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German Pages 233 Year 2015
M ETAPHYSIK UND O NTOLOGIE Band 2
Leibniz Metaphysik als Monadologie
Von
Friedrich-Wilhelm v. Herrmann
Duncker & Humblot · Berlin
FRIEDRICH-WILHELM v. HERRMANN
Leibniz
Metaphysik und Ontologie Herausgegeben von Paola-Ludovika Coriando und Tina Röck
Band 2
Leibniz Metaphysik als Monadologie
Von
Friedrich-Wilhelm v. Herrmann
Duncker & Humblot · Berlin
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Paola-Ludovika Coriando in schöner Erinnerung an die gemeinsamen Lehrveranstaltungen an der Freiburger Universität zugeeignet
Vorwort Die hier vorgelegte Leibniz-Monographie geht auf eine Jahrzehnte lange Seminar- und Vorlesungstätigkeit des Verfassers an der Universität Freiburg zurück, in der die Leibnizsche Metaphysik auf der Textgrundlage der verschiedenen metaphysischen Schriften Leibnizens durchdacht wurde. Im Zentrum dieser Forschungs- und Lehrtätigkeit stand aber stets Leibnizens letzte Metaphysik-Schrift, die „Monadologie“, deren 90 Abschnitte oder Paragraphen den systematischen Leitfaden durch die Metaphysik der monadischen Substanzen bilden. Anhand dieses Leitfadens und unter Einbeziehung der anderen metaphysischen Schriften wird hier eine systematische Interpretation und Darstellung der Leibnizschen Metaphysik als Monadologie angestrebt. In methodischer Hinsicht verfährt die Abhandlung phänomenologisch. Die Textanalysen und das Durchdenken der von Leibniz gedachten Sachverhalte sind durchgehend vom phänomenologischen Sehen geleitet, einer methodischen Blickstellung, die nunmehr seit nahezu 100 Jahren zum Auszeichnenden der Freiburger Philosophie gehört. Der Verfasser ließ sich seit 1957 auf dem Wege des Studiums der Schriften Martin Heideggers und Eugen Finks, vor allem aber auch in den Lehrveranstaltungen Eugen Finks und Privatseminaren Martin Heideggers, in den phänomenologischen Umgang mit den philosophischen Texten einführen und einarbeiten. Das phänomenologische Sehen in der Textauslegung steht unter dem Geleit der zuerst von Edmund Husserl in dessen „Logischen Untersuchungen“ formulierten methodischen Maxime ‚Auf die Sachen selbst zurückgehen‘, der dann Martin Heidegger in seinem grundlegenden Hauptwerk „Sein und Zeit“ die leicht abgewandelte Formulierung „Zu den Sachen selbst“ gegeben hat. Da alle meine Arbeiten zu den älteren und neueren Denkern einen überwiegend kommentierenden Charakter haben, könnte auch unsere LeibnizMonographie zu einem Begleiter des Studiums der Leibnizschen Metaphysik und insbesondere der „Monadologie“ werden. Herrn Verleger Dr. Florian Simon danke ich herzlich für seine weitsichtige Entscheidung, eine Schriftenreihe unter dem Titel „Metaphysik und Ontologie“ zu gründen und in sein Verlagsprogramm aufzunehmen. Die Herausgeberschaft dieser Reihe liegt in den bewährten Händen von Frau Prof. Dr. Paola-Ludovika Coriando als Inhaberin des Lehrstuhls für Meta-
8 Vorwort
physik und Ontologie an der Universität Innsbruck. Es steht zu hoffen, daß sich diese Schriftenreihe zu einem Ort der Sammlung fruchtbarer Forschung auf dem Felde von Metaphysik und Ontologie entwickeln wird. Seit Aristoteles bilden Metaphysik und Ontologie die Mitte der Philosophie. Selbst Martin Heidegger spricht in seiner Vorlesung vom Wintersemester 1934 / 35 „Hölderlins Hymnen ‚Germanien‘ und ‚Der Rhein‘“ von der ‚neuen Grunderfahrung des Seyns‘ als einer ‚anderen Metaphysik‘ und somit auch von der ‚Metaphysik‘ (GA Band 39, S. 196). * Herrn Dr. Klaus Neugebauer danke ich sehr herzlich für seinen hilfreichen Anteil an den Korrekturarbeiten und für die ebenso hilfreichen Vorarbeiten für die Erstellung der Register. Freiburg i. Br., im Februar 2015
F.-W. v. Herrmann
Inhaltsverzeichnis Zur Zitierweise. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12 Vorbemerkung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13 Hinführung 15 § 1 Die Stellung der Schrift „Monadologie“ im Gesamtwerk von Leibniz . . 15 § 2 Die Verbesserung der Ersten Philosophie durch die Verbesserung des Begriffes der Substanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 Erstes Kapitel
Ausdehnung und ursprüngliche Kraft
25
§ 3 Descartes’ und Spinozas Ontologie der Substanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25 a) Descartes: Die zwei endlichen Gattungen der Substanz und die eine unendliche Substanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25 b) Spinoza: Die eine-einzige Substanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33 § 4 Leibnizens Begriff der ursprünglichen Kraft (vis primitiva) . . . . . . . . . . . 39 Zweites Kapitel
Die Monade als wahre substanzielle Einheit
48
§ 5 Die zusammengesetzten Körper und deren einfache Substanzen als Monaden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 50 § 6 Natürliches Entstehen und Vergehen der Körper – göttliche Erschaffung und Vernichtung der Monaden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63 § 7 Die Fensterlosigkeit der Monaden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67 Drittes Kapitel
Das substanzielle Wesen der Monaden
71
§ 8 Die Wesensbeschaffenheiten der Monaden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71 § 9 Das innermonadische Prinzip der Veränderung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 76 § 10 Das innermonadische Prinzip der Individuation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79
10 Inhaltsverzeichnis § 11 Die innermonadischen Tätigkeiten (Kräfte) des Strebens und des Perzipierens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81 Viertes Kapitel
Die Stufen des monadischen Seins
99
§ 12 Die einfachen Substanzen als Entelechien im weiten Sinne oder als Seelen im weiten Sinne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99 § 13 Das monadische Sein der anorganischen Körper: Entelechien im engeren Sinne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104 § 14 Die innermonadische Zeitlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109 § 15 Das monadische Sein des organischen Lebewesens: Seelen im engeren Sinne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 122 § 16 Das monadische Sein des Menschen: die vernünftige Seele als Geist . . . 129 Fünftes Kapitel
Zwei Grundprinzipien der Vernunfterkenntnis und zwei Arten von Wahrheiten
146
§ 17 Das Prinzip vom Widerspruch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 146 § 18 Das Prinzip des zureichenden Grundes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149 § 19 Vernunftwahrheiten und Tatsachenwahrheiten. Vernunftwahrheiten und der zureichende Grund . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153 § 20 Tatsachenwahrheiten und der zureichende Grund . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163 Sechstes Kapitel
Das Prinzip des zureichenden Grundes und der Beweis für das Dasein Gottes
172
§ 21 Die Reihen der zufälligen (kontingenten) Gründe und der letzte Grund . 172 § 22 Der letzte Grund, die notwendige Substanz, als Gott. Der aposteriorische Gottesbeweis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 178 Siebentes Kapitel
Begriffsentfaltung der höchsten Substanz
188
§ 23 Einzigkeit und absolute Vollkommenheit der notwendigen Substanz . . . . 188 § 24 Die notwendige Substanz als Ursprung der Existenzen und der Essenzen. Der zweite Gottesbeweis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 194
Inhaltsverzeichnis11 § 25 Der dritte als der apriorische Gottesbeweis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 198 § 26 Die ewigen Wahrheiten und der göttliche Verstand – die zufälligen Wahrheiten und der göttliche Wille . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 201 Achtes Kapitel
Die Hervorbringung der endlichen Monaden durch die Urmonade
203
§ 27 Die blitzartigen Ausstrahlungen der Gottheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 203 § 28 Die Analogie zwischen den Attributen der Urmonade und denen der endlichen Monaden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 205 Neuntes Kapitel
Der zwischenmonadische Bezug als der ideale Einfluß. Der Weltbezug der Monaden als der lebendige Spiegel des Universums. Die Praestabilierte Harmonie zwischen Seele und organischem Körper, zwischen dem Reich der Zweckursachen und dem Reich der Wirkursachen 208
§ 29 Der ideale Einfluß der Monaden untereinander . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 208 § 30 Die Monaden als lebendige Spiegel des Universums . . . . . . . . . . . . . . . . 211 § 31 Die Praestabilierte Harmonie zwischen Seele und organischem Körper, zwischen dem Reich der Zweckursachen und dem Reich der Wirkursachen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 217 Literaturverzeichnis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 223 Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 228 Sachregister. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 229
Zur Zitierweise Die Leibnizschen Schriften, allen voran die „Monadologie“ und die ihr nahestehenden „Vernunftprinzipien der Natur und der Gnade“, werden nach den Ausgaben der Philosophischen Bibliothek des Felix Meiner Verlages zitiert, die ihrerseits auf der Gesamtausgabe der Leibnizschen Philosophischen Schriften von C. J. Gerhardt fußen. Desgleichen werden die Texte von Aristoteles, Descartes, Spinoza und Kant nach den Ausgaben der Meinerschen Philosophischen Bibliothek zitiert. Hierbei greifen wir auch auf die älteren Ausgaben dieser Bibliothek zurück, die durch die neueren und neuesten Übersetzungen und Ausgaben keineswegs als veraltet einzustufen sind. Zwar gab es in der Übersetzung der „Meditationen über die Erste Philosophie“ Descartes’ von Artur Buchenau in einem Falle eine ungenaue Übertragung, die auf einem interpretatorischen Mißverständnis beruhte. Ansonsten sind aber die Übersetzungen der Descartes’schen Schriften durch Buchenau den Texten Descartes’ angemessen, weil sie von einer sicheren Beherrschung der Gedankenwelt und der philosophischen Begrifflichkeit dieses Denkers zeugen. Neuübersetzungen sind nicht in jedem Falle, nur weil sie neu sind und sprachlich vertrauter klingen, eine Verbesserung der Texte. Auf meine mich seit Jahrzehnten begleitenden älteren Textaus gaben von Descartes oder auch Leibniz möchte ich nicht verzichten, auch wenn ich die neuen Übersetzungen und Ausgaben zur Kenntnis nehme. Diejenigen Schriften von Leibniz, aber auch von Descartes, deren Text-Absätze (oder Abschnitte) mit arabischen Ziffern durchgezählt sind, werden nach diesen Absatzziffern ohne Seitenangabe zitiert. Das trifft vor allem für die „Monadologie“, aber auch für die „Vernunftprinzipien der Natur und der Gnade“ sowie für die „Theodizee“ zu. Dort aber, wo eine solche Absatzzählung fehlt, erfolgt die Zitation mit Seitenangaben. Wie meine Descartes-Monographie zu den „Meditationen über die Erste Philosophie“ (Verlag Vittorio Klostermann 2011) ist auch die jetzige Leibniz-Monographie als Studienbuch für den Gebrauch in den Lehrveranstaltungen der Universität gedacht. Für die Studierenden sind die Leibniz-Ausgaben der Meinerschen „Philosophischen Bibliothek“ – und auch die älteren Übersetzungsausgaben – in allen Philosophischen Fach- und Universitätsbibliotheken leicht erreichbar.
Vorbemerkung Die Monographie Leibniz – Metaphysik als Monadologie wendet sich einer der „großen Philosophien“ der abendländisch-europäischen Denkgeschichte zu. Im 93. Abschnitt der „Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis)“, der überschrieben ist „Die großen Philosophien“, sagt Heidegger von diesen: „Die großen Philosophien sind ragende Berge, unbestiegen und unbesteigbar. Aber sie gewähren dem Land sein Höchstes und weisen in sein Urgestein. Sie stehen als Richtpunkt und bilden je den Blickkreis; sie ertragen Sicht und Verhüllung. Wann sind solche Berge das, was sie sind? Dann gewiß nicht, wenn wir vermeintlich sie bestiegen und beklettert haben. Nur dann, wenn sie uns und dem Lande wahrhaft stehen. Aber wie wenige vermögen dieses, in der Ruhe des Gebirges, das lebendigste Ragen erstehen zu lassen und im Umkreis dieser Überragung zu stehen. Die echte denkerische Auseinandersetzung muß dies allein anstreben.“1
Leibnizens Metaphysik ist einer dieser ragenden Berge, der trotz einer langen Geschichte der Interpretation unbestiegen ist und unbesteigbar bleibt, weil er in seiner eigenen Größe nicht bewältigt oder gar überwunden ist. In ihrer ragenden Größe gewährt Leibnizens Metaphysik dem Lande des Denkens sein Höchstes und weist in das Urgestein dieses Landes, das das Abendland ist. Leibnizens Metaphysik steht mit den anderen großen Metaphysiken als Richtpunkt, nach dem wir unser Denken ausrichten, und bildet wie jede der großen Metaphysiken einen Blickkreis für unser Denken. Als ragender Berg im Lande des Denkens erträgt die Metaphysik Leibnizens sowohl die Sicht eines auslegenden Verstehens wie auch die Verhüllung durch Mißverstehen oder Vergessen, ohne dadurch die ragende Größe einzubüßen. Leibnizens Metaphysik ist als ragender Berg das, was sie ist, solange nicht, wie wir meinen, diesen Berg bestiegen und beklettert und darin besiegt oder gar überwunden zu haben. Das, was sie ist, ist sie nur dann, wenn sie uns und dem Lande des Denkens als ragender Berg wahrhaft steht. Die echte denkerische Begegnung mit der Metaphysik Leibnizens muß deren lebendigstes Ragen erstehen lassen und im Umkreis dieser Überragung Stand gewinnen. Die Monographie beabsichtigt, eine phänomenologisch-analytische sowie systematische Auslegung und Darstellung der Leibnizschen Metaphysik als 1 M. Heidegger, Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis). Gesamtausgabe Band 65. Hrsg. v. F.-W. v. Herrmann. Vittorio Klostermann Frankfurt am Main 1989, S. 187.
14 Vorbemerkung
Monadologie zu geben. Aufgabe und Gang der Untersuchung orientieren sich an jener Schrift, die den Titel trägt „Monadologie“. Wir setzen ein mit einer Einführung in das Thema. In dieser Einführung fragen wir zuerst nach der Stellung der „Monadologie“ im Gesamtwerk von Leibniz. Anschließend lassen wir uns von einer kleinen, aber aufschlußreichen Schrift Leibnizens sagen, daß er selber sein Philosophieren in die auf Aristoteles zurückgehende Überlieferung der Ersten Philosophie hineinstellt, – daß es ihm dabei um eine grundlegende Verbesserung der Ersten Philosophie geht, daß diese Verbesserung allem voran in der Verbesserung des metaphysischen Grundbegriffes der Substanz besteht, und schließlich, daß die Verbesserung des Substanz-Begriffes auf der Einsicht in jenen Grundcharakter der Substanz beruht, der durch die Bezeichnung „Monade“ gefaßt wird.
Hinführung § 1 Die Stellung der Schrift „Monadologie“ im Gesamtwerk von Leibniz Von Leibniz besitzen wir kein systematisches Hauptwerk seiner Metaphysik, das in seiner Gestalt vergleichbar wäre mit den „Meditationen über die Erste Philosophie“ Descartes’ oder mit der nach geometrischer Weise behandelten „Ethik“ von Spinoza oder aber mit Kants „Kritik der reinen Vernunft“. Zwar gibt es von Leibniz zwei umfangreiche Werke, die zu Recht zu seinen Hauptschriften gezählt werden. Bei diesen handelt es sich zum einen um die 1704 verfaßten „Neuen Abhandlungen über den menschlichen Verstand“, die freilich erst nach Leibnizens Tod 1765 veröffentlicht wurden. Zum anderen handelt es sich um die 1710 von Leibniz veröffentlichten „Abhandlungen zur Théodicée. Über die Güte Gottes, die Freiheit des Menschen und den Ursprung des Übels“. Die „Neuen Abhandlungen über den menschlichen Verstand“ sind Leibnizens Gegenschrift gegen John Lockes „Essay concerning human understanding“. Sie enthalten seine Philosophie der menschlichen Erkenntnis und seine philosophische Psychologie. Die „Théodicée“ aber ist Leibnizens Darstellung seiner philosophischen Gotteslehre und Ethik. Beide Werke, die je mehrere hundert Seiten umfassen, enthalten zwar auch Hauptgedanken aus seiner allgemeinen Metaphysik, aber sie stellen diese nicht systematisch dar, sondern setzen die Metaphysik in ihrem systematischen Zusammenhang voraus. Ein mit diesen beiden Werken vergleichbar umfangreiches und ausgearbeitetes Werk zur allgemeinen Metaphysik gibt es jedoch von Leibniz nicht. Diese Tatsache ist um so erstaunlicher, je mehr man sich vor Augen hält, daß Leibniz ein systematischer Denker ersten Ranges ist, dessen systematische Denkkraft nicht geringer war als die eines Descartes oder Spinoza. Statt eines umfangreichen systematischen Hauptwerkes hat Leibniz seine Metaphysik, die die Grundlage seiner philosophischen Gotteslehre und Ethik wie auch seiner Philosophie der Erkenntnis ist, in verschiedenen kleineren und knappen System-Entwürfen dargestellt und darüber hinaus in einer mehr erläuternden Form in seinem umfangreichen philosophischen Briefwechsel. Die erste Darstellung seiner bislang gediehenen metaphysischen Gedankenarbeit findet sich in einer ca. 50 Seiten umfassenden titellosen Abhand-
16 Hinführung
lung, die der vierzigjährige Leibniz 1686 verfaßt hat und die erst 1846 unter dem von ihrem Herausgeber gewählten Titel „Metaphysische Abhandlung“ veröffentlicht wurde. Freilich ist dieser Titel nicht ohne Anhalt er funden, sondern der Herausgeber konnte sich für seine Titel-Gebung auf einen Brief von Leibniz an den Landgrafen v. Hessen Rheinfels v. 11. Februar 1686 berufen, in dem Leibniz seinem Adressaten mitteilt, er habe einen kleinen „discours de métaphysique“ verfaßt. Neun Jahre später, 1695, veröffentlicht Leibniz in einer französischen Zeitschrift den ca. 13 Seiten umfassenden System-Entwurf „Neues System der Natur und der Gemeinschaft der Substanzen, wie der Vereinigung zwischen Körper und Seele“. In diese Reihe der knapp gehaltenen System-Entwürfe zur Metaphysik gehören nun auch jene beiden schmalen Schriften, die in ihrem gedanklichen Aufbau eng verwandt sind und meistens auch zusammen genannt werden: „Die Vernunftprinzipien der Natur und der Gnade“ und die „Monadologie“. Beide Schriften verfaßte Leibniz während seines letzten Wiener Aufenthaltes (1712–1714) im Jahre 1714, wobei er die „Monadologie“ erst nach seiner Rückkehr nach Hannover vollendete. Die beiden bekanntesten Schriften zur Leibnizschen Metaphysik als Monadologie wurden also am Ende seines Lebens, zwei Jahre vor seinem Tod 1716, verfaßt. Beide Schriften enthalten daher die späte und abgeschlossene Gestalt seiner Metaphysik. „Die Vernunftprinzipien der Natur und der Gnade“ bestehen aus 18 kürzeren, z. T. auch ausführlicheren Abschnitten auf insgesamt elf Druckseiten. Diese knappe Darstellung seines Systems der Metaphysik hatte Leibniz für den berühmten Prinzen Eugen v. Savoyen verfaßt, der ihn um eine solche Zusammenfassung gebeten hatte. Erst 1718, zwei Jahre nach Leibnizens Tod, erschien diese Schrift in Paris. Sie war, wie die meisten Schriften von Leibniz, in französischer Sprache verfaßt. Die „Monadologie“ ist umfangreicher als die „Vernunftprinzipien der Natur und der Gnade“; sie besteht aus 90 Abschnitten auf ca. 22 Druckseiten. Leibniz hatte auch diese Schrift ohne Titel verfaßt für den Pariser Mathematiker und Gelehrten Nicolas Rémond, mit dem er seit 1713 in Briefverkehr stand. Der Jenaer Professor für Naturrecht, Heinrich Köhler, war es dann gewesen, der für seine 1720 erfolgte deutsche Übersetzung des Manuskripts den Titel „Monadologie“ gewählt hat. Der vollständige Titel seiner Übersetzung lautet: „Des Herrn Gottfried v. Leibniz Lehrsätze über die Monadologie, imgleichen von Gott und seiner Existenz, seinen Eigenschaften und von der Seele des Menschen, wie auch dessen letzte Verteidigung seines Systematis Harmoniae praestabilitatae wider die Einwürfe des Herrn Bayle“. Beide Spätschriften, „Die Vernunftprinzipien der Natur und der Gnade“ und die „Monadologie“, enthalten zweifellos die prägnanteste und ausführ-
§ 2 Die Verbesserung der Ersten Philosophie17
lichste Formulierung und thesenartige Darstellung seines metaphysischen Systems, seiner Metaphysik der einfachen Substanzen, denen Leibniz seit 1697 den Namen „Monaden“ gibt. Dennoch handelt es sich auch bei diesen Schriften um eine Darstellung nur in Form von Thesen und nicht um die abhandlungsmäßige Ausführung dieser Thesen zu einem systematischen Werk der Metaphysik. Ohne Zweifel sind aber die 90 Thesen der „Monadologie“ die vollständigste zusammenhängende Darstellung der Leibnizschen Metaphysik. Insofern läßt sich die „Monadologie“ auch als die metaphysische Hauptschrift von Leibniz bezeichnen. Weil aber auch diese Schrift nur aus Thesen besteht, sind wir genötigt, für ihre gedankliche Entfaltung und Auslegung auf andere Schriften von Leibniz zurückzugreifen. Diese anderen Texte, die wir zum besseren Verständnis der „Monadologie“ heranziehen, sind folgende: 1. „Vernunftprinzipien der Natur und der Gnade“, die eine kürzer gehaltene Paralleldarstellung zur „Monadologie“ sind; 2. die von Leibniz selbst hinter viele Abschnitte der „Monadologie“ gesetzten Paragraphen aus der „Theodizee“; 3. einige Abschnitte aus den „Neuen Abhandlungen über den menschlichen Verstand“; 4. „Neues System der Natur und der Gemeinschaft der Substanzen“; 5. eine Reihe von philosophischen Briefen, in denen Leibniz seine metaphysischen Grundgedanken entfaltet, die er in der „Monadologie“ nur thesenartig aufführt. Die für das Verständnis der Monadologie wichtigsten Briefe sind die an den französischen Philosophen und Cartesianer Antoine Arnauld und an den holländischen Philosophen und Cartesianer Burcher de Volder. Daß Leibniz seine Philosophie der einfachen Substanzen als Metaphysik im Sinne der Ersten Philosophie des Aristoteles und der anschließenden Tradition verstanden wissen will, geht nun unzweideutig aus jener kleinen, nur drei Seiten umfassenden Schrift hervor, die Leibniz 1694, ein Jahr vor der Niederschrift des „Neuen Systems“, in Leipzig, seinem Geburtsort, veröffentlicht hat unter dem Titel „De Primae Philosophiae Emendatione, et De Notione Substantiae“, „Über die Verbesserung der Ersten Philosophie und über den Begriff der Substanz“.
§ 2 Die Verbesserung der Ersten Philosophiedurch die Verbesserung des Begriffes der Substanz1 Die kleine Schrift mit dem programmatischen Titel setzt ein mit einer für die Situation der Philosophie seit Descartes bezeichnenden Gegenüberstel1 De Primae Philosophiae Emendatione, et De Notione Substantiae, in: Gottfried Wilhelm Leibniz, Kleine Schriften zur Metaphysik – Opuscules Metaphysiques.
18 Hinführung
lung von Mathematik und Metaphysik. Weil in den Lehren der Mathematik Licht herrsche, in den Lehren der Metaphysik aber Dunkelheit, schrecken die meisten derer, die sich an den Lehren der Mathematik erfreuen, vor den Lehren der Metaphysik zurück. Leibniz selbst gehört zu den Liebhabern der Mathematik, und als solcher möchte er im Unterschied zu jenen anderen das Licht, dessen sich die Mathematik erfreut, auch in die Metaphysik hineintragen und diese zu einer lichterfüllten Grundwissenschaft gestalten. Den Grund für die Dunkelheit in der Metaphysik sieht Leibniz darin, daß die allgemeinen Begriffe – die Grundbegriffe der Metaphysik – durch menschliche Nachlässigkeit und Unbeständigkeit des Denkens zweideutig und dunkel geworden sind. Die herkömmlichen Definitionen dieser metaphysischen Grundbegriffe werden von Leibniz insbesondere deshalb bemängelt, weil sie im besten Fall nur Nominaldefinitionen sind, also Definitionen der Wortbedeutung, nicht aber, wie erforderlich, klare und deutliche Realdefinitionen, Definitionen des Sachverhaltes, um den es in den metaphysischen Grundbegriffen geht. Der Vorwurf der bloßen, d. h. nichts wahrhaft erklärenden Nominaldefinitionen ist vor allem gegen Descartes und dessen Nominaldefinition der Substanz gerichtet. Weil die übrigen Wissenschaften, die nichtphilosophischen Wissenschaften wie die Physik, der Metaphysik als der ersten und grundlegenden Wissenschaft untergeordnet sind, – weil also die Physik ihre Grundlegung aus der Metaphysik empfängt, überträgt sich die Unklarheit der metaphysischen Grundbegriffe auch auf die Physik. Zu den ungeklärten metaphysischen Grundbegriffen, die Leibniz aufzählt, gehört an erster Stelle der Grundbegriff der Metaphysik, der Begriff der Substanz, ferner der Begriff der Ursache, der Handlung, der Beziehung, der Ähnlichkeit und andere mehr. Leibniz nennt sie wahre und fruchtbare Begriffe. Alle diese Begriffe sind für ihn aber hinsichtlich ihrer Realdefinition immer noch verborgen. Vor allem aber ist das wahre Wesen der Substanz, des ersten Grundbegriffes der Metaphysik, immer noch nicht zureichend erkannt. Daher – fährt Leibniz fort – dürfe sich niemand verwundern, daß jene Grundwissenschaft (scientia princeps), „die unter dem Namen der Ersten Philosophie steht und von der Aristoteles sagte, daß sie die erwünschte und gesuchte sei, bis jetzt immer noch die gesuchte Wissenschaft geblieben ist“.2 Hier beruft sich Leibniz ausdrücklich auf Aristoteles, der für die philosophische Grundwissenschaft den Namen der Ersten Philosophie (πρώτη φιλοσοφία) geprägt und diese als die „gesuchte Wissenschaft“ (ἐπιστήμη ζητουμένη) gekennzeichnet Hrsg. und übersetzt von Hans Heinz Holz. Insel-Verlag Frankfurt am Main 1965, S. 194–201. – Siehe zur Emendations-Schrift von Leibniz: W. Janke, Leibniz. Die Emendation der Metaphysik. V. Klostermann Frankfurt am Main 1963. 2 a. a. O., S. 195.
§ 2 Die Verbesserung der Ersten Philosophie19
hat (Met. K (XI) 1, 1059 a 35 u. öfter).3 Der Hauptgegenstand aber dieser Ersten Philosophie als der im Fragen zu suchenden Wissenschaft ist die οὐσία, das Wesen als das erste Seiende, das Einzelseiende in seinem Sein, dasjenige, was später durch substantia übersetzt wird. Im Buch Z (VII) der „Metaphysik“, das der Untersuchung der οὐσία gewidmet ist, heißt es: Die Frage, was die οὐσία sei, ist das von alters her und jetzt und künftig immer Gesuchte (ζητούμενον) und Hin-und-her-Erwogene (ἀπορούμενον).4 Leibniz erinnert daran, daß Aristoteles die Erste Philosophie, die Metaphysik, als die zu suchende Wissenschaft gekennzeichnet hat, um daran anschließend die Feststellung zu treffen, daß sie bis jetzt immer noch die zu suchende Wissenschaft geblieben ist. Die Metaphysik ist immer noch die gesuchte Wissenschaft, weil sie für Leibniz immer noch nicht zu ihren wahren Grundeinsichten vorgestoßen ist, – weil vor allem ihre Grundbegriffe, allen voran ihr Grundbegriff der Substanz, gerade in neuerer Zeit zweideutig und dunkel geworden sind. Die Metaphysik als die Erste Philosophie ist immer noch eine erst zu suchende Wissenschaft, obwohl es Descartes war, der in seinen „Meditationen über die Erste Philosophie“ davon überzeugt war, die Erste Philosophie erstmals auf ein absolut gewisses Fundament gebracht zu haben. Leibniz blickt nun auf den Geschichtsgang der Metaphysik zurück. Zwar sei Platon in seinen Dialogen der Tragfähigkeit der Begriffe nachgegangen, zwar habe Aristoteles in den Büchern der „Metaphysik“ dasselbe wie Platon getan; aber die späteren Platoniker seien schließlich in die Erzählung von Wundergeschichten verfallen und die Aristoteliker, insbesondere die der mittelalterlichen Scholastik, hätten sich mehr darum bemüht, Fragen aufzuwerfen, als diese zu lösen. Und was seine eigene Zeit, seine Gegenwart, anbetrifft, so hätten zwar gewisse ausgezeichnete Männer ihren Geist ebenfalls auf die Erste Philosophie gerichtet, aber „bis jetzt nicht mit großem Erfolg“ (non magno tamen hactenus successu).5 Als einzigen seiner zunächst anonym angesprochenen Zeitgenossen nennt Leibniz nunmehr Descartes. Es könne nicht geleugnet werden, daß Descartes einiges Hervorragende vorgetragen habe. Das auch für Leibniz Hervorragende des Cartesischen Philosophierens ist zum einen die Ausbildung des methodischen Zweifels und ist zum anderen die Gewinnung der unbezweifelbaren Selbstgewißheit des ego cogito. Obwohl Descartes auf dem gewon3 Aristoteles, Metaphysik. Zweiter Halbband: Bücher VII (Z)–XIV (N), in der Übersetzung von Hermann Bonitz. Neu bearbeitet, mit Einleitung und Kommentar hrsg. von Horst Seidl. Griechischer Text in der Edition von Wilhelm Christ. Felix Meiner Verlag Hamburg 1980. 4 Aristoteles, Metaphysik, a. a. O., Z 1, 1028 b3. 5 Leibniz, De Primae Philosophiae Emendatione …, a. a. O., S. 196.
20 Hinführung
nenen Boden der Selbstgewißheit des Selbstbewußtseins nur das absolut Sichere, das Unbezweifelbare, gelten lassen wollte, sei er dennoch aufgrund einer gewissen Unbeständigkeit und Freizügigkeit im Behaupten von seinem eigentlichen Ziele abgewichen. Er habe das wahrhaft Sichere nicht mehr vom Unsicheren unterscheiden können. Denn Descartes habe voreilig behauptet, daß die Natur der körperlichen Substanz in der Ausdehnung bestehe (substantiae corporeae naturam in extensione); ferner habe er von der Einheit von Körper und Seele (de unione animae et corporis) keine probehaltigen Begriffe gehabt. Den Grund aber für diese beiden fundamentalen Mängel der Metaphysik Descartes’ sieht Leibniz darin, daß Descartes „die Natur der Substanz im Ganzen nicht erkannte“ (non intellecta substantiae natura in universum).6 Damit stehen wir bei einer entscheidenden Aussage von Leibniz. Seine hier geäußerte philosophische Kritik an Descartes benennt zwei bedeutsame Kritik-Punkte. Seine Kritik an Descartes richtet sich zum einen gegen Descartes’ Bestimmung des substantiellen Wesens des körperlich Seienden, das Descartes in der extensio erkennt. Descartes unterscheidet zwei Gattungen endlicher Substanzen, die denkende, Selbstbewußtsein habende Substanz (substantia cogitans), und die körperliche, räumlich extendierte, ausgedehnte Substanz (substantia extensa). Leibnizens Kritik richtet sich nicht gegen die Bestimmung beider Substanzen, sondern gegen die Bestimmung der zweiten Gattung der Substanzen, gegen die substantia extensa. Leibniz leugnet, daß die extensio überhaupt als substanzielles Wesen gedacht werden kann, er leugnet, daß die extensio das substanzielle Wesen der Körper, des raum-zeitlich-materiellen Seienden, sein könne. Im Zusammenhang damit richtet sich Leibnizens Kritik an Descartes zum anderen gegen dessen Bestimmung der Einheit von Seele und Körper. Der Grund aber für beide Verfehlungen Descartes’ besteht für Leibniz in der Verfehlung des wahren Wesens der Substanz im Ganzen. Damit ist angedeutet, daß Leibniz nicht wie Descartes zwei unterschiedliche Substanz-Gattungen ansetzt, sondern ein einheitliches substanzielles Wesen für alle Substanzen im Universum. An diesem einheitlichen substanziellen Wesen haben für Leibniz alle Substanzen teil, sowohl die Substanzen der Körper wie die denkenden Substanzen. Dieses einheitliche Wesen aller Substanzen im Universum hat nach Leibniz Descartes nicht erkannt. Da aber der Begriff der Substanz der tragende Grundbegriff der Ersten Philosophie, der Metaphysik, ist, wird es vor allem darauf ankommen, das wahre substanzielle Wesen der Substanz zu erkennen. Ohne weitere Namen zu nennen, gedenkt Leibniz auch der anderen durch Scharfsinn ausgezeichneten Männer seiner Zeit, die sich der Metaphysik 6 Leibniz,
De Primae Philosophiae Emendatione …, a. a. O., S. 196.
§ 2 Die Verbesserung der Ersten Philosophie21
gewidmet und manches tiefgründig gedacht haben. Dennoch aber hätten sie sich – im Unterschied zu Descartes – so sehr in Dunkelheiten verstrickt, daß ihre Ausführungen mehr in einem bloßen Ahnen denn in einem wirklichen Beweisen bestehen. Nach diesem geschichtlichen Rückblick von Platon bis in die eigene Gegenwart betont Leibniz aufs Neue die Notwendigkeit, in die metaphysischen Fragen Licht und Gewißheit zu bringen. Die Anstrengung in der Metaphysik müsse gegenüber derjenigen in der Mathematik eine sehr viel größere sein, weil die Metaphysik gerade jene Proben und Beweise, die den mathematischen Wissenschaften eigen sind, wesensmäßig entbehre. Weil der Begriff der Substanz, des substanziellen Seins alles Seienden, der entscheidende Grundbegriff der Ersten Philosophie bzw. Metaphysik ist, gilt es in erster Linie, Licht und Gewißheit (lux et certitudo)7 in diesen Kardinalbegriff der Metaphysik zu bringen. Die emendatio, die Verbesserung der Ersten Philosophie muß ihren Ausgang nehmen von der emendatio des Begriffes der Substanz. Daher äußert sich Leibniz jetzt zur Neubestimmung dieses Begriffes. Seine neue Bestimmung des Begriffes der Substanz sei so fruchtbar, daß aus ihr die ersten Wahrheiten in Bezug auf Gott, auf die durch das Selbstbewußtsein bestimmten Geister und auf das Wesen der Körper folgen. Diese ersten, d. h. die metaphysischen, die Seinsgrundlagen alles Seienden betreffenden Wahrheiten seien solche, die nur zum Teil bekannt, als solche aber noch nicht genügend bewiesen, zum Teil aber bislang unbekannt waren. Leibniz deutet damit an, daß das Neue seiner metaphysischen Einsichten teils in den neuen Beweisen des schon Bekannten, teils aber in gänzlich neuen sachlichen Einsichten besteht. Alle seine neuen Beweise und neuen Einsichten, alle aus der neuen Bestimmung der Substanz her fließenden Wahrheiten seien, so betont Leibniz, von größtem Nutzen für die übrigen Wissenschaften, die ihre Grundlegung aus der Ersten Philosophie erhalten. Worin besteht nun die Leibnizsche Neubestimmung der Substanz? Ohne hier den neuen Begriff im einzelnen zu entfalten, berichtet Leibniz lediglich, daß der „Begriff der Kräfte (vires) oder des Vermögens (virtus) sehr viel Licht zur Erkenntnis des wahren Begriffes der Substanz beiträgt“.8 Damit wird von Leibniz der entscheidende Begriff genannt: vis, vires, worin er die wahre Substantialität der Substanz, das wahre substanzielle Wesen oder substanzielle Sein erkennt. Leibniz fügt hinzu, daß vis von den Deutschen „Kraft“ und von den Franzosen „la force“ genannt werde.9 Ferner bemerkt er, daß er für die Entfaltung des Kraft-Begriffes die besondere De Primae Philosophiae Emendatione …, a. a. O., S. 196. De Primae Philosophiae Emendatione …, a. a. O., S. 199. 9 Leibniz, De Primae Philosophiae Emendatione …, a. a. O., S. 199. 7 Leibniz, 8 Leibniz,
22 Hinführung
Wissenschaft der Dynamik bestimmt habe. Dieser Hinweis darf jedoch nicht mißverstanden werden dahingehend, als ob die Klärung und Bestimmung der Substantialität der Substanz mit Blick auf die Kraft Aufgabe dieser neuen Wissenschaft der Dynamik sei. Vielmehr konzipiert Leibniz die Wissenschaft der Dynamik als eine Wissenschaft von den Kräften der phänomenalen Körper. Aber die zur Körperwelt gehörenden phänomenalen Kräfte finden ihre metaphysische Grundlegung aus jener nichtphänomenalen substanziellen, d. h. seinsmäßigen Kraft, in der Leibniz das substanzielle Wesen der Substanz erkennt. Er unterscheidet also zwischen der metaphysischen Kraft und den physischen Kräften. Der metaphysische Kraftbegriff gehört in die Metaphysik als reine Vernunftwissenschaft, während die physischen Kräfte Thema der physikalischen Wissenschaften sind. Wenn Leibniz Descartes vorhält, er habe die Natur, also das Wesen der Substanz im Ganzen nicht erkannt, ist damit gesagt, daß Descartes die Substantialität der Substanz nicht in der Kraft gesehen hat. Die substanzielle Kraft, die Substanz als ursprüngliche Kraft, ist für Leibniz jenes einheitliche substanzielle Wesen, das alles Seiende in seinem Sein bestimmt, sowohl das körperliche Seiende wie auch das geistige Seiende. Nicht die extensio der Körper, sondern die ursprüngliche Kraft ist für Leibniz das substanzielle Wesen der Körper. Die Kraft als die wahre Substanzialität der Substanz, einer jeden Substanz, nennt Leibniz vis activa, eine aktive, handelnde Kraft. Diese vis activa grenzt er sogleich ab gegen den scholastischen Begriff der potentia activa, der Möglichkeit zum Handeln. Die potentia activa nennt Leibniz potentia nuda, nackte Möglichkeit, weil sie als facultas, als Vermögen, nur die Möglichkeit zum Handeln ist, die als solche einer fremden Anregung bedarf, um in das wirkliche Handeln übergehen zu können. Gegenüber der scholastischen potentia activa enthält die Leibnizsche vis activa bereits ein gewisses Handeln im Sinne der ἐντελέχεια. Die vis activa ist „ein Mittleres zwischen dem Vermögen zu handeln und der Handlung selbst“ (inter facultatem agendi actionemque ipsam media est).10 Als dieses Mittlere zwischen dem Vermögen zu handeln und dem schon wirklichen Handeln schließt die vis activa den conatus, den Drang oder das Streben zu handeln ein. Die vis activa wird somit im Unterschied zur potentia activa durch sich selbst in das Handeln gesetzt. Die vis activa bedarf nicht – wie die potentia activa – fremder Hilfe, sondern nur der Entfernung der Hemmung in ihr selbst. Diese ursprüngliche active Kraft, die aus sich selbst heraus handelt, kennzeichnet Leibniz durch den aristotelischen Begriff der Entelechie. Die vis activa ist Entelechie, weil sie die Kraft der inneren Selbsttätigkeit und Selbstentfaltung ist. 10 Leibniz,
De Primae Philosophiae Emendatione …, a. a. O., S. 199.
§ 2 Die Verbesserung der Ersten Philosophie23
Alle phänomenalen Kräfte der phänomenalen Körper, wie die Schwerkraft oder die Kraft der Elastizität, werden mechanisch, also physikalisch und nicht metaphysisch erklärt. Aber die ultima ratio, der letzte Grund der phänomenalen Kräfte und Bewegungen der Materie, ist jene nicht phänomenale vis activa, von der Leibniz sagt, daß sie der Materie, dem materiellen Körper, bei der Schöpfung (in creatione) eingeprägt sei. Diese ursprüngliche vis activa „ist in jedem Körper“ (in unoquoque corpore inest),11 und zwar als dessen Substanz oder substanzielles Sein. Durch den Hinweis auf die Schöpfung erfahren wir, daß mit den phänomenalen Körpern auch deren nichtphänomenale Substanzen geschaffen, d. h. ins Wirklichsein gebracht sind. So wie die phänomenalen Körper in der Natur aneinandergrenzen und sich auf verschiedene Weise einander begrenzen und beschränken, so sind auch die ihnen zugrundeliegenden substanziellen Kräfte begrenzt und eingeschränkt. Diese vis activa – so wiederholt und betont Leibniz – ist als eine virtus agendi, als ein Vermögen des selbsttätigen Handelns, in jeder Substanz, und zwar so, daß sie die Substantialität einer jeden Substanz ausmacht. Weil diese vis activa nicht wie die potentia activa bloße Möglichkeit zum Handeln ist, gebiert die vis activa stets irgendein Handeln (aliquam actionem).12 Alle Substanzen, nicht nur die des organischen Seienden und nicht nur die geistige Substanz, sondern auch die Substanzen der anorganischen Körper sind in ihrem substanziellen Sein stets handelnd-wirkend in der Weise der ursprünglichen vis activa. Auch die Substanzen der Körper, auch das substanzielle Sein der räumlich ausgedehnten Körper, hört niemals auf, handelnd zu wirken im Sinne der inneren Selbsttätigkeit. Diejenigen, die das Wesen (essentia) der Körper, ihr substanzielles Wesen, nur in der Ausdehnung (extensio) oder in der Undurchdringlichkeit gesehen haben, haben nicht erkannt, daß das wahre substanzielle Wesen der Körper die vis activa, das Vermögen des selbsttätigen Handelns ist. Das ist von Leibniz gegen Descartes und die Cartesianer gesprochen. Für Descartes und die Cartesianer blieb die Kraft als die Substanzialität aller Substanzen und somit auch die Substanzialität der ausgedehnten Körper unerkannt. Leibniz beschließt seine Charakterisierung der substanziellen Kraft mit der bedeutsamen Bemerkung, daß keine der geschaffenen Substanzen von einer anderen geschaffenen Substanz die vis agendi, die Wirkenskraft, empfangen könne, daß aber eine geschaffene Substanz von jeder anderen Substanz nur die Grenzen (limites) und die Beschränkung (determinatio) ihres in ihr selbst schon existierenden Strebens (nisus) oder ihrer in ihr selbst schon existierenden Kraft zu handeln (virtus agendi) empfängt, aber nicht 11 Leibniz,
12 Leibniz,
De Primae Philosophiae Emendatione …, a. a. O., S. 198. De Primae Philosophiae Emendatione …, a. a. O., S. 198.
24 Hinführung
etwa im Nachhinein, sondern im Vorhinein, d. h. als zu ihrer substanziellen Kraft schon gehörend.13 Die Emendatio, die Verbesserung der Ersten Philosophie erfolgt für Leibniz durch die Emendatio des Substanz-Begriffes, und zwar dergestalt, daß das allgemeine substanzielle Wesen in der selbsttätigen Kraft (vis activa) erkannt wird. In der kleinen Schrift, die wir unserer Hinführung zugrundegelegt haben, hat Leibniz vor allem einen Vorbegriff von dieser nicht physischen, sondern metaphysischen Kraft gegeben. Dabei blieb aber der Weg, auf dem Leibniz zur Einsicht in dieses substanzielle Wesen gelangt, verschwiegen. Ebenfalls blieb der Einheitscharakter der Substanz, der Leibniz zur Bezeichnung der Substanz als Monade geführt hat, unerörtert. Der Durchgang durch die kleine Schrift von 1694 hat uns lediglich damit vertraut gemacht, daß die Neubestimmung der Substanzialität der Substanz in der Einsicht in das Kraftwesen der Substanz besteht. Ferner haben wir aus dieser Schrift erfahren, daß Leibnizens Emendatio des Substanzbegriffes sich vor allem gegen Descartes’ Bestimmung der Substanzen richtet. Wir sagen ‚vor allem‘, weil diese Kritik sich zugleich auch gegen Spinoza und dessen Bestimmung der Substanz wendet. Doch trifft die Leibnizsche Kritik Spinoza dort, wo dieser selber noch Cartesianer ist und wie Descartes die ursprüngliche Kraft als Substanzialität der endlichen Substanzen verkennt. Weil Leibnizens Emendatio des metaphysischen Substanzbegriffes seine Auseinandersetzung mit Descartes und den Cartesianern, aber auch mit Spinoza ist, erweist es sich als sinnvoll, uns vorweg einen Durchblick durch Descartes’ und durch Spinozas Metaphysik der Substanz zu verschaffen.
13 Leibniz,
De Primae Philosophiae Emendatione …, a. a. O., S. 200.
Erstes Kapitel
Ausdehnung und ursprüngliche Kraft § 3 Descartes’ und Spinozas Ontologie der Substanz a) Descartes: Die zwei endlichen Gattungen der Substanz und die eine unendliche Substanz Für die Darstellung der cartesischen Metaphysik bzw. Ontologie der Substanz legen wir Descartes’ Werk „Prinzipien der Philosophie“ zugrunde, und zwar die Paragraphen 48, 51, 53, 54, 63 aus dem Ersten Teil, der überschrieben ist „Über die Prinzipien der menschlichen Erkenntnis“.1 Dieser Erste Teil der Prinzipienschrift enthält Descartes’ Metaphysik in der Gestalt, in der er diese in seinem Hauptwerk „Meditationen über die Erste Philosophie“ neu grundgelegt hat. Im § 48 sagt Descartes, er erkenne nur zwei höchste Gattungen (summa genera) von Dingen (res) an. Die erste Gattung ist die der geistigen oder denkenden (bewußtseinhabenden) Dinge (res intellectuales sive cogitativae). Es ist die Gattung jener res, die zum Geist (ad mentem) oder zur denkenden Substanz (ad substantiam cogitantem) gehören. Res, Ding, bedeutet hier nicht körperliches Ding, sondern Seiendes, das durch ein sachhaltiges Wesen (realitas) bestimmt ist. Die erste Gattung des sachhaltig Seienden umfaßt jenes Seiende, das sachhaltig durch den intellectus, die mens oder die cogitatio bestimmt ist. Die res der ersten Gattung bilden die erste Gattung der Substanzen, die bewußtseinhabenden Substanzen. Descartes spricht einmal von der einen denkenden Substanz und das andere Mal von den vielen denkenden Substanzen. Der Singular nennt die eine Gattung, unter welche die einzelnen denkenden, bewußtseinhabenden Substanzen fallen. Die zweite Gattung der sachhaltigen res ist die Gattung der körperlichen Dinge (res materiales). Es ist die Gattung jener res, die zur ausgedehnten 1 R. Descartes, Die Prinzipien der Philosophie. Erster Teil: Über die Prinzipien der menschlichen Erkenntnis. Übersetzt und erläutert von A. Buchenau. Felix Meiner Verlag Hamburg 1961, 1.–76. Abschnitt, S. 1–30. – R. Descartes, Die Prinzipien der Philosophie. Lateinisch – Deutsch, Übersetzt und hrsg. von Christian Wohlers. Felix Meiner Verlag 2005. Erster Teil: Über die Prinzipien der menschlichen Erkenntnis, S. 10–88.
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Erstes Kapitel: Ausdehnung und ursprüngliche Kraft
Substanz (ad substantiam extensam) gehören. Die ausgedehnte Substanz ist nichts anderes als der Körper (corpus). Auch hier bedeutet der Singular substantia extensa die Gattung; der Plural substantiae extensae nennt die vielen ausgedehnten körperlichen Substanzen. Die zwei höchsten Gattungen der sachhaltigen res sind also zugleich die zwei Gattungen von Substanzen. Sie unterscheiden sich hinsichtlich ihres Gattungswesens, das zum einen die cogitatio, das Bewußtsein, und zum anderen die extensio, die Ausdehnung, ist. Beide Gattungen von Substanzen werden von Descartes näher charakterisiert. Zur substantia cogitans gehören die perceptio und die volitio, das erfassende Vorstellen und das Wollen, und mit diesen alle modi, alle verschiedenen Weisen des erfassenden Vorstellens und des Wollens. Weisen der perceptio, des percipere sind: das Wahrnehmen, das imaginative Vorstellen, das verstandesmäßige Einsehen, alle Bewußtseinsweisen, in denen wir auf eine sachhaltige res vorstellend und erfassend bezogen sind. Weisen der volitio sind: das Wünschen, Erstreben, Hoffen, d. h. alle Bewußtseinsweisen, die zum Willen und Wollen gehören. Zur substantia extensa, zur ausgedehnten Substanz, gehören als modi die magnitudo, die Größenausdehnung nach Länge, Breite, Tiefe, ferner die figura, d. h. die Raumgestalt der Körper, sodann die Ortsbewegung (motus) der durch Raumgröße und Raumgestalt bestimmten Körper, ebenso die räumliche Lage (situs) eines Körpers im Verhältnis zu den anderen und schließlich auch die Teilbarkeit (divisibilitas) der extendierten Körper. Raumgröße, Raumgestalt, Lage im Raum, Ortsbewegung und Teilbarkeit sind nur möglich als modi der extensio. Die Teilbarkeit ist ein modus der Ausdehnung. Die Ausdehnung (extensio) ist aber für Descartes das Gattungswesen der einen von insgesamt zwei Gattungen der Substanzen. Gerade hier wird Leibnizens Kritik an Descartes ansetzen. Nachdem Descartes im § 48 die zwei Gattungen der Substanzen benannt hat, geht er im § 51 dazu über, die Substanz als solche zu definieren. Die Definition lautet: Per substantiam nihil aliud intelligere possumus, quam rem quae ita existit, ut nulla alia re indigeat ad existendum: Unter Substanz können wir nur eine res (ein sachhaltiges Seiendes) verstehen, das so existiert, daß es zu seiner Existenz keiner anderen res (keines anderen sachhaltigen Seienden) bedarf. Die Substanz ist das unbedürftige, selbständige Sein eines körperlichen oder bewußtseinhabenden Seienden. Dieses unbedürftige und daher selbständige Sein können wir das substanzielle Sein nennen. Das substanzielle Sein unterscheiden wir vom einzelnen Seienden, das als Seiendes durch sein substanzielles Sein bestimmt ist. Die Metaphysik oder Ontologie der Substanzen hält sich innerhalb des Unterschiedes zwischen Seiendem und Sein. Das Sein des Seienden bestimmt die Metaphysik als
§ 3 Descartes’ und Spinozas Ontologie der Substanz27
Substanz, und das, worin die Substanz als solche besteht, kann ihre Substanzialität genannt werden. Substanz, substantia, leitet sich her von lat. substare in der Bedeutung von „standhalten“. Die Substanz ist das standhaltende Sein des Seienden, das dem Wandel der eigenschaftlichen Bestimmungen des Seienden standhält und bleibt. Die Substanz ist das im Wandel der Eigenschaften beständig bleibende Sein. In seinem beständig bleibenden Sein ist das Seiende seiend, anwesend, beständig anwesend durch den Wechsel seiner Bestimmungen hindurch. Daher läßt sich die Substanz, das beständige Sein eines Seienden, kennzeichnen als die „beständige Anwesenheit“ (Heidegger). Wenn die Metaphysik nach dem Sein als dem Wesen des Seienden fragt, nach dem, was am Seienden das eigentlich Seiende, die Seiendheit ist, dann denkt sie diese als die beständige Anwesenheit. Sein als Seiendheit und diese als beständige Anwesenheit, von Aristoteles als οὐσία, von Descartes als substantia gedacht, ist die Antwort auf die Leitfrage der Metaphysik (Heidegger). Die Substanz oder das substanzielle Sein als beständige Anwesenheit eines Seienden ist im Unterschied zu den eigenschaftlichen Bestimmungen unbedürftig eines anderen Seins. Dagegen bedürfen die eigenschaftlichen Bestimmungen eines Seienden sehr wohl eines anderen Seins, um als diese Bestimmungen sein zu können. Dieses andere sachhaltige Sein, dessen die Bestimmungen zu ihrem Existieren bedürfen, ist das substanzielle Sein, die Substanz. Das substanzielle Sein ist charakterisiert durch die seinsmäßige Unbedürftigkeit und Selbständigkeit. Nach der allgemeinen Nominaldefinition der Substanz geht Descartes dazu über, den Unterschied zwischen den endlichen Substanzen und der einen unendlichen Substanz auseinanderzulegen. Die allgemeine Definition der Substanz kann absolut oder relativ genommen werden. Wir fassen sie absolut auf, wenn wir darauf achten, daß eine Substanz im strengsten Sinne keiner anderen res für ihr Existieren bedarf. Eine solche Substanz, die für ihre eigene Existenz in absoluter Weise keiner anderen Substanz bedarf, ist nur eine einzige (unica tantum). Diese Substanz trägt den Namen Deus, Gott. Alle anderen Substanzen, die bewußtseinhabenden und die ausgedehnten, stehen in einem Seinsverhältnis zu jener einzigen Substanz. Dieses Seinsverhältnis ist das einer Abhängigkeit und Bedürftigkeit. Die ausgedehnten und die bewußtseinhabenden Substanzen bedürfen, um als Substanzen existieren zu können, des seinsmäßigen Beistandes (concursus) durch die göttliche Substanz. Der seinsmäßige Beistand besagt, daß diese Substanzen, um existieren zu können, durch die göttliche Substanz in ihre Existenz gebracht und in ihrem Existieren erhalten werden müssen. Nur sofern sie in ihre Existenz gebracht sind und in dieser auch erhalten werden, können sie als bewußtseinhabende und als ausgedehnte Substanzen existieren.
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Erstes Kapitel: Ausdehnung und ursprüngliche Kraft
Demgegenüber ist die göttliche Substanz dadurch ausgezeichnet, daß sie als einzige nicht auch durch eine andere res in ihre Existenz gebracht und in dieser erhalten werden muß. Sie ist als einzige die ungeschaffene Substanz, während alle anderen Substanzen durch die ungeschaffene Substanz geschaffen, d. h. in die Existenz gebracht sind. Sie sind die seinsmäßig geschaffenen Substanzen im Unterschied zu der einen ungeschaffenen Substanz. Zwischen der ungeschaffenen göttlichen Substanz und den geschaffenen Substanzen besteht ein unendlicher Unterschied. Denn es ist der Unterschied zwischen dem unendlichen und dem endlichen Sein. Angesichts dieses unendlichen Unterschiedes zwischen der unendlichen Substanz und den endlichen Substanzen kommt der Name ‚Substanz‘ den endlichen Substanzen und der unendlichen Substanz nicht im gleichen Sinne, nicht univoce zu. Denn es kann keine Bedeutung des Namens ‚Substanz‘ deutlich eingesehen werden, die Gott als creator und dem Geschaffenen gemeinsam ist (communis). Zwar sprechen wir von der göttlichen Substanz und den geschaffenen Substanzen. Beide Male sprechen wir von ‚Substanz‘, aber nicht in gleichsinniger, sondern nur in analoger Weise. Descartes berührt hier das scholastische Problem der Analogia Entis, der Analogie des Seins zwischen dem göttlichen Sein und dem Sein des geschaffenen Seienden. Die Analogia Entis ist die Entsprechung zwischen dem ewigen Sein Gottes und dem vergänglichen Sein des geschöpflich Seienden. Innerhalb dieser Seinsanalogie ist zweierlei zu beachten: Zum einen ist alles geschaffene Seiende dem Schöpfer darin ähnlich, daß es ist. Zwischen Schöpfer und Geschöpf besteht diese Ähnlichkeit. Andererseits ist das geschaffene Seiende dem Schöpfer unähnlich, und zwar dadurch, daß der Schöpfer, obwohl er als Seinsursache in allem geschaffenen Seienden ist, dennoch über allem geschaffenen Seienden ist. Nachdem Descartes im § 51 hervorgehoben hat, daß der Name ‚Substanz‘ nicht gleichsinnig auf Gott und auf das geschaffene Seiende bezogen werden könne, stellt er im § 52 heraus, daß man die körperliche Substanz (substantia corporea) und die bewußtseinhabende Substanz (substantia cogitans), sofern beide geschaffen sind, gleichsinnig unter einem gemeinsamen Begriff fassen könne. Zwar ist das Gattungswesen dieser beiden Substanzen je ein anderes, zum einen die extensio, zum anderen die cogitatio. Das Entscheidende aber ist, daß beide Substanz-Gattungen im gleichen Sinne die Endlichkeit in der Weise des Geschaffenseins einschließen. Zwar bilden die substantia extensa und die substantia cogitans zwei unterschiedliche Gattungen. Aber ihr Gemeinsames ist das endliche Substanzsein. Während die göttliche Substanz einerseits und die bewußtseinhabende sowie die ausgedehnte Substanz andererseits nur in analoger Weise Substanzen sind, sind die bewußtseinhabende und die ausgedehnte Substanz in einsinniger Weise (univoce, synonym) Substanzen.
§ 3 Descartes’ und Spinozas Ontologie der Substanz29
Noch innerhalb des § 52 geht Descartes zu der Frage über, wie Substanzen in ihrer beständigen Anwesenheit erkannt werden. Für die Erörterung dieser Frage unterscheidet er zwischen der Substanz selbst als dem bloßen substanziellen Sein einerseits und dem substanziellen Wesen andererseits. Die Substanz – sagt Descartes – könne nicht nur aus dem allein, daß sie eine existierende, eine anwesende res ist, bemerkt werden. Das bloße substanzielle Sein kann nicht als das bloße beständige Anwesendsein von uns bemerkt werden. Denn – so lautet die Begründung – das bloße substanzielle Sein affiziert uns nicht (nos non afficit). Affizieren heißt hier nicht wie bei Kant ‚sinnlich affizieren‘, sondern bedeutet hier ‚angehen‘. Die bloße Substanz, das reine substanzielle Sein unter Absehung seiner Wesenseigenschaft, geht uns nicht so an, daß wir es in seiner Anwesenheit bemerken. Eine Substanz können wir nur aus einem ihrer Attribute (attributum) erkennen. Attribut im Sinne von Eigenschaft ist hier in einem weiten Sinne gemeint und bedeutet zum einen Wesensattribut, also das Gattungswesen der einen und der anderen endlichen Substanz. Attribut meint zum anderen auch den eigenschaftlichen Modus der beiden Wesensattribute bzw. der beiden Gattungswesen. Das Wesensattribut der einen Substanzgattung ist die cogitatio, das Bewußtsein, während dessen modi das Wahrnehmen, das imaginative Vorstellen und das Urteilen sind. Das Wesensattribut der zweiten Substanz-Gattung ist die extensio, die räumliche Ausdehnung, deren eigenschaftliche Modi die Raumgröße, die Raumgestalt und die Raumlage sind. Im § 52 heißt es, das substanzielle Sein als solches, die bloße Substanz, könne aus jedem beliebigen Attribut erkannt werden. Aus jedem beliebigen Attribut heißt: aus jeder beliebigen Eigenschaft, aus der Eigenschaft des Wahrnehmens oder aus der Eigenschaft der Raumgestalt. Wo uns ein wahrnehmendes Bewußtsein affiziert, wissen wir, daß es als eigenschaftliche Bestimmung, als Attribut, zu einer Substanz, zu einem zugrundeliegenden Sein gehört. Wo uns ein räumlich Gestaltetes im Sinne der figura affiziert, wissen wir, daß dieses Attribut ebenfalls zu einem zugrundeliegenden substanziellen Sein gehört. Descartes formuliert diesen Sachverhalt so: Wir erkennen die bloße Substanz nicht durch sie selbst, wohl aber durch eine eigenschaftliche Bestimmung zufolge jenes Axioms, daß „das Nichts keine Attribute, keine eigenschaftlichen Bestimmungen der Qualitäten hat (nihili nulla sint attributa, nullaeve proprietates aut qualitates)“. „Aus dem nämlich, daß wir die Anwesenheit eines Attributes erfassen, schließen wir, daß irgendeine existierende Sache oder Substanz, der jenes erfaßte Attribut zugeteilt werden kann, ebenfalls notwendig anwesend ist“. (Ex hoc enim quod aliquod attributum adesse percipiamus, concludimus aliquam rem existentem, sive substantiam, cui illud tribui possit, necessario etiam adesse). Hier ist zu beachten, daß für Descartes das jeweilige Gegebensein eines substan-
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Erstes Kapitel: Ausdehnung und ursprüngliche Kraft
ziellen Seins aus dem Gegebensein der Eigenschaften erschlossen wird. Das Erschließen ist kein unmittelbares Erfassen der Substanz, sondern ein mittelbares Setzen, vermittelt durch die unmittelbar erfaßte Anwesenheit der eigenschaftlichen Bestimmungen. Im § 53 wird eigens der Unterschied zwischen der Wesenseigenschaft einer Substanz (ihrem Wesensattribut, dem Gattungswesen) und den eigenschaftlichen Bestimmungen, den modi des Wesensattributs, thematisiert. Für jede Substanz gibt es eine vorzügliche Eigenschaft (praecipua proprietas), und diese ist es, die die Natur (natura) bzw. das Wesen (essentia) der Substanz ausmacht. Die praecipua proprietas ist das, was wir als Wesenseigenschaft oder Wesensattribut bezeichnet haben. Dieses bildet die Natur, das Wesen einer Substanz, das substanzielle Wesen. Die Wesenseigenschaften oder Wesensattribute der Substanzen sind zum einen die extensio und zum anderen die cogitatio. Die extensio ist es, die unter den Substanzen eine Gattung bildet, das eine Gattungswesen von Substanzen. Die cogitatio ist es, die unter den Substanzen die zweite Gattung bildet, das zweite Gattungswesem der Substanzen. In der Substanz ist somit zweierlei zu scheiden: einerseits die bloße Substanz, das bloße substanzielle Sein, unter Absehung ihrer natura oder essentia, und andererseits das Wesen der Substanz, das substanzielle Wesen. Die volle Substanz, das volle substanzielle Sein, ist die Einheit von bloßem substanziellem Sein und dem substanziellen Wesen. Vom bloßen substanziellen Sein und vom substanziellen Wesen, also von der ganzheitlichen Substanz, sind zu unterscheiden alle anderen eigenschaftlichen Bestimmungen der Substanz, die modi der ausgedehnten und der bewußtseinhabenden Substanz. Die dreidimensionale räumliche Ausdehnung ist das substanzielle Wesen der körperlichen Substanz. Die extensio ist deshalb die vorzügliche, die Wesenseigenschaft der körperlichen Substanz, weil alle anderen eigenschaftlichen Bestimmungen die Ausdehnung voraussetzen. Sie setzen diese voraus, weil diese nur ein wandelbarer Zustand (modus) des Ausgedehnten sind. Ein solcher modus ist die jeweilige Raumgestalt des Körpers. Diese ist nur in der Ausdehnung möglich. Die Raumgestalt kann von uns nicht ohne die Ausdehnung vorgestellt werden. Umgekehrt aber können wir die Ausdehnung ohne ihre modi, ohne die Raumgestalt oder ohne die Lage im Raum, vorstellen. Dies zeigt deutlich, daß die extensio im Verhältnis zur magnitudo, figura oder situs die vorzügliche, die bleibende, sich durchhaltende Wesenseigenschaft ist, während die anderen räumlichen Bestimmungen an dieser Wesenseigenschaft wechseln können, ihr also untergeordnet sind. Wie die extensio die Wesenseigenschaft der körperlichen Substanz ist, so die cogitatio das Wesensattribut der bewußtseinhabenden Substanz. Von
§ 3 Descartes’ und Spinozas Ontologie der Substanz31
diesem Wesensattribut sind die modi, die wandelbaren eigenschaftlichen Bestimmungen, der denkenden Substanz zu unterscheiden. Wie die Raumgröße und Raumgestalt modi der substantia extensa sind, so sind die unterschiedlichen Bewußtseinsweisen, wie Wahrnehmen, Einbilden, Wollen, Urteilen, die modi der substantia cogitans. Alles, was wir im Geiste, im Bewußtsein antreffen, sind verschiedene modi cagitandi, Weisen der Bewußtseinsvollzüge. Das Wahrnehmen, imaginative Vorstellen und das Wollen können nicht ohne die cogitatio gedacht werden, weil sie Weisen der cogitatio sind. Umgekehrt kann aber die bloße cogitatio ohne ihre modi gedacht werden. Auch das zeigt uns, daß die cogitatio die vorzügliche Eigenschaft dieser Substanz ist, die sich bleibend durchhält im ständigen Wandel der Bewußtseinsmodi. Die Seiendheit des endlich Seienden zeigt sich für Descartes in zweierlei Weisen von beständiger Anwesenheit. Das Wesen des körperlich Seienden, seine Seiendheit, ist die substantia extensa als beständige Anwesenheit. Das Wesen des denkenden Seienden, seine Seiendheit, ist die substantia cogitans als beständige Anwesenheit. Im § 54 gibt Descartes eine Zusammenfassung seiner Substanz-Ontologie. Die vorangegangenen Erörterungen haben zwei „klare und deutliche Begriffe oder Ideen“ von Substanzen ergeben: den Begriff von der geschaffenen denkenden Substanz und den Begriff von der erschaffenen ausgedehnten Substanz. Beide Begriffe werden „klare und deutliche“ Ideen, Vorstellungen, genannt. „Klar und deutlich“ verweist auf die zu Beginn der III. Meditation von Descartes herausgestellte regula generalis veritatis, auf die allgemeine Wahrheitsregel. Diese besagt, daß alles das absolut wahr ist, was völlig klar und deutlich vorgestellt ist. Die Wahrheit des klar und deutlich Vorgestellten bzw. Erfaßten hat den Charakter einer unbezweifelbaren Gewißheit. Unbezweifelbar ist die Gewißheit, weil sie teilhat an der unbezweifelbaren Selbstgewißheit des Ich in seinem Selbstbewußtsein. Die beiden Substanzbegriffe sind cogitatio-immanente Vorstellungen (ideae). Die Vorstellungsgehalte dieser Vorstellungen kann ich mir zur klaren und deutlichen Gegebenheit bringen. Indem ich solches ausführe, vergewissere ich mich ihrer klaren und deutlichen Gegebenheit. Diese Vergewisserung vollziehe ich mit der Selbstvergewisserung meines ego cogito, meines bewußtseinhabenden Ich. Klar sind die Vorstellungsgehalte der beiden Substanz-Begriffe gegeben, wenn die cogitatio und die extensio bewußtseinsmäßig gegenwärtig und unverdeckt gegeben sind. Auf der Grundlage ihres klaren Erfaßtseins sind die cogitatio und die extensio deutlich erfaßt, wenn die Wesensattribute der cogitatio und extensio sowie deren modi genau voneinander unterschieden und getrennt sind.
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Erstes Kapitel: Ausdehnung und ursprüngliche Kraft
Außer den beiden klaren und deutlichen Begriffen von den geschaffenenendlichen Substanzen haben wir noch – wie es im § 54 heißt – einen klaren und deutlichen Begriff von „einer denkenden ungeschaffenen und absolut unabhängigen Substanz“ (ideam claram et distinctam substantiae cogitantis increatae et independentis). Diese Substanz hat den Namen ‚Gott‘. Wenn wir beide Begriffe der endlichen Substanzen denken, stellen wir in diesen alles das vor, was die außerhalb des Bewußtseins existierenden denkenden und ausgedehnten Substanzen in sich selbst an Bestimmungen haben. Das gleiche trifft jedoch nicht zu für den Begriff von der unendlichen Substanz. Unser Begriff von der göttlichen Substanz bietet uns nicht alles das dar, was die göttliche Substanz selbst insichschließt. Denn wie sollten wir als endliche cogitatio die unendliche cogitatio begrifflich in umfassender, vollständiger Weise vorstellen? Damit aber auch die idea Dei, der Begriff von der göttlichen unendlichen Substanz, eine klare und deutliche Vorstellung ist, dürfen wir in ihren Vorstellungsgehalt nichts hineindichten, sondern darin nur das erfassen, was wahrhaft in ihr enthalten ist. Das aber ist solches, von dem wir mit Evidenz erfassen, daß es zum Wesen des vollkommensten Seienden gehört. Damit beschließen wir den Überblick über Descartes’ Substanz-Ontologie. Dieser Überblick erwies sich als erforderlich, weil wir der Leibnizschen Schrift „Über die Verbesserung der Ersten Philosophie“ entnommen hatten, daß sich Leibnizens Neubestimmung des Substanzbegriffes vor allem in der Auseinandersetzung mit Descartes’ Bestimmung der Substanzen vollzieht. Wie in vielen anderen Schriften und Briefen knüpft Leibniz auch in der kleinen Schrift von 1694 an Descartes’ Bestimmung der körperlichen Substanz an, um sogleich zu betonen, daß das substanzielle Wesen der Körper nicht die Ausdehnung ist, sondern eine ursprüngliche Kraft des Handelns, die vis activa. Descartes habe nicht nur die Substanz der Körper fehlbestimmt, sondern er habe das Wesen der Substanz im Ganzen nicht erkannt. Um diese Kritik zureichend nachvollziehen zu können, bedurfte es eines Durchblickes durch Descartes’ Substanz-Ontologie. Wir wiesen aber darauf hin, daß sich Leibniz in seiner Emendatio des überkommenen Substanz-Begriffes auch mit seinem unmittelbaren Vorgänger in der Geschichte der Metaphysik auseinandersetzt, mit Baruch de Spinoza und dessen Metaphysik der einen-einzigen Substanz. Deshalb geben wir jetzt im Anschluß an unseren Überblick über Descartes’ Substanz-Ontologie einen Durchblick durch die Grundbestimmungen der Substanz-Lehre Spinozas.
§ 3 Descartes’ und Spinozas Ontologie der Substanz33
b) Spinoza: Die eine-einzige Substanz Zwischen 1671 und 1676 stand der junge Leibniz mit Spinoza in einem wissenschaftlichen und philosophischen Briefwechsel. Von Amsterdam aus, wo Leibniz sich 1676 aufhielt, fuhr er im November dieses Jahres nach Den Haag, um dort Spinoza zu besuchen. Zwischen dem 18. und 21. November führte er mit Spinoza mehrere lange Gespräche. Spinoza selbst, vierzehn Jahre älter als Leibniz (Spinoza wurde 1632, Leibniz 1646 geboren) hatte ein Jahr zuvor, 1675, sein Hauptwerk abgeschlossen: Ethica more geometrico demonstrata,2 das aber erst nach seinem Tod (1677) unter den Opera posthuma erschien. Sehr früh hatte sich Spinoza mit den Schriften Descartes’ befaßt und seine stärksten philosophischen Anstöße von diesem empfangen. In seiner Metaphysik der einen-einzigen Substanz, der unendlichen Substanz Gottes, der Attribute dieser einzigen Substanz und der Modi der Attribute zieht Spinoza seine metaphysische Konsequenz aus der Substanz-Ontologie Descartes’. Zwar gelangt er auf diesem Wege zu seinem eigenständigen System rationalistischer Metaphysik, das zeitlich zwischen der Metaphysik Descartes’ und derjenigen Leibnizens steht. Aber weil Spinoza metaphysische Konsequenzen aus der Substanz-Metaphysik Descartes’ in eine bestimmte Richtung zieht, zeigt er zugleich auch eine Verwandtschaft mit Grundzügen cartesianischer Substanz-Ontologie. Wenn sich Leibniz in seiner Metaphysik der monadischen Substanzen auch mit Spinoza auseinandersetzt, gilt diese Auseinandersetzung gerade den cartesischen Einschlüssen und den metaphysischen Konsequenzen, die Spinoza aus Descartes’ Substanz-Metaphysik zieht. Die „Ethik“ Spinozas gliedert sich in fünf Teile. Der I. Teil handelt Über Gott, der II. Teil Über die Natur und den Ursprung des Geistes, der III. Teil Über den Ursprung und die Natur der Affekte, der IV. Teil Über die menschliche Unfreiheit, oder über die Macht der Affekte, der V. Teil Über die Macht der Erkenntnis, oder über die menschliche Freiheit. Wir wählen aus dem I. und II. Teil jene Textstellen aus, in denen Spinoza Grundlegendes zu seinem Begriff der Substanz und seinen Begriffen von den Attributen der Substanz und den Modi der Attribute ausführt. Wir sehen schon an diesen drei Leitbegriffen: Substanz, Attribut, Modus, wie Spinoza an Descartes anknüpft. Daß die Darlegungen Spinozas sich in der Darstellungsart der Geometrie als einer apodiktischen Wissenschaft bewegen, daß Spinoza mit Definitio2 B. Spinoza, Die Ethik. Neu übersetzt und mit einem einleitenden Vorwort versehen von J. Stern. Reclam Leipzig 1888. – Baruch de Spinoza, Sämtliche Werke, Band 2: Ethik in geometrischer Ordnung dargestellt (Ethica ordine geometrico demonstrata). Lateinisch-deutsch. Neu übersetzt, hrsg. und mit einer Einleitung versehen von W. Bartuschat. Felix Meiner Verlag Hamburg 1999.
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Erstes Kapitel: Ausdehnung und ursprüngliche Kraft
nen und Axiomen einsetzt und übergeht zu Lehrsätzen, auf die jeweils ein Beweis folgt, soll uns in unserer Abzielung nicht beschäftigen. Wir achten lediglich darauf, in welcher Weise Spinoza an Descartes’ Substanz-Metaphysik anschließt und wie er diese verwandelt. Der I. Teil „Über Gott“ setzt ein mit sechs Definitionen der metaphysischen Grundbegriffe, zu denen die Begriffe der Substanz, des Attributs, des Modus und Gottes gehören. Die dritte Definition bestimmt den Begriff der Substanz: „Unter Substanz verstehe ich das, was in sich ist und durch sich begriffen wird; d. h. etwas, dessen Begriff nicht den Begriff eines anderen Dinges nötig hat, um daraus gebildet zu werden.“ Diese Substanz-Definition Spinozas, die für Leibniz auch nur eine Nominal- und keine Realdefinition ist, zeigt einen Anklang an die Substanz-Definition Descartes’. Descartes sagt: Die Substanz ist ein Ding (res), das zu seiner Existenz keiner anderen res bedarf. Im Anschluß daran sagt Spinoza: Die Substanz ist Etwas, was nur in sich ist, und das heißt, was nicht in einem anderen ist. Daher lautet das auf die sechs Definitionen folgende 1. Axiom: „Alles, was ist, ist entweder in sich oder in einem anderen“. Das 2. Axiom sagt: „Was durch ein anderes nicht begriffen werden kann (wie die Substanz), muß durch sich selbst begriffen werden“. Wenn man, wie Spinoza, diesen Substanz-Begriff nur streng nimmt (und nicht wie Descartes in einem absoluten und einem relativen Sinne), dann ist die Substanz als das, was im strengsten Sinne nur in sich ist, causa sui, Ursache ihrer selbst. Deshalb beginnt Spinoza seine Definitionen mit dem Betriff der causa sui. Die Definition 1 lautet: „Unter Ursache seiner selbst verstehe ich etwas, dessen Wesen (essentia) die Existenz (existentia) einschließt, oder etwas, dessen Natur (Wesen) nur als existierend begriffen werden kann“. In der 4. Definition bestimmt Spinoza den Begriff „Attribut“: „Unter Attribut verstehe ich dasjenige an der Substanz, was der Verstand als zu ihrem Wesen gehörig erkennt“. Bei Descartes lernten wir ebenfalls die Attribute kennen als Wesenseigenschaften der Substanz. Descartes unterschied zwei Wesensattribute, durch die zwei Gattungen von Substanzen gebildet werden. Achten wir im folgenden darauf, was aus Descartes’ Lehre von der einen unendlichen göttlichen Substanz und den zwei Gattungen endlicher Substanzen mit ihren unterschiedlichen Wesensattributen durch Spinoza geschieht. Zunächst aber müssen wir uns noch Spinozas Definition des Modus vor Augen führen. Die 5. Definition lautet: „Unter Modus verstehe ich eine Erregung (Affektion) bzw. einen Zustand der Substanz; oder etwas, das in einem anderen ist, durch welches es auch begriffen werden kann“. Auch für Descartes machte das Atribut im engeren Sinne das substanzielle Wesen aus; auch für ihn waren die Modi die wechselnden Zustände an den durch ihr Wesensattribut verfaßten Substanzen.
§ 3 Descartes’ und Spinozas Ontologie der Substanz35
In der 6. Definition wird der Begriff Gottes bestimmt: „Unter Gott verstehe ich das absolut unendliche Wesen, d. h. die Substanz, welche aus unendlich vielen Attributen besteht, von denen ein jedes ein ewiges und unendliches Sein ausdrückt“. Diese Definition ist für unsere Zwecke besonders aufschlußreich, und zwar aus mehreren Gründen. 1. Hier wird bereits Gott mit der Substanz, mit der einen und einzigen Substanz identifiziert. Die eine, einzige Substanz ist Gott, Gott ist die eine, einzige Substanz. 2. Gott als die eine, einzige Substanz schließt unendlich viele Attribute ein. Später wird Spinoza sagen, daß diejenigen Wesensattribute der Substanzen, die Descartes unterscheidet, cogitatio und extensio, zwei Wesensattribute der einen, einzigen Substanz sind, zwei Wesensattribute unter den unendlich vielen, jene beiden, die wir allein erkennen. Wenn Denken und Ausdehnung Wesensattribute der göttlichen Substanz sind, hat dies ontologische Konsequenzen für das, was Descartes als Vielfalt der denkenden und der ausgedehnten Substanzen ansetzt. Diese Konsequenz wird besagen, daß die denkenden Substanzen und die ausgedehnten Substanzen gar keine selbständigen Substanzen sind, sondern nur Modi an den göttlichen Wesensattributen des Denkens und der Ausdehnung. Daher heißt es im 5. Lehrsatz: „In der Natur kann es nicht zwei oder mehrere Substanzen von gleicher Beschaffenheit oder von gleichem Attribut geben“. Der anschließende Beweis kommt zu dem Ergebnis, es könne nicht mehrere Substanzen, sondern nur Eine Substanz geben. Damit sind die vielen endlichen Substanzen, wie sie von Descartes angesetzt werden, negiert zugunsten der einen-einzigen Substanz. Der 8. Lehrsatz sagt: „Alle Substanz ist notwendig unendlich“. Der Beweis zeigt, daß es nur eine Substanz geben kann und daß diese Eine Substanz unendlich ist. Wir sehen somit, welche entscheidende metaphysische Konsequenz Spinoza aus der Substanz-Metaphysik Descartes’ zieht. Descartes betonte im § 51 des Ersten Teiles seiner Prinzipien-Schrift, daß es nur eine einzige Substanz sei, die im strengen Sinne der Definition keiner anderen res bedarf, und daß diese Substanz den Namen Gott trage. Alle anderen Substanzen können nur unter dem Beistand der unendlichen Substanz existieren. Deshalb komme der Name Substanz Gott und den übrigen Dingen nicht in gleichem, sondern nur in analogem Sinne zu. Spinoza zieht daraus die Konsequenz: Die endlichen Substanzen Descartes’ sind gar keine Substanzen, es gibt nur eine einzige Substanz. Was Descartes als endliche Substanzen faßt, muß in anderer Weise ontologisch begriffen werden. Das cartesische ontologische Verhältnis der endlichen Substanzen zur unendlichen Substanz ist für Spinoza ein Verhältnis von bloßen Modi (Zuständen) zu der einen-einzigen Substanz. Der 10. Lehrsatz besagt: „Jedes Attribut einer Substanz muß durch sich begriffen werden“. Da das Attribut der Substanz ein Wesensattribut ist, hat
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es an dem In-sich-sein und Durch-sich-selbst-begriffenwerden der Substanz teil. Die unendliche Substanz ist nur, was sie ist, in ihren Attributen, die ihrerseits unendlich an der Zahl sind. Der 11. Lehrsatz hat den Wortlaut: „Gott, oder die Substanz, welche aus unendlichen Attributen besteht, von denen jedes die ewige und unendliche Wesenheit Gottes ausdrückt, existiert notwendig“. Hier bewegt sich Spinoza in der Bahn des Anselmischen Gottesbeweises, demgemäß das vollkommenste, allerrealste Wesen auch die Existenz einschließen muß. Im 13. Lehrsatz sagt Spinoza: „Die absolut unendliche Substanz ist unteilbar“. Spinoza bringt hier den Gedanken der Unteilbarkeit zusammen mit dem Begriff der Substanz. Zum Wesen der Substanz gehört die Unteilbarkeit, d. h. die absolute Einheit. Das ist aber ein Gedanke, den wir bei Leibniz als einen seiner Grundgedanken wiederfinden werden. Aber Leibniz kennt nicht nur eine einzige Substanz, sondern unendlich viele Substanzen, die ihrerseits alle bestimmt sind als eine unteilbare Einheit, so daß sie den Namen ‚Monaden‘ erhalten. Dagegen spielt der Gedanke der unteilbaren Einheit in Descartes’ Substanz-Ontologie keine herausragende Rolle, auch wenn er die substantia cogitans als unteilbar denkt. Der 14. Lehrsatz ist es nun, der die Einzigkeit der göttlichen Substanz eigens formuliert: „Außer Gott kann es eine Substanz weder geben, noch kann eine solche begriffen werden“. Zu diesem Lehrsatz gehören außer dem Beweis zwei Zusätze, die für uns von besonderer Bedeutung sind. Der Zusatz I sagt, daß „Gott einzig ist“, daß es „in der Natur nur Eine Substanz gibt, und daß dieselbe absolut unendlich ist“. Der Zusatz II führt aus, „daß das ausgedehnte Ding und das denkende Ding entweder Attribute Gottes sind, oder Erregungen, Modi der Attribute Gottes“. Aus dem 15. Lehrsatz erfahren wir, daß alles, was ist, in Gott ist und nichts ohne Gott sein, ohne Gott begriffen werden kann. Der anschließende Beweis wiederholt, daß es außer Gott keine Substanz gebe. Im Anschluß daran spricht der Beweis von den Modi in bezug auf die göttlichen Wesensattribute und somit in bezug auf die eine einzige, gött liche, unendliche Substanz. Die Modi sind die vorübergehenden Daseinsformen der in ihren Wesensattributen seienden unendlichen Substanz. Die Modi sind zum einen die einzelnen denkenden und zum anderen die einzelnen ausgedehnten Dinge, die nur Modi der einen, einzigen, unendlichen Substanz sind. Die einzelnen denkenden und ausgedehnten Dinge sind also für Spinoza nur Modi, nicht aber wie für Descartes endliche Substanzen. Im Beweis heißt es, die Modi können ohne die Substanz weder sein noch begriffen werden. Sie können nur in der göttlichen Natur sein. In der auf den Beweis folgenden Anmerkung zeigt Spinoza, daß nicht nur das Denken, sondern auch die Ausdehnung ein Wesensattribut der göttlichen Substanz
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ist. Das Ausgedehntsein ist eines von den unendlich vielen Attributen Gottes. Weil aber alle göttlichen Attribute teilhaben an der Unendlichkeit, ist die Ausdehnung als göttliches Wesensattribut im Unterschied zur Ausdehnung der ausgedehnten einzelnen Körper unteilbar. Die Ausdehnung als Attribut Gottes ist als ein unendliches Sein unteilbar. Die Teilbarkeit gehört nur zur Endlichkeit der ausgedehnten Körper als der Modi der ausgedehnten göttlichen Substanz. Der 19. Lehrsatz sagt uns, daß Gott, die göttliche Substanz, oder alle Attribute Gottes, die die unendliche Substanz Gottes ausmachen, ewig sind. Spinoza spricht somit allen unendlich vielen Attributen und unter diesen den uns allein erkennbaren Attributen der Ausdehnung und des Denkens die Ewigkeit zu. Der 25. Lehrsatz hebt hervor: „Gott ist nicht nur die wirkende Ursache der Existenz, sondern auch des Wesens der Dinge“. Hier ist wieder der Zusatz von besonderer Bedeutung für unser Vorhaben. Denn der Zusatz sagt, daß die „einzelnen Dinge“ nichts als Erregungen (Affektionen) oder Daseinsformen (Modi) der unendlichen Attribute Gottes sind. Durch diese Erregungen oder Daseinsformen, als welche die einzelnen denkenden und ausgedehnten Dinge sind, werden die unendlichen Attribute Gottes, die unendliche Ausdehnung und das unendliche Denken, auf bestimmte Weise ausgedrückt. Damit ist aber die äußerste Gegenposition zu Descartes gewonnen: Was für Descartes das Ganze der endlichen denkenden und ausgedehnten Substanzen ist, das ist für Spinoza nur ein Ganzes von Modi, von vorübergehenden Zuständen, von Daseinsformen der einzigen göttlichen Substanz in ihren Wesensattributen der unendlichen Ausdehnung und des unendlichen Denkens. Aus dem II. Teil der „Ethik“ Spinozas greifen wir nur die 1. und die 7. Definition sowie den 1. und den 2. Lehrsatz heraus. Die 1. Definition handelt vom Körper als Modus eines Wesensattributs der unendlichen Substanz: „Unter Körper verstehe ich einen Modus, eine Daseinsform, welche das Wesen Gottes, sofern dasselbe als Ausgedehntes betrachtet wird, auf gewisse und bestimmte Weise ausdrückt“. Ein ausgedehnter Körper ist ein ausgedehntes Einzelding. Von diesem sagt Spinoza in der 7. Definition: „Unter Einzeldingen verstehe ich Dinge, welche endlich sind und eine beschränkte Existenz haben“. Diese Definition bezieht sich sowohl auf ausgedehnte wie auf denkende Einzeldinge, Dinge in der Bedeutung von res, d. h. von sachhaltigem Seienden. Die 1. Definition des II. Teiles enthält die klare ontologische Aussage Spinozas, daß ein ausgedehnter Körper, dessen Sein für Descartes die sub-
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stantia extensa ist, keine Substanz, sondern nur ein vorübergehender Modus der unendlichen ausgedehnten Substanz ist. Der ausgedehnte Körper ist in seiner Ausdehnung teilbar. Seine Teilbarkeit bezeugt seine Endlichkeit. Aber diese teilbare Ausgedehntheit ist für Spinoza eine Daseinsform der unteilbaren, unendlichen Ausdehnung der göttlichen Substanz. Der 1. und 2. Lehrsatz, die auf die insgesamt sieben Definitionen und einigen Axiomen folgen, handeln von den beiden einzig durch uns erkennbaren Attributen Gottes. Der 1. Lehrsatz gilt dem göttlichen Wesensattribut des Denkens: „Das Denken ist ein Attribut Gottes, oder Gott ist ein denkendes Ding“. Wichtig ist auch der Aussagegehalt des zum 1. Lehrsatz gehörenden Beweises. In diesem führt Spinoza aus, daß dieses oder jenes Denken, die einzelnen Gedanken, die wir als denkende Einzeldinge denken, nur Modi, Daseinsformen sind, die das Wesen Gottes als eines unendlich denkenden auf endliche Weise ausdrücken. In allen einzelnen Gedanken, die wir als denkende res denken, ist der Begriff des unendlich göttlichen Denkens eingeschlossen. Das Denken ist eines von den unendlich vielen Attributen Gottes, das als Attribut unendlich ist und in den menschlichen Gedanken auf endliche Weise ausgedrückt wird. Der 2. Lehrsatz gilt dem zweiten göttlichen Wesensattribut, das von uns außer dem Denken einzig erkennbar ist: „Die Ausdehnung ist ein Attribut Gottes, oder Gott ist ein ausgedehntes Ding“. Der Beweis dieses Satzes werde – so Spinoza – auf dieselbe Weise geführt wie der Beweis zum 1. Lehrsatz. In Entsprechung zum Beweis des 1. Lehrsatzes können wir sagen: Die einzelnen ausgedehnten Körper sind Modi, Daseinsformen, die die Natur Gottes als des unendlich Ausgedehnten auf endliche Weise zum Ausdruck bringen. Der Begriff des göttlichen Attributes der unendlichen Ausdehnung, die als solche unteilbar ist, ist in allen einzelnen Körpern und deren endlicher Ausdehnung enthalten. Nach diesem Durchblick durch Spinozas Grundbestimmungen der Substanz, der Attribute und der Modi fassen wir das Gesagte mit Descartes vergleichend kurz zusammen. Während Descartes die eine unendliche Substanz und zwei endliche Gattungen von Substanzen kennt, setzt Spinoza nur eine, einzige Substanz, die unendliche Substanz Gottes. Was für Descartes endliche Substanzen sind, sind für Spinoza nur Modi oder Daseinsformen der einen-einzigen Substanz Gottes. Für Descartes ist das Wesensattribut Gottes nur das Denken in der Weise der Unendlichkeit, während für ihn die Ausdehnung ein Wesensattribut nur einer endlichen Substanzgattung ist. Für Descartes wäre es undenkbar, die Ausdehnung – wenn auch als unend liche – zu einem Wesensattribut Gottes zu erklären. Andererseits hat Spinoza gute Gründe dafür, auch die Ausdehnung als unendliche aufzufassen als ein Wesensattribut Gottes. Denn die unendliche Substanz verhält sich zu
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den ausgedehnten Körpern so, daß sie diese sowohl hinsichtlich ihres Wesens wie hinsichtlich ihrer Existenz hervorbringt. Wie aber soll die hervorbringende unendliche Substanz ausgedehnte Körper in ihrem Wirklichsein und Wassein hervorbringen, wenn sie als hervorbringende Substanz nicht selbst einen Wesensbezug zur Ausdehnung hätte? Dieser Wesensbezug besteht für Spinoza darin, daß das Wesen Gottes nicht nur unendliches Denken, sondern auch unendliche Ausdehnung ist. Nur so kann einsichtig werden, wie die unendliche Substanz nicht nur endliche denkende Wesen, sondern auch endliche ausgedehnte Dinge hervorzubringen vermag. Damit beschließen wir unseren Überblick über einige Grundzüge der Substanz-Metaphysik Spinozas, um uns nun wieder dem Hauptgegenstand, der Metaphysik Leibnizens als Monadologie, zuzuwenden.
