwischen dem, was absolut notwendig geschieht, weil sein Nichtgeschehen einen logischen Widerspruch einschließen würde, und dem, was auch nicht geschehen könnte, aber dennoch gewiß und zwar mit hypothetischer Notwendigkeit geschieht, weil es aus gesetzten Bedingungen folgt. Sein Nichtgeschehen gründet nicht in der Unmöglichkeit, sondern in der Unvollkommenheit. Die Grundbedingung alles Geschehenden ist seine Verträglichkeit mit allem Existierenden, die universelle Harmonie, aufgrund deren Gott diese und keine andere Welt unter allen möglichen erschaffen hat. Die Bestimmung durch die Wahl des Besten, durch das Prinzip des Optimums, hebt die Freiheit nicht auf, im Gegenteil, ohne Grund zu handeln hieße, nicht der Vernunft zu folgen, unvollkommen zu handeln. Inclinant rationes, non necessitant lautet eine von Leibniz immer wieder verwendete, der Astrologie entlehnte Formel. Wir sind in dem Maße frei, als wir von unserer Vernunft Gebrauch machen, das Beste festzustellen und nicht daran gehindert werden, es zu tun. Nur Zwang und Unwissenheit oder Irrtum sind der Freiheit im Wege. Anzunehmen, es gäbe zwei entgegengesetzte Möglichkeiten, die nicht zugleich bestehen könnten, ohne einen Grund, eine von beiden auszuwählen, ist eine Unmöglichkeit. So unmöglich wie eine solche Indifferenz ist für Leibniz auch die Freiheit zu wollen, was wir wollen, denn sie verlangt einen unendlichen Regreß. Der Geist wird nicht von außen, sondern durch sich selbst bestimmt. Aus den verschiedenen möglichen freien Kreaturen wählt Gott diejenige, die sich durch die Gründe des Guten bestimmt, weil das seinem ersten freien Dekret entspricht, das Vollkommenste auszuwählen, was nicht bedeutet, den Vollkommensten. So wurde der sündigende Adam nicht um seinetwillen erschaffen, sondern weil die Welt, in die er mit seiner Entscheidung, vom Baum der Erkenntnis zu essen, gehörte, unter allen die beste war.

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So wie der Satz des Widerspruchs das Prinzip aller Wesenheiten darstellt, gibt es auch ein Prinzip aller Existenzen, und das ist der Wille Gottes, das Vollkommenste zu erwählen. In ihm liegt der Ursprung des Übergangs vom Möglichen zum Wirklichen. Diese Gedanken aus den Stücken N. 268, 271–274 und 303 finden sich alle im Discours de me´taphysique wieder, vor allem im Abs. XIII, der Arnauld zu heftiger Kritik bewegte, was Leibniz Gelegenheit gab, seine Gedanken ausführlicher zu entwickeln. Zusätzliche Klarheit hatte Leibniz, wohl um Anfang 1686, aus seiner Erkenntnis der Analysierbarkeit der kontingenten Sachverhalte in unendlich vielen Schritten und der logischen Struktur der Natur der individuellen Substanz gewonnen (N. 303). Was Leibniz zunächst in Form einer scholastischen Quaestio behandelt (N. 308), greift er in der folgenden Abhandlung (N. 309) umfassend und in anderer Gestalt wieder auf. Er zeigt, wie sich seine Metaphysik mit acht von ihm formulierten Hauptsätzen über Gott verträgt und hebt vier metaphysische Schwierigkeiten auf: es gibt kein unabwendbares Fatum, Gott ist nicht der Urheber, auch nicht Mitursache der Sünde und begleitet auch nicht alle menschlichen Handlungen. Um den weiteren, moralischen Vorwurf abzuwehren, Gott könne als Mitverursacher nicht strafen, erfindet Leibniz zwei Gleichnisse. Das erste verschärft das Problem mit der Fiktion, es gäbe ein zum schlechten Handeln verleitendes Gift, bei dem sich weniger der Konsument als der Hersteller und Lieferant schuldig macht, erst recht, wenn letzterer zugleich derjenige ist, der die Bestrafung verfügt und noch mehr, wenn er willkürlich dem einen das Gegengift gewährt, dem anderen aber vorenthält. Mit dem zweiten Gleichnis löst Leibniz das angesprochene Theodizee-Problem mit einer genialen Einkleidung seiner Lehre von der Wahl der besten der möglichen Welten in die klassische Sage von Deukalion und Pyrrha. Die ebenfalls abgeschlossene Abhandlung N. 326 nimmt das Problem der Antinomie von Freiheit und Providenz aus dem Altertum auf, das sich durch die Fragen des Christentums nach der Gerechtigkeit Gottes bei der Gewährung des Heils verschärft stelle. Hier beschreibt Leibniz die Stadien seiner Erkenntnisgewinnung bis zur Einsicht in die unendliche Analyse kontingenter Wahrheiten, die er erweiternd mit der geometrischen Inkommensurabilität deutet. In N. 327 baut er in zwei Tabellen die Analogie zwischen Wahrheiten und Proportionen detailliert weiter aus. Leibniz hat die Ergebnisse zweier Gespräche festgehalten. Beide haben seine Lösung des Antagonismus von Freiheit und Prädetermination zum Gegenstand. Das erste führte er schon 1677 in Hannover mit dem apostolischen Nuntius Niels Stensen (N. 262), möglicherweise im Anschluß an eine schriftliche Auseinandersetzung, die sich in den Randbemerkungen zur Confessio philosophi (AA VI, 3 N. 9) erhalten hat, das zweite gut zwölf Jahre später in Venedig mit dem Pater Michel Angelo Fardella (N. 3291).

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Zu beantworten bleibt die Frage nach den Gründen für die Geheimhaltung auch dieser Schriften zur Metaphysik. Leibniz wußte aus eigener Arbeit, welcher Denkanstrengungen es bedurfte, seine rationalen, unerbittlich aus wenigen Grundsätzen gezogenen Konsequenzen nachzuvollziehen. Er wußte, wie radikal neu seine Ansätze waren, wenn auch nicht in ihren einzelnen Teilen, wohl aber im vernünftigen, keinen Widerspruch, keine Inkonsistenz duldenden Zusammenspiel aller. Auch wenn er einzelne Probleme herausgreift, um sie einer Lösung zuzuführen, hat er stets das oft durchscheinende Ganze vor Augen. Er war frei im Denken, fühlte sich nur der Vernunft und seinem Glauben verpflichtet, dessen Vernünftigkeit er aufzuweisen trachtete. Um die konsequente und damit unvermeidlich hypertrophe Komplexität seiner vollkommen neuen Gedanken zu verstehen, bedurfte es schon einer gewissen tinctura matheseos. Als Beispiel kann sein ureigenster Begriff einer notio completa substantiae singularis dienen. Er ist zusammengesetzt aus allen Attributen, die der Substanz jemals zukommen, wobei die Relation zu allen übrigen mit ihr in dieser Welt existierenden Substanzen einbegriffen ist, und das so, dass sie, die niemals Kunde von außen bekommt, keinen Einflüssen ausgesetzt ist, diese anderen Substanzen gleichsam erschafft, indem sie sich selbst – samt ihrer Welt und ihrer Geschichte – in voller Freiheit konstituiert. Notwendige Bedingung der Möglicheit dafür ist das harmonische Zusammenwirken aller Einzelsubstanzen, dessen maximales Geglücktsein zu ihrer gemeinsamen Existenz in und mit dieser Welt führt. dass diese gegen Descartes und Spinoza eingenommene Position die Anerkennung nicht realisierter Möglichkeiten zur Voraussetzung hat, die ihrerseits beheimatet sind in jeweils einer der unendlich vielen möglichen Welten, von denen Gott nur eine erschaffen kann, ist hinreichend behandelt worden. Notwendig zur Bildung eines solchen Begriffs ist aber auch die Ausdrückbarkeit aller Sachverhalte in prädikativer Form, so dass das Enthaltensein des Prädikats im Subjekt erkennbar wird, wenn auch in unendlich vielen Schritten. Leibniz hatte gelernt, mit dem Unendlichen umzugehen, traute das seinen Zeitgenossen jedoch offenbar nicht zu. Einzig Arnauld, dem bedeutenden Logiker und Theologen, versuchte er sich zu offenbaren und hatte dann große Mühe, dessen anfängliches Unverständnis abzubauen. Aus dieser Lage der Dinge, die sich bis zu seinem Lebensende nicht ändern sollte, dürfte Leibniz’ Furcht entsprungen sein, als verstiegener Philosoph verkannt zu werden. Das konnte er aber nicht risikieren, wollte er die Durchführung seines großen Projekts der Scientia generalis nicht gefährden, für das er über längere Zeit große Geldsummen zur Beschäftigung gelehrter Helfer benötigte. Schon der Verdacht der Absurdität seiner Anschauungen, wie auch der Spott der Unverständigen wäre fatal gewesen. Leibniz war sich tragisch bewußt, dass seine Zeit noch nicht reif war für die Konsequenzen, die zu ziehen er sich genötigt sah. Wir, die wir beginnen, uns mit der Gesamtheit seiner Schriften vertraut zu

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machen, können ihm auch nicht folgen, schon deshalb nicht, weil wir seine ihm selbstverständlichen Voraussetzungen nicht mehr vorbehaltlos teilen. C. PHILOSOPHIA NATURALIS. Die zentrale These dieser Abhandlungen lautet, dass die physikalischen Erklärungen der Phänomene aus Größe, Figur und Bewegung, den Prinzipien der Maschine, erfolgen müssen, aber unbedingt durch metaphysische Grundsätze zu ergänzen sind. Bereits was Veränderung ist, die man braucht, um die Bewegung als Änderung der Lage zu begreifen, kann ohne Metaphysik nicht erklärt werden, noch weniger die Äquipollenz von Ursache und Wirkung und die Erhaltung der Kraft. Mechanische Prinzipien können nur die Wirkursachen, niemals die Finalursachen aufweisen, ohne die man nicht auskommt, wenn man zugibt, dass alles von der Weisheit des göttlichen Schöpfers und seinem Willen abhängt. dass Bewegung relativ ist, niemals einem Ding allein zukommen kann, sondern nur innerhalb eines Systems zu beschreiben ist, gehört zu den frühesten Einsichten unseres Philosophen. Die physikalische Analyse ist eine doppelte, zum einen werden aus Beobachtung und Experiment die Eigenschaften der Körper festgestellt, zum anderen aber die festgestellten sinnlichen Eigenschaften durch Theorie, mit Vernunftschlüssen, nach ihren Gründen und Ursachen untersucht. In dieser Hinsicht bringt Leibniz die Definitionen und die rationale Sprache, die Elemente der späteren Scientia Generalis, ins Spiel. Die Metaphysik wird auch mit der These, dass alles beseelt ist, zur Geltung gebracht. Ohne das anzuerkennen, könne kein Körper als ein bezeichenbares Ding, als eine Einheit betrachtet werden. Schon früh hatte er ihn als eine mens momentanea charakterisiert. dass zur Natur der Seele die Perzeption und der Appetitus gehören, lesen wir schon 1678 und dort auch, dass jeder Geist ein Spiegel des Universums ist, das ganze Universum, wenn auch konfus, perzipiert. Auch, dass nicht, wie Descartes behauptet, die Quantität der Bewegung, sondern die der Energie erhalten wird, durchzieht diese Schriften spätestens seit 1678. Im März 1686 ließ er seine Brevis demonstratio erroris memorabilis Cartesii (N. 369) in den Acta Eruditorum abdrucken, in denen er zwei Jahre vorher mit den Meditationes de Cognitione, Veritate et Ideis (N. 141) gegen Descartes aufgetreten war. Auch zur Publikation der Notata quaedam G. G. L. circa vitam et doctrinam Cartesii (N. 376) sowie erst recht zum Syste`me nouveau von 1695 dürfte er von der wachsenden Verbreitung des Cartesianismus provoziert worden sein. Die Kritik an Descartes, die trotz aller Einwände im einzelnen den Franzosen zu den ganz Großen zählt, die den Schatz der Menschheit vermehrt und ihr, selbst als Irrende, einen großen Dienst erwiesen hätten, ist das Thema weiterer Schriften. Insbesondere habe er sich dadurch in der Metaphysik verdient gemacht, dass er die Argumente der Skeptiker zum guten Gebrauch wendete. Anzulasten sei ihm aber vor allem der Geist zum Sektieren, der seine Anhänger verleitet hätte, mehr die Bücher ihres Meisters zu Rate zu ziehen als die gesunde Vernunft und die Natur der Dinge.

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In Anknüpfung an eine Veröffentlichung in den Nouvelles de la Re´publique des Lettres formulierte Leibniz das Principium quoddam generale, in dem er sich mit der Bewegungslehre von Descartes und Malebranche auseinandersetzt (N. 371). Dass es Leibniz nicht nur um Theorie geht, sondern auch um Praxis, wird deutlich aus seinem geplanten kleinen Buch zu den Elementen der Physik (N. 366), das er mit weitreichenden Vorschlägen zur Wissenschaftsorganisation und Forschungspolitik einleitet. In seiner Abhandlung (N. 377) plädiert Leibniz für den Vorzug des Kopernikanischen Systems als der einfachsten und verständlichsten Hypothese zur Erklärung der planetarischen Phaenomene salva Censura, ohne Verletzung der kirchlichen Zensur, die im Tridentinum das Aufstellen von Hypothesen freistellte. Die näheren Umstände hat A. Robinet in seinem Iter Italicum gründlich untersucht und dargestellt. Den von Robinet edierten Phoranomus überlassen wir der noch einzurichtenden Reihe VIII. D. THEOLOGIA. Dieser Abteilung wurden die Schriften zugewiesen, die Gott als Gegenstand des christlichen Glaubens und diesen selbst zum Thema haben. Naturgemäß finden sich hier auch Ausführungen, die rein metaphysischer Natur sind, gleichwohl in der Intention geschrieben worden zu sein scheinen, die kontroverstheologische Diskussion auf eine durch Vernunft begründete Basis zu stellen. Leibniz’ Schriften zur Theologie haben zum allgemeinen Tenor die Apologie des christlichen Glaubens mit Argumenten aus der rechten Vernunft, aus dem natürlichen Licht. Eine Reihe davon drückt das auch im Titel aus. Wie schon in seinen Mainzer Schriften, geht es ihm nicht darum, die Mysterien des Glaubens zu beweisen, sondern mit Analogien zu beleuchten und gegen unhaltbare Vorwürfe ihrer Absurdität zu verteidigen. Er will aufzeigen, dass die römischen Dogmen, jedenfalls mehr als die irgendeiner Sekte, mit der Vernunft harmonieren. Seine Gegner sind vor allem die Neoarianer und die Sozinianer. Es gibt nur eine Wahrheit, aber nicht alles ist leicht und von allen zu verstehen. Zur aktuellen Diskussion der kontroversen Punkte genügte es Leibniz zunächst, den metaphysischen Grundelementen Billigung zu verschaffen, ohne ihren tieferen, der Metaphysik vorbehaltenen Zusammenhang erklären zu müssen. Zu den schwierigen Fragen, die ohne die umfassende Metaphysik der möglichen Welten und ohne den vollständigen Begriff der singulären Substanz nicht zu lösen sind, gehören vor allem die nach der Freiheit des Menschen und der Gnade Gottes sowie die nach dem Wirken Gottes und seiner Rechtfertigung für das Übel in seiner Schöpfung. Der zweite dieser beiden Aspekte findet in unserer Periode seine reifste Ausarbeitung im Examen religionis christianae (N. 420), der erste im sogenannten Discours de me´taphysique (N. 306). Die mit ihnen verbundenen Schriften sind dementsprechend den Abteilungen Metaphysik und Theologie zugeteilt worden.

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Leibniz’ Grundüberzeugung geht aus einigen Randbemerkungen zu seiner Aufzeichnung über die Heilige Schrift, die Kirche und die Dreieinigkeit (N. 403) klar hervor. Nach reiflicher Abwägung neige er dazu, die Dogmen der römischen Kirche zu wahren, selbst wenn ihm die Macht gegeben wäre, andere zu verkünden. Wäre er als Katholik geboren, würde er die Kirche nicht verlassen, selbst dann nicht, wenn er alles das glauben würde, was er jetzt glaube. Die Einheit der Kirchen im Okzident werde sehr wahrscheinlich eines Tages wiederkehren. Zu reformieren sei allerdings die Praxis, vor allem die seit langem eingerissenen schlechten Gewohnheiten, die die Kirche selbst auch niemals approbiert habe. Wohl motiviert durch Gespräche mit Johann Friedrich, für den Leibniz schon im März 1671 eine Abhandlung über die Unsterblichkeit der Seele mit einem Appendix De Resurrectione Corporum geschrieben hatte, untersucht er die Stellen, die für die Existenz des Fegefeuers herangezogen werden (N. 385). Nach zwei verworfenen Ansätzen bietet Leibniz in De obligatione credendi (N. 387) ein Muster für das, was er unter einem Beweis versteht. Gegenstand ist seine Grundüberzeugung, dass es keine Pflicht gibt zu glauben, wohl aber eine, mit höchstem Eifer zu forschen, was zu glauben ist. Diese abgeschlossene Abhandlung schließt mit der Bemerkung, es könnte mit ähnlicher Methode vieles in der Ethik und der natürlichen Theologie bewiesen werden, womit Bedeutendes beigetragen würde zur dauernden Seelenruhe und damit zum Glück des Menschen. Die folgenden Ansätze zur Klärung der Frage nach dem wahren Richter in Kontroversen und nach der Nützlichkeit von Kontroversen überhaupt, De judice controversiarum (N. 388), greifen das schon in Mainz differenziert ausgearbeitete Thema wieder auf (AA VI, 1 N. 22), bedienen sich aber nicht dieser Methode, wenngleich in ihnen über Methode nachgedacht wird, jetzt um zu zeigen, dass die letzte Instanz in der Vernunft eines jeden zu suchen ist. Insbesondere reflektiert De controversiis sacris generalibus (N. 389) das Wesen der Kontroverse überhaupt. Bei ihr werde, im Gegensatz zur Disputation, ein verbindliches Ergebnis, ein Urteil erwartet. In den Annotationes in Nicolai Stenonis epistolam secundam (N. 392) und in der Lettre a` un ami (N. 3931) greift Leibniz die kontroverstheologische Frage auf, ob die Heilige Schrift der Interpretation durch die Kirche bedarf. Stensen hatte eine Stelle aus Chrysostomus in Anspruch genommen, um die Unterscheidung zwischen der protestantischen Forderung nach autodidaktischer Auslegung der Schrift und der von Rom geforderten Anerkennung der kirchlichen Tradition zu begründen. Leibniz weist diese Interpretation zurück und behauptet im übrigen, dass niemand unter den Protestanten diese ihnen unterstellte Position vertreten habe. In der folgenden Autre Lettre au mesme (N. 3932) schreibt Leibniz, was er auf den exhortativen Brief, den der Konvertit Stensen öffentlich an Spinoza

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richtete, um dem Philosophen die Vorteile des katholischen Glaubens vorzustellen, geantwortet hätte. Leibniz hält Stensen vor, er verachte die Philosophie, weil er die Kraft der metaphysischen Beweise noch nicht erprobt habe. Um Gott wirklich zu lieben, müsse man ihn erkennen, einen Begriff haben von dem, was man Gott nennt. Dabei verweist er auf die Befriedigung, die ihm die von ihm bewiesenen Sätze aus der Metaphysik gegeben hätten, die wunderbar mit der christlichen Religion harmonieren und schon hier einen Vorgeschmack des ewigen Lebens geben könnten. Die Animadversiones (N. 395) entkräften die demonstrativ vorgetragenen Gründe zur Konversion, die ein ehemals Reformierter für sich geltend machte. Von Einzelthemen wie Existenz des Fegefeuers, Hostienverehrung, Götzendienst und Beschneidung (N. 385, 394, 401, 402) abgesehen, behandelt Leibniz hauptsächlich den Kirchenbegriff und die Zugehörigkeit zur Gemeinschaft der Gläubigen (N. 386, 389, 390, 412, 413), begründet unter anderem, dass die kirchliche Hierachie wie der Primat des Papstes göttlichem Recht entspricht, dass die Kirche in allem, was zum Heil notwendig ist, Unfehlbarkeit beanspruchen kann, und man ihr, soweit das Gewissen es zuläßt, eher als den Fürsten gehorchen muß, diesen sich aber nicht widersetzen darf. Wer Gott über alles liebt, könne kein wirklicher Ketzer sein. Wer tut, was sein Gewissen ihm vorschreibt, dem versage Gott seine Gnade nicht. Auch hier wird deutlich, dass Leibniz die 1679 Johann Friedrich mitgeteilten Intentionen seiner Mainzer Demonstrationes Catholicae weiterhin verfolgt (vgl. AA I,2 N. 127 u. AA II, 1 N. 204a). Man bedarf nicht des von Leibniz stammenden Titels Specimen Demonstrationum Catholicarum seu Apologia fidei ex ratione (N. 410), um daran erinnert zu werden, dass diese Arbeiten ihre Wurzeln in seiner Mainzer Intention haben. Gegen H. Fabri verteidigt Leibniz die Geltung des Widerspruchprinzips auch für den Bereich des Göttlichen, andernfalls müsse man, gegen das Laterankonzil, eine doppelte Wahrheit zulassen und könne keinerlei Beweis zur Überzeugung der Atheisten führen (N. 414 u. 416). Da der Titel Apologie stark besetzt ist durch die Position gegen die Ungläubigen, zieht Leibniz es bei den Abhandlungen N. 408 und N. 409 (in beiden Fassungen) vor, von einem Rationale zu sprechen, von einem Kern vernunftgemäßer und daher konsensfähiger Grundsätze, ohne die Mysterien miteinzubeziehen. N. 408 klingt wie sein philosophisches Glaubensbekenntnis. Hauptthemen der meist kürzeren Betrachtungen (N. 403–405 u. 416–419) sind der Gottesbegriff, die Trinität und die Person Christi, die Kirche, die Heilige Schrift und ihre kanonischen Bücher, vor allem die Vernunftgemäßheit der katholischen Lehre (N. 415). Wenn er sich in einem Bericht über eine (fingierte) Reise in die Niederlande gegenüber den von der neuen, Cartesischen Philosophie infizierten Gelehrten als ein ihnen Ebenbürtiger behauptet, der trotzdem die

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Vernünftigkeit der katholischen Lehre verteidigen kann, wendet er sich insbesondere gegen Spinozas Leugnung der biblischen Wunder und kritisiert zugleich dessen monistischen Substanzbegriff und die deterministische These, dass alles, was möglich ist, auch irgendwann existieren muß. Die Trinität setzt er wiederholt (so in N. 403 und 404 wie schon in N. 275 und 300) in Analogie zum sich selbst reflektierenden Geist und zu den drei in jedem Geist anwesenden primären Vollkommenheiten Können, Wollen, Wissen. Die Inkarnation veranschaulicht er durch das Verhältnis von Körper und Geist, was allerdings nur Sinn macht, wenn man beide seiner Metaphysik gemäß begreift. In Positiones (N. 418) faßt Leibniz seine Grundsätze systematisch zusammen und merkt sich in einer kürzeren Aufzeichnung (N. 419) einiges für die zu behandelnden Kontroversen vor. Im März 1683 hatte Leibniz dem Landgrafen Ernst von Hessen-Rheinfels (nicht wie behauptet wurde Herzog Ernst August) den Plan zu einer Exposition de la foy vorgelegt, die weit mehr als die 1671 von Bossuet, dem Bischof von Meaux, veröffentlichte und vom neuen Papst Innozenz XI. approbierte Schrift dieses Titels ins Einzelne der kontroversen Punkte gehen sollte (vgl. I, 3 N. 234 und das ungedruckte Konzept LBr. F 20, Bl. 1781 vo). Der Name und die Konfession des Verfassers sollten verborgen bleiben, um eine unbefangene Prüfung auf ihre Tolerierbarkeit in der Kirche durch einige gelehrte moderate Bischöfe möglich zu machen. Er schlug vor, sie vom Standpunkt eines Katholiken zu schreiben, jedoch ohne seinem evangelischen Glauben dabei untreu zu werden. Ähnlich wie er vier Jahre zuvor Johann Friedrich hatte einsetzen wollen, um eine Erklärung von Rom zu erhalten, dass seine Einsichten, von deren Richtigkeit ihn seine metaphysischen Beweise überzeugt hätten, in der Kirche toleriert würden, versuchte er jetzt, den Landgrafen für ein solches Vorgehen zu gewinnen. Denn keinesfalls wollte er wie Galilei gezwungen werden, etwas gegen seine Überzeugung zu behaupten. Landgraf Ernst ging nicht auf dieses Vorhaben ein, gleichwohl dienen Leibniz’ Schriften bis hin zum sogenannten Systema theologicum seiner Ausarbeitung. Der Schlüssel zum allgemeinen Konsens sollte in der recta ratio liegen. Sie ist für Leibniz der natürliche Interpret Gottes und als judex controversiarum befugt und fähig, über die Autorität, über die Anerkennung der Rechtmäßigkeit aller anderen Ausleger zu urteilen. Er geht aus vom Konsens über das, was wir Gott nennen, und davon, dass dieser Gott die Mysterien der Trinität, Inkarnation, Eucharistie, Auferstehung und seine Stiftung der Kirche uns offenbart und als Höchstes geboten hat, ihn über alles und den Nächsten wie uns selbst zu lieben. Bei der Entwicklung des Begriffes, den wir von Gott haben, geht Leibniz stets davon aus, dass wir in ihm die vollkommenste Substanz sehen, das Wesen, dem alle Vollkommenheiten im höchsten Maß eigen sind, das Wesen aber auch, dem wir unsere Existenz verdanken. Während diese Fragen Gegenstand der natürlichen Theologie sind, einschließlich der Begründung der Freiheit des

