Lehrbuch des Strafrechts: Allgemeiner Teil [5 ed.] 9783428483488, 9783428083480

Der "Jescheck" hat seit seinem ersten Erscheinen im Jahre 1969 eine führende Position in der deutschen, aber a

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German Pages 1080 Year 1996

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Lehrbuch des Strafrechts: Allgemeiner Teil [5 ed.]
 9783428483488, 9783428083480

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HANS-HEINRICH JESCHECK · THOMAS WEIGEND

L e h r b u c h des Strafrechts Allgemeiner

Teil

L e h r b u c h des Strafrechts A l l g e m e i n e r Teil

Von Dr. iur. D r . iur. h. c. mult. H A N S - H E I N R I C H J E S C H E C K em. o. Professor der Rechte an der Universität Freiburg i. Br. em. Direktor des Max-Planck-Instituts für ausländisches und internationales Strafrecht Richter am Oberlandesgericht Karlsruhe a. D. Ehrenpräsident der Association Internationale de Droit Pénal und

5., vollständig neubearbeitete und erweiterte Auflage

D U N C K E R

&

H U M B L O T /

B E R L I N

Übersetzung der 4. Auflage ins Spanische von Professor José Luis Manzanares Samaniego, Editorial Comares, Granada 1993 Übersetzung der 5. Auflage ins Japanische (in Vorbereitung), Verlag Seibundo, Tokio

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Lehrbuch des Strafrechts, Allgemeiner Teil / von Hans-Heinrich Jescheck und Thomas Weigend. Berlin : Duncker und Humblot. Bis 4. Aufl. verf. von Hans-Heinrich Jescheck NE: Jescheck, Hans-Heinrich; Weigend, Thomas [Hauptbd.]. - 5., vollst, neubearb. und erw. Aufl. - 1996 ISBN 3-428-08348-2

Alle Rechte vorbehalten © 1996 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Satz und Fremddatenübernahme: Klaus-Dieter Voigt, Berlin Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISBN 3-428-08348-2

V o r w o r t zur 5. Auflage Die rasche Entwicklung des deutschen Strafrechts in Gesetzgebung, Rechtsprechung und Schrifttum hat schon sieben Jahre nach dem Erscheinen der 4. Auflage des Lehrbuchs eine vollständige Neubearbeitung erforderlich gemacht. Mitautor der 5. Auflage ist Thomas Weigend, der es auch übernommen hat, das Werk in der Zukunft weiterzuführen. Ziel unserer gemeinsamen Arbeit ist es, der Fachwelt des In- und Auslands sowie den Studierenden einen zuverlässigen Überblick über den Stand und die geschichtliche Entwicklung des Allgemeinen Teils des deutschen Strafrechts unter Einschluß der Rechtsfolgen der Straftat zu geben. Wir waren ferner darum bemüht, wie in den früheren Auflagen unser Recht in den Gesamtzusammenhang des Strafrechts in der internationalen Kulturgemeinschaft zu stellen. Die rechtsvergleichende Ausrichtung des Werkes wurde deshalb beibehalten und an verschiedenen Stellen noch verstärkt. Neu aufgenommen in den Kreis der durchweg berücksichtigten Länder wurde Belgien, das durch seine Nachbarschaft und seine engen Beziehungen zur Bundesrepublik Deutschland besonders wichtig sowie durch die anstehende Reform im Strafrecht für die Rechtsvergleichung besonders interessant ist. Das Strafrecht der D D R wurde nur noch da und dort im Rückblick erwähnt, da es durch den Einigungsvertrag und die weitere Entwicklung der Strafgesetzgebung im wiedervereinigten Deutschland seine Bedeutung fast ganz verloren hat. Gesetzgebung, Rechtsprechung und Schrifttum sind in der Einleitung und den ersten beiden Hauptteilen bis Anfang 1995, im dritten Hauptteil bis Mitte 1995 berücksichtigt. Späteres konnte nur noch in Einzelfällen aufgenommen werden. Vollständigkeit war bei der außerordentlichen Fülle der Literatur und Judikatur nicht anzustreben. Wir hoffen jedoch, daß unsere Auswahl als repräsentativer Querschnitt aus dem unübersehbar gewordenen Material gelten kann. Viele Helfer haben uns bei unserer Arbeit zur Seite gestanden. Ihnen allen möchten wir aufrichtig danken. In Freiburg hat Herr Professor Dr. Josef Kürzinger, Direktor der Bibliothek des Max-Planck-Instituts für ausländisches und internationales Strafrecht, wieder bei der Weiterführung der Statistiken und der Beschaffung des ausländischen Materials geholfen. Herr cand. jur. Stefan Engels hat das Manuskript der Einleitung und der ersten beiden Hauptteile während der Ausarbeitung kritisch mitgelesen. Die Diplom-Bibliothekarinnen Frau Ruth Biele, Frau Kirsten Mnich, Frau Ursula Müller und Frau Susanne Schreiber haben laufend die notwendige Literatur bereitgestellt. Frau stud. jur. Elisabeth Wynhoff hat das Allgemeine Literaturverzeichnis überarbeitet. In Köln haben die Assistenten und Hilfskräfte Dr. Paul Burian y Nicole Edeling, Jochen Herbst, Florian Jessberger, Dr. Karl-Peter Julius, Sigrid Kunze, Anja Marx,, Yasemin Turhan und Anja Vollmer die Neubearbeitung des dritten Hauptteils tatkräftig vorbereitet. Herr cand. jur. Gerd Hoor hat Teile des Sachverzeichnisses

VI

V o r w o r t zur 5. Auflage

aktualisiert. Frau Michaela Sowade hat sich durch die Erstellung des Gesetzesregisters und die Eingabe eines Teils des Gesamtmanuskripts sehr verdient gemacht. Besonderer Dank gebührt Frau Irmela Jung. Sie hat in bewährter Weise das Manuskript in die für den Satz geeignete Form gebracht, die Gegenkorrektur des Satzes und des Umbruchs durchgeführt und die Gesamtredaktion des Werkes vorgenommen. Dank schulden wir ferner Herrn Professor Dr. jur. h. c. Norbert Simon, Inhaber des Verlages Duncker & Humblot, und seinen Mitarbeitern, vor allem dem Leiter der Herstellungsabteilung, Herrn Dieter H. Kuchta, für die hervorragende verlegerische Betreuung des gesamten Werkes. Freiburg i. Br. und Köln, September 1995 Hans-Heinrich Jescheck Thomas Weigend

V o r w o r t z u r 4. Auflage Zehn Jahre nach dem Erscheinen der 3. Auflage ist angesichts der veränderten Situation in Gesetzgebung, Rechtsprechung und Literatur eine vollständige Neubearbeitung des Lehrbuchs notwendig geworden. Die für Fortschritte in Theorie und Praxis aufgeschlossene Anlage des Werkes erlaubte es, den Zusammenhang mit der 3. Auflage ohne tiefere Eingriffe in den Aufbau zu wahren. Zweck des Lehrbuchs ist es wie bisher, durch eine repräsentative Darstellung der Probleme des Allgemeinen Teils des deutschen Strafrechts der Fachwelt des In- und Auslands wie auch den Studenten ein umfassendes, zuverlässiges und verständliches Bild des gegenwärtigen Standes unserer Wissenschaft und ihrer Anwendung zu bieten. Das Bleibende bei der Neubearbeitung war für mich vor allem das Schuldprinzip, das den Täter als menschliches Wesen mit seinem Charakter und Schicksal nicht bloß als Endpunkt von Zurechnungsfaktoren versteht, weiter die personale Unrechtslehre, die auf den das objektive Geschehen steuernden Willen abstellt und von subjektivistischen Übertreibungen freigehalten werden muß, endlich das humane Sanktionensystem, das in seiner sozialen Funktion zu sehen und von den Erkenntnissen der empirischen Kriminologie her auszugestalten ist. Auch manches Neue wurde eingefügt: so bemühte ich mich darum, die Lehre von der Doppelstellung des Vorsatzes fruchtbar zu machen (z.B. für den bedingten Vorsatz und den Irrtum über den Sachverhalt eines Rechtfertigungsgrundes), den Begriff des erlaubten Risikos als Strukturprinzip von Rechtfertigungsgründen zu verstehen, das Sanktionensystem verstärkt in den internationalen Rahmen einzuordnen sowie die gemeinnützige Arbeit und die Wiedergutmachung als Sanktionsmöglichkeiten zu berücksichtigen. Entsprechend meiner Auffassung vom Strafrecht als Glied eines internationalen Kulturzusammenhangs wurde der Anteil des ausländischen Rechts in der Neuauflage vermehrt. Ich habe das brasilianische Strafrecht als das Recht des größten südamerikanischen Landes, das außerdem einen modernen Allgemeinen Teil mit manchen deutschen Einflüssen besitzt, neu einbezogen und an zahlreichen Stellen des Buches zusätzliche Einzelhinweise auf ausländisches Recht und Schrifttum angebracht. Stellungnahmen der ausländischen Literatur zu den wichtigsten Positionen des deutschen Strafrechts sind vielfach vermerkt, weil das Echo der eigenen Entwicklung jenseits der Grenzen für den deutschen Leser erheblichen Erkenntniswert besitzt. Auch die historische Dimension des Strafrechts, die mir nicht weniger wichtig erscheint als die vergleichende, habe ich beibehalten und durch zusätzliche Hinweise zur Gesetzgebungs- und Dogmengeschichte verstärkt. Die Literatur ist bis Ende 1987, die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs bis zum 34. Band der Amtlichen Sammlung berücksichtigt. Spätere Beiträge und Entscheidungen konnten nur ausnahmsweise aufgenommen werden. Vollständigkeit anzustreben, ist angesichts der außerordentlichen Zunahme der Publikationen unmöglich geworden.

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V o r w o r t zur 4. Auflage

Vielen Helfern bin ich zu allergrößtem Dank verpflichtet und habe die Freude der Zusammenarbeit als Lohn vieler Mühen empfunden. Herr Staatsanwalt Christian Maier hat in allen Phasen der Entwicklung der 4. Auflage des Lehrbuchs wesentlich mitgewirkt, er hat insbesondere das Sachverzeichnis fortgeführt. Herr Professor Dr. Josef Kürzinger, Direktor der Bibliothek des Max-Planck-Instituts für ausländisches und internationales Strafrecht, hat mich bei den Statistiken und bei der Beschaffung ausländischen Materials unterstützt. Für die Bereitstellung der Literatur sorgten wiederum die Diplom-Bibliothekarinnen Frau Ruth Biele und Frau Susanne Schreiber. Das Abkürzungsverzeichnis hat Frau Diplom-Bibliothekarin Ursula Müller, das Allgemeine Literaturverzeichnis Frau Diplom-Bibliothekarin Kirsten Mnich fortgeführt. Das Manuskript hat Frau Edeltraut Meßmer betreut. Für die Korrektur gebührt besonderer Dank meiner Frau, ferner Frau Irmela Jung und Frau Meßmer. Frau Jung hat auch die Gesamtredaktion des Werkes besorgt. Herrn Rechtsanwalt Norbert Simon, Geschäftsführer der Verlagsbuchhandlung Duncker & Humblot GmbH, und seinen Mitarbeitern, insbesondere Herrn D. H. Kuchta, danke ich herzlich für die ausgezeichnete verlegerische Betreuung des Buches, der Setzerei für die Herstellung des schönen und gut lesbaren Textes. Freiburg i.Br., August 1988 Hans-Heinrich Jescheck

V o r w o r t zur 3. Auflage Der Allgemeine Teil des deutschen Strafgesetzbuchs ist am 1. Januar 1975 in neuer Fassung in Kraft getreten. Im Bereich der Dogmatik enthalten die neuen Vorschriften eine Kodifikation der modernen Rechtsanschauungen, die sich seit einem Vierteljahrhundert in Rechtsprechung und Lehre durchgesetzt haben. Der Schwerpunkt der Reform des Allgemeinen Teils liegt jedoch nicht im Bereich der Dogmatik, sondern in dem tiefgreifend umgestalteten Sanktionensystem. Ein anderes Gesicht zeigt auch schon weitgehend der Besondere Teil des Strafgesetzbuchs. Eine neue Epoche in der Geschichte des deutschen Strafrechts hat damit begonnen, die an Bedeutung den großen Wendepunkten in seiner Vergangenheit nicht nachsteht. Aus diesem Grunde ist auch eine dritte Auflage des Lehrbuchs notwendig geworden. Sie soll in vollständig neuer Bearbeitung der Fachwelt des In- und Auslandes und unseren Studenten ein getreues Bild der Probleme des Allgemeinen Teils wie auch der Auslegung seiner neuen Bestimmungen geben und das deutsche Strafrecht zugleich in den internationalen Zusammenhang hineinstellen. Um die äußere Übereinstimmung mit den Vorauflagen zu wahren, habe ich tiefere Eingriffe in den Aufbau des Werkes möglichst vermieden. An einigen Stellen waren jedoch Veränderungen erforderlich, die auch eine andere Ziffernfolge der Paragraphen am Anfang und im dritten Hauptteil notwendig gemacht haben. So habe ich einen neuen § 3 „Systematische Stellung, Gliederung und Gesamtreform des Strafrechts" eingeschoben und § 2 auf die „Grundbegriffe des Strafrechts" beschränkt. Den Exkurs im alten § 9 „Verbrechen und Strafe im Rechtssystem der D D R " habe ich nicht mehr aufgenommen, da die Abtrennung der Strafrechtsordnung im anderen Teile Deutschlands von der gemeinsamen Wurzel des deutschen Rechts restlos vollzogen ist und es mir deswegen sachgerecht erschien, das Strafrecht der DDR als Modell einer sozialistischen Rechtsordnung überall dort einzuarbeiten, wo in dem Lehrbuch von fremdem Recht die Rede ist. Auch für die bisher in § 10 behandelte „Entstehungsgeschichte des Reichsstrafgesetzbuchs und seine Geschichte bis zur Gegenwart" möchte ich den Leser auf die Vorauflage verweisen. Statt dessen gebe ich in einem neuen § 10 nunmehr einen „Überblick über die Geschichte des deutschen Strafrechts", um die dogmengeschichtlichen Einleitungen zu den verschiedenen Institutionen des Allgemeinen Teils in ihren größeren Zusammenhang zu stellen. Völlig neu gestaltet wurde infolge des großen Wandels der Kriminalpolitik ferner der dritte Hauptteil des Lehrbuchs über „Die Rechtsfolgen der Straftat". Hier habe ich mich insbesondere bemüht, die tatsächliche Bedeutung der verschiedenen Sanktionen für die Strafrechtspflege, die Art und Weise ihrer Vollstreckung und ihre prozessuale Behandlung in die Darstellung der Vorschriften des Strafgesetzbuchs einzubeziehen. Entsprechend der allgemeinen Zielsetzung des Werkes habe ich den Anteil des ausländischen Rechts in der Neuauflage weiter ausgebaut und im dritten Hauptteil einen neuen § 70 über „Internationale Tendenzen in der modernen Kriminalpolitik" sowie neue Abschnitte über die Freiheitsstrafe und die Geldstrafe im Ausland und außerdem zahlreiche Einzelhinweise eingeschoben.

V o r w o r t zur 3. Auflage

Vermehrt wurden ferner die Verweisungen im Text, die dem Leser zeigen sollen, an welcher Stelle des Lehrbuchs das gleiche Problem in anderem Zusammenhang auftaucht. U m die Verweisungen auf Paragraphen des Lehrbuchs von den Zitaten der Paragraphen des Strafgesetzbuchs deutlich zu unterscheiden, wird für Verweisungen im Text stets das Wörtchen „oben" bzw. „unten" verwendet. Die bei den Studenten beliebten „Anleitungen zur Bearbeitung strafrechtlicher Fälle", die bisher als Anhang in dem Lehrbuch enthalten waren, habe ich in ein Bändchen „Fälle und Lösungen" aufgenommen, das in Kürze als Ergänzung zu dem Lehrbuch erscheinen wird. Es handelt sich dabei um das bisher als Beilage zur Vorlesung verteilte Unterrichtsmaterial, dessen Bereitstellung in vervielfältigter Form wegen der zu groß gewordenen Hörerzahl nicht mehr möglich ist. Die Literatur habe ich bis Ende Juni 1977, die Rechtsprechung bis zum 27. Band Heft 3 der Entscheidungen des Bundesgerichtshofes in Strafsachen eingearbeitet. Meinen gegenwärtigen und früheren Mitarbeitern im Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Strafrecht bin ich wiederum für vielfältige Hilfe zu größtem Dank verpflichtet. Fräulein Dr. Maria Gabriele Franke (f) und Herr Rechtsreferendar Wolfgang Beckmann haben die neu erschienene Literatur und Rechtsprechung verzeichnet. Für die Bereitstellung der Bücher sorgten die Diplom-Bibliothekarinnen Fräulein Ruth Biele und Fräulein Susanne Schreiber. Frau Rechtsreferendarin Karin Cornils hat das gesamte Manuskript durchgesehen. Herr Rechtsanwalt Rudolf Cornils hat wiederum das Sachregister angefertigt. Das Gesetzesregister wurde von Herrn Assessor Reinhard Kuhn und Herrn Rechtsreferendar Ferdinand Gillmeister fortgeführt, das Abkürzungs- und Allgemeine Literaturverzeichnis von Frau Diplom-Bibliothekarin Kirsten Mnich. Die Betreuung des Manuskripts und der Korrekturen lag wie bei der 2. Auflage in den bewährten Händen von Frau Irmela Jung. Herrn Professor Dr. Johannes Broermann und seinen Mitarbeitern gebührt erneut herzlicher Dank für die vorbildliche verlegerische Betreuung des Werkes, der Druckerei für die Herstellung eines Satzbildes, das dem Leser das Verständnis des Inhalts erleichtern wird. Freiburg i.Br., November 1977 Hans-Heinrich Jescheck

V o r w o r t z u r 2. Auflage Das Lehrbuch hat überall eine gute Aufnahme gefunden und war früher als gedacht vergriffen. Eine Neuauflage ist deswegen notwendig geworden. Sie findet noch immer keine abgeschlossene Rechtsentwicklung vor, sondern muß das Strafrecht, ebenso wie die erste Auflage, in einem Übergangszustand darstellen, der allerdings der angestrebten Endstufe des Reformwerks schon erheblich nähergerückt ist. Das Erste Gesetz zur Reform des Strafrechts vom 25.6.1969 ist in Kraft getreten und hat die kriminalpolitische Grundkonzeption des Allgemeinen Teils des Strafgesetzbuchs durch zahlreiche wichtige Neuerungen erheblich verändert. Das Zweite Gesetz zur Reform des Strafrechts vom 4.7.1969, das die Reform des Allgemeinen Teils zum Abschluß bringen soll, wird infolge der Verzögerung der parlamentarischen Arbeiten wahrscheinlich erst später wirksam werden können, als man geglaubt hat. Vorgesehen für das Inkrafttreten war ursprünglich der 1.10.1973 (Art. 7). Der Entwurf des Einführungsgesetzes zum Strafgesetzbuch wollte diesen Termin mit Rücksicht auf die Bedürfnisse der Länderjustizverwaltungen auf den 1.1.1974 verschieben (Art. 17 III). Wahrscheinlich wird der Geltungsbeginn des 2. Strafrechtsreformgesetzes aber noch länger auf sich warten lassen, denn die Beratung des Einführungsgesetzes im Sonderausschuß des Bundestages für die Strafrechtsreform hat noch nicht begonnen und wird viel Zeit in Anspruch nehmen, da der Entwurf auf zahlreichen Rechtsgebieten eine Fülle von Änderungen vorsieht und außerdem die kühne Absicht verfolgt, gewissermaßen nebenbei eine weitgehende Teilreform des Besonderen Teils durchzuführen. Wie sich das Schicksal des 2. Strafrechtsreformgesetzes aber auch immer entwickeln mag, die Vorschriften des zukünftigen Rechts sind sämtlich in die Neuauflage eingearbeitet, so daß das Lehrbuch auch nach dem dringend zu wünschenden Inkrafttreten dieses Gesetzes seine Aktualität behalten wird. Auch die Reform des Besonderen Teils des Strafgesetzbuchs ist im Gange und äußert ihre mannigfachen Rückwirkungen auf den Allgemeinen Teil. Die vom Bundestag noch nicht abschließend beratenen Entwürfe des 4. Strafrechtsreformgesetzes (Familien- und Sittlichkeitsdelikte) und des 5. Strafrechtsreformgesetzes (Schwangerschaftsabbruch und freiwillige Sterilisation) sind in der Neuauflage berücksichtigt. Dem Reformteil des Entwurfs des Einführungsgesetzes (Art. 18) sind gelegentliche Hinweise auf die Absichten des Gesetzgebers entnommen. Verzögern wird sich wahrscheinlich auch die parlamentarische Behandlung des Strafvollzugsgesetzes, das sinnvollerweise nur zusammen mit dem 2. Strafrechtsreformgesetz in Kraft treten kann. Der Entwurf dieses Gesetzes in der vom Bundeskabinett beschlossenen Fassung ist in der Neuauflage ebenfalls berücksichtigt. Aufbau und Darstellungsweise des Lehrbuchs sind unverändert geblieben. Im Text selbst habe ich jedoch zahlreiche Eingriffe vorgenommen, um den Ausdruck zu verbessern, den Gedankengang zu verdeutlichen, übersehene Probleme nachzutragen und ungenügend behandelte Fragen zu vertiefen. Insbesondere mußte der

II

V o r w o r t zur 2. Auflage

Dritte Hauptteil des Buches über die Rechtsfolgen der Straftat infolge des großen Wandels in der Kriminalpolitik fast vollständig umgeschrieben werden. Ferner bin ich überall in die Diskussion mit der in reichem Maße neu erschienenen oder neu aufgelegten Strafrechtsliteratur eingetreten und habe dankbar die Kritik aufgegriffen, die der ersten Auflage in einer der Sache sehr förderlichen Weise im In- und Ausland zuteil geworden ist. Die Einarbeitung der Rechtsprechung konnte bis zum 24. Bande der Entscheidungen des Bundesgerichtshofs fortgeführt werden. Das ständige Bemühen um die Wiedergabe des Sachverhalts der Entscheidungen soll auch den Benutzer der Neuauflage dazu anregen, nicht nur die Leitsätze der Rechtsprechung zu bedenken, sondern auch auf die typische Fallgestaltung zu achten. Endlich habe ich die rechtsvergleichenden Abschnitte des Buches auf Spanien und die Niederlande ausgedehnt. Meinen Mitarbeitern im Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Strafrecht bin ich für ihre vielfältige Hilfe zu größtem Dank verpflichtet. Herr Dr. Klaus Letzgus hat fast das gesamte Manuskript mit mir durchgesprochen und wesentliche Verbesserungen und Ergänzungen angeregt. Herr Gerichtsreferendar Rudolf Cornils hat das Sachregister, Herr Gerichtsreferendar Hans Gerhard Ganter das Gesetzesregister für die 2. Auflage selbständig fortgeführt. Das Manuskript und die Korrektur wurden mit größter Sachkunde und Gewissenhaftigkeit von Frau Irmela Jung betreut, die dabei zuverlässig von Frau Edeltraut Meßmer unterstützt wurde. Für die laufende Bereitstellung der Literatur sorgten Frau Kirsten Dreysse und Frau Dora Holderer. Ein besonders herzlicher Dank gebührt wieder Herrn Ministerialrat a.D. Dr. Johannes Broermann dafür, daß er in echt wissenschaftlichem Geist die Neuauflage trotz der fortdauernden Übergangszeit gewagt und mir außerdem die Einarbeitung neuer Literatur und Rechtsprechung bis zum Abschluß der Fahnenkorrektur ermöglicht hat. Ebenso bin ich den Mitarbeitern des Verlages Duncker & Humblot für die Sorgfalt, die sie auch der Neuauflage des Buches in jeder Weise angedeihen ließen, aufrichtig verbunden. Freiburg i.Br., August 1972 Hans-Heinrich Jescheck

V o r w o r t zur 1. Auflage Nach vielen Vorarbeiten habe ich mich entschlossen, ein Lehrbuch des Allgemeinen Teils des Strafrechts zu veröffentlichen. Die Grundidee zu diesem Werk stammt aus den Jahren 1954 bis 1959, in denen ich als Mitglied der Großen Strafrechtskommission die Entstehung des Entwurfs 1962 miterlebt habe. Ich hatte mir damals ein Lehrbuch vorgenommen, das die Brücke zwischen dem geltenden Strafrecht und dem Entwurf eines neuen Strafgesetzbuchs schlagen sollte. Inzwischen ist der Ε 1962 allerdings durch die Beratungen des Sonderausschusses des Bundestags für die Strafrechtsreform stark umgestaltet worden (E 1962/AF), aber die „Reform der Reform" ist doch in eine Richtung gegangen, der ich mich im wesentlichen anschließen kann. Eingearbeitet sind die Ergebnisse der 2. Lesung des neuen Allgemeinen Teils im Sonderausschuß für die Strafrechtsreform vom Dezember 1968 und der Entwurf des 9. Strafrechtsänderungsgesetzes (E/9. StÄG), durch das die dringendsten Reformforderungen vorweg erfüllt werden sollen. Der E/9. StÄG hat inzwischen die Bezeichnung Erstes Gesetz zur Reform des Strafrechts erhalten. Dieses Gesetz soll am 1.4.1970 in Kraft treten. Die neuen Bestimmungen über die Einschränkung der kurzfristigen Freiheitsstrafe und über die obligatorische Strafaussetzung zur Bewährung bei Freiheitsstrafen unter 6 Monaten sollen sogar schon auf den 1.9.1969 vorgezogen werden. Die Gesamtreform des Allgemeinen Teils, die in diesem Buch unter dem Arbeitstitel Ε 1962/AF behandelt wird, hat die Bezeichnung Zweites Gesetz zur Reform des Strafrechts erhalten. Das zweite Reformgesetz soll am 1.10.1973 in Kraft treten. Der Besondere Teil wird nach und nach durch Novellengesetze reformiert werden. Das Lehrbuch folgt der herkömmlichen Methode theoretischer Erörterung der Dogmatik des Allgemeinen Teils. Es versucht jedoch, die rein juristischen Darlegungen durch eine Fülle praktischer Beispiele zu veranschaulichen. Die Beispiele sind fast ausschließlich der Rechtsprechung entnommen und so ausgewählt, daß der Leser sich das geltende Recht auch anhand der im anglo-amerikanischen Lehrsystem erprobten „case method" erarbeiten kann. Die historische Dimension des Strafrechts ist durch zahlreiche dogmengeschichtliche Einleitungen und Überblicke sichtbar gemacht. Dagegen wurde auf einen eigentlichen Abriß der Geschichte des deutschen Strafrechts verzichtet, da eine Darstellung der Vergangenheit, wenn sie in der gebotenen Kürze gegeben würde, das Bild der Jahrhunderte zu stark vereinfachen müßte. Auch das Jugendstrafrecht wurde nicht aufgenommen, da es ein selbständiges Rechtsgebiet geworden ist. Das Lehrbuch ist endlich bemüht, das Strafrecht als Teil eines internationalen Kulturzusammenhangs zu verstehen. Ausländische Literatur wird deswegen allenthalben verwendet, und vielfach wird der jeweiligen Regelung eines Problems im deutschen Recht eine kurze Darstellung einiger repräsentativer Auslandsrechte gegenübergestellt, um den deutschen Leser zur Rechtsvergleichung anzuregen, den ausländischen in das deutsche Recht besser einzuführen. Ein Exkurs über das Strafrecht der DDR (§ 9) soll die Situation des geteilten Landes vergegenwärtigen und das Verständnis für die Entwicklung im anderen Teil Deutschlands erhalten helfen.

I

V o r w o r t zur 1. Auflage

Auf die kriminalpolitischen Abschnitte des Buches ist besonderer Wert gelegt. Daß sie dort, wo das geltende Recht behandelt wird, kurz gefaßt sind, erklärt sich aus der gegenwärtigen Ubergangslage. Ein voller Ausbau dieser Teile wird erst möglich sein, wenn der neue Allgemeine Teil des Strafgesetzbuchs in Kraft sein wird und beurteilt werden kann, wie sich das durch die beiden Reformgesetze grundlegend veränderte System der kriminalrechtlichen Behandlung bewährt hat. Literatur und Rechtsprechung konnten bis Ende Dezember 1968 berücksichtigt werden. Meine am Schluß des Textes eingefügten Anleitungen zur Lösung von Strafrechtsfällen sind bei den Studenten seit Jahren beliebt und wurden deshalb in das Lehrbuch aufgenommen. Für die selbständige Aufstellung des Sachverzeichnisses habe ich Herrn Assessor Klaus Letzgus, für die des Gesetzesregisters Herrn Referendar Bernd Kießling zu danken. Fräulein Liese-Lotte Köcher besorgte in vorbildlicher Weise die Reinschrift des Manuskripts. Frau Güda Möller hat mir bei den Korrekturarbeiten große Hilfe geleistet. Die laufende Bereitstellung der Literatur verdanke ich Fräulein Gertrud Henkel und Frau Dora Holderer. Herrn Ministerialrat a.D. Dr. Johannes Broermann danke ich aufrichtig dafür, daß er dieses Buch trotz der Risiken der gegenwärtigen Ubergangszeit auf dem Gebiet des Strafrechts in seinen Verlag aufgenommen und daß er für die äußere Gestaltung des Textes eine Form gefunden hat, die dem Leser das Verständnis des Stoffs wesentlich erleichtert. Freiburg i.Br., März 1969 Hans-Heinrich Jescheck

Inhaltsverzeichnis Abkürzungsverzeichnis

XXXIII

Einleitung: Allgemeine Grundlagen §1

Die Aufgabe des Strafrechts I. Der Schutz der Gesellschaft II. Repressive und präventive Funktion des Strafrechts

§2

Grundbegriffe des Strafrechts

9

II. Straftat, Strafe und Maßregel

10 13 14

Systematische Stellung, Gliederung und Gesamtreform des Strafrechts, Einigungsvertrag I. Das Strafrecht als öffentliches Recht II. Die drei Hauptgebiete des Strafrechts

15 16 16

III. Der Allgemeine und der Besondere Teil des StGB

18

IV. Die Gesamtreform des deutschen Strafrechts

19

V. Das Strafrecht nach dem Einigungsvertrag Grundsätze der Kriminalpolitik I. Der Schuldgrundsatz II. Der Grundsatz der Rechtsstaatlichkeit III. Der Grundsatz der Humanität §5

2 4 7

III. Nicht-kriminelle Strafen

§4

1

III. Rechtsgüterschutz und Schutz der sozialethischen Handlungswerte

I. Strafrecht und Strafgewalt

§3

1

Kriminalität und Strafrechtsanwendung im Spiegel der Statistik I. Allgemeines zur Kriminalstatistik

20 21 23 26 27 28 29

II. Die Entwicklung der gerichtlich festgestellten Gesamtkriminalität (Verbrechen und Vergehen) im Deutschen Reich und in der Bundesrepublik Deutschland von 1882 bis 1991 30

XVI

Inhaltsverzeichnis

III. Die Entwicklung der gerichtlich festgestellten Jugendkriminalität im Deutschen Reich und in der Bundesrepublik Deutschland von 1882 bis 1991 sowie der Kriminalität der Heranwachsenden von 1954 bis 1991 32 IV. Bekanntgewordene und aufgeklärte Straftaten V. Verwendung der Strafen und Maßregeln

§6

38

Die Kriminalwissenschaften

39

II. Die Kriminologie und ihre Nachbardisziplinen

46

49

1. Kapitel: Die Bestandteile des Strafgesetzes

49

Die Straftat II. Der fragmentarische und akzessorische Charakter des Strafrechts . .

49 49 52

III. Tatstrafrecht und Täterstrafrecht

54

IV. Die Einteilung der strafbaren Handlungen

55

V. Straftaten und Ordnungswidrigkeiten Die Strafe

56 60

I. Ursprung, Rechtfertigung und Wesen der Strafe

63

II. Die Möglichkeiten der Sinngebung für die Strafe

66

III. Die absoluten Straftheorien

§9

42

Erster Hauptteil: Das Strafgesetz

I. Die Straftat als strafwürdiges Unrecht

§8

35

VI. Strafgefangene und Verwahrte 1969 - 1991 jeweils am 31.3. nach der Art und Dauer der Freiheitsentziehung und dem Lebensalter . . . .

I. Die Strafrechtswissenschaft (materielles Strafrecht) und ihre Nachbardisziplinen

§7

34

70

IV. Die relativen Straftheorien

71

V. Die Vereinigungstheorien

75

VI. Die bedingte Verurteilung

79

Die Maßregel

82

I. Die Zweispurigkeit des Strafrechts II. Rechtfertigung und Krisis der Zweispurigkeit III. Voraussetzungen und Dauer der Maßregeln

83 86 88

Inhaltsverzeichnis

2. Kapitel: Die Quellen des Strafrechts

90

§10 Uberblick über die Geschichte des deutschen Strafrechts bis zum Reichsstrafgesetzbuch von 1871 I. Die germanische Zeit II. Die fränkische Zeit

90 91 91

III. Das Mittelalter

92

IV. Die Rezeption des römisch-italienischen Rechts

93

V. Das gemeine Recht VI. Die Aufklärung VII. Die Epoche der Partikularstrafrechte VIII. Die Entstehung des Reichsstrafgesetzbuchs von 1871

94 95 96 96

§ 11 Die Reform des materiellen deutschen Strafrechts

97

I. Die Reform bis zum ersten Weltkrieg

99

II. Das kriminalpolitische Reformwerk der Weimarer Republik

99

III. Die Strafrechtsreform unter dem Nationalsozialismus und die Reaktion der Besatzungsmächte 100 IV. Das Reformwerk der Bundesrepublik § 12 Bundesrechtliche Strafrechtsquellen außerhalb des StGB I. Kodifiziertes und nicht-kodifiziertes Strafrecht II. Die strafrechtlichen Hauptgesetze

101 108 108 109

III. Die strafrechtlichen Nebengesetze

111

IV. Das Gewohnheitsrecht

111

§13 Die Rangordnung der Strafrechtsquellen I. Das Verhältnis von Bundes-und Landesstrafrecht II. Das Verhältnis von Gesetzes-und Verordnungsstrafrecht §14 Das Völkerstrafrecht I. Das Verhältnis von staatlichem Strafrecht und Völkerstrafrecht II. Die Entwicklung des Völkerstrafrechts

113 113 115 116 . . . 118 119

III. Die juristischen Voraussetzungen des Völkerstrafrechts

123

IV. Die Tatbestände des Völkerstrafrechts

124

3. Kapitel: Strafgesetz und Rechtsstaat §15 Die Garantiefunktion des Strafgesetzes

126 126

I. Die Bedeutung der legislativen Technik für die Garantiefunktion des Strafgesetzes 128

XVIII

Inhaltsverzeichnis

II. Die geschichtliche Entwicklung des Gesetzlichkeitsprinzips

131

III. Die Garantiefunktion des Strafgesetzes im geltenden Recht

133

IV. Das Rückwirkungsverbot insbesondere

137

§16 Der Grundsatz „in dubio pro reo" und die Wahlfeststellung

143

I. Wesen und Rechtsnatur des Grundsatzes „in dubio pro reo" und sein Verhältnis zur Wahlfeststellung 143 II. Der Grundsatz „in dubio pro reo" nach geltendem Recht III. Entwicklung, heutiger Umfang und Beurteilung der Wahlfeststellung §17 Die Auslegung der Strafgesetze I. Die Argumente der juristischen Logik II. Auslegung und Subsumtion

145 147 150 151 152

III. Notwendigkeit und Freiheit der Auslegung

154

IV. Die Arten der Auslegung

154

4. Kapitel: Der Geltungsbereich des deutschen Strafrechts §18 Der internationale Geltungsbereich

160 161

I. Begriff, Grenzen und Grundgedanken des internationalen Strafrechts 163 II. Die Prinzipien des internationalen Strafrechts

167

III. Das internationale Strafrecht des StGB

171

IV. Der Begehungsort

177

V. Der Vorsatz im internationalen Strafrecht VI. Außerstrafrechtliche Begriffe des internationalen Strafrechts VII. Exkurs: Europäisches Strafrecht §19 Der persönliche Geltungsbereich

180 180 182 186

I. Der Begriff des persönlichen Geltungsbereichs des deutschen Strafrechts 187 II. Indemnität und Immunität nach Verfassungsrecht III. Die völkerrechtlichen Privilegien § 20 Der innerdeutsche Geltungsbereich

187 189 190

I. Begriff, Geltung und Anknüpfungspunkte des interlokalen Strafrechts 190 II. Die Entwicklung des interlokalen Strafrechts und seine Anwendung innerhalb der Bundesrepublik vor dem Beitritt der D D R 192 III. Die Beziehungen zwischen dem Strafrecht der Bundesrepublik und dem fortgeltenden Strafrecht der ehemaligen D D R 192

Inhaltsverzeichnis

XIX

Zweiter Hauptteil: Die Straftat

194

1. Kapitel: Allgemeine Grundlagen

194

§21 Sinn, Methodik und Aufbau der allgemeinen Verbrechenslehre

194

I. Der Sinn der allgemeinen Verbrechenslehre

194

II. Die Methodik der allgemeinen Verbrechenslehre

196

III. Die Bildung des Verbrechensbegriffs

198

§ 22 Die Entwicklungsstufen der neueren Verbrechenslehre

199

I. Die Vorstufen der neueren Verbrechenslehre

200

II. Der klassische Verbrechensbegriff

201

III. Der neoklassische Verbrechensbegriff

204

IV. Die Strafrechtslehre der Kieler Schule

208

V. Der Verbrechensbegriff des Finalismus

209

VI. Die neueste Entwicklung

214

§ 23 Der strafrechtliche Handlungsbegriff und die damit zusammenhängenden Fragen

217

I. Notwendigkeit, Aufgabe und Erfordernisse des Handlungsbegriffs . 218 II. Aufbau und Kritik des kausalen Handlungsbegriffs

219

III. Aufbau und Kritik des finalen Handlungsbegriffs

220

IV. Der negative Handlungsbegriff

222

V. Der personale Handlungsbegriff

222

VI. Der soziale Handlungsbegriff

222

VII. Sanktionen gegen juristische Personen und Personenvereinigungen 226 VIII. Das Handeln für einen anderen (Organ- und Vertreterhaftung)

. . . 229

2. Kapitel: Das vorsätzliche Begehungsdelikt

232

1. A b s c h n i t t : D i e R e c h t s w i d r i g k e i t

232

Unterabschnitt a): Die Rechtswidrigkeit

und ihr Verhältnis zum Tatbestand 233

§ 24 Begriff und Wesen der Rechtswidrigkeit I. Formelle und materielle Rechtswidrigkeit II. Die Rechtsnorm als Bewertungs- bzw. Bestimmungsnorm III. Erfolgsunwert und Handlungsunwert im Unrecht

233 233 236 238

XX

Inhaltsverzeichnis

§ 25 Rechtswidrigkeit und Tatbestand

244

I. Der Tatbestand als Unrechtstypus

244

II. „Offene" Tatbestände und gesamttatbewertende Merkmale

247

III. Die Lehre von den negativen Tatbestandsmerkmalen

248

IV. Tatbestand und soziale Adäquanz

251

V. Tatbestand und „viktimodogmatisches" Prinzip

253

§ 26 Der Aufbau der strafrechtlichen Tatbestände

254

I. Rechtsgut und Handlungsobjekt

256

II. Die Typen der Tatbestände

260

III. Die Bildung von Tatbestandsgruppen

268

IV. Deskriptive und normative Tatbestandsmerkmale

269

V. Besonders schwere Fälle, minder schwere Fälle, Regelbeispiele

. . . 270

Unterabschnitt b): Die Merkmale des Unrechtstatbestandes § 27 Die objektiven Tatbestandsmerkmale I. Das Wesen des „Objektiven" im Tatbestand II. Die objektiven Tatbestandsmerkmale im einzelnen § 28 Kausalität und objektive Zurechnung

272 272 273 274 275

I. Kausalität und objektive Zurechnung als Grundlagen der strafrechtlichen Verantwortlichkeit 277 II. Die Feststellung der Kausalität

279

III. Beschränkungen der objektiven Zurechnung nach der überlieferten Lehre

284

IV. Die neuere Lehre von der objektiven Zurechnung

286

V. Die individualisierenden Kausalitätstheorien § 29 Vorsatz und Tatbestandsirrtum I. Das Erfordernis vorsätzlicher Tatbegehung II. Herkunft, Wesen und Gegenstand des Vorsatzes

289 289 291 292

III. Die Arten des Vorsatzes

297

IV. Finalität und Vorsatz

304

V. Der Tatbestandsirrtum § 30 Die subjektiven Tatbestandsmerkmale

305 316

I. Wesen, Entdeckung und Abgrenzung der subjektiven Tatbestandsmerkmale 317

Inhaltsverzeichnis

II. Die subjektiven Tatbestandsmerkmale im geltenden Recht III. Die Behandlung der subjektiven Tatbestandsmerkmale

Unterabschnitt c): Der Ausschluß der Rechtswidrigkeit

319 320

321

§ 31 Die allgemeinen Grundlagen der Rechtfertigung tatbestandsmäßiger Handlungen 321 I. Das Verhältnis von Verbotsnorm und Erlaubnissatz II. Die Systematik der Rechtfertigungsgründe

322 325

III. Herkunft und Typisierung der Rechtfertigungsgründe

327

IV. Die subjektiven Rechtfertigungselemente

328

V. Die irrtümliche Annahme von Rechtfertigungsgründen VI. Die Wirkung der Rechtfertigungsgründe VII. Strafmilderung bei nur teilweise gegebener Rechtfertigung §32 Die Notwehr I. Das Wesen der Notwehr II. Der Aufbau des Notwehrbegriffs

331 332 334 334 336 338

III. Einschränkungen des Notwehrrechts

344

IV. Die Nothilfe

348

V. Notwehr und Menschenrechtskonvention VI. Notwehrexzeß und Putativnotwehr

349 350

VII. Ausländisches Recht

350

§ 33 Der rechtfertigende Notstand

351

I. Die Unterscheidung der Notstandsarten II. Die Sachwehr (zivilrechtlicher Verteidigungsnotstand)

353 355

III. Der zivilrechtliche Angriffsnotstand

357

IV. Der rechtfertigende Notstand (§ 34)

359

V. Die rechtfertigende Pflichtenkollision VI. Die behördliche Erlaubnis als Rechtfertigungsgrund VII. Ausländisches Recht § 34 Einwilligung und mutmaßliche Einwilligung des Verletzten

365 368 370 371

I. Die Zustimmung des Betroffenen und ihre Behandlung im Straf recht 372 II. Die Einwilligung als Rechtfertigungsgrund III. Der Wirkungsbereich der rechtfertigenden Einwilligung

376 378

XXII

Inhaltsverzeichnis

IV. Die Erfordernisse der Einwilligungserklärung V. Die Kenntnis des Täters von der Einwilligung VI. Ausländisches Recht VII. Die mutmaßliche Einwilligung § 35 Das Handeln aufgrund von Amtsrechten und verwandte Fälle I. Die Anwendung staatlichen Zwangs als Rechtfertigungsgrund . . . .

381 383 384 385 389 390

II. Dienstliche Anordnung und militärischer Befehl als Rechtfertigungsgründe 393 III. Das Züchtigungsrecht

395

IV. Das Handeln „pro magistratu"

397

§ 36 Das erlaubte Risiko I. Das erlaubte Risiko als Strukturprinzip II. Rechtfertigungsgründe mit der Struktur des erlaubten Risikos . . . .

2. A b s c h n i t t : D i e S c h u l d Unterabschnitt a): Die Grundlagen der Schuldlehre § 37 Die anthropologischen Grundlagen des Schuldbegriffs I. Schuldgrundsatz und Willensfreiheit

400 401 401

404 405 405 407

II. Das Gewissen als Quelle des Rechts- und Unrechtsbewußtseins . . . 413 III. Das Modell vom Schichtenaufbau der Persönlichkeit §38 Die dogmatischen Grundlagen des Schuldbegriffs I. Rechtsschuld und sittliche Schuld II. Die Entwicklungsstufen der Schuldlehre

415 417 418 419

III. Formeller und materieller Schuldbegriff

422

IV. Einzeltatschuld und Lebensführungsschuld

423

§39 Abgrenzung, Inhalt und Aufbau des Schuldbegriffs I. Rechtswidrigkeit und Schuld II. Der Gegenstand des Schuldurteils

424 425 426

III. Der Maßstab des Schuldurteils

427

IV. Die Merkmale des Schuldbegriffs (Strafbegründungsschuld)

429

Inhaltsverzeichnis

Unterabschnitt b): Die Merkmale der Schuld

430

§ 40 Die Schuldfähigkeit (Zurechnungsfähigkeit)

430

I. Der Begriff der Schuldfähigkeit

433

II. Die Stufen der Schuldfähigkeit

434

III. Schuldunfähigkeit wegen seelischer Störungen

437

IV. Verminderte Schuldfähigkeit

443

V. Ausländisches Recht VI. Die actio libera in causa VII. Die Behandlung der Trunkenheit im Strafrecht §41 Bewußtsein der Rechtswidrigkeit und Verbotsirrtum

444 445 448 449

I. Das Bewußtsein der Rechtswidrigkeit als Schuldmerkmal

452

II. Der Irrtum über die Verbotsnorm (direkter Verbotsirrtum)

456

III. Der Irrtum über Rechtfertigungsgründe (indirekter Verbotsirrtum) 461 IV. Der Erlaubnistatbestandsirrtum V. Ausländisches Recht § 42 Der Schuldtatbestand und seine Merkmale I. Wesen und Funktion des Schuldtatbestandes II. Die Merkmale des Schuldtatbestandes III. Irrtums- und Teilnahmeprobleme

Unterabschnitt c): Die Entschuldigungsgründe

462 467 469 469 471 473

475

§ 43 Die Grundlagen der Entschuldigung tatbestandsmäßig-rechtswidriger Handlungen I. Ausschluß der Rechtswidrigkeit und Entschuldigung II. Schuldausschluß und Entschuldigung III. Die Grundgedanken der Entschuldigungsgründe

475 475 476 477

§ 44 Der entschuldigende Notstand

479

I. Die Notstandslage

481

II. Die Notstandshandlung

483

III. Die Einschränkung des Notstands durch die Zumutbarkeitsklausel. 484 IV. Strafmilderung bei Zumutbarkeit der Notstandslage V. Der Irrtum über den Notstand VI. Ausländisches Recht

487 488 489

XXI

Inhaltsverzeichnis

§ 45 Die Notwehrüberschreitung

490

I. Notwehr und Notwehrüberschreitung

490

II. Überschreitung der Notwehr aus Verwirrung, Furcht oder Schrecken 491 § 46 Das Handeln auf dienstliche Weisung

494

I. Das Handeln auf dienstliche Weisung als Rechtfertigungs- bzw. als Entschuldigungsgrund 494 II. Die Grenzen der entschuldigenden Wirkung einer unverbindlichen Weisung 496 III. Ausländisches Recht

498

§ 47 Pflichtenkollision, Unzumutbarkeit und Gewissensentscheidung als übergesetzliche Entschuldigungsgründe 500 I. Die Pflichtenkollision als übergesetzlicher Entschuldigungsgrund . . 501 II. Die Unzumutbarkeit als übergesetzlicher Entschuldigungsgrund III. Die Straftat aufgrund einer Gewissensentscheidung

. . 503 505

§ 48 Der Irrtum über Entschuldigungsgründe

507

I. Die Rechtsnatur des Irrtums über Entschuldigungsgründe

507

II. Die Behandlung des Irrtums über die Voraussetzungen eines Entschuldigungsgrundes 508

3. A b s c h n i t t : D i e S t u f e n d e r v o r s ä t z l i c h e n § 49 Begriff, Tatbestand und Bestrafung des Versuchs I. Überblick über die Dogmengeschichte des Versuchs

Straftat

509 509 511

II. Der Strafgrund des Versuchs

512

III. Der Tatbestand des Versuchs

515

IV. Die Abgrenzung von Versuch und Vorbereitung

518

V. Die Bestrafung des Versuchs VI. Die Bestrafung von Vorbereitungshandlungen

521 523

VII. Sonderfälle des Versuchs

524

VIII. Das Unternehmensdelikt

526

IX. Ausländisches Recht § 50 Der untaugliche Versuch und das Wahndelikt I. Die Strafbarkeit des untauglichen Versuchs II. Die Straflosigkeit des Wahndelikts III. Der Irrtum über die Tauglichkeit des Subjekts

527 529 529 532 534

Inhaltsverzeichnis

§51 Der Rücktritt vom Versuch

536

I. Der Rechtsgrund der Straflosigkeit bei freiwilligem Rücktritt vom Versuch 538 II. Die Unterscheidung von unbeendigtem und beendigtem Versuch . . 540 III. Der Rücktritt vom unbeendigten Versuch (§ 24 I 1 erste Alternative) 543 IV. Der Rücktritt vom beendigten Versuch (§ 24 I 1 zweite Alternative) 545 V. Der Rücktritt vom vollendeten Delikt, von selbständigen Vorbereitungshandlungen und vom Unternehmensdelikt 547 VI. Die Wirkung des Rücktritts

548

4. A b s c h n i t t : V o r a u s s e t z u n g e n d e r S t r a f b a r k e i t außerhalb von Unrecht und Schuld § 52 Die persönlichen Strafausschließungs- und Strafaufhebungsgründe

551

....

551

I. Das Wesen der persönlichen Ausnahmen von der Strafbarkeit . . . .

551

II. Die Arten der persönlichen Ausnahmen von der Strafbarkeit

552

III. Die Behandlung der persönlichen Ausnahmen von der Strafbarkeit § 53 Die objektiven Bedingungen der Strafbarkeit

553 554

I. Begriff und Funktion der objektiven Bedingungen der Strafbarkeit . 555 II. Die einzelnen objektiven Bedingungen der Strafbarkeit III. Die Behandlung der objektiven Bedingungen der Strafbarkeit

558 . . . . 559

3. Kapitel: Die besonderen Erscheinungsformen der strafbaren Handlung

1 . A b s c h n i t t : Das f a h r l ä s s i g e

Βegehungsdelikt

§ 54 Begriff und Arten der Fahrlässigkeit I. Der Begriff der Fahrlässigkeit II. Arten und Grade der Fahrlässigkeit

560

561 561 563 568

III. Die Behandlung der Vorsatz-Fahrlässigkeitskombinationen

570

IV. Versuch und Teilnahme bei Fahrlässigkeitstaten

573

V. Ausländisches Recht § 55 Der Unrechtstatbestand der fahrlässigen Straftat I. Die Verletzung der objektiven Sorgfaltspflicht II. Eintritt, Verursachung und Voraussehbarkeit des Erfolgs

575 576 577 582

XXVI

Inhaltsverzeichnis

§ 56 Die Rechtfertigungsgründe bei der fahrlässigen Straftat

587

I. Die Anwendbarkeit der Rechtfertigungsgründe bei fahrlässigen Straftaten 588 II. Notwehr, rechtfertigender Notstand und Einwilligung des Verletzten bei Fahrlässigkeitstaten 589 III. Sonderprobleme beim erlaubten Risiko und verkehrsrichtigen Verhalten

§ 57 Die Schuld bei der fahrlässigen Straftat

591

592

I. Schuldfähigkeit und Unrechtsbewußtsein

593

II. Die Erkennbarkeit und Erfüllbarkeit der objektiven Sorgfaltspflicht

594

III. Die subjektive Voraussehbarkeit des Erfolgs und des Kausalverlaufs . 596 IV. Die Unzumutbarkeit normgemäßen Verhaltens

597

2. A b s c h n i t t : D a s U n t e r l a s s u n g s d e l i k t

598

§ 58 Begriff, Arten und Grundproblematik des Unterlassungsdelikts

598

I. Grundzüge der Dogmengeschichte der Unterlassungsdelikte II. Die Unterscheidung von positivem Tun und Unterlassen

600 601

III. Die Unterscheidung von echten und unechten Unterlassungsdelikten 605 IV. Die Garantiefunktion des Strafgesetzes bei den gesetzlich nicht geregelten unechten Unterlassungsdelikten 608 V. Fakultative Strafmilderung bei unechten Unterlassungsdelikten VI. Ausländisches Recht

§ 59 Der Tatbestand des Unterlassungsdelikts I. Das Vorliegen der tatbestandsmäßigen Situation

. . . 610 612

613 615

II. Das Ausbleiben der erwarteten Handlung und die individuelle Handlungsfähigkeit 616 III. Erfolg und Kausalität bei den unechten Unterlassungsdelikten . . . . 617 IV. Die Garantenstellung beim unechten Unterlassungsdelikt (erstes Gleichstellungskriterium) 620 V. Die Entsprechung in den Handlungsmerkmalen (zweites Gleichstellungskriterium) 629 VI. Der Vorsatz bei den Unterlassungsdelikten

630

VII. Die Fahrlässigkeit bei den Unterlassungsdelikten

633

VIII. Die Zumutbarkeit bei den Unterlassungsdelikten

634

Inhaltsverzeichnis

§ 60 Unrechtsbewußtsein und Gebotsirrtum, Versuch und Teilnahme bei den Unterlassungsdelikten 635 I. Unrechtsbewußtsein und Gebotsirrtum II. Der Versuch der Unterlassung III. Unterlassung und Teilnahme

4. Kapitel: Täterschaft und Teilnahme §61 Die Grundlagen der Lehre von Täterschaft und Teilnahme

636 637 639

641 641

I. Die systematische Stellung der Lehre von Täterschaft und Teilnahme 643 II. Der Einheitstäterbegriff und die Unterscheidung verschiedener Beteiligungsformen 645 III. Restriktiver Täterbegriff und objektive Teilnahmetheorie

648

IV. Extensiver Täterbegriff und subjektive Teilnahmetheorie

649

V. Die Lehre von der Tatherrschaft VI. Die Beteiligung an der fahrlässigen Straftat

651 654

VII. Die Abhängigkeit der Teilnahme von der Haupttat (Akzessorietät) 655 VIII. Ausländisches Recht § 62 Die mittelbare Täterschaft I. Wesen und Abgrenzung der mittelbaren Täterschaft II. Die Fallgruppen der mittelbaren Täterschaft

661 662 663 665

III. Die Behandlung der Irrtumsfälle

670

IV. Versuch und Unterlassung bei der mittelbaren Täterschaft

672

§ 63 Die Mittäterschaft I. Begriff und Abgrenzung der Mittäterschaft II. Der gemeinsame Tatentschluß

673 674 678

III. Die gemeinschaftliche Tatausführung

679

IV. Versuch und Unterlassung bei der Mittäterschaft

681

V. Die Bestrafung der Mittäterschaft § 64 Anstiftung und Beihilfe I. Der Strafgrund der Teilnahme II. Die Anstiftung

682 683 684 686

III. Die Beihilfe

691

IV. Das Zusammentreffen mehrerer Beteiligungsformen

697

V. Die notwendige Teilnahme

697

XXVIII

Inhaltsverzeichnis

§ 65 Versuchte Anstiftung zum Verbrechen und andere Vorstufen der Beteiligung 700 I. Allgemeine Grundlagen II. Die versuchte Anstiftung (§ 30 I)

700 703

III. Verabredung, Annahme des Anerbietens, Erklärung der Bereitschaft in bezug auf Verbrechen (§ 30 II) IV. Der Rücktritt vom Versuch der Beteiligung (§31) V. Die Subsidiarität des § 30

5. Kapitel: Einheit und Mehrheit von Straftaten § 66 Handlungseinheit und Handlungsmehrheit I. Herkunft und Kriterien der Begriffe Handlungseinheit und Handlungsmehrheit

704 706 707

707 708 709

II. Die tatbestandliche Handlungseinheit im engeren Sinne

711

III. Die tatbestandliche Handlungseinheit im weiteren Sinne

712

IV. Handlungseinheit und Handlungsmehrheit bei Fahrlässigkeits- und Unterlassungsdelikten 713 V. Die fortgesetzte Handlung

§ 67 Die Idealkonkurrenz I. Das Wesen der Idealkonkurrenz II. Die Erscheinungsformen der Idealkonkurrenz

714

718 718 719

III. Sonderfälle der Idealkonkurrenz

722

IV. Die Behandlung der Idealkonkurrenz

723

V. Ausländisches Recht

§ 68 Die Realkonkurrenz I. Das Wesen der Realkonkurrenz II. Die Behandlung der Realkonkurrenz III. Die Bildung der Gesamtstrafe

§ 69 Die Gesetzeseinheit I. Das Wesen der Gesetzeseinheit

725

726 726 727 728

731 732

II. Die Fallgruppen der Gesetzeseinheit

733

III. Die Behandlung der Gesetzeseinheit

737

Inhaltsverzeichnis

Dritter Hauptteil: Die Rechtsfolgen der Straftat § 70 Tendenzen und Probleme der Kriminalpolitik I. Schuldausgleich und Prävention als Leitgesichtspunkte II. Die einzelnen Sanktionen

§ 71 Exkurs: Die Todesstrafe

XXIX

739 739 741 744

751

I. Die Abschaffung der Todesstrafe in Deutschland

752

II. Die Todesstrafe im Völkerrecht und im Ausland

753

1. Kapitel: Strafen und Nebenfolgen

755

§ 72 Die Freiheitsstrafe I. Die lebenslange Freiheitsstrafe II. Die zeitige Freiheitsstrafe

756 757 759

III. Die kurzfristige Freiheitsstrafe

759

IV. Der Vollzug der Freiheitsstrafe

763

V. Ausländisches Recht

§ 73 Die Geldstrafe und die Vermögensstrafe I. Die Geldstrafe im strafrechtlichen Sanktionensystem II. Die Bemessung der Geldstrafe nach dem Tagessatzsystem

765

766 767 770

III. Die Vollstreckung der Geldstrafe

774

IV. Die Vermögensstrafe (§ 43 a)

777

V. Die Geldstrafe im ausländischen Recht

780

§ 74 Das Fahrverbot

782

§ 75 Die Nebenfolgen

785

I. Der Verlust der Amtsfähigkeit, der Wählbarkeit und des Stimmrechts (§§ 45 -45b) 785 II. Die Bekanntgabe der Verurteilung (§§ 103 II, 165, 200)

§ 76 Verfall und Einziehung I. Der Verfall (§§73 - 73e) II. Die Einziehung (§§ 74 - 75)

788

789 790 796

XX

Inhaltsverzeichnis

III. Wirkung von Verfall und Einziehung

800

IV. Verfahren bei Verfall und Einziehung

800

2. Kapitel: Maßregeln der Besserung und Sicherung § 77 Maßregeln mit Freiheitsentziehung I. Allgemeines

801 801 802

II. Die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus (§ 63) . . 806 III. Die Unterbringung in einer Entziehungsanstalt (§ 64)

811

IV. Die Unterbringung in einer sozialtherapeutischen Anstalt

813

V. Die Unterbringung in der Sicherungsverwahrung (§ 66)

813

VI. Einspurigkeit im Vollzug der mit Freiheitsentziehung verbundenen Maßregeln 818

§ 78 Maßregeln ohne Freiheitsentziehung I. Die Führungsaufsicht (§§ 68 - 68 g) II. Die Entziehung der Fahrerlaubnis (§§ 69 - 69 b) III. Das Berufsverbot (§§ 70 - 70 b)

3. Kapitel: Strafaussetzung, Verwarnung mit Strafvorbehalt, Absehen von Strafe § 79 Aussetzung der Freiheitsstrafe zur Bewährung I. Die Strafaussetzung zur Bewährung (§§ 56 - 56 g) II. Die Aussetzung des Strafrestes zur Bewährung (§§ 57 - 57b)

§ 80 Die Verwarnung mit Strafvorbehalt I. Wesen und Rechtsnatur der Verwarnung II. Die kriminalpolitische Bedeutung der Verwarnung

820 821 825 829

832 832 833 849

855 855 856

III. Die Voraussetzungen der Verwarnung

858

IV. Inhalt und Durchführung der Entscheidung

860

§81 Absehen von Strafe und Straffreierklärung I. Das Absehen von Strafe nach § 60 II. Das Absehen von Strafe bei Täter-Opfer-Ausgleich

861 862 864

III. Das Absehen von Strafe bei vermindertem Unrecht oder geringer Schuld 867

Inhaltsverzeichnis

4. Kapitel: Die Strafzumessung § 82 Grundlagen der Strafzumessung I. Strafzumessung als Rechtsanwendung II. Strafzumessung und gesetzliche Strafrahmen

869 869 871 872

III. Gleichmäßigkeit der Strafzumessung

875

IV. Strafzumessung und Straf zwecke

876

V. Kontrolle der Strafzumessung durch die Revisionsgerichte VI. Ausländisches Recht § 83 Strafzumessungsrelevante Umstände I. Allgemeine Bedeutung von § 46 I I II. Der Unrechts- und Schuldgehalt der Tat

882 883 885 886 887

III. Die Persönlichkeit des Täters

889

IV. Das Verhalten des Täters nach der Tat

893

V. Besonderheiten des Strafverfahrens als Strafmilderungsgrund

897

VI. Gesetzlich vertypte Strafmilderungsgründe (§ 49)

899

VII. Das Verbot der Doppelverwertung (§§ 46 III, 50)

901

§ 84 Die Anrechnung im Verfahren erlittener Nachteile auf die Strafe I. Die Anrechnung der Untersuchungshaft II. Die Anrechnung vollstrecktet Strafen

5. Kapitel: Die Prozeßvoraussetzungen im StGB § 85 Strafantrag und Ermächtigung I. Der Strafantrag (§§ 77 - 77d) II. Ermächtigung und Strafverlangen (§ 77e) § 86 Verjährung

903 903 905

906 906 907 910 910

I. Die VerfolgungsVerjährung (§§ 78 - 78c) II. Die Vollstreckungsverjährung (§§ 79 - 79b)

6. Kapitel: Die Rehabilitation des Verurteilten § 87 Eintragungen im Bundeszentralregister und Tilgung von Eintragungen I. Entwicklung und Reform des Registerrechts II. Eintragungen in das Register

911 917

918 . 919 919 920

X X I I

Inhaltsverzeichnis

III. Auskunft aus dem Register

920

IV. Tilgung von Eintragungen

921

§ 88 Die Begnadigung

922

Allgemeines Literaturverzeichnis

927

Gesetzesregister

940

Sachverzeichnis

970

Abkürzungsverzeichnis a. Α.

anderer Ansicht

abl.

ablehnend

Abschn.

Abschnitt

abw.

abweichend

AcP

Archiv für die civilistische Praxis (zitiert nach Band, Jahr und Seite)

a. Ε.

am Ende

AE

Alternativ-Entwurf eines Strafgesetzbuches, Allgemeiner Teil, 2. Aufl. 1969

AE, Bes. Teil Polit. Strafr.

Alternativ-Entwurf eines Strafgesetzbuches, Besonderer Teil. Politisches Strafrecht, 1968

AE, Bes. Teil Sexualdelikte

Alternativ-Entwurf eines Strafgesetzbuches, Besonderer Teil. Sexualdelikte. Straftaten gegen Ehe, Familie und Personenstand usw., 1968

AE, Bes. Teil Straft, geg. d. Pers. 1. u. 2. Halbbd.

Alternativ-Entwurf eines Strafgesetzbuches, Besonderer Teil. Straftaten gegen die Person, 1. Halbband 1970; 2. Halbband 1971

AE-StVollzG

Alternativ-Entwurf eines Strafvollzugsgesetzes, 1973

AE-WGM

Alternativ-Entwurf Wiedergutmachung, 1992

a.F.

alte Fassung

AG

Amtsgericht

AHK

Alliierte Hohe Kommission

AIDP

Association Internationale de Droit Pénal

AJIL

American Journal of International Law (zitiert nach Band, Jahr und Seite)

A K (Verfassername)

Kommentar zum Strafgesetzbuch (Reihe Alternativkommentare) Bd. 1, §§ 1 - 21, 1990 (Hrsg. R. Wassermann)

A K GG (Verfassername)

Kommentar zum Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland (Reihe Alternativkommentare), Art. 38 - 146, 2. Aufl. 1989

A K StPO (Verfassername)

Kommentar zur Strafprozeßordnung (Reihe Alternativkommentare) Bd. 1 (§§ 1 - 93), 1988; Bd. 2, Teilbd. 1 (§§ 94 212b), 1992, Teilbd. 2 (§§ 213 - 275), 1993

XXXI

Abkürzungsverzeichnis

AktG

= Aktiengesetz vom 6.9.1965 (BGBl. I S. 1089 Nr. 51)

Allg. Teil

= Allgemeiner Teil

Schönfelder

ALR

= Allgemeines Landrecht für die Preußischen Staaten von 1794

a.M.

= anderer Meinung

An der pen

= Anuario de derecho penal y ciencias penales, Madrid (zitiert nach Jahr und Seite)

Anh.

= Anhang

Anm.

= Anmerkung

AO

= Abgabenordnung (AO 1977) vom 16.3.1976 (BGBl. I S. 613)

AÖR

= Archiv des öffentlichen Rechts (zitiert nach Band, Jahr und Seite)

ApothekenG

= Gesetz über das Apothekenwesen (BGBl. I S. 1993)

ArchVR

= Archiv des Völkerrechts (zitiert nach Band, Jahr und Seite)

ARSP

= Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie (zitiert nach Jahr und Seite)

i.d.F.

vom

15.10.1980

Art.

= Artikel

AtomG

= Gesetz über die friedliche Verwendung der Kernenergie und den Schutz gegen ihre Gefahren i.d.F. vom 15.7.1985 (BGBl. I S. 1565 - Sartorius I Nr. 835)

Aufl.

= Auflage

AuslG

= Ausländergesetz vom 9.7.1990 (BGBl. I S. 1354 - Sartorius I Nr. 565)

AV

= Allgemeine Verfügung

Avant-projet (français)

= Projet de loi portant réforme du code pénal. Présenté par Robert Badinter. No. 300. Sénat. Deuxième session extraordinaire de 1985 - 86. Annexe au procès-verbal du 20 février 1986.

AWG

= Außenwirtschaftsgesetz vom 28.4.1961 (BGBl. I S. 481)

BA

= Blutalkohol. Wissenschaftliche Zeitschrift für die medizinische und juristische Praxis (zitiert nach Jahr und Seite)

Bad. GVOBl.

= s. GVBl.

BAG

= Bundesarbeitsgericht

BAnz.

= Bundesanzeiger

BayGVBl.

= Bayerisches Gesetz- und Verordnungsblatt

BayLStVG

= Bayerisches Gesetz über das Landesstrafrecht und das Verordnungsrecht auf dem Gebiet der öffentl. Sicherheit und Ordnung (Landesstraf- und Verordnungsgesetz) i.d.F. vom 13.12.1982 (BayGVBl. S. 1098)

BayObLG

= Bayerisches Oberstes Landesgericht; Entscheidungen des Bayerischen Obersten Landesgerichts in Strafsachen, Neue Folge (zitiert nach Jahr und Seite)

Abkürzungsverzeichnis

BBG

= Bundesbeamtengesetz i.d.F. vom 27.2.1985 (BGBl. I S. 479 Sartorius I Nr. 160)

Bd.

= Band

BDH

= Bundesdisziplinarhof; Entscheidungen des Bundesdisziplinarhofes (zitiert nach Band und Seite)

Bdl

= Bundesministerium des Innern

BDO

= Bundesdisziplinarordnung i. d. F. vom 20.7.1967 (BGBl. I S. 751 Sartorius I Nr. 220)

Begr.

= Begründung

Bericht

= Bericht des Sonderausschusses „Strafrecht" des Deutschen Bundestages über die Beratung des Entwurfs eines Strafgesetzbuches (StGB) Ε 1962, in: Drucksachen des Deutschen Bundestages I V / 650 (1965)

Bes. Teil

= Besonderer Teil

BewH

= Bewährungshilfe (zitiert nach Jahr und Seite)

BGB

= Bürgerliches Gesetzbuch vom 18.8.1896 (RGBl. S. 195 - Schönfelder Nr. 20)

BGBl. I, II, I I I = Bundesgesetzblatt Teil I, Teil II, Teil I I I BGE

= Entscheidungen des schweizerischen Bundesgerichts, Amtliche Sammlung (zitiert nach Band, Teil, Jahr und Seite)

BGH

= Bundesgerichtshof; Entscheidungen des Bundesgerichtshofes in Strafsachen (zitiert nach Band und Seite)

B G H GS

= Bundesgerichtshof, Großer Senat für Strafsachen

BGHR

= BGH-Rechtsprechung Strafsachen (zitiert nach §, abgekürztem Stichwort und lfd. Nummer)

ΒGHZ

= Entscheidungen des Bundesgerichtshofes in Zivilsachen (zitiert nach Band und Seite)

BG Praxis

= Die Praxis des (schweiz.) Bundesgerichts, Basel (zitiert nach Band und Nummer der Entscheidung)

BinnenschG

= Gesetz betreffend die privatrechtlichen Verhältnisse der Binnenschiffahrt i.d.F. vom 20.5.1898 (RGBl. S. 868)

BJagdG

= Bundesjagdgesetz i.d.F. vom 29.9.1976 (BGBl. I S. 2849)

BJM, BMJ

= Bundesministerium der Justiz

BKA

= Bundeskriminalamt

BNotO

= Bundesnotarordnung i.d.F. vom 24.2.1961 (BGBl. I S. 97 Schönfelder Nr. 98 a)

BörsG

= Börsengesetz i.d.F. vom 27.5.1908 (RGBl. S. 215 - teilw. abgedr. in Schönfelder, Anm. zu § 764 BGB u. § 263 StGB)

BRAO

= Bundesrechtsanwaltsordnung vom 1.8.1959 (BGBl. I S. 565 Schönfelder Nr. 98)

XXXVI

Abkürzungsverzeichnis

BR-Drucksache = Entwurf eines Einführungsgesetzes zum Strafgesetzbuch 1/72 (EGStGB), Bundesrats-Drucksache 1/72 vom 3.1.1972 BRRG

= Rahmengesetz zur Vereinheitlichung des Beamtenrechts (Beamtenrechtsrahmengesetz) i.d.F. vom 27.2.1985 (BGBl. I S. 462 - Sartorius I Nr. 150)

BSeuchG

= Gesetz zur Verhütung und Bekämpfung übertragbarer Krankheiten beim Menschen (Bundes-Seuchengesetz) i.d.F. vom 18.12.1979 (BGBl. I S. 2262 - Sartorius I Nr. 293)

BSHG

= Bundessozialhilfegesetz i.d.F. vom 23.3.1994 (BGBl. I S. 646 Sartorius I Nr. 410)

BT-Drucksache = Erster Schriftlicher Bericht des Sonderausschusses für die StrafV/4094 rechtsreform über den Entwurf eines Strafgesetzbuches (StGB), Deutscher Bundestag, 5. Wahlperiode BT-Drucksache = Zweiter Schriftlicher Bericht des Sonderausschusses für die V/4095 Strafrechtsreform über den Entwurf eines Strafgesetzbuches (StGB), Deutscher Bundestag, 5. Wahlperiode BT-Drucksache = Gesetzentwurf der Bundesregierung. Entwurf eines Strafrechts10/2720 änderungsgesetzes (StÄG) BT-Drucksache = Beschlußempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses zu 10/4391 dem Entwurf eines Strafrechtsänderungsgesetzes - Gesetz zum weiteren Ausbau der Strafaussetzung zur Bewährung (StÄG) BtMG

= Gesetz über den Verkehr mit Betäubungsmitteln (Betäubungsmittelgesetz) i.d.F. vom 1.3.1994 (BGBl. I S. 359 - Sartorius I Nr. 275)

BVerfG

= Bundesverfassungsgericht

BVerfGE

= Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts Band und Seite)

(zitiert nach

BVerfGG

= Gesetz über das Bundesverfassungsgericht 11.8.1993 (BGBl. I S. 1473 - Sartorius I Nr. 40)

i.d.F.

BVerwG

= Bundesverwaltungsgericht

BVerwGE

= Entscheidungen des Bundesverwaltungsgerichts (zitiert nach Band und Seite)

BWahlG

= Bundeswahlgesetz i.d.F. vom 23.7.1993 (BGBl. I S. 1288 Sartorius I Nr. 30)

BwVollzO

= Verordnung über den Vollzug von Freiheitsstrafe, Strafarrest, Jugendarrest und Disziplinararrest durch Behörden der Bundeswehr (Bundeswehrvollzugsordnung) vom 29.11.1972 (BGBl. I S. 2205)

BZRG

= Gesetz über das Zentralregister und das Erziehungsregister (Bundeszentralregistergesetz) i.d.F. vom 21.9.1984 (BGBl. I S. 1229 - Schönfelder Nr. 92)

Cass.

= Cour de Cassation; Urteil der französischen Cour de Cassation, Chambre Criminelle

vom

Abkürzungsverzeichnis

CCC

= Peinliche Gerichtsordnung Kaiser Karls V. (Constitutio Criminalis Carolina) von 1532

C.p.

= (belg.) Code pénal; (bras.) Codigo penal; (franz.) Code pénal; (ital.) Codice penale; (port.) Codigo penal; (span.) Côdigo penal

CrimLR

= Criminal Law Review, London (zitiert nach Jahr und Seite)

DAR

= Deutsches Autorecht (zitiert nach Jahr und Seite)

DDR

= Deutsche Demokratische Republik

DevG

= Gesetz über die Devisenbewirtschaftung (RGBl. I S. 1733)

Die Justiz

= Die Justiz. Amtsblatt des Justizministeriums Baden-Württemberg (zitiert nach Jahr und Seite)

Dig.

= Digesten

vom

12.12.1938

Diss.

= Dissertation

DJ

= Deutsche Justiz. Rechtspflege und Rechtspolitik. Amtl. Organ des Reichsministers der Justiz (zitiert nach Jahr und Seite)

DJT

= Deutscher Juristentag; Verhandlungen des Deutschen Juristentages

DJT-Festschrift = Hundert Jahre deutsches Rechtsleben. Festschrift zum hundertjährigen Bestehen des Deutschen Juristentages 1860 - 1960, Bd. I, Bd. II, 1960 DJZ

= Deutsche Juristenzeitung (zitiert nach Jahr und Seite)

DÖV

= Deutsche Öffentliche Verwaltung (zitiert nach Jahr und Seite)

D.P.

= Dalloz, Recueil périodique et critique de jurisprudence, de législation et de doctrine (zitiert nach Jahr, Teil und Seite)

DR

= Deutsches Recht (zitiert nach Jahr und Seite)

DRechtsw

= Deutsche Rechtswissenschaft (zitiert nach Band, Jahr und Seite)

DRiG

= Deutsches Richtergesetz i.d.F. vom 19.4.1972 (BGBl. I S. 713 Schönfelder Nr. 97)

DRiZ

= Deutsche Richterzeitung (zitiert nach Jahr und Seite)

DRZ

= Deutsche Rechts-Zeitschrift (zitiert nach Jahr und Seite)

DStr

= Deutsches Strafrecht, Neue Folge (zitiert nach Jahr und Seite)

DStrZ

= Deutsche Strafrechts-Zeitung (zitiert nach Jahr und Seite)

DtZ

= Deutsch-Deutsche Rechts-Zeitschrift (zitiert nach Jahr und Seite)

Dürig

= Dürig, Günter: Gesetze (Loseblattsammlung)

DVJJ

= Deutsche Vereinigung für Jugendgerichte und Jugendgerichtshilfen e.V.

DVollzO

= Dienst- und Vollzugsordnung für die Justiz-Vollzugsanstalten i.d.F. vom 1.12.1961

des

Landes

Baden-Württemberg

XXXVIII

Abkürzungsverzeichnis

Ε

= Entwurf

Ε 1913

= Entwurf der Strafrechtskommission 1913, in: Entwürfe zu einem Deutschen Strafgesetzbuch, Teil 1, 1920

Ε 1919

= Entwurf von 1919, in: Entwürfe zu einem Deutschen Strafgesetzbuch, Teil 2, 1920

Ε 1922, = Entwurf eines Allgemeinen Deutschen Strafgesetzbuches (EntE Radbruch wurf Gustav Radbruch), 1922, Tübingen 1952 Ε 1925

= Amtlicher Entwurf eines Allgemeinen Deutschen Strafgesetzbuchs nebst Begründung (Reichsratsvorlage), 1925. Nachdruck als Materialien Bd. I I I (1954)

Ε 1927

= Entwurf eines Allgemeinen Deutschen Strafgesetzbuchs mit Begründung und 2 Anlagen (Reichstagsvorlage), 1927 - Drucksachen des Reichstags III/3390. Nachdruck als Materialien Bd. IV (1954)

Ε 1930

= Entwurf eines Allgemeinen Deutschen Strafgesetzbuchs 1930 (Entwurf Kahl) - Drucksachen des Reichstags V/395. Nachdruck als Materialien Bd. V (1954)

Ε 1936

= Entwurf eines Deutschen Strafgesetzbuchs, 1936, Bonn 1954 (nicht veröffentlicht)

Ε 1962

= Entwurf eines Strafgesetzbuches (StGB) Ε 1962 (mit Begründung) - Bundestagsvorlage - Bonn 1962. Drucksache des Bundestages IV/650, ohne Begründung auch als Drucksache V/32

EBAO

= Einforderungs- und Beitreibungsanordnung (BAnz. Nr. 230)

EG

= Europäische Gemeinschaft

EGBGB

= Einführungsgesetz zum Bürgerlichen Gesetzbuche i.d.F. vom 21.9.1994 (BGBl. I S. 2494 - Schönfelder Nr. 21)

EGGVG

= Einführungsgesetz zum Gerichtsverfassungsgesetz 27.1.1877 (RGBl. S. 77 - Schönfelder Nr. 95 a)

vom 25.11.1974

vom

EGMR

= Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte

EGOWiG

= Einführungsgesetz zum Gesetz über Ordnungswidrigkeiten vom 24.5.1968 (BGBl. I S. 503)

EGStGB

= Einführungsgesetz zum Strafgesetzbuch (EGStGB) 2.3.1974 (BGBl. I S. 469 - Schönfelder Nr. 85a)

EGV

= Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft vom 25.3.1957 (BGBl. I I S. 766) i.d.F. des Vertrages über die Europäische Union vom 7.2.1992 (BGBl. I I S. 1253 - Sartorius I I Nr. 150)

vom

EKD

= Evangelische Kirche in Deutschland

EMRK

= Europäische Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten vom 4.11.1950 (BGBl. 1952 I I S. 685, 953 Sartorius I I Nr. 130)

Erg

= Ergänzungsband

EU

= Europäische Union

Abkürzungsverzeichnis

EuGH

= Europäischer Gerichtshof

EuGMR

= Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte

EuGRZ

= Europäische Grundrechte Zeitschrift (zitiert nach Jahr und Seite)

EuZW

= Europäische Zeitschrift für Wirtschaftsrecht (zitiert nach Jahr und Seite)

EV

= Einigungsvertrag (Vertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik über die Herstellung der Einheit Deutschlands) vom 31.8.1990 (BGBl. I I S. 889)

EvBl

= Evidenzblatt der Rechtsmittelentscheidungen (zitiert nach Jahr und Nummer)

FamRZ

= Ehe und Familie im privaten und öffentlichen Recht, seit 1962: Zeitschrift für das gesamte Familienrecht (zitiert nach Jahr und Seite)

FGG

= Gesetz über die Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit i.d.F. vom 20.5.1898 (RGBl. S. 771 - Schönfelder Nr. 112)

FIS

= Fédération Internationale de Ski

Fn.

= Fußnote

Forensia

= Forensia. Interdisziplinäre Zeitschrift für Psychiatrie, Kriminologie und Recht (zitiert nach Jahr und Seite)

G, Ges.

= Gesetz

GA

= 1880 - 1933: Archiv für Strafrecht und Strafprozeß, begr. von Th. Goltdammer (zitiert nach Band, Jahr und Seite) 1953ff.: Goltdammer's Archiv für Strafrecht (zitiert nach Jahr und Seite)

140 Jahre G A

= 1 4 0 Jahre Goltdammer's J. Wolter)

GA Res

= General Assembly Resolution

GastG

= Gaststättengesetz vom 5.5.1970 (BGBl. I S. 465 - Sartorius I Nr. 810)

GBl. BW

= Gesetzblatt für Baden-Württemberg

Archiv

für

Strafrecht

(hrsg. von

GBl. D D R

= Gesetzblatt der Deutschen Demokratischen Republik

GE

= Gegenentwurf zum Vorentwurf eines deutschen Strafgesetzbuchs, von Wilhelm Kahl u.a., 1911

GeschlKrG

= Gesetz zur Bekämpfung 23.7.1953 (BGBl. I S. 700)

GewO

= Gewerbeordnung i.d.F. vom 1.1.1987 (BGBl. I S. 425 - Sartorius I Nr. 800)

GG

= Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland vom 23.5.1949 (BGBl. I S. 1 - Schönfelder und Sartorius I Nr. 1)

GjS

= Gesetz über die Verbreitung jugendgefährdender Schriften i.d.F. vom 12.7.1985 (BGBl. I S. 1502 - Sartorius I Nr. 405)

der

Geschlechtskrankheiten

vom

X

Abkürzungsverzeichnis

GmbH

= Gesellschaft mit beschränkter Haftung

GmbHG

= Gesetz betreffend die Gesellschaften mit beschränkter Haftung i.d.F. vom 20.5.1898 (RGBl. S. 846 - Schönfelder Nr. 52)

GnadO

= Gnadenordnung vom 6.2.1935 (DJ 1935, S. 203)

GS

= Der Gerichtssaal (zitiert nach Band, Jahr und Seite)

GVG

= Gerichtsverfassungsgesetz i. d. F. vom 9.5.1975 (BGBl. I S. 1077 Schönfelder Nr. 95)

GVBl.

= Gesetz- und Verordnungsblatt für das Großherzogtum Baden (1869- 1918); Badisches Gesetz- und Verordnungsblatt (19191944)

GWB

= Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen 20.2.1990 (BGBl. I S. 235 - Schönfelder Nr. 74)

Haager L K O

= (Haager) Abkommen, betr. die Gesetze und Gebräuche des Landkriegs vom 18.10.1907 (RGBl. 1910 S. 107)

HarvLR

= Harvard Law Review (zitiert nach Band, Jahr und Seite)

Hb

= Handbuch

i.d.F.

vom

HeilpraktikerG = Gesetz über die berufsmäßige Ausübung der Heilkunde ohne Bestallung (Heilpraktikergesetz) vom 17.2.1939 (RGBl. I S. 251) HESt

= Höchstrichterliche Entscheidungen. Sammlung von Entscheidungen der Oberlandesgerichte und der Obersten Gerichte in Strafsachen (zitiert nach Band und Seite)

HGB

= Handelsgesetzbuch vom 10.5.1897 (RGBl. S. 219 - Schönfelder Nr. 50)

h.L.

= herrschende Lehre

h.M.

= herrschende Meinung

HRG

= Handwörterbuch 1971 ff.

HRR

= Höchstrichterliche Nummer)

H W B Krim

= Handwörterbuch der Kriminologie, 1. Aufl. Bd. I, 1933; Bd. II, 1936, 2. Aufl. hrsg. von R. Sieverts und H. J. Schneider, Bd. I, 1966; Bd. II, 1977; Bd. III, 1975; Ergänzungsband 1979

H W B SozW

= Handwörterbuch der Sozialwissenschaften, hrsg. von Ε. v. Beckerath (u.a.), Bd. 1 - 1 2 mit Nachtrag und Registerband, Neuaufl. 1956 - 1968

zur

deutschen Rechtsgeschichte.

Rechtsprechung

(zitiert

Bd. I ff.,

nach Jahr

und

i. d. F.

= in der Fassung

i.E.

= im Ergebnis

i.e.S.

= im engeren Sinne

IKV

= Internationale Kriminalistische Vereinigung

IMT

= Internationales Militärtribunal

Int Rev Crim Pol

= International Review of Criminal Policy (zitiert nach Jahr und Seite)

Abkürzungsverzeichnis

IPbürgR

=

Internationaler Pakt über bürgerliche und politische Rechte vom 19.12.1966 (BGBl. I I 1973 S. 1534 - Sartorius I I Nr. 20)

IRG

=

IRuD

=

Internationales Recht und Diplomatie (zitiert nach Jahr und Seite)

i.S.v.

=

im Sinne von

i. Verb.m.

=

in Verbindung mit

i.w.S.

=

im weiteren Sinne

JA

=

JBeitrO

=

JB1

=

J.C.P.

=

JCrimL

=

JGG

=

JGGÄG

=

JMinBl

=

JÖSchG

=

Journ dr int

=

Journal du droit international (zitiert nach Jahr und Seite)

JR

=

Juristische Rundschau (zitiert nach Jahr und Seite)

JurA

=

Juristische Analysen (zitiert nach Jahr und Seite)

Jura

=

Juristische Ausbildung (zitiert nach Jahr und Seite)

JuS

=

Juristische Schulung (zitiert nach Jahr und Seite)

Justiz

=

s. Die Justiz

JW

=

Juristische Wochenschrift (zitiert nach Jahr und Seite)

JZ

=

Juristenzeitung (zitiert nach Jahr und Seite)

KastrG

=

KE

=

KG

=

KJHG

=

Gesetz über die internationale Rechtshilfe in Strafsachen i.d.F. vom 27.6.1994 (BGBl. I S. 1537)

Juristische Arbeitsblätter für Ausbildung und Examen (zitiert nach Jahr und Seite) Justizbeitreibungsordnung vom 11.3.1937 (RGBl. I S. 298 - Schönfelder Nr. 122) Juristische Blätter (zitiert nach Jahr und Seite) La Semaine Juridique. Juris-Classeur Périodique (zitiert nach Jahr, Teil und Nummer) Journal of Criminal Law and Criminology (zitiert nach Jahr und Seite) Jugendgerichtsgesetz i.d.F. vom 11.12.1974 (BGBl. I S. 3427 Schönfelder Nr. 89) Erstes Gesetz zur Änderung des JGG vom 30.8.1990 (BGBl. I S. 1853) Justizministerialblatt Gesetz zum Schutze der Jugend in der Öffentlichkeit 25.2.1985 (BGBl. I S. 425)

vom

Gesetz über die freiwillige Kastration und andere Behandlungsmethoden vom 15.8.1969 (BGBl. I S. 1143) Entwurf der Strafrechtskommission, 1913, in: Entwürfe zu einem deutschen Strafgesetzbuch, Teil 1, 1920 Kammergericht Gesetz zur Neuordnung des Kinder- und Jugendhilferechts (Kinder- und Jugendhilfegesetz) vom 26.6.1990 (BGBl. I S. 1163)

X I I

Abkürzungsverzeichnis

K K OWiG (Verfassername)

Karlsruher Kommentar zum Gesetz über Ordnungswidrigkeiten, 1989

K K StPO (Verfassername)

Karlsruher Kommentar zur Strafprozeßordnung, 3. Aufl. 1993

K M R (Verfassername)

Loseblattkommentar zur Strafprozeßordnung. Begründet von Kleinknecht/Müller/Reitberger, 8. Aufl. 1990

KO

Konkursordnung i.d.F. vom 20.5.1898 (RGBl. S. 612 - Schönfelder Nr. 110)

KRG Nr. 10

Kontrollratsgesetz Nr. 10 vom 20.12.1945 (betr.) Bestrafung von Personen, die sich Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen den Frieden oder gegen die Menschlichkeit schuldig gemacht haben (Amtsblatt des Kontrollrats in Deutschland Nr. 3 vom 31.1.1946 S. 50)

KRG Nr. 11

Kontrollratsgesetz Nr. 11 vom 30.1.1946 (betr.) Aufhebung einzelner Bestimmungen des deutschen Strafrechts (Amtsblatt des Kontrollrats in Deutschland Nr. 3 vom 31.1.1946 S. 55)

KrimJ

Kriminologisches Journal (zitiert nach Jahr und Seite)

KritV

Kritische Vierteljahresschrift für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft (zitiert nach Jahr und Seite)

KRProkl

Kontrollrats-Proklamation

k +ν

Kraftfahrt und Verkehrsrecht (zitiert nach Jahr und Seite)

KWG

Gesetz über das Kreditwesen i.d.F. vom 30.6.1993 (BGBl. I S. 1082 - Sartorius I Nr. 856)

KZfSS

Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie (zitiert nach Band, Jahr und Seite)

Law Commission

The Law Commission, Criminal Law. Codification of the Criminal Law, 1985

LBG BadenWürttemberg

Landesbeamtengesetz von Baden-Württemberg 8.8.1979 (GBl. BW S. 398 - Dürig Nr. 50)

Lfg.

Lieferung

LG

Landgericht

L K (Verfassername)

Strafgesetzbuch. Leipziger Kommentar, 10. Aufl. 1985; 11. Aufl. 1992 ff.

LM

Entscheidungen des B G H im Nachschlagewerk des Bundesgerichtshofes, hrsg. von Lindenmaier, Möhring u.a., 1951 ff.

LMBG

i.d.F.

vom

Gesetz über den Verkehr mit Lebensmitteln, Tabakerzeugnissen, kosmetischen Mitteln und sonstigen Bedarfsgegenständen (Lebensmittel- und Bedarfsgegenständegesetz) i. d. F. vom 8.7.1993 (BGBl. I S. 1169 - Sartorius I Nr. 280)

Abkürzungsverzeichnis

Löwe/Rosenberg (Verfassername)

Die Strafprozeßordnung und das Gerichtsverfassungsgesetz. Großkommentar, 24. Aufl. 1984 ff.

LSG

Landessozialgericht

LuftVG

Luftverkehrsgesetz i.d.F. vom 14.1.1981 (BGBl. I S. 61)

LZ

Leipziger Zeitschrift für Deutsches Recht (zitiert nach Jahr und Seite)

MaastrichtVertrag

Vertrag über die Europäische Union vom 7.2.1992 (BGBl. I I S. 1253)

Materialien

Materialien zur Strafrechtsreform Bd. I Gutachten der Strafrechtslehrer, 1954 Bd. II, 1 Rechtsvergleichende Arbeiten, Allgemeiner Teil, 1954 Bd. II, 2 Rechtsvergleichende Arbeiten, Besonderer Teil, 1955 Bd. I I I Amtlicher Entwurf eines Allgemeinen Strafgesetzbuchs nebst Begründung 1925 (Reichsratsvorlage), 1954 Bd. IV Entwurf eines Allgemeinen Deutschen Strafgesetzbuchs 1927 mit Begründung und 2 Anlagen (Reichstagsvorlage), 1954 Bd. V Entwurf eines Allgemeinen Deutschen Strafgesetzbuchs 1930 (Entwurf Kahl), 1954 Bd. V I Amtlicher Entwurf eines Strafvollzugsgesetzes mit Begründung 1927 (Reichsrats- und Reichstagsvorlage), 1954 Bd. VIII, 1 - 3 Reform des Strafvollzugsrechts. Rechtsvergleichende Arbeiten, 1959/60 Bd. X Das Strafregisterwesen im Ausland, 1959

MDR

Monatsschrift für deutsches Recht (zitiert nach Jahr und Seite)

MichLR

Michigan Law Review (zitiert nach Band, Jahr und Seite)

MilReg ABl

Amtsblatt der Militärregierung Deutschland

MilRegG

Militärregierungsgesetz

Mitt I K V

Mitteilungen der Internationalen Kriminalistischen Vereinigung. Neue Folge (zitiert nach Band, Jahr und Seite)

Model Penal Code

The American Law Institute, Model Penal Code. Proposed Official Draft, 1962 (Übersetzung von R. Honig, in: Sammlung außerdeutscher Strafgesetzbücher in deutscher Übersetzung, Nr. 86, 1965)

MRK

(Europäische) Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten vom 4.11.1950 (BGBl. 1952 I I S. 686, 953 - Sartorius I I Nr. 130)

MschrKrim

Monatsschrift für Kriminalpsychologie und Strafrechtsreform (1904/05 bis 1936) Monatsschrift für Kriminalbiologie und Strafrechtsreform (1937 bis 1944) Monatsschrift für Kriminologie und Strafrechtsreform (seit 1953) (zitiert nach Jahr und Seite)

MStGB

Militärstrafgesetzbuch i.d.F. vom 10.10.1940 (RGBl. I S. 1347)

m.w.N.

mit weiteren Nachweisen

X I

Abkürzungsverzeichnis

Nds. Rpfl.

Niedersächsische Rechtspflege (zitiert nach Jahr und Seite)

N.F.

Neue Folge

Niederschriften (s. auch Materialien)

Niederschriften über die Sitzungen der Großen Strafrechtskommission Bd. I - I V , 1956- 1958 Bd. X I - XIV, 1959 - 1960

NJ

Neue Justiz (zitiert nach Jahr und Seite)

NJW

Neue Juristische Wochenschrift (zitiert nach Jahr und Seite)

No.

numéro

Nr.

Nummer

NStE

Neue Entscheidungssammlung für Strafrecht (zitiert nach Paragraph und lfd. Nr.)

NStZ

Neue Zeitschrift für Strafrecht (zitiert nach Jahr und Seite)

NZV

Neue Zeitschrift für Verkehrsrecht (zitiert nach Jahr und Seite)

NZWehrr

Neue Zeitschrift für Wehrrecht (zitiert nach Jahr und Seite)

ÖJZ

Osterreichische Juristen-Zeitung (zitiert nach Jahr und Seite)

ÖRiZ

Osterreichische Richterzeitung (zitiert nach Jahr und Seite)

österr. Entwurf

Regierungsvorlage eines StGB samt erläuternden Bemerkungen, 1968 (706 der Beilagen zu den stenographischen Protokollen des Nationalrates XI. GP.)

1968 österr. Entwurf 1971

Regierungsvorlage vom 16.11.1971 für ein Bundesgesetz über die mit gerichtlicher Strafe bedrohten Handlungen (Strafgesetzbuch - StGB) (30 der Beilagen zu den stenographischen Protokollen des Nationalrates X I I I . GP.)

österr. O G H

Österreichischer Oberster Gerichtshof

OGH

Oberster Gerichtshof für die Britische Zone; Entscheidungen des Obersten Gerichtshofes für die Britische Zone in Strafsachen (zitiert nach Band und Seite)

OGHSSt

Entscheidungen des Osterreichischen Obersten Gerichtshofs in Strafsachen und Disziplinarangelegenheiten (zitiert nach Band, Nummer und Seite)

OHG

Offene Handelsgesellschaft

OLG

Oberlandesgericht

OrgKG

Gesetz zur Bekämpfung des illegalen Rauschgifthandels und anderer Erscheinungsformen der Organisierten Kriminalität vom 15.7.1992 (BGBl. I S. 1302)

OVG

Oberverwaltungsgericht

O W i G 1952

Gesetz über Ordnungswidrigkeiten vom 25.3.1952 (BGBl. I S. 177)

OWiG

Gesetz über Ordnungswidrigkeiten i.d.F. vom (BGBl. I S. 602 - Schönfelder Nr. 94)

PatG

19.2.1987

Patentgesetz i.d.F. vom 16.12.1980 (BGBl. I 1981 S. 1)

Abkürzungsverzeichnis

Protokolle IV

= Beratungen des Sonderausschusses „Strafrecht" des Deutschen Bundestages in der 4. Wahlperiode, Bonn 1963 - 1965 (zitiert nach der Seite)

Protokolle V

= Beratungen des Sonderausschusses des Deutschen Bundestages für die Strafrechtsreform in der 5. Wahlperiode, Bonn 1966 1969 (zitiert nach der Seite)

Protokolle V I

= Beratungen des Sonderausschusses des Deutschen Bundestages für die Strafrechtsreform in der 6. Wahlperiode, Bonn 1969 1972 (zitiert nach der Seite)

Protokolle 7

= Beratungen des Sonderausschusses des Deutschen Bundestages für die Strafrechtsreform in der 7. Wahlperiode, Bonn 1973 1976 (zitiert nach der Seite)

PStG

= Personenstandsgesetz i.d.F. vom 8.8.1957 (BGBl. I S. 1125 Schönfelder Nr. 113)

RAO

= Reichsabgabenordnung vom 13.12.1919 i.d.F. vom 22.5.1931 (RGBl. I S. 161)

Rdn.

= Randnummer

RdJB

= Recht der Jugend und des Bildungswesens (zitiert nach Jahr und Seite)

recht

= recht. Informationen des Bundesministers der Justiz (zitiert nach Jahr und Seite)

Recht und Politik

= Recht und Politik (zitiert nach Jahr und Seite)

Rechtspfl.

= Der Deutsche Rechtspfleger (zitiert nach Jahr und Seite)

Rev crim pol tech

= Revue (internationale) de criminologie et de police technique (zitiert nach Jahr und Seite)

Rev dr pén crim

= Revue de droit pénal et de criminologie (zitiert nach Band, Jahr und Seite)

Rev dr pén mil

= Revue de droit pénal militaire et de droit de la guerre (zitiert nach Band, Jahr und Seite)

Rev int déf soc

= Revue internationale de défense sociale (zitiert nach Jahr und Seite)

Rev int dr comp

= Revue internationale de droit comparé (zitiert nach Jahr und Seite)

Rev int dr pén = Revue internationale de droit pénal (zitiert nach Jahr und Seite) Rev int pol crim

= Revue internationale de police criminelle (zitiert nach Jahr und Seite) (dt. Parallelausgabe: Internationale kriminalpolizeiliche Revue)

Rev sc crim

= Revue de science criminelle et de droit pénal comparé (zitiert nach Jahr und Seite)

RG

= Reichsgericht; Entscheidungen des Reichsgerichts in Strafsachen (zitiert nach Band und Seite)

RG Recht

= Entscheidungen des Reichsgerichts, in: „Das Recht", hrsg. von Hans Th. Soergel (zitiert nach Jahr und Seite)

X V I

Abkürzungsverzeichnis

RG Rspr.

= Rechtsprechung des Deutschen Reichsgerichts in Strafsachen (zitiert nach Band und Seite)

RGBl. I, I I

= Reichsgesetzblatt Teil I, Teil I I

RG-Festgabe

= Die Reichsgerichtspraxis im deutschen Rechtsleben. Festgabe der juristischen Fakultäten zum 50jährigen Bestehen des Reichsgerichts, Bd. V: Strafrecht und Strafprozeß, 1929

RGZ

= Entscheidungen des Reichsgerichts in Zivilsachen (zitiert nach Band und Seite)

RiStBV

= Richtlinien für das Strafverfahren und das Bußgeldverfahren i.d.F. vom 1.10.1992 (bundeseinheitliche Fassung)

Riv it dir pen

= Rivista italiana di diritto penale (zitiert nach Jahr und Seite)

Riv it dir proc = Rivista italiana di diritto e procedura penale (zitiert nach Jahr pen und Seite) RJagdG

= Reichsjagdgesetz vom 3.7.1934 (RGBl. I S. 549)

RKG

= Entscheidungen des Reichskriegsgerichts und des Wehrmachtdienststrafhofs (zitiert nach Band und Seite)

RMG

= Entscheidungen des Reichsmilitärgerichts (zitiert nach Band und Seite)

ROW

= Recht in Ost und West (zitiert nach Jahr und Seite)

RPflG

= Rechtspflegergesetz vom 5.11.1969 (BGBl. I S. 2065 - Schönfelder Nr. 96)

Rspr.

= Rechtsprechung

RStGB

= Strafgesetzbuch für das Deutsche Reich vom 15.5.1871 (RGBl. S. 127)

RV 1871

= Verfassung des Deutschen Reiches vom 16.4.1871 (RGBl. S. 63)

Sartorius I

= Sartorius, Bd. I: Verfassungs- und Verwaltungsgesetze der Bundesrepublik Deutschland (Loseblattsammlung)

Sartorius I I

= Sartorius, Bd. II: Internationale Verträge - Europarecht (Loseblattsammlung)

SchlHA

= Schleswig-Holsteinische Anzeigen (zitiert nach Jahr und Seite)

SchlHOLG

= Schleswig-Holsteinisches Oberlandesgericht

Schönfelder

= Schönfelder, Heinrich: Deutsche Gesetze (Loseblattsammlung)

Schweiz. ZGB = Schweizerisches Zivilgesetzbuch vom 10.12.1907 SchwJZ

= Schweizerische Juristenzeitung (zitiert nach Jahr und Seite)

SchwZStr

= Schweizerische Zeitschrift für Straf recht (zitiert nach Band, Jahr und Seite)

S. Ct.

= (U. S.) Supreme Court Reporter

SeemannsG

= Seemannsgesetz vom 26.7.1957 (BGBl. I I S. 713)

SG

= Gesetz über die Rechtsstellung der Soldaten (Soldatengesetz) i.d.F. vom 19.8.1975 (BGBl. I S. 2273)

Abkürzungsverzeichnis

Sozialgesetzbuch, Achtes Buch, Kinder- und Jugendhilfe i.d.F. vom 3.5.1993 (BGBl. I S. 637 - Schönfelder Nr. 46)

SGB V I I I (Kinder- und Jugendhilfe)

Recueil général des lois et des arrêts, fondé par J. Β. Sirey, ab

Sirey

1946: Recueil Sirey (zitiert nach Jahr, Teil und Seite) Süddeutsche Juristen-Zeitung (zitiert nach Jahr und Spalte)

SJZ

Systematischer Kommentar zum StGB (Loseblattausgabe)

SK (Verfassername)

Gesetz über explosionsgefährliche Stoffe (Sprengstoffgesetz) i.d.F. vom 17.4.1986 (BGBl. I S. 577 - Sartorius I Nr. 822)

SprengG

Entscheidungen des österr. Obersten Gerichtshofes in Strafsachen u. Disziplinarangelegenheiten (zitiert nach Band, Nummer und Seite)

SSt StA

= Staatsanwalt, Staatsanwaltschaft

StÄG [mit Ziffer]

=

StGB

= Strafgesetzbuch i.d.F. vom 10.3.1987 (BGBl. I S. 945 - Schönfelder Nr. 85); (österr.) StGB vom 23.1.1974; (schweiz.) StGB vom 21.12.1937

StGB D D R

= Strafgesetzbuch der Deutschen Demokratischen Republik vom 12.1.1968 i.d.F. vom 19.12.1974 (GBl. D D R I 1975 S. 14)

StPO

= Strafprozeßordnung i.d.F. vom 7.4.1987 (BGBl. I S. 1074 Schönfelder Nr. 90)

Strafr. Abh.

= Strafrechtliche Abhandlungen (zitiert nach Heftnummer und Jahr) (Neue Folge [1968 ff.] zitiert nach Bandnummer und Jahr)

Strafr. Probleme

= Strafrechtliche Probleme der Gegenwart (zitiert nach Band, Jahr und Seite)

StrEG

= Gesetz über die Entschädigung für Strafverfolgungsmaßnahmen vom 8.3.1971 (BGBl. I S. 157)

3. Strafrechtsänderungsgesetz 4. Strafrechtsänderungsgesetz 9. Strafrechtsänderungsgesetz 11. Strafrechtsänderungsgesetz 12. Strafrechtsänderungsgesetz 13. Strafrechtsänderungsgesetz 14. Strafrechtsänderungsgesetz 15. Strafrechtsänderungsgesetz 18. Strafrechtsänderungsgesetz 20. Strafrechtsänderungsgesetz 23. Strafrechtsänderungsgesetz 24. Strafrechtsänderungsgesetz 25. Strafrechtsänderungsgesetz 26. Strafrechtsänderungsgesetz 27. Strafrechtsänderungsgesetz 28. Strafrechtsänderungsgesetz 29. Strafrechtsänderungsgesetz 31. Strafrechtsänderungsgesetz

vom vom vom vom vom vom vom vom vom vom vom vom vom vom vom vom vom vom

4. 8.1953 11. 6.1957 4. 8.1969 16.12.1971 16.12.1971 13. 6.1975 22. 4.1976 18. 5.1976 28. 3.1980 8.12.1981 13. 4.1986 13. 1.1987 20. 8.1990 14. 7.1992 23. 7.1993 13. 1.1994 31. 5.1994 27. 6.1994

(BGBl. (BGBl. (BGBl. (BGBl. (BGBl. (BGBl. (BGBl. (BGBl. (BGBl. (BGBl. (BGBl. (BGBl. (BGBl. (BGBl. (BGBl. (BGBl. (BGBl. (BGBl.

I I I I I I I I I I I I I I I I I I

S. 735) S. 597) S. 1065) S. 1977) S. 1979) S. 1349) S. 1056) S. 1213) S. 373) S. 1329) S. 393) S. 141) S. 1764) S. 1255) S. 1346) S. 84) S. 1168) S. 1440)

XVIII

Abkürzungsverzeichnis

StrRG [mit Ziffer]

= Erstes Gesetz zur Reform des Strafrechts vom 25.6.1969 (BGBl. I S. 645) Zweites Gesetz zur Reform des Strafrechts vom 4.7.1969 (BGBl. I S. 717) Drittes Gesetz zur Reform des Strafrechts vom 20.5.1970 (BGBL I S. 505) Viertes Gesetz zur Reform des Strafrechts vom 23.11.1973 (BGBl. I S. 1725) Fünftes Gesetz zur Reform des Strafrechts vom 18.6.1974 (BGBl. I S. 1297)

st. Rspr.

= ständige Rechtsprechung

StV

= Strafverteidiger (zitiert nach Jahr und Seite)

StVÄG 1979

= Strafverfahrensänderungsgesetz vom 5.10.1978 (BGBl. I S. 1645)

StVÄG 1987

= Strafverfahrensänderungsgesetz vom 27.1.1987 (BGBl. I S. 475)

StVG

= Straßenverkehrsgesetz vom 19.12.1952 (BGBl. I S. 837 - Schönfelder Nr. 35)

StVO

= Straßenverkehrs-Ordnung vom 16.11.1970 (BGBl. I S. 1565 Schönfelder Nr. 35 a)

StVollstrO

= Strafvollstreckungsordnung i.d.F. vom 20.8.1987 (BAnz. 1987 Nr. 159)

StVollzG

= Gesetz über den Vollzug der Freiheitsstrafe und der freiheitsentziehenden Maßregeln der Besserung und Sicherung (Strafvollzugsgesetz) vom 16.3.1976 (BGBl. I S. 581 - Schönfelder Nr. 91)

StVRG

= Erstes Gesetz zur Reform 9.12.1974 (BGBl. I S. 3393)

StVZO

= Straßenverkehrs-Zulassungs-Ordnung i.d.F. (BGBl. I S. 1793 - Schönfelder Nr. 35b)

Supp.

= Supplement; Supplément

Tagungsberichte

= Tagungsberichte der Strafvollzugskommission. Hrsg. v. BundesJustizministerium Bd. I - X I I , 1968 - 1971, mit Sonderband „Erster Arbeitsentwurf eines Strafvollzugsgesetzes", 1971

TierSchG

= Tierschutzgesetz i.d.F. vom 17.2.1993 (BGBl. I S. 254 - Sartorius I Nr. 873)

2. U K G

= Zweites Gesetz zur Bekämpfung der Umweltkriminalität vom 27.6.1994 (BGBl. I S. 1440)

UrhG

= Gesetz über Urheberrecht und verwandte Schutzrechte (Urheberrechtsgesetz) vom 9.9.1965 (BGBl. I S. 1273 - Schönfelder Nr. 65)

UWG

= Gesetz gegen den unlauteren Wettbewerb vom 7.6.1909 (RGBl. S. 499 - Schönfelder Nr. 73)

UZwG

= Gesetz über den unmittelbaren Zwang bei Ausübung öffentlicher Gewalt durch Vollzugsbeamte des Bundes vom 10.3.1961 (BGBl. I S. 165 - Sartorius I Nr. 115)

des Strafverfahrensrechts vom

vom

28.9.1988

Abkürzungsverzeichnis

UZwGBw

= Gesetz über die Anwendung unmittelbaren Zwanges und die Ausübung besonderer Befugnisse durch Soldaten der Bundeswehr und zivile Wachpersonen vom 12.8.1965 (BGBl. I S. 796 Sartorius I Nr. 117)

VDA

= Vergleichende Darstellung des deutschen und ausländischen Strafrechts, Allgemeiner Teil, Bd. I - VI, 1908, mit Registerband (für A T und BT), 1909

VDB

= Vergleichende Darstellung des deutschen und ausländischen Strafrechts, Besonderer Teil, Bd. V I I - IX, 1909

VE

= Vorentwurf, insbes. Vorentwurf zu einem Deutschen Strafgesetzbuch, 1909

VereinsG

= Gesetz zur Regelung des öffentlichen Vereinsrechts (Vereinsgesetz) vom 5.8.1964 (BGBl. I S. 593 - Sartorius I Nr. 425)

Verf.

= Verfassung

VersammlG

= Gesetz über Versammlungen und Aufzüge (Versammlungsgesetz) i.d.F. vom 15.11.1978 (BGBl. I S. 1789 - Sartorius I Nr. 435)

VO

= Verordnung

Vorbem.

= Vorbemerkung

Vorgänge

= Vorgänge (zitiert nach Jahr und Seite)

VRS

= Verkehrsrechts-Sammlung (zitiert nach Band und Seite)

WaffG

= Waffengesetz i.d.F. vom 8.3.1976 (BGBl. I S. 432 - Sartorius I Nr. 820)

WDO

= Wehrdisziplinarordnung i.d.F. vom 4.9.1972 (BGBl. I S. 1665)

1. W i K G

= Erstes Gesetz zur Bekämpfung der Wirtschaftskriminalität vom 29.7.1976 (BGBl. I S. 2034)

2. W i K G

= Zweites Gesetz zur Bekämpfung der Wirtschaftskriminalität vom 15.5.1986 (BGBl. I S. 721)

WiStG 1954

= Gesetz zur weiteren Vereinfachung des Wirtschaftsstrafrechts (Wirtschaftsstrafgesetz 1954) i.d.F. vom 3.6.1975 (BGBl. I S. 1313 - Schönfelder Nr. 88)

wistra

= wistra. Zeitschrift für Wirtschaft, Steuer und Strafrecht (zitiert nach Jahr und Seite)

W K (Verfasser- = Wiener Kommentar zum Strafgesetzbuch, 1979 ff. name) WRV

= Verfassung des Deutschen Reichs (sog. „Weimarer Reichsverfassung") vom 11.8.1919 (RGBl. S. 1383)

WStG

= Wehrstrafgesetz i.d.F. vom 24.5.1974 (BGBl. I S. 1213)

WVR

= Wörterbuch des Völkerrechts, 2. Aufl., hrsg. von Hans-Jürgen Schlochauer, Bd. I, 1960; Bd. II, 1961; Bd. I I I u. Reg.Bd., 1962

W. v. S.

= (niederl.) Wetboek van Strafrecht

WZ G

= Warenzeichengesetz i.d.F. vom 2.1.1968 (BGBl. I S. 29 Schönfelder Nr. 72)

Abkürzungsverzeichnis

ΖΑΚ

= Zeitschrift der Akademie für Deutsches Recht (zitiert nach Jahr und Seite)

ZaöRV

= Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht (zitiert nach Band, Jahr und Seite)

z.B.

= zum Beispiel

ZBJV

= Zeitschrift des Bernischen Juristenvereins (zitiert nach Band, Jahr und Seite)

ZDG

= Gesetz über den Zivildienst der Kriegsdienstverweigerer (Zivildienstgesetz) i.d.F. vom 28.9.1994 (BGBl. I S. 2811 Sartorius I Nr. 625)

ZfL bzw. ZLW

= Zeitschrift für Luftrecht bzw. Zeitschrift für Luftrecht und Weltraumrechtsfragen (zitiert nach Jahr und Seite bzw. nach Band, Jahr und Seite)

ZfRV

= Zeitschrift für Rechtsvergleichung (zitiert nach Jahr und Seite)

ZfStrVo

= Zeitschrift für Strafvollzug (zitiert nach Jahr und Seite)

(1976 ff.)

und

Straffälligenhilfe

ZGB

= s. Schweiz. ZGB

ZPO

= Zivilprozeßordnung i.d.F. vom 12.9.1950 (BGBl. I S. 533 Schönfelder Nr. 100)

ZRP

= Zeitschrift für Rechtspolitik (zitiert nach Jahr und Seite)

ZStW

= Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft (zitiert nach Band, Jahr und Seite)

ZVOB1.

= Zentral-Verordnungsblatt

ZZP

= Zeitschrift für Zivilprozeß (zitiert nach Band, Jahr und Seite)

Einleitung: Allgemeine Grundlagen § 1 Die Aufgabe des Strafrechts Amelung, Rechtsgüterschutz und Schutz der Gesellschaft, 1972; Ancel, Directions et directives de politique criminelle, Festschrift für H.-H. Jescheck, Bd. II, 1985, S. 779; Baumann, Strafrecht als soziale Aufgabe, Gedächtnisschrift für P. Noll, 1984, S. 27; BJM (Hrsg.), Grundfragen des Jugendkriminalrechts und seiner Neuregelung, 1990; Bockelmann, Zur Kritik der Strafrechtskritik, Festschrift für R. Lange, 1976, S. 1; Dölling, Der Täter-OpferAusgleich, JZ 1992, 493; Engisch, Auf der Suche nach der Gerechtigkeit, 1971; Erhard, Strafzumessung bei Vorbestraften unter dem Gesichtspunkt der Strafzumessungsschuld, 1992; Frey, Der frühkriminelle Rückfallverbrecher, 1951; Göppinger, Kriminologie, 4. Auflage 1980; Heinz, Jugendliche Wiederholungstäter, in: Landesgruppe Baden-Württemberg in der DVJJ, Info 1/1989, S. 7ff.; derselbe, Diversion im Jugendstrafverfahren, ZRP 1990, 7; derselbe, Das Jugendstrafrecht auf dem Weg in das 21. Jahrhundert, JuS 1991, 896; Hellmer, Der Gewohnheitsverbrecher und die Sicherungsverwahrung 1934 - 1945, 1961; derselbe, Jugendkriminalität, 4. Auflage 1978; Hirsch, Wiedergutmachung des Schadens im Rahmen des materiellen Strafrechts, ZStW 102 (1990) S. 534; Jescheck, Strafrechtsreform in Deutschland, SchwZStr 91 (1975) S. 1; derselbe, Das neue deutsche Strafrecht im internationalen Zusammenhang, Jahrbuch der Max-Planck-Gesellschaft 1975, S. 49; Jung, Compensation Order - ein Modell der Schadenswiedergutmachung? ZStW 99 (1987) S. 497; Kaiser, Verkehrsdelinquenz und Generalprävention, 1970; derselbe, Strategien und Prozesse strafrechtlicher Sozialkontrolle, 1972; derselbe, Fortentwicklung des Strafrechts, ZStW 86 (1974) S. 349; Armin Kaufmann, Lebendiges und Totes in Bindings Normentheorie, 1954; derselbe, Strafrechtsdogmatik zwischen Sein und Wert, 1982; Kerner, Rückfall, Rückfallkriminalität, Kleines Kriminologisches Wörterbuch, 3. Auflage 1993, S. 432; Kürzinger, Kritik des Strafrechts aus der Sicht moderner kriminologischer Richtungen, ZStW 86 (1974) S. 211; Lampe, Rechtsgut, kultureller Wert und individuelles Bedürfnis, Festschrift für H. Welzel, 1974, S. 151; derselbe, Wiedergutmachung als „dritte Spur" des Strafrechts? G A 1993, 485; Laubenthal, Aufgabenwandel der Jugendgerichtshilfe, Festschrift für G. Spendel, 1992, S. 795 ff.; Lenckner, Strafe, Schuld und Schuldfähigkeit, in: Göppinger/Witter (Hrsg.), Handbuch der forensischen Psychiatrie, Bd. I, Teil A, 1972, S. 3; Mannheim, Rückfall und Prognose, H W B Krim, Bd. III, 1975, S. 38; H. Mayer, Strafrechtsreform für heute und morgen, 1962; M. E. Mayer, Rechtsnormen und Kulturnormen, 1903; J. Meyer, Strafrechtliche Aspekte des Rückfalls im deutschen Recht, in: Erstes deutsch-polnisches Kolloquium über Straf recht und Kriminologie, 1983, S. 79; Müller-Dietz, Integrationsprävention und Strafrecht, Festschrift für H.-H. Jescheck, Bd. II, 1985, S. 813; Munkwitz, Die Prognose der Frühkriminalität, 1967; Noll, Die Normativität als rechtsanthropologisches Grundphänomen, Festschrift für K. Engisch, 1969, S. 125; Roxin, Zur jüngsten Diskussion über Schuld usw., Festschrift für P. Bockelmann, 1979, S. 279; derselbe, Neue Wege der Wiedergutmachung im Strafrecht, in: Eser/Kaiser/Madiener (Hrsg.), Neue Wege usw., 1990, S. 367; Rudolphi, Der Zweck staatlichen Strafrechts, in: Schünemann (Hrsg.), Grundfragen des modernen Strafrechtssystems, 1984, S. 69; Schild, Ende und Zukunft des Strafrechts, ARSP 1984, 71; Schmidhäuser, Von den zwei Rechtsordnungen im staatlichen Gemeinwesen, 1964; derselbe, Vom Sinn der Strafe, 2. Auflage 1971; Schüler-Springorum, Die Richtlinien der Vereinten Nationen für die Prävention von Jugendkriminalität, ZStW 104 (1992) S. 169; Schultz, Abschied vom Strafrecht? ZStW 92 (1980) S. 611; Stoll, Haftungsfolgen im Strafrecht, 1993; Stratenwerth, Zur Relevanz des Erfolgsunwertes im Strafrecht, Festschrift für F. Schaffstein, 1975, S. 177; Tiedemann, Fortentwicklung des Strafrechts, ZStW 86 (1974) S. 303; Walter, Über das Verhältnis des Täter-Opfer-Ausgleichs zum Kriminalrechtssystem, in: Kerner u.a., Täter-OpferAusgleich - auf dem Weg zur bundesweiten Anwendung? Schriftenreihe der Deutschen Bewährungshilfe, 1994, S. 41; Weigend, Sanktionen ohne Freiheitsentzug, G A 1992, 345; Welzel, Über den substantiellen Begriff des Strafgesetzes, Festschrift für E. Kohlrausch, 1 Jescheck, 5. A .

2

§

ie

des Strafrechts

1944, S. 101; Würtenberger, Rechtsfriede und Strafrecht, Festschrift für K. Peters, 1974, S. 209; derselbe, Der schuldige Mensch vor dem Forum der Rechtsgemeinschaft, Festschrift für H.-H. Jescheck, Bd. I, 1985, S. 37; Zielinski y Handlungs- und Erfolgsunwert im Unrechtsbegriff, 1973; Zipf, Allgemeine Grundsätze des Strafgesetzbuches und der Rechtsprechung, Gutachten für den Österr. Juristentag 1978, 1979.

I. Der Schutz der Gesellschaft 1. Die Aufgabe des Strafrechts ist der Schutz des Zusammenlebens der Menschen in der Gemeinschaft. Niemand kann auf die Dauer ganz auf sich selbst gestellt existieren, alle Menschen sind vielmehr durch die Natur ihrer Daseinsbedingungen auf Austausch, Zusammenarbeit und gegenseitiges Vertrauen angewiesen. Das Strafrecht als Friedens- und Schutzordnung für die menschlichen Sozialbeziehungen hat darum fundamentale Bedeutung. Es ist jedoch nicht primärer Natur. Das Zusammenleben der Menschen vollzieht sich in erster Linie nach überlieferten Regeln (Normen), die in ihrer Gesamtheit die soziale Ordnung bilden 1 . Die Geltung dieser vorgegebenen Normen ist von äußerem Zwang weitgehend unabhängig, da sie auf der Einsicht aller in ihre Notwendigkeit beruhen und durch immanente Sanktionen geschützt sind, die selbsttätig auf Zuwiderhandlungen reagieren (mittelbare gesellschaftliche Repression). Es gibt ein Gesamtsystem der sozialen Kontrolle, dessen Träger die verschiedensten Institutionen oder Gemeinschaften wie Familie, Gemeinde, Schule, Kirche, Nachbarschaft, Betriebe, Verbände und Vereine sind. Die Strafrechtspflege ist nur ein Ausschnitt aus diesem System, und die insgesamt verwendeten präventiven oder repressiven Sanktionen sind sogar bis zu einem gewissen Grade gegenseitig austauschbar2. Die Sozialordnung kann jedoch das Zusammenleben der Menschen in der Gemeinschaft nicht allein sicherstellen. Sie muß durch die Rechtsordnung ergänzt, verfeinert und verstärkt werden. Insbesondere muß die Rechtsordnung die Allgemeinverbindlichkeit aller als Recht geltenden Normen gewährleisten und Rechtsverletzungen entgegentreten. Träger der vorgegebenen Sozialordnung ist die Gesellschaft, Träger der planmäßig geschaffenen Rechtsordnung der Staat, dessen Schutzaufgabe unter den Lebensbedingungen der pluralistischen Gesellschaft und angesichts der Daseinsgefährdung des Menschen in der modernen Welt wichtiger ist als je. Das Strafrecht sichert in letzter Linie die Unverbrüchlichkeit der Rechtsordnung durch staatlichen Zwang. Auch das bürgerliche und das öffentliche Recht sehen zwar die Anwendung von Zwang vor, für das Strafrecht aber steht die Androhung und Durchführung von Zwang im Mittelpunkt. Das Strafrecht bedient sich dabei des schärfsten Machtinstruments, über das die Staatsgewalt verfügt, der öffentlichen Strafe. Wenn andere Maßnahmen und Möglichkeiten versagen, sichert das Strafrecht in letzter Instanz die Erzwingbarkeit der Gebote und Verbote der Rechtsordnung (BVerfGE 51, 324 [343f.]). Sobald das Strafrecht Sicherheit und Ordnung nicht mehr garantieren kann, besteht die Gefahr, daß die Bürger zur Selbsthilfe greifen und daß sich dabei der Stärkere gegen den Schwächeren rücksichtslos durchsetzt. 2. Die Strafgewalt des Staates darf zum Schutze des Zusammenlebens der Menschen in der Gemeinschaft nicht in beliebiger Weise und nicht in beliebigem Umfang eingesetzt werden. Das Strafrecht soll zwar dazu beitragen, das Chaos in 1 M. E. Mayer y Rechtsnormen und Kulturnormen S. 16 ff.; derselbe, Lehrbuch, S. 37 ff.; Henkel, Rechtsphilosophie S. 228 ff.; Noll, Engisch-Festschrift S. 129 (Normativität als „anthropologische Grundtatsache"); Schmidhausen Von den zwei Rechtsordnungen S. 12. 2 Kaiser, Strategien S. 20ff.; derselbe, Kriminologie §§ 35, 36; Maurach/Zipf Allg. Teil I § 3 Rdn. 5 ff.; AK (Hassemer) Vorbem. 295 ff. vor § 1.

I. Der Schutz der Gesellschaft

3

der Welt zu überwinden und die Willkür der Menschen durch angemessene Beschränkung ihrer Freiheit einzudämmen, aber es kann dies nur in einer Form tun, die mit dem gesamten Kulturzustand des Volkes und den Rechten des Individuums vereinbar ist . Unter einer Verfassung, die sich wie diejenige der Bundesrepublik Deutschland als „freiheitliche, demokratische Grundordnung" versteht (BVerfGE 2,1 [12 f.]) 4 , vermag das Strafrecht den Gesellschaftsschutz nur dadurch zu gewährleisten, daß es den öffentlichen Frieden sichert, die Handlungsfreiheit des einzelnen zugleich achtet und gegen rechtswidrigen Zwang verteidigt und für erhebliche Rechtsbrüche Sanktionen nach dem Prinzip der austeilenden Gerechtigkeit (iustitia distributiva) androht 5 . Schutz des öffentlichen Friedens heißt, daß die Vorherrschaft des Stärkeren gebrochen und allen Bürgern die freie Entfaltung ihrer Persönlichkeit (Art. 2 I GG) durch das Bewußtsein allgemeiner Sicherheit und allgemeiner Achtung der Menschenrechte ermöglicht wird. Allgemeine Sicherheit ist nicht ein Zustand, in dem es keine Verbrechen gibt, vielmehr ein Zustand, in dem die Kriminalität sich in Grenzen hält und unter die Kontrolle des Staates gebracht ist, indem begangene Straftaten zu einem hohen Prozentsatz aufgeklärt und ohne Ansehen der Person verfolgt werden (vgl. unten § 5 IV). Bei seinem Bemühen, die Sicherheit aller zu gewährleisten, hat der Staat zugleich die Menschenrechte als Fundament der Rechts- und Gesellschaftsordnung zu respektieren. Da das Grundgesetz die allgemeine menschliche Handlungsfreiheit gewährleisten will (BVerfGE 6, 32 [36 f.]; st. Rspr.), darf das Strafrecht Beschränkungen nur dann anordnen, wenn dies zum Schutze der Gesellschaft unvermeidlich ist. „Die Strafnorm stellt gewissermaßen die ,ultima ratio' im Instrumentarium des Gesetzgebers dar" (BVerfGE 39, 1 [47]) 6 . Das Strafrecht soll zugleich durch Abwehr von Gewalt und Willkür dem einzelnen einen Spielraum schaffen, innerhalb dessen er sich frei entscheiden und seine Entschlüsse nach eigenem Ermessen durchführen kann. Das Strafrecht beschränkt also nicht nur die Freiheit, sondern es schafft auch Freiheit. Anwendung der austeilenden Gerechtigkeit im Strafrecht bedeutet, daß erhebliche Rechtsbrüche weder durch beliebige Milde bagatellisiert, noch durch übersteigerte Härte dramatisiert werden dürfen, sondern daß dem Täter „nach Verdienst" eine Einbuße an Freiheit, Vermögen oder Ansehen auferlegt wird, die rechtswidriges Verhalten allgemein erkennbar macht und seine Legitimierung im Bewußtsein der Gemeinschaft verhindert 7. Da die Strafe jedoch auch eine soziale Funktion gegenüber dem Rechtsbrecher hat, muß stets ihre Wirkung auf das zukünftige Leben des Verurteilten in der Gesellschaft mitbedacht werden (vgl. § 46 I 2). Endlich muß im Strafrecht auch das Interesse des durch die Straftat Verletzten berücksichtigt werden, indem die Wiedergutmachung des Schadens durch den Täter gefördert wird (vgl. § 46 a). 3. Die Angriffe gegen die Existenzberechtigung des Strafrechts als eines repressiven Machtmittels zur Durchsetzung der Rechtsordnung sind in einer freiheitlich und rechtsstaatlich verfaßten Gesellschaft unbegründet, da nur die Strafe den Schutz des Rechtsfriedens in Freiheit ermöglicht 8 . Das Ziel kann deswegen nicht die Abschaffung des Strafrechts, sondern nur 3

Vgl. zum folgenden Bockelmann, Einführung, insbes. S. 38 ff., 53 ff. und 67ff. Dazu näher Hesse, Grundzüge Rdn. 128. 5 Vgl. Henkel, Rechtsphilosophie S. 412; Engisch, Gerechtigkeit S. 174ff.; Würtenberger, Peters-Festschrift S. 209 ff. 6 Ancel, Jescheck-Festschrift Bd. I I S. 785 ff.; Baumann, Noll-Gedächtnisschrift S. 35. 7 Würtenberger, Jescheck-Festschrift Bd. I S. 38 (Zurechnung zur Schuld als „wichtige Konstante im sozialen Zusammenleben"). 8 Vgl. Kürzinger, ZStW 86 (1974) S. 211 ff.; Jescheck, SchwZStr 91 (1975) S. 13 f.; Bockelmann, Lange-Festschrift S. Iff.; Schild, ARSP 1984, 108ff. 4

1*

4

§

ie

des Strafrechts

seine Verbesserung durch fortlaufende Reform sein, die den Schutz der Allgemeinheit durch maßvolle Generalprävention sicherzustellen und die Gerechtigkeit für den Täter durch Wahrung des Schuldprinzips und, wo erforderlich, durch soziale Hilfen zu erreichen sucht9.

II. Repressive und präventive Funktion des Strafrechts Das Strafrecht dient der Aufgabe des Gesellschaftsschutzes einmal durch die Ahndung von Rechtsverletzungen, die bereits stattgefunden haben; es ist insoweit repressiver Natur. Es dient dieser Aufgabe zum anderen durch die Verhütung von Rechtsverletzungen, die erst in der Zukunft zu befürchten sind; insoweit ist es präventiver Natur. Die repressive und die präventive Funktion des Strafrechts bilden jedoch keinen Gegensatz, sondern müssen als Einheit verstanden werden: das Strafrecht dient durch Androhung, Verhängung und Vollstreckung der gerechten Strafe dem Zweck, Rechtsverletzungen in der Zukunft vorzubeugen (Prävention durch Repression)10. 1. Die Ahndung einer bereits eingetretenen Rechtsverletzung durch die Strafe nach dem Prinzip der austeilenden Gerechtigkeit kommt ihrer Natur nach immer zu spät, denn die Strafe blickt in die Vergangenheit und kann das begangene Unrecht nicht ungeschehen machen. Die repressive Funktion des Strafrechts ist aber notwendig, um den Schutz der Gesellschaft durch Strafe auf gerechte Weise erreichen zu können 11 . In dem Ausspruch der angemessenen Strafe wegen der begangenen Rechtsverletzung liegt die sichtbare Bestätigung der Unverbrüchlichkeit der Rechtsordnung. Das gerichtliche Urteil bringt für den Täter wie auch für die Allgemeinheit unmißverständlich zum Ausdruck, daß das Recht sich, wenn auch manchmal erst spät, durchsetzt und daß darum damit gerechnet werden kann, daß es dies auch in Zukunft tun wird. Durch eine schuldangemessene, gleichmäßige und maßvolle Erfüllung seiner repressiven Funktion entfaltet das Strafrecht jene „sittenbildende Kraft" 1 2 , durch die es die Gesamtheit der Bevölkerung von der Maßgeblichkeit der Rechtsordnung überzeugt und damit die umfassende präventive Wirkung erzielt, die man „Generalprävention" nennt (vgl. unten § 8 I I 3 a). Diese Wirkung des Strafrechts wird erreicht durch die Aufstellung klarer, dem Gemeinverständnis zugänglicher Strafvorschriften, die den Unwertgehalt der verbotenen Handlung eindeutig kennzeichnen, sowie durch eine an der Tatschwere und dem Verschulden des Täters orientierte Strafbemessung, die auch dem Verurteilten verständlich ist und in der Allgemeinheit als gerecht empfunden wird. Damit die Botschaft des Strafrechts ihre Adressaten erreicht, bedarf es allerdings einer verantwortungsbewußten und sachlichen Berichterstattung der Medien über Schaffung und Durchsetzung strafrechtlicher Normen. Auch wenn es repressiv einschreitet, erfüllt das Strafrecht im Blick auf den Gesellschaftsschutz mittelbar immer eine vorbeugende Aufgabe: die gerechte Strafe ist ein im Interesse der Allgemeinheit unerläßliches Instrument zur Erhaltung der sozialen Ordnung. Neben 9

Ebenso Roxin, Allg. Teil I § 4 Rdn. 43; Hassemer, Einführung S. 329ff. Armin Kaufmann, Strafrechtsdogmatik S. 264f.; Lenckner, Strafe S. 9ff.; Roxin, Grundlagenprobleme S. 12 ff.; derselbe, Allg. Teil I § 3 Rdn. 36 ff.; Rudolphi, Der Zweck staatlichen Strafrechts S. 70ff.; Schmidhausen Vom Sinn der Strafe S. 74ff.; Wessels, Allg. Teil Rdn. 6. 11 Gallas, Beiträge S. 4; Stratenwerth, Allg. Teil I Rdn. 28 ff. Hierzu verweist Armin Kaufmann, Strafrechtsdogmatik S. 267 zu Recht auf Kant, der für die Strafe sowohl „Gerechtigkeit" als moralische Maxime als auch „Vernünftigkeit" als kriminalpolitischen Sinngehalt verlangt. 12 H. Mayer, Strafrechtsreform S. 15; Roxin, Bockelmann-Festschrift S. 306; Müller-Dietz, Jescheck-Festschrift Bd. I I S. 817ff.; Schultz, ZStW 92 (1980) S. 631. 10

II. Repressive und präventive Funktion des Strafrechts

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diese sog. positive Generalprävention (BVerfGE 45, 187 [ 2 5 6 ] ) 1 3 t r i t t die negative Generalprävention, die i n der Abschreckung künftiger Täter durch Furcht vor Strafe besteht (vgl. unten § 8 I I 3 a). 2. Darüber hinaus hat das Strafrecht aber auch unmittelbar eine präventive Funktion zu erfüllen. Jede Strafe soll dazu beitragen, bei dem Verurteilten die A c h t u n g vor dem Recht wieder zu befestigen u n d i h n aus eigener Kraft u n d Einsicht auf den Weg der O r d n u n g zurückzuführen. D i e Erinnerung an die durch die Strafvollstreckung erlittene Einbuße an Freiheit, Vermögen u n d Ansehen soll dem Täter ferner als Warnung vor künftigen Straftaten dienen. Als Freiheitsstrafe soll die Strafe weiterhin einen wenigstens zeitweiligen Schutz der Gesellschaft vor dem gefährlichen Täter herbeiführen (vgl. § 2 S. 2 StVollzG). D i e vorbeugende W i r k u n g der Strafe auf den Verurteilten selbst nennt man „Spezialprävention" (vgl. unten § 8 I I 3 b). Neben der spezialpräventiven W i r k u n g , die m i t der Strafe gegenüber jedem Verurteilten erstrebt w i r d , hat das Straf recht gegenüber bestimmten Tätergruppen besondere vorbeugende Aufgaben: a) Strafbare Handlungen werden häufig von Tätern in jugendlichem Alter begangen (Jugendkriminalität). Die Begehung leichterer Straftaten ist eine normale Erscheinung in der Entwicklung vieler junger Menschen, die diese Phase später aus eigener Kraft überwinden 14 . Gefährlicher ist die Frühkriminalität 15 . Unter Frühkriminellen versteht man Jugendliche (14 - 17 Jahre) und Heranwachsende (18 - 20 Jahre) mit schon im Kindes- und Jugendalter auftretenden Verwahrlosungserscheinungen (unregelmäßiger Schulbesuch, vorzeitiger Abbruch der Lehre, Unfähigkeit zu fortdauernder Berufsarbeit, unsteter Lebenswandel, rasche Folge von Straftaten), die Frühsymptome einer kriminellen Veranlagung sein können. Man schätzt ihren zahlenmäßigen Anteil auf höchstens 15% der straffälligen Jugendlichen und nimmt an, daß rund ein Viertel der Frühkriminellen auch noch im Erwachsenenalter wiederholt erhebliche Straftaten begeht. Die Zahl der wegen Verbrechens oder Vergehens verurteilten Jugendlichen und Heranwachsenden hat seit der Mitte der 50er Jahre laufend zugenommen. Das Jugendstrafrecht kennt für die leichtere Kriminalität das Absehen von der Verfolgung durch den Staatsanwalt (§ 45 JGG), die Einstellung des Verfahrens durch den Richter (§ 47 JGG), Erziehungsmaßregeln (§ 9 JGG) und Zuchtmittel (§ 13 I I JGG), für die schwerere Kriminalität die Jugendstrafe (§ 17 ff. JGG). Das Jugendhilferecht sieht Hilfs- und Schutzmaßnahmen vor (z.B. Erziehungsberatung, Erziehungsbeistand, Vollzeitpflege, Heimerziehung, intensive sozialpädagogische Einzelbetreuung, §§ 28 - 35 SGB V I I I - Kinder- und Jugendhilfe). Die unbestimmte Jugendstrafe (§19 JGG a.F.) wurde jedoch durch das 1. JGGÄG vom 30.8.1990 (BGBl. I 1990 S. 1853) aufgehoben 16. Besonders die mit Freiheitsentziehung verbundenen Sanktionen des Jugendrechts sind zurückhaltend zu handhaben, da sie sehr negative Wirkungen auf den Verurteilten haben können 17 . b) Eine zweite spezialpräventive Aufgabe der Verbrechensvorbeugung ist der Kampf gegen die Rückfallkriminalität 18 . Zwei Gruppen von Rückfälligen sind zu unterscheiden: 13

Jakobs, Allg. Teil 1/15 (positive Generalprävention als „Einübung in Normvertrauen, Rechtstreue und Normanerkennung"). 14 Schaffstein/Beulke, Jugendstrafrecht S. 5; allgemein Hellmer, Jugendkriminalität S. 71 ff. 15 Frey, Der frühkriminelle Rückfallverbrecher, 1951; Munkwitz, Die Prognose der Frühkriminalität, 1967; Schaff stein/Beulke, Jugendstrafrecht S. 6; Hellmer, Der Gewohnheitsverbrecher S. 63. 16 Zur Vorgeschichte Heinz, Info 1/1989 S. 7 ff. 17 Zur Vermeidung des Strafverfahrens durch Diversion Heinz, ZRP 1990, 7 ff. Allgemein zur neuesten Entwicklung des Jugendkriminalrechts BJM (Hrsg.), Grundfragen des Jugendkriminalrechts, 1990; Heinz, JuS 1991, 896. Zur Jugendgerichtshilfe Laubenthal, SpendelFestschrift S. 795 ff. Zur internationalen Entwicklung Schüler-Springorum, ZStW 104 (1992) S. 169 ff. 18 Vgl. hierzu Mannheim, H W B K r i m Bd. I I I S. 38 ff.; Kerner, Kleines Kriminologisches Wörterbuch S. 432; J. Meyer, Strafrechtliche Aspekte des Rückfalls S. 79ff.; Kaiser, Kriminologie § 106.

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die Gewohnheitsverbrecher mit fest eingewurzeltem Hang zur Kriminalität und die Neigungstäter mit wiederholten Vortaten, die nach ihrer Persönlichkeitsentwicklung aber noch nicht auf die Verbrecherlaufbahn festgelegt sind. Für die zweite Gruppe sah § 48 a.F. früher die Anhebung der Mindeststrafe auf 6 Monate Freiheitsstrafe vor; doch ist diese Vorschrift durch das 23. StÄG vom 13.4.1986 (BGBl. I S. 393) aufgehoben worden, da sie sich nicht bewährt hat. Wichtig bleibt jedoch, daß Vorstrafen der häufigste allgemeine Strafschärfungsgrund sind. Vorrangig ist hierbei der Gedanke, daß wiederholter Gesetzesungehorsam aus Gründen der Gerechtigkeit und der Generalprävention schärfer bestraft werden muß 1 9 ; spezialpräventiv dürften längere Freiheitsstrafen dagegen keine positive Wirkung haben. Für gefährliche Hangtäter droht § 66 die zeitlich unbestimmte Sicherungsverwahrung an. Sie wird nur noch selten angewendet, weil die Gerichte die Verlängerung des Freiheitsentzugs über das verdiente Maß der Freiheitsstrafe hinaus als ungerecht empfinden (vgl. unten § 5 V 2) 2 0 . c) Die dritte Gruppe, gegen die das Strafrecht besondere Vorbeugungsmaßregeln ergreifen muß, sind die seelisch defekten Kriminellen 21 . Hierunter versteht man Straftäter mit Geisteskrankheiten oder nichtkrankhaften seelischen Störungen, die als Psychopathien, Neurosen, Triebanomalien oder als verschiedene Grade des Schwachsinns und des Altersabbaus auftreten und eine erhebliche Rolle in der Kriminogenese, insbesondere bei der Rückfallkriminalität und der Früh- und Alterskriminalität, spielen. In Betracht kommt bei schuldunfähigen und vermindert schuldfähigen Personen die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus (§ 63), bei Alkoholikern und Drogenabhängigen die Unterbringung in einer Entziehungsanstalt (§ 64). Das Betäubungsmittelgesetz ermöglicht ferner bei drogenabhängigen Tätern, die ein besonders schwieriges Problem der Kriminalpolitik darstellen, bis zur oberen Grenze von zwei Jahren Freiheitsstrafe statt Strafvollstreckung Therapie und Rehabilitation (§§ 35, 36 BtMG). Von der Erhebung der öffentlichen Klage kann bei Therapiebereitschaft des Beschuldigten abgesehen werden (§ 37 BtMG). d) Eines der schwierigsten Probleme des modernen Strafrechts ist die Bekämpfung der Fahrlässigkeitskriminalität, die in erster Linie als Verkehrskriminalität in Erscheinung tritt 2 2 , aber auch als Fahrlässigkeit im Berufsleben Bedeutung hat (z.B. fahrlässig verursachte Bauunglücke, ärztliche Kunstfehler). Als besondere Sanktion gibt es die Nebenstrafe des Fahrverbots (§ 44), als Maßregeln die Entziehung der Fahrerlaubnis (§ 69) und das Berufsverbot (§ 70). Die früheren Verkehrsübertretungen sind im Jahre 1968 in Ordnungswidrigkeiten umgewandelt worden, um eine raschere Ahndung durch von der Polizeibehörde festgesetzte empfindliche Geldbußen unter Vermeidung des gerichtlichen Verfahrens zu ermöglichen (vgl. unten § 7 V 1). Dieses Vorgehen hat sich zur Bekämpfung der massenhaft auftretenden leichten Verkehrsdelikte bewährt. Auch bei Verkehrsordnungswidrigkeiten ist als zusätzliche Sanktion das Fahrverbot vorgesehen (§ 25 StVG). Außerdem kann die Verpflichtung zur Teilnahme am Verkehrsunterricht ausgesprochen werden (§ 48 StVO). 3. Das moderne Strafrecht bedient sich, u m den verschiedenen Erscheinungsformen der Kriminalität möglichst wirkungsvoll begegnen zu können, sowohl der am Verschulden ausgerichteten Strafe als auch der die Gefährlichkeit erfassenden Maßregel („Zweispurigkeit"). D i e Maßregeln sind dem Straf recht jedoch nicht wesensfremd, sondern sind i h m i n sinnvoller Weise eingefügt: sie setzen immer das Vorliegen einer rechtswidrigen Tat ( § 1 1 1 N r . 5) voraus, werden i n der Regel nicht allein, sondern als Ergänzung der Strafe angeordnet u n d können nie anders als aufgrund eines m i t allen Rechtsgarantien ausgestatteten strafgerichtlichen Verfahrens durch strafrichterliche Entscheidung verhängt werden. D i e Gefahren der Maßregeln liegen i n der Loslösung v o m Schuldprinzip, i n zu weitgefaßten Voraussetzungen, i n der Annäherung des Vollzugs der freiheitsentziehenden Maßregeln an die Freiheitsstrafe, i n der Unsicherheit v o n Prognoseurteilen und i n der Unbe19 20 21 22

Zur Schuldfrage Erhard, Strafzumessung bei Vorbestraften S. 304 ff. Zum Rückfallproblem allgemein Zipf Grundsätze S. 84. Göppinger, Kriminologie S. 179 ff. Vgl. Kaiser, Kriminologie §§ 95 ff.; derselbe, Verkehrsdelinquenz S. 183 ff.

III. Rechtsgüterschutz und Schutz der sozialethischen Handlungswerte

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stimmtheit ihrer Dauer (vgl. unten § 9 I I 2). Im Hinblick auf diese Gefahren sieht das Strafgesetzbuch seit der Reform von 1975 erhebliche Verbesserungen vor (vgl. unten § 77 VI), ohne jedoch auf freiheitsentziehende Maßregeln ganz zu verzichten. 4. Die neuerdings vorgeschlagene Einführung der Wiedergutmachung als eigenständige strafrechtliche Sanktion (sog. „dritte Spur") 23 empfiehlt sich dagegen nicht, weil Schadensersatz als zivilrechtliche Folge der Straftat ohnehin geschuldet wird und von pönalen Elementen freigehalten werden muß. Die Wiedergutmachung sollte auf ihre legitimen Funktionen als Auflage (§§ 56b I I Nr. 1, 57 III, 59a I I Nr. 1 StGB; 153a I S. 1 Nr. 1, I I StPO) und als Strafmilderungsgrund (§ 46 I I a.E.) beschränkt bleiben (vgl. näher unten § 81 II).

III. Rechtsgüterschutz und Schutz der sozialethischen Handlungswerte Das Strafrecht kann nicht überall eingreifen, wo Störungen des Gemeinschaftslebens auftreten, sondern muß auf den Schutz der Grundwerte der Sozialordnung beschränkt bleiben (BVerfGE 45, 187 [253]). 1. Das Strafrecht hat die Aufgabe, Rechtsgüter zu schützen24. Allen Strafrechtsnormen liegen positive Werturteile über Lebensgüter zugrunde, die für das Zusammenleben der Menschen in der Gemeinschaft unentbehrlich sind und deshalb durch die Zwangsgewalt des Staates mittels der öffentlichen Strafe geschützt werden müssen. Solche elementaren Lebensgüter sind z.B. das Menschenleben, die Körperintegrität, die persönliche Handlungs- und Bewegungsfreiheit, das Eigentum, das Vermögen, die Verkehrssicherheit, die Unbestechlichkeit der Amtsträger, die verfassungsmäßige Ordnung, der öffentliche Frieden, die äußere Sicherheit des Staates, die Unantastbarkeit von ausländischen Staatsorganen und Hoheitszeichen, die Sicherheit von nationalen, ethnischen oder kulturellen Minderheiten gegen Ausrottung oder unwürdige Behandlung, der internationale Frieden. Es gibt auch Lebensgüter, die ausschließlich in tief verwurzelten sittlichen Uberzeugungen der Gesellschaft bestehen wie das Schutzgut der Strafvorschrift gegen Tierquälerei (§17 TierSchG). Durch die Aufnahme dieser Werte in den Schutzbereich der Rechtsordnung werden sie zu Rechtsgütern 25. Alle Strafvorschriften des geltenden deutschen Rechts lassen sich auf den Schutz eines oder meh23 So Roxin, Neue Wege S. 370; derselbe, Allg. Teil I § 3 Rdn. 63 ff.; Jung, ZStW 99 (1987) S. 533ff. Dagegen zu Recht Hirsch, ZStW 102 (1990) S. 537ff.; Bölling, JZ 1992, 492. Nach dem Alternativ-Entwurf Wiedergutmachung, 1992 (§ 4) soll das Gericht bei erfolgreicher Wiedergutmachung von Bestrafung absehen können, was aber nur bei Bagatelldelikten in Betracht kommen kann, während dies hiernach die Regel sein soll, wenn der Täter sonst Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr verwirkt hätte. Dazu Weigend, GA 1992, 364 ff. Dagegen zu Recht Lampe, GA 1993, 485 ff. Das Verbrechensbekämpfungsgesetz vom 28.10.1994 (BGBl. I S. 3186) hat ungeachtet der erhobenen Bedenken durch den neuen § 46 a die Möglichkeit des Absehens von Strafe eingeführt, wenn der Täter seine Tat ganz oder zum überwiegenden Teil wiedergutgemacht oder deren Wiedergutmachung auch nur ernsthaft erstrebt hat und wenn keine höhere Strafe als Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder Geldstrafe bis zu 360 Tagessätzen verwirkt ist. Gegen die Aufnahme des Täter-OpferAusgleichs als „dritte Spur" in das strafrechtliche Sanktionensystem Walter, Über das Verhältnis des Täter-Opfer-Ausgleichs zum Kriminalrechtssystem S. 63. Zum Verhältnis von zivilrechtlicher Haftung und strafrechtlicher Verantwortung grundlegend Stoll, Haftungsfolgen S. 55 ff. 24 Roxin, Allg. Teil I § 2 Rdn. 1; Maurach/Zipf, Allg. Teil I § 19 Rdn. 4; Otto, Grundkurs S. 7ff.; AK (Hassemer) Vorbem. 255 ff. vor § 1. 25 Vgl. über den Zusammenhang von Wert und Rechtsgut v. Hippel, Bd. I S. 10 ff.; Armin Kaufmann, Normentheorie S. 69ff.; Schmidhäuser, Allg. Teil S. 36f.; Lampe, Welzel-Festschrift S. 151 ff.; SK (Rudolphi) Vorbem. 3 ff. vor § 1.

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rerer Rechtsgüter zurückführen 2 6 . I n der Verletzung oder konkreten Gefährdung eines Handlungs- (oder Angriffs-)objekts (z.B. des Lebens eines Menschen, der Sicherheit eines Verkehrsteilnehmers), das die Strafvorschrift als äußere Erscheinungsform oder Träger des geschützten Rechtsguts sichern w i l l , liegt der Erfolgsunwert der Straftat. Der Bestand an strafrechtlich geschützten Rechtsgütern wechselt. Im gegenwärtigen Recht gibt es sowohl die Erscheinung der Neuinkriminierung (z.B. die Geldwäsche, § 261) als auch die der Entkriminalisierung (z.B. die Abschaffung der Strafbarkeit homosexueller Handlungen durch Aufhebung des § 175 in Art. I Nr. 1 des 29. StÄG vom 31.5.1994) 27 . Die veränderte Einschätzung der Rechtsgüter findet ferner im Wandel der Sanktionspraxis Aus2. D i e Strafrechtsnormen schützen die Rechtsgüter nicht schlechthin i n ihrem Bestand, sondern nur gegenüber menschlichen H a n d l u n g e n 2 9 . Deshalb interessieren unabwendbare Naturkatastrophen das Strafrecht nicht, auch w e n n sie schwere Schäden verursachen. Strafrechtlich bedeutsam sind nur Folgen des menschlichen Willens, der den Geltungsanspruch des Rechtsguts mißachtet u n d damit die notwendige Vertrauensbasis i m Zusammenleben der Menschen erschüttert. I n der das Angriffsobjekt gefährdenden H a n d l u n g liegt der Handlungsunwert der Straftat. Das Strafrecht verwirklicht den Rechtsgüterschutz, indem es den W i l l e n der Rechtsgenossen m i t den Anforderungen der Rechtsordnung i n Ubereinstimmung zu halten sucht. Das Verbrechen stellt sich darum als Rechtsguts- und Pflichtverletzung in einem dar. Die Betonung des Rechtsgüterschutzes als vorrangige Aufgabe des Strafrechts ist ein Kennzeichen der liberalen Staatsauffassung. Dahinter steht die Uberzeugung, daß die innere Qualität menschlicher Handlungen nicht der Beurteilung durch das Strafrecht unterworfen werden dürfe, weil dafür nur das Forum des Gewissens anerkannt werden könne. Gegen diese Auffassung spricht jedoch, daß Rechtsgüterschutz letztlich nur dadurch auf die Dauer erreicht werden kann, daß bei den Bürgern eine positive Einstellung zu den Rechtsgütern herbeigeführt wird. Die sozialethische Strafrechtslehre betrachtet deswegen die Bestrafung des „betätigten Abfalls von den Grundwerten rechtlichen Handelns" als primäre Aufgabe 3 . Die letzte Konsequenz dieser Ansicht wäre freilich die Abstufung der Strafdrohungen nach dem Grade des Handlungsunwerts, die durchgängige Bestrafung des Versuchs, die Ännahme der Vollendung der Straftat mit dem beendeten Versuch und die Bestrafung der Fahrlässigkeit ohne Rücksicht auf den Erfolg. Dies ist aber weder der Standpunkt des geltenden Rechts noch die Absicht des Gesetzgebers für die Zukunft. Die Aufgabe des Strafrechts läßt sich in eine monistische Konstruktion nicht widerspruchslos einfügen, sondern nur dadurch sinnvoll erklären, daß Rechtsgüterschutz und Einwirkung auf den Handlungswillen der Rechtsgenossen als gleichwertige, sich gegenseitig ergänzende, bedingende und beschränkende Aufgaben des Strafrechts verstanden werden \

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Ob auch bloße Moralwidrigkeiten unter Strafe gestellt werden, ist eine Frage der Kriminalpolitik, die von sozialethischen Grundüberzeugungen bestimmt wird, wie das vom Koran bestimmte islamische Straf recht zeigt. Dazu Roxin, Allg. Teil I § 2 Rdn. 3. 27 Vgl. näher Tiedemann, ZStW 86 (1974) S. 310ff.; Jescheck, MPG-Jahrbuch 1975 S. 55ff. 28 Vgl. näher Kaiser, ZStW 86 (1974) S. 360 ff. 29 Vgl. Welzel, Kohlrausch-Festschrift S. 107 ff.; derselbe, Lehrbuch S. 4; Bockelmann/ Volk, Allg. Teil S. 51; Maurach/Zipf, Allg. Teil I § 7 Rdn. 4. 30 So Welzel, Lehrbuch S. Iff.; ferner Zielinski, Handlungs- und Erfolgsunwert S. 143. 31 So die H.L.; vgl. Maurach/Zipf, Allg. Teil I § 17 Rdn. 1; B G H 2, 364 (368). Über die Sozialschädlichkeit als Grenze der Inkriminierung Amelung, Rechtsgüterschutz S. 350 ff. Gegen den extremen Standpunkt Zielinskis (vgl. oben Fußnote 30) überzeugend Stratenwerth, Schaffstein-Festschrift S. 177 ff.

§ 2 Grundbegriffe des Strafrechts

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§ 2 Grundbegriffe des Strafrechts Amelung, Strafbarkeit von „Mauerschützen", JuS 1993, 637; derselbe, Anmerkung zu B G H NStZ 1994, 533, NStZ 1995, 29; Ancel, La défense sociale nouvelle, 3. Auflage 1981 (deutsche Übersetzung der 2. Auflage „Die neue Sozialverteidigung" von M elzer, 1970); J. Arnold, Deutsche Einheit: Strafrechtliche Übergangsprobleme, in: Eser/Huber (Hrsg.), Strafrechtsentwicklung in Europa, Bd. 4.1, 1993, S. 341; J. Arnold/M. Kühl, Probleme der Strafbarkeit von „Mauerschützen", JuS 1992, 991; Arroyo Zapatero, Jurisprudencia Constitucional en materia penal, Cuadernos de Politica Criminal 1982, 385 ff.; 1984, 510ff.; Arzt y Der Ruf nach Recht und Ordnung, 1976; Barbero Santos, Die Strafrechtsreform der spanischen konstitutionellen Monarchie, Festschrift für H.-H. Jescheck, Bd. II, 1985, S. 893; Bassiouni, Draft Statute International Criminal Tribunal, 1992; Böllinger/Lautmann (Hrsg.), Vom Guten, das noch stets das Böse schafft (Essays zu Ehren von H. Jäger), 1993; Bosch, Neues Strafrecht in Italien, JZ 1985, 476; Bricola, Teoria generale del reato, Novissimo Digesto Italiano X I X (1973) S. 14 ff.; Burgstaller, Das neue österreichische Strafrecht in der Bewährung, ZStW 94 (1982) S. 723; Cornils, Die Freiheitsstrafe und ihre Surrogate im schwedischen Recht, JR 1981, 309; Dahm, Völkerrecht, Bd. III, 1961; Dieblich, Der strafrechtliche Schutz der Rechtsgüter der Europäischen Gemeinschaften, Diss. Köln 1985; Ernst, Die Ausübung der Vereinsgewalt, Diss. Köln 1969; Flume, Die Vereinsstrafe, Festschrift für E. Boetticher, 1969, S. 101; Frowein/Peukert, Europäische Menschenrechtskonvention, 1985; Ganter, Die Spruchpraxis der Europäischen Kommission für Menschenrechte auf dem Gebiet des Strafvollzugs, 1974; Graefrath, Die Verhandlungen der UN-Völkerrechtskommission zur Schaffung eines Internationalen Strafgerichtshofs, ZStW 104 (1992) S. 190; Häberle, Die Menschenwürde als Grundlage der staatlichen Gemeinschaft, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. I, § 20, 1991; Heinz, Abschied von der Erziehungsideologie im Strafrecht, Recht der Jugend 1992, 123; ν. H entig, Die Strafe, Bd. II, 2. Auflage 1955; Herrmann, Menschenrechtsfeindliche und menschenrechtsfreundliche Auslegung usw., NStZ 1993, 118; Hirsch, Die Abgrenzung von Strafrecht und Zivilrecht, Festschrift für K. Engisch, 1969, S. 304; Huber y Die Freiheitsstrafe in England und Wales, 1983; Jakobs, Vergangenheitsbewältigung durch Strafrecht? in: Battis/ Jakobs/ Jesse (Hrsg.), Vergangenheitsbewältigung durch Recht, 1992, 37; derselbe, Untaten des Staates - Unrecht im Staat, G A 1994, 1; Jéol y La politique criminelle en France, Rev int dr pén 1982, 903; Jescheck, Die Verantwortlichkeit der Staatsorgane nach Völkerstrafrecht, 1952; derselbe, Gegenwärtiger Stand und Zukunftsaussichten des Völkerstrafrechts, Erinnerungsgabe für M. Grünhut, 1965, S. 47; derselbe, Die Kriminalpolitik der deutschen Strafrechtsreformgesetze usw., Festschrift für W. Gallas, 1973, S. 27; derselbe, Das neue deutsche Strafrecht im internationalen Zusammenhang, Jahrbuch der Max-Planck-Gesellschaft 1975, S. 49; derselbe, Das neue deutsche Strafrecht in der Bewährung, Jahrbuch der Max-Planck-Gesellschaft 1980, S. 18; derselbe, Entwicklung, gegenwärtiger Stand und Zukunftsaussichten des internationalen Strafrechts, G A 1981, 49; derselbe, Die Freiheitsstrafe und ihre Surrogate in rechtsvergleichender Darstellung, in: Jescheck (Hrsg.), Die Freiheitsstrafe und ihre Surrogate im deutschen und ausländischen Recht, Bd. III, 1984, S. 1939; derselbe, Strafrechtsreform in Deutschland, SchwZStr 100 (1983) S. 1; derselbe, Die Schuld im Entwurf eines Strafgesetzbuchs für England und Wales usw., Festschrift für R. Schmitt, 1992, S. 56; Kaiser, Entwicklungstendenzen des Strafrechts, Festschrift für R. Maurach, 1972, S. 25ff.; Kaiser/ Metzger-Pregizer (Hrsg.), Betriebsjustiz, 1976; van Kalmthout/Tak, Sanctions-Systems in the Member-States of the Council of Europe, Part I, 1988; Part II, 1992; Klose, „Jus puniendi" und Grundgesetz, ZStW 86 (1974), S. 33; Kreuzer, Jugendkriminalität, Kleines Kriminologisches Wörterbuch, 3. Auflage 1993, S. 182; Küper/Wülms, Die Verfolgung von Straftaten des SED-Regimes, ZRP 1992, 91; Lahti, Die Entwicklung der Kriminalpolitik in Finnland, Festschrift für H.-H. Jescheck, Bd. II, 1985, S. 871; Lange, Wandlungen in den kriminologischen Grundlagen der Strafrechtsreform, DJT-Festschrift, Bd. I, 1960, S. 345; Lecheler, Unrecht in Gesetzesform? 1994; Liebs, Damnum, damnare und damnas, Zeitschrift der Savigny-Stiftung 85 (1968) S. 173; Limbach, Vergangenheitsbewältigung usw., DtZ 1993, 66; Listl/Müller/Schmitz (Hrsg.), Handbuch des Kath. 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gewalt der Kirche, 1993; Schittenhelm, Strafe und Sanktionensystem im sowjetischen Strafrecht, 1994; Schroeder, Die Rechtswidrigkeit der Flüchtlingserschießungen usw., JR 1993, 45; Schultz y Vierzig Jahre schweizerisches Strafgesetzbuch, SchwZStr 99 (1982) S. 1; Schutte, The European Market of 1993 usw., in Eser/Lagodny (Hrsg.), Principles and Procedures for a New Transnational Criminal Law, 1992, S. 387; Sieber (Hrsg.), Europäische Einigung und europäisches Strafrecht, 1993; Spartiol, Zur Strafrechtsentwicklung in Frankreich, JZ 1985, 618; Stolly Schadensersatz und Strafe, Festschrift für M. Rheinstein, Bd. II, 1969, S. 569; Tiedemanriy Der Allgemeine Teil des europäischen supranationalen Strafrechts, Festschrift für H.-H. Jescheck, Bd. II, 1985, S. 1411; derselbe, Reform des Sanktionenwesens auf dem Gebiet des Agrarmarktes der EWG, Festschrift für G. Pfeiffer, 1988, S. 101; derselbe, Der Strafschutz der Finanzinteressen der EG, NJW 1990, 2226; derselbe, Anmerkung zu EuGH EuZW 1990, 100; derselbe, Gemeinschaftsrecht und Strafrecht, NJW 1993, 23; Verhaegen y La révision du Code pénal belge, SchwZStr 98 (1981) S. 1; Weigend, Strafrecht durch internationale Vereinbarungen, ZStW 105 (1993) S. 774; Weitnauer y Vereinsstrafe, Vertragsstrafe und Betriebsstrafe, Festschrift für R. Reinhardt, 1972, S. 179; Winkler, Zur Rechtsnatur der Geldbuße im Wettbewerbsrecht der EWG, 1971; E. Wolf y Ordnung der Kirche, 1961; Würtenberger, Kriminalpolitik im sozialen Rechtsstaat, 1970; derselbe, Zur Reform des Jugendkriminalrechts, Archiv für Wissenschaft und Praxis in der soz. Arbeit, 1971, 81. I. Strafrecht und Strafgewalt 1. Das Strafrecht bestimmt, welche Zuwiderhandlungen gegen die soziale O r d nung Verbrechen sind, es droht als Rechtsfolge des Verbrechens die Strafe an. Aus Anlaß eines Verbrechens sieht es ferner Maßregeln der Besserung u n d Sicherung u n d andere Maßnahmen (Verfall, Einziehung u n d Unbrauchbarmachung, § 11 I N r . 8) vor. Die Bezeichnung „Strafrechtdie an die „Strafe" (mittelhochdeutscher Ausdruck für „Tadel", „Schelte") als Rechtsfolge des Verbrechens anknüpft, hat sich erst seit dem Anfang des 19. Jahrhunderts durchgesetzt, während früher der Ausdruck „Kriminalrecht" üblich war, der an das „crimen" als den anderen Grundsachverhalt des Strafrechts erinnert. Auf einer früheren historischen Stufe findet sich ferner der Ausdruck „peinliches" Recht. Er ist von dem Wort „Pein" abgeleitet, das aus dem lateinischen „poena" (Buße, Strafe) entlehnt ist; dieses geht wiederum auf das griechische „poiné" (Buße) zurück 1 . Die erste Strafrechtsordnung des Deutschen Reiches von 1532 hieß mit ihrem deutschen Titel „Peinliche Gerichtsordnung Kaiser Karls V.", mit ihrem lateinischen „Constitutio Criminalis Carolina". Im französischen Sprachraum werden „droit pénal" und „droit criminel", im englischen „penal law" und „criminal law" ohne Unterschied der Bedeutung nebeneinander gebraucht. Die italienische Bezeichnung lautet „diritto penale", die spanische „derecho penal". In den slawischen Sprachen findet man sowohl das russische „Ugolownoje prawo" (Kriminalrecht) als auch das polnische „Prawo karne" (Strafrecht). O b w o h l die Bezeichnung „Strafrecht" i n einer Zeit, i n der neben der Strafe die Maßregel steht, genau genommen nicht mehr das gesamte Rechtsgebiet deckt, das gemeint ist, erscheint der herkömmliche Ausdruck für das allgemeine Strafrecht vertretbar, w e i l es hier i n erster Linie die Strafe ist, die als M i t t e l der sozialen K o n trolle eingesetzt w i r d , während der Maßregel mehr eine ergänzende F u n k t i o n z u k o m m t . Dagegen läßt sich der Ausdruck „Jugendstrafrecht" nur rechtfertigen, wenn Klarheit darüber besteht, daß es sich dabei der Sache nach u m ein Teilgebiet des viel umfassenderen „Jugendpflegerechts" handelt, i n dem der strafrichterliche Eingriff nur die „ u l t i m a ratio" ist. Das Jugendstrafrecht stellt zwar zugleich ein Sondergebiet des Straf rechts dar, die Strafe ist hier jedoch gegenüber den Maßnahmen der Jugendpflege, Betreuung u n d Erziehung, die aus Anlaß der Straftat eines Jugendlichen v o n verschiedenen Instanzen ergriffen werden, die Ausnahme u n d nur dann angebracht, w e n n die jugendpflegerische Behandlung wegen der Schwere 1 Vgl. Liebsy Zeitschrift der Savigny-Stiftung 85 (1968) S. 198; Maurach/Zipf, § 1 Rdn. 2.

Allg. Teil I

I. Straf recht u n d Straf gewalt

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der Tat oder der fortgeschrittenen verbrecherischen Neigung des Täters nicht ausreicht 2 . 2. Das Strafrecht beruht auf der Strafgewalt („ius puniendi") des Staates 3 , und diese ist wiederum ein T e i l der Staatsgewalt. Es gehört zu den elementaren Aufgaben des Staates, eine Rechtsordnung zu schaffen u n d durchzusetzen, w e i l ohne sie menschliches Zusammenleben nicht möglich wäre. E i n unentbehrlicher Bestandteil jeder Rechtsordnung ist das Strafrecht, denn so sehr der moderne Sozialstaat in eine planende, lenkende u n d leistende Rolle hineingewachsen ist, so sehr bleibt doch der Schutz des Zusammenlebens der Menschen i n der Gemeinschaft eine seiner Hauptaufgaben. D a r u m gehört die N o t w e n d i g k e i t des Strafzwangs zu den frühesten Erfahrungen der Menschheit und war die Bestrafung v o n Verbrechen in allen K u l t u r e n eine der ältesten Aufgaben der Gemeinschaft. D i e volkstümliche Auffassung erblickt i m Strafrecht noch heute das Recht schlechthin, es ist aber natürlich nur ein Teilgebiet der Gesamtrechtsordnung neben dem viel umfangreicheren Z i v i l - , Verfassungs-, Verwaltungs-, Arbeits- u n d Sozialrecht. Früher wurde die Strafgewalt des Staates aufgrund seiner Souveränität als unbeschränkt angesehen. Heute muß sich jeder Staat jedoch Beschränkungen seiner A u t o n o m i e auf strafrechtlichem Gebiet sowohl durch übergeordnete Rechtsnormen als auch (in Anfängen) durch eine überstaatliche Gerichtsgewalt gefallen lassen. Unantastbar und der staatlichen Machtausübung entzogen ist „ein gewisser Kernbereich des Rechts, der nach allgemeiner Rechtsüberzeugung von keinem Gesetz und keiner anderen obrigkeitlichen Maßnahme verletzt werden darf" (BGH 2, 234 [237]; 39, 1 [16]). Danach darf schwerwiegendes materielles Unrecht weder gestattet oder gar geboten werden (z. B. die NS-Gewaltverbrechen vor 1945), noch dürfen Handlungen, die sich innerhalb des Rahmens der in unserem Kulturraum herkömmlichen Freiheit halten (z. B. das Abhören ausländischer Sender), mit Strafe bedroht werden (menschenrechtliche Schranke der staatlichen Strafgewalt) 4 ' 5 . Unmittelbar verbindlich für die Staatsgewalt sind nach Art. 25 GG ferner die allgemeinen Regeln des Völkerrechts; sie haben Vorrang vor den Gesetzen (wenn auch nicht vor der Verfassung) und erzeugen unmittelbar Rechte und Pflichten für jedermann. Hierunter versteht man diejenigen Regeln des Völkerrechts, die von der großen Mehrheit der Staaten 2 Näher dazu Peters, H W B K r i m Bd. I S. 455 f.; Würtenberger, Archiv 1971, 81 ff. Für Beibehaltung, aber zeitgerechte Wandlung des Erziehungsgedankens zu Recht Schaffstein/ Beulke, Jugendstrafrecht S. 43; Heinz, Recht der Jugend 1992, S. 123 ff. Vgl. ferner das Zahlenmaterial bei Kreuzer, Kleines Kriminologisches Wörterbuch S. 161; Schaffstein/Beulke, Jugendstrafrecht S. 71, 118. 3 Umfassende Darstellung bei Jiménez de Asua, Bd. I I S. 11 ff.; vgl. ferner Triffterer, Allg. Teil S. 4 ff. Die Ansicht von Klose, ZStW 86 (1974) S. 64 ff., daß auf das Grundgesetz nur ein reines Maßnahmenrecht gegründet werden könne, widerspricht dem Wortlaut und Sinn des Art. 74 Nr. 1 GG. Gegen Klose auch Roxin, Allg. Teil I § 2 Rdn. 1 Fn. 2. 4 Völkerrechtliche Menschenwürdeklauseln sind zusammengestellt bei Häberle, Handbuch des Staatrechts § 20 Rdn. 1. 5 Vgl. BVerfGE 1, 14 (18); B G H 1, 391 (399); 2, 173 (177); 2, 333 (334); 3, 357 (363); Radbruch, SJZ 1946, 105; Kohlrausch/Lange, System. Vorbem. I I I 2c. Danach ist § 27 I I des Grenzgesetzes der D D R (DDR GBl. 1982 I S. 201) als Rechtfertigungsgrund nichtig, soweit er den lebensgefährdenden Schuß auf Flüchtlinge an der Mauer zuließ (BGH 39, 1 [15 ff.]; 39, Ί68 [183f.]; 40, 241 [245ff.]; B G H NStZ 1994, 533 m. Anm. Amelung, NStZ 1995, 29; L G Berlin NJ 1992, 269; K G NJW 1991, 2653 [2654]). Ebenso Dreher/Tröndle, Vorbem. 52 vor § 3; Lecheler, Unrecht in Gesetzesform? S. 14; Roxin, Allg. Teil I § 5 Rdn. 52b; Lackner, § 7 Rdn. 2; Küpper/Willms, ZRP 1992, 93; Limbach, DtZ 1993, 66 (69). Zur Begründung des B G H kritisch Schroeder, JR 1993, 45; Herrmann, NStZ 1993, 118; Amelung, JuS 1993, 637 ff. Für Straflosigkeit dagegen Grünwald, StV 1991, 31; J. Arnold/M. Kühl, JuS 1992, 994ff.; Jakobs, Vergangenheitsbewältigung S. 37; derselbe, GA 1994, 19. Gegen diesen zu Recht Schroeder, JZ 1992, 991 f. Literaturzusammenstellung für den Schußwaffengebrauch durch Grenztruppen der ehemaligen D D R bei J. Arnold, Deutsche Einheit S. 390 f.

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nicht notwendigerweise auch von Deutschland selbst - anerkannt sind, z.B. die Normen des Kriegsrechts, wonach Geiselnahme, Plünderung, Tötung von Feinden, die sich ergeben haben, und unmenschliche Behandlung von Kriegsgefangenen sowie der Bevölkerung besetzter Gebiete verboten sind, der Anspruch des der Gerichtssprache nicht hinreichend mächtigen Angeklagten auf einen Dolmetscher für die mündliche Verhandlung (BVerfG NJW 1988, 1462) oder der Grundsatz der Spezialität im Auslieferungsrecht (BGH 15, 125 [126]) (völkerrechtliche Schranke der staatlichen Strafgewalt). Andere Normen des Völkerrechts, wie z.B. der Inhalt der Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten vom 4.11.1950 (BGBl. 1952 I I S. 686) oder des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte vom 19.12.1966 (BGBl. 1973 I I S. 1534), müssen erst durch spezielle Transformation ins staatliche Recht aufgenommen werden. Eine überstaatliche Strafgewalt ist weder durch das Londoner Viermächteabkommen über die Verfolgung und Bestrafung der Hauptkriegsverbrecher vom 8.8.1945 geschaffen worden noch später im Verlauf der Bemühungen um die Errichtung eines internationalen Strafgerichtshofs zustande gekommen6. Der vom Sicherheitsrat der Vereinten Nationen geschaffene Strafgerichtshof für die Aburteilung der in Jugoslawien begangenen Kriegsverbrechen könnte eine neue Entwicklung einleiten, falls er wirklich in Tätigkeit treten kann (vgl. unten § 14 I I 4). Einschränkende Bedeutung für die staatliche Strafgewalt hat das Rechtsschutzsystem der Europäischen Menschenrechtskonvention vom 4.11.1950 mit ihren Zusatzprotokollen durch die Kontrolle von Gerichtsentscheidungen und anderen Hoheitsakten der Justiz 7 . Dagegen besitzt die Europäische Union, deren Recht unmittelbare Geltung und Vorrang vor dem nationalen Recht der Mitgliedstaaten hat, nur eine eng begrenzte Ordnungsstrafgewalt, jedoch keine Befugnis zum Erlaß kriminalstrafrechtlicher Sanktionen (BGH 25, 190 [193 f.]) (zum Europäischen Strafrecht vgl. unten § 18 VII) 8 . Das Völkerrecht kann die Staaten aber nicht nur in der Ausübung ihrer Strafgewalt beschränken, sondern sie auch zur Bestrafung bestimmter Taten verpflichten, was sowohl durch Verträge als auch durch allgemeine Regeln vorgeschriebenes staatliches Recht)9. Ein Beispiel bietet die geschehen kann (völkerrechtlich Einführung des § 316c über die Bestrafung der Luftpiraterie aufgrund des Haager Ubereinkommens zur Bekämpfung der widerrechtlichen Inbesitznahme von Luftfahrzeugen vom 16.12.1970 (BGBl. 1972 I I S. 1505) sowie die allgemeine Einbeziehung von „Taten, die aufgrund eines für die Bundesrepublik Deutschland verbindlichen zwischenstaatlichen Abkommens auch dann zu verfolgen sind, wenn sie im Ausland begangen werden", in die deutsche Strafgewalt (§ 6 Nr. 9).

3. Auch das Grundgesetz wirkt in vielfältiger Weise auf das Strafrecht ein 10 . Wichtige Strafrechtsnormen sind im Grundgesetz selbst enthalten, so die Abschaffung der Todesstrafe (Art. 102 GG) und das Gesetzlichkeitsprinzip (Art. 103 I I GG). 6 Jescheck, Völkerstrafrecht S. 283 ff.; derselbe, Grünhut-Erinnerungsgabe S. 50ff.; derselbe, GA 1981, 53 ff.; Bassiouni, Draft Statute International Criminal Tribunal, 1992; Graef-

rathy Z S t W 100 (1992) S. 190 ff. 7

Vgl. allgemein Frowein/Peukert, Europäische Menschenrechtskonvention, Art. 19 ff. sowie die deutschen und ausländischen Beiträge zum Thema „Der Einfluß der Europäischen Menschenrechtskonvention auf das Straf recht und Strafverfahrensrecht", ZStW 100 (1988) S. 406 ff., 601 ff. (Kühl, Fuchs, Schroth, Riz, Trechsel); zum Strafvollzug Ganter, Spruchpraxis S. 67 ff. 8 Tiedemann, Jescheck-Festschrift Bd. I I S. 1410 ff.; derselbe, Pfeiffer-Festschrift S. 101 ff.; derselbe, NJW 1990, 2226 und NJW 1993, 24ff.; LK U (Jescheck) Einleitung Rdn. 105 ff.; Schutte, The European Market S. 387ff.; EuGH EuZW 1990, 99 m. Anm. Tiedemann; EuGH NJW 1993, 47 m. Anm. Tiedemann. Vgl. ferner Dieblich, Der strafrechtliche Schutz S. 231 ff.; Winkler, Die Rechtsnatur der Geldbuße, 1971. Zu den Möglichkeiten und Grenzen eines echten Europäischen Strafrechts LK n (Jescheck) Einleitung Rdn. 98 ff.; Sieber (Hrsg.), Europäische Einigung und Europäisches Strafrecht, 1993. 9 Vgl. dazu Dahm, Völkerrecht Bd. I I I S. 285 ff. 10 Tiedemann, Verfassungsrecht und Strafrecht, 1991; LK U (Jescheck), Einleitung Rdn. 9. Für Italien vgl. Bricola, Teoria generale del reato, Novissimo Digesto Italiano X I X (1973) S. 14ff.; für Spanien Arroyo Zapatero, Cuadernos de Politica Criminal 1982, 385 ff.; 1984, 510 ff.

I I . Straftat, Strafe u n d Maßregel

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Durch das Grundgesetz werden auch die allgemeinen Grundsätze der Kriminalpolitik festgelegt (vgl. unten § 4). Aus dem Grundgesetz kann sich ferner die Pflicht des Staates ergeben, hochrangige Rechtsgüter durch Strafrechtsnormen zu schützen. So hat das Bundesverfassungsgericht die für den Abbruch der Schwangerschaft nach § 218a I durch das 5. StA G vom 18.6.1974 ursprünglich vorgesehene Fristenlösung für verfassungswidrig erklärt („Vorrang des Lebensschutzes vor dem Anspruch der Frau auf freie Lebensgestaltung") und einen ausreichenden strafrechtlichen Schutz des werdenden Lebens verlangt (BVerfGE 39, 1 [65f.]) 11 . Dagegen läßt das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 28.5.1993 (BVerfGE 88, 203) nunmehr die Erfüllung der Pflicht, sich beraten zu lassen, als Grund für die Straffreiheit der Schwangeren bei einem Schwangerschaftsabbruch durch einen Arzt innerhalb von 12 Wochen nach der Empfängnis genügen, erklärt jedoch den Schwangerschaftsabbruch außerhalb der in § 218 a I I und I I I vorgesehenen Indikationen für rechtswidrig. Auch Beschränkungen der staatlichen Strafgewalt ergeben sich aus den Normen der Verfassung 12. So ist der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit (§ 62) dem Strafgesetzgeber durch das Grundgesetz vorgegeben (BVerfGE 19, 342 [348f.]; 35, 382 [400f.]; 61, 126 [134]). II. Straftat, Strafe und Maßregel 1. Straftat, Strafe und Maßregel sind die Grundbegriffe des modernen Strafrechts. Straftat ist das vom Tatbestand des Strafgesetzes in seinen Merkmalen festgelegte, mit Strafe bedrohte rechtswidrige Verhalten, das der Täter schuldhaft verwirklicht hat (dreigliedriger Verbrechensbegriff) 13. Strafe ist der Ausgleich einer erheblichen Rechtsverletzung durch Auferlegung eines der Schwere von Unrecht und Schuld angemessenen Übels, das eine öffentliche Mißbilligung der Tat ausdrückt und dadurch Rechtsbewährung schafft. Die Strafe soll außerdem für den Täter selbst eine positive Wirkung entfalten, indem sie seine Sozialisation fördert oder wenigstens nicht behindert (§ 46 I 2). Der Ausspruch der Strafe ist durch Art. 92 GG dem Richter vorbehalten (BVerfGE 22, 49 [77 f.]). Die Maßregeln dienen dem Schutz der Allgemeinheit und des Täters selbst gegen die Gefahr des Rückfalls, die aus Anlaß einer von ihm begangenen rechtswidrigen Tat festgestellt wird. Dieser Schutz wird angestrebt teils durch Freiheitsentzug mit dem Ziel der Sicherung (Sicherungsverwahrung) oder der therapeutischen Behandlung (Unterbringung in einer Entziehungsanstalt), teils durch Entziehung von einzelnen Befugnissen (Entziehung der Fahrerlaubnis), teils durch ambulante Kontrolle (Führungsaufsicht). Das geltende Recht hat das Prinzip der Zweispurigkeit beibehalten. Das Hauptproblem der Zweispurigkeit besteht in dem Verhältnis von Freiheitsstrafen und freiheitsentziehenden Maßregeln (vgl. unten § 9 I I 2). 2. Die Grundlagen des Strafrechts, wie sie sich in den Begriffen Straftat, Strafe und Maßregel darstellen, sind in der Strafrechtsreformbewegung. die nach 1945 in zahlreichen Ländern eingesetzt hat, im wesentlichen erhalten geblieben 4 . Weder wird der spezifische 11

Prinzipiell zustimmend Roxin, Allg. Teil I § 2 Rdn. 27. Roxin, Allg. Teil I § 2 Rdn. 9 ff. 13 H. L.; vgl. Roxin, Allg. Teil I § 10 Rdn. 19ff. 14 Grundsätzliches dazu bei Lange, DJT-Festschrift Bd. I S. 345. Zur deutschen Reform Jescheck, MPG-Jahrbuch 1980 S. 18ff.; derselbe, SchwZStr 100 (1983) S. 1; LK n (Jescheck) Einl. Rdn. 58ff.; zur österreichischen Reform Burgstaller, ZStW 94 (1982) S. 723; zur schweizerischen Reform Schultz, SchwZStr 99 (1982) S. 1; zur französischen Reform, die zu dem neuen Code pénal 1994 geführt hat, Jéol, Rev int dr pén 1982, 903; Spaniol, JZ 1985, 618 und Pradel, Le nouveau Code pénal S. 16ff.; zur belgischen Reform Verhaegen, SchwZStr 98 (1981) S. 1; zur italienischen Reform der Entwurf „Schema di delega legislativa 12

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§ 2 Grundbegriffe des Strafrechts

Begriff der Straftat zugunsten einer unscharfen Formel wie „Unangepaßtheit", „Verwahrlosung" oder „deviant behaviour" preisgegeben 15, noch verschwindet die Strafe gänzlich, um der wertneutralen Maßregel Platz zu machen, noch verliert die Maßregel ihren Zusammenhang mit der Begehung einer Straftat. Dagegen begegnet man in der ganzen Welt einer wachsenden Skepsis gegenüber dem spezialpräventiven Wert der Freiheitsstrafe 16 und demgemäß dem Bemühen, sie durch Sanktionen ohne Freiheitsentzug zu ersetzen. Gemeinsam ist der internationalen Strafrechtsreformbewegung ferner der Wille, dem gesamten Rechtsfolgensystem einen vom Humanitätsideal bestimmten Erziehungssinn zu geben. In der Linie dieses Gedankens wird versucht, die Sanktion der Persönlichkeit des Verurteilten anzupassen, die Kriminalbehandlung in der Freiheit auszudehnen, die Strafe mit sozialpflegerischen Fürsorgemaßnahmen zu unterstützen, den Strafvollzug auf Resozialisierung des Verurteilten auszurichten, dem entlassenen Strafgefangenen den Rückweg in die Gesellschaft zu erleichtern und die Gesellschaft an ihre Mitverantwortung für die straffälligen Menschen zu erinnern 17 . Das vor allem in der sozialwissenschaftlichen Literatur spürbare „Unbehagen am Strafrecht" hat etwas Besseres als das Strafrecht noch nicht hervorgebracht 18.

I I I . Nicht-kriminelle Strafen Neben der staatlichen Kriminalstrafe gibt es verschiedene andere A r t e n v o n Strafe. Z u nennen sind einmal die nicht-kriminellen öffentlichen Strafen, so die Beugemittel, die ein zukünftiges Verhalten erzwingen w o l l e n (z.B. die Zwangsmittel nach § 888 I Z P O ) , während die i n § 890 Z P O vorgesehene Sanktion echte (Ordnungs-)Strafe ist; die Ungebührstrafen, die sich zwar auf eine begangene Tat beziehen, aber nur den Charakter eines Verweises haben (z.B. die sitzungspolizeiliche Ordnungsstrafe, § 178 G V G ) ; die Ordnungsstrafen gegen säumige oder nicht aussagebereite Beweispersonen nach § § 5 1 , 70 I, 77 StPO; die Geldbußen wegen Ordnungswidrigkeiten, die aus kriminalpolitischen Gründen aus dem Strafrecht ausgegliedert sind (§ 1 O W i G ; vgl. unten § 7 V 4 ) ; die Zuchtmittel des Jugendstrafrechts, die jugendrechtliche Disziplinarmaßnahmen darstellen (§§ 13 ff. J G G ) ; die Disziplinarmaßnahmen gegen Beamte und Soldaten (§ 5 B D O , §§ 18, 54 W D O ) , die den gleichen Sachverhalt betreffen können wie die Kriminalstrafe, aber der internen Aufrechterhaltung v o n Autorität, Gehorsam und O r d n u n g i m Dienst oder per Temanazione di un nuovo codice penale" (1992); Pagliaro, La Giustizia Penale 1993, 170; Nuvolone, SchwZStr 102 (1985) S. 1 und Bosch, JZ 1985, 476; zur englischen Reform Huber, Die Freiheitsstrafe in England und Wales, 1983 und Jescheck, R. Schmitt-Festschrift S. 56ff.; zur spanischen Reform Barhero Santos, Jescheck-Festschrift Bd. I I S. 893 und das Proyecto de Ley Orgânica del Codigo Penal 1994 (Text in: Boletin Oficial de las Cortes Generales, V Legislatura, 26 de septiembre de 1994, Nüm. 77-1); zur schwedischen Reform Cornils, JR 1981, 309; zur finnischen Reform Lahti, Jescheck-Festschrift Bd. I I S. 871; zur Reform in der früheren Sowjetunion Schittenhelm, Strafe und Sanktionensystem im sowjetischen Strafrecht S. 620ff.; zur Reform in Brasilien der Entwurf 1994 des Besonderen Teils des Codigo penal. Zum ganzen Jescheck, MPG-Jahrbuch 1975, S. 49; LK n (Jescheck) Einl. Rdn. 108 ff. Zum Sanktionensystem van Kalmthout/Tak, Sanctions-Systems, Part I (1988), Part I I (1992). 15 Zum Begriff „abweichendes Verhalten" in der Kriminologie Kaiser, Kriminologie § 40 Rdn. 2 ff. 16 Jescheck, Freiheitsstrafe S. 1971 ff.; v. Hentig, Die Strafe B. I I S. 160; Norval Morris, Imprisonment S. 12 ff. 17 Zum ganzen Ancel, Défense sociale nouvelle S. 224 ff., 269 ff., deutsch S. 242 ff., 292 ff. 18 Eine streng sachgebundene Analyse der „Zukunft des Strafrechts" gibt Kaiser, Maurach-Festschrift S. 25 ff. Gegen radikale Lösungen ferner Jescheck, Gallas-Festschrift S. 28 ff. Vgl. zur Notwendigkeit des Strafrechts insbes. Arzt, Der Ruf nach Recht und Ordnung, 1976. Ferner BVerfGE 51, 324 (343 f.). Zur Strafrechtskritik bedeutsam die Beiträge in: Bollinger/ Lautmann (Hrsg.), Vom Guten, das noch stets das Böse schafft, 1993.

I I I . N i c h t - k r i m i n e l l e Strafen

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A m t dienen (BVerfGE 21, 378 [383f.]; 391 [ 4 0 9 ] ) 1 9 ; die Disziplinarmaßnahmen i m Strafvollzug (§ 102f. StVollzG); die Schulstrafen (z.B. die Arreststunde). Daneben gibt es Privatstrafen, die dem Schutz und der Durchsetzung von Privatrechten dienen 2 0 . Z u nennen sind hier die Vertragsstrafe (§§ 339 ff. B G B ) , das i n engsten Grenzen noch anerkannte Züchtigungsrecht der Eltern (§ 1631 B G B ) u n d die Vereinsstrafe wegen der Verletzung v o n Vereinspflichten aufgrund der Unterwerfung der Mitglieder unter die Satzungsgewalt des Vereins (z.B. eine Geldbuße wegen Nichteinhaltung einer internen Vereinbarung, B G H Z 21, 370) 2 1 . Maßnahmen sozial- und arbeitsrechtlicher A r t sind die praktisch wichtigen Betriebsstrafen, durch die häufig auch Bagatellkriminalität i n Betrieben intern geahndet w i r d . Bis zu einem gewissen Grade bedürfen sie ebenfalls der gesetzlichen Regel u n g 2 2 . Einem anderen Bereich des Lebens gehört die Kirchenstrafe an, sie hat nicht nur eine Ordnungsfunktion i n der Gemeinde zu erfüllen, sondern soll auch das Seelenheil des Betroffenen f ö r d e r n 2 3 . § 3 Systematische Stellung, Gliederung u n d Gesamtreform des Strafrechts, Einigungsvertrag J. Arnold, Deutsche Einheit: Strafrechtliche Übergangsprobleme, in: Eser/Huber (Hrsg.), Strafrechtsentwicklung in Europa, Bd. 4.1, 1993, S. 341; Baumann, Entwurf eines Jugendstrafvollzugsgesetzes, 1985; Baumann u.a., Alternativ-Entwurf eines Strafvollzugsgesetzes, 1973; Böhm, Strafvollzug, 2. Auflage 1986; Bringewat y Strafvollstreckung, 1993; Bullinger, Öffentliches Recht und Privatrecht, 1968; Calliess/Müller-Dietz, Strafvollzugsgesetz, 6. Auflage 1994; Donatsch, Vereinbarungen im Strafprozeß, SchwZStr 110 (1993) S. 157; Dünkel y Strafvollzug aus der Sicht der Forschung, Zeitschr. f. Strafvollzug 1983, 3; Dünkel/ Meyer (Hrsg.), Jugendstrafe und Jugendstrafvollzug, Teilband 1, 1985; Dünkel/Rosner y Die Entwicklung des Strafvollzugs in der Bundesrepublik Deutschland seit 1970, 2. Auflage 1982; Eser, Deutsche Einheit: Übergangsprobleme im Strafrecht, GA 1991, 241; Fincke, Das Verhältnis des Allgemeinen zum Besonderen Teil des Strafrechts, 1975; Günther, Strafrechtsdogmatik und Kriminalpolitik im vereinten Deutschland, ZStW 103 (1991) S. 851; Herrmann, Die Strafprozeßreform vom 1.1.1975, JuS 1976, 413; Hirsch, Bilanz der Strafrechtsreform, Gedächtnisschrift für Hilde Kaufmann, 1986, S. 133; Jescheck, Rechtsvergleichung als Grundlage der Strafprozeßreform, ZStW 86 (1974) S. 761; derselbe, Strafrechtsreform in Deutschland, SchwZStr 91 (1975) S. 1 und SchwZStr 100 (1983) S. 1; Kaiser, Strafvollzug im europäischen Vergleich, 1983; Katholnigg, Strafgerichtsverfassungsrecht, 1990; Lemke, Einführung zur Textausgabe „Strafrecht nach dem Einigungsvertrag", 1991, S. 1; Müller y Erfahrungen und Gedanken zum deutschen Strafrecht usw., ZStW 103 (1991) S. 883; EinMüller-Dietz, Probleme des modernen Strafvollzugs, 1974; Müller-Dietz/Kaiser/Kerner, führung und Fälle zum Strafvollzug, 1985; Neumann, Zur Rechtssystematik des Strafvoll19

Zum Ausgleich der Doppelbelastung durch Kriminal- und Disziplinarstrafe Roxin, Allg. Teil I § 2 Rdn. 46. 20 Über die (abzulehnende) Ausdehnung des Gedankens der Privatstrafe auf den Schadensersatz nach § 847 BGB Hirsch, Engisch-Festschrift S. 304 ff. Über Schadensersatz im Rahmen des Strafrechts Stoll, Schadensersatz und Strafe, Rheinstein-Festschrift Bd. I I S. 583 ff.; vgl. ferner oben § 1 I I 4. 21 Meyer-Gording, Vereinsstrafe S. 10ff.; Flume, Boetticher-Festschrift S. 101; Weitnauer, Reinhardt-Festschrift S. 179 ff. Im Sport, insbes. im Fußball, ist die Vereinsstrafe ein wichtiges Mittel der sozialen Kontrolle, sie bedarf hier aber dringend der gesetzlichen Regelung. Vgl. Ernst, Die Ausübung der Vereinsgewalt, 1969. 22 Vgl. Kaiser/ Metzger-Pregizer, Betriebsjustiz S. 173 ff., insbes. Vogler S. 379; über die (unsichere) Rechtsgrundlage Scholz S. 336 f. 23 Vgl. Listl/Müller/Schmitz, Handbuch S. 924f.; E. Wolf, Ordnung der Kirche S. 275 ff. Zum Strafrecht des Codex Juris Canonici und des evangelischen Kirchenrechts Pahud de Mortanges, Zwischen Vergebung und Vergeltung, 1992; zu Entwicklung und Stand des katholischen kirchlichen Strafrechts Rees, Die Strafgewalt der Kirche, 1993.

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§ 3 Systematische Stellung, Gliederung u n d Gesamtreform, Einigungsvertrag

streckungs- und Strafvollzugsrechts, Diss. Freiburg 1972; Rieß, Prolegomena zu einer Gesamtreform des Strafverfahrensrechts, Festschrift für K. Schäfer, 1980, S. 155; derselbe, 15 Jahre Strafprozeßreform usw., Festschrift für G. Pfeiffer, 1988, S. 155; Roxin, Strafverfahrensrecht, 23. Auflage 1993; Schneiders, Die Regelungen über das materielle Strafrecht im Einigungsver(Hrsg.), Gesamtreform des Strafverfahrens, trag, M D R 1990, 1049; Schreiber/Wassermann 1987; Schüler-Springorum, Strafvollzug im Übergang, 1969; derselbe, Strafvollzug und Strafvollzugsgesetz, Festschrift für P. Bockelmann, 1979, S. 869; Schünemann, Die Verständigung im Strafprozeß usw., NJW 1989, 1895; Schwind/Blau, Strafvollzug in der Praxis, 2. Auflage 1988; Stockei, Der Sozialdienst in der Justiz, Festschrift für H.-J. Bruns, 1978, S. 299; Stolleis, Straf recht und Sozialrecht, Zeitschr. f. Sozialreform 1979, 261; Tiedemann, Zum Verhältnis von Allgemeinem zum Besonderen Teil des Strafrechts, Festschrift für J. Baumann, 1992, S. 7; Walter, Strafvollzug, 1991; Weigend, Deliktsopfer und Strafverfahren, 1988; derselbe, Absprachen in ausländischen Strafverfahren, 1990; Wetterich/Hamann, Strafvollstreckung, 5. Auflage 1994; M. Wolf y Gerichtsverfassungsrecht aller Verfahrenszweige, 6. Auflage 1987. I. Das Strafrecht als öffentliches Recht Das Strafrecht ist ein Teilgebiet des öffentlichen Rechts (ius p u b l i c u m ) 1 ' 2 . Träger der Strafgewalt ist allein der Staat als Repräsentant der Rechtsgemeinschaft. D i e Ausübung der Strafgewalt gegenüber den Gewaltunterworfenen durch besondere staatliche Strafrechtspflegeorgane (Polizei, Staatsanwaltschaft, Gericht, Strafvollzugsbehörde) vollzieht sich nach dem Prinzip der Über- u n d Unterordnung. D i e M i t t e l , die i m Strafrecht eingesetzt werden (Strafen, Maßregeln, Zwangsmaßnahmen i m Strafverfahren, Anstaltsgewalt i m Strafvollzug) bestehen i n der A n w e n dung staatlichen Zwangs. D e r Zweck des Strafrechts ist i n erster Linie die Erhaltung v o n Rechtsfrieden u n d Rechtssicherheit durch den Schutz der Grundwerte des Zusammenlebens i n der Gemeinschaft. Die öffentlich-rechtliche Natur des Strafrechts wird durch die Beteiligung des Verletzten am Strafverfahren (Strafantrag, § 77; Privatklage, § 374 StPO; Nebenklage, § 395 StPO; Entschädigung, § 403 StPO, sonstige Befugnisse, § 406 d StPO) 3 nicht in Frage gestellt, denn das Strafrecht hat auch die Interessen des Straftatopfers zu berücksichtigen. Entsprechendes gilt für die Anerkennung der Einwilligung des Verletzten als Rechtfertigungsgrund (vgl. unten § 34), die darauf beruht, daß strafrechtlich geschützte Rechtsgüter der Verfügungsgewalt des einzelnen unterliegen können. Mit dem öffentlich-rechtlichen Charakter des Strafrechts schwer zu vereinbaren sind jedoch die in der Praxis nicht seltenen Bestrebungen, die Strafe in Absprache zwischen dem Gericht und dem Staatsanwalt auf der einen Seite und dem Beschuldigten und seinem Verteidiger auf der anderen (etwa als Gegenleistung für ein Geständnis) in gewissen Grenzen im voraus festzulegen (BVerfG NStZ 1987, 419; B G H 36, 210; 37, 238)4. I I . Die drei Hauptgebiete des Strafrechts Das Strafrecht i m weiteren Sinne ruht auf drei Säulen 5 . Es gliedert sich i n das materielle Straf recht, das Strafverfahrens recht (unter Einschluß des StrafgerichtsVerfassungsrechts) u n d das Strafvollstreckungsrecht. 1 Vgl. Baumann/Weber, Allg. Teil S. 27; Maurach/Zipf, Allg. Teil I § 2 Rdn. l f . ; Schultz, Einführung I S. 36. Über den engen Zusammenhang zwischen Strafrecht und Sozialrecht eingehend Stolleis, Zeitschr. f. Sozialreform 1979, 261. 2 Über die modernen Probleme der Abgrenzung von öffentlichem Recht und Privatrecht vgl. Bullinger, Öffentliches Recht und Privatrecht S. 75 ff. 3 Hierzu eingehend Weigend, Deliktsopfer und Strafverfahren S. 167 ff. 4 Ablehnend auch Schünemann, NJW 1989, 1895ff.; Donatsch, SchwZStr 110 (1993) S. 167 ff. Rechtsvergleichend und stark kritisch Weigend, Absprachen in ausländischen Strafverfahren, 1990. 5 Maurach/Zipf, Allg. Teil I § 2 Rdn. 4; dazu teilweise kritisch Kaiser, in: Kaiser/Kerner/ Schöch, Strafvollzug § 2 Rdn. 92 ff.

I I . D i e drei Hauptgebiete des Strafrechts

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1. Das materielle Strafrecht regelt die Voraussetzungen der Strafbarkeit und der Anwendbarkeit von Maßregeln im allgemeinen, z.B. durch das Gesetzlichkeitsprinzip (§ 1) und durch Beschreibung der besonderen Deliktsarten (z.B. Diebstahl, § 242), nennt die zulässigen Strafen, Maßregeln, sonstigen Maßnahmen und Nebenfolgen, legt die Grundzüge der Zumessung der Rechtsfolgen einer Tat fest und bestimmt die Grenzen der staatlichen Strafgewalt im Verhältnis zum Ausland. Geregelt ist das materielle Strafrecht im StGB, in mehreren strafrechtlichen Hauptgesetzen (JGG, WStG) und in zahlreichen Nebengesetzen (z.B. BtMG, StVG, WiStG). 2. Das Strafverfahrensrecht ist der Inbegriff derjenigen Vorschriften, die zur Verhängung strafrechtlicher Sanktionen erforderlich sind. Hierhin gehören die Bestimmungen über die Strafgerichtsverfassung (z.B. §§ 24 - 57, 73 - 74e, 76 - 78b GVG) 6 sowie die Vorschriften über das Verfahren, in dem strafbare Handlungen ermittelt, verfolgt, verhandelt und abgeurteilt werden. Das Strafverfahrensrecht dient der Verwirklichung des materiellen Strafrechts, bestimmt die Grenzen der Eingriffsbefugnisse der Strafverfolgungsorgane und zielt durch eine abschließende Entscheidung auf die Wiederherstellung des gestörten Rechtsfriedens 7. Geregelt ist das Strafverfahrensrecht im GVG, in der StPO und in mehreren anderen Gesetzen8. Die Trennung von materiellem Strafrecht und Strafverfahrensrecht ist aus historischen und sachlichen Gründen nicht immer streng durchzuführen. So sind Strafantrag, Ermächtigung und Strafverlangen wegen des Zusammenhangs mit den betreffenden Delikten herkömmlicherweise im StGB geregelt (§§ 77 ff.), obwohl es sich um Prozeßvoraussetzungen handelt, und so enthält das JGG wegen des einheitlichen Erziehungszwecks sowohl das materielle Jugendstrafrecht als auch die gerichtsverfassungs- und verfahrensrechtlichen Sondernormen. Die Unterscheidung zwischen materiellem Strafrecht und Strafverfahrensrecht hat praktische Bedeutung einmal deswegen, weil das Rückwirkungsverbot nach herrschender Auffassung nicht für das letztere gilt, zum anderen, weil bei der Begründung des Rechtsmittels der Revision wegen eines materiellen Rechtsfehlers die allgemeine Sachrüge genügt, während bei Verfahrensfehlern die den Mangel enthaltenden Tatsachen angegeben werden müssen (§§ 352, 344 I I StPO). Es gibt auch Rechtsnormen, die sowohl eine materiell- als auch eine prozeßrechtliche Seite haben und deren Behandlung in der Rückwirkungsfrage deswegen zweifelhaft ist; dies gilt insbesondere für die Verjährung der Strafverfolgung (näher dazu 2. Auflage S. llOf.).

3. Das Strafvollstreckungsrecht umfaßt alle Rechts- und Verwaltungsvorschriften, die die Einleitung, Durchführung und Überwachung der rechtskräftig angeordneten Strafen, Maßnahmen und Nebenfolgen betreffen 9. Es ist geregelt in den §§ 449 ff. StPO, in den §§ 82 ff. JGG (für Jugendliche und nach § 110 JGG auch für Heranwachsende, soweit der Richter Jugendstrafrecht angewendet hat), in der Strafvollstreckungsordnung vom 15.2.1956 i.d.F. vom 20.8.1987 (BAnz. 1987 Nr. 159), in § 42 StGB (für Zahlungserleichterungen bei Geldstrafe), in der Justizbeitreibungsordnung vom 11.3.1937 (RGBl. I S. 298) und in der Einforderungs- und Beitreibungsanordnung i.d.F. vom 10.7.1979 (für Geldstrafen u.a.) (BAnz. 1979 Nr. 137). Systematisch zum Strafvollstreckungsrecht gehört als besonderer, von jenem zu unterscheidender Teil das Strafvollzugsrecht, das die Art und Weise des Vollzugs der Freiheitsstrafen und der freiheitsentziehenden Maßregeln 6 Vgl. M. Wolfy Gerichtsverfassungsrecht S. 2; Katholnigg y Strafgerichtsverfassungsrecht, 1990. 7 Vgl. Roxin y Strafverfahrensrecht S. 1 f. 8 Vgl. den Überblick bei Roxin, Strafverfahrensrecht S. 13 ff. 9 Strafvollstreckung, 1994; ferner BringeUmfassender Überblick bei Wetterich/Hamann,

waty Strafvollstreckung, 1993, z u §§ 449 ff. StPO. 2 Jescheck, 5. A .

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§ 3 Systematische Stellung, Gliederung u n d Gesamtreform, Einigungsvertrag

in Justizvollzugsanstalten regelt 10 . Enthalten ist es im Strafvollzugsgesetz vom 16.3.1976 (BGBl. I S. 581) 11 . Die in § 65 ursprünglich vorgesehene, aber nicht in Kraft getretene Unterbringung bestimmter Straftäter in der sozialtherapeutischen Anstalt wurde als Maßregel wieder abgeschafft und in eine bloße Modalität des Vollzugs der Freiheitsstrafe nach § 9 StVollzG umgewandelt (Ges. vom 20.12.1984, BGBL I S. 1654). Für den Jugendvollzug gelten die §§ 90 ff. JGG sowie die Jugendarrest-Vollzugsordnung i.d.F. vom 30.11.1976 (BGBl. I S. 3270) 12 . Ein Bestandteil des Vollstreckungsrechts ist auch das Strafregisterrecht, das die Eintragung und Tilgung von rechtskräftigen Verurteilungen im Bundeszentralregister, Erziehungsregister und Verkehrszentralregister und die Erteilung von Auskünften regelt. Die Bestimmungen über das Zentral- und das Erziehungsregister sind enthalten im Bundeszentralregistergesetz i.d.F. vom 21.9.1984 (BGBl. I S. 1229), über das Verkehrszentralregister in den §§ 28 ff. StVG und §§ 13 ff. StVZO (vgl. unten § 87 I 2). Bewährungshilfe (§§ 56 d, 57 III) und Führungsaufsicht (§§ 68 ff.) wird man als Teil der Strafvollstreckung anzusehen haben 13 .

III. Der Allgemeine und der Besondere Teil des StGB 1. Die Einteilung des StGB in einen Allgemeinen und einen Besonderen Teil 1 4 entspricht einem Erfordernis der gesetzgeberischen Technik. Ein Allgemeiner Teil findet sich demgemäß in allen europäischen Strafrechtskodifikationen schon seit der Mitte des 18. Jahrhunderts, zuerst im Codex juris Bavarici criminalis von W. Χ. A. v. Kreittmayr (1751), später auch im A L R (1794). Besondere Bedeutung als Vorbild für die europäische Strafgesetzgebung des 19. Jahrhunderts hat der im ersten und zweiten Buch enthaltene Allgemeine Teil des französischen Code pénal (1810) gewonnen. 2. Die Unterscheidung der Materien, die im Allgemeinen bzw. Besonderen Teil des StGB unterzubringen sind, läßt sich nach einem formellen und nach einem materiellen Kriterium vornehmen. In den Allgemeinen Teil gehören formell alle diejenigen Regelungen, die für sämtliche Strafvorschriften des Besonderen Teils Bedeutung gewinnen können und sich deswegen „vor die Klammer" ziehen lassen15, während der Besondere Teil die einzelnen Deliktsarten sowie ergänzende 10 Vgl. hierzu Kaiser, in: Kaiser/Kerner/Schöch, Strafvollzug § 2 Rdn. 1 ff.; Böhm, Strafvollzug S. 27 ff.; Walter, Strafvollzug Rdn. 52 ff.; Neumann, Rechtssystematik S. 51 ff. Uber den Zusammenhang von materiellem Strafrecht und Strafvollzugsrecht Calliess/MüllerDietz, Strafvollzugsgesetz, Einleitung Rdn. 36 ff. 11 Vgl. dazu Müller-Dietz/Kaiser/Kerner, Einführung S. 59ff.; zu den praktischen Problemen Schwind/Blau, Strafvollzug in der Praxis, 2. Auflage 1988. Über die Lage des Strafvollzugs in Deutschland unterrichten Dünkel/Rosner, Die Entwicklung des Strafvollzugs, 2. Auflage 1982, über die internationale Lage Kaiser, Strafvollzug im europäischen Vergleich, 1983. 12 Über die Lage des Jugendstrafvollzugs vgl. Dünkel/Meyer, Jugendstrafe S. 45 ff. 13 Bewährungshilfe und Aufsichtsstellen für die Führungsaufsicht sind im Landesrecht geregelt; vgl. die Nachweise bei Dreher/Tröndle, § 56 d Rdn. 2 und Vorbem. 6 a vor § 68. Zum ganzen Stockei, Bruns-Festschrift S. 303 f. 14 Vgl. dazu grundlegend Fincke, Das Verhältnis des Allgemeinen zum Besonderen Teil des Strafrechts, 1975; ferner Naucke, Einführung S. 182 ff. 15 Vgl. Blei, Allg. Teil S. 2. Zu Recht zeigt jedoch Tiedemann, Baumann-Festschrift S. 12, daß die im Allgemeinen Teil enthaltenen Geltungs- und Zurechnungsnormen nicht vorgezogene Bestandteile der Deliktstypen des Besonderen Teils sind, sondern eigenständige Bedeutung haben.

I V . D i e Gesamtreform des deutschen Strafrechts

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Bestimmungen enthält, die sich auf einzelne Deliktsarten oder Gruppen von Deliktsarten beziehen. So ist die Wahrnehmung berechtigter Interessen (§ 193) im Besonderen Teil geregelt, obwohl es sich um einen Rechtfertigungsgrund wie Notwehr (§ 32) oder Notstand (§ 34) handelt, weil die Interessenwahrnehmung als Rechtfertigungsgrund nur für die Beleidigungsdelikte gilt. Die Angemessenheit der Regelung der Einwilligung (§ 226 a) im Besonderen Teil hängt demgemäß davon ab, ob man die Vorschrift (richtigerweise) nur auf die Körperverletzungsdelikte bezieht oder ihr allgemeine Bedeutung beimißt.

Materiell enthält der Besondere Teil die Deliktsbeschreibungen und damit die für die Begründung des strafrechtlichen Unrechts konstitutiven Vorschriften, während der Allgemeine Teil in seinen das Unrecht betreffenden Bestimmungen (z.B. Rechtfertigungsgründe, Versuch, Teilnahme) immer nur eine die Deliktstypen ergänzende Funktion, niemals aber selbständig unrechtsbegründende Bedeutung hat. 3. Die Unterscheidung von Allgemeinem und Besonderem Teil hat praktische Bedeutung, weil das Gesetz selbst an sie anknüpft (§§ 12 III, 78 IV StGB; Art. 1, 2, 4 EGStGB) und ein Teil der Lehre die Garantiefunktion des Strafgesetzes (Verbot von Gewohnheitsrecht, Analogieverbot) nur auf die Deliktsbeschreibungen des Besonderen Teils bezieht (vgl. unten § 15 I I I 2 c). IV. Die Gesamtreform des deutschen Strafrechts Seit der Begründung der Bundesrepublik im Jahre 1949 ist eine Reform des gesamten deutschen Strafrechts nach den Grundsätzen des freiheitlichen, humanen und sozialen Rechtsstaats im Gange. 1. Die Reform des materiellen Strafrechts ist weitgehend abgeschlossen. Am 1.1.1975 ist eine Neufassung des Strafgesetzbuchs von 1871 in Kraft getreten (BGBl. IS. 1). Vollständig umgestaltet wurde durch das Zweite Gesetz zur Reform des Strafrechts vom 4.7.1969 (BGBl. I S. 717) der Allgemeine Teil 1 6 . Aber auch der Besondere Teil zeigt schon weitgehend ein neues Gesicht (zur Reform des Allgemeinen und Besonderen Teils vgl. unten § 11 IV 2) 1 7 . In der Fassung der Bekanntmachung vom 10.3.1987 ist das StGB erneut veröffentlicht worden (BGBl. I S. 945). 2. Die Strafprozeßreform 18 ist durch das Strafprozeßänderungsgesetz vom 19.12.1964 (die sog. Kleine Strafprozeßreform) eingeleitet und seither ständig weitergeführt worden. A m wichtigsten waren in diesem Zusammenhang das EGStGB vom 2.3.1974 (BGBl. I S. 469), das 1. StVRG vom 9.12.1974 (BGBl. I S. 3393), das vor allem der Beschleunigung des Strafprozesses diente, und das Gesetz zur Ergänzung des 1. StVRG vom 20.12.1974 (BGBl. I S. 3686), das den Verteidigerausschluß regelte. Ein Gesetz vom 25.7.1975 (BGBl. I S. 1973) erweiterte das berufliche Zeugnisverweigerungsrecht auf Mitarbeiter von Presse und Rundfunk. Durch ein Gesetz vom 18.8.1976 (BGBl. I S. 2181) sind Vorschriften für Verfahren wegen der Bildung oder Unterstützung terroristischer Vereinigungen (§ 129 a) eingeführt worden. Weitere Neuerungen brachte das Gesetz vom 14.4.1978 (BGBl. I S. 497). Das StVÄG vom 5.10.1978 (BGBl. I S. 1645) sowie das StVÄG vom 27.1.1987 (BGBl. I S. 475) dienten ebenfalls vor allem der Beschleunigung des Strafverfahrens. Das Strafverfahrensrecht 16

Vgl. dazu Jescheck, SchwZStr 91 (1975) S. Iff. Vgl. dazu Jescheck, SchwZstr 100 (1983) S. Iff.; Hirsch, Hilde Kaufmann-Gedächtnisschrift S. 134 ff. 18 Vgl. dazu Jescheck ZStW 86 (1974) S. 761 ff.; Herrmann, JuS 1976, 413 ff. Zur Gesamtreform Rieß, Schäfer-Festschrift S. 155 ff.; derselbe, Pfeiffer-Festschrift S. 155 ff.; Schreiber/ Wassermann (Hrsg.), Gesamtreform des Strafverfahrens, 1987. 17

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§ 3 Systematische Stellung, Gliederung u n d Gesamtreform, Einigungsvertrag

hat in seiner jetzt vorliegenden Form bereits eine in hohem Grade rechtsstaatliche Gestalt gewonnen, für die besonders auch das Gesetz über die Entschädigung für Strafverfolgungsmaßnahmen vom 8.3.1971 (BGBl. I S. 157) und das Opferschutzgesetz vom 18.12.1986 (BGBl. I S. 2496) kennzeichnend sind. An die Grenzen des rechtsstaatlichen Verfahrens führt das Gesetz zur Bekämpfung des Rauschgifthandels und anderer Erscheinungsformen der organisierten Kriminalität vom 15.7.1992 (BGBl. I S. 1302) in dem Bestreben, die Verfolgung des organisierten Verbrechens wirksamer zu gestalten (verdeckte Ermittler, Abhöreinrichtungen und verdeckte Kameras, Rasterfahndung, Geheimhaltung der Identität gefährdeter Zeugen). Diese Entwicklung wird fortgesetzt durch das Verbrechensbekämpfungsgesetz vom 28.10.1994 (BGBl. I S. 3186), das ein wirkungsvolleres beschleunigtes Verfahren (§§ 417 - 420 StPO) eingeführt und die Kronzeugenregelung auf organisiert begangene Straftaten ausgedehnt hat. 3. Einen bedeutenden Fortschritt auf dem Wege der Strafvollzugsreform 19 brachte durch die Schaffung einer einheitlichen gesetzlichen Grundlage das Strafvollzugsgesetz vom 16.3.1976 (BGBl. I S. 581). Wichtige Bestimmungen treten freilich erst aufgrund zukünftiger besonderer Bundesgesetze (§ 198 I I I StVollzG) in Kraft. Das Arbeitsentgelt ist verbessert, aber der tarifmäßigen Entlohnung noch nicht angepaßt worden (§ 200 I StVollzG). Die Neuordnung des Strafregister- und Straftilgungswesens hat durch das Bundeszentralregistergesetz vom 18.3.1971 i.d.F. vom 21.9.1984 (BGBl. I S. 1229) in einem resozialisierungsfreundlichen Sinne stattgefunden. V . Das Strafrecht nach dem Einigungsvertrag 2 0 1. D u r c h den Beitritt der D D R zur Bundesrepublik Deutschland gemäß A r t . 23 G G sind die neuen Länder Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen, Sachsen-Anhalt u n d Thüringen nach A r t . 1 I des Einigungsvertrages v o m 31.8.1990 ( B G B l . I I S. 889) am 3.10.1990 Länder der Bundesrepublik Deutschland geworden. N a c h A r t . 1 I I bilden die 23 Bezirke v o n Berlin das Land Berlin. N a c h A r t . 8 ist i m Gebiet der früheren D D R am 3.10.1990 das Bundesrecht u n d damit auch das Bundesstrafrecht in Kraft getreten, soweit durch den Einigungsvertrag, insbesondere durch dessen Anlage I, nichts anderes bestimmt ist. Das Recht der früheren D D R , das einen bundeseinheitlich geregelten Gegenstand betrifft, u n d damit auch das Strafrecht ( A r t . 74 I N r . 1 G G ) , bleibt nach A r t . 9 I I als partikulares Bundesrecht nur dann i n Kraft, w e n n dieses Recht i n Anlage I I aufgeführt u n d m i t dem Grundgesetz u n d dem unmittelbar geltenden Recht der Europäischen Gemeinschaft vereinbar ist. 2. N a c h Anlage I Kapitel I I I Sachgebiet C Abschnitt I I I N r . 1 sind einzelne Bestimmungen des StGB der Bundesrepublik i m Gebiet der ehemaligen D D R nicht anzuwenden, u n d zwar die Vorschriften über den Aus Wanderungsbetrug (§ 144) u n d die Entführung m i t W i l l e n der Entführten (§ 236). Die übrigen Fälle haben sich durch die nachfolgende Bundesgesetzgebung erledigt. 3. D i e Fortgeltung einiger weniger Bestimmungen des StGB der früheren D D R v o n 1968 ergibt sich aus Anlage I I Kapitel I I I Sachgebiet C Abschnitt I 19

Aus der umfangreichen Literatur zur Lage und Reform des Strafvollzugs: SchülerSpringorum, Strafvollzug im Ubergang, 1969; derselbe, Bockelmann-Festschrift S. 869 ff.; Baumann, Entwurf eines Jugendstrafvollzugsgesetzes, 1985; Baumann u.a., Alternativ-Entwurf eines Strafvollzugsgesetzes, 1973; Dünkel, Zeitschr. f. Strafvollzug 1983, 3; Dünkel/ Meyer, Jugendstrafe S. 3 ff.; Müller-Dietz, Probleme des modernen Strafvollzugs, 1974. 20 Hierzu Eser, GA 1991, 241; Schneiders,, M D R 1990, 1049; Günther, ZStW 103 (1991) S. 851; Müller, ZStW 103 (1991) S. 883; J.Arnold, Deutsche Einheit S. 345 ff. Zusammenstellung der Texte in: Beck'sche Textausgaben „Strafrecht nach dem Einigungsvertrag" mit einer Einführung von Lemke, 1991.

V . Das Strafrecht nach dem Einigungsvertrag

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Nr. 1. Hierzu gehören § 84 über den Ausschluß der Verjährung für Verbrechen gegen den Frieden, die Menschlichkeit und die Menschenrechte und Kriegsverbrechen und § 238 über die Beeinträchtigung richterlicher Unabhängigkeit. Die übrigen Vorbehalte sind durch die spätere Bundesgesetzgebung aufgehoben worden. 4. Für die vor dem 3.10.1989 in der DDR begangenen Taten (Alttaten) gelten der neugefaßte Art. 315 EGStGB und die neu eingefügten Art. 315a bis 315c EGStGB. Die Verfolgbarkeit der Alttaten wird durch die beiden Verjährungsgesetze vom 26.3.1993 (BGBl. I S. 392) und vom 27.9.1993 (BGBl. I S. 1657) erweitert (vgl. dazu unten § 15 IV 8). § 4 Grundsätze der Kriminalpolitik Achenbach, Individuelle Zurechnung, Verantwortlichkeit, Schuld, in: Schünemann (Hrsg.), Grundfragen des modernen Strafrechtssystems, 1984, S. 135; //.-/. Albrecht, Generalprävention, Kleines Kriminologisches Wörterbuch, 3. Auflage 1993, S. 157; Amelung,, Rechtsgüterschutz und Schutz der Gesellschaft, 1972; derselbe, Strafrechtswissenschaft und Strafgesetzgebung, ZStW 92 (1980) S. 19; Ancel y La défense sociale nouvelle, 3. Auflage 1981; derselbe, Directions et directives de politique criminelle, Festschrift für H.-H. Jescheck, Bd. II, 1985, S. 779; Bähr y Die Strafbarkeit ohne Verschulden (strict liability) im Strafrecht der USA, 1974; Bruns, Alte Grundfragen und neue Entwicklungstendenzen im modernen Strafzumessungsrecht, Festschrift für H. Welzel, 1974, S. 739; derselbe, Strafzumessungsrecht, 2. Auflage 1974; derselbe, Anmerkung zu B G H 29, 319, JR 1981, 335; derselbe, Über die Unterschreitung der Schuldrahmengrenze usw., M D R 1987, 177; Burkhardt y Zur Möglichkeit einer utilitaristischen Rechtfertigung des Schuldprinzips, in: Baumgartner/Eser (Hrsg.), Schuld und Verantwortung, 1983, S. 51 ff.; Cerezo Mir, Fortschritte in der Verwirklichung des Schuldprinzips usw., SchwZStr 107 (1990) S. 1; Dölling, Generalprävention durch Strafrecht: Realität oder Illusion? ZStW 102 (1990) S. 1; Dreher, Über die gerechte Strafe, 1947; Eser, Resozialisierung in der Krise? Festschrift für K. Peters, 1974, S. 505; Gallas, Der dogmatische Teil des Alternativentwurfs, ZStW 80 (1968) S. 1; Grasnick, Über Schuld, Strafe und Sprache, 1987; Griffel, Prävention und Schuldstrafe, ZStW 98 (1986) S. 28; Grünwald, Die Strafrechtsreform in der BRD und in der DDR, ZStW 82 (1970) S. 250; Häberle, Die Menschenwürde als Grundlage der staatlichen Gewalt, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. I, 1991, § 20; Hanack, Grenzen des Sexualstrafrechts, Verhandlungen des 47. DJT 1968, Bd. II, S. 1; Hassemer, Strafrechtsdogmatik und Kriminalpolitik, 1974; derselbe, Konstanten kriminalpolitischer Theorie, Festschrift für R. Lange, 1976, S. 501; Henkel, Die „richtige" Strafe, 1969; Horstkotte, Die Vorschriften des 1. StrRG über die Strafbemessung, JZ 1970, 122; Huber, Über den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit usw., Zeitschrift f. Schweiz. Recht 96 (1977) S. 1; Jäger, Strafgesetzgebung und Rechtsgüterschutz bei den Sittlichkeitsdelikten, 1957; derselbe, Motive des neuen Strafrechts, in: Bundeskriminalamt (Hrsg.), Strafrechtspflege und Straf rechts reform, 1961, S. 63; derselbe, Strafrechtspolitik und Wissenschaft, in: Bauer u.a. (Hrsg.), Sexualität und Verbrechen, 1963, S. 273; Jareborg, Zur Reform des schwedischen Strafzumessungsrechts, ZStW 106 (1994) S. 140; Jescheck, Die kriminalpolitische Konzeption des Alternativ-Entwurfs, ZStW 80 (1968) S. 54; derselbe, Das Schuldprinzip als Grundlage und Grenze der Strafbarkeit im deutschen und spanischen Recht, Libro-homenaje a Ignacio de Loyola, 1991, S. 405; derselbe, Die Schuld im Entwurf eines StGB für England und Wales, Festschrift für R. Schmitt, 1992, S. 56; derselbe, Das Schuldprinzip als Grundlage und Grenze der Strafbarkeit, in: Lahti/Nuotio (Hrsg.), Strafrechtstheorie im Umbruch, 1992, S. 318; Kadish, Forward: The Criminal Law and the Luck of the Draw, JCrimL 1994, 679; Kaiser, Kriminalpolitik, Kleines Kriminologisches Wörterbuch, 3. Auflage 1993, S. 280; Kargl, Kritik des Schuldprinzips, 1982; Arthur Kaufmann, Das Schuldprinzip, 2. Auflage 1976; derselbe, Dogmatische und kriminalpolitische Aspekte des Schuldgedankens im Strafrecht, JZ 1967, 553; derselbe, Schuld und Strafe, 2. Auflage 1983; Kelina, Über die Vorbereitung der neuen Strafgesetzgebung in der UdSSR, in: Eser/Kaiser (Hrsg.), 5. Deutsch-sowjetisches Kolloquium, 1992, S. 5; Klug, Rechtsphilosophische und rechtspolitische Probleme des Sexualstrafrechts, in: Bauer u.a. (Hrsg.), Sexualität und Verbrechen, 1963, S. 27; Lackner, § 13 StGB - eine Fehlleistung des Gesetzgebers? Festschrift für W. Gallas, 1973, S. 117; Lange, Der Rechtsstaat als Zentralbegriff

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§ 4 Grundsätze der K r i m i n a l p o l i t i k

der neusten Strafrechtsentwicklung, in: Berliner Kundgebung 1952 des Deutschen Juristentages, 1952, S. 61; derselbe, Das Rätsel Kriminalität, 1970; derselbe, Strafen wir wirklich den Täter? Summa Criminologica, Bd. II, 1991, S. 331; Lazerges, La politique criminelle, 1987; Levenson, Good Faith Defenses: Reshaping Strict Liability Crimes, Cornell Law Review 78 (1993) S. 401; Löffler, Die Schuldformen des Strafrechts, Bd. I, 1895; Mezger, Niederschriften Bd. I S. 33; Noll, Die ethische Begründung der Strafe, 1962; Peters, Grundprobleme der Kriminalpädagogik, 1960; derselbe, Die ethischen Voraussetzungen des Resozialisierungs- und Erziehungsvollzuges, Festschrift für E. Heinitz, 1972, S. 501; Puppe, Verführung als Sonderopfer, NStZ 1986, 404; Roxin, Prävention und Strafzumessung, Festschrift für H.-J. Bruns, 1978, S. 183; derselbe, Strafzumessung im Lichte der Strafzwecke, Festgabe für H. Schultz, 1977, S. 463; derselbe, Zur Problematik des Schuldstrafrechts, ZStW 96 (1984) S. 641; derselbe, Was bleibt von der Schuld im Strafrecht übrig? SchwZStr 104 (1987) S. 356; Rudolphe Das virtuelle Unrechtsbewußtsein, Schriftenreihe des Instituts für Konfliktforschung, Heft 7, 1982, S. 1; Sax, „Tatbestand" und Rechtsgutsverletzung, JZ 1976, 9; Schaff stein, Spielraumtheorie, Schuldbegriff und Strafzumessung, Festschrift für W. Gallas, 1973, S. 99; Scheuner, Die neuere Entwicklung des Rechtsstaates in Deutschland, DJT-Festschrift, Bd. II, 1960, S. 229; Schmidhäuser, Vom Sinn der Strafe, 2. Auflage 1971; derselbe, Uber den axiologischen Schuldbegriff, Festschrift für H.-H. Jescheck, Bd. I, 1985, S. 485; Schöch, Empirische Grundlagen der Generalprävention, Festschrift für H.-H. Jescheck, Bd. II, 1985, S. 1081; Schöneborn, Grenzen einer generalpräventiven Rekonstruktion des strafrechtlichen Schuldprinzips, ZStW 92 (1980) S. 682; Schreiber, Vor dem Ende des Schuldstrafrechts? in: Immenga (Hrsg.), Rechtswissenschaft und Rechtsentwicklung, 1980, S. 281; derselbe, Das Schuldstrafrecht (Hrsg.), Rechtsprobleme der Psychiatrie, nach der Strafrechtsreform, in: Lauter/Schreiber 2. Auflage 1981, S. 29; Schüler-Springorum, Kriminalpolitik für Menschen, 1991; Schünemann, Die Funktion des Schuldprinzips im Präventionsstrafrecht, in: Schünemann (Hrsg.), Grundfragen des modernen Strarrechtssystems, 1984, S. 153; derselbe, Die deutschsprachige Strafrechtswissenschaft usw., G A 1986, 293; Schwind u.a. (Hrsg.), Präventive Kriminalpolitik, 1980; Sieverts, Kriminalpolitik, HWB Krim, Bd. II, 1977, S. 1; Stratenwerth, Tatschuld und Strafzumessung, 1972; derselbe, Die Zukunft des strafrechtlichen Schuldprinzips, 1977; Streng, Schuld, Vergeltung, Generalprävention, ZStW 92 (1980) S. 637; Strien, Einflüsse des deutschen Strafrechts auf die jüngere Strafrechtsreformbewegung in Spanien, 1992; Theune, Zum Strafzumessungsrecht, NStZ 1986, 153; Vassalli, Colpevolezza, in: Enciclopedia giuridica, Bd. VI, 1988, S. 6; Wolter, Schuldinterlokut und Strafzumessung, G A 1980, 81; Würtenberger, Vom Sinn des staatlichen Strafanspruchs, in: Das Rechtswesen, 1971, S. 67; derselbe, Kriminalpolitik im sozialen Rechtsstaat, 1970; Zipf, Kriminalpolitik, 2. Auflage 1980. D i e Kriminalpolitik befaßt sich m i t der Frage, wie das Strafrecht einzurichten ist, damit es seiner Aufgabe des Gesellschaftsschutzes am besten gerecht werden kann. D i e K r i m i n a l p o l i t i k knüpft an die Ursachen des Verbrechens an, sie erörtert, wie die Merkmale der Straftatbestände richtig gefaßt werden müssen, u m der W i r k l i c h keit des Verbrechens zu entsprechen, sie versucht, die Wirkungsweise der i m Strafrecht verwendeten Sanktionen festzustellen, sie erwägt, bis zu welcher Grenze der Gesetzgeber das Strafrecht ausdehnen darf, u m den Freiheitsraum des Bürgers nicht mehr als unbedingt notwendig einzuschränken, sie prüft, ob das materielle Strafrecht so ausgestaltet ist, daß es i m Strafprozeß durchgesetzt werden kann 1 . W e n n die K r i m i n a l p o l i t i k auch wie jede Wissenschaft i n ihrer Forschung frei u n d nur der Wahrheit unterworfen ist, so gelten doch für die V e r w i r k l i c h u n g der von ihr aufgestellten legislativen Ziele gewisse Grenzen. N i c h t alles, was zweckmäßig erscheint, ist auch gerecht. Als Maßstäbe der Gerechtigkeit i n der K r i m i n a l p o l i t i k 1

Über Aufgabe, Wesen und Abgrenzung der Kriminalpolitik vgl. Hassemer, Kriminalpolitik S. 142; derselbe, Lange-Festschrift S. 508 ff.; Kaiser, Kriminologie § 119 Rdn. 5 ff.; derselbe, Kleines Kriminologisches Wörterbuch S. 280; Schüler-Springorum, Kriminalpolitik für Menschen S. 280; Zipf, Kriminalpolitik S. 3 ff.; Sieverts, H W B Krim Bd. I I S. Iff; Lazerges, La politique criminelle, 1987. Zur Bedeutung der Strafrechtswissenschaft für die Kriminalpolitik des Staates Amelung, ZStW 92 (1980) S. 19. Umfassende Darstellung ferner bei Schwind u.a. (Hrsg.), Präventive Kriminalpolitik, 1980.

I. D e r Schuldgrundsatz

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sind vor allem der Schuldgrundsatz, der Grundsatz der Rechtsstaatlichkeit u n d der Grundsatz der H u m a n i t ä t zu verstehen. I. D e r Schuldgrundsatz 1. D e r Schuldgrundsatz bedeutet, daß staatliche Strafe nur auf die Feststellung gegründet werden darf, daß dem Täter seine Tat persönlich z u m V o r w u r f gemacht werden kann (vgl. unten § 37 I 1). Aus dem Schuldgrundsatz ergibt sich einmal, daß Strafe überhaupt Schuld voraussetzt, so daß, wer ohne Schuld handelt, nicht bestraft werden kann (Ausschluß der Erfolgshaftung) 2, z u m anderen, daß die Strafe auch das Maß der Schuld nicht überschreiten darf (Strafzumessung im Rahmen der Schuldobergrenze). Das Wesen der Schuld w i r d dabei nicht i n einem durch schuldhafte schlechte Lebensführung erworbenen Charakterfehler gesehen („Lebensführungsschuld"), sondern darin, daß der Täter i n der konkreten Situation den A n f o r derungen des Rechts nicht nachgekommen ist, o b w o h l i h m dies möglich gewesen wäre („Tatschuld") 3 . 2. Das Schuldprinzip w i r d als verfassungsrechtlicher Grundsatz (nulla poena sine culpa) verstanden 4 , es ist i n der deutschen Strafrechtslehre fast ohne Ausnahme anerkannt 5 . I n Übereinstimmung m i t den E n t w ü r f e n 6 hat § 46 I 1 das Schuldprin2

Dieser Gedanke findet sich schon im römischen Zwölftafelgesetz (um 450 v.Chr.), ist also ältestes europäisches Kulturgut; vgl. Mommsen, Römisches Strafrecht S. 85. Zum griechischen Recht vgl. Löffler, Schuldformen S. 51 ff. 3 Bruns, Strafzumessungsrecht S. 538ff.; LK U (Hirsch) Vorbem. 182 vor § 32; Arthur Kaufmann, Schuldprinzip S. 187ff.; Lenckner, Strafe S. 40ff.; Schmidhäuser, Allg. Teil S. 373; Stratenwerth, Tatschuld S. 7. 4 BVerfGE 6, 389 (439); 9, 167 (169); 20, 323 (331); 25, 286; 28, 386 (391); 45, 187 (228); 50, 125 (133); 54, 100; B G H 2, 194 (200); 10, 259 (262 f.); Maunz/Dürig, Art. 1 Rdn. 32; Schmidhäuser, Allg. Teil S. 108 f.; Welzel, Lehrbuch S. 138. 5 Baumann/Weber, Allg. Teil S. 357ff.; Blei, Allg. Teil S. 175 ff.; Bockelmann/Volk, Allg. Vorbem. 28 vor § 13; Teil S. 10; Bruns, Strafzumessungsrecht S. 311 ff.; Dreher/Tröndle, Haft, Allg. Teil S. 118; Grasnick, Über Schuld S. 54ff.; Griffel, ZStW 98 (1986) S. 28 ff.; LK U (Jescheck) Vorbem. 71 vor § 13; Arthur Kaufmann, Schuldprinzip S. 116ff.; Lackner, Vorbem. 22 ff. vor § 13; Maurach/Zipf Allg. Teil I § 7 Rdn. 15ff.; Roxin, ZStW 96 (1984) S. 650ff.; Rudolphi, Unrechtsbewußtsein S. Iff.; Schmidhäuser, Allg. Teil S. 365f.; derselbe, Jescheck-Festschrift Bd. I S. 488 ff.; Schönke/Schröder/Lenckner, Vorbem. 103 f. vor § 13; Schünemann, Die Funktion des Schuldprinzips S. 170ff.; derselbe, GA 1986, 293 ff.; Stratenwerth, Die Zukunft des strafrechtlichen Schuldprinzips S. 42 ff.; Welzel, Lehrbuch S. 136. Roxin, Allg. Teil I § 3 Rdn. 46 ff. und Schünemann, Die Funktion des Schuldprinzips S. 189 betrachten jedoch die Schuld nur als Grenze, nicht als Begründung der Strafe, was abzulehnen ist, weil auch die Konkretisierung, nicht nur die Obergrenze der Strafe an die Schuld gebunden bleiben muß und der Richter durch den Verlust des Schuldprinzips die Orientierung am Sinn der Strafe als sozialethischem Tadel verlöre. Abweichend im Sinne einer gesellschaftlichen Zuschreibung von Verantwortlichkeit Achenbach, Individuelle Zurechnung S. 150f.; im Sinne eines Derivats der Erfordernisse der Generalprävention Jakobs, Allg. Teil 17/18 ff.; im Sinne einer „Spiegelung emotionaler Bedürfnisse des Urteilenden" Streng, ZStW 92 (1980) S. 656; grundsätzlich ablehnend Kargl, Kritik des Schuldprinzips, 1982. Gegen die „Funktionalisierung" des Schuldprinzips Lackner, Rdn. 25 vor § 13; AK (Schild) §§ 20, 21 Rdn. 70 ff., insbes. Rdn. 75: der Präventionszweck rechtfertigt nur staatliche Maßnahmen, während Strafe allein von der Schuld her begründet werden kann. Im Rahmen des Präventionsstrafrechts für Eigenständigkeit des Schuldprinzips Burkhardt, Rechtfertigung des Schuldprinzips S. 51 ff. (mit utilitaristischer Begründung); Schöneborn, ZStW 92 (1980) S. 687ff.; Schreiber, Schuldstrafrecht S. 35; derselbe, Vor dem Ende des Schuldstrafrechts? S. 280; Roxin, SchwZStr 104 (1987) S. 368 ff. (Schuld im Sinne von Verantwortlichkeit). 6 Ε 1962, Begründung S. 96; AE, Begründung S. 29; vgl. dazu Gallas, ZStW 80 (1968) S. Iff.; Jescheck, ZStW 80 (1968) S. 58ff.

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zip ausdrücklich i m StGB verankert, wenn auch i n einer nicht ganz eindeutigen Formel, nach der die Schuld nur „Grundlage" für die Zumessung der Strafe ist 7 . Das Schuldprinzip dient einmal dem notwendigen Schutz des Täters gegen jedes Übermaß repressiver E i n w i r k u n g des Staates8 . Es sorgt ferner dafür, daß die Strafe als ein öffentlicher Tadel strikt auf Handlungen beschränkt bleibt, die ein sozialethisches U n w e r t u r t e i l verdienen, und betont damit zugleich die Verbindlichkeit des Strafrechts als „ethisches M i n i m u m " ( Georg Jellinek ). Der Bundesgerichtshof hat i n einem programmatischen Ausspruch das Schuldprinzip zur Grundlage seiner Rechtsprechung gemacht: „Strafe setzt Schuld voraus. Schuld ist Vorwerfbarkeit. M i t dem U n w e r t u r t e i l der Schuld w i r d dem Täter vorgeworfen, daß er sich nicht rechtmäßig verhalten, daß er sich für das Unrecht entschieden hat, o b w o h l er sich rechtmäßig verhalten, sich für das Recht hätte entscheiden können" ( B G H 2, 194 [200]; 18, 87 [94]). A u c h die aus dem Schuldprinzip für die Strafobergrenze folgende Konsequenz w i r d ausdrücklich gezogen: „ D e r Präventionszweck darf nicht dazu führen, die gerechte Strafe zu überschreiten" ( B G H 20, 264 [267]; B G H N J W 1987, 3015). Ebenso wird im Ausland heute überwiegend am Schuldprinzip festgehalten 9, wobei die deutsche Lehre nicht ohne Einfluß gewesen ist. Diese Beobachtung zeigt, daß es sich hier 7 Zu der Grundlagenformel vgl. Lackner , Gallas-Festschrift S. 117 ff. Mezger , Niederschriften Bd. I S. 33 hatte in der Großen Strafrechtskommission präziser vorgeschlagen: „Die Strafe soll in gerechter Weise der Schuld des Täters entsprechen". 8 Vgl. Lange, Rätsel Kriminalität S. 97 f. 9 Vgl. für Österreich § 4 österr. StGB sowie Kienapfel , Grundriß Ζ 13 Rdn. 1 und Triffterer , Allg. Teil S. 247f.; für die Schweiz Rehberg , Strafrecht I S. 150; Noll/ Trechsel , Allg. Teil I S. 122; Stratenwerth, Schweiz. Strafrecht, Allg. Teil I § 2 Rdn. 25 und Schultz , Einführung I S. 179ff.; für die Niederlande Hazewinkel-Suringa/Remmelink, Inleiding S. 166ff. und van Bemmelen/van Veen , Ons Strafrecht S. 133 ff.; für Frankreich Merle/ Vitu, Traité I Nr. 546 und Stefani/Levasseur/Bouloc, Droit pénal général Nr. 211; für Belgien Verhaegen , SchwZStr 98 (1981) S. 4ff.; für Italien Art. 27 I Verf.; Bettiol/Pettoello Mantovani, , Diritto penale S. 420 ff.; Vassalli y Colpevolezza, Enciclopedia giuridica Bd. V I S. 6ff. und Pagliaro , Principi S. 335 ff.; für Schweden Jareborg , ZStW 106 (1994) S. 150 Fußnote 10; für Spanien Rodriguez Devesa/ Serrano Gomez, Derecho penal S. 433 ff.; Cerezo Mir , SchwZStr 107 (1990) S. 1; Jescheck , Libro Homenaje Ignacio de Loyola S. 405 ff. und Strien , Einfluß des deutschen Strafrechts S. 45 ff.; für Brasilien Fragoso y Liçôes S. 211 ff. und da Costa jr., Comentärios Art. 59 Anm. 1; für England Glanville Williams, Criminal Law S. 11 ff.; zum Entwurf eines StGB für England und Wales Jescheck, Schmitt-Festschrift S. 56 ff. Auch im letzten Entwurf neuer „Grundlagen der Strafgesetzgebung der UdSSR" von 1992 findet sich schon das Prinzip der „persönlichen und schuldgemäßen Verantwortung"; dazu Kelina, in: Fünftes deutsch-sowjetisches Kolloquium S. 11; vgl. ferner Schittenhelm, Strafe und Sanktionensystem im sowjetischen Strafrecht S. 643 ff. Auch die Bewegung der Défense sociale bekennt sich heute zum Schuldprinzip; vgl. Ancel, La défense sociale nouvelle S. 187f. und derselbe, Jescheck-Festschrift Bd. I I S. 789. Als Ausnahme kennt das französische Recht „infractions purement matérielles"; so ist in Art. 121-3 Code pénal 1994 Vorsatz oder Fahrlässigkeit nur für Verbrechen und Vergehen, nicht für Übertretungen vorgeschrieben, die als „infractions matérielles" bestehen bleiben (vgl. Circulaire S. 28). Das Recht der USA verlangt im Regelfall Vorsatz oder Fahrlässigkeit, kennt aber auch Fälle einer objektiven Verantwortlichkeit; vgl. Bahr, Strafbarkeit ohne Verschulden (strict liability) im Strafrecht der USA, 1974; LaFave/Scott, Substantive Criminal Law I S. 340 ff. Für eine Einschränkung der verschuldensunabhängigen Haftung Levenson, Cornell Law Review 78 (1993) S. 401. Für ein am Schuldprinzip orientiertes Strafrecht als „medium for expressing our cultural and moral sensibilities" auch Kadish, JCrimL 1994, 702. Auf das Schuldprinzip verzichten will offenbar ein Vorschlag der EG-Kommission vom 21.5.1990 für Sanktionen im Rahmen der gemeinsamen Agrar- und Fischereipolitik für den Fall, daß die Durchsetzung einer Regelung die Ahndung unabhängig vom Bestehen subjektiver Kriterien erfordert (Amtsblatt der EG 1990 Nr. C 137 S. 10).

I. D e r Schuldgrundsatz

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nicht um eine theoretische Frage handelt, die man so oder anders beantworten kann, sondern um den in allen politischen Systemen allein gangbaren Weg der Kriminalpolitik, auf dem die praktischen Probleme der Strafgerechtigkeit in Ubereinstimmung mit den Wertvorstellungen der Gesamtheit gelöst werden können. 3. Während die strafbegrenzende F u n k t i o n des Schuldgrundsatzes keinem ernstlichen Zweifel unterliegt, ist die Frage, ob u n d inwieweit die Strafe das M a ß der Schuld aus spezialpräventiven Gründen unterschreiten darf, umstritten (vgl. unten § 82 I V 5 b). W e n n Strafe Ausgleich der schuldhaften Rechtsverletzung sein soll, weil nur so auf gerechte Weise der Zweck des Gesellschaftsschutzes erreicht werden kann ( B G H 24, 40 [42]), muß eine angemessene Proportion v o n Schuldgehalt u n d Strafgröße gewahrt bleiben, was übermäßige Abweichungen nach unten verbietet. So dürfte z.B. die Ermordung v o n K Z - H ä f t l i n g e n nicht m i t einer zur Bewährung ausgesetzten Freiheitsstrafe beantwortet werden, selbst wenn der Täter seit Jahren i n die Gesellschaft v o l l eingeordnet lebt und auch die Allgemeinheit durch das eindeutige U r t e i l der Geschichte genügend belehrt i s t 1 0 . Daher verlangt die Judikatur durchweg Entsprechung von Schuld u n d Strafe 1 1 , u n d zwar auch dann, w e n n eine Freiheitsstrafe zur Bewährung ausgesetzt oder durch eine andere Sanktion ersetzt w i r d . Dagegen hat der AE die Ausgleichsfunktion der Strafe bewußt preisgegeben. Nach § 59 I I AE ist die Strafe nur nach präventiven Gesichtspunkten zu bestimmen, und die Tatschuld spielt lediglich als Obergrenze der Strafe eine Rolle 12 . Hiergegen bestehen jedoch Bedenken, da an der sich in der Strafe spiegelnden Verantwortlichkeit des Täters „als einer Realität unseres sozialen und moralischen Bewußtseins" festgehalten werden muß, wenn das Strafrecht als Schutzordnung und Garant der Rechtsbewährung erhalten bleiben soll 13 . Es ist freilich zuzugeben, daß es an empirischen Daten über die Wirkung gerechter und das heißt: schuldangemessener Strafen auf das Rechtsbewußtsein der Allgemeinheit noch fehlt, doch ist die kriminologische Forschung auf dem Gebiet der positiven Generalprävention in Gang gekommen 14 .

10 Bruns, Strafzumessungsrecht S. 323; derselbe, Welzel-Festschrift S. 746f.; Dreher, Gerechte Strafe S. 127ff.; Bockelmann/Volk, Allg. Teil S. 233; LK X 0 (G. Hirsch) Vorbem. 16 vor § 46; SK (Horn) § 46 Rdn. 13; Henkel, Strafe S. 47; Maurach/Zipf Allg. Teil I § 7 Rdn. 27; Schaff stein, Gallas-Festschrift S. 105. Für die Zulässigkeit der Unterschreitung der schuldangemessenen Strafe aus spezialpräventiven Gründen Dreher/Tröndle, § 46 Rdn. 12; Grünwald, ZStW 82 (1970) S. 253; Horstkotte, JZ 1970, 124; Lackner, § 46 Rdn. 24; Roxin, Schultz-Festgabe S. 473 ff.; derselbe, Bruns-Festschrift S. 184; Schünemann, GA 1986, 309; Wolter, G A 1980, 94. 11 RG 58, 106 (109); B G H 3, 179; 7, 86 (89); 20, 264 (266); 24, 132 (134); 29, 319 m.Anm. Bruns, JR 1981, 335; B G H 32, 60 (65); 34, 345 (349); B G H NStZ 1992, 489; NJW 1992, 3311. Die Preisgabe der Schulduntergrenze in einem Fall der Tatprovokation durch Lockspitzel (BGH NJW 1986, 1764) sollte auf derartige Fälle beschränkt bleiben: vgl. dazu kritisch Bruns, M D R 1987, 177ff.; zustimmend Puppe, NStZ 1986, 404; Theune, NStZ 1986, 156 f. Vgl. auch B G H 32, 345 (354). 12 Die Strafe würde damit aber ebenso wie die Maßregel zum reinen Präventionsmittel, vgl. dazu Noll, Ethische Begründung S. 19f.; Roxin, JuS 1966, 384f. Jedoch begründet nur die schuldangemessene Strafe für jedermann das Bewußtsein, daß in der Strafrechtspflege Gerechtigkeit geübt wird, und darauf kommt es für die Stärkung der Rechtsgesinnung in der Gemeinschaft vor allem an; vgl. Schmidhäuser, Sinn der Strafe S. 79. Abweichend vom AE auch Arthur Kaufmann, JZ 1967, 553 ff. 13 Vgl. Gallas, ZStW 80 (1968) S. 4f.; Jescheck, ZStW 80 (1968) S. 58ff.; Stratenwerth, Allg. Teil I Rdn. 30; Arthur Kaufmann, Schuldprinzip S. 273. 14 Vgl. dazu H.-J. Albrecht, Kleines Kriminologisches Wörterbuch S. 157ff.; Schöch, Jescheck-Festschrift Bd. I I S. 1081 ff.; AK (Hassemer) Rdn. 429 ff. vor § 1; Dötting, ZStW 102 (1990) S. 16 ff.

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II. Der Grundsatz der Rechtsstaatlichkeit Maßstab der Kriminalpolitik ist weiter der Grundsatz der Rechtsstaatlichkeit, der vom Grundgesetz als Leitprinzip für die gesamte Staatstätigkeit aufgestellt ist (Art. 28 I GG) . Es gibt einen formellen und einen materiellen Begriff der Rechtsstaatlichkeit 16 . 1. Informeller Hinsicht treten im Strafrecht vor allem diejenigen Elemente des Rechtsstaatsprinzips hervor, die die Rechtssicherheit verbürgen sollen. Da das Strafrecht die tiefsten Eingriffe in die Freiheitssphäre des Bürgers ermöglicht, die die Rechtsordnung überhaupt kennt, müssen besondere Schutzvorkehrungen gegen seinen Mißbrauch getroffen werden. Der Grundsatz des Vorrangs und des Vorbehalts des Gesetzes17 ist deshalb im Straf recht stärker ausgeprägt als in jedem anderen Teil des geltenden Rechts. So bestimmt Art. 103 I I GG, daß eine Tat nur dann bestraft werden kann, wenn die Strafbarkeit gesetzlich bestimmt war, bevor die Tat begangen wurde (vgl. näher unten § 15 I I 4). Damit wird nicht nur als Grundlage der Strafbarkeit überhaupt ein Gesetz verlangt, sondern auch die Rückwirkung des strafbegründenden und strafschärfenden Gesetzes ausgeschlossen (vgl. näher unten §15 IV). Die inhaltliche Bindung des Strafrichters an das Gesetz ist ebenfalls enger als sonst in der Rechtspflege: die Anwendung des Strafgesetzes zu Lasten des Beschuldigten auf einen vom Gesetzessinn nicht unmittelbar erfaßten Sachverhalt ist unzulässig (sog. Analogieverbot , vgl. unten § 15 I I I 2). In positiver Hinsicht wird aus Art. 103 I I GG das Bestimmtheitsgebot abgeleitet (vgl. unten § 15 I I I 3). Die Ermessensfreiheit des Strafrichters bei der Festsetzung von Strafen und Maßregeln soll durch möglichst genaue Bezeichnung der Voraussetzungen des Eingriffs, durch relativ enge Strafrahmen und durch Aufteilung weiter Strafrahmen in besonders schwere (z.B. §§ 212 II, 240 I) und minder schwere Fälle (z.B. §§ 249 II, 316a I) eingeengt werden. Zugleich soll damit für den Bürger die Klarheit und Berechenbarkeit des Rechts gesichert werden 18 . Im Strafrecht gilt ferner durchweg der „Vorbehalt des Richters" (Art. 92 und 104 I I GG), d.h. sämtliche den Bürger belastenden Entscheidungen, insbesondere solche über eine Freiheitsentziehung, sind zum Schutz des Betroffenen richterlichen Instanzen vorbehalten. Auch im Strafvollzug wird Rechtsschutz durch die Gerichte umfassend gewährt (§§ 109 ff. StVollzG; §§ 23 ff. EGGVG für den Vollzug von Jugendstrafe und -arrest). 2. In materieller Hinsicht sagt der Grundsatz der Rechtsstaatlichkeit, wie das Strafrecht inhaltlich gestaltet sein muß, um dem Idealbild des gerechten Staates möglichst weitgehend zu entsprechen (BGH 24, 173 [175]). Im Vordergrund steht dabei die Wahrung der Menschenwürde als Grundnorm des gesamten Wertesystems unserer Verfassung (Art. 1 I GG) 1 9 . Daraus folgt mit der Gewährleistung der allgemeinen Handlungsfreiheit (Art. 2 I GG) für das Strafrecht die Beschränkung auf solche Eingriffe, die zur Sicherung des Zusammenlebens der Menschen in der Gemeinschaft unabdingbar sind 20 . Aus der Menschenwürde ergibt sich 15 Lange, Rechtsstaat S. 64 ff.; allgemein Scheuner , DJT-Festschrift Bd. I I S. 229; Hesse, Grundzüge Rdn. 183 ff.; BVerfGE 6, 32 (41); 6, 55 (72); 7, 89 (92f.); 20, 323 (331). 16 Zipf Kriminalpolitik S. 31. 17 Näher dazu Hesse, Grundzüge Rdn. 508 f. 18 Uber den berechtigten „Bedarf an Vagheit" im Strafgesetz aber AK (Hassemer) § 1 Rdn. 18; Hassemer , Einführung S. 254 ff. 19 Häberle , Handbuch des Staatsrechts § 20. 20 Vielfach wird angenommen, daß die mit dem Rechtsgutsbegriff verknüpfte „Sozialschädlichkeit" der Tat die Grenze für den repressiven Eingriff des Staates bilden müsse;

I I I . D e r Grundsatz der H u m a n i t ä t

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weiter der Ausschluß grausamer oder erniedrigender Strafen und das Verbot entwürdigender Behandlung der Gefangenen im Strafvollzug (so ausdrücklich Art. 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention von 1950, Art. 7 des Internationalen Paktes über bürgerliche und politische Rechte von 1966 sowie Nr. Iff. der Règles pénitentiaires européennes, Recommandation N o R [87] 3 des Ministerkomitees des Europarats vom 12.2.1987). Aus dem Grundrecht der allgemeinen Handlungsfreiheit (Art. 2 I GG) folgt die Anerkennung des Schuldprinzips (vgl. oben § 4 1) als Verfassungsgrundsatz (BVerfGE 20, 323 [331]). Eine Konsequenz des materiellen Rechtsstaatsprinzips ist ferner die Sachgebundenheit der gesamten Kriminalpolitik 2 1 . So dürfen über die Strafwürdigkeit einer Handlung nicht gefühlsmäßige, von Emotionen bestimmte Vorurteile entscheiden, sondern nur berechtigte Bedürfnisse des Gesellschaftsschutzes; ferner darf die richterliche Entscheidung nicht von persönlichen Werturteilen und Stimmungen getragen sein 22 , sondern nur von den Werturteilen des Gesetzgebers, von sachlichen Erwägungen und allgemeingültigen Erkenntnissen (BGH 4, 24 [32]). Materieller Natur ist auch der als Verfassungsrechtssatz anerkannte Grundsatz der Verhältnismäßigkeit der Mittel (Übermaßverbot) (BVerfGE 19, 343; 61, 126 [134]) 23 , den der Gesetzgeber als Voraussetzung der Anordnung von Maßregeln in das Strafgesetz aufgenommen hat (§ 62) (vgl. oben § 2 I 3). Ausdruck des Rechtsstaatsprinzips ist endlich der Gleichheitssatz (Art. 3 I GG) 2 4 . Er gebietet die gleiche Behandlung aller Menschen im Strafrecht und verlangt deshalb z.B., daß der zu Geldstrafe verurteilte Unbemittelte die Vollstreckung der Ersatzfreiheitsstrafe durch Leistung freier Arbeit abwenden kann (Art. 293 EGStGB). Der Gleichheitssatz verbietet ferner die Diskriminierung entlassener Strafgefangener. Darauf weist § 3 I I I StVollzG hin: „Der Vollzug ist darauf auszurichten, daß er dem Gefangenen hilft, sich in das Leben in Freiheit wieder einzugliedern".