§ 4 Leibnizens Begriff der ursprünglichen Kraft (vis primitiva) In der Schrift „Über die Verbesserung der Ersten Philosophie und über den Begriff der Substanz“ von 1694 wollte Leibniz nur einen „Vorgeschmack“, wie er sagt, von seinem neu bestimmten Begriff der Substanz geben. Das tat er dadurch, daß er den Begriff der vis activa einführte, sodann diese aktive Kraft abgrenzte gegen die thomanische potentia activa und sie anschließend als Entelechie, als Kraft des selbsttätigen Handelns, erläuterte. Von dieser vis activa hieß es, sie sei das wahre substanzielle Wesen der Körper und darüber hinaus das allgemeine substanzielle Wesen einer jeden endlichen Substanz. Daher empfiehlt es sich nun, daß wir uns über den ersten Vorbegriff hinaus einen reicher entfalteten Begriff von der ursprünglichen substanziellen Kraft durch Leibniz geben lassen, bevor wir uns dann der „Monadologie“ von 1714 zuwenden. Diesen reicher entfalteten Begriff von der ursprünglichen substanziellen Kraft finden wir in der Schrift „Specimen Dynamicum“3 aus dem Jahre 1695. Den Ersten Teil dieser Schrift hatte Leibniz in der in Leipzig erscheinenden wissenschaftlichen Zeitschrift „Acta Eruditorum“ veröffentlicht. Ihr 3 G. W. Leibniz, Specimen Dynamicum. In: Philosophische Werke. Band I. Hauptschriften zur Grundlegung der Philosophie. Erster Teil. Übersetzt von Dr. A. Buchenau. Durchgesehen und mit Einleitungen und Erläuterungen hrsg. von Dr. E. Cassirer. Felix Meiner Verlag Leipzig 1904, S. 256–272. – G. W. Leibniz, Specimen Dynamicum. Hrsg. und übersetzt von G. Dosch, J. W. Most und E. Rudolph. Lateinisch-Deutsch. Felix Meiner Verlag Hamburg 1982: Teil I, S. 2–39. – Siehe zu den metaphysischen Grundbegriffen der Absätze 1–4 des Teiles I: M. Heidegger, Metaphysische Anfangsgründe der Logik im Ausgang von Leibniz. Marburger Vorlesung Sommersemester 1928. Gesamtausgabe Band 26. Hrsg. von K. Held. V. Klostermann Frankfurt am Main, 1978, § 5, S. 86–123.
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vollständiger Titel lautet in der Übersetzung „Specimen der Dynamik zur Aufdeckung der bewundernswerten Gesetze der Natur bezüglich der Kräfte und der wechselseitigen Aktionen der Körper und zu deren Rückführung auf ihre Ursachen“. Von der Dynamik war schon einmal die Rede in der Emendations-Schrift. Sie ist die von Leibniz konzipierte Wissenschaft von den phänomenalen Kräften und Bewegungen der empirischen Körper. Ein Specimen ist ein Probestück. Bevor Leibniz in dieser Schrift zu den Kräften der phänomenalen Körper und somit zu den phänomenalen Kräften übergeht, gibt er einen Aufriß von der inneren Struktur seines metaphysischen Kraftbegriffes. Diesem Aufriß gilt jetzt unser Interesse. Leibniz erinnert den Leser dieser Schrift, er habe an einem anderen Ort – er meint die Emendations-Schrift – darauf aufmerksam gemacht, daß in den körperlichen Dingen (in rebus corporeis) etwas außer der Ausdehnung (praeter extensionem), besser vor der Ausdehnung (extensione prius) sei, nämlich jene vom Schöpfer überall eingegebene Kraft der Natur (vim naturae), eine Kraft, die nicht in der einfachen Fähigkeit (in simplici facultate) besteht, wie sie die scholastische Philosophie als potentia activa gedacht hat, sondern die ausgestattet ist mit einem Drang oder Streben (conatus sive nisus). Vom conatus (Drang) war schon in der Emendations-Schrift die Rede; jetzt taucht als neuer Begriff das Wort nisus (Streben) auf, das mit dem conatus (Drang) gleichbedeutend ist. Beide Worte erläutern das Eigentümliche der Kraft (vis). Wie schon in der Emendations-Schrift heißt es auch hier, der Drang der Kraft würde seine volle Wirkung haben, wenn er nicht von einem entgegengesetzten Drang gehindert würde. Der Drang einer jeden Substanz wird durch den Drang der anderen Substanzen begrenzt und determiniert. Dieser Drang als das Eigentümliche der Kraft werde „überall in der Materie durch die Vernunft erkannt“ (ubique in materia ratione intelligitur). Die Kraft, deren Eigentümlichkeit der Drang oder das Streben ist, ist in den Körpern durch den göttlichen Urheber hervorgebracht. So gesehen, bildet diese Kraft die innerste Natur der Körper (intimam corporum naturam), ihr substanzielles Wesen. Denn – so lautet die Begründung – der Charakter der Substanzen ist das Wirken bzw. Handeln (agere est character substantiarum), nicht aber die Ausdehnung (extensio). Dagegen ist die Ausdehnung „nichts anderes als der stetige Zusammenhang oder die Ausbreitung einer schon vorausgesetzten, strebenden und widerstrebenden bzw. widerstehenden Substanz“ (iam praesuppositae nitentis renitentisque id est resistentis substantiae continuationem sive diffusionem). Die Ausdehnung ist für Leibniz primär die sich ausdehnende Materie oder Masse. Als solche gehört die Ausdehnung zum phänomenalen Körper, d. h. zum phänomenalen Seienden, und ist deshalb nicht dessen Substanz, nicht dessen substanzielles Wesen. Das substanzielle Sein der ausgedehnten Körper besteht für Leibniz in der ursprünglichen, selbst
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nicht phänomenalen Kraft, während die Ausdehnung zum phänomenalen Körper als der sich ausdehnenden Masse gehört. Die Ausdehnung ist ein Grundcharakter der phänomenalen Masse, des phänomenalen Seienden, und nicht selbst das substanzielle Sein des ausgedehnten Seienden.4 Nachdem Leibniz zunächst einmal die substanzielle Kraft in ihrem Drängen und Streben eingeführt hat, um darauf hinzuweisen, daß nur sie und nicht die Ausdehnung das wahre substanzielle Wesen der Körper sei, macht er den Leser damit vertraut, daß er in dieser substanziellen Kraft den geläuterten Sinn dessen sieht, was Aristoteles die Wesensformen bzw. die Entelechien nennt. Er, Leibniz, wolle die überlieferte Lehre der Peripatetiker von den Formen oder Entelechien, „die mit Recht als rätselhaft betrachtet und kaum von ihren eigenen Urhebern richtig erfaßt wurde“, auf verständliche Begriffe bringen. Denn – so Leibniz – es sei nötig, „die bislang von so vielen Jahrhunderten anerkannte Philosophie eher zu erläutern, damit sie feststehe (wo dies möglich) weiter zu beleuchten und durch neue Wahrheiten zu vermehren, als sie zu vernichten“5. Verworfen wurden die aristotelisch-scholastischen Wesensformen und Entelechien mit dem Beginn des neuzeitlichen Denkens durch Descartes, wenn dieser das substanzielle Wesen nicht nur der anorganischen Körper, sondern auch der nichtmenschlichen organischen Lebewesen allein in die substantia extensa setzte. Leibnizens Wiederanknüpfung an die scholastisch-aristotelischen Wesensformen und Entelechien richtet sich also auch gegen Descartes. Allerdings ist der Rückgriff auf die Wesensformen und Entelechien nicht etwa nur ein Zurück zur Scholastik und Antike, sondern ein Fruchtbarmachen jener Begriffe für die neuen Einsichten in das Kraftwesen der Substanz. Die neuen Einsichten Leibnizens konzentrieren sich auf das Wesen der substanziellen Kraft, die nicht dasselbe ist, was die Scholastik und die Peripatetiker in den Wesensformen und Entelechien gedacht haben. In Leibnizens Begriff der substanziellen Kraft liegt auch etwas Wesentliches aus dem von Descartes gestifteten neuzeitlichen Denken, das Leibniz aber zusammendenkt mit dem überlieferten Gedanken der Wesensformen und Entelechien. In welcher Weise Leibniz trotz seiner kritischen Wendung gegen Descartes in wesentlicher Hinsicht auch an Descartes abknüpft, wird sich uns später zeigen. Wir erinnern uns, daß schon die Emendations-Schrift die substanzielle Kraft, die vis activa, als Entelechie gekennzeichnet hatte, die wir als Selbsttätigkeit erläutert hatten. Doch bevor Leibniz die vis activa in der Schrift Specimen Dynamicum (Ausgabe 1982), Absatz 1, S. 2–4. Specimen Dynamicum (1982) Absatz 1 (S. 4 / 5). – Siehe zu Leibnizens Begriff der Entelechie: Paola-Ludovika Coriando, ‚Perfectihabia‘. Leibniz und die Universalisierung des Subjekts, in: Philosophisches Jahrbuch. 110. Jahrgang 2003. 2. Halbband. Verlag Karl Alber Freiburg / München, S. 241–256. 4 Leibniz, 5 Leibniz,
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„Specimen Dynamicum“ wiederum als Entelechie charakterisiert, nimmt er in bezug auf die vis activa eine bedeutsame Unterscheidung vor, die über die Ausführungen der Emendations-Schrift hinausgeht. „Zweifach aber ist die tätige Kraft“, die er auch Wirksamkeit (virtus) nennt wie schon in der Emendations-Schrift (Duplex autem est vis Activa). Die vis Activa ist nämlich sowohl vis activa primitiva als auch vis activa derivativa. Primitivus heißt hier nicht ‚primitiv‘, unentwickelt, roh, sondern bedeutet: das Erste seiner Art, ursprünglich. Die vis activa primitiva ist die „ursprüngliche tätige Kraft“. Schon im Durchgang durch die EmendationsSchrift sprachen wir wiederholt von der ursprünglichen Kraft als der substanziellen, die Substanzialität ausmachenden Kraft. Deshalb heißt es jetzt auch bei Leibniz, die vis activa primitiva wohne jeder körperlichen Substanz an sich inne (quae in omni substantia corporea per se inest). Damit wird gesagt, daß die ursprüngliche tätige Kraft die nichtphänomenale, sondern die substanzielle Kraft in allen phänomenalen Körpern ist als deren wahre Substanz. Was in der Emendations-Schrift nur als vis activa bezeichnet wurde, heißt jetzt genauer vis activa primitiva. Die ursprüngliche tätige Kraft ist nicht nur in einem Teil der körperlichen Substanzen, sondern in jeder körperlichen Substanz, weil Leibniz einen völlig ruhenden Körper als mit der Natur der Körper unverträglich erachtet. Ein völlig ruhender Körper wäre ein solcher, der überhaupt keine phänomenalen Kräfte und Bewegungen zeigte. Für Leibniz ist – im Gegenzug gegen Descartes – der Körper, die Materie oder Masse, von Hause aus nicht kraft- und bewegungsfrei, sondern auf mannigfache Weise von phänomenalen Kräften und Bewegungen bestimmt. Wenn aber in den Körpern phänomenale Kräfte sind, die mechanisch wirken, dann müssen diese ihren substanziellen Grund in einer nichtphänomenalen Kraft haben, die das substanzielle Sein und Wesen der mechanischen Kräfte ist. Die mechanischen Kräfte sind Gegenstand der Physik, die substanzielle Kraft, die ursprüngliche tätige Kraft, Gegenstand der Metaphysik. Während für Descartes die Körper eine träge Masse sind, die nur von außen bewegt werden, ist für Leibniz der phänomenale Körper begabt mit phänomenalen Kräften. Diese dynamische Erklärung der Körperwelt, mit der Leibnizens Auseinandersetzung mit Descartes stets einsetzt, ist einer der Wege, auf denen Leibniz zur Einsicht in die ursprüngliche Kraft als das substanzielle Wesen der Körper gelangt. Die erste Weise der vis activa ist die vis activa primitiva, die ursprüngliche tätige Kraft; die zweite Weise der vis activa ist die vis activa derivativa, die abgeleitete tätige Kraft. Diese vis activa derivativa resultiert aus der Begrenzung der ursprünglichen tätigen Kraft, wie sie sich aus der gegenseitigen Wechselwirkung der Körper ergibt, und wird auf verschiedene Weise ausgeübt. Die abgeleitete tätige Kraft ist die Kraft der phänomenalen Kräfte. Sie ist abgeleitet aus der ursprünglichen Kraft, die deren substanzielles
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Sein ist. Die abgeleitete tätige Kraft gehört zum Körper, zum körperlich Seienden, während die ursprüngliche tätige Kraft das substanzielle Wesen dieses Seienden und seiner phänomenalen Kräfte ist.6 Von der ursprünglichen tätigen Kraft heißt es: „Die ursprüngliche Kraft freilich, die nichts anderes ist als die ἐντελέχεια ἡ πρώτη, als die Erste Entelechie, entspricht der Seele oder der substanziellen Form“ (Et primitiva quidem (quae nihil aliud est quam ἐντελέχεια ἡ πρώτη) animae vel formae substantiali respondet).7 Hier wird von Leibniz die vis activa primitiva gleichgesetzt mit der Ersten Entelechie, der Seele und substanziellen Form. Leibniz bezieht sich mit dem Gesagten zurück auf Aristoteles, der zu Beginn des II. Buches von „De anima“ das Wesen der Seele als Erste Entelechie bestimmt. Im Kapitel 1, 412 a 19–412 b 6 heißt es: „Es ist also notwendig, daß die Seele (ψυχή) Wesenheit bzw. Substanz (οὐσία) ist als Wesensform (εἶδος) des natürlichen Körpers, der der Möglichkeit nach Leben (ζωή) hat. Die Wesenheit bzw. Substanz (οὐσία) aber ist Tätigkeit bzw. Wirksamkeit (ἐντελέχεια), nämlich eines solchen natürlichen Körpers, der seiner Möglichkeit nach Leben hat. Die Entelechie aber wird zweifach genannt: die eine analog dem Besitz der Wissenschaft und die andere analog dem Vollzug des Wissens. Die Seele ist offenbar Entelechie analog dem Besitz des Wissens (der Wissenschaft), also Entelechie im ersten Sinne, Erste Entelechie). […] Deshalb ist die Seele die Erste Entelechie des natürlichen Körpers, der das Vermögen des Lebens hat, (διὸ ἡ ψυχή ἐστιν ἐντελέχεια ἡ πρώτη σώματος φυσιϰοῦ δυνάμει ζωὴν ἔχοντος). Ein solcher Körper ist aber der mit Organen ausgestattete. […] Wenn man also eine allgemeine Bestimmung für jede Seele geben soll, so wäre die Seele die Erste Entelechie des natürlichen organischen Körpers (εἰ δή τι ϰοινὸν ἐπὶ πάσης δεῖ λέγειν εἴη ἂν ἐντελὲχεια ἡ πρώτη σώματος φυσιϰοῦ ὀργανιϰοῦ).“8 Diese aristotelische Textstelle gibt uns den sachlichen Zusammenhang zwischen Seele, Substanz, Wesensform und Erster Entelechie. Mit Blick auf diese Textstelle konnte Leibniz sagen, die ursprüngliche Kraft sei nichts anderes als die Erste Entelechie und entspreche der Seele oder der substanziellen Form. Was Leibniz die substanzielle Form, d. h. die Form als Substanz nennt, ist bei Aristoteles das εἶδος, von dem dieser sagt, es sei οὐσία, Substanz (Wesenheit). Für Aristoteles ist die Entelechie die sich im Stoff, im Körper, verwirklichende Form. Das griechische Wort ἐντελέχεια ist vermutlich von Aristoteles selbst geprägt. Etymologisch kann es auf zweierlei Specimen Dynamicum (1982), Absatz 3 (S. 6 / 7). Specimen Dynamicum, Absatz 3 (S. 6 / 7). 8 Aristoteles, Über die Seele. Mit Einleitung, Übersetzung (nach W. Theiler) und Kommentar hrsg. von Horst Seidl. Griechischer Text in der Edition von W. Biehl und O. Apelt. Griechisch – Deutsch. Felix Meiner Verlag Hamburg 1995. 6 Leibniz, 7 Leibniz,
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Weise gebildet sein: entweder ist es zusammengesetzt aus ἐντελές bzw. ἐντελῶς (vollendet, vollkommen) und ἔχειν (haben) und bedeutet „auf vollkommene Weise haben“ – oder es ist zusammengesetzt aus ἐν, τέλος und ἔχειν und bedeutet „das Ziel, die Vollendung, in sich haben“. Die Entelechie ist die sich im Körper verwirklichende Form, dergestalt, daß sie das Ziel, auf das sie in ihrer Wirksamkeit aus ist, in sich hat. Die Seele verwirklicht sich als Entelechie im Stoff bzw. im Körper aus sich heraus. Das jeweilige Ziel der sich verwirklichenden Seele liegt in ihr selbst und entfaltet sich aus ihr heraus. Damit ist nun jenes Moment getroffen, auf das es Leibniz bei seinem Begriff der ursprünglichen Kraft ankommt. Einer der Unterschiede zwischen Leibnizens und dem Aristotelischen Begriff der Ersten Entelechie ist der, daß für Leibniz nicht nur die organischen Körper, sondern auch die anorganischen Körper und somit alles endliche Seiende seinsmäßig, also substanziell, bestimmt ist durch eine ursprüngliche Kraft von der Seinsweise der Ersten Entelechie. Aber Leibniz spricht nicht nur von der Entelechie, sondern von der ersten Entelechie. Die von uns herangezogene Aristotelische Textstelle aus dem II. Buch von „De anima“ enthielt auch den Unterschied zwischen der ersten und der zweiten Entelechie. Zwar sprach Leibniz in der Emendations-Schrift nur von der Entelechie und nicht ausdrücklich von der ersten. Aber die Art und Weise, in der er dort die vis activa als Entelechie erläuterte, zeigte deutlich, daß er die erste und nicht die zweite Entelechie vor Augen hatte. Es hieß in der Emendations-Schrift, die vis activa sei ein Mittleres zwischen dem Vermögen zu handeln und der Handlung selbst. Darin beschreibt Leibniz das Eigentümliche der ersten Entelechie, die nicht nur wie die zweite der Vollzug des Verwirklichens ist, sondern das in sich gesammelte Vermögen der Verwirklichung. Für Leibniz ist die vis activa primitiva das in sich gesammelte Vermögen der Selbsttätigkeit, die sich aus sich heraus entfaltet. Von dieser ursprünglichen tätigen Kraft, die die Seinsweise der ersten Entelechie hat und als solche der Seele oder der substanziellen Form entspricht, sagt Leibniz in „Specimen Dynamicum“, sie betreffe nur die allgemeinen Ursachen der Körper und der phänomenalen Kräfte der Körper. Diese allgemeinen Ursachen können nicht ausreichen, die Phänomene als solche zu erklären. Die Phänomene, die phänomenalen Körper und deren Kräfte, erklären heißt, sie mechanisch-physikalisch mit Hilfe der für diesen Bereich gültigen Gesetze erklären. Die ursprünglichen aktiven Kräfte gehören nicht in die Physik, sondern in die Metaphysik. Aber die Physik der Körper und deren Kräfte empfangen ihre Grundlegung durch die Metaphysik und die von ihr bestimmten substanziellen Kräfte. Die ursprüngliche Kraft ist das substan zielle Sein der physikalischen als der abgeleiteten Kräfte.
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Bisher war in der Schrift „Specimen Dynamicum“ die Rede von der vis activa und ihrer Scheidung in vis primitiva und vis derivativa. Jetzt geht Leibniz dazu über, von der vis passiva, der leidenden Kraft zu sprechen. Auch in bezug auf die vis passiva wird unterschieden zwischen der vis passiva primitiva und der vis passiva derivativa. Die vis passiva primitiva gehört zur vis activa primitiva, so wie die vis passiva derivativa zur vis activa derivativa gehört. Die vis primitiva ist also sowohl tätige wie auch leidende Kraft. Ebenso ist die abgeleitete (phänomenale) Kraft sowohl tätige wie auch leidende. Die vis primitiva passiva nennt Leibniz auch vis primitiva patiendi oder resistendi, die Kraft des Leidens oder des Widerstehens. Diese Kraft ist das metaphysische Prinzip der materia prima, der ersten Materie. Auch mit diesem Begriff schließt Leibniz an die thomanisch-aristotelische Überlieferung an. Dort ist die materia prima (πρώτη ὕλη) das korrelative Seins prinzip zur Wesensform (μορφή): das an ihm selbst völlig ungeformte Substrat für die Formung durch die Wesensform (vgl. Aristoteles, Met. Z (VII), 3, 1029 a 20 sq.). So wie für Aristoteles die μορφή zur ὕλη hinzukommt und diese formt, so, daß erst aus dieser seinsmäßigen Formung das Einzelseiende hervorgeht, so gehört auch für Leibniz die ursprünglich tätige Kraft zu einer ursprünglich leidenden Kraft. Auch die ursprüngliche Kraft des Leidens gehört zur substanziellen Kraft der Körper. Die vis primitiva passiva bewirkt im Bereich der phänomenalen Körper, „daß ein Körper nicht von einem anderen durchdrungen wird, sondern diesem Widerstand entgegensetzt und mit einer gewissen Trägheit (ignavia), d. h. einem Widerstreben (repugnatio) gegen die Bewegung behaftet ist, so daß der Antrieb, den er erhält, notwendig die Kraft des Körpers, der auf ihn einwirkt, etwas abschwächt“. Mit anderen Worten, die Widerstandskraft eines phänomenalen Körpers hat ihren substanziellen Seinsgrund in der ursprünglichen Leidenskraft, die selbst wie die ursprüngliche tätige Kraft keine phänomenale Kraft ist, sondern mit dieser zusammen das substan zielle Sein ausmacht. Different von der vis primitiva patiendi ist die vis derivativa patiendi. Die abgeleitete Kraft des Leidens zeigt sich auf verschiedene Weise in der materia secunda, der zweiten Materie. Diese ist in der scholastischen Philosophie im Unterschied zur ersten Materie die schon geformte, vorhandene und sinnlich wahrnehmbare Materie, also das, was wir sonst den Stoff nennen, aus dem wir etwas herstellen. Auch für Leibniz ist die zweite Materie der phänomenale ausgedehnte Körper, den er aber als abgeleitete Kraft des Leidens faßt, weil für Leibniz der Körper mit seiner Materie jedem anderen Körper gegenüber Widerstand leistet. Doch die phänomenale und sinnlich erfahrbare Widerstandskraft hat ihren Seinsgrund in der substanziellen, ursprünglichen (nichtphänomenalen) Leidenskraft.
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Erstes Kapitel: Ausdehnung und ursprüngliche Kraft
Leibniz faßt seine Ausführungen über die ursprüngliche, substanzielle Kraft zusammen: Auf Grund seiner Wesensform, d. h. der vis primitiva activa, handelt jeder Körper in der Weise seiner phänomenalen Kräfte. Auf Grund seiner ersten Materie, der vis primitiva passiva, verhält sich jeder Körper leidend und leistet Widerstand. Beide ursprünglichen Kräfte zusammen, die des ursprünglichen Handelns und Leidens, bilden zusammen das substanzielle Sein der Körper. Abschließend sagt Leibniz, daß er nunmehr jene allgemeinen und ursprünglichen Voraussetzungen (generales illi ac primitivi) für die Wissenschaft von den phänomenalen Kräften außer acht lassen werde, um nun in dieser Lehre von den derivativen Wirksamkeiten und Widerständen zu handeln (in hac doctrina de virtutibus et resistentiis derivativis tractare), inwiefern die phänomenalen Körper mit verschiedenen Kräften wirksam sind oder wiederum auf verschiedene Weise zurückdrängen. Auf diese derivativen Kräfte – fügt Leibniz hinzu – beziehen sich die Wirkungsgesetze (leges actionum), die nicht nur durch die Vernunft bzw. durch den Verstand erkannt, sondern auch in der sinnlichen Wahrnehmung selbst durch die Phänomene (per phaenomena) bestätigt werden.9 Schon im folgenden Absatz beginnt Leibniz mit der Entfaltung der Dynamik, der physikalischen Wissenschaft von den Körperkräften. Als erstes stellt er hier noch einmal heraus, daß auf der derivativen Kraft in Gestalt der vis derivativa activa und der vis derivativa passiva das wechselseitige Aufeinanderwirken und das wechselseitige voneinander Leiden beruhe. Ferner stellt Leibniz sogleich den Zusammenhang zwischen der derivativen Kraft und der Körperbewegung her. Die abgeleitete Kraft tendiert dazu, Ortsbewegung der Körper zu erzeugen. Leibniz gibt Descartes und den Cartesianern zu, daß durch die örtliche Bewegung (per motum localem) alle übrigen materiellen Phänomene erklärt werden können. Die Ortsbewegung wird definiert als die stetige Veränderung des Ortes, die der Zeit bedarf. Das in Bewegung sich befindende Bewegliche hat in jedem Zeitmoment eine Geschwindigkeit. Diese ist desto größer, je mehr Raum der Körper durchläuft und je weniger Zeit er bedarf. Doch alles, was hier in der Dynamik ausgeführt werden kann über die derivativen Kräfte und deren Zusammenhang mit der Ortsbewegung der Körper, hat für Leibniz sein substanzielles Sein nicht – wie bei Descartes – in der ausgedehnten Substanz, sondern in der substanziellen ursprünglichen Kraft, die handelnd und leidend ist. Für Leibniz gehört die räumliche Ausdehnung nicht in das substanzielle Sein, sondern zum phänomenalen Seienden, zur phänomenalen körperlichen Materie. 9 Leibniz,
Specimen Dynamicum, Absatz 3 (S. 8 / 9).
§ 4 Leibnizens Begriff der ursprünglichen Kraft (vis primitiva) 47
Damit verlassen wir das Erste Kapitel, das den Titel trägt „Ausdehnung und ursprüngliche Kraft“. Der jetzt abgeschlossene § 4 „Leibnizens Begriff der ursprünglichen Kraft“ hatte sich die Aufgabe gestellt, über die erste Begegnung mit diesem Leibnizschen Begriff in der Emendations-Schrift hinaus einen reicher entwickelten Begriff von der ursprünglichen Kraft uns geben zu lassen. Das Erste Kapitel insgesamt verfolgte die Absicht, uns ein Stück weit einführen zu lassen in Leibnizens Metaphysik der substanziellen Kraft, in der er sich insbesondere mit Descartes’ Metaphysik der ausgedehnten Substanz, aber auch mit Spinozas Substanz-Metaphysik auseinandersetzt. Diese Einführung in die Grundthematik der Leibnizschen Metaphysik sollte uns vorbereiten für eine Auslegung der Spätschrift „Monadologie“, deren Aufbau und gedankliche Schrittfolge von nun ab den Gang unserer Monographie bestimmen werden.
Zweites Kapitel
Die Monade als wahre substanzielle Einheit Die 1714 von Leibniz für Nicolas Remond und dessen Pariser Gelehrtenkreis verfaßte Schrift, die ihrem Inhalte nach Leibnizens vollständige Metaphysik der monadischen Substanzen enthält, ist Leibnizens letzte und endgültige Darstellung seines metaphysischen Systems. Sie besteht aus 90 durchgezählten Abschnitten oder Paragraphen.1 Was sich für einen ersten Blick wie eine bloße Reihung von metaphysischen Thesen ausnimmt, zeigt sich bei näherem Hinsehen als eine strenge Schrittfolge der Gedanken. Darüber hinaus läßt sich die Gedankenfolge in deutlich abhebbare Sinneinheiten oder Kapitel gliedern. Eine solche Gliederung in insgesamt 15 Sinneinheiten, die das innere Textgefüge heraushebt, hat Gerhard Krüger in seiner Auswahl-Ausgabe Leibnizscher Hauptwerke im Alfred Kröner Verlag vorgenommen.2 Diese in hermeneutischer Hinsicht vorzügliche Gliederung der 90 Paragraphen, die Leibnizens inneres Aufbaugefüge aufgespürt hat, machen wir uns zueigen. Als erstes geben wir einen Überblick über diese Gliederung, über dieses innere Baugefüge der „Monadologie“. Dieser verschafft uns eine erste inhaltliche Orientierung innerhalb der Monadologie-Schrift. Das erste Kapitel der „Monadologie“ umfaßt die §§ 1–7, in denen der Begriff der wahren Einheit als Monade entwickelt wird, also der Einheitscharakter, der monadische Charakter der Substanz. Im zweiten Kapitel (§§ 8–17) wird von Leibniz ausgeführt, daß die wahren Einheiten, die monadischen Substanzen, ursprünglich vorstellende und strebende Substanzen sind (substanzielle Kraft als substanzielles Wesen). 1 G. W. Leibniz, Vernunftprinzipien der Natur und der Gnade – Monadologie. Französisch – Deutsch. Auf Grund der kritischen Ausgabe von André Robinet (1954) und der Übersetzung von Artur Buchenau mit Einführung und Anmerkungen hrsg. von Herbert Herring. Felix Meiner Verlag Hamburg 1982. Monadologie S. 26–69, Vernunftprinzipien der Natur und der Gnade S. 1–25. – G. W. Leibniz, Monadologie und andere metaphysische Schriften. Französisch – Deutsch. Hrsg., übersetzt, mit Einleitung, Anmerkungen und Registern versehen von Ulrich Johannes Schneider. Felix Meiner Verlag Hamburg, 2., verbesserte Auflage 2014. Monadologie S. 110– 151: Auf Vernunft gegründete Prinzipien der Natur und der Gnade S. 152–173. 2 G. Krüger, Leibniz. Die Hauptwerke. Zusammengefaßt und übertragen. Alfred Kröner Verlag Stuttgart 1967, S. 130 f.
Zweites Kapitel: Die Monade als wahre substanzielle Einheit49
Im dritten Kapitel (§§ 18–30) gibt Leibniz die drei Abstufungen der endlichen monadischen Substanzen in: bloße Monaden, in die Seelenmonaden der Pflanzen und Tiere und in die selbstbewußten Geist-Monaden der Menschen. Das vierte Kapitel im inneren Aufbau der „Monadologie“ (§§ 31–36) entfaltet die zwei Grundprinzipien der Geistmonade oder der Vernunft: das Prinzip des Widerspruchs und das Prinzip des zureichenden Grundes. Ferner handelt Leibniz hier von den zwei Arten der Wahrheit: von den notwendigen Vernunftwahrheiten und den zufälligen Tatsachenwahrheiten. Das fünfte Kapitel (§§ 37–38) gibt einen ersten Beweis für das Dasein Gottes, einen Beweis aus dem Prinzip des zureichenden Grundes. Das sechste Kapitel der Leibnizschen „Monadologie“ umfaßt die §§ 39– 46, in denen der Wesensbegriff Gottes, der Urmonade, entfaltet wird. Das siebente Kapitel (§§ 47–48) handelt von der göttlichen Schöpfung der endlichen Monaden. Im achten Kapitel (§§ 49–52) handelt Leibniz vom idealen Einfluß als dem wechselseitigen Verhältnis der endlichen Monaden – vom idealen Einfluß im Unterschied zum realen Einfluß. Das neunte Kapitel (§§ 53–60) führt aus, daß die Urmonade die Welt, das Universum der endlichen Monaden, als wirkliche und einheitliche nach dem Prinzip des Besten erschaffen habe, und zwar so, daß in dieser besten aller möglichen Welten alle einfachen Substanzen einander spiegeln und in universeller Harmonie stehen. Das zehnte Kapitel der „Monadologie“ besteht aus dem § 61 und bildet den Übergang von der isolierten Betrachtung der einfachen-unräumlichen Substanzen zu der Art, wie diese einander im Zusammengesetzten und Räumlichen, in der Natur der ausgedehnten Körper, erscheinen. Das elfte Kapitel (§§ 62–64) gibt den Begriff des organischen Körpers, der der Monade zugeordnet ist. Das zwölfte Kapitel (§§ 65–69) handelt von der Allverbreitung des organischen Lebens in der Welt. Im dreizehnten Kapitel (§§ 70–77) wird von Leibniz ausgeführt, daß nicht nur die Seele, sondern das ganze organisierte Wesen unzerstörbar ist. Das vierzehnte Kapitel (§§ 78–81) gibt die Lösung des Leib-Seele-Problems mit Hilfe der praestabilierten Harmonie. Das fünfzehnte (letzte) Kapitel der Leibnizschen „Monadologie“ (§§ 82– 90) handelt von der Vorzugsstellung der Geister im Gottesstaat.3 3 Kuno Fischer, Gottfried Wilhelm Leibniz. Leben. Werke, Lehre. Carl Winters Universitätsbuchhandlung Heidelberg. Fünfte, durchgesehene Auflage 1920. Zweites
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Zweites Kapitel: Die Monade als wahre substanzielle Einheit
Das Zweite Kapitel unserer Leibniz-Monographie widmet sich nun der ersten gedanklichen Einheit, dem ersten Kapitel der „Monadologie“ und somit den §§ 1–7.
§ 5 Die zusammengesetzten Körper und deren einfache Substanzen als Monaden Diesem § 5 legen wir den Text der §§ 1–3 der „Monadologie“ zugrunde. Der Text des § 1 bzw. des 1. Abschnittes der „Monadologie“ lautet in der Übersetzung wie folgt: „Die Monade, von der wir hier sprechen wollen, ist nichts anderes als eine einfache Substanz (substance simple), die in dem Zusammengesetzten (composés) ist; einfach sein heißt ‚ohne Teile sein‘.“ „Die Monade“ (La Monade) ist das erste Wort, mit dem die „Monadologie“ einsetzt. Von der Monade soll in dieser Schrift gesprochen werden. Alles, was in dieser Schrift gedanklich ausgeführt wird, betrifft die Monade und das, was aus ihrem Begriff sachlich folgt. Der Text des 1. Abschnittes enthält drei ontologische Aussagen (Thesen), deren inneren Zusammenhang wir uns erarbeiten müssen. 1. Die Monade ist eine einfache Substanz. 2. Die Monade als einfache Substanz ist in dem Zusammengesetzten. 3. Einfachsein als Charakter der Substanz besagt: ohne Teile sein. Seit 1696 ist „Monade“ Leibnizens terminologische Kennzeichnung für das, was er als eine wahre Substanz denkt. Wenn die Monade der Name für die einfache Substanz ist, dann erklärt sich die Namengebung ‚Monade‘ aus der Einfachheit. Umgekehrt, die Einfachheit als Grundcharakter der wahren Substanz ist es, die Leibniz veranlaßt, für die einfache Substanz den Titel ‚Monade‘ zu wählen. Im 1. Abschnitt der „Vernunftprinzipien der Natur und der Gnade“ geht Leibniz auf die Wortbedeutung ‚Monade‘ ein: „‚Monás‘ ist ein griechisches Wort, das Einheit (unité) heißt oder das, was eines ist“. Das hier entscheiBuch: Leibnizens Lehre, S. 319 ff. – Helmut Holzhey, Monadologie (1714), in: Grundriß der Geschichte der Philosophie. Die Philosophie des 17. Jahrhunderts. Band 4. Neuntes Kapitel: Gottfried Wilhelm Leibniz. Schwabe und Co. – Verlag Basel 2001, S. 995 ff., hier S. 1041 f. – Hans Poser, Gottfried Wilhelm Leibniz. Zur Einführung. Junius Verlag Hamburg 2005, Die Monade als Substanz. S. 121 ff. – Martin Heidegger, Leibnizens Weltbegriff und der Deutsche Idealismus (Monadologie). Seminar Wintersemester 1935 / 36, in: Seminare: Kant – Leibniz – Schiller. Gesamtausgabe Band 84.1 – Hrsg. v. Günther Neumann, V. Klostermann Frankfurt am Main 2013, S. 389–530. – Paola-Ludovika Coriando, Individuation und Einzelnsein. Nietzsche – Leibniz – Aristoteles. V. Klostermann Frankfurt am Main 2003. Zweiter Abschnitt: Leibniz, S. 155–198.
§ 5 Die zusammengesetzten Körper und deren Substanzen als Monaden51
dende Wort ist ‚Einheit‘. Wenn die Monade die einfache Substanz ist und wenn Monade ‚Einheit‘ besagt, dann bestimmt sich die Einfachheit als Einheit und die Einheit als Einfachheit. Gemäß der 3. These des 1. Abschnittes der „Monadologie“ besagt „einfach sein“ so viel wie „ohne Teile sein“. Also handelt es sich bei der Monade um eine Einheit ohne Teile, um eine Einheit, die weder aus Teilen zusammengesetzt noch in Teile zerlegt werden kann. Die einfache Substanz als Monade, als Monas, als Einheit, ist an ihr selbst eine unteilbare Einheit. Somit kommt es darauf an, diesen Einheitscharakter der wahren Substanz in einer zureichenden Weise zu denken. Die erste gedankliche Einheit der „Monadologie“ (die Abschnitte 1–7) entwickelt den Begriff der Monade als wahre substanzielle Einheit unter vorläufiger Ausklammerung des substanziellen Wesens, das Thema der zweiten gedanklichen Einheit werden wird. Die Monade als einfache Substanz ist nichts, was wir sinnlich erfahren könnten. Das sinnlich Erfahrbare sind die raum-zeitlich-materiellen Körper. Diese aber sind das erscheinende, das phänomenale Seiende, dessen substanzielles Sein in den einfachen Substanzen als den Monaden gedacht werden soll. Der Zugangsweg zu den Monaden, zum monadischen Sein, ist die denkende Vernunft. Daß die Monaden nicht auf dem Wege sinnlicher Erfahrung zugänglich sind, heißt, daß die Monaden als das wahre substanzielle Sein nicht zugänglich sind wie Seiendes. Die Körper sind räumlich ausgedehnte, räumlich so und so große, räumlich gestaltete und ortsbewegte Massen. Als räumlich ausgedehnt sind die Körper teilbar. Als räumlich teilbare Körper sind sie aus diesen Teilen zusammengesetzt. Die sinnlich erfahrbaren ausgedehnten Körper sind als das Teilbare das Zusammengesetzte. Von den Monaden als den einfachen Substanzen heißt es im 1. Abschnitt der ersten gedanklichen Einheit der „Monadologie“, sie seien „im“ Zusammengesetzten. Damit ist der Bezug angezeigt, der zwischen den Einfachen Substanzen und den zusammengesetzten Körpern besteht. Wie aber sind die Monaden im zusammengesetzten Körper? Sind sie im Körper als dessen Teile, aus denen er zusammengesetzt ist? Offenbar nicht. Denn diese Teile, aus denen der Körper zusammengesetzt ist, sind selbst räumlich ausgedehnte und können in kleinere Teile zerlegt werden und diese wiederum in noch kleinere ad infinitum. Die Monaden sind aber ein Einfaches, d. h. ohne Teile. Was ohne Teile ist, ist unteilbar. Die Monaden als das wesenhaft Unteilbare sind im wesenhaft Teilbaren und Zusammengesetzten. Ohne Teile, unteilbar, ist solches, was nicht zur extensio gehört. Die Monaden sind daher nicht kleinste räumliche, ausgedehnte Teile. Kleinste räumlich ausgedehnte Teile, die unteilbar sein sollen, kann es wesenhaft nicht geben, weil es zum Wesen der extensio gehört, teilbar zu sein.
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Zweites Kapitel: Die Monade als wahre substanzielle Einheit
Die Monaden als die einfachen Substanzen sind das Sein, das einfache, unteilbare, nichträumliche Sein des teilbaren räumlichen, körperlichen Seienden. Die Monaden als das unteilbare Sein sind im Zusammengesetzten, im räumlich ausgedehnten körperlich Seienden. Die Monaden – so können wir sagen – sind als das einfache, unteilbare Sein im ausgedehnten, teilbaren Seienden. Das einfache, monadische Sein ist im zusammengesetzten Seienden dergestalt, daß es der tragende Grund des Seienden ist. Das zusammengesetzte und teilbare Seiende gründet im einfachen Sein als seinem seinsmäßigen Grund. Die einfachen Substanzen, die Monaden, sind der Seinsgrund des räumlich-zeitlich-materiellen Seienden. Wie also setzt die „Monadologie“ ein? Obwohl ihr erstes Wort die ‚Monade‘ ist und obwohl sie erst anschließend vom zusammengesetzten Körper spricht, beginnt sie dennoch der Sache nach mit der Hinblicknahme auf die räumlich ausgedehnten, innerzeitlich bewegten Körper, um deren substanzielles Sein als das einfache, unteilbare, monadische Sein bestimmen zu können. Während in der Emendations-Schrift sowie im „Specimen Dynamicum“ das wahre substanzielle Sein sogleich als ursprüngliche Kraft (vis activa), also die wahre Substanz hinsichtlich ihres substanziellen Wesens benannt wurde, geht Leibniz in der „Monadologie“ einen anderen Weg. Bevor er das von ihm neu bestimmte substanzielle Wesen in der zweiten gedanklichen Einheit einführt, umreißt er in der ersten zuerst die Einfachheit als unteilbare Einheit der wahren Substanz. Die „Monadologie“ setzt ein mit der Herausstellung des Einheitscharakters, des eigentlichen monadischen Charakters der wahren Substanz, um erst im Anschluß daran das substanzielle Wesen der monadischen Substanz zu entfalten. Die wahre Substanz des Körpers ist nicht die endlos teilbare Ausdehnung, wie für Descartes, sondern die nichträumliche, nicht teilbare, nicht zusammensetzbare Substanz, die einfache Substanz als Monade. Welche Realität, welche Sachhaltigkeit, welches Wesen, welche qualitative Beschaffenheit diesen einfachen, also monadischen Substanzen eignet, bleibt in der ersten gedanklichen Einheit der „Monadologie“ noch ungesagt. Auch die vorrangige Bestimmung der Einfachheit, der unteilbaren Einheit, der wahren Substanz bewegt sich in der Auseinandersetzung mit Descartes und dessen Bestimmung der substantia extensa. Die extensio als Gattungswesen einer Substanzgattung entspricht nicht der Forderung nach der Unteilbarkeit der Substanz. Die extensio ist endlos teilbar und gehört deshalb für Leibniz nicht zum wahren substanziellen Sein, sondern zum phänomenalen Seienden, dem Körper. Eine Substanz ist für Leibniz nur dann eine wahre Substanz, wenn sie dem erforderlichen absoluten Einheitscharakter genügt. Bevor anstelle der extensio das wahre substanzielle Wesen der Körper in der ursprünglichen Kraft, der Strebens- und Vorstellungskraft,
§ 5 Die zusammengesetzten Körper und deren Substanzen als Monaden53
benannt wird, geht es Leibniz darum, zu betonen, daß das wahre substanzielle Sein nur dann gesichert ist, wenn es in seiner Einfachheit, d. h. in seiner monadischen Einheit, gedacht wird. Für den Gedankenzusammenhang des 1. Abschnittes (oder Paragraphen) der „Monadologie“ verweist Leibniz auf sein 1710 veröffentlichtes Werk der „Théodicée“4. Dieses Werk setzt sich zusammen aus einer kürzeren und einer längeren Abhandlung. Die kürzere, Einleitende Abhandlung trägt die Überschrift „Über die Übereinstimmung des Glaubens mit der Vernunft“ (§§ 1–87). Die zweite, längere Abhandlung ist überschrieben: „Über die Güte Gottes, die Freiheit des Menschen und den Ursprung des Übels“ (§§ 1–417). Die Entstehung der „Théodicée“ hat zwei Veranlassungen. Zum einen ist es das 1697 erschienene „Historisch-kritische Lexikon“ des französischen Philosophen Pierre Bayle (1647–1706) („Dictionnaire historique et critique“); die zweite Veranlassung ist das philosophisch-freundschaftliche Verhältnis Leibnizens zur preußischen Königin Sophie-Charlotte. In Bayle’s historisch-kritischem Lexikon wird das Wissen der damaligen Zeit im Lichte einer skeptischen Philosophie enzyklopädisch dargestellt. In dem Artikel „Rorarius“ setzt sich Bayle kritisch auseinander mit Leibnizens System der prästabilierten Harmonie. Daraufhin erwidert ihm Leibniz in einem Aufsatz. Bayle setzt aber seine kritische Diskussion mit Leibniz in der 2. Auflage seines Werkes (1702) fort. Diesmal erwidert Leibniz ihm nicht öffentlich, sondern privat. Bayle war bestrebt, die schwachen Seiten der Beweise und Überzeugungsgründe für die Freiheit des Menschen, die Unsterblichkeit der Seele, das Dasein Gottes und die Vereinigung des Bösen mit der göttlichen Vollkommenheit kritisch-skeptisch aufzudecken. Leibniz hielt sich zwischen 1700 und 1705 am preußischen Hofe in Berlin auf, um die geistige Freundschaft mit der Königin Sophie Charlotte zu pflegen. In dieser Zeit wurden zwischen beiden die Einwände Bayle’s gegen Leibniz diskutiert. Diese Diskussion wurde auch in den Zeiten der Abwesenheit von Leibniz auf brieflichem Wege fortgesetzt. Im Zuge dieser philosophischen Diskussionen gestalteten sich die ersten schriftlichen Aufzeichnungen zur „Théodicée“. Nach dem Tode der Königin Sophie Charlotte 1705 gestaltete Leibniz auf Bitten seiner Freunde aus den einzelnen, zu verschiedenen Zeiten verfaßten Materialien das Buch „Théodicée“. Aus den Überschriften der Einleitenden Abhandlung und der Hauptabhandlung der „Théodicée“ geht hervor, daß dieses Werk nicht etwa eine Darstellung von Leibnizens allgemeiner Metaphysik der monadischen Sub4 G. W. Leibniz, Philosophische Werke. Vierter Band: Die Theodizee. Übersetzt von J. H. v. Kirchmann. Verlag Felix Meiner Leipzig 1879. – G. W. Leibniz, Die Theodizee. Zweite Auflage Verlag Felix Meiner Hamburg 1968.
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Zweites Kapitel: Die Monade als wahre substanzielle Einheit
stanzen ist, sondern einen Themenkreis behandelt, der die Metaphysik der einfachen Substanzen voraussetzt. Insofern kommt Leibniz in der „Théodicée“ immer wieder auf Grundgedanken seiner Metaphysik der monadischen Substanzen zu sprechen. Der § 10 der „Théodicée“, auf den Leibniz im 1. Abschnitt der „Monadologie“ verweist, gehört zur Einleitenden Abhandlung. In diesem § 10 heißt es: „daß es notwendig einfache und unausgedehnte Substanzen gibt, welche durch die ganze Natur verbreitet sind. Diese Substanzen bestehen unabhängig von allen anderen, ausgenommen von Gott, und sie sind niemals von jedwedem organischen Körper getrennt“. Hier wird von Leibniz betont, daß die einfachen Substanzen unausgedehnt sind, im Unterschied zu Descartes, für den die eine Gattung der Substanzen die ausgedehnten Substanzen sind. Ausgedehnte Substanzen sind dagegen für Leibniz überhaupt keine wahren Substanzen. Denn zur Ausdehnung gehört die Teilbarkeit, diese setzt aber ihrerseits ein unteilbares Sein voraus, das das teilbare Seiende trägt. Die Unteilbarkeit des Seins ist gedacht in der Einfachheit der Substanz. Nur die einfache Substanz ist eine unteilbare Einheit, die dem Anspruch des substanziellen Seins entspricht. Die unausgedehnten, dem ausgedehnten Seienden zugrundeliegenden einfachen Substanzen sind notwendig, weil das teilbare Seiende des unteilbaren Seinsgrundes bedarf. Ohne diesen würde es sich als Seiendes in endloser Teilbarkeit verlieren. Diese einfachen Substanzen sind durch „die ganze Natur verbreitet“. Die Natur ist die raum-zeitliche-materielle Körperwelt. Die ganze Körperwelt hat ihr wahres Sein in den einfachen Substanzen oder Monaden. Was in der zitierten Textpassage aus der „Théodicée“ über das jetzt Erläuterte hinaus gesagt wird, gehört zu den Gedanken, die in späteren Abschnitten der „Monadologie“ behandelt werden: die Unabhängigkeit einer jeden einfachen Substanz von allen anderen endlichen Substanzen, die alleinige seinsmäßige Abhängigkeit aller endlichen Substanzen von der einen göttlichen Substanz, der Urmonade; ferner der Gedanke, daß die einfachen Substanzen niemals von irgendeinem organischen Körper getrennt sind. Der Gedankenzug des 2. Abschnittes der „Monadologie“ setzt den des 1. Abschnittes unmittelbar fort: „Einfache Substanzen muß es geben, da es Zusammengesetztes gibt; denn das Zusammengesetzte ist nichts anderes als eine Anhäufung oder ein Aggregat von Einfachem“. Zunächst müssen wir eine Übersetzungsfrage klären. Wir haben soeben „puisqu’il y a des composés“ übersetzt mit: „da es Zusammengesetztes gibt“. Artur Buchenau, der Übersetzer der „Monadologie“ in der Meinerschen Ausgabe des Textes, übersetzt aber: „da es zusammengesetzte [Sub-
§ 5 Die zusammengesetzten Körper und deren Substanzen als Monaden55
stanzen] gibt“. In der Tat spricht Leibniz gelegentlich auch von den zusammengesetzten Substanzen im Unterschied zu den einfachen Substanzen, z. B. im 1. Abschnitt der „Vernunftprinzipien der Natur und der Gnade“. Dort heißt es: die Substanz ist entweder einfach (simple) oder zusammengesetzt (composée). Dort hat composée das doppelte ‚ée‘, also die weibliche Endung, und ist so eindeutig auf die weibliche Form ‚la substance‘ bezogen. Gleich anschließend heißt es dort weiter: „Die einfache Substanz ist diejenige, welche keine Teile hat. Die zusammengesetzte Substanz (La composée) ist eine Ansammlung einfacher Substanzen oder Monaden“. Auch jetzt zeigt das Wort ‚composée‘ die weibliche Form. Aber im 1. und 2. Abschnitt der „Monadologie“ ist der Plural „les composés“ und „des composés“ ein substantiviertes Partizip Perfekt ohne das doppelte ‚ée‘ und bezieht sich deshalb nicht auf ‚la substance‘ bzw. ‚les substances‘, sondern bedeutet: das Zusammengesetzte. Das Zusammengesetzte sind aber die ausgedehnten Körper. Wenn nun aber Leibniz im Unterschied dazu in den „Vernunftprinzipien der Natur und der Gnade“ von der „zusammengesetzten Substanz“ (substance composée) spricht, zielt diese Wendung auf das, was die Cartesianer „substantia extensa“ nennen, den ausgedehnten Körper, der freilich für Leibniz keine wahre Substanz ist, sondern als Körper und Teilbares die einfachen als die wahren Substanzen enthält. Ein ausgedehnter und teilbarer Körper ist insofern eine Ansammlung einfacher Substanzen bzw. Monaden, als auch jedem Teil des Körpers Monaden zugrundeliegen. Der Körper ist nur eine teilbare Einheit, während eine jede Monade eine vorräumliche, vormaterielle, unteilbare Einheit ist. Nach dieser sprachlich-grammatischen Klärung, die für die Übersetzung notwendig wurde, heben wir – wie beim 1, Abschnitt der „Monadologie“ – als erstes die ontologischen Thesen des 2. Abschnittes heraus. Der 2. Abschnitt enthält zwei metaphysische Aussagen: 1. Weil es Zusammengesetztes gibt, muß es einfache Substanzen (Monaden) geben. 2. Das Zusammengesetzte ist eine Anhäufung oder ein Aggregat von Einfachem. Hier im 2. Abschnitt der „Monadologie“ wird der Grund dafür angegeben, warum die Vernunft genötigt ist, einfache Substanzen als Monaden zu denken. Weil es Zusammengesetztes gibt, muß es Einfaches, einfache, nicht zusammengesetzte, nicht teilbare Substanzen geben. Inwiefern? Wenn in der Substanz das Sein als die Seiendheit des körperlich erscheinenden Seienden gedacht wird, das Sein aber das erscheinende Seiende trägt und gründet, dann kann das gründend-begründende, ermöglichende Sein nicht vom selben Charakter sein wie das ermöglichte Seiende. Das die Körper ermög lichende Sein ist nicht wie die Körper körperlich, materiell, ausgedehnt,
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Zweites Kapitel: Die Monade als wahre substanzielle Einheit
teilbar und zusammengesetzt, sondern unkörperlich, immateriell, vorräumlich, unteilbar, nicht zusammensetzbar, also einfach. Nur wenn es einfache Substanzen gibt, kann aus ihnen als dem Seinsgrund das erscheinende körperliche Seiende ontologisch gegründet werden. Verständnisschwierigkeiten scheint die zweite Aussage des 2. Abschnittes zu bereiten. Das Zusammengesetzte ist eine Anhäufung oder ein Aggregat von einfachen Substanzen. Man möchte fragen: Wie kann aus einer Aggregation von Einfachem, von Unausgedehntem, ein ausgedehntes Zusammengesetztes hervorgehen? Die Teile des zusammengesetzten Körpers sind doch selbst wieder zusammengesetzt aus kleineren Teilen und diese ebenfalls. Es ist klar, daß wir auf diesem Wege der wiederholten Teilung des zusammengesetzten Körpers nicht auf die einfachen Substanzen stoßen. Indessen ist jeder Teil des Zusammengesetzten nicht nur bloßer Körper, sondern monadisch gegründeter Körper. Wenn jeder Teil eines Zusammengesetzten aus kleineren Teilen zusammengesetzt ist, dann sind alle endlosen Teile monadisch gegründet, also Körper von einfachen Substanzen. Im Begriff des Aggregats müssen wir einen wichtigen Unterschied beachten: einerseits die Ansammlung von einfachen Substanzen (Monaden) und andererseits die Zusammensetzung der Teile, die die erscheinenden Körper der nicht phänomenalen einfachen Substanzen sind. Die Versammlung von einfachen Substanzen bildet den Seinsgrund für das Aggregat von ausgedehntem Seienden, das wir einen Körper nennen. Dieser Körper selbst im Unterschied zu einem anderen Körper ist ein Aggregat von Teilen, aus denen er sich zusammensetzt und in die er auch geteilt werden kann. Die Einheit eines Körpers als eines Aggregats von körperlichen Teilen nennt Leibniz eine akzidentelle Einheit. Nur die Einheit einer wahren, einer monadischen Substanz ist eine substanzielle Einheit. Zusammenfassend können wir sagen: Gäbe es keine einfachen Substanzen, dann wären die erscheinenden Körper ohne Sein, ohne sie tragenden und darin ermöglichenden Seinsgrund. Auch der 3. Abschnitt der „Monadologie“ schließt gedanklich unmittelbar an den Gedankengang des 2. Abschnittes an. Zwei Aussagen enthält er: 1. Wo es keine Teile gibt, dort gibt es auch keine Ausdehnung, keine Gestalt, keine Teilbarkeit. 2. Die Monaden sind deshalb die wahren Atome der Natur, die Elemente der Dinge. Zur 1. ontologischen Aussage: Wenn das Einfache keine Teile hat, dann sind die einfachen Substanzen, die Monaden, unausgedehnt, ohne Raumgestalt, unteilbar. Aus dem wahrhaft Einfachen folgt die Ausdehnungslosigkeit, die Unfiguriertheit, die Unteilbarkeit, d. h. aber die Unräumlichkeit im Sinne der Vorräumlichkeit. Der Raum und das Raumhafte gehören somit nicht zum substanziellen monadischen Sein.
§ 5 Die zusammengesetzten Körper und deren Substanzen als Monaden57
Zur 2. ontologischen Aussage: Die einfachen Substanzen, die keine Teile, keine Ausdehnung, keine räumliche Gestalt haben, die Monaden, sind die wahren Atome der Natur, d. h. der raum-zeitlich-materiellen Körperwelt. Diese Kennzeichnung der Monaden als die wahren Atome ist von Leibniz gegen die Materialisten gerichtet, die ihrerseits materielle Atome als Bausteine und Grundlage der Körperwelt ansetzen. Leibniz denkt hier vor allem an den französischen Philosophen Petrus Gassendi (1592–1655), einen Zeltgenossen Descartes’, der knapp zwei Generationen älter war als Leibniz. Gassendi hatte sein philosophisches System aufgebaut auf der epikureischen Atomistik. Mit diesem System wurde er einer der Wegbereiter der physikalisch-mechanistischen Weltanschauung. Was Gassendi „Atome“ nennt, sind ultravisible kleinste Teilchen der Materie, keine mathematischen Punkte, sondern physische Elementarteilchen mit einer räumlichen Form. Aufgrund ihrer Materialität eignet ihnen Undurchdringlichkeit. Vier Eigenschaften haben die Atome Gassendis: Gestalt, Größe, Undurchdringlichkeit und Bewegung. Gassendi denkt sich die Wahrnehmung der Körper so, daß diese fortdauernd Atome aussenden, von denen die Sinnesorgane feinste Abdrücke (Idola, Simulacra, Spectra, Effigies, Species) aufnehmen, die ihrerseits vom Intellekt bearbeitet werden. Im Griechischen besagt τὸ ἄτομον: der letzte unteilbare Stoff. Da aber Stoff und Materie wesensmäßig teilbar sind, können die stofflich-materiellen Atome für Leibniz keine wahren Atome sein. Die wahren Atome müssen daher immateriell sein. Als solche müssen sie formelle Atome sein. Das Formelle, die Form als forma, verweist auf das substanzielle Wesen, auf die ursprüngliche Kraft, die allein wahrhaft unteilbar ist. Nachdem wir die Gedankenfolge der ersten drei Abschnitte der „Monadologie“ verfolgt haben und ein erstes Verständnis von den einfachen Substanzen in ihrem monadischen Einheitscharakter gewonnen haben, vertiefen wir das Gewonnene in einer Hinwendung zu Leibnizens Briefen an den französischen Philosophen Antoine Arnauld (1612–1694). Diese Briefe haben ihre große Bedeutung für Leibnizens Begriff der wahren Substanz. Während seines Aufenthaltes in Paris kam es zwischen Leibniz und Arnauld 1673 zu einer näheren Bekanntschaft. Arnauld war Cartesianer, und so ist es verständlich, wie sehr Leibniz daran gelegen war, seinen neuen SubstanzBegriff einem führenden Cartesianer gegenüber zu verteidigen. Der Briefwechsel über die individuelle Substanz fällt in die Zeit zwischen 1686 und 1690. Der bedeutsamste unter diesen Briefen ist der vom 30. April 16875, 5 Brief von Leibniz an Antoine Arnauld vom 30. April 1687, in: Gottfried Wilhelm Leibniz: Der Briefwechsel mit Antoine Arnauld. Französisch-Deutsch. Hrsg. und übersetzt von Reinhard Finster. Felix Meiner Verlag Hamburg 1997, S. 224–270, hier. S. 254–258.
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den wir insoweit durchdenken, als er Bezug hat auf den Gedankengang der Abschnitte 1 bis 3 der „Monadologie“. In diesem Brief betont Leibniz, es sei seine festgegründete Ansicht, daß die Substanz eine wahre Einheit (veritable unité) erfordere. Die Substanzialität der Substanz wird nur dann wahrhaft erfaßt, wenn ihr wahrer Einheitscharakter erkannt sei. Sein eigener Substanz-Begriff gründe sich nicht nur auf eine Nominaldefinition, die er entgegen der cartesischen Nominaldefinition ersonnen hätte. Würde auch er nur eine Nominaldefinition der cartesischen entgegenstellen, dann würde er sich mit Descartes und Arnauld in einem bloßen Wortstreit aufhalten. Ihm aber, Leibniz, gehe es um eine die Substanz selbst betreffende Realdefinition. In dieser komme es darauf an, daß der erforderliche Einheitscharakter der Substanz zuerst gesichert wird. Leibniz erwähnt, daß die Philosophen (Thomas v. Aquin und Aristoteles) den Terminus der Einheit im Zusammenhang mit dem Begriff des Seins und der Substanz ungefähr in dem Sinne wie er selber genommen haben. Thomas von Aquin habe unterschieden zwischen der Einheit an sich (unum per se) und der bloß akzidentellen Einheit (unum per accidens). Um diesen Unterschied im Begriff der Einheit geht es auch Leibniz: um die Einheit an sich der Substanz und um die bloß akzidentelle Einheit des phänomenalen Körpers. Die Nominaldefinition Descartes’, die lediglich konstatiert, daß eine Substanz eine res ist, die, um zu sein, keiner anderen res bedarf, sagt nicht positiv, worin die Substanz selbst besteht. Diese bloß verneinend vorgehende Definition wird zwar von Leibniz nicht als falsch zurückgewiesen, aber als nicht zureichend erklärt. Leibnizens Realdefinition der wahren Substanz und ihrer Einheit erfolgt aus einem höheren Gesichtspunkt, den er für sich selbst gegenüber seinen Vorgängern in Anspruch nimmt. Dort, wo es nur durch Anhäufung (par aggregation) Seiendes (estres) gibt – sagt Leibniz –, gibt es kein reales Seiendes (estres reels). Denn – so Leibniz – jedes durch Anhäufung entstandene Seiende setzt ein Sein voraus, das eine wahrhafte Einheit (veritable unité) besitzt, weil es seine Realität (realité) nur von der Realität jener Elemente hat, aus denen es zusammengesetzt ist. Das nur durch Aggregation bestehende Seiende sind die ausgedehnten und deshalb zusammengesetzten Körper. Betrachten wir nur diese als res extensae, dann gibt es in ihnen kein reales Sein. Denn die res extensa ist, weil teilbar, kein wahres reales Sein. Wir dürfen daher nicht bei der extensio und der teilbaren Einheit der Körper stehenbleiben. Wir müssen vielmehr sehen, daß jedes als Aggregat bestimmte Seiende solches voraussetzt, was durch unteilbare Einheit bestimmt ist. Leibniz nennt dieses ebenso wie die erscheinenden Körper estre. Übersetzen wir dieses auch durch ‚Seiendes‘, dann meinen wir das wahrhaft Seiende, die Seiendheit, das Sein. Das wahrhaft Seiende ist als solches durch
§ 5 Die zusammengesetzten Körper und deren Substanzen als Monaden59
seine unteilbare, wahre Einheit unterschieden vom phänomenalen Seienden als Aggregat. Das durch wahrhafte Einheit bestimmte Seiende sind aber die einfachen Substanzen, das substanzielle Sein. Dieses ist wahrhaft Eines. Jede einfache Substanz ist eine wahre Einheit. Das Seiende als Aggregat, die zusammengesetzten Körper haben ihre Realität nicht aus sich selbst, sondern aus der Realität der ihnen zugrundeliegenden einfachen Substanzen. Diese haben nur deshalb wahre Realität, weil sie unteilbare Einheiten sind. Das zusammengesetzte Seiende würde überhaupt keine Realität haben, wenn das, aus dem sich das Seiende zusammensetzt, nur Teilbares wäre. In Richtung der bloßen Aggregate ist keine substanzielle Grundlage für das erscheinende Seiende aufzufinden. Es bedarf vielmehr eines Sprunges aus dem zusammengesetzten Seienden in die wahre Einheit des Seins, die allein dem zusammengesetzten Seienden die Realität geben kann. Leibniz stimmt den Cartesianern zu, daß es in der gesamten körperlichen Natur nur Maschinen gebe, d. h. Körper, deren Teile untereinander im Verhältnis von Wirkung und Ursache stehen. Leibniz läßt damit die rein mechanistische Naturerklärung innerhalb ihrer Grenzen gelten. Was er aber nicht zugibt, ist dies: daß es nur Aggregate von Substanzen, daß es nur die zusammengesetzten und teilbaren Körper gibt und daß deren substanzielles Sein nur die substantia extensa ist. Denn die substantia extensa ist gar keine wahre Substanz, da ihr der Grundcharakter unteilbarer Einheit fehlt. Wenn es Aggregate von Substanzen, zusammengesetzte und teilbare Körper gibt, muß es auch wahre Substanzen geben, aus denen sich die Aggregate (Körper) ergeben. Die Substanzen, welche die Grundlage für die Aggregate bilden, liegen nicht in der Dimension der zusammengesetzten Körper, sondern bilden die substanzielle Grundlage für alles Zusammengesetzte und Teilbare. Die wahren Substanzen sind an ihnen selbst wahre, unteilbare Einheiten. Leibniz nennt vier Möglichkeiten, die ausgedehnten Körper zu begreifen. Von diesen weist er die ersten drei Möglichkeiten zurück, um nur die vierte als die einzig zutreffende gelten zu lassen. Die 1. Möglichkeit besagt: Die Ausdehnung der materiellen Körper führt letztlich zurück auf die mathematischen Punkte (Points de mathematique) als den wahren Elementen des Zusammengesetzten. Dagegen wendet aber Leibniz ein, daß mathematische Punkte nur Grenzen sind ohne die geringste Ausdehnung. Aus bloßen Grenzen aber kann sich keine Ausdehnung zusammensetzen. Ferner sind die mathematischen Punkte bloße mathematische Begriffe ohne Realität. Die 2. Möglichkeit besagt: Die Teilung der zusammengesetzten Körper führt letztlich zurück auf materielle Atome, letzte Corpuskeln, die unteilbar sein sollen. Doch weil die physischen Atome räumliche Corpuskeln sind,
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Zweites Kapitel: Die Monade als wahre substanzielle Einheit
sind auch sie wie die ausgedehnten Körper teilbar, so, daß man in der Ebene der ausgedehnten Materie niemals zu unteilbaren Einheiten gelangt. Die 3. Möglichkeit besagt: Wenn man die mathematischen Punkte und die physischen Atome als letzte Einheiten nicht gelten läßt, und keine weitere Möglichkeit für unteilbare Einheiten sieht, kommt man zu dem Ergebnis, daß es in den Körpern überhaupt nichts Reales als unteilbare substanzielle Grundlage gibt. Die 4., einzig zutreffende Möglichkeit, den Körpern die Realität zu sichern, sieht Leibniz darin, daß es solche Substanzen gibt, die eine wahre Einheit besitzen. Diese Substanzen gehen den physischen Atomen und den mathematischen Punkten vorauf und haben weder an den einen noch an den anderen teil. Die einfachen, monadischen Substanzen können zwar als Punkte angesprochen werden, aber nicht als mathematische, sondern als metaphysische Punkte. Als diese metaphysischen Punkte sind sie die wahren Atome, das wahrhaft Unteilbare, aber keine physisch-materiellen Atome, sondern metaphysisch-reale Atome. Die Realität der ausgedehnten, zusammengesetzten und teilbaren Körper ist nur dann wahrhaft gegründet, wenn die Körper auf den wahren Einheiten der unteilbaren Substanzen beruhen. Diese ontologischen Überlegungen, nach denen die wahre Substanz eine wahre, unteilbare Einheit ist, werden von Leibniz zusammengefaßt in einem identischen Satz, den er ein metaphysisch-ontologisches Axiom nennt. Dieses lautet nun: „Was nicht wahrhaft ein Seiendes ist, ist auch nicht wahrhaft ein Seiendes (ce qui n’est pas veritablement un estre, n’est pas non plus veritablement un estre).“ Estre wird gewöhnlich übersetzt mit ‚Wesen‘ im Sinne von ‚Seiendem‘, womit aber das eigentlich Seiende gemeint ist gegenüber dem phänomenalen, teilbaren Seienden. Das eigentlich Seiende ist aber die Substanz, die einfache, unteilbare Substanz, das substanzielle Sein des phänomenalen Seienden. Um uns nicht zu verwirren und um von vornherein den metaphysischen Unterschied von Sein und Seiendem nicht zu verwischen, haben wir bisher für das eigentlich Seiende den Terminus ‚Sein‘ verwendet. Dasselbe tun wir auch jetzt, wenn wir das metaphysische Axiom Leibnizens wie folgt formulieren; Was nicht wahrhaft ein Sein ist, ist auch nicht wahrhaft ein Sein. Die Betonung liegt in der ersten Satzhälfte auf dem ‚ein‘, in der zweiten Satzhälfte auf dem ‚Sein‘. Leibniz unterstreicht, dieser Satz erlange nur durch die unterschiedliche Betonung seinen Sinn. Die unterschiedliche Betonung bewahrt den Satz vor einer leeren Tautologie. Leibniz formuliert sein metaphysisches Grundaxiom negativ. Wenn wir es positiv formulieren, müssen wir sagen: Nur was wahrhaft ein Sein ist, ist auch wahrhaft ein Sein. Nur ein solches Sein, das in sich durch die Einheit bestimmt ist, ist ein wahres substanzielles Sein. Das wahre Sein schließt die unteilbare Einheit ein.
§ 5 Die zusammengesetzten Körper und deren Substanzen als Monaden61
Zu diesem Axiom sagt Leibniz, man habe stets angenommen, daß Einheit und Sein Wechselbegriffe seien. Leibniz beruft sich darin auf Aristoteles und Thomas v. Aquin. Aristoteles sagt im X. Buch der „Metaphysik“ (1054 a 13–19): „Daß das Eine und das Seiende (Sein) (τὸ ἓν ϰαὶ τὸ ὄν) gewissermaßen dasselbe bedeuten, erhellt daraus, daß das Eine die Kategorien in ebenso vielen Bedeutungen begleitet und in keiner derselben ist, z. B. weder in der des Was noch in der der Qualität, sondern sich hierin ebenso verhält wie das Seiende (Sein), und daraus, daß nichts anderes hinzu ausgesagt wird, wenn man statt ‚Mensch‘ sagt ‚ein Mensch‘, so wie auch durch das Sein nichts anderes zu dem Was oder der Qualität oder der Quantität hinzukommt; Einessein heißt eben ein Einzelnes-sein (τὸ ἑνὶ εἶναι τὸ ἑϰάστῳ εἶναι)“. Für Thomas v. Aquin gehört das unum (das Eine) zu den Begriffen, die die Transzendentalien genannt werden. Das sind jene Begriffe, die mit dem Begriff des Seins notwendig verbunden sind. Sie heißen Transzendentalien, weil sie alle Gattungs- und Art-Begriffe übersteigen und von allem Seienden gelten. Zu diesen Begriffen gehören: das ens, die res, das unum, das aliquid, das verum, das bonum. Das unum meint die Unteilbarkeit des Seins des Seienden. In der „Summa theologiae“, quaestio VI, articulus 3 heißt es: unum convertitur cum ente, das Eine wird ausgetauscht mit dem Seienden (Sein). Im selben Artikel beruft sich Thomas auf Aristoteles, der im IV. Buch der „Metaphysik“ 1003 b 22 sq. sagt, daß jedes Seiende in seinem Sein ein Eines durch sein Wesen sei.6 Leibniz beruft sich demnach zu Recht auf Aristoteles und Thomas, wenn er das substanzielle Sein als unteilbare Einheit denkt. Die zur Substanz gehörende wahre, unteilbare Einheit hat Descartes in bezug auf seine zweite Substanz-Gattung, die substantia extensa, nicht beachtet. Auch für Leibniz sind in Wiederanknüpfung an die vorcartesianische Philosophie ‚Einheit‘ und ‚Sein‘ Wechselbegriffe. Ein anderes sei – so Leibniz – „das Sein“ im Singular, ein anderes „die Seienden“ im Plural. Dieser Plural setzt den wahren, unteilbaren Singular voraus. Dort, wo es nicht ein einiges, unteilbares Sein gibt, gibt es noch weniger mehrere Seiende in der Weise eines Zusammengesetzten. Weil zum substanziellen Sein die unteilbare Einheit gehört, unterscheidet Leibniz Sammelwesen (Estres d’aggre gation), durch Aggregation entstandene Seiende, von wahren, d. h. einfachen, unteilbaren Substanzen. Daß aus Aggregation (Anhäufung) bestehende Seiende hat seine Einheit nur in unserem Geist; diese Einheit ist nur eine gedachte, aber keine substanzielle Einheit. Die gedachte Einheit eines Körpers 6 Thomas v. Aquin, Summa Theologica. I. Buch Quaestio VI, Articulus III, in: Die deutsche Thomas-Ausgabe. 1. Band, Verlag Styria Graz, Wien, Köln 1982.
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gründet sich auf die Beziehungen der wahrhaften Substanzen untereinander, die den Körperteilen als das wahre, unteilbare Sein zugrundeliegen. Wenn Leibniz den Sammelwesen (estres d’aggregation) die wahre Einheit abspricht, behauptet er nicht, daß diese Dinge des Substanziellen überhaupt entbehren. Diese Dinge sind nicht etwa deshalb, weil die Einheit des Körpers keine wahre Einheit ist, substanzlos. Diesen Dingen als Sammelwesen liegt vielmehr die substanzielle Einheit zugrunde in der Weise vieler einfacher Substanzen, die zusammen das substanzielle Sein des Sammelwesens bzw. des Körpers ausmachen. Dinge, die uns als eine Einheit erscheinen und die wir als Einheit denken, ohne daß diese Einheit eine unteilbare Einheit ist, haben selbst so viel Realität oder Substanzialität, wie es wahre Einheit gibt in dem, was in ihre Zusammensetzung eintritt. Was in die Zusammensetzung der Körper eingeht als substanzielle Grundlage, sind die einfachen Substanzen in ihrer unteilbaren Einheit. Die unteilbare Einheit ist es, die die Realität der Substanzen und der durch sie gegründeten Körper verbürgt. Wenn die Körper keine wahren Einheiten als substanzielle Grundlage hätten, wäre die gesamte Körperwelt ein Erscheinendes ohne Realität. Eine so erscheinende Körperwelt hätte nur den Charakter eines bloß Imaginierten, eines geregelten Traumes. Realität und Substanzialität gibt es für Leibniz nur im Zusammenhang mit ihrer wahren Einheit. Nur was ein Unteilbares ist, ist wahres substanzielles Sein. Dieses durch die unteilbare Einheit bestimmte Sein ist Seinsgrund für das erscheinende und sinnlich erfahrbare körperliche Seiende. Das erscheinende Seiende hat seine Realität aus den ihm zugrundeliegenden unteilbaren, monadischen Substanzen. Wir verlassen Leibnizens Brief an Arnauld und wenden uns noch einem Paralleltext zu, der sich im „Système nouveau“ findet. Im dritten Absatz7 heißt es: Es ist nicht möglich, die Prinzipien einer wahren Einheit in der bloßen Materie zu finden, weil in dieser alles nur eine Ansammlung oder Anhäufung von Teilen bis ins Unendliche ist. Die Vielheit dieser Teile der Materie bzw. der materiellen Körper kann ihre Realität nur von den wahren Einheiten haben. Diese wahren Einheiten haben aber einen anderen Ursprung, der nicht der Bereich der Materie ist. Die wahren Einheiten sind aber auch etwas ganz anderes als die mathematischen Punkte. Die mathe7 G. W. Leibniz, Neues System der Natur, in: Philosophische Werke. Zweiter Band. Hauptschriften zur Grundlegung der Philosophie. Zweiter Teil, übersetzt von A. Buchenau. Durchgesehen und mit Einleitungen und Erläuterungen hrsg. v. Ernst Cassirer. Band II. Verlag von Felix Meiner Leipzig 1906, S. 258–271, hier S. 259 f. – G. W. Leibniz, Neues System der Natur, in: Kleine Schriften zur Metaphysik. Opus cules Metaphysiques. Hrsg. und übersetzt von Hans Heinz Holz. Insel Verlag Frankfurt am Main 1965, S. 202–207.
§ 6 Natürliches Entstehen und Vergehen der Körper63
matischen Punkte sind nur die Grenzen des Ausgedehnten. Als solche Grenzen können sie nicht das Raumkontinuum zusammensetzen. Die wahren Einheiten sind weder mathematische Punkte noch arithmetische Einheiten, die sehr wohl teilbar sind, wenn wir an die Brüche denken. Die wahren Einheiten sind reale Einheiten. Um diese zu finden, muß man zurückgehen zu einem reellen und beseelten Punkt, zu einem substanziellen Atom. Dieses substanzielle, wahre Atom schließt etwas Formales und Aktives ein. Damit geht Leibniz dazu über, das substanzielle Wesen, die substanzielle Beschaffenheit der einfachen Substanzen zu kennzeichnen als Wesensformen und diese als tätige Kräfte, so, wie wir es aus der Emendations-Schrift und aus dem „Specimen Dynamicum“ kennen, während Leibniz in den ersten sieben Abschnitten der „Monadologie“ sich zunächst auf die Kennzeichnung der unteilbaren Einheit der Substanzen beschränkt – unter methodischer Ausklammerung des substanziellen Wesens der monadischen Substanzen. Die einfachen Substanzen, die Monaden, sind weder mathematische noch irgendwie physische Punkte, sondern metaphysische Punkte und als solche reale Einheiten. Als reale Einheiten sind die Monaden aber keine arithmetischen Einheiten, die ihrerseits teilbar sind, sondern absolut unteilbare Einheiten, die wahren Atome.
§ 6 Natürliches Entstehen und Vergehen der Körper – göttliche Erschaffung und Vernichtung der Monaden Diesem Paragraphen legen wir die Abschnitte 4–6 der „Monadologie“ zugrunde. Um den gedanklichen Fortschritt im 4. Abschnitt zu verstehen, fassen wir die Einsichten der drei ersten Abschnitte zusammen. Der 1. Abschnitt sagt: Die Monaden sind einfache Substanzen, die als einfache keine Teile haben. Der 2. Abschnitt fährt fort: Weil es die zusammengesetzten und somit teilbaren Körper gibt, muß es einfache, teil-lose, unteilbare Substanzen geben, die den zusammengesetzten und teilbaren Körpern Realität, Sachhaltigkeit, verschaffen. Daran schließt der 3. Abschnitt an: Als Substanzen ohne Teile, ohne räumliche Ausdehnung, räumliche Gestalt und Teilbarkeit, sind die Monaden die einzig wahren unteilbaren Einheiten der gesamten körperlichen Natur. Der hier anschließende 4. Abschnitt bedenkt die Unvergänglichkeit der Monaden, des monadischen Seins. Die Unvergänglichkeit wird in zwei gleichsinnigen Aussagesätzen ausgesprochen: 1. Die Auflösung (dissolution) der Monaden ist nicht zu befürchten. 2. Es ist völlig unbegreiflich, wie eine einfache Substanz auf natürliche Weise vergehen kann (perir naturellement). Weil die monadischen Substanzen immateriell, unausgedehnt und unteilbar sind, kann sich ihre Einheit nicht wie die materiellen und räumlich
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ausgedehnten Körper auflösen. Die monadischen Substanzen liegen der räumlichen Ausdehnung und Teilbarkeit der Körper zugrunde und können daher nicht wie die Körper auf natürliche Weise vergehen. Vergehen heißt für Leibniz: Sichauflösen in Teile. Was ohne Teile ist, kann nicht wie das körperlich Seiende in Teile sich auflösen. Weil das Vergehen als das Sichauflösen in Bestandteile dem substanziellen Wesen der teil-losen Einheiten widerspricht, ist es unbegreiflich, wie die Monaden auf natürlichem Wege vergehen können. Der natürliche Weg ist jener, auf dem die Natur als die natürlichen Körper vergehen. ‚Vergehen‘ heißt nicht ‚völlig verschwinden‘, sondern in Teile zerfallen. Was ohne Teile ist wie die Monaden, kann sich nicht wie das körperliche Seiende in Teile auflösen. Im 4. Abschnitt der „Monadologie“ wird das natürliche Vergehen, das Vergehen so, wie es zur Natur der räumlich ausgedehnten Körper gehört, von den Monaden weggehalten. Bedenken wir, daß die Monaden das substanzielle Sein sind und die Körper das Seiende, dann wird das Vergehen der seienden Körper von deren substanziellem Sein weggehalten. Weil die Monaden nicht wie das körperlich Seiende sind, weil die Monaden vielmehr das Sein der seienden Körper sind, können sie nicht wie die Körper, kann das Sein nicht wie das Seiende vergehen. Während der 4. Abschnitt das natürliche Vergehen der Körper vom monadischen Sein fernhält, hält der 5. Abschnitt das natürliche Entstehen von den monadischen Substanzen weg. Dieser Abschnitt bedenkt die Unentstehbarkeit des monadischen Seins. Er besteht aus der ontologischen Aussage dieser Unentstehbarkeit und aus einer Begründung dieser Aussage. 1. Es ist unbegreiflich, daß eine einfache Substanz auf natürliche Weise entstehen könne (commencer naturellement). 2. Denn die einfache Substanz kann sich nicht durch Zusammensetzung bilden. So wie ‚Vergehen‘ heißt: Sichauflösen in Teile, so meint ‚Entstehen‘ Sichzusammensetzen aus Teilen. Was unteilbar ist, löst sich nicht nur nicht in Teile auf, sondern bildet sich auch nicht aus Teilen zu einem Ganzen. Da natürliches Entstehen Zusammensetzung aus Teilen bedeutet, ist ihnen ein natürliches Zusammensetzen aus Teilen wesensfremd. Sowohl Entstehen wie Vergehen der Monaden ist unbegreiflich, beides widerspricht ihrem Begriff der unteilbaren Einheit. Vergehen und Entstehen gehören zu den räumlich ausgedehnten und räumlich gestalteten materiellen Körpern. Die monadischen Substanzen liegen den Körpern als deren substanzielles Sein zugrunde. Demzufolge liegen sie auch dem natürlichen Entstehen und natürlichem Vergehen der Körper zugrunde. Das so zugrundeliegende Sein, das die Körper und deren Entstehen und Vergehen ontologisch ermöglicht, kann als das Ermöglichende selbst nicht wie das Ermöglichte bestimmt sein.