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Individuums und der Rechtfertigung Gottes, und daher der Metaphysik zugewiesen wurden, sind dieser Abteilung die Stücke vorbehalten geblieben, in denen Elemente der geoffenbarten Theologie überwiegen. Auch hier kam es Leibniz zunächst darauf an, akzeptable Formulierungen zu finden, die Begriffe zu klären, um bloße Wortstreitigkeiten zu vermeiden. Von einer knappen Auflistung kontroverser Punkte (N. 419) abgesehen, kann man sagen, dass Leibniz sich erst im Systema theologicum (N. 420) den Kontroversen über die kritisierten Praktiken des Kults in der Kirche und über das Verständnis der Sakramente zuwandte. Ohne als direkte Vorarbeiten dazu angesehen zu werden, stehen diese Stücke in thematischem Zusammenhang mit den vier unter den Politischen Schriften gedruckten Entwürfen (AA IV, 2 N. 16–19), die in den knapp begründeten Thesen der zweiten Fassung zur Reunion der Kirchen ihre endgültige Form gefunden haben. In der ersten Fassung hatte Leibniz noch die enormen Schwierigkeiten ausgemalt, die eine Zusammenstellung der strittigen Punkte in ihrer Gesamtheit mit sich brächte und darauf hingewiesen, dass der geforderten Methode ohne einen immensen Apparat an Philosophie und Philologie, an Bibelkritik, Grammatik, Logik und historischen Hilfsmitteln nicht zu entsprechen sei. Ersatzweise schlägt er daher die Abfassung eines Kompendiums vor, in dem er bloß die Umrisse skizzieren will, aus denen aber mit einem Blick einerseits deutlich werden soll, dass die Dogmen der Kirche nicht allein durch die Autorität der Lehrenden, sondern auch durch starke Vernunftgründe gestützt werden, und andererseits, dass die den Dogmen Widersprechenden, auch wenn sie die Wahrheit zu besitzen scheinen, bei weitem von sicheren Beweisen entfernt sind, dass also eine Versöhnung nicht auf sich warten zu lassen braucht. Möglicherweise handelt es sich bei unserem Examen um ein solches breviculum. Wäre dieses Gegenstand einer wirklichen Konferenz mit zeitgeschichtlicher Wirkung geworden, dann hätte es den Aufteilungsprinzipien der Edition gemäß in die Reihe der Politischen Schriften gehört. Von uns wird es aufgefaßt als der Versuch, nach Einigung über die metaphysischen Prinzipien zu zeigen, wie sehr die römischen Dogmen mit der Vernunft übereinstimmen, und was die Vernunft leisten kann, um sie konfessionsübergreifend konsensfähig zu machen. Die bei weitem umfangreichste, wenn auch nicht abgeschlossene Abhandlung aus dieser Abteilung stellt das Examen religionis christianae (N. 420) dar. Bestechend ist ihr klarer Aufbau, der den ihr von einem Bibliothekar gegebenen Namen Systema theologicum durchaus rechtfertigt. Aber nicht ohne Grund notierte sich Leibniz wohl dafür den von uns eingesetzten Titel. Jedes Examen bedarf einer prüfenden Instanz. Für Leibniz ist das primär die rechte Vernunft. Sie wird bestätigt durch die Überlieferung, vor allem durch die der frühen Väter, die pia antiquitas. Gegenstand ist die christliche Religion, die richtige Auslegung der

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Heiligen Schrift und der mündlichen Tradition. Er war ja davon überzeugt, dass keine Pflicht besteht zu glauben, wohl aber auch für ihn selbst eine Pflicht zu examinieren. Examiniert werden soll aber nicht der christliche Glaube als solcher, etwa im Vergleich zu anderen Religionen, sondern eher die Tolerierbarkeit seiner eigenen Auslegungen der römischen Dogmen, und zwar, wie schon gegenüber Landgraf Ernst geäußert, zunächst durch einige gemäßigte Bischöfe und nach deren Approbation innerhalb kontroverstheologischer Kreise. Ebenso bestechend ist rückblickend die Zielstrebigkeit zu bewerten, mit der Leibniz die in dieser Abteilung vereinten Arbeiten verfaßte und dann zügig in die Systematik seines Examen einbrachte. Dieses war wohl konzipiert als eine Diskussionsgrundlage für Reunionsgespräche zwischen Protestanten und Katholiken. Ihre Approbation durch einige Bischöfe sollte die Bereitschaft der katholischen Seite, sich auf sie einzulassen, sichern, zugleich aber ihn selbst vom Häresieverdacht freihalten. Unter möglichster Vermeidung scholastischer Terminologie und bloßer Wortstreitigkeiten geht Leibniz nach der Methode der Exklusion vor, um indiskutable Irrlehren der verschiedenen Sekten mit Bestätigung durch die Kirchenlehrer auszuschließen. Die Form der Darstellung ist keine der Gegenüberstellung kontroverser Positionen, sondern eher die einer konsequenten Entwicklung der christlichen Lehre aus seinem Begriff von der Natur Gottes, einschließlich dem der Liebe zu Gott. Sie zu erwidern, ist höchstes Gebot, sie zu verweigern, Todsünde. Wenngleich Leibniz es vermeidet, die Subtilitäten seiner Metaphysik einzusetzen, bietet er doch genug auf, um das Ungenügen der sich ausbreitenden Cartesischen Philosophie aufzuweisen. Im ersten Drittel dieser Abhandlung bietet Leibniz eine systematische Verarbeitung der vorangehenden Stücke, ohne auch nur Passagen daraus zu übernehmen. Im wesentlichen neu sind dagegen die folgenden Ausführungen über die Kontroversen, die sich aus dem praktizierten Kult und dem abweichenden Verständnis der Sakramente ergeben. Wie schon in früheren Schriften geht Leibniz aus von Gott als der vollkommensten Substanz und dem Schöpfer der vollkommensten Republik. Diesem metaphysischen Ansatz folgt die Exposition der Grundlagen der geoffenbarten Theologie, der Trinität, der Inkarnation und Auferstehung, der Erbsünde als der felix culpa, der Willensfreiheit, Gnade und Rechtfertigung. Die Liebe gewichtet er als das Komplement des sie bedingenden Glaubens und definiert sie, wie stets, als Freude am Glück des Geliebten, was auch bedeute, Gott über alles selbstlos und nicht wegen der von uns erhofften Güter zu lieben. Weitere Themen sind das Verdienst Christi, des Erlösers von unserer Erbschuld, das Gebot der Nächstenliebe, die richtige Intention bei der Verrichtung guter Werke und in deren Folge die gute Lebensführung, der Sinn der Askese und der religiösen Orden.

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Auf die skeptische Frage, ob der Mensch in der Gnade, ohne jemals eine Todsünde zu begehen, das göttliche Gesetz vollkommen erfüllen kann, antwortet Leibniz, Gott könne nichts Unmögliches vorschreiben, und so könne es dem Menschen auch nicht an der Macht fehlen, nicht nur einzelne, sondern alle Gebote zu erfüllen, wenn er nur wolle. In seiner kreatürlichen Schwäche sei der Mensch jedoch angewiesen auf die Vermittlung Christi, die in den Formen der Verehrung und den eingesetzten Sakramenten ihren Ausdruck gefunden haben. Zu den angeschnittenen Fragen des Kults gehören die sichtbare Gottesverehrung, die Fürsprache der Heiligen, die Bilder- und Reliquienverehrung, aber auch die nach einem persönlichen Schutzengel. dass wir grundsätzlich auch im Geistlichen sinnlicher Zeichen bedürfen, begründet Leibniz aus der Natur unseres Geistes und verteidigt den Einsatz der verschiedenen Künste im Kult bis hin zur Poesie, der Sprache der Engel. Von den Sakramenten findet die Eucharistie die ausführlichste Behandlung. Im Zusammenhang mit der Weihe der Priester spricht Leibniz die Anerkennung der kirchlichen Hierachie, der Konzile und des Primats des Papstes an, der auch darin gründe, dass die Kirche als moralische Person einen zu verkörpernden Willen hat. Das Sakrament der Ehe erörtert er unter Berücksichtigung der besonderen Umstände, die Polygamie, Scheidung und Zölibat anerkennbar machen. Abschließend äußert er sich über das künftige Leben, die Unsterblichkeit der Seele und die Auferstehung der Leiber, über den Stand in der Todsünde im Augenblick des Todes, über das Fegefeuer und den Limbus der ungetauft verstorbenen Kinder, über die Fürbitten der Verstorbenen und die selige Schau. Hier bleibt die Frage offen, warum Leibniz dieses großartige Werk nicht publizierte. dass es noch eines leicht nachzutragenden Schlußteils bedurfte, wird kaum der Grund gewesen sein. Von seiner persönlichen Sicherheit abgesehen, wird er wohl gewußt haben, dass er mit dieser Schrift keinen Erfolg haben würde, solange ihm nicht zuverlässige Zeichen zukämen, die ihm versicherten, dass sie von der Kirche toleriert würde. Über einen längeren Zeitraum erstreckten sich die Arbeiten an einem Papier, das Leibniz De Religione Magnorum Virorum (N. 421) überschrieben hat. In ihm sammelte er Argumente zur Verteidigung der großen Denker gegen den Vorwurf der Häresie und Irreligiosität. Naude´ hatte eine Apologie großer, der Magie verdächtigter Männer geschrieben. Leibniz setzt dagegen, es drohe den jungen Leuten weniger die Gefahr, der Magie zu verfallen, als den Glauben aufzugeben. Geordnet werden sollte diese nie vollendete Apologie, deren künftiges Anwachsen sich bereits aus der Fülle der zur Behandlung vorgesehenen Autoren ermessen läßt, nicht wie bei Naude´ nach Personen, sondern nach Lehrsätzen, die im Verdacht der Irreligiosität stehen. Gegliedert werden sollte sie nach Disziplinen, beginnend mit der Logik, zu der Leibniz hier auch die Frage nach der Determiniertheit der zukünftigen kontingenten Wahrheiten zählt, fortfahrend dann mit der Metaphysik,

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Mathematik und Physik und schließlich mit ethico-juridischen Thesen. Die ferner zur Behandlung avisierten verdächtigen Lehrsätze aus der Historie sowie der natürlichen und offenbarten Theologie blieben schon hier unberücksichtigt. Wenn Leibniz überhaupt irgendwelche von den Abhandlungen dieser Abteilung zur Veröffentlichung vorgesehen haben sollte, dann bestimmt seine Dialoge, ebenso bestimmt aber, ohne sich als Autor zu nennen. Zwei von ihnen gehören zu den wenigen Stücken, von denen er Reinschriften anfertigen ließ. Es sind Zwiegespräche, in denen unser Philosoph maskiert die Rolle des erfolgreich Überzeugenden gegen Skepsis, Fideismus, Fatalismus und Indifferenz übernimmt, eine Maske übrigens, die wir heute leicht durchschauen, nicht aber seine Zeitgenossen, für die alles, was er hier von seiner Lehre preisgeben wollte, unerhört neu gewesen wäre. Der Dialogus inter Theologum et Misosophum (N. 397) betrachtet die fideistische Entgegensetzung von Glauben und Vernunft als den größten Feind des Glaubens. Die Prinzipien der Logik würden selbst von Gott und den Engeln anerkannt. dass der Suche nach der wahren Kirche die Befolgung der Gebote der Liebe zu Gott und zum Nächsten vorangehen müsse und schließlich, dass die wahre Kirche in der universalen Caritas bestehe, davon überzeugt Leibniz in seinem Dialog zwischen Theophile und Polidore (N. 399) als evangelischer Edelmann den apostolischen Missionar. In dem Dialogue entre Poliandre et Theophile (N. 398) überwindet er die resignative Indifferenz seines Partners durch Argumente zur Zurückweisung der Annahmen einer anima mundi und einer machina mundi, indem er seine Metaphysik der zur Existenz strebenden Möglichkeiten, von denen nur einige miteinander kompatibel sind und als solche von einer regierenden Providenz nach Maßgabe ihrer Vollkommenheit zur Existenz gebracht werden, skizziert. Seinem Partner erklärt er, dass Körper nur auf Grund der Geister existieren, dass von diesen Geistern jeder einen bestimmten Ausdruck des Universums, ja sogar eine Verdoppelung, eine lebende Repräsentation, einen Spiegel der ganzen Welt darstellt. Andererseits, dass Gott, selbst Geist und Ursprung aller Geister, nicht nur ein Prinzip, sondern Monarch ist, und dass unsere Staaten lediglich Spielausführungen seiner universellen Monarchie darstellen. Leibniz zeigt, kurz gesagt, wie seine Metaphysik die christliche Theologie stützt, und in diesem Fall, wie sie einem gleichsam Toten, stoisch Indifferenten, das Leben wiedergibt. Das großartige fingierte Gespräch (N. 400) zwischen dem Marquis de Pianese und dem Pater Emery, beides historische Gestalten, in denen er die anonymen Personen des ersten Ansatzes dieses Dialogs, einen fähigen Politiker und einen anerkannt frommen Geistlichen, konkretisiert, nimmt keinen Bezug auf wirklich von diesen vertretene Positionen. Dieser bei weitem längste und am besten ausgearbeitete der vier Dialoge faßt gleichsam die Argumentationen aller

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drei vorangehenden zusammen. Den schädlichen Skeptizismus betrachtet er als die Wurzel des aufkommenden Unglaubens. Als Waffe gegen ihn deutet er den Plan seiner neuen Logik an, die die zumeist auf Mißachtung der Form zurückgehenden Denkfehler beseitigen soll, und führt seine metaphysischen Grundsätze weiter aus. Die Erhebung der Seele zu Gott sieht er in der ständigen meditativen Suche nach soliden Gründen, warum uns Gott groß und liebenswert erscheint. Die sieben praktischen, d.h. ethischen Regeln, mit denen Leibniz seinen Dialog beschließt, lesen sich wie Maximen für sein eigenes Verhalten: einen Begleiter für seine geistlichen Studien suchen; einen Plan schreiben, der den Rest des Lebens regelt; dessen Einhaltung täglich überprüfen; seine Zeit einteilen; buchführen über alles, was von Nutzen sein kann; alle nur vorstellbaren Vorkehrungen treffen, um die Leidenschaften, die den Gebrauch der Vernunft stören könnten, zu mäßigen; und schließlich und vor allem wahrhafte Nächstenliebe ausüben. dass der Plan, den Leibniz für sich selbst schrieb, sein großes Projekt der Demonstrationes Catholicae war, steht außer Zweifel, und dass er in Johann Friedrich seinen geistlichen Begleiter sah, ist mit guten Gründen anzunehmen. Möglicherweise war dieses familiäre Gespräch sogar nur für den Herzog bestimmt. Auch hier fragt man sich, warum er mit keiner dieser Schriften in die Diskussion eingegriffen hat. Insbesondere warum er keinen der vier Dialoge veröffentlichte. Die Überzeugung, auf dem richtigen Weg zu sein, dürfte ihm wohl nicht gefehlt haben, vielleicht aber der Mut, sich dem Häresieverdacht auszusetzen. E. MORALIA. In dieser Abteilung wurden fünfunzwanzig, meist kurze Reflexionen zusammengefaßt, die mit Ausnahme der letzten sechs keinerlei Anhaltspunkte für die Datierung aufweisen und daher nach dem Prinzip des frühest Möglichen eingeordnet wurden. Falsch wäre es, aus der Kargheit dieser Abteilung und ihres Anhanges zu schließen, Leibniz habe kein Interesse an ethischen Fragen gehabt, zeigen doch seine Aufzeichnungen, insbesondere in den Arbeiten zum Naturrecht, aber auch in denen zur Scientia Generalis und zur Metaphysik, welche Bedeutung für ihn das Individuum und seine Verantwortung für das allgemeine Wohl hat. Zu der einzigen größeren Abhandlung Sur la ge´ne´rosite´ (N. 476) könnte Leibniz angeregt worden sein durch den handschriftlichen Discours sur la ge´ne´rosite´ eines unbekannten Verfassers, von dem auch nicht zu ermitteln war, wie er in Leibniz’ Besitz gelangt ist. Zur künftigen Klärung dieses Zusammenhanges haben wir diese fremde, uns nur in diesem Exemplar bekannte Schrift, auch wenn sie keine Spuren von Leibniz’ Kenntnisnahme aufweist, unter die Exzerpte eingereiht (N. 486). Verwiesen sei hier aber auch auf die unter die Politischen Schriften subsumierten Stücke aus den Jahren 1679/80: Notwendigkeit eines guten Namens und

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Ansehens, Lebensregeln, Agenda, La place d’autruy und Optima ordinatio Agendorum secundum tempora (AA IV, 3 N. 134–138), die, wären sie nicht schon gedruckt, in diese Abteilung gehörten. Aber auch die vier theologischen Dialoge (N. 397–400) hätten mit guten Gründen hier eingeordnet werden können. F. SCIENTIA JURIS NATURALIS. Leibniz strebte nichts Geringeres an als eine radikale Erneuerung des Rechts aus dem allgemeinen Prinzip, alles vom Streben nach dem höchsten allgemeinen Wohl bestimmt sein zu lassen. Aus seiner Interpretation der drei römischen Vorschriften honeste vivere, neminem laedere und suum cuique tribuere begründete er die Dreiteilung der Gerechtigkeit in eine universale, eine kommutative und eine distributive. Idealvorstellung des Naturrechts ist die Konstitution der optima respublica, die er aus dem Eigentumsrecht in einem umfassenden Sinne herleitet. Bedingungen des Rechts sind die Anerkennung der Existenz Gottes und der Unsterblichkeit der Seele. Subjekt und Gradmesser des Rechts ist der vir bonus, der anständige Mann, der in dem Maße, wie er der Vollkommenheit fähig ist, wohlwollend gegenüber allen ist. Daraus entspringt Leibniz’ Definition der Gerechtigkeit als caritas sapientis. Der Gerechte, wenn er als solcher auch nicht der Weise ist, ist diesem doch ähnlich. Alles, was die Gesetze nicht fassen können, kann so dem Willen des anständigen Mannes überlassen bleiben. Aus dem, was ihm, will er seinen rechten Namen schützen, zu tun möglich, unmöglich oder notwendig ist, resultiert das Erlaubte, Verbotene und Gebotene. Die Norm seines Handelns und damit die Gesetze des Naturrechts gibt die recta ratio, die gesunde Menschenvernunft. Nur der Kaiser konnte ein solches Recht verfügen, und so macht Leibniz ihn konsequenterweise zum autoritären Verkünder seiner Praefatio Novi Codicis (N. 508). Leibniz setzt in De jurisprudentia et ejus capitibus (N. 487) an mit modal zueinander in Relation gebrachten Definitionen der Hauptbegriffe der Jurisprudenz, die er zunächst durch die vollständige Aufzählung des Gebotenen und Verbotenen bestimmen will. Grundsatz ist, dass das, was nach natürlichem und göttlichem Recht gilt, auch im Zivilrecht zu gelten hat und umgekehrt, dass dort, wo das Zivilrecht nicht mehr greift, dem Naturrecht zu folgen ist. In De jure in artem redigendo (N. 5041) formuliert er zwölf Grundgesetze ausgehend vom höchsten Prinzip des Rechts, dass das zu tun ist, was der Allgemeinheit nützt. Sie beginnen mit der Sorge des Gesetzgebers für die Zufriedenheit der Bürger, für ihre Bildung und Erziehung zur Klugheit, zur Frömmigkeit und zur Brüderlichkeit, für ihre geistige und körperliche Ertüchtigung, bis hin zur allgemeinen Wohlfahrt, dass alle alles haben sollen, was sie zum Leben brauchen, und enden mit dem Recht der Bürger auf die Mittel, die sie benötigen, um ihre geistigen und körperlichen Gaben zum Nutzen der Allgemeinheit zu entwickeln. Die Wissenschaft des Naturrechts abzuhandeln, sei nichts anderes, als die Gesetze des besten Staates zu entwickeln. Die Wissenschaft des Zivilrechts

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bestehe darin, die geltenden Gesetze mit denen des besten Staates zu vergleichen, wobei die Bestimmung des besten Staates darin besteht, für das höchstmögliche Wohl, die Vervollkommnung des Einzelnen zu sorgen. Dazu plant Leibniz einen neuen Codex Legum, der das Recht abschließt und sichert, der die immense Kraft der Gesetze in wenigem ausdrückt, damit das Gedächtnis nicht überlastet und so dem Urteil Sicherheit gibt. Leibniz bezweckt also Rechtssicherheit durch Überschaubarkeit und Begreifbarkeit der von der rechten Vernunft gebotenen Gesetze. In den Schriften Modalia et elementa juris naturalis (N. 4921–6) nimmt er den Ansatz aus der Mainzer Zeit wieder auf, aus deontisch interpretierten Modalitäten abzuleiten, was dem Guten erlaubt oder verboten, geboten oder freigestellt ist. Die von Leibniz De cogitationum analysi betitelte, nicht abgeschlossene Abhandlung (N. 493) führt bereits im ersten Ansatz einer Analyse des Begriffs des Gerechten tief in metaphysische Grundsätze, die im Keim bereits die Monadenlehre enthalten, wie etwa die Bestimmung der Substanz als vollständiges Ding, das die gesamte Natur der Dinge in sich einschließt. Daraus wird beiläufig auch deutlich, dass Stücke wie dieses, das der Methode nach zur Scientia Generalis zählt und seiner Thematik entsprechend in die Begründung des Rechts gehört, ihren eigentlichen Ort in der Metaphysik haben und damit bezeugen, dass die aus pragmatischen Gründen zu treffende Aufteilung Leibniz’ umfassender Art zu denken und den Dingen auf den Grund zu gehen, nicht immer gerecht wird. Die nur auf einer eingehefteten Tabelle (N. 4933) wiederzugebende Auflösung der im Begriff des Gerechten enthaltenen Elemente bietet das beste Zeugnis dafür, wie Leibniz sich die Durchführung einer Begriffsanalyse vorgestellt hat. In einem Diagramm auf demselben Blatt (N. 4932) findet man das wohl früheste Zeugnis für den Versuch, mit Kreisfiguren logische Beziehungen, anders als mit den kombinatorischen Kreisen Raymund Lulls, darzustellen. In De legum rationibus inquirendis (N. 494) geht es Leibniz darum, zu ihrer richtigen Interpretation nach den Gründen der Gesetze zu fragen. Die Methode, die er dafür beschreibt, ist keine andere als die der Scientia Generalis. Ausführlicher behandelt er das in De Legum interpretatione, rationibus, applicatione, systemate (N. 495), wo er einerseits ausdrücklich erklärt, dass die Analyse darin besteht, an Stelle eines Terminus seine Definition oder einen Teil davon zu setzen, und strikt behauptet, dass die Definition den einzigen topischen Gesichtspunkt des vollkommenen Beweises abgibt, und andererseits sein Grundprinzip formuliert, dass es für die wahre Aussage notwendig sei, dass das Prädikat im Subjekt enthalten ist. Anzustreben wäre ein System der Gesetze, wie es bisher nicht existiere, aber ohne Zweifel erstellt werden könne, ein System der Gesetze und keine Fallsammlung, das die wenigen allgemeinen Grundsätze festschreibt, aufgrund deren die unzählbare Vielheit der Fälle ausnahmslos klassifiziert werden kann.

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Wie Leibniz seine Methode der Reihung von Definitionen befolgt wissen will, macht er deutlich, indem er die erste Fassung der Folge von Schriften (N. 4961–5), die nach einem von ihm vermerkten Vorschlag Aphorismi De Felicitate, Sapientia, Caritate, Justitia betitelt wurden, auf ihren demonstrativen Kern reduziert. Wie wichtig und mustergültig er diese Arbeit beurteilt, zeigt seine Übertragung ins Deutsche, die er sicher in der Absicht verfaßt hat, sie wenigstens einem Vertrauten zu zeigen. Henri Justel hat er jedenfalls diesen oder einen ähnlichen Beweis geschickt (vgl. I, 5 S. 358). Eine Antwort darauf kennen wir nicht. In einer der abgeschlossensten Abhandlungen, De Postulationibus (N. 500), entwickelt Leibniz systematisch ausgehend von den Rechtsbegehren des Einzelnen, ohne die drei römischen Prinzipien einzubeziehen, die vielfachen Gesichtspunkte, denen die festzulegenden Gesetze zu genügen haben. Auch hier macht er abschließend deutlich, dass ein großer Arbeitsanteil von Hilfeleistenden zu übernehmen wäre. Sie sollten vorab aus den einschlägigen Autoren alle Postulationen exzerpieren. Ergänzend seien die Pflichten und die Forderungen des Richters darzustellen. Das nimmt er in De Judicis officio et postulationibus (N. 507) ausdrücklich in Angriff. Ohne Auftrag verfaßte Leibniz im Namen des Kaisers eine Praefatio Novi Codicis (N. 508), die jedoch nicht gedacht war als Vorrede zu einem bereits als abgeschlossen zu betrachtenden Codex, sondern eher als eine autoritative Anweisung des Kaisers, wie ein solcher zu verfassen sei. Die Idee zu einem neuen Codex Leopoldinus hatte Leibniz bereits 1678 ausführlich dem kaiserlichen Kanzler Joh. Paul von Hocher unterbreitet, der ihn über Joh. Lincker wissen ließ, dass der Kaiser und er sie in höchstem Maße billigten. In Aussicht gestellte weitere Schritte unterblieben aber (vgl. I, 2 S. 333, 347–351 u. 365). Hocher starb 1683. Leibniz schreibt im Januar 1688, er habe damals Hocher einiges gezeigt, dürfte damit aber nur auf die Mitteilungen in seinem längeren Brief anspielen, und bedauert jetzt, keinen Zugang zum Kaiser zu haben (I, 5 S. 38), was sich aber bald ändern sollte. Ende Oktober 1688 wurde ihm eine Audienz gewährt, für die er mehrere Denkschriften verfaßte. Erfolg hat er offenbar nicht gehabt. Der besondere Grund für das Sekretieren der Schriften dieser Abteilung mag bei den früheren darin liegen, dass sie Specimina seiner noch geheimzuhaltenden Scientia Generalis darstellen oder solche vorbereiten sollten, bei den späteren dagegen wohl darin, dass sie für ein von ihm zu kreierendes neues System des Naturrechts und für einen Codex legum bestimmt waren. Hatte Leibniz zu Mainz in Hermann Lasser noch einen Vertrauten für diese Vorhaben, stand er in Hannover damit allein. Einige andeutende Äußerungen scheint er erst wieder gegenüber Avemann (I, 5 S. 358) gemacht zu haben. Er wollte sich offenbar nicht mit Schriften und Projekten Anerkennung verschaffen, sondern erst mit anderen

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Aktivitäten seine Reputation erhöhen, um das in diesen Schriften Geplante sicherer verwirklichen zu können. Die soziopolitischen Verhältnisse zwangen ihn, sich so zu verhalten, wollte er seiner Bestimmung, sich der Vermehrung des allgemeinen Wohls zu widmen, folgen. dass für die Verwirklichung solcher Vorhaben die Universität nicht der richtige Ort war, hatte der Professorensohn schon früh erkannt, als er mit zwanzig Jahren die ihm angebotene Professur in Altdorf ausschlug, dass es aber auch nicht der begehrte Platz in der Pariser Akademie war, als er sich entschied, dem viel Eigenbestimmung verheißenden Ruf Herzog Johann Friedrichs nach Hannover zu folgen. Gleiches mag in Rom für seinen Entschluß gegolten haben, nicht Präfekt der Bibliotheca Vaticana werden zu wollen. Der Widerspruch zwischen seiner Selbstbestimmung, dem öffentlichen Wohl zu dienen, und seinem Zurückhalten von Schriften, die gerade das hätten leisten können, gibt zu denken. Es ist nicht anzunehmen, dass ihm seine Arbeiten nicht hinreichend ausgereift erschienen, wenn auch wiederholte Neuansätze zeigen, dass ihm daran lag, seine Gedanken so überzeugend wie möglich auszudrücken. Eher ist anzunehmen, dass er auf den geeigneten Zeitpunkt, auf die günstigsten Umstände gewartet hat, seinen Plänen geballt zum Durchbruch zu verhelfen. EXZERPTE, MARGINALIEN, ÜBERSETZUNGEN. Ein Drittel des Bandes machen die Materialien aus, in denen sich Leibniz’ Umgang mit der wissenschaftlichen Literatur der Zeit – sieht man von seinen eigenen Hinweisen ab – dokumentieren läßt, von denen wiederum zwei Drittel die eigenhändigen Exzerpte aus etwa achtzig Autoren darstellen, der Rest die mit Kontext angereicherten Marginalien, An- und Unterstreichungen in vierzehn Handexemplaren. Damit wird der Forschung Material zur Verfügung gestellt, mit dem Einflüsse oder Anstöße von Zeitgenossen sowie auch kritische Stellungnahmen, in jedem Fall Leibniz’ Interesse an ihren Gedanken, überprüft werden können. Den Marginalien, An- und Unterstreichungen wurden die Bezugstexte in hinreichender Ausführlichkeit beigegeben. Dort, wo diesen weitere Exzerpte folgten, wurden der besseren Zusammenschau wegen beide gemeinsam, doch deutlich unterscheidbar abgedruckt. Anders als Descartes, dem Leibniz vorwirft, fuit in Cartesio major librorum usus quam ipse videri volebat (S. 2058), hat Leibniz, wie das umfangreiche Schriftenverzeichnis belegt, seine Bereitschaft, sich von anderen anregen zu lassen, nicht zu verleugnen versucht. J’aimois tousjours des livres qui contenoient quelques belles pense´es, mais qu’on pourroit parcourir sans s’arrester, car ils excitoient en moy des ide´es, que je suivois a` ma fantasie, et que je poussois ou` bon me sembloit (AA II, 1 S. 247). Seine besondere Neugier galt den Papieren aus der Jungius-Schülerschaft, wollte er doch Joachim Jungius zu den ganz Großen der Philosophie zählen, wenn