III. Der Grundsatz der Humanität Grundlage der Kriminalpolitik muß endlich der Grundsatz der Humanität sein 25 . Er besagt, daß auch die Verhängung und Vollstreckung von Strafen die Persönlichkeit des Beschuldigten bzw. Verurteilten achten muß und daß man ihm in verantwortlicher menschlicher Zuwendung gegenüberzutreten hat, um ihn für ein Leben in der Gemeinschaft zurückzugewinnen. Dieser Grundsatz gebietet die Abschaffung der Todesstrafe (Art. 102 GG, dazu BVerfGE 18, 112 [117]) und der zwangsweisen Entmannung gefährlicher Sittlichkeitsverbrecher 26 und ist mit den gezielt entehrenden Strafen wie der Zuchthausstrafe unvereinbar. An die Stelle einer übertrieben repressiven Tendenz des Strafrechts ist der Gedanke der Resozialisierung des straffälligen Menschen getreten (vgl. § 46 I 2 StGB; §§ 2 S. 1, 154 I I StVollzG). Der vgl .Jäger, Rechtsgüterschutz S. 6 ff.; Hanack, Gutachten S. Iff.; Maurach/Zipf Allg. Teil I § 13 Rdn. 9; Amelung, Rechtsgüterschutz S. 314f.; Sax, JZ 1976, 11. 21 Hierzu näher Klug, Probleme des Sexualstrafrechts S. 38ff.; Jäger, Strafrechtspolitik S. 273 ff.; derselbe, Motive S. 63 ff. 22 Engisch, Einführung S. 125 ff. 23 Vgl. dazu Huber, Zeitschrift f. Schweiz. Recht 96 (1977) S. Iff. 24 Hierzu Hesse, Grundzüge Rdn. 438 ff. 25 Vgl. hierzu Würtenberger, Kriminalpolitik S. 4 ff., 149ff.; derselbe, Strafanspruch S. 75; Ancel, Défense sociale nouvelle S. 33 f.; Zipf, Kriminalpolitik S. 48 ff.; zweifelnd AK (Hassemer) Vorbem. 477 ff. vor § 1. 26 Freiwillige Kastration ist aber unter engen Voraussetzungen zulässig; vgl. B G H 19, 201 sowie §§ 1, 2 KastrG vom 15.8.1969, BGBl. I S. 1143.

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§ 5 K r i m i n a l i t ä t u n d Strafrechtsanwendung i m Spiegel der Statistik

Humanitätsgrundsatz ist vor allem der Leitgedanke des Strafvollzugs geworden 2 7 . D e r Internationale Pakt über bürgerliche und politische Rechte v o m 19.12.1966 enthält i n A r t . 10 I ausdrücklich die Vorschrift, daß der Gefangene „menschlich u n d m i t A c h t u n g vor der dem Menschen innewohnenden Würde behandelt werden" muß. Das Bewußtsein mitmenschlicher Verantwortung ist endlich maßgebend für den Ausbau der Fürsorgemaßnahmen, v o n denen heute die Kriminalbehandlung i n Freiheit u n d der Rückweg des entlassenen Strafgefangenen i n die Gesellschaft umgeben sein sollen. Freilich dürfen auch die hier bestehenden Schwierigkeiten nicht verkannt werden. Das Strafrecht läßt sich nicht ohne weiteres m i t dem Recht der Sozialhilfe gleichsetzen. Es dient i n erster Linie der austeilenden Gerechtigkeit u n d muß die Verantwortlichkeit des Täters für den Rechtsbruch dadurch zur Geltung bringen, daß er die verdiente A n t w o r t auf seine Tat durch die Rechtsgemeinschaft erfährt. Dabei kann es ohne Einbußen u n d Schmerzen, vor allem bei der Freiheitsstrafe, nicht abgehen. Innerhalb dieser durch die N a t u r seiner Aufgabe festgelegten Grenzen müssen jedoch alle menschlichen Beziehungen, die i m Strafrecht eine Rolle spielen, v o m Grundsatz der Humanität getragen sein.

§ 5 K r i m i n a l i t ä t u n d Strafrechtsanwendung i m Spiegel der Statistik Adler , Nations not Obsessed with Crime, 1983; H.-J. Albrecht , Die Kriminalitätsentwicklung in der Bundesrepublik Deutschland, BewH 1984, 1; B. Blau , Die Kriminalität in Deutschland während des zweiten Weltkriegs, ZStW 64 (1952) S. 31; Bundeskriminalamt (Hrsg.), Polizeiliche Kriminalstatistik, 1963 bis 1986; Champion , The Juvenile Justice System, 1992; Collmann, Internationale Kriminalstatistik, 1973; Csdszdr , Die Entwicklung der Kriminalität in Osterreich von 1953 bis 1964, 1967; Dörmann , Interpol-Kriminalstatistik: Kein wahrer Spiegel usw., Kriminalistik 38 (1984) S. 414; Exner , Studien über die Strafzumessungspraxis der deutschen Gerichte, 1931; J. Frey , Die Kriminalität in Zeiten des Wohlstandes, Diss. Zürich 1968; Graff Die deutsche Kriminalstatistik, 1975; Heinz , Kriminalstatistik usw., in: BKA Vortragsreihe 23 (1977) S. 93; derselbe , Entwicklung, Aufgaben und Probleme der Kriminalstatistik, ZStW 84 (1972) S. 806; derselbe , Das System der Strafrechtspflegestatistiken, Allgemeines Statistisches Archiv 59 (1975) S. 95; derselbe, Entwicklung, Stand und Struktur der Strafzumessungspraxis, MSchrKrim 1981, 148; derselbe, Strafrechtsreform und Sanktionsentwicklung, ZStW 94 (1982) S. 632; derselbe, Strafrechtliche Sozialkontrolle - Beständigkeit im Wandel? BewH 1984, 13; derselbe, The Problems of Imprisonment usw., in: Hood (Hrsg.), Crime and Criminal Policy in Europe, 1988, S. 185; Hilger, Die Entwicklung der U-Haftzahlen von 1981 - 1987, NStZ 1989, 107; Kaiser, Jugendkriminalität, 3. Auflage 1982; derselbe, Ist das Maßnahmensystem im Kriminalrecht noch zu retten? Festschrift für F. Pallin, 1989, S. 183; derselbe, Die Entwicklung der Kriminalität in Deutschland seit dem Zusammenbruch des realen Sozialismus, ZStW 106 (1994) S. 469; Hilde Kaufmann, Steigt die Jugendkriminalität wirklich? 1965; Kerner, Verbrechens Wirklichkeit und Strafverfolgung, 1973; derselbe, Kriminalstatistik, Kleines Kriminologisches Wörterbuch, 3. Auflage 1993, S. 294; Kühne / Miyazawa, Kriminalität und Kriminalitätsbekämpfung in Japan, 1979; McClintock/Avison, Crime in England and Wales, 1968; Miyazawa, Kriminalität und ihre Bekämpfung in Japan, Festschrift für Th. Würtenberger, 1977, S. 299; derselbe, Informelle Sozialkontrolle in Japan, Festschrift für H.-H. Jescheck, Bd. II, 1985, S. 1159; Popitz, Über die Präventivwirkung des Nichtwissens, 1968; Republik Österreich , Sicherheitsbericht 1983, Tabellen und Graphiken; Rieß, Entwicklung und Bedeutung der 27

Vgl. näher Peters, Kriminalpädagogik S. 55 ff. Wie freilich die Resozialisierung im Strafvollzug inhaltlich gestaltet werden soll, ist zweifelhaft, da § 2 I 1 StVollzG nur ein Leben des Gefangenen ohne Straftaten als Behandlungsziel aufstellt; vgl. dazu Peters, Heinitz-Festschrift S. 507 ff., der eine Resozialisierung ohne eindeutigen sittlichen Kern verneint, während Eser, Peters-Festschrift S. 516 ff. verschiedene gesellschaftlich relevante Motivationen nebeneinander für denkbar hält. Calliess/Müller-Dietz, StVollzG § 3 Rdn. 28 betonen zu Recht die „Subjektivität des Gefangenen" und das Verbot, ihn „ideologisch zu indoktrinieren".

I. Allgemeines zur Kriminalstatistik

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Einstellungen nach § 153 a StPO, ZRP 1983, 93: derselbe, Zur weiteren Entwicklung usw., ZRP 1985, 212; Roxin, Zur Entwicklung der Kriminalpolitik seit den Alternativ-Entwürfen, JA 1980, 545; Sack, Dunkelfeld, Kleines Kriminologisches Wörterbuch, 3. Auflage 1993, S. 99; Schöch, Ist Kriminalität normal? Kriminologische Gegenwartsfragen 12 (1976) S. 211; derselbe, Empfehlen sich Änderungen und Ergänzungen bei den strafrechtlichen Sanktionen ohne Freiheitsentzug? Gutachten C zum 59. DJT Hannover 1992; Schultz, L'évolution de la criminalité en Suisse de 1929 à 1963, Rev sc crim 1965, 385; derselbe, Von der dreifachen Bedeutung der Dunkelziffer, Festschrift für H. Henkel, 1974, S. 239; derselbe, Besprechung von „Bundesamt für Statistik: Die Strafurteile in der Schweiz 1982, 1983, 1984", SchwZStr 103 (1986) S. 122, 443, 444; Sellin, Crime and Delinquency in the United States, in: The Annais, Vol. 339, 1962, S. 11; Statistisches Bundesamt, Rechtspflege, Fachserie 10, Reihe 1 Ausgewählte Zahlen für die Rechtspflege; Reihe 4 Strafvollzug; US Department of Justice, Crime in the United States, Year 1984, 1985. I. Allgemeines zur Kriminalstatistik Kriminalität und Strafrechtsanwendung haben einschneidende Bedeutung für das gesamte soziale Leben eines Volkes. D i e Kriminalität verursacht für die Betroffenen körperliche, seelische u n d materielle Schäden, für die Allgemeinheit Verluste der verschiedensten A r t . Sie führt zu Mißtrauen, Unsicherheit u n d Furcht. Strafen und Maßregeln greifen tief i n das private Leben der Verurteilten ein u n d belasten als freiheitsentziehende Sanktionen die öffentlichen Haushalte. D i e nachfolgenden Ubersichten sollen ein B i l d davon geben, wie häufig i n der Bundesrepublik Straftaten angezeigt u n d aufgeklärt, Verurteilungen ausgesprochen, Sanktionen verhängt und Menschen i n Strafanstalten eingewiesen werden. D i e Abgrenzung des Zeitraums, der v o n dieser Darstellung erfaßt w i r d , erklärt sich daraus, daß die Reichskriminalstatistik i m Jahre 1882 eingeführt w u r d e 1 u n d das letzte erschienene H e f t „Rechtspflege" des Statistischen Bundesamts das Jahr 1991 behandelt 2 . D i e Zahlen v o n 1936 bis 1945 sind nicht veröffentlicht 3 . D i e Strafverfolgungsstatistik setzte i m Jahre 1950 wieder ein. D i e polizeiliche Kriminalstatistik wurde i n der Bundesrepublik i m Jahre 1953 eingeführt u n d reicht zur Zeit bis z u m Jahre 1993. Die Zahlen, die sich auf das Gebiet der früheren D D R beziehen, sind i n den nachfolgenden Tabellen noch nicht enthalten. Z u m Verständnis der Statistiken ist folgendes vorauszuschicken: Die Rechtspflegestatistik ist eine Statistik der abgeurteilten und verurteilten Personen. Erfaßt werden von ihr sämtliche durch rechtskräftige richterliche Entscheidung abgeschlossenen Strafsachen. Neben dieser Strafverfolgungsstatistik gibt es die polizeiliche Kriminalstatistik, in der die der Polizei bekannt gewordenen und die von ihr aufgeklärten Straftaten sowie die ermittelten Tatverdächtigen gezählt werden 4. Keine dieser Statistiken vermittelt jedoch ein erschöpfendes Bild von dem wirklichen Umfang der Kriminalität, da auch die polizeiliche Kriminalstatistik nur diejenigen Delikte enthält, die der Polizei bekannt geworden sind. Diesen Taten steht das bei den verschiedenen Delikten unterschiedlich große Dunkelfeld 5 1 Die Zahlen bis 1925 sind dem Ε 1927, Anlage I I „Die Entwicklung der Kriminalität im Deutschen Reich seit 1882" S. 5 entnommen. 2 Statistisches Bundesamt, Fachserie 10, Rechtspflege, Reihe 1, 1991. 3 Vgl. aber B. Blau, ZStW 64 (1952) S. 31 ff. 4 Vgl. zur Geschichte, Bedeutung und Bewertung der Statistiken Graff Die deutsche Kriminalstatistik, 1975; Göppinger, Kriminologie S. 136ff.; Heinz, ZStW 84 (1972) S. 806ff.; derselbe, Allgemeines Statistisches Archiv 59 (1975) S. 95 ff.; derselbe, BKA-Vortragsreihe 23 (1977) S. 93ff.; Kaiser, Kriminologie § 42 Rdn. 7ff.; Kerner, Kleines Kriminologisches Wörterbuch S. 294 ff.; AK (Hassemer) Vorbem. 71 ff. vor § 1. 5 Zum Dunkelfeld und seiner Erforschung Göppinger, Kriminologie S. 158 ff. Kaiser, Kriminologie §42 Rdn. 25ff.; Schöch, Kriminologische Gegenwartsfragen 12 (1976) S. 211 ff.; Sack, Kleines Kriminologisches Wörterbuch S. 99 ff. Vgl. ferner Schultz, Henkel-Festschrift S. 239 ff. sowie Popitz, Über die Präventivwirkung des Nichtwissens, 1968.

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§ 5 K r i m i n a l i t ä t u n d Strafrechtsanwendung i m Spiegel der Statistik

gegenüber, das diejenigen Taten umfaßt, die von niemandem bemerkt oder der Polizei nicht mitgeteilt werden. U m die Erforschung des Dunkelfeldes bemüht sich die Kriminologie durch Täter- und Opferbefragungen sowie durch Hochrechnungen. Dem Gesamtumfang der Kriminalität steht die polizeiliche Statistik näher als die Rechtspflegestatistik, weil sie durch Zählung sämtlicher der Polizei bekannt gewordenen Straftaten zustande kommt. Die Rechtspflegestatistik registriert dagegen nur die viel kleinere Zahl der Fälle, die vor Gericht gelangt sind, gibt aber durch die Zuverlässigkeit ihrer Angaben ein genaues Bild der Zahl der abgeurteilten Personen und der verhängten Sanktionen. Wenn auch ein sehr erheblicher quantitativer Unterschied zwischen wirklicher und registrierter Kriminalität besteht, so wird doch angenommen, daß Rückschlüsse auf deren qualitative Struktur möglich sind 6 . Mit diesen Vorbehalten ist die Kriminalstatistik als Informationsquelle, als Planungsinstrument und als Effizienzmaßstab für die Strafrechtspflege unentbehrlich. Spezifische Aussagen und Vergleiche ermöglicht die Verurteiltenziffer (Kriminalitätsziffer). Sie wird errechnet, indem die für ein Jahr ermittelte Gesamtzahl der Verurteilten zu 100000 der strafmündigen Bevölkerung in Beziehung gesetzt wird. Je nachdem, ob alle oder nur die wegen einer bestimmten Straftat Verurteilten zur ganzen strafmündigen Bevölkerung oder nur zu einer Altersgruppe in Beziehung gesetzt werden, ergeben sich allgemeine und besondere Verurteiltenziffern. Entsprechend gibt die polizeiliche Kriminalstatistik die sog. Häufigkeitsziffer an.

II. Die Entwicklung der gerichtlich festgestellten Gesamtkriminalität (Verbrechen und Vergehen) im Deutschen Reich und in der Bundesrepublik Deutschland von 1882 bis 1991

Jahr

Verurteilte

davon vorbestraft Zahl in v.H.

Verurteiltenziffer

Reichsgebiet: 1882 1885 1905 1913 1923 1931 1935

315 849 325 122 508 102 555 527 823 902 569 903 431 423

82 292 93 841 228 167 251 882 178 545 231 953 171 071

26,0 28,9 44,9 45,3 21,6 41,1 39,7

996 1 006 1 205 1 169 1 693 1 125 838

30,7 33,0 37,0 38,6 38,9 41,5 29,3 30,8 34,7 36,9 38,2 41,2 42,7 42,2 41,6

1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1

Bundesgebiet: 1951 1955 1957 1960 1966 1969 1973 1974 1976 1978 1980 1982 1983 1985 1991

6 Vgl. Kerner Rdn. 28.

401 538 530 655 564 026 555 212 607 752 618 170 698 912 699 198 699 339 739 044 732 481 772 194 784 657 719 924 695 118

y

123 302 175 352 208 927 214 667 236 605 256 314 204 783 215 265 242 898 272 538 279 838 318 441 334 906 325 755 289 224

073 331 398 316 303 310 434 419 411 473 433 481 499 371 274

Verbrechenswirklichkeit S. 170 ff.; zweifelnd Kaiser y Kriminologie § 42

I I . D i e E n t w i c k l u n g der gerichtlich festgestellten Gesamtkriminalität v o n 1882 - 1991

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Die Kriminalitätskurve vor dem ersten Weltkrieg zeigt einen laufenden Anstieg, insbesondere auch des Anteils der Vorbestraften, von 1882 bis nach der Jahrhundertwende, worin sich in erster Linie die Anpassungsschwierigkeiten breiter Schichten der Bevölkerung an die veränderten Lebensbedingungen in der Industriegesellschaft widerspiegeln. Danach fällt die Kurve geringfügig bis zum ersten Weltkrieg. Die Rückfallkriminalität nimmt jedoch unvermindert zu. Die Kriminalität der Zeit der Weimarer Republik stand stark unter dem Zeichen der wirtschaftlichen Schwankungen, die Deutschland in diesen wenigen Jahren erschütterten. Auf dem Höhepunkt der Inflation im Jahre 1923 wurde der höchste in Deutschland je verzeichnete Stand der Kriminalität erreicht. Zugleich sank der Anteil der Vorbestraften stark, weil als Folge der allgemeinen Not die Zahl der Erstverurteilten lawinenartig zunahm. Mit der Rückkehr geordneter wirtschaftlicher Verhältnisse ging die registrierte Kriminalität allmählich zurück, und diese Tendenz wurde auch durch die Weltwirtschaftskrise von 1929 und die dadurch ausgelöste Arbeitslosigkeit kaum unterbrochen. Unter der Herrschaft des Nationalsozialismus trat infolge der rigorosen Bekämpfung der Kriminalität, der Einordnung des ganzen Volkes in militärisch organisierte und streng überwachte Organisationen, der Einziehung der jüngeren Jahrgänge zur Wehrmacht und der Eigenjustiz vieler Verbände bei leichteren Delikten ein kräftiger Rückgang der Kriminalität ein, der auch sonst unter totalitären Herrschaftsordnungen beobachtet wird. Im Jahre 1951 beginnt die gerichtlich festgestellte Kriminalität auffallend niedrig, doch war das noch eine Folge des Straffreiheitsgesetzes von 1949. In den folgenden Jahren steigen die Zahlen ständig an, bis im Jahre 1957 ein neuer Höhepunkt erreicht wird, der sich schon wieder den Zahlen der Inflations jähre nähert. Der wachsende Anteil des neuen Faktors der Verkehrskriminalität macht sich hier bemerkbar. Der Anteil der Rückfallkriminalität steigt ebenfalls stark an und strebt wieder der 40%-Grenze zu. Nach 1957 zeigt die Verurteiltenziffer mit geringen Schwankungen zunächst eine leicht rückläufige Tendenz. Seit 1969 nehmen die Verurteiltenziffern wieder kontinuierlich zu und überschreiten im Jahre 1973 erstmals den Höchststand von 1957, halten sich aber seit 1973 etwa auf gleicher Höhe und ergeben 1991 sogar einen leichten Rückgang. Die Polizeistatistik weist dagegen schon seit 1963 eine ständig steigende Kurve auf (vgl. unten Tabelle IV): von 1678840 bekannt gewordenen Straftaten im Jahre 1963 (Häufigkeitsziffer 2914) über 2741728 bekannt gewordene Straftaten (Häufigkeitsziffer 4419) im Jahre 1974 bis hin zu 4367124 bekannt gewordenen Straftaten (Häufigkeitsziffer 7154) im Jahre 1986. Die Zahlen der Polizeistatistik zeigen für 1993 erneut eine erhebliche Steigerung (vgl. unten IV): für die „alte" Bundesrepublik 5347780 bekannt gewordene Straftaten (Häufigkeitsziffer 8032), für die gesamte Bundesrepublik 6750613 (Häufigkeitsziffer 8337). Daß die Verurteiltenziffer nicht entsprechend ansteigt und 1991 sogar einen leichten Rückgang aufweist, ist u.a. eine Folge der Einstellungspraxis nach §§ 153, 153 a StPO (vgl. unten § 5 V 3). Es handelt sich dabei um Straftaten, die von der Staatsanwaltschaft oder dem Gericht festgestellt wurden und zur Verurteilung geführt hätten, wenn das Verfahren nicht vorher eingestellt worden wäre. Im Gebiet der ehemaligen D D R hat die Kriminalität in weit stärkerem Umfang zugenommen und bewegt sich auf eine Angleichung mit den Altbundesländern zu 7 . Die Kriminalitätsbelastung ist in den neuen Bundesländern nur noch geringfügig niedriger als im Altbundesgebiet. Der starke Anstieg hängt zusammen mit der raschen Umwandlung der Gesellschaft, mit der hohen Arbeitslosigkeit, mit der vor 7

Vgl. Kaiser, ZStW 106 (1994) S. 497 ff.

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§ 5 K r i m i n a l i t ä t u n d Strafrechtsanwendung i m Spiegel der Statistik

allem für die Jugend ungewohnten Freiheit und der organisierten Kriminalität im Grenzgebiet nach Osten und Süden. Die Entwicklung hat nicht überrascht, sondern entspricht den Erwartungen. Es wäre verlockend, durch eine vergleichende Kriminalstatistik die Größenordnung und Bewegung der Kriminalität in verschiedenen Ländern zueinander in Beziehung zu setzen. Doch sind die technischen Schwierigkeiten zur Zeit noch unüberwindlich und die Fehlerquellen zu groß. Lehrreich sind indessen Berichte über die Entwicklung der Kriminalität in einzelnen ausländischen Staaten; sie zeigen im westlichen Ausland - abgesehen von Japan8 - ein den deutschen Erfahrungen nicht unähnliches Bild 9 , das durch die Steigerung der allgemeinen Kriminalität bestimmt wird, wobei die Bundesrepublik Deutschland im oberen Feld liegt 10 .

III. Die Entwicklung der gerichtlich festgestellten Jugendkriminalität im Deutschen Reich und in der Bundesrepublik Deutschland von 1882 bis 1991 sowie der Kriminalität der Heranwachsenden von 1954 bis 1991

Jahr

Verurteilte

1882 1885 1900 1910 1923 1928 1931 1933 1936 1951 1954 1956

30 719 30 675 48 657 51 315 86 040 27 104 22 844 15 985 14 339 30 495 29 219 37 183

1954 1964 1974 1976 1978

58 854 67 666 86 695 91 769 98 374

Jugendliche (14 -17J.) VerurteiltenJahr ziffer 568 559 745 668 1 082 536 561 553 359 1 015 842 1 015

1962 1966 1968 1970 1972 1974 1976 1978 1980 1982 1983 1985 1991

Verurteilte 42 900 44 689 49 855 55 657 59 726 60 396 64 511 76 177 80 424 87 476 83 493 62 645 32 282

Verurteiltenziffer 1 584 1 422 1 588 1 741 1 777 1 677 1 691 1 892 1 917 2 086 2 025 1 687 1 278

Heranwachsende (18 - 20 J.) 2 3 3 3 3

623 108 426 529 562

1980 1982 1983 1985 1991

98 845 106 820 107 021 90 667 64 344

3 3 3 2 2

323 390 337 826 614

8 Miyazawa , Würtenberger-Festschrift S. 299ff.; derselbe , Jescheck-Festschrift Bd. I I S. 1159ff.; Kühne / Miyazawa, Kriminalität und Kriminalitätsbekämpfung in Japan, 1979. 9 Vgl. allgemein zur Bundesrepublik Kaiser , Kriminologie § 42 Rdn. 47 ff.; H.-J. Albrecht , BewH 1984, Iff.; für Osterreich: Csdszdr , Kriminalität in Osterreich S. 41 f. sowie Sicherheitsbericht 1983, S. 3, der seit 1975 ein gleichmäßig leichtes Ansteigen der Kriminalität anzeigt; für die Schweiz: Schultz , Rev sc crim 1965, 385 und die alljährliche Besprechung zu Eidgenöss. Statist. Amt „Die Strafurteile in der Schweiz" 1982 - 1984, SchwZStr 103 (1986) S. 122, 443, 444; J. Frey , Die Kriminalität in Zeiten des Wohlstandes, 1968; für England: McClintock/Avison, Crime in England, S. 16 ff.; für die USA: US Department of Justice (Hrsg.), Crime in the United States, 1984, S. 43, wo von 1980 bis 1984 wiederum ein Rückgang der Verurteiltenziffer um insgesamt 15 % verzeichnet wird. Einen Vergleich der Kriminalität in den zehn Ländern mit der geringsten Kriminalitätsrate hat Adler , Nations not Obsessed with Crime, 1983 unternommen, wobei sie vornehmlich auf traditionelle Bindungen und wirtschaftlich-kulturelle Faktoren abstellte. Zur Problematik eines internationalen Vergleichs Collmann, Internationale Kriminalstatistik S. 82ff.; Dörmann , Kriminalistik 38 (1984) S. 414ff. 10 Vgl. Kaiser , Kriminologie § 42 Rdn. 83, 92.

I I I . D i e E n t w i c k l u n g der gerichtlich festgestellten Jugendkriminalität v o n 1882 - 1991

33

Die Jugendkriminalität setzt vor der Jahrhundertwende verhältnismäßig niedrig ein, steigt dann aber parallel zur Erwachsenenkriminalität stark an und sinkt danach ebenfalls bis zum ersten Weltkrieg wieder ab. Die Erklärung dürfte auch hier in der zuerst schwierigen, allmählich aber besser gelingenden Anpassung an die Lebensbedingungen der Industriegesellschaft liegen. Die (hier nicht aufgeführte) höchste Ziffer von 1919 als unmittelbare Auswirkung des Krieges wurde auf dem Höhepunkt der Inflation nochmals fast erreicht. Das JGG von 1923 und die Normalisierung der Lebensverhältnisse lassen die Kriminalitätskurve dann stark abfallen. Unter dem Nationalsozialismus sinkt die Jugendkriminalität im Verhältnis noch stärker als die Kriminalität der Erwachsenen, was der umfassenden Organisierung und Disziplinierung der Jugend in Verbänden und der starken Eigenjustiz dieser Gruppen zuzuschreiben ist. Im Verhältnis zu den früheren Jahren zeigt die Jugendkriminalität nach dem zweiten Weltkrieg auffallend hohe und ständig steigende Ziffern. Sie setzt schon im Jahre 1951 mit einer Größe ein, die fast derjenigen des Höchststandes der Inflationszeit entspricht. Nach einer geringfügigen Abschwächung im Jahre 1954 steigen die Zahlen laufend an und erreichen im Jahre 1962 mit einer Verurteiltenziffer von 1584 einen ersten Höchststand, der um fast 50% höher liegt als die höchste Zahl der Inflationszeit, obwohl das JGG von 1953 das Jugendstrafrecht inzwischen weiter verbessert hat. Im Jahre 1972 erreicht die Verurteiltenziffer schon 1777, im Jahre 1979 die Ziffer 1887, im Jahre 1983 2025, was jedoch erstmals einen Rückgang gegenüber dem Vorjahr bedeutet. Im Jahre 1991 ist die Abnahme der Verurteiltenziffer besonders groß; da aber nichts dafür spricht, daß die Jugendkriminalität tatsächlich zurückgegangen ist, kann die starke Verminderung der Verurteiltenziffer nur auf die erhebliche Zunahme der Fälle des Absehens von der Verfolgung durch den Staatsanwalt (§ 45 JGG) und der Einstellung des Verfahrens durch den Richter (§ 47 JGG) zurückgeführt werden. Das Bild der Jugendkriminalität ist deshalb besonders ungünstig, weil auch bei Abzug der Verkehrsdelikte die im allgemeinen steigende Tendenz bestehen bleibt. Im Verhältnis zu 1882 liegt die Jugendkriminalität heute fast viermal so hoch wie damals, während die Erwachsenenkriminalität nicht wesentlich höher ist als vor dem ersten Weltkrieg. Die höchste Kriminalitätsbelastungsziffer aller Altersklassen weisen die Heranwachsenden auf, deren Verurteiltenziffer im Jahre 1991 mit 2614 gut doppelt so hoch ist wie die der Erwachsenen, doch ist seit 1985 ein leichter Rückgang der Verurteiltenziffer eingetreten. Diese Entwicklung hat sich 1991 erheblich verstärkt, was aber ebenso wie bei den Jugendlichen auf die Zunahme der Anwendung der Einstellungsmöglichkeiten nach §§ 45, 47 JGG durch den Richter gemäß § 109 I I JGG zurückzuführen ist. Der Anstieg der Jugendkriminalität und der Kriminalität der Heranwachsenden, der durch alarmierende Zahlen aus dem Ausland 11 unterstrichen wird, hat zunehmende Besorgnis ausgelöst12. Selbst wenn zur Zeit nur eine Ablaufsverschiebung der Kriminalität von den älteren auf die jüngeren Jahrgänge, jedoch keine Vergrößerung des Gesamtvolumens stattfinden sollte 13 , so ist doch seit 1966 eine beträchtliche Zunahme der Jugendkriminalität und der Kriminalität der Heranwachsenden zu verzeichnen, die allerdings in der Verurteiltenstatistik infolge der bedeutend verstärkten Anwendung der Einstellungsmöglichkeiten nicht zum Ausdruck kommt. In einer Verlagerung der Kriminalität auf die jüngeren Jahrgänge liegt auf lange Sicht auch die Gefahr des Anwachsens der Gesamtkriminalität, da die Wahrscheinlichkeit des Rückfalls nach 11

Champion, The Juvenile Justice System S. 53, 58f.; Kaiser, Jugendkriminalität S. 80ff. Kaiser, Jugendkriminalität S. 74ff.; Schaffstein/Beulke, Jugendstrafrecht S. 9ff. 13 So Hilde Kaufmann, Jugendkriminalität S. 34. Gegen ihre These Kaiser, Jugendkriminalität S. 83 ff. 12

3 Jescheck, 5. A .

34

§ 5 K r i m i n a l i t ä t u n d Strafrechtsanwendung i m Spiegel der Statistik

kriminologischer Erfahrung um so größer ist, in je jüngerem Alter die erste Verurteilung eintritt 14 . Die kriminologische Erfahrung lehrt freilich auch, daß relativ wenige straffällige Jugendliche und Heranwachsende später zu „Karrieretätern" werden, aber diese Möglichkeit ist quantitativ um so größer, je mehr junge Menschen frühzeitig mit ernsteren Straftaten beginnen. Ein Faktor besonderer krimineller Gefährdung der jungen Menschen ist die hohe Jugendarbeitslosigkeit, vor allem im unmittelbaren Anschluß an eine oftmals sogar gute Berufsausbildung, weil dadurch die Aussichtslosigkeit eigenen Bemühens augenfällig wird. Die wirksame Bekämpfung der Jugendkriminalität hängt entscheidend davon ab, ob es gelingen wird, diese schwerwiegende Belastung für die positive Entwicklung der jungen Menschen abzubauen.

IV. Bekanntgewordene und aufgeklärte Straftaten Jahr 1963 1965 1967 1969 1970 1973 1974 1976 1978 1980 1982 1983 1984 1986 1993 („alte" B.rep.) 1993 (ganze B.rep.)

Bekanntgewordene Straftaten

HäufigkeitsZiffer

Aufgeklärte Straftaten

Aufklärungsquote

1 678 840 1 789 319 2 074 322 2 217 966 2 413 586 2 559 974 2 741 728 3 063 271 3 380 516 3 815 774 4 291 975 4 345 107 4 132 783 4 367 124 5 347 780 6 750 613

2 914 3 031 3 465 3 645 3 924 4 131 4 419 4 980 5 514 6 198 6 963 7 074 6 755 7 154 8 032 8 337

932 307 951 115 1 082 009 1 136 417 1 166 933 1 201 861 1 250 970 1 404 889 1 509 120 1 714 715 1 956 332 1 958 677 1 931 022 1 998 007 2 486 090 2 957 135

55,5% 53,1 % 52,2% 51,2% 48,3% 46,9% 45,6% 45,9% 44,6% 44,7% 45,6% 45,1 % 46,7% 45,8% 46,5% 43,8%

Die hohe und laufend ansteigende Zahl der bekanntgewordenen Straftaten wird hauptsächlich durch den Diebstahl verursacht, der 1993 als schwerer Diebstahl mit 37,7%, als einfacher Diebstahl mit 23,8% am Gesamtvolumen beteiligt war, während der Anteil der Gewaltkriminalität (vorsätzliche Tötung, Vergewaltigung, Raub) nur 1,1% betrug. Die Tatermittlungsstatistik zeigt, daß die Aufklärungsquote von 1963 bis 1978 laufend zurückgegangen ist, doch ist seither wieder eine Verbesserung eingetreten, wenn man von der Zahl für die gesamte Bundesrepublik im Jahre 1993 absieht, die aber dadurch zu erklären ist, daß der Aufbau der Polizei in den neuen Bundesländern noch nicht abgeschlossen ist. Freilich ist die Aufklärungsquote bei den einzelnen Straftaten ganz unterschiedlich hoch; so im Jahre 1993 bei Mord und Totschlag 84,7% (erheblich zurückgegangen); bei Vergewaltigung 68,8%, bei vorsätzlicher Brandstiftung 35,8%, bei Diebstahl unter erschwerenden Umständen aber nur 12,2%, was den niedrigsten Stand seit Beginn der statistischen Erfassung darstellt. 14 Auf den ähnlichen Verlauf in Frankreich, Großbritannien und Österreich weist Kaiser , Kriminologie § 58 Rdn. 19 hin.

V . V e r w e n d u n g der Strafen u n d Maßregeln

35

V . Verwendung der Strafen und Maßregeln 1. Wegen Verbrechen und Vergehen erkannte Strafen (nach allgemeinem Strafrecht Verurteilte)

Jahr

Verurteilte insgesamt

1967 1968 1969 1970 1973 1974 1976 1978 1980 1982 1983 1985 1991

558 384 572 629 530 947 553 692 601 419 599 368 592 154 614 252 599 832 622 434 636 105 600 798 622 390

Zuchthaus

3 290 3 209 2 557 15 -

Gefängnis (ab 1970 Freiheitsstrafe)

209 037 207 645 155 741 88 248 96 589 104 726 98 233 105 506 104 850 115 726 118 638 111 876 100 766

davon lebenslang

davon bis einschl. 3 Monate ab 1970 bis einschl. 6 Monate

aussetzung zur Bewährung

in v.H.

55 69 59 70 47 85 71 52 54 70 68 86 56

161 055 158 633 109 122 55 844 55 229 59 460 59 058 64 548 63 839 68 385 69 094 64 557 58 157

70 975 75 036 73 566 46 972 57 842 63 863 61 801 67 889 68 878 75 182 77 391 74 147 68 407

33,89 36,15 47,20 53,20 59,80 61,00 62,91 64,35 65,69 64,97 65,23 66,28 67,90

Jahr

Strafarrest

1970 1973 1974 1976 1978 1980 1982 1983 1985 1991

626 495 376 1 360 1 119 868 791 575 508 333

davon Straf-

davon Strafaussetzung zur Bewährung

_ -

1 095 912 743 662 435 429 295

Jahr

Geldstrafe (allein)

Fahrverbot

1967 1968 1969 1970 1973 1974 1976 1978 1980 1982 1983 1985 1991

345 065 361 074 371 918 464 118 504 335 494 266 492 561 507 627 494 114 505 917 516 892 488 414 521 291

10 404 10 266 10 074 10 587 12 317 16 743 21 660 26 477 32 201 37 468 38 702 36 928 32 191

15

3*

Zum Rückgang der Zuchthausstrafe seit 1882 Exner, Strafzumessungspraxis S. 19.

36

§ 5 K r i m i n a l i t ä t u n d Strafrechtsanwendung i m Spiegel der Statistik

Die im Jahre 1969 eingeführte Einheitsfreiheitsstrafe hat zusammen mit der Einschränkung der kurzen Freiheitsstrafe durch § 47 einen Rückgang der Verurteilungen zu Freiheitsstrafe zwischen 1968 und 1989 von 37% auf etwa 17% aller Verurteilungen und eine entsprechende Steigerung der Geldstrafe gebracht 16. Zugleich ist der Anteil der vollstreckten Freiheitsstrafen durch den Anstieg der Strafaussetzung zur Bewährung von 33% auf über 67% aller Freiheitsstrafen von 24% auf 7% aller Verurteilungen zurückgegangen. Der Rückgang der Freiheitsstrafe hat sich jedoch auf die kurze Freiheitsstrafe beschränkt, während die mittel- und langfristigen Freiheitsstrafen sogar leicht zugenommen haben, was 1986 einen Anstieg der Gefangenenzahl auf nahezu den Stand der Zeit vor der Reform von 1969 zur Folge gehabt hat (vgl. unten § 5 VI). 1991 ist die Zahl aber wieder deutlich zurückgegangen. Trotz § 47 sind noch immer mehr als 50000 Freiheitsstrafen solche von weniger als sechs Monaten, die aber zu 80% zur Bewährung ausgesetzt werden 17 . Der Straf arrest als kurze Freiheitsstrafe für Soldaten ist auf die Hälfte zurückgegangen und wird zu fast neun Zehnteln zur Bewährung ausgesetzt. Die Höhe der Geldstrafe 18 beträgt in 64,5% der Fälle bis zu 30 Tagessätze, in 33% der Fälle zwischen 30 und 90, in 2,3% der Fälle zwischen 91 und 180, in 0,2% der Fälle zwischen 181 und 360 Tagessätze. Höhere Geldstrafen sind also sehr selten, so daß die Geldstrafe in den Bereich der Freiheitsstrafe von drei bis zu sechs Monaten kaum, in den Bereich von sechs Monaten bis zu einem Jahr so gut wie überhaupt nicht eingedrungen ist, obwohl bis zu 360 Tagessätze vorgesehen sind. Der Anteil der vollstreckten Ersatzfreiheitsstrafen, der 1971 nur 3,8% betrug, ist im Jahre 1990 hauptsächlich wegen der Zunahme der Arbeitslosigkeit auf etwa 6% angestiegen, so daß zur Zeit jährlich fast 30000 Geldstrafenschuldner nach § 43 eine Ersatzfreiheitsstrafe verbüßen müssen. Die Abwendung der Vollstreckung der Ersatzfreiheitsstrafe durch Leistung freier Arbeit ist zwar in allen Bundesländern möglich (Art. 293 EGStGB), sie wird jedoch von den Verurteilten nur in 7,7 bis 20,1 % der Fälle beantragt und nur in 44,2 bis 64,8% der zur Durchführung gelangenden Fälle vollständig erledigt 19 . Erhebliche und ständig wachsende Bedeutung hat die Nebenstrafe des Fahrverbots (§ 44), doch lag der Anteil der Entziehung der Fahrerlaubnis (vgl. unten Tabelle V 2) im Jahre 1985 noch immer fast fünfmal höher. Im (alten) Bundesgebiet gab es am 31.12.1991 insgesamt 2129 hauptamtliche Bewährungshelfer, die 130750 Bewährungsaufsichten durchzuführen hatten, so daß auf einen Bewährungshelfer rund 61 Fälle entfielen. Bei den insgesamt 41880 Bewährungsaufsichten, die im Jahre 1991 endeten, war der Grund in 30210 Fällen Bewährung, in 11670 Fällen Widerruf. Die Bewährungshilfe hatte also in 72,13% der Fälle Erfolg, während die Widerrufsquote 27,86% betrug. Dies stellt einen beachtlichen Erfolg dar, wenn man bedenkt, daß die Rückfallquote bei entlassenen Strafgefangenen zwischen 60 % und 80 % angenommen wird. 16 Vgl. zum folgenden Heinz, MSchrKrim 64 (1981) S. 148 ff.; derselbe , ZStW 94 (1982) S. 632 ff.; derselbe , BewH 1984, 17ff. sowie derselbe , The Problems of Imprisonment S. 196ff. 17 Nach den Vorschlägen des AE, die Roxin , JA 1980, 549 weiterhin empfiehlt, würde die Freiheitsstrafe unter sechs Monaten ganz abgeschafft werden, was den Wegfall von etwa 10000 vollstreckten Freiheitsstrafen zur Folge haben würde, während gleichwohl noch etwa 40000 Fälle von Kurzstrafen-Vollzug bestehen blieben (Ersatzfreiheitsstrafe, Widerruf von Aussetzung, Anrechnung von Untersuchungshaft); vgl. Kaiser , Kriminologie § 116 Rdn. 16, Tabelle 41. 18 Vgl. Kaiser, Kriminologie § 116 Rdn. 40 Tabelle 46.

19

So Schöch, Gutachten C für den 59. DJT 1992, S. C 86.

V . V e r w e n d u n g der Strafen u n d Maßregeln

37

2. Abgeurteilte nach Maßregeln der Besserung und Sicherung Jahr

psych. Krankenhaus

Entziehungsanstalt

Arbeitshaus

Sicherungsverwahrung

1967 1968 1969 1970 1973 1974 1976 1978 1980 1982 1983 1985 1991

342 383 346 306 392 399 410 377 366 408 420 425 474

291 242 196 172 162 183 404 483 585 519 521 526 724

98 80 33

239 268 219 110 84 69 60 35 41 38 27 39 38

-

Untersagung Entziehung der Berufsder Fahrausübung erlaubnis 168 158 146 90 92 97 82 59 63 82 93 66 75

113 369 115 895 118 714 136 832 168 509 159 700 172 195 191 921 194 979 182 991 191 137 172 520 180 242

Bei den Maßregeln der Besserung und Sicherung dominiert die Entziehung der Fahrerlaubnis. Sie wurde 1954 in 11025 Fällen, 1991 in 180242 Fällen angeordnet, sie hat sich also in 37 Jahren um das Sechzehnfache erhöht. Hinzuzurechnen im Sinne des Schutzes des Straßenverkehrs ist noch das Fahrverbot, das sich seit 1967 mehr als verdreifacht hat (vgl. oben Tabelle V I ) . Erhebliche praktische Bedeutung hat unvermindert die Unterbringung im psychiatrischen Krankenhaus. Stark zugenommen hat die Unterbringung in einer Entziehungsanstalt durch die Einweisung von Drogenabhängigen. Ein Rückgang wird wahrscheinlich durch die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 16.3.1994 (BGBl. I S. 3012) eintreten, die für die Unterbringung eine hinreichend konkrete Aussicht eines Behandlungserfolges verlangt. Von der Untersagung der Berufsausübung wird nur sparsam Gebrauch gemacht. Die Sicherungsverwahrung ist so weit zurückgegangen, daß sie als Maßregel der Sicherung gegenüber besonders gefährlichen Tätern fast keine Rolle mehr spielt (zur Führungsaufsicht vgl. unten § 78 I 6) 2 0 . 3. Eine im Jahre 1974 neu geschaffene informelle Sanktionsmöglichkeit von größter praktischer Bedeutung ist die bedingte Einstellung des Strafverfahrens durch Staatsanwaltschaft oder Gericht unter einer Auflage, die in 98% der Fälle in der freiwilligen Zahlung eines Geldbetrags an eine gemeinnützige Einrichtung oder an die Staatskasse besteht (§ 153 a StPO); vorgesehen sind als Auflagen ferner Wiedergutmachung und gemeinnützige Leistungen (vgl. unten § 8 V I 1). Im Jahre 1985 dürfte sich die Gesamtzahl der Einstellungen unter Auflagen (§ 153 a StPO) auf 208000 belaufen haben, während die Gesamtzahl der Verurteilten nach allgemeinem Strafrecht 719924 betrug 21 . Das Ansteigen des Geschäftsanfalls durch die Zunahme der bekanntgewordenen Straftaten wurde auf diesem Wege teilweise aufgefangen 22. Da das Verfahren nach § 153 a StPO die Zustimmung des Beschuldigten voraussetzt, kommt es hierbei in der Regel zu einer Absprache zwischen dem Staatsanwalt und dem Beschuldigten oder seinem Verteidiger. 20 Nach Kaiser, Pallin-Festschrift S. 203 erreichen die Maßregeln mit Freiheitsentzug in Deutschland, Österreich und der Schweiz nur weniger als 1 % aller gerichtlichen Kriminalsanktionen nach allgemeinem Strafrecht. 21 Vgl. Kaiser, Kriminologie § 115 Rdn. 35 Tabelle 38. Zur laufenden Zunahme seit 1977 Rieß, ZRP 1983, 93 und 1985, 212. 22 Heinz, BewH 1984, 16, 26.

38

§ 5 K r i m i n a l i t ä t u n d Strafrechtsanwendung i m Spiegel der Statistik

cd

S

-d

• C

Σ? so daß die Tat nicht voll, sondern nur teilweise gedeckt ist. A u c h hier ist der Grad der Rechtswidrigkeit geringer einzuschätzen, als w e n n nicht einmal der Rechtfertigungsgrund als solcher vorgelegen hätte. Beispiele: Der Angegriffene geht in Notwehr über das Maß der erforderlichen Verteidigung hinaus (§ 32 II). Der Vater überschreitet die Grenzen des an sich gegebenen Züchtigungsrechts, indem er dem Kind eine leichte Verletzung zufügt. 2. N a c h deutschem Recht ist i n allen Fällen gemilderten Unrechts wegen nur teilweise gegebener Rechtfertigung lediglich eine Strafmilderung i m Bereich des gewöhnlichen Strafrahmens möglich. Gerechter erscheint es, wie i m schweizerischen Recht bei der N o t w e h r ( A r t . 33 I I 1 Schweiz. StGB), dem Richter die Befugnis einzuräumen, die Strafe ohne Bindung an Strafart u n d Strafrahmen des anzuwendenden Tatbestandes zu m i l d e r n 4 7 . § 32 D i e N o t w e h r Amelung, Das Problem der heimlichen Notwehr usw, GA 1982, 381; derselbe, Die Rechtfertigung von Polizeivollzugsbeamten, JuS 1986, 329; Arzt, Notwehr, Selbsthilfe, Bürgerwehr, Festschrift für F. Schaffstein, 1975, S. 77; Baumann, Notwehr im Straßenverkehr? NJW 1961, 1745; derselbe, Rechtsmißbrauch bei Notwehr, M D R 1962, 349; Baumgarten, Notstand und Notwehr, 1911; Bein, Zur Angemessenheit einer Notwehrhandlung, NJ 1973, 146; Bernsmann, Überlegungen zur tödlichen Notwehr usw, ZStW 104 (1992) S. 290; Bertel, Notwehr gegen verschuldete Angriffe, ZStW 84 (1972) S. 1; Beulke, Die fehlgeschlagene Notwehr zur Sachwertverteidigung, Jura 1988, 641; derselbe, Anmerkung zu B G H JR 1990, 378; Bitzilekis, Die neue Tendenz zur Einschränkung des Notwehrrechts, 1984; Bokkelmann, Menschenrechtskonvention und Notwehrrecht, Festschrift für K. Engisch, 1969, S. 456; derselbe, Notwehr gegen verschuldete Angriffe, Festschrift für R. Honig, 1970, S. 19; derselbe, Notrechtsbefugnisse der Polizei, Festschrift für E. Dreher, 1977, S. 235; Boldt, Staatsnotwehr und Staatsnotstand, ZStW 56 (1937) S. 183; Born, Die Rechtfertigung der Abwehr vorgetäuschter Angriffe, 1984; Busse, Nötigung im Straßenverkehr, 1968; Choi, Notwehr und „gesellschaftliche Sitten", 1988; Constantinidis, Die „actio illicita in causa", 1982; Courakis, Zur sozialethischen Begründung der Notwehr, 1978; Deubner, Anmerkung zu B G H vom 26.2.1969, NJW 1969, 1184; Dubs, Notwehr usw, SchwZStr 89 (1973) S. 337; Engels, Der partielle Ausschluß der Notwehr usw, G A 1982, 109; Felber, Die Rechtswidrigkeit des Angriffs usw, 1979; Fletcher, Notwehr als Verbrechen, 1993; Franke, Die Grenzen der Notwehr im französischen, schweizerischen und österreichischen Strafrecht, Diss. Frei46

Vgl. zum folgenden Noll, ZStW 68 (1956) S. 184 ff. So Kern, ZStW 64 (1952) S. 267. Vgl. ferner LK n (Hirsch) Vorbem. 67 vor § 32; Schönke/ Schröder/ Lenckner, Vorbem. 22 vor § 32. Zum schweizerischen Recht Trechsel, Art. 33 Rdn. 16. 47

Schrifttum z u § 32

335

burg 1976; Frister, Zur Einschränkung des Notwehrrechts usw, GA 1985, 553; derselbe, Die Notwehr im System der Notrechte, GA 1988, 291; Fuchs, Probleme der Notwehr, Strafr. Probleme 8, 1980, S. 1; Frowein/Peukert, EMRK-Kommentar, 1985; Gallas, Anmerkung zu O L G Stuttgart vom 21.4.1948, DRZ 1949, 43; derselbe, Zur Struktur des strafrechtlichen Unrechtsbegriffs, Festschrift für P. Bockelmann, 1979, S. 155; Geilen, Eingeschränkte Notwehr unter Ehegatten, JR 1976, 314; derselbe, Notwehr und Notwehrexzeß, Jura 1981, 200 m. Forts.; Grosso, Difesa legittima e stato di necessità, 1964; Günther, Strafrechtswidrigkeit und Strafunrechtsausschluß, 1983; Gutmann, Die Berufung auf das Notwehrrecht als Rechtsmißbrauch? NJW 1962, 286; Notwehr und Nothilfe, 1978; Hassemer, Die provozierte Provokation usw, Festschrift für P. Bockelmann, 1979, S. 225; Henkel, Recht und Individualität, 1958; derselbe, Zumutbarkeit und Unzumutbarkeit als regulatives Rechtsprinzip, Festschrift für E. Mezger, 1954, S. 249; Herrmann, Die Notwehr im amerikanischen Strafrecht, ZStW 93 (1981) S. 615; Himmelreich, Erforderlichkeit der Abwehrhandlung usw, GA 1966, 129; Hinz, Die fahrlässig provozierte Notwehrlage usw, JR 1993, 353; Hirsch, Die Notwehrvoraussetzung der Rechtswidrigkeit des Angriffs, Festschrift für E. Dreher, 1977, S. 211; Hoy er, Das Rechtsinstitut der Notwehr, JuS 1988, 89; Hruschka, Extrasystematische Rechtfertigungsgründe, Festschrift für E. Dreher, 1977, S. 189; E. Kaufmann, Notwehr, HRG, Bd. III, 1984, Sp. 1095; Kerll, Das englische Notwehrrecht, Diss. Freiburg 1977; Koch, Prinzipientheorie der Notwehreinschränkungen, ZStW 104 (1992) S. 785; Kratzsch, Grenzen der Strafbarkeit im Notwehrrecht, 1968; derselbe, § 53 StGB und der Grundsatz nullum crimen sine lege, G A 1971, 65; derselbe, Das (Rechts-)Gebot zu sozialer Rücksichtnahme usw, JuS 1975, 435; derselbe, Der „Angriff" - ein Schlüsselbegriff des Notwehrrechts, StV 1987, 224; Krause, Zur Problematik der Notwehr, Festschrift für H.-J. Bruns, 1978, S. 71; derselbe, Zur Einschränkung der Notwehrbefugnis, GA 1979, 329; derselbe, Notwehr bei Angriffen Schuldloser usw, Gedächtnisschrift für Hilde Kaufmann, 1986, S. 673; Krey, Zur Einschränkung des Notwehrrechts usw, JZ 1979, 702; Kühl, Die Beendigung des vorsätzlichen Begehungsdelikts, 1974; derselbe, „Sozialethische" Einschränkungen der Notwehr, Jura 1990, 244; derselbe, Die „Notwehrprovokation", Jura 1991, 57, 175; derselbe, Angriff und Verteidigung bei der Notwehr, Jura 1993, 57, 118, 233; derselbe, Notwehr und Nothilfe, JuS 1993, 177; Kunz, Die organisierte Nothilfe, ZStW 95 (1983) S. 973; derselbe, Die automatisierte Gegenwehr, GA 1984, 539; derselbe, Der Umfang der Notwehrbefugnis in vergleichender Betrachtung, Festgabe Schweiz. 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§ 32 D i e N o t w e h r

lungsunwerts usw, Festschrift für R. Maurach, 1972, S. 51; Schaff stein, Notwehr und Güterabwägungsprinzip, M D R 1952, 132; derselbe, Die strafrechtlichen Notrechte des Staates, Gedächtnisschrift für H. Schröder, 1978, S. 97; Schmidhäuser, Über die Wertstruktur der Notwehr, Festschrift für R. Honig, 1970, S. 185; derselbe, Die Begründung der Notwehr, GA 1991, 97; derselbe, Anmerkung zu BayObLG, JZ 1991, 937; Eb. Schmidt, Das Problem des übergesetzlichen Notstands, Mitt IKV, Bd. V, 1931, S. 131; R. Schmitt, Tonbänder im Strafprozeß usw, JuS 1967, 19; Schöneborn, Zum Leitgedanken der Rechtfertigungseinschränkung bei Notwehrprovokation, NStZ 1981, 201; Schröder, Anmerkung zu BGH, JR 1962, 187; derselbe, Notwehr bei schuldhaftem Vorverhalten usw, JuS 1973, 157; Schroeder, Die Notwehr als Indikator politischer Grundanschauungen, Festschrift für R. Maurach, 1972, S. 127; derselbe, Zur Strafbarkeit der Fluchthilfe usw, JZ 1974, 113; derselbe, Anmerkung zu L G München I, JZ 1988, 565; Schroth, Notwehr in engen persönlichen Beziehungen, NJW 1984, 2562; Schünemann, Der praktische Fall - Strafrecht: Liebhaber und Teilhaber, JuS 1979, 275; Schumann, Zum Notwehrrecht und seinen Schranken, JuS 1979, 559; Seebode, Gesetzliche Notwehr und staatliches Gewaltmonopol, Festschrift für F.-W. Krause, 1990, S. 375; Seelmann, Grenzen privater Nothilfe, ZStW 89 (1977) S. 36; derselbe, Polizeiliche Notwehr und Einheit der Rechtsordnung, Festschrift für U. Klug, Bd. II, 1983, S. 359; Seier, Umfang und Grenzen der Nothilfe im Strafrecht, NJW 1987, 2476; Spendel, Anmerkung zu BayObLG, JR 1991, 250; Suppert, Studien zur Notwehr und „notwehrähnlichen Lage", 1973; Wagner, Individualistische oder überindividualistische Notwehrbegründung, 1984; Warda, Die Eignung der Verteidigung als Rechtfertigungselement bei der Notwehr (SS 32 StGB, 227 BGB), Jura 1990, 344, 393; Woesner, Die Menschenrechtskonvention in der deutschen Strafrechtspraxis, NJW 1961, 1381.

I. Das Wesen der Notwehr 1. Grundgedanke der Notwehr ist der Satz: das Recht braucht dem Unrecht nicht zu weichen (RG 21, 168 [170]) 1 , mag dieses Prinzip auch zunehmend Einschränkungen aus dem Gedanken sozialer Rücksichtnahme erfahren haben. Wie löst sich aber der Widerspruch zwischen der Befugnis zur Selbstverteidigung und dem in der modernen Gesellschaftsordnung bestehenden Rechtsschutzmonopol des Staates ? Die Erlaubnis zur Verteidigung des Rechts gegen das Unrecht als Befugnis des einzelnen Bürgers kann auf zweierlei Weise begründet werden 2. Einmal läßt sich die Notwehr individualrechtlich verstehen als das jedermann von Natur aus zustehende Recht der Selbstbehauptung durch Verteidigung der eigenen Person gegen den rechtswidrigen Angriff eines anderen. In diesem Sinne betrachtete die Antike die Notwehr als ein Urrecht des Menschen, das keiner weiteren Begründung bedurfte: naturalis ratio permittit se defendere. Beschränkt auf den Schutz von Leib und Leben als höchsten individuellen Rechtsgütern findet sich dieser Gedanke auch im spätrömischen Recht: vim vi repellere licet (Dig. 43, 16, 1 § 27). Zum andern läßt sich die Notwehr aber auch sozialrechtlich verstehen. Danach ist es die Rechtsordnung, die dem Unrecht nicht zu weichen braucht. Die Selbstverteidigung des Angegriffenen stellt sich zugleich als Wahrung der allgemeinen Friedensordnung dar, wenn obrigkeitliche Hilfe nicht zur Stelle ist: deficiente magistratu populus est magistratus. In diesem Sinne war im germanischen Recht die Tötung des auf handhafter Tat ergriffenen Diebes erlaubt. 1 So die h.L.; vgl. Berner, Lehrbuch, 5. Auflage 1871, S. 144, auf den das Wort zurückgeht; Bockelmann/Volk, Allg. Teil S. 88; LK n (Spendel) % 32 Rdn. 13; Preisendanz, S 32 Anm. I; Schönke/Schröder/Lenckner, S 32 Rdn. 1 m.w.Nachw.; Wessels, Allg. Teil Rdn. 324. Daß mit diesem Satz das in einem „gegenwärtigen Angriff" bestehende Unrecht gemeint ist, betont mit Recht Hirsch, Dreher-Festschrift S. 223 Fußnote 43. 2 Vgl. zum folgenden H. Mayer, Lehrbuch S. 199ff.; v. Liszt/ Schmidt, S. 192; LK U (Spendel) % 32 Rdn. 11 ff.; Geilen, Jura 1981, 200; Lenckner, GA 1961, 309; Schröder, JuS 1973, 158; Stratenwerth, Allg. Teil I Rdn. 428. Zur geschichtlichen Entwicklung Schroeder, Maurach-Festschrift S. 128 ff.; Suppert, Studien S. 43 ff.; Haas, Notwehr und Nothilfe S. 19ff.; Krause, Bruns-Festschrift S. 71 ff.; Bitzilekis, Die neue Tendenz S. 24ff.; E. Kaufmann, H R G Bd. I I I Sp. 1095.

I. Das Wesen der N o t w e h r

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Beide Rechtsgedanken finden sich in der CCC noch unverbunden nebeneinander (Art. 139 und 150). Erst das Naturrecht des späten 18. Jahrhunderts hat ein allgemeines Notwehrrecht geschaffen, in dem der Gedanke der Selbstbehauptung des einzelnen gegenüber dem rechtswidrigen Angriff und die Vorstellung von der Verwirkung der durch den Staatsvertrag geschaffenen Friedensrechte des Angreifers verschmolzen waren.

2. Die Befugnis zum Selbstschutz und der Gedanke der Rechtsbewährung liegen beide auch der Ausgestaltung der Notwehr im geltenden Recht zugrunde, doch überwiegt immer noch die individualrechtliche Betrachtungsweise, wie das der liberalen Tradition des StGB entspricht 3. Die individualrechtliche Seite zeigt sich darin, daß Notwehr nur zum Schutz von Individualrechtsgütern geübt werden darf, dagegen nicht zum Schutz der öffentlichen Ordnung oder der Rechtsordnung selbst. Das Allgemeininteresse an der Wahrung der Rechtsordnung tritt also allein durch das Medium des Einzelrechtsschutzes in Erscheinung. Die individualrechtliche Auffassung der Notwehr macht es auch verständlich, daß das Wertverhältnis von geschütztem und verletztem Rechtsgut grundsätzlich keine Rolle spielt. Es kommt allein darauf an, was zur wirksamen Abwehr des rechtswidrigen Angriffs notwendig ist, nicht darauf, welche Einbußen der Angreifer dabei hinnehmen muß. Auch der Satz, daß dem Angegriffenen keine „schimpfliche Flucht", ja nicht einmal ein Ausweichen zugemutet wird (RG 16, 69 [72]), ist nur aus der individualrechtlichen Auffassung der Notwehr zu erklären. Die sozialrechtliche Seite zeigt sich dagegen in der unbeschränkten Zulassung der Nothilfe (freilich auch nur zum Schutz von Individualrechtsgütern) und in der Einschränkung der Notwehr beim Wegfall des Gesichtspunkts der Wahrung der Rechtsordnung sowie bei extremem Mißverhältnis der beteiligten Güter (vgl. unten § 32 III). Auch die Pflicht zu möglichst schonender Ausübung des Notwehrrechts gehört in diesen Zusammenhang. Obwohl das Allgemeininteresse an der Wahrung der Rechtsordnung bei der Notwehr mitspricht, hat diese nicht den Charakter einer Strafe für den Angreifer; daher ist die Notwehr auch nicht auf schuldhafte Angriffe beschränkt 4. 3. Die Notwehr ist ein Rechtfertigungsgrund. Wer sich gegen einen gegenwärtigen rechtswidrigen Angriff zur Wehr setzt, handelt rechtmäßig. In Übereinstim3

In der älteren Literatur stand der Selbstverteidigungsgedanke im Vordergrund; vgl. Binding , Handbuch S. 732; Baumgarten, Notstand und Notwehr S. 102; Oetker, Frank-Festgabe Bd. I S. 375. Zunehmend wird jedoch in Rechtsprechung und Schrifttum der Gedanke der Wahrung der Rechtsordnung gleichermaßen betont; vgl. B G H 24, 356 (359); B G H M D R 1972, 791; Dreh er/Tröndle, § 32 Rdn. 2; LK 11 (Spendel) § 32 Rdn. 13; Schönke/Schröder/ Lenckner, §32 Rdn. 1; H. Mayer, Lehrbuch S. 201 f.; SK (Samson) §32 Rdn. 1; Roxin, ZStW 75 (1963) S. 566; derselbe, Kriminalpolitik S. 26; derselbe, ZStW 93 (1981) S. 70ff.; derselbe, Allg. Teil I § 15 Rdn. Iff.; Kühl, JuS 1993, 178ff.; Eser/Burkhardt, Strafrecht I Nr. 10 A Rdn. 4. Allein auf die Wahrung der Rechtsordnung stellt Schmidhäuser, HonigFestschrift S. 193; GA 1991, 115 ff. und Allg. Teil S. 341 ab, was jedoch den Sinngehalt der Notwehr verfehlt. Zur Kritik vgl. Roxin, ZStW 83 (1971) S. 387; Hirsch, Dreher-Festschrift S. 218 ff. Allein auf das Individualschutzprinzip gründen die Notwehr Constantinidis, Die „actio illicita in causa" S. 103ff.; Frister, GA 1988, 299ff.; Hoyer, JuS 1988, 89; Mitsch, JA 1989, 84; Neumann, Zurechnung S. 162 ff.; derselbe, Notwehrrecht S. 219 ff.; Wagner, Notwehrbegründung S. 29ff, 56ff.; Fuchs, Probleme der Notwehr S. 41 f f , 67ff. 4 So aber Wegner, Strafrecht S. 123; H. Mayer, Grundriß S. 99. Die Schuldhaftigkeit des Angriffs wird auch ohne das Straf moment vielfach für die Notwehr vorausgesetzt: so Hruschka, Strafrecht S. 141 f.; Jakobs, Allg. Teil 12/18; Frister, GA 1988, 307; Bertel, ZStW 84 (1972) S. 1; Krause, GA 1979, 332f.; Otto, Würtenberger-Festschrift S. 140ff.; SK (Samson) § 32 Rdn. 15; Schmidhäuser, Honig-Festschrift S. 196f, GA 1991, 129 und Allg. Teil S. 348f. Dagegen die Rspr. und h.L.; vgl. RG 27, 44; B G H 3, 217; BayObLG NJW 1991, 2031; Roxin, Allg. Teil I § 15 Rdn. 10; Schönke/Schröder/Lenckner, § 32 Rdn. 24 m. weit. Nachw. 22 Jescheck, 5. A .

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§ 32 D i e N o t w e h r

mung mit § 227 I BGB ist das jetzt in § 32 I ausdrücklich gesagt. Das Erfordernis der „Gebotenheit" der Verteidigung wurde aus dem früheren Recht (§ 53 I a.F.) übernommen, weil man damit einen Anknüpfungspunkt für sozialethisch begründete Einschränkungen des Notwehrrechts schaffen wollte (vgl. unten § 32 I I I 2) 5 . II. Der Aufbau des Notwehrbegriffs Die klassische Definition der Notwehr lautet: „Notwehr ist die Verteidigung, welche erforderlich ist, um einen gegenwärtigen, rechtswidrigen Angriff von sich oder einem anderen abzuwenden" (§ 32 I I StGB; § 15 I I OWiG; § 227 I I BGB). 1. Die Notwehrlage wird demnach ausgelöst durch einen gegenwärtigen, rechtswidrigen Angriff gegen ein notwehrfähiges Rechtsgut. Diese Merkmalsgruppe ist deswegen zuerst zu erörtern. a) Angriff ist jede von einem Menschen6 ausgehende Verletzung oder Gefährdung eines durch die Rechtsordnung geschützten Interesses des Täters oder eines anderen 7. Obwohl der natürliche Sprachgebrauch unter einem Angriff ein vorsätzliches und aktives Verhalten versteht, ist rechtlich weder das eine noch das andere erforderlich. Der „Angriff" braucht weder absichtlich noch auch nur bedingt vorsätzlich geführt zu werden, vielmehr genügt schon ein fahrlässiges oder sogar ein gänzlich schuldloses und objektiv nicht einmal pflichtwidriges Verhalten, wenn es sich nur als eine drohende Verletzung eines rechtlich geschützten Interesses darstellt 8 . Das Verhalten des Angreifers muß jedoch wenigstens Handlungsqualität besitzen (vgl. oben § 23 VI). Beispiele: Wer als Kutscher bei der Milchablieferung aus Fahrlässigkeit andere Fahrzeuge gefährdet, muß es sich gefallen lassen, daß eine für den Betrieb der Molkerei verantwortliche Person in die Führung seines Gespanns eingreift ( O G H 1, 273 [274]). Notwehr ist auch gegenüber Geisteskranken, Kindern und Irrenden grundsätzlich nicht unzulässig (BGH 6, 263 [272]; BayObLG NJW 1991, 2031 m.Anm. Mitsch, JuS 1992, 289). Dagegen ist gegenüber den üblichen Behinderungen und Belästigungen im Straßenverkehr Notwehr ausgeschlossen, weil diese Zustände mit den obwaltenden Verhältnissen unaufhebbar verbunden sind und deshalb gar kein Angriff gegeben ist ( O L G Düsseldorf NJW 1961, 1783; im Ergebnis zustimmend Baumann, NJW 1961, 1745). Ein Angriff liegt erst vor, wenn verwerflicher Zwang i.S. von § 240 I I ausgeübt wird 9 . 5

Vgl. dazu BT-Drucksache V/4095 S. 14; Schönke/Schröder/Lenckner, § 32 Rdn. 44. Tierangriffe sind nach § 228 BGB zu beurteilen. So RG 34, 295 (297) und die h.L.; vgl. Dreher/Tröndle, § 32 Rdn. 5; Maurach/Zipf, Allg. Teil I § 26 Rdn. 8. Anders LK n (Spendel) § 32 Rdn. 44 m.d.ält. Lehre. Ein Angriff im Sinne des § 32 ist es jedoch, wenn ein Mensch ein Tier auf einen anderen Menschen hetzt. 7 Mit Recht betont Schmidhäuser, Allg. Teil S. 346, daß als Angriff nur ein konkret gefährliches Verhalten in Betracht komme, nicht ein untauglicher Versuch. In diesem Falle fehlt es am Selbstschutzinteresse. 8 So Baumann/Weher, Allg. Teil S. 295f.; Geilen, Jura 1981, 256; Dreher/Tröndle, § 32 Rdn. 11; LK U (Spendel) § 32 Rdn. 63; Welzel, Lehrbuch S. 85 f.; Wessels, Allg. Teil Rdn. 325. § 32 Rdn. 21; Roxin, Jescheck-Festschrift Dagegen verlangen Schönke/Schröder/Lenckner, Bd. I S. 473 f.; derselbe, Allg. Teil I § 15 Rdn. 15; Hirsch, Dreher-Festschrift S. 224 ff.; Kühl, Jura 1993, 64; Felber, Rechtswidrigkeit des Angriffs S. 138 ff.; Schaffstein, M D R 1952, 132; Schumann, JuS 1979, 560 ein objektiv „wenigstens sorgfaltswidriges" Verhalten des Angreifers; hiergegen spricht entscheidend, daß dadurch die Situation für den Angegriffenen unübersichtlich wird. Noch mehr gilt dies gegenüber Hruschka, Dreher-Festschrift S. 202, der das „Bewußtsein der Regelwidrigkeit", und Jakobs, Allg. Teil 12/18; Ludwig, „Gegenwärtiger Angriff" S. 110f.; Hoyer, JuS 1988, 89, die eine Schuld beim Angreifer fordern. 9 Vgl. dazu näher Schönke/Schröder/Lenckner, § 32 Rdn. 9 m. zahlr. Nachw. 6

I I . D e r A u f b a u des Notwehrbegriffs

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A u c h ein aktives Verhalten ist für den Begriff des Angriffs nicht unbedingt erforderlich. D o c h sind die Fälle, i n denen schon das bloße Untätigbleiben als A n g r i f f angesehen werden darf, nicht leicht allgemein zu umschreiben. E i n Unterlassen ist jedenfalls dann als A n g r i f f zu betrachten, w e n n eine straf- oder ordnungsrechtlich (a.A. O L G Stuttgart N J W 1966, 745 [748]) sanktionierte Pflicht z u m Tätigwerden besteht wie bei den echten Unterlassungsdelikten und i n den Fällen einer Garantenpflicht zur Erfolgsabwendung 1 0 . Beispiele: Ein Kraftfahrer ist grundsätzlich zur Notwehr berechtigt, wenn er auf einer im Gemeingebrauch stehenden Straße am Einfahren in eine Parklücke dadurch gehindert wird, daß sich jemand dort aufgestellt hat, um den Platz für ein noch nicht eingetroffenes Kraftfahrzeug freizuhalten (§ 1 I I StVO) (BayObLG NJW 1963, 824; vgl. auch O L G Hamburg NJW 1968, 662) 11 . Ein Angriff auf das Hausrecht ist auch ein Hausfriedensbruch durch unbefugtes Verweilen (§ 123 zweite Alternative) (RG 72, 57 [58]), ein Angriff auf die Freiheit die Nichtfreilassung eines Gefangenen nach Ablauf der Strafzeit. Dagegen ist die Unterlassung der Räumung einer Wohnung nach Ablauf des Mietvertrags kein Angriff, weil der Mieter immerhin Besitzer der Mietsache bleibt (RG 19, 298). A n einem A n g r i f f fehlt es, wenn zwei Kampfhähne, u m ihre Kräfte zu messen, aufeinander einschlagen, solange nicht einer der Gegner ersichtlich v o m Kampfe abläßt oder abredewidrig gefährliche Waffen verwendet ( R G 72, 183; B G H G A 1960, 213; N S t Z 1990, 435). b) Notwehrfähig ist jedes rechtlich geschützte Interesse des Angegriffenen, nicht nur Leib u n d Leben (nach B V e r f G E 88, 203 [279] ist jedoch beim an sich rechtswidrigen Schwangerschaftsabbruch nach Beratung N o t h i l f e für das ungeborene Leben ausgeschlossen), sondern auch Freiheit u n d Ehre ( R G 21, 168 [170], letztere auch gegenüber einem militärischen Vorgesetzten, R G 69, 265 [268]), Eigentum und Besitz (selbst der unrechtmäßige, R G 60, 273 [278]), das Jagdrecht ( R G 55, 167), das Recht am eigenen B i l d ( O L G H a m b u r g M D R 1972, 622; O L G Karlsruhe N S t Z 1982, 123), das Hausrecht ( B G H G A 1956, 49; B G H StV 1982, 219), das Vermögen, familienrechtliche Verhältnisse ( R G 48, 2 1 5 ) 1 2 , die Befugnis zur Ausübung des Gemeingebrauchs ( B a y O b L G N J W 1963, 824), endlich sogar die Intimsphäre 1 3 . Beispiel: Das zudringliche Beobachten eines Liebespaars kann als Verletzung der Intimsphäre ein rechtswidriger Angriff sein, aber nicht, wenn es sich um einen öffentlichen Park handelt, da dort niemand Anspruch auf einen geschützten Intimbereich hat (BayObLG NJW 1962, 1782). 10

Übereinstimmend Maurach/Zipf Allg. Teil I § 26 Rdn. 9; Lackner § 32 Rdn. 2; (Spendel) § 32 Geilen, Jura 1981, 204; Feiher, Rechtswidrigkeit des Angriffs S. 195f.; LK Rdn. 46ff.; Welzel, Lehrbuch S. 84; Wessels, Allg. Teil Rdn. 326; Kühl, Jura 1993, 59; Lagodny, GA 1991, 301 ff. Kritisch dazu Bockelmann/Volk, Allg. Teil S. 89; Schönke/Schröder/ Lenckner, § 32 Rdn. 10 f. Abweichend zu den echten Unterlassungsdelikten Roxin, Allg. Teil I § 15 Rdn. 13; Stratenwerth, Allg. Teil I Rdn. 418. 11 Weitere „Parklückenfälle" bei Busse, Nötigung im Straßenverkehr S. 43, 124 ff. 12 Einschränkend für die Ehe, wenn die Verletzung mit Willen des anderen Ehegatten geschieht, Schönke/Schröder/Lenckner, § 32 Rdn. 5 a; ebenso O L G Köln NJW 1975, 2344. 13 Nach Schroeder, JZ 1974, 114 war auch die Freizügigkeit des DDR-Bürgers ein notwehrfähiges Rechtsgut, doch ist das einer der Fälle, bei denen für die Anwendung des eigenen Rechts die fremde Rechtsordnung berücksichtigt werden muß (vgl. oben § 18 I 1), und diese gewährte die Freizügigkeit nicht (freilich unter Verletzung des Art. 12 I I des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte vom 19.12.1966, BGBl. 1973 I I S. 1534). Vgl. dazu O L G Düsseldorf NJW 1985, 1093. Abzulehnen ist auch die Abschichtung von „Kernbereich und Umfeld" der Notwehr, wie sie Montenbruck, Thesen S. 12 ff. vorschlägt. 22*

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§ 32 D i e N o t w e h r

Rechtsgüter des Staates oder anderer juristischer Personen des öffentlichen Rechts sind notwehrfähig, wenn es sich um Individualrechtsgüter handelt. So darf öffentliches Eigentum gegen Diebstahl und Sachbeschädigung durch jedermann verteidigt werden (z.B. gegen einen Agenten, der sich anschickt, ein neuartiges Gerät der Bundeswehr zu stehlen oder unbrauchbar zu machen). Auch Rechtsgüter der Allgemeinheit sind notwehrfähig, wenn ein einzelner durch den Angriff unmittelbar betroffen ist. So darf sich gegen exhibitionistische Handlungen jeder Augenzeuge zur Wehr setzen, da § 183 auch das Schamgefühl des einzelnen schützt. Dagegen steht die Abwehr von Angriffen auf die öffentliche Ordnung oder die Rechtsordnung im ganzen nicht dem einzelnen Bürger, sondern allein dem Staat und seinen Organen zu (BGH 5, 245 [247]; B G H VRS 40, 104 [107]; B G H NJW 1975, 1162; O L G Düsseldorf NJW 1961, 1783; O L G Stuttgart NJW 1966, 745 [748]) 14 . Kein Privatmann dürfte eine pornographische Schrift eigenmächtig aus der Auslage eines Kiosks (§ 184 I Nr. 3) entfernen oder bei einem Polizeieinsatz gegen Widerstand leistende Gruppen mitwirken (§ 113), sofern nicht einzelnen gefährdeten Beamten Nothilfe geleistet werden soll (vgl. aber auch § 114 I I und RG 25, 253). Von den Fällen des Schutzes der öffentlichen Ordnung durch einzelne Bürger ist die Staatsnotwehr zu unterscheiden. Hier geht es um den Schutz der höchsten Güter des Staates selbst. Staatsnotwehr wird dann für zulässig gehalten, wenn der Staat unmittelbar bedroht ist. Doch führt diese Lehre zu unhaltbaren Konsequenzen15. Beispiele: So hat das Reichsgericht Staatsnotwehr durch Einzelpersonen zur Verteidigung gegen Hoch- und Landesverrat in einem „Fememord"-Urteil als Rechtfertigungsgrund grundsätzlich anerkannt (RG 63, 215 [220]; die Frage wurde offen gelassen in RG 64, 101 [103] und im Kapp-Putsch-Urteil RG 56, 259 [286]). Diese Auffassung ist abzulehnen, da der politische Kampf im Innern wie gegen das Ausland nicht durch Gewaltakte von Privatpersonen nach Notwehrgesichtspunkten ausgetragen werden kann 16 .

Zur Rechtfertigung von Gewaltanwendung bei der Verteidigung der höchsten Güter des Staates durch einzelne kann gegebenenfalls der rechtfertigende Notstand (vgl. unten § 33 IV) herangezogen werden, der neben der Interessenlage auch Art und Ausmaß der Gefahr und die Angemessenheit der Verteidigungshandlung berücksichtigt und damit der Situation besser angepaßt werden kann als die Notwehr 1 7 . Danach wäre eine private Abwehrhandlung nur dann berechtigt, wenn der 14 Übereinstimmend die h.L.; vgl. Arzt, Schaffstein-Festschrift S. 84 ff. (mit krit. Bemerkungen zur Schwäche der Ordnungsorgane); Bockelmann /Volk, Allg. Teil S. 89; Blei, Allg. Teil S. 159; Jakohs, Allg. Teil 12/9 ff.; Schönke/Schröder/Lenckner, § 32 Rdn. 6; Lackner, § 32 Rdn. 3; Roxin, Allg. Teil I § 15 Rdn. 35; Kühl, Jura 1993, 61; SK (Samson) § 32 Rdn. 9; Wessels, Allg. Teil Rdn. 332. Weitergehend Schroeder, Maurach-Festschrift S. 141; Dreher/ Tröndle, § 32 Rdn. 7; Maurach/Zipf Allg. Teil I § 26 Rdn. 12 und bes. LK 11 (Spendel) § 32 Rdn. 153 ff. 15 Ablehnend auch H. Mayer, Lehrbuch S. 182f.; vgl. ferner Oetker, GS 97 (1928) S. 424ff.; Blei, Allg. Teil S. 158. Für Staatsnotwehr, wenn auch mit Einschränkungen, Baumann/Weber, Allg. Teil S. 341 f.; LK 11 (Spendel) § 32 Rdn. 161; Maurach/Zipf Allg. Teil I § 26 Rdn. 54; Stratenwerth, Allg. Teil I Rdn. 419; Schönke/Schröder/Lenckner, § 32 Rdn. 6 f. 16 Zu den „Fememorden" in den Jahren 1920 - 1923 und ihrer Behandlung durch die Justiz Nagel, Fememorde und Fememordprozesse in der Weimarer Republik, 1991. Auf Staatsnotwehr berief sich auch das Gesetz vom 3.7.1934 (RGBl. I S. 529), das die Morde im Zusammenhang mit dem sog. „Röhm-Putsch" für „rechtens" erklärte. 17 Einen notstandsähnlichen politischen Rechtfertigungsgrund nehmen an Eb. Schmidt, Mitt I K V 1931, 156ff.; Boldt, ZStW 56 (1937) S. 200ff.; Ritter, GS 115 (1941) S. 242ff.; Welzel, Lehrbuch S. 88. Gegen rechtfertigenden Notstand zugunsten des Selbstbestimmungsrechts der Südtiroler mit Recht B G H NJW 1966, 310 (311 f.).

I I . D e r A u f b a u des Notwehrbegriffs

341

Staat sich nicht durch eigene Organe rechtzeitig verteidigen kann, die Gefahr unmittelbar gegenwärtig ist und kein anderer Ausweg bleibt, um einen hohen und unersetzlichen Schaden für das Wohl des Ganzen abzuwenden (z.B. ein Privatmann hindert einen mit Staatsgeheimnissen flüchtenden Landesverräter mit Gewalt am Grenzübertritt). Einen Ausschnitt aus dem Staatsnotstand hat der Gesetzgeber positiv geregelt. Gegen Angriffe auf die in Art. 20 I - I I I GG niedergelegten Kernsätze des Grundgesetzes richtet sich das in Art. 20 IV GG anerkannte subsidiäre Widerstandsrecht der Staatsbürger (vgl. unten § 35 IV 4). c) Der Angriff muß weiter rechtswidrig sein, ohne indessen strafbar sein zu müssen. Rechtswidrig ist jeder Angriff, der objektiv die Rechtsordnung verletzt. Dafür genügt der bevorstehende Eintritt des Erfolgsunrechts (vgl. oben § 24 I I I 1). Ein vorsätzliches oder gar schuldhaftes Handeln des Angreifers ist nicht erforderlich (vgl. oben § 32 Fußnote 8). Die Verteidigung ist somit auch zulässig gegenüber dem Angriff von Trunkenen (BGH 3, 217 [218]), Geisteskranken (RG 27, 44 [45]), Kindern, im Irrtum befangenen und fahrlässig handelnden Personen ( O G H 1, 273 [274]; BayObLG NJW 1991, 2031). Selbst gegenüber der drohenden Verletzung durch eine an sich nicht sorgfaltswidrige Handlung ist Notwehr bzw. Nothilfe zulässig, so wenn ein Kraftfahrer beim Zurücksetzen ein spielendes Kind zu überfahren droht, das er nicht sehen konnte 18 . Unangemessene Ergebnisse werden dadurch vermieden, daß in den vorgenannten Fällen das Rechtsbewährungsinteresse zu verneinen ist und die Selbstverteidigung demgemäß nur dann zugelassen wird, wenn der Angegriffene nicht auszuweichen vermag (vgl. unten § 32 I I I 3 a). Nicht rechtswidrig ist der Angriff, der seinerseits durch Rechtsnormen als zulässiger „Eingriff" erlaubt ist. Auch hier gilt der Grundsatz der Einheit der Rechtsordnung. Rechtswidrig ist deswegen die gewaltsame Verteidigung gegen Notwehr oder gegen ein Handeln im zivilrechtlichen Notstand (§ 904 BGB), gegen das Züchtigungsrecht der Eltern, gegen eine nach pflichtmäßiger Prüfung vorgenommene vorläufige Festnahme (§ 127 I I StPO), selbst wenn sie einen in Wahrheit Unschuldigen trifft (RG 72, 305 [311]), gegen einen Polizeibeamten, der einen Demonstrationszug in zulässiger Weise photographiert (BGH JZ 1978, 762), gegen den irrig beim Nichtschuldner pfändenden Gerichtsvollzieher (RG 61, 297 [299]), gegen eine ehrverletzende Äußerung in Wahrnehmung berechtigter Interessen (§ 193) oder gegen Beschlagnahmeakte einer völkerrechtmäßig handelnden Besatzungsmacht. Beispiel: Der Gastwirt kann sich nicht dagegen zur Wehr setzen, daß ein Gast seine Einrichtung benutzt, um sich gegen Gewaltakte anderer Gäste zu verteidigen, da der Gast nach § 904 BGB rechtmäßig handelt (RG 23, 116).

d) Der Angriff muß endlich gegenwärtig sein. Gegenwärtig ist der Angriff, der unmittelbar bevorsteht, gerade stattfindet oder noch fortdauert (BGH 27, 336 [339]) 19 . Die Notwehrlage beginnt bereits, sobald durch den bevorstehenden Angriff für das geschützte Interesse eine unmittelbar drohende Gefahr eingetreten 18

Übereinstimmend Baumann/Weber, Allg. Teil S. 297ff.; Bockelmann/Volk, Allg. Teil S. 90 (mit lehrreichem Beispiel S. 80); LK n (Spendel) § 32 Rdn. 62; Gallas, BockelmannFestschrift S. 163 f. Fußnote 21. Dagegen verlangt die überwiegende Lehre nicht nur Erfolgs-, sondern auch Handlungsunrecnt, mindestens aber ein objektiv pflichtwidriges Verhalten; vgl. ferner oben § 32 Fußnote 8. 19 Vgl. Roxin, Tjong-Gedächtnisschrift S. 143 („unmittelbares Ansetzen zum Angriff"); ähnlich Jakobs, Allg. Teil 12/23; Kratzsch, StV 1987, 228; LK U (Spendel) § 32 Rdn. 115. Dagegen kommt es auf das Moment der Verschlechterung der Verteidigungschancen nicht an; so aber SK (Samson) § 32 Rdn. 10; Schmidhäuser, Allg. Teil S. 347; Kühl, Allg. Teil § 7 Rdn. 41.

342

§ 32 D i e N o t w e h r

ist ( R G 61, 216 [217]). O b das der Fall ist, hängt vor allem v o n den dem Angreifer zur Verfügung stehenden M i t t e l n , insbesondere v o n den i n seiner H a n d befindlichen Waffen ab ( R G 67, 337 [339]; B G H 25, 229; B G H N J W 1973, 255). Maßgebend ist dafür die objektive Prognose eines kundigen D r i t t e n i n der Lage des Angegriffenen, nicht dessen subjektive Vorstellung. D i e bloße Angriffsabsicht, die nicht nach außen betätigt worden ist, ist noch kein A n g r i f f ( B a y O b L G N J W 1985,

2600).

Beispiele: Der Förster darf auf den Wilderer schießen, der trotz Aufforderung, die Waffe wegzuwerfen, mit der Waffe flieht (RG 53, 132 [133]). Dabei wird freilich vorausgesetzt, daß der Wilderer noch die Absicht hatte zurückzuschießen und nicht bloß das Gewehr retten wollte. Dagegen darf bei einer unter Polizeischutz stattfindenden politischen Demonstration kein Teilnehmer ein offenes Messer führen, weil trotz der allgemeinen Gefahr von Gewalttätigkeiten ein gegenwärtiger Angriff gegen diesen zu verneinen ist (RG 65, 159). A n einem gegenwärtigen Angriff fehlt es ferner, wenn der unbewaffnete Eindringling ins eheliche Schlafzimmer auf Anruf sich zur Flucht wendet, mag auch die naheliegende Gefahr bestehen, daß er in einer der kommenden Nächte erneut auftauchen wird (BGH NJW 1979, 2053). Bei Dauerdelikten (z.B. Freiheitsberaubung, Hausfriedensbruch) ist der A n g r i f f gegenwärtig, solange der rechtswidrige Zustand andauert 2 0 . Fortdauernd ist ein A n g r i f f auch dann, wenn die Verletzung des geschützten Interesses zwar schon stattgefunden hat, aber i n unmittelbarem Anschluß an den A n g r i f f durch eine sofort einsetzende Gegenaktion noch ganz oder teilweise rückgängig gemacht werden kann. Beispiel: Wenn Obstdiebe sich nach dem Anruf des Eigentümers unter Mitnahme der Beute zur Flucht wenden, so ist ihr Angriff noch gegenwärtig, obwohl die Wegnahme bereits vollendet ist (RG 55, 82 [84f.]) 21 . Das Erfordernis der Gegenwärtigkeit des Angriffs schließt die Verteidigung durch scharfe Hunde, Selbstschüsse, Fußangeln, Giftköder nicht aus, weil die Abwehr erst im Augenblick des stattfindenden Angriffs wirksam werden soll 22 . Doch gehen die damit verbundenen Risiken zu Lasten dessen, der sich in dieser Weise verteidigt. Die von der Rechtsprechung z.B. für heimliche Tonbandaufnahmen zur Abwehr künftiger Erpressungen und anderer Angriffe zugelassene „Präventiv-Notwehr" und die Berücksichtigung einer „notwehrähnlichen Lage" (BGHZ 27, 284 [286ff.]; B G H 14, 358 [361]; 19, 325 [332]; B G H NStZ 1982, 254; O L G Celle NJW 1965, 1677 [1679]; O L G Frankfurt NJW 1967, 1047; K G JR 1981, 254) sind abzulehnen23. In Wahrheit handelt es sich um Fälle des Notstands nach § 34, die den dort aufgestellten (strengeren) Voraussetzungen genügen müssen. 2. Gegen einen gegenwärtigen, rechtswidrigen A n g r i f f ist die erforderliche V e r teidigung erlaubt. a) D i e Abwehrhandlung muß einmal v o m Verteidigungswillen getragen sein (vgl. oben § 31 I V 1). Andere M o t i v e wie Haß, Empörung oder Rache können 20 Vgl. Dreher/Tröndle, § 32 Rdn. 10; Kühl, Die Beendigung S. 151 ff.; Roxin, Allg. Teil I § 15 Rdn. 27; LK n (Spendel) § 32 Rdn. 115; Schönke/Schröder/Lenckner, § 32 Rdn. 15. 21 Daß heute wegen des krassen Mißverhältnisses der Güter Notwehr zu verneinen wäre, betont mit Recht Bockelmann/Volk, Allg. Teil S. 94. 22 Zustimmend bei strenger Erforderlichkeitsprüfung Kunz, GA 1984, 539ff.; LK 11 (Spendel) § 32 Rdn. 114. 23 Das Schrifttum stimmt dieser Rspr. teilweise zu; etwa Suppert, Studien S. 356 ff.; R. Schmitt, JuS 1967, 19; SK (Samson) § 32 Rdn. 10; Welzel, Lehrbuch S. 87; Amelung, GA 1982, 381 ff. Wie hier aber Schönke/Schröder/Lenckner, §32 Rdn. 17; Geilen, Jura 1981, 210; LK n (Spendel) § 32 Rdn. 127ff.; Stratenwerth, Allg. Teil I Rdn. 421. Für Anerkennung der „notstandsähnlichen Lage" allgemein jedoch Günther, Strafrechtswidrigkeit S. 337 ff.

I I . D e r A u f b a u des Notwehrbegriffs

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mitspielen, wenn nur der Verteidigungswille überhaupt vorliegt (RG 54, 196 [199]; B G H 3, 194 [198]; 5, 245 [247]; B G H Daliinger M D R 1972, 16). Der Verteidigungswille fehlt aber, wenn bei einer Schlägerei Angriffs- und Verteidigungswille ineinander übergehen (OLG Saarbrücken VRS 42, 419). b) Gerechtfertigt ist die Verteidigungshandlung ferner nur dann, wenn sie zur Abwehr des Angriffs erforderlich ist. Die Handlung muß also zur Abwehr geeignet 24 und außerdem das für den Angreifer schonendste Mittel der Verteidigung sein. Die Erforderlichkeit richtet sich nach den gesamten Umständen, unter denen Angriff und Abwehr stattfinden, insbesondere nach der Intensität des Angriffs, der Gefährlichkeit des Angreifers und seines Vorgehens sowie nach den zur Verfügung stehenden Verteidigungsmitteln (RG 72, 57 [58]). Die Erforderlichkeit der Abwehr ist objektiv und ex ante zu beurteilen, d.h. so, wie ein besonnener Dritter in der Lage des Angegriffenen die Umstände beurteilt hätte (BGH NJW 1969, 802) (vgl. oben § 31 IV 4) 2 5 . Der Angegriffene braucht sich aber nicht auf die reine Abwehr zu beschränken, sondern kann die Verteidigung, wenn dies zur wirksamen Abwehr notwendig ist, auch durch Gegenangriff (Trutzwehr) führen (RG 16, 69 [71]). Eine Abwägung des Wertverhältnisses der beteiligten Güter findet bei der Prüfung der Erforderlichkeit der Verteidigungshandlung grundsätzlich nicht statt (RG 55, 82 [85f.]; B G H GA 1969, 23; B G H VRS 30, 281; B G H NStZ 1982, 219). Es kann also unter Umständen „erforderlich" sein, den Angreifer, der die Brieftasche rauben will, zu töten, wenn keine schonendere Verteidigungsmöglichkeit besteht (über die Frage der Anwendbarkeit des Art. 2 IIa der MRK vgl. unten § 32 V) (zum unerträglichen Mißverhältnis der beteiligten Güter vgl. unten § 32 I I I 3 b). Gehen die Auswirkungen der notwendigen Abwehrhandlung weiter, als erforderlich gewesen wäre, um den Angriff abzuwenden, so kann auch der eingetretene schwere Erfolg durch Notwehr gedeckt sein, weil es nur auf die Erforderlichkeit der VerteidigungHandlung ankommt (BGH 27, 313; B G H NStZ 1988, 409). Es besteht jedoch die Möglichkeit, daß der Verteidiger wegen fahrlässiger Verletzung des Angreifers strafbar ist, wenn er die nicht erforderliche Schädigung hätte vermeiden können. Beispiel: Der Angegriffene verteidigt sich durch einen Schlag mit einem Feuerwehrhelm gegen den etwa gleichstarken Angreifer, der dadurch eine erhebliche Gehörverletzung erleidet (§ 224) ( O L G Braunschweig NJW 1953, 997). Zur aberratio ictus bei der Verteidigung L G München I NJW 1988, 1860 (1862) m.Anm. Mitsch, NStZ 1989, 26 und Puppe, JZ 1989, 728.

c) Die Verteidigungshandlung darf aber auch nicht über das hinausgehen, was zur wirksamen Abwehr des Angriffs erforderlich ist. Da Notwehr keine Strafaktion ist, sondern nur dem Schutz bedrohter Interessen gegen rechtswidrige Angriffe dient, gilt der Grundsatz der möglichsten Schonung des Angreifers. Der Verteidiger muß daher unter den verfügbaren wirksamen Abwehrmitteln das am wenigsten schädliche und gefährliche auswählen. Dies bedeutet jedoch nicht, daß der Angegriffene sich zurückziehen oder dem Angriff ausweichen müßte 26 . 24

Hierzu eingehend Warda, Jura 1990, 344 ff. Ebenso Bockelmann, Dreher-Festschrift S. 247; LK n (Spendel) § 32 Rdn. 219; Schönke / Schröder / Lenckner, § 32 Rdn. 34. Zu Scheinwaffen Born, Vorgetäuschte Angriffe S. 150 ff. Die Tötung des Angreifers will Bernsmann, ZStW 104 (1992) S. 326 nur bei Lebensgefahr zulassen. 26 So die allg. Auffassung; vgl. RG 55, 82 (83); 71, 133 (134); B G H 26, 256; B G H GA § 32 Rdn. 16d; Lack1969, 23; B G H JR 1990, 378 m.zust.Anm. Beulke; Dreher/Tröndle, ner, § 32 Rdn. 9; Kühl, Jura 1993, 118; Roxin, Allg. Teil I § 15 Rdn. 41; LK n (Spendel) § 32 Rdn. 239; Wessels, Allg. Teil Rdn. 335; Welzel, Lehrbuch S. 86. 25

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§ 32 D i e N o t w e h r

N o t w e h r gewährt gerade das Recht, sich gegen rechtswidrige Angriffe zu verteidigen. Die Verteidigung darf auch so intensiv sein, daß sie eine sofortige u n d endgültige Beseitigung der Gefahr erwarten läßt; auf milde, aber für i h n selbst riskante Abwehrversuche braucht sich der Angegriffene daher nicht einzulassen ( B G H 24, 356 [358]). Er kann auch gegen unbewaffnete, aber zu brutaler Gewaltanwendung entschlossene Angreifer eine Schußwaffe einsetzen ( B G H StV 1986, 15). Beispiele: Daß der Angegriffene in einer äußerst gefährlichen Situation auf die Füße des Angreifers zielt, statt auf seinen Oberkörper, kann nicht verlangt werden, da die Verteidigung gegen den überlegenen Gegner sonst nicht sicher gewesen wäre (BGH G A 1965, 147). Der Angegriffene muß jedoch die Unterstützung Dritter in Anspruch nehmen, die zur Abwehr fähig und bereit sind (RG 66, 244 [245]; 71, 133 [134]). Er muß gegebenenfalls sofort verfügbare polizeiliche Hilfe anrufen, um sein Hausrecht durchzusetzen (RG 72, 57 [59]; B G H VRS 30, 281). Die Polizei kann bei der Nothilfe die Rechte aus § 32 in Anspruch nehmen (BayObLG JZ 1991, 936 m.zust.Anm. Schmidhäuser und Anm. Spendel, JR 1991, 250) 27 . Der gezielte Todesschuß ist jedoch nur zulässig, wenn Kampfunfähigkeit des Angreifers zum Schutz des bedrohten Rechtsguts nicht genügt (Terroristen- und Geiselfälle) (vgl. unten § 35 I 1 Fußnote l ) 2 8 .

I I I . E i n s c h r ä n k u n g e n des N o t w e h r r e c h t s 1. N a c h den oben § 32 I I 2 dargelegten Voraussetzungen w i r d das N o t w e h r recht allein durch den Maßstab der Erforderlichkeit begrenzt. Es stellt daher eine überaus scharfe Waffe i n der H a n d des Angegriffenen dar und kann zur Eskalation v o n Auseinandersetzungen führen. Rechtsprechung u n d Lehre haben daher aus Sinn u n d Zweck des Notwehrrechts zunehmend vielfältige Beschränkungen für seine Ausübung e n t w i c k e l t 2 9 . E i n Verstoß gegen A r t . 103 I I G G liegt i n dieser E n t w i c k l u n g nicht, o b w o h l durch Begrenzung des Notwehrrechts naturgemäß eine Ausdehnung der Strafbarkeit nach allen Strafvorschriften eintritt, denen dieses Recht als Erlaubnissatz gegenübertreten kann. Entscheidend ist, daß die Einschränkungen, die heute beim Notwehrrecht gemacht werden, aus dem Sinn des § 32 folgen und m i t seinem W o r t l a u t vereinbar sind (einschränkende Auslegung) (vgl. oben § 31 I I I 3 ) 3 0 . Beispiele: Der vorübergehende Verzicht auf das Hausrecht sei zumutbar, wenn der Täter durch das Betreten der eigenen Wohnung den unberechenbaren Widersacher erneut zum Angriff reizt, den er möglicherweise nur durch tödliche Verletzungen abwehren kann (BGH NJW 1962, 308) 31 . Gegenüber einem Raufbold im Wirtshaus sei es dem Angegriffe27 Vgl. Bockelmann, Engisch-Festschrift S. 467; derselbe, Dreher-Festschrift S. 247; LK U (Spendel) § 32 Rdn. 263 ff. m.zahlr.Nachw.; Schönke/Schröder/Lenckner, § 32 Rdn. 42 a; Schaffstein, Schröder-Gedächtnisschrift S. 111 ff.; Seelmann, Klug-Festschrift Bd. I I S. 359ff.; Seebode, Krause-Festschrift S. 390f.; Roxin, Allg. Teil I § 15 Rdn. 93 f.; Rogall, JuS 1992, 559. Ablehnend Amelung, JuS 1986, 332 m.Nachw. aus dem öffentlich-rechtlichen Schrifttum; SK (Samson) § 32 Rdn. 35; Jakobs, Allg. Teil 12/41 ff. 28 Maurach/Zipf Allg. Teil I § 26 Rdn. 34; Merten, Doehring-Festschrift S. 604. 29 Dazu Courakis, Zur sozialethischen Begründung der Notwehr, 1978; Marxen, Die „sozialethischen" Grenzen der Notwehr, 1979; Roxin, ZStW 93 (1981) S. 68ff.; Bitzilekis, Die neue Tendenz zur Einschränkung des Notwehrrechts, 1984. Zu den „gesellschaftlichen Sitten" als Rechtfertigungsgrund im koreanischen Recht Choi, Notwehr S. 138 ff. Prinzipien der Notwehreinschränkung entwickelt Koch, ZStW 104 (1992) S. 785 ff, Fallgruppen bildet Kühl, Jura 1990, 249 ff. 30 Vgl. Lenckner, GA 1968, 9; Stree, in: Roxin u.a., Einführung S. 36 gegen Kratzsch, GA 1971, 75 ff. 31 Ablehnend Schröder, JR 1962, 186; Gutmann, NJW 1962, 286. Anders jetzt B G H JR 1984, 205 m. Anm. Lenckner.

I I I . Einschränkungen des Notwehrrechts

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nen zuzumuten, die Hilfe des Gastwirts in Anspruch zu nehmen, um eine Schlägerei zu vermeiden (RG 71, 133 [134]). Gegenüber dem Angriff des Ehemannes soll der Frau die Wahl eines möglicherweise tödlichen Abwehrmittels nur dann erlaubt sein, wenn der Mann ihr nach dem Leben trachtet (BGH NJW 1969, 802 m.abl.Anm. Deubner, NJW 1969, 1184; B G H NJW 1975, 62 m.Anm. Kratzsch, JuS 1975, 435; offen gelassen in B G H NJW 1984, 986) 32 .

2. Der Sonderausschuß des Bundestags für die Strafrechtsreform wollte durch Beibehaltung der Formel, daß die Tat durch Notwehr „geboten" sein müsse, einen Anknüpfungspunkt für die sozialethischen Einschränkungen der Notwehr schaffen (vgl. oben § 32 I 3) 3 3 . Gleichwohl ist die Berufung auf die Gebotenheitsklausel verfehlt, denn einmal enthält sie lediglich ein regulatives Prinzip ohne weiterführende Kriterien 34 , zum anderen ergibt die Gesetzesgeschichte, daß „Gebotenheit" und „Erforderlichkeit" dasselbe bedeuten35. Auch die übrigen in Literatur und Rechtsprechung verwendeten Generalklauseln treffen nicht den Kern der Sache und tragen nur dazu bei, die Abgrenzung des Notwehrrechts unsicher zu machen. Das gilt für Zumutbarkeitserwägungen 36 ebenso wie für das Angemessenheitsprinzip 37, den Gedanken der sozialen Verantwortung 38 , den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz 39 und das Verbot des Rechtsmißbrauchs 40. 3. Die Beschränkungen des Notwehrrechts dürfen nicht auf formelhaften, die Rechtssicherheit beeinträchtigenden Generalklauseln aufgebaut, sondern müssen im Zusammenhang mit den Grundprinzipien gesehen werden, die dieses Recht konstituieren und begrenzen 41. Ein Teil der in Literatur und Rechtsprechung anerkannten Fälle ist mit dem fehlenden Rechtsbewährungsinteresse zu erklären, ein anderer Teil beruht auf der extremen Minderung des Selbstschutzinteresses im Verhältnis zur Gefährdung des Angreifers. a) Gegenüber Kindern, unreifen Jugendlichen, Trunkenen, Geisteskranken, im Irrtum befangenen, fahrlässig oder im Notstand (§35) handelnden Personen bedarf es keiner Bewährung der Rechtsordnung, da deren Geltung durch den Angriff nicht oder nur unwesentlich in Frage gestellt wird. Grundlage des Notwehrrechts ist daher in diesen Fällen allein die Befugnis zur Selbstverteidigung. Das bedeutet, daß der Angegriffene sich auf den Güterschutz beschränken muß und den Angrei32

Kritisch dazu Engels, GA 1982, 124f.; Schroth, NJW 1984, 2504; Roxin, Allg. Teil I § 15 Rdn. 82 ff. 33 BT-Drucksache V/4095 S. 14. Darauf stützen sich z.B. Baumann/Weber, Allg. Teil § 32 Rdn. 12; Geilen, Jura 1981, 370; Himmelreich, GA 1966, 129; S. 303; Dreher/Tröndle, Lackner, § 32 Rdn. 13. 34 So mit Recht LK n (Spendel) § 32 Rdn. 256; Maurach/Zipf Allg. Teil I § 26 Rdn. 29; Schönke/Schröder/Lenckner, § 32 Rdn. 44; Stree, in: Roxin u.a., Einführung S. 35f. 35 Vgl. Bockelmann, Honig-Festschrift S. 24. 36 So RG 66, 244; B G H Dallinger M D R 1958, 12; Henkel, Mezger-Festschrift S. 272; derselbe, Recht und Individualität S. 67; Himmelreich, G A 1966, 130; Busse, Nötigung im Straßenverkehr S. 133. 37 So Ε 1925 § 21 II; B G H NJW 1969, 802; BayObLG NJW 1963, 825. 38 So Kratzsch, Grenzen der Strafbarkeit S. 175 ff. 39 So Eser/Burkhardt, Strafrecht I Nr. 10 A Rdn. 45 ff.; Schroeder, Maurach-Festschrift S. 137. 40 So B G H 24, 356 (359); 26, 143 (146); B G H NJW 1962, 308; Schröder, JuS 1973, 153; Roxin, NJW 1972, 1821. 41 So Blei, Allg. Teil S. 149; Bockelmann/Volk, Allg. Teil S. 94; Felber, Rechtswidrigkeit des Angriffs S. 168; Otto, Würtenberger-Festschrift S. 138; Schönke/Schröder/Lenckner, § 32 Rdn. 47; Wagner, Notwehrbegründung S. 45.

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§ 32 D i e N o t w e h r

fer nur dann verletzen darf, w e n n er ohne Preisgabe des bedrohten Interesses nicht ausweichen k a n n 4 2 . Beispiele: Gegenüber beleidigenden Äußerungen eines Betrunkenen in einer Gastwirtschaft muß man sich auf eine Erwiderung durch Worte beschränken und hat im übrigen dem Angriff auszuweichen (BGH 3, 217); die Rücksichtnahme auf Betrunkene ist aber nicht unbegrenzt (BGH GA 1956, 49; österr. O G H JBl 1973, 273), auch nicht gegenüber Kindern, die schwere Verbrechen begehen; vgl. die Fälle bei LK 1 (Spendel) § 32 Rdn. 309. Der Eigentümer eines Grundstücks darf nicht mit Hunden und Schußwaffen gegen Spaziergänger vorgehen, die einen über sein Grundstück führenden Privatweg benutzen, den sie irrig für einen öffentlichen halten (BayObLG M D R 1965, 65). Der Angegriffene, der von einem Betriebswachmann kontrolliert wird, muß auf sein Notwehrrecht verzichten, wenn er diesen selbst in den Irrtum versetzt hat, unrechtmäßig zu handeln ( O L G Hamm NJW 1977, 590 [592]). Der Eigentümer eines Kraftwagens darf nicht den Inhaber einer Reparaturwerkstätte überrollen, der sich in dem irrigen Glauben an das Bestehen eines Werkunternehmerpfandrechts gegen den anfahrenden Wagen stemmt (AG Bensberg NJW 1966, 733). Irrt sich der Festnehmende über die tatsächlichen Umstände und erkennt dies der Betroffene, so ist das Notwehrrecht bei alsbald möglicher Aufklärung beschränkt (BayObLG M D R 1986, 956). D e r Gedanke der wesentlichen M i n d e r u n g des Interesses an der Wahrung der Rechtsordnung liegt auch der Einschränkung des Notwehrrechts unter Personen mit engen persönlichen Beziehungen zugrunde. D i e Pflicht zur Rücksichtnahme u n d zur Bewahrung des anderen Teils vor Schaden steht hier so stark i m Vordergrund, daß der Angegriffene ein möglicherweise tödliches A b w e h r m i t t e l nicht einsetzen darf, wenn er seinerseits nur eine leichte Körperverletzung zu befürchten hat ( B G H N J W 1969, 802; G A 1969, 117; N J W 1975, 62; N J W 1984, 986 z u m Verhältnis v o n Ehegatten; B G H Dallinger M D R 1958, 13; O L G Stuttgart N J W 1950, 119 z u m Verhältnis v o n Betriebsangehörigen) 4 3 . D e r Gesichtspunkt der Wahrung der Rechtsordnung ist ferner dann zu verneinen, wenn der Täter den A n g r i f f absichtlich herausgefordert hat, u m den Angreifer unter dem Deckmantel des Notwehrrechts straflos verletzen zu können (Absichtsprovokation). Uberwiegend w i r d eine Rechtfertigung durch N o t w e h r i n diesem Falle ausgeschlossen 44 . Richtig ist es jedoch, dem Provokateur das Notwehrrecht nicht vollständig zu versagen, sondern nur das Ausweichen vor dem Angriff, selbst u m den Preis einer leichten Körperverletzung, zu verlangen 4 5 . Ist ein Ausweichen 42

So die h.L.; vgl. Blei y Allg. Teil S. 146; Bockelmann/Volk, Allg. Teil S. 93; Krause, Hilde Kaufmann-Gedächtnisschrift S. 673 ff.; LK n (Spendel) § 32 Rdn. 235 f. und einschränkend Rdn. 309; Wessels, Allg. Teil Rdn. 344; Schönke/Schröder/Lenckner, § 32 Rdn. 52; Maurach/Zipf, Allg. Teil I § 26 Rdn. 38; Roxin, Kriminalpolitik S. 28; Stratenwerth, Allg. Teil I Rdn. 435. Auf diese Fälle wollen Hruschka, Dreher-Festschrift S. 206 und Hirsch, Dreher-Festschrift S. 228 f. den Verteidigungsnotstand des § 228 BGB anwenden (vgl. unten § 33 II). 43 Vgl. dazu Schönke/Schröder/Lenckner, § 32 Rdn. 53; kritisch Roxin, Allg. Teil I § 15 Rdn. 85. Ablehnend für das Verhältnis unter Mitschülern zu Recht B G H NJW 1980, 2263. 44 Teils wird der Verteidigungswt//e verneint (so RG HRR 1940 Nr. 1143; B G H Dallinger M D R 1954, 335; Kratzsch, Grenzen der Strafbarkeit S. 39; Wessels, Allg. Teil Rdn. 346). Teils wird eine „actio illicita in causa" (die Provokation) angenommen (so Baumann/Weher, Allg. Teil S. 304; Bertel, ZStW 84 [1972] S. 14ff.; Dreher/Tröndle, § 32 Rdn. 24; Kohlrausch/Lange, Vorbem. I I 2 vor § 51; Schmidhäuser, Allg. Teil S. 357ff.; dagegen Constantinidis, „Actio illicita in causa" S. 46 ff.). Teils wird eine Garantenpflicht aus Ingerenz konstruiert (so Marxen, „Sozialethische" Grenzen S. 58). Teils wird das Notwehrrecht überhaupt verneint (so RG DR 1939, 364; B G H NJW 1962, 309; JR 1984, 205; NStZ 1983, 452; Lackner, § 32 Rdn. 14; Roxin, ZStW 75 [1963] S. 558 ff.; Stratenwerth, Allg. Teil I Rdn. 436; Welzel, Lehrbuch S. 88; SK [Samson] § 32 Anm. 27). 45 So Lenckner, GA 1961, 301 ff.; Schröder, JuS 1973, 150; Kühl, Jura 1991, 178; LK n (Spendel) § 32 Rdn. 306.

I I I . Einschränkungen des Notwehrrechts

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unmöglich, so muß auch der Provokateur Notwehr üben können, weil er nicht von Rechts wegen in die ausweglose Lage versetzt werden darf, entweder Leib und Leben dem Angreifer ohne Gegenwehr preisgeben oder Strafe auf sich nehmen zu müssen (BGH NStZ 1989, 113; 1993, 133)™ Strafe ist nur wegen der Provokationshandlung als solcher angebracht, sofern diese selbst eine strafbare Handlung (z.B. eine Beleidigung) darstellt. Nicht ausgeschlossen, aber gemindert ist das Rechtsbewährungsinteresse in den Fällen, in denen der Täter die Notwebrlage zwar ohne Absicht, aber doch rechtswidrig und schuldhaft durch ein Verhalten herbeigeführt hat, dessen adäquate Folge der Angriff gewesen ist (z.B. Beleidigungen, Hänseleien). In diesem Falle verliert der Täter die Befugnis, Notwehr zu üben, auch nach h.L. nicht, muß jedoch unter Umständen auf eine sicher erfolgversprechende, aber für den Angreifer sehr gefährliche Verteidigungshandlung verzichten und sich bemühen, die Situation auf andere Weise zu entschärfen (BGH 39, 374). Dabei stellt die Rechtsprechung um so höhere Anforderungen an das Nachgeben des Angegriffenen, je schwerer die rechtswidrige Provokation der Notwehrlage wiegt. Eine schwere Verletzung des Angreifers ist jedenfalls nur dann zulässig, wenn der Täter nicht ausweichen und auch nicht durch Ausweichen zu einem milderen Verteidigungsmittel gelangen kann 47 . Beispiele: Der Täter war nach einem von ihm verschuldeten leichten Verkehrsunfall mit seinem Wagen geflohen und, nachdem er den Wagen verlassen hatte, von dem Fahrer des anderen Fahrzeugs zu Fuß mit dem Ruf verfolgt worden, er werde ihn umbringen. Als dieser den Fliehenden erreicht hatte und auf ihn einschlug, versetzte ihm der Angegriffene mit einem Finnendolch tödliche Stiche. B G H 24, 356 bejaht das Notwehrrecht grundsätzlich, verlangt aber die Prüfung, ob der Täter durch Ausweichen die nötige Zeit gewinnen konnte, um mit dem Dolch zunächst nur zu drohen oder die Waffe in weniger gefährlicher Weise einzusetzen. Der Täter, der nach einer Wirtshausschlägerei, an der er beteiligt gewesen war, in eine äußerst gefährliche Situation zurückkehrt, muß einem Angreifer, der mit bloßen Fäusten auf ihn zugeht, ausweichen und darf ihn nicht niederstechen (BGH 26, 143). Der überraschte Ehebrecher darf sich gegen den Angriff des Ehemanns nicht mit gefährlichen Schlagwerkzeugen zur Wehr setzen ( O L G Hamm NJW 1965, 1928). Wer sich lange bemüht hat, den durch eigenes ungehöriges Verhalten veranlaßten Angriff hinhaltend abzuwehren, darf schließlich auch einen gezielten Faustschlag führen (BGH 26, 256 ff.).

Problematisch sind die Fälle, in denen das „provozierende" Verhalten nicht rechtswidrig, aber für den späteren Angreifer aufreizend ist. Beispiele: Der Täter reizt einen bekannten Raufbold dadurch, daß er gegen dessen Willen nach einer tätlichen Auseinandersetzung in seine eigene Wohnung zurückkehren will (BGH NJW 1962, 308). Ein türkischer Arbeiter zahlt ein von einem Landsmann gewährtes Darlehen nicht zurück (BGH 27, 336).

In diesen Fällen liegt zwar eine (unter Umständen sogar bewußte) „Provokation" des Angreifers vor, die Rechtsordnung verlangt jedoch, daß man solche Handlungsweisen hinnimmt, ohne gewalttätig zu werden. Dem Angegriffenen muß man deswegen das volle Notwehrrecht zubilligen 48 . b) Zwar kommt es bei der Notwehr auf das Wertverhältnis des angegriffenen und des durch die Abwehrhandlung beeinträchtigten Rechtsguts nicht an, da 46 So Bockelmann, Honig-Festschrift S. 29ff.; Hassemer, Bockelmann-Festschrift S. 243 f.; Hruschka, Dreher-Festschrift S. 208 Fußnote 29 (Verteidigungsnotstand); Lenckner, JZ 1973, 256; Schroeder, Maurach-Festschrift S. 140. Differenzierend Maurach/Zipf Allg. Teil I § 26 Rdn. 46 ff. 47 So Lenckner, JZ 1973, 255; Roxin, NJW 1972, 1821; Schröder, JuS 1973, 157; Kühl, Jura 1991, 181. Dagegen nimmt Hinz, JR 1993, 358 sogar an, daß bei fahrlässiger Provokation des Angriffs keinerlei Einschränkung des Notwehrrechts stattfindet. 48 Schönke/Schröder/Lenckner, § 32 Rdn. 59; Roxin, Allg. Teil I § 15 Rdn. 65 ff.

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sowohl das Selbstschutzinteresse als auch die Rechtsbewährung von dem Wertverhältnis der beteiligten Güter unabhängig sind. Das Selbstschutzinteresse kann jedoch im Verhältnis zur Gefährdung des Angreifers eine extreme Minderung erfahren, wenn es nur um die Verteidigung sehr geringer Werte geht. In diesen Fällen ist auch das Rechtsbewährungsinteresse zu verneinen, weil es nicht der Sinn der Rechtsordnung sein kann, die Verteidigung zugunsten geringwertiger Güter oder gegen unerhebliche Angriffe um den Preis wesentlicher Schädigungen des Angreifers zuzulassen. Nicht erlaubt ist danach die Notwehr, wenn ein unerträgliches Mißverhältnis zwischen dem angegriffenen Rechtsgut und der Verletzung oder Gefährdung des Angreifers besteht49. Beispiele: Ein Wachmann darf den mit einer Sirupflasche im Werte von 10 Pfennigen enteilenden Dieb nicht niederschießen ( O L G Stuttgart DRZ 1949, 24 m.zust.Anm. Gallas). Das Recht zum Benutzen einer Parklücke darf nicht durch die Drohung, den Störer zu überfahren, erzwungen werden (BayObLG NJW 1963, 824). Ein Pfirsichbaum darf nicht durch eine elektrische Anlage gesichert werden, die den Tod des Diebes verursacht (OLG Braunschweig M D R 1947, 205). Der Berechtigte darf sein Pfandrecht an einem Huhn nicht durch Beilhiebe gegen den Kopf des Angreifers verteidigen (BayObLG NJW 1954, 1377).

Von den Fällen des krassen Mißverhältnisses der beteiligten Güter ist die „Unfugabwebr" zu unterscheiden. Hier verbleibt der gesamte Vorgang im untersten Bagatellbereich, und man wird deswegen vielfach schon das Vorliegen eines „Angriffs" zu verneinen haben 50 , so beim rüpelhaften Drängeln in einer Skiliftschlange oder beim rücksichtslosen Einsteigen in eine überfüllte Straßenbahn oder bei provozierendem Lärm spielender Kinder. Im Bagatellbereich können jedoch auch Rechtspositionen angegriffen werden, die nicht ohne weiteres zu vernachlässigen sind, wie z.B. bei der unbefugten Ablagerung von Abfällen im Garten des Nachbarn, bei dreisten Studentenstreichen, unerwünschten Fastnachtsscherzen, groben Unarten auf Volksfesten oder Zudringlichkeiten bei Tanzveranstaltungen. Doch ist in diesen Fällen das bedrohte Interesse meist so geringfügig, daß sich jede Abwehr, die über die bloß wörtliche Zurückweisung hinausginge, nach dem Gesichtspunkt der mangelnden Erheblichkeit des ganzen Vorgangs von selbst verbietet (BGH M D R 1956, 372; StV 1982, 219). Beispiele: Der Besucher einer Bar, dem ein anderer Gast während eines Wortwechsels die Hand kräftig auf die Schulter legt, darf nicht mit einem Faustschlag ins Gesicht antworten (BGH L M § 53 Nr. 3). Das Anleuchten eines anderen mit einer Taschenlampe ist in der Regel gar kein Angriff (KG JW 1935, 553).

IV. Die Nothilfe 1. Notwehr kann von jedermann auch zugunsten eines angegriffenen Dritten geleistet werden (§ 32 II: „von sich oder einem anderen abzuwenden"), ohne daß dieser wie beim entschuldigenden Notstand (§ 35) ein Angehöriger oder eine andere nahestehende Person sein müßte (Nothilfe). Die Voraussetzungen der Nothilfe und ihr zulässiger Umfang unterscheiden sich nicht von der Selbstvertei49 § 32 Rdn. 20; Krey, JZ 1979, 702; LK n (Spendel) So die h.L.; vgl. Dreher/Tröndle, §32 Rdn. 313 ff.; Maurach/Zipf, Allg. Teil I §26 Rdn. 39; Schönke/Schröder/Lenckner, § 32 Rdn. 50; SK (Samson) § 32 Rdn. 22; Wessels, Allg. Teil Rdn. 342. Gegen jede Einschränkung des Notwehrrechts vor allem Schmidhäuser, Honig-Festschrift S. 198. Dagegen empfiehlt Beulke, Jura 1988, 645 f. zu weitgehend die Ausdehnung des Mißbrauchsprinzips auf „mittlere Werte" (100 - 300 DM). 50 Vgl. Oetker, Frank-Festgabe Bd. I S. 360 f.

V . N o t w e h r u n d Menschenrechtskonvention

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digung 51 . Sie müssen nach den Verhältnissen des Dritten beurteilt werden, dem Hilfe geleistet wird. Insbesondere kommt es außer auf den Verteidigungswillen des Nothelfers auch auf den des Angegriffenen an, denn niemand steht es zu, seine Hilfe einem anderen aufzudrängen, wenn dieser sich nicht verteidigen oder ohne Hilfe eines Dritten auskommen will (BGH 5, 245 [248]; 27, 313; B G H JZ 1976, 138; B G H StV 1987, 59) 52 . Freilich braucht der Dritte von dem Angriff nichts zu wissen (RG 55, 167). Die Hilfeleistung steht grundsätzlich im freien Belieben, doch können sich Nothilfepflichten aus § 323 c, aus dem Familienrecht oder aus dem Polizeirecht ergeben. 2. Nothilfe ist auch zugunsten des Staates und anderer Körperschaften des öffentlichen Rechts zulässig, wenn es sich um Verteidigung von Individualrechtsgütern handelt (Staatsnothilfe). Nothilfe zugunsten der öffentlichen Ordnung und der Rechtsordnung im ganzen ist dem einzelnen jedoch untersagt, ebenso Nothilfe zugunsten des Staates selbst, wenn es sich um den Schutz der staatlichen Rechtsgüter im engeren Sinne handelt (vgl. oben § 32 I I lb). Zur Nothilfe durch Polizeibeamte vgl. oben § 32 I I 2 c.

V. Notwehr und Menschenrechtskonvention Umstritten ist die Frage, ob das Notwehrrecht nach § 32 durch die Europäische Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten von 1950 (BGBl. 1952 I I S. 686) eingeschränkt worden ist, die im Rang eines einfachen Bundesgesetzes gilt (BayVerfGH NJW 1961, 1619). Die MRK erlaubt in Art. 2 IIa die absichtliche Tötung eines Menschen (abgesehen von zwei weiteren Fällen) nur dann, wenn sie sich aus der unbedingt erforderlichen Gewaltanwendung zur Verteidigung eines anderen Menschen gegenüber rechtswidriger Gewaltanwendung ergibt. Daraus wird vielfach geschlossen, daß eine vorsätzliche Tötung in Notwehr nur noch dann gerechtfertigt ist, wenn sie zur Verteidigung von Leib, Leben oder Freiheit eines Menschen gegen rechtswidrige Gewaltanwendung stattfindet, so daß z.B. die Tötung des mit der Beute fliehenden Einbrechers durch Schußwaffengebrauch nicht mehr gedeckt wäre 54 . Diese dem kontinentaleuropäischen Rechtsdenken jedenfalls in seiner neueren Entwicklung fremde Einschränkung kann auf das Verhältnis von Privatpersonen untereinander keine Anwendung finden. Entsprechend der Zweckbestimmung der Konvention, Ubergriffe des Staates gegenüber Einzelpersonen zu unterbinden, nicht aber in die fundierte Rechtstradition eines 51 § 32 Rdn. 42. Anders SeelLK n (Spendel) § 32 Rdn. 145; Schönke/Schröder/Lenckner, mann, ZStW 89 (1977) S. 56 f f , der Nothilfe nur in den Grenzen der Verhältnismäßigkeit zulassen will. Zur organisierten Nothilfe durch gewerbliche Sicherheitsdienste und „Bürgerwehren" Kunz, ZStW 95 (1983) S. 972 ff. Zur Nothilfe bei provozierten Angriffen Mitsch, GA 1986, 545. 52 Vgl. Blei, Allg. Teil S. 148; Schönke/Schröder/Lenckner, § 32 Rdn. 25 f.; Roxin, Allg. Teil I § 15 Rdn. 97; Seier, NJW 1987, 2480 ff.; Kühl, Jura 1993, 236. Anderer Ansicht hierzu Schroeder, Maurach-Festschrift S. 141; Schmidhäuser, Allg. Teil S. 356; LK n (Spendel) § 32 Rdn. 145, die hierbei nach dem Rechtsbewährungsprinzip Nothilfe auch gegen den Willen des Angegriffenen zulassen wollen. 53 Das Merkmal „intentionally" bzw. „intentionnellement" im englischen bzw. französischen Text bedeutet nicht „Vorsatz" im allgemeinen Sinne, sondern die auf Herbeiführung des Erfolgs gerichtete „Absicht"; vgl. Smith/ Hogan, Criminal Law S. 53; Kenny /Turner, Outlines S. 36; Glanville Williams, Criminal Law S. 34; Stefani/Levasseur/Bouloc, Droit pénal général Nr. 214. Ebenso Blei, Allg. Teil S. 147; Roxin, Allg. Teil I § 15 Rdn. 76. Anders Frister, GA 1985, 560 f.; Schönke/Schröder/Lenckner, § 32 Rdn. 62. 54 So Maunz/Dürig, Art. 1 Rdn. 62 und Art. 2 I I Rdn. 15; Baumann/Weher, Allg. Teil S. 305; Woesner, NJW 1961, 1381; Stratenwerth, Allg. Teil I Rdn. 440; SK (Samson) § 32 Art. 2 M R K Rdn. 11 nehmen jedenfalls eine Verpflichtung des Rdn. 30. Frowein/Peukert, Gesetzgebers an, die Notwehrregelung dem Art. 2 IIa anzupassen.

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§ 32 D i e N o t w e h r

Teils der Mitgliedstaaten einzugreifen, ist vielmehr anzunehmen, daß die M e n schenrechtskonvention nur das Verhältnis der Staatsgewalt zu den Bürgern regeln w i l l u n d keine D r i t t w i r k u n g entfaltet 5 5 . W i r d die Staatsgewalt als Nothelfer tätig, so greift A r t . 2 I I a M R K zwar ein, aber die „absichtliche" T ö t u n g des Angreifers w i r d z u m Schutze v o n Vermögenswerten als erforderliche Nothilfehandlung v o n Seiten der Polizei niemals i n Betracht kommen. I m Ergebnis w i r d deshalb die Regelung der N o t w e h r durch die M R K nicht berührt. V I . Notwehrexzeß und Putativnotwehr 1. T r o t z Bestehens einer Notwehrlage ist die Verteidigungshandlung dann nicht gerechtfertigt, wenn der Täter die Grenzen der Erforderlichkeit bewußt oder unbew u ß t überschreitet (Notwehrexzeß). N a c h § 33 ist jedoch die Schuld ausgeschlossen, wenn er dabei aus Verwirrung, Furcht oder Schrecken gehandelt hat (vgl. unten § 45 II). 2. D i e Rechtfertigung der Abwehrhandlung setzt voraus, daß die Notwehrlage w i r k l i c h gegeben u n d die Verteidigung nach A r t u n d Maß erforderlich ist. I r r t sich der Täter darüber (Putativnotwehr), so ist die Verteidigung rechtswidrig. Er befindet sich dann i n einem Erlaubnistatbestandsirrtum über die Voraussetzungen der N o t w e h r , der als I r r t u m eigener A r t anzusehen ist (vgl. unten § 41 I V 1). V I I . Ausländisches Recht Im ausländischen Strafrecht sind die Voraussetzungen der Notwehr meist enger begrenzt als im deutschen Recht. Insbesondere wird vielfach Wertproportionalität des angegriffenen und des verteidigten Rechtsguts gefordert. Das geltende österreichische StGB beschränkt die Notwehr auf die Verteidigung von Leben, Gesundheit, körperlicher Unversehrtheit, Freiheit und Vermögen (§3 11). Nicht notwehrfähig sind danach z.B. Ehre, Intimsphäre und Familienrechte 56 . In § 3 I 2 wird Notwehr ausgeschlossen, wenn das Selbstschutzinteresse im Verhältnis zur Schwere der Beeinträchtigung des Angreifers gering ist 5 7 . Das schweizerische StGB bringt den Proportionalitätsgedanken in Art. 33 I durch die Worte zum Ausdruck, daß der Angriff „in einer den Umständen angemessenen Weise" abzuwehren sei 58 . In Frankreich regelt der Code pénal 1994 die Notwehr („légitime défense") in Art. 122-5, 6 5 9 . Gerechtfer55 So die h.L.; vgl. Blei, Allg. Teil S. 147; Bockelmann, Engisch-Festschrift S. 459ff.; der§ 32 Rdn. 21; Gutachten des BJM, Nieselbe, Dreher-Festschrift S. 249 f.; Dreher/Tröndle, derschriften Bd. I I Anh. Nr. 26; LK U (Spendel) § 32 Rdn. 259; Schönke/Schröder/Lenckner, § 32 Rdn. 62; Maurach/Zipf, Allg. Teil I § 26 Rdn. 31; Krey, JZ 1979, 708; Bartsch, Europäische MRK S. 336; Schmidhäuser, Allg. Teil S. 343 f.; Welzel, Lehrbuch S. 86; Wessels, Allg. Teil Rdn. 341. Dagegen Frister, GA 1985, 553; Marxen, Die sozialethischen Grenzen S. 61. Zweifelnd Eser/Burkhardt, Strafrecht I Nr. 10 A Rdn. 57. Zutreffend legt Löwe /Rosenberg (Gollwitzer) Art. 2 M R K Rdn. 19 dar, daß der Staat durch die weitgehende Zulassung der Notwehr auch nicht seine Schutzpflicht für das menschliche Leben verletzt. 56 Vgl. WK (Nowakowski) § 3 Rdn. 7; Kienapfel, Grundriß Ζ 11 Rdn. 6. Zur Notwehr gegenüber Betrunkenen O G H JBl 1973, 273. 57 WK (Nowakowski) § 3 Rdn. 23: „nur hier kommt eine Interessenabwägung mit ins Spiel". Nach Fuchs, Probleme der Notwehr S. 30 sind weitere Einschränkungen nicht anzuerkennen. 58 Vgl. Hafter, Allg. Teil S. 147; Schultz, Einführung I S. 160 m. Kritik an BGE 107 (1981) IV 12 (Schuß auf den mit hoher Beute fliehenden Dieb erlaubt); zust. aber Noll/Trechsei, Allg. Teil I S. 115; praktische Beispiele bei Schwander, Das Schweiz. StGB S. 84 sowie Dubs, SchwZStr 89 (1973) S. 337 ff. Zur Begründung des Proportionalitätsprinzips Kunz, Schweiz. Juristentags-Festgabe S. 165 ff. 59 Vgl. Desportes/Le Gunehec, Présentation Nr. 34; Pradel, Le nouveau Code pénal Nr. 39 ff. Vgl. zum französischen, schweizerischen und österreichischen Recht ferner Franke, Grenzen der Notwehr, Diss. Freiburg 1976.

V I I . Ausländisches Recht

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tigt sind Notwehr und Nothilfe gegen einen rechtswidrigen Angriff nur im Rahmen der Proportionalität. Die Verteidigung von Sachgütern darf nicht durch vorsätzliche Tötung des Angreifers stattfinden; Art. 122-6 übernimmt jedoch aus Art. 329 des alten Code pénal die Notwehrvermutungen. Danach werden Notwehr bzw. Nothilfe vermutet bei der Verteidigung gegen jemand, der durch Einbruch, Gewalt oder List bei Nacht in eine Wohnung eindringt, sowie bei der Verteidigung gegen Diebe oder Räuber, die Gewalt anwenden. Art. 329 Nr. 1 des alten Code pénal schloß die vorsätzliche Tötung des nächtlichen Angreifers ausdrücklich ein, Art. 122-6 Nr. 1 schließt sie nicht ausdrücklich aus. Das belgische Recht folgt dem alten französischen Code pénal (vgl. 4. Auflage S. 314) 60 . Auch im italienischen Recht, das in Art. 52 C.p. ausdrücklich bestimmt, daß die Verteidigungshandlung „im Verhältnis zum Angriff stehen muß", wird von der h.L. Proportionalität des durch die Abwehr verletzten im Verhältnis zu dem geschützten Interesse verlangt 61 . Der spanische C.p. fordert in Art. 8 Nr. 4 I I die „necesidad racional" des Verteidigungsmittels, die vielfach als Proportionalitätsmerkmal ausgelegt wird 6 2 . Art. 41 I des niederländischen W.v.S. enthält keine direkte Andeutung des Proportionalitätsgrundsatzes, in der Literatur wird diese Einschränkung jedoch aus dem Merkmal der „Gebotenheit" abgeleitet 63 . Das englische Recht kennt jetzt in Art. 3 Criminal Law Act 1967 eine allgemeine Notwehrvorschrift, die auf „reasonable use of force" abstellt und damit dem Proportionalitätsgrundsatz weiten Raum gibt. Doch scheint die Tötung des mit der Beute fliehenden Räubers als letztes Mittel zugelassen zu werden 64 . Auch die Notwehr des amerikanischen Strafrechts unterscheidet sich von der des deutschen erheblich. Insbesondere darf hier die Verteidigung gegen einen Angriff, der keine Gefährdung für das Leben darstellt, im allgemeinen nicht in der Anwendung lebensgefährdender Gewalt bestehen65, und selbst bei einem lebensgefährdenden Angriff wird dem Angegriffenen vielfach zugemutet, zunächst sein Heil im Rückzug zu suchen, bevor er zum äußersten Verteidigungsmittel greift 66 . Das brasilianische Recht, das die Verteidigung in Art. 25 C.p. nur „moderademente" zuläßt, setzt zwar keine Proportionalität der Güter voraus, erlaubt aber nicht die Tötung des Angreifers zum Schutz einer geringwertigen Sache67.

§ 33 Der rechtfertigende Notstand Amelung, Erweitern allgemeine Rechtfertigungsgründe Eingriffsbefugnisse des Staates? NJW 1977, 833; derselbe, Nochmals: § 34 als öffentlich-rechtliche Eingriffsnorm? NJW 1978, 623; derselbe, Die Rechtfertigung von Polizeivollzugsbeamten, JuS 1986, 329; Amelung/ Schall, Zum Einsatz von Polizeispitzeln usw, JuS 1975, 565; Androulakis, Studien zur Problematik der unechten Unterlassungsdelikte, 1963; Azzali, Stato di necessità, Novissimo Digesto Italiano, Bd. X V I I I , 1971, S. 356ff.; Ballerstedt, Anmerkung zu O L G Freiburg vom 26.10.1950, JZ 1951, 227; Baumgarten, Notstand und Notwehr, 1911; Bockelmann, Hegels 60 Hennau/Verhaegen, Droit pénal général Nr. 224 ff.; Dupont /Ver Straeten, Handboek Nr. 363 ff. 61 Vgl. Bettiol/Pettoello Mantovani, Diritto penale S. 384 ff.; Fiandaca/Musco, Diritto penale S. 140ff.; Grosso, Difesa legittima S. 17; Nuvolone, Sistema S. 194. 62 So Jiménez de Asua, Tratado, Bd. I S. 217; Cordoba Roda/ Rodriguez Mourullo, Art. 8 Nr. 4 Anm. I I 2; Cerezo Mir, Curso S. 489; Perron, Rechtfertigungsgründe S. 189f. Dagegen jedoch Cobo del Rosal/ Vives Anton, Derecho penal S. 346; Rodriguez Devesa/ Serrano Gomez, Derecho penal S. 563 ff. mit Hinweis auf neuere Rechtsprechung, die bei Gimbernat Ordeig, Das spanische Strafrecht S. 337 zustimmend angeführt ist. 63 Vgl. van Bemmelen/van Veen, Ons strafrecht S. 194; Hazewinkel-Suringa/Remmelink, Inleiding S. 319 ff.; Pompe, Das niederländische Strafrecht S. 70. 64 Vgl. Smith/ Hogan, Criminal Law S. 254 (zweifelnd); Kerll, Das englische Notwehrrecht S. 15 f f , 119 f. 65 Vgl. Robinson, Criminal Law Defenses Bd. I I S. 82 ff.; LaFave/Scott, Substantive Criminal Law I S. 651 f.; J. Hall, General Principles S. 434f. 66 Vgl. Model Penal Code Sect. 3.04 (2) (b) (II). Dazu eingehend Herrmann, ZStW 93 (1981) S. 615 ff.; LaFave/Scott, Substantive Criminal Law I S. 659f.; Robinson, Criminal Law Defenses Bd. I I S. 79 ff. Zum „U-Bahn-Fall Goetz" Fletcher, Notwehr als Verbrechen, 1993, mit einem Nachwort von Lüderssen S. 330 ff. 67 Fragoso, Liçôes S. 193; da Costa jr., Comentärios, Art. 25 Anm. 5 f.

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D e r rechtfertigende N o t s t a n d

Notstandslehre, 1935; Böckenförde, Der verdrängte Ausnahmezustand, NJW 1978, 1881; Cerezo Mir, Grundlage und Rechtsnatur des Notstands im spanischen StGB, Gedächtnisschrift für Hilde Kaufmann, 1986, S. 689; Cohen, The Development of the Modern Doctrine of Necessity usw, in: Eser/Fletcher (Hrsg.), Rechtfertigung und Entschuldigung, Bd. 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I. D i e Unterscheidung der Notstandsarten

353

52. Auflage 1993; Perron, Rechtfertigung und Entschuldigung im deutschen und spanischen Recht, 1988; Pröchel, Die Fälle des Notstands nach anglo-amerikanischem Strafrecht, 1975; Rengier, Die öffentlich-rechtliche Genehmigung im Strafrecht, ZStW 101 (1989) S. 874; Rittler, Der unwiderstehliche Zwang usw, Festschrift für den O G H , 1950, S. 221; Robinson, Criminal Law Defenses, Bd. I, II, 1984; Romano, Rechtfertigung und Entschuldigung bei Befreiung aus besonderen Notlagen im italienischen Strafrecht, in: Eser/Perron (Hrsg.), Rechtfertigung und Entschuldigung, Bd. III, 1991, S. 117; Roxin, Kriminalpolitik und Strafrechtssystem, 2. Auflage 1973; derselbe, A n der Grenze von Begehung und Unterlassung, Festschrift für K. Engisch, 1969, S. 380; derselbe, Der durch Menschen ausgelöste Defensivnotstand, Festschrift für H.-H. Jescheck, Bd. I, 1985, S. 457; derselbe, Die notstandsähnliche Lage ein Strafunrechtsausschließungsgrund? Festschrift für D. Oehler, 1985, S. 181; Rudolphi, Teilnahme an einer Notstandstat usw, ZStW 78 (1966) S. 67; derselbe, Primat des Strafrechts im Umweltschutz? NStZ 1984, 193; Scarano, La non esigibilità nel diritto penale, 1948; Schaffstein, Der Maßstab für das Gefahrurteil beim rechtfertigenden Notstand, Festschrift für H.-J. Bruns, 1978, S. 89; Schlosser, Notstand I I I (zivilrechtlich), HRG, Bd. III, 1984, Sp. 1083; Eb. Schmidt, Das Reichsgericht und der „übergesetzliche Notstand", ZStW 49 (1929) S. 350; derselbe, Anmerkung zu O G H 1, 321, SJZ 1949, 559; Schroeder, Notstandslage bei Dauergefahr, JuS 1980, 335; Seelmann, Das Verhältnis von § 34 zu anderen Rechtfertigungsgründen, 1978; Siegert, Notstand und Putativnotstand, 1931; Stammler, Darstellung der strafrechtlichen Bedeutung des Notstands, 1878; Staudinger (Seiler), Sachenrecht, Bd. III, 12. Auflage 1989; Stratenwerth, Prinzipien der Rechtfertigung, ZStW 68 (1956) S. 41; Sydow, § 34 StGB - kein neues Ermächtigungsgesetz! JuS 1978, 222; Tiedemann/Kindhäuser, Umweltstrafrecht - Bewährung oder Reform? NStZ 1988, 337; Tröndle, Verwaltungshandeln und Strafverfolgung, Gedächtnisschrift für K. Meyer, 1990, S. 607; Ulsenheimer, Strafbarkeit des Garanten bei Nichtvornahme einer Rettungshandlung, JuS 1972, 254; Wachinger, Der übergesetzliche Notstand nach der neuesten Rechtsprechung des Reichsgerichts, Festgabe für R. v. Frank, Bd. I, 1930, S. 469; v. Weber, Das Notstandsproblem usw, 1925; derselbe, Vom Diebstahl in rechter Hungersnot, M D R 1947, 78; derselbe, Die Pflichtenkollision im Strafrecht, Festschrift für W. Kiesselbach, 1947, S. 233; Weigelin, Das Brett des Karneades, GS 116 (1942) S. 88; Welzel, Anmerkung zu O G H 1, 321, M D R 1949, 373; derselbe, Zum Notstandsproblem, ZStW 63 (1951) S. 47; Winkelbauer, Die behördliche Genehmigung im Strafrecht, NStZ 1988, 201; derselbe, Zur Verwaltungsakzessorietät des Umweltstrafrechts, 1985.

I. Die Unterscheidung der Notstandsarten 1. Ein Notstand im allgemeinen juristischen Sinne des Wortes ist ein „Zustand gegenwärtiger Gefahr für berechtigte Interessen, der sich nur durch Verletzung berechtigter Interessen eines anderen abwenden läßt" 1 . Hinter dieser Definition verbergen sich jedoch Fälle von ganz verschiedener Art und Gestalt, die auch im Strafrecht unterschiedlich behandelt werden müssen. Der Satz „necessitas non habet legem" (Not kennt kein Gebot) ist jedenfalls nicht wörtlich zu nehmen. Beispiele: Der Angegriffene tötet zu seiner Verteidigung einen wütenden Hund. Beim Löschen eines Brandes muß das Nachbargrundstück beschädigt werden. Der Badegast benutzt gegen den Widerspruch des Eigentümers ein am Strand liegendes Boot, um einen Ertrinkenden zu retten. Der Arzt überschreitet mit seinem Kraftwagen die vorgeschriebene Höchstgeschwindigkeit, um möglichst schnell zu einem Schwerverletzten zu gelangen. Der Bergsteiger durchschneidet das Seil, das ihn mit seinem abgestürzten Gefährten verbindet, um das eigene Leben zu erhalten. Ein Dritter handelt so, um dadurch wenigstens einen der beiden Verunglückten zu retten. Der Weichensteller leitet einen Schnellzug auf ein Gleis mit Streckenarbeitern, um eine viel größere Katastrophe durch Auffahren des Schnellzuges auf einen haltenden Personenzug zu verhindern. Der Schalterbeamte wird mit der Waffe gezwungen, dem Bankräuber die Tresorschlüssel auszuhändigen. 1

So Bockelmann/Volk, Allg. Teil S. 96; Maurach/Zipf, Allg. Teil I § 27 Rdn. 1; Lenckner, Notstand S. 7; Wessels, Allg. Teil Rdn. 291. Die Definition deckt freilich auch andere Rechtfertigungsgründe als den Notstand, insbesondere die Notwehr; vgl. Schönke/Schröder/ Lenckner, Vorbem. 67 vor § 32. 23 Jescheck, 5. A .

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D e r rechtfertigende N o t s t a n d

Die Suche nach der richtigen Lösung für die verschiedenen Notstandsfälle hat die Rechtswissenschaft seit der Antike immer wieder beschäftigt 2. Die neuere Lehre hat einmal die Adäquitätstheorie entwickelt 3 . Sie gründet sich auf Kant, der die Notstandshandlung zwar nicht als „inculpabilis" ansah, weil sie trotz der Notlage dem kategorischen Imperativ widerspreche, wohl aber als „impunibilis", weil der Täter im Falle eines unwiderstehlichen Zwanges vom Gesetz nicht mehr zum Rechthandeln bestimmt werden könne. Die Notstandstat dürfe demgemäß aus Billigkeitsgründen nicht bestraft werden. Feuerbach sah sogar die Zurechnungsfähigkeit des Notstandstäters als ausgeschlossen an. Weitergehend wurde von Fichte vertreten, daß die Rechtsordnung im Notstandsfall ihre Gebote und Verbote gewissermaßen zurückziehe und die Entscheidung dem Gewissen des einzelnen anheimstelle (Exemtionstheorie). Demgegenüber nahm Hegel an, daß jedenfalls dem Leben im Falle der Kollision mit niedrigeren Rechtsgütern ein „Notrecht" zur Seite stehe4. Auf dieser These ist die „Kollisionstheorie" aufgebaut, die von der Wertdifferenz der Rechtsgüter ausgeht5. Es handelt sich bei diesen Lösungen also nicht bloß um Abstufungen innerhalb ein und desselben Prinzips 6 , sondern um zwei grundverschiedene Betrachtungsweisen. Trotz der Verschiedenheit der Fälle sind in der neueren Dogmatik lange Zeit „Einheitstheorien" vertreten worden, die sämtliche Notstände entweder nach dem Adäquitätsgedanken als Entschuldigungs-7 oder nach dem Kollisionsgedanken als Rechtfertigungsgründe ansehen wollten. Erst Goldschmidt 9 ist es gewesen, der die Notstandslehre aus dem Zustand „geradezu jämmerlicher V e r w o r r e n h e i t " 1 0 herausgeführt u n d durch eine differenzierende Betrachtungsweise, die sich i m 19. Jahrhundert aber auch schon bei Berner (Lehrbuch, 18. Auflage S. 103) findet, einem neuen Verständnis erschlossen hat. D i e heute durch die Gegenüberstellung v o n rechtfertigendem u n d entschuldigendem Notstand i n § 34 u n d § 35 anerkannte „Differenzierungstheorie" 1 1 fragt, ob die Rechtsordnung die Notstandshandlung unter Berücksichtigung aller maßgeblichen Gesichtspunkte als sachgemäß billigt oder nur als verzeihlich nachsieht 1 2 . N a c h diesem Maßstab lassen sich die Fälle des rechtfertigenden u n d des entschuldigenden Notstands unterscheiden. 2

Vgl. zur Dogmengeschichte Küper, H R G Bd. I I I Sp. 1064ff.; H. Mayer, Lehrbuch S. 176ff.; Weigelin, GS 116 (1942) S. 88 ff. 3 Vgl. dazu Hold v. Ferneck, Die Rechtswidrigkeit Bd. I I S. 43 ff. 4 Vgl. dazu Bockelmann, Hegels Notstandslehre S. 47 ff. 5 Klarste Formulierung bei Stammler, Notstand S. 74. 6 So aber Siegert, Notstand S. 10. 7 So zuletzt M. E. Mayer, Lehrbuch S. 304 ff. 8 So v. Hippel, Bd. I I S. 23Iff. Ebenso Gimbernat Ordeig, Welzel-Festschrift S. 492ff. Auch Pompe, Das niederländische Strafrecht S. 73 ist hier zu nennen. 9 Goldschmidt, Österr. Zeitschrift f. Strafrecht 1913, 196 spricht von einem „Rechtsmikrokosmos", in dem sowohl Schuld- als auch Unrechtsgesichtspunkte zusammentreffen. 10 So Löfflet, Österr. Zeitschrift f. Strafrecht 1912, 358. 11 So seit Goldschmidt die allgemeine Auffassung; vgl. v. Weber, Das Notstandsproblem S. 16; Marcetus, Zumutbarkeit S. 68; Henkel, Notstand S. 16 ff.; Lenckner, Notstand S. 9: v. Liszt/ Schmidt, 25. Auflage S. 192 ff.; Jakobs, Allg. Teil 13/2; Küper, JuS 1987, 82 ff.; LK Ü (Hirsch) § 35 Rdn. 1; Maurach/Zipf, Allg. Teil I § 27 Rdn. 3 f.; Roxin, Allg. Teil I § 16 Rdn. 1; Schmidhäuser, Allg. Teil S. 329; Baumann/Weber, Allg. Teil S. 315; Schönke/Schröder/ Lenckner, § 35 Rdn. 1; SK (Rudolphi) § 35 Rdn. 1; Welzel, Lehrbuch S. 180; Wessels, Allg. Teil Rdn. 292; RG 61, 242 (252); B G H 2, 242 (243). Eine Sonderstellung nimmt H. Mayer, Lehrbuch S. 191 ein, der die Notstandshandlung nach §§ 52, 54 a.F. gemäß der Exemtionstheorie als „unverboten" ansieht; vgl. auch derselbe, Grundriß S. 92 f. Maurach/Zipf, Allg. Teil I § 33 Rdn. 8 vertritt dagegen den Standpunkt, daß in diesen Fällen die „Tatverantwortung" entfalle (vgl. 3. Auflage S. 348). Zur Unterscheidung von Rechtfertigungs- und Entschuldigungsgründen allgemein oben § 31 14. 12 Zu dem fundamentalen Charakter dieser Unterscheidung Hruschka, GA 1981, 239f.; Küper, JZ 1983, 95 (gegen Gimbernat Ordeig, Welzel-Festschrift S. 492 ff.).

I I . D i e Sachwehr (zivilrechtlicher Verteidigungsnotstand)

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2. Fälle des rechtfertigenden Notstands, die im bürgerlichen Recht ihren Platz gefunden haben, sind die Sachwehr (§ 228 BGB) und der zivilrechtliche Angriffsnotstand (§ 904 BGB) 1 3 . Den im Gesetz geregelten Notstandsrechten trat später der sogenannte „übergesetzliche" Notstand zur Seite, der von Rechtsprechung und Lehre aus dem Prinzip der Güter- und Pflichtenabwägung entwickelt worden ist (RG 61, 242; 62, 137) . Dieser Notstand hat durch das 2. Strafrechtsreformgesetz von 1969 eine gesetzliche Regelung als Rechtfertigungsgrund erfahren. Die allgemeine Vorschrift für das Strafrecht findet sich in § 34, für das Ordnungswidrigkeitenrecht in § 16 OWiG. Sonderfälle des rechtfertigenden Notstands sind die medizinische, embryopathische und kriminologische Indikation für den Abbruch der Schwangerschaft sowie eine diesen Indikationen vergleichbare Notlage, „die so schwer wiegt, daß der schwangeren Frau die Austragung der Schwangerschaft nicht zugemutet werden kann" (BVerfGE 88, 203 [299]). U m die Lösung von Interessenkollisionen handelt es sich auch bei der rechtfertigenden behördlichen Erlaubnis 15 (vgl. unten § 33 VI). Dem rechtfertigenden Notstand steht der entschuldigende Notstand (§ 35) gegenüber. 3. Die Unterscheidung von rechtfertigendem und entschuldigendem Notstand hat weitreichende Konsequenzen16. Im ersten Fall ist die Tat gerechtfertigt. Es gibt deswegen gegen Notstand keine Notwehr und auch keine Möglichkeit strafbarer Teilnahme an der Notstandshandlung. Im zweiten Fall ist die Tat nur entschuldigt. Der von der Notstandshandlung Betroffene darf Notwehr üben, und die Teilnahme an der Notstandstat ist strafbar, sofern der Teilnehmer nicht selbst unter dem Druck einer Notstandslage steht oder Angehöriger bzw. nahestehende Person i.S. von § 35 ist 1 7 . Auch die bei irrtümlicher Annahme des Vorliegens einer Notstandslage anzuwendenden Vorschriften sind verschieden, je nachdem, ob sich der Irrtum auf einen Fall rechtfertigenden oder entschuldigenden Notstands bezieht. II. Die Sachwehr (zivilrechtlicher Verteidigungsnotstand) 1. Die Sachwehr steht der Notwehr zwar nahe (RGZ 88, 211 [214]), sie weist jedoch charakteristische Besonderheiten auf. Erlaubt ist es nach § 228 BGB, eine fremde (analog auch eine herrenlose 18) Sache zu beschädigen oder zu zerstören, um eine von dieser selbst drohende Gefahr abzuwenden, wenn die Beschädigung oder Zerstörung zur Abwendung der Gefahr erforderlich ist und der Schaden nicht 13 Vgl. ferner zu den Sonderregelungen nach dem Vorbild des § 904 BGB unten § 33 I I I 5. Zur Geschichte Schlosser, H R G Bd. I I I Sp. 1083 ff. 14 Dazu grundlegend Eh. Schmidt, ZStW 49 (1929) S. 350 ff. Zum österreichischen Strafrecht, wo der rechtfertigende Notstand ungeregelt geblieben ist, Maurach/Zipf Allg. Teil I § 27 Rdn. 12. 15 Roxin, Allg. Teil I § 17 Rdn. 48 sieht darin einen „Spezialfall des § 34". Dagegen betrachten Schönke/Schröder/Lenckner, Vorbem. 28 vor § 32 und Jakobs, Allg. Teil 16/28 die behördliche Erlaubnis als Fall der „Einwilligung", doch handelt es sich dabei nicht um freie Disposition des Rechtsgutsträgers, sondern um sachgebundene Wertabwägung eines Staatsorgans. 16 Vgl. näher Kienapfel, ÖJZ 1975, 423 f. 17 So die h.L.; vgl. LK U (Hirsch) § 35 Rdn. 2; Schönke/Schröder/Lenckner, § 35 Rdn. 1. Anders Maurach/Zipf, Allg. Teil I § 33 Rdn. 6ff. aufgrund der Tatverantwortungslehre; ferner Rudolphi, ZStW 78 (1966) S. 95 ff. 18 Sonderregelungen bestehen jedoch für die Abwehr von Wildschäden (§ 26 BJagdG) und den Schutz des Wildes vor wildernden Hunden und Katzen (§ 23 BJagdG), der durch das Landesrecht näher geregelt ist (z.B. § 23 I Nr. 2 LJagdG von Baden-Württemberg i.d.F. vom 20.12.1978 [GBl. 1979 S. 12], wo nicht wie in § 228 BGB eine Einschränkung für den Fall eines außer Verhältnis zu der Gefahr stehenden Schadens gemacht wird).

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D e r rechtfertigende N o t s t a n d

außer Verhältnis zu der abgewendeten Gefahr steht. Eine Gefahr droht, wenn der Eintritt eines Schadens wahrscheinlich ist (BGH 18, 271 [272f.]). § 228 BGB findet vor allem auf Tierangriffe Anwendung, während § 32 auf Angriffe von Menschen beschränkt ist, wie die Gegenüberstellung von Notwehr und Sachwehr in §§ 227 und 228 BGB ergibt (vgl. oben § 32 I I l a Fußnote 6). Beispiele: Ein wütender Hund wird vom Angegriffenen getötet. Ein Waldbrand, der Menschen und Sachwerte gefährdet, wird durch Einschläge und Gegenfeuer bekämpft. Ein brennendes Gebäude, das benachbarte Baulichkeiten in Brand zu setzen droht, wird niedergerissen.

Art und Maß der Abwehr der Sachgefahr müssen erforderlich sein. Hierzu gilt entsprechend, was zur Erforderlichkeit der Verteidigungshandlung bei der Notwehr gesagt worden ist (vgl. oben § 32 I I 2). So muß man z.B. einen Hund zunächst durch Rufe oder Schläge zu vertreiben suchen, ehe man zur Schußwaffe greift (RG 34, 295). Zur Rechtfertigung der Abwehr nach § 228 BGB wird im Gegensatz zur Notwehr weiter verlangt, daß der durch die Verteidigung angerichtete Schaden nicht außer Verhältnis zu der abgewendeten Gefahr stehen darf. Diese Einschränkung bedeutet jedoch nicht, daß die Zulässigkeit der Sachwehr grundsätzlich vom Wertverhältnis der beteiligten Güter abhängt; Sachgefahren muß jedermann auch dann abwehren dürfen, wenn der durch die Verteidigungshandlung verursachte Schaden erheblich ist. Grundgedanke der Rechtfertigung nach § 228 BGB ist nicht die Rettung des höherwertigen Guts, sondern das natürliche Recht zur Verteidigung des bedrohten Interesses. Die Rechtmäßigkeit der Sachwehr beruht also nicht auf dem Gesichtspunkt der Werterhaltung (Wegfall des Erfolgsunrechts), sondern auf dem der rechtlichen Billigung der Verteidigungshandlung (Wegfall des Handlungsunrechts) 19. Der Gedanke des Zurücktretens eines geringfügigen Selbstschutzinteresses bei schwerer Beeinträchtigung des Angreifers, der auch dem Notwehrrecht Grenzen setzt (vgl. oben § 32 I I I 3 b), ist hier jedoch positiv geregelt 20, und zwar in einer Weise, die dem Verteidiger engere Grenzen zieht als bei der Notwehr: der durch die Sachwehr angerichtete Schaden darf nicht außer Verhältnis zu dem durch die Sachgefahr drohenden Schaden stehen. Bereits ein unverhältnismäßig großer Schaden wird bei der Sachwehr durch den rechtlich gebilligten Verteidigungswillen nicht aufgewogen, während bei der Notwehr nur ein unerträgliches Mißverhältnis der Güter die Rechtfertigung ausschließt. Der Unterschied erklärt sich dadurch, daß der Angriff von Seiten eines Menschen in der Regel das Rechtsbewährungsinteresse der Allgemeinheit auslöst, während die Sachgefahr nicht mehr als ein Naturereignis ist, das keine Mißachtung der Rechtssphäre des Betroffenen bedeutet. Aus diesem Grunde muß der Sachgefahr auch ausgewichen werden, wenn dazu die Möglichkeit besteht. 2. Auch bei der Sachwehr ist Nothilfe gestattet. Der Verteidiger muß auch hier mit Rettungswillen handeln, wie § 228 BGB ausdrücklich sagt („um abzuwenden"). Das Notrecht besteht selbst bei verschuldeter Gefahr (z.B. bei fahrlässiger Reizung eines bissigen Hundes), es versagt jedoch, wenn die Gefahr zu dem Zwecke herbeigeführt wird, um eine Sache unter Berufung auf Sachwehr vernichten zu können (z.B. Tötung eines fremden Hundes, den man absichtlich so lange gereizt hat, bis er nur noch durch Erschießen daran gehindert werden konnte, Menschen zu verletzen), denn die Handlung als ganze ist dann von Anfang an nichts anderes als eine vorsätzliche und rechtswidrige Sachbeschädigung. Der Unterschied zur „Absichtsprovokation" bei der Notwehr (vgl. oben § 32 I I I 3 a) liegt darin, daß der Täter bei 19

Vgl. Stratenwerth, ZStW 68 (1956) S. 49 ff. Den Güterabwägungsgedanken betont stärker Schmidhäuser, Allg. Teil S. 329. 20 Ebenso LK 9 (Baldus) § 54 Rdn. 25.

I I I . D e r zivilrechtliche Angriffsnotstand

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der Auslösung einer Sachgefahr den Kausalverlauf weitgehend beherrscht. Hat der Notstandstäter die Gefahr verschuldet, so ist er, obwohl die Tat rechtmäßig ist, nach § 228 S. 2 BGB zum Schadensersatz verpflichtet. 3. Für Fälle einer von Menschen ausgehenden Gefahr, der nicht durch Notwehr begegnet werden darf (von Menschen ausgelöster Verteidigungsnotstand), ist nicht § 228 BGB analog anzuwenden, sondern eine Interessenabwägung nach den Grundsätzen des § 34 vorzunehmen (vgl. unten § 33 IV 5). III. Der zivilrechtliche Angriffsnotstand 1. Während Notwehr und Sachwehr auf der rechtlichen Billigung des Verteidigungswillens beruhen, ist der Angriffsnotstand (§ 904 BGB) der konsequente Ausdruck des Güterabwägungsgedankens (Wegfall des Erfolgsunrechts durch Rettung des höherwertigen Guts) § 904 BGB läßt sich jedenfalls nicht auf die Lehre von der mutmaßlichen Einwilligung zurückführen 22 , denn dem Eigentümer der durch die Notstandstat betroffenen Sache wird als unbeteiligtem Dritten ohne Rücksicht auf seine eigenen Interessen ein Opfer für fremde Interessen auferlegt. Erlaubt sind nach § 904 BGB Eingriffe in fremdes Eigentum (bewegliche Sachen oder Grundstücke) 3 , wenn diese zur Abwendung einer gegenwärtigen Gefahr notwendig sind und der drohende Schaden gegenüber dem durch die Einwirkung entstehenden Schaden unverhältnismäßig groß ist. Beispiele: Ein im Hochgebirge Verirrter sucht vor dem Unwetter in einer verschlossenen Hütte Schutz, er bricht das Schloß auf, macht sich Feuer und ißt von den vorgefundenen Lebensmitteln (§§ 123, 303, 248 a). U m einen Schwerkranken in abgelegener Gegend auf die Intensivstation zu bringen, wird mangels eines Taxis ein geparkter fremder Kraftwagen benutzt (§ 248 b). Bei einer Schlägerei in einer Wirtschaft verteidigen sich die angegriffenen Gäste mit den Biergläsern des Wirts (RG 23, 116). Ein Spediteur rettet in der Kriegszeit sein Unternehmen vor polizeilichen Eingriffen durch Auslieferung der ihm anvertrauten Habe jüdischer Flüchtlinge ( O L G Freiburg JZ 1951, 223).

2. § 904 BGB verlangt eine gegenwärtige Gefahr. Bei der Sachwehr (§ 228 BGB) braucht die Gefahr dagegen nur „drohend" zu sein (vgl. oben § 33 I I 1). In § 904 BGB wird deswegen ein strengerer Maßstab angelegt, weil die Gefahr hier nicht von der Sache ausgeht, die in Anspruch genommen wird. Das Eindringen in die Hütte im vorstehenden Beispielsfall wird z.B. nicht bei einem bloß drohenden Unwetter, die Inanspruchnahme von Lebensmitteln nicht bei einem nur kürzeren Aufenthalt zulässig sein. Der Eingriff in fremdes Eigentum muß weiter notwendig sein, um das bedrohte Gut zu retten. Damit ist das gleiche gemeint wie mit dem Merkmal der Erforderlichkeit bei der Notwehr und Sachwehr, also insbesondere die Beschränkung auf eine zwar wirksame, aber zugleich auch möglichst schonende Einwirkung. Da es sich beim Angriffsnotstand um einen Eingriff in eine unbeteiligte oder allenfalls gefahrvermittelnde Sache handelt (z.B. um das Abreißen einer fremden Bretterhütte, die zwischen dem brennenden und dem eigenen Hause steht) und damit der Eingriff in eine Rechtssphäre freigegeben wird, von der die 21

Ebenso LK 9 (Baldus) § 54 Rdn. 25; SK (Samson) Vorbem. 33 vor § 32. So aber v. Weber, Notstand S. 56 ff. 23 § 904 BGB gilt entsprechend für Eingriffe in andere absolute Vermögensrechte (vgl. Ballerstedt, JZ 1951, 228; Palandt [Bassenge] § 904 BGB Rdn. 1) und sogar in fremde Gebrauchs- und Nutzungsrechte ( O L G Königsberg JW 1925, 1535). Auch ein Eingriff in das Hausrecht wird aufgrund von § 904 BGB zuzulassen sein; vgl. Staudinger (Seiler) § 904 BGB Rdn. 46, wo auch der Eingriff in den Besitz an Sachgütern einbezogen ist. Dagegen aber Roxin, Allg. Teil I § 16 Rdn. 94. 22

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D e r rechtfertigende N o t s t a n d

Gefahr nicht ausgeht, ist das Wertverhältnis der Güter gegenüber § 228 BGB umgekehrt: der drohende Schaden muß gegenüber dem durch die Einwirkung entstehenden Schaden unverhältnismäßig groß sein24. Der materielle Schadensvergleich reicht jedoch nicht aus, um die Beurteilung der Wertdifferenz abschließend zu erlauben. Vielmehr müssen auch die mit Sachgütern verknüpften besonderen Nutzungsinteressen, ideellen Bindungen und Affektionswerte und der Grad der den beteiligten Rechtsgütern drohenden Gefahren berücksichtigt werden. Beispiele: Ein Kirchenraum darf nicht ohne weiteres zum Unterstellen von Hausrat in Anspruch genommen werden, der bei einem Brande gerettet worden ist. In dem oben angeführten Fall des Schwerkranken kommt es darauf an, ob ohne hochspezialisierte ärztliche Hilfe gegenwärtige Lebensgefahr besteht und ob der fremde Kraftwagen vom Nutzungsberechtigten vorübergehend entbehrt werden kann.

3. Selbst wenn diese über die Abwägung des materiellen Wertverhältnisses hinausreichenden Gesichtspunkte Berücksichtigung finden, ist noch nicht alles in Betracht gezogen, was zur Beurteilung des Angriffsnotstandes gehört. Auch ein klares Ergebnis der Interessenabwägung rechtfertigt nicht immer die Anwendung von § 904 BGB, vielmehr muß die Einwirkung auf fremdes Gut auch nach den obersten Wertbegriffen der Gemeinschaft angemessen sein25. Diese Einschränkung steht nicht im Text des § 904, sondern ergibt sich aus einer allgemeinen Erwägung, die in der Angemessenheitsklausel des § 34 S. 2 Ausdruck gefunden hat (vgl. unten § 33 IV 3d). So gibt es Fälle, in denen der Eingriff in fremdes Eigentum eine für die Rechtsgemeinschaft unerträgliche Verletzung der Autonomie des Betroffenen bedeuten würde und deswegen nicht erlaubt sein kann. Eine Dame in kostbarem Nerzmantel entreißt etwa einer einfach gekleideten Passantin bei plötzlich einsetzendem Platzregen Mantel und Schirm, um die eigene Kleidung zu schützen (Beispiel von Welzel). Niemand darf ferner eine individuelle Notlage, für die in begrenztem Umfang öffentliche Mittel zur Verfügung stehen, durch Einwirkung auf fremdes Eigentum in weiterem Umfang abzuwenden suchen (die Ehefrau des schwerkranken Künstlers stiehlt besonders teure Medikamente in der Apotheke, um ihrem Mann besser helfen zu können, als es die Krankenkasse tut). Endlich ist die Berufung auf Notstand dann ausgeschlossen, wenn es sich um keine individuelle, sondern um eine allgemeine Volksnot handelt, z.B. um die Hungersnot in der ersten Besatzungszeit nach 1945 26 . Für die sachgemäße Entscheidung dieser Fälle muß der Gedanke leitend sein, daß sich die Notstandshandlung unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls und der übergeordneten Wertvorstellungen der Gemeinschaft als generell zu billigende Lösung des Interessenkonflikts darstellt. 4. Auch beim Angriffsnotstand ist Nothilfe zulässig und eigenes Verschulden unschädlich. Der Verteidiger muß auch hier mit Rettungswillen handeln, weil sonst der Handlungsunwert der vorsätzlichen Schädigung trotz der im Ergebnis erreichten Erhaltung des höherwertigen Gutes nicht ausgeglichen ist. Der Eigentümer der beschädigten Sache kann im Gegensatz zu § 228 S. 2 BGB in jedem Fall 24 Dazu Jakobs, Allg. Teil 13/46; Schönke/Schröder/Lenckner, § 34 Rdn. 30; Stratenwerth, Allg. Teil I Rdn. 404. 25 In diesem Sinne auch Schmidhäuser, Allg. Teil S. 337; Stratenwerth, Allg. Teil I Rdn. 402 f.; Schönke/Schröder/Lenckner, § 34 Rdn. 6; SK (Samson) Vorbem. 33 vor § 32; Roxin, Allg. Teil I § 16 Rdn. 95; anders Seelmann, Das Verhältnis S. 49 f. 26 Vgl. O L G Celle HESt 1, 139; anders bei unmittelbarer Lebensgefahr O L G Kiel SJZ 1947, 674. Vgl. auch v. Weber, M D R 1947, 78 ff.

I V . D e r rechtfertigende N o t s t a n d (§ 34)

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Schadensersatz verlangen (§ 904 S. 2 BGB), den bei Nothilfe der Begünstigte zu leisten hat. 5. Sonderregelungen nach dem Muster des § 904 BGB gehen vor. Beispiele sind die vorsätzliche Beschädigung von Schiff und Ladung zur Rettung beider aus einer gemeinsamen Gefahr (sog. große Havarie) nach §§ 700 ff. H G B (vgl. auch die Regelung der Havarie nach § 78 I BinnenSchG); das Recht des Strandvogts, bei Seenot zur Rettung von Menschenleben die erforderlichen Fahrzeuge und Gerätschaften in Anspruch zu nehmen, nach § 9 I I der Strandungsordnung vom 17.5.1874 (RGBl. S. 73); die Maßnahmen des Kapitäns bei Gefahr für Menschen oder Schiff nach § 106 I I I SeemannsG; das Recht der Notlandung für Luftfahrzeuge nach § 25 I I LuftVG; die Sonderrechte von Bundeswehr, Bundesgrenzschutz, Feuerwehr, Katastrophenschutz, Polizei und Zolldienst nach § 35 StVO.

IV. Der rechtfertigende Notstand (§ 34) 1. Das bürgerliche Recht beschränkt die Sachwehr und den Angriffsnotstand auf Eingriffe in Sachgüter, da die §§ 228, 904 BGB in dieser Hinsicht als abschließende, nicht erweiterungsfähige Regelungen angesehen werden 27 . Das Leben läßt jedoch zahlreiche Notstandslagen entstehen, die nach diesen Vorschriften nicht gelöst werden können, weil entweder andere Güter als Sachen verletzt werden müssen oder eine Abwägung nicht zwischen Gütern, sondern zwischen Pflichten stattzufinden hat. Beispiele: Der Arzt durchfährt eine Einbahnstraße in der Gegenrichtung, um zu einem Schwerverletzten zu eilen ( O L G Hamm VRS 14, 431; O L G Düsseldorf VRS 30, 444). Eine Geisteskranke wird während ihrer Erregungszustände von der Familie eingeschlossen, um ihr Weglaufen aus dem Haus zu verhindern (§ 239) (BGH 13, 197). Ein Meineid (§ 154) wird zur Abwendung einer Leibes- und Lebensgefahr geleistet (BGH GA 1955, 178 [179f.]). Der Arzt offenbart die ansteckende Erkrankung der Hausgehilfin (§ 203 I Nr. 1), um eine gesundheitliche Schädigung der Kinder des Arbeitgebers zu verhüten, die ebenfalls seine Patienten sind. Der Unfallbeteiligte verläßt den Unfallort (§ 142), um einen Schwerverletzten ins Krankenhaus zu fahren 28 .

Ursprünglich enthielt das StGB für diese Fälle keine Regelung. Sie wurden jedoch schon seit Beginn des 20. Jahrhunderts diskutiert, vor allem am Beispiel des zur Rettung der Mutter erforderlichen Schwangerschaftsabbruch. Zur Begründung eines übergesetzlichen Rechts, bei medizinischer Indikation eine Abtreibung (§ 218) vorzunehmen, wurden in der Rechtslehre die „Güterabwägungstheorie" 2 und die „Zwecktheorie" 30 entwickelt. Auch das Reichsgericht deutete in verschiedenen Entscheidungen an, daß ein Güter- oder Pflichtennotstand ein allgemeines Prinzip der Rechtfertigung darstellen könnte (RG 20, 190 [192]; 36, 78 [80]; 38, 62 [64]). So war der Weg vorbereitet für das bahnbrechende Urteil des Reichsgerichts vom 11.3.1927 (RG 61, 242 [254]), das anhand eines Schwangerschaftsabbruchs wegen Selbstmordgefahr den übergesetzlichen Notstand nach dem Prinzip der Güter- und Pflichtenabwägung als Rechtfertigungsgrund anerkannt hat (übergesetzlicher Notstand) 31 (vgl. auch RG 62, 137; B G H 2, 111; 3, 7). Der Schwanger27 Die analoge Anwendung von §§ 228, 904 BGB auf andere Eingriffe wird abgelehnt; vgl. Staudinger (Seiler) § 904 BGB Rdn. 46. 28 Ein gesetzlich geregeltes Notrecht ist die Nottrauung nach § 67 Personenstandsgesetz. 29 Vgl. Binding , Handbuch S. 762; Beling, Grundzüge S. 15; Mezger, Lehrbuch S. 239ff. Uberblick bei Meißner, Die Interessenabwägungsformel S. 99 ff. 30 Baumgarten, Notstand und Notwehr S. 61; Graf zu Dohna, Recht und Irrtum S. 11; Eb. Schmidt, ZStW 49 (1929) S. 379 ff. 31 Vgl. dazu Eb. Schmidt, ZStW 49 (1929) S. 350 ff.; Wachinger, Frank-Festgabe Bd. I S. 472 ff.

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D e r rechtfertigende N o t s t a n d

schaftsabbruch zur Rettung v o n Leben oder Gesundheit der M u t t e r (medizinische Indikation) ist jetzt nach § 218a I I gerechtfertigt. I m W o r t l a u t der Vorschrift k o m m t klar z u m Ausdruck, daß es sich dabei u m einen Rechtfertigungsgrund handelt. 2. D i e praktische Bedeutung der Anerkennung des rechtfertigenden Notstands erschöpfte sich jedoch nicht i n der Rechtfertigung des Schwangerschaftsabbruchs aus medizinischen Gründen. D i e seit 1927 ergangenen Entscheidungen betreffen vielmehr die verschiedensten Rechts- und Lebensgebiete 32 . Anfangs standen Fälle mit politischem Einschlag im Vordergrund. In RG 62, 35 (46 f.), wo zum ersten Mal der Ausdruck „übergesetzlicher Notstand" erscheint, wird die Frage erörtert, ob die Einfuhr unverzollter Waren in das Ruhrgebiet zur Erhaltung der Wirtschaft des besetzten Landes rechtmäßig war. RG 63, 215 (224 ff.) und 64, 101 (104) behandeln das Problem des Staatsnotstands bei der Tötung angeblicher Landesverräter in der „Schwarzen Reichswehr" („Fememord-Urteile"). In RG 65, 422 (427) wird im Falle der Beschimpfung des Reichspräsidenten übergesetzlicher Notstand in Erwägung gezogen. Ein anderes Urteil erörtert unter diesem Gesichtspunkt die Teilnahme an staatsfeindlichen Verbindungen zur Zeit der „Bauernnotbewegung" (RG vom 28.5.1932, I I D 945/31). Abgelehnt wurde ein übergesetzlicher Notstand aufgrund eines Selbstbestimmungsrechts der Südtiroler (BGH NJW 1966, 310 [312]). Häufig war die Anwendung der Grundsätze des übergesetzlichen RG 77, 113 (115 f.) bejaht die Möglichkeit übergeNotstands ferner im Wirtschaftsstrafrecht. setzlichen Notstands bei der Wegnahme von Wehrmachtsbenzin für die zivile Versorgung im Kriege. O G H 1, 343 (348 ff.) erörtert die Frage des Notstands bei Kompensationsgeschäften zur Erhaltung der Leistungsfähigkeit eines Betriebes, B G H GA 1956, 382 beim Verstoß gegen Devisenvorschriften zur Erhaltung der Liquidität einer Bank. O L G Hamm NJW 1952, 838 und BayObLG NJW 1953, 1603 ziehen den übergesetzlichen Notstand heran bei der Nichteinhaltung von Preisvorschriften zum Schutze der Arbeitsplätze der Belegschaft. B G H 12, 299 (304ff.) (m.abl.Anm. Bockelmann, JZ 1959, 498) läßt die Veruntreuung öffentlicher Mittel angesichts der Gefahr hoher wirtschaftlicher Verluste bei gleichzeitiger Gefährdung kulturpolitischer und gesamtpolitischer Belange zu (einschränkend zu Recht B G H spielte der überNJW 1976, 680, kritisch dazu Küper, JZ 1976, 515 ff.). Im Verkehrsstrafrecht gesetzliche Notstand eine zunehmende Rolle. Die Hilfspflicht gegenüber Verletzten geht dem Verbot des Sichentfernens vom Unfallort vor (BGH 5, 124 [127]). Gerechtfertigt ist auch, wer nach einem Verkehrsunfall unter Verstoß gegen § 142 flieht, um nicht verprügelt zu werden (BGH VRS 36, 24). Ein Kraftfahrer darf die zulässige Höchstgeschwindigkeit überschreiten, um einen vorausfahrenden L K W wegen eines Schadens am Fahrzeug zu warnen (OLG Düsseldorf NJW 1970, 674). Geheimhaltungspflichten durften nach den Grundsätzen des übergesetzlichen Notstands verletzt werden, wenn der Arzt etwa einer Ansteckungsgefahr vorbeugen wollte (RG 38, 62 [64]) oder der Behörde von der Verkehrsuntauglichkeit eines Patienten Mitteilung machte (OLG München M D R 1956, 565), wenn ein Rechtsanwalt sich in einem gegen ihn geführten Strafverfahren nicht anders zu verteidigen vermochte (BGH 1, 366 [368]) oder ein Richter beim Kollegialgericht dem Vorwurf der Rechtsbeugung durch den Nachweis entgegenzutreten suchte, daß er gegen die betreffende Entscheidung gestimmt habe (BGH GA 1958, 241). Endlich ist eine im Rahmen der Familienpflege erforderliche zeitweilige Einschließung einer Geisteskranken als Notstandsmaßnahme gebilligt worden, um sie nicht in Anstaltspflege geben zu müssen (BGH 13, 197 [201]). 3. Der Uberblick über die Rechtsprechung ergibt, daß der rechtfertigende N o t stand ein allgemeiner Rechtsgedanke ist, der bei Interessenkollisionen verschiedenster A r t i n Betracht k o m m t u n d darum große praktische Bedeutung besitzt. U m der Rechtsprechung eine sichere Grundlage zu geben, wurde der rechtfertigende Notstand gesetzlich geregelt (§ 34 StGB; § 16 O W i G ; übereinstimmend m i t § 39 Ε 1962). I m Unterschied zur N o t w e h r beruht der Notstand allein auf dem Prinzip der Erhaltung des gefährdeten höherwertigen Interesses, während der 32

Vgl. näher Heinitz, Eb. Schmidt-Festschrift S. 269ff.; Lenckner, Notstand S. 50ff.

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Gedanke der Rechtsbewährung hier keine Rolle spielt (Interessenabwägungstheorie). Deshalb muß auch der Gefahr, wenn irgend möglich, ausgewichen werden und ist die Interessenabwägung der maßgebende Grund der Rechtfertigung. a) Die Notstandslage besteht in einer gegenwärtigen Gefahr für Leben, Leib, Freiheit, Ehre, Eigentum oder ein anderes Rechtsgut, die nur durch eine tatbestandsmäßige Handlung abgewendet werden kann. Damit ist jedes Rechtsgut als notstandsfähig anerkannt, einschließlich der Rechtsgüter der Allgemeinheit (z.B. Lebensmittelversorgung, Verkehrssicherheit, Bestandsinteresse des Staates). Doch setzt die Angemessenheitsklausel (vgl. unten § 33 IV 3d) dabei engere Grenzen. Aber auch jedes Rechts gut darf durch Notstandseingriff in Anspruch genommen werden. Nur für das Leben besteht eine Ausnahme, da Menschenleben nicht gegeneinander aufgerechnet werden dürfen 33 . Dies gilt auch für die Fälle, in denen mehrere Menschen, die in einer Gefahrengemeinschaft stehen, in Lebensgefahr geraten, sowie für die Rettung vieler Menschen durch Opferung eines einzigen. Beispiele: Das Schließen der Schotten in einem durch Wassereinbruch bedrohten U-Boot ist zwar zur Rettung des Schiffs notwendig, die Tötung der dadurch eingeschlossenen Seeleute wird jedoch durch die Rettung der anderen nicht gerechtfertigt, sondern nur entschuldigt (§ 35). Die Mitwirkung an der Tötung von Geisteskranken durch Arzte, die andere Geisteskranke dadurch retten wollten, ist nicht gerechtfertigt (BGH NJW 1953, 513). Ein geistig verwirrter Täter wollte dem „Katzenkönig" ein Menschenopfer bringen, um dadurch Millionen von Menschen zu retten; er war natürlich nicht nach § 34 gerechtfertigt (BGH 35, 347 [350]).

Gegenwärtig ist die Gefahr, wenn nach objektiver Betrachtung ex ante der Eintritt eines Schadens alsbald oder zu einem späteren Zeitpunkt (Dauergefahr) so wahrscheinlich ist, daß die notwendigen Maßnahmen zum Schutz des bedrohten Rechtsguts vernünftigerweise sofort zu treffen sind. Beispiel: Ein Unbekannter hatte ein Ehepaar durch wiederholtes nächtliches Eindringen in ihr Schlafzimmer in ständige Angst versetzt und war schließlich bei dem Versuch, ihn festzunehmen, von dem Ehemann durch zwei Schüsse verletzt worden, obwohl er sich zur Flucht gewandt hatte. B G H NJW 1979, 2053 ließ § 34 offen, nahm aber einen Schuldausschluß nach § 35 an (vgl. zur Dauergefahr beim entschuldigenden Notstand unten § 44 I 2) 3 4 .

b) Die Gefahr für das bedrohte Rechtsgut darf ferner nicht anders abwendbar sein 35 . Dies bedeutet, daß die im Widerstreit stehenden Güter in der Weise miteinander kollidieren müssen, daß das eine nur durch die Opferung des anderen geret33

Hierzu umfassend Küper, JuS 1981, 785 ff. Angesichts der Unsicherheit hinsichtlich der Absichten des Eindringlings (Verletzung der Intimsphäre, Einbruchsdiebstahl, Raub, Sexualdelikt, Straftat gegen Leib oder Leben) waren selbst die lebensbedrohenden Schüsse zu rechtfertigen, um der ständigen, nach Art und Zeitpunkt ungewissen Bedrohung der eigenen Sicherheit zu begegnen. So zu Recht Schönke/ Schröder/Lenckner, § 32 Rdn. 17; Hruschka, NJW 1980, 22; Hirsch, JR 1980, 116f.; Schroeder, JuS 1980, 336; Roxin, Allg. Teil I § 16 Rdn. 74. 35 Damit ist ebenso wie bei der Notwehr die „Erforderlichkeit" des Notstandseingriffs gemeint; vgl. Stree, in: Roxin u.a., Einführung S. 40f.; LK U (Hirsch) § 34 Rdn. 50. Das Gefahrurteil ist „ex ante" nach der Auffassung eines verständigen Beobachters zu fällen, der auch das Sonderwissen des Täters besitzt. So Roxin, Allg. Teil I § 16 Rdn. 15. Dagegen will Jakobs, Allg. Teil 13/13 auf das Urteil des „zuständigen Fachmanns", Schaff stein, BrunsFestschrift S. 89 ff. auf das des verständigen Beobachters „aus dem Verkehrskreis des Täters", Schönke/Schröder/Lenckner, § 34 Rdn. 14 auf „das gesamte menschliche Erfahrungswissen" abstellen. Zum ganzen Lenckner, Lackner-Festschrift S. 95 ff.; Dimitratos, Das Begriffsmerkmal der Gefahr S. 141 ff. 34

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tet werden kann. Kommt zur Rettung ein Eingriff in verschiedene Rechtsgüter in Frage, so muß der Notstandstäter unter den mehreren geeigneten Wegen denjenigen auswählen, der die Rettung durch die relativ geringste Beeinträchtigung verspricht. Eine spezifische Kollisionsbeziehung zwischen dem geopferten und dem geretteten Rechtsgut braucht darüber hinaus nicht zu bestehen 6 . c) Weiter muß die Gesamtabwägung der widerstreitenden Interessen ergeben, daß das geschützte Interesse das durch die Notstandshandlung beeinträchtigte wesentlich überwiegt 37 . Das Merkmal „wesentlich" bedeutet dabei, daß das Überwiegen im konkreten Fall zweifelsfrei zu bejahen ist 3 8 . Bei dieser Interessenabwägung erscheinen der Wert der beteiligten Güter und die Höhe der materiellen und ideellen Schäden, die eintreten bzw. zu erwarten sind, zwar als wichtige Faktoren, aber nicht als einzige oder ausschlaggebende Momente der Bewertung. Auch die Nähe und Schwere der dem geschützten Gut drohenden Gefahr, die funktionale Bedeutung der beteiligten Güter, der Grad der Eignung der Notstandshandlung zur Abwendung der Gefahr, die Unersetzlichkeit des eintretenden Verlusts, das Bestehen einer Garantenpflicht des Täters gegenüber dem Opfer, wie endlich auch der Endzweck, den der Notstandstäter verfolgt, müssen mit abgewogen werden. Eine Rolle spielt auch, ob die Gefahr gerade von der Seite droht, in die eingegriffen werden muß 3 9 . Bei dieser konkreten Betrachtungsweise kann sich ergeben, daß auch einmal das an sich ranghöhere Gut, z.B. das Interesse an der körperlichen Unversehrtheit, hinter dem Schutz eines an sich geringer einzustufenden Sachwerts zurücktreten muß oder daß Vorschriften, die dem Schutz der Allgemeinheit dienen, verletzt werden dürfen, um die unmittelbare Gefahr für Leben oder Gesundheit eines einzelnen abzuwenden. Beispiele: Beim Abbruch einer Schwangerschaft aus medizinischer Indikation sind die beteiligten Güter, nämlich das Leben der Mutter und das der Leibesfrucht, gleichwertig; das Leben des Kindes ist im Falle der Gefahr eines bloßen Gesundheitsschadens der Mutter sogar höherwertig. Trotzdem greift § 218 a I I ein. Beim Warenhausbrand darf die Feuerwehr ihre Löschzüge einsetzen, auch wenn die Gefahr besteht, daß Neugierige durchnäßt werden und sich möglicherweise erkälten. Der Arzt darf die Höchstgeschwindigkeit überschreiten, um möglichst schnell zu einem Schwerkranken zu gelangen, sofern er dies mit aller nach Sachlage möglichen Vorsicht tut ( O L G Frankfurt D A R 1963, 244), insbesondere niemanden konkret gefährdet (OLG Karlsruhe VRS 46, 275). Dagegen darf auch ein Doppeltamputierter nicht an seiner Arbeitsstelle auf dem Gehweg parken ( O L G Düsseldorf D A R 1982, 336). Dem Volltrunkenen darf der Zündschlüssel weggenommen werden, um eine Trunkenheitsfahrt zu verhindern ( O L G Koblenz NJW 1963, 1991). Die Einsatzfahrt eines infolge Alkoholgenusses nicht fahrtüchtigen Tanklöschzugführers ist rechtmäßig, wenn er der einzige 36 Der „Konzertreisefair (BGH 12, 299; dazu Bockelmann/Volk, Allg. Teil S. 97) ist nach der Angemessenheitsformel des § 34 S. 2 zu lösen und die Rechtfertigung deswegen zu verneinen (vgl. unten § 33 IV 3d; anders 3. Auflage S. 290). Generell kann ein Zugriff auf fremde Geldmittel nur ganz ausnahmsweise nach § 34 gerechtfertigt sein (BGH NJW 1976, 680). 37 Vgl. zu den verschiedenen Faktoren Blei, Allg. Teil S. 166 ff.; Dreher/Tröndle, § 34 Rdn. 10 ff.; Eser/Burkhardt, Strafrecht I Nr. 12 A Rdn. 33 ff.; LK U (Hirsch) § 34 Rdn. 53 ff.; Maurach/Zipf, Allg. Teil I § 27 Rdn. 20ff.; Jakobs, Allg. Teil 13/20ff.; Lenckner, Notstand S. 90ff.; derselbe, GA 1985, 295 ff.; Küper, GA 1976, 518; Roxin, Allg. Teil I § 16 Rdn. 22ff.; Hilgendorf, JuS 1993, 100ff.; SK (Samson) § 34 Rdn. 11 ff.; Wessels, Allg. Teil Rdn. 310. 38 So Küper, GA 1983, 296ff.; Dreher/Tröndle, § 34 Rdn. 8; Roxin, Oehler-Festschrift S. 184; Schönke/Schröder/Lenckner, § 32 Rdn. 45; Stratenwerth, Allg. Teil I Rdn. 458. Anders dagegen LK n (Hirsch) § 34 Rdn. 76 (qualifiziertes Übergewicht); Jakobs, Allg. Teil 13/ 33 (die Interessenbilanz muß erheblich positiv sein). Rechtfertigung sogar bei Gleichwertigkeit nimmt zu Unrecht Delonge, Interessenabwägung S. 167 ff. an. 39 Vgl. den Hinweis von Ortrun Lampe, NJW 1968, 90 auf die Analogie zu §§ 228 und 904 BGB. Eingehend dazu Roxin, Jescheck-Festschrift Bd. I S. 457 ff. sowie unten § 33 IV 5.

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Fahrer ist, der zur Verfügung steht und es um die Rettung Verunglückter geht ( O L G Celle VRS 63, 449; ferner O L G Hamm VRS 20, 232; O L G Koblenz NJW 1988, 2316). Verurteilte Terroristen dürfen aus der Strafhaft entlassen werden, um das unmittelbar bedrohte Leben einer Geisel zu retten (Fall Lorenz) 40 . Dagegen ist ein Wertvergleich der Güter überhaupt ausgeschlossen, wenn es sich um eine rein quantitative oder gar qualitative Differenzierung von Menschenleben handeln würde. Deswegen konnte übergesetzlicher Notstand den Ärzten, die sich durch Aufstellung von Vernichtungslisten an den Anstaltstötungen beteiligt hatten, um wenigstens einen Teil ihrer Pfleglinge zu retten, nicht zugebilligt werden ( O G H 1, 321 [334]; 2, 117 [121]; B G H NJW 1953, 513 [514]) 41 . D i e Notstandslage braucht nicht unverschuldet zu sein, ein Verschulden kann jedoch bei der Interessenabwägung eine Rolle spielen. Außerdem kann der Täter, der sein Rechtsgut schuldhaft i n die Notstandslage gebracht hat, unter Umständen deshalb zur Verantwortung gezogen w e r d e n 4 2 . Beispiel: Der Betroffene befuhr mit einem mit Fäkalien schwer beladenen L K W unvorsichtigerweise einen schmalen unbefestigten Feldweg, als sein Fahrzeug in einen Graben absackte. Das Auskippen der Ladung auf den Acker, um einen hohen Schaden an dem L K W zu vermeiden, war nach § 16 O W i G gerechtfertigt. Eine Geldbuße ist aber zulässig, wenn das Befahren des Feldweges für sich schon eine Ordnungswidrigkeit gewesen wäre (BayObLG NJW 1978, 2046). Dagegen muß sich, wer aus einer von ihm selbst fahrlässig in Brand gesetzten Scheune selbst brennend ins Freie stürzt, wenn er jemanden, der ihm den Fluchtweg versperrt, beiseite stößt, entgegenhalten lassen, daß er den Notstand selbst verschuldet hat (BGH NJW 1989, 2479 [2481]). d) Selbst wenn der durch die Tat geschützte Wert deutlich gegenüber dem geopferten überwiegt, ist die Tat nicht immer gerechtfertigt. D i e Notstandshandlung muß nämlich nicht nur werterhaltend, sondern auch „angemessen" sein, d.h. es muß i n der konkreten Situation sachgemäß, billigenswert u n d i m Interesse der Gerechtigkeit erlaubt sein, die Notstandslage durch Beeinträchtigung des kollidierenden Interesses zu überwinden. D e r Richter muß also zwei Wertungen vornehm e n 4 3 . D i e klassische Entscheidung R G 61, 242 enthielt diesen Gedanken bereits, 40 Bejahend dazu Krey, ZRP 1975, 97ff. mit der allerdings abzulehnenden These von einem Beurteilungsspielraum, innerhalb dessen die Entscheidung einen „justizfreien Hoheitsakt" darstelle (S. 100); ferner Küper, Darf sich der Staat erpressen lassen? S. 141; Lange, § 32 Rdn. 7; B G H 27, 260 (262 f.) („KonNJW 1978, 784; Schönke/Schröder/Lenckner, taktsperrebeschluß"); BVerfGE 46, 160 (164f.) („Schleyer-Urteil"); 46, 214 (223f.) („PohleBeschluß"). Gegen die Anwendbarkeit des § 34 bei hoheitlichem Handeln Amelung, NJW 1977, 833; derselbe, NJW 1978, 623; Böckenförde, NJW 1978, 1883 f.; Jakobs, Allg. Teil 13/ 42; LK n (Hirsch) § 34 Rdn. 6ff. mit eingehender Begründung; SK (Samson) § 32 Rdn. 5b; Sydow, JuS 1978, 222; dafür bei Eingriffen in Rechtsgüter des Staates und der Allgemeinheit auch Hirsch, Cieslak-Festschrift S. 126 f. 41 Vgl. dazu Eb. Schmidt, SJZ 1949, 559; Welzel, ZStW 63 (1951) S. 47 und M D R 1949, 373; Krey, JuS 1971, 248. Für Rechtfertigung dagegen Mangakis, ZStW 84 (1972) S. 477. 42 So Baumann/Weber, Allg. Teil S. 347; Dreh er/Tröndle, § 34 Rdn. 6; Dencker, JuS 1979, 779; LK U (Hirsch) § 34 Rdn. 70; Küper, „Verschuldeter" Notstand S. 21 ff.; Roxin, Allg. Teil I § 16 Rdn. 50; Küpper, JuS 1990, 188; Schönke/Schröder/Lenckner, § 34 Rdn. 42. 43 Die Angemessenheitsklausel wird vielfach als überflüssige Leerformel angesehen, weil alle Gesichtspunkte schon bei der Interessenabwägung zu berücksichtigen seien; so Baumann/Weber, Allg. Teil S. 351; Bockelmann/Volk, Allg. Teil S. 100; Küper, JZ 1980, 755; Krey, ZRP 1975, 98; Schönke/Schröder/Lenckner, § 34 Rdn. 46; Stree, in: Roxin u.a., Einführung S. 43. Nach Roxin, Allg. Teil I § 16 Rdn. 85 soll die Angemessenheitsklausel nur die Menschenwürde als „bindenden Interpretationshinweis" für § 34 S. 1 festlegen. Die eigenständige Bedeutung liegt indessen darin, daß vielfach auch ein wesentlich überwiegendes Interesse aus Gründen der Gesamtrechtsordnung nicht durch Notstandseingriff durchgesetzt werden darf; so Dreh er/Tröndle, § 34 Rdn. 12; Göhler, § 16 O W i G Rdn. 12; Grebing, GA 1979, 89ff.; Amelung/Schall, JuS 1975, 569; Kienapfel, ÖJZ 1975, 429; Hruschka, JuS 1979,

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indem sie die „ w i r k l i c h e oder mutmaßliche E i n w i l l i g u n g der Schwangeren" zur Bedingung des Eingriffs machte (S. 256) (ebenso § 218 a II). Die Angemessenheitsklausel ist i n § 34 S. 2 und § 16 S. 2 O W i G ausdrücklich aufgenommen worden, u m die Notstandsfrage auch an „den anerkannten Wertvorstellungen der Allgemeinheit" zu messen (vgl. Ε 1962 Begründung S. 159; BT-Drucksache V/4095 S. 15). Aus § 34 S. 2 sind u.a. folgende Einschränkungen des Notstandsrechts abgeleitet worden: A u f Notstand kann man sich nicht berufen, wenn die Rechtsordnung für die Bewältigung einer Gefahr ein bestimmtes Verfahren vorsieht, das der Täter nicht eingehalten h a t 4 4 . V o r einer Notstandshandlung muß zunächst versucht werden, die E i n w i l l i g u n g des Betroffenen zu erlangen 4 5 . A u f Notstand kann sich nicht berufen, wer aufgrund seiner Stellung die Gefahr hinnehmen muß. Erhebliche schädliche Folgewirkungen (z.B. Erschütterung des Vertrauens i n die Wahrung des Arztgeheimnisses) können eine Rechtfertigung ausschließen. A u t o n o m i e u n d Menschenwürde des Betroffenen können die Rechtfertigung der Notstandstat ausschließen 4 6 . Beispiele: Die Polizei darf zur Aufdeckung eines Rauschgifthandels keine Kontaktpersonen einschleusen, sondern ist an die Durchsuchungsvorschritten der StPO gebunden (anders O L G München NJW 1972, 2275 m.abl.Anm. Otto, NJW 1973, 668 und Amelung/Schall, JuS 1975, 596 ff.). Die Befugnis von Strafverfolgungsbehörden zum Abhören und Aufzeichnen von Telefongesprächen ist in §§ 100 a, 100 b StPO abschließend geregelt; rechtfertigender Notstand kommt nur in ganz außergewöhnlichen Fällen in Betracht (BGH 31, 304 [307]). Ebenso dürfen Verteidigerbesuche bei Beschuldigten in Untersuchungshaft (§ 48 StPO) nur unter außerordentlichen atypischen Umständen (hier: Steigerung der Lebensgefahr für das Entführungsopfer) untersagt werden (BGH 27, 260). Dagegen ist auch in Fällen schwerster Kriminalität das Interesse, ein Beweismittel zu gewinnen, nicht ausreichend, um die Aufnahme eines Gesprächs des Angeklagten mittels einer geheimen Abhöranlage auf Tonband zu rechtfertigen (BGH 34, 39 [51 f.]). Zugriff auf fremdes Geld wird in der Regel nicht durch § 34 erlaubt sein, weil Notlagen, die sich durch Geld beheben lassen, meist durch andere Verfahren abgedeckt sind oder als unbehebbar hingenommen werden müssen (anders B G H 12, 299 [304 f.]). Blutentnahme bei einem Toten zu Beweiszwecken ist unzulässig, da besondere Beweissicherungsverfahren bestehen (anders O L G Frankfurt JZ 1975, 379 m.abl.Anm. Geilen, JZ 1975, 380; einschränkend aber O L G Frankfurt NJW 1977, 859). Der Soldat, Feuerwehrmann oder Beamte der Vollzugspolizei muß auch zum Schutz von Sachwerten Gefahren für Leib und Leben auf sich nehmen und kann sich nicht auf Notstand berufen, wenn er seine Pflichten verletzt. Der Klinikbesucher, der zufällig eine gerade benötigte seltene Blutgruppe hat, darf nicht zum Blutspenden gezwungen werden, weil Hilfeleistung in solchen Fällen ein Akt sittlicher Freiheit ist 4 7 . Ein Patient darf nicht gegen seinen Willen zu medizinischen Versuchen herangezogen werden, auch wenn diese für den Fortschritt der Medizin von höchster Bedeutung sind, weil auch dies dem Selbstbestimmungsrecht widerspräche. Ebenso ist eine Transplantation von Organen ohne Zustimmung des lebenden Spenders unzulässig, auch wenn das Leben eines Patienten davon abhängt. Auch bei der Organtransplantation von Toten muß das zu Lebzeiten gegebene Einverständnis des Verstorbenen vorliegen. 390; Joerden, GA 1991, 411 ff.; Lackner, § 34 Rdn. 14; Kühl, Allg. Teil § 34 Rdn. 166ff.; Preisendanz, § 34 Anm. 3 c; Stratenwerth, Allg. Teil I Rdn. 460; Wessels, Allg. Teil Rdn. 321. Vermittelnd Eser/Burkhardt, Strafrecht I Nr. 12 A Rdn. 39ff.; LK n (Hirsch) § 32 Rdn. 79 („Kontrollklausel"); Maurach/Zipf, Allg. Teil I § 27 Rdn. 38. Wie der Text wohl auch B G H NJW 1976, 680 (681) zum Zugriff eines Rechtsanwalts auf Mandantengeld. 44 Insoweit zustimmend auch SK (Samson) § 34 Rdn. 22. 45 Vgl. Eser/Burkhardt, Strafrecht I Nr. 12 A Rdn. 43. 46 Für diesen Fall auch Roxin, Jescheck-Festschrift Bd. I S. 466 Fußnote 30. 47 So Gallas, Beiträge S. 70; Stratenwerth, Allg. Teil I Rdn. 462; Wessels, Allg. Teil Rdn. 321; Schönke/Schröder/Lenckner, §34 Rdn. 41 e. Anders Roxin, Jescheck-Festschrift Bd. I S. 471 Fußnote 40; Baumann/Weher, Allg. Teil S. 350; Delonge, Interessenabwägung S. 150 ff. Zweifelnd Jakobs., Allg. Teil 13/25.

V . D i e rechtfertigende Pflichtenkollision

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4. Nothilfe ist auch beim rechtfertigenden Notstand zulässig. Der Täter muß auch hier mit Rettungswillen handeln, was in § 34 StGB, § 16 OWiG ausdrücklich gesagt ist 4 8 . Dagegen bedarf es, wenn die Voraussetzungen des Notstands objektiv vorliegen, nicht des Nachweises, daß der Täter eine gewissenhafte Prüfung vorgenommen hat (anders RG 62, 137 [138]) 49 . Die Verletzung der Prüfungspflicht gewinnt nur dann Bedeutung, wenn die objektiven Notstandsvoraussetzungen fehlen und der Täter dies bei gewissenhafter Prüfung hätte erkennen müssen (vgl. über den Irrtum unten § 41 IV 2). 5. Die Regelung des § 34 für den rechtfertigenden Notstand ist auch auf die Fälle anzuwenden, in denen die Gefahr von einem Menschen ausgeht, ohne daß ihr durch Notwehr begegnet werden darf (durch Menschen ausgelöster Defensivnotstand) 50 . Hierhin gehört die Abwehr einer von einem Menschen drohenden Schädigung, der die Handlungsqualität fehlt, wenn ein Kraftfahrer etwa bei Eisglätte ohne Sorgfaltsverletzung auf den Bürgersteig gerät (vgl. oben § 32 I I 1 a). Weiterhin ist ein Defensivnotstand gegenüber einer durch Menschen ausgelösten Gefahr im Falle der Notwendigkeit der Tötung eines Kindes während der Geburt zur Rettung der Mutter oder Vermeidung eines schweren Gesundheitsschadens gegeben, eine Komplikation, die bei Versäumung rechtzeitigen Kaiserschnitts eintreten kann. Nach § 34 sind endlich die Fälle der nicht gegenwärtigen, aber ständig drohenden Gefahr zu beurteilen (vorübergehende Einschließung der geisteskranken Mutter beim Auftreten von Erregungszuständen, B G H 13, 197; Schuß auf den das Ehepaar terrorisierenden „Spanner", der sich schon zur Flucht gewendet hat, B G H NJW 1979, 2053). V. Die rechtfertigende Pflichtenkollision 1. Ein Unterfall des rechtfertigenden Notstands 51 ist die rechtfertigende Pflichtenkollision. Eine solche liegt vor, wenn jemand eine ihm obliegende Rechtspflicht nur auf Kosten einer anderen ihm gleichfalls obliegenden Rechtspflicht erfüllen kann, wobei die Verletzung der Pflicht, gegen die er verstößt, eine mit Strafe bedrohte Handlung oder Unterlassung darstellt (RG 59, 404, 406 f.). Drei Fallgruppen der Pflichtenkollision sind zu unterscheiden 52. Eine Handlungspflicht kann mit einer Unterlassungspflicht in Widerstreit treten. Dies ist etwa der Fall, wenn ein Arzt das Berufsgeheimnis, das ihm einem Patienten gegenüber obliegt (Unterlassungspflicht), bricht, um andere Patienten vor einer Ansteckungsgefahr zu warnen (Handlungspflicht) (RG 38, 62 [64]). Weiter können zwei Handlungspflichten in der Weise zusammentreffen, daß nur eine von beiden erfüllt 48 LK U (Hirsch) § 34 Rdn. 45 ff.; Schönke/Schröder/Lenckner, § 34 Rdn. 48 und Kühl, Allg. Teil § 8 Rdn. 183 verlangen dagegen auch hier nur Kenntnis von der Notstandslage. 49 So die h.L.; vgl. Schönke/Schröder/Lenckner, § 34 Rdn. 49 m.w.Nachw.; Göhler, § 16 O W i G Rdn. 13. Anders Blei, Allg. Teil S. 150. 50 Dazu grundlegend Roxin, Jescheck-Festschrift Bd. I S. 468 ff. Ebenso Lackner, § 34 Rdn. 9; Küper, Grund- und Grenzfragen S. 72, 122; Schönke/Schröder/Lenckner, § 32 Rdn. 31; SK (Samson) § 34 Rdn. 16. Zu Recht will LK U (Hirsch) § 34 Rdn. 73 f. hier den Rechtsgedanken des § 228 BGB anwenden, während Günther, Strafrechtswidrigkeit S. 337ff. einen „Strafunrechtsausschließungsgrund" annimmt. 51 Ebenso Stratenwerth, Allg. Teil I Rdn. 468. Dagegen nimmt LK n (Hirsch) Vorbem. 74 vor § 32 trotz einer gewissen Verwandtschaft mit dem rechtfertigenden Notstand einen selbständigen Rechtfertigungsgrund an. 52 Vgl .Jansen, Pflichtenkollisionen S. 10; Küper, Grund- und Grenzfragen S. 18 ff.; Schönke/Schröder/Lenckner, Vorbem. 71 ff. vor § 32; SK (Samson) § 34 Rdn. 26 ff.

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werden kann. Diese Lage tritt z.B. ein, wenn der Arzt von zwei gleichzeitig in der Klinik eingelieferten Schwerverletzten nur einen an die einzige vorhandene HerzLungen-Maschine anschließen kann und den anderen sterben lassen muß. Schließlich können mehrere Unterlassungspfliehten dergestalt kollidieren, daß dem Täter keine erlaubte Handlungsmöglichkeit bleibt. Dies gilt etwa für den „Geisterfahrer" auf der Autobahn, der weder halten noch weiterfahren noch rückwärts fahren noch wenden darf (nach O L G Karlsruhe JZ 1984, 240 m. Anm. Hruschka ist in diesem Fall das vorsichtige Wenden gem. § 16 OWiG erlaubt). Die Pflichtenkollision unterscheidet sich vom gewöhnlichen Notstand dadurch, daß der Täter hier eine der kollidierenden Pflichten verletzen muß, wie er sich auch immer verhalten mag. Eine rein sittliche Pflicht kann jedoch nicht genügen, um die Pflichtenkollision auszulösen (anders A G Balingen NJW 1982, 1006). a) Bei der Behandlung der Pflichtenkollision ist zu unterscheiden zwischen Fällen, in denen eine Abstufung des Ranges der kollidierenden Pflichten von Rechts wegen vorgenommen werden kann, und anderen Fällen, in denen eine solche Differenzierung nicht möglich ist 5 3 . Die Abwägung der Pflichten erfolgt dabei nach den Grundsätzen des rechtfertigenden Notstands, wobei freilich zu berücksichtigen ist, daß wegen der Notwendigkeit, eine der beiden Pflichten zu verletzen, schon die geringfügig höhere Pflicht den Vorrang genießt. Maßgebend ist auch hier nicht allein das Wertverhältnis der Rechtsgüter, auf die sich die Pflichten beziehen, vielmehr kommt es entscheidend darauf an, ob sich im Hinblick auf die Gesamtheit der am Konflikt beteiligten Interessen und den vom Täter verfolgten Endzweck sowie unter Beachtung der anerkannten Wertvorstellungen der Allgemeinheit die eine Pflicht als die höhere begründen läßt. Die Verletzung der anderen ist dann durch rechtfertigende Pflichtenkollision gedeckt. Am leichtesten zu bestimmen ist das Wertverhältnis der Pflichten, wenn der Rangunterschied der Rechtsgüter, auf die sich die Pflichten beziehen, eindeutig ist. Die auf das höhere Gut bezogene Pflicht ist dann in der Regel auf Kosten der geringeren zu erfüllen. Doch kann sich das Verhältnis im Hinblick auf die weiteren zu berücksichtigenden Umstände auch umkehren. Diese Grundsätze gelten für alle drei Fallgestaltungen der Pflichtenkollision 54 . Beispiele: Der Verwahrer darf dem Eigentümer ein Werkzeug nicht zurückgeben, wenn er weiß, daß dieses zu einer Abtreibung benutzt werden soll (RG 56, 168 [170f.]). Ein Unfallbeteiligter muß sich über die Wartepflicht (§ 142) hinwegsetzen, wenn es zur Abwendung von Gesundheits- oder Lebensgefahr notwendig ist, einen Verletzten ins Krankenhaus zu fahren (Konkurrenz von Handlungs- und Unterlassungspflicht). Wenn ein Passagier und ein Koffer über Bord gefallen sind, darf der Kapitän nicht den Koffer auf Kosten des Passagiers retten. Der Soldat darf den Kampfplatz nicht verlassen, um einem Verwundeten zu helfen (Konkurrenz zweier Handlungspflichten). Bei drohendem Auffahrunfall darf der Kraftfahrer nicht mit gleicher Geschwindigkeit weiterfahren, wenn die mit dem Bremsen verbundene Gefahr für den nachfolgenden Verkehr geringer ist (Konkurrenz zweier Unterlassungspflichten).

b) Sind dagegen die kollidierenden Pflichten im Hinblick auf den Wert der beteiligten Rechtsgüter und alle übrigen Umstände gleichwertig, so müssen die drei Fallgruppen der Pflichtenkollision unterschieden werden. Wenn eine Handlungspflicht mit einer Unterlassungspflicht zusammentrifft, so wird meist angenom53 Vgl. v. Weher, Kiesselbach-Festschrift S. 234ff.; Gallas, Beiträge S. 59f.; Lackner, § 34 Rdn. 15. 54 Allgemeine Ansicht; vgl Jakobs, Allg. Teil 15/6ff.; LK n (Hirsch) Vorbem. 78 vor § 32; Maurach/Zipf Allg. Teil I § 27 Rdn. 52; SK (Samson) § 34 Rdn. 28; Schönke/Schröder/ Lenckner, Vorbem. 75 vor § 32.

V . D i e rechtfertigende Pflichtenkollision

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men, daß die Unterlassungspflicht vorgehe u n d daß der Täter demgemäß gerechtfertigt sei, wenn er die i h m gleichzeitig obliegende Handlungspflicht durch U n tätigbleiben verletze 5 5 . Dies kann aber jedenfalls nicht für die Fälle gelten, i n denen das Unterlassen des Täters z u m T o d eines Menschen führt, den der Täter hätte retten können u n d müssen, da menschliches Leben als höchstes G u t „abwägungsfest" ist. Beispiele: In einem kleinen Krankenhaus ist nur ein einziges Beatmungsgerät vorhanden. Wenn Patient A mit dem Gerät beatmet wird und Patient Β plötzlich in lebensgefährliche Atemnot gerät, darf der behandelnde Arzt weder A durch Absetzen des Respirators töten noch seine Rettungspflicht gegenüber Β durch Vorenthalten des Beatmungsgeräts vernachlässigen 56 . Ähnlich lag es im Fall der „Euthanasie-Ärzte", die unter der NS-Herrschaft vor der Wahl standen, entweder einige der ihnen anvertrauten Geisteskranken in eine Liste der „hoffnungslosen Fälle" aufzunehmen und sie so zur Tötung auszuliefern oder aus ihrer Stellung entlassen zu werden, mit der Folge, daß willfährige Ärzte wesentlich mehr Geisteskranke zur Tötung freigegeben hätten. Auch hier kommt eine Rechtfertigung nicht in Betracht, gleichgültig wie sich die Ärzte in diesem Dilemma entscheiden (vgl. O G H 1, 321 [336 ff.]; 2, 117 [122]; B G H NJW 1953, 513 [514]). Beziehen sich die kollidierenden Pflichten auf weniger hochrangige Interessen (das Absetzen bzw. Unterlassen der künstlichen Beatmung i n dem obigen Beispiel führt z.B. nur zu Gesundheitsschäden), so kann dennoch, entgegen der h . M . , keine Rechtfertigung für den Fall angenommen werden, daß der Täter die Handlungspflicht vernachlässigt; aus § 13 ergibt sich nämlich, daß das Strafrecht Handlungsu n d Unterlassungspflichten grundsätzlich als gleichrangig ansieht 5 7 . I n Betracht k o m m t daher nur eine Entschuldigung des Täters i n einer derart tragischen K o n fliktsituation. c) Dasselbe gilt für den Fall, daß zwei gleichwertige Handlungspflichten zusammenstoßen. A u c h hier handelt der Täter hinsichtlich der Pflicht, die unerfüllt bleiben muß, rechtswidrig. Uberwiegend w i r d jedoch angenommen, daß die Rechtsordnung i n einer derartigen Lage die Entscheidung gewissermaßen „freigebe", so daß der Täter i n jedem Falle gerechtfertigt sei, ob er nun der einen oder der anderen Pflicht folge 5 8 . N a c h einer anderen Ansicht soll die Tat sogar i n einen „rechtsfreien Raum" fallen 5 9 . Beispiele: Von zwei Unfallverletzten, die gleichzeitig und mit gleicher Uberlebenschance ins Krankenhaus eingeliefert werden, wählt der Chefarzt einen aus, der an das einzige vorhandene Beatmungsgerät angeschlossen wird, während der andere sterben muß. Bei einem Brand sind zwei Kinder in Lebensgefahr, der Vater kann aber nur eines retten, während das andere umkommt. 55 So Dreher/ Tröndle, Vorbem. 11 vor § 32; Küper, Grund- und Grenzfragen S. 119; derselbe, JuS 1987, 90; LK n (Hirsch) Vorbem. 76 vor § 32; Jansen, Pflichtenkollisionen S. 56ff.; Armin Kaufmann, Unterlassungsdelikte S. 137; Lenckner, Notstand S. 5, 27; Schmidhäuser, Allg. Teil S. 688; Welzel, Lehrbuch S. 219. 56 Vgl. zu diesem Fall Welzel, Lehrbuch S. 185; Krey, JuS 1971, 248 ff.; Küper, JuS 1971, 474 ff.; LK 9 (Hirsch) Vorbem. 179 vor § 51; Roxin, Engisch-Festschrift S. 400. 57 So Androulakis, Unterlassungsdelikte S. 127 f.; Gallas, Beiträge S. 74 f.; Dreh er/Tröndle, Vorbem. 11 vor § 32; Haft, Allg. Teil S. 102. 58 So Hruschka, Dreher-Festschrift S. 192 ff.; Mangakis, ZStW 84 (1972) S. 447; Otto, Pflichtenkollision S. 130; Küper, Grund- und Grenzfragen S. 118; derselbe, JuS 1987, 89; LK U (Hirsch) Vorbem. 72f. vor § 32; Roxin, Allg. Teil I § 16 Rdn. 103; Jakobs, Allg. Teil 15/6; Maurach/Zipf, § 27 Rdn. 55; Schmidhäuser, Studienbuch S. 412; Schönke/Schröder/ Lenckner, § 34 Rdn. 73; SK (Samson) § 34 Rdn. 29. 59 So Blei, Allg. Teil S. 214; Arthur Kaufmann, Maurach-Festschrift S. 336 ff.; Dingeldey, Jura 1979, 482.

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Entsprechendes wird für die Kollision gleichwertiger Unterlassungspflichten zu gelten haben. Im Falle des „Geisterfahrers", der sich seiner Situation auf der Autobahn bewußt wird, sind die verschiedenen Unterlassungspflichten nicht gleichwertig; er muß und darf deswegen die am wenigsten riskante Alternative (vorsichtiges Wenden) wählen (OLG Karlsruhe JZ 1984, 240 m.Anm. Hruschka). 2. Ist Rechtfertigung ausgeschlossen, so ist damit jedoch noch nichts über die Strafbarkeit gesagt. Der unlösbare Widerspruch gleichwertiger Pflichten kann zwar entgegen der herrschenden Meinung nicht dazu führen, daß der Täter in jedem Falle rechtmäßig handelt, wie er sich auch immer entscheiden mag, da die Erfüllung der einen Pflicht der Rechtsordnung ebenso wichtig ist wie die Erfüllung der anderen. Die Kollision gleichwertiger Interessen kann aber ein Schuldausschließungsgrund sein (vgl. unten § 47 I 2) 6 0 . VI. Die behördliche Erlaubnis als Rechtfertigungsgrund 1. In einigen Vorschriften des Besonderen Teils (z.B. in §§ 284ff., 324ff. 61 ) und häufiger im Nebenstrafrecht (z.B. § 23 ApothekenG, § 29 BtMG, § 21 StVG, § 53 WaffG) wird die Strafbarkeit eines bestimmten Verhaltens davon abhängig gemacht, daß dem Täter eine behördliche Erlaubnis fehlt. In diesen Fällen entsteht die Frage, ob es sich bei der behördlichen Erlaubnis um ein negativ gefaßtes Tatbestandsmerkmal handelt, wie z.B. „ohne Einwilligung der Eltern" in § 236 (vgl. oben § 25 I I I 3), so daß bei Vorliegen der Genehmigung schon der Tatbestand entfällt, oder ob die behördliche Erlaubnis ein Rechtfertigungsgrund ist, der die Rechtswidrigkeit der Tat ausschließt62. Die Antwort auf diese Frage hängt davon ab, welchen Zweck das Erfordernis der Genehmigung im Verhältnis zu dem jeweiligen Gebot oder Verbot besitzt. Handelt es sich um ein an sich gefährliches oder unerwünschtes Verhalten, das nur ausnahmsweise gestattet werden kann, so ist die Erlaubnis Rechtfertigungsgrund, z.B. beim Glücksspiel (§ 284) 63 . Dient das Genehmigungserfordernis dagegen nur der besseren Überwachung einer an sich erwünschten oder wenigstens sozialverträglichen Betätigung, so handelt tatbestandsmäßig, wer die erforderliche Erlaubnis nicht eingeholt hat, z.B. das Fahren ohne Fahrerlaubnis (§21 StVG). 2. In dem zuletzt genannten Fall geht das Interesse des Staates lediglich dahin, eine Kontrolle darüber auszuüben, ob die Gefahrenquelle einwandfrei beherrscht wird und ob die in diesem Bereich tätigen Personen die erforderliche Sachkunde und Zuverlässigkeit besitzen. Der Unrechtsgehalt des Handelns ohne Erlaubnis liegt hier allein darin, daß das Bemühen der Behörde um pflichtmäßige Überwa-

60 Vorbem. 11 vor §32; Gallas., Beiträge S. 75ff.; Haft, Allg. Ebenso Dreher/Tröndle, Teil S. 102. Für „Strafunrechtsausschluß" auch hier Günther, Strafrechtswidrigkeit S. 333. 61 Zur unterschiedlichen Formulierung des Erlaubnisvorbehalts im Umweltstrafrecht Schönke/Schröder /Cramer, Vorbem. 12 vor § 324. 62 Jakobs, Allg. Teil 16/28; LK n (Hirsch) Vorbem. 160 vor § 32; Dreher/Tröndle, Vorbem. 5 vor § 32; Maurach/Zipf, Allg. Teil I § 29 Rdn. 17; Rengier, ZStW 101 (1989) S. 878 ff.; Winkelbauer, Verwaltungsakzessorietät S. 20; Goldmann, Behördliche Genehmigung S. 93 ff, 128ff.; Schönke/Schröder/Lenckner, Vorbem. 61 vor § 32. 63 So BVerfGE 28, 119 (148); Jakobs, Allg. Teil 16/29; LK n (Hirsch) Vorbem. 160 vor § 32. Anders Dreh er/Tröndle, § 284 Rdn. 15; Lackner, § 284 Rdn. 12; LK 10 (v. Bubnoff) § 284 Rdn. 18 (Ausschluß der Tatbestandsmäßig§ 284 Rdn. 14; Schönke/Schröder/Eser, keit).

V I . D i e behördliche Erlaubnis als Rechtfertigungsgrund

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chung des Betriebs vereitelt oder erschwert wird (reine Ungehorsamsdelikte). Das Fehlen der behördlichen Erlaubnis ist hier also Tatbestandsmerkmal 64. Beispiele: Beim Führen eines Kraftfahrzeugs ist das Fehlen der Fahrerlaubnis Tatbestandsmerkmal (§21 I, I I StVG), weil die Bestimmung den Sinn hat, der Behörde durch das Erfordernis der Fahrprüfung eine Kontrolle der Fahrtüchtigkeit und Eignung des Antragstellers zu ermöglichen. Das gleiche gilt für die Erlaubnis zur Ausübung der Heilkunde nach § 5 HeilpraktikerG und für das Betreiben einer kerntechnischen Anlage (§ 327) 65 . Liegt die behördliche Erlaubnis vor, so deckt sie auch etwaige schädliche Nebenwirkungen. So ist ein durch erlaubte Ausübung des Gewerbebetriebs verursachter Lärm keine rechtswidrige Störung des Gottesdienstes (RG 35, 150 [151]), da der Staat die Gefahren, die mit der Tätigkeit verbunden sind, im Genehmigungsverfahren abschließend als sozialadäquat beurteilt hat.

3. Die behördliche Erlaubnis ist dagegen echter Rechtfertigungsgrund in den Fällen, in denen die Handlung nicht sozial nützlich oder mindestens wertneutral ist, sondern, wenn sie erlaubt werden soll, eine Interessenabwägung gegenüber den Interessen der Allgemeinheit erfordert 66 . Die rechtfertigende behördliche Erlaubnis ist ein Sonderfall des rechtfertigenden Notstands, was zur Folge hat, daß das Erfordernis der Erlaubnis vorgeht und daß auch in einer Notlage ein spontanes Handeln nicht nach § 34 gerechtfertigt ist 6 7 . Ist die Erlaubnis unter einer Auflage erteilt, so rechtfertigt sie die an sich verbotene Handlung nur, wenn die Auflage erfüllt ist. Als subjektives Rechtfertigungselement ist auch hier ein Handeln aufgrund der Erlaubnis erforderlich. Beispiele: Die behördliche Erlaubnis ist Rechtfertigungsgrund beim Umgang mit Betäubungsmitteln (§ 29 I Nr. 1 BtMG), bei der Einfuhr von Sprengstoffen (§15 SprengG), bei der Arbeit mit Krankheitserregern (§ 19 I BSeuchG), bei der Verunreinigung eines Gewässers (§ 324) 68 .

4. Eine nach Verwaltungsrecht nichtige behördliche Erlaubnis hat keine Wirkung 69 . Dasselbe wird entsprechend der Lehre von der Einwilligung (vgl. unten § 34 IV 5) für eine durch Täuschung oder Zwang erlangte Erlaubnis angenommen 70 (so ausdrücklich § 330 d Nr. 5). Dies kann jedoch nicht für die tatbestandsausschließende Erlaubnis gelten, bei der ihr bloßes Vorhandensein ohne Rücksicht auf ihre materielle Fehlerlosigkeit genügt 71 . Im übrigen ist eine fehlerhafte behördliche Erlaubnis bis zur Rücknahme wirksam, auch wenn der Täter die Fehlerhaftigkeit kennt 72 . 64

Vgl. Blei, Allg. Teil S. 156; LK U (Hirsch) Vorbem. 160 vor § 32; Schönke/Schröder/ Lenckner, Vorbem. 61 vor § 32. 65 So Dölling, JZ 1985, 462; Horn, NJW 1988, 2337; Heine/Meinberg, DJT-Gutachten D S. 46. 66 Vgl. Goldmann, Behördliche Genehmigung S. 128 ff. 67 So Roxin, Allg. Teil I § 17 Rdn. 48; Winkelbauer, NStZ 1988, 204. 68 So Rudolphi, NStZ 1984, 196; Tiedemann/Kindhäuser, NStZ 1988, 340 f , 343. 69 Frisch, Verwaltungsakzessorietät S. 102 ff.; Schönke/Schröder/Lenckner, Vorbem. 62 vor §32. 70 Frisch, Verwaltungsakzessorietät S. 72 ff.; Roxin, Allg. Teil I § 17 Rdn. 47; Schönke/ Schröder/Lenckner, Vorbem. 63 vor § 32; dagegen für strenge Verwaltungsakzessorietät LK U (Hirsch) Vorbem. 164f. vor § 32. 71 Bei der rechtfertigenden Erlaubnis, die durch Täuschung oder Zwang erlangt ist, sieht Lenckner, Pfeiffer-Festschrift S. 39ff. die Rücknahme als objektive Strafbarkeitsbedingung an, doch verdient, wer aufgrund einer erschlichenen behördlichen Genehmigung handelt, keinen Schutz. 72 Dölling, JZ 1985, 469; Tröndle, K. Meyer-Gedächtnisschrift S. 624; Frisch, Verwaltungsakzessorietät S. 81 f. (außer bei konkreter Gefährdung geschützter Rechtsgüter). 24 Jescheck, 5. A .

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D e r rechtfertigende N o t s t a n d

V I I . Ausländisches Recht Notstand zugrunde liegende Auch das Ausland berücksichtigt die dem rechtfertigenden Problematik und gelangt weitgehend zu den gleichen Ergebnissen wie die deutsche Lehre und Rechtsprechung. Dies zeigt, daß man es hier mit einem allgemeinen Prinzip der Gerechtigkeit zu tun hat. Das österreichische Recht stimmt in diesem Punkte mit dem deutschen überein 73 , ohne freilich eine dem § 34 entsprechende Vorschrift zu besitzen. Die Schweiz kennt in Art. 34 Schweiz. StGB eine positive Notstandsvorschrift, die als Rechtfertigungsgrund angesehen wird 7 4 . In Frankreich werden eindeutige Fälle der Güterkollision nach den Grundsätzen des „état de nécessité" als straflos angesehen; der Anwendungsbereich dieses „fait justificatif" umfaßt jedoch auch Fälle, die nach deutschem Recht zum entschuldigenden Notstand gehören würden 75 . Der Code pénal 1994 enthält eine Regelung des rechtfertigenden Notstands im Anschluß an die Rechtsprechung des Kassationshofs in Art. 122-7, der als Voraussetzungen die gegenwärtige Gefahr für Personen oder Güter, die Notwendigkeit des Eingriffs zu ihrer Rettung und die Verhältnismäßigkeit aufstellt 76 . Auch die Notstandsvorschrift des italienischen Rechts (Art. 54 C.p.) ist Rechtfertigungsgrund 77, der aber auf den Schutz von Personen beschränkt ist. Der Entwurf schlägt in Art. 17 Nr. 3 die Einführung einer besonderen Vorschrift über den entschuldigenden Notstand vor 7 8 . Im belgischen Recht, in dem es keine eigene Notstandsvorschrift gibt, ist umstritten, ob es sich dabei um einen Rechtfertigungs- oder Entschuldigungsgrund handelt 79 . Das spanische Recht kennt in Art. 8 Nr. 7 C.p. eine allgemeine Notstandsvorschrift, die vor allem bestimmt, daß der durch die Notstandshandlung verursachte Schaden nicht größer sein darf als der Schaden, der abgewendet werden soll. Zur Rechtfertigung wird ein Wertunterschied zugunsten des geschützten Interesses verlangt 80 . Das niederländische Recht enthält in Art. 40 W.v.S. eine knappe Regelung über „overmacht" 81 . Im englischen Recht ist der wichtigste Fall, der Schwangerschaftsabbruch, in sect. 1 des Infant Life (Preservation) Act 1929 sowie in sect. 1 des Abortion Act 1967 geregelt. Weitere Beispiele werden in der Literatur unter dem Stichwort der „necessity" erörtert 82 . Das amerikanische Recht behandelt die Fälle des Güternotstands zusammen mit 73 Vgl. Rittler, Bd. I S. 144; derselbe, OGH-Festschrift S. 249; Kienapfel, ÖJZ 1975, 421 ff.; derselbe, Der rechtfertigende Notstand S. 39ff.; WK (Nowakowski) Nachbem. 3 ff. zu § 3. Der O G H hat auch die Differenzierungstheorie angenommen ( O G H ÖRiZ 1959, 63; JBl 1972, 623). 74 H after, Allg. Teil S. 157; Schultz, Einführung I S. 163; Stratenwerth, Schweiz. Strafrecht, Allg. Teil I S. 198 f.; Schwander, Das Schweiz. StGB S. 81 ff. mit Rechtsprechungsnachweisen; wichtig ist vor allem BGE 75 (1949) IV 49. Der Vorentwurf von Hans Schultz (1985) S. 54 will mit Recht das Erfordernis der Unverschuldetheit des Notstands beseitigen. 75 Stefani/Levasseur/Bouloc, Droit pénal général Nr. 354-1; Merle/Vitu, Traité I Nr. 445; Cas s. v. 25.6.1958, D.P. 1958, 693; Cass. v. 27.12.1961, J.C.P. 1962, I I 12652; Cass. v. 21.11.1974, J.C.P. 1975, I I 18143. 76 Dazu Desportes/Le Gunehec, Présentation Nr. 34; Pradel, Le nouveau Code pénal Nr. 43. 77 So Fiandaca/Musco, Diritto penale S. 224; Romano, Rechtfertigung S. 121. Anders Scarano, La non esigibilità S. 117ff. Zum ganzen Azzali, Stato di necessità S. 356ff. 78 Dies würde zur Klarheit beitragen, die in der Literatur nicht eindeutig gegeben ist; vgl. die Beispiele für Art. 54 C.p. bei Mantovani, Diritto penale S. 273. 79 Dupont /Verstraeten, Handboek Nr. 384. Klare Unterscheidung dagegen bei Hennau/ Verhaegen, Droit pénal général Nr. 213, 223. 80 Anton Oneca, Derecho penal S. 265; Rodriguez Devesa/Serrano Gomez, Derecho penal S. 567ff.; Cerezo Mir, Hilde Kaufmann-Gedächtnisschrift S. 689ff.; Cobo del Rosal/ Vives Anton, Derecho penal S. 396; Cordoba Roda/ Rodriguez Mourullo, Art. 8 Nr. 7 Anm. II. Gimbernat Ordeig, Rechtfertigung S. 76 nimmt Rechtfertigung auch bei Gleichwertigkeit der Rechtsgüter an. Dazu auch Perron, Rechtfertigung S. 191 ff. 81 Die Literatur bringt darunter auch Fälle des rechtfertigenden Notstandes; vgl. Pompe, Handboek S. 130ff.; derselbe, Das niederländische Strafrecht S. 72 ff.; Hazewinkel-Suringa/ Remmelink, Inleiding S. 298 ff.; Jescheck, Criminal Law in Action S. 9. 82 Vgl. Grünhut, Das englische Strafrecht S. 205 f.; Smith/Hogan, Criminal Law S. 245 ff. (S. 250f.: bei dem Fährunglück von Ostende wurde die Tötung eines den Fluchtweg behindernden Menschen vom Coroner als „not necessarily murder" angesehen und nicht verfolgt);

V I I . Ausländisches Recht

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denen des entschuldigenden Notstands unter dem Begriff der „necessity", trennt davon jedoch den Nötigungsnotstand („duress") 83 . Ob Notstand auch zu Eingriffen in fremdes Leben berechtigt, wird unterschiedlich beurteilt 84 . Sect. 3.02, 2.09 Model Penal Code macht insoweit keine Einschränkung. In Brasilien wird rechtfertigender und entschuldigender Notstand an sich klar unterschieden 85, Art. 24 C.p. bringt jedoch beide Fälle unter den Begriff der Unzumutbarkeit.

§ 34 Einwilligung und mutmaßliche Einwilligung des Verletzten Amelung , Die Einwilligung in die Beeinträchtigung eines Grundrechtsgutes, 1981; derselbe, Die Zulässigkeit der Einwilligung bei den Amtsdelikten, Festschrift für H. Dünnebier, 1982, S. 487; derselbe , Die Einwilligung des Unfreien, ZStW 95 (1983) S. 1; derselbe , Über die Einwilligungsfähigkeit, ZStW 104 (1992) S. 525, 821; Arzt , Willensmängel bei der Einwilligung, 1970; Baumann, Körperverletzung oder Freiheitsdelikt? NJW 1958, 2092; Berz, Die Bedeutung der Sittenwidrigkeit für die rechtfertigende Einwilligung, G A 1969, 145; Bichlmeier , Die Wirksamkeit der Einwilligung in einen medizinisch nicht indizierten ärztlichen Eingriff, JZ 1980, 53; Bloy, Freiheitsberaubung ohne Verletzung fremder Autonomie? ZStW 96 (1984) S. 703; Bockelmann , Das Strafrecht des Arztes, 1968; Boehmer, Zum Problem der „Teilmündigkeit" Minderjähriger, M D R 1959, 705; Βorchert/Hellmann, „Tanken ohne zu zahlen" usw, NJW 1983, 2799; Casas Barquero, El consentimiento en el derecho penal, 1987; Cerezo Mir, El consentimiento como causa de exclusion del tipo y como causa de justificaciôn, in: Estudios de derecho penal y criminologia, Bd. I (en homenaje al profesor José Maria Rodriguez Devesa), 1989, S. 201; Engisch, Arztlicher Eingriff zu Heilzwecken und Einwilligung, ZStW 58 (1939) S. 1; derselbe, Die rechtliche Bedeutung der ärztlichen Operation, 1958; derselbe, Kritische Bemerkungen zu dem Urteil des B G H vom 27.10.1964, Bayer. Akademie der Wissenschaften, Sitzungsberichte 1965, Heft 4; derselbe, Die Strafwürdigkeit der Unfruchtbarmachung mit Einwilligung, Festschrift für H. Mayer, 1966, S. 399; Eser, Medizin und Strafrecht usw, ZStW 97 (1985) S. 1; Firnhaber, Rechtsgeschäft und Einwilligung bei Vermögensdelikten, Diss. Bonn 1956; Frisch, Grund- und Grenzprobleme des sog. subjektiven Rechtfertigungselements, Festschrift für K. Lackner, 1987, S. 113; Gallas, Zur Struktur des strafrechtlichen Unrechtsbegriffs, Festschrift für P. Bockelmann, 1979, S. 154; Geerds, Einwilligung und Einverständnis des Verletzten, Diss. Kiel 1953; derselbe, Einwilligung und Einverständnis des Verletzten im Strafrecht, G A 1954, 262; derselbe, Einwilligung und Einverständnis des Verletzten im Strafgesetzentwurf, ZStW 72 (1960) S. 42; derselbe, Anmerkung zu B G H vom 2.12.1982, JR 1983, 254; Geppert, Rechtfertigende „Einwilligung" des verletzten Mitfahrers bei Fahrlässigkeitsstraftaten im Straßenverkehr? ZStW 83 (1971) S. 947; v. Gerlach, Arztliche Aufklärungspflicht und eigenmächtige Heilbehandlung; in: Arthur Kaufmann (Hrsg.), Moderne Medizin und Strafrecht, 1989, S. 15; Göbel, Die Einwilligung im Strafrecht als Ausprägung des Selbstbestimmungsrechts, 1992; Goldmann, Die behördliche Genehmigung als Rechtfertigungsgrund, Diss. Freiburg 1967; Günther, Strafrechtswidrigkeit und Strafunrechtsausschluß, 1983; Haeßiger, Uber die Einwilligung des Verletzten im Strafrecht, SchwZStr 67 (1952) S. 92; Hanack, Die Sterilisation aus sozialer Indikation, JZ 1964, 393; derselbe, Anmerkung zu B G H 20, 81, JZ 1965, 221; Herzberg, Tanken ohne zu zahlen, JA 1980, 385; derselbe, Tatbestands- und Verbotsirrtum, GA 1993, 439; Hirsch, Delikte gegen die körperliche Unversehrtheit, ZStW 83 (1971) S. 140; derselbe, Einwilligung und Selbstbestimmung, Festschrift für H. Welzel, 1974, S. 775; derselbe, Zum Spannungsverhältnis zwischen Theorie und Praxis, Festschrift für H. Tröndle, 1989, S. 19; Honig, Die Einwilligung des Verletzten, 1919; Horn, Der medizinisch nicht indizierte, aber vom Patienten verlangte Eingriff, JuS 1979, 29; Hruschka, Extrasystematische Rechtfertigungsgründe, Festschrift für E. Dreher, 1977, S. 189; Armin Kaufmann, Rechtspflichtbegründung und Tatbestandseinschränkung, Festschrift für U. Klug, Bd. II, 1983, S. 277; Keßler, Die Einwilligung des Cohen, Modern Doctrine of Necessity S. 976 ff. (rechtsvergleichend); Glanville Williams , Criminal Law S. 724 ff.; Pröchel, Notstand S. 51 f. 83 Vgl. Robinson, Criminal Law Defenses Bd. I I S. 45 ff. („lesser evils defense"), 377 ff. („duress"); Honig, Das amerikanische Strafrecht S. 157ff.; Etzel, Notstand S. 119ff. 84 Vgl. Robinson, Criminal Law Defenses Bd. I I S. 63 ff.; LaFave/Scott, Substantive Criminal Law I S. 634 f. 85 So Fragoso, Liçôes S. 195 f.; de Jesus, Comentärios, Art. 24 Anm. 2. 24*

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§ 34 E i n w i l l i g u n g u n d mutmaßliche E i n w i l l i g u n g des Verletzten

Verletzten in ihrer strafrechtlichen Bedeutung, 1884; Kientzy, Der Mangel am Straftatbestand infolge Einwilligung des Rechtsgutsträgers, 1970; Kühne, Die strafrechtliche Relevanz eines auf Fehlvorstellungen gegründeten Rechtsgutsverzichts, JZ 1979, 241; Kußmann, Einwilligung und Einverständnis bei Täuschung, Irrtum und Zwang, Diss. Bonn 1988; Langrock, Zur Einwilligung in die Verkehrsgefährdung, M D R 1970, 982; Lenckner, Die Einwilligung Minderjähriger und deren gesetzlicher Vertreter, ZStW 72 (1960) S. 446; Marx, Die Definition des Begriffs „Rechtsgut", 1972; Maria-Katharina Meyer, Ausschluß der Autonomie durch Irrtum, 1984; Noll, Übergesetzliche Rechtfertigungsgründe, im besonderen die Einwilligung des Verletzten, 1955; derselbe, Tatbestand und Rechtswidrigkeit usw, ZStW 77 (1965) S. 1; derselbe, Begriff und Funktion der guten Sitten im Strafrecht, Festschrift für das O L G Zweibrücken, 1969, S. 206; Ostendorf, Grundzüge des konkreten Gefährdungsdelikts, JuS 1982, 426; Otto, Eigenverantwortliche Selbstschädigung und -gefährdung sowie einverständliche Fremdschädigung Die Einwilligung des und -gefährdung, Festschrift für H. Tröndle, 1989, S. 157; Pfersdorff Verletzten als Strafausschließungsgrund, Diss. Straßburg 1897; Riz, Il consenso dell'avente diritto, 1979; Roßner, Verzicht des Patienten auf eine Aufklärung durch den Arzt, NJW 1990, 2291; Roxin, Verwerflichkeit und Sittenwidrigkeit als unrechtsbegründende Merkmale im Strafrecht, JuS 1964, 373; derselbe, Kriminalpolitik und Strafrechtssystem, 2. Auflage 1973; derselbe, Über die mutmaßliche Einwilligung, Festschrift für H. Welzel, 1974, S. 447; derselbe, Die durch Täuschung herbeigeführte Einwilligung, Gedächtnisschrift für P. Noll, 1984, S. 275; derselbe, Über die Einwilligung im Strafrecht, Festschrift für E. Correia, 1987 (Sonderdruck); Rubinstein, The Victim's Consent in Criminal Law, in: Studies in Comparative Criminal Law, 1975, S. 189; Rudolphi, Literaturbericht, ZStW 86 (1974) S. 68; derselbe, Anmerkung zu O L G Hamburg vom 19.11.1974, JR 1975, 512; derselbe, Rechtfertigungsgründe im Straf recht, Gedächtnisschrift für Armin Kaufmann, 1989, S. 371; Sax, Bemerkungen zum Eigentum als strafrechtlichem Schutzgut, Festschrift für F. Laufke, 1971, S. 321; Schlehofer, Einwilligung und Einverständnis, 1985; Eb. Schmidt, Empfiehlt es sich, daß der Gesetzgeber die Fragen der ärztlichen Aufklärungspflicht regelt? Verhandlungen des 44. DJT, Bd. I, 1962; R. Schmitt, Strafrechtlicher Schutz des Opfers vor sich selbst? Festschrift für R. Maurach, 1972, S. 113; derselbe, § 226 a StGB ist überflüssig, Gedächtnisschrift für H. Schröder, 1978, S. 263; Schrey, Der Gegenstand der Einwilligung des Verletzten, Strafr. Abh. Heft 248, 1928; Schwalm, Zum Begriff und Beweis des ärztlichen Kunstfehlers, Festschrift für P. Bockelmann, 1979, S. 539; Stratenwerth, Prinzipien der Rechtfertigung, ZStW 68 (1956) S. 41; S. A. Strauss, Aspekte van die begrip „Toestemming" usw, 1963; Traeger, Die Einwilligung des Verletzten usw, GS 94 (1927) S. 112; H.-D. Weber, Der zivilrechtliche Vertrag als Rechtfertigungsgrund, 1986; Weigend, Über die Begründung der Straflosigkeit bei Einwilligung, ZStW 98 (1986) S. 44; Glanville Williams, Consent and Public Policy, Criminal Law Review 74 (1962) S. 154; Wilts, Die ärztliche Heilbehandlung in der Strafrechtsreform, M D R 1970, 971; 1971, 4, 92; Wimmer, Die Bedeutung des zustimmenden Willens usw, 1980; Zipf, Einwilligung und Risikoübernahme im Strafrecht, 1970; derselbe, Die Bedeutung und Behandlung der Einwilligung im Strafrecht, ÖJZ 1977, 379; Zitelmann, Ausschluß der Widerrechtlichkeit, AcP 99 (1906) S. 1. I. Die Zustimmung des Betroffenen und ihre Behandlung i m Strafrecht 1. D i e Z u s t i m m u n g des v o n der Straftat Betroffenen kann für die strafrechtliche Beurteilung verschiedene Bedeutung haben 1 . a) Einmal gibt es Delikte, die überhaupt nur mit Zustimmung des anderen Teils begangen werden können (Begegnungsdelikte, vgl. unten § 64 V 1), wie der Wucher (§ 302 a) oder die Wehrpflichtentziehung durch Verstümmelung ( § 1 0 9 I zweite Alternative). D i e Z u s t i m m u n g gehört i n diesen Fällen zu den Tatbestandsmerkmalen der strafbaren Handlung. Diese Gruppe ist nicht umstritten und kann hier außer Betracht bleiben. b) Es gibt ferner Strafvorschriften, bei denen sich die tatbestandsmäßige H a n d lung nach dem W o r t l a u t oder dem Sinn der Deliktsbeschreibung unmittelbar u n d ausschließlich gegen den W i l l e n des Betroffenen richtet, während sie bei Zustim1 Vgl. darüber Binding, Handbuch S. 717; Honig, Einwilligung S. 119; Noll, Übergesetzliche Rechtfertigungsgründe S. 64; Geerds, GA 1954, 262; derselbe, ZStW 72 (1960) S. 42ff.

I. D i e Z u s t i m m u n g des Betroffenen u n d ihre Behandlung i m Strafrecht

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mung völlig unbedenklich ist. I n diesen Fällen liegt i n dem Widerspruch zu dem W i l l e n des Verletzten der das Unrecht der betreffenden Deliktsart begründende Umstand. Ist der Betroffene einverstanden, so verwandelt sich die strafbare H a n d lung i n einen normalen Vorgang i m Rahmen der überlieferten Sozialordnung. Strafrechtlich bedeutet dies, daß i n solchen Fällen bei Z u s t i m m u n g kein typisches Unrecht und damit auch keine tatbestandsmäßige H a n d l u n g vorliegt. Dieser Fall der Zustimmung w i r d „Einverständnis" genannt . Beispiele: Bei den Delikten gegen die Freiheit der Willensbildung und -betätigung (z.B. §§ 108, 177, 240, 249, 253) schließt das Einverständnis des Betroffenen die Tatbestandsmäßigkeit der Handlung aus. Ein Handeln gegen den Willen der Frau gehört auch zum Tatbestand der Entführung i.S. von § 237 (BGH 23, 1 [3]). Der „Bruch" fremden Gewahrsams beim Diebstahl (§ 242) kann nicht anders als gegen den Willen des Gewahrsamsinhabers stattfinden (BayObLG JZ 1979, 146). Auch der Hausfriedensbruch (§ 123) erfordert in beiden Begehungsformen ein Handeln gegen den Willen des Hausrechtsinhabers 3. c) Bei anderen Strafvorschriften w i r d dagegen das geschützte Rechtsgut selbst dann beeinträchtigt, wenn die Tat m i t W i l l e n des Berechtigten geschieht. D i e i m Tatbestand beschriebene H a n d l u n g ist dann kein normaler Vorgang des Soziallebens, sondern führt zu einer möglicherweise äußerst schmerzlichen Einbuße, die der Träger des Rechtsguts aber i m Rahmen seiner Dispositionsfreiheit, aus welchen Gründen auch immer, hinzunehmen bereit ist. Diese Fälle nennt die überwiegende Lehre „Einwilligung" u n d behandelt die Zustimmung, da es hierbei nicht nur u m die Verfügungsmacht des Berechtigten, sondern u m einen unabhängig davon rechtlich geschützten Wert geht, als Rechtfertigungsgrund 4 . Beispiele: Wer sich für einen wissenschaftlichen Versuch, bei dem für einige Zeit jeder Kontakt mit der Außenwelt abgeschnitten wird, einschließen läßt, gibt vorübergehend seine Bewegungsfreiheit preis (§ 239) . Wer als Organspender eine Niere für eine Transplantation zur Verfügung stellt, opfert einen wichtigen Körperteil, um einem anderen zu helfen (§ 224). Wer eine kosmetische Operation 6 an sich vornehmen läßt, erduldet zeitweise eine mehr oder weniger weitgehende Beeinträchtigung seiner Körperintegrität (§ 223). Wer seinem Hausarzt gestattet, im Scheidungsprozeß als sachverständiger Zeuge über eine bei ihm vorliegende schwere psychische Störung auszusagen ( 203 I Nr. 1 StGB, §§ 383 I Nr. 6, 385 I I ZPO), gibt 2 So zuerst Geerds y Einwilligung und Einverständnis S. 105 ff.; derselbe, GA 1954, 262. Ihm folgt die Rechtspr. (BGH 8, 273 [276]; 23, 3; BayObLG JZ 1979, 146) und überwiegende Lehre; vgl. Blei, Allg. Teil S. 133; Bockelmann/Volk, Allg. Teil S. 102; Dreher/Tröndle, Vorbem. 3a, b vor §32; LK U (Hirsch) Vorbem. 96 vor §32; Geppert, ZStW 83 (1971) S. 959ff.; Kohlrausch/Lange, Vorbem. I I 3 a vor § 51; Lackner, Vorbem. 11 vor § 32; Triffterer, Allg. Teil S. 239f.; Schmidhäuser, Allg. Teil S. 269; Schönke/Schröder/Lenckner, Vorbem. 29 vor § 32; Welzel, Lehrbuch S. 95; SK (Samson) Vorbem. 36 vor § 32; Wessels, Allg. Teil Rdn. 362 ff. 3 Die Bedeutung des zustimmenden Willens bei verschiedenen Straftaten behandelt Wimmer, S. 12 ff. 4 Vgl. Baumann/Weber, Allg. Teil S. 320, 329; Dreh er/Tröndle, Vorbem. 3 a, b vor § 32; Geerds, ZStW 72 (1960) S. 43; Hruschka, Dreher-Festschrift S. 197; Lackner, Vorbem. 10 vor §32; Otto, Grundkurs S. 117f.; Honig, Einwilligung S. Iff.; Kühl, Allg. Teil §19 Rdn. 22; LK n (Hirsch) Vorbem. 92, 98 vor § 32; Hirsch, Welzel-Festschrift S. 799 Fußnote 75; Schönke/Schröder/Lenckner, Vorbem. 33 vor § 32; SK (Samson) Vorbem. 38 vor § 32; Stratenwerth, Allg. Teil I Rdn. 360; Wessels, Allg. Teil Rdn. 370; WK (Nowakowski) Nachbem. 34 nach § 3; Welzel, Lehrbuch S. 95. Ebenso die Rechtspr. (BGH 16, 309ff.; 23, 1 [4]; B G H JZ 1979, 146). Differenzierend Jakobs, Allg. Teil 7 / l l l f f . ; Triffterer, Allg. Teil S. 240f. Offen läßt die Frage Herzberg, GA 1993, 445. 5 Die überw. Lehre nimmt jedoch bei § 239 tatbestandsausschließende Wirkung der Zustimmung an; vgl. Bloy, ZStW 96 (1984) S. 713 Fußnote 31 m.Nachw. 6 Die medizinische Behandlung ist nach h.L. schon tatbestandsmäßig keine Körperverletzung (vgl. unten § 34 I I I 3 a).