§ 6 Natürliches Entstehen und Vergehen der Körper65
Eine zu den Abschnitten 4 und 5 der „Monadologie“ parallele Textstelle ist der 2. Abschnitt der „Vernunftprinzipien der Natur und der Gnade“8: Dort heißt es: Weil die Monaden keine Teile haben, können sie weder hervorgebracht (etre formés) noch vernichtet werden (défaités). Sie können auf natürlichem Wege keinen Anfang haben (commencer) und kein Ende (finir). Sie können auf natürlichem Wege weder einen Anfang noch ein Ende haben. Nur die erscheinenden Körper fangen natürlicherweise an und enden auf natürliche Weise. Aber ihr Anfangen meint kein absolutes Ins-Sein-treten; ihr Enden kein absolutes Heraustreten aus dem Sein, sondern ein Sichzusammensetzen aus Teilen und ein Sichauflösen in Teile. Hier folgt nun aber ein wichtiger Zusatz. Wenn die Monaden weder einen natürlichen Anfang noch ein natürliches Ende haben, dauern sie fort (durent par consequent). Das monadische Sein dauert so lange wie das Universum (l’univers). Unter ‚Universum‘ versteht Leibniz das Ganze des raum-zeitlich-materiellen Seienden. Auch das Universum des Seienden dauert, wird nicht vernichtet werden (détruit). Aber als fortdauerndes wird es sich ständig verändern (change). Das Universum der Körper wird sich fortdauernd verändern in der Weise, daß die Körper sich in ihre Teile auflösen oder sich aus Teilen zusammensetzen. Entstehen als Sichzusammensetzen und Vergehen als Sichauflösen sind Veränderungen, denen das Universum der Körper unterliegt. Getragen wird aber das im Fortdauern sich verändernde Universum durch das monadische Sein, das von sich aus Entstehen als Zusammensetzung aus Teilen und Vergehen als Auflösung in Teile von sich ausschließt. Die Monaden dauern ohne natürlichen Anfang und natürliches Ende. Ihr Dauern, ihre beständige Anwesenheit, trägt das Universum der Körper und deren Veränderung. Indem das natürliche Entstehen und natürliche Vergehen von den monadischen Substanzen weggehalten werden, wird jener Unterschied gedacht, der zwischen dem monadischen Sein und dem körperlich Seienden waltet. Es ist der Unterschied von Sein und Seiendem. Die Leibnizsche Metaphysik der monadischen Substanzen hält sich wissentlich im Unterschied zwischen monadischem Sein und körperlich Seiendem. Nachdem von den monadischen Substanzen das natürliche Entstehen und Vergehen des körperlich Seienden ferngehalten ist, wird nun im 6. Abschnitt der „Monadologie“ von einem übernatürlichen Entstehen und Vergehen der einfachen Substanzen gehandelt. Dieser Abschnitt besteht aus drei ontologischen Aussagen; die beiden ersten betreffen die Monaden, die dritte die Körper. 1. Die Monaden können nur mit einem Schlag entstehen oder ver8 G. W. Leibniz, Vernunftprinzipien der Natur und der Gnade (1982), S. 2–4. – Gottfried Wilhelm Leibniz, Monadologie und andere metaphysische Schriften (2014), S. 152 f.
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gehen. 2. Die Monaden können nur durch Schöpfung entstehen und nur durch göttliche Vernichtung vergehen. 3. Die zusammengesetzten Körper entstehen aus Teilen und vergehen in Teile. Die Monaden haben zwar keinen natürlichen, keinen physischen Anfang wie die Körper, wohl aber einen metaphysischen Anfang. Dieser ist die göttliche Schöpfung, die göttliche Hervorbringung. Der 6. Abschnitt bedenkt die ontologische Endlichkeit der monadischen Substanzen, ihre seinsmäßige Endlichkeit als ihre Geschaffenheit. Auch der jetzt zu denkende metaphysische Unterschied zwischen dem übernatürlichen Entstehen und Vergehen der Monaden und dem natürlichen Entstehen und Vergehen der Körper hält sich in dem metaphysischen Unterschied von Sein und Seiendem. Das vom körperlich Seienden metaphysisch unterschiedene Sein ist aber zwiefach zu denken: es ist 1. endliches monadisches Sein und 2. unendliches urmonadisches Sein. Der 6. Abschnitt bedenkt den metaphysischen Bezug innerhalb des vom körperlich Seienden unterschiedenen Seins. Es ist der ontologische Bezug zwischen der göttlichen Urmonade und den von ihr geschaffenen endlichen Monaden. Es ist der ontologische Bezug des schaffenden Hervorbringens zum Geschaffenen als dem Hervorgebrachten. Wichtig ist die Wendung, zu der Leibniz greift, um das metaphysische Entstehen und Vergehen ontologisch zu charakterisieren. Das Entstehen der Monaden durch urmonadische Schöpfung geschieht „mit einem Schlag“ (tout d’un coup). Ebenso geschieht bzw. könnte geschehen das metaphysische-ontologische Vergehen der Monaden durch urmonadische Vernichtung (annihilation). Hier ist zweierlei von Bedeutung, zum einen der Gegenbegriff zur Schöpfung: die urmonadische annihilation: zum anderen das „mit einem Schlag“ als die Weise, in der die urmonadische Hervorbringung und Vernichtung geschehen. Zunächst zum Begriffspaar creation – annihilation. creation ist das urmonadische Schaffen aus dem Nichts, d. h. aus der vollständigen Abwesenheit alles außergöttlichen, endlichen Seins. Dieses außergöttliche, endliche Sein wird erst hervorgebracht. Die urmonadische annihilation meint den möglichen urmonadischen Widerruf der urmonadischen creation. Annihilation besagt das Zurückrufen des endlichen monadischen Seins aus seinem Hervorgebrachtsein. Das Nichts, in das die Schöpfung zurückgerufen würde, wäre das Nichts von hervorgebrachten monadischen Substanzen. Das metaphysische Entstehen durch urmonadische Schöpfung und das metaphysische Vergehen durch urmonadische annihilation geschehen „mit einem Schlag“. Diese Wendung hebt das metaphysische Entstehen und Vergehen vom physischen Entstehen und Vergehen scharf ab. Physisches Ent-
§ 7 Die Fensterlosigkeit der Monaden67
stehen und Vergehen geschehen in der Zeit von Jetzt zu Jetzt in einem Zeitkontinuum. Das urmonadische Schaffen und der urmonadische Widerruf der Schöpfung geschehen nicht in der Zeit, nicht in einem Zeitkontinuum, sondern vorzeitlich. Denn die Zeit gehört mit dem Raum zum Geschaffenen. Genauer gesagt: die Zeit und der Raum der Körperwelt gehören zum geschaffenen seienden Universum, die innermonadische Zeit der endlichen Monaden gehört dagegen zur Geschaffenheit des monadischen Seins. Urmonadische Schöpfung und urmonadischer Widerruf der Schöpfung geschehen weder in einem Jetzt noch in einem Augenblick, wenn dieser eine Jetztphase meint. Um diesen vor-zeitlichen, zur urmonadischen Ewigkeit gehörenden Geschehenscharakter der urmonadischen Schöpfung und des urmonadischen Widerrufes zu kennzeichnen, greift Leibniz zu der Wendung „mit einem Schlag“. Auch ein Blitzschlag geschieht zwar in der Zeit, wenn auch in einem augenblickshaften Jetzt. Aber der Blitzschlag kann als Bild dienen für das vorzeitliche Geschehen der urmonadischen Schöpfung, die vorzeitlich geschieht, weil sie die Zeit selbst mit hervorbringt. Während die einfachen Substanzen nur mit einem Schlag durch urmonadische Schöpfung entstehen und nur mit einem Schlag durch den urmonadischen Widerruf vernichtet werden könnten, entsteht das Zusammengesetzte in der Zeit aus Teilen und vergeht das Zusammengesetzte in der Zeit in Teile. Die Körper sind aber nicht bloße Körper, sondern Körper auf dem Grunde von einfachen Substanzen. Das Entstehen aus Teilen und Vergehen in Teile haben ihren Seinsgrund in den nicht physisch entstehenden und vergehenden monadischen Substanzen.
§ 7 Die Fensterlosigkeit der Monaden Diesem Paragraphen liegt der Text des 7. Abschnittes der „Monadologie“ zugrunde, der die absolute Selbständigkeit und Unabhängigkeit der monadischen Substanzen als deren Fensterlosigkeit kennzeichnet. Der 7. Abschnitt der „Monadologie“ läßt sich in sechs ontologische Aussagen zerlegen: 1. Keine Monade vermag durch irgendein anderes Geschaffenes in ihrem Inneren beeinflußt oder verändert zu werden. 2. Man kann nichts in eine Monade hinein übertragen, und keine innere Bewegung der Monade kann durch ein anderes Geschaffenes hervorgerufen, geleitet, vermehrt oder vermindert werden. 3. Bei den zusammengesetzten Körpern gibt es dagegen sehr wohl eine Veränderung im Verhältnis der Teile zueinander. 4. Die Monaden haben keine Fenster, durch die etwas in sie hineintreten oder etwas aus ihnen heraustreten könnte. 5. Die Akzidenzien der Monaden können sich weder von ihren substanziellen Trägern lösen noch außerhalb ihrer substanziellen Träger sich ergehen, wie die species sensibiles der
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Scholastiker. 6. Weder eine monadische Substanz als solche noch ein Akzidenz der monadischen Substanz können von außen in eine andere monadische Substanz eintreten. Der erste gedankliche Abschnitt der „Monadologie“ (§§ 1–7) thematisiert den wahren Einheitscharakter der einfachen Substanzen, die deshalb Monaden heißen. Zu ihrem wahren Einheitscharakter gehört aber auch ihre völlige innere Abgeschlossenheit gegenüber allen anderen einfachen Substanzen. Jede Monade ist, was sie ist, rein aus ihr selbst und in sich selbst ohne Einwirkung und Mitwirkung einer anderen Monade. Eine Substanz ist für Leibniz nur dann eine metaphysische reelle Einheit, wenn diese reelle Einheit durch keine andere reelle Einheit beinflußt und verändert, irgendwie beeinträchtigt wird. Keine Monade kann – so Leibniz – durch irgendein anderes Geschaffenes verändert werden. Ein anderes Geschaffenes ist eine andere geschaffene Monade. Diese Betonung ist wichtig, da jede geschaffene Monade als geschaffene in einem metaphysischen Abhängigkeitsbezug zur schaffenden Urmonade steht. Im 7. Abschnitt der „Monadologie“ ist erstmals die Rede von einem Inneren (intérieur) der Monade. Diese Wendung weist vor auf die im 8. Abschnitt in den Gedankengang eingeführten Wesensbeschaffenheiten der Monaden, auf das substanzielle Wesen einer jeden Monade (im Unterschied zur substanziellen Einheit). Das substanzielle Wesen hat den Charakter eines Inneren, weil es den Charakter von substanziellen Kräften hat. Diese substanziellen Kräfte bilden das Innere einer Monade. Würde in das innere Kraftwesen einer Monade, in das Innere ihres substanziellen Wesens, etwas von einer anderen Monade und deren innerem Kraftwesen übertragen (transposer), so käme das einem Zuwachs des eigenen substanziellen Wesens, des eigenen Kraftwesens, gleich. Ein solcher Zuwachs würde aber den unteilbaren Einheitscharakter der Monade antasten. In der 2. ontologischen Aussage des 7. Abschnittes wird von inneren Bewegungen in der Monade gesprochen. Keine innere Bewegung im Kraftwesen der Monade könne so gedacht werden, daß sie von einer anderen Monade hervorgerufen, geleitet, vermehrt oder vermindert wird. Was hier von der Monade und ihrem wahren Einheitscharakter ferngehalten wird, ist nicht etwa die innere Bewegung als solche, sondern nur die Quelle dieser inneren Bewegung als in einer anderen Monade liegend. Denn die Monaden sind in ihrem substanziellen Wesen durch innere Bewegung charakterisiert. Diese gehören zu den inneren Kräften, sind deren Bewegungen. Die Quelle dieser inneren Bewegungen liegt in einer jeden Monade selbst. Dagegen verhält es sich – wie die 3. Aussage wissen läßt – bei den aus Teilen zusammengesetzten physischen Körpern so, daß die Bewegung eines
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Körpers sich auf einen anderen Körper überträgt. Im Reich der physischen Körper kann die Bewegung eines Körpers durch die Bewegung eines anderen Körpers vermehrt oder vermindert werden. Was im 7. Abschnitt von den einfachen Substanzen weggehalten wird, ist das, was unter und zwischen den Körpern statthat. Auch diese gedankliche remotio des von außen Beeinflußt- und Verändertwerdens hält sich in der metaphysischen Unterscheidung zwischen dem substanziellen Sein und dem körperlich Seienden. Die absolute Abgeschlossenheit einer jeden endlichen Monade von allen anderen endlichen Monaden, dergestalt, daß keine geschaffene Monade in das Innere einer anderen einwirken kann, verdeutlicht Leibniz in der 4. ontologischen Aussage im Bilde der Fensterlosigkeit. Les Monades n’ont point de fenêtres – die Monaden haben keine Fenster. Eine jede einfache Substanz bewahrt nur dann ihre Einheit, wenn sie in ihrer Abgeschlossenheit gegenüber einer jeden anderen Monade gedacht wird. Diese Abgeschlossenheit einer jeden monadischen Substanz gegenüber allen anderen ist ihre Undurchlässigkeit und völlige Selbständigkeit. Durch die fensterlose Verschlossenheit einer jeden Monade kann nichts von außen in sie eintreten und nichts aus ihrem Inneren heraustreten. Das in sie Eintreten und aus ihr Heraustreten von etwas vertrüge sich nicht mit ihrem ontologischen Einheitscharakter. Träte etwas aus der Monade heraus, käme das einem Abnehmen gleich. Träte etwas in sie ein, würde sie in ihrem substanziellen Wesen zunehmen. Die Monaden haben keine Fenster, durch die sie etwas von anderen Monaden aufnehmen könnten. Sie haben keine Fenster, durch die sie etwas von ihnen selbst einer anderen Monade übertragen könnten. Bisher war die Rede „von etwas“, das weder aus dem Inneren der Monade austreten noch in ihr Inneres eintreten kann. Dieses hier noch unbestimmt belassene Etwas wird, dem Substanz-Begriff entsprechend, als Akzidenzien (accidens) der Substanz angesprochen. Denn formal gesehen ist jede Substanz Etwas, was sich im Wandel seiner Akzidenzien, seiner Bestimmungen, als dasselbe durchhält. Diese formale Substanz-Struktur finden wir auch bei den Leibniz’schen Monaden. Der Wandel ihrer Akzidenzien ist ihre innere Bewegung, die innere Bewegung ihres substanziellen Wesens. Von den Akzidenzien der Monaden heißt es, sie können sich weder von den Substanzen lösen noch außerhalb der Substanzen ergehen. In beiden Fällen wäre die substanzielle Einheit des monadischen Wesens gestört. Die akzidentellen Bestimmungen der einfachen Substanzen können sich nicht von den Substanzen trennen. Was von Leibniz hier zurückgewiesen wird, ist ein Gedanke, der sich in der scholastischen, in der thomasischen Erkenntnislehre findet. Leibniz weist auf die „species sensibiles“ hin. Diese sind die Bilder, die sich für die
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sinnliche Wahrnehmung von den wahrnehmbaren Gegenständen lösen, die Luft zwischen dem Wahrnehmungsgegenstand und dem Wahrnehmungsorgan passieren, in den Gemeinsinn des Wahrnehmenden eindringen als species impressae und als solche die erkennende Seele zur Hervorbringung des eigentlichen Wahrnehmens durch die species expressae veranlassen. Dieser Erkenntnislehre gemäß wird die Erkenntnis vermittelt durch die species, durch die Wahrnehmungsbilder, die sich von den Dingen ablösen und als abgelöste den Wahrnehmungsdingen gleichen. Eine solche Erkenntnislehre, nach der die Erkenntnisgegenstände Wahrnehmungsbilder als Abbilder aussenden, weist Leibniz zurück, weil sonst die substanzielle Einheit keine wahre Einheit wäre. In der 6. Aussage des 7. Abschnittes sagt Leibniz zusammenfassend: Weder kann eine einfache Substanz in eine andere einfache Substanz eintreten, noch kann ein Akzidenz einer Monade in eine andere Monade eintreten. Jede einfache Substanz ist als Substanz mit ihren Akzidenzien völlig unabhängig von jeder anderen endlichen einfachen Substanz. Diese absolute Unabhängigkeit der Monaden untereinander läßt aber die Frage aufkommen, ob vielleicht gar kein Zusammenhang unter den endlichen Monaden besteht. Wenn es dennoch einen ontologischen Zusammenhang unter den Monaden geben sollte, kann dieser nur aufgeklärt werden aus dem ontologischen Bezug der einen unendlichen Monade zu den endlichen Monaden. Nachdem das zweite Kapitel den unteilbaren Einheitscharakter der einfachen Substanzen zum Thema hatte, wenden wir uns jetzt im dritten Kapitel der zweiten gedanklichen Einheit der „Monadologie“ zu, deren Thema das substanzielle Wesen der Monaden ist.
Drittes Kapitel
Das substanzielle Wesen der Monaden Die zweite gedankliche Einheit der „Monadologie“ umfaßt die Abschnitte 8–17. Vorweg können wir diese zweite Sinneinheit im Aufbau der „Monadologie“ wie folgt kennzeichnen. In den Abschnitten 8–17 geht es um die Vernunfteinsicht in das einförmige, einheitliche substanzielle Wesen aller endlichen Monaden. Dieses einheitliche substanzielle Wesen wird gesehen in der inneren substanziellen Kraft, die sowohl Perzeption wie auch Streben ist: ein strebendes Perzipieren oder perzipierendes Streben. Durch dieses substanzielle Kraftwesen des strebenden Perzipierens ist jede einfache Substanz in einer individuell-einmaligen Weise bestimmt. Zugleich aber ist jede einfache Substanz durch ihre Kraft des strebenden Perzipierens von jeder anderen einfachen Substanz unterschieden. Die insgesamt zehn Abschnitte der zweiten Sinneinheit, d. h. den Gedankenweg, der sich durch diese zehn Abschnitte hindurchzieht, können wir in vier Schritte gliedern, die wir in vier Paragraphen des Dritten Kapitels behandeln werden.
§ 8 Die Wesensbeschaffenheiten der Monaden In der ersten gedanklichen Einheit der „Monadologie“ (Abschnitte 1–7) wurde nur dargelegt, daß die wahren Substanzen wahre Einheiten sein müssen – unter vorläufiger Ausklammerung der Frage nach den substanziellen Beschaffenheiten, dem substanziellen Wesen der Monaden. Diese methodische Ausklammerung wird jetzt rückgängig gemacht. Das Denken richtet sich nunmehr auf das substanzielle Wesen der Monaden. Scholastisch formuliert heißt das: Nachdem gezeigt worden ist, wie das ens ein unum ist, d. h. wie das substanzielle Sein (ens) eine wahre Einheit (unum) ist, gilt es jetzt einzusehen, wie das ens als unum eine res ist, wie also das substanzielle Sein in seiner unteilbaren Einheit ein realitätshaltiges, washaltiges Sein ist. Unserem § 8 legen wir die Abschnitte 8 und 9 aus der „Monadologie“ zugrunde. Der Gedankengehalt des 8. Abschnittes läßt sich in vier ontologische Thesen gliedern: 1. Die einfachen Substanzen haben in ihrem monadischen Charakter Wesensbeschaffenheiten. 2. Durch diese Wesensbeschaffenheiten
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Drittes Kapitel: Das substanzielle Wesen der Monaden
unterscheiden sich die einfachen Substanzen untereinander. 3. Die unterschiedlichen Wesensbeschaffenheiten der einfachen Substanzen bilden den Seinsgrund für die Veränderungen in den Körpern. 4. Ohne die unterschiedlichen Wesensbeschaffenheiten der einfachen Substanzen gäbe es keine Unterschiede in der phänomenalen Körperwelt. Zur 1. ontologischen These des 8. Abschnittes: Die einfachen Substanzen heißen Monaden angesichts ihres Charakters der unteilbaren Einheit. Doch mit dem Hinweis auf die monadische Einheit ist die einfache Substanz noch nicht hinsichtlich dessen bestimmt, was eine unteilbare Einheit ist. Das Wassein der einfachen Substanzen, ihre substanzielle Washeit, wird jetzt von Leibniz in den Blick genommen. Das substanzielle Wassein oder Wesen (das wir aus den früheren Schriften Leibnizens schon kennen als substanzielle ursprüngliche Kraft, vis primitiva) wird von Leibniz als qualités, als Qualitäten gefaßt. Qualitas nennt die Beschaffenheit in der Bedeutung von Wesensbeschaffenheit, sachhaltigem Wesen. Mit Leibniz müssen wir also in bezug auf die einfachen Substanzen unterscheiden zwischen dem substanziellen Wesen als Wesensbeschaffenheit der Monade und der wahren Einheit, in welcher die Wesensbeschaffenheit der Monade verfaßt ist. Ohne die Wesensbeschaffenheiten wären die Monaden kein substanzielles Sein, keine substanziellen Wesenheiten (Etres). Das substanzielle Sein ist substanzielles Wesen (wie wir bisher gesagt haben), substanzielles Wassein oder substanzielle Wesenheit. Die monadische Einheit wäre eine leere Einheit, wenn sie nicht die unteilbare Einheit eines substanziellen Wesens oder Wasseins wäre. Doch welchen eigentümlichen Charakter das substanzielle Wesen, die substanziellen Beschaffenheiten haben, bleibt hier noch ungenannt. Vorerst wird der Blick nur darauf gelenkt, daß die einfachen Substanzen in ihrem wahren Einheitscharakter verfaßt sind als substanzielle Beschaffenheiten oder Wesenheiten. Zur 2. ontologischen These des 8. Abschnittes: Durch die Wesensbeschaffenheiten unterscheiden sich die einfachen Substanzen untereinander. Die erste ontologische These ließe sich noch dahingehend verstehen, daß alle einfachen Substanzen unterschiedslos durch gleiche Wesenbeschaffenheiten bestimmt wären. Demgegenüber betont die 2. ontologische These, daß sich die Monaden durch ihre unterschiedlichen Wesensbeschaffenheiten untereinander, voneinander unterscheiden. Später wird sich zeigen, daß zwar alle Monaden verfaßt sind durch ein einförmiges, einheitliches substanzielles Wesen (daß es somit für Leibniz nicht wie für Descartes zwei unterschiedliche Gattungen des substanziellen Wesens gibt, sondern nur eine Gattung), daß aber dennoch die einfachen Substanzen sich voneinander unterscheiden durch individuelle Unterschiede in den Wesensbeschaffenheiten. Es sind
§ 8 Die Wesensbeschaffenheiten der Monaden73
Unterschiede, die sich innerhalb eines einförmigen substanziellen Wesens aller Monaden zeigen. In der 3. und 4. ontologischen These des 8. Abschnittes wird der ontologische Bezug der substanziellen Wesensbeschaffenheiten der Monaden zu den Körpern in den Blick genommen. Da aber die phänomenalen Körper das raum-zeitlich materielle Seiende sind und die Monaden in ihren Wesensbeschaffenheiten das Sein des körperlich Seienden, bedenkt jener ontologische Bezug aus der 3. und 4. These den Bezug des Seins zum Seienden. Diesem Bezug gemäß bestimmt das Sein das Seiende zu diesem Seienden, ohne als das bestimmende Sein wie das bestimmte Seiende zu sein. Also waltet ein Unterschied zwischen Sein und Seiendem. Zur 3. ontologischen These des 8. Abschnittes: Die unterschiedlichen Wesensbeschaffenheiten der Monaden bilden den Seinsgrund für die Veränderungen in den Körpern. Unterschieden sich die Monaden nicht durch ihre Wesensbeschaffenheiten, gäbe es kein Mittel, irgendeine Veränderung (changement) in den Körpern (dans les choses) wahrzunehmen. Positiv formuliert: Die wahrnehmbaren Veränderungen in den Körpern haben ihren Seinsgrund in den unterschiedlichen Wesensbeschaffenheiten der einfachen Substanzen. Es haben nicht nur die materiellen Körper überhaupt ihr substanzielles Sein in den einfachen Substanzen und deren Wesensbeschaffenheiten, sondern alle Veränderungen in den Körpern und zwischen ihnen haben ihren Seinsgrund in den unterschiedlichen Beschaffenheiten und deren eigentümlichen Veränderungen (wie wir aus dem 10. Abschnitt erfahren). Alles, was im Reich des Zusammengesetzten an Veränderungen vorkommt, hat seinen Seinsgrund in den monadischen Substanzen. Zur 4. ontologischen These des 8. Abschnittes: Ohne die unterschiedlichen Wesensbeschaffenheiten der Monaden gäbe es keine Unterschiede in der Körperwelt. Diese These schließt unmittelbar an die dritte an. Auch in dieser geht es darum, die Veränderungen in der Körperwelt seinsmäßig aus den unterschiedlichen Wesensbeschaffenheiten der Monaden zu begreifen. Der dreidimensionale Raum ist für Leibniz durchgehend erfüllt. Er ist ein durchgehend erfüllter und nicht etwa z. T. leerer Raum. Bei der Ortsbewegung der Körper gibt jeder Ort seinen bisherigen Inhalt ab und nimmt einen neuen Inhalt auf. Diese materiellen Inhalte der verschiedenen Ortsräume unterscheiden sich als diese Inhalte voneinander. Sie unterscheiden sich nicht nur hinsichtlich des unterschiedlichen Ortes, den sie jeweils einnehmen. Die Unterschiede der Inhalte haben ihren Seinsgrund in den unterschiedlichen Wesensbeschaffenheiten ihrer einfachen Substanzen. Leibniz kann sagen: Hätten die Monaden keine unterschiedlichen Wesensbeschaffenheiten, – wären die Monaden selbst in ihren Wesensbeschaffenheiten ununterscheidbar, – wäre also eine Monade wie die andere, dann
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Drittes Kapitel: Das substanzielle Wesen der Monaden
nähme bei der Ortsbewegung der Körper jeder Ortsraum einen Inhalt auf, der sich als solcher von dem vorangegangenen Inhalt nicht unterschiede. Alle Inhalte der Orte wären völlig gleich. Die Inhalte unterschieden sich nur dadurch, daß sie jeweils an verschiedenen Orten sind. Doch schon die sinnliche Erfahrung zeigt, daß es sich nicht so verhält. Jeder körperliche Inhalt eines Ortsraumes unterscheidet sich als dieser bestimmte Inhalt von jedem anderen. Die Unterschiede der körperlichen Inhalte blieben aber grundlos und hätten keinen ermöglichenden Seinsgrund, wenn sich nicht ihre einfachen Substanzen durch ihre Wesensbeschaffenheiten voneinander unterschieden. Die Unterschiede in den Wesensbeschaffenheiten der Monaden bilden den Seinsgrund für die Unterschiede in den körperlichen Inhalten aller möglichen Ortsräume. Wir sehen auch hier, wie Leibniz für seinen ontologischen Gedanken der unterschiedlichen substanziellen Beschaffenheiten ausgeht vom phänomenalen Seienden der Körper. Weil nicht nur jeder Körper und jeder Teil eines Körpers sich von jedem anderen unterscheidet, sondern weil sich auch jeder Zustand eines Körpers von jedem anderen Körperzustand unterscheidet, sucht Leibniz die notwendige Seinsgrundlage für die Unterschiede im Seienden. Die Seinsgrundlage findet er auf dem Wege des Vernunftdenkens in korrelativen Unterschieden im substanziellen Sein. Es sind die Unterschiede in den substanziellen Beschaffenheiten der Monaden. Gäbe es keine Unterschiede in den substanziellen Beschaffenheiten, so gäbe es auch keinen Seinsgrund für die erfahrbaren Unterschiede im körperlich Seienden. Nicht nur das körperlich Seiende als solches, auch dessen mannigfache Unterschiede, Veränderungen und Bewegungen bedürfen ihres Seinsgrundes. Nur ein solches substanzielles Wesen, das in seiner Gleichförmigkeit zugleich Unterschiede einschließt, vermag die Unterschiede und Veränderungen im körperlich Seienden ontologisch verständlich zu machen. Der 9. Abschnitt der „Monadologie“ radikalisiert die Thesen des 8. Abschnittes, den Gedanken des Sichunterscheidens der Monaden untereinander. Er besteht aus zwei aufeinander bezogenen ontologischen Aussagen. 1. Jede einzelne Monade ist von jeder anderen unterschieden. 2. In der Natur gibt es nicht zwei Seiende, die einander vollkommen gleichen. Auch hier zeigt sich die Vorgehensweise von Leibniz, die wir bei ihm schon mehrfach angetroffen haben. Zwar handelt die 1. Ontologische These vom substanziellen Sein und die 2. vom phänomenalen Seienden. Diese Reihenfolge der Sätze könnte meinen lassen, Leibniz gehe aus vom Sein und dann über zum Seienden. Doch es verhält sich umgekehrt. Was die 1. ontologische These besagt, kann nur gesagt werden, weil Leibniz schon vom Bedenken des phänomenalen Seienden herkommt. In dieser Reihenfolge müssen wir den 9. Abschnitt durchdenken.
§ 8 Die Wesensbeschaffenheiten der Monaden75
In der Natur gibt es niemals zwei Seiende, die einander vollkommen gleichen. Jedes Seiende in der Natur, in der raum-zeitlich-materiellen Körperwelt, unterscheidet sich von jedem anderen. Zwar gibt es viele Seiende, die auf den ersten Blick hin völlig gleich scheinen. Bei genauerem Hinsehen aber läßt sich doch der eine oder andere Unterschied ausmachen. Leibniz formuliert damit sein Prinzip der strengen Individualität, das als Prinzip das endliche Seiende im Ganzen bestimmt. Jeder Körper und Körperteil ist ein streng individueller, einmaliger, der sich nirgends in der Natur wiederholt. Diese strenge Individualität im Reiche des phänomenalen Seienden bedarf jedoch einer Begründung aus dem substanziellen Sein. Die Individualität im Seienden kann aber nur seinsmäßig begründet werden, wenn auch und zuerst das substanzielle Sein vom Prinzip der Individualität bestimmt ist. Nicht nur gibt es unter den einfachen Substanzen unterschiedliche Beschaffenheiten, sondern jede einfache Substanz, jede Monade, ist individuell verschieden von jeder anderen. Jede einfache Substanz hat eine einmalige, unwiederholbare, individuelle Wesensbeschaffenheit. Jede Monade unterscheidet sich in ihrer Wesensbeschaffenheit von jeder anderen Monade, so, daß es nicht zwei gleiche Monaden gibt. Die Individualität der Monaden, der monadischen Wesensbeschaffenheiten, ist die seinsmäßige Ermöglichung der Individualität des raum-zeitlich-materiellen Seienden. Weil es im Reich des Seienden (Natur) nicht einmal zwei völlig gleiche Seiende gibt, – weil sich jedes raum-zeitlich-materielle Seiende von jedem anderen unterscheidet, müssen sich auch die dem Seienden seinsmäßig zugrundeliegenden Monaden durchgehend voneinander unterscheiden. Bei jedem raum-zeitlich-materiellen Seienden ließe sich ein Unterschied auch zu jenem anderen, dem es scheinbar völlig gleich ist, entdecken. Dieser Unterschied gründet aber in einem „inneren Unterschied“ (difference interne), d. h. in einem Unterschied in den Wesensbeschaffenheiten der Monaden. Jede Monade ist eine individuelle, ein individuelles substanzielles Sein, dessen Individualität in seiner Wesensbeschaffenheit beschlossen liegt. Die strenge Individualität des monadischen Seins als der monadischen Wesensbeschaffenheiten begründet ontologisch die strenge Individualität im Reich des raum-zeitlich-materiellen Seienden. In der Vorrede zu den „Neuen Abhandlungen über den menschlichen Verstand“1 formuliert Leibniz sein Prinzip der Individualität so: Infolge der geringsten und deshalb nicht sogleich bemerkbaren Verschiedenheiten können zwei Individuen, zwei individuelle Seiende und deren einfache Substan1 G.W. Leibniz, Philosophische Werke. Dritter Band: Neue Abhandlungen über den menschlichen Verstand. Ins Deutsche übersetzt, mit Einleitung, Lebensbeschreibung des Verfassers und erläuternden Anmerkungen versehen von C. Schaarschmidt. Zweite Auflage Felix Meiner Verlag 1904, S. 14 und S. 15.
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Drittes Kapitel: Das substanzielle Wesen der Monaden
zen, nicht vollkommen gleich sein. Sie unterscheiden sich daher nicht nur durch die bloße Zahl, sondern durch die individuelle Bestimmtheit ihrer Realität. Der Unterschied zwischen zwei Individuen ist stets mehr als ein bloß numerischer. Das gilt zuerst für die Monaden. Keine Monade unterscheidet sich von einer anderen Monade des körperlich Seienden durch die bloße Zahl. Sie unterscheidet sich vielmehr von jeder anderen Monade durch ihre individuelle Wesensbeschaffenheit. Und weil sich das monadische Sein von jedem anderen monadischen Sein individuell unterscheidet, unterscheidet sich auch das phänomenale Seiende dieses monadischen Seins von jedem anderen phänomenalen Seienden nicht nur der Zahl nach, sondern seiner phänomenalen Realität nach.
§ 9 Das innermonadische Prinzip der Veränderung Nachdem der 8. und 9. Abschnitt die Monaden hinsichtlich ihrer Wesensbeschaffenheiten thematisiert haben, und zwar so, daß sich jede Monade aufgrund ihrer Wesensbeschaffenheit von jeder anderen Monade unterscheidet, wird in den Abschnitten 10 und 11 die Veränderung in den Monaden behandelt. Die Veränderungen der Monade gehören zu ihrer Wesensbeschaffenheit. Die individuelle Wesensbeschaffenheit einer Monade schließt ihre Veränderung ein. Daß den Wesensbeschaffenheiten der Monaden Veränderung eignet, wird wieder im Ausgang vom phänomenalen Seienden gedacht. Der 10. Abschnitt der „Monadologie“ umfaßt drei ontologische Thesen. 1. Jedes endliche Seiende unterliegt der Veränderung. 2. Jede endliche Monade unterliegt der Veränderung. Die Veränderung in jeder Monade geschieht kontinuierlich. In der 1. ontologischen These beginnt Leibniz einmal umgekehrt – nicht mit der Monade, sondern mit dem phänomenalen Seienden des monadischen Seins. Dieser Ausgang entspricht der Vorgehensweise im Denken der Monaden. Diese Vorgehensweise ist dadurch bestimmt, daß das Denken stets ausgeht vom phänomenalen Seienden, an diesem einen phänomenalen Charakter ausmacht, um danach Ausschau zu halten, wie dieser phänomenale Charakter des Seienden zu gründen sei aus dem substanziellen, monadischen Sein. Jedes endliche Seiende, das als endliches den Grund seines Seins nicht in sich selbst hat, unterliegt der Veränderung. Jedes phänomenale Seiende hat nicht nur eine individuelle Realität, sondern mit dieser befindet es sich in Veränderungen mannigfacher Art. Wie die 2. ontologische These sagt, haben die phänomenalen Veränderungen ihren Seinsgrund in den Wesensbeschaffenheiten und deren Veränderung. Weil jedes endliche Seiende der Veränderung unterworfen ist, das
§ 9 Das innermonadische Prinzip der Veränderung77
endliche Seiende aber seinen Seinsgrund in den Monaden hat, gehört zu den individuellen Wesensbeschaffenheiten der Monaden Veränderung. Wir erinnern uns, daß erstmals im 7. Abschnitt der „Monadologie“ von Bewegungen in der Monade die Rede war. Von diesen Bewegungen wurde gesagt, daß sie nicht von außen hervorgerufen, geleitet, vermehrt oder vermindert werden können. Im 7. Abschnitt sollte dadurch die Fensterlosigkeit der Monaden charakterisiert werden. Wenn die Monade durch eine innere Bewegung verfaßt ist, hat diese Bewegung ihre Quelle nur im Inneren der Monade. Doch im 7. Abschnitt sollte die innere Bewegung der Monaden noch nicht näher gekennzeichnet werden, weil es dort nur um die Sicherung des wahren Einheitscharakters der Monade ging. Jetzt aber im 10. Abschnitt wird, nachdem sich der Blick dem substanziellen Wesen zugewandt hat, auch die innermonadische Bewegung oder Veränderung thematisch. Doch die innermonadische Veränderung wird einen gänzlich anderen Charakter haben als die von diesen Veränderungen gegründeten phänomenalen Veränderungen des phänomenalen Seienden. Der Unterschied, der zwischen den innermonadischen Veränderungen und den phänomenalen Veränderungen waltet, gehört in den metaphysischen Unterschied von substanziellem Sein und dem Seienden dieses Seins. Von dieser innermonadischen Veränderung heißt es in der 3. ontologischen These des 10. Abschnitts, sie geschehe in jeder Monade kontinuierlich (continuel). Damit ist zweierlei gesagt: 1. die innermonadische Veränderung geschieht nicht abgesetzt, unterbrochen, sprunghaft, sondern ohne Absetzung, ohne Unterbrechung, ohne Sprung – also kontinuierlich. 2. ist damit zugleich gesagt, daß die innermonadische Veränderung nicht gelegentlich, sondern fortwährend geschieht. Die Wesensbeschaffenheiten der einfachen Substanzen halten sich in einer ununterbrochenen, kontinuierlich geschehenden Veränderung. Auf diesen ontologischen Gedanken der kontinuierlichen Veränderung, der Kontinuität der innermonadischen Veränderung, legt Leibniz besonderen Wert. In der schon erwähnten Vorrede zu den „Neuen Abhandlungen über den menschlichen Verstand“ heißt es: „Nichts geschieht auf einen Schlag; und es ist einer meiner wichtigsten und entschiedensten Grundsätze, daß die Natur niemals Sprünge macht. Ich habe dies das Kontinuitätsgesetz genannt.“2 Aus dieser Textstelle geht auch hervor, daß die Kontinuität nicht nur die innermonadische Veränderung betrifft, sondern mit dieser auch die Veränderung in der phänomenalen Natur. Leibniz spricht vom Kontinuitätsgesetz. Weil die Veränderung der monadischen Wesenheiten keine Sprünge 2 G. W. Leibniz, Neue Abhandlungen über den menschlichen Verstand (1904), S. 13.
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Drittes Kapitel: Das substanzielle Wesen der Monaden
macht, vielmehr kontinuierlich geschieht, geschehen auch die Veränderungen im phänomenalen Seienden kontinuierlich. Selbst dort, wo uns Stillstand zu herrschen scheint, handelt es sich in Wahrheit um ein ständiges In- Veränderung-stehen der phänomenalen Körperwelt. Gerade weil es sich nicht um sprunghafte Veränderungen, sondern um kontinuierliche Übergänge ohne Sprung handelt, meinen wir, auch vorübergehenden Stillstand zu bemerken. Der 11. Abschnitt der „Monadologie“ schließt direkt an den Gedanken des 10. Abschnittes an und besteht nur aus einer ontologischen These: Die Veränderungen in den Monaden kommen aus einem inneren Prinzip. Aus allem, was insbesondere in der ersten gedanklichen Einheit über den wahren Einheitscharakter der Monaden ausgeführt wurde, kann die Quelle für die inneren Veränderungen der Monade nicht außerhalb ihrer Einheit, sondern nur in ihr selbst liegen. Würde der Ursprung der innermonadischen Veränderungen außerhalb der Monade liegen, würde ihr wahrer Einheitscharakter aufgehoben. In jeder individuellen Monade liegt das Prinzip ihrer inneren Veränderung. Das bedeutet nun: Die Veränderung in den individuellen Monaden ist eine kontinuierliche Selbstveränderung. Die Wesensbeschaffenheit einer Monade steht in unablässiger Selbstveränderung. Die Monaden sind mit ihrem individuellen substanziellen Wesen, ihrer individuellen Wesensbeschaffenheit, sich aus sich selbst verändernde Einheiten. Jede Monade durchläuft die Reihe ihrer selbsttätigen Veränderungen. Wenn die individuell verfaßten Wesensbeschaffenheiten der Monaden aus einem inneren Prinzip heraus sich kontinuierlich selbst verändern, dann deutet sich mit dieser inneren Selbstveränderung das ursprüngliche Kraftwesen der Wesensbeschaffenheiten an. Leibniz verweist im 11. Abschnitt auf die §§ 396 und 400 der „Théodicée“. Eine hilfreiche Erläuterung für das im 11. Abschnitt Gesagte finden wir im § 400. Dort heißt es: „Nach mir muß jede einfache Substanz (d. h. jede wahrhafte Substanz) die wahrhafte unmittelbare Ursache alles ihres inneren Handelns und Leidens sein, und streng metaphysisch gesprochen, gibt es kein anderes Handeln und Leiden, als das, welches sie selbst hervorbringt“.3 Jede einfache Substanz, jede Monade, ist der wahrhafte unmittelbare Ursprung aller inneren Bewegung. In der Monade gibt es nur Veränderung, die sie selbst aus dem Prinzip ihrer eigenen Wesensbeschaffenheit hervorbringt.
3 G. W.
Leibniz, Die Theodizee (1879), § 400, S. 410.
§ 10 Das innermonadische Prinzip der Individuation79
§ 10 Das innermonadische Prinzip der Individuation Im 10. und 11. Abschnitt der „Monadologie“ wurde das Prinzip der innermonadischen kontinuierlichen Selbstveränderung thematisiert. In den Abschnitten 12 und 13 (Textgrundlage unseres § 10) sagt Leibniz, daß und wie die innermonadische Selbstveränderung als innermonadische Individuation geschieht. Der Abschnitt 12 enthält zwei ontologische Thesen. 1. Es gibt in der Monade außer der kontinuierlichen Selbstveränderung eine Besonderheit des Sichverändernden. 2. Durch diese Besonderheit wird die Besonderung, die Mannigfaltigkeit der einfachen Substanzen bewirkt. Die Besonderheit des Sichverändernden (detail de ce qui change) meint die Eigentümlichkeit im Sinne der Individualität der Wesensbeschaffenheit der einfachen Substanz. Da aber die Wesensbeschaffenheit der Monade keinen statischen, sondern einen dynamischen Charakter hat, sofern sie sich kontinuierlich verändert, ist auch die Besonderheit, die Individualität der monadischen Wesensbeschaffenheit dynamischer Natur. Die innermonadische Besonderheit ist somit eine geschehenshafte Besonderung (specification). Die innermonadische Individualität ist selbsttätige Individuierung. Die innermonadische Besonderung geschieht als selbsttätige Vereinzelung, wodurch sich eine jede Monade von jeder anderen unterscheidet. Die innermonadische Besonderung geschieht als innermonadische Selbstunterscheidung. Mit dem substanziellen Wesen kommt zur unteilbaren Einheit der Individualitätscharakter hinzu: daß jede einfache Substanz, jedes monadische substanzielle Wesen, ein individuelles Wesen ist, das sich von jeder anderen individuellen Monade unterscheidet. Leibniz spricht in diesem Zusammenhang vom principium individuationis oder vom principium specificationis absolutae. Absolute Spezifikation besagt: daß jede Monade ein Einzelwesen im strengsten Sinne ist. Das innermonadische Prinzip der Selbstbesonderung bewirkt die äußerste Mannigfaltigkeit (varieté), so, daß jede Monade ein unvergleichbares Individuum ist, ein einmaliges individuelles Sein. Wie aber geschieht die Selbstveränderung als Selbstbesonderung? In der Selbstveränderung durchläuft die Monade in ihrer Wesensbeschaffenheit eine kontinuierliche Reihe von Veränderungszuständen. Jeder vorübergehende Veränderungszustand ist der individuelle Zustand der individuellen Wesensbeschaffenheit einer Monade. Die Individualität einer Monade wirkt sich in jedem individuellen Selbstveränderungszustand aus. Die monadische Substanz ist in ihrer Wesensbeschaffenheit ein einmaliges Individuum in der Weise der dynamischen Selbstbesonderung, Selbstindividuierung.
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Drittes Kapitel: Das substanzielle Wesen der Monaden
Der dynamische Charakter der Selbstindividuierung zeigt sich darin, daß die Monade in jedem neuen Veränderungszustand auf eine neue Weise individuelle Substanz ist. Der Individualitätscharakter der Monaden gehört zu ihren Selbstveränderungen. Die individuelle Monade ist Individuum nur in der Weise eines jeweiligen individuellen Veränderungszustandes. Aber alle durchlaufenen individuellen Veränderungszustände sind solche der einen Monade, deren Individualität sich ausfaltet in die Folge der individuellen Veränderungszustände. Damit nähern wir uns der Vielheit der individuellen Veränderungszustände in der Einheit der einfachen Substanz. Das ist der Gehalt des 13. Abschnittes. Dieser Abschnitt besteht aus drei Aussagen. 1. Die Besonderung des Sichverändernden in der Monade schließt notwendig eine Vielheit in der Einheit oder im Einfachen ein. 2. Jede natürliche Veränderung geschieht gradweise, so daß einiges sich verändert und einiges bleibt. 3. In der einfachen Substanz muß es daher eine Vielzahl von Beschaffenheiten und Beziehungen geben, ohne daß sie dadurch aus Teilen bestünde. Die 1. These spricht von der Monade, die 2. blickt auf die phänomenalen Körper, die 3. handelt wieder von der einfachen Substanz. Nachdem im 12. Abschnitt das innermonadische Prinzip der Besonderung eingeführt ist, wird jetzt gesagt, daß die sich besondernde individuelle Substanz notwendig eine Vielheit in ihrer Einheit einschließt. Diese Vielheit ist die der in der Selbstveränderung durchlaufenen Zustände. Jede Monade durchläuft eine unendliche Reihe von individuellen Veränderungszuständen. Diese Reihe bildet insgesamt ein einziges Individuum. Im Durchlaufen ihrer individuellen Veränderungszustände bleibt die einfache Substanz die Selbe, bewahrt sie ihre Identität. Wenn in der 2. These der Blick sich von der einfachen Substanz zum zusammengesetzten phänomenalen Körper wendet, dann soll das, was vom monadischen Sein gesagt werden soll, im Ausgang vom phänomenalen Seienden in den Blick genommen werden. In der 2. These ist die Rede von der „natürlichen Veränderung“. Gemeint ist die Veränderung in der Natur, im Reiche der phänomenalen Körper. Die natürlichen Veränderungen der Körper geschehen gradweise. In jeder natürlichen Veränderung gibt es solches, das sich verändert, und anderes, das unverändert bleibt. Die 3. These beginnt mit „folglich“. Sie folgert aus der natürlichen Veränderung der Körper, daß in den einfachen Substanzen eine Vielzahl von Bestimmungen und Beziehungen enthalten sein müsse. Diese Vielzahl ist die der innermonadischen kontinuierlichen Veränderungszustände. Jede Monade ist in jedem ihrer individuellen Selbstveränderungszustände eine unteilbare Einheit einer inneren Vielheit. Aber jeweils ist nur ein Veränderungszustand. Die Monade verändert sich von Zustand zu Zustand, so, daß
§ 11 Die innermonadischen Tätigkeiten des Strebens und Perzipierens81
sie sich je in einem Zustand hält. Die Monade schließt in ihrem jeweiligen Veränderungszustand eine Vielheit ein – die schon durchlaufenen und die erst noch zu durchlaufenden Selbstveränderungszustände. Daraus wird ersichtlich, daß die Monade nicht nur der jeweils aktuelle Selbstveränderungszustand ist, sondern die Einheit aller ihrer Veränderungszustände, die insgesamt zu ihrem individuellen substanziellen Wesen gehören. Worin besteht nun aber das individuelle Wesen einer Substanz, die substanzielle Beschaffenheit der Monade? Welcher Art ist der vorübergehende Veränderungszustand einer Monade? Die Antwort auf diese Frage geben die Abschnitte 14–17. Sie zeigen, daß das substanzielle Wesen der Monaden in ihren inneren Kräften und Tätigkeiten besteht: in den ursprünglichen Kräften des Strebens und des Vorstellens, der Appetitionen und der Perzeptionen.
§ 11 Die innermonadischen Tätigkeiten (Kräfte) des Strebens und des Perzipierens Der 14. Abschnitt führt die ursprüngliche Kraft des Perzipierens ein, die substanzielle Vorstellungskraft, der 15. Abschnitt nennt die ursprüngliche Kraft der Appetition, die substanzielle Kraft des Strebens. Der 14. Abschnitt enthält sieben ontologische Thesen. Von diesen gehören die 1. und die 2. enger zusammen, und die übrigen fünf bilden eine Einheit. Die 1. und 2. These gelten der ursprünglichen Kraft des Perzipierens. Die 1. These besagt: Der vorübergehende Veränderungszustand der einfachen Substanz, der eine Vielheit in der Einheit vorstellt, d. h. repräsentiert, ist die Perzeption. Die 2. These sagt: Die innermonadische Perzeption muß von der Apperzeption oder dem Bewußtsein unterschieden werden. Die fünf weiteren ontologischen Thesen stellen mit Blick auf die Überlieferung und Leibnizens Vorgänger das heraus, was folgen würde, wenn das Perzipieren nicht als das substanzielle Wesen der Monaden gesehen würde. Die 3. These: Die Cartesianer haben die Perzeptionen ohne Selbstbewußtsein für keine Perzeptionen gehalten. Die 4. These: Für die Cartesianer sind nur die Geister unteilbare Substanzen, so, daß es für sie keine Tierseelen und keine anderen Entelechien gibt. Die 5. These: Die Cartesianer haben eine langandauernde Betäubung mit dem Tod verwechselt. 6. These: Die Cartesianer sind dem scholastischen Vorurteil verfallen, daß es auch gänzlich körperlose Seelen gebe. 7. These: Gewisse übelberatene Geister sprechen sogar von der Sterblichkeit der Seelen. Im 13. Abschnitt hieß es das erste Mal, daß die sich selbst individuierende einfache Substanz in jedem Veränderungszustand eine Vielheit von Be-
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Drittes Kapitel: Das substanzielle Wesen der Monaden
schaffenheiten und Beziehungen in sich einschließt. Daran anschließend sagt nun die 1. These des 14. Abschnittes, daß jeder vorübergehende Zustand (état passager) eine Vielheit (multitude) in der Einheit (unité) einschließt (enveloppe) und repräsentiere (represente). Die Weise, wie der jeweils vorübergehende Zustand eine Vielheit in der monadischen Einheit einschließt und einbegreift, wird erstmals ein „repraesentieren“ genannt, d. h. ein Vorstellen. Wenn die substanzielle Beschaffenheit der Monade ursprüngliche Kraft (vis primitiva) in der Weise der Selbsttätigkeit ist, dann zeigt sich diese Kraft nunmehr als Kraft des Vorstellens, als Vorstellungskraft. Der vorübergehende Zustand in der Monade wird deshalb von Leibniz Perception genannt. Die innermonadische Kraft ist das Vermögen (virtus) des selbsttätigen Repräsentierens, Vorstellens oder Perzipierens. Und weil die Kraft des selbsttätigen Perzipierens ein kontinuierliches Sichverändern ist in der Weise von Veränderungszuständen, spricht Leibniz vom Perzep tionszustand oder Vorstellungszustand oder perzeptivem Zustand. In jedem innermonadischen Veränderungszustand wird eine Vielheit von Beschaffenheiten und Beziehungen repraesentiert oder perzipiert. Die Selbstständigkeit der innermonadischen Veränderung ist Tätigkeit des Perzipierens. Die perzipierende Kraft ist imstande, eine Vielheit in der Einheit des je erreichten Vorstellungszustandes vorzustellen. Der jeweils erreichte Vorstellungszustand, die jeweils erreichte Perzeption, ist die jeweilige individuelle Einheit des gegenwärtigen Zustandes mit den schon durchlaufenen und den noch zu durchlaufenden Zuständen. In der jeweiligen Perzeption ist die Vielheit der substanziellen Beschaffenheiten geeint als Perzeptionszustand. Die Monade verändert sich, indem in ihr kontinuierlich ein Perzep tionszustand auf einen anderen folgt. In der Folge dieser Perzeptionszustände bleibt die perzipierende Monade dieselbe. Im Wandel ihrer Perzeptionszustände bewahrt sie ihre Identität. Durch welche Überlegung kommt Leibniz dazu, das substanzielle Wesen der Monaden als perzeptive Tätigkeit zu bestimmen? Auf diese wichtige Frage antworten wir jetzt in einer Reihe von durchgezählten Antwortschritten. 1. Leibniz sucht in seiner Metaphysik vom substanziellen Sein des phänomenalen Seienden ein einheitliches Prinzip alles Seins. Er sucht einen einheitlichen Begriff vom substanziellen Wesen, durch den das substanzielle Wesen aller unterschiedlichen Bereiche des phänomenalen Seienden einheitlich bestimmt ist. 2. Das von Leibniz gesuchte, das Ganze des Seienden einheitlich bestimmende substanzielle Wesen muß aber zugleich den Charakter der unteilbaren Einheit, muß also monadischen Charakter haben. Die unteilbare Einheit ist für ihn unabdingbares Konstituens des wahren substanziellen Seins.
§ 11 Die innermonadischen Tätigkeiten des Strebens und Perzipierens83
3. Das eigentliche substanzielle Wesen kann für Leibniz nicht die Gestalt der einen einzigen Substanz haben wie bei Spinoza, der seinerseits auch die Unteilbarkeit der Substanz, der einzigen Substanz fordert. Vielmehr – so können wir sagen – hält Leibniz mit Descartes an der Vielzahl der Substanzen fest. Für Leibniz müssen die vielen Substanzen unteilbar und zugleich miteinander verwandt sein durch ein einheitliches substanzielles Wesen. Die Forderung eines einheitlichen substanziellen Wesens ist gegen Descartes und die Cartesianer gerichtet, die ein zweifaches substanzielles Wesen ansetzen: cogitatio und extensio. 4. Für Leibniz offenbart sich nun das substanzielle Wesen der Substanz in der Selbsterfahrung des eigenen Ich und Bewußtseins. Das eigene ichliche Bewußtsein wird im Wandel seiner Vorstellungen erfahren als unteilbare identische Einheit. Mein ichliches Bewußtsein entspricht der ontologischen Forderung nach einer unteilbaren Einheit, die zugleich den Wandel von Bestimmungen einschließt. Wenn das Selbstbewußtsein keine ontologische Ausnahme im Universum des Seienden ist, – wenn das substanzielle Wesen des Menschen in einer ontologischen Verwandtschaft steht mit dem substanziellen Wesen alles Seienden, dann muß sich im Selbstbewußtsein zugleich das einheitliche substanzielle Wesen alles Seienden bekunden. Das einheitliche substanzielle Wesen für alles Seiende ist zwar nicht das selbstbewußte Vorstellen, wohl aber die Vorstellung ohne Selbstbewußtsein. Was sich in mir als bewußte Vorstellung zeigt, ist für Leibniz in unbewußter Form das substanzielle Wesen alles anderen Seienden. In diesem Sinne lautet die 2. These aus dem 14. Abschnitt: Die Perzeption als der jeweilige innermonadische Veränderungszustand muß von der Apperzeption oder dem Bewußtsein im Sinne des Selbstbewußtseins (con science) unterschieden werden. Damit wird etwas Entscheidendes deutlich: Das substanzielle Wesen als Perzeptionskraft gewinnt Leibniz mit Blick auf die von Descartes angesetzte substantia cogitans. Die von Descartes gefundene absolut unbezweifelbare substantia cogitans wird für Leibniz Paradigma einer einfachen Substanz, die eine unteilbare Einheit ist. Ferner wird die substantia cogitans Descartes’ für Leibniz zum Paradigma des substanziellen Wesens überhaupt. Dagegen haben, wie die 3. These des 14. Abschnittes sagt, die Cartesianer die Perzeptionen ohne Bewußtsein für keine Perzeptionen gehalten. Die cogitatio wurde von Descartes im § 48 der „Prinzipien der Philosophie“ gegliedert nach perceptio und volitio. Diese innere Gliederung der cogitatio hat Leibniz vor Augen, wenn er das substanzielle Wesen der Monaden, ihre substanziellen Kräfte, als Perzeption und Appetition bestimmt. Die perceptio aus der substantia cogitans wird für Leibniz zum Paradigma des substanziellen Wesens nicht nur des Menschen, sondern alles Seien-
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Drittes Kapitel: Das substanzielle Wesen der Monaden
den vom Körper über das pflanzliche und tierische Lebewesen bis hin zum Menschen. Leibniz denkt außer der selbstbewußten perceptio, die als apperception das substanzielle Wesen nur des Menschen ist, auch eine perceptio ohne Selbstbewußtsein. Die Kraft des Perzipierens ist das einheitliche substanzielle Wesen des Seienden aller Bereiche, während die bewußte Perzeption die besondere Perzeptionsstufe des Menschen ist. Daß Leibniz das einheitliche substanzielle Wesen für das Universum des phänomenalen Seienden im Ausgang von der Selbsterfahrung des Menschen als eines selbstbewußten Vorstellens findet, läßt sich als das Problem des „ontologischen Leitfadens“ (Martin Heidegger)4 kennzeichnen. Findet Leibniz das allgemeine substanzielle Wesen im Ausgang von der Selbsterfahrung des eigenen ichlichen Vorstellens, so darf diese Vorgehensweise nicht als Vermenschlichung des Seienden im Ganzen abgetan werden. Leibniz sagt nicht, das substanzielle Wesen eines jeden Seienden sei Selbstbewußtsein und in diesem Sinne Subjekt. Vielmehr gewinnt er nur am Selbstbewußtsein eine Seinsstruktur, die nicht die Ichlichkeit meint und daher frei ist von der Ichlichkeit und die als solche das substanzielle Wesen aller Seinsbereiche ist. Zur 4. These des 14. Abschnittes: Die Verkennung der nicht bewußten Perzeptionen in der menschlichen Monade habe Descartes und haben die Cartesianer behaupten lassen, daß nur „die Geister“, nur die Geistverfassung des Selbstbewußtseins des Menschen, Monaden seien. Monaden sind unteilbare Substanzen, deren substanzielles Wesen die Perzeptionstätigkeit ist. Wenn – wie für Descartes – die Perzeptionen nur bewußte sind, kann er nur den Geist, nur die geistige Substanz als wahre unteilbare Substanz ansetzen. Wenn Descartes die Perzeptionstätigkeit mit dem Selbstbewußtsein verbindet, kann er keine „Tierseelen und andere Entelechien“ als substanzielles Wesen der tierischen Lebewesen und der nichtlebendigen Körperwelt anerkennen. „Tierseelen“ sind für Leibniz die monadischen Substanzen der Tiere, deren substanzielles Wesen nicht bewußte Perzeptionen sind, die aber den Charakter von sinnlicher Empfindung haben. Unter den „anderen Entelechien“ versteht Leibniz die monadischen Substanzen der raum-zeitlich-materiellen Körperwelt, die für ihn ebenfalls ihr substanzielles Wesen in der Weise von Perzeptionstätigkeit haben, aber ohne sinnliche Empfindung. Spricht Leibniz hier von Entelechien, dann wird daran erinnert, daß jede Monade in ihrem substanziellen Wesen der Perzeptionstätigkeit Entelechie, Selbsttätigkeit und Selbstentfaltung ist. Die Perzeptionstätigkeit einer jeden 4 M. Heidegger, Metaphysische Anfangsgründe der Logik im Ausgang von Leibniz. Marburger Vorlesung Sommersemester 1928. Gesamtausgabe Band 26. Hrsg. von K. Held. V. Klostermann Frankfurt am Main 1978, S. 106.
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Monade, gleich welcher Stufe im Monadenreich, hat die Quelle ihrer Tätigkeit in sich selbst. In der Sichtweise von Leibniz hat Descartes das pflanzliche und tierische Leben, den lebendigen Organismus, nicht als ein eigenständiges substanzielles Wesen im Unterschied zur geistigen Substanz des Menschen und zur Substanz der Körper erkannt. Er hat vielmehr das pflanzliche Leben und den tierischen Organismus rein mechanistisch gedeutet im Sinne der Maschinentheorie. Diese faßt das Leben als Maschine auf. Nach der mechanistischen Deutung des gesamten Naturgeschehens ist auch das nicht bewußte Leben nach dem Verhältnis von Ursache und Wirkung bestimmt. Diese Deutung heißt Maschinentheorie, weil das Leben als Maschine verstanden wird, die ein aus Teilen Zusammengesetztes ist, welche Teile untereinander im Verhältnis von Ursache und Wirkung stehen und diesem Verhältnis gemäß bewegt werden. Zur 5. These des 14. Abschnittes: Die Leugnung von Perzeptionen ohne Bewußtsein durch Descartes hat ihn selbst und hat die Cartesianer dazu geführt, „eine langdauernde Betäubung mit dem Tod im eigentlichen Sinne zu verwechseln“. Hier gibt Leibniz eine ontologische, eine monadologische Deutung dessen, was wir den Tod nennen, den Tod als das Ende des menschlichen Lebens. Weil die Cartesianer keine vorstellenden Tätigkeiten ohne Selbstbewußtsein kennen, haben sie jenen Zustand des Menschen, in welchem dieser nicht nur das Selbstbewußtsein, sondern auch die organische Lebensäußerung eingebüßt hat, als Tod im strengen Sinne genommen. Hierin – fügt Leibniz hinzu – befinden sie sich in Übereinstimmung mit der populären Ansicht. Zu meinen, wenn die Lebensäußerung und das Selbstbewußtsein schwinden, der Mensch höre damit gänzlich auf zu leben, bzw. zu sein, ist für Leibniz eine populäre, eine vorphilosophische Meinung, die unbegründet ist. Denn weil es für Leibniz auch einen Perzeptionszustand gibt ohne Selbstbewußtsein und ohne Lebensäußerung – wie bei den materiellen Körpern –, ist das, was man gemeinhin als Tod bezeichnet, für ihn nur ein anderer, niedrigerer Perzeptionszustand der menschlichen Monade. Während der Zustand der Bewußtlosigkeit eine kurz dauernde Betäubung ist, faßt Leibniz den Zustand des Todes als eine langdauernde Betäubung. Die Cartesianer haben den Übergang des lebenden Körpers in den leblosen als Tod im strengen Sinne aufgefaßt, nicht aber – wie Leibniz – als einen Übergang der deutlicheren Perzeptionen in weniger deutliche, in dumpfe Perzeptionen. Zur 6. ontologischen These: Wenn mit der cartesianischen Auffassung des Todes dennoch die Unsterblichkeit der menschlichen Seele verknüpft ist, dann – so Leibnizens Kritik – hätten sich die Cartesianer dem scholasti-
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schen Vorurteil angeschlossen, daß im Tode die Seele sich vom Körper löse, so, daß die unsterbliche Seele gänzlich körperlos sei. Für Thomas v. Aquin ist die Geistseele des Menschen (forma formarum) nicht wie die Körperseele (forma formans) auf den Körper bezogen. Deshalb hört im Tode nur die Körperseele auf zu existieren, die Geistseele ohne Körper aber bleibt unsterblich. Für Leibniz ist dagegen eine Monade nie ohne Körper, auch nicht die Geistmonade, wenn der Mensch stirbt. Eine gänzlich körperlose Seele (eine körperlose tierische und eine körperlose menschliche Seele) kann es für Leibniz aus Wesensgründen nicht geben. Denn die Seele ist das substanzielle Sein bzw. Wesen des phänomenalen tierischen und menschlichen Körpers, also das substanzielle Sein des phänomenalen Seienden. Wenn das substanzielle Sein nur Sein ist für das von ihm bestimmte und gegründete Seiende, dann gehört zum perzeptiven Sein stets auch das von ihm im Perzipieren getragene Seiende. Auch wenn der sichtbare Körper durch Verwesung zerfällt, ist die tierische und die menschliche Seele nicht gänzlich körperlos. Der Tod ist für Leibniz nur eine Rückbildung der Seelenmonade in eine andere Perzeptionsweise, die jedoch ebenfalls ihren korrespondierenden, freilich unsichtbaren Körper hat. Gemäß der Rückbildung der Perzeptionsweise der seelischen Monade verwandelt sich auch der ihr korrespondierende Körper. Zur 7. ontologischen These: Als letztes weist Leibniz im 14. Abschnitt der „Monadologie“ auf diejenigen hin, die mit dem Tod nicht die Unsterblichkeit der individuellen Seele verbinden, sondern die Sterblichkeit, d. h. den Verlust der individuellen Seele durch den Übergang in die überindividuelle universelle göttliche Substanz. Leibniz denkt hier an den arabischen Aristoteles-Kommentator Averroes (1126–1198). Dieser leugnet die Unsterblichkeit der individuellen Seele, sofern diese nach dem Tod aufgeht in die universelle Substanz des tätigen göttlichen Verstandes. Im 14. Abschnitt hatte Leibniz die monadische Kraft des Perzipierens eingeführt. Im 15. Abschnitt nennt er die zur Kraft des Perzipierens gehörende monadische Kraft der Appetition, des Strebens. Dieser Abschnitt enthält drei ontologische Thesen: 1. Die Tätigkeit des inneren Prinzips, das die Veränderung oder den Übergang von einer Perzeption zu einer anderen bewirkt, heißt Streben. 2. Das Streben gelangt nicht immer vollständig zu der ganzen angestrebten Perzeption. 3. Das im Streben jeweils Erreichte ist ein neuer Perzeptionszustand. Zur 1. These: Die ursprüngliche Kraft der einfachen Substanzen ist sowohl Perzeptions- wie auch Strebenskraft. Bei der Einführung der Perzeptionskraft beantworteten wir schon die Frage, wie es denn komme, daß Leibniz das substanzielle Wesen, die ursprüngliche Kraft (vis primitiva), im
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Perzipieren und im Streben erkennt. Wir wiesen darauf hin, daß Leibniz in der Ansetzung des Perzipierens und des Strebens als innermonadischen Kräften an Descartes orientiert sei, an dessen substantia cogitans und deren innerer Gliederung in perceptio und volitio. In der Ansetzung des Perzipierens und Strebens als ganzheitlichem innermonadischem Kraftwesen, – in diesem nicht unwesentlichen Rückblick auf Descartes ist auch Leibniz Cartesianer. Insofern gibt es auch bei Leibniz trotz seiner Auseinandersetzung mit Descartes so etwas wie einen Cartesianismus. Alle neuzeitliche Philosophie nach Descartes steht im Machtbereich dieses Denkers. Unter Cartesianismus versteht man gemeinhin zwei Grundzüge des cartesianischen Philosophierens: erstens das Selbstbewußtsein als durch Descartes gestiftetes Grundprinzip des neuzeitlichen Philosophierens, zweitens die rein mechanistische Interpretation des organischen Lebens. Diesen zweiten Grundzug weist Leibniz scharf zurück. Aber den ersten Grundzug, das Bewußtsein als das neue Grundprinzip der Philosophie, greift auch Leibniz, freilich in modifizierter Weise, auf. Er greift es so auf, daß auch für ihn das substanzielle Wesen des Menschen das Selbstbewußtsein ist, jedoch in der Modifikation, daß die menschliche Geistmonade nicht nur aus Selbstbewußtsein, sondern auch aus nichtbewußten Perzeptionen gebildet ist. Leibniz greift aber das cartesianische Grundprinzip des Bewußtseins auch insofern auf, als die cogitatio in ihrer zweifachen Gliederung oder Ausfaltung in perceptio und volitio die ontologische Maßgabe bildet für das alle einfachen Substanzen bestimmende substanzielle Wesen. Alle Monaden des gesamten Universums und damit alle Bereiche des Seienden zeigen das gleiche substanzielle Wesen, das Kraftwesen in der Weise der Perzeptionsund Strebenskraft. Was Leibniz appetition, Streben, nennt, geht zurück auf die volitio Descartes’. Für Descartes ist allerdings sowohl jede perceptio wie auch jede volitio bewußter Natur, verfaßt also durch Selbstbewußtsein. Wenn aber Leibniz die volitio als ontologische Maßgabe für einen Wesens charakter des monadischen Kraftwesens aufgreift, denkt er die volitio als appetition auch ohne Bewußtsein. Nur in der monadischen Stufe des Menschen treten die perception und appetition als bewußte auf, während in allen anderen Stufen des monadischen Reiches die Perzeptionen und Appetitionen ohne Bewußtsein sind. In der Bestimmung des monadischen Kraftwesens als die Einheit von Perzeptions- und Strebenskraft erweist sich Leibniz als Cartesianer. Auch wenn seine Kritik an Descartes’ Substanzendualismus von cogitatio und extensio weitgreifend und tiefgreifend ist, knüpft er doch an den entscheidenden Grundzug des cartesischen Philosophierens an. Denn würde Leibniz seine Descartes-Kritik so durchführen, daß er in keiner Hinsicht an Descartes anschlösse, fiele Leibniz aus dem Gang des neuzeitlichen, durch Des-
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Drittes Kapitel: Das substanzielle Wesen der Monaden
cartes’ Grundprinzip der cogitatio bestimmten Philosophie heraus. Aber alle Philosophie nach Descartes – auch der englische Empirismus von Locke, Berkeley und Hume – knüpft auf irgendeine Weise an das neuzeitliche Grundprinzip der Philosophie an. Worin besteht nun die monadische Kraft des Strebens? Wie geht diese monadische Strebenskraft zusammen mit der monadischen Perzeptionskraft? Das Streben ist die Tätigkeit (l’action) desjenigen inneren Prinzips (principe interne), das die Veränderung (changement) bewirkt. Das Streben bewirkt die innermonadische Veränderung insofern, als es den Übergang (le passage) von einer Perzeption zu einer anderen bewirkt. Innermonadische Bewegung ist innermonadische Veränderung, von der wir wissen, daß sie das substanzielle Wesen, der substanzielle Grund, für die phänomenalen Körper und deren Bewegungen ist. Das substanzielle Wesen ist Kraft des Perzipierens. Dieses geschieht jeweils in einem Perzeptionszustand. Aber dieser Zustand ist nicht statisch, sondern dynamisch und stetig, d. h. ein kontinuierlich übergehender Perzeptionszustand in immer neue Perzeptionszustände. Das Streben ist die Tätigkeit der innermonadischen Veränderung, des Übergehens von einem Perzeptionszustand in einen anderen. Jede individuelle Substanz ist in sich, ist aus sich heraus kontinuierlich strebend, d. h. drängend von einem Perzeptionszustand in den folgenden. Was Leibniz hier appetition nennt (lat. appetitus = das Verlangen) nennt er anderenorts auch tendence, conatus agendi oder nisus: Drang des Tätigseins, aber Tätig sein im Sinne des strebenden Übergehens.5 Denn die Perzeptionskraft ist auch eine innere Tätigkeit, aber nicht des Übergehens und nicht des Veränderns, sondern des zuständlichen Vorstellens. Was Leibniz hier in der „Monadologie“ die Appetition nennt, ist dasselbe wie der in der Emendationsschrift genannte conatus bzw. nisus. Veränderung, innermonadische Bewegung im Sinne der Veränderung, heißt: kontinuierlicher Übergang von einem Perzeptionszustand in den anderen. Jetzt sehen wir, wie die monadische Kraft des Vorstellens und die des Strebens zusammengehen. Weil das Vorstellen keinen vorübergehenden Stillstand kennt, geht das Streben mit dem Vorstellen einher. Wir müssen deshalb sagen: Das Perzipieren ist zugleich strebend, das Streben ist zugleich perzipierend. Die monadische Kraft ist in sich ein strebendes Perzipieren und perzipierendes Streben. Zur 2. und 3. ontologischen These: In der 2. und 3. These des 15. Abschnittes weist Leibniz darauf hin, daß das innermonadische Streben und Drängen ein gehemmtes sei. Es gehört zum strebenden Perzipieren und 5 Vgl. M. Heidegger, Metaphysische Anfangsgründe der Logik im Ausgang von Leibniz. a. a. O., S. 102.
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perzipierenden Streben, daß die jeweils erstrebte Perzeption nicht gänzlich zu dem gelangt, wonach sie strebt. Das perzipierende Streben ist gehemmt – das heißt nicht, daß es gelegentlich aussetzt, sondern besagt nur, daß das Streben nicht ungehemmt zu dem gelangt, was es jeweils als Perzeptionszustand erstrebt. Das Streben erreicht nur etwas von dem in ihm angelegten Erstrebten, und das jeweils Erreichte ist der Perzeptionszustand. Dieser heißt zugleich Veränderungszustand, weil sich die Monade in diesem jeweils erreichten Perzeptionszustand verändert gegenüber dem vorangehenden Perzeptionszustand. Die zur Strebenskraft gehörende Hemmung ist das, was wir in der Schrift „Specimen Dynamicum“ als die vis primitiva passiva kennengelernt haben: die ursprüngliche Kraft des Leidens. Die substanzielle Kraft ist in einem zumal vis primitiva activa und vis primitiva passiva. Das zur substanziellen Kraft gehörende Leiden ist das Erleiden der inneren Hemmung. Aber die ursprüngliche Leidenskraft der Hemmung gehört zur ursprünglichen Kraft der Selbsttätigkeit, zur vis primitiva activa. Die ursprüngliche selbsttätige Kraft ist sowohl die Kraft des Vorstellens (Perzipierens) wie die Kraft des Strebens. Denn sowohl das Perzipieren wie das Streben sind Äußerungen der Selbsttätigkeit, der vis primitiva activa. Aber mit dieser Selbsttätigkeit des strebenden Perzipierens und perzipierenden Strebens geht zugleich die innere Leidenskraft einher, das Erleiden der inneren Hemmung. Das substanzielle Sein alles Seienden, aller Bereiche des Seienden, ist strebendes Perzipieren und perzipierendes Streben. Das Moment des Strebens und Drängens geht nicht nur auf Descartes’ volitio zurück, sondern hat auch in Leibnizens Fassung eine Affinität zum Wollen und Willen. Dadurch, daß Leibniz erstmals mit Blick auf die volitio der cartesischen cogitatio die volitio in Gestalt des appetitus zu einem Wesenscharakter des substanziellen Wesens alles Seienden erklärt, kommt überhaupt das Willensmoment erstmals im neuzeitlichen Denken in das Sein des Seienden. Insofern ist Leibnizens Konzeption des monadischen Seins als eines perzipierenden Strebens ein wesentlicher Schritt über Descartes’ Ansetzung des Selbstbewußtseins als Grundprinzip hinaus in Richtung auf die neuzeitliche Willensmetaphysik (M. Heidegger), die ihren Gipfel in Nietzsches Metaphysik des Willens zur Macht erreicht. Denn der Wille zur Macht ist Nietzsches Fassung des substanziellen Wesens des Lebens, das alles Seiende durchmachtet. Nachdem die Abschnitte 14 und 15 der „Monadologie“ das substanzielle Kraftwesen einer jeden einfachen Substanz, einer jeden Monade, heraus gestellt haben in den Kräften des Perzipierens und Strebens, nennt der 16. Abschnitt mit aller Deutlichkeit den ontologischen Leitfaden. Es ist der Leitfaden, der Leibniz bei der Ansetzung des substanziellen Wesens als
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Kraft des strebenden Perzipierens leitet. Für unsere Durchsprache der Abschnitte 14 und 15 mußten wir schon auf diesen ontologischen Leitfaden vorgreifen, um zu verstehen, wie Leibniz dazu kommt, das substanzielle Wesen in der Kraft des strebenden Perzipierens zu erkennen. Der 16. Abschnitt gliedert sich nach zwei ontologischen Thesen. 1. Wir machen selbst die Erfahrung von einer Vielheit in der einfachen Substanz, wenn wir entdecken, daß schon der geringste Gedanke eine Mannigfaltigkeit im Objekt einschließt. 2. Alle diejenigen, die die Seele als eine einfache Substanz anerkennen, müssen die Vielheit in der Monade zugeben. Zur 1. These: Bisher war die Rede von der Vielheit der Wesensbeschaffenheiten in der Einheit, d. h. in einem jeweils erreichten Perzeptionszustand, der als solcher ein Veränderungszustand der Monade ist. Den ontologischen Leitfaden für diesen allgemeinen Sachverhalt, durch den jede Monade bestimmt ist, bietet meine Selbsterfahrung. Diese ist meine innere Erfahrung, die mir mögliche Selbstreflexion. In diesem Sinne beginnt Leibniz den 16. Abschnitt: Wir machen in uns selbst die Erfahrung von einer Vielheit in der unteilbaren Substanz, dann nämlich, wenn wir darauf reflektieren, daß schon der geringste Gedanke, die geringste Vorstellung, die wir haben, eine Vielheit im Gegenstand einschließt. Wenn ich auf eine Perzeption, auf eine Vorstellung von mir in der Gestalt einer Wahrnehmungsvorstellung reflektiere, mache ich die Erfahrung, daß diese eine Wahrnehmung in sich eine Vielheit von Wahrnehmungsvorstellungen einschließt. Ich kann meine eine Wahrnehmungsvorstellung, in der ich ein Wahrnehmungsfeld mit den vielen zu ihm gehörenden Wahrnehmungsgegenständen umfasse, reflexiv auseinanderlegen in viele einzelne Wahrnehmungsvorstellungen, in denen ich je einen Wahrnehmungsgegenstand aus meinem Wahrnehmungsfeld vorstelle. Die einfache Substanz, die in ihrer Einheit eine Vielheit einschließt, ist mein eigenes Ich, mein ichliches Bewußtsein. Dieses hält sich im Perzep tionszustand einer das Wahrnehmungsfeld umfassenden Wahrnehmung. Diese Wahrnehmung ist mein augenblicklicher Perzeptionszustand. Mein ichliches Wahrnehmungsbewußtsein ist eine unteilbare Einheit und als solche eine einfache Substanz. Meine einfache Substanz befindet sich zum Zeitpunkt meiner Selbstreflexion in einer Wahrnehmungsperzeption. Aber die individuelle Einheit meiner Substanz in ihrer Wahrnehmungsperzeption schließt eine innere Vielheit von perzeptiven Beschaffenheiten ein. Zur 2. These: In der 2. These des 16. Abschnittes sagt Leibniz im Anschluß an die Selbsterfahrung: Wenn man die menschliche Seele als einfache Substanz anerkennt, und wenn die Seele in einem ihrer Vorstellungszustände eine Vielheit von perzeptiven Wesensbeschaffenheiten einschließt, muß man zugeben, daß in jeder Monade eine solche Vielheit ist.
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Die Selbsterfahrung der eigenen Seele als einfacher Substanz, die in sich eine Vielheit einschließt, bietet den Leitfaden, der aus der Immanenz der eigenen einfachen Substanz hinausführt zur Einsicht in das substanzielle Wesen aller Monaden. Die Selbsterfahrung der eigenen Seele als Monade, die in sich der Übergang von Perzeptionszustand zu Perzeptionszustand ist, bietet nun den ontologischen Leitfaden für die ontologische Einsicht, daß nicht nur meine eigene Seelenmonade so verfaßt ist, wie die Selbsterfahrung es mir zeigt, sondern daß alle einfachen Substanzen in dieser Weise ontologisch verfaßt sind. Alle anderen Substanzen heißt aber: nicht nur alle anderen menschlichen Seelen, die Monaden auf derselben monadischen Stufe sind, sondern alle anderen einfachen Substanzen aller Bereiche des Seienden, auch des Bereiches der anorganischen materiellen Körper. Die menschliche Seele ist für mich als den Philosophierenden das ontologische Paradigma für die einfache Substanz überhaupt. Worin liegt nun aber das Motiv, das Leibniz dazu bewegt, der Selbsterfahrung der Seele als der eigenen einfachen Substanz das substanzielle Wesen für jede einfache Substanz zu entnehmen? Die Antwort auf unsere Frage lassen wir uns aus einem Briefe geben, den Leibniz am 30. VI. 1704 an den holländischen Cartesianer Burcher de Volder schreibt. In diesem Briefe sagt Leibniz: Das Prinzip der substanziellen Tätigkeit ist uns im höchsten Grade verständlich, weil es ein Analogon zu dem bildet, was uns selbst innewohnt, ein Analogon zu Perzeption und Streben. Damit hat Leibniz lediglich gesagt, wie Vorstellung und Streben in unserer monadischen Substanz den ontologischen Leitfaden abgeben für die Konzeption der ursprünglichen Kraft des allgemeinen substanziellen Wesens. Aber erst das im Briefe Folgende ist die Antwort auf unsere Frage, inwiefern die in der Selbsterfahrung erfahrene Seele als vorstellend-strebende Substanz ontologischer Leitfaden ist für die Einsicht in das allgemeine Wesen aller einfachen Substanzen. Leibniz sagt: Da die Natur, das Wesen der Dinge, gleichförmig ist, kann unser eigenes substanzielles Wesen von den anderen einfachen Substanzen innerhalb des Universums nicht unendlich weit verschieden sein. Bei genauerer Erwägung der Sachlage ergibt sich – so Leibniz –, daß es in der Welt nichts als einfache Substanzen und in diesen Vorstellung und Streben gibt.6 Die entscheidende Antwort auf unsere Frage liegt zum einen in dem Wort ‚gleichförmig‘, zum anderen darin, daß unser eigenes substanzielles Wesen 6 G. W. Leibniz, Philosophische Werke. Zweiter Band: Hauptschriften zur rundlegung der Philosophie. Zweiter Teil, a. a. O., S. 347. – G. W. Leibniz, Die G philosophischen Schriften. Zweiter Band. Hrsg. von C. J. Gerhardt. Georg Olms Verlag Hildesheim / New York, S. 270.