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nur seine Schriften noch vorhanden wären (S. 2065). Die Wertschätzung für den Verfasser der Logica Hamburgensis, zu der Leibniz auch die hier abgedruckten Marginalien und Annotationes hinterlassen hat (N. 225–227 u. 233), gab ihm wohl den Anlaß, nachgelassene Schriften aus dessen näherem Umkreis auszumachen, in großer Eile abzuschreiben und mit einigen Bemerkungen zu versehen (N. 223, 229 u. 242). Die Originale zu diesen, hier erstmals auf weit über hundert Seiten gedruckten Abschriften sind nicht mehr vorhanden. Auch M. Fogel, dessen Bibliothek Leibniz 1678 angekauft hatte, gehörte zu diesem Kreis (vgl. N. 243). Im Zusammenhang mit seinen Vorbereitungen zur Scientia Generalis galt sein Interesse natürlich J. H. Alsted (N. 234–236), dessen Enzyklopädie er schon in Mainz reformieren wollte, Th. Zwinger (N. 214) und seinem Lehrer in Jena, Erhard Weigel (N. 237), beiläufig aber auch Autoren zur Lullistischen Ars Magna wie J. B. Schupp (N. 216), Ivo Capucinus (N. 230), A. Kircher (N. 238) und anderen (N. 213, 215, 217), ferner Autoren zur Charakteristik und universellen Sprache wie vor allem John Wilkins und G. Dalgarno (N. 10 u. 11), G. J. Vossius (N. 146), C. Schoppe (N. 244), Ph. Labbe (N. 245) und Caramuel de Lobkowitz (N. 246) sowie zur Mnemonik A. Bruxius (N. 231) und L. Th. Schenkel (N. 232). Gründlich hat er die Methodus inveniendi Argumenta von A. Geulincx studiert (N. 334) und mit skeptischem Interesse einen Versuch D. Derodons exzerpiert, die Prädikabilien neu zu bestimmen und verzweigt zu klassifizieren (N. 350). Wohl motiviert durch die kontroverstheologischen Diskussionen, exzerpierte er oder versah mit Einträgen seine Exemplare viel zitierter Autoren wie R. Bellarmin (N. 437), Th. Barton (N. 440), V. Baron (N. 441), B. de Carranza (N. 438) und H. Fabri (N. 442). Mit P. Jurieu und Isaak Papin beschäftigte Leibniz sich mit Blick auf die Diskussion über die Gnade (N. 449, 450). Die Theologiae verae Christianae Apologia von Robert Barclay, das verbreitete Standardwerk der Quäker, hat er nicht nur ausführlich exzerpiert, sondern auch – ohne eigene Stellungnahme – in zweiundvierzig Prinzipien zusammengefaßt, die er sogar ins reine schreiben ließ (N. 434). Aber auch für längere Auszüge aus deutschen Schriften des Paracelsisten Valentin Weigel und seines Kreises (N. 451) hat er sich 1687 auf der Reise Zeit genommen. Den Dialog Friedrich von Spees über Glaube, Liebe und Hoffnung hat er vom Deutschen ins Französische übersetzt (N. 430) und später der Kurfürstin Sophie vorgelegt. Die Kurze Schrift von Georg Herzog von Buckingham über die Vernunftgemäßheit des Glaubens übersetzte er dagegen vom Englischen ins Deutsche (N. 446). Die meisten Autoren, zu denen er Zeugnisse seiner Lektüre hinterlassen hat, gehören seinem Jahrhundert an. Zu älteren Autoren fertigte er lediglich kürzere Notizen zu Augustinus an, besonders aus den Confessiones (N. 332, 333, 426, 427, 443 u. 445), eine längere über Editionen von dessen Zeitgenossen Marius

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Mercator (N. 435) sowie ein umfangreiches Exzerpt aus einer lateinischen Ausgabe des Dux Perplexorum von Moses Maimonides (N. 424). Mit seiner Summaria Apocalypseos explicatio (N. 423) wollte er Mißdeutungen des Buches, das Leibniz unter die kunstvollsten zählte, die aus der Antike überliefert sind, entgegentreten. Einen Auszug aus Ludovicus de Dola (N. 343) benutzte Leibniz, um seine Stellung zur Scientia media klarer zum Ausdruck zu bringen (vgl. N. 261). Das Buch von G. Gibieuf De libertate Dei et creaturae gab ihm Gelegenheit, auf einem Zettel (N. 344) interessante Bemerkungen zum Freiheits- und Kontingenzbegriff zu machen. Die verhältnismäßig wenigen Spuren, die Leibniz in seinem Handexemplar von Descartes’ Opera Philosophica hinterließ (N. 335), stehen in keinem Verhältnis zu seiner intensiven Auseinandersetzung mit dessen Philosophie, die sich nicht nur in zahlreichen Stücken dieses Bandes belegen läßt, sondern auch in ausführlichen Briefen, so an H. Fabri Ende 1676 und an Molanus Anfang April 1677 (AA II,1 S. 298–300 u. 305–310) sowie 1679 an einen nicht Ermittelten und im Januar 1680 an Christian Philipp (AA II,1 S. 499–508), um nur einige hervorzuheben. Über Leibniz’ Einsichtnahme in den damals im Besitz Clerseliers befindlichen Nachlaß Descartes’ im Februar 1676 und über die bei dieser Gelegenheit angefertigten Abschriften vgl. VI,3 N. 34. Von Tschirnhaus bekamer 1677 eine Abschrift des Anfanges von Descartes’ Dialog La Recherche de la ve´rite´ par la lumie`re naturelle (AA II,1 N. 132), an deren Ende er vermerkte: J’ay la suite d’ailleurs. Diese weitere Abschrift ist verschollen, wie auch das bei Clerselier eingesehene Original. Die in seinem Besitz befindliche Abschrift der Regulae ad directionem ingenii hat er von Schreibfehlern befreit, ohne näher auf sie einzugehen (N. 221). Mit Befriedigung dürfte er die Rezension von Huets Censura philosophiae Cartesianae mit dem Tenor, dass Descartes fast nichts Neues erfunden habe, exzerpiert haben (N. 384). Mit respektvoller Kritik exzerpierte Leibniz aus einer französischen Übersetzung von H. Mores Abhandlung über die Unsterblichkeit der Seele eine Reihe von Stellen, die sich gut mit seinen Anschauungen vertragen (N. 331). Aus der zweiten Ausgabe von P. Poirets Cogitationes rationales fertigte er einen längeren Auszug an, wohl vor allem wegen dessen Kritik an Descartes und Spinoza (N. 345). Die Randbemerkungen, Unterstreichungen und vor allem die umfangreichen Auszüge, die Leibniz wohl bald nach dem Erscheinen von Spinozas Opera posthuma anfertigte (N. 336), erst recht die kritischen Erläuterungen zum ersten Buch der Ethica (N. 337) legen ein beredtes Zeugnis ab von dem lebhaften Interesse, mit dem er die Schriften des von ihm im November 1676 in Den Haag besuchten Philosophen studierte. Dort hatte er das Manuskript der Ethica, aus der er bereits

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einiges in Paris von Tschirnhaus mitgeteilt bekommen hatte (AA VI, 3 N. 334), eingesehen und einige Sätze notiert, die seiner Meinung nach eines Beweises bedurften (AA VI, 3 N. 82). Nicht zuletzt war es wohl die demonstrative Form und die Fülle klarer Definitionen, die Leibniz zum Exzerpieren motivierten, mehr aber wohl noch die ihm verwandte Denkweise, wenn sie auch, nach seiner Meinung, auf den falschen Weg gekommen war. Möglicherweise regte ihn diese Lektüre auch zu seinen Versuchen De affectibus (N. 269) an. Am gründlichsten scheint Leibniz in dieser Periode Malebranches’ De la recherche de la ve´rite´ studiert zu haben (N. 348). Einer ersten Durcharbeitung, die sich aus Bleistift- und Röteleintragungen – möglicherweise ein Indiz für Lektüre auf der Reise – erschließen läßt, folgte eine zweite, mit der Feder in der Hand und als Frucht einer dritten Lektüre ein Exzerpt aus den ersten drei Büchern. Sein grundsätzliches Urteil über Malebranche faßt Leibniz in die Worte: L’auteur est fertile en conceptions et malheureux en preuves. Die Wasserzeichen des Exzerpts lassen keine eindeutige Datierung auf 1686 zu, gleichwohl dürfte der Schwerpunkt dieser Studien in dieser Zeit liegen. In Form kurzer, verzettelbarer Notizen hat Leibniz den Traite´ de la Nature et de la Grace exzerpiert (N. 444), ferner einiges aus Malebranches Auseinandersetzung mit A. Arnauld (N. 447), wo er einerseits anmerkt Ecce hic se explicat ut ego olim, ideam esse objectum immediatum mentis, andererseits feststellt Mais Mons. Malebranche n’entend pas bien les choses, ce me semble. Ausführlicher hat er die Ausgabe der polemischen Briefe Arnaulds an Malebranche von 1685 exzerpiert und mit einigen kritischen Bemerkungen versehen (N. 448). Behutsam kritisiert Leibniz die Me´ditations sur la me´taphysique des Cartesianers Lanion (N. 339). In einem längeren und einem kurzen Auszug aus dem Tractatus De Corporis et Mentis distinctione von G. de Cordemoy (N. 346) merkt er neben mehreren Gedanken an: vir clarissimus confuse et per nebulam vidit veritatem, accurate demonstrare non potuit. Die von Sforza Pallavicini neben dem Satz vom Widerspruch geltend gemachten sechs metaphysischen Axiome weist Leibniz als beweisbar zurück (N. 347). Gelegenheit, eine Reihe seiner geläufigen Definitionen zur Metaphysik anzumerken, vielleicht um sie dem Autor mitzuteilen, gab ihm der Typus medicinae moralis von V. Placcius (N. 485). The true intellectual systeme of the Universe by R. Cudworth wurde für Leibniz zunächst in Italien zu einer ausgiebigen Quelle für die Lehren vornehmlich antiker Autoren, wenngleich er bedauert, dass Cudworth den Wortlaut der Autoren zitiert, es aber unterläßt, die Stellen anzugeben (N. 351). Um 1704 bekam er das Buch von dessen Tochter Lady Masham, mit der er wiederholt darüber korrespondierte. Seine Marginalien dazu bleiben einem späteren Band dieser Reihe vorbehalten.

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SCHLUSSBEMERKUNG. Eine Einleitung in diese hier erstmals geschlossen vorgelegte Sammlung der Philosophischen Schriften von Leibniz aus der hohen Zeit seiner Entwicklung konnte nicht in einer mit Kommentaren erweiterten Wiederholung des Inhaltsverzeichnisses bestehen. Der Band wird in einer begründeten Aufteilung und Abfolge der Stücke präsentiert, die sicher manche Probleme offen, wenn nicht erst deutlich werden lassen, als ein Fundament für künftige Forschungen, deren Ergebnis diese Einleitung nicht vorwegnehmen kann. Abschließend soll betont werden, dass wohl kaum ein Philosoph so sehr wie Leibniz davon überzeugt war, dass einzig die Vernunft Klarheit in unser Denken und Folgerichtigkeit in unser Handeln bringen kann, wenn man nur von ihr den richtigen Gebrauch macht. Die Vernunft kann alles von ihr Erzeugte, die Sprache und die Wissenschaften in einen mit ihr einzusehenden Zusammenhang bringen, vorausgesetzt, es gelingt zum einen, alle Begriffe bis hin zu den Grundbegriffen zu analysieren, aus denen sie, insofern sie nicht selbst einfach sind, sich zusammensetzen, und umgekehrt zum anderen, die Kategorien richtig zu bestimmen, unter denen Dinge begriffen werden. Damit sollte es nämlich gelingen, die formalen Strukturen freizulegen, die die Begriffe zu Aussagen, die Aussagen zu Argumenten verbinden und diese schließlich in einem konsistenten System vereinen. Leibniz war der festen Meinung, dass auf diesem Weg und nur auf diesem die unseligen Streitgründe beseitigt werden können, so wie niemand Anlaß hat, die Gültigkeit vom Satz des Pythagoras zu bezweifeln, der einmal seinen Grund eingesehen hat. Der geniale Plan, die Philosophie beweisbar zu machen, sogar das gesamte Wissen demonstrativ zu erfassen, dürfte daran gescheitert sein, dass es sich dabei nicht allein um eine anzuwendende Methode handelte, sondern vor allem um die materielle Bewältigung des menschlichen Wissens überhaupt. Überzeugt davon, dass sich aus der Zusammenschau bisher nicht gekannte Prinzipien der Ökonomie des Wissens gewinnen ließen, trachtete Leibniz danach, zu sammeln, besser gesagt, sammeln zu lassen, im Vertrauen darauf, dass ihm im Besitz der Kenntnisse mit seiner Methode die komprimierende Einsicht gelänge. Wenn Leibniz einmal bekennt, weder ein glückliches Gedächtnis noch eine starke Einbildungskraft, auch nicht die Schlagfertigkeit und Gefälligkeit, um in Gesellschaften zu brillieren – alles Talente, die man der Natur und manchen Konjunkturen des Glücks verdanke –, zu besitzen, dafür aber einen guten Willen und großen Einsatz (AA II, 1 S. 533), lenkt er die Aufmerksamkeit von seinen untertriebenen Stärken auf eine Tugend, die ihm sicher auch in hohem Maße zu eigen war und uns sein Verhalten verständlicher macht. Begabt mit einem außergewöhnlichen Selbst- und Sendungsbewußtsein war ihm klar, dass alles von seiner Person und seinem Einsatz abhängt – Aufgaben, die, wie er richtig vorhersah, Jahrhunderte liegen bleiben, wenn sie nicht von ihm in Angriff genommen würden

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–, aber auch, dass er großer Unterstützung bedurfte, um sie durchzuführen. Ebenfalls war ihm klar, dass er den richtigen Zeitpunkt, die günstigen Umstände abzuwarten hatte, um mit seinem gewaltigen Plan erfolgreich an die Öffentlichkeit treten zu können. Ähnlich wie Platon sich als denjenigen betrachtete, der im Unterstand den rechten Augenblick abzuwarten hat, um seine Vorstellungen zu verwirklichen, bereitete Leibniz sich verschwiegen auf den Einsatz vor. Es ist kaum nachzuvollziehen, wie er es fertiggebracht hat, gerade die philosophischen Themen, die ihn nach Ausweis seiner hinterlassenen Papiere am meisten bewegten, mit Ausnahme weniger Andeutungen in seiner Korrespondenz auszuklammern. Hat er seine Papiere zurückgehalten, weil seine Gedanken so revolutionär waren, dass ihm Verfolgung drohte? Schon angesichts der damaligen Verfolgung von Hugenotten und Jansenisten, von der Verurteilung Galileis, dem Exil Descartes’ und der Flucht Arnaulds einmal abgesehen, ist das nicht ganz auszuschließen, auch äußerte er selbst dahingehende Befürchtungen. Bestimmt aber waren seine Gedanken trotz aller Berufungen auf die perennis philosophia in dem Sinne revolutionär, dass er mit ihnen die Wissenschaften auf ein neues Fundament stellen wollte und die Metaphysik radikal zu erneuern trachtete. Wäre Leibniz’ Nachlaß verschollen, würden wir von ihm kaum mehr kennen, als Dutens gesammelt und gedruckt hat, den Leibniz etwa, den der junge Kant vor Augen hatte. Wären andererseits Leibniz’ Ideen früh rezipiert worden, vorausgesetzt, die Zeit wäre reif gewesen, sie zu verstehen, hätte die Geistesgeschichte und wohl auch die der Naturwissenschaften mit Sicherheit einen anderen Weg genommen.

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SCHWIERIGKEITEN MIT DEM KÖRPER LEIBNIZ’ WEG ZU DEN PHÄNOMENEN

Bei1 der Fülle möglicher und aufgegriffener Interpretationsansätze, die Leibniz’ verstreute Mitteilungen bieten, soll die von Leibniz intendierte, n i e g e s c h r i e b e n e M e t a p h y s i k , seine unerhört andersartige Lehre von den Monaden, nicht zu kurz kommen. Ich brauche mich nicht aufzuhalten mit der Aufzählung der Stellen, aus denen sein Bemühen um Geheimhaltung seiner Meinung hervorgeht und die Furcht, auf Unverständnis zu stoßen. Die Sekretierung seiner Schriften sowie die unterdrückten Passagen in Briefen und erst recht die ganz zurückgehaltenen Briefe sprechen für sich. Lediglich ein unterdrücktes Bekenntnis sei hier zitiert: »Da meine diesbezüglichen Gedanken für viele zu abstrakt von den Sinnen und zu entfernt vom allgemeinen Gebrauch sind, und ich darüberhinaus mit Vielem und Verschiedenstem sehr beschäftigt bin, wage ich nichts zu versprechen, von dem ich nicht weiß, ob ich es angemessen darbieten kann. Ich sehe nämlich, dass ich mich mit meinen Prinzipien i n h ö c h s t e S p e k u l a t i o n e n e r h e b e n müßte, in Spekulationen, von denen wir bis heute kaum etwas Ordentliches besitzen«.2 Ein halbes Jahr zuvor hatte er ihm geschrieben: »Ich möchte das alles, wie es sich gehört, deutlicher erklären und stärker beweisen. Aber, es heißt doch schon etwas – in dieser Kindheit unserer Philosophie – etwas, das wohl kaum zu widerlegen ist, zu sagen und aus wenigen Hypothesen das Übrige abzuleiten.«3

1 VII. Internationaler Leibniz-Kongress. Nihil sine ratione. TU-Berlin 9.9.– 15.9.2001. 2 Leibniz an B. de Volder am 19. Januar 1700: . . . sed cum cogitationes in hoc genere meae multis constent abstractis admodum a sensu et remotis ab usu communi, ego vero nunc sim per multiplicia et valde diversa distractus, non audeo polliceri, quod nescio an possim digne praestare. Video enim mihi altissime in principia esse assurgendum, in quibus vix aliquid hactenus ordinati habemus. (GP II 206, Anm.). 3 Leibniz an B. de Volder am 3. Juli 1699: Vellem omnia licuisset explicare

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Versuche einer Axiomatisierung der Monadologie – ich meine der Schrift von 1714 – können den G e h a l t der Lehre von den Monaden schon deshalb nicht voll erfassen, weil er nicht vollständig in ihre 90 Paragraphen eingegangen ist. Nicht einmal alles das ist darin zu finden, was zur Erläuterung der einzelnen Thesen nötig ist. Mir scheint eine e x p l i k a t o r i s c h e M e t h o d e angemessener zu sein. Darunter verstehe ich ein Vorgehen, das nach den B e d i n g u n g e n fragt, die erfüllt sein müssen, damit vor allem das, was ich hier die »Hauptthese« nennen möchte, verständlich wird: die doch ungeheuere Behauptung, dass j e d e Monade die ganze Welt und ihre Geschichte aus sich und in sich aus f r e i e n Stücken erzeugt und damit für ihr Tun die volle Verantwortung trägt. Daher kann die Monadenlehre nicht getrennt vom Problem der Theodizee behandelt werden. Sie muß eingebettet bleiben in die Theorie der möglichen Welten, will man sie nicht ihres fundamentalen Ansatzes und ihrer Intention zur metaphysischen Begründung der Freiheit gegen Spinozas Determinismus berauben. Versuchte Leibniz die Scientia generalis, das W i s s e n , grundzulegen aus der Synthese der primitiven Begriffe, so versucht er die M e t a p h y s i k , das S e i n , grundzulegen aus dem Zusammenwirken der realen Individuen. Baute er darauf, die Analyse der notwendigen Wahrheiten leisten zu können, so wußte er doch, dass die Analyse der kontingenten Wahrheiten Gott vorbehalten bleibt, dass wir sie nur prinzipiell annähern können, nicht auf dem Weg der Wissenschaft, des Allgemeinen, sondern nur durch rigoroses Fragen nach dem eigentlich Realen, nach der wahren Wirklichkeit des Individuellen. Cogitare meint dabei nicht das Streben nach Wissen, sondern das Streben nach Existenz durch Selbstverwirklichung im ursprünglichen Sinn. Leibniz’ Methode, sein Weg, bestimmt sich durch das Zurückgehen auf das u r s p r ü n g l i c h E i n f a c h e und das Fragen, wie es sich als dieses, ohne Hilfe von außen – außer der Gottes – in dieser Welt konstituiert hat. Die Methode besteht in der R e d u k t i o n auf das, was notwendig zu setzen ist, um gesichert etwas vom Sein zu begreifen, im Fragen nach den Requisita. Da ist zuerst das unzerstörbare E i n e . Das Eine als das von allem anderen Ve r s c h i e d e n e . Wie anders kommt Verschiedenheit des Individuums einfacher zustande als durch e i g e n e s H a n d e l n , durch Aneignung verschiedener Attribute? Wie ist das leichter zu begreifen, als dass es a l l e Attribute sind, mehr oder weniger vollkommen – bis zur vollständigen Privation? Gott, dem sie alle in höchster Perfektion zukommen, ist daher am einfachsten zu begreifen. Dann Veränderung, Mutatio. Wie ist Veränderung einfacher zu begreifen als durch N e g a t i o n , als durch Wechsel zur distinctius probareque firmius, sed est aliquid in hac infantia philosophiae nostrae dicere quae refutari non posse videantur, et ex hypothesibus paucis et non spernendis reliqua derivare. (GP II 185 u. nochmals S. 187).

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kontradiktorischen Qualität des Attributes? Dann Realität, wirkliches Sein. Wie ist Realität einfacher zu begreifen, als dass ich m i c h als real begreife? Wie einfacher ist das, was ich im eigentlichen Sinne n i c h t bin, zu begreifen, als dass ich es als mir Erscheinendes, als P h ä n o m e n erkläre? Wenn aber nichts außer mir auf mich einwirken kann, dann muß ich es als von mir erzeugt begreifen. Aber wie anders ist das Z u s a m m e n g e s e t z t e zu begreifen als im Fragen nach dem Grund, nach dem Fundament der Phänomene? Die Antwort kann nicht aus der Verfaßtheit der phänomenalen Welt geholt werden, wenngleich sie so ausfallen muß, dass sie ihr angemessen ist, sondern nur in ihrer originären, fundamentalen Konstitution gefunden werden. Da es nur Gott und die von ihm geschaffenen Individuen gibt, ist bei ihnen anzufangen. Viele Interpreten unter uns sind mit hervorragenden Untersuchungen Leibniz’ Zweifeln nachgegangen. Das möchte ich beiseite lassen dürfen. Ich erlaube mir hier, ihm eine r i g o r o s e P o s i t i o n zuzuschreiben – saltem per provisionem –, aus der die genannte »Hauptthese« verständlicher werden soll. Ich setze also an bei der doch ungeheueren, für Leibniz aber e i n z i g r a t i o n a l e n K o n s e q u e n z aus dem Cartesischen Ansatz – das denkende Ich als das zunächst einzig Sichere gelten zu lassen –, dass nämlich das Ich sich und seine Welt mit ihrer vollen Geschichte und Zukunft selbst e n t w i r f t und dabei in Wettstreit gerät mit den Entwürfen anderer Ichs, von denen Gott nur die zusammenpassenden, die darüberhinaus gemeinsam das insgesamt Beste entwerfen, realisiert. Dazu möchte ich die G e n e s e d e r M o n a d e , den Prozeß ihrer sich und zugleich die Welt schöpfenden P e r z e p t i o n nachzuzeichnen versuchen.4 Leibniz nannte sie einmal ein αÍ τοµον αÆ υτοπληρουÄ ν, eine sich aus sich selbst komplettierende Einheit.5 Man bedenke beiläufig: Nur für einen kurzen, wenn auch nicht unwesentlichen Abschnitt dieser G e n e s e ist unsere Seele vorübergehend mit unserem vergänglichen Leib behaftet, erfahren wir das Zusammenleben mit der uns begegnenden Schöpfung. Die Vorgeschichte der Monade dagegen reicht zurück bis zum Beginn der Schöpfung, ihre Nachgeschichte bis zum Ende aller Tage. Das Ich mit meinem Körper, mit meiner Erlebniswelt, in der ich mich um Wissen bemühe, hat nur e x e m p l a r i s c h e n Charakter für das gesuchte Verständnis von mir als Monade in ihrer Welt.

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Vgl. H. Schepers, Die Polaritäten des Einen und des Vielen im Begriff der Monade. In: Lessico Intelletuale Europeo, LXXXIV. Unita` e molteplicita` nel pensiero filosofico e scientifico di Leibniz. Florenz 2000, S. 171–184. 5 Am Kopf eines Briefes an de Volder vom 6. Juni 1701 lesen wir, wohl nicht für ihn bestimmt: Substantia est αÍ τοµον αÆ υτοπληρουÄ ν. Atomon per se completum seu se ipsum complens. . . . Atomon ideo quod vere unum. (GP II 224, Anm.).