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§ 34 E i n w i l l i g u n g u n d mutmaßliche E i n w i l l i g u n g des Verletzten

gegenüber den Prozeßbeteiligten ein im übrigen streng gehütetes Geheimnis preis 7. Der Onkel, der dem Neffen gestattet, Teile aus seinem Kraftfahrzeug auszubauen, damit dieser sich für eine Forschungsreise mit den möglicherweise anfallenden Reparaturarbeiten vertraut machen kann, verzichtet vorübergehend auf die Betriebsbereitschaft seines Wagens (§ 303). 2. Während über die Unterscheidbarkeit v o n Einverständnis u n d E i n w i l l i g u n g i m Prinzip Einigkeit besteht 8 , ist ihre strafrechtliche Behandlung streitig. a) Vielfach hat man angenommen, daß über das „Einverständnis" und die V o r aussetzungen seiner Wirksamkeit allgemeine Grundsätze aufgestellt werden könnten. So wurde gelehrt, das Einverständnis sei „rein tatsächlicher N a t u r " , es schade daher nichts, w e n n es i r r t ü m l i c h erteilt wurde oder der Betroffene die Bedeutung des angegriffenen Rechtsguts nicht erfaßt hat. Das Einverständnis müsse auch weder ausdrücklich erklärt noch v o m Täter zur Kenntnis genommen worden sein 9 . Dagegen erheben sich jedoch Bedenken, die berechtigt erscheinen 10 . I n W i r k l i c h keit ist das Einverständnis nicht i n allen Fällen rein tatsächlicher N a t u r , u n d auch die Frage, inwieweit es von Täuschung oder Zwang beeinflußt sein darf, und ob es nach außen erklärt sein muß, läßt sich nicht allgemein, sondern nur i m Rahmen der Auslegung der einzelnen Tatbestände nach deren Sinn u n d Zweck beantworten. Beispiele: So genügt zum Ausschluß der Vergewaltigung (§ 177) die natürliche Zustimmung der Frau zum außerehelichen Geschlechtsverkehr. Auf Einsichtsfähigkeit und Irrtum kommt es dabei nicht an, weil der Tatbestand der Vergewaltigung nur dann vorliegt, wenn der außereheliche Geschlechtsverkehr durch Gewalt oder Drohung mit gegenwärtiger Gefahr für Leib oder Leben erzwungen wird. Die bloße durch Gewalt oder Drohung bewirkte Duldung des Geschlechtsverkehrs schließt den Tatbestand allerdings nicht aus. Ganz anders ist die Rechtslage beim Hausfriedensbruch (§ 123), bei dem von Seiten des Täters jeder Druck auf den entgegenstehenden Willen des Hausrechtsinhabers das Merkmal des Eindringens verwirklicht, während bei erschlichenem Einverständnis der Tatbestand entfällt 11 . Auch das Maß der für ein wirksames Einverständnis erforderlichen Einsichtsfähigkeit ist bei den einzelnen Tatbeständen verschieden: bei der Entführung (§ 237) genügt zur Verneinung des Tatbestandes der natürliche zustimmende Wille der Frau, auch wenn sie geisteskrank ist (BGH 23, 1 [3]), beim unerlaubten Sichentfernen vom Unfallort (§ 142) dagegen kann ein wirksamer Verzicht auf Feststellungen von einem jugendlichen Beteiligten nicht ausgesprochen werden ( O L G Hamm VRS 23, 102 [104]; O L G Karlsruhe GA 1970, 311 [312]) . Auch auf die Erklärung des Einverständnisses kann es für den Tatbestandsausschluß ankommen. Wenn die Polizei einen Taschendieb in die Falle gehen läßt, indem sie eine Kriminalbeamtin in Zivil mit Einkaufskorb und obenauf gelegter Geldbörse in das Marktgewühl schickt, so begeht der Täter, der das Geld an sich nimmt, nur einen versuchten Diebstahl, weil das bloße Vorhandensein des Einverständnisses des Gewahrsamsinhabers ausreicht, um 7 § 203 Rdn. 22 in dieEntgegen der überw. Lehre nimmt Schönke/Schröder/Lenckner, sem Falle tatbestandsausschließendes Einverständnis an. 8 Anders vor allem Roxin, Allg. Teil I § 13 Rdn. 11; derselbe, Correia-Festschrift S. 19 ff.; Kientzy, Der Mangel am Straftatbestand S. 32ff.; während Schmidhäuser, Allg. Teil S. 269ff.; Maurach/Zipf\ Allg. Teil I § 17 Rdn. 31 f. und Zipf\ Einwilligung und Risikoübernahme S. 20 an der Unterscheidung festhalten und nur die Stellung der Einwilligung im Verbrechensaufbau verändern wollen. 9 So Geerds, GA 1954, 265; Bockelmann/Volk, Allg. Teil S. 102; Welzel, Lehrbuch S. 95; Wessels, Allg. Teil Rdn. 368. 10 So Arzt, Willensmängel S. 24 ff.; LK 11 (Hirsch) Vorbem. 101 f. vor § 32; Roxin, Allg. Teil I § 13 Rdn. 11; Schönke/Schröder/Lenckner, Vorbem. 32 vor § 32; SK (Samson) Vorbem. 37 vor § 32; Zipf, Einwilligung und Risikoübernahme S. 15 ff.; Stratenwerth, Allg. Teil I Rdn. 370. Vgl. ferner Kientzy, Der Mangel am Straftatbestand S. 65 f f , der freilich alle Fälle des Einverständnisses nach den Regeln der Einwilligung behandeln will, was wiederum nach der entgegengesetzten Richtung zu weit geht. 11 Vgl. Schönke/Schröder/Lenckner, § 123 Rdn. 22; BayObLG 1951, 181. 12 Zur Einwilligungsfähigkeit eingehend Amelung, ZStW 104 (1992) S. 525, 551 f f , 821 ff.

I. D i e Z u s t i m m u n g des Betroffenen u n d ihre Behandlung i m Strafrecht

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den Gewahrsamsbruch auszuschließen (BGH 4, 199). Beim Selbsttanken begeht, wer, ohne zu bezahlen, davonfährt, Betrug (§ 263) oder Unterschlagung (§ 246), aber jedenfalls keinen Diebstahl (§ 242), da der Tankstelleninhaber mit dem Gewabrsamsübergang einverstanden ist (BGH NJW 1983, 2827) 13 . Dagegen wird man in einer „Hausbesetzung" durch Unbefugte auch dann ein Eindringen (§ 123) sehen müssen, wenn der Hauseigentümer sich unter dem Druck der Verhältnisse dem Übergriff stillschweigend fügt. Das Einverständnis des Kraftfahrers mit dem angeblich beabsichtigten Waschen des Wagens enthält keine Preisgabe des Gewahrsams (Trickdiebstahl, nicht Betrug) (BGH VRS 48, 175). Bloßes Dulden sexueller Handlungen aus Angst vor dem Täter ist kein Einverständnis (BGH JR 1982, 254 m. Anm. Geerds S. 256).

b) Zweifelhaft ist ferner die Frage der Stellung der Einwilligung im System der Verbrechenslehre geworden. Während die überwiegende Lehre die Einwilligung noch immer als Rechtfertigungsgrund betrachtet (oben Fußnote 4), sieht eine starke Minderheit in der Einwilligung einen Umstand, der den Tatbestand ausschließt 14 . Man versteht das Fehlen der Einwilligung hier gewissermaßen als ein besonderes negatives Tatbestandsmerkmal und ihr Vorliegen demgemäß in allen Fällen, in denen das Rechtsgut der Verfügungsmacht des einzelnen überlassen ist, als einen Umstand, der dem Vorgang von vornherein die strafrechtliche Relevanz nimmt. Begründet wird diese Ansicht damit, daß bei den Strafvorschriften, die verfügbare Rechtsgüter schützen, das eigentliche Rechtsgut nicht die Unversehrtheit der Objekte, sondern die autonome Herrschaft des Berechtigten über die ihm zugeordneten Rechtsgüter sei. Darin liegt jedoch eine Subjektivierung des Rechtsgutsbegriffs, die der Bedeutung auch des Individualrechtsguts als objektivem Wert der Gemeinschaft nicht gerecht wird. Die Frage, ob die Einwilligung bereits den Tatbestand der strafbaren Handlung ausschließt oder Rechtfertigungsgrund ist, könnte offen bleiben, wenn sie ohne praktische Bedeutung wäre. Das ist indessen nicht der Fall. Die praktischen Konsequenzen liegen vielmehr ebenso, wie wenn man auch sonst die Rechtfertigungsgründe als negative Tatbestandsmerkmale behandeln würde (vgl. oben § 25 III). Einmal hängt die Behandlung des Irrtums über die Voraussetzungen der Einwilligung von deren Stellung im System ab. Weiter ist die Stellung der Einwilligung maßgebend dafür, ob in den Fällen, in denen das Vorliegen der Einwilligung dem Täter unbekannt geblieben ist, Versuch oder Vollendung angenommen werden muß. 3. Richtig ist es, die Einwilligung weiterhin als Rechtfertigungsgrund zu verstehen. Gegenstand des strafrechtlichen Schutzes ist bei Tatbeständen, die Rechtsgüter des einzelnen betreffen, auch die Unversehrtheit des Angriffsobjekts, das durch die tatbestandsmäßige Handlung beeinträchtigt wird, und nicht bloß die Verfügungsfreiheit des Berechtigten 15. Körperintegrität, Bewegungsfreiheit, Eigentum, Ehre, 13

Vgl. Herzberg, JA 1980, 391; Β or chert /Hellmann, NJW 1983, 2799. So Eser/Burkhardt, Strafrecht I Nr. 13 A Rdn. 2; Armin Kaufmann, Klug-Festschrift Bd. I I S. 282; Kientzy, Der Mangel am Straftatbestand S. 65 ff.; Maurach/Zipf Allg. Teil I § 17 Rdn. 32 ff.; Göbel, Einwilligung S. 71; Kühne, JZ 1979, 242; Roxin, Kriminalpolitik und Strafrechtssystem S. 25 Fußnote 57; derselbe, Welzel-Festschrift S. 449; derselbe, Allg. Teil I § 13 Rdn. 12 ff. (mit eingehender Begründung); Rudolphi, ZStW 86 (1974) S. 87; derselbe, Armin Kaufmann-Gedächtnisschrift S. 374f.; Sax, Laufke-Festschrift S. 337f.; Schmidhäuser, Allg. Teil S. 268f.; Schlehofer, Einwilligung S. 4; SK (Horn) § 226a Rdn. 2; Weigend, ZStW 98 (1986) S. 47ff.; Zipf, Einwilligung und Risikoübernahme S. 28ff.; derselbe, ÖJZ 1977, 380f.; Wimmer, Die Bedeutung S. 260. 15 So Hirsch, Welzel-Festschrift S. 799 Fußnote 75; LK U (Hirsch) Vorbem. 98 vor § 32; Noll, Festschrift f. d. O L G Zweibrücken S. 222; Geppert, ZStW 83 (1971) S. 968; Schönke/ Schröder/Lenckner, Vorbem. 33 ff. vor § 32. Dagegen hat Stratenwerth, Allg. Teil I Rdn. 368 offenbar nur Tatbestände im Auge, die eine Substanzverletzung erfordern. Doch ist der Gedanke der vom Willen des Verletzten unabhängigen Rechtseinbuße ein allgemeiner. 14

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§ 34 E i n w i l l i g u n g u n d mutmaßliche E i n w i l l i g u n g des Verletzten

Geheimbereich sind zunächst einmal unabhängig v o m W i l l e n des Berechtigten als Lebensgüter der Gemeinschaft, die Freiheit, Selbstbestimmung u n d Menschenwürde konstituieren, geschützt u n d meist sogar durch die Verfassung garantiert ( A r t . 2 I I , 10, 14 G G ) 1 6 . W e n n der Berechtigte eines dieser Güter dem Zugriff D r i t t e r preisgibt, so bedeutet das trotz der Einwilligung, daß dieser Vorgang strafrechtlich bedeutsam und nicht etwa v o n vornherein gleichgültig ist. Deswegen w i r d der zustimmende W i l l e des Berechtigten auch nicht ohne weiteres als maßgeblich anerkannt, sondern i n seiner Wirksamkeit v o n gewissen Bedingungen abhängig gemacht, die verhindern sollen, daß der Rechtsgutsträger sich selbst schädigt, ohne den Nachteil v o l l zu überblicken, der m i t der Preisgabe des Rechtsguts verbunden ist. So ist es zu erklären, daß die E i n w i l l i g u n g Einsichtsfähigkeit voraussetzt, daß sie grundsätzlich frei v o n Täuschung u n d Z w a n g sein u n d nach außen erkennbar hervortreten muß. A u c h die Bestimmung, daß die Körperverletzung rechtswidrig bleibt, wenn die Tat trotz der E i n w i l l i g u n g gegen die guten Sitten verstößt (§ 226 a), zeigt, daß die E i n w i l l i g u n g wegen der überragenden Bedeutung des Rechtsguts, u m das es sich bei der Körperverletzung handelt, v o m Gesetzgeber Einschränkungen unterworfen w i r d , die nur aus dem öffentlichen Interesse an seiner Erhaltung erklärt werden können. D i e Textfassung des § 226 a ist auch ebenso zu verstehen wie die der §§ 32, 34, die unbestritten Rechtfertigungsgründe bezeichnen. Bei der T ö t u n g v o n fremder H a n d ist die E i n w i l l i g u n g sogar ganz ausgeschlossen (§ 216). Es gibt freilich auch Fälle, in denen das Einverständnis des Betroffenen unmittelbar auf den Tatbestand zurückwirkt. Wer einen alten Schrank zu Brennholz zersägen läßt, ändert dessen Zweckbestimmung, so daß Sachbeschädigung von vornherein ausscheidet (§ 303). Wer für geschlechtliche Zudringlichkeiten Entgegenkommen findet, gibt keine Mißachtung kund (§ 185). Beim Zeichnen einer Urkunde mit fremdem Namen beseitigt das Einverständnis des Namensträgers den Tatbestand des § 267, wenn der Namensträger sich vertreten lassen will und darf, weil die Urkunde dann nicht „unecht" ist.

I I . Die Einwilligung als Rechtfertigungsgrund 1. Die Geschichte der Einwilligung als Rechtfertigungsgrund reicht weit zurück 17 . Das bekannte Rechtssprichwort „volenti non fit iniuria" knüpft an die Digestenstelle „nulla iniuria est, quae in volentem fiat" (Dig. 47, 10 de iniur. 1 § 5) an. Dieser noch heute prinzipiell gültige Rechtssatz bedeutete für das römische Recht, daß die Einwilligung in allen Fällen der „iniuria" (Verletzung von Persönlichkeitsrechten unter Einschluß von Leib und Leben) rechtfertigende Kraft besaß, weil jeder Bürger über seinen eigenen Lebensbereich frei verfügen durfte. Für die Naturrechtslehre, die das Wesen des Verbrechens in der Verletzung subjektiver Rechte erblickte, kam es darauf an klarzustellen, inwieweit die Rechtsordnung dem Verletzten die Befugnis gibt, auf den Strafschutz zu verzichten (Kleinschrod, Klein, Feuerbach). Die Anhänger der historischen Rechtsschule (Roßhirt, Stahl) mußten dagegen die Zulässigkeit einer wirksamen Einwilligung grundsätzlich verneinen, weil das Strafrecht nach ihrer Ansicht nur dem Gemeinwesen dienen soll. Die Hegelianer (Ahegg, Köstlin, Berner, Hälschner) kehrten dagegen zu dem Kriterium der Verfügbarkeit des angegriffenen Rechtsguts zurück, weil sich bei zulässiger Einwilligung der subjektive Einzelwille nicht mehr als Negation des objektiven Gemeinwillens darstelle. Die soziologische Rechtsschule endlich erblickte das Wesen der strafbaren Handlung in der Interessenverletzung und verneinte deshalb die Rechtswidrigkeit bei mangelndem Interesse des Verletzten bis hin zur Preisgabe des eigenen Lebens (Keßler, Pfersdorfs Graf zu Dohna).

16

Zur „gesetzesvertretenden" Einwilligung bei Grundrechtsgütern Amelung, Einwilligung S. 82 ff. 17 Zur Dogmengeschichte eingehend Honig, Einwilligung S. 1 ff.

I I . D i e E i n w i l l i g u n g als Rechtfertigungsgrund

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2. Zur Begründung der rechtfertigenden Kraft der Einwilligung werden verschiedene Theorien vertreten. Die Rechtsgeschäftstheorie nimmt an, die Einwilligung des Verletzten sei ein Rechtsgeschäft und habe die Wirkung, dem Täter ein widerrufliches Recht zur Verletzung einzuräumen; da die Ausübung eines Rechts aber nicht widerrechtlich sein könne, sei die Einwilligung auch für das Strafrecht ein Rechtfertigungsgrund 18. Von einer späteren Lehre wird die Einwilligung als Zeichen der Interessenpreisgahe durch den Rechtsgutsinhaber angesehen, der Bedeutung zukomme, soweit ihm die Rechtsordnung die Entscheidung über die Erhaltung seiner Güter überlassen habe 19 . Weiter wird angenommen, daß mit der Einwilligung das Schutzobjekt zum Teil wegfalle, weil das tatbestandsmäßige Unrecht auch in der Mißachtung des Willens des Verletzten liege 20 . Die Rechtsprechung (BGH 17, 359 [360]) und h.L. vertreten den Standpunkt, daß der Einwilligende durch Preisgabe seiner Interessen auf Straf schütz verzichte 21. Auch ein Gewohnheitsrecht wird angenommen22. Diese Erklärungen vermögen jedoch den Grund für die rechtfertigende Kraft der Einwilligung nicht erschöpfend anzugeben. Die Rechtsgeschäftstheorie verkennt die unterschiedliche Zweckbestimmung von Straf- und Zivilrecht. Die Interessenpreisgabetheorie sagt nicht, warum die subjektive Verzichtleistung aus möglicherweise höchst unsittlichen Beweggründen den Staat von der Aufgabe objektiven Interessenschutzes entbinden kann. Ebenso erklärt die Rechtsschutzverzichtstheorie nicht, warum der private Verzicht gegenüber der grundsätzlich öffentlichen Rechtsschutzpflicht des Staates durchzugreifen vermag. Der Gedanke des teilweisen Wegfalls des Erfolgsunrechts läßt die Frage offen, wieso die Verletzung des durch die Strafvorschrift geschützten Handlungsobjekts nicht als Erfolgsunrecht ausreichen soll. Die Annahme eines Gewohnheitsrechts sagt nichts über dessen innere Begründung aus.

3. Der entscheidende Gedanke ist ein rechtspolitischer 23. Die subjektive Wertung der Rechtsgüter durch den einzelnen wird von der Rechtsordnung in gewissen Grenzen als maßgeblich anerkannt, weil der ungehinderte Gebrauch der persönlichen Freiheit (Art. 2 I GG) als solcher im freiheitlichen Rechtsstaat als sozialer Wert angesehen wird, der gegenüber dem Gemeinschaftsinteresse an der Erhaltung der Rechtsgüter abzuwägen ist. So weit die Freiheit des Rechtsgutsinhabers reicht, deckt sie deswegen auch die Verletzung des geschützten Handlungsobjekts, sofern die besonderen Voraussetzungen der Wirksamkeit der Einwilligung gegeben sind. Daraus folgt zunächst, daß die Einwilligung nur in bezug auf Individualrechtsgüter in Betracht kommt und auch nur dann Beachtung verdient, wenn der Einwilligende allein Träger des betroffenen Rechtsguts ist. Deshalb gibt es keine wirksame Einwilligung in eine Trunkenheitsfahrt (§ 315c I la) (BGH 23, 261 [264]) (vgl. unten § 34 I I I 5 Fußnote 42), eine falsche Verdächtigung (§ 164) 18

So Zitelmann, AcP 99 (1906) S. 56. So Honig, Einwilligung S. 118; v. Hippel, Bd. I I S. 244; Mezger, Lehrbuch S. 208; v. Liszt/ Schmidt, S. 217. 20 So Stratenwerth, ZStW 68 (1956) S. 43; SK (Samson) Vorbem. 39 vor § 32; Weigend, ZStW 98 (1986) S. 47. 21 So Bichlmeier, JZ 1980, 54; Dreher/Tröndle, Vorbem. 3b vor § 32; Geerds, ZStW 72 (1960) S. 43; Lackner, Vorbem. 10 vor § 32; Lenckner, ZStW 72 (I960) S. 453; LK n (Hirsch) Vorbem. 105 vor § 32; Otto, Grundkurs S. 115; Schönke/Schröder/Lenckner, Vorbem. 33 vor § 32; Welzel, Lehrbuch S. 95; Wessels, Allg. Teil Rdn. 370. 22 So LK U (Hirsch) Vorbem. 92 vor § 32. 23 Der Text folgt grundsätzlich Noll, Ubergesetzliche Rechtfertigungsgründe S. 74ff.; derselbe, ZStW 77 (1965) S. Iff. Ebenso Maurach/Zipf Allg. Teil I § 17 Rdn. 36; Göbel, Einwilligung S. 22; Eser/Burkhardt, Strafrecht I Nr. 13 A Rdn. 7a; Geppert, ZStW 83 (1971) S. 952; Jakobs, Allg. Teil 7/104 (Einverständnis), 14/4 (Einwilligung); Stratenwerth, Allg. Teil I Rdn. 362. 19

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(vgl. unten § 34 I I I 5), eine Personenstandsfälschung (§ 169), Wahlfälschung (§ 107a) oder einen Schwangerschaftsabbruch (§ 218), bei dem die Einwilligung nur in den Fällen der Straflosigkeit (§ 218 a) ein zusätzliches Erfordernis für diese darstellt. Ferner muß die Einwilligung in die eigene Tötung unbeachtlich sein, weil das Leben, abgesehen von dem Fall des Selbstmords, nicht der persönlichen Entscheidungsfreiheit unterliegt (§ 216) 24 . Die Einwilligung in die eigene Körperverletzung kann nur beschränkt wirksam sein, da eine sittenwidrige Gesundheitsschädigung erheblichen Ausmaßes trotz der Einwilligung das übergeordnete Gemeinschaftsinteresse an der Wahrung der Körperintegrität gegenüber fremden Eingriffen verletzt (§ 226 a) 25 . § 226 a ist auch auf die Einwilligung in eine Körpergefährdung und sogar auf die Einwilligung in eine (fahrlässige) Lebensgefährdung entsprechend anzuwenden26. III. Der Wirkungsbereich der rechtfertigenden Einwilligung 1. Die Einwilligung des Verletzten hat rechtfertigende Kraft bei den meisten Straftaten gegen den einzelnen, weil insoweit eine freiheitliche Rechtsordnung jedermann seine Entschlüsse nach eigenen Wertvorstellungen und selbstgewählten Zwecken treffen läßt. Beispiele: Wirksam ist die Einwilligung bei der Beleidigung (§ 185), so daß die Zusendung sexueller Werbeschriften (BGH 11, 67 [72]) durch Einwilligung gerechtfertigt ist ( O L G Stuttgart NJW 1962, 62). Die Entbindung des Arztes von der Schweigepflicht durch den Patienten rechtfertigt die Offenbarung eines Privatgeheimnisses (§ 203 I Nr. 1) (RG 71, 21 [22]) 27 . Die Zueignung (§ 246) ist gerechtfertigt, wenn Eigentümer oder Verfügungsberechtigter damit einverstanden sind (RG 44, 41 [42]). Bei Vermögensdelikten ist freilich daran zu denken, daß die Einwilligung nach bürgerlichem Recht weitergehende Wirkungen haben kann (z.B. als Vertragsangebot nach § 145 BGB, als Ubereignungsangebot nach § 929 BGB, als Aneignungsgestattung nach § 956 BGB, jeweils mit der Folge, daß der Vertragspartner selbst den Eigentumsübergang bewirken kann. So hat der Jagdpächter eine vertragsmäßige Befugnis zur Ausübung eigenen Jagdrechts und handelt nicht bloß aufgrund einer jederzeit widerruflichen „Einwilligung" des Eigentümers, so liegt eine sachenrechtliche Übereignung nach § 929 BGB vor, wenn das Forstamt einen Posten Holz im Walde verkauft und dem Käufer die Abholung gestattet, was zur Folge hat, daß die Sache für ihn nicht mehr „fremd" ist 2 8 . In diesen Fällen fehlt es schon am Tatbestand der strafbaren Handlung.

2. Eine Sonderstellung im Rahmen der Individualrechtsgüter nehmen Leben und Körperintegrität ein. Die Einwilligung in die eigene, durch vorsätzliche Tat geschehende Tötung rechtfertigt diese nicht. Die Tat bleibt mindestens nach § 216 strafbar. Auch die Einwilligung in vorsätzliche Lebensgefährdung (z.B. bei der Aussetzung, § 221) hat keine rechtfertigende Kraft (zur fahrlässigen Lebensgefähr24 So mit Recht Hirsch, Welzel-Festschrift S. 775 f f , 796 (rechtsvergleichend S. 793 ff.) gegen R. Schmitt, Maurach-Festschrift S. 117 ff.; Marx, Rechtsgut S. 62 f f , 82. Ebenso Engisch, H. Mayer-Festschrift S. 412 f. 25 So mit Recht Hirsch, Welzel-Festschrift S. 797ff.; derselbe, ZStW 83 (1971) S. 165 ff. Über die praktische Bedeutung des § 226 a - gegen Berz, GA 1969, 149 und R. Schmitt, Schröder-Gedächtnisschrift S. 263 ff. - Schönke/Schröder/Stree, § 226 a Rdn. 14 ff. 26 So zu Recht Schönke/Schröder/Stree, § 226 a Rdn. 4 bzw. Schönke/Schröder/Lenckner, Vorbem. 103 f. vor § 32; Ostendorf JuS 1982, 432; Otto, Tröndle-Festschrift S. 169ff. 27 Für Ausschluß bereits des Tatbestandsmerkmals „unbefugt" in diesem Fall jedoch Schönke/Schröder/Lenckner, § 203 Rdn. 21 f.; Maurach/Schroeder/Maiwald, Bes. Teil I § 29 Rdn. 12. 28 Firnhaber, Rechtsgeschäft und Einwilligung bei Vermögensdelikten S. 18, 75; H.-D. Weber, Der zivilrechtliche Vertrag als Rechtfertigungsgrund S. 68 f f , 77ff.; Schönke/Schröder/ Lenckner, Vorbem. 53 vor § 32.

I I I . D e r Wirkungsbereich der rechtfertigenden E i n w i l l i g u n g

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dung vgl. unten § 56 I I 3). Bei der Körperverletzung stehen ebenfalls oft unersetzliche Werte auf dem Spiel. D i e Gesundheit ist, nicht unähnlich dem Leben, die Grundvoraussetzung für die Erfüllung der meisten Aufgaben des Menschen i n der Gemeinschaft. Deswegen erklärt § 226 a die m i t E i n w i l l i g u n g vorgenommene K ö r perverletzung dann als rechtswidrig, wenn die Tat trotz der E i n w i l l i g u n g gegen die guten Sitten verstößt 2 9 . Freilich sollten nur erhebliche Körperverletzungen, insbesondere solche m i t Dauerschäden, i n den § 226 a einbezogen w e r d e n 3 0 , w e i l sonst eine unangebrachte Sittenrichterei die Folge sein müßte. D i e Rechtsprechung ist dieser Gefahr durch Einbeziehung des sittenwidrigen Zwecks der Beeinträchtigung nicht selten erlegen. Beispiele: Als sittenwidrig wurden angesehen aus sadistischen Gründen verabreichte Schläge (RG JW 1929, 1015 [1017]; DR 1943, 234); die Züchtigung mit einem zusammengelegten Strick als Erziehungsmaßnahme eines Trainers (RG JW 1938, 30); masturbatorisch wirkende Handlungen zu Heilzwecken (RG 74, 91 [94]); die medizinisch nicht indizierte Verschreibung von Opiaten an Süchtige (RG 77, 17 [21]); die vorsätzliche Verletzung der einfachsten Regeln bei einem vereinbarten Faustkampf (BGH 4, 88 [92]). Dagegen wurde die Einwilligung in Mensurverletzungen als rechtfertigend angesehen, da ein Sittenverstoß nur dann anzunehmen sei, wenn die Tat „nach dem Anstandsgefühl aller billig und gerecht Denkenden zweifellos kriminell strafwürdiges Unrecht ist" (BGH 4, 24 [32]). Sittenwidrig ist wegen der Schwere des Eingriffs die Extraktion sämtlicher Zähne aufgrund eines unsinnigen Verlangens der Patientin (anders B G H NJW 1978, 1206: Unwirksamkeit der Einwilligung wegen Fehlens der Urteilsfähigkeit) 31 . 3. Besondere Bedeutung hat die E i n w i l l i g u n g für die Heileingriffe u n d für die Zulässigkeit v o n Sterilisation u n d Kastration: a) Die h.M. sah schon früher im lege artis durchgeführten Heileingriff tatbestandsmäßig keine Körperverletzung, selbst wenn der Gesundheitszustand des Patienten dadurch im Ergebnis verschlechtert worden war 3 2 . U m das Selbstbestimmungsrecht des Patienten zu schützen, hat jedoch die Rechtsprechung (RG 25, 375; BGHSt 11, 111; 12, 379; 16, 309; B G H Z 29, 33, 46 und 176; B G H NJW 1980, 1905) bisher unbeirrt den Standpunkt vertreten, daß der Heileingriff als Körperverletzung anzusehen sei, jedoch durch die Einwilligung des Patienten gerechtfertigt werde 33 . Diese für das ärztliche Wirken unbefriedigende Rechtslage läßt sich erst dann ändern, wenn eine besondere Strafvorschrift über die eigenmächtige Heilbehandlung eingeführt sein wird, die den strafrechtlichen Schutz des Selbstbestimmungsrechts über den Körper sicherstellt (vgl. etwa § 162 Ε 1962 und § 110 österr. StGB) 34 . 29 Roxin, JuS 1964, 376 sieht als Grund der Einschränkung nicht den unersetzlichen Wert des Rechtsguts an, sondern die „moralische Mißbilligung" der Tat. Dagegen zutreffend Stratenwerth, Allg. Teil I Rdn. 376. 30 Vgl. Arzt, Willensmängel S. 36ff.; LK 10 (Hirsch) § 226a Rdn. 10; zu eng SK (Horn) § 226 a Rdn. 9 (nur eine Körperverletzung, die für die Zwecke einer Straftat unternommen wird). 31 Wie hier Bichlmeier, JZ 1980, 53; Jakohs, Allg. Teil 14/9; wie der B G H Amelung, ZStW 104 (1992) S. 548. Dagegen Roxin, Allg. Teil I § 13 Rdn. 58f. mit Schrifttum Fußnote 88. 32 Engisch, ZStW 58 (1939) S. 5; derselbe, Die rechtliche Bedeutung S. 20; Eb. Schmidt, Gutachten zum 44. DJT S. 21; Kohlrausch/Lange, § 223 Anm. I I I ; Bockelmann, Strafrecht des Arztes S. 62 ff.; Welzel, Lehrbuch S. 96; LK (Hirsch) Vorbem. 3 ff. vor § 223 m.zahlr. Nachw. (zu modifizierenden Auffassungen Rdn. 4). 33 Ebenso Baumann, NJW 1958, 2094; Baumann/Weber, Allg. Teil S. 183; Schwalm, Bokkelmann-Festschrift S. 539. Zweifelnd Dreher /Tröndle, § 223 Rdn. 9 b; Hirsch, Tröndle-Festschrift S. 34; Lackner, § 223 Rdn. 8. Bei Verschlechterung des Gesundheitszustandes auch Rudolphi, JR 1975, 512 f. 34 Vgl. dazu Wilts, M D R 1970, 971; 1971, 4, 92; Schönke/Schröder/Eser, § 223 Rdn. 31; Eser, ZStW 97 (1985) S. 4ff.; v. Gerlach, Ärztliche Aufklärungspflicht S. 30; im Ergebnis auch SK (Horn) § 223 Rdn. 35 ff.

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b) In der Beurteilung der freiwilligen Sterilisation ist B G H 20, 81 zu dem Ergebnis gekommen, daß es zur Zeit keine Strafvorschrift gebe, die diese Fälle erfaßt. Wer diese Ansicht nicht teilt 3 5 , wird trotzdem zugeben müssen, daß der Freispruch berechtigt war, weil die Sittenwidrigkeit der Tat nicht nach der Auffassung einzelner Gruppen, sondern nur auf der Grundlage des sittlichen Bewußtseins der großen Mehrheit der Bevölkerung angenommen werden kann 36 . Für die Rechtfertigung der Sterilisation bleibt jedenfalls § 226 a maßgebend37. Auch die Entfernung der Keimdrüsen (Kastration) ist mit Einwilligung des Betroffenen unter den Voraussetzungen zulässig, die 2, 3 des Gesetzes über die freiwillige Kastration vom 15.8.1969 (BGBl. I S. 1143) aufstellen 3*. c) Zur Einwilligung bei Sportverletzungen vgl. unten § 56 I I 3. 4. E i n Teil der Lehre w i l l § 226 a entsprechend auf alle Fälle der Einwilligung anwenden 3 9 , doch bestehen dagegen überwiegende Bedenken, da die Entscheidungsfreiheit des Verletzten nur dort eingeschränkt werden sollte, w o der Gesetzgeber dies ausdrücklich angeordnet h a t 4 0 . D e r Rechtfertigungsgrund der E i n w i l l i gung würde durch die allgemeine Anwendbarkeit des Korrektivs der guten Sitten i n einer i m Rechtsstaat schwer vertretbaren Weise relativiert und der Rechtsgutsträger einer unangemessenen staatlichen Bevormundung unterworfen. 5. Eine wirksame E i n w i l l i g u n g des einzelnen i n Angriffe auf Rechtsgüter der Allgemeinheit kann es nicht geben, w e i l sich seine Verfügungsbefugnis darauf nicht bezieht. N u r eine scheinbare Ausnahme ist die Möglichkeit der E i n w i l l i g u n g v o n Dienststellen des Verfassungsschutzes i n Handlungen, die tatbestandsmäßig Gefährdungsdelikte des politischen Strafrechts darstellen 4 1 , denn hier handelt es sich nicht u m Privatpersonen, sondern u m die für den Staatsschutz zuständigen Behörden, die i n engen Grenzen ein Erlaubnisrecht haben. Der E i n w i l l i g u n g m i t Rücksicht auf das Rechtsgut entzogen sind z.B. die Aussagedelikte (§§ 153ff.), die Doppelehe (§ 171) und die Sittlichkeitsdelikte (§§ 174 ff.) ( B G H 7, 312), sofern durch die Z u s t i m m u n g des anderen Teils nicht schon der Tatbestand entfällt. Bei Straftaten gegen die Allgemeinheit, die i n ihrer A u s w i r k u n g zugleich den einzelnen 35 Vgl. die überzeugende Kritik von Engisch, Kritische Bemerkungen S. 10 ff.; Hanack, JZ 1965, 221 ff. 36 Engisch, H. Mayer-Festschrift S. 400; Roxin, JuS 1964, 379. Einschränkend Hanack, JZ 1964, 400 ff. 37 Uber die gegenwärtige Rechtslage eingehend LK 10 (Hirsch) § 226a Rdn. 39ff.; Schönke / Schröder / Eser, § 223 Rdn. 59ff.; Rdn. 62 zu Recht bei jungen Menschen mit Rücksicht auf die Schwere und Irreversibilität des Eingriffs die Einsichtsfähigkeit des Betroffenen verneinend. 38 Vgl. dazu näher LK 10 (Hirsch) § 226a Rdn. 42; Schönke/Schröder/Eser, % 223 Rdn. 55 ff. Zur früheren Rechtslage B G H 19, 201. 39 So Baumann/Weber, Allg. Teil S. 328; Jakobs, Allg. Teil 14/9; H Mayer, Lehrbuch S. 167; Welzel, Lehrbuch S. 97. 40 Wie hier Schönke/Schröder/Lenckner, Vorbem. 37 vor § 32 und Haft, Allg. Teil S. 110 (abgesehen von menschenunwürdigen Ehrverletzungen, bei denen aber schon die Einwilligung nichtig ist); Eser/Burkhardt, Strafrecht I Nr. 13 A Rdn. 27; LK 10 (Hirsch) § 226a Rdn. 1; Maurach/Zipf Allg. Teil I § 17 Rdn. 65; Roxin, Allg. Teil I § 13 Rdn. 41; Noll, ZStW 77 (1965) S. 21; Arzt, Willensmängel S. 36 f. Fußnote 49; Zipf, Einwilligung und Risikoübernahme 35; Stratenwerth, Allg. Teil I Rdn. 377; Kientzy, Der Mangel am Straftatbestand S. 96f.; Wessels, Allg. Teil Rdn. 377. Schmidhäuser, Allg. Teil S. 272 will § 226a nur auf die Freiheitsberaubung erstrecken. Zur Verfassungsmäßigkeit von § 226 a LK 10 (Hirsch) § 226a Rdn. 2 (Reformbedürftigkeit bejaht). Für überflüssig hält § 226a zu Unrecht Schmitt, Schröder-Gedächtnisschrift S. 263 ff. 41 Vgl. Goldmann, Behördliche Genehmigung S. 218ff.; Roxin, Allg. Teil I § 13 Rdn. 31.

I V . D i e Erfordernisse der Einwilligungserklärung

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betreffen, hat die Rechtsprechung die Wirksamkeit der E i n w i l l i g u n g i n der Regel ebenfalls verneint. Beispiele: Bei gemeingefährlichen Delikten berührt die Einwilligung des Verletzten die Rechtswidrigkeit nicht (BGH 6, 232 [234]). Für die Strafbarkeit der falschen Verdächtigung (§ 164) ist die Einwilligung des Betroffenen, abgesehen vom Wegfall der Bekanntmachungsbefugnis nach § 165, bedeutungslos (BGH 5, 66 [68 f.]; B G H JR 1965, 306). Die Geiselnahme (§ 239 b) wird nicht dadurch gerechtfertigt, daß der gesetzliche Vertreter des Opfers in die Tat einwilligt (BGH 26, 70 [73]). Die Einwilligung des Mitfahrers in seine Gefährdung durch den fahruntüchtigen Kraftfahrer schließt die Rechtswidrigkeit der Tat nach § 315c I Nr. l a nicht aus, da es sich bei der Straßenverkehrsgefährdung um Strafvorschriften zum Schutz der Allgemeinheit handelt (BGH 23, 261 [264])4 . Unbeachtlich ist auch die Einwilligung in eine Ordnungswidrigkeit nach § 1 I I StVO (OLG Frankfurt D A R 1965, 217) und in eine Körperverletzung im Amt (BGH 32, 357 [359]) 43 . I V . Die Erfordernisse der Einwilligungserklärung 1. D i e E i n w i l l i g u n g ist keine rechtsgeschäftliche Willenserklärung i m Sinne der §§ 104 ff. B G B . Deswegen k o m m t es dabei auf die Geschäftsfähigkeit des Verletzten nicht an ( B G H Z 29, 36). Ebensowenig hat i m Strafrecht eine nach bürgerlichem Recht mögliche nachträgliche Z u s t i m m u n g (Genehmigung) (§ 184 B G B ) rechtfertigende Kraft. D i e E i n w i l l i g u n g muß sich vielmehr immer auf ein zukünftiges T u n oder Unterlassen eines bestimmten anderen Menschen beziehen ( B G H 7, 294 [295]; 17, 359 [360]). D i e E i n w i l l i g u n g ist auch keine Rechtshandlung i m Sinne des bürgerlichen Rechts, die teilweise nach Analogie der Willenserklärung behandelt werden d ü r f t e 4 4 , denn i m Strafrecht geht es weder u m den Schutz des M i n d e r jährigen noch u m den Schutz des Rechtsverkehrs, sondern allein u m die Frage der Strafwürdigkeit einer Handlung, o b w o h l der Verletzte zugestimmt hat. Bei der E i n w i l l i g u n g handelt es sich also u m eine eigenständige Rechtsfigur des Strafrechts 4 5 , deren Wirksamkeitserfordernisse allein danach zu bestimmen sind, ob die Zustimmung zu dem A n g r i f f auf das geschützte Handlungsobjekt Ausdruck der durch die Rechtsordnung anzuerkennenden persönlichen Entscheidungsfreiheit des Rechtsgutsinhabers ist. 2. Hinsichtlich der Frage, inwieweit die E i n w i l l i g u n g nach außen i n Erscheinung getreten sein muß, hat sich eine überwiegende Meinung gebildet. Während früher 42 Übereinstimmend Lackner, Das konkrete Gefährdungsdelikt S. 12; LK 10 (Rüth) § 315c Rdn. 61; Schaffstein, Welzel-Festschrift S. 574; Dreh er/Tröndle, § 315c Rdn. 17. Dagegen Roxin, Allg. Teil I § 13 Rdn. 33; SK (Horn) % 315c Rdn. 22; Langrock, M D R 1970, 982; Schönke/Schröder /Cramer, § 315c Rdn. 36. Differenzierend Geppert, ZStW 83 (1971) S. 986. 43 Zur Zulässigkeit der Einwilligung bei den Amtsdelikten Amelung, Dünnebier-Festschrift S. 487ff.; Roxin, Allg. Teil I § 13 Rdn. 34 (z.B. Soldat als Blutspender). 44 Dagegen verlangen Dreh er/Tröndle, Vorbem. 3 b vor § 32; Jakobs, Allg. Teil 7/114; Baumann/Weber, Allg. Teil S. 324; Traeger, GS 94 (1927) S. 149; Lenckner, ZStW 72 (I960) S. 456; Schönke/Schröder/Lenckner, Vorbem. 39 vor § 32; SK (Samson) Vorbem. 41 vor § 32, soweit es sich um die Verletzung von Vermögensrechten handelt (z.B. §§ 266, 246, des Einwilligenden, während bei höchstpersönlichen Rechtsgütern 303), Geschäftsfähigkeit (Körperintegrität, Geheimsphäre) die natürliche Einsichts- und Urteilsfähigkeit genügen soll. Die Begründung mit dem Prinzip der Einheit der Rechtsordnung überzeugt nicht, da die Wirksamkeit von Verträgen sich nach anderen Regeln bestimmen kann als die Strafwürdigkeit eines Eingriffs in fremdes Vermögen. Wie der Text Stratenwerth, Allg. Teil I Rdn. 380. 45 So Blei, Allg. Teil S. 135; Bockelmann/Volk, Allg. Teil S. 103; Lackner, Vorbem. 16 vor § 32; LK U (Hirsch) Vorbem. 118 vor § 32; Maurach/Zipf Allg. Teil I § 17 Rdn. 57; Kohlrausch/Lange, Vorbem. I I 3b vor § 51; Wessels, Allg. Teil Rdn. 375; Preisendanz, Vorbem. 4 b bb vor § 32.

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§ 34 E i n w i l l i g u n g u n d mutmaßliche E i n w i l l i g u n g des Verletzten

der Willenserklärungstheorie 4 6 , wonach die E i n w i l l i g u n g nach außen h i n rechtsgeschäftlich erklärt sein mußte, die Willensrichtungstheorie 4 7 gegenüberstand, nach der die bloße innere Zustimmung des Verletzten genügen sollte, w i r d heute verlangt, daß die E i n w i l l i g u n g äußerlich eindeutig erkennbar geworden sein muß, ohne daß jedoch die Maßstäbe des bürgerlichen Rechts über die Willenserklärung (Geschäftsfähigkeit, Willensmängel, Zugang) angelegt werden (vermittelnde Theorie)48. 3. Gegenstand der Einwilligung ist die H a n d l u n g und der tatbestandsmäßige Erfolg, soweit er i m Zeitpunkt der E i n w i l l i g u n g zu übersehen ist (vgl. jedoch zur E i n w i l l i g u n g i n fahrlässige Körpergefährdung unten § 56 I I 3 ) 4 9 . 4. D e r Rechtsgutsinhaber muß vor allem die natürliche Einsichts- und Urteilsfähigkeit besitzen, u m die Bedeutung der Preisgabe des geschützten Interesses u n d die Tragweite der Tat i m wesentlichen abschätzen zu können ( R G 41, 392 [394]; B G H 4, 88 [92]; 12, 379 [383]; 23, 1 [4]; zu eng B G H N J W 1979, 1206) 5 0 . Fehlt bei Minderjährigen oder Geisteskranken die natürliche Einsichtsfähigkeit, so hat der Personensorgeberechtigte gesetzliche Vertreter das Recht, gegebenenfalls auch die Pflicht zur E i n w i l l i g u n g ( B G H 12, 379 [383]) 5 1 . 5. und aus, und 46

D i e E i n w i l l i g u n g muß ferner frei v o n Willensmängeln (Täuschung, I r r t u m Zwang) sein ( B G H 4, 113 [118]) 5 2 . D o c h reicht ein bloßer M o t i v i r r t u m nicht u m die E i n w i l l i g u n g unwirksam zu machen ( O L G Stuttgart N J W 1962, 62), auch ein I r r t u m über die A p p r o b a t i o n dessen, der einen Heileingriff durch-

So Zitelmann, AcP 99 (1906) S. 51 ff. So Noll, Übergesetzliche Rechtfertigungsgründe S. 134; SK (Samson) Vorbem. 42 vor § 32; Jakobs, Allg. Teil 7/115; Mezger, Lehrbuch S. 209; Sauer, Allg. Strafrechtslehre S. 136; Schmidhäuser y Allg. Teil S. 278 f. 48 So die Rspr. und h.L.; vgl. B G H 17, 360; BayObLG NJW 1968, 665; O L G Celle M D R 1969, 69; Baumann,/Weher, Allg. Teil S. 322f.; Bockelmann/Volk, Allg. Teil S. 103; Dreher /Tröndle, Vorbem. 3 b vor § 32; LK n (Hirsch) Vorbem. 111 vor § 32; Maurach/Zipf, Allg. Teil I § 17 Rdn. 62; Roxin, Allg. Teil I § 13 Rdn. 42; Schönke/Schröder/Lenckner, Vorbem. 43 vor § 32; Wessels, Allg. Teil Rdn. 378; Welzel, Lehrbuch S. 97. 49 Über den Streit um die Frage, ob sich die Einwilligung auf den Erfolg, die Handlung oder auf beides bezieht, Schrey, Der Gegenstand der Einwilligung S. 26 ff. Allein auf den Erfolg will Zipf, Einwilligung und Risikoübernahme S. 22 die Einwilligung beziehen. Vermittelnd aber Maurach/Zipf, Allg. Teil I § 17 Rdn. 55. Wie der Text Roxin, Allg. Teil I § 13 Rdn. 49. 50 So auch die h.L.; vgl. Amelung, ZStW 104 (1992) S. 525ff, 821 ff.; Baumann/Weher, Allg. Teil S. 324; Blei, Allg. Teil S. 135; Lackner, Vorbem. 16 vor § 32; LK U (Hirsch) VorAllg. Teil I § 17 Rdn. 57; Jakobs, Allg. Teil 7/114; Noll, bem. 118 vor § 32; Maurach/Zipf, Übergesetzliche Rechtfertigungsgründe S. 127; Stratenwerth, Allg. Teil I Rdn. 379. 51 Ist der Minderjährige selbst einwilligungsfähig, so bedarf es für das Strafrecht der Einwilligung des gesetzlichen Vertreters nicht, so daß bei einem etwaigen Widerspruch die Entscheidung des Minderjährigen vorgeht, vgl. Boehmer, M D R 1959, 707; Lenckner, ZStW 72 Vorbem. 42 vor § 32 (außer bei offensichtlichen (1960) S. 456; Schönke/Schröder/Lenckner, Fehlentscheidungen; hierzu a.A. Jakobs, Allg. Teil 7/114 Fußnote 176). Wird die erforderliche Einwilligung des gesetzlichen Vertreters in eine Operation pflichtwidrig verweigert, so ist das Vormundschaftsgericht zwecks Bestellung eines Pflegers nach §§ 1666, 1909 BGB anzurufen. Fehlt es dazu an Zeit, so ist ein Fall rechtfertigenden Notstands (§ 34) anzunehmen, da Leben und Gesundheit des Kindes der Entscheidungsfreiheit des uneinsichtigen Sorgeberechtigten angesichts der Eilbedürftigkeit der Maßnahme vorgehen. Obwohl hier also ein gesetzlich geregeltes Verfahren vorgesehen ist, greift § 34 ein, weil unmittelbare Lebens- oder Gesundheitsgefahr besteht (vgl. auch oben § 33 IV 3d). Einwilligung nur eines Elternteils genügt nur in Ausnahmefällen (BGH JZ 1989, 93). 52 Zur Einwilligung Unfreier Amelung, ZStW 95 (1983) S. Iff. 47

V . D i e Kenntnis des Täters v o n der E i n w i l l i g u n g

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führt, kann in geringfügigen Fällen bedeutungslos sein (BGH 16, 309 [311]; anders bei Erschleichung der Einwilligung durch Täuschung, B G H JR 1988, 122). Auch ein Irrtum in der Erklärung macht die Einwilligung unwirksam, doch wird in diesem Falle die Vorsatzschuld des Täters meist durch einen entsprechenden Irrtum seinerseits ausgeschlossen sein. Dagegen machen ein Irrtum und eine Täuschung, die Ausmaß und Art der Beeinträchtigung des Handlungsobjekts betreffen, die Einwilligung unwirksam, weil diese dann den Eingriff des Täters in die Rechtssphäre des Betroffenen nicht deckt (BGH 32, 267 [269 f.]; O L G Stuttgart NJW 1982, 2266) 53 . Die Unwirksamkeit wird auf die Fälle auszudehnen sein, in denen der Betroffene infolge von Täuschung oder Irrtum den altruistischen Zweck seines Rechtsgutsopfers nicht erreicht oder den Sinn der Einwilligung für die Abwendung eigenen oder fremden Schadens verfehlt, weil diese dann nicht Ausdruck seiner Autonomie ist 5 4 . Die Drohung muß ferner ein erhebliches Übel einschließen55. Die Einwilligung ist frei widerruflich, einer Anfechtung im Sinne des bürgerlichen Rechts bedarf es nicht. Unerheblich ist endlich, ob die Einwilligung selbst gegen ein gesetzliches Verbot oder die guten Sitten verstößt, denn die §§ 134, 138 BGB sind auf die Einwilligung ebensowenig anwendbar wie die übrigen Vorschriften des bürgerlichen Rechts über die Willenserklärung (RG 74, 91 [95]; RG DR 1943, 234; B G H 4, 88 [91]) 56 . In der Praxis sind jedoch Sittenwidrigkeit der Tat (§ 226a) und Sittenwidrigkeit der Einwilligung schwer zu trennen. Beispiel: Die ärztlich nicht begründete Verschreibung von Betäubungsmitteln auf Wunsch eines Suchtkranken ist sittenwidrig und deswegen trotz der Einwilligung strafbar nach §§ 223, 226 a (RG 77, 17 [21]). Die Einwilligung könnte hier freilich schon mangels Einsichtsfähigkeit des Patienten unwirksam sein (S. 20).

V. Die Kenntnis des Täters von der Einwilligung Wie bei allen Rechtfertigungsgründen muß auch bei der Einwilligung das subjektive Rechtfertigungselement gegeben sein. Der Täter muß im Sinne der vermittelnden Theorie (vgl. oben § 34 IV 2) in Kenntnis und aufgrund der Einwilligung gehandelt haben 57 . Die Frage, wie zu entscheiden ist, wenn diese Kenntnis fehlt, ist 53 Arzt, Willensmängel S. 20, 30 spricht in diesem Sinne treffend von „rechtsgutsbezogener Täuschung" und „rechtsgutsbezogenem Irrtum". Ebenso Eser/Burkhardt, Strafrecht I Nr. 13 A Rdn. 15 f.; Noll, Übergesetzliche Rechtfertigungsgründe S. 131; Rudolphi, ZStW 86 (1974) S. 82; Schönke/Schröder/Lenckner, Vorbem. 46f. vor § 32; SK (Samson) Vorbem. 43 vor § 32; Jakobs, Allg. Teil 7/118; Kußmann, Einwilligung S. 340ff.; Roxin, Noll-Gedächtnisschrift S. 275 ff.; Schlehofer, Einwilligung S. 82f.; M.-K. Meyer, Ausschluß der Autonomie S. 182. Weitergehend (jeder Willensmangel) die überw. Lehre; vgl. Bockelmann/Volk, Allg. Teil S. 106; Dre h er/Tröndle, Vorbem. 3b vor § 32; LK 11 (Hirsch) Vorbem. 119 vor § 32; Maurach/Zipf, Allg. Teil I § 17 Rdn. 59. 54 So Roxin, Noll-Gedächtnisschrift S. 285 ff. 55 Vgl. Arzt, Willensmängel S. 35; LK U (Hirsch) Vorbem. 120 vor § 32; Roxin, Allg. Teil I § 13 Rdn. 78; Schönke/Schröder/Lenckner, Vorbem. 48 vor § 32; Wessels, Allg. Teil Rdn. 376. 56 Die Frage ist im Schrifttum umstritten; wie hier Berz, G A 1969, 70; Eser/Burkhardt, Strafrecht I Nr. 13 A Rdn. 25; LK 10 (Hirsch) § 226a Rdn. 7; Maurach/Zipf Allg. Teil I § 17 Rdn. 67; Kohlrausch/Lange, § 226a Anm. I I I ; Schönke/Schröder/Lenckner, Vorbem. 38 vor § 32; Welzel, Lehrbuch S. 96. Anders Amelung, Einwilligung S. 56f.; Baumann/Weber, Allg. Teil S. 327f.; H. Mayer, Lehrbuch S. 167; Geerds, GA 1954, 268. 57 So Bockelmann/Volk, Allg. Teil S. 104; LK n (Hirsch) Vorbem. 140 vor § 32; Wessels, Allg. Teil Rdn. 379. Anders (bloße Kenntnis) Schönke/Schröder/Lenckner, Vorbem. 51 vor § 32; SK (Samson) Vorbem. 47 vor § 32. Das subjektive Element verneint bei der Einwilligung Gallas, Bockelmann-Festschrift S. 174, weil die objektiven Voraussetzungen „hier ausschließlich im Wirkungsbereich des Verletzten liegen"; ebenso Roxin, Allg. Teil I § 13 Rdn. 46.

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§ 34 E i n w i l l i g u n g u n d mutmaßliche E i n w i l l i g u n g des Verletzten

umstritten. Richtig ist es, in diesem Falle die Versuchsregeln entsprechend anzuwenden, da das Erfolgsunrecht durch die in Wirklichkeit erteilte Einwilligung aufgehoben wird, während das Handlungsunrecht bestehen bleibt (vgl. oben § 31 IV 2) 5 8 . Beispiel: Der Neffe versetzt nach einem Fastnachtsball die goldene Uhr des Onkels, die ihm dieser für sein Kostüm als „Monopolkapitalist" geliehen hat. Bei der Heimkehr findet er einen Brief des Onkels, der ihm die Uhr schenkt. Der Neffe ist strafbar wegen versuchter Unterschlagung (§§ 246, 22).

VI. Ausländisches Recht Im Ausland wird die Frage der Einwilligung des Verletzten als Rechtfertigungsgrund verschieden beurteilt. Die österreichische Lehre läßt die Einwilligung in gleichem Umfang zu wie die deutsche59. Das StGB regelt die Einwilligung in eine Körperverletzung in § 90 I (wie § 226 a dt. StGB), die Einwilligung in eine Sterilisation in § 90 I I als Rechtfertigungsgründe. Das schweizerische Recht ging früher in seiner liberalen Grundanschauung eher weiter 60 . In Frankreich wird die Einwilligung wegen des öffentlich-rechtlichen Charakters des Strafrechts und wegen des Prinzips der „légalité des excuses" in Art. 65 C.p. nur dann zugelassen, wenn sich ein anwendbarer gesetzlicher Text findet oder wenn der Fall einer „autorisation légale" gleichgestellt werden kann 61 . Naturgemäß kennt man auch die Fälle des tatbestandsausschließenden Einverständnisses 62. Der Code pénal 1994 enthält ebenso wie das frühere Recht keine Regelung der Einwilligung. Das belgische Recht stimmt mit dem französischen überein 63 . Die spanische Lehre behandelt die Einwilligung als Rechtfertigungsgrund, unterscheidet aber auch Fälle des Einverständnisses; das ganze wird als eine Frage der Auslegung betrachtet 64 . In den Niederlanden betont man den öffentlichen Charakter des Strafrechts und demgemäß die Natur der Einwilligung als Ausnahme 65 . Die italienische Lehre anerkennt die Einwilligung auf der Grundlage von Art. 50 C.p. etwa in dem gleichen Umfang wie die deutsche66. Das amerikanische Recht betont dagegen stark den Vorrang der „public morals" und des „public peace" 58 Wie hier Baumann/Weber, Allg. Teil S. 329; Sauer, Allg. Strafrechtslehre S. 137; Blei, Allg. Teil S. 136f.; Frisch, Lackner-Festschrift S. 138 ff.; Schönke/Schröder/Lenckner, Vorbem. 15 vor § 32; Stratenwerth, Allg. Teil I Rdn. 494; Wessels, Allg. Teil Rdn. 379; Schmidhäuser, Allg. Teil S. 278; Maurach/Zipf, Allg. Teil I § 25 Rdn. 34; Lackner, § 22 Rdn. 16. Für Vollendung dagegen Dreh er/Tröndle, § 16 Rdn. 28; LK U (Hirsch) Vorbem. 59 vor § 32. Für Tatbestandsirrtum im Sinne von § 16 Roxin, Allg. Teil I § 13 Rdn. 83. 59 Vgl. Rittler, Bd. I S. 150f.; WK (Nowakowski) Nachbem. 33ff. zu § 3; Triffterer, Allg. § 3 Rdn. 34ff.; Zipf, ÖJZ 1977, 379ff. Teil S. 239ff.; Leukauf/Steininger, 60 So wollte Hafter, Allg. Teil S. 170 die Einwilligung bei der Körperverletzung ohne Einschränkung zulassen. Dagegen allerdings jetzt die h.M.; vgl. Stratenwerth, Schweiz. Strafrecht, Allg. Teil I S. 189ff.; Noll/Trechsei, Allg. Teil I S. 126; Rehberg, Strafrecht S. 149f.; Graven, L'infraction S. 148; Noll, Ubergesetzliche Rechtfertigungsgründe S. 83; Schultz, Einführung I S . 168 (die Einwilligung wird allgemein als Rechtfertigungsgrund angesehen). Vgl. auch Haeßiger, SchwZStr 67 (1952) S. 99. 61 Vgl. Stefani/Levasseur/Bouloc, Droit pénal général Nr. 357f.; Merle /Vitu, Traité I Nr. 446; Jeandidier, Droit pénal général Nr. 252. 62 Stefani/Levasseur/Bouloc, Droit pénal général Nr. 358 f.; Merle /Vitu, Traité I Nr. 447. 63 Tulkens/van de Kerkhove, Introduction S. 217 f.; Dupont/ Ver Straeten, Handboek Nr. 392 ff. 64 Mir Puig, Adiciones Bd. I S. 529ff.; Cerezo Mir, El consentimiento S. 208 ff.; Casas Barquero, El consentimiento, 1987. 65 Pompe, Handboek S. 10 f. Eingehend dazu und im Sinne des Textes Hazewinkel-Suringa/Remmelink, Inleiding S. 352 ff. Vgl. für das südafrikanische Strafrecht S. A. Strauss, Aspekte van die begrip „toestemming", 1963. 66 Umfassende Darstellung jetzt bei Riz, Il consenso deir avente diritto, 1979; Bettiol/Pettoello Mantovani, Diritto penale S. 400ff.; Romano, Commentario, Art. 50 Rdn. 1 (Rechtfertigungsgrund), Rdn. 5 (Umfang), Rdn. 6 (Begründung wie der Text).

i

mutmaßliche E i n w i l l i g u n g

gegenüber der privaten Entscheidungsfreiheit 67. Im englischen Recht werden vor allem Einzelfälle erörtert, wobei die allgemeinen Lehren aber anklingen 68 . Das brasilianische Recht hat für die Einwilligung ähnliche Strukturen entwickelt wie das deutsche, der Codigo penal enthält aber keine Regelung69.

V I I . Die mutmaßliche Einwilligung Ahrens, Geschäftsführung ohne Auftrag als Strafausschließungsgrund, Diss. Göttingen 1909; Arndt, Die mutmaßliche Einwilligung als Rechtfertigungsgrund, Strafr. Abh. Heft 268, 1929; Eichler, Handeln im Interesse des Verletzten als Rechtfertigungsgrund, Strafr. Abh. Heft 284, 1931; Geppert, Anmerkung zu B G H 35, 246, JZ 1988, 1024; Hegler, Die Merkmale des Verbrechens, ZStW 36 (1915) S. 19; v. Hippel, Die Bedeutung der Geschäftsführung ohne Auftrag im Strafrecht, RG-Festgabe, Bd.V, 1929, S. 1; Hoy er, Anmerkung zu B G H 35, 246, StV 1989, 245; Lenckner, Die Rechtfertigungsgründe und das Erfordernis pflichtgemäßer Prüfung, Festschrift für H. Mayer, 1966, S. 165; Mezger, Die subjektiven Unrechtselemente, GS 89 (1924) S. 207; Müller-Dietz, Mutmaßliche Einwilligung und Operationserweiterung, JuS 1989, 280; Roxin, Uber die mutmaßliche Einwilligung, Festschrift für H. Welzel, 1974, S. 447; Rudolphi, Die pflichtgemäße Prüfung als Erfordernis der Rechtfertigung, Gedächtnisschrift für H. Schröder, 1978, S. 73; Tiedemann, Die mutmaßliche Einwilligung, insbesondere bei Unterschlagung amtlicher Gelder, JuS 1970, 108; Unger, Die Zueignung von Geld usw, 1973; Voltz, Die Züchtigung fremder Kinder und die Versuche ihrer Rechtfertigung, ZStW 50 (1930) S. 339; Zipf, Einwilligung und Risikoübernahme im Strafrecht, 1970. Vgl. ferner die Schrifttumsangaben vor § 34. 1. E i n Rechtfertigungsgrund eigener A r t , der jedoch an die Möglichkeit der E i n w i l l i g u n g durch den Rechtsgutsinhaber anknüpft, ist die mutmaßliche E i n w i l l i g u n g 7 0 . Es handelt sich dabei darum, daß eine Einwilligung, die nach Sachlage wirksam erteilt werden könnte, nicht vorliegt u n d auch nicht rechtzeitig eingeholt werden kann, weil der Rechtsgutsinhaber bzw. sein gesetzlicher Vertreter nicht erreichbar oder ein dringend behandlungbedürftiger Kranker nicht bei Bewußtsein ist, daß ihre Erteilung aber bei objektiver Würdigung aller Umstände ex ante m i t Sicherheit zu erwarten gewesen wäre ( R G 61, 242 [256]; B G H 16, 309 [312]; O L G Frankfurt M D R 1970, 694) 7 1 . Gleichzustellen ist der Fall, daß der Rechtsgutsinha67 Vgl. Honig, Das amerikanische Strafrecht S. 166; Hall, General Principles S. 232; LaFave/Scott, Substantive Criminal Law I S. 687ff.; Robinson, Criminal Law Defenses Bd.I S. 307 ff. unterscheidet drei Formen der Zustimmung des Verletzten. 68 Vgl. Glanville Williams, Criminal Law S. 770ff.; derselbe, CrimLRev 74 (1962) S. 154ff.; derselbe, Textbook S. 549ff.; Kenny /Turner, Outlines S. 208 ff.; Rubinstein, The Victim's Consent S. 193 ff. 69 Fragoso, Liçôes S. 199 f. 70 Die Entwicklung dieser Lehre ist insbesondere Mezger, GS 89 (1924) S. 287 ff. und Lehrbuch S. 218 ff. zu danken. Günther, Strafrechtswidrigkeit S. 351 f. nimmt nur einen Strafunrechtsausschließungsgrund an. Dagegen Roxin, Welzel-Festschrift S. 448 und Allg. Teil I §18 Rdn. 8 zu Recht für einen „eigenständigen Rechtfertigungsgrund". Ebenso B G H 35, 246 (249) m.Anm. Geppert, JZ 1988, 1025 sowie Hoyer, StV 1989, 245; Hruschka, DreherFestschrift S. 204; LK U (Hirsch) Vorbem. 129 vor § 32; Müller-Dietz, JuS 1989, 281; Maurach/Zipf, Allg. Teil I § 18 Rdn. 4 (anders noch Zipf Einwilligung S. 55 [Sozialadäquanz]); Schönke/Schröder/Lenckner, Vorbem. 54 vor § 32. 71 So die h.L.; vgl. Baumann/Weber, Allg. Teil S. 332 ff.; Blei, Allg. Teil S. 138; Dreher/ Tröndle, Vorbem. 4 vor § 32; Lackner, Vorbem. 21 vor § 32; LK 11 (Hirsch) Vorbem. 129 vor §32; Maurach/Zipf, Allg. Teil I §28 Rdn. 13 ff.; Roxin, Welzel-Festschrift S. 448; Schönke/Schröder/Lenckner, Vorbem. 54 vor § 32; WK (Nowakowski) Nachbem. 39 zu § 3; Wessels, Allg. Teil Rdn. 381 f. Einen Unterfall des rechtfertigenden Notstands nehmen an Arndt, Mutmaßliche Einwilligung S. 67ff.; H. Mayer, Lehrbuch S. 168; Schmidhäuser, Allg.

25 Jescheck, 5. A .

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§ 34 E i n w i l l i g u n g u n d mutmaßliche E i n w i l l i g u n g des Verletzten

ber auf seine Befragung m i t Sicherheit verzichtet hätte ( O L G H a m b u r g 1960, 1482) 7 2 .

NJW

Beispiele: Bei Einlieferung eines bewußtlosen Schwerverletzten ins Krankenhaus kann die aus medizinischen Gründen sofort vorzunehmende Operation ohne Einwilligung des Patienten durchgeführt werden, wenn anzunehmen ist, daß er bei Kenntnis der Sachlage eingewilligt hätte (vgl. RG 25, 375 [381 f.], wo der Fall aber umgekehrt lag). Ebenso genügt bei einem medizinisch indizierten Schwangerschaftsabbruch die mutmaßliche Einwilligung der Frau, wenn ihre nach § 218a I I an sich erforderliche wirkliche Einwilligung, z.B. wegen Bewußtlosigkeit, nicht eingeholt werden kann (RG 61, 242 [256]). Der Verursacher eines Blechschadens an einem geparkten Kraftfahrzeug darf, statt an der Unfallstelle zu warten (§ 142), den ihm nahestehenden Geschädigten persönlich aufsuchen (BayObLG JZ 1983, 268). Bei sehr erheblichem Sachschaden genügt jedoch bloße Bekanntschaft mit dem Geschädigten nicht, um mutmaßliche Einwilligung in die Entfernung vom Unfallort anzunehmen ( O L G Koblenz VRS 57, 13). Zwei Fallgruppen, bei denen mutmaßliche E i n w i l l i g u n g i n Betracht k o m m t , sind zu unterscheiden 7 3 . a) Einmal kann es sich handeln u m i n t e r n e G ü t e r - u n d Interessenkollisionen i m Lebensbereich des Verletzten, die durch einen i n seinem Sinne stattfindenden Eingriff v o n außen gelöst werden müssen, weil die eigene Entscheidung nicht rechtzeitig herbeigeführt werden kann. Dieser Fall steht dem rechtfertigenden N o t stand (in der F o r m der Nothilfe) nahe, w e i l auch hier abzuwägen ist, ob das eine Interesse das andere wesentlich überwiegt. D e r Unterschied liegt darin, daß die beteiligten Interessen derselben Person zustehen, daß v o n dritter, an sich unberufener Seite die Auswahl getroffen werden muß und daß der mutmaßliche W i l l e des Rechtsgutsträgers immer den Ausschlag gibt. Beispiele: Der Arzt nimmt bei dem bewußtlos eingelieferten Schwerverletzten eine lebensrettende Amputation vor (§ 224), die nicht verschoben werden kann. Die Ehefrau öffnet einen an den längere Zeit abwesenden Mann gerichteten Brief des Finanzamts, damit eine wichtige Frist nicht versäumt wird (§ 202). Jemand dringt in das Haus des verreisten Nachbarn ein, um ein schadhaftes Wasserrohr abzudichten (§ 123). Vgl. ferner den Fall RG 60, 117 (120). b) Z u m anderen kann der Fall auch so liegen, daß dem Betroffenen die Preisgabe eigener Interessen z u g u n s t e n des Täters oder eines D r i t t e n zugemutet w i r d . I n dieser Lage beruht die Mutmaßung, daß der Rechtsgutsinhaber einverstanden sein werde, entweder auf seinem geringen Interesse an der Erhaltung des betreffenden Guts oder aber auf besonderen Gründen i n der Person der Beteiligten74. Teil S. 317; Welzel, Lehrbuch S. 92, aber zu Unrecht, denn es kommt auf den anzunehmenden Willen des Rechtsgutsinhabers an, wie er sich bei objektiver Prüfung der Sachlage darstellt, auch wenn dieser dem Ergebnis der Interessenabwägung entgegensteht (so auch Bokkelmann/Volk, Allg. Teil S. 106). 72 So Schönke/Schröder/Lenckner, Vorbem. 54 vor § 32; Tiedemann, JuS 1970, 109. Anders LSG Celle NJW 1980, 1352; LK n (Hirsch) Vorbem. 136 vor § 32; Roxin, Welzel-Festschrift S. 461; derselbe, Allg. Teil I § 18 Rdn. 10; SK (Samson) Vorbem. 50 vor § 32. Im Falle B G H 35, 246 hätte entgegen dem Urteil die Entscheidung der Patientin eingeholt werden müssen, da keine Lebensgefahr bestand und es ihr überlassen bleiben mußte, ob sie das Risiko einer weiteren Schwangerschaft tragen wolle oder die Herbeiführung der Empfängnisunfähigkeit vorziehe (ebenso Müller-Dietz, JuS 1989, 280; Hoy er, StV 1989, 245). 73 Ebenso Blei, Allg. Teil S. 139; Roxin, Welzel-Festschrift S. 464; SK (Samson) Vorbem. 48 vor § 32. 74 Für diese zweite Fallgruppe lehnt Schmidhäuser, Allg. Teil S. 318 die Rechtfertigung ab.

V I I . D i e mutmaßliche E i n w i l l i g u n g

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Beispiele: Jugendliche sammeln in einem überreichen Obstjahr Fallobst unter fremden Bäumen (§ 248 a). Jemand benutzt das abgestellte Fahrrad des Freundes, um einen wichtigen Zug nicht zu versäumen (§ 248 b). Die Hausgehilfin schenkt den abgetragenen Anzug des Hausherrn einem Bettler (§ 242) 5 . Bei Bagatellschaden an einem fremden geparkten Fahrzeug hinterläßt der schuldige Kraftfahrer nur seine Adresse, ohne jedoch zu warten (§ 142). Vgl. ferner den oben erwähnten Fall BayObLG JZ 1983, 268.

2. Die rechtfertigende Kraft der mutmaßlichen Einwilligung beruht auf einer Kombination dreier Gesichtspunkte: einmal muß eine Interessenabwägung im Sinne des Verletzten stattfinden, zum anderen muß eine objektive Mutmaßung darüber angestellt werden, welches der zu erwartende Willensentschluß gewesen wäre, wenn er die Situation gekannt hätte, endlich ist der Gedanke des erlaubten Risikos heranzuziehen, woraus sich vor allem die Pflicht zu gewissenhafter Prüfung ergibt (vgl. unten § 36 I l ) 7 6 . Die beiden zuerst genannten Kriterien stehen nicht unabhängig nebeneinander, sondern weisen eine wechselseitige Beziehung auf. Aus der Interessenabwägung wird sich in der Regel ergeben, ob die Einwilligung des Verletzten zu erwarten gewesen wäre; aus dessen subjektiver Eigentümlichkeit kann aber auch zu schließen sein, daß er selbst eine auf sein „wahres Wohl" abzielende Lösung des Interessenkonflikts nicht gebilligt hätte. Die beiden Gesichtspunkte treten in den zwei Fallgruppen in verschiedener Stärke hervor. Bei internen Interessenkollisionen wird die objektiv vernünftigste Entscheidung in der Regel auch dem mutmaßlichen Willen des Betroffenen entsprechen. Bei Interessenpreisgabe wird es dagegen, abgesehen von Fällen, die wie das Wechseln von Geld durch Entnahme aus einer fremden Kasse kein Gewicht haben 77 , stark auf die persönliche Einstellung des Rechtsgutsträgers ankommen 78 . In beiden Fällen muß jedoch auch der „unvernünftige Wille" des Trägers des geschützten Rechtsgutes respektiert werden (vgl. den Fall BVerfGE 32, 98), wenn er bekannt ist oder erschlossen werden kann, denn es handelt sich bei der mutmaßlichen Einwilligung nicht um einen Fall erlaubter „Bevormundung durch ungebetene Nothelfer" 7 , sondern um eine Entscheidung im Sinne des Betroffenen 80. Gerechtfertigt ist die 75

Läge die Zustimmung des Rechtsgutsinhabers vor, so würde es sich um Fälle des Einverständnisses handeln, das jeweils schon den Tatbestand ausschließt (vgl. oben § 34 I lb). Bei der mutmaßlichen Einwilligung ist jedoch nicht in dieser Weise zu differenzieren, da das Einverständnis wirklich vorliegen muß und nicht bloß gemutmaßt werden kann. 76 So Lenckner, H. Mayer-Festschrift S. 181; Maurach/Zipf, Allg. Teil I § 28 Rdn. 15f.; Vorbem. 58 vor § 32; Wessels, Roxin, Welzel-Festschrift S. 453; Schönke/Schröder/Lenckner, Allg. Teil Rdn. 381. 77 Selbst beim Verbrauch eines minimalen Betrags fremden Geldes in der Gewißheit der Erstattungsfähigkeit ist die Zueignung zu verneinen, so daß der Gesichtspunkt der mutmaßlichen Einwilligung gar nicht eingreift; so Tiedemann, JuS 1970, 110 ff.; LK U (Hirsch) Vorbem. 139 vor § 32. Anders O L G Köln NJW 1968, 2348. 78 Aus der Verschiedenartigkeit der Fallgestaltungen erklärt es sich, daß in der Literatur die beiden Gesichtspunkte unterschiedlich stark betont werden. So heben Mezger, Lehrbuch S. 220 und Blei, Allg. Teil S. 138 die Einwilligungskomponente hervor, während Frank, § 51 Vorbem. I I I ; Eichler, Handeln im Interesse des Verletzten S. 53; Hegler, ZStW 36 (1915) S. 42 und Traeger, GS 94 (1927) S. 154 ff. den Interessengesichtspunkt in den Vordergrund stellen. 79 So treffend H. Mayer, Lehrbuch S. 168. Auch bei geringfügigen oder vorübergehenden Beeinträchtigungen bleibt die nach den Umständen einholbare Entscheidung des Betroffenen maßgebend; vgl. LK n (Hirsch) Vorbem. 136 vor § 32; Roxin, Welzel-Festschrift S. 461. Anders Tiedemann, JuS 1970, 109; Unger, Die Zueignung von Geld, 1973. 80 Im Falle B G H 35, 246 (250) war nicht ein Irrtum über die tatsächlichen Voraussetzungen der mutmaßlichen Einwilligung anzunehmen, sondern ein verschuldeter Verbotsirrtum nach § 17 S. 2, weil der Arzt verkannt hatte, daß er die Entscheidung der Patientin hätte einholen müssen (Verbotsirrtum über die Grenzen eines Rechtfertigungsgrundes) (vgl. oben Fußnote 72). Ebenso Roxin, Allg. Teil I § 18 Rdn. 29. 25*

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§ 34 E i n w i l l i g u n g u n d mutmaßliche E i n w i l l i g u n g des Verletzten

Tat aber auch dann, wenn sich die Mutmaßung trotz sorgfältiger objektiver Prüfung nachträglich als falsch herausstellt. In diesem Fall beruht die Rechtfertigung des Eingriffs auf dem Gedanken des erlaubten Risikos (vgl. dazu unten § 36 I I 3). Die für die mutmaßliche Einwilligung maßgebenden Gesichtspunkte liegen auch den Vorschriften des bürgerlichen Rechts über die Geschäftsführung ohne Auftrag zugrunde. Der Geschäftsführer hat nämlich zu handeln, „wie das Interesse des Geschäftsherrn mit Rücksicht auf dessen wirklichen oder mutmaßlichen Willen es erfordert" (§ 677 BGB). Die früher empfohlene analoge Anwendung dieser Vorschriften im Strafrecht 81 ist jedoch nicht zu billigen, denn sie regeln nur den internen Schadens- und Aufwendungsausgleich, nicht aber die Voraussetzungen des Eingriffs in fremde Rechtsgüter, auf die es für die strafrechtliche Rechtfertigung ankommt. So würde sich eine Bank, die während der Abwesenheit des auf einer Weltreise befindlichen Kunden aus dessen Konto eigenmächtig seine gesetzlichen Unterhaltspflichten erfüllte, gegenüber dem Vorwurf der Untreue (§ 266) schwerlich auf § 679 BGB berufen können 8 .

3. Bei der mutmaßlichen Einwilligung müssen im übrigen die gleichen Erfordernisse erfüllt sein, wie sie auch zur Wirksamkeit der wirklichen Einwilligung verlangt werden. Die Mutmaßung hat sich auf den Zeitpunkt der Tat zu beziehen, die Hoffnung auf spätere Zustimmung ist unmaßgeblich (RG 25, 375 [383]). Der Träger des Rechtsguts, dessen mutmaßliche Einwilligung die Tat rechtfertigen soll, muß ferner generell die Einsichts- und Urteilsfähigkeit besitzen, die erforderlich gewesen wäre, um die Bedeutung des Eingriffs richtig zu würdigen. Sonst ist auf den mutmaßlichen Willen des gesetzlichen Vertreters abzustellen 3 . Ferner kommt es auch hier nicht darauf an, ob die mutmaßliche Einwilligung selbst gegen die guten Sitten verstößt. Da mit Mutmaßungen über die Entscheidung eines anderen immer ein Risiko verbunden ist, darf der Täter den Eingriff in die fremde Rechtssphäre erst dann vornehmen, wenn er alle Umstände gewissenhaft geprüft hat 84 . Hat er nicht pflichtgemäß geprüft und widerspricht der Eingriff dem wahren Willen des Betroffenen, so ist die Tat rechtswidrig. Trifft der Täter ohne Prüfung das Richtige, so handelt er rechtmäßig, weil Interesse und Wille des Betroffenen gewahrt sind. 4. Praktisch bedeutsam ist die mutmaßliche Einwilligung vor allem für den ärztlichen Eingriff, in geringerem Umfange auch für das Problem der Züchtigung fremder Kinder. a) Der eigenmächtige Abbruch der Schwangerschaft ist nach § 218, die eigenmächtige

Heilbehandlung vorerst noch nach § 223 (vgl. oben § 34 I I I 3 a) strafbar. Für beide Fälle ist jedoch selbstverständlich, daß die mutmaßliche Einwilligung zur Rechtfertigung ausreicht. So bedarf es der Einwilligung der Schwangeren (§ 218 a II) nicht, wenn sie wegen ihres Zustandes nicht wirksam einwilligen kann und auch nicht anzunehmen ist, daß sie die Einwilligung versagen würde. Entsprechendes gilt für die Heilbehandlung. Daraus folgt, daß der Arzt sich bei seiner Entscheidung letztlich auf den Standpunkt des Patienten stellen muß und nicht einfach von dem Gedanken ausgehen darf, daß das zu geschehen habe, was der Patient vernünftigerweise „wollen sollte". Die Grundsätze über die mutmaßliche Einwilligung gelten ferner dann, wenn eine auf voller Kenntnis der Sachlage beruhende Einwilligung des Patienten deswegen nicht eingeholt werden kann, weil die volle Aufklärung über Art und Umfang 81 So Zitelmann, AcP 99 (1906) S. 104; Ahrens, Geschäftsführung ohne Auftrag S. 29ff.; v. Hippel, RG-Festgabe S. 2 ff. 82 Anders Welzel, Lehrbuch S. 93; Roxin, Allg. Teil I § 18 Rdn. 9. Wie der Text LK n (Hirsch) Vorbem. 130 vor § 32; Stratenwerth, Allg. Teil I Rdn. 397; Jakobs, Allg. Teil 15/18. 83 Ebenso Roxin, Allg. Teil I § 18 Rdn. 4. 84 So Lenckner, H. Mayer-Festschrift S. 181; Maurach/Zipf Allg. Teil I § 28 Rdn. 15; Roxin, Welzel-Festschrift S. 453 f.; Schmidhäuser, Allg. Teil S. 319. Anders LK n (Hirsch) Vorbem. 140 vor § 32; Rudolphi, Schröder-Gedächtnisschrift S. 86 ff.

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mutmaßliche E i n w i l l i g u n g

des Leidens den Behandlungserfolg durch die Schockwirkung der Wahrheit voraussichtlich erheblich beeinträchtigen würde (vgl. § 162 I I I Ε 1962)85.

b) Ein Recht zur Züchtigung fremder Kinder kann nicht auf den Gedanken der mutmaßlichen Einwilligung der Erziehungsberechtigten gestützt werden; allenfalls kommt Notwehr oder eine Notstandshandlung in Betracht 86, 8 7 . Beispiel: Kinder, die ein öffentlich aufgestelltes Denkmal durch Steinwürfe beschädigen, darf man notfalls durch Androhung von Schlägen vertreiben, man darf ihnen jedoch nicht zu Erziehungszwecken eine Tracht Prügel verabreichen.

§ 35 Das Handeln aufgrund von Amtsrechten und verwandte Fälle Achenbach, Vorläufige Festnahme usw, JA 1981, 660; Amelung, Die Rechtfertigung von Polizeivollzugsbeamten, JuS 1986, 329; Arndt, Grundriß des Wehrstrafrechts, 2. Auflage 1966; derselbe, Die strafrechtliche Bedeutung des militärischen Befehls, NZWehrr 1960, 145; Arzt, Zum privaten Festnahmerecht, Festschrift für Th. Kleinknecht, 1985, S. 1; Battenberg, Das auf Befehl begangene Verbrechen, Strafr. Abh. Heft 189, 1916; Beling, Grenzlinien zwischen Recht und Unrecht in der Ausübung der Strafrechtspflege, 1913; Bertram, Das Widerstandsrecht des Grundgesetzes, 1970; Blank, Die strafrechtliche Bedeutung des Art. 20 IV GG, 1982; Böckenförde, Die Kodifizierung des Widerstandsrechts im Grundgesetz, JZ 1970, 168; Borchert, Die vorläufige Festnahme nach § 127 StPO, JA 1982, 338; Bringewat, Der rechtswidrige Befehl, NZWehrr 1971, 126; Bruns, Zur strafrechtlichen Diskussion über das Züchtigungsrecht des Lehrers, JZ 1957, 410; Doehring, Das Widerstandsrecht des GG und das überpositive Recht, Der Staat 8 (1969) S. 429; Dolaptschieff Sind rechtswidrige bindende Befehle möglich? ZStW 58 (1939) S. 238; Fincke, Darf sich eine Privatperson bei der Festnahme nach § 127 I StPO irren? GA 1971, 41; derselbe, Das Risiko des privaten Festnehmers, JuS 1973, 87; Friebe, Die strafrechtliche Verantwortlichkeit des Lehrers, 2. Auflage 1958; Fuhrmann, Der höhere Befehl als Rechtfertigungsgrund im Völkerrecht, 1963; Henkel, Strafverfahrensrecht, 2. Auflage 1968; Heuer, in: Birtles u.a., Die Zulässigkeit des Einsatzes staatlicher Gewalt in Ausnahmesituationen, 1976; Hirsch, Soziale Adäquanz und Unrechtslehre, ZStW 74 (1962) S. 78; Isensee, Das legalisierte Widerstandsrecht, 1969; Jescheck, Verantwortung und Gehorsam im Bereich der Polizei, Das Polizeiblatt für das Land BadenWürttemberg 1964, 97; derselbe, Befehl und Gehorsam in der Bundeswehr, in: Bundeswehr und Recht 1965, S. 63; Jung, Das Züchtigungsrecht des Lehrers, 1977; Karstendiek, Nochmals: Züchtigungsrecht heute, DRiZ 1975, 333; Arthur Kaufmann (Hrsg.), Widerstandsrecht, 1972; Kienapfel, Körperliche Züchtigung und soziale Adäquanz, 1961; Kohlhaas/Schwenck, Rechtsprechung in Wehrstrafsachen, 1967; v. Kopp, Zum Urteil des B G H über das Züchtigungsrecht der Lehrer, JZ 1955, 319; Kriele, Ehrenschutz und Meinungsfreiheit, NJW 1994, 1897; Krey/W. Meyer, Zum Verhalten von Staatsanwaltschaft und Polizei usw, ZRP 1973, 1; Krüger, Polizeilicher Schußwaffengebrauch, 3. Auflage 1977; derselbe, Die bewußte Tötung bei polizeilichem Schußwaffengebrauch, NJW 1973, 1; Küper, Grundsatzfragen der „Differenzierung" zwischen Rechtfertigungs- und Entschuldigungsgründen, JuS 1987, 81; W. Lange, Probleme des polizeilichen Waffengebrauchsrechts, M D R 1974, 357; derselbe, Der neue Musterentwurf eines einheitlichen Polizeigesetzes usw, M D R 1977, 10; Laubenthal, Anmerkung zu BayObLG vom 18.10.1990, JR 1991, 519; Lenckner, Der „rechtswidrige verbindliche Befehl" im Strafrecht - nur noch ein Relikt? Festschrift für W. Stree und J. Wessels, 1993, S. 223; H. Mayer, Der bindende Befehl im Strafrecht, Festgabe für R. v. Frank, Bd. I, 1930, S. 598; Μ. E. Mayer, Der rechtswidrige Befehl des Vorgesetzten, Festschrift für P. Laband, 1908, S. 121; Meincke, Betreffen oder Verfolgen auf frischer Tat usw. Diss. 85

Vgl. dazu Dreher/Tröndle, § 223 Rdn. 9p; LK 10 (Hirsch) § 226a Rdn. 35. So RG 61, 191 (193); 76, 3 (6); RG DR 1944, 612; BayObLG 15, 30; O L G Saarbrücken NJW 1963, 2379. Ebenso LK 10 (Hirsch) § 223 Rdn. 28; Dreher/Tröndle, § 223 Rdn. 15a; Schönke/Schröder/Eser, § 223 Rdn. 25; Lackner, § 223 Rdn. 11; Maurach/Zipf, Allg. Teil I § 28 Rdn. 31; Schmidhäuser, Allg. Teil S. 318. 87 Vgl. Eichler, Handeln im Interesse des Verletzten S. 76ff.; Roxin, Welzel-Festschrift S. 466; Voltz, ZStW 50 (1930) S. 354 ff. Über mögliche Ausnahmen bei besonderen Betreuungsverhältnissen Roxin, Allg. Teil I § 18 Rdn. 23. 86

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§ 35 Das H a n d e l n aufgrund v o n Amtsrechten u n d verwandte Fälle

Hamburg 1963; Middendorff, Claus Graf Schenk von Stauffenberg, Festschrift für H.-H. Jescheck, Bd. II, 1985, S. 1175; Oehler, Handeln auf Befehl, JuS 1963, 301; Ostendorf\ Die strafrechtliche Rechtmäßigkeit rechtswidrigen hoheitlichen Handelns, JZ 1981, 165; Petri , Abschaffung des elterlichen Züchtigungsrechts, ZRP 1976, 64; Reindl/Roth, Die Anwendung des unmittelbaren Zwanges in der Bundeswehr, 1974; Rolinski, Anmerkung zu B G H vom 25.11.1986, StV 1988, 63; Roxin, Strafverfahrensrecht, 23. Auflage 1993; Rüping/Husch, Abschied vom Züchtigungsrecht des Lehrers, G A 1979, 1; Rupp, Grundfragen der heutigen Verwaltungsrechtslehre, 1965; Rupprecht, Die tödliche Abwehr des Angriffs auf menschliches Leben, JZ 1973, 263; Scheidle, Das Widerstandsrecht, 1969; Schlüchter, Das Strafverfahren, 2. Auflage 1983; dieselbe, Kein Recht zur Be weis Vernichtung nach einem potentiellen Selbstbedienungsladendiebstahl, JR 1987, 309; / . Schmidt, Nochmals: Die bewußte Tötung bei polizeilichem Schußwaffengebrauch, NJW 1973, 499; E. Schneider, Züchtigungsrecht heute! DRiZ 1975, 149; H. Schneider, Widerstand im Rechtsstaat, 1969; Scholz/Lingens, Wehrstrafgesetz, 3. Auflage 1988; Schreiber, Befehlsbefugnis und Vorgesetztenverhältnis in der Bundeswehr, 1965; B. Schünemann, Rundum betrachtet, JA 1972, 707; derselbe, Die deutschsprachige Strafrechtswissenschaft nach der Strafrechtsreform usw, GA 1985, 341; W. B. Schünemann, Selbsthilfe im Rechtssystem, 1985; Schwenck, Wehrstrafrecht im System des Wehrrechts, 1973; derselbe, Die kriegerische Handlung und die Grenzen ihrer strafrechtlichen Rechtfertigung, Festschrift für R. Lange, 1976, S. 97; derselbe, Die Gegenvorstellung im System von Befehl und Gehorsam, Festschrift für E. Dreher, 1977, S. 495; Stratenwerth, Verantwortung und Gehorsam, 1958; Thiele, Zum Rechtmäßigkeitsbegriff bei § 113 Abs. 3 StGB, JR 1975, 353; Triffterer, Der tödliche Fehlschuß der Polizei, M D R 1976, 355; derselbe, Ein rechtfertigender (Erlaubnistatbestands-)Irrtum? Festschrift für W. Mallmann, 1978, S. 373; Vitt, Rechtsprobleme des sogenannten „gefährlichen" Befehls, NZWehrr 1994, 45; Vogler, Zum Einwand des Handelns auf Befehl im Völkerstrafrecht, Revue de droit pénal militaire 1968, 111; Vormbaum, Zur Züchtigungsbefugnis von Lehrern und Erziehern, JR 1977, 492; Wagner, Die Rechtmäßigkeit der Amtsausübung - O L G Karlsruhe, NJW 1974, 2142, JuS 1975, 224; derselbe, Amtsverbrechen, 1975; v. Weber, Die strafrechtliche Verantwortlichkeit für Handeln auf Befehl, M D R 1948, 34; Weinkauff, Uber das Widerstandsrecht, 1956; Westerburg, Die Polizeigewalt des Luftfahrzeugkommandanten, 1961; Wiedenbrüg, Nochmals: Das Risiko des privaten Festnehmers, JuS 1973, 418.

I. Die Anwendung staatlichen Zwangs als Rechtfertigungsgrund 1. In zahlreichen Gesetzen ist die Anwendung staatlichen Zwangs als letztes Mittel zur Erfüllung der verschiedensten öffentlichen Aufgaben vorgesehen. Ein Staatsorgan, das aufgrund und im Rahmen dieser Amtsrechte den Tatbestand eines Strafgesetzes erfüllt (z.B. vorsätzliche Tötung, Körperverletzung, Freiheitsberaubung, Nötigung, Hausfriedensbruch, Brieföffnung, Sachbeschädigung), handelt rechtmäßig. Das gleiche gilt für die von dem Beamten zu seiner Unterstützung (§114 II) herangezogenen Privatpersonen, während für freiwillige Helfer nur die allgemeinen Rechtfertigungsgründe (z.B. §§ 32, 34 StGB, § 127 I StPO) in Betracht kommen. Beispiele: In der Zwangsvollstreckung werden Wohnung und Behältnisse des Schuldners zwangsweise durchsucht (§ 758 ZPO), werden körperliche Sachen im Gewahrsam des Schuldners durch den Gerichtsvollzieher zum Zwecke der Pfändung in Besitz genommen und öffentlich versteigert (§§ 808, 814 ZPO), wird die Herausgabe beweglicher Sachen durch Wegnahme und Ubergabe an den Gläubiger erzwungen (§ 883 ZPO), wird der Schuldner zur Herbeiführung einer eidesstattlichen Versicherung (§§ 807, 883 ZPO) gegebenenfalls in wird der Gemeinschuldner FreiHaft genommen (§§ 901 ff. ZPO). Im Konkursverfahren heitsbeschränkungen unterworfen (§ 101 I I KO), nimmt der Verwalter die Konkursmasse in Besitz und verwertet sie (§117 KO) und darf er die an den Gemeinschuldner gerichteten Briefe öffnen (§ 121 12 KO). Im Strafverfahren werden dringend Tatverdächtige von der Staatsanwaltschaft oder der Polizei vorläufig festgenommen (§ 127 I I StPO) oder aufgrund richterlichen Haftbefehls verhaftet (§§ 112 ff. StPO), sind körperliche Untersuchungen, einschließlich der Entnahme von Blutproben, zulässig (§§ 81a und c StPO), kann der Beschuldigte zur Vorbereitung eines Gutachtens über seinen Geisteszustand in ein öffentliches psychiatrisches Krankenhaus gebracht werden (§81 StPO), werden Beweismittel und Führer-

I. Die Anwendung staatlichen Zwangs als Rechtfertigungsgrund

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scheine, die der Einziehung unterliegen, beschlagnahmt (§ 94 StPO) und Haussuchungen durchgeführt (§ 102 StPO), wird der zu Freiheitsstrafe Verurteilte durch die Vollstreckungsbehörde in die Vollzugsanstalt eingewiesen (§ 29 StVollstrO). Im Polizeivollzugsdienst ist unmittelbarer Zwang gegen Personen und Sachen zulässig (z.B. körperliche Gewalt, Fesselung, Gebrauch von Schlagstöcken, Einsatz von Wasserwerfern oder Tränengas), wenn der polizeiliche Zweck auf andere Weise nicht erreicht werden kann (vgl. für die Vollzugsbeamten des Bundes Ges. über den unmittelbaren Zwang bei Ausübung öffentlicher Gewalt vom 10.3.1961, BGBl. I S. 165; für Soldaten der Bundeswehr und zivile Wachpersonen Ges. über die Anwendung unmittelbaren Zwangs usw. vom 12.8.1965, BGBl. I S. 796; für die Polizei der Länder das Landesrecht, z.B. Polizeigesetz von Baden-Württemberg i.d.F. vom 13.1.1992, GBl. S. 1, §§ 26ff.). Besondere Vorschriften regeln die Voraussetzungen des Schußwaffengebrauchs gegen Personen1 (vgl. §§ 9ff. UZwG; §§ 15 ff. UZwGBw; §§ 99, 178 StVollzG; §§ 53, 54 Polizeiges. Baden-Württemberg 2; zum Waffengebrauchsrecht der Forst-, Jagd- und Fischereischutzberechtigten vgl. das in einigen Ländern aufgehobene Ges. vom 26.2.1935, RGBl. I S. 313 mit VO vom 7.3.1935, RGBl. I S. 377 [RG 72, 305, 306ff.] sowie § 25 I I BJagdG). Im Medizinalrecht ist die Zwangseinweisung von Geschlechtskranken (§ 18 I I GeschlKrG) sowie von Geisteskranken und Süchtigen (nach Landesrecht, z.B. in Baden-Württemberg Ges. vom 2.12.1991, GBl. S. 794) in die entsprechenden Kranken- und Heilanstalten vorgesehen.

2. Die besonderen Voraussetzungen für die Ausübung der einzelnen Zwangsrechte sind im jeweiligen Sachzusammenhang geregelt. Hier können nur die allgemeinen Voraussetzungen für das Handeln aufgrund von Amtsrechten erörtert werden 3 . Dazu gehört zunächst die sachliche Zuständigkeit: die Amtshandlung muß ihrer Art nach zum Kreise der Dienstobliegenheiten des betreffenden Beamten gehören. Beispiele: Sachlich ««zuständig ist der Richter für die Sachpfändung (§ 808 ZPO), der Staatsanwalt zur Anordnung der Untersuchungshaft (§ 114 I StPO), der Revierförster für allgemeine sicherheitspolizeiliche Aufgaben (RG 66, 339 [340]).

Allgemeine Voraussetzung der Rechtmäßigkeit ist ferner die örtliche Zuständigkeit. Sie endet für Landesbeamte grundsätzlich an der Landesgrenze 4 (Ausnahme in § 167 GVG), während Bundesbeamte im Rahmen ihrer sachlichen Zuständigkeit 1

Über die allgemeinen Voraussetzungen des Schußwaffengebrauchs durch Beamte des Bundes und der Länder sowie durch Soldaten der Bundeswehr vgl. eingehend LK 11 (Hirsch) Vorbem. 150 ff. vor §32; LK 10 (Jähnke) §212 Rdn. 11 ff. Zum Schußwaffengebrauch der Polizei W. Lange, MDR 1974, 357ff.; Krüger, Polizeilicher Schußwaffengebrauch S. 11 ff, zu dem der Bundeswehr Reindl/Roth, Die Anwendung des unmittelbaren Zwanges S. 88 ff. Die Polizei darf zur Durchsetzung hoheitlicher Zwecke auch nicht bedingt vorsätzlich töten; vgl. Krüger, Polizeilicher Schußwaffengebrauch S. 26; Maunz/Dürig, Art. 2 I I GG Rdn. 18; LK 10 (Jähnke) § 212 Rdn. 12. Eine Ausnahme gilt nur für den gezielten Todesschuß gegen Terroristen oder Geiselnehmer, um die Opfer aus unmittelbarer Leibes- und Lebensgefahr oder aus der Einsperrung zu befreien, wenn es kein milderes Mittel gibt; so Dreher/Tröndle, Vorbem. 6 vor § 32; W. Lange, MDR 1977, 12 ff.; LK U (Hirsch) Vorbem. 153 vor § 32; Rupprecht, JZ 1973, 263 ff.; J. Schmidt, NJW 1973, 449f.; dagegen Krey/Meyer, ZRP 1973, 4; Krüger, NJW 1973, Iff. Zur Rechtmäßigkeit eines tödlichen Fehlschusses bei Durchsetzung einer zulässigen Festnahme B G H MDR 1975, 675. Ablehnend dazu Triffterer, MDR 1976, 355 ff. Zu den Irrtumsmöglichkeiten Triffterer, Mallmann-Festschrift S. 373 ff. Eine Regelung der Voraussetzungen eines Schusses, „der mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit tödlich wirken wird", enthält der Musterentwurf eines einheitlichen Polizeigesetzes des Bundes und der Länder vom 11.6.1976 in § 41 I I 2. 2 Zu den anderen Landesgesetzen vgl. die Übersicht bei LK U (Hirsch) Vorbem. 150 vor §32. 3 Vgl. näher LK 10 (v. Bubnoff) § 113 Rdn. 27 ff. 4 Von der Einteilung der Dienstbezirke ist die Rechtmäßigkeit von Amtshandlungen dagegen in der Regel unabhängig (vgl. BGH 4, 110 [113]; § 68 I I Polizeiges. von Baden-Württemberg).

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§ 35 Das H a n d e l n aufgrund v o n Amtsrechten u n d verwandte Fälle

im gesamten Bundesgebiet tätig werden dürfen 5. Weiter ist die Einhaltung der für den Schutz des Betroffenen wesentlichen Formvorschriften erforderlich (z.B. die Schriftlichkeit des Haftbefehls nach § 114 StPO oder die Zustellung des Urteils spätestens bei Beginn der Zwangsvollstreckung nach § 750 ZPO). Für alle Zwangsrechte gelten weiter sowohl der Grundsatz des schonendsten Eingriffs als auch der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit als Fundamentalnormen des Rechtsstaats (BVerfGE 19, 342) (vgl. z.B. § 4 I und I I UZwG). 3. Die Anwendung staatlichen Zwangs ist auch dann gerechtfertigt, wenn sich später herausstellt, daß die objektiven Voraussetzungen des Eingreifens nicht vorgelegen haben (vgl. oben § 31 IV 3). Der Grund für dieses „Irrtumsprivileg" (W. Jellinek) des Staates liegt darin, daß Vollzugsentscheidungen häufig in großer Eile getroffen werden müssen; daher wird dem Bürger im Interesse einer wirksamen Durchsetzung der Belange der Allgemeinheit zugemutet, im Einzelfall auch Eingriffe von Amtsträgern hinzunehmen, die sich nachträglich als nicht gerechtfertigt erweisen 6. Der Irrtum darf aber nur die tatsächlichen Voraussetzungen des Einschreitens, nicht die rechtlichen Grenzen betreffen (BGH 24, 125 [130]) 7 . Beispiele: Der Gerichtsvollzieher handelt im Sinne von § 758 ZPO rechtmäßig, wenn er die Wohnung, in der er pfändet, nach pflichtmäßiger Prüfung für die des Schuldners hält, auch wenn sie es in Wirklichkeit nicht ist (RG 61, 297 [299]). Die vorläufige Festnahme nach § 127 I I StPO ist rechtmäßig, wenn der Beamte die objektiven Voraussetzungen nach pflichtmäßigem Ermessen bejaht, mag sich auch später herausstellen, daß ein dringender Tatverdacht in Wirklichkeit nicht vorgelegen hat (RG 38, 373 [375]). Rechtmäßig ist auch die Blutentnahme nach § 81a StPO durch einen Medizinalassistenten, den der anordnende Polizeibeamte irrtümlich für einen Arzt gehalten hat (BGH 24, 125 [130]). Auch beim Schußwaffengebrauch ist die gewissenhafte Prüfung der Voraussetzungen ausreichend (RG 72, 305 [311]). Nach § 12 I I 1 U Z w G darf Zweck des Schußwaffengebrauchs nur sein, angriffs- oder fluchtunfähig zu machen. Tritt trotz pflichtmäßiger Vorsicht der Tod ein, so handelt der Beamte gleichwohl rechtmäßig (BGH M D R 1975, 675; unrichtig O L G Frankfurt NJW 1950, 119).

Eine im Vordringen begriffene Gegenmeinung lehnt die besondere Behandlung des Vollzugsbeamten beim Erlaubnistatbestandsirrtum ab 8 , jedoch zu Unrecht, weil Vollzugsbeamte laufend Zwangsmaßnahmen durchführen müssen, die sie in schwierige und oft gefährliche Situationen bringen, und deswegen im Falle eines Irrtums über das Vorliegen der tatsächlichen Voraussetzungen des Eingriffs nicht Notwehr- oder Notstandshandlungen des Betroffenen ausgesetzt werden dürfen, sofern sie diese Voraussetzungen pflichtmäßig geprüft und bejaht und auch sonst im Rahmen ihrer Amtspflicht gehandelt haben. 5 Die Bahnpolizei hat jedoch polizeiliche Befugnisse nur auf dem Bahngebiet (BGH 4, 110 [112]). 6 § 113 Rdn. 14; SK (Horn) § 113 Rdn. I I a ; Oehler, JuS 1963, 302; Vgl. Dreher/Tröndle, LK U (Hirsch) Vorbem. 146f. vor § 32; LK ib (v. Bubnoff) § 113 Rdn. 33; Lackner, § 113 Rdn. 12; Maurach/Zipf, Allg. Teil I § 29 Rdn. 6; Haft, Allg. Teil S. 113. Bei den Verdachtstatbeständen (z.B. §§ 112, 127 I I StPO) ergibt sich die Rechtmäßigkeit des Eingriffs, auch wenn sich die Unschuld des Betroffenen später herausstellt, schon aus dem Gesetz. In den anderen Fällen liegt ein Erlaubnistatbestandsirrtum vor, der bei pflichtmäßiger Prüfung trotz Fehlens der tatsächlichen Voraussetzungen den Eingriff ausnahmsweise rechtfertigt (RG 61, 297 [299]; B G H 4, 161 [164]; 21, 334 [363 ff.]). Vgl. hierzu Schönke/Schröder/Lenckner, Vorbem. 86 vor § 32. 7 Für Gleichbehandlung des Rechtsirrtums LK 10 (v. Bubnoff) § 113 Rdn. 34. 8 So Amelung, JuS 1986, 335 f.; Jakobs, Allg. Teil 16/5; LK n (Spendel) § 32 Rdn. 64ff.; Roxin, Allg. Teil I § 17 Rdn. 9ff.; Ostendorf, JZ 1981, 165 ff.; Schünemann, JA 1972, 707ff.; derselbe, GA 1985, 366f.; Thiele, JR 1975, 353 ff.; Wagner, JuS 1975, 226ff.; derselbe, Amtsverbrechen S. 327ff.; AK (Zielinski) § 113 Rdn. 22 ff.

II. Dienstliche Anordnung und militärischer Befehl als Rechtfertigungsgründe

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II. Dienstliche Anordnung und militärischer Befehl als Rechtfertigungsgründe 1. Alle Staatstätigkeit vollzieht sich im Zusammenwirken von anordnenden und ausführenden Organen. Die Bediensteten des Staates stehen deshalb in einer hierarchischen Ordnung, die durch Weisungsbefugnis und Gehorsamspflicht bestimmt ist. Im zivilen Bereich heißen die Weisungen Anordnungen (§ 55 Satz 2 BBG), im militärischen Befehle (§ 2 Nr. 2 WStG). Die Gehorsamspflicht der Beamten ergibt sich aus § 55 Satz 2 BBG, § 37 Satz 2 BRRG und aus Landesrecht, z.B. § 74 Satz 2 LBG Baden-Württemberg, die Gehorsamspflicht der Soldaten ist in § 11 I SG geregelt. Wer in der Bundeswehr befugt ist, Befehle zu erteilen, wird durch die V O über die Regelung des militärischen Vorgesetztenverhältnisses vom 4.6.1956 (BGBl. I S. 459) bestimmt 9 . 2. Die Gehorsamspflicht wird nur durch verbindliche Weisungen begründet. Die Verbindlichkeit der Weisung hängt aber nicht von ihrer Rechtmäßigkeit oder gar Zweckmäßigkeit ab, sondern folgt eigenen Regeln, die sich aus der Funktionsverteilung zwischen anordnenden und ausführenden Organen ergeben 10. Auszugehen ist dabei von dem Grundsatz, daß für die Weisung des zuständigen Vorgesetzten die Vermutung der Rechtmäßigkeit besteht 11 . So weit die Vermutung der Rechtmäßigkeit reicht, ist die Weisung verbindlich, auch wenn sie in Wirklichkeit rechtswidrig ist. Die Kriterien der Verbindlichkeit sind formeller und materieller Art: a) Formelle Voraussetzung der Verbindlichkeit ist die abstrakte Zuständigkeit des Vorgesetzten zur Erteilung der Weisung und die Einhaltung der vorgeschriebenen Form. b) Materielle Voraussetzung der Verbindlichkeit ist, daß der Befehl die Rechtsordnung nicht offensichtlich verletzt, weil in diesem Fall die Rechtswidrigkeit ohne weiteres auf der Hand liegt. Aus materiellen Gründen unverbindlich ist ferner eine Weisung dann, wenn das aufgetragene Verhalten die Menschenwürde verletzt (RG 59, 330 [337]; RKG 1, 180) (vgl. § 56 I I 3 BBG, § 38 I I BRRG, § 11 I 2 SG, § 22 I WStG, § 7 I 2 UZwG) oder gegen die allgemeinen Regeln des Völkerrechts verstößt (Art. 25 GG). Der wichtigste Fall der Unverbindlichkeit einer Weisung ist die Strafbarkeit des aufgetragenen Verhaltens (§ 56 I I 3 BBG, § 38 I I 2 BRRG, § 75 I I 3 LBG Baden-Württemberg). Dies gilt auch im militärischen Bereich (§ 22 I WStG, § 11 I 1 SG) und für Vollzugsbeamte des Bundes (§ 7 I I 1 U Z w G ) 1 2 . 9 Über die vom früheren deutschen Wehrrecht abweichende Grundkonzeption der Vorgesetzten V O Schreiber, Befehlsbefugnis S. 23 f. 10 Vgl. für den zivilen Bereich Jescheck, Das Polizeiblatt 1964, 99 ff.; für den militärischen Bereich derselbe, Befehl und Gehorsam S. 77 ff. Zum Ermessensspielraum des Vorgesetzten vgl. O L G Celle, Kohlhaas/Schwenck, § 22 WStG Nr. 9. 11 Der Text folgt Stratenwerth, Verantwortung und Gehorsam S. 52, 99 f f , 165 ff. Ebenso Schmidhäuser, Allg. Teil S. 323; Schönke/Schröder/Lenckner, Vorbem. 87 vor § 32; Lenckner, Stree-Wessels-Festschrift S. 237. Mit einer anderen Konstruktion (das Außenrecht gehe der innerdienstlichen Weisung nur dann vor, wenn diese die Menschenwürde oder das Strafrecht verletzt) kommt Rupp, Grundfragen S. 60 ff. zum gleichen Ergebnis. 12 Über die weitergehende Rechtfertigung des Handelns auf militärischen Befehl nach dem vor dem zweiten Weltkrieg geltenden ausländischen Recht vgl. Fuhrmann, Befehl S. 32 ff. Über den heutigen Stand des Völkerrechts in dieser Frage Vogler, Revue de droit pénal militaire 1968, 111 ff. Vgl. zum geltenden ausländischen Recht ferner die Materialien des V. Internationalen Kongresses für Militärstrafrecht in Dublin 1970, Rev dr pén mil 1971, Heft 1.

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§ 35 Das H a n d e l n aufgrund v o n Amtsrechten u n d verwandte Fälle

W i r d die Begehung einer Ordnungswidrigkeit angeordnet, so ist je nach der F u n k t i o n des Untergebenen zu unterscheiden: Verbindlich ist der Befehl gegenüber Soldaten u n d gegenüber Beamten, wenn es u m die A n w e n d u n g unmittelbaren Zwangs g e h t 1 3 ; i m übrigen ist eine solche A n o r d n u n g unverbindlich (§ 56 I I 3 B B G , § 38 I I 2 B R R G , § 75 I I 3 L B G Baden-Württemberg). Beispiele: Der Soldat muß den Befehl, ein Fernschreiben auf der Kommandantur mit einem Fahrrad abzuholen, dessen Beleuchtung nicht funktioniert, trotz der damit verbundenen Verkehrsordnungswidrigkeit (§§ 17 I, 49 I Nr. 17 StVO i.Verb.m. § 24 StVG) ausführen 14 . Dasselbe gilt für den Beamten der Bereitschaftspolizei, der in Erwartung einer möglicherweise unfriedlichen Demonstration die Anordnung bekommt, mit dem Wasserwerfer auf dem Bürgersteig in Stellung zu gehen (§2 1 StVO), auch wenn dies nicht dringend geboten ist (§ 35 I StVO). Dagegen kann sich der Polizeibeamte, der einen Haftbefehl vollstreckt, obwohl er weiß, daß eine Personenverwechslung vorliegt, nicht auf die erteilte Weisung berufen, weil sie für ihn auf eine strafbare Freiheitsberaubung hinausläuft und deswegen unverbindlich ist. Jeder Zweifel an der Rechtmäßigkeit dienstlicher Anordnungen muß v o m Beamten unverzüglich bei seinem unmittelbaren Vorgesetzten geltend gemacht und gegebenenfalls beim nächsthöheren Vorgesetzten weiterverfolgt werden (§ 56 I I BBG). I m militärischen Bereich ist dagegen die Pflicht zur Gegenvorstellung auf Fälle beschränkt, i n denen der Untergebene weiß oder es offensichtlich ist, daß der V o r gesetzte den Befehl bei Kenntnis der Sachlage nicht erteilt haben würde ( B G H 19, 231 [234]) oder daß die Ausführung einer Straftat verlangt w i r d . Das gleiche gilt für Vollzugsbeamte bei Anordnungen zur A n w e n d u n g v o n unmittelbarem Zwang15. 3. D i e verbindliche Weisung stellt für den Untergebenen einen Rechtfertigungsgrund dar, auch w e n n sie ausnahmsweise rechtswidrig i s t 1 6 . Der G r u n d dafür, daß 13

Die Frage, ob ein Befehl unverbindlich ist, dessen Durchführung die Gefahr eines fahrlässigen Vergehens in sich birgt (z.B. Fahren ohne Licht bei einer Übung), ist von der Rechtsprechung bisher offen gelassen worden (vgl. B G H 19, 231 [232]; SchlHOLG bei Kohlhaas/ Schwenck, § 5 WStG Nr. 2). Zu Recht für Unverbindlichkeit bei konkreter Gefahr für ein gegen fahrlässiges Handeln geschütztes Rechtsgut Jakobs, Allg. Teil 16/14; Roxin, Allg. Teil I § 17 Rdn. 20; Schönke/Schröder/Lenckner, Vorbem. 90 vor § 32; Vitt, NZWehrr 1994, 53 (anders Vorauflage S. 354). 14 Vgl. O L G Celle NZWehrr 1962, 77, wo allerdings zu Unrecht angenommen wird, ein solcher Befehl laufe dienstlichen Zwecken zuwider und sei deswegen unverbindlich. Richtig dagegen RG 59, 404 (405). 15 Zur Gegenvorstellung Schwenck, Dreher-Festschrift S. 495 ff. 16 Ebenso Stratenwerth, Verantwortung und Gehorsam S. 168, 182; Jakobs, Allg. Teil 16/14; Roxin, Allg. Teil I § 17 Rdn. 18; LK n (Hirsch) Vorbem. 177 vor § 32; Schönke/ Schröder/Lenckner, Vorbem. 88a vor § 32; Schmidhäuser, Allg. Teil S. 323; Lenckner, StreeWessels-Festschrift S. 224; Schwenck, Wehrstrafrecht S. 92; Wessels, Allg. Teil Rdn. 450; Bringewat, NZWehrr 1971, 133. Die überwiegende Lehre nimmt indessen bei einem rechtswidrigen, aber verbindlichen Befehl nur Schuldausschluß an; so Amelung, JuS 1986, 337; Arndt, Wehrstrafrecht S. 115; Baumann/Weber, Allg. Teil S. 340; Dreher/Tröndle, Vorbem. 16 vor § 32; Küper, JuS 1987, 92; LK U (Spendel) § 32 Rdn. 100f.; Maurach/Zipf, Allg. Teil I § 29 Rdn. 7ff.; Scholz/Lingens, § 2 WStG Rdn. 32; Ostendorf JZ 1981, 173; SK (Samson) Vorbem. 56 vor § 32; Oehler, JuS 1963, 306; Welzel, Lehrbuch S. 104; v. Weber, M D R 1948, 37. In einem Teil der Literatur wird schon die Möglichkeit eines rechtswidrigen und zugleich verbindlichen Befehls verneint; so LK n (Spendel) § 32 Rdn. 101; Af. E. Mayer, Laband-Festschrift S. 121; Dolaptschieff ZStW 58 (1939) S. 249. Doch findet sich schon früh die herrschende Auffassung, die zwischen Rechtswidrigkeit und Verbindlichkeit des Befehls unterscheidet; vgl. Beling, Grenzlinien S. 24; Battenberg, Befehl S. 2ff.; H. Mayer, FrankFestgabe Bd. I S. 605.

I I I . Das Züchtigungsrecht

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es rechtswidrige Weisungen gibt, die gleichwohl verbindlich sind, liegt darin, daß der Gesetzgeber die Gehorsamspflicht des Untergebenen gegenüber dem Vorgesetzten als grundlegendes Ordnungsprinzip jeder Staatstätigkeit in Fällen von geringerer Bedeutung höher bewertet als die Gehorsamspflicht gegenüber der Rechtsordnung (rechtfertigende Pflichtenkollision, vgl. oben §33 V i a ) 1 7 . Der Vorgesetzte bleibt zwar immer an den Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der vollziehenden Gewalt gebunden (Art. 20 I I I GG), nimmt er jedoch eine geringfügige Rechtsverletzung zu dienstlichen Zwecken in Kauf oder erkennt er die Rechtswidrigkeit selbst nicht, so soll im militärischen Bereich und im Polizeivollzugsdienst bei Anordnung einer Ordnungswidrigkeit oder bei Anwendung von unmittelbarem Zwang die unverzügliche Ausführung der Weisung nicht daran scheitern, daß der Untergebene zunächst zu prüfen hätte, ob die Zuwiderhandlung aus irgendwelchen Gründen, z.B. nach § 35 StVO, gerechtfertigt ist. Gegen die Ausführung einer rechtswidrigen, aber verbindlichen Weisung gibt es keine Notwehr, weil der Untergebene rechtmäßig handelt, wohl aber in engen Grenzen ein Notstandsrecht 18 . 4. Ohne weiteres gerechtfertigt ist die Ausführung einer rechtmäßigen Weisung. Das gilt vor allem für die Fälle, in denen der Vorgesetzte die tatsächlichen Voraussetzungen der Anwendung staatlichen Zwangs gewissenhaft geprüft und bejaht hat, während sie in Wirklichkeit aber nicht vorliegen (vgl. oben § 35 I 3). Der Untergebene ist dann zur Ausführung des Befehls verpflichtet, es sei denn, daß er die Tatsachen kennt, aus denen sich der Irrtum des Vorgesetzten ergibt, oder daß der Irrtum offensichtlich ist (BGH 15, 214 [217]; 19, 2 3 i y 9 . Beispiel: Die Anordnung des Polizeipräsidenten für den Einsatz von Wasserwerfern oder Tränengas gegen eine zu Gewalttätigkeiten schreitende Menschenmenge ist, nachdem er die Verhältnismäßigkeit der Maßnahme pflichtgemäß geprüft und bejaht hat (§§ 3, 5 I I Polizeiges. Baden-Württemberg), rechtmäßig, auch wenn sich später herausstellt, daß schonendere Mittel ausgereicht hätten. Die Vollzugspolizei hat die Anordnung auszuführen und handelt dabei rechtmäßig. Demonstranten, die die Beamten angreifen, sind wegen Widerstands gegen die Staatsgewalt (§ 113) strafbar.

5. Ist dagegen der Befehl unverbindlich, so handelt der ausführende Untergebene stets rechtswidrig, gleichgültig, ob er die Unverbindlichkeit gekannt hat oder nicht. Sein Verhalten kann jedoch entschuldigt sein (§ 35 StGB, § 7 I I 2 UZwG, § 5 I WStG, § 75 IV 3 LBG Baden-Württemberg) (vgl. unten § 46 II). III. Das Züchtigungsrecht Beim Züchtigungsrecht ist zu unterscheiden zwischen dem Amtsrecht des Lehrers, das heute abgeschafft ist, und dem Züchtigungsrecht im Rahmen der Familie, das in neuerer Zeit erheblich eingeschränkt wurde. 1. Die körperliche Züchtigung des Schülers durch den Lehrer erfüllt den Tatbestand der Körperverletzung (§§ 223, 340) 20 . Ein Züchtigungsrecht der Lehrer an 17

Vgl. Stratenwerth, Verantwortung und Gehorsam S. 166. Vgl. Schönke/Schröder/Lenckner, Vorbem. 11, 88a vor § 32. 19 Das gilt auch im militärischen Bereich; vgl. SchlHOLG bei Kohlhaas/Schwenck, § 5 WStG Nr. 2 a.E.; LK U (Hirsch) Vorbem. 176 vor § 32; Maurach/Zipf, Allg. Teil I § 29 Rdn. 11; Schönke/Schröder/Lenckner, Vorbem. 88 vor §32; a.A. Arndt, NZWehrr 1960, 148. Definition der gerechtfertigten Kriegshandlung bei Schwenck, Lange-Festschrift S. 115. 20 So die h.L.; vgl. Baumann/Weber, Allg. Teil S. 338; Blei, Bes. Teil S. 52f.; Bockelmann/Volk, Allg. Teil S. 87; Bruns, JZ 1957, 410; Dreh er/Tröndle, § 223 Rdn. 13; Friebe, Verantwortlichkeit des Lehrers S. 137ff.; Kohlrausch/Lange, § 223 Anm. II; LK 10 (Hirsch) 18

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§ 3 5 Das H a n d e l n aufgrund v o n Amtsrechten u n d verwandte Fälle

den Grund- und Hauptschulen (und auch an den weiterführenden Schulen gegenüber entsprechenden Altersgruppen) wurde früher von der Rechtsprechung als Gewohnheitsrecht anerkannt, wenn hinreichender Anlaß, Erziehungszweck und maßvolle Ausübung zu bejahen waren (BGH 11, 341 [347]; 14, 52; B G H GA 1963, 82; BayObLG NJW 1979, 1371, O L G Schleswig NJW 1956, 1002; O L G Hamm NJW 1956, 1690; O L G Zweibrücken NJW 1974, 1772). Dagegen hatte schon B G H 6, 263 (269) in deutlicher, auf pädagogische Gründe gestützter Ablehnung des Züchtigungsrechts lediglich eingeräumt, „daß in seltenen Ausnahmefällen eine maßvolle körperliche Züchtigung durch den Lehrer am Platze sein mag". Schließlich hat B G H NJW 1976, 1949 die Frage offen gelassen und dem Angeklagten nur einen unvermeidbaren Verbotsirrtum zugebilligt. An Berufsfachschulen wurde ein Züchtigungsrecht der Lehrer verneint (BGH 12, 62 [64]). Ein Züchtigungsrecht der Lehrer gegenüber ihren Schülern besteht heute nicht mehr 21 . Dafür spricht schon, daß in der Mehrzahl der Bundesländer die körperliche Züchtigung von Schülern durch Gesetz untersagt worden ist 2 2 . In der Literatur wird das Züchtigungsrecht der Lehrer ebenfalls durchweg abgelehnt23. Auch verfassungsrechtlich hat das Züchtigungsrecht der Lehrer keine Grundlage 24 . Die körperliche Züchtigung durch den Lehrer verstößt gegen das Grundrecht der körperlichen Unversehrtheit (Art. 2 I I 1 GG). Vom Gesetzesvorbehalt des Art. 2 I I 3 gedeckt ist nur die körperliche Züchtigung in Fällen der Notwehr (§ 32), des rechtfertigenden Notstands (§ 34) und der Nothilfe. Der Lehrer hat deshalb das Recht, Angriffe von Schülern gegen ihn selbst, gegen andere Schüler oder gegen öffentliches Eigentum im Notfall auch durch körperliches Zufassen im Sinne der „erforderlichen Verteidigung" abzuwehren (BGH 14, 52). Dagegen läßt sich ein Züchtigungsrecht zu Erziehungszwecken schon aus formalen Gründen nicht halten, weil Gewohnheitsrecht kein Gesetz im Sinne von Art. 2 I I 3 GG ist (vgl. zu der entsprechenden Frage der Einschränkbarkeit der Grundrechte der Strafgefangenen BVerfGE 33, 1). Aber auch materiell ist ein über die Grenzen der Notwehr hinausgehendes Züchtigungsrecht der Lehrer nicht zu rechtfertigen, da der erniedrigende Zwang, sich einer Körperstrafe vor den Augen der Klasse zu stellen, pädagogisch unter keinen Umständen zu verantworten ist (vgl. auch EuGMR NJW 1979, 1089). Das Schlagen von Schülern durch Lehrer zu Erziehungszwecken ist daher heute ebenso abgeschafft, wie die früher bestehenden Züchtigungsrechte gegen Lehrlinge, Gesinde, Schiffsleute, Strafgefangene und Soldaten nach und nach abgeschafft worden sind. Eine strafbare Körperverletzung ist deshalb auch die Züchtigung § 223 Rdn. 28; Kastendiek, DRiZ 1975, 333; Maurach/Zipf Allg. Teil I § 28 Rdn. 26f.; Schönke/Schröder/Eser, § 223 Rdn. 16; Welzel, Lehrbuch S. 291; Wessels, Allg. Teil Rdn. 388. Gegen die Auffassung, die maßvolle Ausübung des Züchtigungsrechts sei schon tatbestandsmäßig keine Körperverletzung (so z.B. Kienapfel, Körperliche Züchtigung S. 101 ff.), überzeugend Hirsch, ZStW 74 (1962) S. 111 ff. 21 Ebenso die h.M.; vgl. Dreher/Tröndle, § 223 Rdn. 13; Jakobs, Allg. Teil 16/35; Lackner, § 223 Rdn. 11; Maunz/Dürig, Art. 2 11 GG Rdn. 47; Roxin, Allg. Teil I § 17 Rdn. 38 f.; LK 10 (Hirsch) § 223 Rdn. 24; Rüping/Hüsch, GA 1979, 9; Schönke/Schröder/Eser, § 223 Rdn. 20; SK (Horn) § 223 Rdn. 12; Vormbaum, JR 1977, 497; Maurach/Zipf, Allg. Teil I § 28 Rdn. 27; Jung, Züchtigungsrecht S. 40 ff. Als Strafunrechtsausschließungsgrund aufrechterhalten bei Günther, Strafrechtswidrigkeit S. 358. 22 So in Baden-Württemberg durch Schulgesetz i.d.F. vom 1.8.1983 § 90 I I I Nr. 3 Satz 2 § 223 Rdn. 13 a ver(GBl. S. 397); die einschlägigen Landesgesetze sind bei Dreher/Tröndle, zeichnet. Ebenso in Osterreich; vgl. WK (Nowakowski) Nachbem. 32 zu § 3. 23 Vgl. die Angaben oben Fußnote 21. 24 So Maunz/Dürig, Art. 2 I I GG Rdn. 47f.; LK 10 (Hirsch) § 223 Rdn. 24; v. Kopp, JZ 1955, 319; SK (Horn) § 223 Rdn. 12; Vormbaum, JR 1977, 496 f.

I V . Das H a n d e l n „ p r o magistratu"

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eines straffällig gewordenen Jugendlichen durch den Jugendstaatsanwalt, der anschließend das Verfahren nach § 45 I I Nr. 1 oder 2 JGG einstellt (BGH 32, 357). 2. Es gibt heute nur noch ein eng begrenztes Züchtigungsrecht der Eltern und anderen Personensorgeberechtigten, das gegenüber kleinen Kindern bei maßvollster Anwendung auch pädagogisch vertretbar sein mag 25 . U m Mißbräuche zu verhindern, verbietet § 1631 I I BGB, der durch das Gesetz zur Neuregelung des Rechts der elterlichen Sorge vom 18.7.1979 (BGBl. I S. 1061) neu gefaßt worden ist, „entwürdigende Erziehungsmaßnahmen". Ein Referentenentwurf des Bundesjustizministeriums will das Verbot zu Recht auf „körperliche und seelische Mißhandlungen" ausdehnen (ZRP 1993, 360). Das Züchtigungsrecht im familiären Bereich kann im Rahmen der elterlichen Pflichten zur Ausübung übertragen werden (BGH 12, 62 [67ff.]), z.B. auf das Kindermädchen oder die Großeltern 26 , behält dann aber den Charakter einer auf Ausnahmefälle beschränkten körperlichen Zurechtweisung durch eine dem Kinde nahestehende Person. IV. Das Handeln „pro magistratu" 1. Der Rechtsstaat verbietet grundsätzlich die Anwendung privater Gewalt zur Durchsetzung zivilrechtlicher Ansprüche und verweist den Gläubiger auf die Anrufung der Justiz. Wenn jedoch obrigkeitliche Hilfe nicht rechtzeitig zu erlangen ist oder zu Unrecht verweigert wird und ohne sofortiges Eingreifen die Gefahr besteht, daß die Verwirklichung des Anspruchs vereitelt oder wesentlich erschwert werden würde, ist in engen Grenzen Selbsthilfe erlaubt (§§ 229 - 231 BGB) 2 7 . Als Mittel der Selbsthilfe sind zugelassen die Wegnahme, Beschädigung oder Zerstörung von Sachen des Schuldners, die Festnahme des Verpflichteten, wenn er fluchtverdächtig ist, und die Beseitigung eines Widerstands des Schuldners gegen eine Handlung, die er zu dulden hat. Auch hier gilt aber das Gebot der Verhältnismäßigkeit von Eingriff, Gefahr und durchzusetzendem Anspruch (RG 69, 308 [312]). Zur Beweissicherung ist das Selbsthilferecht nicht gegeben (BGH 17, 328 [331]), zur endgültigen Befriedigung des Gläubigers darf es nicht führen (BGH 17, 87 [89]). Im Unterschied zur Notwehr setzt die Selbsthilfe keinen gegenwärtigen Angriff voraus. Beispiele: Wer im Straßengewühl seinen Darlehensschuldner trifft, von dem er weder Namen noch Anschrift kennt, darf ihm mit Gewalt sein Geld abnehmen, aber nur zur vorläufigen Sicherstellung (§ 230 I I BGB) (BGH 17, 87 [89]). Wer seinen Schuldner beim Besteigen eines Flugzeugs trifft, mit dem er offensichtlich für dauernd ins Ausland verschwinden will, darf ihn festnehmen; eine Gefährdung des Lebens ist aber nicht gerechtfertigt (RG 69, 308 [312]). Eine Kellnerin darf einen Gast, der das Lokal ohne Bezahlung eines von ihm beanstandeten Essens verlassen will, mit Gewalt zurückhalten, um seine Personalien zur Klärung der Rechtslage festzustellen (BayObLG JZ 1991, 681 m.krit.Anm. Laubenthal, JR 1991, 519; entsprechend für einen Taxifahrer O L G Düsseldorf NJW 1991, 2716 [2717]). Besonders geregelte Fälle der Selbsthilfe sind die Besitzkehr (§ 859 I I - IV BGB), die Selbsthilfe des Vermieters (§ 561 BGB) und die Selbsthilferechte nach §§ 581 II, 704, 859 II, 25

Rechtsgrundlage hierfür sind die §§ 1626, 1631, 1705, 1757, 1800 BGB. Viel zu weitgehend B G H NJW 1953, 1440 und B G H StV 1988, 62 m.abl.Anm. Rolinski. Für Abschaffung auch des elterlichen Züchtigungsrechts Petri, ZRP 1976, 64. Näher zum familienrechtlichen Züchtigungsrecht LK 10 (Hirsch) § 223 Rdn. 29ff.; Maurach/Zipf, Allg. Teil I § 28 Rdn. 28; Roxin, Allg. Teil I § 17 Rdn. 33; SK (Horn) § 223 Rdn. 13ff. 26 Näher LK i0 (Hirsch) § 223 Rdn. 23; Schönke/Schröder/Eser, § 223 Rdn. 26. 27 Zu den Zulässigkeitsvoraussetzungen der Selbsthilfe eingehend W. B. Schünemann, Selbsthilfe S. 55 ff.; Kühl, Allg. Teil § 9 Rdn. 2 ff:

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§ 35 Das H a n d e l n aufgrund v o n Amtsrechten u n d verwandte Fälle

I I I ( O L G Schleswig NStZ 1987, 75), 860, 910, 962, 1029 BGB. Die Unmöglichkeit rechtzeitiger obrigkeitlicher Hilfe wird hier nicht vorausgesetzt.

2. Jedermann (nicht nur der Verletzte) hat ferner das Recht, einen auf frischer Tat betroffenen oder verfolgten Straftäter vorläufig festzunehmen, wenn er der Flucht verdächtig ist oder seine Persönlichkeit nicht sofort festgestellt werden kann (§ 127 I StPO). Zweck des Festnahmerechts ist die Ermöglichung straf gerichtlicher Verfolgung 28 . Der Staat überträgt damit dem Bürger eine öffentliche Funktion (RG 17, 127 [128]). Die Tat, wegen deren die Festnahme stattfindet, muß eine Straftat oder doch wenigstens eine rechtswidrige Tat i.S. von § 11 I Nr. 5 sein, da gegen schuldunfähige Täter ein Sicherungsverfahren möglich ist (§ 71 StGB, § 413 StPO) 29 . Der Verdächtige ist auf frischer Tat betroffen, wenn die Ausführung oder die eben beendete Ausführung der Handlung als Straftat für den Beobachter erkennbar ist (RG 34, 444 [445]; 65, 392 [394]). Verfolgung auf frischer Tat liegt vor, wenn unmittelbar nach der Wahrnehmung der Tat mit den Verfolgungsmaßnahmen begonnen wird, so daß kein Zweifel über die Identität des Täters bestehen kann. Die Festnahme rechtfertigt die Entziehung der persönlichen Freiheit (§§ 239, 240), wobei festes Zupacken zur Verhinderung des Entweichens des Betroffenen zulässig und selbst eine unbeabsichtigte Verletzung gedeckt ist (OLG Stuttgart NJW 1984, 1694). Nach dem Grundsatz des schonendsten Eingriffs sind gegebenenfalls auch andere Maßnahmen zulässig, die gegenüber der Festnahme weniger einschneidend sind, so die Wegnahme des Zündschlüssels (OLG Saarbrücken NJW 1959, 1911) oder des Personalausweises, das Verhindern der Abfahrt eines Kraftfahrzeugs. Eine Befugnis zur absichtlichen Verletzung von Leib oder Leben des Festzunehmenden hat die Rechtsprechung stets verneint (RG 69, 308 [312]; 71, 49 [52]; 72, 305 [306]; anders bei besonders schwerer Rechtsgutsverletzung B G H Holtz, M D R 1979, 985 [986]). Während es für die Rechtmäßigkeit der vorläufigen Festnahme durch Beamte nach § 127 I I StPO (Vorliegen der Voraussetzungen eines Haftbefehls) genügt, daß der Festnehmende die Voraussetzungen pflichtgemäß geprüft und bejaht hat (vgl. oben § 35 I 3), handeln Privatpersonen schon dann rechtswidrig, wenn die Voraussetzungen der Festnahme nach § 127 I, insbesondere die begangene Tat, objektiv nicht gegeben sind (so O L G Hamm NJW 1972, 1826; NJW 1977, 590; K G VRS 45, 35; wohl auch RG 12, 194 [195]; 19, 101 [103]; offen gelassen in B G H GA 1974, 177; anders BGH(Z) NJW 1981, 745; BayObLG M D R 1986, 956; JR 1987, 344; O L G Zweibrücken NJW 1981, 20 1 6) 3 0 . Anderenfalls müßte der irrtümlich Festgenommene den Freiheitsentzug ohne Recht zur Notwehr dulden. Der irrtümlich Festnehmende handelt also, anders als ein Beamter in gleicher 28 So die h.L.; vgl. Löwe/Rosenberg (Wendisch) § 127 StPO Rdn. 2; LK 11 (Hirsch) Vorbem. 155 vor § 32; Kleinknecht/Meyer-Goßner, § 127 StPO Rdn. 8; Roxin, Strafverfahrensrecht § 31 Rdn. 4; Meincke, Betreffen oder Verfolgen auf frischer Tat S. 13. 29 Vgl. Löwe/Rosenberg (Wendisch) § 127 StPO Rdn. 8 (mit Einschränkung); Wiedenhrüg, JuS 1973, 420 f. Im Bußgeldverfahren ist das Festnahmerecht ausgeschlossen (§ 46 I I I 1 OWiG). Zu §§ 163 b, c StPO Achenbach, JA 1981, 663. 30 Ebenso LK n (Hirsch) Vorbem. 156 vor § 32; Jakobs, Allg. Teil 16/16; Schlüchter, Strafverfahren Rdn. 255; dieselbe, JR 1987, 309; Kleinknecht/Meyer-Goßner, § 127 StPO Rdn. 4; Maurach/Zipf, Allg. Teil I § 29 Rdn. 13; Eb. Schmidt, § 127 StPO Rdn. 8; Schmidhäuser, Allg. Teil S. 325; Schönke/Schröder/Lenckner, Vorbem. 82 vor § 32; Welzel, Lehrbuch S. 94; Wiedenbrüg, JuS 1973, 418 ff. Dagegen lassen auch beim Privatmann dringenden Tatverdacht und sorgfältige Prüfung genügen Arzt, Kleinknecht-Festschrift S. 5 ff.; Borchert, JA 1982, 338ff.; Dreher/Tröndle, Vorbem. 7 vor § 32; Löwe/Rosenberg (Wendisch) § 127 StPO Rdn. 9; Roxin, Strafverfahrensrecht § 31 Rdn. 4; derselbe, Allg. Teil I § 17 Rdn. 23; Henkel, Strafverfahrensrecht S. 286 (dringender Tatverdacht); Fincke, GA 1971, 41 ff. und JuS 1973, 87ff. (Uberzeugung vom Vorliegen der Voraussetzungen).

I V . Das H a n d e l n „ p r o magistratu"

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Lage, rechtswidrig, kann aber mangels Vorsatzes nicht wegen Freiheitsberaubung (§ 239) bestraft werden 31 .

3. Auf Übertragung öffentlicher Gewalt beruht ferner die Bordgewalt des Schiffskapitäns (§ 106 SeemannsG) und Flugkapitäns32. 4. Auch die Ausübung des Widerstandsrechts stellt in Anbetracht seiner subsidiären Natur ein Handeln „pro magistratu" dar. Aus einem hohen, aber juristisch wenig geklärten Grundsatz des überpositiven Rechts, der sich geschichtlich weit zurückverfolgen läßt 3 3 , hat der Bundestag das Widerstandsrecht zu einem Bestandteil des geltenden Verfassungsrechts gemacht. Nicht schwerwiegende Notwendigkeiten unseres Staatswesens, sondern taktische Erwägungen im Zusammenhang mit der Notstandsgesetzgebung des Jahres 1968 sind dafür maßgebend gewesen34. Als äußerstes Mittel zur Verteidigung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung i.S. von Art. 20 I - I I I GG (vgl. BT-Drucksache V/2873 S. 9) gibt Art. 20 IV GG jedem Deutschen das Recht zum Widerstand gegen jedermann, der es unternimmt, diese Ordnung zu beseitigen, wenn andere Abhilfe nicht möglich ist (vgl. schon früher Art. 147 I der Hessischen Verfassung, Art. 19 der Bremischen Verfassung, Art. 23 I I I der Berliner Verfassung). Das Widerstandsrecht richtet sich sowohl gegen den „Staatsstreich von oben" (z.B. Einführung einer Militärdiktatur) als auch gegen den „Staatsstreich von unten" (z.B. die revolutionäre Beseitigung der parlamentarischen Demokratie) 35 . Da ein „Unternehmen" vorliegen muß, wird das Widerstandsrecht erst ausgelöst, wenn von den Gegnern der Verfassung die Stufe des „Versuchs" erreicht ist, während Vorbereitungshandlungen (z.B. § 83) hingenommen werden müssen, selbst wenn die öffentliche Gewalt aus Schwäche oder aus Mitschuld nicht einschreitet. Erst recht ist das Widerstandsrecht nicht gegeben gegen Meinungsäußerungen zur Beseitigung der Kernsätze der Verfassung (OLG Köln NJW 1970, 1322 [1324]). Das Widerstandsrecht hat subsidiären Charakter, es greift nur dann ein, wenn andere Abhilfe nicht möglich ist. Im Falle eines Umsturzversuches würde ein Widerstandsrecht also erst in dem Zeitpunkt in Betracht kommen, in dem selbst die Notstandsbefugnisse der öffentlichen Gewalt nicht mehr für den Schutz des Kernbestandes der Verfassung genügen36. Weiter wird mit Recht angenommen, daß das Widerstandsrecht mit Rücksicht auf die Zweifelhaftigkeit seiner Voraussetzungen, mit der man im konkreten Fall rechnen müßte, nur ausgeübt werden darf, wenn das Unternehmen zur Beseitigung der freiheitlichen demokratischen Ordnung offensichtlich ist (so schon BVerfGE 5, 85 [377]) 37 . In subjektiver Hinsicht muß die Widerstandshandlung auf die Erhaltung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung abzielen (BVerfGE 5, 85 [379]). 31 Eine Bestrafung nach § 230 kommt zwar in Betracht, wie Fincke, GA 1971, 41 Fußnote 7 richtig bemerkt, doch ist eine Körperverletzung von § 127 I StPO auch bei berechtigter Festnahme nicht gedeckt; vgl. auch Fincke, JuS 1973, 88 Fußnote 5. 32 Vgl. dazu Westerburg, Polizeigewalt des Luftfahrzeugkommandanten S. 50ff.; vgl. ferner das Abkommen von Tokio über strafbare und andere Handlungen, die sich an Bord von Luftfahrzeugen ereignen, vom 14.9.1963, Art. 5 - 10 (BGBl. 1969 I I S. 121). 33 Zur Geschichte des Widerstandsrechts vgl. Weinkauff Widerstandsrecht, 1956 sowie mehrere Beiträge in: Arthur Kaufmann (Hrsg.), Widerstandsrecht, 1972; ferner Bertram, Das Widerstandsrecht S. 13 ff. sowie Middendorf^ Jescheck-Festschrift Bd. I I S. 1175 ff. Über Widerstandsfälle aus der Zeit des Nationalsozialismus und ihre Behandlung in der Rechtsprechung vgl. Scheidle, Das Widerstandsrecht S. 38 ff. 34 Zur Gesetzgebungsgeschichte vgl. Böckenförde, JZ 1970, 168 ff. 35 Der Text folgt in der Auslegung des Art. 20 IV GG Hesse, Grundzüge Rdn. 757ff.; H. Schneider, Widerstand S. 13ff.; LK U (Hirsch) Vorbem. 83ff. vor §32; Maunz/Dürig, Art. 20 IV GG Rdn. 11 ff. Zur Einordnung in das System der Rechtfertigungsgründe Blank, Widerstandsrecht S. 3 5 ff. 36 Vgl. dazu Heuer, Die Zulässigkeit des Einsatzes staatlicher Gewalt in Ausnahmesituationen S. 47 ff. 37 So Maunz/Dürig, Art. 20 IV GG Rdn. 27; Hesse, Grundzüge Rdn. 758; Isensee, Widerstandsrecht S. 23 f.; H. Schneider, Widerstand im Rechtsstaat S. 17f.; LK U (Hirsch) Vorbem. 88 vor § 32. Dagegen Roxin, Allg. Teil I .§ 16 Rdn. 115; Jakobs, Allg. Teil 15/2.

400

§ 36 Das erlaubte Risiko

O b w o h l i n der Verfassungslehre E i n i g k e i t darüber besteht, daß die Positivierung des Widerstandsrechts i n A r t . 20 I V G G besser unterblieben w ä r e 3 8 , hat das Strafrecht sich nach der gegenwärtigen Gesetzeslage z u richten u n d m u ß demgemäß die Frage beantworten, w i e das Widerstandsrecht u n d insbesondere der I r r t u m darüber strafrechtlich z u behandeln sind. A r t . 20 I V G G hat einen Ausschnitt aus d e m Staatsnotstandsrecht (vgl. oben § 32 I I l b ) z u m Gegenstand 3 9 . Das Widerstandsrecht erweist sich d a m i t ebenso w i e der Staatsnotstand als ein Rechtfertigungsgrundder bei W a h r u n g der Grundsätze der Erforderlichkeit u n d Verhältnismäßigkeit auch die A n w e n d u n g v o n G e w a l t (Generalstreik w i e gegen den Kapp-Putsch, bewaffneter Widerstand) erlaubt. D e r Irrtum w i r d i n der Regel ein I r r t u m über die Grenzen des Widerstandsrechts sein (vgl. die Fälle O L G K ö l n N J W 1970, 1322; B G H N J W 1966, 310), so daß die Regeln über den V e r b o t s i r r t u m eingreifen, die z u r A n w e n d u n g der Vorsatztatbestände führen (vgl. u n t e n § 41 I I I l ) 4 0 . D i e irrige A n n a h m e der Rechtfertigungslage ist ein Erlaubnistatbestandsirrtum (vgl. u n t e n § 41 I V 1).

§ 36 D a s erlaubte Risiko Brammsen, Anmerkung zu BayObLG vom 16.11.1990 und zu O L G Frankfurt vom 11.3.1991, JR 1992, 82; Erdsiek, Wahrnehmung berechtigter Interessen ein Rechtfertigungsgrund? JZ 1969, 311; Eser, Wahrnehmung berechtigter Interessen als allgemeiner Rechtfertigungsgrund, 1969; Frisch y Vorsatz und Risiko, 1983; Fuhrmann y Die Wahrnehmung berechtigter Interessen durch die Presse, JuS 1970, 70; Gallas, Zur Struktur des strafrechtlichen Unrechtsbegriffs, Festschrift für P. Bockelmann, 1979, S. 155; Gepperty Wahrnehmung berechtigter Interessen (§ 193 StGB), Jura 1985, 25; Günther, Strafrechtswidrigkeit und Strafunrechtsausschluß, 1983; Heinitz y Die Entwicklung der Lehre von der materiellen Rechtswidrigkeit, Festschrift für Eb. Schmidt, 1961, S. 266; Herdegen, „Soldaten sind Mörder", NJW 1994, 2933; Herzberg, Vorsatz und erlaubtes Risiko usw, JR 1986, 6; Hillenkampy Risikogeschäft und Untreue, NStZ 1981, 161; Hirschy Ehre und Beleidigung, 1967; derselbe y Soziale Adäquanz und Unrechtslehre, ZStW 74 (1962) S. 78; Kienapfel, Das erlaubte Risiko im Strafrecht, 1966; Klug y Sozialkongruenz und Sozialadäquanz im Strafrechtssystem, Festschrift für Eb. Schmidt, 1961, S. 249; Lenckner, Die Rechtfertigungsgründe und das Erfordernis pflichtgemäßer Prüfung, Festschrift für H . Mayer, 1966, S. 165; derselbe, Die Wahrnehmung berechtigter Interessen, ein „übergesetzlicher" Rechtfertigungsgrund? Gedächtnisschrift für P. Noll, 1984, S. 243; Maiwald, Zur Leistungsfähigkeit des Begriffs „erlaubtes Risiko" für die Strafrechtssystematik, Festschrift für H . - H . Jescheck, Bd. I, 1985, S. 405; Nolly Ubergesetzliche Milderungsgründe aus vermindertem Unrecht, ZStW 68 (1956) S. 181; Preußy Untersuchungen zum erlaubten Risiko im Strafrecht, 1974; Rehberg, Zur Lehre vom „Erlaubten Risiko", 1962; Rehbinder, Die öffentliche Aufgabe und rechtliche Verantwortung der Presse, 1962; Roeder y Die Einhaltung des sozialadäquaten Risikos und ihr systematischer Standort im Verbrechensaufbau, 1969; Eike Schmidt, Wahrnehmung berechtigter Interessen als Rechtfertigungsgrund? JZ 1970, 8; Suppert, Studien zur Notwehr und „notwehrähnlichen" Lage, 1973; Tenckhoff Grundfälle zum Beleidigungsrecht, JuS 1989, 198.

38 Vgl. z.B. Isensee y Widerstandsrecht S. 99: „Eine verfassungsrechtliche Ermächtigung in der Grenzzone zum status naturalis ist ebenso sinnlos wie eine Freiheitsgarantie in anarchischen Zuständen, weil die öffentliche Gewalt als Schutzmacht ausscheidet: sie ist entweder nicht mehr legal oder nicht mehr effektiv." Vgl. auch Hesse y Grundzüge Rdn. 760. 39 Vgl. Doehringy Der Staat 8 (1969) S. 437. Anders Maurach/Zipf Allg. Teil I § 26 Rdn. 55, der einen Unterfall der Staatsnotwehrhilfe annimmt. 40 So Schönke/Schröder/Lenckner, Vorbem. 65 vor § 32; Jakobs y Allg. Teil 15/5. Dagegen em pfiehlt LK 11 (Hirsch) Vorbem. 91 vor § 32 die Anwendung der strengen Schuldtheorie (vgl. unten § 41 I V l b ) , während Dreh er/Tröndle, Vorbem. 10 vor § 32 die Subsidiaritätsklausel des Art. 20 I V G G als „objektive Bedingung der Rechtfertigung" aus dem Schuldzusammenhang ausgliedern will.

I I . Rechtfertigungsgründe m i t der Struktur des erlaubten Risikos

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I. Das erlaubte Risiko als Strukturprinzip 1. Das erlaubte Risiko ist kein selbständiger Rechtfertigungsgrund (anders 3. Auflage S. 323 f.), weil durch diesen Begriff nicht mehr ausgesagt wird, als daß unter bestimmten Voraussetzungen riskante Handlungen, sogar mit bedingtem Vorsatz einer Rechtsgutsverletzung, zulässig sind, ohne daß diese Voraussetzungen generell umschrieben würden 1 . Es handelt sich beim erlaubten Risiko vielmehr um ein gemeinsames Strukturprinzip für verschiedene Rechtfertigungsgründe, deren sachliche Voraussetzungen gesondert geregelt sind 2 . Die gemeinsame Struktur dieser Rechtfertigungsgründe besteht darin, daß sie die Vornahme bestimmter, grundsätzlich sozial erwünschter, aber risikogeneigter Handlungen ermöglichen. Diese dürfen wegen ihres sozialen Nutzens auch auf die Gefahr hin vorgenommen werden, daß sich die in ihnen enthaltene Gefahr verwirklicht und der angestrebte Nutzen ausbleibt3. (Zum erlaubten Risiko als Begrenzung der Sorgfaltspflicht bei den Fahrlässigkeitsdelikten vgl. unten § 55 I 2 b). Der Täter erhält in diesen Fällen nur eine Handlungserlaubnis für das riskante Vorgehen, aber keine Eingriffsbefugnis in das geschützte Rechtsgut, weil dieses prinzipiell ebenso schutzwürdig ist wie das Interesse, das der Täter wahrnimmt 4 . Dennoch bleibt das Verhalten des Täters insgesamt gerechtfertigt, auch wenn eine Rechtsgutsverletzung eintritt. Voraussetzung der Rechtfertigung ist jedoch wegen der Unsicherheit der Ausgangslage stets eine sorgfältige Prüfung der tatsächlichen Handlungsbedingungen durch den Täter 5 . 2. Das Rechtsgut, in das durch die riskante Handlung eingegriffen wird, darf, auch wenn die vom Täter angenommenen Voraussetzungen fehlen, nicht durch Notwehr (§ 32) verteidigt werden, weil kein rechtswidriger Angriff vorliegt. Ob in derartigen Fällen gegen den Eingriff rechtfertigender Notstand in Betracht kommt, läßt sich nur für jeden der betreffenden Rechtfertigungsgründe gesondert entscheiden6. II. Rechtfertigungsgründe mit der Struktur des erlaubten Risikos Es gibt mehrere Rechtfertigungsgründe, erlaubten Risikos aufgebaut sind:

die nach dem Strukturprinzip des

1 Maiwald, Jescheck-Festschrift Bd. I S. 420; Baumann/Weber, Allg. Teil S. 321; LK U (Hirsch) Vorbem. 33 vor § 32; Schönke/Schröder/Lenckner, Vorbem. 11, 19, 107b vor § 32; Pretiß, Untersuchungen S. 225; Wessels, Allg. Teil Rdn. 283. Gegen die Lehre vom erlaubten Risiko auch Bockelmann/Volk, Allg. Teil S. 106; Kienapfel, Erlaubtes Risiko S. 26f.; SK (Samson) Vorbem. 27 f. vor § 32. Das „normrelevante Risiko" als Bezugspunkt des Vorsatzes bei Frisch, Vorsatz und Risiko S. 28 betrifft dagegen die ganz andere Frage, ob das tatbestandsmäßige Verhalten bei allen Straftatbeständen auf ein sozial mißbilligtes Risiko einzuschränken sei, was er bejaht. Dazu auch Herzberg, JR 1986, 8 ff. * 2 Maiwald, Jescheck-Festschrift Bd. I S. 425; Preuß, Untersuchungen S. 225; Lenckner, H. Mayer-Festschrift S. 177 ff. Gegen eine dogmatische Sonderstellung dieser Rechtfertigungsgründe Roxin, Allg. Teil I § 18 Rdn. 2. 3 Schönke/Schröder/Lenckner, Vorbem. 11 vor § 32. 4 Maiwald, Jescheck-Festschrift Bd. I S. 425; Gallas, Bockelmann-Festschrift S. 167 FußVorbem. 11 vor § 32. Günther, Strafrechtswidrigkeit note 32; Schönke/Schröder/Lenckner, S. 270 schließt aus der „schlichten Handlungsbefugnis" auf Strafunrechtsausschließungsgründe. 5 Schönke/Schröder/Lenckner, Vorbem. 19 vor § 32; LK n (Hirsch) Vorbem. 33 vor § 32 (ablehnend); Preisendanz, Vorbem. I I 6 vor § 32; Lackner, Vorbem. 29 vor § 32. 6 Schönke/Schröder/Lenckner, Vorbem. 11 vor § 32.

26 Jescheck, 5. A .

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§ 36 Das erlaubte Risiko

1. Ein besonders charakteristischer Fall ist die Wahrnehmung berechtigter Interessen bei übler Nachrede (§ 193)7. Eine ehrenrührige Tatsachenbehauptung darf auf die Gefahr hin aufgestellt werden, daß sie unwahr oder jedenfalls nicht zu beweisen ist, wenn allein durch die Äußerung des betreffenden Vorwurfs ein berechtigtes öffentliches oder privates Interesse gewahrt werden kann. Die Frage der Einordnung des § 193 in den Gesamtzusammenhang des Strafrechts ist allerdings umstritten. Die ältere Rechtsprechung und ein Teil der Lehre sehen darin einen Unterfall des rechtfertigenden Notstands 8 , was jedoch deswegen nicht befriedigen kann, weil ein wesentliches Uberwiegen des geschützten Interesses gegenüber dem Ehrenschutz (vgl. oben § 33 IV 3 c) mit Rücksicht auf die für die Risikohandlung typische Ungewißheit der Lage gerade nicht verlangt wird. Andere nehmen einen unspezifischen Fall der Güter- und Interessenabwägung an 9 , doch wäre das aus den eben genannten Gründen eine anders geartete Abwägung als beim rechtfertigenden Notstand.

Der Vorrang, den § 193 unter bestimmten Voraussetzungen dem Interesse an einer Äußerung ehrenrühriger Tatsachenbehauptungen einräumt, erklärt sich in erster Linie aus dem hohen Rang der Meinungs- und Pressefreiheit (Art. 5 I G G ) 1 0 . Damit dieses für die Erhaltung der Meinungsvielfalt in einer Demokratie unverzichtbare Gut nicht aus Angst vor strafrechtlichen Konsequenzen nach §§ 185 ff. verkümmert, erlaubt die Rechtsordnung auch Äußerungen, die das Risiko einer Ehrverletzung enthalten 11 . 2. Eine Tatsachenbehauptung, die sich als üble Nachrede (§ 186) oder Beleidigung (§ 185) darstellt, ist gerechtfertigt, wenn die Voraussetzungen der Wahrnehmung berechtigter Interessen nach § 193 vorliegen 12 . Hierzu gehört zunächst, daß die Äußerung das einzige Mittel zur Erreichung eines berechtigten Zwecks darstellt und daß der Täter mit der Absicht der Wahrnehmung dieses Interesses gehandelt hat (subjektives Rechtfertigungselement). Als berechtigte Interessen im Sinne des § 193 kommen nicht nur eigene Interessen des Täters sowie andere private Interessen in Betracht, die ihn nahe angehen, sondern ebenso Interessen der Allgemeinheit. Insbesondere darf auch die Presse den Schutz des § 193 für sich in Anspruch nehmen, wenn sie genötigt ist, ehrenrührige Tatsachen zu verbreiten, um ihrer der Öffentlichkeit gegenüber bestehenden Aufgabe zu genü7 So Dreher/Tröndle y § 193 Rdn. 1; Gallas, Beiträge S. 37; Hirsch, Ehre und Beleidigung S. 200ff.; Lenckner, H. Mayer-Festschrift S. 179f.; derselbe, Noll-Gedächtnisschrift S. 249; Schönke/Schröder/Lenckner, § 193 Rdn. 8; Heinitz y Eb. Schmidt-Festschrift S. 282; Roxin y Allg. Teil I § 18 Rdn. 31; Schmidhausen Allg. Teil S. 321; Welzel, Lehrbuch S. 320. Einen Strafunrechtsausschließungsgrund nimmt Günther, Strafrechts Widrigkeit S. 314 an. 8 So RG 62, 83 (93); 65, 333 (335); B G H Z 3, 270 (281); Baumann/Weber, Allg. Teil S. 352; Kohlrausch/Lange, § 193 Anm. I; Mezger, Lehrbuch S. 206f. 9 So Lackner, § 193 Rdn. 1; SK (Rudolphi) § 193 Rdn. 1; Blei, Bes. Teil S. 97; Noll, ZStW 68 (1956) S. 192f.; Fuhrmann, JuS 1970, 71. In dieser Richtung auch B G H 18, 182 (184). 10 BVerfGE 42, 143 (152); B G H 12, 287 (293); B G H M D R 1971, 999. Kritisch zur Ausstrahlung von Art. 5 I GG nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts auf das Recht der persönlichen Ehre LK 10 (Herdegen) § 193 Rdn. 4ff.; ähnlich Roxin, Allg. Teil I §18 Rdn. 31 f., der zu Recht zwischen Tatsachenbehauptungen und Werturteilen differenziert. Vgl. auch Eser, Wahrnehmung berechtigter Interessen S. 40ff.; Lenckner, Noll-Gedächtnisschrift S. 247ff.; Suppert, Studien S. 223 ff. 11 Deshalb ist § 193 auch kein bloßer Entschuldigungsgrund, wie noch in RG 64, 23 (ebenso Erdsiek, JZ 1969, 315 f.; Eike Schmidt, JZ 1970, 11 f.) angenommen wurde. Unter engen Voraussetzungen wird man allerdings Notstandshandlungen zulassen können; so Schönke/Schröder/Lenckner, Vorbem. 12 vor § 32; Roxin, Allg. Teil I § 18 Rdn. 33. 12 Überblicke bei Geppert, Jura 1985, 25 ff.; Tenckhoff, JuS 1989, 198.

I I . Rechtfertigungsgründe m i t der Struktur des erlaubten Risikos

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gen 1 3 . D i e Äußerung muß sich weiter als angemessenes M i t t e l zur Wahrnehmung des berechtigten Zwecks darstellen. H i e r z u gehört einmal, daß das Interesse, welches der Täter wahren w i l l , nach Rang u n d Gewicht i n einem vertretbaren Verhältnis zu dem Ehrenschutz steht, den der Betroffene v o m Straf recht erwarten darf. Insoweit liegt auch bei § 193 eine Interessenabwägung vor, die sich jedoch v o n der bei dem rechtfertigenden Notstand gebotenen Abwägung unterscheidet. D e r Täter darf ferner nicht selbst davon überzeugt sein, daß die Äußerung unwahr ist (eine Verleumdung nach § 187 w i r d durch § 193 nicht gedeckt), u n d er muß, bevor er sie mitteilt oder verbreitet, seiner Informationspflicht genügt haben ( B G H 3, 73 [75]; 14, 48 [51]). Er muß also m i t allen i h m zu Gebote stehenden M i t t e l n geprüft haben, ob die ehrenrührige Tatsachenbehauptung, die er aufstellt, der Wahrheit entspricht u n d beweisbar i s t 1 4 . Endlich ist erforderlich, daß die Äußerung i n angemessener F o r m erfolgt (§ 193 letzter Halbsatz). Aus § 193 ergibt sich zugleich, daß beleidigende Werturteile, die v o n Tatsachenbehauptungen unabhängig sind, nicht gedeckt sein können, da es zur Wahrnehmung des berechtigten Interesses genügt, wenn ehrenrührige Tatsachen geäußert werden dürfen (zur Behandlung beleidigender Werturteile vgl. unten 2 a.E.). Der Beleidigte w i r d ferner i m Prozeß dadurch geschützt, daß auf die Frage der Wahrnehmung berechtigter Interessen erst eingegangen werden darf, nachdem die Erweislichkeit der behaupteten Tatsache geprüft worden ist ( B G H 11, 273). Beispiele: Der Prokurist einer Firma darf gegen den Buchhalter den Vorwurf der Unterschlagung erheben, wenn eine Prüfung der Bücher und der Kasse schwerwiegende Verdachtsgründe ergeben hat. Wer dagegen in der Presse allein auf eine ungeprüfte mündliche Mitteilung hin den Verdacht kommunistischer Betätigung gegen Politiker erhebt, kann sich nicht auf § 193 berufen, weil er der ihm obliegenden Informationspflicht nicht genügt hat (BGH 14, 48 [51]). Im Wahlkampf muß sich ein Politiker aufgrund seines früheren Verhaltens den Vorwurf eines „zwiespältigen Charakters" und des Frontwechsels aus Gründen des persönlichen Vorteils gefallen lassen (BGH 12, 287 [293 f.]). Berichte aus dem Privatleben eines Politikers, bei denen es allein auf Skandal und Sensation ankommt, liegen dagegen außerhalb der öffentlichen Aufgabe, auf die sich die Presse als das von ihr zu wahrende berechtigte Interesse berufen kann (BGH 18, 182 [187]). Beleidigende Werturteile nach § 185 sind nicht durch § 193 gerechtfertigt, da es hierbei um kein Risiko der Unwahrheit geht. Vielmehr handelt es sich um eine Abwägung der verfassungsrechtlich garantierten Freiheit der Äußerung auf Seiten des Beleidigers mit dem Persönlichkeitsrecht des Beleidigten. Diese Abwägung wird von Fall zu Fall nach dem Gewicht der beteiligten Güter und Interessen vorgenommen (BVerfGE 30, 173 [195 ff.]; 67, 213 [224ff.]; 75, 369 [376ff.] zur Freiheit der Kunst nach Art. 5 I I I GG gegenüber der Menschenwürde nach Art. 1 I GG; BVerfGE 12, 113 [127ff.]; 61, 1 [7ff.]; 69, 257 [269 ff.] zur Meinungsfreiheit nach Art. 5 I GG gegenüber dem Achtungsanspruch des Betroffenen nach § 185 StGB). Beispiel: Die öffentlich getane Äußerung „Soldaten sind potentielle Mörder" erfüllt den Tatbestand der Beleidigung (§ 185) aller im aktiven Dienst stehenden Soldaten der Bundeswehr (zur Kollektivbeleidigung B G H 36, 83). Die Tat ist nicht durch die Ausübung der Meinungsfreiheit nach Art. 5 I GG gerechtfertigt, da die Äußerung eine Schmähung der Soldaten und kein angemessenes und erforderliches Mittel darstellt, die eigene pazifistische 13 Die früher ablehnende Auffassung der Rechtsprechung (RG 25, 68; 56, 383; 64, 13; 65, 360) ist heute der im Text vertretenen herrschenden Meinung gewichen, die allein der in den Pressegesetzen der Länder anerkannten öffentlichen Aufgabe der Presse entspricht; vgl. BVerfGE 12, 113 (125 ff.); 24, 278 (282 f.); B G H Z 31, 308; B G H 18, 182 (187); Fuhrmann, JuS 1970, 70ff.; Rehbinder, Die öffentliche Aufgabe der Presse S. 120ff. 14 Dreher/Tröndle, § 193 Rdn. 8; Lackner, § 193 Rdn. 10; Schönke/Schröder/Lenckner, §193 Rdn. 11. Gegen eine besondere Informationspflicht bei § 193 Roxin, Allg. Teil I § 18 Rdn. 45.

26'·-

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§ 3 6 Das erlaubte Risiko

Grundüberzeugung zum Ausdruck zu bringen (BayObLG JR 1992, 76 und O L G Frankfurt JR 1992, 79 m. zust. Anm. Brammsen S. 82; anders hierzu BVerfG NJW 1992, 2073 [2074] sowie BVerfG NJW 1994, 2943 15 ).

3. Weitere Rechtfertigungsgründe, bei denen der Gedanke des erlaubten Risikos zugrunde liegt und die darum eine pflichtgemäße Prüfung der ungewiß bleibenden Voraussetzungen erfordern, sind die mutmaßliche Einwilligung, wenn wirklicher und gemutmaßter Wille des Verletzten nicht übereinstimmen (vgl. oben § 34 V I I 2) 1 6 und die Fälle hoheitlichen Handelns, wenn die sachlichen Voraussetzungen des Einschreitens von dem Amtsträger pflichtgemäß geprüft und bejaht worden sind, in Wirklichkeit aber fehlten (vgl. oben § 35 I 3).

2. Abschnitt: Die Schuld

Die Lehre von der Rechtswidrigkeit betrifft die Frage, unter welchen Voraussetzungen eine Handlung der Rechtsordnung widerspricht. Die Maßstäbe, nach denen menschliches Verhalten als rechtswidrig beurteilt wird, nehmen keine Rücksicht auf die individuellen Eigenschaften des Täters; das Verbot zu stehlen gilt für den Armen ebenso wie für den Reichen, die Normen des Sexualstrafrechts richten sich ebenso an den triebhaften Gewaltmenschen wie an den seelisch ausgeglichenen Normalbürger, die Sorgfaltspflichten des Straßenverkehrs treffen den Anfänger ebenso wie den routinierten Fahrer. Insoweit wird im Strafrecht „ohne Ansehen der Person" geurteilt. Der Gegenstand der Beurteilung ändert sich jedoch, sobald man den Bereich der Schuld betritt. Hier geht es um die Frage, unter welchen Voraussetzungen der Täter als Person von Fleisch und Blut für seine rechtswidrige Handlung verantwortlich gemacht werden darf. U m dies beurteilen zu können, wird geprüft, auf welche Weise der rechtswidrige Handlungswille zustande gekommen ist. Schuld bedeutet danach, daß die Maximen, von denen sich der Täter hei der Willensbildung hat leiten lassen, negativ zu bewerten sind und daß ihm die Tat deshalb persönlich zum Vorwurf gemacht werden kann, oder kurz gesagt: Schuld ist Vorwerfbarkeit der Willensbildung. Der Schuldbegriff gliedert sich je nach dem Zusammenhang, in dem er verwendet wird, in den Schuldgrundsatz, die Strafbegründungsschuld und die Strafbemessungsschuld 1. Der Schuldgrundsatz besagt, daß kriminelle Strafe nur darauf gegründet werden darf, daß dem Täter seine Tat zum Vorwurf gemacht werden kann, und daß Strafe auch nur in den Grenzen der Schuld zulässig ist (vgl. oben § 4 I). Die Strafbegründungsschuld ist der Inbegriff der Voraussetzungen, die die Vorwerfbarkeit der Tat im Hinblick auf die Existenz der Strafdrohung begründen oder ausschließen (vgl. unten § 39 IV). Die Strafbemessungsschuld ist der Inbegriff der vom Täter zu verantwortenden Umstände, die bei der Strafzumessung zu berücksichtigen sind (vgl. § 46 I 1). 15

Hierzu die überzeugende Kritik von Herdegen, NJW 1994, 2933. Riskante Geschäfte eines Vermögensverwalters sind, wenn das Einverständnis des Inhabers vorliegt, nicht nach § 266 tatbestandsmäßig. Fehlt das Einverständnis, so kann der Vermögensverwalter doch aufgrund mutmaßlicher Einwilligung gerechtfertigt sein (anders 3. Auflage S. 326); vgl. dazu Hillenkamp, NStZ 1981, 165 ff. 1 So Achenbach, Schuldlehre S. 3 ff.; Lackner t Vorbem. 22 vor § 13; Maurach/Zipf Allg. Teil I § 30 Rdn. 2; Roxin, Bockelmann-Festschrift S. 279; Schönke/Schröder/Lenckner, Vorbem. 107 vor § 13; SK (Rudolphi) Vorbem. 1 vor § 19; WK (Nowakowski) Vorbem. 49 vor §3. 16

Schrifttum z u § 37

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Unterabschnitt a): Die Grundlagen der Schuldlehre § 37 Die anthropologischen Grundlagen des Schuldbegriffs Achenbach, Historische und dogmatische Grundlagen der strafrechtssystematischen Schuldlehre, 1974; P.-A. Albrecht, Unsicherheitszonen des Schuldstrafrechts, GA 1983, 193; Ancel, La défense sociale nouvelle, 3. Auflage 1981; v. Baeyer, Die Freiheitsfrage in der forensischen Psychiatrie usw. Der Nervenarzt 28 (1957) S. 337; derselbe, Neurose, Psychotherapie und Gesetzgebung, Handbuch der Neurosenlehre und Psychotherapie, Bd. I, 1959, S. 627; Baratta, Strafrechtsdogmatik und Kriminologie, ZStW 92 (1980) S. 107; Bauer, Das Verbrechen und die Gesellschaft, 1957; derselbe, Das Strafrecht und das heutige Bild vom Menschen, in: Reinisch (Hrsg.), Die deutsche Strafrechtsreform, 1967, S. 11; derselbe, Vom kommenden Strafrecht, 1969; Baumann, Soziale Verantwortung ohne soziale Freiheit? JZ 1969, 181; Baurmann, Zweckrationalität und Strafrecht, 1987; Bacigalupo, Bemerkungen zur Schuldlehre im Strafrecht, Festschrift für H. Welzel, 1974, S. 477; Bockelmann, Vom Sinn der Strafe, Heidelberger Jahrbücher, Bd. V, 1961, S. 25; derselbe, Willensfreiheit und Zurechnungsfähigkeit, ZStW 75 (1963) S. 372; derselbe, Schuld, Schicksal und Verantwortung des Menschen, in: Wickler u.a. (Hrsg.), Freiheit und Determination, 1966, S. 91: derselbe, Zur Problematik der Sonderbehandlung von Uberzeugungsverbrechern, Festschrift für H. Welzel, 1974, S. 543; derselbe, Zur Kritik der Strafrechtskritik, Festschrift für R. Lange, 1976, S. 1; Bodenheimer, Philosophy of Responsibility, 1980; Bopp, Der Gewissenstäter usw, 1974; Burkhardt, Charaktermängel und Charakterschuld, in: Lüderssen/Sack (Hrsg.), Vom Nutzen und Nachteil der Sozialwissenschaften für das Strafrecht, Bd. I, 1980, S. 87; derselbe, Der Wille als konstruktives Prinzip der Strafrechtsdogmatik, in: Heckhausen u.a. (Hrsg.), Jenseits des Rubikon: Der Wille in den Humanwissenschaften, 1987, S. 319; v. Burski, Die Zeugen Jehovas usw. Diss. Freiburg 1970; Danner, Gibt es einen freien Willen? 4. Auflage 1977; derselbe, Gedanken zur „psychologischen Wahlfreiheit" des Menschen, MSchrKrim 1971, 48; Graf zu Dohna, Willensfreiheit und Verantwortlichkeit, 1907; derselbe, Ein unausrottbares Mißverständnis, ZStW 66 (1954) S. 505; Dreher, Der psychologische Determinismus Manfred Danners, ZStW 95 (1983) S. 340; derselbe, Die Willensfreiheit, 1987; derselbe, Unser indeterministisches Strafrecht, Festschrift für G. Spendel, 1992, S. 13; Dürig, Art. 103 I I I GG und die „Zeugen Jehovas", JZ 1967, 426; Dux, Der Täter hinter dem Tun, 1988; Ebbinghaus, Kant und das 20. Jahrhundert, Studium Generale 1954, 513; Ebert, Der Uberzeugungstäter usw, 1975; Ellscheid/Hassemer, Strafe ohne Vorwurf, Civitas, Jahrbuch für Sozialwissenschaften 9 (1970) S. 27; Engisch, Die Lehre von der Willensfreiheit in der strafrechtsphilosophischen Doktrin der Gegenwart, 2. Auflage 1965; derselbe, Über die Charakterschuld, MSchrKrim 1967, 108; derselbe, Auf der Suche nach der Gerechtigkeit, 1971; Figueiredo Dias, Schuld und Persönlichkeit, ZStW 95 (1983) S. 220; Fischer, Der Schuldbegriff im Kontext heutiger theologischer Anthropologie, in: Hertz (Hrsg.), Handbuch der christlichen Ethik, Bd. 3, 1982, S. 160; Frey, Schuld, Verantwortung, Strafe als kriminalpolitisches Problem, in: Frey (Hrsg.), Schuld, Verantwortung, Strafe, 1964, S. 297; Frister, Schuldprinzip usw, 1988; derselbe, Die Struktur des „voluntativen Schuldelements", 1993; Gehlen, Der Mensch, 6. Auflage 1958; Gimbernat Ordeig, Strafrechtssystematik auf der Grundlage der Nichtbeweisbarkeit der Willensfreiheit, Festschrift für H. Henkel, 1974, 5. 151; Gramatica, Principi di difesa sociale, 1961; Grasnick, Über Schuld, Strafe und Sprache, 1987; Griffel, Der Mensch, Wesen ohne Verantwortung? 1975; Haddenbrock, Die Unbestimmtheitsrelation von Freiheit und Unfreiheit usw. Der Nervenarzt 32 (1961) S. 145; derselbe, Personale oder soziale Schuldfähigkeit usw, MSchrKrim 1968, 145; derselbe, Freiheit und Unfreiheit der Menschen im Aspekt der forensischen Psychiatrie, JZ 1969, 121; derselbe, Strafrechtliche Handlungsfähigkeit und „Schuldfähigkeit" usw, Handbuch der forensischen Psychiatrie, Bd. II, 1972, S. 863; Haft, Der Schulddialog, 1978; Nicolai Hartmann, Ethik, 3. Auflage 1949; derselbe, Einführung in die Philosophie, 3. Auflage 1954; Hassemer, Alternativen zum Schuldprinzip? in: Baumgartner/Eser (Hrsg.), Schuld und Verantwortung, 1983, S. 89; Heinitz, Strafzumessung und Persönlichkeit, ZStW 63 (1951) S. 57; derselbe, Der Überzeugungstäter im Strafrecht, ZStW 78 (1966) S. 615; Heisenberg, Das Naturbild der modernen Physik, 1955; Heiß, Allgemeine Tiefenpsychologie, 1956; Henkel, Der Mensch im Recht, Studium Generale 1960, 229; derselbe, Die Selbstbestimmung des Menschen als rechtsphilosophisches Problem, Festschrift für K. Larenz, 1973, S. 3; Hirsch, Das Schuldprinzip und seine Funktion im Strafrecht, ZStW 106 (1994) S. 746; H F. Hoff-

406

§ 37 D i e anthropologischen Grundlagen des Schuldbegriffs

mann, Die Schichttheorie, 1935; Holzhauer, Willensfreiheit und Strafe, 1970; Hupperschwiller, Gewissen und Gewissensbildung in jugendkriminologischer Sicht, 1970; Jakobs, Das Schuldprinzip, 1993; Jareborg, Zur Reform des schwedischen Strafzumessungsrechts, ZStW 106 (1994) S. 140; Jescheck, Das Menschenbild unserer Zeit und die Strafrechtsreform, 1957; derselbe, Das Gewissen und die strafrechtliche Verantwortlichkeit, Revista juridica de Buenos Aires 1959, 24; Jung, Sanktionensysteme und Menschenrechte, 1992; Kant, Kritik der reinen Vernunft [1781], Ausgabe der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft, Bd. II, 1956; Kargl, Kritik des Schuldprinzips, 1982; Armin Kaufmann, Die Dogmatik im AE, ZStW 80 (1968) S. 34; derselbe, Strafrechtsdogmatik zwischen Sein und Wert, 1982; Arthur Kaufmann, Das Schuldprinzip, 2. Auflage 1976; derselbe, Dogmatische und kriminalpolitische Aspekte des Schuldgedankens, JZ 1967, 553; derselbe, Schuldprinzip und Verhältnismäßigkeitsgrundsatz, Festschrift für R. 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Welzel, 1974, S. 327; derselbe, Die Neugestaltung der Vorschriften über die Schuldfähigkeit usw., ZStW 88 (1976) S. 6; derselbe, Dogmatische und empirische Probleme des sozialen Schuldbegriffs, GA 1983, 337; Kunz, Prävention und gerechte Zurechnung, ZStW 98 (1986) S. 823; Lackner, Prävention und Schuldunfähigkeit, Festschrift für Th. Kleinknecht, 1985, S. 245; Lange, Die moderne Anthropologie und das Strafrecht, in: Frey (Hrsg.), Schuld, Verantwortung, Strafe, 1964, S. 277; derselbe, Ist Schuld möglich? Festschrift für P. Bockelmann, 1979, S. 261; Lenckner, Strafe, Schuld und Schuldfähigkeit, in: Göppinger/Witter, Handbuch der forensischen Psychiatrie, Bd. I, 1972, S. 3; Lersch, Aufbau der Person, 11. Auflage 1970; v. Liszt, Aufsätze und Vorträge, Bd. II, 1905, S. 25; Maiwald, Gedanken zu einem sozialen Schuldbegriff, Festschrift für K. Lackner, 1987, S. 149; Mangakis, Uber das Verhältnis von Strafrechtsschuld und Willensfreiheit, ZStW 75 (1963) S. 499; H. Mayer, Kant, Hegel und das Strafrecht, Festschrift für K. Engisch, 1969, S. 54; Mergen, Kriminologie und Strafrecht, 1966; Mezger, Uber Willensfreiheit, Sitzungsberichte der Bayer. Akademie der Wissenschaften, 1944/46, Heft 9; Müller-Dietz, Gewissensfreiheit und Strafrecht, Festschrift für K. Peters, 1974, S. 91; Nagler, Der Überzeugungsverbrecher, GS 94 (1927) S. 48; Nass, Wandlungen des Schuldbegriffs im Laufe des Rechtsdenkens, 1963; Neufelder, Schuldbegriff und Verfassung, GA 1974, 289; Noll, Der Überzeugungstäter im Strafrecht, ZStW 78 (1966) S. 638; Nowakowski, Freiheit, Schuld, Vergeltung, Festschrift für Th. Rittler, 1957, S. 55; derselbe, Probleme der Strafrechtsdogmatik, JBl 1972, 19; Otto, Über den Zusammenhang von Schuld und menschlicher Würde, G A 1981, 481; Peters, Überzeugungstäter und Gewissenstäter, Festschrift für H. Mayer, 1966, S. 257; derselbe, Bemerkungen zur Rechtsprechung der Oberlandesgerichte zur Wehrersatzdienstverweigerung aus Gewissensgründen, JZ 1966, 457; derselbe, Abschließende Bemerkungen zu den Zeugen-Jehovas-Prozessen, Festschrift für K. Engisch, 1969, S. 468; Plack, Plädoyer für die Abschaffung des Strafrechts, 1974; Portmann, Biologische Fragmente zu einer Lehre vom Menschen, 3. Auflage 1969; Radbruch, Der Überzeugungstäter, ZStW 44 (1924) S. 34; derselbe, Verhandlungen des 34. DJT, Bd. II, 1927, S. 354; Ranft, Hilfspflicht und Glaubensfreiheit usw., Festschrift für E. Schwinge, 1973, S. 111; Ricoeur, Philosophie de la volonté, Bd. I, 1949; Rothacker, Die Schichten der Persönlichkeit, 5. Auflage 1952; Roxin, Sinn und Grenzen staatlicher Strafe, JuS 1966, 377; derselbe, Kriminalpolitische Überlegungen zum Schuldprinzip, MSchrKrim 1973, 316; derselbe, „Schuld" und „Verantwortlichkeit" als strafrechtliche Systemkategorien, Festschrift für H. Henkel, 1974, S. 171; derselbe, Zur jüngsten Diskussion über Schuld usw., Festschrift für P. Bockelmann, 1979, S. 279; derselbe, Zur Problematik des Schuldstrafrechts, ZStW 96 (1984) S. 641; derselbe, Was bleibt von der Schuld im Strafrecht übrig? SchwZStr 104 (1987) S. 356; Rudolphi, Unrechtsbewußtsein, Verbotsirrtum und Vermeidbarkeit des Verbotsirrtums, 1969; Schefßer, Grundlegung eines kriminologisch orientierten Strafrechtssystems, 1987; Schreiber, Was heißt heute strafrechtliche Schuld usw., Der Nervenarzt 48 (1977) S. 242; Schüller, Gewissen und Schuld, in: Fuchs (Hrsg.), Das Gewissen, 1979, S. 34; Schünemann, Die Funktion des Schuldprinzips im Präventionsstrafrecht, in: Schünemann (Hrsg.), Grundfragen des modernen Strafrechtssystems, 1984, S. 153; derselbe, Entwicklung der Schuldlehre in Deutschland, in: Hirsch/Weigend (Hrsg.), Straf recht und

I. Schuldgrundsatz u n d Willensfreiheit

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Kriminalpolitik in Japan und Deutschland, 1989, S. 148; derselbe, Die Kriminalpolitik und das Strafrechtssystem, in: Lahti/Nuotio (Hrsg.), Strafrechtstheorie im Umbruch, 1992, S. 157; Seelmann, Neue Entwicklungen usw, Jura 1980, 505; Sproß, Die Unrechts- und Strafbegründung bei dem Überzeugungs- und Gewissenstäter, 1990; Stratenwerth, Tatschuld und Strafzumessung, 1972; derselbe, Literaturbericht, ZStW 85 (1973) S. 469; derselbe, Willensfreiheit - eine staatsnotwendige Fiktion? SchwZStr 101 (1984) S. 225; Streng, Schuld, Vergeltung, Generalprävention, ZStW 92 (1980) S. 637; Thiemeyer, Grundlagenprobleme des normativen Schuldbegriffs, G A 1986, 203; Thomae y Bewußtsein, Persönlichkeit und Schuld, MSchrKrim 1961, 114; Thomae/Schmidt, Psychologische Aspekte der Schuldfähigkeit, Handbuch der Psychologie, Bd. 11, 1967, S. 326; Tiedemann, Zur legislatorischen Behandlung des Verbotsirrtums usw, ZStW 81 (1969) S. 869; Tiemeyer, Zur Möglichkeit eines erfahrungswissenschaftlich gesicherten Schuldbegriffs, ZStW 100 (1988) S. 527; derselbe, Der „relative Indeterminismus" und seine Bedeutung für das Strafrecht, ZStW 105 (1993) S. 483; Welzel, Vom irrenden Gewissen, 1949; derselbe, Gesetz und Gewissen, DJT-Festschrift, 1960, S. 383; derselbe, Naturrecht und materiale Gerechtigkeit, 4. Auflage 1962; derselbe, Vom Bleibenden und vom Vergänglichen in der Strafrechtswissenschaft, Erinnerungsgabe für M. Grünhut, 1965, S. 173; derselbe, Die Frage nach der Rechtsgeltung, 1966; derselbe, Gedanken zur „Willensfreiheit", Festschrift für K. Engisch, 1969, S. 91; A Wenzl, Philosophie der Freiheit, 1947; Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, 2. Auflage 1967; Witter, Die Grundlagen für die Beurteilung der Schuldfähigkeit im Strafrecht, in: Witter (Hrsg.), Der psychiatrische Sachverständige im Strafrecht, 1987, S. 37; E. Wolf, Verbrechen aus Uberzeugung, 1927; Würtenberger, Jurisprudenz und philosophische Anthropologie, Freiburger Dies Universitatis, Bd. 7, 1958/59, S. 85; derselbe, Vom rechtschaffenen Gewissen, Festschrift für E. Wolf, 1962, S. 337; Zipf, Der strafrechtliche Schuldbegriff, JBl 1980, 186.

I. Schuldgrundsatz und Willensfreiheit 1. Der Schuldgrundsatz wird in Deutschland als maßgebende subjektive Voraussetzung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit angesehen (vgl. oben § 4 I 2) 1 : kriminelle Strafe darf nur auf die Feststellung gegründet werden, daß dem Täter aus der zum Tatentschluß führenden Willensbildung ein Vorwurf gemacht werden kann, und sie darf auch niemals schwerer sein, als es der Täter nach seiner Schuld verdient hat 2 . Der Schuldgrundsatz hat die Entscheidungsfreiheit des Menschen 1 Nach Arthur Kaufmann, Schuldprinzip S. 115 ist das Schuldprinzip „als die eigentliche und tiefste Rechtfertigung des Strafrechts absoluter Natur"; nach BVerfGE 20, 323 (331) hat der Grundsatz nulla poena sine culpa „den Rang eines Verfassungsrechtssatzes". Vgl. ferner BVerfGE 9, 167 (169); 23, 127 (132f.); 50, 125 (133); 50, 205 (214); B G H 2, 194 (200). Der Verfassungsrang des Schuldgrundsatzes beruht auf der Menschenwürde (Art. 1 GG) und dem Rechtsstaatsprinzip (Art. 28 I 1 GG). Über den Zusammenhang von Schuldgrundsatz und Menschenwürde Otto, G A 1981, 486 ff.; von Schuldgrundsatz und Grundrechten allgemein Frister, Schuldprinzip S. 37 f. Gegner des Schuldgrundsatzes sind Baurmann, Zweckrationalität S. 253 ff. („Schuld als Kriterium für Verhältnismäßigkeit"); Neufelder, GA 1974, 307 (Schuld als „subjektive Zurechenbarkeit"); Kargl, Kritik S. 246 (Schuld als Fiktion zum Nachteil des Beschuldigten); Schefflet, Grundlegung S. 138 (statt Schuld objektives Verantwortlich-Sein mit Verhältnismäßigkeitsgrundsatz); Dux, Der Täter S. 57 (Schuld „gehört einer vergangenen Welt an"). Jakobs, Allg. Teil 17/22 ff. läßt den Schuldbegriff in der positiven Generalprävention aufgehen; dagegen zu Recht Roxin, SchwZStr 104 (1987) S. 364 ff. Die Definition von Jakobs, Schuldgrundsatz S. 35: „Materielle Schuld ist die Rechtsuntreue gegenüber legitimen Normen" sieht von einer individuellen Vorwerfbarkeit der Tat ganz ab. Roxin, Allg. Teil I § 19 Rdn. 3 ff. verbindet Schuld und präventive Bestrafungsnotwendigkeit zu der neuen Deliktskategorie der „Verantwortlichkeit". Dagegen LK il (Jescheck) Vorbem. 72 vor § 13 m.Nachw.; LK n (Hirsch) Vorbem. 182b vor § 32. 2 Das Schuldprinzip ist Verfassungsrechtssatz nicht nur in seiner die Strafe begrenzenden, sondern auch in seiner sie begründenden Funktion; anders Roxin, JuS 1966, 384; derselbe, MSchrKrim 1973, 319ff.; derselbe, Bockelmann-Festschrift S. 297; derselbe, SchwZStr 104 (1987) S. 372; Schünemann, Die Funktion des Schuldprinzips S. 189; SK (Rudolphi) Vorbem. 1 vor § 19; §§ 2 II, 59 AE. Wie der Text die h.L.; vgl. insbes. Arthur Kaufmann,

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§ 37 D i e anthropologischen Grundlagen des Schuldbegriffs

zur logischen Voraussetzung, denn nur w e n n grundsätzlich die Fähigkeit besteht, sich v o n Rechtsnormen bestimmen zu lassen, kann der Täter dafür verantwortlich gemacht werden, daß er es zu der rechtswidrigen Tat hat k o m m e n lassen, anstatt die kriminellen Antriebe zu beherrschen. W e n n alles T u n u n d Lassen nach A r t naturhafter Vorgänge durch das kausale W i r k e n objektiver, dem Einfluß des Willens entzogener Kräfte abschließend bestimmt wäre, hätte es ebensowenig einen Sinn, dem M e n schen seine Taten vorzuwerfen, wie es einen Sinn hat, i h n für seine Krankheiten verantwortlich zu machen. Aber auch wenn alle menschlichen Handlungen zwar nicht naturhaft, aber doch psychologisch durch die Eigenart des Charakters, das Ubergew i c h t der gerade vorhandenen M o t i v e u n d die Reize der Außenwelt unausweichlich festgelegt wären, könnte die Strafe nicht als sozialethisches U n w e r t u r t e i l verstanden werden, sondern müßte einen neutralen Sinn bekommen. Die konsequenten Gegner der Willensfreiheit haben deshalb im Anschluß an Franz v. Liszt und seine Lehre, wonach der folgerichtige Determinismus „notwendig zur völligen uneingeschränkten Verwerfung der Vergeltungsstrafe, zur ausschließlichen und rückhaltlosen Anerkennung der Zweckstrafe" führen muß 3 , allein ein Strafrecht für begründbar gehalten, das auf das Schuldprinzip im sozialethischen Sinne verzichtet und die Schuld nur noch formal als die Summe der subjektiven Zurechnungsmerkmale der Tat versteht 4. 2. E i n am Schuldprinzip orientiertes Strafrecht muß sich dagegen m i t der Problematik der Willensfreiheit auseinandersetzen 5 . A u f den Streit u m die WillensfreiJZ 1966, 555; derselbe, Jura 1986, 230; derselbe, Wassermann-Festschrift S. 890; Lenckner, Strafe, Schuld und Schuldfähigkeit S. 18; Hirsch, ZStW 106 (1994) S. 755, 764f.; LK U (Hirsch) Vorbem. 182 vor § 32; Kühl, Allg. Teil § 10 Rdn. 2 ff.; Maurach/Zipf, Allg. Teil I Vorbem. 109 vor § 30 Rdn. 49; LK U (Jähnke) § 20 Rdn. 10; Schönke/Schröder/Lenckner, § 13; Stratenwerth, ZStW 85 (1973) S. 490; Wessels, Allg. Teil Rdn. 398. 3 v. Liszt, Aufsätze Bd. I I S. 52. 4 Vgl. z.B. Bauer, Das Verbrechen S. 17ff.; derselbe, Das heutige Bild S. 16ff.; derselbe, Vom kommenden Strafrecht S. 59ff.; Baratta, ZStW 92 (1980) S. 140ff.; Danner, Gibt es einen freien Willen? S. 190ff.; derselbe, MSchrKrim 1971, 53ff. (mit klarer Gegenüberstellung der Konsequenzen); Gramatica, Principi S. 41 ff. (im Anschluß an das „Progetto preliminare" Ferris von 1921); Kargl, Kritik des Schuldprinzips S. 252 ff.; Ellscheid/Hassemer, Civitas 9 (1970) S. 27; Plack, Plädoyer für die Abschaffung des Strafrechts, 1974; Streng, ZStW 92 (1980) S. 656f.; Klug, Die zentrale Bedeutung des Schutzgedankens S. 108ff.; Mergen, Kriminologie und Strafrecht S. 17. Anders die heutige „Soziale Verteidigung"; vgl. Marc Ancel, Defense sociale nouvelle S. 187: „Par là qu'on le veuille ou non, c'est l'idée ou plutôt le sentiment de la faute qui se trouve réintroduit dans le droit pénal". Vgl. dazu auch Hilde Kaufmann, JZ 1962, 195 f.; Lange, Die moderne Anthropologie S. 281 ff.; derselbe, Bockelmann-Festschrift S. 270; Bockelmann, Lange-Festschrift S. 1 ff. Auch in Skandinavien verliert die rein utilitaristische Begründung der Strafe an Boden; vgl. Agge/Thornstedt, Das schwedische Strafrecht S. 260; Jareborg, ZStW 106 (1994) S. 148 ff. (gegen die Kritik von Jung, Sanktionssysteme S. 211 f.). Gegen Danner eingehend Dreher, ZStW 95 (1983) S. 340ff. 5 Auch Mezger hat seine im Lehrbuch S. 251 aufgestellte These, daß die strafrechtliche Schuld als „juristische Schuld" vom Streit um die Willensfreiheit unabhängig sei, später nicht mehr vertreten. Dagegen stellt H. Mayer, Grundriß S. 105 seine Lehre von der subjektiven Zurechnung unabhängig von der Frage der Willensfreiheit auf das Faktum der „Willensherrschaft" ab. Für Roxin, ZStW 96 (1984) S. 653 kommt es nur darauf an, ob „der Täter zur Zeit der Tatbegehung grundsätzlich normativ ansprechbar war"; im Allg. Teil I § 19 Rdn. 35 stellt er darauf ab, daß der Täter „die Fähigkeit hat, sich normgemäß zu verhalten" bzw. „daß eine rechtmäßige Verhaltensalternative ihm psychisch zugänglich war" (Rdn. 3). Gimbernat Ordeig, Henkel-Festschrift S. 166 begnügt sich mit der Feststellung, die Strafe habe „keine metaphysische Vergeltungs- oder Sühnefunktion". Gegen Gimbernat Bacigalupo, Welzel-Festschrift S. 481 ff. Haddenbrock, MSchrKrim 1968, 151 und JZ 1969, 121 ff. gründet seinen Schuldbegriff nicht auf die Willensfreiheit, sondern auf die Verantwortungsfähigkeit des Menschen. Wie der Text Schultz, Einführung I S. 178 f.; Armin Kaufmann, Strafrechtsdogmatik S. 271 ff.; LK n (Jähnke) § 20 Rdn. lOff.

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heit kann hier aber nur insoweit eingegangen werden, als dabei die Begründung der Strafrechtsschuld in Frage steht6. a) Nur von wenigen wurde in neuerer Zeit noch das klassische Dogma vom voraussetzungslosen Indeterminismus vertreten, wonach der Mensch jederzeit sowohl der Stimme des Gewissens als auch der Stimme der Versuchung folgen könne und Verdienst und Schuld sich demgemäß nach seiner freien Entscheidung bestimmten 7 . Dieser Auffassung stand einmal auch der B G H nahe, als er ausführte: „Mit dem Unwerturteil der Schuld wird dem Täter vorgeworfen, daß er sich für das Unrecht entschieden hat, obwohl er sich für das Recht hätte entscheiden können" (BGH 2, 194 [200]). In ähnlicher Weise sagt die Begründung zum Ε 1962: „Die Vorwerfbarkeit erfordert, daß der Täter zur Tatzeit fähig war, die bestimmte tatverwirklichende Willensbildung zu vermeiden" (S. 137). Dem Einwand, daß die Annahme der Freiheit eine wissenschaftlich nicht haltbare Durchbrechung des Kausalprinzips darstelle, wird von dieser Seite die These entgegengesetzt, daß selbst für die Naturwissenschaft das Gesetz der Kausalität nicht durchweg gelte, sondern ein „Spielraum der Freiheit" anzunehmen sei8. In der philosophischen Anthropologie wird deshalb teilweise der Standpunkt vertreten, daß im Bereich der moralischen und rechtlichen Verantwortung eine besondere Determinationsform, nämlich die durch das Sittengesetz gelte, von dem sich der Mensch zwar bestimmen lassen soll, dem gegenüber er aber auch seine Freiheit bewahrt 9 . In diesem Sinne wird neben der auf die Natur bezogenen Denkform der Kausalität eine auf die Psyche bezogene Denkform der „Spontaneität" angenommen, in der gerade das Schöpferische, Autonome und Geistbezogene der menschlichen Persönlichkeit Ausdruck finden soll 1 0 . Von der h.L. wird dagegen die Begründung des Schuldvorwurfs durch die Freiheit des Menschen als individueller Person für unbeweisbar gehalten11. Man nimmt statt dessen an, daß nur ein sozialvergleichendes Schuld6 Eine Darstellung der wechselvollen Geschichte dieses Problems im 19. Jahrhundert gibt Holzhauer, Willensfreiheit und Strafe, 1970. 7 So Wegner, Strafrecht S. 79. 8 Vgl. A. Wenzl, Philosophie der Freiheit S. 30. Dazu Heisenberg, Naturbild S. 26 f f , der allerdings die bloß statistischen Gesetzmäßigkeiten damit deutet, „daß man das betreffende physikalische System nur unvollständig kennt". 9 Nicolai Hartmann, Ethik S. 594, 628 und 635; derselbe, Einführung in die Philosophie S. 179ff.; H. Mayer, Lehrbuch S. 230f.; Würtenberger, Freiburger Dies Universitatis 1958/59 S. 94; Arthur Kaufmann, Schuldprinzip S. 280f.; Griffel, Der Mensch S. 192 ff. Zum Standpunkt der christlichen Ethik Fischer, Schuldbegriff S. 166: „Freiheit und Verantwortung konstituieren das Person-Sein des Menschen". Diese Lehre hat eine Vertiefung durch Dreher, Willensfreiheit S. 379ff. erfahren, der auf das Freiheitsbewußtsein als die dem Menschen allein zugängliche Wirklichkeit abstellt. Gegen ihn Tiemeyer, ZStW 100 (1988) S. 546; dazu Replik von Dreher, Spendel-Festschrift S. 13 ff. und dagegen erneut Tiemeyer, ZStW 105 (1993) S. 500 ff. 10 Vgl. Mezger, Willensfreiheit S. 13; Welzel, Lehrbuch S. 142ff.; Mangakis, ZStW 75 (1963) S. 523; W. Keller, Willensfreiheit S. 576; Arthur Kaufmann, Schuldprinzip S. 118, 130. Grundsätzlich ebenso Baumann/Weber, Allg. Teil S. 366; Baumann, JZ 1969, 182; Maurach/Zipf, Allg. Teil I § 36 Rdn. 12; Wessels, Allg. Teil Rdn. 401; Rudolphi, Unrechtsbewußtsein S. 12 ff. Zur empirischen Feststellbarkeit des „Andershandelnkönnens" v. Baeyer, Der Nervenarzt 28 (1957) S. 337. 11 Vgl. Bockelmann/Volk, Allg. Teil S. 109; Blei, Allg. Teil S. 178f.; Hassemer, Einführung S. 228 ff.; Henkel, Larenz-Festschrift S. 24; Haddenbrock, JZ 1969, 121 ff.; derselbe, Strafrechtliche Handlungsfähigkeit und „Schuldfähigkeit" S. 893 ff.; LK n (Jähnke) §20 Rdn. 8; Lenckner, Strafe, Schuld und Schuldfähigkeit S. 98; Roxin, Henkel-Festschrift S. 175; derselbe, ZStW 96 (1984) S. 643; Stratenwerth, Allg. Teil I Rdn. 513; Schmidhäuser, Allg. Teil S. 154. Vgl. auch Welzel, Engisch-Festschrift S. 101.

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urteil möglich sei, bei dem danach gefragt wird, ob „man" (ein „Durchschnittsmensch", eine „maßgerechte Persönlichkeit") anstelle des Täters in der Lage gewesen wäre, anders zu handeln 12 . Eine dritte Meinung gründet die Schuld nicht auf die zur Tat führende Willensbildung im Einzelfall, sondern auf die Charakteranlagen des Täters. Ihm wird zum Vorwurf gemacht, daß er sich im Laufe seines Lebens nicht diejenige Willenskraft und sittliche Vernunft erworben hat, die notwendig gewesen wären, um den Antrieben zur rechtswidrigen Tat zu widerstehen 13 . b) Angesichts der Ungeklärtheit dieser Fragen läßt sich zur Begründung der Strafrechtsschuld mit ausreichender Gewißheit nur folgendes sagen 4 : Die seelischen Vorgänge, die der Willensbildung zugrunde liegen, folgen nicht einfach den Regeln der Natur wie der Blutdruck, die Atmung oder die Verdauung, sondern richten sich nach eigenen Determinationsgesetzen. Die Bestimmbarkeit des Handelns beruht auf der Fähigkeit des Menschen, die auf ihn einwirkenden Antriebe zu kontrollieren und seine Entscheidung nach Sinngehalten, Werten und Normen auszurichten. Der Mensch ist gerade dadurch vor allen Lebewesen ausgezeichnet, daß sein Verhalten einer durch ihn selbst vorgenommenen Sinngebung zu folgen vermag, während das Tier stets in den Mechanismus seiner Instinktwelt eingeschlossen bleibt. Insofern gilt für den Menschen als Gattung unzweifelhaft der Ausspruch des Thomas von Aquino: „Differt autem in agendo natura rationalis praedita libero arbitrio ob omni alia natura" (De Veritate, quaestio 24, art. 7, corpus articuli). Zweierlei ist dabei aber unbekannt und wird der Forschung möglicherweise immer verborgen bleiben, da sich die Freiheit als Teil der transzendenten Welt der empirischen Feststellbarkeit entzieht 15 . Einmal ist unbekannt, ob der Schluß von der Freiheit des Menschen als Gattung auf die Freiheit des einzelnen in der konkreten Situation seiner Tat gezogen werden darf, denn die Bedingungen der Entschlußfassung können infolge der ständigen Veränderungen, die in der Seele des Menschen vorgehen, im Experiment nicht mehr vollständig dargestellt werden, selbst wenn man sie sämtlich analysieren könnte. Zum anderen wissen wir nicht, auf welche Weise es der Mensch vollbringt, den auf ihn 12 So Nowakowski, Rittler-Festschrift S. 71; Graf zu Dohna, Willensfreiheit S. 17; derselbe, ZStW 66 (1954) S. 508; Blei, Allg. Teil S. 178f.; Bockelmann/Volk, Allg. Teil S. llOf.; 10 LK (Lange) §21 Rdn. 6; Haft, Allg. Teil S. 119f.; Stratenwerth, SchwZStr 101 (1984) S. 234; Schönke/Schröder/Lenckner, Vorbem. 110 vor § 13; Schreiber, Der Nervenarzt 1977, 245; Arthur Kaufmann, JZ 1967, 560; derselbe, Schuldprinzip S. 282; Krümpelmann, ZStW 88 (1976) S. 12; SK (Rudolphi) Vorbem. 1 vor § 19; § 20 Rdn. 25. Vgl. auch B G H GA 1962, 116. 13 So Engisch, Willensfreiheit S. 65; derselbe, MSchrKrim 1967, llOff.; Heinitz, ZStW 63 (1951) S. 76. Ähnlich Figueiredo Dias, ZStW 95 (1983) S. 242: „Einstehenmüssen für die Persönlichkeit". Eingehend zur Charakterschuld Burkhardt, Charaktermängel S. 103ff. 14 Vgl. Jescheck, Das Menschenbild S. 20 ff. Zustimmend zum Text im wesentlichen Nowakowski, JBl 1972, 29; Arthur Kaufmann, Jura 1986, 225 ff.; Burkhardt, Der Wille S. 337; Krümpelmann, GA 1983, 337ff.; Otto, GA 1981, 486ff.; Lackner, Kleinknecht-Festschrift S. 265; Roxin, Allg. Teil I § 19 Rdn. 34 f. (Fähigkeit zu normgemäßem Verhalten als „erfahrungswissenschaftlicher Befund"); AK (Schild) Vorbem. 53 ff. vor § 13; Schönke/Schröder/ Lenckner, Vorbem. 110 vor § 13; Wessels, Allg. Teil Rdn. 397; Stratenwerth, Allg. Teil I Rdn. 513; Maiwald, Lackner-Festschrift S. 164; Tiemeyer, GA 1986, 226f.; Zipf JBl 1980, 194. Zur Neubegründung der Freiheitslehre vgl. v. Baeyer, Neurose, Psychotherapie S. 633 ff.; W. Keller, Willensfreiheit S. 541 ff.; Portmann, Biologische Fragmente S. 81 ff.; Ricoeur, Philosophie de la volonté S. 64ff.; Dreher, Willensfreiheit S. 379ff. 15 Über die Unbeweisbarkeit der individuellen Freiheit vgl. die oben Fußnote 11 zitierten Autoren, ferner Nowakowski, Rittler-Festschrift S. 58; Haddenbrock, Der Nervenarzt 32 (1961) S. 148, 227f.; Engisch, Willensfreiheit S. 23 ff.

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eindringenden kriminellen Antrieben zu widerstehen und den Normen der Rechtsordnung Folge zu leisten. Mit anderen Worten ist weder die Existenz noch die Art des Wirkens einer spezifisch menschlichen „Spontaneität" für den individuellen Entscheidungsakt eindeutig zu beweisen. In der Mehrzahl der Fälle vorbedachten Handelns liegt die Freiheit der Entschließung zur Tat nach allen Umständen auf der Hand. Es gibt jedoch auch Fälle, in denen es so sein kann, daß die konkrete Straftat nur das Ergebnis des gerade vorhandenen Stärkeverhältnisses der seelischen Antriebe ist und dem Täter in der Einmaligkeit der Situation einfach die Kräfte gefehlt haben, um sich nach den Normen der Rechtsordnung zu bestimmen, was besonders bei Affekttaten der Fall sein mag, bei denen der Motivsturm geradezu eine Bewußtseinsstörung im Sinne des § 20 herbeiführen kann, wie die forensische Psychiatrie vielfach gezeigt hat. Deswegen läßt sich der Schuldvorwurf gegen den einzelnen nur folgendermaßen formulieren: der Täter hätte in der Situation, in der er sich befand, in dem Sinne anders handeln können, als nach unserer Erfahrung mit gleichliegenden Fällen ein anderer an seiner Stelle bei Anspannung der Willenskraft, die dem Täter möglicherweise gefehlt hat, unter den konkreten Umständen anders gehandelt hätte 16 . Die Frage jedoch, ob der Täter die erforderliche Willenskraft hätte aufbringen können und auf welche Weise sich diese im seelischen Kräfteverhältnis durchgesetzt hätte, wenn sie angewendet worden wäre, muß unbeantwortet bleiben 17 . Die Verschiebung des Problems auf die Handlungserwartung in bezug auf „einen anderen" besagt sachlich zweierlei: einmal können beim erwachsenen Menschen nur außergewöhnliche Umstände, die in der Person des Täters oder in der Tatsituation liegen, den Schuldvorwurf ausschließen18, zum anderen wird bei jedermann vorausgesetzt, daß er sich die zum Bestehen der Tatversuchung erforderliche Willenskraft erwerben konnte. Beide Voraussetzungen beruhen nicht auf empirischen Erhebungen über die Willensbildung des Täters im Einzelfall, sondern stellen normative Anforderungen der Rechtsordnung an den Täter dar, den sie als verantwortlichen Rechtsgenossen, nicht aber als Unmündigen oder Kranken behandelt. Der Täter wird bei intakter Steuerungsfähigkeit „als frei behandelt" 19 . Das Strafrecht gründet sich auf die Entscheidung des Gesetzgebers, daß diese Art der subjektiven Zurechnung in einer auf Freiheit aufgebauten Rechtsordnung sowohl notwendig als auch berechtigt ist.

16 Engisch, Willensfreiheit S. 26; Graf zu Dohna, ZStW 66 (1954) S. 508; Mangakis, ZStW 75 (1963) S. 517; Lenckner, Strafe, Schuld und Schuldfähigkeit S. 19 und die oben Fußnote 12 zitierten Autoren. In diesem Sinne stellt Witter, Beurteilung der Schuldfähigkeit im Strafrecht S. 51 darauf ab, ob und inwieweit - nach dem „typisierenden Vergleich" - „dem Täter noch ein Andershandeln zugemutet werden konnte". 17 Diese Ansicht zwingt Gesetzgeber und Richter jedoch keineswegs etwa im Sinne eines „in dubio pro reo" dazu, die Konsequenzen des Determinismus zu übernehmen, denn diese sind für den Täter keineswegs günstiger, sondern „genau so schlimm, wenn nicht in manchen Fällen schlimmer", wie Haddenbrock, JZ 1969, 124 aus psychiatrischer Erfahrung gezeigt hat. Mehr als die Fähigkeit zu normgemäßem Verhalten im Sinne von Roxin, Allg. Teil I § 19 Rdn. 35 und das Fehlen von Umständen, die einen Täter erfahrungsgemäß daran hindern, von dieser Fähigkeit im konkreten Fall Gebrauch zu machen, ist für den Schuldvorwurf nicht zu verlangen. 18 Wie Krümpelmann, GA 1983, 384 zu Recht sagt, „überspringt" der Schuldbegriff alle „Erschwernisse und Unklarheiten des Motivationsspielraums" beim einzelnen Täter. Bei der Strafzumessungsschuld versucht man freilich nach Möglichkeit, diese zu erfassen und ihr Gewicht nach den Erkenntnissen der Psychiatrie und Psychologie zu bewerten. 19 So zu Recht Roxin, Allg. Teil I § 19 Rdn. 35. Es wäre auch kriminalpädagogisch verfehlt, wenn man den Täter glauben machen wollte, er sei zum Verbrechen determiniert.

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3. Einer w eiterreich enden Erkenntnis bedarf es für den strafrechtlichen Schuldvorwurf nicht 20. Das Zusammenleben der Menschen hängt davon ab, daß das Dasein in der Welt auf einen transzendenten Sinngehalt bezogen wird, wie dieser im einzelnen auch immer begründet werden mag; auf die bloße Tatsache der Existenz von Lebewesen läßt sich eine menschenwürdige Ordnung jedenfalls nicht gründen 21 . Das Recht muß deshalb von den Mitgliedern der Gesellschaft verlangen, daß sie sich von den ihre soziale Existenz tragenden Verhaltensnormen auch bestimmen lassen. Die rein ethische Forderung nach Rechtsgehorsam würde aber zur Erhaltung der Gemeinschaftsordnung nicht ausreichen. Jedermann muß vielmehr für sein Handeln durch Sanktionen verantwortlich gemacht werden können, die an die generelle Erfahrung der Selbstbestimmbarkeit anknüpfen. Der Gedanke der Verantwortlichkeit des erwachsenen und seelisch durchschnittlich gesunden Täters ist eine unbezweifelbare Realität unseres sozialen und moralischen Bewußtseins 22 . Jeder geht von der Gewißheit der Freiheit als Voraussetzung des eigenen Handelns aus und erwartet ein freies Handeln auch von jedem anderen Menschen. Ebenso gilt auch die Verantwortlichkeit eines jeden Menschen in der Gemeinschaft für jeden anderen Menschen als selbstverständlich. Es wäre eine schlechte Kriminalpolitik, wenn das Strafrecht dieser fundamentalen sozialpsychologischen Tatsache nicht Rechnung tragen und statt dessen das Menschenbild des konsequenten Determinismus zugrunde legen wollte, dessen Voraussetzungen ebensowenig exakt bewiesen werden können wie die der Freiheit 23 . 4. Das menschliche Handeln, dessen Freiheit das Schuldprinzip voraussetzt, wird freilich auch im Idealfall nicht nur von den Anforderungen der jeweils einschlägigen Norm bestimmt. Der Spielraum der Möglichkeiten, über die der Mensch im Augenblick der Entscheidung verfügt, ist vielmehr durch zahlreiche echte Kausalfaktoren eingeengt wie Lebensalter, Geschlecht, Herkunft, Erlebnisse, Krankheit, Temperament, Stimmung, Ermüdung, Erregung, Affekte bis hin zur Volksmentali20 So zu Recht Bockelmann, ZStW 75 (1963) S. 388; derselbe, Vom Sinn der Strafe S. 37f.; Ebbinghaus, Studium Generale 1954, 520. Auch nach Dreher, Willensfreiheit S. 383 „bedarf die Willensfreiheit keines Beweises, weil mit unserem Freiheitserlebnis die Vorstellung ihrer Existenz uns innewohnt". 21 Vgl. Welzel, Grünhut-Erinnerungsgabe S. 183 ff.; Henkel, Rechtsphilosophie S. 257ff.; Wieacker, Privatrechtsgeschichte S. 603 ff.; Frey, Schuld, Verantwortung, Strafe S. 320; Bodenheimer, Responsibility S. 49. 22 Es handelt sich also nicht, wie Kohlrausch, Güterbock-Festgabe S. 26 annahm, nur um eine „staatsnotwendige Fiktion". Vgl. auch Haddenbrock, MSchrKrim 1968, 151 ff. und JZ 1969, 126f.; Lersch, Aufbau der Person S. 493; Kaiser, Kriminologie § 20 Rdn. 18 f.; LK n (Jähnke) § 20 Rdn. 12; Frister, Struktur S. 87 (Verantwortlichkeit nur, wenn die Tat „moralisch zuzurechnen ist"); Lenckner, Strafe, Schuld und Schuldfähigkeit S. 20, 97; Roxin, ZStW 96 (1984) S. 651; Naucke, Einführung S. 239 („Schuldig-sein-können" als „selbstverständliches Organisationsprinzip für zwischenmenschliches Verhalten"); Grasnick, Über Schuld S. 55 (Schuld ist „gesellschaftliche Wirklichkeit"); Hirsch, ZStW 106 (1994) S. 763 (Schuld als „allgemein akzeptierte Grundlage menschlichen Selbstverständnisses"). Im Hinblick auf die gesellschaftliche Realität der Willensfreiheit stützt Schünemann, Funktion des Schuldprinzips S. 163 ff.; derselbe, Kriminalpolitik und das Strafrechtssystem S. 170ff.; derselbe, Die Entwicklung der Schuldlehre S. 149 ff. den Schuldvorwurf unmittelbar auf die von ihm vorausgesetzte Fähigkeit zum Andershandeln in der Tatsituation, will aber gleichwohl als Zweck und Legitimation der Strafe allein die Prävention gelten lassen. 23 Der Schuldgrundsatz kann als materielle Kategorie auch nicht, wie Ellscheid/Hassemer, Civitas 9 (1970) S. 27ff. sowie Hassemer, Alternativen S. 104ff. vorschlagen, durch das rein formale Prinzip der „Verhältnismäßigkeit" ersetzt werden, das für die Maßregeln gilt (§ 62); dagegen Arthur Kaufmann, Lange-Festschrift S. 27 ff. Vgl. auch Seelmann, Jura 1980, S. 509 ff.

II. Das Gewissen als Quelle des Rechts-und Unrechtsbewußtseins

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tät und den Einflüssen der Landschaft und des Wetters. Ein gerichtliches Urteil, das bis ins letzte alle auf die Willensbildung des Täters einwirkenden Momente zu berücksichtigen vermöchte, ist undenkbar 24 . Die Unmöglichkeit absoluter Gerechtigkeit spricht jedoch nicht gegen die Möglichkeit und den Wert relativer Gerechtigkeit, zu deren Verwirklichung das Schuldprinzip weitaus am besten geeignet ist, weil alle Menschen diesen Maßstab selbst anwenden und verstehen. Praktisch kann überhaupt nur das Schuldprinzip die Grundlage der Kriminalpolitik bilden, weil Strafen, die nicht als verdient empfunden werden, weder auf den Verurteilten noch auf die Gemeinschaft eine positive Wirkung ausüben. Nur der Schuldgrundsatz läßt sich ferner in der Praxis der Gerichte als Strafzumessungsprinzip durchführen, indem er das richterliche Urteil grundsätzlich auf die begangene Tat beschränkt und nicht mit der gesamten Lebensgeschichte des Angeklagten konfrontiert 25 . Die Generalprävention kann den Schuldgrundsatz schon deswegen nicht ersetzen, weil sie kein Maßprinzip enthält (vgl. zu den Lehren von Achenbach und Jakobs oben § 22 V I 4). Endlich ist auch eine Resozialisierung des Verurteilten im Strafvollzug nur dann zu erhoffen, wenn er kriminelle Schuld als zu verantwortende Gewissenslast verstehen gelernt hat und sich ernstlich vornimmt, sie in Zukunft zu vermeiden 26 . II. Das Gewissen als Quelle des Rechts- und Unrechtsbewußtseins 1. Der Schuldgrundsatz setzt nicht nur voraus, daß der Mensch sich frei, sondern auch, daß er sich richtig entscheiden kann. Neben der Freiheit zum Wollen muß die Fähigkeit zum Werten stehen. Die letztere ist sogar das eigentlich Primäre, denn anders könnten die Entschlüsse des Menschen nicht von Sollensnormen bestimmt werden. Das Medium, mit dessen Hilfe Wertbegriffe aufgenommen und eigene Handlungen im voraus beurteilt werden, ist das Gewissen27. Rational ist es ebensowenig zu erklären wie die Freiheit 28 , es wird aber ebenso wie diese von jedermann als selbstverständlich vorausgesetzt. Das Gewissen ist eine a priori im Menschen befindliche Kraft, es entwickelt sich schon seit dem frühesten Kindesalter über mehrere Stufen 29 und führt bei der ausgereiften Persönlichkeit zu jenem natürlichen Rechtsbewußtsein, das den Menschen befähigt, in der Regel ohne tieferes Nachdenken das Unrecht zu vermeiden (vgl. unten § 37 I I I 2) 3 0 . Die Entscheidungen der Gewissensinstanz sind wie die eines unbestechlichen Richters meist 24 Kant, Kritik der reinen Vernunft S. 501 Fußnote: „Die eigentliche Moralität der Handlungen (Verdienst und Schuld) bleibt uns daher, selbst die unseres eigenen Verhaltens, gänzlich verborgen. Unsere Zurechnungen können nur auf den empirischen Charakter bezogen werden. Wie viel aber davon reine Wirkung der Freiheit, wie viel der bloßen Natur und dem unverschuldeten Fehler des Temperaments, oder dessen glücklicher Beschaffenheit (merito fortunae) zuzuschreiben sei, kann niemand ergründen, und daher auch nicht nach völliger Gerechtigkeit richten." 25 In dieser Richtung treffend Stratenwerth, Tatschuld S. 31. 26 Zur Möglichkeit eines „Schulddialogs", der vor allem im Strafvollzug hilfreich wäre, Haft, Der Schulddialog S. 24ff, 95 und Kunz, ZStW 98 (1986) S. 833. 27 Vgl. Wieacker, Privatrechtsgeschichte S. 610ff.; Henkel, Rechtsphilosophie S. 331; Welzel, Naturrecht S. 238; derselbe, Die Frage nach der Rechtsgeltung S. 29 ff.; H upper schwiller, Gewissen S. 41 ff. Aus der Sicht der Moraltheologie Schüller, Gewissen und Schuld S. 49: „Bestimmung dessen, was sittlich richtig und falsch ist". 28 So nennt Nicolai Hartmann, Ethik S. 135 das Gewissen „Einwirkung einer ,höheren' Macht, eine Stimme aus einer anderen Welt". 29 Zum Prozeß der Gewissensbildung H upper schwiller, Gewissen S. 47 ff. 30 Vgl. zu dem Begriff der „sozial-kulturellen Persönlichkeit" Thomae, MSchrKrim 1961, 116.

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eindeutig und unbedingt, sie werden vom Menschen selbst dann widerspruchslos anerkannt, wenn er sein Versagen vor den Mitmenschen zu entschuldigen sucht. 2. Im Bereich der Rechtsordnung ist es das Rechtsgewissen, das den Menschen befähigt, zwischen Recht und Unrecht zu unterscheiden 31. Die Geltung der Rechtsnorm steht zwar nicht unter dem Vorbehalt der Anerkennung durch das Gewissen der Bürger 32 , wohl aber ist das Rechtsgewissen das natürliche Organ, durch das der einzelne sich rechtliche Gebote und Verbote zu eigen macht, mag auch der Intellekt durch die rein verstandesmäßige Erkenntnis von Rechtsgeboten zusätzlich beteiligt sein und der Spruch des Gewissens ferner durch pflichtmäßig eingeholte Auskünfte ergänzt werden müssen. Das Strafrecht verlangt von jedermann die „Anspannung des Gewissens", um Zweifel über Recht und Unrecht zu beseitigen (BGH 2, 194 [201]). Als eine Weise menschlichen Fühlens und Erkennens ist das Rechtsgewissen jedoch mit der Möglichkeit von Fehlentscheidungen belastet, die aus Gewissensträgheit, -irrtum oder -blindheit entstehen können („irrendes Gewissen") 33 . Fehlt dem Täter das Bewußtsein der Rechtswidrigkeit, so befindet er sich im Verbotsirrtum (vgl. unten § 41 II, III). Die Frage der Vermeidbarkeit oder Unvermeidbarkeit des Verbotsirrtums hängt unter anderem davon ab, ob der Täter bei der von ihm zu verlangenden Anspannung des Gewissens zur Einsicht in das Unrechtmäßige seines Tuns gelangen konnte oder nicht (BGH 2, 194 [201 f.]). Der strafrechtliche Schuldvorwurf ist also wesentlich darauf gegründet, daß der Täter bei der Willensbildung sich von seinem Rechtsgewissen nicht hat leiten lassen bzw. sein irrendes Gewissen nicht korrigiert hat. 3. Vom Gewissensirrtum ist die dem Recht widersprechende Überzeugung des Täters zu unterscheiden 34. Die Geltung der Rechtsnormen hängt zwar nicht von der Zustimmung des einzelnen ab, sondern beruht auf dem Rechtssetzungsakt der Gemeinschaft. Aber trotz der Verbindlichkeit der Rechtsordnung kann sich der einzelne durch sein Gewissen zu einem ihr widerstreitenden Verhalten gedrängt fühlen. Wir stehen damit vor dem Problem des Überzeugungstäters 35. Beispiele: Die Weigerung der Anhänger der Sekte „Zeugen Jehovas", den in Art. 12 a I I GG vorgesehenen Ersatzdienst zu leisten, wird damit begründet, daß für sie auch jede Alternative zum Wehrdienst einen Abfall von den Forderungen ihres Glaubens bedeute und deswegen vom Staat nicht erzwungen werden dürfe. Das Bundesverfassungsgericht (BVerfGE 19, 135 und 23, 127 [132]) hat das Gewissensargument gegenüber der durch die Verfassung selbst begründeten Ersatzdienstpflicht jedoch nicht gelten lassen. Die wiederholte Verurteilung des Ersatzdienstverweigerers wegen Nichtbefolgung eines erneuten Einberufungsbefehls widerspricht indessen bei ernsthafter und dauerhafter Gewissensentscheidung Art. 103 I I I GG (BVerfGE 23, 191 [203]; zur „Totalverweigerung" ferner O L G Celle NJW 1985, 2428 und O L G Düsseldorf NJW 1985, 2429) 36 . Ein Angehöri ger einer religiösen Sekte, der seine dem gleichen Glauben anhängende Ehefrau nicht zu der bei ihr nach einer Geburt erforder31 Vgl. Wieacker, Privatrechtsgeschichte S. 611; Würtenberger y E. Wolf-Festschrift S. 349ff.; Kraushaar, GA 1959, 327ff.; Jescheck, Revista juridica de Buenos Aires 1959, 26. 32 Engisch y Auf der Suche nach der Gerechtigkeit S. 72 f.; Rudolphi, Unrechtsbewußtsein S. 39. 33 Vgl. Welzel, Vom irrenden Gewissen S. 13 ff. 34 Vgl. Welzel, DJT-Festschrift S. 393 ff. 35 Vgl. zum Meinungsstand der 20er Jahre: Radbruch, ZStW 44 (1924) S. 34 ff.; derselbe, Verhandlungen des 34. DJT Bd. I I S. 354ff.; Nagler, GS 94 (1927) S. 48 ff.; E. Wolf Verbrechen aus Überzeugung, 1927; ferner in der Großen Strafrechtskommission: Niederschriften Bd. I S. 94 ff. 36 Vgl. zum ganzen Peters, JZ 1966, 457; Dürig, JZ 1967, 426; v. Burski, Die Zeugen Jehovas S. 135, 143; abschließend Peters, Engisch-Festschrift S. 468 ff.

I I I . Das M o d e l l v o m Schichtenaufbau der Persönlichkeit

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liehen, aber nach den Glaubensregeln unzulässigen Bluttransfusion zu überreden versucht, soll nicht nach § 222 oder § 323c bestraft werden können (BVerfGE 32, 98 [106ff.]; vgl. auch O L G Hamm NJW 1968, 212) 37 . D i e Rechtsordnung kann die Geltung ihrer N o r m e n nicht v o n der Billigung durch den einzelnen abhängig machen, w e i l sie sonst zur unverbindlichen Empfehlung herabsinken u n d ihre Verläßlichkeit einbüßen würde. D e r Uberzeugungstäter ist daher nach h . L . weder gerechtfertigt noch i m Regelfall entschuldigt ( B G H 2, 194 [ 2 0 8 ] ) 3 8 . A u c h ein Verbotsirrtum liegt nicht vor, der Uberzeugungstäter versagt nur dem v o n i h m erkannten Gesetzesbefehl den Gehorsam 3 9 . Eine Gewissensentscheidung gegen das Recht kann aber je nach dem ethischen Wert der obwaltenden M o t i v e bei der Strafzumessung berücksichtigt werden ( B G H 8, 162 [ 1 6 3 ] ) 4 0 u n d kann bei tief verankerter Bindung an eine absolute Gewissenspflicht sogar als Entschuldigungsgrund i n Betracht k o m m e n (vgl. unten § 47 I I I ) . Bestrebungen, für den Uberzeugungstäter eine besondere Strafart einzuführen, die die Unverbrüchlichkeit der Rechtsordnung bekundete, ohne ein U n w e r t u r t e i l über die Person des Täters zu enthalten, haben sich nicht durchgesetzt (vgl. 2. Auflage S. 309) 4 1 . I I I . Das Modell v o m Schichtenaufbau der Persönlichkeit D i e Psychologie hat, u m das Zusammenwirken der beim Fühlen, Denken, Werten, W o l l e n u n d Handeln des Menschen beteiligten körperlichen u n d seelischen Kräfte anschaulich zu machen, die Theorie v o m Schichtenaufbau der Persönlichkeit entwickelt. Es handelt sich dabei zwar nur u m ein Bild, doch zeigt es den Menschen i n einer gerade für das Strafrecht anschaulichen Weise sowohl als „Naturwesen" wie auch als „ G e i s t w e s e n " 4 2 . 1. Der Grundgedanke aller Schichtentheorien 43 liegt in der Unterscheidung zwischen einer unbewußten Tiefenschicht und einer bewußten Persönlichkeitsschicht 44. Innerhalb der 37

Wegen der Eigenart des Sachverhalts (die Frau selbst lehnte jede Bluttransfusion ab) sah das BVerfG in der Kriminalstrafe „unter keinem Aspekt ... eine adäquate Sanktion" (S. 109); zustimmend Ranft, Schwinge-Festschrift S. 123 ff.; SK (Rudolphi) Vorbem. 7 vor § 19; Roxin, Allg. Teil I § 22 Rdn. 124. 38 Vgl. Gallas, Beiträge S. 65 f.; Heinitz, ZStW 78 (1966) S. 631; Noll, ZStW 78 (1966) S. 638 ff.; LK n (Hirsch) Vorbem. 221 ff. vor § 32; Maurach/Zipf, Allg. Teil I § 35 Rdn. 7; Schönke/Schröder/Lenckner, §46 Rdn. 15; Arthur Kaufmann, Schuldprinzip S. 137f.; Schmidhäuser, Allg. Teil S. 425 ff.; Welzel, Lehrbuch S. 176f. Für Rechtfertigung bei Gewissenstätern dagegen Peters, H. Mayer-Festschrift S. 276. Für Entschuldigung Bopp, Gewissenstäter S. 251; Ebert, Uberzeugungstäter S. 84 (für „Täter aus Gewissensnot"); MüllerDietz, Peters-Festschrift S. 108; Roxin, Allg. Teil I § 22 Rdn. 103; Sproß, Überzeugungsund Gewissenstäter S. 395; Wessels, Allg. Teil Rdn. 404. 39 Für Verbotsirrtum aber Armin Kaufmann, ZStW 80 (1968) S. 40 f.; Tiedemann, ZStW 81 (1969) S. 873 Fußnote 11. 40 Vgl. Bruns, Strafzumessungsrecht S. 557ff.; LK n (Hirsch) Vorbem. 224 vor § 32 m. Nachw. 41 Vgl. Bockelmann, Welzel-Festschrift S. 549 ff. 42 Vgl. Henkel, Studium Generale 1960, 232 ff. Vor unkritischem Verständnis der Schichtentheorie warnt mit Recht Nass, Wandlungen des Schuldbegriffs S. 123 f. Bedeutsam ist auch der Hinweis von Thomae, Schuldfähigkeit S. 333, daß die Dominanzverhältnisse zwischen den Schichten nicht „statisch" aufgefaßt werden dürfen. Zum ganzen auch Schmidhäuser, Allg. Teil S. 148 f , 372 f. 43 Der Text folgt im wesentlichen der Darstellung von Rothacker, Die Schichten der Persönlichkeit, 1952. Andere, aber nicht völlig abweichende Modelle haben Lersch, Aufbau der Person S. 99 ff, 495 f f , 530 ff. und H. F. Hoffmann, Die Schichttheorie, 1935 entwickelt. 44 Vgl. näher Heiß, Tiefenpsychologie S. 13 ff.

416

§ 3 7 D i e anthropologischen Grundlagen des Schuldbegriffs

Tiefenschicht trennt man zwischen Vitalschicht und tiefenseelischer Schicht. Die Vitalschicht ist Trägerin der biologisch-physiologischen Funktionen des Körpers, ohne die kein höheres Leben möglich ist (Atmung, Kreislauf, Stoffwechsel, Bewegung, Sinneswahrnehmungen, Reflexe). Sie gibt ihre Energien laufend an die höheren Schichten ab und ist damit auch der Kraftspeicher für alle seelischen und geistigen Leistungen („mens sana in corpore sanou). Die Vitalschicht nimmt andererseits auch ständig Einflüsse aus den höheren Schichten in sich auf (z.B. Herzklopfen, Blutdruckschwankungen und Atmungsstörungen bei starken seelischen Eindrücken). Die tiefenseelische Schicht umfaßt die aus der Instinktgebundenheit gelösten Triebe (Selbsterhaltungstrieb, Nahrungstrieb, Geschlechtstrieb, Erwerbstrieb), die ererbten und erworbenen seelischen Grundhaltungen (Temperamente), die Talente (z.B. Musikalität, Sprachbegabung), die Skala der Gefühle bis hin zu den höheren Strebungen, Neigungen und Interessen (z.B. Tierliebe, Barmherzigkeit, Rechtschaffenheit, Religiosität). Die tiefenseelische Schicht ist das Zentrum der Antriebe, von denen der Mensch ergriffen, in eine bestimmte Richtung gedrängt, auf Ziele hingelenkt und mit Einfällen und Impulsen versorgt wird. Die Persönlichkeit wird in ihrer Eigenart und Fülle wesentlich durch die Tiefenschicht bestimmt, ohne die es keine höheren geistigen Leistungen gäbe. „Der Mensch kann nicht lange im Bewußtsein oder im bewußten Zustande verharren. Er muß sich immer wieder in das Unbewußte flüchten, denn darin liegt seine Wurzel" (Goethe).

2. Die Persönlichkeitsschicht des Menschen wird durch das Ichzentrum bestimmt, in dem die bewußten geistigen Funktionen ihren Sitz haben. Vorgelagert ist dem Ichzentrum jedoch noch eine andere Schicht, die, obwohl sie zur Persönlichkeitsschicht gehört, den Ubergang von den unbewußten zu den bewußten seelischen Funktionen darstellt: die personale Schicht45. Sie ist für das Handeln des Menschen im Recht deswegen besonders bedeutsam, weil sich hier aus den im Leben laufend vollzogenen Vorentscheidungen nach und nach der Charakter herausbildet 46 . In der personalen Schicht sammelt sich der feste Bestand an Lebensregeln, aus denen später neue Handlungsentschlüsse spontan, unreflektiert und gleichsam mühelos, aber mit unverkennbar persönlicher Note hervorgehen. Der Gipfelpunkt des vollbewußten seelisch-geistigen Lebens ist das Ichzentrum. Hier liegt die Kontrollinstanz für die der Tiefenschicht entstammenden Antriebe, die an dieser Stelle, sofern sie nicht schon in der personalen Schicht automatisch in die Tat umgesetzt oder abgewiesen werden, auf ihren Sinngehalt und ihren Rangwert zu prüfen sind (bewußtes Gewissen). Im Ichzentrum entstehen die eigentlichen geistig-seelischen Leistungen. 3. Das Schuldurteil hat es mit der Gesamtheit der Vorgänge zu tun, die bei der Willensbildung eine Rolle spielen. Es würdigt alle dabei mitwirkenden Kräfte, Strebungen und Maximen. Der Schuldvorwurf richtet sich in erster Linie gegen das Versagen der Kontrollinstanz, denn dort liegt die letzte Entscheidung über alles Tun und Lassen47. Aber auch die Funktionsweise der personalen Schicht ist Gegenstand des Schuldurteils, weil von hier aus das unbewußte Verhalten gesteuert wird. So beruht die Entstehung eines vermeidbaren Verbotsirrtums oft auf dem Ausbleiben einer Warnung aus der personalen Schicht. Insbesondere läßt sich der Schuldgehalt der unbewußten Fahrlässigkeit vielfach nur auf ein Versagen der automatisch wirkenden Sorgfaltsmechanismen gründen, die auf der Achtung vor fremdem Leben und Gut beruhen (neminem laede). Auch bei den Affekttaten, die unter Umgehung des Ichzentrums durch unmittelbare Entladung bei starker Verengung des Bewußtseins geschehen, bezieht sich der Schuldvorwurf auf die mangel45

Vgl. dazu näher Lersch, Aufbau der Person S. 496ff.; Welzel, Lehrbuch S. 149f. Vgl. dazu näher Gehlen, Der Mensch S. 400 ff. 47 Vgl. dazu die Bemerkung von Rothacker, Die Schichten der Persönlichkeit S. 92: „Auf dieser ungeheuren Macht des stets auf der Wacht befindlichen Ich beruht der juristische und sittliche Anspruch an mich als verantwortliches Wesen." 46

I I I . Das M o d e l l v o m Schichtenaufbau der Persönlichkeit

417

hafte Kontrolle der tiefenseelischen Antriebe durch die Kräfte der personalen Schicht i n der Vorphase der Affektspannung 4 8 . D i e Antriebe aus der Tiefenschicht sind m i t der N a t u r des Menschen gegeben, sie sind zwar kontrollierbar, aber i n ihrer Entstehung nicht dem W i l l e n unterworfen. N i e m a n d kann also dem Sexualverbrecher vorwerfen, daß der Geschlechtstrieb i n i h m übermächtig wurde u n d zur Entladung drängte. Das Schuldurteil betrifft immer nur das Funktionieren der Kontrollinstanzen. N o c h weniger läßt sich ein Schuldvorwurf auf Vorgänge i m biologisch-physiologischen Teil der Tiefenschicht gründen. Deswegen werden Reflexe u n d Anfälle v o n Bewußtlosigkeit schon gar nicht als Handlungen i m Rechtssinne angesehen (vgl. oben § 23 V I 2 a).

§ 38 D i e dogmatischen G r u n d l a g e n des Schuldbegriffs Achenbach, Historische und dogmatische Grundlagen der strafrechtssystematischen Schuldlehre, 1974; derselbe, Individuelle Zurechnung, Verantwortlichkeit, Schuld, in: Schünemann (Hrsg.), Grundfragen des modernen Strafrechtssystems, 1984, S. 135; Bacigalupo, Bemerkungen zur Schuldlehre, Festschrift für H. Welzel, 1974, S. 477; Baumann, Schuld und Verantwortung, JZ 1962, 41; Beling, Unschuld, Schuld und Schuldstufen usw, 1910; Bockelmann, Studien zum Täterstrafrecht, 1. Teil, 1939, 2. Teil, 1940; derselbe, Bemerkungen über das Verhältnis des Strafrechts zur Moral und zur Psychologie, Gedächtnisschrift für G. Radbruch, 1968, S. 252; Brauneck, Zum Schuldstrafrecht des neuesten Entwurfs eines StGB, MSchrKrim 1958, 129; dieselbe, Der strafrechtliche Schuldbegriff, GA 1959, 261; Busch, Moderne Wandlungen der Verbrechenslehre, 1949; Graf zu Dohna, Zum neuesten Stande der Schuldlehre, ZStW 32 (1911) S. 323; Dünnebier, Uber die Vereinheitlichung von Strafe und Sicherungsverwahrung, Tagungsberichte der Strafvollzugskommission, Bd. I, 1967, S. 86; Engelmann, Die Schuldlehre der Postglossatoren und ihre Fortentwicklung, 1895; Engisch, Untersuchungen über Vorsatz und Fahrlässigkeit im Strafrecht, 1930; derselbe, Zur Idee der Täterschuld, ZStW 61 (1942) S. 166; derselbe. Bietet die Entwicklung der dogmatischen Strafrechtswissenschaft seit 1930 Veranlassung, in der Reform des Allgemeinen Teils des Straf rechts neue Wege zu gehen? ZStW 66 (1954) S. 339; derselbe, Auf der Suche nach der Gerechtigkeit, 1971; Frank, Uber den Aufbau des Schuldbegriffs, Gießener Festschrift, 1907, S. 3; Freudenthal, Schuld und Vorwurf im geltenden Strafrecht, 1922; Geilen, Zur Problematik des schuldausschließenden Affekts, Festschrift für R. Maurach, 1972, S. 173; Goldschmidt, Der Notstand, ein Schuldproblem, Österr. Zeitschrift für Strafrecht 1913, 129; derselbe, Normativer Schuldbegriff, Festgabe für R. v. Frank, Bd. I, 1930, S. 428; Grünhut, Gefährlichkeit als Schuldmoment, Festgabe für G. Aschaffenburg (MSchrKrim 1926, Beiheft 1) S. 87; Hall, Sicherungsverwahrung und Sicherungsstrafe, ZStW 70 (1958) S. 41; Hardwig, Die Zurechnung, 1957; Hegler, Die Merkmale des Verbrechens, ZStW 36 (1915) S. 184ff.; Heinitz, Strafzumessung und Persönlichkeit, ZStW 63 (1951) S. 57; Herren, Die Gesinnung im Rahmen der vorsätzlichen Tötungsdelikte, 1966; Hohenleitner, Schuld als Werturteil, Festschrift für Th. Rittler, 1957, S. 185; Hold v. Ferneck, Die Schuld im Rechte und in der Moral, ZStW 32 (1911) S. 249; Jakobs, Das Schuldprinzip, 1993; Jescheck, Vom Stil der gegenwärtigen deutschen Strafrechtspflege, SchwStr 75 (1959) S. 56; derselbe, Aufbau und Stellung des bedingten Vorsatzes im Verbrechensbegriff, Festschrift für E. Wolf, 1962, S. 473; derselbe, Die kriminalpolitische Konzeption des AE, ZStW 80 (1968) S. 54; Arthur Kaufmann, Das Schuldprinzip, 2. Auflage 1976; F. Kaufmann, Die philosophischen Grundprobleme der Lehre von der Strafrechtsschuld, 1929; Kleinschrod, Systematische Entwicklung der Grundbegriffe und Grundwahrheiten des peinlichen Rechts, 1. Teil, 2. Auflage 1799; Kohlrausch, Irrtum und Schuldbegriff im Strafrecht, 1903; derselbe, Sollen und Können als Grundlagen der strafrechtlichen Zurechnung, Festschrift für K. Güterbock, 1910, S.l; Krümpelmann, Motivation und Handlung im Affekt, Festschrift für H. Welzel, 1974, S. 327; derselbe, Dogmatische und empirische Probleme des sozialen Schuldbegriffs, GA 1983, 337; derselbe, Schuldzurechnung unter Affekt und alkoholisch bedingter Schuldunfähigkeit, ZStW 99 (1987) S. 191; Löffler, Die Schuldformen des Strafrechts, 1895; Mangakis, Über die Erfolgsund Schuldhaftung als Kategorien geschichtlicher Betrachtung, ZStW 83 (1971) S. 283; Mau48

Vgl. Krümpelmann, Welzel-Festschrift S. 338 ff.

27 Jescheck, 5. A .

418

§ 3

Die

o g i s c h e n Grundlagen des Schuldbegriffs

räch, Schuld und Verantwortung im Straf recht, 1948; M. E. Mayer, Die schuldhafte Handlung und ihre Arten im Strafrecht, 1901; Mezger, Die Straftat als Ganzes, ZStW 57 (1938) S. 675; Mificka, Die Formen der Strafschuld und ihre gesetzliche Regelung, 1903; Müller-Dietz, Grenzen des Schuldgedankens im Strafrecht, 1967; Munoz Conde, Uber den materiellen Schuldbegriff, GA 1978, 65; Nowakowski, Das Ausmaß der Schuld, SchwZStr 65 (1950) S. 301; derselbe, Probleme der Strafrechtsdogmatik, JBl 1972, 19; Oehler, Die Achtung vor dem Leben und die Notstandshandlung, JR 1951, 489; Otto, Personales Unrecht, Schuld und Strafe, ZStW 87 (1975) S. 539; derselbe, Über den Zusammenhang von Schuld und Strafe, G A 1981, 481; Peters, Zur Lehre von den persönlichen Strafausschließungsgründen, JR 1949, De 496; derselbe, Die Tötung von Menschen in Notsituationen, JR 1950, 742; Pufendorf, jure naturae et gentium, Editio nova 1694; Radbruch, Über den Schuldbegriff, ZStW 24 (1904) S. 333; derselbe, Gesetzliches Unrecht und übergesetzliches Recht, SJZ 1946, 105; Rosenfeld, Schuld und Vorsatz im v. Lisztschen Lehrbuch, ZStW 32 (1911) S. 466; Roxin, Literaturbericht, ZStW 82 (1970) S. 675; derselbe, Kriminalpolitik und Strafrechtssystem, 2. Auflage 1973; derselbe, „Schuld" und „Verantwortlichkeit" als strafrechtliche Systemkategorien, Festschrift für H. Henkel, 1974, S. 171; derselbe, Zur Problematik des Schuldstrafrechts, ZStW 96 (1984) S. 641; Rudolphi, Affekt und Schuld, Festschrift für H. Henkel, 1974, S. 199; Schmidhäuser, Gesinnungsmerkmale im Strafrecht, 1958; derselbe, Gesinnungsethik und Gesinnungsstrafrecht, Festschrift für W. Gallas, 1973, S. 81; derselbe, Über den axiologischen Schuldbegriff usw., Festschrift für H.-H. Jescheck, Bd. I, 1985, S. 485; Seelig, Schuld, Lüge, Sexualität, 1955; v. Weber, Zum Aufbau des Strafrechtssy stems, 1935; Welzel, Persönlichkeit und Schuld, ZStW 60 (1941) S. 428; derselbe, Zum Notstandsproblem, ZStW 63 (1951) S. 47; derselbe, Die Naturrechtslehre Samuel Pufendorfs, 1958; derselbe, Recht und Sittlichkeit, Festschrift für F. Schaffstein, 1975, S. 45; E. Wolf, Strafrechtliche Schuldlehre, 1928; derselbe, Große Rechtsdenker, 4. Auflage 1963;"Zipf Der strafrechtliche Schuldbegriff, JBl 1980, 186. Vgl. ferner die Schrifttumsangaben vor § 37.

I. Rechtsschuld und sittliche Schuld 1. Strafrechtliche Schuld ist Rechtsschuld, nicht sittliche Schuld 1 . D i e Schuld bezieht sich auf Rechtsnormen, Gegenstand des Vorwurfs ist ein Mangel an Rechtsgesinnung. Es trifft zwar zu, daß die Gebote u n d Verbote, die das Strafrecht schützt, weitgehend m i t den N o r m e n der Sittlichkeit übereinstimmen 2 , doch sind beide Ordnungen voneinander unabhängig 3 u n d sind Rechtsnormen auch dann bindend, w e n n sie v o m einzelnen nicht als sittliche Pflichten empfunden werden (vgl. oben § 37 I I 3). Für die Verpflichtung z u m Rechtsgehorsam genügt es, wenn der Rechtsunterworfene erkennt, daß die Strafvorschrift v o n den zur Gesetzgebung berufenen Verfassungsorganen i n dem vorgeschriebenen Verfahren erlassen ist u n d einer gerechten O r d n u n g des Gemeinschaftslebens dienen soll. N u r das „ i n Gesetzesform gegossene U n r e c h t " erlangt keine Geltungskraft u n d darf nicht befolgt werden 4 . D i e strafrechtliche Schuld ist ferner deswegen Rechtsschuld, w e i l sie nach rechtlichen Maßstäben gemessen w i r d . Rechtliche Maßstäbe müssen notwendiger1 So die h. L.; vgl. Binding, Normen Bd. I I S.274; Baumann/Weber, Allg. Teil S. 364f.; Hold v. Ferneck, ZStW 32 (1911) S. 258 ff.; Gallas, Beiträge S. 75; F. Kaufmann, Die philosophischen Grundprobleme S. 75; v. Hippel, Bd. I I S. 278; Mezger, Lehrbuch S. 251; Maurach/ Zipf, Allg. Teil I § 35 Rdn. 5; Welzel, ZStW 63 (1951) S. 53; Wessels, Allg. Teil Rdn. 403. 2 Ohne Bindung des Rechts an die Sittlichkeit würde man „das Recht geradezu substantiell verelenden lassen", so Engisch, Gerechtigkeit S. 106; vgl. auch Bockelmann, RadbruchGedächtnisschrift S. 259; derselbe, Einführung S. 28; Zipf, JBl 1980, 186 f. 3 Über die „beiderseitige Unterstützung" von Recht und Sittlichkeit Henkel, Rechtsphilosophie S. 78 ff. Über das Recht als „Möglichkeitsvoraussetzung sittlichen Handelns" Welzel, Schaffstein-Festschrift S. 50. 4 Radbruch, SJZ 1946, 107; Jakobs, Schuldprinzip S. 35.

I I . D i e Entwicklungsstufen der Schuldlehre

419

weise auf Erfahrung m i t anderen gegründet sein u n d können individuelle Schuld nicht m i t der Feinheit wägen, m i t der die sittliche Qualität einer H a n d l u n g beurteilt zu werden verlangt (vgl. zur Schuldfähigkeit unten § 40 I 3, zur Unzumutbarkeit unten § 47 I I 2) 5 . Strafrechtliche Schuld ist endlich Rechtsschuld, w e i l sie vor dem Forum der staatlichen Gerichte i n einem rechtlich geordneten Verfahren öffentlich festgestellt werden muß, während die sittliche Schuld nur das F o r u m des eigenen Gewissens kennt. W i e das Recht auf die Sittlichkeit bezogen ist, so hängt aber auch die rechtliche Schuld m i t der sittlichen zusammen. D i e Preisgabe der Beziehung zur Sozialethik würde dem Schuldbegriff seine W u r z e l n i m Rechtsbewußtsein der Allgemeinheit abschneiden 6 . 2. Diese Lehre wird vielfach angegriffen mit der Erwägung, daß eine im vollen Sinne verbindliche Pflicht auch als Rechtspflicht nur dadurch begründet werden könne, daß sie vom einzelnen als sittliche Pflicht erlebt und aus freien Stücken zur selbstgewählten Regel des eigenen Handelns gemacht werde; nur solche Pflichten „erzeugen ein inneres Sollen und nicht lediglich ein erzwungenes Müssen" 7 . Auch der Ε 1962 wollte Strafe nur insoweit zulassen, „als dem Täter sein Handeln sittlich zum Vorwurf gemacht werden kann" 8 . Ebenso zeigte auch die Rechtsprechung früher die Neigung, sittliche Pflichten unmittelbar in Rechtspflichten umzudeuten und demgemäß das Bewußtsein der Rechtswidrigkeit auf die „Normen des Sittengesetzes" zu beziehen ( O G H 1, 321 [337]; 2, 117 [122]; B G H 6, 46 [52 f f , 59]; 6, 147 [153]) 9 . Doch ist die schon von Samuel Pufendorf und Christian Thomasius überwundene Vermischung von Recht und Sittlichkeit abzulehnen, denn der Eigenwert von Recht und Gerechtigkeit wird dabei unterschätzt und die nur begrenzte Urteilsmöglichkeit des Richters verkannt. Außerdem kann die Schuldfeststellung auf diese Weise mit Emotionen belastet werden, die der Nüchternheit des richterlichen Urteils abträglich sind. I I . Die Entwicklungsstufen der Schuldlehre 1. Die Wurzeln der Schuldlehre liegen in der italienischen Strafrechtswissenschaft des ausgehenden Mittelalters und in der darauf aufbauenden gemeinrechtlichen Jurisprudenz des 16. und 17. Jahrhunderts 10. Für die neuere Entwicklung ist vor allem die Schuldauffassung des Naturrechts von Einfluß gewesen. Hier war es Samuel Pufendorf (1634 - 1694), der durch den Begriff der Zurechnung (imputatio) den ersten entwicklungsfähigen Ansatz geschaffen hat 1 1 . Zurechenbarkeit bedeutet, daß die freie Handlung als dem Täter zugehörig („ad ipsum proprie pertinens tt) und darum auch als Grundlage („causa moralis") für seine Verantwortlichkeit angesehen wird. Noch über hundert Jahre später ist auch für Kleinschrod 12 die Tatsache, daß die Handlung „mit Freiheit unternommen ward", der „Grund aller Zurechnung". Bei den Hegelianern, die das Verbrechen als frei gewählte Absonderung des Einzelwillens von dem im Gesetz verkörperten Gemeinwillen betrachteten, ruht das gesamte Strafrechts5

Vgl. Stratenwerth, Allg. Teil I Rdn. 513. Vgl. Schmidhäuser, Allg. Teil S. 371 f. m. Nachw.; Engisch, Gerechtigkeit S. 82 ff.; Henkel, Rechtsphilosophie S. 128 ff.; Arthur Kaufmann, Schuldprinzip S. 127ff.; Bacigalupo, Welzel-Festschrift S. 481. Dagegen ist strafrechtliche Schuld nach Roxin, Allg. Teil I § 19 Rdn. 39 „nicht geeignet, zu Lasten des Täters ... sittliche Vorwürfe zu legitimieren"; übereinstimmend Hassemer, Einführung S. 238 f f , insbes. S. 242 (das Strafrecht brauche „die moralische Vertiefung der subjektiven Zurechnung, um seine Ziele zu erreichen", nicht). 7 So Arthur Kaufmann, Schuldprinzip S. 128; vgl. ferner Graf zu Dohna, ZStW 32 (1911) S. 326; Oehler, JR 1951, 489; Peters, JR 1949, 496; derselbe, JR 1950, 742. 8 Ε 1962, Begründung S. 96. 9 Vgl. dazu Jescheck, SchwZStr 75 (1959) S. 66 ff. 10 Vgl. dazu näher Engelmann, Die Schuldlehre der Postglossatoren, 1895; Schaffstein, Die allgemeinen Lehren S. 94 ff. 11 Pufendorf, De jure naturae et gentium Bd.I Kap.V § 3. Vgl. dazu Welzel, Die Naturrechtslehre Samuel Pufendorfs S. 84ff.; Hardwig, Die Zurechnung S. 35 ff.; E. Wolf, Große Rechtsdenker S. 345. 12 Kleinschrod, Grundbegriffe S. 109. 6

27*

420

§ 3

Die

o g i s c h e n Grundlagen des Schuldbegriffs

system auf der subjektiven Zurechnung 13 . Binding führte diese an die Voraussetzung der Willensfreiheit gebundene Lehre in die Dogmatik der Gegenwart ein 14 .

2. Durch den Niedergang der Lehre von der Willensfreiheit in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurde der auf ihren Mißbrauch gegründete Schuldbegriff des Naturrechts unhaltbar. An seine Stelle trat der psychologische Schuldbegriff, der für die am Faktischen orientierte Grundhaltung des Positivismus charakteristisch war (vgl. oben § 22 I I 1 a.E.) 15 . Man ging dabei aus von der Unterscheidung zwischen der Außenseite der Straftat und ihren seelischen Bestandteilen und begnügte sich damit, unter Verzicht auf die Erfassung des Wesensgehalts der Schuld sämtliche psychischen Beziehungen des Täters zum äußeren Geschehen als Schuld zu bezeichnen. „Schuld ist jene subjektive Beziehung der Täter zu dem eingetretenen rechtswidrigen Erfolg, an welche die rechtliche Verantwortlichkeit geknüpft ist" 1 6 . Der psychologische Schuldbegriff wurde jedoch bald als unzureichend empfunden, weil er keine Auskunft darüber gibt, welche psychischen Beziehungen als strafrechtlich relevant anzusehen sind und warum sie die Schuld begründen bzw. ihr Fehlen die Schuld ausschließt 17 . So ließ sich nicht erklären, wieso der Täter, selbst wenn er vorsätzlich handelt, also eine psychische Beziehung zum Erfolg durchaus hergestellt hat, ohne Schuld sein soll, sobald er geisteskrank ist (§ 20) oder sich im Notstand (§ 35) befindet. Auch der Schuldgehalt der unbewußten Fahrlässigkeit ließ sich nach dem psychologischen Schuldbegriff nicht begründen, da es hier an einer psychischen Beziehung zum Erfolg gerade fehlt 18 .