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nicht unendlich weit von den anderen einfachen Substanzen verschieden sein kann. Unser substanzielles Wesen als Vorstellung und Streben (Wollen) wäre nämlich dann unendlich weit verschieden vom substanziellen Wesen der nichtmenschlichen Monaden, wenn nur die menschliche Monade durch perceptio und volitio – wie bei Descartes – bestimmt wäre. Dann gäbe es einen seinsmäßigen Hiatus zwischen dem substanziellen Wesen der menschlichen und dem der nichtmenschlichen Monaden. Zwischen unserer seelischen Monade mit ihrer vorstellenden und wollenden Kraft und den anderen Monaden besteht aber eine seinsmäßige Analogie. Jede Analogie schließt Gleichheit und Ungleichheit ein. Gleichheit besagt hier, daß das substan zielle Wesen aller Monaden, gleich welcher Monadenstufe, einförmig ist. Alle einfachen Substanzen sind verfaßt durch ein einförmiges Wesen, und dieses einförmige Wesen ist das strebende Perzipieren. Die zur Analogie gehörende Ungleichheit ist lediglich eine solche innerhalb der Gleichförmigkeit. Die Ungleichheit zeigt sich in der unterschiedlichen Deutlichkeit des strebenden Perzipierens. Daß alle einfachen Substanzen durch ein gleichförmiges Wesen ontologisch verfaßt sind, macht in der Leibnizschen Monadologie das ontologische Gesetz der Analogie aus. In Leibnizens Brief an de Volder lesen wir weiter: In der Welt gibt es nichts als einfache Substanzen mit dem substanziellen Wesen der Strebensund Vorstellungskraft. Dagegen sind Materie und Bewegung keine wahren Substanzen, sondern nur Erscheinungen der strebend-vorstellenden Substanzen. Das Gesetz der Analogie ist ein ontologisches Gesetz, das etwas Grundsätzliches über das substanzielle Wesen aller Monaden aussagt: daß sie alle durch das gleichförmige substanzielle Wesen, durch das Kraftwesen des strebenden Perzipierens, bestimmt sind, wenn auch in unterschiedlicher Abstufung, wie uns die dritte Sinneinheit im Aufbau der „Monadologie“ zeigen wird. Nachdem wir das Gesetz der Analogie behandelt haben, das mit dem Thema des ontologischen Leitfadens zusammengehört, wenden wir uns jetzt noch einigen verstreuten Textstellen zum ontologischen Leitfaden zu. In Leibnizens Brief an de Volder v. 20. Juni 1703 lesen wir: „Die Substanz selbst denke ich, wenn sie mit ursprünglichen aktiven und passiven Kräften begabt ist, als eine unteilbare und vollkommene Monade, die unserem Ich vergleichbar ist.“7 Die Vergleichbarkeit mit dem strebend-perzipierenden Ich besagt, daß dieses Ich den Ausgang bildet für die Einsicht in das universelle monadische Kraftwesen. 7 G. W, Leibniz, Hauptschriften zur Grundlegung der Philosophie. Zweiter Teil, a. a. O., S. 325; Leibniz, Die philosophischen Schriften, 2. Band (Gerhardt) a. a. O., S. 251.
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In einem Brief aus dem Jahre 1705 schreibt Leibniz an de Volder: „Ich dagegen setze überall und allenthalben nur das voraus, was wir alle in unserer Seele häufig genug zugestehen müssen, nämlich innere, selbsttätige Veränderungen, und erschöpfe mit dieser einen gedanklichen Voraussetzung die ganze Summe der Dinge“.8 Was Leibniz ontologisch voraussetzt, um es in das ontologische Gesetz der Analogie zu bringen, findet für ihn seine Ausweisung aus der Selbsterfahrung. 1702 schreibt Leibniz an die Königin Sophie Charlotte v. Preußen (Großmutter Friedrichs des Großen und Urgroßmutter der Herzogin Anna Amalie von Weimar): „Man darf also wohl annehmen, daß es überall in den Geschöpfen noch etwas Immaterielles gibt, vor allem aber in uns, wo diese Kraft von einer ziemlich distinkten Perzeption, ja selbst von jenem Lichte begleitet wird, von dem ich oben gesprochen habe und das uns im Kleinen der Gottheit ähnlich macht.“9 Überall im geschaffenen, endlichen phänomenalen Seienden gibt es noch etwas Immaterielles, eben die substanzielle Kraft des strebenden Perzipierens, die in uns einen besonderen Grad der Deutlichkeit erlangt. Aber durch den höheren Grad der Deutlichkeit, die bis zur Apperzeption führt, bin ich in meinem substanziellen Wesen nicht geschieden vom substanziellen Wesen der nichtmenschlichen Monaden. Vielmehr stehe ich mit allen einfachen Substanzen in einem analogen ontologischen Zusammenhang. Denn es kann für Leibniz nur ein gleichförmiges substanzielles Wesen geben. Wir fassen jetzt unsere Ausführungen über den ontologischen Leitfaden und das Gesetz der Analogie in 6 Punkten zusammen: 1. Die sicherste aller Tatsachen ist für Leibniz im Anschluß an Descartes die höchste Gewißheit vom Wirklichsein und Gegebensein der Vorstellung in uns selbst. 2. Wenn aber nur der menschliche Geist Vorstellungen selbsttätig im Sinne der selbsttätigen Perzeptionskraft hervorbrächte, gäbe es im geschaffenen Universum nichts der menschlichen Monade Verwandtes. Die menschliche Seelen- und Geistmonade wäre von den Monaden aller anderen Seinsbereiche isoliert. Wäre die Perzeptionskraft ein substanzielles Monopol des Menschen, das er mit keinem anderen, keinem nichtmenschlichen Seienden teilt, dann gäbe es zwischen ihm und dem übrigen Seienden eine seinsmäßige Kluft. 8 G. W. Leibniz, Hauptschriften zur Grundlegung der Philosophie, Zweiter Teil, a. a. O., S. 350; Leibniz, Die philosophischen Schriften, 2. Band (Gerhardt), a. a. O., S. 276. 9 G. W. Leibniz, Hautschriften zur Grundlegung der Philosophie. Zweiter Teil, a. a. O., S. 421, Leibniz, Die philosophischen Schriften (Gerhardt), 2. Band, S. 507.
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Drittes Kapitel: Das substanzielle Wesen der Monaden
3. Eine solche ontologische Kluft käme aber der Verneinung des seinsmäßigen Zusammenhanges im Seienden gleich. Leibnizens vernunftgemäße ontologische Einsicht geht jedoch dahin, daß kein Seiendes im endlichen Universum vom substanziellen Wesen alles anderen Seienden eine ontologische Ausnahme machen kann. Das aber ist das Gesetz der Analogie im endlichen Universum: Alles Seiende im endlichen Universum gehört zur selbigen seinsmäßigen, substanziellen Familie. Alles endliche Seiende ist aus seinem substanziellen Wesen her verwandt – eine ontologische Verwandtschaft ohne Kluft und Dualismus. Aber diese substanzielle Verwandtschaft schließt in sich ein die größte Mannigfaltigkeit individueller Unterschiede. Wie wir aus den Abschnitten 12 und 13 der „Monadologie“ wissen, ist jede einfache Substanz eine sich in ihrer substanziellen Kraft selbstindividuierende Monade. Keine Monade gleicht hinsichtlich ihrer Individualität einer anderen, und dennoch sind alle individuellen Monaden untereinander substanziell verwandt, weil ihr substanzielles Wesen in der Kraft des strebenden Perzipierens besteht. Wie wir in der dritten gedanklichen Einheit der „Monadologie“ sehen werden, ist das Reich des monadischen Seins ein Reich individueller Abstufungen hinsichtlich der Distinktheit des strebenden Perzipierens. 4. Die strebende Perzeptionskraft, die in der menschlichen Seelenmonade als Bewußtsein (Selbstbewußtsein) voll entfaltet ist, wenn auch unter Einschluß vieler nichtbewußter Perzeptionen, kann in keinem anderen Seienden völlig abwesend sein. Dieselbe strebende Perzeptionskraft regt sich als substanzielles Wesen in allen endlichen Seienden. Weil diese Einsicht in das substanzielle Kraftwesen als strebende Perzeptionskraft ihren Ausgang nimmt von der Selbsterfahrung der eigenen Seele und ihrem substanziellen Wesen, ihrer Kraft des strebenden Perzipierens, sprechen wir vom ontologischen Leitfaden. Dieser entspringt in der Selbsterfahrung der eigenen strebend-vorstellenden Seele und führt auf dem Wege des Vernunftdenkens hinaus in das Universum der Monaden. 5. Der Mensch als strebend-vorstellendes Wesen ist innerhalb des Seienden im Ganzen keine ontologische Ausnahme. Die substanziellen Kräfte der raum-zeitlich-materiellen Körper sind der substanziellen Kraft des strebenden Vorstellens im Menschen ontologisch verwandt. 6. Im Seienden im Ganzen herrscht aufgrund des gleichen substanziellen Wesens aller Monaden eine ontologische Gleichförmigkeit. Aus dem Wort ‚Einförmigkeit‘ müssen wir heraushören das Wort ‚Form‘, lat. forma, in der Bedeutung von Wesensform, der substanziellen Form, des substanziellen Wesens. ‚Einförmigkeit‘ besagt daher, daß alle einfachen Substanzen die gleiche Form, die gleiche forma, die gleiche Wesensform zeigen: die substanzielle Kraft des strebenden Vorstellens. Aber alle einfachen Substanzen besitzen diese substanzielle Kraft nicht in gleicher Weise, sondern in Abstu-
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fung äußerster Individualität, so, daß keine Monade einer anderen gleicht. Jede Monade ist eine einmalige individuelle Substanz. Dennoch wird diese individuierende Unterscheidung unterlaufen von der gleichen substanziellen Form der strebenden Perzeptionskraft. Daß alle Monaden durch das Stufenreich hindurchgehend vom substanziellen Wesen der strebenden Perzeptionskraft bestimmt sind, kann als das Principium Perceptivum formuliert werden. Die ontologische Einförmigkeit im Ganzen aller Monaden meint die Einheit des Seins in der Mannigfaltigkeit nicht nur der Stufen, sondern aller individuellen Monaden. Im 17. Abschnitt der „Monadologie“ betont Leibniz gegen Descartes und die Cartesianer, daß auch die nichtbewußten Perzeptionen der pflanzlichen und tierischen Monaden und der Monaden der bloßen Körper nicht aus mechanischen Gründen aufklärbar sind, wie Descartes und die Cartesianer behaupten. Diese erneute Betonung ist in zweifacher Hinsicht von Bedeutung: 1. wird dadurch das monadische Sein auch des nichtmenschlichen Seienden gesichert. 2. wird das monadisch perzeptive Sein streng geschieden vom körperlich Seienden. Diese Scheidung zwischen perzeptivem Sein und ausgedehntem Seienden bewegt sich im metaphysischen Unterschied von Sein und Seiendem. Der 17. Abschnitt umfaßt vier ontologische Thesen: 1. Die Perzeption und das von ihr Abhängende ist nicht erklärbar aus mechanischen Gründen. 2. Die innere Besichtigung eines denkenden, sinnlich empfindenden und bloß perzipierenden Körpers stieße immer nur auf räumlich bestimmte materielle Teilchen, die dem Kausalgesetz unterworfen sind, also auf nichts, aus dem die Perzeptionen aufklärbar wären. 3. Die Perzeptionen gehören nicht zum Zusammengesetzten selbst, sondern nur zu dessen einfachen Substanzen. 4. In den einfachen Substanzen gibt es nichts weiter als die inneren Tätigkeiten des Perzipierens und des strebenden Übergehens von einer Perzeption zu einer anderen. Zur 1. These: Descartes war es, der das strebende Perzipieren nur als geistige Tätigkeit der menschlichen Seelensubstanz (substantia cogitans) anerkannte. Zu dieser ontologischen Anerkenntnis gehört, daß die geistigen, die bewußten Perzeptionen klar und deutlich geschieden sind von allem körperlichen Sein und dessen substanziellem Wesen, der extensio, geschieden also von der substantia extensa. Dagegen anerkennt Descartes keine nicht-bewußten Perzeptionen in Pflanze und Tier und keine nicht-bewußten Perzeptionen in den ausgedehnten Körpern. Leibniz aber geht es vor allem um die nicht-bewußten Perzeptionen, um das nicht-bewußte perzeptive substanzielle Wesen der nichtgeistigen Lebewesen. Von Descartes werden die nichtbewußten Perzeptionen von Pflanze und Tier geleugnet. Das nichtgeistige Lebewesen wird von ihm rein mechanistisch wie das bloß körperliche
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Drittes Kapitel: Das substanzielle Wesen der Monaden
Seiende gedeutet. Das gesamte Naturgeschehen, nicht nur der rein materiellen Natur, sondern auch das der lebendigen Natur, wird von Descartes als ein Geschehen gefaßt, das allein nach dem Verhältnis von Ursache und Wirkung bestimmt ist. Pflanzen und Tiere sind für Descartes nichts anderes als seelenlose, perzeptionslose Automaten. Gegen diese mechanistische Auffassung des Lebens in der Natur geht Leibniz an, wenn er darauf hinweist, daß das, was wir als das perzeptive Leben in Pflanze und Tier erfahren, nicht erklärbar sei aus mechanischen Gründen. Die mechanischen Gründe, das Kausalgesetz, das den Zusammenhang der ortsbewegten Teilchen nach Ursache und Wirkung regelt, gehören in den Bereich des körperlich Seienden, zu dem zwar die Körperlichkeit der Lebewesen, nicht aber deren Leben gehört. Was uns als Leben der Natur entgegentritt, verweist nicht in das bloß räumlich-körperliche Seiende, sondern weist uns an, es als das substanzielle Wesen in den einfachen Substanzen, im Sein des Lebenden anzusetzen. Das perzeptive Leben in den Lebewesen kann nicht nur aus dem Körper der Lebewesen rein mechanisch erklärt werden. Denn die Körper und ihre phänomenalen Kräfte erzeugen nur Bewegungen, Ortsbewegungen, die als solche niemals die Herkunft für perzeptives Leben sein können. Das nichtbewußte Leben lediglich wie das nur körperliche Seiende aus mechanischen Ursachen erklären, heißt, dem nichtbewußten Leben ontologisch nicht gerecht werden, es vielmehr ontologisch verfälschen. Das nichtbewußte Leben in der Natur, das für Leibniz einen eigenen Perzeptionscharakter hat, kann nicht wie ein bloß RäumlichKörperliches behandelt werden, weil das nichtbewußte perzeptive Leben der Natur weder in das bloß körperlich Seiende noch in dessen Sein als substantia extensa hineinweist. Für Leibniz ist die cartesianische Deutung des nichtbewußten perzeptiven Lebens in der Natur aus der res extensa und substantia extensa eine ontologische Verkennung des eigenständigen substanziellen Wesens des nichtbewußten Lebens. Zur 2. These: In der 2. ontologischen These des 17. Abschnittes macht Leibniz ein Gedankenexperiment. Man denke sich eine Maschine, d. h. einen rein mechanistisch aufgefaßten Körper, der sogar denkende, also bewußte Perzeptionen, aber auch sinnlich empfindende und sonstige Perzeptionen hat. Wollte man nun alle diese Perzeptionen aus der inneren Kleinstruktur mechanistisch erklären, so könnte man sich diese perzipierende Maschine derart vergrößert denken, daß wir in ihr Inneres eintreten und ihr inneres Gefüge der kausalgesetzlich verbundenen Teilchen gewahren können. Gedacht ist hier an die Möglichkeit, die mikroskopische Feinstruktur des rein Körperlichen wahrzunehmen. Wieweit wir auch mit Hilfe technischer Mittel in die Feinstruktur des Räumlich-Körperlichen vordringen sollten, immer werden wir nur zu räumlichen Teilchen gelangen, die nach dem Kausalgesetz einander stoßen. Das heißt aber, wir werden wesensmä-
§ 11 Die innermonadischen Tätigkeiten des Strebens und Perzipierens97
ßig niemals zu etwas gelangen, aus dem eine Perzeption entsteht. Für die geistigen Perzeptionen hat auch Descartes diese Unmöglichkeit betont, – aber nur für die selbstbewußten Perzeptionen, nicht auch für das gesamte nichtbewußte Leben in der Natur. Und gerade mit Blick auf dieses nichtgeistige perzeptive Leben betont Leibniz, daß wir auch für dieses, für das perzeptive Leben von Pflanze und Tier, im Innersten ihrer Körperlichkeit nichts Räumlich-Körperliches finden, aus dem dieses Leben mit seinen eigenständigen Perzeptionen erklärt werden könnte. Zur 3. These: Soll das perzeptive Leben der Natur nicht mechanistisch reduziert, sondern in seinem Eigenen gewahrt bleiben, dann muß das nichtbewußte perzeptive Leben wie alle Perzeptionen, wie die geistigen Perzeptionen, als zu den einfachen Substanzen gehörig begriffen werden. Das perzeptive Leben der Natur bildet das substanzielle Wesen der einfachen Substanzen von Pflanze und Tier. Pflanze und Tier haben ihr substanzielles Wesen nicht wie bei Descartes in der substantia extensa, sondern in der substantia percipiens. Wir sprechen hier von der substantia percipiens und nicht von der substantia cogitans, weil die cogitatio Bewußtsein bedeutet. Für Descartes reichen die Perzeptionen nur so weit wie die cogitatio reicht, während für Leibniz die Perzeptionen sehr wohl über die cogitatio hinaus reichen, weil sie mit den Appetitionen das substanzielle Wesen alles phänomenalen Seienden bilden. In der 1. These des 17. Abschnittes sagte Leibniz, daß auch „das, was von der Perzeption abhängt“, nicht aus mechanischen Gründen, nicht kausalgesetzlich erklärbar ist. Das will sagen: Nicht nur eine jede Perzeption als solche, sondern auch die jeweils auf eine Perzeption folgende andere Perzeption, der Übergang von der einen zur anderen, ist nicht aus mechanischen Gründen, nicht nach dem Kausalgesetz geregelt. Die innermonadische Veränderung, der Übergang von einer Perzeption in die andere, unterliegt nicht dem Kausalgesetz. Dieses hat seine Wirksamkeit nur im phänomenalen Seienden, nicht aber im substanziellen Sein dieses Seienden. Zur 4. These: Die 4. und letzte ontologische These des 17. Abschnittes hält abschließend und zusammenfassend fest: In den einfachen Substanzen findet sich als substanzielles Wesen nichts anderes als die Perzeptionen und ihre Veränderungen. Mit den „Veränderungen“ ist vor allem die Strebenskraft angesprochen. Denn diese ist es, die eine jede Perzeption übergehen läßt in eine andere. Die Strebenskraft ist es also, auf der die innermonadische Veränderung beruht. In den Perzeptionen und Veränderungen allein, in den Perzeptionen und im strebenden Übergehen von einer Perzeption in die andere, bestehen die inneren Tätigkeiten der einfachen Substanzen. Les Actions internes (die inneren Tätigkeiten) werden von Leibniz groß geschrieben. Denn diese zwiefache innere Tätigkeit ist das universelle sub-
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Drittes Kapitel: Das substanzielle Wesen der Monaden
stanzielle Wesen aller einfachen Substanzen. In diesen inneren Tätigkeiten des Perzipierens und des Strebens, der Perzeptions- und Strebekraft, erkennen wir auch jene substanziellen Kräfte wieder, die Leibniz z. B. in der Schrift „Specimen Dynamicum“ benannt hatte: die vis primitiva activa und die vis primitiva passiva. Aber nicht so, als ob die eine der Perzeptionskraft und die andere der Strebenskraft entspräche. Vielmehr verhält es sich so, daß in den beiden inneren Tätigkeiten des Perzipierens und Strebens zum einen die vis primitiva activa, zum anderen die vis primitiva passiva wiederzufinden ist. Soweit nämlich beide substanziellen Kräfte ein tätiges Handeln sind, zeigt sich in ihnen die vis activa. Soweit aber in diesen beiden Kräften eine Hemmung waltet, so, daß das strebende Perzipieren ein gehemmtes, in sich begrenztes ist, zeigt sich in ihnen die vis passiva. Die inneren Tätigkeiten der einfachen Substanzen, das Perzipieren und Streben, sind ein gehemmtes Handeln, so daß das strebende Perzipieren und perzipierende Streben sowohl handelnd wie auch leidend ist. Damit beschließen wir das Dritte Kapitel, das sich der zweiten gedanklichen Einheit der „Monadologie“ widmete. Nachdem in der ersten gedanklichen Einheit nur der wahre Einheitscharakter der Monaden bedacht wurde, ging es in der zweiten gedanklichen Einheit um die Thematisierung des substanziellen Wesens der Monaden, um die Herausstellung der substanziellen Kräfte des Perzipierens und Strebens. Die dritte gedankliche Einheit, der wir uns jetzt im Vierten Kapitel zuwenden, thematisiert die ontologischen Abstufungen innerhalb des monadischen Wesens.
Viertes Kapitel
Die Stufen des monadischen Seins Die dritte gedankliche Einheit im Aufbau der „Monadologie“ umfaßt die Abschnitte 18–30. Zuerst geben wir einen kurzen Überblick über die Gedankenfolge dieser dritten Sinneinheit. Herkommend von der Thematisierung des substanziellen Wesens aller Monaden führt Leibniz im 18. Abschnitt aus, inwiefern alle Monaden in ihrem substanziellen Wesen, d. h. in ihrem strebenden Perzipieren, als Entelechien bezeichnet werden können. Im anschließenden 19. Abschnitt wird erörtert, inwiefern alle Monaden aufgrund ihrer substanziellen Tätigkeiten des Perzipierens und des Strebens Seelen im rein ontologischen Sinne genannt werden können. Aber noch im 19. Abschnitt wird eine erste Unterscheidung vorgenommen: jene Monaden, die die einfachen Substanzen der nichtlebendigen Körper sind, werden nunmehr Entelechien im engeren Sinne genannt, während die nächst höhere Stufe der Monaden von Pflanze und Tier Seelen im engeren Sinne heißen sollen. In den Abschnitten 20–24 geht es um die unterste Stufe der Monaden und um ihre Perzeptionen. Für die vernunftgemäße Setzung eines perzeptiven Wesens in den bloßen Körpern wird unsere Selbsterfahrung als ontologischer Leitfaden ausführlich herangezogen. Die Abschnitte 25–27 widmen sich der zweiten Stufe der Monaden, den tierischen Seelenmonaden. Die menschliche Seelenmonade als dritte Stufe im Stufenreich der Monaden ist Thema der Abschnitte 28–30.
§ 12 Die einfachen Substanzen als Entelechien im weiten Sinne oder als Seelen im weiten Sinne Diesem Paragraphen legen wir die Abschnitte 18 und 19 aus der „Monadologie“ zugrunde. In diesen beiden Abschnitten soll gezeigt werden, inwiefern alle einfachen Substanzen in ihrem substanziellen Wesen als Entelechien und als Seelen gefaßt werden können.
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Viertes Kapitel: Die Stufen des monadischen Seins
Der 18. Abschnitt besteht aus zwei, eng zusammengehörenden ontologischen Thesen: 1. Alle einfachen Substanzen können Entelechien genannt werden, weil sie alle eine bestimmte Vollkommenheit in sich tragen. 2. Alle einfachen Substanzen haben eine Selbstgenügsamkeit, die sie zu Quellen ihrer inneren Tätigkeiten, zu unkörperlichen Automaten machen. Zur 1. These: Alle endlichen, geschaffenen Monaden können den Namen ‚Entelechien‘ erhalten, weil sie alle in ihrem substanziellen Wesen Entelechien sind. Alle endlichen Monaden, nicht aber die eine, einzige, unendliche Monade, die Urmonade, die das Allerrealste ist und deshalb keine innere Selbstveränderung, keine innere Selbstentfaltung kennt wie die endlichen Monaden. Der Begriff der ‚Entelechie‘ wird hier im 18. Abschnitt der „Monadologie“ erstmals eingeführt. Wir aber sind diesem Begriffe für das substanzielle Wesen der inneren Selbsttätigkeit der einfachen Substanzen schon in der Emendations-Schrift sowie in der Schrift „Specimen Dynamicum“ begegnet. Wir haben deshalb den Leibnizschen Entelechie-Begriff bereits im Rückgriff auf Aristoteles erläutert. Doch jetzt verfolgen wir, wie Leibniz in der „Monadologie“ den Begriff der Entelechie einführt und erläutert. Alle endlichen einfachen Substanzen sind in ontologischer Hinsicht Entelechien, unabhängig davon, welcher Stufe im Stufenreich der Monaden die einfache Substanz angehört. Denn alle einfachen Substanzen haben ihre inneren Beschaffenheiten, ihr substanzielles Wesen, in der Weise einer bestimmten Vollkommenheit in sich (une certaine perfection). Zur Erläuterung setzt Leibniz in Anlehnung an Aristoteles die griechische Wendung in Klammern: ἔχουσι τὸ ἐντελές. Die einfachen Substanzen haben das Vollkommene in sich selbst. Sie haben in ihrem substanziellen Wesen das Vollkommene als Prinzip in sich. Das besagt freilich nicht, daß sie das Vollkommene in der Weise des abgeschlossenen Entfaltetseins in sich hätten. Vielmehr haben sie das Vollkommene in sich als die tätige Selbstentfaltung. Diese geschieht als das strebende Perzipieren. In dieser selbsttätigen Entfaltung wird dasjenige ausgefaltet, was in der Monade als ihr individuelles substanzielles Wesen angelegt und eingefaltet ist. Sofern jede Monade das, was sie ihrem substanziellen Wesen nach ist, bereits in sich hat, hat sie eine Vollkommenheit in sich. Die einfachen Substanzen bringen ihr substanzielles Wesen kontinuierlich, ohne Sprünge, zur Entfaltung. Ihre Selbstentfaltung ist ihre innere Veränderung, und umgekehrt, ihre innere Veränderung ist ihre Selbstentfaltung. Die Erste Entelechie im Sinne von Leibniz erläuterten wir früher als die innere Kraft der Selbsttätigkeit. Jetzt sehen wir, daß sie innere Selbsttätigkeit, innere Selbstentfaltung ist. Die Selbstentfaltung geschieht als Selbstveränderung. Diese aber geschieht im kontinuierlichen Gang von Perzepti-
§ 12 Die einfachen Substanzen als Entelechien im weiten Sinne101
onszuständen. Jeder erreichte Perzeptionszustand ist als Veränderungszustand ein Selbstentfaltungszustand, in den sich die einfache Substanz aus ihr selbst heraus entfaltet hat. Weil alle einfachen Substanzen in ihrem substanziellen Wesen durch die innere Selbsttätigkeit als Selbstentfaltung bestimmt sind, können alle einfachen Substanzen ontologisch als Entelechien bezeichnet werden. Zur 2. These des 18. Abschnittes: An den Gehalt der 1. These anschließend kann in der 2. These gesagt werden: Alle einfachen Substanzen haben, hinsichtlich ihres substanziellen Wesens eine Selbstgenügsamkeit. Jede einfache Substanz genügt sich selbst, wenn sie alles, was sie ist und worein sie sich verändert, in sich selbst hat in der Weise des Unentfaltetseins. Hinter das Wort suffisance (Selbstgenügsamkeit) setzt Leibniz in Klammern αὐτάρϰεια. Jede einfache Substanz ist in ontologischer Hinsicht selbstgenügsam, autark, weil sie für ihre inneren Tätigkeiten und für ihre innere Veränderung keiner Hilfe von außen bedarf. Ihre Selbstgenügsamkeit ist ihre Fensterlosigkeit, und umgekehrt. Ihre Fensterlosigkeit zeigt sich jetzt als ihre Autarkie. Diese resultiert aus ihrem wahren Einheitscharakter, der besagt, daß nichts von außen in das Innere einer Monade einzudringen vermag. Diese innere Selbstgenügsamkeit, diese ontologische Autarkie, läßt jede einfache Substanz zur Quelle ihrer inneren Tätigkeiten werden. Das aber heißt, die einfachen Substanzen sind die Quellen ihres strebenden Perzipierens. Sie sind, wenn ihre Tätigkeiten nur in und aus ihnen selbst entspringen, „unkörperliche Automaten“. ’Αυτόματος heißt: aus eigenem Antrieb. Die Monaden sind in der Weise des strebenden Perzipierens aus eigenem Antrieb tätig. Im 18. Abschnitt wurden die einfachen Substanzen in ihrer Seinsweise als Entelechien, als Selbstentfaltungen ihres substanziellen Wesens, gezeigt. Die Entelechie aber wurde als Autarkie, als Selbstgenügsamkeit, erläutert. Im 19. Abschnitt wird gezeigt, inwiefern alle einfachen Substanzen im ontologisch recht verstandenen Sinne „Seelen“ sind, und daher auch so bezeichnet werden können. Der 19. Abschnitt gliedert sich in vier Thesen: 1. Alle einfachen Substanzen oder endlichen Monaden können, weil sie alle Perzeptionen und Streben in sich haben, im ontologischen Sinne „Seele“ genannt werden. 2. Sinnliche Empfindung ist als Perzeption mehr denn eine einfache Perzeption ohne Empfindung. 3. Diejenigen einfachen Substanzen, deren substanzielles Wesen nur in empfindungslosen Perzeptionen besteht, sollen fortan nur „Monaden“ oder nur „Entelechien“ heißen. 4. Jene einfachen Substanzen aber, deren Perzeptionen durch sinnliche Empfindung und Erinnerung (Gedächtnis) bestimmt sind, sollen fortan nur „Seelen“ genannt werden.
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Viertes Kapitel: Die Stufen des monadischen Seins
Zur 1. These: Was motiviert Leibniz dazu, die einfachen Substanzen, deren substanzielles Wesen in den Perzeptionen und Strebungen besteht, ontologisch als „Seele“ zu bezeichnen? Das Motiv ist auch hier die Selbsterfahrung der menschlichen Seelenmonade. Weil die Perzeptionen und Strebungen primär aus der Selbsterfahrung der menschlichen Seele gewonnen sind, weil also die menschliche Selbsterfahrung den ontologischen Leitfaden abgibt für die Gewinnung des universellen substanziellen Wesens, können alle einfachen Substanzen (auch die der bloßen Körper) ontologisch „Seelen“ genannt werden. Alle einfachen Substanzen heißen „Seelen“, weil sie alle, freilich in unterschiedlicher Abstufung der Deutlichkeit, in ihrem substanziellen Wesen als strebendes Perzipieren verfaßt sind. Zur 2. These: Doch ein anderes Motiv bewegt Leibniz dazu, den Begriff „Seele“ fortan in einem engeren Sinne nur für eine bestimmte Monadenstufe zu verwenden. Die Stufen im Monadenreich ergeben sich aus den Gradunterschieden unter den Perzeptionen der einfachen Substanzen. Das gesamte Monadenreich ist ein kontinuierlich übergehendes Stufenreich von weniger deutlichen zu deutlicheren Perzeptionen. Innerhalb dieses Reiches von Gradunterschieden in der Deutlichkeit der Perzeptionen gibt es zunächst einmal zwei deutlich voneinander abhebbare Stufen: die Stufe solcher Perzeptionen, die in sinnlichen Empfindungen und behaltenden-erinnernden Perzeptionen bestehen, und die Stufe solcher Perzeptionen, die keine sinnlichen Empfindungen und Erinnerungen zeigen. Die Perzeptionen ohne sinnliche Empfindungen sind die der anorganischen Körper; die Perzeptionen mit den sinnlichen Empfindungen, die Perzeptionen als sinnliche Empfindungen und als Erinnerungen, sind die der organischen Lebewesen, insbesondere der tierischen Lebewesen. Auf diesen Unterschied in den Perzeptionen blickt jetzt Leibniz, wenn er die sinnlichen Empfindungen als deutlichere Perzeptionen bezeichnet und die Perzeptionen ohne Empfindungen als weniger deutliche, als dumpfe. Zur 3. These: Die sinnlich-empfindende Perzeption nennt Leibniz sentiment; die Perzeption aber, die keiner Empfindung fähig ist, nennt er simple perception, einfache Perzeption. „Einfach“ heißt hier nicht ‚unteilbar‘, sondern ‚ohne Empfindung‘. Die einfachen Perzeptionen sind die Perzeptionen niedrigsten Grades, die Perzeptionen der anorganischen Körper. Um diesem ontologischen Unterschied in den Deutlichkeitsgraden der einfachen Substanzen terminologisch zu entsprechen, d. h. um für jede dieser beiden Monadenstufen seine eigene terminologische Bezeichnung zu gewinnen, soll nun fortan zwischen Entelechien und Seelen unterschieden werden. Alle einfachen Substanzen, deren Perzeptionen durch das Fehlen von Empfindungen gekennzeichnet sind, heißen von jetzt ab nur Monaden oder nur Entelechien.
§ 12 Die einfachen Substanzen als Entelechien im weiten Sinne103
Damit wird der Gebrauch des Wortes „Entelechie“ eingeschränkt auf die unterste Stufe einfacher Substanzen. Wir können hier von Entelechien im engeren Sinne sprechen. Daher können wir sagen: Alle einfachen Substanzen sind aufgrund ihrer substanziellen Selbstentfaltung Entelechien im weiten Sinne. Aber unter den Entelechien im weiten Sinne ist nur die niedrigste Stufe der einfachen Substanzen, die nicht der sinnlichen Empfindung fähig sind, eine Stufe von Entelechien im engeren Sinne. Entelechien im engeren Sinne sind nur die einfachen Substanzen der anorganischen Körper. Dagegen sind alle einfachen Substanzen Entelechien im weiten Sinne. Entelechien im weiten Sinne nennen die gleichförmige Wesensverfassung aller Monaden: daß sie alles, was sie sind und worein sie sich kontinuierlich verändern, in sich haben, ihre innere Selbstveränderung ist innere Selbstentfaltung. Entelechie im engeren Sinne bezieht sich nicht auf die allgemeine Entelechie-Verfassung, sondern auf den niedrigsten Perzeptionsgrad von einfachen Substanzen. Zur 4. These des 19. Abschnittes: Im Unterschied zu jenen einfachen Substanzen, die wesensmäßig der Empfindung ermangeln und Entelechien im engeren Sinne heißen sollen, werden nun diejenigen einfachen Substanzen, die wesensmäßig der sinnlichen Empfindung fähig sind, „Seelen“ genannt. Da aber aufgrund der Perzeptions- und Strebensverfaßtheit aller einfachen Substanzen alle Monaden auch Seelen sind, müssen wir auch hier zwischen den Seelen im weiten Sinne und den Seelen im engeren Sinne differenzieren. Seelen im weiten Sinne sind alle einfachen Substanzen. Der weite Sinn von Seele bezieht sich aus den inneren Tätigkeiten des Perzipierens und Strebens, wodurch eine jede einfache Substanz, gleich welcher Perzeptionsstufe, verfaßt ist. Der engere Sinn von Seele ergibt sich aus einem bestimmten Deutlichkeitsgrad der Perzeptionen. Seelen im engeren Sinne sind nur solche einfachen Substanzen, die grundsätzlich der sinnlichen Empfindung fähig sind. Aber nicht alle Perzeptionen einer solchen einfachen Substanz sind immer sinnliche Empfindungen. Denn eine einfache Substanz wie die von tierischen Lebewesen hat auch undeutliche Perzeptionen, solche, die in ihrer Deutlichkeit unter der sinnlichen Empfindung stehen. Entscheidend ist für eine Monade, ob sie in ihrem substanziellen Wesen grundsätzlich des Deutlichkeitsgrades der sinnlichen Empfindung fähig ist oder nicht.
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Viertes Kapitel: Die Stufen des monadischen Seins
§ 13 Das monadische Sein der anorganischen Körper: Entelechien im engeren Sinne Diesem § 13 legen wir als Text die Abschnitte 20–24 aus der „Monadologie“ zugrunde. In diesen Abschnitten geht es um die unterste Stufe der einfachen Substanzen, um die niedrigste Perzeptionsstufe, von der Leibniz im 19. Abschnitt gesagt hatte, er nenne sie fortan die Stufe der bloßen Monaden oder der Entelechien im engeren Sinne. Die Abschnitte 20–24 haben ihre besondere Bedeutung darin, daß Leibniz hier die Selbsterfahrung der menschlichen Seele hinsichtlich besonderer Seelenphänomene als ontologischen Leitfaden für die ontologische Einsicht in das perzeptive Wesen der bloßen Körper entfaltet. Die Selbsterfahrung und ihre Auslegung sowie ihre Funktion als ontologischer Leitfaden soll die Ansetzung des perzeptiven Wesens auch der bloßen Körper rechtfertigen. Die Selbsterfahrung hat daher Ausweisungsfunktion. Der 20. Abschnitt thematisiert die Selbsterfahrung der menschlichen Seele in ihren Zuständen der Ohnmacht und des traumlosen Schlafes. Beide Phänomene dienen Leibniz als ontologischer Leitfaden für die vernunftgemäße Setzung von strebend-perzipierenden Monaden als Seinsverfassung der bloßen Körper. Der 20. Abschnitt setzt sich aus drei ontologischen Thesen zusammen. 1. Wir erfahren in uns selbst in der Ohnmacht und im traumlosen Schlaf jeweils einen Zustand, in dem wir keine unterschiedene Perzeption (keine sinnlich empfindende Perzeption) und keine behaltend-erinnernde Perzep tion haben. 2. In diesem Zustand unterscheidet sich die menschliche Seele kaum von einer bloßen Monade der bloßen Körper. 3. Da dieser Zustand der menschlichen Seele nicht andauert, vielmehr die menschliche Seele sich diesem wieder entzieht, ist sie etwas mehr als die Monade bloßer Körper. Zur 1. These: Die Phänomene der Ohnmacht und des traumlosen Schlafes sind Zustände unserer Seele, in denen wir zeitweilig keine unterschiedenen Perzeptionen, keine sinnlichen Empfindungen und keine erinnernden Perzeptionen haben. In beiden Seelenzuständen haben wir keine sinnlichen Empfindungen, und wenn wir aus diesen Zuständen aufwachen, haben wir auch keine Erinnerung an abgehobene Perzeptionen während der Ohnmacht und des traumlosen Schlafes. Diese so thematisierte Selbsterfahrung ist für Leibniz wichtig. Denn sie zeigt ihm, daß die menschliche Seele nicht nur und nicht ständig Bewußtsein und Geist ist, wie Descartes und die Cartesianer behaupten. Die Selbsterfahrung hinsichtlich der bewußtlosen Zustände der Seele ist für Leibniz der sichere Nachweis dafür, daß auch unsere höherstufige Seelenmonade an den bewußtlosen, dumpfen Perzeptionen teilhat. Gerade diese
§ 13 Das monadische Sein der anorganischen Körper105
dumpfen Perzeptionen dienen Leibniz als ontologischer Leitfaden, um solche unabgehobenen Perzeptionen als das substanzielle Wesen der Monaden bloßer Körper anzusetzen. Zur 2. These: In den Zuständen der Ohnmacht und des traumlosen Schlafes unterscheidet sich für Leibniz die menschliche Seele vorübergehend nicht merklich von einer „einfachen Monade“, d. h. von einer Monade, die nicht nur kein Selbstbewußtsein, sondern auch keine sinnliche Empfindung und keine Erinnerung wie das Tier hat. Ohnmacht und traumloser Schlaf sind für Leibniz die Phänomene, die darauf hinweisen, daß es so etwas wie nichtbewußte Perzeptionen gibt. Descartes und die Cartesianer haben sich über diese Seelenzustände hinweggesetzt. Sie haben diese nicht erkannt als Perzeptionen, denen vorübergehend auch sinnliche Empfindung und Erinnerung fehlen. Zu meinen aber, daß wir in den Zuständen der Ohnmacht und des traumlosen Schlafes überhaupt nicht perzipieren, ist deshalb nicht möglich, weil wir aus diesen Zustanden auch wieder aufwachen. Aufwachen kann aber nur heißen, daß wir aus völlig dumpfen Perzeptionen in deutlichere Perzeptionen zurückkehren. Zur 3. These des 20. Abschnittes: Wären die dumpfen Perzeptionen und die völlige Gedächtnislosigkeit der wesensmäßige Dauerzustand unserer Seele, dann wäre unsere Seele keine Seele, keine Seelen-Monade, sondern nur eine Entelechie im engeren Sinne, eine bloße Monade wie die Monaden der anorganischen Körper. Weil sich aber meine Monade dem Zustand der völligen Empfindungs- und Erinnerungslosigkeit wieder entzieht, ist sie ontologisch höherstufig, eine Monade höheren Grades, höheren Perzeptionsgrades. Aber als Monade höheren Perzeptionsgrades muß sich meine Seelenmonade nicht ständig in dieser Höherstufigkeit halten. Meine Seelenmonade ist sogar durch ihre Geistnatur höherstufig als die nur sinnlich-empfindende und erinnernde Seele. Letztere ist die Tierseele, die des Bewußtseins entbehrt. Die menschliche Seelenmonade ist ihrem substanziellen Wesen nach selbstbewußter Geist. Aber als Monade dieses substanziellen Wesens muß sie sich nicht ständig im Selbstbewußtsein halten. Sie kann auch zeitweilig wie eine Tierseele sein. Mehr noch, sie kann sogar in den niedrigsten Perzeptionszustand eines monadischen Seins zurückgehen, freilich nur vorübergehend, wie die Phänomene der Ohnmacht und des traumlosen Schlafes zeigen. Weil man nun aber die völlige Unmerklichkeit der Perzeptionen im Zustand der Ohnmacht und des traumlosen Schlafes deuten könnte als vorübergehende völlige Perzeptionslosigkeit, muß Leibniz im 21. Abschnitt diesem möglichen Einwand entgegentreten. Der 21. Abschnitt besteht aus vier ontologischen Thesen: 1. Aus der völligen Unmerklichkeit von Perzeptionen in den Zuständen der Ohnmacht und des traumlosen Schlafes folgt nicht die völlige Perzeptionslosigkeit der einfachen Substanzen. 2. Eine
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Viertes Kapitel: Die Stufen des monadischen Seins
völlige Perzeptionslosigkeit einer einfachen Substanz ist aus den im 4. Abschnitt der „Monadologie“ genannten Gründen nicht möglich, weil die einfache Substanz weder vergehen noch fortbestehen kann ohne irgendeine perzeptive Regung. 3. Wenn in mir eine große Vielzahl kleiner Perzeptionen vorhanden ist, in der sich nichts deutlich abhebt, bin ich benommen und ohne Bewußtsein, so daß ich perzeptiv nichts mehr zu unterscheiden vermag. 4. Der Tod versetzt die Tiere eine Zeitlang in den Zustand der perzeptiven Ununterscheidbarkeit. Zur 1. und 2. These: Aus dem Hinweis auf jene Zustände unserer Seele, in denen diese ohne Empfindung und Erinnerung ist, kann nicht folgen, daß die Seele in diesen Zuständen, also vorübergehend, ohne jede Perzeption war. Aus dem Ohnmachtszustand folgt nicht, daß die Seele als einfache Substanz vorübergehend ohne Perzeption war, nur weil die Perzeptionen in jenen Zuständen nicht wahrgenommen wurden. Im Gegenteil, die jetzt immer wieder genannten Phänomene sind eine deutliche Anzeige dafür, daß es Perzeptionen gibt, ohne daß diese sich durch irgendeinen und sei es noch so geringen Deutlichkeitsgrad abheben. Inwiefern? Würden wir annehmen, daß die Seele in den Zuständen der völligen Empfindungslosigkeit ohne jede Perzeption ist, dann hieße das, sie würde vergehen. Denn ihr strebendes Perzipieren ist ihr substanzielles Wesen. Würde die Seele als einfache Substanz aufhören zu perzipieren, würde sie vergehen. Eine einfache Substanz ohne ihr substanzielles Wesen, ohne strebendes Perzipieren, wäre keine einfache Substanz mehr. Hier verweist Leibniz auf den 4. Abschnitt der „Monadologie“, daß es unmöglich sei, daß eine einfache Substanz auf natürlichem Wege vergehen kann. Da aber die Seele aus den empfindungslosen Zuständen auch wieder heraustritt, kann sie nicht vorübergehend vergangen gewesen sein. Sie muß auch in ihren empfindungslosen Zuständen weiter bestehen. Doch ein Fortbestehen ohne Perzeptionen ist undenkbar, weil die Seelenmonade nur fortbestehen kann in ihrem substanziellen Wesen als dem strebenden Perzipieren. Ihr notwendiges Fortbestehen durch die empfindungslosen Zustände hindurch kann daher nur bedeuten, daß die Seele vorübergehend in der Weise von unmerklichen Perzeptionen strebend perzipiert. Zur Seelenmonade gehören somit auch diese dumpfen, empfindungslosen Perzeptionen. Zur 3. These: Die Seelenzustände der Benommenheit, der Ohnmacht und dergleichen sind solche Perzeptionszustände unserer Seelenmonade, in denen eine Vielzahl „kleiner Perzeptionen“, d. h. Perzeptionen mit einem unmerklichen Deutlichkeitsgrad, vorhanden ist. Also keine völlige Perzep tionslosigkeit, sondern eine perzeptive Tätigkeit unterster, nicht erfahrbarer Stufe. In diesen „kleinen Perzeptionen“ hebt sich nichts deutlich, nichts in wahrnehmbarer Weise ab.
§ 13 Das monadische Sein der anorganischen Körper107
Die Selbsterfahrung jener Seelenzustände, in denen wir völlig empfindungslos sind und ohne jegliches Bewußtsein, dient Leibniz als Leitfaden für die Einsicht in die Möglichkeit von dumpfen Perzeptionen als substanziellem Wesen der bloßen Körper. Hier kommt wieder das ontologische Gesetz der Analogie zum Tragen. Nach diesem Gesetz gibt es im substanziellen Wesen des phänomenalen Seienden keine ontologische Ausnahme. Alles substanzielle Sein, alle einfachen Substanzen, müssen nach einem gleichförmigen Wesen verfaßt sein. Das universelle gleichförmige substanzielle Wesen ist aber das strebende Perzipieren. Dieses wird unmittelbar zugänglich in mir selbst als das substanzielle Wesen meiner Seelenmonade. Aber was ich an substantiellem Sein in mir selbst finde, kann nicht nur das substanzielle Wesen meiner selbst und meines gleichen sein. Vielmehr muß ich in meinem eigenen substanziellen Wesen etwas ontologisch Analoges finden, welches das substanzielle Wesen auch der nichtmenschlichen Monaden ist. Es bereitet nicht allzu große Schwierigkeiten, im substanziellen Wesen der einfachen Substanz meiner Seele eine Analogie zum substanziellen Wesen der einfachen Substanzen tierischer Lebewesen zu erkennen. Aber eine Schwierigkeit besonderer Art scheint es zu bereiten, in meinem substanziellen Wesen auch eine Analogie zum substanziellen Wesen der nichtlebenden Körper zu sehen. Diese Schwierigkeit wäre nicht zu überwinden, wenn sich in unserer Seele nur Selbstbewußtsein und nur sinnlich empfindende und erinnernde Perzeptionen fänden. Gäbe es in uns selbst keine empfindungslosen Perzeptionen, hätte Leibniz auch keinen Nachweis für völlig empfindungslose Perzeptionen außerhalb von uns. Deshalb sind Leibnizens Hinweise auf die seelischen Phänomene der völligen Empfindungslosigkeit von so großer Bedeutung für die Einsicht in das perzeptive Wesen auch der einfachen Substanzen von anorganischen Körpern. Leibnizens wiederholte Beschäftigung mit den Phänomenen der Betäubtheit, Ohnmacht, Bewußtlosigkeit und des traumlosen Schlafes hat – was nicht genug betont werden kann – nicht nur die Bedeutung nachzuweisen, daß in uns selbst auch bewußtlose Perzeptionen sind. Dieser Nachweis ist zwar wichtig genug für Leibnizens Position und richtet sich gegen Descartes, der wie alle Cartesianer nur bewußte Perzeptionen gelten läßt. Der Nachweis, daß unsere Seelenmonade auch der bewußtlosen und empfindungslosen Perzeptionen fähig ist, hat jedoch vor allem seine weitertragende Funktion darin, eine Rechtfertigung zu gewinnen für seine ontologische These, daß das perzeptive Wesen auch das substanzielle Wesen der anorganischen Körper ist. Wenn wir in uns selbst nachweisen können, daß es in uns völlig empfindungslose Perzeptionen gibt und geben muß, dann haben wir eine Handhabe dafür, ein solches völlig empfindungsloses substanzielles Wesen auch in den einfachen Substanzen der bloßen Körper anzusetzen.
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Viertes Kapitel: Die Stufen des monadischen Seins
Zur 4. These des 21. Abschnittes: Die vierte und letzte ontologische These im Abschnitt 21 lautete: In den Zustand der völligen Empfindungslosigkeit, den wir in uns selbst erfahren können, kann der Tod die tierischen Lebewesen eine Zeitlang versetzen. Die Phänomene der Betäubtheit und Ohnmacht, die wir bei uns antreffen, dienen – wie wir sehen – Leibniz als ontologischer Leitfaden auch für die monadologische Interpretation dessen, was wir sonst als den Tod oder als das Verenden des tierischen Lebewesens bezeichnen. Auch über diese These dürfen wir nicht vorschnell hinweggehen, den Aussagegehalt dieser These lediglich zur Kenntnis nehmend. Wie soeben gesagt, handelt es sich bei dieser These um die monadologische, also ontologische Interpretation des tierischen Endes. Leibniz will sagen: Was wir als den Tod, als das Ende des Tieres vermeinen, ist ontologisch-monadologisch ganz anders zu begreifen. Was wir als Ende des tierischen Lebewesens auffassen, ist solches, was die Tiere vielmehr in den Zustand dumpfester Perzeptionen versetzt. In diesem niedrigen Perzeptionszustand sind die Tiere nicht wahrhaft tot, sondern leben darin weiter in einem herabgesetzten Perzeptionszustand. Das Ende des Tieres ist, monadologisch gesehen, kein wahres Ende, sondern Rückentwicklung. Diese ist eine solche des tierischen Perzeptionszustandes und zugleich eine solche des zu diesem Perzeptionszustand gehörenden tierischen Körpers. Der Zerfall des Körpers ist ontologisch-monadologisch kein völliges Vergehen, sondern Rückbildung. Die Rückbildung, d. h. Auflösung in Teile, des phänomenalen Körpers der tierischen Seele geht zusammen mit der Rückbildung der sinnlich empfindenden Tierseele in die empfindungslos perzipierende Seele. Aus Leibnizens monadologischer Sicht ist das tierische Leben zwar nicht unsterblich, wohl aber unvergänglich. Würde das tierische Leben in der Verendung völlig vergehen, dann verginge mit dem phänomenalen Tierkörper auch die Tierseele als monadische Substanz. Doch schon im 4. Abschnitt der „Monadologie“ hatte Leibniz hervorgehoben, es sei undenkbar, daß eine einfache Substanz auf natürlichem Wege vergehen könne. Das natürliche Vergehen gibt es überhaupt nur in der Natur der Körperwelt, nicht aber im Sein dieses Seienden. Aber auch das natürliche Vergehen ist, monadologisch gesehen, kein völliges Vergehen, sondern Auflösung in Teile, d. h. Verwandlung, die uns wie ein völliges Vergehen erscheint. Das natürliche Vergehen im Sinne des völligen Verschwindens gibt es erst Recht nicht für das substanzielle Sein, das weder auf natürliche Weise entsteht noch auf natürliche Weise vergeht. Das substanzielle Sein entsteht nur durch urmonadische Hervorbringung und vergeht auch nur durch den denkbaren urmonadischen Widerruf der urmonadischen Hervorbringung. Würden wir also meinen, daß mit der Verendung des Tieres und dem Zerfall seines Körpers dieses Lebewesen im ganzen völlig vergeht, dann
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würden wir meinen, daß nicht nur der organische Körper, sondern auch dessen monadisches Sein vergeht. Eine solche Meinung verstieße aber gegen die Vernunfteinsicht in die unzerstörbare Einheit einer Substanz. Auch das tierische Lebewesen ist ontologisch gegründet durch eine unzerstörbare Seelenmonade. Was auf den ersten Blick hin wie eine befremdlich anmutende Weltanschauung Leibnizens aussieht, erweist sich bei einigem Nachdenken als eine in sich stimmige ontologische Grundthese von Leibniz. Dieser monadologischen Grundthese gemäß ist das substanzielle Sein einer jeden Substanz eine unvergängliche Einheit. Wir dürfen Leibniz nicht weltanschaulich und damit ontisch, sondern wir müssen ihn streng philosophisch und das heißt ontologisch denken. Die Selbsterfahrung eigener Seelenzustände, wie Ohnmacht und traumloser Schlaf, in denen wir völlig empfindungslos sind, diese Selbsterfahrung hatte schon das Faktum völlig unmerklicher Perzeptionen erwiesen. Solche unmerklichen Perzeptionen können nunmehr auch als das substanzielle Wesen der bloßen Körper angesetzt werden. Das war der Gedankengang der Abschnitte 20 und 21 der „Monadologie“. Mit diesem Nachweis des Faktums gänzlich empfindungsloser Perzeptionen gibt sich Leibniz jedoch nicht zufrieden. In den Abschnitten 22 und 23 möchte er eindringlicher als bisher nachweisen, daß ich auch während meiner Betäubung Perzeptionen gehabt habe, obwohl diese weder während noch nach der Betäubung bewußt gemacht werden können. Dieser eindringlichere Nachweis wird aber so geführt, daß Leibniz dadurch einen noch tieferen Vernunftblick in das substanzielle Wesen der Monaden wirft. Dieser tiefere Wesensblick bringt das zum Vorschein, was wir in der Überschrift des § 14 die innermonadische Zeitlichkeit nennen.
§ 14 Die innermonadische Zeitlichkeit1 Der 22. Abschnitt besteht aus zwei eng zusammengehörenden ontologischen Thesen. 1. Jeder gegenwärtige Perzeptionszustand einer einfachen Substanz ist die natürliche Folge ihres vorhergehenden Zustandes. 2. Die Gegenwart (der gegenwärtige Perzeptionszustand) geht mit der Zukunft (dem zukünftigen Perzeptionszustand) schwanger. Der 23. Abschnitt enthält vier ontologische Thesen. 1. Beim Erwachen aus der Betäubung werde ich mir meiner Perzeptionen wieder bewußt. 1 Siehe hierzu: Wolfgang Janke, Die Zeitlichkeit der Repräsentation. Zur Seinsfrage bei Leibniz, in: Durchblicke. Martin Heidegger zum 80. Geburtstag. Hrsg. von Vittorio Klostermann. Verlag V. Klostermann Frankfurt am Main 1970, S. 255–283.
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2. Obwohl ich mir der Perzeptionen vor dem Erwachen nicht bewußt war, muß ich dennoch unmittelbar vor dem Erwachen, also während der Betäubung, Perzeptionen gehabt haben. 3. Eine Perzeption kann natürlicherweise nur aus einer anderen Perzeption entstehen. 4. Eine Bewegung kann natürlicherweise nur aus einer Bewegung entstehen. Vor der Einzelauslegung der ontologischen Thesen der Abschnitte 22 und 23 heben wir den Zusammenhang der Begründung für das Gegebensein von unbewußten-empfindungslosen Perzeptionen während der Betäubung heraus. Die Begründung führt zwei Gründe an, die zusammen das Faktum von völlig unmerklichen Perzeptionen im Betäubungszustand begründen sollen. Diese beiden Gründe verteilen sich auf die Abschnitte 22 und 23. Der 22. Abschnitt nennt den 1. Grund: Jeder gegenwärtige Perzeptionszustand und nicht nur in meiner Seelenmonade, sondern in jeder einfachen Substanz folgt unmittelbar aus dem vorhergehenden Perzeptionszustand, so daß jeder gegenwärtige Perzeptionszustand den nächstfolgenden, den künftigen Perzeptionszustand schon vorgebildet in sich trägt. Anders gewendet, jeder gegenwärtige Perzeptionszustand geht mit dem künftigen Perzeptionszustand schwanger. Wir sehen, wie hier in das monadische Sein die Zeit hereinspielt, die Zeit als Gegenwart, Gewesenheit und Zukunft, die Zeit als gegenwärtiger, gewesener und künftiger Perzeptionszustand. Da wir sogleich auf diesen eminent bedeutsamen Sachverhalt der innermonadischen Zeitlichkeit ausführlicher zurückkommen werden, achten wir zuerst nur auf jene These, die besagt, daß jeder gegenwärtige Perzeptionszustand die natürliche Folge des vorangehenden, nicht mehr gegenwärtigen, also gegenwärtig gewesenen Zustandes ist. Leibniz denkt hier wieder an das ontologische Gesetz der Kontinuität, das besagt, daß es in der innermonadischen Veränderung keine Sprünge gibt, sondern nur ein lückenloses Geschehen. Dies bedeutet in bezug auf zwei aufeinander folgende Perzeptionszustände, daß der jeweils gegenwärtige Zustand mit dem vorangehenden ohne Sprung verbunden ist, so, daß der jeweils neue gegenwärtige Perzeptionszustand kontinuierlich aus dem vorangegangenen folgt. Das ist der erste Grund für die Begründung. Dieser erste Grund liegt in der allgemeinen Einsicht in das substanzielle Wesen der einfachen Substanzen. Der 23. Abschnitt nennt den 2. Grund, der sich unmittelbar aus dem 1. Grund ergibt. Wenn man die allgemeine Einsicht in das innermonadische kontinuierliche Folgen eines Perzeptionszustandes aus dem jeweils vorangehenden auf die menschliche Seelenmonade und deren Erwachen aus der Betäubung bezieht, dann ergibt sich die Einsicht, daß ich auch während der Betäubung perzipiert habe. Denn wenn ich mir beim Erwachen meiner Perzeptionen bewußt werde, kann meine gegenwärtig bewußte Perzeption nur die Folge sein der unmit-
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telbar vorangegangenen, wenn auch nicht bewußten Perzeption. Im Erwachen aus der Betäubung finde ich mich selbst in der bewußten Perzeption. Diese kann aber nur aus einer anderen, ihr vorangegangenen Perzeption entstanden sein. Anderenfalls käme meine bewußte Perzeption im Erwachen aus einem perzeptiven Nichts, was undenkbar ist. Meine erste bewußte Perzeption beim Erwachen aus der Ohnmacht folgt aus einer anderen, vorangegangenen Perzeption, die aber nicht eine bewußte sein muß. Denn bewußte Perzeptionen können aus unbewußten folgen. Die Bewußtheit, die Deutlichkeit macht als solche nicht das Wesen einer Perzeption aus. Die Merklichkeit einer Perzeption ist nur ein möglicher Zustand der Perzeption. Auch das ontologische Gesetz der Kontinuität in der monadischen Veränderung verbietet es, die erste bewußte Perzeption im Augenblick des Erwachens aus der Bewußtlosigkeit so zu verstehen, als käme sie aus einer völligen Perzeptionslosigkeit. Bewußtlosigkeit ist nicht gleich Perzeptionslosigkeit. Damit hat Leibniz insbesondere mit Hilfe der Einsicht in die monadische Zeitlichkeit den Nachweis geführt, daß wir in den zeitweiligen Zuständen völliger Bewußt- und Empfindungslosigkeit dennoch Perzeptionen haben. Auch in den Zuständen völliger Empfindungslosigkeit perzipieren wir, freilich in unmerklicher Weise. Dieser erneute Nachweis von dumpfesten Perzeptionen unserer eigenen Seelenmonade dient Leibniz wiederum als Handhabe für die monadologische Ansetzung eines perzeptiven Wesens der einfachen Substanzen von anorganischen Körpern. Die abschließende Einsicht in die strebend-perzipierenden Monaden der bloßen Körper spricht Leibniz im 24. Abschnitt der Monadologie aus. Bevor wir dazu übergehen und mit Leibniz die unterste Stufe im Stufenbau der Monaden abschließend begrifflich umreißen, kehren wir jetzt zu den Abschnitten 22 und 23 zurück. Denn nun gilt es, das zu durchdenken, was wir im Vorübergehen als die innermonadische oder monadische Zeitlichkeit angesprochen haben. Im 22. Abschnitt sagt Leibniz: Jeder gegenwärtige Zustand einer einfachen Substanz ist die natürliche Folge ihres vorhergehenden Zustandes. Jeder gegenwärtige Zustand (tout present état) ist jeder monadische Veränderungszustand. Als Veränderungszustand ist er ein Perzeptionszustand. Jeder neue Perzeptionszustand ist ein veränderter, d. h. ein anderer gegenüber dem vorhergehenden. Der vorhergehende Zustand (état precedent) war auch ein „gegenwärtiger“ Zustand und ist jetzt ein gegenwärtig-gewesener, ein vergangener Zustand. Der gegenwärtige Perzeptionszustand ist die innermonadische Gegenwart. Der vorhergehende Perzeptionszustand ist die innermonadische Vergangenheit. Die innermonadische Zukunft spricht Leibniz dadurch an, daß er sagt: Die Gegenwart geht mit der Zukunft schwanger.
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Die Gegenwart (le present) ist der jeweils gegenwärtige Perzeptionszustand. Die Zukunft (l’avenir) ist der zukünftige Perzeptionszustand. Wie also steht der zukünftige Perzeptionszustand zum gegenwärtigen Perzeptionszustand? Wie kommt es jeweils zum neuen gegenwärtigen Zustand? In der 1. These des 22. Abschnittes heißt es: Jeder gegenwärtige Perzeptionszustand einer einfachen Substanz ist auf natürliche Weise (naturellement) eine Folge (une suite) ihres vorangehenden Perzeptionszustandes. Der vorangehende Zustand war selbst gegenwärtiger Perzeptionszustand. Der neue gegenwärtige Zustand ist eine Folge des zuvor gegenwärtigen, jetzt gegenwärtig-gewesenen Perzeptionszustandes. Wie aber folgt der neue gegenwärtige Zustand auf den gegenwärtig-gewesenen Zustand? Von woher stellt sich der neue gegenwärtige Zustand ein, wenn er auf natürliche Weise auf den bisher gegenwärtig-gewesenen Zustand folgt? Das Folgen des neuen gegenwärtigen Zustandes auf den bisher gegenwärtig-gewesenen wird erst dadurch geklärt, daß Leibniz sagt: Die Gegenwart geht schwanger mit der Zukunft. In diesem Bilde ist gesagt, woher sich der neue gegenwärtige Zustand einstellt. Der jetzt neue gegenwärtige Zustand war als noch nicht gegenwärtiger schon vorgebildet im jetzt gegenwärtig-gewesenen Zustand. Die Herkunft des künftigen Perzeptionszustandes ist der gegenwärtige Perzeptionszustand. Denn dieser ist schwanger, trägt also in sich den jetzt noch künftigen, später selbst gegenwärtigen Zustand. Der gegenwärtige Zustand ist auf natürliche Weise eine Folge des zuvor gegenwärtigen Zustandes, so, daß er in diesem vorgebildet war. Als so im gegenwärtigen Zustand vorgebildet ist er selbst noch nicht gegenwärtiger, sondern künftiger Zustand. Das auf natürliche Weise Folgen ist als Folgen-auf ein Folgen-aus. Wenn der jeweils gegenwärtige Zustand mit dem künftigen schwanger ist, geschieht der Übergang des künftigen Zustandes in den gegenwärtigen Zustand aus dem soeben noch gegenwärtigen Zustand. Der künftige Zustand kommt nicht von außen auf den gegenwärtigen Zustand zu. Vielmehr entfaltet sich der jeweils künftige Zustand aus dem jeweils gegenwärtigen Zustand heraus zum neuen gegenwärtigen Zustand. Der Übergang des künftigen Zustandes in den gegenwärtigen Zustand ist ein Sichentfalten. Der künftige Zustand entfaltet sich aus dem gegenwärtigen Zustand zum neuen gegenwärtigen Zustand. Der soeben noch gegenwärtige Zustand geht über in den gegenwärtiggewesenen Zustand. Als gewesener Perzeptionszustand bleibt er innermonadisch bewahrt. Dieses innermonadische Bewahren ist ein innermonadisches Behalten, das behaltende Bewahren aller gewesenen Zustände. Das innermonadische Verhältnis des jeweils gegenwärtigen Perzeptionszustandes einerseits zum unmittelbar vorhergehenden und jetzt vergangenen,
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andererseits zum unmittelbar künftigen Perzeptionszustand ist das Verhältnis der innermonadischen Gegenwart zur innermonadischen Vergangenheit und innermonadischen Zukunft. Diese drei Zeitcharaktere bilden in ihrem Zusammenhang die innermonadische Zeit oder Zeitlichkeit. Die innermonadische Selbstveränderung, das Geschehen des strebenden Perzipierens, ist somit ein zeitlich verfaßtes Geschehen. Und wenn das strebende Perzipieren die ursprüngliche Kraft ist, dann ist die innermonadische Kraft der Selbsttätigkeit der einfachen Substanzen zeitlich verfaßt. Die Selbsttätigkeit geschieht als Selbstentfaltung. In dieser entfaltet jede einfache Substanz die in ihr angelegten Wesensbeschaffenheiten. Die sich selbst entfaltende Wesensbeschaffenheit ist aber die selbsttätige Kraft des strebenden Perzipierens. Diese selbsttätige ursprüngliche Kraft (die vis primitiva activa et passiva) entfaltet ihr selbsttätiges Handeln in den drei Zeitcharakteren der innermonadischen Gegenwart, innermonadischen Zukunft und innermonadischen Vergangenheit. Wenn aber diese innere Selbsttätigkeit den Charakter der Entelechie im weiten Sinne hat, heißt das: Die monadischen Entelechien sind zeitlich verfaßt. Die innere Selbsttätigkeit der Monaden geschieht als zeitlich auseinandergelegte innere Selbstentfaltung. Damit stehen wir vor dem hermeneutischen Tatbestand einer innermonadischen Zeitlichkeit. Diese ist aber nicht dasselbe wie die Zeit, in der die räumlich ausgedehnten Körper dauern und sich von Ort zu Ort bewegen. Die Zeit der phänomenalen Körper ist die zum phänomenalen Raum gehörende phänomenale Zeit. Wenn die Körperwelt das Ganze des Seienden ist, dann ist die Zeit der Körper die Zeit des Seienden. Es ist die Zeit, in der das Seiende entsteht, dauert, sich verändert und vergeht, d. h. in Teile zerfällt. Die einfachen Substanzen aber sind das substanzielle Sein des phänomenalen innerräumlichen-innerzeitlichen Seienden. Wenn das substanzielle Sein das innermonadische Geschehen des selbsttätigen Strebens und Perzipierens ist und wenn dieses Geschehen zeitlich verfaßt ist, verfaßt als innermonadische Zeitlichkeit, dann ist diese innermonadische Zeitlichkeit die Zeitlichkeit und Zeit des monadischen Seins. Mit anderen Worten, Leibniz versteht das monadische Sein ausdrücklich zeithaft. Das substanzielle Wesen ist als das monadische Sein zeithaft verfaßt. Aber die Zeitlichkeit des substanziellen Seins ist nicht einerlei mit der Zeit der Körperwelt. Die monadische Zeit ist ursprünglicher als die Zeit der Körper. So wie das substanzielle Sein das phänomenale Seiende ermöglicht und trägt, so ermöglicht und trägt auch die monadische Zeitlichkeit die Zeit der Körper. Wie aber kommt die Zeit in das monadische Sein? Wie kommt Leibniz dazu, die Selbstentfaltung des innermonadischen Wesens zeitlich zu denken? Auf welchem Wege gelangt Leibniz dazu, in den Monaden so etwas
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wie eine Zeitlichkeit ausdrücklich zu denken? Auf welchem Wege kommt Leibniz zu der Einsicht, daß das substanzielle, das monadische Sein zeithaft ist? Wie wird es möglich, daß Leibniz das substanzielle Wesen der einfachen Substanzen zeithaft denkt? Die Antwort auf diese Fragen ist nicht schwer zu finden. Die Zeit kommt in das substanzielle Sein bzw. Wesen über das, was Leibniz als das einförmige substanzielle Wesen aller Monaden ansetzt; das selbsttätige strebende Perzipieren. Der Weg zur Einsicht in das substanzielle Wesen der einfachen Substanzen beginnt aber in der Selbsterfahrung der menschlichen Seelenmonade und führt aus dieser Selbsterfahrung hinaus zur vernunftmäßigen Setzung des allgemeinen substanziellen Wesens aller einfachen Substanzen. In der Selbsterfahrung erfahre ich in mir mein Vorstellen (percipere) und mein Wollen (volitio), mein Streben. Ich erfahre in mir mein Vorstellen, das übergeht in immer neues Vorstellen. Das Wollen als Streben ist das Übergehenlassen von Vorstellung zu Vorstellung. Das Vorstellen in mir und das Übergehen von einem Vorstellungszustand zum anderen erfahre ich aber in seiner eigenen Zeitlichkeit. Der jeweilige Vorstellungszustand ist gegenwärtiger Zustand, der vorangehende ist behalten als gegenwärtig-gewesener, als vergangener Zustand, und im gegenwärtigen Vorstellungszustand ist der gegenwärtig-werdende, der künftige Vorstellungszustand erwartet. Das gegenwärtige Vorstellen ist also immer auch ein Behalten des vergangenen und ein Erwarten des künftigen Vorstellens. Es gehört zum Wesen des strebenden Vorstellens, daß es in einer Zeitlichkeit auseinandergelegt ist in die Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft des strebenden Perzipierens. Zur Selbsterfahrung des strebenden Perzipierens der menschlichen Seele gehört die Selbsterfahrung ihrer eigenen Zeitlichkeit. Es ist die der Seele eigene Zeitlichkeit ihres Vorstellens und Wollens, ihres Perzipierens und Strebens. Zur Zeitlichkeit der menschlichen Seele gehört jedoch, daß die Seele ihre Zeitlichkeit als solche versteht. Zur Zeitlichkeit der menschlichen Seele gehört, daß sie im gegenwärtigen Vorstellungszustand um diese Gegenwart weiß, daß sie im Behalten des vergangenen Vorstellungszustandes um diese Vergangenheit weiß, daß sie im Erwarten des künftigen Vorstellungszustandes um diese Zukunft weiß. Zur menschlichen Seele gehört ein Zeitverständnis, weil sie nicht nur perzipiert, sondern apperzipiert, d. h. ein bewußtes Perzipieren ist. Aber das Zeitverständnis gehört nach Leibniz nur zu dieser Perzeptionsstufe, nur zur menschlichen Monade. Das Zeitverständnis gehört somit nicht zu jeder Perzeptionsstufe, nicht zu jeder perzipierenden Monade. Zwar gehört das strebende Perzipieren zu jeder Monade und mit dem strebenden Perzipieren auch dessen eigene Zeitlichkeit, aber nicht
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in der Weise des Zeitverständnisses. Wenn wir in uns mit dem strebenden Perzipieren dessen eigene Zeitlichkeit erfahren, derart, daß wir um diese Zeitlichkeit wissen, dann charakterisiert das Verständnis von der Zeitlichkeit des strebenden Perzipierens nur die menschliche Monade. Die Antwort auf unsere Frage, wie die Zeitlichkeit in das substanzielle Wesen des monadischen Seins gelange, ist nunmehr gefunden: Weil das substanzielle Wesen einer jeden einfachen Substanz im strebenden Perzipieren beruht, dieses aber wesensmäßig zeitlich verfaßt ist, ist das substanzielle Wesen einer jeden einfachen Substanz in sich selbst zeitlich verfaßt. In meiner Selbsterfahrung zeigt sich mir nicht nur das strebende Perzipieren, sondern mit diesem auch dessen eigene Zeitlichkeit. Was ich in mir als das substanzielle Wesen meiner monadischen Seele erfahre: das strebende Perzipieren in seiner Zeitlichkeit, kann nach dem Gesetz der Analogie nichts sein, das seinsmäßig isoliert ist vom substanziellen Wesen aller nichtmenschlichen Monaden. Ich erfahre somit in mir mein eigenes substanzielles Wesen, das zugleich in analoger Weise das substanzielle Wesen einer jeden einfachen Substanz ist. Das bedeutet jedoch nicht, daß jede einfache Substanz dasselbe substanzielle Wesen, das mir eigen ist, einschließt. In den nichtmenschlichen Monaden ist das substanzielle Wesen nicht in derselben, sondern in analoger Weise eingeschlossen. In den nichtmenschlichen Monaden ist das zeitlich verfaßte strebende Perzipieren ohne Bewußtsein und somit ohne Verständnis der Zeitlichkeit. Doch mit dem Fehlen der Bewußtheit und des Verständnisses der Zeitlichkeit als solcher fehlt nicht auch die Zeitlichkeit des strebenden Perzipierens. Jede einfache Substanz in allen Monadenstufen ist mit ihrem strebenden Perzipieren zeitlich verfaßt. Das substanzielle Sein der Monaden ist zeithaftes Sein, das zeitlich auseinandergelegt ist in die monadische Gegenwart, monadische Vergangenheit und monadische Zukunft. Gewonnen ist diese Einsicht in der Selbsterfahrung der menschlichen Seelenmonade. In dieser Selbsterfahrung ist die menschliche Seele zwar als Selbstbewußtsein erfahren. Die innermonadische Zeitlichkeit ist somit erfahren an der Zeitlichkeit des Bewußtseins. Die Zeitlichkeit des Bewußtseins ist nicht die objektive Weltzeit, in der die Welt der Objekte ist, sondern die immanente, die bewußtseinsimmanente Zeit. So nennt sie Edmund Husserl erstmals in seinen „Vorlesungen zur Phänomenologie des inneren Zeitbewußtseins“.2 Die von Leibniz ausdrück2 Edmund Husserl, Vorlesungen zur Phänomenologie des inneren Zeitbewußtseins, in: Zur Phänomenologie des inneren Zeitbewußtseins (1893–1917). Husserliana Band X. Hrsg. von R. Boehm. Verlag Martinus Nijhoff Haag 1966, S. 3–134. – Siehe hierzu: F.-W. v Herrmann, Husserls phänomenologische Frage nach der Zeit als phänomenologische Analyse des Zeitbewußtseins, in: F.-W. v. Herrmann, Augu-
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lich gedachte innermonadische Zeit steht in einer sachlichen Nähe zum inneren Zeitbewußtsein so, wie Husserl es zur phänomenologischen Auslegung gebracht hat. Auch für Husserl ist die Zeit des bewußtseinsimmanenten Verlaufes die ursprüngliche Zeit, der phänomenologische Ursprung für die objektive Zeit der Körper und körperlichen Veränderungen. Wenn wir die innermonadische Zeit mit der bewußtseinsimmanenten Zeit vergleichen, können wir sagen: Was Leibniz den jeweils gegenwärtigen Perzeptionszustand nennt, faßt Husserl auf seiner phänomenologischen Betrachtungsebene des subjektiven Zeitbewußtseins als das urimpressionale Gegenwartsbewußtsein. Was Leibniz den innermonadisch behaltenen vorhergehenden Perzeptionszustand nennt, faßt Husserl auf seiner Ebene als das retentionale Bewußtsein vom soeben Gegenwärtiggewesenen. Was Leibniz schließlich den innermonadisch künftigen Perzeptionszustand nennt, faßt Husserl als das protentionale Bewußtsein vom sogleich Gegenwärtigwerdenden. Das urimpressionale Bewußtsein ist das Bewußtsein vom aktuellen Jetzt, das retentionale Bewußtsein das Bewußtsein vom Nicht-mehr-Jetzt und das protentionale Bewußtsein das Bewußtsein vom Noch-nicht-Jetzt. Das innere Zeitbewußtsein, das Bewußtsein von der inneren Zeit, ist auseinandergelegt in das Jetzt-Bewußtsein, Nicht-mehr-Jetzt-Bewußtsein, Noch-nicht-JetztBewußtsein. Die bewußtseinsimmanente Gegenwart ist das bewußtseinsimmanente Jetzt, die bewußtseinsimmanente Vergangenheit ist bewußtseinsimmanentes Nicht-mehr-Jetzt und die bewußtseinsimmanente Zukunft ist bewußtseinsimmanentes Noch-nicht-Jetzt. Analoges gilt auch für die innermonadische Zeit. Auch sie ist innermonadisches Jetzt, innermonadisches Nicht-mehr-Jetzt, innermonadisches Nochnicht-Jetzt. Die innermonadische Zeitlichkeit hat eine Verwandtschaft mit der immanenten Zeit des Bewußtseins. Zum Unterschied zwischen Husserl und Leibniz: Husserl kennt die immanente Zeit nur als eine solche des Bewußtseins. Dagegen denkt Leibniz die innermonadische Zeit, die Zeitlichkeit des strebenden Perzipierens, als Zeitlichkeit des monadischen Seins überhaupt. Dieser große Unterschied zwischen Husserl und Leibniz ergibt sich daraus, daß Husserl phänomenologischer Erkenntnistheoretiker ist und nicht wie Leibniz nach dem substanziellen Sein des Seienden fragt. Für Leibniz wird die Zeit, die er in der Selbsterfahrung des eigenen strebenden Perzipierens erfährt, zu jener Zeit, die nicht nur zur perzipierenden Seele des Menschen gehört, sondern zum perzeptiven Sein jeder Substanz. Für Leibniz wird die so erfahrene Zeit zur stinus und die phänomenologische Frage nach der Zeit. V. Klostermann Frankfurt am Main 1992, S. 145–169.
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Zeitlichkeit des substanziellen Seins überhaupt. Leibniz erfährt das Sein des Seienden zeithaft. Leibniz bewegt sich in der Freilegung der Zeitlichkeit des strebenden Perzipierens im Bereich eines Fragens von Sein und Zeit. Leibniz denkt das Sein als das substanzielle monadische Wesen aus der Zeit. Das substanzielle Wesen ist an ihm selbst zeithaft bestimmt. Leibniz und Kant. Auch Leibniz gehört zu den Denkern, die das Sein des Seienden ausdrücklich zeithaft denken. Zu diesen Denkern gehört in einer ausgezeichneten Weise Kant. Dieser denkt die Zeithaftigkeit des Seins des Seienden in der Schematisierung (Temporalisierung) der Kategorien.3 Die transzendentale Einbildungskraft ist es, die im Maß-nehmenden Blick auf die Kategorien und auf die in den Kategorien einigenden Einheiten das reine Mannigfaltige der Zeit gemäß den kategorialen Einheiten synthetisiert. Die Gebilde dieses Bildens sind die verzeitlichten Kategorien, die transzendentalen Schemata. Die temporalisierten Kategorien sind aber die Seinsbestimmungen der Gegenstände der Erfahrung. Das empirische Seiende, die Erscheinungen, erhalten aus den verzeitlichten Kategorien ihre Seins-, ihre Gegenständlichkeitsstrukturen. Diese (die Kausalitäts- und die Substanzialitätsstruktur) bilden die Seinsbestimmungen des Seienden, der Erfahrungsgegenstände. Leibniz und Kant denken das Sein des Seienden ausdrücklich aus dem Horizont der Zeit. Sie denken das Sein des Seienden als zeithaft bestimmt, wenn auch in unterschiedlicher Weise. Wie aber wird durch sie die Zeit erfahren? Für beide Denker ist es die Zeit, die am Jetzt orientiert ist. Was Kant das reine Mannigfaltige der Zeit nennt, ist die reine Folge der in der reinen Selbstaffektion entspringenden Jetzt, die von der transzendentalen Einbildungskraft gemäß den Kategorien zum zeithaften Schema synthetisiert wird. Auch für Leibniz ist die monadische Zeit das monadische Jetzt, Nichtmehr-Jetzt und Noch-nicht-Jetzt. Die Zeit, aus der für Leibniz wie für Kant die Seinsverfassung des Seienden zeithaft bestimmt wird, ist die Zeit als das Nacheinander der Jetzt. Beide Denker unterscheiden aber auch die innere Zeit von der Zeit, in der die räumlichen Gegenstände und Geschehnisse sind. Für Leibniz ist die innere Zeit die innermonadische Zeit, die zum substanziellen Sein gehört. Für Kant ist die innere Zeit die in der reinen Selbstaffektion entspringende 3 Immanuel Kant, Von dem Schematismus der reinen Verstandesbegriffe, in: Kritik der reinen Vernunft. Hrsg. von Raymund Schmidt. Felix Meiner Verlag Hamburg, 14. Auflage 1930, S. 196 ff. – Siehe hierzu: F.-W. v. Herrmann, Kants Transzendentaler Schematismus der reinen Verstandesbegriffe, in: Norbert Fischer (Hg.), Kants Grundlegung einer kritischen Metaphysik. Einführung in die ‚Kritik der reinen Vernunft‘. Felix Meiner Verlag Hamburg 2010, S. 155–165.
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Zeit des inneren Sinnes, die Zeit als reine Anschauungsform des inneren Sinnes. Die Zeit des inneren Sinnes ist es, mit der die transzendentalen Schemata der Kategorien gebildet werden. Der innere Sinn ist wie der äußere Sinn eine immanente Gliederung des Bewußtseins. Die Zeit als Anschauungsform des inneren Sinnes ist wie die innermonadische Zeit die zum Bewußtsein und dessen Immanenz gehörende Zeit. Übergang zu Heidegger. Dort aber, wo die denkerische Grundstellung im Bewußtsein aufgegeben wird umwillen der Grundstellung im Da-sein des Menschen, stellt sich die Frage nach Sein und Zeit4, nach der zeithaften Bestimmtheit des Seins, in einer neuen Weise. Zeigt sich dem Denken das Wesen des Menschen nicht als Bewußtsein, sondern nunmehr als Da-sein, dann zeigt sich auch das Wesen des Seins und das Wesen der Zeit in gewandelter Weise. Aus der Grundstellung des Da-seins zeigt sich das Wesen des Seins nicht als substanzielles Sein, nicht als die Seiendheit in Gestalt der Substanzialität. Aus der Grundstellung des Da-seins zeigt sich das Wesen des Seins als die Wahrheit des Seins, als das Sein in seiner ihm eigenen Wahrheit, Wahrheit aber verstanden als Erschlossenheit qua Aufgeschlossenheit, als Offenheit, Unverborgenheit. Aus der Grundstellung des Da-seins zeigt sich aber auch das Wesen der Zeit in gewandelter Weise. Die am Jetzt orientierte Zeit zeigt sich nunmehr als abkünftig, als entsprungen aus der ursprünglichen Zeit, die ihrerseits nicht am Jetzt orientiert ist, sondern ein anderes Wesen zeigt, das sich von der Jetzt-Zeit her gar nicht sehen und fassen läßt. Die zum Da-sein gehörende ursprüngliche Zeit ist die ekstatischhorizontale Zeit oder Zeitlichkeit. Die ekstatische Zeit ist die Zeitlichkeit des Da-seins – nicht die Zeit des Bewußtseins, die ihrerseits wesensmäßig eine am bloßen Jetzt orientierte Zeit ist. Die ekstatische Zeit des Da-seins ist dessen sichzeitigende Zeitlichkeit, die sich im und als Existieren zeitigt. Diese existenziale Zeitlichkeit bestimmt sich als Zeitlichkeit nicht aus dem Jetzt, Nicht-mehr-Jetzt, Nochnicht-Jetzt. Sie bestimmt sich vielmehr aus der Wahrheit als Offenheit, die die Unverborgenheit des Seins ist. Zu dieser existenzialen-ekstatischen Zeitlichkeit des Da-seins gehört ein Zeit-Horizont, die horizontale Zeit, die Heidegger im Unterschied zur ekstatischen Zeitlichkeit des Da-seins den temporalen Horizont nennt. In der sich zeitigenden Zeitlichkeit des Da-seins ist das Da-sein verstehend entrückt in den Zeithorizont, in die horizontale Zeit, in den temporalen Zeithorizont. 4 Martin Heidegger, Sein und Zeit. Gesamtausgabe Band 2. Hrsg. von F.-W. v. Herrmann. V. Klostermann Frankfurt am Main 1977, hier: Zweiter Abschnitt: Dasein und Zeitlichkeit, S. 400–491, 534–577. – Siehe hierzu: F.-W. v. Herrmann, Der Zeitbegriff Martin Heideggers. In: Mesotes. Supplementband Martin Heidegger. Wien 1991, S. 22–34.