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Schon im April 1676 notiert Leibniz p r o g r a m m a t i s c h in sein Pariser Tagebuch, dass Gott alle möglichen Weisen oder Dinge in selbst sich folgen läßt, und dass aus den verschiedenen Resultaten, aus den jeweils mit einem Subjekt verbundenen Formen, die Einzeldinge hervorgehen.6 Und wenig später formuliert er: »Meiner Meinung nach ist jede Mens allwissend, confuse jedenfalls. Und jede Mens perzipiert zugleich alles, was in der ganzen Welt geschieht.« dass auf diese Weise die Vielfalt entsteht, und dass es ebensoviele Mentes gibt wie verschiedene Relationen im Universum, erläutert er mit seinem bekannten, schon früher von ihm gebrauchten Stadtgleichnis.7 dass die Körper dabei nicht ausgeschlossen werden, zeigt die bereits 1671 ausgesprochene These, jeder Körper sei eine momentane Mens.8 Näher bestimmt er um 1679 das Particulare oder Singulare als das, »aus dessen Verständnis man urteilen kann, ob, wann und wo, ob es allein oder mit anderen existiert, kurz gesagt, über die Gesamtheit der Dinge« und resümiert: »Daraus ist zu ersehen, wie schwierig es ist, die Einzeldinge zu behandeln, weil sie so Vieles involvieren.«9 Es gibt, setzt Leibniz voraus, die Gesamtheit der Formen oder Attribute, das Reich der Ideen. Diese Attribute sind in ihrer affirmativen Gestalt alle miteinander verträglich. Gott ist das Subjekt, dem sie alle zukommen. Seine Geschöpfe dagegen sind grundsätzlich l i m i t i e r t . Ihnen müssen Attribute in der negativen Form zukommen und auch die positiven nicht, wie ihm, in höchster Perfektion. Denkbar sind alle möglichen Kombinationen von mal positiven, mal negativen Attributen, die jeweils einem Subjekt zugeschrieben werden. Den Subjekten kommen die einzelnen Attribute vollkommen oder weniger vollkommen zu, bleibend oder veränderlich; vollkommen und unveränderlich nur Gott, mehr oder weniger vollkommen und veränderlich allen seinen Geschöpfen. 6

Deus . . . facit sequi modos omnes possibiles seu res in ipso. Varia resultantia ex formis combinata cum subjecto faciunt resultare particularia. (AA VI,3 S. 523.13–16). 7 Mihi videtur omnem mentem esse omnisciam, confuse. Et quamlibet mentem simul percipere quicquid fit in toto mundo. Itaque hoc modo oritur varietas, quot enim mentes, tot diversa relationes universi, quemadmodum si urbs eadem e diversis locis spectatur. (AA VI,3 S. 524.10–24). 8 Corpus est mens momentanea. (AA VI,2 S. 266.16). 9 Singulare est ex cujus intellectu judicari potest, utrum et quando et ubi, an solum existat an cum aliis, breviter, de tota rerum universitate. Hinc patet cur difficile sit tractare singularia, quia tam multa involvunt. Kurz zuvor lesen wir in derselben Studie De cogitationum Analysi: Hinc patet omne subjectum ultimatum esse Ens completum et involvere totam rerum naturam, hoc est ita, ut ab ipso perfecte intellecto, id est ex intellectis illis quibus a quolibet alio discerni potest, concludi possit quaenam possibilia existant. und weiter darin: Subjectum est individuum, quod secundum plura diversa alia individua exprimi potest. Individuum autem est cujus intelligentia involvit intelligentiam existentiae rerum. . . . Et tale subjectum dicitur substantia. (AA VI,4 S. 2770.27–2771.6).

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Das macht ihre Realität aus, genauer gesagt, den Grad ihrer Realität. Die Fülle der möglichen simultanen Kombinationen der qualifizierten Attribute charakterisiert eine ebenso große Anzahl von Subjekten, die bei den sukzessiven Veränderungen, die sie erfahren, ihre I d e n t i t ä t behalten.10 Sofern diese Subjekte sich jeweils vertragen, miteinander kompatibel sind, gehören sie in eine Welt, genauer gesagt, in eine der möglichen Welten. Auf diese l o g i s c h e Beschreibung baut die o n t o l o g i s c h e Theorie auf. Aus den logischen S u b j e k t e n werden metaphysische S u b s t a n z e n , die als solche durch H a n d e l n charakterisiert sind. Aus dem passiven Zukommen der Attribute wird ein aktives Produzieren. Aus der isoliert gedachten Möglichkeit wird eine im Kommerz mit allen verträglichen Substanzen a g i e r e n d e , sich selbst in eine Welt hinein – ohne sie kennen zu können – k o n s t i t u i e r e n d e Monade. Die explizite Darstellung dieser Theorie übersteigt an Komplexität bei weitem das, was Ludwig Wittgenstein in seinem Tractatus logico-philosophicus mit dem Ansatz Die Welt ist alles, was der Fall ist in Angriff genommen hat. Dennoch sei ein Versuch gewagt. Wir müssen stets bedenken, dass Leibniz weder Raum noch Zeit als absolute Realitäten anerkennt und jeglichen Einfluß einer Substanz auf eine andere ablehnt. U n s e r e Welt ist in einem bestimmten Augenblick bevölkert mit Subjekten, die sich eindeutig unterscheiden, d.h. charakterisiert sind durch die Reihe ihrer Attribute, und zwar weil sie s e l b s t das so gedacht und gewollt haben. Darin besteht ihr Handeln, das frei ist, sofern es nicht durch das Handeln anderer Subjekte beschränkt wird. Zusammen mit den Subjekten, mit denen sie sich arrangieren konnten, die mit ihnen kompatibel sind, bilden sie eine Gemeinschaft, sozusagen ein M o m e n t d i e s e r We l t . Es gibt in diesem angenommenen Augenblick in der Welt so viele Subjekte, wie es unterschiedliche Reihen von Attributen gibt. Da es aber keinen Grund gibt, nicht alle möglichen Reihen aller Attribute zur Charakterisierung von Subjekten zuzulassen, muß es Subjekte geben, die sich mit keinem in dieser Welt, wohl aber mit anderen arrangieren, d.h. es gibt I n k o m p a t i b i l i t ä t , es gibt andere Welten. Gleiches gilt für jeden weiteren Augenblick. Für diese I n k o m p a t i b i l i t ä t gibt es wohl eine modallogische Definition, aber keinen l o g i s c h e n Grund. Da eine solche Theorie unser Begreifen innerhalb dieser Welt überschreitet, bedarf es der Möglichkeit, auf einen Raum aller Möglichkeiten überhaupt zurückzugreifen. Als solcher bietet sich traditionell der Ve r s t a n d G o t t e s an, und damit bekommt Leibniz Gelegenheit, die einzelnen Subjekte als M ö g l i c h k e i t e n , als G e d a n k e n G o t t e s 10

Schon als Student exemplifizierte Leibniz 1674 das Problem der Identität an der Argo, dem Schiff des Theseus (AA VI,1 S. 91). Vgl. auch noch Leibniz an Des Bosses am 30. April 1709 (GP II 370).

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zu begreifen. (Wittgenstein spricht nüchtern vom logischen Raum, begrenzt ihn aber auf das Gegenwärtige.) Erlauben Sie mir, diese Komplexität an einem simplen M o d e l l wenigstens im Ansatz zu veranschaulichen: Lassen wir jedes A t t r i b u t durch ein quadratisches Plättchen mit einer positiven Vorderseite und einer negativen Rückseite dargestellt sein. Der Kürze halber möchte ich hier unter A t t r i b u t Mehreres begreifen dürfen, sowohl die qualifizierten, d.h. affirmativ oder negativ ausgesagten Formen der allgemeinen Begriffe, die I d e e n , als auch die verschiedenen G r a d e v o n P e r f e k t i o n e n , insofern sie einem Subjekt mehr oder weniger zukommen, seinen Grad an Realität ausmachen, darüberhinaus aber auch – bedingt durch die These, das es nur denominationes intrinsecae gibt – die R e l a t i o n e n , genauer gesagt das fundamentum relationis, den »Relationsfuß«, der in anderen Subjekten seinen »Gegenfuß« hat – bzw., da es mehrstellige Relationen gibt, seine »Gegenfüße«. Wir bilden eine Reihe a l l e r Plättchen, eine unendliche. Bei der Aufreihung dieser Plättchen soll sich, gleichsam von selbst, eine Schnur entwickeln, in der wir das S u b j e k t , den Träger der Attribute, sehen, denn die Kombination der qualifizierten Attribute verlangt ein S u b j e k t , dem sie attribuiert werden. M ö g l i c h ist eine solche Kombination nur, wenn einerseits grundsätzlich alle Attribute miteinander k o m p a t i b e l sind und wenn andererseits jeder Relationsfuß – gleich wieviele Worte benötigt werden, um ihn zu beschreiben – sich, modern gesprochen, als ein e i n s t e l l i g e s Prädikat darstellen läßt. Das gelingt, da Relationen ja grundsätzlich als denominationes intrinsecae der in Relation stehenden Subjekte (Substanzen) anzusehen sind.11 Es gibt so viele verschiedene Aufreihungen dieser Plättchen, wie es verschiedene Kombinationen der mal positiv, mal negativ gelegten Plättchen gibt.12 Jede dieser unendlich vielen Aufreihungen ist einmalig, also eindeutig. Es gilt das Principium identitatis indiscernibilium. Nebeneinander gelegt machen diese kompatiblen Plättchenketten in unserem Modell eine unendliche Ebene aus, einen großen Te p p i c h . In der nächsten Phase werden aus diesen Subjekten – wir können das einen Prozeß der O n t o l o g i s i e r u n g oder O n t o g e n e s e nennen – h a n d e l n d e

11 Vgl. AA VI,4 S. 308.12–15. – Die moderne These von der Irreduzibilität der Relationen auf einstellige Prädikate basiert auf einer platonisierenden Ontologie, die ihnen eine selbständige Realität zuweist. Wenn es aber, wie Leibniz annimmt, nur Individuen mit ihren vollständigen Begriffen gibt, dann sind Relationen mit ihren Relaten und Korrelaten auf diese Individuen als ihre Fundamente gleichsam verteilt. Die Vaterschaft des einen entspricht der Sohnschaft des anderen. Die zugehörigen Relationen sind aus beiden Individuen lediglich a b s t r a h i e r t . 12 Tot posse esse substantias singulares quot sunt diversae combinationes omnium attributorum compatibilium. (AA VI,4 S. 306.21–22).

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S u b s t a n z e n , und zwar frei handelnde Substanzen, die zwar nicht aufeinander einwirken können – es gibt ja keinen influxus physicus –, gleichwohl e i n g e s c h r ä n k t werden durch die Aktionen der anderen Substanzen. Das Handeln der Substanzen ist f r e i ; u n f r e i allenfalls, insofern es ein b l o ß m ö g l i c h e s H a n d e l n ist, das des göttlichen Entschlusses bedarf, um wirksam, um existent zu werden. Gott spielt sozusagen im Kopf alle Möglichkeiten durch, wie ein guter Schachspieler, bevor er seinen Zug macht. Er würfelt aber nicht. Da jede einzelne Ebene, jeder Zustand, ein Plenum darstellt, das keine Lücken, kein Vakuum aufweist, weil alle, aber auch alle möglichen Kombinationen darin erfaßt sind, muß jede Veränderung an einer Stelle, in einem Subjekt, sich auf alle anderen auswirken.13 Leibniz gebraucht hier gerne das Bild der sich fortsetzenden Kreise, die ein ins Wasser geworfener Stein erzeugt. Da es aber keinen Einfluß, keine Wirkung des einen auf das andere gibt, müssen alle Subjekte als v o n s i c h a u s agierende angesehen werden. Das bedeutet, dass jedes Subjekt nicht allein durch die direkte Reihe s e i n e r Attribute bestimmt ist, sondern zunächst auch durch alle Subjekte in gleicher Ebene und darüber hinaus durch die in allen sukzessiv erzeugten neuen Ebenen. Denn das Umdrehen einzelner Plättchen einer Kette hat das Umdrehen entsprechender Plättchen in den anderen Ketten zur Folge. Es entstehen so unendlich viele neue Teppiche, neue Ebenen, von denen jede einzelne wiederum die Gesamtheit der möglichen Kombinationen umfaßt, gleichsam ein unendliches, aber g e s c h l o s s e n e s S y s t e m . Das Umklappen eines jeden Plättchens muß die Reaktion mindestens eines anderen Subjektes zur Folge haben, sonst würde es – was ausgeschlossen ist – mit ihm identisch werden. Man bedenke auch, dass alle Subjekte, alle Substanzen stets handeln und so in jedem Moment mindestens ein Plättchen umdrehen müssen. Dafür dass die Übergänge nicht chaotisch verlaufen, sorgen die ewigen Wahrheiten und finale G e s e t z e , die jedem Individuum eigen sind, das vornehmste und allgemeine von ihnen: Alles strebt zum Besseren, zum Guten, im Einzelnen aber ein Fundamentalprinzip, das nur Gott kennt.14 Dieses Modell hat allerdings ein schweres Defizit: Mit ihm läßt sich die Ordnung des Nebeneinander, der zu konstituierende Raum und damit die Ortsveränderung nicht veranschaulichen. Darin drückt sich aber eine Schwierigkeit aus, die Leibniz auch nur mit der These einer creatio continua lösen kann. Im Modell hieße das, die Teppiche werden in jedem Moment neu geschaffen, und dabei ändern die Ketten unter Beibehaltung der Identität ihres Subjektes kontinuierlich ihre Position. Wenn die einzelnen Ketten beim Stapeln der Teppiche 13

Mundus est quasi unum, et unaquaeque res aliarum omnium mutatione afficitur realiter. (AA VI,4 S. 308.25–26). 14 Vgl. Couturat S. 19f. und GP IV 521.

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genau übereinander blieben, gleichsam eine Mauer bildeten, könnte das die bleibende Identität der Subjekte ausdrücken. Wir könnten sie uns aufgespießt vorstellen auf einem von Wechsel zu Wechsel wachsenden Spieß, auf der sich sukzessiv bildenden Z e i t a c h s e . Es gibt Reihen, die nicht miteinander harmonieren, wohl aber mit anderen. So gibt es verschiedene Teppiche in einer Ebene und darüber jeweils Stapel. Einer dieser Stapel vereinigt sich zum insgesamt schönsten, sit venia verbo: diesen bringt Gott auf den Markt. Das Handeln der Substanzen beschränkt sich im Modell also einzig auf das Schnüren und das Verändern der Ketten durch Umdrehen einzelner Plättchen sowie implizit das Verändern ihrer Position. Das entspricht der Reduzierung des Handelns auf das Perzipieren und auf das Übergehen zu neuen Perzeptionen, im Ausüben der Appetitus nach dem Fundamentalprinzip ihrer Welt. Wie angedeutet, spielt der Prozeß der Mutatio eine fundamentale, m.E. viel zu wenig beachtete Rolle in der Leibnizschen Metaphysik. Die klarste – und für immer verbindlich gebliebene – Definition von mutatio im metaphysischen Sinn finden wir in der bemerkenswerten Studie De affectibus vom April 1679: »Die Veränderung ist das Aggregat aus zwei kontradiktorischen Zuständen.«15 An anderer Stelle lesen wir, dass eine Veränderung dann geschehen ist, wenn von Demselben zwei kontradiktorische Sätze wahr sind. Daher sage man, dass diese Sätze sich zeitlich unterscheiden.16 In der schon früh zu findenden These, dass es nichts anderes gibt als Substanzen mit ihren Perzeptionen und Appetitus, ist die Mutatio implizit im Appetitus enthalten. Das Streben nach neuen Perzeptionen wird s o fundamental reduziert auf den Übergang zur Kontradiktion. Leibniz schreibt, »da nur die einfachen Dinge verae res und das Übrige nur entia per aggregationem und daher P h ä n o m e n e sind, und, um mit Demokrit zu sprechen, nur νο µωì (nur durch menschliche Setzung) existieren, nicht aber ϕυ σει (nicht naturgemäß wirklich), ist es klar, dass, wenn die Mutatio nicht im E i n f a c h e n wäre, es in den Dingen überhaupt keine Veränderung gäbe.«17 dass es keinen Influxus gibt, zeigt im Modell übrigens das Fehlen von festen Querverbindungen zwischen den Reihen und auch den Schichten, außer der konstanten Identität der Subjekte. 15

Mutatio est aggregatum ex duobus statibus contradictoriis (AA VI,4 S. 1411.10). Mutatio est facta si de eodem duae propositiones contradictoriae verae sunt et tunc duae propositiones dicuntur differre tempore (AA VI,4 S. 568.14–15) und . . haec ipsa natura est temporis, ut secundum diversum tempus possint contradictoriae esse vera de eodem. Mutatio est aggregatum duorum statuum contradictoriorum. Hi status autem sibi necessario immediati intelliguntur, quia non datur tertium inter contradictoria. (AA VI,4 S. 556.19–22). 17 Leibniz an de Volder Anfang 1703: Sed cum solae res simplices sint verae res, reliqua nonnisi Entia per aggregationem, atque adeo phaenomena sint, et ut loquebatur Democritus,« νο µωì existant non ϕυ σει, patet nisi in simplicibus mutatio sit, mutationem in rebus nullam fore. (GP II 252. Vgl. auch GP II 282, Anm. u. AA VI,4 S. 480.5f.) 16

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Wenn Leibniz schreibt, man könne m a t h e m a t i s c h beweisen, dass jede Handlung, so klein sie auch sein möge, sich über das ganze Universum erstreckt und sich in alle Ewigkeit bewahrt,18 dann wird er wohl nichts anderes im Auge gehabt haben als das, was ich hier seine F u n d a m e n t a l o n t o l o g i e nennen möchte. Dieses M o d e l l soll keine Spielerei sein, sondern zwingend, gleichsam mechanistisch, die Grundzusammenhänge sichtbar machen. Die Reihen (Ketten) sind maximal, da sie dem Subjekt j e d e s der unendlich vielen Attribute in irgendeiner Form zukommen lassen. Die Flächen (Teppiche) sind maximal, da sie a l l e simultan verträglichen Reihen umfassen. In ihnen realisiert sich die Ordnung des Nebeneinander, d e r R a u m . Eine vertikale Verträglichkeit gibt es nicht. Dafür aber das G e s e t z , das jeder Substanz eigen ist, dem sie folgt, wenn sie ihre Natur entfaltet und dabei kontinuierlich die Qualität ihrer Attribute über minimale kontradiktorische Wechsel ändert mit dem Streben nach einer sich harmonisch, im Konsenz mit allen anderen Strebenden, entwickelnden Realität. Bei diesem Prozeß wird fundamental die Ordnung des Nacheinanders, d i e Z e i t u n d d i e B e w e g u n g realisiert. Ein Z u s t a n d – eine Ebene im Modell – ist die augenblickliche Verfaßtheit eines Subjekts bezüglich aller Attribute, einschließlich aller Relationen, also auch seines Anteils an der Verfaßtheit aller anderen Subjekte, ist seine m o m e n t a n e P e r z e p t i o n . Leibniz nennt diesen Zustand auch Kraft: »Mit der Kraft, die ich den Substanzen gebe, meine ich nichts anderes als den Zustand, aus dem ein anderer Zustand folgt, wenn nichts es hindert.«19 Um noch einmal die Komplexität des Monadenbegriffs zu unterstreichen, sei erinnert: Zur notio completa jeder singulären Substanz gehört a l l e s , was aus der virtuellen Interaktion mit allen anderen Subjekten resultiert, beiläufig gesagt, auch der ihr vorübergehend zugewiesene Körper. Leibniz hat diese G e n e s e nie zusammenhängend dargestellt. Sie läßt sich aber gut aus der Fülle seiner Hinweise rekonstruieren. Ich möchte dafür eine wenig beachtete Skizze20 von etwa 1710 mit einigen nicht unwesentlichen Änderungen gegenüber Couturat als S c h l ü s s e l t e x t heranziehen. Leibniz stellt darin sechs Prinzipien voran: das Widerspruchsprinzip und den Satz vom Grunde, die Prinzipien der Kongruenz und der Ähnlichkeit, die er beide für zurückführbar auf die ersten hält, und schließlich das Gesetz der Kontinuität

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Leibniz an die Kurfürstin Sophie am 4. November 1696 (GP VII 544). Par la Force que je donne aux substances, je n’entends autre chose qu’un estat duquel suit un autre estat, si rien ne l’empeche, schreibt Leibniz an Jacques Lelong am 5. Februar 1712 (A. Robinet, Malebranche et Leibniz. Rel. pers., 1955, S. 420f.) und ähnlich am 12. Juli 1691 in einer Randbemerkung zu Erwiderungen von Jacques l’Enfant (LH IV, 3, 4, Bl. 14). 20 Ediert von L. Couturat, Opusc. et fragm., 1903, S. 528. 19

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und das der Konvenienz oder des Besseren, aus dem, wie er sagt, die Gesetze der Natur, sowohl die der Bewegung des Körpers als auch die der Neigungen des Willens, hervorgehen. Dann will er handeln – dazu gibt er lediglich Gliederungspunkte an – zunächst von den [Realitäts]– G r a d e n d e r B e g r i f f e und von den einfachen P o s i t i o n e n . Er erwägt dabei, die Arithmetik und die Algebra, besonders aber die Kombinatorik einzubeziehen. Von den K o m b i n a t i o n e n geht er über zu den Consequentiae, wo von der Wirkung zu handeln sei, genauer, von den apriorischen oder aposteriorischen Veränderungen (accedentes mutationes), streicht diesen Punkt aber zunächst. Die reflexive behandelten consequentiae – wohl das Berücksichtigen von Ursache und Wirkung – reichten, bis zu den contingentia, wie er notiert, »bis zu dem das Unendliche Einschließende in den Dingen«. Er greift das Gestrichene wieder auf und setzt an bei den Ve r ä n d e r u n g e n (Mutationes) und schreibt: »Wo die reflexive Betrachtung der Konsequenzen hinzutritt, gehen Ursache und Wirkung hervor«. Nun darf es nicht heißen, wie Couturat (S. 528) gelesen hat, Fons rerum substantiatoriae Monas und Subjectum seu substantiae simplicis natura, sondern Deus Fons rerum und Subjectum seu substantiae substantiatoriae simplicis natura, nämlich Monas. Wir lesen weiter: »Als S u b j e k t oder als Natur der s u b s t a n t i i e r e n d e n einfachen Substanzen ist das zu betrachten, was in der Veränderung [es selbst] bleibt.« Und, dass genau hier zu handeln sei von der Perzeption und dem Appetitus, und w o diese distinkt sind, von der Vernunft und dem Willen. [Wir wissen aus anderen Texten: das ist in vollem Maße nur bei Gott, in geringerem bei denjenigen Monaden, die Gott repräsentieren, der Fall.] Angemerkt sei: Bei dem S u b s t a n t i i e r e n der einfachen Substanzen haben wir an das Resultat dieser Handlung zu denken, an die substantiata nämlich, an die zusammengesetzten oder körperlichen Substanzen. Leibniz will dann konsequenterweise vom Compositum handeln und zwar vom Commercium – nicht, wie Couturat las, von der Connexio – zwischen den einfachen Substanzen, [und daraus resultierend] vom Ordo existendi, dem Raum und der Zeit. Danach von der Unio, von dem, was an Realität im Compositum vorhanden ist, außer den Ingredientia [d.h. außer den einfachen Substanzen selbst]. Und dann fragt er sich: Unde nobis phaenomenon, woher haben wir das Phänomen?, streicht das sogleich wieder und fragt weiter: woher die Realisation der Relationen? und antwortet: Nostra mens Phaenomenon facit, divina Res. Unsere Mens macht das Phänomen, die göttliche das Ding. Er notiert: »Die G e g e n w ä r t i g k e i t (Praesentia) ist die Unvermitteltheit (Immediatio) in der Ordnung des Koexistierens« und erläutert abschließend: »Das göttliche Denken bewirkt, dass das, was in den Ideen der Grund für die Veränderung, die ratio mutationis im Anderen ist, in diesem Anderen s e l b s t h a n d e l t . So nämlich, dass die Handlung des Einen in das Andere eben der S t a t u s ist, der

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sowohl die Vereinigung enthält, als auch die ratio reddenda mutationis, den aus dem Anderen distinkt zu verstehenden Grund für die Veränderung in diesem Subjekt«. Damit endet diese Skizze, die abstrakt das prästabiliert harmonische Handeln der frei agierenden Monaden beschreibt und – so glaube ich – die Angemessenheit meines Modells bestätigt. Die Grade der Perfektion drücken sich in Graden der K l a r h e i t u n d D e u t l i c h k e i t der Perzeptionen aus. Percipere bezeichnet einen kreativen metaphysischen Prozeß und hat wenig zu tun mit unserem Denken und Wahrnehmen. »Deutlich« und »weniger deutlich, konfus« sind n i c h t Grade unseres B e w u ß t s e i n s . Wenn Leibniz auch von der Erfahrung des eigenen Denkens und Wahrnehmens, von der Reflexion auf diese erlebten Akte ausgeht, zur Grundlage seiner m e t a p h y s i s c h e n Begriffe macht er diese Reflexion nicht. Er formuliert oft von sich aus statt von der Monade. Die subjektive Sichtweise und Sprache benutzt er aber lediglich als Mittel, das Objektive, das Metaphysische verständlich zu machen. Es ist keinesfalls so zu verstehen, als ob unserem erlebbaren Perzipieren die kreative Kraft des Perzipierens der Monaden gegeben wäre. Wir haben es hier nicht mit Erkenntnistheorie, sondern mit Metaphysik zu tun. Das Perzipieren versteht Leibniz auch als K r a f t , als aktive oder passive. Als aktive, indem sie der Substanz zu höherer Perfektion verhilft, als passive dagegen zu niederer.21 Distinkter Perzipieren bedeutet für die Monade nichts anderes, als sich die Attribute in höherem Grad anzueignen und damit selbst einen höheren Grad an Realität zu bekommen, um mit größeren Chancen am Streben nach Existenz teilzunehmen. Bei diesem struggle for life können die sich konstituierenden Monaden a l l e s bekommen, sofern nicht andere Anspruch darauf haben. Dass dieser Kampf nicht mit Mord und Totschlag endet, dafür sorgt Gott, gleichsam als gerechter Richter.22 Keine zwei Substanzen können zugleich insgesamt dieselben Attribute bekommen. Aber a l l e bekommen ihren Daseinsanspruch – so schwach er auch sein mag. Das Berücksichtigen der Daseinsansprüche anderer, sogar aller anderen Monaden – eine Art Ökologie –, macht den passiven Part beim Perzipieren aus, seine Konfusion. Distinkt im vollen Sinn perzipiert nur Gott. In klassischer Terminologie wird das aktive Perzipieren als F o r m , das passive als M a t e r i e gedeutet. Und so kann Leibniz den K ö r p e r begreifen als das Konkretum aus Materie und Form, wobei die M a t e r i e das totale Resultat aus den passiven Kräften a l l e r Monaden ist, und entsprechend die F o r m das totale 21

Omnis substantiae hanc esse naturam, ut vi sua agendi patiendique, hoc est serie suarum operationum immanentium, exprimat totum universum. (AA VI,4 S. 1625.13–15) und Passio est mutatio minuens perfectionem, Actio est mutatio eam augens vel conservans. (AA VI,4 S. 556.23). 22 Vgl. Discours de me´taphysique, Abs. XV.