3. Der heute herrschende normative Schuldbegriff (vgl. oben § 22 I I I 2d) stellt die Bewertung der inneren Beziehung des Täters zu seiner Tat in den Vordergrund. Nicht nach psychologischen Kriterien, sondern durch wertende Entscheidung legt der Gesetzgeber fest, welche Faktoren zur Schuld gehören und wie das Fehlen einzelner Merkmale zu beurteilen ist 1 9 . Den ersten Schritt in dieser Richtung tat Frank. Nach ihm ist Schuld ein auf den Normbefehl gestütztes Werturteil über einen psychischen Sachverhalt. „Schuld ist Vorwerfbarkeit" 20 . Später sah man die Schuld nicht so sehr in einem Urteil über die subjektive Beschaffenheit der Tat 2 1 als vielmehr in 13 Vgl. Köstlin, System S. 128: „Der böse Wille hat seinen Ursprung in der Willkür. Nur mit der Willkür hat es daher das Strafrecht zu tun." Vgl. näher Hardwig, Die Zurechnung S. 53 ff. 14 Binding, Normen Bd. I I S. 270 ff. Dazu Achenbach, Schuldlehre S. 27 ff. 15 Vgl. näher Achenbach, Schuldlehre S. 62 ff. 16 So v. Liszt, Lehrbuch 8. Auflage S. 154; ebenso Löffler, Schuldformen S. 5; Mificka, Formen der Strafschuld S. 102; Kohlrausch, Irrtum S. 1 sowie derselbe, Güterbock-Festschrift S. 3; Radbruch, ZStW 24 (1904) S. 333 ff. v. Liszt hat jedoch seit Lehrbuch 18. Auflage S. 163 die Schuld in Abkehr vom psychologischen Schuldbegriff materiell als „antisoziale Gesinnung des Täters" verstanden. 17 Vgl. dazu Binding, Normen Bd. I I S.277 Fußnote 22. 18 Vgl. Radbruch, ZStW 24 (1904) S. 338 ff., 346. 19 Vgl. dazu Hohenleitner, Rittler-Festschrift S. 190; LK n (Hirsch) Vorbem. 183 vor § 32; Stratenwerth, Allg. Teil I Rdn. 509. 20 Frank, Aufbau des Schuldbegriffs S. 11; derselbe, Vorbem. I I vor § 51. Vgl. auch Beling, Unschuld, Schuld und Schuldstufen S. 7f.; ferner M. E. Mayer, Schuldhafte Handlung S. 106; Hegler, ZStW 36 (1915) S. 184 ff. Dazu Achenbach, Schuldlehre S. 97 ff. Kritisch zum normativen Schuldbegriff Roxin, Allg. Teil I § 19 Rdn. 13 im Hinblick auf seine Lehre von der „Verantwortlichkeit" (§19 Rdn. 3). 21 Vgl. die bekannte Kritik von Rosenfeld, ZStW 32 (1911) S. 469, „die Schuld eines Menschen stecke lediglich in den Köpfen anderer". Deutlich in Richtung einer „vom Richter nachträglich hergestellten Wertbeziehung" Maurach, Schuld und Verantwortung S. 117.

II. Die Entwicklungsstufen der Schuldlehre

421

der fehlerhaften Beschaffenheit des Handlungswillens selbst 22 . Die Schuldmerkmale ist als ließen sich auf diese Weise überzeugend anordnen 23 : Die Schuldfähigkeit Vorbedingung der Bildung eines dem Recht entsprechenden Handlungswillens Schuldvoraussetzung. Der schuldhafte Handlungswille selbst tritt auf in Gestalt der Schuldformen des Vorsatzes (Wissen und Wollen der Tat) und der Fahrlässigkeit (Nichtwissen bei Wissensmöglichkeit). Die Schuldausschließungsgründe (z.B. Notstand, Notwehrüberschreitung) erklären sich aus der Anomalie der begleitenden Umstände. Als Folgerung aus der normativen Schuldlehre wurde jetzt das Bewußtsein der Rechtswidrigkeit meist in den Vorsatz aufgenommen, weil der Handlungswille im Falle des unvermeidbaren Verbotsirrtums nicht tadelnswert erscheint 4 . Die letzte Konsequenz aus dem normativen Schuldbegriff zog Freudenthal mit der Anerkennung der Unzumutharkeit normgemäßen Verhaltens als allgemeinem Schuldausschließungsgrund (vgl. dazu unten § 47 I I 1). 4. Der normative Schuldbegriff erfuhr durch die finale Handlungslehre eine weitere Vertiefung, indem nunmehr mit dem Vorsatz der, wie man glaubte, letzte rein psychologische Bestandteil der Tat aus dem Schuldsachverhalt entfernt wurde (rein normativer Schuldbejgriff) (vgl. oben § 22 V 3 a) 25 . Auf der Grundlage der Schuldlehre von Erik Wolf 2 trennte bereits Graf zu Dohna scharf zwischen dem Handlungswillen als dem „Objekt der Wertung", der in den subjektiven Tatbestand verwiesen wurde, und der „Wertung des Objekts", die in der Beurteilung der Motivation des Täters besteht27. Eine in sich schlüssige Begründung für die rein normative Schuldauffassung hat aber erst Welzel gegeben, indem er den Vorsatz als Bestandteil der Handlung und damit zugleich als Bestandteil des Unrechtstatbestandes in Anspruch nahm und dadurch das Ergebnis Graf zu Dohnas von der Unrechtslehre her verständlich machte. Unrecht ist danach die Gesamtheit der Eigenschaften des Handlungswillens, die ihn als nichtgesollt, Schuld die Gesamtheit der Eigenschaften, die ihn als vorwerfbar erscheinen lassen28. 5. Die Entwicklung ist jedoch über diese Stufe noch einen Schritt hinausgegangen und scheint nunmehr ein festes Fundament erreicht zu haben 29 . Während der 22 Vgl. Goldschmidt, Österr. Zeitschrift für Strafrecht 1913, 161; derselbe, Frank-Festgabe Bd. I S. 432; Engisch, Untersuchungen S. 22; Graf zu Dohna, Verbrechenslehre S. 3 I f f . 23 Vgl. die Systeme von v. Hippel, Bd. I I S. 289ff.; Mezger, Lehrbuch S. 267ff.; Baumann/Weber, Allg. Teil S. 374; Nowakowski, SchwZStr 65 (1950) S. 302 ff.; derselbe, Das österreichische Strafrecht S. 446 ff. (geändert in JBl 1972, 19 ff.). 24 Vgl. z.B. v. Hippel, Bd. I I S. 276; Mezger, Lehrbuch S. 330ff. 25 Vgl. Welzel, Lehrbuch S. 140f.; derselbe, ZStW 60 (1941) S. 456; derselbe., Das neue Bild S. 41 ff.; Maurach/Zipf Allg. Teil I § 16 Rdn. 42; Stratenwerth, Allg. Teil I Rdn. 509. Vgl. ferner Achenbach, Schuldlehre S. 209 ff. Der Vorsatz hat jedoch, wie man heute überwiegend annimmt, eine Doppelstellung sowohl im Unrecht als auch in der Schuld (vgl. unten § 39 I V 4). 26 Vgl. E. Wolf Strafrechtliche Schuldlehre S. 126; dazu Jescheck, E. Wolf-Festschrift S. 474 f. 27 Graf zu Dohna, Verbrechenslehre S. 22, 40. 28 Ebenso v. Weber, Grundriß S. 107; derselbe, Aufbau S. 17 (Gegenüberstellung von „Sollen" und „Können"); Busch, Moderne Wandlungen S. 11; Brauneck., G A 1959, 261. Vgl. auch H. Mayer, Lehrbuch S. 21 Off. 29 Der nachstehende Text folgt Gallas, Beiträge S. 55 ff. Übereinstimmend Schmidhäuser, Gesinnungsmerkmale S. 178; derselbe, Allg. Teil S. 148ff., 366ff.; derselbe, Gallas-Festschrift S. 93 ff.; derselbe, Jescheck-Festschrift Bd.I S.400ff.; Schönke/Schröder/Lenckner, Vorbem. 119 vor § 13; WK (Nowakowski) Vorbem. 38 vor § 3; Wessels, Allg. Teil Rdn. 401. Kritisch dazu Otto, ZStW 87 (1975) S. 581; derselbe, G A 1981, 484; Roxin, Allg. Teil I § 19 Rdn. 22 ff.; Jakobs, Allg. Teil 17/17.

422

§ 3

Die

o g i s c h e n Grundlagen des Schuldbegriffs

Gegenstand des Rechtswidrigkeits- wie des Schuldurteils bei Welzel der gleiche ist, nämlich der Handlungswille, der einmal als nichtgesollt, das andere Mal als vorwerfbar gewertet wird 3 0 , ist es der neueren Lehre gelungen, dem Schuldurteil ein eigenes Bezugsobjekt zu sichern: Gegenstand des Schuldurteils ist die Tat im Hinblick auf die rechtlich fehlerhafte Gesinnung (tadelnswerte Rechtsgesinnung), aus der der Entschluß zur Tat erwachsen ist (vgl. die Aufnahme der Gesinnung in den Katalog der Strafzumessungsgründe, § 46 I I 2 zweite Position). Gebildet wird die Gesinnung durch die Gesamtheit der Handlungsmaximen, die dem Entschluß zur Tat zugrunde liegen. Gesinnung ist also nicht als dauernde Einstellung, sondern als „aktuelles Gesonnensein" bei der Bildung des Tatentschlusses zu verstehen 31. Schuld bedeutet danach: „Vorwerfbarkeit der Tat mit Rücksicht auf die darin betätigte mißbilligte Gesinnung" (Gallas). Was vorgeworfen wird, ist natürlich immer die Tat und nicht allein die Gesinnung 32 . Der Vorwurf ist jedoch nur insoweit berechtigt, als sich in der Tat die gegen das Recht, genauer: gegen den Achtungsanspruch des jeweils geschützten Rechtsguts gerichtete Gesinnung des Täters manifestiert. Die Gesinnung in ihrer Beziehung zum Achtungsanspruch des geschützten Rechtsguts ist somit der Grund, weswegen die Tat dem Täter mehr oder weniger schwer vorgeworfen wird.

III. Formeller und materieller Schuldbegriff 1. Der formelle Schuldbegriff umfaßt diejenigen Merkmale der Tat, die in einer gegebenen Rechtsordnung als Voraussetzungen der Zurechnung zur Schuld positiv verlangt werden 33 . In formeller Hinsicht ist die Schuld also gleich der Gesamtheit der Merkmale, die in einem historisch gegebenen Strafrechtssystem als Voraussetzungen der subjektiven Zurechnung angesehen werden. 2. Beim materiellen Schuldbegriff geht es dagegen um die Frage, unter welchen Bedingungen es gerechtfertigt erscheint, die subjektive Zurechnung auf eine bestimmte Gesinnung zu gründen 34 . Der materielle Schuldbegriff kann aufgebaut werden auf Forderungen der Ethik 3 5 oder der öffentlichen Sicherheit 36, auf der Eigenart der Antriebssteuerung beim Menschen 37 oder dem Zweck der Strafe 38, insbesondere auf den Erfordernissen der Generalprävention 39. Der materielle Schuldbegriff erlaubt die Entscheidung, welche Merkmale der Tat bzw. des Täters der Gesetzgeber dem Schuldurteil zugrunde legen darf. Nach der hier vertretenen Auffassung beruht das Schuldurteil materiell auf der Verletzung des Achtungsanspruchs des durch die Strafnorm geschützten Rechtsguts (vgl. oben § 38 I I 5). 30

Vgl. Welzel, Lehrbuch S. 138; ebenso auch Maurach/Zipf Allg. Teil I § 35 Rdn. 16. Vgl. Herren, Die Gesinnung S. 85 ff. („tatrelevante Gesinnung"). 32 Schmidhäuser, Allg. Teil S. 369 in Verbindung mit S. 39; ähnlich Jakobs, Allg. Teil 17/51. 33 Vgl. zum ganzen Engisch, Untersuchungen S. 3 8 ff. 34 Vgl. dazu Mangakis, ZStW 83 (1971) S. 290 ff. 31

35

36

So Arthur Kaufmann,

Schuldprinzip S. 129; Baumann, J Z 1962, 43.

So v. Liszt/ Schmidt, S. 231: „Asoziale Gesinnung des Täters als Symptom der Gefährlichkeit"; vgl. auch Grünhut, Aschaffenburg-Festgabe S. 95: „Gefährlichkeit als Schuldmoment". 37 So Welzel, Lehrbuch S. 144. 38 So Roxin, Kriminalpolitik S. 33ff.; derselbe, Henkel-Festschrift S. 181 ff.; derselbe, ZStW 96 (1984) S. 653 ff.; Muhoz Conde, GA 1978, 73 f. 39 So Jakobs, Allg. Teil 17/22; Achenbach, Individuelle Zurechnung S. 140 ff.

I V . Einzeltatschuld u n d Lebensführungsschuld

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IV. Einzeltatschuld und Lebensführungsschuld 1. Die Schuld ist entweder Einzeltatschuld oder Leb ens führungsschuld (Täter-, Persönlichkeits-, Charakterschuld). Bei der Einzeltatschuld werden nur diejenigen rechtlich tadelnswerten Gesinnungsfaktoren berücksichtigt, die sich unmittelbar auf die tatbestandsmäßige Handlung beziehen. Bei der Lebensführungsschuld wird das Schuldurteil dagegen auf die Gesamtpersönlichkeit des Täters und ihre Entwicklung ausgedehnt. Der Schuldbegriff des deutschen Strafrechts ist grundsätzlich auf die Einzeltatschuld bezogen, was sich schon aus der Entscheidung für das Tatstrafrecht ergibt (vgl. oben § 7 I I I 2). Das Unrecht, auf das der Schuldvorwurf gerichtet ist, besteht in der Begehung einer bestimmten Tat oder in der Unterlassung einer bestimmten, von der Rechtsordnung gebotenen Handlung, nicht jedoch in einer rechtlich mißbilligten Lebensführung. Hinzu kommt die praktische Erwägung, daß es mit den Mitteln des geltenden Strafverfahrensrechts, jedenfalls in der großen Mehrzahl der Fälle, unmöglich sein würde, die Lebensgeschichte des Angeklagten mit ihren oft verborgenen tiefenseelischen Zusammenhängen aufzuklären. Dabei bestünde auch die Gefahr, daß die Persönlichkeitserforschung zu einer der Bedeutung der Sache nicht entsprechenden Preisgabe der Intimsphäre des Angeklagten im Gerichtssaal sowie zu einer schulmeisterlich-moralisierenden Rechtsprechung (dagegen treffend O L G Hamm GA 1969, 26) führen würde, was beides weder der Gerechtigkeit noch der Wiedereingliederung des Verurteilten in die Gemeinschaft dienen würde. Endlich entspricht die Einzeltatschuld auch am besten der Idee der tatvergeltenden Strafe, die aus rechtsstaatlichen Gründen auf einen eng begrenzten Ausschnitt aus dem Leben des Täters bezogen und nicht als Versuch einer Generalabrechnung gedacht ist. Auch das StGB bemißt die Strafe ausschließlich nach der Einzeltatschuld (§ 46) 40 . 2. Daher ist der Gedanke der Lebensführungsschuld 41, der in der früheren Diskussion eine wichtige Rolle gespielt hat 42 , heute in den Hintergrund getreten. Von Bedeutung bleibt allerdings die Einsicht, daß die Tatschuld meist nicht allein aus den Gegebenheiten im Zeitpunkt der Tat erklärt werden kann, sondern daß die aktuelle Gesinnung des Täters mit seiner Lebensgeschichte eng verknüpft ist 4 3 . Verschiedentlich zieht die Rechtsprechung deshalb auch die Vorgeschichte des Täters bei der Beurteilung einzelner Schuldfaktoren heran, etwa bei der Frage, ob der Täter einen Verbotsirrtum hätte vermeiden können (vgl. B G H 2, 194 [208 f.]) 4 4 40 Vgl. Binding, Normen Bd.II S. 283; Baumann/Weher, Allg. Teil S. 359; Bruns, Strafzumessungsrecht S. 538 ff.; Maurach/Zipf, Allg. Teil I § 35 Rdn. 13; H. Mayer, Lehrbuch S. 65; Arthur Kaufmann, Schuldprinzip S. 187ff.; Müller-Dietz, Grenzen des Schuldgedankens S. 62; Schmidhäuser, Allg. Teil S. 373; Schönke/Schröder/Lenckner, Vorbem. 105 f. vor § 13; SK (Rudolphi) Vorbem. 3 vor § 19; Wessels, Allg. Teil Rdn. 402. Kritisch dazu Jakohs, Allg. Teil 17/34 ff. 41 Die Bezeichnung stammt von Mezger, ZStW 57 (1938) S. 689. Bockelmann, Täterstrafrecht 2. Teil S. 153 spricht von Lebensentscheidungsschuld, um den Gehalt an Willensschuld zu betonen. 42 Vgl. Engisch, ZStW 61 (1942) S. 170ff.; derselbe, ZStW 66 (1954) S. 359; Heinitz, ZStW 63 (1951) S. 74ff.; Hall, ZStW 70 (1958) S. 46f.; Mezger, Moderne Wege S. 35f.; Blei, Allg. Teil S. 426; Dünnebier, Tagungsberichte Bd. I S. 94. Dagegen Roxin, Allg. Teil I § 6 Rdn. 20, § 19 Rdn. 54. 43 In dieser Richtung B G H NJW 1976, 2220; ferner vor allem Bockelmann, Untersuchungen S. 12ff.; Bockelmann/Volk, Allg. Teil S. 238; Brauneck, MSchrKrim 1958, 142ff.; Jakobs, Allg. Teil 17/34ff.; L K 1 1 (Jescheck) Vorbem. 75 vor § 13; LK 9 (Hirsch) Vorbem. 158 vor § 51; Seelig, Schuld S. 25; Sauer, Allg. Strafrechtslehre S. 144; Schönke/Schröder/Lenckner, Vorbem. 106 vor § 13; SK (Rudolphi) Vorbem. 4 vor § 19. 44 Vgl. SK (Rudolphi) § 17 Rdn. 44ff.; kritisch LK U (Schroeder) § 17 Rdn. 47.

424

§ 39 Abgrenzung, Inhalt u n d A u f b a u des Schuldbegriffs

oder ob er in der Lage war, einen Affekt zu beherrschen (vgl. B G H NStZ 1984, 311) 45 . Auch bei den Strafzumessungsgrundsätzen des § 46 I I wird das „Vorleben des Täters" als ein bedeutsamer Umstand genannt46. § 39 Abgrenzung, Inhalt und Aufbau des Schuldbegriffs Achenbach, Individuelle Zurechnung usw., in: Schünemann (Hrsg.), Grundfragen des modernen Strafrechtssystems, 1984, S. 135; Cerezo Mir, Culpabilidad y pena, in: Problemas fundamentales del Derecho Penal, 1982, S. 179ff.; Dreher, Der Irrtum über Rechtfertigungsgründe, Festschrift für E. Heinitz, 1972, S. 207; Freudenthal, Schuld und Vorwurf, 1922; Gallas, Zur Struktur des strafrechtlichen Unrechtsbegriffs, Festschrift für P. Bockelmann, 1979, S. 155; Goldschmidt, Normativer Schuldbegriff, Festgabe für R. v. Frank, Bd. I, 1930, S. 428; Greenawalt, The Perplexing Borders of Justification and Excuse, in: Eser/Fletcher (Hrsg.), Rechtfertigung und Entschuldigung, Bd. I, 1987, S. 263; Haffke, Strafrechtsdogmatik und Tiefenpsychologie, GA 1978, 33; Hardwig, Die Gesinnungsmerkmale im Strafrecht, ZStW 68 (1956) S. 14; derselbe, Uber die unterschiedlichen Unrechtsgehalte und die Abgrenzung von Unrecht und Schuld, JZ 1969, 459; derselbe, Grundprobleme der Allgemeinen Strafrechtslehre, 1984; Heinitz, Besprechung von Maurach, Deutsches Strafrecht, Allg. Teil, JR 1957, 78; Hirsch, Der Streit um Handlungs- und Unrechtslehre, ZStW 94 (1982) S. 239; Husak, The Social View of Criminal Law Defences, Criminal Law Forum 3 (1992) S. 369; Jakobs, Schuld und Prävention, 1976; Jescheck, Die Entwicklung des Verbrechensbegriffs in Deutschland seit Beling im Vergleich mit der österreichischen Lehre, ZStW 73 (1961) S. 179; derselbe, Die weltanschaulichen und politischen Grundlagen des Ε 1962, ZStW 75 (1963) S. 1; derselbe, Deutsche und österreichische Strafrechtsreform, Festschrift für R. Lange, 1976, S. 365; derselbe, Neue Strafrechtsdogmatik und Kriminalpolitik, ZStW 98 (1986) S. 1; derselbe, Friedrich Nowakowski als Strafrechtsdogmatiker und Kriminalpolitiker, ZStW 103 (1991) S. 999; Kadecka, Von der Schädlichkeit zur Schuld usw., SchwZStr 50 (1936) S. 343; derselbe, Willensstraf recht und Verbrechensbegriff, ZStW 59 (1940) S. 1; Kantorowicz, Tat und Schuld, 1933; Arthur Kaufmann, Das Schuldprinzip, 2. Auflage 1976; Kohlrausch, Sollen und Können, Festgabe für K. Güterbock, 1910, S. 1; derselbe, Der Allgemeine Teil des Ε 1925, in: Aschrott/Kohlrausch (Hrsg.), Reform des Strafrechts, 1926, S. 1; Krümpelmann, Vorsatz und Motivation, ZStW 87 (1975) S. 888; derselbe, Die Neugestaltung der Vorschriften über die Schuldfähigkeit usw., ZStW 88 (1976) S. 6; Lackner, Prävention und Schuldunfähigkeit, Festschrift für Th. Kleinknecht, 1985, S. 245; Lampe, Das personale Unrecht, 1967; Lange, Literaturbericht, ZStW 63 (1951) S. 456; derselbe, Grundfragen der deutschen Strafrechtsreform, SchwZStr 70 (1955) S. 373; Lang-Hinrichsen, Betrachtungen zur Strafrechtsreform, in: Grundfragen der Strafrechtsreform, 1959, S. 53; Mangakis, Über das Verhältnis von Strafrechtsschuld und Willensfreiheit, ZStW 75 (1963) S. 499; Nowakowski, Freiheit, Schuld, Vergeltung, Festschrift für Th. Rittler, 1957, S. 55; Robinson, Criminal Law Defenses, Bd. I, II, 1984; Roeder, Die Einhaltung des sozialadäquaten Risikos, 1969; Roxin, Kriminalpolitik und Strafrechtssystem, 2. Auflage 1973; derselbe, Zur jüngsten Diskussion über Schuld usw., Festschrift für P. Bockelmann, 1979, S. 279; Schaff stein, Zur Problematik der teleologischen Begriffsbildung im Strafrecht, 1934; derselbe, Das Verbrechen als Pflichtverletzung, 1935; derselbe, Rechtswidrigkeit und Schuld im Aufbau des neuen Strafrechtssy stems, ZStW 57 (1938) S. 295; Schmoller, Zur Argumentation mit Maßstabfiguren, JBl 1990, 631, 706; Schreiber, Rechtliche Verantwortlichkeit und Schuld, in: Thomas (Hrsg.), Schuld: Zusammenhänge und Hintergründe, 1990, S. 61; Schünemann, Die deutschsprachige Strafrechtswissenschaft usw., GA 1985, 341; Welzel, Das Gesinnungsmoment im Recht, Festschrift für J. v. Gierke, 1950, S. 290; Wolter, Objektive und personale Zurechnung usw., 1981; Ziegert, Vorsatz, Schuld und Vorverschulden, 1987. Vgl. ferner die Schrifttumsangaben vor §§ 37, 38. 45 Vgl. dazu LK U (Jähnke) § 20 Rdn. 60ff.; Geilen, Maurach-Festschrift S. 173ff.; Krümpelmann, Welzel-Festschrift S. 338ff.; derselbe, GA 1983, 354ff.; derselbe, ZStW 99 (1987) S. 221 ff.; Rudolphi, Henkel-Festschrift S. 199ff. 46 Als strafschärfender Umstand kommt das „Vorleben", insbesondere eine frühere Straffälligkeit des Täters in Betracht, aber nur insoweit, als eine Beziehung zu der jetzt abzuurteilenden Tat besteht; so B G H StV 1988, 148; Schönke/Schröder/Stree, §46 Rdn. 30f. m.Nachw. Vgl. auch Stratenwerth, Tatschuld S. 28 ff.

I. Rechtswidrigkeit u n d Schuld

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I . Rechtswidrigkeit u n d Schuld 1. D i e T r e n n u n g v o n Rechtswidrigkeit u n d Schuld geht z u r ü c k auf die U n t e r scheidung der gemeinrechtlichen Strafrechtswissenschaft zwischen objektiver u n d subjektiver Z u r e c h n u n g ( i m p u t a t i o physica oder facti b z w . i m p u t a t i o moralis oder j u r i s ) 1 . Sie ist seither t r o t z aller Wandlungen, die i n der Dogmengeschichte eingetreten sind, grundlegend geblieben u n d m u ß als A n g e l p u n k t der Verbrechenslehre bezeichnet werden. A u c h daß die P r ü f u n g der Rechtswidrigkeit der der Schuld voraus zugehen hat, w i r d heute allgemein angenommen 2 . P r ü f u n g der Rechtswidrigkeit bedeutet, daß eine T a t unter dem Gesichtspunkt der H a n d l u n g u n d des Erfolges auf ihre objektive Richtigkeit ( U b e r e i n s t i m m u n g m i t den Sollensn o r m e n der Rechtsordnung) untersucht w i r d . U n r e c h t heißt dann, daß die T a t i n ihren o b j e k t i v e n u n d subjektiven M e r k m a l e n dem Recht widerspricht. P r ü f u n g der Schuld bedeutet, daß gefragt w i r d , ob eine T a t dem Täter persönlich vorgeworfen w e r d e n k a n n 3 . Schuldhaft handelt der Täter dann, w e n n seine W i l l e n s b i l d u n g , die z u der rechtswidrigen T a t geführt hat, auf mangelhafter Rechtsgesinnung beruhte (vgl. oben § 38 I I 5). 2. Abweichungen vom Leitgedanken der Trennung von Unrecht und Schuld sind selten. Die Unterscheidbarkeit von Rechtswidrigkeit und Schuld wurde zeitweise in Zweifel gezospäter auch von Hardwig 5. H. Mayer 6 läßt die Trennbarkeit von gen von Schaffstein*, Rechtswidrigkeit und Schuld insofern nicht gelten, als er eine Tat, bei der der Täter ohne Schuld handelt, nicht als objektivierten Willen und damit auch nicht als Unrecht ansieht. Kantorowicz betrachtete die Schuld nicht als Verbrechensmerkmal, sondern als Strafbarkeitsbedingung 7 . Die subjektive Verbrechensauffassung in Österreich nahm früher an, daß es eine schuldhafte Straftat ohne Rechtswidrigkeit gebe (z.B. beim Versuch) 8 . Heute werden Rechtswidrigkeit und Schuld wie in Deutschland als Voraussetzungen der Strafbarkeit für erforderlich gehalten und inhaltlich getrennt 9 . Österreich hat ferner das Prinzip „keine Strafe ohne Schuld" in § 4 StGB verankert. Auch im Schweiz. StGB gelten das Schuldprinzip und die Trennung von Unrecht und Schuld als Grundlagen des Systems 10 . In der französischen und anglo-amerikanischen Strafrechtstheorie fehlt es dagegen an einer der neueren deutschen

1 „Imputatio physica" bedeutete zwar nicht Rechtswidrigkeit (diese ist erst viel später als selbständiges Verbrechensmerkmal erkannt worden, vgl. oben § 22 I), sondern Zurechnung der Tat als Willenswerk des Täters. Doch ist gerade dies der Kern dessen, was man heute im Rahmen der Unrechtslehre die objektive Zurechnung nennt; vgl. zu den beiden Begriffen der imputatio Schaff stein, Die allgemeinen Lehren S. 37. 2 Vgl. SK (Rudolphi) Vorbem. 2 vor § 19; Schönke/Schröder/Lenckner, Vorbem. 20 vor §13. 3 Zum Unrecht kommt das „Dafür-Können" des Täters hinzu; so Schönke/Schröder/

Lenckner, Vorbem. 193, 118 vor § 13; LK n

(Hirsch) Vorbem. 182 v o r § 32; Arthur Kauf-

mann, Schuldprinzip S. 115 ff.; Stratenwerth, Allg. Teil I Rdn. 507; Welzel, Lehrbuch S. 120. 4 Schaffstein, Problematik S. 31; derselbe, Verbrechen als Pflichtverletzung S. 137; derselbe, ZStW 57 (1938) S. 326ff. 5 Hardwig, Zurechnung S. 132. Anders und dem Text verwandt jedoch derselbe, JZ 1969, 461 ff. sowie Grundprobleme S. 6 ff. 6 H. Mayer, Lehrbuch S. 105; derselbe, Grundriß S. 64. 7 Kantorowicz, Tat und Schuld S. 219 f. 8 Vgl. in diesem Sinne Kadecka, ZStW 59 (1940) S. 17ff.; Nowakowski, Grundriß S. 42 (aufgegeben JBl 1972, 22). Dazu Jescheck, ZStW 73 (1961) S. 207. 9 Vgl. Triffterer, Allg. Teil S. 247f.; Kienapfel, Grundriß Ζ 14 Rdn. 17; Leukauf/Steininger, § 4 Rdn. 2; W Κ (Nowakowski) Vorbem. 13, 36 vor § 3. 10 Vgl. Stratenwerth, Schweiz. Strafrecht, Allg. Teil I S. 234; Schultz, Einführung I S. 180; Noll/Trechsei, Allg. Teil I S. 103, 129.

426

§ 39 Abgrenzung, Inhalt u n d Aufbau des Schuldbegriffs

Dogmatik vergleichbaren Entwicklung der Unrechtslehre 11 . Auf der anderen Seite ist in der italienischen 12 und spanischen 13 Theorie der Einfluß der deutschen Lehre unverkennbar. I n den Niederlanden wird die Unterscheidung von Rechtswidrigkeit und Schuld bei Pompe 14 noch an die Außen- und Innenseite der Tat angeknüpft, während van Bemmelen/van Veen 15 und Remmelink 16 die Verbrechenslehre ähnlich der modernen deutschen Auffassung darstellen. I I . D e r Gegenstand des Schuldurteils 1. Gegenstand des Schuldurteils ist die rechtswidrige T a t m i t Rücksicht auf die i n ihr aktualisierte, rechtlich mißbilligte G e s i n n u n g 1 7 . Rechtsgesinnung ist eine für die praktische B e w ä h r u n g der Sozialordnung unentbehrliche Eigenschaft der B ü r g e r 1 8 . Sie ist nicht gleichbedeutend m i t sittlicher Gesinnung, da es insoweit nicht auf die ethische B i n d u n g d u r c h die Rechtsnormen a n k o m m t , sondern auf die Einsicht i n ihre Geltung. Schuld ist ein tadelnswerter M a n g e l an Rechtsgesinnung, der i n einer tatbestandsmäßigen u n d rechtswidrigen H a n d l u n g A u s d r u c k gefunden hat. Dieser M a n g e l k a n n i n größerem oder geringerem Maße gegeben sein, w o b e i Maßstab der höhere oder niedrigere W e r t der M o t i v e der W i l l e n s b i l d u n g ist. D i e Schuld ist deswegen ebenso w i e das U n r e c h t ein der Steigerung fähiger Begriff. I n d e m m i ß b i l l i g t e n M a n g e l an Rechtsgesinnung liegt der Bezugspunkt, auf den die verschiedenen M e r k m a l e des Schuldbegriffs auszurichten u n d v o n dem aus sie z u verstehen sind. Beispiele: Beim geisteskranken Verbrecher fehlt zwar die Rechtsgesinnung, dieser Mangel verdient jedoch keinen Tadel, weil er auf einer seelischen Störung beruht. Beim Verbotsirrtum kommt es darauf an, ob das fehlende Unrechtsbewußtsein sich auf fundamentale Naturrechtssätze bezog, die jeder kennen muß, oder auf mehr technische Normen (delicta mere prohibita), ob es der Täter absichtlich oder aus Nachlässigkeit an der notwendigen Erkundigung hat fehlen lassen oder ob der Irrtum unvermeidbar war. Beim Handeln auf Befehl ist der Soldat entschuldigt, wenn die Strafrechtswidrigkeit der Tat nicht offensichtlich ist, weil er dann keinen Anlaß zur Erhebung von Gegenvorstellungen hat. 2. Die Auffassung, daß Gegenstand des Schuldurteils der Mangel an Rechtsgesinnung beim Täter ist, unterscheidet sich nicht prinzipiell von anderen Lehren, wonach die Schuld in der „ M o t i v a t i o n " 1 9 , in dem „Können der Willensbildung" 2 0 , in dem „rechtlich mißbillig11 Bemerkenswert jedoch die generelle Unterscheidung der Gründe von „justification" und „excuse" bei Robinson, Criminal Law Defenses Bd. I S. 83 und 91. Die traditionell skeptische Einstellung dazu zeigt sich bei Greenawalt, The Perplexing Borders S. 263 ff.; Husak, Criminal Law Forum 3 (1992) S. 369. Klare Unterscheidung von Unrecht und Schuld als Grundvoraussetzungen der Strafbarkeit dagegen im belgischen Recht; vgl. Dupont/ Verstraeten, Handboek Nr. 396; Hennau/Verhaegen, Droit pénal général Nr. 327. 12 Vgl. Bettiol/Pettoello Mantovani, Diritto penale S. 239 ff.; zwei Werturteile „antigiuridicità" und „colpevolezza" unterscheiden auch Nuvolone, Sistema S. 108, 265 und Mantovani, Diritto penale S. 140, 295 ff. 13 Vgl. Rodriguez Devesa/ Serrano Gômez, Derecho penal S. 404ff., 429 ff.; Mir Puig y A d i ciones Bd. I S. 593; Cobo del Rosal/Vives Anton, Derecho Penal S. 231 ff., 41 I f f . ; Cerezo

Mir, Culpabilidad y pena S. 179 ff. 14 Vgl. Pompe, Handboek S. 99. Bei Pompe, Das niederländische Strafrecht S. 62 ff., 74 ff. ist diese Auffassung schon verlassen. 15

16

van Bemmelen/van

Veen, Ons strafrecht S. 99, 133.

Hazewinkel-Suringa/Remmelink, Inleiding S. 191 ff. 17 Vgl. oben § 38 I I 5 Fußnote 29. 18 Vgl. Henkel, Rechtsphilosophie S. 82; Welzel, v. Gierke-Festschrift S. 296 ff. 19 So Engisch, Untersuchungen S. 476; Krümpelmann, ZStW 87 (1975) S. 890; Jakobs, Allg. Teil 17/1. 20 So Welzel, Lehrbuch S. 140 f.

I I I . D e r Maßstab des Schuldurteils

427

ten Ausdruck der Persönlichkeit des Täters" 21 zu suchen ist, denn alle diese Mängel sind nur auf dem Boden einer tadelnswerten Einstellung zum Recht denkbar. In einem weiteren Sinne lassen sich sämtliche im neueren Schrifttum gebrauchten Formulierungen, die einen materiellen Schuldbegriff beschreiben 22, mit der hier vertretenen Auffassung vereinbaren. Eine Ausnahme macht die „kriminalpolitische Theorie" Roxins 23. Sie fragt, „ob unter strafrechtlichen Gesichtspunkten gegen den einzelnen Täter eine Sanktion erforderlich ist". Die Schuld sei nur Schranke der staatlichen Strafgewalt und materiell nicht mehr als „unrechtes Handeln trotz normativer Ansprechbarkeit" 4 . Maßgebend ist indessen zunächst, ob Strafe verdient ist; Schuld ist demgemäß Voraussetzung, nicht bloß Begrenzung der Strafe 25. Noch einen Schritt weiter gehen Jakobs 26, der die „Schuld als Derivat der Generalprävention" ansieht, sowie Achenbach 27, der „auf den Begriff der (Strafbegründungs)schuld verzichten" will. In den Hintergrund getreten ist die Lehre von der „Zumutbarkeit" als dem materiellen Grund des Schuldvorwurfs 28 . I I I . D e r Maßstab des Schuldurteils 1. Als K r i t e r i u m für die Bewertung des i n der Tat hervorgetretenen Mangels an Rechtsgesinnung k o m m t sowohl ein individueller als auch ein sozial-vergleichender Maßstab i n Betracht. Vielfach w i r d angenommen, daß der Schuldvorwurf auf das individuelle „Dafür-Können" des Täters zu gründen sei 2 9 . Gefragt w i r d dabei, ob die Individualperson, die als Angeklagter vor Gericht steht, i n der Lage gewesen wäre, anders, d.h. entsprechend den Anforderungen der Rechtsordnung, zu handeln. Diese Frage läßt sich jedoch nicht beantworten, denn dies würde voraussetzen, daß für einen bestimmten einzelnen u n d eine konkrete Tat die Existenz der Willensfreiheit nachgewiesen werden könnte (vgl. oben § 37 I 2 b). D i e Frage kann vielmehr sinnvoll nur dahin gestellt werden, ob „ein anderer" i n der Lage des Täters nach dem Erfahrungsgut der beteiligten Fachdisziplinen der Tatversuchung hätte widerstehen können (sozial-vergleichender Maßstab) Wollte man den individuellen Täter zum Maßstab seiner Schuld nehmen, so würde das Ergebnis auch kriminalpolitisch nicht zu vertreten sein. Das hätte nämlich zur Folge, daß, je charakterloser jemand ist, desto geringer das Maß seiner Schuld zu veranschlagen wäre. 21

So Blei, Allg. Teil S. 173. Die Schuld ist bei Mezger, Lehrbuch S. 275 „rechtlich mißbilligter Ausdruck der Persönlichkeit des Täters"; bei Maurach/Zipf, Allg. Teil I § 35 Rdn. 16 „Abfall des Täters vom Normbefehl"; bei Lange, SchwZStr 70 (1955) S. 394 „Vorwurf einer mangelnden sozial-ethischen Anstrengung"; bei Arthur Kaufmann, Schuldprinzip S. 129 „freie, selbstverantwortliche Willensentscheidung gegen eine erkannte Pflicht"; bei Schmidhäuser, Allg. Teil S. 148 „rechtsgutverletzendes geistiges Verhalten"; bei Stratenwerth, Allg. Teil I Rdn. 511 „Möglichkeit, die rechtliche Sollensforderung zu erkennen und sich nach ihr zu richten". 23 Vgl. Roxin, Kriminalpolitik und Strafrechtssystem S. 33 ff.; derselbe, Henkel-Festschrift S. 181 ff.; derselbe, Bockelmann-Festschrift S. 284: Schuld als „notwendige, aber nicht hinreichende Bedingung für eine Zurechnung". 24 Vgl. Roxin, MSchrKrim 1973, 319ff.; derselbe, Allg. Teil I § 19 Rdn. 34. 25 So Arthur Kaufmann, JZ 1967, 555; Lenckner, Strafe, Schuld und Schuldfähigkeit S. 18. 26 Jakobs, Schuld und Prävention S. 32; derselbe, Allg. Teil 17/22: der Schuldbegriff sei zu bilden „nach den Erfordernissen des Strafzwecks für eine Gesellschaft bestimmter Verfassung". 27 Achenbach, Individuelle Zurechnung S. 151. 28 So Freudenthal, Schuld und Vorwurf, 1922; Goldschmidt, Frank-Festgabe Bd. I S. 442. 29 So z.B. Freudenthal, Schuld und Vorwurf S. 7; Lang-Hinrichsen, Grundfragen S. 116ff.; Maurach/Zipf, Allg. Teil I § 36 Rdn. 12; v. Weber, Grundriß S. 108; Wegner, Strafrecht S. 145; Welzel, Lehrbuch S. 140f. 30 Vgl. Jescheck, ZStW 75 (1963) S. 10; LK U (Jescheck) Vorbem. 74 vor § 13; Lackner, Kleinknecht-Festschrift S. 265. 22

428

§ 39 Abgrenzung, Inhalt u n d A u f b a u des Schuldbegriffs

Diese Erwägung müßte schließlich zur Aufhebung des Schuldvorwurfs gerade gegenüber den gefährlichsten Kriminellen führen, weil der absolute Mangel an Verbundenheit mit der Gemeinschaft auch die absolute Verneinung des Schuldvorwurfs erzwingen würde, während die Rechtsordnung gar nicht umhin kann, ein Mindestmaß an Willensanstrengung zu fordern, wenn sie überhaupt durch Normen (anstelle von unmittelbarem Zwang) aufrechterhalten werden soll. Damit, daß der Täter bei der Tat seinen eigenen Maßstäben gerecht wird, kann sich die Gemeinschaft nicht abfinden. Die Individualität des Verbrechers hindert das Strafrecht nicht daran, auch von ihm das zu verlangen, was ein anderer in gleicher Lage zu leisten vermöchte. Darin liegt der normative Aspekt der subjektiven Zurechnung.

2. Maßstab für das Schuldurteil kann demgemäß nur ein durchschnittliches Können 31 sein, wie es die Rechtsordnung voraussetzt, indem sie z.B. die Schuldunfähigkeit (§ 20) an fest umschriebene psychopathologische Ausnahmezustände knüpft und damit in allen anderen Fällen seelischer Beeinträchtigung die Schuldfähigkeit bejaht. Das generelle Können ist freilich nicht im Sinne eines statistischen Durchschnitts, sondern als das von der Rechtsgemeinschaft unter normalen Umständen erwartete Können zu verstehen. Der Richter muß also danach fragen, ob „man" unter den gegebenen Umständen hätte anders handeln können. Abzustellen ist dabei nicht auf den Menschen schlechthin („das Menschengeschlecht mit alleiniger Ausnahme des Täters" 32 ), sondern auf einen „maßgerechten, mit den rechtlich geschützten Werten verbundenen Menschen" 33 , der nach Lebensalter, Geschlecht, Beruf, körperlichen Eigenschaften, geistigen Fähigkeiten und Lebenserfahrung dem Täter gleich zu denken ist. Damit wird nicht das generelle Können des Durchschnittsmenschen zum Maßstab des individuellen Könnens des Täters gemacht, sondern es wird aus der empirisch gesicherten Erfahrung mit gleichliegenden Fällen auf die Fähigkeit zur Selbststeuerung im konkreten Fall geschlossen. Die Abgrenzung zwischen den Eigenschaften, die bei der Gleichsetzung berücksichtigt werden, und denen, die auszuscheiden haben, ist folgendermaßen vorzunehmen: körperliche Fehler, Verstandesdefekte und Mängel an Lebenserfahrung sind dem Täter nicht zuzurechnen, weil er dafür nichts kann; insoweit ist ihm also der Durchschnittsmensch gleichzudenken. Das Zurückbleiben hinter dem Maß an Rechtsgesinnung und Willenskraft aber, das von dem maßgerechten Staatsbürger erwartet wird, das ist es, was an dem Täter getadelt wird und seine Schuld ausmacht. Daß dabei von den moralischen Qualitäten eines „anderen" auf die Möglichkeiten zurückgeschlossen wird, die auch dem „einen" in der Tatsituation zu Gebote gestanden hätten, kann nicht als ungerecht empfunden werden, da die Verantwortlichkeit des erwachsenen und seelisch gesunden Menschen eine unentbehr31 Vgl. Kohlrausch, Güterbock-Festgabe S. 24ff.; derselbe, Der Allgemeine Teil des Ε 1925 S. 26; Goldschmidt, Frank-Festgabe Bd. I S. 453; Kadecka, SchwZStr 50 (1936) S. 363; Bokkelmann/Volk, Allg. Teil S. llOf.; Blei, Allg. Teil S. 178f.; Krümpelmann, ZStW 88 (1976)

S. 12; Arthur

Kaufmann,

Schuldprinzip S. 282; LK 10

(Lange) §§ 20, 21 Rdn. 6; Mangakis,

ZStW 75 (1963) S. 519; SK (Rudolphi) § 20 Rdn. 25; Haffke, GA 1978, 45; Schreiber, Rechtliche Verantwortlichkeit und Schuld S. 61, 65; Mificka, Strafschuld S. 169; Nowakowski, SchwZStr 65 (1950) S. 308; derselbe, Grundriß S. 67f.; WK (Nowakowski) Vorbem. 46 vor § 3. Auch Engisch, Willensfreiheit S. 65 und Rittler, Bd. I S . 160 sind hier zu nennen, wiewohl von ihnen der Schuldvorwurf auf den Charakter gestützt wird. Gegen einen sozial-vergleichenden Maßstab des Schuldurteils Roxin, Allg. Teil I § 19 Rdn. 20. 32 So die überspitzte Formulierung von Graf zu Dohna, ZStW 66 (1954) S. 508; dagegen mit Recht Engisch, Willensfreiheit S. 22. 33 So die Formel von Nowakowski, Grundriß S. 67 sowie WK (Nowakowski) Vorbem. 47 vor § 3; vgl. auch derselbe, Rittler-Festschrift S. 70 und JBl 1972, 29. Übernommen von §§10 1, 32 I I österr. StGB und vom österr. O G H SSt 29, 83 (S. 263). Gegen Maßstabfiguren aber Schmoller, JBl 1990, 63Iff. Würdigung der österreichischen Lehre bei Jescheck, LangeFestschrift S. 374; derselbe, ZStW 103 (1991) S. 1008.

IV. Die Merkmale des Schuldbegriffs (Strafbegründungsschuld)

429

liehe Vorbedingung jeder auf Freiheit gegründeten Sozialordnung ist (vgl. oben § 37 I 3). IV. Die Merkmale des Schuldbegriffs (Strafbegründungsschuld) 1. Das Unwerturteil über die Rechtsgesinnung des Täters wird nicht pauschal aufgrund des Gesamteindrucks der Persönlichkeit gefällt, sondern stützt sich auf die Prüfung der im Gesetz festgelegten Schuldmerkmale. Darin liegt einerseits eine rechtsstaatliche Garantie für den Angeklagten, da es nicht einfach dem Ermessen des Richters überlassen bleibt, unter welchen Bedingungen er den Schuldvorwurf bejahen will, andererseits aber auch eine relative Strenge des Straf rechts, weil die Schuldmerkmale negativ (als Schuldausschließungsgründe) gefaßt sind, so daß Schuld schon dann bejaht werden muß, wenn für ihren Ausschluß im konkreten Fall keine Anhaltspunkte gegeben sind. 2. Erstes Merkmal des Schuldbegriffs ist die geistig-seelische Gesundheit des erwachsenen Täters (Schuldfähigkeit) (vgl. unten § 40) 3 . Bei schweren Ausfallserscheinungen und Störungen ist der Mangel an Rechtsgesinnung nicht zu tadeln, weil dem Täter die normalerweise vorauszusetzende Fähigkeit zur Selbstbestimmung fehlt. Das zweite Merkmal des Schuldbegriffs und das eigentliche Kennzeichen des Mangels an Rechtsgesinnung ist das Bewußtsein der Rechtswidrigkeit (vgl. unten § 41 I). Wer sich in voller V erbots kenntnis zur Tat entschließt, zeigt eine besonders mißbilligenswerte Einstellung zum Recht. Liegt dagegen ein VerbotszVrtum vor, so ist der Täter nicht zu tadeln, wenn der Irrtum unvermeidbar war. Die Nichterkenntnis des Rechtsgebots kann aber auf einem vorwerfbaren Mangel an Rechtsgesinnung beruhen, was zur Folge hat, daß der vermeidbare Verbotsirrtum der bewußten Auflehnung gegen das Recht bis zu einem gewissen Grade gleichgestellt wird (vgl. unten § 41 I I 2 und I I I 1). Die Schuld kann weiter durch besondere deliktstypische Schuldmerkmale, die die Einstellung des Täters zu seiner Tat näher kennzeichnen, erhöht oder vermindert werden (vgl. unten § 42) 35 . Endlich setzt der Schuldvorwurf die „Normalität der begleitenden Umstände" voraus. Liegen bestimmte im Gesetz vorgesehene Ausnahmesituationen vor, die die Fähigkeit zu normgemäßer Selbstbestimmung erfahrungsgemäß erheblich beeinträchtigen, so wird der Täter entschuldigt, weil dann die besondere Zwangslage, in der die Tat begangen wurde, den Mangel an Rechtsgesinnung relativiert (vgl. unten §§ 44 47). 3. Abgesehen von den selbständigen Merkmalen des Schuldbegriffs wird der Schuldgehalt der Tat durch ihren Unrechtsgehalt mitbestimmt, denn zum Vorwurf gemacht wird dem Täter die Willensbildung in bezug auf die begangene Tat. Da das Unrecht Schuldvoraussetzung ist und die Schuld immer auf das Unrecht bezogen werden muß, wirkt sich jede Differenzierung im Unrechtsbereich mittelbar auch auf die Schwere des Schuldvorwurfs aus 36 . Auch der Vorsatz als allgemeines subjektives Unrechtsmerkmal ist damit zugleich Gegenstand des Schuldvor34 Vgl. ferner die Gruppierung der Schuldmerkmale unter den zwei Gesichtspunkten „Möglichkeit der Unrechtseinsicht" (intellektuelles Schuldelement) und „Möglichkeit, sich der Unrechtseinsicht gemäß zu verhalten" (voluntatives Schuldelement) bei LK 11 (Hirsch) Vorbem. 187 vor § 32. 35 Ebenso WK (Nowakowski) Vorbem. 53 vor § 3. Gegen die Bildung eines die deliktsspezifischen Schuldelemente zusammenfassenden besonderen „Schuldtatbestandes" LK 11 (Hirsch) Vorbem. 187 a.E. vor § 32; Jakobs, Allg. Teil 17/44. 36 Vgl. Gallas., Beiträge S. 44; Jakobs, Allg. Teil 17/47; Welzel, Lehrbuch S. 165; Roxin., ZStW 82 (1970) S. 691; SK (Rudolphi) Vorbem. 2 vor § 19.

430

§ 40 D i e Schuldfähigkeit (Zurechnungsfähigkeit)

wurfs, denn es macht nicht nur für den Unrechts-, sondern auch für den Schuldgehalt der Tat einen Unterschied, ob der Täter vorsätzlich oder fahrlässig gehandelt hat (vgl. oben § 24 I I I 5). 4. Der Vorsatz ist darüber hinaus auch ein selbständiges Schuldmerkmal (Doppelstellung des Vorsatzes). Der Entschluß zur Tat nimmt als Ergebnis des Willensbildungsprozesses alle Determinanten im innerseelischen Bereich des Täters in sich auf, so daß ihm als „Träger des Gesinnungsunwerts" für die Beurteilung des Schuldgehalts der Tat selbständige Bedeutung neben dem Vorsatz als dem „Träger des Handlungssinns" zukommt 3 7 . In der Regel ist die Feststellung des Vorsatzes als des Trägers des personalen Handlungsunrechts der Tat auch zur Charakterisierung der Rechtsgesinnung des Täters ausreichend. Ausnahmsweise kann der Vorsatz jedoch als Ausdruck des Gesinnungsunwerts zu verneinen sein, obwohl er als Ausdruck des Handlungswillens gegeben ist (so bei der irrigen Annahme der Voraussetzungen eines Rechtfertigungsgrundes, vgl. unten § 41 IV l d ; bei der vorsätzlichen actio libera in causa, vgl. unten § 40 V I 2; beim Verbotsirrtum im Bereich der Ordnungswidrigkeiten, vgl. unten § 41 I I 2 c). Nur bei Fahrlässigkeitstaten bedarf es im Rahmen der Schuld stets noch der besonderen Prüfung, ob dem Täter die objektive Sorgfaltspflichtverletzung auch nach seinen persönlichen Fähigkeiten vorzuwerfen ist und ob der Erfolg für ihn voraussehbar war (vgl. unten § 57 I I und III). Als positives Element wirkt der Vorsatz in seiner Eigenschaft als Träger des Gesinnungsunwerts schließlich beim Aufbau des bedingten Vorsatzes mit (vgl. oben § 29 I I I 3 a). Zur Lehre von der Tatverantwortung vgl. 3. Auflage S. 348.

Unterabschnitt

b): Die Merkmale der Schuld

§ 40 Die Schuldfähigkeit (Zurechnungsfähigkeit) Ρ.-Λ. Albrecht, Unsicherheitszonen des Schuldstrafrechts, G A 1983, 193; derselbe, Jugend(Hrsg.), Jugendstrafe an strafrecht, 2. Auflage 1993; P.-A. Albrecht/ Schüler-Springorum 14- und 15jährigen, 1983; Aschaffenburg, Zur Frage: Verminderte Zurechnungsfähigkeit, RG-Festgabe, 1929, Bd. V, S. 242; v. Baeyer, Die Freiheitsfrage in der forensischen Psychiatrie usw., Der Nervenarzt 28 (1957) S. 337; Behrendt, Affekt und Vorverschulden, 1983; Berner, Grundlinien der criminalistischen Imputationslehre, 1843; Bertel, Die Zurechnungsfähigkeit, OJZ 1975, 622; Bertolino, L'imputabilità ed il vizio di mente nel sistema penale, 1990; Binder, Die Geisteskrankheit im Recht, 1952; Blau, Anmerkung zu B G H vom 27.5.1986, JR 1987, 206; derselbe, Anmerkung zu B G H 35, 143, JR 1988, 514; derselbe, Die Affekttat zwischen Empirie und normativer Bewertung, Festschrift für H. Tröndle, 1989, S. 109; derselbe, Paraphrasen zur Abartigkeit, Festschrift für W. Rasch, 1993, S. 113; Blau/Franke, Prolegomena zur strafrechtlichen Schuldfähigkeit, Jura 1982, 393; Bockelmann, Willensfreiheit und Zurechnungsfähigkeit, ZStW 75 (1963) S. 372; de Boor, Bewußtsein und Bewußtseinsstörungen, 1966; Brandenberger, Bemerkungen zu der Verübung einer Tat in selbstverschuldeter 37 Die Lehre von der Doppelstellung des Vorsatzes hat sich im Anschluß an Gallas, Beiträge S. 56 f. Fußnote 89; derselbe, Bockelmann-Festschrift S. 170 weitgehend durchgesetzt; vgl. Dreher, Heinitz-Festschrift S. 224 f.; Hünerfeld, ZStW 93 (1981) S. 1000; Lackner, § 15 Rdn. 34; Jescheck, ZStW 98 (1986) S. 11 ff.; LK U (Hirsch) Vorbem. 184 vor § 32; Hirsch, ZStW 94 (1982) S. 263; Haft, Allg. Teil S. 145; Lampe, Das personale Unrecht S. 234; Moos, ZStW 93 (1981) S. 1032; Roxin, Kriminalpolitik S. 42 f.; derselbe, Allg. Teil I § 12 Rdn. 26,

§ 10 Rdn. 69; Schönke/Schröder/Lenckner, V o r b e m . 120 v o r § 13; SK (Rudolphi) § 16 Rdn. 3; WK (Nowakowski) V o r b e m . 11 v o r § 3; Schünemann, G A 1985, 361 f.; Wessels, A l l g .

Teil Rdn. 142, 425; Wolter,

Zurechnung S. 152; liegen, Vorsatz S. 137ff.

Schrifttum zu §

431

Trunkenheit, 1970; Brandstetter, Grundfragen der Deliktsverwirklichung im Vollrausch, 1992; Brauneck Die Jugendlichenreife nach § 105 JGG, ZStW 77 (1965) S. 209; Bresser, Jugendzurechnungsfähigkeit oder Strafmündigkeit, ZStW 74 (1962) S. 579; derselbe, Noch immer: Die Problematik des § 105 JGG, Festschrift für F. Schaffstein, 1975, S. 323; derselbe, Probleme bei der Schuldfähigkeits- und Schuldbeurteilung, NJW 1978, 1188; Brunner, Jugendgerichtsgesetz, 8. Auflage 1985; Bruns, Die Strafzumessung bei Vollrauschdelikten, Festschrift für K. Lackner, 1987, S. 439; Burkhardt, Tatschuld und Vorverschulden, in: Eser/ Kaiser/Ewa Weigend (Hrsg.), Drittes deutsch-polnisches Kolloquium über Strafrecht und Kriminologie, 1988, S. 147; Carboneil Mateu u.a., Enfermedad mental y delito, 1987; Cramer , Der Vollrauschtatbestand als abstraktes Gefährdungsdelikt, 1962; derselbe, AnmerJugendgerichtsgesetz, 2. Auflage kung zu B G H 21, 381, JZ 1968, 273; Daliinger/Lackner, 1965; Dencker, § 323a StGB - Tatbestand oder Schuldform? JZ 1984, 453; Diesinger, Der Affekttäter, 1977; Dix , Medizinische Sachverständigengutachten über die Zurechnungsfähigkeit in den USA, ZStW 97 (1985) S. 213; Dreher, Verbotsirrtum und § 51 StGB, GA 1957, 97; derselbe, Anmerkung zu B G H 21, 27, JR 1966, 350; Ehrhardt, Die Schuldfähigkeit in psychiatrisch-psychologischer Sicht, in: Frey (Hrsg.), Schuld, Verantwortung, Strafe, 1964, S. 277; Ehrhardt/Villinger y Forensische und administrative Psychiatrie, in: Psychiatrie der Gegenwart, Bd. III, 1961, S. 181; Eickmeyer y Die strafrechtliche Behandlung der Heranwachsenden nach § 105 JGG, 1963; Eisenberg, Jugendgerichtsgesetz, 5. Auflage 1993; Engisch, Die Lehre von der Willensfreiheit usw, 2. Auflage 1965; Feest y Kinderkriminalität, Kleines Kriminologisches Wörterbuch, 3. Auflage 1993, S. 210; Frehsee, „Strafverfolgung" von unmündigen Kindern, ZStW 100 (1988) S. 290; Frisch, Grundprobleme der Bestrafung „verschuldeter" Affekttaten, ZStW 101 (1989) S. 538; Geilen, Zur Problematik des schuldausschließenden Affekts, Festschrift für R. Maurach, 1972, S. 173; Giese/Schorsch y Zur Psychopathologie der Sexualität, 1973; Göppinger, Kriminologische Aspekte zur sogenannten verminderten Schuldfähigkeit, Festschrift für H. Leferenz, 1983, S. 411; Goldstein y The Insanity Defense, 1967; Hadamik, Uber die Bewußtseinsstörung bei Affektverbrechen, MSchrKrim 1953, 11; derselbe, Leidenschaft und Schuld, GA 1957, 101; Haddenbrock, Strafrechtliche Handlungsfähigkeit und „Schuldfähigkeit", Handbuch der forensischen Psychiatrie, Bd. II, 1972, S. 863; derselbe, Forensische Psychiatrie und die Zweispurigkeit unseres Strafrechts, NJW 1979, 1235; derselbe y Soziale oder forensische Schuldfähigkeit (Zurechnungsfähigkeit), 1992; Hafter, Normale Menschen? 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Spendel, 1992, S. 203; H ettinger y Die „actio libera in causa" usw, 1988; derselbe, Zur Strafbarkeit der „fahrlässigen actio libera in causa", GA 1989, 1; Horn, Actio libera in causa usw, G A 1969, 289; Hruschka, Der Begriff der actio libera in causa und die Begründung ihrer Strafbarkeit, JuS 1968, 554; derselbe, Methodenprobleme bei der Tatzurechnung trotz Schuldunfähigkeit des Täters, SchwZStr 90 (1974) S. 48; derselbe, Probleme der actio libera in causa heute, JZ 1989, 310; Jescheck, Die Bedeutung nicht-krankhafter Bewußtseinsstörungen usw, in: Gerichtliche Psychologie, 1962, S. 208; Joerden, Strukturen des strafrechtlichen Verantwortlichkeitsbegriffs usw, 1988; Jubert, La doctrina de la „Actio libera in causa" en derecho penal, 1992; Kaiser, Jugendstrafrecht, Kleines Kriminologisches Wörterbuch, 3. Auflage 1993, S. 199; Kallwaß, Der Psychopath, 1969; Katzenstein, Die Straflosigkeit der actio libera in causa, 1901; Armin Kaufmann, Schuldfähigkeit und Verbotsirrtum, Festschrift für Eb. Schmidt, 1961, S. 319; Hilde Kaufmann, Die Regelung der Zurechnungsfähigkeit im Ε 1962, JZ 1967, 139; Hilde Kaufmann/Pirsch, Das Verhältnis von § 3 JGG zu § 51 StGB, JZ 1969, 358; W. Keller, Menschliche Existenz, Willensfreiheit und Schuld, in: Frey (Hrsg.), Schuld, Verantwortung, Strafe, 1964, S. 201; Kleinschrod, Systematische Entwicklung der Grundbegriffe und Grundwahrheiten des peinlichen Rechts, I. Teil, 1794; Koch, Die actio libera in causa usw. Diss. Freiburg 1956; Kotsalis, Verminderte Schuldfähigkeit und Schuldprinzip, Festschrift für J. Baumann, 1992, S. 33; Krause, Betrachtungen zur actio libera in causa usw, Festschrift für H. 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§ 40 D i e Schuldfähigkeit (Zurechnungsfähigkeit)

337; derselbe, Schuldzurechnung unter Affekt und alkoholisch bedingter Schuldunfähigkeit, ZStW 99 (1987) S. 191; derselbe, Affekt und Schuldfähigkeit, 1988; derselbe, Die strafrechtliche Schuldfähigkeit bei Affekttaten, Recht und Psychiatrie 1990, 150; Krug/Grüner/ Dalicbau, Kinder- und Jugendhilfe, SGB V I I I , Kommentar, 1994; Küper, Aspekte der „actio libera in causa", Festschrift für H. Leferenz, 1983, S. 573; Lackner, Neuorientierung der Rechtsprechung im Bereich des Vollrauschtatbestandes? Festschrift für H.-H. Jescheck, Bd. I, 1985, S. 645; Landgraf, Die „verschuldete" verminderte Schuldfähigkeit, 1988; Leferenz, Die rechtsphilosophischen Grundlagen des § 51 StGB, Der Nervenarzt 19 (1948) S. 364; derselbe, Die Kriminalität der Kinder, 1957; derselbe, Der Entwurf des Allg. Teils eines StGB in kriminologischer Sicht, ZStW 70 (1958) S. 25; derselbe, Die Neugestaltung der Vorschriften über die Schuldfähigkeit usw., ZStW 88 (1976) S. 40; Lubte/ Rosier, Die Beurteilung der Schuldfähigkeit bei akuter alkoholtoxischer Bewußtseinsstörung, ZStW 98 (1986) S. 314; Mannheim/Joseph/Sieverts, Die kriminalrechtliche Behandlung von jungen Rechtsbrechern (über 18 Jahren) in England, Frankreich und in der Bundesrepublik Deutschland, 1958; Mäurach, Fragen der actio libera in causa, JuS 1961, 373; Merkel, Die hochgradige Neurose usw., Diss. Mainz 1982; / . E. Meyer, Psychiatrische Diagnosen und ihre Bedeutung für die Schuldfähigkeit, ZStW 88 (1976) S. 46; Mezger, Probleme der strafrechtlichen Zurechnungsfähigkeit, Sitzungsberichte der Bayer. Akademie der Wissenschaften, 1949, Heft 2; derselbe, Das Verstehen als Grundlage der Zurechnung, Sitzungsberichte der Bayer. Akademie der Wissenschaften, 1951, Heft 1; Neumann, Zurechnung und „Vorverschulden", 1985; derselbe, Neue Entwicklungen im Bereich der Argumentationsmuster zur Begründung oder zum Ausschluß strafrechtlicher Verantwortlichkeit, ZStW 99 (1987) S. 567; derselbe, Konstruktion und Argument in der neueren Diskussion zur actio libera in causa, Festschrift für Arthur Kaufmann, 1993, S. 581; Oehler, Anmerkung zu B G H vom 9.10.1969, JZ 1970, 380; Ostendorf, Die Prüfung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit nach § 3 JGG usw., JZ 1986, 664; Paeffgen, Actio libera in causa und § 323a StGB, ZStW 97 (1985) S. 513; Peters, Literaturbericht, ZStW 66 (1954) S. 423; derselbe, Die Beurteilung der Verantwortungsreife, Handbuch der Psychologie, Bd. 11, 1967, S. 260; Pfeiffer, Die kriminologische Bedeutung der Chromosomenanomalien, Kriminologische Gegenwartsfragen, Heft 9, 1970, S. 119; Platzgummer, Die „Allgemeinen Bestimmungen" des Strafgesetzentwurfs im Licht der neueren Strafrechtsdogmatik, JBl 1971, 236; Pongratz u.a., Kinderdelinquenz, 1975; Ponsold (Hrsg.), Lehrbuch der gerichtlichen Medizin, 1964; Puppe, Grundzüge der actio libera in causa, JuS 1980, 346; Rasch, Schuldfähigkeit, Lehrbuch der gerichtlichen Medizin, 3. 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Tröndle, 1989, S. 201; Saiger/Mutzbacher, Die actio libera in causa usw., NStZ 1993, 561; Schaff stein, Die Jugendzurechnungsunfähigkeit im Verhältnis zur allgemeinen Zurechnungsfähigkeit, ZStW 77 (1965) S. 191; derselbe, Überlegungen zu einem künftigen Jungtäterrecht, Festschrift für K. Peters, 1974, S. 583; derselbe, Die strafrechtliche Verantwortlichkeit Heranwachsender nach Herabsetzung des Volljährigkeitsalters, MSchrKrim 1976, 92; derselbe, Die entschuldigte Vatertötung, Festschrift für H. Stutte, 1979, S. 253; Schewe, Reflexbewegung, Handlung, Vorsatz, 1972; Schmidhäuser, Die actio libera in causa usw., 1992; A. Schmidt, Probleme der Kriminalität geisteskranker Täter, 1970; R. Schmitt, Die „schwere andere seelische Abartigkeit" in §§ 20 und 21 StGB, ZStW 92 (1980) S. 346; K. Schneider, Die psychopathischen Persönlichkeiten, 9. Auflage 1950; derselbe, Die Beurteilung der Zurechnungsfähigkeit, 3. Auflage 1956; Schreiber, Bedeutung und Auswirkungen der neugefaßten Bestimmungen über die Schuldfähigkeit, NStZ 1981, 46; Schröder, Verbotsirrtum, Zurechnungsfähigkeit, actio libera in causa, GA 1957, 297; derselbe, Anmerkung zu B G H 21, 27, JZ 1966, 451; Schüler-Springorum, Zum Strafrecht für junge Erwachsene, Festschrift für F. Schaffstein, 1975, S. 395; Schwalm, Schuld und Schuldfähigkeit usw., JZ 1970, 487; Schwinghammer, Die Rechtsfigur der actio libera in causa, Diss. München 1966; Simon/Aaronson, The Insanity Defense, 1988; Sluga, Maßnahmen zur Behandlung abnormer

I. D e r Begriff der Schuldfähigkeit

433

Täter - Erfahrungsbericht aus Österreich, Kriminologische Gegenwartsfragen, Heft 15, 1982, S. 33; Stratenwerth, Vermeidbarer Schuldausschluß, Gedächtnisschrift für Armin Kaufmann, 1989, S. 485; Streng, Richter und Sachverständiger usw, Festschrift für H . Leferenz, 1983, S. 397; derselbe, Schuld ohne Freiheit? ZStW 101 (1989) S. 273; Thomae, Bewußtsein, Persönlichkeit und Schuld, MSchrKrim 1961, 114; Thomae/Schmidt, Psychologische Aspekte der Schuldfähigkeit bei Bewußtseinsstörung, Lehrbuch der gerichtlichen Medizin, 2. Auflage 1957, S. 130; Tröndle, Vollrauschtatbestand und Zweifelsgrundsatz, Festschrift für H . - H . Jescheck, Bd. I, 1985, S. 665; Undeutsch, Zur Problematik des psychologischen Sachverständigen, Festschrift für R. Lange, 1976, S. 703; Venzlaff, Restaurierung eines „engen" Krankheitsbegriffs usw.? ZStW 88 (1976) S. 57; Vogt, Die Forderungen der psychoanalytischen Schulrichtungen usw, 1979; Waaben/Schultz/ Léauté, Die Behandlung der Trunkenheit im Strafrecht, 1960; Walder, Der Affekt und seine Bedeutung im schweizerischen Strafrecht, SchwZStr 81 (1965) S. 24; Walter, Jugendrecht, Jugendhilfe, Jugendschutz, Kleines kriminologisches Wörterbuch, 3. Auflage 1993, S. 191; v. Weber, Die strafrechtliche Verantwortlichkeit für die Rauschtat, Festschrift für U. Stock, 1966, S. 59; Weinschenk, Beginnt die Schuldfähigkeit wirklich erst mit der Vollendung des 14. Lebensjahres? MSchrKrim 1984, 15; Wilmanns, Die sogenannte verminderte Zurechnungsfähigkeit u s w , 1927; Witter, Die Beurteilung Erwachsener im Strafrecht, Handbuch der forensischen Psychiatrie, Bd. II, 1972, S. 966; derselbe, Die Bedeutung des psychiatrischen Krankheitsbegriffs für das Strafrecht, Festschrift für R. Lange, 1976, S. 723; derselbe, Wissen und Werten bei der Beurteilung der strafrechtlichen Schuldfähigkeit, Festschrift für H . Leferenz, 1983, S. 441; derselbe, Die Beurteilung der Schuldfähigkeit usw, in: Witter (Hrsg.), Der psychiatrische Sachverständige im Strafrecht, 1987, S. 175; Wolfslast, Die Regelung der Schuldfähigkeit, JA 1981, 464; Wolter, Vollrausch mit Januskopf, NStZ 1982, 54; derselbe, Vorsätzliche Vollendung ohne Vollendungsvorsatz usw.? Festschrift für H . Leferenz, 1983, S. 545; Ziegert, Vorsatz, Schuld und Vorverschulden, 1987; Zipf Verminderte Zurechnungs- oder Schuldfähigkeit - Vergleich der österreichischen und der deutschen Regelung, Kriminologische Gegenwartsfragen, Heft 15, 1982, S. 157.

I. D e r Begriff der Schuldfähigkeit 1. D i e Schuldfähigkeit 1 ist das erste der Merkmale, auf denen das Schuldurteil beruht 2. Schuldfähigkeit m u ß vorliegen, d a m i t der M a n g e l an Rechtsgesinnung, aus d e m der Tatentschluß erwachsen ist, überhaupt tadelnswert erscheinen kann. N u r w e r eine bestimmte Altersstufe erreicht hat u n d nicht an schweren seelischen Störungen leidet, besitzt das M i n d e s t m a ß an Fähigkeit z u r Selbstbestimmung, das v o n der Rechtsordnung für die strafrechtliche V e r a n t w o r t l i c h k e i t verlangt w i r d . Fehlt es an der Schuldfähigkeit, so k a n n der Täter z w a r handeln - i m Unterschied z u r Handlungsunfähigkeit bei Reflexen (z.B. R e a k t i o n auf elektrischen Schlag) oder Bewußtlosigkeit (Schlafwandeln) (vgl. oben § 23 V I 2 a) - , aber er k a n n nicht schuldig werden, w e i l die T a t n i c h t auf rechtlich mißbilligenswerter Gesinnung beruht. 1 Die gebräuchlichere Bezeichnung „Zurechnungsfähigkeit u knüpft an die subjektive Zurechnung im Sinne der Strafrechtslehre des 19. Jahrhunderts an. Zurechnungsfähigkeit bedeutete damals, daß der subjektiven Zurechnung keine Hindernisse entgegenstehen. Der Ausdruck umfaßte damit auch das Fehlen von Irrtum und Zwang (vgl. Berner, Imputationslehre S. 52). I m Anschluß an den heute herrschenden normativen Schuldbegriff ist indessen die Bezeichnung „Schuldfähigkeit" vorzuziehen (so auch §§ 19 - 21). 2 Nach überwiegender Ansicht soll es sich um eine der Schuld vorgelagerte „Schuldvoraussetzung" handeln; so Baumann/Weber, Allg. Teil S. 376; v. Liszt/ Schmidt, S. 239; Maurach/Zipf; Allg. Teil I § 35 Rdn. 35; Wessels, Allg. Teil Rdn. 409; SK (Rudolphi) Vorbem. 5 vor § 19; offen gelassen bei Schönke/Schröder/Lenckner, Vorbem. 118 vor § 13. Nach Dreher/Tröndle, § 20 Rdn. 3 a ist § 20 ein Schuldausschließungsgrund. In Wirklichkeit handelt es sich um ein positives Schuldelement innerhalb des Schuldbegriffs; ebenso Frank, § 51 Vorbem. I I ; Blei, Allg. Teil S. 181 f.; Stratenwerth, Allg. Teil I Rdn. 515; Welzel, Lehrbuch S. 152 f.; LK n (Hirsch) Vorbem. 189 vor § 32.

28 Jescheck, 5. A.

434

§ 40 D i e Schuldfähigkeit (Zurechnungsfähigkeit)

Über die heute überholten Lehren, die Schuldfähigkeit als „strafrechtliche Handlungsfähigkeit" oder „Strafempfänglichkeit" verstehen wollten, vgl. 2. Auflage S. 325. 2. D e r Begriff der Schuldfähigkeit k n ü p f t einmal an das Lebensalter an. Bevor nicht ein sich i m A l t e r ausdrückender biologischer Reifungsprozeß abgeschlossen ist, k a n n ein S c h u l d v o r w u r f entweder überhaupt n i c h t erhoben w e r d e n (StrafUnmündigkeit) oder er erfordert die Feststellung, daß der Täter einen G r a d an intellektueller E n t w i c k l u n g , sittlicher Reife u n d W i l l e n s k r a f t erreicht hat, der es rechtfertigt, seine i n der T a t aktualisierte Einstellung z u m Recht nach jugendgemäßen, aber d o c h i m m e r h i n strafrechtlichen Maßstäben z u messen (bedingte Strafmündigkeit). D i e Schuldfähigkeit steht ferner i n Beziehung z u r geistig-seelischen Gesundheit des Täters, weshalb sie bei schweren Ausfallserscheinungen z u verneinen ist

(S 20). 3. Während bei bedingt straf mündigen Jugendlichen die Schuldfähigkeit positiv festgestellt und im Urteil dargetan werden muß (RG 58, 128) 3 , wird sie beim erwachsenen Täter so lange vorausgesetzt, als nicht Anhaltspunkte dafür bestehen, daß an seiner Verantwortlichkeit zu zweifeln ist (RG 21, 131 [132]) 4 . Begründete Zweifel können etwa gegeben sein bei erstmaligen sexuellen Handlungen eines älteren Mannes mit Kindern ( B G H N J W 1964, 2213), überhaupt bei Ersttaten in vorgerücktem Alter ( B G H NStZ 1983, 34), bei Anzeichen von Triebanomalien ( B G H StV 1984, 507) oder bei einer Häufung von Ladendiebstählen einer bisher unbestraften Frau ( O L G Köln M D R 1975, 858). Der Unterschied erklärt sich dadurch, daß bei Jugendlichen das Fehlen der die Verantwortlichkeit begründenden Reife häufig ist, während die geistig-seelischen Defekte, die zum Ausschluß der Verantwortlichkeit nach § 20 führen, verhältnismäßig seltene Ausnahmefälle darstellen. Auch Personen, bei denen Normalabweichungen und Störungen geringeren Ausmaßes vorliegen wie Intelligenzmängel, Willensschwäche, außerordentliche Erregbarkeit, übermäßige Triebstärke und ungewöhnliche Erlebnisreaktionen, sind schuldfähig, solange diese Besonderheiten nicht den Grad einer krankhaften seelischen Störung, einer tiefgreifenden Bewußtseinsstörung, des Schwachsinns oder einer schweren anderen seelischen Abartigkeit (§ 20) erreichen.

I I . D i e Stufen der Schuldfähigkeit 1. Kinder, d.h. Personen, die z u r Z e i t der T a t n o c h n i c h t 14 Jahre alt sind, erklärt § 19 für schuldunfähig. Bei Personen, die das 14. Lebensjahr n o c h n i c h t vollendet haben, verneint der Gesetzgeber die Schuldfähigkeit also generell u n d ohne Rücksicht auf den i n d i v i d u e l l e n E n t w i c k l u n g s s t a n d . Es handelt sich u m einen Schuldausschließungsgrund 6 . Teilnahme eines Schuldfähigen ist also m ö g l i c h (§ 29). Verfahrensrechtlich ist die absolute Strafunmündigkeit ein Prozeßhindernis, so daß ein Ermittlungsverfahren nicht eingeleitet w e r d e n darf u n d ein versehentlich eröffnetes Verfahren einzustellen i s t 7 . 3

Zur Justizpraxis kritisch Ostendorf\

JZ 1986, 664 ff.

4

Vgl. Lackner, § 20 Rdn. 19; Roxin, A l l g . Teil I § 20 Rdn. 1, 51; LK n Rdn. 13; Schönke/Schröder/Lenckner, § 20 Rdn. 1, 45. 5

(Jähnke) § 20

Der Ε 1962, Begründung S. 137 spricht hier mit der h.L. (vgl. Dreh er/Tröndle,

Rdn. 2; Lackner,

§ 19 Rdn. 1; Schönke/Schröder/Lenckner,

§ 19

§ 19 Rdn. 1) v o n einer „ u n -

widerlegbaren Vermutung der Schuldunfähigkeit". Roxin, Allg. Teil I § 20 Rdn. 49 nimmt „Ausschluß der Verantwortlichkeit" an. Kritisch zu § 19 StGB und § 3 JGG Weinschenk, MSchrKrim 1984, 15 ff. 6

Vgl. Schaffstein/Beulke, Jugendstrafrecht S. 45; Schönke/Schröder/Lenckner, § 19 Rdn. 3. So die h . L . ; vgl. Eisenberg, § 1 J G G Rdn. 31; Dreher/Tröndle, § 19 Rdn. 2; Schönke/ Schröder/Lenckner, § 19 Rdn. 5; Schmidhäuser, A l l g . Teil S. 377; SK (Rudolphi) § 19 Rdn. 3; 7

Schaffstein/Beulke, Jugendstrafrecht S. 46. Zur Geschichte der Strafmündigkeit Rudolf, Kriminalistik und forensische Wissenschaften 1983, 91 ff. Zur „Strafverfolgung" von Kindern eingehend Frehsee, ZStW 100 (1988) S. 290ff.

I I . D i e Stufen der Schuldfähigkeit

435

Begeht ein Kind eine rechtswidrige Tat ( § 1 1 1 Nr. 5), so kann das Vormundschaftsgericht Schutzmaßnahmen nach §§ 1631 I I I , 1666, 1666 a, 1837 IV ergreifen. Außerdem kommt Hilfe zur Erziehung nach §§ 28 - 35 SGB V I I I (Kinder- und Jugendhilfe) in Betracht, wozu auch die Heimerziehung (§ 34) gehört 8 .

2. Ein Jugendlicher, d.h. eine Person, die zur Tatzeit 14, aber noch nicht 18 Jahre alt ist (§ 1 I I JGG), wird strafrechtlich nur dann zur Verantwortung gezogen, „wenn er nach seiner sittlichen und geistigen Entwicklung reif genug ist, das Unrecht der Tat einzusehen und nach dieser Einsicht zu handeln" (§ 3 S. 1 JGG) 9 . Ursprünglich stellte das StGB 1871 nach dem Vorbild des französischen Code pénal von 1810 („ discernement ") nur auf die intellektuelle Einsichtsfähigkeit des Jugendlichen ab. Bereits das JGG 1923 zog jedoch aus der neueren jugendpsychologischen Erkenntnis, daß es für die Beurteilung der Verantwortlichkeit des Jugendlichen auch auf die sittliche Reife und die Fähigkeit zur Umsetzung des Erkannten in aktuelles Verhalten ankommt, die Konsequenz und machte diese Merkmale ebenfalls zur Voraussetzung des strafrechtlichen Schuldurteils.

Die Einsichtsfähigkeit des Jugendlichen muß so weit ausgebildet sein, daß er das materielle Unrecht (nicht nur das Unmoralische oder Sittenwidrige) seiner Tat verstehen kann. Dagegen wird die Kenntnis der Strafbarkeit oder des Strafgesetzes hier ebensowenig wie sonst verlangt. Die Einsichtsfähigkeit muß sich auf die konkrete Tat beziehen; sie kann aber im Einzelfall für nur eines der tateinheitlich zusammentreffenden Delikte oder nur für den Grundtatbestand, nicht auch für die qualifizierte Strafvorschrift gegeben sein (unrichtig RG DR 1944, 659; zur „Teilbarkeit" des Unrechtsbewußtseins zutreffend B G H 10, 35) 10 . Die Einsichtsfähigkeit setzt sowohl einen bestimmten intellektuellen Entwicklungsstand als auch einen gewissen sittlichen Reifegrad voraus. Es kann sein, daß der Jugendliche die Norm zwar verstandesmäßig erfaßt, aber aus mangelnder sittlicher Reife nicht ernst nimmt. Beispiel: Bei sexuellem Mißbrauch von Kindern (§ 176) muß der Jugendliche die Fähigkeit haben, die Tat nicht nur als unmoralisch, sondern auch als rechtlich verboten zu erkennen. Es kann sein, daß er zwar das Unrecht der Tat nach dieser Vorschrift, nicht aber unter dem konkurrierenden Gesichtspunkt der Ärgerniserregung (§ 183 a) verstehen kann, oder daß es ihm trotz genügender Verstandesreife an der sittlichen Reife für die Unterscheidung von Spiel und Ernst fehlt (vgl. den Fall RG 47, 385).

Der Jugendliche muß aber nicht nur imstande sein, das Unrecht der Tat zu erkennen, sondern er muß auch die Fähigkeit haben, seinen Willen nach dieser Einsicht zu bestimmen (Steuerungsfähigkeit). Gerade bei jüngeren Jugendlichen, aber auch bei älteren, die unter dem Einfluß von Reifungsstörungen stehen, ist oft die 8

Vgl. über die pädagogische Formbarkeit kriminell anfälliger Kinder Leferenz, Die Kriminalität der Kinder S. 16 ff. Über die zahlenmäßige Bedeutung der Kinderkriminalität vgl. Pongratz u.a., Kinderdelinquenz S. 89ff. (polizeilich registrierte Kriminalität); Remschmidt u.a., MSchrKrim 1975, 133ff. (Dunkelfeldforschung). Nach Weinschenk, MSchrKrim 1984, 16 machte die Kinderdelinquenz im Jahre 1980 6,3% aller registrierten Straftaten aus und ist seit 1954 stetig angewachsen. Vgl. auch Leest, Kleines Kriminologisches Wörterbuch S. 210. Zur Kinder- und Jugendhilfe Walter, Kleines Kriminologisches Wörterbuch S. 195 ff. Zur Heimerziehung im Rahmen des Sorgerechtsentzugs nach § 1666 BGB Krug/Grüner/Dalichau, Kinder- und Jugendhilfe, SGB V I I I § 34 Anm. 2. 9 Zur Reform des JGG Kaiser, Kleines Kriminologisches Wörterbuch S. 203. Gegen Jugendstrafe bei den jüngsten Jahrgängen P.-A. Albrecht/Schüler-Springorum (Hrsg.), Jugendstrafe an 14- und 15jährigen, 1983. 10

Vgl. Schaffstein/Beulke,

Jugendstrafrecht S. 52; Brunner, § 3 J G G Rdn. 6; Eisenberg,

§ 3 JGG Rdn. 5; Peters, Zur Beurteilung der Verantwortungsreife S. 260ff.; Roxin, Allg. Teil I § 20 Rdn. 52. 28*

436

§ 40 D i e Schuldfähigkeit (Zurechnungsfähigkeit)

Einsichtsfähigkeit genügend ausgebildet, während es an der nötigen Willenskraft fehlt, u m dem D r u c k übermächtiger Tatmotive widerstehen zu können. Beispiele: Ein sonst tadelsfreier Vierzehnjähriger nimmt seinem Freund nach und nach immer mehr Spielsachen weg und erklärt zu Hause, ein Unbekannter habe sie ihm geschenkt, weil er dem sein Leben plötzlich beherrschenden Besitztrieb keinen Widerstand leisten kann. Ein älterer Jugendlicher wird von seinem Lehrer zu gemeinsamen Einbrüchen verführt und wagt es nicht, seine innere Ablehnung gegenüber der Autorität durchzusetzen. Fehlt es mangels Einsichts- oder Steuerungsfähigkeit an der Schuld des Jugendlic h e n 1 1 oder kann der Richter diese Möglichkeit nicht ausschließen, so darf er zur Erziehung dieselben Maßnahmen treffen wie der Vormundschaftsrichter (§ 3 S. 2 J G G , vgl. oben § 40 I I l ) 1 2 . Er braucht also nicht freizusprechen. Schwierig ist das Verhältnis v o n § 3 J G G zu § 20 zu bestimmen 1 3 . Handelt es sich u m reifungsbedingte Defekte, ist nur § 3 J G G anzuwenden; bei psychopathologischen Störungen, die erfahrungsgemäß i m Erwachsenenalter bestehen bleiben, k o m m t dagegen § 20 m i t der Möglichkeit der Unterbringung i n einem psychiatrischen Krankenhaus (§ 63) i n Frage (§ 7 J G G ) 1 4 . Bestehen Zweifel, ob das eine oder andere anzunehmen ist, darf der Mangel der Schuld nur auf den i n den Rechtsfolgen milderen § 3 J G G gestützt werden (in dubio pro reo). Ist der Jugendliche strafrechtlich verantwortlich, so zieht die Tat ausschließlich jugendgemäße Rechtsfolgen nach sich (Erziehungsmaßregeln nach § 9 J G G ; Zuchtmittel nach § 13 J G G ; Jugendstrafe nach §§ 17 f. J G G ) . D i e Jugendstrafe ist nach § 18 I 3 J G G auch i n ihrer Dauer v o n den Strafrahmen des allgemeinen Strafrechts gelöst. V o n den Maßregeln des allgemeinen Strafrechts können nur die Unterbringung i n einem psychiatrischen Krankenhaus oder einer Entziehungsanstalt, die Führungsaufsicht u n d die Entziehung der Fahrerlaubnis ( § 6 1 N r . 1, 2, 5 u n d 6) angeordnet werden (§ 7 J G G ) . 3. Entsprechend einer alten Forderung der Jugendgerichtsbewegung 15 hat das JGG 1953 für die Heranwachsenden, d.h. die zur Tatzeit 18, aber noch nicht 21 Jahre alten Personen (§ 1 I I zw. Halbs. JGG), eine Sonderregelung getroffen. Der Heranwachsende ist strafrechtunterliegt also nicht dem § 3 JGG. Die Rechtsfolgen der Tat sind lich voll verantwortlich, jedoch dann dem Jugendstrafrecht (§§ 4 - 8, 9 Nr. 1, 10, 11, 13 - 32 JGG) zu entnehmen, wenn der Täter zur Zeit der Tat nach seiner sittlichen und geistigen Entwicklung noch 11 Die Rspr. hat früher einen persönlichen Strafausschließungsgrund angenommen (RG 31, 161; 53, 143 [144]). Doch ist heute anerkannt, daß die Strafmündigkeit Schuldmerkmal ist; vgl. RG 47, 385 (389); Schaffstein/Beulke, Jugendstrafrecht S. 53; Maurach/Zipf, Allg. Teil I

§ 36 Rdn. 87; Daliinger/Lackner,

§ 3 J G G A n m . 18; Eisenberg, § 3 J G G Rdn. 11. K r i t i s c h

zur Rechtsprechung P.-A. Albrecht, Jugendstraf recht S. 99: „Die tatrichterliche Praxis läuft auf eine weitgehende Nichtbeachtung des § 3 JGG hinaus". 12 Da die Volljährigkeit seit dem 1.1.1975 mit der Vollendung des 18. Lebensjahres eintritt (Ges. vom 31.7.1974, BGBl. I S. 1713), enden Hilfe zur Erziehung, insbesondere Heimerziehung (§§ 28 - 35 SGB VIII) in diesem Zeitpunkt. Dies gilt auch für die Erziehungsmaßregeln nach § 9 Nr. 1 JGG. Wirksam bleiben nur Weisungen nach Nr. 1, die im Rahmen des § 56 c auch gegenüber Erwachsenen zulässig wären. 13 Vgl. dazu Bresser, ZStW 74 (1962) S. 579ff.; Schaffstein, ZStW 77 (1965) S. 191 ff.; Hilde Kaufmann/Pirsch, 14

J Z 1969, 358 ff.

Ist die Schuldfähigkeit nach beiden Vorschriften ausgeschlossen, hat das Gericht zwischen der Anstaltsunterbringung (§ 63) und Erziehungsmaßnahmen nach § 3 S. 2 (insbesondere Heimerziehung nach § 34 SGB VIII) zu wählen (BGH 26, 67); vgl. Schaffstein/Beulke, Jugendstrafrecht S. 54; Schaffstein, Stutte-Festschrift S. 253 ff. Dagegen nehmen P.-A. Albrecht, Jugendstrafrecht S. 102 und Eisenberg, § 3 JGG Rdn. 39 Vorrang des § 3 JGG an. 15 Vgl. Eickmeyer, Die strafrechtliche Behandlung der Heranwachsenden S. 15 f. Über die Stellung der Heranwachsenden im ausländischen Strafrecht vgl. Mannheim/Joseph/Sieverts, Die kriminalrechtliche Behandlung von jungen Rechtsbrechern S. 9 ff., 27 ff. Vgl. ferner für Großbritannien Schüler-Springorum, Schaffstein-Festschrift S. 397 ff.

I I I . Schuldunfähigkeit wegen seelischer Störungen

437

einem Jugendlichen gleichstand16 oder wenn es sich nach Art, Umständen und Beweggründen um eine Jugendverfehlung (z.B. ein Vergehen nach § 176 I) handelte (§ 105 JGG) . Bei Zweifeln geht das Jugendstrafrecht vor (BGH 12, 116 [119]). Ist auf die Straftat des Heranwachsenden allgemeines Strafrecht anzuwenden, sieht § 106 JGG für die lebenslange Freiheitsstrafe eine Milderungsklausel sowie ein Verbot der Sicherungsverwahrung vor. Eine verbreitete Kritik an § 105 JGG fordert die Einführung eines Sonderstrafrechts für volljährige junge Täter 18 . I I I . Schuldunfähigkeit wegen seelischer Störungen 1. Das deutsche Strafrecht verwendet i n § 20 zur Umschreibung der Schuldunfähigkeit die sogenannte gemischte („biologisch-psychologische") M e t h o d e 1 9 . D i e „biologischen" Faktoren sind krankhafte seelische Störung, tiefgreifende Bewußtseinsstörung, Schwachsinn u n d schwere andere seelische A b a r t i g k e i t 2 0 . K a n n eines dieser Merkmale festgestellt werden, so ist weiter zu prüfen, ob der Täter deswegen unfähig war, „das Unerlaubte der Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln" („psychologische" Merkmale). D i e Annahme der Schuldunfähigkeit setzt also voraus, daß der Richter positive Feststellungen aus zwei Merkmalsgruppen treffen kann: erstens muß eine der i m Gesetz genannten seelischen Störungen vorliegen, zweitens muß die Störung eine der beiden für die Willensbildung des M e n schen entscheidenden Fähigkeiten tiefgreifend beeinträchtigt haben. D i e gemischte Methode, die auch i n der gerichtlichen Psychiatrie anerkannt i s t 2 1 , hat gegenüber der rein biologischen Methode den Vorteil, daß die seelische Störung noch auf ihren Schweregrad u n d ihre Bedeutung für die konkrete Tat geprüft werden k a n n 2 2 . Gegenüber der rein psychologischen Methode besteht der V o r t e i l darin, daß die Bindung an gesetzlich umschriebene seelische Defekte, deren Wesen und Wirkungsweise durch Psychiatrie u n d Psychologie erforscht sind, die notwendige Rechtssicherheit schafft. 16

Vgl. dazu Brauneck, ZStW 77 (1965) S. 209 ff. Kritisch dazu Bresser, Schaffstein-Festschrift S. 323 ff, der generell für die Anwendung des Erwachsenenstrafrechts eintritt (S. 331 f.). 18 Vgl. dazu Schaffstein/Beulke, Jugendstrafrecht S. 63 f. m.w. Nachw.; Schaff stein, PetersFestschrift S. 600f.; derselbe, MSchrKrim 1976, 92ff.; P.-A. Albrecht, Jugendstrafrecht S. 110 f. Die Anwendung von Jugendstrafrecht auf Heranwachsende ist inzwischen bei den häufigsten Delikten (außer Verkehrsstraftaten) zur Regel geworden; vgl. die Tabelle bei Schaffstein/Beulke, Jugendstrafrecht S. 52. 19 Der Ausdruck ist nicht exakt, besser wäre „psychisch-normative" Methode. SK (Rudolphi) § 20 Rdn. 3 spricht von „biologisch-normativer" Methode. Dazu Jakobs, Allg. Teil 18/3 („psychologisch-normative" Methode). Roxin, Allg. Teil I § 20 Rdn. 2 verzichtet ganz auf eine Kennzeichnung. Zur Entstehungsgeschichte eingehend AK (Schild) §§ 20, 21 Rdn. 16 ff. 20 Die Taubstummheit (§ 55 a.F.) ist nicht mehr besonders erwähnt, sondern ist, wenn schwere seelische Ausfallserscheinungen vorliegen, unter die biologischen Merkmale der §§ 20, 21 zu subsumieren. Vgl. Stree, in: Roxin u.a., Einführung S. 47f.; Ε 1962 Begründung S. 140. 21 Vgl. Ehrhardt/Villinger, Psychiatrie der Gegenwart Bd. I I I S. 215 ff.; Rasch, Lehrbuch der gerichtlichen Medizin S. 71 f.; Binder, Die Geisteskrankheit S. 163 ff.; Haddenbrock, Strafrechtliche Handlungsfähigkeit und „Schuldfähigkeit" S. 907 ff. Dagegen fordert Thomae, MSchrKrim 1961, 120, daß der Gesetzgeber bei den nicht krankhaften Störungen nur auf die mangelnde Fähigkeit zur normgemäßen Willensbildung abstellen sollte, was jedoch dem Erfordernis der Rechtssicherheit nicht entsprechen würde. Roxin, Allg. Teil I § 20 Rdn. 7 will auf die Kennzeichnung der psychopathologischen Defektzustände sogar ganz verzichten. Zur Kritik der Neuregelung im ganzen Krümpelmann, ZStW 88 (1976) S. 6ff.; Leferenz, ebenda S. 40 ff. 22 Auf das zeitliche Merkmal „bei Begehung der Tat" und seine Problematik für die Beurteilung der Affekttat weist Krümpelmann, ZStW 88 (1976) S. 13 f. hin. 17

438

§ 40 D i e Schuldfähigkeit (Zurechnungsfähigkeit)

2. Die in § 20 erschöpfend 23 aufgezählten biologischen Merkmale der Schuldunfähigkeit sind dem psychiatrischen und psychologischen Sprachgebrauch angeglichen worden, bezeichnen aber die gleichen Sachverhalte, die Wissenschaft und Rechtsprechung auch schon unter der Herrschaft des § 51 a.F. in diesem Sinne verstanden hatten. a) Der Zentralbegriff der biologischen Merkmale in § 20, die krankhafte seelische Störung, deckt sich mit dem Begriff der „Psychose" in der Psychiatrie. Ihm stehen die „neurotisch-psychopathischen Störungen" und die „Triebanomalien" gegenüber, die in § 20 als „schwere andere seelische Abartigkeiten" bezeichnet werden. Die (fließende) Grenze liegt dort, wo die Verstehbarkeit der seelischen Reaktion aufhört. Als zweites Kriterium der Abgrenzung kommt hinzu, daß der „krankhaften seelischen Störung" meßbare Veränderungen der Gehirntätigkeit entsprechen 24. Als krankhafte seelische Störung sind demnach alle Störungen auf intellektuellem oder emotionalem Gebiet zu bezeichnen, die nicht mehr im Rahmen verstehbarer Erlebniszusammenhänge liegen und auf einer Verletzung oder Erkrankung des Gehirns beruhen. Dazu zählen die traumatischen Psychosen (Hirnverletzungen), die toxisch bedingten Psychosen (Rauschzustände durch Alkohol und andere Rauschmittel; B G H NJW 1969, 563) 25 , die Infektionspsychosen (progressive Paralyse) und die hirnorganischen Erkrankungen (Epilepsie). Man spricht hier von „exogenen" Psychosen, weil eine Ursache außerhalb des Körpers die geistigseelische Störung bewirkt. Krankhaft im organischen Sinne sind ferner die Erscheinungen des Schwachsinns infolge von Frühschädigungen des Gehirns oder als Auswirkung der im Alter auftretenden Hirnarteriosklerose oder Hirnatrophie (BGH G A 1965, 156). Zu den echten Geisteskrankheiten rechnen ferner die „endogenen" Psychosen (Schizophrenie und Zyklothymie), bei denen eine im Körperlichen selbst wurzelnde Ursache von der Psychiatrie angenommen („postuliert") wird, ohne daß diese jedoch bisher unanfechtbar nachgewiesen werden konnte 2 6 , 2 7 . 23 Für Analogiefähigkeit der Vorschrift Jakobs, Allg. Teil 18/7 („Unzumutbarkeit"); LK 10 (Lange) §§ 20, 21 Rdn. 13 („schicksalhafte Persönlichkeitsausfälle"); dagegen zu Recht Blau,

Jura 1982, 397; LK U

(Jähnke) § 20 Rdn. 3; Schönke/Schröder/Lenckner,

§ 20 Rdn. 5. Vgl.

auch Vogt, Die Forderungen der psychoanalytischen Schulrichtungen, 1979. 24 Vgl. dazu lehrreich Witter, Lange-Festschrift S. 723 ff. Die Kritik von Venzlaff, ZStW 88 (1976) S. 60 an der Restauration des „engen psychiatrischen Krankheitsbegriffs" trifft deswegen nicht zu, weil es dabei nur um eine theoretisch-systematische Ordnung geht und die nicht-psychotischen Zustände, wenn sie „Krankheitswert" haben, als „schwere andere seelische Abartigkeiten" erfaßt werden. Wie der Text Leferenz, ZStW 88 (1976) S. 42; / . £. Meyer, ZStW 88 (1976) S. 48 f. 25 Zur Trunkenheit eingehend LK U (Jähnke) § 20 Rdn. 42 ff.; SK (Rudolphi) § 20 Rdn. 7; Schönke/Schröder/Lenckner, § 20 Rdn. 16 f. Zu den forensischen Problemen Witter, Die Beurteilung Erwachsener S. 1029ff.; Luhte/ Rosier, ZStW 98 (1986) S. 314ff. Bei einem Blutalkoholwert ab 3%o wird in der Regel Schuldunfähigkeit angenommen (BGH VRS 28, 191; VRS 61, 261; NStZ 1984, 408; StV 1991, 297), doch ist das keine feste Norm (BGH NStZ 1982, 243; G A 1988, 271). Ab 2%o ist die Schuldfähigkeit in der Regel vermindert (BGH VRS 17, 187; NStZ 1984, 408; StV 1989, 14), ab 2,5%o ist Schuldunfähigkeit wahrscheinlich {Luhte/ Rosier, ZStW 98 [1986] S. 318). Zum „pathologischen Rausch" B G H 40, 198. Zur Rückrechnung zwecks Bestimmung des Blutalkoholwerts zur Tatzeit B G H NStZ 1985, 452; O L G Köln VRS 65, 426; Hentschel/Born, Trunkenheit im Straßenverkehr Rdn. 247 ff. Vgl. auch unten § 40 VII. 26 Uber die Anzahl der kriminellen Geisteskranken A. Schmidt, Geisteskranke Täter S. 56 ff., über die Erscheinungsformen S. 146 ff. 27 Vgl. dazu juristisch LK n (Jähnke) § 20 Rdn. 37ff.; medizinisch Witter, Die Beurteilung Erwachsener S. 968 ff.

I I I . Schuldunfähigkeit wegen seelischer Störungen

439

b) Die tiefgreifende Bewußtseinsstörung umfaßt nach der Systematik des § 20 nur die nicht-krankhaften Störungen, die entweder rein seelisch bedingt sind oder bei denen noch ein „konstellativer" Faktor hinzukommt (z.B. Alkohol, Erschöpfung, Übermüdung). Sie besteht in einer schwerwiegenden Beeinträchtigung des Selbst- oder Umweltbewußtseins (BGH bei Holtz, M D R 1983, 447). Durch das Merkmal „tiefgreifend" soll zum Ausdruck gebracht werden, daß nur solche Bewußtseinsstörungen in Betracht kommen, die einen Grad jenseits des Spielraums des Normalen (z.B. Schlaftrunkenheit, Schreck) erreicht und ähnlich wie eine Psychose das Motivationsgefüge des Betroffenen aus den Angeln gehoben haben 28 . Zu denken ist also nur an besondere Ausnahmefälle (BGH 11, 20 [23]; O G H 3, 19 [20]; O L G Karlsruhe G A 1972, 316 [317]) wie schwerste Formen hypnotischer oder posthypnotischer Zustände, Halluzinationen, nichtkrankhafte Dämmerzustände. Der Hauptfall der tiefgreifenden Bewußtseinsstörung ist der schwere Affekt (Wut, Haß, Eifersucht, Angst), den die Rechtsprechung schon nach § 51 a.F. unter besonderen Umständen als ausreichenden Grund der Schuldunfähigkeit anerkannt hat ( O G H 3, 19 [23]; 3, 80 [82]; B G H 3, 194 [199]; 8, 113 [125]; 11, 20 [23]) 29 . Zweifelhaft ist dabei die Frage, ob der Schuldausschluß bei Vermeidbarkeit des Affekts entfällt. Die Rechtsprechung ( O G H 3, 19 [23]; B G H 3, 194 [199]; 35, 143 m.krit.Anm. Blau., JR 1988, 514; B G H NJW 1959, 2315; NStZ 1984, 259 und 311; StV 1986, 339) und ein Teil der Lehre 30 nehmen dies an, weil in dem bewußten Entstehenlassen einer emotionalen Stauung, die auf unkontrollierbare Entladung in einer bestimmten schweren Straftat hindrängt, ein Verschulden liegen könne (Vorverschulden). Doch ist diese Auffassung mit dem Wortlaut des § 20 schwer vereinbar, weil dort nur auf das Vorliegen der Bewußtseinsstörung „bei Begehung der Tat" abgestellt wird. Auch eine Analogie zu § 17 führt nicht weiter, da das Merkmal „bei Begehung der Tat" in § 17 nur auf den Irrtum, in § 20 aber auch auf die Fähigkeit zur Steuerung bezogen ist. Die Lösung liegt in der Anwendung der Grundsätze über die actio libera in causa31 (vgl. unten § 40 VI). Beispiele: Tötung und Tötungsversuch gegenüber Ehefrau und Schwiegermutter mit anschließendem Selbstmordversuch im Wutaffekt ( O G H 3, 19 [22f.]); Tötung des trunk28 Vgl. BT-Drucksache V/4095 S. 11; B G H NStZ 1990, 231; Bockelmann/Volk, Allg. Teil S. 115; Maurach/Zipf, Allg. Teil I § 36 Rdn. 38; Blau, Tröndle-Festschrift S. 116ff.; Had-

denhrock, Schuldfähigkeit S. 275 f.; LK n (Jähnke) § 20 Rdn. 25ff.; Schönke/Schröder/Lenckner, § 20 Rdn. 14; SK (Rudolphi) § 20 Rdn. 10; Schwalm, JZ 1970, 494.

29 Zur Affektgenese anhand zahlreicher Fallschilderungen Rasch, Tötung des Intimpartners, 1964. Zum Verhältnis von Vorsatz und Schuldfähigkeit bei Affekttaten Schewe, Reflexbewegung S. 31 f f , 130ff.; Krümpelmann, Welzel-Festschrift S. 328; Behrendt, Affekt S. 14f. Zur forensischen Beurteilung Rasch, Schuldfähigkeit S. 83 ff.; derselbe, NJW 1993, 757; de Boor, Bewußtsein S. 126ff.; Thomae, Schuldfähigkeit S. 351 ff.; Witter, Die Beurteilung Erwachsener S. 1023 ff.; derselbe, Der psychiatrische Sachverständige S. 175 ff. Indikatoren für die Affektbeurteilung entwickelt Krümpelmann, Recht und Psychiatrie 1990, 156 m.w. Nachw. Lehrreich die Analyse von 295 Gutachten aus den Jahren 1964 bis 1973 bei Tötungsverbrechen durch Diesinger, Der Affekttäter S. 92 ff. 30 So Geilen, Maurach-Festschrift S. 188 ff.; Krümpelmann, Welzel-Festschrift S. 340 f.; derselbe, GA 1983, 354ff.; derselbe, ZStW 99 (1987) S. 221 ff.; derselbe, Affekt S. 216ff.; LK U (Jähnke) § 20 Rdn. 60ff.; Jakobs, Allg. Teil 18/17; Saiger, Tröndle-Festschrift S. 213; Neumann, ZStW 99 (1987) S. 594; Ziegert, Vorsatz S. 189ff.; Rudolphi, Henkel-Festschrift

S. 206ff.; SK (Rudolphi)

§ 20 Rdn. 12; Dreher/Tröndle,

§ 20 Rdn. 10a. Dagegen

Maurach/

Zipf, Allg. Teil I § 36 Rdn. 38; Stratenwerth, Allg. Teil I Rdn. 536; Schwalm, JZ 1970, 493. 31 So Hruschka, JuS 1968, 558; Behrendt, Affekt S. 64ff. („actio libera in omittendo"); Schönke/Schröder/Lenckner, § 20 Rdn. 15; Roxin, Allg. Teil I § 20 Rdn. 18; Frisch, ZStW 101 (1989) S. 569 ff. Dagegen Krümpelmann, GA 1983, 356 Fußnote 80; Horn, GA 1969, 290 f.

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§ 40 D i e Schuldfähigkeit (Zurechnungsfähigkeit)

süchtigen Bruders im Notwehrexzeß nach heftigem Streit (BGH 3, 194 [199]); einverständliche Tötung der Ehefrau und Selbstmordversuch in Panikstimmung (BGH GA 1955, 26); Mord im Blutrausch (BGH 7, 325 [327]); Tötung der Ehefrau in höchster Erregung nach zermürbenden, mit schweren Tätlichkeiten verbundenen Streitigkeiten (BGH 11, 20 [23]); Tötung der Geliebten des Ehemannes nach jahrelanger tiefer Feindschaft (BGH Daliinger M D R 1953, 146); Tötung der Kinder als Kurzschlußhandlung (BGH NJW 1959, 2315) 32 . D e r häufigste Fall der Bewußtseinsstörung ist der Alkoholrausch 33 (vgl. unten § 40 V I I ) , der jedoch nach seinem Entstehungsgrund (Vergiftung) jetzt zu den krankhaften seelischen Störungen und damit zur ersten Gruppe der biologischen Faktoren zählt (vgl. oben Fußnote 25). Dasselbe gilt für den Drogenrausch. c) D e r i n § 20 an dritter Stelle genannte Schwachsinn umfaßt die schweren Grade angeborener Intelligenzschwäche ohne nachweisbare körperliche Ursache (Idiotie, Imbezillität, Debilität), während die Defektzustände auf der Grundlage hirnorganischer Krankheitsprozesse nach der Systematik des § 20 unter die erste Gruppe der biologischen Merkmale fallen. A u c h hier muß es sich u m einen den normalen Motivationszusammenhang i m ganzen zerstörenden Ausfall der Verstandeskräfte handeln, wie sich aus der Gleichstellung m i t den übrigen biologischen Merkmalen ergibt ( B G H N J W 1967, 2 9 9 ) 3 4 . d) D i e an letzter Stelle aufgeführten „schweren anderen seelischen A b a r t i g k e i t e n " ( B G H N S t Z 1991, 428; 1992, 380; 1993, 181) 3 5 bezeichnen die schwersten Erscheinungsformen der Psychopathien, Neurosen u n d Triebstörungen 3 6 . Anders als bei den Psychosen sind hier keine hirnorganischen Befunde feststellbar, und das Verhalten des Täters liegt auch noch i m Rahmen verstehbarer Erlebniszusammenhänge. Solche Defekte treten relativ häufig a u f 3 7 . Für die rechtliche Beurteilung v o n entscheidender Wichtigkeit ist die schwer zu beantwortende Frage, ob die 32 Vgl. zu dieser Rechtsprechung Hadamik, MSchrKrim 1953, 11; derselbe, GA 1957, 101; Thomae, Schuldfähigkeit S. 328ff., der z.B. B G H 11, 20 eine der „bedeutsamsten EntscheiAllg. Teil I § 36 Rdn. 35; dungen des letzten Jahrzehnts" nennt (S. 346); Maurach/Zipf\ Krümpelmann, ZStW 99 (1987) S. 216ff. 33 Vgl. dazu Rasch, Lehrbuch der gerichtlichen Medizin S. 81 f.; Cramer , Der Vollrauschtatbestand S. 6 ff. 34 Zu den forensischen Problemen vgl. Witter, Die Beurteilung Erwachsener S. 985 ff.; Haddenbrock, Schuldfähigkeit S. 276 ff. 35 Uber die diskriminierende Wirkung des verfehlten Ausdrucks „Abartigkeit" Stree, in: Roxin u. a., Einführung S. 46. Hierzu ferner Blau, Rasch-Festschrift S. 117 ff. 36 Zu den Psychopathien vgl. die Typenlehre von Κ Schneider, Die psychopathischen Persönlichkeiten S. 69ff.; ferner Kallwaß, Der Psychopath, 1969. Bei den sexuellen Triebanomalien will Krümpelmann, ZStW 88 (1976) S. 20ff. im Anschluß an B G H 23, 176 (193) (Fall Bartsch) und an Giese (vgl. Giese/Schorsch, Zur Psychopathologie der Sexualität S. 155 ff.) auf den Suchtbegriff abstellen. Dagegen aber J. E. Meyer, ZStW 88 (1976) S. 51. Als Fälle der Abartigkeit nennt Venzlaff, ZStW 88 (1976) S. 59 „die paranoische Entwicklung, den genuinen Eifersuchtswahn, vitalisierte depressive Reaktionen, biographisch tief gestaffelte Konfliktskumulationen, extreme seelische Verformungen durch frühkindliche Deprivationssituationen". Zu den Neurosen Merkel, Die hochgradige Neurose S. 181 ff.; aus der Rspr. B G H StV 1989, 104. 37 Nach § 25 Ε 1962 sollte die „schwere andere seelische Abartigkeit" nur zu verminderter Schuldfähigkeit führen können. Erst der Sonderausschuß hat sie in § 20 aufgenommen (BT-Drucksache V/4095 S. 10). Die befürchtete Gefahr eines „Dammbruchs" ist dann nicht gegeben, wenn die Zuerkennung der Schuldunfähigkeit richtigerweise auf extreme Ausnahmefälle beschränkt bleibt. Zur forensischen Relevanz P.-A. Albrecht, GA 1983, 209ff., zum psychiatrischen und psychologischen Schrifttum ausführlich LK i 0 (Lange) §§ 20, 21 Rdn. 34ff.; zur Rspr. LK (Jähnke) § 20 Rdn. 72 ff.

I I I . Schuldunfähigkeit wegen seelischer Störungen

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„Abartigkeit" im konkreten Fall als „schwer" anzusehen ist 3 8 . Meist wird gesagt, daß sie, um unter § 20 zu fallen, „Krankheitswert" haben müßte. Doch fehlt den Tätern sowohl nach der körperlichen wie nach der seelischen Seite gerade die qualitative Besonderheit der echten Geisteskrankheiten, so daß der Vergleich nur im Bereich der Auswirkungen möglich ist, die aber bei der Abgrenzung der biologischen Merkmale nach der Systematik des Gesetzes eigentlich noch keine Rolle spielen dürfen. Im Grunde läßt sich daher nicht mehr sagen, als daß es sich um extreme Ausnahmefälle handelt, bei denen das gesamte Lebensbild des Betroffenen von der durch das psychische Leiden verursachten, immer wiederkehrenden Verhaltensauffälligkeit und durch die absolute Wirkungslosigkeit strafrechtlicher Sanktionen bestimmt wird 3 9 . „Willensschwäche oder sonstige Charaktermängel" lassen dagegen die Schuldfähigkeit unberührt (BGH 14, 30: sexuelle Triebstörung; B G H NJW 1966, 1871: Tötungsversuch eines sensitiven Querulanten). Beispiele: Sittlichkeitsdelikte an Kindern aufgrund einer Störung des Willens-, Gefühlsoder Trieblebens (RG 73, 121 [122]); Neigung zur Brandstiftung auf neurotischer Grundlage (BGH NJW 1955, 1726); Hypersexualität (BGH NJW 1962, 1779; NJW 1982, 2009); hochgradig abartiger Geschlechtstrieb (BGH 19, 201 [204]; 23, 176 [190]); Kleptomanie (OLG Frankfurt G A 1969, 316); sexuelle Handlungen vor Kindern in depressiver Störung (BGH 28, 357); Tötung der beiden Söhne durch den Vater in einer schweren reaktiven Depression (BGH 34, 22).

3. Die Feststellung eines dieser biologischen Merkmale reicht zur Annahme der Schuldunfähigkeit nicht aus. Hinzu kommen muß, daß die seelische Störung eine bestimmende Auswirkung auf die Einsichts- oder Steuerungsfähigkeit des Täters gehabt hat 4 0 . Die Unfähigkeit, das Unrecht der Tat einzusehen (intellektuelles Moment), bezieht sich auf das materielle Unrecht der Tat und ist wie beim Jugendlichen (vgl. oben § 40 I I 2) konkret und bezüglich jedes Straftatbestandes gesondert festzustellen. Das gleiche gilt vom Hemmungsvermögen (BGH 14, 30 [32]). Es kann also sein, daß der Täter trotz Vorliegens einer seelischen Störung für schuldfähig erklärt wird, weil die Tat z.B. zeitlich außerhalb der Zone eines akuten Anfalls lag oder ihrer Art nach nicht in den durch die Störung betroffenen Bereich fiel. Zum Ausschluß von § 20 genügt es, daß die Einsichtsfähigkeit gegeben ist. Hatte der Täter das Unrecht der Tat trotz der bei ihm vorliegenden seelischen Störungen tatsächlich erkannt, so kommt § 20 nicht in Betracht, es sei denn, daß die Steuerungsfähigkeit fehlte (BGH G A 1971, 366). Die Unfähigkeit, das Unrecht der Tat einzusehen, ist nicht nur dann bedeutsam, wenn sie auf einer seelischen Störung beruht. Nach der Regelung des Verbotsirrtums in § 17 S. 1 (vgl. unten § 41 I I l b ) ist Schuldausschluß vielmehr immer dann anzunehmen, wenn der Täter das Unrechtsbewußtsein nicht haben konnte, wobei es auf die Gründe hierfür nicht ankommt 41 . § 20 behält jedoch insofern seine praktische Bedeutung, als die Bestimmung auf seelische Störungen abstellt, bei denen ein Einfluß auf die Einsichtsfähigkeit naheliegt und in 38 So mit Recht Leferenz, ZStW 88 (1976) S. 42 f. Vgl. auch R. Schmitt, ZStW 92 (1980) S. 349; Schreiher, NStZ 1981, 48; Rasch, NStZ 1982, 182; derselbe, StV 1991, 131 („strukturell-sozialer Krankheitsbegriff"). 39 Zu den forensischen Problemen juristisch LK n (Jähnke) § 20 Rdn. 72ff., medizinisch Witter, Die Beurteilung Erwachsener S. 988ff.; derselbe, Lange-Festschrift S. 733. 40 Da eine empirisch begründete Feststellung zum Einzelfall ebensowenig möglich ist wie beim „Anders-handeln-können", kommt auch hier nur eine vergleichende Aussage in Be-

tracht; vgl. Schönke/Schröder/Lenckner,

§ 20 Rdn. 26; SK (Rudolphi)

§ 20 Rdn. 25; Witter,

Leferenz-Festschrift S. 447 ff. Für Eliminierung des Erfordernisses der Einsichts- und Handlungsfähigkeit Streng, Leferenz-Festschrift S. 408 f. 41 Vgl. Dreher, G A 1957, 97ff.; Armin Kaufmann, der, G A 1957, 297 ff.

Eb. Schmidt-Festschrift S. 323 f.; Schrö-

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§ 40 Die Schuldfähigkeit (Zurechnungsfähigkeit)

schweren Fällen regelmäßig anzunehmen ist 4 2 . Die Vorschrift gewinnt damit den Charakter einer Beweisregel.

Auch bei Vorliegen der Einsicht in das Unrecht der Tat ist die Schuldfähigkeit dann zu verneinen, wenn der Täter wegen der seelischen Störung unfähig war, nach dieser Einsicht zu handeln (voluntatives Moment), was vor allem bei Alkoholrausch, Psychopathien, Neurosen und Triebstörungen in Betracht kommt, weil hier trotz klaren Unrechtsbewußtseins in Ausnahmefällen die Antriebe zur Tat so übermächtig werden oder die Hemmungsfaktoren so geschwächt sein können, daß jene nicht mehr beherrschbar sind (vgl. B G H NJW 1952, 353; 1964, 2213) 43 . 4. Die Beurteilung der Schuldfähigkeit ist eine Rechtsfrage, für die der Richter die Verantwortung trägt (BGH 7, 238 [239]; 8, 113 [118]) 44 . Die Entscheidung ist dem Juristen in der Regel jedoch nur mit Hilfe eines Sachverständigen möglich (über die Pflicht zur Anhörung eines Sexualforschers bei einer ganz ungewöhnlichen sexuellen Triebanomalie B G H 23, 176 [192ff.]; vgl. ferner B G H GA 1971, 365). Früher war die Beurteilung der Schuldfähigkeit eine Domäne der Psychiater. In neuerer Zeit werden, vor allem zur Untersuchung nicht krankhafter seelischer Störungen, auch Psychologen herangezogen 45. Einige Psychiater stehen auf dem Standpunkt, sie könnten aus der Sicht ihrer Wissenschaft nur zum Vorliegen seelischer Störungen Aussagen machen, nicht aber zu den Auswirkungen solcher Störungen auf die Einsichts- oder Steuerungsfähigkeit des Täters, da letzteres eine (positive) Stellungnahme zur Frage der Willensfreiheit voraussetze 46 . In Wirklichkeit geht es jedoch bei den psychologischen Merkmalen der Schuldunfähigkeit nur darum, daß der Arzt erreicht hat, daß sie beurteilen soll, ob die seelische Störung einen solchen Erheblichkeitsgrad nach den Erkenntnissen der Wissenschaft das Persönlichkeitsgefüge des Täters tiefgreifend zu beeinträchtigen vermochte 47 . Es wird also auch hier nicht mehr als eine vergleichende Aussage gefordert (vgl. oben § 39 I I I 2, § 40 I I I 3 Fußnote 40).

Wenn die Voraussetzungen des § 20 vorliegen oder nicht ausgeschlossen werden können (RG 21, 131 [135]), bleibt der Täter mangels Schuld straflos. Tritt während der Ausführung der Tat Schuldunfähigkeit ein (z.B. Affektamnesie bei Tötung durch Messerstiche), bleibt der Täter dennoch wegen Vollendung verantwortlich, da eine unwesentliche Abweichung im Kausalverlauf anzunehmen ist (BGH 23, 133 [135]). Wird der Täter dagegen vor Beginn der Tat schuldunfähig, so liegt eine strafbare Handlung selbst dann nicht vor, wenn die Tat nach dem noch im 42 Die selbständige Bedeutung der Vorschrift verneint indessen Schönke/Schröder/Lenckner, § 20 Rdn. 27. 43 In den seit einiger Zeit bekannten Chromosomenaberrationen glaubte man dem Geheimnis der Schwerkriminalität auf die Spur gekommen zu sein, doch hat die Chromosomenforschung bisher nicht ergeben, daß die Anomalie X Y Y die Steuerungsfähigkeit beeinträchtigt ( B G H Dallinger M D R 1971, 185); vgl. Pfeiffer, Kriminologische Gegenwartsfragen Heft 9 S. 119 ff.; Göppinger, Kriminologie S. 175 f. 44 So ausführlich LK n (Jähnke) § 20 Rdn. 89ff.; SK (Rudolphi) § 20 Rdn. 23. Zur Rolle des Psychiaters Rauch, Leferenz-Festschrift S. 379ff.; Witter, ebenda S. 441 ff. 45 Vgl. dazu Jescheck, Gerichtliche Psychologie S. 208 ff. Über die Möglichkeiten der Begutachtung aus der Sicht des Psychologen vgl. Heiß, Gerichtliche Psychologie S. 226ff.; Thomae., Schuldfähigkeit S. 391 ff.; Undeutsch, Lange-Festschrift S. 714ff.; Haddenbrock, Strafrechtliche Handlungsfähigkeit und „Schuldfähigkeit" S. 928 ff. 46 So vor allem K. Schneider, Zurechnungsfähigkeit S. 17 ff. und Leferenz, ZStW 70 (1958) S. 35. Wie der Text aber Rasch, Lehrbuch der gerichtlichen Medizin S. 62; Ehrhardt, Schuldfähigkeit S. 241 ff.; W. Keller, Menschliche Existenz S. 224f.; v. Baeyer, Der Nervenarzt 28 (1957) S. 337; Witter, Die Beurteilung Erwachsener S. 993 und passim. 47 Vgl. näher Bockelmann, ZStW 75 (1963) S. 381; Roxin, Allg. Teil I § 20 Rdn. 27.

I V . Verminderte Schuldfähigkeit

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Zustand der Schuldfähigkeit gefaßten Plan durchgeführt wird (BGH 23, 356 [358]). Das Gericht ordnet die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus an, wenn von dem Täter infolge seines Zustands erhebliche rechtswidrige Taten zu erwarten sind und er deshalb für die Allgemeinheit gefährlich ist (§ 63 I; vgl. unten § 77 I I 2 c). Stellt sich die Schuldunfähigkeit schon vor Eröffnung des Hauptverfahrens heraus, kann die Unterbringung im Wege des Sicherungsverfahrens angeordnet werden (§§ 413 ff. StPO).

IV. Verminderte Schuldfähigkeit 1. Die Einführung der verminderten Schuldfähigkeit im Jahre 1933 (§§ 51 II, 55 I I a.F.) entsprach einer alten Forderung bedeutender Psychiater 48. § 21 dient vor allem der schuldangemessenen Behandlung geringerer Grade des Schwachsinns, von Affekttaten, Rauschgift- und Alkoholtaten sowie von Straftaten unter dem Einfluß von Psychopathien, Neurosen und Triebanomalien 49 . Die biologischen Voraussetzungen der verminderten Schuldfähigkeit sind dieselben wie in § 20. Der Unterschied liegt in den psychologischen Merkmalen: die Einsichts- oder Handlungsfähigkeit ist infolge der seelischen Störung zwar nicht ausgeschlossen, aber doch erheblich 50 vermindert 51 . Es handelt sich dabei nicht um eine zwischen die volle strafrechtliche Verantwortlichkeit und die Schuldunfähigkeit eingeschobene unklare Zwischenstufe der „Halbzurechnungsfähigkeit". Der Täter ist hier vielmehr schuldfähig; wegen der Einschränkung seiner Einsichts- oder Steuerungsfähigkeit kann jedoch die Strafe gemildert werden 52 . Hat der Täter trotz verminderter Einsichtsfähigkeit das Unerlaubte der Tat tatsächlich erkannt, ist § 21 nicht anwendbar, es sei denn, daß auch die Steuerungsfähigkeit vermindert war (BGH 21, 27 [28] m. Anm. Dreher, JR 1966, 350 und Schröder, JZ 1966, 451), was freilich der praktisch wichtigere Fall ist. Fehlt die Einsicht infolge der seelischen Störung ganz, ohne daß dies dem Täter zum Vorwurf gemacht werden kann, so ist - auch bei an sich nur verminderter Einsichtsfähigkeit - nicht § 21, sondern § 20 anzuwenden. § 21 ist nur dann gegeben, wenn dem Täter das Fehlen der Einsicht vorzuwerfen ist (BGH NStZ 1986, 264). 48 So insbesondere Aschaffenburg, RG-Festgabe S. 242 ff. Dagegen Wilmanns, Die verminderte Zurechnungsfähigkeit S. 249 ff. Aus juristischer Sicht Hafter, SchwZStr 66 (1951) S. 12 ff. 49 Zustimmend Krümpelmann y ZStW 88 (1976) S. 39; Ehrhardt/Villinger, Psychiatrie der Gegenwart Bd. I I I S. 213 f.; Haddenbrock, NJW 1979, 1235. Kritisch dagegen Schmidhäuser, Allg. Teil S. 388; Göppinger, Leferenz-Festschrift S. 41 Iff.; Bresser, NJW 1978, 1189. Gegen den Ausdruck verminderte Schuldfähigkeit zu Recht Blau, Anm. zu B G H vom 27.5.1986, JR 1987, 206. 50 § 21 wird, soweit verminderte Einsichtsfähigkeit in Betracht kommt, durch die Regelung des vermeidbaren Verbotsirrtums (§ 17 S. 2) überspielt, denn sobald es dem Täter vorzuwerfen ist, daß er das Unerlaubte der Tat nicht erkannt hat, kann die Strafe nach den Regeln des Verbotsirrtums (vgl. unten § 41 I I 2 a) auch dann gemildert werden, wenn er verhältnismäßig leicht zur Unrechtseinsicht hätte gelangen können; vgl. dazu Dreher, GA 1957, 99; Schröder, GA 1957, 301 ff. Für die neben § 17 S. 2 fortbestehende Bedeutung der Vorschrift gilt jedoch das oben § 40 I I I 3 zu § 20 Ausgeführte entsprechend. 51 Die Judikatur betont mit Recht, daß Willensschwäche, Charaktermängel und kriminelle Veranlagung für sich allein die Anwendung des § 21 nicht rechtfertigen (BGH Daliinger M D R 1953, 147; B G H NJW 1958, 2123; B G H 14, 30 [33]). 52 Vgl. O L G Hamm NJW 1977, 1498; Maurach/Zipf Allg. Teil I § 36 Rdn. 70; Schönke/ Schröder/Lenckner, § 21 Rdn. 1. Für obligatorische Strafmilderung Landgraf, Die „verschuldete" verminderte Schuldfähigkeit S. 72ff.; Kotsalis, Baumann-Festschrift S. 41 ff.

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§ 40 D i e Schuldfähigkeit (Zurechnungsfähigkeit)

2. Strafmilderung nach § 21 bedeutet, daß der Sonderstrafrahmen des § 49 I angewendet werden kann. Der Richter kann die Strafe nach dieser Vorschrift mildern, muß es aber nicht, weil die Verminderung der Schuldfähigkeit durch schulderhöhende Umstände, vor allem durch schuldhafte Herbeiführung der seelischen Störung (Trunkenheit), ausgeglichen sein kann ( O G H 2, 324 [327]; B G H 7, 28 [31]; B G H Dallinger M D R 1972, 16; B G H Holtz M D R 1982, 969; B G H StV 1986, 248; O L G Karlsruhe M D R 1972, 881; O L G Koblenz VRS 50, 24) 5 3 . Die bloße Kann-Milderung ist verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden (BVerfGE 50, 5 [12 ff.]). Sie ist damit zu begründen, daß die Schuld gegenüber dem Normalfall des § 21 dadurch wesentlich erhöht sein kann, daß der Täter die seelische Störung selbst schuldhaft herbeigeführt hat und die Gefahr der Begehung einer Straftat vorhersehen konnte ( B G H 35, 143). Eine gleichwohl bestehende Schuldminderung ist dann im Rahmen des Regelstrafrahmens zu berücksichtigen. Besteht diese Notwendigkeit gegenüber der lebenslangen Freiheitsstrafe bei Mord (§ 211), ist die Anwendung des Sonderstrafrahmens des § 49 I ausnahmsweise verbindlich (anders B G H 7, 28) 5 4 . Wenn die Tat eine militärische Straftat darstellt, gegen das Kriegsvölkerrecht verstößt oder in Ausübung des Dienstes begangen wird, darf die Strafe bei selbstverschuldeter Trunkenheit nach § 7 WStG nicht gemildert werden, da Alkohol eine besonders schwere Gefahr für die militärische Disziplin darstellt (RG 68, 167) 55 . Die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus bei Gefährlichkeit des Täters für die Allgemeinheit tritt im Falle des § 21 neben die Strafe (§ 63 I). Das Gericht darf jedoch nicht anstelle der Unterbringung etwa aus Sicherheitsgründen auf eine übermäßig hohe, dem Schuldgehalt nicht entsprechende Freiheitsstrafe erkennen ( B G H 20, 264 [267]). Spezialpräventive Gründe für eine Strafschärfung dürfen immer nur im Rahmen der schuldangemessenen Strafe berücksichtigt werden ( O L G Karlsruhe M D R 1972, 881).

V. Ausländisches Recht Die österreichische Gesetzgebung folgt in § 11 StGB dem deutschen § 20 5 6 . Die verminderte Schuldfähigkeit kommt als Strafmilderungsgrund nach §§ 34 Ziff. 1, 35 österr. StGB in Betracht, doch regelt § 34 Ziff. 1 österr. StGB die Voraussetzungen der Milderung anders als die für die Schuldunfähigkeit. Auch die Schweiz 57 steht dem deutschen Recht nahe, doch sind auch hier die biologischen Voraussetzungen der Schuldunfähigkeit (Art. 10 StGB) anders umschrieben als die der verminderten Schuldfähigkeit. Der französische Code pénal von 1810 folgte in Art. 64 der rein biologischen Methode, während der Code pénal 1994 in Art. 122-1 die gemischte Methode einführt 5 8 . Dagegen wenden die englische und amerikanische Rechtsprechung für die Feststellung der „insanity" eine auf das intellektuelle Moment 53 Vgl. hierzu eingehend Bruns, Strafzumessungsrecht S. 524ff.; derselbe, Recht der Strafzu§ 21 Rdn. β; Jakobs, Allg. Teil 18/34; Maurach/Zipf Allg. messung S. 206ff.; Dreher/Tröndle, Teil I § 36 Rdn. 78; LK U (Jähnke) § 21 Rdn. 19ff. Dagegen sehen Baumann/Weber, Allg. Teil S. 381; Stratenwerth, Allg. Teil I Rdn. 546; SK (Rudolphi) § 21 Rdn. 5; Η Mayer, Lehrbuch S. 240; Rautenberg, Die „verminderte Zurechnungs-/Schuldfähigkeit" S. 228 ff.; Landgraf, Die „verschuldete" verminderte Schuldfähigkeit S. 132 ff.; Wolfslast, JA 1981, 470 in der bloßen Kann-Milderung einen Verstoß gegen das Schuldprinzip. Kritisch auch Schönke/Schröder/ Lenckner, § 21 Rdn. 14. Der A E hatte in § 22 obligatorische Strafmilderung vorgesehen. 54 So überzeugend Roxin, Allg. Teil I § 20 Rdn. 37ff. 55 Führt der Rausch aber zur Schuldunfähigkeit, so ist § 20 anwendbar und es kommt nur eine Bestrafung nach § 323 a oder als actio libera in causa (vgl. unten § 40 VI) in Betracht; vgl. Scholz/Lingens, § 7 WStG Rdn. 5. 56 Vgl. Bertel, ÖJZ 1975, 622; Zipf, Kriminologische Gegenwartsfragen Heft 15 S. 157ff. Zur Behandlung abnormer Täter nach § 21 österr. StGB Sluga, ebenda S. 34 ff. 57 Vgl. Schultz, Einführung I S. 182 ff.; Rehberg, Strafrecht I S. 164ff. Eingehende Darstellung des schweizerischen Rechts bei Heldmann, Zurechnungsfähigkeit S. 10 ff. Kritisch zum Schweiz. Recht Binder, Geisteskrankheit S. 161 ff. I n der Annahme der Schuldunfähigkeit wegen hochgradigen Affekts ist die Praxis äußerst zurückhaltend; vgl. Walder, SchwZStr 81 (1965) S. 53 ff. 58 Die französische Praxis kommt zu ähnlichen Ergebnissen wie die deutsche; vgl. Merle/ Vitu, Traité I Nr. 591 ff. Zu Art. 122-1 Code pénal 1994 Desportes/Le Gunehec, Présentation Nr. 33; Pradel, Le nouveau Code pénal N r . 36.

445

V . Ausländisches Recht

beschränkte extrem psychologische Methode an („right and wrong test" bzw. „M'Naghten rule") 5 9 . In den USA wurden seit den sechziger Jahren in Rechtsprechung und Gesetzgebung Versuche unternommen, die Zurechnung auch bei fehlender Sietten/wgsfähigkeit des Täters auszuschließen, doch ist man in den achtziger Jahren wieder zu einem rein intellektuellen Kriterium zurückgekehrt 60 . Das italienische Recht sieht vor allem die Geisteskrankheit als Fall der Schuldunfähigkeit an (Art. 88 C.p.), schließt aber Affekte, Emotionen und Leidenschaften grundsätzlich aus (Art. 90 C.p.). Schwere Fälle von Psychopathien werden jedoch unter den Begriff der Geisteskrankheit gebracht. Der Entwurf 1992 sieht in Art. 22 Nr. 6 jetzt besonders heftige Emotionen als Strafmilderungsgrund vor 6 1 . In Spanien sind Geisteskrankheit und Bewußtseinsstörung Gründe für den Schuldausschluß (Art. 8 Nr. 1 C.p.) 6 2 . Die Niederlande haben eine Bestimmung über mangelhafte Entwicklung und krankhafte Störung des „geestvermogens", die nach der gemischten Methode angewendet und als Schuldausschließungsgrund verstanden wird (Art. 39 W.v.S.) 63 . Der belgische Code pénal knüpft in Art. 71 die gesamte Regelung der Schuldunfähigkeit ebenso wie das frühere französische Recht an den Begriff der „démence/krankzinnigheid", der weit ausgelegt wird und auch schwerste Fälle der Psychopathien, Neurosen und Triebanomalien umfaßt 64 . Der brasilianische C.p. regelt die Schuldunfähigkeit sowie die verminderte Schuldfähigkeit in Art. 26. Affekte und Leidenschaften sowie verschuldete Trunkenheit sind ausdrücklich ausgeschlossen (Art. 28 C.p.) 6 5 .

VI. Die actio libera in causa 1. Die Frage, ob der Täter schuldfähig oder schuldunfähig ist, bezieht sich auf den Zeitpunkt der Tat (§ 20: „bei Begehung der Tat"). Eine im Gesetz nicht geregelte, aber gewohnheitsrechtlich anerkannte Ausnahme 66 davon ist die actio libera 59

Vgl. Goldstein, Insanity S. 45 ff.; LaFave/Scott, Substantive Criminal Law I S. 436 ff. Vgl. insbesondere Sect. 4.01 Model Penal Code. Eingehend hierzu LaFave/Scott, Substantive Criminal Law I S. 462 ff.; Simon/Aaronson, Insanity Defenses S. 28 ff. Zur neueren Gesetzgebung 18 U.S. Code § 17; New Jersey Criminal Justice Code § 2 C 4-1; Pennsylvania Crimes Code § 315. Zur Entwicklung und ihren Gründen vgl. Dix, ZStW 97 (1985) S. 213, 221 ff., 226 ff. 61 Vgl. Bertolino, L'imputabilità S. 376 ff. (das Werk enthält auch umfangreiche Kapitel zum ausländischen Recht); Pagliaro, Principi S. 626 ff.; Nuvolone, Sistema S. 259 (Hypnose). 62 Psychopathien und Neurosen sind als Strafmilderungsgründe eingeschlossen; vgl. Rodri60

guez Devesa/ Serrano

Gômez, Derecho penal S. 589 Fußnote 16; Carboneil

Mateu u.a., En-

fermedad mental S. 47ff.; Cordoba Roda/ Rodriguez Mourullo, Art. 8 Nr. 1 Anm. I I I 2; Mir Puig, Adiciones Bd. I S. 614 ff. 63 Vgl. van Bemmelen/van Veen, Ons strafrecht S. 21 Iff.; ferner die eingehende, auch rechtsvergleichende Darstellung von Hazewinkel-Suringa/Remmelink, Inleiding S. 258 ff. 64 Vgl. Dupont/Ver Straeten, Handboek Nr. 473; Hennau/Verhaegen, Droit pénal général Nr. 339 Fußnote 98. 65 Vgl. dazu Fragoso, Liçôes S. 203 ff.; da Costa jr., Comentarios, Art. 28 Vorbem. vor Teil A. 66 Uber gesetzliche Regelungen im ausländischen Strafrecht vgl. Koch, Die actio libera in causa S. 16, 43, 63; Jubert, La doctrina de la „Actio libera in causa", 1992 (Spanien im Vergleich mit Deutschland). Mit Recht betont Hruschka, JuS 1968, 559 und SchwZStr 90 (1974) S. 62ff., daß es sich nicht bloß um eine scheinbare Ausnahme handelt. Die h.L. sieht dagegen schon in der Herbeiführung der Schuldunfähigkeit den Beginn der tatbestandsmäßigen H a n d l u n g ; so B G H 17, 333 (335); 34, 29 (33); Dreh er/Tröndle,

§ 20 Rdn. 20; Puppe, JuS

1980, 348 ff.; Krause, Jura 1980, 174; SK (Rudolphi) § 22 Rdn. 21; Jakobs, Allg. Teil 17/64; Roxin, Lackner-Festschrift S. 311 ff.; derselbe, Allg. Teil I § 20 Rdn. 59ff.; LK 10 (Spendel) § 323 a Rdn. 46; Herzberg, Spendel-Festschrift S. 204 ff.; Schmidhäuser, Actio libera in causa S. 68 f.; Horn, GA 1969, 306; Wolter, Leferenz-Festschrift S. 555 f. Dagegen zu Recht Schönke /Schröder/Lenckner,

§ 20 Rdn. 35; Joerden,

Strukturen S. 40ff.; LK U

(Jähnke)

§20

Rdn. 77ff.; Küper, Leferenz-Festschrift S. 591; Neumann, Zurechnung S. 24ff.; Stratenwerth, Allg. Teil I Rdn. 551; Hettinger, Die „actio libera in causa" S. 443; Paeffgen, ZStW 97 (1985) S. 516 ff., weil die Herbeiführung des Rauschzustandes noch keinen Versuch der in

446

§ 40 D i e Schuldfähigkeit (Zurechnungsfähigkeit)

in causa. Hierunter versteht man ein Verhalten, zu dem sich der Täter im Zustand der Schuldfähigkeit entschließt oder das er in diesem Zustand jedenfalls vorhersehen konnte, das aber erst zu einem Zeitpunkt verwirklicht wird, in dem er die Handlungsfähigkeit oder die volle Schuldfähigkeit verloren hat 6 7 . Beispiele: Der Täter versetzt sich vorsätzlich in einen Rausch, um nach Ausschaltung seiner Hemmungen einen bestimmten Diebstahl begehen zu können (RG 73, 177 [182]). Jemand ist als Zeuge geladen und nimmt ein Psychopharmakon, das ihn auf eine bestimmte Falschaussage festlegen soll, die er dann im Rauschzustand vor Gericht beschwört 68 . Ein Kraftfahrer fährt trotz deutlicher Anzeichen der Übermüdung weiter und kommt im Schlaf auf den Gehweg ab, wo er ein Kind überrollt (RG 60, 29). Ein Handelsvertreter nimmt eine Überdosis Pervitin, um sich bei großer Belastung frisch zu halten. Im Zustand verminderter Schuldfähigkeit setzt er sich an das Steuer seines Kraftfahrzeugs, obwohl er nicht in der Lage ist, dieses sicher zu führen (vgl. auch BayObLG NJW 1969, 1583) 69 .

In den vorgenannten Fällen sind der Diebstahl (§ 242) und der Meineid (§ 154) im Zustand der Schuldunfähigkeit (§ 20) begangen worden. Der Täter kann deshalb nur dann dafür (und nicht bloß nach § 323 a) 7 0 bestraft werden, wenn man die vollverantwortliche Ingangsetzung des Steuerungsvorgangs vor Beginn der tatbestandsmäßigen Handlung („actio praecedens") genügen läßt. Der Kraftfahrer war, als er auf den Gehweg geriet, infolge Bewußtlosigkeit handlungsunfähig. Er kann nur dann wegen fahrlässiger Tötung (§ 222) bestraft werden, wenn man die Fahrlässigkeitsschuld darin sieht, daß er die Übermüdung vorher bemerken und sein späteres Fehlverhalten voraussehen konnte. Dem Handelsvertreter kommt § 21 bei der Verurteilung wegen fahrlässiger Berauschtheit im Verkehr (§316 II) dann nicht zugute, wenn man auf die subjektive Voraussehbarkeit des Fahrens im Rauschzustand im Zeitpunkt der Einnahme des Pervitins abstellt (OLG Koblenz M D R 1972, 622; VRS 46, 440). 2. Rechtsprechung und Schrifttum haben diesen Schritt seit langem getan71. Die darin liegende Einschränkung des § 20 läßt sich zwar mit seinem Wortlaut schwer vereinbaren, ist aber sachlich gerechtfertigt, weil die tatbestandsmäßige Handlung mit der voll zu verantwortenden actio praecedens in einem dem Täter vorwerfdiesem Zustand begangenen Straftat darstellt. Der Hinweis auf die mittelbare Täterschaft (Roxin, Allg. Teil I § 20 Rdn. 60 Fußnote 124) überzeugt nicht, da es einen Unterschied macht, ob der Täter für sich selbst den Tatentschluß faßt, den er auch vor der Tat wieder aufgeben kann, oder ob er als Hintermann einen anderen als Täter einsetzt, auf dessen Handeln er keinen Einfluß mehr hat (Eser/Burkhardt, Strafrecht I Nr. 17 A Rdn. 8). 67 So Krause, H. Mayer-Festschrift S. 315. Dagegen bezieht Maurach, JuS 1961, 376 auch die Fälle der Notwehr- und Notstandsprovokation in den Begriff der actio libera in causa ein. Eine engere Auffassung der actio libera in causa als der Text vertritt Schmidhäuser, Allg. Teil S. 386, der die Ausdehnung auf den Bereich der Handlungsfähigkeit ablehnt und die actio libera in causa auf die Fälle fehlender Schuldfähigkeit beschränkt wissen will. Ihm folgt Hruschka, SchwZStr 90 (1974) S. 76. 68 Beispiel von Hruschka, JuS 1968, 556. 69 Dagegen liegt kein Fall der actio libera in causa, sondern ein Problem der Abweichung des Kausalverlaufs vor, wenn der Täter während der Begehung der Tat (z.B. durch einen Blutrausch) die Schuldfähigkeit verliert (BGH 7, 325 [329]; 23, 133 [135]). Vgl. dazu Eser/ Burkhardt, Strafrecht I Nr. 17 A Rdn. 31. 70 Über das Verhältnis der actio libera in causa zu § 323 a Paeffgen, ZStW 97 (1985) S. 513ff.; Roxin, Allg. Teil I § 20 Rdn. 70f. 71 Die Lehre von der actio libera in causa ist von Kleinschrod, Systematische Entwicklung S. 25 f f , 106 f. begründet worden. Zur Dogmengeschichte Hruschka, SchwZStr 90 (1974) S. 55 ff.; Hettinger, Die „actio libera in causa" S. 57 f f , 240 ff. Eine gesetzliche Ausnahmevorschrift enthielt § 22 I I 20 ALR; hierzu Hruschka, JZ 1989, 312.

V I . D i e actio libera i n causa

447

baren Zusammenhang steht. Die Art des Zusammenhangs ist bei vorsätzlicher und fahrlässiger actio libera in causa verschieden. Eine vorsätzliche actio libera in causa liegt dann vor, wenn der Täter vorsätzlich die eigene Schuldunfähigkeit (bzw. verminderte Schuldfähigkeit) herbeiführt (Handlungsunfähigkeit scheidet bei Vorsatzdelikten aus; vgl. oben § 23 V I 2) und in diesem Zustand vorsätzlich diejenige tatbestandsmäßige Handlung begeht, auf die sein Vorsatz bereits im Zeitpunkt der actio praecedens gerichtet war (BGH 2, 14 [17]; 17, 259 [262]; 21, 381; B G H VRS 23, 212 [213]; D A R 1985, 387; BayObLG NJW 1969, 1583 [1584f.]; VRS 64, 189; VRS 61, 339; O L G Schleswig NStZ 1986, 511). Der Vorsatz muß sich also sowohl auf die Herbeiführung des Defektzustandes als auch auf die Begehung der tatbestandsmäßigen Handlung selbst richten 72 . Maßgebend für die Zulässigkeit der Anwendung des Vorsatztatbestandes trotz Schuldunfähigkeit bei der Begehung der Tat ist die schuldhafte Bildung des Tatentschlusses, auf dem der in der Tat fortwirkende Handlungswille beruht. Der Vorsatz als Steuerungselement der Handlung wird dadurch im Vorsatz als Schuldelement verankert (Doppelstellung des Vorsatzes). Die Vorsatzschuld liegt darin, daß der Täter in Kenntnis des Tatvorsatzes seine Schuldfähigkeit beseitigt und damit gewollt die weitere Kontrollierbarkeit des Handlungsentschlusses aufhebt, der dann bei der Tatausführung die tatbestandsmäßige Handlung steuert 73 . Die Gegenmeinung74, die eine fahrlässige Herbeiführung des Defektzustandes ausreichen lassen will, verkennt, daß der für die Bestrafung erforderliche schuldhaft gebildete Tatvorsatz nur dann gegeben ist, wenn im Zeitpunkt der vollen Verantwortlichkeit wenigstens schon der die Tat vorbereitende Steuerungsvorgang eingesetzt hat, während sonst nur ein Vorsatz ohne Schuldgehalt vorliegen würde (in diesem Sinne auch B G H VRS 23, 212 [213], während B G H 21, 381 zu dieser Frage schweigt). Die actio praecedens stellt noch keinen Versuch der Straftat dar 75 . Dieser beginnt vielmehr erst in dem Zeitpunkt, der sich aus den allgemeinen Regeln ergibt (vgl. unten § 49 V I I 4). Eine Verletzung des Schuldprinzips liegt in der Anerkennung der vorsätzlichen actio libera in causa jedoch nicht 7 6 , da der Täter immerhin vollverantwortlich die von ihm vorsätzlich herbeigeführte eigene Schuldunfähigkeit als Mittel für die vorsätzliche Ausführung der tatbestandsmäßigen Handlung einsetzt 72 In diesem Sinne schon Kleinschrod, Systematische Entwicklung S. 26. Ebenso heute § 20 Rdn. 19; Jakobs, Allg. B G H 23, 356 (358); BayObLG VRS 64, 158; Dreher/Tröndle, Teil 17/66; Lackner, § 20 Rdn. 25 f.; Roxin, Allg. Teil I § 20 Rdn. 68 f.; Maurach/Zipf Allg.

T e i l I § 36 Rdn. 57; Puppe, JuS 1980, 348; H. Mayer, Lehrbuch S. 243; Schönke/Schröder/ Lenckner, § 20 Rdn. 36; Oehler, J Z 1970, 380f.; LK n (Jähnke) § 20 Rdn. 79f.; Stratenwerth,

Allg. Teil I Rdn. 549; Schmidhäuser, Allg. Teil S. 386 f.; SK (Rudolphi) § 20 Rdn. 30; Wessels, Allg. Teil Rdn. 417. 73 Die Lösung über die „culpa praecedens" suchen auch Burkhardt, Tatschuld und Vorverschulden S. 173 ff.; Brandstetter, Vollrausch S. 99; Haft, Allg. Teil S. 132; Neumann, Arthur Kaufmann-Festschrift S. 591 f.; Streng, ZStW 101 (1989) S. 311; Küper, Leferenz-Festschrift S. 579; Hruschka, Strafrecht S. 271 ff. (vorausgehende Obliegenheitsverletzung); Krümpelmann, ZStW 99 (1987) S. 222 ff. (Vermeidbarkeit des Vorverhaltens); Schönke/Schröder/ Lenckner, § 20 Rdn. 36 (bewußte Ausschaltung der Steuerungsfähigkeit); Stratenwerth, Armin Kaufmann-Gedächtnisschrift S. 495; Ziegert, Vorsatz S. 213 f. Dagegen lehnt Paeffgen, ZStW 97 (1985) S. 516 ff. die actio libera in causa ganz ab und verweist auf § 323 a; ebenso Hettinger, Die „actio libera in causa" S. 460 ff.; Saiger/Mutzbauer, NStZ 1993, 568. 74

So Cramer, J Z 1968, 274ff.; Hruschka, JuS 1968, 558; Maurach, JuS 1961, 376; Welzel,

Lehrbuch S. 156; Schwinghammer, Actio libera in causa S. 37. 75 Vgl. oben § 40 V I 1 Fußnote 66. 76 So aber Roxin, Allg. Teil I § 20 Rdn. 57; Hettinger, Die „actio libera in causa" S. 312 ff.; Horn, GA 1969, 306; früher schon Katzenstein, Actio libera in causa S. 54 ff.

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§ 40 D i e Schuldfähigkeit (Zurechnungsfähigkeit)

und damit den für die actio libera in causa typischen doppelten Vorsatz bildet, der Träger des Handlungs- und Gesinnungsunwerts der Tat ist. Wohl aber handelt es sich um eine Ausnahme von der Regel, daß die Schuldunfähigkeit „bei Begehung der Tat" zur Straflosigkeit führt, während bei der actio libera in causa trotz Schuldunfähigkeit in diesem Zeitpunkt Strafbarkeit eintritt 7 7 . Eine fahrlässige actio libera in causa ist anzunehmen, wenn der Täter vorsätzlich oder fahrlässig seine Handlungs- oder Schuldunfähigkeit (bzw. verminderte Schuldfähigkeit) herbeiführt und dabei damit rechnen konnte, daß er in diesem Zustand den Tatbestand eines bestimmten Fahrlässigkeitsdelikts verwirklichen würde (RG 22, 413 [415]; B G H VRS 23, 213; BayObLG VRS 60, 369; O L G Celle VRS 25, 33; O L G Hamm NJW 1956, 274; O L G Köln NJW 1967, 306) 78 . Die fahrlässige actio libera in causa ist keine überflüssige Rechtsfigur 79, wenn man sie, wie das hier geschieht, auf die Fälle beschränkt, in denen nicht schon die Herbeiführung der Schuldunfähigkeit als solcher eine tatbestandsmäßige Fahrlässigkeitshandlung darstellt. Läßt sich nämlich die Beseitigung der Schuldfähigkeit nicht unter den letztlich verwirklichten gesetzlichen Tatbestand subsumieren (so ist z.B. das Sichbetrinken kein „Führen eines Fahrzeugs" im Sinne von § 316), so muß die Fahrlässigkeitsschuld mit Hilfe der Rechtsfigur der actio libera in causa aus einem vor der tatbestandsmäßigen Handlung liegenden Verhalten hergeleitet werden. In anderen Fällen, die häufig als Beispiele der fahrlässigen actio libera in causa angeführt werden (z.B. die Mutter erdrückt den Säugling im Schlaf, weil sie ihn fahrlässigerweise mit ins Bett genommen hat), liegt allerdings eine ganz gewöhnliche fahrlässige Tötung (§ 222) vor. V I I . Die Behandlung der Trunkenheit im Strafrecht Das deutsche Strafrecht enthält für die Behandlung der Trunkenheit relativ strenge Grundsätze, die aber mit dem Rechtsbewußtsein durchaus in Einklang stehen80. Verminderte Schuldfähigkeit besteht regelmäßig bei einer Blutalkoholkonzentration ab 2%o (BGH 37, 231 [234]; 34, 29 [31]; B G H NStZ 1984, 408; BayObLG D A R 1983, 395; O L G Köln NStZ 1989, 24) 81 . Die selbstverschuldete Trunkenheit wird jedoch meist nicht strafmildernd berücksichtigt ( O G H 2, 325 [327]; B G H NJW 1953, 1760; O L G Koblenz VRS 50, 24), sie führt auch bei erheblich verminderter Schuldfähigkeit meist zur Versagung der Strafmilderung nach § 21, jedoch bestehen gegen eine schematisierende, die äußeren und inneren Merkmale des Tatgeschehens vernachlässigende Behandlung erhebliche Bedenken (BGH 35, 308 [312f.] m.zahlr.Nachw.) 82 . Im Wehrstrafrecht schließt § 7 WStG Strafmilderung bei selbstverschuldetem Rausch generell aus, wenn die Tat eine militärische Straftat ist, gegen das Kriegsvölkerrecht verstößt oder in Ausübung des Dienstes begangen wird. Dies bedeutet, daß die Wahl der Sonderstrafrahmen nach 77 In Art. 12 Schweiz. StGB ist diese Ausnahme ausdrücklich vorgesehen: vgl. dazu Hruschka, SchwZStr 90 (1974) S. 61 ff. sowie Joerden, Strukturen S. 45 ff. 78 Auch bei der Fahrlässigkeitstat lehnt Hettinger , G A 1989, Iff. die actio libera in causa ab. 79 So aber Horn. , GA 1969, 289f.; Roxin , Allg. Teil I § 20 Rdn. 58. 80 Erweiterung der Vorsatztaten bei Trunkenheit im Straßenverkehr durch strengere Auslegung der §§ 315c I Nr. la, 316 I StGB sowie des § 24a I StVG fordert Krüger, D A R 1984, 47 ff. 81 Hentschel/Born, Trunkenheit im Straßenverkehr Rdn. 258; Ponsold, Lehrbuch der gerichtlichen Medizin S. 256. 82 Vgl. Bruns, Strafzumessungsrecht S. 531 ff.; derselbe, Recht der Strafzumessung S. 208.

V I I . D i e Behandlung der Trunkenheit i m Straf recht

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§§ 21, 49 I ausgeschlossen ist, nicht aber die Strafmilderung im Regelstrafrahmen 83. Im Falle der actio libera in causa wird der Täter für die im Rausch begangene Tat verantwortlich gemacht, obwohl er zur Zeit der Tat schuldunfähig oder vermindert schuldfähig war (vgl. oben § 40 V I ) 8 4 . Endlich bedroht § 323 a die schuldhafte Herbeiführung eines Vollrausches (zum Medikamentenrausch B G H GA 1984, 124) mit Strafe 85, wenn der Täter in diesem Zustand eine Handlung begeht, die wegen § 20 nicht bestraft werden kann 8 6 , 8 7 . § 323 a greift in den Fällen ein, in denen sich die spätere Begehung einer bestimmten tatbestandsmäßigen Handlung seitens des Täters nicht voraussehen läßt. Nach B G H 10, 247 (250) muß es für den Täter mindestens voraussehbar gewesen sein, daß er im Rausch „irgendwelche Ausschreitungen strafbarer Art" begehen könnte. Richtig erscheint dagegen die weitergehende Ansicht, die den verschuldeten Vollrausch als solchen für strafbar erklärt und demgemäß in § 323 a ein abstraktes Gefährdungsdelikt sieht (vgl. B G H 16, 124 [125]; 20, 284; BayObLG JR 1975, 30) 88 . § 41 Bewußtsein der Rechtswidrigkeit und Verbotsirrtum Baumann, Zur Teilbarkeit des Unrechtsbewußtseins, JZ 1961, 564; derselbe, Grenzfälle im Bereich des Verbotsirrtums, Festschrift für H. Welzel, 1974, S. 533; Binding, Die Schuld im deutschen Strafrecht, 1919; Bindokat, Anmerkung zu BGH 15, 377, NJW 1961, 1731; Bokkelmann, Anmerkung zu OGH 3, 6, NJW 1950, 830; Börker, Ein Vorschlag zu der Rechtsprechung über die irrtümliche Annahme der tatbestandlichen Merkmale eines anerkannten Rechtfertigungsgrundes, JR 1960, 168; Busch, Moderne Wandlungen der Verbrechenslehre, 1949; derselbe, Uber die Abgrenzung von Tatbestands- und Verbotsirrtum, Festschrift für E. Mezger, 1954, S. 165; v. Caemmerer, Verwirklichung und Fortbildung des Rechts durch den BGH, in: Ansprachen aus Anlaß des 25jährigen Bestehens des BGH, 1975, S. 21; Cerezo Mir, Die Regelung des Verbotsirrtums im spanischen StGB, Gedächtnisschrift für Armin Kaufmann, 1989, S. 473; (belgische) Commission pour la Révision du Code pénal, Observa-

tions usw., 1986; Dimakis, Der Zweifel an der Rechtswidrigkeit der Tat, 1992; Donini, Ii delitto contrawenzionale, 1993; Dreher, Der Irrtum über Rechtfertigungsgründe, Festschrift für E. Heinitz, 1972, S. 207; Ebert, Der Überzeugungstäter in der neueren Rechtsentwicklung, 1975; Engisch, Tatbestandsirrtum und Verbotsirrtum bei Rechtfertigungsgründen, ZStW 70 (1958) S. 566; Figueiredo Dias, Ο problema da consciência da ilicitude em direito penal, 3. Auflage 1987; Frisch, Der Irrtum als Unrechts- und/oder Schuldausschluß im deut83

So Roxin, Allg. Teil I § 20 Rdn. 48; zu letzterem abw. Scholz/Lingens, WStG § 7 Rdn. 10, der zu traditionsbewußt auf einen „alten soldatischen Grundsatz" verweist. 84 Uber das Verhältnis von actio libera in causa und § 323 a vgl. Cramer, Der Vollrauschtatbestand S. 129ff.; Schönke/Schröder /Cramer, § 323a Rdn. 31 ff.; Paeffgen, ZStW 97 (1985) S. 513 ff. 85 Zur Strafzumessung bei § 323 a vgl. Bruns, Lackner-Festschrift S. 439ff.; Wolter, NStZ 1982, 58 ff. 86 Über die Anwendbarkeit des § 323 a bei Zweifeln hinsichtlich der Schuldunfähigkeit des Täters bei Begehung der Rauschtat BGH DRiZ 1983, 450; OLG Köln VRS 68, 38; Lackner, Jescheck-Festschrift Bd. I S. 663f.; Tröndle, ebenda S. 687ff.; Dencker, JZ 1984, 453f. 87 Uber das ausländische Recht vgl. Waaben/Schultz/ Léauté, Die Behandlung der Trunkenheit im Strafrecht, 1960; ferner v. Weber, Stock-Festschrift S. 65 ff. Zum italienischen Recht, das die verschuldete Trunkenheit aus der Regelung der Schuldunfähigkeit ausschließt (Art. 92 I C.p.), vgl. Bettiol/Pettoello Mantovani, Diritto penale S. 495 ff.; Pagliaro, Principi S. 633 ff. Ebenso Art. 28 II bras. C.p. Auch im englischen Recht ist verschuldete Trunkenheit kein Schuldausschließungsgrund; vgl. Smith/Hogan, Criminal Law S. 197, in der Regel auch nicht im amerikanischen Recht; vgl. Robinson, Criminal Law Defenses Bd. I S. 248. 88

Vgl. dazu Cramer, Vollrauschtatbestand S. 93; Schönke /Schröder /Cramer,

§ 323 a

Rdn. 1, 11. Die Vereinbarkeit des § 330 a a.F. (und des Art. 263 Schweiz. StGB) mit dem Schuldgrundsatz bezweifelt zu Unrecht Brandenberger, Selbstverschuldete Zurechnungsunfähigkeit S. 84 ff. Zum ganzen Brandstetter, Vollrausch S. 109 ff. 29 Jescheck, 5. A .

450

§ 4 1 Bewußtsein der Rechtswidrigkeit u n d V e r b o t s i r r t u m

sehen Strafrecht, in: Eser/Perron (Hrsg.), Rechtfertigung und Entschuldigung, Bd. III, 1991, S. 217; Fukuda, Das Problem des Irrtums über Rechtfertigungsgründe, JZ 1958, 143; Gallas, Zur Struktur des strafrechtlichen Unrechtsbegriffs, Festschrift für P. Bockelmann, 1979, S. 155; Germann, Gehört das Unrechtsbewußtsein zur Strafbarkeit wegen eines vorsätzlichen Delikts? SchwZStr 68 (1953) S. 371; Grünwald, Zu den Varianten der eingeschränkten Schuldtheorie, Gedächtnisschrift für P. Noll, 1984, S. 183; Hardwig, Sachverhaltsirrtum und Pflichtirrtum, GA 1956, 369; Härtung, Zweifelsfragen des Verbotsirrtums, JZ 1955, 663; Heitzer, Ist der putative Rechtfertigungsgrund als Verbotsirrtum zu behandeln? NJW 1953, 210; Herdegen, Der Verbotsirrtum in der Rechtsprechung des BGH, in: 25 Jahre BGH, 1975, S. 195; Herzberg, Erlaubnistatbestandsirrtum und Deliktsaufbau, JA 1989, 243, 294; derselbe, Tatbestands- oder Verbotsirrtum? G A 1993, 439; derselbe, Zur Eingrenzung des vorsatzausschließenden Irrtums (§16 StGB), JZ 1993, 1017; Hirsch, Die Lehre von den negativen Tatbestandsmerkmalen, 1960; derselbe, Der Streit um Handlungs- und Unrechtslehre usw. (Teil II), ZStW 94 (1982) S. 239; Horn, Verbotsirrtum und Vorwerfbarkeit, 1969; Hruschka, Conscientia erronea und ignorantia bei Thomas von Aquin, Festschrift für H. Welzel, 1974, S. 115; Jescheck, Anmerkung zu BGH 10, 35, JZ 1957, 551; derselbe, Strafrecht im Wandel, OJZ 1971, 1; derselbe, Deutsche und österreichische Strafrechtsreform, Festschrift für R. Lange, 1976, S. 365; derselbe, Neue Strafrechtsdogmatik und Kriminalpolitik usw., ZStW 98 (1986) S. 1; derselbe, Das niederländische StGB im internationalen Zusammenhang, in: van Dijk u.a. (Hrsg.), Criminal Law in Action, 1986, S. 5; derselbe, Zum Rechtsirrtum im deutschen und italienischen Strafrecht, Recht in Ost und West, 1989, S. 889; derselbe, Die Schuld im Entwurf eines StGB für England und Wales im Vergleich mit dem deutschen Recht, Festschrift für R. Schmitt, 1992, S. 56; derselbe, Das Schuldprinzip als Grundlage und Grenze der Strafbarkeit im deutschen und spanischen Recht, Gedächtnisschrift für I. de Loyola, 1991, S. 405; Kaplan, Mistake of Law, in: Eser/ Fletcher (Hrsg.), Rechtfertigung und Entschuldigung, Bd. II, 1988, S. 1125; Armin Kaufmann, Tatbestandseinschränkung und Rechtfertigung, JZ 1955, 37; derselbe, Der dolus eventualis im Deliktsaufbau, ZStW 70 (1958) S. 64; derselbe, Schuldfähigkeit und Verbotsirrtum, Festschrift für Eb. Schmidt, 1961, S. 319; Arthur Kaufmann, Das Unrechtsbewußtsein in der Schuldlehre des Strafrechts, 1949 (Neudruck 1985); derselbe, Zur Lehre von den negativen Tatbestandsmerkmalen, JZ 1954, 653; derselbe, Tatbestand, Rechtfertigungsgründe und Irrtum, JZ 1956, 353; derselbe, Die Irrtumsregelung im Ε 1962, ZStW 76 (1964) S. 543; derselbe, Einige Anmerkungen zu Irrtümern über den Irrtum, Festschrift für K. Lackner, 1987, S. 185; Kerscher, Tatbestands- und Verbotsirrtum im Nebenstrafrecht usw., Diss. München 1969; Kiefner, Die gegenwärtige Bedeutung der Maxime „Nul n'est censé ignorer la loi", Deutsche Landesreferate zum VII. Internationalen Kongreß für Rechtsvergleichung 1967, S. 87; Kienapfel, Unrechtsbewußtsein und Verbotsirrtum, OJZ 1976, 113; Kindhäuser, Gefährdung als Straftat, 1989; derselbe, Zur Unterscheidung von Tat- und Rechtsirrtum, G A 1990, 407; Kramer/ Trittel, Die Bindungswirkung der Entscheidung des BVerfG über die Verfassungsmäßigkeit des § 17 StGB, JZ 1980, 393; Krümpelmann, Stufen der Schuld beim Verbotsirrtum, G A 1968, 129; derselbe, Die strafrechtliche Behandlung des Irrtums, ZStW-Beiheft Budapest, 1978, S. 6; Küper, Die dämonische Macht des „Katzenkönigs" usw., JZ 1989, 617; Küpper, Grenzen der normativen Strafrechtsdogmatik, 1990; Kunz, Strafausschluß oder -milderung bei Tatveranlassung durch falsche Rechtsauskunft? GA 1983, 457; Lange, Irrtumsfragen bei der ärztlichen Schwangerschaftsunterbrechung, JZ 1953, 9; derselbe, Der Strafgesetzgeber und die Schuldlehre, JZ 1956, 73; derselbe, Die Magna Charta der anständigen Leute, JZ 1956, 519; derselbe, Nur eine Ordnungswidrigkeit ? JZ 1957, 233; Langer, Das Sonderverbrechen, 1972; derselbe, Vorsatztheorie und strafgesetzliche Irrtumsregelung, GA 1976, 193; derselbe, Gesetzlichkeitsprinzip und Strafmilderungsgründe, Festschrift für H. Dünnebier, 1982, S. 421; derselbe, Strafrechtsdogmatik als Wissenschaft, GA 1990, 435; Lang-Hinrichsen, Zur Problematik der Lehre von Tatbestands- und Verbotsirrtum, JR 1952, 184; derselbe, Tatbestandslehre und Verbotsirrtum, JR 1952, 302, 356; derselbe, Die irrtümliche Annahme eines Rechtfertigungsgrundes in der Rechtsprechung des BGH, JZ 1953, 362; derselbe, Zur Frage der Schuld bei Straftaten und Ordnungswidrigkeiten, GA 1957, 225; derselbe, Die kriminalpolitischen Aufgaben der Strafrechtsreform, Verhandlungen des 43. DJT, Bd. I, 1960, S. 5; Lenckner, Die Rechtfertigungsgründe und das Erfordernis pflichtgemäßer Prüfung, Festschrift für H. Mayer, 1966, S. 165; Loos, Bemerkungen zur „historischen Auslegung", Festschrift für R. Wassermann, 1985, S. 123; Maiwald, Unrechtskenntnis und Vorsatz im Steuerstrafrecht, 1984; Mangakis, Das Unrechtsbewußtsein in der strafrechtlichen Schuldlehre nach deutschem und griechischem Recht, 1954; J. Meyer, Verbotsirrtum im Ordnungswidrigkei-

Schrifttum zu § 41

451

tenrecht, JuS 1983, 513; Mezger, Fiktion und Analogie beim sog. Verbotsirrtum, NJW 1961, 869; Mir Puig, Der Irrtum als Unrechts- und/oder Schuldausschließungsgrund im spanischen Strafrecht, in: Eser/Perron (Hrsg.), Rechtfertigung und Entschuldigung, Bd. III, 1991, S. 291; Müller-DietZy Grenzen des Schuldgedankens im Strafrecht, 1967; Naka, Appellfunktion des Tatbestandsvorsatzes, JZ 1961, 210; Niese, Finalität, Vorsatz und Fahrlässigkeit, 1951; derselbe, Der Irrtum über Rechtfertigungsgründe, DRiZ 1953, 20; NollDas Unrechtsbewußtsein im Schweiz. Strafrecht, Schweizer Beiträge zum IV. Internationalen Kongreß für Rechtsvergleichung 1954, S. 209; derselbe, Tatbestand und Rechtswidrigkeit usw., ZStW 77 (1965) S. 1; Nowakowski, Rechtsfeindlichkeit, Schuld, Vorsatz, ZStW 65 (1953) S. 379; derselbe, Probleme der Strafrechtsdogmatik, JBl 1972, 19; Oehler, Die mit Strafe bedrohte tatvorsätzliche Handlung im Rahmen der Teilnahme, Berliner Festschrift zum 41. DJT, 1955, S. 255; Otto, Der vorsatzausschließende Irrtum in der höchstrichterlichen Rechtsprechung, Gedächtnisschrift für K. Meyer, 1990, S. 583; derselbe, Der Verbotsirrtum, Jura 1990, 645; Paeffgen, Fotografieren von Demonstranten usw., JZ 1978, 738; derselbe, Anmerkungen zum Erlaubnistatbestandsirrtum, Gedächtnisschrift für Armin Kaufmann, 1989, S. 399; Platzgummer, Bewußtseinsform des Vorsatzes, 1964; derselbe, Die „Allgemeinen Bestimmungen" des Strafgesetzentwurfes usw., JBl 1971, 236; derselbe, Vorsatz und Unrechtsbewußtsein, Strafrechtliche Probleme der Gegenwart, Bd. I, 1974, S. 49; Pulitanö, L'errore di diritto nella teoria del reato, 1976; Robinson, Criminal Law Defenses, Bd.I, 1984; Roxin, Die Irrtumsregelung des Ε 1960 und die strenge Schuldtheorie, MSchrKrim 1961, 211; derselbe, Die Behandlung des Irrtums im Ε 1962, ZStW 76 (1964) S. 582; derselbe, Literaturbericht, ZStW 78 (1966) S. 214; derselbe, Literaturbericht, ZStW 82 (1970) S. 675; derselbe, „Schuld" und „Verantwortlichkeit" als strafrechtliche Systemkategorien, Festschrift für H. Henkel, 1974, S. 171; derselbe, Uber die mutmaßliche Einwilligung, Festschrift für H. Welzel, 1974, S. 447; Rudolphi, Unrechtsbewußtsein, Verbotsirrtum und Vermeidbarkeit des Verbotsirrtums, 1969; derselbe, Anmerkung zu KG vom 24.3.1977, JR 1977, 380; derselbe, Das virtuelle Unrechtsbewußtsein usw., in: Bonner/de Boor (Hrsg.), Unrechtsbewußtsein, 1982, S. 1; derselbe, Die pflichtgemäße Prüfung als Erfordernis der Rechtfertigung, Gedächtnisschrift für H. Schröder, 1978, S. 73; derselbe, Anmerkung zu BayObLG vom 8.9.1988, JR 1989, 387; Sax, Kriminalpolitik und Strafrechtsreform, JZ 1957, 1; derselbe, Dogmatische Streifzüge durch den Entwurf usw., ZStW 69 (1957) S. 412; Schaff stein, Tatbestandsirrtum und Verbotsirrtum, Göttinger Festschrift für das OLG Celle, 1961, S. 175; derselbe, Putative Rechtfertigungsgründe und finale Handlungslehre, MDR 1951, 196; Schewe, Bewußtsein und Vorsatz, 1967; Schick, Die Vorwerfbarkeit des Verbotsirrtums bei Handeln auf falschen Rat, Strafrechtliche Probleme 8, 1980, S. 105; Schlegtendal, Tatbestand, Vorsatz und Fahrlässigkeit bei den Ordnungswidrigkeiten, Diss. Freiburg 1957; Schlüchter, Irrtum über normative Tatbestandsmerkmale, 1983; dieselbe, Grundfälle zum Bewertungsirrtum usw., JuS 1985, 373; Schmidhäuser, Uber Aktualität und Potentialität des Unrechtsbewußtseins, Festschrift für H. Mayer, 1966, S. 317; derselbe, Gesinnungsethik und Gesinnungsstrafrecht, Festschrift für W. Gallas, 1973, S. 81; derselbe, Unrechtsbewußtsein und Schuldgrundsatz, NJW 1975, 1807; derselbe, Der Verbotsirrtum und das Strafgesetz, JZ 1979, 361; Eb. Schmidt, Anmerkung zu OLG Oldenburg vom 20.6.1950, SJZ 1950, 837; Schröder, Die Notstandsregelung des Entwurfs 1959 II, Festschrift für Eb. Schmidt, 1961, S. 290; Schroth, Die Annahme und das „Für-Möglich-Halten" von Umständen, die einen anerkannten Rechtfertigungsgrund begründen, Festschrift für Arthur Kaufmann, 1993, S. 595; B. Schünemann, Einführung in das strafrechtliche Systemdenken, in: Schünemann (Hrsg.), Grundfragen des modernen Strafrechtssystems, 1984, S. 1; derselbe, Die deutschsprachige Strafrechtswissenschaft nach der Strafrechtsreform usw., GA 1985, 341; H.W. Schünemann, Verbotsirrtum und faktische Verbotskenntnis, NJW 1980, 735; Spendet, Das Unrechtsbewußtsein in der Verbrechenssystematik, Festschrift für H. Tröndle, 1989, S. 89; Strien, Einflüsse des deutschen Strafrechts auf die jüngere Strafrechtsreformbewegung in Spanien, 1992; Strauss, Verbotsirrtum und Erkundigungspflicht, NJW 1969, 1418; Tiedemann, Tatbestandsfunktionen im Nebenstrafrecht, 1969; derselbe, Zur legislatorischen Behandlung des Verbotsirrtums im Ordnungswidrigkeiten- und Steuerstrafrecht, ZStW 81 (1969) S. 869; Timpe, Normatives und Psychisches im Begriff der Vermeidbarkeit des Verbotsirrtums, G A 1983, 51; Warda, Die Verbotsirrtumsregelung des § 31 WiStG usw., JR 1950, 546; derselbe, Tatbestandsbezogenes Unrechtsbewußtsein, NJW 1953, 1052; derselbe, Zur gesetzlichen Regelung des vermeidbaren Verbotsirrtums, ZStW 71 (1959) S. 252; derselbe, Schuld und Strafe beim Handeln mit bedingtem Unrechtsbewußtsein, Festschrift für H. Welzel, 1974, S. 499; derselbe, Vorsatz und Schuld bei ungewisser Tätervorstellung, Festschrift für R. Lange, 1976, S. 119; v. Weber, Der Irrtum über einen Rechtfertigungsgrund, JZ 1951, 260; derselbe, 29·-

452

§ 41 Bewußtsein der Rechtswidrigkeit u n d V e r b o t s i r r t u m

Negative Tatbestandsmerkmale, Festschrift für E. Mezger, 1954, S. 183; Welzel, Die Regelung von Vorsatz und Irrtum im Strafrecht als legislatorisches Problem, ZStW 67 (1955) S. 196; derselbe, Der übergesetzliche Notstand und die Irrtumsproblematik, JZ 1955, 142; derselbe, Der Verbotsirrtum im Nebenstrafrecht, JZ 1956, 238; derselbe, Diskussionsbemerkung zum Thema „Die Irrtumsregelung im Entwurf", ZStW 76 (1964) S. 619; Wolter, Schuldhafte Verletzung einer Erkundigungspflicht, JuS 1979, 482; Zaczyk, Der verschuldete Verbotsirrtum BayObLG NJW 1989, 1744, JuS 1990, 889; Ziegen, Vorsatz, Schuld und Vorverschulden, 1988. I. Das Bewußtsein der Rechtswidrigkeit als Schuldmerkmal 1. Schuldhaft handelt nur, wer erkennen kann, daß sein Verhalten rechtlich verboten ist. Die Anerkennung dieses Grundsatzes durch die Entscheidung des Großen Senats für Strafsachen des Bundesgerichtshofs vom 18.3.1952 (BGH 2, 194 [201]) ist ein Markstein in der neueren deutschen Strafrechtsgeschichte. Zwar halten sich die praktischen Auswirkungen dieser Wendung in Grenzen, weil die Rechtsprechung den vermeidbaren Verbotsirrtum für die Vorsatzschuld ausreichen läßt und an die Unvermeidbarkeit strenge Anforderungen stellt, doch ist mit dem Erfordernis des Unrechtsbewußtseins für den Schuldvorwurf der Weg zur Vollendung des Schuldprinzips eingeschlagen worden (zur Vorgeschichte vgl. 2. Auflage S. 228, 338)1. Der Gesetzgeber hat diese Entwicklung im Jahre 1975 durch Einführung des § 17 zum Abschluß gebracht. Die Vorschrift ergibt zunächst durch Umkehrschluß, daß die Unrechtskenntnis Voraussetzung des vollen Schuldvorwurfs ist. Was die Vorschrift positiv regelt, ist der Verbotsirrtum: Fehlt dem Täter das Unrechtsbewußtsein, so handelt er ohne Schuld, wenn die Unkenntnis für ihn unvermeidbar war (S. 1). Konnte der Täter den Irrtum vermeiden, so kann die dem Vorsatztatbestand zu entnehmende Strafe nach § 49 I gemildert werden (S. 2). Das Unrechtsbewußtsein bildet somit das Kernstück des Schuldvorwurfs, denn der Entschluß zur Tat bei voller Kenntnis der entgegenstehenden Rechtsnorm charakterisiert am deutlichsten den Mangel an Rechtsgesinnung, der den Täter belastet. Der von der Rechtsnorm ausgehende Appell zur Rechtstreue hätte sich unmittelbar auf die Willensbildung auswirken sollen. Wer sich statt dessen bewußt gegen das Recht auflehnt, bekundet damit eine Einstellung gegenüber dem Achtungsanspruch des strafrechtlich geschützten Rechtsguts, die der des gewissenhaften Staatsbürgers entgegengesetzt ist. Aber auch wenn dem Täter die für den vollen Schuldvorwurf erforderliche Unrechtskenntnis fehlt, mit anderen Worten ein Verbotsirrtum vorliegt, kommt ein Schuldvorwurf in Betracht. Dies ist dann gegeben, wenn der Irrtum vermeidbar war. Auch in diesem Fall bleibt es nach § 17 S. 2 bei der Strafbarkeit wegen vorsätzlicher Tat, da der Täter die Umstände, die das Rechtswidrigkeitsurteil begründen, bewußt und gewollt verwirklicht hat. Wegen der fehlenden aktuellen Unrechtskenntnis ist jedoch die Schuld in der Regel geringer. Die Vorsatzstrafe bei nur fakultativer Strafmilderung widerspricht nicht dem Grundgesetz (BVerfGE 41, 121). 2. Während das Unrechtsbewußtsein als Schuldmerkmal auch vor Einführung des § 17 allgemein anerkannt war, blieb seine Stellung im Aufbau des Schuldbegriffs zunächst umstritten. Für die von einer Minderheit vertretene Vorsatztheorie2 stellte neben dem 1

Vgl. Schmidhäuser, NJW 1975, 1808; v. Caemmerer, Β GH-Ansprachen S. 34; Krümpel-

mann, ZStW Beiheft Budapest 1978 S. 7ff.; Roxin, Allg. Teil I § 21 Rdn. 7. 2 So z.B. Baumann, Allg. Teil 5. Auflage S. 420ff.; Baumann/Weber, Allg. Teil S. 424; Hardwig, GA 1956, 575; Langer, Das Sonderverbrechen S. 356ff.; derselbe, GA 1976, 193; Lang-Hinnchsen, JR 1952, 184, 302, 356; derselbe, JZ 1953, 362; derselbe, DJT-Gutachten S. 102 ff.; LK 8 (Mezger) §59 Anm. 17 III; Oehler, Berliner Festschrift S. 259; Schönke/ Schröder, 17. Auflage § 59 Rdn. 81 ff.; Schmidhäuser, Allg. Teil 1. Auflage S. 327, 2. Auflage S. 419; H.-W. Schünemann, NJW 1980, 738; Spendel, Tröndle-Festschrift S. 99f.

I. Das Bewußtsein der Rechtswidrigkeit als Schuldmerkmal

453

Wissen und Wollen der Tatbestandsmerkmale gerade das Unrechtsbewußtsein den Kern des Vorsatzes dar (dolus malus), so daß bei fehlendem Unrechtsbewußtsein niemals Vorsatzstrafe eintreten konnte. Dagegen betrachtet die auch früher schon herrschende Schuldtheorie3 das Bewußtsein der Rechtswidrigkeit als selbständiges Schuldelement, so daß trotz fehlender Unrechtskenntnis die Vorsatzstrafe gerechtfertigt sein kann, wenn der Verbotsirrtum vermeidbar ist. Das seit der Reform von 1975 geltende Recht geht von der Unterscheidung zwischen Tatbestandsirrtum (§ 16) und Verbotsirrtum (§ 17) aus4. Der Regelung des Verbotsirrtums liegt die Schuldtheorie zugrunde 5. Dies ergibt sich daraus, daß der vermeidbare Verbotsirrtum nach § 17 S. 2 den Vorsatz unberührt läßt und nur zu fakultativer Milderung der Vorsatzstrafe nach § 49 I führt. Auch die Neuregelung des Verbotsirrtums im Ordnungswidrigkeitenrecht (§11 I I OWiG) beruht auf der Schuldtheorie 6. Einen Sonderfall des Verbotsirrtums regelt § 5 I WStG (vgl. unten § 46 I I 3 b). 3. Auch für den Inhalt des Unrechtsbewußtseins hat das geltende Recht prinzipiell Klarheit gebracht, indem als Gegenstand der Verbotskenntnis das „Unrecht" genannt wird. Dagegen ist die Frage der Genauigkeit des Unrechtsbewußtseins vom Gesetzgeber offen gelassen worden. a) Gegenstand des Unrechtsbewußtseins ist jedenfalls nicht die Kenntnis des verletzten Rechtssatzes oder der Strafbarkeit der Tat (BGH 15, 377 [382 ff.]). Es genügt vielmehr, wenn der Täter weiß, daß sein Verhalten den Erfordernissen der Gemeinschaftsordnung widerspricht und deswegen rechtlich verboten ist 7 . Mit 3

So z.B. Bockelmann, NJW 1950, 830; Bockelmann/Volk,

Allg. Teil S. 125; Busch, Mo-

derne Wandlungen S. 9; derselbe, Mezger-Festschrift S. 168; Graf zu Dohna, Verbrechenslehre S. 51; Kohlrausch/Lange, § 59 Anm. II 2 h; Gallas, Beiträge S. 56 Fußnote 89; Maurach, Allg. Teil 4. Auflage S. 468f.; Maurach/Zipf Allg. Teil I §37 Rdn. 60; Mezger/Blei, Allg. Teil 15. Auflage S. 207 ff.; Niese, Finalität S. 33 ff.; Schaff stein, Göttinger Festschrift S. 175ff.; Eb. Schmidt, SJZ 1950, 837; Dreher, 34. Auflage §59 Anm. I I Ε 3; Dreher/ Tröndle, Vorbem. 31 vor § 13; Warda, JR 1950, 546ff.; v. Weber, Grundriß S. 122; Welzel,

Lehrbuch S. 164ff.; Stratenwerth, Allg. Teil I 1. Auflage Rdn. 612, 3. Auflage Rdn. 582; Wessels, Allg. Teil Rdn. 462. 4 Uber Schwierigkeiten bei der Abgrenzung von Tatbestands- und Verbotsirrtum, die sich einerseits aus der Verwendung von normativen und gesamttatbewertenden Merkmalen, andererseits aus der Existenz von Blankettgesetzen ergeben, Baumann, Welzel-Festschrift S. 533 ff.; Roxin, Allg. Teil I § 12 Rdn. 84ff.; Frisch, Der Irrtum S. 225ff.; Arthur Kaufmann, Lackner-Festschrift S. 190; Schönke/Schröder /Cramer, § 17 Rdn. 12 m.zahlr. Nachw. aus der Rspr.; ferner Dreh er/Tröndle, § 17 Rdn. 11 (vgl. auch unten § 41 II 2d). Der Irrtum über die Steuerpflicht, der nach BGH 5, 90 (92); BayObLG NJW 1976, 635 Tatbestandsirrtum ist und damit der Bestrafung aus § 370 AO entgegensteht, wird von Maiwald, Unrechtskenntnis S. 15 ff. als Verbotsirrtum angesehen, der den Vorsatz unberührt läßt. 5

Dreher, Heinitz-Festschrift S. 211; Dreher/Tröndle,

§ 17 Rdn. 2; Loos, Wassermann-

Festschrift S. 127; Lackner, § 17 Rdn. 1; Roxin, Allg. Teil I § 21 Rdn. 7; Jakobs, Allg. Teil 19/18; Schönke/Schröder /Cramer,

§ 17 Rdn. 3; SK (Rudolph!) § 17 Rdn. 1; S tree, in; Roxin

u.a., Einführung S. 50; Tiedemann, ZStW 81 (1969) S. 869; AK (Neumann) § 17 Rdn. 1. Dagegen wollen Schmidhäuser, NJW 1975, 1810; derselbe, JZ 1979, 369 und Langer, G A 1976,

206 ff. sowie G A 1990, 456 Fußnote 69 den § 17 im Hinblick auf das Schuldprinzip nach der Vorsatztheorie auslegen. Kritisch zur Regelung des § 17 S. 2 auch Otto, Grundkurs S. 210;

Arthur Kaufmann, Lackner-Festschrift S. 186ff.; H.-W. Schünemann, NJW 1980, 741 ff. Zur

Frage der Bindungswirkung von BVerfGE 41, 121 Kramer/Tnttel, JZ 1980, 393 mit Entgegnung von Schmidhäuser, ebenda S. 396. 6 Vgl. Göhler, § 11 OWiG Rdn. 20 f. Bedenken bei Tiedemann, Wirtschaftsstrafrecht Allg. Teil S. 212 ff.; derselbe, ZStW 81 (1969) S. 874. 7 Vgl. Arthur Kaufmann, Unrechtsbewußtsein S. 154ff.; derselbe, ZStW 76 (1964) S. 554;

Dreher/Tröndle,

§ 17 Rdn. 3; Kohlrausch/Lange,

§ 59 Anm. I I 2h; Lackner, § 17 Rdn. 2;

454

§ 41 Bewußtsein der Rechtswidrigkeit u n d V e r b o t s i r r t u m

anderen Worten reicht die Kenntnis der materiellen Rechtswidrigkeit aus, und zwar als „Kenntnis nach Laienart" ( B G H 10, 35 [41]), während andererseits das bloße Bewußtsein der Sittenwidrigkeit die Unrechtskenntnis nicht begründet ( B G H G A 1969, 61). Jedoch wird häufig gerade dieses Bewußtsein den Verbotsirrtum als vermeidbar erscheinen lassen, weil der Täter dann Anlaß hatte, über die rechtliche Bewertung seiner Handlung nachzudenken. Kenntnis der materiellen Rechtswidrigkeit bedeutet, daß der Täter glaubt, eine straf-, zivil- oder öffentlich-rechtliche N o r m zu verletzen ( B G H 11, 263 [266]) 8 . Beispiele für Grenzfälle: Die Ehefrau, die von dem durch ihren Mann geplanten Raubüberfall erfährt, aber nichts unternimmt, um ihn davon abzubringen oder die Tat sonst zu verhindern, wird möglicherweise die Anzeigepflicht (§ 138) bzw. das Abhaltegebot (§ 139 III) verkennen, auch wenn sie ihr Stillschweigen als nicht in der Ordnung empfindet (BGH 19, 295 [299]). Der Bauernbursche, der mit einer schwachsinnigen, aber besonders triebhaft veranlagten Frau geschlechtlich verkehrt, wird sich möglicherweise des rechtlichen Verbots nach § 179 I Nr. 1, I I nicht bewußt sein, mag er die Handlung auch als anstößig empfinden (BGH JR 1954, 188). Jemand nimmt ein Telefongespräch ohne Wissen des anderen Teils auf Tonband auf; er versteht sein Handeln als ungehörig, kennt aber das strafrechtliche Verbot des § 201 I Nr. 1 nicht. Für die Unrechtskenntnis genügt das Bewußtsein, gegen eine formell gültige Rechtsnorm zu verstoßen, weil der Täter in diesem Falle immerhin weiß, daß er geltendem Recht zuwiderhandelt, mag er auch von der Sozialnützlichkeit seines Verhaltens überzeugt sein ( A G Düsseldorf NJW 1985, 1971: keine Steuerabzugsfähigkeit mittelbarer Parteispenden). Der Überzeugungstäter besitzt deshalb ebenso wie der Täter, der aus für ihn zwingenden Gewissensgründen handelt (BVerfGE 12, 45 [55]), jedenfalls dann das Unrechtsbewußtsein, wenn er weiß, daß die von ihm mißachtete N o r m eine mit der Verfassung formell und materiell übereinstimmende Rechtsnorm ist (vgl. BVerfGE 32, 98; B G H 2, 194 [208]) 9 . Beispiele: Die Übertretung der PolizeiVO über das Verbot der Volksbefragung gegen die Remilitarisierung geschah mit Unrechtsbewußtsein, auch wenn die Täter glaubten, die politische Entwicklung Deutschlands sei verhängnisvoll und müsse durch einen Appell an den Volkswillen verhindert werden (BGH 4, 1 [3]; das gleiche wird man für einen Vater annehmen müssen, der als Angehöriger der Zeugen Jehovas die Zustimmung zu einem für die Rettung seines Kindes unerläßlichen Blutaustausch verweigert [OLG Hamm NJW 1968, 212]. Vgl. auch BayObLG MDR 1966, 693 zur Dienstflucht; LG Berlin und KG JZ 1976, 98 [99] zu einer politisch motivierten Sachbeschädigung). Vgl. ferner oben § 37 II 3. b) Meistens wird sich der Täter der Rechtswidrigkeit seiner Tat genau bewußt sein. Das gilt ohne weiteres für Taten, von denen jedermann weiß, daß sie rechtlich verboten sind (Tötung eines Menschen, Diebstahl, Meineid, Brandstiftung). Es genügt aber auch, daß der Täter, was vor allem im Nebenstrafrecht in Betracht Schönke/Schröder /Cramer,

§ 17 Rdn. 5; SK (Rudolphi) § 17 Rdn. 3 ff.; Welzel,

Lehrbuch

S. 171; Otto, Jura 1990, 645 f. Rudolphi, Unrechtsbewußtsein S. 59 f. verlangt zutreffend die Kenntnis, daß die verletzte sozialethische Norm rechtliche Anerkennung gefunden habe. Ausreichend ist die Annahme einer Ordnungswidrigkeit (BGH 11, 263 [266]; OLG Düsseldorf NJW 1987, 78); anders LK n (Schroeder) § 17 Rdn. 8. Allgemein soll nach LK n (Schroeder) § 17 Rdn. 7 das Bewußtsein der Strafbarkeit (wie bei Feuerbach) erforderlich sein. Dagegen die einhellige Rspr.; vgl. BGH 2, 202; 10, 41; 15, 383. 8 Dagegen setzt nach AK (Neumann) § 17 Rdn. 21 f. das Unrechtsbewußtsein die Kenntnis voraus, gegen eine sanktionsbewehrte Norm zu verstoßen, wobei aber Disziplinarunrecht nicht genügen soll (a.A. zu Recht Schönke/Schröder/ Cramer, § 17 Rdn. 5). 9 Ebenso Ebert, Überzeugungstäter S. 54; Jakobs, Allg. Teil 19/24; Roxin, Allg. Teil I § 21

Rdn. 15; Lackner, § 17 Rdn. 2; LK n

(Schroeder)

sein S. 188 ff.; Schönke/Schröder /Cramer,

S. 334; Küper, JZ 1989, 622.

§ 17 Rdn. 20; Rudolphi, Unrechtsbewußt-

§ 17 Rdn. 7; Schmidhäuser, H. Mayer-Festschrift

I. Das Bewußtsein der Rechtswidrigkeit als Schuldmerkmal

455

kommt, die Rechtswidrigkeit seines Verhaltens nur ernstlich erwägt und sich mit der Möglichkeit, gegen das Recht zu verstoßen, abfindet (bedingtes Unrechtsbewußtsein) ( B G H L M § 59 Nr. 6; B G H JR 1952, 285; B G H 4, 1 [4]; weitergehend O L G Düsseldorf M D R 1984, 866) 10 . Teilweise wird angenommen, daß bei unbehebbarem Unrechtszweifel (vgl. den Fall O L G Bremen NJW 1960, 163) ein Verbotsirrtum zwar zu verneinen, aber in analoger Anwendung des § 17 gleichwohl Strafmilderung nach § 49 I oder sogar Straffreiheit zu gewähren sei 11 . Nach der hier zugrunde gelegten Auffassung liegt volle Unrechtskenntnis vor, wenn sich der Täter im Falle des Zweifels mit dem Rechtsverstoß abfindet, sonst ein Verbotsirrtum, der bei Vermeidbarkeit (zur Erkundigungspflicht vgl. B G H 21, 18 [21]) ohnehin nach § 17 S. 2 zur fakultativen Strafmilderung, bei Unvermeidbarkeit nach S. 1 zur Straflosigkeit führt 1 2 . c) In vielen Fällen wird das Unrechtsbewußtsein bei der Tat aktuell gegeben sein und dem Täter klar vor Augen stehen. Das ist vor allem bei Delikten der Fall, die von langer Hand vorbereitet sind und planmäßig durchgeführt werden. Ausreichend ist jedoch auch ein lediglich in der personalen Schicht (vgl. oben § 37 I I I 2) latent vorhandenes, bei der Tat selbst jedoch nicht aktualisiertes Unrechtsbild, das häufig für Affektverbrechen kennzeichnend ist 1 3 . d) Das Unrechtsbewußtsein muß den spezifischen Unrechtsgehalt der in Betracht kommenden Deliktsart erfassen ( B G H 15, 377 [383]; B G H VRS 65, 127), was eine Ablehnung der gemeinrechtlichen Theorie vom „versari in re illicita" bedeutet. Da das Unrechtsbewußtsein nur in der Kenntnis der Rechtswidrigkeit der Tat gerade unter dem rechtlichen Gesichtspunkt der jeweils verletzten Strafvorschrift besteht, kann nicht nur bei tatmehrheitlichem, sondern auch bei tateinheitlichem Zusammentreffen mehrerer Strafgesetze das Unrechtsbewußtsein teils vorliegen, teils fehlen (Grundsatz der „Teilbarkeit des Unrechtsbewußtseins") 14. 10

Dagegen wollen Blei, Allg. Teil S. 199; Stratenwerth, Allg. Teil I Rdn. 386; Warda, Welzel-Festschrift S. 524 das Bewußtsein der Rechtswidrigkeit nur bei Verbotskenntnis annehmen. Richtig ist es jedoch, bei ernstlichem Zweifel des Täters ebenso wie beim bedingten Vorsatz zu fragen, ob er sich mit der Rechtsverletzung abgefunden oder ob er darauf vertraut hat, rechtmäßig zu handeln; ebenso Dreher/Tröndle, § 17 Rdn. 5; Paeffgen, JZ 1978, 745; LK n

(Schroeder)

§ 17 Rdn. 23; Rudolphi, Unrechtsbewußtsein S. 136ff.; Kienapfel,

ÖJZ 1976, 116. 11 So Blei, Allg. Teil S. 199; Armin Kaufmann, ZStW 70 (1958) S. 86; Roxin, Allg. Teil I § 21 Rdn. 33; Schönke/Schröder /Cramer,

§ 17 Rdn. 19; SK (Rudolphi) § 17 Rdn. 13; Kunz,

GA 1983, 468 ff.; Warda, Welzel-Festschrift S. 526ff.; derselbe, Lange-Festschrift S. 146. 12 Wie der Text Lackner, § 17 Rdn. 4. Dagegen stellt Dimakis, Der Zweifel S. 121 auf die überwiegende Wahrscheinlichkeit der Rechtswidrigkeit ab und nimmt bei allem, was darunter liegt, Verbotsirrtum an. 13 Vgl. die Unterscheidung von „sprachgedanklichem" und „sachgedanklichem" Unrechtsbewußtsein bei Schmidhäuser, H. Mayer-Festschrift S. 331; Allg. Teil S. 424 f.; NJW 1975, 1811; ebenso Rudolphi, Unrechtsbewußtsein S. 166. Im gleichen Sinne sprechen Platzgummer, Bewußtseinsform S. 83ff. von „Mitbewußtsein"; Schewe, Bewußtsein S. 135ff., 147ff. von „Orientiert-sein". Ebenso die h.L.; vgl. Horn, Verbotsirrtum S. 43; LK U (Schroeder) § 17 Rdn. 26; Jakobs, Allg. Teil 8/12 (zum Vorsatz); Roxin, ZStW 78 (1966) S. 257; SK (Rudolphi) § 17 Rdn. 14; Schönke/Schröder /Cramer, 14

§ 17 Rdn. 9; Kienapfel,

ÖJZ 1976, 115.

So die allgemeine Meinung; vgl. Engisch, ZStW 70 (1958) S. 569 f.; Warda, NJW 1953, 1052; Maurach/Zipf, Allg. Teil I § 38 Rdn. 40; Roxin, Allg. Teil I § 21 Rdn. 16; Rudolphi, Unrechtsbewußtsein S. 78; Schönke/Schröder /Cramer, § 17 Rdn. 8; Welzel, Lehrbuch S. 171 f.; Wessels, Allg. Teil Rdn. 428. Auch wenn der Täter sein Verhalten aufgrund einer anderen, tatsächlich aber nicht existierenden Norm für rechtswidrig gehalten hat (doppelter Verbotsirrtum), fehlt ihm das Unrechtsbewußtsein; vgl. SK (Rudolphi) § 17 Rdn. 10.

456

§ 4 1 Bewußtsein der Rechtswidrigkeit u n d V e r b o t s i r r t u m

Beispiele: Der aus Jugoslawien stammende Stiefvater, der mit der minderjährigen Stieftochter geschlechtlich verkehrt, war sich zwar der Rechtswidrigkeit der Tat als Unzucht mit einer Abhängigen (§ 174 Nr. 1 a.F.) und Ehebruch (§ 172 a.F.) bewußt, handelte aber möglicherweise im Verbotsirrtum hinsichtlich der unechten Blutschande (§ 173 II 2 a.F.), da diese dem jugoslawischen (wie jetzt übrigens auch dem deutschen) Recht unbekannt ist (BGH 10, 35 [39] m. Anm. Jescheck, JZ 1957, 551; anders früher BGH 3, 342). Entsprechend könnte ein italienischer Tourist wegen Beischlafs mit der noch nicht 18 Jahre alten Tochter nach § 174 I Nr. 3 strafbar, aber nach § 173 I wegen Verbotsirrtums straflos sein, weil Art. 564 des italienischen C.p. den Inzest nur bei Erregung öffentlichen Ärgernisses mit Strafe bedroht. Wer das Unrecht des Grundtatbestandes kennt, hat auch das Bewußtsein des besonderen Unrechtsgehalts des Qualifikationstatbestandes (BGH 8, 321 [324]; 15, 377 [383])15. Das Bewußtsein der Beleidigung (§ 185) umfaßt jedoch nicht ohne weiteres das Unrechtsbewußtsein für § 90b (BGH StV 1982, 218). 4. In allen Fällen, in denen die Rechtswidrigkeit der Tat auf der Hand liegt und der Täter erwachsen und voll schuldfähig ist, bedarf das Vorliegen des Unrechtsbewußtseins keines weiteren Beweises. Ausdrückliche Feststellungen im Urteil sind deshalb nur dann geboten, wenn sich der Angeklagte auf einen Verbotsirrtum berufen hat (vgl. § 267 I I StPO) oder wenn sich begründete Zweifel an seinem Unrechtsbewußtsein ergeben, weil er etwa Ausländer ist, die verletzte Norm nicht zum Kernbereich des kriminellen Strafrechts gehört oder ihre Auslegung zweifelhaft ist oder weil der Täter an das Eingreifen eines Rechtfertigungsgrundes geglaubt haben kann (das entsprechende Regel-Ausnahmeverhältnis besteht bei der Schuldunfähigkeit, vgl. oben § 40 I 3). II. Der Irrtum über die Verbotsnorm (direkter Verbotsirrtum) 1. Der Verbotsirrtum ist der Irrtum über die Rechtswidrigkeit der Tat (vgl. über den Unterschied zum Tatbestandsirrtum oben § 29 V 1 b) 1 6 . In der Grundsatzentscheidung des B G H heißt es dazu: „Der Irrtum über die Rechtswidrigkeit betrifft das Verbotensein der tatbestandsmäßigen Handlung. Der Täter weiß, was er tut, nimmt aber irrig an, es sei erlaubt" (BGH 2, 194 [197]). Verbotsirrtum ist aber nicht nur die positive Annahme, die Tat sei erlaubt, sondern ebenso wie beim Tatbestandsirrtum (vgl. oben § 29 V 1 a) auch das Fehlen einer Vorstellung über die rechtliche Bewertung der Tat 1 7 . Um auch diesen häufigen Fall einzuschließen, heißt es in § 17 S. 1 ausdrücklich: „Fehlt dem Täter bei Begehung der Tat die Einsicht, Unrecht zu tun, so handelt er ohne Schuld ..." (vgl. BT-Drucksache V/4095 S. 9). a) Zwei Grundfälle des Verbotsirrtums sind zu unterscheiden. Einmal kann es sein, daß der Täter die Verbotsnorm als solche nicht vor Augen hat, die die Tat betrifft, und daß er die Handlung deswegen für erlaubt hält (direkter Verbotsirrtum). Beruhen kann dieser Irrtum darauf, daß die Verbotsnorm dem Täter nicht bekannt ist oder daß er sie zwar kennt, aber als ungültig ansieht, oder daß er sie falsch ausgelegt hat und deswegen nicht für anwendbar hält (BGH VRS 65, 127; O L G Düsseldorf NJW 1986, 2001). Direkter Verbotsirrtum ist auch der Irrtum über ein gesamttatbewertendes Merkmal, sofern das Werturteil und nicht der ihm 15 Ebenso Schmidhäuser, NJW 1975, 1812f.; anders Roxin, Allg. Teil I §21 Rdn. 17; Maurach/Zipf, Allg. Teil I § 38 Rdn. 41 m.w. Nachw. 16

Vgl. Busch, Mezger-Festschrift S. 168; Herzberg, GA 1993, 449 und JZ 1993, 1017;

Otto, Jura 1990, 645 ff. 17 Vgl. darüber BayObLG JR 1963, 229; Armin Kaufmann, Eb. Schmidt-Festschrift S. 319ff.; Arthur Kaufmann, ZStW 76 (1964) S. 557; Roxin, ZStW 76 (1964) S. 607; Stree, in: Roxin u.a., Einführung S. 50; Welzel, ZStW 76 (1964) S. 620.

I I . D e r I r r t u m über

e e r t s n

(direkter Verbotsirrtum)

457

zugrunde liegende Sachverhalt in Frage steht (z.B. „Verwerflichkeit" der MittelZweck-Beziehung in § 240 II) (vgl. oben § 25 I I 2). Zum andern besteht die Möglichkeit, daß der Täter bei voller Kenntnis des Verbots als solchen im konkreten Fall irrtümlich an das Eingreifen einer rechtfertigenden Gegennorm glaubt, weil er die rechtlichen Grenzen eines anerkannten Rechtfertigungsgrundes verkennt oder zu seinen Gunsten einen Rechtfertigungsgrund annimmt, der von der Rechtsordnung nicht anerkannt ist (indirekter Verbotsirrtum) 18 (vgl. zum indirekten Verbotsirrtum unten § 41 I I I 1). b) Der Verbotsirrtum kann vermeidbar oder unvermeidbar sein 19 . Der unvermeidbare Verbotsirrtum darf dem Täter nicht zum Vorwurf gemacht werden, denn wer nicht in der Lage ist, das Unrecht der Tat einzusehen, beweist keine tadelnswerte Rechtsgesinnung, wenn er gegen das Recht verstößt. Der unvermeidbare Verbotsirrtum schließt deswegen die Schuld aus. Beim vermeidbaren Verbotsirrtum erhebt sich dagegen die Frage, ob, in welchem Grade und mit welcher Begründung ein Schuldvorwurf erhoben werden kann. Hierzu ist grundsätzlich zu sagen: Da sich der Bürger in einem freiheitlichen Rechtsstaat von dem Willen zu rechtmäßigem Verhalten leiten lassen soll, verlangt die Rechtsordnung von ihm, sich jederzeit darum zu bemühen, mit den Forderungen des Rechts in Einklang zu bleiben (BGH 2, 194 [201]). Daher kann ein Schuldvorwurf auch dann erhoben werden, wenn der Täter bezüglich der Rechtmäßigkeit seines Verhaltens subjektiv in „gutem Glauben" war, wenn er aber versäumt hatte, sich in zumutbarer Weise um die Erkenntnis des Rechts zu bemühen. 2. Daher kann auch im Falle eines vermeidbaren Verbotsirrtums nach § 17 S. 2 ein voller Schuldvorwurf wegen vorsätzlicher Tat berechtigt sein. Ein Verbotsirrtum berührt den Tatvorsatz nicht 2 0 . a) Da jedoch ein Wertungsunterschied zwischen dem bewußten Handeln gegen das Recht und der unbewußten, wenn auch durch vermeidbaren Irrtum bewirkten Zuwiderhandlung besteht21 und Vermeidbarkeit keineswegs nur bei Offensichtlich18

Übereinstimmend LK U (Schroeder) § 17 Rdn. 9; Schönke/Schröder/ Cramer, § 17 Rdn. 10; Kienapfel, ÖJZ 1976, 115; Schmidhäuser, Allg. Teil S. 439; Nowakowski, JBl 1972,

30; Wessels, Allg. Teil Rdn. 468, 486; AK (Neumann) § 17 Rdn. 27ff. Im gleichen Sinne unterscheidet Maurach/Zipf, Allg. Teil I § 38 Rdn. 14ff. zwischen „abstraktem" und „konkretem" Verbotsirrtum, ebenso Lackner, § 17 Rdn. 6. 19 Jakobs, Allg. Teil 19/7, 19/11 unterscheidet hierbei zwischen „Grundlagenirrtum", der bei Sozialisationsdefiziten unvermeidbar sein kann (AG Grevenbroich MDR 1983, 597) und „Irrtum im verfügbaren Bereich". Für die Abgrenzung des vermeidbaren Verbotsirrtums wollen Roxin, Henkel-Festschrift S. 187f.; derselbe, Allg. Teil I § 21 Rdn. 42 und Rudolphi, Das virtuelle Unrechtsbewußtsein S. 28 auf Forderungen der Generalprävention abstellen. Zu Unrecht wird hierbei der Maßstab der Strafwürdigkeit auf die davon ganz unabhängige Frage der Vermeidbarkeit des Verbotsirrtums ausgedehnt; dagegen auch Rudolphi, JR 1989, 390. 20 Uber die Gleichstellung des vermeidbaren Verbotsirrtums mit dem vollen Bewußtsein der Rechtswidrigkeit bei Thomas von Aquin („[ignorantia] semper excusat, nisi ipsa ignorantia sit peccatum") vgl. Hruschka, Welzel-Festschrift S. 115 ff. Dais die Grundlage dieser Gleichstellung nicht eine sog. Verantwortungsethik (im Unterschied zu einer Gesinnungsethik) ist, zeigt Schmidhäuser, Gallas-Festschrift S. 87. Vgl. dazu auch Bockelmann/Volk, Allg. Teil S. 124f.; Ziegert, Vorsatz S. 168, der eine Kombination aus „einem dolosen Unrechts- und einem fahrlässigen Schuldelement" annimmt. Ahnlich auch Küpper, Grenzen S. 178. 21 Vgl. die Bemerkung des Begründers der Vorsatztheorie Binding, Die Schuld S. 18: „Ein tieferer Gegensatz innerhalb rechtlicher wie sittlicher Verschuldung als der zwischen bewußter Auflehnung wider Recht und Sittengesetz und unbewußter Vernachlässigung des einen und des anderen läßt sich überhaupt nicht denken."

458

§ 4 1 Bewußtsein der Rechtswidrigkeit u n d V e r b o t s i r r t u m

keit der Rechtsverletzung anzunehmen ist, muß die Strafe im zweiten Fall (nach § 49 I 2 2 ) gemildert werden können. Die Milderung ist jedoch nur fakultativ, weil es Fälle gibt, in denen der vermeidbare Verbotsirrtum der vollen Verbotskenntnis im Schuldgehalt gleichsteht (Rechtsblindheit, bewußte Gleichgültigkeit gegenüber dem Recht) (vgl. unten § 41 I I 2e). b) Während die Behandlung des vermeidbaren Verbotsirrtums durch § 17 S. 2 in dem Sinne geklärt ist, daß Vorsatzstrafe mit fakultativer Strafmilderung eintritt, besteht weiterhin Streit über die Kriterien für die Beurteilung der Vermeidbarkeit des Verbotsirrtums 2 3 . Der Maßstab für die Vermeidbarkeit kann nur der gleiche sein, der auch an die Prüfungspflicht des Täters bei der Fahrlässigkeitstat angelegt wird (vgl. unten § 55 I 2) 2 4 . Auszugehen ist von der Erwägung, daß die Kenntnis der unrechtsindizierenden Tatumstände dem Täter Anlaß sein sollte, das Verhältnis der Tat zur Rechtsordnung zu prüfen 25 . Freilich ist die Stärke der vom Tatbestandsvorsatz ausgehenden Anregung zur Prüfung der Rechtswidrigkeit je nach der Deliktsart verschieden ( O L G Hamburg JR 1981, 31: Annahme eines „Widerstandsrechts" gegen ein Hausverbot). Wenn die Tat nicht nur eine Rechtsverletzung, sondern zugleich einen unerträglichen Verstoß gegen die Sittenordnung darstellt („ignorantia crassa" 26 ), wird der Verbotsirrtum in der Regel vermeidbar sein, weil die rechtliche Wertung unmittelbar dem Rechtsgefühl entspringt und darum durch Gewissensanspannung erkennbar ist ( B G H 2, 194 [201]; vgl. oben § 37 I I 2). Aber auch wenn die Handlung keine so enge Beziehung zur Sittenordnung aufweist, ergibt sich aus dem Tatbestandsvorsatz die Pflicht zur Erkundigung 2!7, sobald ein Sachverhalt in Frage steht, für den erfahrungsgemäß rechtliche 22

Jakobs, Allg. Teil 19/50 will sogar den weitergehenden § 49 II anwenden. Vgl. dazu eingehend Rudolphi, Unrechtsbewußtsein S. 217ff.; SK (Rudolphi) § 17 Rdn. 24ff.; Krümpelmann, ZStW Beiheft Budapest 1978 S. 33ff. Horn, Verbotsirrtum S. 99ff. nimmt einen Anhaltspunkt, sich um die Unrechtserkenntnis zu bemühen, nur dann an, wenn der Täter es zumindest für möglich hält, Unrecht zu tun. Rein psychologisch ist die Vermeidbarkeit des Verbotsirrtums aber nicht zu verstehen, es kommt vielmehr darauf an, ob dem Täter aus der Unkenntnis ein Vorwurf zu machen ist; vgl. Stratenwerth, Allg. Teil I Rdn. 588; derselbe, ZStW 85 (1973) S. 483 ff. 24 Nach BGH 4, 236 (243); 21, 18 (20); BGH VRS 14, 31; BayObLG NJW 1965, 163 (164) soll dagegen ein strengerer Maßstab gelten. Zweifelnd mit Recht Dreher/Tröndle, § 17 23

Rdn. 8; LK fl

(Schroeder)

§ 17 Rdn. 27; Lackner, § 17 Rdn. 7; Schönke/Schröder /Cramer,

§ 17 Rdn. 12; SK (Rudolphi) § 17 Rdn. 30a; Stratenwerth, Allg. Teil I Rdn. 592f.; Maurach/ Zipf Allg. Teil I § 38 Rdn. 35. 25 Vgl. Engisch, ZStW 70 (1958) S. 575 ff. Naka, JZ 1961, 210 spricht in diesem Zusammenhang von der „Appellfunktion" des Tatbestandsvorsatzes. Dagegen verlangen Horn, Verbotsirrtum S. 105 und Zaczyk, JuS 1990, 893 wenigstens einen Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Tat, wenn ein Anlaß zur Vergewisserung bestehen soll. Etwas weitergehend sieht Roxin, Allg. Teil I § 21 Rdn. 53 einen solchen Anlaß schon dann, wenn der Täter weiß, daß Sonderregelungen bestehen oder daß er dem Opfer oder der Allgemeinheit Schaden zufügt (hierzu auch Kindhäuser, GA 1990, 423, der schon die Möglichkeit des Schädigungsbewußtseins zu Recht genügen läßt). 26 Daß die für die Vermeidbarkeit des Verbotsirrtums geltenden Kriterien auf alte Gerechtigkeitsvorstellungen zurückgehen, betont mit Recht H. Mayer, Grundriß S. 126; vgl. auch derselbe, Lehrbuch S. 257. Stratenwerth, Allg. Teil I Rdn. 589 unterstreicht die Erkennbarkeit des Unrechts bei der Verletzung einer „grundlegenden sozialen Norm". 27 Vgl. dazu Müller-Dietz, Grenzen des Schuldgedankens S. 85 ff.; Rudolphi, Unrechtsbewußtsein S. 222f.; Dreher/Tröndle, § 17 Rdn. 9; Schönke/Schröder/ Cramer, § 17 Rdn. 16 sowie Jakobs, Allg. Teil 19/37, der zwischen „Motivations-" und „Informationsdefizit" unterscheidet. Über die „Zuständigkeit" für das Unrechtsbewußtsein im Sinne von Jakobs, Allg. Teil 19/35; Timpe, GA 1983, 68 ff. Zutreffend fordert Strauss, NJW 1969, 1419, daß der

I I . D e r I r r t u m über

e e r t s n

(direkter Verbotsirrtum)

459

Vorschriften bestehen (BGH 4, 1 [5]; 21, 18 [21]; B G H NJW 1988, 272 [273]). Das gilt vor allem dann, wenn es sich um den beruflichen Lebenskreis des Täters handelt (BGH 3, 105 [108]; 4, 80 [86]; 9, 164 [172]; 18, 192 {197]). Die Vermeidbarkeit ist aber nur dann zu bejahen, wenn die Auskunft dem Täter die Erkenntnis verschafft hätte, sein Verhalten sei auch nur möglicherweise rechtswidrig (BayObLG NJW 1989, 1744; hiergegen Zaczyk, JuS 1990, 895). Ein Anlaß zur Erkundigung kann sich schon aus der Sozialbindung des Eigentums ergeben (OLG Düsseldorf NStZ 1981, 444; zustimmend /. Meyer, JuS 1990, 515). Wenn der Täter die Gültigkeit einer ihm bekannten Vorschrift bezweifelt, darf er nicht einfach der ihm günstiger erscheinenden Auffassung folgen ( O L G Köln M D R 1954, 374), sondern muß sachkundigen Rat einholen (BGH 5, 111 [119]). Erst die Rechtsauskunft von zuverlässiger Seite entlastet ihn (BGH 20, 342 [372]), sofern eine eingehende Prüfung der Rechtslage wirklich stattgefunden hat (KG JR 1977, 379 [380] m.zust. Anm. Rudolphi, K G JR 1978, 167 [168]; BayObLG JuS 1980, 613: Einstellungsbeschluß der Staatsanwaltschaft; B G H NJW 1989, 409 [410]; O L G Hamburg JR 1978, 291: falscher Rat eines Anwalts; O L G Düsseldorf VRS 60, 313 [316]: keine gefestigte Rechtsprechung) 28. Verschiedene Maßstäbe gelten für Gebots- und Verbotsnormen: bei der Verbotsnorm führt schon der bloße Zweifel zum Schuldvorwurf, während der Täter bei Gebotsnormen seine Handlungspflicht positiv kennen muß (SchlHOLG SchlHA 1962, 175). Im ganzen läßt sich sagen, daß die Rechtsprechung bemerkenswert hohe Anforderungen an den Täter stellt: er hat „alle seine geistigen Erkenntniskräfte und alle seine sittlichen Wertvorstellungen einzusetzen", um zum richtigen Urteil zu gelangen (BGH 4, 1 [5]). c) Die gleichen Grundsätze für die Beurteilung der Vermeidbarkeit des Verbotsirrtums gelten auch im Nebenstrafrecht (vgl. Art. 1 I EGStGB) und Ordnungswidrigkeitenrecht (§ 11 I I OWiG) (BGH 9, 358 [362]; 13, 135 [138]; 21, 18 [20 f.]). Eine Notwendigkeit, in diesem Bereich bei fehlendem Unrechtsbewußtsein den Vorsatz zu verneinen 29 , besteht nicht 30, denn es lassen sich auch auf dem Boden der Schuldtheorie gerechte Entscheidungen treffen. Für die Lösung der speziell in diesem Bereich auftretenden Schwierigkeiten kommen drei Wege in Betracht: Einmal kann die Auslegung ergeben, daß der Gesetzgeber bei einzelnen Vorschriften die Anwendung des Vorsatztatbestandes auf Fälle der positiven Verbotskenntnis beschränken wollte 31. Das folgt zuweilen unmittelbar aus dem Gesetz Täter eine richtige Auskunft auch erhalten haben müßte. Ebenso Schönke/Schröder/ § 17 Rdn. 20; SK (Rudolphi) § 17 Rdn. 42; Wolter,

Cramer,

JuS 1979, 482 ff. (zu O L G Celle NJW

1977, 1644). Dagegen BGH 21, 18 (21); BayObLG NJW 1965, 1924 (1926); OLG Köln NJW 1974, 1831. 28 Einschränkend auf „besondere Konfliktslagen" Kunz, GA 1983, 471. Vom Evidenzgrad des Unrechtsgehalts der verletzten Norm macht Schick, Verbotsirrtum bei falschem Rat S. 133 den Schuldvorwurf abhängig. 29 In diesem Sinne Lange, JZ 1956, 79, 519; 1957, 233; Lang-Hinrichsen, GA 1957, 228; Schlegtendal, Ordnungswidrigkeiten S. 152; Tiedemann, ZStW 81 (1969) S. 876ff.; derselbe, Wirtschaftsstrafrecht Allg. Teil S. 212 ff. m.Nachw. Fußnote 22; Schmidhäuser, Allg. Teil S. 423. Dagegen betont Kühl, Allg. Teil § 13 Rdn. 51 zu Recht, daß der Verbotsirrtum fast nur im Nebenstrafrecht und Ordnungswidrigkeitenrecht vorkommt. 30 Vgl. Welzel, JZ 1956, 238; Göhler, § 11 OWiG Rdn. 21; Maurach/Zipf Allg. Teil I § 1 Rdn. 37; Kerscher, Tatbestands- und Verbotsirrtum S. 175; J. Meyer, JuS 1983, 513; KK OWiG (Rengier) § 11 Rdn. 6ff. Differenzierend Jakobs, Allg. Teil 19/19. 31 Vgl. Welzel, Lehrbuch S. 174 f. Über die Ermessensfreiheit des Gesetzgebers Sax, ZStW 69 (1957) S. 427; derselbe, JZ 1957, 6. In die Richtung der konkreten Tatbestandsauslegung weist auch Tiedemann, ZStW 81 (1969) S. 879. Zum Verbotsirrtum bei den Übertretungen Donini, II delitto contravvenzionale S. 45 ff.

460

§ 41 Bewußtsein der Rechtswidrigkeit u n d V e r b o t s i r r t u m

(so bezieht sich der Vorsatz in § 32 I I I Nr. 1 MarktorganisationsG auf eine der Handlung des Täters entgegenstehende Vorschrift). Insbesondere wird auch das Fehlen der behördlichen Erlaubnis vielfach als Tatbestandsmerkmal zu verstehen sein (vgl. oben § 33 V I 2) ( O L G Düsseldorf NStZ 1981, 444 32 ). Beschränkung der Vorsatzstrafe auf Verbotskenntnis wird ferner dann anzunehmen sein, wenn Fälle der Tatfahrlässigkeit in dem durch die Vorschrift erfaßten Sachgebiet nicht denkbar sind, so daß der Fahrlässigkeitstatbestand sinngemäß nur der Rechtsfahrlässigkeit vorbehalten sein kann 3 3 . Zum anderen beschränken sich die Vorschriften des Nebenstraf- und Ordnungswidrigkeitenrechts häufig auf die Angehörigen bestimmter Lebens- und Berufskreise. Von diesen Personen kann man mit Recht erwarten, daß sie sich über die sie betreffende Rechtslage unterrichten. Tun sie dies nicht, so ist es nicht ungerecht, sie (eventuell gemildert nach § 49 I) wegen vorsätzlicher Tat zu bestrafen 3 . Beispiele: Wer sich zu Erwerbszwecken mit der Vermietung von Wohnungen befaßte, mußte mit dem Wohnraumbewirtschaftungsges. vom 23.6.1960 (BGBl. I S.418) vertraut sein (BGH NJW 1957, 129). Wer Grabsteine auf Friedhöfen aufstellt, muß sich erkundigen, ob damit der selbständige Betrieb des Steinmetzhandwerks gegeben ist (OLG Karlsruhe Gewerbearchiv 1973, 302). Endlich lassen sich durch die Lehre von der Doppelstellung des Vorsatzes (vgl. oben § 24 I I I 5 und § 39 I V 4) überstrenge Verurteilungen wegen einer Vorsatztat dann vermeiden, wenn der Täter zwar den Tatbestand vorsätzlich erfüllt, aber bei rein formalen oder technischen Strafvorschriften eine Erkundigungspflicht verletzt hat 3 5 . Der Sorgfaltsmangel reicht in solchen Fällen nicht aus, um den Vorwurf schuldhafter Bildung des Handlungsvorsatzes zu begründen, vielmehr ist nur Fahrlässigkeitsschuld gegeben. d) Auch die problematischen Grenzfälle von Tatbestands- und Verbotsirrtum lassen sich nach den Grundsätzen über die Unterscheidung der beiden Fallgruppen (vgl. oben § 29 V 1 b) befriedigend lösen 36 . Beispiele: Die Rechtswidrigkeit des Vermögensvorteils ist bei der Erpressung (§ 253) Tatbestandsmerkmal, der Irrtum darüber also Tatbestandsirrtum (BGH 4, 105 [107]). Beim Parteiverrat (§ 356) muß der Rechtsanwalt beiden Parteien in derselben Rechtssache „pflichtwidrig" gedient haben. Das Merkmal der Pflichtwidrigkeit bedeutet, daß der Anwalt für beide Parteien tätig wird, obwohl ein Interessengegensatz besteht. Hat er diesen Gegensatz verkannt, so befindet er sich im Tatbestandsirrtum, glaubt er dagegen, beide Parteien trotz bestehenden Interessengegensatzes beraten zu dürfen, so ist Verbotsirrtum anzunehmen (BGH 15, 332 [338]). Irrt der Täter bei der Nötigung über die „Verwerflichkeit" der MittelZweck-Beziehung (§ 240 II), so liegt ein Verbotsirrtum vor, ein Tatbestandsirrtum dagegen, 32 Auf das Fehlen der behördlichen Erlaubnis als Tatbestandsmerkmal weist in diesem Fall J. Meyer, JuS 1983, 514 f. zu Recht hin. 33 Vgl. die Beispiele bei Lange, JZ 1956, 74. 34 Abweichend dazu Tiedemann, Tatbestandsfunktionen S. 330, der, ähnlich wie Horn, Verbotsirrtum S. 106, hier den „effektiven Zweifel" des Täters an der Rechtmäßigkeit seines Verhaltens verlangt und die Zugehörigkeit zu einem bestimmten Lebens- und Berufskreis nicht ausreichen läßt. OLG Düsseldorf NStZ 1981, 444 schließt schon aus der Sozialbindung des Eigentums auf die Erkundigungspflicht vor dem Fällen von Bäumen auf einem Privatgrundstück im Stadtbereich. 35 Vgl. Jescheck, ZStW 98 (1986) S. 12f.; Schönke/Schröder/Lenckner, Vorbem. 120 vor § 13. 36 Vgl. oben §41 I Fußnote 4; ferner Blei, Allg. Teil S. 200 ff.; Dreh er/Tröndle, § 17

Rdn. 11; Schlüchter, JuS 1985, 373 ff.; Schönke/Schröder/

Cramer, § 17 Rdn. 12. Zum Ord-

nungswidrigkeitenrecht Göhler, §11 OWiG Rdn. 30ff. und KK OWiG (Rengier) Rdn. 109 ff., beide m.Nachw. aus der Rspr.

§11

I I I . D e r I r r t u m über Rechtfertigungsgründe (indirekter Verbotsirrtum)

461

37

wenn er die dem Verwerflichkeitsurteil zugrunde liegenden Umstände verkennt . Wer beim unerlaubten Sichentfernen vom Unfallort (§ 142) nicht weiß, daß er Unfallbeteiligter ist, handelt im Tatbestandsirrtum, während der Irrtum über die Warte- und Duldungspflicht Verbotsirrtum ist (BGH 15, 1 [5]). Wer sich auf die Erklärung des Beifahrers verläßt, der Verletzte habe auf Feststellungen verzichtet, handelt im Tatbestandsirrtum (unrichtig OLG Stuttgart JZ 1959, 579). Wer glaubt, mit der Abgabe eines Schuldanerkenntnisses das Erforderliche getan zu haben, handelt im Verbotsirrtum (OLG Stuttgart NJW 1978, 900). Der Irrtum über die Öffentlichkeit eines Weges i.S. von § 1 StVG ist Tatbestandsirrtum (anders BayObLGSt 1955, 256). Wer aufgrund einer Vollmacht für einen anderen wählen zu können glaubt, handelt i.S. von § 107a im Verbotsirrtum (OLG Hamm NJW 1957, 638). Zum Tatbestand des unechten Unterlassungsdelikts gehört die Garantenstellung, so daß es z.B. für den Tatbestandsvorsatz ausreichend ist, wenn der Taxifahrer weiß, daß er das Opfer zu dem Ort der Vergewaltigung gefahren hat, der Irrtum über die daraus folgende Rechtspflicht zur Hilfeleistung ist dann Verbotsirrtum (BGH 16, 155 [157 ff.]). e) Wenn der Täter den Verbotsirrtum vermeiden konnte, ist ein Schuldvorwurf wegen der begangenen Tat begründet, doch sieht § 17 S.2 für diesen Fall fakultative Strafmilderung nach § 49 I vor. Der Richter hat sich daher zunächst darüber schlüssig zu werden, ob er die Strafe dem herabgesetzten Strafrahmen entnehmen will. Angesichts des erheblichen Unterschieds im Schuldgehalt zwischen der Begehung der Tat mit vollem Unrechtsbewußtsein und der im vermeidbaren Verbotsirrtum begangenen Tat sollte von der Strafmilderungsmöglichkeit in der Regel Gebrauch gemacht werden 38 . Die Strafmilderung ist dagegen abzulehnen, wenn der Verbotsirrtum auf Rechtsblindheit, bewußter Gleichgültigkeit oder Leichtfertigkeit beruht (E 1962, Begründung S. 135; BT-Drucksache V/4095 S. 10) 39 . In diesem Falle ist auch die nach dem Vorsatztatbestand vorgesehene Höchststrafe nicht ausgeschlossen, da der Mangel des Unrechtsbewußtseins durch die in der Tat verwirklichte Mißachtung der Rechtsordnung ausgeglichen sein kann. Macht der Richter von dem Strafrahmen des § 49 I keinen Gebrauch, müssen die Urteilsgründe jedoch ergeben, daß er sich der Milderungsmöglichkeit bewußt gewesen ist (OLG Hamm VRS 10, 358). III. Der Irrtum über Rechtfertigungsgründe (indirekter Verbotsirrtum) 1. Verbotsirrtum ist auch die irrige Annahme eines Rechtfertigungsgrundes, wenn der Täter über das Bestehen oder die Grenzen einer Erlaubnisnorm irrt (Erlaubnisirrtum) (BGH 2, 194 [197]; 22, 223 [225]; B G H JZ 1978, 762). Der Täter verkennt dabei zwar nicht das dem Tatbestand selbst beigelegte Unwertprädikat, sondern irrt nur über das Eingreifen eines Erlaubnissatzes; in beiden Fällen ist aber der Tatbestandsvorsatz gegeben, und der Irrtum bezieht sich allein auf das Verbotensein der Tat. Wir nennen diesen Fall indirekten Verbotsirrtum, weil der Täter hier nicht der Auffassung ist, die Tat sei schlechthin erlaubt, sondern die Rechtswidrigkeit im konkreten Falle auf dem Umweg über die irrige Annahme eines Erlaubnissatzes verkennt (vgl. oben §41 I I la). Zwei Fälle des indirekten Verbotsirrtums sind zu unterscheiden: Der Täter nimmt irrig das Bestehen eines von der Rechtsordnung nicht anerkannten Rechtfertigungsgrundes an (Bestandsirr37 38

Vgl. Schaff stein, Göttinger Festschrift S. 195 f.

So Dreher/Tröndle, § 17 Rdn. 12; LK n (Schroeder) § 17 Rdn. 48; Jakobs, Allg. Teil 19/ 48; Roxin, Allg. Teil I § 21 Rdn. 67; Schönke/Schröder /Cramer, § 17 Rdn. 24; SK (Rudol-

phi) § 17 Rdn. 48. Langer, Dünnebier-Festschrift S. 443 sieht in der Nichtanwendung einer einschlägigen Strafmilderungsnorm sogar einen Verstoß gegen Art. 103 II GG. Für Anwendung des milderen Strafrahmens „in der Regel" auch AE § 20 S.2. 39 Vgl. Maurach/Zipf, Allg. Teil I § 38 Rdn. 4; Jakobs, Allg. Teil 19/49; Roxin, ZStW 76 (1964) S. 605; Warda, ZStW 71 (1959) S. 262.

462

§ 4 1 Bewußtsein der Rechtswidrigkeit u n d V e r b o t s i r r t u m

tum) oder er verkennt die rechtlichen Grenzen eines anerkannten Rechtfertigungsgrundes (Grenzirrtum). Der dritte Fall, in dem der Täter irrig Umstände für gegeben hält, die, wenn sie vorlägen, die Tat rechtfertigen würden (Erlaubnistatbestandsirrtum), ist ein Irrtum eigener Art (vgl. unten § 41 IV 1). Beispiele: Der Arzt glaubt, ohne Einwilligung des Patienten aufgrund eines angenommenen ärztlichen Berufsrechts operieren zu dürfen (Bestandsirrtum). Er hält eine ohne hinreichende Aufklärung gegebene Einwilligung für ausreichend (Grenzirrtum) (BGH 12, 379 [382]). Er irrt über das Vorhandensein der Einwilligung (Erlaubnistatbestandsirrtum). Vgl. zum Irrtum über die mutmaßliche Einwilligung auch OLG Stuttgart, Die Justiz 1983, 265. 2. Die beiden ersten Fälle werden allgemein als Verbotsirrtum (Erlaubnisirrtum) angesehen und ebenso behandelt wie der direkte Verbotsirrtum 40 . Ebenso wie dort widerspricht die Einstellung des Täters zum Recht den Anforderungen der Rechtsordnung, sie steht im Schuldgehalt dem direkten Verbotsirrtum mindestens gleich, denn der Täter weiß hier sogar, daß sein Handeln grundsätzlich verboten ist. Die Frage der Vermeidbarkeit ist nach entsprechenden Kriterien zu beurteilen wie beim direkten Verbotsirrtum (vgl. oben § 41 I I 2 b). Beispiele: Der Beamte, der die Annahme eines wertvollen Weihnachtsgeschenks von interessierter Seite für gewohnheitsrechtlich erlaubt hält, befindet sich im Verbotsirrtum über einen vom Recht nicht anerkannten Rechtfertigungsgrund und ist nach §§331, 17 S.2 zu bestrafen (unrichtig OLG Neustadt NJW 1963, 1633). Wer dem säumigen Schuldner auf offener Straße gewaltsam das geschuldete Geld abnimmt, handelt im Verbotsirrtum über die Grenzen des Selbsthilferechts (BGH 17, 87 [89 f.]), es sei denn, daß er glaubt, gerade auf dieses Geld Anspruch zu haben (Tatbestandsirrtum über die „Rechtswidrigkeit" der Zueignung). Der Soldat, der den verbrecherischen Zweck eines Befehls erkennt, ihn aber trotzdem für bindend hält („Befehl ist Befehl"), befindet sich im Verbotsirrtum über einen nicht anerkannten Rechtfertigungsgrund (BGH 22, 223 [225]). Im „Katzenkönig-Fall" irrte der Täter über die Grenzen des rechtfertigenden Notstands (§ 34) (BGH 35, 347 [350]). Ein Grenzirrtum liegt auch vor, wenn der Jagdberechtigte glaubt, fremde Hunde, die in seinem Jagdrevier gewildert haben, auch in einem fremden umzäunten Wohngrundstück erschießen zu dürfen (BayObLG NJW 1992, 2306). (Vgl. auch die Fälle BGH 3, 271 [274]; 357 [365]; BGH Daliinger MDR 1975, 723 f.; OLG Hamburg JR 1978, 291). IV. Der Erlaubnistatbestandsirrtum 1. Umstritten ist die Behandlung des Irrtums über Umstände, die, wenn sie vorlägen, einen anerkannten Rechtfertigungsgrund darstellen würden (Erlaubnistatbestandsirrtum). Es handelt sich dabei um einen Irrtum eigener Art, der zwischen dem Tatbestands- und dem indirekten Verbotsirrtum steht 41 . Die Ähnlichkeit mit dem Tatbestandsirrtum liegt in seiner Struktur: auch der Erlaubnistatbestandsirrtum bezieht sich auf die (deskriptiven und normativen 42 ) Merkmale eines Rechtssatzes. Die Ähnlichkeit mit dem indirekten Verbotsirrtum liegt in der Folge, die Tatbestandskenntnis bleibt unberührt und die Appellfunktion des Tatbestands kann sich deswegen voll auswirken; der Irrtum bewirkt lediglich, daß der Täter 40

Vgl. Dreher, Heinitz-Festschrift S. 212; Eser/Burkhardt,

Roxin, Allg. Teil I § 21 Rdn. 21; Lackner, § 17 Rdn. 15; LK n

Strafrecht I Nr. 14 A Rdn. 77;

(Schroeder)

§ 17 Rdn. 9; En-

gisch, ZStW 70 (1958) S. 599f.; Arthur Kaufmann, ZStW 76 (1964) S. 563, Schönke/Schröder/ Cramer, § 17 Rdn. 10; Schaff stein, Göttinger Festschrift S. 182; Wessels, Allg. Teil Rdn. 487. 41

So Dreher, Heinitz-Festschrift S. 223; Dreher/Tröndle, § 16 Rdn. 27; Herdegen, BGHFestschrift S. 208; Lackner, § 17 Rdn. 10; Krümpelmann, GA 1968, 129ff.; Preisendanz, § 16

Anm. 3e; Wessels, Allg. Teil Rdn. 471. Ein Erlaubnistatbestandsirrtum ist auch beim Zweifel über die rechtfertigende Lage anzunehmen, wenn der Täter darauf vertraut, daß diese gegeben ist; so zu Recht Schroth, Arthur Kaufmann-Festschrift S. 608. 42 Dazu Schlüchter, Irrtum S. 175, 179.

I V . D e r Erlaubnistatbestandsirrtum

463

glaubt, die Verbotsnorm trete ausnahmsweise hinter einem Erlaubnissatz zurück. Es gibt verschiedene Wege, um dieser Irrtumsart gerecht zu werden. Die Frage ist in der Strafrechtsreform 1975 nicht geregelt worden, obgleich sowohl der Ε 1962 in § 20 (Irrtum eigener Art) als auch der A E in § 19 I I (Tatbestandsirrtum) Vorschläge gemacht haben und auch das gleichzeitig entstandene österreichische StGB in § 8 (wie § 20 Ε 1962) eine Regelung enthält 43 . Zur Lösung des Problems werden im wesentlichen vier verschiedene Auffassungen vertreten: a) Die Lehre von den negativen Tatbestandsmerkmalen (vgl. oben § 25 III) behandelt

die Rechtfertigungsgründe als Bestandteile des Tatbestandes, ihre Voraussetzungen demgemäß als negative Tatbestandsmerkmale und wendet deshalb auf den Erlaubnistatbestandsirrtum unmittelbar § 16 an, so daß nur der vermeidbare Irrtum nach dem Fahrlässigkeitstatbestand bestraft werden kann, sofern ein solcher vorhanden ist (§ 16 I 2) 44 . Gegen diese Lehre sprechen außer den oben § 25 III 2 a angeführten systematischen Erwägungen folgende sich aus der Irrtumsproblematik ergebende Gründe: Wenn die Rechtfertigungsmerkmale negative Tatbestandsmerkmale wären, dann müßte sich auch der Vorsatz auf ihre Abwesenheit beziehen45. In aller Regel denkt der Täter aber nicht daran, auch nicht im Sinne eines schattenhaften „Mitbewußtseins"46. Ebensowenig läßt sich sagen, daß durch das Rechtfertieungsbewußtsein bereits der Handlungsunwert der vorsätzlichen Tat aufgehoben würde4 , denn dieser entfällt nicht schon dann, wenn der Täter sich subjektiv im Recht glaubt, sondern nur, wenn Rechtfertigungsbewußtsein und Rechtfertigungslage übereinstimmen48. Die in irrtümlicher Annahme eines Rechtfertigungsgrundes begangene Tat bleibt daher vorsätzliche Tat 49 . Die Besonderheit dieses Falles liegt gerade darin, daß der Täter den „Appell", der sich aus der Tatbestandserfüllung ergibt, wahrgenommen hat. b) Die strenge Schuldtheorie behandelt den Irrtum über Tatumstände eines anerkannten Rechtfertigungsgrundes nach den allgemeinen Regeln über den Verbotsirrtum. Konnte der Täter den Irrtum vermeiden, so soll er also nach dem betreffenden Vorsatztatbestand (mit Milderungsmöglichkeit) bestraft werden 50. Dies führt jedoch zu Ergebnissen, die mit dem Rechtsgefühl mitunter nicht vereinbar sind51. 43 Der Gesetzgeber wollte die Frage, ob es sich „um einen Tatbestands- oder Verbotsirrtum oder um einen Irrtum eigener Art handelt", Rechtsprechung und Lehre überlassen (BTDrucksache V/4095 S. 9; Protokolle V S. 1739 f., 1781). Kritisch dazu Roxin, Allg. Teil I § 14 Rdn. 52; Dreher, Heinitz-Festschrift S. 227; Jescheck, Lange-Festschrift S. 372; LK 9

(Schroeder) § 59 Rdn. 62. 44 So Baumann/Weber, Allg. Teil S. 415 f.; Hruschka, Strafrecht S. 210; Arthur Kaufmann,

JZ 1954, 653; derselbe, JZ 1956, 353; derselbe, ZStW 76 (1964) S. 564ff.; Lang-Hinrich sen, JZ 1953, 362; Kohlrausch/Lange, § 59 Anm. V 1; Roxin, ZStW 76 (1964) S. 599 (anders Roxin, Allg. Teil I § 10 Rdn. 19); im Ergebnis auch Kindhäuser, Gefährdung S. 111. Auch einige Vertreter der Schuldtheorie haben sich dieser Lösung angeschlossen: so Busch, Mezger-Festschrift S. 180f.; Schaffstein,

MDR 1951, 199; SK (Rudolphi) § 16 Rdn. 10; v. Weber, JZ 1951,

260; derselbe, Mezger-Festschrift S. 183. Ebenso auch teilweise die Rspr.: RG 6, 405 (408); 21, 189 (191); 54, 196 (199); 72, 300 (302); BGH 3, 105 (106 f.); 17, 87 (91); BGH Daliinger MDR 1975, 365. 45

46 47

So mit Recht Armin Kaufmann, JZ 1955, 38.

Anderer Ansicht Arthur Kaufmann, JZ 1956, 357; Roxin, MSchrKrim 1961, 213. So Schaffstein,

M D R 1951, 199; v. Weber,

JZ 1951, 262; Stratenwerth,

Allg. Teil I

Rdn. 504. Wie der Text LK U (Hirsch) Vorbem. 8 vor § 32. 48 Vgl. Hirsch, Negative Tatbestandsmerkmale S. 246 Fußnote 75. 49 Uber die praktische Bedeutung des weiterbestehenden Vorsatzes vgl. den Fall OLG Köln NJW 1962, 686 (Anstiftung zur Geheimnisverletzung gegenüber einem Arzt, der sich irrig durch Einwilligung des Patienten zu der Preisgabe für befugt hält); der Anstifter wurde trotz der Strafwürdigkeit der Tat mangels Vorsatzes des Haupttäters freigesprochen. Den Tatvorsatz will SK (Rudolphi) § 16 Rdn. 13 allerdings aufrechterhalten, und hier liegt tatsächlich der von Schmidhäuser, NJW 1975, 1809 gerügte Widerspruch vor. 50 Allg. Teil So Bockelmann, Allg. Teil, 3. Auflage S. 129 (anders Bockelmann/Volk, S. 126f.); Fukuda, JZ 1958, 143; Heitzer, NJW 1953, 210; Hirsch, Negative Tatbestandsmerk-

464

§ 41 Bewußtsein der Rechtswidrigkeit u n d V e r b o t s i r r t u m

Beispiele: Der Soldat, der infolge fahrlässiger Verwechslung einen Kameraden erschießt, den er für einen Feind gehalten hat, wäre wegen Totschlags zu bestrafen (§ 212). Der Spaziergänger, der dem Straßenräuber ein Auge ausschlägt, obwohl er hätte erkennen können, daß bereits ein Polizeibeamter zu Hilfe eilte, hätte Strafe wegen schwerer Körperverletzung (§ 224) verwirkt. c) Die überwiegende Lehre 52 und die Rechtsprechung (BGH 3, 105 [106]; 194 [196]; 357 [359]; B G H GA 1969, 117 [118]; B G H Holtz M D R 1979, 985; B G H NStZ 1983, 500; BayObLG NJW 1955, 1848; O L G Karlsruhe NStZ 1982, 123) folgen einer Mittelmeinung, die auf ein ähnliches Ergebnis hinausläuft wie die Lehre von den negativen Tatbestandsmerkmalen, dieses aber anders begründet (eingeschränkte Schuldtheorie) 53. Der Irrtum über die Voraussetzungen eines Rechtfertigungsgrundes wird zwar nicht als Tatbestandsirrtum angesehen, wohl aber wird § 16 unmittelbar oder entsprechend angewendet, weil die Strukturähnlichkeit mit dem eigentlichen Tatbestandsirrtum als ausschlaggebend erscheint. Das Unrecht der vorsätzlichen Tat ist damit ausgeschlossen, so daß auch die Möglichkeit der Teilnahme (§§ 26, 27) entfällt. d) Richtig ist dagegen die im Vordringen begriffene Lehre, wonach der Irrtum über die Voraussetzungen eines anerkannten Rechtfertigungsgrundes allein in der Rechtsfolge dem § 16 untergeordnet wird, so daß der Täter, obwohl er vorsätzliches Handlungsunrecht verwirklicht, nur wegen Fahrlässigkeit bestraft wird (rechtsfolgenverweisende Schuldtheorie) (BGH 31, 264 [286 f.]) 54 . Der Grund für die Privilegierung des Erlaubnistatbestandsirrtums gegenüber den Fällen des indirekten Verbotsirrtums liegt einmal in der Minderung (nicht Aufhebung) des Handlungsunwerts. Diese ergibt sich aus dem Rechtfertigungsbewußtsein des Täters, das hier auf einen anerkannten Rechtfertigungsgrund bezogen ist (der Täter glaubt, rechtmäßig im Sinne des objektiv bestehenden Rechts zu handeln) 55 . Zum anderen male S. 314ff.; derselbe, ZStW 94 (1982) S. 257ff.; LK n

(Schroeder)

§ 16 Rdn. 52; Armin

Kaufmann, JZ 1955, 37; Niese, DRiZ 1953, 20; Welzel, ZStW 67 (1955) S. 208 ff.; derselbe,

Lehrbuch S. 164 ff.

51 Vgl. Börker, JR 1960, 168; Engisch, ZStW 70 (1958) S. 585 f.; Kohlrausch/Lange, § 59 Anm. V 1; Dreher /Tröndle, § 16 Rdn. 24. 52 Vgl. Börker, JR 1960, 168; Eser/Burkhardt, Strafrecht I Nr. 15 Rdn. 20; Engisch, ZStW

70 (1958) S. 583 ff.; Roxin, Allg. Teil I § 14 Rdn. 62; Kühl, Allg. Teil § 13 Rdn. 73; Krümpel-

mann, GA 1968, 129; Kohlrausch/Lange,

§ 59 Anm. V 1; Noll, ZStW 77 (1965) S. 8;

Schmidhäuser, Allg. Teil S. 418; Stratenwerth, Allg. Teil I Rdn. 503; Schönke/Schröder/ Cramer, § 16 Rdn. 18; Schönke/Schröder/Lenckner, Vorbem. 18 vor § 13; Schünemann, Einführung S. 41. 53 Nach Grünwald, Noll-Gedächtnisschrift S. 189 soll zwischen den verschiedenen Varianten der eingeschränkten Schuldtheorie kein sachlicher Unterschied bestehen. Die nachfolgende Lehrmeinung (unten d) unterscheidet sich jedoch von den anderen dadurch, daß sie annimmt, daß beim Erlaubnistatbestandsirrtum der Vorsatz als Träger des Handlungswillens erhalten bleibt. 54 Gallas, Beiträge S. 56f. Fußnote 89; Maurach/Zipf, Allg. Teil I § 37 Rdn. 43; Herde-

gen, BGH-Festschrift S. 208; Krümpelmann, GA 1968, 142ff.; Lackner, § 17 Rdn. 15; Prei-

sendanz, § 16 Anm. 3e; Wessels, Allg. Teil Rdn. 478f.; Paeffgen, Armin Kaufmann-Gedächtnisschrift S. 405 ff. Der Einwand der Fahrlässigkeitsfiktion (so Hirsch, Negative Tatbestandsmerkmale S. 205; Welzel, ZStW 67 [1955] S. 215) trifft nicht zu, da die Strafbarkeit der Tat als Fahrlässigkeitsdelikt nach Unrecht und Schuld selbständig begründet werden muß. Ablehnend auch Arthur Kaufmann, Lackner-Festschrift S. 193 ff. 55 Nowakowski, JBl 1972, 30 will an dieser Stelle den Handlungsunwert des Vorsatzes überhaupt verneinen. Die gleiche Betrachtungsweise führt ihn dazu, bei Vorliegen eines vom Täter nicht erkannten Rechtfertigungsgrundes die Versuchsregeln nicht nur analog, sondern direkt anzuwenden (S. 28) (vgl. oben § 31 IV 2).

I V . D e r Erlaubnistatbestandsirrtum

465

ist auch der Schuldgehalt der Tat anders als bei Vorsatzdelikten: Die Motivation, die zur Bildung des Tatvorsatzes geführt hat, beruht nicht auf mangelnder Rechtsgesinnung, sondern auf unsorgfältiger Prüfung der Situation. Wenn der Täter irrig die Voraussetzungen eines anerkannten Rechtfertigungsgrundes annimmt, fehlt es an dem für Vorsatzdelikte sonst typischen Abfall von den Wertvorstellungen der Rechtsgemeinschaft. Die Bestrafung aufgrund des Vorsatztatbestandes erscheint nicht gerechtfertigt, weil der Vorsatz infolge des Irrtums nicht als Träger des für Vorsatztaten charakteristischen Gesinnungsunwerts erscheint 56. Freilich besteht auch ein sachlicher Unterschied gegenüber dem Tatbestandsirrtum: Der Täter kennt den Tatbestand, und die Appellfunktion des Tatbestandsvorsatzes kann deshalb voll zur Geltung kommen, so daß an sich auch ein strengerer Maßstab gerechtfertigt wäre. Doch betrifft der Vorwurf, der gegen den Täter zu erheben ist, gleichwohl nur seine mangelnde Aufmerksamkeit hinsichtlich der Tatumstände, was im Schuldgehalt einem Fahrlässigkeitsvorwurf entspricht. Bedenken könnten allenfalls wegen der Straflosigkeit bei Fehlen eines Fahrlässigkeitstatbestandes erhoben werden 57 , doch wird man sich in diesen Fällen mit der zivilrechtlichen Schadensersatzfolge begnügen können (vgl. zum Irrtum über die Voraussetzungen von § 127 I StPO oben § 35 IV 2 a.E.). Die Besonderheit dieser Lehre liegt darin, daß sie den Vorsatz als Träger des Handlungsunrechts bestehen läßt, so daß strafbare Teilnahme durch Personen, die den Sachverhalt kennen, möglich bleibt (siehe das Vorsatzerfordernis in §§ 26, 27). Der Erlaubnistatbestandsirrtum kann sich wie der Tatbestandsirrtum auf deskriptive und normative Merkmale des Rechtfertigungsgrundes beziehen. Die Unterscheidung zwischen Tatsachen- und Rechtsirrtum darf auch an dieser Stelle nicht wieder aufleben 58. Die Kriterien für die Beurteilung der Vermeidbarkeit ergeben sich einmal aus der Erwägung, daß der Täter den vollen Tatbestandsvorsatz hat und deswegen zu besonders sorgfältiger Prüfung der von ihm angenommenen Rechtfertigungslage verpflichtet ist. Dabei ist freilich zu berücksichtigen, daß die Prüfung durch drohende Gefahr erschwert sein kann (z.B. bei Putativnotwehr oder bei einer irrtümlich angenommenen mutmaßlichen Einwilligung in eine Operation). Weiter spielt bei der Beurteilung der Vermeidbarkeit die Frage eine Rolle, ob sich der Irrtum auf Tatsachen oder Rechtsbegriffe des Erlaubnissatzes bezieht, denn bei der selbständigen Urteilsbildung im normativen Bereich ist immer Vorsicht geboten. Nach diesen Grundsätzen lassen sich auch die Grenzfälle lösen, die der Rechtsprechung Schwierigkeiten bereitet haben. Beispiele: Hat der Vater irrig eine Verfehlung des Kindes angenommen, die eine Züchtigung verdiente, so liegt ein Irrtum über den Erlaubnistatbestand vor; hat er das Züchtigungsrecht dagegen aus einer Fehlvorstellung über Art und Umfang überschritten, jedoch 56 § 16 Rdn. 27; Gallas, BockelSo Dreher, Heinitz-Festschrift S. 224f.; Dreher/Tröndle, mann-Festschrift S. 170; Lackner, § 17 Rdn. 15; Blei, Allg. Teil S. 206; Wessels, Allg. Teil Rdn. 484; Platzgummer, JBl 1971, 239. Vgl. auch BGH 3, 105 (107): „Der im Irrtum über den wahren Sachverhalt handelnde Täter ist vielmehr an sich rechtstreu". Vgl. ferner BGH 31, 264 (287): Ausschluß der „Strafbarkeit wegen vorsätzlicher Tat". Der Vorwurf der Widersprüchlichkeit (so Schmidhäuser, NJW 1975, 1809 Fußnote 13) ist demgegenüber unberechtigt, da Vorsatz unrecht und Vorsaxzschuld nicht dasselbe sind. Anerkannt wird dies auch von LK n (Hirsch) Vorbem. 184 vor § 32. Gegen die Lehre von der fehlenden Vorsatzschuld Roxin, Allg. Teil I § 14 Rdn. 71; Schünemann, Einführung S. 41 Fußnote 89; derselbe, GA

1985, 350; Herzberg, JA 1989, 299; Arthur Kaufmann, Lackner-Festschrift S. 192 ff.

57 Dreher, Heinitz-Festschrift S. 227 schlägt zu weitgehend eine besondere Fahrlässigkeitsvorschrift vor. Krümpelmann, ZStW Beiheft Budapest 1978 S.49ff. will den Vorsatztatbestand mit Strafmilderung nach § 49 anwenden. Jakobs, Allg. Teil 11/58 wendet bei Bestehen einer Fahrlässigkeitsstrafdrohung den Vorsatztatbestand an, entnimmt die Strafe aber dem Fahrlässigkeitstatbestand („unselbständige Schuldtheorie"). 58 Vgl. Engisch, ZStW 70 (1958) S. 585 ff. Inkonsequent in diesem Punkte noch die Rspr.; vgl. BGH 3, 105 (106 f.); 271 (274); 357 (364); BayObLG NJW 1952, 1848. 30 Jescheck, 5. A .