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Sowohl die ekstatische Zeitlichkeit wie der temporale Zeithorizont bilden in ihrer wesensmäßigen Zusammengehörigkeit die zeithafte Verfaßtheit der Wahrheit als der Erschlossenheit des Seins überhaupt, des Seins im Ganzen, d. h. des Ganzen des daseinsmäßigen und des nichtdaseinsmäßigen Seins. Aus der ekstatischen Zeitlichkeit bestimmt sich das Sein des Da-seins, seine Existenz als zeithaft verfaßte im Sinne der sichzeitigenden Zeitlichkeit des Da-seins. Aus dem zur ekstatischen Zeitlichkeit gehörenden temporalen Horizont bestimmt sich das Sein, bestimmen sich die Seinsweisen alles nichtdaseinsmäßigen Seienden zeithaft. Zusammenfassend läßt sich sagen: In der Grundstellung des Da-seins bestimmt sich das Sein zeitlich und temporal aus der ursprünglichen Zeit, aus der Einheit von ekstatischer Zeitlichkeit und temporalem Zeit-Horizont. In der Grundstellung des Bewußtseins, zu der Leibniz wie auch Kant gehören, bestimmt sich das Sein zeitlich aus der am Jetzt orientierten Zeit. Damit haben wir die innermonadische Zeit so, wie Leibniz diese im 22. Abschnitt der „Monadologie“ bedenkt, in einen größeren philosophischen Zusammenhang gestellt, und zwar dadurch, daß wir die innermonadische Zeit verglichen haben einerseits mit Husserls innerem Zeitbewußtsein und andererseits mit Kants und Heideggers Bestimmung der Zeithaftigkeit des Seins. Wir kehren nunmehr zurück zur Bestimmung der ersten Stufe des monadischen Seins der bloßen, der anorganischen Körper. Diese erste Stufe nennt Leibniz Entelechien im engeren Sinne. Im engeren Sinne heißt: in der Abgrenzung von der nächst höheren, der zweiten Stufe des monadischen Seins, die Leibniz „Seelen-Monaden“ nennt, die Monaden als Seelen der pflanzlichen und der tierischen Lebewesen. Für die Bestimmung der ersten Stufe monadischen Seins kam es im 22. Abschnitt der „Monadologie“ zur Thematisierung der innermonadischen Zeit. Diese bestimmt nicht nur das monadische Sein der untersten Stufe, sondern das monadische Sein aller Stufen. Das monadische Sein bzw. Wesen aller Monaden ist, wie der 22. Abschnitt gezeigt hat, grundsätzlich zeithaft verfaßt. „Zeitlich verfaßt“ heißt nicht innerzeitlich, so, wie die Körper und ihre Veränderungen, Bewegungen in der Zeit sind. „Zeitlich verfaßt“ heißt vielmehr, daß das strebendperzeptive Sein an ihm selbst und aus ihm selbst heraus „zeitlich geschieht“. Das strebend-perzeptive Sein geschieht zeitlich in auseinander folgenden perzeptiven Zuständen. Jeder Perzeptionszustand ist aus ihm selbst heraus bestimmt als gegenwärtiger Zustand, der die gegenwärtiggewesenen, vergangenen Perzeptionszustände hinter sich und den künftiggegenwärtigen Zustand vor sich hat. Dieser künftig-gegenwärtige Perzeptionszustand ist aber als künftiger im jeweils gegenwärtigen vorgebildet,
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dergestalt, daß die innermonadische Gegenwart schwanger geht mit der innermonadischen Zukunft. Diese allgemeine Einsicht in die Zeitlichkeit des substanziellen Wesens aller Monaden diente Leibniz zugleich als Nachweis dafür, daß die erste bewußte Perzeption der menschlichen Seelenmonade beim Aufwachen aus ihrer Bewußtlosigkeit nicht aus einer völligen Perzeptionslosigkeit, sondern aus einer bewußt-losen Perzeptionstätigkeit der menschlichen Seele folgt. Denn der gegenwärtige bewußte Perzeptionszustand ist natürlicherweise die Folge aus dem vorangehenden Perzeptionszustand, der ein bewußt-loser war. Aber Bewußt-losigkeit heißt für Leibniz nicht Perzeptionslosigkeit. Wie es im 23. Abschnitt heißt: Eine Perzeption wie die bewußte beim Erwachen aus der Bewußtlosigkeit kann gemäß der Natur, gemäß dem Wesen der einfachen Substanz nur aus einer anderen Perzeption entstehen, nicht aber aus einem Nichts an Perzeptivität. Leibniz spricht im 23. Abschnitt eine Analogie aus: So wie eine Perzeption gemäß dem Wesen der Monade nur aus einer anderen Perzeption hervorgehen kann (die künftige aus der gegenwärtigen, welche künftige nunmehr die gegenwärtige ist), so entsteht auch eine Körperbewegung natürlicherweise nur aus einer anderen Körperbewegung. Hierfür verweist Leibniz auf die §§ 401–403 der II. Abhandlung der „Theodizee“. Im § 403 heißt es: Jede gegenwärtige Perzeption strebt zu einer neuen, der künftigen Perzeption, so wie jede „durch sie repräsentierte Körperbewegung auf eine andere Körperbewegung abzielt“.5 Aus dieser Textstelle wird deutlich, in welchem Bezug das perzeptive Geschehen einerseits und das körperliche Bewegungsgeschehen andererseits stehen. Der jeweilige gegenwärtige Perzeptionszustand ist das substanzielle Wesen für die im gegenwärtigen Perzeptionszustand repräsentierte, perzipierte, vorgestellte körperliche Bewegung. Daß eine Körperbewegung nur aus einer Körperbewegung entstehen kann, hat seinen Seinsgrund im monadischen Sein, im Hervorgang einer gegenwärtigen Perzeption aus einer vorhergehenden Perzeption. Der Nachweis von bewußt-losen Perzeptionen der menschlichen Seele dient Leibniz vor allem als ontologischer Leitfaden für die Vernunfteinsicht in das perzeptive substanzielle Wesen der bloßen Körper. Diese Vernunfteinsicht wird abschließend im 24. Abschnitt der „Monadologie“ ausgesprochen. Der 24. Abschnitt besteht aus zwei ontologischen Thesen: 1. Wir würden stets im Zustand der Betäubung sein, wenn wir in unseren Perzeptionen kein Unterschiedenes und keine höhere Neigung hätten. 2. Dieses ‚keine höhere Neigung haben‘ ist tatsächlich der Zustand der ganz „nackten Monaden“. 5 G. W. Leibniz, Die Theodizee. Übersetzt von A. Buchenau. Felix Meiner Verlag Hamburg 1968, S. 401.
§ 14 Die innermonadische Zeitlichkeit121
Zur 1. These: Daß unser Zustand der Betäubung kein Zustand totaler Perzeptionslosigkeit ist, sondern nur ein Zustand der Bewußtlosigkeit, ein Zustand bewußtloser Perzeptionen, geht für Leibniz aus dem hervor, was er in den Abschnitten 22 und 23 ausgeführt hat. Hätten wir in unseren Perzeptionen kein Unterschiedenes, keine höhere Neigung, dann befände sich unsere Monade stets im Zustand der Betäubung und wäre keine Seelenmonade. Das „Unterschiedene“ in unseren Perzeptionen zielt auf die sinnlichen Perzeptionen, auf das Sinnlich-Empfindungsmäßige. Dieses unterscheidet sich vom Zustand der Betäubung. Das „Herausgehobene“ in unseren Perzeptionen zielt aber auch auf die spezifisch menschliche Bewußtheit, wodurch die menschliche Seelenmonade herausgehoben ist aus der Dumpfheit in der Betäubung und aus dem bloß Sinnlich-Empfindungsmäßigen. Die „höhere Neigung“ in unseren Perzeptionen zielt letztlich auf das Selbstbewußtsein in unseren Perzeptionen, worin sich aber unsere Seele nicht ständig hält. Der Seelenzustand der Betäubung ist ein solcher, in dem in unseren Perzeptionen weder das Selbstbewußtsein und Bewußtsein noch sinnliche Empfindung ist. Dieser Betäubungszustand ist jedoch kein Zustand völliger Perzeptionslosigkeit, sondern nur ein Zustand der Empfindungs- und Bewußtlosigkeit. Was sich durch unsere Selbsterfahrung ausweist als Perzeptionszustand ohne sinnliche Empfindung und Bewußtheit, ist ein völlig dumpfer Perzeptionszustand. Hielte dieser in uns an, dann würden wir uns in einer wesensmäßigen perzeptiven Dumpfheit halten. In dieser würden wir uns so halten, daß unser perzeptives Wesen ein kontinuierlicher Übergang wäre von dumpfem Zustand zu dumpfem Zustand. Denn auch in der völligen Dumpfheit gäbe es und gibt es den Übergang von gegenwärtigem zu neuem gegenwärtigen Zustand. Zur 2. These des 24. Abschnittes: Der Zustand der anhaltenden völligen Dumpfheit ist der perzeptive Zustand der nackten Monaden. In dieser 2. These sammelt sich die ontologische Einsicht, auf die Leibniz in den vorangehenden Abschnitten zusteuerte. Nun steht er in der gesicherten onto logischen Einsicht in das völlig dumpfe perzeptive Wesen als das monadische Sein der bloßen Körper. Die durch die Selbsterfahrung ausgewiesenen völlig dumpfen Perzeptionen sind das substanzielle Wesen der anorganischen Körper. Während für Descartes das substanzielle Wesen der Körper in der extensio besteht, sieht Leibniz das substanzielle Wesen der materiellen Körper im strebend-perzeptiven Wesen niederster Stufe. Den Übergang von Perzeptionszustand zu Perzeptionszustand gibt es nicht nur in den höherstufigen Monaden der pflanzlichen und tierischen Lebewesen, sondern ebenso in den nackten Monaden der anorganischen
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Körper. ‚Nackt‘ heißen diese Monaden, weil sie von jeder empfindungsmäßigen oder bewußtseinsmäßigen Regung frei sind. Aber ihre Regungslosigkeit meint nicht eine Veränderungslosigkeit. Auch die in sich regungslosen Monaden verändern sich in der Weise des strebenden Übergehens von Perzeption zu Perzeption. Doch alle Perzeptionszustände, die gegenwärtigen, gegenwärtig-gewesenen und künftigen, gleichen sich darin, daß sie alle dumpf sind und dumpf bleiben. Diese Dumpfheit bildet die unterste Stufe im Stufenbau der endlichen Monaden. Der innermonadische Übergang von gegenwärtigem Perzeptionszustand zu neuem gegenwärtigen Perzep tionszustand bildet das substanzielle Sein für die phänomenalen Veränderungen des körperlich Seienden. Diese völlig dumpfen Perzeptionen sind in ihrem kontinuierlichen Übergang von Perzeptionszustand zu Perzeptionszustand die Entelechien im engeren Sinne. Damit, daß diese Monaden als Entelechien im engeren Sinne gefaßt werden, wird betont, daß auch ihr substanzielles Wesen den Charakter innerer Selbsttätigkeit und Selbstentfaltung hat. Ihre Selbsttätigkeit ist der aus ihnen selbst heraus geschehende Übergang von Perzeption zu Perzeption. Das Streben führt den jeweils künftigen Zustand über in den neuen gegenwärtigen Zustand, mit dem der soeben gegenwärtig-gewesene Zustand schwanger ging. Auch das strebend-perzeptive substanzielle Wesen der anorganischen Körper ist zeitlich verfaßt durch die dem monadischen Sein eigene Zeitlichkeit. Nunmehr verlassen wir die unterste Stufe des monadischen Seins und wenden uns der zweiten Stufe zu, dem monadischen Sein der organischen Lebewesen. Diese zweite Stufe ist die der Seelen im engeren Sinne. Seelen im weiten Sinne sind alle Monaden, unabhängig vom Deutlichkeitsgrad ihres Perzipierens.
§ 15 Das monadische Sein des organischen Lebewesens: Seelen im engeren Sinne Die Abschnitte 25–27 sind Textgrundlage für unseren § 15. In diesen drei Abschnitten der „Monadologie“ wird das Besondere der zweiten Stufe des monadischen Seins behandelt. Die nächst höhere Monadenstufe im Anschluß an die der Entelechien im engeren Sinne wäre, streng genommen, die Stufe der Pflanzlichen Lebewesen. Das substanzielle Wesen der Pflanzen unterscheidet sich vom substanziellen Sein der Körper dadurch, daß deren Perzeptionen nicht mehr durch völlige Dumpfheit bestimmt sind, sondern durch einen begrenzten Grad an Aufgehelltheit. Das substanzielle Wesen der pflanzlichen Lebewesen unterscheidet sich andererseits vom substanziellen Sein der tierischen Lebewesen
§ 15 Das monadische Sein des organischen Lebewesens123
dadurch, daß seine Perzeptionen noch nicht durch sinnliche Empfindungen aufgehellt sind. In den Abschnitten 25–27 behandelt Leibniz nur das substanzielle Wesen der tierischen Lebewesen und überspringt damit die Kennzeichnung des Eigentümlichen des substanziellen Wesens der niedrigeren organischen Lebewesen. Der 25. Abschnitt enthält vier Thesen: 1. Die Natur hat den Tieren herausgehobene Perzeptionen gegeben. 2. Die herausgehobenen Perzeptionen in den Monaden der tierischen Lebewesen erkennen wir an den Organen der tierischen Körper. 3. Das Sehorgan faßt eine Menge von Lichtstrahlen, das Hörorgan eine Menge von Luftschwingungen zusammen und macht sie in ihrer Vereinigung wirksamer. 4. Das Perzeptionsgeschehen in der Seele repraesentiert das Geschehen in den körperlichen Organen. Zur 1. und 2. These: Die Art, wie Leibniz die 1. und 2. These formuliert, zeigt deutlich, daß er auch hier wieder ausgeht von den körperlichen Erscheinungen, vom phänomenalen tierischen Körper, und von diesem aus zurückfragt nach den besonderen Verhältnissen in der diesem Körper zugrundeliegenden einfachen Substanz. Der tierische Körper unterscheidet sich im rein Wahrnehmbaren vom anorganischen Körper dadurch, daß er durch bestimmte Wahrnehmungsorgane organisiert ist. Diese sind ein phänomenaler Hinweis auf andere Verhältnisse in den Monaden der organischen Körper als in den Monaden der anorganischen Körper. Die Organisiertheit der Organe des tierischen Körpers verweist auf höherstufige Perzeptionen in den Monaden der Tiere. Diese Höherstufigkeit der Perzeptionen läßt die Monaden der Tiere eine Tierseele sein. Die phänomenalen Organe, die zum phänomenalen Körper gehören, zeigen hinein in ein perzeptives Wesen der Monaden, das sich vom perzeptiven Wesen der anorganischen Körper wesentlich unterscheidet. Die Organe als phänomenales Seiendes zeigen auf ein diesem Seienden entsprechendes substanzielles Sein. Wichtig ist hierbei zu sehen, wie Leibniz methodisch vorgeht. Er geht aus vom Seienden und fragt von diesem aus zurück nach dem Sein dieses Seienden. Dieses Sein muß dabei so beschaffen sein, daß es der erforderliche Seinsgrund für das so und so bestimmte Seiende ist. Zur 3. These: Gemäß dieser sehen wir dem Organ des Auges an, daß es in seiner Funktion eine große Menge von Lichtstrahlen zusammenfaßt. Wir sehen es dem Hörorgan an, daß es eine große Menge von Luftschwingungen zusammenfaßt. Entsprechend verhält es sich mit den anderen Wahrnehmungsorganen. Die rein organische, anatomisch-physiologische Zusammenfassung führt zu einer größeren Wirksamkeit der zusammengefaßten Lichtstrahlen und Luftschwingungen. Die Sammlung der Lichtstrahlen im Seh organ, die Sammlung der Luftschwingungen im Hörorgan weist uns darauf
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hin, daß diesen körperlichen Erscheinungen im Seienden als substanzielles Wesen solche Perzeptionen zugrundeliegen, die den Charakter sinnlicher Empfindung haben. Diese selbst ist nichts Physiologisches. Die sinnliche Empfindung selbst ist perzeptiver Natur. Sie ist eine Weise strebenden Perzipierens. Als solches gehört das sinnliche Empfinden in das substanzielle Sein. Die Perzeptionen in Gestalt sinnlicher Empfindungen entsprechen als das substanzielle Wesen dem rein organischen Geschehen im Tierkörper. Als sinnliche Empfindungen sind sie gegenüber den dumpfen Perzeptionen der anorganischen Körper höherstufige Perzeptionen. Höherstufig sind sie, weil sie einen höheren Grad an Aufgehelltheit und Deutlichkeit haben. In der 4. These des 25. Abschnittes sagt Leibniz, er werde an späterer Stelle der „Monadologie“ aufklären, wie das, was in der Tierseele geschieht, dasjenige repraesentiert, was in den Wahrnehmungsorganen vorgeht. Wir wissen, daß das innermonadische Geschehen der Seinsgrund für das Geschehen im körperlich Seienden ist. Bei der Tierseele sind es die sinnlichen Empfindungen, die das substanzielle Sein für das Geschehen in den seienden Organen sind. Die sinnlichen Empfindungen sind aber Perzeptionen. Diese bilden je einen Perzeptionszustand, der als gegenwärtiger aus dem gegenwärtig-gewesenen hervorgeht, so wie jeder künftige aus dem gegenwärtigen hervorgeht. Dieses Auseinanderhervorgehen der Perzeptionszustände im Sinne der monadischen Selbsttätigkeit ist das innermonadische Geschehen, von dem im 25. Abschnitt die Rede ist. Das innermonadische Geschehen der auseinander folgenden Perzeptionszustände repraesentiert und perzipiert das, was in den phänomenalen Organen geschieht. Zwischen dem innermonadischen empfindenden Perzeptionsgeschehen und dem rein organischen Geschehen besteht eine Entsprechung. Wie aber das, was in der Tierseele als empfindendes Perzipieren geschieht, dasjenige repraesentiert, was in den Organen vorgeht, sagt Leibniz im 79. Abschnitt der „Monadologie“. Hier im 25. Abschnitt weist er auf den 79. Abschnitt voraus. Dort unterscheidet Leibniz das Gesetz der Zweckursachen vom Gesetz der Wirkursachen. Das Gesetz der Zweckursachen bestimmt das innermonadische Geschehen – das Gesetz der Wirkursachen dagegen das körperliche Geschehen. Das innermonadische Geschehen in der Tierseele, das empfindende Perzeptionsgeschehen, verläuft teleologisch nach Zweckursachen. Dagegen verläuft das entsprechende Geschehen in den Wahrnehmungsorganen nach den Wirkursachen, kausalgesetzlich. Das innermonadische empfindende Perzeptionsgeschehen ist teleologisch verfaßt. Das diesem teleologisch verfaßten Perzeptionsgeschehen korrespondierende organische Geschehen ist dagegen kausal verfaßt. Kausal heißt: daß jede Bewegung im organischen Bereich die Wirkung einer Ursache ist, aber so, daß diese Wirkung selbst wieder Ursache für eine weitere Wirkung ist. Die Wirkung folgt in der phänomenalen Zeit des Nacheinander zeitlich auf
§ 15 Das monadische Sein des organischen Lebewesens125
die vorangehende Ursache. Das Ursache-Wirkungs-Verhältnis gehört in die phänomenale Zelt, die ihrerseits zum phänomenalen Raum gehört. Teleologisch verfaßt heißt dagegen, daß in jedem gegenwärtigen sinnlich empfindenden Perzeptionszustand der künftige Perzeptionszustand bereits als Ziel (telos) angelegt ist, auf das der gegenwärtige Perzeptionszustand hindrängt. Das innermonadische Perzeptionsgeschehen geschieht teleologisch, indem die perzipierende Monade das jeweils nächste Ziel als künftigen Perzeptionszustand aus sich selbst heraussetzt – heraussetzt und heraus entfaltet im Sinne der Entelechie, der Selbsttätigkeit als Selbstentfaltung. Während der 25. Abschnitt die sinnlich empfindenden Perzeptionen behandelt, bedenkt der 26. Abschnitt die gedächtnismäßig behaltenden und erinnernden Perzeptionen der Tierseele. Dieser Abschnitt besteht aus zwei Thesen und einer exemplifizierenden Entfaltung! 1. Die Tierseelen haben auch Gedächtnis. 2. Das Gedächtnis der Tierseelen führt zu Folgerungen in der Tierseele, die den Schlußfolgerungen der Vernunft zu gleichen scheinen, in Wahrheit aber von diesen streng geschieden werden müssen. 3. Wie das Gedächtnis der Tierseelen diese Tierseelen zu den Folgerungen führt, wird auseinandergelegt und an einem Beispiel veranschaulicht. Zur 1. These: Die Tierseelen haben auch Gedächtnis. Diese 1. These nimmt in bezug auf die Seelenmonade des Tieres dasjenige in den Blick, was man Gedächtnis (memoire) nennen kann. Gemeint ist das Behalten von vorangegangenen, gegenwärtig-gewesenen sinnlich empfindenden Perzeptionen. Welchen Sinn hat hier das Behalten? Das Behalten ist selbst perzeptiver Natur. Es bezieht sich auf eine gegenwärtig-gewesene sinnliche Perzeption. Das Behalten nennt eine besondere Weise, in der die gewesene sinnliche Perzeption zur innermonadischen Vergangenheit gehört. Aber – hatten wir nicht im Zusammenhang unserer Durchsprache der innermonadischen Zeitlichkeit betont, daß kein gewesener Perzeptionszustand völlig verlorengeht, sondern daß jeder gewesene Perzeptionszustand in der innermonadischen Vergangenheit behalten und bewahrt werde? In der Tat. Daher kommt es jetzt auf eine wichtige Differenzierung an. Jede gegenwärtig-gewesene Perzeption wird in der monadischen Vergangenheit als diese Vergangenheit bewahrt. Das trifft auch zu für die gewesenen Perzeptionszustände der bloßen Entelechien. Das bedeutet nun aber nicht, daß jede Monade und jede Entelechie im engeren Sinne ihre gegenwärtig-gewesenen Perzeptionszustände dergestalt bewahrt, daß sie diese aus bestimmten Anlässen wieder wachruft, also erinnert. Das Wachrufen von gewesenen Perzeptionszuständen ist den dumpfen Monaden ohne sinnliche Perzeption nicht möglich. Ein Wachrufen von gewesenen sinnlichen Perzeptio-
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nen ist nur den Tierseelen möglich. Bereits ihre Art, die gewesenen sinnlichen Perzeptionen als gewesene zu behalten, ist eine andere als die der einfachen Entelechien. Eine andere Art und Weise dadurch, daß nicht nur die gegenwärtigen sinnlichen Perzeptionen deutlicher sind als die gegenwärtigen dumpfen Perzeptionen, sondern daß auch das Behalten der gewesenen sinnlichen Perzeptionen ein deutlicheres Behalten ist. Dies deutlichere Behalten ermöglicht dann auch ein erneutes Wachrufen gewesener sinnlicher Perzeptionen. Zur 2. These des 26. Abschnittes: Die 1. These bezieht sich nur auf das Gedächtnis der Tierseelen. Die 2. These besagt, daß den Tierseelen aufgrund ihres eigentümlichen Gedächtnisses so etwas wie eine Folgerung (consecution) möglich ist. Eine Monade, die in sich strebend perzipiert in der Weise des hier genannten Folgerns, ist eine höherstufige Monade. Denn das folgernde Perzipieren schließt einen höheren Grad von Deutlichkeit ein. Aber dieses perzipierende Folgern darf nicht verwechselt und gleichgesetzt werden mit den Schlußfolgerungen der Vernunft. Eine vernünftige Schlußfolgerung ist nur solchen Seelen möglich, deren Perzeptionsstufe das Selbstbewußtsein erreicht hat. Schlußfolgerungen gibt es deshalb nur in der menschlichen Seele, die aufgrund ihrer Apperzeption der Vernunft teilhaftig ist. Eine Folgerung, wie sie der tierischen Seele in ihrem strebenden Perzipieren möglich ist, ist keine vernünftige Schlußfolgerung. Wie aber folgert die Tierseele aufgrund ihres gedächtnismäßigen Behaltens? Bevor Leibniz ein Beispiel gibt, beschreibt er das tierische Folgern, das perzipierende Folgern der Tierseele, in einer allgemeinen Weise, die für alle konkreten Fälle die allgemeine Struktur angibt. Ein Tier hat einen gegenwärtigen, sinnlich empfindenden Perzeptionszustand, in welchem es einen bestimmten Gegenstand wahrnimmt. Es ist derselbe oder der gleiche Gegenstand, von dem das Tier schon früher eine Wahrnehmungsperzeption gehabt hat. Die jetzt gegenwärtige Wahrnehmungsperzeption gleicht also der früheren, jetzt gegenwärtig-gewesenen Wahrnehmungsperzeption. Diese ist aber als frühere behalten, so, daß sie als behaltene durch die jetzt gegenwärtige gleiche Wahrnehmungsperzeption wachgerufen werden kann. Aber die frühere Wahrnehmungsperzeption war zugleich noch verbunden mit einer anderen, z. B. mit einer Schmerzempfindungsperzeption. Nicht nur jene frühere Wahrnehmungsperzeption, sondern auch ihre Verbindung mit der Schmerzempfindungsperzeption ist behalten und wird nun auch durch die neue und gleichende Wahrnehmungsperzeption wachgerufen. Das bedeutet: Die mit der früheren Wahrnehmungsperzeption verbundene frühere Schmerzperzeption wird in der Tierseele dergestalt wachgerufen, daß das Tier die frühere Schmerzperzeption wie eine gegenwärtige perzipiert.
§ 15 Das monadische Sein des organischen Lebewesens127
Wenn wir jetzt diese Perzeptions-Verhältnisse an dem von Leibniz gewählten Beispiel veranschaulichen, wird deutlich, was gemeint ist: Ich zeige einem Hunde den Stock, mit dem er früher geschlagen wurde. Der Hund erinnert sich beim erneuten Anblick dieses Stockes der früheren Schmerzempfindung, die ihm dieser Stock verursacht hat, und läuft heulend davon. Dieses jederzeit wahrnehmbare Geschehen deutet Leibniz als Perzeptionsgeschehen in der Seele des Hundes, und zwar so: Während dem Hunde der Stock gezeigt wird, hat dieser eine gegenwärtige Wahrnehmungsperzeption. Diese ruft die frühere Wahrnehmungsperzeption vom selben oder gleichen Stock wach. Da aber diese frühere Wahrnehmungsperzeption mit einer Schmerzperzeption verbunden war, wird auch diese wachgerufen. Als wachgerufene Schmerzperzeption bleibt sie eine empfunden-gewesene. Aber das Tier lebt dergestalt in seinen Perzeptionen, daß es weder die gegenwärtige Perzeption als gegenwärtige noch die gewesene als gewesene noch die künftige als künftige perzipiert. Deshalb unterscheidet der Hund auch nicht zwischen der wachgerufenen, bloß erinnerten Schmerzperzeption und einer gegenwärtigen Schmerzperzeption. Er perzipiert die erinnerte Schmerzempfindung wie eine gegenwärtige. Der Hund verhält sich in seinem heulenden Davonlaufen so, als ob er durch den jetzt wieder wahrgenommenen Stock auch jetzt geschlagen würde. Dieses Nichtunterscheidenkönnen zwischen einer erinnerten gewesenen und einer gegenwärtigen Schmerzempfindung zeigt deutlich, daß das Tier in seinem perzipierenden Leben nicht folgert im Sinne einer vernunftmäßigen Schlußfolgerung. Diese vernunftmäßige Schlußfolgerung würde so aussehen: Das Tier nimmt den Stock wahr, erinnert sich der früheren Wahrnehmung des Stockes und der damit verbundenen Schmerzempfindung und folgert dann, daß dieser Stock ihm, sollte es durch ihn erneut geschlagen werden, eine neue Schmerzempfindung verursacht. Wäre die Tierseele wie die menschliche Seele durch Bewußtsein aufgehellt, dann würde das Tier zwischen der früheren und einer drohenden Schmerzempfindung unterscheiden, die aber nicht eine schon gegenwärtige, sondern künftige, noch ausstehende ist. Die menschliche Seele versteht im Wahrnehmen des Stockes diesen als die mögliche Ursache für eine Schmerzempfindung als deren Wirkung. Die menschliche Wahrnehmung ist aufgehellt durch das Vernunftdenken von Ursache und Wirkung. Zugleich ist das menschliche Wahrnehmen aufgehellt durch das Unterscheidenkönnen zwischen Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft. Dieses Aufgehelltsein gehört zum Bewußtsein der menschlichen Seele. Weil aber dem Tier das Bewußtsein und mit diesem das Vernunftdenken, das Denken von Ursache und Wirkung, fehlt, unterscheidet es weder zwischen dem gewesenen und dem gegenwärtigen Schmerzempfinden noch
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versteht es den wieder wahrgenommenen Stock als Ursache für eine mögliche Schmerzempfindung als deren Wirkung. Eine parallele Textstelle zum 26. Abschnitt der „Monadologie“ finden wir zu Beginn des § 5 der „Vernunftprinzipien“6. Dort sagt Leibniz: Es gibt unter den Perzeptionen der Tiere eine Verbindung, die eine gewisse Ähnlichkeit mit dem Vernunftdenken hat. Doch recht besehen, ist diese perzeptive Verbindung nur gegründet auf die Erinnerung von perzeptiven Tatsachen, nicht aber auf die Erkenntnis von Ursachen. Die perzeptiven Tatsachen sind: die frühere Stockwahrnehmung und ihre Verbindung mit der früheren Schmerzempfindung. Beides wird erinnert in der gegenwärtigen Stockwahrnehmung. Aber dabei wird der Stock nicht als die Ursache für die Schmerzempfindung als Wirkung erinnert. Die Verbindung von Stock und Schmerz wird nur erinnert als eine Verbindung zweier perzeptiver Tatsachen, nicht aber erinnert als eine Kausalverbindung zwischen Stock und Schmerz. Das Tier erinnert nur eine Tatsachenverbindung, die menschliche Seele dagegen eine Kausalverbindung. Der 27. Abschnitt, mit dem die Behandlung der Tierseele abschließt, bedenkt die Herkunft der Perzeptionsstärke der erinnerten Schmerzempfindung in der Tierseele. Er enthält zwei Thesen über das monadische Perzipieren der Tier-Seele: 1. Die starke imaginative Vorstellung, die die Hunde beim Wiederanblick des Stockes erregt, stammt entweder von der Größe oder von der Menge der vorhergehenden Perzeptionen. 2. Ein starker Eindruck bringt häufig mit einem Mal die gleiche Wirkung hervor wie eine lange Gewohnheit bzw. wie viele Perzeptionen von mittlerer Stärke. Zur 1. These: Leibniz spricht von der l’imagination forte, von der starken imaginativen Vorstellung, im Unterschied zur gegenwärtigen Empfindung. Denn die erinnerte Schmerzempfindung ist als erinnerte eine imaginative Vorstellung, sofern der Schmerz nicht gegenwärtig empfunden wird. Dennoch macht – wie ausgeführt – das Tier selbst nicht diesen Unterschied zwischen der erinnerten und der gegenwärtigen Empfindung. Das Tier empfindet eine erinnerte starke Schmerzempfindung wie eine gegenwärtige. Leibniz fragt nun, wie es zu einer solchen starken erinnerten Empfindung kommen könne. Denn nur eine starke erinnerte Schmerzempfindung werde vom Tier wie eine gegenwärtige empfunden, so, daß der Hund heulend davon läuft. Die Stärke der erinnerten Empfindung geht zurück auf die Stärke der früheren Empfindung, als diese eine gegenwärtige Empfindung war. Hier aber gibt es zwei Möglichkeiten. Die Stärke der erinnerten Emp6 G. W. Leibniz, Vernunftprinzipien der Natur und der Gnade (H. Herring 1982), S. 8 / 9. – G. W. Leibniz, Auf Vernunft gegründete Prinzipien der Natur und der Gnade (U. J. Schneider 2014), S. 158 / 159.
§ 16 Das monadische Sein des Menschen: die vernünftige Seele als Geist129
findung geht entweder zurück auf eine einmalige starke Schmerzempfindung, die so stark war, daß sie als diese Empfindung behalten wurde, behalten so, daß sie wieder wachgerufen werden kann. Eine schwache Schmerzempfindung würde als gegenwärtiger Empfindungszustand grundsätzlich auch behalten, so, wie jeder Perzeptionszustand als gewesener nicht verschwindet, sondern monadisch behalten wird. Aber eine schwache Schmerzempfindung wird vom Tier nicht in der Weise behalten, daß sie beim Wiederanblick des Stockes wachgerufen wird. Dagegen ist eine starke Schmerzempfindung so stark, daß die Stärke, in der sie behalten wird, ein Wachrufen ermöglicht. Zur 2. These: Indessen kann die Stärke der erinnerten Schmerzempfindung auch zurückgehen auf eine lange Gewohnheit, d. h. auf viele Empfindungsperzeptionen geringerer Stärke. Sofern das Tier gewohnt war, immer wieder mit dem Stock, wenn auch weniger stark, geschlagen zu werden, und wenn das Tier dadurch viele kleinere Schmerzempfindungen perzipiert hat, können die vielen weniger starken Schmerzempfindungen zusammen dieselbe Stärke im Behalten bewirken wie eine einzige starke Schmerzempfindung. Die Perzeptionsstärke der imaginativen Perzeption des Hundes folgt also entweder aus der Stärke der einen früheren und behaltenen Schmerzperzeption, oder sie folgt aus mehreren weniger starken früheren und behaltenen Schmerzperzeptionen, die zusammen dieselbe Stärke ergeben wie die Stärke der einen früheren Schmerzperzeption. Die drei letzten Abschnitte innerhalb der dritten gedanklichen Einheit der „Monadologie“, die Abschnitte 28–30, thematisieren im Anschluß an die Tierseelen nunmehr die nächst höhere Stufe im Monadenreich, die menschliche Seelenmonade.
§ 16 Das monadische Sein des Menschen: die vernünftige Seele als Geist Die menschliche Seelenmonade ist ihrer Perzeptionsstufe nach vernünftige Seele bzw. Geistseele. Zugleich aber ist sie wie oft wiederholt nicht durch und durch und nur vernünftige Seele, nicht nur Selbstbewußtsein. Die Seelenphänomene der Ohnmacht, Betäubtheit und des traumlosen Schlafes zeigten, daß die menschliche Seelenmonade sogar teilhat an den völlig dumpfen Perzeptionen der anorganischen Körper. Im 28. Abschnitt wird gesagt, daß die menschliche Seele teilweise auch wie die Tier-Seele perzipiere. Der 28. Abschnitt besteht aus drei ontologischen Thesen und zwei eispielen. 1. Die Menschen handeln wie die Tiere, wenn ihre Folgerungen B aus ihren Perzeptionen nur durch das Prinzip des Gedächtnisses geschehen.
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2. In diesen Folgerungen gleichen die Menschen den empirischen Ärzten, die nur Praxis, aber keine Theorie haben. 3. Die Menschen sind zu Dreivierteln ihrer Handlungen bloße Empiriker. Auf diese drei Thesen, die das Perzeptionsgeschehen der menschlichen Seelenmonade betreffen, folgen zwei Beispiele, das eine für den Menschen als bloß empirisch folgernden, das andere für den Menschen als vernünftig folgernden. Zur 1. These: Im Herkommen von einer Charakterisierung dessen, wie die Tierseele lediglich aufgrund des gedächtnismäßigen Behaltens folgert, sagt Leibniz in der 1. These, daß auch die menschliche Seele wie die Tierseele perzipieren kann. Sie perzipiert wie die Tierseele, wenn sie perzipierend aus Perzeptionen folgert, und zwar folgert lediglich aufgrund des Ge dächtnisses und nicht folgert aufgrund des Vernunftprinzips. Daß Leibniz im 28. Abschnitt der „Monadologie“ seine Ausführungen zur menschlichen Seelenmonade mit diesem Vergleich beginnt, durch den er die menschliche Seele in die Nähe der Tierseele bringt, geschieht nicht von ungefähr. Denn, obwohl die menschliche Seelenmonade im Stufenreich des monadischen Seins eine höhere Perzeptionsstufe einnimmt als die Tierseele, so ist doch der Übergang vom Tier zum Menschen fließend. Dieser fließende Übergang zeigt sich für Leibniz darin, daß die menschliche Seele nicht durch und durch Selbstbewußtsein und Vernunft ist – wie Descartes und die Cartesianer meinen. Die menschliche Seelenmonade nimmt auch teil an der ihr unmittelbar voraufgehenden Perzeptionsstufe der höheren Tiere. Mehr noch, die menschliche Seelenmonade hat zeitweise auch teil an der niedrigsten Perzeptionsstufe der Entelechien im engeren Sinne. Mit anderen Worten, die menschliche Seelenmonade reicht in ihren Perzeptionen durch alle niedrigeren Perzeptionsstufen hindurch. Sie hält sich zeitweise auf der Stufe der dumpfen Perzeptionen, zeitweise auf der Stufe der sinnlichen Wahrnehmungen und der behaltenen-erinnerten Perzeptionen der Tierseelen. Das gleiche gilt aber in Abwandlung auch von der Tierseele. Auch sie ist nicht nur sinnlich empfindendes und erinnerndes Perzipieren, auch sie hat zeitweise teil an der Perzeptionsstufe der einfachen Entelechien. Das zeigt z. B. das Phänomen des tierischen Schlafes. Im Übergang von der Seelenmonade der Tiere zur menschlichen Seelenmonade beginnt also Leibniz im 28. Abschnitt mit jener Perzeptionsstufe der menschlichen Seele, in der diese lediglich wie die Tierseele perzipiert. Dieser Beginn zeigt, wie Leibniz – herkommend von den dumpfen Monaden der anorganischen Körper über die Seelenmonaden der Tiere – kontinuierlich aufsteigt zur menschlichen Seele und diese zuerst in ihrer Nähe zur Tierseele beschreibt. Zuvor hatte er im Zuge der Bestimmung der einfachen Entelechien schon von der niedrigsten Perzeptionsstufe in der menschlichen
§ 16 Das monadische Sein des Menschen: die vernünftige Seele als Geist131
Seele gesprochen, von jener Perzeptionsstufe, in der die menschliche Seele den Monaden der anorganischen Körper gleicht. Jetzt zeigt sich aber, wie die menschliche Seele auch der Tierseele gleicht. Sagt Leibniz in der 1. These: Die Menschen handeln (agissent) wie die Tiere, dann ist dieses Handeln nicht das Handeln mit der Hand. Gemeint ist vielmehr das Handeln in der Seelenmonade, das Handeln im Sinne des Perzipierens. Gemeint ist das Handeln im Sinne der monadischen Selbsttätigkeit des strebenden Perzipierens. Die Menschen handeln – das heißt, sie perzipieren wie die Tiere, wenn sie aus ihren Perzeptionen allein durch das Prinzip des Gedächtnisses folgern. Nur durch das Prinzip das Gedächtnisses folgern – das lernten wir im 26. Abschnitt kennen: Der Hund folgert aus der erneuten Wahrnehmung des Stockes, daß dieser ihn auch jetzt schlägt und ihm Schmerzen zufügt, so wie dieser Stock ihn früher geschlagen und in den Zustand der Schmerzempfindung versetzt hat. Als wir dieses Beispiel Leibnizens durchdachten, wiesen wir darauf hin, daß das auf der Grundlage des Gedächtnisses geschehende Folgern kein vernünftiges Folgern sei. Denn als vernünftiges bzw. verstandesmäßiges Folgern müßte der Hund den Stock als die Ursache für die Wirkung der Schmerzempfindung verstehen. Der Hund müßte die Verbindung von Stock und Schmerz nicht nur gedächtnismäßig, sondern als eine kausal bestimmte Verbindung verstehen. Die Tierseele kann wesensmäßig nur folgern aufgrund der gedächtnismäßig behaltenen Verbindung von Stock und Schmerz. Die menschliche Seelenmonade vermag dagegen diese Verbindung auch als eine kausal bestimmte zu begreifen. Das heißt nicht, daß die Menschen eine solche Verbindung stets nur als kausal bestimmt begreifen. Im Gegenteil, das Folgern aus einer gegenwärtigen Perzeption auf eine andere, künftige Perzeption geschieht beim Menschen vielfach nur auf dem Grunde des Gedächtnisses. Im Gedächtnis bewahren wir einen Zusammenhang zwischen zwei entweder gleichzeitigen oder aufeinander folgenden Perzeptionen. Aufgrund der einen Perzeption folgern wir, daß auf diese eine bestimmte andere Perzeption folgen wird. Dieses Folgern aber beruft sich nur auf das Gedächtnis, das mir sagt, daß zwei bestimmte Perzeptionen in einem Folgezusammenhang gestanden haben. Was schon einmal in diesem Folgezusammenhang perzipiert wurde, wird sich – so folgern wir – auch künftig in diesem Zusammenhang einstellen. Verdeutlichen wir die 1. These durch das im 28. Abschnitt gegebene erste Beispiel. Die Menschen erwarten, daß morgen wieder Tag sein wird. Inwiefern ist diese Erwartung ein Folgern aus einer oder mehreren Perzeptionen, und zwar ein Folgern mit Hilfe des Gedächtnisses? Entfalten wir das von Leibniz gegebene Beispiel in seinen Implikationen: Ich habe jetzt die erwar-
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tende Perzeption davon, daß auf den jetzt noch wahrnehmend perzipierten Tag die Nacht folgen wird und daß auf die Nacht wieder ein Tag folgen wird. Der Grund für meine erwartende Perzeption ist meine Erfahrung, die ich schon viele Male gemacht habe. Zur Erfahrung gehört aber das Gedächtnis, worin ich behalten habe, daß auf den gestrigen Tag der heutige Tag folgte, auf den vorgestrigen Tag der gestrige usf., rückwärts im Gedächtnis, so daß ich aus der wiederholten Folge von Tag und Nacht und Tag die Erfahrungsregel aufstelle, daß es sich so, wie es sich bisher verhalten hat, auch morgen und künftig verhalten wird. Erwarten die Menschen, daß es morgen wieder Tag sein wird, weil von gestern auf heute auch wieder Tag geworden war, so verfahren sie nur als Empiriker. Was bisher immer so gewesen ist, was ich bisher als Folge von Tag, Nacht, Tag erfahren habe, wird sich auch in Zukunft so verhalten. Was die Erfahrung ermöglicht, ist das Gedächtnis, das die bisher wahrgenommene Folge von Tag, Nacht, Tag behalten hat. Solche und andere erwartende Perzeptionen beruhen auf dem Gedächtnis. In der 2. These des 28. Abschnittes heißt es: Die Menschen, die aus ihren gedächtnismäßig behaltenden Perzeptionen Folgerungen für die Zukunft ziehen, gleichen den bloß empirisch verfahrenden Ärzten, die nur Praxis ohne Theorie besitzen. Die Theorie beruht nicht nur auf Erfahrung und Gedächtnis, sondern sie besteht in der vernünftigen bzw. verstandesmäßigen Einsicht in die Gründe und Ursachen. Die menschliche Seele perzipiert nur dann als vernünftige Seele, wenn sie nach den Gründen und Ursachen sucht und nur aufgrund solcher urteilt. Das 2. Beispiel aus dem 28. Abschnitt setzt dem bloßen Empiriker den Theoretiker, den Astronomen, entgegen. Während der bloße Empiriker aus der gedächtnismäßig festgehaltenen Folge der Wahrnehmungsrezeptionen von Tag, Nacht, Tag folgert, daß morgen nach der Nacht wieder Tag sein wird, urteilt der Astronom durch die Vernunft. Er verläßt sich nicht auf die gemachte Erfahrung, sondern hat die Gründe dafür eingesehen, daß auf den heutigen Tag morgen ein neuer Tag folgen wird. Der bloße Empiriker erwartet den morgigen Tag aufgrund der wiederholten, gedächtnismäßig festgehaltenen Folge der Wahrnehmungsperzeptionen. Dagegen erwartet der Wissenschaftler den morgigen Tag aus der wissenschaftlichen Einsicht in den Grund für diese Naturerscheinung. Die 3. These des 28. Abschnittes faßt die Nähe der menschlichen Seelenmonade zur Seelenmonade des Tieres zusammen: Bei drei Vierteln unserer Handlungen, unserer Perzeptionen, sind wir Menschen reine Empiriker. Dies heißt: Wir perzipieren ohne vernünftige Einsichten in die Gründe und Ursachen. Dreiviertel unserer Perzeptionen sind solche, in denen wir nur aus der Erfahrung, nur aufgrund des Gedächtnisses und nicht aus vernünf-
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tiger Überlegung perzipieren und diesen Perzeptionen entsprechend in der Körperwelt leiblich handeln. Dennoch sind wir als bloße Empiriker nicht nur Tierseelen, die sich nur in den Zeiten vernünftiger Überlegungen und Urteile in Menschenseelen verwandeln. Als bloße Empiriker gleichen wir den Tierseelen, ohne solche selbst zu sein. Wir sind nicht vorübergehend wirkliche Tierseelen, weil wir auch als bloße Empiriker vernünftige Seelen bleiben. Die bloße Fähigkeit des vernünftigen Perzipierens läßt uns auch im bloß empirischen Perzipieren weiterhin eine menschliche Seele sein. Erst im 29. Abschnitt bedenkt Leibniz das, was die menschliche Seelenmonade wesensmäßig unterscheidet von der tierischen Seelenmonade. Den Inhalt dieses 29. Abschnittes können wir nach vier Thesen gliedern. 1. Die Erkenntnis der notwendigen und ewigen Wahrheiten unterscheidet die Menschen von den bloßen Tieren. 2. Diese Erkenntnis von den notwendigen und ewigen Wahrheiten setzt uns in den Besitz der Vernunft und der Wissenschaften. 5. Die Erkenntnis der notwendigen und ewigen Wahrheiten erhebt uns zur Selbst- und Gotteserkenntnis. 4. Die Seele, die solches vermag, ist die vernünftige Seele und heißt Geist. Zur 1. These: Die Erkenntnis der notwendigen und ewigen Wahrheiten unterscheidet die Menschen von den bloßen Tieren. Solange die menschliche Seelenmonade perzipierend folgert nur aufgrund der Erfahrung und des Gedächtnisses, perzipiert sie wie die Tierseele. Was aber das Perzipieren der menschlichen Seelenmonade vom Perzipieren der tierischen Seelenmonade wesenhaft unterscheidet, ist das perzipierende Erkennen der notwendigen und ewigen Wahrheiten. Um welche Wahrheiten es sich hierbei handelt, sagt Leibniz in der zweiten Hälfte des 5. Abschnittes der „Vernunftprinzipien der Natur und der Gnade“7. Es sind die Wahrheiten der Logik, der Arithmetik und der Geometrie, somit der reinen Mathematik. Das nicht nur gedächtnismäßig gegründete Folgern, sondern das vernünftige Folgern in vernünftigen Urteilen und in Vernunftschlüssen hängt von den notwendigen und ewigen Wahrheiten der Logik und der reinen Mathematik ab. Das vernünftige Denken und Erkennen befolgt die notwendigen Wahrheiten der Logik, zu denen auch das Kausalgesetz gehört. Das vernünftige Erkennen in den Wissenschaften von der körperlichen Natur wendet die notwendigen Wahrheiten der Logik und Mathematik auf die Erkenntnis von der körperlichen Natur an. Das Denken und Erkennen gemäß den notwendigen Wahrheiten der Logik und reinen 7 G. W. Leibniz, Vernunftprinzipien der Natur und der Gnade (H. Herring, 1982), S. 10 / 11. – G. W. Leibniz, Auf Vernunft gegründete Prinzipien der Natur und der Gnade (U. J. Schneider 2014), S. 158 / 159.
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Mathematik führen zur unzweifelhaften Verknüpfung von Ideen zu unfehlbaren Folgerungen, Folgerungen eines Urteils aus einem anderen Urteil oder Schlußfolgerungen im Sinne von Vernunftschlüssen. Die Erkenntnis der notwendigen und ewigen Wahrheiten sowie das Denken und Erkennen gemäß diesen Wahrheiten ist dasjenige in der menschlichen Seelenmonade, was diese von den bloßen Tieren unterscheidet. Die bloßen Tiere oder Tierseelen heißen so, weil sie der Möglichkeit einer Erkenntnis von notwendigen und ewigen Wahrheiten entbehren. Die Seelenmonaden der einfachen Tiere erheben sich wesensmäßig nicht zur Erkenntnis der notwendigen und ewigen Wahrheiten. Leibniz spricht von den bloßen Tieren ohne die Erkenntnis der notwendigen Wahrheiten. Auch wir selbst sind in gewissen Grenzen Tiere, aber nicht bloße Tiere, sondern Lebewesen, die der Erkenntnis der notwendigen Wahrheiten fähig sind, auch wenn wir nicht ständig von dieser Fähigkeit Gebrauch machen. Die 2. These aus dem 29. Abschnitt besagt, daß das erkennende Perzipieren der notwendigen und ewigen Wahrheiten es ist, was uns in den Besitz der Vernunft (Raison) und der Wissenschaften (les Sciences) setzt. Weil wir die notwendigen Wahrheiten perzipierend erkennen können, ist unsere Seelenmonade über die einfache Tierseele hinaus vernünftige Seele. In den „Vernunftprinzipien der Natur und der Gnade“ (5. Abschnitt) sagt Leibniz: Diejenigen Lebewesen, die nicht der vernünftigen Folgerungen fähig sind, werden vernunftlose Tiere (Bêtes) genannt. Diejenigen Lebewesen aber, die die notwendigen Wahrheiten perzipierend erkennen können, „heißen vernunftbegabte Lebewesen im eigentlichen Sinne (Animaux Raisonnables)“.8 Der Mensch ist das vernünftige Tier oder Lebewesen. Das bloße Tier oder Lebewesen ist das vernunftlose Tier. Vernunftlosigkeit und Vernünftigkeit werden hier monadologisch gedacht als zwei Wesensunterschiede im strebenden Perzipieren. Das erkennende Perzipieren der notwendigen und ewigen Wahrheiten der Logik und reinen Mathematik setzt die menschliche Seelenmonade in den Besitz der Vernunft und Wissenschaften (2. These). Die Erkenntnisse der notwendigen und ewigen Wahrheiten sind Vernunfterkenntnisse im doppelten Sinne: Sie sind 1. Erkenntnisse durch die Vernunft. Sie sind 2. Erkenntnisse von den Vernunftinhalten. Denn die idealen Sachverhalte der formalen Logik und reinen Mathematik sind Inhalte der Vernunft. Die Erkenntnis der notwendigen und ewigen Wahrheiten als Inhalte der reinen Vernunft setzt uns in den Besitz der Wissenschaften. Die Wissenschaften sind zum einen die reinen Wesenswissenschaften der formalen 8 G. W. Leibniz, Vernunftprinzipien der Natur und der Gnade (H. Herring 1982), S. 10 / 11. – G. W. Leibniz, Auf Vernunft gegründete Prinzipien der Natur und der Gnade (U. J. Schneider 2014), S. 158 / 159.
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Logik und der Mathematik und sind zum anderen die rationalisierten empirischen Wissenschaften von der Körperwelt. Die rationalisierten empirischen Wissenschaften heißen rationalisiert, weil sie unter Anwendung der rationalen, der Vernunfterkenntnisse von Logik und Mathematik verfahren. Der 3. These des 29. Abschnittes gemäß erheben Vernunft und vernunftgemäße Wissenschaften die menschliche Seelenmonade „zur Selbsterkenntnis und zur Gotteserkenntnis“. Inwiefern? Die Vernunfterkenntnis von den ewigen und notwendigen Wahrheiten auf dem Wege der reinen Vernunftwissenschaften ist deshalb Selbsterkenntnis der vernünftigen Seelenmonade, weil formale Logik und reine Mathematik Wissenschaften sind, in denen wir die der Vernunft eigenen logischen und mathematischen Wahrheiten erkennen. Die Vernunfterkenntnis von den logischen und mathematischen Wahrheiten erhebt uns aber nicht nur zur Selbsterkenntnis, sondern mit dieser auch zur Gotteserkenntnis. Denn die der menschlichen Vernunft eigenen Wahrheiten der Logik und reinen Mathematik haben ihren Wesensort in der göttlichen Vernunft, in der Vernunft der Urmonade. Die menschliche Vernunft ist endliche Vernunft, weil sie den Grund ihres monadischen Seins nicht in sich selbst hat, sondern außerhalb ihrer. Die notwendigen und ewigen Wahrheiten von Logik und Mathematik sind ursprüngliche Inhalte der urmonadischen Vernunft. Sofern diese der ontologische Ursprung der menschlich-endlichen Vernunft ist, sind die Wahrheiten der Logik und Mathematik auch Inhalte der menschlichen Vernunft, der vernünftigen Seelenmonade. Die 4. These des 29. Abschnittes nennt abschließend diejenige Seele, die die Vernunfterkenntnis von den notwendigen und ewigen Wahrheiten auf dem Wege der Vernunftwissenschaften hervorbringt, vernünftige Seele oder Geist. In den Vernunftwissenschaften der reinen Logik und der reinen Mathematik erhebt sich die menschliche Seelenmonade sowohl zur Selbst- wie zur Gotteserkenntnis. Nur diejenige Seele, die strebend perzipiert in der Weise der Selbst- und Gotteserkenntnis, ist der Vernunft teilhaftige Seele. Als vernünftige Seele unterscheidet sie sich von der vernunftlosen Tierseele. Weil diese vernunftlos ist, kann sie sich wesenhaft nicht zur Selbst- und Gotteserkenntnis erheben. Der Ausschluß aus der Selbst- und Gotteserkenntnis ist Ausschluß von der Erkenntnis der notwendigen und ewigen Wahrheiten. Die tierische Seelenmonade erhebt sich höchstens zu einem perzeptiven Folgern aus anderen Perzeptionen aufgrund des Gedächtnisses. Dieses Folgern geschieht aber vernunftlos, ohne vernünftige Einsicht in Gründe und Ursachen. Damit ist der Begriff der dritten Monadenstufe gewonnen: die vernünftige Seelenmonade oder Geistmonade. Sie ist die dritte Stufe im Aufstieg des endlichen Monadenreiches. Der Maßstab für den Aufstieg und für das Hö-
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herstufige ist der Grad der Aufgehelltheit des strebenden Perzipierens. Die unterste Stufe des strebenden Perzipierens ist die Dumpfheit. Die zweite Stufe ist die sinnliche Empfindung und das gedächtnismäßige Behalten. Die dritte Stufe ist das Selbstbewußtsein als Vernünftigkeit. Aber auch die Dumpfheit des strebenden Perzipierens ist ein Grad von perzeptiver Aufgehelltheit, wenn auch eine solche ohne sinnliche Empfindung und Gedächtnis. Dieser niedrigste Grad heißt Dumpfheit, aber Dumpfheit ist nicht völliges Fehlen jeglicher Aufgehelltheit. Ein völliges Fehlen von perzeptiver Aufgehelltheit hieße, daß es überhaupt kein strebendes Perzipieren wäre. Wäre Dumpfheit dem völligen Ausbleiben von Aufgehellt heit gleich, dann könnten wir nicht mehr von einem strebenden Perzipieren sprechen. Das hieße aber, den anorganischen Körpern das substanzielle Wesen absprechen. Der Begriff des strebenden Perzipierens ist geknüpft an eine gewisse, wenn auch unterschiedliche perzeptive Helle. Diese kann den Charakter völliger Dumpfheit haben, was nicht bedeutet, daß die dumpfen Perzeptionen ohne jeglichen Grad an Aufgehelltheit wären. Denn damit würden die Perzeptionen aufhören, überhaupt Perzeptionen zu sein. Die drei deutlich voneinander abhebbaren monadischen Stufen im kontinuierlich zusammenhängenden Stufenreich der endlichen Monaden tragen die Namen: 1. bloße Monaden bzw. Entelechien im engeren Sinne, 2. Seelen im engeren Sinne, 3. Geister. Hierbei verhält es sich aber so, daß jede höhere Monadenstufe auch an den niedrigeren Perzeptionsstufen teilhat, nicht aber umgekehrt. Jede Monadenstufe ist nach oben hin begrenzt, aber nach unten hin offen. Die Tierseelen perzipieren nicht nur in der Weise der sinnlichen Empfindung und des Gedächtnisses, sondern auch in der Weise von dumpfen Perzeptionen. Die menschliche Geistmonade perzipiert nicht nur in der Weise des reflexiven Selbstbewußtseins, der vernünftigen Erkenntnis und der vernunftbestimmten Wissenschaften. Die Geistmonade perzipiert nach Leibniz sogar zu Dreivierteln bloß empirisch und gleicht darin den vernunftlosen Tieren. Die Geistmonade perzipiert sogar in der Weise der bloßen Monaden, die nicht einmal sinnlich empfindend und gedächtnismäßig behaltend perzipieren. Nur die Geistmonade, jene Monade, die als Geist perzipieren kann, aber nicht ständig in dieser Weise perzipieren muß, ist zur Selbsterkenntnis und zur Gotteserkenntnis fähig. Eine Geistmonade, die nur Selbsterkenntnis ohne Gotteserkenntnis ist, gibt es für Leibniz nicht. Die Selbsterkenntnis schließt die Gotteserkenntnis ein. Denn in der Selbsterkenntnis erkennt sich die Geistmonade darin, daß sie den Grund ihres Seins nicht in sich selbst hat. Die Geistmonade erkennt sich selbst in ihrer seinsmäßigen Abkünftigkeit von jener einzigen Monade, die den Grund ihres Seins in sich selbst
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hat, die somit causa sui ist. Als causa sui ist diese Monade die Urmonade, die ursprüngliche Monade, der monadische Ursprung für alle endlichen Monaden. Aber erst im 30. Abschnitt, dem letzten der dritten gedanklichen Einheit, entfaltet Leibniz das, was er unter der Selbsterkenntnis und unter der zu dieser gehörenden Gotteserkenntnis versteht. Das in diesem Abschnitt Gesagte können wir nach vier Thesen gliedern. 1. These: Durch die Erkenntnis der notwendigen Wahrheiten und durch die Abstraktion dieser Wahrheiten erheben wir uns auch zu den reflexiven Akten, die uns den Gedanken unseres Ich fassen lassen und uns zur Erwägung führen, daß dieses oder jenes in uns ist. 2. These: Indem wir in der Weise der Selbstreflexion an uns selbst denken, denken wir damit an das Sein, an die Substanz, an das Einfache im Unterschied zum Zusammengesetzten, an das Immaterielle. 3. These: Indem wir in der Selbstreflexion an uns selbst denken, denken wir auch an Gott, sofern wir begreifen, daß alles, was in uns selbst beschränkt ist, in Gott als der Urmonade unbeschränkt ist. 4. These: Diese Akte der Selbstreflexion liefern uns die Hauptgegenstände unserer Vernunfterkenntnisse. Diese vier Thesen sind ontologische Thesen, weil sie Aussagen in bezug auf die Geistmonade sind. Die erste geistmonadologische Aussage benennt eine Zweistufigkeit innerhalb unserer Vernunfterkenntnis. Die erste Stufe war schon im 29. Abschnitt benannt: die Erkenntnis der notwendigen und ewigen Wahrheiten. Auch diese Vernunfterkenntnis ist Selbsterkenntnis. Denn in den Vernunfterkenntnissen der reinen Logik und reinen Mathematik erkennt unsere endliche Vernunft sich selbst hinsichtlich der ihr eigenen Vernunftwahrheiten. Wenn sich in Logik und Mathematik die reine Vernunft selbst erkennt, ist diese Selbsterkenntnis der vernünftigen Seele die erste Stufe innerhalb der Selbsterkenntnis der Geistmonade. Die zweite Stufe ist die der reflexiven Akte. Gemeint sind die Akte der Selbstreflexion. Diese sind zu unterscheiden von der Selbsterkenntnis der Vernunft hinsichtlich ihrer notwendigen und ewigen Wahrheiten. Auch die Akte der Selbstreflexion sind Akte der Selbsterkenntnis, aber höherer Stufe. Denn das, was in den Akten der Selbstreflexion erkannt wird, sind nicht mehr nur die logischen und mathematischen Wahrheiten als Inhalte der menschlichen Vernunft. Was in den Akten der Selbstreflexion erkannt wird, ist das Selbst als das Ich und das, was dieses Ich an ontologischen Charakteren einschließt. Die Selbsterkenntnis erster Stufe führt zur Erkenntnis der Vernunftwahrheiten. Die Selbsterkenntnis zweiter Stufe auf dem Wege der Selbstreflexion führt zur Erkenntnis der Vernunftwahrheiten der Ontologie und Metaphysik.
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Die selbstreflexiven Akte gehören nicht zur reinen Logik und reinen Mathematik, sondern zur monadologischen Ontologie und Metaphysik. Sagt Leibniz, daß wir uns „durch“ die Erkenntnis der notwendigen Wahrheiten von Logik und Mathematik und „durch“ die zu dieser Erkenntnis gehörenden Akte der Abstraktion (der logischen und mathematischen Abstraktion) erheben zur Höhe der reflexiven Akte, dann sagt er, daß die abstrahierenden Akte der Logik und Mathematik der erste Schritt sind in einer Selbsterkenntnis der vernünftigen Seele. Der zweite Schritt hat den Charakter der Selbstreflexion, der reflexiven Erfassung des eigenen Selbst als Ich. Das reflexiv erfaßte Selbst des Selbstbewußtseins und des Ich ist aber kein Gegenstand der Logik und der reinen Mathematik, sondern Gegenstand der Ontologie und Metaphysik. Denn in den Akten der Selbstreflexion wird das Ich in ontologischer Hinsicht, d. h. in der Hinsicht auf Sein, Substanz, Einfachheit, Wesen thematisiert. Im Abschnitt 30 wird deutlich, in welchem Rangverhältnis Leibniz Logik und Metaphysik ansetzt. In der Leibniz-Interpretation ist oft die Frage gestellt worden, welche von beiden Vernunftwissenschaften – Logik und Metaphysik – den ersten und welche den zweiten Rang einnimmt. Da Leibniz ein bedeutender Mathematiker und Logiker war, ist man vielfach geneigt, der Logik bei Leibniz den höheren Rang einzuräumen. Aber eine Textstelle wie die des 30. Abschnittes aus der „Monadologie“ zeigt deutlich, in welchem Verhältnis Leibniz diese beiden Vernunftwissenschaften sieht. Gegenüber den Erkenntnissen der logischen und mathematischen Wahrheiten heißt es von den reflexiven Akten, daß wir zu ihnen erhoben werden (nous sommes élevés). Die Akte der Selbstreflexion sind somit höhere Akte als die Erkenntnisakte der reinen Logik und reinen Mathematik. Damit wird aber deutlich, welche reine Vernunftwissenschaft bei Leibniz den höheren Rang einnimmt: nicht die formale Logik, sondern die Metaphysik. Für Leibniz nimmt wie für alle großen Metaphysiker die Metaphysik den Rang der Ersten Philosophie ein. Darin liegt keine Minderung der Logik. Zweifellos genießt die Logik bei Leibniz höchstes Ansehen wie bei Aristoteles. Aber deshalb ist die Logik weder bei Aristoteles noch bei Leibniz die höchste Wissenschaft. Die höchste Wissenschaft ist die Vernunftwissenschaft vom Sein, vom wahrhaft Seienden als dem Sein des Seienden. Auch wenn sich die Wissenschaft vom Sein, Ontologie und Metaphysik, der Logik als Methode bedient, gerät die Metaphysik nicht in den zweiten Rang, sondern behält ihren ersten Rang. Die reflexiven Akte – so Leibniz in der 1. These des 30. Abschnittes – lassen uns den Gedanken unseres Ich fassen. Doch nicht nur dies. Sie führen uns in der Selbsterfassung unseres Ich zugleich zu der Erwägung,
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daß dieses oder jenes in uns ist. Was „dieses oder jenes“ ist, wird in der 2. These genannt: Sein, Substanz, Einfaches, Immaterielles. Jetzt wird deutlich, welchen Status diese Akte der Selbstreflektion haben. Sie sind Akte jener Selbsterkenntnis, die den von uns (in Berufung auf Martin Heidegger) immer wieder erörterten allgemeinen ontologischen Leitfaden bietet für die universelle ontologische, also monadologische Erkenntnis. Der 30. Abschnitt bedenkt eigens diesen ontologischen Leitfaden, sofern dieser aus der Selbstreflexion des eigenen Ich, der ichlichen Monade, gewonnen wird. Die reflexive Selbsterkenntnis ist Selbsterfassung des eigenen Ich und dessen, was dieses Ich in ontologischer Hinsicht in sich einschließt. Was dieses selbstreflexiv erfaßte Ich in sich einschließt, sagt die 2. These des 30. Abschnittes: Indem wir in dieser Weise unser Ich reflexiv erfassen, denken wir an das Sein (à l’ Etre), an die Substanz (à la Substance), an Einfaches (au simple) und Zusammengesetztes (au composé) und an das Immaterielle (à l’ immateriel). Indem ich reflexiv mein Ich erfasse, das Ich meiner Perzeptionen und Appetitionen, erfasse ich mit meinem Ich das Sein, die Substanz, das Einfache sowie Zusammengesetzte und das Immaterielle. Hier kommt nun alles darauf an, daß wir diese These in zureichender Weise verstehen. Zureichend verstehen wir den Gehalt dieser ontologischen These nur dann, wenn wir ihn verstehen als den hier von Leibniz gewonnenen ontologischen Leitfaden für die universelle Bestimmung des monadischen Seins. Wir würden den Aussagegehalt der 2. These unzureichend verstehen, wenn wir meinten, die Selbstreflexion auf das eigene Ich führe zur Gewinnung der im Ich bereitliegenden Begriffe von Sein, Substanz, Einfachem und Zusammengesetztem und vom Immateriellen. Nicht die Begriffe von all diesem werden im Ich gleich reinen Vernunft- bzw. Verstandesbegriffen gefunden. Vielmehr wird das in den Akten der Selbstreflexion erfaßte eigene Ich als Sein, als Substanz, als Einfaches im Unterschied zum Zusammengesetzten und als immaterielles substanzielles Wesen erfaßt. Das eigene Ich erfaßt sich selbst reflexiv als monadisches Sein, als monadische Substanz, als monadisch Einfaches und als monadisches Wesen. Was das in den reflexiven Akten philosophierende Ich an ihm selbst erfaßt, ist nicht etwas, was seine ontologische Bedeutung nur für sich selbst, nur für dieses Ich hätte. Was das Ich in seinen reflektierend- philosophierenden Akten an ihm selbst entdeckt, ist solches, was zugleich seine ontologische Bedeutung für das Sein alles Seienden hat, also auch für das Sein des nichtichlichen Seienden. Die reflexive Selbsterfassung meines Ich gibt mir mit meinem Ich zugleich die reflexive Vernunfteinsicht in das Sein. Was ich hier als Sein er-
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fasse, ist nicht nur Sein meines Ich. Im Sein meines Ich erfasse ich vielmehr das, was Sein überhaupt besagt. Das Sein meines Ich ist nicht nur das Sein meines Ich und auch nicht nur das Sein aller anderen Iche, sondern das Sein alles überhaupt nur Seienden. Mein Sein kann für Leibniz keine ontologische Ausnahme bilden im Ganzen des Seienden. Aber auch alles ichliche Sein aller Menschen kann für Leibniz keine ontologische Ausnahme bilden. Vielmehr muß sowohl mein ichliches Sein wie das eines jeden anderen individuellen Menschen in einem ontologischen Zusammenhang stehen mit dem Sein alles nichtichlichen Seienden. In der reflexiven Selbsterfassung meines Ich gewinne ich die unmittelbare Vernunfteinsicht in das, was Sein als Sein besagt. Doch nicht nur dieses. In der reflexiven Selbsterfassung meines Ich gewinne ich zugleich die unmittelbare Einsicht, daß das Sein den Charakter von Substanz hat. Das ichliche Sein ist substanzielles Sein. Als substanzielles Sein ist es das, was sich im Wandel seiner Bestimmungen als dasselbe und diesem Wandel Zugrundeliegende durchhält. Ich gewinne in der Selbstreflexion den Substanzcharakter meines Seins. Aber sowenig wie ich in dieser Selbstreflexion nur das Sein meines Ich oder des Ich als Ich, sondern das Sein alles Seienden gewinne, sowenig gewinne ich in der Vernunfteinsicht des Substanzcharakters meines ichlichen Seins nur den Substanzcharakter des Ich als Ich. Auch der Substanzcharakter meines und alles ichlichen Seins kann für Leibniz keine ontologische Ausnahme bilden im Ganzen des Seienden. Vielmehr muß das Sein alles Seienden den Charakter der Substanz haben. Alles Seiende vom ichlich Seienden bis zum anorganischen Seienden hat seinen Grund im substanziellen Sein. Mein Ich, wie ich es in den Akten der Selbstreflexion erfasse, bietet mir in seinem Seins- und Substanzcharakter den monadologischen Leitfaden für die monadologische Vernunfteinsicht in das substanzielle Sein alles Seienden. Mehr noch, die reflexive Selbsterfahrung meines Ich führt mich zur Vernunfteinsicht in den Charakter des Einfachseins meines ichlichen substanziellen Seins. Mein substanzielles Sein ist ein Einfaches, ein Unteilbares. Als Unteilbares ist es nicht zusammengesetzt. Auch den ontologischen Charakter der Einfachheit gewinne ich an meinem reflexiv erfaßten Ich. Was ich hier gewinne, die Einfachheit als Unteilbarkeit, kommt aber nicht nur meiner ichlichen Substanz zu. Vielmehr ist es die Einfachheit, die jedes Sein, wenn es wahres Sein sein soll, bestimmt. Jedes substanzielle Sein ist ein unteilbares Sein. Als unteilbar ist es weder in Teile zerlegbar noch aus Teilen zusammensetzbar. Jedes substanzielle Sein ist ein einfaches Sein, ein ens, das zugleich ein unum ist. Mein selbstreflexiv erfaßtes Ich gibt mir den ontologischen Leitfaden für die universelle Ansetzung alles substanziellen Seins als eines durch Einfachheit bestimmten. Die Einfachheit ist aber der monadische Charakter des substanziellen Seins.
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In der reflexiven Selbsterfahrung des eigenen Ich gewinne ich das Ein fache und das Zusammengesetzte. Das kann nicht heißen, daß sich mir mein Ich auch als ein Zusammengesetztes darbietet. In meiner reflexiven Selbsterfahrung zeigt sich mir das Zusammengesetzte lediglich als Gegenbegriff zum monadischen Einfachen. Das Zusammengesetzte als Gegenbegriff zum Einfachen bezieht sich nicht auf das substanzielle Sein, sondern auf das phänomenale Seiende, das als solches ein Zusammengesetztes ist, zusammengesetzt aus materiellen Teilen. Die reflexive Selbsterfahrung meines Ich bietet mir mein Ich aber auch in seinem immateriellen Wesen. Der vierte Begriff des Immateriellen bezieht sich auf das, was das Ich als einfaches substanzielles Sein ist. Der Begriff des Immateriellen bezieht sich auf das monadische Wesen meines Ich. Das Immaterielle meines Ich als einer einfachen, unteilbaren Substanz bietet sich mir dar in meinem strebenden Perzipieren. In meiner Selbstreflexion erfasse ich mein eigenes strebendes Perzipieren als ein solches, das durch Bewußtsein als Selbstbewußtsein gekennzeichnet ist. Mein philosophierendes und selbstreflektierendes Perzipieren und Streben ist die höchste Form meines Selbstbewußtseins, des selbstbewußten Perzipierens, die höchste Form der Apperzeption. Das könnte uns meinen lassen, das Perzipieren und das Streben nach immer neuen Perzeptionen sei wesensmäßig an die Apperzeption, das Selbstbewußtsein, gebunden. Das ist die ontologische These von Descartes und den Cartesianern. Leibniz aber hat auf dem von uns durch die „Monadologie“ zurückgelegten Weg gezeigt, daß sich die menschliche Seelenmonade nicht nur in bewußten, sondern auch in nichtbewußten Perzeptionen hält. Deshalb kann Leibniz seiner selbstreflexiven Erfassung des immateriellen Wesens seines Ich, des strebenden Perzipierens, den Leitfaden für die Ansetzung des strebenden Perzipierens als des substanziellen Wesens aller Monaden entnehmen. Die Bewußtheit und gar die Selbstbewußtheit in Gestalt der Selbstreflexion ist nur ein bestimmter Modus des strebenden Perzipierens, nicht aber das strebende Perzipieren als solches, das nicht an die Bewußtheit gebunden ist. Den Nachweis für diese monadologische These gewinnt Leibniz in den Phänomenen der menschlichen Seelenmonade, die durch das Schwinden der Bewußtheit gekennzeichnet sind. Wir fassen zusammen: Die Selbstreflexion auf das eigene Ich führt den Philosophierenden zur unmittelbaren Einsicht in das, was Sein, was Substanz, was Einfachheit und was immaterielles Wesen ist. Die reflexive Erfassung des eigenen Ich hinsichtlich des Seins, der Substanz, der Einfachheit und des immateriellen Wesens gewinnt den monadologischen Leitfaden für die monadologische Bestimmung des Seins alles Seienden. Sein, Substanz, Einfachheit und immaterielles Wesen werden am eigenen Ich als Begriffe
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gewonnen, in denen das Sein alles Seienden monadologisch bestimmt werden kann. Diesen Grundgedanken der Leibnizschen Monadologie finden wir an vielen anderen Textstellen seiner Schriften und Briefe ausgesprochen. Einige dieser sollen hier herangezogen werden. Im 27. Abschnitt der „Metaphysischen Abhandlung“ sagt Leibniz: „Die Begriffe, die ich von mir selbst und meinen Perzeptionen habe, und infolgedessen die Begriffe vom Sein, von der Substanz, von der Tätigkeit, der Identität und eine ganze Anzahl weiterer stammen aus innerer Erfahrung“.9 Die innere Erfahrung aber ist die Selbstreflexion auf das eigene Ich. Gleichsinnig heißt es in den „Neuen Abhandlungen über den menschlichen Verstand“ (1. Buch, § 23, S. 50): „Ich möchte wohl wissen, wie wir die Vorstellung des Seins haben könnten, wenn wir nicht selbst Seiendes wären und so das Sein in uns fänden“.10 In den „Vernunftprinzipien der Natur und der Gnade“, 5. Abschnitt, heißt es gegen Schluß: „Die vernunftbegabten Seelen sind der Reflexion fähig und in der Lage, das in den Blick zu fassen, was man Ich, Substanz, Seele, Geist nennt, mit einem Wort: die immateriellen Sachverhalte und Wahrheiten“.11 In den Zusammenhang dieser Textstellen gehört auch der schon einmal von uns herangezogene Brief Leibnizens an de Volder v. 30.VI.1704: Dort spricht Leibniz vom Prinzip der innermonadischen Tätigkeit, der Selbsttätigkeit der Monaden als ihrem substanziellen Kraftwesen. Dieses Prinzip der Selbsttätigkeit ist „uns im höchsten Grade verständlich“, und zwar deshalb, „weil es eine Entsprechung zu dem bildet, was uns selbst innewohnt“.12 Was uns selbst innewohnt, sind Perzeptionen und Streben. Was in den nicht9 G. W. Leibniz, Metaphysische Abhandlung. Französisch – Deutsch. Übersetzt und mit Vorwort und Anmerkungen hrsg. von H. Herring. Felix Meiner Verlag Hamburg 1958, S. 68 / 69. – G. W. Leibniz, Metaphysische Abhandlung, in: U. J. Schneider (Hg.), Monadologie und andere metaphysische Schriften. Französisch – Deutsch. Übersetzt, mit Einleitung, Anmerkungen und Registern versehen. Felix Meiner Verlag Hamburg, 2. Auflage 2014, S. 78 / 79. 10 G. W. Leibniz, Neue Abhandlungen über den menschlichen Verstand. Ins Deutsche übersetzt, mit Einleitung, Lebensbeschreibung des Verfassers und erläuternden Anmerkungen versehen von C. Schaarschmidt. Felix Meiner Verlag Leipzig 1904. Erstes Buch: Von den angeborenen Vorstellungen, § 25, S. 50. 11 G. W. Leibniz, Vernunftprinzipien der Natur und der Gnade (H. Herring, 2. verbesserte Auflage 1982), S. 10 / 11. – Auf Vernunft gegründete Prinzipien der Natur und der Gnade (U. J. Schneider 2014), S. 158 / 159. 12 G. W. Leibniz, Brief an de Volder v. 30.VI.1704, in: G. W. Leibniz, Philosophische Werke Band II. Hauptschriften zur Grundlegung der Philosophie. Zweiter Teil. (A. Buchenau; E. Cassirer Leipzig 1906), S. 347.
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menschlichen Monaden als inneres Prinzip des strebenden Perzipierens ohne Bewußtsein ist, das ist in der menschlichen Geistmonade als bewußtes strebendes Vorstellen. Das in der Selbstreflexion auf das eigene Ich erfaßte Perzipieren und Streben ist das immaterielle substanzielle Wesen meiner Monade. Da aber das substanzielle Wesen alles Seienden gleichförmig ist, kann mein eigenes substanzielles Wesen nicht vom substanziellen Wesen aller anderen Monaden unendlich verschieden sein. Es wäre aber unendlich verschieden von den nichtichlichen Monaden, wenn nur mein eigenes substanzielles Wesen ein strebendes Perzipieren wäre und wenn alle nichtichlichen Substanzen ein anderes substanzielles Wesen hätten. Dieses andere substanzielle Wesen wäre dann kein strebendes Perzipieren, sondern anderer Art. Doch für Leibniz ist das strebende Perzipieren das universelle substanzielle Wesen. Alle einfachen Substanzen sind trotz ihrer Individualität in ihrem substanziellen Wesen verwandt. Aber diese durchgehende ontologische Verwandtschaft aller einfachen Substanzen negiert nicht den Individualitätscharakter, wonach keine einfache Substanz einer anderen gleicht. Jede einfache Substanz ist auf eine einmalige Weise ein strebendes Perzipieren. Doch den unmittelbaren Ausweis für das universelle substanzielle Wesen einer jeden einfachen Substanz findet Leibniz im selbstreflexiv erfaßten eigenen Ich. Dieses bietet sich der Selbstreflexion dar als ein strebendes Perzipieren, aber im Modus der Bewußtheit. Doch nicht die Bewußtheit, sondern das strebende Perzipieren als solches ist das substanzielle Wesen meines Ich, durch das ich nicht nur mit allen anderen Ichen, sondern mit allen anderen einfachen Substanzen ontologisch verwandt bin. Durch mein strebendes Perzipieren bin ich auch mit dem substanziellen Wesen der anorganischen Körper ontologisch verwandt. Die Akte der Selbstreflexion sind es also, die mich mein eigenes Ich erfahren lassen, und zwar hinsichtlich seines Seins, seines Substanzcharakters, seiner Einfachheit und seines substanziellen Wesens als des strebenden Perzipierens. Aber die Akte der Selbstreflexion erschöpfen sich nicht in der Gewinnung jener vierfachen ontologischen Einsicht. Sie führen über die vier ontologischen Charaktere meines Ich und d. h. zugleich alles endlichen Seienden hinaus auch zur Erkenntnis Gottes. Inwiefern? Insofern, als die in meiner Selbstreflexion auf meine Ich-Monade miterfahrene Beschränktheit (Endlichkeit) auf die Unbeschränktheit (Unendlichkeit) der göttlichen Urmonade verweist. Wie ist dies von Leibniz gemeint? Leibniz sagt: Wir begreifen, daß dasjenige, was in uns beschränkt ist, in der urmonadischen Substanz ohne Schranken, absolut unbeschränkt ist. Was in uns ist, was in mir ist, in meiner ichlichen Monade, ist mein substanzielles Wesen. Dieses ist ein strebendes Perzipieren in Bewußtheit. Das strebende Perzipieren meiner Geistmonade ist als selbstbewußtes Perzipieren
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Viertes Kapitel: Die Stufen des monadischen Seins
ein apperzeptives Perzipieren. Sofern dieses ein strebendes ist, schließt es in sich die Veränderung ein. Meine apperzeptive Monade verändert sich von Perzeptionszustand zu Perzeptionszustand. In dieser Selbstveränderung besteht die Selbstentfaltung meiner Geistmonade. Was sich aber kontinuierlich entfaltet, ist in seinem substanziellen Wesen unvollendet, endlich, lediglich die Vollendung erstrebend. Diese zum substanziellen Wesen meiner Geistmonade gehörende Veränderung, das strebende Übergehen, ist die wesenhafte Endlichkeit meines substanziellen Wesens. Diese Endlichkeit ist die Begrenztheit meines apperzeptiven Wesens, eine Begrenztheit, die sich mir in meiner Selbstreflexion zeigt. Die Begrenztheit meiner Apperzeption, meines geistigen substanziellen Wesens und meiner Vernünftigkeit, weist aus sich hinaus in eine unbegrenzte Apperzeption, in eine schrankenlose geistige Substanz, in eine in sich vollendete denkende Vernunft. Die Unbegrenztheit, die Unbeschränktheit besagt: eine Apperzeption, ein Geist, ein Denken, eine Vernunft ohne innere Veränderung, ohne strebendes Übergehen, ohne Selbstentfaltung. Denn die in sich unbeschränkte Vernunft ist je schon voll entfaltet, vollendete Vernunft, die in sich kein Streben, keinen Ausgriff in ein Zuentfaltendes kennt. Deshalb schließt die in sich vollendete, göttliche Vernunft als Urmonade auch die innermonadische Zeitlichkeit der endlichen Monaden aus. Weil es in der göttlichen Urmonade keine Veränderung, keine Selbstentfaltung gibt, gibt es in ihr auch keine Gegenwart, die mit der Zukunft schwanger geht. Es gibt in der Urmonade keine Gegenwart, die die Folge einer Gewesenheit ist. Der göttliche Geist ist nicht zeitlich auseinandererstreckt in Gegenwart, Gewesenheit und Zukunft, sondern ist reine Ewigkeit. Die Ewigkeit ist aber – begrifflich gesehen – nicht eine Gegenwart ohne Gewesenheit und ohne Zukunft. So gesehen wäre die Gegenwart immer noch wie die innermonadische Gegenwart in sich übergänglich. Um die Ewigkeit im Sinne der aeternitas denken zu können, muß auch der Übergangscharakter von der Gegenwart denkend weggehalten werden. Dann erst gewinnen wir den Begriff der in sich nicht übergänglichen, sondern in sich stehenden Gegenwart. Die 4. und letzte ontologische These des 30. Abschnittes faßt den Gehalt der vorangehenden drei Thesen zusammen: Die reflexiven Akte meiner Selbstreflexion führen zu den Hauptgegenständen unserer Vernunfterkenntnis. Diese zeigen sich nach drei Richtungen: 1. die Selbsterkenntnis meiner ichlichen Monade um ihrer selbst willen. 2. die Selbsterkenntnis meines Ich als ontologischer Leitfaden für die ontologische Erkenntnis aller nichtichlichen Monaden. 3. die aus der Selbsterkenntnis hinausführende Gotteserkenntnis als die ontologische Erkenntnis von der göttlichen Urmonade in deren ontologischem Bezug zum Universum der endlichen Monaden.
§ 16 Das monadische Sein des Menschen: die vernünftige Seele als Geist145
Damit beschließen wir die Durchsprache der dritten gedanklichen Einheit im Aufbau der „Monadologie“. Nachdem in den Abschnitten 29 und 30 die Rede war von der Erkenntnis der notwendigen und ewigen Wahrheiten, von der Vernunft und den Wissenschaften, von der Selbst- und der Gotteserkenntnis und somit von den Vernunfterkenntnissen, thematisiert die vierte gedankliche Einheit der „Monadologie“ die zwei Grundprinzipien, auf denen unsere gesamte Vernunfterkenntnis beruht. Im Zusammenhang damit werden auch die zwei Grundarten von Wahrheit benannt, zu denen unsere Vernunfterkenntnis gelangt. Mit diesen Themen setzt Leibniz die Auslegung der menschlichen Geistmonade fort. Denn die Vernunfterkenntnisse sind Erkenntnisse der vernünftigen Seele. Diese Erkenntnisse haben ihren Grundzug in den strebenden Perzeptionen. Das erkennende Perzipieren befolgt zwei Grundprinzipien. Das perzipierend Erkannte sind aber die Wahrheiten, wahre Erkenntnisse zweierlei Art. Damit zeigt sich, daß die Thematisierung der zwei Grundprinzipien menschlicher Vernunfterkenntnis und der durch unsere Vernunft erkennbaren Wahrheiten eine reflexive Selbstauslegung der Geistmonade ist.
Fünftes Kapitel
Zwei Grundprinzipien der Vernunfterkenntnis und zwei Arten von Wahrheiten Die vierte gedankliche Einheit umfaßt die Abschnitte 31–36 aus der „Monadologie“. Bevor wir uns diesen Abschnitten zuwenden, geben wir einen knappen orientierenden Überblick über die Schrittfolge dieses Kapitels der „Monadologie“. Im Abschnitt 31 führt Leibniz das erste der beiden großen Prinzipien der Vernunfterkenntnis ein: das Prinzip des zu vermeidenden Widerspruchs. Im Abschnitt 32 stellt er das zweite große Prinzip unserer Vernunfterkenntnis vor: das Prinzip des zureichenden Grundes. Im Abschnitt 33 nennt Leibniz die zwei Arten von Wahrheit: die Vernunftwahrheiten und die Tatsachenwahrheiten. Noch innerhalb des Abschnittes 33 zeigt Leibniz, in welchem Verhältnis die Vernunftwahrheiten zum Prinzip des zureichenden Grundes stehen. In den Abschnitten 34 und 35 veranschaulicht Leibniz dieses Verhältnis mit Blick auf die reine Mathematik. Im Abschnitt 36 behandelt er das Verhältnis der Tatsachenwahrheiten zum Prinzip des zureichenden Grundes.