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Resultat, die unmittelbare Folge, aus den primitiven Entelechien a l l e r Monaden. Ich betone nochmals a l l e r Monaden.23 Mit anderen Worten, an der – wenn auch nur temporären – Gestaltung eines jeden Körpers, einer jeden zusammengesetzten Substanz, wirken a l l e einfachen Substanzen mit. Daher kann auch aus jeder einzigen auf alle anderen Bezug genommen werden. Darin besteht die universelle Übereinstimmung, darin gründet die prästabilierte Harmonie. Der Grund, warum ein Körper sich dem Zustand eines anderen Körpers a k k o m m o d i e r t , ist kein anderer als der, dass die verschiedenen Substanzen desselben Weltsystems ab Beginn so g e s c h a f f e n wurden, dass sie den ihnen eigenen Gesetzen folgend miteinander konspirieren, was heißt, sich vertragen.24 Über die wahre Wirklichkeit der Körper hat mein verehrter Lehrer, Erich Hochstetter, schon im Jubiläumsjahr 1966 Entscheidendes geschrieben.25 Ich beschränke mich darauf, ihre Wirklichkeit mit der »Hauptthese« in Einklang zu bringen. Die Körperhaftigkeit, die Behaftung aller mentes mit einem Körper, entspricht der originären Limitation der Kreaturen im Gegensatz zu ihrem Schöpfer. Niemand wird von sich behaupten, durch seinen Körper ein irgendwie nachvollziehbares Verhältnis zur ganzen Welt und gar zu ihrer Zukunft und Vergangenheit zu haben. Lassen wir also d i e s e n Körper beiseite. Sehen wir mit Leibniz auf das, was seine Essenz, sein wahres reales Sein ausmacht. Wieviel davon uns begegnet, ist Sache der Spekulation. Wir müssen schon die Niederungen unseres gewohnten Sehens verlassen und den Spiegelturm der Metaphysik ersteigen. Die Lösung der Schwierigkeit besteht für unseren Philosophen darin, das Körperhaben als P a s s i v i t ä t zu begreifen; die Passivität wiederum als quasiAktivität zu deuten: als Privation der Deutlichkeit der Perzeptionen. Eine Privation, die ihren Grund hat i m a l l g e m e i n e n K o n s e n s , in der von Gott gebotenen gegenseitigen Rücksichtnahme. Wo sie da ist, waltet Verträglichkeit. Von sich aus kann keine Substanz Kompatibilität stiften, und dennoch handelt sie kompatibel mit allen Substanzen dieser Welt. Leibniz schreibt um 1710: »So wie durch unser Denken aus den Substanzen Phänomene hervorgehen, so gehen durch das 23

Hoc novum Ens constat ex materia et forma. Materia est [resultans] 〈ortum〉 totale ex viribus passivis omnium Monadum; et Forma est [resultans] 〈ortum〉 totale ex entelechiis primitivis omnium Monadum. (LH IV, 1, 1a Bl. 7, neuerdings ediert von Brandon Look, in Leibniz Society Review 8, 1998, S. 69–79, hier S. 70). 24 . . . causa cur unum corpus sese accomodet ad statum alterius corporis non alia est, quam quod diversae substantiae ejusdem systematis mundani ab initio ita creata sunt, ut ex propriae naturae Legibus conspirent inter se. (AA VI,4 S. 1641.3–5 auch GP VII 314, Anm.). 25 E. Hochstetter, Von der wahren Wirklichkeit bei Leibniz. (Zeitschr. f. Philos. Forschung, Bd. 20, 1966, S. 421–446).

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göttliche Denken aus den einfachen Substanzen die zusammengesetzten hervor, indem in Gott zum Verstand der Wille hinzutritt, aus Vielem Eines zu machen, denn wenn er nur Vieles zugleich betrachten würde, dann würde er daraus nichts als Phänomene oder Aggregate machen.« Also, faßt er zusammen: »Damit ein neues Ding entsteht, muß Gottes Wille hinzutreten«.26 Ich zitierte schon: Nostra mens facit Phaenomenom, divina Res. In einem unterdrückten Absatz eines Briefes an Bourguet vom 22. März 1714 lesen wir: »Die Schwierigkeiten . . . hören auf, wenn man bedenkt, dass die materiellen Dinge und ihre Bewegungen nichts als P h ä n o m e n e sind, deren Realität in nichts anderem besteht als in der Ü b e r e i n s t i m m u n g d e r E r s c h e i n u n g e n der Monaden«.27 Die wiederholt herangezogene Übereinstimmung ist zunächst lediglich ein Kennzeichen der Realität der Phänomene, wir haben kein anderes und können auch kein anderes erwünschen, sagt Leibniz,28 im Grunde geht sie aber weit über das hinaus, was sie von der fehlenden Übereinstimmung eines Traums unterscheidet. Es ist nicht das von uns erlebbare, feststellbare, sondern das originäre consentement, das ihre Existenz begründete. Und nicht allein die Übereinstimmung innerhalb der Phänomene e i n e r Monade, sondern a l l e r Monaden. Das Fundament der Phänomene, das, was an ihnen real ist, ist Gottes Schöpfungsakt, geboten aus der das Bestmögliche verwirklichenden Kombination der Possibilien, wie oben zitiert: Deus Fons rerum. Es ist nicht als bloße Metapher zu lesen, wenn Leibniz Gottes Sicht als die A u f - S i c h t , als die Sicht auf den Grundriss, als ichnographia, unterscheidet von der scenographia, der Sicht der Monaden auf die Silhouetten, auf die Perpektiven der Stadt, wenn man bedenkt, dass das, was ist, sich zusammensetzt aus den vielen Perspektiven der Monaden, deren Grund, deren Realität nur Gott, die radix contingentiae, erkennt.29

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Uti per nostram Cogitationem phaenomena ex substantiis oriuntur, ita per Divinam Cogitationem oriuntur ex substantiis simplicibus compositae, posito in Deo praeter intellectum accedere voluntatem, ut fiat ex multis unum; nam si tantum multa simul consideraret, phaenomena ex iis seu aggregata faceret. . . . At cum inde debet oriri novum Ens, oportet ut accedat divina voluntas. (ed. Brandon Look, 1998, a. a. O.). 27 La difficulte´ qu’on se fait sur la communication du mouvement cesse quand on considere que les choses materielles et leur mouvement ne sont que des phenomenes. Leur realite´ n’est que dans le consentement des apparences des Monades. (GP III 567, Anm.). 28 Leibniz an de Volder am 19. Januar 1706: Neque aliam habemus aut optare debemus notam realitatis, quam quod inter se pariter et veritatibus aeternis respondent. (GP II 283). 29 Itaque realitas corporum, spatii, motus, temporis, videtur consistere in eo quod sint phaenomena Dei, seu objectum scientiae visionis. Inter corporum apparitionem erga nos et apparitionem erga Deum discrimen est quodammodo quod inter scenographiam et

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In der subjektiven Metaphysik wird – im Unterschied zur objektiven Wissenschaft – der Körper reduziert auf die originale Limitation, auf Passivität, auf konfuse, weniger perfekte Perzeption und schließlich auf wohlfundierte Phänomene. Die physikalische Teilbarkeit wird kontrastiert mit der metaphysischen Zusammengesetztheit, die natürliche Generation und Korruption, Geburt und Tod interpretiert als Schaffung und Aufhebung von göttlich gebotenen Dominanzverhältnissen. Damit sind die Thesen »Keine Monade ohne zugeordneten Körper« und »Kein Körper ohne Seele, oder einem Analogon davon« zureichend gedeutet.30 Für das H a n d e l n der einfachen Substanzen gebraucht Leibniz neben percipere weitere Begriffe wie repraesentare und exprimere; für den H a n d e l n d e n : vis agendi patiendique (force), differenzierend Mens, Anima, Entelechia, niemals corpus oder materia, ferner, das Resultat implizierend, auch concentratum mundi, imitamentum Dei, speculum universi, miroir vivant; für das Resultat der Handlung neben Perzeption vor allem Phänomen und für ihren Fortschritt zu neuen Perzeptionen Appetitus. Einerseits haben wir es mit einem i n t r a m o n a d i s c h e n Prozeß zu tun, andererseits mit einem i n t e r m o n a d i s c h e n , da die Phänomene zwar in der Monade erzeugt werden und bleiben und unverwechselbar ihrer Sicht entsprechen, zugleich aber a l l e Monaden D a s s e l b e , wenn auch aus verschiedener Sicht ausdrücken. Dieses S e l b e ist das F u n d a m e n t , zu dem die Monaden selbst keinen direkten Zugang haben. Dieses Fundament ist die Glorie, die Herrlichkeit, die Gott von verschiedenen Standpunkten aus betrachtet, die er zur Vermehrung seiner Herrlichkeit als seine Geschöpfe zur Existenz bringt. Und weiter lesen wir im Absatz XIV des Discours, dass Gott, indem er das ganze System der Phänomene – alle seine Gedanken – von allen Seiten und auf alle möglichen Weisen betrachtet, ohne dass irgendetwas seiner Allwissenheit entgeht, jede Sicht des Universums, jeden Standpunkt als eine Substanz begreift, die konform zu dieser Sicht das Universum ausdrückt – mit der entscheidenden Kautele –, wenn er es für gut hält, sein Denken wirksam werden zu lassen und diese Substanz zu erschaffen.31

ichnographiam. Sunt enim scenographiae diversae pro spectatoris situ, ichnographia, seu geometrica representatio unica est, nempe Deus exacte res videt quales sunt. Leibniz an Des Bosses im Februar 1712 (GP II 438f). 30 Nisi anima esset, corpus non esset ens aliquod, formuliert Leibniz um 1679 und kurz darauf: Animae resultant ex Deo res cogitante, seu sunt imitationes idearum und Tot sunt specula universi quot mentes. Omnis enim mens totum universum percipit, sed confuse. (AA VI,4 S. 1988.18–1989.11). 31 Car Dieu tournant – pour ainsi dire – de tous coste´s et de toutes fac¸ons le

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Gottes Ve r s t a n d läßt keine Möglichkeit bei seiner Betrachtung aus. Von diesen Möglichkeiten vertragen sich nicht alle miteinander, wohl aber viele untereinander, da sie derselben Betrachtungsweise entsprechen. Diese bilden jeweils eine der möglichen Welten, die jeweilige Betrachtungsweise ist der Grund ihrer Kompatibilität, stellt ihr Fundamentalprinzip dar. Gottes W i l l e n tritt hinzu mit dem Entschluß, eine dieser Welten zur Existenz zu bringen. Seine G ü t e sorgt dafür, dass es die Beste unter den möglichen ist. Indem Gott seine Geschöpfe als Handelnde betrachtet, beobachtet er gleichsam die Entwicklung seiner Gedanken, die verschiedenen Möglichkeiten, sich in der Fülle seiner Attribute mit wachsender Perfektion zu denken. Diesen Prozeß begreift Leibniz auch als E m a n a t i o n , als eine in ihrer Ursache verbleibende momentane Besonderung, und die Fortschritte darin als kontinuierliche F u l g u r a t i o n e n , Ausblitzungen.32 Die Selbstkonstitution der Monade schließt mit der Konstitution der Welt die der Körper ein. Die Körper werden durch das Zusammenwirken a l l e r Monaden konstituiert, zunächst als mögliche, dann durch Gottes Schöpfungsentschluß als wirkliche. Aber wie kommt es zur Konstitution m e i n e s Körpers? Die einzige Antwort, die Leibniz hier bietet, lautet: durch meine deutlicheren Perzeptionen und durch die Perzeption anderer Körper durch meinen Körper. Zeitweilig hat Leibniz von einem vinculum substantiale gesprochen, meinte damit aber nichts anderes als ein Moment innerhalb des Fundamentalprinzips für diese Welt. »Die Realität aller Dinge – mit Ausnahme der einfachen Substanzen – besteht einzig im F u n d a m e n t der Perzeptionen o d e r Phänomene der einfachen Substanzen«. Man beachte die Gleichsetzung, die von Gerhardt in seiner Edition der Nouveaux Essais schlicht verlesen wurde.33 (Phänomene werden nicht perzipiert.) Was anderes ist dieses Fundament als die scientia visionis Dei?34 Selbst wenn man das consentement der Perzeptionen oder Phänomene darin sehen wollte, müsste man nach dem Grund für diese Übereinstimmung fragen und könnte ihn nirgendwo anders finden als in Gottes Verstand und seinem Willen. Deus Fons rerum. systeme general des phenomenes qu’il trouve bon de produire pour manifester sa gloire et regardant toutes les faces du monde de toutes manieres possibles, puisqu’il n’y a point der rapport qui e´chappe a` son omniscience, le resultat de chaque vue de l’univers comme regarde´ d’un certain endroit, est une substance qui exprime l’univers conformement a` cette vue, si Dieu trouve bon de rendre sa pense´e effective, et de produire cette substance. (AA VI,4 S. 1549.19–1550.5). 32 Vgl. AA VI,2 S. 490.2, AA VI,4 S. 637.1–2, 1549.18–19 u. 1580.15–16, sowie Monadologie, n. 47. 33 . . . la realite´ de toutes choses excepte´ les substances simples, ne consiste que dans le fondement des perceptions ou des phenomenes des substances simples. (AA VI,6 S. 145.20–21 u. GP V 132, dort fälschlich: perceptions des phenomenes.) 34 Vgl. AA VI,4 S. 1515.17–21 u. 1790.2–6, auch GP II 438f.

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Die Materie ist nicht Nichts, hält Leibniz Berkeley entgegen, sondern das Resultat der Substanzen.35 Resultatum substantiarum heißt wohl kaum, dass Materie und Körper bloß für die Substanzen da sind, sondern umgekehrt, dass sie erst durch ihr Zusammenwirken unmittelbar erzeugt werden, erzeugt als E n t w u r f , der Gottes Zustimmung bedarf, um realisiert zu werden. Dabei gilt, dass jede Monade die Mängel der Phänomene der anderen ausgleicht.36 Der oft herangezogene wohlgeordnete, kongruente Traum war, möchte ich behaupten, für Leibniz nichts als ein gefälliges Mittel, das wirklich Gemeinte anzudeuten. Die originäre Angewiesenheit der Monaden auf einen Körper ist Ausdruck dafür, dass sie nicht alle gleichermaßen herrschen können. Die Mitwirkung der sich Unterordnenden drückt sich darin aus, dass selbst die Herrschaft über unseren Körper nicht vollkommen ist, es sei denn, wir geben sie durch Suizid auf. Die Substanz ist als f r e i Handelnde natürlich Ursache der Phänomene, aber keineswegs die einzige, nicht einmal die letzte, denn sie e n t w i r f t nur. Ursache, Fundament der Phänomene ist letztlich Gott. Gleichwohl macht Gott die vernünftigen Substanzen für ihr Tun verantwortlich und ist so nicht als causa peccati anzusehen. Gott habe Judas, den Verräter, nicht geschaffen, argumentiert Leibniz, sondern die Welt, in der Judas war – wie wir wissen, weil sie die Beste ist.37 Hätte er ihn durch einen Nichtverräter ersetzt, wäre diese Welt nicht mehr die, die sie war und damit nicht mehr die auszuwählende beste. Selbst wenn es sich dabei um einen innergöttlichen Prozeß handelt, der durch das Fiat! abgeschlossen wird, ist im Agieren der Substanzen – nicht einmal der sich einer Dominanz unterordnenden – nicht das Ablaufen eines aufgezogenen Automaten zu sehen, sondern ein eigenverantwortliches Handeln, allerdings nur mit dem Charakter eines Entwurfs, oder einer Bewerbung zur Aufnahme in den Club der Existierenden. Die Rationalität dieses Ansatzes drückt sich darin aus, dass Leibniz ihn für alle möglichen Welten in Anspruch nimmt,38 anders wären sie auch nicht als Kandidaten für die Wahl der besten geeignet. Anders ausgedrückt, hätte Judas sich anders bestimmt, wäre er gar nicht Judas geworden und hätte seinen Platz in einer anderen, weniger vollkommenen Welt gefunden. An einem Modell sollte hier die Fundamentalontologie illustriert werden, die der Metaphysik von Leibniz zugrundeliegt, um seinen Weg zur Phänomenalität unserer Körperwelt und zur Selbstkonstitution der Monaden in ein neues Licht zu

35

W. Kabitz, Leibniz und Berkeley. (Sitz.-Ber. d. Preuß. Akad. d. Wiss. Jg. 1932, Phil.-Hist. Kl., S. 636). 36 Una Monas defectum phaenomenorum alterius supplet. Omnia phaenomena simul sumta tali resultato conciliantur. (LH XXXVII, 5, Bl. 134). 37 Vgl. AA VI,3 S. 118–121, DM n. XXX u. Theod. n. 337, 407 u. 409. 38 Vgl. Theod. I, n. 9, GP VI 107.

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rücken. Gott ist der Realisierende, die einfachen Substanzen sind das einzig bleibende, freihandelnde Reale, der Rest ist von vergänglicher Phänomenalität. Alles, was ist, hat seine ratio reddenda in der Realität der geschaffenen Monaden und ihres Schöpfers, in der Urmonade, und ist nur aus ihr zu begreifen. Es sollte die Rationalität der Totalitätsthese deutlich werden, die behauptet, dass jede einfache Substanz auf ihre Weise die ganze Welt und ihre volle Geschichte anteilig im Zusammenwirken mit allen anderen Monaden erzeugt und beiläufig auch den ihr temporär zugeordneten Körper. Die phänomenale Realität der Körper gründet in einem Fundamentalprinzip, das voll nur dem göttlichen Verstand bekannt ist. Wir wissen von ihm nur, dass nichts als das insgesamt Bestmögliche zur Existenz gelangt, ohne einen anderen Grund für die Inkompatibilität des nicht zu Erschaffenden zu kennen. Aber auch wenn diese Realität der Phänomene ihren Grund in Gottes Sicht der Welt hat, ist sie keine mindere Realität. Dem M o n a d e n r e a l i s m u s entspricht, meine ich, keine Form von Idealismus. Die körperliche Welt besteht n i c h t aus b l o ß e n Phänomenen, selbst wenn ihr Bleiben in der Geschichte nur ein vorübergehendes ist. Alle individuellen Geschöpfe, alle s i n g u l ä r e n S u b s t a n z e n mit den ihnen zugeordneten Körpern sind, metaphysisch gesprochen, r e a l . I d e a l ist nur das Allgemeine, sind nur die Abstraktionen, die den Gegenstand der Wissenschaft bilden. Man wird mir wohl nicht widersprechen, wenn ich es auf folgenden Nenner bringe: Es ging Leibniz nicht um eine Metaphysik, die sich unserer Lebens- und Körperwelt nach und nach assimiliert, sondern um eine Metaphysik – aus reiner Vernunft –, die die rationalen Grundlagen für das Verstehen dessen, was hier der Fall war, ist und sein wird sichert; für das, was der Wissenschaft in ihrer streng kausalen Sichtweise – obwohl sie darauf angewiesen ist – entgeht. Schwierigkeiten mit dem Körper sind nicht da zu sehen, wo es darum geht, die Monaden an den Körper heranzuführen, diesen aus ihnen irgendwie zusammengesetzt sein zu lassen, sondern da, wo der Körper reduziert werden muß auf das, was er metaphysisch gesehen für die Monade eigentlich ist: Hindernis und Mittel zugleich, sich als Realität zu konstituieren.

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»DE AFFECTIBUS«. LEIBNIZ AN DER SCHWELLE ZUR MONADOLOGIE SEINE VORARBEITEN

ZUM LOGISCHEN

AUFBAU

DER MÖGLICHEN

WELTEN

SUMMARY If1 we take a closer look at De affectibus we gain revealing insight into Leibniz’s workshop of ideas. From the 20th to the 22nd of April 1679 he began to develop ideas which at first look like an attempt to realise his long-planned Philosophia de Mente but which in fact move more and more in the direction of his later Monadology. He entitled these studies, on which he worked again and again, De affectibus because he ultimately sought the reason for the mind’s occupation with particular thoughts in the emotions which determine it. But this is only the theme in the first part of his investigations. In the second part of De affectibus, on which my paper focuses, Leibniz’s investigations become more abstract. He ceases to be interested in emotions and proceeds instead to create definitions and draw principles from these with which he is able to achieve the logico-ontological construction of possible worlds, even if this term itself does not appear. He effectively creates laws which would bring order into the chaos of possibilities. To this end, he investigates between all possibilities the relations of consequence, identity and diversity, compatibility and incompatibility. The striving of essences for existence, limited only by incompatibility, is brought into a relational structure and submitted to the realisation of the best possible. In these studies we find the first explicit formulation of the principle of the predicate being contained in the subject in respect of all its possibilities and the particular moment now in its existence. This present moment is constituted by everything which is, was, or will be and by so doing determines the order of succession and thus of time. The compact sequence of definitions, postulates, and propositions, gathered in the appendix, may be seen as the initial stage of metaphysics as a strict science. This was a project which Leibniz broke off and never took up again in this way. I hope to show that these studies deserve more consideration than they have had up to now.

1

Dieser Beitrag bietet eine leicht veränderte Fassung zweier Beiträge zur International Young Leibniz Conference, Rice University, Houston (U.S.A.) im April 2003. Gedruckt in Studia Leibnitiana, Bd. 35, 2003, S. 133–161.

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Wir kennen nicht das Motiv, das Leibniz bewog am 20. und 22. April 1679 fünf Foliobögen eng zu beschreiben, mit dem Titel De Affectibus. Ubi de Potentia, Actione, Determinatione2 zu überschreiben, und, was er selten tat, mit einem präzisen Datum zu versehen. Diese mehrfach ähnlich neu ansetzende Studie muß der Leibniz-Forschung bisher wenig attraktiv erschienen sein, obgleich sie wahre Perlen birgt. Leibniz scheint zunächst mit der Lösung der Aufgabe, die er sich stellte, wenig zufrieden gewesen zu sein, bis er sein Projekt am letzten Tag entscheidend änderte und genial voranbrachte, dann aber aus nicht erkennbaren Gründen unabgeschlossen liegen ließ, um es jedenfalls so nie wieder aufzugreifen. Es ist nicht ausgeschlossen, dass ihn der geniale Gedanke, einen neuartigen Kalkül der charakteristischen Zahlen zu entwickeln, noch im selben Monat April überfallen und so stark besetzt hat, dass er über den neun Stücken, die er kurz nacheinander dazu konzipierte, alles andere vergaß.3 Hatte Leibniz, in zeitlicher Nähe, mit seinem Konzept über die Analyse der Gedanken4 versucht, durch Definitionenketten bis zu einfachen Begriffen zu gelangen, wählt er in De affectibus Definitionenfolgen, die zwar auch den analytischen Charakter erkennen lassen, wohl aber mehr dazu dienen, Begriffe zu klären. Insbesonders geht es ihm zunächst um eine Philosophia de Mente, an der er schon in Mainz arbeitete, um den Geist und seine ihn bestimmenden Attribute zu begreifen. Spätestens in der zweiten Hälfte geht es ihm aber immer mehr darum, Möglichkeiten zueinander in Relation zu setzen, und den logischen Aufbau der Welt mit ihnen zu begreifen. Wenn die Schöpfung dieser Welt letztlich auf einen Selektionsprozeß innerhalb der erschaffenden G e d a n k e n G o t t e s zurückzuführen ist, und wenn strukturell kein Unterschied zwischen Gottes Denken und dem unseren besteht, mag Leibniz auch im ersten Teil unseres Stückes die Beobachtung des eigenen Denkens zum Leitfaden genommen haben, um diesen Schöpfungsprozeß in seiner Theorie nachzuvollziehen. 1 De affectibus besteht aus Folgen von Definitionen, die Leibniz wiederholt neu ansetzt, sodass wir in unserer Edition den Text in 10 Abschnitte geteilt haben. (Einige kleinere Abschnitte haben wir mit Absicht übergangen.) Wir schauen 2 3

datiert.

4

AA VI,4 N. 269, eines von nur sechs voll datierten Stücken aus AA VI,4. Vgl. AA VI,4 N. 56 bis 64 (Cout. S. 42–92). Alle von Leibniz mit April 1679 De cogitationum analysi [1678–1684], AA VI,4 N. 493.

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gleichsam in die Gedankenschmiede unseres Philosophen, in der er die Definitionen so oft umgehämmert hat, bis sie passen. Der e r s t e dieser 10 Abschnitte [A]5 bietet eine Definitionenkette, besser gesagt, einen Baum, ansetzend von einer Definition des Geistes als eines sich seiner selbst Bewußten. Dieser Stamm wird in den folgenden Ansätzen nicht wiederholt, auch nicht überholt, bleibt aber für die ganze Studie bestimmend. Sie setzt an mit der Definition: Mens est illud, cujus aliqua est conscientia, id est actio in se ipsum, qualis in me est. Man erkennt Descartes’ sum cogitans. Und Leibniz analysiert weiter: Cogitatio est status mentis, qui conscientiae causa proxima est. Dem Selbstbewußtsein geht also etwas voraus, ein G e d a n k e nämlich, ein Zustand des Geistes, der actio genannt wird, insofern er unmittelbar eine Veränderung verursacht, passio hingegen, insofern er von der Veränderung unmittelbar bewirkt wird. Die Veränderung ist, so definiert Leibniz weiter, ein Aggregat aus zwei kontradiktorischen Zuständen, der unvermittelte Übergang von ist jetzt noch A zu ist dann schon Nicht-A. Im Pacidius Philalethi hatte er dieses Problem Ende 1676 mit Bezug auf die Bewegung als transcreatio erklärt6 und damit voll in die Wirkung Gottes gelegt. Hier in De affectibus bahnt sich etwas Neues an, wenn Leibniz als nächstes definiert: Vis seu Potentia est status [mentis] ex quo sequeretur actio, aber schon hier mit der bedingenden Kautele, nisi esset aliquid ex quo eadem ratione sequi deberet. Gefragt ist also der Zustand, der der Handlung vorangeht, die Kraft, die sie verursacht. Hier bricht der erste Ansatz ab, nachdem Leibniz feststellt: Der Wille entspringt erst dem Gedanken, als ein Streben nach außen tätig zu werden, dem Urteil (sententia) nämlich. Ein Streben, das der Begriff und die Vorstellung noch nicht haben. Der d r i t t e , wie schon der z w e i t e Abschnitt [B, C] ansatzweise, macht einen längeren Exkurs in die A f f e k t e n l e h r e D e s c a r t e s ’ , von der im folgenden Text jedoch keine Notiz mehr genommen wird. Auch ich werde nicht weiter darauf eingehen. Möglicherweise hoffte er bei Descartes’ und Spinozas Definitionen der Affekte, Material zu finden für seine Analysen im Rahmen der geplanten Scientia generalis. Der v i e r t e Abschnitt [D] kann als eine Phänomenologie unseres Denkens betrachtet werden. Leibniz beobachtet sich beim Denken, sucht die Motive, die den Geist zu bestimmten Gedanken und Gedankenfolgen determinieren. Eine Gedankenfolge entspringt entweder d i s t i n k t e n Ideen, so, wenn die Ursache eines Dinges bedacht wird und die Ursachen der Ursache, oder die Wirkung und 5

Die schlichten Majuskeln in eckigen Klammern verweisen auf die Abschnitte von De Affectibus, die eingeklammerten Majuskeln mit Ziffern auf das Formularium im Anhang. 6 AA VI,3 S. 566–568.