466

§ 41 Bewußtsein der Rechtswidrigkeit u n d V e r b o t s i r r t u m

ein Verbotsirrtum über die Grenzen (BGH 3, 105 [106, 110]). Geht der Angegriffene wegen einer Täuschung über die Stärke des Angriffs über die Grenzen der erforderlichen Verteidigung hinaus, so befindet er sich im Irrtum über den Erlaubnistatbestand (BGH 3, 194 [196]); verkennt er dagegen die Einschränkungen, die die Rechtsprechung für die Angemessenheit der Verteidigungshandlung aufgestellt hat (z.B. BGH NJW 1962, 308; BayObLG NJW 1965, 163), liegt ein indirekter Verbotsirrtum vor. Der Irrtum über die Rechtmäßigkeit der Festnahme durch eine Privatperson nach § 127 I StPO ist ebenfalls ein indirekter Verbotsirrtum (RG 72, 300 [302]; BayObLG NJW 1965, 1924 [1926] zu einem Wegerechtsirrtum) 59. Der Irrtum über die Sittenwidrigkeit der Tat bei der Körperverletzung (§ 226 a) bezieht sich auf ein „gesamttatbewertendes Merkmal" (vgl. oben § 25 I I 2); der Irrtum über die Bewertungsgrundlage betrifft den Erlaubnistatbestand, derjenige über die Bewertung selbst dagegen die Grenzen des Rechtfertigungsgrundes 60. Reine Grenzirrtümer sind die Fälle BGH 12, 379 (383); BGH 17, 87 (91) und BGH Dallinger MDR 1975, 723 f.; ein Bestandsirrtum liegt im Fall OLG Hamburg JR 1978, 291 vor. 2. Von den Grundsätzen über die Behandlung des Erlaubnistatbestandsirrtums machte die Rechtsprechung eine Ausnahme beim rechtfertigenden Notstand (§ 34). Sie verließ im Falle des Putativnotstands die eingeschränkte Schuldtheorie und wendete bei Verletzung der von ihr vorausgesetzten Pflicht zur umfassenden Prüfung der Sach- und Rechtslage die strenge Schuldtheorie an, so daß der Täter aus dem Vorsatz- und nicht nur aus dem Fahrlässigkeitstatbestand bestraft wurde 6 1 . Der Grund lag vor allem darin, daß Putativnotstandstaten in wichtigen Fällen mit der Fahrlässigkeitsstrafe nicht erfaßt werden können, so daß schwer erträgliche Strafbarkeitslücken entstünden (z.B. bei §§ 218, 239, 240). Beispiele: Wenn der Arzt die Schwangerschaft in der irrigen Annahme einer Lebensgefahr für die Mutter zu Unrecht abbricht, weil er es an gewissenhafter Prüfung hat fehlen lassen, wurde vorsätzliche Abtreibung nach § 218 angenommen (RG 62, 137 [138]; BGH NJW 1951, 412; BGH 2, 111 [115]; 3, 7 [11 ff.]). Die besondere Irrtumsregelung für den rechtfertigenden Notstand, welche der Ε 1962 im Anschluß an diese Rechtsprechung in § 39 I I vorgesehen hatte (vgl. Begründung S. 160f.) 62 , ist jedoch weder in § 34 StGB noch in § 16 O W i G übernommen worden. Man wird deshalb den Ubergang zur strengen Schuldtheorie im Falle des rechtfertigenden Notstands schon im Hinblick auf das Gesetzlichkeitsprinzip nicht mehr für zulässig halten dürfen und demgemäß auch in diesem Falle die allgemeinen Grundsätze über die Behandlung des Erlaubnistatbestandsirrtums anzuwenden haben 63 . 3. Beizubehalten ist die Vorsatzstrafe wegen nicht pflichtgemäßer Prüfung indessen bei denjenigen Rechtfertigungsgründen, bei denen auch ein objektiv unrichtiges Ergebnis mit Rücksicht auf die Angemessenheit des Eingriffs bei ungewisser Sachlage unter dem Gesichtspunkt des erlaubten Risikos gebilligt wird (vgl. 59

Hierzu m. weit. Beisp. Otto, K. Meyer-Gedächtnisschrift S. 591 ff. Vgl. zum entsprechenden Fall des direkten Irrtums ebenso Schaffstein, Göttinger Festschrift S. 195; anders hierzu aber Engisch, ZStW 70 (1958) S. 585. 61 Zustimmend vom Standpunkt der strengen Schuldtheorie aus LK n (Hirsch) § 34 Rdn. 91; Wetzet, JZ 1955, 142ff. 62 Ablehnend dazu Arthur Kaufmann, ZStW 76 (1964) S. 571; Roxin, ebenda S. 587; Schröder, Eb. Schmidt-Festschrift S. 294. 63 So Baumann/Weber, Allg. Teil S. 351; Dreher/Tröndle, § 34 Rdn. 18; Göhler, § 16 OWiG Rdn. 15; Lackner, § 34 Rdn. 13; Roxin, Allg. Teil I § 14 Rdn. 81 f.; Herdegen, BGHFestschrift S. 208 f.; Lenckner, H. Mayer-Festschrift S. 165 ff.; Schönke/Schröder/Lenckner, § 34 Rdn. 50; SK (Samson) § 34 Rdn. 25; Stratenwerth, Allg. Teil I Rdn. 475. Zweifelnd Stree, in: Roxin, u.a., Einführung S. 44f. Für Fortsetzung der bisherigen Rspr. aber Blei, Allg. Teil S. 170 f.; für analoge Anwendung des § 35 II LK (Hirsch) § 34 Rdn. 91. 60

V. Ausländisches Recht

467

64

oben § 36 I I ) . Es sind dies die mutmaßliche Einwilligung, wenn der Eingriff dem wirklichen Willen des Betroffenen widerspricht (vgl. oben § 34 V I I 3), die Anwendung staatlichen Zwangs, wenn die sachlichen Voraussetzungen des Eingriffs tatsächlich fehlen (vgl. oben § 35 I 3), und die Wahrnehmung berechtigter Interessen (§ 193), die immer erst dann eingreift, wenn sich die Nichterweislichkeit der ehrenrührigen Tatsachenbehauptung herausgestellt hat (BGH 11, 273) (vgl. oben § 36 I I 2 a). Wer in diesen Fällen wegen mangelhafter Prüfung die Voraussetzungen des Rechtfertigungsgrundes irrtümlich annimmt, muß nach dem Vorsatztatbestand bestraft werden. Beispiele: Hat der Lehrer dem Schüler aufgrund mutmaßlicher Einwilligung der Eltern eine Ohrfeige gegeben, so ist er wegen vorsätzlicher Körperverletzung strafbar, wenn die Züchtigung dem wirklichen Willen der Eltern widersprach und er die Sachlage nicht gewissenhaft geprüft hat (RG 61, 191 [194]). Der Jagdschutzberechtigte ist wegen eines Sch usses auf einen vermeintlichen Dieb nach dem Gesetz über den Waffengebrauch der Forst- und Jagdschutzberechtigten vom 26.2.1935 (RGBl. I S. 313) nur dann gerechtfertigt, wenn er das Vorliegen der Voraussetzungen des Schußwaffengebrauchs gewissenhaft geprüft hat (RG 72, 305 [311 ff.]). Wer aufgrund von ungenügenden Informationen eine nicht erweislich wahre, ehrenrührige Tatsachenbehauptung aufstellt, wird trotz guten Glaubens wegen übler Nachrede bestraft (§ 186) (BGH 14, 48 [51]). Wird in diesen Fällen die Prüfungspflicht verletzt, so handelt der Täter rechtswidrig. Aber auch die Vorsatzschuld ist dann zu bejahen, denn der Täter nimmt angesichts des bestehenden und von ihm erkannten Risikos das betreffende Rechtsgut nur dann hinreichend ernst, wenn er alles getan hat, um dessen unerlaubte Beeinträchtigung zu vermeiden. mit einem Grenzirrtum zusammen (z.B. der 4. Trifft ein Erlaubnistatbestandsirrtum Erziehungsberechtigte nimmt irrtümlich die Voraussetzungen des Züchtigungsrechts an und geht gutgläubig zugleich über die erlaubten Grenzen hinaus), so ist mit Rücksicht auf den Grenzirrtum der Vorsatztatbestand anzuwenden (§ 17 S. 2). Der Erlaubnistatbestandsirrtum spielt keine Rolle, da der Täter auch bei der von ihm angenommenen Sachlage nicht gerechtfertigt wäre 65. V. Ausländisches Recht Im Ausland enthält das österreichische StGB in § 9 eine dem deutschen § 17 entsprechende Bestimmung66, gibt aber zusätzlich in Abs. 2 die Maßstäbe für die Vermeidbarkeit des Verbotsirrtums an . Außerdem regelt § 8 den Erlaubnistatbestandsirrtum nach der eingeschränkten Schuldtheorie68. Nach dem österreichischen Recht kommt in der Behandlung der Irrtumsprobleme das schweizerische Recht dem deutschen am nächsten. Art. 19 StGB erfaßt den Tatbestandsirrtum, Art. 20 StGB den Verbotsirrtum (BGE 70 IV 100), der aber auch bei „zureichenden Gründen" nur bis zur Möglichkeit des Absehens von Strafe führt (BGE 106 IV 193)69. Die Rechtsprechung behandelt das Unrechtsbewußtsein als selbständiges Schuld64

So Lenckner, H. Mayer-Festschrift S. 178 ff.; Schönke / Schröder 7 Lenckner, Vorbem. 19 vor § 32; LK n (Hirsch) Vorbem. 54 vor § 32; Lackner, § 17 Rdn. 17. Dagegen Rudolphi,

Schröder-Gedächtnisschrift S. 73 ff.; Roxin, Welzel-Festschrift S. 458 ff.; derselbe, Allg. Teil I § 14 Rdn. 83 f. 65 Vgl. Wessels, Allg. Teil Rdn. 490. 66 Dazu Kienapfel, ÖJZ 1976, 117ff.; Platzgummer, Strafrechtliche Probleme I S. 58ff.; Triffterer, Allg. Teil S. 430ff.; Leukauf7Steininger, § 9 Rdn. 5. 67 Vgl. näher Jescheck, Lange-Festschrift S. 373; derselbe, ÖJZ 1971, 3. 68 Vgl. Foregger/SeHni, § 8 StGB Anm. I. 69

Vgl. dazu Schwander, Das Schweiz. StGB S. 91 f., 98 ff.; Trechsel, Art. 20 StGB Rdn. 6;

Rehberg, Strafrecht I S. 167; kritisch Schultz, Einführung I S. 232; Graven, L'infraction S. 180. Wie der deutsche § 17 jetzt Vorentwurf Art. 23 mit Begründung S. 63 ff. 30*

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§ 41 Bewußtsein der Rechtswidrigkeit u n d V e r b o t s i r r t u m

merkmal (BGE 70 IV 98), stellt aber strenge Anforderungen an die Unverschuldetheit des Verbotsirrtums (BGE 74 IV 152; 98 IV 303; 99 IV 186)70. Das spanische Recht enthält jetzt in Art. 1 II C.p. das Schuldprinzip und in Art. 6 bis a) I I I C.p. eine Regelung des Verbotsirrtums, die dem deutschen § 17 nur teilweise entspricht 71. Der portugiesische Côdigo Penal von 1982 hat sich dem deutschen § 17 angeschlossen72. Auch im niederländischen Recht wird der unvermeidbare Verbotsirrtum als Schuldausschließungsgrund anerkannt73. Andere führende Rechte halten oder hielten bis vor kurzem an dem Grundsatz „error juris nocet" fest, der allenfalls bei Unkenntnis außerstrafrechtlicher Normen abgemildert wird. So gründete sich die französische Praxis bisher auf das alte Prinzip „nul n'est censé ignorer la loi" 7 4 , während jedoch der neue Code pénal in Art. 122-3 zur Anerkennung des Verbotsirrtums als Schuldausschließungsgrund übergegangen ist 75 . Das belgische Strafrecht folgte früher der bisherigen Linie in Frankreich, doch neigen Rechtsprechung und Reformkommission zur Berücksichtigung des unvermeidbaren Verbotsirrtums als Schuldausschließungsgrund76. In Italien schloß Art. 5 C.p. früher die Berücksichtigung des Verbotsirrtums generell aus, doch hat der Verfassungsgerichtshof durch Urteil vom 23.3.1988 Nr. 364 den unvermeidbaren Verbotsirrtum als Schuldausschließungsgrund anerkannt77. In der anglo-amerikanischen Judikatur wird die Unkenntnis der Rechtswidrigkeit meist als unerheblich angesehen78. Im neuen brasilianischen Recht ist der unvermeidbare Verbotsirrtum als Schuldausschließungsgrund anerkannt, während der vermeidbare Verbotsirrtum zur Milderung der Vorsatzstrafe führt (Art. 21 C.p.) 79 ' 8 0 .

70

Dagegen vertritt Germann, Das Verbrechen S. 186 f. die Vorsatztheorie, die er in SchwZStr 68 (1953) S. 374 durch die Lehre von der Rechtsblindheit einschränkt. Die der deutschen sehr ähnliche Rechtsprechung zur Vermeidbarkeitsfrage behandeln kritisch Noll, Schweizer Beiträge S. 215 ff.; Noll/Trechsel, Allg. Teil I S. 140. Kasuistik bei Trechsel, Art. 20 Rdn. 18. 71

Vgl. Rodriguez Devesa/ Serrano Gomez, Derecho penal S. 631 ff.; Mir Puig, Adiciones

Bd. I S. 640ff.; Cobo del Rosal/ Vives Anton, Derecho penal S. 512 ff.; Cerezo Mir, Armin Kaufmann-Gedächtnisschrift S. 473 ff.; Mir Puig y Der Irrtum S. 303 ff.; Jescheck, Loyola-Gedächtnisschrift S. 403 ff.; Strien, Einflüsse des deutschen Strafrechts S. 99ff. 72 Hierzu und grundlegend zum Verbotsirrtum Figueiredo Dias, Ο problema da consciência da ilicitude, 1987. 73

Vgl. Pompe, Handboek S. 163; van Bemmelen/van Veen, Ons strafrecht S. 220 f. Haze-

winkel-Suringa/Remmelinky Inleiding S. 358 ff. zeigt die neuere Tendenz der Rspr. zur Berücksichtigung des unvermeidbaren Verbotsirrtums. Vgl. ferner Jescheck, Criminal Law in Action S. 9 f. 74 Vgl. Bouzat, Traité Bd. I S. 270ff.; Merle/Vitu, Traité I Nr. 550ff.; Stefani/Levasseur/ BouloCy Droit pénal général Nr. 380 (mit Beispielen für den außerstrafrechtlichen Rechtsirrtum). Über die Herkunft dieses Satzes Kiefner, Deutsche Landesreferate 1967 S. 87ff. 75 Hierzu Desportes/Le Gunehec y Présentation Nr. 35; Pradel , Le nouveau Code pénal S. 88 ff. 76 Dupont/Verstraeten, Handboek Nr. 493 ff.; Hennau/Verhaegen, Droit pénal général

Nr. 361 ff.; Tulkens/van den Kerchove , Introduction S. 244 ff.; Commission pour la Révision du Code pénal, Observations S. 15.

77 Zum Urteil des Verfassungsgerichtshofs Mantovani, Diritto penale S. 364ff.; Pagliaro , Principi S. 398 ff.; Fiandaca/Musco, Diritto penale S. 294 ff. Zum ganzen grundsätzlich Pulitanby L'errore di diritto, 1976; rechtsvergleichend Jescheck , Recht in Ost und West S. 889ff. Auch der Entwurf sieht in Art. 15 die Straflosigkeit des unvermeidbaren Verbotsirrtums vor. 78 Vgl. Grünhuty Das englische Strafrecht S. 197; Honig, Das amerikanische Strafrecht S. 131 ff.; Glanville WilliamSy Criminal Law S. 288ff.; J. Hall y Principles S. 407ff.; Smith/ Hogany Criminal Law S. 83; Kaplan y Mistake of Law S. 1167f.; Kenny /Turner, Outlines S. 60 f.; Robinson, Criminal Law Defenses Bd. I S. 252. Zum Entwurf eines Criminal Code for England and Wales (1989) Jescheck, R. Schmitt-Festschrift S. 66. 79 Dazu Fragoso, Liçôes S. 212 ff.; da Costa jr., Comentärios, Art. 21 Anm. 3. 80 Vgl. zur Geschichte und Rechtsvergleichung im ganzen Jiménez de Asua, Bd. VI S. 357ff.; zum griechischen Recht Mangakis, Das Unrechtsbewußtsein S. 17ff., 79 ff.

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I. Wesen u n d F u n k t i o n des Schuldtatbestandes

§ 42 Der Schuldtatbestand und seine Merkmale Bloy, Die dogmatische Bedeutung der Strafausschließungs- und Strafaufhebungsgründe, 1976; Engisch, Der Unrechtstatbestand im Strafrecht, DJT-Festschrift, Bd. I, 1960, S. 401; Frank, Über den Aufbau des Schuldbegriffs, Gießener Festschrift, 1907, S. 3; Gallas, Täterschaft und Teilnahme, Materialien, Bd. I, 1954, S. 121; Geilen, Unterlassene Verbrechensanzeige und ernsthafte Abwendungsbemühung, JuS 1965, 426; Goldschmidt, Normativer Schuldbegriff, Festgabe für R. v. Frank, Bd. I, 1930, S. 428; Hardwig y Die Gesinnungsmerkmale im Strafrecht, ZStW 68 (1956) S. 14; Hegler, Die Merkmale des Verbrechens, ZStW 36 (1915) S. 184; derselbe, Subjektive Rechtswidrigkeitsmomente im Rahmen des allgemeinen Verbrechensbegriffs, Festgabe für R. v. Frank, Bd. I, 1930, S. 251; Kantorowicz, Tat und Schuld, 1933; Küper, Zur irrigen Annahme von Strafmilderungsgründen, G A 1968, 321; Lampe, Das personale Unrecht, 1967; Lange, Die Schuld des Teilnehmers, JR 1949, 165; Langer y Das Sonderverbrechen, 1972; Maihof er, Objektive Schuldelemente, Festschrift für H. Mayer, 1966, S. 185; Martens, Der Irrtum über Schuldmilderungsgründe, Strafr. Abh. Heft 246, 1928; Mezger, Wandlungen der strafrechtlichen Tatbestandslehre, NJW 1953, 2; Noll, Übergesetzliche Rechtfertigungsgründe, im besonderen die Einwilligung des Verletzten, 1955; Nowakowskiy Zur Lehre von der Rechtswidrigkeit, ZStW 63 (1951) S. 287; Schmidhäuser, Gesinnungsmerkmale im Straf recht, 1958; derselbe, Der Unrechtstatbestand, Festschrift für Karl Engisch, 1969, S. 433; Schweikert, Die Wandlungen der Tatbestandslehre seit Beling, 1957; Stratenwerth, Zur Funktion strafrechtlicher Gesinnungsmerkmale, Festschrift für Η. v. Weber, 1963, S. 171; Thierfelder y Objektiv gefaßte Schuldmerkmale, Strafr. Abh. Heft 308, 1932; Tiedemann y Tatbestandsfunktionen im Nebenstrafrecht, 1969; Wendty Anmerkung zu BGH 1, 203, JZ 1951, 723; Würtenberger y Die geistige Situation der deutschen Strafrechtswissenschaft, 2. Auflage 1959. I. Wesen und Funktion des Schuldtatbestandes 1. Der Tatbestand i.w.S. faßt alle diejenigen Merkmale zusammen, von denen die Strafwürdigkeit einer Handlung abhängt (vgl. oben § 7 I 1). Er umschließt sowohl Unrechts- als auch Schuldmerkmale und ist darum gleichbedeutend mit dem Deliktstypus (z.B. Mord, Kindestötung, Gefährdung des Straßenverkehrs). Innerhalb des Tatbestandes i.w.S. sind Unrechts- und Schuldtatbestand zu unterscheiden (vgl. oben § 25 I 3) 1 . Zum Unrechtstatbestand gehören diejenigen Merkmale des Deliktstypus, die das verbotene Verhalten sowie die darauf bezogene Einstellung des Täters (Vorsatz oder Fahrlässigkeit) beschreiben (vgl. oben § 25 I 2), der Schuldtatbestand umfaßt dagegen diejenigen Faktoren, die die in der Tat aktualisierte Rechtsgesinnung des Täters näher kennzeichnen. Was den Schuldtatbestand anlangt, so sind allerdings zwei Einschränkungen zu machen: Einmal können zum Schuldtatbestand nur Merkmale gezählt werden, die den Schuldgehalt der Tat ausschließlich und unmittelbar beschreiben, weil sonst die Unterscheidung von Unrecht und Schuld verlorenginge 2. Gemeint ist hier also nicht der Schuldgehalt der Tat, der 1

Zum Schuldtatbestand Gallas y Beiträge S. 43 ff.; früher schon in diesem Sinne Gold-

schmidty Frank-Festgabe Bd. I S. 461 ff.; Lange, JR 1949, 166; Mezger

Stratenwerth,

y

NJW 1953, 2. Vgl. auch

v. Weber-Festschrift S. 190. Diese Lehre hat inzwischen Fortschritte gemacht;

vgl. Engisch y DJT-Festschrift Bd. I I S. 413; Maihofer,

H. Mayer-Festschrift S. 199 ff.; Schmid-

häusery Allg. Teil S. 452 ff.; derselbey Studienbuch S. 185 iL·, Jakobs, Allg. Teil 17/43; WK (No-

wakowski) Vorbem. 53 vor § 3; Schönke/Schröder/Lenckner,

Vorbem. 44 vor § 13; Tiede-

manny Tatbestandsfunktionen S. 229. Gegner sind Bockelmann/Volk 3 Allg. Teil S. 55 f.; Hirsch y Negative Tatbestandsmerkmale S. 13 Fußnote 1; LK n (Hirsch) Vorbem. 187 vor § 32; Maurach/Zipf Allg. Teil I § 24 Rdn. 2; Welzel, Lehrbuch S. 55. Sie leugnen entweder die Existenz von besonderen Schuldmerkmalen oder ihre Typizität für bestimmte Deliktsarten. 2 Vgl. dazu Gallas, Beiträge S. 44; ferner die Kritik von Stratenwerth, v. Weber-Festschrift S. 181 ff. an der extensiven Verwendung des Gesinnungsbegriffs durch Schmidhäuser, Gesinnungsmerkmale S. 175 ff., aufgrund deren Schmidhäuser, Allg. Teil S. 246 f., 455 f. seine Lehre modifiziert hat.

470

§ 42 D e r Schuldtatbestand u n d seine M e r k m a l e

schon in der subjektiven Zurechnung des begangenen Unrechts besteht, sondern es kommen nur zusätzliche Merkmale in Frage, die die Schuld in selbständiger Weise und nicht nur als Reflex der Unrechtsmerkmale charakterisieren. Zum anderen umfaßt der Schuldtatbestand allein die Typusmerkmale einer bestimmten Deliktsart, so daß Schuldfähigkeit und Bewußtsein der Rechtswidrigkeit als allgemeine (nicht typusgebundene) Schuldmerkmale hier ausscheiden. Auch die Entschuldigungsgründe sind an dieser Stelle nicht zu berücksichtigen, weil sie in der Regel (eine Ausnahme machen § 157 und § 258 V) gleichfalls nicht auf eine bestimmte Deliktsart bezogen sind (vgl. unten §§ 44 - 47)3. 2. Deliktstypische Schuldmerkmale hat es schon im StGB von 1871 gegeben4, doch ist die Vorliebe für ihre Verwendung, vor allem in Gestalt von Gesinnungsmerkmalen, erst ein Kennzeichen der neueren Strafrechtsentwicklung. Dies hängt zusammen mit dem Bestreben des Gesetzgebers, die juristischen Maßstäbe stärker nach der Täterpersönlichkeit auszurichten („Individualisierung des Strafrechts") zu differenzieren („Ethisierung und die Deliktstypen nach ethischen Werthegriffen des Strafrechts") . Voraussetzung dafür war die Anerkennung eines materiellen Schuldbegriffs, der in der Schuld nicht nur die Summe der subjektiven Zurechnungsgründe, sondern einen tadelnswerten Mangel an Rechtsgesinnung erblickt (vgl. oben § 38 I I 5), denn erst dadurch wurde die Schuld zu einer steigerungsfähigen Größe. So werden seit jeher, in neuerer Zeit aber zunehmend, spezielle Schuldmerkmale dazu verwendet, den strafwürdigen Bereich abzugrenzen (strafbegründende bzw. strafausschließende Schuldmerkmale) oder abzustufen (strafschärfende bzw. strafmildernde Schuldmerkmale). Für die Schuldmerkmale gelten besondere Regeln bezüglich Irrtum und Teilnahme (vgl. unten § 42 III). Beispiele: Die Gefährdung anderer im Straßenverkehr, die nach §§ 1 II, 49 I Nr. 1 StVO ordnungswidrig ist, wird unter bestimmten das Unrecht qualifizierenden Umständen strafbar, wenn der Täter außerdem „rücksichtslos" handelt (§ 315c I Nr. 2) (BGH VRS 23, 292; OLG Köln VRS 59, 123: „extrem" verwerfliche Verkehrsgesinnung). Gesinnungsmerkmal ist ferner die „Böswilligkeit" in §§ 90 a I Nr. 1, 130 I Nr. 2 und 223 b. Schuldmilderungsgrund kann das jugendliche Alter eines Beteiligten sein. Straflos bleiben deswegen beim Beischlaf zwischen Verwandten Abkömmlinge und Geschwister, wenn sie zur Zeit der Tat noch nicht 18 Jahre alt waren (§ 173 III). Der Mord (§211) wird als qualifizierter Tatbestand gegenüber dem Totschlag durch Merkmale hervorgehoben, die zum Teil gesteigerte Schuld ausdrücken (z.B. niedrige Beweggründe). Bei der Kindestötung (§ 217) wird die gemilderte Schuld durch die nichteheliche Mutterschaft und den psychischen Einfluß des Geburtsvorgangs gekennzeichnet. 3. Der Sinn des Schuldtatbestandes ist es, diejenigen selbständigen Merkmale des Deliktstypus zusammenzufassen, die die in der Tat aktualisierte Einstellung des Täters zu dem spezifischen Rechtsgebot entweder als besonders tadelnswert oder als relativ intakt erscheinen lassen.

3 Dagegen bildet Jakobs, Allg. Teil 17/44 ff. einen „Gesamtschuldtatbestand", der einmal das Unrecht als Bezugspunkt der Schuld, weiter sämtliche positiven Schuldmerkmale, endlich sogar die Fälle der Unzumutbarkeit einschließen soll. Ähnlich umfassend Schmidhäuser, Engisch-Festschrift S. 447. 4 Die „Überlegung", bis 1941 einziges den Mord kennzeichnendes subjektives Merkmal, war richtigerweise als Schuldelement zu verstehen (Frank, § 211 Anm. I 2: „Abwägung der kontrastierenden Motive"), wurde indessen von der Rspr. (RG JW 1936, 1128; RG 74, 84 [86]) als subjektives Unrechtsmerkmal betrachtet. 5 Davon ist mit der Funktionalisierung des Schuldprinzips durch Jakobs, Allg. Teil 17/21 wiederum eine Abkehr eingetreten.

I I . D i e Merkmale des Schuldtatbestandes

471

II. Die Merkmale des Schuldtatbestandes Drei Gruppen von Schuldtatbestandsmerkmalen sind zu unterscheiden: 1. Einmal gibt es objektiv gefaßte Schuldmerkmale 6. Nach der älteren Lehre hat hier der Gesetzgeber an das Vorliegen gewisser äußerer Umstände, die geeignet sind, einen den Schuldvorwurf mildernden oder ausschließenden Einfluß auf die Willensbildung auszuüben, die unwiderlegliche Vermutung geknüpft, daß sie auch tatsächlich von Einfluß gewesen sind 7 . Dagegen gründet Maihof er die objektiv gefaßten Schuldmerkmale nicht auf eine Vermutung, sondern unmittelbar auf die für bestimmte Situationen „typische Sozial- und Dispositionsschuld" 8 . Richtig ist es, auch hier von dem Grundgedanken der Schuldlehre auszugehen: Die Einstellung des Täters zum Recht erscheint bei Vorliegen eines Schuldmilderungsgrundes anders, und zwar weniger tadelnswert, als im Normalfall, sofern der Täter den ihn entlastenden Umstand gekannt hat (vgl. auch unten § 42 I I I 1 a). Daß schon die bloße Eignung dieser Merkmale zur Privilegierung ausreicht, ohne daß auf ihre wirkliche Bedeutung für die Willensbildung abgestellt wird, benachteiligt den Täter aber nicht, da die objektiv gefaßten Schuldmerkmale sämtlich Schuldmilderungsoder -ausschließungsgründe sind und somit niemals belastend, sondern immer nur entlastend wirken können. Sie müssen dem Täter aber bekannt gewesen sein, weil sie sonst nicht motivierend gewirkt haben können. Beispiele: Die Privilegierung der Kindestötung (§ 217) berücksichtigt die seelische Lage der nichtehelichen Mutter und die psychischen Auswirkungen des Geburtsvorgangs, selbst wenn diese Umstände auf die Tat ohne Einfluß gewesen sein sollten (RG 77, 246)9. Dagegen beruht die Strafmilderung für die Tötung auf Verlangen (§ 216) wegen der Verwandtschaft des Falles mit der Einwilligung auf gemildertem Unrecht 10. Objektiv gefaßte Entschuldigungsgründe sind die Angehörigenprivilegien bei der Nichtanzeige von Verbrechen (S 139 III) 1 1 und bei der Strafvereitelung (§ 258 VI) 1 2 , die in der notstandsähnlichen Lage ihren Grund haben. Die Jugendlichkeit des Täters bzw. Beteiligten wird berücksichtigt bei 6 Vgl. Frank, Aufbau des Schuldbegriffs S. 5 ff.; Hegler, Frank-Festgabe Bd. I S. 252 ff.; v. Liszt/ Schmidt, S. 189ff.; Mezger, Lehrbuch S. 270; Thierfelder, Objektiv gefaßte Schuldmerkmale S. 44 ff.; Schönke/Schröder/Lenckner, Vorbem. 123 vor § 13; LK U (Jescheck) Vorbem. 81 vor § 13; Küper, GA 1968, 326; Wessels, Allg. Teil Rdn. 422. Gegen die Anerkennung objektiv gefaßter Schuldmerkmale Blei, Allg. Teil, 17. Auflage S. 162; Bockelmann/ Volk, Allg. Teil S. 56. 7 Vgl. Schönke/Schröder/Lenckner, Vorbem. 123 vor § 13; Nowakowski, ZStW 63 (1951)

S. 320; Küper, G A 1968, 325. 8

Maihof er, H. Mayer-Festschrift S. 215. Vgl. Maurach/Schroeder/Maiwald, Bes. Teil I § 2 Rdn. 66. Daß der Gesetzgeber beide Gesichtspunkte berücksichtigen wollte, ergibt Goltdammer, Materialien Teil I I S. 279 f. 10 Vgl. R. Schmitt, Maurach-Festschrift S. 117 f. Dagegen stellt Maurach/Schroeder/Maiwald, Bes. Teil I § 2 Rdn. 62 mit der h.L. auch hier auf die „notstandsähnliche Konfliktslage" ab, was dazu führt, daß der Täter auch bei irriger Annahme des Verlangens in den Genuß des Schuldminderungsgrundes kommt. 11 Die Frage ist streitig; wie hier Geilen, JuS 1965, 432; Schönke/Schröder/Gramer, § 139 9

Rdn. 4; SΚ (Rudolphi) § 139 Rdn. 6; LK 10 (Hanack) § 139 Rdn. 23; Welzel, Lehrbuch S. 518.

Dagegen nehmen Lackner, § 139 Rdn. 3; Maurach/Schroeder/Maiwald, Bes. Teil I I § 98 Rdn. 26; Dreh er/Tröndle, § 139 Rdn. 6 einen persönlichen Strafausschließungsgrund an. 12 Ebenso Schmidhäuser, Allg. Teil S. 490. Meist wird aber trotz Anerkennung des notstandsähnlichen Charakters ein persönlicher Strafausschließungsgrund angenommen; vgl.

Maurach/Schroeder/Maiwald, Bes. Teil I I § 100 Rdn. 24; Dreher/Tröndle, § 258 Rdn. 16; Lackner, § 258 Rdn. 17; SK (Samson) § 258 Rdn. 50. Wie hier jedoch Kantorowicz, Tat und

§ 258 Rdn. 39 nimmt einen persönlichen StrafausSchuld S. 255. Schönke/Schröder/Stree, schließungsgrund an, „der freilich im Schuldbereich wurzelt".

472

§ 42 D e r Schuldtatbestand u n d seine M e r k m a l e

der uneidlichen Falschaussage des noch nicht Eidesmündigen (§ 157 II) und beim Beischlaf zwischen Verwandten (§ 173 III) 1 3 . 2. Bei den subjektiv gefaßten Schuldmerkmalen 14 genügt dagegen die bloße Eignung zur Entlastung des Täters nicht. Vielmehr muß der betreffende Umstand auf die Willensbildung des Täters tatsächlich eingewirkt haben; dies kann freilich auch dann der Fall sein, wenn sich der Täter die schuldmildernde Situation nur irrig vorgestellt hat. Beispiele: Ein subjektiv gefaßter Schuldmilderungsgrund ist der Aussagenotstand (§ 157 I) 1 5 und die Provokation beim Totschlag (§ 213). Ein subjektiv gefaßtes strafschärfendes Schuldmerkmal ist beim Mord (§ 211) die Absicht, eine andere Straftat zu ermöglichen oder zu verdecken16. 3. Umstritten in ihrer Abgrenzung und zweifelhaft hinsichtlich ihres Standorts im Verbrechensbegriff sind die Gesinnungsmerkmale. a) Die durch Gesinnungsmerkmale gekennzeichneten Seelenzustände (z.B. Habgier, Roheit, Rücksichtslosigkeit) können, weil kein Richter die Gabe besitzt, dem Menschen ins Herz zu sehen, nicht direkt festgestellt werden, sondern ergeben sich erst durch einen Rückschluß aus den äußeren Umständen der Tat 1 7 . Gesinnungsmerkmale setzen also stets eine bestimmte, mit prozeßordnungsmäßigen Mitteln feststellbare äußere Sachlage voraus (BGH 18, 102 [107]) und stimmen darin mit den objektiv und subjektiv gefaßten Schuldmerkmalen überein. Ihre Eigentümlichkeit liegt darin, daß hier das „sittlich-wertwidrige geistige Verhalten" im Tatbestand unmittelbar angegeben w i r d 1 8 , wobei es dem Richter überlassen bleibt, aus der Gestaltung des Einzelfalls diejenigen Tatumstände herauszugreifen, die den Rückschluß auf das im Tatbestand geforderte Gesinnungsmerkmal zulassen. Da jedoch die Faktoren, aus denen auf eine bestimmte Gesinnung geschlossen werden kann, teils dem Unrechts-, teils dem Schuldbereich angehören, sind auch die Gesinnungsmerkmale nicht einheitlich als Schuldmerkmale, sondern teils als solche, teils als Unrechtsmerkmale zu betrachten (differenzierende Auffassung) 19. Nur diejenigen Gesinnungselemente, die nicht auf einem entsprechenden Bezugspunkt im Unrechtsbereich aufbauen, sondern unmittelbar und ausschließlich aus Sachverhalten geschlossen werden, die zum Schuldbereich gehören, können als echte Schuld13

Die Frage ist streitig; wie hier Frank, § 173 Anm. III; Hegler, ZStW 36 (1915) S. 215; Bloy, Strafausschließungsgründe S. 146 f. Dagegen für persönlichen Strafausschließungsgrund

Schänke /Schröder/Lenckner,

§ 173 Rdn. 9; Dreher/Tröndle,

§ 173 Rdn. 8; SK (Horn) § 173

Rdn. 9; LK 10 (Dippel) § 173 Rdn. 18. Für negatives Tatbestandsmerkmal RG 19, 391 (393);

Kohlrausch/Lange, 14

§ 173 Anm. I I I 3.

Vgl. Thierfelder, Objektiv gefaßte Schuldmerkmale S. 80ff.; v. Liszt/ Schmidt, S. 291 ff.; Martens, Der Irrtum über Strafmilderungsgründe S. 23; Wessels, Allg. Teil Rdn. 422; Schänke /Schröder/ Lenckner, Vorbem. 123 vor § 13. 15 Vgl. Maurach/Schroeder/Maiwald, Bes. Teil I I § 74 Rdn. 107; LK 10

(Willms) § 157

Rdn. 10 ff. 16 Ein subjektives Unrechtsmerkmal ist trotz der finalen Struktur nicht anzunehmen, weil die Absicht weder das Rechtsgut noch die Begehungsweise der Tat betrifft, wohl aber unmittelbar die Einstellung des Täters zur Tat kennzeichnet und damit Aufschluß über die Motivation der Tat gibt. 17 Vgl. Stratenwerth, v. Weber-Festschrift S. 177. 18 So die Definition von Schmidhäuser, Gesinnungsmerkmale S. 217 und Allg. Teil S. 455. 19 So Schmidhäuser, Allg. Teil S. 247; Baumann/Weber, Allg. Teil S. 286; Lampe, Das personale Unrecht S. 234; Langer, Sonderverbrechen S. 346 f.; Schänke/ Schröder/Lenckner, Vorbem. 122 vor § 13; Stratenwerth, v. Weber-Festschrift S. 187; Welzel, Lehrbuch S. 79; Wessels, Allg. Teil Rdn. 137. Vgl. auch Hardwig, ZStW 68 (1956) S. 29ff.

I I I . I r r t u m s - u n d Teilnahmeprobleme

473

merkmale angesprochen werden. Dagegen sind Gesinnungsmerkmale, die sich lediglich als die subjektive Kehrseite von spezifischen Unrechtsmerkmalen darstellen, selbst nichts anderes als subjektive Unrechtsmerkmale (unechte Gesinnungsmerkmale). Die Unterscheidung ist oft schwierig, muß aber durchgeführt werden, weil sich sonst die Irrtums- und Teilnahmeprobleme nicht sachgerecht lösen lassen (vgl. unten § 42 III). Beispiele: Beim Mord (§211) sind die sittlich-wertwidrigen Motivationen (Mordlust, Befriedigung des Geschlechtstriebs, Habgier, niedrige Beweggründe) echte Gesinnungsmerkmale, während die Merkmale, die die Gefährlichkeit oder Verwerflichkeit der Beeehungsweise betreffen (Heimtücke, Grausamkeit, Anwendung gemeingefährlicher Mittel) als Kennzeichen eines besonderen Handlungsunrechts dem Unrechtstatbestand angehören und nur mittelbar auch die Gesinnung beschreiben. Echte Gesinnungsmerkmale sind ferner die „Roheit" und „Böswilligkeit" bei der Mißhandlung von Schutzbefohlenen (§ 223 b) und die „Rücksichtslosigkeit" bei der Straßenverkehrsgefährdung (§ 315 c I Nr. 2) (OLG Stuttgart VRS 41, 274), während die „Gröblichkeit" der Begehungsweise (§§ 167 I Nr. 1, 170d, 315c I Nr. 2) und die „Hinterlist" (§ 223 a) zum Unrechtstatbestand gehören, weil sie die Art und Weise der Tatausführung betreffen. Abweichende Lehrmeinungen betrachten die Gesinnungsmerkmale teils als Steigerung des Tatvorsatzes20, teils ausschließlich als Kennzeichen des personalen Handlungsunrechts21, teils als reine Schuldbestandteile22. Jedoch wird allein die differenzierende Betrachtungsweise der Tatsache gerecht, daß die äußeren Bezugspunkte der Gesinnungsmerkmale über den gesamten Unrechts- und Schuldbereich verteilt sind. b) Gegen die zunehmende Verwendung von Gesinnungsmerkmalen im Strafrecht bestehen freilich rechtsstaatliche Bedenken 23 . Einmal wird durch ihre den Unrechts- und Schuldbereich überspannende Stellung im Verbrechensaufbau die Unterscheidung der beiden Seiten der Straftat erschwert. Weiter widerspricht es dem Grundsatz der Bestimmtheit der Tatbestände, daß dem Richter die Freiheit eingeräumt wird, nach eigenem Ermessen die Anknüpfungspunkte auszuwählen, aus denen er auf das Vorhandensein der im Tatbestand vorausgesetzten Gesinnung schließen will. Endlich muß die unvermeidliche Subjektivität der Maßstäbe für die Beurteilung von Gesinnungsmerkmalen die Gleichheit der Rechtsanwendung gefährden. Der Höhepunkt in der Verwendung von Gesinnungsmerkmalen scheint allerdings überschritten zu sein. Die neuere Gesetzgebung zeigt die entgegengesetzte Tendenz 24 . I I I . Irrtums- und Teilnahmeprobleme 1. Die Behandlung der Irrtumsfragen im Bereich des Schuldtatbestandes ist umstritten. Für die Lösung hat man von der Unterscheidung der drei Merkmalsgruppen auszugehen: 20

So H. Mayer, Lehrbuch S. 254. So Bockelmann/Volk, Allg. Teil S. 56; Noll, Übergesetzliche Rechtfertigungsgründe S. 31 ff., 41 f.; Schweikerty Tatbestandslehre S. 138. Nach Maurach/Zipf, Allg. Teil I §22 Rdn. 56 sind es objektive Tatbestandsmerkmale. 22 So Lange, JR 1949, 166f.; Gallas } Beiträge S. 57; Würtenberger } Situation S. 56f. 23 Vgl. H. May er y Grundriß S. 54; Stratenwerth, v. Weber-Festschrift S. 190; derselbe, Allg. Teil I Rdn. 334. 24 So ist in § 170d das Merkmal der „Gewissenlosigkeit" gestrichen worden und ist § 170 c mit dem gleichen Merkmal ganz gefallen. Dasselbe gilt für § 170 a mit dem Merkmal der „Böswilligkeit". In § 134 ist dieses Merkmal entfernt worden. In § 90a I Nr. 1 und in § 130 I Nr. 2 ist die „Böswilligkeit" jedoch erhalten geblieben. 21

474

§ 42 D e r Schuldtatbestand u n d seine M e r k m a l e

a) Bei den objektiv gefaßten Schuldmerkmalen muß der Täter den objektiven Bezugspunkt kennen, weil sonst ein Einfluß auf seine Willensbildung ausgeschlossen ist und deswegen auch seine in der Tat aktualisierte Einstellung zum Recht davon nicht berührt sein kann. Dagegen braucht nicht nachgewiesen zu werden, daß der dem Täter bekannte Umstand tatsächlich für die Motivation der Tat eine Rolle gespielt hat. Hat er aber das Vorliegen eines objektiv gefaßten Schuldmerkmals irrtümlich angenommen, so muß ihm das zugute kommen, weil seine Willensbildung dann unter den gleichen Bedingungen stattgefunden hat, wie wenn der Umstand wirklich vorgelegen hätte (Subjektivierung der objektiv gefaßten Schuldmerkmale) 25. Beispiele: Hält die Mutter ihr nichteheliches Kind für ehelich, so kann sie sich nicht auf §217 berufen, während die Vorschrift im umgekehrten Falle Anwendung findet. Der Täterin, die sich als rechtsgültig verlobt betrachtet (§ 11 I Nr. la), weil sie die Ehe des von ihr Begünstigten irrtümlich als geschieden ansieht, muß § 258 VI zugute kommen (anders RG 61, 270, wo ein persönlicher Strafausschließungsgrund angenommen wird). Der Irrtum über das eigene Lebensalter (§§ 157 II, 173 III) bleibt dagegen außer Ansatz, ebenso wie auch der Irrtum über die Schuldfähigkeit unbeachtlich ist, weil es sich dabei nur um gesetzliche Anhaltspunkte für den Schuldvorwurf handelt, nicht um Situationen, die die Motivation beeinflussen können. b) Bei den subjektiv gefaßten Schuldmerkmalen müssen die äußeren Umstände, auf die der Tatbestand Bezug nimmt, dem Täter bekannt gewesen sein und auf seine Willensbildung tatsächlich Einfluß gehabt haben. Es genügt aber auch, wenn er diese Umstände irrig angenommen und der bloßen Vorstellung Einfluß auf seine Willensbildung eingeräumt hat. Beispiele: War dem Zeugen die objektiv gegebene Gefahr gerichtlicher Bestrafung nicht bewußt, so ist § 157 I nicht anwendbar. Der Aussagenotstand kommt dagegen auch dann zum Zuge, wenn der Täter die Gefahr nur irrtümlich angenommen hat (RG 69, 41; 77, 219 [222]; BGH 8, 301 [317])26. c) Bei den zum Schuldtatbestand gehörenden Gesinnungsmerkmalen kommt es lediglich darauf an, daß Umstände objektiver oder subjektiver Art festgestellt werden, die nicht schon das Unrecht betreffen und einen Rückschluß auf das vom Tatbestand geforderte sittlich-wertwidrige geistige Verhalten erlauben. Auch wenn der Täter sich irrt, ist dieser Rückschluß unter Umständen möglich. Beispiel: Ein Parteifunktionär, der die Bundesrepublik in einer Versammlung aus bewußt feindlicher Gesinnung verächtlich macht, handelt i.S. von § 90 a I Nr. 1 böswillig, auch wenn er die seiner Kritik zugrunde liegenden Tatsachen irrtümlich für wahr hält. 2. Im Rahmen der Teilnahme müssen alle Merkmale des Schuldtatbestandes nach dem Grundsatz behandelt werden, daß die Schuld der Mittäter, Anstifter und Gehilfen von der Schuld der anderen Beteiligten unabhängig ist (§ 29). Das gilt für strafbegründende wie strafausschließende, für strafschärfende wie strafmildernde Schuldmerkmale. In diesem Punkte unterscheiden sich die Schuldmerkmale von den subjektiven Unrechtsmerkmalen, bei denen eine Lockerung der Akzessorietät 25 So schon Binding , Normen Bd. III S. 322 ff.; vgl. ferner Thierfelder, Objektiv gefaßte Schuldmerkmale S. 100; Maurach/Schroeder/Maiwald, Bes. Teil I § 2 Rdn. 69; Dreher/

Tröndle, § 217 Rdn. 2; LK 10 (Jähnke) § 217 Rdn. 11; Welzel, Lehrbuch S. 287; Schänke/ Schröder/Eser, § 217 Rdn. 11; Küper, G A 1968, 326. 26 Vgl. Maurach/Schroeder/Maiwald, Bes. Teil I I § 74 Rdn. 107; Schönke/Schröder/ Lenckner, § 157 Rdn. 6; LK 10 (Willms) § 157 Rdn. 10; zu § 213 entsprechend Wendt, JZ

1951, 723.

I I I . I r r t u m s - u n d Teilnahmeprobleme

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nur dann eintritt, wenn es sich um „besondere persönliche Merkmale" handelt (S 28) (vgl. näher unten § 61 V I I 4, 5). Beispiele: Handelt der Anstifter aus niedrigen Beweggründen, der Täter dagegen nur vorsätzlich, so muß wegen Anstiftung zum Mord (§ 211) bestraft werden (anders BGH 1, 368 [371]), wo der niedrige Beweggrund als Unrechtsmerkmal angesehen wird). Ebenso mußte der Gehilfe selbst böswillig i.S. von § 1 I KWVO handeln, es genügte nicht, daß er lediglich die Böswilligkeit des Täters kannte (anders OGH 2, 50 [57]). Handelt der Anstifter zu einer vorsätzlichen Verkehrsstraftat nach § 315 c I Nr. 2 nicht rücksichtslos, weil er mit der überschnellen Fahrt ein an sich billigenswertes Ziel verfolgt, so kann er nur nach §§ 1 II StVO, 14 OWiG, 49 I Nr. 1 StVO wegen einer Ordnungswidrigkeit mit einer Geldbuße belegt werden.

Unterabschnitt c): Die Entschuldigungsgründe § 43 Die Grundlagen der Entschuldigung tatbestandsmäßig-rechtswidriger Handlungen Bernsmanriy „Entschuldigung" durch Notstand, 1989; Brauneck, Der strafrechtliche Schuldbegriff, GA 1959, 261: Eser, Justification and Excuse: A Key Issue in the Concept of Crime, in: Eser/Fletcher (Hrsg.), Rechtfertigung und Entschuldigung, Bd. I, 1987, S. 17; Fincke , Die Entschuldigungsgründe im Strafrechtssystem, in: Eser/Kaiser (Hrsg.), Drittes deutsch-sowjetisches Kolloquium über Strafrecht und Kriminologie, 1987, S. 29; Fletcher , The Individualisation of Excusing Conditions, Southern California Law Review 47 (1974) S. 1269; Fornasari, Il principio di inesigibilità nel diritto penale, 1990; Gallas, Pflichtenkollision als Schuldausschließungsgrund, Festschrift für Ε. Mezger, 1954, S. 311; Goldschmidt y Der Notstand, ein Schuldproblem, Osterr. Zeitschrift für Strafrecht 1913, 129; Greenawalt, The Perplexing Borders of Justification and Excuse, in: Eser/Fletcher (Hrsg.), Rechtfertigung und Entschuldigung, Bd. I, 1987, S. 263; Günther, Strafrechtswidrigkeit und Strafunrechtsausschluß, 1983; Henkel, Zumutbarkeit und Unzumutbarkeit als regulatives Rechtsprinzip, Festschrift für E. Mezger, 1954, S. 249; Kadish, Excusing Crime, California Law Review 75 (1987) S. 272 ff.; Armin Kaufmann, Lebendiges und Totes in Bindings Normentheorie, 1954; derselbe, Die Dogmatik der Unterlassungsdelikte, 1959; Küper, Noch einmal: Rechtfertigender Notstand usw., JuS 1971, 474; derselbe, Grundfragen der „Differenzierung" zwischen Rechtfertigung und Entschuldigung, JuS 1987, 81; Maihof er, Der Unrechtsvorwurf, Festschrift für Th. Rittler, 1957, S. 141; Maurach, Kritik der Notstandslehre, 1935; derselbe, Schuld und Verantwortung im Strafrecht, 1948; Oetker, Notwehr und Notstand, Festgabe für R. v. Frank, Bd. I, 1930, S. 359; Roxin, „Schuld" und „Verantwortlichkeit" als strafrechtliche Systemkategorien, Festschrift für H. Henkel, 1974, S. 171; derselbe, Zur jüngsten Diskussion über Schuld, Prävention und Verantwortlichkeit, Festschrift für P. Bockelmann, 1979, S. 279; derselbe, Der entschuldigende Notstand nach § 35 StGB, JA 1990, 97 und 137; Eb. Schmidt, Das Problem des übergesetzlichen Notstands, Mitt IKV, Bd. V, 1931, S. 131; Schünemann, Die Funktion des Schuldprinzips im Präventionsstrafrecht, in: Schünemann (Hrsg.), Grundfragen des modernen Strafrechtssystems, 1984, S. 153; J. C. Smith, Justification and Excuse in the Criminal Law, 1989; Stratenwerth, Die Zukunft des strafrechtlichen Schuldprinzips, 1977; Streng, Schuld, Vergeltung, Generalprävention, ZStW 92 (1980) S. 637; Timpe, Grundfälle zum entschuldigenden Notstand usw., JuS 1984, 859; Vogler, Der Irrtum über Entschuldigungsgründe, G A 1969, 103; W. Weber, Zumutbarkeit und Nichtzumutbarkeit als rechtliche Maßstäbe, Juristen-Jahrbuch 3 (1962/63) S. 212. I. Ausschluß der Rechtswidrigkeit und Entschuldigung 1. Ausschluß der Rechtswidrigkeit bedeutet, daß eine tatbestandsmäßige Handlung durch das Eingreifen eines Erlaubnissatzes gerechtfertigt wird, weil sie unter den besonderen Umständen ihrer Begehung kein materielles Unrecht darstellt (vgl. oben § 31 I I 3). Damit sind die Möglichkeiten der Straflosigkeit aber nicht erschöpft. Es gibt Taten, die zwar tatbestandsmäßig-rechtswidrig sind und auch von einem schuldfähigen und mit Unrechtsbewußtsein handelnden Täter begangen

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§ 43 Grundlagen der Entschuldigung tatbestandsmäßig-rechtswidriger H a n d l u n g e n

werden, aber dennoch straffrei bleiben, weil die Rechtsordnung unter bestimmten Voraussetzungen keinen Schuldvorwurf erhebt 1 . Die Umstände, die den Schuldvorwurf entfallen lassen, heißen Entschuldigungsgründe (vgl. unten §§ 44 - 47). 2. Die Möglichkeit der Entschuldigung von tatbestandsmäßig-rechtswidrigen Handlungen beruht darauf, daß Rechtswidrigkeits- und Schuldurteil nach Gegenstand und Maßstab verschieden sind. Bei der Prüfung der Rechtswidrigkeit wird der betätigte Handlungswille auf seine Ubereinstimmung mit der Rechtsordnung untersucht; bei der Prüfung der Schuld wird gefragt, ob die in der Tat hervorgetretene Gesinnung als Ausdruck einer tadelnswerten Einstellung des Täters zum Recht angesehen werden muß. Die Entschuldigungsgründe lassen sich allerdings nicht ausschließlich mit dem Fehlen der Schuld des Täters erklären, sondern haben insofern eine Doppelstellung, als sie auf einer Minderung sowohl des Unrechtsais auch des Schuldgrades der Tat beruhen. Die Situation ist einmal der eines Rechtfertigungsgrundes angenähert, zum anderen ist die Entscheidung des Täters für das tatbestandsmäßig-rechtswidrige Verhalten wegen außergewöhnlicher Umstände kaum zu mißbilligen. Der Gesetzgeber zieht aus dieser doppelten Herabsetzung von Unrecht und Schuld den Schluß, daß die Tat in solchen Fällen nicht mehr strafwürdig ist und deswegen straffrei bleiben muß (vgl. unten § 43 I I I 2 b) 2 . 3. Obwohl die Folge der Straflosigkeit bei Rechtfertigungs- und Entschuldigungsgründen dieselbe ist, hat sie doch jeweils unterschiedliche Bedeutung. Die gerechtfertigte Tat wird von der Rechtsordnung gebilligt 3 , die entschuldigte nur nachgesehen. Bei der ersteren ist deshalb strafbare Teilnahme ausgeschlossen, bei der letzteren dagegen rechtlich möglich. Ob auch der Teilnehmer entschuldigt ist, richtet sich nach den bei ihm persönlich vorliegenden Umständen (§ 29). Weiter ist die Irrtumsregelung für Rechtfertigungs- und Entschuldigungsgründe verschieden (vgl. oben § 41 I I I , IV und unten § 48 II). Endlich ist gegen eine rechtswidrige, aber entschuldigte Handlung Notwehr zulässig, während diese gegen eine gerechtfertigte Tat ausgeschlossen ist. II. Schuldausschluß und Entschuldigung 1. Schuldfähigkeit und Bewußtsein der Rechtswidrigkeit sind schuldbegründende Merkmale. Ist der Täter nicht schuldfähig oder handelt er in unvermeidbarem Verbotsirrtum, so fehlt es von vornherein an der Schuld. Schuldunfähigkeit und unvermeidbarer Verbotsirrtum sind deshalb Schuldausschließungsgründe; in beiden Fällen ist ein tadelnswerter Mangel an Rechtsgesinnung zu verneinen, weil der Täter unfähig war, das Unrecht der Tat einzusehen bzw. sich von dieser Einsicht leiten zu lassen. Weder die Bildung noch die Betätigung des rechtswidrigen Handlungswillens können deshalb Gegenstand eines Schuldvorwurfs sein. 1 Vgl. zu dieser Unterscheidung Eser, Justification and Excuse S. 19ff.; Küper, JuS 1987, 81 ff.; Fincke y Die Entschuldigungsgründe S. 29ff. Zum common law Fletcher , Southern California Law Review 47 (1974) S. 1280ff.; Greenawalt, The Perplexing Borders of Justification and Excuse S. 263 ff. Für Unterscheidung der „defences" in Fälle von „justification" und „excuse"/. C. Smith, Justification and Excuse S. 7ff. 2 Maurach/Zipf y Allg. Teil I § 33 Rdn. 22 ff. nimmt in diesen Fällen einen „Ausschluß der Tatverantwortung" an (vgl. 3. Auflage S. 348), aber dem Anliegen dieser Lehre ist mit der Erkenntnis des Grundes für den Verzicht auf den Schuldvorwurf bereits Genüge getan (vgl. Schänke /Schröder/Lenckner, Vorbem. 109 vor § 32). 3 Nach Günther y Strafrechtswidrigkeit S. 251 ff. gibt es neben den eigentlichen Rechtfertigungsgründen andere Gründe, „die nur das Strafunrecht ausschließen", ohne daß die Handlung von der Rechtsordnung gebilligt würde (vgl. oben § 31 I 2 Fußnote 2).

I I I . D i e Grundgedanken der Entschuldigungsgründe

477

2. Anders ist es dagegen bei den Entschuldigungsgründen4. Sie bewirken zwar eine Herabsetzung des Unrechts- und Schuldgehalts der Tat (vgl. unten § 43 I I I 2 b). Doch ist das Unrecht keineswegs vollständig aufgehoben, sondern durch den werterhaltenden Zweck der Handlung nur verringert. Auch ein voller Schuldausschluß ist zu verneinen, da weder die Schuldfähigkeit des Täters noch seine Verbotskenntnis durch die bei der Tat vorliegende Ausnahmesituation beseitigt werden 5. Die Entschuldigungsgründe sind daher als Unrechts- und Schuldminderungsgründe zu betrachten, denen der Gesetzgeber straft?efreiende Kraft beigelegt hat, weil die Grenze der Strafwürdigkeit nicht erreicht ist. III. Die Grundgedanken der Entschuldigungsgründe 1. Während die Rechtfertigungsgründe nur aus einer Vielzahl von Gesichtspunkten erklärt werden können (vgl. oben § 31 I I 1), wird für die Entschuldigungsgründe meist angenommen, daß sie sich sämtlich auf den Grundgedanken der Unzumutbarkeit normgemäßen Verhaltens zurückführen lassen6. Damit ist zwar nichts Unrichtiges gesagt, aber eine sachliche Begründung nicht gewonnen, denn Zumutbarkeit und Unzumutbarkeit sind nur „regulative Prinzipien", die den Richter anweisen, alle im Einzelfall relevanten Umstände zu berücksichtigen und dann richtig zu entscheiden7. Man braucht sich mit einem inhaltlich so unbestimmten Prinzip indessen nicht zu begnügen, denn die Kriterien der Entschuldigungsgründe sind in den gesetzlich geregelten Fällen keineswegs unbestimmt, und auch für den Fall der übergesetzlichen Pflichtenkollision hat die Lehre konkrete Maßstäbe entwickelt. 2. Das Schrifttum hat sich vielfach bemüht, als gemeinsamen Nenner der Entschuldigungsgründe eine materielle Erklärung der Straflosigkeit aufzufinden. a) Teilweise werden die Entschuldigungsgründe in Parallele zur Schuldunfähigkeit gebracht, weil die Lage des Betroffenen mit der des Schuldunfähigen vergleichbar sei8, doch ist diese psychologische Deutung nicht überzeugend, da sich auch in Ausnahmelagen die meisten Menschen von Rechtsnormen bestimmen lassen und dies im Falle besonderer Pflichtverhältnisse auch ausdrücklich verlangt wird (§ 35 I S. 2). Andere nehmen an, daß in den Fällen der Entschuldigungsgründe das von der Rechtsordnung vorausgesetzte „generelle Können" des Durchschnittsbürgers (als „Sozialperson") zu verneinen sei9. Endlich wird die Straffrei4

Die Unterscheidung entspricht der überw. L.; vgl. Bockelmann/Volk

Eser/Burkhardt,

Kaufmann,

Strafrecht I Nr. 18 A Rdn. 9; LK n

y

Allg. Teil S. 127;

(Hirsch) Vorbem. 194 vor § 32; Armin

Unterlassungsdelikte S. 151 ff.; Schönke/Schröder/Lenckner,

Vorbem. 108 vor

§ 32; SK (Rudolphi) Vorbem. 5, 6 vor § 19; Vogler, G A 1969, 104; Welzel, Lehrbuch S. 179;

Wessels, Allg. Teil Rdn. 432. Ablehnend Roxin, Bockelmann-Festschrift S. 288 f. 5 Anders dazu Goldschmidt, Osterr. Zeitschrift für Straf recht 1913, 162; Baumann/Weber, Allg. Teil S. 447; Blei, Allg. Teil S. 207; Dreh er/Tröndle, Vorbem. 14 vor § 32, die Schuldausschluß annehmen. 6 So Baumann/Weber, Allg. Teil S. 453; Blei, Allg. Teil S. 207; Jakobs, Allg. Teil 17/53; LK n

(Hirsch) Vorbem. 194 vor § 32; Kohlrausch/Lange,

§ 52 Anm. I; Lackner, Vorbem. 30

vor § 32; Welzel, Lehrbuch S. 179. Über die Unzumutbarkeit als allgemeines Prinzip der Begrenzung von Tatbestand, Unrecht und Schuld Fornasari, Ii principio di inesigibilità, 1990. 7 Dazu eingehend Henkel, Mezger-Festschrift S. 267 f.; Schönke/Schröder/Lenckner, Vorbem. 110 vor § 32. Vgl. auch Eb. Schmidt, Mitt IKV Bd. V S.147f., der auf die Notwendigkeit einer Ausfüllung durch materielle Elemente hinweist; ähnlich Oetker, Frank-Festgabe Bd. I S.388 und W. Weber y Juristen-Jahrbuch 3 (1962/63) S. 239. 8

So Frank, Vorbem. I vor § 51 und § 52 Anm. I; Brauneck, GA 1959, 269; Baumann/

Weber, Allg. Teil S. 446; Henkel, Mezger-Festschrift S. 291 f.; LK U (Hirsch) § 35 Rdn. 3; BT-Drucksache V/4095 S.16; RG 66, 397 (398). 9 So Maurach, Schuld und Verantwortung S. 42 f.; Maurach/Zipf, Allg. Teil I § 34 Rdn. 9; Maihof er, Rittler-Festschrift S. 158 ff.

478

§ 43 Grundlagen der Entschuldigung tatbestandsmäßig-rechtswidriger H a n d l u n g e n

heit auf die erhebliche Minderung des Schuldgehalts der Tat gestützt, die den Verzicht auf den Schuldvorwurf rechtfertigt 10. b) Die überwiegende Lehrmeinung bemüht sich, diese verschiedenen Gesichtspunkte, die jeweils nur Teilaspekte des Problems berühren, in einer differenzierten Lösung zusammenfassen. Abgestellt wird dabei auf die Bewertung der Unrechtsund Schuldquantität der Tat 1 1 . Danach haben die Entschuldigungsgründe auf den Grad sowohl des Unrechts als auch der Schuld Einfluß. In allen Fällen wird das personale Handlungsunrecht durch den vom Täter verfolgten berechtigten Zweck (Rettung aus Gefahr, Erfüllung der Gehorsamspflicht) gemindert. Aber auch das Erfolgsunrecht der Tat ist, jedenfalls bei Notstand und Notwehrüberschreitung, um den Wert des Gutes herabgesetzt, das der Täter gerettet oder geschützt hat. Weiter ist bei allen Entschuldigungsgründen auch der Schuldgehalt der Tat geringer, weil sich der Täter in einer außergewöhnlichen Lage befindet, die normgemäße Selbstbestimmung zwar nicht ausschließt, aber doch wesentlich erschwert (Gefahr für Leben, Leib oder Freiheit, Notwehraffekt, Unterordnungsverhältnis). Die Handlung ist deswegen nicht in gleichem Maße Ausdruck einer tadelnswerten Rechtsgesinnung des Täters, wie wenn sie unter gewöhnlichen Umständen stattgefunden hätte. Die Wertung aller dieser zugunsten des Täters sprechenden Umstände führt dazu, daß die Rechtsordnung, obwohl Unrecht und Schuld nur gemindert und nicht ausgeschlossen sind, von der Erhebung des strafrechtlichen Schuldvorwurfs absieht, mag auch ein sittlicher Unwert der Tat gleichwohl zu bejahen sein. Der Nachsicht, die das Straf recht hier übt, liegt also eine Wertung der Tatumstände zugrunde, die weitgehend im Ermessen des Gesetzgebers steht. Dabei spielen auch Erwägungen der generalpräventiven Erforderlichkeit der Strafe eine Rolle. So erklärt es sich, daß der Schuldvorwurf gegenüber Personen, die zum Ertragen der Notstandsgefahr verpflichtet sind (Soldaten, Feuerwehrleute, Polizeibeamte), bestehen bleibt (vgl. unten § 44 IV 2), daß gewisse Fälle des Notwehrexzesses trotz Verwirrung, Furcht oder Schrecken bestraft werden (vgl. unten § 45 I I 4) und daß die Ausführung eines offensichtlich strafrechtswidrigen Befehls nicht entschuldigt wird (vgl. unten § 46 I I 3 b). c) Die funktionale Schuldlehre (vgl. oben § 22 V I 3, 4) versucht dagegen, die Erklärung der Entschuldigungsgründe allein auf den Präventionszweck der Strafe zurückzuführen 12 . Richtig ist, daß der „generalpräventive Aspekt" bei der Frage der Strafwürdigkeit der Tat eine Rolle spielt. Der geminderte Unrechts- und Schuldgehalt der Tat selbst ist jedoch ganz unabhängig von der kriminalpolitischen Frage, ob aus präventiven Gründen die Notwendigkeit des Einschreitens durch Strafe besteht13. Auch ist das präventive Strafbedürfnis ein viel zu ungenaues und 10

So Bockelmann, Untersuchungen S. 84f.; Gallas, Mezger-Festschrift S. 323; Schmid-

häuser, Allg. Teil S. 460, der von einem Wegfall der „Rechtsschuld" spricht. 11 So Eser/Burkhardt, Strafrecht I Nr. 18 A Rdn. 13; LK n (Hirsch) Vorbem. 183 vor § 32; Armin Kaufmann, Normentheorie S. 202 ff.; derselbe, Unterlassungsdelikte S. 156ff.;

Küper, JuS 1971, 477; SK (Rudolphi) Vorbem. 6 vor § 19; Schönke/Schröder/Lenckner,

Vor-

bem. 111 vor § 32; Stratenwerth, Allg. Teil I Rdn. 601; Wessels, Allg. Teil Rdn. 433. Dagegen Schmidhäuser, Allg. Teil S. 461 f. 12 So Jakobs, Allg. Teil 20/4: Entschuldigung nur dann, „wenn der Konflikt als Zufall erledigt oder Dritten zugeschoben werden kann"; Timpe, JuS 1984, 859ff., 862f.; Roxin, Henkel-Festschrift S. 182ff.; derselbe, Bockelmann-Festschrift S. 282f.; derselbe, Allg. Teil I § 22 Rdn. 11 ff.; derselbe, JA 1990, 99ff, 138ff.; Hassemer, Einführung S. 234ff.; Streng, ZStW 92 (1980) S. 656 f. Dagegen zu Recht Bernsmann, „Entschuldigung" S. 215 ff. 13 Ebenso Lackner, Vorbem. 25 vor § 13; Schönke/Schröder/Lenckner, Vorbem. 111 vor § 32; SK (Rudolphi) Vorbem. la vor § 19; Stratenwerth, Schuldprinzip S. 42. Vor dem „generalpräventiven Strafbedürfnis" als Leitstern der Kriminalpolitik warnt auch Schünemann, Die Funktion des Schuldprinzips S. 177.

I I I . D i e Grundgedanken der Entschuldigungsgründe

479

zu sehr von subjektiver Bewertung abhängiges Kriterium, als daß es für die Zurechnung in den Fällen der Entschuldigungsgründe ausschlaggebend sein könnte 1 4 . Endlich müßte das Fehlen des präventiven Strafbedürfnisses als Grund für die Straflosigkeit der Entschuldigungsgründe in der Begründung des Ε 1962 hervorgetreten sein, was jedoch nirgends der Fall ist. Es handelt sich um eine nachträgliche Konstruktion, die für die Erklärung der Entschuldigungsgründe einen einzigen Gesichtspunkt absolut setzt. § 44 Der entschuldigende Notstand Achenbach, Wiederbelebung der allgemeinen Nichtzumutbarkeitsklausel ? JR 1975, 492; Arndt, Anmerkung zu OLG Kiel vom 26.3.1947, SJZ 1947, 330; Bernsmann, Zum Handeln von Hoheitsträgern usw., Festschrift für G. Blau, 1985, S. 23; derselbe, „Entschuldigung" durch Notstand, 1989; Blei, Zumutbarkeit und Vorverhalten beim entschuldigenden Notstand, JA 1975, 307; Bockelmann, Zur Schuldlehre des OGH, ZStW 63 (1951) S. 13; Broglio, Der strafrechtliche Notstand im Lichte der Strafrechtsreform, 1928; Etzel, Notstand und Pflichtenkollision im amerikanischen Strafrecht, 1993; Fornasari, Ii principio di inesigibilità nel diritto penale, 1990; Gimbernat Ordeig, Der Notstand: ein Rechtswidrigkeitsproblem, Festschrift für H. Welzel, 1974, S. 485; Goldschmidt, Der Notstand, ein Schuldproblem, Osterr. Zeitschrift für Strafrecht 1913, 129; Hanack, Zur Problematik der gerechten Bestrafung nationalsozialistischer Gewaltverbrechen, 1967; Hefermehl, Der verursachte entschuldigende Notstand, Diss. Tübingen 1980; Henkel, Der Notstand nach gegenwärtigem und zukünftigem Recht, 1932; derselbe, Zumutbarkeit und Unzumutbarkeit als regulatives Rechtsprinzip, Festschrift für E. Mezger, 1954, S. 249; Hirsch, Anmerkung zu BGH vom 15.5.1979, JR 1980, 115; Hruschka, Rechtfertigung oder Entschuldigung im Defensivnotstand, NJW 1980, 21; derselbe, Rechtfertigungs- und Entschuldigungsgründe usw., G A 1991, 1; Jäger, Verbrechen unter totalitärer Herrschaft, 1967; Jescheck, Deutsche und österreichische Strafrechtsreform, Festschrift für R. Lange, 1976, S. 365; derselbe, Die Schuld im Entwurf eines Strafgesetzbuchs für England und Wales, Festschrift für R. Schmitt, 1992, S. 56; Kelker, Der Nötigungsnotstand, 1993; Koch, Der Einfluß von Zwang und Notstand auf die Verantwortlichkeit des Täters nach französischem Strafrecht, Diss. Freiburg 1968; Krey, Der Fall Lorenz usw., ZRP 1975, 97; Küper, Der entschuldigende Notstand - ein Rechtfertigungsgrund? JZ 1983, 88; derselbe, Notstand I, HRG, Bd. III, 1984, Sp. 1063; derselbe, Darf sich der Staat erpressen lassen? usw., 1986; derselbe, Die dämonische Macht des „Katzenkönigs" usw., JZ 1989, 617; Kuhnt, Pflichten zum Bestehen des strafrechtlichen Notstands (SS 52, 54 StGB), Diss. Freiburg 1966; Lange, Terrorismus kein Notstandsfall? NJW 1978, 784; Marcetus, Der Gedanke der Zumutbarkeit usw., Strafr. Abh. Heft 243, 1928; Maurach, Kritik der Notstandslehre, 1935; Moos, Der Verbrechensbegriff in Osterreich im 18. und 19. Jahrhundert, 1968; Neumann, Zurechnung und „Vorverschulden", 1985; derselbe, Der strafrechtliche Nötigungsnotstand - Rechtfertigungs- oder Entschuldigungsgrund? JA 1988, 329; Nowakowski, Probleme der Strafrechtsdogmatik, JBl 1972, 19; Otto, Pflichtenkollision und Rechtswidrigkeitsurteil, 3. Auflage 1978,; Perron, Rechtfertigung und Entschuldigung im deutschen und spanischen Recht, 1988; Platzgummer, Die „Allgemeinen Bestimmungen" des Strafgesetzentwurfs usw., JBl 1971, 236; Poncela, Livre I. Dispositions générales, in: Nouveau code pénal, 1993, S. 455; Pröchel, Die Fälle des Notstands nach anglo-amerikanischem Straf recht, 1975; Rittler, Der unwiderstehliche Zwang (S 2 g StGB) in der Rechtsprechung des OGH, Festschrift zur Hundertjahrfeier des OGH, 1950, S. 221; Robinson, Criminal Law Defenses, Bd. I, 1984; Roesen, Rechtsfragen der Einsatzgruppen-Prozesse, NJW 1964, 133; Roxin, „Schuld" und „Verantwortlichkeit" als strafrechtliche Systemkategorien, Festschrift für H. Henkel, 1974, S. 171; derselbe, Kriminalpolitik und Strafrechtssystem, 2. Auflage 1973; derselbe, Die notstandsähnliche Lage - ein Strafunrechtsausschließungsgrund? Festschrift für D. Oehler, 1985, S. 181; Scarano, La non esigibilità nel diritto penale, 1948; Schroeder, Notstandslage bei Dauergefahr, JuS 1980, 336; Siegert, Notstand und Putativnotstand, 1931; Timpe, Strafmilderungen des Allgemeinen Teils usw., 1983; derselbe, Grundfälle zum entschuldigenden Notstand usw., JuS 1984, 859; 1985, 35, 117; Vogler, Der Irrtum über Entschuldigungsgründe, G A 1969, 103; Watzka, Die Zumutbarkeit normgemäßen Verhaltens 14

So zu Recht Bernsmann, „Entschuldigung" S. 220 ff.

480

§ 44 D e r entschuldigende N o t s t a n d

im strafrechtlichen Notstand, Diss. Freiburg 1967; v. Weber, Das Notstandsproblem usw., 1925; derselbe, Vom Diebstahl in rechter Hungersnot, MDR 1947, 78; derselbe, Die strafrechtliche Verantwortlichkeit für Handeln auf Befehl, MDR 1948, 34; Weimar, Darf sich der Luftfahrer im Notstand auf § 54 StGB berufen? Zeitschrift für Luftrecht 1956, 107. Vgl. ferner die Schrifttumsangaben vor § 43.

I m entschuldigenden Notstand (§ 35) 1 befindet sich, wer eine Straftat zur eigenen Rettung oder zur Rettung von Angehörigen oder anderen ihm nahestehenden Personen aus einer anders nicht abwendbaren Gefahr begeht. Die Nachsicht der Rechtsordnung gilt also demjenigen, der den Selbstschutz über die strafrechtlich geschützten Interessen Dritter stellt. Anders als der rechtfertigende Notstand (§ 34) ist der in § 35 geregelte Notstand bloßer Entschuldigungsgrund ( B G H 2, 242 [243]) (vgl. über Einheits- und Differenzierungstheorie oben § 33 I l ) 2 . Trotz des Gesetzeswortlauts („handelt ohne Schuld") stellt der Notstand einen Entschuldigungsgrund dar (über den Unterschied zu den Schuldausschließungsgründen vgl. oben § 43 II), der auf der Minderung des Unrechts und der doppelten Herabsetzung des Schuldgehalts der Tat beruht (vgl. oben § 43 I I I 2b) 3 . Satz 2 schränkt die Vorschrift durch eine Zumutbarkeitsklausel ein (BT-Drucksache V/4095 S. 16). Beispiele: Eine Mutter entführt ihr nichteheliches Kind aus der Fürsorgeerziehung (§21 Preuß. Ges. über die Fürsorgeerziehung von 1900), weil es dort trotz ihrer Bemühungen um Abhilfe körperlich zu verkommen droht (RG 41, 214 [216]). Der Bräutigam, der seiner Braut überdrüssig geworden ist, zwingt einen jugendlichen Freund unter Todesdrohung, sie zu erschießen (RG 64, 30 [31]). Ein Zeuge leistet aus Angst vor Gewalttaten politischer Gegner einen Meineid (RG 66, 222 [226]). Die Familienangehörigen töten einen sie ständig schwerstens mißhandelnden Haustyrannen (RG 60, 318; BGH NJW 1966, 1823; NStZ 1984, 21). Bei einem Schiffsuntergang haben sich zwei Schiffbrüchige auf eine Planke gerettet, die nur einen tragen kann; der Stärkere stößt den Schwächeren ins Meer zurück und dieser ertrinkt („Brett des Karneades" nach dem griechischen Philosophen Karneades, 214 - 129 v. Chr., der diesen Fall gebildet hat)4. Über das Verhältnis des § 35 zu §§ 52, 54 a.F. vgl. 3. Auflage S. 388.

1

Zur Geschichte Küper, HRG Bd. I I I Sp. 1064 ff. Eingehende Begründung bei Küper, JZ 1983, 91 ff. gegen Gimbernat Ordeig, WelzelFestschrift S. 492 f., der einen Rechtfertigungsgrund annimmt; ferner Küper, JuS 1987, 82 ff. Dagegen betrachtet Bernsmann, „Entschuldigung" S. 379ff. den Notstand als Strafausschließungsgrund. Im „Spanner-Fall" hat BGH NJW 1979, 2053 entschuldigenden Notstand bejaht, während nach Hirsch, JR 1980, 117 § 34, nach Hruschka, NJW 1980, 22 und Schroeder, JuS 1980, 340 § 228 BGB (analog) anzuwenden gewesen wäre. 2

3

So mit Recht Schönke/Schröder/Lenckner,

§ 35 Rdn. 2; Lackner, § 35 Rdn. 1. Der Hin-

weis von Achenbach, JR 1975, 494 auf den Gesetzestext überschätzt die Bedeutung des Wortlauts für die Dogmatik. Der direkte Rückgriff auf die Strafzwecklehre, den Roxin, Kriminalpolitik S. 33f.; Henkel-Festschrift S. 183; Allg. Teil I § 22 Rdn. 11 f. und JA 1990, 98 vornimmt, vernachlässigt die Begründung für den Wegfall des Strafbedürfnisses, die in nichts anderem als dem stark herabgesetzten Unrechts- und Schuldgehalt der Tat liegt. Gegen Roxin Bernsmann, „Entschuldigung" S. 377 ff. Weitergehend stellt Jakobs, Allg. Teil 20/4 darauf ab, ob „der Täter für die Situation unzuständig ist". Timpe, Strafmilderungen S. 300 sowie JuS 1984, 863 unterscheidet zwischen „alltäglichen" und „zufälligen" Konfliktslagen. Beides wird dem Sinn des § 35 nicht gerecht; vgl. SK (Rudolphi) § 35 Rdn. 3 a. 4 Stratenwerth, Allg. Teil I Rdn. 599 verweist in diesem Zusammenhang auf die große Wirkung Kants, der diesen Fall zwar nicht als entschuldigt (inculpabilis), aber als straflos (impunibilis) angesehen hat. Hruschka, GA 1991, 8 f. deutet das „impunibile" bei Kant als Anerkennung eines Entschuldigungsgrundes.

I. D i e Notstandslage

481

I. Die Notstandslage Die Voraussetzungen des entschuldigenden Notstands sind eng begrenzt und dürfen vom Richter nicht erweitert werden, weil der Gesetzgeber nur unter den im Gesetz festgelegten Bedingungen auf den Schuldvorwurf verzichtet (RG 66, 397 [399]) 5 . 1. Notstandsfähige Rechtsgüter sind nach § 35 - im Unterschied zum rechtfertigenden Notstand (§ 34) - nur Leben, Leib und Freiheit, letztere eingefügt nach dem Vorbild des § 40 I Ε 1962 im Jahre 1975. Diese Beschränkung erklärt sich aus dem Grundgedanken des entschuldigenden Notstands, denn nur wenn es um Gefahren für fundamentale Rechtsgüter geht, läßt sich sagen, daß die normgemäße Selbstbestimmung wesentlich erschwert ist. Der Leibesnotstand umfaßt auch die Gefahr sexuellen Mißbrauchs. Freiheit ist nur die Bewegungsfreiheit i.S. von § 239, nicht die allgemeine Handlungs- und Entscheidungsfreiheit i.S. von § 240 (weitergehend B G H NJW 1979, 2053). Geringfügige Beeinträchtigungen von körperlicher Unversehrtheit und Freiheit begründen keine Entschuldigung, wie schon die Gleichstellung mit dem Leben in § 35 ergibt (RG 29, 77 [78]; 66, 397 [400]; B G H D A R 1981, 226) 6 . Beispiele: Krankheitsgefahr durch drohende Überschwemmung eines Gehöfts kann das Durchstechen eines Damms mit erheblichem Sachschaden an anderer Stelle (§ 313) entschuldigen (RG JW 1933, 700). Dagegen reicht die Drohung mit Schlägen nicht aus, um einen Meineid (§ 154) zu entschuldigen (RG 66, 397). Ein Brennereibesitzer, der bei Gefahr von Plünderungen Branntwein, der an die Monopolverwaltung abzuliefern gewesen wäre, freihändig verkauft, um sich vor finanziellen Verlusten zu schützen, wurde nicht durch Notstand entschuldigt, wohl aber im vorliegenden Falle durch mutmaßliche Einwilligung (vgl. oben § 34 VII lb) gerechtfertigt (RG 60, 117 [120]). Entschuldigt ist die Entfernung vom Unfallort (§ 142), wenn der Täter seine schwer verletzte Ehefrau ins Krankenhaus begleitet, um ihr menschlich beizustehen (OLG Köln VRS 66, 128). 2. Weiter muß eine gegenwärtige, nicht anders abwendbare Gefahr bestehen. Wodurch die Gefahr heraufbeschworen wurde, ist gleichgültig. Es kommen Naturereignisse (RG 72, 246: Gefahr einer Schlagwetterexplosion), gefährliche Zustände von Sachen (RG 59, 69: Gefahr des Einsturzes eines baufälligen Hauses) und Gefahren, die von Menschen ausgehen (RG 66, 222: politischer Terror; B G H NJW 1966, 1823: unmenschliches Verhalten eines Familientyrannen) in Frage. Unter einer gegenwärtigen Gefahr ist ein Zustand zu verstehen, der den Eintritt eines Schadens als sicher oder als höchstwahrscheinlich erscheinen läßt, wenn nicht alsbald Abhilfe geschaffen wird (RG 66, 222 [225]; B G H NJW 1951, 769). Anders als bei § 32 gilt als „gegenwärtig" auch eine Dauergefahr, sofern diese jederzeit akut werden kann 7 . 5

So RG 60, 117 (120); Achenbach, JR 1975, 496; Lackner, § 35 Rdn. 3; LK n (Hirsch)

§ 35 Rdn. 10; Maurach/Zipf

Schönke/Schröder/Lenckner,

Allg. Teil I § 34 Rdn. 13; Roxin, Allg. Teil I § 22 Rdn. 22ff.;

§ 35 Rdn. 4; SK (Rudolphi) § 35 Rdn. 5. Stree, in; Roxin u.a.,

Einführung S. 57 bemängelt, daß für ähnlich gelagerte Fälle (z.B. Gefahr des Verlusts aller Habe durch einen Brand) keine fakultative Strafmilderung vorgesehen ist. Stratenwerth, Allg. Teil I Rdn. 606; Jakobs, Allg. Teil 20/9 und Timpe, JuS 1984, 863 f. wollen in derartigen Fällen § 35 I 1 bzw. § 35 I 2 zw. Halbsatz analog anwenden. Zum gleichen Ergebnis gelangt OLG Hamm, NJW 1976, 721 bei Gefahr schweren wirtschaftlichen Schadens durch Zulassung eines übergesetzlichen Notstands (vgl. unten § 47 I I 2). Vgl. ferner OLG Frankfurt StV 1989, 107. 6 Vgl. Dreher/Tröndle, § 35 Rdn. 4; LK n (Hirsch) § 35 Rdn. 16 (unter dem Gesichtspunkt der Zumutbarkeit); Jakobs, Allg. Teil 20/8; Roxin, Allg. Teil I § 22 Rdn. 25; Schönke/

Schröder/Lenckner, § 35 Rdn. 6; SK (Rudolphi) § 35 Rdn. 8. 7 § 35 Rdn. 14; SK (Rudolphi) § 35 Rdn. 7; Wessels, Vgl. Schönke/Schröder/Lenckner,

Allg. Teil Rdn. 444.

31 Jescheck, 5. A .

§ 44 D e r entschuldigende N o t s t a n d

482

Beispiele: Tötung des jähzornigen, trunksüchtigen Vaters im Schlaf, um Mutter und Schwester gegen weitere wüste Ausschreitungen zu schützen (RG 60, 318 [321]; BGH NJW 1966, 1823; einschränkend aber OGH 1, 369 [370]); Meineid aus Furcht vor der Rache politischer Gegner (RG 66, 98 [100]); Meineid aus Anest vor der Todesdrohung des durch die Aussage Belasteten (BGH 5, 371 [373]); Nötigung der Ehefrau durch Drohung mit Schlägen und Hinauswerfen aus dem Haus zum Geschlechtsverkehr mit dem minderjährigen Sohn (BGH GA 1967, 113); Tötung eines Menschen durch einen Jugendlichen, der durch Todesdrohung zu der Tat gezwungen wird (RG 64, 30); Verängstigung einer Familie durch wiederholtes nächtliches Eindringen eines Unbekannten ins Schlafzimmer der Eheleute (BGH NJW 1979, 2053). Die Gefahr darf ferner nicht anders abwendbar sein (RG 59, 69 [71]; B G H NJW 1966, 1823 [1824 f.]); Die Notstandstat stellt sich damit dar als das letzte zumutbare (BGH GA 1961, 113) und zugleich wirksame Mittel, das dem Bedrohten zur Verfügung steht. Gibt es rechtmäßige Mittel der Abwehr, so haben diese Vorrang (BayObLG G A 1973, 208 [209]: Beschwerde statt Fahnenflucht). Auch eine in geringerem Maße rechtswidrige Handlung ist vorzuziehen (RG 66, 222 [227]: unzulässige Aussageverweigerung statt Meineid). Der Bedrohte muß dabei gegebenenfalls auch eigene Rechtseinbußen hinnehmen (RG 66, 222 [227]; B G H L M § 52 StGB Nr. 8: Ordnungsgeld und Ordnungshaft nach § 70 StPO; RG 66, 397: Schläge und wirtschaftliche Nachteile) 8 . Die Benutzung des milderen, möglicherweise mit Nachteilen für ihn selbst verbundenen Mittels ist dem Bedrohten um so mehr zuzumuten, je schwerer der Notstandseingriff wiegt 9 . Den Notstandstäter trifft bei diesen Abwägungen eine Prüfungspflicht, an die je nach der Schwere der Straftat und der Nähe der Gefahr verschieden hohe Anforderungen gestellt werden (BGH NStZ 1992, 487; BayObLG G A 1973, 208). Wer nicht sorgfältig prüft und deswegen die Notstandsvoraussetzungen zu Unrecht annimmt, muß sich seinen Irrtum zum Vorwurf machen lassen (vgl. unten § 44 V 1 b). Beispiele: Wer vom sowjetischen Geheimdienst zu Spitzeldiensten gezwungen wird, muß versuchen, einen Weg zu finden, um die Verschleppung unschuldiger Opfer zu verhindern (BGH NJW 1952, 111 [113]). Wer, besonders bei schweren Verbrechen, gar keine Überlegungen anstellt, wie die Straftat zu vermeiden wäre, kann sich nicht auf Notstand berufen (BGH 18, 311). 3. Die Notstandstat ist nicht nur dann entschuldigt, wenn die Gefahr dem Täter selbst droht, sondern auch, wenn ein Angehöriger oder eine andere ihm nahestehende Person betroffen ist (§ 35 I 1). Der Gesetzgeber begründet dies durch die Erwägung, daß der Täter die Notstandsgefahr einer ihm durch Familienbande oder enge persönliche Beziehungen verbundenen Person wie eine ihm selbst drohende Gefahr empfinden wird (E 1962 Begründung S. 161). Der Begriff des Angehörigen, der in § 11 I Nr. 1 für das gesamte StGB abschließend geregelt ist, umfaßt Verwandte und Verschwägerte auf- und absteigender Linie (also z.B. Schwiegermutter und -söhn, aber nicht Onkel und Neffen) (§§ 1589 S. 1, 1590 I BGB), Ehegatten und deren Geschwister, Geschwister und deren Ehegatten, ferner Verlobte. Zu den Angehörigen zählen ferner Personen, die miteinander durch Annahme als Kind (§ 1754 BGB) verbunden sind, endlich Pflegeeltern und Pflegekinder. Maßgebend für Verwandtschaft und Schwägerschaft ist die blutmäßige Abstammung (BGH 7, 245 [246]), wie jetzt in §11 I Nr. la ausdrücklich anerkannt ist. Entgegen der früheren Rechtsprechung (vgl. 2. Auflage S. 364) bestimmt das seit der Reform von 1975 geltende Recht, daß die Auflösung 8

Vgl. dazu LK U

(Hirsch) § 35 Rdn. 45; Schönke/Schröder/Lenckner,

§ 35 Rdn. 13; SK

(Rudolphi) § 35 Rdn. 10; Wessels, Allg. Teil Rdn. 439. 9 Mit Recht betont Schönke/Schröder/Lenckner, § 35 Rdn. 13, daß die Zumutbarkeitsprüfung hier schon im Rahmen der Würdigung der Notstandshandlung nach § 35 I 1 vorzunehmen ist, so daß Satz 2 insoweit gegenstandslos ist, wiewohl die Strafmilderungsmöglichkeit durch analoge Anwendung des 2. Halbsatzes auch in diesem Falle bestehen bleibt.

II. Die Notstandshandlung

483

einer Ehe (Tod, Scheidung, Nichtigerklärung, Aufhebung) die durch die Ehe begründete Angehörigenbeziehung unberührt läßt. Beim Verlöbnis kommt es auf die bürgerlichrechtliche Wirksamkeit nicht an, so daß auch ein beschränkt Geschäftsfähiger ohne Einwilligung des gesetzlichen Vertreters verlobt sein kann (RG 38, 242 [243]), doch ist ein Verlöbnis nur bei ernstlichem Eheversprechen gültig (BGH 29, 54 [57]; BGH JZ 1989, 256) und bei bestehender Ehe oder anderweitiger Verlobung nichtig (RG 61, 270; 71, 152 [154]; BayObLG NJW 1983, 831). Durch die Einbeziehung von dem Täter nahestehenden Personen sollen persönliche Verhältnisse berücksichtigt werden, die an Intensität des Zusammengehörigkeitsgefühls der Beziehung zwischen Angehörigen vergleichbar sind (z.B. Verwandte, die nicht Angehörige sind, eheähnliche Gemeinschaften, Liebesverhältnisse, enge Freundschaften, langjährige Hausgemeinschaften)10. II. Die Notstandshandlung 1. Als Notstandshandlung kommt an sich jeder Eingriff in fremde Rechtsgüter in Betracht, sogar die Tötung eines Menschen. Doch ist beim Notstand, da es hier nicht wie bei der Notwehr um die Verteidigung des Rechts gegen das Unrecht geht (vgl. oben § 32 I I 2 b), der Proportionalitätsgrundsatz zu beachten. Eine Rettungshandlung bei Leibesgefahr wird deshalb nur dann entschuldigt, wenn das Erfolgsunrecht der Tat durch die Abwendung des drohenden Körperschadens wesentlich herabgesetzt wird (vgl. oben § 44 I 1). Doch soll auch bei Massentötungen § 35 nicht schlechthin ausgeschlossen sein (BGH NJW 1964, 730). Ebenso wie bei der Notwehr muß der Betroffene ferner den schonendsten Weg der Rettung wählen (BGH 2, 242 [245]), er darf sich z.B. bei Bedrohung durch Zuschauer nach einem Verkehrsunfall nur so weit vom Unfallort entfernen, wie es notwendig ist, um aus dem Bereich der unmittelbaren Gefahr zu entkommen (BayObLG D A R 1956, 15 [16]). 2. Die Notstandshandlung muß weiter vorgenommen werden, um die Gefahr abzuwenden. Darin liegt das für die Minderung des Handlungsunrechts wie auch des Schuldgehalts der Tat ausschlaggebende Moment: der Täter handelt mit Rettungswillen und unter dem Druck einer außergewöhnlichen Motivationslage. Er muß die Notstandssituation also nicht nur gekannt haben, sondern das Motiv der Rettung aus Lebens- oder Leibesgefahr muß für ihn auch wirksam gewesen sein, wenn auch möglicherweise neben anderen Motiven 11 . Insofern sind die subjektiven Voraussetzungen des entschuldigenden Notstands anders als bei den objektiv gefaßten Schuldmerkmalen, wo lediglich die Kenntnis von der Ausnahmesituation, nicht jedoch ihr tatsächlicher Einfluß auf die Willensbildung festgestellt werden muß (vgl. oben § 42 I I I 1 a). Auch der Befehlsnotstand, d. h. die Gefahr, bei Befehlsverweigerung erschossen zu werden, setzt voraus, daß der Untergebene den als rechtswidrig erkannten Befehl ausgeführt hat, um sich selbst oder Angehörige bzw. andere nahestehende Personen aus drohender Lebensgefahr zu retten . 10 Vgl. dazu Dreher/Tröndle, § 35 Rdn. 7; LK n (Hirsch) § 35 Rdn. 33 ff.; Schönke/Schröder/ Lenckner, § 35 Rdn. 15; SK (Rudolphi) § 35 Rdn. 9; Stree, in: Roxin u.a., Einführung

S. 57. Roxin, Allg. Teil I § 22 Rdn. 30 führt auch die Einbeziehung nahestehender Personen auf die Strafzwecklehre zurück. 11 Vgl. Baumann/Weher, Allg. Teil S. 448 f.; Blei, Allg. Teil S. 209; Bockelmann/Volk, A l k . Teil S. 129; Dreh er/Tröndle,

§ 35 Rdn. 8; Lackner, § 35 Rdn. 5; Küper, JZ 1989, 625;

LJÖ X (Hirsch) § 35 Rdn. 38ff.; Maurach/Zipf Allg. Teil I § 34 Rdn. 15; Stratenwerth, Allg. Teil I Rdn. 614; v. Weher, MDR 1948, 40. Dagegen will Jakobs, Allg. Teil 20/11 bloße Kenntnis der Notstandslage ausreichen lassen. Vgl. auch Timpe, JuS 1984, 860. 12 Vgl. dazu Jäger, Verbrechen unter totalitärer Herrschaft S. 89 ff. Freilich muß auch hier der Grundsatz „in dubio pro reo" beachtet werden; vgl. Roesen, NJW 1964, 136. Vgl. ferner die umfassende Darstellung der Rechtsprechung zu dieser Frage bei Hanack, Bestrafung nationalsozialistischer Gewaltverbrechen S. 45 ff. ·-

484

§ 44 D e r entschuldigende N o t s t a n d

Beispiele: Wer mit Eifer und Bereitwilligkeit an Judenverfolgungen mitgewirkt hat, kann sich nicht auf Notstand berufen, selbst wenn Leib oder Leben im Falle der Befehlsverweigerung gefährdet gewesen wären und er dies gewußt hat (OGH 1, 310 [313]; vgl. auch BGH 3, 271 [275]; 18, 311). 3. Die Fälle des „Nötigungsnotstands", d.h. der Begehung einer Straftat unter der Drohung, bei Verweigerung der Tat von einem Dritten körperlich geschädigt oder seiner Freiheit beraubt zu werden, fallen durchweg unter § 35. Selbst wenn der Bedrohte nur eine im Verhältnis zum befürchteten Eigenschaden geringfügige Straftat begeht (ein Jugendlicher wird z.B. durch die Drohung, er werde sonst von den Mitgliedern einer Jugendbande verprügelt, zur „Mutprobe" eines Ladendiebstahls gezwungen), kommt Rechtfertigung nach § 34 nicht in Betracht, da dem angegriffenen Dritten nicht die Möglichkeit der Notwehr genommen werden darf; die Begehung einer Straftat ist daher niemals als „angemessenes Mittel" zur Abwendung der Gefahr i.S. von § 34 Satz 2 anzusehen13. III. Die Einschränkung des Notstands durch die Zumutbarkeitsklausel 1. Die Entschuldigung durch Notstand tritt nicht ein, wenn es dem Täter nach den Umständen zugemutet werden konnte, die Gefahr hinzunehmen (§ 35 I 2). Die Zumutbarkeitsklausel knüpft an die Erwägung des wesentlich verringerten Unrechts- und Schuldgehalts der Tat an, die der Entschuldigung durch Notstand zugrunde liegt (vgl. oben § 44 vor I ) 1 4 . Ist der Wert des bedrohten Rechtsguts wesentlich geringer als der Wert des Rechtsguts, in das durch die Notstandstat eingegriffen wird, so ist auch die Unrechtsminderung geringer. Sie kann bei starker Disproportionalität der beteiligten Güter bis auf den Nullpunkt herabsinken. Zugleich sinkt auch die der Unrechtsminderung entsprechende Minderung des Schuldgehalts der Tat. Auch der auf dem Täter lastende Motivationsdruck und damit der mit diesem Gesichtspunkt verbundene zweite Schuldminderungsgrund kann nach den Umständen (z.B. geringer Grad der Gefahr, Bestehen einer Garantenstellung gegenüber dem Opfer der Notstandstat) so stark absinken oder so weitgehend kompensiert werden, daß das Bestehen der Notstandssituation für den Täter als zumutbar erscheint. 2. Zwei Beispielsfälle für die Zumutbarkeit des Bestehens der Notstandslage mit Rücksicht auf besondere Gefahrtragungspflichten nennt das Gesetz, die aber weder zwingend noch abschließend zu verstehen sind, sondern als Richtlinie für die Auslegung der Zumutbarkeitsklausel dienen sollen 15 . 13

So zu Recht Baumann/Weber, Allg. Teil S. 343; Blei, Allg. Teil S. 170; LK n (Spendet) § 32 Rdn. 212; Schönke/Schröder/Lenckner, § 34 Rdn. 41b; Wessels, Allg. Teil Rdn. 443; Kelker, Der Nötigungsnotstand S. 175. Anders aber Jakobs, Allg. Teil 13/14; LK n (Hirsch) § 34 Rdn. 69a; Roxin, Oehler-Festschrift S. 188; derselbe, Allg. Teil I § 16 Rdn. 58; Schmidhäuser, Allg. Teil S. 331; SK (Samson) § 34 Rdn. 8. Eine Ausnahme ist dann anzunehmen, wenn die höchste politische Instanz zur Rettung von Geiseln Gefangene freigibt (Fall Lorenz); dazu Schönke/Schröder/Lenckner, § 34 Rdn. 41b; Krey, ZRP 1975, 97ff.; Küper, Darf sich der Staat erpressen lassen? S. 14ff., 77ff.; Lange, NJW 1978, 786. Dazu BVerfGE 46, 214. Weitergehend Neumann, JA 1988, 329, der schon bei Gefährdung höchstpersönlicher Rechtsgüter des Genötigten § 34 eingreifen lassen will. 14

Vgl. Schönke/Schröder/Lenckner,

§ 35 Rdn. 18; LK n

(Hirsch) § 35 Rdn. 47ff.; Lack-

ner, § 35 Rdn. 6; SK (Rudolphi) § 35 Rdn. 11; BT-Drucksache V/4095 S. 16. 15 So auch Blei, Allg. Teil S. 210; derselbe, JA 1975, 307ff.; Dreh er/Tröndle,

Lackner, § 35 Rdn. 11; Maurach/Zipf,

§ 35 Rdn. 10;

Allg. Teil I § 34 Rdn. 3; Schönke/Schröder/Lenckner,

§ 35 Rdn. 18. Zur Begründung der beiden Ausnahmen eingehend Neumann, Zurechnung S. 207ff., mit eigener Lösung S. 231 ff. Roxin, Allg. Teil I § 22 Rdn. 38 sieht den Grund für die Einschränkung des Notstands bei besonderen Gefahrtragungspflichten in „generalpräventiven Rücksichten".

I I I . D i e Einschränkung des Notstands d u r c h die Zumutbarkeitsklausel

485

a) Die Zumutbarkeit kann einmal deswegen zu bejahen sein, weil der Täter die Notstandsgefahr verursacht hat. Nach früherem Recht durfte der Täter die Kollisionslage, d. h. die Notwendigkeit, sich aus der Notstandssituation nur durch Verletzung eines anderen befreien zu können, nicht schuldhaft herbeigeführt haben. Die Rechtsprechung verstand dabei unter „Schuld" subjektive Pflichtwidrigkeit des Notstandstäters (RG 36, 334 [341]). Das jetzige Recht scheint die Zumutbarkeit schon dann bejahen zu wollen, wenn der Täter die Gefahr nur verursacht hat. Darin liegt jedoch nur dem Wortlaut nach eine Verschärfung gegenüber dem bisherigen Recht, denn es muß stets auf die Zumutbarkeit des Bestehens der Notlage abgestellt werden, und der Schuldgehalt der Tat wird durch den schuldindifferenten Vorgang der bloßen Verursachung der Kollisionslage (der von dem Angeklagten für den Fall wahrheitsgemäßer Aussage mit Tötung bedrohte Zeuge hat z.B. seine Zwangslage dadurch „verursacht", daß er die Straftat beobachtet hat) nicht berührt. Man wird daher den Leitgedanken dieser ersten Einschränkung der Notstandsentschuldigung darin sehen können, daß die Entschuldigung dann entfällt, wenn der Täter die Kollisionslage objektiv und subjektiv pflichtwidrig herbeigeführt hat 1 6 . Die Verminderung von Handlungsunrecht und Schuld ist dann nicht mehr so erheblich, daß auf Bestrafung generell verzichtet werden könnte. Beispiele: Wer leichtsinnigerweise ohne warme Kleidung eine Hochgebirgstour unternimmt, kann sich nicht auf § 35 berufen, wenn er bei einem Wettersturz einem anderen Bergsteiger dessen gefütterten Anorak gewaltsam wegnimmt, um sich selbst vor Erfrierungen zu schützen. Der Wettermann, der eine gefährliche Schlagwetterbildung im Bergwerk pflichtwidrig nicht gemeldet hat, ist nicht nach § 35 entschuldigt, wenn er es später aus Furcht für sein eigenes Leben unterläßt, die Belegschaft eines bedrohten Stollens zu warnen, nachdem er die akute Gefahr einer Explosion erkannt hat (RG 72, 246 [249]). Wer in die DDR zurückkehrte, obwohl er wußte, daß er dort wegen eines Wirtschaftsdelikts gesucht wurde, kann nicht entschuldigenden Notstand geltend machen, wenn er bei einem gewaltsamen Ausbruch aus der Strafanstalt einen Aufsichtsbeamten tötet (BGH ROW 1958, 33 [34]). Wer durch freiwillige Tätigkeit als Informant des Verfassungsschutzes bei der Terrorismusbekämpfung sein Leben gefährdet, kann sich möglicherweise nicht auf Notstand berufen, wenn er unerlaubt eine Waffe führt (OLG Oldenburg NJW 1988, 3217). Die frühere Streitfrage, auf wen beim Angehörigennotstand das Erfordernis der Unverschuldetheit der Kollisionslage zu beziehen ist (vgl. 2. Auflage S. 363 Fußnote 6), wurde in § 35 I 2 dahin klargestellt, daß die Entschuldigung nur dann ausgeschlossen ist, wenn der Täter selbst die Notstandssituation verursacht hat. Das kann jedoch nur in dem Sinne gelten, daß er die pflichtwidrig herbeigeführte Gefahr hinzunehmen hat, wenn sie ihm selbst droht. Droht die Gefahr dem an der Kollisionslage schuldlosen Angehörigen (z. B. dem Sohn, den der Vater in leichtsinniger Weise auf eine gefährliche Segelpartie mitgenommen hat), so wird die Entschuldigung der Notstands tat trotz eigenen Verschuldens zu bejahen sein, denn nichts liegt näher, als dem Angehörigen zu helfen, den man selbst pflichtwidrig in Lebensgefahr gebracht hat 1 7 . Hat der Angehörige die Gefahr verschuldet, muß 16 So OLG Hamm JZ 1976, 610 (612); Blei, Allg. Teil S. 209; Lackner, § 35 Rdn. 8; Roxin, Allg. Teil I § 22 Rdn. 45 ff.; Preisendanz, § 35 Anm. 4a; Schönke/Schröder/Lenckner, § 35 Rdn. 20. Anders BT-Drucksache V/4095 S. 17. Bloße objektive Pflichtwidrigkeit wollen Wessels> Allg. Teil Rdn. 441; Maurach/Zipf, Allg. Teil I § 34 Rdn. 5; LK U (Hirsch) § 35 Rdn. 49; SK (Rudolphi) § 35 Rdn. 15 ausreichen lassen. Auf die „Begründung der Zuständigkeit durch ein Vorverhalten" stellen ab Jakobs, Allg. Teil 20/16; Timpe, JuS 1985, 36 f. 17

So Dreher/Tröndle,

§ 35 Rdn. 11; SK (Rudolphi) § 35 Rdn. 17; Stree, in: Roxin u.a.,

Einführung S. 58 f.; Schmidhäuser, Allg. Teil S. 468; Lackner, § 35 Rdn. 10; Roxin, Allg.

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§ 44 D e r entschuldigende N o t s t a n d

grundsätzlich dasselbe gelten, denn der Motivationsdruck ist der gleiche, auch wenn der Bedrohte sich die ihn treffende Notlage selbst zuzuschreiben hat (der Sohn hat sich selbst in leichtsinniger Weise durch eine Segelpartie in Lebensgefahr gebracht) 18 . Maßgebend ist mit anderen Worten die Zumutbarkeitsklausel, ohne daß ein Umkehrschluß aus dem Beispielsfall gezogen werden dürfte. b) Zweitens ist die Hinnahme der Gefahr regelmäßig dann zuzumuten, wenn der Täter „in einem besonderen Rechtsverhältnis" steht. Gemeint sind damit die Rechtspflichten zum Bestehen des Notstands 19 . Die erhöhte Gefahrtragungspflicht gilt z.B. für Soldaten (§ 6 WStG), Zivildienstleistende ($ 27 III ZDG), Seeleute (§§ 29 I I - IV, 106, 109 SeemannsG), Luftfahrer 20, Polizeivollzugsbeamte21, Feuerwehrleute, Wettermänner im Bergwerk (RG 72, 246 [249 f.]), Mitglieder privater Schutzorganisationen wie Rotes Kreuz, Bergwacht oder Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger, Ärzte und Krankenpfleger (BGH NJW 1964, 730), Richter, Staatsanwälte, Diplomaten, Bademeister, Bergführer 22 (BT-Drucksache V/4095 S. 16 sowie Ε 1962 Begründung S. 161). Die Rechtsprechung hat eine erhöhte Gefahrtragungspflicht ferner auch bei illegaler politischer Tätigkeit in einem totalitären Staat bejaht (OLG Freiburg HESt 2, 200 [202]; OGH 3, 121 [130])23. Rechtspflichten, den Notstand zu bestehen, können sich auch aus freiwillig eingegangener Gefahrengemeinschaft ergeben (Bergtour, Segelfahrt, Expedition) 24 . Maßgebend für den Ausschluß der entschuldigenden Wirkung des Notstands sind in den Fällen der Pflicht zum Bestehen des Notstands das erhöhte Unrecht der Tat und die gesteigerte Schuld des Täters. Die Beherrschung des Selbsterhaltungstriebs wird von Personen, denen Notstandspflichten kraft ihres Berufs auferlegt sind, auch unter dem Druck einer Lebensgefahr verlangt, weil die GemeinTeil I § 22 Rdn. 50; derselbe, JA 1990, 140; Wessels., Allg. Teil Rdn. 441. Anders Baumann/ Weber, Allg. Teil S. 450; Maurach/Zipf Allg. Teil I § 34 Rdn. 6; Schönke/Schröder/Lenckner, § 35 Rdn. 20a; LK U 18

(Hirsch) § 35 Rdn. 65; Hefermehl,

Notstand S. 134.

Ebenso Schmidhäuser, Allg. Teil S. 468; Roxin, Allg. Teil I § 22 Rdn. 51; Wessels, Allg. Teil Rdn. 441. Anders Blei, Allg. Teil S. 210; Dreher/Tröndle, § 35 Rdn. 11; Schönke/Schröder/ Lenckner, § 35 Rdn. 24; SK (Rudolphi) § 35 Rdn. 17; Preisendanz,

§ 35 Anm. 4c cc;

zum früheren Recht OLG Köln NJW 1953, 116. 19 Vgl. zu den einzelnen Gruppen eingehend Otto, Pflichtenkollision S. 89 ff. und Kuhnt, Pflichten zum Bestehen des strafrechtlichen Notstands S. 85 ff.; zu den anzulegenden Wertmaßstäben vgl. Watzka, Die Zumutbarkeit normgemäßen Verhaltens S. 80 ff. Vgl. zur Bemessung der Pflichten eingehend LK U (Hirsch) § 35 Rdn. 55 f.; SK (Rudolphi) § 35 Rdn. 12. Zu den Pflichten des Seemanns vgl. auch den amerikanischen Fall US v. Holmes (1842) bei Honig, Das amerikanische Strafrecht S. 162 f. Uber den Mangel ausdrücklicher Regelungen im Soldaten- und Beamtenrecht Bernsmann, Blau-Festschrift S. 43 ff. 20 Weimar, Zeitschrift für Luftrecht 1956, 110 ff. 21 Vgl. Bernsmann, Blau-Festschrift S. 44ff. Das gleiche wird jedoch nicht generell für Beamte schlechthin angenommen, vgl. OLG Tübingen NJW 1947/48, 700 (701). 22 BGH NJW 1964, 730 (731) beschränkt die Pflicht zum Bestehen des Notstands zu Recht auf die „mit der jeweiligen Berufstätigkeit in notwendiger Weise verbundenen typischen Gefahren", so daß der Polizeibeamte, der von seinem Vorgesetzten unter Todesdrohung zur Mitwirkung bei einem Verbrechen gezwungen wird, selbstverständlich nach § 35 entschuldigt wäre. Das gleiche wird für den Soldaten gelten müssen, so daß § 6 WStG in einem solchen Falle nicht eingreift. Vgl. auch Bockelmann, ZStW 63 (1951) S. 43 Fußnote 52. 23 Zur Gefahrtragungspflicht bei einer die Gesamtbevölkerung treffenden Notlage v. Weber, MDR 1947, 80. 24 Vgl. zur Gefahrengemeinschaft LK U (Hirsch) § 35 Rdn. 53; Stratenwerth, Allg. Teil I Rdn. 613. Weitergehend Bernsmann, Blau-Festschrift S. 40f. Für Beschränkung des besonderen Rechtsverhältnisses auf Pflichten gegenüber der Allgemeinheit Roxin, Allg. Teil I § 22 Rdn. 39; Schönke/Schröder/Lenckner,

§ 35 Rdn. 22.

I V . Strafmilderung bei Z u m u t b a r k e i t der Notstandslage

487

schaft sich gerade unter diesen Umständen auf sie verlassen können muß. Das Handlungsunrecht der Tat ist deshalb gegenüber gewöhnlichen Notstandsfällen erhöht, weil der Täter gleichzeitig die übernommene Rechtspflicht zum Bestehen des Notstands verletzt. Auch die Schuld dessen, der in dieser Lage versagt, wiegt schwerer, da im Hinblick auf die Rechtspflicht zum Einsatz der eigenen Person das Motiv der Selbstrettung weniger Nachsicht verdient 25 . Die Zumutbarkeit des Bestehens der Notstandslage findet ihre Grenze in Fällen, in denen die Pflichterfüllung den unmittelbar vor Augen stehenden sicheren Tod bedeuten würde 26 . 3. Abgesehen von den Beispielsfällen ergibt sich eine Pflicht zum Bestehen des Notstands vor allem dann, wenn rechtmäßige behördliche Eingriffe im öffentlichen Interesse hingenommen werden müssen27. Zu nennen sind körperliche Eingriffe nach § 81a StPO, § 17 I I GeschlKrG oder nach dem Impfgesetz sowie Eingriffe in die Freiheit durch rechtmäßige Verhaftung oder vorläufige Festnahme und insbesondere auch durch Vollstreckung einer Freiheitsstrafe. Auch die zu Unrecht verhängte, aber rechtskräftige Freiheitsstrafe muß hingenommen werden, ohne daß sich der Gefangene, der beim Ausbruch etwa einen Aufsichtsbeamten tötet, auf § 35 berufen könnte (RG Recht 1915, 1222; RG 54, 338 [341]; O L G Kiel SJZ 1947, 323 [330]), sofern das Verfahren als solches rechtsstaatlichen Grundsätzen genügte (BGH L M § 52 Nr. 8; B G H ROW 195 8, 33) 28 . Auch Angehörige müssen den Vollzug einer in rechtsstaatlichem Verfahren angeordneten Freiheitsstrafe an einem Familienmitglied hinnehmen 29 . 4. Endlich kann sich aus dem Bestehen einer Garantenpflicht zugunsten des Opfers der Notstandstat ergeben, daß der Notstandstäter die Gefahr hinzunehmen hat. So darf sich der Vater bei einer Schiffskatastrophe nicht dadurch retten, daß er sein Kind dem Tode preisgibt 30 . Auch die aus einer rechtmäßigen Verteidigung in Notwehr resultierende Gefahr für den Angreifer muß hingenommen werden, so daß der Angehörige nicht entschuldigt ist, der etwa den Verteidiger tötet, um den Angreifer zu retten 31 . IV. Strafmilderung bei Zumutbarkeit der Notstandslage 1. Ist das Bestehen der Notstandsgefahr für den Täter zumutbar, handelt er jedoch dieser Pflicht zuwider, so ist er zwar nicht entschuldigt, der Unrechts- und Schuldgehalt der Tat ist aber gegenüber der Normalsituation einer gleichschweren Straftat in der Regel noch immer erheblich herabgesetzt. Deshalb enthält § 35 I 2 25 Eine psychologische Begründung (gesteigerte Zumutbarkeit) findet sich meist in der älteren Literatur; vgl. Broglio, Notstand S. 49; Henkel, Mezger-Festschrift S. 293 f.; Marcetus, Zumutbarkeit S. 63 ff.; Maurach, Kritik der Notstandslehre S. 117 Fußnote 505; Siegert, Notstand S. 55. 26

§ 35 Rdn. 12; Maurach/Zipf, Allg. Teil I § 34 Rdn. 10; Scholz/ Vgl. Dreher/Tröndle, Lingens, § 6 WStG Rdn. 7; Schönke/Schröder/Lenckner, § 35 Rdn. 25. 27 Vgl. Dreher/Tröndle, § 35 Rdn. 13; Schönke/Schröder/Lenckner, § 35 Rdn. 24; Timpe,

JuS 1985, 36. 28 Allg. Teil I § 34 Rdn. 10; Schönke/Schröder/Lenckner, § 35 Vgl. Maurach/Zipf, Rdn. 25; Arndt, SJZ 1947, 330 ff. Anders für den Fall einer in einem zwar rechtsstaatlichen Verfahren angeordneten, materiell aber ungerechtfertigten lebenslangen Freiheitsstrafe Schönke/Schröder/Lenckner, § 35 Rdn. 26, sogar zugunsten von Angehörigen. Dagegen zu Recht Timpe, JuS 1985, 36. 29 Vgl. SK (Rudolphi) % 35 Rdn. 12. 30 Vgl. SK (Rudolphi) § 35 Rdn. 18; Schönke/Schröder/Lenckner, 31

Anders Stree, in: Roxin u.a., Einführung S. 60.

§ 35 Rdn. 31.

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§ 44 D e r entschuldigende N o t s t a n d

zw. Halbsatz eine fakultative Strafmilderungsvorschrift, die auf den allgemeinen Milderungsschlüssel des § 49 I verweist. 2. Ausgenommen von der Strafmilderungsmöglichkeit hat der Gesetzgeber aber aus Gründen der Generalprävention (vgl. BT-Drucksache V/4095 S. 16) die Fälle, in denen der Täter in einem besonderen Rechtsverhältnis steht. Obwohl hier der Unrechts- und Schuldgehalt der Tat wegen der Verletzung einer im Interesse der Allgemeinheit zu erfüllenden Berufspflicht in der Regel schwerer wiegt als in sonstigen Fällen zumutbarer Notstandsgefahr, erscheint der vollständige Ausschluß des § 49 I doch zu streng, da die Lage für den Pflichtigen einen so übermächtigen Motivationsdruck enthalten kann, daß die Pflichtverletzung eine wesentlich mildere Beurteilung verdient als die gewöhnliche Straftat 32 . Strafmilderung innerhalb des Regelstrafrahmens ist jedoch auch in diesen Fällen zulässig und wird meist angebracht sein 33 . 3. Wenn die Notstandstat nur deswegen nicht entschuldigt ist, weil der Täter nicht das zumutbare mildeste Mittel gewählt hat (vgl. oben § 44 II 1), muß die Strafmilderungsvorschrift des § 35 I 2 zw. Halbsatz entsprechende Anwendung finden, da es keinen Unterschied machen kann, aus welchen Gründen der Täter in der Notstandssituation versagt hat34. V. Der Irrtum über den Notstand 1. Im Putativnotstand handelt der Täter, wenn er irrig Umstände annimmt, die, wenn sie vorlägen, die Tat entschuldigen würden. Er ist in § 35 I I geregelt (vgl. unten § 48). Es handelt sich dabei weder um einen Tatbestands- noch um einen Erlaubnis- oder Erlaubnistatbestandsirrtum, sondern um einen Irrtum eigener Art, der weder den Vorsatz noch das Unrechtsbewußtsein berührt 35 . Die Behandlung des Putativnotstands folgt aber im wesentlichen der Regelung des Verbotsirrtums (S 17) 36 . a) Irrt der Täter über die tatsächlichen Voraussetzungen des Notstands (z.B. über Art und Stärke der Gefahr, Vorhandensein eines milderen Mittels, Identität des Bedrohten als Angehörigen), so ist er entschuldigt, wenn der Irrtum für ihn unvermeidbar war. b) War der Irrtum dagegen vermeidbar, so muß (darin liegt der Unterschied zu §17 S. 2) die Strafe nach § 49 I gemildert werden (§ 35 I I 2). Anwendbar ist dabei der Strafrahmen des Vorsatztatbestandes (anders § 10 I I 2 österr. StGB, der nur Fahrlässigkeitsstrafe vorsieht). Bei der Frage der Vermeidbarkeit kommt es darauf an, ob der Täter das Vorliegen der Notstandsvoraussetzungen gewissenhaft geprüft hat (BGH 18, 311; B G H NJW 1952, 111 [113]; B G H NJW 1972, 832 [834]; B G H NStZ 1992, 487) 37 . 32

Ebenso Stree, in: Roxin u.a., Einführung S. 61; Schönke/Schröder/Lenckner,

§ 35

Rdn. 37. Jakobs, Allg. Teil 20/19 läßt die Beschränkung entgegen dem Wortlaut für bestimmte Fälle nicht gelten.

33 Vgl. Dreher/Tröndle, § 35 Rdn. 15; LK U (Hirsch) § 35 Rdn. 68; Lackner, § 35 Rdn. 12; Roxin, Allg. Teil I § 22 Rdn. 56; Schönke/Schröder/Lenckner, § 35 Rdn. 36f.; SK (Rudolphi) § 35 Rdn. 18 a; Timpe, JuS 1985, 36 f. 34 Vgl. Schönke/Schröder/Lenckner, § 35 Rdn. 13.

35

So Blei, Allg. Teil S. 210; Lackner, § 35 Rdn. 13; Roxin, Allg. Teil I § 22 Rdn. 61;

Schönke/Schröder/Lenckner, 36

§ 35 Rdn. 40.

Zur Begründung Vogler, G A 1969, 113 ff. 37 Vgl. Lackner, § 35 Rdn. 14. Einschränkend zur Vermeidbarkeitsfrage Schmidhäuser, Allg. Teil S. 470.

V I . Ausländisches Recht

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2. Keine Strafmilderung erfährt der Irrtum über die Grenzen des entschuldigenden Notstands (z.B. über die Notstandsfähigkeit von Ehre und Vermögen) ebenso wie der irrige Glaube an das Bestehen eines vom Gesetz nicht anerkannten Entschuldigungsgrundes 38. Auch wenn sich der Irrtum auf die Zumutbarkeit der Wahl eines milderen Mittels oder auf die Zumutbarkeit des Bestehens der Notstandsgefahr überhaupt bezieht, ist der Täter nicht entschuldigt und kann auch keine Strafmilderung erwarten, da nur das Gesetz und nicht die Vorstellung des Täters dafür maßgebend sein kann, was in einer konkreten Situation von Rechts wegen verlangt wird und was nicht 3 9 . V I . Ausländisches Recht Das ausländische Recht berücksichtigt beim entschuldigenden Notstand das Wertverhältnis der Güter in stärkerem Maße als das deutsche. In Österreich führt § 10 StGB im Anschluß an die neuere Rechtsprechung des OGH (SSt 29, 83)40 den individuellen Notstand als allgemeinen Entschuldigungsgrund und ohne Beschränkung auf Sympathiepersonen ein, der nur begrenzt ist durch das angemessene Verhältnis der beteiligten Güter und den vor allem von Nowakowski 41 entwickelten objektivierten Schuldmaßstab 2 . In Art. 34 des schweizerischen StGB, der beide Notstandsarten umfaßt, wird entschuldigender Notstand nur dann angenommen, wenn das gefährdete Gut mindestens ebenso wertvoll ist wie das Gut, in welches eingegriffen wird 43 . In Art. 64 des französischen C.p. ist die „contrainte" zwar als Entschuldigungsgrund aufgeführt, doch übt die Judikatur äußerste Zurückhaltung bei der Anerkennung von Notstandsfällen 44. Die gleiche Regelung enthält der neue Code pénal in Art. 122-2, aber jetzt abgesetzt von den Gründen der Schuldunfähigkeit 45. Der rechtfertigende Notstand ist in Art. 122-7 geregelt (vgl. oben § 33 VII). Der italienische C.p. enthält das Proportionalitätsprinzip ausdrücklich in Art. 54 46 . Im englischen Recht ist die Opferung fremden Lebens zur Rettung des eigenen nach den Regeln des klassischen Mignonette-Falls (vgl. oben § 21 12) strafbar 47. Das gleiche wird für das amerikanische Strafrecht anzunehmen sein48. Der spanische Codigo penal unterscheidet in Art. 8 n.7 nicht zwischen rechtfertigendem und entschuldigendem Notstand und geht über die Gleichwertigkeit der beteiligten 38

Vgl. Blei, Allg. Teil S. 210f.; Schönke/Schröder/Lenckner,

§ 35 Rdn. 76; SK (Rudolphi) § 35 Rdn. 19.

§ 35 Rdn. 45; LK n (Hirsch)

39

§ 35 Rdn. 42. So mit Recht Schönke/Schröder/Lenckner, Zur früheren Rspr. Rittler, OGH-Festschrift S. 237. 41 Vgl. Nowakowski, Grundzüge S. 67, 71; derselbe, JBl 1972, 28 f. Zur Dogmengeschichte Moos, Verbrechensbegriff S. 448 ff. 40

42

Zum ganzen Jescheck, Lange-Festschrift S. 373 f.; Platzgummer, JBl 1971, 242 f.; Triffte-

rer, Allg. Teil S. 283 ff.; Kienapfel, Grundriß Ζ 20 Rdn. 15 ff. 43 Vgl. Germann, Verbrechen S. 219; Η after, Allg. Teil S. 156; Schwander, Das Schweiz. StGB S. 82; Schultz, Einführung I S. 165; Noll/Trechsel, Allg. Teil I S. 146f.; Rehberg, Strafrecht I S. 141. Der Vorentwurf hält an der Regelung beider Notstandsarten in einer Vorschrift (Art. 17) fest. 44 Vgl. Bouzat, Traité Bd. I S. 348 ff.; Merle/Vitu, Traité I Nr. 586; Koch, Zwang und Notstand S. 50 ff. 45 Vgl. Poncela, Nouveau code pénal S. 461. 46 Vgl. dazu Bettiol/Pettoello Mantovani, Diritto penale S. 395; Fiandaca/Musco, Diritto penale S. 151; Nuvolone, Sistema S. 197f.; Scarano, La non esigibilità S. 70f.; Fornasari, Il principio di inesigibilità S. 352 ff. 47 Vgl. Grünhut, Das englische Strafrecht S. 205; Kenny/Turner, Outlines S. 73; Smith/ Hogan, Criminal Law S. 249 ff.; kritisch dazu Glanville Williams, Criminal Law S. 744 f. Zum englischen Entwurf, der über das geltende Recht nicht hinausgeht, Jescheck, R. SchmittFestschrift S. 73 ff. 48 Vgl. LaFave/Scott, Substantive Criminal Law I S. 631; Honig, Das amerikanische Strafrecht S. 158; J. Hall, General Principles S. 426ff.; Pröchel, Notstand S. 77ff.; Etzel, Notstand S. 33 ff., 129; Model Penal Code, Sect. 3.02. Kritisch dazu Robinson, Criminal Law Defenses Bd. I S. 368 ff. Allgemein auch Kadish, California Law Review 75 (1987) S. 272 ff.

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§ 45 D i e Notwehrüberschreitung

Rechtsgüter nicht hinaus, doch ist die Furcht vor einer gleichen oder größeren Rechtsgutseinbuße (Art. 8 n. 10 C.p.) eindeutig ein Entschuldigungsgrund49. Die niederländische Rechtsprechung hat den entschuldigenden Notstand lange abgelehnt, doch wird die „overmacht" (Art. 40 W.v.S.) heute auch in diesem Sinne verstanden Der belgische Code pénal enthält in Art. 71 dieselbe Bestimmung wie der bisherige französische; die „force à laquelle il n'a pas pu résister" (overmacht) wird als Schuldausschließungsgrund verstanden51. Das brasilianische Recht kennt als Entschuldigungsgründe den unwiderstehlichen Zwang (Art. 22 C.p.) und den entschuldigenden Notstand (Art. 24 C.p.) 52 .

§ 45 Die Notwehrüberschreitung Bitzilekis, Die neue Tendenz zur Einschränkung des Notwehrrechts, 1984; Fischer, Die straflose Notwehrüberschreitung, Diss. Frankfurt 1971; Gallas, Der dogmatische Teil des Alternativentwurfs, ZStW 80 (1968) S.l; Geilen, Notwehr und Notwehrexzeß, Jura 1981, 378; Müller-Christmann, Der Notwehrexzeß, JuS 1989, 717; Otto, Die Grenzen der strafbaren Überschreitung der Notwehr, Jura 1987, 604; Roxin, Uber den Notwehrexzeß, Festschrift für F. Schaffstein, 1975, S. 105; derselbe, „Schuld" und „Verantwortlichkeit" als strafrechtliche Systemkategorien, Festschrift für H. Henkel, 1974, S. 171; Rudolphi, Notwehrexzeß nach provoziertem Angriff, JuS 1969, 461; Sauren, Die Überschreitung des Notwehrrechts, Jura 1988, 567; Schröder, Notwehrüberschreitung und Putativnotwehr, ΖΑΚ 1944, 123; derselbe, Anmerkung zu BGH vom 1.8.1961, JR 1962, 187; Timpe, Grundfälle zum entschuldigenden Notstand und zum Notwehrexzeß, JuS 1985, 117.

I. Notwehr und Notwehrüberschreitung 1. Die Notwehr rechtfertigt nur Verteidigungshandlungen, die zur Abwehr eines gegenwärtigen rechtswidrigen Angriffs bei möglichster Schonung des Angreifers erforderlich sind (vgl. oben § 32 I I 2 b und c). Uberschreitet der Verteidiger diese Grenze, so handelt er rechtswidrig (intensiver Notwehrexzeß). Rechtswidrig handelt der Verteidiger auch, wenn er sich wehrt, obwohl der Angriff noch nicht oder nicht mehr gegenwärtig ist (extensiver Notwehrexzeß). Im ersten Fall überschreitet der Täter das Maß, im zweiten die zeitlichen Grenzen der Notwehr. 2. Beide Fälle der Notwehrüberschreitung sind grundsätzlich strafbar, wenn zur Rechtswidrigkeit der Tat die übrigen Verbrechensmerkmale hinzutreten. Hat der Verteidiger das Maß der erforderlichen Abwehr oder die zeitlichen Grenzen der Notwehr bewußt überschritten, so ist er wegen vorsätzlicher Tat verantwortlich. Hat der Angegriffene die Intensität des Angriffs überschätzt und deshalb unbewußt mehr getan, als zur Verteidigung erforderlich war, oder hat er zu früh reagiert, weil er irrtümlich annahm, der Angriff sei schon im Gange, so liegt ein Irrtum über die Voraussetzungen der Notwehr vor (Putativnotwehr), der nach den Regeln über den Erlaubnistatbestandsirrtum zu behandeln ist (Strafe nach der Fahrlässigkeitsvorschrift bei Vermeidbarkeit des Irrtums) (vgl. oben § 41 IV ld). 49

Vgl. dazu Anton Oneca, Derecho penal S. 272; Rodriguez Devesa/ Serrano Gômez, De-

recho penal S. 645 ff. (mit berühmten Beispielen); Cordoba Roda/ Rodriguez Mourullo, Art. 8

n.10 Anm. I l l 2; Mir Puig, Adiciones Bd. I S. 506ff.; Cobo del Rosal/ Vives Anton, Derecho

penal S. 529ff.; Perron, Rechtfertigung und Entschuldigung S. 203 ff. 50

Vgl. van Bemmelen/van Veen, Ons strafrecht S. 179ff.; Hazewinkel-Sunnga/Remme-

link, Inleiding S. 301 ff. 51 So Dupont /Verstraeten, Handboek Nr. 483 ff.; Hennau/Verhaegen, Droit pénal général Nr. 332ff.; Tulkens/van de Kerchove, Introduction S. 21 Iff. 52 Vgl. dazu Fragoso, Liçôes S. 218 ff.; da Costa jr., Comentârios, Art. 22 Anm. 1, Art. 24 Anm. 2; de Jesus, Côdigo Penal Anotado, Art. 22 Stichwort „Efeito".

I I . Überschreitung der N o t w e h r aus V e r w i r r u n g , Furcht oder Schrecken

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II. Überschreitung der Notwehr aus Verwirrung, Furcht oder Schrecken 1. Das Gebot der Rechtsordnung, in einer Notwehrlage trotz Gefahr und Bedrängnis das schonendste Abwehrmittel zu wählen, stellt den Verteidiger vor eine schwierige Aufgabe, da er Besonnenheit und Rechtsgehorsam in einer Lage bewahren soll, in der die Selbstbeherrschung leicht verloren geht. Es kommt hinzu, daß der Angreifer den Schutz der Rechtsordnung nicht in vollem Umfang beanspruchen kann. Schon im vorigen Jahrhundert ist daher eine Strafmilderungsmöglichkeit eingeführt worden. In § 41 des preußischen StGB von 1851 wurde die Notwehrüberschreitung aus Bestürzung, Furcht oder Schrecken sogar der Notwehr selbst gleichgestellt, obwohl die Entwürfe von der Auffassung ausgegangen waren, daß die Notwehrüberschreitung aus „asthenischen" Affekten dem Täter lediglich nicht zugerechnet werden sollte1. 2. Heute wird der Täter nach § 33 „nicht bestraft", wenn er die Grenzen der Notwehr aus Verwirrung, Furcht oder Schrecken überschreitet. Der Allgemeine Teil von 1975 hat das frühere Merkmal „Bestürzung" durch „Verwirrung" ersetzt, um den seelischen Zustand des Angegriffenen treffender zu kennzeichnen (vgl. Ε 1962 § 38, Begründung S. 158), außerdem ergibt das Wort „aus" (statt wie früher „in"), daß ein innerer Zusammenhang zwischen dem Affekt und dem Ubergriff des Täters bestehen muß (vgl. BT-Drucksache V/4095 S. 15)2. Der Strafausschluß nach § 33 kann verschieden begründet werden. Nach richtiger Ansicht handelt es sich um einen Entschuldigungsgrund (RG 56, 33; B G H 3, 194 [198]; B G H G A 1969, 23 [24]; NStZ 1981, 299; NStZ 1983, 117)3. Obwohl die Tat immer noch rechtswidrig und der Schuldgehalt der Tat lediglich gemindert ist, verzichtet der Gesetzgeber auf die Erhebung des Schuldvorwurfs, weil ihm der Unrechts- und Schuldgehalt der Tat so weit herabgesetzt erscheint, daß die Strafwürdigkeitsgrenze nicht erreicht ist (vgl. oben § 43 I I I 2 b). Das Erfolgsunrecht ist bei der Notwehrüberschreitung um den Wert des vom Täter geschützten Gutes gemindert, das Handlungsunrecht ist durch die Notwehrlage und den Rettungswillen weitgehend aufgehoben, und die Schuld erscheint dadurch in einem anderen Licht, daß Verwirrung, Furcht oder Schrecken die normgemäße Willensbildung wesentlich erschwert haben4. Verwirrung, Furcht oder Schrecken müssen zwar die 1

Vgl. Goltdammer, Materialien Bd. I S.422. Die in § 38 I Ε 1962 vorgesehene Strafmilderungsmöglichkeit für alle Fälle des intensiven Notwehrexzesses wurde als zu weitgehend gestrichen, da die Milderung im Rahmen des normalen Strafrahmens ausreiche (vgl. BT-Drucksache V/4095 S. 14). Zustimmend Stree, in: Roxin u.a., Einführung S. 39; dagegen Gallas, ZStW 80 (1968) S. 23. 3 Ebenso die h.L.; vgl. Baumann/Weber, Allg. Teil S. 311; Blei, Allg. Teil S. 211; Bockel2

mann/Volk, Allg. Teil S. 130; Dreh er/Tröndle, § 33 Rdn. 3; Otto, Jura 1987, 607; Geilen, Jura 1981, 378; LK U (Spendet) § 33 Rdn. 37; Lackner, § 33 Rdn. 1; Kohlrausch/Lange, § 53 Anm. X; v. Liszt/ Schmidt, S. 199; Schönke/Schröder/Lenckner, § 33 Rdn. 2; SK (Rudolphi)

§ 33 Rdn. 1; Welzel, Lehrbuch S. 88; Stratenwerth, Allg. Teil I Rdn. 446ff.; Schmidhäuser, Allg. Teil S. 471 (daß die Regelung überflüssig sei, ist nicht zuzugeben); Wessels, Allg. Teil Rdn. 445. Dagegen sieht Maurach/Zipf, Allg. Teil I § 34 Rdn. 30 in der formalisierten Regelung des § 33 einen Beweis für seine Stufenlehre der Zurechenbarkeit (Tatverantwortung) (vgl. 3. Auflage S. 348). Für einen persönlichen Strafausschließungsgrund M. E. Mayer, Lehrbuch S. 282f.; Fischer, Notwehrüberschreitung S. 80ff.; v. Hippel, Bd II S. 213; für eine Beweisregel LK 9 (Baldus) § 53 Rdn. 48; Schröder, ΖΑΚ 1944, 123 ff. Dagegen gründet Roxin, Schaffstein-Festschrift S. 117ff., Henkel-Festschrift S. 189 und Allg. Teil I § 22 Rdn. 69 den Ausschluß der Strafbarkeit auch hier unmittelbar auf die Strafzwecklehre. Weitergehend stellen Jakobs, Allg. Teil 20/28 und Timpe, JuS 1985, 119 allein darauf ab, ob das Opfer auf seine eigene schuldhafte Verursachung des Exzeßverhaltens des Täters verwiesen werden kann. 4 So Rudolphi, JuS 1969, 462f.; SK (Rudolphi) § 33 Rdn. 1; Schönke/Schröder/Lenckner, § 33 Rdn. 2; Eser/Burkhardt, Strafrecht I Nr. 11 A Rdn. 29; LK n (Spendel) § 33 Rdn. 39f.;

Wessels, S. 70 ff.

Allg. Teil Rdn. 446; Sauren, Jura 1988, 569f.; Fischer,

Notwehrüberschreitung

492

§ 45 D i e Notwehrüberschreitung

Ursache der Notwehrüberschreitung gewesen sein, und angesichts der Straflosigkeit wird man einen erheblichen Grad des Affekts annehmen müssen (BGH NStZ 1995, 76), doch können auch andere Affekte wie Zorn (BGH 3, 194 [198]), Kampfeseifer, Haß oder Empörung mitgespielt haben, wenn nur die asthenischen Affekte bestimmend waren (BGH G A 1969, 23 [24]) 5 . 3. § 33 wird beim intensiven Notwehrexzeß sowohl auf den Fall der bewußten wie der unbewußten Überschreitung angewendet (RG 21, 189 [191]; 56, 33 [34]; B G H NStZ 1987, 20; B G H NStZ 1989, 474 [475]; BayObLG JR 1952, 113)6. Im Falle bewußter oder gar absichtlicher Überschreitung der Grenzen der erforderlichen Verteidigung kommt die gesetzliche Regelung dem Angegriffenen weit entgegen, doch läßt sich zur Begründung immerhin anführen, daß der Täter einen gegenwärtigen rechtswidrigen Angriff abwehrt und daß der Verlust der Selbstkontrolle gerade durch diesen Angriff ausgelöst wurde 7 . Beispiel: Nach heftigem Wortwechsel wird der Täter von seinem wütenden Gegner mit bloßen Händen angegriffen; er verteidigt sich mit dem Messer, weil er einen Faustkampf aus Furcht nicht wagt, obwohl er dem Angreifer an Körperkraft offensichtlich überlegen ist (nach RG 21, 189 [191 f.]). Hat der Täter die Grenzen der erforderlichen Verteidigung unbewußt überschritten, so befindet er sich entweder in einem Erlaubnistatbestandsirrtum über die Voraussetzungen der Notwehr (Stärke des Angriffs, Vorhandensein schonenderer Abwehrmittel) oder in einem Verbotsirrtum über ihre Grenzen (vgl. oben § 41 I I I und IV 1). § 33 hat in diesem Fall lediglich die Bedeutung, daß der Irrtum mit Rücksicht auf die seelische Verfassung des Angegriffenen immer als unvermeidbar angesehen wird, so daß er weder nach dem Fahrlässigkeits- noch nach dem Vorsatztatbestand bestraft werden kann. Beispiele: Der Pächter einer Kirschenallee gibt gegenüber Kirschendieben einen ungezielten Schreckschuß ab, der einen der Diebe das Leben kostet, weil er aus Furcht vor den ihm als gewalttätig bekannten Männern seine Waffe unvorsichtigerweise nicht senkrecht nach oben, sondern schräg in Richtung auf die Kirschbäume hält (RG 56, 33 {34]). Ein junger Mann verteidigt seine Schwester auf dem Tanzboden gegen wiederholte, an sich nicht besonders gefährliche Belästigungen einer Gruppe von Jugendlichen, indem er, erschreckt durch die große Zahl seiner Angreifer, einem von ihnen mit einer Flasche auf den Kopf schlägt (OLG Oldenburg Nds. Rpfl. 1951, 211). Ein Schüler verteidigt sich gegen die Faustschläge eines körperlich überlegenen Mitschülers „aus übersteigerter Furcht" durch einen tödlichen 5 Die berühmte Bemerkung M. E. Mayers, Lehrbuch S. 282 f., hier werde „die Zurechnung, diese feinste Leistung der Strafrechtspflege, durch eine grobe Regel mattgesetzt", trifft also auf das geltende Recht nicht mehr zu. 6 Ebenso die h.L.; vgl. Baumann,/Weber, Allg. Teil S. 311; Blei, Allg. Teil S. 212; Dreher/

Tröndle, § 33 Rdn. 3; Eser/Burkhardt, Strafrecht I Nr. 11 A Rdn. 36; Frank, § 53 Anm. I I ; Lackner, § 33 Rdn. 3; LK n (Spendel) § 33 Rdn. 52; LK n (Hirsch) Vorbem. 203 vor § 32;

Jakobs, Allg. Teil 20/30; Maurach/Zipf, Allg. Teil I § 34 Rdn. 30; Roxin, Schaffstein-Festschrift S. 110; Stratenwerth, Allg. Teil I Rdn. 441; Wessels, Allg. Teil Rdn. 446; Sauren, Jura 1988, 570; Müller-Christmann,

JuS 1989, 719; Rudolphi, JuS 1969, 463. Für Beschränkung

auf unbewußte Überschreitung dagegen Binding,

Lenckner, § 33 Rdn. 6; Schröder,

Handbuch S. 753; Schönke/Schröder/

Ζ Α Κ 1944, 123 ff.; Welzel,

Lehrbuch S. 89; LK 9 (Baldus)

§ 53 Rdn. 43; Schmidhäuser, Allg. Teil S. 472. Diese Auffassung läßt sich, wie Roxin, Schaffstein-Festschrift S. 108 ff. gezeigt hat, angesichts der Gesetzgebungsgeschichte nicht halten. 7 Eine gänzlich unverhältnismäßige Überschreitung der Notwehrgrenze (tödlicher Schuß zur Abwehr einer Ohrfeige) ist allerdings nicht entschuldbar; so Roxin, Allg. Teil I § 22 Rdn. 79; Jakobs, Allg. Teil 20/29; SK (Rudolphi) § 33 Rdn. 5a gegen Dreher/Tröndle, § 33 Rdn. 33.

I I . Überschreitung der N o t w e h r aus V e r w i r r u n g , Furcht oder Schrecken

493

Messerstich ins Herz, anstatt die Waffe auf einen weniger gefährdeten Körperteil zu lenken (BGH JR 1980, 210 [211]). 4. Beim extensiven Notwehrexzeß ist dagegen die Anwendung des § 33 ausgeschlossen (RG 54, 36 [37]; 61, 216 [217]; 62, 76 [77]; O G H 3, 121 [124]; BayObLG JR 1952, 113; L G München I JZ 1989, 565 [566]), da in diesem Falle die unrechtsmindernde Wirkung der Notwehrlage nicht gegeben ist 8 . Der Täter ist bei bewußter Notwehrüberschreitung ohne weiteres nach dem Vorsatztatbestand verantwortlich. Beispiel: Der Verteidiger hat den Angriff durch einen Schuß abgeschlagen, gibt aber auf den wehrlos am Boden liegenden Angreifer noch zwei weitere Schüsse ab (RG 62, 76). Irrt der Verteidiger über die Gegenwärtigkeit des Angriffs, so ist ein gewöhnlicher Erlaubnistatbestandsirrtum gegeben, bei dem Verwirrung, Furcht und Schrekken im Rahmen der Vermeidbarkeitsprüfung zu berücksichtigen sind. Uberschreitet der in Putativnotwehr handelnde Täter die Grenzen der erforderlichen Verteidigung, so kommt § 33 nicht zum Zuge, weil bei fehlender Notwehrlage kein Anlaß besteht, Affektzustände durch volle Entschuldigung zu privilegieren (BGH NJW 1962, 308 [309])9. Der Vorwurf der Fahrlässigkeit kann jedoch im Einzelfall auch beim Putativnotwehrexzeß entfallen, wenn der Täter aus Verwirrung, Furcht oder Schrecken das Maß der notwendigen Abwehr verkannt hat (BGH NJW 1968, 1885). 5. Da auch die provozierte Notwehrlage das (eingeschränkte) Recht zur Selbstverteidigung gibt, wenn der Angegriffene nicht ausweichen kann (vgl. oben § 32 I I I 3 a), muß in diesem Falle § 33 ebenfalls eingreifen können (BGH 39, 133 [139]) . Beispiele: Wer einen Betrunkenen durch Bemerkungen zum Angriff reizt, kann, wenn er den Gegner ersticht, durch § 33 entschuldigt sein (anders BGH NJW 1962, 308 [309]11). Der Ehebrecher, der von dem Ehemann überrascht wird, kann sich auf § 33 berufen, wenn er nicht fliehen kann und deshalb den Angreifer mit einer Bierflasche niederschlägt (anders OLG Hamm NJW 1965, 1928). Dagegen kann sich, wer einen ihm angekündigten Angriff, gegen den er erreichbaren und bereiten Polizeischutz herbeirufen konnte, mit eigenen Mitteln durch einen tödlichen Schuß abwehrt, nicht auf § 33 berufen (BGH 39, 133 [140]). 8 So beschränkte schon Goltdammer, Materialien Bd. I S. 422 die entschuldigte Notwehrüberschreitung auf ein Fehlgreifen in der Wahl der Mittel. Ebenso heute Dreh er/Tröndle,

Strafrecht I Nr. 11 A Rdn. 41; Lackner, § 33 Rdn. 2; Geilen, § 33 Rdn. 2; Eser/Burkhardt, Jura 1981, 379; Kohlrausch/Lange, § 53 Anm. X ; LK 9 (Baldus) § 53 Rdn. 45; Maurach/Zipf,

Allg. Teil I § 34 Rdn. 27; Müller-Christmann, JuS 1989, 718; Stratenwerth, Allg. Teil I Rdn. 448; Schmidhäuser, Allg. Teil S. 473; Wessels, Allg. Teil Rdn. 447; H. Mayer, Grundriß S. 101; SK (Rudolphi) § 33 Rdn. 2; Welzel, Lehrbuch S. 89. Anders Baumann/Weher, Allg. Teil S. 310 f.; Blei, Allg. Teil S. 211; Jakobs, Allg. Teil 20/31; Roxin, Schaffstein-Festschrift S. 117; derselbe, Allg. Teil I § 22 Rdn. 88 ff.; Schönke/Schröder/Lenckner, § 33 Rdn. 7, die § 33 auch auf den extensiven Exzeß anwenden; für den nachzeitig-extensiven Exzeß auch LK n 9

(Spendel) § 33 Rdn. 8; Otto, Jura 1987, 606; Timpe, JuS 1985, 120f.

Dazu eingehend Rudolphi, JuS 1969, 463 f. Für analoge Anwendung des § 33 auf einzelne Fälle des Putativnotwehrexzesses dagegen Roxin, Schaffstein-Festschrift S. 120; Schönke/

Schröder/Lenckner,

Rdn. 6.

§ 33 Rdn. 8; Fischer, Notwehrüberschreitung S. 97; SK (Rudolphi) § 33

10 So Dreher/Tröndle, § 33 Rdn. 3; Bitzilekis, Die neue Tendenz S. 194; LK n (Spendel) § 33 Rdn. 74; Lackner, § 33 Rdn. 4; Maurach/Zipf, Allg. Teil I § 34 Rdn. 30; Rudolphi, JuS 1969, 465 f.; Roxin, Schaffstein-Festschrift S. 123 f.; Schönke/Schröder/Lenckner, § 33 Rdn. 9; SK (Rudolphi) § 33 Rdn. 5.

11

Zur Einschränkung des § 33 kritisch Schröder, JR 1962, 189.

§ 46 Das H a n d e l n auf dienstliche Weisung

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§ 46 Das Handeln auf dienstliche Weisung v. Ammon, Der bindende rechtswidrige Befehl, Strafr. Abh. Heft 217, 1926; Arndt, Die strafrechtliche Bedeutung des militärischen Befehls, NZWehrr 1960, 145; derselbe, Grundriß des Wehrstrafrechts, 2. Auflage 1966; Comtesse , Das Schweiz. Militärstrafgesetz, 1946; Ducklau, Die Befehlsproblematik bei NS-Tötungsverbrechen, Diss. Freiburg 1976; Fuhrmann, Der höhere Befehl als Rechtfertigung im Völkerrecht, 1963; Hanack, Zur Problematik der gerechten Bestrafung nationalsozialistischer Gewaltverbrecher, 1967; Janssen, Die strafrechtliche Verantwortlichkeit des Soldaten für auf Befehl begangene Straftaten in rechtsvergleichender Betrachtung, Diss. Bonn 1939; Jescheck, Die Verantwortlichkeit der Staatsorgane nach Völkerstrafrecht, 1952; derselbe, Verantwortung und Gehorsam im Bereich der Polizei, Polizeiblatt für das Land Baden-Württemberg 1964, 97; derselbe, Befehl und Gehorsam in der Bundeswehr, in: Bundeswehr und Recht, 1965, S. 63; Kohli, Handeln auf Befehl im schweizerischen Militärstraf recht, 1975; Logoz, Vers un nouveau code pénal militaire, SchwZStr 30 (1917) S. 237; Materialien des V. Internationalen Kongresses der Gesellschaft für Militärstrafrecht zum Thema „L'obéissance militaire", Revue de droit pénal militaire Χ (1971) Heft 1; Müller-Rappard, L'ordre supérieur militaire et la responsabilité pénale du subordonné, 1965; Nuvolone, Valori costituzionali délia disciplina militare usw., Rassegna délia giustizia militare 1979, 22; Ο eh 1er, Die strafrechtliche Verantwortlichkeit des militärischen Untergebenen für Handeln auf Befehl im französischen Recht, Festschrift für U. Stock, 1966, S. 237; Queralt y Jiménez, La obediencia debida en el Côdigo penal, 1986; Rodriguez Devesa, La obediencia debida en el CPM de 1985, Festschrift für E. Correia, 1987, S. 3 [Sonderdruck]; Schirmer, Befehl und Gehorsam, 1965; Scholz, Zur Verbindlichkeit des Befehls usw., Festschrift für E. Dreher, 1977, S. 479; Schwaiger, Der Anwendungsbereich des § 5 WStG, NZWehrr 1961, 64; Schwenck, Wehrstrafrecht im System des Wehrrechts, 1973; Schwinge, Befehl und Gehorsam, ΖΑΚ 1938, 147; Stoecker, § 47 MStGB in geschichtlicher, rechtsvergleichender und rechtspolitischer Betrachtung, Diss. Marburg 1938; Stratenwerth, Verantwortung und Gehorsam, 1958; Vogler, Zum Einwand des Handelns auf Befehl im Völkerstrafrecht, Revue de droit pénal militaire 1968, 111; v. Weber, Die strafrechtliche Verantwortlichkeit für Handeln auf Befehl, MDR 1948, 34; Würtenberger, Der Irrtum über die Völkerrechtmäßigkeit des höheren Befehls im Strafrecht, MDR 1948, 271. Vgl. ferner die Schrifttumsangaben vor § 35. I. Das Handeln auf dienstliche Weisung als Rechtfertigungs- bzw. als Entschuldigungsgrund 1. Die Gehorsamspflicht des Untergebenen wird durch jede verbindliche Weisung begründet; dies gilt für Beamte wie für Soldaten. Der Untergebene, der eine verbindliche Weisung ausführt, handelt, da er zum Gehorsam verpflichtet ist, rechtmäßig, selbst wenn der ihm erteilte Auftrag inhaltlich der Rechtsordnung widerspricht (z.B. eine Ordnungswidrigkeit oder eine unerlaubte Handlung darstellt) (vgl. oben § 35 I I 3) 1 . 2. Eine Weisung, der die Verbindlichkeit fehlt, kommt dagegen nur als Entschuldigungsgrund in Betracht. Der Untergebene, der eine strafrechtswidrige Weisung ausführt, handelt tatbestandsmäßig und rechtswidrig, selbst Wenn er an die Verbindlichkeit der Anordnung glaubt 2 . Daß die strafrechtswidrige Weisung jedoch einen Entschuldigungsgrund darstellen kann, ergibt sich für den Beamten aus § 56 I I 3 BBG, § 38 I I 2 BRRG, § 75 I I 3 LBG Baden-Württemberg: ist die 1 So schon früher v. Ammon, Der bindende rechtswidrige Befehl S. 48. Vgl. heute LK n (Hirsch) Vorbem. 177 vor §32; Jakobs, Allg. Teil 16/11 f.; Scholz/Lingens, §2 WStG Rdn. 34; Schönke/Schröder/Lenckner, Vorbem. 88 a vor § 32; Schwenck, Wehrstrafrecht S. 92; Stratenwerth, Verantwortung S. 181 ff.; Wessels, Allg. Teil Rdn. 450. 2 Vorbem. 16 vor § 32; SchönVgl. Baumann/Weber, Allg. Teil S. 451; Dreher/Tröndle,

ke/ Schröder / Lenckner, Vorbem. 121 vor § 32; Scholz/Lingens, § 5 WStG Rdn. 5; Wessels,

Allg. Teil Rdn. 450.

I. H a n d e l n auf Weisung als Rechtfertigungs- b z w . Entschuldigungsgrund

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Strafbarkeit des ihm aufgetragenen Verhaltens für den Beamten nicht erkennbar, so ist er von eigener Verantwortung frei. Für den Soldaten reicht die Wirkung des Befehls als Entschuldigungsgrund dagegen weiter: der Untergebene ist nur dann verantwortlich, wenn er erkennt, daß die Ausführung des Befehls eine Straftat darstellt oder wenn dies nach den ihm bekannten Umständen offensichtlich ist (§5 1 WStG, § 11 I I 2 SG). Die entsprechende Regelung gilt für Vollzugsbeamte des Bundes, wenn sie auf Anordnung unmittelbaren Zwang anzuwenden haben (§ 7 I I 2 UZwG) 3 . 3. Der Grund dafür, daß die Begehung einer mit Strafe bedrohten Handlung auf dienstliche Weisung entschuldigt sein kann, liegt ähnlich wie beim entschuldigenden Notstand und der Notwehrüberschreitung in der wesentlichen Minderung des Handlungsunrechts und des Schuldgehalts der Tat (vgl. oben § 43 I I I 2 b). Der Untergebene glaubt sich im Recht, er wird mit dem Willen zur Erfüllung der Gehorsamspflicht tätig, die beim Beamten durch das Disziplinarrecht, beim Soldaten sogar durch das Strafrecht (§§ 1 9 - 2 2 WStG) sanktioniert ist 4 . Auch der Schuldvorwurf, der gegen den Untergebenen wegen der Nichterkenntnis der Strafbarkeit des aufgetragenen Verhaltens erhoben werden kann, ist gemildert, da die Prüfungspflicht beim Handeln auf dienstliche Weisung eingeschränkt ist. Der Beamte hat nur dann die Pflicht, die Verbindlichkeit einer Anordnung des zuständigen Vorgesetzten in Zweifel zu ziehen, wenn Anhaltspunkte dafür gegeben sind, daß von ihm die Begehung einer strafbaren Handlung verlangt wird. Grundsätzlich muß er darauf vertrauen können, daß sich alle Anordnungen des Vorgesetzten in dem durch die verfassungsmäßige Bindung an Gesetz und Recht (Art. 20 I I I GG) gezogenen Rahmen halten. Den Soldaten (und entsprechend den Vollzugsbeamten bei Anwendung unmittelbaren Zwangs aufgrund dienstlicher Anordnung) trifft grundsätzlich überhaupt keine Prüfungspflicht. In der Regel steht ihm nicht einmal ein Prüfungsrec^i zu, denn er hat Befehle „nach besten Kräften vollständig, gewissenhaft und unverzüglich auszuführen" (§11 1 2 SG). Der Soldat ist nur dann zu Gegenvorstellungen berechtigt und verpflichtet, wenn er erkennt, daß sich der befehlende Vorgesetzte im Irrtum über tatsächliche Umstände befindet und bei Kenntnis der wahren Sachlage den Befehl wahrscheinlich nicht erteilt haben würde, oder wenn dies nach den ihm bekannten Umständen offensichtlich ist (BGH 19, 231 [234]). Das gleiche gilt, wenn der Untergebene erkennt oder wenn es offensichtlich ist, daß er durch die Befolgung des Befehls an einer Straftat mitwirken würde (§ 11 I I 1 SG). 4. Der Entschuldigungsgrund des Handelns auf dienstliche Weisung ist ein Entschuldigungsgrund eigener Art, der aber zugleich eine Sonderregelung für den Verbotsirrtum darstellt5. Während im übrigen jedermann die Rechtmäßigkeit seiner Handlungen selbst zu verantworten hat und deswegen auch für die sachliche Richtigkeit seiner Entschlüsse strafrechtlich einstehen muß, gelten innerhalb des Behördenapparates und der militärischen Hierarchie 3

Für die Vollzugsbeamten der Länder fehlt z.T. noch eine derartige Regelung (vgl. z.B. §§ 49ff. Polizeiges. Baden-Württemberg i.d.F. vom 13.1.1992, GBl. BW S. 1), doch wird § 7 UZwG vorläufig entsprechend anzuwenden sein. Der Erlaß des Innenministeriums von Baden-Württemberg vom 13.5.1969 (Gemeinsames Amtsblatt S. 350) enthält eine dem § 7 II 2 UZwG entsprechende Regelung. Für Vollzugsbedienstete, die auf Weisung eines Vorgesetzten im Strafvollzug unmittelbaren Zwang anwenden, gilt § 97 II StVollzG, der dem § 7 II UZwG entspricht. 4 Zum Irrtum über die Verbindlichkeit des Befehls Scholz, Dreher-Festschrift S. 483 ff. 5 So Scholz/Lingens, §5 WStG Rdn. 1; Schwenck, Wehrstrafrecht S. 90; Wessels, Allg. Teil Rdn. 450. Den Charakter als Sonderregelung für den Verbotsirrtum betonen Maurach/ Zipf Allg. Teil I § 34 Rdn. 23; Jakobs, Allg. Teil 19/53; Roxin, Allg. Teil I § 21 Rdn. 70; Schönke/Schröder/Lenckner, Vorbem. 121 vor § 32; LK n (Schroeder) § 17 Rdn. 52ff.

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andere Gesetze. Entscheidend ist für den Untergebenen das Vertrauen auf die Autorität des Vorgesetzten und die Gewohnheit des Gehorchens, während die sachliche Richtigkeit der erteilten Weisungen grundsätzlich vom Vorgesetzten allein zu verantworten ist. Da somit Recht und Pflicht bei Beamten und Soldaten mit Rücksicht auf die notwendige Unterordnung in anderer Weise ausgestaltet sind als sonst, muß auch der Entschuldigungsgrund des Handelns auf dienstliche Weisung nach eigenen Regeln behandelt werden (BGH 5, 239 [244]; BGH LM § 47 MStG Nr. 3). Hierzu gehört auch die Sonderregelung für den Verbotsirrtum, der hier im Unterschied zu § 17 S. 2 erst dann bestraft wird, wenn er ohne weiteres Nachdenken vermeidbar war6. II. Die Grenzen der entschuldigenden Wirkung einer unverbindlichen Weisung Eine unverbindliche Weisung kommt als Entschuldigungsgrund nur dann in Frage, wenn der Untergebene sie als verbindlich angesehen hat und ansehen durfte 7. Fehlt es daran, so sind weder das Handlungsunrecht noch der Schuldgehalt der Tat so weit herabgesetzt, daß der Schuldvorwurf entfallen könnte 8 . 1. Weiß der Untergebene, daß noch nicht einmal die formellen Voraussetzungen einer verbindlichen Weisung (vgl. oben § 35 I I 2 a) erfüllt sind, so fehlt für die Vermutung der Rechtmäßigkeit jede Grundlage. Der Untergebene befindet sich dann gegenüber dem Vorgesetzten in einer Lage, die sich von keinem anderen rein tatsächlichen Gewaltverhältnis unterscheidet. Beispiele: Die Weisung des Fahrdienstleiters an den Zugführer, zwecks Durchführung eines gesetzwidrigen Streiks einen Zug nicht abfahren zu lassen, ist schon wegen Zuständigkeitsüberschreitung unverbindlich (RG 56, 412 [418]) und kann den Untergebenen, der dies erkennt, nicht entlasten. Der auf persönlicher Verärgerung beruhende Befehl eines militärischen Vorgesetzten, eine Zivilperson festzunehmen und zur Polizei zu bringen, liegt außerhalb des Bereichs dienstlicher Zwecke und ist daher nicht verbindlich; der Untergebene, der dies erkennt, ist nicht entschuldigt (nach RG 71, 284). 2. Weiß der Untergebene, daß die materiellen Voraussetzungen einer verbindlichen Weisung fehlen (vgl. oben § 35 I I 2 b), weil insbesondere durch die Ausführung eine strafbare Handlung begangen würde, so kann er sich auf die Vermutung der Rechtmäßigkeit gleichfalls nicht berufen, weil er dann vom Gegenteil bereits positive Kenntnis hat. Wissen bedeutet in diesem Zusammenhang sichere Kenntnis (BGH 5, 239 [244]; 19, 231 [234]; 22, 223 [225])9. Der Untergebene, der eine Weisung in sicherer Kenntnis ihrer Strafrechtswidrigkeit ausführt, ist somit nicht entschuldigt. Das gilt gleichermaßen für Beamte (§ 56 I I 3 BBG; § 38 I I 2 zw. Halbs. BRRG; § 75 I I 3 zw. Halbs. LBG Baden-Württemberg), für Soldaten (§ 5 I WStG; §11 I I 2 SG) und für Vollzugsbeamte bei Anwendung von unmittelbarem Zwang (§ 7 I I 2 UZwG). Beispiele: Der Gemeindediener, der auf Anordnung des Bürgermeisters eine Festnahme durchrührt, deren Rechtswidrigkeit ihm bekannt ist, macht sich der Freiheitsberaubung 6 Der Irrtum des Untergebenen, ein Befehl rechtfertige jedes Tun, ist ein Verbotsirrtum, der heute nicht mehr als unvermeidbar angesehen werden könnte. So BGH 22, 223 zu § 47 MStGB; Arndt, Grundriß S. 119; Schwenck, Wehrstrafrecht S. 96. Für Anwendung von § 5 WStG auch in diesem Falle Scholz/Lingens, § 5 WStG Rdn. 10. 7 Deswegen kann sich auf einen dienstlichen Befehl nicht berufen, wer diesen durch eine bewußt unwahre Meldung herbeigeführt hat (BGH 19, 33 [35]). 8 Vgl. zur strafrechtlichen Verantwortlichkeit des Beamten Jescheck, Polizeiblatt 1964, 100ff.; zur strafrechtlichen Verantwortlichkeit des Soldaten derselbe, Befehl und Gehorsam in der Bundeswehr S. 89 f. 9 Vgl. Scholz/Lingens, § 5 WStG Rdn. 9.

I I . D i e Grenzen der entschuldigenden W i r k u n g einer unverbindlichen Weisung

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schuldig (RG 6, 432 [440]; vgl. auch RG 54, 337). Ein Soldat, der sich im März 1945 auf Befehl, aber in Kenntnis von dessen verbrecherischem Charakter an der Erschießung von Fremdarbeitern beteiligt hatte, wurde zu Recht wegen Mordes verurteilt (BGH 15, 214 [217]). 3. Die Zweifel beginnen bei der Frage, ob eine Weisung schon dann aufhört, den Untergebenen vom Schuldvorwurf zu entlasten, wenn dieser die Strafrechtswidrigkeit der ihm aufgetragenen Handlung zwar nicht positiv gekannt hat, aber bei genügender Aufmerksamkeit hätte erkennen können. a) Für den Beamten gilt die Regel, daß eine Anordnung schon dann als Entschuldigungsgrund ausscheidet, wenn ihm die Strafbarkeit oder Ordnungswidrigkeit des aufgetragenen Verhaltens erkennbar war (§ 56 I I 3 BBG, § 38 I I 2 zw. Halbs. BRRG; dagegen ist der Beamte nach § 75 I I 3 zw. Halbs. LBG BadenWürttemberg nur dann nicht entschuldigt, wenn die Strafbarkeit bzw. Ordnungswidrigkeit „ohne weiteres" erkennbar ist). Für die Erkennbarkeit kommt es darauf an, daß Anhaltspunkte gegeben sind, die dem Beamten Bedenken gegen die Rechtmäßigkeit der Anordnung aufdrängen mußten. Beispiele: Den Anstaltsärzten, die an der Tötung von Geisteskranken mitgewirkt haben, war die Strafbarkeit des ihnen aufgetragenen Verhaltens erkennbar, und sie waren deshalb durch die Anordnungen ihrer Vorgesetzten nicht entschuldigt (OLG Frankfurt SJZ 1947, 621 [627 f.]). Entsprechendes gilt für die Gestapo-Beamten, die an der Verschleppung der jüdischen Bevölkerung beteiligt waren (BGH 2, 234 [240 f.]). Die enge Begrenzung der entschuldigenden Wirkung dienstlicher Weisungen im zivilen Bereich ist deswegen berechtigt, weil Beamte für die Rechtmäßigkeit ihrer dienstlichen Handlungen die volle persönliche Verantwortung tragen (§ 56 I BBG, § 38 I BRRG, § 75 I LBG Baden-Württemberg), weil sie in der Regel Zeit und Gelegenheit haben, die ihnen erteilten Anordnungen zu prüfen und weil der zivile Staatsapparat durch Gegenvorstellungen nicht lahmgelegt, sondern in seiner Autorität als Rechtsinstitution gestärkt wird. b) Im militärischen Bereich liegen die Dinge dagegen anders, weil ein Prüfungsrecht des Untergebenen hier nicht anerkannt werden kann. Früher schadete dem Untergebenen nur die positive Kenntnis, daß der Vorgesetzte durch den Befehl ein Verbrechen oder Vergehen „bezweckte" (§ 47 I Nr. 2 MStGB 1940)10. Nach geltendem Recht ist er dagegen schon dann nicht entschuldigt, wenn die Strafrechtswidrigkeit der Befehlsausführung nach den ihm bekannten Umständen offensichtlich, d.h. für jedermann ohne weiteres Nachdenken erkennbar ist (§5 1 WStG, §11 I I 2 SG) 11 . Die gleiche Regelung gilt für Vollzugsbeamte des Bundes bei 10 Streng im Sinne des „Bezwecktseins" der Straftat Schwinge, ΖΑΚ 1938, 147ff.; Stoecker, § 47 MStGB S. 55. Vgl. ferner RMG 13, 180 (184); 19, 190 (195). Die praktische Bedeutung der Beschränkung auf positive Kenntnis zeigen Entscheidungen aus dem ersten Weltkrieg: Zwei Marineoffiziere wurden wegen Beihilfe zum Totschlag verurteilt, weil sie auf Befehl ihres Kommandanten Rettungsboote eines torpedierten englischen Lazarettschiffs versenkt hatten, um das begangene Kriegsverbrechen zu verschleiern, während der Kommandant eines U-Boots freigesprochen wurde, weil er den Befehl zur Versenkung eines Lazarettschiffs für eine völkerrechtlich zulässige Repressalie gehalten hatte (RG in: Verh. d. Reichstags, I. Wahlperiode 1920/21, Bd. 368, Anlage Nr. 2584 S. 75 [87] bzw. 28 [31]). Vgl. ferner aus dem zweiten Weltkrieg OLG Stuttgart HESt 2, 223 (Befehl, keine Gefangenen zu machen); OLG Freiburg JZ 1951, 85 (Erschießung eines Fahnenflüchtigen nach der Kapitulation ohne Gerichtsverfahren) m.abl. Anm. v. Weber. Weitere Beispiele bei Arndt, NZWehrr 1960, 147. 11 Vgl. dazu LK U (Hirsch) Vorbem. 177 vor § 32; Scholz/Lingens, § 5 WStG Rdn. 12ff.; Schwenck, Wehrstrafrecht S. 147; Schirmer, Befehl S. 92 ff. m.zahlr. Beisp.; Schwaiger, NZWehrr 1961, 64ff.; Schönke/Schröder/Lenckner, Vorbem. 121a vor § 32. 32 Jescheck, 5. A .

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§ 46 Das H a n d e l n auf dienstliche Weisung

Anwendung von unmittelbarem Zwang (§ 7 I I 2 UZwG). Die Verantwortlichkeit des Untergebenen bei offensichtlicher Strafrechtswidrigkeit des Befehls gilt auch für fahrlässige Straftaten, etwa für eine befohlene Ordnungswidrigkeit eines Fahrers im Straßenverkehr, die mit hoher Wahrscheinlichkeit zur Tötung eines Passanten führen muß (zur Pflicht des Untergebenen, Gegenvorstellungen zu erheben, B G H 19, 231 [233 ff.]) 12 . Der Grund dafür, daß Soldaten milder behandelt werden als Beamte, aber strenger als nach dem bis 1945 geltenden Wehrstrafrecht, liegt in den Erfordernissen des militärischen Dienstes, wie sie in einem Rechtsstaat verstanden werden müssen. Ein Prüfungsrecht des Untergebenen wäre auch heute mit dem Wesen des militärischen Dienstes unvereinbar (BGH 39, 168 [189]), Gewissenlosigkeit und Rechtsblindheit können dagegen auch im militärischen Bereich nicht entschuldigt werden. Der Schuldgehalt der Tat liegt darin, daß bei offensichtlicher Strafrechtswidrigkeit, selbst wenn die Tat auf Befehl begangen wird, ein unverzeihliches Versagen der Rechtsgesinnung des Untergebenen festzustellen ist (§ 9 I I österr. StGB nimmt in entsprechender Weise Vermeidbarkeit des Verbotsirrtums an, „wenn das Unrecht für den Täter wie für jedermann leicht erkennbar war"). Obwohl die Verhältnisse im Polizeidienst nicht völlig gleich liegen, findet diese Regelung auch auf Vollzugsbeamte bei Ausübung unmittelbaren Zwangs Anwendung. Beispiele: Der Kapitän eines Blockadebrechers, der befehlsgemäß einen als Spion verhafteten Soldaten mit dem torpedierten Schiff untergehen ließ, würde nach § 5 WStG nicht entschuldigt sein, da der Befehl offensichtlich verbrecherisch war (vgl. BGH 5 StR 321/66 bei Hanacky Bestrafung nationalsozialistischer Gewaltverbrecher S. 57). Wird einem Soldaten, der nur infanteristisch ausgebildet ist, die Durchführung einer Sprengung befohlen, wobei es nach den ihm bekannten Umständen offensichtlich ist, daß ihn der Vorgesetzte mit einem Pionier verwechselt, so muß er sich melden und ist, wenn er dies versäumt, im Falle eines Unglücks durch den Befehl nicht entschuldigt (vgl. auch BGH 19, 231 [234]). c) Für den Untergebenen, der nicht nach § 5 I WStG entschuldigt ist, sieht § 5 I I einen besonderen Strafmilderungsgrund wegen geminderter Schuld vor, wenn die Lage, in der er sich bei Ausführung des Befehls befand, die normgemäße Willensbildung wesentlich erschwerte (z.B. verzweifelte Gefechtslage, Zermürbung durch hohe Verluste, Erschöpfung durch langdauernden Einsatz). Das Gericht kann in diesem Falle die Strafe innerhalb des nach § 49 I zu bildenden milderen Strafrahmens zumessen, bei Vergehen auch ganz von Strafe absehen. Außerdem schließt § 5 WStG andere Entscbuldigungsgründe nicht aus. Der Untergebene kann z.B. nach § 35 wegen Befehlsnotstands entschuldigt sein (vgl. oben § 44 I I 2) 1 3 . III. Ausländisches Recht 1 4 1. Das österreichische Recht enthält in § 3 II MilStG nur die Bestimmung, daß von der Verfolgung eines Soldaten, der eine Straftat auf Befehl begangen hat, bei Geringfügigkeit abgesehen werden kann. Anzuwenden sind im übrigen die allgemeinen Regeln über Irrtum 12

Darauf weist zu Recht LK n (Hirsch) Vorbem. 177 vor § 32 hin. Vgl. Maurach/Zipfy Allg. Teil I § 34 Rdn. 25. Der Wegfall des § 35 bei Furcht vor persönlicher Gefahr gilt, worauf Scholz/Lingens, § 6 WStG Rdn. 6 zu Recht hinweist, nur bei berufsspezifischen Gefahren, nicht bei der Nötigung durch einen offensichtlich rechtswidrigen Befehl; vgl. zu § 35 I 2 Roxin y Allg. Teil I § 22 Rdn. 41. 14 Vgl. dazu Fuhrmanny Der höhere Befehl S. 56ff., 127ff.; Janssen y Strafrechtliche Verantwortlichkeit des Soldaten S. 14ff.; Jescheck, Völkerstrafrecht S. 255 ff.; Stratenwerth 3 Verantwortung und Gehorsam S. 27ff.; v. Weber } MDR 1948, 35ff.; Würtenberger, MDR 1948, 271 ff. Vgl. ferner die Materialien zum Thema „L'obéissance militaire usw.", Rev dr pén mil Χ (1971) S. 51 ff 13

III. Ausländisches Recht

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und Notstand . Die Schweiz steht dagegen auf dem Boden des früheren deutschen Rechts: nach Art. 18 MStGB ist der Untergebene nur dann strafbar, wenn er weiß, daß er durch die Befolgung des Befehls an einem Verbrechen oder Vergehen mitwirkt; im übrigen ist er entschuldigt. Art. 18 II sieht außerdem die Möglichkeit der Strafbefreiung vor. Die Ausdehnung der Verantwortlichkeit auf Handlungen, deren Strafbarkeit der Untergebene erkennen konnte, wird als mit der militärischen Disziplin unvereinbar abgelehnt16. Nach dem französischen Dekret vom 1.10.1966 über die militärische Disziplin ist der Untergebene voll verantwortlich, wenn er einen auf eine rechtswidrige Handlung gerichteten Befehl ausführt (Art. 22 Nr. 3). Ob die überlieferten Grundsätze des französischen Militärstrafrechts, nach denen der gutgläubige Untergebene entschuldigt war, wenn die Rechtswidrigkeit der befohlenen Handlung nicht offensichtlich war 17 , weiter Anwendung finden werden, ist zweifelhaft 18 . Dem § 5 WStG entspricht in Italien die Regelung des Art. 4 der „Norme di principio sulla disciplina militare", Ges. vom 11.7.1978 Nr. 38219. Auch im geltenden britischen Recht20 ist der Untergebene, der an die Gehorsamspflicht glaubt, straflos, es sei denn, daß der Befehl offensichtlich rechtswidrig („manifestly illegal") ist (Manual of Military Law 1958, Teil I, Kap. V, Art. 24)21. Auf der gleichen Linie liegt jetzt auch das amerikanische Recht: hat der Untergebene die Rechtswidrigkeit des Befehls nicht erkannt und hat er sie auch als vernünftiger Mensch nicht erkennen können, so ist er entschuldigt (Basic Field Manual, Rules of Land Warfare, 1956, Art. 409)22. Das spanische Recht stimmt im wesentlichen mit dem deutschen überein (Art. 8 Nr. 12 C.p., Art. 25 Côdigo penal militar von 1985)23. Das niederländische Recht stellt die Frage der Verantwortlichkeit des Untergebenen in das Ermessen des Gerichts 24. In Belgien ist der rechtswidrige Befehl, den der Untergebene guten Glaubens ausgeführt hat, ein Strafausschließungsgrund (excuse absolutoire) (Art. 152 und 260 C.p.) 25 . Im brasilianischen Recht ist der offensichtlich rechtswidrige Befehl nicht verbindlich, der Vorgesetzte ist als mittelbarer Täter strafrechtlich verantwortlich (Art. 22 C.p.). Der Untergebene, der einen nicht offensichtlich rechtswidrigen Befehl ausführt, ohne die Rechtswidrigkeit zu erkennen, ist entschuldigt; die Offensichtlichkeit der Rechtswidrigkeit bestimmt sich nach den Umständen der Tat und der Intelligenz und Kultur des Untergebenen26. 2. Der Ausschnitt aus fremden Rechten zeigt, daß eine übereinstimmende Regelung des Befehlsproblems nicht besteht. Immerhin läßt sich daraus erkennen, daß keine der genannten Rechtsordnungen dem Grundsatz des unbedingten Gehorsams folgt, aber auch keine den 15 Zu § 535 des früheren österreichischen StGB, der den Befehl als Entschuldigungsgrund ausdrücklich ausschloß, vgl. Rittler, Bd. I S. 135 f. 16 Comtesse , Art. 18 MStGB Anm. 6; Logoz, SchwZStr 30 (1917) S. 250ff.; Kohli, Handeln auf Befehl S. 37ff. 17 Vgl. dazu Müller-Rappard, L'ordre supérieur S. 102 ff.; Oehler, Stock-Festschrift S. 250 ff. 18 Auch der französische Beitrag von Paucot, Rev dr pén mil Χ (1971) S. 160 ff. gibt darüber keinen Aufschluß. 19 Vgl. Bettiol/Pettoello MantovaniDiritto penale S. 373 ff.; Nuvolone, Rassegna di giustizia militare 1979, 22 ff. 20 Uber die eigenartige Rechtsentwicklung in Großbritannien und den USA vgl. Fuhrmann, Der höhere Befehl S. 32 ff.; Vogler, Rev dr pén mil VII (1968) S. 123 ff.; Stubbs y Rev dr pén mil Χ (1971) S. 283 ff. 21 Vgl. Grünhut, Das englische Strafrecht S. 206; Kenny /Turner, Outlines S. 67. 22 Honig, Das amerikanische Strafrecht S. 165; Dommer, Rev dr pén mil Χ (1971) S. 305 ff. 23

Vgl. Rodriguez Devesa/ Serrano Gomez, Derecho penal S. 521 ff.; Cobo del Rosal/Vi-

ves Anton, Derecho penal S. 531 f.; Mir Puig, Adiciones Bd. I S. 547ff.; Rodriguez Devesa, Correia-Festschrift (Sonderdruck). Zur Guardia Civil Queralt y Jiménez, Obediencia S. 452 ff. 24 Vgl. Kersten, Rev dr pén mil Χ (1971) S. 256 f. 25 Vgl. Hennau/Verhaegen, Droit pénal général Nr. 266; Dupont /Verstraeten, Handboek Nr. 356. 26

Vgl. Fragoso, Liçôes S. 221 f.; da Costa jr., Comentärios, Art. 22 Anm. 2; de Jesus, Di-

reito penal S. 435 ff. 3*

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§ 47 Pflichtenkollision, U n z u m u t b a r k e i t , Gewissensentscheidung

Untergebenen völlig schutzlos läßt27. Die Regelung des § 5 WStG liegt etwa in der Mitte zwischen diesen beiden Extremen und stimmt mit anderen großen Rechtsordnungen überein.

§ 47 Pflichtenkollision, Unzumutbarkeit und Gewissensentscheidung als übergesetzliche Entschuldigungsgründe Achenbach, Wiederbelebung der allgemeinen Nichtzumutbarkeitsklausel im Strafrecht? JR 1975, 492; Arndt, Umwelt und Recht, NJW 1966, 2204; Baratta, Antinomie giuridiche e conflitti di coscienza, 1963; Bloy, Die dogmatische Bedeutung der Strafausschließungs- und Strafaufhebungsgründe, 1976; Bockelmann, Zur Problematik der Sonderstellung von Überzeugungsverbrechern, Festschrift für H. Welzel, 1974, S. 543; Böckenförde, Das Grundrecht der Gewissensfreiheit, Veröffentlichungen der Vereinigung der deutschen Staatsrechtslehrer, Heft 28, 1970, S. 33; Bopp, Der Gewissenstäter und das Grundrecht der Gewissensfreiheit, 1974; Brauneck, Der strafrechtliche Schuldbegriff, GA 1959, 261; Drost, Die Zumutbarkeit bei vorsätzlichen Delikten, GA 77 (1933) S. 175; Ebert, Der Überzeugungstäter in der neueren Rechtsentwicklung, 1975; End, Existentielle Handlungen im Strafrecht, 1959; Eser, Sterbewille und ärztliche Verantwortung, Medizinrecht 1985, 6; Fornasari, Ii principio di inesigibilità nel diritto penale, 1990; Freudenthal, Schuld und Vorwurf im geltenden Strafrecht, 1922; Gallas, Pflichtenkollision als Schuldausschließungsgrund, Festschrift für E. Mezger, 1954, S. 311; Goldschmidt, Normativer Schuldbegriff, Festgabe für R. v. Frank, Bd. I, 1930, S. 428; Großmann, Die Grenze von Vorsatz und Fahrlässigkeit, 1924; Grünhut, Grenzen des übergesetzlichen Notstands, ZStW 51 (1931) S. 455; Günther, Strafrechtswidrigkeit und Strafunrechtsausschluß, 1983; Hanack, Anmerkung zu LG Hamburg vom 9.3.1976, NJW 1976, 1758; Härtung, Anmerkung zu OGH 2, 117, NJW 1950, 151; Heinitz, Der Überzeugungstäter im Strafrecht, ZStW 78 (1966) S. 615; Henkel, Der Notstand nach gegenwärtigem und künftigem Strafrecht, 1932; derselbe, Zumutbarkeit und Unzumutbarkeit als regulatives Rechtsprinzip, Festschrift für E. Mezger, 1954, S. 249; Arthur Kaufmann, Rechtsfreier Raum usw., Festschrift für R. Maurach, 1972, S. 327; Küper, Noch einmal: Rechtfertigender Notstand, Pflichtenkollision und übergesetzliche Entschuldigung, JuS 1971, 474; derselbe, Grundfragen der „Differenzierung" zwischen Rechtfertigung und Entschuldigung, JuS 1987, 81; derselbe, Die dämonische Macht des „Katzenkönigs" usw., JZ 1989, 617; Lang-Hinrichsen, Epoché und Schuld, Festschrift für J. Bärmann, 1975, S. 583; Liepmann, Literaturbericht, ZStW 43 (1922) S. 710; Lücke, Der allgemeine Schuldausschließungsgrund der Unzumutbarkeit usw., JR 1975, 55; Mangakis, Die Pflichtenkollision als Grenzsituation des Strafrechts, ZStW 84 (1972) S. 447; Marcetus, Der Gedanke der Zumutbarkeit, Strafr. Abh. Heft 243, 1928; Maurach, Kritik der Notstandslehre, 1935; Moos, Der Verbrechensbegriff in Österreich im 18. und 19. Jahrhundert, 1968; Müller-Dietz, Gewissensfreiheit und Strafrecht, Festschrift für K. Peters, 1974, S. 91; Nowakowski, Probleme der Strafrechtsdogmatik, JBl 1972, 19; Oehler, Die Achtung vor dem Leben und die Notstandshandlung, JR 1951, 489; Otto, Pflichtenkollision und Rechtswidrigkeitsurteil, 3. Auflage 1978; Peters, Zur Lehre von den persönlichen Strafausschließungsgründen, JR 1949, 496; derselbe, Anmerkung zu BVerfGE 32, 98, JZ 1972, 85; Platzgummer, Die „Allgemeinen Bestimmungen" des Strafgesetzentwurfs usw., JBl 1971, 236; Roxin, „Schuld" und „Verantwortlichkeit" als strafrechtliche Systemkategorien, Festschrift für H. Henkel, 1974, S. 171; derselbe, Rechtfertigungs- und Entschuldigungsgründe in Abgrenzung von sonstigen Strafausschließungsgründen, JuS 1988, 425; derselbe, Die Gewissenstat als Strafbefreiungsgrund, Festschrift für W. Maihofer, 1988, S. 389; Rudolphi, Die Bedeutung eines Gewissensentscheides für das Strafrecht, Festschrift für H. Welzel, 1974, S. 605; Schaff stein, Die Nichtzumutbarkeit als allgemeiner übergesetzlicher Schuldausschließungsgrund, 1933; Eb. Schmidt, Das Problem des übergesetzlichen Notstands, Mitt IKV Bd. V (1931) S. 131; derselbe, Anmerkung zu OGH 1, 321, SJZ 1949, 559; R. Schmitt, Der Arzt und sein lebensmüder Patient, JZ 1984, 866; derselbe, Arztliche Entscheidungen zwischen Leben und Tod in strafrechtlicher Sicht, JZ 1985, 365; Schumacher, Um das Wesen der Strafrechtsschuld, 1927; Siegert, Notstand und Putativnotstand, 1931; Spendel, Der Conditio-sine-qua-non-Gedanke als Strafmilderungsgrund, Festschrift für 27 Vgl. Vogler, Rev dr pén mil VII (1968) S. 126 f. Zur deutschen Rspr. in der Zeit von 1945 bis 1965 Ducklau, Die Befehlsproblematik bei NS-Tötungsverbrechen, Diss. Freiburg 1976.

I. D i e Pflichtenkollision als übergesetzlicher Entschuldigungsgrund

501

Κ. Engisch, 1969, S. 509; Sproß, Die Unrechts- und Strafbegründung bei dem Überzeugungsund Gewissenstäter, 1992; Wachinger, Der übergesetzliche Notstand nach der neuesten Rechtsprechung des RG, Festgabe für R. v. Frank, Bd. I, 1930, S. 469; v. Weher, Die Pflichtenkollision im Strafrecht, Festschrift für W. Kiesselbach, 1947, S. 233; Wegner, Zum Notstand im Entwurf eines allgemeinen deutschen StGB 1925, JR 1925, 578; Welzel, Anmerkung zu OGH 1, 321, MDR 1949, 373; derselbe, Zum Notstandsproblem, ZStW 63 (1951) S. 47; Wittig, Der übergesetzliche Schuldausschließungsgrund der Unzumutbarkeit in verfassungsrechtlicher Sicht, JZ 1969, 546. Rechtfertigungsgründe werden aus der Rechtsordnung im ganzen hergeleitet, sie können dem Gesetzesrecht, dem Gewohnheitsrecht oder dem überpositiven Recht angehören (vgl. oben § 31 I I I 1 und 2). Die Entschuldigungsgründe sind dagegen an das Gesetz, und zwar an das Strafgesetz gebunden, denn die Frage, ob gegen den Täter einer tatbestandsmäßig-rechtswidrigen Handlung im Hinblick auf den verminderten Unrechts- und Schuldgehalt der Tat (vgl. oben § 43 I I I 2 b) kein Schuldvorwurf erhoben wird, kann grundsätzlich nur durch den Strafgesetzgeber selbst entschieden werden und nicht der subjektiven Wertung des Rechtsanwenders überlassen bleiben1. Übergesetzliche Entschuldigungsgründe sind deshalb nur als eng begrenzte Ausnahmen in Fällen anzuerkennen, in denen der Unrechts- und Schuldgehalt der Tat in charakteristischer Weise herabgesetzt ist 2 . I. Die Pflichtenkollision als übergesetzlicher Entschuldigungsgrund 1. Bei der Beurteilung von Pflichtenkollisionen ist von der Frage auszugehen, ob eine der kollidierenden Pflichten nach den Regeln des übergesetzlichen Notstands als die höhere bestimmt werden kann. Der Kollisionsfall löst sich dann nach dem allgemeinen Grundsatz, daß in der konkreten Situation allein die höhere Pflicht verbindlich ist. Die geringere Pflicht tritt zurück, ihre Verletzung ist durch rechtfertigende Pflichtenkollision gedeckt (vgl. oben § 33 V 1 a). 2. Die Frage, ob einer Pflichtenkollision Bedeutung als Entschuldigungsgrund zukommt, ist erst aufzuwerfen, nachdem festgestellt ist, daß der Täter rechtswidrig gehandelt hat. Das ist einmal dann der Fall, wenn er die niedrigere Pflicht auf Kosten der höheren erfüllt. Hat sich der Täter dabei über das Rangverhältnis der kollidierenden Pflichten geirrt, so liegt ein Irrtum über die Voraussetzungen des rechtfertigenden Notstands vor (vgl. oben § 41 IV ld). Es gibt jedoch auch Fälle, in denen die Grundsätze des rechtfertigenden Notstands keine Entscheidung über das Rangverhältnis zulassen. Das gilt insbesondere dann, wenn es sich um Pflichten handelt, von deren Erfüllung bzw. Nichterfüllung jeweils Menschenleben abhängen. In diesem Fall greift der allgemeine Grundsatz ein, daß wegen des unvergleichbaren personalen Werts des Menschenlebens jede rein quantitative und qualitative Differenzierung ausgeschlossen ist, so daß die Rechtsordnung auch nicht die Tötung oder Preisgabe eines einzigen Menschen zugunsten des Überlebens vieler anderer billigen kann (vgl. oben § 33 V 1 b). Man kann in diesen Fällen von nicht abwägbaren oder auch von gleichwertigen Pflichten sprechen3. Wer die größere Anzahl von Menschen oder das unter irgendeinem Gesichtspunkt wertvoller 1

Ebenso LK n (Hirsch) Vorbem. 196 vor § 32; Lackner, Vorbem. 30 vor § 32; Maurach/ Zipf Allg. Teil I § 33 Rdn. 15; Schönke/Schröder/Lenckner, Vorbem. 124 vor § 32; Wessels, Allg. Teil Rdn. 433. Auch BGH 2, 194 (204) ist nur so zu verstehen, daß auf eng begrenzte Ausnahmen hingewiesen werden sollte. Vgl. in diesem Sinne vor allem RG 66, 397 (399) sowie BGH NJW 1953, 513 (514). 2 Vgl. dazu Schmidhäuser, Allg. Teil S. 476f.; Wessels, Allg. Teil Rdn. 452. 3 Vgl. v. Weber, Kiesselbach-Festschrift S. 248; Gallas, Beiträge S. 61; Schmidhäuser, Allg. Teil S. 479f.; Baratta, Antinomie giuridiche S. 102 ff.

502

§ 47 Pflichtenkollision, U n z u m u t b a r k e i t , Gewissensentscheidung

erscheinende Leben auf Kosten anderer Menschenleben rettet, handelt also trotz dieser werterhaltenden Tendenz nicht rechtmäßig, weil damit zugleich die ranggleiche Pflicht gegenüber denen, die geopfert werden müssen, verletzt wird (vgl. oben § 33 V l b und c). Beispiele: Als 1939 die Aktion zur Tötung der Geisteskranken einsetzte, haben einzelne Anstaltsärzte an der Aufstellung der „Verlegungslisten" nur deswegen mitgewirkt, weil sie durch Opferung der gänzlich hoffnungslosen Fälle anderen Anstaltsinsassen mit der bewußt unwahren Angabe, sie seien arbeitsfähig oder heilbar, das Leben retten konnten, während sie im Falle einer Weigerung durch willfährige Parteigänger des Regimes ersetzt worden wären, die niemanden geschont hätten (Kollision

von gleichwertigen

Handlungs- und Unterlassungs-

pflichten) (OGH 1, 321 [336ff.]; 2, 117 [122]; LG Köln NJW 1952, 358 [359]; BGH NJW 1953, 513 [514]). Ein Vater kann bei einem Schiffsunglück nur eines seiner zwei in gleicher Lebensgefahr befindlichen Kinder retten. Nach einem Massenunfall auf der Autobahn wählt der Chefarzt einen Schwerverletzten aus, der an das einzige im Krankenhaus vorhandene Beatmungsgerät angeschlossen wird, während ein zweiter, der an sich die gleichen Überlebenschancen hätte, sterben muß (Kollision gleichwertiger Handlungspflichten) 4. Der Arzt läßt die durch den Selbstmordversuch bereits irreparabel geschädigte bewußtlose Patientin sterben, ohne einen Rettungsversuch durch die ihr unerwünschte Intensivmedizin zu unternehmen (Kollision

von Verpflichtung

zum Lehensschutz und Achtung des Selbstbestimmungsrechts)

5

.

In derartigen Fällen ist eine rechtlich unlösbare Pflichtenkollision gegeben. Die Anstaltsärzte durften weder einzelne Patienten opfern, um andere retten zu können, noch durften sie durch Ablehnung jeder Mitwirkung an der Tötungsaktion alle Patienten der Vernichtung preisgeben. Der Vater darf die Rettung keines seiner Kinder unterlassen. Der Chefarzt darf keinem der beiden Schwerverletzten die allein Rettung versprechende Hilfe durch den Anschluß an das Beatmungsgerät versagen. Der Arzt darf im Falle der Suizidpatientin weder auf die Intensivbehandlung verzichten noch ihr Selbstbestimmungsrecht mißachten, doch wird seine „Gewissensentscheidung" respektiert (BGH 32, 367 [381]). In solchen Fällen ist die Erfüllung der einen Pflicht der Rechtsordnung ebenso wichtig wie die Erfüllung der anderen, nur ist die Erfüllung beider Pflichten zur gleichen Zeit tatsächlich unmöglich. Der Mensch, der in einer solchen unlösbaren Pflichtenkollision steht, handelt somit, wie er sich auch immer entscheiden mag, in jedem Falle rechtswidrig (vgl. oben § 33 V 1 b und c). 3. In den Fällen einer rechtlich unlösbaren Pflichtenkollision ist die Entscheidung damit in den Schuldbereich verwiesen. Es kann sein, daß der Täter die Alternative, die er wählt, nach gewissenhafter Prüfung für die rechtlich verbindliche hält, etwa weil er sich damit für das kleinere Übel entscheidet. Dann läge ein Verbotsirrtum (Bestandsirrtum) vor, der ihn, da er in der Regel nicht vermeidbar ist, vom Schuldvorwurf entlastet. Aber auch wenn sich der Täter der Ausweglosigkeit der Lage bewußt ist und mit voller Verbotskenntnis handelt, ist er entschuldigt 6. 4

Weitere Beispielsfälle bei End y Existentielle Handlungen S. 60 ff. Dazu kritisch R. Schmitt, JZ 1984, 868; Eser, Medizinrecht 1985, 15 f. 6 So die überw. L.; vgl. Baumann/Weber, Allg. Teil S. 452; Jakobs, Allg. Teil 20/40ff.; Dreh er/Tröndle, Vorbem. 15 vor § 32; Lackner, Vorbem. 31 vor § 32; End, Existentielle Handlungen S. lOff.; Gallas, Beiträge S. 76; Härtung, NJW 1950, 155; Henkel, Mezger-Festschrift S. 300; Küper, JuS 1987, 90f.; derselbe, JZ 1989, 626ff. (zum Problem der irrigen Annahme der Pflichtenkollision); Maurach/Zipf, Allg. Teil I § 33 Rdn. 31 (Ausschluß der Tatverantwortung); Eb. Schmidt, SJZ 1949, 568 ff.; Schönke/Schröder/Lenckner, Vorbem. 117 5

vor § 32; v. Weber, Kiesselbach-Festschrift S. 250; Welzel, M D R 1949, 375; derselbe, Lehr-

buch S. 184 ff.; Schmidhäuser, Allg. Teil S. 476 f. Für einen persönlichen Strafausschließungsgrund aber OGH 1, 321 (335); 2, 117 (126); zustimmend Peters, JR 1949, 496ff.; Oehler, JR 1951, 489 ff.; LK S (Jagusch) § 54 Anm. 10. Für einen „Strafunrechtsausschließungsgrund" Günther, Strafrechtswidrigkeit S. 333 ff., für einen Rechtfertigungsgrund Brauneck, GA 1959,

I I . D i e U n z u m u t b a r k e i t als übergesetzlicher Entschuldigungsgrund

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Der Grund liegt darin, daß sowohl der Unrechts- als auch der Schuldgehalt der Tat wesentlich herabgesetzt ist 7 : der Unrechtsgehalt im Hinblick auf die vom Täter erfüllte Pflicht, der Schuldgehalt deswegen, weil im Falle einer unlösbaren Pflichtenkollision mehr als gewissenhaftes Handeln nicht zu verlangen ist. „Die Rechtsordnung kann die seelische Einstellung des Täters nicht mißbilligen, der in einer Situation, die nur noch Raum für eine persönliche Entscheidung läßt, diese Entscheidung nach gewissenhafter Prüfung trifft und sich dabei von Erwägungen leiten läßt, die seine Achtung vor den Grundwerten des Rechts bezeugen" (Gallas). Damit ist aber nicht gesagt, daß der Täter sich unbedingt für das „kleinere Übel" entscheiden müßte, um entschuldigt zu sein8. Vielmehr muß auch derjenige vom Schuldvorwurf frei bleiben, der es nicht über sich bringt, mit eigener Hand in den Lauf des Schicksals einzugreifen. II. Die Unzumutbarkeit als übergesetzlicher Entschuldigungsgrund 1. Die normative Schuldlehre, die das Wesen der Schuld in der Bewertung der Willensbildung erblickt und den Schuldvorwurf demgemäß auf das individuelle „Anders-handelnkönnen" des Täters gründet (vgl. oben § 38 I I 3), führte in letzter Konsequenz zu der Forderung, die Unzumutbarkeit normgemäßen Verhaltens als allgemeinen übergesetzlichen Entschuldigungsgrund anzuerkennen. Von einem aus der Not der Nachkriegszeit geborenen individual-ethischen Schuldbegriff ausgehend kam Freudenthal zu dem Ergebnis, „daß keine kriminelle Strafe verdient, wer nach den Umständen der Tat ihre Begehung nicht vermeiden konnte"9. Er dachte dabei ebenso an „Gefahren für die wirtschaftliche und soziale Existenz" wie an den „drohenden Zwang, die dringendsten Rücksichten allgemein menschlicher Art verletzen zu müssen". Während sich diese subjektivistische Unzumutbarkeitslehre angesichts der damit verbundenen Gefahren für die Festigkeit und Gleichmäßigkeit der Strafrechtspflege nicht durchsetzen konnte10, hat die Annahme eines übergesetzlichen Entschuldigungsgrundes auf der Basis der Motivationsfähigkeit des Durchschnittsmenschen eine Zeitlang Anerkennung gefunden (§ 25 Ε 1930)11, zumal auch die Judikatur dieser Auffassung zuzu271. Für „Unverbotenheit" der Tat Blei, Allg. Teil S. 213 f.; Arthur Kaufmann, MaurachFestschrift S. 336 ff. Für „Offenlassen der Schuldfrage" Lang-Hinrichsen, Bärmann-Festschrift S. 602. Für Strafmilderungsgrund Spendet, Engisch-Festschrift S. 523 ff. Differenzierend Otto, Pflichtenkollision S. 99 ff. Nach Fallgruppen unterscheidet auch Mangakis, ZStW 84 (1972) S. 472 ff., der jedoch alle diese Fälle auf der Unrechtsebene und nicht erst im Schuldbereich löst. 7

So Schönke/Schröder/Lenckner,

Vorbem. 117 vor §32; Küper, JuS 1971, 477;

LK U

(Hirsch) Vorbem. 212 vor § 32. Dagegen stellen Roxin, Henkel-Festschrift S. 195; derselbe, Allg. Teil I § 22 Rdn. 143 f. und Achenbach, JR 1975, 495 auch hier unmittelbar auf die Strafzwecklehre ab. 8 So aber die überw. L.; vgl. Welzel, Lehrbuch S. 185; LG Köln NJW 1952, 358 (359); dagegen Gallas, Beiträge S. 76 sowie Roxin, Allg. Teil I § 22 Rdn. 156, der in diesen Fällen nur bei Untätigbleiben Strafausschluß annimmt. 9 Freudenthal, Schuld und Vorwurf S. 25 ff.; zurückhaltend dagegen Mezger, Lehrbuch S. 373 f. 10 Vgl. dagegen vor allem Großmann, Vorsatz und Fahrlässigkeit S. 11 ff.; Schumacher, Wesen der Strafrechtsschuld S. 25 ff.; Liepmann, ZStW 43 (1922) S. 713 („Verweichlichung staatsbürgerlicher Pflichten"); Maurach, Kritik der Notstandslehre S. 132 ff. 11

Vgl. Goldschmidt, Frank-Festgabe Bd. I S. 448 ff.; v. Liszt/ Schmidt, S. 263; Henkel,

Notstand S. 62; Eb. Schmidt, Mitt IKV Bd.V (1931) S. 164; Siegert, Notstand S. 44ff.; Wegner, JR 1925, 582; mit Beschränkung auf die Fahrlässigkeit auch Frank, § 51 Vorbem. II 2; Marcetus, Zumutbarkeit S. 57 f. Der Gedanke lebt heute fort in dem allgemeinen entschuldigenden Notstand des § 10 österr. StGB (OGH SSt 29, 83). Vgl. dazu Platzgummer, JBl 1971, 242; Kienapfel, Grundriß Ζ 20 Rdn. 2. Auf die Anknüpfung des Gedankens bei Wessely und Wahlberg weist Moos, Der Verbrechensbegriff in Österreich S. 414, 456 hin. Zur Geschichte des Gedankens der Unzumutbarkeit als übergesetzlicher Schuldausschließungsgrund Fornasari, II principio di inesigibilità S. 53 ff.

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§ 47 Pflichtenkollision, U n z u m u t b a r k e i t , Gewissensentscheidung

neigen schien (RG 30, 25; 36, 78; 58, 97; 58, 226; 60, 101; 63, 223; vgl. zu dieser Rechtsprechung unten § 47 II 3). 2. Diese Lehre ist jedoch abzulehnen12; sie ist heute in den Hintergrund getreten (anders aber noch O L G Hamm NJW 1976, 721) 13 . Nachdem zunächst das RG klargestellt hatte, „daß nach geltendem Recht dem Täter bei vorsätzlichen Straftaten andere als die im Gesetz umschriebenen Entschuldigungsgründe nicht zugebilligt werden können" (RG 66, 397 [399]), setzte sich auch in der Wissenschaft die Erkenntnis durch, daß das Strafrecht im Schuldbereich Maßstäbe braucht, die zwar auf die Bewertung der Willensbildung zugeschnitten, aber doch formalisiert und gesetzlich festgelegt sein müssen. Ein übergesetzlicher Entschuldigungsgrund der Unzumutbarkeit würde, ob man ihn subjektiv oder objektiv versteht, die generalpräventive Wirkung des Strafrechts schwächen und zu Ungleichheit in der Rechtsanwendung führen, da die „Unzumutbarkeit" kein brauchbarer Maßstab ist. Außerdem stellen die Entschuldigungsgründe nach der klaren Systematik des Gesetzes Ausnahmevorschriften dar, die einer ausdehnenden Anwendung nicht fähig sind. Selbst in schwierigen Lebenslagen muß die Gemeinschaft Rechtsgehorsam fordern können, auch wenn dem Betroffenen erhebliche Opfer abverlangt werden 14 . 3. Die Unzumutbarkeit schränkt die Strafbarkeit bei einzelnen Tatbeständen ein, sie ist aber auch in diesen Fällen nicht als allgemeiner übergesetzlicher Entschuldigungsgrund zu verstehen. a) Nach § 258 V ist straffrei, wer durch die Strafvereitelung zugunsten eines anderen erreichen will, daß er selbst nicht bestraft wird. Die Berücksichtigung der notstandsähnlichen Lage führt hier zur Anerkennung eines besonderen, streng an den Tatbestand der Strafvereitelung gebundenen Entschuldigungsgrundes15. Wer dagegen zum Zwecke der Selbstbegünstigung einen anderen Tatbestand erfüllt (z.B. Betrug, Meineid, falsche Verdächtigung), bleibt nicht etwa straflos (BGH 2, 375 [378]); 15, 53 [54]). Ein besonderer Entschuldigungsgrund 12

Vgl. schon früher Wackinger,

S. 466; Schaffstein,

tik S. 118 ff. 13

Frank-Festgabe Bd. I S. 496; Grünhut, ZStW 51 (1931)

Nichtzumutbarkeit S. 78 ff.; Drost, GA 77 (1933) S. 175 ff.; Maurach, Kri-

So die h.L.; vgl. Achenbach, JR 1975, 492; Blei, Allg. Teil S. 213; Bockelmann/Volk,

Allg. Teil S. 131; Bloy, Strafausschließungsgründe S. 127; Eser/Burkhardt, Strafrecht I Nr. 18 A Rdn. 53; LK n (Hirsch) Vorbem. 196 vor § 32; Henkel, Mezger-Festschrift S. 295; Kohlrausch/Lange, Vorbem. III vor § 51; Schönke/Schröder/Lenckner, Vorbem. 122 vor § 32; Maurach/Zipf Allg. Teil I § 33 Rdn. 15; Roxin, Allg. Teil I § 22 Rdn. 139ff.; Stratenwerth, Allg. Teil I Rdn. 603; SK (Rudolphi) Vorbem. 10 vor § 19; Wessels, Allg. Teil Rdn. 451; Welzel, Lehrbuch S. 182. Anders jedoch Nowakowski, JBl 1972, 29f.; Baumann/ Weber, Allg. Teil S. 455 (Anwendung auf eine „Zwangssituation ähnlicher Stärke", wie sie in § 35 als entschuldigend anerkannt ist); Schmidhäuser, Allg. Teil S. 477 („analoge Anwendung"); Wittig, JZ 1969, 547 („Verwirklichung des Verfassungssatzes nulla poena sine culpa in atypischen Fällen"); Lücke, JR 1955, 55 ff. (Analogie zu § 242 BGB); Jakobs, Allg. Teil 17/74 („Unzuständigkeit des Täters für die Bedingungen der Tat"). Dagegen deutlich Blei,

JA 1975, 238; Achenbach, JR 1975, 495. 14

Vgl. Rodriguez Devesa/ Serrano Gômez, Derecho penal S. 644, die Rechtsordnung verlange in vielen Fällen „en contra de los intereses individuals y en benificio de la comunidad, que el individuo se sacrifique". Nach Stree, in: Roxin, u.a., Einführung S. 57 hätte der Gesetzgeber Strafmilderung und sogar Absehen von Strafe fakultativ zulassen sollen. In einem System staatlich befohlener Verbrechen (Judenmorde in einem Vernichtungslager) will LG Hamburg NJW 1976, 1756 m.zust. Anm. Hanack einen übergesetzlichen Schuldminderungsgrund in Analogie zu §§ 17 S. 2, 35 II, 13 II annehmen. 15 Vgl. BGH 9, 71 (73); Dreher/Tröndle, § 258 Rdn. 13; Roxin, Allg. Teil I § 22 Rdn. 134 (Ausschluß strafrechtlicher Verantwortlichkeit); Schmidhäuser, Studienbuch S. 257; Welzel, Lehrbuch S. 182.

I I I . D i e Straftat aufgrund einer Gewissensentscheidung

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16

ist auch das Angehörigenprivileg in § 139 III 1 und § 258 VI . Bei vorsätzlicher Herbeiführung eines Verkehrsunfalls wird der Täter im Hinblick auf die Verkehrsunfallflucht (§ 142) von einer Minderheit als entschuldigt angesehen17. b) Die Rechtsprechung hat ferner das Maß der vom Täter persönlich zu verlangenden Sorgfalt bei der bewußten Fahrlässigkeit durch den Zumutbarkeitsgedanken eingeschränkt. Es handelt sich dabei aber nicht um einen übergesetzlichen Entschuldigungsgrund, sondern um die Begrenzung der individuellen Sorgfaltspflicht: Wer mit der Verwirklichung des Straftatbestandes rechnet, aber darauf vertraut, den Erfolg vermeiden zu können, soll nicht genötigt sein, von seiner Handlung Abstand zu nehmen, wenn schwerwiegende und achtenswerte Beweggründe dafür sprechen, das Risiko zu wagen18. Beispiel: Der Täter hatte als Droschkenkutscher ein Pferd, das unter bestimmten, ihm bekannten Umständen regelmäßig durchging („Leinenfänger"), eingespannt, weil er durch Widerspruch gegenüber dem Arbeitgeber seine Stelle zu verlieren fürchtete. Er wurde, nachdem ein Unfall geschehen war, freigesprochen, weil es ihm nicht „als Pflicht zugemutet werden konnte, den Verlust seiner Stellung auf sich zu nehmen" (RG 30, 25 [28]; vgl. übereinstimmend RG 36, 78 [80]; 57, 172 [174]; 74, 195 [198]) (vgl. näher unten § 57 IV). c) Auch bei den Unterlassungsdelikten wird die Handlungspflicht durch das regulative Prinzip der Zumutbarkeit begrenzt. Für die unterlassene Hilfeleistung ergibt sich dies schon unmittelbar aus dem Gesetz (§ 323 c), aber auch bei den unechten Unterlassungsdelikten hat die Rechtsprechung eine entsprechende Einschränkung der sich aus der Garantenstellung ergebenden Handlungspflichten angenommen (RG 58, 97 [98]; 58, 226 [2271· BGH 6, 46 [57]) (vgl. dazu unten § 59 VIII 3) oder doch erwogen (BGH NStZ 1984, 164)". III. Die Straftat aufgrund einer Gewissensentscheidung 1. Das Grundgesetz bestimmt in Art. 4 I: „Die Freiheit des Glaubens, des Gewissens und die Freiheit des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses sind unverletzlich". Als Gewissensentscheidung ist nach dem Bundesverfassungsgericht „jede ernste sittliche, d.h. an den Kategorien von ,Gut' und ,Böse' orientierte Entscheidung anzusehen, die der Einzelne in einer bestimmten Lage als für sich bindend und unbedingt verpflichtend innerlich erfährt, so daß er gegen sie nicht ohne ernste Gewissensnot handeln könnte" (BVerfGE 12, 45 [55]). 2. Bei Beurteilung der Frage, ob und inwieweit die verfassungsrechtliche Garantie der Unverletzlichkeit der Glaubens- und Gewissensfreiheit Einfluß auf die Strafbarkeit eines Verhaltens hat, das aus einer Gewissensentscheidung entsteht 20 , ist zwischen der durch Unterlassung und der durch positives Tun begangenen Straftat zu unterscheiden. a) In seltenen Ausnahmefällen hat die Rechtsprechung bei der an sich strafbaren Unterlassung eines gebotenen Tuns mit Rücksicht auf die Gewissensentscheidung des Unterlassungstäters Straflosigkeit angenommen. So hat das Bundesverfassungsgericht die Verurteilung eines Ehemanns, der Angehöriger der religiösen „Vereinigung des evangelischen Brüdervereins" war, wegen unterlassener Hilfeleistung nach 16 17

LK n (Hirsch) Vorbem. 210 vor § 32; Roxin, Allg. Teil I § 22 Rdn. 135. So Dreher/Tröndle, § 142 Rdn. 36; LK n (Hirsch) Vorbem. 211 vor § 32. Anders BGH

24, 382 (385 f.); Schönke/Schröder /Cramer, § 142 Rdn. 15. 18 Vgl. hierzu Dreher/Tröndle, § 15 Rdn. 16; LK n (Hirsch) Vorbem. 206 vor § 32; Schönke / Schröder / Lenckner, Vorbem. 126 vor § 32.

19 Vgl. LK n (Hirsch) Vorbem. 205 vor § 32; Schönke/Schröder/Lenckner, Vorbem. 125 vor § 32; Fornasari, Ii principio di inesigibilità S. 251 ff., 312 ff., der jedoch bei § 323 c Tatbestandsausschluß, bei den unechten Unterlassungsdelikten Rechtfertigung annimmt. 20 Hierzu allgemein Bopp, Der Gewissenstäter, 1974; Ebert, Der Überzeugungstäter, 1975; Müller-Dietz, Peters-Festschrift S. 91 ff.

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§ 47 Pflichtenkollision, U n z u m u t b a r k e i t , Gewissensentscheidung

§ 323 c (echtes Unterlassungsdelikt) aufgehoben. Dieser hatte es unterlassen, bei seiner Ehefrau, die der gleichen Glaubensgemeinschaft angehörte, seinen Einfluß dahin geltend zu machen, daß sie sich ärztlichem Rat gemäß nach einer Geburt in ein Krankenhaus begebe und dort eine Bluttransfusion vornehmen lasse. Der Ehemann fühlte sich in Ubereinstimmung mit seiner Frau an die Lehre des Brüdervereins gebunden, daß in einem solchen Fall das Gebet zu Gott der „bessere Weg" sei. Die Frau starb, hätte aber durch ärztliche Hilfe gerettet werden können. Das Gericht entschied, das Verhalten des Ehemanns sei zwar zu mißbilligen, es sei aber „nicht mehr in dem Maße vorwerfbar, daß es gerechtfertigt wäre, mit der schärfsten der Gesellschaft zu Gebote stehenden Waffe, dem Strafrecht, gegen den Täter vorzugehen" (BVerfGE 32, 98 ff. mit zust. Anm. Peters, JZ 1972, 85) 21 . Ebenso hat der Bundesgerichtshof einen Arzt, der seine schwer leidende und nach einem Selbstmordversuch bewußtlose Patientin auf ihren ausdrücklichen Wunsch nicht in eine Intensivstation einwies, sondern bis zum Eintritt des Todes, ohne etwas zu veranlassen, bei ihr ausharrte, nicht wegen Tötungsversuchs durch Unterlassen (unechtes Unterlassungsdelikt) verurteilt, weil „seine ärztliche Gewissensentscheidung nicht von Rechts wegen als unvertretbar angesehen werden" könne ( B G H 32, 367 [380f.]) 22 . Die Möglichkeit der Berücksichtigung von Gewissensentscheidungen wird bei Unterlassungstaten vielfach vertreten 3 . Dem ist zuzustimmen, weil es in der Tat unvertretbar sein kann, jemanden gegen seine Gewissensentscheidung durch Strafdrohung zu einer Handlung zu zwingen, die er ablehnt. Die Anerkennung der Gewissensentscheidung als Strafausschließungsgrund bei Unterlassungstaten setzt allerdings voraus, daß der Betroffene die zu seinen Gunsten gebotene Handlung des Unterlassungstäters wie in den beiden vorstehenden Fällen selbst abgelehnt hat. Denn da die inhaltliche Richtigkeit der Gewissensentscheidung durch das Gericht nicht nachgeprüft werden darf 2 4 , müßte anderenfalls auch jemand straflos bleiben, der einen bewußtlosen Verunglückten sterben läßt, weil er das Unglück als göttliche Strafe ansieht, der der Mensch ihren Lauf lassen müsse. b) Über die Grenze der Unterlassungstat w i l l Roxin 25 bei einzelnen Fällen des positiven Tuns hinausgehen. So soll jemand, der in unentrinnbarem Gewissenskonflikt einen schwer leidenden Kranken auf sein ausdrückliches und ernstliches Verlangen entgegen § 216 tötet, straffrei bleiben. Das gleiche soll gelten für jemanden, der unvermeidlich daran gehindert ist, einen nach seinem Glauben unbedingt vorgeschriebenen Gottesdienst rechtzeitig zu besuchen, und unter Verstoß gegen § 248 b ein fremdes Fahrrad oder Kraftfahrzeug benutzt. Dasselbe wird angenommen, wenn sich jemand innerlich zu einem Geheimnisverrat oder einer Nötigung gedrängt fühlt. Die Ausdehnung der Gewissensentscheidung auf Straftaten, die durch positives Tun begangen werden, ist jedoch abzulehnen 26 , da auf diese Weise der Schutz der Mitbürger durch das Strafrecht weithin zur Disposition des Gewissenstäters gestellt würde. Im Sinne der teilweisen Außerkraftsetzung der Strafrechtsordnung ist jedoch Art. 4 I G G nicht zu verstehen. 21

Hierzu Sproß, Überzeugungs- und Gewissenstäter S. 64 f. Hierzu teilweise kritisch R. Schmitt, JZ 1985, 367f.; ferner derselbe, JZ 1984, 866. 23 So Arndt, NJW 1966, 2204f.; Peters., JZ 1972, 85f.; Schönke/Schröder/Lenckner, Vorbem. 119 f. vor § 32. 24 Böckenförde, Das Grundrecht der Gewissensfreiheit S. 69 ff. 25 Roxin, Maihofer-Festschrift S. 394; derselbe, Allg. Teil I § 22 Rdn. 106. Ebenso Maunz/Dürig, Art. 4 GG Rdn. 140; Rudolphi, Welzel-Festschrift S. 628 f. 26 Ebenso Bockelmann, Welzel-Festschrift S. 543; Heinitz, ZStW 78 (1966) S. 632; LK n (Hirsch) Vorbem. 222 vor § 32; Schönke/Schröder/Lenckner, Vorbem. 119 vor § 32. 22

I. D i e Rechtsnatur des Irrtums über Entschuldigungsgründe

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§ 48 Der Irrtum über Entschuldigungsgründe Brauneck, Der strafrechtliche Schuldbegriff, GA 1959, 261; Dreher, Anmerkung zu OLG Köln vom 19.10.1961, MDR 1962, 592; Frank, Über den Aufbau des Schuldbegriffs, Gießener Festschrift, 1907, S. 3; Goldschmidt, Der Notstand ein Schuldproblem, Osterr. Zeitschrift f. Strafrecht 1913, 129; Hegler, Die Merkmale des Verbrechens, ZStW 36 (1915) S. 184; Henkel, Der Notstand nach gegenwärtigem und zukünftigem Recht, 1932; Arthur Kaufmann, Die Irrtumsregelung im Strafgesetz-Entwurf 1962, ZStW 76 (1964) S. 543; Klimsch, Die dogmatische Behandlung des Irrtums über Entschuldigungsgründe usw., 1993; Krümpelmann, Die strafrechtliche Behandlung des Irrtums, in: ZStW Beiheft Budapest, 1978, S. 6; Küper, Die dämonische Macht des „Katzenkönigs" usw., JZ 1989, 617; Niese, Die Rechtsprechung des BGH in Strafsachen, JZ 1955, 320; Radbruch, Zur Systematik der Verbrechenslehre, Festgabe für R. v. Frank, Bd. I, 1930, S. 158; Roxin, Die Behandlung des Irrtums im Entwurf 1962, ZStW 76 (1964) S. 582; Schröder, Die Notstandsregelung des Entwurfs 1959 II, Festschrift für Eb. Schmidt, 1961, S. 290; Vogler, Der Irrtum über Entschuldigungsgründe im Strafrecht, GA 1969, 103; Welzel, Die Regelung von Vorsatz und Irrtum im Strafrecht usw., ZStW 67 (1955) S. 198. I. Die Rechtsnatur des Irrtums über Entschuldigungsgründe 1. Ebenso wie beim Irrtum über Rechtfertigungsgründe (vgl. oben § 41 III) sind auch beim Irrtum über Entschuldigungsgründe drei Fälle zu unterscheiden. Die Annahme eines vom Strafrecht nicht anerkannten Entschuldigungsgrundes (Bestandsirrtum) hat auf die Schuld des Täters keinen Einfluß, ebensowenig die irrige Erweiterung der Grenzen (Grenzirrtum), da nur der Gesetzgeber darüber entscheiden kann, in welchen Fällen mit Rücksicht auf die wesentliche Minderung des Unrechts- und Schuldgehalts der Tat kein Schuldvorwurf erhoben wird 1 . Beispiele: Tötung eines geisteskranken Angehörigen, dessen Pflege die Familie stark belastet, unter Berufung auf einen „allgemeinen übergesetzlichen Entschuldigungsgrund der Unzumutbarkeit". Fahnenflucht eines Soldaten, um wirtschaftliche Nachteile der Einziehung zum Wehrdienst zu vermeiden (OLG Hamm NJW 1976, 721). 2. Bedeutsam ist dagegen der Irrtum über die tatsächlichen Voraussetzungen eines anerkannten Entschuldigungsgrundes. Wie die Regelung des Irrtums über die Voraussetzungen des entschuldigenden Notstands in § 35 I I (vgl. oben § 44 V I ) zeigt, handelt es sich dabei weder um einen Tatbestands- noch um einen Verbotsirrtum, sondern um einen Irrtum eigener Art 2 . Beispiele: Die Zeugin schwört einen Meineid zugunsten des Angeklagten, der sie durch Todesdrohungen dazu bestimmt hat; die Gefahr war jedoch nicht gegenwärtig, weil der Angeklagte im Falle einer wahren Aussage in Haft geblieben wäre, was die Zeugin nicht wissen konnte (BGH 5, 371 [374]). Der jugendliche Täter gibt den tödlichen Schuß ab, weil er sonst nach seiner irrigen Vorstellung selbst von einem Dritten erschossen werden würde (RG 64, 31 [32]). Der bei einer Vereinsfeier mitwirkende Arzt, der telefonisch zu seinem plötzlich lebensgefährlich erkrankten Kind gerufen wird, setzt sich fahruntüchtig ans Steuer, ohne daran zu denken, daß er eine Taxe benutzen könnte (OLG Hamm VRS 14, 431). Ein Soldat nimmt auf Befehl eines Offiziers, den er irrig für seinen Vorgesetzten hält, in einer Wirtschaft einen Ausländer fest, der sich in auffälliger Weise nach Angelegenheiten der Bundeswehr erkundigt (§ 5 WStG). § 35 Rdn. 17; Kühl, Allg. Teil § 13 Rdn. 85; LK n (Hirsch) § 35 Vgl. Dreher/Tröndle, Rdn. 75 f.; Schönke/Schröder/Lenckner, § 35 Rdn. 45; SK (Rudolphi) § 35 Rdn. 19; Wessels, 1

Allg. Teil Rdn. 491. 2 Eigenen Regeln folgt ferner auch der Irrtum über die Merkmale des Schuldtatbestandes (vgl. oben § 42 III 1) und der Irrtum über die Notwehrlage bei der Notwehrüberschreitung (Putativnotwehrexzeß) (vgl. oben § 45 II 4, 5).

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§ 48 D e r I r r t u m über Entschuldigungsgründe

II. Die Behandlung des Irrtums über die Voraussetzungen eines Entschuldigungsgrundes 1. Der unvermeidbare Irrtum über die Voraussetzungen eines anerkannten Entschuldigungsgrundes entschuldigt den Täter, weil er subjektiv unter den gleichen Bedingungen handelt, wie wenn die dem Entschuldigungsgrund entsprechende Lage wirklich gegeben gewesen wäre. Er hat den Rettungs- bzw. Gehorsamswillen, wodurch das Handlungsunrecht herabgesetzt wird, und auch seine Willensbildung steht voll unter dem Einfluß der Vorstellung des Zwangs bzw. einer dem Vorgesetzten gegenüber bestehenden Gehorsamspflicht. Darum erscheint auch seine in der Tat sich äußernde Rechtsgesinnung nicht tadelnswerter, als wenn die von ihm irrig angenommene Lage wirklich bestanden hätte. Diese in der Rechtsprechung (RG 66, 222 [227]; O L G Hamm VRS 14, 231 [232]) und in der Literatur 3 schon früher einhellig vertretene Auffassung ist in der Strafrechtsreform von 1975 durch § 35 I I 1 gesetzlich anerkannt worden (vgl. oben § 44 V 1 a). 2. Umstritten war bis dahin die Frage, wie der vermeidbare Irrtum über die Voraussetzungen eines Entschuldigungsgrundes zu behandeln sei (vgl. 2. Auflage S. 382 f.). Ein Teil der Lehre4 und die Rechtsprechung (zuletzt BGH 18, 311 [312]) ließen in diesem Fall im Hinblick auf die Ähnlichkeit mit dem Erlaubnistatbestandsirrtum Fahrlässigkeitsstrafe eintreten. So konnte der Zeuge, der aus erkennbar unbegründeter Angst vor der Gewalttätigkeit politischer Gegner einen Meineid schwor, nur wegen fahrlässigen Falscheids (§ 163) verurteilt werden (RG 66, 222 [227]), und der KZ-Wachmann, dem aus Gleichgültigkeit kein Ausweg einfiel, wie er die Ausführung des ihm erteilten Mordbefehls umgehen könnte, war nur wegen fahrlässiger Tötung (§ 222) zu bestrafen (BGH 18, 311 [312]). Das geltende Recht sieht dagegen in § 35 I I beim vermeidbaren Irrtum über die Voraussetzungen des entschuldigenden Notstands (vgl. oben § 44 V 1 b) die strengere Vorsatzlösung vor (anders die Fahrlässigkeitslösung in § 10 I I 2 österr. StGB), die schon früher in einem Teil des Schrifttums vertreten worden war 5 . Danach ist die Vorsatzstrafdrohung anzuwenden, aber die Strafe wegen des gegenüber dem Normalfall immer noch herabgesetzten Schuldgehalts der Tat nach § 49 I zu mildern. 3. Die Regelung des § 35 I I wird als die vom Gesetz anerkannte Lösung des Problems der Behandlung des vermeidbaren Irrtums über die Voraussetzungen eines Entschuldigungsgrundes über den Notstand hinaus auf andere Fälle entsprechend anzuwenden sein6. 3

Vgl. Frank, Aufbau S. 19; Goldschmidt, Österr. Zeitschrift f. Strafrecht 1913, 136, 166ff.; Hegler, ZStW 36 (1915) S. 216 Fußnote 113; Olshausen, § 52 Anm. 6; Radbruch, Frank-Festgabe Bd. I S. 166; v. Liszt/ Schmidt, S. 288 f.; LK 9 (Baldus) § 52 Rdn. 25; § 54 Rdn. 22; LK 9

(Hirsch) Vorbem. 169 vor § 51; Arthur Kaufmann, ZStW 76 (1964) S. 577f.; Niese, JZ 1953, 323; Roxin, ZStW 76 (1964) S. 609f.; Stratenwerth, Allg. Teil I Rdn. 624; Vogler, GA 1969, 116; Welzel, Lehrbuch S. 182. Ebenso Roxin, Allg. Teil I § 22 Rdn. 59, der aber die Straflosigkeit auf präventive Erwägungen zurückführt. 4 So Baumann, Allg. Teil, 5. Auflage S. 412 f.; Brauneck, GA 1959, 270; Dreher, MDR 1962, 593; Kohlrausch/Lange, § 52 Anm. V; Henkel, Notstand S. 135ff.; Roxin, ZStW 76 (1964) S. 612; Schröder, Eb. Schmidt-Festschrift S. 297. 5 So Arthur Kaufmann, ZStW 76 (1964) S. 578; v. Liszt/ Schmidt, S. 288f.; LK 9 (Baldus) § 52 Rdn. 26; § 54 Rdn. 21; LK 9 (Hirsch) Vorbem. 169 vor § 51; LK 9 (Schroeder) § 59

Rdn. 68; Maurach, Allg. Teil, 4. Auflage S. 480; Stratenwerth, Allg. Teil I, 1. Auflage Rdn. 660; Welzel, Lehrbuch S. 182 und ZStW 67 (1955) S. 222 f.; Vogler, GA 1969, 116; in dieser Richtung auch BGH GA 1967, 113 (114); BGH NJW 1952, 111.

I I . I r r t u m über die Voraussetzungen eines Entschuldigungsgrundes

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Beispiele: Der Soldat nimmt das Vorliegen eines Befehls irrig an, er glaubt etwa, der Befehlende sei sein Vorgesetzter, oder er nimmt irrig an, er befinde sich im Dienst oder es werde Anspruch auf Gehorsam erhoben (§ 5 WStG). Bei der Pflichtenkollision glaubt der Täter irrig an die Unlösbarkeit der Zwangslage, weil er etwa die noch bestehende Transportfähigkeit des Patienten verkennt.

3. Abschnitt: Die Stufen der vorsätzlichen Straftat Die Strafvorschriften des Besonderen Teils beschreiben das Verbrechen regelmäßig im Stadium seiner Vollendung. Damit erhebt sich die Frage, ob die der Vollendung vorgelagerten Stufen der vorsätzlichen Tat straffrei bleiben oder ob sie von den für die Vollendung des Delikts aufgestellten Strafdrohungen mit umfaßt werden. Es gibt mehrere solcher Stufen: Die vorsätzliche strafbare Handlung durchläuft von dem ersten Gedanken an die Tat bis zu ihrem Abschluß einen mehr oder weniger langen Weg (iter criminis), der von der Entschlußfassung über die Vorbereitung, den Anfang der Ausführung, den Abschluß der Tatbestandshandlung, den Eintritt des Erfolgs bis zur Beendigung der Tat führt. Die mit der Verwirklichung sämtlicher Tatbestandsmerkmale eingetretene Vollendung des Verbrechens löst die volle gesetzliche Strafdrohung aus. Der bloße Gedanke ist dagegen niemals strafbar (vgl. oben § 23 V I 2d), der geäußerte Entschluß zur Tat nur nach § 30 I I („SichBereiterklären" zu einem Verbrechen). Zwischen diesen Grenzen stellt sich die Frage nach der Strafbarkeit der Vorbereitungshandlung und des Versuchs. § 49 Begriff, Tatbestand und Bestrafung des Versuchs P. Albrecht, Der untaugliche Versuch, 1973; Alwart, Strafwürdiges Versuchen, 1982; Arzt, Bedingter Entschluß und Vorbereitungshandlung, JZ 1969, 54; J. Baumgarten, Die Lehre vom Versuche der Verbrechen, 1888; Becher, Zur Abgrenzung von Vorbereitung und Versuch, Diss. Münster 1973; Berz, Grundlagen des Versuchsbeginns, Jura 1984, 511; derselbe, Formelle Tatbestandsverwirklichung und materialer Rechtsgüterschutz, 1986; derselbe, Die entsprechende Anwendung von Vorschriften über die tätige Reue am Beispiel der Unternehmensdelikte, Festschrift für W. Stree und J. Wessels, 1993, S. 331; Bitzilekis, Über die strafrechtliche Bedeutung der Abgrenzung von Vollendung und Beendigung, ZStW 99 (1987) S. 723; Blei, Versuch und Rücktritt nach neuem Recht, JA 1975, 95, 167; Bloy, Die dogmatische Bedeutung der Strafausschließungs- und Strafaufhebungsgründe, 1976; Bockelmann, Über das Verhältnis der Begünstigung zur Vortat, NJW 1951, 620; Börker, Die Milderung der Strafe für den Versuch, JZ 1956, 477; Bruns, Die Tragweite des Verbots der Doppelverwertung von Strafmilderungsgründen, JR 1980, 226; Burgstaller, Über den Verbrechensversuch, JBl 1969, 521; derselbe, Versuch und Rücktritt, Strafr. Probleme 3, 1975, S. 7; derselbe, Der Versuch nach § 15 StGB, JBl 1976, 113; v. Buri, Zur Lehre vom Versuche, GS 19 (1867) S. 60; derselbe, Der Versuch des Verbrechens mit untauglichen Mitteln oder an einem untauglichen Objekt, GS 20 (1868) S. 325; derselbe, Versuch und Causalität, GS 32 (1880) S. 321; Burkhardt, Das Unternehmensdelikt und seine Grenzen, JZ 1971, 352; derselbe, Vorspiegelung von Tatsachen als Vorbereitungshandlung zum Betrug, JuS 1983, 426; Coester, Die Vorbereitungshandlung im Ε 1927, Strafr. Abh. Heft 329, 1933; Degener, Strafgesetzliche Regelbeispiele und deliktisches Versuchen, Festschrift für W. Stree und J. Wessels, 1993, S. 305; Delaquis, Der untaugliche Versuch, 1904; Graf zu Dohna, Der Mangel am Tatbe6

So Baumann/Weber,

Allg. Teil S. 446; LK U

(Hirsch) § 35 Rdn. 79; Eser/Burkhardt,

Strafrecht I Nr. 18 A Rdn. 44; Klimsch, Die dogmatische Behandlung des Irrtums S. 169f.; Kühl, Allg. Teil § 13 Rdn. 84; Küper, JZ 1989, 626 ff.; Krümpelmann, ZStW Beiheft Budapest 1978 S. 53 f.; Scholz/Lingens, § 5 WStG Rdn. 3; Schönke/Schröder/Gramer, § 16 Rdn. 31; Wessels, Allg. Teil Rdn. 491. Einschränkend zur Tragweite des § 35 II Schmidhäuser, Allg. Teil S. 470.

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§ 49 Begriff, Tatbestand u n d Bestrafung des Versuchs

stand, Festgabe für K. Güterbock, 1910, S. 35; Dreher, Was bedeutet Milderung der Strafe für den Versuch? JZ 1956, 682; derselbe, Doppelverwertung von Strafzumessungsumständen, JZ 1957, 155; derselbe, Gedanken zur Strafzumessung, JZ 1968, 209; Engisch, Der Unrechtstatbestand im Strafrecht, DJT-Festschrift, Bd. I, 1960, S. 401; Fiedler, Vorhaben und Versuch im Strafrecht, 1967; Frank, Vollendung und Versuch, VDA, Bd. V, 1908, S. 163; Frisch, Die Strafrahmenmilderung beim Versuch, Festschrift für G. Spendel, 1992, S. 381; Fuchs, Probleme des Deliktsversuchs, ÖJZ 1986, 257; Furtner, Rechtliche Vollendung und tatsächliche Beendigung bei einer Straftat, JR 1966, 169; Gallas, Anmerkung zu RG vom 22.4.1937, ΖΑΚ 1937, 437; Geilen, Raub und Erpressung, Jura 1979, 53 m. Forts.; v. Gemmingen, Die Rechtswidrigkeit des Versuchs, Strafr. Abh. Heft 306, 1932; Germann, Über den Grund der Strafbarkeit des Versuchs, 1914; Gössel, Über die Vollendung des Diebstahls, ZStW 85 (1973) S. 591; derselbe, Anmerkung zu BGH 26, 201, JR 1976, 249; Grolmann, Grundsätze der Criminalrechtswissenschaft, 1798; Hall, Über das Mißlingen, Festschrift für E. Wolf, 1962, S. 454; Hau, Die Beendigung der Straftat und ihre rechtlichen Wirkungen, 1974; Herzberg, Der Versuch beim unechten Unterlassungsdelikt, MDR 1973, 89; derselbe, Täterschaft und Teilnahme, 1977; Hettinger, Das Doppelverwertungsverbot bei strafrahmenbildenden Umständen, 1982; Hillenkamp, Anmerkung zu OLG Hamm MDR 1976, 155, MDR 1977, 242; Reinhard v. Hippel, Untersuchungen über den Rücktritt vom Versuch, 1966; Hirsch, Zur Problematik des erfolgsqualifizierten Delikts, GA 1972, 65; Hold v. Ferneck, Der Versuch, 1922; Horn, Der Versuch, ZStW 20 (1900) S. 309; Horstkotte, Zusammentreffen von Milderungsgründen (§ 50 StGB), Festschrift für E. Dreher, 1977, S. 265; Hruschka, Die Dogmatik der Dauerstraftaten und das Problem der Tatbeendigung, G A 1968, 193; derselbe, Anmerkung zu BGH 22, 227, JZ 1969, 607; derselbe, Anmerkung zu BGH 31, 105, JZ 1983, 216; Isenbeck, Beendigung der Tat bei Raub und Diebstahl, NJW 1965, 2326; Jescheck, Wesen und rechtliche Bedeutung der Beendigung der Straftat, Festschrift für H. Welzel, 1974, S. 683; derselbe, Versuch und Rücktritt bei Beteiligung mehrerer Personen, ZStW 99 (1987) S. 111; Armin Kaufmann, Die Dogmatik der Unterlassungsdelikte, 1959; derselbe, Die Dogmatik im Alternativentwurf, ZStW 80 (1968) S. 34; Klein, Grundsätze des gemeinen peinlichen Rechts, 2. Auflage 1799; Kleinschrod, Systematische Entwicklung der Grundbegriffe und Grundwahrheiten des peinlichen Rechts, Teil I, 1794; Koch, Der Rücktritt vom formell vollendeten Delikt, Strafr. Abh. Heft 398, 1939; Kölz-Ott, Eventualvorsatz und Versuch, 1974; Kratzsch, Die Bemühungen um Präzisierung der Ansatzformel usw., JA 1983, 420, 578; derselbe, Verhaltenssteuerung und Organisation im Strafrecht, 1985; Krug, Die Lehre vom Versuche der Verbrechen, 1854; Kühl, Die Beendigung des vorsätzlichen Begehungsdelikts, 1974; derselbe, Grundfälle zu Vorbereitung, Versuch usw., JuS 1979, 718 und 1980, 120 m. Forts.; derselbe, Anmerkung zu BGH 31, 105, JR 1983, 425; Küper, Versuchsund Rücktrittsprobleme bei mehreren Tatbeteiligten, JZ 1979, 775; derselbe, Grenzfragen der Unfallflucht, JZ 1981, 251; derselbe, Zur Abgrenzung von Vorbereitung und Versuch, NJW 1984, 171', Lampe, Genügt für den Entschluß des Täters in § 43 StGB sein bedingter Vorsatz? NJW 1958, 332; derselbe, „Teilverwirklichung" des Tatbetandes: ein Kriterium des Versuchs? JZ 1992, 338 (zu BGH 37, 294); Lange, Strafrechtsreform, 1972; Laubenthal, Der Versuch des qualifizierten Delikts usw., JZ 1987, 1065; Lehmann, Die Bestrafung des Versuchs nach deutschem und amerikanischem Recht, 1962; Less, Genügt „bedingtes Wollen" zum strafbaren Verbrechensversuch? GA 1956, 33; E. v. Liszt, Die Lehre vom Versuch, ZStW 25 (1905) S. 24; Luden, Abhandlungen aus dem gemeinen teutschen Strafrecht, Bd. I 1836; Maurach, Fragen der actio libera in causa, JuS 1961, 373; H. Mayer, Zur Abgrenzung des Versuchs von der Vorbereitungshandlung, SJZ 1949, 172; D. Meyer, Abgrenzung der Vorbereitung vom Versuch usw., JuS 1977, 19; J. Meyer, Kritik an der Neuregelung der Versuchsstrafbarkeit, ZStW 87 (1975) S. 598; Mezger, Anmerkung zu BGH vom 20.12.1951, NJW 1952, 514; Mittermaier, Beiträge zur Lehre vom Versuche der Verbrechen, Neues Archiv des Criminalrechts I (1816) S. 165; derselbe, Über den Anfangspunkt der Strafbarkeit der Versuchshandlungen, Neues Archiv des Criminalrechts II (1818) S. 602; derselbe, Die rechtliche Bedeutung des Ausdrucks: Anfang der Ausführung usw., GS 11 (1859) S. 197; Nagler, Die Neuordnung der Strafbarkeit von Versuch und Beihilfe, GS 115 (1941) S. 24; Noll, Strafrecht im Übergang, G A 1970, 176; Oehler, Das erfolgsqualifizierte Delikt als Gefährdungsdelikt, ZStW 69 (1957) S. 503; derselbe, Das objektive Zweckmoment in der rechtswidrigen Handlung, 1959; Otto, Schadenseintritt und Verjährungsbeginn, Festschrift für K. Lackner, 1987, S. 715; Paeffgen, Die erfolgsqualifizierten Delikte - eine in die allgemeine Unrechtslehre integrierbare Deliktsgruppe? JZ 1989, 220; Papageorgiou-Gonatas, Wo liegt die Grenze zwischen Vorbereitungshandlungen und Versuch? 1988; Platzgummer, Die

I. Ü b e r b l i c k über die Dogmengeschichte des Versuchs

511

„Allgemeinen Bestimmungen" des Strafgesetzentwurfes usw., JBl 1971, 236; Puppe, Grundzüge der actio libera in causa, JuS 1980, 346; Rengier, Erfolgsqualifizierte Delikte und verwandte Erscheinungsformen, 1986; Roeder, Der Allgemeine Teil des österr. StG-Entwurfes, 1965; derselbe, Die Erscheinungsformen des Verbrechens, 1953; Roxin, Der Anfang des beendeten Versuchs, Festschrift für R. Maurach, 1972, S. 213; derselbe, Über den Tatentschluß, Gedächtnisschrift für H. Schröder, 1978, S. 145; derselbe, Tatentschluß und Anfang Strafrechtliche Klausurenlehre, der Ausführung, JuS 1979, 1; Roxin/Schünemann/Haffke, 4. Auflage 1982; Rudolphi, Zur Abgrenzung zwischen Vorbereitung und Versuch, JuS 1973, 20; derselbe, Die zeitlichen Grenzen der sukzessiven Beihilfe, Festschrift für H.-H. Jescheck, Bd. I, 1985, S. 559; Salm, Das versuchte Verbrechen, 1957; Sauermann, Der Versuch als „delictum sui generis", Strafr. Abh. Heft 227, 1927; W. Schmid, „Bedingter Handlungswille" beim Versuch usw., ZStW 74 (1962) S. 48; R. Schmidt, Grundriß des deutschen Strafrechts, 2. Auflage 1931; Schmidt-Hieber, Irrtum und Versuch, in: Müller-Gugenberger (Hrsg.), Wirtschaftsstrafrecht, 2. Auflage 1992, § 8; R. Schmitt, Rücktritt von der Verabredung zu einem Verbrechen, JuS 1961, 25; derselbe, Vorsätzliche Tötung und vorsätzliche Körperverletzung, JZ 1962, 389; Schmoller, Ist die versuchte Herbeiführung einer qualifizierenden Folge strafbar? JBl 1984, 654; Schröder, Die Unternehmensdelikte, Festschrift für E. Kern, 1968, S. 457; Schünemann, Strafrechtswissenschaft nach der Strafrechtsreform, G A 1986, 293; Seeger, Über die Ausbildung der Lehre vom Versuch in der Wissenschaft des Mittelalters, 1869; Seiler, Neue Wege in der Strafrechtsreform, JBl 1969, 113; Spendet, Zur Notwendigkeit des Objektivismus im Straf recht, ZStW 65 (1953) S. 519; derselbe, Kritik der subjektiven Versuchstheorie, NJW 1965, 1881; derselbe, Zur Neubegründung der objektiven Versuchstheorie, Festschrift für U. Stock, 1966, S. 89; derselbe, Zur Kritik der subjektiven Versuchsund Teilnahmetheorie, JuS 1969, 314; Spotowski, Erscheinungsformen der Straftat im deutAnmerkung zu OLG Hamm vom schen und polnischen Recht, 1979; Stratenwerth, 23.5.1960, JZ 1961, 95; derselbe, Die fakultative Strafmilderung beim Versuch, Festgabe zum Schweiz. Juristentag, 1963, S. 247; Stree, Zur Auslegung der §§ 224, 226 StGB, G A 1960, 289; derselbe, Beginn des Versuchs bei qualifizierten Straftaten, Festschrift für K. Peters, 1974, S. 179; Struensee, Versuch und Vorsatz, Armin Kaufmann-Gedächtnisschrift, 1989, 5. 523; Thomsen, Über den Versuch der durch eine Folge qualifizierten Delikte, 1895; Tiedemann, Der Versuch der Zweckentfremdung im Steuerstrafrecht, JR 1973, 412; derselbe, Bekämpfung der Wirtschaftskriminalität, Gutachten C zum 49. DJT, 1972; Timpe, Strafmilderungen des Allgemeinen Teils usw., 1983; Tittmann, Handbuch des gemeinen deutschen peinlichen Rechts, Teil I, 1806; Treplin, Der Versuch, ZStW 76 (1964) S. 441; Ulsenheimer, Zur Problematik des Versuchs erfolgsqualifizierter Delikte, GA 1966, 257; Veling, Die Abgrenzung von Vorbereitung und Versuch, 1991; Vogler, Versuch und Rücktritt bei Beteiligung mehrerer, ZStW 98 (1986) S. 331; derselbe, Der Beginn des Versuchs, Festschrift für W. Stree und J. Wessels, 1993, S. 285; Waiblinger, Die Abgrenzung des strafbaren Versuchs usw., SchwZStr 72 (1957) S. 121; derselbe, Subjektivismus und Objektivismus in der neueren Lehre und Rechtsprechung vom Versuch, ZStW 69 (1957) S. 189; Waider, Strafbare Versuchshandlungen der Jagdwilderei, G A 1962, 176; Walder, Straflose Vorbereitung und strafbarer Versuch, SchwZStr 99 (1982) S. 225; derselbe, Strafrechtsdogmatik und Kriminologie usw., Festschrift für H. Leferenz, 1983, S. 537; Weber, Die Vorverlegung des Strafrechtsschutzes usw., ZStW Beiheft Göttingen, 1987, S. 1; Weigend, Die Entwicklung der deutschen Versuchslehre, in: Hirsch/Weigend (Hrsg.), Strafrecht und Kriminalpolitik in Japan und Deutschland, 1989, S. 113; Wessels, Zur Problematik der Regelbeispiele usw., Festschrift für R. Maurach, 1972, S. 295; derselbe, Zur Indizwirkung der Regelbeispiele usw., Festschrift für K. Lackner, 1987, S. 423; Zachariä, Die Lehre vom Versuche der Verbrechen, Teil I, 1836, Teil II, 1839; Zaczyk, Das Unrecht der versuchten Tat, 1989; Zielinski, Handlungs- und Erfolgsunwert im Ünrechtsbegriff, 1973; ZStW Beiheft Göttingen, 1987, Zur Vorverlegung des Strafrechtsschutzes durch Gefährdungs- und Unternehmensdelikte (m. zahlr. Beiträgen). I. Überblick über die Dogmengeschichte des Versuchs Während das germanische Recht nur einzelne typische Versuchsfälle kannte (z.B. Auflauern, Schwertzücken), zum Teil aber, vor allem beim Tötungsversuch, auch viel weitergehende Regeln aufstellte 1, enthielt die CCC in Art. 178 auf der Grundlage der mittelalterlich1

Vgl. v. Hippel,

Bd. I S. 118; Wilda, Strafrecht der Germanen S. 598 ff.

512

§ 49 Begriff, Tatbestand u n d Bestrafung des Versuchs

italienischen Strafrechtslehre 2 bereits eine allgemeine Versuchsdefinition von hohem wissenschaftlichen Rang, die in der Folgezeit bis ins 19. Jahrhundert hinein herrschend gewesen ist3. Der Versuch wird hier als besondere Verbrechensform der Vollendung an die Seite gestellt, er wird durch die Erfordernisse des Vorsatzes und des Anfangs der Ausführung subjektiv wie objektiv bestimmt und damit zugleich von der Vorbereitungshandlung abgegrenzt. Die Versuchsstrafe wird angemessen gemildert, der Rücktritt als negatives Element in die Begriffsbestimmung aufgenommen4. Die Strafrechtswissenschaft des 19. Jahrhunderts hat sich vor allem um das Problem der Einbeziehung der Vorbereitungshandlungen in den strafbaren Versuch und um die Fragen des untauglichen Versuchs bemüht. Die Antworten waren verschieden je nachdem, ob der Strafgrund des Versuchs (wie in der CCC) in dem verbrecherischen Willen des Täters oder in der Gefährdung des durch den Tatbestand geschützten Handlungsobjekts gesehen wurde. Während die ältere Lehre vielfach die Strafbarkeit der Vorbereitungshandlungen annahm5, gewann später unter dem Einfluß des auf Begrenzung der Staatsgewalt drängenden liberalen Denkens die entgegengesetzte Auffassung die Oberhand6. In der Kontroverse um die Strafbarkeit des untauglichen Versuchs traten sich schon zu Anfang des 19. Jahrhunderts eine objektive7 und eine subjektive Richtung8 gegenüber. Die erste verneinte die Strafbarkeit, die zweite bejahte sie mit gewissen Einschränkungen. Das preußische StGB von 1851 legte sich in enger Anlehnung an Art. 2 des französischen Code pénal von 1810 auf eine restriktive Linie fest: § 31 schloß die Strafbarkeit sowohl der Vorbereitungshandlungen als auch des absolut untauglichen Versuchs aus9. Auch die Rechtsprechung folgte anfangs dieser Richtung10. Obwohl das RStGB in § 43 die Regelung des preußischen Rechts fast wörtlich übernahm, schwenkte das RG unter dem Einfluß der Lehre v. Buns11 in die Gegenrichtung um (RG 1, 439 [441]: Strafbarkeit des absolut untauglichen Versuchs; RG 51, 341 [343]; 59, 1: Ausdehnung des Versuchs auf gewisse Vorbereitungshandlungen). II. Der Strafgrund des Versuchs Die Strafwürdigkeit des Versuch s kann auf verschiedene Weise begründet werden. 1. Nach der älteren Lehre 12 liegt die Strafwürdigkeit des Versuchs allein in der Gefährdung des durch den Tatbestand geschützten Handlungsobjekts (objek2

Dazu Seeger y Über die Ausbildung der Lehre vom Versuch, 1869. Eingehende Darstellung und Würdigung bei /. Baumgarten y Die Lehre vom Versuche S. 109 ff. 4 Zur Geschichte des Rücktritts Bloy, Die dogmatische Bedeutung S. 147 ff. 5 So Klein, Grundsätze S. 124; Kleinschrod, Grundbegriffe Teil I S. 63 f.; Tittmann y Handbuch Teil I S. 268 f.; Grolmann, Grundsätze S. 39; Feuerbach, Lehrbuch 4. Auflage S. 44. 6 So Mittermaier, Neues Archiv des Criminalrechts I (1816) S. 168; derselbe, Neues Archiv des Criminalrechts II (1818) S. 605; Zachariä, Die Lehre vom Versuche Teil I S. 202; Luden, Abhandlungen Bd. I S. 305; Krug, Versuch S. 16ff.; vermittelnd Köstlin, System S. 233. Ebenso heute die meisten Strafrechtsordnungen; vgl. Jescheck, ZStW 99 (1987) S. 115. 7 So Feuerbach, Lehrbuch 4. Auflage S. 43; Zachariä, Die Lehre vom Versuche Teil I S. 239. 8 So Tittmann, Handbuch Teil I S. 267; Grolmann, Grundsätze S. 39; vermittelnd Mittermaier, Neues Archiv des Criminalrechts I (1816) S. 183ff. und GS 11 (1859) S. 209ff., der hier die Unterscheidung zwischen absolut und relativ untauglichen Mitteln einführte. 9 Vgl. Goltdammer, Materialien Bd. I S. 245, 248 und 272. 10 Preuß. Obertribunal GA 1854, 548 und 822 f.; Archiv des Criminalrechts 1854, 498. 11 v. Buri, GS 19 (1867) S. 71 ff.; derselbe, GS 20 (1868) S. 325 ff.; derselbe, GS 32 (1880) S. 357 ff. 12 So vor allem Feuerbach, Lehrbuch 4. Auflage S. 43; Berner, Lehrbuch S. 153 ff.; Frank, 3

V D A Bd. V S. 249; Gerland, Lehrbuch S. 713; v. Hippel, Bd. I I S. 403 f.; Hold ν . Ferneck, Der Versuch S. 13; v. Liszt/ Schmidt, S. 302; Olshausen, § 43 Anm. 2a; Richard Schmidt,

Grundriß des deutschen Strafrechts S. 173; Wegner, Strafrecht S. 222. Diese rein objektive Theorie vertreten heute Reinhard v. Hippel, Untersuchungen S. 26; Spendel, ZStW 65 (1953) S. 522; derselbe, NJW 1965, 1888; derselbe,

Stock-Festschrift S. 98ff.; derselbe, JuS 1969,

I I . D e r Strafgrund des Versuchs

513

tive Theorie). Da der Vorsatz bei allen Tatstufen (Vorbereitung, Ausführung, Vollendung) der Art nach der gleiche ist, wird die Abgrenzung des Versuchs gegenüber der Vorbereitungshandlung auf objektivem Gebiet gesucht. Der Rechtsgrund der Strafbarkeit des Versuchs liegt danach nicht im Täterwillen, sondern in der nahen Gefahr der Verwirklichung des tatbestandsmäßigen Erfolgs. Der Versuch wird somit wegen der hohen Wahrscheinlichkeit des Eintritts des Erfolgsunrechts bestraft. Da diese Wahrscheinlichkeit grundsätzlich erst mit dem Anfang der Ausführung und nur bei Tauglichkeit der Versuchshandlung zu bejahen ist, führt die objektive Theorie zur Einschränkung der Strafbarkeit des Versuchs gegenüber der Vorbereitungshandlung und zur Ablehnung der Strafbarkeit des absolut untauglichen Versuchs. Wegen des fehlenden Erfolgsunrechts gelangt die objektive Theorie ferner zur obligatorischen Strafmilderung. Beispiele: Erst mit der Absendung des Drohbriefs an das Erpressungsopfer beginnt der Versuch, weil erst in diesem Zeitpunkt eine Vermögensgefährdung entsteht (RG 30, 98 [99]). Das Ergreifen der geladenen, aber noch gesicherten Pistole ist nur dann Mordversuch, wenn der Täter alsbald zu schießen beabsichtigt (RG 68, 339 [340]). Ferner ist das Eindringen in einen Raum, in dem sich die zu stehlende Sache gar nicht befindet, kein Diebstahlsversuch, auch wenn der Täter sie dort vermutet (Preuß. Obertribunal GA 1854, 548). Die rein objektive Theorie ist heute überholt, da § 22 neben dem Ansetzen des Täters zur Verwirklichung des Tatbestandes auf „seine Vorstellung von der Tat" abstellt und § 23 I I I von der Strafbarkeit des untauglichen Versuchs ausgeht 13 . 2. Nach überwiegender Meinung ist Strafgrund des Versuchs der betätigte rechtsfeindliche Wille (objektiv-subjektive Theorie) 14. Maßgebend ist somit nicht die tatsächliche Gefährdung des geschützten Handlungsobjekts durch die Tat, sondern das durch die Betätigung des Vorsatzes verwirklichte Handlungsunrecht. Davon zu unterscheiden ist die rein subjektive Theorie. Sie führt zur Ausdehnung des Bereichs des strafbaren Versuchs auf Kosten der Vorbereitungshandlung, zur Anerkennung der Strafbarkeit auch des absolut untauglichen Versuchs und zur prinzipiellen Gleichbestrafung von Versuch und Vollendung, da der rechtsfeindliche Wille in beiden Fällen der gleiche ist. Die frühere Rechtsprechung hat die Strafbarkeit auf der Grundlage der rein subjektiven Theorie weit in das Vorfeld des Tatbestands ausgedehnt. Beispiele: Schon die Herstellung einer falschen Bescheinigung, die erst später zum Zwecke der Täuschung vorgelegt werden soll, ist Betrugsversuch (RG 51, 341 [343]). Der Gebrauch eines untauglichen Abtreibungsmittels ist ebenso Abtreibungsversuch (RG 1, 439 [441]) wie die auf Abtreibung gerichtete Handlung an einer nicht schwangeren Frau (RG 8, 198 [203]). Der Mittäter, auf den versehentlich, aber im Rahmen des Tatplans, von einem anderen Mittäter geschossen wurde, ist selbst wegen versuchten Totschlags strafbar (BGH 11, 268 [271]). 314ff.; Dicke, JuS 1968, 157; Treplin, ZStW 76 (1964) S. 447. Eine Variante der objektiven Theorie ist die Lehre vom „Mangel am Tatbestand" (so vor allem Graf zu Dohna, Güterbock-Festgabe S. 35 ff. und Verbrechenslehre S. 56f.; Frank, §43 Anm. I; Rittler, Bd. I S. 256), wonach Versuch überhaupt nur dann anzunehmen ist, wenn der Erfolg und damit das „tatbestandliche Schlußstück" fehlt. 13 Vgl. Lackner, § 22 Rdn. 11; LK i0 (Vogler) Vorbem. 45 vor § 22; Schönke/Schröder/ Eser, Vorbem. 20 vor § 22; Kühl, JuS 1980, 507. 14 So Baumann / Weber, Allg. Teil S. 470; Dreh er/Tröndle, § 22 Rdn. 24; Delaquis, Der

untaugliche Verbrechen Rdn. 1; H. § 22 Anm. Drucksache S. 118 ff.