§ 17 Das Prinzip vom Widerspruch Diesem Paragraphen legen wir den Abschnitt 31 zugrunde. Dessen Gehalt gliedern wir in zwei Thesen. 1. Unsere Vernunfterkenntnisse, die in zwei großen Prinzipien gegründet sind, beruhen erstens auf dem Prinzip des Widerspruchs. 2. Durch dieses Prinzip des Widerspruchs beurteilen wir alles als falsch, was einen Widerspruch einschließt, und alles als wahr, was dem Falschen entgegengesetzt und kontradiktorisch ist. Zur 1. These: Das große Prinzip (grand principe) des Widerspruchs, lat. principium contradictionis, formuliert den Widerspruch als einen solchen, den die Vernunfterkenntnis zu vermeiden hat. Der Satz vom Widerspruch ist daher das große Prinzip vom zu vermeidenden Widerspruch. Die Vernunft erkenntnis beruht auf diesem Prinzip, indem sie darauf achtet, daß sie sich keines Widerspruchs schuldig macht. Descartes formuliert im Ersten Teil der „Prinzipien der Philosophie“ (§ 49) einige Axiome, die ihren Sitz in unserem Geiste haben, und unter
§ 17 Das Prinzip vom Widerspruch147
diesen auch den Satz vom Widerspruch. Seine Formulierung dieses Grundsatzes lautet: „Es ist unmöglich, daß dasselbe zugleich ist und nicht ist.“1 Doch der erste, der den Satz vom Widerspruch als das sicherste unter allen Prinzipien aufgestellt hat, war Aristoteles. Es ist von besonderer Bedeutung, zu beachten, wo er diesen Satz behandelt, nicht in seinen logischen Schriften, sondern im IV. Buch der „Metaphysik“ (1005 b 8–34). Dort lautet die Formulierung: „Daß nämlich dasselbe demselben in derselben Beziehung unmöglich zugleich zukommen und nicht zukommen kann, das ist das sicherste unter allen Prinzipien“.2 Zwar befolgen alle Wissenschaften das Prinzip des zu vermeidenden Widerspruchs, aber sie thematisieren es nicht. Die Thematisierung dieses Grundprinzips ist für Aristoteles Aufgabe derjenigen Wissenschaft, die vom Seienden als solchem handelt, also Aufgabe der Ersten Philosophie, der später so benannten Metaphysik. Der Satz vom Widerspruch ist das oberste Prinzip, weil seine eigene Erfassung irrtumsfrei und voraussetzungslos ist. Das Prinzip des Widerspruchs ist am meisten bekannt und die Voraussetzung für jede Erkenntnis vom Seienden. Das oberste Prinzip, das Prinzip des Widerspruchs, ist für Aristoteles zuerst ein Prinzip des Seins, ein ontologisches Prinzip. Ihm gemäß ist jedes Seiende, ob als Substanz oder als Akzidenz der Substanz, mit sich identisch, also widerspruchsfrei. Deshalb ist es unmöglich, daß dasselbe zugleich sein kann und nicht sein kann. Dasselbe kann nicht zugleich wirklich sein und nicht wirklich sein, Etwas sein und nicht Etwas sein, Eines sein und nicht Eines sein. Nachdem wir uns vergegenwärtigt haben, daß für Aristoteles das oberste Prinzip vom Widerspruch primär ein ontologisches Prinzip ist, fällt auch ein erhellendes Licht auf die Tatsache, daß Leibniz das große Prinzip des Widerspruchs innerhalb der Monadologie behandelt. Diese ist Leibnizens Metaphysik, seine philosophische Wissenschaft von der einfachen Substanz, vom substanziellen Sein des phänomenalen Seienden. Leibniz kann in seiner Ontologie der einfachen Substanzen das Prinzip des Widerspruchs behandeln, nachdem bereits Aristoteles das Prinzip des Widerspruchs zum Gegenstand der „Metaphysik“ gemacht hat. Der Satz vom Widerspruch ist ein Grundprinzip deshalb, weil seine eigene Erfassung irrtumsfrei und voraussetzungslos ist. Dadurch ist dieser Satz selbst Grund, in welchem andere Erkenntnisse gründen. 1 R. Descartes, Die Prinzipien der Philosophie. Lateinisch – Deutsch. Übersetzt und hrsg. von Christian Wohlers. Felix Meiner Verlag Hamburg 2005, S. 54 / 55. 2 Aristoteles, Metaphysik. Erster Halbband: Bücher I (A)–VI (E). In der Übersetzung von H. Bonitz. Neu bearbeitet, mit Einleitung und Kommentar hrsg. v. Horst Seidl. Griechischer Text in der Edition v. W. Christ. Griechisch – Deutsch. Felix Meiner Verlag Hamburg 1978, S. 156 / 137.
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Fünftes Kapitel: Zwei Grundprinzipien der Vernunfterkenntnis
Damit kommen wir zur 2. These des Abschnittes 31. Diese erläutert den Gehalt des Prinzips vom Widerspruch. Die Erläuterung sagt, wie wir uns in unserer Vernunfterkenntnis nach dem Widerspruchsprinzip richten. Gemäß dem Prinzip des Widerspruchs sind alle die Vernunfterkenntnisse falsch, die einen Widerspruch einschließen. Dagegen sind jene Vernunfterkenntnisse, die dem Falschen kontradiktorisch entgegengesetzt sind, wahr. Diejenigen Vernunfterkenntnisse, die keinen Widerspruch in sich einschließen, sind wahre Vernunfterkenntnisse. Wie aber zeigt sich ein Widerspruch? Was widerspricht wem? Eine Vernunfterkenntnis ist ein Urteil, eine Aussage von der Form S ist P. Eine solche Aussage schließt einen Widerspruch dann ein, wenn das Prädikat P dem Subjekt S und seinen Merkmalen entgegengesetzt ist. Wenn ein Prädikat, das in einer Aussage dem Subjekt zugesprochen wird, diesem Subjekt und dessen Inhalt widerspricht, ist die Aussage, die Vernunfterkenntnis, falsch. Das Prinzip des Widerspruchs gebietet somit, in der Vernunfterkenntnis S ist P einen Widerspruch zwischen dem Prädikat und dem Subjekt zu vermeiden. Was dagegen dem Falschen entgegengesetzt ist, was keinen Widerspruch zwischen dem Prädikat und dem Subjekt einschließt, ist eine wahre Aussage und wahre Vernunfterkenntnis. Wenn das Prädikat dem Inhalt des Subjekts nicht widerspricht, ist das Prädikat mit dem Inhalt des Subjekts einstimmig. Diese Einstimmigkeit zwischen Prädikat und Subjekt ist Identität. Der Satz der Identität ist die positive Form des Satzes vom Widerspruch. Umgekehrt ist der Satz vom Widerspruch die negative Form des Satzes von der Identität. Die Wahrheit einer Aussage S ist P beruht auf dem Ausschluß des Widerspruchs zwischen P und S. Wo aber der Widerspruch ausgeschlossen ist, herrscht Identität. Der Satz der Identität sagt: Jedes Seiende ist mit ihm selbst selbig, so, daß ihm kein Prädikat zukommt, das seinem Wesensbegriff widerspräche. Die Wahrheit einer Aussage S ist P gründet auf dem Satz der Identität. Denn sie gründet auf dem Ausschluß des Widerspruchs und dieser Ausschluß sichert die Identität. Die Wahrheit eines Aussagesatzes S ist P beruht sowohl auf dem Prinzip des zu vermeidenden Widerspruchs wie auf dem Prinzip der Identität. Das Prinzip der Identität ist nicht ein ganz anderes Prinzip, sondern die Kehrseite vom Prinzip des Widerspruchs. Was das Prinzip der Identität positiv formuliert, formuliert das Prinzip des Widerspruchs negativ. Deshalb läßt sich sagen, der Satz vom Widerspruch ist die negative Form des Satzes der Identität, und umgekehrt, der Satz der Identität ist die positive Form des Satzes vom Widerspruch. Wenn unsere Vernunfterkenntnis auf dem großen Prinzip des Widerspruchs gründet, gründet sie zugleich auch auf dem Prinzip der Identität. Der Satz vom Widerspruch hat die Aufgabe, die Identität des Seienden, des
§ 18 Das Prinzip des zureichenden Grundes149
Seins und des Begriffes zu wahren. Damit die Vernunfterkenntnis in ihren Aussagen S ist P die Identität zwischen Prädikat und Subjekt wahrt, ist ihr das Prinzip des Widerspruchs vorgehalten. Dieses Prinzip gibt der Vernunft zu verstehen, wann sie die Identität zwischen P und S mißachtet, – dann nämlich, wenn sie ein solches P dem S zuspricht, das dem Subjekt und seinem Inhalt widerspricht. Im § 44 der Ersten Abhandlung aus der „Theodicee“3 erläutert Leibniz das Prinzip des Widerspruchs so: Von zwei entgegengesetzten Behauptungen kann nur die eine wahr sein, während die andere falsch sein muß. Würden beide entgegengesetzte Aussagen in bezug auf ein und dasselbe Subjekt als wahr ausgegeben, so würde ich mich in einen Widerspruch begeben. Von beiden entgegengesetzten Behauptungen kann nur die eine wahr sein, und nur in dieser einen Aussage besteht zwischen dem P und dem S Identität. Gegen diese Identität würde die Vernunft verstoßen, wenn sie auch die entgegengesetzte Aussage von demselben Subjekt als wahr ausgäbe.
§ 18 Das Prinzip des zureichenden Grundes Das zweite Große Prinzip (Grand Principe), auf dem nach Leibniz unsere Vernunfterkenntnisse beruhen, ist das Prinzip des zureichenden Grundes (raison suffisante), das Leibniz im 32. Abschnitt einführt und grundsätzlich erläutert.4 Den 32. Abschnitt gliedern wir nach vier Thesen: 1. Unsere Vernunfterkenntnisse beruhen zweitens auf dem Prinzip des zureichenden Grundes. 2. Kraft dieses Prinzips erwägen wir, daß sich keine Tatsache als wahr oder existierend erweisen kann, ohne daß es einen zureichenden Grund dafür gäbe, weshalb es gerade so und nicht anders ist. 3. Kraft des Prinzips des zureichenden Grundes erwägen wir, daß sich keine Aussage als richtig erweisen kann, ohne daß es einen zureichenden Grund dafür gäbe, weshalb es gerade so und nicht anders ist. 4. In den meisten Fällen sind uns diese Gründe nicht bekannt. Zur 1. These. Unsere Vernunfterkenntnisse beruhen außer auf dem Prinzip des zu vermeidenden Widerspruches auch auf dem Prinzip des zureichenden Grundes. Leibniz ist der erste, der in dieser Weise vom Grunde handelt, daß er diesen in einem Grundsatz formuliert, im Grundsatz vom zureichenden Grund. Zwar ist ‚Grund‘ als ontologischer, seinsmäßiger Grund und als logischer Grund immer schon ein herausragendes Thema der Philosophie 3 G. W. Leibniz, Die Theodizee. Übersetzung von A. Buchenau. Einführender Essay von Morris Stockhammer. Felix Meiner Verlag Hamburg 1968, S. 124. 4 Siehe hierzu: Otto Saame, Der Satz vom Grund bei Leibniz. Ein konstitutives Element seiner Philosophie und ihrer Einheit. Verlag Hans Krach, Mainz 1961.
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Fünftes Kapitel: Zwei Grundprinzipien der Vernunfterkenntnis
gewesen, nirgends aber wurde bisher der Satz vom Grund formuliert und nirgends wurde ein solcher Satz zum Grundsatz erhoben und den übrigen Grundsätzen wie denen vom Widerspruch, von der Identität und vom ausgeschlossenen Dritten gleichgestellt. In Descartes’ Antworten auf die II. Einwände (von Mersenne) handelt er von zehn Axiomen oder Allgemeinbegriffen. Das erste Axiom betrifft den Grund: Kein Ding existiert, bei dem man nicht fragen könnte, was denn die Ursache seiner Existenz sei.5 Aristoteles spricht vom Grund (ἀρχή) in dreifacher Weise. Im V. Buch der „Metaphysik“ 1013 a 17 ff. heißt es: „Das allgemeine Merkmal von Grund in allen Bedeutungen ist, daß er ein Erstes ist, wovon her etwas ist oder wird oder erkannt wird“.6 Die 2. und 3. These aus dem 32. Abschnitt erläutern den Gehalt des Satzes vom Grund, so, wie Leibniz ihn ansetzt. Die 2. These spricht vom zureichenden Grund der ‚Tatsachen‘, die 3. These vom zureichenden Grund der richtigen Aussage. Zur 2. These: Sie lautet: Kraft des Prinzips des zureichenden Grundes erwägen wir vernunftgemäß, daß sich keine Tatsache als wahr oder existierend erweisen kann ohne einen zureichenden Grund dafür, weshalb sie so und nicht anders ist. Was bedeutet in diesem Zusammenhang ‚Tatsache‘ (fait)? Le fait nennt das tatsächlich vorhandene Seiende und dessen tatsächliches substanzielles Sein. Die tatsächliche Vorhandenheit resultiert aus dem Geschaffensein des Seienden in seinem Sein. Le fait bezieht sich somit auf das Universum des Seienden, das in seinem Wirklichsein und in seinem Sosein ein Geschaffensein ist. Das geschaffene substanzielle Sein und das geschaffene Seiende dieses Seins unterscheidet Leibniz von den ungeschaffenen idealen Sachverhalten der Logik und Mathematik. Die ungeschaffenen idealen Sachverhalte gehören zum Vernunftinhalt der göttlichen Vernunft. Das monadische Sein aber und das Seiende dieses Seins sind geschaffen. Dieses Geschaffene ist das Universum der Tatsachen, des tatsächlichen verwirklichten Seins und des Seienden dieses Seins. Das Prinzip des zureichenden Grundes weist uns an, keine Tatsache als wahr oder existierend hinzunehmen, ohne daß es einen zureichenden Grund 5 R. Descartes, Axiome oder auch Allgemeine Grundbegriffe, in: Meditationen. Mit sämtlichen Einwänden und Erwiderungen. Übersetzt und hrsg. v. Christian Wohlers. Felix Meiner Verlag Hamburg 2009, S. 173. 6 Aristoteles, Metaphysik. Erster Halbband: Bücher I (A)–VI (E). In der Übersetzung von H. Bonitz. Neu bearbeitet, mit Einleitung und Kommentar hrsg. v. Horst Seidl. Griechischer Text in der Edition von W. Christ. Felix Meiner Verlag Hamburg 1978, S. 178 / 179.
§ 18 Das Prinzip des zureichenden Grundes151
dafür gäbe, weshalb die Tatsache so und nicht anders ist. Was aber heißt „keine Tatsache als wahr oder existierend“ sich erweisen zu lassen? Eine Tatsache ist ‚wahr‘ in ihrem Sosein. Eine Tatsache ist ‚existierend‘ in ihrem Wiesein oder Daßsein. Das Wahrsein bezieht sich also auf das so und so Geschaffensein, auf das Wassein. Das Existierendsein bezieht sich auf das Sein im Gegensatz zum Nichtsein. Für beides, für das Wassein und für das Daßsein, bedarf es des zureichenden Grundes. Der ‚zureichende‘ Grund muß als begründender Grund zureichend sein in zweifacher Hinsicht. Er muß begründender Grund sein dafür, daß ein geschaffenes Seiendes ist (wirklich ist) und nicht nicht ist. Er muß zugleich begründender Grund dafür sein, daß Etwas gerade so und nicht anders ist. Gerade so sein heißt, gerade so beschaffen sein und nicht anders beschaffen sein. Der zureichende Grund ist also sowohl für die existentia wie für die essentia Grund. Damit zeigt sich auch schon, daß der Satz, das Prinzip vom zureichenden Grund zuerst ein ontologisches Prinzip ist. Denn dieses Prinzip begründet das Sein des Seienden in der Gliederung des Seins in Daßsein und Wassein. Nun spricht aber Leibniz nicht nur vom ‚Grund‘ überhaupt, sondern vom ‚zureichenden‘ Grund. Das besagt: Der Grund ist in der Weise begründender Grund, daß er das Wirklichsein und das Sobeschaffensein in jedem einzelnen Fall ausnahmslos und ganz begründet. Das Wirklichsein einer Tatsache muß aus dem dafür bestehenden Grund in zureichender Weise begründet werden. Ebenso muß das Sobeschaffensein einer Tatsache aus dem dafür bestehenden Grund in zureichender, vollständiger Weise begründet werden. Keine Tatsache aus dem Universum des Geschaffenen kann sich in seinem Sobeschaffensein als wahr erweisen, ohne daß es dafür einen zureichenden Grund gäbe, weshalb die Tatsache gerade so und nicht anders beschaffen ist. Keine Tatsache aus dem Universum des Geschaffenen kann sich als existierend erweisen, ohne daß es dafür einen zureichenden Grund gäbe, weshalb diese Tatsache existiert und nicht nicht existiert. Jede Tatsache hat dafür, daß sie existiert und nicht nicht existiert, ferner, daß sie gerade so und so und nicht anders beschaffen ist, einen Grund. Dieser muß zureichen für die volle Begründung dafür, daß die Tatsache existiert und nicht nicht existiert, und daß die Tatsache gerade so und nicht anders beschaffen ist. Da nun aber die Tatsachen zum einen das tatsächliche phänomenale Seiende sind, zum anderen aber das tatsächliche monadische Sein, entfaltet das Prinzip des zureichenden Grundes seine begründende Macht sowohl im Reiche des Seienden wie im Reiche des substanziellen Seins.
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Fünftes Kapitel: Zwei Grundprinzipien der Vernunfterkenntnis
Zur 3. These: Leibniz formuliert aber das Prinzip des zureichenden Grundes nicht nur in bezug auf die Tatsachen, auf das geschaffene Seiende und Sein, sondern auch in bezug auf die Aussagen bzw. Urteile. Keine Aussage kann sich als richtig erweisen, ohne daß es einen zureichenden Grund dafür gäbe, weshalb die Aussage, die Prädikation, gerade so und nicht anders lautet. Hier ist von Leibniz zuerst an die Aussagen über die Tatsachen gedacht. Es wird sich aber zeigen, daß der Satz, das Prinzip des zureichenden Grundes nicht nur für die Aussagen über das faktische Sein und Seiende gilt, sondern auch für die Aussagen über das ideale Sein in Logik und Mathematik. Die Wahrheit, die Richtigkeit, einer Aussage über eine Tatsache muß ihren Grund haben, der sie in zureichender Weise begründet. Dieser Grund liegt entweder in der Tatsache selbst, über die ausgesagt wird, oder in der Wahrheit einer anderen Aussage, aus der jene Aussage hergeleitet wird. Zur 4. These: Die 4. These sagt etwas Entscheidendes über die Bekanntheit der zureichenden Gründe. In den meisten Fällen sind uns die zureichenden Gründe für das wahre Existieren und für das wahre Sobeschaffensein der Tatsachen nicht bekannt. Zwar können wir immer einige Gründe aufsuchen, aber diese Gründe sind ihrerseits nicht vollständig zureichende Gründe, weil sie selbst wieder den Charakter des Tatsächlichen, des Faktischen haben, das seinerseits aus anderen Gründen begründet ist. Und selbst die Gründe zweiten Grades sind als Tatsachen wieder begründungsbedürftig aus anderen Gründen. Um also den ‚zureichenden‘ Grund für eine Tatsache aufzusuchen, müßten wir die Kette der begründenden Gründe bis ins Endlose verfolgen. Deshalb sagt Leibniz, daß uns in den meisten Fällen die zureichenden Gründe für das faktische Sein und Seiende unbekannt seien. Die Unbekanntheit aller zureichenden Gründe ergibt sich aber aus der Endlichkeit der menschlichen Vernunft. Aber durch die Unbekanntheit der meisten zureichenden Gründe wird die Gültigkeit des Prinzips vom zureichenden Grund nicht angetastet. Das Prinzip vom zureichenden Grund sagt nicht, daß uns die zureichenden Gründe für das Wirklichsein und das Wassein einer Tatsache bekannt sein müßten. Es gebietet nur, daß jedes Wirklichsein und jedes Sobeschaffensein aus einem zureichenden Grund begründet ist, unabhängig davon, ob wir diese Gründe erkennen können oder nicht. Das Prinzip des zureichenden Grundes sagt uns, daß es kein Wirklichsein und kein Sobeschaffensein grundlos gibt, daß vielmehr jedes Wirklichsein und jedes Sobeschaffensein vollständig begründet ist aus einem zureichenden Grund, der aber nicht aus einem einzigen Grund, sondern aus einer Kette von einander begründenden Gründen besteht.
§ 19 Vernunftwahrheiten und Tatsachenwahrheiten153
Im § 44 der Ersten Abhandlung der „Theodizee“ erläutert Leibniz das Prinzip des zureichenden Grundes so: „daß niemals etwas ohne eine Ursache oder wenigstens ohne einen bestimmten Grund geschieht, d. h. ohne einen gewissen Grund a priori, warum etwas existiert und nicht lieber nicht existiert und warum es lieber auf diese als auf jede andere Weise existiert. Dieses wichtige Prinzip gilt für alle Ereignisse, und es läßt sich kein gegenteiliges Beispiel dafür anführen: obgleich uns für gewöhnlich diese zureichenden Gründe nicht genügend bekannt sind, so sehen wir doch ein, daß immer solche Gründe vorhanden sein müssen.“7 Hier zeigt sich, daß Leibniz in der „Theodizee“ die zwei Richtungen, nach denen der zureichende Grund begründet, deutlicher auseinanderlegt als im 32. Abschnitt der „Monadologie“. Dort sagte Leibniz: „daß sich keine Tatsache als wahr oder existierend, keine Aussage als richtig erweisen kann, ohne daß es einen zureichenden Grund dafür gäbe, weshalb es eben so und nicht anders ist.“ In der „Theodizee“ heißt es durchsichtiger: niemals geschieht etwas „ohne einen gewissen Grund a priori, warum etwas existiert und nicht lieber nicht existiert und warum es lieber auf diese als auf jede andere Weise existiert“. Der zureichende Grund ist begründender Grund dafür, daß etwas existiert und nicht nicht existiert. Der zureichende Grund ist begründender Grund auch dafür, daß etwas auf diese Weise, also so und so beschaffen, und nicht eher auf eine andere Weise, also andersbeschaffen, existiert. Vermöge des Prinzips des zureichenden Grundes betrachten wir die Existenz und das Sobeschaffensein der geschaffenen Tatsachen als begründet durch einen letztlich zureichenden Grund, dergestalt, daß die Existenz gegenüber der Nichtexistenz und das Sobeschaffensein gegenüber dem Andersbeschaffensein vollständig begründet ist.
§ 19 Vernunftwahrheiten und Tatsachenwahrheiten. Vernunftwahrheiten und der zureichende Grund. Diesem Paragraphen legen wir als Text die Abschnitte 33–35 aus der „Monadologie“ zugrunde. Nachdem Leibniz in den Abschnitten 31 und 32 die beiden großen Prinzipien unserer Vernunfterkenntnis behandelt hat: das Prinzip vom zu vermeidenden Widerspruch und das Prinzip vom zureichenden Grund, führt er im 33. Abschnitt zuerst die zwei unterschiedlichen Arten von Wahrheit ein; die Vernunftwahrheiten und die Tatsachenwahrheiten. Aber noch im 33. Abschnitt stellt er sodann den Bezug her zwischen den 7 G. W. Leibniz, Die Theodizee. Übersetzung von A. Buchenau. Einführender Essay von Morris Stockhammer. Felix Meiner Verlag Hamburg 1968, S. 124 f.
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Fünftes Kapitel: Zwei Grundprinzipien der Vernunfterkenntnis
notwendigen Vernunftwahrheiten und dem Satz vom zureichenden Grund. In den Abschnitten 34 und 35 zeigt er, wie die reine Mathematik, die es nur mit notwendigen Vernunftwahrheiten zu tun hat, gemäß dem Satz vom Grunde verfährt. Im Abschnitt 33 können wir vier Thesen ausmachen: 1. Es gibt zwei Arten von Wahrheiten: Vernunftwahrheiten und Tatsachenwahrheiten. 2. Die Vernunftwahrheiten sind notwendig, so daß ihr Gegenteil unmöglich ist. 3. Die Tatsachenwahrheiten sind kontingent, so daß ihr Gegenteil möglich ist. 4. Für eine notwendige Wahrheit kann man den Grund durch Analyse finden, in der man die notwendige Wahrheit in einfachere Ideen und Wahrheiten auflöst bis hin zu den ursprünglichen Wahrheiten. Zur 1. These: Gemäß der 1. These des Abschnittes 53 gibt es zwei streng geschiedene Arten von Wahrheiten. Die eine Art sind die Vernunftwahrheiten (verités de Raisonnement), die zweite Art sind die Tatsachenwahrheiten (verités de Fait). Von den Vernunftwahrheiten war im Abschnitt 29 bereits die Rede. Dort hieß es, die Erkenntnis der notwendigen und ewigen Wahrheiten setze uns in den Besitz der Vernunft. Die Vernunftwahrheiten sind, wie die 2. These des 33. Abschnittes sagt, notwendig. Sie sind die formalen Wahrheiten des Denkens, wie sie in der Formalen Logik behandelt werden, und die formalen Wahrheiten der reinen Mathematik. Sie heißen Vernunftwahrheiten, weil sie ihren Wesensort in der reinen Vernunft haben, in der absoluten Vernunft Gottes und, sofern die menschliche Geistmonade an der göttlichen Vernunft Anteil hat, in abgeleiteter Weise in der menschlichen Vernunft. Die Vernunftwahrheiten sind die wahren Wesensverhalte der formalen Logik und der reinen Mathematik. Die zweite Art der Wahrheiten sind die Tatsachenwahrheiten. Diese heißen so, weil sie die Tatsache, d. h. das geschaffene Sein und das geschaffene Seiende dieses Seins, betreffen. Die Vernunftwahrheiten beziehen sich auf das ideale Sein der logischen und mathematischen Wesensverhalte, die Tatsachenwahrheiten erstrecken sich auf das existierende reale Sein. Damit wird deutlich, daß die Unterscheidung zwischen Vernunft- und Tatsachenwahrheiten in einem seinsmäßigen Unterschied gründet, in dem Unterschied zwischen dem idealen Sein und dem realen Sein. Der Unterschied zwischen Vernunft- und Tatsachenwahrheiten ist nicht, weil es sich um Wahrheiten handelt, ein nur in die Logik gehörender Unterschied, sondern ihr Unterschied ist ein seinsmäßiger, ein ontologischer Unterschied. Zur 2. These: Gemäß der 2. These sind die Vernunftwahrheiten notwendig, so daß ihr Gegenteil unmöglich ist. Notwendigkeit besagt hier: Die Vernunftwahrheiten können nur so sein, wie sie sind; eine Abweichung irgendeiner Art ist unmöglich. Die Vernunftwahrheiten schließen ihr Gegen-
§ 19 Vernunftwahrheiten und Tatsachenwahrheiten155
teil aus. Sie sind für Leibniz wie für das scholastische Denken zugleich ewig. Denn sie sind unabhängig vom göttlichen Willen (Schöpfungswillen). Demgegenüber sind für Descartes auch die Wesensverhalte der reinen Mathematik geschaffen, unterliegen also dem göttlichen Schöpfungswillen. Nur so versteht man das Zweifelsargument Descartes’ in der I. Meditation, die Überlegung, daß zwar ein allmächtiger, aber boshafter Gott uns glauben lassen könnte, daß 2 und 3 gleich 5 seien im Sinne eines unverrückbaren mathematischen Wesensverhaltes, während dieser Wesensverhalt in Wahrheit gar nicht als solcher besteht. Die Vernunftwahrheiten sind notwendige und ewige Wesensverhalte, die nur auf diese eine Weise sind und ihr Gegenteil als undenkbar ausschließen. Weil die Vernunftwahrheiten ihr Gegenteil ausschließen, unterliegen sie dem Prinzip des Widerspruchs. Die Vernunftwahrheiten sind Wesensverhalte, die ihren ursprünglichen Ort in der göttlichen Vernunft haben. Sie gehören zu den Gedanken Gottes, und zwar so, daß sie vom Willen Gottes unabhängig sind. Der göttliche Wille vermag die Vernunftwahrheiten nicht zu schaffen und nicht umzuschaffen, in bezug auf die formalen Wesensverhalte gibt es für den Gott keine Wahlmöglichkeit. Zur 3. These: Alles, was jetzt über die Vernunftwahrheiten gesagt wurde, tritt aber erst dann in sein volles Licht, wenn diesen Vernunftwahrheiten die Tatsachenwahrheiten gegenüber gestellt werden. In der 3. These heißt es: Die Tatsachenwahrheiten sind zufällig, d. h. kontingent, dergestalt, daß ihr Gegenteil möglich ist. Hier müssen wir die Gegenüberstellung heraushören: Vernunftwahrheiten als notwendig, so daß ihr Gegenteil unmöglich ist, Tatsachenwahrheiten als kontingent, so daß ihr Gegenteil möglich wäre. Die Tatsachenwahrheiten sind nicht wie die Vernunftwahrheiten notwendig, sondern kontingent, zufällig. Hier kommt nun alles darauf an, die Rede von der Kontingenz und Zufälligkeit in rechter Weise zu verstehen. ‚Kontingent‘, ‚zufällig‘, heißt auf keinen Fall ‚grundlos‘. Die Tatsachenwahrheiten sind das wahre Wirklichsein und das wahre Sobeschaffensein des geschaffenen Seins und Seienden dieses Seins. Die Tatsachen, das Geschaffene, sind so, wie sie geschaffen sind, vom göttlichen Schöpfungswillen abhängig. Der göttliche Schöpfungswille ist der zureichende Grund alles Geschaffenen, aller Tatsachen. Obwohl die Tatsachen vom göttlichen Wollen abhängig sind, sind sie nicht notwendig, sondern zufällig, kontingent wahr. Ihre Wahrheit ist keine notwendige, sondern eine kontingente Wahrheit. Inwiefern? So wie das Sein und mit ihm das Seiende dieses Seins geschaffen ist hinsichtlich der Existenz und des Sobeschaffenseins, so mußte es nicht notwendig geschaffen werden. Es bestand für den Schöpfungswillen keine absolute Notwendigkeit, das Universum der Tatsachen nur so zu schaffen,
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Fünftes Kapitel: Zwei Grundprinzipien der Vernunfterkenntnis
wie dieser Wille es ins Sein gerufen hat. Die Tatsachen, die sich als geschaffene uns darbieten in ihrer Existenz und in ihrem Sobeschaffensein, hätten auch anders, in anderer Weise, geschaffen werden können. Nicht das, was jetzt existiert, muß absolut notwendig existieren, und das, was jetzt so und so beschaffen existiert, hätte auch in anderer Weise, in einem anderen Sobeschaffensein geschaffen werden können, Für den Schöpfungswillen gibt es einen Spielraum für die Wahl der Existenzen und für die Wahl der qualitativen Beschaffenheiten. Deshalb sind die Tatsachenwahrheiten, die wahren Tatsachen, nicht notwendig, sondern kontingent. Aber der göttliche Schöpfungswille entscheidet sich für diese Existenzen, und damit gegen jene anderen möglichen Existenzen; er entscheidet sich für diese Beschaffenheiten gegen andere mögliche Beschaffenheiten nicht willkürlich. Denn der urmonadische Schöpfungswille ist durch das moralische Prinzip des Besten unter allem Möglichen geleitet. Der urmonadische Wille hat eine jede Tatsache abgestimmt auf ihren Zusammenhang mit allen anderen Tatsachen und hat sich hierbei vom moralischen Prinzip des Besten leiten lassen. So wie die Tatsachen geschaffen sind und dadurch wahre Tatsachen sind, mußten sie nicht notwendig geschaffen werden. Sie mußten nicht in der Weise notwendig geschaffen werden, wie die logischen und mathematischen Wesensverhalte notwendig und unverrückbar sind. Dennoch besteht für den urmonadischen Willen, sofern dieser nicht willkürlich entscheidet, eine andere Notwendigkeit, von der er sich leiten läßt, nicht die absolute, sondern die moralische Notwendigkeit. Weil die Tatsachen gemäß der moralischen Notwendigkeit geschaffen sind, sind sie in ihrer Wahrheit kontingent und nicht absolut notwendig wie die formalen Wesensverhalte von Logik und Mathematik. Die Kontingenz geht also mit der moralischen Notwendigkeit zusammen. Die moralische Notwendigkeit besagt, daß die jeweilige Tatsache in ihrem Wirklichsein und Sobeschaffensein aufgrund der moralischen Einsicht Gottes in die beste Möglichkeit aller möglichen Welten geschaffen ist. Die Einsicht in das Beste ist der Grund, von dem sich der göttliche Wille leiten läßt. Von der Einsicht in das Beste alles Möglichen geht eine Notwendigkeit aus, sich für diese Existenzen und für jenes Beschaffensein der Tatsachen zu entscheiden. Aber diese Notwendigkeit ist nicht die absolute Notwendigkeit, die nicht vom göttlichen Willen und der göttlichen Einsicht in das Beste abhängt, sondern es ist die moralische Notwendigkeit. Diese heißt ‚moralisch‘, weil sie sich aus dem moralischen Prinzip des Besten herleitet. Nachdem wir den Unterschied zwischen den notwendigen und den kontingenten Wahrheiten erörtert haben, verstehen wir auch, inwiefern bei den Tatsachenwahrheiten das Gegenteil möglich ist. Grundsätzlich hätte das
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geschaffene Sein und das Seiende dieses Seins auch anders geschaffen werden können. Das Gegenteil einer geschaffenen Tatsache wäre in zweifacher Weise möglich: erstens könnte diese Tatsache auch nicht existieren und zweitens könnte sie auch in einer anderen Beschaffenheit existieren. Die Tatsachenwahrheiten betreffen sowohl die Existenz wie das Beschaffensein des Geschaffenen. Aber kontingent ist dieses nicht in dem Sinne, daß es grundlos wäre. Aus unserer ersten Behandlung des Prinzips vom zureichenden Grund hatten wir erfahren, daß sich keine Tatsache als so beschaffen und als existierend erweisen könne, ohne daß es einen zureichenden Grund dafür gäbe, weshalb die Tatsache existiert und nicht nicht existiert und weshalb sie so beschaffen ist und nicht anders. Daß die Tatsachen sind und so sind, wie sie sind, läßt sie kontingent sein. Denn grundsätzlich hätte das Universum der Tatsachen auch anders geschaffen sein können: mit anderen Existenzen und anderen Beschaffenheiten. Ihr Gegenteil ist möglich und denkbar, während das Gegenteil einer Vernunftwahrheit absolut unmöglich und undenkbar ist. Die Notwendigkeit der Vernunftwahrheiten kennzeichnet Leibniz gelegentlich auch als metaphysische Notwendigkeit. Von der metaphysischen Notwendigkeit unterscheidet er die moralische Notwendigkeit. Diese ist keine absolute Notwendigkeit. Sie ist vielmehr, wie Leibniz sagt, eine hypothetische Notwendigkeit. ‚Hypothetisch‘ ist der Gegenbegriff zu ‚absolut‘, so wie ‚moralisch‘ der Gegenbegriff zu ‚metaphysisch‘ ist. Die Vernunftwahrheiten sind metaphysische und absolute Wahrheiten – die Tatsachenwahrheiten sind moralische und hypothetische Wahrheiten. ‚Hypothetisch‘ heißen sie, weil die Notwendigkeit unter der Voraussetzung der Einsicht in das Beste steht. Die hypothetische Notwendigkeit ist zugleich Kontingenz. Weil alle Tatsachen grundsätzlich auch anders hätten geschaffen werden können, unterstehen die wahren Aussagen über die Tatsachen nicht in derselben Weise dem Prinzip des Widerspruchs wie die Aussagen über die ewigen Wesensverhalte. Während eine gegenteilige Aussage über eine Tatsache durchaus möglich wäre (sofern die Tatsache anders beschaffen wäre), ist eine gegenteilige Aussage über einen mathematischen Wesensverhalt absolut unmöglich. Hier läßt der Satz vom Widerspruch nicht einmal die Denkmöglichkeit des Gegenteils zu. Dagegen läßt dieser Satz bezüglich der kontingenten Tatsachenwahrheiten die Denkmöglichkeit des Gegenteils zu. Aber auf dem Grunde dessen, daß jede individuelle Substanz nun einmal so und nicht anders geschaffen ist, sind alle wahren Aussagen über die Tatsachen ihrem Wesen nach auch Identitäten. Denn kein Prädikat einer Aussage über eine Tatsache darf dem Subjekt, der Tatsache, widersprechen. Bevor wir zur 4. These des 33. Abschnittes übergehen, in der der Bezug der notwendigen Wahrheiten zum Prinzip des zureichenden Grundes be-
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Fünftes Kapitel: Zwei Grundprinzipien der Vernunfterkenntnis
dacht wird, wenden wir uns einigen Paragraphen aus der „Theodizee“ zu, die Leibniz selbst benennt und die in der Tat inhaltlich ergiebig sind für die Unterscheidung zwischen den notwendigen Vernunftwahrheiten und den kontingenten Tatsachenwahrheiten. Im § 174 der II. Abhandlung8 lesen wir, es dürfe „das aus Gründen des Widerspruchs Unmögliche“ nicht mit dem zusammengeworfen werden, „was nicht geschehen kann, da es zur Auswahl nicht geeignet genug war“. Leibniz denkt hier an die göttliche Wahl des Besten innerhalb der Schöpfung. Leibniz gibt ein Beispiel für eine Tatsachenwahrheit, die nicht absolut notwendig, wohl aber hypothetisch notwendig und in diesem Sinne kontingent ist. In der Annahme (Denkmöglichkeit), Spinoza sei in Leiden und nicht im Haag gestorben, liege nichts Widersprechendes im Sinne des Denkunmöglichen. Diese anders beschaffene Tatsache wäre durchaus auch möglich. Für die göttliche Allmacht war es gleichgültig, ob Spinoza im Haag oder in Leiden stirbt. Für die göttliche Allmacht ist die eine Tatsache so gut möglich wie die andere. Aber für die göttliche Weisheit und Güte war es nicht gleichgültig, ob Spinoza eher im Haag und nicht in Leiden starb. Die göttliche Weisheit und Allgüte gestattete es nicht, daß dieses Ereignis auf eine andere Weise geschehen wäre als es wirklich geschehen ist. Dabei verhält es sich nicht so, daß das tatsächliche Ereignis für sich selbst und an sich eher hätte gewählt werden müssen. Vielmehr hat die göttliche Weisheit und Allgüte aufgrund der Verbindung dieses einen Ereignisses mit jenem „Ganzheitszusammenhang der Welt, der den Vorzug verdiente“, das Ereignis geschehen lassen auf diese bestimmte Weise und nicht auf eine andere. Hier wird deutlich: Das phänomenale Ereignis, das auf diese bestimmte und nicht auf eine andere Weise geschehen ist, ist gerade so und nicht anders geschaffen, weil es in dieser bestimmten Weise zu einem bestimmten Weltzusammenhang gehört, zu jenem, der unter allen möglichen Ganzheitszusammenhängen der Welt der beste ist. Die Wahl der jeweiligen Tatsachen in ihrem Sobeschaffensein und Wirklichsein richtet sich im göttlichen Schöpfungswillen nach dem moralischen Prinzip, den besten aller möglichen Weltzusammenhänge ins Wassein und Wirklichsein hervorzubringen. Die Einsicht in die beste aller Möglichkeiten leistet die göttliche Weisheit. Die Entscheidung aber für die beste Möglichkeit trifft die Allgüte Gottes. Das geschaffene Seiende in seinem Weltzusammenhang und das monadische Sein dieses Weltzusammenhanges ist tatsächlich geschaffen und so geschaffen, wie es nun einmal ist, aufgrund des moralischen Prinzips des Besten, d. h. der besten aller möglichen Welten. 8 G. W.
Leibniz, Die Theodizee (Buchenau 1968), a. a. O., S. 235.
§ 19 Vernunftwahrheiten und Tatsachenwahrheiten159
Abschließend sagt Leibniz in unserer ausgewählten Textstelle aus dem § 174 der „Theodizee“: „Das moralisch Notwendige“ ist „das durch die Prinzipien der Weisheit und Güte Notwendige.“ Dieses „moralisch Notwendige“ dürfe aber nicht verwechselt werden „mit der blinden metaphysischen Notwendigkeit“. Die blinde metaphysische Notwendigkeit habe dann statt, wenn das Gegenteil einen Widerspruch involviert. Die blinde metaphysische Notwendigkeit herrscht in den Vernunftwahrheiten, etwa der Mathematik. In den mathematischen Wahrheiten als Wahrheiten über ideale Wesensverhalte führt das Gegenteil zu einem Widerspruch. Hier ist das Gegenteil undenkbar und unmöglich. Hier herrscht deshalb eine blinde metaphysische Notwendigkeit. In der Tatsachenwahrheit, daß Spinoza im Haag gestorben ist, herrscht keine solche Notwendigkeit. Denkbar und möglich wäre es, daß er in Leiden gestorben wäre. Insofern ist diese Wahrheit kontingent. Aber sie ist nicht kontingent in dem Sinne, daß es für sie keinen Grund gäbe. Der Grund für diese Tatsachenwahrheit liegt letztlich in der göttlichen Weisheit und Allgüte, die dieses Ereignis gemäß der Wahl des besten aller möglichen Weltzusammenhänge so geschaffen hat, wie es tatsächlich ist. Weil sich der göttliche Schöpfungswille aufgrund der Allgüte Gottes nach dem Prinzip des moralisch Besten richtet, ist es moralisch notwendig gewesen, diese bestimmte Tatsache so und nicht anders geschaffen zu haben. Die moralische Notwendigkeit untersteht dem göttlichen Willen. Dieser Wille könnte auch einen anderen Weltzusammenhang gewählt haben. Grundsätzlich wäre jeder der unendlich vielen möglichen Weltzusammenhänge wählbar gewesen. Daß sich aber der göttliche Wille für diesen einen bestimmten entschieden hat, rührt daher, daß sich der göttliche Wille durch das moralische Prinzip des Besten leiten ließ. Daß eine Tatsache, die in einen bestimmten Weltzusammenhang gehört, so geschaffen ist, wie sie geschaffen ist, ist nicht absolut, nicht metaphysisch notwendig, wohl aber moralisch notwendig. Im § 282 der II. Abhandlung der „Theodizee“ bedenkt Leibniz erneut den für ihn so wichtigen Unterschied zwischen metaphysischer und moralischer Notwendigkeit.9 Dieser Unterschied ist für ihn derselbe wie der zwischen Unmöglichkeit und Möglichkeit. Denn das Gegenteil der metaphysischen Notwendigkeit ist unmöglich, während das Gegenteil der moralischen Notwendigkeit möglich ist. Ein Ereignis, dessen Gegenteil unmöglich ist, ist notwendig. Aber ein Ereignis, dessen Gegenteil möglich ist, ist kontingent. Diese Kontingenz geht zusammen mit der moralischen Notwendigkeit. Die moralische Notwendigkeit steht nicht im Gegensatz zur Kontingenz bzw. Zufälligkeit. Denn die moralische Notwendigkeit ist nicht identisch mit der logischen Notwendigkeit oder der geometrischen Notwendigkeit oder der metaphysischen Notwendigkeit. Nur die metaphysische Notwendigkeit und 9 G. W.
Leibniz, Die Theodizee (Buchenau 1968), a. a. O., S. 315.
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mit ihr die logische und die geometrische Notwendigkeit stehen im Gegensatz zur Kontingenz oder Zufälligkeit. Nur diejenige Notwendigkeit, deren Gegenteil einen Widerspruch einschließt, steht im Gegensatz zur Kontingenz, während diejenige Notwendigkeit, deren Gegenteil keinen Widerspruch einschließt, die moralische Notwendigkeit, mit der Zufälligkeit bzw. Kontingenz zusammengeht. Auch im § 367 reflektiert Leibniz den Unterschied zwischen metaphysischer und moralischer Notwendigkeit.10 Die metaphysische Notwendigkeit ist diejenige, die keine Wahl freiläßt und nur ein einziges mögliches Objekt darbietet. So gibt es auch für den göttlichen Willen keine Wahl gegenüber den idealen Wesensverhalten der Logik und Mathematik. Die mathematischen Sachverhalte sind das, was sie sind. Hier gibt es keine Abweichung, keine mögliche Abänderung, sondern jeweils nur das eine Objekt, dieser eine Wesensverhalt, dem zu entsprechen ist ohne eine Wahl. Aber die moralische Notwendigkeit läßt grundsätzlich eine andere Wahl und ein anderes Objekt zu. Hier ist es das Prinzip des Besten, das die göttliche Weisheit zur Wahl der besten aller Möglichkeiten leitet. Die Leitung und die Forderung, die vom Prinzip des Besten auf den göttlichen Willen geht, ist das, was hier als Notwendigkeit bezeichnet wird. Aber es ist die moralische Notwendigkeit und keine festliegende Notwendigkeit. Die moralische Notwendigkeit geht mit dem göttlichen Willen und der Entscheidung zusammen. Grundsätzlich hätte die Entscheidung auch anders ausfallen können. Auch die Forderung, die vom Prinzip des Besten auf den göttlichen Willen ausgeht, hat nicht den Charakter des unbedingten Folgenmüssens. Andernfalls wäre auch die moralische Notwendigkeit nichts anderes als eine metaphysische Notwendigkeit. Was aufgrund der moralischen Notwendigkeit geschaffen ist, ist Seiendes in seinem Sein als Tatsache, und diese Tatsache, das Universum der geschaffenen Tatsachen, steht in der Modalität der Kontingenz bzw. Zufälligkeit. Die Kontingenz der Tatsachen geht zusammen mit der moralischen Notwendigkeit. Im „Anhang“ zur „Theodizee“ bedenkt Leibniz die metaphysische Notwendigkeit als eine absolute Notwendigkeit und die moralische Notwendigkeit als eine hypothetische Notwendigkeit.11 Die absolute Notwendigkeit steht dergestalt im Gegensatz zur moralischen Notwendigkeit, daß sie die Moralität der Handlung vernichten würde. Dagegen ist die zur moralischen Entscheidung gehörende Notwendigkeit als moralische eine hypothetische Notwendigkeit. Sie ist eine bedingte Notwendigkeit, bedingt durch das moralische Prinzip des Besten und die freie Wahl zwischen den Möglichkeiten. 10 G. W. 11 G. W.
Leibniz, Die Theodizee (Buchenau 1968), a. a. O., S. 374. Leibniz, Die Theodizee (Buchenau 1968), a. a. O., S. 416 f.
§ 19 Vernunftwahrheiten und Tatsachenwahrheiten161
Wir kehren zurück zum Abschnitt 33 der „Monadologie“. Von den vier Thesen dieses Abschnittes haben wir die Thesen 1–3 durchgesprochen. In der 1. These wurden die zwei Arten von Wahrheiten benannt: Vernunftwahrheiten und Tatsachenwahrheiten. Die 2. These kennzeichnete die Vernunftwahrheiten als notwendige Wahrheiten, deren Gegenteil unmöglich ist. Die 3. These charakterisierte die Tatsachenwahrheiten in der Entgegensetzung zu den Vernunftwahrheiten als kontingent, so daß deren Gegenteil grundsätzlich möglich, wenn auch nicht faktisch ist. Die 4. und letzte These bedenkt den Bezug der notwendigen Wahrheiten zum Prinzip des zureichenden Grundes. Diese 4. These gilt es jetzt zu durchdenken. Die 4. These des 33. Abschnittes lautet: Für eine notwendige Wahrheit kann man den Grund durch Analyse finden, in der man die notwendige Wahrheit in einfachere Ideen und Wahrheiten auflöst bis hin zu den ursprünglichen Wahrheiten. Nachdem Leibnitz in den Abschnitten 31 und 32 zuerst das Prinzip des Widerspruchs, sodann das Prinzip des zureichenden Grundes eingeführt und anschließend im 33. Abschnitt zuerst die Vernunftwahrheiten, sodann die Tatsachenwahrheiten benannt hat, könnte man meinen: die Vernunftwahrheiten beruhten nur auf dem Prinzip des Widerspruchs, die Tatsachenwahrheiten nur auf dem Prinzip des zureichenden Grundes. Eine solche Meinung wird dadurch unterstützt, daß Leibniz im 32. Abschnitt das Prinzip des zureichenden Grundes in bezug auf die geschaffenen Tatsachen sogleich erläutert. Anschließend nennt er zuerst die Vernunftwahrheiten, darauf die Tatsachenwahrheiten. Das aber legt den Gedanken nahe, daß nur die Tatsachenwahrheiten dem Prinzip des zureichenden Grundes unterstehen. Daß es sich aber mit dieser Zuordnung der zwei Arten von Wahrheiten zu den zwei Prinzipien nicht so verhält, wie man zunächst vermuten möchte, wird sofort deutlich durch die 4. These des Abschnittes 33. Denn hier wird von den notwendigen Vernunftwahrheiten gezeigt, wie auch sie dem Prinzip des zureichenden Grundes unterliegen. Während im 32. Abschnitt dargelegt wurde, wie die Tatsachenwahrheiten und mit ihnen die Tatsachen selbst dem Prinzip des zureichenden Grundes unterstehen, wird jetzt in der 4. These deutlich gemacht, wie auch die notwendigen Vernunftwahrheiten dem Prinzip des zureichenden Grundes unterliegen. Die Tatsachenwahrheiten sind die kontingenten Wahrheiten, die Vernunftwahrheiten die notwendigen Wahrheiten. Sowohl die kontingenten Wahrheiten über die Tatsachen wie auch die notwendigen Wahrheiten über die idealen Wesensverhalte sind begründungsbedürftig und unterstehen deshalb auch dem Prinzip vom zureichenden Grund. Desgleichen sind nicht nur die Vernunftwahrheiten dem Satz vom Widerspruch unterworfen, sondern auch, wie angeführt, die Tatsachenwahrheiten,
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wenn auch die Art, in der beide Arten von Wahrheiten dem Prinzip vom Widerspruch unterliegen, unterschiedlich ist. Denn für Leibniz sind nicht nur die Vernunftwahrheiten Identitäten, sondern auch die Tatsachenwahrheiten sind innerhalb ihrer Wesensgrenze Identitäten. Denn auch in einer Tatsachenwahrheit darf das Prädikat nicht dem Subjekt widersprechen. Auch in den Tatsachenwahrheiten muß das Subjekt jenes Prädikat, das von ihm ausgesagt wird, in sich enthalten. Beide Prinzipien gelten von beiden Wahrheiten und umgekehrt, beide Arten von Wahrheit unterstehen beiden Prinzipien. Jetzt aber gilt es zu sehen, wie die notwendigen Wahrheiten, die Vernunftwahrheiten, nicht nur dem Prinzip vom Widerspruch, sondern auch dem Prinzip vom zureichenden Grund unterliegen. Sofern es sich bei einer notwendigen Wahrheit nicht schon von vornherein um eine ursprüngliche Wahrheit handelt, die eine unauflösbare Identität darstellt, ist es eine komplexe und abgeleitete Wahrheit. Eine komplexe Wahrheit erhält ihre Begründung durch eine andere notwendige Wahrheit, in der sie gründet. Aber auch diese notwendige Wahrheit, in der jene andere notwendige Wahrheit unmittelbar gründet, ist ihrerseits in einer anderen notwendigen Wahrheit gegründet, und so fort. Um also den zureichenden Grund einer komplexen notwendigen Wahrheit aufzufinden, beschreite ich den Weg der Analyse, in der ich die komplexe Wahrheit schrittweise auflöse, also zurückführe auf die einfacheren Ideen und Wahrheiten. Diesen Rückgang von Grund zu Grund beschreite ich solange, bis ich zu den ursprünglichen notwendigen Wahrheiten gelange, die deshalb ursprünglich heißen, weil sie letzte Ursprünge sind, letzte Identitäten, die nicht mehr auflösbar sind. Es sind die elementaren Urwahrheiten. Wenn der zureichende Grund eines mathematischen Satzes durch Analyse aufgesucht wird, denkt die Vernunft entlang dem Prinzip des zureichenden Grundes. Schließlich stößt sie auf den wahrhaft zureichenden Grund des mathematischen Satzes, wenn sie zu jenen letzten Identitäten gelangt, die ihrerseits nicht mehr begründbar sind, weil sie selbst letzte Gründe sind. Alle abgeleiteten notwendigen Wahrheiten gründen letztlich in ursprünglichen Wahrheiten, die als solche ausdrückliche Identitäten sind. In den Abschnitten 34 und 35 der „Monadologie“ exemplifiziert Leibniz die Rückführung von komplexen, abgeleiteten Vernunftwahrheiten auf letzte Ursprungswahrheiten mit Blick auf die reine Mathematik. Die Mathematiker – so Leibniz – führen ihre theoretischen Lehrsätze und praktischen Regeln durch Analyse zurück auf Definitionen, Axiome und Postulate. Hierbei gelangen sie letztlich auf einfache Ideen, die ihrerseits nicht mehr definiert werden können. Sie gelangen zu den Axiomen und Postulaten und somit zu den ursprünglichen Prinzipien, die weder beweisbar sind noch des
§ 20 Tatsachenwahrheiten und der zureichende Grund163
Beweises bedürfen. Was sich als letztlich unbeweisbar und beweisunbedürftig erweist, gibt sich als ursprüngliches Prinzip zu erkennen. Diese ursprüng lichen Prinzipien sind die wahrhaft zureichenden Gründe für die abgeleiteten mathematischen Wahrheiten. Die Gründe, in die eine komplexe mathematische Wahrheit aufgelöst, auf die sie zurückgeführt wird, sind nicht schon die zureichenden Gründe im strengen Sinne. Denn es sind Gründe, Wahrheiten, die ihrerseits noch weiter auflösbar sind. Erst wenn die Analyse zu den unauflösbaren Gründen kommt, gelangt sie zu den wahrhaft zureichenden Gründen. Der zureichende Grund ist erst dann aufgefunden, wenn ein Grund sich als unauflösbare Identität zu verstehen gibt. Von den Tatsachenwahrheiten hieß es schon im Abschnitt 32, daß uns die zureichenden Gründe in den meisten Fällen nicht bekannt werden. Denn die Tatsachenwahrheiten können nicht wie die Vernunftwahrheiten auf vorzeigbare letzte Identitäten zurückgeführt werden. Dagegen ist es das Auszeichnende der Vernunftwahrheiten, daß sie jederzeit auf ursprüngliche Prinzipien rückführbar sind, in denen sie ihre zureichenden Gründe haben. Die ursprünglichen Prinzipien der Mathematik, die unbeweisbar, aber auch beweis unbedürftig sind, werden von Leibniz als Identische Sätze gefaßt, deren Gegenteil einen ausdrücklichen Widerspruch enthält. Damit zeigt sich, wie die Mathematik in der Befolgung des Satzes vom zureichenden Grund zugleich den Satz des Widerspruchs beachtet. Die ursprünglichen Prinzipien der Mathematik sind letzte Identitäten. Was hier mit sich selbst selbig ist, kann nur so sein, wie es ist; es kann nicht und könnte nicht anders sein, weil es nicht zu dem gehört, was der göttliche Wille nach Maßgabe des Besten geschaffen hat. Nachdem Leibniz in der 4. These des Abschnittes 33 und in den Abschnitten 34 und 35 gezeigt hat, wie für die notwendigen Vernunftwahrheiten der zureichende Grund aufgesucht und aufgefunden wird, wendet er sich im Abschnitt 36 der „Monadologie“ erneut und ausführlicher der Frage zu, wie für die kontingenten Tatsachenwahrheiten der zureichende Grund aufzusuchen ist.
§ 20 Tatsachenwahrheiten und der zureichende Grund Der Abschnitt 36 läßt sich aufgliedern in vier ontologische Thesen. Von diesen vier Thesen gehören die 1. und 2. sowie die 3. und 4. These enger zusammen. Die 1. These lautet: Der zureichende Grund muß sich auch bei den kontingenten Wahrheiten bzw. bei den Tatsachenwahrheiten finden lassen, und zwar in der Folge der im Universum des Geschaffenen ausgebreiteten Sachen. Die 2. These besagt: Die Auflösung der Tatsachenwahrheiten in ein-
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zelne Gründe könnte schrankenlos erfolgen wegen der ungeheuren Mannigfaltigkeit der Naturdinge und der ins Endlose gehenden Teilung der Körper. Die 3. und 4. These beziehen sich auf ein von Leibniz gewähltes Beispiel für eine Tatsachenwahrheit, deren zureichender Grund aufgesucht werden soll. Die 3. These sagt: Es gibt endlos viele Figuren und Bewegungen, gegenwärtige und vergangene, die die Wirkursache der gegenwärtig im Entstehen begriffenen Schrift „Monadologie“ ausmachen. Die 4. These lautet: Es gibt endlos viele gegenwärtige und vergangene kleine Neigungen und Dispositionen meiner Seele, die zusammen die Zweckursache dieser im Werden befindlichen Schrift bilden. Weil Leibniz in der zweiten Hälfte des Abschnittes 33 und in den Abschnitten 34 und 35 gezeigt hat, daß und wie der zureichende Grund für jede abgeleitete Vernunftwahrheit durch Auflösung und Rückgang gefunden wird, schließt er jetzt im Abschnitt 36 unmittelbar an das Vorangehende an. Nicht nur für die notwendigen Wahrheiten, nicht nur für die Vernunftwahrheiten ist der zureichende Grund aufzusuchen, sondern nun auch für die kontingenten Wahrheiten, für die Tatsachenwahrheiten. Beide Arten von Wahrheiten unterstehen dem großmächtigen Prinzip des zureichenden Grundes. Noch innerhalb der 1. These des Abschnittes 36 wird von Leibniz gesagt, was die Tatsachen sind. Sie sind die durch das Universum des Geschaffenen ausgebreiteten Sachen, d. h. sie sind die Welt als das geschaffene Seiende im Ganzen. In diesem Sinne hatten wir schon den Abschnitt 32 durchdacht, in welchem erstmals die Rede von den Tatsachen war. Die Tatsachen sind das aus dem freien Willen Gottes nach dem Prinzip der besten aller möglichen Welten Geschaffene. Die Urmonade folgte in der Weltschöpfung nicht der absoluten Notwendigkeit, sondern der moralischen Notwendigkeit. Das Wie der Geschaffenheit der Welt und weltlichen Tatsachen ist nicht absolut notwendig, sondern moralisch notwendig. Die Urmonade hätte den Weltzusammenhang aller Tatsachen auch anders schaffen können sowohl hinsichtlich der Beschaffenheiten wie hinsichtlich der ausgewählten Existenzen. Die Abweichung vom faktischen Wie der Geschaffenheit der Welt und aller weltlichen Tatsachen wäre möglich gewesen. Eine solche Abweichung hätte zu keinem Widerspruch geführt. Widersprüche gibt es nur dort, wo die notwendigen Wahrheiten herrschen. Eine Abweichung von diesen würde zu einem Widerspruch führen. Wo aber die moralische Notwendigkeit herrscht, wären Abweichungen vom Faktischen widerspruchsfrei möglich. Die geschaffenen Tatsachen sind so, wie sie beschaffen sind und existieren, kontingent und nicht absolut notwendig. In der 1. These heißt es: Der zureichende Grund einer Tatsachenwahrheit werde aufgesucht in der „Folge der durch das Universum des Geschaffenen
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ausgebreiteten Sachen“. Les choses sind die geschaffenen Sachen, die Tatsachen. Aber die geschaffenen Sachen sind zum einen das geschaffene phänomenale körperliche Seiende und zugleich das geschaffene substanzielle Sein dieses Seienden. La suite, die Folge, wird daher von uns in zwei Hinsichten zu verstehen sein. Die Folge bezieht sich auf die Tatsache oder Tatsachenwahrheit und ihren unmittelbaren Grund. Grund und Tatsache stehen in einer Folge. Die Tatsache, die ihren Grund hat, steht in der Folge ihres Grundes. Dieser Grund ist aber seinerseits wieder eine Tatsache, die ihren Grund hat. Und auch dieser Grund ist eine Tatsache, die ihren Grund hat. Auf diese Weise gelangen wir im Rückgang von einer Tatsache (Tatsachenwahrheit) auf eine Folge von Gründen. Nun spricht aber Leibniz nicht nur von der Folge der Sachen, sondern von der Folge der Tatsachen, die durch das Universum des Geschaffenen verbreitet oder ausgebreitet sind. Das zu beachten ist wichtig. Les choses repandues – die durch das Universum ausgebreiteten Tatsachen: die hier genannte Ausbreitung ist der wichtige Hinweis darauf, daß eine Tatsache und Tatsachenwahrheit nicht nur durch jeweils einen Grund, sondern durch gleichzeitig mehrere Gründe begründet wird. An der Begründung einer Tatsache hat innerhalb der rückwärts zu verfolgenden Kette von Gründen eine Vielfalt von gleichzeitig begründenden Gründen teil. Diese Vielfältigkeit ist in jedem Kettenglied der rückwärts zu verfolgenden Kette von Gründen anzusetzen. Die Kette der Gründe, die eine Tatsache begründen, erweist sich damit nicht als eine einfache Folge von zurückliegenden Gründen. Vielmehr gehört jeder Grund innerhalb einer Folge von Gründen in ein weitverzweigtes Netz von gleichzeitig begründenden Gründen, die den Charakter von Teilgründen haben. Für Leibniz steht jedes Geschaffene im Universum in einem Zusammenhang mit allem anderen Geschaffenen. Daher gibt es für jeden Bewegungszustand und jeden Veränderungszustand viele zusammenlaufende Teilgründe, die in ein verzweigtes Geflecht von Gründen hineingehören. Damit deutet sich an, daß das Aufsuchen des zureichenden Grundes für die Tatsachen und Tatsachenwahrheiten in einer grundsätzlich anderen Situation steht als das Aufsuchen des zureichenden Grundes für die notwendigen Vernunftwahrheiten. Deshalb lautet die 2. These des Abschnittes 36 so: Hier im Felde der Tatsachen und Tatsachenwahrheiten könnte die Auflösung in einzelne Gründe ohne Grenzen weitergehen. Die Grenzenlosigkeit im Rückgang auf die einzelnen Gründe einer Tatsachenwahrheit tut sich auf angesichts der immensen Mannigfaltigkeit der Naturdinge und der ins Endlose gehenden Teilung der Körper. Eine Tatsache aus dem Universum der geschaffenen Sachen ist eben nicht nur durch einen oder einige Gründe begründet, die
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sich in einer überschaubaren Folge aufzeigen ließen. Eine jede Tatsache gehört in das Ganze der Tatsachen und hat aus diesem Ganzen eine unübersehbare Fülle von Teilgründen, von gleichzeitig und nach rückwärts sich ständig vervielfältigenden Teilgründen, die alle zusammengewirkt und zu diesem bestimmten Bewegungs- und Veränderungszustand der Tatsache geführt haben. Beim Aufsuchen des zureichenden Grundes genügt es nicht, einige Gründe aufzufinden und es dabei bewenden zu lassen. Denn die Gründe, zu denen ich im Rückgang in die Begründungskette gelange, erweisen sich alle als ihrerseits begründungsbedürftig. Sie alle weisen über sich hinaus auf andere gleichzeitige und weiter zurückliegende Gründe. Mit Blick auf das phänomenale körperliche Seiende können wir sagen: Jede einzelne Tatsache ist die Wirkung einer Wirkursache. Diese Ursache ist der Grund der so und so bewirkten Tatsache. Weil jedes körperliche Seiende in einem lückenlosen Zusammenhang steht mit allem anderen körperlichen Seienden, setzt sich die Wirkursache zusammen aus zahllosen Teilursachen. Daher könnte die Analyse der Tatsachenwahrheit hinsichtlich der sie bewirkenden Ursachen grenzenlos weitergehen. ‚Grenzenlos‘ (sans bornes) ist der Rückgang auf die Gründe bzw. Ursachen, weil ich auf keinen solchen Grund stoße, der sich mir zu verstehen gäbe als letztlich zureichender Grund. Damit tut sich der Wesensunterschied auf zwischen den Tatsachen- und den Vernunftwahrheiten. Der Rückgang von einer Vernunftwahrheit auf ihre Gründe führt stets – auf längerem oder kürzerem Wege – auf die ursprünglichen Prinzipien, die die letzten Gründe sind, die wahrhaft zureichenden Gründe für die Vernunftwahrheit. Demgegenüber führt der Rückgang von einer Tatsachenwahrheit auf die sie begründenden Gründe niemals auf solche letzten Gründe, die sich als wahrhaft zureichende Gründe ausgeben könnten. Der Rückgang von einer Tatsachenwahrheit zu ihren Gründen in der Absicht, auf einen oder mehrere zureichende, letzte Gründe zu stoßen, führt ins Grenzenlose der sich verzweigenden und immer tiefer in die Vergangenheit zurückreichenden Gründe. Während eine Vernunftwahrheit innerhalb des Bereiches der Vernunftwahrheiten wesenhaft auf einen zureichenden Grund zurückgeführt werden kann, führt eine Tatsachenwahrheit innerhalb des Universums der Tatsachen wesenhaft niemals auf einen oder auf mehrere wahrhaft zureichende Gründe. Es gibt keine Tatsache, kein Geschaffenes, das als solches den Charakter eines zureichenden Grundes für andere Tatsachen haben könnte. Zwar haben alle Tatsachen den Charakter von begründenden Gründen für andere Tatsachen. Alle Tatsachen stehen untereinander in mannigfaltigen Begründungszusammenhängen. Aber keine einzige unter diesen Tatsachen aus der Welt, aus dem Universum der Tatsachen, ist als begrün-
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dender Grund zureichender Grund. Daß es sich mit den Tatsachen und ihrem Begründungscharakter so verhält, liegt an deren Geschaffenheit. Denn kein Geschaffenes ist aus sich selbst, sondern ist das Geschaffene eines anderen Geschaffenen. Was nicht aus sich selbst, sondern durch ein anderes ist, kann nicht zureichender Grund sein für anderes. Es ist selbst immer nur begründender Grund, der wiederum durch andere Gründe begründet ist. Die 3. und 4. These aus dem Abschnitt 36 veranschaulichen das in der 1. und 2. These Gesagte an einem Beispiel. Eine Tatsache und Tatsachenwahrheit ist die von Leibniz verfaßte Schrift „Monadologie“. Diese Schrift muß aber nach zwei Hinsichten betrachtet werden. Die erste Hinsicht betrifft die Schrift als ein Körperliches, die Schrift in ihrer eigenen Körperlichkeit und Materialität, die Schrift als die mit Tinte beschriebenen Manuskriptblätter. In seiner Materialität und Körperlichkeit fügt sich das Manuskript in den Gesamtzusammenhang des körperlich Seienden ein. In bezug auf dieses so seiende Manuskript heißt es in der 3. These: Es gibt endlos viele räumliche Figuren und Bewegungen, gegenwärtige und vergangene, die alle zusammen die Wirkursache dieses körperlichen Manuskripts bilden. Die Rede von den räumlichen Figuren und den Bewegungen zeigt an, daß die Gründe für das Manuskript mechanische Gründe sind, daß hier also die Materialität und Körperlichkeit des Manuskripts auf mechanische Weise aus den mechanischen Gründen begründet wird. Die mechanischen Gründe sind aber die causae efficientes, die wirkenden Ursachen, la cause efficiente. Die Endlosigkeit von Raumfiguren und Ortsbewegungen bildet die Endlosigkeit der begründenden Gründe, die alle dazu beigetragen haben, daß das Manuskript in seiner Materialität und Körperlichkeit vorliegt. Leibniz spricht von den zahllosen gegenwärtigen und vergangenen Raumfiguren und Bewegungen. Die gegenwärtigen Gründe bzw. Ursachen sind diejenigen, die jetzt in der Gegenwart unmittelbar das vorliegende Manuskript begründen. Die vergangenen Gründe bzw. Ursachen sind die Gründe der gegenwärtigen Gründe, also die früheren, in der Vergangenheit zurückliegenden Gründe. Aber sowohl die gegenwärtigen wie die vergangenen begründenden Gründe stehen in der Mehrzahl. Denn in jedem Jetzt wie auch in jedem Nicht-mehr-jetzt wirken gleichzeitig viele Gründe als Teilgründe zusammen. Die Endlosigkeit (infinité) der begründenden Gründe ist somit nicht nur eine Endlosigkeit im Rückgang auf die immer fernere Vergangenheit, sondern diese Endlosigkeit ist zugleich eine im Rückgang auf die jeweils gleichzeitigen Gründe. Die jeweils gleichzeitig wirkenden Gründe sind diejenigen, die sich im Raume ausbreiten. Endlos ist nicht nur die Vergangenheit, sondern endlos ist auch der Raum, die Ausbreitung im
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Raume. Zur Gleichzeitigkeit der wirkenden Ursachen gehört der Raum, die Ausbreitung dieser Ursachen im Raume. Die begründenden Gründe für die Tatsachenwahrheiten sind im Felde der materiellen Körper die wirkenden Ursachen. Jede dieser Ursachen ist aber nicht nur selber wirkend, sondern ist selber eine schon bewirkte Ursache, bewirkt durch viele andere Ursachen. Und diese weiter zurückreichenden Teilursachen sind ihrerseits wieder bewirkte Ursachen. Das bedeutet: Das große Prinzip vom zureichenden Grund ist im Felde der Körperwelt das Prinzip der Wirkursachen, d. h. das Prinzip oder der Grundsatz der Kausalität. Das Prinzip vom zureichenden Grund gestaltet sich im Felde des phänomenalen Seienden, in der raum-zeitlich-materiellen Körperwelt, als Prinzip der Naturkausalität. Umgekehrt, der Grundsatz der Kausalität von Ursache und Wirkung ist das Prinzip des zureichenden Grundes im Felde des körperlich Seienden. Der Satz der Kausalität ist das Prinzip des zureichenden Grundes in der Körperwelt auch dann, wenn der zureichende Grund, die zureichende Ursache, für die Tatsachen und Tatsachenwahrheiten innerhalb der Welt der Tatsachen nicht aufgefunden werden kann. Die folgende, die fünfte gedankliche Einheit der „Monadologie“ wird uns zeigen, daß dieser zureichende Grund, den unsere Vernunft aufzusuchen bestrebt ist, zwar nicht innerhalb der Welt der Tatsachen, wohl aber außerhalb dieser, außerhalb der innerweltlichen Folgereihen der Ursachen, gefunden wird. Wir sagten aber: Das Manuskript der „Monadologie“ müsse nach zwei Hinsichten betrachtet werden. Bis jetzt haben wir nur die eine Hinsicht verfolgt: die Schrift in ihrer Körperlichkeit, mit der sie zur phänomenalen Welt der Körper gehört. Die von Leibniz verfaßte Schrift ist aber nicht nur eine Tatsache des körperlich Seienden, sondern zugleich eine Tatsache hinsichtlich ihres substanziellen Seins. Hinsichtlich dessen, daß diese Schrift ein von der Geistmonade gedachtes Gedankengefüge ist, hat sie ihr substanzielles Sein in der menschlichen Geistmonade. Hinsichtlich des substanziellen Seins dieser auch zur Körperwelt gehörenden Schrift sagt Leibniz in der 4. These des Abschnittes 36: Es gibt eine Endlosigkeit, eine Unbegrenztheit, von kleinen Neigungen und Dispositionen meiner Seele, die zur gedanklichen Ausarbeitung dieser Schrift geführt haben. Was Leibniz hier Neigungen und Dispositionen meiner, seiner Seele nennt, die zur geistigen Hervorbringung dieses Textes geführt haben, bildet zusammen die Zweckursache dieser gedanklichen Schrift. Während die unbegrenzt vielen Figuren und Bewegungen sich zusammenschließen zur Wirkursache der Schrift in ihrer Materialität, schließen sich die unbegrenzt vielen gegenwärtigen und vergangenen Neigungen und Dispositionen in der Geistseele zusammen zur Zweckursache. Die Wirkursachen bestimmen das kör-
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perlich Seiende, die Zweckursachen bestimmen das substanzielle Sein des körperlich Seienden. La cause finale, lat. causa finalis, ist die teleologische Ursache, eine Ursache, die teleologisch wirkt. Dagegen ist die cause efficiente, lat. causa efficiens, die Wirkursache. Die Wirkursachen gehören in das Reich des Seienden, die Zweckursachen in das Reich des substanziellen Seins des Seienden. Im Reich des substanziellen Seins herrscht das Große Prinzip vom zureichenden Grunde in der Gestalt der Zweckursachen. Im Bereich des Seienden dieses monadischen Seins herrscht dasselbe Große Prinzip vom zureichenden Grund in Gestalt der Wirkursachen, des Kausalgesetzes. Das Kausalgesetz hat seinen Ort im körperlich Seienden. Es regelt das körperlich Seiende und die Geschehnisse des Körperlichen in der Weise von wirkender Ursache und bewirkter Wirkung. Dagegen haben die Zweckursachen ihren Ort im monadischen Sein alles körperlich Seienden. Das Prinzip vom zureichenden Grund hat also zwei Gestalten: die Gestalt des Kausalgesetzes und die Gestalt der teleologisch wirkenden Ursachen, der Zweckursachen. Wie aber wirken die Zweckursachen innerhalb des monadischen Seins? Was ist hier die Folge der Gründe im Sinne der Zweckursachen? Die Antwort auf diese Frage lautet: Die substanziellen Perzeptionszustände und ihr kontinuierlicher Übergang in immer neue Perzeptionszustände sind in ihrer Folge bestimmt durch Zweckursachen. Während im phänomenalen Seienden die Wirkungen auf die Ursachen folgen, folgen im substanziellen Sein des strebenden Perzipierens die gegenwärtigen Perzeptionszustände aus den vorangehenden, vergangenen. Die Folge der Wirkursachen im körperlich Seienden ist eine Folge auf. Die Folge der Zweckursachen im substanziellen Sein des strebenden Perzipierens ist dagegen ein Folgen aus. Jeder neue Perzeptionszustand, mit dem der jeweils gegenwärtige schwanger geht, folgt aus diesem nunmehr gegenwärtig-gewesenen Zustand. Alle Monaden sind in ihrem substanziellen Wesen Entelechien, weil sie ihr substanzielles Wesen selbsttätig aus sich heraus entfalten von Perzep tionszustand zu Perzeptionszustand. Die ursprüngliche Kraft der Monaden, die Kraft ihrer perzeptiven Selbstentfaltung, ist bestimmt durch die Zweckursachen. Jeder vorangegangene Perzeptionszustand ist für den aus ihm folgenden Perzeptionszustand der Grund, aber nicht in der Weise der Wirkursache, sondern in der Weise der Zweckursache, der teleologischen Ursache. Jeder gegenwärtige Perzeptionszustand ist begründender Grund für den folgenden Perzeptionszustand, aber derart, daß er den neuen Perzeptionszustand aus sich heraus entfaltet. In der 1. These des 36. Abschnittes hatte es geheißen: Der zureichende Grund müsse sich auch finden lassen in der Folge der durch das Univer-
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Fünftes Kapitel: Zwei Grundprinzipien der Vernunfterkenntnis
sum des Geschaffenen ausgebreiteten Tatsachen. So wie die geschaffenen Sachen in zweifacher Hinsicht gesehen werden müssen: das geschaffene körperlich Seiende und das geschaffene substanzielle Sein und Wesen dieses Seienden, so muß auch die Folge der durch das Universum der geschaffenen ausgebreiteten Tatsachen nach zwei Hinsichten betrachtet werden. Zum einen ist es die Folge der innerzeitlichen Bewegungen des räumlich zusammengesetzten Seienden. Hier sind die nach rückwärts zu verfolgenden Gründe die Wirkursachen, die derart aufeinander folgen, daß jede wirkende Ursache ihrerseits schon die Wirkung einer früheren Wirkursache ist. Zum anderen ist es die Folge der innermonadischen Veränderungen. Es ist die Folge nicht der aufeinander, sondern der auseinander folgenden Perzeptionszustände. Hier sind die ebenfalls nach Rückwärts in die innermonadische Vergangenheit zu verfolgenden Gründe die Zweckursachen, die nicht auf-, sondern aus-einander folgen. Jeder innermonadische Perzeptionszustand hat seinen Grund nicht in einer Wirkursache, sondern in einer Zweckursache. Seine Zweckursache ist der unmittelbar vorangehende Perzeptionszustand. Aber dieser ist nicht schon der hinreichende, zureichende Grund für die gegenwärtige Perzeption. Denn weder dieser vorangegangene noch überhaupt irgendein vorangegangener Perzeptionszustand hat den Charakter eines zureichenden Grundes. Auch hier im Reiche der Zweckursachen könnte die Auflösung in einzelne Gründe, in einzelne Zweckursachen, ohne Grenzen fortgehen. Obwohl wir im monadischen Sein die Zweckursachen aufsuchen gemäß dem Prinzip des zureichenden Grundes, stoßen wir auch hier im substanziellen Sein niemals auf einen oder mehrere zureichende Gründe. Innerhalb des Universums der Tatsachenwahrheiten gibt es weder im tatsächlichen Seienden noch im tatsächlichen substanziellen Sein einen wahrhaft zureichenden Grund. Jeder Perzeptionszustand ist als Tatsache immer nur eine bedingte Zweckursache, nicht aber eine zureichende Zweck ursache. Keine Tatsachenwahrheit, weder im Felde des phänomenalen Seienden noch im Felde des substanziellen Seins dieses Seienden, kann den Charakter eines wahrhaft zureichenden und letzten Grundes für andere Tatsachen annehmen. Zwar entfaltet das Große metaphysische Prinzip vom zureichenden Grund seine Mächtigkeit im Universum des Geschaffenen. Sowohl das Universum des körperlich Seienden wie das korrelative Universum des monadischen Seins dieses Seienden ist durchmachtet vom Großmächtigen Prinzip des zureichenden Grundes. Das Universum des körperlich Seienden, die raum-zeitlich-materielle Körperwelt, ist durchmachtet vom Prinzip des zureichenden Grundes in der Gestalt des Kausalitätsgesetzes und der Wirkursachen. Demgegenüber ist das Universum des substanziellen Seins des körperlich Seienden durchmachtet vom Prinzip des zureichenden Grundes in der Ge-
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stalt des Prinzips der teleologischen Ursachen. Aber innerhalb dieser beiden Reiche, die zusammen das Universum des Geschaffenen, der Tatsachen, bilden, gelangen wir im Rückgang auf die Wirkursachen und auf die Zweck ursachen wesensmäßig niemals zu einem wahrhaft zureichenden und insofern letzten Grund. Der zureichende Grund für die Tatsachenwahrheiten kann nicht innerhalb des Universums der Tatsachen, sondern nur außerhalb dieses Universums gefunden werden. Das bedeutet aber, daß dieser zureichende Grund gänzlich anderen Wesens ist als die Tatsachen. Damit beschließen wir unseren 20. Paragraphen: die Tatsachenwahrheiten in ihrem Bezug zum Prinzip des zureichenden Grundes. Mit diesem Thema beschließen wir zugleich das Thema unseres fünften Kapitels, in dem wir von den beiden Großen Prinzipien der Vernunfterkenntnis und von den zwei Grundarten der Wahrheit gehandelt haben. Das Sechste Kapitel unserer Auslegung wendet sich nun der Frage zu, die im 20. Paragraphen offen geblieben war – der Frage nach dem wahrhaft zureichenden Grund für die Tatsachenwahrheiten, wenn dieser zureichende Grund nicht innerhalb des Universums der Tatsachen gefunden werden kann.
Sechstes Kapitel
Das Prinzip des zureichenden Grundes und der Beweis für das Dasein Gottes In diesem Kapitel behandeln wir die 5. gedankliche Einheit im Aufbau der „Monadologie“. Welchen Gedankenschritt diese 5. gedankliche Einheit vollzieht, sagt die Überschrift des jetzigen Kapitels: Anhand des Prinzips vom zureichenden Grund wird nunmehr danach gefragt, wie denn die Welt der Tatsachen ihren zureichenden Grund findet, wenn der zureichende Grund nicht innerhalb der Welt der Tatsachen aufzufinden ist. Es wird sich zeigen, daß der wahrhaft zureichende Grund nur außerhalb der Folgereihen der begründenden Gründe liegen kann – in einem Sein, das nicht auch eine Tatsache, ein Geschaffenes ist, sondern ein Ungeschaffenes. Dieses Ungeschaffene wird sich erweisen als die absolute Substanz Gottes, als die Urmonade. Textlich gesehen umfaßt die fünfte gedankliche Einheit die Abschnitte 37 und 38 aus der „Monadologie“. Deren Durchsprache verteilen wir auf die Paragraphen 21 und 22.
§ 21 Die Reihen der zufälligen (kontingenten) Gründe und der letzte Grund In unserer Durchsprache der 4. gedanklichen Einheit hatten wir gesehen: Beide Grundarten von Wahrheit, die notwendigen Vernunftwahrheiten und die kontingenten Tatsachenwahrheiten, erfordern ihre Begründung. Von dieser Forderung der Begründung aus Gründen sind nur jene Vernunftwahrheiten ausgenommen, die selbst schon letzte Identitäten sind. Diese Identitäten sind jene letzten Gründe, auf die die komplexen und abgeleiteten Vernunftwahrheiten zurückgeführt werden. Die Identitäten im Felde der notwendigen Wahrheiten sind die wahrhaft zureichenden Gründe für diese Art von Wahrheiten. Auch die kontingenten Tatsachenwahrheiten unterstehen dem Prinzip vom zureichenden Grund. Dieses Großmächtige Prinzip fordert die denkende Vernunft auf, für die kontingenten Tatsachenwahrheiten ebenfalls den zureichenden Grund aufzusuchen. Der zureichende Grund muß hier aufgesucht werden sowohl für das Universum des phänomenalen Seienden wie für das substanzielle Wesen des phänomenalen Seienden. Das Großmächtige Prin-
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zip des zureichenden Grundes durchmachtet das Universum der Tatsachen, der geschaffenen Sachen. Diese sind das geschaffene monadische Sein des geschaffenen phänomenalen Seienden. Das Prinzip vom zureichenden Grund fordert die Vernunft auf, den zureichenden Grund im Felde des monadischen Seins und in Korrespondenz dazu im Universum des phänomenalen Seienden aufzusuchen. Aber schon hatte der 36. Abschnitt aus der vierten gedanklichen Einheit gezeigt, wie die am Prinzip vom zureichenden Grund entlanggehende Vernunft von einem Grund zum anderen und von diesem wieder zu einem anderen gelangt, daß also die Vernunft im Aufsuchen des zureichenden Grundes für die Tatsachen und Tatsachenwahrheiten ins Grenzenlose gelangt. Dieses Grenzenlose besagt, daß sie immer wieder nur auf einen Grund stößt, der sich nicht als wahrhaft zureichender, letzter Grund, sondern als selbst begründeter Grund ausweist. Der 37. Abschnitt läßt sich in drei Thesen gliedern. 1. Alle einzelnen Gründe enthalten ihrerseits immer nur andere vorhergehende und noch speziellere Kontingenzen, die zu ihrer Begründung wieder eine ähnliche Analyse erfordern. 2. These: Auf dem Wege dieser Analyse kommt man nicht weiter. 3. These: Deshalb muß der zureichende oder letzte Grund außerhalb der Folgen oder Reihen des einzelnen Kontingenten liegen, so endlos diese Reihen auch sein mögen. Zur 1. These: Diese erste These nimmt noch einmal das Ergebnis des 36. Abschnittes auf. Leibniz spricht hier von jeder Einzelheit. Diese Einzelheiten sind zunächst einmal die einzelnen Tatsachen und Tatsachenwahrheiten, von denen die Vernunft ausgeht und für die sie den zureichenden Grund aufsuchen möchte. Im 36. Abschnitt hatte Leibniz das Aufsuchen des zureichenden Grundes für eine Tatsache veranschaulicht an einem Beispiel, dem Beispiel des von ihm verfaßten Manuskripts der „Monadologie“. Diese Schrift ist eine Tatsache nach zwei Richtungen: Die eine Hinsicht ist die Schrift in ihrer Materialität als sinnlich wahrnehmbares Manuskript. Sich auf den Weg zur Auffindung des zureichenden Grundes für dieses materielle Manuskript begeben heißt, beginnen bei den unmittelbaren Gründen, Ursachen, die auf ihre Weise das Manuskript als ihre Wirkung verursacht haben. Die Vernunft begibt sich auf den Weg der Wirkursachen. Es ist der Weg entlang dem Gesetz der Kausalität von Ursache und Wirkung. Dieses Gesetz ist die Gestalt, die das Prinzip vom zureichenden Grund im Felde des phänomenalen Seienden annimmt. Hier sucht die Vernunft nach den mechanischen Ursachen. Diese findet sie in den Figuren und Bewegungen. Es sind endlos viele gegenwärtige und vergangene Figuren und Bewegungen, die die Wirkursachen der gegenwärtigen Schrift sind. Die Vernunft beginnt im Rückgang auf die verursachenden Ursachen bei den unmittelba-
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Sechstes Kapitel: Das Prinzip des zureichenden Grundes
ren Ursachen. Weil sich diese als selbst verursachte Ursachen erweisen, ist die Vernunft veranlaßt, weiter zurückzugehen auf die Ursachen der Ursachen. Weil die Vernunft unter dem Geleit des Prinzips vom zureichenden Grund steht, kann sie sich nicht mit solchen Ursachen begnügen, die sich nicht als letzte und daher nicht als zureichende Ursachen ausgeben. Motiviert durch das Großmächtige Prinzip vom zureichenden Grund wird die Vernunft immer weiter zurückverwiesen auf die ferneren Ursachen der Ursachen. Dieselbe Erfahrung macht die Vernunft im Felde des substanziellen Seins des körperlich Seienden. In der Sprache von Leibnizens Beispiel gesprochen heißt das: Die Vernunft sucht in der Seelenmonade dessen, der die Schrift perzipierend-strebend gedacht und verfaßt hat, nach den Gründen, die zur Abfassung dieses Manuskripts geführt haben. Diese innermonadischen Gründe nennt Leibniz Neigungen und Dispositionen meiner perzipierendstrebenden Seele. Die Vernunft beginnt auch in diesem Felde bei den nächsten Neigungen und Dispositionen, die den Charakter von Gründen haben. Aber diese Gründe sind nicht Wirkursachen, sondern Gründe in der Weise von Zweckursachen. Das Großmächtige Prinzip vom zureichenden Grund entfaltet seine Mächtigkeit im Felde des monadischen Seins in der Weise von teleologisch wirkenden Ursachen, d. h. von Zweckursachen. Die Zweckursächlichkeit ergibt sich aus dem Entelechie-Charakter des monadischen Seins. Das Begründen in der Weise der Zweckursächlichkeit zeigt sich darin, daß die perzipierende Monade den künftigen Perzeptionszustand als das jeweils nächste Telos aus sich selbst heraussetzt und entfaltet. Jeder gegenwärtige Perzeptionszustand ist zweckursächlich begründet durch den unmittelbar vorangehenden Perzeptionszustand. Dieser hat den Charakter der Zweckursache, weil er den von ihm begründeten Perzeptionszustand teleologisch als das aus sich herausgesetzt hat, auf das die Monade strebend gedrängt hat. Auch hier im Felde des monadischen Seins macht die Vernunft in ihrer Suche nach dem zureichenden Grund dieselbe Erfahrung wie im Felde des phänomenalen Seienden. Sie wird von inner-seelischer Neigung und Disposition, d. h. von innerseelischem strebenden Perzipieren, zurückgeführt zu immer weiter zurückliegendem strebenden Perzipieren. Keine innerseelische Neigung und Disposition erweist sich als ein Letztes, das wahrhaft zureichender Grund wäre. Kein strebendes Perzipieren erweist sich als eine solche Zweckursache, die selbst nicht mehr in einem ihr vorausgehenden zweckursächlichen Perzipieren begründet ist. Jede Einzelheit, jeder aufgesuchte begründende Grund im Felde der Wirk- und im Felde der Zweckursachen führt auf andere vorhergehende Kontingenzen zurück. Jeder der Gründe im Felde der Wirk- und im Felde
§ 21 Die Reihen der zufälligen Gründe und der letzte Grund175
der Zweckursachen ist selbst charakterisiert als ein Kontingentes, das auf andere begründende Gründe zurückweist. Damit macht die Vernunft eine grundsätzliche Erfahrung in bezug auf die Tatsachen und Tatsachenwahrheiten im Felde des Seienden und im Felde des monadischen Seins dieses Seienden. Die Vernunft macht die Erfahrung, daß keine Tatsache und keiner der Gründe dieser Tatsachen ein im strengen Sinne zureichender Grund für andere Tatsachen sein kann. Es ist nicht so, daß die Vernunft nur faktisch nicht auf einen zureichenden Grund stößt. Vielmehr macht die Vernunft hier die grundsätzliche Erfahrung, daß keine Wirkursache und keine Zweckursache – mögen sie noch so weit zurückliegen – jemals den Charakter eines zureichenden Grundes annehmen kann. Damit kommen wir zur 2. These des Abschnittes 37: Auf dem Wege des analytischen Rückganges von einer Tatsache auf ihre Gründe und von diesen auf die begründenden Gründe der Gründe kommt die Vernunft nicht weiter. Alle einzelnen Gründe, auf die die Analyse zurückführt, sind ihrerseits das Begründete von anderen Gründen, die als kontingente Gründe ihrerseits zurückweisen auf noch frühere Gründe. Die Analyse, die Auflösung einer Tatsache und Tatsachenwahrheit in die sie begründenden Gründe (Wirkursachen und Zweckursachen) steht unter dem Geleit des Großmächtigen Prinzips vom zureichenden Grunde. Durch dieses Prinzip ist aber der Vernunft aufgegeben, für jede Tat sachenwahrheit nicht nur den einen oder anderen Grund aufzusuchen, um sich damit zufriedenzugeben. Der Vernunft ist vielmehr durch das Prinzip vom zureichenden Grund aufgegeben, den wahrhaft zureichenden Grund aufzusuchen. Der Vernunft ist geboten, nicht eher haltzumachen im Rückgang auf die begründenden Gründe, bis sie zu dem wahrhaft zureichenden Grund gelangt. Doch hier im Felde der Tatsachen des phänomenalen Seienden und des monadischen Seins dieses Seienden macht die Vernunft die Erfahrung, daß keiner der Gründe, keine der Wirkursachen und keine der Zweckursachen, wahrhaft zureichender Grund ist. Angesichts dieser Erfahrung lautet die 2. These des Abschnittes 37: Durch die analytische Auflösung der Tatsache in ihre begründenden Gründe und in die Gründe dieser Gründe „kommt die Vernunft nicht weiter“. Zwar kommt die Vernunft auf diesem Wege immer weiter zurück, sie kommt auf diesem Wege ins grenzenlose Weite, weil sich die Gründe, zu denen sie gelangt, immer wieder als kontingente und nicht als wahrhaft zureichende Gründe erweisen. Doch in diesem Sinne ist die Wendung „die Vernunft kommt nicht weiter“ nicht gemeint. Durch den immer wieder neu geforderten Rückgang auf die entfernteren Gründe kommt die Vernunft nicht weiter, heißt, sie kommt auf diesem Wege nicht zu dem von ihr gesuchten zureichenden Grund.