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die Wirkung der Wirkung. Aber wir können auch anderen Gesetzen folgen, die etwa aus den Graden, aus den Ähnlichkeiten oder aus Kombinationen resultieren. Eine Gedankenfolge kann aber auch k o n f u s e n Ideen entspringen, aus solchen, die wir erfahren, wenn wir der Zeit oder dem Ort in gewisser Ordnung folgen. Niemals bleibt der Geist an eine Folge geheftet. Es gibt auch solche, die in sich rekurrieren. Jedenfalls braucht der Geist ein Motiv, um das, was er sucht, in einer bestimmten Folge zu finden. Nach und nach wird Leibniz’ Interesse an allgemeinen Zusammenhängen zwischen den Gedanken deutlich, so etwa, ob sie sich enthalten, einer bestimmten Ordnung folgen oder gar sich entgegengesetzt sind. Aber noch überwiegt das Interesse an den Motiven. Das Denken des Guten als Kontemplation ist L i e b e , als ein mögliches ist B e g e h r e n , als ein wahrscheinliches H o f f n u n g , als ein gewisses S i c h e r h e i t und als ein gegenwärtiges F r e u d e . L i e b e n können wir auch was unmöglich zu erreichen ist, nicht aber begehren noch erhoffen. In jedem Fall begreifen wir das, was wir lieben, begehren oder erhoffen als g e w i s s e S u b s t a n z e n , also nicht als Abstrakta, sagen wir, wie Vaterland, Freiheit oder unseren Beruf. Leibniz setzt den Affekt im Geist in Analogie zum Impetus im Körper. Für den Fall, dass ein Affekt auf den anderen trifft, bedeutet das, dass der eine die Wirkung des anderen aufhebt oder sich mit ihm zu einer neuen Determination verbindet, wohl nach Art des Kräfteparallelogramms. Damit kommt das Maß an Kraft ins Spiel, der Grad an Realität. und sogleich treffen wir auf die erste Formulierung quo plus realitatis involvit und damit auf die o n t o l o g i s c h e We n d e . Mit diesem Abschnitt endet die erste Hälfte der Studie und zugleich das Interesse an der Genese der Affekte. Von amor, odium; cupiditas, aversio; spes, metus und anderen Affekten ist im Folgenden keine Rede mehr. Der f ü n f t e Abschnitt [E] und der von Leibniz am Rand daneben geschriebene s e c h s t e Abschnitt [F] leiten eine abstraktere Betrachtungsweise ein. Es beginnt die Rede von einem plus realitatis. Das Folgen aus einer Anlage und seine Verhinderung werden erstmals thematisiert. Mit der Definition des natürlichen Folgens setzt eine o n t o l o g i s c h e We n d e ein. Ebenfalls ist erstmals von der Existenz eines Dinges die Rede. Diesem und den folgenden Abschnitten gilt hier mein Interesse. Im s i e b t e n Abschnitt [G] formuliert Leibniz erstmals das Axiom von der Verwirklichung des Vollkommensten, das aus einem jeden folgen kann, ein Axiom, das er im a c h t e n und n e u n t e n Abschnitt [H, I] weiter absichert. Mit letzteren endet die Rede von cogitatio, series cogitandi und status. Im letzten und z e h n t e n am 22. April geschriebenen Abschnitt [J] vollzieht Leibniz die eigentliche o n t o l o g i s c h e We n d e zu den Dingen, den Possibilia und zur Existenz. Der ontologische Folgerungsbegriff und seine Derivate wie auch ein großer Teil der mit ihm formulierbaren Prinzipien und Propositionen lassen

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sich symbolisieren. Diese neu formulierte Logik als den Grund der Ontologie zu begreifen, ontologische Relationen in logischen Verbindungen auszudrücken, scheint das Ziel dieser Arbeit zu sein. Nur wenig später spricht er von einer Logica de compatibili et incompatibili sive de connexo et inconnexo,7 ein Titel, der gut zu dieser neuen Logik passen würde, vielleicht auch genau für sie gemünzt wurde. Klarheit dürfte allgemein darüber herrschen, dass für Leibniz der Gedanke, auch wenn er ihn als actio mentis definiert, kein von uns erzeugtes mentales Objekt meint. Vielmehr sieht er den Geist als besetzt von Gedanken und Gedankenfolgen, die unabhängig von unserem Denken existieren. Das gilt selbst für das Denken Gottes, der die Ideen, die Essenzen, die Wahrheiten und selbst die Möglichkeiten nicht selbst erzeugt. Das bedeutet aber nicht, dass außer oder unabhängig von Gott ein Platonischer Ideenhimmel anzunehmen ist, sondern, wie Leibniz es konzeptualistisch ausdrückt, dass die Gesamtheit der Ideen und ewigen Wahrheiten vielmehr den Verstand,8 eben den Verstand Gottes ausmachen. Die mens, der Geist, ist als Substanz stets aktiv. Sie verändert nicht ihre Identität, wohl aber ihre Eigenschaften, eben ihre Gedanken. Der Kern der Veränderung, die mutatio, wird, wie gesagt, von Leibniz radikal definiert als der unvermittelte Übergang zur Kontradiktion, auch als das Aggregat zweier kontradiktorischer Zustände. Das verrät uns, dass der Gedanke als eine P r o p o s i t i o n aufzufassen ist, denn nur von solchen können Kontradiktionen gebildet werden. Zugleich bedeutet das aber, dass Propositionen mehr sind als sprachliche Gebilde. Eine Proposition steht für den Sachverhalt, den status, den sie ausdrückt, also für etwas Reales, dessen Existenz allerdings gewissen Modalitäten unterworfen ist. Er kann bestehen oder nicht bestehen, er kann notwendigerweise oder nur möglicherweise bestehen oder auch nicht, er kann kontingenterweise bestehen, was heißt, er hätte auch nicht bestehen können. Der Gedanke strebt aber nicht nur nach Veränderung, sondern auch nach Verwirklichung, nach Existenz. Wirklich wird jedoch nicht der Gedanke selbst, sondern die Mens, genauer gesagt, die singuläre Substanz, die mit ihren Gedanken identifiziert wird, insofern diese, wie Leibniz später sagen wird, ihre notio completa ausmachen. Entscheidend ist, dass nichts i s t , was nicht g e d a c h t ist, und, dass alles s o ist, w i e es gedacht ist. Gedacht bedeutet dabei b e g r i f f e n v o n G o t t . Da liegt die Wurzel der Isomorphie von Denken, Sprechen und Sein, dessen, was Leibniz meint, wenn er griffig formuliert Cum Deus calculat et cogitationem exercet, fit mundus.9 Diese Isomorphie besagt, dass sich die Dinge so verhalten wie die ihnen 7 8 9

De Arte inveniendi combinatoria [Mai bis Juni 1679], AA VI,4 S. 332.17. Vgl. Essais de Theodice´e, D.P. § 1 (GP VI S. 49). Dialogus [1677], AA VI,4 S. 22 Fn 2.

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entsprechenden Begriffe. Es geht also darum, die wahren Begriffe zu finden und zueinander in richtige Relation zu bringen. Das erste durch Analysen, das zweite durch Definition der logischen Relationen und Entdeckung der sie regierenden Prinzipien und Gesetze. 2 Wenn Leibniz als Gründer der modernen Logik gerühmt wird, dann sind es seine K a l k ü l e , die als Zeugnisse dafür zitiert werden. Weniger beachtet blieb seine Logik der Aussagen, besser gesagt, der Folgerungsrelationen. Das ist umso weniger zu verstehen, als es die Bedingung sine qua non für die Entwicklung seiner Logik und vor allem seiner Metaphysik gewesen ist, diese Relationen zu definieren. Eine Schlüsselschrift dafür, unser De affectibus, blieb – obwohl sie schon 1917 von Ivan Jagodinski10 ediert wurde und dann 1948 nochmals von Gaston Grua und 1986 in der Vorausedition.11 bis auf die Thematisierung in meinem unveröffentlichten Vortrag auf dem Leibniz-Symposium in Brüssel 1985 meines Wissens von den Logikern und den Historikern der Logik völlig unbeachtet.12 Ein Text kann im reinsten Sinne f o r m a l sein, ohne symbolisiert zu sein. Gleichwohl kann er sich – jedenfalls in weiten Teilen – bestens dazu eignen, in eine symbolische Darstellung überführt zu werden. Der Schlußteil von De affectibus ist ein solcher Text. Um Mißverständnissen vorzubeugen, sei gesagt, dass meine Symbolisierung nichts mit der zeitlich nahen Leibniz’schen Charakteristik zu tun hat. Bei dieser geht es letzlich um Materielles, nämlich um die mit geeigneten Charakteren zu repräsentierenden Begriffe, nicht aber um die Form, nicht um die Relationen, in denen Dinge oder Sachverhalte zueinander stehen, wie etwa Identität und Verschiedenheit, Folge und Opposition, Kompatibilität und Inkompatibilität, also nicht um Relationen. Von ihnen ist in den Kalkülen zur Charakteristik keine Rede. Mir ist bewußt, dass Formeln nicht Jedermanns Sache sind und dass das, was für den einen eine willkommene Stütze zur Interpretation darstellt, für den anderen nur abschreckend wirkt. Daher will ich mich bemühen, die im angehängten Formularium zusammengestellten formalen Errungenschaften von De affectibus in allgemein verständlichen Worten zu erklären. 10

I. Jagodinski, Neizdannye zametki Lejbnica o dusˆe, Kazan 1917. G. Grua, Textes ine´dites, 1948, S. 512–537. – Vorausedition, Fasz.. 5, N. 226 (1986) und AA VI,4 N. 269. 12 Ein ähnliches Schicksal hatten die Disputationes de conditionibus (1665 u. 1669, AA VI,1 N. 5, 6 u. 11) des Jura-Studenten Leibniz. 11

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Ich kenne keine Schrift aus dieser Zeit, in der Leibniz sich auch nur ähnlich deutlich und umfassend mit der Definition logisch-ontologisch relevanter Relationsbegriffe und den aus ihnen resultierenden Prinzipien befaßte. Diese Definitionen legen Zeugnis ab für die Klarheit der Konzeptionen unseres Philosophen. Es ist nicht anzunehmen, dass sie ihm alle erst bei Gelegenheit dieser Niederschrift am 22. April 1679 eingefallen sind. Einige davon hat er schon in seinem letzten Jahr in Mainz festgehalten.13 Als Leitmotiv für die Arbeit an diesen Definitionen kann gelten, was Leibniz einige Zeit später formulierte: opus erit constantes adhibere vocabulorum significationes, ut species omnis absurdae locutionis evitetur.14 Zu deutsch: »es wird notwendig sein, konstante Bedeutungen der Wörter anzuwenden, um alle Arten absurder Reden zu vermeiden«. dass das besonders bei metaphysischen Untersuchungen, die sich nicht auf Erfahrung stützen können, angebracht ist, leuchtet ein. Meiner Meinung nach verfolgte Leibniz mit den letzten Abschnitten von De affectibus nichts weniger als einen Ansatz zu einer M e t a p h y s i k a l s s t r e n g e r W i s s e n s c h a f t .15 Die von mir im Anhang zusammengestellten Definitionen, Postulate und Propositionen lassen diesen Schluß jedenfalls zu. Charakteristisch für die Logik von Leibniz ist die B i v a l e n z d e r Va r i a b l e n . Manchmal sind sie besser als Aussagen oder Sachverhalte, manchmal besser als Begriffe zu interpretieren. Wenn wir einen gemeinsamen Nenner suchen, könnten wir sagen, dass alle Begriffe, insofern sie nicht für zeitlose Bestimmungen stehen, sich als Attribute eines Subjekts deuten lassen und damit als Aussagen über dieses Subjekt hier und jetzt gelten. Umgekehrt lassen sich alle Aussagen als Teil des vollständigen Begriffs der Substanz, von der sie ausgesagt werden, deuten und werden somit wie Begriffe behandelt. Bemerkenswert ist schon die Definition des n a t ü r l i c h e n F o l g e r n s . Natürlich, möchte ich es nennen, weil Leibniz den traditionellen modus ponens um die Bedingung des natura prius erweitert, dem gemäß ein gültiger Schluß nur dann vorliegt, wenn aus der Existenz eines der Natur nach Früheren die Existenz von Etwas der Natur nach Späterem erschlossen wird. Dadurch bekommt das Schließen eine o n t o l o g i s c h e Valenz, die schon das Beweisen – nicht der Syllogismus selbst – bei Aristoteles hatte. Leibniz setzt den modus ponens und die (strikte) Implikation voraus, überschreitet aber beides, insofern das natürliche

13

Vgl. die Vorarbeiten zur Characteristica universalis. [2. Hälfte 1671 – Frühjahr 1672 (?)], AA VI,2 N. 58. 14 De libertate et necessitate, AA VI,4 S. 1447.17. 15 In allerdings anderem Sinn glaubte Heinrich Scholz mit seinem Entwurf einer Metaphysik als strenge Wissenschaft (Köln 1941) die allgemeine Ontologie auf die Prädikatenlogik mit Identität reduzieren zu können.

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Folgern nicht allein für zeitlose Gegenstände, sondern primär für Sachverhalte in der Zeit, besser gesagt, in der Ordnung des Nacheinander gilt. Festzuhalten ist auch, dass Leibniz an keinem anderen Ort außer in De affectibus den so häufig gebrauchten Begriff des F o l g e r n s explizit definiert hat. Was d e r N a t u r n a c h f r ü h e r ist, soll sich an der leichteren Begreifbarkeit zeigen, eben daran, dass weniger bekannt sein muß, um das eine eher als das andere zu verstehen. Dem liegt freilich die These von der A n a l y s i e r b a r k e i t aller Begriffe zugrunde, aber auch das damit verbundene Prinzip der I s o m o r p h i e zwischen Denken, Sprechen und Sein. Das aus dem der Natur nach Früheren Folgern ist f u n d a m e n t a l , insofern Leibniz die nachfolgenden Definitionen darauf aufbaut und ihnen damit o n t o l o g i s c h e Relevanz gibt. Zunächst das R e q u i s i t u m , das bestimmt wird als das, was notwendigerweise als der Natur nach Früheres gegeben sein muß, damit das von ihm Abhängige existieren kann. An anderer Stelle behauptet er konsequenterweise, Gott sei das am einfachsten zu Begreifende.16 Dann bauen auf das natürliche Folgern die Definitionen der Kompatibilität und der Inkompatibilität auf. Als k o m p a t i b e l definiert Leibniz Dinge, die aus demselben Wahren natürlich erschlossen werden können und deswegen z u g l e i c h sind. Man beachte, dass dieses z u g l e i c h nicht auf ein Moment in einer absoluten Zeit rekurriert, sondern im Gegenteil, dass es gerade dazu dienen wird, ein solches Moment in der Ordnung des Nacheinander allererst zu konstituieren. Bei einer solchen Definition der Kompatibilität, insofern sie nichts anderes ist als eine simultane Konjunktion, kann kein Zweifel an ihrer Transitivität bestehen, als der Eigenschaft, die sie neben der Symmetrie und der Reflexivität braucht, um als eine Äquivalenzrelation zu gelten. Dass Kompatibilität durchaus nicht trivial gegeben ist, zeigt die als Negation der Kompatibilität definierte I n k o m p a t i b i l i t ä t . Sie liegt immer dann vor, wenn aus der Existenz des einen die Nichtexistenz des anderen natürlich folgt. Die K o n t r a d i k t i o n , die Relation zweier Aussagen, die nicht zugleich wahr und nicht zugleich falsch sein können – eine Gesetzlichkeit, die besonders im logischen Quadrat seit Aristoteles eine zentrale Rolle spielt –, reduziert Leibniz auf die Inkompatibilität und die Inkonnegabilität, die nicht gleichzeitige Verneinbarkeit. (Leibniz spricht hier von O p p o s i t a , meint aber, wie aus einer späteren Definition deutlich wird, nichts anderes als die Kontradiktion.) Diese Reduktion gelingt ihm hier zwar nur ansatzweise, wird aber bald nachgeholt. Ebenso auch die Definition des z e i t l i c h Früheren durch Reduktion auf Inkompatibilität und das als leichter Begreifbares bestimmte n a t ü r l i c h Frühere.

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Enumeratio terminorum simpliciorum, AA VI,4 S. 390.1.

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Von nicht zu überschätzender Bedeutung für die Ausbildung seiner Metaphysik ist Leibniz’ fundamentale, verblüffend einfache Definition der Ve r ä n d e r u n g , des Keims der Handlung, als des unmittelbaren, kontinuierlichen Übergangs zum kontradiktorischen Prädikat nullo existente momento mutationis, oder gar als das Aggregat kontradiktorischer Zustände. Leibniz könnte hier nicht von kontradiktorischen Zuständen (statibus contradictoriis) sprechen, wenn er diese Zustände nicht repräsentiert sähe durch Aussagen, durch Propositionen, die allerdings selbstverständlich mehr sind als nur sprachliche Gebilde, eben Sachverhalte, wenn nicht sogar komplexe Sachverhalte.17 Leibniz geht es darum, Ordnung in das Chaos des Bloßmöglichen zu bringen, das er gegen Spinoza zur Rettung der Freiheit eingeführt hatte. Das wird deutlich bei dem, was ich seine M e t h o d e d e r F i k t i o n nennen möchte. Noch ist keine Trennung der Möglichkeiten in verschiedene mögliche Welten erfolgt. Jede Möglichkeit ist mit einer nur ihr eigenen, unverwechselbaren N a t u r ausgestattet, die auf ihre Verwirklichung angelegt ist. Leibniz’ Begriff der Natur einer Substanz wird manchem näher gebracht, wenn er sie vergleicht, bei weitem aber nicht identifiziert, mit dem, was die Genforscher heute mit dem Begriff eines Genoms erfassen, dessen angekündigte Entschlüsselung Bill Clinton vor drei Jahren mit dem Satz glücklich formulierte: Heute lernen wir die Sprache kennen, in der Gott das Leben erschaffen hat.18 Solche Vergleiche dürfen aber nur als eine Brücke zum Verständnis genommen werden. Die metaphysische Betrachtung hat grundsätzlich nichts gemein mit Biologie und anderen auf Erfahrung basierenden Wissenschaften. Auch wenn Leibniz gerne wissenschaftliche Ergebnisse seiner Zeitgenossen benutzt, um ein wenig Anschauung in seine hyperabstrakten Reflexionen zu bringen, wird man nicht sagen dürfen, er sei von diesen beeinflußt. Allenfalls haben sie seine schöpferische Phantasie beflügelt. Leibniz begnügt sich nicht damit, abstrakt das B l o ß m ö g l i c h e in seine Metaphysik eingeführt zu haben, anders ausgedrückt, demjenigen, das nicht war, nicht ist und niemals sein wird, einen Platz eingeräumt zu haben. Er konkretisiert das Bloßmögliche als mögliches Subjekt mit seinen nur ihm eigenen Prädikaten, ja sogar als mögliche Substanz, und fragt nach den Bedingungen seines Wirklichoder Verhindertwerdens. Diese K o n k r e t i s i e r u n g d e r P o s s i b i l i a kann umfassender kaum gedacht werden. M o m e n t a n kommen einem Possibile a l l e einfachen

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Schon 1671 definierte Leibniz: s t a t u s est aggregatum accidentium und ergänzte das bald mit seu praedicatorum contingentium, also als die Gesamtheit der Prädikate, die einem Subjekt in einem bestimmten Moment zukommen (Elementa juris naturalis, AA VI,1 S. 466.21 483.26 und AA VI,2 S. 499.14). 18 N. Wade, Scientists Complete Rough Draft of Humane Genome in New York Times, 27. Juni 2000.

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Attribute, auch Perfektionen genannt, in einem bestimmten Grad an Realität – mit Ausnahme des Gott vorbehaltenen höchsten Grades – bis hin zur maximalen Privation zu. Darüberhinaus aber auch alle erdenklichen Prädikate, bejahend oder verneinend. Dergestalt füllt die Gesamtheit aller Possibilia den ganzen l o g i s c h e n R a u m , wie Wittgenstein sagen würde. Eigentlich aber füllen sie nur das ganze logische Feld, denn zu einem Raum wird diese Gesamtheit erst durch die kontinuierliche Veränderung. Diesen logischen Raum strukturiert Leibniz zu möglichen Welten durch die Relationen der Folge und der Kompatibilität. Es kristallisieren sich zunächst S u b s t a n z e n , dann – als Gesamtheiten von miteinander kompatiblen Substanzen – We l t e n heraus. Lokalisiert wird dieser Prozeß in den Verstand Gottes, der von Leibniz f o r m a l als die Gesamtheit der ewigen Wahrheiten betrachtet wird, m a t e r i a l als die Gesamtheit des widerspruchsfrei Denkbaren, eben dieser Possibilia, v o r der beabsichtigten Schöpfung. An sich, sagt er, folgt aus jedem Possibile das, zu dem es determiniert ist, ja sogar die Existenz, allerdings nur, wenn das nicht verhindert wird. Gehindert wird es nur durch Vollkommeneres, sodass das, was existent wird, sich dadurch als das Vollkommenere erweist. So eröffnet Leibniz mit der F i k t i o n d e s A n - s i c h ein Feld, auf dem es so etwas gibt wie das, was Darwin später den struggle for life nennen wird, auf dem der Tüchtigere überlebt. Während es bei Darwins survival of the fittest darum geht, auf dieser Welt zu b l e i b e n , eben als Art zu überleben, geht es bei Leibniz, salopp gesagt, darum, in diese Welt zu k o m m e n und, wenn das nicht gelingt, irgendwo anders seinen Platz zu finden. Man könnte Leibniz einen Darwinisten avant la lettre nennen, müßte allerdings hinzufügen, einen o n t o l o g i s c h e n Darwinisten. An die Stelle des Kampfes tritt bei ihm das Gegenteil, die Liberalität, da er erwartet, dass der eine großzügiger als der andere handelt, ut alius alio liberior.19 Um jede dieser Möglichkeiten unabhängig von allen Hindernissen, die sich ihrer Verwirklichung in den Weg stellen, behandeln zu können, und um zu untersuchen, wozu sie von Natur d e t e r m i n i e r t ist, definiert Leibniz zunächst das, was zu ihr gehört. [D 14] Gemeint ist unter diesem ad rem pertinens das, dessen Vorhandensein das Gegenteil dessen bewirkt, was erwartet wird. Um diese Wirkung wiederum auszuschließen, definiert er das in se spectatum. Er fingiert damit den fiktiven Zustand des a n s i c h b e t r a c h t e t , der ihm die Formulierung effektiver Prinzipien erlauben wird. [D 16] Die Ausstattung der Possibilien bezüglich ihrer Natur ist jedoch nicht gleichmäßig. Die einen haben mehr, die anderen weniger Realität, die ihnen zukommende Perfektion ist höchst verschieden. Was P e r f e k t i o n in diesem Sinn

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Vgl. Ad notionem libertatis Guillielmi Gibieuf [nach 1685], AA VI,4 S. 1793.8.

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bedeutet, zeigt sich aber erst im Akkord mit allen anderen Möglichkeiten, zeigt sich erst an der wachsenden Kompatibilität der Konkurrenten. Mit der Hilfe der Inkompatibilität gelingt ihm auch die formale Definition des B e h i n d e r n s : Wenn aus zwei an sich Betrachteten Inkompatible folgen und eines davon absolut betrachtet nicht folgen würde, dann ist es das gehinderte. Absolut betrachtet bedeutet offenbar soviel wie ohne die schonende Kautele des An-sich, also schutzlos der Konkurrenz ausgeliefert. Die Definition des sich gegenseitig Behinderns ergibt sich konsequenterweise. [D 18] Als das a n s i c h Vo l l k o m m e n s t e wird das definiert, was am meisten Realität besitzt, mit dem bemerkenswerten Zusatz, auch wenn es zufällig Ursache größerer Unvollkommenheit sein kann. Leibniz scheint hier das Problem des Übels in der Welt vor Augen zu haben. Die folgenden Definitionen einer möglichen Welt bis hin zur besten der möglichen Welten lassen sich im Sinne einer konsequenten Weiterführung des von Leibniz abgebrochenen Ansatzes ergänzend hinzufügen. 3

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Aufbauend auf diese Definitionen formuliert Leibniz die Gesetze, die allgemeingültig das Reich der Möglichkeiten ordnen. Zunächst den o n t o l o g i s c h e n K e t t e n s c h l u ß : die Folge der Folge ist auch Folge der Ursache. Dann drei F o l g e r u n g s g e s e t z e d e r K o m p a t i b i l i t ä t . Als erstes: Alles, was folgt, ist kompatibel mit dem, woraus es folgt. Das bedeutet, dass die Kompatibilität in der Reihe der Folgenden nicht abbricht, auch nicht in Verzweigungen oder Bäumen. Das nächste Gesetz besagt: Findet sich etwas außerhalb einer Folgerungsreihe, das mit einem der Folgeglieder nicht kompatibel ist, dann gilt die so festgestellte Inkompatibilität auch für alle vorangehenden Glieder – und eo ipso natürlich auch für die folgenden. Das bedeutet nicht, dass Kompatibilität sich auf eine einzige Reihe, einen einzigen Baum beschränkt. Um im Bild zu bleiben: es gibt einen ganzen Wald von miteinander kompatiblen Bäumen, ja sogar von unendlich vielen Bäumen. Bäume, die auch nur mit einem davon nicht kompatibel sind, müssen draußen bleiben, sozusagen eigene Wälder bilden. Nach dem dritten Gesetz ist alles, was aus demselben folgt miteinander kompatibel. Man beachte: Während das Folgern z u k u n f t s o r i e n t i e r t ist, bleibt die Kompatibilität auf das j e G e g e n w ä r t i g e ausgerichtet. Wir können hier schon die spätere Zweiheit von Appetitus und Perceptio angelegt sehen.