Versuch S. 204f.; Germann, Strafbarkeit des Versuchs S. 147ff.; derselbe, Das S. 63; Kühl, Allg. Teil § 15 Rdn. 39; Lackner, § 22 Rdn. 11; LK 9 (Busch) § 43 Mayer, Lehrbuch S. 278; Otto, Grundkurs S. 223 f. (vermittelnd); Preisendanz, 1; Schmidhäuser, Allg. Teil S. 592; Welzel, Lehrbuch S. 192 f. Vgl. auch BTV/4095 S. 11. Zum Vordringen der subjektiven Theorie Weigend, Entwicklung

33 Jescheck, 5. A.

514

§ 49 Begriff, Tatbestand u n d Bestrafung des Versuchs

Die rein subjektive Theorie ist heute nicht mehr haltbar, da das objektive Moment des unmittelbaren Ansetzens zur Verwirklichung des Tatbestandes in § 22 eingeführt wurde, um der durch die subjektive Theorie bewirkten Ausuferung der Versuchsstrafbarkeit entgegenzutreten, und da § 23 I I I beim grob unverständigen Versuch das Absehen von Strafe ermöglicht 15 . 3. Eine dritte (vermittelnde) Lehre geht zwar von der objektiv-subjektiven Theorie aus, verbindet diese aber mit einem zusätzlichen Merkmal, das die Strafwürdigkeit des Versuchs begründen soll. Danach ist zwar Strafgrund des Versuchs der einer Verhaltensnorm entgegengesetzte und betätigte Wille; die Strafwürdigkeit der auf die Tat gerichteten Handlung wird aber nur dann bejaht, wenn dadurch das Vertrauen der Allgemeinheit auf die Geltung der Rechtsordnung erschüttert und das Gefühl der Rechtssicherheit und damit der Rechtsfriede beeinträchtigt werden kann (Eindruckstheorie) 16 . Die Strafwürdigkeit des Versuchs wird ferner auch auf die Gefährlichkeit des Täters gegründet, wobei man darauf abstellt, daß die Gefährdung des geschützten Handlungsobjekts in seinem Tatwillen liege (Tätertheorie) 17 . Auf verschiedene Weise verknüpfen andere Theorien objektive und subjektive Elemente des Versuchs 18 . Die vermittelnden Theorien führen zu einer Kombination subjektiver und objektiver Kriterien bei der Abgrenzung von Vorbereitung und Versuch, zur Straflosigkeit des grob unverständigen Versuchs und zur fakultativen Strafmilderung. Beispiele: Das Bemühen um die Gewinnung eines zur Abtreibung geneigten Arztes ist noch als Vorbereitung anzusehen (BGH 4, 17 [18]), ebenso die Gewinnung des Betrugsgehilfen (anders RG 77, 172). Nicht als Versuch strafbar ist ferner die Anwendung abergläubischer Mittel zur Tötung eines Menschen (RG 33, 321 [323]). Versuchter Diebstahl wurde dagegen schon angenommen, als der Täter an den Rädern eines abgestellten Kraftwagens rüttelte, um festzustellen, ob das Lenkrad ungesperrt sei, weil der als geeignet befundene Wagen sofort weggenommen werden sollte (BGH 22, 80). Noch kein Versuch darum, wenn der zum Totschlag Entschlossene an der Haustür klingelt, zur Tatausführung aber noch den Weg bis zur Wohnungstür des Opfers zurücklegen und dort Einlaß finden müßte (BGH StV 1984, 420). Die Annäherung an den Tatort des Raubes ist noch Vorbereitung, weswegen das Mitführen einer Schußwaffe in diesem Zeitpunkt noch nicht das den Raub qualifizierende Merkmal (§ 250 I Nr. 1) erfüllt (BGH 31, 105 m.zust.Anm. Hruschka JZ 1983, 217 und Kühl, JR 1983, 425). Vgl. auch BGH NStZ 1981, 435. 15

Vgl .Jescheck, SchwZStr 91 (1975) S. 29; Roxin, Einführung S. 15. So v. Bar, Gesetz und Schuld Bd. II S. 488 f., 532 ff.; Blei, Allg. Teil S. 232; Burgstaller, JBl 1969, 529f.; Eser, Strafrecht I I Nr. 31 A Rdn. 34; Grünwald, Welzel-Festschrift S. 712; v. Gemmingen, Die Rechtswidrigkeit des Versuchs S. 160ff.; Maurach/Gössel/Zipf Allg. Teil I I § 40 Rdn. 40ff.; LK 10 (Vogler) Vorbem. 52 vor § 22; Mezger, Lehrbuch S. 397; J. Meyer, ZStW 87 (1975) S. 604; Papageorgiou-Gonatas, Grenze S. 209ff.; Roxin, JuS 1979, 1; 16

Schönke/Schröder/Eser,

Vorbem. 23 vor § 22; SK (Rudolphi) Vorbem. 13, 14 vor § 22; Stra-

tenwerth, Allg. Teil I Rdn. 657; Salm, Das versuchte Verbrechen S. 103 f.; Wessels, Allg. Teil Rdn. 594; Schünemann, GA 1986, 311. Früher schon Horn, ZStW 20 (1900) S. 597. Zusammenfassend Berz, Formelle Tatbestandsverwirklichung S. 39 ff. Gegen die Eindruckstheorie Kühl, Allg. Teil § 15 Rdn. 40 ff. 17

So Bockelmann, Untersuchungen S. 146 f., 162; Engisch, DJT-Festschrift S. 435; Kohl-

rausch/Lange, Vorbem. I I I 4 vor § 43; Oehler, Das objektive Zweckmoment S. 121; Waiblingen ZStW 69 (1957) S. 214. Früher schon E. v. Liszt, ZStW 25 (1905) S. 36. Ablehnend Stratenwerth, Festgabe zum Schweiz. Juristentag S. 265; P. Albrecht, Der untaugliche Versuch S. 36. 18 So stellen Schmidhäuser, Studienbuch S. 338 ff. und Alwart, Strafwürdiges Versuchen S. 122ff. nebeneinander den „Zielversuch" und den „Gefährdungsversuch". Als abstraktes Gefährdungsdelikt versteht den Versuch Kratzsch, Verhaltenssteuerung S. 64ff., 438. Je nach den Mängeln im objektiven Tatbestand bestimmt den Versuchsbegriff Zaczyk, Unrecht S. 126 ff., 229 ff. Nach Jakobs, Allg. Teil 25/21 ist Strafgrund des Versuchs das „ExpressivWerden eines Normbruchs".

I I I . D e r Tatbestand des Versuchs

515

Das geltende Recht läßt sich mit der starken Betonung des Ansetzens zur Tat (§ 22), der fakultativen Strafmilderung (§ 23 II) und der Möglichkeit des Absehens von Strafe beim grob unverständigen Versuch am besten von der Eindruckstheorie her verstehen. Sie begründet die Strafbarkeit des Versuchs zutreffend mit der Notwendigkeit der Bewährung der Rechtsordnung. Gegenstand der Strafbarkeit ist beim Versuch der in die Tat umgesetzte rechtsfeindliche Wille des Täters, also das vorsätzliche Handlungsunrecht des jeweiligen Tatbestands. III. Der Tatbestand des Versuchs Der Versuch setzt nach § 22, der sich an die Kurzformel des § 24 AE, nicht aber an die explizitere Fassung des § 26 Ε 1962 anlehnt, dreierlei voraus 19 : den Entschluß zur Verwirklichung des Tatbestands als subjektives Element, das unmittelbare Ansetzen zur Tatbestands Verwirklichung als objektives Element und das Fehlen der Vollendung des Tatbestands als begriffsnotwendigen negativen Faktor. Alle drei Momente sind stets an einem besonderen Tatbestand auszurichten. Der Versuch ist somit ein unselbständiger Tatbestand 20 , da seine Merkmale stets auf einen im Gesetz umschriebenen Straftatbestand bezogen werden müssen (es gibt also keinen „Versuch an sich", sondern nur z.B. versuchten Mord, Diebstahl oder Betrug). 1. Der Versuch erfordert den vollen subjektiven Tatbestand. Dazu gehört einmal der Vorsatz (vgl. oben § 29 III). Dieser muß wie beim vollendeten Delikt auf sämtliche objektiven Tatbestandsmerkmale gerichtet sein. Bei qualifizierten Tatbeständen müssen auch die Erschwerungsmerkmale mit umfaßt sein. Der Vorsatz kommt auch als bedingter Vorsatz in Betracht, sofern dieser nach dem betreffenden Tatbestand ausreicht 21. Wie beim vollendeten Delikt ist vom bedingten Vorsatz der „bedingte Handlungswille" zu unterscheiden (vgl. oben § 29 I I I 3e). Wer zur Tat noch nicht entschlossen ist, sondern nur die Voraussetzungen ihrer Begehung auskundschaftet, hat keinen Vorsatz (bloße Tatgeneigtheit) (BGH StV 1987, 528). Unbedingt ist der Handlungswille jedoch, wenn der Entschluß endgültig gefaßt ist und nur der Eintritt einer vom Willen des Täters unabhängigen Bedingung abgewartet wird, die über den Beginn der Ausführungshandlung entscheiden soll (Tatentschluß auf unsicherer Tatsachengrundlage) (RG 16, 133 [135]; B G H 12, 306 [310]; 21, 14 [18]). Unbedingter Handlungswille liegt auch dann vor, wenn der Täter die Möglichkeit des Rücktritts in Erwägung zieht (Tatentschluß mit Rücktrittsvorbehalt) 22. 19 Zur Struktur des Versuchs vgl. Fiedler, Vorhaben S. 60ff.; Reinhard v. Hippel, Untersuchungen S. 26ff.; LK 10 (Vogler) § 22 Rdn. 1. 20 Vgl. dazu Sauermann, Versuch S. 31 ff.; LK 10 (Vogler) § 22 Rdn. 7. 21 Vgl. RG 61, 159 (160); 68, 339 (341); BGH 22, 330 (332ff.); 31, 374 (378); Roxin, Schröder-Gedächtnisschrift S. 145ff.; Schönke/Schröder/Eser, § 22 Rdn. 17 m.w.Nachw.; SK (Rudolphi) § 22 Rdn. 2. Anders Lampe, NJW 1958, 333. Einschränkend für den untauglichen Versuch Kölz-Ott, Eventualvorsatz S. 147. Eine fragmentarische Sonderform des Vorsatzes nimmt Struensee, Armin Kaufmann-Gedächtnisschrift S. 538 f. für den unbeendeten Versuch (im Unterschied zum beendeten Versuch und zur Vollendung) an. 22 Die Rechtsprechung des RG und des BGH ist schwankend; vgl. näher Less, GA 1956, 36ff.; Maurach/Gössel/Zipf, Allg. Teil II § 40 Rdn. 71; LK 10 (Vogler) § 22 Rdn. 9ff.; W. Schmid, ZStW 74 (1962) S. 48ff.; R. Schmitt, JuS 1961, 25ff.; Schönke/Schröder/Eser, § 22 Rdn. 18 ff.; SK (Rudolphi) § 22 Rdn. 3 ff. Arzt, JZ 1969, 54ff. will das „bedingte Wollen" nicht gelten lassen, aber zu Unrecht, da der Entschluß zu einer tatbestandsmäßigen Handlung unter dem Vorbehalt des Eintritts einer Bedingung, die die Tat überflüssig macht, bereits Vorsatz ist (vgl. BGH 21, 14 [17]).

33*

516

§ 49 Begriff, Tatbestand u n d Bestrafung des Versuchs

Beispiele: Kein Versuch der Unterschlagung (§ 246), wenn der Postbeamte einen Brief öffnet, um sich erst nach Prüfung des Inhalts schlüssig zu werden, ob die Aneignung sich lohne (RG 65, 145 [148]). § 354 II Nr. 1 ist natürlich erfüllt. Diebstahlsversuch liegt dagegen vor, wenn der Täter ein Haus mit dem Entschluß betritt, mitzunehmen, was immer sich Brauchbares finden läßt (RG 70, 201 [203]), aber auch dann, wenn er, zur Tat entschlossen, erst feststellen will, ob er etwas Stehlenswertes findet (OLG Hamm MDR 1976, 155). Raubvorsatz liegt vor, wenn die Täter Gewalt anwenden wollen, sofern der Erpressungsversuch mißlingt (KG GA 1971, 54 [55]). Beim Einnähen von Devisen in die Fußmatte eines Kraftwagens, mit dem die Fahrt ins Ausland gewagt werden soll, falls die Ausfuhrgenehmigung nicht erteilt wird, liegt zwar unbedingtes Wollen der Devisenstraftat (anders RG 71, 53), aber noch kein Ansetzen zur Verbringung ins Ausland vor. Aus der Notwendigkeit des Vorsatzes beim Versuch sind zwei Folgerungen abzuleiten: a) Einmal gibt es keinen fahrlässigen Versuch, denn wer fahrlässig handelt, betätigt nicht den Entschluß, ein Verbrechen oder Vergehen zu verüben (vgl. unten § 54 I V ) 2 3 . b) Zum anderen müssen, abgesehen vom Vorsatz als dem allgemeinen subjektiven Tatbestandsmerkmal, auch die bei der betreffenden Deliktsart vorausgesetzten besonderen subjektiven Tatbestandsmerkmale (vgl. oben § 30 II) gegeben sein, da sie im Aufbau des Verbrechensbegriffs auf derselben Ebene liegen wie der Vorsatz 24 . 2. Als objektives Merkmal verlangt der Versuch, daß der Täter „zur Verwirklichung des Tatbestandes unmittelbar ansetzt". Unmittelbares Ansetzen ist die Aufnahme einer Tätigkeit, die ohne weitere Zwischenglieder zur Verwirklichung des Tatbestandes führen soll (BGH 31, 178 [182]; 37, 294 [296] m.krit. Besprechung Küper, JZ 1992, 345ff.; B G H NStZ 1987, 20; O L G Karlsruhe NJW 1982, 59). Ob dies der Fall ist, wird nach dem Täterplan beurteilt, d.h. nach der „Vorstellung des Täters von der Tat". Maßgebend ist somit eine objektive Einschätzung der Tatnähe der Handlung auf der Grundlage der Vorstellung, die sich der Täter von dem Wege und der Art und Weise der Verwirklichung seines Tatentschlusses gemacht hat (individuell-objektive Theorie) (vgl. näher unten § 49 I V ) 2 5 . Auch bei qualifizierten Tatbeständen kommt es darauf an, ob der Täter unmittelbar zur Tatbestandsverwirklichung ansetzt. Beginnt der Täter mit der Verwirklichung des qualifizierenden Merkmals (er macht z.B. vor der Brandlegung Löschgeräte unbrauchbar, § 307 Nr. 3), so ist Versuch der Brandstiftung nur dann gegeben, wenn die Verwirklichung des Grundtatbestandes unmittelbar folgen soll. Erfolgt die qualifizierende Handlung (z.B. das Mitführen einer Schußwaffe beim Raub, § 250 I Nr. 3) ausschließlich während der Vorbereitung des Grunddelikts (z.B. Annäherung an den Tatort des Raubes), so kann der Täter nur nach diesem bestraft werden (BGH 31, 305 m.zust.Anm. Hruschka, JZ 1983, 216 und Kühl, JR 1983, 425) 26 . 23 24

§ 22 Rdn. 22. So LK i0 (Vogler) § 22 Rdn. 8; Schönke/Schröder/Eser, Vgl. Schönke/Schröder/Eser, § 22 Rdn. 23; LK 10 (Vogler) § 22 Rdn. 22; SK (Rudolphi)

§ 22 Rdn. 2; Wessels, Allg. Teil Rdn. 596. 25 Vgl. Baumann/Weber, Allg. Teil S. 494; Blei, Allg. Teil S. 228; derselbe, JA 1975, 96; Bockelmann/Volk, Allg. Teil S. 208f.; Maurach/Gössel/Zipf Allg. Teil II § 40 Rdn. 43; Roxin, Einführung S. 15; Rudolphi, JuS 1973, 23; Schönke/Schröder/Eser,

§ 22 Rdn. 32; SK

(Rudolphi) § 22 Rdn. 11; Stratenwerth, Alle. Teil I Rdn. 665; Wessels, Allg. Teil Rdn. 598. Enge Auslegung der Ansatzformel bei LK 1 (Vogler) § 22 Rdn. 35 a, der bereits eine „tatbestandsspezifische Ausführungshandlung" verlangt. Eingehend Kratzsch, JA 1983, 578 ff. 26

Vgl. Arzt, JZ 1959, 59; Schönke/Schröder/Eser,

§ 22 Rdn. 58; LK 10

Rdn. 78; Stree, Peters-Festschrift S. 192; Wessels, Allg. Teil Rdn. 605.

(Vogler) § 22

I I I . D e r Tatbestand des Versuchs

517

Bei den schweren Fällen, die durch Regelbeispiele anschaulich gemacht sind (z.B. § 243 I 2), wird man für den Versuch verlangen müssen, daß der Täter zur Verwirklichung des Grundtatbestandes ansetzt, da die Regelbeispiele als solche keine Tatbestandsmerkmale i.S.v. § 22 sind 27 . Eine weitergehende Lehre läßt im Anschluß an den Ε 1962 (Begründung S. 144, 403) das Ansetzen zur Verwirklichung des Regelbeispiels genügen, auch wenn darin noch nicht das Ansetzen zur Tathandlung liegt 28 . Die Rechtsprechung nimmt an, daß die Regelbeispiele des § 243 ihre Indizwirkung auch bei nur versuchtem Diebstahl entfalten (BGH 33, 370). Sind Diebstahl und Regelbeispiel nur versucht, so muß dasselbe gelten (anders BayObLG JR 1981, 118). 3. Die Tat darf endlich nicht vollendet sein. Die Vollendung bestimmt sich nicht danach, ob der Täter seine Absicht erreicht hat, sondern tritt schon mit der Erfüllung sämtlicher Tatbestandsmerkmale ein (vgl. aber bei zusammengesetzten Sachen O L G Karlsruhe, Die Justiz 1972, 361). Je nach der Fassung des Tatbestands (Verletzungs-, Gefährdungs- oder kupiertes Erfolgsdelikt) kann die Vollendung zu einem früheren oder späteren Zeitpunkt eintreten. Sie ist ferner bei fehlender objektiver Zurechenbarkeit des Erfolgs (vgl. oben § 28 IV) zu verneinen. Von der Vollendung ist die Beendigung (materielle Vollendung) der Tat zu unterscheiden 2 9 . Die Delikte, bei denen ein von der Vollendung verschiedener Zeitpunkt der Beendigung festgestellt werden kann, lassen sich nach ihrer Struktur in vier Gruppen einteilen: Es handelt sich einmal um Delikte mit vorverlegtem Wollendungszeitpunkt (Absichtsdelikte, Gefährdungsdelikte, Unternehmensdelikte). Die zweite Gruppe, bei denen die Beendigung der Vollendung nachfolgt, ist durch die iterative Struktur der Tatbestände gekennzeichnet (Dauerdelikte, zweiaktige Delikte, Tatbestände mit einer Vielzahl von Einzelakten). Eine dritte Gruppe bilden die Fälle, in denen der End- oder Gesamterfolg der Tat durch Handlungen erzielt wird, die nicht mehr im formellen Sinne der Beschreibung des Tatbestands entsprechen, wie die Bergung der Diebstahlsbeute ( B G H 20, 194 [196]), die Sicherung des Schmuggelguts nach Überschreitung der Grenze ( B G H 3, 40 [44]) oder die Vernichtung des ganzen Gebäudes bei der Brandstiftung ( O L G Hamm JZ 1961, 94 [95]). Die vierte Gruppe sind die Fälle der natürlichen Handlungseinheit (vgl. unten § 66 I I I ) 3 0 . 27

So Baumann/Weber,

Allg. Teil S. 487; Dreh er/Tröndle,

§ 46 Rdn. 48b; Blei, Allg. Teil

S. 224f.; Laubenthal, JZ 1987, 1069; LK 10 (Vogler) §22 Rdn. 85; SK (Rudolphi) §22 Rdn. 18; Stree, Peters-Festschrift S. 181; Schönke/Schröder/Eser, § 22 Rdn. 58; Wessels,

Maurach-Festschrift S. 305; derselbe, Allg. Teil Rdn. 602; Kühl, Allg. Teil § 15 Rdn. 52 ff. 28 So LK 9 (Heimann-Trosien) § 243 Rdn. 47. Vgl. auch OLG Hamm MDR 1976, 155 m.krit.Anm. Hillenkamp, MDR 1977, 242. Dafür spricht auch BGH 33, 370 (374), wonach die Regelbeispiele „im Ergebnis wie ein Tatbestandsmerkmal zu behandeln" sind. Gegen diese Ansicht aber zu Recht Wessels, Lackner-Festschrift S. 434. Gegen die Anwendung des Regelbeispiels bei nur versuchtem Grunddelikt Degener, Stree-Wessels-Festschrift S. 329. 29 Vgl. dazu Jescheck, Welzel-Festschrift S. 685 ff.; Hau, Die Beendigung der Straftat S. 70ff.; Furtner, JR 1966, 169; Schönke/Schröder/Eser, Vorbem. 4 vor § 22; Wessels, Allg. Teil Rdn. 591 ff.; LK 10 (Vogler) Vorbem. 23 ff. vor § 22; Küper, JZ 1981, 251 ff. Einschränkend Kühl, Allg. Teil § 14 Rdn. 27 f. 30 Kritisch zur Lehre von der Beendigung der Straftat wegen der Vernachlässigung der Handlungsbeschreibung des Tatbestands Gallas, ΖΑΚ 1937, 438; Isenbeck, NJW 1965, 2329; Hruschka, GA 1968, 193; Gössel, ZStW 85 (1973) S. 644ff.; Herzberg, Täterschaft S. 71 f.; Rudolphi, Jescheck-Festschrift Bd. I S. 567ff.; Jakobs, Allg. Teil 25/12; Otto, Lackner-Festschrift S. 716ff.; Bitzilekis, ZStW 99 (1987) S. 749f. Differenzierend zwischen Verhaltensund Erfolgsbeendigung Kühl, Die Beendigung S. 80ff.; derselbe, JuS 1982, 189. Bedenken auch bei Lackner, Vorbem. 2 vor § 22.

518

§ 49 Begriff, Tatbestand u n d Bestrafung des Versuchs

Die Unterscheidung zwischen Vollendung und Beendigung hat nach verschiedenen Richtungen hin praktische Bedeutung \ Einmal wird angenommen, daß bei Distanzdelikten im internationalen Strafrecht die Beendigung der Tat im Sinne der Verwirklichung der tatbestandsmäßigen Absicht als Erfolg nach § 9 I anzusehen ist (vgl. oben § 18 IV 2 b). Weiter ist im Zeitraum zwischen Vollendung und Beendigung noch Teilnahme möglich (BGH 2, 344 [346f.]; 6, 248 [251]) (vgl. für die Mittäterschaft unten § 63 I I 2, für die Beihilfe unten § 64 I I I 2 b). Weiter werden dem Täter qualifizierende Tatbestandsmerkmale, die er während dieses Zeitraums verwirklicht, noch zugerechnet (BGH 20, 194 [196]; 22, 227; B G H G A 1971, 82). Für die Konkurrenz kann eine Uberschneidung, die erst in dieser letzten Phase eintritt, noch Idealkonkurrenz begründen (RG 60, 315 [316f.]; B G H JZ 1952, 89; GA 1955, 245 [246f.]; JZ 1975, 130 [131]). Endlich beginnt die Strafantragsfrist (vgl. unten § 85 I 5) sowie die Verfolgungsverjährung (vgl. unten § 86 I 2) erst mit der Beendigung der Tat. Beispiele: Die Erpressung (§ 253) ist vollendet, sobald der Genötigte das Geld hergibt, auch wenn es der Täter im Ergebnis nicht erlangt (BGH 19, 342 [343]), beendigt aber erst mit der Erlangung der Beute. Auch beim Diebstahl setzt die Beendigung der Tat die Sicherung der erlangten Sachherrschaft voraus. Wenn der Bestohlene die mit der Beute fliehenden Täter verfolgt, ist der Diebstahl zwar vollendet, aber noch nicht beendigt, so daß die Unterstützung der Fliehenden durch einen Dritten Beihilfe zum Diebstahl sein kann (BGH 6, 248 [249]) 2 . Raub mit Todesfolge (§ 251) liegt auch dann vor, wenn der Täter auf der Flucht vor seinen Verfolgern (d.h. während der Phase zwischen Vollendung und Beendigung) leichtfertig einen anderen tötet (BGH 38, 295 [297ff.]). Dagegen gibt es keine Beihilfe mehr, wenn die Beute des Räubers bereits an den Verletzten zurückgelangt ist (BGH JZ 1985, 299) oder der Unfallbeteiligte, ohne verfolgt zu werden, sich von der Unfallstelle abgesetzt hat (OLG Stuttgart NJW 1981, 878 [879]).

IV. Die Abgrenzung von Versuch und Vorbereitung 1. Der Versuch beginnt nach § 22, wenn der Täter „nach seiner Vorstellung von der Tat zur Verwirklichung des Tatbestandes unmittelbar ansetzt". Der Gesetzgeber hat in der Strafrechtsreform von 1975 die alte Formel vom „Anfang der Ausführung" (§ 43 a.F.), die in ihrer für die praktischen Bedürfnisse zu engen Form von der Rechtsprechung überdehnt worden war (RG 71, 53; B G H 6, 302 [303]; O L G Karlsruhe JR 1973, 425), durch eine Fassung ersetzt, in der ein subjektives Kriterium (Vorstellung des Täters von der Tat) mit einem objektiven Merkmal (unmittelbares Ansetzen zur Verwirklichung des Tatbestandes) verbunden ist. Diese schon früher vertretene 33 sog. „individuell-objektive Theorie" 34 (BGH 26, 201 [203 f.]; B G H StV 1992, 62; B G H NJW 1993, 2125) soll durch Beschränkung des Versuchs auf die der Verwirklichung des Tatbestands unmittelbar vorange31

Vgl Jescheck, Welzel-Festschrift S. 696 ff.; Hau, Die Beendigung der Straftat S. 114 ff. Kritisch dazu Gallas, ΖΑΚ 1937, 438; Isenheck, NJW 1965, 2329; Roxin/Schünemann/ Haffee, Strafrechtliche Klausurenlehre S. 232f.; Rudolphi, Jescheck-Festschrift Bd. I S. 568 f. 33 Vgl. Welzel, Lehrbuch S. 190; Jescheck, Niederschriften Bd. II S. 194. 34 So Bockelmann/Volk, Allg. Teil S. 207; Baumann/Weher, Allg. Teil S. 494; Dreher/ 32

Tröndle,

§ 22 Rdn. 8; LK 10

(Vogler)

§ 22 Rdn. 58 ff. („tatbestandsspezifische Frage"); Lack-

ner, § 22 Rdn. 3; /. Meyer, ZStW 87 (1975) S. 604 Fußnote 34; Otto, Grundkurs S. 225;

Roxin, JuS 1979, 3; Rudolphi, JuS 1973, 23; Schönke/Schröder/Eser,

§ 22 Rdn. 25; SK (Ru-

dolphi) §22 Rdn. 11; Wessels, Allg. Teil Rdn. 598; Walder, SchwZStr 99 (1982) S. 225 ff. Schmidhäuser, Allg. Teil S. 611 spricht im gleichen Sinne von „Ganzheitstheorie". Jakobs, Allg. Teil 25/63 ff. stellt zusätzlich auf den sozialen Zusammenhang ab.

I V . D i e A b g r e n z u n g v o n Versuch u n d Vorbereitung

519

hende Phase der immer weiteren Verlagerung des Versuchsbeginns in das Vorfeld der Tat entgegenwirken 35. Überholt ist damit die rein subjektive Theorie, die für den Versuchsbeginn allein auf die Vorstellung des Täters vom Anfang der Ausführung abstellte und damit weit in den Bereich der Vorbereitung hineinführte, ebenso wie die entgegengesetzte formell-objektive Theorie, nach der beim Versuch mit der tatbestandsmäßigen Handlung im strengen Sinne begonnen sein mußte. Dagegen ist die materiell-objektive Theorie, die für den Versuch eine unmittelbare Gefährdung des geschützten Handlungsobjekts verlangt, noch immer von Wert, da dieses Kriterium zur Ausfüllung der Ansatzformel verwendet werden kann (vgl. unten § 49 IV 5). 2. Auszugehen ist bei der Abgrenzung zwischen Versuch und Vorbereitung von der „Vorstellung des Täters von der Tat", denn das nur bruchstückhaft verwirklichte äußere Geschehen läßt sich, jedenfalls beim unbeendeten Versuch, nur vom Täterplan her verstehen 36. Es kommt also für die Frage, ob bereits ein unmittelbares Ansetzen zur Verwirklichung des Tatbestandes anzunehmen ist, darauf an, wie sich der Täter den Ablauf der Tat gedacht hat und wann und in welcher Weise er mit der tatbestandsmäßigen Ausführungshandlung beginnen wollte. 3. Durch das Merkmal des unmittelbaren Ansetzens zur Verwirklichung des Tatbestandes soll der Versuch „bis hart an die Grenze der Tatbestandshandlung herangerückt" werden 37 . Versuchshandlungen sind also nur Geschehnisse, „die der Verwirklichung eines Tatbestandsmerkmals unmittelbar vorgelagert sind" 3 8 . Maßgebend ist dabei, daß das noch nicht tatbestandsmäßige Verhalten nach dem Gesamtplan des Täters so eng mit der eigentlichen Ausführungshandlung verknüpft sein muß, daß es ohne wesentliche Zwischenschritte in die entscheidende Phase der Tat übergehen kann (BGH 35, 6 [8f.]; B G H NStZ 1987, 20) 39 . Beispiele: Wenn die zum Überfall auf eine Tankstelle entschlossenen Täter mit übergezogenen Gesichtsmasken und schußbereiter Pistole an der Haustür des Tankwarts läuten, um ihn sogleich nach dem Öffnen zu berauben, so liegt ein Versuch des schweren Raubes (§ 250 1 Nr. 1) vor, auch wenn niemand erscheint (BGH 26, 201 [203 f.] m.zust.Anm. Gössel, JR 1976, 249 ff.). Dagegen ist die Einleitung einer Steuerhinterziehung nach § 370 I, II AO 1977 (Verkauf von Heizöl als Dieselkraftstoff) durch Aufbau der erforderlichen Geschäftsbeziehungen noch kein Ansetzen zur zweckwidrigen Verwendung als Kraftstoff, da das Öl noch bestellt und zur Abnehmerin transportiert werden muß (anders nach frühe35 Vgl. Ε 1962 Begründung S. 144; BT-Drucksache V/4095 S. 11. Über die Auswirkungen in der Rechtsprechung vgl. Becher, Zur Abgrenzung S. 54ff.; Berz, Jura 1984, 511 ff. 36 Vgl. das Beispiel von dem geplanten Giftmord bei SK (Rudolphi) § 22 Rdn. 11; vgl. ferner Baumann/Weber, Allg. Teil S. 495. 37 So treffend Roxin, Einführung S. 15 f.; Schönke/Schröder/Eser, § 22 Rdn. 35. Ähnlich

Dreher/Tröndle,

§22 Rdn. 11; Preisendanz,

§22 Anm. 4 a. Dagegen sieht Lackner, §22

Rdn. 4 in der Neufassung gegenüber dem bisherigen Recht „nichts wesentlich anderes", auch Schmidhäuser, Allg. Teil S. 611 hält die Änderung in der Terminologie für „gleichgültig". Ähnlich Stratenwerth, Allg. Teil I Rdn. 666ff.; D. Meyer, JuS 1977, 21. Weitere Präzisierung der Ansatzformel bei Kratzsch, JA 1983, 382 ff.; vgl. auch derselbe, Verhaltenssteuerung S. 69 ff. Über das kriminologische Verständnis der Ansatzformel Walder, Leferenz-Festschrift S. 540 ff. 38 So Bockelmann/Volk, Allg. Teil S. 208. 39

So Schönke/Schröder/Eser,

§ 22 Rdn. 39; SK (Rudolphi) § 22 Rdn. 13; Veling, Abgren-

zung § 53; Wessels, Allg. Teil Rdn. 607. Zu eng wohl LK 10 (Vogler) § 22 Rdn. 60, indem er ein Verhalten verlangt, das „sich durch zulässige Interpretation sprachlich und sachlich in den jeweiligen Tatbestand einbeziehen läßt". Zur Verteidigung seines Standpunkts erneut Vogler, Stree-Wessels-Festschrift S. 293 m.Rspr.

520

§ 49 Begriff, Tatbestand u n d Bestrafung des Versuchs

rem Recht OLG Karlsruhe JR 1973, 42540). Kein Versuch, sondern nur eine Vorbereitung der Betäubungsmitteleinfuhr (§ 30 I Nr. 4 BtMG) ist auch die Reise des Täters ins Ausland, um die Ware dort abzuholen (BGH Daliinger MDR 1975, 21). Kein Versuch ist ferner das Bemühen des Täters, ein Kind zu unzüchtigen Handlungen geneigt zu machen, wenn die Tat erst später an einem anderen Ort stattfinden soll (OLG Celle NJW 1972, 1823). Das Ansinnen an eine Prostituierte, regelmäßig Beträge aus ihrem Unzuchtserwerb abzuführen, ist Versuch des § 181a a.F. (BGH 19, 350 [351]), das Ansinnen, sich zu diesem Zweck der Gewerbsunzucht erst zuzuwenden, ist dagegen nur Vorbereitung (BGH 6, 98 [99]). Der fingierte Einbruch ist noch kein versuchter Versicherungsbetrug (BGH NJW 1952, 430), der Weg zum Tatort noch kein versuchter Diebstahl (BGH Dallinger MDR 1966, 197). Beim Aufbau einer Brandstiftungsanlage kommt es darauf an, ob der Täter selbst die Zündung betätigen will (Vorbereitung) oder ob sie ein gutgläubiger Dritter auslösen soll (Versuch) (RG 66, 141). Das Betätigen einer Lichthupe als Signal für den Uberfall auf einen Geldtransport, der sofort danach einsetzen sollte, ist bereits Versuch des Raubes (BGH Holtz MDR 1977, 807 f. 41 ). Versuch ist auch das Betreten der zu überfallenden Poststelle (BGH G A 1980, 24) und das Platznehmen im Fahrzeug des Opfers zwecks eines räuberischen Angriffs (§ 316a) (BGH NStZ 1989, 476). Das Aufkleben präparierter Briefmarken auf einen Brief, die erst nach Rücksendung durch den Adressaten nochmals verwendet werden sollten, ist dagegen noch kein Versuch des § 148 I I (anders aber OLG Koblenz NJW 1983, 1625; dagegen zu Recht Küper y NJW 1984, 777 f.). Ein unmittelbares Ansetzen zur Einfuhr von Betäubungsmitteln aus dem Ausland ist erst „kurz vor der Grenze" anzunehmen (BGH 36, 249 [251]). Die Weitergabe eines Schreibens, durch das ein Zeuge zu einer Falschaussage erst veranlaßt werden soll, an eine Mittelsperson ist noch kein Versuch der Strafvereitelung (BGH 31, 10 [13]). Vorbereitung ist das bloße Auflauern (BGH Dallinger MDR 1973, 728, 900), Versuch dagegen das Auflauern, wenn beim Eintreffen der Straßenbahn, mit der ein zu beraubender Kassenbote erwartet wird, die Angriffs- und Fluchtmittel von den bereitstehenden Tätern in Bewegung gesetzt werden (BGH NJW 1952, 514 m.abl.Anm. Mezger; bloßes Abwarten des Opfers genügt nach BGH StV 1989, 526 jedoch nicht). Versuch ist das Eindringen in das Gebäude, aus dem gestohlen werden soll, falls sich etwas findet (OLG Hamm MDR 1976, 155). Vorbereitung ist das Verladen der Ware für ein Ausfuhrdelikt (anders BGH 20, 150) oder für ein Lebensmittelvergehen (anders BGH 12, 54), Versuch dagegen der Transport zur Grenze bzw. zur Gaststätte 2 . Versuch ist auch die körperliche Einwirkung auf ein Kind (Betäubung), um ihm anschließend die Pulsadern aufzuschneiden (RG 59, 157), Vorbereitung der Gefangenenbefreiung (§ 120) ist das Betreten des Dienstgebäudes, wo dem Gefangenen Ausbruchswerkzeuge zugespielt werden sollen (anders BGH 9, 63 [64]). Das Warten des kaufbereiten Abnehmers in der Wohnung des Händlers auf den Verkauf der vereinbarten Menge Haschisch ist noch kein Versuch des Drogenerwerbs (OLG Celle NJW 1986, 78). Das Bereitlegen von Einbruchswerkzeug am Tatort ist noch kein Ansetzen zum Diebstahl (BGH NStZ 1989, 473). 4. Versuch ist immer dann anzunehmen, wenn der Täter bereits mit der tatbestandsmäßigen Ausführungshandlung selbst oder bei mehraktigen Delikten mit der ersten tatbestandsmäßigen Handlung begonnen hat, denn in diesen Fällen ist er über das bloße Ansetzen schon hinausgelangt. Der Gesetzgeber hat es allerdings versäumt, diesen Fall in § 22 ausdrücklich zu erfassen 43. 40

Ein Versuch liegt nach Tiedemann y JR 1973, 413 f. aber deswegen vor, weil der Täter die rechtzeitige Anzeige an das Finanzamt unterlassen hat. 41 Dazu eingehend Küper, JZ 1979, 775 ff. 42 Kriminalpolitische Bedenken gegen die „Ansatzformel" bei Wirtschaftsdelikten äußert Tiedemann, 49. DJT 1972 S. 52; derselbe, JR 1973, 412; derselbe, Wirtschaftsstrafrecht, Allg. Teil S. 221 ff. Vgl. dazu m.zahlr.Beisp. aus der Rspr. Dreher/Tröndle, §22 Rdn. 17 a; ]. Meyer y ZStW 87 (1975) S. 610; Lange, Strafrechtsreform S. 34 f.; Schmidt-Hieb er y in: MüllerGugenberger, § 8 Rdn. 22 ff.

43 Die Fassung des § 26 Ε 1962 war auch in diesem Punkte besser; vgl. Blei t Allg. Teil S. 228.

. De

estan

des Versuchs

521

Beispiele: Der tätliche Angriff auf den Begleiter des zu Beraubenden ist tatbestandsmäßig Gewalt als erste Stufe des Raubes (BGH 3, 297), das Abschließen der Ladentür Beginn der Drohung (RG 69, 327 [331]). Eine Täuschungshandlung, durch die erst die notwendige Vertrauensgrundlage für die Hingabe des geplanten Darlehens geschaffen und nicht die Vermögensverfügung selbst bewirkt werden soll, ist dagegen nur eine Vorbereitung zum Betrug (BGH 37, 294 [296]; OLG Karlsruhe NJW 1982, 59 44 ). Betrugsversuch gegenüber einem Makler ist nicht schon die Vorspiegelung der Zahlungsbereitschaft durch den Kunden, sondern erst das Ansetzen zum Abschluß des die Zahlungspflicht auslösenden Geschäfts (BGH 31, 178 [182f.]). 5. Die Regelung des Versuchs durch § 22 ist zugeschnitten auf den unbeendigten Versuch des allein handelnden Begehungstäters und zieht die Grenze der Strafbarkeit insoweit mit mehr rechtsstaatlicher Bestimmtheit. Bei anderen Erscheinungsformen des Versuchs paßt die Ansatzformel jedoch nicht und muß ersetzt oder modifiziert werden. So fehlt es an einem Anknüpfungspunkt für das Ansetzen bei da sich der Täter hier rein passiv verhält. In diesen den Unterlassungsdelikten, Fällen wird daher weiterhin auf den Zeitpunkt der unmittelbaren Gefährdung des geschützten Handlungsobjekts bzw. auf die Erhöhung einer bereits bestehenden Gefahr abzustellen sein (vgl. unten § 60 I I 2) 4 5 . In anderen Fällen ist die Ansatzformel zwar an sich anwendbar, führt aber zu Ergebnissen, die viel zu weit gehen und gerade das Gegenteil der Einschränkung der Versuchsstrafbarkeit bewirken, die mit ihr erreicht werden sollte. So wird man bei der mittelbaren Täterschaft nicht die Einwirkung des Hintermanns auf das Werkzeug, sondern das Ansetzen zur Verwirklichung des Tatbestandes durch das Werkzeug oder frühestens das Losschicken des Werkzeugs durch den mittelbaren Täter als das richtige Kriterium ansehen müssen, wenn die Tat unmittelbar danach ohne Zwischenstadium erfolgen soll ( B G H 30, 363) (vgl. unten § 62 IV 1). Auch bei der actio libera in causa kann nicht das Ansetzen zur Herbeiführung der Schuldunfähigkeit (z.B. das vorsätzliche Sich-Betrinken), sondern nur das Ansetzen zur Verwirklichung des Tatbestands selbst der maßgebende Zeitpunkt sein (vgl. unten § 49 V I I 4). Endlich beginnt der beendigte Versuch erst, wenn der Täter das Geschehen endgültig aus seinem Herrschaftsbereich entläßt, wenn also etwa die Brandstiftungsanlage so angelegt ist, daß die Zündung durch einen Kurzschluß oder die Betätigung des Lichtschalters durch irgendeinen Dritten erfolgen kann (RG 66, 141 [142]). 46 . V . Die Bestrafung des Versuchs 1. Strafwürdig ist der Versuch einerseits bei den schweren Delikten, weil hier schon das unmittelbare Ansetzen zur Tat geeignet ist, das Gefühl der Rechtssicherheit in der Allgemeinheit zu erschüttern. Der Versuch muß andererseits aus generalpräventiven Gründen auch bei denjenigen Delikten der mittleren Kriminalität mit Strafe bedroht werden, bei denen der Tatanreiz besonders groß ist, wie z.B. bei Gefangenenbefreiung (§ 120 III), gefährlicher Körperverletzung (§ 223 a II), Inverkehrbringen von Falschgeld (§ 147 II), Nötigung (§ 240 III), Diebstahl (§ 242 II), Erpressung (§ 253 III), Hehlerei (§ 259 III), Betrug (§ 263 II), Urkundenfälschung (§ 267 II). So erklärt sich die auf Art. 2 und 3 des französischen 44 Dazu lehrreich Burkhardt, JuS 1983, 426 ff. mit dem Hinweis, daß auch bei Teilverwirklichung des Tatbestandes das „unmittelbare Ansetzen" auf den Gesamttatbestand bezogen werden muß. Vgl. auch Jakobs, Allg. Teil 25/68. 45 So Jescheck, SchwZStr 91 (1975) S. 30;/. Meyer, ZStW 87 (1975) S. 605; Roxin, Einführung S. 16; Schönke/Schröder/Eser, § 22 Rdn. 50; Tiedemann, JR 1973, 412. 46 So Roxin, Maurach-Festschrift S. 226. Kritisch dazu Blei, JA 1975, 167; Herzberg,

M D R 1973, 89; LK i0

(Vogler)

§ 24 Rdn. 46.

522

§ 49 Begriff, Tatbestand u n d Bestrafung des Versuchs

Code pénal von 1810 zurückgehende Regelung, daß der Versuch bei Verbrechen immer, bei Vergehen nur in den gesetzlich bestimmten Fällen strafbar ist (§ 23 I ) 4 7 . Für die Abgrenzung der beiden Arten von strafbaren Handlungen ist die abstrakte Betrachtungsweise maßgebend (vgl. oben § 7 IV 2). Beispiel: Auch in einem besonders schweren Fall der Untreue (§ 266 II) ist der Versuch nicht mit Strafe bedroht (RG JW 1937, 169). 2. Nach § 23 I I kann der Versuch milder bestraft werden als die vollendete Tat 4 8 . Der gemilderte Strafrahmen ergibt sich aus § 49 I. Beim Zusammentreffen mehrerer gesetzlicher Milderungsgründe kann der Strafrahmen mehrfach herabgesetzt werden 49 (BayObLG NJW 1951, 284). Beispiel: Bei versuchter sexueller Nötigung (§ 178) durch einen vermindert schuldfähigen Täter senkt sich der Strafrahmen von einem Jahr bis zu zehn Jahren auf einen Monat bis zu fünf Jahren sieben Monaten zwei Wochen. Die bloß fakultative Strafmilderung entspricht der Eindruckstheorie (vgl. oben § 49 I I 3), nach der es von der Nähe der Tat zur Vollendung, von der Gefährlichkeit des Versuchs und der Intensität des verbrecherischen Willens abhängt, ob die Tat die Beurteilung nach dem normalen oder nach dem milderen Strafrahmen verdient 50 . Bei der Wahl zwischen dem Normalstrafrahmen und dem Sonderstrafrahmen des § 49 I darf der Richter nur Umstände berücksichtigen, die die Tat in ihrer Eigenschaft als Versuch betreffen und sie im Hinblick darauf, daß der Erfolg ausgeblieben ist, als immer noch schwerwiegend genug oder als verhältnismäßig milde erscheinen lassen51. Dagegen darf bei der Zumessung der konkreten Strafe inner47 Bei Ordnungswidrigkeiten kann der Versuch nur dann geahndet werden, wenn das Gesetz es ausdrücklich bestimmt (§ 13 II OWiG), was nur ausnahmsweise der Fall ist; vgl. Göhler, OWiG, § 13 Rdn. 1. 48 Die obligatorische Strafmilderung für den Versuch wurde unter Hinweis auf die Erfordernisse des „Willensstrafrechts" durch § 4 der GewaltverbrecherVO vom 5.12.1939 (RGBl. I S. 2378) beseitigt. Die Neufassung des §44 a.F. erfolgte durch die VO vom 29.5.1943 (RGBl. I S. 341). Das deutsche Recht wurde damit dem früheren österr. StGB § 8 und dem Schweiz. StGB Art. 21 ff. angeglichen. Vgl. dazu Nagler, GS 115 (1941) S. 27 ff. § 23 II ist entgegen § 25 II AE, aber in Ubereinstimmung mit § 27 II 2 Ε 1962 bei der fakultativen Strafmilderung geblieben, während § 15 I österr. StGB das Prinzip der Gleichbestrafung zugrunde legt. 49 Das geltende Recht hat das in § 65 II Ε 1962 enthaltene Verbot der Doppelmilderung nicht übernommen. § 50 schließt die Doppelmilderung nur für den Fall aus, daß die Annahme eines minder schweren Falles darauf gestützt wird, daß ein gesetzlicher Milderungsgrund nach § 49 vorliegt; vgl. dazu Horstkotte, Dreher-Festschrift S. 272 ff.; LK 10 (G.

Hirsch) § 50 Rdn. 2; Bruns, JR 1980, 226; B G H JR 1980, 246. 50

Vgl. dazu Bruns, Strafzumessungsrecht S. 438ff.; derselbe, Recht der Strafzumessung

S. 172; Schmidhäuser,

Allg. Teil S. 595; Schönke/Schröder/Eser,

§ 23 Rdn. 6; J. Meyer,

ZStW 87 (1975) S. 612 ff.; LK 10 (Vogler) § 23, Entstehungsgeschichte S. 107; BT-Drucksache V/4095 S. 11. Für obligatorische Strafmilderung wegen des Wegfalls des Erfolgsunrechts dagegen Baumann/Weber, Allg. Teil S. 477f.; LK 10 (Vogler) § 23 Rdn. 9; Schönke/Schröder/ Eser, § 23 Rdn. 6; Stratenwerth, Allg. Teil I Rdn. 682; derselbe, Schweiz. Juristentags-Festgabe S. 256. Für Gleichbestrafung von Vollendung und Versuch Roeder, Erscheinungsformen S. 14; Zielinski, Handlungs- und Erfolgsunwert S. 213 ff. 51

So Dreher, JZ 1956, 638; derselbe, JZ 1957, 155f.; Dreher/Tröndle,

§ 23 Rdn. 3; Bruns,

Recht der Strafzumessung S. 172 ff.; Jakobs, Allg. Teil 25/79 (der freilich, falls die versuchsbezogenen Gründe nicht ausreichen, andere fakultative Strafmilderungsgründe einbeziehen

will); LK 10

(Vogler)

§ 23 Rdn. 10; Schönke/Schröder/Eser,

§ 23 Rdn. 7; SK (Rudolphi) § 23

Rdn. 3; Lackner, § 49 Rdn. 4; Timpe, Strafmilderungen S. 91 ff.; OLG Hamm NJW 1958, 561. Eine andere Unterscheidung entwickelt Frisch, Spendel-Festschrift S. 399 ff.

V I . D i e Bestrafung v o n Vorbereitungshandlungen

523

halb des gemilderten Strafrahmens die Tatsache, daß nur ein Versuch vorliegt, nicht berücksichtigt werden, weil sonst ein Umstand, der schon bei der Aufstellung des gesetzlichen Strafrahmens maßgebend war, innerhalb dieses Rahmens ein zweites Mal berücksichtigt würde 5 2 . Der BGH läßt dagegen für die Wahl zwischen den beiden Strafrahmen „eine Gesamtbetrachtung aller Tatumstände und der Täterpersönlichkeit" entscheiden, so daß zur Ablehnung der Strafmilderung z.B. auch der Umstand herangezogen werden darf, daß der Täter gerade eine Gefängnisstrafe verbüßt hat (BGH 16, 351 [353]; 17, 266; BGH StV 1981, 514; GA 1984, 374)53. Ferner soll bei Bemessung der konkreten Strafe innerhalb des gewählten Rahmens der Umstand, daß es sich nur um einen Versuch handelt, nochmals verwendet werden dürfen (BGH 17, 266). Dies erscheint indessen nur dann berechtigt und auch geboten, wenn es beim Regelstrafrahmen bleibt, weil bei dessen Aufstellung der Versuch nicht berücksichtigt worden ist. Im Regelstrafrahmen muß die Tatsache, daß es beim Versuch geblieben ist, strafmildernd berücksichtigt werden, weil das Fehlen des Erfolgsunrechts die versuchte Tat bei im übrigen gleichen Umständen immer milder erscheinen läßt als die vollendete54. In § 49 I ist eine abgestufte Herabsetzung sowohl der Höchst- als auch der Mindeststrafe für den Versuch vorgesehen. A n die Stelle des Normalstrafrahmens tritt ein Sonderstrafrahmen mit umfangmäßig beschränkter Strafmilderung. Die innerhalb des Sonderstrafrahmens des § 49 I zugemessene Strafe braucht die im Regelstrafrahmen angedrohte Mindeststrafe nicht zu unterschreiten 55, doch muß die Urteilsbegründung ergeben, daß sich der Richter der Möglichkeit der Milderung unterhalb der Mindeststrafe bewußt gewesen ist (BGH JZ 1956, 500). V I . Die Bestrafung von Vorbereitungshandlungen 1. Vorbereitungshandlungen bleiben in der Regel straflos, weil sie von der Vollendung zu weit entfernt sind, als daß sie noch als ernsthafte Bedrohung des Rechtsgut erscheinen könnten. Es kommt hinzu, daß bei Vorbereitungshandlungen auch der Deliktsvorsatz oft nicht eindeutig nachweisbar sein w i r d 5 6 . 2. N u r aus besonderen kriminalpolitischen Gründen versteht sich der Gesetzgeber dazu, Vorbereitungshandlungen ausnahmsweise unter Strafe zu stellen 57 . a) Einmal handelt es sich dabei um die unselbständige Ausdehnung gewisser Tatbestände, deren Eigenart einen besonders frühen Zugriff erfordert, weil sonst mit der Strafe nichts auszurichten wäre, wie die Vorbereitung eines hochverräterischen Unternehmens (§ 83), die lan52

Vgl. B G H 16, 351 (354); Bruns, Strafzumessungsrecht S. 448; Dreh er/Tröndle,

§ 23

Rdn. 3; Schönke/Schröder/Eser, § 23 Rdn. 10. Mit Recht weist jedoch SK (Rudolphi) § 23 Rdn. 4 darauf hin, daß die besonderen Eigenschaften des in Frage stehenden Versuchs, z.B. seine Untauglichkeit, berücksichtigt werden dürfen. 53 Ebenso die h.L.; vgl. Baumann/Weber, Allg. Teil S. 477; Bockelmann/Volk, Allg. Teil S. 211; Bruns, Strafzumessungsrecht S. 446 f.; Hettinger, Das Doppelverwertungsverbot S. 174; Maurach/Gössel/Zipf, Allg. Teil I I § 40 Rdn. 183; Stratenwerth, Schweiz. Juristentags-Festgabe S. 261. 54

So Schönke/Schröder/Eser,

§ 23 Rdn. 9; Dreher, JZ 1957, 156; Stratenwerth,

Schweiz.

Juristentags-Festgabe S. 255; anders Bruns, Strafzumessungsrecht S. 449; Blei, Allg. Teil S. 234. 55 Anders Börker, JZ 1956, 478; gegen ihn zutreffend Dreher, JZ 1956, 683; Dreher/ Tröndle, 56

§ 23 Rdn. 3.

Vgl. Maurach/Gössel/Zipf, Allg. Teil II § 39 Rdn. 19. 57 Vgl. dazu Schönke/Schröder/Eser, Vorbem. 13 f. vor § 22; Maurach/Gössel/Zipf, Teil II § 39 Rdn. 21 ff.

Allg.

524

§ 49 Begriff, Tatbestand u n d Bestrafung des Versuchs

desverräterische Ausspähung (§ 96 I), die Vorbereitung eines Verschleppungsverbrechens (§ 234a III) oder eines Anschlags auf ein Luftfahrzeug (§ 316c III). b) Weiter sind Vorbereitungshandlungen von typischer Ausprägung und hoher Gefährlichkeit als selbständige Delikte speziell unter Strafe gestellt, ohne daß der Täter dabei schon ein ganz bestimmtes Verbrechen im Auge haben müßte, wie die Vorbereitung der Geldfälschung (§ 149), das Inverkehrbringen von Mitteln zum Abbruch der Schwangerschaft (§ 219 b), der Versicherungsbetrug (§ 265), die Vorbereitung eines Angriffskrieges (§ 80). c) Endlich sind in § 30 die wegen der psychischen Bindung der Beteiligten besonders gefährlichen Fälle der Vorbereitung der Teilnahme unter Strafe gestellt (vgl. unten § 65). 3. Die Fälle strafbarer Vorbereitung geben zu verschiedenen Zweifelsfragen Anlaß. Der Versuch ist nicht bei den unselbständigen (BGH 6, 85 [87]), wohl aber bei den meisten selbständigen Vorbereitungstatbeständen strafbar (so z.B. die Brandstiftung in dem irrtümlichen Glauben, die Sache sei versichert, als versuchter Versicherungsbetrug nach § 265, RG 68, 430 [436]; die versuchte Ausspähung nach § 96 I, BGH 6, 385 [387]). Kein Versuch ist jedoch bei der Vorbereitung eines hochverräterischen Unternehmens möglich (§ 83), weil diese Vorschrift selbst schon das Vorfeld des Hochverrats so weit erfaßt, wie ein Strafbedürfnis besteht58. Dagegen kann die für den Versuch geltende Rücktrittsvorschrift (§ 24) auf die in eigenen Tatbeständen erfaßten Vorbereitungshandlungen keine Anwendung finden, da sie formell vollendete Taten darstellen (BGH 15, 198 [199]). Doch gelten vielfach Sonderbestimmungen (vgl. §§31, 83 a, 84 V, 85 III, 87 III, 98 II, 316 c IV), die bei ähnlich gelagerten Fällen analog anzuwenden sind (BGH 6, 85 [87]) (vgl. unten § 51 V 2) 59 . Eine strafbare Teilnahme ist sowohl an selbständigen als auch an unselbständigen Vorbereitungshandlungen denkbar 60. V I I . Sonderfälle des Versuchs 1. Ein Versuch ist auch bei schlichten Tätigkeitsdelikten (vgl. oben § 26 I I l b ) , möglich, und zwar einmal dann, wenn die Tätigkeit nicht schon mit ihrer Vornahme vollendet ist, sondern einen gewissen Zeitraum beansprucht, zum anderen in den Fällen der irrtümlichen Annahme eines Tatbestandsmerkmals (untauglicher Versuch). Beispiele: Der Meineid ist versucht, wenn mit der Eidesleistung begonnen wird (BGH 4, 172 [176]). Glaubt der Täter irrtümlich, an einem Kind unter 14 Jahren sexuelle Handlungen vorzunehmen, so liegt ein untauglicher Versuch des § 176 vor (vgl. auch RG 47, 189 [191]). 2. Bei den erfolgsqualifizierten Delikten (vgl. oben § 26 I I 1 a) sind zwei Fallgruppen zu unterscheiden 61 . a) Einmal besteht die Möglichkeit, daß der Täter die schwere Folge bereits durch den Versuch des Grunddelikts herbeiführt und hinsichtlich dieser Folge fahrlässig (§ 18) oder leichtfertig handelt. In diesen Fällen ist Versuchsstrafbarkeit nach dem qualifizierten Tatbestand dann anzunehmen, wenn der Erfolg mit der 58

Vgl. Lackner, § 83 Rdn. 3; LK 10 (Vogler)

Vorbem. 89f. vor § 22; Maurach/Gössel/Zipf

Allg. Teil II § 39 Rdn. 27; Schönke/Schröder/Eser, Vorbem. 29 vor § 22. 59 Vgl. dazu Schönke/Schröder/Eser, § 24 Rdn. 117; G. Koch, Der Rücktritt S. 71. 60 Dies gilt entgegen Coester y Die Vorbereitungshandlung S. 141 ff. auch für die Beihilfe zu unselbständigen Vorbereitungshandlungen. 61 Vgl. Thomsen, Über den Versuch S. 57f.; LK 10 (Vogler) Vorbem. 71 ff. vor § 22; (Dehler, ZStW 69 (1957) S. 520f.; Baumann/Weber, Allg. Teil S. 486f.; Schönke/Schröder/Gramer, § 18 Rdn. 8 ff.; Laubenthal,, JZ 1987, 1065; SK (Rudolphi) § 18 Rdn. 7; Hirsch, GA

1972, 75f.; Rengier, Erfolgsqualifizierte Delikte S. 234ff.; AK (Paeffgen) Wessels, Allg. Teil Rdn. 617.

§ 18 Rdn. 106ff.;

II.

e r e des Versuchs

525

Handlung verknüpft ist (z.B. in den §§ 177 III, 251), dagegen abzulehnen, wenn der qualifizierende Erfolg auf dem Erfolg des Grunddelikts aufbaut (z.B. in den §§ 224, 226 62 , 307, 309), weil im zweiten Falle der Versuch des Grunddelikts nach dem Tatbestand keine ausreichende Grundlage für die Zurechnung des schweren Erfolgs darstellt 63 . Beispiele: Versuchte Vergewaltigung mit Todesfolge (§ 177 III) liegt vor, wenn schon die Gewaltanwendung zum Tode des Opfers führt, bevor es überhaupt zum Geschlechtsverkehr gekommen ist (RG 69, 332). Entsprechendes gilt für § 251 (RG 62, 422 [423]). Bei der Brandstiftung mit Todesfolge (§ 307 Nr. 1) muß dagegen der Tod durch den Brand selbst, nicht durch den Zündstoff herbeigeführt worden sein (RG 40, 321 [324]; wohl auch BGH 20, 230 [231]; anders aber BGH 7, 37 [39]). b) Davon zu unterscheiden sind die Fälle, in denen der Täter das Grunddelikt versucht oder vollendet und dabei die schwere Folge beabsichtigt, aber nicht erreicht. Auch diese Fälle sind von den erfolgsqualifizierten Tatbeständen erfaßt, da § 18 die vorsätzliche Herbeiführung des Erfolgs nicht ausschließt („wenigstens") 64 . Bleibt dieser Erfolg aus, so ist der Täter wegen Versuchs des erfolgsqualifizierten Delikts strafbar, sofern sein Verhalten nicht von einem schwereren Vorsatztatbestand erfaßt wird. Beispiele: Versuchte schwere Freiheitsberaubung nach § 239 II (über eine Woche) ist gegeben, wenn der Täter, um sich eines unbequemen Verwandten zu entledigen, diesen bewußt widerrechtlich in eine geschlossene Anstalt verbringt, die ihn aber als geistig gesund sofort wieder entläßt (RG 61, 179; BGH 10, 306 [309]; BGH GA 1958, 304). Entsprechendes muß für § 224 gelten, da der schwere Erfolg hier bedingt vorsätzlich herbeigeführt werden kann65 (BGH 21, 194 m.abl.Anm. Schröder, JZ 1967, 368); ist der schwerere Erfolg jedoch beabsichtigt, so liegt Versuch von § 225 II vor. 3. Über den Versuch des Unterlassungsdelikts vgl. unten § 60 II, über den Versuch der Teilnahme vgl. unten § 65 II, III, über den Versuch der mittelbaren Täterschaft vgl. unten § 62 IV 1, über den Versuch der Mittäterschaft vgl. unten § 63 IV 1. 4. Der Versuch der vorsätzlichen actio libera in causa (vgl. oben § 40 V I 2) beginnt bei den Begehungsdelikten nicht schon mit der Herbeiführung der Handlungs- oder Schuldunfähigkeit, sondern erst mit dem Ansetzen zur Ausführung der 62

BGH 14, 110 (112) sowie 31, 96 (100) läßt dagegen als Ursache der Todesfolge schon die Körperverletzungs/j^wi/Z^wg genügen (anders RG 44, 137 [139]). Zustimmend Schönke/ Schröder/Lenckner, § 226 Rdn. 5; Stree, GA 1960, 290 ff., der sogar eine versuchte Körperverletzung ausreichen läßt (S. 296). Dagegen mit Recht Lackner, § 226 Rdn. 2. 63 Ebenso Dreher/Tröndle, § 18 Rdn. 4; Geilen, Jura 1979, 614; Blei, Allg. Teil S. 222; Lackner, § 18 Rdn. 9; LK 10 (Vogler) Vorbem. 74ff. vor § 22; Schmidhäuser, Allg. Teil S. 642;

Schönke/Schröder/Gramer,

§ 18 Rdn. 9; SK (Rudolphi) § 18 Rdn. 7. Anders dazu Ulsenhei-

mer, G A 1966, 267 ff., der darauf abstellt, ob sich die besondere, dem Grunddelikt anhaftende Gefahr in der schweren Folge verwirklicht hat. Dagegen wird Versuch von Maurach/ Gössel/Zipf, Allg. Teil II § 43 Rdn. 115 überhaupt ausgeschlossen, weil die erfolgsqualifizierten Delikte - entgegen § 11 II - als Fahrlässigkeitstaten angesehen werden. Dagegen zu Recht die h.L.; vgl. Lackner, § 11 Rdn. 24. 64 Ebenso Baumann/Weber, Allg. Teil S. 487; Dreher/Tröndle, § 18 Rdn. 6; Laubenthal,

JZ 1987, 1068; LK 10 (Vogler) Vorbem. 83 ff. vor § 22; Lackner, § 18 Rdn. 10; Hirsch, GA 1972, 75 Fußnote 50; Schönke/Schröder/ Cramer, § 18 Rdn. 10; SK (Rudolphi) § 18 Rdn. 8;

Stree, G A 1960, 295; Ulsenheimer, G A 1966, 273 ff. Dagegen für das österreichische Recht Schmoller, JBl 1984, 654ff. m.Nachw. in Fußnote 13. 65 Ebenso Maurach/Schroeder/Maiwald, Bes. Teil I § 9 Rdn. 24; R. Schmitt, JZ 1962, § 224 Rdn. 14; SK (Rudolphi) § 18 Rdn. 8; zweifelnd Blei, Allg. Teil 392; Dreher/Tröndle, S. 222.

§ 49 Begriff, Tatbestand u n d Bestrafung des Versuchs

526

mit Strafe bedrohten Handlung selbst, weil es vorher sowohl an der unmittelbaren Gefährdung des geschützten Rechtsguts als auch an der äußeren Eindruckskraft des Geschehens fehlt 66 . Bei den Unterlassungsdelikten (omissio libera in causa) wird an den Zeitpunkt des Eintritts der Unfreiheit angeknüpft, weil es hier einen Anfang der Ausführung im Sinne der Begehungsdelikte nicht gebe67. Richtig ist es jedoch, den Versuch in dem Zeitpunkt beginnen zu lassen, in dem der Täter die ihm obliegende Handlung hätte vornehmen müssen. V I I I . Das Unternehmensdelikt 1. Das Strafgesetzbuch enthält einige Tatbestände, in denen das „Unternehmen" einer Straftat mit Strafe bedroht ist. Als Unternehmen bezeichnet das Gesetz sowohl den Versuch als auch die Vollendung der Straftat ( § 1 1 1 Nr. 6) (zur Gesetzesgeschichte vgl. 2. Auflage S. 397). Der Sinn der Ausgestaltung des Tatbestands als Unternehmensdelikt ist eine Verschärfung der strafrechtlichen Reaktion, indem der Versuch hier nicht milder behandelt, sondern der Vollendung gleichgestellt wird. 2. Für die Behandung der Unternehmensdelikte gilt folgendes 68: Die Strafe darf in den Fällen, in denen das Unternehmen auf der Stufe des Versuchs verblieben ist, nicht nach § 23 I I gemildert werden, weil das Unternehmen immer als Vollendung bestraft werden soll. Die Grenze des Unternehmensdelikts gegenüber der Vorbereitungshandlung verläuft ebenso wie die des Versuchs; Vorbereitungshandlungen bleiben also aus dem Unternehmensbegriff ausgeschlossen. Während der Versuch als Unternehmensdelikt strafbar ist, sind die Vorstufen des Unternehmensdelikts - also gewissermaßen der „Versuch des Versuchs" - nicht strafbar, weil die Grenze sonst zu weit ins Vorfeld verlegt würde 69 . Das Unternehmensdelikt ist jedoch in den Fällen des Versuchs mit untauglichen Mitteln und am untauglichen Objekt strafbar, weil es sich, wenn das Unternehmen im Versuchsstadium steckenbleibt, um einen Versuch im Sinne des § 22 handelt (RG 39, 321 [323f.]; 56, 225; 72, 80). Die Rücktrittsvorschrift des § 24 kommt für das Unternehmensdelikt nicht in Betracht, weil Vollendungsstrafe angedroht ist. Wohl aber sind die vorhandenen Sondervorschriften über den Rücktritt (§§ 31, 83 a und 316a II) auf alle Unternehmensdelikte, einschließlich der „unechten", analog anzuwenden (vgl. unten § 51 V 3) 7 0 . Bei den „unechten" Unternehmensdelikten (vgl. 66

Ebenso Schönke/Schröder/Eser,

§ 22 Rdn. 55; LK 10

(Vogler)

§ 22 Rdn. 106f.; Straten-

werth, Allg. Teil I Rdn. 551 und teilweise Schmidhäuser, Allg. Teil S. 617f. Der Ansicht von

Roxin, Maurach-Festschrift S. 220f.; Dreh er/Tröndle,

§ 20 Rdn. 19; Puppe, JuS 1980, 347;

SK (Rudolphi) § 22 Rdn. 21 und Maurach, JuS 1961, 374, daß der Versuch schon mit dem Eintritt der Trunkenheit beginne, kann nicht zugestimmt werden, da die actio libera in causa keine Vorverlegung der tatbestandsmäßigen Handlung bedeutet. 67

68

So Schönke/Schröder/Eser,

§ 22 Rdn. 56 gegen Maurach, JuS 1961, 374, 377.

Vgl. näher Berz, Formelle Tatbestandsverwirklichung S. 125 ff.; Schröder, Kern-Festschrift S. 459ff.; Dreher/Tröndle, § 11 Rdn. 34; LK 10 (Vogler) Vorbem. 93ff. vor §22;

Schönke/Schröder/Eser,

§ 11 Rdn. 46ff.; SK (Rudolphi) § 11 Rdn. 23 ff.; Weher, ZStW Bei-

heft Göttingen 1987 S. 7ff. Die abweichende Meinung von Burkhardt, JZ 1971, 352 ff., der die Fälle des Mangels am Tatbestand aus dem Unternehmensbegriff ausgliedern will, berücksichtigt nicht die historische Entwicklung, die sich seit einem Jahrhundert in Anlehnung an den Versuch vollzogen hat und in Rechtsprechung und Lehre anerkannt ist. 69 70

So die h.L.; vgl. z.B. LK 10 (Tröndle) § 11 Rdn. 74 m.Nachw.; Burkhardt, JZ 1971, 357. § 11 Rdn. 51 ff.; Schröder, Kern-Festschrift S. 462 f.; StratenSo Schönke/Schröder/Eser,

werth,

Allg. Teil I Rdn. 733. Zur Durchführung der Analogie Berz, Stree-Wessels-Fest-

527

I X . Ausländisches Recht

oben § 26 I I 7) ist nur der Versuch mit untauglichen Mitteln, nicht aber der Versuch am untauglichen Objekt strafbar, da abgesehen von der Eignung des Unternehmens zur Erreichung seines Ziels sämtliche Tatbestandsmerkmale gegeben sein müssen71. Beispiel: Bei der Begünstigung (§ 257) kommt es nicht darauf an, ob die Hilfeleistung dem Vortäter die Vorteile der Tat wirklich sichert. Es würde jedoch nicht zur Bestrafung ausreichen, wenn der Täter nur irrig annimmt, daß der Gegenstand, auf den sich die Hilfeleistung bezieht, aus einer rechtswidrigen Vortat stammt. IX. Ausländisches Recht 72 Das ausländische Recht zeigt in den beiden bedeutendsten Streitfragen der Versuchslehre ein buntes Bild. Das österreichische StGB dehnt die Strafdrohung der Vorsatzdelikte allgemein auf den Versuch aus und sieht nur Milderung innerhalb des Normalstrafrahmens vor (§§ 15 I, 34 Nr. 13). Für die Abgrenzung von Versuch und Vorbereitung wird in § 15 II eine dem deutschen § 22 verwandte individuell-objektive Formel verwendet, die die Rechtsprechung zwingt, von ihrem bisherigen rein subjektivistischen Standpunkt73 abzugehen (vgl. etwa OGH EvBl 1975, 71)74. Der absolut untaugliche Versuch bleibt straffrei (§ 15 III) ; für die Abgrenzung gegenüber der Vorbereitungshandlung wird die Eindruckstheorie verwendet76. Die schweizerische Rechtsprechung hat die objektive Abgrenzungsformel des Art. 21 I StGB im Sinne der „Unwiderruflichkeitstheorie" 77 stark subjektiviert (BGE 71 IV 211; 83 IV 145; 87 IV 155)78 und bestraft nach Art. 23 I StGB auch den untauglichen Versuch79. In Frankreich übernimmt der Code pénal von 1994 in Art. 121-5 die Versuchsdefinition des Code pénal von 181080; die neue Vorschrift verlangt demgemäß einen Anfang der Ausführung und enthält implizit eine Regelung des Rücktritts. Die Rechtsprechung stellt auf die unmittelbare Beziehung zum Tatbestand ab 81 und bestraft auch den untauglichen schrift S. 336 ff.; BGH 15, 198 (199); Baumann/Weher, § 11 Rdn. 34; LK 10

(Tröndle)

Allg. Teil S. 480; Dreh er/Tröndle,

§ 11 Rdn. 77; Burkhardt, JZ 1971, 357f.; Preisendanz,

§ 11

Allg. Teil II § 40 Rdn. 82; Anm. VI 1; Jakobs, Allg. Teil 25/5; Maurach/Gössel/Zipf, Schmidhäuser, Allg. Teil S. 640 Fußnote 34; SK (Rudolphi) § 11 Rdn. 26, 30. 71

So Burkhardt,

JZ 1971, 355; Schönke/Schröder/Eser,

§ 11 Rdn. 66; anders Bockelmann,

NJW 1951, 622f.; Armin Kaufmann, Unterlassungsdelikte S. 234f.; Waider, GA 1962, 183 f. Für Bestrafung nur des tauglichen Versuchs SK (Rudolphi) § 11 Rdn. 29. 72 Zum Sonderproblem von Versuch und Rücktritt bei mehreren Beteiligten vgl. Jescheck, ZStW 99 (1987) S. 111 ff.; zum Unternehmensdelikt die Beiträge von Platzgummer, Grasso, Györgyi, Spotowski in ZStW-Beiheft Göttingen 1987. Zur Vergleichung des deutschen und polnischen Rechts Spotowski, Erscheinungsformen S. 32 ff., 52 ff., 63 ff., 79 ff. 73 Vgl. die bei Rittler, Bd. I S. 262 angeführten Entscheidungen und seine Kritik (S. 263); Nowakowski, Grundriß S. 91; Burgstaller, 74

Vgl. Burgstaller,

Jbl 1969, 522.

JBl 1976, 117ff.; derselbe, Strafrechtliche Probleme 3 S. 7ff.; Leukauf/

Steininger, § 15 Rdn. 6; Foregger/Serini,

§ 15 Anm. V m.Rspr.; WK (Hager/Massauer)

§§ 15, 16 Rdn. 30; Triffterer, Allg. Teil S. 356ff.; Kienapfel, Grundriß Ζ 21 Rdn. 17. 75 Vgl. Burgstaller, JBl 1969, 523ff., 530ff.; Roeder, Der Allgemeine Teil S. 33ff.; Platzgummer, JBl 1971, 246; Kienapfel, Grundriß Ζ 24 Rdn. 10. Zur Einschränkung des Begriffs der Untauglichkeit durch die Rspr. Fuchs, ÖJZ 1986, 257. 76

77

So Burgstaller,

JBl 1976, 122.

Im Anschluß an Germann, Verbrechen S. 191 f. und Waiblinger, SchwZStr 72 (1957) S. 127. Für die objektive Theorie aber grundsätzlich Hafter, Allg. Teil S. 204. Dazu Schultz, Einführung I S. 270 f.; Stratenwerth, Schweiz. Strafrecht, Allg. Teil I S. 281 ff. 78 Vgl. Pfenninger, Das schweizerische Strafrecht S. 232; Noll, GA 1970, 181 f. 79 P. Albrecht, Der untaugliche Versuch S. 53 ff. 80 Desportes/Le Gunehec, Présentation Nr. 26; Pradel, Le nouveau Code pénal Nr. 30; Circulaire S. 29. 81 Merle/Vitu, Traité I Nr. 468ff.; Stefani/Levasseur/Bouloc, Droit pénal général Nr. 197-1; Jeandidier, Droit pénal général Nr. 216 ff.

528

§ 49 Begriff, Tatbestand u n d Bestrafung des Versuchs

Versuch82. Der italienische C.p. verlangt in Art. 56 I Handlungen, die in unmißverständlicher Weise auf die Verwirklichung der Straftat abzielen und nach Art. 49 II auch tauglich sein müssen; beide Voraussetzungen werden objektiv ausgelegt83. Der Entwurf orientiert sich am geltenden Recht (Art. 19). Die englische Theorie und Praxis folgt der Lehre vom „dolus ex re" („mens rea must be evidenced by what the accused has actually done") und hält auch den untauglichen Versuch für strafbar; Beweisfragen stehen im Vordergrund 84. Sect. 1 des Criminal Attempts Act 1981 definiert den Versuch als „act which is more than merely preparatory to the commission of the offence" und erklärt den untauglichen Versuch für strafbar. Die Auslegung der Definition in der Praxis ist eng, doch gibt es selbständig strafbare Vorbereitungshandlungen, die das Vorfeld der wichtigsten Straftaten abdecken (z.B. unerlaubter Besitz von Schußwaffen oder von Diebeswerkzeug)85. In der reichhaltigen amerikanischen Praxis werden bei der Abgrenzung von Vorbereitung und Versuch ebenfalls objektive Kriterien verwendet, beim untauglichen Versuch wird Straflosigkeit in den Fällen der „legal impossibility" und der „apparent impossibility" angenommen86. Die Definition des Versuchs in der Gesetzgebung verlangt nach dem Muster von Sect. 5.01 (l)[c] Model Penal Code „an act ... constituting a substantial step in a course of conduct planned to culminate in the commission of a crime". Das spanische Recht folgt bei der Abgrenzung des Versuchs von der Vorbereitung einer streng objektiven Betrachtungsweise (Art. 3 III C.p.), bestraft aber seit der Neufassung im Jahre 1944 auch den untauglichen Versuch (Art. 52 II C.p.) 87 . Im niederländischen Recht (Art. 45 W.v.S. folgt Art. 2 des französischen C.p. 1810) wird die Abgrenzungsfrage überwiegend objektiv beantwortet88, der absolut untaugliche Versuch wird aus dem Bereich der Strafbarkeit ausgeschlossen89. Der belgische Code pénal nimmt in Art. 51 die Definition des Versuchs in Art. 2 des französischen Code pénal von 1810 auf. Für die Abgrenzung des Versuchs von der Vorbereitung wird auf den Anfang der Ausführung abgestellt Der absolut untaugliche Versuch ist nicht strafbar 91. Das brasilianische Recht verlangt streng objektiv für den Versuch einen Anfang der Ausführung (Art. 14 II C.p.). Auch in der Lehre ist eine objektive Abgrenzung herrschend 92.

82

Merle /Vitu, Traité I Nr. 482 f.; Stefani/Levasseur/Bouloc, Droit pénal général Nr. 206 f.; Jeandidier, Droit pénal général Nr. 225 ff. 83 Mantovani, Diritto penale S. 442, 459ff.; Pagliaro, Principi S. 506 ff.; Romano, Commentario Art. 56 C.p. Rdn. 18; Art. 49 C.p. Rdn. 14ff. 84 Vgl. Kenny /Turner, Outlines S. 104, 106f.; Glanville Williams, Criminal Law S. 622ff., 635 ff. m.zahlr.Nachw.; Smith/Hogan, Criminal Law S. 304 ff., 317 ff. m. neuerer Rspr. 85 Die Law Commission hat den Criminal Attempts Act 1981 in Clause 53 des Entwurfs eines Criminal Code übernommen; vgl. dazu Law Commission, Report S. 140 ff. 86 Vgl. Honig, Das amerikanische Strafrecht S. 177ff., 186ff. m.zahlr.Nachw.; Lehmann, Die Bestrafung des Versuchs S. 78 ff., 116 ff. 87

Vgl. Anton Oneca, Derecho penal S. 410, 416f.; Rodriguez Devesa/ Serrano

Gomez,

Derecho penal S. 783 ff., 791; Cobo del Rosal/ Vives Anton, Derecho penal S. 548 ff., 555 ff. (S. 557: Straflosigkeit des absolut untauglichen Versuchs); Cordoba Roda/ Rodriguez Mourullo, Art. 3 pars. 2 y 3, Anm. III 1 Β und Art. 51 y 52, Anm. II 2; Mir Puig, Adiciones Bd. II S. 718 ff. 88

Vgl. van Bemmelen/van Veen, Ons strafrecht S. 235 ff.; Hazewinkel-Suringa/Remme-

link, Inleiding S. 393 ff. 89 Vgl. Pompe, Handboek S. 214ff.; Hazewinkel-Suringa/Remmelink, m. Rspr. 90 Dupont /Verstraeten, Handboek Nr. 542; Hennau/Verhaegen,

Nr. 185; Τ ulkens/van 91

de Kerchove, Introduction S. 232 f.

Dupont /Verstraeten,

Nr. 200 bis; Tulkens/van

Handboek Nr. 551; Hennau/Verhaegen,

de Kerchove, Introduction S. 235 f.

Inleiding S. 398 ff. Droit pénal général Droit pénal général

92 Fragoso, Liçôes S. 251 f.; de Jesus, Comentârios, Art. 14 Anm. 2c; da Costa jr., Comentârios, Art. 14 Anmerkung (S. 145).

I. D i e Strafbarkeit des untauglichen Versuchs

529

§ 50 Der untaugliche Versuch und das Wahndelikt P. Albrecht, Der untaugliche Versuch, 1973; Baumann, Das Umkehrverhältnis zwischen Versuch und Irrtum im Strafrecht, NJW 1962, 16; Bindokat, Zur Frage des doppelten Irrtums, NJW 1963, 745; Blei, Das Wahnverbrechen, JA 1973, 601; Bruns, Zur Frage der Strafbarkeit des „Versuchs" eines untauglichen Subjekts, DStr 1938, 161; derselbe, Der untaugliche Täter im Strafrecht, 1955; derselbe, Die Strafbarkeit des Versuchs eines untauglichen Subjekts, GA 1979, 161; Burkhardt, Rechtsirrtum und Wahndelikt, JZ 1981, 681; derselbe, Zur Abgrenzung von Versuch und Wahndelikt im Steuerstrafrecht, wistra 1982, 178; Dicke, Zur Problematik des untauglichen Versuchs, JuS 1968, 157; Engisch, Der „umgekehrte Irrtum" und das „Umkehrprinzip", Festschrift für E. Heinitz, 1972, S. 185; Foth, Neuere Kontroversen um den Begriff des Wahnverbrechens, JR 1965, 366; Gössel, Zur Strafbarkeit des Versuchs nach dem 2. StrRG, G A 1971, 225; Haft, Der doppelte Irrtum im Strafrecht, JuS 1980, 588; Hardwig, Der Versuch bei untauglichem Subjekt, GA 1957, 170; Heidingsfelder, Der umgekehrte Subsumtionsirrtum, 1991; Herdegen, Der Verbotsirrtum in der Rechtsprechung des BGH, BGH-Festschrift, 1975, S. 195; Herzberg, Das Wahndelikt in der Rechtsprechung des BGH, JuS 1980, 469; derselbe, Strafverzicht bei bedingt vorsätzlichem Versuch? NStZ 1990, 311; Hirsch, Die Lehre von den negativen Tatbestandsmerkmalen, 1960; Armin Kaufmann, Rechtspflichtbegründung und Tatbestandseinschränkung, Festschrift für U. Klug, Bd. II, 1983, S. 277; Kohn, Der untaugliche Versuch und das Wahnverbrechen, Strafr. Abh. Heft 53, 1904; Kriegsmann, Wahnverbrechen und untauglicher Versuch, Strafr. Abh. Heft 51, 1904; Kuhlen, Die Unterscheidung von vorsatzausschließendem und nichtvorsatzausschließendem Irrtum, 1987; Langer, Das Sonderverbrechen, 1972; Maurach, Die Beiträge der neueren höchstrichterlichen Rechtsprechung zur Bestimmung des Wahnverbrechens, NW 1962, 716, 767; Nierwetberg, Der strafrechtliche Subsumtionsirrtum usw., Jura 1985, 238; Nowakowski, Besprechung von Welzel, Das deutsche Strafrecht, JZ 1958, 415; Puppe, Die logische Tragweite des sog. Umkehrschlusses, Festschrift für K. Lackner, 1987, S. 199; Roxin, Offene Tatbestände und Rechtspflichtmerkmale, 1959; Sax, Zum logischen und sachlichen Gehalt des sog. „Umkehrschlusses aus § 59 StGB", JZ 1964, 241; Schlächter, Der Irrtum über normative Tatbestandsmerkmale, 1983; dieselbe, Grundfälle zum Bewertungsirrtum, JuS 1985, 373; Schneider, Der abergläubische Versuch, G A 1955, 265; Schoetensack, Verbrechensversuch und deutscher Strafgesetz-Vorentwurf, Festschrift für K. Binding, Bd. II, 1911, S. 375; derselbe, Der Versuch und der Amtliche Entwurf eines Allgemeinen Deutschen StGB, GS 91 (1925) S. 378; Schünemann, Die deutschsprachige Strafrechtswissenschaft usw., G A 1986, 293; Seidman, Witch Murder and Mens Rea: A Problem of Society under Radical Social Change, Modern Law Review 28 (1965) S. 46; Spendel, Der sogenannte Umkehrschluß aus § 59 StGB nach der subjektiven Versuchstheorie, ZStW 69 (1957) S. 441; Stöger, Versuch des untauglichen Täters, 1961; Stratenwerth, Der Versuch des untauglichen Subjekts, Festschrift für H.-J. Bruns, 1978, S. 59; Struensee, Verursachungsvorsatz und Wahnkausalität, ZStW 102 (1990) S. 21; Traub, Die umgekehrte „Parallelwertung in der Laiensphäre" - Wahndelikt oder untauglicher Versuch? JuS 1967, 113; Zaczyk, Das Unrecht der versuchten Tat, 1990. Vgl. ferner die Schrifttumsangaben vor § 49. I. Die Strafbarkeit des untauglichen Versuchs 1. Ein untauglicher Versuch liegt vor, wenn die auf die Verwirklichung eines Straftatbestandes abzielende Handlung des Täters aus tatsächlichen oder rechtlichen Gründen unter den gegebenen Umständen nicht zur Vollendung führen kann. Dies ist der Fall bei Untauglichkeit des Objekts, des Mittels oder des Subjekts. Auch die Fälle, in denen das vom Täter in Aussicht genommene Handlungsobjekt nicht am Tatort ist oder diesem entgegen seiner Erwartung fern bleibt, gehören hierher (Untauglichkeit des Mittels). Beispiele: Der Tötungsversuch an der Leiche (RG 1, 451 [452]) ist Versuch am untauglichen Objekt, der Abtreibungsversuch mit Kopfschmerztabletten (RG 17, 58) ist Versuch mit untauglichen Mitteln, der Abtreibungsversuch an einer Nichtschwangeren mit einem unschädlichen Analgetikum (RG 34, 217) ist Versuch am untauglichen Objekt mit untauglichen Mitteln, jeweils aus tatsächlichen Gründen. Der Betrugsversuch bei Rechtmäßigkeit des 34 Jescheck, 5. A.

530

§ 50 D e r untaugliche Versuch u n d das W a h n d e l i k t

erstrebten Vermögensvorteils (RG 42, 92) oder der Diebstahlsversuch bei Unkenntnis der Einwilligung des Gewahrsamsinhabers (RG JW 1926, 2752) sind Versuche am untauglichen Objekt aus rechtlichen Gründen. Versuch des untauglichen Subjekts ist die Begehung eines Amtsdelikts durch jemand, der die Nichtigkeit seiner Ernennung zum Beamten nicht kennt. Die Förderung sexueller Handlungen eines Minderjährigen durch jemand, der sich aufgrund eines Testaments schon für den Vormund hält, ist Versuch des § 180 III durch ein untaugliches Subjekt. Ein Versuch mit untauglichen Mitteln liegt auch vor, wenn sich die Räuber beim Eintreffen der Straßenbahn in Bewegung setzen, aber der erwartete Kassenbote nicht darin ist (BGH NJW 1952, 514), sowie beim Diebesgriff in die leere Tasche oder beim Anschlagen der Pistole auf das erwartete Opfer, das dem Tatort fernbleibt (RG 77, 1 [2]). Versuch mit untauglichen Mitteln ist auch die Entsendung eines Tatmittlers, der nur zum Schein den ihm verschleierten Mordauftrag übernommen hat (BGH 30, 363 [366]). Die strafrechtliche Behandlung dieser Fälle hängt davon ab, aus welchen Gründen der Versuch als strafwürdig angesehen wird (vgl. oben § 49 II). Die alte Streitfrage der Bestrafung des untauglichen Versuchs ist heute im wesentlichen in dem Sinne entschieden, daß auch der untaugliche Versuch strafbar ist, sofern er nicht völlig ungeeignet ist, das Sicherheitsgefühl der Allgemeinheit zu beeinträchtigen. Früher wurden hierzu unterschiedliche Lehrmeinungen vertreten: 2. Die objektive Theorie forderte eine durch die Handlung bewirkte tatsächliche Gefährdung des geschützten Handlungsobjekts. Sie ging vom Erfolgsunrecht als dem eigentlichen Grund der Strafwürdigkeit der Tat aus und verlangte demgemäß auch vom Versuch, daß er sich als ein in der Entstehung begriffenes Erfolgsunrecht darstellen müsse. Die objektive Theorie ist mit dem geltenden Recht (§§ 22, 23 III) nicht mehr vereinbar und hat nur noch wenige Anhänger1 (dazu eingehend 2. Auflage S. 400). 3. Auch die Lehre vom Mangel am Tatbestand, die den Versuch begrifflich auf das Fehlen des Erfolgs beschränken wollte (vgl. 2. Auflage S. 400), widerspricht dem geltenden Recht, da § 23 I I I ergibt, daß die Fälle des untauglichen Objekts und des untauglichen Mittels gleich behandelt werden2. 4. Nach der Eindruckstheorie ist maßgebend für die Strafbarkeit des Versuchs der rechtsfeindliche Wille des Täters, jedoch nicht als Erscheinung für sich, sondern wegen der von der Tat ausgehenden Wirkung auf die Gemeinschaft verstanden. Das Vertrauen der Allgemeinheit in die Geltung der Rechtsordnung würde erschüttert werden, wenn straflos bliebe, wer sich eine erhebliche Straftat ernstlich vorgenommen und zu ihrer Ausführung angesetzt hat. Auch eine Tat, die nicht vollendet werden kann, weil ein wesentliches Hindernis vom Täter übersehen wurde, kann diese Wirkung haben, da sich der Täter immerhin zu der Tat fähig gezeigt hat und das Ausbleiben des Erfolgs auf einem Zufall beruhen kann (vgl. oben § 49 I I 3). In der Beeinträchtigung des Bewußtseins gesicherten Rechtsfriedens liegt der durch den tauglichen wie den untauglichen Versuch herbeigeführte Schaden für die Gemeinschaft, zu dem beim tauglichen Versuch noch die Gefährdung des geschützten Handlungsobjekts hinzukommt. Diese aus der Generalprävention als Aufgabe des Strafrechts abgeleitete Lehre ist heute herrschend 3. Dem1 So Spendel, NJW 1965, 1881; derselbe, Stock-Festschrift S. 89ff.; vgl. auch Dicke, JuS 1968, 161. 2 Für die Lehre vom Mangel am Tatbestand jedoch Schmidhäuser, Allg. Teil S. 607. Anders jetzt Schmidhäuser, Studienbuch S. 344 und Alwart, Strafwürdiges Versuchen S. 163 ff.; deren dualistische Versuchstheorie aber den bedingten Vorsatz beim untauglichen Versuch straflos läßt; vgl. dazu SK (Rudolphi) Vorbem. 13 a vor § 22. 3 Baumann/Weber, Allg. Teil S. 497ff.; Blei, Allg. Teil S. 230ff.; Bockelmann/Volk, Allg.

Teil S. 210; Burgstaller, JBl 1976, 122; Dreher/Tröndle, § 22 Rdn. 24; LK 10 (Vogler) § 22 Rdn. 136; Lackner, § 22 Rdn. 12; Maurach/Gössel/Zipf Allg. Teil I I § 40 Rdn. 140; Schön-

ke /Schröder/Eser,

§ 22 Rdn. 65; Stratenwerth,

Allg. Teil I Rdn. 685; Welzel,

Lehrbuch

I. D i e Strafbarkeit des untauglichen Versuchs

531

entsprechend stellt § 22 auf die „Vorstellung von der Tat" ab, die sich der Täter macht, erlaubt aber bei grobem Unverstand des Täters eines absolut untauglichen Versuchs, von Strafe abzusehen (§ 23 III). Auch die Rechtsprechung hat die Strafbarkeit des untauglichen Versuchs von Anfang an bejaht, freilich zum Teil auf der Grundlage einer rein subjektiven Theorie: Beispiele: Abtreibungsversuch mit untauglichen Mitteln (RG 1, 439 [441]; 17, 158); Abtreibungsversuch an der nicht Schwangeren (RG 8, 198 [203]; 47, 65); Abtreibungsversuch an der nicht Schwangeren mit untauglichen Mitteln (RG 34, 217 [219]); Vornahme unzüchtiger Handlungen an einem Kind, das der Täter irrig für jünger als 14 Jahre hält (RG 39, 316); Diebstahlsversuch bei Irrtum des Täters über die Einwilligung des Gewahrsamsinhabers (RG JW 1926, 2752; BGH 4, 199); Hehlereiversuch bei irriger Annahme einer strafbaren Vortat (RG 64, 130 [132]); versuchter Meineid bei irrtümlicher Annahme der Zuständigkeit der Behörde (BGH 3, 248 [255]); Raubversuch, wenn das Opfer nicht am Tatort erscheint (BGH NJW 1952, 514); Totschlagsversuch bei zu geringer Dosis Gift (BGH 11, 324). 5. Nach geltendem Recht sind im Hinblick auf das Erfordernis des rechtserschütternden Eindrucks des Geschehens zwei Voraussetzungen für die Strafbarkeit des untauglichen Versuchs zu machen: a) Einmal muß der Täter ebenso wie beim tauglichen Versuch nach seinem Gesamtplan unmittelbar zu der Ausführungshandlung angesetzt haben (vgl. oben § 49 IV 3). Dies bedeutet beim untauglichen Versuch, daß die Handlung für die Abgrenzungsfrage so zu betrachten ist, als wäre sie tauglich (so ausdrücklich § 22). Beispiele: Der Einkauf des Abtreibungsmittels durch die nicht schwangere Frau ist Vorbereitungshandlung, die Anwendung des Mittels versuchte Abtreibung (RG 18, 198 [200 f.]), die allerdings bei der Frau nicht mehr strafbar ist (§ 218 IV 2). b) Zum anderen muß der Versuch ein Mindestmaß an Eignung zur Erschütterung des Vertrauens in die Unverbrüchlichkeit der Rechtsordnung aufweisen. Dieses fehlt, wenn die Tat nach der Art des Gegenstandes, an dem, oder des Mittels, mit dem sie begangen wurde, „überhaupt" nicht zur Vollendung führen konnte und der Täter dies aus grobem Unverstand verkannt hat (§ 23 III). aa) Durch die objektive Begrenzung sollen Fälle aus der Strafbarkeit ausgeschieden werden, „in denen weder eine konkrete noch eine abstrakte Gefährdung" bestand (BT-Drucksache V/4095 S. 12). Der alte Streit um die Abgrenzung zwischen absolut und relativ untauglichem Versuch (vgl. 2. Auflage S. 400) braucht damit aber nicht wieder aufzuleben 4. Eine logisch eindeutige Grenzlinie ist gar nicht zu ziehen; für praktische Zwecke genügt auch vollauf das Kriterium, daß ein mit Durchschnittswissen ausgestatteter besonnener Mensch, der den Tatplan kennt, die Tat nicht ernstnehmen kann 5 . bb) Eindeutige Konturen gewinnt die Abgrenzung aber erst durch das subjektive Merkmal 6 . Grober Unverstand ist nicht die falsche Vorstellung über den SachverS. 193; Wessels> Allg. Teil Rdn. 594; SK (Rudolphi) § 23 Rdn. 5. Dagegen nimmt Struensee, ZStW 102 (1990) S. 44 ff. den Versuch mit naturgesetzlich untauglichen Mitteln, an deren Tauglichkeit der Täter glaubt (z.B. der Fall RG 1, 439), aus der Strafbarkeit des untauglichen Versuchs aus. 4

Vgl. Lackner, § 23 Rdn. 6; Roxin, Einführung S. 18; Schönke/Schröder/Eser,

§ 23

Rdn. 15. Bedenken äußert in dieser Hinsicht Bockelmann/Volk, Allg. Teil S. 210. 5 So Ε 1962 Begründung S. 145; Bockelmann/Volk, Allg. Teil S. 210; Burgstaller,

JBl

1976, 122; Gössel, GA 1971, 228; LK 10 (Vogler) § 23 Rdn. 33; Lackner, § 23 Rdn. 6; Maurach /Gössel/Zipf, Allg. Teil I I § 40 Rdn. 191; Preisendanz, § 23 Anm. 6a. 6 Vgl. Dreher/Tröndle, § 23 Rdn. 6; LK 10 (Vogler) § 23 Rdn. 34f.; Lackner, § 23 Rdn. 8;

Roxin, Einführung S. 18; Schönke/Schröder/Eser, fehlt dieses zweite Kriterium. 34*

§ 23 Rdn. 17. Im österr. StGB § 15 III

532

§ 50 D e r untaugliche Versuch u n d das W a h n d e l i k t

halt, selbst wenn der Täter sie schon bei ganz geringer Aufmerksamkeit hätte vermeiden können (er entnimmt dem Vorratsschrank irrtümlich destilliertes Wasser statt der daneben stehenden Salzsäure), sondern „eine völlig abwegige Vorstellung von gemeinhin bekannten Ursachenzusammenhängen" (E 1962, Begründung S. 145)7. Beispiele: Abtreibungsversuch mit Kamillentee (RG 1, 439). Dagegen wurde beim Abtreibungsversuch mit Senfbädern und Seifenwasser die Unverstandsklausel des Art. 23 II Schweiz. StGB nicht angewendet, weil diese Mittel „in weiten Kreisen des Volkes im Rufe der Tauglichkeit" stehen (schweiz. BGE 70 IV 49 [50])8. Der Versuch, ein Flugzeug mit der Pistole abzuschießen, beruht auf grobem Unverstand, nicht aber die Uberschätzung der Reichweite einer Schußwaffe. Die Einschränkung der Strafbarkeit des untauglichen Versuchs durch § 23 I I I führt allerdings, obwohl in diesen Fällen ein Strafbedürfnis im Grunde zu verneinen ist, nicht zur vollen Straflosigkeit (wie nach § 15 I I I österr. StGB) 9 , sondern nur zur Möglichkeit des Absehens von Strafe oder gar nur zur fakultativen Strafmilderung nach § 49 II; das Absehen von Strafe soll aber die Regel sein (BTDrucksache V/4095 S. 12). 6. Straflos bleibt der irreale oder abergläubische Versuch (anders 2. Auflage S. 402 Fußnote 7a) 10 , z.B. der Versuch, einen Menschen durch Teufelsbeschwörung zu töten (RG 33, 321). In der Regel wird es hier schon am Vorsatz fehlen 11 , aber auch wenn formell ein Versuch zu bejahen wäre, könnte die Anwendung von Zaubermitteln und ähnlichen Methoden auf die Gemeinschaft keinen Eindruck mehr machen12. Anders ist es natürlich, wenn eine Gruppe extremer Sektierer aus wahnhaften Gründen einen Menschen mit realen Mitteln zu töten versucht. II. Die Straflosigkeit des Wahndelikts 1. Von dem untauglichen Versuch ist das Wahndelikt zu unterscheiden, das dann vorliegt, wenn sich der Täter irrtümlich die Strafbarkeit seines Verhaltens vorstellt. Es wird nach allgemeiner Auffassung nicht bestraft, weil die Grenzen der Strafbarkeit durch das Gesetz und nicht durch die Vorstellungen des Täters 7 Vgl. Dreher/Tröndle, § 23 Rdn. 6; Gössel, GA 1971, 225; Lackner, § 23 Rdn. 8; Roxin, Einführung S. 19; Schönke/Schröder/Eser, § 23 Rdn. 17; SK (Rudolphi) § 23 Rdn. 7; Wessels,

Allg. Teil Rdn. 620; Herzberg, NStZ 1990, 317 will § 23 III sogar auf den bedingt vorsätzlichen Versuch erweitern. 8 Kritisch dazu P. Albrecht, Der untaugliche Versuch S. 56 f. 9 Kritisch dazu /. Meyer, ZStW 87 (1975) S. 615; Roxin, Einführung S. 21 f.; Schönke/

Schröder/Eser,

§23 Rdn. 18; Stratenwerth,

Rdn. 36. 10 So die h.L.; vgl. Baumann/Weber, Tröndle, §23 Rdn. 5; LK 10

Allg. Teil I Rdn. 694 f.; LK 10

(Vogler) §23

Allg. Teil S. 498f.; Blei, Allg. Teil S. 232; Dreher/

(Vogler) §23 Rdn. 30; Gössel, GA 1971, 235; Jescheck,

SchwZStr 91 (1975) S. 30; Lackner, § 22 Rdn. 14; Maurach/Gössel/Zipf, Allg. Teil II § 40 Rdn. 142; Jakobs, Allg. Teil 25/22; /. Meyer, ZStW 87 (1975) S. 618; Roxin, Einführung S. 20;

Schönke/Schröder/Eser,

§23 Rdn. 13 f.; SK (Rudolphi) §22 Rdn. 34f.; Wessels, Allg. Teil

Rdn. 620. Vgl. ferner Schneider, GA 1955, 267. Kritisch zur Unterscheidbarkeit von grob unverständigem und irrealem Versuch Stratenwerth, Allg. Teil I Rdn. 692 ff. Für Einbeziehung des irrealen Versuchs in § 23 III Baumann/Weber, Allg. Teil S. 499. 11 So in dem Schulfall Graf zu Dohnas, Verbrechenslehre S. 57, daß jemand „mit dem Fuße aufstößt in der Meinung, er könne dadurch seinen Antipoden in die Luft sprengen". 12 Vgl. Bockelmann, Untersuchungen S. 160 f. Eine erhebliche soziale Bedeutung hat dagegen die versuchte Tötung durch Zaubermittel in Afrika, sie beunruhigt die ländliche Bevölkerung aufs tiefste; vgl. Seidman, Modern Law Review 28 (1965) S. 46 ff.

I I . D i e Straflosigkeit des Wahndelikts

533

bestimmt werden 13 . Der Unterschied zwischen untauglichem Versuch und Wahndelikt ist im Grundsatz einfach zu beschreiben: Beim untauglichen Versuch nimmt der Täter irrig ein nicht vorliegendes objektives Tatbestandsmerkmal an (umgekehrter Tatbestandsirrtum). Beim Wahnverbrechen bezieht sich der Irrtum dagegen auf das Verbotensein der Tat: der Täter nimmt irrig an, sein Verhalten falle unter eine Verbotsnorm, die es in Wirklichkeit nicht gibt (umgekehrter Verbotsirrtum) 1 4 . Der Täter kann sich dabei über die Existenz der Verbotsnorm als solcher irren (der Täter hält eine Falschaussage, die er als Angeklagter macht, für strafbar, O L G Bamberg NJW 1949, 876), er kann die Grenzen einer bestehenden Vorschrift falsch auslegen (der Täter hält lose Bezugskartenabschnitte für Urkunden, B G H 13, 235 [240 f.]), oder er kann endlich die rechtfertigende Wirkung eines Erlaubnissatzes verkennen (der Arzt hält den Abbruch der Schwangerschaft aus medizinischen Gründen für strafbar) (umgekehrter Erlaubnisirrtum) . Beispiele: Wahndelikt ist der Irrtum über die Anwendbarkeit eines nicht einschlägigen Steuergesetzes (RG 64, 229 [238 f.]), der Irrtum über das Bestehen einer Wartepflicht nach § 142, wenn sich der Verkehrsteilnehmer nur selbst verletzt hat (BGH 8, 263 [268]), der Irrtum über die Tragweite des Offenbarungseides (BGH 14, 345 [350]), der Irrtum, daß sich aus dem zutreffend erkannten Sachverhalt eine Garantenpflicht ergebe (BGH 16, 155 [160]). Wahnverbrechen ist auch der Irrtum des Ehemanns, der sich beim Selbstmord der Ehefrau (Sprung in den Rhein bei niedriger Wassertemperatur und Dunkelheit) trotz der Aussichtslosigkeit zu einem Rettungsversuch verpflichtet fühlt (BGH NJW 1994, 1357). Wer glaubt, eine kostbare Schweizer Uhr in Basel erworben zu haben und diese vor dem Zollbeamten verbirgt, während es sich in Wirklichkeit um eine billige Fälschung handelt, begeht versuchte Zollhinterziehung, sofern echte Schweizer Uhren zu verzollen sind. Wer dagegen eine echte Uhr in der Annahme verbirgt, sie sei zollpflichtig, während Uhren in Wirklichkeit aus der Liste der zollpflichtigen Waren gestrichen sind, begeht ein Wahndelikt. 2. Während die Abgrenzung von untauglichem Versuch und Wahndelikt in den Fällen des Irrtums über die Existenz der Verbotsnorm oder eines Erlaubnissatzes (Bestandsirrtum) einfach ist, ergeben sich beim Irrtum über normative Tatbestandsmerkmale (Grenzirrtum) erhebliche Schwierigkeiten, weil zweifelhaft sein kann, ob der Täter hier den Sachverhalt oder allein die Reichweite des Strafrechts verkennt. Im ersten Fall läge untauglicher Versuch, im zweiten ein Wahndelikt vor 1 6 . 13

Vgl. Baumann/Weher, Allg. Teil S. 483 f.; Foth, JR 1965, 366; Maurach/Gössel/Zipf

Allg. Teil II §40 Rdn. 51; Schönke/Schröder/Eser, §22 Rdn. 78; SK (Rudolphi) §22 Rdn. 30; Welzel, Lehrbuch S. 194; Schmidhäuser, Allg. Teil S. 601 f.; LK (Vogler) §22 Rdn. 143. 14 Vgl. SK (Rudolphi) § 22 Rdn. 30 f. Kritisch dazu Engisch, Heinitz-Festschrift S. 190 ff. Das „Umkehrprinzip", auf das sich die Rechtsprechung wiederholt berufen hat (RG 42, 92 [94]; 66, 124 [126f.]; 72, 109 [112]; BGH 13, 235 [239f.]; 14, 345 [350]), ist nicht als ein zusätzliches Argument für die Strafbarkeit des untauglichen Versuchs zu verstehen, sondern als ein Abgrenzungskriterium zwischen untauglichem Versuch und Wahnverbrechen, und für diese Unterscheidung kommt es in der Tat darauf an, welcher Irrtum sich umkehrt. So mit Recht Sax, JZ 1964, 245; Baumann, NJW 1962, 16; Schönke/Schröder/Eser,

§ 22 Rdn. 69;

Schlüchter, Irrtum S. 145 ff. Zutreffend betont Spendel, ZStW 69 (1957) S. 449 ff. und NJW 1965, 1885 f., daß die Umkehrung der in § 16 festgelegten Irrtumsregelung nichts über die Strafbarkeit oder Straflosigkeit des untauglichen Versuchs aussagt. Uber die begrenzte Anwendbarkeit des Umkehrschlusses allgemein Puppe, Lackner-Festschrift S. 243 ff. 15 Vgl. Blei, JA 1973, 601 ff.; Roxin, Offene Tatbestände S. 159f.; Kriegsmann, Wahnverbrechen S. 51; Kohn, Der untaugliche Versuch S. 51 ff.; Schönke/Schröder/Eser, §22 Rdn. 79ff.; Wessels, Allg. Teil Rdn. 622. Zur Entwicklung der Rspr. vgl. Maurach, NJW 1962, 716ff., 767ff.; Herzherg, JuS 1980, 469; Burkhardt, JZ 1981, 682 ff. 16 Vgl. Eser, Strafrecht II Nr. 36 A Rdn. 16ff.; Maurach/Gössel/Zipf Allg. Teil II § 40 Rdn. 151 ff.; Nierwetberg, Jura 1985, 242; Schönke/Schröder/Eser, § 22 Rdn. 84ff.; SK (Rudolphi) § 22 Rdn. 32. Dagegen will Foth, JR 1965, 370 auch beim umgekehrten Subsum-

534

§ 50 D e r untaugliche Versuch u n d das W a h n d e l i k t

Beispiele: Wahndelikt ist der irrige Glaube, eine falsche Urkunde mit einem amtlichen Bescheid sei eine falsche öffentliche Urkunde (RG 66, 124 [126]), eine Dienststelle, die nicht einmal eine Behörde ist, sei zur Entgegennahme von eidesstattlichen Versicherungen zuständig (BGH 1, 13 [16]), ein Papier sei trotz Fehlens der Ausstellerangabe und trotz Mangels der Beweisbestimmung Urkunde im Sinne von § 267 (BGH 13, 235 [241]), ein unterschlagener Gegenstand falle unter die Offenbarungspflicht des § 807 ZPO (BGH 14, 345 [350]), eine Ordnungswidrigkeit sei eine zur Strafvereitelung (§ 258) genügende Vortat (BayObLG JZ 1981, 715), eine Spruchkammer sei zur eidlichen Vernehmung des Betroffenen zuständig (OLG Bamberg NJW 1949, 879)17. Untauglicher Versuch ist dagegen die irrige Annahme der Zuständigkeit des Gerichts zur Vereidigung in einem Verfahren, in dem der Eid gesetzlich nicht zugelassen ist (BGH 3, 248 [253]; 5, 111 [117]), die irrige Annahme der Gültigkeit einer Sicherungsübereignung eines Kraftfahrzeugs, das vom Täter im Wege der versuchten Unterschlagung veräußert wird (OLG Stuttgart NJW 1962, 65 [66]); der Irrtum über das Vorliegen einer Straftat bei der Strafvereitelung (BGH 15, 210). Besondere Schwierigkeiten bereitet der Fall des doppelten Irrtums. Der Täter verkennt dabei ein Merkmal des Tatbestandes, doch wird dieser Irrtum dadurch wieder ausgeglichen, daß er durch einen zweiten Irrtum wiederum zur Annahme dieses Tatbestandsmerkmals gelangt. Die Rechtsprechung nimmt hier zu Recht Strafbarkeit wegen Vollendung an, weil der Täter das maßgebliche Tatbestandsmerkmal im Ergebnis richtig erkannt hat, selbst wenn der zu seinen Lasten wirkende zweite Irrtum, isoliert betrachtet, zur Annahme eines Wahndelikts führen würde. Beispiel: Der Täter veräußerte Maschinen, die er unter Eigentumsvorbehalt gekauft hatte, vor Zahlung des Kaufpreises an einen Dritten; er hatte zwar den Eigentumsvorbehalt auf dem Lieferschein nicht gelesen, nahm aber an, der Käufer erwerbe überhaupt erst mit der Zahlung des Kaufpreises Eigentum. BayObLG NJW 1963, 310 verurteilte zu Recht wegen vollendeter Unterschlagung nach § 2461 .

I I I . Der Irrtum über die Tauglichkeit des Subjekts 1. Ein Irrtum über die Tauglichkeit des Subjekts liegt vor, wenn jemand bei Begehung eines Sonderdelikts irrig die nach dem Tatbestand vorausgesetzte Täterqualität für sich annimmt. Beispiele: Ein Zivilangestellter der Bundeswehr hält sich für einen Soldaten ( § 1 1 WStG) und glaubt deshalb, daß sein Fernbleiben vom Dienst Fahnenflucht sei (§16 WStG). Ein Amtsträger, dessen Ernennung wegen eines Formfehlers nichtig ist, läßt sich bestechen (§ 332). Ein Soldat glaubt aufgrund eines dienstlichen Auftrags Vorgesetzter anderer Soldaten im Sinne von §§ 30 ff. WStG zu sein. tionsirrtum untauglichen Versuch annehmen. Die neuere Lehre unterscheidet zwischen dem „Rechtsirrtum über die Reichweite des Tatbestandes", der zum Wahndelikt führt, und dem „Rechtsirrtum im Vorfeld des Tatbestandes", der versuchsbegründend sein soll; so Blei, JA 1973, 604; Herdegen, BGH-Festschrift S. 206; Herzberg, JuS 1980, 472 ff. Differenzierend Heidingsfelder, Der umgekehrte Subsumtionsirrtum S. 152 ff. Weitergehend nehmen Schönke /Schröder/Eser,

§22 Rdn. 89; Burkhardt, JZ 1981, 683 ff.; derselbe, wistra 1982, 179 f.;

Jakobs, Allg. Teil 25/42 entgegen der Rspr. an, daß jeder Rechtsirrtum zum Wahndelikt führe. Dagegen zu Recht LK (Vogler) § 22 Rdn. 147ff.; SK (Rudolphi) § 22 Rdn. 32b. Auch die Unterscheidung Hafts, JuS 1980, 591 zwischen gegenstandsbezogenem und begriffsbezogenem Irrtum führt nicht weiter. 17 Ablehnend Traub, JuS 1967, 116 f., der eine Rückkehr zu der alten Unterscheidung zwischen Sachverhalts- und Bewertungsirrtum befürwortet. 18 Dazu differenzierend Baumann/Weber, Allg. Teil S. 485f.; Bindokat, NJW 1963, 746ff. Für Strafbarkeit wegen Versuchs Foth, JR 1965, 371 f. Für Strafbarkeit wegen Vollendung Hirsch, Negative Tatbestandsmerkmale S. 229; Kuhlen, Unterscheidung S. 520. Vgl. ferner die Fälle bei Schönke/Schröder/Eser, § 17 Rdn. 11.

I I I . D e r I r r t u m über die Tauglichkeit des Subjekts

535

Zu unterscheiden sind hier die eigentlichen Sonderdelikte von den Fällen, in denen die Untauglichkeit des Subjekts von der Untauglichkeit des Objekts bestimmt wird (vgl. unten § 50 I I I 3). 2. Die Frage der Behandlung des Irrtums über die Tauglichkeit des Subjekts bei den eigentlichen Sonderdelikten ist stark umstritten. a) Uberwiegend wird angenommen, daß es sich um einen Fall strafbaren untauglichen Versuchs handle, weil die besonderen Eigenschaften, die beim Sonderdelikt die Täterqualität begründen, echte Tatbestandsmerkmale seien (RG JW 1938, 738; RG 72, 110; B G H 8, 321 [323]), so daß der Irrtum als umgekehrter Tatbestandsirrtum angesehen werden müsse 19 . Vgl. auch R K G 2, 53 und 164. b) Die Gegenmeinung sieht in dem Versuch des untauglichen Täters einen Unterfall des straffreien Wahndelikts, weil die besonderen Rechtspflichten, die die Sonderstellung des Täters konstituieren (Amtsträger, Arzt, Soldat), überhaupt nur von dem verletzt werden könnten, dem sie wirklich obliegen 20 . Durch diese Lehre wird somit eine partielle Rückkehr zur Theorie vom Mangel am Tatbestand vollzogen. c) Richtig ist es, auch hier zwischen umgekehrtem Tatbestandsirrtum und umgekehrtem Subsumtionsirrtum zu unterscheiden 21. Die Putzfrau, die sich für eine Beamtin hält, weil sie in einer Behörde arbeitet, begeht ein Wahndelikt nach § 332, wenn sie dem Geheimagenten gegen Entgelt den Inhalt der Papierkörbe überläßt. Der Beschuldigte, der vom Richter unzulässigerweise vereidigt wird, begeht auch keinen versuchten Meineid ( B G H 10, 8 [10]). Dagegen gibt es durchaus ernst zu nehmende Fälle des Versuchs des untauglichen Subjekts, die strafbar erscheinen, weil es bei normativen Tatbestandsmerkmalen rechtlich keinen Unterschied machen kann, ob sich der Irrtum auf die Täterqualität, das Handlungsobjekt oder die Modalitäten der Tat bezieht. Wer (tatsächliche oder rechtliche) Umstände irrig annimmt, die, wenn sie vorlägen, seine Täterqualität begründen würden, begeht einen untauglichen Versuch des betreffenden Sonderdelikts (irrtümliche Parallelwertung in der Laiensphäre). Dies gilt auch für täterschaftlich beschränkte Allgemein19

So Blei, Allg. Teil S. 231 f.; Bruns, Der untaugliche Täter S. 38ff.; derselbe, GA 1969,

161 ff.; Burgstaller,

JBl 1976, 125ff.; Dreher/Tröndle,

§ 22 Rdn. 28; Eser, Strafrecht I I Nr. 36

A Rdn. 45; Wessels, Allg. Teil Rdn. 623; Lackner, § 22 Rdn. 13; Maurach/Gössel/Zipf,

Teil I I §40 Rdn. 175; Olshausen, §43 Anm. 6a; Schönke/Schröder/Eser, §22 Rdn. 75f.; Nowakowski, JZ 1958, 416; SK (Rudolphi) § 22 Rdn. 28; v. Weber, Grundriß S. 77. Dagegen

Allg.

will Foth, JR 1965, 371 den Fall des Irrtums über die Tauglichkeit des Subjekts dem abergläubischen Versuch gleichstellen; Stöger, Versuch des untauglichen Täters S. 68 ff. will ihn dann bestrafen, wenn der Handelnde „potentieller Täter" ist. 20 So Baumann/Weber, Alle. Teil S. 498; Armin Kaufmann, Klug-Festschrift Bd. II S. 286; Jakobs, Allg. Teil 25/43; LK (Vogler) § 22 Rdn. 158f.; Schünemann, GA 1986, 318; Hardwig, GA 1957, 175; v. Hippel, Bd. I I S. 437; Kohlrausch/Lange,

Vorbem. Via vor § 43; Lan-

ger, Sonderverbrechen S. 498; H. Mayer, Lehrbuch S. 288; Schmidhäuser, Allg. Teil S. 618 f.; Schoetensack, Binding-Festschrift Bd. I I S. 390f.; derselbe, GS 91 (1925) S. 381; Stratenwerth, Allg. Teil I Rdn. 698 f.; derselbe, Bruns-Festschrift S. 59ff.; Welzel, Lehrbuch S. 194; Zaczyk, Das Unrecht der versuchten Tat S. 268ff.; AK (Zielinski) §§ 15, 16 Rdn. 35. 21 So Bruns, Der untaugliche Täter S. 18ff.; derselbe, GA 1979, 183 ff.; Eser, Strafrecht II Nr. 36 A Rdn. 45; Blei, Allg. Teil S. 232; Schönke/Schröder/Eser,

§ 22 Rdn. 76; SK (Rudol-

phi) §22 Rdn. 28; Wessels, Allg. Teil Rdn. 623; Schlüchter, Irrtum S. 164ff.; dieselbe, JuS 1985, 529; LK 10 (Vogler) § 22 Rdn. 158 f. Das 2. StrRG hat die Frage offen gelassen; vgl. BT-Drucksache V/4095 S.ll. § 25 III Nr. 1 AE wollte die Straflosigkeit des Versuchs des untauglichen Täters einführen.

536

§ 51 D e r R ü c k t r i t t v o m Versuch

delikte (z.B. § 142) und für die Garantenstellung bei unechten Unterlassungsdelikten. Beispiele: Ein Gemeindebediensteter, dessen Anstellung als Beamter infolge Unzuständigkeit der Anstellungsbehörde nichtig ist, kann versuchte Falschbeurkundung im Amt nach § 348 begehen (unrichtig OLG Kiel SchlHA 1949, 297 [298]). Die Vertrauensperson, die glaubt, schon aufgrund der Benennung im Testament nach § 1777 III BGB Vormund zu sein, vergeht sich nach § 174 I Nr. 1 in Versuchsform, wenn sie ihr „Mündel" zur Unzucht mißbraucht. Ein Verkehrsteilnehmer, der irrig einen Verkehrsunfall annimmt und sich entfernt, beging früher einen nach § 142 II a.F. strafbaren Versuch der Unfallflucht (BayObLG 1952, 31). Wer eine nach § 218 strafbare Abtreibung nicht verhindert, obwohl er irrtümlich annimmt, das zu erwartende Kind sei sein eigenes, ist nach § 218 IV 1 wegen Versuchs zu bestrafen. 3. Fordert der Straftatbestand eine Beziehung zwischen Täter und Tatobjekt in der Weise, daß die Täterqualität schon aus der Objektseigenschaft folgt, so liegt ebenfalls untauglicher Versuch vor, wenn der Täter diese Eigenschaften und damit auch seine eigene Täterqualität irrtümlich bejaht. Hier kann es nach der allgemeinen Regel der subjektiven Theorie nur auf den Tätervorsatz ankommen (RG 8, 198 [199]: Abtreibungsversuch der nicht Schwangeren; RG 47, 189 [191]: versuchte Blutschande durch Geschlechtsverkehr mit der vermeintlichen Tochter) (beide Fälle sind nach geltendem Recht nicht mehr strafbar) 22. § 51 Der Rücktritt vom Versuch Allfeld, Der Rücktritt vom Versuch usw., Festgabe für R. v. Frank, Bd. II, 1930, S. 74; Arzt, Zur Erfolgsabwendung beim Rücktritt vom Versuch, GA 1964, 1; Baumann, Noch einmal: Kenntnis des Verletzten und tätige Reue, JuS 1971, 631; Bergmann, Einzelakts- oder Gesamtbetrachtung beim Rücktritt vom Versuch, ZStW 100 (1988) S. 329; Blei, Die Entdekkung der Tat durch den Verletzten (§ 46 Nr. 2 StGB), JA 1971, 297; Bloy, Die dogmatische Bedeutung der Strafausschließungs- und Strafaufhebungsgründe, 1976; derselbe, Zurechnungsstrukturen des Rücktritts vom beendeten Versuch, JuS 1987, 528; derselbe, Anmerkung zu BGH 35, 184, JR 1989, 70; Bockelmann, Anmerkung zu RG 75, 393, DR 1942, 432; derselbe, Wann ist der Rücktritt vom Versuch freiwillig? NJW 1955, 1417; derselbe, Versuch und Vorbereitung, Niederschriften, Bd. II, S. 171; Β orchert/ Hellmann, Die Abgrenzung der Versuchsstadien usw., G A 1982, 429; Bottke, Strafrechtswissenschaftliche Methodik und Systematik usw., 1979; derselbe, Zur Freiwilligkeit und Endgültigkeit des Rücktritts, JR 1980, 441; derselbe, Mißlungener oder fehlgeschlagener Vergewaltigungsversuch bei irrig angenommenem Einverständnis? JZ 1994, 71; Bringewat, Kenntnis des Verletzten und tätige Reue, JuS 1971, 403; Burkhardt, Der „Rücktritt" als Rechtsfolgebestimmung, 1975; Graf zu Dohna, Die Freiwilligkeit des Rücktritts vom Versuch im Lichte der Judikatur des RG, ZStW 59 (1940) S. 541; Dopffel, Zur Lehre vom Rücktritt vom Versuch, GS 94 (1927) S. 422; Dreher, Anmerkung zu BGH 22, 176, JR 1969, 105; derselbe, Anmerkung zu BGH 24, 48, NJW 1971, 1046; Fahrenhorst, Fehlschlag des Versuchs bei weiterer Handlungsmöglichkeit? Jura 1987, 291; Feltes, Der (vorläufig) fehlgeschlagene Versuch, GA 1992, 395; Feuerbach, Kritik des Kleinschrodischen Entwurfs zu einem peinlichen Gesetzbuche für die Chur-PfalzBayerischen Staaten, Teil II, 1804; Franzius, Versuch und Vorbereitungshandlungen, Materialien, Bd. II, 1, S. 309; Geilen, Zur Abgrenzung zwischen beendetem und unbeendetem Versuch, JZ 1972, 335; Georgiadis, Rücktritt vom Versuch und tätige Reue usw., 1939; Giffhorn, Uber Bedeutung und Begriff der „Freiwilligkeit" beim Rücktritt vom Versuch und bei der tätigen Reue, Diss. Göttingen 1948; Gössel, Uber den fehlgeschlagenen Versuch, ZStW 87 (1975) S. 3; Goldschmidt, Die Lehre vom unbeendigten und beendigten Versuch, Strafr. Abh. Heft 7, 1897; Gores, Der Rücktritt des Tatbeteiligten, 1982; Grasnick, volens-nolens, JZ 1989, 821; Gropengießer, Anmerkung zu BGH 39, 128, StV 1994, 19; Grünwald, Zum Rück22

Vgl. Kohlrausch/Lange,

Vorbem. VIb vor § 43; M aurach/Gössel/Zipf

§ 40 Rdn. 170; Schönke/Schröder/Eser,

Allg. Teil II

§ 22 Rdn. 76; SK (Rudolphi) § 22 Rdn. 26; Straten-

werth, Allg. Teil I Rdn. 701; Welzel, Lehrbuch S. 195.

Schrifttum z u § 51

537

tritt des Tatbeteiligten im künftigen Recht, Festschrift für H. Welzel, 1974, S. 201; Gutmann, Die Freiwilligkeit beim Rücktritt vom Versuch und bei der tätigen Reue, 1963; Haft, Der Rücktritt des Tatbeteiligten bei Vollendung der Straftat, JA 1979, 306; Heinitz, Streitfragen der Versuchslehre, JR 1956, 248; Henkel, Anmerkung zu RG 71, 242, JW 1937, 2375; Herzberg, Wegfall subjektiver Tatbestandsvoraussetzungen usw., Festschrift für D. Oehler, 1985, S. 163; derselbe, Der Rücktritt durch Aufgeben der weiteren Tatausführung, Festschrift für G. Blau, 1985, S. 97; derselbe, Beendeter oder unbeendeter Versuch, NJW 1986, 2466; derselbe, Grund und Grenzen der Strafbefreiung beim Rücktritt, Festschrift für K. Lackner, 1987, S. 325; derselbe, Zum Grundgedanken des § 24 StGB, NStZ 1989, 49; derselbe, Rücktritt vom Versuch trotz bleibender Vollendungsgefahr? JZ 1989, 114; derselbe, Problemfälle des Rücktritts durch Verhindern der Tatvollendung, NJW 1989, 862; derselbe, Theorien zum Rücktritt und teleologische Gesetzesauslegung, NStZ 1990, 172; derselbe, Grundprobleme des Rücktritts vom Versuch und Überlegungen de lege ferenda, NJW 1991, 1633; derselbe, Anmerkung zu BGH vom 26.11.1990, JR 1991, 159; Herzog, Rücktritt vom Versuch und tätige Reue, 1889; Reinhard v. Hippel, Untersuchungen über den Rücktritt vom Versuch, 1966; Hruschka, Zur Frage des Wirkungsbereichs eines freiwilligen Rücktritts vom unbeendeten Versuch, JZ 1969, 495; Jakobs, Die Bedeutung des Versuchsstadiums für die Voraussetzungen eines strafbefreienden Rücktritts, JuS 1980, 714; derselbe, Rücktritt als Tatänderung versus allgemeines Nachtatverhalten, ZStW 104 (1992) S. 82; derselbe, Anmerkung zu BGH 35, 184, JZ 1988, 519; Jescheck, Anmerkung zu B G H 7, 296, M D R 1955, 562; derselbe, Ver-

such und Rücktritt bei Beteiligung mehrerer Personen an der Straftat, ZStW 99 (1987) S. 111; Kadel, Anmerkung zu BGH 34, 53, JR 1987, 117; Kampermann, Grundkonstellationen beim Rücktritt vom Versuch, 1992; Kienapfel, Anmerkung zu BGH 31, 170, JR 1984, 72; derselbe, Probleme des unvermittelt abgebrochenen Versuchs, Festschrift für F. Pallin, 1989, S. 213; Krauß, Der strafbefreiende Rücktritt vom Versuch, JuS 1981, 883; Krauthammer, Der Rücktritt vom Versuch, Strafr. Abh. Heft 310, 1932; Küper, Anmerkung zu OLG Karlsruhe NJW 1978, 331, ebenda S. 956; derselbe, Anmerkung zu BGH 31, 170, JZ 1983, 264; Lackner, Anmerkung zu BGH 20, 279, JR 1966, 106; Lampe, Rücktritt vom Versuch mangels Interesses - BGHSt 35, 184, JuS 1989, 610; Lange, Anmerkung zu BGH 11, 324, JZ 1958, 671; Lang-Hinrichsen, Bemerkungen zum Begriff der „Tat" im Strafrecht, Festschrift für K. Engisch, 1969, S. 353; Lenckner, Probleme beim Rücktritt des Beteiligten, Festschrift für W. Gallas, 1973, S. 281; Maiwald, Die natürliche Handlungseinheit, 1964; H.-W. Mayer, Zur Frage des Rücktritts vom unbeendeten Versuch, MDR 1984, 187; Meister, Strafbefreiender Rücktritt durch Erfolgsabwendung beim untauglichen Versuch, DStr 1943, 160; Mitsch, Der Rücktritt des angestifteten oder unterstützten Täters, Festschrift für J. Baumann, 1992, S. 89; Munoz Conde, Der mißlungene Rücktritt: eine Wiederkehr der Erfolgshaftung? GA 1973, 33; derselbe, Theoretische Begründung und systematische Stellung der Straflosigkeit beim Rücktritt vom Versuch, ZStW 84 (1972) S. 756; Otto, Fehlgeschlagener Versuch und Rücktritt, G A 1967, 144; derselbe, Kausaldiagnose und Erfolgszurechnung, Festschrift für R. Maurach, 1972, S. 91; derselbe, Versuch und Rücktritt bei mehreren Tatbeteiligten, JA 1980, 641, 707; derselbe, Fehlgeschlagener Versuch und Rücktritt, Jura 1992, 423; Pahlke, Rücktritt beim dolus eventualis, 1993; Puppe, Der halbherzige Rücktritt, NStZ 1984, 488; dieselbe, Zur Unterscheidung von beendetem und unbeendetem Versuch, NStZ 1986, 14; dieselbe, Anmerkung zu BGH vom 27.10.1992 (Vorlagebeschluß), JZ 1993, 359; Ranft, Strafgrund der Berauschung und Rücktritt von der Rauschtat, MDR 1972, 737; derselbe, Zur Abgrenzung von unbeendetem und fehlgeschlagenen Versuch bei erneuter Ausführungshandlung, Jura 1987, 527; derselbe, Anmerkung zu BGH 36, 224, JZ 1989, 1128; Roxin, Kriminalpolitik und Strafrechtssystem, 2. Auflage 1973; derselbe, Über den Rücktritt vom unbeendeten Versuch, Festschrift für E. Heinitz, 1972, S. 251; derselbe, Der fehlgeschlagene Versuch, JuS 1981, 1; derselbe, Anmerkung zu BGH 33, 295 und BGH vom 5.12.1985, JR 1986, 424; Rudolphi, Anmerkung zu BGH 31, 170, NStZ 1983, 361; derselbe, Rücktritt vom beendeten Versuch usw., NStZ 1989, 508; v. Scheurl, Rücktritt vom Versuch und Tatbeteiligung mehrerer, 1972; Schmidhäuser, Zur Systematik der Verbrechenslehre, Gedächtnisschrift für G. Radbruch, 1968, S. 268; Schröder, Der Rücktritt des Teilnehmers vom Versuch nach §§ 46 und 49a, MDR 1949, 714; derselbe, Die Freiwilligkeit des Rücktritts vom Versuch, MDR 1956, 321; derselbe, Grundprobleme des Rücktritts vom Versuch, JuS 1962, 81; derselbe, Die Koordinierung der Rücktrittsvorschriften, Festschrift für H. Mayer, 1966, S. 377; derselbe, Die Unternehmensdelikte, Festschrift für E. Kern, 1968, S. 457; Schwalm, Versuch und Vorbereitung, Niederschriften, Bd. II, S. 187; Seier, Rücktritt vom Versuch bei bedingtem Tötungsvorsatz - BGH StV 1988, 201, JuS 1989, 102; Sonnen, Fehlgeschlagener Versuch und Rück-

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§ 5 1 D e r R ü c k t r i t t v o m Versuch

trittsrvoraussetztingen;-Jura 1980, 158; Streng, Tatbegriff und Teilrücktritt, JZ 1984, 652; derselbe, Schuld ohne Freiheit? ZStW 101 (1989) S. 273; derselbe, Rücktritt und dolus eventualis, JZ 1990,-212; derselbe, Handlungsziel, Vollendungsneigung und „Rücktrittshorizont", NStZ 1993, 257; Tröndle, Die Rechtsprechung des BGH in Strafsachen, GA 1962, 225; Ulsenheimer, Grundfragen des Rücktritts vom Versuch usw., 1976; Walter, Der Rücktritt vom Versuch als Ausdruck des Bewährungsgedankens usw., 1980; derselbe, Bestimmung der Freiwilligkeit usw., G A 1981, 403; Weinhold, Rettungsverhalten und Rettungsvorsatz beim Rücktritt vom Versuch, 1990. Vgl. auch die Schrifttumsangaben vor § 49. I. Der Rechtsgrund der Straflosigkeit bei freiwilligem Rücktritt vom Versuch 1. § 24 gewährt bei freiwilligem Rücktritt vom Versuch volle Straflosigkeit. Diese Großzügigkeit des Gesetzgebers ist nicht selbstverständlich, sondern bedarf der Begründung. Wenn der Rücktritt vom Versuch auch heute in der Mehrzahl der Auslandsrechte Straflosigkeit zur Folge hat1, so ließ doch noch das gemeine Recht nur die ordentliche Strafe entfallen . Dementsprechend enthalten die Art. 21, 22 des Schweiz. StGB nur eine abgestufte Strafzumessungsregelung, die jedoch über das Absehen von Strafe nicht hinausgeht . Angesichts dieser Unterschiede hat die Rechtfertigung der Straflosigkeit des Versuchs bei freiwilligem Rücktritt die Wissenschaft seit jeher beschäftigt. Die älteren sog. „Rechtstheorien C(, die im Rücktritt ein zwingendes rechtliches Hindernis für die Bestrafung des Versuchs sehen wollten (Zachariä, Luden, Berner, Binding ), werden heute kaum mehr vertreten 4. Es sind nämlich nicht Gründe der juristischen Logik, sondern Gründe des gesetzgeberischen Ermessens, die heute zur Rechtfertigung der Straflosigkeit des Versuchs im Falle des Rücktritts herangezogen werden. Die Frage, welche Gründe dies sind, hat nicht nur theoretische Bedeutung, sondern wirkt sich praktisch vor allem für die Bestimmung des Begriffs der „Freiwilligkeit" aus. 2. Nach der Theorie von der „goldenen Brücke" 5, die auf Feuerbach 6 zurückgeht (kriminalpolitische Theorie), soll dem Täter durch die Verheißung der Straffreiheit ein Anreiz gegeben werden, den Versuch vor der Vollendung aufzugeben und nötigenfalls den Erfolg abzuwenden. Das RG hat sich dieser Lehre angeschlossen7, der B G H ist ihr dagegen nur anfänglich gefolgt 8 . Zur Kritik wird vor allem geltend gemacht, daß die Verheißung der Straflosigkeit im entscheidenden Augenblick auf die Entschlüsse des Täters keinen Einfluß hat, zumal sie in der Bevölkerung weithin unbekannt ist 9 . Die gerichtliche Praxis zeigt, daß alle möglichen 1

Vgl. Franzius, Materialien Bd. II, 1 S. 324; Jescheck, ZStW 99 (1987) S. 120 ff. Vgl. Schaff stein, Die allgemeinen Lehren S. 168. 3 Vgl. Hafter, Allg. Teil S. 209 ff. Ebenso Art. 12 des Vorentwurfs Schultz. In gleicher Richtung Burkhardt, Der „Rücktritt" S. 184ff.; Schönke/Schröder/Eser, § 24 Rdn. 108; Ulsenheimer, Rücktritt S. 346 f. m.weit.Nachw. Fußnote 550. 4 Vgl. die Darstellungen bei Herzog, Rücktritt vom Versuch S. 147ff.; Georgiadis, Rücktritt vom Versuch S. 24ff.; Gutmann, Die Freiwilligkeit S. 13 ff. Eine Ausnahme macht Rein2

hard v. Hippel, Untersuchungen S. 58. 5

So im Anschluß an v. Liszt, Lehrbuch 1. Auflage S. 143 f. vor allem Allfeld,

Frank-Fest-

gabe Bd. I I S. 76; Frank, V D A Bd. V S. 242; v. Hippel, Bd. I I S. 411; Kohlrausch/Lange,

§ 46 Anm. I; v. Liszt/ Schmidt, S. 315; Maurach, Allg. Teil 4. Auflage S. 518; Mezger, Lehrbuch S. 403; Olshausen, § 46 Anm. 1. Dagegen eingehend Ulsenheimer, Rücktritt S. 68 ff. 6 Feuerbach, Kritik des Kleinschrodischen Entwurfs S. 102 ff. 7 RG 6, 341; 17, 243 (244); 63, 158 (159); 72, 349 (350); 73, 53 (60). Im neueren Schrifttum sind zu nennen Puppe, NStZ 1984, 490; Stratenwerth, Allg. Teil I Rdn. 706. 8 BGH 6, 85 (87). 9

Vgl. M. E. Mayer,

L e h r b u c h S. 370 Fußnote 7.

I. D e r Rechtsgrund der Straflosigkeit bei freiwilligem R ü c k t r i t t v o m Versuch

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Motive beim Rücktritt vom Versuch eine Rolle spielen, niemals jedoch die Erwägung, sich von einer schon verwirkten Strafe wieder befreien zu können 10 . Allenfalls läßt sich mit Feuerbach in negativer Weise sagen, daß der Gesetzgeber dem Täter den Rückweg nicht geradezu durch die Vorstellung abschneiden sollte, er werde auf jeden Fall bestraft werden. 3. Nach einer neueren Lehre, die heute überwiegend vertreten wird und der zu folgen ist, soll § 24 den freiwilligen Rücktritt vom Versuch belohnen (Gnadenoder Prämientheorie) 11 . Wer freiwillig zurücktritt und die Vollendung verhindert oder sich ernsthaft darum bemüht, wenn die Vollendung ohnehin unterbleibt, hebt bei der Gemeinschaft den rechtserschütternden Eindruck seiner Tat teilweise wieder auf und verdient deswegen Nachsicht. Es kommt hinzu, daß er das Unrecht des Versuchs durch das Gegengewicht des verdienstlichen Handelns bis zu einem gewissen Grade wieder ausgleicht. Das Gesetz begnügt sich freilich mit der Freiwilligkeit des Rücktritts, ein besonderer ethischer Wert des Rücktrittsmotivs wird nicht verlangt 12 . 4. Die Rechtsprechung des B G H begründet die Straflosigkeit des Rücktritts in erster Linie mit dem Wegfall des Strafzwecks, (Strafzwecktheorie) (BGH 9, 48 [52]; 14, 75 [80]; auch schon 6, 85 [87]) 13 . Wenn der Täter freiwillig von der Vollendung der Tat Abstand nimmt, so zeige er, daß sein rechtsfeindlicher Wille zur Durchführung der Tat nicht ausgereicht hat. Strafe sei deshalb weder aus spezialnoch aus generalpräventiven Gründen geboten, und auch die Gerechtigkeit erfordere in solchen Fällen eine Strafe nicht. Gegen diese Lehre spricht, daß der Wille des Täters im Augenblick des Versuchs durchaus stark genug zur Vollendung gewesen sein kann, denn der Rücktritt wird oft durch rein zufällige äußere Umstände herbeigeführt 14. Auch die Gefährlichkeit von Tat und Täter erscheint in der Regel wegen des Rücktritts kaum geringer. Die Strafwürdigkeit der Tat wird durch den Rücktritt also nicht ohne weiteres aufgehoben. Zu den Argumenten der 10 So Ulsenheimer, Rücktritt S. 69; Bockelmann, NJW 1955, 1420; Baumann/Weber, Allg. Teil S. 502; Heinitz, JR 1956, 249; Jescheck, M D R 1955, 563; Lang-Hinrichsen, Engisch-Festschrift S. 368; LK 10 (Vogler) § 24 Rdn. 8f.; H. Mayer, Grundriß S. 146; Otto, GA 1967, 150;

Schröder, MDR 1956, 322; Welzel, Lehrbuch S. 196; Wessels, Allg. Teil Rdn. 426. 11

So Baumann/Weber, Allg. Teil S. 502; Bockelmann, NJW 1955, 1420; Bockelmann/ Volk, Allg. Teil S. 214; Dreher/Tröndle, § 24 Rdn. 3; Heinitz, JR 1956, 249; H. Mayer, Grundriß S. 145; LK 9 (Busch) § 46 Rdn. 4; Otto, GA 1967, 150; Schröder, M D R 1956, 322;

Schmidhäuser, Allg. Teil S. 625; Welzel, Lehrbuch S. 196; Wessels, Allg. Teil Rdn. 626. Differenzierend zwischen beendigtem und unbeendigtem Versuch Arzt, GA 1964, 9. Rechtsgeschichtlich ist die Gnadentheorie alt, sie findet sich schon im preuß. ALR Teil II 20 § 43. Kritisch Ulsenheimer, Rücktritt S. 74 ff. 12 Dafür aber Bockelmann, NJW 1955, 1421 m.Nachw. aus der Rspr.; Bockelmann/Volk, Allg. Teil S. 214 f.; Sauer, Allgemeine Strafrechtslehre S. 116; Giffhorn, Freiwilligkeit S. 107. 13 Ebenso eine im Vordringen begriffene Lehre; vgl. Blei, Allg. Teil S. 236; Ranft, MDR 1972, 743; Roxin, Heinitz-Festschrift S. 269; Otto, Grundkurs S. 242; Ulsenheimer, Rücktritt S. 90ff.; Burkhardt, Rücktritt S. 195 ff.; Streng, ZStW 101 (1989) S. 322 ff.; Kühl, Allg. Teil § 16 Rdn. 5; Schönke/Schröder/Eser,

§ 24 Rdn. 2; SK (Rudolphi) § 24 Rdn. 4. Vgl. auch

Stratenwerth, Allg. Teil I Rdn. 706 und Munoz Conde, ZStW 84 (1972) S. 761 f. Stark spezialpräventiv akzentuiert ist das Bewährungsprinzip als Grundlage der Straflosigkeit des Rücktritts bei Walter, Rücktritt S. 59ff.; zur Freiwilligkeit insbes. GA 1981, 403ff. Eine Variante der Strafzwecktheorie ist die Schulderfüllungstheorie von Herzberg, Lackner-Festschrift S. 349, derselbe, NStZ 1989, 49 und 1990, 172, wonach die Strafdrohung sich erledigt, „wenn der Täter seine Pflicht zur Beendigung und Wiedergutmachung des Unrechtsverhaltens durch eine ihm zuzurechnende Leistung erfüllt". 14

Vgl. auch Schröder, JuS 1962, 81; vgl. ferner Ulsenheimer,

R ü c k t r i t t S. 78 ff.

540

§ 5 1 D e r R ü c k t r i t t v o m Versuch

Strafzwecktheorie muß somit der Gedanke der Gnadentheorie hinzukommen, daß der Täter mit der an sich verdienten Strafe verschont werden sollte, wenn er freiwillig wieder unter die Herrschaft des Rechts zurückgekehrt ist ( B G H M D R 1988, 244) f 5 . 5. Eine Gesamtbetrachtung, die die getrennte Würdigung der Versuchshandlung und des Rücktritts als „contrarius actus" überwinden will, wird durch die Einheitstheorie16 angestrebt. Diese Theorie sagt aber nicht, aus welchem Grunde im heutigen deutschen Recht bei Freiwilligkeit des Rücktritts Straflosigkeit eintritt, sondern versteht den Rücktritt einfach als Strafzumessungsgesichtspunkt. 6. Eine materielle Begründung für die Straflosigkeit des Versuchs bei freiwilligem Rücktritt will die Schuldtheorie durch die Annahme eines Entschuldigungsgrundes geben17. Die Schuld wird jedoch durch den Rücktritt nicht aufgehoben, sondern nur nachträglich bis zu einem gewissen Grade ausgeglichen, und dieses Bemühen des Täters wird durch die Straflosigkeit belohnt. Durch die Annahme eines Schuldausschließungsgrundes, der systematisch dem Notstand (§ 35) gleichstünde, würde dieser Gesichtspunkt überbewertet. II. Die Unterscheidung von unbeendigtem und beendigtem Versuch 1. Ausgangspunkt der Rücktrittsregelung in § 24 I 1 ist die Unterscheidung zwischen unbeendigtem und beendigtem Versuch 18 . Der Gesetzgeber geht von der Erwägung aus, daß Straffreiheit in der Regel nur dann in Betracht kommt, wenn die Tat nicht vollendet worden ist. Ist der Erfolg in dem Zeitpunkt, in dem der Täter zurücktreten möchte, bereits eingetreten, so ist die Tat vollendet, auch wenn er dies nicht wußte, und § 24 I 1 kommt nicht in Betracht 19 . Ist die Tat dagegen im Versuchsstadium stecken geblieben, so muß unterschieden werden: Hat der Täter noch nicht alles getan, was ihm für den Eintritt der Vollendung notwendig erscheint, so genügt es für den Rücktritt, daß er vom Weiterhandeln Abstand nimmt (Rücktritt vom unbeendigten Versuch). Sind jedoch nach seiner Meinung alle Erfolgsbedingungen geschaffen, so daß der Eintritt des Erfolgs nur noch von dem selbständigen Wirken der Kausalfaktoren oder vom Handeln Dritter abhängt, so muß er für den Rücktritt eigene Gegenaktivität zur Abwendung des Erfolges entfalten (Rücktritt vom beendigten Versuch) 20 . Die Unterscheidung hat erhebliche praktische Bedeutung, da sowohl die Voraussetzungen als auch die Chancen 15 Eine Verbindung verschiedener Gedanken für die Begründung der Straflosigkeit des freiwilligen Rücktritts wird jetzt zu Recht vielfach angenommen; vgl. LK 10 (Vogler) § 24 Rdn. 20; Maurach/Gössel/Zipf Allg. Teil II §41 Rdn. 12ff.; Rudolphi,, NStZ 1983, 363; Schönke/Schröder/Eser, § 24 Rdn. 2; Stratenwerth, Allg. Teil I Rdn. 706; Jakobs, Allg. Teil 26/2. 16 So Lang-Hinrichsen y Engisch-Festschrift S. 370 ff. In dieser Richtung auch Schmidhausen Allg. Teil S. 623f.; Roxin, Kriminalpolitik S. 36ff.; SK (Rudolphi) § 24 Rdn. 5; Munoz Conde, ZStW 84 (1972) S. 778. Vgl. ferner Eser, Strafrecht II Nr. 32 A Rdn. 21 ff. 17 So vor allem Ulsenheimer, Rücktritt S. 103 ff.; ferner SK (Rudolphi) § 24 Rdn. 6; Roxin, Heinitz-Festschrift S. 273 ff.; Haft, JA 1979, 312; Bottke y Methodik S. 603 ff. 18 Vgl. Dreher/Tröndle, § 24 Rdn. 4; Lackner Rdn. 5; SK (Rudolphi) § 24 Rdn. 15.

y

§ 24 Rdn. 3; Schönke/Schröder/Eser,

§ 24

19 Vgl. Eser y Strafrecht I I Nr. 33 A Rdn. 47a; Lenckner, Gallas-Festschrift S. 290f.; Munoz Conde, GA 1973, 33 f.; Schönke/Schröder/Eser, § 24 Rdn. 25. Der zwischenzeitliche Wegfall des Tatvorsatzes ist ohne Bedeutung, da dieser nur bis zum unbeendigten Versuch vorzuliegen braucht; vgl. SK (Rudolphi) § 16 Rdn. 34; Stratenwerth, Allg. Teil I Rdn. 283. Dagegen stellt Herzberg y Oehler-Festschrift S. 173 auf den Zeitpunkt des beendigten Versuchs ab. 20 Vgl. dazu Goldschmidt, Unbeendigter und beendigter Versuch S. 62 ff. Davon ganz unabhängig ist die Frage, wann beim Versuch ein unmittelbares Ansetzen zur Verwirklichung des Tatbestandes anzunehmen ist (vgl. dazu oben § 49 IV 3).

I I . D i e Unterscheidung v o n unbeendigtem u n d beendigtem Versuch

541

der Straflosigkeit in den beiden Fällen verschieden sind. I m ersten Fall genügt die bloße Unterlassung des Weiterhandelns, der Täter hat es also selbst in der Hand, diese Voraussetzung zu erfüllen; im zweiten muß er dagegen zugunsten seines Opfers aktiv werden und trägt deshalb auch das Risiko für das Gelingen der Erfolgsabwendung. 2. Unbeendigter und beendigter Versuch können nur nach einem subjektiven Maßstab voneinander abgegrenzt werden, da die Frage, ob noch etwas von Seiten des Täters zur Vollendung der Tat zu geschehen hat, allein von seinem Tatplan und seiner Vorstellung vom Tatverlauf abhängt ( B G H 14, 75 [79]; 22, 330 [331]; 31, 170; 33, 295; 35, 90) 2 1 . Unbeendigt ist der Versuch danach, wenn der Täter glaubt, noch nicht alles zur Vollendung Erforderliche getan zu haben, beendigt ist der Versuch dagegen dann, wenn nach seiner Vorstellung alle Schritte getan worden sind, die zur Vollendung notwendig erscheinen. Ist er im Zweifel, ob seine Handlung bereits ausreicht, um den Erfolg herbeizuführen, oder macht er sich keine Vorstellungen über die Folgen seines Tuns, muß beendigter Versuch angenommen werden ( B G H 40, 304). Hat er im Zeitpunkt der letzten Ausführungshandlung auch nur mit der Möglichkeit des Erfolgseintritts gerechnet, liegt bereits ein beendigter Versuch vor ( B G H 31, 170 [175]; 33, 295 [300]) 2 2 . Beispiele: Fällt ein Katheter, der bei einer Frau zum Zwecke der Abtreibung eingesetzt wurde, vorzeitig heraus, so liegt unbeendigter Versuch vor, wenn ihn die Schwangere nicht wieder einsetzt, obwohl sie annimmt, daß nur längeres Belassen im Körper wirksam sein würde (RG 57, 278 [280]). Löst der Täter den Würgegriff am Halse seines Opfers erst, wenn er mit der Möglichkeit rechnet, daß es an den Folgen der Strangulierung sterben werde, liegt ein beendigter Versuch vor (BGH Dallinger MDR 1970, 381). Das gleiche gilt, wenn der Eifersuchtstäter von seinem Opfer abläßt, nachdem er ihm lebensgefährliche Messerstiche beigebracht hat (BGH 23, 330 [332]). Beendigter Tötungsversuch liegt vor, wenn der Täter seinem Opfer, das er bestehlen wollte, Stichverletzungen beibringt und es bis zur Bewußtlosigkeit würgt, um es als Zeugin auszuschalten, dann aber in dem Glauben flüchtet, daß das Opfer an den Verletzungen sterben könnte (BGH 31, 170). Unbeendigt ist der Tötungsversuch jedoch dann, wenn der Täter seinem Opfer einen Messerstich in den Nacken beibringt, aber alsbald erkennt, daß die Verletzung keine Lebensgefahr zur Folge gehabt hat (BGH 35, 90). 3. Zweifelhaft ist die Frage der Abgrenzung zwischen unbeendigtem und beendigtem Versuch in den Fällen, in denen sich die Situation für den Täter zur Zeit der Entscheidung über den Rücktritt anders darstellt als nach seiner ursprünglichen Planung. Zwei Fallgestaltungen sind denkbar: Erstens, der Täter wollte den Tatbestand mit einer Handlung verwirklichen und muß nach deren Durchführung feststellen, daß es noch weiterer Handlungen seinerseits bedürfte, um den angestrebten Erfolg zu erreichen. Zweitens, der Täter hatte mehrere Anläufe zur Herbeiführung 21

So die h.L.; vgl. Baumann/Weber,

Allg. Teil S. 507; Blei, Allg. Teil S. 212; Puppe,

NStZ 1986, 14; Geilen, JZ 1972, 335 ff.; Kohlrausch/Lange,

§ 24 Rdn. 34; Maurach/Gössel/Zipf,

§46 Anm. III; LK 10 (Vogler)

Allg. Teil II § 41 Rdn. 22; Mezger, Lehrbuch S. 400;

Olshausen, § 46 Anm. 3; Schönke/Schröder/Eser,

§ 24 Rdn. 12; Welzel,

Lehrbuch S. 196;

Wessels, Allg. Teil Rdn. 631; Kühl, Allg. Teil § 16 Rdn. 24. Eine im wesentlichen objektive Abgrenzung empfiehlt dagegen Henkel, JW 1937, 2376 f.; ebenso Ulsenheimer, Rücktritt S. 225ff.; Borchert/Hellmann, GA 1982, 436ff.

22 Zustimmend Küper, JZ 1983, 264; Kienapfel, JR 1984, 72; derselbe, Pallin-Festschrift S. 213 ff.; LK 10 (Vogler) § 24 Rdn. 64f.; H. W. Mayer, MDR 1984, 187; Hassemer, JuS 1983,

556; Lackner, § 24 Rdn. 6; Maurach/Gössel/Zipf,

Allg. Teil I I § 41 Rdn. 81; Otto, Grund-

kurs S. 243; Puppe, NStZ 1986, 15; Roxin, JR 1986, 424; Streng, JZ 1990, 214; Rudolphi,

§ 24 Rdn. 169; Wessels, Allg. Teil Rdn. 633; Kühl, NStZ 1983, 361; Schönke/Schröder/Eser, Allg. Teil § 16 Rdn. 27. Gegen den BGH Herzberg, Blau-Festschrift S. 108; derselbe, NJW 1986, 2466; derselbe, NJW 1991, 1635; Bergmann, ZStW 100 (1988) S. 351.

542

§ 5 1 D e r R ü c k t r i t t v o m Versuch

des Erfolgs eingeplant und nimmt von seinem Verhalten Abstand, ohne diese Möglichkeiten erschöpft zu haben. Die Rechtsprechung hatte bei der Beurteilung dieser Fälle zunächst auf den ursprünglichen Tatplan des Täters abgestellt und einen unbeendeten Versuch nur dann angenommen, wenn der Täter nicht alles getan hatte, was er sich ursprünglich vorgenommen hatte (BGH 10, 129; 14, 75) 23 . Dadurch wurde jedoch häufig dem weniger gefährlichen Täter, der sich nur eine Handlung vorgenommen hatte, der strafbefreiende Rücktritt abgeschnitten, während er dem rücksichtsloseren Täter offen blieb. Daher nimmt der Bundesgerichtshof jetzt den Zeitpunkt des Rücktritts zum Maßstab: Es kommt darauf an, ob der Täter in diesem Zeitpunkt den selbständigen Eintritt des Erfolgs für möglich hält; ist das nicht der Fall, kann er noch durch bloßes Nichtweiterhandeln zurücktreten (BGH 31, 170 [175]; 35, 90; B G H NStZ 1984, 116). Beispiele: Der Täter schießt seinem Feind in den Kopf und läßt ihn schwerverletzt liegen, obwohl er die naheliegende Möglichkeit des Eintritts des Todes erkannte (beendeter Versuch) (BGH 33, 295). Der Täter versetzt seinem Opfer einen lebensgefährlichen Stich in die Brust (unbeendeter Versuch, wenn der Täter den Messerstich nicht für tödlich gehalten hat) (BGH JZ 1986, 303). 4. Problematisch sind die Fälle, in denen der Täter einen Versuch abbricht, ihn kurze Zeit später aber, wenn auch mit anderen Mitteln, wieder fortsetzt. Ein Rücktritt kommt bei dieser Fallgestaltung nur dann in Betracht, wenn man beide Ansätze als einen einheitlichen Versuch versteht. Dies wird von der neueren Rechtsprechung dann bejaht, wenn der Versuch insgesamt als einheitlicher Lebens Vorgang angesehen werden kann (BGH 34, 53 m.zust.Anm. Rengier, JZ 1986, 964; B G H 40, 75; B G H NStZ 1984, 453; NJW 1985, 2428; NJW 1986, 1001; NStZ 1986, 264). Dem ist zuzustimmen 24 , auch wenn die engeren zeitlichen und sachlichen Voraussetzungen der natürlichen Handlungseinheit nicht vorliegen 25 , da auf diese Weise die Rücktrittsmöglichkeit im Interesse des Opfers erweitert und dem Sinn der Straffreiheit als Belohnung für verdienstliches Handeln entsprochen wird. 5. Die rücktrittsfreundliche Rechtsprechung des B G H nimmt einen unbeendeten Versuch und damit eine erleichterte Rücktrittsmöglichkeit ferner auch dann an, wenn der Täter sein primäres Handlungsziel schon mit dem Versuch erreicht und deswegen an der Erreichung des weitergehenden Tatplans kein Interesse mehr hat (Vorlagebeschluß B G H JZ 1993, 359 m.krit.Anm. Puppe, JZ 1993, 361) 26 . Der Große Senat hat sich dieser Auffassung angeschlossen (BGH GS 39, 221 gegen B G H JR 1991, 158 m.zust.Anm. Herzberg). Auch eine Umdisposition vom beendeten zum unbeendeten Versuch ist möglich, wenn der Täter entgegen seiner ursprünglichen Annahme erkennt, daß er zur Vollendung der Tat noch mehr tun muß (BGH 36, 224 m.abl.Anm. Ranft, JZ 1989, 1128). 6. Der Rücktritt vom Versuch setzt immer voraus, daß der Täter die Vollendung noch für möglich hält. Kommt er dagegen zur Überzeugung, daß er den Erfolg mit 23 So auch Baumann/Weber, Allg. Teil S. 489; Gutmann, Freiwilligkeit S. 92ff.; Maiwald, Natürliche Handlungseinheit S. 92f.; Eser, Strafrecht II Nr. 33 A Rdn. 30ff.; Jakobs, JuS 1980, 714; Ulsenheimer, Rücktritt S. 240 f. 24 Ebenso Lackner, § 24 Rdn. 4; Roxin, JuS 1981, 1; Puppe, NStZ 1986, 16; kritisch Fah-

renhorst, Jura 1987, 291; LK 10 25

(Vogler)

§ 24 Rdn. 63 f.

Zustimmend Kadel, JR 1987, 118; dagegen Herzberg, NJW 1986, 2466ff.; Ranft, Jura 1987, 527. 26 Zustimmend Streng, NStZ 1993, 257; Pahlke, Rücktritt S. 168. Dagegen, weil im Verzicht auf die sinnlose Fortsetzung der Tat kein Verdienst des Täters liege, Wessels, Allg. Teil Rdn. 634; Kühl, Allg. Teil § 16 Rdn. 41; Kampermann, Grundkonstellationen S. 217f.

I I I . D e r R ü c k t r i t t v o m unbeendigten Versuch (§ 24 I 1 erste Alternative)

543

den ihm zu Gebote stehenden Mitteln im unmittelbaren Fortgang des Geschehens nicht mehr erreichen kann, so liegt ein fehlgeschlagener Versuch (BGH 34, 56; 35, 90) vor, von dem ein Rücktritt nicht möglich ist, da man einen Vorsatz, der nicht mehr zu verwirklichen ist, auch nicht aufgeben kann 27 . Für die Frage, ob ein Versuch fehlgeschlagen ist, kommt es immer auf den Kenntnisstand des Täters am Ende der Versuchshandlung an (subjektiver Rücktrittshorizont). Ein Fehlschlag kann sowohl in objektiven Umständen (die Schußwaffe versagt) als auch in subjektiven Hemmnissen (der Sexualtäter ist durch die Gegenwehr des Opfers so irritiert, daß er die geplante Tat nicht mehr ausführen kann) begründet sein. Problematisch ist der Fall, daß sich die Tat aus rechtlichen Gründen als unausführbar erweist (der Täter eines Vergewaltigungsversuchs nimmt aufgrund des Verhaltens des Opfers an, dieses sei mit dem Geschlechtsverkehr einverstanden, B G H JZ 1994, 106). Hier verneint die Rechtsprechung - entgegen der Lehre 28 - einen fehlgeschlagenen Versuch, soweit der Täter in der Lage bleibt, sein ursprüngliches Vorhaben der gewaltsamen Durchsetzung des Geschlechtsverkehrs auszuführen, selbst wenn dies für ihn in der neuen Situation keinen Vorteil mehr bringt. Beispiele: Wenn der Täter einen größeren Geldbetrag rauben will, aber nur einen geringfügigen vorfindet, ist der Versuch fehlgeschlagen und die Frage des Rücktritts gar nicht mehr zu erörtern (anders BGH 4, 56). Wenn das Opfer des Raubversuchs beteuert, kein Geld zu besitzen, so richtet sich die Frage des unbeendigten Versuchs danach, ob sich der Täter von einer Fortsetzung seiner Drohungen Erfolg verspricht; ist das nicht der Fall, so liegt ebenfalls ein fehlgeschlagener Versuch vor (BGH 4, 180 [181]). Hat die Täterin erkannt, daß das Rattengift nicht gewirkt hat und die Opfer deswegen gar nicht in Lebensgefahr sind, so kann sie nicht zurücktreten, wenn ihr keine weiteren, ebenfalls zur Verheimlichung geeigneten Mittel zur Verfügung stehen, um die Tat fortzusetzen (BGH GA 1971, 51). Fehlgeschlagen ist der Erpressungsversuch, wenn der Tatplan mit den eingesetzten und den noch zur Hand liegenden einsatzbereiten Nötigungsmitteln nicht mehr vollendet werden kann und der Täter dies erkennt (BGH vom 12.9.1985, 5 Str 415/85). Vgl. ferner OLG Karlsruhe NJW 1978, 331 m. Anm. Küper, NJW 1978, 956.

III. Der Rücktritt vom unbeendigten Versuch (§ 24 I 1 erste Alternative) Der strafbefreiende Rücktritt vom unbeendigten Versuch erfordert, daß der Täter in einem Zeitpunkt, in dem er noch nicht alles zur Vollendung der Tat Erforderliche getan zu haben glaubt, freiwillig die weitere Ausführung der Tat aufgibt. 1. Das objektive Moment des Rücktritts liegt beim unbeendigten Versuch lediglich darin, daß der Täter nicht weiterhandelt. Zu beachten ist aber, daß er seinen Vorsatz endgültig aufgegeben haben muß, da er sonst die Gewährung der Straffreiheit nicht verdient (BGH 39, 244 [247]; B G H NStZ 1988, 550) 29 . Ein Teilrücktritt, z.B. von der Tötung des Opfers beim geplanten Raubmord, ist jedoch möglich 30 . 27

So eingehend Schmidhäuser, Allg. Teil S. 627ff.; SK (Rudolphi) § 24 Rdn. 8 ff.; Roxin, JuS 1981, Iff.; Herzberg, Blau-Festschrift S. 97ff.; LK 10 (Vogler) § 24 Rdn. 23ff.; Otto, GA 1967, 144ff.; derselbe, Jura 1992, 423; Kampermann, Grundkonstellationen S. 206ff.; Kühl, Allg. Teil § 16 Rdn. 22. Ablehnend zu Unrecht Gössel, ZStW 87 (1975) S. 3 ff.; Sonnen, Jura 1980, 158 ff.; Fehes, G A 1992, 395 ff.

28 Für fehlgeschlagenen Versuch in diesem Fall Bottke, JZ 1994, 75; derselbe, Strafrechtswissenschaftliche Methodik S. 355 f.; Schönke/Schröder/Eser, § 24 Rdn. 9; Ulsenheimer, Rücktritt S. 328; Herzberg, Blau-Festschrift S. 99. 29 So die Rspr. und ein Teil der Lehre: RG 72, 349 (351); BGH 7, 296 (297); 21, 319 (321 f.); 33, 144f.; Baumann/Weber, Allg. Teil S. 504; Bockelmann/Volk, Allg. Teil S. 212;

Kohlrausch/Lange, § 46 Anm. V I I I ; Jescheck, M D R 1955, 563; LK 10

Schönke/Schröder/Eser,

(Vogler)

§ 24 Rdn. 79;

§ 24 Rdn. 39 f. (mit der zutreffenden Einschränkung, daß der Vor-

544

§ 5 1 D e r R ü c k t r i t t v o m Versuch

2. Das subjektive Moment des Rücktritts liegt in der Freiwilligkeit der Aufgabe des Tatentschlusses. Freiwilligkeit bedeutet, daß der Rücktritt nicht durch zwingende Hinderungsgründe veranlaßt ist, sondern aus einem autonomen (selbstgesetzten) Motiv erwächst. Dies setzt voraus, daß der Täter noch „Herr seiner Entschlüsse" war und nicht etwa durch die Tatsituation einem unüberwindlichen Druck zur Aufgabe seines Vorhabens ausgesetzt war (BGH 21, 216; 35, 184 [186]; B G H Holtz M D R 1993, 1038; B G H StV 1992, 224; NStZ 1992, 536). Andererseits kommt es jedoch nicht darauf an, ob der Täter aus einem sittlich anerkennenswerten Motiv von der Tat Abstand genommen hat (BGH 7, 296 [299] m.zust.Anm. Jescheck, M D R 1955, 563; anders noch RG 75, 393 [395] m.zust.Anm. Bockelmann, DR 1942, 432) 31 . Der Begriff der Freiwilligkeit ist vielmehr rein „psychologisch" 32 , nicht ethisch zu bestimmen. Rücktritt mit strafbefreiender Wirkung ist daher z.B. auch dann zu bejahen, wenn der Täter von einem Opfer abläßt, um ein anderes Opfer zu töten (BGH 35, 184). Vielfach wird die Frage der Freiwilligkeit auch dann erörtert (und verneint), wenn die Vollendung der Tat nach der Vorstellung des Täters unmöglich geworden ist oder für ihn keinen Sinn mehr hat (z.B. RG 39, 37 [38]; 65, 145 [149]; 70, 1 [3]; RG JW 1935, 2734; B G H 4, 56 [59]; 9, 48 [53]; 13, 156; 20, 279 m.krit.Anm. Lackner, JR 1966, 106). In diesen Fällen liegt indessen gar kein Rücktritt vor, sondern ein fehlgeschlagener Versuch (vgl. oben § 51 I I 6) 3 . Rücktritt ist dagegen anzunehmen, aber die Freiwilligkeit zu verneinen, wenn die Vollendung an sich noch möglich gewesen wäre, aber für den Täter behalt, die Tat irgendwann bei geeigneter Gelegenheit erneut zu versuchen, den Rücktritt nicht ausschließt); Welzel, Lehrbuch S. 198. Die Gegenmeinung, die das Abstandnehmen von der „konkreten" Tatausführung genügen läßt, vertreten Allfeld, Frank-Festgabe Bd. II S. 79;

Heinitz, JR 1956, 252; Lenckner, Gallas-Festschrift S. 302f.; v. Liszt/ Schmidt, S. 317; Mau-

rach/Gössel/Zip f Allg. Teil II S. 47; Mezger, Lehrbuch S. 405; Blei, Allg. Teil S. 242; Schmidhäuser, Allg. Teil S. 631; Stratenwerth, Allg. Teil I Rdn. 714; Kühl, Allg. Teil § 16 Rdn. 43; Wessels, Allg. Teil Rdn. 641. Das Abstellen auf die Motive des Täters bei SK (Rudolph ή) § 24 Rdn. 18 dürfte zu unlösbaren Beweisschwierigkeiten führen. Zum ganzen lehrreich Bottke, Methodik S. 373 ff. 30 Vgl. Streng, JZ 1984, 652ff.; LK 10 (Vogler) § 24 Rdn. 208. Anders jedoch, wenn der Täter das geschützte Rechtsgut nach Aufgabe des ersten Teilakts im zweiten Teilakt in schwererer Weise angreift, so beim Ubergang vom Versuch sexueller Nötigung (§ 178) zur Vergewaltigung (§ 177) (BGH 33, 142 m.zust.Anm. Streng, NStZ 1985, 360) oder vom Betrug zur Erpressung. 31 So die Rspr. und die h.L.; RG 35, 102; 37, 402 (404); 61, 115 (117); BGH GA 1968, 279; Baumann/Weber,

Maurach/Gössel/Zipf

Allg. Teil S. 505; Heinitz, JR 1956, 251; LK 10

(Vogler)

§ 24 Rdn. 86;

Allg. Teil II S. 48 f.; Blei, Allg. Teil S. 240 f.; Schönke/Schröder/Eser,

§ 24 Rdn. 56; Dreh er/Tröndle,

§ 24 Rdn. 6; Lackner, § 24 Rdn. 18; Wessels,

Allg. Teil

Rdn. 644. Anders zum ethischen Wert des Rücktrittsmotivs die oben in Fußnote 12 genannten Autoren; ferner Bottke, Methodik S. 469ff. sowie JR 1980, 441 ff.; SK (Rudolphi) § 24 Rdn. 25. Anders auch Jakobs, Allg. Teil 26/30: „Freiwillig ist eine Motivation zum Rücktritt, die mit der Motivation zur konkreten Tat unverträglich ist". Ob es „Regeln der Verbrecher-

vernunft" gibt, die Roxin, Heinitz-Festschrift S. 255 ff. und SK (Rudolphi) § 24 Rdn. 25 zur

Lösung der Freiwilligkeitsfrage heranziehen wollen, und ob diese, wenn es sie gibt, dazu etwas aussagen, ist zweifelhaft. 32 Der „psychologischen Betrachtungsweise" des BGH zustimmend Lackner, § 24 Rdn. 18; Kühl, Allg. Teil § 16 Rdn. 54. Kritisch Lampe, JuS 1989, 612ff.; Jakobs, JZ 1988, 519f. Für eine normative Bewertung des Rücktrittsmotivs dagegen Bloy, JR 1989, 71; Grasnick, JZ 1989, 821 ff.; Herzberg, Lackner-Festschrift S. 338 f.; Ulsenheimer, Rücktritt S. 314. 33 Dieses Bedenken trifft auch auf die bekannte Testformel von Frank, § 46 Anm. II zu: „Freiwillig ist der Rücktritt, wenn der Täter sich sagt: ich will nicht zum Ziel kommen, selbst wenn ich könnte; unfreiwillig, wenn er sich sagt: ich kann nicht zum Ziel kommen, selbst wenn ich wollte". Kritisch dazu auch Roxin, Heinitz-Festschrift S. 254.

I V . D e r R ü c k t r i t t v o m beendigten Versuch (§ 24 I 1 zweite Alternative)

545

so schwerwiegende Nachteile zur Folge gehabt hätte, daß er sie vernünftigerweise nicht in Kauf nehmen konnte (BGH 9, 48 [52f.]: Rücktritt vom Notzuchtsversuch, weil das Opfer den Täter erkannt hat). Bei der Beurteilung der Freiwilligkeit ist vom Vorstellungsbild des Täters auszugehen, so daß auch ein freiwilliger Rücktritt vom untauglichen Versuch möglich ist, solange der Täter von der Tauglichkeit überzeugt ist (RG 68, 82 [83]: der Täter läßt vom Betrugs versuch ab, ohne zu wissen, daß er bereits in die Falle gegangen ist; B G H 11, 324: Rücktritt vom beendigten Tötungsversuch mit zu geringer Giftdosis). In § 24 I 2 ist dies ausdrücklich anerkannt: Für den Rücktritt vom untauglichen Versuch wird verlangt, daß der Täter sich freiwillig und ernsthaft bemüht haben muß, die Vollendung zu verhindern 34 . Insbesondere schließt die Entdeckung der Tat, wenn sie dem Täter bekannt ist, die Freiwilligkeit aus (vgl. unten § 51 IV 3). Beispiele: Freiwillig ist der Rücktritt aus Gewissensgründen (RG 14, 19 [22]), aus Schamgefühl (RG 47, 74 [79]), aus Furcht vor Strafe (RG 54, 326), aus Schreck (BGH MDR 1952, 530, anders noch RG 68, 238), wegen schlechten Geschmacks des Abtreibungsmittels (RG 35, 102), wegen eindringlicher Vorhalte des Mittäters (BGH 21, 319 [321]). Unfreiwillig ist der Rücktritt aus Furcht vor bevorstehender Entdeckung (RG 37, 402 [406]; 38, 402 [4041; 3 BGH NStZ 1984, 116) oder vor dem Abschneiden des Rückwegs (RG DJ 1938, 596 [597]) *. Bei psychischen Hemmungen kommt es darauf an, ob sie zwingender Natur sind (BGH GA 1986, 418; BGH StV 1984, 329; NStZ 1994, 428). 3. Ein Sonderproblem des Rücktritts vom unbeendigten Versuch ist der Irrtum über die Tauglichkeit der Rücktrittshandlung. Das Gesetz sieht die Möglichkeit strafbefreienden Rücktritts nur vom Versuch vor; wenn die Tat - auch ohne Wissen des Täters - vollendet wird, scheidet Rücktritt aus. Tritt der Erfolg früher ein, als der Täter erwartet hatte und bevor er mit dem Rücktrittsbemühen einsetzt, so nützt ihm der Rücktritt nichts, weil die Tat in diesem Zeitpunkt bereits vollendet war. Ein strafbefreiender Rücktritt ist auch dann ausgeschlossen, wenn der Erfolg entgegen der Erwartung des Täters erst nach Abstandnahme von der weiteren Ausführung der Tat eintritt 36. In Frage kommt in diesen Fällen allenfalls eine Lage, bei der die objektive Zurechnung entfällt (vgl. oben § 28 IV 4) oder ein vorsatzausschließender Irrtum über den Kausalverlauf vorliegt (vgl. oben § 29 V 6 b) und deshalb lediglich ein Versuch anzunehmen ist. Von diesem Versuch kann nach den allgemeinen Regeln zurückgetreten werden37. IV. Der Rücktritt vom beendigten Versuch (§ 24 I 1 zweite Alternative) Der strafbefreiende Rücktritt vom beendigten Versuch erfordert, daß der Täter freiwillig die Vollendung der Tat verhindert (BGH 33, 295 [301]). 1. In objektiver Hinsicht verlangt der Rücktritt vom beendigten Versuch mehr als der Rücktritt vom unbeendigten Versuch, denn die Tat ist hier schon bis zum Abschluß der Ausführungshandlung gelangt. Der Täter muß den Erfolg durch eigene Tätigkeit, gegebenenfalls unter Mithilfe von Dritten, abwenden (RG 15, 44 34 Die objektive Eignung der auf Verhinderung der Vollendung zielenden Tätigkeit ist nicht erforderlich, wohl aber muß der Zurücktretende daran geglaubt haben; vgl. Grünwald, Welzel-Festschrift S. 715f.; Lenckner, Gallas-Festschrift S. 297ff.; Schönke/Schröder/Eser, § 24 Rdn. 71. 35 Daß es sich hier vielfach nicht um Unfreiwilligkeit im logischen Sinne handelt, sondern um die praktische Frage, welchen Preis jemand für die Tat vernünftigerweise zu zahlen bereit ist, betont mit Recht Graf zu Dohna, ZStW 59 (1940) S. 544 ff. 36 Für die Möglichkeit des Rücktritts vom vermeintlich unbeendigten Versuch aber Eser,

Strafrecht I I Nr. 33 A Rdn. 48; Schönke/Schröder/Eser, § 24 Rdn. 24; Schröder, JuS 1962, 82; v. Scheurl, Rücktritt S. 48f.; LK n (Schroeder) § 16 Rdn. 34; Herzberg, JZ 1989, 114ff. 37

Wie hier Baumann /Weber,

Allg. Teil S. 504; Schmidhäuser, Allg. Teil S. 501; Straten-

werth, Allg. Teil I Rdn. 716; Krauß, JuS 1981, 886; SK (Rudolphi) § 24 Rdn. 16. 35 Jescheck, 5. A.

546

§ 5 1 Der Rücktritt vom Versuch

[46]: Verhinderung der schädigenden Vermögensverfügung des Betrogenen durch einen Bevollmächtigten). Seine Tätigkeit muß ferner auf die Erfolgsabwendung abzielen (RG 63, 158 [159]: ohne den Willen, die Tat aufzugeben oder abzubrechen, ist ein Rücktritt nicht denkbar). Der für den Rücktritt vom beendigten Versuch häufig verwendete Ausdruck „tätige Reue" ist jedoch irreführend, da Reue hier ebensowenig das Rücktrittsmotiv gewesen sein muß wie beim Rücktritt vom unbeendigten Versuch (RG 61, 115 [117]). Der Rücktritt muß endlich auch gelingen: tritt der Erfolg trotz der Gegeninitiative des Täters ein, so bleibt er wegen vollendeter Tat verantwortlich (BGH VRS 61, 262) 38 . Nur wenn die Erfolgsabwendung durch den Verletzten selbst vorsätzlich verhindert wird, ist die analoge Anwendung des § 24 I 2 gerechtfertigt 39. Nach dieser Vorschrift genügt für den Rücktritt, wie schon erwähnt (vgl. oben § 51 I I I 2), das freiwillige und ernsthafte Rücktrittsbemühen, wenn der Erfolg aus anderen Gründen als wegen des Rücktritts unterbleibt, z.B. weil der Versuch ohne Wissen des Täters untauglich war (BGH 11, 329) oder der Erfolg durch das selbständige Eingreifen Dritter vereitelt wird. Hier werden jedoch strenge Anforderungen an die Intensität der Rettungsbemühungen gestellt (BGH 33, 295 [302]; B G H NJW 1986, 1001). 2. Bisher wurde angenommen, daß es für den Rücktritt vom beendigten Versuch genüge, wenn der Täter „eine neue Kausalkette in Gang setzt, die für die Nichtvollendung der Tat mit ursächlich wird" (BGH StV 1981, 514 [515]; B G H NJW 1985, 813; NJW 1986, 1001; B G H 31, 46 [49]; 33, 295 [301]) 40 . Es kommt danach nicht darauf an, ob der Täter noch mehr hätte tun können (BGH StV 1981, 396). Der B G H hat jedoch inzwischen verlangt, daß der Zurücktretende sich nicht mit Maßnahmen begnügen dürfe, die möglicherweise unzureichend sind, selbst wenn sie für die Abwendung des Erfolgs im Ergebnis mit ursächlich und damit ausreichend waren (BGH 31, 46 [49]: Der Täter hatte seine von ihm mit Tötungsvorsatz schwerverletzte Frau nur bis zu einem Nebeneingang des Krankenhauses gefahren, wo sie von Dritten bewußtlos gefunden wurde; B G H JZ 1989, 650: die Täterin hatte den Notarzt zwar gerufen, aber nicht von der Giftbeibringung informiert; früher schon in dieser Richtung B G H Dallinger M D R 1972, 751). Der Täter müsse vielmehr alle „Verhinderungsmöglichkeiten ausschöpfen" 41. 3. Auch beim beendigten Versuch setzt der Rücktritt Freiwilligkeit voraus. Hierzu gelten die oben § 51 I I I 2 dargelegten Grundsätze entsprechend. Unfreiwillig wird der Rücktritt in der Regel dann sein, wenn sich der Täter entdeckt weiß oder glaubt, sofern er dann mit seiner Bestrafung rechnen muß. Das frühere Recht (§ 46 Nr. 2 a.F.) hatte die Entdeckung der Tat sogar als alleiniges Kriterium der Unfreiwilligkeit angesehen. Davon ist der Gesetzgeber von 1975 jedoch zu Recht abgegangen, da Freiwilligkeit im Einzelfall auch bei entdeckter Tat gegeben sein 38 Die Möglichkeit des Absehens von Strafe trotz Mißlingens der Erfolgsabwendung ist nur in §§ 83a I, II, 84 V, 85 III, 129 VI Nr. 1, 129a V vorgesehen. Über die analoge Anwendung dieser Vorschriften Schröder, H. Mayer-Festschrift S. 386 ff. 39 Vgl. Arzt y GA 1964, 1; Baumann/Webery Allg. Teil S. 510; Lenckner, Gallas-Festschrift

S. 392 f.; Otto, Maurach-Festschrift S. 99; Schönke/Schröder/Eser, JuS 1962, 82; SK (Rudolphi) § 24 Rdn. 28. 40 So auch die h.L.; vgl. Dreher/Tröndle, § 24 Rdn. 7; LK 10

§24 Rdn. 62; Schröder y (Vogler) § 24 Rdn. 120;

Grünwaldy Welzel-Festschrift S. 715 Fußnote 38; Schönke/Schröder/Eser, § 24 Rdn. 59; SK (Rudolphi) § 24 Rdn. 27; Wessel Allg. Teil Rdn. 646. 41 10 (Vogler) § 24 Rdn. 122; Jakobs y ZStW Im gleichen Sinne Lacknen § 24 Rdn. 19b; LK 104 (1992) S. 89; Herzberg, NJW 1989, 867. Dagegen zu Recht Puppe f NStZ 1984, 490, weil § 24 I 1 nicht mehr verlangt, als daß der Täter den Erfolg verhindert („Ende gut, alles gut"); Rudolphiy NStZ 1989, 514; Weinholdy Rettungsverhalten S. 139, 168.

V . D e r R ü c k t r i t t v o m vollendeten D e l i k t

547

oder bei unentdeckter Tat fehlen kann. Straflosigkeit ist demnach anzunehmen, wenn die Tat zwar objektiv entdeckt war, der Täter aber davon nichts gewußt hat. Die Tat ist entdeckt, wenn sie von einem Unbeteiligten, der den Erfolg verhindern oder ein Strafverfahren veranlassen könnte, in ihrer kriminellen Eigenschaft im wesentlichen erkannt ist (RG 38, 402 [403]: jemand entdeckt an der Rauchentwicklung in einem Zimmer den Brandstiftungsversuch; RG 68, 242 [243]: ein bei einem Giftmordversuch anwesendes Kind hat die Tat nur dann entdeckt, wenn es erkennt, daß ein Verbrechen im Gange ist; B G H NJW 1969, 1073: ein Giftmordversuch ist entdeckt, wenn der Ehemann von einem Kleinkind erfährt, daß die Mutter ihm etwas eingegeben hat, und er daraus den richtigen Schluß zieht). Die Gewinnung des Rücktritts gehilf en ist nicht Entdeckung, sondern Teil der Erfolgsabwendung ( B G H 11, 324 [325]). Auch der Verletzte kann die Tat entdeckt haben, sofern er seinerseits den Erfolg verhindern oder die Strafverfolgung des Täters veranlassen könnte (RG 66, 61 [62f.]; B G H JR 1952, 414) 42 . Nach der Rechtsprechung (RG 26, 77 [78]; B G H 24, 48 [50]) soll dieser Grundsatz allgemeine Geltung haben. Richtig ist es jedoch, die Entdeckung der Tat durch das Opfer dann nicht zum Ausschluß des Rücktritts führen zu lassen, wenn sie nach dem Tatbestand notwendig ist wie bei Gewalt- und Drohungsdelikten, weil sonst der Rücktritt hier praktisch immer ausgeschlossen wäre 4 3 . V . Der Rücktritt vom vollendeten Delikt, von selbständigen Vorbereitungshandlungen und vom Unternehmensdelikt 1. Auch bei vollendeten Delikten sieht das Gesetz in einigen Tatbeständen Strafbefreiung bei freiwilliger Aufgabe der Tat vor. Solche Fälle sind etwa die „tätige Reue" bei der Brandstiftung (§ 310) und beim Anschlag auf ein Luftfahrzeug (§ 316c IV) sowie das Verhindern des Fortbestands einer kriminellen Vereinigung (§ 129 VI). In den ersten beiden Fällen muß der Täter den drohenden Enderfolg tatsächlich abwenden, bei § 129 V I kann sogar das ernsthafte Bemühen des Täters zu seiner Straflosigkeit führen. Auch bei abstrakten und konkreten Gefährdungsdelikten ist manchmal eine Strafbefreiung für den Fall vorgesehen, daß der Täter die von ihm geschaffene Gefahr rechtzeitig wieder beseitigt (z.B. §§ 158, 315 V I ) 4 4 . Die Sondervorschriften über den Rücktritt vom vollendeten Delikt gewährten ursprünglich nur im Falle des § 310 und beim Rücktritt von der unterlassenen Verbrechensanzeige (§ 139 IV 1) volle Straflosigkeit, während sonst lediglich Strafmilderung oder das Absehen von Strafe in Betracht kam. Das 1. StrRG hat jedoch auch bei den Parteidelikten (§§ 84 V zweiter Halbsatz, 85 III) sowie beim Sprengstoffverbrechen (§ 311c III), bei der Transportgefährdung (§ 315 VI 2) und bei den gefährlichen Eingriffen in den Straßenverkehr (§ 315 b VI) in den Fahrlässigkeitsfällen die Straflosigkeit eingeführt, wenn der Schadenserfolg abgewendet wird. Bei dem erpresserischen Menschenraub (§ 239 a III) und bei der Geiselnahme (§ 239 b II) gibt es beim Rücktritt freilich nur fakultative Strafmilderung nach § 49 I wie beim Versuch, dagegen bei Zusammenarbeit mit den Strafverfolgungsorganen nach § 31 BtMG Strafmilderung nach § 49 II oder Absehen von Strafe (zu den Voraussetzungen BGH NStZ 1984, 414; OLG Düsseldorf MDR 1984, 605). 42 Vgl. Baumann, JuS 1971, 631; Bringewat, JuS 1971, 403; Dreher, NJW 1971, 1048; Dreher/ Tröndle, §24 Rdn. 9; LK 10 (Vogler) §24 Rdn. 130; Eser, Strafrecht I I Nr. 34 A

Rdn. 16 ff.

43 Vgl. Blei, Allg. Teil S. 244; derselbe, JA 1971, 298; Mezger, Lehrbuch S. 406; Schönke/ Schröder/Eser, § 24 Rdn. 52; LK i0 (Vogler) § 24 Rdn. 130; SK (Rudolphi) § 24 Rdn. 29.

44 Vgl. Koch, Rücktritt vom vollendeten Delikt S. 44ff.; Schönke/Schröder/Eser, Rdn. 116.

35:

§ 24

548

§ 5 1 D e r R ü c k t r i t t v o m Versuch

2. Besondere Rücktritts Vorschriften gelten ferner für Vorbereitungshandlungen, die zu eigenen Straftatbeständen ausgestaltet sind (vgl. oben § 49 V I 2). Zu erwähnen sind der Rücktritt vom Versuch der Beteiligung (§ 31), der Rücktritt von der Vorbereitung des Hochverrats (§ 83 a II), die Aufgabe der Tat oder die Abwendung der Gefahr bei der Vorbereitung eines Sprengstoffdeliktes (§ 311c III Nr. 2), der Rücktritt von der Vorbereitung des Anschlags auf ein Luftfahrzeug (§ 316c III, IV). Die analoge Anwendung dieser Vorschriften auf ähnlich gelagerte Fälle, bei denen Sonderregelungen fehlen, ist geboten (so B G H 6, 87 zu § 234a I I I ) 4 5 . 3. Endlich gelten auch für den Rücktritt vom Unternehmensdelikt (vgl. oben § 26 I I 7) Sondervorschriften, wenn auch vorerst nur in drei Fällen, nämlich beim Rücktritt vom Unternehmen des Hochverrats (§ 83 a I), vom räuberischen Angriff auf Kraftfahrer (§ 316 a II) und vom Unternehmen der Flugzeugentführung (§316 IV). Die analoge Anwendung dieser Sondervorschriften auf alle Unternehmensdelikte, einschließlich der „unechten", erscheint gerechtfertigt (anders aber B G H 15, 198 [199] zu § 122 II) (vgl. oben § 49 V I I I 2) 4 * VI. Die Wirkung des Rücktritts 1. Der freiwillige Rücktritt bewirkt nach § 24 die Straflosigkeit des Zurücktretenden. Er ist nach herrschender Ansicht ein persönlicher Strafaufhebungsgrund (vgl. unten § 52 I I 2), denn durch den Rücktritt werden weder Tatbestandsmäßigkeit noch Rechtswidrigkeit berührt, und auch die Schuld wird nur bis zu einem gewissen Grade ausgeglichen47. Für die Anhänger der kriminalpolitischen Begründung der Straflosigkeit des Rücktritts ist diese Konsequenz selbstverständlich, denn die Erwägungen, die zur Anerkennung des Rücktrittsprivilegs führen, haben mit der Tat selbst nichts zu tun. Aber auch die Lehre, die auf die Belohnung des in der Freiwilligkeit des Rücktritts liegenden Verdienstes abstellt, kann den Rücktritt als persönlichen Strafaufhebungsgrund verstehen, weil die Schuld durch den Rücktritt nicht aufgehoben, sondern nur teilweise kompensiert wird 4 8 . Dagegen führt die nach der Einheitstheorie (vgl. oben § 51 15) gebotene Gesamtbetrachtung von Versuch und Rücktritt dazu, diesen als negatives Strafwürdigkeitsmerkmal zu verstehen, das einerseits nicht unbedingt an die formelle Nichtvollendung des Delikts 45 46

Vgl. Schönke/Schröder/Eser, § 24 Rdn. 116 ff. Vgl. Schröder, Kern-Festschrift S. 462 ff.; Schönke/Schröder/Eser,

§ 24 Rdn. 119; Bott-

ke, Methodik S. 340 ff. 47 Vgl. RG 72, 349 (350); BGH 7, 296 (299); BGH StV 1982, 1; Baumann/Weher, Allg. Teil S. 503; Blei, Allg. Teil S. 247; Dreher/Tröndle, § 24 Rdn. 3; LK 10 (Vogler) § 24 Rdn. 22; Lackner, § 24 Rdn. 1; Kohlrausch/Lange, § 41 Rdn. 130; Schönke/Schröder/Eser,

§ 46 Anm. II; Maurach/Gössel/Zipf, Allg. Teil I I § 24 Rdn. 3; Welzel, Lehrbuch S. 196; Wessels, Allg.

Teil Rdn. 626. Für Einbeziehung des Rücktritts als negatives Merkmal in den Versuchstatbestand Reinhard v. Hippel, Rücktritt S. 72 ff. Ebenso ein Teil der spanischen Strafrechtslehre: vgl. Muhoz Conde, ZStW 84 (1972) S. 764 Fußnote 30. Gegen diese Lehre mit Recht Roxin, Heinitz-Festschrift S. 275; Munoz Conde, ZStW 84 (1972) S. 767. Ähnlich wie Reinhard v. Hippel jedoch Bloy, Dogmatische Bedeutung S. 175 ff. (Wegfall der Strafwürdigkeit auf der Ebene des Unrechts). Für Entschuldigungsgrund Roxin, Heinitz-Festschrift S. 273; SK (Rudolphi) § 24 Rdn. 6; Ulsenheimer, Grundfragen des Rücktritts S. 90; für Ausschluß der Verantwortlichkeit Roxin, Allg. Teil I § 23 Rdn. 17. Dagegen nennt Jakobs, Allg. Teil 26/2 weitergehend den Rücktritt eine „Minimierung des Normbruchs" und zwar „auf allen Stufen des Delikts". Für Strafzumessungsgrund Bottke, Methodik S. 603 ff.; Burkhardt, Rücktritt S. 121. Anders auch v. Scheurl, Rücktritt S. 14. 48 Vgl. Allfeld, Frank-Festeabe Bd. II S. 76; Wessels, Allg. Teil Rdn. 626. Für Entschuldigungsgrund dagegen SK (Rudolphi) § 24 Rdn. 6; Ulsenheimer, Rücktritt S. 103, 130.

V I . D i e W i r k u n g des Rücktritts

549

gebunden ist, andererseits auch durch bloße Strafmilderung oder durch Absehen von Strafe berücksichtigt werden kann 49 . 2. Die Wirkung des Rücktritts besteht nach § 24 I 1 darin, daß der Täter nicht „wegen Versuchs" bestraft wird 5 0 . Straflos ist also nur der Versuch „als solcher". Ist in dem Versuch eine bereits vollendete Straftat enthalten, so bleibt diese trotz des freiwilligen Rücktritts strafbar (sog. qualifizierter Versuch). Das gilt sowohl bei Ideal- als auch bei Gesetzeskonkurrenz. Eine vollendete Tat kann nicht deshalb straflos bleiben, weil der Täter damit zugleich ein anderes Delikt versucht hat. Beispiele: Beim strafbefreienden Rücktritt vom Einbruchsdiebstahl (§ 243 I Nr. 1) können Sachbeschädigung und Hausfriedensbruch übrigbleiben (RG 40, 430). Wer vom Versuch der Vergewaltigung (§ 177) zurücktritt, bleibt gegebenenfalls wegen sexueller Nötigung nach § 178 (RG 23, 225; BGH 7, 296 [300]; 17, 1 [2]; OLG Düsseldorf NJW 1983, 767: auch wenn diese bei Vollendung wegen Gesetzeskonkurrenz entfiele) oder wegen gefährlicher Körperverletzung nach § 223 a strafbar (BGH 9, 48 [53]). Tritt der Zeuge vor der Eidesleistung vom Meineid zurück, so ist er an sich wegen falscher uneidlicher Aussage nach § 153 strafbar, doch ist hier § 158 anzuwenden (BGH 8, 301 [315]). Beim Rücktritt vom Giftmordversuch kann der Täter wegen Vergiftung nach § 229 verantwortlich sein51. Beim Rücktritt vom Mordversuch bleibt die bereits vollendete Körperverletzung bestehen (über das Verhältnis von Tötungs- und Körperverletzungsvorsatz BGH 16, 122)52. Dagegen wird eine vorausgegangene Verbrechensverabredung (§ 30 II) vom Rücktritt von der Tat mitumfaßt (BGH 14, 378). Zweifelhaft ist die Frage, ob das im Versuch enthaltene Gefährdungsdelikt durch den Rücktritt wiederauflebt. Hierbei ist zwischen konkreten und abstrakten Gefährdungsdelikten zu unterscheiden 53. Die Rücktrittswirkung umfaßt auch das vollendete konkrete Gefährdungsdelikt, soweit es sich auf dasselbe Rechtsgut bezieht, weil die Gefährdung nur die Vorstufe seiner Verletzung ist (so läßt der Rücktritt nach § 310 auch die Bestrafung nach § 310a entfallen; anders B G H 39, 128 m.abl.Anm. Gropengießer, StV 1994, 19) 54 . Dagegen bleibt die Strafbarkeit des abstrakten Gefährdungsdelikts wegen seiner generellen Gefährlichkeit auch im Falle des Rücktritts bestehen (z.B. bleibt die Vorbereitung nach § 149 strafbar, wenn der Täter vom Versuch der Geldfälschung zurücktritt, soweit nicht zugleich die Voraussetzungen des § 149 I I oder I I I erfüllt sind). 3. Bei Beteiligung mehrerer an der Straftat 5 5 verschafft der Rücktritt als persönlicher Strafaufhebungsgrund nur demjenigen Beteiligten Straffreiheit, der selbst zurückgetreten ist (vgl. unten § 52 I I I 2), nicht aber den übrigen Beteiligten (Mit49 So Lang-Hinrich sen, Engisch-Festschrift S. 373; Schmidhäuser, Radbruch-Gedächtnisschrift S. 280; derselbe, Allg. Teil S. 623 f. In dieser Richtung auch Stratenwerth, Allg. Teil I Rdn. 707; Burkhardt, Rücktritt S. 116. 50 Die viel stärker differenzierten Rechtsfolgen des Rücktritts in anderen Vorschriften (z.B. §§ 83a, 315 VI; dazu näher oben § 51 V 1) sind in § 24 nicht aufgenommen worden und darum auch nicht analog anzuwenden; vgl. Burkhardt, Rücktritt S. 184ff.; Schönke/

Schröder/Eser, 51

§ 24 Rdn. 108.

Vgl. den von Dopffel, GS 94 (1927) S. 422 geschilderten Fall. 52 Nach Olshausen, § 46 Anm. 2 soll die Straffreiheit auch geringfügige Vordelikte umfassen (z.B. § 303 gegenüber § 243 I Nr. 1), doch ist es sachgerecht, in solchen Fällen § 153 StPO anzuwenden, während LK 10 (Vogler) § 24 Rdn. 204 und Schönke/Schröder/Eser, § 24 Rdn. 110 die Verfahrenseinstellung auf § 154 StPO gründen wollen (ebenso noch die Vorauflage S. 495 Fußnote 51). 53 Ebenso Maurach/Gössel/Zipf, Allg. Teil II § 41 Rdn. 132; Schönke/Schröder/Eser, § 24

Rdn. 110; LK 10

S. 640. 54

§ 24 Rdn. 198 ff.; Tröndle,

Wie der B G H Dreh er/Tröndle,

§ 24 Rdn. 198. 55

(Vogler)

GA 1962, 231; Schmidhäuser, Allg. Teil

§ 310 Rdn. 5, wie der Text die h.L.; vgl. LK 10 (Vogler)

Z u m ausländischen Recht vgl. Jescheck, Z S t W 99 (1987) S. 141 ff.

550

§ 5 1 D e r R ü c k t r i t t v o m Versuch

tätern, Anstiftern, Gehilfen) (RG 56, 209 [210]; B G H 4, 172 [179]). Diese müssen ihrerseits zurücktreten, wenn sie sich Straffreiheit verdienen wollen. Die Voraussetzungen für den Rücktritt bei mehreren Tatbeteiligten regelt § 24 I I 5 6 . Hat der Teilnehmer sich vergeblich bemüht, den Täter umzustimmen, ist der Rücktritt mißlungen 57 . Der Rücktritt kann einmal dadurch erfolgen, daß der Teilnehmer freiwillig die Vollendung der Tat, bei der er mitgewirkt hat, verhindert (§ 24 I I 1). Begeht der Haupttäter die Tat trotz der Bemühungen des Teilnehmers in abgewandelter Form (z.B. zu anderer Zeit an einem anderen Objekt), so ist der Rücktritt erfolgreich, wenn sich die neue Tat als Exzeß des Haupttäters darstellt (vgl. unten § 64 I I 4 und I I I 3, § 63 I 3 c) 5 8 . Wird die Tat ohne Zutun des Teilnehmers nicht vollendet (untauglicher oder fehlgeschlagener Versuch, Rücktritt des Haupttäters), so genügt das freiwillige und ernsthafte Bemühen des Teilnehmers, die Vollendung der Tat zu verhindern (§ 24 I I 2 erste Alternative) 59 . Selbst wenn die Tat begangen wird, kann der Teilnehmer durch Rücktritt Straffreiheit erlangen. Erforderlich ist dazu zweierlei: erstens die vollständige (insoweit „erfolgreiche") Aufhebung des eigenen Tatbeitrags, zweitens sein freiwilliges und ernsthaftes Bemühen, die Vollendung der Tat zu verhindern (§ 24 I I 2 zweite Alternative). Für den Rücktritt genügt es dagegen nicht, daß der Teilnehmer lediglich seinen Tatbeitrag zurücknimmt, ohne sich um die Verhinderung der Vollendung zu bemühen 60 . Daß der Teilnehmer nur einen einzigen erfolgversprechenden Verhinderungsversuch untern i m m t 6 1 , genügt ebenfalls nicht: wenn er erkennt, daß er durch Beseitigung seines Tatbeitrags allein die Vollendung nicht verhindern kann, muß er weiter darum bemüht bleiben 62 . Für den Rücktritt reicht es jedoch aus, daß der betreffende Tatbeteiligte mit dem die Vollendung hindernden Rücktritt des anderen Tatbeteiligten einverstanden ist (RG 56, 209 [211]; B G H NStZ 1989, 317) 63 . 56 Dazu Dreher/Tröndle, § 24 Rdn. 15; Lackner, § 24 Rdn. 25 ff.; Gores, Rücktritt S. 138; Otto, JA 1980, 641, 707; Krauß, JuS 1981, 888; v. Scheurl, Rücktritt S. 14; Wessels, Allg. Teil Rdn. 652; Mitsch, Baumann-Festschrift S. 100. 57 Vgl. Lenckner, Gallas-Festschrift S. 289f.; LK 10 (Vogler) § 24 Rdn. 162; Jakobs, Allg. § 24 Rdn. 76. Teil 26/29; Schönke/Schröder/Eser, 58

Vgl. Dreher/Tröndle,

Rdn. 171); Grünwald,

§ 24 Rdn. 16; LK 10

(Vogler)

§ 24 Rdn. 166 ff. (zur Tatidentität

Welzel-Festschrift S. 713; M aurach/Gössel/Zipf,

Rdn. 97; v. Scheurl, Rücktritt S. 120; Schönke/Schröder/Eser,

Allg. Teil II § 50

§ 24 Rdn. 91; SK (Rudolphi)

§ 24 Rdn. 39. 59 Diese zweite Möglichkeit für den Rücktritt des Teilnehmers entspricht der Regelung des § 24 I für den Rücktritt des Täters selbst. 60

Vgl. Dreher/Tröndle,

§ 24 Rdn. 16; Lackner, § 24 Rdn. 26; Preisendanz, § 24 Anm. 7c;

Schönke/Schröder/Eser, § 24 Rdn. 98; SK (Rudolphi) § 24 Rdn. 36. Die darin liegende Verschärfung gegenüber dem früheren Recht, nach dem die Beseitigung des eigenen Tatbeitrags genügte (vgl. 2. Auflage S. 414), wird mit der größeren Gefährlichkeit der Tat mehrerer begründet (BT-Drucksache V/4095 S. 12), was jedoch nicht überzeugt, da der Rücktritt des Teilnehmers gerade voraussetzt, daß von seinem Tatbeitrag nichts bestehen geblieben ist. Kritisch dazu auch Grünwald, Welzel-Festschrift S. 701; J. Meyer, ZStW 87 (1975) S. 619; Lenckner, Gallas-Festschrift S. 305; Roxin, Einführung S. 24; v. Scheurl, Rücktritt S. 148 f.; Stratenwerth, Allg. Teil I Rdn. 844; LK 10 (Vogler) §24 Rdn. 155 ff.; Walter, Rücktritt S. 134f.; positiv aber Gores, Rücktritt S. 232. Im Grunde steht hinter der Neuregelung der Gedanke, daß, wer einmal mitgemacht hat, nicht tatenlos zusehen darf, wenn die anderen weitermachen; so Dreher/ Tröndle, § 24 Rdn. 16. Doch liegt darin eine Haftung für fremde Tat, die unserem Strafrecht sonst fremd ist. 61 62

So Grünwald, Welzel-Festschrift S. 716 ff.; SK (Rudolphi) § 24 Rdn. 41. So Lenckner, Gallas-Festschrift S. 299; Schönke/Schröder/Eser, § 24 Rdn. 103; Gores,

Rücktritt S. 204 f. 63

LK 10

(Vogler)

§ 24 Rdn. 170; Dreh er/Tröndle,

§ 24 Rdn. 15.

V I . D i e W i r k u n g des Rücktritts

551

Beispiele: Wenn der Angestiftete aufgrund der Gegenbemühungen des Anstifters die weitere Ausführung der Tat aufgibt, so tritt auch für den Anstifter Straffreiheit ein (RG 47, 358 [361]; 56, 209 [210]). Der Gehilfe, der zugesagt hat, eine betrügerische Forderung vor Gericht durch einen Meineid zu unterstützen, tritt wirksam zurück, wenn er durch eine wahre Aussage die Vollendung des beabsichtigten Betrugs vereitelt (RG 62, 405 [406]), nicht jedoch der Gehilfe, der lediglich seinen Aufpasserposten verläßt (BGH G A 1966, 209) oder der beim Abtransport der Beute nicht hilft, wenn die Täter auch ohne ihn damit fertig werden (BGH NStZ 1983, 364). Der Mittäter kann sich Straffreiheit nur dadurch verdienen, daß er die ursächliche Wirkung seines Tatbeitrags beseitigt oder die Vollendung der Tat verhindert; in der vollendeten Tat „darf nichts enthalten sein, was sich mit dem von ihm bereits ausgeführten Teil der Gesamthandlung in ursächliche Verbindung bringen läßt" (RG 54, 177 [178]; 59, 412 [413]; BGH NJW 1951, 410). Ist bei der mittelbaren Täterschaft der Gehilfe auf Weisung des Hintermanns zurückgetreten, so kommt der Rücktritt auch diesem zugute (RG 39, 37 [41]), sonst nicht. Der Beteiligte, der vor Beginn des Banküberfalls „einen kurzen verbalen Versuch" macht, die Mittäterin, die die Tat ausführt, von dem Vorhaben abzubringen und den von ihm übernommenen Tatbeitrag nicht leistet, ist nicht zurückgetreten (BGH 28, 346 [348]). Das Aufgeben des Tatentschlusses durch einen Mittäter kann diesen nur dann entlasten, wenn dies dem anderen Mittäter vor der Tat bekannt geworden ist (BGH 37, 289 [293]).

4. Abschnitt: Voraussetzungen der Strafbarkeit außerhalb von Unrecht und Schuld Unrecht und Schuld reichen in der Regel als materielle Voraussetzungen der Strafbarkeit aus. Es gibt jedoch Fälle, in denen damit das Strafbedürfnis noch nicht abschließend festgestellt ist, sondern die Entscheidung über die Strafbarkeit der Tat erst aufgrund von Merkmalen fällt, die jenseits von Unrecht und Schuld liegen. Diese zusätzlichen Momente können die Frage der Strafbarkeit betreffen und gehören dann dem materiellen Strafrecht an. Sie sind zu unterscheiden von den ProzeßV or aussetzungen oder Prozeßhindernissen (wie Strafantrag oder Amnestie), die nicht die Strafbarkeit, sondern die Verfolgbarkeit der Tat berühren. Die materiellen Gründe, von denen die Strafbarkeit außer Unrecht und Schuld noch abhängt, sind die persönlichen Strafausschließungs- und Strafaufhebungsgründe (vgl. unten § 52) und die objektiven Bedingungen der Strafbarkeit (vgl. unten § 53). § 52 Die persönlichen Strafausschließungsund Strafaufhebungsgründe Bloy, Die dogmatische Bedeutung der Strafausschließungs- und Strafaufhebungsgründe, 1976; Bulla, Zum Irrtum beim Familiendiebstahl, JuS 1974, 231; Kielwein, Unterlassung und Teilnahme, G A 1955, 225; Koch, Zum Antragsrecht beim „Familiendiebstahl", G A 1962, 304; Peters, Zur Lehre von den persönlichen Strafausschließungsgründen, JR 1949, 496; Rittler y Strafbarkeitsbedingungen, Festgabe für R. v. Frank, Bd. II, 1930, S. 1; Roxin y Rechtfertigungs· und Entschuldigungsgründe in Abgrenzung von sonstigen Strafausschließungsgründen, JuS 1988, 425; Schmidhausen Objektive Strafbarkeitsbedingungen, ZStW 71 (1959) S. 545; Stree, In dubio pro reo, 1962; v. Weber y Das Absehen von Strafe, MDR 1956, 705. I. Das Wesen der persönlichen Ausnahmen von der Strafbarkeit 1. Die persönlichen Ausnahmen von der Strafbarkeit sind Umstände, die weder das geschützte Rechtsgut noch die Begehungsweise der Tat noch die in der Tat bekundete Einstellung des Täters zum Recht betreffen, sondern jenseits von Unrecht und Schuld stehen, aber gleichwohl mit der Person des Täters zusammen-

552

§ 52 D i e persönlichen Strafausschließungs- u n d Strafaufhebungsgründe 1

hängen . Die Strafwürdigkeit der Tat ist in Fällen, in denen solche Umstände in Betracht kommen, an sich zu bejahen, doch geben Unrecht und Schuld hier nicht allein den Ausschlag. Die besonderen persönlichen Ausnahmen haben vielmehr zur Folge, daß das Strafbedürfnis für die Tat von vornherein ausgeschlossen ist oder nachträglich wieder aufgehoben wird 2 . Der Sinngehalt dieser Gegengründe der Bestrafung ist teils außerstrafrechtlicher Natur wie der Schutz der parlamentarischen Rede- und Abstimmungsfreiheit bei der Indemnität der Abgeordneten (vgl. oben § 19 I I 2), teils handelt es sich um spezifisch strafrechtliche Gesichtspunkte wie den Gedanken, daß der Täter wegen des freiwilligen Rücktritts vom Versuch Nachsicht verdient (vgl. oben § 51 13). Der Gesetzgeber besitzt die Freiheit, derartigen Erwägungen Raum zu geben, denn es gilt zwar der Satz „Keine Strafe ohne Schuld", aber nicht auch seine Umkehrung. 2. Einzelne persönliche Umstände außerhalb von Unrecht und Schuld sind nicht als Strafausschließungsgründe ausgestaltet, sondern haben nur die Wirkung von Prozeßvoraussetzungen. So sind Diebstahl und Unterschlagung in Haus und Familie Antragsdelikte (S 247). Dasselbe gilt für Hehlerei (§ 259 II), Betrug (§ 263 IV), Erschleichen von Leistungen (§ 265 a III) und Untreue (§ 266 III). Die nachhaltige Einwirkung auf den Täter durch Lockspitzel wurde in Lehre und Rechtsprechung teilweise als Prozeßhindernis (BGH NStZ 1981, 70; 1981, 394; 1982, 156) angesehen, wird in der neueren Rechtsprechung jedoch als Strafmilderungsgrund eingestuft (BGH 32, 345 [355]; BGH NJW 1986, 75 f.; NStZ 1986, 162). II. Die Arten der persönlichen Ausnahmen von der Strafbarkeit Die persönlichen Ausnahmen von der Strafbarkeit sind entweder Strafausschließungs- oder Strafaufhebungsgründe?. 1. Persönliche Strafausschließungsgründe sind gewisse der Bestrafung entgegenstehende Umstände, die zur Zeit der Tat vorliegen müssen. Hierhin gehört die Indemnität der Abgeordneten (Art. 46 I GG, § 36 StGB) (vgl. oben § 19 I I 2). Die Straflosigkeit der wahrheitsgetreuen Parlamentsberichte (§ 37 StGB) (vgl. oben § 19 I I 3) ist ebenfalls ein Strafausschließungsgrund, bei dem aber die Besonderheit vorliegt, daß er nicht persönlich, sondern sachlich wirkt, so daß er auch den Teilnehmern zugute kommt. Der Kreis der persönlichen Strafausschließungsgründe wird vielfach weiter gezogen, als es hier geschieht. Peters 4 rechnet dazu auch den Fall der unlösbaren Pflichtenkollision (vgl. dagegen oben § 47 I 3). Ferner betrachtet die überwiegende Lehre das Privileg der Minder1 Ebenso Baumann/Weber, Allg. Teil S. 459ff.; Bulla, JuS 1974, 231; Dreher/Tröndle, Vorbem. 17 vor § 32; Eser/Burkhardt, Strafrecht I Nr. 19 A Rdn. 14 ff.; Lackner, Vor-

bem. 29 vor § 13; Roxin, JuS 1988, 432; SK (Rudolphi) Vorbem. 14 vor § 19; Wessels, Allg.

Teil Rdn. 493. Gegen das Merkmal „persönlich" LK n (Hirsch) Vorbem. 225 vor § 32; für Trennung in sachliche und persönliche Merkmale Maurach/Zipf, Allg. Teil I § 35 Rdn. 30ff.; Schönke/Schröder/Lenckner, Vorbem. 131 vor § 32. Richtig ist, daß es auch sachliche Strafausschließungsgründe gibt, z.B. § 37 und § 186, die deswegen auch für Teilnehmer wirken. 2 Ebenso Stratenwerth, Allg. Teil I Rdn. 196f.; Schmidhäuser, Allg. Teil S. 488ff. Dagegen bezieht Roxin, Allg. Teil I § 23 Rdn. 39 das Kriterium der „Strafbedürftigkeit" nur auf seine Verantwortungslehre. Abweichend nimmt Jakobs, Allg. Teil 10/15 „rollenbezogene Bedingungen der Ausschließung von Unrecht oder seiner Straftatbestandlichkeit" an. 3 Die Unterscheidung ist üblich; vgl. Dreher/Tröndle, Vorbem. 17 vor § 32; Roxin, Allg. Teil I § 23 Rdn. 4; Schönke/Schröder/Lenckner, Vorbem. 127, 133 vor § 32; SK (Rudolphi) Vorbem. 14 vor § 19. Dagegen aber LK n (Hirsch) Vorbem. 225 vor § 32. 4

Peters, JR 1949, 498.

I I I . D i e Behandlung der persönlichen Ausnahmen v o n der Strafbarkeit

553

jährigkeit in § 173 III 5 und das Angehörigenprivileg in § 258 VI 6 als persönliche Strafausschließungsgründe (vgl. dagegen oben § 42 II 1). Teilweise wird auch die völkerrechtliche Befreiung der Exterritorialen vom Gerichtszwang als persönlicher Strafausschließungsgrund gedeutet (vgl. dagegen oben § 19 III 2)7. 2. Persönliche Strafaufhebungsgründe sind Umstände, die erst nach Begehung der strafbaren Handlung eintreten und die bereits entstandene Strafbarkeit rückwirkend wieder beseitigen. Hauptbeispiel ist der Rücktritt vom Versuch nach §§ 24, 31, 159 (RG 16, 347; 37, 402 [405]; 56, 149 [150]), dem der ausnahmsweise strafbefreiende Rücktritt von vollendeter Tat, von selbständigen Vorbereitungshandlungen und von Unternehmensdelikten (vgl. oben § 51 V) zur Seite tritt. In manchen Fällen des Rücktritts ist nicht Straflosigkeit, sondern nur Strafmilderung oder das Absehen von Strafe vorgesehen (z.B. §§ 83a, 84 V, 87 III, 158 1, 316a II) 8 . Ein persönlicher Strafaufhebungsgrund ist ferner der Erlaß der Strafe nach Ablauf der Bewährungszeit (§§ 56 g I 1, 57 III). Dagegen haben eine Doppelnatur die Begnadigung, die Amnestie und die Strafverfolgungsverjährung: sie sind sowohl Strafaufhebungsgründe als auch Prozeßhindernisse . Auch der Kreis der persönlichen Strafaufhebungsgründe wird zum Teil weiter gezogen, als es hier geschieht. So erscheinen vielfach das Angehörigenprivileg 10 und die Sondervorschrift für Rechtsanwälte, Verteidiger und Ärzte 11 in § 139 III 2 sowie die Ausübung der Wahlmöglichkeit12 in § 139 IV als persönliche Strafaufhebungsgründe. Es handelt sich jedoch im ersten Fall um einen Entschuldigungsgrund (vgl. oben § 42 II 1), im zweiten um den Rechtfertigungsgrund des Berufsgeheimnisses 13, im dritten um den Ausschluß der Tatbestandsmäßigkeit der unterlassenen Verbrechensanzeige14. III. Die Behandlung der persönlichen Ausnahmen von der Strafbarkeit 1. Da die persönlichen Strafausschließungsgründe außerhalb von Unrecht und Schuld stehen, braucht sich weder der Vorsatz des Täters noch die Verbotskenntnis 5 § 173 Rdn. 8; Lackner, So z.B. Baumann/Weber, Allg. Teil S. 461; Dreher/Tröndle, § 173 Rdn. 7; Schönke/Schröder/Lenckner, § 173 Rdn. 9. 6 § 258 Rdn. 16; Lackner, § 258 Rdn. 17; Maurach/Schroeder/MaiSo Dreher/Tröndle,

wald, Bes. Teil II § 100 Rdn. 24; Schönke/Schröder/Stree, § 258 Rdn. 39. Wie der Text LK n (Hirsch) Vorbem. 227 vor § 32; SK (Rudolphi) Vorbem. 10 vor § 19. 7 Zu den materiellrechtlichen Bestrafungshindernissen außerhalb von Unrecht und Schuld zählt Bloy, Die dogmatische Bedeutung S. 57, 73, 87, 211 Exterritorialität, Indemnität und Immunität (soweit es sich nicht bloß um die Unzulässigkeit der Verhaftung handelt) sowie den Gnadenerweis. Einen Gesamtüberblick gibt LK 11 (Hirsch) Vorbem. 226 vor § 32. 8 Absehen von Strafe bedeutet nicht Freispruch, sondern Schuldspruch ohne Strafausspruch, vgl. dazu v. Weber, MDR 1956, 707. Der Unterschied liegt, abgesehen vom Inhalt der Entscheidung, auch darin, daß der Angeklagte bei Absehen von Strafe als verurteilt gilt und daher nach § 465 I 2 StPO die Verfahrenskosten zu tragen hat. 9 Ebenso Baumann/Weber, Allg. Teil S. 462; Dreher/Tröndle, Vorbem. 4 vor § 78; SK (Rudolphi) Vorbem. 10 vor § 78; Jakobs, Allg. Teil 10/22; für reine Prozeßhindernisse aber Maurach/Gössel/Zipf, Allg. Teil II § 75 Rdn. 15; LK 10 (Jähnke) Vorbem. 9 vor § 78; Roxin, Allg. Teil I § 23 Rdn. 57; Schönke/Schröder/Stree, Vorbem. 3 vor § 78. 10

So Dreher/Tröndle,

§ 139 Rdn. 6; Lackner, § 139 Rdn. 3; Maurach/Schroeder/Mai-

wald, Bes. Teil II § 98 Rdn. 26. 11 So Maurach/Schroeder/Maiwald, 12

13

Bes. Teil II § 98 Rdn. 26; Welzel, Lehrbuch S. 518.

So Lackner, § 139 Rdn. 4.

So Dreher/Tröndle, § 139 Rdn. 7. Nach Kielwein, GA 1955, 231 ist die Unterlassung in diesem Falle nicht einmal tatbestandsmäßig. 14

So Schönke/Schröder/

Cramer,

§ 139 Rdn. 6.

554

ie objektiven Bedingungen der Strafbarkeit

auf sie zu beziehen. Es kommt nur auf ihr objektives Vorhandensein an, ein Irrtum in dieser Richtung ist unbeachtlich15. Beispiel: Auch der Abgeordnete, der die Regelung der Indemnität nicht kennt, kann bei Vorliegen der Voraussetzungen des § 36 nicht bestraft werden. Umgekehrt begründet die Annahme eines Abgeordneten, auch Verleumdungen seien durch § 36 der Strafbarkeit entzogen, keinen strafrechtlich relevanten Irrtum. 2. Die persönlichen Strafausschließungs- und Strafaufhebungsgründe sind Umstände, die nur auf diejenigen Beteiligten an einer Straftat anzuwenden sind, bei denen sie zutreffen (§ 28 II) (vgl. unten § 61 V I I 4acc) 16 . Beispiel: Wenn von mehreren Beteiligten am Versuch einer Geldfälschung (§ 146) einer zurücktritt, bleiben die anderen strafbar (RG 59, 412). 3. Da die persönlichen Strafausschließungs- und Strafaufhebungsgründe als Merkmale der Strafbarkeit zum materiellen Strafrecht gehören, kann kein Zweifel sein, daß auf sie auch der Grundsatz „in dubio pro reo" (vgl. oben § 16 I I 1) Anwendung findet 17 . Dasselbe muß für den Fall der Amnestie gelten 18 . Beispiel: Wenn nicht festgestellt werden kann, ob der Abgeordnete die beleidigende Äußerung in einer Ausschußsitzung des Bundestags oder während einer Pause getan hat, ist § 36 anzuwenden. § 53 Die objektiven Bedingungen der Strafbarkeit Bemmann, Zur Frage der objektiven Bedingungen der Strafbarkeit, 1957; derselbe, Welche Bedeutung hat das Erfordernis der Rauschtat im § 330 a StGB, G A 1961, 65; Bloy, Die dogmatische Bedeutung der Strafausschließungs- und Strafaufhebungsgründe, 1976; Bockelmann, Bedingungen der Strafbarkeit, Niederschriften, Bd. V, S. 84; H. Bruns, Kritik der Lehre vom Tatbestand, 1932; H.-J. Bruns, Die Strafzumessung bei Vollrauschdelikten (§ 323 a StGB), Festschrift für K. Lackner, 1987, S. 439; Cramer, Der Vollrauschtatbestand als abstraktes Gefährdungsdelikt, 1962; Finger, Tatbestandsmerkmale und Bedingungen der Strafbarkeit, G A 50 (1903) S. 32; Frister, Schuldprinzip, Verbot der Verdachtsstrafe und Unschuldsvermutung usw., 1988; Hardwig, Studien zum Vollrauschtatbestand, Festschrift für Eb. Schmidt, 1961, S. 459; derselbe, Der Vollrauschtatbestand, G A 1964, 140; Haß, Die Entstehungsgeschichte der objektiven Strafbarkeitsbedingung, Diss. Kiel 1969; derselbe, Zu Wesen und Funktion der objektiven Strafbarkeitsbedingung usw., Rechtstheorie 3 (1972) S. 23; Hegler, Die Merkmale des Verbrechens, ZStW 36 (1915) S. 184; Hirsch, Ehre und Beleidigung, 1967; derselbe, Zur Problematik des erfolgsqualifizierten Delikts, G A 1972, 65; Jescheck, Straftaten gegen das Ausland, Festschrift für Th. Rittler, 1957, S. 275; Kantorowicz, Tat und Schuld, 1933; Armin Kaufmann, Lebendiges und Totes in Bindings Normentheorie, 1954; Arthur Kaufmann, Zur Frage der Beleidigung von Kollektivpersönlichkeiten, ZStW 72 (1960) S. 418; derselbe, Unrecht und Schuld beim Delikt der Volltrunkenheit, JZ 1963, 425; Hilde Kaufmann, Strafanspruch, Strafklagrecht, 1968; Krause, Die objektiven Bedingungen der Strafbarkeit, Jura 1980, 449; Lackner, Vollrausch und Schuldprinzip, JuS 1968, 215; Land, System der äußeren Strafbarkeitsbedingungen, Strafr. Abh. Heft 229, 1927; Lange, Die Behandlung 15 Vgl. BGH 23, 281; OLG Stuttgart MDR 1970, 162; Baumann/Weber, Allg. Teil S. 460; LK n (Hirsch) Vorbem. 228 vor § 32; Roxin, Allg. Teil I § 23 Rdn. 30; Dreher/Tröndle, § 16 Rdn. 31; Schmidhäuser, ZStW 71 (1959) S. 559. Differenzierend für die im Schuldbereich wurzelnden Strafausschließungsgründe Schönke/Schröder/Lenckner, Vorbem. 132 vor § 32; Wessels, Allg. Teil Rdn. 499. 16 Vgl. Rittler, Frank-Festgabe Bd. II S. 8; Schönke/Schröder/Lenckner, Vorbem. 131 vor §32. 17 Vgl. BayObLG NJW 1961, 1222; Peters, JR 1949, 499; Stree, In dubio pro reo S. 29ff.; Schönke/Schröder/Lenckner, Vorbem. 131 vor § 32. Vgl. auch Koch, GA 1962, 304. 18

Vgl. Stree, In dubio pro reo S. 73; Dreher/Tröndle,

Vorbem. 17 vor § 32; Schönke/

Schröder/Lenckner, Vorbem. 134 vor § 32. Dagegen aber RG 56, 49 (50); 71, 259 (263); BGH JZ 1951, 655. Differenzierend BGH NJW 1958, 392; OLG Hamm NJW 1955, 75, 644.

I. Begriff u n d F u n k t i o n der objektiven Bedingungen der Strafbarkeit

555

der Volltrunkenheit in der Strafrechtsreform, JR 1957, 242; Lang-Hinrichsen, Zur Frage der Zurechnung von Folgen der Straftat bei der Strafzumessung, G A 1957, 1; derselbe, Zur Krise des Schuldgedankens im Strafrecht, ZStW 73 (1961) S. 210; H. Mayer, Die folgenschwere Unmäßigkeit (§ 330a StGB), ZStW 59 (1940) S. 283; Montenbruck, Zur „Beteiligung an einer Schlägerei", JR 1986, 138; Müller-Dietz, Grenzen des Schuldgedankens im Strafrecht, 1967; Radbruch, Tat und Schuld, SchwZStr 51 (1937) S. 249; Rittler, Strafbarkeitsbedingungen, Festgabe für R. v. Frank, Bd. II, 1930, S. 1; Roeder, Wahrheitsbeweis und Indiskretionsdelikt, Festschrift für R. Maurach, 1972, S. 347; Roxin, Strafverfahrensrecht, 23. Auflage 1993; Sauer, Die beiden Tatbestandsbegriffe, Festschrift für E. Mezger, 1954, S. 117; Sax, „Tatbestand" und Rechtsgutsverletzung, JZ 1976, 9; Schaad, Die objektiven Strafbarkeitsbedingungen im Schweiz. Straf recht, 1964; Schmidhäuser, Objektive Strafbarkeitsbedingungen, ZStW 71 (1959) S. 545; Schwalm, Gibt es objektive Strafbarkeitsbedingungen? MDR 1959, 906; Schweikert, Strafrechtliche Haftung für riskantes Verhalten? ZStW 70 (1958) S. 394; Stratenwerth, Objektive Strafbarkeitsbedingungen im Entwurf eines StGB 1959, ZStW 71 (1959) S. 565; Stree, Objektive Bedingungen der Strafbarkeit, JuS 1965, 465; Tiedemann, Objektive Strafbarkeitsbedingungen und die Reform des deutschen Konkursstrafrechts, ZRP 1975, 129; derselbe, Grundfragen bei der Anwendung des neuen Konkursstrafrechts, NJW 1977, 777; Volk, Prozeßvoraussetzungen im Strafrecht, 1978; v. Weber, Die strafrechtliche Verantwortlichkeit für die Rauschtat, Festschrift für U. Stock, 1966, S. 59; Welzel, Der Irrtum über die Rechtmäßigkeit der Amtsausübung, JZ 1952, 19; Zimmerl, Zur Lehre vom Tatbestand, Strafr. Abh. Heft 237, 1928. I. Begriff und Funktion der objektiven Bedingungen der Strafbarkeit 1. Objektive Bedingungen der Strafbarkeit sind Umstände, die in unmittelbarem Zusammenhang mit der Tat stehen, aber weder zum Unrechts- noch zum Schuldtatbestand zählen1. Sie gehören sämtlich zu den materiellen Voraussetzungen der Strafbarkeit, weisen aber unter sich erhebliche Verschiedenheiten auf, da sie teilweise eine echte Sondergruppe bilden, teilweise aber den Tatbestandsmerkmalen nahe stehen. Trotz dieser Unterschiede werden sie sämtlich nach demselben Prinzip behandelt: für die Frage der Strafbarkeit kommt es allein auf die Tatsache ihres Vorliegens oder NichtVorliegens an, während Vorsatz und Fahrlässigkeit sich nicht auf sie zu beziehen brauchen 2. Das bedeutet, daß der Täter strafbar ist, wenn die objektive Bedingung bei der Tat gegeben ist oder später eintritt, selbst wenn er sie nicht gekannt hat bzw. ihren Eintritt nicht voraussehen konnte, daß er aber auch nicht wegen Versuchs bestraft werden kann, wenn er an das Vorliegen oder den Eintritt der objektiven Bedingung geglaubt hat, während sie in Wirklichkeit fehlte oder ausgeblieben ist. 2. Ein zutreffendes Bild von der Funktion der objektiven Bedingungen der Strafbarkeit läßt sich nur gewinnen, wenn man verschiedene Fallgruppen unterscheidet 3. 1

Vgl. Blei, Allg. Teil S. 87; Dreher/Tröndle, § 16 Rdn. 32; Bockelmann/Volk, Allg. Teil S. 31 f.; Schmidhäuser, ZStW 71 (1959) S. 558; Kantorowicz, Tat und Schuld S. 237ff.; LK 9 (Hirsch) Vorbem. 188 vor § 51; Maurach/Zipf, Allg. Teil I § 21 Rdn. 16; Schönke/Schröder/ Lenckner, Vorbem. 124 vor § 13; SK (Rudolphi) Vorbem. 13 vor § 19; WK (Nowakowski)

Vorbem. 72 vor § 3; Wessels, Allg. Teil Rdn. 148. Dagegen betont Sax, JZ 1976, 14ff. gerade ihre Zugehörigkeit zum Unrechtstatbestand. Nach Jakobs, Allg. Teil 10/6 gehören „die Bedingungen jedenfalls nicht zum Unrechtstatbestand". 2 Ihre Herkunft erklärt Haß, Entstehungsgeschichte S. 71 aus dem „Zweck, § 59 auszuschalten"; vgl. auch derselbe, Rechtstheorie 3 (1972) S. 33. Überblick bei Krause, Jura 1980, 449. 3 Vgl. die Kritik von Armin Kaufmann, Normentheorie S. 213 an dem „Sammelbegriff für Merkmale, deren richtige Eingruppierung zweifelhaft ist"; ferner Maurach/Zipf, Allg. Teil I § 21 Rdn. 21; M. E. Mayer, Lehrbuch S. 101. Die Einteilung in unechte und echte StrafbarAllg. Teil S. 194 und keitsbedingungen findet sich auch bei Krause, Jura 1980, 452; Tnffterer, Wessels, Allg. Teil Rdn. 149.

556

ie objektiven Bedingungen der Strafbarkeit

a) Die echten Strafbarkeitsbedingungen sind reine Strafeinschränkungsgründe, sie sind darum auch vom Schuldprinzip her nicht zu beanstanden. Man kann sie als das sachliche Gegenstück zu den persönlichen Strafausschließungsund Strafaufhebungsgründen betrachten (vgl. oben § 52), mit denen sie im Verbrechensaufbau auf der gleichen Stufe stehen (vgl. B G H 11, 273 [274]) 4 . Der Gesetzgeber verneint in bestimmten Fällen, obwohl Unrecht und Schuld an sich gegeben sind, das Strafbedürfnis, wenn nicht noch ein weiterer Umstand hinzutritt, der entweder die Tat selbst oder die Entwicklung nach der Tat betreffen kann und dieser ein objektiv größeres Gewicht gibt 5 , das erst die kriminalpolitische Notwendigkeit der Strafe begründet 6 . Beispiel: So werden ausländische Staaten gegen Angriffe nach §§ 102 ff. nur dann geschützt, wenn durch das Bestehen diplomatischer Beziehungen und die Verbürgung der Gegenseitigkeit ein Mindestmaß an politisch-völkerrechtlichem Kontakt garantiert ist (§ 104 a), weil sonst die Strafe kriminalpolitisch sinnlos wäre7. Der Unterschied zwischen den Strafbarkeitsbedingungen und den persönlichen Strafausschließungs- und Strafaufhebungsgründen (vgl. oben § 52) besteht darin, daß diese an besondere persönliche Voraussetzungen der Beteiligten gebunden sind, während beim Fehlen einer objektiven Bedingung die Tat für jedermann straflos ist. Von den Erfolgsqualifikationen (vgl. oben § 26 I I 1 a) unterscheiden sich die Strafbarkeitsbedingungen dadurch, daß jene strafschärfende Merkmale des Unrechtstatbestandes sind, die wenigstens durch Fahrlässigkeit herbeigeführt sein müssen (§ 18) oder Leichtfertigkeit voraussetzen, während die Strafbarkeitsbedingungen außerhalb von Unrecht und Schuld stehen. Abweichende Lehrmeinungen zu den echten Strafbarkeitsbedingungen sind selten. Sauer 8, Land 9 und Sax 10 rechnen die objektiven Bedingungen der Strafbarkeit wegen ihrer engen Verknüpfung mit dem Tatunrecht zum Tatbestand. Eine mit dem Text im Prinzip übereinstimmende, im einzelnen aber abweichende Unterteilung des ganzen Komplexes in Unrechtsmerkmale, objektive Schuldmerkmale und echte Strafbarkeitsbedingungen hat Zimmerl 11 vorgenommen. Bemmann12 lehnt die objektiven Strafbarkeitsbedingungen ganz ab, weil es im Rahmen des Verbrechensaufbaus für sie weder einen Platz noch eine Funktion gebe. 4

5

Vgl. Stree, JuS 1965, 467.

Vgl. Gallas, Niederschriften Bd.V S.104. So die h.L.; Finger, GA 50 (1903) S. 43 („äußere Bedingungen der Strafbarkeit"); Hegler, ZStW 36 (1915) S. 223 ff.; Lang-Hinnchsen, GA 1957, 9; Radbruch, SchwZStr 51 (1937) S. 254 f.; Rittler, Frank-Festgabe Bd. II S.15; Schmidhäuser, ZStW 71 (1959) S. 561; derselbe, Allg. Teil S. 484f.; Schwalm, MDR 1959, 906; Stratenwerth, ZStW 71 (1959) S. 567; Stree, JuS 1965, 467; Schaad, Objektive Strafbarkeitsbedingungen S. 36; Bloy, Die dogmatische Bedeutung S. 224 Fußnote 42. 7 Entgegen der Wortfassung des § 104 a, der für Prozeß Voraussetzungen spricht, werden die beiden genannten Merkmale von der h.L. als objektive Bedingungen der Strafbarkeit aus6

gelegt; vgl. Jescheck, Rittler-Festschrift S. 282; Kohlrausch/Lange, § 104a Anm. I; Maurach/ Schroeder/Maiwald, Bes. Teil I I § 91 Rdn. 10; Schönke/Schröder/Eser, § 104a Rdn. 2; LK n (Laufhütte) § 104a Rdn. 2, 3; Dreh er/Tröndle, § 104a Rdn. 1; Lackner, § 104a Rdn. 1; SK

(Rudolphi) Vorbem. 13 vor § 19. Für Prozeßvoraussetzungen dagegen Bemmann, Bedingungen der Strafbarkeit S. 31. 8 Vgl. Sauer, Grundlagen S. 335 ff.; derselbe, Mezger-Festschrift S. 118. 9 Vgl. Land, Strafbarkeitsbedingungen S. 22 ff. 10 Vgl. Sax, JZ 1976, 16 („Tatbestandselemente, weil sie die dem Unrechtstatbestand als Tatbestandsteil zugehörige Rechtsgutsverletzung mitbestimmen"). 11 Vgl. Zimmerl, Lehre vom Tatbestand S. 24 ff. 12 Vgl. Bemmann, Bedingungen der Strafbarkeit S. 52 ff. Dagegen bezieht sich die Kritik von Bockelmann, Niederschriften Bd.V S. 84ff. nicht auf die echten Strafbarkeitsbedingungen (vgl. Niederschriften Bd.V S. 91).

I. Begriff u n d F u n k t i o n der objektiven Bedingungen der Strafbarkeit

557

b) Neben den echten gibt es unechte Strafbarkeitsbedingungen, die praktisch eine größere Rolle spielen als jene und gegen die sich die eigentlichen dogmatischen Bedenken richten. Dabei handelt es sich einmal um verkappte Strafschärfungsgründe, die ihrem Wesen nach zum Unrechtstatbestand gehören, aber formell als Strafbarkeitsbedingungen ausgestaltet sind, weil sie der Gesetzgeber von dem Erfordernis der Vorsatz- bzw. Fahrlässigkeitsbeziehung unabhängig machen wollte. Der Sache nach stellen sie Einschränkungen des Schuldprinzips aus kriminalpolitischen Gründen dar 13 . Beispiele: Beim Vollrausch (§ 323 a) ist Strafgrund an sich nur die vorsätzliche oder fahrlässige Berauschung, während die Rauschtat selbst objektive Bedingung der Strafbarkeit ist 14 . Das Gesetz verknüpft die Höhe der Strafe jedoch mit der Strafdrohung der im Rauschzustand begangenen Tat (§ 323 a II). Dadurch wird deutlich, daß die Rauschtat den Unrechtsgehalt des § 323 a mit bestimmt. Konsequenterweise müßten sich dann auch Vorsatz oder Fahrlässigkeit auf die Rauschtat beziehen. Dasselbe gilt für die Strafbarkeit des Raufhandels (§ 227), obwohl das Gefährlichkeitspotential hier größer ist als beim selbstverschuldeten Vollrausch15. Nach geltendem Recht kann das Schuldprinzip in diesen Fällen nur dadurch gewahrt werden, daß sich der Richter bei der Strafzumessung im untersten Bereich hält, wenn der Täter mit dem Eintritt der objektiven Bedingung der Strafbarkeit nicht rechnen konnte16. Zum anderen finden sich als unechte Strafbarkeitsbedingungen Merkmale, die in Wirklichkeit nichts anderes als verschleierte strafbegründende Tatumstände darstellen und ebenfalls allein aus kriminalpolitischen Gründen formell aus dem Unrechts- und Schuldzusammenhang ausgegliedert sind. Beispiel: Nach § 186 wird wegen übler Nachrede bei Nichterweislichkeit der Wahrheit auch bestraft, wer an die Wahrheit seiner Äußerung geglaubt hat17' 1 8 . 13 Wegen Verletzung des Schuldprinzips hält Frister, Schuldprinzip S. 53 ff., 59 ff., 64 ff., die §§ 323 a, 227, 186 für verfassungswidrig. 14 Vgl. dazu BGH 16, 124 (125 f.); 187 (190); 20, 284; Bemmann, GA 1961, 69; Bockelmann, Niederschriften Bd. VIII S. 147; H.-J. Bruns, JZ 1958, 108; Cramer , Der Vollrauschtatbestand S. 108 ff.; Hardwig, G A 1964, 142 ff.; derselbe, Eb. Schmidt-Festschrift S. 466 ff.;

Arthur Kaufmann, JZ 1963, 428 ff.; Lackner, JuS 1968, 216ff.; Maurach/Schroeder/Maiwald,

Bes. Teil II § 96 Rdn. 4; Müller-Dietz, Schuldgedanke S. 77; Schönke/Schröder /Cramer, § 323a Rdn. 1, 13. Dagegen faßt H Mayer, ZStW 59 (1940) S. 307ff. § 330a a.F. als erfolgsqualifiziertes Delikt auf. Eine Art von konkretem Gefährdungsdelikt sehen darin Lange, JR 1957, 242 und Welzel, Lehrbuch S. 474; in dieser Richtung auch BGH 10, 247 (250). Fahrlässigkeit hinsichtlich der im Rausch begangenen Tat verlangt Roxin, Allg. Teil I § 23 Rdn. 9. LK 10 (Spendel) § 323 a Rdn. 61 sieht die Rauschtat als unwiderlegliche Beweistatsache für die Gefährlichkeit des Vollrauschs im konkreten Fall an. Für die Herausnahme der selbstverschuldeten Trunkenheit aus dem § 51 a.F. im Anschluß an das italienische Recht v. Weber, Stock-Festschrift S. 73. 15 Für objektive Bedingung der Strafbarkeit BGH 33, 100 (103); Dreh er/Tröndle, § 227 Rdn. 5; Lackner, § 227 Rdn. 5; Stree, JuS 1965, 472. Dagegen verlangen Roxin, Allg. Teil I 10 § 23 Rdn. 12 und LK (Hirsch) § 227 Rdn. 1 zumindest Voraussehbarkeit der schweren Folge. Eine verfassungskonforme Auslegung versucht Montenbruck, JR 1986, 140. 16 Vgl. Lackner, § 323a Rdn. 16; SK (Horn) § 323a Rdn. 23; Bruns, Lackner-Festschrift S. 443 ff. 17 Für objektive Bedingung der Strafbarkeit BGH 11, 273 (274); Baumann/Weber, Allg. Teil S. 466 Fußnote 10; Lackner, § 186 Rdn. 7; Maurach/Zipf, Allg. Teil I § 21 Rdn. 21; Roeder, Maurach-Festschrift S. 356f.; Schönke/Schröder/Lenckner, § 186 Rdn. 10. Dagegen verlangt Hirsch, Ehre und Beleidigung S. 152 ff., daß der Täter in bezug auf die Wahrheit mindestens sorgfaltswidrig gehandelt hat; ebenso Roxin, Allg. Teil I § 23 Rdn. 19. 18 Zur Bedeutung der „Diensthandlung" in § 113 vgl. die Ubersichten bei Schönke/Schröder/Eser, § 113 Rdn. 1 und bei Lackner, § 113 Rdn. 17. Als Erklärung kommt jedenfalls eine objektive Bedingung der Strafbarkeit nicht mehr in Betracht (so früher aber BGH 4, 161 [163]).

558

§ 53 D i e objektiven Bedingungen der Strafbarkeit

Die Bedenken, die gegen die unechten Strafbarkeitsbedingungen vom Schuldprinzip her zu erheben sind, lassen sich teilweise durch die Erwägung ausräumen, daß der Täter das für jedermann ohne weiteres erkennbare Risiko eingeht, daß die objektive Strafbarkeitsbedingung gegeben sein könnte 19 . Beispiele: Wer sich in einen die Schuldfähigkeit ausschließenden Rausch versetzt, begründet damit vorwerfbar die Gefahr, daß er in diesem Zustand Straftaten begeht, da niemand seine Reaktionen im Zustand der Volltrunkenheit sicher voraussehen und beherrschen kann. Wer eine ehrenrührige Tatsache über einen Dritten behauptet, muß dafür einstehen, daß er die Wahrheit beweisen kann. Wer sich in eine Schlägerei einläßt, begründet die Gefahr einer schweren Folge. 3. Die objektiven Bedingungen der Strafbarkeit sind von den Prozeß Voraussetzungen zu unterscheiden 2 . In den Strafbarkeitsbedingungen ist der jeweils vorausgesetzte besondere Grad der Beeinträchtigung der rechtlich geschützten Ordnung ausgedrückt, während die Prozeßvoraussetzungen auf Umstände Rücksicht nehmen, die mit der „Sicherung des Rechtsfriedens" in Zusammenhang stehen21. Beim Fehlen einer Strafbarkeitsbedingung im Zeitpunkt der Hauptverhandlung ergeht Freispruch, beim Fehlen einer Prozeßvoraussetzung wird das Verfahren eingestellt. Beispiel: Während bei den Straftaten gegen ausländische Staaten (§§ 102 ff.) das Bestehen diplomatischer Beziehungen und die Verbürgung der Gegenseitigkeit objektive Bedingungen der Strafbarkeit sind, stellen das Strafverlangen des verletzten ausländischen Staates und die Ermächtigung der Bundesregierung (§ 104 a) Prozeßvoraussetzungen dar, die aus politischen Gründen aufgestellt sind, da die Durchführung des Strafverfahrens mehr schaden als nützen kann, wenn die beteiligten Staaten es nicht wollen22. II. Die einzelnen objektiven Bedingungen der Strafbarkeit Die Einordnung aller als objektive Bedingungen der Strafbarkeit bezeichneten Merkmale 23 in das durch ihre Funktion bestimmte Schema bereitet keine Schwierigkeiten. 1. Echte objektive Bedingungen der Strafbarkeit sind nach h.L. das Bestehen diplomatischer Beziehungen und die Verbürgung der Gegenseitigkeit bei den Straftaten gegen ausländische Staaten (§ 104a)24. Hierhin gehören jetzt auch die Zahlungseinstellung, Konkurseröffnung und Ablehnung des Eröffnungsantrags mangels Masse nach §§ 283 VI, 283 b II, 283 c III, 283 d IV, weil der Unrechtstatbestand dieser Vorschriften bereits an sich strafwürdige Verhaltensweisen beschreibt, so daß die objektive Bedingung der Strafbarkeit nur noch einen Strafeinschränkungsgrund darstellt (vgl. zum früheren Recht 2. Auflage S. 423)25. Eine allgemeine (nicht an einen bestimmten Tatbestand gebundene) Bedingung der Strafbarkeit ist das 19 Vgl. dazu im Anschluß an H. Bruns, Kritik der Lehre vom Tatbestand S. 32 ff. näher Schweikert, ZStW 70 (1958) S. 408; ferner Baumann/Weber, Allg. Teil S. 464; Hardwig, Eb. Schmidt-Festschrift S. 459 Fußnote 2; Lackner, Rösch, Schäfer, Niederschriften Bd.V S. 93, 106, 108; Wessels, Allg. Teil Rdn. 149; Krause, Jura 1980, 449ff. Dagegen Lang-Hinnchsen, ZStW 73 (1961) S. 221 f. 20 Vgl. Schmidhäuser, ZStW 71 (1959) S. 550ff.; Dreh er/Tröndle, Vorbem. 19 vor § 32; LK n (Hirsch) Vorbem. 229f. vor § 32; Kleinknecht/ Meyer-Goßner, StPO Einl. Rdn. 141 ff. 21 So Volk, Prozeßvoraussetzungen S. 204. Gegen die hypothetische „Testformel" von Hilde Kaufmann, Strafanspruch S. 134 bestehen Bedenken, die besonders beim Strafantrag deutlich werden (S. 152 ff.). Vgl. dazu auch Stratenwerth, Allg. Teil I Rdn. 197. 22

23 24 25

LK n

(Laußütte)

§ 104a Rdn. 4ff.

Vgl. den Überblick bei LK 9 (Hirsch) Vorbem. 188 vor § 51. Vgl. oben § 53 Fußnote 7. V g l . Tiedemann,

Z R P 1975, 132 ff. u n d N J W 1977, 782.

I I I . D i e Behandlung der objektiven Bedingungen der Strafbarkeit

559

Gegebensein der deutschen Strafgewalt nach den Regeln des internationalen Strafrechts (vgl. oben § 18 V) 26 . 2. Bei den unechten objektiven Bedingungen der Strafbarkeit

ist zwischen Umständen zu

unterscheiden, die in Wahrheit Strafschärfungsgründe sind, und anderen, die sich als strafbegründende Merkmale darstellen. In allen diesen Fällen handelt es sich um Einschränkungen des Schuldprinzips, die nur bis zu einem gewissen Grade durch den Risikogedanken gerechtfertigt werden können. a) Unechte objektive Bedingungen der Strafbarkeit, die der Sache nach Strafschärfungsgründe darstellen, sind der Eintritt der schweren Folge beim Raufhandel (§ 227 I) 2 7 und die Begehung der Rauschtat beim Vollrausch (§ 323 a)28. In diesen Fällen weist schon das vom Schulderfordernis umfaßte Grundverhalten ein gewisses Maß an Strafwürdigkeit auf, weil dadurch eine Gefährdung der Allgemeinheit oder bestimmter einzelner Personen herbeigeführt wird. Formell wird die Strafbarkeit der Tat aber erst durch den Eintritt der Strafbarkeitsbedingung begründet. Die Tatsache, daß die Strafdrohung den Schuldgehalt des Grundverhaltens erheblich übersteigt, zeigt jedoch, daß es sich materiell um Strafschärfungsgründe handelt, die aus dem Unrechts- und Schuldzusammenhang herausgelöst sind. b) Einzige unechte objektive Bedingung der Strafbarkeit, die der Sache nach ein strafbegründendes Tatbestandsmerkmal darstellt, ist die Nichterweislichkeit der Wahrheit der behaupteten Tatsache bei der üblen Nachrede (§ 186). Die rechtliche Stellung der Nichterweislichkeit der Wahrheit im Rahmen des § 186 ist besonders umstritten 29. Geht man davon aus, daß Strafgrund der üblen Nachrede nicht die Beeinträchtigung des guten Rufs, sondern die Gefährdung des verdienten Geltungsanspruchs des Beleidigten ist, kann die Unwahrheit der ehrenrührigen Behauptung nur Tatbestandsmerkmal sein, weil der Unrechtsgehalt der Tat in der Behauptung einer unwahren Tatsache liegt. Andererseits wäre es mit einem wirksamen Ehrenschutz nicht zu vereinbaren, wenn der in seiner Ehre Betroffene faktisch die Unwahrheit der gegen ihn erhobenen Vorwürfe beweisen müßte. Dies zwingt den Gesetzgeber dazu, die Strafvorschrift so zu gestalten, daß der Beleidiger zu verurteilen ist, wenn er den Wahrheitsbeweis nicht zu führen vermag, mag er auch im guten Glauben an die Wahrheit der behaupteten Tatsache gehandelt haben. Die Nichterweislichkeit muß deshalb als (unechte, und zwar strafbegründende) Bedingung der Strafbarkeit angesehen werden30. III. Die Behandlung der objektiven Bedingungen der Strafbarkeit 1. Die objektiven Strafbarkeitsbedingungen sind Umstände, die außerhalb des Unrechts- und Schuldtatbestandes stehen, von deren Vorliegen aber die Strafbarkeit der Tat und die Möglichkeit der Teilnahme abhängen. Da sie nicht zum Tatbestand gehören, brauchen sich weder Vorsatz noch Fahrlässigkeit auf sie zu erstrecken. Der Irrtum ist demgemäß rechtlich ohne Bedeutung. Auch die unechten objektiven Strafbarkeitsbedingungen werden so behandelt, als ob sie nicht zum Unrechtstatbestand gehörten, weil sie der Gesetzgeber aus kriminalpolitischen Gründen aus dem Vorsatz- bzw. Fahrlässigkeitszusammenhang herausgelöst hat (vgl. B G H 21, 334 [364 ff.]) 31 . 26

Kantorowicz, Tat und Schuld S. 236 (Tabelle Ziff. 1); Mezger, Lehrbuch S. 178. Vgl. BGH 14, 132 (134 f.); 15, 369 (370); 33, 100 (103); Maurach/Schroeder/Maiwald, Bes. Teil I § 11 Rdn. 7; Schönke/Schröder/Stree, § 227 Rdn. 1. Dagegen hält Bemmann, Bedingungen der Strafbarkeit S. 45 den Eintritt der schweren Folge für ein Tatbestandsmerk10 mal. Hirsch, GA 1972, 77 und LK (Hirsch) § 227 Rdn. 1, 15 versteht die Vorschrift als Vorsatz-Sorgfaltswidrigkeitskombination, ebenso Roxin, Allg. Teil I § 23 Rdn. 12. 28 Vgl. oben § 53 Fußnote 15. 29 Vgl. oben § 53 Fußnote 17. Nach Arthur Kaufmann, ZStW 72 (1960) S. 437 hat das Merkmal der Nichterweislichkeit die rein prozessuale Funktion der Umkehrung des Beweisrisikos. 30 Über die Begründung der Strafbarkeit der üblen Nachrede (§ 186) durch den Risikogedanken vgl. Hardwig, Eb. Schmidt-Festschrift S. 462; Hirsch, Ehre und Beleidigung S. 169. 27

31

Vgl. Schönke/Schröder /Cramer,

dolphi) Vorbem. 13 vor § 19.

§ 16 Rdn. 35; Dreh er/Tröndle,

§ 16 Rdn. 32; SK (Ru-

ie objektiven Bedingungen der Strafbarkeit

560

2. Der Eintritt der objektiven Strafbarkeitsbedingungen ist für Ort und Zeit der Tat gleichgültig. Deswegen ist im Falle der Unterstützung des Täters durch einen anderen nach Beendigung der Tat, aber vor dem Eintritt der Bedingung Begünstigung (§ 257) bzw. Strafvereitelung (§ 258) und nicht Beihilfe anzunehmen32. 3. Die objektiven Strafbarkeitsbedingungen nehmen dagegen an allen für die Tatbestandsmerkmale aufgestellten rechtsstaatlichen Sicherungen teil. Für sie gelten die Garantiefunktion des Strafgesetzes (vgl. oben § 15 I I I 2 c), die Erfordernisse des Strengbeweises im Strafverfahren (§§ 244, 261 StPO) und die Notwendigkeit der Zweidrittelmehrheit bei allen dem Angeklagten nachteiligen Entscheidungen des Gerichts (§ 263 StPO) 33 .