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Sechstes Kapitel: Das Prinzip des zureichenden Grundes
Das Weiterkommenwollen der Vernunft meint nicht ein Weiterkommenwollen im Felde der immer wieder begründeten Gründe. In diesem Felde kommt die Vernunft so weit, wie sie gerade nicht kommen will. Die Vernunft will nicht ertrinken in einer Endlosigkeit von begründenden Gründen. Sie will in der Weise weiterkommen, daß sie irgendwo an ein Ziel gelangt, an einen solchen Grund, der nicht mehr von sich weg verweist auf einen ihn begründenden Grund, sondern der die Vernunft zur Ruhe kommen läßt. Die Vernunft kommt aber nur dann zur Ruhe, wenn sie zu dem ihr aufgegebenen zureichenden Grund gelangt. Wie die Vernunft im Felde der notwendigen Wahrheiten hinstrebt zu den zureichenden Gründen, den letzten Identitäten, die die zureichenden Gründe für die abgeleiteten Vernunftwahrheiten sind, so strebt die Vernunft auch im Felde der kontingenten Tat sachenwahrheiten zu den oder dem zureichenden Grund. Denn ob die Tatsachenwahrheiten in vielen zureichenden Gründen oder nur in einem einzigen gründen, ist vorerst noch eine offene Frage. Vorerst sieht es eher so aus, als ob es für die Tatsachenwahrheiten trotz des Gebotes des Vernunftprinzips vom zureichenden Grund keinen zureichenden Grund gibt. Denn ein wahrhaft zureichender Grund zeigt sich weder im Felde des monadischen Seins noch im Felde des phänomenalen Seienden. Ein zureichender Grund zeigt sich weder im Felde der Wirknoch im Felde der Zweckursachen. Trotz der Erfahrung, die die Vernunft im Reiche der Tatsachenwahrheiten gemacht hat, bleibt das Gebot des Prinzips vom zureichenden Grunde bestehen. Dieses Gebot ist es auch, das der Vernunft den Blick öffnet und die Richtung weist, in die sie zu blicken hat, um den gesuchten zureichenden Grund für die Tatsachenwahrheiten doch noch zu finden. Die Blicköffnung spricht sich aus in der 3. These des Abschnittes 37: Der zureichende oder letzte Grund für die Tatsachen oder Tatsachenwahrheiten liegt außerhalb der Folge, außerhalb der Reihen des kontingenten Einzelnen. Das hier entscheidende Wort lautet „außerhalb“(hors de). Die Vernunft muß, wenn sie den zureichenden Grund für die Tatsachenwahrheiten sucht, davon ablassen, den zureichenden Grund innerhalb der Folge und Reihen der zurückliegenden Gründe zu suchen. Die Vernunft muß ihre bisherige Blickrichtung aufgeben und eine andere Blickrichtung einschlagen. Die bisherige Blickrichtung orientierte sich an den Reihen der zurückliegenden Gründe. Solange die Vernunft ihren Blick nur auf die Folge und auf die Reihen der begründenden Gründe richtet, versinkt sie in der Endlosigkeit der kontingenten Gründe, ohne jemals auf einen wahrhaft zureichenden Grund zu stoßen. Innerhalb der innerzeitlichen Folgereihen von begründenden Gründen gibt es wesenhaft keinen zureichenden Grund, weil in diesen Folgereihen jedes Glied immer wieder nur ein Kontingentes ist, das als
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solches auf einen anderen begründenden Grund verweist, der selbst wieder als kontingenter Grund auf einen noch weiter zurückliegenden Grund verweist. Dieser Rückverweis bricht nirgendwo ab, führt vielmehr ins wesenhaft Endlose. Deshalb kommt aus dem Großmächtigen Prinzip vom zureichenden Grund das Gebot, die bisher eingenommene Blickrichtung für die Suche nach dem zureichenden Grund aufzugeben zugunsten einer anderen Blickrichtung. Die bisherige Blickrichtung ist die der innerweltlichen Folgereihen. Diese innerweltlichen Folgereihen sind die Folgereihen der Wirkursachen im Felde des phänomenalen Seienden und die Folgereihen der Zweckursachen im Felde des monadischen Seins dieses Seienden. Aus dem Prinzip vom zureichenden Grund kommt die Aufforderung an die Vernunft, diese innerweltliche Blickrichtung aufzugeben, sie zu übersteigen und eine Blickrichtung außerhalb der innerweltlichen Folgereihen aufzunehmen. Der zureichende Grund ist der letzte Grund für den Rückgang von den kontingenten Gründen. Aber als dieser letzte Grund, der nicht mehr auf einen ihn begründenden Grund verweist, ist er in Wahrheit der erste Grund, der alle anderen Gründe als kontingente Gründe aus sich entläßt. Dieser für den denkenden Rückgang letzte, in der Sache der Begründung aber erste Grund ist der wahrhaft zureichende Grund. Aber dieser ist nicht innerhalb der Folgereihen als deren letztes Glied aufzufinden, sondern – wie es in der 3. These heißt – nur außerhalb der Folgereihen des kontingenten Seienden und des kontingenten monadischen Seins dieses Seienden. Das „Außerhalb“ der Folgereihen von kontingenten Gründen weist die Vernunft an zu einem Überstieg besonderer Art. Dieser Überstieg über die innerweltlichen Folgereihen begründender Gründe ist nämlich nicht der einzige und nicht der erste Überstieg der Vernunft. Wenn die philosophierende Vernunft das phänomenale Seiende als das Seiende, d. h. hinsichtlich seines Seins, denkt, übersteigt sie das phänomenale Seiende auf dessen monadisches Sein hin. Das monadische Sein ist der Seinsgrund für das phänomenale Seiende. Das ist der erste Überstieg der Vernunft: das Übersteigen des phänomenalen Seienden auf dessen Sein hin. Doch das phänomenale Seiende und sein monadisches Sein haben kontingenten Charakter. Innerhalb des Kontingenten verfolgt die Vernunft die begründenden Gründe als die Zweckursachen und als die Wirkursachen. Wenn nun die Vernunft im Aufsuchen der begründenden Gründe geleitet ist vom Prinzip des zureichenden Grundes, macht sie die Erfahrung, daß sie den ihr aufgegebenen zureichenden Grund nicht innerhalb der Folgereihen begründender Gründe findet. Deshalb ergeht aus dem Vernunftprinzip vom zureichenden Grund an die Vernunft das Gebot, diese innerweltliche Blickrichtung zu übersteigen, zu transzendieren, um außerhalb der innerweltli-
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Sechstes Kapitel: Das Prinzip des zureichenden Grundes
chen Folgereihen den zureichenden Grund nicht nur zu suchen, sondern auch zu finden. Damit ist der Vernunft aufgegeben, nicht nur das kontingente Seiende auf sein kontingentes monadisches Sein hin zu übersteigen. Jetzt ist der Vernunft geboten, das kontingente Seiende und dessen kontingentes Sein zu übersteigen. Der Vernunft ist aufgegeben, das Kontingente im Ganzen zu übersteigen: das Ganze des phänomenalen Seienden und das Ganze des monadischen Seins. Es ist der Vernunft geboten, die Folgereihen der Wirkund Zweckursachen im ganzen zu übersteigen, zu transzendieren. Zu jedem solchen Überstieg gehört ein Wohin des Transzendierens. Das Wohin ist es sogar, das den Überstieg und die Transzendenz leitet. Andernfalls wäre der Überstieg ein blindes Transzendieren. Das Wohin des ersten Überstiegs, der ersten Transzendenz, ist das monadische Sein des phänomenalen Seienden. Das Wohin des zweiten Überstiegs ist der gesuchte wahrhaft zureichende Grund. Soviel ist sicher: Dieser zureichende und letzte Grund kann selbst nicht wieder ein kontingenter Grund sein. Der Gegensatz von Kontingenz ist die Notwendigkeit. Der zureichende Grund, auf den hin die Vernunft das kontingente Sein und Seiende im Ganzen übersteigt, muß ein notwendiger Grund sein. Als notwendig erweist er sich dadurch, daß er den Grund seines Seins nicht in einem anderen, sondern in sich selbst hat. Dieser zureichende Grund wäre ein solcher, aus dem alle Folgereihen von kontingenten Gründen entspringen. Alle kontingenten Folgereihen von immer wieder neu begründenden Gründen hätten ihren zureichenden Grund in diesem letzten Grund, der selbst nicht kontingent, sondern absolut notwendig ist. Aber dieser Grund ist letzter Grund nicht innerhalb der Folgereihen, sondern außerhalb dieser. Damit stehen wir jetzt unmittelbar vor der Thematik des Abschnittes 38 der „Monadologie“, dessen Durchsprache nun folgt.
§ 22 Der letzte Grund, die notwendige Substanz, als Gott. Der aposteriorische Gottesbeweis Im Abschnitt 38 der „Monadologie“ wird von Leibniz dargelegt, daß die Vernunft, die gemäß dem Gebot des Prinzips vom zureichenden Grund die innerweltlichen Folgereihen der kontingenten Gründe übersteigt, den gesuchten zureichenden Grund außerhalb des kontingenten Seins in einem notwendigen Sein findet. Sofern aber das Sein grundsätzlich als Substanz gedacht wird, ist dieses notwendige Sein eine notwendige Substanz. Diese ist aber der Gott als die göttliche Substanz, als die Urmonade. Der 38. Abschnitt läßt sich nach drei Thesen gliedern: 1. These: Der letzte Grund der Dinge muß in einer notwendigen Substanz liegen. 2. These: In
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dieser notwendigen Substanz ist das Besondere der Veränderungen nur in eminenter Weise enthalten wie in ihrer Quelle. 3. These: Diese notwendige Substanz trägt den Namen Gott. Zur 1. These: Diese nennt den Fund beim Namen, jenen Fund, den die philosophierende Vernunft macht. Zu diesem Fund gelangt sie aufgrund jenes Gebotes, das an die Vernunft ergeht aus ihrem eigenen Prinzip vom zureichenden Grund. Das Gebot lautet: den für die innerweltlichen Reihen der kontingenten Gründe aufzusuchenden zureichenden, letzten Grund nicht innerhalb dieser Reihen, sondern im Übersteigen dieser Reihen, außerhalb dieser Reihen zu suchen und zu finden. Leibniz sagt in der 1. These: der letzte Grund der Dinge müsse in einer notwendigen Substanz liegen. Der Fund, den die philosophierende Vernunft macht, wenn sie der Anweisung zufolge die Reihen der kontingenten Gründe transzendiert, ist eine notwendige Substanz. Diese notwendige Substanz steht im Gegensatz zu den kontingenten Substanzen. Als notwendige Substanz ist sie nicht etwa das letzte Glied der Reihen kontingenter Gründe. So gesehen würde sie selbst zu den Reihen kontingenter Gründe gehören und selbst von der Seinsweise eines kontingenten Grundes sein. Der Fund der notwendigen Substanz wird nur gewonnen im Übersteigen der kontingenten Reihen im ganzen, so, daß der letzte Grund, die notwendige Substanz, gänzlich anderer Seinsweise als alle kontingenten Gründe ist. Leibniz sagt: Der letzte Grund der Dinge (Sachen) (les choses). Les choses sind nicht nur die phänomenalen Körper in ihrer Kontingenz. Les choses sind die kontingenten Tatsachen. Diese sind aber sowohl das phänomenale Seiende wie auch das monadische Sein dieses Seienden. Das Reich des phänomenalen Seienden wird vom Gesetz der Wirkursachen durchherrscht. Das Reich des monadischen Seins ist dagegen durch das Gesetz der Zweckursachen bestimmt. Wenn der zureichende Grund für das Kontingente aufgesucht wird, sucht die Vernunft sowohl in den Reihen der Wirkursachen wie in den der Zweckursachen nach dem letzten Grund. Da nun aber das phänomenale Seiende und mit ihm die Reihen der Wirkursachen ihr Sein in den monadischen Substanzen und in deren Reihen der Zweckursachen haben, kann der letzte, der zureichende Grund sowohl für die Reihen der Wirkursachen wie für die der Zweckursachen nur in einem substanziellen Sein bestehen, in einer Substanz. Die Reihen der Wirkursachen im Reiche des Seienden gründen in den Reihen der Zweckursachen. Wenn daher der letzte Grund gesucht wird, kann sich dieser nur als Substanz zeigen, und zwar als notwendige Substanz. Der letzte Grund aller kontingenten Gründe weist sich als letzter Grund dadurch aus, daß er nicht wieder auf einen anderen Grund verweist. Er verweist auf keinen anderen Grund, weil er den Grund seines Seins nicht,
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Sechstes Kapitel: Das Prinzip des zureichenden Grundes
wie alle kontingenten Gründe, in einem anderen hat. Der letzte Grund ist deshalb der letzte, weil er den Grund seines Seins in sich selbst hat. Nur sofern er den Grund seines Seins in sich selber hat, ist er nicht kontingenter Grund, sondern notwendiger Grund. Der letzte Grund ist ein notwendiges Sein. Weil aber jegliches Sein als Substanz gedacht wird, ist der letzte Grund als notwendiges Sein eine notwendige Substanz. Die notwendige Substanz unterscheidet sich von allen kontingenten Substanzen. Diese sind die endlichen Substanzen, weil sie den Grund ihres Seins nicht in sich, sondern in einem Anderen haben, letztlich aber in der göttlichen Substanz. Die notwendige Substanz ist daher eine un-endliche Substanz. Als diese ist sie von gänzlich anderer Seinsweise als die endlichen Substanzen. Wenn der letzte und als solcher zureichende Grund eine notwendige Substanz ist, die im Unterschied zu allen endlichen Substanzen den Grund ihres Seins in sich selber hat, dann kann diese notwendige Substanz nicht entlang der Reihen kontingenter Gründe gefunden werden, sondern nur außerhalb dieser Reihen. Zur 2. These: Diese lautet: In der notwendigen Substanz ist das Besondere der Veränderungen nur in eminenter Weise enthalten wie in ihrer Quelle. Die 2. These sagt uns Näheres darüber, wie die notwendige Substanz der letzte Grund für alle Veränderungsreihen im Reich der kontingenten Tatsachen ist. Das Besondere der Veränderungen (le detail des changemens) sind zum einen die monadischen Veränderungszustände, die das substanzielle Sein für die korrespondierenden Bewegungszustände im phänomenalen Seienden sind. Die monadischen Veränderungszustände sind die Perzeptionszustände. Jeder dieser gegenwärtigen Perzeptionszustände trägt in sich den je künftigen Perzeptionszustand, den die Monade zweckursächlich, teleologisch aus sich heraus entfaltet. Die zweckursächlichen Reihen der innermonadischen Veränderungs- bzw. Perzeptionszustände korrespondieren den wirkursächlichen Reihen der Bewegungszustände des phänomenalen raum-zeitlichmateriellen Seienden. Der letzte Grund nicht nur für diese oder jene, sondern für alle zweckursächlichen und alle wirkursächlichen Reihen von Veränderungen und Bewegungen ist dergestalt letzter Grund, daß er diese Reihen „in eminenter Weise“ enthält. In „eminenter Weise“ heißt: in einer höheren, überragenden Weise. Er enthält die Reihen der kontingenten Gründe in einer „höheren Weise“, die höher ist als die Weise, in der ein kontingenter Grund ein von ihm Begründetes enthält. Der letzte Grund enthält alle kontingenten Veränderungsreihen in sich so, wie die Quelle den Strom enthält und aus sich hervorgehen läßt. Damit ist gesagt: Der letzte Grund hat im Verhältnis zu den Reihen der kontingenten Gründe den Charakter des Hervorgehenlassens. Was aber aus einem letzten Grund hervorgeht, hat den Grund seines
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Seins nicht in sich, sondern letztlich und erstlich in diesem letzten und ersten Grund. Deshalb ist es das kontingente Sein und Seiende, während der letzte und erste Grund, der die Quelle für alles kontingente Sein und Sei ende ist, ein notwendiger Grund ist. Als notwendiger hat er den Grund seines Seins nicht in einem Anderen, sondern in sich selber. Zur 3. These: Nachdem die 1. These den letzten und ersten Grund außerhalb der Reihen des kontingenten Seins und Seienden in einer notwendigen Substanz gefunden hat, und nachdem die 2. These den Bezug der notwendigen Substanz zu den kontingenten Substanzen als das Verhältnis von Quelle und Strom gekennzeichnet hat, erhält in der 3. These die notwendige Substanz den Namen ‚Gott‘. Die nicht kontingente, sondern notwendige Substanz, die den Grund ihres Seins nicht in einem Anderen, sondern in sich selbst hat, ist die göttliche Substanz. Als diese ist sie die hervorbringende Quelle, die aus sich den Strom des Universums aller kontingenten Reihen des zweckursächlichen monadischen Seins und des wirkursächlichen Seienden dieses Seins entspringen läßt. Nachdem wir die drei Thesen des 38. Abschnittes der „Monadologie“ inhaltlich durchgesprochen haben, wenden wir uns zwei bedeutsamen Paralleltexten zu, zum einen aus den „Vernunftprinzipien der Natur und der Gnade“, zum anderen aus der „Theodizee“. Der Abschnitt 8 aus den „Vernunftprinzipien“ entspricht inhaltlich den Abschnitten 36–38 aus der „Monadologie“. Dort sagt Leibniz: „Nun läßt sich dieser zureichende Grund für die Existenz des Universums nicht in der Reihe der zufälligen Dinge, d. h. der Körper und ihrer Vorstellungen in den Seelen, finden“.1 Der wahrhaft zureichende Grund für die Existenz des Universums ist der zureichende Grund aller Folgen, aller Reihen von bloß relativen, von kontingenten Gründen. Dieser zureichende Grund für die Existenz aller Reihen kontingenter Gründe kann „nicht in der Reihe der kontingenten Dinge“ gefunden werden. Denn jeder Grund innerhalb der Reihe ist selbst nur ein kontingenter Grund, d. h. ein kontingentes Ding, das kontingenter Grund für ein anderes Ding oder für die Bewegung und Veränderung eines anderen Dinges ist. Von besonderer Wichtigkeit ist hier die Erläuterung, die Leibniz von den kontingenten Dingen (choses contingentes) gibt. Der zureichende Grund für die Existenz des Universums könne nicht in der Reihe der kontingenten Dinge gefunden werden, „d. h. der Körper (des corps) und ihrer Vorstellungen in den Seelen“ (et de leurs representations dans les Ames). Hier 1 G. W. Leibniz, Vernunftprinzipien der Natur und der Gnade (H. Herring, 2. verbesserte Auflage 1982), S. 14 / 15. – G. W. Leibniz, Auf Vernunft gegründete Prinzipien der Natur und der Gnade (U. J. Schneider 2014), S. 162 / 163.
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Sechstes Kapitel: Das Prinzip des zureichenden Grundes
wird von Leibniz das gesagt, worauf wir mit Bezug auf „die Dinge“ (les choses) schon hingewiesen haben. Les choses heißt nicht nur: die Dinge als die Körper, sondern les choses sind die Körper und ihre Vorstellungen in den Seelen. Die Körper sind das phänomenale Seiende. Die Vorstellungen in den Seelen sind aber die monadischen Perzeptionen. Als Perzeptionen in den monadischen Seelen sind sie das perzeptive Sein des körperlich Seienden. Les choses bilden also zusammen das Kontingente, die kontingenten Tatsachen, die sich gliedern in das tatsächliche kontingente monadische Sein des körperlich Seienden. Der absolut zureichende Grund für das existierende Universum aller Reihen kontingenter Dinge, kontingenter Gründe, läßt sich nicht finden innerhalb der Reihen der Wirk- und der Zweckursachen. Der absolut zureichende Grund ist nicht auffindbar innerhalb des kontingenten Seienden und des kontingenten monadischen Seins des Seienden. Statt von Körpern spricht Leibniz auch von der Materie. Die in der Materie gegenwärtig vorhandene Bewegung (mouvement) stammt aus der vorhergehenden Bewegung, die die Ursache für jene als Wirkung ist. Die der gegenwärtigen Bewegung vorangegangene Bewegung stammt ihrerseits aus einer ihr vorangehenden Bewegung, Sie, die die Ursache für die gegenwärtige Bewegung als die Wirkung ist, ist ihrerseits die Wirkung einer ihr vorangehenden Ursache. Auf dem Wege dieses sich fortsetzenden Rückganges von Wirkung zu Ursache kommen wir nicht weiter, gelangen wir niemals zu der gesuchten ersten Ursache, die nur Ursache und nicht selbst wieder Wirkung einer weiteren Ursache ist. Innerhalb der Reihen kontingenter Dinge gelangen wir, soweit wir auch zurückgehen mögen, stets nur zu solchen Ursachen, die selbst kontingent sind. Was Leibniz hier als Beispiel nur mit Blick auf die Bewegung der phänomenalen Materie ausführt, ist durch uns zu ergänzen mit Blick auf das monadische Sein der bewegten Materie. Jeder gegenwärtige monadische Veränderungszustand hat seine Zweckursache im vorangegangenen Veränderungszustand bzw. Perzeptionszustand. Auch dieser ist nicht absolut zureichender, sondern nur relativer und daher kontingenter Grund, kontingente Zweckursache. Auch im Rückgang von Zweckursache zu Zweckursache, von Perzeptionszustand zu Perzeptionszustand, gelangen wir niemals zu dem gesuchten wahrhaft zureichenden Grund. Deshalb sagt Leibniz im 8. Abschnitt der „Vernunftprinzipien“: „Also muß der zureichende Grund, der keines anderen Grundes bedarf, außerhalb dieser Reihe der zufälligen Dinge liegen“. Hier wird der „zureichende Grund“ als solcher gefaßt, „der keines anderen Grundes bedarf“. Es ist jener Grund, der so ist, daß er nicht mehr auf einen anderen ihn begründenden Grund verweist, sondern ein Grund ist, der den Grund seines Seins in sich
§ 22 Der letzte Grund, die notwendige Substanz, als Gott183
selber hat. Dieser keines anderen Grundes bedürfende und insofern zureichende Grund kann deshalb nur außerhalb der Reihe der kontingenten Dinge liegen, also außerhalb der Reihe der kontingenten Körper und außerhalb der kontingenten Perzeptionszustände jener Körper. Der wahrhaft zureichende Grund für alle Reihen kontingenter Tatsachen beruht in einer Substanz, „welche die Ursache der Reihe und ein notwendiges Wesen ist, das den Grund seiner Existenz in sich selbst hat“. Der wahrhaft zureichende Grund für das Universum der Reihen kontingenter Gründe beruht in einer Substanz. Er beruht in einem substanziellen Sein, aber in keinem innerweltlichen Sein, sondern in einem außerweltlichen Sein. Diese außerweltliche Substanz ist die Ursache aller weltlichen Reihen kontingenter Gründe. Leibniz sagt: La cause. Der zureichende Grund für das existierende Universum aller Reihen kontingenter Gründe ist als außerweltliche Substanz die Ursache aller innerweltlichen Wirk- und Zweckursachen. Als diese Ursache ist der zureichende Grund un Être necessaire, ein notwendiges Wesen. Wenn wir Être mit ‚Wesen‘ übersetzen, müssen wir ‚Wesen‘ sowohl in der Bedeutung des Seienden wie in der Bedeutung des Seins verstehen. Der wahrhaft zureichende Grund ist als Ursache aller kontingenten Reihen von Wirk-und Zweckursachen eine Substanz und als Substanz das notwendige Sein oder notwendige Seiende. Das notwendige Wesen ist die notwendige Substanz. Diese ist notwendig im Unterschied zu allen innerweltlichen Substanzen, die alle kontingente Substanzen sind. Die Notwendigkeit aber dieser Substanz wird von Leibniz dahingehend erläutert, daß dieses Sein oder Seiende „den Grund seiner Existenz mit sich selbst trägt“ (portant de son existence avec soi). Genau in diesem Sinne hatten wir bisher stets die Notwendigkeit des zureichenden Grundes im Unterschied zur Kontingenz des innerweltlichen Seienden interpretiert. Ein Seiendes bzw. ein Sein ist notwendig, wenn es nicht wie das kontingente Seiende und Sein den Grund seiner Existenz außerhalb seiner in einem Anderen hat, sondern wenn es den Grund seiner Existenz in sich selbst hat, mit sich selbst trägt. Nur eine solche causa, die den Grund ihrer Existenz in sich selbst hat, ist causa sui. Eine Substanz, die causa sui ist, gehört nicht in das Universum, in die Welt, sondern ist außerhalb der Welt. Aber sie ist nicht dergestalt außerhalb der Welt, daß sie zu dieser bezugslos wäre. Vielmehr steht sie in einem ausgezeichneten Bezug zur Welt, zum Universum aller Reihen kontingenter Gründe, insofern sie die erste Ursache dieses Universums ist. Der zureichende Grund für das Universum der kontingenten Tatsachen kann nur ein solcher sein, der den Grund seines Seins in sich selbst hat. Erst wenn die Vernunft einen solchen Grund gefunden hat, der nicht mehr
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Sechstes Kapitel: Das Prinzip des zureichenden Grundes
von sich wegweist auf ein anderes, sondern der nur auf sich selbst weist, kann sie auf dem Weg ihres Suchens stehen bleiben. Aber diesen zureichenden Grund findet sie auch nur, wenn sie nicht bei den endlosen Reihen kontingenter Gründe verbleibt, sondern wenn sie diese innerweltlichen Reihen und mit diesen das Universum übersteigt auf ein solches substanzielles Sein hin, das sich selbst als causa sui ausweist. Als causa sui ist diese Substanz ein Ens a se, ein Sein, das von sich selbst her ist. Der Gegenbegriff zum Ens a se ist das Ens ab alio, das Sein von einem Anderen her, das den Grund seines Seins nicht in sich, sondern in einem Anderen hat. Nur der causa sui kommt die Aseität zu, das Von-sich-selbst-her-sein. Jene Ursache, die den Grund ihres Seins in sich selber hat und die als solche die eine Ursache für das Universum aller Reihen kontingenter Wirkund Zweckursachen ist, ist der letzte Grund aller Dinge (dernière raison des choses), d. h. des phänomenalen körperlichen Seienden und dessen monadischen Seins. Sie ist der letzte Grund im Rückgang von den gegenwärtigen Zweck- und Wirkursachen: aber der letzte Grund nicht innerhalb der kontingenten Reihen, sondern nur im Übersteigen jener Reihen. Als letzter Grund ist jene Ursache (causa sui) der Sache nach die erste Ursache, der erste Grund. Letzter Grund ist sie nur der Erkenntnis nach, erster Grund aber der Sache nach. Dieser letzte und erste Grund der kontingenten Tatsachen trägt den Namen „Gott“. Die notwendige Substanz ist die göttliche Substanz. Göttlich ist sie, weil sie nicht wie die endlichen Substanzen den Grund ihres Seins in einem Anderen hat. Was den Grund seines Seins in sich selbst trägt, ist das Göttliche, ist als Substanz der Gott oder ist als Gott die notwendige Substanz. Wir haben gesagt, daß Leibniz die Substanz ontologisch nach zwei Hinsichten bestimmt. Die Substanz ist für Leibniz zum einen bestimmt als Monás, als Monade. Die Substanz ist für Leibniz zum anderen durch Perzeption und Streben bestimmt. Der monadische Charakter der Substanz besteht in ihrer absoluten Unteilbarkeit. Der monadische Charakter eignet aber nicht nur den endlichen und innerweltlichen Substanzen, sondern auch der außerweltlichen, unendlichen, göttlichen Substanz. Sie ist die ursprüngliche Substanz, die Ursubstanz, die ursprüngliche Monade, die Urmonade. Als Urmonade ist sie die Seinsquelle für alle innerweltlichen Monaden. Diese sind die der Urmonade entsprungenen Monaden. Innerhalb der Monadenstufe der menschlichen Seelen haben die vom Selbstbewußtsein bestimmten Perzeptionen den Charakter des Verstandesund Vernunftdenkens und hat das Streben den Charakter des Willens. Daher wird auch die Urmonade die Wesenscharaktere des Denkens und des Willens zeigen, die aber als göttliche Wesenscharaktere keinerlei Beschränkung
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an sich haben. Die Wesenscharaktere der göttlichen Urmonade, Denken und Wissen sowie Wille werden sich als unendlich, als unendliches Denken und unendlicher Wille erweisen. Bevor wir zu einer Parallelstelle aus der „Theodizee“ übergehen, werfen wir einen Blick auf den Abschnitt 7 der „Vernunftprinzipien der Natur und der Gnade“. Es ist jener Abschnitt, in dem Leibniz das Prinzip vom zureichenden Grund einführt. Der Textauszug aus dem Abschnitt 7 enthält die berühmte metaphysische Grundfrage: Warum gibt es eher Etwas als Nichts? Nachdem Leibniz das Prinzip vom zureichenden Grund eingeführt hat, sagt er: Wenn dieses Prinzip aufgestellt ist, so wird die erste Frage, die man mit Recht stellen darf, die sein, „warum es eher Etwas als Nichts gibt“ (pourquoi il y a plus tôt quelque chose que rien).2 Warum gibt es eher irgendeine Sache als Nichts? Irgendeine Sache heißt hier wieder: irgendein Seiendes und dessen substanzielles Sein. Quelque chose bezieht sich auf das phänomenale Seiende und dessen monadisches Sein. Für dieses endliche Seiende und endliche Sein im Ganzen des Universums wird der zureichende Grund gesucht. Warum gibt es eher das Universum der Tatsachen und nicht Nichts? „Nichts“ (rien) bedeutet hier: überhaupt kein Seiendes und kein Sein dieses Seienden. Das Nichts meint hier die vollständige Abwesenheit des Universums des kontingenten Seienden und Seins. Von dem so verstandenen Nichts sagt Leibniz im 7. Abschnitt der „Vernunftprinzipien“: „Denn das Nichts ist einfacher und leichter als irgendeine Sache“ (Car le rien est plus simple et plus facile, que quelque chose).3 Das Nichts als die Abwesenheit von allem kontingenten Seienden und Sein ist einfacher und leichter zu verstehen als das kontingente Seiende und Sein. Denn das Nichts als die Abwesenheit des kontingenten Seienden und Seins bedarf keiner Begründung aus einem zureichenden Grund wie das Seiende und das Sein. Die Antwort auf die Frage, warum es eher Seiendes und das Sein dieses Seienden gibt (eher als das Nichts, als überhaupt kein Seiendes und kein Sein dieses Seienden) – die Antwort lautet: Weil es die notwendige Substanz Gottes gibt, die das endliche Universum schaffend ins Sein gebracht hat. Nunmehr wenden wir uns jenem Abschnitt aus der „Theodizee“ zu, auf den Leibniz am Schluß des Abschnittes 38 der „Monadologie“ verweist. Es 2 G. W. Leibniz, Vernunftprinzipien der Natur und der Gnade (H. Herring, 2. verbesserte Auflage 1982), S. 12 / 13. – G. W. Leibniz, Auf Vernunft gegründete Prinzipien der Natur und der Gnade (U. J. Schneider 2014), S. 162 / 163. 3 G. W. Leibniz, Vernunftprinzipien der Natur und der Gnade (H. Herring, 2. verbesserte Auflage 1982), S. 12 / 13. – G.W. Leibniz, Auf Vernunft gegründete Prinzipien der Natur und der Gnade (U. J. Schneider 2014), S. 162 / 163.
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Sechstes Kapitel: Das Prinzip des zureichenden Grundes
ist der 7. Abschnitt aus der I. Abhandlung der „Theodizee“.4 Hier heißt es: „Gott ist die erste Ursache aller Sachen (Dinge)“, alles Seienden und alles Seins dieses Seienden. Die mit Schranken versehenen Sachen sind kontingent, weil sie nichts an sich haben, „was ihnen notwendige Existenz verleiht“. Der Grund ihrer Existenz ist nicht in ihnen selbst, weshalb sie kontingent und nicht notwendig sind. Die raum-zeitlich-materiellen Körper zeigen sich uns in diesen und jenen bestimmten Bewegungen, bestimmten Gestalten und bestimmten Anordnungen. Die Körper mit ihren bestimmten Bewegungen, bestimmten Gestalten, bestimmten Anordnungen hätten auch andere Bewegungen, andere Gestalten, andere Anordnungen erhalten können. Es besteht keine Notwendigkeit dafür, daß sie in diesen Bewegungen, diesen Gestalten, diesen Anordnungen sind. Warum haben sie diese bestimmten Bewegungen und nicht andere? Warum haben sie diese bestimmten Gestalten und nicht andere? Warum stehen sie in diesen bestimmten Anordnungen und nicht in anderen? In diesen Fragen wird der Grund für die Existenz der so und so bestimmten Körper gesucht. Es wird der Grund erfragt für die Existenz dieser so und gerade so bestimmten Welt, dieses so und gerade so bestimmten Weltzusammenhanges. Der Grund für die Existenz der so und so bestimmten und geordneten Welt kann nur in jener Substanz liegen, die nicht wie die beschränkten kontingenten Sachen den Grund ihrer Existenz außerhalb ihrer hat, sondern die den Grund ihrer Existenz in sich selbst trägt. Eine Substanz, die den Grund ihrer Existenz in sich selbst trägt, ist notwendig und ewig. Sie existiert ewig im Unterschied zu den kontingenten Substanzen, die nur auf Grund der Schöpfung existieren. Ein substanzielles Sein, das den Grund seines Seins in sich selbst hat, bedarf nicht der Schöpfung durch ein Anderes. Was der Schöpfung unbedürftig ist, existiert ewig. Was ewig existiert, hat den Grund seines Seins in sich selbst. Nur was ewig existiert, existiert auch notwendig, und umgekehrt, nur was notwendig existiert, existiert auch ewig. Der Paragraph 22, in dem wir stehen, ist überschrieben worden: „Der letzte Grund, die notwendige Substanz, als Gott. Der aposteriorische Gottesbeweis“. Inwiefern der letzte Grund die notwendige Substanz und diese Gott ist, haben wir zu durchdenken versucht. Offen steht aber noch, was der „aposteriorische Gottesbeweis“ besagt. Diese Bezeichnung stammt von Leibniz selbst, sie findet sich im Abschnitt 45, der zur 6. gedanklichen Einheit der „Monadologie“ gehört. In diesem Abschnitt unterscheidet Leibniz eine Erkenntnis der Existenz Gottes „a priori“ von einem Beweis der Existenz Gottes „a posteriori“.5 Leibniz, Theodizee (A. Buchenau 1968), S. 100. Leibniz, Monadologie (H. Herring 1982), S. 46 / 47. – G. W. Leibniz, Monadologie (U. J. Schneider 2014), S. 128 / 129. 4 G. W.
5 G. W.
§ 22 Der letzte Grund, die notwendige Substanz, als Gott187
Die Erkenntnis der Existenz Gottes „a priori“ heißt, die Existenz Gottes aus seinem Wesensbegriff erkennen. Der Wesensbegriff Gottes besagt, daß Gott das allervollkommenste Wesen ist. Dieses wäre jedoch nicht das allervollkommenste, wenn es nicht auch seine Existenz einschlösse. Aus dem Wesensbegriff des allervollkommensten Seienden folgt deshalb a priori, daß dieses Seiende in seinem Wesen auch existiert. Dieser apriorische Gottesbeweis ist identisch mit dem Anselmischen Gottesbeweis, den Kant in der „Kritik der reinen Vernunft“ den „ontologischen Gottesbeweis“ nennt. Die Existenz Gottes „a posteriori“ beweisen heißt demgegenüber, die Existenz Gottes „aus der Existenz der kontingenten Wesen beweisen, die ihren letzten oder zureichenden Grund nur in dem notwendigen Wesen haben können, das den Grund seiner Existenz in sich selbst hat“. Der Gottesbeweis a posteriori verläuft entlang dem Vernunftprinzip des zureichenden Grundes. Dieser Beweis verfährt „a posteriori“, weil er vom Späteren ausgeht, während jener andere Beweis „a priori“ verfährt, sofern er vom Früheren, vom Wesensbegriff Gottes, ausgeht. Der Ausgang vom ontologisch Späteren ist der Ausgang vom Abgeleiteten, vom Endlichen, vom Begründeten. Das Spätere, Abgeleitete, Endliche, Begründete ist das körperlich Seiende und dessen monadisches Sein. Der Ausgang vom Späteren ist Rückgang, ist Aufstieg zum Früheren, und dieses Frühere ist der wahrhaft zureichende Grund, der letztlich oder erstlich begründender Grund ist, aber als begründender selbst nicht wie die kontingenten Gründe begründeter Grund ist. Dieser Gottesbeweis a posteriori muß in einem streng durchgeführten Monaden-System der erste Beweis sein. Denn er ist es, der im kontingenten Seienden und Sein einsetzt, um anhand des Vernunftprinzips vom zureichenden Grund allererst aufzusteigen zu einem nicht mehr kontingenten, notwendigen Seienden und dessen Wesensbegriff. Erst wenn auf dem Wege des Aufstiegs der Wesensbegriff Gottes gewonnen ist, kann auch unabhängig vom Prinzip des zureichenden Grundes aus dem bloßen Wesensbegriff Gottes die Erkenntnis von der notwendigen Existenz gewonnen werden. Damit beschließen wir die fünfte gedankliche Einheit der „Monadologie“ und wenden uns der sechsten zu, die die Abschnitte 39–46 umfaßt. In dieser gedanklichen Einheit im Aufbau der „Monadologie“ geht es um die Entfaltung des Begriffes von der göttlichen Substanz oder der Urmonade.
Siebentes Kapitel
Begriffsentfaltung der höchsten Substanz Den gedanklichen Gehalt der Abschnitte 39 bis 46 behandeln wir in vier Paragraphen, somit in den §§ 23–26.
§ 23 Einzigkeit und absolute Vollkommenheit der notwendigen Substanz Diesem Paragraphen legen wir als Text die Abschnitte 39–42 aus der „Monadologie“ zugrunde. Im Abschnitt 39 stellt Leibniz die Einzigkeit des zureichenden Grundes, die Einzigkeit der göttlichen Substanz oder Urmonade heraus. Im Abschnitt 40 bestimmt er die höchste Substanz als absolute Realität (ens realissimum), im Abschnitt 41 bedenkt er die höchste, die göttliche Substanz als absolute Vollkommenheit (ens perfectissimum). Der Abschnitt 42 führt aus, daß Gott als das vollkommenste Wesen die Quelle nur der Vollkommenheiten des geschaffenen Seins und Seienden ist, nicht aber auch der Unvollkommenheiten. Abschnitt 39 läßt sich in zwei ontologische Thesen aufgliedern: 1. These: Die notwendige Substanz ist ein zureichender Grund für alles Besondere, weil dieses Besondere durchgängig miteinander verknüpft ist. 2. These: Es gibt daher nur einen einzigen Gott, der als solcher zureichend ist. Abschnitt 38 hatte einsichtig gemacht, daß der wahrhaft zureichende Grund für die Reihen der kontingenten Gründe nicht wieder eine kontingente, sondern eine notwendige Substanz ist, ein notwendiges Sein, das als solches den Grund seines Seins in sich selbst hat. Diese notwendige Substanz wurde als Gott bezeichnet. Damit war aber zunächst nur das Verhältnis der kontingenten Gründe zu dem notwendigen, wahrhaft zureichenden Grund in den Blick genommen, aber noch nichts darüber ausgemacht, ob es vielleicht für die zahllosen innerweltlichen Reihen von kontingenten Gründen auch eine Mehrzahl von zureichenden Gründen gibt. Wenn auch im Abschnitt 38 vom letzten Grund der kontingenten Tatsachen, von der notwendigen Substanz und vom Gott in der Einzahl gesprochen wurde, wurde noch nicht die Frage aufgeworfen, ob die Vielzahl der Reihen kontingenter Gründe ihren zureichenden Grund in einer Mehrzahl oder Einzahl findet. Diese Frage ist Thema des Abschnittes 39. Beantwor-
§ 23 Einzigkeit und absolute Vollkommenheit der notwendigen Substanz189
tet wird diese Frage durch den Nachweis der Einzahl des zureichenden Grundes. In der 1. These heißt es: Diese notwendige Substanz ist ein zureichender Grund für alles Besondere. ‚Ein‘ zureichender Grund heißt nicht: einer unter mehreren, sondern die Betonung liegt auf ‚zureichend‘; die notwendige Substanz ist ein zureichender Grund. Sie ist ein wahrhaft zureichender Grund nicht nur für diese und jene Reihe kontingenter Gründe, sondern für „alles“ Besondere. Für „alles Besondere“ heißt: für alle einzelnen kontingenten Gründe. Damit fehlt aber noch die Begründung dafür, daß diese eine notwendige Substanz der zureichende Grund für alle Reihen kontingenter Gründe ist. Die Begründung dafür findet sich in dem zur 1. These gehörenden Nebensatz: alles Besondere, das seinerseits durchgängig miteinander verbunden ist. Alles kontingente Seiende, alles raum-zeitlich-materielle Seiende der bloßen, der anorganischen Körper, der organischen Körper nichtmensch licher Lebewesen und der organischen Körper der menschlichen Lebewesen – alles kontingente Seiende ist überall (partout) miteinander verbunden. Damit ist gesagt, daß alle Reihen kontingenter Gründe, alle Reihen von Wirkursachen und Wirkungen, einen Zusammenhang bilden, einen inneren Zusammenhang. Diese durchgehende Verknüpfung alles kontingenten Seienden hat ihren Seinsgrund im inneren Zusammenhang alles kontingenten monadischen Seins. Dieser innere Zusammenhang alles kontingenten Seins geht aber darauf zurück, daß die Urmonade im schaffenden Hervorbringen einer jeden strebend-perzipierenden Monade Rücksicht genommen hat auf jede, auf alle anderen einfachen Substanzen. Diese ontologische Rücksichtnahme liegt in ihrem substanziellen Wesen beschlossen. Daher wird Leibniz davon sprechen, daß jede einfache Substanz in ihrem strebenden Perzipieren ein lebendiger Spiegel des Universums, der Welt, ist. Diese durchgängige Verknüpftheit aller kontingenten Monaden und alles kontingenten Seienden dieses monadischen Seins ist die Begründung dafür, daß wir im Rückgang von den vielen Reihen kontingenter Gründe nicht auf eine Vielzahl zureichender Gründe stoßen, sondern auf die Einzahl. Da alles kontingente Seiende und Sein überall miteinander zusammenhängt, bedarf es nur eines einzigen zureichenden Grundes. Die Einzahl des zureichenden Grundes hat nicht den Charakter einer Einzahl innerhalb eines Plurals. Die Einzahl des zureichenden Grundes kennt keinen Plural. Sie ist deshalb eine Einzahl vom Charakter der Einzigkeit. Damit stehen wir bei der 2. These des Abschnitts 39: Es gibt nur einen einzigen Gott, und dieser einzige Gott ist der zureichende Grund. Die einzige notwendige Substanz ist der einzige Gott. Daraus, daß es nur eines einzigen zureichenden Grundes für alle Reihen kontingenter Gründe bedarf,
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Siebentes Kapitel: Begriffsentfaltung der höchsten Substanz
ist die Einzahl als die Einzigkeit der göttlichen Urmonade, des urmonadischen Gottes erwiesen. Hier wird von Leibniz der Monotheismus a posteriori aus dem Satz vom zureichenden Grunde nachgewiesen. Der Abschnitt 40 bestimmt die göttliche Substanz hinsichtlich ihrer Realität und bestimmt diese Realität als absolute Realität. Das in diesem Abschnitt Gesagte läßt sich in vier Thesen gliedern. 1. These: Die oberste, höchste Substanz ist einzig, allumfassend und notwendig. 2. These: Es gibt nichts außerhalb dieser höchsten Substanz, das von ihr unabhängig wäre. 3. These: Die höchste Substanz ist die einfache Folge ihres möglichen Seins. 4. These: Die höchste Substanz hat keinerlei Schranken und enthält so viel Realität wie möglich. Zur 1. These: Im Abschnitt 38 wurde von der notwendigen Substanz gesprochen und diese als Gott bezeichnet. Diese notwendige göttliche Substanz heißt jetzt im Abschnitt 40 die oberste, höchste Substanz. Die 1. These greift noch einmal zurück auf das im Abschnitt 39 Erkannte: Die höchste Substanz ist einzig (unique). Es gibt nur eine einzige höchste Substanz, denn es bedarf nur eines einzigen zureichenden Grundes. Die höchste Substanz ist als einzige allumfassend (universelle). Denn sie umfaßt in ihrer Einzigkeit alles Besondere, alle Reihen von kontingenten Tatsachen. Als einzige, allumfassende Substanz ist sie notwendig und nicht wie alles von ihr Umfaßte kontingent. Alle Reihen kontingenter Gründe sind kontingent, weil sie den Grund ihres Seins nicht in sich, sondern außer sich haben: in einer nicht kontingenten, sondern notwendigen Substanz. Diese notwendige Substanz allein hat den Grund ihres Seins in sich selber, so, daß sie dadurch der wahrhaft zureichende Grund für die vielen Reihen kontingenter Gründe sein kann. Die 2. These ist eine Entfaltung des in der 1. These Gesagten: Außerhalb dieser höchsten, weil einzigen, allumfassenden, notwendigen Substanz kann es kein notwendiges Seiende geben, das als kontingentes nicht von jener notwendigen abhängig wäre. Nichts vom kontingenten Seienden und Sein ist außerhalb des notwendigen Begründens, nichts vom Kontingenten ist unabhängig vom absolut zureichenden Grund. Die 3. These ist eine Erläuterung des ontologischen Notwendigseins der höchsten Substanz. Die höchste Substanz ist die einfache Folge ihres möglichen Seins, ihres Möglichseins. Auch das Möglichsein ist hier ontologisch gemeint. Es meint das Wesen, die Realität, der höchsten Substanz. Das Möglichsein als Wesen einzig der höchsten Substanz schließt das Wirklichsein dieser Substanz ein. Das Wesen als das Möglichsein der höchsten Substanz bedarf nicht einer schaffenden Überführung in das Wirklichsein. Denn die höchste Substanz ist deshalb die höchste, weil sie den Grund ihres Seins in sich hat. Das Wesen als das Möglichsein schließt das Wirklichsein
§ 23 Einzigkeit und absolute Vollkommenheit der notwendigen Substanz191
der höchsten Substanz ein. Das Notwendigsein ist das notwendige Wirklichsein der höchsten Substanz. Dagegen eignet allem Kontingenten nur das zufällige Wirklichsein, das Wirklichsein, in das das Kontingente durch ein Anderes gebracht wird. Die 4. These, die innerhalb des Abschnittes 40 die entscheidende ist, besagt: Die höchste Substanz hat keinerlei Schranken und hat deshalb so viel Realität wie möglich. Aus den drei Wesensprädikaten der höchsten Substanz, die in der 1. These genannt wurden, aus der Einzigkeit, aus ihrem Allumfassendsein und aus ihrer Notwendigkeit, folgt, daß die höchste Substanz absolut schrankenlos ist. Schranken oder Grenzen meinen hier die Begrenzungen in der Realität. Die Realität der höchsten Substanz ist absolut unbegrenzt. Ihre Realität ist in keiner Hinsicht durch ein begrenzendes, beschränkendes Nichtsein bestimmt. Die höchste Substanz hat so viel Realität wie möglich, heißt: sie hat höchste, absolut unbegrenzte Realität. Sie ist das allerrealste Wesen, das ens realissimum. Der Abschnitt 41 bestimmt die göttliche Substanz hinsichtlich ihrer absoluten Vollkommenheit. Dieser Abschnitt gliedert sich in drei Thesen. 1. These: Gott ist absolut vollkommen. 2. These: Vollkommenheit ist die Größe der positiven Realität als solcher, die man erhält, wenn man die Grenzen oder Schranken der Dinge wegläßt. 3. These: In Gott, in dem es keine Schranken gibt, ist die Vollkommenheit absolut unendlich. Zur 1. These: Diese schließt unmittelbar an das Ergebnis des Abschnittes 40 an. Daraus, daß Gott absolute Realität, das allerrealste Wesen ist, folgt im Sinne einer Wesensfolge, daß Gott, die höchste Substanz, absolut vollkommen ist. Aus der im Abschnitt 40 eingesehenen absoluten Schrankenlosigkeit und höchsten Realität folgt die absolute Vollkommenheit der göttlichen Substanz, Gott ist als das ens realissimum das ens perfectissimum. Der Begriff der Vollkommenheit ist auf den Begriff der Realität bezogen. Realität heißt aber nicht Wirklichkeit (Vorhandensein), sondern muß von der realitas her verstanden werden. Realitas aber gehört zu res, die Sache. Die realitas einer res ist deren Sachhaltigkeit, deren Wesensbeschaffenheit. Realitas, Realität, meint das Wesen einer res, das substanzielle Wesen, das Aristoteles die erste οὐσία nennt im Unterschied zur zweiten οὐσία. Gott als das allerrealste Sein hat eine Realität, ein Wesen, das im Unterschied zur Realität, zum substanziellen Wesen des Kontingenten völlig schrankenlos ist, eine von jeglicher Begrenztheit abgelöste Realität, ein unbeschränktes Wesen. In Anbetracht dieser völligen Unbeschränktheit ist die allerrealste Substanz die absolut vollkommene Substanz. In der 2. These des Abschnittes 41 definiert Leibniz den Begriff der Vollkommenheit, also das, was überhaupt unter Vollkommenheit zu verstehen ist. Diese Definition bestimmt nicht nur die absolute Vollkommenheit, sondern
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Siebentes Kapitel: Begriffsentfaltung der höchsten Substanz
Vollkommenheit überhaupt, somit auch die Vollkommenheit der kontingenten Monaden. Vol1kommenheit ist „die Größe der positiven Realität“ einer Substanz, die Realitätsgröße einer positiven Realität. Die Größe der positiven Realität als solcher gewinne ich dadurch, daß ich nur auf die Realität blicke und von ihren Grenzen und Schranken absehe. Die beschränkte Realität ohne ihre Grenzen ist der Begriff der positiven Realität, der positiven Sachhaltigkeit des substanziellen Wesens. Diese Größe der positiven Realität ist die Vollkommenheit einer Substanz. Die kontingenten Substanzen sind mehr oder weniger vollkommen, sofern die Größe der positiven Realität eine unterschiedliche ist. Je nach der Begrenztheit oder Beschränktheit der Realität, je nach der Realitätsgröße ist die Substanz mehr oder weniger vollkommen. Die Realitätsgrade der Substanzen bestimmen ihre Vollkommenheitsgrade. Die Realitätsgrade und die Vollkommenheitsgrade entsprechen aber den Stufen des monadischen Seins. Die unterste Stufe der nur dumpf strebend perzipierenden Monaden zeigt einen geringeren Realitäts- und Vollkommenheitsgrad als die Monaden der zweiten Stufe. Das kontingente monadische Sein zeigt eine Stufung der Realitäts- und Vollkommenheitsgrade. In der 3. These heißt es aber: In Gott, dessen Realität völlig schrankenlos ist, ist die Vollkommenheit absolut unendlich. Weil die Realität Gottes absolut schrankenlos ist, nur positive Realität, die durch kein Nichtsein begrenzt ist, ist die Vollkommenheit Gottes absolut unendlich. Alles kontingente Sein zeigt nur mehr oder weniger begrenzte Vollkommenheiten, zwar auch Vollkommenheiten, aber keine unbegrenzten, sondern mehr oder weniger beschränkte. Nur das notwendige Sein, die höchste Substanz, die Urmonade, schließt eine absolut unbegrenzte Realität ein und ist dadurch absolut vollkommen. Die absolute Vollkommenheit der göttlichen Urmonade bedeutet aber, daß es in der göttlichen Urmonade keine Selbstentfaltung und Selbstveränderung gibt, keine solche wie in der endlichen Substanz, die nur in begrenzter Weise vollkommen ist. Nachdem der Abschnitt 41 sowohl von der absoluten Vollkommenheit der göttlichen Substanz wie auch von der beschränkten Vollkommenheit der kontingenten Substanzen gehandelt hat, bedenkt der Abschnitt 42 das ontologische Verhältnis zwischen der absoluten Vollkommenheit und den begrenzten Vollkommenheiten. Dieser Abschnitt läßt sich dreifach gliedern. 1. These: Das geschaffene Sein und Seiende dieses Seins hat seine Vollkommenheiten aus dem Einfluß der göttlichen Substanz auf es. 2. These: Das geschaffene Sein und Seiende dieses Seins hat aber seine Unvollkommenheiten aus seiner eigenen Natur, die nicht fähig ist, ohne Schranken zu sein. 3. These: Das geschaffene Sein und Seiende unterscheidet sich vom göttlichen Sein durch seine Schrankenbehaftetheit.
§ 23 Einzigkeit und absolute Vollkommenheit der notwendigen Substanz193
Wichtig ist in diesem Abschnitt die Unterscheidung zwischen Vollkommenheiten und Unvollkommenheiten. Diese Unterscheidung schließt an die Ausführung des Abschnittes 41 an. Zur 1. These: Sie nimmt nur die Vollkommenheiten des geschaffenen Seins und Seienden in den Blick. Was im Begriff der Vollkommenheit zu denken ist, wurde im Abschnitt 41 gesagt: die Größe nur der positiven Realität unter Absehung ihrer Grenzen oder Schranken. Die Schranken einer Realität bilden dagegen die Unvollkommenheit, von der die 2. These handelt. Gemäß der 1. These haben die geschaffenen Substanzen nur ihre Vollkommenheiten aus dem Einfluß der göttlichen Substanz auf sie. Nur ihre Vollkommenheiten, die Größe ihrer positiven Realität, haben ihre ontologische Herkunft aus der urmonadischen-Substanz. Die absolut vollkommene Substanz ist die schaffende Quelle nur der Vollkommenheiten der geschaffenen Monaden. Aus der absoluten Vollkommenheit der schaffenden Substanz folgt, daß sie als absolut vollkommene die Quelle nur der Vollkommenheiten in den endlichen Monaden sein kann. Dasjenige, was das Unvollkommene in den geschaffenen Monaden ausmacht, ist nicht von der urmonadischen Substanz geschaffen, nicht so geschaffen wie die Vollkommenheiten. Die 2. These handelt von den Unvollkommenheiten der geschaffenen Substanzen: Die geschaffenen Monaden haben ihre Unvollkommenheiten nicht aus dem Einfluß der absolut vollkommenen Substanz auf sie, sondern sie haben ihre Unvollkommenheit aus ihrer eigenen Natur, aus ihrer Beschränktheit. Sie haben ihre Unvollkommenheiten aus ihrer eigenen Natur, sofern diese Natur ihr Geschaffensein ist und das Geschaffensein Begrenztheit bedeutet. Der Begriff der Geschaffenheit schließt die Schrankenbehaftetheit ein. Die Beschränktheit ist somit eine Wesensfolge des Geschaffenseins. Damit ist gesagt, daß die Beschränktheit nur aus dem Geschaffensein folgt, nicht aber als eine Unvollkommenheit wie die Vollkommenheit geschaffen wird. Was geschaffen wird, ist in sich immer nur Vollkommenes. Die Begrenztheit folgt nur aus dem Geschaffensein, ist aber selbst keine negative Realität, die außer der positiven Realität vom absolut vollkommenen Sein geschaffen wird. Was aus der absolut vollkommenen Substanz hervorgeht, ist nur Vollkommenes, wenn auch nicht absolut Vollkommenes, sondern endliches, weil geschaffenes Vollkommenes. Als endlich-geschaffenes Vollkommenes ist es ontologisch begrenzt. Diese Begrenzung gehört ontologisch zum Geschaffensein, ohne dadurch den Charakter einer negativen Realität zu haben. Die 3. These stellt fest, daß sich das geschaffene Sein und Seiende durch die Schrankenbehaftetheit vom ungeschaffenen göttlichen (urmonadischen) Sein unterscheidet. Die Schrankenbehaftetheit ist aber keine negative Realität, sie gehört vielmehr zum Wesen des Geschaffenseins als eines Endlichseins.
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Siebentes Kapitel: Begriffsentfaltung der höchsten Substanz
Im Abschnitt 9 der „Vernunftprinzipien“ gibt es parallele Ausführungen zu den Abschnitten 40 bis 42 der „Monadologie“, zur urmonadischen Substanz als dem allerrealsten und dem allervollkommensten Sein und zur urmonadischen Substanz als der alleinigen Quelle der Vollkommenheiten der endlichen Monaden. Dort spricht Leibniz von der urmonadischen Substanz als der „ursprünglichen“ einfachen Substanz und von den endlichen Substanzen als den ontologisch „abgeleiteten“ Substanzen (substance simple primitive – substances derivatives).1 Die ursprüngliche einfache Substanz, die Ur-Substanz, die Urmonade, muß alle jene Vollkommenheiten, die in den derivierten Substanzen enthalten sind, in höchstem Maße in sich schließen. Die von der ursprünglichen Substanz abkünftigen endlichen Substanzen erhalten von der Ursubstanz alles das, was ihnen eine gewisse Vollkommenheit verleiht. Jenes aber, was den endlichen Substanzen an Unvollkommenheiten bleibt, kommt aus der dem Geschaffenen eigenen Beschränktheit. Nachdem Leibniz im Abschnitt 42 das allervollkommenste Sein als Quelle des begrenzt vollkommenen Seins bestimmt hat, geht er im Abschnitt 43 dazu über, die urmonadische Substanz als Quelle sowohl für die Existenzen wie für die Essenzen des kontingenten Seins und Seienden zu bedenken. Diesen wichtigen Gedankenzug Leibnizens behandeln wir in unserem jetzt folgenden Paragraphen.
§ 24 Die notwendige Substanz als Ursprung der Existenzen und der Essenzen. Der zweite Gottesbeweis Diesem Paragraphen legen wir als Text die Abschnitte 43 und 44 aus der „Monadologie“ zugrunde. Der Abschnitt 43 handelt von der urmonadischen Substanz als Quelle nicht nur der Existenzen, sondern auch der realen Essenzen. Im Anschluß daran gibt Leibniz im Abschnitt 44 einen zweiten Beweis vom notwendigen Dasein Gottes. Der Text des Abschnittes 43 läßt sich in vier Thesen gliedern. 1. These: Gott, die urmonadische Substanz, ist die Quelle, der ontologische Ursprung, der Existenzen. 2. These: Die göttliche Substanz ist auch der Ursprung der realen Essenzen, d. h. des Realen in der Möglichkeit. 3. These: Der göttliche Verstand ist die Region der ewigen Wahrheiten oder Ideen, von denen die ewigen Wahrheiten abhängen. 4. These: Ohne die göttliche Substanz gäbe es in den Möglichkeiten nichts Reales, gäbe es also nicht nur kein Existierendes, sondern auch kein Mögliches. 1 G. W. Leibniz, Vernunftprinzipien der Natur und der Gnade (H. Herring 1982), S. 14 / 15. – G. W. Leibniz, Auf Vernunft gegründete Prinzipien der Natur und der Gnade (U. J. Schneider 2014), S. 164 / 165.
§ 24 Die notwendige Substanz als Ursprung der Existenzen und Essenzen195
Zur 1. These: Gott als die realste und vollkommenste einfache Substanz ist der Ursprung, die Quelle, für alle kontingenten Monaden des körperlich Seienden, die Quelle aber nach zwei unterschiedlichen Hinsichten. Die Urmonade ist zum einen Quelle aller Existenzen. Sie ist Quelle der Existenz, des Wirklichseins, der monadischen Substanzen und ihres körperlich Seienden. Die Urmonade ist als Quelle der wahrhaft zureichende Grund, für das Universum der Tatsachen, des Seins und des Seienden, hinsichtlich der Existenzen. Jede endliche Monade ist das existierende substanzielle Sein des körperlich Seienden. Quelle ist die Urmonade dergestalt, daß sie die monadischen Substanzen mit deren Seiendem in das Wirklichsein (Existenz) gebracht hat. Zur 2. These: Was das aber heißt, wird erst deutlich, wenn wir die 2. These dazu nehmen: Die Urmonade ist auch die ontologische Quelle der realen Essenzen, oder des Realen in der Möglichkeit. Was sind die realen Essenzen? Die Essenzen sind die Wesenheiten, essentia, essentiae, im Unterschied zum Wirklichsein oder den Wirklichkeiten, existentia, existentiae. Diese Essenzen, Wesenheiten, sind hier nicht die idealen Wahrheiten der Logik und Mathematik. Sie sind die realen Wesenheiten. Als solche gehören sie in die Metaphysik. „Real“ heißt nicht ‚wirklich‘, ‚vorhanden‘, sondern gehört zu realitas. Die realitas aber gehört zur res (Sache), nennt also die Sachhaltigkeit der Sache, ihre Washaltigkeit. Die realen Essenzen beziehen sich auf die Monaden hinsichtlich ihrer Wasbeschaffenheit, ihrer realitas, ihrer essentia. Aber in den Monaden sind die realen Essenzen schon verwirklicht zu den existierenden monadischen Wesensbeschaffenheiten. Die realen Essenzen vor ihrer Verwirklichung in den existierenden Monaden der existierenden Körper sind „das Reale in der Möglichkeit“ (réel dans la possibilité). Daher kann Leibniz statt von den realen Essenzen auch vom Realen in der Möglichkeit sprechen. Das Reale in der Möglichkeit ist die Realität, die Essenz, die noch nicht existiert. Sie existiert nur, sie wird in die Existenz überführt durch den urmonadischen Schöpfungsakt. Wenn von den realen Essenzen als dem Realen in der Möglichkeit gesprochen wird im Unterschied zu den Existenzen, dann werden die Wesenheiten des monadischen Seins zurückgedacht vor ihre Verwirklichung, zurückgedacht zu den reinen, noch nicht verwirklichten Wesenheiten, die Leibniz auch die reinen Möglichkeiten nennt. Als diese reinen Möglichkeiten gehören die realen Essenzen zu den Ideen, den Gedanken des göttlichen Verstandes. Damit kommen wir zur 3. These: Der göttliche Verstand ist die Region der ewigen Wahrheiten oder der Ideen, von denen die ewigen Wahrheiten abhängen. Im Zusammenhang unserer früheren Erläuterung der notwendigen und ewigen Wahrheiten bestimmten wir mit Leibniz die notwendigen und ewigen Wahrheiten als die der formalen Logik und reinen Mathematik. Jetzt aber sehen wir, daß zu den ewigen Wahrheiten auch die realen Essen-
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Siebentes Kapitel: Begriffsentfaltung der höchsten Substanz
zen (im Unterschied zu den idealen Wesenheiten) oder die reinen Möglichkeiten gehören. Die realen Essenzen sind als die reinen Möglichkeiten die Ideen, Gedanken, das Gedachte des göttlichen Verstandes. Die realen Essenzen als die reinen Möglichkeiten des Realen hängen als ewige Wahrheiten von den Ideen des göttlichen Verstandes ab. Sie hängen von den Ideen ab, sofern sie ursprünglich das Gedachte des göttlichen Verstandes sind. Die realen Essenzen als die reinen Möglichkeiten des Realen haben ihren ursprünglichen Ort im göttlichen Verstand. Damit wird deutlich: Die Urmonade Gott ist der Ursprung, die Quelle, für die realen Essenzen in einer anderen Weise als sie der Ursprung für die Existenzen ist. Die Essenzen entspringen in einer anderen Weise der Urmonade als die Existenzen. Die realen Essenzen als die reinen Möglichkeiten des Realen entspringen nur insofern der Urmonade, als diese in der Gestalt des göttlichen Verstandes der ursprüngliche Ort ist, an dem die reinen Möglichkeiten des Realen zu den ewigen Wahrheiten gehören. Somit wird aber auch klar: Die realen Essenzen sind nicht selbst von Gott geschaffen. Vielmehr bilden sie den unendlichen Gedankeninhalt des göttlichen Verstandes. Die Urmonade ist nicht Schöpfer ihres eigenen Verstandes und dessen Ideen. Geschaffen aber werden die Existenzen, die existierenden Monaden mit ihrem körperlich Seienden. Sie werden geschaffen unter göttlichem Rückgriff auf die von der Urmonade gedachten realen Essenzen. Das Schaffen selbst besteht in der vom Prinzip des Besten geleiteten Auswahl unter den unendlich vielen reinen Möglichkeiten der realen Essenzen und in der Überführung der ausgewählten Essenzen in die existentia. Aus der 3. These ergibt sich der Übergang zur 4. These: Ohne die urmonadische Substanz gäbe es nichts Reales in den Möglichkeiten und damit nichts Mögliches, keine reine Möglichkeit des Realen. In der 3. These hieß es, der göttliche Verstand sei die Region der realen Essenzen, die das Gedachte dieses urmonadischen Verstandes sind. Die realen Essenzen als die reinen Möglichkeiten des verwirklichbaren Realen haben ihren Ursprungsort im allerrealsten Wesen. Wenn es keinen urmonadischen Verstand gäbe, hätten die reinen Möglichkeiten kein Reales. Ohne dieses Reale wären die reinen Möglichkeiten auch keine Möglichkeiten. Als reine Möglichkeiten sind sie nur Möglichkeiten des Realen. Somit kann Leibniz in der 4. These sagen: Ohne die göttliche Urmonade gäbe es weder Existierendes noch Mögliches. Es gäbe kein Mögliches, weil dieses ohne Reales wäre, welches Reale nur das Gedachte der Urmonade sein kann. Es gäbe auch kein Existierendes, weil das Existierende die Verwirklichung der reinen Möglichkeiten des Realen, der realen Essenzen, ist. Ohne die göttliche Substanz und ihren Verstand gäbe es keine reinen Möglichkeiten des Realen als Ideen
§ 24 Die notwendige Substanz als Ursprung der Existenzen und Essenzen197
Gottes. Ohne die Möglichkeiten des Realen gäbe es nichts, was im Akt der Schöpfung zu verwirklichen, in die Existenz überzuführen wäre. Im Abschnitt 44 entwickelt Leibniz aus dem im Abschnitt 43 Ausgeführten, d. h. aus dem Bezug der realen Essenzen zum göttlichen Verstand, einen zweiten Beweis für das Dasein Gottes. Der Gehalt des Abschnittes 44 zeigt drei Thesen: 1. These: Die Realität in den Essenzen, Möglichkeiten oder ewigen Wahrheiten ist in etwas Existierendem oder Wirklichem gegründet. 2. These: Dieses Existierende ist die Existenz des notwendigen Wesens. 3. These: Im notwendigen Wesen schließt die Essenz die Existenz ein; im notwendigen Wesen genügt es, möglich zu sein, um auch wirklich zu sein. In der 1. These greift Leibniz zurück auf das, was er im Abschnitt 43 von den realen Essenzen gesagt hat: daß sie ihren Ort im göttlichen Verstand haben, daß sie dadurch, daß sie dessen Gedachtes sind, die Realität haben. Daran anschließend heißt es in der 1. These des Abschnittes 44, daß diese Realität in den Essenzen in etwas Existierendem oder Wirklichem gegründet ist. Denn das Existieren als die Verwirklichung der Essenzen folgt erst auf die Essenzen. Es ist also eine Existenz, die der Verwirklichung, der Überführung der Essenzen in die Existenz, voraufgeht. Damit kommen wir zur 2. These. In dieser 2. These folgert Leibniz aus der 1. These: Das Existieren oder Wirklichsein, worin die Realität der Essenzen gründet, ist die Existenz des notwendigen Wesens. Die Existenz, in die eine Essenz überführt wird, ist immer die Existenz eines kontingenten Wesens, das den Grund seiner Existenz in einem Anderen hat. Dieses Andere ist aber das notwendige Wesen, das als notwendiges den Grund seiner Existenz in sich selbst hat. Damit ist ein neuer, ein zweiter Beweis für das Dasein Gottes durchgeführt. Dieser 2. Beweis nimmt einen anderen Ausgang als der 1. Beweis aus dem Abschnitt 36. Der 1. Beweis ging aus vom kontingenten monadischen Sein und Seiendem, um den wahrhaft zureichenden Grund für alle Reihen kontingenter Gründe in einem nicht mehr kontingenten, notwendigen Wesen zu finden. Der 2. Beweis geht nicht auch aus von den kontingenten innerweltlichen Tatsachen, sondern geht aus von der Realität der Essenzen oder reinen Möglichkeiten. Diese realen Essenzen vor ihrer Verwirklichung im kontingenten Sein und Seiendem können nicht ohne einen sie tragenden Grund sein. Aber dieser tragende Grund kann selbst nicht auch nur eine Möglichkeit sein, sondern muß ein Existierendes sein. Weil er aber der existierende Grund für die realen Essenzen sein soll, die ihrerseits erst durch ihre Verwirklichung zur Existenz gelangen, ist die Existenz jenes tragenden Grundes nicht die eines Kontingenten, sondern eines Notwendigen. Damit kommen wir zur 3. These: Im notwendigen Wesen schließt die Essenz die Existenz ein, oder: beim notwendigen Wesen genügt es, möglich
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Siebentes Kapitel: Begriffsentfaltung der höchsten Substanz
zu sein, um wirklich zu sein. Die Notwendigkeit ist dadurch definiert, daß es sich um ein Wesen handelt, dessen Essenz nicht erst durch ein anderes überführt werden muß in die Existenz. Das notwendige Wesen unterscheidet sich gerade vom kontingenten Wesen dadurch, daß seine Essenz den Grund ihrer Existenz in sich selbst hat. Daß die göttliche Essenz die Existenz in sich einschließt, ist gleichbedeutend damit, daß die Möglichkeit des notwendigen Wesens die Wirklichkeit einschließt, – daß es also beim notwendigen Wesen genügt, möglich zu sein, um auch schon wirklich zu sein. Die Essenz des göttlichen Wesens ist die Möglichkeit Gottes. Es gehört aber zum Inhalt der göttlichen Essenz, den Grund ihrer Existenz nicht in einem anderen, sondern in sich zu haben. Somit schließt die Essenz Gottes als die Möglichkeit Gottes ihre Existenz ein. Es genügt bei einem notwendigen (nicht kontingenten) Wesen, hinsichtlich seiner Essenz möglich zu sein, um damit auch schon wirklich zu sein. In Ergänzung zu den Thesen des Abschnittes 44 weist Leibniz auf die Abschnitte 184, 189 und 335 aus der „Theodizee“ hin.
§ 25 Der dritte als der apriorische Gottesbeweis Unserem § 25 legen wir den Abschnitt 45 aus der „Monadologie“ zugrunde. Hier führt Leibniz einen dritten Beweis für das Dasein Gottes durch. Diesen dritten Beweis bezeichnet Leibniz selber als einen Beweis a priori im Unterschied zum ersten Beweis im Abschnitt 38, den er hier im Abschnitt 45 rückblickend den Beweis a posteriori nennt. Der Abschnitt 45 enthält fünf Thesen. Aber nur die drei ersten Thesen sind weiterführende Gedankenschritte, die zwei letzten dagegen Rückblicke. Die 1. These lautet: Gott allein hat das ontologische Vorrecht, daß er notwendig existiert, wenn er möglich ist. Die 2. These besagt: Die Möglichkeit eines solchen Wesens, das keine Schranken, keine Verneinung und keinen Widerspruch enthält, ist denkbar. Die 3. These sagt: Aus der denkbaren Möglichkeit des absolut Schrankenlosen und absolut Verneinungslosen wird die Existenz Gottes a priori erkannt. 4. These: Die Existenz Gottes wurde schon aus der Realität der ewigen Wahrheiten bewiesen. 5. These: Die Existenz Gottes wurde zuerst im Ausgang von der Existenz der kontingenten Wesen bewiesen. Zur 1. These: Im Abschnitt 44, der den zweiten Gottesbeweis enthält, hieß es: Die Realität der reinen Essenzen bzw. Möglichkeiten müsse in etwas Existierendem ihren sie tragenden Grund haben, und dieses Existierende könne nicht die Existenz eines kontingenten, sondern müsse die Existenz eines notwendigen Wesens sein. Daher ist die göttliche Essenz derart be-
§ 25 Der dritte als der apriorische Gottesbeweis199
stimmt, daß sie als Möglichkeit auch schon die Existenz einschließt. Der zweite Beweis schließt von der Realität der Essenzen auf die Existenz des notwendigen Wesens. Der dritte Beweis, der mit der 1. These des Abschnittes 45 einsetzt und durch die drei ersten Thesen hindurch geführt wird, setzt bei der Möglichkeit Gottes ein. Die 1. These lautet: Gott allein hat das Vorrecht, notwendig zu existieren, wenn er möglich ist. Seine Möglichkeit ist die Voraussetzung für sein notwendiges Existieren. Das heißt: Wenn diese Möglichkeit nicht besteht, wenn der Begriff der Möglichkeit, des bloßen Wesens Gottes, einen Widerspruch einschließen sollte, kann Gott auch nicht notwendig existieren. Daher muß der Wesensbegriff, die Möglichkeit Gottes, geprüft werden, ob er (sie) widerspruchsfrei ist. Es muß geprüft werden, ob das, was wir im Wesensbegriff Gottes denken, möglich ist, ob also Gott möglich ist. Zur 2. These: Diese Prüfung der Möglichkeit Gottes geschieht in der 2. These: Was wir im Wesen Gottes denken, ist, daß er im Unterschied zu allem Endlichen keine Schranken und keine Verneinung enthält. Wir denken im Wesensbegriff Gottes das allerrealste und allervollkommenste Wesen, weil es in seiner Realität und in seiner Vollkommenheit keinerlei Schranken und Verneinungen hat. Da zeigt sich nun, daß dieser Wesensbegriff Gottes keinen Widerspruch einschließt, widerspruchsfrei gedacht werden kann. Damit ist aber erwiesen: Gott ist möglich. Die Möglichkeit Gottes ist gesichert durch den Nachweis der Widerspruchsfreiheit seines Wesensbegriffes. Zur 3. These: Inwiefern schließt aber dieser widerspruchsfreie Wesensbegriff zugleich seine notwendige Existenz ein? Das sagt die 3. These: Es genügt, das Wesen Gottes als das allerrealste und allervollkommenste Wesen widerspruchsfrei zu denken, um daraus die notwendige Existenz dieses Wesens a priori zu erkennen. Inwiefern? Der Begriff des Allerrealsten und Allervollkommensten würde eine Verneinung einschließen, wenn wir sagen müßten: die Existenz sei das einzige, was nicht zum allerrealsten und allervollkommensten Wesen gehört. Dieses ‚nicht‘ würde dem Wesensbegriff vom allervollkommensten Wesen widersprechen. Ein Wesen kann nur dann das allervollkommenste sein, wenn ihm nicht die Existenz vorenthalten ist. Es muß auch die Existenz einschließen, damit es wahrhaft das allervollkommenste Wesen ist. Ein Wesen, das als das allerrealste nicht auch existiert, ist nicht das allerrealste. Denn es bliebe durch den Mangel der Existenz und somit durch ein Nichtsein bestimmt. Die Erkenntnis von der notwendigen Existenz Gottes im Ausgang von seinem Wesen nennt Leibniz eine Erkenntnis und einen Beweis a priori. Diese Kennzeichnung des dritten Beweises wird aber erst durchsichtig, wenn wir sie gegen die Kennzeichnung des ersten Beweises aus dem Ab-
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Siebentes Kapitel: Begriffsentfaltung der höchsten Substanz
schnitt 38 halten. Diesen ersten Beweis nennt Leibniz in der 5. These des Abschnittes 45 rückblickend den Beweis a posteriori. Zur 4. These: Doch zuvor erwähnt Leibniz in der 4. These den zweiten Beweis, den er im Abschnitt 44 durchgeführt hat. Nachdem Leibniz in den ersten drei Thesen des Abschnittes 45 seinen dritten Beweis ausgeführt hat, vergegenwärtigt er jetzt in der 4. und 5. These die beiden vorangegangenen Beweise, um einen Gesamtüberblick über alle drei Beweise zu geben. Diese Überschau lenkt den Blick auf die unterschiedlichen Ausgänge in den drei Beweisen. Wir haben – sagt Leibniz – (in der 4. These) die Existenz Gottes schon durch die Realität der ewigen Wahrheiten, der realen Essenzen bewiesen (zweiter Beweis). Ohne die notwendige Existenz des göttlichen Verstandes hätten die ewigen Wahrheiten keine Realität. Gäbe es keinen notwendig existierenden göttlichen Verstand, in welchem sich die realen Essenzen realisiert finden, würde es die realen Essenzen nicht geben. Darüberhinaus aber – fährt Leibniz in der 3. These des Abschnittes 45 fort – haben wir die notwendige Existenz Gottes schon a posteriori bewiesen (erster Beweis), nämlich aus der Existenz der kontingenten Wesen, die ihren letzten bzw. ersten wahrhaft zureichenden Grund nur in jenem notwendigen Wesen haben können, das den Grund seiner Existenz in sich selbst hat. Durch die Art, wie Leibniz diesen ersten Beweis vergegenwärtigt, wird durchsichtig, inwiefern er ihn einen Beweis a posteriori nennt. Dieser an Hand des Prinzips vom zureichenden Grund geführte Beweis heißt a posteriori, weil er vom Späteren ausgeht, vom Begründeten, und aufsteigt zum Früheren, zum Begründenden. Das erstlich Begründende ist das notwendige, nicht mehr kontingente Wesen. Als dieses erstlich Begründende ist es das Frühere. Von hier aus wird nun einsichtig, inwiefern der dritte Beweis im Ausgang vom Begriff des Wesens und der Wesensmöglichkeit Gottes ein Beweis a priori ist. Während der Beweis a posteriori vom Späteren als dem durch den zureichenden Grund Begründeten ausgeht, geht der Beweis a priori von diesem Früheren aus und verbleibt innerhalb dieses Früheren. Denn der Beweis geht aus vom Wesen und von der Möglichkeit Gottes und geht über zur notwendigen Existenz Gottes. Er verbleibt also im Früheren, d. h. in dem, was gegenüber dem kontingenten Seienden und Sein als dem Späteren das Frühere ist.