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In verschiedenen Wendungen formuliert Leibniz wiederholt sein Prinzip der R e a l i s a t i o n d e s B e s t m ö g l i c h e n , allerdings stets mit der bedingenden Klausel si nihil impediat, oder einem gleichwertigen anderen Ausdruck. Sein weitreichendes Axiom lautet: Aus einem Jeden folgt das Beste, das aus ihm folgen kann. Für den ausbleibenden Erfolg gibt es offenbar zwei Gründe, wie man etwa nach einem verlorenen Spiel so sagt, einerseits mehr war nicht drin und andererseits mehr hat der Gegner nicht zugelassen. Das erste betrifft die Natur des möglichen Dinges, das andere seine Abstimmung mit den anderen Möglichkeiten, seine Kompatibilität. Nach Leibniz haben wir aber zu erwarten, dass auch die mehr oder weniger gelingende Abstimmung ihren Grund in der eigenen Natur des Dinges hat. Das beschreibt Leibniz auch mit dem Gegensatz actio – passio: Die H a n d l u n g ist der Zustand, durch den etwas aus der Natur des Dinges folgt, das L e i d e n dagegen der Zustand, durch den verhindert wird, dass etwas aus seiner Natur folgt. Das Prinzip des Besten dient nicht allein dazu, die letztlich h i e r in unserer Welt zur Existenz Kommenden auszusondern. Es ist so allgemein angesetzt, dass es in allen möglichen Welten als Existenzkriterium fungiert. Es gilt sogar doppelt, zunächst intra-, dann intermundan. Schon der Aufbau einer beliebigen möglichen Welt würde intramundan nicht funktionieren, wenn das Prinzip der Realisation des Bestmöglichen darin keine Geltung hätte. Von den jeweils Gehinderten – durch Besseres versteht sich, nicht durch irgendeine Form von Bosheit – vertragen sich welche und bilden eine eigene Welt, sozusagen eine Interessengemeinschaft. Erst der spätere Vergleich zwischen den so enstandenen möglichen Welten zeichnet intermundan ebenfalls aufgrund dieses Prinzips die beste als eine solche aus. Die personifizierte Sprache ist durchaus angemessen, da jede Substanz – auch jede nur mögliche – nach Leibniz als f r e i h a n d e l n d e anzusehen ist. Aus paarweise Inkompatiblen folgt jeweils das Bessere. Das gilt natürlich auch für eine Mehrzahl von Inkompatiblen, wie Leibniz es schon früher als das intellektuelle Prinzip von der Existenz der Dinge behauptet hatte.20 Mit der neuen Formulierung gewinnt dieses Prinzip an Präzision. Mit dem nächsten Prinzip einer präsumtiven Existenz aller Möglichkeiten sieht Leibniz einen Admirabilis transitus a potentia 21 ad actum gegeben: Alles, was an sich betrachtet aus einem an sich Betrachteten folgt und sich nicht gegenseitig behindert, folgt auch an sich. Das bedeutet, es muß angenommen werden, dass es folgt, solange sich ihm nichts entgegenstellt. Das kann aber nur Vollkommeneres sein. Dieser admirabilis transitus, der Übergang von der 20

Definitiones cogitationesque metaphysicae [1678–1680], AA VI,4 S. 1395.6. Die beiden Wörter a potentia sind beim Druck von AA VI,4 S. 1432.13 der Technik zum Opfer gefallen. 21

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Möglichkeit in die Wirklichkeit, gelingt oder wird verhindert. Wird er verhindert, bedeutet das nicht Vernichtung der Möglichkeit, sondern Wirklichwerden in einer anderen Welt. Mit jeder von jedem von uns getroffenen Entscheidung, mit jeder Handlung, sondert sich das Zurückgewiesene, das Unterlassene, in eine andere der möglichen Welten ab, in eine solche, die mit der unsrigen die Vergangenheit gemeinsam hat. Die dadurch erzeugte hypertrophe Vermehrung der möglichen Welten bietet kein Argument gegen diese Theorie. Unendlichkeit ist schlechthin hypertroph. In De affectibus zeichnet sich dieser Rückzug der Verhinderten in andere Welten noch nicht ab. Bekannt ist, beiläufig bemerkt, wie fruchtbar sich die Einführung des Instrumentariums der möglichen Welten in die Deutung der Quantenphysik, in die Linguistik, in die Spieltheorie und anderswo erwiesen hat. Mit den Prinzipien: Aus jeder Möglichkeit folgt die Existenz, wenn nur nichts daran hindert und In allen [Möglichkeiten] gibt es einen Grund zur Existenz, wenn nicht eine gewisse Inkompatibilität das Existieren verhindert legt Leibniz in De affectibus den Grund für seine wohl erst ein Jahr später formulierte These22 vom E x i s t e n z s t r e b e n d e r E s s e n z e n , die für die Ausbildung der Monadenlehre so eminent wichtig werden wird. Mit anderen Worten: alles, was existiert, existiert nur deshalb, weil es nicht daran gehindert wurde, positiv gesagt, weil es sich durchgesetzt hat. Durchgesetzt hat sich nur das in Gemeinschaft zustande gekommene jeweils Beste. Das gilt auch für die Bildung einer jeden der möglichen Welten. Die Dynamisierung, das Streben steckt schon im Grundsatz-Postulat, dass Handeln das Charakteristikum der Substanz ist. Nun sind eine Essenz und eine Möglichkeit noch keine Substanz, gleichwohl sind sie als mögliche Substanz zu begreifen. Andernfalls könnten sie auch nicht als Strebende angesehen werden. Mit dem terminologischen Übergang vom logischen sequitur zum ontologischen exigit betont Leibniz die ontologische Valenz und, wie ich meine, das Moment der Selbstkonstitution. Dass die I n k o m p a t i b i l i t ä t der einzige Grund ist, die ratio existendi zu beschränken, notierte sich Leibniz schon 1676 in Paris.23 Hier heißt es: Est enim ratio existendi in omnibus, et incompatibilitas quaedam existere impedit.24 Diese gewisse Inkompatibilität hat ihren Grund objektiv in der Begrenztheit der Kreatur verglichen mit ihrem Schöpfer, subjektiv in ihrer mehr oder weniger gelungenen Einschätzung von Gut und Böse, der Triebkraft ihres Handelns, und resultierend daraus, aus dem geringeren Grad an Realität, der ihr eigen ist. 22

De veritatibus primis [Mitte bis Ende 1680], AA VI,4 N. 270 1443.6 Principium meum est, quicquid existere potest, et aliis compatibile est, id existere 12. Dez. 1676, AA VI,3 S. 582.2. 24 AA VI,4 S. 1432.9. 23

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Dann formuliert Leibniz sechs einleuchtende Postulate für die Folgerung aus an sich Betrachtetem und drei weitere, die sich aus dem Verhältnis des Möglichen zum Wirklichen ergeben. Ich möchte sie hier bis auf eine nicht uninteressante Anmerkung übergehen dürfen. Eines dieser Postulate, dass das, was unmöglich wirklich ist, auch unmöglich möglich ist, hat Georg Hendrik v. Wright in einer äquivalenten Form bei seiner Wiederbelebung der Modallogik25 als das charakteristische Axiom für sein System M’, das dem sog. System S4 von C. I. Lewis26 äquivalent ist, sicher unabhängig von Leibniz kreiert. Die beiden folgenden Gesetze enthalten interessanterweise den Kern dessen, was in der modernen Aussagen-Logik als konjunktive bzw. disjunktive Normalform Geltung hat. Nämlich: Wenn aus einem k o n j u n k t i m mehrere unter sich Ähnliche folgen können, und wenn von einem festgestellt werden kann, dass es tatsächlich folgt, dann folgen notwendig alle anderen. Weil es keinen Grund gibt, argumentiert Leibniz, eines vorzuziehen, folgen alle oder keins. Keins wäre aber gegen die Voraussetzung. Und ferner: Wenn aus einem d i s j u n k t i m mehrere unter sich Ähnliche folgen können, und wenn nur eines tatsächlich folgen kann, dann ist dieses eine das beste unter ihnen. Wenn nämlich feststeht, dass eines folgt, muß man einen Grund angeben, warum nicht alle anderen auch folgen. Wenn als einziger Grund angegeben wird, dass sie miteinander inkompatibel sind, dann wird das Maximum folgen, denn in allen ist eine ratio existendi – später heißt es eine exigentia existendi – und nichts als eine gewisse Inkompatibilität hindert zu existieren. Daher wird das existieren, was am wenigsten gehindert wird, eben das Maximum oder perfectissimum. An der Inkompatibilität und dem der Natur nach Früheren läßt sich nach Leibniz, der die Annahme einer absoluten Zeit strikt zurückweist, erkennen, was es heißt d e r Z e i t n a c h f r ü h e r zu sein. Zusammenfassend können wir uns schon einmal fragen: Wozu anders kann Leibniz diese abstrakten Gesetzmäßigkeiten formuliert haben als dazu, sich die L o g i k d e s A u f b a u s d e r m ö g l i c h e n We l t e n klarzumachen? dass er diese Gesetze nirgends explizit angewendet hat, kann nicht als Argument gegen diese Annahme gelten. Vielmehr muß man annehmen, dass er sie, wie wir heute sagen, gründlich i n t e r n a l i s i e r t hat, dass sie ihm stets als Leitfaden bei seinen späteren Konzeptionen präsent waren.

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G. H. v. Wright, Essays in Modal Logik, 1951, Appendix II, S. 84–87. (Hinweis von H. Poser, Zur Theorie der Modalbegriffe bei Leibniz, 1969, S. 59.) 26 Vgl. C. I. Lewis, A Survey of Symbolic Logic, 1918, S. 295.

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Von eminenter Bedeutung sind die logischen Gesetze, die Leibniz auf den letzten beiden Seiten seines Konzepts, um das Bild der Gedankenschmiede nochmals zu evozieren, präzise Schlag auf Schlag zusammenhämmert. Ich möchte sie Ihnen deshalb auch in geschlossener Abfolge präsentieren. Zum e r s t e n Mal formuliert er hier drei verschiedene Fassungen des I d e n titätsgesetzes. Ihnen stellt er als ein sprachlich identitäts-ähnliches Gesetz das Aristotelische verum ex quolibet in einer Form voran, die später Gottlob Frege als eines seiner fünf Axiome für seine Begriffsschrift27 aufnahm, und das in die meisten Axiomensysteme für den Aussagenkalkül als unverzichtbares unabhägiges Glied mit aufgenommen wurde.28 Die Wahrheit einer konditionalen Aussage bestimmt Leibniz indirekt dadurch, dass die Konjunktion des Antezedens mit der Negation des Konsequens einen Widerspruch zur Folge hat. Es folgt dann auch Leibniz’ e r s t e D e f i n i t i o n d e r I d e n t i t ä t , die er hier auf die widerspruchsfreie Substituierbarkeit reduziert. Diese S u b s t i t u i e r b a r k e i t v o n I d e n t i s c h e m überträgt er dann auf das Verhältnis zwischen Definition und dem durch sie Definierten. Das bedeutet, dass Definitionen nichts Neues bringen außer der Entfaltung, der Analyse des Definitums in seine einfacheren Elemente. Das Ärgernis des Umgangs mit negativen Termini will Leibniz hier durch Verlagerung der Negation des Begriffs auf die Negation der Aussage beseitigen. Statt sagen zu müssen: A ist ein Nicht-Mensch will er künftig sagen können: A ist kein Mensch, präziser noch: A ist ein Mensch, ist falsch. Zusätzlich zu den vertrauten Quantoren der Aristotelischen Syllogistik für Alle, Einige oder Nicht-Alle, Einige nicht und viertens Alle nicht oder Kein definiert Leibniz drei neue Q u a n t o r e n . » A n d e r e s « definiert er als Etwas, aber nicht dieses. » A l l g e m e i n « als Alle zusammengenommen, als einen Quantor für die totale Gesamtheit. Und drittens » D i e Ü b r i g e n « als Alle Anderen, also als das K o m p l e m e n t einer Menge. Dann definiert er die M ö g l i c h k e i t , aber nicht wie üblich, aus der Widerspruchsfreiheit, sondern ganz ungewöhnlich aus dem G e s e t z d e r A u f h e b u n g d e r d o p p e l t e n N e g a t i o n . Die Aufhebung der doppelten Negation ist es, bestimmt Leibniz, die etwas als m ö g l i c h charakterisiert. Um das besser zu 27

G. Frege, Begriffsschrift, 1879, § 14, Formel 1, S. 26. Vgl. die Zusammenstellung im Anhang I von Josef Dopp, Formale Logik. Aus dem Französischen übertr. u. bearb. v. Guido Küng, 1969. 28

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verstehen, greifen wir vor auf das, was Leibniz unter esse aliquid versteht, nämlich ein S u b j e k t , in dessen Begriff der Begriff jedes Prädikates enthalten ist, das ihm zukommt. Das aber nicht als einem a l l g e m e i n e n Begriff, sondern als einem mit dem Begriff des Nunc, also des J e t z t Verbundenen, mit anderen Worten, als einem Begriff eines k o n t i n g e n t e n E t w a s . Damit dürfte seine ungewöhnliche Definition der Möglichkeit ein wenig verständlicher geworden sein, die eben besagt: »Wenn von einem so verstandenen Etwas gilt, dass sein Sein und die Negation seines Nichtseins identisch sind, dann und nur dann ist es m ö g l i c h «. Das Gesetz der d o p p e l t e n N e g a t i o n läßt sich logisch umformen in das Gesetz vom Ausschluß des Widerspruchs. Und so kann Leibniz hier behaupten, dass das K o n t r a d i k t i o n s p r i n z i p aus der Definition der Möglichkeit f o l g t . Konsequenterweise definiert er die U n m ö g l i c h k e i t aus der Negation des Gesetzes von der Aufhebung der doppelten Negation. So kann er die klassische Definition der Unmöglichkeit (oder den Satz des ausgeschlossenen Widerspruchs): impossibile est idem simul esse et non esse, als eine F o l g e aus seiner Definition der Möglichkeit ansehen. Schon in Mainz hatte Leibniz die K o n t i n g e n z als hypothetische Notwendigkeit definiert, insofern sie das S e i n mit dem Notwendigsein gemeinsam hat, wenn auch nur bedingt. Das Mögliche, genauer das Bloßmögliche, dagegen hat mit dem Unmöglichen aufgrund derselben Bedingung das N i c h t s e i n gemeinsam.29 Jetzt in De affectibus definiert er unmißverständlich in diesem Sinn: Alles Kontingente ist irgendwie ein Notwendiges, denn es ist als solches ein Wirkliches. Umgekehrt ist auch alles Wirkliche irgendwie ein Notwendiges. Überraschend ist die Begründung dafür: quia praedicatum semper continetur aliquo modo in natura subjecti. Das ist die e r s t e explizite Formulierung dieses weitreichenden Prinzips, das er anderswo auf Aristoteles zurückführt.30 Das jedoch keineswegs in seiner Geltung für k o n t i n g e n t e Aussagen, denn diese Erweiterung war seine ureigene geniale Invention. Diese wurde erst deutlich durch die Analogie der kontingenten zu den notwendigen Aussagen, für die allein dieses Prinzip mindestens seit dem Spätmittelalter schon galt. Eigentlich virulent wurde es aber erst mit der Explikation der notio completa als des Subjekts einer kontingenten Aussage, die alles umfaßt, was in der Welt der Fall ist, war und sein wird, wenn auch aus der beschränkten Perspektive eines Individuums. Anfang 1679 hatte Leibniz noch vorsichtig formuliert, er glaube, man könne beweisen, dass es kein Prädikat gibt, das nicht Subjekt sein könnte.31 Jetzt heißt es 29

Elementa juris naturalis [2. Hälfte 1671], AA VI,1 N. 125. Vgl. Generales Inquisitiones de analysi notionum et veritatum § 132 [1686], AA VI,4 S. 776.12. 31 De calculo analytico generali [Winter 1678/79], AA VI,4 S. 148.9. 30

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immer noch vorsichtig, aber bestimmt: das Prädikat ist i m m e r irgendwie in der Natur des Subjekts enthalten.32 Die N a t u r d e s S u b j e k t s bedeutet hier andeutungsweise schon das, was später der terminus completus33 oder die notio completa substantiae singularis34 leisten wird. Erlaubt sei mir die Anmerkung: Während die A n a l y s e im Rahmen der Scientia generalis der Auffindung von einfachen Begriffen dient, um unser Wissen in einen demonstrativen Zusammenhang zu bringen, hat die Analyse einer notio completa dagegen einen grundsätzlich davon verschiedenen Zweck. Sie zielt nicht auf die e i n f a c h e n B e g r i f f e , sondern auf die e i n f a c h e n A t t r i b u t e , aus denen sich alles, das Reale wie das nur Mögliche, Gott und alle seine Kreaturen zusammensetzen. dass das Verhältnis der Attibute zu der Substanz, der sie zukommen, sich gleichwohl als das der Prädikate zum Subjekt ausdrücken läßt, hat seinen keineswegs trivialen Grund darin, dass Leibniz die individualisierten und zugleich temporalisierten Attribute, sofern sie einer Substanz zukommen, in eben denselben Begriffen ausgedrückt sieht, mit denen wir – und auch Gott – die Welt erfassen. Das geschieht, wie er gegenüber Antoine Arnauld erklärt,35 immer dann, wenn wir uns, wie in der Wissenschaft, sub ratione generalitatis a l l g e m e i n e r Begriffe bedienen. Wenn wir aber das Verhältnis einzelner Individuen zur Welt begreifen wollen, auch das Verhältnis eines jeden Possibile zur möglichen Welt, der es angehört, haben wir, wie Leibniz es Arnauld zu vermitteln suchte, sub ratione possibilitatis zu denken.36 Leibniz läßt es jedoch nicht bei der These vom E n t h a l t e n s e i n des Prädikats im Subjekt bewenden. Er analysiert weiter, was P r ä d i z i e r e n heißt. Und definiert zum einen, wir würden heute sagen, e x t e n s i o n a l , umfangslogisch: A ist B, bedeutet: wenn etwas A ist, so ist es auch B, d.h. für jedes, dem das Prädikat A zukommt, gilt, dass ihm auch das Prädikat B zukommt. Zum anderen aber auch inhaltslogisch, i n t e n s i o n a l , A ist B, bedeutet, dass der Begriff von A den Begriff von B e i n s c h l i e ß t , anders ausgedrückt, dass der Begriff von B e n t h a l t e n ist im Begriff von A. Die Austauschbarkeit beider Betrachtungsweisen hat er bekanntlich später ausdrücklich vertreten.37 32

AA VI,4 S. 1440.25 u. 1441.1. Definitiones: Aliquid, Nihil [Frühjahr bis Sommer 1679], AA VI,4 S. 306.8–23. Dort nimmt Leibniz übrigens die folgenreiche umfangslogische Bestimmung des Begriffs durch Gottlob Frege vorweg: universales nihil aliud significant, quam quamlibet substantiam singularem . . . At cum enim dico Hominem, dico quodcumque singulare subsistens rationale. 34 Principia logico-metaphysica [1689], AA VI,4 S. 1646.3. 35 Vgl. Leibniz an Arnauld im Juni 1686 (GP II S. 52). 36 Vgl. AA II,2 S. 45.19, 73.9 u. 75.5. 37 Vgl. Generales Inquisitiones, AA VI,4 S. 754.7, 757.5, 764.7 u. 785.3. 33

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Dann wiederholt er nochmals sein, wie er behauptet, i m m e r , also notwendig geltendes Prinzip vom Enthaltensein des Prädikats in der Natur des Subjekts und erläutert, wie oben gesagt, mit Anleihe beim göttlichen Verstand einen Vo r b e g r i f f der notio completa. Wenn die Natur des Subjekts vollkommen verstanden wird, si perfecte intelligatur, – was nur Gott kann – dann wird auch verstanden, was den Prädikaten innewohnt. Zwar ist hier noch nicht von der u n e n d l i c h e n A n a l y s e die Rede, die notwendig ist, um die Natur des Subjekts vollständig zu explizieren. Das wird noch weitere Schritte auf dem Wege zur Monadologie erfordern. Gleichwohl macht Leibniz hier schon auf die d o p p e l t e F u n k t i o n d e r C o p u l a e s t nachdrücklich aufmerksam. Einerseits meint sie die absolute Prädikation bei notwendigen oder ewigen Propositionen. Andererseits schließt sie aber bei kontingenten Propositionen einen Bezug auf die Zeit ein, präziser gesagt, auf das jeweilige J e t z t , das nicht als ein Punkt in einer absoluten Zeit mißverstanden werden darf. Vielmehr bedeutet es, dass mit dem J e t z t die vollständige series rerum, die ganze Welt, ins Spiel kommt. Denn was J e t z t heißt, kann man nur verstehen unter Berücksichtigung von allem, was gegenwärtig ist, und das aber auch nur, wenn man es absetzen kann von allem, was vorausgegangen ist und nachfolgen wird. Damit aber nicht genug. Leibniz läßt uns im selben Satz wissen, dass zum Verstehen des J e t z t nicht nur die Gesamtheit der Welt gehört, sondern auch der Wille Gottes, der sie selektierend zur Existenz gebracht hat. Und er geht noch einen Schritt weiter. Dazu gehört auch die Berücksichtigung des Willens der von Gott geschaffenen freien Kreaturen. Leibniz führt das hier in De affectibus nicht weiter aus. Wir wissen aber, was er damit meint und das ist knapp gesagt der Kern seiner metaphysischen Lehre von der Freiheit des Menschen. Er meint, dass die Subjekte sich frei entscheiden bei der Entfaltung ihrer Natur, bei ihrer Selbstkonstitution. Er meint, dass es in ihrer Macht und Verantwortung lag, das zu werden, was sie sind. Auch wenn es allein in Gottes Macht und Verantwortung lag, diejenigen zur Existenz kommen zu lassen, die g e m e i n s a m das Vollkommenste zustande bringen. In diesem Sinn kann Leibniz sagen,38 dass aus dem vollständigen Verständnis auch nur e i n e s dieser Subjekte, aus der Kenntnis dessen, was es von allen anderen unterscheidet, geschlossen werden kann, welche Possibilia überhaupt existieren. Das Prinzip der Individuation hatte er zuvor schon darin gesehen, dass es ebensoviele mögliche singuläre Substanzen gibt wie Kombinationen kompatibler Attribute.39 Es fehlt hier leider der Platz um auf alle Sätze des Formulariums ausführlicher einzugehen. 38 39

De cogitationum analysi [1678–1680], AA VI,4 S. 2770.19–23. Definitiones: Aliquid, Nihil [Frühjahr bis Sommer 1679], AA VI,4 S. 306.21–24.

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Kommen wir darauf zurück, dass der Begriff der Zeit die vollständige Abfolge der Dinge, der Zustände der Welt, enthält. Das bedeutet bei Leibniz’ bekannter Leugnung einer absoluten Zeit, wie Newton sie vertrat, dass Zeit sich erst mit der Abfolge der Ereignisse, genauer gesagt, mit dem Handeln der Substanzen, die diese Ereignisse in voller Freiheit verursachen, konstituiert. Präziser gesagt, dass Zeit, wie er später formulieren wird, nichts anderes ist als die Ordnung dieses Nacheinanders. Da die Auswahl der besten der möglichen Welten erst nach dem vollständigen Aufbau aller erfolgen kann, bedeutet das, dass auch für die möglichen Welten, das Nacheinander in ihnen, ihre Zeit konstituiert. 5 Leibniz hat seine Theorie der möglichen Welten nie explizit dargelegt. Aus seinen verstreuten Bemerkungen und aus seiner Theodice´e können wir uns jedoch ein gutes Bild davon machen. Zunächst spricht er nur von series rerum, erst später, etwa ab 1686, von mundus. In De affectibus stellte er gleichsam das Werkzeug zum Ausbau dieser Theorie zusammen. Man könnte meinen, er habe sich klar zu machen versucht, welchen Bedingungen die Bewohner dieser Welten, die er schlicht Possibilia nennt, unterworfen sein müssen, um eine gemeinsame Geschichte zu generieren. Zunächst ist klar, dass nicht alle Möglichkeiten nebeneinander bestehen können. Kompatibel müssen sie sein, gleichzeitig miteinander existieren können. Sie müssen sich ständig verändern, stets unvermittelt mindestens eins ihrer Prädikate ins kontradiktorische Gegenteil überführen. Das muß als f r e i e Handlung geschehen, als eine Handlung, die im nächsten Schritt die Kompatibilität erhält oder nicht erhält. Damit kommt ein Drittes ins Spiel: An sich entwickelt sich jedes Subjekt s e i n e r N a t u r n a c h , derzufolge es so angelegt ist, das Beste für sich zu erreichen, solange es nicht gehindert wird. Gehindert wodurch? Dadurch, dass es sich durch inkompatibles Verhalten aus der Gemeinschaft ausschließt. Es fällt damit aber nicht der Vernichtung anheim, sondern findet neue Genossen, wird Mitglied einer anderen Welt. Dieses Selektieren und Sortieren der sich entwickelnden Possibilien findet statt im Geiste Gottes, dort wo alle – aber wirklich auch alle – Possibilien zunächst gleichberechtigt ihren Ort haben. Ein viertes Moment kommt mit der Stufung der Perfektionen hinzu. Nicht alle Possibilien haben den gleichen Grad an Realität, nicht alle erreichen gemeinsam den größtmöglichen Grad, nicht alle kommen zur Existenz. Es ist nicht ohne Bedeutung, dass Leibniz in De affectibus davon absieht, Gottes Wille bei der Auswahl der zur Existenz kommenden Possibilia in Betracht zu ziehen, wie er das beispielsweise wenig später macht.40 Auch wenn er das tut, 40

Vgl. De necessitate et libertate [1680–1684], AA VI,4 N. 271, bes. 1447.6.

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heißt es, dass etwas auch dann die Möglichkeit hat zu existieren, selbst wenn Gott nicht wollte, dass es existiere. Denn es bleibt seiner Natur nach möglich, da es keinen Widerspruch einschließt. In De affectibus wollte Leibniz sich offenbar bei den zu formulierenden Definitionen, Prinzipien und Propositionen allein an der reinen Begrifflichkeit orientieren. Mit dem si perfecte intelligatur41 macht er jedoch unausgesprochen eine Anleihe beim Denken Gottes, denn solches kommt nur dem Allwissenden zu. Diesem perfecte intellecto steht gegenüber das omnisciens und das omnipotens, das Leibniz jeder Substanz, wenn auch beschränkt, zuschreibt,42 gleichsam wie die zweite Seite der Medaille. Wie aber kommen die Substanzen zu dieser Qualität? Weil sie sich selbst konstituiert haben. Auf ihrem Weg zur Existenz muß sich jede mit jeder anderen abstimmen, und obwohl sie nichts anderes tut, als ihre Natur zu entfalten, oder gerade deswegen, muß sie feststellen, dass sie sich nicht mit allen vertragen kann. Ihre Natur hat diese Hindernisse noch nicht vorausgesehen, aber provoziert. Die Unverträglichkeit ist ein Faktum, das über den logischen Widerspruch hinausgeht, für das es einen zureichenden Grund geben muß. F o r m a l liegt der Grund darin, dass aus der Existenz des einen sich die Nichtexistenz des anderen zwingend ergibt. M a t e r i a l dagegen liegt er darin, dass nur das gemeinsam am besten Harmonierende und nicht jedes Beliebige zur Existenz kommen soll. Deutlich wird hier schon, dass die später so genannte p r ä s t a b i l i e r t e H a r m o n i e keine von Gott v e r o r d n e t e ist, wohl eine von ihm vorgefundene und für gut, ja für die beste befundene, aus dem freien Willen der zur Existenz strebenden Möglichkeiten resultierende Harmonie. Während Leibniz es später im Unbestimmten läßt, wie der Appetitus den Übergang von einer Perceptio zur nächsten vollzieht, versuchte er diesen Prozeß in De affectibus in einer logisch-ontologischen Genese zu erfassen. Ohne dass im ganzen Stück De affectibus von möglichen Welten die Rede ist, ist offenbar, dass Leibniz mindestens in der zweiten Hälfte dieser Studie an den Grundlagen für eine Theorie der möglichen Welten gearbeitet hat. Es werden Prinzipien für die Realisation des Bestmöglichen aufgestellt. Es wird die These vom Existenzstreben der Essenzen vorbereitet. Schließlich stellt Leibniz allgemeine Regeln auf, denen alle Möglichkeiten entsprechen, insbesondere wenn sie an sich, als existent werden wollende, betrachtet werden. Es ist auch nicht vom Ve r s t a n d G o t t e s die Rede, in dem die komplexen Möglichkeiten als von Gott g e d a c h t e , a b e r n i c h t g e s c h a f f e n e , ihren Ort haben. Trotzdem drängt sich 41

AA VI,4 S. 1441.2. Vgl. De plenitudine mundi [Frühjahr 1676], AA VI,3 S. 524.10; Leibniz an E. Weigel [Sept. 1679], AA II,1 S. 487.17; Mira de natura substantiae corporeae [29. März 1683], AA VI,4 S. 1466.2. 42

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auf, dass Leibniz unser m e n s c h l i c h e s Denken so intensiv analysiert, um sich einen Begriff davon zu machen, wie man sich den i n n e r g ö t t l i c h e n Prozeß der Individualisierung konkreter Möglichkeiten als Subjekte mit genau ihnen zukommenden Attributen vorzustellen hat. Leibniz hat seine Metaphysik nicht zur vollen Reife gebracht, jedenfalls nicht als ein abgeschlossenes Werk. Für ihn blieb sie, wie für Aristoteles, auf den er sich gegenüber John Locke beruft,43 eine immer zu Suchende, eine αÆ ειÁ ζητουµε νη.44 Er war stets auf dem Weg zu ihr und hat auf diesem Weg Marksteine gesetzt, die ihm zur Orientierung dienen sollten. Marksteine, die wir freilegen müssen, um unsere Interpretationen vor Irrwegen zu schützen. Die Metapher des offenen, nachzugehenden Weges, des Met-hodos, scheint mir angemessener als die des nicht abgeschlossenen Systems, des nicht fertig gewordenen Gebäudes. Auf diesem Weg erkennen wir S c h w e l l e n dort, wo unser Philosoph sich besinnend angehalten und besonders wichtige Marksteine hinterlassen hat, für uns Zeugnisse neuer Impulse. Als eine solche S c h w e l l e auf dem Weg zur Monadologie habe ich hier die unabgeschlossen gebliebene Studie De affectibus als eine Schrift vorstellen wollen, die einer intensiveren Berücksichtigung als bisher wert und würdig ist.