3. Kapitel: Die besonderen Erscheinungsformen der strafbaren Handlung Alle für das Strafrecht bedeutsamen Geschehnisse stellen sich dar als „sozialerhebliches menschliches Verhalten" (vgl. oben § 23 V I 1). Dies gilt für positives Tun wie für das Unterlassen, für vorsätzliches wie für fahrlässiges Handeln. Die Voraussetzungen der Strafbarkeit wurden bisher anhand des vorsätzlichen Begehungsdelikts als Modellfall der strafbaren Handlung dargestellt (vgl. oben 2. Kapitel Vorbemerkung vor § 24). Das nachfolgende 3. Kapitel behandelt auf dieser Grundlage die beiden anderen Erscheinungsformen der strafbaren Handlung: das fahrlässige Begehungsdelikt (1. Abschnitt) und das (vorsätzliche oder fahrlässige) Unterlassungsdelikt (2. Abschnitt). Erörtert werden auf dem Hintergrund der Dogmatik des vorsätzlichen Begehungsdelikts die Abweichungen im Aufbau der Verbrechenslehre, die bei den beiden anderen Erscheinungsformen der strafbaren Handlung auftreten 1. Die Grundstruktur der Straftat als einer tatbestandsmäßigen, rechtswidrigen und schuldhaften Handlung findet sich auch bei der Fahrlässigkeitstat und dem Unterlassungsdelikt wieder. Darüber hinaus sind auch die Untergliederungen des Verbrechensbegriffs, die anhand des vorsätzlichen Begehungsdelikts entwickelt wurden (vgl. oben §§ 24 - 53), entsprechend auf die beiden anderen Grundformen der strafbaren Handlung anzuwenden. So gibt es auch hier die Begriffe Erfolgsund Handlungsunrecht, Rechtsgut und Handlungsobjekt, das Erfordernis der objektiven Zurechenbarkeit des Erfolgs, den Ausschluß der Rechtswidrigkeit durch Rechtfertigungsgründe, das Erfordernis der Schuldfähigkeit, den Verbotsirrtum, den Verzicht auf den Schuldvorwurf bei Vorliegen von Entschuldigungsgründen und die Abhängigkeit der kriminalrechtlichen Sanktion von objektiven Bedingungen der Strafbarkeit. Vielfach muß jedoch eine Anpassung der bisher entwickelten allgemeinen Lehren an die besonderen Erscheinungsformen der Fahrlässigkeitsund der Unterlassungstat vorgenommen werden. 32

Vgl. Kohlrausch/Lange,

System. Vorbem. V I A ; Stree, JuS 1965, 473; LK 9 (Hirsch) Vor-

bem. 190 vor § 51; Schönke/Schröder/Lenckner, Vorbem. 126 vor § 13. 33 Vgl. Gallas, Niederschriften Bd.V S. 104f.; Schmidhäuser, ZStW 71 (1959) S. 556f.; Roxin, Strafverfahrensrecht § 21 Rdn. 2, § 47 Rdn. 12. Nach Roxin, Strafverfahrensrecht § 21 Rdn. 22 sollte auch bei den Prozeßvoraussetzungen der Strengbeweis Anwendung finden. 1 Zustimmend Nowakowski, JBl 1972, 30. Ebenso der Aufbau bei Blei, Allg. Teil S. 295, 309; Kienapfel, Grundriß Ζ 26 und Ζ 29; Maurach/Gössel/Zipf Allg. Teil II § 42 Rdn. 31; Allg. Teil S. 297, 322; § 46 Rdn. 2; Stratenwerth, Allg. Teil I Rdn. 1038, 977; Tnffterer, Wessels, Allg. Teil Rdn. 655, 694; Kühl, Allg. Teil § 17 und §§ 18, 19.

Schrifttum zu § 54

561

1. Abschnitt: Das fahrlässige Begehungsdelikt

§ 54 Begriff und Arten der Fahrlässigkeit Arzt, Leichtfertigkeit und recklessness, Gedächtnisschrift für H. Schröder, 1978, S. 119; Baumgarten, Der Aufbau der Verbrechenslehre, 1919; Berner, Grundlinien der kriminalistischen Imputationslehre, 1843; Binavince, Die vier Momente der Fahrlässigkeit, 1969; Binding, , Die Schuld im deutschen Strafrecht, 1919; Bockelmann, Verkehrsrechtliche Aufsätze und Vorträge, 1967; Bohnert, Das Bestimmtheitserfordernis im Fahrlässigkeitstatbestand, ZStW 94 (1982) S. 68; Boldt, J.S.F. v. Böhmer und die gemeinrechtliche Strafrechtswissenschaft, 1936; derselbe, Zur Struktur der Fahrlässigkeits-Tat, ZStW 68 (1956) S. 335; staller, Grundzüge einer neuen Fahrlässigkeitsdogmatik, Strafr. Probleme 1, 1973, S. 105; derselbe, Das Fahrlässigkeitsdelikt im Straf recht, 1974; Caspari, Formen und Grenzen strafbarer Fahrlässigkeit im amerikanischen Strafrecht, Diss. Freiburg 1972; Castaldo, Non intelligere, quod omnes intelligunt, 1992; derselbe, Offene und verschleierte Individualisierung usw., GA 1993, 11; Coenders, Richtlinien aus den Lehren Feuerbachs usw., 1914; Cordoba Roda, Die Regelung der Fahrlässigkeit im spanischen Strafrecht, ZStW 81 (1969) S. 425; Cornily Die Fahrlässigkeit im französisch-belgischen Strafrecht, ZfRV 1964, 30; Cramer , Gedanken zur Reform der fahrlässigen Körperverletzung usw., DAR 1974, 317; Dieckmann Das fahrlässige Erfolgsdelikt im französischen Strafrecht, Diss. Freiburg 1969; Dölling y Fahrlässige Tötung bei Selbstgefährdung des Opfers, G A 1984, 17; Donatsch, Sorgfaltsbemessung und Erfolg beim Fahrlässigkeitsdelikt, 1987; Dubs, Die fahrlässigen Delikte im modernen Strafrecht, SchwZStr 78 (1962) S. 31; Engisch, Untersuchungen über Vorsatz und Fahrlässigkeit im Strafrecht, 1930; derselbe, Der Unrechtstatbestand im Strafrecht, DJTFestschrift, Bd. I, 1960, S. 401; Enneccerus/Nipperdey, Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts, Bd. I, 2, 15. Auflage 1960; EreniuSy Criminal negligence and individuality, 1976; Exner , Das Wesen der Fahrlässigkeit, 1910; Forti, Colpa ed evento nel diritto penale, 1990; Frey y Reobjektivierung des Strairechts im Zeitalter der Technik, Festschrift zum Zentenarium des Schweiz. Juristenvereins, 1961, S. 269; Frisch, Tatbestandsmäßiges Verhalten und Zurechnung des Erfolges, 1988; derselbe y Selbstgefährdung im Strafrecht, NStZ 1992, 1; Geilen, Suicid und Mitverantwortung, JZ 1974, 145; Germann, Rechtssicherheit, SchwZStr 49 (1935) S. 257; Gössel, Norm und fahrlässiges Verbrechen, Festschrift für H.-J. Bruns, 1978, S. 43; derselbe, Alte und neue Wege der Fahrlässigkeitslehre, Festschrift für K. Bengl, 1984, S. 23; Graßberger, Aufbau, Schuldgehalt und Grenzen der Fahrlässigkeit, unter besonderer Berücksichtigung des Verkehrsstrafrechts in Osterreich, ZfRV 1964, 18; Hall, Uber die Leichtfertigkeit, Festschrift für E. Mezger, 1954, S. 229; derselbe, Fahrlässigkeit im Vorsatz, 1959; Hardwig, Verursachung und Erfolgszurechnung, JZ 1968, 289; Henkel, Zumutbarkeit und Unzumutbarkeit als regulatives Rechtsprinzip, Festschrift für E. Mezger, 1954, S. 249; Herzberg, Die Schuld beim Fahrlässigkeitsdelikt, Jura 1984, 402; Hirsch, Soziale Adäquanz und Unrechtslehre, ZStW 74 (1962) S. 78; derselbe, Der Streit um Handlungs- und Unrechtslehre usw., ZStW 94 (1982) S. 239; His, Das Strafrecht des deutschen Mittelalters, Teil I, 1920; Horn, Konkrete Gefährdungsdelikte, 1973; Jakobs, Studien zum fahrlässigen Erfolgsdelikt, 1972; derselbe, Das Fahrlässigkeitsdelikt, in: ZStW Beiheft Teheran, 1974, S. 6; Jescheck, Aufbau und Behandlung der Fahrlässigkeit im modernen Strafrecht, 1965; Kadecka, Gesammelte Aufsätze, 1959; Kaminski y Der objektive Maßstab im Tatbestand der Fahrlässigkeit, 1992; Armin Kaufmann Das fahrlässige Delikt, ZfRV 1964, 41; derselbey Zum Stande der Lehre vom personalen Unrecht, Festschrift für H. Welzel, 1974, S. 393; Arthur Kaufmann y Das Schuldprinzip, 2. Auflage 1976; Kienapfel, Strafrechtsdogmatik in Österreich, JZ 1972, 569; Köhler, Die bewußte Fahrlässigkeit, 1982; Kohlrausch, Die Schuld, in: Aschrott /v. Liszt, Die Reform des RStGB, Bd. I, 1910, S. 179; Krauß, Erfolgsunwert und Handlungsunwert im Unrecht, ZStW 76 (1964) S. 19; Lagodny, Anmerkung zu BGH vom 21.1.1992, NStZ 1992, 490; Lampe, Täterschaft bei fahrlässiger Straftat, ZStW 71 (1959) S. 579; Larenz, Lehrbuch des Schuldrechts, Bd. I, 14. Auflage 1987; Laubenthal, Anmerkung zu BGH vom 12.4.1988, JR 1988, 335; Löffler, Die Schuldformen des Strafrechts, 1895; Maihofer, Zur Systematik der Fahrlässigkeit, ZStW 70 (1958) S. 159; Maiwald, Der Begriff der Leichtfertigkeit usw., GA 1974, 257; derselbe, Ein alltäglicher Strafrechtsfall usw., JuS 1989, 186; Montenbruck, Strafrahmen und Strafzumessung, 1983; Müller-Dietz, Grenzen des Schuldgedankens im Strafrecht, 1967; Murmann, Die 36 Jescheck, 5. A.

562

§ 54 Begriff u n d A r t e n der Fahrlässigkeit

Nebentäterschaft im Strafrecht, 1993; Naucke, Über das Regreßverbot im Strafrecht, ZStW 76 (1964) S. 409; Niese, Finalität, Vorsatz und Fahrlässigkeit, 1951; Nowakowski, Die Theorie der Fahrlässigkeit, JBl 1953, 506; derselbe, Probleme der Strafrechtsdogmatik, JBl 1972, 19; Nunez Barbero, El delito culposo, 1975; Oehler, Das objektive Zweckmoment in der rechtswidrigen Handlung, 1959; derselbe, Die erlaubte Gefahrsetzung und die Fahrlässigkeit, Festschrift für Eb. Schmidt, 1961, S. 232; Otto, Grenzen der Fahrlässigkeitshaftung usw., JuS 1974, 702; derselbe, Eigenverantwortliche Selbstschädigung und -gefährdung, Festschrift für H. Tröndle, 1989, S. 157; derselbe, Täterschaft und Teilnahme im Fahrlässigkeitsbereich, Festschrift für G. Spendel, 1992, S. 271; Paeffgen, Der Verrat in irriger Annahme eines illegalen Geheimnisses, 1979; derselbe, Die erfolgsqualifizierten Delikte usw., JZ 1989, 220; Platzgummer, Die „Allgemeinen Bestimmungen" des Strafgesetzentwurfs usw., JBl 1971, 236; Pradel, Le nouveau Code pénal français. Aperçus sur sa partie générale, Rev dr pén crim 73 (1993) S. 923; Radbruch y Erfolgshaftung, VDA, Bd. II, S. 227; Roeder y Die Einhaltung des sozialadäquaten Risikos, 1969; Roxin y Zum Schutzzweck der Norm bei fahrlässigen Delikten, Festschrift für W. Gallas, 1973, S. 241; derselbe, Literaturbericht, ZStW 82 (1970) S. 675; derselbe, Anmerkung zu BGH 32, 262, NStZ 1984, 410; derselbe, Bemerkungen zum Regreßverbot, Festschrift für H. Tröndle, 1989, S. 177; Rudolphi, Vorhersehbarkeit und Schutzzweck der Norm usw., JuS 1969, 549; derselbe, Anmerkung zu BGH 37, 179, JZ 1991, 572; Salm y Das vollendete Verbrechen, Bd. I, 1, 1963, Bd. I, 2, 1967; Schaff stein, Tatbestandsirrtum und Verbotsirrtum, Göttinger Festschrift für das OLG Celle, 1961, S. 175 ff.; derselbe, Handlungsunwert usw. bei den Fahrlässigkeitsdelikten, Festschrift für H. Welzel, 1974, S. 557; Schmidhäuser, Zum Begriff der bewußten Fahrlässigkeit, GA 1957, 305; derselbe, Zum Begriff des bedingten Vorsatzes usw., GA 1958, 161; derselbe, Fahrlässige Straftat ohne Sorgfaltspflichtverletzung, Festschrift für F. Schaff stein, 1975, S. 129; Eb. Schmidt, Der Arzt im Strafrecht, 1939; Schröder, Aufbau und Grenzen des Vorsatzbegriffs, Festschrift für W. Sauer, 1949, S. 207; Schünemann, Moderne Tendenzen in der Dogmatik der Fahrlässigkeits- und Gefährdungsdelikte, JA 1975, 435 m. Forts.; derselbe, Neue Horizonte der Fahrlässigkeitsdogmatik, Festschrift für F. Schaffstein, 1975, S. 159; Seiler, Die Bedeutung des Handlungsunwerts usw., Festschrift für R. Maurach, 1972, S. 75; Spendel, Fahrlässige Teilnahme an Selbst- und Fremdtötung, JuS 1974, 749; Stratenwerth, Die Bedeutung der finalen Handlungslehre für das Schweiz. Strafrecht, SchwZStr 81 (1965) S. 179; derselbe, Grundfragen des Verkehrsstrafrechts, Basler Juristische Mitteilungen 1966, 53; derselbe, Die Relevanz des Erfolgsunwertes usw., Festschrift für F. Schaffstein, 1975, S. 177; derselbe, Zur Individualisierung des Sorgfaltsmaßstabes beim Fahrlässigkeitsdelikt, Festschrift für H.-H. Jescheck, Bd. I, 1985, S. 285; Stree, Beteiligung an vorsätzlicher Selbstgefährdung, JuS 1985, 179; Struensee, Der subjektive Tatbestand des fahrlässigen Delikts, JZ 1987, 53; Tenckhoff Die leichtfertige Herbeiführung qualifizierter Tatfolgen, ZStW 88 (1976) S. 897; Torio Lopez, El deber objetivo de cuidado usw., Anuario de derecho penal 1974, 25; Tröndle, Abschaffung der Strafbarkeit der fahrlässigen Tötung usw. bei leichtem Verschulden? DRiZ 1976, 129; Ulsenheimer, Erfolgsrelevante und erfolgsneutrale Pflichtverletzungen im Rahmen der Fahrlässigkeitsdelikte, JZ 1969, 364; Volk, Reformüberlegungen zur Strafbarkeit der fahrlässigen Körperverletzung usw., G A 1976, 161; Wacke, Fahrlässige Vergehen im römischen Straf recht, Revue Internationale des Droits de Γ Antiquité, 1979, 505; Walder, Probleme bei Fahrlässigkeitsdelikten, ZBJV 104 (1968) S. 161; Walther, Eigenverantwortlichkeit und strafrechtliche Zurechnung, 1991; Weber, Einwände gegen die Lehre von der Beteiligung an eigenverantwortlicher Selbstgefährdung im Betäubungsmittelrecht, Festschrift für G. Spendel, 1992, 371; Wegscheidel Zum Begriff der Leichtfertigkeit, ZStW 98 (1986) S. 624; Welzel, Fahrlässigkeit und Verkehrsdelikte, 1961; Wolter, Alternative und eindeutige Verurteilung usw., 1972; derselbe, Adäquanz- und Relevanztheorie, G A 1977, 257; Yamanaka, Die Entwicklung der japanischen Fahrlässigkeitsdogmatik usw., ZStW 102 (1990) S. 928; Zaczyk, Strafrechtliches Unrecht und Selbstverantwortung des Verletzten, 1993; Zielinski, Handlungs- und Erfolgsunwert im Unrechtsbegriff, 1973. Vgl. auch die Schrifttumsangaben vor § 54 III.

I. D e r Begriff der Fahrlässigkeit

563

I. Der Begriff der Fahrlässigkeit 1. Die Entwicklung des Fahrlässigkeitsbegriffs (culpa) ist ebenso wie die Entdeckung des Vorsatzes (dolus) (vgl. oben § 29 II 1) dem römischen Recht2 und der italienischen Strafrechtswissenschaft des 15. und 16. Jahrhunderts zu danken3, während das germanische und das mittelalterlich-deutsche Recht bis zur Rezeption zwar die milder bestraften „Ungefährwerke" kannten, diese aber vielfach nur kasuistisch anhand von oft recht fragwürdigen äußeren Merkmalen zu erfassen vermochten4. Erstmals findet sich in der CCC von 1532 bei einzelnen Tatbeständen eine Beschreibung der Fahrlässigkeit, verbunden mit einer deutlichen Abgrenzung gegenüber Vorsatz und Zufall (Art. 134, 146 und 180). Eine allgemeine Begriffsbestimmung der Fahrlässigkeit enthält aber erst das ALR von 1794 in Teil II, Titel 20, § 28. Das preuß. StGB von 1851 und das RStGB von 1871 haben dagegen auf Definitionen verzichtet. 2. Vorsatz ist das Wissen und Wollen der zum gesetzlichen Tatbestand gehörenden objektiven Merkmale der Tat (vgl. oben § 29 I I 2). Fahrlässig handelt dagegen, wer den Tatbestand eines Strafgesetzes un gewollt infolge der Verletzung einer Sorgfaltspflicht verwirklicht und dies pflichtwidrig nicht erkennt oder dies zwar für möglich hält, aber pflichtwidrig darauf vertraut, daß der Erfolg nicht eintreten werde 5. Die Fahrlässigkeit ist also nicht eine mildere Form des Vorsatzes, sondern etwas anderes als der Vorsatz (BGH 4, 340 [341]). Der Unrechts- und Schuldgehalt der fahrlässigen Straftat ist geringer als der einer vergleichbaren Vorsatztat, weil der Täter hier dem Gebot der Rechtsordnung nicht bewußt, sondern nur aus Unaufmerksamkeit entgegenhandelt. Deswegen schließen sich Vorsatz und Fahrlässigkeit hinsichtlich desselben Umstands gegenseitig aus. Nach der Rechtsprechung kann der Täter jedoch wegen fahrlässiger Tat verurteilt werden, wenn sich nicht feststellen läßt, ob er vorsätzlich oder fahrlässig gehandelt hat (BGH 17, 210). Dem ist jedoch nicht zuzustimmen, da die Fahrlässigkeitstatbestände nicht als „Auffangtatbestände" bei unklarer Beweislage verwendet werden dürfen, sondern in ihren Voraussetzungen eindeutig festgestellt sein müssen, wenn eine Verurteilung erfolgen soll. Auch die Möglichkeit einer Wahlfeststellung zwischen Vorsatz- und Fahrlässigkeitstat ist nicht gegeben, weil die beiden Arten der strafbaren Handlung in einem Stufenverhältnis des Mehr oder Weniger stehen und deshalb der Grundsatz „in dubio pro reo" eingreifen muß (BGH 32, 48 [57]) (vgl. oben § 16 I I 2) 6 .

2 Vgl. Paulus, Dig. 9, 2, 31: „culpam autem esse, quod cum a diligenti provideri potuerit non esset provisum". Dazu Mommsen, Römisches Strafrecht S. 88ff.; Wacke, Revue Internationale des Droits de Γ Antiquité 1979, 505. 3 Vgl. v. Hippel, Bd. II S. 355; Schaffstein, Die allgemeinen Lehren S. 146ff. 4 Vgl. Eh. Schmidt, Einführung S. 32, 71; Wilda, Strafrecht der Germanen S. 544ff.; His, Strafrecht des deutschen Mittelalters S. 86 ff. 5 Eine lesbare Definition des komplexen Fahrlässigkeitsbegriffs ist ebenso wie die des Vorsatzes nur in vereinfachter Form möglich. Vgl. weiter zum Fahrlässigkeitsbegriff die unter sich vielfach abweichenden Lehren von Binding, Normen Bd. IV S. 451 ff.; Exner, Fahrlässigkeit S. 207ff.; Engisch, Vorsatz und Fahrlässigkeit S. 266ff., 365 ff.; v. Hippel, Bd. II S. 357ff.; Mezger, Lehrbuch S. 351 ff.; Baumann/Weher, Allg. Teil S. 430f.; Dreher/

Tröndle, § 15 Rdn. 14; Lackner, § 15 Rdn. 35; Maurach/Gössel/Zipf,

Allg. Teil I I § 43

Rdn. 19, 112; SK (Samson) Anh. zu § 16 Rdn. 1; Wessels, Allg. Teil Rdn. 656. Jakobs, Allg. Teil 9/4 versteht die Fahrlässigkeit als „diejenige Form der Vermeidbarkeit, bei der aktuelle Kenntnis des zu Vermeidenden fehlt". Vgl. ferner den Überblick bei LK U (Schroeder) § 16 Rdn. 122 ff. 6 Die Frage ist umstritten. Wie hier LK U (Gribbohm) § 1 Rdn. 117; Wolter, Alternative und eindeutige Verurteilung S. 214; M aurach / Gössel/ Zipf, Allg. Teil II § 42 Rdn. 37. 36*

564

§ 54 Begriff u n d A r t e n der Fahrlässigkeit

3. Die Fahrlässigkeit ist nicht, wie früher allgemein angenommen wurde und auch heute noch vertreten wird, eine bloße Schuldform neben dem Vorsatz 7 , sondern ein besonderer Typus der strafbaren Handlung, der sowohl im Unrechtsais auch im Schuldbereich eine eigenständige Struktur aufweist 8. Die Fahrlässigkeit bestimmt sich nach einem doppelten Maßstab. Geprüft wird einmal, welches Verhalten im Hinblick auf die Vermeidung von ungewollten Rechts guts Verletzungen in einer bestimmten Gefahrenlage objektiv gefordert ist, zum andern, ob dieses Verhalten vom Täter nach seinen individuellen Eigenschaften und Fähigkeiten auch persönlich verlangt werden kann (BGH 31, 96 [101]). Das tatbestandsmäßige Unrecht der Fahrlässigkeitstat wird demgemäß nicht abschließend durch die Verursachung des Erfolges, z.B. den Tod eines Menschen (§ 222), bestimmt 9 . Fahrlässiges Verhalten liegt nur dann vor, wenn der Erfolg auf einer Verletzung derjenigen Sorgfaltsanforderungen beruht, die die Rechtsordnung an den gewissenhaften und einsichtigen Angehörigen des Verkehrskreises des Täters in der Tatsituation stellt, und wenn der Erfolg für einen solchen Menschen auch voraussehbar gewesen ist. Der Tatbestand der Fahrlässigkeitsdelikte ist daher in diesem Sinne durch zusätzliche richterliche Wertungen zu ergänzen 10. Darin liegt keine Verletzung des Bestimmtheitsgebots (vgl. oben § 15 I I I 3), da die Konkretisierung der sich ständig weiter entwickelnden Sorgfaltspflichten anders als im Wege der Gerichtspraxis nicht denkbar ist und der Bürger sich darüber durch eigene Anschauung vielfach auch leichter unterrichten kann als über den Inhalt von Gesetzen11. Beispiel: In welchem Maße sich ein Zeuge auf seine Aussage vorbereiten und sein Gedächtnis anspannen muß, um die Begehung eines fahrlässigen Falscheides (§ 163 I) zu vermeiden, läßt sich nicht unmittelbar dem Strafgesetz entnehmen, sondern nur den von der 7

So Baumann/Weber,

Allg. Teil S. 430f.; Gerland, Lehrbuch S. 139; v.Hippel, Bd. II

S. 364; Mezger, Lehrbuch S. 357; Kohlrausch/Lange,

§59 Anm. IV 3 b; Olshausen, Vor-

bem. 9 vor § 59; Oehler, Das objektive Zweckmoment S. 74f.; derselbe, Eb. Schmidt-Festschrift S. 240ff.; v. Liszt/ Schmidt, S. 272; Schmidhäuser, Allg. Teil S. 428 f.; Frank, §59 Anm. VIII; Roeder, Sozialadäquates Risiko S. 94; Schultz, Einführung I S. 203. 8 So heute die h.L.; vgl. Blei, Alle. Teil S. 299; Bockelmann/Volk, Allg. Teil S. 158, 167; Bockelmann, Verkehrsrechtliche Aufsätze S. 202 ff.; Boldt, ZStW 68 (1956) S. 344f.; Burgstaller, Das Fahrlässigkeitsdelikt S. 23 f.; Erenius, Criminal Negligence S. 149ff., 164ff.; Engisch, Vorsatz und Fahrlässigkeit S. 334ff.; derselbe, DJT-Festschrift Bd. I S. 428; Gallas, Beiträge S. 53 f.; Eser, Strafrecht II Nr. 21 A Rdn. 9ff.; Hall, Fahrlässigkeit im Vorsatz S. 22; Henkel, Mezger-Festschrift S. 282; Hirsch, ZStW 74 (1962) S. 95; Jescheck, Fahrlässigkeit S. 7ff.; Armin Kaufmann, ZfRV 1964, 45; Kienapfel,

JZ 1972, 575; Maihofer, ZStW 70

(1958) S. 184ff.; Maiwald, JuS 1989, 189; Kühl, Allg. Teil § 17 Rdn. 7; H. Mayer, Grundriß

S. 129; Nowakowski, JBl 1972, 31 f.; Niese, Finalität S. 61; Rudolphi, JuS 1969, 549; Platzgummer, JBl 1971, 240; Roxin, Allg. Teil I § 24 Rdn. 47; Schönke/Schröder/Gramer, § 15 Rdn. 119; Schünemann, JA 1975, 516; Schaffstein, Welzel-Festschrift S. 558; Ulsenheimer, JZ

1969, 364; Walder, ZBJV 104 (1968) S. 169f., 184f.; Wessels, Allg. Teil Rdn. 657; Welzel, Fahrlässigkeit und Verkehrsdelikte S. 11; derselbe, Lehrbuch S. 131 ff. Aus der Rspr. in diesem Sinne BGH 4, 341; 20, 315 (320ff.); BGH VRS 14, 30; BGH NJW 1995, 795 (796); OLG Köln NJW 1963, 2381; OLG Hamm VRS 60, 38; OLG Stuttgart JZ 1980, 618; Β GHZ 24, 21. Früher haben Rechtsprechung und Lehre den objektiven Maßstab der Fahrlässigkeit im Rahmen des Schuldbegriffs mit berücksichtigt; vgl. RG 39, 2 (5); 67, 12 (19); v. Hippel, Bd. II S. 361 ff.; Eb. Schmidt, Der Arzt im Strafrecht S. 173; vgl. dazu Schönke/Schröder/Gramer, § 15 Rdn. 114. Abweichend der Aufbau des Fahrlässigkeitsdelikts bei Gössel, Bengl-Festschrift S. 28 ff. 9 Zu dem Streit um die Stellung des Erfolgs im Unrechtstatbestand des Fahrlässigkeitsdelikts vgl. unten § 55 II 1 a. 10 Vgl. Welzel, Fahrlässigkeit und Verkehrsdelikte S. 15; Roxin, Allg. Teil I § 24 Rdn. 87ff. 11 Vgl. Bockelmann, Verkehrsrechtliche Aufsätze S. 208 f.; H. Mayer, Grundriß S. 129; im Ergebnis auch Bohnert, ZStW 94 (1982) S. 80.

Begriff der Fahrlässigkeit

Rechtsprechung anhand praktischer Bedürfnisse nach und nach entwickelten Sorgfaltsanforderungen (BGH 13, 190 [191]; 18, 359 [362])12. Für die erforderliche Sorgfalt im Straßenverkehr sind in erster Linie die Regelungen der StVO maßgeblich. Erst wenn die objektive Seite der Fahrlässigkeitstat festgestellt ist (Unrechtstatbestand), kann weiter geprüft werden, ob das generelle Sorgfalts- und Voraussichtsgebot für den individuellen Täter nach seiner Intelligenz und Bildung, seiner Geschicklichkeit und Befähigung, seiner Lebenserfahrung und sozialen Stellung auch erfüllbar gewesen ist (Schuldtatbestand) 13 . Der praktische Wert der gesonderten Erfassung der objektiven Sorgfalts Widrigkeit als Kern

des Fahrlässigkeitsunrechts ergibt sich aus folgenden Erwägungen14: Einmal wird durch die selbständige Bewertung des Handlungsunrechts der Fahrlässigkeitstat ein Gegengewicht gegen die in der Praxis häufig zu stark betonte Erfolgshaftung geschaffen. Zweitens können an die Fahrlässigkeitstat, auch wenn der Täter schuldunfähig ist, sichernde Maßregeln geknüpft werden (§§ 63, 64, 69, 70). Weiter sind die Voraussetzungen der Strafbarkeit nach § 323 a, wenn die Rauschtat ein Fahrlässigkeitsdelikt ist, durch die objektiven Kriterien der Fahrlässigkeit richtig zu bestimmen, auch wenn der Täter die ihm individuell obliegende Sorgfaltspflicht mit Rücksicht auf seine Trunkenheit nicht erfüllen konnte. Ferner wird die Rechtsprechung, wenn sie von der objektiven Seite der Fahrlässigkeit ausgeht, dazu veranlaßt, die Sorgfaltsgebote für bestimmte Situationen in allgemeinen Regeln niederzulegen (vgl. z.B. den Vertrauensgrundsatz im Straßenverkehr oder bei Arbeitsteilung im Beruf). Endlich enthalten die objektiven Kriterien der Fahrlässigkeit die Anerkennung einer oberen Haftungsgrenze, die überspitzte Anforderungen an den einzelnen abschneidet und damit dem Gleichheitssatz dient15. 4. Der Unrechtstatbestand der Fahrlässigkeitstat wird somit durch drei Merkmale bestimmt: durch die Erkennbarkeit der Gefahr der Verwirklichung des Tatbestandes16, durch ein Handeln, das im Hinblick auf diese Gefahr die objektiv 12

Vgl. dazu Dreher/Tröndle,

§ 163 Rdn. 5; LK 10

(Willms)

§ 163 Rdn. 6ff.; Kühl, Allg.

Teil § 17 Rdn. 17. 13 Abweichend davon wird die individuelle Erfüllbarkeit des Sorgfalts- und Voraussichtsgebots bereits in den Unrechtstatbestand des Fahrlässigkeitsdelikts eingeordnet von Stratenwerth, Allg. Teil I Rdn. 1097; derselbe, Jescheck-Festschrift Bd. I S. 285 ff.; Otto, Grundkurs S. 171 f.; Jakobs, Studien S. 48, 64ff.; derselbe, Allg. Teil 9/1 ff.; SK (Samson) § 16 Anhang Rdn. 13 ff.; Gössel, Bruns-Festschrift S. 51 f.; Castaldo, Non intelligere S. 157ff. sowie derselbe, GA 1993, 11. Dagegen eingehend und überzeugend Schünemann, Schaffstein-Festschrift S. 160ff.; derselbe, JA 1975, 512ff.; ferner Donatsch, Fahrlässigkeitsdelikt S. 138; Armin Kaufmann, Welzel-Festschrift S. 404ff.; Hirsch, ZStW 94 (1982) S. 266ff.; Herzberg, Jura 1984, 406ff.; Roxin, Allg. Teil I § 24 Rdn. 51 ff.; Wessels, Allg. Teil Rdn. 669; Kaminski, Der objektive Maßstab S. 79 ff. 14 Dagegen Jakobs, ZStW Beiheft Teheran 1974 S. 20 Fußnote 45; derselbe, Allg. Teil 9/ 8 ff. 15 Eine solche Haftungsbegrenzung halten jedoch für unberechtigt Schönke/Schröder /Cramer, § 15 Rdn. 139 ff.; Jakobs, Allg. Teil 9/11; derselbe, Studien S. 55 ff.; derselbe, ZStW Beiheft Teheran 1974 S. 21 Fußnote 45; Otto, JuS 1974, 707f.; Roxin, Allg. Teil I § 24 Rdn. 50, 54ff.; Stratenwerth, Allg. Teil I Rdn. 1098; derselbe, Jescheck-Festschrift Bd. I S. 300ff.; SK (Samson) Anhang zu § 16 Rdn. 15; während Blei, Allg. Teil S. 299 auch von der Auffassung des Textes aus den Nichtgebrauch von Sonderfähigkeiten als objektiven Sorgfaltsverstoß behandelt. Wie der Text die h. L., die den richtigen Standpunkt vertritt, daß mehr als die „im Verkehr erforderliche Sorgfalt" vom Strafrecht nicht gefordert werden kann, wobei freilich auf standardisierte Sonderfähigkeiten (Fernlastfahrer, Chefarzt) dort, wo sie in dem betreffenden Verkehrskreis zum Einsatz kommen müssen, durchaus abgestellt werden darf; vgl.

Schmidhäuser,

Schaffstein-Festschrift S. 151; Schünemann, ebenda S. 165 ff.; derselbe, JA

1975, 514; Hirsch, ZStW 94 (1982) S. 273; LK n (Schroeder) § 16 Rdn. 146f.; Kühl, Allg. Teil § 17 Rdn. 32. 16 Gegen das Merkmal der Vorhersehbarkeit der Gefahr Roxin, Allg. Teil I § 24 Rdn. 13. Wie der Text Kühl, Allg. Teil § 17 Rdn. 19; Schönke/Schröder /Cramer, § 15 Rdn. 125.

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§ 54 Begriff u n d A r t e n der Fahrlässigkeit

gebotene Sorgfalt vermissen läßt 1 7 und (bei den fahrlässigen Erfolgsdelikten) durch den Eintritt des tatbestandsmäßigen Erfolgs aufgrund der Sorgfaltsverletzung 18 . Zur Begründung der Haftung auf Schadensersatz nach bürgerlichem Recht reichen diese Voraussetzungen aus, weil es dort nur um die Frage geht, ob der Schädiger oder der Geschädigte den eingetretenen Schaden tragen soll 1 9 . Für die Bestrafung kommt jedoch das Erfordernis der Fahrlässigkeitsschuld hinzu, weil es hier nicht um den Ausgleich von Schäden, sondern um den Ausspruch eines sozialethischen Unwerturteils geht, das nur den Täter treffen darf, der diesen Vorwurf verdient hat (BGH NJW 1995, 795 [796]). a) Die Frage des Schuldgehalts der Fahrlässigkeit ist seit jeher umstritten. Im Naturrecht stellte die Fahrlässigkeit noch keine echte Schuldform dar, sondern wurde als ein Quasidelikt angesehen, bei dem Strafmilderung eintrat 20. Feuerbach versuchte, die Lehre von der Fahrlässigkeit durch die Annahme eines Willensentschlusses mit seiner auf den verbrecherischen Willen bezogenen Straftheorie (psychologischer Zwang) in Einklang zu bringen21. Auch die Hegelianer bemühten sich, ein Willensmoment in der Fahrlässigkeit nachzuweisen, und erblickten es in dem Wissen und Wollen der Bedingungen, aus denen der rechtswidrige Erfolg als reale Möglichkeit erwächst22. In ähnlicher Weise konstruierte Binding die Fahrlässigkeit als Willensschuld durch den Gedanken, daß jedenfalls die Handlung als Vorgang gewollt sei23. Andere leugnen den Schuldgehalt der Fahrlässigkeit mangels eines auf den Erfolg gerichteten Willens überhaupt24 oder doch jedenfalls für den Bereich der unbewußten Fahrlässigkeit (vgl. unten § 54 II 1) . 17

Gegen die Sorgfaltspflichtverletzung als selbständiges Merkmal des Fahrlässigkeitsde-

likts LK U

(Schroeder)

§ 16 Rdn. 125 ff.; Wolter, GA 1977, 267f.; Maurach/Gössel/Zipf

Allg. Teil II §43 Rdn. 19; Schmidhäuser, Schaffstein-Festschrift S. 131 ff., die nur auf die Voraussehbarkeit der Rechtsgutsbeeinträchtigung abstellen wollen. Der Normverstoß und damit das Handlungsunrecht liegen aber gerade in der Verletzung der konkreten Anforderungen, die die Rechtsordnung in einer bestimmten Situation an den Täter im Hinblick auf die Voraussehbarkeit des Erfolgs stellt. Gegen die objektive Sorgfaltspflicht auch Roxin, Allg. Teil I § 24 Rdn. 10ff., der nur auf die objektive Zurechnung abstellt; ebenso Yamanaka, ZStW 102 (1990) S. 944. Jakobs, Allg. Teil 9/6 erklärt sogar, daß das Erfordernis der Verletzung einer gebotenen Sorgfalt „normlogisch falsch" sei, weil die Norm nur unsorgfältiges Handeln verbiete, nicht sorgfältiges Handeln gebiete. Wie der Text die h.L.; vgl. Lackner, § 15 Rdn. 36; Schönke/Schröder /Cramer, § 15 Rdn. 121, 180; Wessels, Allg. Teil Rdn. 664; Kühl, Allg. Teil § 17 Rdn. 22 ff. 18 Als bloße objektive Bedingung der Strafbarkeit wollen den Erfolg verstehen Armin Kaufmann, ZfRV 1964, 41 ff.; derselbe, Welzel-Festschrift S. 410f.; Horn, Konkrete Gefährdungsdelikte S. 78 ff.; Schaffstein, Welzel-Festschrift S. 561; Zielinski, Handlungs- und Erfolgsunwert S. 128 ff., 200 ff. (vgl. dazu schon oben § 24 III 2). Doch liegt das Unrecht des Fahrlässigkeitsdelikts nach geltendem Recht außer in der sorgfaltswidrigen Handlung auch in dem dadurch verursachten realen Schaden; so Bockelmann /Volk, Allg. Teil S. 157; Krauß, ZStW 76 (1964) S. 61 f.; Roxin, Allg. Teil I § 24 Rdn. 7; Stratenwerth, Schaffstein-Festschrift S. 187ff.; Schünemann, ebenda S. 169ff.; derselbe, JA 1975, 442ff.; Schönke/Schröder/ Cramer, § 15 Rdn. 128; Paeffgen, Verrat in irriger Annahme eines illegalen Geheimnisses S. 110 ff. Vgl. ferner Volk, G A 1976, 171 ff. zu den praktischen Konsequenzen. 19 So die h.L.; vgl. Larenz, Schuldrecht Bd. I S. 284ff. und den Überblick bei Kaminski, Der objektive Maßstab S. 110 Fußnote 33. Dagegen soll nach Enneccerus/Nipper dey, Allgemeiner Teil Bd. II S. 132Iff. bei der Fahrlässigkeit auch im Zivilrecht die individuelle Leistungsfähigkeit berücksichtigt werden, was aber wohl nur für diejenigen Fälle der Deliktshaftung gelten kann, bei denen der Gedanke der Garantieübernahme nicht zutrifft. 20 Vgl. Boldt, Böhmer S. 387. 21 Feuerbach, Lehrbuch 13. Auflage S. 92 f. 22 Vgl. Köstlin, System S. 165; Berner, Imputationslehre S. 227ff. 23 Binding, Die Schuld S. 127; auch Mezger, Lehrbuch S. 355 ff. verlangt „ein Moment bewußten pflichtwidngen 24

V g l . Baumgarten,

Wollens

Verbrechenslehre S. 116ff.; Germann,

SchwZStr 49 (1935) S. 322f.

Begriff der Fahrlässigkeit

b) Diese Lehren sind jedoch abzulehnen. Auch bei der Fahrlässigkeit ist Gegenstand des Schuldvorwurfs die tadelnswerte Rechtsgesinnung des Täters (vgl. oben § 39 I I 1). Die Anforderungen der Rechtsordnung sind hier darauf gerichtet, daß jedermann seine Fähigkeiten einzusetzen hat, um Gefahren für das geschützte Rechtsgut rechtzeitig erkennen und vermeiden zu können 26 . Der Schuldvorwurf bezieht sich bei der bewußten Fahrlässigkeit darauf, daß der Täter sorgfaltswidrig gehandelt hat, obwohl er die Verwirklichung des Tatbestandes als mögliche Folge seines Tuns voraussah. Aber auch bei der unbewußten Fahrlässigkeit ist der Schuldvorwurf keine Fiktion. Er bezieht sich hier darauf, daß der Täter entweder der gefährlichen Situation keine genügende Aufmerksamkeit geschenkt oder den Schluß von der an sich erkannten Gefahr auf die Gefährdung des Handlungsobjekts nicht gezogen oder aber dem Bewußtsein dieser Gefährdung bei seiner Entschlußfassung nicht genügend Raum gegeben hat. Strafwürdig ist die Fahrlässigkeit freilich nur dann, wenn die mangelnde Aufmerksamkeit auf Gesinnungsfehlern, z.B. Rücksichtslosigkeit, Gleichgültigkeit, mangelnder Sorge für andere, mit anderen Worten auf einem funktionellen Versagen des Wertgefühls beruht 27 , während fehlende körperliche oder geistige Fähigkeiten, Lücken des Wissens und der Erfahrung, Mängel an Umsicht und Geschick, Fehler in Situationen der Uberforderung strafrechtlich nicht zu vertreten sind (vgl. jedoch zum Übernahmeverschulden unten § 57 I I 3). Auch bei der unbewußten Fahrlässigkeit liegt die Schuld in einem Gesinnungsfehler, nämlich in der Unterschreitung des Mindestmaßes an Aufmerksamkeit, das die Rechtsordnung zur Vermeidung von Verlusten und Schäden an Werten und Gütern der Gemeinschaft objektiv fordern muß, sofern Alter, Kräfte, Beruf und Lebenserfahrung des Täters den Anspruch als erfüllbar erscheinen lassen28. Das Gebot der Aufmerksamkeit hat im technischen Zeitalter, wie die vielen Unglücke infolge „menschlichen Versagens" zeigen, gleiche Berechtigung wie die Pflicht, seinen bewußten Willen mit den Normen der Rechtsordnung in Einklang zu halten. 5. Das geltende deutsche Strafrecht kennt kein allgemeines Fahrlässigkeitsdelikt (wie das bürgerliche Recht z.B. in § 823 I BGB oder der spanische Codigo penal in Art. 565), sondern nur einzelne Fahrlässigkeitstatbestände, die in das StGB selbst nur sparsam aufgenommen worden sind, im Nebenstrafrecht dagegen häufig vorkommen. Wie bei den Vorsatzstraftaten wird unterschieden zwischen Erfolgs(z.B. §§ 222, 230, 309, 345 II) und Tätigkeitsdelikten (§§ 163, 316 II), zwischen Begehungs- und Unterlassungsdelikten (§ 138 III). Strafbar ist fahrlässiges Handeln 25

So z.B. Bockelmann, Verkehrsrechtliche Aufsätze S. 213ff.; zweifelnd Bockelmann/ Volk, Allg. Teil S. 168 („Verkennung des Risikos"); Germann, Das Verbrechen S. 94; J.

Hall, Principles S. 372; Kohlrausch,

Die Schuld S. 208 f.; Arthur Kaufmann, Schuldprinzip

S. 156 ff.; Sauer, Allgemeine Strafrechtslehre S. 180; Glanville Williams, Criminal Law S. 122 f. Demgegenüber stellt Erenius, Criminal Negligence S. 87ff. nicht auf diese rein theoretische Frage der Willensschuld, sondern darauf ab, welche Verteidigungsmittel (defences, exceptions) dem Täter gegen den Vorwurf der Fahrlässigkeit zur Verfügung stehen. 26 So im Gegensatz zur „Willenstheorie" die „Gefühlstheorie"; vgl. Exner, Fahrlässigkeit S. 173 ff.; Kadecka, Gesammelte Aufsätze S. 69; Engisch, Vorsatz und Fahrlässigkeit S. 470. Über bewußte Fahrlässigkeit als Willensschuld Köhler, Fahrlässigkeit S. 373 ff. 27 So mit Recht Nowakowski, JBl 1953, 508; vgl. auch derselbe, JBl 1972, 31. 28

Vgl. Coenders, Feuerbach S. 28 ff.; Löfßer, Schuldformen S. 9; Armin Kaufmann, ZfRV

1964, 53; Welzel, Lehrbuch S. 150ff.; Stratenwerth, Allg. Teil I Rdn. 1104; Schönke/SchröAllg. Teil II § 43 Rdn. 127; Kühl, Allg. der/Gramer, § 15 Rdn. 201; Maurach/Gössel/Zipf Teil § 17 Rdn. 89ff.; Wessels, Allg. Teil Rdn. 692. Insbes. zur „Erfolgsschuld" Müller-Dietz, Schuldgedanke S. 77ff.; Dubs, SchwZStr 78 (1962) S. 45 ff. Zweifelnd Roxin, ZStW 82 (1970) S. 687; Bockelmann/Volk, Allg. Teil S. 168f.

568

§ 54 Begriff u n d A r t e n der Fahrlässigkeit

nur, wenn das Gesetz es ausdrücklich vorsieht (§15; entsprechend § 10 OWiG). Für viele wichtige Vorsatzdelikte wie Schwangerschaftsabbruch (§ 218), Freiheitsberaubung (§ 239), Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung (§§ 174 ff.) und die meisten Vermögensdelikte gibt es im Bereich der Fahrlässigkeit kein Gegenstück, weil insoweit die Strafwürdigkeit durch den Gesetzgeber verneint wird. Neue Fahrlässigkeitstatbestände haben das 1. W i K G (§§ 264 I I I , 283 IV, V, 283 b II), das 18. StÄG in allen Strafvorschriften zum Umweltschutz (§§ 324 I I I ff.) und die neue Strafvorschrift über die Geldwäsche (§ 261 V) eingeführt. II. Arten und Grade der Fahrlässigkeit 1. Zwei Arten der Fahrlässigkeit werden herkömmlicherweise unterschieden: die unbewußte und die bewußte Fahrlässigkeit 29, 3 0 . Bei der unbewußten Fahrlässigkeit (negligentia) denkt der Täter infolge einer Verletzung der gebotenen Sorgfalt nicht an die Möglichkeit, daß er den gesetzlichen Tatbestand verwirklichen könnte, bei der bewußten Fahrlässigkeit (luxuria) erkennt er zwar das Vorliegen der konkreten Gefahr für das geschützte Handlungsobjekt, vertraut jedoch infolge Unterschätzung ihres Grades oder Uberschätzung seiner eigenen Kräfte oder einfach in der Hoffnung auf sein Glück pflichtwidrig darauf, daß der gesetzliche Tatbestand sich nicht verwirklichen werde. Ebenso wie der Vorsatz (vgl. oben § 29 I I 3 a) kann auch die Fahrlässigkeit nicht nur auf einen Verletzungs-, sondern auch auf einen Gefährdungserfolg bezogen sein. Auch bewußte Fahrlässigkeit ist hinsichtlich einer Gefährdung denkbar: der Täter hält in diesem Falle den Eintritt der Gefahr zwar für möglich, vertraut aber darauf, daß sie nicht eintreten werde 31 . Die Rechtsprechung hat sich die Unterscheidung von bewußter und unbewußter Fahrlässigkeit zu eigen gemacht. Fahrlässigkeit liegt vor, „wenn feststeht, daß der Täter die Sorgfalt, zu der er nach den Umständen und seinen persönlichen Kenntnissen und Fähigkeiten verpflichtet und imstande war, außer acht gelassen hat und daß er infolgedessen entweder den Erfolg, den er bei Anwendung der pflichtgemäßen Sorgfalt hätte voraussehen können, nicht vorausgesehen hat - unbewußte Fahrlässigkeit - oder den Eintritt des Erfolgs zwar für möglich gehalten, aber darauf vertraut hat, er werde nicht eintreten - bewußte Fahrlässigkeit" (RG 56, 343 [349] zum Baukunstfehler; RG 58, 130 [134] zur fahrlässigen Unterlassung; RG 67, 12 [18] zum medizinischen Kunstfehler). Bei beiden Arten der Fahrlässigkeit, die in der Praxis oft nicht scharf zu unterscheiden sind, liegt der Unrechts- und Schuldgehalt in einem Mangel an gebotener Aufmerksamkeit, denn auch die bewußte Fahrlässigkeit beruht auf pflichtwidriger Verkennung zwar nicht des Vorhandenseins, wohl aber des Grades der Gefahr, des Umfangs der Sorgfaltspflicht oder der Begrenztheit der eigenen Fähigkeiten. Auch im Schuldgehalt besteht zwischen den beiden Arten der Fahrlässigkeit kein Stufenverhältnis, denn die Einstellung dessen, der die Gefahr nicht einmal wahrnimmt, 29

Die Lehre geht auf Feuerbach, Lehrbuch 13. Auflage S. 93 zurück, der hier anstelle der quantitativen culpa-Grade des gemeinen Rechts erstmalig eine qualitative Unterscheidung vornimmt. 30 Vgl. die Definitionen in Ε 1962 § 18 I (unbewußte Fahrlässigkeit) und I I (bewußte Fahrlässigkeit), die aber beide nicht in den endgültigen Text des Allgemeinen Teils aufgenommen worden sind. 31 Die auf die Verletzung des Handlungsobjekts bezogene bewußte Fahrlässigkeit ist nur dann gleichbedeutend mit Gefährdungsvorsatz, wenn der Täter die Gefahr des Eintritts einer Verletzung ernstnimmt und sich mit ihr abfindet; vgl. dazu Schaffstein, Göttinger Festschrift OLG Celle S. 180. Gegen die generelle Gleichsetzung von bewußter Fahrlässigkeit und Gefährdungsvorsatz durch Arthur Kaufmann, Schuldprinzip S. 154 mit Recht LIC 1 (Schroeder) § 16 Rdn. 120 sowie Roxin, Allg. Teil I § 24 Rdn. 65.

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I I . A r t e n u n d Grade der Fahrlässigkeit

kann stärker zu mißbilligen sein als der Leichtsinn des bewußt Fahrlässigen, der lediglich die eigenen Kräfte überschätzt (BGH NJW 1962, 1780 [1781]; O L G Karlsruhe D A R 1968, 220) 32 . Die praktische Bedeutung der Unterscheidung von bewußter und unbewußter Fahrlässigkeit 33 liegt vor allem in der Grenzziehung gegenüber dem bedingten Vorsatz. Die bewußte Fahrlässigkeit ist in ihrer Struktur dem bedingten Vorsatz ähnlich 34 ; dies macht die nach dem Gesetz erforderliche Unterscheidung zwischen diesen beiden Erscheinungsformen der Straftat so schwierig (vgl. oben § 29 I I I 3 c). 2. Verschiedene Grade der Fahrlässigkeit (culpa lata, levis und levissima), wie sie das gemeine Strafrecht einst dem Zivilrecht entlehnt hatte 35 und wie sie der Gesetzgeber dort noch heute verwendet (zur „groben" und „leichten" Fahrlässigkeit tritt die „diligentia quam in suis") (§§ 276, 277 BGB) 3 6 , kennt das geltende Strafrecht nur insoweit, als das Gesetz bei verschiedenen Tatbeständen als gesteigerte Form der Fahrlässigkeit Leichtfertigkeit verlangt (z.B. §§ 97 II, 109g IV, 138 III, 261 V, 264 III, 283 IV Nr. 2, V Nr. 2, 345 I I StGB; §§ 21, 41 I I I WStG). Dies gilt insbesondere für viele erfolgsqualifizierte Delikte (z.B. §§ 176 IV, 177 III, 178 III, 239a II, 251, 316c II). Auch im Ordnungswidrigkeitenrecht wird der Begriff der Leichtfertigkeit zunehmend verwendet (z.B. §§ 378 - 381 A O 1977; § 56 I Nr. 4, 5 KWG) 7 . Leichtfertigkeit entspricht der groben Fahrlässigkeit des bürgerlichen Rechts (E 1962 Begründung S. 132; B G H 14, 240 [255]; 20, 315 [327]; 33, 66) 3 8 ; sie liegt danach vor, wenn die erforderliche Sorgfalt „in ungewöhnlich großem Maße" verletzt worden ist bzw. wenn der Täter das nicht beachtet hat, „was im gegebenen Fall jedem einleuchten mußte" (RGZ 141, 129 [131]; BGHZ 10, 14 [16]; 17, 191 [199]; BGHSt 33, 66; O L G Hamm NStZ 1983, 459), wenn der Täter „die sich ihm aufdrängende Möglichkeit eines tödlichen Verlaufs aus besonderem Leichtsinn außer acht läßt" (BGH 33, 67). Bei der Prüfung des Schuldgehalts der Tat ist die Leichtfertigkeit ebenfalls nach einem individuellen Maßstab zu messen, d.h. der Täter selbst mußte die Umstände ohne weiteres wahrnehmen können, die sein Verhalten als leichtfertig erscheinen lassen39. 32 Vgl. LK 11 (Schroeder) § 16 Rdn. 121; Maurach/Gössel/Zipf, Allg. Teil II § 43 Rdn. 121. Dagegen hält Roxin, Allg. Teil I § 24 Rdn. 61 die bewußte Fahrlässigkeit ceteris paribus für strafwürdiger. 33 Sie wird von Kohlrausch/Lange, § 59 Anm. IV 3 geleugnet; vgl. dagegen aber Mäurach/Gössel/Zipf Allg. Teil II §43 Rdn. 121 f.; Duhs, SchwZStr 78 (1962) S. 35f.; LK U

(Schroeder) 34

§ 16 Rdn. 117; Lackner, § 15 Rdn. 53; Binavince, Fahrlässigkeit S. 142.

Vom Standpunkt seiner abweichenden Abgrenzung des bedingten Vorsatzes aus (vgl. oben § 29 III 3daa) mußte Schröder den Begriff der bewußten Fahrlässigkeit für verfehlt hal-

ten; vgl. Schröder,

Sauer-Festschrift S. 237. Ebenso Schmidhäuser,

GA 1957, 313; derselbe,

GA 1958, 167; derselbe, Allg. Teil S. 435; Jakobs, Allg. Teil 9/3; derselbe, ZStW Beiheft Teheran 1974 S. 10. 35 Vgl. Boldt, Böhmer S. 402. 36 Vgl. Larenz, Schuldrecht Bd. I S. 291 ff. 37 Vgl. Göhler, § 10 OWiG Rdn. 20. 38 Vgl. Maiwald, GA 1974, 258; Jakobs, ZStW-Beiheft Teheran 1974 S. 30ff.; Tenckhoff ZStW 88 (1976) S. 898 ff.; Volk, GA 1976, 175 ff.; M aurach/Gössel/Zipf Allg. Teil II § 42 Rdn. 44; Hall, Mezger-Festschrift S. 244. Vgl. auch die Definition in Ε 1962 § 18 III, die aber nicht in den endgültigen Text Aufnahme gefunden hat. 39 Zu weitgehend verlangt Maiwald, GA 1974, 265, der Täter müsse auch die Fähigkeit gehabt haben, die Beurteilung seines Verhaltens als leichtfertig vorauszusehen. Dagegen auch SK (Rudolphi) § 18 Rdn. 5. Eine traditionelle, die Unrechts- und Schuldseite der Leichtfertigkeit umfassende Definition gibt Wegscheider, ZStW 98 (1986) S. 657, während Arzt, Schröder-Gedächtnisschrift S. 119 im Anschluß an amerikanisches Recht außer auf den

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§ 54 Begriff u n d A r t e n der Fahrlässigkeit

Der AE enthielt in § 16 I I den beachtlichen Vorschlag, geringfügig fahrlässiges Verhalten überhaupt straffrei zu lassen, weil es dabei an krimineller Schuld fehle III. Die Behandlung der Vorsatz-Fahrlässigkeitskombinationen Baumann, Kritische Gedanken zur Beseitigung der erfolgsqualifizierten Delikte, ZStW 70 (1958) S. 227; Cramer, Das Strafensystem des StGB nach dem 1.4.1970, JurA 1970, 183; Gössel, Dogmatische Überlegungen zur Teilnahme am erfolgsqualifizierten Delikt, Festschrift für R. Lange, 1976, S. 219; Hänle y Die Teilnahme an den erfolgsqualifizierten Delikten, Diss. Tübingen 1970; Hardwig, Betrachtungen zum erfolgsqualifizierten Delikt, GA 1965, 97; Hirsch, Zur Problematik des erfolgsqualifizierten Delikts, G A 1972, 65; Janiszewski, Anmerkung zu BGH vom 22.7.1966, MDR 1967, 229; Jescheck, Erfolgsdelikte, Niederschriften, Bd. II, S. 246; Koffka, Erfolgsdelikte, Niederschriften, Bd. II S. 234; Krey/Schneider, Die eigentlichen Vorsatz-Fahrlässigkeits-Kombinationen usw., NJW 1970, 640; Lagodny, Anmerkung zu BGH GS 39, 100, NStZ 1992, 490; Lang-Hinrichsen, Zur Krise des Schuldgedankens im Strafrecht, ZStW 73 (1961) S. 210; Laubenthal, Anmerkung zu BGH 35, 257, JR 1988, 335; Oehler, Das erfolgsqualifizierte Delikt und die Teilnahme an ihm, GA 1954, 33; derselbe, Das erfolgsqualifizierte Delikt als Gefährdungsdelikt, ZStW 69 (1957) S. 503; Rengier, Erfolgsqualifizierte Delikte und verwandte Erscheinungsformen, 1986; Rudolphi, Anmerkung zu BGH 26, 175, JR 1976, 74; Schubarth, Das Problem der erfolgsqualifizierten Delikte, ZStW 85 (1973) S. 754; Traub, Zur Bedeutung des Wortes „wenigstens" in § 56 StGB, NJW 1957, 370. Das Strafrecht kennt zahlreiche Tatbestände, bei denen für die Tathandlung Vorsatz verlangt wird, während hinsichtlich des Verletzungs- oder Gefährdungserfolgs Fahrlässigkeit ausreicht. Die Frage, die sich hierbei stellt, ist einmal, ob diese zusammengesetzten Strafvorschriften (etwa im Zusammenhang der §§ 26, 27) als Vorsatz- oder als Fahrlässigkeitstatbestände zu behandeln sind. Zum anderen ergibt sich das Problem, welche Struktur die Fahrlässigkeit in derartigen Fällen aufweist. 1. Für die eigentlichen Vorsatz-Fahrlässigkeitskombinationen, z.B. die Herbeiführung einer Sprengstoff explosion nach § 311 IV oder die Straßenverkehrsgefährdung nach § 315c I I I Nr. 1 (vgl. oben § 26 I I la), enthält das geltende Recht in § 11 I I die Regel, daß sie „im Sinne dieses Gesetzes", d.h. praktisch im Hinblick auf die Teilnahme (OLG Stuttgart VRS 50, 265), den Versuch (z.B. § 353b I 3) 4 1 und die Strafzumessung (§§ 56 g II, 66) als Vorsatztatbestände anzusehen sind 42 . Der Vorsatzteil des zusammengesetzten Tatbestandes ist zwar nicht selbständig mit groben Sorgfaltsverstoß noch auf die Gleichgültigkeit des Täters abstellt. Als „Unrechts- und schuldübergreifendes Merkmal" betrachtet die Leichtfertigkeit auch Roxin, Allg. Teil I § 24 Rdn. 80. 40 Ebenso Bockelmann, Verkehrsrechtliche Aufsätze S. 216 ff.; Stratenwerth, Basler Juristische Mitteilungen 1966, 72f.; derselbe, Allg. Teil I Rdn. 1139f.; Roxin, Allg. Teil I §24 Rdn. 85; Arzt, Schröder-Gedächtnisschrift S. 130 f. Auf Leichtfertigkeit will Gramer, DAR 1974, 322 die Erfolgshaftung im Verkehrsstrafrecht beschränken. Bei erfolgsqualifizierten Delikten verlangt Paeffgen, JZ 1989, 227 stets Leichtfertigkeit. Bagatellfolgen will Volk, G A 1976, 179 ff. ausscheiden. Ablehnend dazu Tröndle, DRiZ 1976, 132; Dreh er/Tröndle, § 15 Rdn. 21. Zu Recht verweist LK U (Schroeder) § 16 Rdn. 215 auf § 153 StPO. 41 So Dreher/Tröndle, § 11 Rdn. 38; Schönke/Schröder/Eser, § 11 Rdn. 76. Ablehnend Krey/Schneider, NJW 1970, 644; SK (Rudolphi) § 11 Rdn. 36. 42 Zustimmend Dreher/Tröndle, § 11 Rdn. 38; LK 10 (Tröndle) § 11 Rdn. 95 ff.; Lackner, § 11 Rdn. 24; Schönke/Schröder/Eser, § 11 Rdn. 75 ff.; Janiszewski, M D R 1967, 229; vgl.

auch BT-Drucksache IV/651 S. 25. Dagegen sehen das Schwergewicht beim Fahrlässigkeitsteil des Tatbestandes Gramer, JurA 1970, 196f.; Krey/Schneider, NJW 1970, 641 ff.; Gössel, Lange-Festschrift S. 227, 238; LK n (Schroeder) § 18 Rdn. 5. Vgl. auch BGH MDR 1966, 229.

I I I . D i e Behandlung der Vorsatz-Fahrlässigkeitskombinationen

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Strafe bedroht, er stellt aber in sich immerhin eine Ordnungswidrigkeit, einen Disziplinarverstoß oder sonst eine rechtswidrige Handlung dar, die ihr besonderes Gewicht dadurch gewinnt, daß sie den Gefährdungserfolg herbeigeführt hat. Es ist deshalb gerechtfertigt, in der Abgrenzungsfrage den Schwerpunkt auf den Vorsatzteil des Tatbestandes zu legen. Beispiel: Der Taxifahrer, der an einem Fußgängerüberweg vorsätzlich falsch fährt, um einen Reisenden, der ihn zu dieser Fahrweise bestimmt hat, so schnell wie möglich zum Bahnhof zu transportieren, und dabei Fußgänger in Lebensgefahr bringt, ist wegen eines Vergehens nach § 315 c III Nr. 1 i.Verb.m. Abs. I Nr. 2 c, der Reisende wegen Anstiftung dazu zu verurteilen. Die Fahrlässigkeit weist bei den eigentlichen Vorsatz-Fahrlässigkeitskombinationen die Besonderheit auf, daß die Sorgfaltsverletzung in bezug auf den Erfolg schon in der vorsätzlichen Handlung besteht, so daß in der Regel nur noch zu fragen ist, ob der Gefährdungserfolg auch voraussehbar war. Wenn allerdings der Eintritt des Erfolgs außerhalb aller Wahrscheinlichkeit lag, kann es im Einzelfall am Zurechnungszusammenhang zwischen Sorgfaltsverstoß und Erfolgseintritt fehlen (vgl. oben § 26 I I 2). 2. Die zweite Gruppe der Vorsatz-Fahrlässigkeitskombinationen bilden die erfolgsqualifizierten Delikte (uneigentliche Vorsatz-Fahrlässigkeitskombinationen, vgl. oben § 26 I I 1 a). Es handelt sich dabei um Straftaten mit einem typischen Gefährlichkeitsgehalt, die, wenn sich die im Grundtatbestand angelegte Gefahr verwirklicht, mit wesentlich höherer Strafe bedroht sind als das Grunddelikt. Für diese Gruppe bestimmt § 18, daß die höhere Strafe den Täter nur dann trifft, „wenn er die Folge wenigstens fahrlässig herbeigeführt hat" 4 3 . Erfolgsqualifizierte Delikte sind als Restbestand der alten Erfolgshaftung im StGB noch reichlich vertreten (z.B. §§ 221 III, 224, 225, 226, 229 II, 239 II, III, 307 Nr. 1, 312, 321 II, 330, 340 II), auch in Kombination mit einer Fahrlässigkeitstat als Grundtatbestand (§§ 309, 314) 44 . Ihre Vereinbarkeit mit dem Schuldprinzip ist trotz des § 18 zweifelhaft, weil die Strafdrohung in einer die reine Fahrlässigkeitsschuld erheblich überschreitenden Weise verschärft wird 4 5 . Beispiel: Wenn sich beim Schlag mit einer geladenen Pistole ein Schuß löst und der Getroffene getötet wird, ist die Mindeststrafe nach § 226 Freiheitsstrafe nicht unter drei Jahren, in minder schweren Fällen Freiheitsstrafe von drei Monaten bis zu fünf Jahren. Der Schlag für sich allein wird dagegen nach § 223 a mit Freiheitsstrafe von drei Monaten bis zu fünf Jahren, die fahrlässige Tötung für sich allein nach § 222 mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe bestraft. 43 Aus der Verwendung des Merkmals „wenigstens" folgt, daß grundsätzlich auch Vorsatz in Betracht kommt, z.B. für § 225 I bedingter Vorsatz, während bei direktem Vorsatz und bei Absicht § 225 II eingreift. Vgl. dazu BGH 9, 135 (136); 24, 213; Schönke/Schröder/

Cramer , § 18 Rdn. 5; SK (Rudolphi) § 18 Rdn. 5; Traub, NJW 1957, 370. 44

45

Uber das Nebenstrafrecht vgl. Hänle, Die Teilnahme S. 14.

Vgl. Arthur Kaufmann, Schuldprinzip S. 244; Kohlrausch/Lange, § 56 Anm. I I I (S. 211 f.); Hardwig, GA 1965, 98; LK 11 (Schroeder) § 18 Rdn. 34; SK (Rudolphi) § 18

Rdn. 1. Für Abschaffung der erfolgsqualifizierten Delikte de lege ferenda Jescheck, Niederschriften Bd. II S. 248; Schubarth, ZStW 85 (1973) S. 775. Zugunsten des vor Einführung des § 56 a.F. bestehenden Rechtszustandes dagegen Baumann, ZStW 70 (1958) S. 236ff.; gegen ihn mit Recht Lang-Hinrichsen, ZStW 73 (1961) S. 224 f. Für die Beibehaltung erfolgsqualifizierter Delikte mit beachtlichen Gründen Hirsch, GA 1972, 77; Rengier, Erfolgsqualifizierte Delikte S. 313 ff. (mit Reformvorschlägen). Für Korrektur der Strafdrohungen Jakobs, ZStW Beiheft Teheran 1974 S. 37f.

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§ 54 Begriff u n d A r t e n der Fahrlässigkeit

U m die hohen Strafdrohungen der erfolgsqualifizierten Delikte eher zu rechtfertigen, verlangt das Gesetz hinsichtlich des Eintritts der schweren Folge zunehmend Leichtfertigkeit statt einfacher Fahrlässigkeit (vgl. oben § 26 I I 1 a). Da in diesen Fällen jedoch nicht wie in § 18 „wenigstens" Leichtfertigkeit vorausgesetzt ist (anders nur in § 225 I), wurde vielfach angenommen (so auch in der 4. Auflage S. 516), daß das erfolgsqualifizierte Delikt bei Vorsatz hinsichtlich der Tatfolge nicht in Betracht kommt (BGH 26, 175 zu § 251 m.zust.Anm. Rudolphi, JR 1976, 74) 46 . Richtig ist es jedoch, § 18 dahin zu verstehen, daß bei allen erfolgsqualifizierten Delikten die besondere Folge sowohl vorsätzlich als auch fahrlässig (und damit auch leichtfertig) herbeigeführt sein kann (BGH 33, 257 [258]; B G H NStZ 1992, 230; B G H GS 39, 100) 47 . Für die erfolgsqualifizierten Delikte ist die Regelung des § 11 I I selbstverständlich. Daß sie als Vorsatztaten behandelt werden müssen, ergibt sich schon daraus, daß ihr Grundtatbestand für sich allein eine selbständig strafbare Vorsatztat darstellt. Die vorsätzliche Grundtat enthält als Verletzungsdelikt auch stets einen Verstoß gegen die gebotene Sorgfalt im Hinblick auf die Vermeidung der besonderen Folge. Die Fahrlässigkeit, die § 18 verlangt, besteht hier also in der Voraussehbarkeit der schweren Folge, z.B. in dem oben genannten Fall des Schlags mit einer geladenen Pistole in der Voraussehbarkeit der Auslösung eines tödlichen Schusses (ebenso B G H 24, 213 [215]); B G H NStZ 1982, 27) 48 . Der Erfolg muß allerdings, da es sich nicht bloß um eine Adäquanzbeziehung, sondern um Fahrlässigkeitsschuld handelt, auch für den Täter nach seinen persönlichen Fähigkeiten voraussehbar gewesen sein 49 . Wenn beim erfolgsqualifizierten Delikt mehrere Personen zusammenwirken, so ist immer von dem vorsätzlich verübten Grunddelikt auszugehen. Ob der verschärfte Strafrahmen auf einen der Beteiligten (Mittäter, Anstifter, Gehilfe) anzuwenden ist, hängt nach § 29 allein davon ab, ob für diesen Beteiligten die schwere Folge voraussehbar war, gleichgültig ob der Haupttäter insoweit vorsätzlich, fahrlässig oder ohne Verschulden gehandelt hat50. Beispiel: Wer einen anderen zu einem Raub anstiftet, bei dem das Opfer im Falle der Gegenwehr mit einem Knüppel auf den Kopf geschlagen werden soll, ist wegen Anstiftung zum Raub mit Todesfolge (§§ 251, 26) zu verurteilen, wenn der Beraubte bei der Tat ums Leben kommt und der Anstifter dies ohne weiteres hätte voraussehen können (BGH 19, 339 [341 f.]). Zum Versuch bei den erfolgsqualifizierten Delikten vgl. oben § 49 V I I 2, zur Konkurrenz vgl. unten § 67 I I I 3. 46 Ebenso Tenckhoff ZStW 88 (1976) S. 919; Maiwald, GA 1974, 270; Rengier, Erfolgsqualifizierte Delikte S. 107ff.; Lackner, § 251 Rdn. 4; Lagodny, NStZ 1992, 490. 47 Ebenso Jakobs, Allg. Teil 9/31; Dreher/Tröndle, § 18 Rdn. 6; LK n (Schroeder) § 18

Rdn. 25; Paeffgen, JZ 1989, 223 f.; AK (Paeffgen) § 18 Rdn. 80ff.; Laubenthal, JR 1988, 335 f.; Schönke/Schröder/ Cramer, § 18 Rdn. 3; Montenbruck, Strafrahmen S. 205. Die Neu-

fassung des § 225 1 durch das Verbrechensbekämpfungsgesetz vom 28.10.1994 (BGBl. I S. 3186) erweitert die Verantwortlichkeit für die schwere Folge auf bedingten Vorsatz und Leichtfertigkeit. 48 So ausdrücklich § 17 Ε 1919, ferner Art. 123 II Schweiz. StGB. Ebenso Koffka, Niederschriften Bd. II S. 242; Jescheck, ebenda S. 248; Lackner, § 18 Rdn. 7; früher schon Radbruch, VDA Bd. II S. 251. Zu Recht verlangt aber Wessels, Allg. Teil Rdn. 693 auch die Erkennbarkeit der spezifischen Gefahr des Eintritts der schweren Folge und, wenn der Tatbestand Leichtfertigkeit voraussetzt, das Vorliegen der gesteigerten Sorgfaltspflichtverletzung. 49 Die Begründung der erfolgsqualifizierten Delikte bloß mit dem adäquaten Zusammenhang zwischen Grunddelikt und schwerer Folge widerspräche dem Schuldprinzip. 50

Vgl. Dreh er/Tröndle,

§ 18 Rdn. 3; Lackner, § 18 Rdn. 6; Schönke / Schröder / Cramer,

§ 18 Rdn. 7; SK (Rudolphi) § 18 Rdn. 6; zum Teil abweichend Oehler, GA 1954, 37ff.; Hänle, Die Teilnahme S. 58 ff.

I V . Versuch u n d Teilnahme bei Fahrlässigkeitstaten

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IV. Versuch und Teilnahme bei Fahrlässigkeitstaten Bei fahrlässigen Straftaten gibt es weder Versuch (vgl. oben § 49 I I I 1 a) noch Teilnahme (vgl. unten § 61 VI), obwohl beides im Falle der bewußten Fahrlässigkeit an sich denkbar wäre. Wenn mehrere einen tatbestandsmäßigen Erfolg fahrlässig verursachen, ist jeder als Täter für das Ganze verantwortlich 51 . Zweifelsfragen ergeben sich jedoch in den Fällen, in denen jemand durch fahrlässiges Verhalten dazu beiträgt, daß ein anderer eine vorsätzliche Straftat begehen kann. Benutzt z.B. der Mörder die Sorglosigkeit eines Apothekers, um sich Gift für die Ausführung der Tat zu verschaffen, so ist jedenfalls am Vorliegen des Kausalzusammenhangs zwischen der Fahrlässigkeit des Apothekers und dem Tod des Opfers nicht zu zweifeln (keine Unterbrechung des Kausalzusammenhangs durch die Vorsatztat; vgl. oben § 28 I I 3) 5 2 . Das Problem liegt auch nicht bei der objektiven Zurechnung der Vorsatztat, sondern bei der Bestimmung der Sorgfaltspflicht des Fahrlässigkeitstäters. Zwei Fallgruppen sind zu unterscheiden: 1. Enthält die Sorgfaltsverletzung schon in sich die Gefahr des Eintritts des tatbestandsmäßigen Erfolgs, so liegt die Ausnutzung der günstigen Situation zu einer Vorsatztat im Rahmen des rechtlich mißbilligten Risikos, und die Verantwortlichkeit des sorglos Handelnden wegen des Erfolgs der Vorsatztat richtet sich dann nach den allgemeinen Regeln. Beispiele: Der Mörder kann das Gift in der Apotheke unbemerkt an sich nehmen, weil es von dem Apotheker vorschriftswidrig aufbewahrt worden ist. Jemand vermietet eine stark feuergefährliche Wohnung, in der die Mieter später bei einem Brand umkommen, den ein Dritter vorsätzlich gelegt hat (RG 61, 318 [320]). In diesem Fall war fahrlässige Tötung entgegen dem RG zu verneinen, da der Vermieter mit einer vorsätzlichen Brandstiftung nicht zu rechnen brauchte. Ein hochgefährlicher Sexualtäter benutzt den vom Arzt bewilligten Ausgang aus dem Landeskrankenhaus zu einer Vergewaltigung (LG Göttingen NStZ 1985, 410). Die Verurteilung des Arztes wegen fahrlässiger Körperverletzung beruhte zu Recht darauf, daß der Untergebrachte, wie dem Arzt bekannt war, die Ausgänge wiederholt mißbraucht hatte. 2. Eine Sorgfaltswidrigkeit kann dem Täter auch dann zur Last fallen, wenn die Vorsatztat des anderen zwar nicht für jedermann, aber aufgrund seines Sonderwissens gerade für den Täter erkennbar war. Auch dann haftet er wegen fahrlässiger Erfolgsherbeiführung, wenn er einen Kausalbeitrag zu der Vorsatztat liefert. Beispiele: Der Täter könnte bei gehöriger Aufmerksamkeit aus bestimmten Andeutungen erkennen, daß sein Freund einen Mord plant; dennoch leiht er dem Freund auf dessen Bitte sein Gewehr, mit dem dieser dann den Mord ausführt. Die Mutter der unehelich gebärenden Tochter ist wegen fahrlässig begangener Tötung (durch Unterlassen) verantwortlich, wenn sie sich während der Geburt aus der Wohnung entfernt, obwohl sie voraussehen konnte, daß die Tochter das Kind töten würde (RG 64, 316 [319]). Verschiedentlich wird für solche Fälle ein Regreß verbot angenommen53, d.h. die ausschließliche Haftung des Vorsatztäters unter Ausschluß der Möglichkeit, auch den fahrlässig handelnden Beteiligten zu bestrafen; ein solches ist jedoch abzulehnen54. Nach Stratenwerth 51 Vgl. dazu näher Gallas, Beiträge S. 91; Maurach/Gössel/Zipf, Allg. Teil II § 42 Rdn. 39; Murmann, Die Nebentäterschaft S. 231 ff.; Stratenwerth, Allg. Teil I Rdn. 1149ff.; Welzel, Lehrbuch S. 99, 189. Spezifische Beteiligungsformen im Fahrlässigkeitsbereich unterscheidet Otto, Spendel-Festschrift S. 281 ff. 52

53

Vgl. Spendel, JuS 1974, 753 ff.

So vor allem Frank, § 1 Anm. III 2a; H. Mayer, Lehrbuch S. 138; Lampe, ZStW 71 (1959) S. 615; Naucke, ZStW 76 (1964) S. 409ff. 54 So zu Recht Roxin, Tröndle-Festschrift S. 185ff.; Baumann/Weher, Allg. Teil S. 223; Jakohs, Alle. Teil 21/114; Schönke/Schröder/Lenckner, Vorbem. 77 vor § 13; Spendel, JuS 1974, 755 (der aber im Ergebnis S. 756 aus einem anderen Grunde für Straflosigkeit eintritt).

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§ 54 Begriff u n d A r t e n der Fahrlässigkeit

soll eine Fahrlässigkeitshaftung des Hintermanns nur dann in Betracht kommen, „wenn der Deliktsbeitrag nicht nur als möglicher, sondern als einzig denkbarer Zweck erscheint" 55. Doch ist eine derartige Einschränkung der Sorgfaltspflicht unbegründet, denn es trifft nicht zu, daß man im allgemeinen auf das Ausbleiben einer Vorsatztat vertrauen dürfe, auch wenn Anhaltspunkte für das Gegenteil bestehen. Auch die Ermöglichung oder Erleichterung einer vorsätzlichen Straftat, zu der sich ein anderer erkennbar entschließen könnte, muß die Fahrlässigkeitshaftung begründen. Wenn weder ein aufmerksamer Beobachter noch der Täter selbst (aufgrund seines Sonderwissens) die vorsätzliche Tat des Dritten vorhersehen konnte, fehlt es bereits an einer Voraussetzung der Fahrlässigkeitsstrafbarkeit, nämlich der Vorhersehbarkeit des Erfolgs. 3. Die fahrlässige Mitverursachung fremder Selbstgefährdung oder -Verletzung, sei

diese vorsätzlich oder fahrlässig begangen, begründet keine strafrechtliche Verantwortlichkeit für den Täter, weil insoweit das Prinzip der Eigenverantwortlichkeit des Verletzten eingreift, das eine Sorgfaltspflichtverletzung gegenüber dem, der sich selbst verletzt, ausschließt. Die strafrechtliche Verantwortlichkeit des die Selbstgefährdung oder -Verletzung fördernden Täters beginnt erst dort, wo das Opfer, etwa aufgrund seiner Unerfahrenheit oder Jugendlichkeit, die Gefahr nicht erkennt oder wo der Täter aufgrund überlegenen Sachwissens das Risiko besser erfaßt als der sich selbst Gefährdende oder wenn er eine Garantenstellung zugunsten des Opfers hat 56 .

Beispiele: Nicht strafbar ist, wer fahrlässig den Selbstmord eines anderen erleichtert (BGH 24, 342). Dagegen ist wegen fahrlässiger Tötung strafbar, wer mit einem Angetrunkenen eine Wettfahrt auf Motorrädern veranstaltet, bei der der andere infolge eigenen Verschuldens tödlich verunglückt (BGH 7, 112). Der Gastwirt, der einem Kraftfahrer Alkohol ausgeschenkt hat, muß dessen Weiterfahrt nur dann verhindern, wenn der andere sich nicht mehr eigenverantwortlich verhalten kann (BGH 19, 152; 26, 35). Strafbar wegen Versuchs des § 223 a ist der ungeschützte Geschlechtsverkehr eines Aids-Kranken, wenn der andere Teil darüber nicht informiert ist (BGH StV 1989, 61 [65]). Fahrlässige Tötung durch den Brandstifter wird beim Tode eines Rettungswilligen angenommen (BGH NJW 1994, 205). Die Abgabe von Rauschgift an einen Süchtigen, der sich damit tötet oder verletzt, begründet keine Verantwortlichkeit wegen fahrlässiger Tötung oder Körperverletzung dessen, der dem anderen das Rauschgift verschafft hat (BGH 32, 262 m.Anm. Roxin, NStZ 1984, 410; vgl. ferner OLG Stuttgart VRS 67, 429). Dasselbe gilt für die gemeinsame Einnahme eines selbstgebrauten Stechapfeltees, der bei einem Beteiligten zum Tode, bei anderen zu Körperschäden führt, wobei vorausgesetzt wird, daß sich die Opfer über die Gefährlichkeit des Getränks im klaren waren (BGH NStZ 1985, 25). Eine Einschränkung des Prinzips der Selbstverantwortung bei bewußter Selbstgefährdung wird jedoch für die Strafschärfung nach § 30 I Nr. 3 und § 29 III Nr. 2 BtMG angenommen, wenn durch die Abgabe von Betäubungsmitteln leichtfertig der Tod eines Menschen verursacht wird, weil Schutzgut in erster Linie die Volksgesundheit ist (BGH 37, 179 [181 f.] 57 ).

55

Stratenwerth, Allg. Teil I Rdn. 1164. Vgl. Dölling, GA 1984, 71 ff. m. umfass. Nachw.; Frisch, Tatbestandsmäßiges Verhalten S. 162ff.; Jakobs, Allg. Teil 21/114a; Otto, Tröndle-Festschrift S. 175; Roxin, Allg. Teil I 56

§ 11 Rdn. 86ff.; Schönke/Schröder /Cramer,

§ 15 Rdn. 155; Stree, JuS 1985, 179ff.; Wessels,

Allg. Teil Rdn. 187; Zaczyk, Selbstverantwortung des Verletzten S. 36. Zu BGH 24, 342 kritisch Geilen, JZ 1974, 145 ff. 57 Zustimmend Rudolphi, JZ 1991, 572; Weber, Spendel-Festschrift S. 371. Zu der Einschränkung des Prinzips der Eigenverantwortlichkeit ferner Frisch, NStZ 1992, 1; Walther, Eigenverantwortlichkeit S. 181 ff.

V . Ausländisches Recht

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V. Ausländisches Recht Die Aufgliederung der Fahrlässigkeit nach dem doppelten Maßstab in einen Rechtswidrigkeits- und einen Schuldbestandteil hat auch in Osterreich 58, in der Schweiz 59 und in Kanada 60 Anhänger gefunden. Dagegen ist die französische Lehre vom Wesen und den Grenzen der Fahrlässigkeit auf einer klassisch zu nennenden Stufe verblieben 61; die Rechtsprechung neigt nach dem Grundsatz von der Identität der Fahrlässigkeit im Zivil- und Strafrecht zur Ausdehnung und Strenge62. Die italienische Lehre legte bisher bei der Fahrlässigkeit ebenfalls einen sowohl objektiven als auch subjektiven Maßstab zugrunde, rechnete das ganze aber zur Schuld; die neuere Dogmatik beginnt sich indessen auch in Italien durchzusetzen63. Das gleiche läßt sich vom gegenwärtigen Stand der spanischen Lehre sagen64. Die Originalität des spanischen Rechts besteht in Art. 565 C.p., der einen Generaltatbestand der Fahrlässigkeit enthält65. Auch in den Niederlanden wird die objektive und subjektive Komponente der Fahrlässigkeit unter dem Oberbegriff der Schuld erörtert, wobei im übrigen die gleichen Probleme auftreten wie in der deutschen Lehre 66. Die belgische Theorie folgte früher der französischen 67, unterscheidet jetzt aber deutlich zwischen der objektiv geltenden 58 Vgl Burgstaller, Das Fahrlässigkeitsdelikt S. 23 f.; derselbe, Grundzüge S. 105 ff.; WK (Burgstaller) § 6 Rdn. 26; Graßberger, ZfRV 1964, 20ff.; Rittler, Bd. I S. 217ff.; Kienapfel, JZ 1972,

775; Nowakowski, JBl 1972,30f.; Platzgummer, JBl 1971,240; Seiler, Maurach-Festschrift S. 79. Den doppelten Maßstab vertritt auch Roeder, Sozialadäquates Risiko S. 51, der aber bei Einhaltung der objektiv gebotenen Sorgfalt einen Schuldausschließungsgrund annimmt (S. 94). Anders Triffterer, Allg. Teil S. 302, der allein die subjektive Pflichtwidrigkeit für maßgebend hält. Die Definition der Fahrlässigkeit in § 6 I österr. StGB beruht eindeutig auf dem doppelten Maßstab. 59 Vgl. BGE 69 (1943) IV 231; Frey, Schweiz. Juristenvereins-Festschrift S. 343 f.; Donatsch, Sorgfaltsbemessung S. 53, 92f.; Graven, Infraction pénale S. 219f.; Schwander, Das Schweiz. StGB S. 94; Walder, ZBJV 104 (1968) S. 169 f., 184 f. Kritisch aber Schultz, SchwZStr 83 (1967) S. 319. Für individuelle Bemessung der Sorgfaltspflicht bereits im Rahmen der Unrechtsprüfung Stratenwerth, Schweiz. Strafrecht, Allg. Teil I S. 401 ff.; Rehberg, Strafrecht I S. 196; Noll/Frechsei, Allg. Teil I S. 238. Dagegen behandelt Schultz, Einführung I S. 202 ff. die objektive wie die subjektive Seite der Sorgfaltspflicht im Rahmen der Schuld. Art. 18 I I I Schweiz. StGB definiert die Fahrlässigkeit als leichtere Schuldform. 60 Binavince, Fahrlässigkeit S. 227 ff. 61 Vgl. Bouzat, Traité Bd. I S. 195 ff.; Stefani/Levasseur/Bouloc, Droit pénal général Nr. 232 f.; Jeandidier, Droit pénal général Nr. 334. Ähnlich wie die moderne deutsche Doktrin jetzt aber Merle /Vitu, Traité I Nr. 577. Der Code pénal 1994 enthält ebensowenig wie sein Vorgänger eine allgemeine Definition der Fahrlässigkeit, nennt aber in Art. 121-3 neben der „imprudence" und der „négligence" die bewußte Gefährdung eines anderen („mise en danger délibérée de la personne d'autrui") als Zwischenstufe zwischen bedingtem Vorsatz und bewußter Fahrlässigkeit. Hierzu Pradel, Rev dr pén crim 73 (1993) S. 928 f.; derselbe, Le nouveau Code pénal Nr. 46 f. 62 Vgl. die Beispiele bei ]escheck, Fahrlässigkeit S. 14 f., 19, 24; ferner Jeandidier, Droit pénal général Nr. 335 (Forderung von „extrême diligence"); Dieckmann, Das fahrlässige Erfolgsdelikt im französischen Strafrecht S. 72 ff. 63 Vgl. Bettiol/Pettoello Mantovani, Diritto penale S. 518 ff.; Nuvolone, Sistema S. 278ff. Der neueren deutschen Dogmatik folgen Fiandaca/Musco, Diritto penale S. 403, 415; Mantovani, Diritto penale S. 338 f.; Forti, Colpa ed evento S. 179ff.; Romano, Commentario Art. 43 C.p. Rdn. 51 ff. Art. 43 C.p. nennt nur „negligenza", „imprudenza" und „imperizia", ohne aber eine Definition der Fahrlässigkeit zu geben. 64 Vgl. Rodriguez Devesa/ Serrano Gomez, Derecho penal S. 472 ff. Der Einfluß der modernen deutschen Lehre ist jedoch unverkennbar; vgl. Nunez Barber ο, El delito culposo S. 102ff.; Torio Lopez, Anuario 1974, 49ff.; Mir Puig, Adiciones Bd. I I S. 790ff.; Cobo del

Rosal/ Vives Anton, Derecho penal S. 473 f. 65

Vgl. Cordoba Roda, ZStW 81 (1969) S. 429 ff. Vgl. van Bemmelen/van Veen, Ons strafrecht S. 139ff.; Pompe, Das niederländische Strafrecht S. 82 f. Eingehende Darstellung der Rechtsprechung unter diesem Aspekt bei Hazewinkel-Suringa/Remmelink, Inleiding S. 228 ff. 66

67

Vgl. Cornil,

Z f R V 1964, 35.

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§ 55 D e r Unrechtstatbestand der fahrlässigen Straftat

Sorgfaltsnorm und der seelischen Einstellung des Täters 68. Im anglo-amerikanischen Strafrecht reicht einfache Fahrlässigkeit nicht zur Bestrafung aus, verlangt wird ein mit „criminal, culpable" oder „gross negligence" bezeichneter höherer Grad von Unvorsichtigkeit als für die unerlaubte Handlung im Zivilrecht, so daß die strafrechtliche Verantwortlichkeit nicht unerheblich eingeschränkt ist 69 . Das brasilianische Recht erwähnt die Fahrlässigkeit ohne Definition in Art. 18 II C.p., die Lehre schließt sich der neueren deutschen Dogmatik an 70 .

§ 55 Der Unrechtstatbestand der fahrlässigen Straftat Baumann, Schuld und Verantwortung, JZ 1962, 41; Bindokat, Verursachung durch Fahrlässigkeit, JuS 1985, 32; Bockelmann, Das Strafrecht des Arztes, in: Lehrbuch der gerichtlichen Medizin, 3. Auflage 1967, S. 1; Bohnert, Fahrlässigkeitsvorwurf und Sondernorm, JR 1982, 6; Brammsen, Erfolgszurechnung bei unterlassener Gefahrminderung durch einen Garanten, MDR 1989, 123; Burgstaller, Erfolgszurechnung bei nachträglichem Fehlverhalten usw., Festschrift für H.-H. Jescheck, Bd. I, 1985, S. 357; v. Caemmerer, Das Problem der überholenden Kausalität im Schadensersatzrecht, Gesammelte Schriften, Bd. I, 1968, S. 411; Deutsch, Fahrlässigkeit und erforderliche Sorgfalt, 1963; Ebert, Kausalität und objektive Zurechnung, Jura 1979, 561; Engelmann, Rechtsbeachtungspflicht und rechtliche Schuld (Sonderdruck aus Festschrift für L. Traeger), 1926; Erb, Rechtmäßiges Alternatiwerhalten und seine Auswirkungen auf die Erfolgszurechnung im Strafrecht, 1991; Exner, Fahrlässiges Zusammenwirken, Festgabe für R. v. Frank, Bd. I, 1930, S. 569; Freund, Erfolgsdelikt und Unterlassen, 1992; P. Frisch, Das Fahrlässigkeitsdelikt und das Verhalten des Verletzten, 1973; W. Frisch y Tatbestandsmäßiges Verhalten und Zurechnung des Erfolgs, 1988; Gallas, Die strafrechtliche Verantwortlichkeit der am Bau Beteiligten, 1963; Gimbernat Ordeig y Die innere und die äußere Problematik der inadäquaten Handlungen usw., Diss. Hamburg 1962; H all. Über die Kausalität und Rechtswidrigkeit der Unterlassung, Erinnerungsgabe für M. Grünhut, 1964, S. 213; Hanau, Die Kausalität der Pflichtwidrigkeit, 1971; Henkel, Anmerkung zu OLG Stuttgart vom 17.2.1956, NJW 1956, 1451; v. Hippel, Vorsatz, Fahrlässigkeit, Irrtum, VDA, Bd. III, 1908, S. 373; Hirsch, Die Entwicklung der Strafrechtsdogmatik nach Welzel, Festschrift für die Universität Köln, 1988, 399; Jakobs, Vermeidbares Verhalten und Strafrechtssystem, Festschrift für H. Welzel, 1974, S. 307; Jescheck, Verhütung von Straftaten gegen das Leben und die Körperintegrität durch Fahrlässigkeit, MSchrKrim (Sonderheft zum IV. Congrès International de Défense Sociale) 1956, 38; Kahlo, Das Bewirken durch Unterlassen bei drittvermitteltem Rettungsgeschehen, GA 1987, 66; Kahrs, Das Vermeidbarkeitsprinzip und die conditio-sine-qua-non-Formel im Strafrecht, 1968; Kaminski, Der objektive Maßstab im Tatbetsand des Fahrlässigkeitsdelikts, 1992; Kamps, Arztliche Arbeitsteilung und strafrechtliches Fahrlässigkeitsdelikt, 1981; Arthur Kaufmann, Die Bedeutung hypothetischer Erfolgsursachen im Strafrecht, Festschrift für Eb. Schmidt, 1961, S. 200; derselbe, Kritisches zur Risikoerhöhungslehre, Festschrift für H.-H. Jescheck, Bd. I, 1985, S. 273; Kienapfel, Die Fahrlässigkeit usw., Zeitschrift für Verkehrsrecht 1977, 1; Kindhäuser, Anmerkung zu OLG Karlsruhe vom 20.11.1984, JR 1985, 480; Kirschbaum, Der Vertrauensschutz im deutschen Straßenverkehrsrecht, 1980; Krümpelmann, Schutzzweck und Schutzreflex der Sorgfaltspflicht, Festschrift für P. Bockelmann, 1979, S. 443; derselbe, Zur Kritik der Lehre vom Risikovergleich usw., G A 1984, 491; derselbe, Die normative Korrespondenz zwischen Verhalten und Erfolg usw., Festschrift für H.-H. Jescheck, Bd. I, 1985, S. 313; derselbe, Zurechnungsfragen bei mißlungener ärztlicher Fehlerkorrektur, JR 1989, 353; Kühl, Anmerkung zu BGH 32, 228, JR 1983, 32; Küper, Pflichtwidrigkeitszusammenhang beim Fahrlässigkeitsde68 Vgl. Dupont/ Verstraeten, Handboek Nr. 443; Hennau/Verhaegen, Droit pénal général Nr. 381. 69 Vgl. zum englischen Recht Grünhut, Das englische Strafrecht S. 195 f.; Kenny /Turner, Outlines S. 38 m.Rspr. in Fußnote 3; Smith/Hogan, Criminal Law S. 69, 93. Verschiedene Grade der Fahrlässigkeit definiert die Law Commission in Clause 22 S. 183 f.; dazu Report S. 67 ff. Zum amerikanischen Recht Honig, Das amerikanische Strafrecht S. 114 ff. m.Nachw.; LaFave/Scott, Substantive Criminal Law I S. 329ff.; Caspan, Die Fahrlässigkeit im amerikanischen Straf recht, 1972; ferner Jescheck, Fahrlässigkeit S. 15, 19 f. 70 Fragoso, Liçôes S. 228 ff. (Definition S. 229); de Jesus, Comentarios, Art. 18 Anm. 2 a; da Costa jr., Comentarios, Art. 18 Anm. IV 3.

I. D i e Verletzung der objektiven Sorgfaltspflicht

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likt, Festschrift für K. Lackner, 1987, S. 247; Küpper, Grenzen der normativierenden Strafrechtsdogmatik, 1990; Kuhlen, Fragen einer strafrechtlichen Produkthaftung, 1989; derselbe, Zum Strafrecht der Risikogesellschaft, GA 1994, 347; Lampe, Tat und Unrecht der Fahrlässigkeitsdelikte, ZStW 101 (1989) S. 1; Lenckner, Technische Normen und Fahrlässigkeit, Festschrift für K. Engisch, 1969, S. 490; Mannheim,, Der Maßstab der Fahrlässigkeit im Strafrecht, Diss. Königsberg 1912; Maurach, Adäquanz der Verursachung oder der Fahrlässigkeit? GA 1960, 97; Mir Puig, Die „ex ante"-Betrachtung im Strafrecht, Festschrift für H.-H. Jescheck, Bd. I, 1985, S. 337; Mittasch, Der Nachweis der Ursächlichkeit beim fehlerhaften Risiko, DRechtsw 8 (1943) S. 46; Mühlhaus, Die Fahrlässigkeit in Rechtsprechung und Rechtslehre, 1967; Münzberg, Verhalten und Erfolg als Grund der Rechtswidrigkeit und Haftung, 1966; Neumann, Zurechnung und „Vorverschulden", 1985; Niewenhuis, Gefahr und Gefahrverwirklichung usw., 1984; Nowakowski y Zu Welzels Lehre von der Fahrlässigkeit, JZ 1958, 335, 388; Prittwitz, Strafrecht und Risiko, 1993; Puppe, Kausalität der Sorgfaltspflichtverletzung, JuS 1982, 660; dieselbe, Zurechnung und Wahrscheinlichkeit, ZStW 95 (1983) S. 287; dieselbe, Anmerkung zu BGH 33, 61, JZ 1985, 295; dieselbe, Die Beziehung zwischen Sorgfaltswidrigkeit und Erfolg usw., ZStW 99 (1987) S. 595; Radbruch, Aussetzung, VDB, Bd. V, 1905, S. 185; Ranft, Berücksichtigung hypothetischer Bedingungen beim fahrlässigen Erfolgsdelikt, NJW 1984, 1425; Roxin y Pflichtwidrigkeit und Erfolg bei fahrlässigen Delikten, ZStW 74 (1962) S. 411; derselbe, Literaturbericht, ZStW 78 (1966) S. 214; derselbe, Gedanken zur Problematik der Zurechnung im Strafrecht, Festschrift für R. Honig, 1970, S. 133; Rudolphi, Vorhersehbarkeit und Schutzzweck der Norm in der strafrechtlichen Fahrlässigkeitslehre, JuS 1969, 549; Samson, Hypothetische Kausalverläufe im Strafrecht, 1972; Schaff stein, Die Risikoerhöhung als objektives Zurechnungsprinzip usw., Festschrift für R. Honig, 1970, S. 169; Schlüchter, Zusammenhang zwischen Pflichtwidrigkeit und Erfolg usw., JA 1984, 673; Schröder, Anmerkung zu OLG Oldenburg vom 1.12.1970, NJW 1971, 1143; Schroeder/Kauffmann, Sport und Recht, 1972; Schünemann, Die Regeln der Technik im Strafrecht, Festschrift für K. Lackner, 1987, S. 367; Seebald, Nachweis der modifizierenden Kausalität des pflichtwidrigen Verhaltens, G A 1969, 193; Spendel, Zur Unterscheidung von Tun und Unterlassen, Festschrift für Eb. Schmidt, 1961, S. 183; derselbe, Conditio sine qua non-Gedanke und Fahrlässigkeitsdelikt, JuS 1964, 14; Stoll, Kausalzusammenhang und Normzweck im Deliktsrecht, 1968; Stratenwerth, Arbeitsteilung und ärztliche Sorgfaltspflicht, Festschrift für Eb. Schmidt, 1961, S. 383; derselbe, Bemerkungen zum Prinzip der Risikoerhöhung, Festschrift für W. Gallas, 1973, S. 227; Struensee, Der subjektive Tatbestand des fahrlässigen Delikts, JZ 1987, 53; Toepel, Kausalität und Pflichtwidrigkeitszusammenhang, 1992; Triffterer, Die „objektive Voraussehbarkeit" usw., Festschrift für P. Bockelmann, 1979, S. 201; Ulsenheimer, Das Verhältnis zwischen Pflichtwidrigkeit und Erfolg bei den Fahrlässigkeitsdelikten, 1965; derselbe, Pflichtwidrigkeitszusammenhang und Vertrauensgrundsatz usw., Festschrift für W. Weissauer, 1986, S. 164; Volk, Anscheinsbeweis und Fahrlässigkeit im Strafprozeß, GA 1973, 161; Walder, Die Kausalität im Strafrecht, SchwZStr 93 (1977) S. 113; Wessels, Anmerkung zu BGH 21, 59, JZ 1967, 449; Wilhelm, Probleme der medizinischen Arbeitsteilung, Medizinrecht 1983, 45; dieselbe, Verantwortung und Vertrauen bei Arbeitsteilung in der Medizin, 1984; Wimmer, Die Fahrlässigkeit beim Verletzungsdelikt, ZStW 70 (1958) S. 196; derselbe, Das Zufallsproblem beim fahrlässigen Verletzungsdelikt, NJW 1958, 521; E. A. Wolff, Kausalität von Tun und Unterlassen, 1965; Wolter, Objektive und personale Zurechnung usw., 1981. Vgl. ferner die Schrifttumsangaben vor § 54. I. Die Verletzung der objektiven Sorgfaltspflicht 1. Jede Rechtsnorm, die fahrlässiges Verhalten unter Strafe stellt, verlangt von jedermann die Anwendung der objektiv gebotenen Sorgfalt 1, die erforderlich ist, um die Verwirklichung des Tatbestandes zu vermeiden 2. Über Art und Maß der 1 Zu der These Schmidhäusers „Fahrlässige Straftat ohne Sorgfaltspflichtverletzung" vgl. oben § 54 I 4 Fußnote 17. 2 Über die Rechtsnorm als Verhaltensrichtlinie auch bei ungewollten Reaktionen Jakobs, Welzel-Festschrift S. 309ff.; Stratenwerth, Allg. Teil I Rdn. 142; Schönke/Schröder /Cramer, § 15 Rdn. 124.

37 Jescheck, 5. A.

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§ 55 D e r Unrechtstatbestand der fahrlässigen Straftat

anzuwendenden Sorgfalt geben die Fahrlässigkeitstatbestände jedoch in der Regel keine Auskunft. Auch das bürgerliche Recht enthält in § 276 I 2 BGB nur die allgemeine Bestimmung, daß fahrlässig handelt, „wer die im Verkehr erforderliche Sorgfalt außer acht läßt" 3 . Maßgebend ist danach, was in der Gemeinschaft an Vorsicht und Aufmerksamkeit „erforderlich" ist, um Rechtsgutsverletzungen zu vermeiden, nicht eine tatsächliche Übung, die nachlässig sein kann, auch wenn sie in weiten Kreisen anzutreffen ist (z.B. im Autobahnverkehr das zu nahe Auffahren oder die ständige Benutzung der Überholspur, B G H 16, 145 [151]; vgl. auch RG 1 [4]). Diese Formel des bürgerlichen Rechts ist als Grundnorm des objektiven Maßstabs der Fahrlässigkeit auch zur Ergänzung des Tatbestandes der Fahrlässigkeitsstraftaten heranzuziehen 4. 2. a) Die erste Pflicht, die sich aus dem allgemeinen Sorgfaltsgebot ergibt, besteht darin, Gefahren für das geschützte Rechtsgut zu erkennen und richtig einzuschätzen, denn alle Vorkehrungen zur Vermeidung eines Schadens hängen nach Art und Maß von der Erkenntnis der drohenden Gefahr ab. Es handelt sich hierbei um die „innere Sorgfalt", die Binding als „Vorprüfungspflicht" bezeichnet hat 5 . Sie besteht in der Beobachtung der Bedingungen, unter denen eine Handlung stattfindet, in der Berechnung ihres Verlaufs und etwaiger Veränderungen der Begleitumstände sowie in der Überlegung, wie sich eine erkannte Gefahr entwickeln und auswirken kann. Für den Grad der dabei erforderlichen Aufmerksamkeit sind insbesondere die Nähe der Gefahr und der Wert des gefährdeten Rechtsguts maßgebend. Beispiele: Beim Verkauf von Streichhölzern an Kinder kommt es an auf deren Alter, die Glaubwürdigkeit ihrer Angabe, im Auftrag der Eltern zu handeln, und auf die häuslichen Verhältnisse (RG 76, 1 [3]). Bei telefonisch übermittelten Anzeichen einer schweren Erkrankung muß der Arzt mit Lebensgefahr rechnen und darf sich nicht auf eine Ferndiagnose beschränken (BGH 7, 211 [213]). Bei offensichtlich unachtsamen oder erkennbar gebrechlichen Personen, bei kleinen Kindern und unter Umständen auch bei Jugendlichen muß der Kraftfahrer darauf gefaßt sein, daß sie plötzlich vom Straßenrand auf die Fahrbahn treten (BGH 3, 49 [51]; vgl. auch BGH 9, 92 [94]; OLG Hamburg VRS 57, 187). Im Baustellenbereich muß der Kraftfahrer damit rechnen, daß ein dort Beschäftigter unachtsam auf die Fahrbahn tritt (OLG Hamm VRS 58, 257). Der Kraftfahrer darf Kleinkinder nur in Gegenwart einer Begleitperson mitnehmen (OLG Karlsruhe, Die Justiz 1976, 435). Besondere Vorsorge ist bei Einleitung eines Überholvorgangs auf der Autobahn geboten (BGH 5, 271 [274]), ferner beim Rückwärtsfahren (OLG Koblenz VRS 58, 256) sowie beim Rechtsabbiegen, um Radfahrer nicht zu gefährden (OLG Köln VRS 59, 425). Im Verkehrsraum eines Großbetriebes muß der Kraftfahrer mit Unachtsamkeiten des Personals an einem Fabrikbahnübergang rechnen (OLG Karlsruhe VRS 56, 345). Eine Lehrvorführung im Scharfschießen mit verschiedenen Waffen erfordert umfassende und gründliche Vorsorge, um Unfälle auszuschließen (BGH 20, 315 [320]). b) Maßstab für die vom Täter zu fordernde Aufmerksamkeit beim Erkennen von Gefahren ist der „gewissenhafte und besonnene Mensch des Verkehrskreises, dem der Handelnde angehört" (RGZ 126, 329 [331]; B G H 7, 307 [309f.]), und zwar in der konkreten Situation, in der er sich befunden hat. Dies bedeutet, daß das Gericht die Gefährlichkeit der Situation bei Betrachtung „ex ante", d.h. vor dem Eintritt eines Schadens ermitteln und seinem Urteil zugrunde legen muß 3 Vgl. hierzu Larenz y Schuldrecht Bd. I S. 282 ff.; Enneccerus/Nipperdey, Allgemeiner Teil Bd. II S. 1307 ff. 4 Bockelmann/Volk, Allg. Teil S. 159 f.; Bockelmann, Verkehrsrechtliche Aufsätze S. 203; v. Hippel, VDA Bd. III S. 569; Welzel, Fahrlässigkeit und Verkehrsdelikte S. 15. 5 Binding, Normen Bd. I S. 499ff., 530ff., 546ff.; derselbe, Die Schuld S. 120ff. Vgl. ferner Engisch y Vorsatz und Fahrlässigkeit S. 269ff.; Deutsch, Fahrlässigkeit S. 94ff.; Nowakown skiy JBl 1972, 30; LK (Schroeder) § 16 Rdn. 127ff.; Wessels, Allg. Teil Rdn. 668.

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( B G H VRS 5, 368; G A 1969, 246; O L G Köln NJW 1963, 2382) 6 . Bei Beurteilung der objektiven Erkennbarkeit der Gefahr ist ferner das besondere Kausalwissen des Täters zu berücksichtigen, z.B. die Kenntnis des Lehrers, daß der Schüler, dem er eine Ohrfeige gibt, ein Leichtbluter ist ( B G H 14, 52 [54]) oder die Kenntnis des Kraftfahrers von der Gefährlichkeit einer Kreuzung ( O L G Braunschweig VRS 13, 286) oder von der Tatsache, daß aus einem Gebäude zu einer bestimmten Zeit Schulkinder auf die Straße strömen (vgl. dazu oben § 28 I I I 2) 7 . Beispiele: Abzustellen ist somit auf das Erkenntnisvermögen des „gewissenhaften Kraftfahrers" im Autobahnverkehr (BGH 16, 145 [161]), des „gewissenhaften Rennfahrers" beim Nürburgrennen (BGHZ 5, 318 [320]), des „verantwortungsbewußten Führers eines schweren Lkw" vor der Einfahrt in eine längere Gefällstrecke (BGH 7, 307 [309]), des „gewissenhaften nichtärztlichen Heilbehandlers", der einem bedrohlichen Krankheitsbild gegenübersteht (RG 67, 12 [23]), eines „mit einer gefahrvollen Führungsaufgabe betrauten Offiziers" bei einer Lehrvorführung im Scharfschießen (BGH 20, 315 [319]), eines „erfahrenen Facharztes" (BGH JZ 1987, 879). Vgl. ferner die reiche Kasuistik bei Schönke/Schröder /Cramer, § 15 Rdn. 206ff. und LK U (Schroeder) § 16 Rdn. 195 ff. Dabei dürfen keine überspannten Anforderungen gestellt werden (RGZ 169, 215) 8 , denn ein gewisses Maß an Gefährdung gehört zu den normalen Bedingungen des täglichen Lebens (vgl. oben § 25 I V 1). Sorgfaltswidrig ist nur die Überschreitung des erlaubten Risikos, wie die h.L. die Grenze der objektiv gebotenen Sorgfalt in der konkreten Situation bezeichnet9. Hält sich eine schadenstiftende Handlung in diesem Rahmen, so fehlt es am Tatbestandsmerkmal der Sorgfaltswidrigkeit. Beispiele: Mit einem seltenen und schwer erkennbaren Materialfehler an seinem Lastzug braucht der Fahrer nicht zu rechnen (BGH 12, 75 [80]), wohl aber der Theaterbesucher damit, daß eine geladene und ungesicherte Pistole, die sich in der Tasche seines an der Garderobe abgegebenen Mantels befindet, von einem anderen aus Unachtsamkeit abgefeuert werden kann (RG 34, 91 [94]). Zu weit geht es, wenn ein Lkw-Fahrer, der von der Polizei wegen eines Beleuchtungsdefekts angehalten wird, sich nicht soll darauf verlassen dürfen, daß die Beamten ihre Sicherungsleuchten so lange stehen lassen, bis Abhilfe geschaffen ist (BGH 4, 360 [363]) oder wenn der Erbauer einer feuergefährlichen Wohnung wegen fahrlässiger Tötung bestraft wird, wenn ein Bewohner durch vorsätzliche Brandstiftung den Tod findet (RG 61, 318). Der Kraftfahrer braucht nicht damit zu rechnen, daß Fußgänger am 6

So die h.L.; vgl. Larenz, Schuldrecht Bd. I S. 285; Blei, Allg. Teil S. 300f.; Bockelmann, Verkehrsrechtliche Aufsätze S. 220 Fußnote 27; Burgstaller, Das Fahrlässigkeitsdelikt S. 31 ff.; Deutsch, Fahrlässigkeit S. 128 ff.; Engisch, Vorsatz und Fahrlässigkeit S. 283 ff., 334ff.; Gallas, Beiträge S. 53f.; Kühl, Allg. Teil § 17 Rdn. 25f.; LK U (Schroeder) § 16 Rdn. 150f.; Schönke/Schröder /Cramer,

§ 15 Rdn. 135 ff.; Lackner, § 15 Rdn. 37; Kaminski, Der objekti-

ve Maßstab S. 121 ff.; Nowakowski, JBl 1972, 31 f.; Welzel, Fahrlässigkeit und Verkehrsdelikte S. 24f.; Wessels, Allg. Teil Rdn. 669; Zielinski, Handlungs- und Erfolgsunwert S. 168ff. Vgl. zur „ex ante"-Betrachtung auch Mir Puig, Jescheck-Festschrift Bd. I S. 341 ff. Zu dem subjektiv-individuellen Maßstab von Stratenwerth u.a. vgl. oben § 54 I 3 Fußnote 13. 7 So mit Recht Welzel, Lehrbuch S. 132; Burgstaller, Das Fahrlässigkeitsdelikt S. 64ff.; Schönke/Schröder /Cramer, § 15 Rdn. 139; Wessels, Allg. Teil Rdn. 670. Im „Sonderwissen" liegt nach Struensee, JZ 1987, 57 ff. das finale Moment bei den Fahrlässigkeitsdelikten. 8 v. Bar, Gesetz und Schuld Bd. II S. 456f.; v. Hippel, VDA Bd. III S. 570; Larenz, Schuldrecht Bd. I S. 283; Mannheim, Fahrlässigkeit S. 44; Walder, ZBJV 104 (1968) S. 171; Wessels, Allg. Teil Rdn. 670. 9 So Bockelmann/Volk, Allg. Teil S. 161; Engisch, DJT-Festschrift S. 418f.; Jakobs, Allg. Teil 9/7; Roxin, Allg. Teil I § 24 Rdn. 11 ; Schönke/Schröder/Lenckner, Vorbem. 94 vor § 32; Welzel, Lehrbuch S. 132. Zu Recht hält aber LK U (Hirsch) Vorbem. 32 vor § 32 den Begriff des erlaubten Risikos in diesem Zusammenhang für systematisch entbehrlich (anders oben § 36, wo das erlaubte Risiko ein gemeinsames Strukturprinzip bestimmter Rechtfertigungsgründe darstellt). 37*

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Straßenrand, die ihn gesehen haben, plötzlich in seine Fahrbahn treten (BayObLG VRS 52, 371; 55, 183), der Kraftfahrzeughalter nicht damit, daß dem ihm bekannten Fahrer inzwischen die Fahrerlaubnis entzogen sein könnte (BayObLG VRS 54, 204). 3. Aus der Erkennbarkeit der Gefahr ergibt sich die Pflicht zu sachgemäßem äußeren Verhalten mit dem Ziel, den Eintritt des tatbestandsmäßigen Erfolges zu vermeiden („äußere Sorgfalt") 10 . a) Die Sorgfaltspflicht besteht im einfachsten Falle darin, daß von einer Handlung, die geeignet ist, den Tatbestand der fahrlässigen Straftat zu verwirklichen, Abstand genommen werden muß (Sorgfalt als Unterlassung gefährlicher Handlungen) 1 . Beispiele: Wenn gewisse Rohstoffe trotz Desinfektion nicht gefahrlos verarbeitet werden können, muß ihre Verwendung unterbleiben (RG 63, 211 [214]). Bei fortschreitender Verschlimmerung eines Krankheitsbildes hat der Täter, der das Verfahren des „Gesundbetens" anwendet, von der weiteren Behandlung Abstand zu nehmen (RG 50, 37 [42]). Auf ein Motorradrennen mit einem Betrunkenen darf sich niemand einlassen (BGH 7, 112 [115]). Handlungen, die wegen ihrer Gefährlichkeit generell verboten sind, enthalten die Tatbestände der Verkehrsdelikte (z.B. §§ 315ff.). Ein Sonderfall der Verletzung einer Unterlassungspflicht ist das „ Übernahmeverschulden" 12. Eine objektive Pflichtwidrigkeit kann schon darin liegen, daß jemand eine Handlung, die sich der Geübte ohne weiteres zutrauen dürfte, überhaupt vornimmt oder übernimmt, obwohl ihm die erforderliche Sachkunde fehlt (vgl. RG 59, 355 [356]; 67, 12 [20] für den nicht approbierten Heilpraktiker; B G H VRS 5, 477 für den übermüdeten Kraftfahrer; O L G Hamm VRS 25, 455 für den Anfänger im Autofahren bei besonders schwierigen Straßenverhältnissen; B G H JR 1986, 248 [250] und NJW 1984, 655 [657] für einen am Anfang der Fachausbildung stehenden Arzt; B G H 10, 133 [134] für den Zeitschriftenhändler, der jugendgefährdende Schriften verkauft; B G H NJW 1984, 655 [zivilrechtl.] für den in der Ausbildung befindlichen Assistenzarzt, der allein eine schwierige Operation durchführt). b) Häufiger ist jedoch der Fall, daß die gefährliche Handlung an sich vorgenommen werden darf, weil sie wegen ihres sozialen Nutzens im Leben der modernen Gesellschaft nicht entbehrt werden kann, wie die Verwendung schneller Verkehrsmittel, der Einsatz von gefährlichen Maschinen in der Industrie, die Benutzung von giftigen Medikamenten in der Medizin, die Teilnahme am Skisport auf vorbereiteten, eine hohe Geschwindigkeit erlaubenden Pisten (vgl. unten § 55 I 3d Fußnote 15). Hier geht die Sorgfaltspflicht dahin, bei Ausführung der Handlung alle erforderlichen Vorsiehts-, Kontroll- und Überwachungsmaßregeln anzuwenden, um die damit verbundenen Gefahren auszuschalten oder doch in Grenzen zu halten (Sorgfalt als vorsichtiges Handeln in Gefahrsituationen) 13 . Je größer der soziale Wert der vom Täter vorgenommenen Handlung ist, desto eher werden Gefahren 10 Vgl. Engischy Vorsatz und Fahrlässigkeit S. 273 ff. Daß „äußere Sorgfalt" nur die Konsequenz der „inneren" ist, wie Jakobs, Studien S. 62 f. einwendet, ist nicht zu bezweifeln, spricht aber nicht gegen den Wert der Unterscheidung. 11 Vgl. Engischy Vorsatz und Fahrlässigkeit S. 283 ff.; Nowakowski y JZ 1958, 337. 12 Vgl. dazu näher Bockelmanny Verkehrsrechtliche Aufsätze S. 211; Jakobs, Allg. Teil 9/ 14; Maurach/Gössel/Zipf, Allg. Teil I I § 43 Rdn. 62f.; Roxin, Allg. Teil I § 24 Rdn. 34ff.; Dreher/Tröndley § 15 Rdn. 16; LK n (Schroeder) § 16 Rdn. 141 f.; Kühl, Allg. Teil § 17 Rdn. 35; Stratenwerth, Allg. Teil I Rdn. 1105; Neumann, Zurechnung S. 186; H. Mayer y Lehrbuch S. 271; Schönke/Schröder/Gramer, § 15 Rdn. 198; Schmidhäuser, Allg. Teil S. 444; Wessels, Allg. Teil Rdn. 668. 13 Vgl. Engischy Vorsatz und Fahrlässigkeit S. 290ff.; Wimmer, ZStW 70 (1958) S. 214ff. Rechtsprechung zu Skiunfällen bringt Schönke/Schröder/ Gramer, § 15 Rdn. 221 f.

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bei der Ausführung in Kauf genommen werden dürfen (z.B. bei der Raumfahrt, bei zulässigen medizinischen Experimenten am Menschen oder der friedlichen Nutzung der Atomenergie). Beispiele: Der Arzt muß als besonders wirksam anerkannte Behandlungsmethoden auch dann anwenden, wenn sie von der eigenen Schulmeinung abweichen (RG 74, 60; BGH NJW 1960, 2253). Er hat ferner die Pflicht der Kontrolle richtiger Übermittlung seiner Verordnungen (BGH 3, 91 [96]; 6, 282 [286]) und eine Aufsichts- und Überwachungspflicht gegenüber ungeschultem oder neu eingestelltem Personal (BGH NJW 1955, 1488). Besondere Vorsichtspflichten des Kraftfahrers gelten bei der Rückwärtsausfahrt aus Grundstücken (BGH 2, 226 [229]), beim Linkseinbiegen in Grundstücke (BGH 15, 178 [182f.]) und beim Abstellen von Fahrzeugen am Berg (BGH 17, 181 [185]). Der Skiläufer muß die Unfallverhütungsregeln der Fédération Internationale de Ski (FIS) kennen und beachten. c) Die erforderliche Sorgfalt kann ferner in der Erfüllung von Vorbereitungsund Informationspflichten vor Ausführung der gefährlichen Handlung bestehen (Sorgfalt als Erfüllung einer Erkundigungspflicht) 14 . Hier geht es darum, daß der Täter sich rechtzeitig die Kenntnisse, Erfahrungen und Fähigkeiten verschafft, ohne die die Vornahme der Handlung wegen des damit verbundenen Risikos unverantwortlich wäre. Die in Betracht kommenden Pflichten sind nach Art und Umfang verschieden. Es kann sich um die schnell zu erledigende Prüfung eines Einzelfalls (etwa die Erhebung der Krankengeschichte, B G H 21, 59) wie auch um kontinuierliche fachliche Fortbildung handeln. Die Erkundigungspflicht kann insbesondere darin bestehen, sich die für eine bestimmte Tätigkeit aufgestellten Rechtsvorschriften und sonstigen Verhaltensnormen anzueignen. Beispiele: Der Steuerpflichtige muß sich fachlich unterrichten, um den Umfang seiner Steuerpflicht zu erkennen (RG 57, 329; 59, 53 [54]; 61, 259 [263]). Der Altmetallhändler muß bei Verdacht durch Erkundigung die Herkunft des angekauften Eisens in Erfahrung bringen (RG 60, 349 [350] zu § 18 UnedMG [aufgehoben]). Der Arzt hat sich über die Fortschritte der Heilkunde und die Entwicklung der Medikamente auf dem laufenden zu halten (RG 64, 263 [269]; 67, 12 [23]). Die Prozeßpartei muß sich auf ihre Aussage vor Gericht vorbereiten, um ein falsches Erinnerungsbild rechtzeitig korrigieren zu können (RG 62, 126 [129 f.]). Der Kraftfahrer muß sich über alle Bestimmungen des Straßenverkehrsrechts informieren, die für ihn maßgebend werden können; das gilt besonders für Fahrten im Ausland. d) Die Pflicht zur Anwendung der äußeren Sorgfalt ergibt sich zunächst aus der allgemeinen Regel, daß sich jedermann so zu verhalten hat, daß er die Verletzung geschützter Interessen anderer vermeidet. Gefordert ist also das der jeweiligen Situation angepaßte schadensverhindernde Verhalten (vgl. etwa für Skiläufer O L G Köln NJW 1962, 1110; O L G Karlsruhe NJW 1964, 55 1 5 ). Für verschiedene Lebensbereiche sind die Sorgfaltsregeln im einzelnen festgelegt worden. Dies gilt insbesondere für den Straßenverkehr, wo StVO und StVZO die Ergebnisse langer Erfahrung mit der Bekämpfung von Verkehrsrisiken enthalten (BGH 12, 75 [78]). Eine ergänzende eewohnheitsrechtliche Regel für den Straßenverkehr ist der Vertrauensgrundsatz 1 . Auf anderen Gebieten sind die Sorgfaltsregeln etwa in Polizei14

Engisch, Vorsatz und Fahrlässigkeit S. 306ff.; Binding, Normen Bd. IV S. 501; Engelmann, Rechtsbeachtungspflicht S. 37ff. 15 Zu den gewohnheitsrechtlichen Regeln für den Skisport vgl. Lossos, Pichler, Padrutt, in: Schroeder/Kauffmann, Sport und Recht S. 57ff., 83ff., lOOff.; ferner die FIS-Regeln (S. 264) (vgl. oben § 55 I 3 b). 16 Er besagt, daß der verkehrsgerecht handelnde Kraftfahrer nicht mit verkehrswidrigem Verhalten anderer Verkehrsteilnehmer zu rechnen braucht, solange das Gegenteil nicht deutlich erkennbar oder nach der Erfahrung zu erwarten ist (BGH 7, 118 [121 ff.]; vgl. dazu

Schönke/Schröder /Cramer,

§ 15 Rdn. 21 Iff.; Jakobs, Allg. Teil 7/51 ff.; SK [Samson] § 16

Anh. Rdn. 21; LK n [Schroeder] § 16 Rdn. 168ff.; Kirschbaum, Der Vertrauensschutz, 1980; Kühl, Allg. Teil § 17 Rdn. 36ff.; Roxin, Allg. Teil I § 24 Rdn. 21 ff.).

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Verordnungen, Betriebsordnungen oder Unfallverhütungsvorschriften der Berufsgenossenschaften enthalten 17 . Allgemein anerkannte Regeln gelten ferner für die Krankenbehandlung 18. Die Verletzung von Sondernormen über die anzuwendende Sorgfalt besagt zwar nicht in allen Fällen, daß der Täter fahrlässig gehandelt hat (RG 56, 343 [349]; 76, 1 [2]; BGH MDR 1951, 274), doch ist die Zuwiderhandlung gegen bindende Vorschriften immerhin ein „Beweisanzeichen" dafür, daß eine Sorgfaltspflichtverletzung vorliegt (RG 67, 12 [21]; BGH 4, 182 [185])19. Auf der anderen Seite ist die Einhaltung bestehender Vorschriften nicht immer ausreichend, wenn die Besonderheit der Situation mehr oder anderes verlangt als das, was geschrieben steht (RG 59, 341 [342]; 77, 28 [31]). So modifiziert § 1 II StVO gegebenenfalls die sonst geltenden Sorgfaltsregeln des Straßenverkehrsrechts (vgl. auch § 11 II StVO). e) Ebenso wie bei der Erkennbarkeit von Gefahren ist der anzuwendende Maßstab auch hier das Verhalten eines gewissenhaften und besonnenen Angehörigen des Verkehrskreises des Täters bei Betrachtung der Lage „ex ante". Hinsichtlich der Frage, wen die Verantwortung für die Erfüllung einer bestimmten Sorgfaltspflicht trifft, ist das Prinzip der Arbeitsteilung zu beachten, das die Grundsätze über die Fahrlässigkeitshaftung des isoliert handelnden einzelnen modifiziert und eine sinnvolle Verteilung der Aufgaben beim Zusammenwirken mehrerer, wie z.B. zwischen Arzt und Hilfspersonal, möglich macht (vgl. B G H NJW 1955, 1487 [1488]; B G H 6, 282 [288]; O L G Hamm NJW 1969, 2211) 20 . Der Vorgesetzte muß seine Mitarbeiter sorgfältig auswählen, anleiten und überwachen, darf sich darauf aber auch beschränken, wenn nicht erkennbare Anhaltspunkte für Fehlleistungen gegeben sind. Der Untergebene darf sich seinerseits auf die Richtigkeit der ihm erteilten Anweisungen verlassen. Die an einer Operation mitwirkenden Fachärzte dürfen grundsätzlich auf die fehlerfreie Arbeit aller beteiligten Kollegen vertrauen (BGH NJW 1980, 649 [650]). II. Eintritt, Verursachung und Voraussehbarkeit des Erfolgs 1. Zum Tatbestand der fahrlässigen Erfolgsdelikte gehört weiter der Eintritt des tatbestandsmäßigen Erfolgs, der ebenso wie bei den Vorsatzdelikten ein Verletzungs- oder ein konkreter Gefährdungserfolg sein kann (vgl. oben § 26 I I 2). Beispiele: Fahrlässige Verletzungsdelikte sind fahrlässige Tötung (§ 222), fahrlässige Körperverletzung (§ 230), fahrlässige Brandstiftung (§ 309). Fahrlässige konkrete Gefährdungsdelikte sind die Herbeiführung von Brandgefahr (§ 310a), die Baugefährdung (§ 323 IV), die schwere Umweltgefährdung (§ 330 VI) und die verschiedenen Tatbestände der fahrlässigen Verkehrsgefährdung (§§ 315 IV, V, 315 a III, 315 b IV, V, 315 c III). Fahrlässige abstrakte Gefährdungsdelikte enthalten die §§ 163, 316 II, 327 III und die §§3-6, 21 GjS (BGH 8, 80 [89]; 10, 133). a) Der Unrechtsgehalt der Sorgfaltspflichtverletzung wird durch den Eintritt oder das Ausbleiben des Erfolgs weder vermehrt noch vermindert; die Handlung 17

Vgl. Bohnert, JR 1982, 6ff.; Gallas, Verantwortlichkeit der am Bau Beteiligten S. 36; Jescheck, MSchrKrim 1956, 46ff.; Lackner, § 15 Rdn. 39. Über technische Normen (DIN-, VDE-, VDI-Normen) vgl. Lenckner, Engisch-Festschrift S. 492 ff. 18 Vgl. dazu Bockelmann, Das Strafrecht des Arztes S. 39ff.; Schönke/Schröder /Cramer, § 15 Rdn. 219. 19 Vgl. näher Volk, GA 1973, 170ff.; Lenckner, Engisch-Festschrift S. 502 ff.; Schünemann, Lackner-Festschrift S. 389 ff.; Kuhlen, Produkthaftung S. 121. 20 Vgl. Stratenwerth, Eb. Schmidt-Festschrift S. 393 ff.; Schönke/Schröder /Cramer, § 15 Rdn. 151 ff. Zu dem hochwichtigen Problem der Arbeitsteilung in der Medizin insbes. Kamps, Ärztliche Arbeitsteilung, 1981; Wilhelm, Arbeitsteilung in der Medizin, 1984; dieselbe, Medizinrecht 1983, 45.

I I . E i n t r i t t , Verursachung u n d Voraussehbarkeit des Erfolgs

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bleibt unsachgemäß, auch wenn nichts „passiert", und es ist bekanntlich oft ein Werk des Zufalls, ob durch eine Fahrlässigkeit jemand getötet oder verletzt wird oder ob alles gut abläuft 21 . Trotz dieses „Zufallsmoments" 22 ist es nicht richtig, den Eintritt des Erfolgs als objektive Strafbarkeitsbedingung anzusehen23 oder ihn im Hinblick auf die Rechtswidrigkeit der Fahrlässigkeit für weniger wichtig zu halten 24 . Handlung und Erfolg sind vielmehr eng miteinander verbunden 2 5 . Denn zum einen bestehen die Sorgfaltspflichten zu dem Zweck, bestimmte Verletzungen oder Gefährdungen zu verhindern; zum zweiten bestimmt die Gefahr für das geschützte Handlungsobjekt Art und Maß der gebotenen Tätigkeit; weiter muß sich die Sorgfaltspflichtverletzung gerade in dem eingetretenen Erfolg ausgewirkt haben (vgl. unten § 55 I I 2 b) und muß der Erfolg im Zeitpunkt der Handlung voraussehbar gewesen sein (vgl. unten § 55 I I 3); endlich bestimmt sich nach dem Erfolg nicht nur, ob überhaupt, sondern auch, weswegen und wie hoch bestraft wird 6 . Der „Rest von Erfolgshaftung", der im Erfolgsunrecht der Fahrlässigkeitstat fortlebt, besteht also nur darin, daß, wer Glück gehabt hat, milder oder gar nicht bestraft wird, obwohl auch ihm eine Verletzung der objektiv geforderten Sorgfalt zur Last gelegt werden muß. b) Das Verständnis der fahrlässigen Gefährdungsdelikte wird dadurch erschwert, daß hier mit einem doppelten Gefahrbegriff gearbeitet werden muß 27 . Einmal erfordert die Sorgfaltspflichtverletzung, daß die Handlung nach dem Urteil des einsichtigen Beobachters eine Gefahr für das geschützte Rechtsgut mit sich gebracht hat, zum anderen besteht der Erfolg gerade darin, daß ein bestimmtes Handlungsobjekt durch die Sorgfaltsverletzung gefährdet wurde. Die beiden Gefahrbegriffe unterscheiden sich dadurch, daß die Gefährlichkeit der Handlung abstrakt danach zu beurteilen ist, ob sie ihrer Art nach das geschützte Rechtsgut beeinträchtigen konnte, während die Gefährdung des Handlungsobjekts konkret danach festgestellt wird, ob es in den Wirkungsbereich der gefährlichen Handlung gelangt ist. Beispiel: Vor einer Kuppe ist das Überholen verboten und als Ordnungswidrigkeit zu ahnden, auch wenn kein Fahrzeug entgegenkommt (§§ 5 II 1, 49 I Nr. 5 StVO). Befand sich jedoch ein Fahrzeug in Gegenrichtung unmittelbar hinter der Kuppe, so ist dieses in den Wirkungsbereich des falschen Überholvorgangs gelangt, und es liegt darum eine fahrlässige Straßenverkehrsgefährdung (§ 315 c I Nr. 2 b, I I I Nr. 2) vor, wenn der Täter außerdem grob verkehrswidrig und rücksichtslos gehandelt hat. 2. Der Erfolg muß ferner durch die Handlung des Täters ursächlich führt worden sein.

herbeige-

a) Erste Voraussetzung der objektiven Zurechnung des Erfolgs ist der Kausalzusammenhang, der nach den allgemeinen Regeln der Bedingungstheorie festgestellt wird (Formel von der gesetzmäßigen Bedingung, vgl. oben § 28 I I 4) 2 8 . b) Es genügt jedoch für die Zurechenbarkeit des Erfolges noch nicht, daß dieser ohne das Verhalten des Täters ausgeblieben wäre. Der Erfolg kann dem Täter viel21

Vgl. Engisch, Vorsatz und Fahrlässigkeit S. 341 f. Vgl. Exner, Fahrlässigkeit S. 83; Radbruch, VDB Bd. V S. 201 Fußnote 2; Binavince, Die vier Momente S. 203 ff.; Donatsch, Sorgfaltsbemessung S. 49f. 23 Zu den Lehren, die den Erfolg bei den Fahrlässigkeitsdelikten als objektive Strafbarkeitsbedingung verstehen wollen, vgl. oben § 54 I 4 Fußnote 18. 24 So aber Welzel, Fahrlässigkeit und Verkehrsdelikte S. 21; derselbe, Lehrbuch S. 136. 25 Vgl. Donatsch, Sorgfaltsbemessung S. 50 m. weit. Nachw. 26 Der Erfolg hat also keineswegs nur eine die Strafbarkeit begrenzende Funktion; vgl. Krauß, ZStW 76 (1964) S. 61 f. 27 Vgl. Welzel, Lehrbuch S. 137; Lackner y Niederschriften Bd. IX S. 333 ff. 28 Vgl. Maurach/Gössel/Zipf Allg. Teil II § 43 Rdn. 81; Schönke/Schröder/ Cramer, § 15 22

Rdn. 159; SK (Samson) § 16 Anh. Rdn. 23.

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mehr nur dann objektiv zugerechnet werden, wenn er seine spezifische Voraussetzung gerade in dem sorgfaltswidrigen Aspekt des Täterverhaltens gehabt hat, denn nur in der Sorgfaltspflichtverletzung liegt das Handlungsunrecht des Fahrlässigkeitstäters. Der besondere Rechtswidrigkeitszusammenhang, der damit gefordert wird, ist nichts anderes als die Anwendung der Lehre von der objektiven Zurechnung auf die Fahrlässigkeitdelikte (vgl. oben § 28 IV 4, 5). Der Rechtswidrigkeitszusammenhang setzt zweierlei voraus: einmal daß der Erfolg bei sorgfaltsgemäßem Verhalten vermieden worden wäre, zum andern daß die durch die sorgfaltswidrige Handlung verletzte Norm gerade der Vermeidung solcher Erfolge wie des im konkreten Fall eingetretenen diente 29 . aa) Der Rechtswidrigkeitszusammenhang ist zu verneinen, wenn der sorgfaltswidrig handelnde Täter den tatbestandsmäßigen Erfolg zwar durch sein Verhalten verursacht hat, der Erfolg aber auch bei sorgfältigem Verhalten eingetreten wäre (Fall des rechtmäßigen Alternativverhaltens, vgl. oben § 28 IV 5) 3 0 . Beispiele: Ein Apotheker verabfolgt mehrfach eine giftige Arznei ohne Vorlage eines neuen Rezepts, was zum Tode des Patienten führt; es besteht aber die Wahrscheinlichkeit, daß der behandelnde Arzt das Rezept auf Anfrage erneuert hätte, weil kein äußerer Anlaß bestand, die Kur zu unterbrechen (RG 15, 151 [155]). Bei einer Operation wird zur Narkose fehlerhafterweise statt Novokain Kokain verwendet, woran der Patient stirbt; er wäre jedoch infolge Uberempfindlichkeit gegen jede Art von Narkotika auch bei Anwendung von Novokain gestorben (RG HRR 1926, Nr. 2302). Ein Fabrikant läßt infizierte chinesische Ziegenhaare verarbeiten, was zum Tode mehrerer Arbeiterinnen durch Milzbrandbakterien führt; die Ansteckung wäre jedoch auch durch Desinfektion nicht völlig auszuschließen gewesen (RG 63, 211 [213]). Ein Heilpraktiker überweist eine krebskranke Patientin zu spät in klinische Behandlung, so daß operative Hilfe nicht mehr möglich ist; sie wäre jedoch wahrscheinlich auch bei rechtzeitiger Operation nicht zu retten gewesen (RG 75, 324). Ein Lkw-Fahrer überholt einen Radfahrer mit zu geringem Seitenabstand, dieser gerät dabei unter den Anhänger und wird getötet; der Unfall wäre aber mit hoher Wahrscheinlichkeit auch bei richtiger Fahrweise eingetreten, weil der Radfahrer erheblich betrunken war (BGH 11, 1). Wenn ein Kraftfahrer grob verkehrswidrig in eine Unfallstelle hineinfährt und auch ein aufzustellendes Warndreieck nicht bemerkt hätte, kann dem für den ersten Unfall Verantwortlichen der zweite Unfall nicht zur Last gelegt werden (BayObLG JZ 1982, 731). Vgl. auch BGH VRS 21, 341 (342); BGH 21, 59 (61); OLG Karlsruhe DAR 1984, 19; OLG Hamm DAR 1963, 245. Eine Entlastung des Täters tritt aber nicht dadurch ein, daß der gleiche Erfolg durch einen Dritten herbeigeführt worden wäre (BGH 30, 228 [331 f.] m.Bespr. Puppe, JuS 1982, 660 und Anm. Kühl, JR 1983, 32), und natürlich dann nicht, wenn er bei ordnungsgemäßer Fahrweise vermieden worden wäre (OLG Stuttgart Die Justiz 1985, 407). Zweifel bestehen hinsichtlich der Lösung dieser Fälle nur dann, wenn nicht aufgeklärt werden kann, ob der Erfolg bei sorgfaltsgemäßem Verhalten mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit vermieden worden wäre. Nach der h.L. 3 1 , der auch die Rechtsprechung folgt (BGH 11, 1 [7]; 21, 59 [61]; 24, 31 [34]; 37, 106 [127]; 29 So die h.L.; vgl. Lackner, § 15 Rdn. 41 (zu abweichenden Meinungen Rdn. 45); Niewenhuis, Gefahr S. 7f. m.Rspr.; Wessels, Allg. Teil Rdn. 673. 30 So die h.L.; vgl. Blei, Allg. Teil S. 301 f.; Bindokat, JuS 1985, 32ff.; Bockelmann/Volk, Allg. Teil S. 162; Eser/Burkhardt, Strafrecht I Nr. 4 A Rdn. 65; Kühl, Allg. Teil § 17 Rdn. 47ff.; LK U (Jescheck) Vorbem. 68 vor § 13; Roxin, Allg. Teil I § 11 Rdn. 72; Kienapfel, Zeitschrift für Verkehrsrecht 1977, 11 f.; Lackner, § 15 Rdn. 42; Oehler, Eb. SchmidtFestschrift S. 238; Schönke/Schröder/Lenckner, Vorbem. 99 vor § 13; SΚ (Samson) § 16 Anh. Rdn. 25; Stratenwerth, Allg. Teil I Rdn. 1107; Wessels, Allg. Teil Rdn. 677; Erh, Rechtmäßiges Alternatiwerhalten S. 299. Anders Spendel, Eb. Schmidt-Festschrift S. 198. Kritisch auch Ranft, NJW 1984, 1425. Zur Kausalität des sorgfaltswidrigen Verhaltens Toepel, Kausalität S. 96 ff. Eingehend zum ganzen Küper, Lackner-Festschrift S. 249 ff.

I I . E i n t r i t t , Verursachung u n d Voraussehbarkeit des Erfolgs

585

B G H GA 1988, 184; O L G Hamm D A R 1963, 245; O L G Stuttgart 1963, 335; O L G Karlsruhe G A 1970, 313), muß immer freigesprochen werden, wenn nicht mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit festgestellt werden kann, daß der Erfolg bei sachgemäßem Handeln vermieden worden wäre (Lösung nach der Formel „in dubio pro reo"). Dagegen berücksichtigt O L G Karlsruhe JR 1985, 479 m.zust.Anm. Kindhäuser jetzt auch die Risikoerhöhung als Grundlage der Zurechnung. Nach O L G Oldenburg NJW 1971, 631 m.abl.Anm. Schröder soll die objektive Zurechnung sogar dann zu verneinen sein, wenn bei pflichtgemäßem Verhalten ein geringerer Schaden eingetreten wäre 32 . Die Gegenmeinung bejaht die objektive Zurechnung des Erfolgs schon dann, wenn ein vorschriftsmäßiges Verhalten möglicherweise zur Vermeidung des Erfolgs geführt hätte und das Gegenteil nicht bereits „nach menschlichem Ermessen" zu erwarten war 3 3 . Zu folgen ist jedoch einer Mittelmeinung, nach der die objektive Zurechnung des Erfolgs schon dann, aber auch erst dann zu bejahen ist, wenn die Verletzung der Sorgfaltspflicht nachweisbar 34 eine gegenüber der Normalgefahr erheblich gesteigerte Gefährdung des Handlungsobjekts mit sich brachte, weil die jeweils in Betracht kommenden Sorgfaltspflichten zwecks Vermeidung des Erfolgs auch dann beobachtet werden müssen, wenn nicht sicher ist, ob ihre Einhaltung dieses Ergebnis haben wird 3 5 . Der Satz „in dubio pro reo" greift erst dann ein, wenn zweifelhaft bleibt, ob durch das sorgfaltswidrige Verhalten eine wesentliche Erhöhung des Risikos eingetreten ist (Risikoerhöhungslehre). Gefährliches Handeln, das für einen tatbestandsmäßi31

So Baumann/Weber,

Allg. Teil S. 273; Bockelmann/Volk,

Allg. Teil S. 162; Krümpel-

mann, GA 1984, 491 ff.; derselbe, Bockelmann-Festschrift S. 462 f.; Ebert, Jura 1979, 572 f.; Hirsch, ZStW 94 (1982) S. 251 ff.; Schönke/Schröder/Gramer, § 15 Rdn. 173; SK (Samson)

§ 16 Anh. Rdn. 27a; Dreher/Tröndle, Vorbem. 17e vor § 13; Jakobs, Allg. Teil 7/103; Niewenhuis, Gefahr S. 43 ff.; Frisch, Tatbestandsmäßiges Verhalten S. 543; Toepel, Kausalität S. 146 ff.; Freund, Erfolgsdelikt S. 130; Küpper, Grenzen S. 100; Schlüchter, JA 1984, 676;

LK n (Schroeder) § 16 Rdn. 189f.; Lampe, ZStW 71 (1959) S. 603; derselbe, ZStW 101 (1989) S. 51; Kahrs, Das Vermeidbarkeitsprinzip S. 268; Oehler, Eb. Schmidt-Festschrift S. 239; Ulsenheimer, Pflichtwidrigkeit und Erfolg S. 149; derselbe, JZ 1969, 366; derselbe, WeissauerFestschrift S. 164ff.; Welzel, Lehrbuch S. 136; Wessels, Allg. Teil Rdn. 185. 32 Richtig dagegen BayObLG VRS 19, 128, wo angenommen wird, daß zugunsten, aber auch zu Lasten des Täters der Eintritt des geringeren Schadens zugrunde zu legen ist. 33 So Eb. Schmidt, Der Arzt im Strafrecht S. 201; Arthur Kaufmann, Eb. Schmidt-Festschrift S. 229; derselbe, Jescheck-Festschrift Bd. I S. 282; Spendel, Eb. Schmidt-Festschrift S. 190; derselbe, JuS 1964, 17; wohl auch Hall, Grünhut-Erinnerungsgabe S. 229 f. 34 Die Feststellung der Risikosteigerung verlangt mit Recht Stratenwerth, Gallas-Festschrift S. 235 ff. 35 So Roxin, ZStW 74 (1962) S. 430ff.; derselbe, Honig-Festschrift S. 133ff.; derselbe, Allg. Teil I § 11 Rdn. 72ff.; ihm folgend Burgstaller, Das Fahrlässigkeitsdelikt S. 139ff.; Kienapfel, Zeitschrift für Verkehrsrecht 1977, 11; Wolter, Objektive und personale Zurechnung S. 334ff.; Maurach/Gössel/Zipf, Allg. Teil II § 43 Rdn. 106; Puppe, ZStW 95 (1983) S. 293ff.; dieselbe, ZStW 99 (1987) S. 602ff.; Jescheck, Fahrlässigkeit S. 17; Lackner, § 15 Rdn. 44; Otto, JuS 1974, 708; Schaffstein, Honig-Festschrift S. 171; Schünemann, JA 1975, 647ff.; Rudolphi, JuS 1969, 553; Stratenwerth, Gallas-Festschrift S. 239; Seebald, GA 1969,

213; Wolff Kausalität S. 27; Brammsen, MDR 1989, 123; Walder, SchwZStr 93 (1977) S. 160; Kahlo, G A 1987, 74 ff. Für das Zivilrecht zustimmend Hanau, Kausalität S. 130 ff. Der Risikoerhöhungslehre folgt auch die österr. Judikatur; vgl. österr. OGH SSt 53 Nr. 2 sowie OLG Wien Zeitschrift für Verkehrsrecht 1985, 138. Gegen die Risikoerhöhungslehre Bockelmann/Volk, Allg. Teil S. 163; Frisch, Tatbestandsmäßiges Verhalten S. 537ff.; LK n (Schroeder) § 16 Rdn. 190; Prittwitz, Strafrecht und Risiko S. 323 ff.; Kuhlen, GA 1994, 354; Schönke/Schröder /Cramer, § 15 Rdn. 172; SK (Samson) § 16 Anh. Rdn. 27a. Differenzierend

Krümpelmann, Jescheck-Festschrift Bd. I S. 331 ff., der auf die „Gefährdetheit" des Anspruchs des Verletzten auf Interessenschutz abstellt.

586

§ 5 5 D e r Unrechtstatbestand der fahrlässigen Straftat

gen Erfolg ursächlich geworden ist, darf nicht straflos bleiben, wenn lediglich nicht mit letzter Sicherheit ausgeschlossen werden kann, daß der Erfolg auch bei sorgfaltsgemäßem Handeln eingetreten wäre. bb) Der Rechtswidrigkeitszusammenhang fehlt ferner dann, wenn der vom Täter durch sorgfaltswidriges Handeln verursachte Erfolg außerhalb des Schutzbereichs der verletzten N o r m liegt (vgl. oben § 28 IV 4) 3 . Es handelt sich dabei um eine generelle Begrenzung der objektiven Zurechnung, die auch für die Schadensersatzhaftung im Zivilrecht 3 7 und auch für Vorsatztaten 38 gilt. Beispiele: Fahren zwei Radfahrer bei Dunkelheit ohne Licht hintereinander und stößt ein entgegenkommender Radfahrer mit dem ersten zusammen, so ist der zweite Radfahrer für den Unfall nicht verantwortlich, weil die für ihn bestehende Beleuchtungspflicht nicht den Sinn hat, daß andere Fahrzeuge beleuchtet werden (RG 63, 392 [394])39. Ebenso ist die Tatsache, daß ein Kraftfahrer bei Einhaltung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit die Unfallstelle erst erreicht haben würde, nachdem sie der Verunglückte bereits passiert hatte, für den Erfolg irrelevant, denn Geschwindigkeitsbegrenzungen haben nicht den Zweck, das Eintreffen des Kraftfahrers an einem bestimmten Ort zu verzögern (BGH VRS 5, 284 [286]; VRS 20, 129 [131]; VRS 26, 203; OLG Hamm VRS 10, 459 [461]; OLG Stuttgart NJW 1959, 351; unrichtig OLG Karlsruhe NJW 1958, 430 und jetzt wieder BGH 33, 61 [65] m.krit.Anm. Puppe, JZ 1985, 297 sowie ZStW 99 [1987] S. 614 f.). Wenn der Tod des Patienten infolge eines Narkoseunfalls erst zu einem nur wenig späteren Zeitpunkt eingetreten wäre, falls der behandelnde Arzt vorher pflichtgemäß einen Internisten zu Rate gezogen hätte, so ist das Beruhen des Todes auf der Sorgfaltsverletzung zu verneinen, da es nicht der Sinn dieser Pflicht ist, das Leben des Patienten um kurze Zeit zu verlängern (BGH 21, 59 [61] m.Anm. Wessels, JZ 1968, 449). Der Tod des Unfallopfers im Krankenhaus durch Verschlucken an einer Suppe belastet nicht den an dem Unfall Schuldigen (OLG Stuttgart NJW 1982, 295). Die Pflicht, an einem haltenden Schulbus langsam vorbeizufahren, dient nicht dem Schutz eines Erwachsenen, der unachtsam auf die Fahrbahn tritt (OLG Hamm VRS 60, 38)40. Dagegen wird der Tod eines Patienten in einer an sich kunstgerecht durchgeführten Zweitoperation, die durch einen Kunstfehler bei der ersten Operation notwendig wurde, durch den Schutzzweck der zuerst verletzten Norm umfaßt (BGH JR 1989, 382 m.Bespr. von Krüm-

pelmann, JR 1989, 353 ff.).

3. Der Erfolg in seiner konkreten Gestalt und der Kausalverlauf in seinen wesentlichen Merkmalen müssen endlich voraussehbar gewesen sein 41 . War nicht 36

Einhellige Meinung; vgl. Bockelmann/Volk, Allg. Teil S. 164f.; Burgstaller, Das Fahrlässigkeitsdelikt S. 96; Lackner, § 15 Rdn. 43; Eser/Burkhardt, Strafrecht I Nr. 4 A Rdn. 65; LK (Jescheck) Vorbem. 67 vor § 13; Hardwig, JZ 1968, 291; Niewenhuis, Gefahr S. 130ff.; Roxin, Gallas-Festschrift S. 241 ff.; derselbe, Allg. Teil I § 11 Rdn. 68 ff.; Schünemann, GA 1985, 358 ff.; Rudolphi, JuS 1969, 552 ff.; SK (Rudolphi) Vorbem. 64 vor § 1; Schönke / Schröder/Cramer, § 15 Rdn. 173; SK (Samson) § 16 Anh. Rdn. 28; Ulsenheimer, JZ 1969, 364ff.;

Wessels, Allg. Teil Rdn. 193. Gegen die objektive Zurechnung als selbständige Systemkategorie kritisch Hirsch, Köln-Festschrift S. 406; Küpper, Grenzen S. 83 ff. Vgl. auch Gimbernat Ordeig, Inadäquate Handlungen S. 133 ff. 37 Vgl. v. Caemmerer, Gesammelte Schriften Bd. I S. 445ff.; Stoll, Kausalzusammenhang S. 13 ff. 38

39

Vgl. Nowakowski, JBl 1972, 26, 31; Münzberg, Verhalten S. 128 ff.

Vgl. dazu Exner, Frank-Festgabe Bd. I S. 585; Roxin, Allg. Teil I § 11 Rdn. 69. Die Begrenzung der Fahrlässigkeitshaftung durch den Schutzbereich der Norm will Burgstaller, Jescheck-Festschrift Bd. I S. 362 ff. auch auf die Fälle des nachträglichen Fehlverhaltens Dritter oder des Verletzten selbst anwenden. Ebenso WK (Burgstaller) § 6 Rdn. 70. Hier werden diese Fälle bei der Voraussehbarkeit eingeordnet (vgl. unten § 55 II 3 a. E.). 41 Bockelmann, Verkehrsrechtliche Aufsätze S. 206; LK U (Schroeder) § 16 Rdn. 132ff.; 40

Schönke/Schröder /Cramer,

§ 15 Rdn. 180ff.; SK (Samson) § 16 Anh. Rdn. 29; Welzel, Lehr-

buch S. 136; Wessels, Allg. Teil Rdn. 667; zur systematischen Stellung abweichend Triffterer, Bockelmann-Festschrift S. 221. Vgl. dazu die eingehend begründete Entscheidung BGH 23, 156 (165 ff.) über die Voraussehbarkeit des Einschlafens am Steuer.

I I . E i n t r i t t , Verursachung u n d Voraussehbarkeit des Erfolgs

587

der Tod, sondern nur eine Körperverletzung voraussehbar, so ist § 230 anzuwenden, obwohl der Todeserfolg eingetreten ist (RG 28, 273). Handlung und Erfolg müssen also nicht nur objektiv, sondern auch subjektiv insoweit miteinander verknüpft sein, als der Täter bei pflichtgemäßer Sorgfalt hätte erkennen können, daß und auf welche Weise sich der Erfolg verwirklichen wird. Die Frage der Voraussehbarkeit ist einfach zu beantworten bei der bewußten Fahrlässigkeit, denn hier hat der Täter die Gefahr immerhin erkannt, wenn er auch pflichtwidrig darauf vertraut hat, daß der Erfolg ausbleiben werde (vgl. O L G Stuttgart JuS 1977, 52). Zweifel entstehen jedoch leicht bei der unbewußten Fahrlässigkeit, weil dabei der Täter die Gefahr entweder überhaupt nicht gesehen oder jedenfalls nicht ernst genommen hat. Maßgebend für die Voraussehbarkeit ist auch hier ein objektiver Maßstab 42, der auf das Erkenntnis- und Urteilsvermögen des gewissenhaften und besonnenen Angehörigen des Verkehrskreises des Täters und außerdem auf dessen etwa vorhandenes zusätzliches Kausalwissen abstellt (in B G H 12, 75 [80] hätte der Fahrer z.B. den verborgenen Bruch der Federaugen gekannt). Die Rechtsprechung neigt dazu, die Voraussehbarkeit weit auszudehnen 43. Für die Bejahung soll es schon genügen, wenn zwar nicht der Geschehensablauf als solcher, wohl aber der Erfolg in seinem Endergebnis vorausgesehen werden konnte, es sei denn, daß der Verlauf so sehr außerhalb aller Lebenserfahrung lag, daß auch bei Anwendung der gebotenen Sorgfalt niemand damit zu rechnen brauchte (Ablehnung der Voraussehbarkeit des Kausalverlaufs nur beim Fehlen des adäquaten Kausalzusammenhangs) (RG 73, 370 [372]; BGH 3, 62 [63 f.]; 4, 360 [363]; 12, 75 [77]; BGH GA 1960, 111; OLG Stuttgart JZ 1980, 618 [620]). Beispiele: Voraussehbar sollen sein der Tod eines durch einen Steinwurf nur leicht Getroffenen, der an der Bluterkrankheit litt (RG 54, 349 [351]), der tödliche Verlauf einer Schwarzfahrt, die durch ungenügenden Verschluß des Wagens ermöglicht wurde (BGH VRS 20, 282), der Tod des bei einem Verkehrsunfall nur leicht Verletzten durch eine Embolie aufgrund von erhöhter Thromboseneigung (OLG Stuttgart NJW 1956, 1451 m.abl.Anm. Henkel), eine tödliche Gehirnblutung infolge von Aufregung bei einem Verkehrsunfall (OLG Hamm VRS 26, 426), der Tod eines Radfahrers durch Sturz wegen einer bei ihm vorliegenden Rückgratversteifung (BGH LM § 222 Nr. 1), der Tod des Schwerverletzten, bei dessen Behandlung dem Arzt möglicherweise ein Fehler unterlaufen ist (OLG Stuttgart JZ 1980, 618 [620]). Abgelehnt wurde die Voraussehbarkeit dagegen beim Tod des Unfallopfers durch eine an sich harmlose Narkose (OLG Hamm VRS 18, 356), beim Tod durch Herzinfarkt als Folge eines falschen Uberholvorgangs (OLG Stuttgart VRS 18, 365), beim Tod eines Herzkranken als Folge eines leichten Auffahrunfalls (OLG Karlsruhe JuS 1977, 52), beim Tod eines Verletzten bei einem Autobusunglück durch eine Wasseransammlung auf der Autobahn infolge Pflichtverletzung des Dienstpersonals (BGH 10, 121 [124]). Auch ein völlig unerwartetes Mitverschulden des Verletzten oder dritter Personen kann die Vorhersehbarkeit des Erfolgs ausschließen (RG 73, 239 [2421; 73, 370 [373]; BGH NJW 1956, 1527; BGH VRS 28, 202 [206]; BayObLG VRS 62, 368)44. § 56 Die Rechtfertigungsgründe bei der fahrlässigen Straftat Alwarty Der Begriff des Motivbündels, G A 1983, 433: Baumanny Die Rechtswidrigkeit der fahrlässigen Handlung, MDR 1957, 646; Becker, Sportverletzung und Strafrecht, DJ 1938, 1720; Berz y Die Bedeutung der Sittenwidrigkeit für die rechtfertigende Einwilligung, GA 1969, 145; Bickelhaupty Einwilligung in die Trunkenheitsfahrt, NJW 1967, 713; v. Caemmerery Wandlungen des Deliktsrechts, Gesammelte Schriften, Bd. I, 1968, S. 452; 42 Vgl. zu der Lehre, die die Voraussehbarkeit subjektiv auffassen will, oben § 54 I 3 Fußnote 13. 43 Zustimmend Mühlhaus, Fahrlässigkeit S. 47f.; dagegen Maurach, GA 1960, 97; Maurach/Gössel/Zipf Allg. Teil II § 43 Rdn. 130; Blei, Allg. Teil S. 300f.; Schönke/Schröder/ Gramer, § 15 Rdn. 186; Welzely Lehrbuch S. 176. 44

D a z u Ρ. Frisch y Das Fahrlässigkeitsdelikt u n d das Verhalten des Verletzten, 1973.

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§ 56 D i e Rechtfertigungsgründe bei der fahrlässigen Straftat

Dach y Zur Einwilligung bei Fahrlässigkeitsdelikten, Diss. Mannheim 1979; Engisch, Der Unrechtstatbestand im Strafrecht, DJT-Festschrift, Bd. I, 1960, S. 401; Ensthaler, Einwilligung und Rechtsgutspreisgabe, Diss. Göttingen 1983; Eser, Zur strafrechtlichen Verantwortlichkeit des Sportlers usw., JZ 1978, 368; Frisch, Grund- und Grenzprobleme des sog. subjektiven Rechtfertigungselements, Festschrift für K. Lackner, 1987, S. 113; Gepperty Rechtfertigende „Einwilligung" des verletzten Mitfahrers usw., ZStW 83 (1971) S. 947; Hanseny Die Einwilligung des Verletzten bei Fahrlässigkeitstaten usw., Diss. Bonn 1963; Himmelreichy Notwehr und unbewußte Fahrlässigkeit, 1971; Jungclaussen, Die subjektiven Rechtfertigungselemente beim Fahrlässigkeitsdelikt usw., 1987; Larenz, Lehrbuch des Schuldrechts, Bd. II, 12. Auflage 1981; Kienapfel, Das erlaubte Risiko im Strafrecht, 1966; Mahling, Die strafrechtliche Behandlung von Sportverletzungen, Diss. Berlin 1940; Nipperdey, Rechtswidrigkeit, Sozialadäquanz, Schuld im Zivilrecht, NJW 1957, 1777; Preuß, Untersuchungen zum erlaubten Risiko im Strafrecht, 1974; Schild, Das strafrechtliche Problem der Sportverletzung usw., Jura 1982, 464 m. Forts.; Eh. Schmidt, Schlägermensur und Strafrecht, JZ 1954, 369; R. Schmitt, Subjektive Rechtfertigungselemente bei Fahrlässigkeitdelikten? JuS 1963, 64; Stoll, Zum Rechtfertigungsgrund des verkehrsrichtigen Verhaltens, JZ 1958, 137; derselbe, Das Handeln auf eigene Gefahr, 1961; Weber, Objektive Grenzen der strafbefreienden Einwilligung in Lebens- und Gesundheitsgefährdungen, Festschrift für J. Baumann, 1992, S. 43; Weimar, Der „Rechtfertigungsgrund" des verkehrsrichtigen Verhaltens, JuS 1962, 133; Wiethölter, Der Rechtfertigungsgrund des verkehrsrichtigen Verhaltens, 1960; Zipf, Einwilligung und Risikoübernahme im Straf recht, 1970; derselbe, Die Bedeutung und Behandlung der Einwilligung im Strafrecht, OJZ 1977, 379. Vgl. ferner die Schrifttumsangaben vor §§ 54 und 55. I. Die Anwendbarkeit der Rechtfertigungsgründe bei fahrlässigen Straftaten 1. M i t der Verwirklichung des deliktstypischen Handlungs- und Erfolgsunrechts ist der Unrechtstatbestand des fahrlässigen Erfolgsdelikts erfüllt. Ebenso wie bei der Vorsatztat ist damit zugleich die Rechtswidrigkeit „indiziert", d.h. sie ist anzunehmen, sofern nicht ausnahmsweise ein Rechtfertigungsgrund eingreift (vgl. oben § 3 1 I 3). Nach allgemeiner Auffassung kann die Rechtswidrigkeit der tatbestandsmäßigen Fahrlässigkeitstat ebenso durch Rechtfertigungsgründe ausgeschlossen sein wie die der Vorsatztat 1 . Jedoch bringt der Unterschied in der Struktur der Vorsatz- und Fahrlässigkeitstatbestände auch Besonderheiten für die Rechtfertigungsgründe mit sich. 2. So ist einmal zweifelhaft, ob alle Rechtfertigungsgründe auch bei den Fahrlässigkeitstaten in Betracht kommen. Man wird das jedenfalls für die Fälle zu verneinen haben, in denen eine objektiv an sich unrichtige Handlung mit Rücksicht auf den damit verfolgten Zweck von der Rechtsordnung gebilligt wird, denn hier ist mindestens eine gewissenhafte Prüfung vom Täter zu verlangen, so daß sorgfaltswidriges Handeln von vornherein nicht gerechtfertigt sein kann. Dies gilt für die Wahrnehmung berechtigter Interessen, das Handeln mit mutmaßlicher Einwilligung, wenn wirklicher und gemutmaßter Wille im Ergebnis nicht übereinstimmen, und für gewisse Amtshandlungen (vgl. oben § 31 IV 3). 1

Vgl. BGH 25, 229; OLG Hamm NJW 1962, 1169; Bockelmann/Volk,

Burgstaller,

Das Fahrlässigkeitdelikt S. 150; Dreher/Tröndle,

Nr. 21 A Rdn. 18; LK n Gössel/Zipf,

Allg. Teil S. 166;

§ 15 Rdn. 15; Eser, Strafrecht I I

(Hirsch) Vorbem. 49 vor § 32; Jakobs, Allg. Teil 11/30; Maurach/

Allg. Teil I I § 44 Rdn. 13; Lackner, § 15 Rdn. 48; Schönke/Schröder/Lenckner,

Vorbem. 92 vor § 32; Schaffstein, Welzel-Festschrift S. 562; SK (Samson) § 16 Anh. Rdn. 31; Stratenwerth, Allg. Teil I Rdn. 1112; Schmidhäuser, Allg. Teil S. 292 f.; Schünemann, JA 1975, 787; Welzel, Lehrbuch S. 137f.; Wessels, Allg. Teil Rdn. 691 ; Jungclaussen, Die subjektiven Rechtfertigungselemente S. 175, 180.

I I . N o t w e h r , rechtfertigender N o t s t a n d u n d E i n w i l l i g u n g bei Fahrlässigkeitstaten

589

3. Zum anderen ist streitig, ob auch bei Fahrlässigkeitstaten das subjektive Rechtfertigungselement zu verlangen ist 2 oder ob hier das Vorliegen der objektiven Voraussetzungen des Rechtfertigungsgrundes genügt3 (vgl. zu den subjektiven Rechtfertigungselementen oben § 31 IV 1). Richtig ist es, bei fahrlässigen Erfolgs delikten auf das subjektive Rechtfertigungselement zu verzichten, da durch die rechtfertigende Situation ebenso wie bei den Vorsatzdelikten das Erfolgsunrecht entfällt und im Unterschied zu diesen das Handlungsunrecht hier für sich allein nicht strafbar ist (es gibt keinen fahrlässigen Versuch). Beim fahrlässigen Tätigkeit sdelikt muß der Täter jedoch zum Zwecke der Ausübung der ihm durch den Rechtfertigungsgrund gegebenen Befugnis gehandelt haben4. Beispiele: Wer nichtsahnend dem Angriff eines Autofallenräubers, der einen Unfall vorgetäuscht hat, dadurch entgeht, daß er ihn im letzten Moment aus Unvorsichtigkeit anfährt, kann nicht nach § 230 bestraft werden5. Wer dagegen von einem Trinkgelage zu einer Unfallstelle fährt, ohne an seine Fahruntauglichkeit zu denken (§316 II), ist nur dann nach § 34 gerechtfertigt, wenn er Hilfe bringen will (OLG Hamm VRS 20, 232). 4. Endlich ergibt sich aus dem Stufenverhältnis von Vorsatz und Fahrlässigkeit, daß die sorgfaltswidrige Tat gerechtfertigt ist, wenn der Erfolg auch bei vorsätzlichem Handeln im Ergebnis gerechtfertigt wäre. Beispiel: Wer in Notwehr einen Warnschuß abgibt, ist auch dann nach § 32 gerechtfertigt, wenn er aus Unachtsamkeit den Angreifer tötet, sofern nach Sachlage auch ein gezielter Schuß gerechtfertigt gewesen wäre (BGH 25, 229)6. II. Notwehr, rechtfertigender Notstand und Einwilligung des Verletzten bei Fahrlässigkeitstaten Als Rechtfertigungs gründe bei Fahrlässigkeitstaten kommen insbesondere Notwehr, rechtfertigender Notstand und Einwilligung des Verletzten in Betracht. 1. Nicht nur vorsätzliches, sondern auch fahrlässiges Handeln kann nach allgemeiner Ansicht durch Notwehr gedeckt sein7, sofern nur der Angreifer selbst durch die Verteidigungshandlung verletzt wird und nicht ein unbeteiligter Dritter (wie im Fall RG 58, 27). Voraussetzung der Rechtfertigung ist zunächst, daß sich die Abwehrhandlung im Rahmen dessen hält, was nach § 32 erforderlich und geboten ist. Geht dann der vom Täter herbeigeführte Erfolg weiter als von ihm beabsichtigt, so ist er in zwei Fällen durch Notwehr gedeckt: einmal dann, wenn der Verteidiger den eingetretenen Erfolg auch gezielt hätte herbeiführen dürfen (BGH 25, 229: der Angegriffene durfte den Angreifer in Notwehr durch einen Schuß verletzen; er begnügt sich mit einem Warnschuß, der aber fehlgeht und den 2 Dafür Maurach/Gössel/Zipf Allg. Teil II § 44 Rdn. 18; Alwart,, GA 1983, 455; Jakobs, Allg. Teil 11/30; Roxin, Allg. Teil I §24 Rdn. 95, 98; Welzel, Lehrbuch S. 97; Geppert, ZStW 83 (1971) S. 979; Eser, Strafrecht II Nr. 21 A Rdn. 21b; LK n (Hirsch) Vorbem. 58 vor § 32; Zielinski, Handlungs- und Erfolgsunwert S. 255 f. 3

So R. Schmitt, JuS 1963, 68; Schaffstein,

Welzel-Festschrift S. 573 f.; Himmelreich, Not-

wehr S. lOOff.; Stratenwerth, Allg. Teil I Rdn. 1119. 4 So zutreffend Schönke/Schröder/Lenckner, Vorbem. ,98 f. vor § 32; Stratenwerth, Allg. Teil I Rdn. 1120f.; SK (Samson) § 16 Anh. Rdn. 32; Frisch, Lackner-Festschrift S. 130f.; anders Roxin, Allg. Teil I § 24 Rdn. 99. 5 Beispiel von Stratenwerth, Allg. Teil I Rdn. 1121. 6 Weitere Beispiele bei Schönke/Schröder/Lenckner, Vorbem. 96 vor § 32. 7 Allg. Teil II § 44 Rdn. 20ff.; Roxin, Allg. Teil I § 24 Vgl. Maurach/Gössel/Zipf, Rdn. 93; Schönke/Schröder/Lenckner, Vorbem. 95f. vor § 32; Welzel, Lehrbuch S. 138; Himmelreich, Notwehr S. 52ff.; Wessels, Allg. Teil Rdn. 691.

590

§ 56 D i e Rechtfertigungsgründe bei der fahrlässigen Straftat

Angreifer trifft), zum anderen dann, wenn der weitergehende Erfolg auf Zufall oder auf einer angesichts der Situation nicht sorgfaltswidrigen Reaktion des Angegriffenen beruht (BayObLG NStZ 1988, 408: jemand, der von einem wütenden Fußballfan angegriffen wird, will sich mit einem Faustschlag gegen die Brust wehren und trifft stattdessen den Kopf des Angreifers). Andererseits ist es durchaus möglich, daß jemand in einer Notwehrsituation fahrlässig handelt und sich dadurch wegen eines Fahrlässigkeitsdelikts strafbar macht - etwa dann, wenn ein geübter Schütze den nach § 32 erforderlichen Warnschuß so niedrig ansetzt, daß der Angreifer getötet wird (RG JW 1925, 962). 2. Zur Rechtfertigung fahrlässigen Handelns kommt ferner rechtfertigender Notstand in Betracht (§ 34)8. Es geht dabei in der Regel um Verkehrsverstöße, die ihrer Art nach erhebliche Gefahren für andere Verkehrsteilnehmer mit sich bringen. Deshalb ist hier stets zu prüfen, ob trotz der Gefahr für den Straßenverkehr und des in der Regel nur geringfügigen Zeitgewinns das Interesse, das der Täter wahren will, das Interesse an der Erhaltung der Verkehrssicherheit wesentlich überwiegt (vgl. oben § 33 IV 3 c). Beispiele: Hat der Arzt auf der Fahrt zu einem in Lebensgefahr schwebenden Patienten versehentlich die in Ortschaften zugelassene Höchstgeschwindigkeit überschritten, ohne andere Verkehrsteilnehmer zu gefährden, so ist rechtfertigender Notstand zu bejahen (OLG Düsseldorf VRS 30, 444; OLG Schleswig VRS 30, 462), anders jedoch, wenn der Arzt in gleicher Lage grob verkehrswidrig eine gefährliche Linkskurve mit erheblicher Gefährdung des Gegenverkehrs schneidet (OLG Stuttgart, Die Justiz 1963, 37). Nicht durch Notstand gerechtfertigt ist auch die Überschreitung der Höchstgeschwindigkeit um 54 km/h, um einen „im Koma liegenden Wellensittich" möglichst rasch zum Tierarzt zu bringen (OLG Düsseldorf NStZ 1990, 396). 3. Fahrlässige Handlungen können endlich durch Einwilligung des Verletzten oder mutmaßliche Einwilligung (OLG Frankfurt M D R 1970, 695) gerechtfertigt sein9. Ebenso wie bei der Einwilligung in eine Vorsatztat kommt es auch hier darauf an, daß das gefährdete Rechtsgut der Verfügungsbefugnis des Einwilligenden unterliegt (vgl. oben § 34 I I 3). Deshalb ist die Einwilligung in eine ihrem Wesen nach gegen die Allgemeinheit gerichtete Verkehrsgefährdung nach § 315 c (BGH 6, 232 [234]; 23, 261 [264]) 10 oder in eine individuelle Le^ewsgefährdung, die im Ergebnis zum Tode des Verletzten führt, ohne rechtliche Wirkung (BGH 7, 112 [114]; B G H VRS 17, 279; BayObLG NJW 1957, 1245 [1246]; O L G Hamburg VRS 35, 201 ) n . Dagegen ist die Einwilligung in eine fahrlässige Körpergefährdung 8

Vgl. Schaff stein, Welzel-Festschrift S. 574 ff.; Schönke/Schröder/Lenckner,

Vorbem. 101

vor §32; Maurach/Gössel/Zipf, Allg. Teil II §44 Rdn. 23 f.; Roxin, Allg. Teil I §24 Rdn. 97 ff.; Wessels, Allg. Teil Rdn. 691. 9 Vgl. dazu Baumann/Weher, Allg. Teil S. 321 f.; Dreh er/Tröndle, § 226a Rdn. 5; LK n (Hirsch) Vorbem. 106 vor § 32; Lackner, § 226a Rdn. 1; Maurach/Gössel/Zipf Allg. Teil II § 43 Rdn. 64; Roxin, Allg. Teil I § 24 Rdn. 100; Dach, Einwilligung S. 28 ff.; Ensthaler, Ein-

willigung S. 47 ff.; Schönke / Schröder / Lenckner, Vorbem. 102, 106 vor § 32; Schaff stein, Wel-

zel-Festschrift S. 565 ff.; Welzel, Lehrbuch S. 97; Zipf, ÖJZ 1977, 382. Bei Einwilligung will Frisch, Das Fahrlässigkeitsdelikt S. 118 ff. schon die Sorgfaltspflichtverletzung und damit die Tatbestandsmäßigkeit verneinen. 10 Differenzierend Geppert, ZStW 83 (1971) S. 986. Wie der Text Schaffstein, Welzel-Festschrift S. 574. 11 Die Frage ist in der Literatur stark umstritten. Wie der Text Bickelhaupt, NJW 1967, 713; Geppert, ZStW 83 (1971) S. 953 ff.; Maurach/Gössel/Zipf, Allg. Teil II § 43 Rdn. 65; Zipf, Einwilligung S. 73. Für Beachtlichkeit der Einwilligung in Lebensgefährdung Schaffstein, Welzel-Festschrift S. 570 ff.; Berz, GA 1969, 148. Eine Mittelmeinung vertreten LK lf

(Hirsch) Vorbem. 95 vor § 32; Schild, Jura 1982, 524; Schönke/Schröder/Lenckner,

I I I . Sonderprobleme beim erlaubten R i s i k o u n d verkehrsrichtigen Verhalten

in den Grenzen des § 226 a zulässig, sie hat vor allem im Straßenverkehr Sportverletzungen praktische Bedeutung.

591

und bei

Beispiele: Wenn vier Personen auf einem dadurch völlig überladenen Motorroller fahren, so nehmen sie die Gefahr eines Unfalls in Kauf und die eingetretene Körperverletzung (§ 230) ist durch Einwilligung gerechtfertigt (BGH DAR 1959, 300). Ausreichend ist die Einwilligung in die Gefährdung; in den eingetretenen Verletzungserfolg wird kaum jemand einwilligen wollen (BGHZ 34, 355 [360]; KG VRS 7, 184 [186]; OLG Celle NJW 1964, 736)12. Fahrlässige Sportverletzungen, die im Rahmen der Regeln vorkommen (z.B. ein Zusammenprall auf dem Fußballfeld) und sogar geringfügige unabsichtliche Regelverstöße sind durch Einwilligung gedeckt13, nicht jedoch vorsätzliche oder grob fahrlässige Regelwidrigkeiten, die zu Körperverletzungen führen (BayObLG NJW 1961, 2072 [2073]), auch nicht die Verletzung eines Zuschauers während einer Spielpause durch einen fahrlässigen Ballabstoß eines Spielers aus Verärgerung (OLG Karlsruhe, Die Justiz 1981, 444). Mutmaßliche Einwilligung liegt vor, wenn der Notarzt den bewußtlosen Schwerverletzten am Unfallort mit unzureichenden Mitteln operiert, um sein Leben zu retten 14. I m Zivilrecht wird heute beim „Handeln auf eigene Gefahr" nicht mehr auf die Einwilligung, sondern nach §§ 242, 254 BGB auf angemessene Risikoverteilung abgestellt, aus der sich dann erst Haftungsausschluß bzw. -beschränkung für den Schädiger ergeben ( B G H Z 34, 355) 15 . I I I . Sonderprobleme beim erlaubten Risiko und verkehrsrichtigen Verhalten 1. Einen besonderen Rechtfertigungsgrund des erlaubten Risikos gibt es auch bei den Fahrlässigkeitstaten nicht (vgl. zu den Vorsatztaten oben § 36 I 1) (anders 3. Auflage S. 479). Die Fälle, in denen eine Sorgfaltspflichtverletzung ausnahmsweise nicht rechtswidrig ist, sind in die anerkannten Rechtfertigungsgründe einzuordnen, also nach Gesichtspunkten der Notwehr, des Notstands, der Einwilligung oder der mutmaßlichen Einwilligung zu lösen 16 . In der Lehre werden als Fälle des erlaubten Risikos auch diejenigen Handlungen bezeichnet, die ihrer Natur nach gefährlich sind, aber vorgenommen werden dürfen, wenn die im Verkehr erforderliche Sorgfalt beobachtet wird, die also gar nicht tatbestandsmäßig sind (z.B. das Autofahren). In diesen Fällen liegt jedoch schon keine Sorgfaltswidrigkeit vor (vgl. oben § 55 I 2b). Vorbem. 104 vor § 32 (Maßstab des § 226a); Stratenwerth, Allg. Teil I Rdn. 1116; SK (Samson) § 16 Anh. Rdn. 33, die auf die Schwere der Gefahr und den Anlaß und Zweck der Handlung abstellen; Weher, Baumann-Festschrift S. 47f. Vgl. auch BGH 7, 115; OLG Hamm MDR 1971, 67. 12 Dagegen bezieht Eb. Schmidt, JZ 1954, 372 die Einwilligung, wenn sie wirksam sein soll, auch bei Fahrlässigkeitstaten auf Handlung und Erfolg; ebenso Geppert, ZStW 83 (1971) S. 974. Dagegen überzeugend das zivilrechtliche Schrifttum; vgl. Stoll, Handeln auf eigene Gefahr S. 93 f. 13 Vgl. Eser, JZ 1978, 368 ff. (mit verschiedenen Abstufungen S. 371); Becker, DJ 1938, 1721; Mahlingy Sportverletzungen S. 68; Maurach/Schroeder/Maiwald, Bes. Teil I § 8

Rdn. 15; Kohlrausch/Lange,

§ 226a Anm. IV 1; LK i0

(Hirsch)

§ 226a Rdn. 12; Schönke/

Schröder/Stree, § 226a Rdn. 16; Welzel, Lehrbuch S. 96; Zipf, Einwilligung S. 95. 14 Dazu Blei, Allg. Teil S. 300. 15 Vgl. dazu grundlegend Stoll, Das Handeln auf eigene Gefahr S. 305 ff.; ferner Hansen, Die Einwilligung des Verletzten S. 146 ff. 16 Ebenso Baumann/Weber, Allg. Teil S. 321; Blei, Allg. Teil S. 302f.; Bockelmann/Volk, Allg. Teil S. 106; Kienapfel, Erlaubtes Risiko S. 26f.; Preuß, Erlaubtes Risiko S. 226ff.; LK n (Hirsch) Vorbem. 33 vor § 32; Schönke/Schröder/Lenckner, Vorbem. 107b vor § 32.

592

§ 5

De

c h d

der fahrlässigen Straftat

2. Das gleiche gilt für die Auffassung, das „verkehrsrichtige Verhalten" im Straßen- und Eisenbahnverkehr sei ein Rechtfertigungsgrund (BGH2 24, 21 [28])17. Das verkehrsrichtige Verhalten entspricht nicht einem Erlaubnissatz, der das tatbestandsmäßige Handlungs- und Erfolgsunrecht der Fahrlässigkeitstat wieder aufhöbe. Verkehrsrichtiges Verhalten bedeutet vielmehr, daß es an einer Sorgfaltspflichtverletzung und damit am Handlungsunrecht des Fahrlässigkeitstatbestandes fehlt 8 . § 57 Die Schuld bei der fahrlässigen Straftat Arzt, Zum Verbotsirrtum beim Fahrlässigkeitsdelikt, ZStW 91 (1979) S. 857; Baumann, Schuldvermutung im Verkehrsstrafrecht? NJW 1959, 2293; derselbe, Probleme der Fahrlässigkeit bei Straßenverkehrsunfällen, Kriminalbiol. Gegenwartsfragen Heft 4, 1960, S. 100; Booß, Keine Schuldvermutung im Verkehrsstrafrecht! NJW 1960, 373; Eggert, Die Unzumutbarkeit normgemäßen Verhaltens bei den Fahrlässigkeits- und unechten Unterlassungsdelikten usw., Diss. Göttingen 1969; Sigrid Fischer, Vergessen als Fahrlässigkeit, Strafr. Abh. Heft 346, 1934; Fornasari, Ii principio di inesigibilità nel diritto penale, 1990; Heitzer, Unrechtsbegriff und Schuldbegriff beim Fahrlässigkeitsdelikt, NJW 1951, 828; Kienapfel, Die Fahrlässigkeit usw., Zeitschrift für Verkehrsrecht 1977, 1; Klee, Anmerkung zu RG vom 25.11.1938, JW 1939, 547; Maiwald, Die Unzumutbarkeit - strafbegrenzendes Prinzip bei den Fahrlässigkeitsdelikten? Festschrift für H. Schüler-Springorum, 1993, S. 475; Puppe, Die strafrechtliche Verantwortlichkeit für Irrtümer bei der Ausübung der Notwehr und für deren Folgen, JZ 1989, 728; Rudolphi, Unrechtsbewußtsein usw., 1969; Schlosky, Straftaten in Volltrunkenheit, JW 1936, 3425; Schmidt-Leichner, Verkehrsstrafrecht ohne Schuldfeststellung? NJW 1960, 996; Schöne, Fahrlässigkeit, Tatbestand und Strafgesetz, Gedächtnisschrift für Hilde Kaufmann, 1986, S. 649; Schünemann, Moderne Tendenzen in der Dogmatik der Fahrlässigkeits- und Gefährdungsdelikte, JA 1975, 787; Welzel, Die deutsche strafrechtliche Dogmatik der letzten 100 Jahre und die finale Handlungslehre, JuS 1966, 421; Wimmer, Uber unzulässige Vertiefung der Schuldfrage bei Fehlleistungen von Kraftfahrern, NJW 1959, 1753; derselbe, Vereinfachungen im allgemeinen Strafrecht bei der Bestrafung von Verkehrsübertretungen, DAR 1960, 245. Vgl. ferner die Schrifttumsangaben vor §§ 54 und 55. Schuld bedeutet bei den fahrlässigen Straftaten grundsätzlich ebenso wie bei den der tatbestandsmäßigen und rechtswidrigen Vorsatzdelikten die Vorwerfbarkeit Handlung mit Rücksicht auf die darin zum Ausdruck gelangte rechtlich mißbilligte Gesinnung (vgl. oben § 39 I I l ) 1 . Die Merkmale der Fahrlässigkeitsschuld sind jedoch zum Teil andere als die der schuldhaft vorsätzlichen Handlung. Ihre Feststellung wird in der Praxis oft vernachlässigt2.

17

Zustimmend Baumann, MDR 1957, 646; Oehler, Eb. Schmidt-Festschrift S. 244. Dagegen zu Recht Wessels, Allg. Teil Rdn. 691. 18 Wie der Text die h.L.; vgl. v. Caemmerer, Gesammelte Schriften Bd. I S. 551; Engisch,

DJT-Festschrift Bd. I S. 418f.; Nipperdey,

NJW 1957, 1780; Stoll, JZ 1958, 140; Weimar, JuS

1962, 135; Wiethölter, Verkehrsrichtiges Verhalten S. 9ff. Vgl. zum ganzen Larenz, Schuldrecht Bd. II S. 608 ff. 1 Vgl. Bockelmann, Verkehrsrechtliche Aufsätze S. 210; Burgstaller, Das Fahrlässigkeitsdelikt S. 182f.; WK (Burgstaller) § 6 Rdn. 78ff.; Lackner, § 15 Rdn. 49; Herzberg, Jura 1984,

402; Blei, Allg. Teil S. 303 f.; Nowakowski, JBl 1972, 31; Schönke/Schröder /Cramer,

§ 15

Rdn. 190; Schünemann, JA 1975, 790f.; Roxin, Allg. Teil I § 24 Rdn. 102; Welzel, Fahrlässigkeit und Verkehrsdelikte S. 30; Wessels, Allg. Teil Rdn. 692. 2 Dies kritisiert mit Recht Baumann, Probleme der Fahrlässigkeit S. 105 f. Ebenso Schönke/Schröder /Cramer, § 15 Rdn. 202; Stratenwerth, Allg. Teil I Rdn. 1138; Roxin, Allg. Teil § 24 Rdn. 113. Ebenso deutlich BGH NJW 1995, 795 (796).

593

I. Schuldfähigkeit u n d Unrechtsbewußtsein

I. Schuldfähigkeit und Unrechtsbewußtsein 1. Auch bei der Fahrlässigkeit ist das erste Merkmal, auf dem das Schuldurteil aufbaut, die Schuldfähigkeit, die auch hier an das Lebensalter und die geistig-seelische Gesundheit des Täters geknüpft ist (vgl. oben § 40 II, III). Wer schuldunfähig ist, kann auch im Sinne der Fahrlässigkeit nicht schuldhaft handeln3. Auch ein Schuldunfähiger kann allerdings unter Umständen die Tatbestandsverwirklichung vorhersehen und objektiv sorgfaltswidrig handeln. An die Erfüllung des Unrechtstatbestands können daher auch bei der Fahrlässigkeitstat die für den schuldunfähiMaßregeln angeknüpft werden (§§ 63, gen Täter vorgesehenen kriminalrechtlichen 64, 69, 70), wobei freilich vorausgesetzt werden muß, daß der Täter auch nach seinen individuellen Fähigkeiten, von der Schuldfähigkeit abgesehen, in der Lage war, den Sorgfaltsanforderungen gerecht zu werden 4. 2. Die Fahrlässigkeitsschuld setzt ferner ebenso wie die Schuld bei der Vorsatztat das Bewußtsein der Rechtswidrigkeit bzw. die Vermeidbarkeit des Verbotsirrtums voraus (vgl. oben § 41 I l ) 5 . Da der Fahrlässigkeitstäter häufig den sozialen Sinn seines Fehlverhaltens nicht erkennt, wird ihm auch das rechtliche Verbot meist nicht bewußt sein. Selbständige Bedeutung hat das Bewußtsein der Rechtswidrigkeit jedoch auch hier, und zwar insofern, als der Täter wissen muß, daß es sich bei den objektiven Sorgfaltsanforderungen, die im konkreten Falle zu erfüllen sind, um echte Rechtspflichten und nicht bloß um Gebote der Höflichkeit oder der auf Sitte und Anstand zu nehmenden Rücksicht handelt. A m aktuellen Unrechtsbewußtsein kann es fehlen, wenn ein Verstoß, etwa im Straßenverkehr, sehr häufig begangen wird (z.B. Uberschreiten der Fahrbahn bei Rotlicht, Nichtbeachtung der 30km-Zone). Hat der Täter seine Sorgfaltspflicht nicht erkannt (unbewußte Fahrlässigkeit), so ist zu fordern, daß sie ihm als Rechtspflicht hätte erkennbar sein müssen (vgl. unten § 57 II), Die Erkundigungspflicht hat praktisch besondere Bedeutung, wenn es sich um Rechtsnormen hinsichtlich der anzuwendenden Sorgfalt (z.B. Geschwindigkeitsbegrenzungen) oder um sonst festgelegte Sorgfaltsregeln (z.B. Warnzeichen auf Skipisten) handelt. Bei bewußter Fahrlässigkeit kommt ein Verbotsirrtum vor allem dann in Betracht, wenn der Täter irrtümlich einen Rechtfertigungsgrund für sein sorgfaltswidriges Handeln annimmt (ein Lehrling setzt sich auf Weisung seines Meisters, die er für verbindlich hält, über eine Unfallverhütungsvorschrift hinweg und verursacht dadurch einen Unfall 6 ). Bei den fahrlässigen Erfolgsdelikten muß der Täter ferner wissen bzw. wissen können, daß der 3

Vgl. Burgstaller, Das Fahrlässigkeitsdelikt S. 183 f.; Schönke/Schröder/

Cramer

y

§ 15

Rdn. 191; Stratenwerth, Allg. Teil I Rdn. 1126. Dagegen wurde früher aufgrund der Auffassung der Fahrlässigkeit als Schuldform vielfach angenommen, der Schuldunfähige könne überhaupt nicht fahrlässig handeln; vgl. Schlosky, JW 1936, 3427; Klee, JW 1939, 548. 4 Zu Recht betont Stratenwerth, Allg. Teil I Rdn. 1127, daß für die Strafbarkeit wegen einer Fahrlässigkeitstat im Rauschzustand nach § 323a zu prüfen ist, ob die objektiv erforderliche Sorgfalt von dem Täter in nüchternem Zustand zu verlangen gewesen wäre (RG DStr 1936, 180 [181]); ebenso Schönke/Schröder /Cramer, § 15 Rdn. 192. 5 Das Erfordernis des aktuellen oder potentiellen Unrechtsbewußtseins auch bei der Fahrlässigkeit betonen mit Recht Bockelmann, Verkehrsrechtliche Aufsätze S. 213; Burgstaller, Das Fahrlässigkeitsdelikt S. 196 ff.; WK (Burgstaller)

§ 6 Rdn. 78; Lackner, § 15 Rdn. 50;

LK n (Schroeder) § 17 Rdn. 2; Maurach/Gössel/Zipf Allg. Teil II § 44 Rdn. 56; Roxin, Allg. Teil I §24 Rdn. 103ff.; Sauer, Allgemeine Strafrechtslehre S. 180; Schönke/Schröder/ Cramer, § 15 Rdn. 193; Welzel, Fahrlässigkeit und Verkehrsdelikte S. 32; Stratenwerth, Allg. Teil I Rdn. 1128. Nach Arzt, ZStW 91 (1979) S. 884 sei jedoch bei Fahrlässigkeitsdelikten die Vorsatztheorie anzuwenden. Dagegen zu Recht Schöne, Hilde Kaufmann-Gedächtnisschrift S. 669 ff. 6 Beispiel von Herzberg, Jura 1984, 411. 38 Jescheck, 5. A.

594

§ 57 D i e Schuld bei der fahrlässigen Straftat

Erfolg, den er herbeiführt, von der Rechtsordnung mißbilligt wird. Handelt es sich um fahrlässige Tötung oder Körperverletzung, so ist darüber kein Wort zu verlieren. Für Gefährdungen im Straßenverkehr wie übermäßiges Auffahren oder Schneiden nach Überholvorgängen muß, obwohl diese Verfehlungen ständig vorkommen, das Unrechtsbewußtsein ebenfalls bejaht werden. Ausreichend für den Schuldvorwurf ist das potentielle Unrechtsbewußtsein, doch wiegt der vermeidbare Verbotsirrtum bei der Strafzumessung auch im Rahmen der Fahrlässigkeit weniger schwer als das volle Unrechtsbewußtsein. 3. Schuldausschließender Notstand (§ 35) und schuldausschließende Notwehrüberschreitung (§ 33) kommen auch bei Fahrlässigkeitstaten in Betracht. II. Die Erkennbarkeit und Erfüllbarkeit der objektiven Sorgfaltspflicht 1. Der Schuldvorwurf hängt bei der Fahrlässigkeit weiter davon ab, daß der Täter nach seinen persönlichen Fähigkeiten in der Lage ist, die Sorgfaltsanforderungen, die nach dem objektiven Maßstab an ihn zu stellen sind, zu erkennen und zu erfüllen. Maßgebend ist bei dieser Prüfung nicht die Leistungsfähigkeit des besonnenen und gewissenhaften Angehörigen des Verkehrskreises des Täters (objektiver Maßstab), sondern dieser selbst mit seinem individuellen Niveau an Kräften, Erfahrungen und Kenntnissen (subjektiver Maßstab) (RG 39, 2 [5]; 56, 343 [349]; 58, 130 [134f.]; 73, 257 [262]; B G H Dallinger M D R 1973, 18)7. Freilich ist auch hier ein Urteil über das persönliche Können nur in der Weise möglich, daß gefragt wird, ob „ein anderer", den man sich an Lebensalter, Intelligenz und Kenntnissen dem Täter gleich zu denken hat, an seiner Stelle und in seiner Lage nach unserer Erfahrung fähig gewesen wäre, den Anforderungen an die innere und äußere Sorgfalt zu genügen, die zur Vermeidung des tatbestandsmäßigen Erfolges zu stellen waren; persönliche Charaktermängel wie Rücksichtslosigkeit, Gleichgültigkeit, Unaufmerksamkeit entlasten den Täter nicht (vgl. oben § 39 I I I l ) 8 . 2. Umstände, die dem Täter nicht zum Vorwurf gereichen, sind körperliche Mängel, Verstandesfehler, Wissens- und Erfahrungslücken, Altersabbau sowie besondere Situationsschwierigkeiten, denen er nicht gewachsen sein konnte. Freilich bleibt dabei stets der Gesichtspunkt des „Übernahmeverschuldens" vorbehalten. Beispiele: Mangelhafte intellektuelle Begabung kann eine fehlerhafte Rangierbewegung im Eisenbahnverkehr entschuldigen (RG 22, 163 [164 f.]). Wenn der Zeuge wegen geringer Verstandeskräfte nicht fähig ist zu erkennen, daß er die Unwahrheit bekundet, kann er nicht nach § 163 bestraft werden (RG JW 1928, 1505). Fahruntüchtigkeit infolge von unerkennbar fortschreitendem Altersabbau ist nicht vorwerfbar 9. Plötzlich eintretende Ermüdung, auf die der Fahrer nicht durch ihm bekannte oder erkennbare körperliche oder geistige Mängel vorbereitet ist, kann auch schwere Verkehrsverstöße entschuldigen (BGH VRS 7, 181 [182]; BGH DAR 1958, 194). Fehlende Fahrpraxis darf dem Ungeübten nicht vorgeworfen werden (BGH DAR 1956, 106; KG VRS 7, 184 [185]). Dem Fahrschüler fällt ein Fehler nur dann 7 So die h.L.; vgl. Baumann, Probleme der Fahrlässigkeit S. 105; Bockelmann, Verkehrsrechtliche Aufsätze S. 210ff.; Engisch, Vorsatz und Fahrlässigkeit S. 349ff.; Exner, Fahrlässigkeit S. 217; Lackner, § 15 Rdn. 49; Mannheim, Fahrlässigkeit S. 61 ff.; Mühlhaus, Fahrlässigkeit S. 32; Preisendanz, Vorbem. C 4 S. 30; Schönke/Schröder/ Cramer, § 15 Rdn. 194;

Schünemann, JA 1975, 790; SK (Samson) § 16 Anh. Rdn. 34; Welzel, Lehrbuch S. 175. 8

So vor allem die österreichische Lehre; vgl. Burgstaller,

WK (Burgstaller)

Das Fahrlässigkeitsdelikt S. 189;

§ 6 Rdn. 84; Nowakowski, JBl 1972, 31; Kienapfel,

Zeitschrift für Ver-

kehrsrecht 1977, 13 f. Ebenso Herzberg, Jura 1984, 413: „Für seinen Charakter hat man einzustehen". 9

Beispiel v o n Bockelmann,

Verkehrsrechtliche Aufsätze S. 211 f.

I I . D i e Erkennbarkeit u n d Erfüllbarkeit der objektiven Sorgfaltspflicht

595

zur Last, wenn er ihn nach Maßgabe seines subjektiven Wissens und Könnens unschwer hätte vermeiden können (OLG Hamm VRS 56, 347). Die mangelnde Fähigkeit eines Heilpraktikers, eine Blinddarmentzündung zu erkennen, kann den Schuldvorwurf ausschließen (RG 67, 12 [19f.]). Bestürzung infolge unerwartet auftretender Gefahren kann falsche Reaktionen entschuldigen, so ein nächtlicher Angriff (RG 58, 27 [30]), ein plötzliches Versagen der Fußbremse eines Omnibus auf schwieriger Gefällstrecke, insbesondere bei gleichzeitiger Übermüdung und geringer Übung des Fahrers (BGH DAR 1956, 106 [107]), ein plötzliches Ausscheren eines Lastzuges auf der Autobahn (BGH VRS 10, 213 [214]) oder ein unvorhersehbares vorzeitiges Aufblenden auf der Gegenfahrbahn (BGH 12, 81 [84]). Endlich kann ein Mitverschulden des Verletzten die Schuld des Täters zwar nicht aufheben, aber doch wesentlich mildern (RG 59, 355 [359]; BGH 4, 182 [187]; 17, 299 [302f.]). 3. Häufig muß dem Täter in solchen Fällen freilich vorgeworfen werden, daß er eine Tätigkeit vorgenommen hat, für die ihm die erforderlichen Kenntnisse und Fähigkeiten fehlen (Übernahmeverschulden) (vgl. oben § 55 I 3 a). Hier stellt sich jedoch die Frage, wie zu entscheiden ist, wenn es dem Täter bereits an der nötigen Einsicht gebricht, um sich auch nur ein Urteil über das Ungenügen seiner eigenen Leistungsfähigkeit bilden zu können 10 . Das Schrifttum verlangt in konsequenter Weise, daß es dem Täter erkennbar gewesen sein muß, daß er den Anforderungen der von ihm übernommenen Tätigkeit nicht gewachsen sein werde 11 . Doch wird diese Voraussetzung in der Judikatur jedenfalls nicht ausdrücklich gemacht, so daß der Eindruck einer systemwidrigen Objektivierung des Schuldmaßstabs entsteht (RG 50, 37 [45]; 59, 355 [356]; 64, 263 [271]; 67, 12 [20]; B G H 10, 133 [134]; K G VRS 7, 184 [185]; anders jedoch B G H NJW 1995, 795 [796]). Das Übernahmeverschulden zeigt in dem zeitlich vorverlegten Ansatz für den Schuldvorwurf Verwandtschaft mit der actio libera in causa (vgl. oben § 40 VI l) 1 2 . Der Unterschied besteht darin, daß dort von dem Täter schuldhaft ein Zustand der Unfreiheit (Handlungsunfähigkeit, Schuldunfähigkeit) herbeigeführt wird, in dem er eine mit Strafe bedrohte Handlung begeht, während er sich hier vorwerfbar in eine Situation bringt, in der er zwar schuldfähig, aber den an ihn gestellten Sorgfaltsanforderungen nicht gewachsen ist. 4. Die persönlichen Fähigkeiten des Täters als Grundlage des Schuldvorwurfs lassen sich wie jede subjektive Tatsache nur aus objektiven Anhaltspunkten rückschließend feststellen. Vielfach wird der Richter dabei vom persönlichen Eindruck des Täters, seiner sozialen Stellung, seiner Lebenserfahrung und Lebensbewährung sowie von allgemeinen Erfahrungssätzen ausgehen können und die Fahrlässigkeitsschuld als gegeben ansehen dürfen, wenn es keine Anhaltspunkte gibt, die für das Gegenteil sprechen (Anscheinsbeweis, B G H D A R 1954, 17 [18]) 13 . Damit ist jedoch der subjektive Maßstab der Fahrlässigkeitsschuld nicht preisgegeben14, sondern nur ein Weg für deren Feststellung im Strafverfahren gezeigt. Vom Schuldprinzip 10 11

Vgl. Larenz, Schuldrecht Bd. I S. 285; ferner zum Zivilrecht BGH JZ 1968, 103. Vgl. Bockelmann y Verkehrsrechtliche Aufsätze S. 211; Burgstaller, Das Fahrlässigkeits-

delikt S. 193; derselbe, Grundzüge S. 126; WK (Burgstaller)

§ 6 Rdn. 106; Dreher/Tröndle,

§ 15 Rdn. 16; Kühl, Allg. Teil § 17 Rdn. 91; Nowakowski, JBl 1953, 510f.; Schönke/Schröder/ Cramer, § 15 Rdn. 198; Stratenwerth, Allg. Teil I Rdn. 1105; Schmidhäuser, Allg. Teil

S. 444; LK n 12

13

(Schroeder)

§ 16 Rdn. 140ff.; Schünemann, JA 1975, 791.

Ebenso Roxin, Allg. Teil § 24 Rdn. 111. Vgl. dazu Bockelmann, Untersuchungen S. 268; derselbe, Verkehrsrechtliche Aufsätze

S. 24; Burgstaller,

Das Fahrlässigkeitsdelikt S. 194f.; WK (Burgstaller)

§ 6 Rdn. 88; Volk,

GA 1973, 166ff.; Wimmer, NJW 1959, 1756ff.; derselbe, DAR 1960, 247f. Dagegen Baumann, NJW 1959, 2293 f. 14 Eine Objektivierung der Fahrlässigkeitsschuld fordern indessen Frey, Schweiz. Juristenvereins-Festschrift S. 343ff.; Salm, Das vollendete Verbrechen Bd. I, 1 S. 69ff., 114, 117ff., 137, 203; Booß, NJW 1960, 373. Dagegen zu Recht Bockelmann, Verkehrsrechtliche Aufsätze S. 23; Schmidt-Leichner, NJW 1960, 996f.; Baumann, Probleme der Fahrlässigkeit S. 106. 38*

596

§5

De

c h d

der fahrlässigen Straftat

kann sich ein Strafrecht, sofern es erzieherisch wirken will, gerade bei der Fahrlässigkeit nicht lossagen, weil die Strafe dem Täter seine persönliche Verantwortung vor Augen führen muß und die Urteilsgründe ihm zeigen sollen, inwiefern gerade er die Fahrlässigkeitstat hätte vermeiden können und in Zukunft auch vermeiden können wird. Dabei ist freilich zu berücksichtigen, daß „niemand die Idealforderung ständiger gespanntester Aufmerksamkeit und raschester, zweckmäßigster Reaktion zu verwirklichen" vermag15. I I I . Die subjektive Voraussehbarkeit des Erfolgs und des Kausalverlaufs 1. Bei den fahrlässigen Erfolgsdelikten müssen der tatbestandsmäßige Erfolg und der Kausalverlauf in ihren wesentlichen Zügen 1 6 nicht nur objektiv vorhersehbar gewesen sein (vgl. oben § 55 I I 3), sondern zur Vorwerfbarkeit der Erfolgsverursachung gehört außerdem, daß auch der Täter nach seinen persönlichen Fähigkeiten und Kenntnissen diese Voraussicht hätte haben können (RG 3, 208 [209]; 30, 25 [28]; 64, 316 [320]; 74, 195 [198]; B G H 24, 213 [216f.]) 1 7 . Der subjektive Maßstab der Voraussehbarkeit des Erfolgs ist grundsätzlich der gleiche wie bei der Erkennbarkeit und Erfüllbarkeit der Sorgfaltspflicht. Beispiele: Für die Voraussehbarkeit der Folgen eines Schlages auf den Kopf kommt es auf den Bildungsstand (RG 73, 257 [263]) und die Intelligenz des Täters an (OLG Köln NJW 1963, 2381 [2383]). Das Versagen des Gedächtnisses eines Lehrers in bezug auf die Mitteilung, ein bestimmter Schüler sei ein „Leichtbluter", ist nicht vorwerfbar, wenn dieser Schüler durch sein Verhalten die Klasse gefährdet und eine sofortige Abwehr erforderlich ist (BGH 14, 52 [54]) 18 . Eine in intellektueller Hinsicht primitive Bäuerin, die bei ihrer Tochter eine nicht steril durchgeführte Abtreibung vornimmt, kann den Tod als Folge des Eingriffs nicht voraussehen (schweiz. BGE 69 IV 228 [232]). Die Großmutter, die zum ersten Mal eine U-Bahn betritt und deswegen nicht weiß, daß sich die Türen vor der Abfahrt automatisch schließen, kann nicht voraussehen, daß sie ihr Enkelkind gefährdet, wenn sie es nicht weit genug von der Tür entfernt hält (Fall von Schmidhäuser). Voraussehbar ist jedoch, daß ein Fußgänger, der die Straße überqueren will, vor dem herannahenden Kraftfahrzeug zurückläuft (OLG Hamm VRS 59, 114), und daß ein Kind nicht auf der halben Fahrbahn stehen bleibt, sondern die andere Seite zu erreichen sucht (OLG Hamm VRS 59, 260). 2. Die subjektive Voraussehbarkeit des Erfolgs ist unproblematisch bei der bewußten Fahrlässigkeit, denn hier hat der Täter die Gefährlichkeit der Situation für das geschützte Handlungsobjekt erkannt, wenn er auch pflichtwidrig darauf vertraut hat, daß sich der Erfolg nicht verwirklichen werde ( O L G Stuttgart JuS 1977, 52). Die Schwierigkeit liegt auch hier bei der unbewußten Fahrlässigkeit, denn die Gefährlichkeit vieler alltäglicher Lebensvorgänge, insbesondere in der Medizin, im Bauwesen oder im Straßenverkehr, läßt bei fast jeder Sorgfaltsverletzung die schwersten Folgen als voraussehbar erscheinen, und zwar für jedermann, weil der mögliche Kausalverlauf einfach genug ist, um auch dem beschränktesten Gemüt einzuleuchten. Es gibt jedoch bei Fahrlässigkeitstaten auch kompliziertere Zusammenhänge, die die besondere Prüfung der persönlichen Fähigkeit des Täters 15

So Stratenwerth, Allg. Teil I Rdn. 1137. Zu Recht nennt Puppe, JZ 1989, 732 einen Umstand des Kausalverlaufs „wesentlich", „wenn er eine Sorgfaltspflicht des Täters konstituiert, die ohne diesen Umstand nicht gegeben wäre". 17 Vgl. Burgstaller, Das Fahrlässigkeitsdelikt S. 187; WK (Burgstaller) § 6 Rdn. 90; Herzberg, Jura 1984, 407; Kühl, Allg. Teil § 17 Rdn. 92; H. Mayer, Lehrbuch S. 271; Welzel, Fahrlässigkeit und Verkehrsdelikte S. 30f.; derselbe, Lehrbuch S. 175 f.; Schmidhäuser, Allg. 16

Teil S. 445; Schönke /Schröder /Cramer,

§ 15 Rdn. 194; Schünemann, JA 1975, 788; Wessels,

Allg. Teil Rdn. 692. 18 Vgl. über die Grenzen der Konzentrationspflicht Sigrid Fischer, Vergessen als Fahrlässigkeit S. 86 ff.

I V . D i e U n z u m u t b a r k e i t normgemäßen Verhaltens

597

zur Voraussicht von Erfolg und Kausalverlauf durchaus erforderlich machen (z.B. Stehenlassen einer giftigen Flüssigkeit in einem an sich verschlossenen Raum, in den jedoch Kinder beim Spielen durchs Fenster gelangen können). Sonderwissen belastet wie bei Vorsatztaten den Täter, z.B. die Kenntnis der Herzkrankheit des Opfers, das durch eine leichtsinnig übermittelte Schocknachricht zu Tode erschreckt wird. IV. Die Unzumutbarkeit normgemäßen Verhaltens Der Schuldvorwurf der Fahrlässigkeit kann auch dann entfallen, wenn äußere Umstände die Erfüllung der objektiven Sorgfaltspflicht als unzumutbar erscheinen lassen19. Anders als bei Vorsatztaten, bei denen auch gegenüber stärkstem Motivationsdruck Rechtsgehorsam verlangt wird, sofern nicht besondere im Gesetz selbst vorgesehene Ausnahmefälle vorliegen (z.B. § 35) (vgl. oben § 47 I I 2), berücksichtigt die Rechtsprechung bei Fahrlässigkeitstaten, vor allem in Konfliktsituationen, daß außergewöhnliche Umstände dem Täter die Erfüllung der Sorgfaltspflicht besonders erschwert haben können. Es handelt sich dabei jedoch nicht schon um eine Sorgfaltsgrenze im objektiven Bereich der Rechtswidrigkeit 20 , auch nicht um die Anerkennung eines „übergesetzlichen" Entschuldigungsgrundes der Unzumutbarkeit 21 , sondern um die Begrenzung der den Täter persönlich treffenden Sorgfaltspflicht (OLG Frankfurt VRS 41, 32 [35]) (vgl. oben § 47 I I 3b) 2 2 . Diese kann also nicht nur durch Defizite in der Person des Täters, sondern in Ausnahmefällen auch durch Besonderheiten der Tatsituation eingeschränkt werden. Auch hier ist freilich stets eine objektive Bewertung der Zumutbarkeit sorgfaltsgemäßen Verhaltens vorzunehmen 2 . Sonst könnte es zu einer ungleichmäßigen, von Willkür bestimmten Anwendung des Zumutbarkeitsmaßstabs kommen. Beispiele: Ihren Ausgang hat die Rechtsprechung von dem „Leinenfängerfall" genommen (RG 30, 25), in dem die Zumutbarkeit der sorgfaltsgemäßen Bespannung eines Pferdefuhrwerks mit Rücksicht darauf verneint wurde, daß dem Kutscher für den Fall der Weigerung, ein immer wieder durchgehendes Pferd einzuspannen, mit Entlassung gedroht worden war (heute würde dieser Fall wegen des besseren Rechtsschutzes für Arbeitnehmer freilich anders entschieden werden24). RG 36, 78 (80) verneinte ferner bei einem Vater die Pflichtwidrigkeit 19

Vgl. dazu Bockelmann /Volk, Allg. Teil S. 167 f.; Burgstaller, Das Fahrlässigkeitsdelikt S. 198ff.; WK (Burgstaller) § 6 Rdn. 96ff.; Dreher/Tröndle, § 15 Rdn. 16; Eggert, Die Unzu-

mutbarkeit S. 75 ff.; LK (Hirsch) Vorbem. 206 vor § 32; Heitier, NJW 1951, 829; Kienapfel, Zeitschrift für Verkehrsrecht 1977, 14 f.; Kohlrausch/Lange, § 59 Anm. I V 4; Roxin,

Allg. Teil I §24 Rdn. 115; Schönke/Schröder /Cramer, § 15 Rdn. 204; SK (Samson) § 16 Anh. Rdn. 36; Nowakowski, JBl 1953, 509f.; Welzel, Lehrbuch S. 183 f.; Jakobs, Studien S. 141 ff.; derselbe, Allg. Teil 20/35 ff.; Wessels, Allg. Teil Rdn. 692; Fornasari, Ii principio di inesigibilità S. 320 ff. Ausdrücklich erwähnt die Zumutbarkeit § 6 I österr. StGB. Skeptisch gegenüber der Unzumutbarkeit wegen der Abgrenzungsschwierigkeiten Schünemann, JA 1975, 791 f. Ablehnend M aurach/Gössel/ lip f Allg. Teil II § 44 Rdn. 45; Maiwald, SchülerSpringorum-Festschrift S. 487. 20 So aber H. Mayer, Lehrbuch S. 141; derselbe, Grundriß S. 135; Henkel, Mezger-Festschrift S. 286. 21 So Baumann/Weber, Allg. Teil S. 455; Bockelmann/Volk, Allg. Teil S. 168; Schmidhäuser, Allg. Teil S. 477f.; Stratenwerth, Allg. Teil I Rdn. 1132; Welzel, Lehrbuch S. 183. 22 So Burgstaller, Das Fahrlässigkeitsdelikt S. 199; WK (Burgstaller) § 6 Rdn. 98. Dagegen erkennen Schönke/Schröder /Cramer, § 15 Rdn. 204, Maiwald, Schüler-Springorum-Festschrift S. 491 und Eser, Strafrecht II Nr. 24 A Rdn. 8 der Unzumutbarkeit eine „Doppelfunktion" zu. 23 So mit Recht Welzel, Lehrbuch S. 184. Vgl. ferner Burgstaller, Das Fahrlässigkeitsdelikt S. 200 f. m.Beisp. 24

So Bockelmann,

Verkehrsrechtliche Aufsätze S. 211; Mühlhaus,

Fahrlässigkeit S. 43 f.

598

§ 58 Begriff, A r t e n u n d G r u n d p r o b l e m a t i k des Unterlassungsdelikts

der Unterlassung rechtzeitiger Klinikunterbringung des schwerkranken Kindes, weil er sich davon durch die flehentlichen Bitten des Kindes selbst und seiner kurz zuvor im gleichen Krankenhaus verstorbenen Frau hatte abhalten lassen. RG 57, 172 (174) nahm an, daß einem Fährmann, der auf der Memel bei Sturm und Hochwasser gekentert war, kein Vorwurf zu machen sei, weil ihn die beiden Fahrgäste trotz seines Hinweises auf die Gefährlichkeit der Überfahrt unausgesetzt gedrängt und zuletzt seinen persönlichen Mut in Zweifel gezogen hatten. RG 74, 195 (198) lehnte den Schuldvorwurf gegen einen Straßenbahnschaffner ab, der zur ordnungsgemäßen Beleuchtung seines Anhängers einer (fehlerhaften) Dienstvorschrift hätte entgegenhandeln müssen. Vgl. auch BGH 2, 194 (204); 4, 20 (23).

2. Abschnitt: Das Unterlassungsdelikt Das Unterlassungsdelikt ist ebenso wie das fahrlässige Begehungsdelikt eine besondere Erscheinungsform der strafbaren Handlung. Unterlassungsdelikte können sowohl vorsätzlich als auch fahrlässig begangen werden. Die Unterlassungsdelikte fallen ebenso wie die Begehungsdelikte unter den Oberbegriff des „sozialerheblichen menschlichen Verhaltens" (vgl. oben § 23 V I 1 und 2), sie unterscheiden sich aber von den durch positives Tun begangenen Straftaten so wesentlich, daß eine unmittelbare Übertragung der für die Begehungsdelikte entwickelten Rechtsbegriffe und -regeln nicht möglich ist. Die Dogmatik der Begehungsdelikte muß deshalb an die besonderen Gegebenheiten der Unterlassungsdelikte angepaßt werden. Doch kann dabei nicht schematisch nach einem angeblich geltenden „Umkehrpnnzip uX verfahren werden, welches besagen soll, daß dieselben Voraussetzungen bei Begehungs- und Unterlassungsdelikten stets zu genau entgegengesetzten Folgerungen führen müssen. Vielmehr muß von Problem zu Problem eine sinngemäße Umstellung der für die Begehungsdelikte entwickelten Denkformen auf die Unterlassungsdelikte stattfinden. Da die Unterlassung nicht die gleiche Realität besitzt wie das positive Tun, sondern nur als Enttäuschung der Erwartung einer bestimmten, dem Täter möglichen Handlung gedacht werden kann, müssen in den Begriff der Unterlassung Merkmale aufgenommen werden, die bei den Begehungsdelikten kein Gegenstück haben. Durch diese Umstellungen und Ergänzungen gestaltet sich der Aufbau der Unterlassungsdelikte komplizierter als der der Begehungsdelikte. § 58 Begriff, Arten und Grundproblematik des Unterlassungsdelikts AndroulakiSy Studien zur Problematik der unechten Unterlassungsdelikte, 1963; Arzt, Zur Garantenstellung beim unechten Unterlassungsdelikt, JA 1980, 553, 647, 712; Bertel, Begehungs- oder Unterlassungsdelikt? JZ 1965, 53; Binding , Der Entwurf eines StGB f. d. Nordd. Bund in seinen Grundsätzen, 1869; Bockelmann, Strafrecht des Arztes, 1968; Böhm, Die Rechtspflicht zum Handeln bei den unechten Unterlassungsdelikten, Diss. Frankfurt 1957; derselbe. Methodische Probleme der Gleichstellung des Unterlassens mit der Begehung, JuS 1961, 177; Boldt, Anmerkung zu RG 74, 309, DR 1941, 195; Brammsen, Die Entstehungsvoraussetzungen der Garantenpflichten, 1986; Bruns, Anmerkung zu BGH vom 3.11.1981, JR 1982, 465; derselbe, Zur Auslegung des § 13 Abs. 2 StGB, Festschrift für H. Tröndle, 1989, S. 125; Busch, Zur gesetzlichen Begründung der Strafbarkeit unechten Unterlassens, Festschrift für H. v. Weber, 1963, S. 192; Cadoppi, Ii reato omissivo proprio, Bd. I, II, 1988; Clemens, Die Unterlassungsdelikte im deutschen Strafrecht von Feuerbach bis zum RStGB, Strafr. Abh. Heft 149, 1912; Dahm, Bemerkungen zum Unterlassungsproblem, ZStW 59 (1940) S. 133; v. Dellingshausen, Sterbehilfe und Grenzen der Lebenserhaltungspflicht des Arztes, 1981; Graf zu Dohna, Zur Lehre von den Kommissivdelikten durch Unterlassung, DStr 1939, 142; Drost, Der Aufbau der Unterlassungsdelikte, 1

So Armin Kaufmann, Unterlassungsdelikte S. 87ff.; Welzel, Lehrbuch S. 203. Wie hier Schönke/Schröder/Stree, Vorbem. 138 vor § 13; Schmidhäuser, Allg. Teil S. 653 f. Fußnote 1; Arzt, JA 1980, 555; Haffke, ZStW 87 (1975) S. 44 ff.

Schrifttum z u § 58

599

GS 109 (1937) S. 1; Engisch y Besprechung von Kaufmann, Die Dogmatik der Unterlassungsdelikte, JZ 1962, 189; derselbe, Vom Weltbild des Juristen, 2. Auflage 1965; derselbe, Tun und Unterlassen, Festschrift für W. Gallas, 1973, S. 163; Enschedé , Beginselen van strafrecht, 6. Auflage 1987; Fiandaca y Ii reato commissivo mediante omissione, 1979; Freund, Erfolgsdelikt und Unterlassen, 1992; Fünfsinn, Der Aufbau des fahrlässigen Verletzungsdelikts durch Unterlassen, 1985; Gallas, Anmerkung zu BGH 2, 150, JZ 1952, 371; derselbe, Unterlassene Hilfeleistung nach deutschem Strafrecht, Deutsche Landesreferate zum IV. Int. Kongreß für Rechtsvergleichung, 1955, S. 344; derselbe, Studien zum Unterlassungsdelikt, 1989; Geilen, Neue juristisch-medizinische Grenzprobleme, JZ 1968, 145; derselbe, Das Leben des Menschen in den Grenzen des Rechts, FamRZ 1968, 121; Georgakis y Hilfspflicht und Erfolgsabwendungspflicht im Strafrecht, 1938; Gössel, Zur Lehre vom Unterlassungsdelikt, ZStW 96 (1984) S. 321; Grasso, Ii reato omissivo improprio, 1983; derselbe y Orientamenti legislativi in tema di omesso impedimento dell'evento, Riv dir proc pen 1978, 872; Grünwald y Das unechte Unterlassungsdelikt, Diss. Göttingen 1957; derselbe, Zur gesetzlichen Regelung der unechten Unterlassungsdelikte, ZStW 70 (1958) S. 412; derselbe, Die Beteiligung durch Unterlassen, GA 1959, 110; Haffke y Unterlassung der Unterlassung? ZStW 87 (1975) S. 44; Henke y Handbuch des Criminalrechts und der Criminalpolitik, I. 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600

§ 58 Begriff, A r t e n u n d G r u n d p r o b l e m a t i k des Unterlassungsdelikts

Samson, Begehung und Unterlassung, Festschrift für H. Welzel, 1974, S. 579; Samson/Horn, Steuerunehrlichkeit durch Unterlassen, NJW 1970, 593; Sauer, Kausalität und Rechtswidrigkeit der Unterlassung, Festgabe für R. v. Frank, Bd. I, 1930, S. 202; Sax y Zur rechtlichen Problematik der Sterbehilfe usw., JZ 1975, 137; Schaff stein. Die unechten Unterlassungsdelikte usw., Festschrift für W. Graf Gleispach, 1936, S. 70; derselbe, Tatbestandsirrtum und Verbotsirrtum, Göttinger Festschrift für das OLG Celle, 1961, S. 175; Eb. Schmidt, Der Arzt im Strafrecht, 1939; R. Schmitt, Zur Systematik der Unterlassungsdelikte, JZ 1959, 432; Schöne, Unterlassene Erfolgsabwendungen und Strafgesetz, 1974; Schünemann, Grund und Grenzen der unechten Unterlassungsdelikte, 1971; derselbe, Die Unterlassungsdelikte usw., ZStW 96 (1984) S. 287; Schürmann, Unterlassungsstrafbarkeit und Gesetzlichkeitsprinzip, 1986; Schwalm, Begehen durch Unterlassen, Niederschriften, Bd. XII, S. 74; J. Schwarz, Die Unterscheidung zwischen echten und unechten Unterlassungsdelikten, Diss. Freiburg 1967; Seebode, Zur gesetzlichen Bestimmtheit des unechten Unterlassungsdelikts, Festschrift für G. Spendel, 1992, S. 317; Separovic\ Die Behandlung der Unterlassungsdelikte in Jugoslawien, ZStW 77 (1965) S. 149; Sgubbi, Responsabilità penale per omesso impedimento dell'evento, 1975; Sieber, Die Abgrenzung von Tun und Unterlassen usw., JZ 1983, 431; Silva Sânchez, El delito de omisiôn, 1986; Spangenberg, Über Unterlassungsverbrechen und deren Strafbarkeit, Neues Archiv des Criminalrechts IV (1821) S. 527; Spendel, Zur Unterscheidung von Tun und Unterlassen, Festschrift für Eb. Schmidt, 1961, S. 183; Stoffers, Sterbehilfe: Rechtsentwicklungen bei der Reanimator-Problematik, MDR 1992, 629; derselbe, Unterscheidung der Verhaltensformen usw., GA 1993, 262; Struensee, Handeln und Unterlassen usw., Festschrift für W. Stree und J. Wessels, 1993, S. 133; Stübel, Über die Teilnahme mehrerer Personen an einem Verbrechen, 1828; Tenckhoff Zur Anwendbarkeit des § 13 StGB auf schlichte Tätigkeitsdelikte, Festschrift für G. Spendel, 1992, S. 347; Timpe, Strafmilderungen des Allgemeinen Teils usw., 1983; derselbe, Anmerkung zu BGH 36, 227, JR 1990, 428; Traeger, Das Problem der Unterlassungsdelikte im Straf- und Zivilrecht, Festgabe für L. Enneccerus, 1913 (Sonderdruck); Vogel, Norm und Pflicht bei den unechten Unterlassungsdelikten, 1993; Vogt, Das Pflichtproblem der kommissiven Unterlassung, ZStW 63 (1951) S. 381; Volk, Zur Abgrenzung von Tun und Unterlassen, Festschrift für H. Tröndle, 1989, S. 219; Welp, Vorangegangenes Tun als Grundlage einer Handlungsäquivalenz der Unterlassung, 1968; Welzel\ Zur Dogmatik der echten Unterlassungsdelikte usw., NJW 1953, 327. I. Grundzüge der Dogmengeschichte der Unterlassungsdelikte 1. Das Grundproblem der Unterlassungsdelikte ist die Frage, unter welchen Voraussetzungen die Nichthinderung des Eintritts eines tatbestandsmäßigen Erfolgs seiner Herbeiführung durch positives Tun gleichgestellt werden kann. Während sich dazu in der Literatur des 18. Jahrhunderts nur gelegentliche Äußerungen im Zusammenhang mit den Tötungsdelikten finden 2 , war die deutsche Strafrechtswissenschaft seit Feuerbach darum bemüht, die Rechtspflichten zur Erfolgsabwendung systematisch zu erfassen 3. Daneben stand lange die Frage nach der Kausalität der Unterlassung für den nicht abgewendeten Erfolg im Vordergrund des Interesses. Ungelöst ist die Frage der Begründung und Begrenzung der Garantenpflichten. Erst in unserer Zeit ist das Problem der Gleichstellung bei den Delikten mit besonderen Handlungsmerkmalen erkannt worden (§ 13 I zweiter Halbsatz) 4 . 2. Feuerbach 5 ließ mit der für die Freiheitsidee der Aufklärung charakteristischen Begründung, daß „die ursprüngliche Verbindlichkeit des Bürgers nur auf Unterlassungen geht", 2 Vgl. dazu Clemens, Unterlassungsdelikte S. 6ff.; Nagler, GS 111 (1938) S. 3ff.; Schaffstein, Die allgemeinen Lehren S. 56ff.; Honig, R. Schmidt-Festgabe (Sonderdruck) S. 25 ff. (über Vorstufen in der Glosse). Zum römischen Recht vgl. Honig, Heilfron-Festschrift S. 63ff. Zur Geschichte weiter Schünemann, ZStW 96 (1984) S. 287ff. 3 Dazu eingehend Welp, Vorangegangenes Tun S. 25 ff. 4 Vgl. dazu Schönke/Schröder/Stree, § 13 Rdn. 4; Schmidhäuser, Allg. Teil S. 682 f.; SK

(Rudolphi) § 13 Rdn. 18; LK 11 (Jescheck) § 13 Rdn. 5. 5

Feuerbach,

L e h r b u c h 3. Auflage § 24.

I I . D i e Unterscheidung v o n

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un un

Unterlassen

601

allein Gesetz und Vertrag als Rechtsgrund einer Verbindlichkeit zur Erfolgsabwendung genügen. Spangenberg 6 und Henke 7 erkannten darüber hinaus auch enge Lebensverhältnisse (z.B. Ehe und nahe Verwandtschaft) als Verpflichtungsgrund an. Stübel 8 endlich fügte das gefährdende vorausgegangene Tun als Grundlage der Erfolgsabwendungspflicht hinzu. Damit war das Fundament für die spätere Entwicklung der Unterlassungsdelikte gelegt. Mit dem Eindringen des naturwissenschaftlichen Denkens in die Strafrechtstheorie begannen um die Mitte des 19. Jahrhunderts die Versuche, das Gleichstellungsproblem durch den Nachweis einer echten Kausalität der Unterlassung für den eingetretenen Erfolg zu lösen. Diese Entwicklung ist hier nicht weiter zu verfolgen (vgl. unten § 59 I I I 2), da sich nach vielen Um- und Irrwegen die Erkenntnis durchgesetzt hat, daß die Kausalität nicht die entscheidende Frage der Unterlassung ist 9 . „Die Strafbarkeit der Unterlassung ist von der Annahme ihrer Kausalität völlig unabhängig"10. Maßgebend ist vielmehr der normative Gesichtspunkt, daß jemand, auf dessen Eingreifen die Gemeinschaft vertraut, durch Unterlassen der erwarteten Tätigkeit Interessen verletzt, die seiner Fürsorge anvertraut sind und mangels anderweitiger Sicherung schutzlos bleiben11. Das Gleichstellungsproblem war damit zu einer Frage der Rechtswidrigkeit geworden. Lange wurden die für die Unterlassungsdelikte relevanten Rechtspflichten rein formal mit ihrer Herkunft (Gesetz, Gewohnheitsrecht, Vertrag, vorausgegangenes Tun) begründet12. Aber schon früh setzten die Versuche ein, Rechtspflichten zur Erfolgsabwendung materiell aus der Schutzaufgabe des Strafrechts herzuleiten. So wurde auf den sozialen Pflichtenkreis des Unterlassenden13, auf das gesunde Volksempfinden14 und auf die Bedürfnisse der inneren Ordnung sozialer Gemeinschaften 15 abgestellt. Den vorläufigen Abschluß der dogmengeschichtlichen Entwicklung bildete die Lehre Naglers 16. Danach ist die Gleichstellung ein Problem der Ergänzung des Tatbestandes des dem Unterlassungsdelikt entsprechenden Begehungsdelikts durch Merkmale, die den Unterlassenden kennzeichnen „als Garanten für den Nichteintritt des Erfolgs, dem es obliegt, rechtsfeindliche Energien unschädlich zu machen". Auf dieser Grundlage hat die Lehre von den Garantenpflichten in der neueren Dogmatik eine immer weitere Verfeinerung erfahren (vgl. näher unten § 59 IV). II. Die Unterscheidung von positivem Tun und Unterlassen 1. Die Rechtsnormen sind entweder Verbots- oder Gebotsnormen. Durch eine Verbotsnorm wird eine bestimmte Handlung untersagt; die Rechtsverletzung besteht in der Vornahme der verbotenen Handlung. Durch eine Gebotsnorm wird eine bestimmte Handlung angeordnet; die Rechtsverletzung besteht in der Unterlassung dieses Tuns 1 7 . Alle Unterlassungsdelikte sind Zuwiderhandlungen gegen Gebotsnormen 18 . 6

Spangenberg, Neues Archiv des Criminalrechts IV (1821) S. 539. Handbuch S. 395 f. 8 Stübely Uber die Teilnahme S. 61. 9 Vgl. dazu Jescheck/Goldmanny ZStW 77 (1965) S. 114f.; Maurach/Gössel/Zipf Allg. Teil II § 46 Rdn. 18; Rudolphi, Die Gleichstellungsproblematik S. 7ff.; Schmidhäuser, Allg. Teil S. 684 ff. 10 v. Liszty Lehrbuch 6. Auflage S. 108. 11 So Kohler, Studien Teil I S. 46 f.; Traeger, Unterlassungsdelikte S. 21. 12 So insbes. die Rspr.; vgl. RG 58, 130 (131); 63, 392 (394); 74, 309 (311); auch noch BGH 2, 150 (153); 19, 167 (168). Ferner die führenden Lehrbücher: v. Hippely Bd. I I S. 161 ff.; v. Liszt/ Schmidt, S. 190ff.; M. E. Mayer, Lehrbuch S. 191 f.; Mezger f Lehrbuch S. 138ff. Daran anknüpfend noch Stratenwerth, Allg. Teil I Rdn. 989ff.; Blei, Allg. Teil S. 287; Otto, Grundkurs S. 145; Arzt } JA 1980, 648. Ablehnend Maurach/Gössel/Zipf Allg. Teil I I § 46 Rdn. 57. 13 Vgl. dazu Sauer, Grundlagen S. 460; derselbe, Frank-Festgabe Bd. I S. 220; Kissin, Die Rechtspflicht zum Handeln S. 102 ff., 107 ff. 14 So Schaffstein, Gleispach-Festschrift S. 95. Kritisch Graf zu Dohna, DStr 1939, 142 ff. 15 So Dahm, ZStW 59 (1940) S. 170ff.; Boldt, DR 1941, 196. 16 Nagler, GS 111 (1938) S. 51, 59. 7

Henkey

602

§ 58 Begriff, A r t e n u n d G r u n d p r o b l e m a t i k des Unterlassungsdelikts

Beispiele: § 142 I 2 verbietet das Sich-Entfernen vom Unfallort vor Ablauf der Wartefrist und ist somit eine Verbotsnorm, § 142 II und III enthalten die Pflicht, nachträglich Feststellungen zu ermöglichen, und sind damit Gebotsnormen19. Im Strafrecht überwiegen naturgemäß die Verbotsnormen, weil es grundsätzlich nicht Aufgabe von Strafsanktionen sein kann, die Rechtsgenossen zur Rettung gefährdeter Rechtsgüter durch persönlichen Einsatz anzuhalten. Dennoch gibt es nicht wenige Tatbestände strafbaren Unterlassens im StGB (z.B. §§ 138, 123 zweiter Fall, 174ff., 264 I Nr. 2, 265b I Nr. 2, 266a II, 283 I Nr. 5, 7b, 283b I Nr. 3b, 223 b I dritter Fall, 315c I Nr. 2 g, 323 c, 340 I zweiter Fall, 357 dritter Fall) und besonders im Nebenstrafrecht (vgl. z.B. § 401 AktG, § 21 I Nr. 2 zweiter Fall StVG) 2 0 . Es gibt ferner Tatbestandsmerkmale, in denen positives Tun und Unterlassen in einem Begriff zusammengefaßt sind (z.B. § 266: Verletzung der Pflicht, fremde Vermögensinteressen wahrzunehmen; § 353b II: eine geheime Nachricht an einen anderen gelangen lassen). Die im Gesetz geregelten Unterlassungsdelikte werden in ihrer praktischen Bedeutung jedoch von den Fällen übertroffen, in denen die Strafbarkeit des Unterlassens nicht ausdrücklich normiert ist. Rechtsprechung und Lehre nehmen nämlich übereinstimmend an, daß die meisten Begehungsdelikte, zu deren Tatbestand ein Verletzungs- oder Gefährdungserfolg gehört 21 , auch durch Nichtabwendung des Erfolges begangen werden können, sofern eine Rechtspflicht zum Eingreifen besteht. Darüber hinaus findet sich die Meinung, daß auch bei Tätigkeitsdelikten eine Begehung durch Unterlassen in Betracht kommt 2 2 . Für die Lösung eines Strafrechtsfalls stellt sich damit als erstes die Frage, ob aus einem bestimmten Geschehensablauf ein positives T u n oder ein Unterlassen als der für die strafrechtliche Beurteilung relevante Ausschnitt herauszugreifen ist. Beispiel: Wenn jemand den Angreifer in Notwehr niederschlägt und liegen läßt, so daß er verblutet, ist sowohl an eine Tötung durch positives Tun als auch durch pflichtwidriges Unterlassen zu denken23. Wenn ein Anwalt bei einem Erpressungsversuch seiner Partner schweigend anwesend ist, kann psychische Beihilfe durch positives Tun oder Unterlassen in Betracht kommen (für positives Tun BGH JZ 1983, 462 m. im Ergebnis zust. Bespr. Sieber, JZ 1983, 437). Positives Tun ist auch die Überlassung des Steuers an einen Fahruntüchtigen (OLG Karlsruhe NJW 1980, 1859). 17

So Engisch, Weltbild S. 37 Fußnote 70.

18

So Armin Kaufmann, Unterlassungsdelikte S. 3 ff.; derselbe, JuS 1961, 173 f.; Gallas, Stu-

dien S. 32, 50; Welzel,

Lehrbuch S. 200; Stratenwerth,

Allg. Teil I Rdn. 1022; LK U (Je-

scheck) Vorbem. 90 vor § 13; M aurach / Gössel/ Zipf Allg. Teil I I § 45 Rdn. 35; Schmidhäu-

ser, Allg. Teil S. 659; Vogel Norm und Pflicht S. 93 ff. gegen Philipps, Handlungsspielraum S. 15 ff. Anders R. Schmitt, JZ 1959, 432, der mit der älteren Lehre annimmt, daß das unechte Unterlassungsdelikt zugleich gegen eine Verbotsnorm verstoße. Ebenso Baumann/Weber, Allg. Teil S. 236; Wessels, Allg. Teil Rdn. 697. 19 Auch § 142 I 2 wird übrigens von der h.L. als echtes Unterlassungsdelikt angesehen (Pflicht, durch Dableiben und Angabe der eigenen Beteiligung Feststellungen zu ermöglichen): so Dreher/Tröndle, § 142 Rdn. 6; Lackner, § 142 Rdn. 9; Schönke/Schröder/Gramer, § 142 Rdn. 2; SK (Rudolphi) § 142 Rdn. 5; wie der Text Maurach/Schroeder/Maiwald, Bes.

Teil I § 49 Rdn. 5. 20 In neueren Gesetzen sind die (echten) Unterlassungen nicht selten als Ordnungswidrigkeiten eingestuft, was mit dem geringeren Unrechtsgehalt der Verletzung von Auskunftsund ähnlichen Pflichten zusammenhängt; vgl. z.B. § 28 I Nr. 2, 5, 6, 11, II Nr. 1, 4 GastG. 21 Über Ausnahmen vgl. SK (Rudolphi) § 13 Rdn. 14. 22

So Schönke/Schröder/Stree,

Vorbem. 161 vor § 13; Steiner, M D R 1971, 261; Tenckhoff

Spendel-Festschrift S. 360f. Dagegen Bockelmann/Volk, Allg. Teil S. 133. 23 Vgl. zu diesen Fällen der „Sukzession der Verhaltensformen" Welp, Vorangegangenes Tun S. 118 ff., 321 ff.; Herzberg, Unterlassung S. 284 ff.

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Unterlassen

603

2. In der Regel kann die Frage, ob ein Sachverhalt als Tun oder Unterlassen aufzufassen ist, nach dem natürlichen Verständnis der Dinge leicht beantwortet werden. Es gibt jedoch auch Fälle, die nicht auf den ersten Blick klar liegen 24 . Beispiele: Insbesondere lassen sich Fahrlässigkeitstaten, bei denen die Sorgfaltspflichtverletzung in einem Handeln ohne die erforderlichen Sicherheitsvorkehrungen besteht, meist sowohl als positives Tun wie auch als Unterlassen verstehen (vgl. den Apotheker-, Kokain-, Ziegenhaar-, Heilpraktiker- und Radfahrerfall oben § 55 II 2baa). Zweifelhaft sind ferner folgende Fälle: Eine Frau holt ihren betrunkenen Ehemann im Wirtshaus ab, um ihn heimzugeleiten, läßt ihn aber wegen eines unterwegs entstandenen Streits an einer gefährlichen Stelle zurück, so daß er bei dem Versuch, allein weiterzugehen, in einen Bach stürzt und ertrinkt (österr. OGH SSt Bd. 31 [1960] Nr. 1). Der Angeklagte läßt in einem Beschwerdeschreiben die Anrede „Herr" vor dem Namen des Amtsrichters weg (RG LZ 1915, 446); jemand ignoriert die zum Gruß ausgestreckte Hand. Der Gastwirt schenkt einem betrunkenen Kraftfahrer Alkohol aus und hindert ihn später nicht an der Heimfahrt (BGH 19, 152). Der Freund, der aus Gefälligkeit das Steuer für den betrunkenen Kraftfahrer übernommen hat, läßt diesen später auf sein Verlangen allein weiterfahren (OLG Karlsruhe JZ 1960, 178). Der Betriebsleiter genehmigt eine Dienstfahrt durch einen fahruntüchtigen Kraftfahrer (OLG Hamburg VRS 25, 433 [434]). Jemand hindert bei einem Badeunfall einen Rettungswilligen durch Zwang oder Täuschung an seinem Rettungswerk. Der Hauseigentümer verwehrt einem Kind, das von einem wütenden Hund verfolgt wird, gewaltsam den rettenden Zutritt. Der Arzt setzt einen Schwerverletzten vom Beatmungsgerät ab, um einen anderen Patienten mit besserer Heilungsaussicht anzuschließen. Der Ehemann einer im Sterben liegenden Frau schaltet auf deren Wunsch das Beatmungsgerät ab (LG Ravensburg JZ 1988, 207). In derartigen Zweifelsfällen führen folgende Überlegungen zum richtigen Ergebnis: Hat jemand den Erfolg durch ein objektiv tatbestandsmäßiges positives Tun vorsätzlich oder fahrlässig verursacht, so ist zunächst dieses Tun der für das Strafrecht maßgebliche Anknüpfungspunkt (Kausalitätskriterium) 25 . N u r wenn hinsichtlich des Tuns die Rechtswidrigkeit oder die Schuld fehlt, muß weiter geprüft werden, ob der Täter ein zu erwartendes positives Tun, durch das der Erfolg abgewendet worden wäre, unterlassen hat 2 6 . 24 Vgl. zum folgenden Engisch y Gallas-Festschrift S. 168 ff.; LK 11 (Jescheck) Vorbem. 90 vor § 13; Samson., Welzel-Festschrift S. 579ff.; Spendel, Eb. Schmidt-Festschrift S. 183ff.; Ranft, JuS 1963, 340ff.; Meyer-Bahlburg, GA 1968, 49; Maurach/Gössel/Zipf Allg. Teil I I § 45 Rdn. 30; Kühl, Allg. Teil § 18 Rdn. 13 ff.; SK (Rudolphi) Vorbem. 5ff. vor § 13; KienapfelStrafr. Probleme 2 S. 83 ff.; derselbe, ÖJZ 1976, 281 fl. mit reichem Fallmaterial. 25 Ebenso Böhm, Die Rechtspflicht zum Handeln S. 18ff.; Grünwald, Das unechte Unterlassungsdelikt S. 21 ff.; Jakobs, Allg. Teil 28/1; Fünfsinn, Aufbau S. 42; Küpper, Grenzen S. 73; Stoffers, GA 1993, 262 ff.; Roxin, ZStW 74 (1962) S. 415 ff.; Samson, Welzel-Festschrift S. 589ff.; SK (Rudolphi) Vorbem. 7 vor § 13; Sieber, JZ 1983, 434ff.; Welzel, Lehrbuch S. 203; Eser, Strafrecht II Nr. 25 A Rdn. 15; Vogel, Norm und Pflicht S. 116. Zur omissio libera in causa Bertel, JZ 1965, 53 ff.; Schönke/Schröder/Stree, Vorbem. 144 vor § 13; Vogel, Norm und Pflicht S. 122 ff. Für kriminalpolitisch bedeutungslos hält die Unterscheidung von Tun und Unterlassen Volk, Tröndle-Festschrift S. 237. Kritisch zum Kausalitätskriterium Struensee, Stree-Wessels-Festschrift S. 140ff. 26 Die „Testfrage" von Schmidhäuser, Allg. Teil S. 700 f., der sich die Handlungsmöglichkeit wegdenkt und dann fragt, ob ein Begehungsdelikt übrigbleibt, geht wohl ebenfalls von dem im Text verwendeten Kausalitätskriterium aus. Auch das Kriterium des „Energieeinsatzes", auf das Engisch, Gallas-Festschrift S. 170ff.; Maurach/Gössel/Zipf Allg. Teil I I § 45 Rdn. 30; Otto/Brammsen, Jura 1985, 530 und Gössel, ZStW 96 (1984) S. 326 abstellen, kommt auf die „Kausalitätsprobe" heraus, wenn man davon ausgeht, daß kausal nur positives Tun sein kann. Wie Engisch auch Androulakis, Unechte Unterlassungsdelikte S. 55 ff. und Welp, Vorangegangenes Tun S. 109 ff. Wie der Text im Ergebnis auch Kienapfel, ÖJZ 1976, 286 f.

604

§ 5 8 Begriff, A r t e n u n d G r u n d p r o b l e m a t i k des Unterlassungsdelikts

Danach ist im Apotheker- 27, Kokain-, Ziegenhaar-28 und Radfahrerfall positives sorgfaltswidriges Tun, im Heilpraktikerfall dagegen Unterlassung rechtzeitiger Klinikeinweisung anzunehmen. Im Ehegattenfall ist maßgebend die Unterlassung weiteren Geleits. Das Schreiben des Briefes ohne Anrede ist ein positives Tun, die Nichtannahme des Grußes Beleidigung durch Unterlassen. Beim Gastwirt kann schon das weitere Ausschenken von Alkohol an den betrunkenen Kraftfahrer fahrlässiges positives Tun sein, möglicherweise ist aber auch erst die Nichthinderung der Weiterfahrt und damit ein Unterlassen maßgebend, wenn der Gastwirt nämlich erst später die vollständige Trunkenheit des Gastes bemerkt hat. Der Freund, der das Steuer wieder abgibt, hat die Weiterfahrt des Fahruntüchtigen nicht verhindert. Der Betriebsleiter hat die Trunkenheitsfahrt durch positives Tun (Genehmigung) verursacht. Ebenso ist auch die Verhinderung der Rettungstat positives Tun, nicht anders die Verwehrung des Eintritts für das Kind, wenn dieses von dem Hund gebissen wird 29 . In dem Arztfall nimmt die überwiegende Meinung ein Unterlassen an („Unterlassen durch Tun") und ein positives Tun nur, wenn ein unbefugter Dritter eingreift 30. Der Ehemann, der bei seiner im Krankenhaus im Sterben liegenden Frau auf ihren Wunsch das Beatmungsgerät abstellte, wurde wegen der Vertrauensbeziehung zu der Sterbenden nicht als „unbefugter Dritter" angesehen (LG Ravensburg, JZ 1988, 207 [208]). Richtigerweise ist aber auch das Handeln des Arztes und des Ehemanns als Begehung anzusehen, da sie ein Rettungswerk, das an sich selbsttätig weiterlaufen würde, durch einen Eingriff abbrechen31. Welche Chance des Gelingens diesem Rettungswerk zukommt, kann für die Abgrenzung von Tun und Unterlassen nicht maßgebend sein. Wer bei der Begehung einer Straftat durch einen Dritten untätig zusieht, kann in der Regel nur wegen Unterlassens zur Verantwortung gezogen werden32. Einem fahrlässigen positiven Tun kann allerdings eine vorsätzliche Unterlassung nachfolgen; damit ist der Täter aus beiden Tatbeständen zu bestrafen (BGH 7, 287 [288]). Auch kann ein rechtmäßiges positives Tun von einer rechtswidrigen fahrlässigen Unterlassung begleitet sein (BGH 7, 268 [272]). 3. Rechtsprechung und Lehre orientieren sich in dieser Frage an unkontrollierbaren Formeln, die sich mehr oder weniger mit einem Appell an das Rechtsgefühl begnügen. Die überwiegende Meinung stellt auf den „Schwerpunkt des Täterverhaltens" ab33. Eb. Schmidt will 27 Zu Unrecht nimmt Mezger, Lehrbuch S. 116 Fußnote 21 hier Unterlassung an. Entsprechend Obergericht Bern SchwJZ 1945, 42 (43) bei einem Bergunfall wegen mangelnder Seilsicherung sowie OLG Karlsruhe Die Justiz 1976, 435 bei der Mitnahme eines Kleinkindes im Kraftwagen ohne Türsicherung. 28 Für Unterlassung zu Unrecht Mezger, Lehrbuch S. 116 Fußnote 21; Eb. Schmidt, Der Arzt im Strafrecht S. 79. Wie der Text aber Blei, Allg. Teil S. 311; Baumann/Weber, Allg. Teil S. 237; Engisch, Gallas-Festschrift S. 184ff.; Maurach/Gössel/Zipf, Allg. Teil II § 45 Rdn. 30; Schönke/Schröder/Stree, Vorbem. 158 vor § 13; Schmidhäuser, Allg. Teil S. 700. 29

Anders Ranft, JuS 1963, 342 f.; Arthur Kaufmann/ Hassemer, JuS 1964, 156. Wie der

Text Bockelmann/Volk, Allg. Teil S. 135; Roxin, Engisch-Festschrift S. 387; Schönke/Schröder /Stree, Vorbem. 159 vor § 13. 30 So Armin Kaufmann, Unterlassungsdelikte S. 107f.; Engisch, Gallas-Festschrift S. 177f.; Roxin, Engisch-Festschrift S. 395 ff.; Geilen, FamRZ 1968, 125; Welzel, Lehrbuch S. 203 f.; Wessels, Allg. Teil Rdn. 704; Schönke/Schröder/Stree, Vorbem. 160 vor § 13; v. Dellingshausen, Sterbehilfe S. 426 ff., 468. Anders Stoffers, MDR 1992, 629. 31 So Bockelmann, Strafrecht des Arztes S. 112, 125 Fußnote 45; Baumann/Weber, Allg. Teil S. 239; Blei, Allg. Teil S. 312; Samson, Welzel-Festschrift S. 601; Sax, JZ 1975, 137ff; Vogel, Norm und Pflicht S. 120. 32 So zu Recht Sieber, JZ 1983, 434 ff. 33 So BGH 6, 46 (59); OLG Stuttgart FamRZ 1959, 74; OLG Karlsruhe GA 1980, 429 (431); auch österr. OGH JBl 1989, 457; H. Mayer, Lehrbuch S. 112; Blei, Allg. Teil S. 310; Ranft, JuS 1963, 340ff.; Schönke/Schröder/Stree, Vorbem. 158 vor § 13; Wessels, Allg. Teil Rdn. 700.

I I I . D i e Unterscheidung v o n echten u n d unechten Unterlassungsdelikten 34

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35

den „sozialen Sinn" des Geschehens entscheiden lassen . Spendel und Arthur Kaufmann36 sind der Meinung, daß ein Verhalten, welches sowohl Begehungs- als auch Unterlassungselemente enthält, „im Zweifel" als positives Tun zu betrachten sei. Gewiß wird man auch aufgrund solcher Kriterien in der Regel zum richtigen Ergebnis kommen, aber eine wirkliche Hilfe bieten sie nicht. Die Rechtsprechung zeigt deswegen in diesem Punkte eine Unsicherheit (vgl. BGH 6, 46 [59]; 8, 8 [10]; BGH NJW 1959, 1979; OLG Stuttgart FamRZ 1959, 74; OLG Karlsruhe GA 1980, 429), die um so bedenklicher ist, als es von der Entscheidung über positives Tun oder Unterlassen abhängt, ob die Strafbarkeit eine Garantenpflicht voraussetzt (vgl. unten § 59 IV), ob ein hypothetisches Kausalurteil ausreicht (vgl. unten § 59 III 4) und ob die Strafmilderungsmöglichkeit des § 13 I I eingreift (vgl. unten § 58 V). I I I . Die Unterscheidung von echten und unechten Unterlassungsdelikten 1. Die Unterlassungsdelikte gliedern sich in zwei Gruppen: die echten Unterlassungsdelikte (delicta omissiva) und die unechten Unterlassungsdelikte (delicta commissiva per omissionem). Die Unterscheidung geht auf Luden 37 zurück. Er erblickte das Wesen der echten Unterlassungsdelikte darin, daß sie lediglich in der Übertretung eines Gebots bestünden und nicht auf Verletzung fremder subjektiver Rechte gerichtet seien, während den „Verbrechen, welche durch Unterlassungshandlungen begangen werden", die Richtung auf eine Rechtsgutsverletzung eigen sei. Die „Unechtheit" der zweiten Gruppe liegt danach darin, daß der Täter sich hier nicht auf reine Unbotmäßigkeit beschränkt, sondern durch Untätigkeit einen Erfolg verwirklicht, der normalerweise durch ein positives Tun herbeigeführt wird. Die unechten Unterlassungsdelikte sind nach dieser Ansicht „eigentlich" Begehungsdelikte. 2. Heute ist die Frage, worin der Unterschied zwischen echten und unechten Unterlassungsdelikten besteht, umstritten. Richtigerweise wird man im Anschluß an die überlieferte Auffassung echte Unterlassungsdelikte als Straftaten anzusehen haben, die sich in der Nichtvornahme einer vom Gesetz geforderten Handlung erschöpfen ( B G H 14, 280 [281]) 3 8 . Zwar soll mit der geforderten Handlung auch letztlich ein von der Rechtsordnung negativ bewerteter Erfolg verhindert werden, doch macht der Gesetzgeber die Erfolgsabwendung dem Unterlassenden nicht zur Pflicht und den Eintritt eines bestimmten Erfolgs deswegen auch nicht zum Tatbestandsmerkmal. Die echten Unterlassungsdelikte sind darum das Gegenstück zu den reinen Tätigkeitsdelikten (vgl. oben § 26 I I 1 b). Beispiele: § 138 macht jedem, der von dem Vorhaben eines bestimmten schweren Verbrechens glaubhaft erfährt, die rechtzeitige Anzeige an die Behörde oder den Bedrohten zur Pflicht, ohne von ihm die Verhinderung der Tat zu verlangen. Bei einem Unfall muß jeder34 Eh. Schmidt, Der Arzt im Strafrecht S. 75 ff., 160ff. Ebenso LK 9 (Heimann-Trosien) Einl. Rdn. 135; Meyer-Bahlburg, GA 1968, 49; Geilen, JZ 1968, 151; Lenckner, Med. Klinik 64 (1969) S. 1004 f. 35 Spendel, Eb. Schmidt-Festschrift S. 194. 36

37

Arthur Kaufmann, Eb. Schmidt-Festschrift S. 212.