§ 26 Die ewigen Wahrheiten und der göttliche Verstand201
§ 26 Die ewigen Wahrheiten und der göttliche Verstand – die zufälligen Wahrheiten und der göttliche Wille Diesem Paragraphen legen wir als Text den Abschnitt 46 der „Monadologie“, den letzten Abschnitt aus der sechsten gedanklichen Einheit, zugrunde. Dieser Abschnitt enthält drei Thesen. 1. These: Die ewigen Wahrheiten sind, wenn sie von Gott abhängen, nicht willkürlich und hängen somit nicht von seinem Willen ab. 2. These: Vom göttlichen Willen hängen nur die kontingenten Wahrheiten ab, deren Prinzip die Angemessenheit oder die Wahl des Besten ist. 3. These: Die notwendigen Wahrheiten hängen dagegen nur vom göttlichen Verstande ab, indem sie dessen innerer Gegenstand sind. Im Abschnitt 46 geht es also um die unterschiedliche Art, in der einerseits die notwendigen und ewigen Wahrheiten, andererseits die kontingenten Wahrheiten von der göttlichen Urmonade abhängen. Zur 1. These: Die notwendigen und ewigen Wahrheiten sind zum einen die idealen Wahrheiten der Logik und Mathematik und zum anderen die realen Essenzen bzw. reinen Möglichkeiten der zu schaffenden Tatsachen. Die notwendigen und ewigen Wahrheiten hängen von Gott ab, sie haben einen notwendigen Bezug zur göttlichen Urmonade. Die Urmonade ist aber in ihrem unendlichen monadischen Wesen Verstand und Wille – unendlicher Verstand und unendlicher Wille. Der unendliche Verstand entspricht dem perzeptiven Wesen der endlichen Monaden. Der unendliche Wille entspricht dem strebenden Wesen der endlichen Monaden. In der menschlichen Geistmonade ist der Verstand und der Wille endlich, in der göttlichen Urmonade sind Verstand und Wille ohne Schranken – un-endlich. Wenn also die notwendigen und ewigen Wahrheiten von Gott abhängen, dann muß gefragt werden, von welchem Wesenscharakter der göttlichen Urmonade sie abhängen. Die Antwort sagt zugleich, wie sie von ihr abhängen. Die negative Antwort gibt die 1. These: Als ewige Wahrheiten sind sie ungeschaffen. Als ungeschaffen sind sie nicht willkürlich, hängen sie nicht vom göttlichen Willen ab. Nur das Geschaffene hängt vom Willenswesen der Urmonade ab. Die Ungeschaffenheit, d. h. die Teilhabe aller ewigen Wahrheiten an der Ewigkeit Gottes, muß von Leibniz eigens hervorgehoben werden, weil Des cartes es war, der die Geschaffenheit der formalen ewigen Wahrheiten der Mathematik, d. h. deren Abhängigkeit vom göttlichen Willen, gelehrt hat. Zur 2. These: Bevor in der 3. These die positive Antwort gegeben wird, wie die ewigen und notwendigen Wahrheiten von Gott abhängen, wenn sie nicht von dessen Willenswesen abhängen, wird in der 2. These hervorgeho-
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Siebentes Kapitel: Begriffsentfaltung der höchsten Substanz
ben, daß es allein die kontingenten Wahrheiten sind, die vom urmonadischen Willen abhängen. Die kontingenten Wahrheiten betreffen das kontingente monadische Sein und Seiende dieses Seins, also das Geschaffene, die Tat-Sachen. Die kontingenten Wahrheiten sind die Tatsachen-Wahrheiten. Die mit ihren Wesensbeschaffenheiten existierenden Monaden und das zu den Monaden gehörende phänomenale Seiende sind die kontingenten Wahrheiten. Sowohl die Existenz wie auch das So-und-nicht-anders-beschaffensein der einfachen Substanzen und ihres von ihnen perzipierten Seienden hängen vom Willen der göttlichen Urmonade ab. Aber das So-und-nicht-anders-beschaffensein der Monaden geht zurück auf die realen Essenzen als reinen Möglichkeiten. Diese selbst sind nichts Geschaffenes, weil sie zu den ewigen Wahrheiten gehören. Das Schaffen der göttlichen Urmonade besteht vielmehr darin, daß der göttliche Wille unter den unendlich vielen reinen Möglichkeiten (realen Essenzen) diejenigen auswählt, denen er die Existenz verleiht. Hierbei verfährt der urmonadische Wille nicht planlos, sondern nach dem Prinzip des Besten und der Angemessenheit. Gemäß dem Prinzip des Besten wählt er unter den unendlich vielen reinen Möglichkeiten diejenigen aus, die in ihrem universalen Zusammenbestehen die beste aller möglichen Weltordnungen ergeben. Das zum Prinzip des Besten gehörende Prinzip der Angemessenheit meint die universale Übereinkunft und Zusammenkunft (la convenance) unter den auszuwählenden und durch die Existenz-Gebung zu verwirklichenden Essenzen. Zur 3. These: Diese sagt nun positiv, von welchem Wesenscharakter der Urmonade die ewigen und notwendigen Wahrheiten abhängen, wenn nicht vom urmonadischen Willen. Sie hängen allein ab vom göttlichen Verstand, indem sie der innere Gegenstand des urmonadischen Verstandes sind, die Gedanken, das Gedachte des urmonadischen, göttlichen Denkens. Diese göttlichen Gedanken werden aber nicht durch einen göttlichen Willensakt erzeugt so wenig wie die Zahlen und Figuren. Nachdem im Abschnitt 46 von der monadologischen Abhängigkeit der kontingenten Tatsachenwahrheiten vom Willen der göttlichen Urmonade gehandelt wurde, wendet sich die siebente gedankliche Einheit der „Monadologie“ der schaffenden Hervorbringung der endlichen Monaden durch die unendliche Urmonade zu. Diese siebente gedankliche Einheit der „Monadologie“ durchdenken wir in unserem Achten Kapitel.
Achtes Kapitel
Die Hervorbringung der endlichen Monaden durch die Urmonade Zur Siebenten gedanklichen Einheit im Aufbau der „Monadologie“ gehören die Abschnitte 47 und 48.
§ 27 Die blitzartigen Ausstrahlungen der Gottheit Die göttliche, urmonadische Hervorbringung der endlichen Monaden und des von diesen perzipierten körperlich Seienden ist Thema des Abschnittes 47. Wir gliedern diesen Abschnitt nach vier Thesen. 1. These: Gott allein ist die ursprüngliche Einheit oder die ursprüngliche einfache Substanz. 2. These: Alle erschaffenen oder abgeleiteten Monaden sind die Hervorbringungen dieser ursprünglichen einfachen Substanz. 3. These: Alle erschaffenen Monaden erstehen gleichsam von Augenblick zu Augenblick durch ständige blitzartige Ausstrahlungen der Gottheit. 4. These: Die blitzartigen Ausstrahlungen der Gottheit sind durch die Aufnahmefähigkeit der in ihrem Wesen begrenzten Monaden beschränkt. Zur 1. These: Gott allein (Dieu seul) ist die Ursprüngliche Einheit (l’Unité Primitive) oder die ursprüngliche einfache Substanz (la substance simple originaire). In der Fünften gedanklichen Einheit (Abschnitte 37–38) wurde der letzte, der wahrhaft zureichende Grund für die Reihen der kontingenten Gründe in der notwendigen Substanz gefunden, die den Namen Gott erhielt. Anschließend wurde in der Sechsten gedanklichen Einheit (Abschnitte 39–46) der Begriff dieser göttlichen Substanz entfaltet: die Einzigkeit der notwendigen Substanz und damit Gottes; die absolute Realität und höchste Vollkommenheit Gottes; Gott als die Quelle der Existenzen und der realen Essenzen; der Nachweis der notwendigen Existenz Gottes im Ausgang von den realen Essenzen; der Nachweis der notwendigen Existzenz Gottes im Ausgang von der widerspruchslosen Möglichkeit seines Wesensbegriffes. Jetzt in der Siebenten gedanklichen Einheit wird Gott – der wahrhaft zureichende Grund für das endliche Universum – als der hervorbringende Ursprung für das Universum der entsprungenen Monaden bedacht. Deshalb spricht Leibniz in der 1. These vom Abschnitt 47 von der Unité Primitive,
204 Achtes Kapitel: Hervorbringung der endlichen Monaden durch Urmonade
von der Ursprünglichen Einheit, Gott ist die „Einheit“. Einheit ist überhaupt der Grundcharakter einer wahren Substanz. Deshalb wird die wahre Substanz von Leibniz Monade genannt. Jede Substanz ist eine unteilbare Einheit, eine Monade. Gott aber ist die ursprüngliche Einheit, die Ur-Einheit, die Ur-Monade. Gott ist die „ursprüngliche“ Einheit, die „ursprüngliche“ Monade. Das Wort ‚primitive‘ kennen wir aus dem früher behandelten Gegensatz zwischen vis primitiva und vis derivativa, zwischen der ursprünglichen Kraft und der abgeleiteten Kraft. Dieser Unterschied gehörte aber in das geschaffene Universum. Dort ist es der Unterschied zwischen der metaphysischen Kraft der endlichen Monaden und der physischen Kraft des körperlich Seienden. Dort gehörte das Wort ‚ursprünglich‘ selbst zum Geschaffenen, Endlichen, wenn auch zum geschaffenen monadischen Sein. Jetzt aber verwendet Leibniz im Abschnitt 47 das Wort ‚primitive‘ in bezug auf das „unendliche“ monadische Sein. Als „ursprüngliche“ Einheit ist Gott der ‚Ursprung‘ für alles endliche monadische Sein und phänomenale Seiende dieses Seins. Gott ist eine Einheit, nicht aber wie die endlichen Monaden eine monadologisch abgeleitete Einheit, sondern die ursprüngliche Einheit, der Ursprung aller abgeleiteten Einheiten. Für die „ursprüngliche Einheit“ sagt Leibniz in der 1. These des Abschnittes 47 auch „ursprüngliche einfache Substanz“. Alle wahren Substanzen sind einfache Substanzen in der Weise von unteilbaren Einheiten. Gott allein ist aber die „ursprüngliche“ einfache Substanz, als einfache Substanz der Ursprung für alle nichtursprünglichen, sondern entsprungenen einfachen Substanzen. Alle endlichen einfachen Substanzen sind der einen einzigen ursprünglichen einfachen Substanz entsprungen. Davon handelt die 2. These: Alle geschaffenen oder abgeleiteten Monaden sind Hervorbringungen der Ursprünglichen Monade. Die geschaffenen Monaden (Monades crées) sind Monaden, unteilbare Einheiten nur in abgeleiteter Weise. Denn sie sind nicht in sich selbst und aus sich selbst unteilbare Einheiten, sondern sie sind dies nur, weil sie geschaffen, abgeleitet sind (Monades derivatives). Sie sind abgeleitet, d. h. entsprungen aus der ursprünglichen Monade, der Ur-Monade. Wie sie aber entspringen und entsprungen sind, sagt das Wort „productions“: Hervorbringungen. Die abgeleiteten Monaden sind als Hervorbringungen das Hervorgebrachte des urmonadischen Hervorbringens. Welcher Art aber dieses urmonadische Hervorbringen ist, sagt die 3. These. Die 3. These lautet: Alle erschaffenen Monaden entstehen sozusagen durch kontinuierliche Ausblitzungen der Gottheit von Augenblick zu Augenblick. Das göttliche Hervorbringen wird als ein kontinuierliches Ausblitzen gekennzeichnet. Hier erinnern wir uns an den Abschnitt 6 aus der Ersten
§ 28 Analogie zwischen den Attributen der Urmonade und den Monaden205
gedanklichen Einheit der „Monadologie“. Dort hatte Leibniz gesagt, die Monaden können nur durch Schöpfung entstehen, und sie entstehen nur mit einem Schlag (tout d’un coup). Die Wendung „mit einem Schlag“ bezogen wir damals auf den Blitzschlag. Dieser – so sagten wir – sei das Bild für das vorzeitliche, aus der Ewigkeit sich ergebende Geschehen der göttlichen Schöpfung, die vorzeitlich, die Zeit selbst mitschaffend, geschieht. Mit einem Schlag wie der Schlag des Blitzes, weil das metaphysische Geschehen der Schöpfung nicht wie das physische Geschehen innerzeitlich, sondern vorzeitlich geschieht: mit einem Schlag, der dem gedehnten Jetzt vorzeitlich voraufgeht (im Bilde gesprochen). Jetzt im Abschnitt 47 ist vom „Blitzen der Gottheit“ die Rede. Das Blitzen ist das schlagartige Lichtwerden im Dunkel. Dieses Blitzen ist das Bild – Leibniz sagt „sozusagen“, was darauf hinweist, daß er sich der bildlichen Rede bewußt ist – für das göttliche Hervorbringen der endlichen Monaden. Allerdings spricht Leibniz vom „kontinuierlichen Blitzen“ (Fulgurations continuelles). Doch dieses „kontinuierliche“ Blitzen widerruft nicht das, was wir vom Schlagartigen des Blitzes gesagt haben. Denn das „kontinuierliche“ Blitzen meint nicht eine Kontinuität in der Zeit. Das Kontinuierliche des Blitzens heißt vielmehr: nicht ein einmaliges, sondern ein ständig sich erneuerndes schlagartiges Blitzen. Denn Leibniz denkt mit vielen anderen Denkern die Schöpfung als eine creatio continua. Die Wendung „von Augenblick zu Augenblick“ bezieht sich auf die Augenblicke der geschaffenen Zeit, sowohl der innermonadischen Zeit wie der phänomenalen Raum-Zeit. Das Geschaffene dauert von Jetzt zu Jetzt. Die Schöpfung ist das Blitzen und als solche ein ständiges schlagartiges Blitzen, damit das Geschaffene von Augenblick zu Augenblick, von Jetztphase zu Jetztphase existieren kann. Zur 4. These: Die 4. These sagt etwas über den Bezug des göttlichen Blitzens zu den Unterschieden im Reich der Monaden. Das Blitzen der Gottheit ist unterschiedlich begrenzt durch die unterschiedliche begrenzte Aufnahmefähigkeit der geschaffenen Monaden. Das will sagen: Die Unterschiede in der Begrenztheit des strebenden Perzipierens der Monaden in den verschiedenen Monadenstufen rühren her aus dem unterschiedlich begrenzten Blitzen der Urmonade.
§ 28 Die Analogie zwischen den Attributen der Urmonade und denen der endlichen Monaden Nachdem Leibniz im Abschnitt 47 den Bezug der urmonadischen Her vorbringung zu den hervorgebrachten Monaden als einen Bezug des kontinuierlichen göttlichen Blitzens gedacht hat, lenkt er im Abschnitt 48 den
206 Achtes Kapitel: Hervorbringung der endlichen Monaden durch Urmonade
Blick auf die Wesensattribute der göttlichen Urmonade und auf deren Bezug zu den Wesensattributen der hervorgebrachten Monaden. Den Abschnitt 48 gliedern wir in fünf Thesen. 1. These: In Gott ist die Macht als die Quelle von allem. 2. These: In Gott ist die Erkenntnis, die die einzelnen Ideen enthält. 3. These: In Gott ist der Wille, der die Veränderungen oder Hervorbringungen bewirkt nach dem Prinzip des Besten. 4. These: Diese drei göttlichen Wesensattribute entsprechen bei den geschaffenen Monaden 1. dem Zugrundeliegenden oder der Grundlage, 2. der Perzeptionsfähigkeit und 3. der Strebensfähigkeit. 5. These: Diese drei Wesensattribute sind in Gott absolut unendlich oder vollkommen, in den Monaden oder Entelechien aber nur Nachahmungen je nach ihrem Vollkommenheitsgrad. Zu den Thesen 1–3: Die ersten drei Thesen des Abschnittes 48 nennen die drei Wesensattribute Gottes: Macht, Erkenntnis, Wille. Die Macht (la Puissance) in Gott, die Macht der Urmonade, ist die Quelle, der Ursprung von allem außergöttlichen Sein und Seienden. Es ist die Macht der göttlichen schaffenden Hervorbringung, des göttlichen Blitzens. Ohne dieses Wesensattribut Gottes könnte es nicht zur blitzenden Hervorbringung von endlichem Sein und Seiendem kommen. Die Erkenntnis in Gott (la Connaissance) meint das Denken Gottes, den göttlichen Verstand oder die göttliche Vernunft. Von dieser wissen wir, daß sie der Ort der notwendigen und ewigen Wahrheiten ist. Die ewigen Wahrheiten sind die Gedanken Gottes, seine Ideen. Zu den göttlichen Ideen gehören die reinen Möglichkeiten der Essenzen. Aus der unendlichen Zahl der reinen Möglichkeiten hat die göttliche Urmonade diejenigen ausgewählt, denen sie in der Erschaffung des Universums die Existenz verleiht – in der Weise des Blitzens. Der Wille in Gott (la Volonté), ist im Unterschied zur Macht in Gott nicht das hervorbringende Vermögen selbst. Der Wille ist vielmehr das Vermögen der Wahl und des Entscheidens zwischen diesem und jenem. Der göttliche Wille wählt zwischen den zu verwirklichenden reinen Möglichkeiten oder realen Essenzen nach dem Prinzip des Besten. Er wählt diejenigen realen Essenzen aus, die in ihrem wechselseitigen Zusammenbestehen den besten aller möglichen Weltzusammenhänge bilden: die beste aller möglichen Welten. Zur 4. These: Weil die Monaden Hervorbringungen der göttlichen Urmonade sind, der Urmonade mit ihren drei Wesensattributen, gibt es in den hervorgebrachten Monaden Entsprechungen zu den drei Wesensattributen der Urmonade. Die im Blitzen hervorgebrachten Monaden zeigen in ihrem substanziellen Wesen Entsprechungen zu den göttlichen Wesensattributen. Die göttliche Macht hat in den hervorgebrachten Monaden ihre Entsprechung in dem, was Leibniz le Sujêt ou la Base nennt, das Zugrundeliegen-
§ 28 Analogie zwischen den Attributen der Urmonade und den Monaden207
de oder die Grundlage. Gemeint ist das zugrundeliegende substanzielle Sein des phänomenalen Seienden, das diesem Seienden als das Sein zugrundeliegt. Aber das substanzielle Sein oder Wesen ist ein Kraftzentrum. Dieses Kraftzentrum als das substanzielle Wesen der endlichen Monaden ist die endliche Entsprechung zur unendlichen Macht der göttlichen Urmonade. Die göttliche Erkenntnis hat in den hervorgebrachten Monaden ihre Entsprechung in der Fähigkeit des Perzipierens. Diese Perzeptionsfähigkeit ist in den verschiedenen Stufen des monadischen Seins unterschiedlich begrenzt. Aber in jeder Monade ist es begrenzt und also endlich. Diese endliche Perzeptionsfähigkeit der Monaden ist die endliche Entsprechung zur unendlichen Erkenntnis der Urmonade. Der göttliche, urmonadische Wille hat in den hervorgebrachten Monaden seine Ensprechung in der Fähigkeit des Strebens (Faculté Appetitive). Diese endliche Strebensfähigkeit der Monaden ist die endliche Entsprechung zum unendlichen Willen der Urmonade. Zur 5. These: Deshalb heißt es in der 5. These, die drei Wesensattribute seien in der Urmonade absolut unendlich oder vollkommen, aber in den Monaden oder Entelechien nur Nachahmungen je nach dem Vollkommenheitsgrad der Monaden. „Monaden oder Entelechien“ sagt Leibniz, weil jede endliche Monade in ihrem substanziellen Wesen Entelechie ist, ein substanzielles Wesen in der Weise der Selbstentfaltung. Nur die Urmonade ist keine Entelechie, weil sie absolut vollkommen ist und nicht ein sich selbst vervollkommnendes Wesen. Als Nachahmungen der unendlichen Wesensattribute sind die Wesensattribute der endlichen Monaden endlich, beschränkt. Aber die Nachahmungen der urmonadischen Attribute in den Monaden sind nicht unterschiedlos, sondern unterschiedliche Vollkommenheitsgrade der Monaden werden von Leibniz als unterschiedliche Grade in der Nachahmung der göttlichen Wesensattribute begriffen.
Neuntes Kapitel
Der zwischenmonadische Bezug als der ideale Einfluß. Der Weltbezug der Monaden als der lebendige Spiegel des Universums. Die Praestabilierte Harmonie zwischen Seele und organischem Körper, zwischen dem Reich der Zweckursachen und dem Reich der Wirkursachen Dieses Kapitel wendet sich drei herausragenden Themen der „Monadologie“ zu, die sich auf die achte, neunte und vierzehnte Gedankliche Einheit verteilen. Im unmittelbaren Anschluß an die von uns behandelte siebente Gedankliche Einheit: die Hervorbringung der endlichen Monaden durch die Urmonade, bedenkt Leibniz in der Achten Einheit das Verhältnis der endlichen Monaden untereinander und bestimmt dieses Verhältnis als den idealen Einfluß unter Ausschließung eines realen, physischen Einflusses. Daran unmittelbar anschließend wendet sich Leibniz in der Neunten Einheit der Hervorbringung des Weltganzen nach dem Prinzip des Besten zu. In diesem Weltganzen spiegelt eine jede einfache Substanz die Gesamtheit aller anderen. Hier denkt Leibniz die Monade als einen lebendigen immerwährenden Spiegel des Universums. In der Vierzehnten Gedanklichen Einheit stellt Leibniz seine Lehre von der praestabilierten Harmonie dar als eine solche zwischen Körper und Seele, zwischen dem Reich der Wirkursachen und dem Reich der Zweckursachen. Jedes dieser drei großen Themen der Leibnizschen Monadologie, das Thema des idealen Einflusses, des lebendigen Spiegels des Universums und der praestabilierten Harmonie, werden in je einem Paragraphen behandelt.
§ 29 Der ideale Einfluß der Monaden untereinander Dieses Thema wird in den Abschnitten 49–52 in der „Monadologie“ behandelt. Um den monadologischen Gedanken vom bloß idealen Einfluß der Monaden untereinander in rechter Weise zu verstehen, müssen wir zurück-
§ 29 Der ideale Einfluß der Monaden untereinander209
gehen auf den Abschnitt 7 der „Monadologie“, der von der Fensterlosigkeit der Monaden handelte. Da jede Monade eine unteilbare Einheit ist, kann keine Monade durch eine andere in ihrem Inneren, in ihrem substanziellen Wesen, in ihrem strebend-vorstellenden Wesen, beeinflußt oder verändert werden. Nichts kann von einer Monade in eine andere übertragen werden. Keine ihrer inneren Veränderungen kann von einer anderen Monade hervorgerufen, geleitet, vermehrt oder vermindert werden. Die Monaden haben keine Fenster, durch die etwas von einer anderen Monade in sie hereinoder aus ihnen in eine andere hinaustreten kann. Alle Bewegung, alle Veränderung in einer Monade hat ihr Veränderungsprinzip als Kraftzentrum in sich selbst. Jede Monade ist ein völlig selbständiges Zentrum ursprünglicher Kraft, die in sich appetitiver und perzeptiver Natur ist. Als wir diesen Gedanken von der Fensterlosigkeit durchdachten, wiesen wir darauf hin, daß an einem späteren Ort der „Monadologie“ trotz der Fensterlosigkeit der Monaden ein innerer Zusammenhang zwischen allen Monaden aufgezeigt werde. Dieser spätere Ort ist die Achte gedankliche Einheit, sind die zu ihr gehörenden Abschnitte 49–52. Was mit der Herausstellung der Fensterlosigkeit der Monaden abgewiesen werden sollte, war das, was Leibniz jetzt im Abschnitt 51 den physischen Einfluß der Monaden untereinander nennt. Dieser physische Einfluß meint einen Wechselaustausch zwischen den existierenden Monaden. Dieser physische Einfluß untereinander würde ihren monadischen, ihren streng gedachten Einheitscharakter in Frage stellen. Weil für Leibniz die unteilbare Einheit eine conditio sine qua non für eine wahre Substanz ist, stellte er in der „Monadologie“ diesen Einhalts-, diesen Unteilbarkeitscharakter der Monaden an den Anfang. Aber der Ausschluß des physischen Einflusses der Monaden untereinander soll nicht dazu führen, daß die Monaden in völliger Zusammenhanglosigkeit bestehen. Den innermonadischen Zusammenhang faßt Leibniz im Begriff des idealen Einflusses. Was der ideale Einfluß ist in Absetzung gegen den physischen Einfluß, sagt uns vor allem der Abschnitt 51, der unter den Abschnitten der Achten Gedanklichen Einheit der entscheidende ist. Im Abschnitt 51 sagt Leibniz: „Aber bei den einfachen Substanzen gibt es nur einen idealen Einfluß einer Monade auf eine andere (une influence idéale)“. Gegen Ende dieses Abschnittes heißt es, daß eine geschaffene Monade keinen physischen Einfluß (une influence physique) auf das Innere einer anderen Monade nehmen könne. Einen physischen Einfluß gibt es nur zwischen den phänomenalen Körpern. Ein Körper wirkt auf den anderen, überträgt eine Bewegung auf den anderen. Aber so, wie ein Körper einen anderen in Bewegung setzen oder verändern kann, so kann keine Monade auf eine andere Monade unmittelbar wirken und diese irgendwie verändern.
210 Neuntes Kapitel: Der zwischenmonadische Bezug als der ideale Einfluß
Die Unmöglichkeit des physischen Einflusses schließt aber nicht eine Isolierung aller Monaden voneinander ein. Vielmehr stehen alle Monaden in einem inneren Zusammenhang, und dieser ist der ideale Einfluß. Was aber der „ideale Einfluß“ besagt, erfahren wir ebenfalls aus dem Abschnitt 51. Der ideale Einfluß werde nur wirksam durch Vermittlung Gottes (par l’ intervention de Dieu). Inwiefern? In den Ideen Gottes, der Urmonade, verlange jede Monade, daß Gott im schaffenden Regeln der anderen Monaden vom Anfang der Sachen an (des choses) auf sie Rücksicht genommen habe. Das Ideale des idealen Einflusses bezieht sich somit auf die Ideen Gottes. Diese Ideen sind aber die reinen Möglichkeiten und als solche die realen Essenzen der durch die Schöpfung zu verwirklichenden einfachen Substanzen. Die Schöpfung besteht in der Wahl unter den unendlich vielen reinen Möglichkeiten und in der regelnden Anpassung einer jeden zu verwirklichenden Monade an alle anderen Monaden. Diese wechselseitige Rücksichtnahme, diese monadologische Regelung der Monaden untereinander durch Anpassung aller an alle, ist die schaffende Vermittlung des idealen, aus den Ideen Gottes sich ergebenden Einflusses der Monaden untereinander. Dieser ideale Einfluß ist kein physischer, kein nachträglicher Einfluß, sondern eine wechselseitige Einflußnahme der zu schaffenden Monaden, der Monaden in ihrem Geschaffenwerden. Durch diese ideale, aus den Schöpfungsideen Gottes sich ergebende Angepaßtheit einer jeden Monade an alle anderen besteht ein idealer Einfluß, eine ideale Abhängigkeit (dependance) der Monaden untereinander. Die Bildung des idealen Einflusses der Monaden untereinander gehört wesentlich zur Schöpfungshandlung und ist nichts, was sich erst im nachhinein von geschaffener Monade zu geschaffener Monade ergibt. Dieser zur urmonadischen Hervorbringung gehörende ideale Einfluß ist der einzige Weg, auf dem eine Monade von den anderen Monaden abhängig ist. Diese nicht physische, wohl aber ideale Abhängigkeit einer Monade von einer anderen zeigt sich in der Wechselseitigkeit des Handelnden und Leidenden in den strebenden Perzeptionen. Die Rede vom Handelnden und vom Leidenden läßt uns zurückdenken an die Kennzeichnung des substanziellen Wesens als einer ursprünglichen Kraft, die sowohl aktiv wie passiv ist (vis primitiva activa et passiva). In einer Monade wird dasjenige als aktiv bezeichnet, was der Grund für ein Geschehen in einer anderen Monade ist. Aber dieses Grundsein-für geht zurück auf die schaffende Einrichtung des Monadenreichs. Umgekehrt wird das in einer Monade Geschehende als passiv bezeichnet, wofür der Grund in einer anderen Monade liegt. Aber auch hier besteht das Grundsein-für in jenem idealen Einfluß, der zurückgeht auf die göttliche, urmonadische Einrichtung des Universums der Monaden.
§ 30 Die Monaden als lebendige Spiegel des Universums211
§ 30 Die Monaden als lebendige Spiegel des Universums In der unmittelbar anschließenden, in der Neunten Gedanklichen Einheit geht es um die Erschaffung des wirklichen Weltganzen nach dem Prinzip des Besten. In dieser besten aller möglichen Welten spiegelt jede einfache Substanz die Gesamtheit aller anderen Substanzen, so daß alle Monaden in einer universellen Harmonie stehen. Die Neunte Gedankliche Einheit umgreift die Abschnitte 53–60 der „Monadologie“. Leibniz setzt ein bei den Ideen, den Gedanken Gottes. In den Ideen Gottes gibt es eine Unendlichkeit von möglichen Welten (une infinité d’univers possibles). Die Ideen Gottes enthalten die Möglichkeit von unendlich vielen Welten, d. h. von unendlich vielen wählbaren Zusammenhängen der realen Essenzen und ihrer Verwirklichung durch die Existenzsetzung. Aber von diesen unendlich vielen möglichen Welten kann nur eine einzige verwirklicht, in die existentia überführt werden. Wie kommt es nun zur Wahl dieser einen, einzigen Welt unter den unendlich vielen möglichen Welten? Es muß für die urmonadische Wahl zwischen den unendlich vielen möglichen Universen einen Grund, einen zureichenden Grund, geben. Dieser zureichende Grund muß die urmonadische Wahl dazu bestimmt haben, diese eine mögliche Welt mehr als eine andere mögliche Welt zu wählen. Welches ist der Bestimmungsgrund dafür, daß die göttliche Urmonade unter den unendlich vielen Möglichkeiten von Weltzusammenhängen gerade diese eine Möglichkeit gewählt hat? Welches ist der motivierende Grund dafür, daß die Urmonade sich für diese eine Möglichkeit und damit gegen alle anderen Möglichkeiten entschieden hat? Der Abschnitt 54 nennt diesen Bestimmungsgrund. Der zureichende Grund für die urmonadische Wahl zwischen den unendlich vielen Möglichkeiten von Weltzusammenhängen liegt in der Angemessenheit (convenance) oder in den Graden der Vollkommenheit, die diese unendlich vielen möglichen Welten enthalten. Jedes Mögliche, jede dieser möglichen Welten hat gemäß der in ihr enthaltenen Vollkommenheit das Recht, die Existenz, also Verwirklichung zu beanspruchen. Damit ist gesagt: daß jede der unendlich vielen möglichen Welten einen unterschiedlichen Vollkommenheitsgrad in sich trägt. Also ist die Wahl der Urmonade unter den unendlich vielen möglichen Weltzusammenhängen von dem höchsten Vollkommenheitsgrad geleitet, den eine der möglichen Welten in sich einschließt. Dabei ist aber zu betonen, daß es hier nicht etwa um die höchste Vollkommenheit geht, die die Urmonade selbst als einzige notwendige Substanz kennzeichnet. Vielmehr geht es jetzt um die höchste Vollkommenheit, die ein Kontingentes zu kennzeichnen vermag. Der höchste Vollkommenheitsgrad der auszuwählenden möglichen Welt und der zu verwirklichenden Welt
212 Neuntes Kapitel: Der zwischenmonadische Bezug als der ideale Einfluß
ist nicht die höchste Vollkommenheit Gottes, sondern der höchste Vollkommenheitsgrad des von ihm Hervorgebrachten. Daß der zureichende Grund für die Wahl Gottes angesichts der unendlich vielen möglichen Welten im Prinzip des Vollkommenheitsgrades liegt, ist die Ursache für die Existenz des Besten, der besten aller möglichen Welten, wie Leibniz dann im Abschnitt 55 sagt. An der Schöpfung der besten aller möglichen Welten haben die drei Wesensattribute der Urmonade teil: die Erkenntnis als Weisheit, die Güte als Wille und die Macht. Die Weisheit (Erkenntnis) Gottes (la Sagesse) läßt die Urmonade unter den unendlich vielen möglichen Welten die beste, d. h. die mit dem höchsten Vollkommenheitsgrad innerhalb des Endlichen, erkennen. Gott erkennt unter seinen Schöpfungsideen die beste aller möglichen Welten. Aber diese Erkenntnis ist selbst noch nicht die Wahl. Nicht die Weisheit, nicht die Allwissenheit Gottes, sondern seine Güte (bonté), die Allgüte, ist es, die ihn die als vollkommenste erkannte Welt aus den unendlich vielen anderen Welten auswählen läßt. Die urmonadische Allgüte läßt Gott die vollkommenste unter allen möglichen Welten für die Erschaffung wählen, ohne daß diese Wahl selbst schon der Akt der Hervorbringung ins Wirklichsein wäre. Die Verwirklichung der als beste erkannten und gewählten möglichen Welt, ihre Hervorbringung in die Existenz, ist der Vollzug der Macht (puissance), der urmonadischen Allmacht. Die urmonadische Allmacht ist es, die die Urmonade als die beste erkannte und als beste auch ausgewählte mögliche Welt erschaffen hat. Das Erschaffen im engeren Sinne ist die Hervorbringung der möglichen Welt in die Existenz – der möglichen Welt, die vor ihrer Verwirklichung möglich ist in den zu ihr gehörenden reinen Möglichkeiten oder realen Essenzen. Im Abschnitt 56 kommt es zu der berühmt gewordenen Kennzeichnung einer jeden Monade als eines lebendigen Spiegels des Universums oder der Welt. Inwiefern? Woraus resultiert dieser Charakter der Monaden? Welche Bedeutung hat diese Kennzeichnung der Monaden, jeweils ein Spiegel der Welt zu sein? Die erkennende Umschau der urmonadischen Weisheit unter den urmonadischen Ideen, die erkennende Ausschau nach jener Verbindung der reinen Möglichkeiten, die den höchsten Vollkommenheitsgrad einschließt, besteht in der urmonadischen Verbindung (liaison) und Anpassung (accommodement) aller zu erschaffenden Monaden an jede einzelne und jeder einzelnen an alle anderen. Dieser Leibnizsche Grundgedanke ist uns schon aus der Siebenten Gedanklichen Einheit (Abschnitt 51) vertraut. Diese wechselseitige Anpassung der einfachen Substanzen führt, wie wir jetzt wissen, zum idealen Einfluß der Monaden untereinander.
§ 30 Die Monaden als lebendige Spiegel des Universums213
Nun aber sagt Leibniz: Die wechselseitige Anpassung aller zu schaffenden Monaden habe zur Folge, „daß jede einfache Substanz Beziehungen (rapports) enthält, die alle anderen, einfachen Substanzen ausdrücken (exprimer)“. Jede einzelne einfache Substanz enthält in sich, in ihrem strebenden Perzipieren, Beziehungen zu allen anderen Monaden außerhalb ihrer selbst. Die universellen Beziehungen sind in jede Monade durch die universelle Anpassung aller Monaden an alle hineingeschaffen. Aber in diesen universellen Beziehungen zu allen anderen Monaden bleibt jede Monade in sich selbst. Sie transzendiert nur in ihrer eigenen monadischen Immanenz, in die diese immanente Transzendenz hineingeschaffen ist. Exprimer – ausdrücken, zum Ausdruck bringen. In diesen innermonadischen Beziehungen zu allen anderen Monaden wird die Gesamtheit aller anderen Monaden strebend-perzipierend zum Ausdruck gebracht. Das exprimer nennt das innermonadische perzeptive Darstellen der Gesamtheit aller anderen Monaden außerhalb der je eigenen monadischen Innerlichkeit. Jede Monade drückt in sich, in ihrem substanziellen Wesen, in ihrem strebenden Perzipieren, die Gesamtheit aller anderen Monaden auf eine gewisse Weise aus, ohne selbst diese anderen Monaden zu sein. Jene Wesensverfaßtheit einer Monade, wonach sie Beziehungen enthält, in denen sie alle anderen Monaden zum Ausdruck bringt – diese Verfaßtheit ihres substanziellen Wesens läßt eine jede Monade einen lebendigen, immerwährenden Spiegel des Universums sein (un miroir vivant perpetuel de l’univers). Jede geschaffene einfache Substanz ist ein Spiegel insofern, als sie durch ihre Beziehungen zu allen anderen Monaden in sich selbst vorstellend dasjenige spiegelt, was als Gesamtheit aller anderen Monaden außerhalb ihrer ist. Dieser monadische Spiegel ist ein „lebendiger“, weil er strebend-vorstellend ist. Er ist ein lebendiger und kein lebloser Spiegel. Für gewöhnlich gehört ein Spiegel zum leblosen Seienden: sowohl ein natürlicher Spiegel wie die Wasseroberfläche eines Sees, als auch der künstlich hergestellte Spiegel. Die natürlichen und die künstlichen Spiegel gehören zum körperlich Seienden, das als das Körperliche selbst nicht perzipiert und daher nicht ‚lebendig‘ ist. Dagegen sind die Monaden lebendige, weil strebend-perzipierende Spiegel, die in sich das Universum der Monaden vorstellend spiegeln, sofern sie in sich perzeptive Beziehungen zu allen anderen Monaden einschließen. Als lebendige Spiegel sind die Monaden „immerwährende“ Spiegel, weil sie – wie die Abschnitte 4 und 5 der „Monadologie“ gesagt haben – nicht wie die Körper vergehen oder entstehen. Was bedeutet nun dieser Spiegelcharakter einer jeden Monade? Jede Monade spiegelt als Spiegel nicht irgendetwas, sondern das Universum aller
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anderen Monaden. Um es daher mit einem Wort zu sagen: Der Spiegelcharakter der Monaden nennt ihren monadologischen, d. h. ihren ontologischen Weltbezug. Jede Monade ist nicht nur sie selbst mit ihrem substanziellen Wesen, sondern jede Monade schließt in ihrem individuellen Wesen ihren individuellen Weltbezug ein. Dieser Weltbezug ist mitkonstitutiv für jede Monade in ihrem individuellen Wesen. Der Weltbezug der Monaden besteht nicht etwa nur darin, daß jede Monade im Ganzen der Monaden vorkommt. Das wäre nur ein äußerlicher Bezug. Leibniz denkt aber den Weltbezug einer jeden Monade aus der Innerlichkeit der Monaden. Der Weltbezug gehört zu den Wesensbeschaffenheiten einer jeden Monade. In ihren individuellen Wesensbeschaffenheiten, in ihrem individuellen strebenden Perzipieren, liegt der individuelle Weltbezug einer jeden Monade beschlossen. Im Abschnitt 57 vergleicht Leibniz die Weise, in der eine jede Monade das Universum, die Gesamtheit der Monaden, in sich spiegelt, mit der Vielfalt der Perspektiven, in denen ein und dieselbe Stadt von einem Menschen, der außerhalb der Stadt um diese herumgeht, betrachtet werden kann. An jedem neu eingenommenen Standort bietet sich ihm die Stadt von einer anderen Seite dar. Es ist das Phänomen, das Husserl die abschattungsmäßige Gegebenheit eines Raumdinges nennt. In diesem Sinne ist auch die Stadt als ganze ein Raumding, um das ich herumgehen kann. Aus jedem neuen Standort zeigt sich mir dieselbe Stadt, aber jeweils in einer neuen, abgewandelten Weise. Sie zeigt sich mir von einer anderen Seite und in einer anderen Perspektive. Ein und dieselbe Stadt zeigt sich mir in einer perspektivischen Vielfalt, wie Leibniz sagt. Wichtig ist hierbei zu beachten, daß es immer ein und dieselbe Stadt ist und daß diese aus jedem veränderten Standort des Betrachters in einer veränderten Perspektive erscheint. Es gibt nicht zwei Perspektiven, in denen dieselbe Stadt in ununterschiedener Weise mir erschiene. Der von Leibniz vorgenommene Vergleich sieht nun so aus: So wie ein und dieselbe Stadt aus den zahllos einnehmbaren Standorten in zahllos unterschiedlichen Perspektiven erscheint, so spiegelt sich ein und dasselbe Universum der Monaden in jeder einzelnen Monade aus diesem Universum auf eine einmalige, individuelle Weise. Damit ist gesagt: Der Weltbezug ist in keiner der zahllosen Monaden gleich, sondern jede individuelle einfache Substanz hat ihren individuellen Weltbezug, der sich in dieser Weise in keiner anderen Monade wiederholt. Die Art und Weise, wie eine Monade das Universum der Monaden in sich spiegelt, gehört zu ihrer monadischen Individualität, von der die zweite Gedankliche Einheit der „Monadologie“ gehandelt hat. Leibniz sagt, es gebe ebenso viele verschiedene Welten wie es einfache Substanzen gibt. Das soll heißen: Eine jede einfache Substanz ist eine Welt,
§ 30 Die Monaden als lebendige Spiegel des Universums215
ein Universum, aber wie? Nur so, daß jede einfache Substanz in ihren substanziellen Beschaffenheiten das Universum auf eine einmalige Weise spiegelt. Jede Monade ist nur so eine individuelle Welt, daß sie eine individuelle Perspektive der einen, einzigen Welt ist, eine Welt im Kleinen, ein Mikrokosmos. Jede einzelne Monade ist nur in dem Sinne eine individuelle Welt, daß sie ein individueller Spiegel der einen und einzigen Welt ist. In jeder Monade spiegelt sich die Welt der Monaden auf eine individuelle Weise. Jede Monade ist deshalb ein individueller Gesichtspunkt (point de veüe), unter dem sich das Monadenall spiegelt. Zur Individualität einer jeden Monade gehört nicht nur ein individuelles substanzielles Wesen, sondern zugleich mit diesem Wesen auch der individuelle Weltbezug. Dieser individuelle Weltbezug einer jeden Monade, durch das Stufenreich der Monaden hindurch, nennt die individuelle Weise, in der die Monade in sich das Universum der einfachen Substanzen spiegelt. In der Weise, wie sie die Welt der Monaden spiegelt, unterhält sie zu dieser Welt, d. h. zu allen Monaden, Beziehungen. Diese Beziehungen haben aber nicht den Charakter eines physischen, sondern ideellen Einflusses. Im Abschnitt 58 sagt Leibniz, wie es in der einen, einzigen Welt der Monaden und phänomenalen Körper zur größtmöglichen Vollkommenheit kommt. Die größtmögliche Vollkommenheit der kontingenten Welt bedeutet, daß sie die beste aller möglichen Welten ist. Ihre größtmögliche Vollkommenheit resultiert aber aus zweierlei: 1. aus der größtmöglichen Mannigfaltigkeit und 2. aus der größtmöglichen Ordnung. Die größtmögliche Mannigfaltigkeit ergibt sich daraus, daß keine der Monaden eine Wiederholung einer anderen ist. Jede Monade ist eine unwiederholbare Individualität. Aber diese unendlich vielen individuellen Monaden bilden nicht eine bloße Anhäufung. Vielmehr stehen alle Monaden mit allen anderen untereinander in einer Verbindung, und zwar so, daß jede Monade auf eine einmalige Weise das All der Monaden in sich spiegelt. Die größtmögliche Ordnung unter den Monaden besteht in dieser wechselseitigen Verbindung und Anpassung. Im Abschnitt 59 heißt es im Blick auf die größtmögliche Vollkommenheit der kontingenten Welt, sie stelle die Größe Gottes in das rechte Licht. Zwischen allen Monaden waltet eine universelle Harmonie. Dadurch, daß jede einfache Substanz alle anderen in sich ausdrückt durch die von ihr zu allen anderen Monaden unterhaltenen Beziehungen, stehen sie alle in einer universellen Harmonie. Der Garant dieser Harmonie ist die Urmonade und die von ihr im Schöpfungsakt vorgenommene Anpassung einer jeden Monade an alle anderen Monaden. Aus dem Abschnitt 60 erfahren wir Näheres über die unterschiedliche Art, in der eine jede Monade auf Grund ihrer Beziehungen nicht nur ihren eigenen phänomenalen Körper, sondern mit diesem auch das Ganze der phäno-
216 Neuntes Kapitel: Der zwischenmonadische Bezug als der ideale Einfluß
menalen Körper repräsentiert, vorstellt, perzipiert. In Anknüpfung an die Ausführung im Abschnitt 56 (wonach eine jede Monade allen anderen angepaßt ist) heißt es jetzt: Bei der schaffenden Ordnung des Ganzen habe die Urmonade auf jeden einzelnen Teil (in der Körperwelt) und insbesondere auf jede einzelne Monade Rücksicht genommen. Leibniz unterstreicht noch einmal, daß jede Monade von Natur aus ein repräsentierendes, vorstellendes Sein ist. Die schaffende Rücksichtnahme auf jede einzelne Monade hat sich aber manifestiert in diesem repräsentierenden, vorstellenden Wesen der Monade. Wenn nun jede individuelle Monade an die Gesamtheit der Monaden angepaßt ist und diese Gesamtheit in sich spiegelt, dann wird auch einsichtig, daß keine die Gesamtheit der Monaden in sich spiegelnde Monade nur einen Teil aus der phänomenalen Körperwelt vorstellt. Vielmehr resultiert aus dem Spiegelcharakter jeder Monade, daß sie in ihrem perzeptiven Wesen die Körperwelt im Ganzen perzipierend vorstellt. Wie aber stellt die Monade in sich nicht nur ihren eigenen Körper, sondern die Körperwelt im Ganzen vor? Darauf antwortet Leibniz: Keine der Monaden repräsentiert in sich die Körperwelt in einer deutlichen, sondern nur in einer verworrenen Weise. Deutlich stellt die Monade nur einen geringen Teil der Körperwelt vor – diejenigen Körper, die der Monade am nächsten sind. Ihr nächster Körper ist ihr eigener Körper, derjenige, dessen monadisches Sein sie ist. Aber alles aus der Körperwelt, die die Monade nicht deutlich vorstellt, stellt sie verworren vor. Leibniz fügt hinzu: Wenn es in der Monade nicht die verworrenen Vorstellungen von der Körperwelt gäbe, – wenn es in ihr nur deutliche Vorstellungen gäbe, dann wäre jede Monade eine Gottheit, ein völlig unbeschränktes Perzipieren. Worin bestehen also die Schranken der kontingenten Monaden? In welcher Hinsicht sind sie beschränkt? Die kontingenten Monaden sind nicht beschränkt in der Reichweite ihres perzipierenden Vorstellens, sondern nur in den unterschiedlichen Deutlichkeitsgraden ihres Vorstellens. Jede Monade, auch die der anorganischen Körper, unterhält in sich einen Weltbezug zum All der Monaden, auf Grund dessen die Monade nicht nur ihren eigenen Körper, sondern in verworrener Weise und in unterschiedlichen Abstufungen die Welt der Körper im Ganzen vorstellt. Die Schranken, die jeder kontingenten Monade eigentümlich sind, liegen nicht in der Reichweite, sondern in den unterschiedlichen Deutlichkeitsgraden, in denen die Monaden auf unterschiedliche Weise die Körperwelt repräsentieren. Verworren reichen alle Monaden in ihrem Vorstellen ins Unendliche der Körperwelt. Begrenzt und voneinander verschieden sind die Monaden durch die Deutlichkeitsgrade ihrer Perzeptionen. Aber in diesen Perzeptionen stellen sie nicht nur ihr Körperliches, sondern mit diesem in verworrener Weise die
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Körperwelt im Ganzen vor. Inwiefern? Insofern, als im perzeptiven Wesen einer jeden Monade ihr monadischer Weltbezug beschlossen liegt. Der Weltbezug einer jeden Monade ist, wie sich jetzt zeigt, streng genommen ein in sich zwiefacher. Denn Welt meint zum einen die Welt der Monaden und zum anderen die Welt der Körper. Jede Monade steht in einem Bezug zu allen anderen Monaden und damit zugleich in einem Bezug zur Körperwelt im Ganzen, die die phänomenale Körperwelt der Monadenwelt ist. In ihrem substanziellen Wesen unterhält sie durch die göttliche Anpassung Beziehungen zu allen anderen Monaden. In der Weise, wie sie das All der Monaden in sich ausdrückt, stellt sie in ihrem perzeptiven Wesen die ganze Welt der Körper vor, wenn auch in verworrener Weise.
§ 31 Die Praestabilierte Harmonie zwischen Seele und organischem Körper, zwischen dem Reich der Zweckursachen und dem Reich der Wirkursachen Wir wenden uns nunmehr der Vierzehnten Gedanklichen Einheit der „Monadologie“ zu, die die Abschnitte 78 bis 81 umfaßt. In diesen Abschnitten behandelt Leibniz seine berühmteste Lehre von der Praestabilierten Harmonie. Worum es vor allem in der Praestabilierten Harmonie geht, d. h. welche monadologische Frage durch die Lehre von der Praestabilierten Harmonie ihre Antwort erhält, sagt Leibniz zu Beginn des Abschnittes 78. Es geht um die Frage nach der Vereinigung (l’union) bzw. nach der Übereinstimmung (conformité) der Seele mit dem organischen Körper. Der organische Körper ist der in Organen organisierte Körper der Lebewesen, der nicht-menschlichen und der menschlichen Lebewesen. Die Seele aber, nach deren Übereinstimmung mit ihrem organischen Körper gefragt wird, ist die einfache Substanz, das monadische Sein des organischen Körpers. Seelen-Monade ist hier in der engeren Bedeutung gemeint, nicht in der weiten, nach der jede Monade eine Seele ist, sondern in der engeren Bedeutung, wonach der Seele sinnliche Empfindung, Gedächtnis und in der menschlichen Seele das Denken eignet. Leibniz geht also für die Darstellung seiner monadologischen Lehre der Praestabilierten Harmonie aus von der Frage nach der Konformität der Seelenmonade mit ihrem organischen Körper. Aber er bleibt nicht dabei stehen. Denn er geht dazu über, die erfragte Konformität nicht nur zwischen den Seelen im engeren Sinne und ihren organischen Körpern, sondern zwischen allen monadischen Substanzen und ihren phänomenalen Körpern als Praestabilierte Harmonie zu fassen. Die Vereinigung (l’union) der Seele mit ihrem organischen Körper – kaum hat Leibniz das Wort von der Vereinigung ausgesprochen, verbessert
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er sich sogleich und sagt: Übereinstimmung (la conformité). Dieses Wort trifft deshalb besser den erfragten Sachverhalt, weil das Wort „Vereinigung“ die Meinung nahelegen könnte, Seele und Körper könnten ineinander übergehen und in dieser Weise eine Vereinigung bilden. Doch dieser unmittelbare Einfluß der Seele auf ihren Körper und des Körpers auf seine Seele soll abgewehrt werden. Zwar sind Seele und Körper nicht beziehungslos zueinander. Aber es handelt sich um eine Beziehung, in der nicht das eine Beziehungsglied unmittelbar in das andere hineinwirkt und hineinhandelt. Es handelt sich um eine Beziehung, in der beide Beziehungsglieder in einer Konformität, Übereinstimmung, stehen. Diese Übereinstimmung, in der die Übereinstimmenden nicht direkt aufeinander und ineinander wirken, denkt Leibniz in dem, was er die Praestabilierte Harmonie nennt. Der Bezug zwischen der Seele und ihrem organischen Körper ist der Bezug des monadischen Seins zum phänomenalen Seienden. Die Seele ist das Sein des organischen Körpers als des Seienden. Wenn wir uns das von vornherein vor Augen halten, dann zeigt sich uns die Frage nach der Konformität und Übereinstimmung von Seele und organischem Körper als Frage nach der Konformität des monadischen Seins und des phänomenalen Seienden. Zwar ist die Seelenmonade das substanzielle Sein des organischen Seienden. Das bedeutet aber nicht, daß die Seelenmonade auf die gleiche Weise ist wie ihr organischer Körper. Vielmehr ist die Seelenmonade als das substanzielle Sein des seienden Körpers unterschieden von diesem seienden Körper. Das monadische Sein ist nicht in der gleichen Weise wie sein Seiendes ist. Sonst wäre das monadische Sein wie das Seiende. Es würde sich nicht vom Seienden, dessen Sein es ist, unterscheiden. Daher bedarf es einer Beachtung des metaphysischen Unterschiedes von monadischem Sein und monadisch gegründetem Seienden. Deshalb kann Leibniz im Abschnitt 78 sagen: Die Seele folgt ihren eigenen Gesetzen (ses propres loix), und ebenso folgt der organische Körper seinen Gesetzen (les siennes). Im monadischen Sein herrschen andere Verhältnisse als im körperlich Seienden jenes Seins. Die Andersheit dieser Verhältnisse in den einfachen Substanzen und in den teilbaren Körpern ist uns seit der Ersten Gedanklichen Einheit der „Monadologie“ vertraut. Immer wieder stießen wir auf diesen Unterschied, insbesondere auf den Unterschied zwischen den körperlichen Bewegungen der teilbaren Körper und den innermonadischen Veränderungen der unteilbaren Monaden. Im monadischen Sein herrschen andere Gesetze als im körperlich Seienden. Wären es dieselben Gesetze, gäbe es keinen Unterschied von Sein und Seiendem. Entweder es gäbe nur die Gesetze der Seele und damit nur monadisches Sein ohne Seiendes. Oder es gäbe nur die Gesetze des Körpers und damit
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nur körperlich Seiendes ohne Sein. Die Seele folgt ihren eigenen Gesetzen, weil es die Gesetze des substanziellen Seins sind. Ebenso folgen die organischen Körper ihren eigenen Gesetzen, weil es die Gesetze der raum-zeitlich-materiellen Körper sind. Schon im Abschnitt 79 nennt Leibniz die unterschiedlichen Gesetze beim Namen. Die Seelenmonaden folgen den Gesetzen der Zweckursachen. Die materiellen organischen Körper folgen den Gesetzen der Wirkursachen. Beide unterschiedlichen Gesetzesarten sind uns seit der Erörterung des Vernunftprinzips vom zureichenden Grund vertraut. Wenn also Leibniz im Abschnitt 78 sagt, die Seele folge ihren eigenen Gesetzen, die nicht die Gesetze des organischen Körpers sind, und ferner, der Körper folge seinen eigenen Gesetzen, die nicht die Gesetze der monadischen Seele sind, dann denkt er an die Gesetze der Zweckursachen und an die Gesetze der Wirkursachen. Obwohl Seele und Körper je eigenen Gesetzen folgen, treffen Seele und Körper dennoch zusammen und stehen in einer Übereinstimmung. Nicht nur Seele und Körper stehen in Übereinstimmung, sondern mit ihnen die je eigenen Gesetze der Seele und des Körpers. Obwohl die Gesetze der Seele und die Gesetze des Körpers geschieden sind, treffen sie sich in der Weise, daß sie übereinstimmen. Im Abschnitt 79 heißt es von den Seelen, daß sie gemäß den Gesetzen der Zweckursachen handeln. Die Zweckursachen erläutert Leibniz als „Appetitionen, Zwecke und Mittel“. Somit weist er darauf hin, daß die Zweckursachen die in der monadischen Selbstveränderung entfalteten Perzeptionszustände sind, auf die die Seele jeweils abzielt. Jeder vorangehende Zustand ist die Zweckursache für den folgenden, sofern dieser aus jenem zweckursächlich folgt. Von den Körpern heißt es im Abschnitt 79, daß sie gemäß den Gesetzen der Wirkursachen wirken bzw. gemäß den Gesetzen der Bewegungen. Dies sind aber die Gesetze der Kausalität, jene Gesetze, die zwischen der wirkenden Ursache und deren Wirkung herrschen. Hier im Felde der Wirkursachen folgt die Wirkung nicht teleologisch aus der Ursache, sondern kausalgesetzlich auf die Ursache. Die Wirkursachen wie die Zweckursachen bilden je ein eigenes „Reich“. Von beiden Reichen heißt es, daß sie harmonieren. Sie stehen in einer Harmonie. Zwar ist jedes dieser Reiche in sich eigenständig: das Reich der bewirkenden Ursachen und das Reich der Zweckursachen. Zugleich sind aber beide Reiche in ihrer Eigenständigkeit aufeinander bezogen, aufeinander abgestimmt. Die Praestabilierte, d. h. im vorhinein eingerichtete, Harmonie zwischen dem Reich der Zweckursachen und dem Reich der Wirkursachen hat ihren
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Grund in der urmonadischen Hervorbringung der kontingenten Welt: des kontingenten monadischen Seins und Seienden dieses Seins. Denn zur urmonadischen Hervorbringung des Universums der einfachen Substanzen und des von ihnen vorgestellten körperlichen Seienden gehört die Abstimmung der zweckursächlich handelnden Monaden mit dem wirkursächlich wirkenden Seienden. Die uranfängliche Abstimmung aufeinander besagt, daß zwar die Seelenmonaden und organischen Körper ihren je eigenen Gesetzen folgen, daß sie aber dennoch wechselseitig miteinander in Einklang stehen. Im Abschnitt 81 stellt Leibniz die Praestabilierte Harmonie zwischen Seele und organischem Körper so dar: Wenn die Körper nach ihren eigenen Gesetzen der Wirkursachen wirken, dann wirken sie so, als ob es gar keine Seelen gäbe. Ebenso wenn die Seelen nach ihren eigenen Gesetzen der Zweckursachen handeln in der Weise der Selbstentfaltung, dann handeln auch sie so, als ob es keine Körper gäbe. Denn sowohl die Körper wie die Seelen wirken und handeln nur nach ihren eigenen Gesetzen. Weil aber die Wirkensweise der Körper genau auf die Handlungsweise der Seelen abgestimmt ist, sieht es so aus, als ob die Wirkensweise der Körper direkt Einfluß nehme auf die Handlungsweise der Seele, und umgekehrt die Handlungsweise der Seele auf die Wirkensweise der Körper. Diese praestabilierte, im vorhinein eingerichtete Harmonie zwischen dem zweckursächlichen Handeln der Seele und dem kausalgesetzlichen Wirken der Körper nennt Leibniz im Abschnitt 78 eine Erklärung „auf natürliche Weise“. Die Lehre von der Praestabilierten Harmonie richtet sich gegen zwei andere Lösungen derselben Frage, der Frage nach dem Verhältnis von Seele und Körper (Seele und Leib). Die eine dieser Lösungen ist die Lehre vom wechselseitigen Einfluß der Seele auf den Körper und des Körpers auf die Seele. Hierzu sagt Leibniz: Es ist ganz unbegreiflich, wie materielle Teilchen oder immaterielle Qualitäten vom Körper in die Seele und von der Seele in die Körper übergehen sollten. Die andere der beiden Lösungen, gegen die sich die Lehre von der Praestabilierten Harmonie richtet, ist die vom jedesmaligen äußeren Beistand Gottes (Occasionalismus). Es ist das System der Gelegenheitsursachen, das besagt, daß das Verhältnis zwischen Seele und Körper in jedem einzelnen Fall durch göttlichen Eingriff vermittelt werde. Diese zweite Lösung schließt zwar, wie die Praestabilierte Harmonie, einen unmittelbaren Einfluß von Seele und Körper aus. Aber sie erklärt die Beziehung zwischen Seele und Körper durch einen jedesmaligen Eingriff Gottes, der auf übernatürliche Weise innerhalb der Natur die Verbindung vermittelt. Wenn Leibniz den Occasionalismus als Rückgriff auf eine übernatürliche Erklärung zurückweist, dann versteht er seine eigene Lehre von der Praestabilierten Harmonie als eine natürliche Erklärung.
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Zwar geht die Praestabilierte Harmonie zurück auf den urmonadischen Hervorbringungsakt, der selbst ein übernatürliches Geschehen ist. Aber die Praestabilierte Harmonie führt nicht dazu, daß innerhalb des hervorgebrachten Universums für jeden Bezug der Seele auf ihren Körper und des Körpers auf die Seele ein übernatürlicher Eingriff nötig wird. Die Praestabilierte Harmonie zwischen der Seele und dem Körper, zwischen dem Reich der Zweckursachen und dem Reich der Wirkursachen verliert ihr Befremden, wenn wir sie zu deuten versuchen im ontologischen Fragehorizont des metaphysischen Unterschiedes von Sein und Seiendem. Die Betonung der Geschiedenheit von Seele und Körper, von Zweckursachen und Wirkursachen verweist in den Unterschied von Sein und Seiendem. Der Versuch aber, das Aufeinanderbezogensein von Seele und Körper, Zweckursachen und Wirkursachen durch die Praestabilierte Harmonie zu begreifen, gibt zu verstehen, daß Sein und Seiendes in ihrem Unterschied auch zusammengehören. Sie gehören zusammen, indem das monadische Sein das körperliche Seiende bestimmt. Die Seele bestimmt in ihrer Zweck ursächlichkeit den Körper in seiner Wirkursächlichkeit, ohne daß die Seele von der Art des Körpers und seiner Wirkursächlichkeit ist. ❊ In der Vorbemerkung zu unserer Leibniz-Monographie zitierten wir eine Textpassage aus dem 93. Abschnitt der Abhandlung Martin Heideggers „Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis)“. Überschrieben ist dieser Abschnitt „Die großen Philosophien“, d. h. die abendländischen Metaphysiken. Diese werden dort gekennzeichnet als „ragende Berge“, die „unbestiegen und unbesteigbar“, d. h. unbesiegt und unbesiegbar sind. Als solche gewähren diese großen Philosophien „dem Land“, dem Abendland, „sein Höchstes und weisen in sein Urgestein“. „Wann sind solche Berge das, was sie sind?“ fragt der Text, und er antwortet: „Dann gewiß nicht, wenn wir vermeintlich sie bestiegen und beklettert haben. Nur dann wenn sie uns und dem Lande wahrhaft stehen“. Diese Wesenskennzeichnung der großen Metaphysiken des Abendlandes hat ihre Gültigkeit nicht nur innerhalb von Heideggers seinsgeschichtlichem Denken des ersten und des anderen Anfangs, sondern auch unabhängig von diesem philosophischen Gesichtskreis. In dieser Unabhängigkeit haben wir Heideggers einzigartige Wesenskennzeichnung der großen abendländischen Metaphysiken zitiert. Denn wir haben Leibnizens Metaphysik nicht als eine Gestalt des ersten Anfangs der Geschichte des Seins im Herblick aus der Denkmöglichkeit des anderen Anfangs auszulegen versucht. Vielmehr haben wir Leibnizens Metaphysik aus ihr selbst heraus und aus ihren unmittelbaren Bezügen zu ihren Vorgängern Descartes und Spinoza zu verstehen und zu begreifen versucht. In methodischer Hin-
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sicht war unser Auslegen und Begreifen durch die phänomenologische Zugangsweise und Behandlungsart bestimmt. Das phänomenologische Vorgehen zeichnet sich dadurch aus, daß es bestrebt ist, das jeweils zu Denkende in geistiger Anschauung zu begreifen. Weit entfernt von der Meinung, die Leibnizsche Metaphysik (wie alle Metaphysiken) habe für uns heute nur noch eine historische Bedeutung, ließen wir uns von der Absicht leiten, Leibnizens Metaphysik in ihrer eigenen geschichtlichen Wahrheit offenzulegen. Denn in dieser zeigt sie in die Dimensionen der großen philosophischen Fragen hinein, die zwar von keiner Metaphysik absolut, wohl aber von jeder Metaphysik in einer endlichen Perspektive beantwortet werden. Leibnizens Metaphysik ist eine dieser großen denkerischen Perspektiven, die nicht nur nicht überholt (besiegt), sondern auch nicht überholbar (besiegbar) ist.
Literaturverzeichnis I. Zitierte Werke von Leibniz Leibniz, G. W., Die philosophischen Schriften. Herausgegeben von C. J. Gerhardt. 7 Bände. Berlin 1875 – 1890. Nachdruck: Hildesheim Georg Olms Verlag 1978. Erster Band: enthält u. a. Briefe an Antoine Arnauld. 1670–1673. Zweiter Band: enthält u. a. Briefwechsel zwischen Leibniz und Antoine Ar nauld 1686–1690; zwischen Leibniz und de Volder 1698–1706. Dritter Band: enthält u. a. Briefwechsel zwischen Leibniz und Remond 1715–1716. Vierter Band: enthält u. a. Discours de metaphysique, De Primae Philosophiae Emendatione, et De Notione Substantiae; Systeme nouveau. Fünfter Band: Nouveaux Essais Sur L’Entendement Par L’Auteur De L’ Harmonie Preestablie Sechster Band: enthält u. a. Essais De Théodicée; 5 Briefe von Leibniz an die Königin Sophie Charlotte v. Preußen; Principes de la Nature et de la Grace, fondés en raison; Monadologie. Siebenter Band: enthält u. a. kleine philosophische Abhandlungen. Leibniz, G. W., Hauptschriften zur Grundlegung der Philosophie. Übersetzt von Dr. A. Buchenau. Durchgesehen und mit Einleitungen und Erläuterungen herausgegeben von Dr. E. Cassirer. Verlag Felix Meiner Leipzig 1904. Band I: enthält u. a. Specimen Dynamicum. Band II: enthält u. a. Metaphysische Abhandlung; Aus dem Briefwechsel zwischen Leibniz und Arnauld; Neues System der Natur und der Gemeinschaft der Substanzen, wie der Vereinigung zwischen Körper und Seele; Aus dem Briefwechsel zwischen Leibniz und de Volder, Vernunftprinzipien der Natur und der Gnade, Die „Monadologie“. Band III: Neue Abhandlungen über den menschlichen Verstand. Ins Deutsche übersetzt, mit Einleitung, Lebensbeschreibung des Verfassers und erläuternden Anmerkungen versehen von C. Schaarschmidt. Zweite Auflage, Verlag von Felix Meiner Leipzig 1904. Band IV: Die Theodizee. Übersetzt von J. H. v. Kirchmann. Verlag von Felix Meiner Leipzig 1879. – Briefwechsel mit Antoine Arnauld. Französisch – Deutsch. Herausgegeben und übersetzt von Reinhard Finster. Felix Meiner Verlag Hamburg 1997. – Kleine Schriften zur Metaphysik. Opuscules Metaphysiques. Herausgegeben und übersetzt von Hans Heinz Holz. Insel Verlag Frankfurt am Main 1965.
224 Literaturverzeichnis – Specimen Dynamicum. Lateinisch – Deutsch. Herausgegeben und übersetzt von G. Dosch, Glenn W. Most, E. Rudolph. Felix Meiner Verlag Hamburg 1982. – Metaphysische Abhandlung. Französisch – Deutsch. Übersetzt und mit Vorwort und Anmerkungen herausgegeben von Herbert Herring. Felix Meiner Verlag Hamburg 1958. – Vernunftprinzipien der Natur und der Gnade. Monadologie. Französisch – Deutsch. Herausgegeben von Herbert Herring. Felix Meiner Verlag Hamburg, zweite, verbesserte Auflage 1982. – Monadologie und andere metaphysische Schriften. Französisch – Deutsch. Herausgegeben, übersetzt, mit Einleitung, Anmerkungen und Registern versehen von Ulrich Johannes Schneider. – Die Theodizee. Übersetzung von Artur Buchenau. Einführender Essay von Morris Stockhammer. Verlag von Felix Meiner Hamburg, 2. Auflage 1968. – Die Hauptwerke. Zusammengefaßt und übertragen von Gerhard Krüger. Alfred Kröner Verlag Stuttgart 1967.
II. Zitierte Werke anderer klassischer Autoren Aristoteles, Metaphysik. Erster Halbband: Bücher I (A)–VI (E). In der Übersetzung von Hermann Bonitz. Neu bearbeitet, mit Einleitung und Kommentar herausgegeben von Horst Seidl. Griechischer Text in der Edition von Wilhelm Christ. Griechisch – Deutsch. Felix Meiner Verlag Hamburg 1978. Zweiter Halbband: Bücher VII (Z)–XIV (N). Felix Meiner Verlag Hamburg 1980. – Über die Seele. Mit Einleitung, Übersetzung (nach W. Theller) und Kommentar herausgegeben von Horst Seidl. Griechischer Text in der Edition von Wilhelm Biehl und Otto Apelt. Griechisch – Deutsch. Felix Meiner Verlag Hamburg 1995. Thomas v. Aquin, Summa theologica. Deutsch – lateinische Ausgabe. Übersetzt von Dominikanern und Benediktinern Deutschlands und Österreichs. 1. Band, Quaestio 1–13 Gottes Dasein und Wesen. Verlag Styria Graz / Wien / Köln 1982. Descartes, René, Meditationen. Mit sämtlichen Einwänden und Erwiderungen. Übersetzt und herausgegeben von Christian Wohlers. Felix Meiner Verlag Hamburg 2009. – Die Prinzipien der Philosophie. Übersetzt und erläutert von Artur Buchenau. Felix Meiner Verlag Hamburg 1955. – Die Prinzipien der Philosophie. Lateinisch – Deutsch. Übersetzt und herausgegeben von Christian Wohlers. Felix Meiner Verlag Hamburg 2005. Spinoza, Baruch de, Die Ethik. Neu übersetzt und mit einem einleitenden Vorwort versehen von J. Stern. Philipp Reclam jun. Leipzig 1888. – Ethik. Übersetzt und mit einer Einleitung und einem Register versehen von Otto Baensch. Zehnte, mit der Siebenten gleichlautende Auflage. Verlag von Felix Meiner Leipzig 1922.
Literaturverzeichnis225 – Ethik in geometrischer Ordnung dargestellt. Lateinisch – Deutsch. Neu übersetzt, herausgegeben, mit einer Einleitung versehen von Wolfgang Bartuschat. Felix Meiner Verlag Hamburg, 3., verbesserte Auflage 2010. Kant, Immanuel, Kritik der reinen Vernunft. Unveränderter Neudruck der von Raymund Schmidt besorgten Ausgabe (nach der zweiten durchgesehenen Auflage von 1930). Felix Meiner Verlag Hamburg 1956. Husserl, Edmund, Zur Phänomenologie des inneren Zeitbewußtseins (1893–1917). Husserliana Band X. Hrsg. von Rudolf Boehm. Haag Martinus Nijhoff 1966. Heidegger, Martin, Sein und Zeit. Gesamtausgabe Band 2. Herausgegeben von Friedrich-Wilhelm v. Herrmann. Vittorio Klostermann Frankfurt am Main 1976. – Metaphysische Anfangsgründe der Logik im Ausgang von Leibniz. Marburger Vorlesung Sommersemester 1928. Gesamtausgabe Band 26. Herausgegeben von Klaus Held. Vittorio Klostermann Frankfurt am Main 1978. – Leibnizens Weltbegriff und der Deutsche Idealismus (Monadologie). Seminar Wintersemester 1935 / 36, in: Martin Heidegger, Seminare: Kant – Leibniz – Schiller. Teil 1: Sommersemester 1931 bis Wintersemester 1935 / 36. Gesamtausgabe Band 84.1. Herausgegeben von Günther Neumann. V. Klostermann Frankfurt am Main 2013, S. 389–530. – Der Satz vom Grund. Gesamtausgabe Band 10. Herausgegeben von Petra Jaeger. Vittorio Klostermann Frankfurt am Main 1997, passim. – Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis). Gesamtausgabe Band 65. Herausgegeben von Friedrich-Wilhelm v. Herrmann. Vittorio Klostermann Frankfurt am Main 1989.
III. Sekundärliteratur zu Leibniz Holzhey, Helmut / Schmidt-Biggemann, Wilhelm, Gottfried Wilhelm Leibniz, in: Grundriß der Geschichte der Philosophie. Die Philosophie des 17. Jahrhunderts. Band 4: Das Heilige Römische Reich Deutscher Nation. Nord- und Ostmittel europa. Zweiter Halbband. Herausgegeben von Helmut Holzhey und Wilhelm Schmidt-Biggemann unter Mitarbeit von Vilem Mudroch. Schwabe & Co. AG Verlag Basel 2001. Neuntes Kapitel: Gottfried Wilhelm Leibniz, S. 995–1159. Zur „Monadologie“ von Helmut Holzhey S. 1041 f. Zur „Metaphysik“ von Wilhelm Schmidt-Biggemann S. 1064–1079. Fischer, Kuno, Gottfried Wilhelm Leibniz. Leben, Werke und Lehre. Fünfte, durchgesehene Auflage Carl Winters Universitätsbuchhandlung Heidelberg 1920. Dillmann, E., Eine neue Darstellung der Leibnizschen Monadenlehre auf Grund der Quellen. Leipzig 1891, Neudruck Hildesheim 1974. Cassirer, Ernst, Leibniz’ System in seinen wissenschaftlichen Grundlagen. Marburg 1902. Nachdruck Darmstadt 1962.
226 Literaturverzeichnis Martin, Gottfried, Leibniz. Logik und Metaphysik. Köln 1960, Berlin 19672. Poser, Hans, Zur Theorie der Modalbegriffe bei G. W. Leibniz (= Studia Leibnitiana Suppl. 6), Wiesbaden 1969. – Appetitus der Monade. Die Evolution von Werden und Erkennen, in: A. Heinekamp / W. Lenzen / M. Schneider (Hg.) Mathesis rationis. Festschrift für H. Schepers, Münster 1990, S. 119–132. – Phaenomenon bene fundatum, Leibnizens Monadologie als Phänomenologie, in: Renato Cristin / Kiyoshi Sakai (Hg.), Verlag Karl Alber Freiburg / München 2000, S. 19–41. – Gottfried Wilhelm Leibniz. Zur Einführung. Junius Verlag Hamburg 2005. Saame, Otto, Der Satz vom Grund bei Leibniz. Ein konstitutives Element seiner Philosophie und ihrer Einheit. Tübinger Dissertation. Druckerei und Verlag Dr. Hanns Krach, Mainz 1961. Robinet, André, Leibniz et la racine de l’existence. Éditions Seghers Paris 1962. (aus der Bibliothek Martin Heideggers, Geschenkexemplar des Autors mit der handschriftlichen Widmung: „á M. Heidegger ce rapide ouvrage sur notre ami commun LEIBNIZ et en témoignage d’admiration pour votre Satz vom Grund – André Robinet“). Janke, Wolfgang, Leibniz. Die Emendation der Metaphysik. Philosophische Abhandlungen Band XXIII. Vittorio Klostermann Frankfurt am Main 1963. – Die Zeitlichkeit der Repräsentation. Zur Seinsfrage bei Leibniz, in: Durchblicke, Martin Heidegger zum 80. Geburtstag. Vittorio Klostermann Frankfurt am Main 1970, S. 255–283. Rudolph, E., Die Bedeutung des aristotelischen Entelechie-Begriffes für die Kraftlehre von Leibniz, in: A. Heinekamp (Hg.), Leibniz’ Dynamica. Symposion der Leibniz-Gesellschaft in der Evangelischen Akademie Loccum, 2.–4. Juli 1982 (= Studia Leibnitiana, Sonderheft 13), Wiesbaden 1984, S. 49–54. Gueroult, M., Die Konstitution der Substanz bei Leibniz, in: A. Heinekamp / F. Schupp (Hg.), Leibniz’ Logik und Metaphysik, Darmstadt 1988, S. 484–511. Hirsch, Eike Christian, Der berühmte Herr Leibniz. Eine Biographie. Verlag C.H. Beck München 2000 und 2007. Zur „Monadologie“: S. 569 f., 599, 623. Cristin, Renato / Sakai, Kiyoshi (Hg.), Phänomenologie und Leibniz. Verlag Karl Alber Freiburg / München 2000. Coriando, Paola-Ludovika, Individuation und Einzelnsein. Nietzsche – Leibniz – Aristoteles. Vittorio Klostermann Frankfurt am Main 2003, S. 135–198. – ‚Perfectihabia‘. Leibniz und die Universalisierung des Subjekts, in: Philosophisches Jahrbuch. 2. Halbband. Verlag Karl Alber Freiburg / München 2003, S. 241–256. v. Herrmann, Friedrich-Wilhelm, Husserls phänomenologische Frage nach der Zeit als phänomenologische Analyse des Zeitbewußtseins, in: derselbe, Augustinus und die phänomenologische Frage nach der Zeit. Vittorio Klostermann Frankfurt am Main 1992, S. 145–169.
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Personenregister Anselm von Canterbury 36, 187 Aristoteles 8, 14, 17–19, 27, 41, 43, 45, 58, 61, 100, 138, 147, 150, 191 Arnauld, A. 17, 57 Averroes 86 Bayle, P. 53 Berkeley, G. 88 Coriando, P.-L. 7, 41, 50 Descartes, R. (Cartesianer) 15, 17–24, 25–32, 33–38, 41 f., 46 f., 58, 61, 72, 81, 83 ff., 87, 89, 92 f., 95 ff., 104 f., 107, 121, 130, 141, 146 f., 150, 155, 201, 221 Fink, E. 7 Fischer, K. 49 Gassendi, P. 57 Heidegger, M. 7 f., 13, 27, 39, 50, 84, 88, 89, 118 f., 221 Herrmann, F.-W. v. 115, 117 f. Holz, H. H. 18 Holzhey, H. 50
Hume, D. 88 Husserl, E. 7, 115 f., 214 Janke, W. 18, 109 Kant, I. 15, 117 f., 187 Köhler, H. 16 Krüger, G. 48 Landgraf von Hessen Rheinfels 16 Locke, J. 16, 88 Platon 19, 21 Poser, H. 50 Prinz Eugen v. Savoyen 16 Rémond, N. 16, 48 Saame, O. 149 Sophie Charlotte Königin v. Preußen 53, 93 Spinoza, B. de 15, 24, 32–39, 47, 83, 159, 221 Thomas von Aquin 58, 61, 69, 86 Volder, B. de 17, 91 f., 93, 142
Sachregister absolute Realität 190 absolute Substanz Gottes 172 absolute Vollkommenheit 191 Aggregat 56 akzidentelle Einheit 56 Allgüte Gottes 159, 212 allumfassende Substanz 190, 191 Anselmscher Gottesbeweis 36, 187 aposteriorischer (erster) Gottesbeweis 178–187, 200 Apperzeption 83, 93, 144 apriorischer (dritter) Gottesbeweis 187, 198–200 Aseität 184 Attribute der endlichen Monaden 205–207 Attribute der Urmonade 205–207 ‚Auf die Sachen selbst zurückgehen‘ 7 Ausdehnung und ursprüngliche Kraft 25–47 Ausdrücken (exprimer) 213 Begriff der Kräfte (vires) 21 Begriffsentfaltung der höchsten Substanz 188–202 Benommenheit 106 Besitz der Vernunft und Wissenschaften 134 Betäubung 85, 107 f., 111, 120 f., 129 blitzartige Ausstrahlungen der Gottheit 203–205 bloße Monaden (Entelechien im engeren Sinne) 136 Bewußtlosigkeit 107 causa sui 137, 183–184 conatus (agendi) 22, 40, 88
creatio continua 205 Descartes’ Metaphysik (Ontologie) der Substanz 25–32 Dynamik 39 f. Einheit als Einfachheit 51 f. einheitliches substanzielles Wesen 20 Einzahl des zureichenden Grundes 188 ff. elementare Urwahrheiten 162 Emendatio 24 Emendatio des Begriffes der Substanz 17–24 Ens a se 184 Ens ab alio 184 ens perfectissimum 191, 199 ens realissimum 191, 199 Entelechie (ἐντελέχεια) 22, 39, 41, 43 Entelechien im engeren Sinne 103, 104–109, 119–122, 130 Entelechien im weiten Sinne 99–103, 169 Erkenntnis der notwendigen und ewigen Wahrheiten 133 f., 137 Erste Entelechie (ἐντελέχεια ή πρώτη) 43 f. ewige Wahrheiten – göttlicher Verstand 201 f. Ewigkeit (aeternitas) 144 Fähigkeit des Perzipierens 207 Fähigkeit des Strebens 207 Fensterlosigkeit der Monaden 67–70 Folge auf 169 Folge aus 169
230 Sachregister Gedanken des göttlichen Verstandes (Ideen) 195 f. geistige Anschauung 222 Gesetz der Analogie 92–94, 107, 115 Gesetz der Kontinuität 77, 110 f. Gesetz der Wirkursachen 124, 168 Gesetz der Zweckursachen 124 Gotteserkenntnis 133, 135 f., 144 göttliche Allmacht 158 göttliche Erkenntnis (Weisheit) 206, 212 göttliche Macht 206, 212 göttliche Schöpfung 66 f. göttliche Vernichtung 66 f. göttliche Weisheit (Güte, Allgüte) 158 göttlicher Schöpfungswille 155 f. göttlicher Wille 206, 212 Grundsatz der Kausalität 168 Hervorbringung der endlichen Monaden 203–205 höchste Substanz 191 idealer Einfluß 208–210 Identische Sätze 163 innermonadische Hemmung 89, 98 innermonadische Kräfte des Strebens und Perzipierens 81–98 innermonadische Zeitlichkeit 109–122 innermonadisches Prinzip der Individuation 79–81 innermonadisches Prinzip der Veränderung 76–78 Kausalitätsgesetz 169 f. Kraft der Appetition (Strebenskraft) 86 Kraft des Perzipierens (Repraesentierens, Vorstellens) 81 f. Kraftzentrum als Grundlage 207 lebendiger Spiegel des Universums 211–217
Lehre vom wechselseitigen Einfluß (Seele – Körper) 220 letzte Identitäten 162 letzter Grund 178–187 Materie 182 materielle Atome 59 Maschinentheorie 85 mathematische Punkte 59, 62 f. metaphysisch-ontologisches Axiom 60 metaphysische Kraft 22 metaphysische (absolute) Notwendigkeit 157, 159 f. metaphysische Punkte 60, 63 metaphysische (absolute) Wahrheiten 157 metaphysischer Unterschied (Sein – Seiendes) 26, 60, 65, 77, 95, 218, 221 Mikrokosmos 215 Möglichkeit unendlicher Welten 211 Monade (la Monade) 50 Monade als wahre substanzielle Einheit 48–70 Monadologie im Gesamtwerk von Leibniz 15–17 Monotheismus a posteriori 190 moralische (hypothetische) Notwendigkeit 156 f., 159 f., 164 moralische (hypothetische) Wahrheiten 157 moralisches Prinzip des Besten 156, 158 f. natürliches Entstehen – Vergehen (Körper) 64 Nichts 185 nisus 23, 40, 88 Nominaldefinition 18, 58 notwendiger Grund 180 f. notwendige (göttliche) Substanz 178 f., 181, 183
Sachregister231 Oberste Substanz 190 objektive Weltzeit 115 f. Occasionalismus 220 Ohnmacht 104–109, 111, 129 ontologische Gleichförmigkeit 91–95 ontologische Verwandtschaft 94, 143 ontologischer Leitfaden (Selbsterfahrung) 84, 89, 94, 102, 104 f., 108, 120, 139, 141, 144 οὐσία 19 Perzeption und Appetition 81–98 perceptio und volitio 26, 83, 87 phänomenale Zeit 113 phänomenologisch-analytisch 13 Phänomenologische Methode 7, 222 physische Kräfte 22 potentia activa 22 f., 39 f. potentia nuda 22 Praestabilierte Harmonie (Reich der Zweckursachen – Reich der Wirkursachen) 219–221 Praestabilierte Harmonie (Seele – organischer Körper) 217–219 Prinzip der Angemessenheit 202, 211 Prinzip der Individualität 75 Prinzip des Besten 160, 202, 211 principium individuationis 79 Principium Perceptivum 95 principium specificationis absolutae 79 Prinzip der Wirkursachen 168 Prinzip des Vollkommenheitsgrades 212 Prinzip des zureichenden Grundes 149–153, 172–187 Prinzip vom Widerspruch 146–149 πρώτη φιλοσοφία 18 reale Essenzen 195 f. Realdefinition 18, 58 Reales in der Möglichkeit (reine Möglichkeiten) 195 f. reflexive Akte 137 f., 144
Reihen der kontingenten Gründe 172–178 Sammelwesen 62 Satz der Identität 148 f. Schranken der Monaden 216 Seelen im engeren Sinne 102 f., 122–129, 136 Seelen im weiten Sinne 99–103 Selbsterkenntnis (Selbstreflexion) 133, 135 ff., 141, 143 Selbstgenügsamkeit der Monaden (Autarkie) 101 Selbsttätigkeit (innere Selbstentfaltung) 22, 41, 169 species expressae 70 species impressae 70 species sensibiles 69 Spiegel des Universums 189, 211–217 Spinozas Metaphysik der einzigen Substanz 33–39 Stufen des monadischen Seins 99–145 substantia percipiens 97 substanzielle Einheit 56 substanzielles Wesen der Monaden 71–98 Tatsache (Geschaffenes) 150, 154 Tatsachenwahrheiten (kontingent) 154 f., 164 Tatsachenwahrheiten und zureichender Grund 163–171 teleologische Ursache (causa finalis) 169, 171 thomanische Erkenntnislehre 69 f. Tierseelen 84, 125–130 Tod 85, 108 Transzendentalien 61 traumloser Schlaf 104, 129 Überstieg (erster) der Vernunft 177 Überstieg (zweiter) der Vernunft 178 un-endliche Substanz 180
232 Sachregister unendlicher Wille 185 unendliches Denken 185 unkörperliche Automaten 101 unum per accidens 58 unum per se 58 Unvergänglichkeit der Monaden 63 Unvollkommenheit 193 Urmonade 100, 137, 143 f., 164, 172, 178, 184, 189, 192–196, 201, 204, 211 Ursprung der Existenzen und Essenzen 194–198 Ursubstanz 184 vernünftige Seele (Geist) 129–145 Vernunftwahrheiten in göttlicher Vernunft 155 Vernunftwahrheiten und zureichender Grund 153 f., 161 f. vis, vires 21 vis activa (vis agendi, virtus agendi) 22 ff., 32, 39, 41 f. vis primitiva 39–47 vis primitiva activa 42, 44 ff., 89, 98, 113 vis primitiva passiva (patiendi, resistendi) (materia prima) 45 f., 89, 98, 113 vis derivativa activa 42, 45 vis derivativa passiva (patiendi) (materia secunda) 45
Vollkommenheit 192 wahre Atome der Natur (formelle Atome) 57, 63 wahre substanzielle Einheit (Monade) 48–70 wahrhaft zureichender Grund 172, 175, 177, 183 Weltbezug der Monaden 214 f., 217 Wesensbeschaffenheiten der Monaden 71–76 Willensmetaphysik 89 Wirkursache (causa efficiens) 168 ff., 173 Wissenschaft der Dynamik 22 Zeit des inneren Sinnes 118 Zeit des Seienden 113 Zeit des Seins 113 Zeitlichkeit des Bewußtseins 115 Zeitlichkeit des Da-seins 118 f. ‚Zu den Sachen selbst‘ 7 zufällige Wahrheiten – göttlicher Wille 201 f. Zusammengesetztes 51, 55 Zweckursache 168 ff., 174 zwei Arten von Wahrheit 153–163 Zweiter Gottesbeweis 197 f., 200