43 44

Vgl. Nouveaux Essais, l. IV c. 8 (AA VI,6 S. 431.23–26). Aristoteles, Metaphysik, A2 982 a 4 und Z1 1028 b 2–7.

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FORMULARIUM LOGICO-ONTOLOGICUM LEIBNITII STUDIIS DE AFFECTIBUS INTERPRES Der Fettdruck zeigt Stellen aus De affectibus an, ein > zeigt Stellen aus späteren Schriften.

DEFINITIONES

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Variablen A, B, C, D, etc. stehen für Dinge oder Sachverhalte. A := A existit (est verum). [A terminus verus, qui non implicat opposita ¯¯ ] ut Xnon-X.] [XX . . . . . . . . . . . . . . . . . >785.12 ¯¯ (oppositum) [cf. A ¬A := A non existit (non est verum). non-A := A 8.] (Nec refert A sit res an propositio, nam esse propositionem seu veritas propositionis est res, seu abstractum cujus concretum status quo existit propositio.) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . >864.20 Aa := A existit actu. 1. Definition der Inferenz durch Reduktion auf Konjunktion und Negation (Philonische Implikation). Si A est, utique C est; erit A inferens seu antecedens, C consequens. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 305.20 >871.17 A  C := ¬P (A ∧ ¬C) [Si A est, utique C est, dicit impossibile esse ut A est et simul C non est]. (Itaque si dico Si L est vera sequitur quod M est vera sensus est, non simul supponi potest quod L est vera et quod M est falsa.) . >656.5 2. Definition der Implikation als modus ponens (hinreichende Bedingung). Involvitur (C) in aliquo (A) cujus (C) existentia ex alicujus (A) existentia concludi potest. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1439.3 A ⇒ C := ((A ∧ (A  C))  C) (C est illatum per inferens A, si posita propositione A existit, sequitur C existere.) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 305.31 >641.19 3. Definition der Suspension als modus tollens (notwendige Bedingung). C est conditionatum per conditionem A, si A non est, C non est. >641.20 871.18 A ⇐ C := (¬A ⇒ ¬C) . . . . . . . . . (A suspendit C) 4. Definition der leichteren Begreifbarkeit aus dem Enthaltensein der Begriffe. A est simplicius C (si notio A est pars notionis C) . . >873.14 936.15 A 936.15

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D 5. Definition der natürlichen Ordnung aus der leichteren Begreifbakeit. A est natura prius C, cujus notio simplicior est. . . . . . . >872.1 A 389.6 1437.1 A ⊥ B := (A ⇒ ¬B) ∨ (B ⇒ ¬A) (A est incomponibile ipsi B, si posita propositione A existit, sequitur B non existit.) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . >401.11 D 10. Umkehrung der Inkompatibilität: die nicht gleichzeitige Verneinbarkeit. A est inconnegabile ipsi B, si posita propositione A non existit, sequitur B existit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . >389.8 401.12 A ∨s B := (¬A ⇒ B) ∨ (¬B ⇒ A) . (= incondestructibile)

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D 11. Die klassische Definition der Kontradiktion reduziert auf Inkompatibilität und die nicht gleichzeitige Verneinbarkeit. A et B sunt opposita (quae non possunt esse simul vera) [nec simul falsa] . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1437.3 A ∨* B := ((A ⇒ ¬B) ∨ (B ⇒ ¬A)) ∧ ((¬A ⇒ B) ∨ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (¬B ⇒ A)) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (= contradictoria) (A est oppositum ipsi B, si sit incompatibile et inconnegabile) >389.12 401.15 D 12. Definition des zeitlich Früheren durch Reduktion auf Inkompatibilität und leichtere Begreifbarkeit. A est tempore prius C, quod cum aliquo positione incompatibile est, et eo simplicius. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . >629.7 A 404.22 [per se spectato, inquam, id est nisi aliud praeterea accedere intelligatur.] . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . [1430.15] [In se spectatum est, quod solum ut existens consideratur.] [1436.12] D 16. Definition der Determination unter Vorgabe der Fiktion des an sich Betrachtens. A determinatus ad C: Determinatum esse ad aliquid (C) dicitur illud (A)

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ex cujus statu aliquid (C) sequitur, si ipsum (A) in se spectetur. 1427.15 d[A,C] := Ao ⇒ C D 17. Definition des Behinderns mit Hilfe der Inkompatibilität. D impedit C: Si ex duobus per se spectatis (Ao et Bo) sequantur incompatibilia (C et D), id quod absolute loquendo non sequetur, dicetur impediri. . 1429.22 D ¥ C := (Ao ⇒ C) ∧ (Bo ⇒ D) ∧ (C ⊥ D) ∧ (B ⇒ D) ∧ ¬(A ⇒ C) D 18. Definition des gegenseitigen Behinderns. A et B se mutuo impediunt . . . . . . . . . . . . . . 1433.1 A ¡ B := (A ¥ B) ∧ (B ¥ A) D 19. Definition des an sich Vollkommensten. Es sei Bperf das perfectissimum aus der Menge {B1, . . . , Bn} (Perfectissimum autem intelligo per se spectatum, seu quod plus habet realitatis, etsi per accidens majoris imperfectionis causa esse possit.) . 1433.16

EINE KONSEQUENTE WEITERFÜHRUNG DES VON LEIBNIZ ABGEBROCHENEN ANSATZES: D 20. {B}kcomp sei eine der unendlich vielen Mengen kompatibler Elemente, die mittels der (momentanen) Kompatibilität als einer Äquivalenzrelation aus der Menge aller Möglichkeiten {B1, . . . , Bn} (n=∞) gewonnen wird, d.h. sei eine mögliche Welt. D 21. {B}1comp ∩ {B}ncomp ≡ ∅ Die verschiedenen Mengen kompatibler Elemente (möglicher Welten) haben keine gemeinsamen Elemente, d.h. keine gemeinsamen möglichen Individuen. Jedes mögliche Individuum gehört genau einer der möglichen Welten an. Denn die Kompatibilität ∧s ist eine Äquivalenzrelation. D 22. {{B}1comp, . . . , {B}ncomp} ≡ {B}1comp ∪ ∪ ∪ {B}ncomp (n=∞) d.h. sei die Gesamtheit der möglichen Welten. D 23. {B}maxcomp sei die Menge kompatibler Elemente aus der Menge {{B}1comp , . . . , {B}ncomp}, die mächtiger (nicht der Anzahl nach) ist als alle anderen Mengen kompatibler Elemente aus dieser Menge, d.h. sei die beste der möglichen Welten. Es gibt genau eine {B}maxcomp.

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POSTULATA ET PROPOSITIONES ONTOLOGICAE P 1. Der ontologische Kettenschluß. Consequens consequentis est consequens antecedentis. . . . 1436.11 (A ⇒ C) ∧ (C ⇒ D)  (A ⇒ D) P 2. Drei Folgerungsgesetze der Kompatibilität. 1. Was natürlich folgt, verträgt sich mit dem, woraus es folgt. Nullum consequens est incompatibile. . . . . . . . . . . 1437.5  ∀A∀C ((A ⇒ C) ∀A¬∃C ((A ⇒ C) ∧ (A ⊥ C)) (A ∧s C)) P 3. 2. Was sich mit dem Folgenden nicht verträgt, verträgt sich auch nicht mit dem, woraus es folgt. Incompatibile consequenti est incompatibile antecedenti. . . . 1437.6 (A ⇒ C) ∧ (C ⊥ B)  (A ⊥ B) . . . . . . . . 1437.6 (A ⇒ C) ∧ (C ⇒ ¬B)  (A ⇒ ¬B) P 4. 3. Was aus dem Antezedens folgt, ist miteinander kompatibel. Quicquid est consequens antecedentis, id compatibile est consequenti. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1437.7 ∀A∀B∀C ((A ⇒ B) ∧ (A ⇒ C)  (B ∧s C)) P 5. Prinzip der bedingten Realisation des Bestmöglichen. Ex unoquoque sequitur maximum, quod ex eo sequi potest, id est omne quod ex eo sequitur, nec impeditur. . . . . . . 1428.9 ∀A∀C1n P (A ⇒ (C1 ∧ . . . ∧ Cn) ∧ ¬∃B (B ¥ (C1 ∨ . . . ∨ Cn))  ∃!!Cjk ((Cj ∧ . . . ∧ Ck) ≡ {C}max ∧ (A ⇒ {C}max)) Quae ex aliquo per se spectato sequi possunt, eorum sequitur perfectissimum in se spectatum, quod sequi potest. . . . . . . . . . 1433.11 P (Ao ⇒ (B1 ∧ . . . ∧ Bn)  ∃!!Bj (Bj≡Bperf) ∧ (Ao ⇒ Boperf) (Regula generalis est semper id fieri quod plus involvit realitatis, seu quod est perfectius.) . . . . . . . . . . . . . . . . 1428.6 (Omnia semper fiunt perfectiora, licet per periodos saepe longas, et regressus.) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1429.Fn9 (Axioma: Ex unoquoque sequitur perfectissimum, quod ex eo sequi potest.) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1429.13 1431.9 P 6. Formulierungen des Prinzips der Realisation des Bestmöglichen unter paarweise Inkompatiblen. Sequitur perfectissimum eorum, quae invicem incompatibilia sunt. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1433.15 (B1 ⊥ . . . ⊥ Bn)  ∃!!Bj (Bj≡Bperf) ∧ (A ⇒ Bperf) (Id quod est perfectius omnibus inter se incompatibilibus existit et contra quod existit est caeteris perfectius.) . . . . . . 1354.17

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(Principium intellectuale de rerum existentia: Ex pluribus possibilibus incompatibilibus existit perfectius.) 1395.6 P 7. Formulierungen des Prinzips der präsumtiven Existenz aller Möglichkeiten. Quae per se spectata ex aliquo per se spectato sequi possunt, neque se mutuo impediunt, ad ea dabitur determinatio, id est, ex eo per se spectato sequentur. 1433.1 P (Ao ⇒ (Co1 ∧ Co2)) ∧ ¬(Co1 ¡ Co2)  (d[A,Co1] ∧ d[A,Co2] P (Ao ⇒ (Co1 ∧ Co2)) ∧ ¬(Co1 ¡ Co2)  (Ao ⇒ (Co1 ∧ Co2)) (Admirabilis transitus a potentia ad actum: Omnia quae per se spectata ex aliquo per se spectato sequi possunt, ea sequentur quantum possibile est.) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1432.13 P 8. Was zufällig betrachtet folgen kann, das kann auch an sich betrachtet folgen. Quae per accidens spectata ex aliquo per se spectato sequi possunt, ea etiam per se spectata ex eo sequi possunt. . . . . . . . . 1433.8 P (Ao ⇒ ∃B (B ⇒ C))  P (Ao ⇒ Co) P 9. Was zufällig möglich ist, das ist auch absolut möglich. Saltem enim possibile est absolute, quod per accidens possibile est. 1433.9 P ∃B (B ⇒ C)  P C P 10. Vorläufer der These vom Existenzstreben der Essenzen. Ex omni possibilitate sequitur existentia, si nihil impediat. . . 1434.11 ∀A ¬∃B (((B ¥ A) ∧ P A) ⇒ A) (Omne possibile exigit existere, et proinde existeret nisi aliud impediret, quod etiam existere exigit et priori incompatibili est [et perfectius].) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . >1442.16 (Omnis essentia seu realitas exigit existentiam . . . nisi quid obstet.) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . >557.6 (Exigi dicitur quod ex posito sequitur, si nihil aliud praeterea ponatur.) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . >630.1 P 11. Alles existiert, es sei denn, es gibt ein äußeres Hindernis. Quicquid existit, si nullum sit impedimentum extra rem. . . . 1436.5 ∀C ¬∃A ((A ¥ C) ⇒ C) (Quicquid ex aliqua re per se spectata sequitur, id existit, si nullum sit extra ipsam rem impedimentum.) . 1436.4 (Principium meum est, quicquid existere potest, et aliis compatibile est, id existere. Quia ratio existendi pro omnibus possibilibus non alia ratione limitari debet, quam quod non omnia compatibilia.) . . . . . VI,3 S. 582.1 (Est enim ratio existendi in omnibus, et incompatibilitas quaedam existere impedit.) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1432.9

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P 12. Sechs Gesetze der Folgerung aus an sich Betrachtetem. 1. Jedes Ding ist determiniert auf das, was an sich aus ihm folgt. Res determinata est ad id, quod est ejus in se spectatae consequens. 1436.7 ∀A∃C ((Ao ⇒ C)  d[A,C]) P 13. 2. Was absolut folgt, folgt auch an sich; nicht umgekehrt. Omne consequens absolute est consequens per se spectati, non contra. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1436.8 ∀C∃A (((A ⇒ C)  (Ao ⇒ C)) ∧ ¬((Ao ⇒ C)  (A ⇒ C))) P 14. 3. Was irgendwie möglich ist, ist auch an sich möglich. Quicquid quomodocunque spectatum possibile est, id in se spectatum possibile est. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1437.8 ∀A∃B ((B  P A)  P Ao) P 15. 4. Was an sich nicht folgt, das kann auch nicht an sich folgen. Quicquid per se spectatum non est consequens, neque per se spectatum poterit esse consequens. . . . . . . . . . . . . . . . . 1437.11 ∀C¬∃A ((A ⇒ Co)  ¬P ∃A (A ⇒ Co)) P 16. 5. Was folgen kann, das folgt auch an sich. Quicquid alterius consequens esse possibile est, id per se spectatum est consequens ejus. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1437.10 ∀A∃C (P (A ⇒ C)  (A ⇒ Co)) P 17. 6. Was an sich nicht folgt, folgt auch nicht absolut. Quicquid quatenus est per se spectatum non potest esse consequens, id absolute non potest esse consequens. . . . . . . . . . 1438.2 o ∀C (¬∃A (A ⇒ C )  ¬∃A (A ⇒ C)) P 18. Was wirklich ist, ist auch möglich. Principium indemonstrabile: Quicquid est actu, id est possibile. 1437.19 1439.21 ∀A (Aa  P A) Nihil quod est actu est impossibile. . . . . . . . . . . 1437.18 ∀A (Aa ∨* ¬PA) ¬∃A (Aa ∧ ¬P A) P 19. Was unmöglich wirklich ist, ist auch unmöglich möglich. Quod impossibile est actu, id impossibile est esse possibile. . 1437.15 ∀A (¬P Aa  ¬PP A) . . . . . . . . . . . . . [1432.1] P 20. Was aus einem gefolgert werden kann, kann auch an sich daraus gefolgert werden. Quicquid concluditur ex aliquo, concluditur ex ipso in se spectatum. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1438.24 ∀C∃A ((A ⇒ C)  (Ao ⇒ C)) (Ratio generalior: quicquid est (absolute), id est quatenus in se spectatur;

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id est quatenus nihil existit ad rem pertinens quam quod involvitur in eo quod consideratur.) . . . . . . . . . . . . . . . . . 1439.1 P 21. Gesetz der konjunktiven Folge aller. Si ex aliquo conjunctim sequi possint plura inter se similia [et inaequalia], et horum unum sequatur, necesse est reliqua omnia sequi, caeteris paribus. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1432.1 P (A ⇒ (B1 ∧ . . . ∧ Bn)) ∧ ∃Bj ((A ⇒ Bj)  N (A ⇒ (B1 ∧ . . . ∧ Bn))) P 22. Gesetz der alternativen Folge des Besten. Si ex aliquo disjunctim sequi possint plura inter se similia et inaequalia, et horum unum sequatur, necesse est maximum [id est perfectissimum] sequi, caeteris paribus. . . . . . . . . . . . . . . . . 1432.5 P (A ⇒ (B1 ∨ . . . ∨ Bn)) ∧ ∃Bj ((A ⇒ Bj) ∧ Bj≡Bperf  N (A ⇒ Bperf)) P 23. Prinzip der Priorität der Ordnung der Natur vor der Ordnung der Zeit. Si duo incompatibilia existant, tempore different, illud eorum est tempore prius, quod est natura prius. A ∧ B ∧ (A ⊥ B) ∧ (A 862.17 A ∧ (A ∨ B) ∧ (A  B) ˘ (A  ¬B)  (C ∧ ¬C) (Demonstrabile est, cujus contrarium implicare [contradictionem] probari potest.) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1427.22 (Contradictio est A est non-A.) (A ∧ ¬A) [A−A] >758.3 862.10 935.18 A 7. Erste formale Definition der Identität. Eadem sunt quorum, si unum substituatur in locum alterius, itaque non potest nobis apparere contradictio, ita ut non prodeat substitui invicem A et non-A. 1439.14 (Eadem sunt quorum unum in alterius locum substitui potest, salva veritate.) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 282.12 >846.11 A 8. Gesetz der Substitution von Identischem. Assumitur ut imposterum per definitionem et definitum a nobis intelligi idem, ut alterum in alterius locum substitui possit. d(A)≡A . . . 1440.2 A 9. Reduktion der negativen Attribute auf die Negation der Prädikation. Assumitur etiam ex usu verborum philosophico A non est B, et A est non-B esse idem. Quanquam in usu communi qui dicit chimaeram esse non-hominem videtur dicere chimaeram esse aliquid, et non esse hominem. . 1440.4 ¯¯ ≡ ¬(A est B) ¯¯ ≡ ¬(A  B) A ¯¯ ≡ ¬A A est B AB ¯¯ ) malo eos a (Semper volo terminos positivos, et si qui sunt negativi (A negatione liberare transfundendo eam in copulam. Ita multas perplexitates abscindemus, rejectis omnibus terminis negativis) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 146.16 A 10. Definition eines Quantors für Verschiedenheit. Aliud est aliquid, et non hoc. . . . . . . . . . . . . . . 1440.8 ∃A∃B (A ∧ ¬(A ≡ B) A 11. Definition eines Quantors für Einige aus dem Komplement. Caetera quaelibet omnia alia. . . . . . . . . . . 1427.Fn7 1440.9 {Θ}≡{A1, . . .,An} ∧ {Φ}≡{B1, . . .,Bm} ∧ ({Θ}∩{Φ}≡∅) ∧ ({Θ}∪{Φ}≡Λ) ∧ ∀Bj ∈ {Φ} A 12. Definition eines Quantors für Alle Universa, id est omnia simul. . . . . . . . . . . . . . . 1440.10 ∀A := {A1, . . .,An} ≡ Λ ∧ ¬∃(Aj  Aj ∉ {A1, . . .,An}) (n=∞)

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A 13. Definition der Möglichkeit aus dem Gesetz der doppelten Negation. Possibile, est quod esse aliquidet non-non esse aliquid est idem. P A := A ≡ ¬¬A . . . . . . . . . . . . . . . 1440.14 Definitionem Possibilitatis ingressa est definitio hujus esse aliquid. (cf. A 30.) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1441.13 A 14. Das Kontradiktionsprinzip als Folge aus der Definition der Möglichkeit. Itaque principium contradictionis continetur in definitione possibilitatis. P A  ¬(A ∧s ¬A) . . . . . . . . . . . . . . 1440.14 (Sua natura possibilis est, quod in se non implicat contradictionem.) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . >1447.15 A 15. Konsequenzen aus der Definition der Möglichkeit. Hujus definitionis hae consequentiae sunt: Possibile quod est, id non non-est. P A  (A  ¬¬A) . 1440.16 Possibile quod non non-est, id est. P A  (¬¬A  A) . 1440.17 P A ˘ ¬¬P A A 16. Ableitung der Unmöglichkeit aus der Negation des Gesetzes der doppelten Negation. Jam (per assumtum de definitionum et definitorum identitate) non-possibile est quod esse aliquid et non non-esse aliquid non est idem. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1440.19 ¬P A := ¬(A ≡ ¬¬A) A 17. Die klassische Definition der Unmöglichkeit. Unde sequitur: impossibile est idem simul esse et non esse. . 1440.21 ¬P A := (A ∧s ¬A) A 18. Definition der Kontingenz als hypothetische Notwendigkeit. Item sequitur de Necessario: Omne contingens aliquo modo necessarium est. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1440.22 (contingens est necessarium ex hypothesi) 1377.26 1380.23 >1547.3 C A := (∃ B  N (B ⇒ A)) (contingens est necessarium per necessitatem consequentiae non consequentis.) A 19. Grundprinzip: Annahme von Bloß-Möglichem. Non utique omnia possibilia contingunt. . . . . . . . . . 1353.4 ¬P ∀A A  C A A 20. Alles Kontingente ist wirklich. Omne quod aliquo modo necessarium est actu utique est. . . 1440.23 ∀A (C A ⇒ Aa) A 21. Alles Wirkliche ist kontingent. Contra quod actu est id aliquo modo necessarium est. . . . . 1440.25 ∀A (Aa ⇒ C A)

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DE AFFECTIBUS



LEIBNIZ AN DER SCHWELLE ZUR MONADOLOGIE

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A 22. Die erste Formulierung des Prinzips vom Enthaltensein des Prädikats im Subjekt. quia praedicatum semper continetur aliquo modo in natura subjecti. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1440.26 ∀A∀B (A  B)  (n(B) ⊂ n(A)) [cf. D 2.] A 23. Reduktion der Prädikation auf die umfangslogische Prädikation. Propositio A est B hoc significat: si quid est A, id est B. . . . 1441.16 A est B := A(x)  B(x) A 24. Reduktion der Prädikation auf das inhaltslogische Enthaltensein. A est B, id est conceptus ejus (A), involvit conceptus B. . . . 1441.17 n(B) ⊂ n(A) A 25. Vorbegriff der notio completa gewonnen aus dem vollkommenen Verstehen. Praedicatum a parte rei verum semper continetur in natura subjecti; ut A est B, id est ipsi A inest B. Itaque si perfecte intelligatur A, intelligetur ei inesse B, seu conceptus existentiae ipsius A involvit conceptum hunc quod id quod existit A est B. . . . 1441.1 Terminus completus est, ex quo omnia praedicata ejusdem subjecti demonstrari possunt, seu qui totam subjecti naturam exprimit. . . . . . . . . >625.8 A 26. Unterscheidung einer logischen (zeitlosen) von einer ontologischen (zeitlichen) Copula. Copula Est vel est absoluta, vel involvit tempus, scilicet Nunc. 1441.Fn20 A 27. Genese der notwendigen Wahrheiten. Si ex conceptu essentiae ipsius A seu si ex sola possibilitate ipsius A sequitur hoc: id quod est A est B, propositio est necessaria seu aeterna. . . 1441.4 A 28. Genese der kontingenten Wahrheiten. Si ex conceptu essentiae ipsius A, addito conceptu temporis sequitur haec propositio: quod est A est B, tunc propositio est contingens. . . . . . . 1441.6 Itaque in rebus quae aeterna non sunt, nulla est necessitas [absoluta], nam non ex ipsorum conceptu, sed ex addito conceptu temporis demonstrari possunt. . . . . 1441.8 A 29. Konstitution des Zeitbegriffs aus dem Handeln Gottes und aller freien Kreaturen. Temporis autem conceptus involvit totam seriem rerum et voluntatem Dei ac [voluntatem] rerum aliarum liberarum. . . . . . . . . . 1441.11

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HEINRICH SCHEPERS

A 30. Definition des ontologischen Subjekts mit Bezug auf die Zeitlichkeit seiner Prädikate. Subjectum, seu id quod dicitur esse aliquid, est in cujus conceptu, addito conceptu ipsius Nunc, involvitur conceptus alterius, nempe praedicati. . . . . . . 1441.18 Hinc patet omne subjectum ultimatum esse Ens completum et involvere totam rei naturam, hoc est, ita ut ab ipso perfecte intellecto, id est intellectis illis quibus a quolibet alio discerni potest, concludi potest quaenam possibilia existant. . . . . . . . . . . . . . 2770.19 A 31. Prinzip der Individuation. Tot posse esse substantias singulares, quot sunt diversae combinationes omnium attributorum compatibilium. Et hinc patet principium individuationis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 306.21 A 32. Potentia est status ex quo quid sequi potest per se spectato vel ex quo per se spectato aliud aliquid possibile esse demonstratur. 1431.3 Vis seu Potentia est status ex quo sequeretur actio nisi esset aliquid aliud ex quo eadem ratione sequi deberet. . . . . . . . . . . 1411.11 Vis activa . . . per se ipsam in operationem fertur; nec auxiliis indiget, sed sola sublatione impedimenti. . . . . . . . . >GP IV 469.30

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DE AFFECTIBUS



LEIBNIZ AN DER SCHWELLE ZUR MONADOLOGIE

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ZUR SYMBOLIK Zur Symbolisierung der Leibniz’schen Sätze von De affectibus habe ich ein Instrumentarium eingebracht, das sich so weit wie möglich an eine in der modernen mathematischen Logik üblichen Symbolik hält, diese aber dort, wo nichts Entsprechendes vorliegt, analog entwickelt. Meine Symbolisierung soll der möglichst pünktlichen Übertragung des Leibniz’schen Wortlautes in eine Zeichensprache dienen, deren leicht überschaubare Struktur die Klarheit und Stringenz der Formulierungen von Definitionen und Propositionen erkennen läßt. Die Variablen A, B, C, D sind ambivalent und können sowohl für Aussagen (Sachverhalte), als auch für Begriffe (Dinge), und dann für Subjekte und Prädikate stehen. Die Variablen sind quantifizierbar. Fehlt eine Quantifizierung, dann ist die Formel allgemeingültig. Während die Aussagen in der modernen Logik allgemeine, zeitlose Sachverhalte bedeuten, haben wir es bei Leibniz mit singulären Sachverhalten zu tun, die in einer Ordnung des Früher oder Später stehen. Das verlangt und rechtfertigt die ungewöhnliche Quantifizierung über gleichsam individuell aufgefaßte Sachverhalte. Dabei bedeuten: ∀A für alle A ∀x A(x) für alle Individuen x: ∃A es gibt mindestens ein A das Prädikat A trifft zu auf x ¬∃A es gibt kein A ∃!!A es gibt genau ein A ∃oB B existit hoc modo considerandum. Gebraucht werden ferner außer den üblichen Klammerzeichen: 1. anstelle von ˘ als Definitionszeichen: := 2. die aussagenlogischen Verbindungen: ¬ nicht ∧ und ∨ oder  wenn, so ˘ genau dann wenn, so 3. die logischen Relationen: ⇒ hinreichende Bedingung ⇐ notwendige Bedingung ≡ Identität 4. die ontologische Relationen: ⇒ natürliche Folge ⇐ natürliche Abhängigkeit ∧s Kompatibilität ∨s Kontradiktorizität ∧c Kontinuität ∧s zugleich ∨s nicht beide zugleich ∧c unmittelbar danach ∨* genau eines von beiden ⊥ Inkompatibilität p[B,A] vernichtend d[A,C] bestimmend ¥ hindernd ¡ gegenseitig behindernd n natura posterius t tempore posterius