Luden, Abhandlungen Bd. I I S. 219 ff. Wie hier Blei, Allg. Teil S. 313; Bockelmann/Volk, Allg. Teil S. 133; Böhm, JuS 1961, 178; Gallas, Deutsche Landesreferate S. 349; Georgakis, Hilfspflicht und Erfolgsabwendungspflicht S. 15f.; LK 9 (Heimann-Trosien) Einl. Rdn. 143; LK n (Jescheck) Vorbem. 91 vor § 13; Meister, MDR 1953, 658; M. E. Mayer, Lehrbuch S. 190; Kienapfel, Strafr. Probleme 2 S. 79f.; Vogt, ZStW 63 (1951) S. 404; Wessels, Allg. Teil Rdn. 696f.; SK (Rudolphi) Vorbem. 10 vor § 13; Schöne, Unterlassene Erfolgsabwendungen S. 56ff., 115 ff. Im gleichen Sinne sind § 13 und § 12 AE abgefaßt. Vgl. auch Jescheck/Goldmann, ZStW 77 (1965) S. 121 f. Ebenso Cadoppi, Ii reato omissivo proprio Bd. I S. 111 ff. Zur Dogmatik der echten Unterlassungsdelikte ferner Welzel, NJW 1953, 327 ff. 38

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§ 58 Begriff, A r t e n u n d G r u n d p r o b l e m a t i k des Unterlassungsdelikts

mann nach § 323c die ihm zumutbare bestmögliche Hilfe leisten (BGH 21, 50 [54]) ohne Rücksicht darauf, ob dadurch der „Erfolg" (z.B. der Tod des Verunglückten) abgewendet werden kann oder nicht (BGH 17, 166 [172]). So kann die Hilfeleistung allein in einer seelischen Unterstützung bestehen, wenn diese geeignet ist, den Selbsterhaltungswillen des Verunglückten zu stärken (OLG Stuttgart MDR 1964, 1024). Bei den unechten Unterlassungsdelikten wird dem „Garanten" dagegen eine Pflicht zur Erfolgsabwendung auferlegt. Der Eintritt des Erfolges gehört zum Tatbestand, der Garant, der seine Erfolgsabwendungspflicht verletzt, wird mit der strafrechtlichen Verantwortlichkeit für den tatbestandsmäßigen Erfolg belastet. Die unechten Unterlassungsdelikte sind darum das Gegenstück zu den Erfolgsdelikten (vgl. oben § 26 I I la). Beispiele: Der zuständige Polizeibeamte, der von dem Bevorstehen eines bestimmten schweren Verbrechens glaubhaft Kenntnis erhält, muß die Tat notfalls unter Einsatz seines Lebens verhindern; sonst macht er sich wegen Beihilfe zu dem begangenen Verbrechen strafbar. Der Kraftfahrer, der einen Unfall verursacht hat, muß den Verunglückten ärztlich versorgen lassen; sonst kann er wegen vorsätzlicher Tötung verantwortlich gemacht werden (BGH 7, 287 [288]). Die Gegenargumente, die sich auf Entscheidungen aus der Praxis stützen, sind nicht durchschlagend. Bei der durch Unterlassung begangenen Begünstigung (§ 257)39 muß die objektive Eignung der erwarteten Handlung festgestellt werden, dem Vortäter die Vorteile der Tat zu entziehen40. Durch die Unterlassung muß also wenigstens die konkrete Gefahr einer Besserstellung des Vortäters nicht abgewendet worden sein. Der Mißbrauch von Kindern durch Dulden unzüchtiger Handlungen (RG 10, 158 [160]; BGH 5, 147 [149])41 ist kein unechtes, sondern ein echtes Unterlassungsdelikt. Bei der „Beleidigung durch Unterlassen" handelt es sich entweder um echte Unterlassungsdelikte (die durch § 185 mit umfaßt werden) oder nicht um Beleidigung42. In den Hehlereifällen (RG 52, 204; OLG Celle HESt 1, 110) besteht der Erfolg wie auch sonst bei der Teilnahme durch Unterlassen in der Unterstützung der Haupttat43. Sachlich zutreffender als die Bezeichnung „echtes" und „unechtes" Unterlassungsdelikt wäre deshalb die Bezeichnung „einfaches" und „qualifiziertes" Unterlassungsdelikt44. Doch ist der herkömmliche Sprachgebrauch so eingebürgert, daß man davon nicht abgehen sollte, obwohl an der ursprünglichen Begründung, daß die unechten Unterlassungsdelikte „eigentlich" Begehungsdelikte seien, heute nicht mehr festgehalten werden kann 45 . 39

Hierauf stützt sich die Gegenansicht von R. Schmitt, JZ 1959, 432. Entsprechend wird für die Begünstigung durch positives Tun die objektive Eignung der Handlung verlangt, den Vortäter günstiger zu stellen; vgl. Lackner, § 257 Rdn. 3; Maurach/ Schroeder/Maiwald, Bes. Teil II § 101 Rdn. 6 und (für § 257 a.F.) RG 36, 76 (77); 58, 13 (15); 76, 122 (123); BGH 4, 221 (225); BGH NJW 1971, 526; Kohlrausch/Lange, § 257 Anm. IV. 41 Auf diese und die nachfolgenden Fälle verweist Meyer-B ahlhurg, MschrKrim 1965, 247. 42 Vgl. Hirsch, Ehre und Beleidigung S. 238 ff. 43 Vgl. dazu Bockelmann, Untersuchungen S. 126; Androulakis, Unechte Unterlassungsdelikte S. 164. 44 So Drost, GS 190 (1937) S. 7f.; ähnlich früher schon Landsherg, Commissivdelikte durch Unterlassung S. 181 f., der „reines" und „folgeweises" Unterlassungsdelikt unterschied. Für „primäres" und „sekundäres" Unterlassungsdelikt Jakobs, Allg. Teil 28/9, 12. Für „begehungsgleichwertiges" statt „unechtes" Unterlassungsdelikt Freund, Erfolgsdelikt S. 141 Fußnote 29. 45 Gegen die übliche Terminologie nachdrücklich Schmidhäuser, Allg. Teil S. 658, der ebenso wie der Text zwischen „erfolgsfreiem und erfolgsbezogenem" Unterlassen unterscheidet. 40

I I I . D i e Unterscheidung v o n echten u n d unechten Unterlassungsdelikten

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3. Nach der Gegenmeinung sollen echte und unechte Unterlassungsdelikte nur durch ein äußerlich-formales Kriterium zu unterscheiden sein. Die echten Unterlassungsdelikte haben danach ihre Regelung i m Gesetz gefunden, die unechten sind dagegen außerhalb des Gesetzes durch Rechtsprechung und Lehre geschaffen worden 4 6 . Dem ist entgegenzuhalten, daß dadurch der sachliche Unterschied zwischen echten und unechten Unterlassungsdelikten eingeebnet wird. Auch das Gesetz enthält (z.B. in § 223b letzte Alt.) Fälle, in denen die Strafbarkeit des Unterlassens vom Eintritt eines bestimmten Erfolgs abhängt (vgl. unten § 58 I I I 4). Auch die von manchen vertretene Unterscheidung danach, ob der Täter eine Gebotsnorm (dann echtes Unterlassungsdelikt) oder eine Verbotsnorm (dann unechtes Unterlassungsdelikt) verletzt 47 , läßt den sachlichen Inhalt der jeweiligen N o r m (Verhaltens- oder Erfolgsabwendungsgebot) außer Betracht. Ebenso kann die Frage, ob eine Garantenpflichtverletzung erforderlich ist oder nicht, das Unterscheidungsmerkmal nicht darstellen 48 , denn gesucht wird gerade die Antwort auf die Frage, wann und warum zur Strafbarkeit des Unterlassens die Garantenstellung als zusätzliches Tatbestandsmerkmal gefordert wird. Endlich bringt auch der „sachlogische" Gesichtspunkt, daß nach der Begehungsgleichheit oder -Ungleichheit abzugrenzen sei 4 9 , keine Lösung, weil auch das unechte Unterlassungsdelikt nicht der Begehung durch positives Tun gleichsteht. 4. Das StGB enthält eine Reihe von echten Unterlassungsdelikten. Zu nennen sind insbesondere das Sich-nicht-Entfernen beim Hausfriedensbruch (§ 123 zweite Alternative), die unterlassene Verbrechensanzeige (§ 138), mehrere Sexualdelikte (§ 174 ff. durch das Merkmal „oder an sich vornehmen läßt"), die Nichtermöglichung nachträglicher Feststellungen nach Entfernung vom Unfallort (§ 142 II), der Subventions- (§ 264 I Nr. 2) und Kreditbetrug (§ 265 b I Nr. 2), der Kapitalanlagebetrug durch Verschweigen nachteiliger Tatsachen (§ 264 a I), der Bankrott (§ 283 I Nr. 5, 7b), die Verletzung der Buchführungspflicht (§ 283 b I Nr. 2, 3 b), die unterlassene Hilfeleistung (§ 323 c). Auch in anderen Gesetzen finden sich echte Unterlassungsdelikte, so die Gehorsamsverweigerung in § 20 I Nr. 2 WStG, die Unterlassung der Stellung des Konkursantrags in § 84 GmbHG, die Pflichtverletzung von Vorstandsmitgliedern in § 401 AktG. Bei einzelnen Tätigkeitsdelikten ist die Rechtsprechung ferner durch Auslegung zu dem Ergebnis gekommen, daß der Tatbestand auch durch ein bloßes Untätigbleiben erfüllt werden kann, so bei der Rechtsbeugung (§ 336) (BGH 10, 294 [298]). Das StGB kennt ferner eine Reihe von unechten Unterlassungsdelikten. Hier hat der Gesetzgeber selbst bestimmt, daß und unter welchen Bedingungen die Nichtabwendung des tatbestandsmäßigen Erfolgs der Herbeiführung des Erfolgs durch positives Tun gleichgestellt wird. Zu nennen sind die Selbstverstümmelung (§ 109 zweite Handlungsform), die Gesundheitsschädigung Abhängiger durch Vernachlässigung der Sorgepflicht (§ 223 b dritte Handlungsform), die Gefährdung des Straßenverkehrs durch Nichtkennzeichnung von liegengebliebenen Fahrzeugen (§ 315 c I Nr. 2 g), das Begehenlassen einer Körperverletzung im Amt (§ 340), das Geschehenlassen von Amtsdelikten (§ 357). Daneben gibt es unechte Unterlassungsdelikte, die keine Entsprechung in einem Begehungsdelikt haben, wie die Verletzung der Fürsorge- oder Erziehungspflicht gegenüber Personen unter 16 Jahren (§ 170d). Unechte 46

So Armin Kaufmann, Unterlassungsdelikte S. 206ff., 275ff.; derselbe, JuS 1961, 174; Maurach/Gössel/Zipf Allg. Teil I I § 45 Rdn. 38; Jakobs., Allg. Teil 28/9; Schönke/Schröder/ Stree, Vorbem. 137 vor § 13; R. Schmitt, JZ 1959, 432; Welzel, Lehrbuch S. 202f. Stratenwerth., Allg. Teil I Rdn. 987 hält das ganze für eine Frage der Zweckmäßigkeit. 47 So aber Baumann/Weber, Allg. Teil S. 197f.; v. Hippel, Bd. I I S. 153 f.; v. Liszt/ Schmidt, S. 173.

48 So aber J. Schwarz, Echte und unechte Unterlassungsdelikte S. 104. Mit Recht weist Meyer-Bahlburg, GA 1966, 204 ff. darauf hin, daß auch bei den echten Unterlassungsdelikten Garantenmerkmale zu finden sind. 49

So Schünemann,

Z S t W 96 (1984) S. 302 f.

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§ 58 Begriff, A r t e n u n d G r u n d p r o b l e m a t i k des Unterlassungsdelikts

Unterlassungsdelikte sind auch in anderen Gesetzen anzutreffen, so im WStG der Ungehorsam (§ 19), die leichtfertige Nichtbefolgung eines Befehls (§21), das Dulden einer Mißhandlung oder entwürdigenden Behandlung Untergebener (§§ 30 II, 31 II), die mangelhafte Dienstaufsicht (§41), in § 370 I Nr. 2, 3 AO 1977 die Verkürzung von Steuereinnahmen (BGH 23, 319 [322]). Noch größere Bedeutung haben jedoch die im Gesetz nicht geregelten Fälle, in denen die Praxis die Nichtabwendung des tatbestandsmäßigen Erfolgs nacn der Strafbestimmung des entsprechenden Begehungsdelikts bestraft. IV. Die Garantiefunktion des Strafgesetzes bei den gesetzlich nicht geregelten unechten Unterlassungsdelikten 1. Beim unechten Unterlassungsdelikt wird der tatbestandsmäßige Erfolg dem Garanten, der dessen Eintritt nicht abgewendet hat, ebenso zur Last gelegt, wie wenn er ihn durch positives Tun herbeigeführt hätte. In den eben genannten Strafvorschriften hat der Gesetzgeber die Nichtabwendung des Erfolgs der Verursachung durch aktives Handeln ausdrücklich gleichgestellt. Es gibt ferner einige Tatbestände von Erfolgsdelikten, die ihrem Wortlaut nach nicht bloß auf ein positives Tun, sondern auch auf ein Unterlassen anzuwenden sind, wie z.B. die Untreue in der Form des Treubruchstatbestandes, wenn es z.B. der Sorgepflichtige unterläßt, eine Steuerrückvergütung zu beantragen (§ 266 zweite Alternative), oder das Bewirken einer Falschbeurkundung (§ 271), wenn der Täter sie entgegen einer Rechtspflicht geschehen läßt. Solche Tatbestände sind jedoch Ausnahmen. In der Regel beschreiben die Strafvorschriften nur die Verursachung des Erfolgs durch aktives Handeln, nicht auch die Nichthinderung durch Unterlassen eines erwarteten Tuns. Der Wortlaut der Begehungsdelikte mußte deswegen bei der Anwendung auf Fälle pflichtwidrigen Unterlassens früher in dreifacher Weise modifiziert werden: Einmal wurde vorausgesetzt, daß Begehungstatbestände überhaupt durch Nichthinderung des Erfolgs erfüllt werden können; zweitens mußte, da nicht jedermann Täter eines unechten Unterlassungsdelikts sein kann, durch einschränkende Merkmale festgelegt werden, welches der Kreis der Garanten ist, die als Täter in Betracht kommen; endlich bedurfte es der Annahme, daß für die objektive Zurechnung ein hypothetischer Kausalzusammenhang ausreicht. 2. Die danach notwendige Anpassung der Erfolgsdelikte, die ein positives Tun voraussetzen, an die Besonderheiten der Nichtabwendung des tatbestandsmäßigen Erfolgs wurde im Wege richterlicher Tatbestandsergänzung vorgenommen (BGH 16, 155 [158]) . Die Frage der Vereinbarkeit dieses Vorgehens mit der Garantiefunktion des Strafgesetzes (Art. 103 II GG) stellte sich dabei unter zwei Gesichtspunkten51. Einmal war zweifelhaft, ob im Gesetz nicht geregelte unechte Unterlassungsdelikte überhaupt anerkannt werden können und ob die wirkliche Kausalität des positiven Tuns durch die hypothetische Kausalität des Unterlassens ersetzt werden darf (Frage der Vereinbarkeit mit dem Analogieverbot, vgl. oben § 15 III 2 a). Zum andern wurde eingewendet, daß die Abgrenzung des Täterkreises durch die von der Rechtsprechung verwendeten Garantenmerkmale nicht in so eindeutiger Weise vorgenommen werden könne, daß die Voraussetzungen der Strafbarkeit klar erkennbar bleiben (Frage der Vereinbarkeit mit dem Bestimmtheitsgebot y vgl. oben § 15 III 3). Während in der Rechtsprechung die Vereinbarkeit der im Gesetz nicht geregelten unechten Unterlas50 Vgl. Nagler, GS 111 (1938) S. 51 ff.; Herzberg y Unterlassung S. 196; Gallas, JZ 1952, 373; Kohlrausch/Lange, System. Vorbem. II Β II 3; LK 8 (Mezger) Einl. S. 34; Eb. Schmidt y Der Arzt im Strafrecht S. 80; Schaffstein y Göttinger Festschrift S. 202; Schünemann, Grund und Grenzen S. 244 ff.; Welzel y Lehrbuch S. 209. 51 Kritisch insbes. H. Mayer y Materialien Bd. I S. 277; derselbe, Grundriß S. 80; Grünwald, ZStW 70 (1958) S. 418; Stratenwerth, Allg. Teil I Rdn. 988; Schöne, Unterlassene Erfolgsabwendungen S. 277 ff. Anders - allerdings aufgrund einer „korrigierten Interpretation des Art. 103 II GG" - Nickel, Die Problematik der unechten Unterlassungsdelikte S. 179 ff.

I V . Garantiefunktion bei nicht geregelten unechten Unterlassungsdelikten

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sungsdelikte mit dem Gesetzlichkeitsprinzip nie in Zweifel gezogen wurde (so schon RG 10, 100 [101]), hat die Wissenschaft die nier offensichtlich bestehenden Spannungen stark empfunden (vgl. dazu 2. Auflage S. 461 ff.). Im Ergebnis wurde die Anerkennung unechter Unterlassungsdelikte von der h.L. als gewohnheitsrechtlich zulässige Auslegung der Tatbestände der entsprechenden Begehungsdelikte verstanden52. 3. Der doppelte Zweifel an der Vereinbarkeit des im Gesetz nicht geregelten unechten Unterlassungsdelikts mit dem Gesetzlichkeitsprinzip sollte bei der Strafrechtsreform von 1975 durch den neuen § 13 beseitigt werden (vgl. BT-Drucksache V/4095 S. 8) 5 3 . Außerdem sollten der Rechtsprechung wenigstens Hinweise für die den Vorstellungen des Gesetzgebers entsprechende Handhabung der Voraussetzungen des unechten Unterlassungsdelikts gegeben werden 54 . Beide Ziele sind auch bis zu einem gewissen Grade erreicht worden. Bedenken hinsichtlich des Analogieverbots sind nicht mehr begründet 55 , denn der Gesetzgeber hat in § 13 ausdrücklich erklärt, daß nach dem Strafgesetzbuch als Täter auch verantwortlich sein soll, wer den zum Tatbestand gehörenden Erfolg entgegen einer Rechtspflicht nicht abwendet. Damit ist zugleich anerkannt, daß für die Kausalitätsfeststellung ein Urteil über den hypothetischen Kausalverlauf ausreicht, welches immer nur ein Wahrscheinlichkeitsurteil sein kann 56 . 4. Dagegen ist durch § 13 dem Bestimmtheitsgebot noch nicht in vollem Umfang Genüge getan 57 , obwohl immerhin klargestellt wurde, daß die das Erfolgsabwendungsgebot auslösende Handlungspflicht eine rechtliche (nicht bloß sittliche) Pflicht sein muß und daß bei den Erfolgsdelikten mit besonderen Hand52 Vgl. z.B. Baumann, Allg. Teil 5. Auflage S. 230; Böhm, JuS 1961, 179; Engisch, JZ 1962, 192; Gallas, ZStW 80 (1968) S. 20; Meyer-Bahlburg, Unterlassungsdelikte S. 151 ff.; Schönke/Schröder, 17. Auflage Vorbem. 100a zum Allg. Teil. 53

Vgl. Baumann/Weber, Allg. Teil S. 242; Dreher/Tröndle, § 13 Rdn. 3; Jescheck, SchwZStr 91 (1975) S. 23; LK n (Jescheck) § 13 Rdn. 1; Preisendanz, § 13 Anm. I; Lackner, § 13 Rdn. 1; Schönke/Schröder/Stree, § 13 Rdn. 5 f.; Roxin, Einführung S. 2; SK (Rudolphi)

§ 13 Rdn. 1 ff.; WK (Nowakowski) Vorbem. 2 vor § 2. 54 Vgl. Ε 1962 Begründung S. 124; Schwalm, Niederschriften Bd. XII S. 76. 55 Ebenso Bockelmann/Volk, Allg. Teil S. 137; Dreh er/Tröndle, § 13 Rdn. 3; LK U (Je-

scheck) § 13 Rdn. 13; Roxin, Einführung S. 2f.; SK (Rudolphi) § 13 Rdn. 3; Schönke/Schrö-

der/Stree, § 13 Rdn. 5. Zu Unrecht hält Otto, Grundkurs S. 148 den § 13 für „sinnlos". 56 Legitimiert wird § 13 durch die legislative Tradition, die auch im ausländischen Recht anzutreffen ist. Handlung und Unterlassung werden in der Gesetzgebung seit Beginn des 19. Jahrhunderts vielfach gleichgestellt; vgl. z.B. das Kriminalgesetzbuch für Holland von 1809, Art. 97 und das Braunschweigische StGB von 1840, § 4. Im Entwurf des preuß. StGB von 1851 wurde die Gleichstellungsvorschrift nur infolge eines Mißverständnisses gestrichen, und in das RStGB von 1871 wurde eine solche Bestimmung allein deswegen nicht übernommen, weil man die Anwendbarkeit der Begehungstatbestände auf die pflichtwidrig unterlassene Erfolgsabwendung in Ubereinstimmung mit Rechtsprechung und Lehre für selbstverständlich hielt; vgl. dazu Clemens, Unterlassungsdelikte S. 17ff., 34 ff.; Binding, Der Entwurf S. 42f. Vgl. im ausländischen Recht § 2 österr. StGB; Art. 40 II italienischer C.p. von 1930; Art. 10 Nr. 2 portugiesischer C.p.; Art. 13 § 2 brasilianischer C.p.; Sect. 2.01 III Model Penal Code der USA von 1962; Art. 10 Schweiz. Vorentwurf 1987. Zum ganzen Jescheck, Tröndle-Festschrift S. 795 ff. 57 Ebenso Eser, Strafrecht II Nr. 26 A Rdn. 9; Jescheck, SchwZStr 91 (1975) S. 24; Lackner, § 13 Rdn. 21; Roxin, Einführung S. 3; Schönke/Schröder/Stree,

§ 13 Rdn. 5 f.; Straten-

werth, Allg. Teil I Rdn. 988; Fünfsinn, Aufbau S. 20f. Positiver äußern sich SK (Rudolphi) §13 Rdn. 3 und Jakobs, Allg. Teil 29/4 und 5. Kritisch vor allem Schöne, Unterlassene Erfolgsabwendungen S. 324 ff. Für verfassungswidrig hält § 13 Schürmann, Unterlassungsstrafbarkeit S. 190. Nur die Verweisung auf formelle Rechtspflichten (Gesetz und Vertrag) hält Seebode, Spendel-Festschrift S. 345 für vereinbar mit Art. 103 II GG. Zum Bestimmtheitsgebot allgemein BVerfGE 26, 41 (43) (zu § 360 I Nr. 11 a.F. StGB). 39 Jescheck, 5. A.

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§ 58 Begriff, A r t e n u n d G r u n d p r o b l e m a t i k des Unterlassungsdelikts

lungsmerkmalen zusätzlich zu prüfen ist, ob das Unterlassen der Verwirklichung des gesetzlichen Tatbestands durch ein Tun entspricht. Was zur Erfüllung des Bestimmtheitsgebots noch fehlt, ist einmal die nähere Umschreibung der Garantenstellungen, aus denen sich die Erfolgsabwendungspflicht herleitet, zum anderen die Kennzeichnung der Umstände, auf die die Gleichwertigkeitsprüfung zu beziehen ist. Nach beiden Richtungen erlaubt jedoch der Stand der Dogmatik im gegenwärtigen Zeitpunkt noch keine abschließende Festlegung im Allgemeinen Teil 5 8 , und mehr als eine in ihrer Struktur eindeutige Generalklausel wird man deswegen vom Gesetzgeber nicht verlangen dürfen. Immerhin ergeben die gesetzlich geregelten unechten Unterlassungsdelikte (vgl. oben § 58 I I I 4) Anhaltspunkte dafür, nach welchen Grundsätzen das Garantenproblem in den nicht geregelten Fällen zu lösen ist. Man wird sich deshalb mit dem Bestimmtheitsgrad der von Rechtsprechung und Lehre herausgearbeiteten Garantenmerkmale vorläufig begnügen müssen, weil die Rechtssicherheit auf diesem Wege immer noch am besten gewährleistet wird (vgl. unten § 59 IV). Auch die Abschwächung des Kausalitätserfordernisses läßt sich vom Bestimmtheitsgebot her nicht beanstanden, da mehr als ein Wahrscheinlichkeitsurteil beim Unterlassen einer Erfolgsabwendung ohnehin nicht denkbar ist 5 9 und die „an Sicherheit grenzende Wahrscheinlichkeit" den höchsten Grad der Gewißheit darstellt, der menschlichem Erkenntnisvermögen bei hypothetischen Urteilen überhaupt erreichbar ist (vgl. unten § 59 I I I 4). Auch in manchen Fällen des positiven Tuns, so bei der Verhinderung einer Rettungshandlung, kommt es darauf an, ob diese mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit zur Abwendung des Erfolgs geführt hätte. Allein bei der Gleichstellungsklausel wäre die Klarstellung möglich, angebracht und zu verlangen gewesen, worauf sich die Prüfung der Entsprechung von Unterlassung und positivem Tun bezieht (vgl. dazu unten § 59 V ) 6 0 . V. Fakultative Strafmilderung bei unechten Unterlassungsdelikten 1. Entsprechend einer verbreiteten Forderung des Schrifttums (vgl. 2. Auflage S. 463 Fußnote 58) hat der Gesetzgeber für unechte Unterlassungsdelikte in § 13 I I eine fakultative Strafmilderung vorgesehen. Sie besteht wie beim Versuch (§ 23 II) darin, daß der gemilderte Strafrahmen des § 49 I an die Stelle des Normalstrafrahmens treten kann. Die Milderungsmöglichkeit beruht darauf, daß regelmäßig der Schuldgehalt des Unterlassens geringer ist als der des positiven Tuns; der Täter, der seinen Verbrechensentschluß durch aktive Handlung in die Tat umsetzt, zeigt in der Regel eine stärker ausgeprägte rechtsfeindliche Gesinnung als derjenige, der lediglich entgegen einer Garantenpflicht zur Erfolgsabwendung einem Geschehens58

Vgl. ausdrücklich BT-Drucksache V/4095 S. 8. Die Regelungsversuche für die Garantenstellung waren bisher sämtlich unbefriedigend. Das gilt sowohl für die Verweisung des Problems in den Besonderen Teil (so Grünwald, ZStW 70 [1958] S. 425 ff.; Busch, v. WeberFestschrift S. 192 ff.; Schöne, Unterlassene Erfolgsabwendungen S. 243 ff.; Huerta Tocildo, Problemas fundamentales S. 189; dagegen Meyer-Bahlhurg, MSchrKrim 1965, 252) als auch für eine konkretere Regelung im Allgemeinen Teil (so § 12 AE; skeptisch dessen Verfasser letztlich selbst [S. 203]; vgl. dazu Herzberg, Die Unterlassung S. 362) wie auch endlich für die unergiebige Kurzformel von Schünemann, Grund und Grenzen S. 380. Der Gesetzesvorschlag von Jescheck, 140 Jahre GA S. 128 nennt als Entstehungsgrund von Garantenpflichten die „Obhut für das geschützte Rechtsgut" und die „nahe Gefahr im Einflußbereich des Unterlassenden"; außerdem wird die Gleichstellungsformel des § 13 zw. Halbsatz auf besondere Handlungsmerkmale in den Erfolgsdelikten bezogen. Allgemein zu den Entstehungsvoraussetzungen von Garantenpflichten die gleichnamige Arbeit von Brammsen, 1986. 59 Vgl. Bockelmann/Volk, Allg. Teil S. 68, 136. 60

Vgl Jescheck, SchwZStr 91 (1975) S. 24 f.

V . Fakultative Strafmilderung bei unechten Unterlassungsdelikten

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ablauf untätig zusieht, der sich auf einen tatbestandsmäßigen Erfolg zubewegt 61 . Dies gilt im Prinzip ebenso für reine Verursachungs- wie für Erfolgsdelikte mit besonderen Handlungsmerkmalen. Ausnahmsweise kann auch der Unrechtsgehalt des unechten Unterlassungsdelikts geringer sein als der des entsprechenden Begehungsdelikts, obwohl § 13 an sich auf der vollen Gleichstellung im Handlungsund Erfolgsunrecht beruht 62 . Trotz Garantenpflichtverletzung kann nämlich beim Erfolgsdelikt das „Handlungsunrecht" des Unterlassungsdelikts weniger Gewicht haben als beim entsprechenden Begehungsdelikt (das Handlungsunrecht ist größer, wenn der Ehemann die Frau mit Tötungsabsicht ins Wasser stößt, als wenn er sie nur nicht rettet), und auch beim Erfolgsdelikt mit besonderer Handlungsbeschreibung bedarf es für das Handlungsunrecht im Rahmen der Gleichstellungsklausel nur einer „Entsprechung", aber keiner vollen Gleichheit 63 . 2. Mit Recht ist in § 13 I I nur eine fakultative Strafmilderung vorgesehen, weil in vielen Fällen der unechten Unterlassungsdelikte weder der Unrechts- noch der Schuldgehalt geringer ist als bei den entsprechenden Begehungsdelikten64. Das gilt für Vorsatz- wie für Fahrlässigkeitstaten. Beispiele: Die Mutter läßt ihre Kinder in der verschlossenen ungeheizten Wohnung unversorgt zurück, wo das jüngste stirbt, während die anderen schwere Gesundheitsschäden davontragen (BGH 21, 44; die besonders ungünstige soziale Lage der Mutter kann aber, obwohl die Versorgung der Kinder natürlich das „Normale" ist, die Strafmilderung nach § 13 II rechtfertigen; BGH JR 1982, 464 m.zust.Anm. Bruns). Der Weichensteller läßt den heranbrausenden D-Zug versehentlich in die falsch stehende Weiche einfahren, so daß er mit einem entgegenkommenden Personenzug zusammenstößt. 3. Entsprechend der Straffestsetzung beim Versuch (vgl. oben § 49 V 2) hat der Richter beim unechten Unterlassungsdelikt zwei Strafzumessungsentscheidungen zu treffen 65 . Einmal ist nach § 13 I I zu prüfen, ob die Strafmilderungsmöglichkeit dem Urteil überhaupt zugrunde gelegt werden darf. Hierbei ist allein zu fragen, ob der Unrechts- und Schuldgehalt der Tat in ihrer Eigenschaft als Unterlassung eine mildere Beurteilung verdient (BGH JR 1982, 465: „unterlassungsbezogene Umstände"). Wird von dem milderen Strafrahmen des § 49 I zugunsten des Unterlassungstäters Gebrauch gemacht, so sind in diesen Grenzen alle anderen Strafzumessungstatsachen (aber nicht mehr die unterlassungsbezogenen) zu berücksichtigen. 4. Die Strafmilderung nach § 13 I I gilt nicht für echte Unterlassungsdelikte, auch nicht für diejenigen Tätigkeitsdelikte, die durch Unterlassung begangen 61

Ausführlich hierzu Bruns, Tröndle-Festschrift S. 125 ff. Ferner Dreh er /Tröndle,

§ 13

Rdn. 20; Armin Kaufmann, Unterlassungsdelikte S. 300ff.; Lackner, § 13 Rdn. 17; Preisendanz, § 13 Anm. I X ; Roxin, Einführung S. 8 ff.; Schönke/Schröder/Stree, § 13 Rdn. 64; SK

(Rudolphi) § 13 Rdn. 65; Schmidhäuser, Allg. Teil S. 659. Zweifelnd Jakobs, Allg. Teil 29/ 123 ff.; AK (Seelmann) § 13 Rdn. 146 f. Kritisch zur Berechtigung der Strafmilderung überhaupt Timpe, Strafmilderungen S. 161 ff. 62 Vgl. dazu Herzberg, Die Unterlassung S. 7 ff. 63 Auf dem Gedanken, die Strafmilderungsmöglichkeit nach § 13 II zu legitimieren, beruht nach BT-Drucksache V/4095 S. 8 die Fassung der Entsprechungsklausel, während Ε 1962 § 13 noch „Gleichwertigkeit" verlangt und deshalb die Milderungsmöglichkeit ausgeschlossen hatte (vgl. Begründung S. 126). 64 Roxin, Einführung S. 9 weist mit Recht darauf hin, daß Strafmilderung dann nicht in Betracht kommen wird, wenn vom Unterlassungstäter nur eine Tätigkeit verlangt wird, die „in den normalen Regelablauf des Lebens von vornherein eingeplant ist" (dazu aber einschränkend BGH JR 1982, 464). Vgl. auch Metzen, Problematik und Funktion S. 166 ff. 65

Vgl. SK (Rudolphi) § 13 Rdn. 66; Bruns, JR 1982, 466; derselbe, Tröndle-Festschrift

S. 131 ff. 39·-

612

§ 58 Begriff, A r t e n u n d G r u n d p r o b l e m a t i k des Unterlassungsdelikts

werden können (z.B. §§ 153, 154, 163, 336). Ferner scheidet § 13 I I bei denjenigen unechten Unterlassungsdelikten aus, die im StGB oder in anderen Gesetzen vollständig geregelt sind, weil der Gesetzgeber für diese Fälle den Strafrahmen bereits abschließend festgelegt hat (vgl. oben § 58 I I I 4) (für Anwendung des § 13 I I auf Untreue durch Unterlassen aber B G H 36, 227 m.Anm. Timpe, JR 1990, 428; offen gelassen in B G H NJW 1982, 2881 [2882]) 66 . V I . Ausländisches Recht 67

Das ausländische Recht weist im Aufbau der unechten Unterlassungsdelikte vielfach ähnliche Strukturen auf wie das deutsche, jedoch besteht dort die Tendenz, den Kreis der Garantenpflichten enger zu begrenzen und teilweise auch nur besonders wichtigen Rechtsgütern, insbesondere Leib und Leben, strafrechtlichen Schutz gegen Pflichtverletzungen durch Unterlassen zu gewähren (so vor allem das amerikanische Recht). Das österreichische StGB enthält in § 2 eine Vorschrift über „Begehung durch Unterlassung", die dem § 13 nachgebildet ist, aber die strenge Gleichwertigkeitsklausel des Ε 1962 beibehalten hat 68 . Das schweizerische Recht kennt keine dem § 13 entsprechende Vorschrift, behandelt die Probleme jedoch ebenso wie das deutsche69 (BGE 74 [1948] IV 166, Ε. 1; 96 [1970] IV 174 [Fall Bührli]); anders aber der Vorentwurf 1987 Art. 10, der die Garantenpflichten auf Gesetz, freiwillige Übernahme und vorausgegangene Gefahrschaffung beschränkt. Eine Sonderstellung haben Frankreich und Belgien, weil die Unterlassung hier nur in den gesetzlich geregelten Fällen bestraft wird (Cour de Poitiers 20.11.1901, D.P. 1902, II, S. 81; Cour de Cassation [beige] vom 6.5.1901, Pasicrisie I, 225 [Affaire Haack])70. Die dadurch bedingte Strafbarkeitslücke wird durch Umdeutung vorsätzlicher Unterlassungsdelikte in fahrlässige Begehungsdelikte und durch weitgefaßte echte Unterlassungstatbestände größtenteils geschlossen. Ein Gewinn an rechtsstaatlicher Sicherheit ist damit jedoch nicht verbunden, vielmehr zeigt die übermäßige Ausdehnung der Hilfeleistungspflicht nach Art. 63 I I franz. C.p. 1810 die Nachteile einer solchen Regelung71. Auch der Code pénal 1994 enthält nur echte Unterlassungsdelikte (Art. 223-6, 434-11). In Spanien bestehen gegen die Zulassung im Gesetz nicht vorgesehener unechter Unterlassungsdelikte zwar ebenfalls wegen des Legalitätsprinzips gewisse Bedenken, die Lehre weist aber etwa denselben Stand wie die deutsche auf 72. Dasselbe gilt für die italienische Lehre auf der Grundlage der Gleichstellung von Handlung und Unterlassung in 66

Wie der Text Lackner y § 13 Rdn. 19; SK (Rudolphi) § 13 Rdn. 4ff.; Dreher/Tröndle, §13 Rdn. 3; Schönke/Schröder/Stree, § 13 Rdn. la. Wie der B G H dagegen Maurach/Gös-

sel/Zipf, Allg. Teil I I § 46 Rdn. 143 f.; Schünemann, ZStW 96 (1984) S. 303 Fußnote 50, 317. 67 Vgl. dazu näher Jescheck/Goldmann, ZStW 77 (1965) S. 109ff.; ferner Rev int dr pén 1984, 473 mit den Landesberichten und dem Generalbericht von Novoa Monreal zum Thema „Infractions démission" des XIII. Internationalen Strafrechtskongresses. Zum früheren jugoslawischen Recht Separovic, ZStW 77 (1965) S. 149ff. 68 Zur Auslegung vgl. WK (Nowakowski) § 2 Rdn. 1 ff.; Kienapfel, Strafr. Probleme 2 S. 77ff.; derselbe, JBl 1975, 13, 80; derselbe, ÖJZ 1976, 197. 69

Vgl. Schultz, Einführung I S. 127f., 140f.; Stratenwerth, Schweiz. Strafrecht Allg. Teil I S. 370 ff. 70 Vgl. für Frankreich Stefani/ Levasse ur/ Βouloc, Droit pénal général Nr. 173; für Belgien Hennau/Verhaegen, Droit pénal général Nr. 163; Dupont /WerStraeten, Handboek Nr. 300 f. (verweist bereits auf § 13 dt. StGB). 71 Vgl. den vieldiskutierten Arztfall Cass. 15.3.1961, D.P. 1961, 610. Zu den gesetzlich geregelten echten Unterlassungsdelikten Art. 62 C.p. 1810 (unterlassene Verbrechensanzeige) und Art. 63 C.p. 1810 (unterlassene Hilfeleistung) Stefani/ Lev asseur/ Β ouloc, Droit pénal général Nr. 260. 72 Vgl. Anton Oneca, Derecho penal S. 170 ff. (ältere Stufe); Rodriguez Devesa/Serrano Gomez, Derecho penal S. 385 ff.; Mir Puig, Adiciones Bd. I I S. 841 ff., 872 ff. (neuere Stufe). Zu der dem § 13 dt. StGB entsprechenden Generalklausel des Art. 10 im spanischen Entwurf 1990 Jescheck, 140 Jahre GA S. 118 (ebenso Art. 11 Entwurf 1994). Demgegenüber fordert Silva Sanchez, El delito de omisiôn S. 369 die Einführung weniger unechter Unterlassungsdelikte in Fällen voller struktureller Gleichheit mit dem Begehungsdelikt.

613

V I . Ausländisches Recht

Art. 40 I I C.p., doch fehlt ebenso wie im spanischen Recht eine ausgebildete Theorie der Garantenpflichten 73. Die niederländische Lehre unterscheidet wie die deutsche zwischen „eigenlijke" und „oneigenlijke omissiedelikten", hat aber noch keine Begründung der Garantenpflichten entwickelt, sondern behandelt das ganze als Kausalitätsproblem74. Auch das englische Recht kennt strafrechtliche Verantwortlichkeit für das Unterlassen, wenn eine Pflicht zum Handeln besteht; das Hauptproblem liegt in der Abgrenzung der Handlungspflichten 75. Über eine viel stärker entwickelte Pflichtenlehre verfügt das amerikanische Recht7 . Das brasilianische Recht enthält in Art. 13 § 2 eine Regelung des unechten Unterlassungsdelikts mit Angabe der Garantenstellungen77. § 59 Der Tatbestand des Unterlassungsdelikts Aldosser, Inwiefern können durch Unterlassungen strafbare Handlungen begangen werden? 1882; Bärwinkel, Die Struktur der Garantieverhältnisse bei den unechten Unterlassungsdelikten, 1968; Blei, Garantenpflichtbegründung beim unechten Unterlassen, Festschrift für H. Mayer, 1966, S. 119; Bockelmann, Betrug verübt durch Schweigen, Festschrift für Eb. Schmidt, 1961, S. 437; Brammsen, Die Entstehungsvoraussetzungen der Garantenpflichten, 1986; derselbe, Kausalitäts- und Täterschaftsfragen bei Produktfehlern, Jura 1991, 533; Bringewat, Der Notwehrer als Garant aus vorangegangenem Tun, MDR 1971, 716; v. Buri, Über die Begehung der Verbrechen durch Unterlassung, GS 21 (1869) S. 189; v. Caemmerer, Gesammelte Schriften, Bd. I, 1968; Cramer , Teilnahmeprobleme im Rahmen des § 330 a, GA 1961, 97; Doering, Strafrechtliche Garantenpflicht aus homosexueller Lebensgemeinschaft? MDR 1972, 664; Engisch, Die Kausalität als Merkmal der strafrechtlichen Tatbestände, 1931; derselbe, Der finale Handlungsbegriff, Festschrift für E. Kohlrausch, 1944, S. 141; derselbe, Das Problem der psychischen Kausalität beim Betrug, Festschrift für H. v. Weber, 1963, S. 247; Fornasari, II principio di inesigibilità nel diritto penale, 1990; Freilesen, Die Zumutbarkeit der Hilfeleistung, 1980; Fünf sinn. Der Aufbau des fahrlässigen Verletzungsdelikts durch Unterlassen, 1985; Gallas, Strafbares Unterlassen im Falle einer Selbsttötung, JZ 1960, 649, 686; derselbe, Die strafrechtliche Verantwortlichkeit der am Bau Beteiligten, 1963; Geilen, Garantenpflichten aus ehelicher und eheähnlicher Gemeinschaft, FamRZ 1961, 147; derselbe, Stillschweigen des Angehörigen beim Mordkomplott, FamRZ 1964, 385; derselbe, Zur Mitverantwortung des Gastwirts bei Trunkenheit am Steuer, JZ 1965, 469; derselbe, Unterlassene Verbrechensanzeige und ernsthafte Abwendungsbemühung, JuS 1965, 426; Geyer, Grundriß zu Vorlesungen über gemeines deutsches Strafrecht, 1884; J. Glaser, Abhandlungen aus dem österreichischen Strafrecht, Bd. II, 1858; Granderath, Die Rechtspflicht zur Erfolgsabwendung aus einem vorangegangenen gefährdenden Verhalten usw., Diss. Freiburg 1961; Grünhut, Grenzen des übergesetzlichen Notstands, ZStW 51 (1931) S. 454; Grünwald, Der Vorsatz des Unterlassungsdelikts, Festschrift für H. Mayer, 1966, S. 281; Hall, Über die Kausalität und Rechtswidrigkeit der Unterlassung, Erinnerungsgabe 73 Sgubbi, Responsabilità penale per omesso impedimento delPevento, 1975; Grasso, Ii reato omissivo improprio S. 97ff.; derselbe, Riv dir proc pen 1978, 912ff.; Fiandaca, Ii reato commissivo mediante omissione, 1979; Romano, Commentario, Art. 40 Rdn. 28. 74

Vgl. van Bemmelen/van Veen, Ons strafrecht S. 75f., 164f.; Hazewinkel-Suringa/Rem-

melink, Inleiding S. 162 ff. (Erörterung von Dogmengeschichte und Rechtsprechung); Enschedé, Beginselen S. 136 (Anerkennung der Anwendbarkeit von Begehungstatbeständen auf Unterlassungen). 75

Vgl. Glanville Williams,

Criminal Law S. 4 ff.; Kenny /Turner,

Outlines S. 19 ff.; Smith/

Hogan, Criminal Law S. 45 ff. Vgl. ferner The Law Commission, Clause 20, wo im Draft Criminal Code for England and Wales die Strafbarkeit für im Gesetz nicht ausdrücklich geregeltes pflichtwidriges Unterlassen auf „murder, manslaughter, intentional serious injury" und „detention of another" beschränkt wird. Dazu näher Jescheck, Tröndle-Festschrift S. 803 ff. 76 Vgl. eingehend Honig, Das amerikanische Strafrecht S. 69ff.; LaFave/Scott, Substantive Criminal Law I S. 283 ff. Zum anglo-amerikanischen Recht ferner Grasso, Ii reato omissivo improprio S. 83 ff. 77 Dazu Fragoso, Liçôes S. 240ff.; de Jesus, Comentarios, Art. 13 Anm. 4; da Costa jr., Comentarios, Art. 13 Anm. 6.

614

§ 59 D e r Tatbestand des Unterlassungsdelikts

für M. Grünhut, 1964, S. 213; HanaUy Die Kausalität der Pflichtwidrigkeit, 1971; Hardwig, Vorsatz bei Unterlassungsdelikten, ZStW 74 (1962) S. 27; derselbe, Die Zurechnung, 1957; Heinitz, Anmerkung zu BGH vom 25.2.1954, JR 1954, 270; Henkel, Zumutbarkeit und Unzumutbarkeit als regulatives Rechtsprinzip, Festschrift für E. Mezger, 1954, S. 249; Herzberg, Die Kausalität beim unechten Unterlassungsdelikt, MDR 1971, 881; derselbe, Garantenpflichten auf Grund gerechtfertigten Vorverhaltens, JuS 1971, 74; derselbe, Zur Garantenstellung aus vorangegangenem Tun, JZ 1986, 986; Hilgendorf, Fragen der Kausalität bei Gremienentscheidungen usw., NStZ 1994, 561; Honig, Die Intimsphäre als Kriterium strafbaren Begehens durch Unterlassen, Festschrift für F. Schaffstein, 1975, S. 89; derselbe, Kausalität und objektive Zurechnung, Festgabe für R. v. Frank, Bd. I, 1930, S. 174; Höpfner, Zur Lehre vom Unterlassungsdelikte, ZStW 36 (1915) S. 103; Horn, Anmerkung zu BayObLG vom 18.8.1978, JR 1979, 291; Hruschka, Über Tun und Unterlassen und über Fahrlässigkeit, Festschrift für P. Bockelmann, 1979, S. 421; G. Husserl, Negatives Sollen im bürgerlichen Recht, 1931; Joerden, Anmerkung zu BGH vom 16.11.1993, JZ 1994, 422; Kahlo, Das Bewirken durch Unterlassen usw., GA 1987, 66; derselbe, Das Problem des Pflichtwidrigkeitszusammenhangs bei den unechten Unterlassungsdelikten, 1990; Kahrs, Das Vermeidbarkeitsprinzip und die conditio-sine-qua-non-Formel usw., 1968; Armin Kaufmann, Unterlassung und Vorsatz, Festschrift für H. v. Weber, 1963, S. 207; Arthur Kaufmann, Bemerkungen zum Irrtum beim unechten Unterlassungsdelikt, JZ 1963, 504; Kielwein, Unterlassung und Teilnahme, GA 1955, 225; Krug, Abhandlungen aus dem Strafrecht, 1855; Küper, Grund- und Grenzfragen der rechtfertigenden Pflichtenkollision, 1979; Kugler, Ingerenz und Selbstverantwortung, Diss. Bochum 1972; Kuhlen, Fragen einer strafrechtlichen Produkthaftung, 1989; derselbe, Strafhaftung bei unterlassenem Rückruf gesundheitsgefährdender Produkte, NStZ 1990, 566; Lackner, Anmerkung zu KG vom 3.1.1968, JR 1969, 29; Lampe, Ingerenz oder dolus subsequens? ZStW 72 (1960) S. 93; derselbe, Die Problematik der Gleichstellung von Handeln und Unterlassen, ZStW 79 (1967) S. 47; derselbe, Die Kausalität und ihre strafrechtliche Funktion, Gedächtnisschrift für Armin Kaufmann, 1989, S. 189; Landscheidt, Zur Problematik der Garantenpflichten aus verantwortlicher Stellung in bestimmten Räumlichkeiten, 1985; Langer, Das Sonderverbrechen, 1972; Lilie, Garantenstellung für nahestehende Personen, JZ 1991, 541; Maaß, Betrug verübt durch Schweigen, 1982; Maiwald, Kausalität und Strafrecht, 1980; A. Merkel, Kriminalistische Abhandlungen, Bd. II, 1867; Naucke, Anmerkung zu BGH 27, 10, JR 1977, 290; Nestler, Die strafrechtliche Verantwortlichkeit eines Bürgermeisters für Gewässerverunreinigungen usw., G A 1994, 514; Nitze, Die Bedeutung der Entsprechungsklausel beim Begehen durch Unterlassen (§13 StGB), 1989; Nowakowski, Probleme der Strafrechtsdogmatik, JBl 1972, 19; Odersky, Zur strafrechtlichen Verantwortlichkeit bei Gewässerverunreinigungen, Festschrift für H. Tröndle, 1989, S. 291; Otto, Vorangegangenes Tun als Grundlage strafrechtlicher Haftung, NJW 1974, 528; Padrutt, Verkehrssicherungspflicht bei Skipisten, SchwZStr 87 (1972) S. 63; Pallin, Lage und Zukunftsaussichten der österr. Strafrechtsreform usw., ZStW 84 (1972) S. 198; Peters, Bemerkungen zur Rechtsprechung der Oberlandesgerichte zur Wehrersatzdienstverweigerung aus Gewissensgründen, JZ 1966, 457; derselbe, Überzeugungstäter und Gewissenstäter, Festschrift für H. Mayer, 1966, S. 257; Pfander, Die Rechtspflicht zum Handeln aus Vertrag beim unechten Unterlassungsdelikt, Diss. Basel 1967; Pßeiderer, Die Garantenstellung aus vorangegangenem Tun, 1968; Ρ fohl, Strafbarkeit von Amtsträgern wegen Duldung unzureichender Abwasserreinigungsanlagen, NJW 1994, 418; Platzgummer, Die Bewußtseinsform des Vorsatzes, 1964; Puppe, Der Erfolg und seine kausale Erklärung im Strafrecht, ZStW 92 (1980) S. 863; dieselbe, Anmerkung zu BGH 37, 106, JR 1992, 30; Roxin, Zur Kritik der finalen Handlungslehre, ZStW 74 (1962) S. 515; derselbe, Ein „neues Bild" des Strafrechtssystems, ZStW 83 (1971) S. 369; Rudolphi, Anmerkung zu BGH 25, 218, JR 1974, 160; derselbe, Häusliche Gemeinschaften als Entstehungsgrund für Garantenstellungen, NStZ 1984, 149; derselbe, Anmerkung zu BGH vom 15.7.1986, JR 1987, 336; derselbe, Der Dienstvorgesetzte als Garant für die gesetzmäßige Bestrafung von Untergebenen, NStZ 1991, 361; Runte, Straftatsystematische Probleme des „Betrugs durch Unterlassen" (§§ 263, 13 StGB), Jura 1989, 128; Samson, Probleme strafrechtlicher Produkthaftung, StV 1991, 182; Sangenstedt, Garantenstellung und Garantenpflicht von Amtsträgern, 1989; Sauer, Das Unterlassungsdelikt, GS 114 (1940) S. 279; Schaffstein, Die Risikoerhöhung als objektives Zurechnungsprinzip, Festschrift für R. Honig, 1970, S. 169; Schlüchter, Grundfälle zur Lehre von der Kausalität, JuS 1976, 793; Schöne, Unterlassungsbegriff und Fahrlässigkeit, JZ 1977, 150; Schubarth, Die strafrechtliche Haftung des Geschäftsherrn, SchwZStr 92 (1976) S. 370; Schünemann, Zur Kritik der Ingerenz-Garantenstellung, GA 1974, 231; derselbe, Moderne Ten-

I. Das Vorliegen der tatbestandsmäßigen Situation

615

denzen in der Dogmatik der Fahrlässigkeits- und Gefährdungsdelikte, JA 1975, 647; Schultz, Besprechung von Kaufmann, Die Dogmatik der Unterlassungsdelikte, SchwZStr 77 (1961) S. 208; W. Schwarz, Die Kausalität bei den Begehungsdelikten durch Unterlassung, Strafr. Abh. Heft 254, 1929; Seelmann, Opferinteressen und Handlungsverantwortung in der Garantenpflichtdogmatik, GA 1989, 241; Spendel, Zur Dogmatik der unechten Unterlassungsdelikte, JZ 1973, 137; Storsberg, Der gegenwärtige Umfang der Nothilfepflicht im StGB, Diss. Göttingen 1952; Stree, Garantenstellung kraft Übernahme, Festschrift für H. Mayer, 1966, S. 145; derselbe, Ingerenzprobleme, Festschrift für U. Klug, Bd. II, 1983, S. 395; Struensee, Die Struktur der fahrlässigen Unterlassungsdelikte, JZ 1977, 217; Tenckhoff, Garantenstellung des Wohnungsinhabers usw., JuS 1978, 308; Ulsenheimer, Zumutbarkeit normgemäßen Verhaltens bei Gefahr eigener Strafverfolgung, G A 1972, 1; Wachsmuth/ Schreiber, Sicherheit und Wahrscheinlichkeit usw., NJW 1982, 2094; Walder, Die Kausalität im Strafrecht, SchwZStr 93 (1977) S. 152; Weber, Garantenstellung kraft Sachherrschaft? Festschrift für D. Oehler, 1985, S. 83; Welp, Anmerkung zu BGH 23, 327, JZ 1971, 433; Welzel, Anmerkung zu OLG Karlsruhe vom 15.10.1959, JZ 1960, 179; Winkelbauer, Anmerkung zu BGH vom 15.7.1986, JZ 1986, 1119; E. A. Wolff, Kausalität von Tun und Unterlassen, 1965; Wolfslast, Anmerkung zu BGH vom 20.5.1980, NStZ 1981, 219; Würtenberger, Zur Kausalität der Unterlassung, ΖΑΚ 1942, 167. Vgl. ferner die Schrifttumsangaben vor § 58. I. Das Vorliegen der tatbestandsmäßigen Situation Unterlassung bedeutet nicht „Nichtstun", sondern „etwas Bestimmtes nicht tun" 1 . Wie die erwartete, aber unterbliebene Handlung hätte aussehen sollen, ergibt sich bei manchen echten Unterlassungsdelikten unmittelbar aus dem Gesetz. So hat sich, wer unbefugt in fremden Räumen verweilt, nach § 123 zweite Alternative auf die Aufforderung des Berechtigten daraus zu entfernen. Bei anderen ist der Inhalt der Handlungspflicht allgemeiner umschrieben. So ist nach § 323 c bei Unglücksfällen „Hilfe zu leisten"; was im einzelnen zu geschehen hat, ergibt sich hierbei aus den gesamten Umständen des Sachverhalts. Auch bei den unechten Unterlassungsdelikten bestimmt sich der Inhalt der Handlungspflicht meist nach den Umständen. Ausschlaggebend ist dabei das Ziel der Bewahrung des geschützten Handlungsobjekts vor tatbestandsmäßiger Verletzung oder Gefährdung. Beispiel: Wird ein Kind mit kochendem Wasser verbrüht, so ergibt sich aus Umfang und Grad der Verbrühung, aus Alter und Konstitution des Kindes, aus Ort und Zeit des Unfalls, was zu geschehen hat, ob nämlich die Auflegung von Brandsalbe genügt, ob ein Arzt zugezogen werden muß oder ob die Überführung ins Krankenhaus notwendig ist. Der Sachverhalt, aus dem sich der konkrete Inhalt der Handlungspflicht jeweils ergibt, ist die tatbestandsmäßige Situation2. Sie ist bei den im Gesetz geregelten Unterlassungsdelikten durch den Tatbestand selbst weitgehend, wenn auch nicht immer abschließend beschrieben. Bei den gemäß § 13 durch Umbildung von Begehungstatbeständen geschaffenen Unterlassungsdelikten muß das Fehlende sinngemäß ergänzt werden. Beispiele: Bei der unterlassenen Verbrechensanzeige (§ 138) besteht die tatbestandsmäßige Situation darin, daß ein bestimmtes schweres Verbrechen geplant ist und durch Anzeige noch verhindert werden kann (RG 71, 385 [386]). Gebotene Handlung ist dabei die rechtzei1 Blei, Allg. Teil S. 309; Gallas, Beiträge S. 26; derselbe, Studien S. 24ff.; Mezger, Lehrbuch S. 132; Maurach/Gössel/Zipf Allg. Teil II § 45 Rdn. 17; Schönke/Schröder/Stree, Vorbem. 139 vor § 13; Schmidhäuser, Allg. Teil S. 654; SK (Rudolphi) Vorbem. 4 vor § 13; Vogel, Norm und Pflicht S. 112 ff. 2 Vgl. Armin Kaufmann, Unterlassungsdelikte S. 96ff.; LK 11 (Jescheck) Vorbem. 94 vor

§13; Schönke/Schröder/Stree,

Vorbem. 146 vor § 13; Welzel, Lehrbuch S. 204, 211; Schmid-

häuser, Allg. Teil S. 678 ff.; SK (Rudolphi) Vorbem. 11 vor § 13; Jakobs, Allg. Teil 29/10 Fußnote 17.

616

§ 59 D e r Tatbestand des Unterlassungsdelikts

tige Anzeige an die Behörde oder den Bedrohten, handlungspflichtig ist jeder, der glaubhafte Kenntnis erlangt. Bei der Mißhandlung Schutzbefohlener (§ 223 b I dritte Handlungsform) liegt eine Gefahr für die Gesundheit von abhängigen Personen vor, die durch ordnungsgemäße Versorgung abgewendet werden kann. Die gebotene Handlung besteht in der Leistung der nach den Umständen erforderlichen Fürsorge (Nahrung, Kleidung, Unterkunft, ärztliche Hilfe), sie ist von dem Sorgepflichtigen zu erbringen. Bei einem Mordanschlag von Mutter und älterem Sohn auf den Ehemann und Vater besteht die tatbestandsmäßige Situation in der durch den Tatplan geschaffenen Lebensgefahr, die gebotene Handlung ist die Verhinderung der Tat; handlungspflichtig sind die übrigen in der Hausgemeinschaft lebenden Kinder (BGH 19, 167)3. II. Das Ausbleiben der erwarteten Handlung und die individuelle Handlungsfähigkeit 1. Zum Tatbestand des Unterlassungsdelikts gehört naturgemäß das Ausbleiben der aufgrund der tatbestandsmäßigen Situation erforderlichen Handlung 4 . Der Arzt, dem ein schweres Krankheitsbild mitgeteilt worden ist, leistet dem Hilferuf keine Folge (BGH 17, 166). Nach einem Verkehrsunfall bringt der unverletzt gebliebene Beteiligte den Schwerverletzten nicht ins Krankenhaus (BGH 7, 287 [288]). Am Tatbestand des vorsätzlichen Unterlassungsdelikts fehlt es schon dann, wenn der Täter sich erfolglos bemüht hat, seine Handlungspflicht zu erfüllen. Die schriftliche Anzeige eines bevorstehenden Bankraubs erreicht z.B. die Polizei zu spät, weil der Mitwisser es versäumt hat, die Behörde telefonisch zu verständigen. Wer mit Gebotserfüllungstendenz falsch handelt oder unbewußt zu wenig tut, kann deshalb nur wegen eines fahrlässigen Unterlassungsdelikts bestraft werden 5. 2. Die allgemeine Handlungsfähigkeit, d.h. die Möglichkeit, daß jemand, den man sich im Vollbesitz aller Kenntnisse und Fähigkeiten des Durchschnittsmenschen zu denken hat, die gebotene Handlung vornehmen könnte, gehört schon im Rahmen der Handlungslehre zum Begriff des Unterlassens als eines sozialerheblichen menschlichen Verhaltens (vgl. oben § 23 V I 2 b). Die Frage der Tatbestandsmäßigkeit der Unterlassung muß jedoch auf denjenigen einzelnen bezogen werden, der als Unterlassungstäter im konkreten Fall in Betracht kommt, denn nur die Unterlassung einer Handlung, die gerade diesem möglich gewesen wäre, kann Unrechtsqualität haben. Zum Tatbestand des Unterlassungsdelikts gehört somit die individuelle Handlungsfähigkeit, die freilich schon dann zu bejahen ist, wenn der Täter geeignete Hilfskräfte hätte einsetzen können (OLG Hamm VRS 34, 149)6. 3 4

Vgl. dazu Geilen, FamRZ 1964, 385.

Vgl. Armin Kaufmann, Unterlassungsdelikte S. 106; LK U

(Jescheck) Vorbem. 95 vor

§ 13; Schönke/Schröder/Stree, Vorbem. 151 vor § 13; Stratenwerth, Allg. Teil I Rdn. 1022; SK (Rudolphi) Vorbem. 12 vor § 13; Welzel, Lehrbuch S. 204, 211 f.; Wessels, Allg. Teil Rdn. 708. 5 Vgl. Armin Kaufmann, Unterlassungsdelikte S. 109ff., 133f., 310; LK n (Jescheck) Vorbem. 95 vor § 13; Welzel, Lehrbuch S. 204, 211 f. Mit Recht verlangt Stratenwerth, Allg. Teil I Rdn. 1049, daß der Täter auf die Wirksamkeit seiner Bemühungen vertraut haben muß, wenn der Vorsatz ausgeschlossen sein soll. Beispiel: um ein nach schwerer Mißhandlung bewußtloses Kind bemüht man sich mit unzureichenden Hausmitteln, statt einen Arzt zuzuziehen, weil man dies aus Schuldbewußtsein nicht wagt (schweiz. BGE 73 IV 164). 6 So die h.L.; Blei, Allg. Teil S. 315; Bockelmann/Volk, Allg. Teil S. 134; Eser, Strafrecht I I Nr. 26 A Rdn. 13 ff.; Nagler, GS 111 (1938) S. 70; Kielwein, GA 1955, 228; Maurach/

Gössel/Zipf, Allg. Teil II §46 Rdn. 51; Sauer, GS 114 (1940) S. 315; Schönke/Schröder/ Stree, Vorbem. 141 f. vor § 13; SK (Rudolphi) Vorbem. 13 vor § 13; Schmidhäuser, Allg. Teil S. 681; Wessels, Allg. Teil Rdn. 708. Dagegen legt Maiwald, JuS 1981, 479 f. für die Frage der Handlungsfähigkeit einen objektiven Maßstab zugrunde. Auch Jakobs, Allg. Teil 29/10 läßt die „abstrakte Handlungsfähigkeit" genügen.

I I I . Erfolg u n d Kausalität bei den unechten Unterlassungsdelikten

617

Vorausgesetzt wird dabei, daß es dem Täter möglich gewesen wäre, in sinnvoller Weise das Erforderliche zu tun. Beispiele: Handlungsfähig ist der wegen Brandstiftung (§ 306 Nr. 2) durch Unterlassen angeklagte Versicherungsnehmer, dem es „ein leichtes" gewesen wäre, seine Ehefrau von der Tat abzuhalten (RG 64, 273 [276]). Dagegen kann ein Kriminalbeamter nicht wegen einer durch Unterlassung begangenen Strafvereitelung im Amt (§ 258 a) bestraft werden, wenn er über die Grenzen seiner Leistungsfähigkeit hinaus belastet war und deswegen seine Rückstände nicht aufzuarbeiten vermochte (BGH 15, 18 [22]). Handlungsfähigkeit ist zu verneinen, wenn der Täter den drohenden Erfolg nur durch einen anderen, ebenso schweren Erfolg hätte ersetzen können (BGH Dallinger MDR 1971, 361: Fenstersturz statt Flammentod). Während das Erfordernis der individuellen Handlungsfähigkeit als solches überwiegend anerkannt wird, ist die Frage, unter welchen Voraussetzungen diese Fähigkeit angenommen werden kann, umstritten. Teils wird das Möglichkeitsurteil allein auf objektive Gesichtspunkte gestützt7, teils wird dagegen, abgesehen von der rein physischen Handlungsmöglichkeit, als „Wissensbasis" die Kenntnis des Handlungsziels verlangt8, teils wird die Schuldfähigkeit des Unterlassenden9, teils sogar die freie Motivationsmöglichkeit als Vorbedingung der Handlungsfähigkeit angesehen10. Richtig ist es, die Wahrheit in der Mitte zu suchen. Die Handlungsfähigkeit erfordert als erstes, daß die äußeren Voraussetzungen (räumliche Nähe, geeignete Hilfsmittel) für die Vornahme der gebotenen Handlung gegeben sind und die erforderlichen eigenen Kräfte zur Verfügung stehen (physische Kräfte, technische Kenntnisse, intellektuelle Fähigkeiten). Darüber hinaus muß der Unterlassungstäter sich die gebotene Handlung als mögliches Willensziel vorstellen oder bei Anwendung der erforderlichen Sorgfalt wenigstens vorstellen können 11. In beiden Richtungen ist ein objektiver Maßstab anzulegen: es kommt also darauf an, ob ein einsichtiger Beobachter bei Prüfung des Sachverhalts „ex ante" dazu gelangt wäre, sich die gebotene Handlung als Willensziel vorzustellen und die äußeren Möglichkeiten für ausreichend zu halten 12 . III. Erfolg und Kausalität bei den unechten Unterlassungsdelikten 1. Zur Vollendung des unechten Unterlassungsdelikts gehört der Eintritt des tatbestandsmäßigen Erfolgs. Festgestellt werden muß also z.B. der Tod des Verletzten bei der fahrlässigen Tötung durch Unterlassen der Rettungshandlung (BGH 11, 353 [356]), das Fortbestehen des Verdachts bei der falschen Verdächtigung durch Unterlassen der Berichtigung (BGH 14, 240 [246]), der Tod des Opfers durch Nichthinderung des Mordanschlags (BGH 19, 167). 2. Der Erfolg muß dem Unterlassungstäter aber auch objektiv zurechenbar sein. Bei den Begehungsdelikten setzt die objektive Zurechnung voraus, daß der Täter 7 So Schönke/Schröder/Stree, Vorbem. 143 vor § 13; Grünwald, Das unechte Unterlassungsdelikt S. 14; SΚ (Rudolphi) Vorbem. 3 vor § 13; Schünemann, Unterlassungsdelikte S. 30f.; Wessels, Allg. Teil Rdn. 709; Schmidhäuser, Allg. Teil S. 681. 8

9

So Armin Kaufmann, Unterlassungsdelikte S. 41 f., 100 ff.

So Honig, Frank-Festgabe Bd. I S. 191 f.; Storsberg, Nothilfepflicht S. 54. So Androulakis, Unterlassungsdelikte S. 155; E. A. Wolff, Kausalität S. 46 Fußnote 26. 11 Wie hier Engisch, Kohlrausch-Festschrift S. 164; Gallas, Beiträge S. 53; Mezger, Lehrbuch S. 133; Stratenwerth, Allg. Teil I Rdn. 1032; Welzel, Lehrbuch S. 204f., 212. 12 Vgl. Gallas, Deutsche Landesreferate S. 349; BGH 14, 213 (216); 19, 295 (299). Teilweise abweichend Maiwald, JuS 1981, 478. 10

§ 59 D e r Tatbestand des Unterlassungsdelikts

618

den Erfolg verursacht hat (vgl. oben § 28 I 1). Wird der tatbestandsmäßige Erfolg dagegen lediglich nicht abgewendet, so erhebt sich die Frage, unter welchen Bedingungen hier die objektive Zurechnung stattzufinden hat. Gibt es mit anderen Worten eine „Kausalität des Unterlassens"? Die Strafrechtswissenschaft hat sich lange darum bemüht, auch bei der Unterlassung eine „causa efficiens" im Sinne einer realen, die Wirkung erzeugenden Kraft nachzuweisen13. So erblickte Luden das kausale Moment darin, daß der Unterlassende in der Zeit, in der er den Erfolg hätte abwenden sollen, eine andere Tätigkeit entfaltet habe, „und diese ist dann die alleinige Ursache des verbrecherischen Erfolges" 14. Krug 15, Julius Glaser 16 und Adolf Merkel 17 wollten dagegen nicht eine gleichzeitige, sondern eine vorangegangene Handlung als Ursache ansehen, gelangten damit aber zur Anerkennung des „dolus subsequens". Andere 18 sahen in der Unterlassung eine psychisch wirkende Ursache, indem nämlich erst die Untätigkeit des Handlungspflichtigen einen Außenstehenden auf den Gedanken bringe, den Erfolg herbeizuführen. Die Interferenztheorien 19 erblickten in der Aufgabe des natürlichen Hinderungswillens die positive Vernichtung einer den Erfolg abhaltenden Bedingung und sahen damit in der Unterlassung ein aktives Tun. Schließlich begnügte man sich mit einer bloßen „Rechtskausalität"20, was praktisch darauf hinauslief, daß die Kausalität mit der Rechtspflicht zur Erfolgsabwendung gleichgesetzt wurde. Am Ende der Entwicklung wurde die Kausalität der Unterlassung überhaupt geleugnet21, der Streit um diese Frage erschien im Ergebnis als „einer der unfruchtbarsten, welche die strafrechtliche Wissenschaft je geführt hat" 22 . 3. Eine Kausalität der Unterlassung im Sinne eines realen Bewirkens des Erfolgs wird heute überwiegend abgelehnt 2 . Die Kausalität als Seinskategorie erfordert eine wirkliche Energiequelle, die fähig ist, einen Kraftaufwand zu erbringen, und daran gerade fehlt es bei der Unterlassung („ex nihilo nihil fit"). Doch ist für die juristische Betrachtungsweise der naturwissenschaftliche Kausalbegriff nicht maßgebend (vgl. oben § 28 I 3), wie sich schon daraus ergibt, daß bei den im Gesetz geregelten unechten Unterlassungsdelikten (vgl. oben § 58 I I I 4) sowie in § 13 selbst das Bestehen einer „Kausalbeziehung" zwischen Unterlassung und Erfolg ohne weiteres vorausgesetzt w i r d 2 4 . Gemeint ist hier jedoch nicht eine Kausalbezie13 Vgl. dazu näher W. Schwarz, Die Kausalität S. 8 ff.; Traeger, Unterlassungsdelikte S. 27ff.; Welp, Vorangegangenes Tun S. 166ff. 14 Luden, Abhandlungen Bd. I S. 474, Bd. II S. 221 ff. 15 Krug, Abhandlungen S. 21 ff. 16 /. Glaser, Abhandlungen S. 289 ff. 17 A. Merkel, Kriminalistische Abhandlungen Bd. I I S. 76 ff. 18 So Geyer, Grundriß S. 124; Aldosser, Unterlassungen S. 94ff. 19 v. Buri, GS 21 (1869) S. 196ff.; Binding, Normen Bd. II S. 516ff., 536ff., 555ff. Ähnlich H. Mayer, Lehrbuch S. 112 f. sowie G. Husserl, Negatives Sollen S. 34. 20 v. Bar, Gesetz und Schuld Bd. I I S. 268 f.; Höpfner, ZStW 36 (1915) S. 114; Kohler, Studien Teil I S. 46. 21 So Gerland, Lehrbuch S. 166f.; v. Liszt/ Schmidt, S. 172 f. 22 v. Liszt, Lehrbuch 21./22. Auflage S. 128. 23 So Traeger, Der Kausalbegriff S. 71; Bockelmann, Eb. Schmidt-Festschrift S. 449; Gal-

las, Beiträge S. 25 f.; Armin Kaufmann, Unterlassungsdelikte S. 61; Arthur Kaufmann, Eb.

Schmidt-Festschrift S. 214ff.; Lackner, Vorbem. 12 vor § 13; Kahlo, Das Problem des Pflichtwidrigkeitszusammenhangs S. 282f.; Maiwald, Kausalität S. 83; Schönke/Schröder/

Stree, § 13 Rdn. 61; Dreh er/Tröndle,

Vorbem. 20 vor § 13; Welzel, Lehrbuch S. 212;

Schmidhäuser, Allg. Teil S. 684; Stratenwerth, Allg. Teil I Rdn. 1025; im Ergebnis auch Jakobs, Allg. Teil 29/18. Die Gegenansicht vertreten Baumann/Weber, Allg. Teil S. 239; Blei, Allg. Teil S. 315 f.; Engisch, v.Weber-Festschrift S. 264f.; Hilgendorf, NStZ 1994, 564; Puppe, ZStW 92 (1980) S. 895 ff.; Hall, Grünhut-Erinnerungsgabe S. 224; Spendel, JZ 1973, 139. 24

Grünwald,

Z S t W 70 (1958) S. 417f.

I I I . Erfolg u n d Kausalität bei den unechten Unterlassungsdelikten

619

hung im Sinne der Mechanik, sondern es kommt allein darauf an, ob die dem Unterlassenden mögliche Handlung den Erfolg abgewendet hätte 25 . Danach steht die unterlassene Handlung dann mit dem eingetretenen Erfolg in dem gesetzmäßigen Zusammenhang, der beim positiven Tun die Kausalität ausmacht (vgl. oben § 28 I I 4), wenn das gebotene Tun den Erfolg abgewendet hätte; anderenfalls kommt nur Versuch in Betracht ( B G H StV 1985, 229). Die für das wirkliche Tun gebräuchliche Testformel der Bedingungstheorie wird bei der Unterlassung dahin abgewandelt, daß die Kausalität zu bejahen ist, „wenn die erwartete Handlung nicht hinzugedacht werden kann, ohne daß der Erfolg entfiele" (so RG 58, 130 [131]; 63, 392 [393]; 75, 49 [50]), wobei auch hier die gleichen Vorbehalte gegen ihre Brauchbarkeit anzubringen sind (vgl. oben § 28 I I 4). 4. Die Rechtsprechung verlangt, um den Maßstab der Kausalitätsprüfung dem beim positiven Tun verwendeten Maßstab möglichst anzugleichen, daß die gedachte Handlung den Erfolg mit einer an Sicherheit grenzenden Wahrscheinlichkeit verhindert haben müßte (RG 15, 151 [153f.]; 51, 127; 58, 130 [131]; 74, 350 [352]; 75, 49 [50]; 75, 372 [374]; B G H 6, 1 [2]; 7, 211 [214]; B G H NStZ 1981, 218 m. Anm. Wolfslast; B G H NStZ 1985, 26; NStZ 1986, 217; NJW 1987, 2940 26 ; zur Produkthaftung B G H 37, 106 [126] 27 ). Angewendet wird also auch insoweit der Grundsatz „in dubio pro reo" ( B G H StV 1985, 229). Beispiele: Eine „begründete Aussicht", daß der betrunkene Kraftfahrer durch Zureden von der Weiterfahrt hätte abgehalten werden können, genügt für die Kausalität des Unterlassens nicht (BGH NJW 1954, 1047 [1048]). Die Unterlassung der Anbringung von Warnlampen an einer Baugrube ist für den Unfall nicht ursächlich, wenn nächtliche Unfugstifter die Absperrung entfernt haben und die Warnlampen möglicherweise gleichfalls weggenommen hätten (OLG Hamm NJW 1959, 1551). Wer es dagegen ablehnt, bei einem Brand seine Kinder aus der Dachwohnung in die Arme unten aufgestellter Helfer zu werfen, hat ihren Tod in den Flammen verursacht, wenn die Lebensrettung auf diesem Wege mit Sicherheit gelungen wäre (BGH Dallinger MDR 1971, 361 f.). 25 So Blei, Allg. Teil S. 316; Bockelmann/Volk, Allg. Teil S. 135f.; Böhm, JuS 1961, 178; vor allem Engisch, Kausalität S. 29ff.; derselbe, MSchrKrim 1939, 426f.; derselbe, JZ 1962,

190; derselbe, Weltbild S. 135 ff.; Herzberg, M D R 1971, 882; LK n

(Jescheck) § 13 Rdn. 15 ff.;

Schönke/Schröder/Stree, § 13 Rdn. 61; Wessels, Allg. Teil Rdn. 711; Walder, SchwZStr 93 (1977) S. 152 ff. Stärker im Sinne eines eigentlichen „Bewirkens" durch Unterlassen Androulakis, Unterlassungsdelikte S. 83 ff.; Kahlo, Das Problem des Pflichtwidrigkeitszusammenhangs S. 306, 319; derselbe, GA 1987, 66; Lampe, Armin Kaufmann-Gedächtnisschrift S. 204 ff. („funktionale Kausalität"); E. A. Wolff, Kausalität S. 36ff. 26 Zustimmend die h.L.; vgl. Baumann/Weber, Allg. Teil S. 239f.; Lackner, Vorbem. 12

vor § 13; Blei, Allg. Teil S. 316; Schönke/Schröder/Stree,

§ 13 Rdn. 61; LK n

(Jescheck) § 13

Rdn. 18; Lampe, ZStW 101 (1989) S. 13; Schlüchter, JuS 1976, 793; Welzel, Lehrbuch S. 212; Würtenberger,

Ζ Α Κ 1942, 167; Herzberg, M D R 1971, 882. Kritisch Walder,

SchwZStr 93

(1977) S. 152 ff. Abzulehnen ist dagegen die Entscheidung RG 75, 324 (328), die sich mit einer „der allgemeinen Lebenserfahrung entsprechenden Wahrscheinlichkeit" begnügt. Ebensowenig kann die im Schrifttum vertretene Gegenmeinung gebilligt werden, daß es für die Bejahung der Kausalität genüge, wenn die unterlassene Handlung die Rettungschance verbessert hätte (Risikoerhöhungslehre); so Maurach/Gössel/Zipf, Allg. Teil II § 46 Rdn. 23; Roxin, ZStW 74 (1962) S. 430; Stratenwerth, Allg. Teil I Rdn. 1028 ff.; Kahrs, Vermeidbarkeitsprinzip S. 46ff.; Hardwig, Zurechnung S. 162; SK (Rudolphi) Vorbem. 16 vor § 13; Schaffstein, Honig-Festschrift S. 172. Dagegen zutreffend Herzberg, MDR 1971, 882; Schünemann, JA 1975, 655. Eine Abschwächung des Grades an Sicherheit befürworten zu Unrecht auch Wachsmuth/Schreiber, NJW 1982, 2094. 27 Kritisch zur Annahme der hypothetischen Kausalität zwischen unterlassenen Bemühungen einzelner Geschäftsführer um Herbeiführung eines Rückrufs und den produktbedingten Gesundheitsschädigungen Kuhlen, NStZ 1990, 569 f.; Puppe, JR 1992, 32; Samson, StV 1991,

184f.; Brammsen, Jura 1991, 536 f.

§ 59 D e r Tatbestand des Unterlassungsdelikts

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Volle Gewißheit bezüglich der Kausalität wie beim positiven Tun ist bei der Unterlassung freilich nicht zu verlangen, weil der Prüfung nicht ein wirklicher, sondern nur ein möglicher Verlauf zugrunde gelegt werden kann, der mit absoluter Sicherheit nicht vorauszusagen ist (hypothetische Kausalität) 28 . Das Maß an verbleibender Unsicherheit entspricht aber nur der Begrenztheit des menschlichen Erkenntnisvermögens (RG 75, 372 [374]) 29 . Für eine Anwendung der Risikoerhöhungslehre (vgl. oben § 55 I I 2 b aa) besteht hier, anders als bei den Begehungsdelikten, kein Anlaß, da es an einer realen Kausalität des Täterverhaltens für den Erfolg fehlt, die dort die Grundlage für die objektive Zurechnung des Erfolgs abgibt. IV. Die Garantenstellung beim unechten Unterlassungsdelikt (erstes Gleichstellungskriterium) 1. Bei den Begehungsdelikten beruht die objektive Zurechnung auf der Verursachung des tatbestandsmäßigen Erfolgs. Bei den unechten Unterlassungsdelikten reicht dagegen die Tatsache, daß eine mögliche Handlung den Erfolg verhindert hätte, nicht aus, um die Rechts guts Verletzung jedem Handlungsfähigen als von ihm zu verantwortendes Unrecht zur Last legen zu können, denn eine mit Strafe bewehrte Pflicht, überall helfend einzugreifen, wo immer es not tut, kann es nicht geben. Seit Feuerbach (vgl. oben § 58 I 2) ist deshalb anerkannt, daß die Rechtsordnung dem Bürger grundsätzlich nur die Pflicht auferlegt, aktive Handlungen zu unterlassen, durch die Rechtsgüter Dritter beeinträchtigt werden können. Daher muß ein „besonderer Rechtsgrund" nachgewiesen werden, wenn jemand ausnahmsweise dafür verantwortlich gemacht werden soll, daß er es unterlassen hat, zum Schutz fremder Rechtsgüter positiv tätig zu werden. Die Gleichstellung des Unterlassens mit dem positiven Tun setzt deshalb voraus, daß der Unterlassungstäter als „ Garant a für die Abwendung des Erfolgs einzustehen hat 30 . Alle Erfolgsabwendungspflichten beruhen auf dem Grundgedanken, daß eine bestimmte Person in besonderer Weise zum Schutz des gefährdeten Rechtsgutsobjekts aufgerufen ist und daß sich alle übrigen Beteiligten auf den aktiven Einsatz dieser Person verlassen und verlassen dürfen 31. Deswegen verlangt § 13 I für die Gleichstellung des Unterlassens mit dem positiven Tun auf der Ebene der Erfolgsverursachung, daß der Täter „rechtlich dafür einzustehen hat, daß der Erfolg nicht eintritt". Da nur der Garant als Träger eines unechten Unterlassungsdelikts in Betracht kommt, sind diese Delikte echte Sonderdelikte 32. 28

Vgl. v. Weber, Grundriß S. 61; Welzel, Lehrbuch S. 212 f. Darauf weist mit Recht Bockelmann/Volk, Allg. Teil S. 135 hin. Damit erledigen sich auch die Bedenken von Schmidhäuser, Allg. Teil S. 685 f. 30 Gegen das Tatbestandsmerkmal der Garantenstellung als Gleichstellungskriterium Freund, Erfolgsdelikt und Unterlassen S. 39 ff., 154 ff. Freund differenziert S. 159 ff. bei der Gleichstellung des Unterlassens mit den Begehungstatbeständen zwischen den verschiedenen Garantenstellungen. 29

31

Vgl. E. A. Wolff,

Kausalität S. 40; Maiwald, JuS 1981, 481 f.; Seelmann, GA 1989, 256;

speziell zur Ingerenz Welp, Vorangegangenes Tun S. 177 ff. Den Testgedanken der „sozialen Rolle" führt Bärwinkel, Garantieverhältnisse S. 111 ff. ein. Dagegen Schünemann, Unterlassungsdelikte S. 132 ff., der seinerseits die Zurechnung auf den Gedanken der „Herrschaft über den Grund des Erfolges" aufbaut (S. 236). Jakobs, Allg. Teil 29/28 gliedert die Garantenpflichten nach dem Haftungsgrund in solche kraft Organisationszuständigkeit (z.B. Verkehrssicherungspflichten, Ingerenz) und solche kraft institutioneller Zuständigkeit (z.B. Ehe, Verwandtschaft). Otto, Grundkurs S. 149 und Brammsen, Garantenpflichten S. 129 ff. stellen auf eine verfestigte und allgemein anerkannte Handlungserwartung ab. 32

V g l . Welzel, L e h r b u c h S. 208.

I V . D i e Garantenstellung beim unechten Unterlassungsdelikt

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2. Die Frage ist jedoch, auf welche Weise die für das Strafrecht maßgebenden Garantenpflichten eindeutig bezeichnet und abgegrenzt werden können. Die überlieferte Einteilung stützt sich auf den Entstehungsgrund der Rechtspflichten (formelle Rechtspflichtlehre) 33. Anerkannt sind danach Gesetz, Vertrag und vorangegangenes gefährdendes Tun (RG 58, 130 [131]; 63, 392 [394]; B G H 4, 20 [22]; 11, 353 [355]), wozu später noch die enge Lebensbeziehung getreten ist (RG 69, 321 [323]; 74, 309; B G H 2, 151 [153]; 19, 167 [169]). Garantenpflichten können dagegen nicht aus der tatbestandsmäßigen Situation eines echten Unterlassungsdelikts hergeleitet werden, weil es sich dort um jedermann treffende Rechtspflichten handelt (RG 64, 273 [276]; 73, 52 [55]; B G H 3, 65 [67]). Da nur ein rechtlich anerkannter Grund der Verpflichtung zum Einstehen für die Abwendung eines Erfolgs in Betracht kommt, scheiden sittliche Pflichten als unmittelbare Grundlage strafrechtlicher Verantwortlichkeit aus (RG 66, 71 [73]; B G H 7, 268 [271]), was jetzt in § 13 I ausdrücklich ausgesprochen ist. Die überlieferte Einteilung vermag allerdings keine inhaltliche Begründung für die Anerkennung von Garantenpflichten zu geben (vgl. B G H 19, 167 [168]). Diesem Mangel versucht die neuere, von Armin Kaufmann begründete Lehre dadurch abzuhelfen, daß sie die Garantenpflichten nach materiellen Gesichtspunkten bestimmt. Sie unterscheidet zwischen Garantenpflichten, die in einer Schutzfunktion für ein bestimmtes Rechtsgut bestehen (Obhutspflichten), und anderen, bei denen dem Garanten die Überwachung einer Gefahrenquelle obliegt (Sicherungs- oder Beherrschungspflichten) (Funktionenlehre) 34. Die materielle Betrachtungsweise zeigt einen Weg, um die Garantenproblematik auf der Grundlage des sozialen Sinngehalts der verschiedenen Pflichten zu lösen, doch dürfen dabei auch deren Entstehungsgründe nicht aus dem Auge verloren werden, weil sonst die Gefahr besteht, daß Garantenpflichten uferlos ausgedehnt werden. Anzustreben ist deswegen eine Verbindung der formellen und der materiellen Betrachtungsweise 35. 3. Schutzpflichten in bezug auf bestimmte Rechtsgüter können entstehen aus natürlicher Verbundenheit mit dem Träger des Rechtsguts, aus engen Gemein33 Zur älteren Lehre, zum Teil kritisch, Dreher/Tröndle, § 13 Rdn. 5 a; Lackner, § 13 Rdn. 7ff.; Maurach/Gössel/Zipf Allg. Teil II § 46 Rdn. 76ff.; Welzel, Lehrbuch S. 213ff.; WK (Nowakowski) § 2 Rdn. 18 ff. Dagegen will Blei, H. Mayer-Festschrift S. 133 die Garantenpflichten auf Gesetz und vorausgegangenes Tun beschränken, zu denen noch die Sicherungspflichten im eigenen sozialen Herrschaftsbereich und die Störung organisierter Schutzvorkehrungen hinzutreten sollen (S. 142). Vgl. auch Blei, Allg. Teil S. 321 ff. § 12 AE beschränkt die Garantenpflichten auf Gesetz, Übernahme und vorangegangenes Tun. Daran knüpft die Darstellung von Stratenwerth, Allg. Teil I Rdn. 990 ff. an. 34 So die h.L.; vgl. Androulakis, Unterlassungsdelikte S. 205ff.; Baumann/Weber, Allg. Teil S. 244 f.; Armin Kaufmann, Unterlassungsdelikte S. 283 ff.; Eser, Strafrecht II Nr. 25 A Rdn. 49ff.; Henkel, MSchrKrim 1961, 190; Jescheck/Goldmann, ZStW 77 (1965) S. 123; LK n (Jescheck) § 13 Rdn. 19ff.; Kühl, Allg. Teil § 18 Rdn. 47ff.; Schönke/Schröder/Stree, §13 Rdn. 9; Rudolphi, Gleichstellungsproblematik S. 101; Schmidhäuser, Allg. Teil S. 666; SK (Rudolphi) § 13 Rdn. 24 f.; Wessels, Allg. Teil Rdn. 715 ff. Auch Jakobs, Allg. Teil 29/29 verwendet die Funktionenlehre innerhalb seines Systems. Eine auf dem Gedanken der „Begehungsgleichheit" aufgebaute materielle Garantenlehre, die eine „Herrschaft über die wesentliche Erfolgsursache" und eine „Herrschaft über die Anfälligkeit des Opfers" unterscheidet, entwickelt Schünemann, Unterlassungsdelikte S. 280, erzielt damit aber keinen Gewinn an Rechtssicherheit. Die Unterscheidung von Obhuts- und Sicherungspflichten liegt auch dem Gesetzesvorschlag von Jescheck, 140 Jahre GA 1993, S. 128 für eine Neuregelung des §13 zugrunde. 35

So Geilen, FamRZ 1964, 390 f.; Rudolphi, Gleichstellungsproblematik S. 54; Stree, H.

Mayer-Festschrift S. 146f.; LK n (Jescheck) § 13 Rdn. 19; Maurach/Gössel/Zipf, § 46 Rdn. 64; Schönke/Schröder/Stree,

§ 13 Rdn. 8 f.

Allg. Teil II

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§ 59 D e r Tatbestand des Unterlassungsdelikts

schaftsbeziehungen und aus der Übernahme der Obhut. Die Entstehung einer Garantenpflicht setzt weiter voraus, daß entweder ein Abhängigkeitsverhältnis zwischen den Beteiligten besteht oder daß der Träger des Rechtsguts oder die sonst für dessen Schutz verantwortliche Person im Vertrauen auf die Bereitschaft des Garanten erhöhte Gefahren in Kauf genommen oder auf anderweitige Schutzvorkehrungen verzichtet haben 36 . a) Der stärkste und einleuchtendste Rechtsgrund, aus dem sich Garantenpflichten ergeben können, ist die natürliche Verbundenheit, die aber, um strafrechtliche Wirkungen zu äußern, auf einem rechtlichen Band beruhen muß. So sind vor allem die nächsten Familienangehörigen sich in der Regel gegenseitig verpflichtet, drohende Leibes- und Lebensgefahr voneinander abzuwenden, während Liebes-, Freundschafts- und Nachbarschaftsbeziehungen nicht ausreichen 37. Zweifelhaft ist jedoch, wie weit der Kreis der Garanten unter diesem Gesichtspunkt zu ziehen ist und ob auch geringere Rechtsgüter als Leib und Leben geschützt werden. Beispiele: Die Eltern sind den in der Hausgemeinschaft lebenden Kindern zum Schutz gegen Leibes- und Lebensgefahr verpflichtet (BGH 7, 268 [272]; RG 66, 71 [74])38, dagegen wohl nicht die Kinder den Eltern, es sei denn, diese stünden ausnahmsweise zu jenen in einem Abhängigkeitsverhältnis (anders BGH 19, 167, wo die Garantenpflicht der erwachsenen Kinder ohne Einschränkung bejaht wird 39 ; vgl. auch BGH NStZ 1984, 149 [153]). Der Vater hat kraft natürlicher Verbundenheit mit dem Kinde die Pflicht, eine Abtreibungshandlung der Ehefrau zu verhindern (RG DStr 1936, 179; BGH Dallinger MDR 1973, 369). Entgegen RG 56, 168 (169) wird das auch für die nichteheliche Schwangerschaft zu gelten haben. Die Ehefrau hat die Pflicht, eine Brandstiftung am Eigentum des Mannes zu verhindern (OGH 3, 1 [4]). Eine Beistandspflicht gilt für Großeltern gegenüber Enkeln (RG 39, 397 [398]; 66, 316 [317]; 72, 373 [374]; OGH 1, 87 [88]) und für Geschwister40, doch ist dabei immer zu prüfen, ob die besonderen einschränkenden Bedingungen der Garantenpflicht vorliegen. Auch im Verhältnis der Ehegatten zueinander wird eine auf § 1353 BGB gestützte Garantenpflicht zum Schutz von Leib und Leben angenommen (RG 71, 187 [189]; BGH 2, 150 [153] m.Anm. Gallas, JZ 1952, 371; BGH NStZ 1984, 73; OLG Oldenburg DAR 1955, 300), wobei die obengenannten einschränkenden Voraussetzungen offenbar als gegeben unterstellt werden. Die Rechtsprechung erstreckt die Garantenpflicht sogar auf Schwägerschaft (BGH 13, 162 [166]) und Verlöbnis (BGH JR 1955, 104), ohne auf ein Obhutsverhältnis abzustellen41. b) Eine anerkannte Quelle von Garantenpflichten sind ferner enge Gemeinschaftsbeziehungen. Maßgebend ist auch hier, daß aufgrund gegenseitigen Vertrauens Abhängigkeitsverhältnisse entstehen, erhöhte Risiken eingegangen werden oder anderweitige Sicherheitsvorkehrungen unterbleiben (Gefahrengemeinschaft, eheähnliches Zusammenleben, Pflegeverhältnisse). 42 36

Dies betont für die Garantenpflicht kraft Übernahme mit Recht Stree, H. Mayer-Festschrift S. 154 f., doch müssen die gleichen Gesichtspunkte auch für die anderen Fälle gelten. Ebenso SK (Rudolphi) § 13 Rdn. 49. 37 Ebenso Schönke/Schröder/Stree, § 13 Rdn. 18; Schmidhäuser, Allg. Teil S. 667; LK U (Jescheck) § 13 Rdn. 21 ff.; Lilie, JZ 1991, 546 (zu weitgehend aber die Erstreckung auf „nahestehende Personen"); Welzel, Lehrbuch S. 213 f.; Wessels, Allg. Teil Rdn. 718 f. Dagegen läßt Schünemann, Unterlassungsdelikte S. 357 als Gleichstellungskriterium nur die „tatsächliche personale Schutzherrschaft" gelten. 38 Auf das Eltern-Kind-Verhältnis beschränkt Gallas, Studien S. 94 f. den Kreis der Garanten aus enger persönlicher Verbundenheit. 39 Zustimmend Geilen, FamRZ 1964, 391; kritisch zu Recht H. Mayer, Grundriß S. 79; SK (Rudolphi) § 13 Rdn. 49; Schünemann, Unterlassungsdelikte S. 357f. 40 Ablehnend Jakobs, Allg. Teil 29/62. 41 Ablehnend mit Recht Geilen, FamRZ 1961, 155 ff.; Schönke/Schröder/Stree, § 13 Rdn. 18; SK (Rudolphi) § 13 Rdn. 49.

I V . D i e Garantenstellung beim unechten Unterlassungsdelikt

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Beispiele: Der Führer einer Bergtour ist verpflichtet, den aus Schwäche zurückbleibenden Geführten mit allen vorhandenen Kleidungsstücken auszustatten, während er selbst Hilfe holt (BG Praxis 46 [1957] S. 302 [306]; vgl. ferner Obergericht Bern SchwJZ 1945, 42 [44 f.]). Die Aufnahme pflegebedürftiger Personen in den Haushalt macht die erforderliche Fürsorge zur Rechtspflicht (RG 69, 321; 73, 389 [391]; 74, 309 [311]). Entsprechendes wurde für eine homosexuelle Lebensgemeinschaft angenommen (AG Duisburg MDR 1971, 10)43. Bloße Hausgemeinschaft begründet jedoch für sich allein noch keine Garantenstellung (BGH NStZ 1983, 117; NStZ 1984, 163; NStZ 1985, 122)44. Auch aus einem Zechgelage folgt noch keine Garantenpflicht, jeder Beteiligte hat vielmehr selbst für sicheres Geleit zu sorgen (BGH NJW 1954, 1047). Auch eine allgemeine Garantenpflicht zur Abwendung von Vermögensschäden aus Betriebsgemeinschaft ist abzulehnen (anders BGH 2, 325 [326]). c) Ein dritter Rechtsgrund für die Begründung einer Schutzposition ist die freiwillige Übernahme gegenüber dem Gefährdeten oder einem Dritten zugunsten des Gefährdeten 45. Insbesondere hier kommt es darauf an, daß andere sich im Vertrauen auf die Einsatzbereitschaft des Garanten einer größeren Gefahr aussetzen, als sie es sonst getan hätten, oder auf anderweitigen Schutz verzichten, denn nur dann rechtfertigt die Übernahme eine strafrechtliche Haftung 46 . Die zulässige Übertragung von Pflichten auf Dritte entlastet den primär Verantwortlichen (BGH NJW 1964, 1223; B G H 19, 286). Maßgebend für die Garantenstellung ist nicht die Rechtsgültigkeit des Vertragsabschlusses, sie wird vielmehr durch die tatsächliche Übernahme begründet. Daher kann die Garantenpflicht auch ausnahmsweise über die Geltung eines Vertrages hinaus andauern (RG 16, 269 [271]; 64, 81 [84]) 47 , sie geht jedoch inhaltlich nicht über die Grenzen des Vertrages hinaus (BGH NJW 1983, 350). Beispiele: Garant ist, wer als erfahrener Alpinist eine Bergtour zu führen (BG Praxis 46 [1957] S. 302 [307]), als Arzt seine Patienten zu behandeln (RG DR 1943, 897; RG 74, 350 [354]), als Bereitschaftsarzt andere Ärzte zu vertreten (BGH 7, 211 [212]), als Hebamme ihrer Patientin vermeidbare Schmerzen zu ersparen (OLG Düsseldorf NJW 1991, 2979), als Arbeitgeber Lohnsteuer abzuführen hat (BGH 23, 319 [322]). Selbst der Todeswunsch des Selbstmörders entlastet den Hausarzt nicht von seiner Garantenpflicht (BGH 32, 367 [374]). Der zuständige Arzt ist nach stationärer Aufnahme des Patienten Garant für dessen Leben (BGH NStZ 1983, 263), ebenso der dienstältere Klinikarzt, der den jüngeren berät (BGH NJW 1979, 1258). Garant ist auch der Gastwirt, der einen schwer betrunkenen Gast auf die belebte Verkehrsstraße hinausführt und dort seinem Schicksal überläßt (BGH 26, 35, 39). Wer sich dagegen aus Gefälligkeit für einen fahruntüchtigen Kraftfahrer ans Steuer setzt, 42

Ebenso Maurach/Gössel/

Zipf,

Rdn. 10; Lackner, § 13 Rdn. 10; LK n

Allg. Teil II § 46 Rdn. 90ff.; Dreh er/Tröndle,

(Jescheck) § 13 Rdn. 25; Schönke/Schröder/Stree,

§ 13

$ 13

Rdn. 25; Bärwinkel, Garantieverhältnisse S. 137 ff. Dagegen aus Gründen der Rechtssicherheit Doering, MDR 1972, 665. Über die Beteiligung der Intimsphäre als Kriterium enger Gemeinschaftsbeziehungen Honig, Schaffstein-Festschrift S. 98 ff. 43 Zustimmend Brammsen, Entstehungsvoraussetzungen S. 169; Maurach/Gössel/Zipf, Allg. Teil II § 46 Rdn. 91. 44 Dazu eingehend Rudolphi, NStZ 1984, 149 ff. 45 Ebenso Maurach/Gössel/Zipf, Allg. Teil II § 46 Rdn. 82 ff.; Schmidhäuser, Allg. Teil S. 669f.; LK n (Jescheck) § 13 Rdn. 26ff.; SK (Rudolphi) § 13 Rdn. 58ff.; Schönke/Schröder/ Stree, § 13 Rdn. 26ff.; Stratenwerth, Allg. Teil I Rdn. 997ff.; Welzel, Lehrbuch S. 214. 46 Vgl. Stree, H. Mayer-Festschrift S. 154f.; Blei, ebenda S. 121 ff.; Jakobs, Allg. Teil 29/ 47; SK (Rudolphi) § 13 Rdn. 58 ff. Über den Vertrauensgedanken vgl. auch Pfander, Die Rechtspflicht zum Handeln aus Vertrag S. 163 ff. Dagegen Stratenwerth, Allg. Teil I Rdn. 1002. 47 Zu weit geht jedoch RG 17, 260 (261), weil in diesem Falle nach Ablauf des Pflegevertrages nicht mehr der Angeklagte, sondern die Gemeinde für die Versorgung der Hilfsbedürftigen verantwortlich war. Die zeitliche und gegenständliche Beschränkung der Pflichtübernahme betont mit Recht Kienapfel, JBl 1975, 22.

624

§ 59 D e r Tatbestand des Unterlassungsdelikts

braucht diesen nach einer Fahrpause nicht daran zu hindern, daß er wieder selbst fährt (OLG Karlsruhe JZ 1960, 178 m.zust.Anm. Welzel). Die Praxis hat die Garantenpflicht aus freiwilliger Übernahme stark überdehnt (BGH 5, 187 [190]: Pflicht zur Verhinderung von Diebstählen im Betrieb aufgrund des Arbeitsvertrags; BGH 6, 198: Pflicht zur Mitteilung der nachträglich eingetretenen Zahlungsunfähigkeit an den vorleistungspflichtigen Vertragspartner beim Werkvertrag). Inzwischen hat die Rechtsprechung jedoch eine Aufklärungspflicht aus Treu und Glauben bei Überzahlungen im Rahmen gewöhnlicher Vertragsverhältnisse abgelehnt (BGH 39, 392 [Nachweise S. 399 ff.] m.zust.Anm. Joerden, JZ 1994, 422). Die Grundsätze über die Entstehung der Garantenpflicht gelten auch für Amtsträger, die einen besonderen Pflichtenkreis zu betreuen und in diesem Rahmen generell Gefahren für Rechtsgüter anderer abzuwenden haben. Die Rechtsprechung geht jedoch bei Amtsträgern unter direktem Rückgriff auf die formelle Garantenpflichtbegründung durch ein Gesetz, das bestimmte öffentlich-rechtliche Pflichten festlegt, viel zu weit. So wurde die Garantenverantwortlichkeit von Polizeivollzugsbeamten für die Unterbindung von Straftaten in ihrem Zuständigkeitsbereich mehrfach bejaht und dadurch deren Strafbarkeit als Mittäter oder Gehilfen begründet (RG JW 1939, 543; B G H 8, 186 [189]) 48 . Demgegenüber ist festzuhalten, daß die öffentlich-rechtliche Pflicht zur Verhinderung von Straftaten für den Amtsträger nur dann eine zur Strafbarkeit führende Garantenpflicht begründen kann, wenn das bedrohte Rechtsgut ihm unmittelbar anvertraut ist und dessen Unversehrtheit von ihm abhängt (z.B. bei der Sorge für gefangene oder untergebrachte Personen oder bei der Durchführung der Strafverfolgung). Zu weitgehend wurde die Garantenstellung des Leiters eines städtischen Ordnungsamts wegen Nichteinschreitens gegen einen Bordellbetrieb mit der Folge der Strafbarkeit des Amtsträgers wegen Beihilfe zur Förderung der Prostitution (§ 180 a I) durch Unterlassen angenommen (BGH JZ 1986, 967 m.abl.Anm. Rudolphi, JR 1987, 336 und Winkelhauer, JZ 1986, 1119; anders bei außerdienstlich erlangter Kenntnis B G H NStZ 1993, 383). Auch die Verurteilung eines in der Abwasserbeseitigung säumigen Bürgermeisters einer Stadt wegen in eigener Täterschaft begangener Gewässerverunreinigung (§ 324 I) durch Unterlassen (BGH NJW 1992, 3247 49 ) läßt sich nicht auf freiwillige Übernahme stützen, weil das Rechtsgut der Reinhaltung der Gewässer nicht dem Bürgermeister anvertraut und in seiner Unversehrtheit nicht von ihm abhängig ist. Die Entscheidung läßt sich auch nicht auf die Pflicht zur Überwachung einer Gefahrenquelle (vgl. unten § 59 IV 4 b) gründen, weil die Verschmutzungsgefahr nicht von der Gemeinde ausgeht, sondern von den Benutzern. In Wahrheit sind der Leiter des Ordnungsamtes und der Bürgermeister für ihr Unterlassen nur dienstrechtlich verantwortlich. 4. Die Verantwortlichkeit für bestimmte Gefahrenquellen ist der Grundgedanke der zweiten Gruppe von Garantenstellungen. Auch hier sind drei Untergruppen zu unterscheiden. Einmal kann durch ein gefährdendes Vorverhalten eine für andere bedrohliche Situation entstehen, die der Garant zu beseitigen hat. Zweitens können Gefahrenquellen, die im eigenen sozialen Herrschaftsbereich gelegen sind, die Garantenpflicht auslösen. Endlich gibt es eine Pflicht zur Kontrolle des Handelns von Personen, die der Garant zu beaufsichtigen hat. Der Umfang dieser Garantenpflichten, die aus der „Nähe zur Gefahr" entstehen, ist enger als der 48

Hierzu kritisch SK (Rudolphi) § 13 Rdn. 54c; Rudolphi, NStZ 1991, 365ff.; Herzherg, Unterlassung S. 356; Grünwald, ZStW 70 (1958) S. 425; Schünemann, ZStW 96 (1984) S. 311; Sangenstedt, Garantenstellung von Amtsträgern S. 529 ff.; Kühl, Allg. Teil § 18 Rdn. 79 ff.; LK f l

49

(Jescheck) § 13 Rdn. 29. Hierzu Odersky, Tröndle-Festschrift S. 295 ff.; Pfohl, NJW 1994, 419; Nestler, GA

1994, 530 (allenfalls Beihilfe).

I V . D i e Garantenstellung beim unechten Unterlassungsdelikt

625

Pflichtenkreis, der aus einer Schutzposition für ein bestimmtes Rechtsgut erwächst. Während dort die Garantenpflicht auf Verteidigung des Schutzobjekts gegen jede Art von Beeinträchtigung gerichtet ist, hat der Garant hier nur die Gefahrenquelle selbst unter Kontrolle zu halten. a) Die Garantenpflicht aus vorangegangenem gefährdenden Tun beruht auf dem Verbot, andere zu verletzen („neminem laede"). Wer die Gefahr herbeiführt, daß andere geschädigt werden (Ingerenz), muß dafür sorgen, daß sich diese nicht in einen tatbestandsmäßigen Erfolg umsetzt (RG 24, 339; 64, 273 [276]; B G H 4, 20 [22]; 26, 35 [37]; 37, 106 [115]) ?0 . Die Pflicht zur Erfolgsabwendung erwächst jedoch nicht schon aus der bloßen Verursachung einer Gefahr, der Gedanke der Ingerenz muß vielmehr in dreifacher Hinsicht eingeschränkt werden 51 . Einmal muß das vorangegangene Tun die nahe (adäquate) Gefahr des Schadenseintritts herbeigeführt haben . Zweitens muß das Vorverhalten objektiv pflichtwidrig (wenn auch nicht schuldhaft) gewesen sein (BGH 17, 321; 19, 152; 23, 327; 25, 218; 26, 35 [38]; 34, 82) 53 . Die Pflichtwidrigkeit muß endlich in der Verletzung einer Norm bestehen, die gerade dem Schutz des betreffenden Rechtsguts dient 5 ; abzulehnen ist deswegen B G H 17, 321 (323), wo die Pflicht zur Abwendung des Meineids im Ehescheidungsprozeß auf ein ehebrecherisches Verhältnis des Beklagten zur Zeugin gegründet wird (vgl. auch zutreffend O L G Schleswig NStZ 1982, 50 Ebenso Baumann/Weber, Allg. Teil S. 248ff.; Blei, Allg. Teil S. 323ff.; Bockelmann/ Allg. Teil II § 46 Rdn. 95ff.; Jakobs, Allg. Volk, Allg. Teil S. 141 f.; Maurach/Gössel/Zipf, Teil 29/29; Lackner, § 13 Rdn. 11; LK U (Jescheck) § 13 Rdn. 31 ff.; Kühl, Allg. Teil § 18

Rdn. 91; Schmidhäuser, Allg. Teil S. 671; Schönke/Schröder/Stree,

§ 13 Rdn. 32; Stree, H.

Mayer-Festschrift S. 156f.; Welp, Vorangegangenes Tun S. 177ff. Einschränkend Pfleiderer, Garantenstellung aus vorangegangenem Tun S. 128 ff.; ablehnend Lampe, ZStW 72 (1960) S. 106; Langer, Das Sonderverbrechen S. 504; Roxin, ZStW 83 (1971) S. 403; Schünemann, Unterlassungsdelikte S. 106 ff, 165 ff, 231 ff, 308 ff.; derselbe, GA 1974, 233 ff. 51 So vor allem Rudolphi, Gleichstellungsproblematik S. 110 ff.; SK (Rudolphi) § 13 Rdn. 38 f.; Schönke/Schröder/Stree, § 13 Rdn. 34ff. 52 So die h.L.; vgl. Granderath, Vorangegangenes gefährdendes Verhalten S. 156ff.; Maurach/Gössel/Zipf, Allg. Teil II § 46 Rdn. 97; LK U (Jescheck) § 13 Rdn. 32; Herzberg, Unterlassung S. 301; Blei, Allg. Teil S. 323; Rudolphi, Gleichstellungsproblematik S. 120f.; Schön-

ke/Schröder/Stree,

§ 13 Rdn. 34; Kienapfel, JBl 1975, 83; Stratenwerth,

Allg. Teil I

Rdn. 1005 f., der mit Recht auf die Eignung des Vorverhaltens zur Herbeiführung der Gefahr und die daraus sich ergebende Verhinderungspflicht abstellt. Dagegen aber Jakobs, Allg. Teil 29/39; AK (Seelmann) § 13 Rdn. 112. 53 So v. Hippel, Bd. I I S. 166; Kohlrausch/Lange, Vorbem. I I 3d; Mezger, Lehrbuch S. 147; Blei, Allg. Teil S. 324; Lackner, § 13 Rdn. 11; LK n (Jescheck) § 13 Rdn. 33; Henkel,

MSchrKrim 1961, 183; Rudolphi, Gleichstellungsproblematik S. 157ff.; Schönke/Schröder/

Stree, § 13 Rdn. 35; Welzel,

Lehrbuch S. 216; Schmidhäuser,

Allg. Teil S. 673 f.; Wessels,

Allg. Teil Rdn. 725; WK (Nowakowski) § 2 Rdn. 27. Eine verbreitete Meinung läßt jedoch jede gefahrbegründende Handlung ohne Rücksicht auf ihre rechtliche Qualifikation genügen; vgl. Baumann/Weber, Allg. Teil S. 248; Bockelmann/Volk, Allg. Teil S. 141; Granderath, Vorangegangenes gefährdendes Verhalten S. 149 ff.; Heinitz, JR 1954, 270; Herzberg, JuS 1971, 74; derselbe, Unterlassung S. 294 ff.; v. Liszt/ Schmidt, S. 191; M aurach/Gössel/Zipf

Allg. Teil II § 46 Rdn. 99; Olshausen, Vorbem. 7c vor § 47; Vogt, ZStW 63 (1951) S. 403; Welp, Vorangegangenes Tun S. 209 ff. (differenzierend für die Notwehr S. 271 ff.; ebenso Maiwald, JuS 1981, 483). Einschränkend Jakobs, Allg. Teil 29/39. Differenzierend auch Stratenwerth, Allg. Teil I Rdn. 1009, der bei erlaubten Risiko-Vorhandlungen im Unterschied zu „Eingriffsrechten" das Erfordernis der Pflichtwidrigkeit verneint. Vgl. ferner Otto/Brammsen, Jura 1985, 649 ff. Die Fälle der Verkehrssicherungspflichten sind unten § 59 IV 4b behandelt; dort geht es um erlaubte Vorhandlungen. 54

Vgl. Stree, Klug-Festschrift Bd. I I S. 399ff.; LK n

Allg. Teil Rdn. 725. 40 Jescheck, 5. A.

(Jescheck)

§ 13 Rdn. 33; Wessels,

626

§ 59 D e r Tatbestand des Unterlassungsdelikts

116; O L G Hamm NJW 1992, 1977). Als Ingerent ist vor allem strafrechtlich verantwortlich, wer entweder ein bestehendes Schutzverhältnis aufhebt, indem er die Abwehrbereitschaft des Rechtsgutsträgers selbst oder einer anderen schutzbereiten Person ausschaltet, oder wer eine neue Gefahrenquelle eröffnet, die entweder in der Auslösung von Naturkräften oder in der Nichtbeaufsichtigung von ihm anvertrauten Personen bestehen kann. Beispiele: Die Nähe der Gefahr wird in der Rechtsprechung jetzt allgemein vorausgesetzt. So erfordert die Meineidsbeihilfe durch Unterlassen der Richtigstellung einer Falschaussage, daß eine besondere, dem Prozeß nicht mehr eigentümliche Gefahr des Meineids geschaffen worden ist (RG 75, 271 [274f.]; BGH NJW 1953, 1399; NJW 1954, 1818; BGH 17, 321 [322]); der Fahruntüchtige oder Trunkene muß in eine gesteigerte Gefahrensituation gebracht worden sein (BayObLG NJW 1953, 556; OLG Karlsruhe JZ 1960, 178; OLG Oldenburg NJW 1961, 1938). Auch das Erfordernis der Pßichtwidngkeit des Vorverhaltens hat sich in der Rechtsprechung allmählich durchgesetzt (anders früher RG 51, 9 [12]; BGH 3, 203 [205]: nicht erörtert in BGH 11, 353) . Aus dem Ausschank von Alkohol als einer „allgemein als sozialüblich anerkannten Verhaltensweise" folgt nicht die Pflicht des Gastwirts, strafbare Handlungen der Gäste zu verhindern (BGH 19, 152 [154], anders früher BGH 4, 20). Die Verletzung des Angreifers in Notwehr macht den Angegriffenen nicht zum Garanten (BGH 23, 327) 6 . Ein Kraftfahrer, der sich verkehrsgerecht verhalten hat, hat gegenüber dem allein schuldigen Unfallopfer keine Garantenstellung (BGH 25, 218 [221] m.zust.Anm. Rudolphi, JR 1974, 160); anders aber, wenn der Kraftfahrer sich verkehrswidrig verhalten hatte und dieses Verhalten in unmittelbarem Zusammenhang mit dem Unfall stand (BGH 34, 82 [84] m. Anm. Herzberg, JZ 1986, 987, der das Kriterium der Pflichtwidrigkeit hier preisgegeben sieht; BGH NJW 1992, 583). Das Inverkehrbringen eines gesundheitsschädlichen Ledersprays verpflichtet die Geschäftsführer der Firma zum Rückruf (BGH 37, 106 [115] mit Anm. Puppe, JR 1992, 30). Beispiele für die Ausschaltung des Rechtsgutsträgers

bietet die

Rechtsprechung zu § 221 (RG 31, 165 [166]; 54, 273; BGH 4, 113 [115])57. Der uneheliche Vater, der die Verlobte veranlaßt, vor der Niederkunft einen menschenleeren Ort aufzusuchen, damit das Kind dort umkommen soll, schaltet die sonst vorhandenen Schutzinstanzen aus (RG 66, 71). Hauptfall der Garantenstellung aus vorangegangenem Tun ist die Eröffnung neuer Gefahrenquellen. So hat insbesondere der Kraftfahrer, der einen anderen pflichtwidrig in Lebensgefahr bringt, als Garant für ärztliche Hilfe zu sorgen (BGH VRS 13, 120 [122]; BGH 7, 287 [288]; vgl. auch BGH 25, 218). Wer einen anderen betrunken macht, so daß dieser nicht mehr verantwortlich handeln kann, muß Gefahren für ihn selbst oder dritte Personen abwenden (BGH 19, 152 [155])58. Auch bei eigenverantwortlicher Selbstgefährdung eines anderen (Überlassung von Heroin zum Eigengebrauch) ist die Garantenstellung des Lieferanten zu bejahen, wenn der andere in Todesgefahr gerät (BGH NStZ 1984, 452; anders OLG Stuttgart MDR 1981, 157). Selbst die pflichtwidrige Schaffung der Gefahr einer Straftat von seiten einer voll verantwortlichen Person soll strafrechtliche Haftung für das Unterlassen der Verbrechensverhütung nach sich ziehen können (BGH 2, 279 [283 f.]; 17, 321 [323]), wenn auch meist nur als Beihilfe durch Unterlassen59. b) Entsprechend der Verkehrssicherungspflicht im Zivilrecht (BGH NJW 1961, 868 [869]; NJW 1962, 791 [792]) 60 besteht auch im Strafrecht eine Garantenpflicht 55 Die Gegenmeinung verweist vor allem auf die Notwehrsituation und befürchtet für den verletzten Angreifer eine Art von „Friedlosigkeit" (Baumann/Weber, Allg. Teil S. 248), aber zu Unrecht, denn der Angegriffene bleibt immer nach § 323 c hilfeleistungspflichtig. 56 Die lebhaft umstrittene Entscheidung wird abgelehnt von Eser, Strafrecht II Nr. 27 A Rdn. 11; Herzberg, MDR 1971, 74ff.; Welp, JZ 1971, 433 f. Zustimmend zu Recht Bringe-

wat, M D R 1971, 716ff.; LK U (Spendel) § 32 Rdn. 334; Schönke/Schröder/Stree, Rdn. 37; SK (Rudolphi) § 13 Rdn. 41. 57 58 59

60

§ 13

Vgl. dazu SK (Horn) § 221 Rdn. 6. Vgl. Gramer, GA 1961, 101; Geilen, JZ 1965, 469 ff. Vgl. Gallas, JZ 1960, 687; SK (Rudolphi) § 13 Rdn. 42.

Vgl. v. Gaemmerer, Gesammelte Schriften Bd. I S. 562 f.; Zusammenstellung der strafrechtlichen Rechtsprechung bei Schünemann, Unterlassungsdelikte S. 303 ff. Vgl. ferner Kuhlen, Strafrechtliche Produkthaftung S. 173 Fußnote 16.

I V . D i e Garantenstellung beim unechten Unterlassungsdelikt

627

für die Überwachung von Gefahrenquellen, die innerhalb des eigenen Herrschaftsbereichs gelegen sind, und zwar ohne Rücksicht auf freiwillige Übernahme der Obhut oder pflichtwidriges vorangegangenes Tun 6 1 (dieser Gesichtspunkt ist somit von den beiden zuvor behandelten Gründen der Garantenpflicht zu unterscheiden62). Die Begründung dafür liegt darin, daß die Gemeinschaft sich darauf verlassen können muß, daß, wer die Verfügungsgewalt über einen bestimmten Herrschaftsbereich oder einen abgegrenzten Raum ausübt, der anderen offen steht oder aus dem auf andere eingewirkt werden kann, die Gefahren beherrscht, die sich durch gefährliche Zustände oder Situationen, durch Tiere, Anlagen oder Einrichtungen in diesem Bereich ergeben können. Beispiele: Garant ist, wer als Mieter die Streupflicht übernimmt (OLG Celle NJW 1961, 1939), wer es übernimmt, die Kraftfahrzeuge eines Betriebs auf Verkehrssicherheit zu überwachen (OLG Hamm VRS 20, 465) oder bei einem plötzlichen Halt den nachfolgenden Verkehr zu warnen (BGH VRS 17, 424 [428]). Die pflichtwidrige Unterlassung der Beleuchtung eines Hausflurs führt zur Anwendung des § 230, wenn sich infolge der Dunkelheit jemand verletzt (RG 14, 362 [363]). Eine Garantenpflicht des Wohnungsinhabers, Straftaten anderer in dieser zu verhindern, kann sich daraus ergeben, daß die Wohnung wegen ihrer besonderen Beschaffenheit oder Lage eine Gefahrenquelle darstellt (BGH 30, 391 [396]; BGH NJW 1993, 76). In der Überwachungspflicht liegt der Grund für die Verantwortlichkeit des Kraftfahrzeugbesitzers, der den Wagen nicht in verkehrssicherem Zustand hält (BGH VRS 17, 388 [390]) oder Fahrunfähige oder Fahrunkundige nicht am Führen des Fahrzeugs hindert (BGH 18, 359 [361]; BGH VRS 14, 191 [195]; VRS 20, 282). Der Hauseigentümer muß eine Brandstiftung abwenden, soweit von dem brennenden Haus eine Gefahr für die Allgemeinheit (§ 306) ausgeht (OGH 3, 1 [3 f.] mit anderer Begründung). Bei der Bauleitung ergeben sich abgestufte Kontrollpflichten für die verschiedenen Beteiligten (BGH 19, 286 [288 f.]; OLG Karlsruhe NJW 1977, 1930; OLG Stuttgart NStZ 1985, 124)6*. Der Tierhalter ist in den Grenzen der Sorgfaltspflicht dafür verantwortlich, daß seine Tiere keine Schäden anrichten (OLG Bremen NJW 1957, 72; OLG Bremen VRS 23, 41 [42]). Ein Fußballplatz muß gegen die Bundesstraße abgesichert sein (BGH VRS 18, 48 [51]). Für Skipisten besteht eine Verkehrssicherungspflicht (BGH GA 1971, 333; NJW 1973, 1379)64. Der alkoholkranke Kraftfahrzeughalter muß im Zustand der Nüchternheit sogar sein Kfz abschaffen (omissio libera in causa) (BayObLG JR 1979, 289 m. Anm. Horn). Dagegen kann der Gastwirt nicht wegen Hehlerei durch Mitwirken beim Absatz verurteilt werden, wenn er das Anbieten von Diebesgut im Lokal nicht verhindert (anders RG 58, 299; zutreffend aber OLG Schleswig NJW 1954, 285), denn die Gasträume sind keine Gefahrenquelle65. Auch eine Vergewaltigung in einer Gastwirtschaft kann für den Gastwirt, der die Tat geschehen läßt, nur die Strafbarkeit nach § 323 c auslösen (BGH GA 1971, 337). Erst recht gilt dies für eine Körperverletzung (anders BGH NJW 1966, 1763). Bedenken bestehen auch dagegen, eine Garantenstellung durch Aufnahme eines anderen in die Wohnung zu begründen (so aber BGH 27, 10 m.abl.Anm. Naucke, JR 1977, 290)66. Endlich läßt sich auch durch die „Monopolstellung" in einem abgegrenzten Herrschaftsbereich eine höhere als die allgemeine Hilfeleistungspflicht nicht begründen67, z.B. wenn der Kapitän eines Schiffes an Bord 61

Vgl. Schönke/Schröder/Stree,

§ 13 Rdn. 43ff.; LK U

(Jescheck) § 13 Rdn. 35; SK (Ru-

dolphi) §13 Rdn. 26ff.; Granderath, Vorangegangenes gefährdendes Verhalten S. 161 ff.; Schmidhäuser, Allg. Teil S. 675f.; Stratenwerth, Allg. Teil I Rdn. 1019ff. 62 Vgl. Kugler, Ingerenz S. 147ff.; Otto, NJW 1974, 532; Schünemann, Unterlassungsdelikte S. 284 ff. 63 Gallas, Verantwortlichkeit der am Bau Beteiligten S. 32ff.; Brammsen, Entstehungsvoraussetzungen S. 259 ff. 64 Padrutt, SchwZStr 87 (1972) S. 63. 65 Wie der Text Stratenwerth, Allg. Teil I Rdn. 1020; LK U (Jescheck) § 13 Rdn. 44; SK (Rudolphi) § 13 Rdn. 37; Herzberg, Die Unterlassung S. 332 f. 66

Wie der Text Maurach/Gössel/Zipf, Allg. Teil II § 46 Rdn. 91; Jakobs, Allg. Teil 29/ 37; Stratenwerth, Allg. Teil I Rdn. 1020. Vgl. auch BGH NJW 1993, 76. 67

40*

So zutreffend Stratenwerth,

A l l g . T e i l I Rdn. 1020.

628

§ 59 D e r Tatbestand des Unterlassungsdelikts

einen blinden Passagier entdeckt und sich seiner nicht annimmt, so daß dieser einen Gesundheitsschaden erleidet 68. Die Entscheidung BGH NJW 1992, 3247 über die strafrechtliche Verantwortlichkeit des Bürgermeisters einer Stadt für das Unterlassen der Abwasserbeseitigung läßt sich nicht mit der Pflicht zur Überwachung einer Gefahrenquelle begründen, da das verunreinigte Abwasser nicht von der Gemeinde, sondern von den Benutzern herrührte (vgl. oben § 59 IV 3 c a.E.). c) Aus dem Gesichtspunkt der Nähe zur Gefahr kann sich auch eine Garantenhaftung für das Handeln dritter Personen ergeben, und zwar ebenfalls ohne Rücksicht auf vorangegangenes Tun oder freiwillige Übernahme 69 . Maßgebend ist dabei der Gedanke, daß die Allgemeinheit im Hinblick auf bestehende Autoritätsund Aufsichtsstellungen darauf vertraut, daß der Pflichtige Gefahren, die von der zu überwachenden Person ausgehen, beherrscht. Beispiele: Erziehungsberechtigte haben dafür zu sorgen, daß die ihrer Aufsicht unterstehenden Minderjährigen keine Straftaten begehen (BGH FamRZ 1958, 211); nicht aber der Vater gegenüber dem erwachsenen Sohn (anders KG JR 1969, 27 m.abl.Anm. Lackner). Die Garantenstellung von vorgesetzten Amtsträgern (§ 357) und militärischen Vorgesetzten (§41 WStG) ist im Gesetz selbst geregelt. Für Schiffsoffiziere ergibt § 108 SeemannsG die Verpflichtung, Schmuggelgeschäfte der Schiffsmannschaft zu verhindern (RG 71, 176 [177]). Desgleichen besteht eine Garantenpflicht des Lehrers hinsichtlich strafbarer Handlungen seiner Schüler im Schulbereich. Das Gefängnispersonal ist dafür verantwortlich, daß die Gefangenen keine strafbaren Handlungen begehen (RG 53, 292). Dagegen besteht eine Rechtspflicht des Vorarbeiters zur Verhinderung eines Diebstahls von Seiten eines ihm unterstellten Arbeiters zum Nachteil des Auftraggebers nicht (OLG Karlsruhe GA 1971, 281); zu weitgehend soll der Bauingenieur Garant dafür sein, daß sein Fahrer unterwegs keinen Alkohol trinkt und nach einem Unfall seiner Wartepflicht genügt (BGH VRS 24, 34). Keinerlei Hinderungspflichten in bezug auf Straftaten ergeben sich aus der ehelichen Lebensgemeinschaft (anders RG 64, 162 [166]; 74, 283 [285]; BGH 6, 322 [323 f.]; BGH NJW 1953, 591; BGH LM § 47 Nr. 5; zweifelnd aber BGH 19, 295 [297]; wie der Text OLG Stuttgart NJW 1986, 1767 [1768 f.]) 70 . Das schweizerische Bundesgericht hat eine Pflicht zum Einschreiten des Firmeninhabers gegen verbotene Waffengeschäfte von leitenden Angestellten angenommen (BGE 96 IV 155) (Fall Bührle; hierzu Schubarth, SchwZStr 92 [1972] S. 369 ff.). 5. Die Garantenpflicht kann sich auch aus mehreren der vorgenannten Gründe ergeben (z.B. rettet der Vater das Kind nicht, das er selbst pflichtwidrig in Lebensgefahr gebracht hat; vgl. auch den Fall B G H JR 1957, 347). Eine solche K o n k u r renz von Garantenpflichten verstärkt die Zumutbarkeit der Rettungshandlung (vgl. unten § 59 VIII). Liegen unvereinbare Handlungspflichten gegenüber verschiedenen Personen vor, so ist ein Fall der Pflichtenkollision gegeben (vgl. oben § 47 I).

68 Zum ganzen Landscheidt, Stellung in Räumlichkeiten S. 73 ff. Eine Garantenpflicht des Hauseigentümers hinsichtlich einer auf die Hauswand aufgesprühten Beleidigung verneint mit Recht Weber, Oehler-Festschrift S. 93. 69

AK (Seelmann) § 13 Rdn. 127ff.; Lackner, § 13 Rdn. 14f.; LK U (Jescheck) § 13 Rdn. 41 ff.; Schönke/Schröder/Stree, § 13 Rdn. 51 ff.; SK (Rudolphi) § 13 Rdn. 32ff.; Schüne-

mann, Unterlassungsdelikte S. 323 ff.; Stratenwerth, Allg. Teil I Rdn. 994; Wessels, Allg. Teil Rdn. 724. 70 H. Mayer, Materialien Bd. I S. 275 spricht angesichts der bisherigen Praxis nicht zu Unrecht von „Sippenhaftune". Im gleichen Sinne jetzt die h.L.; Maurach/Gössel/Zipf, Alle.

Teil I I § 46 Rdn. 59; Tenckhoff JuS 1978, 311; Schönke/Schröder/Stree, § 13 Rdn. 53; LK fl (Jescheck) § 13 Rdn. 43; Lackner, § 13 Rdn. 14; Wessels, Allg. Teil Rdn. 724; Geilen, FamRZ

1961, 157ff.; Bärwinkel, zel, Lehrbuch S. 214.

Garantieverhältnisse S. 154 ff.; Schmidhäuser, Allg. Teil S. 668; Wel-

V . D i e Entsprechung i n den Handlungsmerkmalen

629

V. Die Entsprechung in den Handlungsmerkmalen (zweites Gleichstellungskriterium) 1. Die objektive Zurechnung des tatbestandsmäßigen Erfolgs beruht bei den unechten Unterlassungsdelikten darauf, daß an die Stelle der Verursachung des Erfolgs durch positives Tun die Nichtabwendung entgegen einer Garantenpflicht tritt (vgl. oben § 59 I V l ) 7 1 . Neben den reinen Verursachungsdelikten wie Totschlag (§ 212), Körperverletzung (§ 223), Sachbeschädigung (§ 303), fahrlässige Brandstiftung (§ 309) gibt es jedoch Begehungsdelikte, bei denen nicht die Herbeiführung des Erfolgs für sich allein, sondern nur die Herbeiführung auf eine bestimmte Art und Weise tatbestandsmäßig ist. Beispiele: Beim Betrug (§ 263) muß der Vermögensschaden durch „Täuschung", bei der Erpressung (§ 253) durch „Gewalt oder Drohung mit einem empfindlichen Übel" verursacht werden. Die Förderung sexueller Handlungen Minderjähriger (§ 180) setzt ein Vorschubleisten „durch Vermittlung oder durch Gewähren oder Verschaffen von Gelegenheit" voraus. Eine gefährliche Körperverletzung (§ 223 a) liegt nur dann vor, wenn der Gesundheitsschaden „mittels eines gefährlichen Werkzeugs" oder auf andere besonders gefährliche Weise zugefügt wird. Das spezifische Handlungsunrecht besteht bei diesen Strafvorschriften nicht nur in der Verursachung des tatbestandsmäßigen Erfolgs, sondern auch in der Art und Weise der Begehung der Tat. Wie verhält es sich aber in diesen Fällen mit dem Handlungsunrecht der Unterlassungsdelikte, da das bloße Untätigbleiben positive Handlungsmerkmale in der Regel nicht erfüllen kann 7 2 ? § 13 verlangt als zweites Gleichstellungskriterium, daß das Unterlassen der Verwirklichung des gesetzlichen Tatbestands durch ein Tun entsprechen muß. Das spezifische Handlungsunrecht der Nichthinderung des Erfolgs bei den Delikten mit besonderen Handlungsmerkmalen kann dem positiven Tun aber nur dann entsprechen, wenn sich der Erfolg etwa in der vom Tatbestand geforderten Weise, also z.B. durch Täuschung, Zwang, Verschaffung von Gelegenheit, Verwendung eines gefährlichen Werkzeugs oder in gleichwertiger Weise verwirklicht hat ( B G H 28, 300 [307]: das Unterlassen der Entstörung des Fahrtenschreibers ist keine störende Einwirkung i.S. von § 268 I I I ) 7 3 . Allein dies ist der Sinn der Gleichwertigkeitsklausel in § 13 I 7 4 . Dagegen kann das 71

Arzt, JA 1980, 553 spricht von einer „Siebfunktion" der Garantenstellung. Schmidhäuser, Allg. Teil S. 682 schließt in diesen Fällen die Möglichkeit tatbestandsmäßigen Unterlassens überhaupt aus. 73 So eindeutig Ε 1962 Begründung S. 125; unbestimmt dagegen BT-Drucksache V/4095 S. 8. Für Beschränkung der zweiten Gleichwertigkeitsprüfung auf Tatbestände mit über die Erfolgsverursachung hinausgehenden Tatmodalitäten die h.L.; vgl. Gallas, Niederschriften Bd. X I I S. 80; derselbe, ZStW 80 (1968) S. 19f.; Jescheck, Niederschriften Bd. X I I S. 96f.; Blei, Allg. Teil S. 330; Bockelmann/Volk, Allg. Teil S. 142; Jakobs, Allg. Teil 29/7 und 78ff.; 72

Herzberg, Unterlassung S. 66ff.; Armin Kaufmann, Unterlassungsdelikte S. 288; derselbe,

JuS 1964, 177; LK n (Jescheck) § 13 Rdn. 5f.; Kienapfel, ÖJZ 1976, 199f.; Kühl, Allg. Teil § 18 Rdn. 122f.; Roxin, Einführung S. 6f.; Rudolphi, Gleichstellungsproblematik S. 57ff.; Schönke/Schröder/Stree,

§ 13 Rdn. 4; Schünemann, ZStW 96 (1984) S. 313 f.; SK (Rudolphi)

§ 13 Rdn. 18; Stratenwerth, Allg. Teil I Rdn. 1036; Welzel, Lehrbuch S. 219; Eser, Strafrecht I I Nr. 25 A Rdn. 42; Wessels, Allg. Teil Rdn. 730; AE Begründung zu § 12 a.E. Zweifelnd gegenüber der Gleichstellungsformel Baumann/Weber, Allg. Teil S. 252; Schöne, Unterlassene Erfolgsabwendungen S. 338. Abzulehnen ist dagegen die Meinung, daß auch bei den Erfolgsdelikten ohne besondere Handlungsmerkmale noch eine Gleichwertigkeitsprüfung stattzufinden habe; so aber Androulakis, Unterlassungsdelikte S. 219ff.; Kahlo, Pflichtwidrigkeitszusammenhang S. 322; Henkel, MSchrKrim 1961, 178 f.; Arthur Kaufmann/ Η assemer, JuS 1964, 153; Pallin, ZStW 84 (1972) S. 200; WK (Nowakowski) § 2

Rdn. 13; österr. OGH JBl 1972, 276. 74

A b l e h n e n d gegen eine solche allgemein Nitze,

Entsprechungsklausel S. 107 ff.

630

§ 59 D e r Tatbestand des Unterlassungsdelikts

fehlende Handlungsunrecht nicht durch eine „Gesamtbewertung" der Tat aufgewogen werden, weil das zu einer Gefährdung der Rechtssicherheit führen würde . Wo die Merkmale der Entsprechung zu suchen sind, wenn wie etwa beim Betrug der Täter nicht täuscht, sondern nur einen Irrtum aufkommen oder gar nur bestehen läßt, ist zweifelhaft. Man wird jedenfalls sowohl im Unrechts- als auch im Schuldbereich anzusetzen haben, so wenn der Täter den Irrtum selbst (unvorsätzlich) herbeigeführt oder wenn er ein besonders enges Vertrauensverhältnis mißbraucht hat 7 6 . 2. Einzelne Delikte erfordern darüber hinaus das Vorliegen besonderer täterschaftlicher Merkmale. Diese können beim Unterlassungstäter ohne weiteres gegeben sein, wenn es sich um rechtliche Statusmerkmale handelt (z.B. Amtsträger, § § 1 1 1 Nr. 2, 340 oder Arzt, § 278). Dagegen ist bei Delikten, die eine bestimmte Lebensweise voraussetzen (z.B. Zuhälterei, § 181a) oder die nur eigenhändig vorgenommen werden können (vgl. oben § 26 I I 6), eine Unterlassungstäterschaft ausgeschlossen, weil Täter nur sein kann, wer selbst in der inkriminierten Weise lebt bzw. die Tat in eigener Person begeht 77 . Außerdem werden diese Strafvorschriften meist keinen tatbestandsmäßigen Erfolg voraussetzen, sondern sich in einer bloßen Tätigkeit erschöpfen, so daß sie schon deswegen durch reines Unterlassen nicht begangen werden können (vgl. oben § 59 I I I 1). V I . Der Vorsatz bei den Unterlassungsdelikten Auch die für die Begehungsdelikte entwickelten Regeln über den Vorsatz (vgl. oben § 29 III) können auf den Vorsatz bei den Unterlassungsdelikten nicht unmittelbar angewendet werden. Sie bedürfen vielmehr der Anpassung an die Tatsache, daß es an einem vom Verwirklichungswillen getragenen positiven Tun fehlt. Bei den Unterlassungsdelikten ist einmal der objektive Tatbestand und damit der Gegenstand des Vorsatzes anders aufgebaut als bei den Begehungsdelikten, zum anderen muß auch die Struktur des Vorsatzes teilweise anders bestimmt werden 78 . 1. Zum objektiven Tatbestand der Unterlassungsdelikte gehören die tatbestandsmäßige Situation, das Ausbleiben der gebotenen Handlung und die individuelle Handlungsfähigkeit in der konkreten Situation ( B G H NJW 1953, 1838; O L G Köln NJW 1973, 861). Bei den unechten Unterlassungsdelikten treten außerdem der tatbestandsmäßige Erfolg und die an Sicherheit grenzende Wahrscheinlichkeit seiner Abwendbarkeit hinzu. Zweifelhaft war lange die Frage, ob ferner auch die 75 § 13 In dieser Richtung Blei, Allg. Teil S. 331; Arzt, JA 1980, 717; Dreh er/Tröndle, Rdn. 17; Lackner, § 13 Rdn. 16; AK (Schild) Vorbem. 194 vor § 13; OLG Karlsruhe MDR 1975, 771. 76 Vgl. LK 11 (Jescheck) § 13 Rdn. 5; Roxin,, Einführung S. 7; Jakobs, Allg. Teil 29/78 ff. (mit Beispielen); Stratenwerth, Allg. Teil I Rdn. 1036; Runte, Jura 1989, 130 ( „Nichtauf klärung des Vertragspartners über eine entscheidende Veränderung der Sachlage entspricht einer Täuschungshandlung" ). 77 Vgl. Armin Kaufmann, Unterlassungsdelikte S. 288; Rudolphi, Gleichstellungsproblematik S. 63; SK (Rudolphi) § 13 Rdn. 10.

78 Die Auffassung von Armin Kaufmann, Unterlassungsdelikte S. 66ff., 110 ff., 309 ff.; derselbe, v.Weber-Festschrift S. 218 ff. und Welzel, Lehrbuch S. 205, daß es bei den Unterlassungsdelikten wegen der fehlenden Finalität überhaupt keinen Vorsatz gebe, ist überholt; vgl. Grünwald, H. Mayer-Festschrift S. 286ff.; LK n (Jescheck) Vorbem. 96 vor § 13; Roxin, ZStW 74 (1962) S. 530; SK (Rudolphi) Vorbem. 21 ff. vor § 13; Spendel JZ 1973, 141; Ja-

kobs, Allg. Teil 29/82; Schönke /Schröder/Gramer,

Rdn. 216ff.; Stratenwerth,

§ 15 Rdn. 93; LK h

(Schroeder)

Allg. Teil I Rdn. 1037. Vgl. ferner BGH NJW 1992, 583.

§ 16

VI. D e r s t

bei den Unterlassungsdelikten

631

Garantenpflicht zum objektiven Tatbestand des Unterlassungsdelikts zu zählen sei (so früher für die unechten Unterlassungsdelikte B G H 2, 150 [155]; 3, 82 [89]; 4, 327 [331]; 5, 187 [189]; 14, 229 [232]; für die echten Unterlassungsdelikte RG 52, 99 [102]; 75, 160 [163]; B G H GA 1959, 87 [89]; B G H JZ 1958, 506 [508]). Zum Tatbestand der unechten Unterlassungsdelikte gehören jedoch nur die Merkmale der Garantenstellung, nicht aber die daraus folgende Handlungspflicht selbst; diese ist ebenso Bestandteil der Rechtswidrigkeit wie die Unterlassungspflicht bei den Begehungsdelikten (BGH 16, 155 [158]) . Auf der gleichen Linie liegt die für die echten Unterlassungsdelikte getroffene Unterscheidung zwischen dem im Tatbestand umschriebenen Sachverhalt, an den sich die Rechtspflicht zum Handeln knüpft, und der Handlungspflicht selbst, die nicht zum Tatbestand gehört (BGH 19, 295 [298]) 80 . 2. Inhalt des Vorsatzes bei den Begehungsdelikten ist das Wissen und Wollen der zum gesetzlichen Tatbestand gehörenden objektiven Merkmale (vgl. oben § 29 I I 2). Das Wollen liegt dabei in der Steuerung des aktiven Tuns, wobei der Täter sich mit der Verwirklichung des gesetzlichen Tatbestandes mindestens abfindet, das Wissen liegt darin, daß der Täter die Verwirklichung des gesetzlichen Tatbestandes mindestens ernstlich für möglich hält (vgl. oben § 29 I I I 3 a). Die Frage ist, ob es bei der Unterlassung eine vergleichbare Beziehung des Täters zum objektiven Tatbestand gibt 8 1 . a) Es kann sein, daß der Unterlassungstäter angesichts der tatbestandsmäßigen Situation und im Bewußtsein der eigenen Handlungsfähigkeit geradezu den Entschluß faßt, untätig zu bleiben 82 . Beispiele: Der diensthabende Arzt entscheidet, daß ein Schwerverletzter bei Nacht in das Krankenhaus nicht aufzunehmen sei, weil kein Bett mehr frei ist (OLG Köln NJW 1957, 1609 [1610]). Der Taxifahrer, der mehrere junge Leute und ein Mädchen an einen einsamen Feldweg gefahren hat, entschließt sich, eine in seinem Wagen stattfindende Vergewaltigung nicht zu verhindern, um „mit der Sache nichts zu tun zu haben" (BGH 16, 155 [159]). In diesen Fällen lassen sich Wissen und Wille ebenso feststellen und unterscheiden wie beim Begehungsdelikt. Der Arzt will den Patienten, der Taxifahrer will das Notzuchtopfer seinem Schicksal überlassen, und beide wissen auch genau, was vorgeht. 79

Ebenso die h.L.; vgl. Androulakis, Unterlassungsdelikte S. 253ff.; Blei y Allg. Teil S. 335;

Baumann/Weher

y

Allg. Teil S. 240f.; Dreher/Tröndle,

§ 16 Rdn. 12; Armin Kaufmann, Un-

terlassungsdelikte S. 129ff, 306ff.; Arthur Kaufmann, JZ 1963, 504ff.; Lackner y § 15 Rdn. 7; Maurach/Gössel/Zipf Allg. Teil II § 46 Rdn. 82 ff.; Schaffstein, Göttinger Festschrift S. 198 ff.; Schönke/Schröder/Gramer, § 15 Rdn. 94; Wessels., Allg. Teil Rdn. 732; WK (Nowakowski) § 2 Rdn. 32. Stratenwerth, Allg. Teil I Rdn. 1039 verlangt auch bezüglich der Garantenpflicht eine „Parallelwertung in der Laiensphäre" in dem Sinne, daß dem Unterlassenden mindestens bewußt sein muß, „die Verantwortung für einen bestimmten Sachbereich zu tragen". Dagegen rechnen Kohlrausch/Lange, System. Vorbem. II 3 und E. A. Wolff Kausalität S. 49 ff. auch die Garantenpflicht zum Tatbestand. 80

81

So die h . L , vgl. Geilen, JuS 1965, 427; Welzel, NJW 1953, 329.

Gleichheit von Begehungs- und Unterlassungsvorsatz nimmt an Lampey ZStW 72 (1960) S. 99; derselbe, ZStW 79 (1967) S. 508 ff. 82 Daß es diese Möglichkeit, an die die Interferenztheorien für die Kausalität der Unterlassung anknüpften, wirklich gibt, ist überwiegende Meinung; vgl. Bockelmann/Volk, Allg. Teil S. 143; Engisch, JZ 1962, 190; Hardwig, ZStW 74 (1962) S. 34; Lampe, ZStW 72 (I960) S. 98 ff.; Maurach/Gössel/Zipf, Allg. Teil II § 46 Rdn. 120; LK 11 (Jescheck) § 13 Rdn. 96; H. Mayer, Grundriß S. 81; Roxin, ZStW 74 (1962) S. 530; Schultz, SchwZStr 77 (1961) S. 209; E. A. Wolff Kausalität S. 47f.; Stratenwerth, Allg. Teil I Rdn. 1042.

§ 59 D e r Tatbestand des Unterlassungsdelikts

632

b) Ein eigentlicher Entschluß, den Dingen angesichts einer gefährlichen Entwicklung ihren Lauf zu lassen, ist jedoch nicht immer nachweisbar 83. Er fehlt insbesondere dann, wenn die tatbestandsmäßige Situation keine dramatische Zuspitzung erfährt, sondern allmählich heranreift und der Unterlassungstäter sich gerade zu keinem Entschluß aufraffen kann. Beispiele: Die Ehefrau entdeckt nach und nach, daß ihr Mann mit dem Plan eines Bankraubs umgeht. Als er eines Morgens mit einem Schraubenhammer das Haus verläßt, denkt sie bei sich: „Jetzt macht er was", sagt aber nichts (BGH 19, 295 [296]). Die Ehefrau erkennt mit der Zeit, daß ihr Geliebter dem Ehemann nach dem Leben trachtet, unternimmt aber nichts, um den Mord zu verhindern (nach RG 73, 52). In derartigen Fällen kann von einem als Willensentscheidung verstehbaren Entschluß zum Untätigbleiben schwerlich die Rede sein. Vielmehr erschöpft sich der Vorsatz in der Kenntnis der tatbestandsmäßigen Situation und dem Bewußtsein der eigenen Handlungsfähigkeit. Eine Beteiligung des Willens an der Unterlassung ist nicht mehr gegeben. Deswegen ist bei dieser Vorsatzart auch keine „Absicht" möglich (vgl. oben § 29 I I I l ) 8 4 . Es eenüet in diesen Fällen, wenn dem Unterlassenden wenigstens am Rande bewußt wird 8 , was geschieht und was er tun sollte und auch könnte (BGH G A 1968, 336), so wie z.B. die Ehefrau des Bankräubers ahnt, was bevorsteht, und sich sagt, daß sie wenigstens versuchen müßte, den Mann von seinem Verbrechensplan abzubringen (§ 139 III). Absichtsdelikte wie der Betrug (§ 263) sind gleichwohl möglich, wenn sich der Täter nämlich dazu entschließt, einen bestimmten Irrtum nicht aufzuklären, um den ihm aus der Vermögensverfügung des Irrenden zufließenden Vorteil zu erlangen 86. Die Schwierigkeit liegt, wenn ein Entschluß fehlt, vor allem in der Abgrenzung des bedingten Vorsatzes von der bewußten Fahrlässigkeit, weil ein eigentlicher Willensruck, in den die Möglichkeit der Tatbestandsverwirklichung aufgenommen werden könnte, gar nicht stattfindet (vgl. oben § 29 I I I 3 a). Maßgebend ist bei dieser Sachlage die Vorstellung des Unterlassenden von der tatbestandsmäßigen Situation, der Garantenstellung und der Handlungsmöglichkeit (BGH Holtz, M D R 1984, 795) sowie die persönliche Einstellung zu dem Geschehensablauf: Hält der Unterlassende die Tat ernstlich für möglich und findet er sich mit der Verwirklichung des Tatbestandes ab wie die Ehefrau des Bankräubers, so ist bedingter Vorsatz anzunehmen; hat er darauf vertraut, daß der andere vor der Tat doch letztlich zurückschrecken werde, wie möglicherweise die Ehefrau des Ermordeten, so kommt nur bewußte Fahrlässigkeit in Betracht 87 . 3. Der herrschenden Meinung steht die schon oben § 59 VI Fußnote 78 abgelehnte Lehre gegenüber, daß es bei den Unterlassungsdelikten überhaupt keinen Vorsatz gebe, sondern 83 Vgl. Grünwald, H. Mayer-Festschrift S. 285 ff.; Bedenken jedoch bei Nowakowski, JBl 1972, 32. 84 So Grünwald, H. Mayer-Festschrift S. 289. Den Unterlassungsvorsatz leugnet Armin Kaufmann, Unterlassungsdelikte S. 126 überhaupt. 85 Vgl. Bockelmann/Volk, Allg. Teil S. 144; Grünwald, H. Mayer-Festschrift S. 294f.; Jakobs, Allg. Teil 29/87; Platzgummer, Bewußtseinsform S. 63 ff., 82 ff.; Schaffstein, Göttinger Festschrift S. 201 Fußnote 67; Maurach/Gössel/Zipf Allg. Teil II § 46 Rdn. 113; Wessels, Allg. Teil Rdn. 732. Dagegen verlangen Stratenwerth, Allg. Teil I Rdn. 1045 und SK (Rudolphi) Vorbem. 24 vor § 13 nur die Vorstellung, daß generell eine Rettungsmöglichkeit gegeben sein könnte. 86 So auch Schönke/Schröder/Gramer, § 15 Rdn. 98; SK (Rudolphi) Vorbem. 27f. vor § 13; Maaß, Betrug verübt durch Schweigen S. 7f. 87

Vgl. SK (Rudolphi) Vorbem. 26 vor § 13; Schönke/Schröder /Cramer,

Stratenwerth,

Allg. Teil I Rdn. 1048.

§ 15 Rdn. 98;

V I I . D i e Fahrlässigkeit bei den Unterlassungsdelikten

633

daß hier das Handlungsunrecht auf andere Weise bestimmt sei: nämlich durch das Fehlen des Entschlusses, die gebotene Handlung vorzunehmen, bei Erkennbarkeit der tatbestandsmäßigen Situation und der Rettungsmöglichkeit88. Dagegen spricht jedoch, daß ein reines Negativum den Vorsatz nicht ersetzen könnte. Wenn der Unterlassungstäter sich die gebotene Handlung nicht wenigstens „am Rande des Bewußtseins" vorgestellt hat, kann er höchstens fahrlässig gehandelt haben89. V I I . Die Fahrlässigkeit bei den Unterlassungsdelikten 1. Fahrlässige „Begehung" kommt auch bei Unterlassungsdelikten in Betracht. Bei den echten Unterlassungsdelikten ist Fahrlässigkeit im Strafgesetzbuch in einigen Fällen unter Strafe gestellt (z.B. §§ 138 III, wo aber immerhin Kenntnis von der bevorstehenden Tat verlangt wird; 283 V Nr. 1 i.Verb.m. Abs. 1 Nr. 5; 326 IV i.Verb.m. Abs. 2) 9 0 . Gesetzlich geregelte unechte Unterlassungsdelikte, für die Fahrlässigkeit genügt, sind die Gefährdung des Straßenverkehrs durch Nichtkenntlichmachen von haltenden oder liegengebliebenen Fahrzeugen (§ 315 c I Nr. 2 g i.Verb. m. Abs. 3) und die mangelhafte Dienstaufsicht (§ 41 I I I WStG). Dabei wurde früher Kenntnis der tatbestandsmäßigen Situation verlangt (so in §§ 121 II, 347 I I a.F.), nach geltendem Recht genügt jedoch auch insoweit Fahrlässigkeit (so in § 315c I I I Nr. 2 und in § 41 I I I WStG). Die im Gesetz nicht geregelten unechten Unterlassungsdelikte können immer dann durch Fahrlässigkeit begangen werden, wenn der entsprechende Begehungstatbestand Fahrlässigkeit genügen läßt (z.B. §§ 222, 230, 309, 345 II). 2. Die Struktur der Fahrlässigkeit ist bei den Unterlassungsdelikten im Prinzip die gleiche wie bei den Begehungsdelikten (vgl. oben § 54 I 3 und 4), es ergeben sich aber besondere Möglichkeiten der Fahrlässigkeit 91. Beispiele: Der Sorgfaltsmangel kann sich beziehen auf die Erkenntnis der tatbestandsmäßigen Situation (der Geschäftsführer der GmbH erkennt den Eintritt der Zahlungsunfähigkeit nicht, § 84 GmbHG) oder auf die Prüfung der eigenen Handlungsfähigkeit (der Fahrer des liegengebliebenen Fahrzeugs denkt nicht daran, daß er ein Warndreieck mitführt, § 315 c Nr. 2 g, III). In Betracht kommt ferner mangelhafte Ausführung der Rettungshandlung selbst (der Mitwisser des Verbrechensplans denkt nicht an telefonische Übermittlung der Anzeige, §138 III; der Bademeister wirft dem ertrinkenden Kind einen Rettungsring zu, statt selbst ins Wasser zu springen; der Freund versorgt selbst den durch Schlafmittel Vergifteten, zieht aber keinen Arzt zu [AG Duisburg MDR 1971, 1027]; der Mitbewohner kommt nicht auf die Idee, sich wegen der lebensgefährlichen Vernachlässigung eines Kleinkindes an das 88 So Armin Kaufmann, Unterlassungsdelikte S. 66ff., 110 ff., 309ff.; derselbe, v. WeberFestschrift S. 218 ff.; Welzel, Lehrbuch S. 201. 89 Vgl. das Beispiel von Grünwald, H. Mayer-Festschrift S. 293. Vgl. aber auch die Bedenken von Geilen, JuS 1965, 428 gegen die Prämiierung des völlig gleichgültigen Unterlassungstäters. Wie der Text jedoch Stratenwerth, Allg. Teil I Rdn. 1045; LK (Schroeder) § 16 Rdn. 216ff.; Schönke/Schröder/Gramer, § 15 Rdn. 94; SK (Rudolphi) Vorbem. 24 vor § 13; Schmidhäuser, Allg. Teil S. 694. 90 Häufiger sind diese Fälle im Nebenstrafrecht (vgl. z.B. §401 II AktG; §84 II GmbHG; § 21 II Nr. 1 i.Verb.m. Abs. 1 Nr. 2 StVG) und sehr häufig im Ordnungswidrigkeitenrecht (vgl. z.B. § 32 I Nr. 1, 3, 7, 10 - 13 BtMG; § 46 I Nr. 5 AtomG). 91 Vgl. Armin Kaufmann, Unterlassungsdelikte S. 172 ff. (unter Beschränkung der Unterlassungsfahrlässigkeit auf den fehlgeschlagenen Gebotserfüllungsversuch); LK 1 (Jescheck) § 13 Rdn. 97; Lackner, § 15 Rdn. 54; Schmidhäuser, Allg. Teil S. 695; Welzel, Lehrbuch S. 207, 222f.; Struensee, JZ 1977, 217ff.; Fünfsinn, Aufbau S. 48ff.; Hruschka, BockelmannFestschrift S. 424ff.; Jakobs., Allg. Teil 29/93f.; Schöne, JZ 1977, 157ff.; Schönke/Schröder/

Cramer, § 15 Rdn. 143.

634

§ 59 D e r Tatbestand des Unterlassungsdelikts

Jugendamt zu wenden [BGH NStZ 1985, 122], § 222)92. Die Fahrlässigkeit kann sich endlich bei den unechten Unterlassungsdelikten auf den bevorstehenden Eintritt des tatbestandsmäßigen Erfolgs beziehen (die Mutter, die ein Kleinkind 24 Stunden unversorgt läßt, denkt nicht daran, daß es dadurch einen Gesundheitsschaden davontragen könnte, § 230). Dies ist vor allem für die erfolgsqualifizierten Delikte von Bedeutung (vgl. oben § 54 III 2). Schließlich kann sich die Fahrlässigkeit auch auf das Bestehen der Garantenstellung beziehen93. Beispiel: Die Lehrerin, die einem gefährlichen Kletterspiel von Kindern, bei dem eines später tödlich verunglückt, vom Lehrerzimmer aus zusieht, handelt fahrlässig, wenn sie nicht prüft, ob es sich um Kinder der eigenen Schule handelt, denen sie das Spiel verbieten müßte. V I I I . Die Zumutbarkeit bei den Unterlassungsdelikten 1. Wie beim Begehungsdelikt (vgl. oben § 33 V la) kann auch beim Unterlassungsdelikt die Handlungspflicht mit einer Unterlassungspflicht in der Weise zusammentreffen, daß dem Täter keine andere Wahl bleibt, als entweder die eine oder die andere zu verletzen. In diesem Falle ist der Täter durch rechtfertigende Pflichtenkollision gedeckt, wenn er die höherrangige Pflicht erfüllt. Um ein Problem der Zumutbarkeit handelt es sich dabei nicht. Beispiel: Der Geistliche, dem sich der Täter als Seelsorger anvertraut hatte, unterläßt mit Rücksicht auf das Beichtgeheimnis die Anzeige bevorstehender Mordtaten eines Triebverbrechers (§ 139 II). Um eine Problem der Zumutbarkeit geht es ebenfalls nicht bei der Konkurrenz gleichwertiger Handlungs- und Unterlassungspflichten (vgl. im einzelnen oben § 33 V 1 b, c). 2. Die Unzumutbarkeit normgemäßen Verhaltens läßt jedoch bei einzelnen echten Unterlassungsdelikten schon die Handlungspflicht und damit den Tatbestand entfallen (vgl. oben § 47 I I 3 c). So gilt für die unterlassene Hilfeleistung (§ 323 c) die Einschränkung, daß niemand eine ernstliche Selbstgefährdung oder eine andere beträchtliche Einbuße hinnehmen muß, um seiner Hilfspflicht zu genügen 94 . So ist von der Anzeigepflicht nach § 138 befreit, wer im Verdacht steht, an dem Verbrechen oder seiner Planung beteiligt gewesen zu sein (BGH FamRZ 1964, 416 [418]) 95 . Die Begrenzung der Handlungspflicht durch die Unzumutbarkeit ist hier also durch den Tatbestand vorgegeben 96. Die zu §§ 138 und 323 c 92

Wer bewußt weniger tut als zur Rettung erforderlich ist, handelt vorsätzlich; vgl. den von Stratenwerth, Allg. Teil I Rdn. 1049 angeführten Fall Schweiz. BGE 73 IV 164 (vorsätzliche Tötung, wenn die Mutter bei dem durch ihre Mißhandlungen bewußtlosen Kind nur untaugliche Hausmittel anwendet, weil sie Aufklärung des Geschehens durch den A r z t fürchtet). 93 Dagegen Welzel, Lehrbuch S. 223. 94 Zu beachten ist jedoch die strenge Auslegung der Zumutbarkeit in den Fällen, in denen der Unterlassungstäter den Unfall mit verursacht hat (BGH GA 1956, 120 [121]; BGH 11, 353 [354f.]: die Gefahr der Strafverfolgung wird nicht als Unzumutbarkeitsgrund anerkannt). Zustimmend SK (Rudolphi) Vorbem. 33 vor § 13; Ulsenheimer, G A 1972, 22 ff. 95 Kritisch dazu Geilen, FamRZ 1964, 386ff. 96

Ebenso Dreher/Tröndle,

§ 13 Rdn. 16 a.E.; Frellesen, Zumutbarkeit S. 21 Iff.; Grünhut,

ZStW 51 (1931) S. 467; Henkel, Mezger-Festschrift S. 280f.; Lackner, § 13 Rdn. 5; H. Mayer, Lehrbuch S. 119; Schönke/Schröder/Stree, Vorbem. 155 vor § 13. Für Rechtfertigung Jakobs, Allg. Teil 29/98; Fornasari, II principio di inesigibilità S. 314; Küper, Grund- und Grenzfragen S. 97ff.; Schmidhäuser, Allg. Teil S. 690. Für Entschuldigungsgrund Baumann/ Weber, Allg. Teil S. 455; Peters, JZ 1966, 458; SK (Rudolphi) Vorbem. 31 vor § 13; Straten-

werth, Allg. Teil I Rdn. 1054f.; Welzel, Lehrbuch S. 220f.; derselbe, JZ 1958, 495f.; Wessels, Allg. Teil Rdn. 731.

V I I . Die

arkeit bei den Unterlassungsdelikten

635

entwickelten Grundsätze können jedoch nicht auf alle Unterlassungsdelikte übertragen werden, nicht einmal auf alle echten 97 . Beispiele: Der verfolgte Verbrecher kann gegenüber der Aufforderung des Hausherrn, sich zu entfernen (§123 I zweite Alternative), nicht auf die Gefahr der Verhaftung verweisen. Der Kraftfahrer, der sein liegengebliebenes Fahrzeug nicht kenntlich macht (§ 315c I Nr. 2 g), kann nicht einwenden, daß ihm das Zurückgehen an der Autobahn zu gefährlich gewesen sei. 3. Bei den unechten Unterlassungsdelikten hat die Rechtsprechung in einigen Entscheidungen den Gedanken der Unzumutbarkeit als allgemeines Prinzip der Begrenzung der Garantenpflicht verwendet (RG 58, 97 [98]; 226 [227]; 69, 321 [324]; 77, 125 [127]; B G H 6, 46 [57f.]; 7, 268 [271]; B G H NJW 1964, 731 [732]; B G H NStZ 1984, 164 [Zumutbarkeit der Anzeige des Ehemanns hier aber bejaht]; B G H NStZ 1994, 29; O L G Karlsruhe M D R 1975, 771), jedoch zu Unrecht, denn den Garanten trifft die Pflicht zur Erfolgsabwendung in gleicher Weise wie den Begehungstäter die Pflicht, den Erfolg nicht durch positives Tun herbeizuführen. Die Gleichwertigkeit liegt in der Garantenstellung des Unterlassungstäters und bei besonderen Handlungsmerkmalen in der nach § 13 I zw. Halbs, erforderlichen Entsprechung. Der beim Unterlassungsdelikt regelmäßig gegebenen Minderung des Schuldgehalts der Tat ist durch die fakultative Strafmilderung bereits Rechnung getragen (vgl. oben § 58 V 1). Deswegen kann die Unzumutbarkeit beim Garanten auch nur im Rahmen des entschuldigenden Notstands (§ 35) berücksichtigt werden 98 . 4. Zur Unzumutbarkeit der Rettungshandlung aus Gewissensgründen oben § 47 III. § 60 Unrechtsbewußtsein und Gebotsirrtum, Versuch und Teilnahme bei den Unterlassungsdelikten Baumgarten, Die Lehre vom Versuche der Verbrechen, 1888; Börker, Der Irrtum des Unterlassungstäters über die Rechtspflicht zum Handeln, JR 1956, 87; Busch, Über die Abgrenzung von Tatbestands- und Verbotsirrtum, Festschrift für E. Mezger, 1954, S. 165; Frank, Vollendung und Versuch, VDA, Bd. V, S. 165; Fuhrmann, Der Irrtum über die Garantenpflicht usw., G A 1962, 161; S. Glaser, Der Versuch des Unterlassungsdelikts, MSchrKrim 1935, 254; Grünwald, Der Versuch des unechten Unterlassungsdelikts, JZ 1959, 46; Herdegen, Der Verbotsirrtum in der Rechtsprechung des BGH, in: 25 Jahre Bundesgerichtshof, 1975, S. 195; Herzherg, Der Versuch beim unechten Unterlassungsdelikt, MDR 1973, 89; Lönnies, Rücktritt und tätige Reue beim unechten Unterlassungsdelikt, NJW 1962, 1950; Maihof er, Der Versuch der Unterlassung, G A 1958, 289; D. Meyer, Anstiftung zum Unterlassen, MDR 1975, 286; J. Meyer, Kritik an der Neuregelung der Versuchsstrafbarkeit, ZStW 87 (1975) S. 598; Oehler, Konkurrenz von unechtem und echtem Unterlassungsdelikt, JuS 1961, 154; Oppel, Versuch beim Unterlassungsdelikt, Diss. Wien 1991; Roxin, Der Anfang des beendeten Versuchs, Festschrift für R. Maurach, 1972, S. 213; derselbe, Täterschaft und Tatherrschaft, 6. Auflage 1994; Rudolphi, Die Strafbarkeit des versuchten unechten Unterlassungsdelikts, MDR 1967, 1; Schmidhäuser, Gesinnungsethik und Gesinnungsstrafrecht, Festschrift für W. Gallas, 1973, S. 81; Stree, Teilnahme am Unterlassungsdelikt, GA 1963, 1; Vogler, Zur Bedeutung des § 28 StGB usw., Festschrift für R. Lange, 1976, 265; 97

98

LK n

(Jescheck) § 13 Rdn. 98.

Ebenso Blei, Allg. Teil S. 336; Jakobs, Allg. Teil 29/98; Maurach/Gössel/Zipf, Allg. Teil II § 46 Rdn. 136. Die generelle Anwendung des Zumutbarkeitsprinzips im Sinne einer (unkontrollierbaren) Interessenabwägung vertreten dagegen Dreher/Tröndle, § 13 Rdn. 16; Lackner, § 13 Rdn. 5; Schönke/Schröder/Stree,

bem. 31 vor § 13.

Vorbem. 156 vor § 13; SK (Rudolphi) Vor-

636

§ 60 Unrechtsbewußtsein, G e b o t s i r r t u m usw. bei den Unterlassungsdelikten

Zachariä, Die Lehre vom Versuche der Verbrechen, Teil I, 1836; Zaczyk, Das Unrecht der versuchten Tat, 1989. Vgl. ferner die Schrifttumsangaben vor §§ 58, 59. I. Unrechtsbewußtsein und Gebotsirrtum 1. Gegenstand des Unrechtsbewußtseins ist bei den Begehungsdelikten das rechtliche Verbot einer bestimmten Handlung: der Täter muß wissen, daß er die betreffende Handlung von Rechts wegen nicht vornehmen darf (vgl. oben § 41 I 3 a). Bei den Unterlassungsdelikten bezieht sich das Unrechtsbewußtsein dagegen auf das rechtliche Gebot, eine bestimmte Handlung vorzunehmen: der Täter muß wissen, daß er die betreffende Handlung von Rechts wegen nicht unterlassen darf. Ist somit der Bezugspunkt des Unrechtsbewußtseins bei den beiden Grundtypen der strafbaren Handlung verschieden, so ist doch die Struktur die gleiche. Alle bei den Begehungsdelikten gemachten Ausführungen gelten daher hier entsprechend (vgl. oben § 41 I und II). 2. Bei den Unterlassungsdelikten liegt ein - dem Verbotsirrtum beim Begehungsdelikt entsprechender - Gebotsirrtum dann vor, wenn der Täter sich über seine Handlungspflicht irrt: er verkennt die Gebotsnorm, aus der sich die materielle Rechtswidrigkeit seines Untätigbleibens ergibt. Der Gebotsirrtum bei den Unterlassungsdelikten betrifft ebenso wie der Verbotsirrtum bei den Begehungsdelikten nicht den Tatbestand, sondern die Rechtswidrigkeit. Denn zum Tatbestand des echten Unterlassungsdelikts gehört nur die tatbestandsmäßige Situation, nicht jedoch die sich daraus ergebende Handlungspflicht (BGH 19, 295 [298]; 25, 13 [18]), zum Tatbestand des unechten Unterlassungsdelikts gehören nur die Merkmale der Garantenstellung, nicht die Garantenpflicht selbst (BGH 16, 155 [158]); B G H GA 1968, 336) (vgl. oben § 59 V I 1). Daraus folgt, daß Verbotsirrtum und Gebotsirrtum gleich zu behandeln sind 1 . Die Ausführungen zum Verbotsirrtum, insbesondere über den anzuwendenden § 17, gelten also für den Gebotsirrtum ebenfalls entsprechend (vgl. oben § 41 I I 2 a). 3. Lediglich für die Vermeidbarkeit des Gebotsirrtums müssen besondere Regeln aufgestellt werden. Einmal versteht sich die Pflicht zum Handeln nicht in gleichem Maße von selbst wie die Pflicht zum Unterlassen. Deswegen ist bei den Unterlassungsdelikten die Möglichkeit eines Gebotsirrtums häufiger in Erwägung zu ziehen als bei den Begehungsdelikten (vgl. oben § 41 I 4). Zum andern ist die rechtliche Verpflichtung zum Tätigwerden zwecks Verhütung eines Schadens vielen Menschen weniger bekannt als die Pflicht zur Unterlassung schädigenden Verhaltens. Anders als bei den Begehungsdelikten, bei denen schon aus dem Wissen um die Tatbestandsverwirklichung der Appell zur Prüfung der Rechtswidrigkeit folgt, muß daher in der Regel ein besonderer Anlaß für den Unterlassungstäter bestehen, sich die Gebotsnorm vor Augen zu führen (vgl. B G H 19, 295 [299]) 2 . Endlich 1

Blei, Allg. Teil S. 335f.; Bockelmann/Volk,

Busch, Mezger-Festschrift S. 179; Dreher/Tröndle,

Allg. Teil S. 154; Börker, JR 1956, 87ff.;

§ 16 Rdn. 12; Fuhrmann, G A 1962,

170ff.; Herdegen, BGH-Festgabe S. 198 f.; Jakobs, Allg. Teil 29/89; Armin Kaufmann, Unterlassungsdelikte S. 140; Arthur Kaufmann, JZ 1963, 504; Kühl, Allg. Teil § 18 Rdn. 129; Maurach/Gössel/Zipf, Allg. Teil II §46 Rdn. 140; Preisendanz, § 13 Anm. IV 2; SK (Rudolphi) Vorbem. 25 vor § 13; Schönke/Schröder /Cramer,

§ 15 Rdn. 96; Welzel,

Lehrbuch

S. 206, 219f.; Wessels, Allg. Teil Rdn. 741. Dagegen verlangen schon für den Vorsatz das Bewußtsein der Pflicht Schmidhäuser, Allg. Teil S. 694f.; Stratenwerth, Allg. Teil I Rdn. 1039 (im Sinne der Parallelwertung in der Laiensphäre). 2

LK n

(Jescheck) V o r b e m . 100 v o r § 13; Wessels, A l l g . T e i l Rdn. 741.

I I . D e r Versuch der Unterlassung

637

ergibt sich bei den unechten, gesetzlich nicht geregelten Unterlassungsdelikten die Gebotsnorm nicht allein aus dem strafrechtlichen Verbot, ein bestimmtes Rechtsgut zu beeinträchtigen, sondern erst aus einer nicht dem Strafrecht angehörenden Pflichtnorm, zum Schutze eines gefährdeten Rechtsguts durch positives Tun einzugreifen. Der Irrtum des Unterlassungstäters kann sich hier also sowohl auf die strafrechtliche Verbotsnorm als auch auf die Garantenpflicht beziehen. Beispiele: Der Irrtum des in seiner Freizeit angelnden Arztes über die Rechtspflicht zur Unfallhilfe (§ 323 c) ist Gebotsirrtum und vermeidbar, da sich die Hilfspflicht, gerade wenn ärztliches Handeln erforderlich ist, von selbst versteht (BGH 2, 296). Dagegen wird man der Ehefrau, die wegen Aussichtslosigkeit gar nicht erst den Versuch macht, ihren Mann nach § 139 I I I 1 von dem geplanten Bankraub abzubringen (BGH 19, 295 [296, 299]), ihren Irrtum über die Handlungspflicht, sofern man diese überhaupt bejaht, nicht vorwerfen können3. Der Taxifahrer (vgl. oben § 59 VI 2 a) dagegen kennt nicht nur das Notzuchtverbot, sondern die Schwere des vor seinen Augen verübten Verbrechens, in das er seinen Fahrgast hineingeführt hatte, mußte ihm Anlaß sein, sich auch über seine Pflicht zum Eingreifen klar zu werden (BGH 16, 155 [156]). II. Der Versuch der Unterlassung Die Frage, ob es bei den vorsätzlichen Unterlassungsdelikten auch die Stufe des Versuchs geben kann, ist in der Strafrechtswissenschaft schon früh gestellt und jedenfalls für das unechte Unterlassungsdelikt, überwiegend bejaht worden 4 . Heute nimmt die h.L. an, daß ein Versuch sowohl beim echten als auch beim unechten Unterlassungsdelikt in Betracht kommt, und zwar sowohl in der Form des tauglichen als auch des untauglichen Versuchs 5. 1. Da, abgesehen von § 138, jede Verzögerung der gebotenen Handlung (vgl. zu § 323c B G H 14, 213 [215f.]; 17, 166 [169f.]) bereits die Vollendung der Tat darstellt, ist bei den echten Unterlassungsdelikten ein Versuch nur in Gestalt des untauglichen Versuchs denkbar. Strafvorschriften, in denen auch der Versuch eines echten Unterlassungsdeliktes unter Strafe gestellt ist, sind selten. In Betracht kommt einmal die Rechtsbeugung (§ 336). Sie kann durch Unterlassen rechtlich gebotener Handlungen begangen werden ( B G H 10, 294 [298]); der Versuch ist mit 3

§ 139 Rdn. 5 wird die Handlungspflicht auch bei AussichtslosigVon Dreher/Tröndle, keit bejaht, während sie Geilen, JuS 1965, 430 entschieden verneint. 4 Vgl. Zachariä, Die Lehre vom Versuche S. 66ff.; J. Baumgarten, Die Lehre vom Versuche S. 438; Landsbergy Die Commissivdelikte durch Unterlassung S. 172; v. Liszt , Lehrbuch 12./13. Auflage S. 207; Frank, VDA Bd. V S. 209f.; derselbe, § 43 Anm. V 1; S. Glaser, MSchrKrim 1935, 258; Sauer, GS 114 (1940) S. 304. 5 So Baumann/Webery Allg. Teil S. 482; Grünwaldy JZ 1959, 46ff.; Jakobsy Allg. Teil 29/ 113; LK 11 (Jescheck) § 13 Rdn. 46; KUhly Allg. Teil § 18 Rdn. 142; Maihofer y GA 1958, 289 ff.; Maurach/Gössel/Zipf y Allg. Teil I I § 40 Rdn. 101; Oehler y JuS 1961, 154; Schönke/ Schröder/Eser y Vorbem. 27 vor § 22; SK (Rudolphi) Vorbem. 50 vor § 13; LK 10 (Vogler) Vorbem. 60 vor § 22; Stratenwerth y Allg. Teil I Rdn. 1057; Wessels y Allg. Teil Rdn. 743 f.; Zaczyky Das Unrecht der versuchten Tat S. 319. Dagegen gibt es nach Armin Kaufmann Unterlassungsdelikte S. 204 ff. und Welzel, Lehrbuch S. 206, 221 nur eine Unterlassung des Erfüllungsversuchs als ein den Unterlassungsdelikten eigentümliches Phänomen, das dem beendeten untauglichen Versuch gleichzustellen sei. Zustimmend Haffke, ZStW 87 (1975) S. 58. Für Straflosigkeit des untauglichen Unterlassungsversuchs Rudolphi, MDR 1967, 2 ff.; SK (Rudolphi) Vorbem. 55 vor § 13; Schmidhäuser, Allg. Teil S. 716; derselbey Gallas-Festschrift S. 96f. (Wahndelikt); hiergegen jedoch zu Recht BGH 38, 356 (359f.); Kühly Allg. Teil § 18 Rdn. 151; AK (Seelmann) § 13 Rdn. 85. Überhaupt für Straflosigkeit des Versuchs beim Unterlassungsdelikt Herzbergy MDR 1973, 89 f. (Gesinnungsstrafrecht). Zurückhaltung übt beim Unterlassungsversuch die österreichische Rechtsprechung; vgl. dazu Oppel, Versuch S. 35.

638

§ 60 Unrechtsbewußtsein, G e b o t s i r r t u m usw. bei den Unterlassungsdelikten

Strafe bedroht, da es sich um ein Verbrechen handelt 6 . Zum anderen ist an die Unterlassung der Führung von Handelsbüchern oder der Aufstellung von Bilanzen oder Inventaren zu denken (§ 283 I I I i.Verb.m. Abs. 1 Nr. 5, 7b). Beispiel: Ein untauglicher Versuch der Rechtsbeugung (§ 336) liegt vor, wenn der Richter die Bestellung eines Pflichtverteidigers bewußt unterläßt, obwohl er irrig annimmt, die Untersuchungshaft habe bereits mehr als drei Monate gedauert (§ 140 I Nr. 5 StPO). 2. Bei den unechten Unterlassungsdelikten ist der Versuch dagegen von erheblicher praktischer Bedeutung (vgl. den Fall der Nichthinderung des Selbstmords des Ehegatten, B G H NStZ 1984, 73, sowie den Fall der verweigerten Zustimmung des Vaters zu einem medizinisch unerläßlichen Blutaustausch bei seinem Kind, O L G Hamm NJW 1968, 212; eingehend ferner B G H 38, 356 [358f.]). Die Strafbarkeit ergibt sich bei einigen der im Gesetz geregelten Fälle ausdrücklich, so beim Begehenlassen einer schweren Körperverletzung durch einen Amtsträger im A m t (§ 340 II), beim Geschehenlassen einer rechtswidrigen Tat durch einen Untergebenen, wenn es sich dabei um ein Verbrechen handelt (§ 357), und bei der mangelhaften Dienstaufsicht (§41 I, I I WStG). Wichtiger noch ist die Möglichkeit des Versuchs durch Unterlassen bei allen Erfolgsdelikten, wenn die Voraussetzungen der §§ 22, 23 vorliegen. Zweifelhaft ist die Frage, wann der Versuch jeweils beginnt. Die Formel vom „unmittelbaren Ansetzen zur Verwirklichung des Tatbestandes" (§ 22) führt hier nicht weiter, weil bei der Unterlassungstat ein dem Ansetzen zur aktiven Begehung vergleichbarer Moment nicht gegeben ist. Deshalb muß auf den Zeitpunkt abgestellt werden, in dem das geschützte Handlungsobjekt unmittelbar in Gefahr gerät (vgl. oben § 49 I V 5) 7 . Darauf stellt auch B G H 40, 257 (271) ab, sieht darin aber eine „sinngemäße Anwendung" des Kriteriums des unmittelbaren Ansetzens nach § 22. Die Frage ist umstritten. I m Schrifttum wird auch die Auffassung vertreten, der Versuch beginne schon in dem ersten Zeitpunkt, in dem die Handlung möglich gewesen wäre 8 , nach einer anderen Meinung der letzte 9. Angenommen wird schließlich auch der Zeitpunkt, in dem der Täter den Kausalverlauf aus der Hand gibt 1 0 . Unbeendigt ist der Versuch, wenn der Täter glaubt, die gebotene Handlung noch nachholen zu können, beendigt, wenn nach seiner Vorstellung die Nachholung den Erfolg nicht mehr verhindern könnte. Beispiele: Bei einem Streit in der Backstube versetzt ein Bäckergehilfe seinem Arbeitskollegen einen so heftigen Stoß in den Rücken, daß dieser mit dem Oberkörper in den Teigbottich gerät und von dem Hebel der Mischmaschine in die Teigmasse gedrückt wird (OGH 1 357 [359f.]). Entschließt sich der Täter, den anderen umkommen zu lassen, so liegt ein untauglicher Versuch des Totschlags vor, wenn er ihn noch für lebend hält, während er in Wirklichkeit in dem Zeitpunkt schon tot war, in dem er die Maschine frühestens hätte abstellen können. Dagegen ist ein beendigter tauglicher Versuch anzunehmen, wenn der Ver6

Zustimmend Maurach/Gössel/Zipf Allg. Teil I I § 41 Rdn. 57; Schönke/Schröder/Eser, § 22 Rdn. 53. 7 So Blei, Allg. Teil S. 317; ]. Meyer, ZStW 87 (1975) S. 605f.; Baumann/Weber y Allg. Teil S. 482; ]akobs y Allg. Teil 29/113; LK 10 (Vogler) § 22 Rdn. 109; Rudolphi, MDR 1967, 1; SK (Rudolphi) Vorbem. 51 ff. vor § 13; Stratenwerth, Allg. Teil I Rdn. 1059; Eser, Strafrecht II Nr. 31 A Rdn. 53; Schönke/Schröder/Eser, § 22 Rdn. 50; Kühl, Allg. Teil § 18 Rdn. 149; LK 11 (Jescheck) § 13 Rdn. 47; Roxin, Einführung S. 16; Wessels, Allg. Teil Rdn. 744 f. Unmittelbar an die Formel des § 22 anknüpfend M aurach / Gössel/ Zipf, Allg. Teil I I § 40 Rdn. 106; LK 10 (Vogler) § 22 Rdn. 115. 8 So Herzberg, M D R 1973, 89; Maihof er, GA 1958, 297; Lönnies, NJW 1962, 1950. 9

So Armin Kaufmann, Unterlassungsdelikte S. 210ff.; Welzel, Lehrbuch S. 221. So insbes. Roxin, Maurach-Festschrift S. 213 ff. Maßgebend ist, ob damit eine unmittelbare Gefahr für das Opfer entsteht oder erhöht wird. 10

I I I . Unterlassung u n d Teilnahme

639

unglückte dadurch im letzten Augenblick gerettet wird, daß der Meister die Teigmaschine abstellt. Ein Versuch der Mißhandlung von Schutzbefohlenen (§ 223 b I dritte Handlungsform) ist es, wenn der Obhutspflichtige mit dem Vorsatz der Gesundheitsschädigung anfängt, die erforderliche Fürsorge zu vernachlässigen, und das Opfer dadurch zu leiden beginnt. Beendigt ist der Versuch, wenn der Eintritt eines Gesundheitsschadens nicht mehr abzuwenden ist. Ein Kraftfahrer, der einen Fußgänger angefahren hat und ihn an der Unfallstelle liegen läßt, um sich dadurch eines gefährlichen Zeugen zu entledigen, begeht versuchte vorsätzliche Tötung, wenn er annimmt, das Unfallopfer lebe noch und könne durch sofortige Hilfe gerettet werden, während der Verletzte in Wirklichkeit sofort tot war (BGH VRS 13, 120 [123]) oder zwar nicht sofort getötet wurde, aber auch durch ärztliche Hilfe nicht hätte gerettet werden können (BGH 7, 287 [288]), oder wenn der Verletzte durch die Hilfe Dritter gerettet wird (BGH JR 1993, 29) n . Beendet ist der Versuch, wenn der Kraftfahrer annimmt, daß seine jetzt noch geleistete Hilfe das Opfer nicht mehr retten könnte. Versuchter Mord durch Unterlassung ist gegeben, wenn der Täter, nachdem er das Opfer, das er zuvor zusammen mit einem Mittäter bewußtlos geschlagen hat, auf den Schienen der S-Bahn liegen läßt, wohin es der andere geworfen hatte, damit es vom nächsten einfahrenden Zug überfahren werde (BGH 38, 356). 3. Beim Versuch des Unterlassungsdelikts ist auch ein strafbefreiender Rücktritt nach § 24 (vgl. oben § 51) möglich 2 . Der Unterlassungstäter nimmt etwa die gebotene Handlung doch noch vor, es gelingt ihm z.B. im letzten Augenblick, die durch einen Raubüberfall bedrohte Bank telefonisch zu warnen, nachdem er vorher die Anzeige an die Polizei unterlassen hatte (§138 I), oder der Kraftfahrer fährt nach einem Unfall davon, besinnt sich dann aber, kehrt zurück und bringt den Verletzten ins Krankenhaus, wodurch er gerettet wird. Im Unterschied zu den Begehungsdelikten setzt der Rücktritt vom Unterlassungsversuch also immer eine aktive Tätigkeit voraus. Deswegen erhebt sich die Frage, ob dem Zurücktretenden ebenso wie beim beendigten Versuch des Begehungsdelikts ein Mißerfolg der Rettungshandlung in jedem Falle zuzurechnen ist. Gerechtfertigt erscheint dies nur dann, wenn der Zurücktretende mit seinem Eingreifen so lange wartet, daß die Verhinderung des Erfolgs nur durch riskantere Mittel als die ihm ursprünglich obliegenden Handlungen erreicht werden kann 13 . Vor diesem Zeitpunkt kann das Mißlingen der Erfolgsverhinderung nur als Fahrlässigkeitstat in Betracht kommen. III. Unterlassung und Teilnahme Für die Problematik der Teilnahme sind bei der Unterlassung zwei Fallgruppen zu unterscheiden: die Teilnahme an einem Unterlassungsdelikt durch positives Tun und die Teilnahme durch Unterlassen an einem Begehungs- oder Unterlassungsdelikt. 1. Anstiftung und Beihilfe durch positives Tun sind auch bei Unterlassungsdelikten möglich 14 . 'Die Anstiftung besteht hier in der vorsätzlichen Herbeiführung des 11

Gegen diese Rechtsprechung zu Unrecht Welzel, JZ 1958, 495; zweifelnd auch Grün-

wald, JZ 1959, 46. 12

Vgl. dazu näher Grünwald, Das unechte Unterlassungsdelikt S. 91 ff.; Kühl, Allg. Teil

§ 18 Rdn. 152; Maihofer,

GA 1958, 298; Schönke/Schröder/Eser,

§ 24 Rdn. 27ff.; SK (Ru-

dolphi) Vorbem. 56 vor § 13. 13 So zu Recht Lönnies, NJW 1962, 1952; Schönke/Schröder/Eser, § 24 Rdn. 29f., beide mit Beispielen; ebenso Kühl, Allg. Teil § 18 Rdn. 153. Anders hierzu SK (Rudolphi) Vorbem. 56 vor § 13. 14 So die h.L.; vgl. Baumann/Weher, Allg. Teil S. 573; Dreher/Tröndle, § 13 Rdn. 19; Jakobs, Allg. Teil 29/108; LK 11 (Roxin) § 26 Rdn. 101; § 27 Rdn. 53; Kielwein, GA 1955, 232; Maurach/Gössel/Zipf,

Allg. Teil I I § 50 Rdn. 69; D. Meyer, M D R 1975, 287; Roxin,

640

§ 60 Unrechtsbewußtsein, G e b o t s i r r t u m usw. bei den Unterlassungsdelikten

Entschlusses des Unterlassungstäters, in Kenntnis der tatbestandsmäßigen Situation (bei unechten Unterlassungsdelikten auch in Kenntnis der Garantenstellung) untätig zu bleiben (§ 26). Eine (in der Regel psychische) Beihilfe ist ebenfalls möglich, z.B. durch die Bestärkung des Unterlassungstäters in seinem Entschluß, untätig zu bleiben (§ 27). Da es sich um Anstiftung und Beihilfe durch positives Tun handelt, taucht die Garantenproblematik hier nicht auf. § 28 I (vgl. unten § 61 V I I 4 a) ist auf diese Fälle nicht anzuwenden, weil die Garantenmerkmale nicht „besondere" persönliche Merkmale sind, sondern nur die Gleichstellung von Begehung und Unterlassung im Erfolgsunrecht begründen 15. Beispiele: Anstiftung zur Gläubigerbegünstigung (§ 283 c) durch NichtStellung des Konkursantrags, den der Unterlassungstäter nach §§ 64, 84 GmbHG hätte stellen müssen (RG 48, 18 [21]; entsprechend für die Beihilfe BGH 14, 280 [282]). Beihilfe durch Förderung der Nichterfüllung von Anzeige- und Ablieferungspflichten (RG 51, 39 [41]; 77, 268 [269]) oder durch Bestärkung eines im Urlaub befindlichen Soldaten in dem Entschluß, nicht rechtzeitig zur Truppe zurückzukehren (§ 15 WStG) (RG 27, 157). Mittäterschaft zwischen mehreren Unterlassungstätern ist gegeben, wenn diese eine ihnen gemeinsam obliegende Pflicht nicht erfüllen (RG 66, 71 [74]; B G H 37, 106 [129]) (vgl. unten § 63 IV 2). Auch die Möglichkeit von Mittäterschaft zwischen Begehungs- und Unterlassungstätern wird angenommen16, doch entspricht es der Tatherrschaftslehre besser, den Unterlassenden in diesem Falle als Gehilfen anzusehen (vgl. unten § 64 I I I 5). Beispiele: Ein Diebstahl in einem Warenlager wird dadurch bewerkstelligt, daß vereinbarungsgemäß der Wachmann das Tor unverschlossen läßt, während andere eindringen und die Beute wegschaffen. Der Sohn des Bauern zündet im Einverständnis mit der Mutter, die untätig bleibt, den Hof an (OGH 3, 1). Endlich gibt es auch mittelbare Täterschaft durch Bestimmung eines Werkzeugs, das eine gebotene Handlung unterläßt, so wenn jemand den Handlungspflichtigen und -willigen durch Zwang oder Täuschung an der Gebotserfüllung hindert (vgl. oben § 58 I I 2). In diesem Falle übernimmt der Hintermann selbst die Tatherrschaft durch positives Tun, während das Werkzeug unter seinem Einfluß untätig bleibt. Dagegen ist die Möglichkeit einer durch Unterlassen begangenen mittelbaren Täterschaft des Hintermannes selbst zu verneinen 17. Der Pfleger, der die rechtswidrige Handlung eines Geisteskranken geschehen läßt, ist unmittelbarer „Unterlassungstäter" (Garantenhaftung für das Handeln dritter Personen) (vgl. unten § 62 IV 2). 2. Uber die Probleme der Teilnahme durch Unterlassen vgl. unten § 64 I I 6 und I I I 5. Täterschaft und Tatherrschaft S. 510 ff.; Stree, GA 1963, 10, 14; Schönke/Schröder/ Cramer, Vorbem. 99 vor § 25; SK (Rudolphi) Vorbem. 44 vor § 13; Stratenwerth, Allg. Teil I Rdn. 1075. Die von Armin Kaufmann, Unterlassungsdelikte S. 190 ff. und Welzel, Lehrbuch

S. 206, 221 vertretene Gegenmeinung, die statt Anstiftung bzw. Beihilfe Täterschaft durch positives Tun annehmen will, scheitert, wie die Beispielsfälle des Textes zeigen, sobald dem Teilnehmer die Täterqualität fehlt, sie ist aber auch in sich nicht begründet. Ablehnend auch Schönke/Schröder/ Cramer, Vorbem. 100 vor § 25; Roxin, Täterschaft und Tatherrschaft S. 513ff.; Jakobs, Allg. Teil 29/108; Maurach/Gössel/Zipf, Allg. Teil II § 50 Rdn. 69f. 15 Vgl. unten § 61 VII 4a Fußnote 57. 16 So Maurach/Gössel/Zipf, Allg. Teil II § 49 Rdn. 88; Roxin, Täterschaft und Tatherrschaft S. 470f.; Schönke/Schröder /Cramer,

tenwerth, Allg. Teil I Rdn. 1067 ff. 17

§ 25 Rdn. 79; LK n

Vgl. Roxin, Täterschaft und Tatherrschaft S. 472; LK n

GA 1963, 12; Schönke/Schröder/

(Roxin) § 25 Rdn. 215; Stra-

(Roxin) § 25 Rdn. 216; Stree,

Cramer, § 25 Rdn. 56; Stratenwerth,

Allg. Teil I Rdn. 1066.

Schrifttum z u § 61

641

4. Kapitel: Täterschaft und Teilnahme § 61 Die Grundlagen der Lehre von Täterschaft und Teilnahme Arzt, „Gekreuzte" Mordmerkmale? JZ 1973, 681; Baumann, Die Tatherrschaft in der Rechtsprechung des BGH, NJW 1962, 374; derselbe, Beihilfe bei eigenhändiger voller Tatbestandserfüllung, NJW 1963, 561; derselbe, Täterschaft und Teilnahme, JuS 1963, 51, 85, 125; derselbe, Die strafrechtliche Problematik der nationalsozialistischen Gewaltverbrechen, in: Henkys (Hrsg.), Die nationalsozialistischen Gewaltverbrechen, 1964, S. 267; derselbe, Dogmatik und Gesetzgeber, Festschrift für H.-H. Jescheck, Bd. I, 1985, S. 105; Beling, Der gegenwärtige Stand der strafrechtlichen Verursachungslehre, GS 101 (1932) S. 1; Benakis, Täterschaft und Teilnahme im deutschen und griechischen Straf recht, 1961; Bindokat, Anmerkung zu OLG Köln vom 19.10.1961, NJW 1962, 686; v. Birkmeyer, Die Lehre von der Teilnahme usw., 1890; derselbe, Teilnahme am Verbrechen, VDA, Bd. II, 1908, S. 1; Bloy, Die Beteiligungsform als Zurechnungstypus im Strafrecht, 1985; derselbe, Neuere Entwicklungen der Einheitstäterlehre in Deutschland und in Osterreich, Festschrift für R. Schmitt, 1992, S. 3; Bockelmann, Die moderne Entwicklung der Begriffe Täterschaft und Teilnahme im Strafrecht, Deutsche Beiträge zum VII. Int. Strafrechtskongreß, ZStW Beiheft Athen, 1957, S. 46; derselbe, Zur Problematik der Beteiligung an vermeintlich vorsätzlich rechtswidrigen Taten, Festschrift für W. Gallas, 1973, S. 261; Bottke, Täterschaft und Gestaltungsherrschaft, 1992; H. Bruns, Kritik der Lehre vom Tatbestand, 1932; Burgstaller, Zur Täterschaftsregelung im neuen StGB, ORiZ 1975, 13; v. Buri, Die Causalität und ihre strafrechtlichen Beziehungen, 1885; Cortes Rosa, Teilnahme am unechten Sonderverbrechen, ZStW 90 (1978) S. 413; Cramer, Die Beteiligung an einer Zuwiderhandlung nach § 9 OWiG, NJW 1969, 1929; derselbe, Grundbegriffe des Rechts der Ordnungswidrigkeiten, 1971; derselbe, Gedanken zur Abgrenzung von Täterschaft und Teilnahme, Festschrift für P. Bockelmann, 1979, S. 389; Dahm, Täterschaft und Teilnahme im Amtl. Entwurf eines AStGB, Diss. Heidelberg 1926; derselbe, Anmerkung zu OLG Stuttgart vom 6.3.1959, MDR 1959, 508; Detzer, Die Problematik der Einheitstäterlösung, Diss. Erlangen-Nürnberg 1972; Dietz, Täterschaft und Teilnahme im ausländischen Strafrecht, 1957; Graf zu Dohna, Das RG zur Teilnahmelehre, DStr 1940, 120; v. Dohnanyi, Täterschaft und Teilnahme, in; Gürtner (Hrsg.), Das kommende deutsche Strafrecht, Allg. Teil, 1934, S. 73; Dreher, Anmerkung zu BGH 23, 39, JR 1970, 146; derselbe, Plädoyer für den Einheitstäter im Ordnungswidrigkeitenrecht, NJW 1970, 217; Engelmann, Der geistige Urheber des Verbrechens nach dem italienischen Recht des Mittelalters, Festschrift für K. Binding, Bd. II, 1911, S. 287; Engisch, Die Kausalität als Merkmal strafrechtlicher Tatbestände, 1931; derselbe, Entwicklung der dogmatischen Strafrechtswissenschaft usw., ZStW 66 (1954) S. 339; Frisch, Täterschaft und Teilnahme, in: Ergänzbares Lexikon des Rechts, Ordner 3, Gruppe 8, Artikel 1620, 1992; Gallas, Anmerkung zu OGH 1, 365, DRZ 1950, 67; derselbe, Täterschaft und Teilnahme, Materialien, Bd. I, 1954, S. 121; derselbe, Täterschaft und Teilnahme, Niederschriften, Bd. II, S. 67; derselbe, Die moderne Entwicklung der Begriffe Täterschaft und Teilnahme im Strafrecht, Deutsche Beiträge zum VII. Int. Strafrechtskongreß, ZStW Beiheft Athen, 1957, S. 3; Geerds, Besprechung von Roxin, Täterschaft und Tatherrschaft, GA 1965, 216; derselbe, Täterschaft und Teilnahme, Jura 1990, 173; Geppert, Zur Problematik des § 50 II usw., ZStW 82 (1970) S. 40; Gerl, Die besonderen persönlichen Merkmale usw., Diss. Berlin 1975; Germann, Die Bestimmungen über die Teilnahme im Entwurf eines Schweiz. StGB, Strafr. Abh. Heft 207, 1923; Gimbernat Ordeig, Gedanken zum Täterbegriff und zur Teilnahmelehre, ZStW 80 (1968) S. 915; Goetzeler, Der Ideengehalt des extensiven (intellektuellen) Täterbegriffs und seine Auswirkungen, SJZ 1949, 837; Grebing, Strafrechtslehrertagung 1975, ZStW 88 (1976) S. 162; Gropp, Suizidbeteiligung und Sterbehilfe in der Rechtsprechung, NStZ 1985, 97; Grünhut, Grenzen strafbarer Täterschaft und Teilnahme, JW 1932, 366; Grünwald, Zu den besonderen persönlichen Merkmalen (§ 28 StGB), Gedächtnisschrift für Armin Kaufmann, 1989, S. 555; Gulphe, La distinction entre coauteurs et complices, Rev sc crim 1948, 665; Hanack, Zur Problematik der gerechten Bestrafung nationalsozialistischer Gewaltverbrecher, 1967; Hardwig, Über den Begriff der Täterschaft, JZ 1965, 667; Härtung, Der „Badewannenfall", JZ 1954, 430; Hegler, Zum Wesen der mittelbaren Täterschaft, RG-Festgabe, 1929, Bd. V, S. 304; Heidland, Die besonderen persönlichen Merkmale usw., Diss. Heidelberg 1971; Heimberger, Die Teilnahme am Verbrechen in der Gesetzgebung und Literatur von Schwarzenberg bis Feuerbach, 1896; Heinitz, Teilnahme und unterlassene Hilfeleistung beim Selbstmord, JR 1954, 403; derselbe, Gedanken über

41 Jescheck, 5. A.

642

§ 6 1 D i e Grundlagen der Lehre v o n Täterschaft u n d Teilnahme

Täter- und Teilnehmerschuld im deutschen und italienischen Strafrecht, Berliner Festschrift zum 41. DJT, 1955, S. 93; Herlitz, Parties to a Crime and the Notion of a Complicity Object, 1992; Herzberg, Täterschaft und Teilnahme, 1977; derselbe, Die Problematik der „besonderen persönlichen Merkmale", ZStW 88 (1976) S. 68; derselbe, Der agent provocateur und die „besonderen persönlichen Merkmale", JuS 1983, 737; derselbe, Täterschaft, Mittäterschaft und Akzessorietät der Teilnahme, ZStW 99 (1987) S. 49; derselbe, Akzessorietät der Teilnahme und persönliche Merkmale, G A 1991, 145; Höpfei. Einige Fragen der subjektiven Tatseite bei Beteiligung mehrerer, ÖJZ 1982, 314; Hünerfeld, Mittelbare Täterschaft und Anstiftung usw., ZStW 99 (1987) S. 228; Jäger, Betrachtungen zum Eichmann-Prozeß, MSchrKrim 1962, 73; Jährig, Die persönlichen Umstände usw., Diss. Köln 1974; Jakobs, Niedrige Beweggründe beim Mord usw., NJW 1969, 489; derselbe, Anmerkung zu BGH 23, 39, NJW 1970, 1089; Jescheck, Anstiftung, Gehilfenschaft und Mittäterschaft im deutschen Strafrecht, SchwZStr 71 (1956) S. 225; derselbe, Strafrechtsreform in Deutschland, SchwZStr 90 (1975) S. 1; derselbe, Versuch und Rücktritt bei Beteiligung mehrerer Personen, ZStW 99 (1987) S. 111; Kadish, Complicity, Cause and Blame usw., California Law Review 73 (1985) S. 323; Kantorowicz, Tat und Schuld, 1933; Kienapfel y Der Einheitstäter im Straf recht, 1971; derselbe, Erscheinungsformen der Einheitstäterschaft, in: Müller-Dietz (Hrsg.), Strafrechtsdogmatik und Kriminalpolitik, 1971, S. 21; derselbe, Das Prinzip der Einheitstäterschaft, JuS 1974, 1; derselbe, Die Einheitstäterregelung der §§ 12ff. und 32ff. StGB, JBl 1974, 113; derselbe, Zur Täterschaftsregelung im StGB, ÖRiZ 1975, 165; Klee, Zur Abgrenzung von Teilnahme und Täterschaft, ΖΑΚ 1940, 188; Kohlrausch, Das kommende deutsche Strafrecht, ZStW 55 (1936) S. 384; derselbe, Täterschuld und Teilnehmerschuld, Festschrift für E. Bumke, 1939, S. 39; Korn, Täterschaft oder Teilnahme bei staatlich organisierten Verbrechen, NJW 1965, 1206; Küper y „Besondere persönliche Merkmale" und „spezielle Schuldmerkmale", ZStW 104 (1992) S. 559; derselbe, Ein „neues Bild" der Lehre von Täterschaft und Teilnahme, ZStW 105 (1993) S. 445; Küpper, Anspruch und wirkliche Bedeutung des Theorienstreits über die Abgrenzung von Täterschaft und Teilnahme, GA 1986, 437; derselbe, Grenzen der normativen Strafrechtsdogmatik, 1990; Lampey Über den Begriff und die Formen der Teilnahme am Verbrechen, ZStW 77 (1965) S. 262; Lange, Der moderne Täterbegriff und der Strafgesetzentwurf, 1935; derselbey Beteiligter und Teilnehmer, Festschrift für R. Maurach, 1972, S. 235; Langer y Das Sonderverbrechen, 1972; derselbe, Zum Begriff der „besonderen persönlichen Merkmale", Festschrift für R. Lange, 1976, S. 241; derselbey Zur Strafbarkeit des Teilnehmers gemäß § 28 Abs. 1 StGB, Festschrift für Ernst Wolf, 1985, S. 335; Leschy Täterschaft und Gestaltungsherrschaft, GA 1994, 112; Letzgus, Vorstufen der Beteiligung, 1972; Léauté y Coactivité, complicité et provocation en droit français, SchwZStr 72 (1957) S. 1; Liepmanny Einleitung in das Strafrecht, 1910; Lüderssen y Zum Strafgrund der Teilnahme, 1979; Maiwaldy Historische und dogmatische Aspekte der Einheitstäterlösung, Festschrift für P. Bockelmann, 1979, S. 343; H. Mayer, Täterschaft, Teilnahme, Urheberschaft, Festschrift für Th. Rittler, 1957, S. 243; M.-K Meyer y Tatbegriff und Teilnehmerdelikt, GA 1979, 252; Mezger, Teilnahme an unvorsätzlichen Handlungen, JZ 1954, 312; Niese, Die finale Handlungslehre und ihre praktische Bedeutung, DRiZ 1952, 21; Nowakowski y Tatherrschaft und Täterwille, JZ 1956, 545; Oehler y Die mit Strafe bedrohte tatvorsätzliche Handlung im Rahmen der Teilnahme, Berliner Festschrift zum 41. DJT, 1955, S. 255; Otto y Täterschaft, Mittäterschaft, mittelbare Täterschaft, Jura 1987, 246; derselbe, Täterschaft und Teilnahme im Fahrlässigkeitsbereich, Festschrift für G. Spendel, 1992, S. 271; Peters y Probleme der deutschen Strafrechtsreform, SchwZStr 77 (1961) S. 161; Piotet, Systematik der Verbrechenselemente und Teilnahmelehre, ZStW 69 (1957) S. 14; Platzgummer, Die „Allgemeinen Bestimmungen" des Strafgesetzentwurfs usw., JBl 1971, 236; Roeder, Exklusiver Täterbegriff und Mitwirkung am Sonderdelikt, ZStW 69 (1957) S. 223; Roxin, Straftaten im Rahmen organisatorischer Machtapparate, G A 1963, 193; derselbey Zur Dogmatik der Teilnahmelehre im Strafrecht, JZ 1966, 293; derselbe, Täterschaft und Tatherrschaft, 6. Auflage 1994; derselbey Kriminalpolitik und Strafrechtssystem, 2. Auflage 1973; derselbe, Bemerkungen zum „Täter hinter dem Täter", Festschrift für R. Lange, 1976, S. 173; derselbe, Anmerkung zu BGH 40, 218, JZ 1995, 49; Rudolphi, Zur Tatbestandsbezogenheit des Tatherrschaftsbegriffs bei der Mittäterschaft, Festschrift für P. Bockelmann, 1979, S. 369; Sammarco, Ii concetto di autore e partecipe usw., Riv dir proc pen 1979, 1009; Sax, Dogmatische Streifzüge durch den Entwurf des Allg. Teils eines StGB usw., ZStW 69 (1957) S. 412; derselbe, Der Bundesgerichtshof und die Täterlehre, JZ 1963, 329; derselbe, Die Problematik des „Teilnehmerdelikts", ZStW 90 (1978) S. 927; Schäfer, Täterschaft und Teilnahme, Niederschriften, Bd. II, S. 75; Schlutter, Zur Dogmengeschichte der Akzessorietät der Teilnahme, Strafr. Abh. Heft 420, 1941; Eb. Schmidt, Die mittelbare

I. D i e systematische Stellung der Lehre v o n Täterschaft u n d Teilnahme

643

Täterschaft, Festgabe für R. v. Frank, Bd. II, 1930, S. 106; R. Schmitt, Ordnungswidrigkeitenrecht, 1970; Schmollen Grundstrukturen der Beteiligung mehrerer an der Straftat usw., ÖJ2 1983, 337; Schöneborn, Kombiniertes Teilnahme- und Einheitstätersystem, ZStW 87 (1975) S. 902; Schröder, Der Täterbegriff als „technisches" Problem, ZStW 57 (1938) S. 459; Schroeder, Täterschaft und Teilnahme bei eigenhändiger Tatbestandsverwirklichung, ROW 1964, 97; derselbe, Der Täter hinter dem Täter, 1965; Schultz, Täterschaft und Teilnahme im modernen schweizerischen Strafrecht, SchwZStr 71 (1956) S. 244; Schumann, Zum Einheitstätersystem des § 14 OWiG, 1979; derselbe, Strafrechtliches Handlungsunrecht und das Prinzip der Selbstverantwortung der Anderen, 1986; Schünemann, Die Bedeutung der „besonderen persönlichen Merkmale" usw., Jura 1980, 354, 568; Schwalm, Täterschaft und Teilnahme, Niederschriften, Bd. II, S. 88; Schwerdtfeger, Besondere persönliche Unrechtsmerkmale, 1992; See bald, Teilnahme am erfolgsqualifizierten und am fahrlässigen Delikt, G A 1964, 161; Seiler, Neue Wege in der Strafrechtsreform, JBl 1969, 113; Seminara, Tecniche normative e concorso di persone nel reato, 1987; Spendel, Zur Kritik der subjektiven Versuchs- und Teilnahmetheorie, JuS 1969, 314; derselbe, Fahrlässige Teilnahme an Selbst- und Fremdtötung, JuS 1974, 749; derselbe, Der „Täter hinter dem Täter" usw., Festschrift für R. Lange, 1976, S. 147; Spotowski, Erscheinungsformen der Straftat im deutschen und polnischen Recht, 1979; Stein, Die strafrechtliche Beteiligungsformenlehre, 1988; Straub, Täterschaft und Teilnahme im englischen Strafrecht, 1952; Stree, Beteiligung an vorsätzlicher Selbstgefährdung, JuS 1985, 179; Tnffterer, Die österreichische Beteiligungslehre, 1983; Trunk, Einheitstäterbegriff und besondere persönliche Merkmale, 1987; Vogler, Zur Bedeutung des § 28 StGB für die Teilnahme am unechten Unterlassungsdelikt, Festschrift für R. Lange, 1976, S. 265; Wagner, Amtsverbrechen, 1975; Welp, Der Einheitstäter im Ordnungswidrigkeitenrecht, VOR 1972, 299; Welzel, Studien zum System des Strafrechts, ZStW 58 (1939) S. 491; derselbe, Zur Kritik der subjektiven Teilnahmelehre, SJZ 1947, 645; derselbe, Teilnahme an unvorsätzlichen Handlungen? JZ 1954, 429; Wessels, Zur Problematik der Regelbeispiele usw, Festschrift für R. Maurach, 1972, S. 295; Zimmerl, Grundsätzliches zur Teilnahmelehre, ZStW 49 (1929) S. 39.

I. Die systematische Stellung der Lehre von Täterschaft und Teilnahme 1. Die Strafvorschriften des Besonderen Teils kennzeichnen in der Regel Handlungen von Einzelpersonen (anders die sog. „Massendelikte", § 121 StGB, §§ 27, 28 WStG). Täter ist der namenlose „wer", mit dem die meisten Deliktsbeschreibungen beginnen. Der Gesetzgeber geht dabei von der Voraussetzung aus, daß Täter ist, wer sämtliche Merkmale des Tatbestandes in eigener Person verwirklicht. Das Strafgesetzbuch kennzeichnet den Alleintäter demgemäß durch die Vorschrift: „Als Täter wird bestraft, wer die Straftat selbst begeht" (§ 25 I). Der Mensch handelt jedoch meist nicht allein, sondern im Zusammenwirken mit anderen. Das gilt auch für die Begehung von Straftaten. Die Rechtsordnung steht damit vor dem Problem der Beteiligung mehrerer an einer strafbaren Handlung. 2. Die Teilnahmelehre ist ein Stück der Lehre vom Tatbestand1. Täter ist einmal, wer in eigener Person alle Tatbestandsmerkmale der strafbaren Handlung verwirklicht (§ 25 I erster Fall). Der Begriff der Täterschaft ist jedoch nicht auf eigenhändige Alleintäterschaft beschränkt, sondern umfaßt auch den Fall, daß sich der Täter eines anderen als „Werkzeug" bedient. Als Täter wird somit auch bestraft, „wer die Straftat durch einen anderen begeht" (§ 25 I zweiter Fall) (mittelbare Täterschaft). Weiter gibt es die Möglichkeit, daß mehrere miteinander verbundene Personen an einer Tat als Täter mitwirken (Mittäterschaft). § 25 I I 1 So die h.L.; vgl. Blei, Allg. Teil S. 251; Cramer , Bockelmann-Festschrift S. 389ff.; Herzberg, Täterschaft S. 3; Gallas, Materialien Bd. I S. 132; Kühl, Allg. Teil § 20 Rdn. 5; Schönke / Schröder / Cramer, Vorbem. 1 vor § 25; Welzel, Lehrbuch S. 98; Wessels, Allg. Teil Rdn. 511.

4

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§ 61 D i e Grundlagen der Lehre v o n Täterschaft u n d Teilnahme

bestimmt demgemäß: „Begehen mehrere die Straftat gemeinschaftlich, so wird jeder als Täter bestraft". In Betracht kommt ferner, daß mehrere Personen unabhängig voneinander an derselben Tat als Täter beteiligt sind (Nebentäterschaft). Während der Täter die tatbestandsmäßige Handlung selbst oder durch einen anderen begeht oder an ihr als Mittäter mitwirkt, stehen Anstifter und Gehilfe außerhalb des Tatbestandes. Sie werden durch besondere Strafvorschriften erfaßt: Anstifter ist, „wer vorsätzlich einen anderen zu dessen vorsätzlich begangener rechtswidriger Tat bestimmt hat" (§ 26), Gehilfe, „wer vorsätzlich einem anderen zu dessen vorsätzlich begangener rechtswidriger Tat Hilfe geleistet hat" (§ 27). Die Voraussetzungen der Strafbarkeit von Anstiftung und Beihilfe ergeben sich somit nur teilweise aus dem jeweiligen Deliktstatbestand, im übrigen erst aus ergänzenden Vorschriften des Allgemeinen Teils, die aber auf die Tatbestände des Besonderen Teils Bezug nehmen 2 . 3. Die Aufgliederung der Erscheinungsformen der Beteiligung an der strafbaren Handlung ist keine Sache des freien gesetzgeberischen oder richterlichen Ermessens. Sie ist vielmehr durch feststehende Strukturen sozialer Beziehungen vorgeprägt, von denen sich die rechtliche Bewertung nicht entfernen darf, wenn die Rechtsanwendung nicht ihre Überzeugungskraft verlieren soll 3 . So kann das Strafrecht denjenigen, der eigenhändig einen Tatbestand verwirklicht, nicht als bloßen Gehilfen, und denjenigen, der nur den Plan zur Tatbegehung entwickelt, nicht als Täter einstufen. Beispiele: Wer einen Menschen eigenhändig tötet, ist Täter des Mordes und nicht Gehilfe, auch wenn er auf Weisung eines ausländischen Geheimdienstes handelt (anders BGH 18, 87 [95]) oder anderen Tätern gegenüber nur nicht als Feigling erscheinen möchte (anders BGH Daliinger MDR 1974, 547). Richtig dagegen BGH 8, 393: eigenhändige Tötung des Ehemanns ist Täterschaft, obwohl die Tat unter dem beherrschenden Einfluß von dessen Ehefrau verübt wurde, sowie BGH 35, 347 (349): eigenhändiger Tötungsversuch ist Täterschaft, obwohl die Tat unter wahnhaften Vorstellungen und dem suggestiven Einfluß von Hintermännern begangen wurde, und BGH 38, 315: eigenhändiges Verbringen von Betäubungsmitteln über die Grenze ist Täterschaft, auch wenn der Täter unter dem Einfluß und in Gegenwart des Mittäters in dessen Interesse handelt. Anstiftung zu einer unvorsätzlichen Haupttat ist unmöglich, weil es gerade am Entschluß des Haupttäters fehlt, den der Anstifter hervorrufen muß (anders BGH 4, 355 [356]). Mittäterschaft ist gegeben, wenn zwei Personen bei 2 Die Beziehung zwischen den Teilnahmevorschriften des Allgemeinen und den Tatbeständen des Besonderen Teils wird in der Lehre verschieden aufgefaßt. Schmidhäuser, Allg. Teil S. 498; Lüderssen, Strafgrund S. 119; M.-K. Meyer, GA 1979, 257; Herzberg, GA 1971, 2 und SaXy ZStW 90 (1978) S. 956f. sprechen von eigenständigen „Teilnehmerdelikten", Stratenwerth y Allg. Teil I Rdn. 858 betont dagegen zu Recht primär den unselbständigen Beitrag zur Haupttat. Ebenso Maurach/Gössel/Zipf\ Allg. Teil II § 47 Rdn. 28; Bloy, Zurechnungstypus S. 315. Vgl. auch LK U (Roxin) Vorbem. 22 vor § 26, der das Unrecht der Teilnahme sowohl aus dem Unrecht der Haupttat als auch aus dem eigenen Unrecht des Teilnehmers ableitet. Dagegen wird der Gedanke der „Solidarisierung mit fremdem Unrecht" als Strafgrund der Teilnahme von Schumann y Selbstverantwortung S. 49 ff. überbewertet; hiergegen zu Recht LK n (Roxin) Vorbem. 21 vor § 26. 3

So Bockelmann y Untersuchungen S. 111; Gallas, Niederschriften Bd. I I S. 67; Lampe,

ZStW 77 (1965) S. 263, 308; Stratenwerth y Die Natur der Sache S. 15f.; Roxin, Täterschaft und Tatherrschaft S. 25 f.; Kühl, Allg. Teil § 20 Rdn. 9; Küpper, Grenzen S. 145 ff.; Schmidhäuser, Allg. Teil S. 500; Welzel, Lehrbuch S. 94 ff. Dagegen aber Engisch, Eb. Schmidt-Festschrift S. 109 ff.; Geerds, Jura 1990, 179; Maiwald, Bockelmann-Festschrift S. 360; Schröder, ZStW 57 (1938) S. 460; Schönke/Schröder /Cramer, Vorbem. 3 vor § 25. Auch Stein, Die strafrechtliche Beteiligungsformenlehre S. 238 ff. versteht die Regelung von Täterschaft und Teilnahme als System von Verhaltensnormen, die nach ihrer größeren oder geringeren „Dringlichkeit" eingestuft werden. Dagegen Küper, ZStW 105 (1993) S. 470 ff. sowie LK 11 (Roxin) § 25 Rdn. 12 f., 160 f.

I I . D e r Einheitstäterbegriff u n d die Unterscheidung verschiedener Beteiligungsformen

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einem Banküberfall arbeitsteilig zusammenwirken (der eine nimmt das Geld, der andere sichert), ohne daß dabei der Grad des Interesses an der Beute eine Rolle spielte (anders BGH Dallinger MDR 1973, 729). Die bloße Kenntnis von der Tat und deren Billigung ohne einen objektiv fördernden Beitrag ist keine Beihilfe, auch wenn der lediglich Anwesende einen Teil der Beute beansprucht (BGH NStZ 1993, 385). II. Der Einheitstäterbegriff und die Unterscheidung verschiedener Beteiligungsformen Für die Behandlung der Teilnahmeprobleme gibt es grundsätzlich zwei verschiedene Lösungsmöglichkeiten. Man kann entweder alle Arten der Beteiligung auf den gemeinsamen Nenner eines umfassenden Täterbegriffs bringen (Urheber, Einheitstäter) oder zwischen mehreren Beteiligungsformen nach dem sachlichen Gewicht der Tatbeiträge unterscheiden. 1. Der Einheitstäterbegriff 4 betrachtet jeden Beteiligten, der einen ursächlichen Beitrag zur Verwirklichung des Tatbestandes leistet, als Täter, ohne Rücksicht darauf, welche Bedeutung seiner Mitwirkung im Rahmen des Gesamtgeschehens zukommt. Diese Frage gewinnt erst für die Strafzumessung Bedeutung und soll dort unabhängig von allen dogmatischen Unterscheidungen der Teilnahmelehre allein nach der individuellen Schuld des Tatbeteiligten beantwortet werden. Diese besonders von der modernen Schule5, aber auch vom „Willensstrafrecht" 6 empfohlene Auffassung läßt keine Strafbarkeitslücken (vgl. den Fall O L G Stuttgart JZ 1959, 579) entstehen und macht es möglich, die Sanktionen allein nach der Täterpersönlichkeit auszurichten. Überdies erleichtert die Einheitstäterlösung die Rechtsanwendung, da nicht zwischen unterschiedlichen Teilnahmeformen abgegrenzt werden muß. Gegen den Einheitstäterbegriff, so sehr er auch auf den ersten Blick einfach und praktisch erscheinen mag, sprechen jedoch schwerwiegende Bedenken. Einmal geht durch die Umdeutung sämtlicher Tatbeiträge in die Verursachung von Rechtsgutsverletzungen das spezifische Handlungsunrecht des jeweiligen Tatbestandes verloren. Zum anderen müßten bei eigenhändigen und Sonderdelikten auch außenstehende Beteiligte wegen der bloßen Kausalität ihrer Mitwirkung als Täter angesehen werden, obwohl sie gerade nicht eigenhändig gehandelt haben bzw. nicht als Täter qualifiziert sind. Der Einheitstäterbegriff führt weiter zu einer 4 Ablehnend in Deutschland die h.L.; vgl. Blei, Allg. Teil S. 248f.; Bloy, R. Schmitt-Festschrift S. 55; Bockelmann, ZStW Beiheft Athen 1957 S. 46ff.; Bockelmann/Volk, Allg. Teil

S. 174; Cramer, NJW 1969, 1929ff.; Dreher, NJW 1970, 218; Gallas, Materialien Bd. I

S. 140ff.; derselbe, ZStW Beiheft Athen 1957 S. 39ff.; LK U (Roxin) Vorbem. 3 ff. vor § 25; Maiwald, Bockelmann-Festschrift S. 351 ff.; Roxin, Täterschaft und Tatherrschaft S. 451; Schmidhäuser, Allg. Teil S. 501 f.; Wessels, Allg. Teil Rdn. 505; SK (Samson) § 25 Rdn. 2; Stratenwerth, Allg. Teil I Rdn. 735; Schöneborn, ZStW 87 (1975) S. 90. Empfohlen wird die Einheitstäterregelung von Schwalm, Engisch-Festschrift S. 551 f.; Roeder, ZStW 69 (1957) S. 238 f.; Geerds, GA 1965, 218; Rittler, Bd. I S. 283 ff.; Seiler, JBl 1969, 117; Detzer, Ein-

heitstäterlösung S. 275, eingeführt hat sie § 12 österr. StGB von 1975; dazu Triffterer, Die österreichische Beteiligungslehre, 1983 und Schmoller, ÖJZ 1983, 337 ff. Auch der italienische Codice penale von 1930 enthält in Art. 110 die Einheitstäterregelung; dazu Seminara, Tecniche normative e concorso di persone S. 7 ff. Für eine „funktionale" Einheitstäterschaft eingehend Kienapfel, Erscheinungsformen S. 34ff.; derselbe, JuS 1974, 6ff. Ihren Wert erblickt Kienapfel, Einheitstäter S. 31 vor allem im Verzicht auf die Akzessorietät und in der Möglichkeit „ganzheitlicher" Strafzumessung. Zurückhaltend dagegen Burgstaller, ÖRiZ 1975, 13 ff., der die Bedeutung des § 12 österr. StGB auf die gleiche Strafdrohung für alle Beteiligten reduziert; gegen ihn Kienapfel, ÖRiZ 1975, 165 ff. 5 Vgl. die Nachweise bei Kienapfel, Einheitstäter S. 11 ff.; ferner, wiewohl Gegner der modernen Schule, v. Birkmeyer, VDA Bd. II S. 82 ff. 6

v. Dohnanyi,

Täterschaft u n d Teilnahme S. 75 ff.

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§ 6 1 D i e Grundlagen der Lehre v o n Täterschaft u n d Teilnahme

unerwünschten Ausdehnung der Strafbarkeit, da der Versuch der Mitwirkung in allen Fällen strafbar wird, in denen nach dem Tatbestand die Strafbarkeit des Versuchs vorgesehen ist, während versuchte Teilnahme sonst nur in engen Grenzen mit Strafe bedroht ist (§§ 30, 120 III, 159). Entsprechendes gilt für die Beihilfe. Endlich führt der Einheitstäterbegriff zu einer Vergröberung der Maßstäbe, weil er die Möglichkeit gemilderter Strafrahmen für Anstiftung und Beihilfe ausschließt. 2. Das deutsche Strafrecht hat das Einheitstäterprinzip deswegen nicht übernommen, sondern unterscheidet zwischen verschiedenen Formen der Beteiligung. Dieser Standpunkt hat auch im Gesetz selbst Ausdruck gefunden. Durch die §§ 25 bis 27 wird dem Einheitstäterbegriff deutlich eine Absage erteilt 7 . Freilich gilt dies nur für die vorsätzliche Beteiligung, während bei der fahrlässigen Straftat jede Form kausaler Mitwirkung Täterschaft ist (vgl. unten § 61 VI). a) Die differenzierende Behandlung der Beteiligungsformen entspricht der geschichtlichen Überlieferung 8. Die Ausarbeitung einer besonderen Teilnahmetheorie war das Werk der italienischen Strafrechtswissenschaft des ausgehenden Mittelalters. Von dort wurde diese Lehre noch unfertig in die Art. 177, 107 und 148 der CCC übernommen. Die gemeinrechtliche Wissenschaft unterschied daher nach dem Vorbild der Italiener zwischen verschiedenen Formen der Teilnahme, wenn auch anders als unser heutiges Recht. Erst unter dem Einfluß Böhmers setzte sich die objektive Unterscheidung zwischen Täterschaft und Teilnahme nach dem Kriterium der Vornahme einer Ausführungshandlung (causa physica) bzw. einer diese bloß unterstützenden Handlung (causa moralis) durch. Die heutige Abgrenzung zwischen Täterschaft, Anstiftung und Beihilfe stammt aus dem französischen Code pénal von 1810 (Art. 60) und ist über das preußische StGB von 1851 in das RStGB gelangt9. b) Unter der Überschrift „Täterschaft und Teilnahme" regelt das geltende Recht sämtliche Formen der Beteiligung an der Straftat und beschreibt sie nach generellen Merkmalen. Täterschaft und Teilnahme liegen jedoch, wie schon der Wortlaut der §§ 25 bis 27 unmittelbar ergibt, nicht auf derselben Ebene. Die Trennungslinie verläuft zwischen dem Täter, dem Mittäter und dem mittelbaren Täter auf der einen Seite und dem Anstifter und Gehilfen auf der anderen, denn auch Mittäter und mittelbarer Täter begehen die strafbare Handlung als Täter, wenn auch der erste im Zusammenwirken mit einem anderen Täter, der zweite durch einen anderen als Werkzeug, während sich Anstifter und Gehilfe an fremder Straftat beteiligen. Anstiftung und Beihilfe als die Formen der Teilnahme setzen daher immer die Täterschaft eines anderen voraus. Die Abhängigkeit der Teilnahme von der Haupttat nennt man Akzessorietät (vgl. unten § 61 VII). Anstiftung und Beihilfe sind ferner nur als vorsätzliche Beteiligung an fremder Tat mit Strafe bedroht 10 . Fahrlässige Teilnahme ist indessen nicht ohne weiteres straflos, sondern kann, soweit das betreffende Delikt auch bei fahrlässiger Begehung unter Strafe gestellt ist, als fahrlässige Täterschaft erfaßt werden (vgl. unten § 61 VI). 7

So die einhellige Meinung; vgl. Baumann/Weber, Allg. Teil S. 512; Bloy, Beteiligungsform S. 149 ff.; Bockelmann/Volk, Allg. Teil S. 174; Dreh er/Tröndle, Vorbem. lb vor § 25; Herzberg, Täterschaft S. 1 f.; Jakobs, Allg. Teil 21/4f.; LK n (Roxin) Vorbem. 2 vor § 25; Lackner, Vorbem. 1 vor § 25; Maurach/Gössel/Zipf, Allg. Teil II § 47 Rdn. 15; Schönke/ Schröder/ Gramer, Vorbem. 1 vor § 25; SK (Samson) § 25 Rdn. 2; Roxin, Täterschaft und

Tatherrschaft S. 539ff.; Wessels, Allg. Teil Rdn. 510. 8 Vgl. dazu Engelmann, Binding-Festschrift Bd. II S. 394ff.; Heimberger, Die Teilnahme S. 98 ff.; Maiwald, Bockelmann-Festschrift S. 344ff.; Schaffstein, Die allgemeinen Lehren S. 169 ff. 9 Vgl. Goltdammer, Materialien Teil I S. 299. 10 Dagegen hält Otto, Spendel-Festschrift S. 276 ff. eine Unterscheidung von Täterschaft und Teilnahme auch bei der Fahrlässigkeit für möglich. Zum deutschen Recht und Schrifttum aus italienischer Sicht Sammarco, Riv dir proc pen 1979, 1009ff.; Seminara, Tecniche normative e concorso di persone S. 102 ff.

I I . D e r Einheitstäterbegriff u n d die U n t e r s c h e i d u n g verschiedener Beteiligungsformen

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c) Für das Ordnungswidrigkeitenrecht ist dagegen in § 14 OWiG das Einheitstäterprinzip eingeführt worden, weil die Gründe, die für die Differenzierung sprechen, hier nicht gelten sollen. Jedenfalls bringt aber die Einbeziehung der Beihilfe, die bei Übertretungen nicht strafbar war (§ 49 I a.F.), eine erhebliche Ausweitung des als Ordnungswidrigkeit zu ahndenden Verhaltens11. Bedenklich ist auch, daß besondere persönliche Merkmale, die die Möglichkeit der Ahndung begründen, stets sämtliche Beteiligte belasten, selbst wenn sie nur bei einem von ihnen vorliegen (§ 14 I 2 OWiG) 12 . Eine wichtige Einschränkung des Einheitstäterbegriffs hat BGH 31, 309 durch die Entscheidung vorgenommen, daß Beteiligung an der Ordnungswidrigkeit eines anderen vorsätzliches Handeln des anderen voraussetzt13. 3. Durch die Regeln des Strafgesetzbuchs ist das Verhältnis von Täterschaft und Teilnahme nach seiner inneren Struktur bestimmt. Dennoch gehörte die Frage, nach welchen Kriterien zwischen der Begehung einer eigenen Tat als Täter, Mittäter oder mittelbarer Täter und der Unterstützung einer fremden Tat durch Anstiftung oder Beihilfe zu unterscheiden ist, lange Zeit zu den umstrittensten Problemen des deutschen Strafrechts. Ausgangspunkt des Streites war die Frage der Abgrenzung zwischen Mittäterschaft und Beihilfe, später hat sich die Auseinandersetzung auf das Verhältnis von mittelbarer Täterschaft und Anstiftung ausgedehnt. Während die Rechtsprechung bei der Abgrenzung von Mittäterschaft und Beihilfe früher fast durchweg darauf abstellte, ob der Handelnde die Tat „als eigene" oder „als fremde" gewollt hat (RG 74, 84; B G H 8, 70 [73]; 18, 87 [90]; B G H M D R 1974, 547), scheint sich allmählich die zutreffende Meinung durchzusetzen, daß eigenhändige Tatbestandserfüllung (von extremen Ausnahmefällen abgesehen) Täterschaft begründet, wodurch die Abgrenzungsfrage auf eine rationale, allein dem § 25 I entsprechende Grundlage gestellt wurde ( B G H 8, 393 [395f.]; 19, 135 [138]; 27, 205; 28, 308 [310]; 35, 347 [349]; 38, 315 [318]; B G H NStZ 1987, 224; NJW 1993, 74; O L G Stuttgart NJW 1978, 715) 14 . Bei der Abgrenzungsfrage ist auszugehen vom Täterbegriff, denn erst von hier aus läßt sich klären, was unter Teilnahme i.e.S. zu verstehen ist (primärer Täterbe11

Vgl. Göhler, § 14 OWiG Rdn. 2; Seier, JA 1990, 342 ff.; Trunk, Einheitstäterbegriff S. 53 ff. Kritisch Cramer , Grundbegriffe S. 80ff.; R. Schmitt, Ordnungswidrigkeitenrecht S. 36ff.; Bloy, R. Schmitt-Festschrift S. 35 ff.; Lange, Maurach-Festschrift S. 237ff., der auf weitere bedenkliche Ausdehnungsmöglichkeiten hinweist, und mit eingehender Begründung ablehnend Welp y VOR 1972, 299 ff. Vgl. im übrigen zu der Kontroverse zwischen Cramer, Dreher und Kienapfel oben § 7 V Fußnote 43. Positiv beurteilt § 14 OWiG im ganzen Schumann, Einheitstätersystem S. 70 ff. sowie Trunk, Einheitstäterbegriff, 1987. 12 Göhler y § 14 OWiG Rdn. 12 a verweist auf die Möglichkeit, das Fehlen persönlicher Eigenschaften entsprechend § 28 I StGB bei der Zumessung der Geldbuße zu berücksichtigen, doch enthält das Gesetz für diesen Fall keine dem § 49 I Nr. 2 S. 2 entsprechende Obergrenze der Geldbuße; vgl. dazu ferner Trunky Einheitstäterbegriff S. 152 ff. 13

14

Dazu Göhler, § 14 OWiG Rdn. 5b; KK OWiG (Rengier) § 14 Rdn. 5ff.

Für die These, daß eigenhändige Verwirklichung des Tatbestandes stets Täterschaft begründet, Roxin, Täterschaft und Tatherrschaft S. 546ff.; LK n (Roxin) § 25 Rdn. 47ff.; Bokkelmann/Volky Allg. Teil S. 175; Eser, Strafrecht II Nr. 37 A Rdn. 13b; Herzherg, ZStW 99 (1987) S. 52 f.; Jakobs, Allg. Teil 21/36; Küpper, GA 1986, 444; Schönke/Schröder/ Cramer, Vorbem. 75 vor § 25; SK (Samson) § 25 Rdn. 19; Wessels, Allg. Teil Rdn. 517. Gegen die Auffassung, daß diese These durch § 25 I festgelegt sei, Baumann, Jescheck-Festschrift Bd. I S. 110; Lackner, § 25 Rdn. 1; Otto, Jura 1987, 252; Maurach/Gössel/Zipf, Allg. Teil II § 47 Rdn. 64. Geerds, Jura 1990, 176 hält die eigenhändige Verwirklichung des Tatbestandes sogar nur für „ein Indiz, das jedoch allein nicht viel besagt". Der Bundesgerichtshof hat mittelbare Täterschaft von Mitgliedern des Nationalen Verteidigungsrats der DDR hinsichtlich der vorsätzlichen Tötung von Flüchtlingen durch Grenzsoldaten der DDR angenommen (BGH 40, 218 [236 ff.] m. zust. Anm. Roxin, JZ 1995, 49).

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griff) 15. Dagegen ist es nicht angängig, den Täterbegriff gewissermaßen durch eine Subtraktion zu gewinnen, indem als Täter innerhalb des Rahmens der Kausalität jeder angesehen wird, der nicht Teilnehmer ist, weil auf diese Weise der Täterbegriff seine rechtlichen Konturen verlieren würde (sekundärer Täterbegriff). III. Restriktiver Täterbegriff und objektive Teilnahmetheorie 1. Das geltende Recht enthält in § 25 I eine Begriffsbestimmung der Alleintäterschaft und der mittelbaren Täterschaft, die darauf abstellt, daß Täter ist, wer die Straftat „begeht". Täter ist danach nur, wer die tatbestandsmäßige Handlung selbst begeht, während die bloße Mitverursachung des Erfolgs durch nicht tatbestandsmäßige Handlungen keine Täterschaft begründen kann (restriktiver Täterbegriff) 16. Vom restriktiven Täterbegriff her bedeutet die Aufstellung besonderer Teilnahmeformen wie Anstiftung und Beihilfe, daß die Strafbarkeit auf außerhalb des Tatbestandes liegende Handlungen ausgedehnt wird, denn nach dem Tatbestand selbst würde nur derjenige zu bestrafen sein, der in eigener Person getötet, gestohlen oder Widerstand geleistet hat. Andere Beteiligte, die den Täter nur zur Tat bestimmt oder ihm dabei geholfen haben, müßten ohne die besonderen Strafvorschriften für Anstiftung und Beihilfe straflos bleiben. 2. Wenn die Vornahme der tatbestandsmäßigen Handlung schon objektiv etwas anderes bedeutet als deren Unterstützung, so ergibt sich von selbst, daß Täterschaft und Teilnahme auch nach objektiven Kriterien unterschieden werden müssen. Der restriktive Täterbegriff verbindet sich deswegen mit einer objektiven Teilnahmetheorie. Diese wird in zwei Spielarten vertreten: a) Die ältere formell-objektive Theorie 17 hielt sich streng an den Wortlaut der Handlungsbeschreibungen der Tatbestände und sah ohne Rücksicht auf das Gewicht seiner Mitwirkung im Rahmen des Gesamtgeschehens nur denjenigen als Täter an, der das im Tatbestand umschriebene Verhalten vollständig erfüllte, während jeder andere kausale Tatbeitrag damit notwendigerweise nur Teilnahme sein konnte. b) Der Mangel der formell-objektiven Theorie zeigte sich bei den reinen Erfolgsdelikten, weil die Handlung hier allein in der Verursachung des tatbestandsmäßigen Erfolges besteht und eine zur Differenzierung von Täterschaft und Teilnahme geeignete Beschreibung des Handlungsunrechts fehlt. Für diese Fälle gab die materiell-objektive Theorie 18 eine Ergänzung durch den Gesichtspunkt der größeren 15 So die h.L.; vgl. Lange, Der moderne Täterbegriff S. 4ff.; Kohlrausch/Lange, Vorbem. I vor § 47; H. Mayer, Grundriß S. 151; Roxin, Täterschaft und Tatherrschaft S. 27; Welzel, Lehrbuch S. 98; Schmidhäuser, Allg. Teil S. 397. 16 Die Bezeichnungen „restriktiver" und „extensiver" Täterbegriff gehen auf Zimmerl, ZStW 49 (1929) S. 41, 45 zurück. Für den ersteren vor allem die ältere Lehre; vgl.

Beling, Die Lehre vom Verbrechen S. 250; Graf zu Dohna, Verbrechenslehre S. 59; Frank, Vorbem. I I vor § 47; Hegler, RG-Festgabe S. 307; v. Hippel, Bd. I I S. 453 ff.; Grünhut, JW

1932, 366; Wegner, Strafrecht S. 249. Vgl. dazu ferner Roxin, Täterschaft und Tatherrschaft S. 34ff.; Maurach/Gössel/Zipf, Allg. Teil II § 47 Rdn. 71 ff.; Blei, Allg. Teil S. 252 ff. 17

Vgl. Grünhut, JW 1932, 366; Hegler, RG-Festgabe S. 307; v. Hippel, Bd. I I S. 453 f.; v.

Liszt/ Schmidt, S. 334f.; Mezger, Lehrbuch S. 444; Zimmerl, ZStW 49 (1929) S. 46. Dazu Kühl, Allg. Teil § 20 Rdn. 24. 18 So z.B. Liepmann, Einleitung S. 70; Dahm, Täterschaft und Teilnahme S. 43. Zu den verschiedenen Ausprägungen der materiell-objektiven Theorie Roxin, Täterschaft und Tatherrschaft S. 38 ff.

I V . Extensiver Täterbegriff u n d subjektive Teilnahmetheorie

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Gefährlichkeit, die den Tatbeitrag des Täters gegenüber dem des Gehilfen auszeichnen sollte. Abgestellt wurde ferner auf angebliche Unterschiede in der Art und Intensität der Kausalbeziehung 19 . 3. Der restriktive Täterbegriff ist als Ausgangsposition zu billigen, da er auf der Handlungsbeschreibung der gesetzlichen Tatbestände beruht und damit an dem Punkte anknüpft, an dem der Gesetzgeber selbst zu erkennen gegeben hat, was er bei den einzelnen Deliktstypen unter Täterschaft verstanden wissen w i l l 2 0 . Die formell-objektive Theorie hat in § 25 I insofern Ausdruck gefunden, als jedenfalls derjenige Täter ist, der die Straftat selbst begeht. Darüber hinaus läßt sich diese Theorie aber nicht halten. Sie hat zwar unbestreitbar den Vorzug der Klarheit, doch muß dieser Gewinn durch den Formalismus einer starren Bindung an den Gesetzeswortlaut zu teuer erkauft werden. Ein durchschlagender Einwand gegen diese Lehre ist vor allem die Tatsache, daß sie die mittelbare Täterschaft überhaupt nicht und die Mittäterschaft nur bei denjenigen Beteiligten zu erfassen vermag, die wenigstens einen Teil des Tatbestandes erfüllen. Beispiele: Wer seinen nichts ahnenden 5jährigen Sohn zu der Erbtante schickt, um ihr die vergifteten Pralinen zum Geburtstag zu überreichen, ist Mörder in mittelbarer Täterschaft und nicht etwa deshalb straflos, weil er nicht selbst getötet und auch niemanden zu einer vorsätzlichen Tat angestiftet hat. Wer nach gemeinsamem Tatplan die Aufmerksamkeit der Tante ablenkt, während ein anderer ihr das Gift in die Kaffeetasse schüttet, ist Mittäter des Giftmordes und nicht bloß Gehilfe. Auch die materiell-objektive Theorie reicht in ihrer ursprünglichen Fassung nicht aus, um alle relevanten Momente der Straftat zu erfassen, denn die Gefährlichkeit der einzelnen Tatbeiträge wird nicht nur durch das äußere Geschehen, sondern auch durch den Gesamtplan der Beteiligten bestimmt. Abstufungen in der Kausalbeziehung wären, selbst wenn man sie vornehmen könnte, ebenfalls nicht ausschlaggebend, da für die Zurechnung einer Tat die Art und Weise der Steuerung des Kausalgeschehens maßgebend ist. Beispiele: Wenn A der Tante den Kaffee reicht, in den Β auf Geheiß des A Gift geschüttet hat, so ist A Täter, Β Gehilfe. Weiß A von dem Gift nichts, so wird Β zum mittelbaren Täter, obwohl sich an dem äußeren Tatverlauf nichts geändert hat. I V . Extensiver Täterbegriff und subjektive Teilnahmetheorie 1. Dem restriktiven Täterbegriff wurde, vor allem in dem Bestreben, die mit seiner konsequenten Anwendung verbundenen Strafbarkeitslücken auszufüllen, der extensive Täterbegriff gegenübergestellt 21. Dogmatische Grundlage dieser Lehre ist - insoweit übereinstimmend mit dem Einheitstäterbegriff (vgl. oben § 61 I I 1) der die Bedingungstheorie tragende Gedanke von der Gleichwertigkeit aller Erfolgsbedingungen (vgl. oben § 28 I I 1). Täter ist danach jeder, der den tatbestandsmäßigen Erfolg mit verursacht hat, ohne daß sein Tatbeitrag in einer tatbe19 Vgl. Feuerbachy Lehrbuch 13. Auflage S. 74ff.; v. Birkmeyer y Die Lehre von der Teilnahme S. 112 f.; Frank, Vorbem. I I (S. 104) vor § 47: Täterschaft sei das Setzen einer „Ursache", Teilnahme das Setzen einer „Bedingung". Dazu kritisch Engisch, Kausalität S. 79; Stratenwerth y Allg. Teil I Rdn. 741. 20 Vgl. Bloy y Beteiligungsform S. 115 ff.; Maurach/Gössel/Zipf, Allg. Teil I I § 47 Rdn. 77; Lackner y § 25 Rdn. 1; Schönke/Schröder/Gramer, Vorbem. 6 vor § 25. 21 So Baumann, JuS 1963, 126 f. (einschränkend Baumann/Weh er, Allg. Teil S. 535 ff.); Goetzeler, SJZ 1949, 837ff.; Lange, Der moderne Täterbegriff S. 37ff.; Kohlrausch, ZStW 55 (1936) S. 393; Mezger, Lehrbuch S. 415f.; Olshausen, Vorbem. 20 vor § 47; Eh. Schmidt, Frank-Festgabe Bd. II S. 117ff.; Roeder, ZStW 69 (1957) S. 238.

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§ 6 1 D i e Grundlagen der Lehre v o n Täterschaft u n d Teilnahme

standsmäßigen Handlung bestehen müßte. Auch Anstifter und Gehilfen sind danach an sich Täter, doch zeigt die Aufstellung besonderer Strafvorschriften für die Teilnahme, daß diese Formen der Beteiligung im Rahmen des umfassenden Täterbegriffs anders behandelt werden sollen als die Täterschaft selbst. Anstiftung und Beihilfe erscheinen damit als Strafeinschränkungsgründe. Wenn jeder durch einen kausalen Beitrag an der Tat Beteiligte, sofern er nicht als Anstifter oder Gehilfe in den Genuß eines Strafeinschränkungsgrundes gelangt, als Täter gilt, so ergibt sich die Strafbarkeit des mittelbaren Täters, der einen anderen für sich handeln läßt, ebenso wie die des Mittäters, der selbst keine tatbestandsmäßige Handlung vornimmt, von selbst. Der extensive Täterbegriff gewährleistet damit, daß es keinen kausalen Tatbeitrag geben kann, der nicht wenigstens prinzipiell vom Strafrecht erfaßt würde. 2. Wenn sich Täterschaft und Teilnahme aber objektiv nicht unterscheiden lassen, weil sie für eine kausale Betrachtungsweise gleichwertig sind, so bleibt nur die Möglichkeit, die Unterscheidung in einem subjektiven Kriterium zu suchen. Mit dem extensiven Täterbegriff verbindet sich deswegen die subjektive Teilnahmetheorie 22. Täter ist danach, wer einen kausalen Tatbeitrag, worin er auch immer bestehen mag, mit Täterwillen leistet, Teilnehmer dagegen, wer dabei bloß den Teilnehmerwillen hat. Der Täter will die Tat „als eigene", er hat den „animus auctoris", der Teilnehmer will die Tat „als fremde", er hat den „animus socii" (Animustheorie) (vgl. oben § 61 I I 3). Die Animus-Formeln hat sich das RG unter Berufung auf die Motive zu eigen gemacht (RG 3, 181 [182f.]) 23 und auch die Rechtsprechung des B G H bedient sich ihrer, wobei freilich in zunehmendem Maße objektive Kriterien einfließen (vgl. unten § 61 V 4). Die Unterscheidung zwischen Täterschaft und Teilnahme ist damit in der praktischen Rechtsanwendung von einer Tatbestands- weitgehend zu einer Strafzumessungsfrage geworden. Beispiele: Auch wer bei der Vergewaltigung an der Gewaltanwendung gegenüber dem Opfer mitwirkt, soll trotzdem nur Gehilfe sein (RG 3, 181 [182 f.]). Wer beim Mord nur die Sicherung des Täters übernimmt, ohne an der Tötungshandlung mitzuwirken, soll gleichwohl Mittäter sein können (RG 63, 101). Wer eine eigenhändig und voll verantwortlich handelnde Frau zur Abtreibung an sich selbst bestimmt, sei Täter und nicht nur Anstifter, sofern er den Täterwillen hat (RG 74, 21 [23]). Wer das neugeborene Kind auf Veranlassung und im Interesse der unehelichen Mutter tötet, soll nur wegen Beihilfe, nicht wegen Täterschaft strafbar sein (RG 74, 84 [85] 24 ; entsprechend BGH VRS 24, 184 [188]). Wer die ungerechtfertigte Verhaftung eines anderen bewirkt, sei Täter der Freiheitsberaubung (BGH 3, 4 [5]). Selbst zwei eigenhändige Tötungen im Auftrag eines ausländischen Geheimdienstes können als bloße Beihilfe zum Mord erscheinen (BGH 18, 87 [90])25. Wer einen Verunglückten, der durch den Unfall auf das Kraftfahrzeug geschleudert und dort festgeklemmt wurde, nach Aufforderung durch den Fahrer vom fahrenden Pkw abwirft und dadurch tötet, sei nur Gehilfe (BGH GA 1963, 187). Wer bei einem Bankraub in der Schalterhalle die Sicherung übernimmt, soll Mittäter nur dann sein, wenn er mit Täterwillen handelt (BGH Dallinger MDR 1973, 729). Trotz eigenhändiger Ausführung des Totschlags wird der Betei22

Sie stammt von Köstlin, System §§ 93, 94 und wird vertreten von Baumann/Weber, Allg. Teil S. 536; Bockelmann, Untersuchungen S. 76; Olshausen, Vorbem. 24 vor § 47; v. Weber, Grundriß S. 65. Dazu Roxin, Täterschaft und Tatherrschaft S. 51 ff.; Stratenwerth, Allg. Teil I Rdn. 742 ff. 23 Die theoretischen Grundlagen hat auch hier v. Buri, Die Causalität S. 41 f. gelegt. 24 Kritisch dazu Klee, ΖΑΚ 1940, 188; Graf zu Dohna, DStr 1940, 120; über die Hintergründe dieser Entscheidung Härtung, JZ 1954, 430. 25 Zustimmend Baumann, NJW 1963, 562 ff.; Korn, NJW 1965, 1206 ff. Kritisch dazu Schroeder, ROW 1964, 102 ff. Scharf ablehnend Maurach/Gössel/Zipf, Allg. Teil II §47 Rdn. 65.

V . D i e Lehre v o n der Tatherrschaft

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ligte nur als Gehilfe angesehen, wenn er ohne Eigeninteresse ist und nur vor den anderen Beteiligten nicht als Feigling erscheinen will (BGH Dallinger MDR 1974, 547)26. Auch bloße Kuriertätigkeit sei Handeltreiben i.S.v. § 29 I Nr. 1 BtMG, wenn der Täter die Anschaffung der Drogen aus dem Ausland, um sie dem deutschen Händlerring zuzuführen, als eigene Tat will (BGH MDR 1979, 71). 3. Der extensive Täterbegriff und die subjektive Teilnahmelehre sind abzulehnen. Sie widersprechen dem Aufbauprinzip des geltenden Strafrechts, das aus vornehmlich objektiv umschriebenen und abgegrenzten Tatbeständen besteht 27 . Die Strafvorschriften werden durch die Ausdehnung der Strafbarkeit auf jeden kausalen und schuldhaften Tatbeitrag praktisch aufgelöst. Besonders bei den eigenhändigen Verbrechen und den Sonderdelikten zeigt die Existenz spezieller Tatbestände für die mittelbare Täterschaft (§§ 160, 271), daß der Außenstehende vom Gesetzgeber keineswegs generell als möglicher Täter betrachtet wird, mag er die Tat auch noch so sehr „als eigene" gewollt haben. Es kommt hinzu, daß die Animus-Formel kein rational nachprüfbares Merkmal für die Unterscheidung liefert, sondern die Abgrenzung dem Ermessen des Tatrichters überläßt. Auch wenn, wie es häufig in der Praxis geschieht (RG JW 1937, 2509; RG 74, 84 [85]; B G H 6, 226 [229]; 18, 87 [95]; B G H M D R 1979, 79; GA 1984, 287; NStZ 1991, 280), auf den verschiedenen Grad des Interesses der Beteiligten an der Tat abgestellt wird, um dadurch ein objektives Indiz für Stärke und Art des verbrecherischen Willens zu gewinnen (Interessentheorie), ist kein brauchbares Kriterium gefunden, da nicht wenige Tatbestände ein Handeln in fremdem Interesse ausdrücklich vorsehen (z.B. §§ 216, 253, 263, 289). Es bleibt daher nur die Möglichkeit, den maßgeblichen Gesichtspunkt in der Gesinnung der Beteiligten zu suchen, doch wird damit ein Kriterium, das erst für die Schuld von Bedeutung ist, systemwidrig für eine Abgrenzung auf der Tatbestandsebene benutzt (charakteristisch B G H 18, 87 [95 f.]). Die subjektive Theorie widerspricht endlich in ihrer wesentlichsten Konsequenz, daß der eigenhändig und vollverantwortlich Handelnde auch bloß Gehilfe sein kann, wenn er die Tat nicht „als eigene" will, dem geltenden Recht, da § 25 I („wer die Tat selbst begeht") für diesen Fall ausdrücklich die Annahme von Täterschaft vorschreibt (vgl. oben § 61 I I 3) 2 8 . V. Die Lehre von der Tatherrschaft 1. Weder eine rein objektive noch eine rein subjektive Theorie ist somit geeignet, das Wesen der Täterschaft überzeugend zu begründen und zugleich Täterschaft und Teilnahme zutreffend gegeneinander abzugrenzen. Es muß vielmehr eine Synthese der beiden Lehrmeinungen gesucht werden, von denen jede eine Seite der Sache richtig bezeichnet, aber, wenn sie isoliert angewandt wird, den Sinn des ganzen verfehlt. Das ist das Ziel der Lehre von der Tatherrschaft, die, von 26 Eingehende Analysen der schwankenden Rechtsprechung des BGH finden sich bei Baumann, NJW 1962, 374ff.; Dreher/Tröndle, Vorbem. 2 vor § 25; Sax, JZ 1963, 329ff.; Roxin, Täterschaft und Tatherrschaft S. 91 ff.; LK U (Roxin) § 25 Rdn. 14ff. 27 Vgl. zur Kritik der subjektiven Teilnahmetheorie Beling, GS 101 (1932) S. 10; Bloy, Beteiligungsform S. 99f.; Bockelmann/Volk, Allg. Teil S. 176; H. Bruns, Kritik der Lehre vom Tatbestand S. 56; Gallas, Materialien Bd. I S. 123 ff.; derselbe, ZStW Beiheft Athen 1957 S. 7ff.; Herzberg, Täterschaft S. 5 f.; Kühl, Allg. Teil § 20 Rdn. 22; M. E. Mayer, Lehrbuch S. 402; Roxin, Täterschaft und Tatherrschaft S. 51 ff.; derselbe, Kriminalpolitik S. 20f.; Sax, JZ 1963, 330ff.; Stratenwerth, Allg. Teil I Rdn. 745ff.; Spendel, JuS 1969, 314ff.; SK (Samson) § 25 Rdn. 17; Wessels, Allg. Teil Rdn. 517. Frisch, Lexikon 8/1620 S. 3 hält die extremsubjektive Theorie nach Einführung des § 25 I zu Recht nicht mehr für vertretbar. 28 Zu der Anwendung einer „wertenden Betrachtungsweise" bei der Abgrenzung von Mittäterschaft und Beihilfe durch die Rechtsprechung LK 1 (Roxin) § 25 Rdn. 26.

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Lobe begründet 29 und von Roxin 30 wesentlich gefördert, heute eine führende Stellung in der Wissenschaft errungen hat 3 1 . Ausgangspunkt für die Lösung ist der restriktive Täterbegriff mit seiner Anknüpfung an den gesetzlichen Tatbestand. Täterschaft kann somit nicht durch jede beliebige Mitverursachung des tatbestandsmäßigen Erfolgs, sondern grundsätzlich nur durch Vornahme einer tatbestandsmäßigen Handlung begründet werden. Die tatbestandsmäßige Handlung wird jedoch weder allein als ein Handeln mit einer bestimmten Einstellung noch als reines Außenweltgeschehen, sondern als objektiv-subjektive Sinneinheit verstanden. Die Tat erscheint damit als das Werk eines das Geschehen steuernden Willens 32 . Aber nicht nur der Steuerungswille ist für die Täterschaft maßgebend, sondern auch das sachliche Gewicht des Tatanteils, den jeder Beteiligte übernimmt. Täter kann deshalb nur sein, wer auch nach der Bedeutung seines objektiven Beitrags den Ablauf der Tat mit beherrscht. 2. Daraus folgt zunächst, daß die eigenhändige, voll verantwortliche Verwirklichung aller Tatbestandsmerkmale immer Täterschaft begründet. Das ist auch der Sinn des § 25 I erster Fall, wonach als Täter bestraft wird, „wer die Straftat selbst begeht" (vgl. oben § 61 IV 3). 29

LK 5 (Lobe), 1933, Einleitung S. 123. Roxin, Täterschaft und Tatherrschaft S. 60ff.; LK n (Roxin) § 25 Rdn. 7ff., 34ff. Die Tatherrschaftslehre soll jedoch bei den „Pflichtdelikten" (z.B. §§ 142, 266, Amtsdelikte, unechte Unterlassungsdelikte) dadurch ersetzt werden, daß der Träger der Pflicht ohne Rücksicht auf die Art und das Gewicht seines Tatbeitrags immer Täter ist; so Roxin, Täterschaft und Tatherrschaft S. 354; LK n (Roxin) § 25 Rdn. 37ff.; ihm folgend Jakobs, Allg. Teil 21/ 116ff.; Schönke/Schröder /Cramer, Vorbem. 71 vor § 25; Wessels, Allg. Teil Rdn. 514. Richtig ist daran nur, daß bei allen Sonderdelikten Täter nur sein kann, wer Träger der Pflicht ist. Daraus folgt aber nicht, daß jeder Pflichtträger auch Täter sein muß; vielmehr muß er entweder die Tatherrschaft haben oder daran teilhaben oder er ist mittelbarer Täter, der mit einem qualifikationslosen Werkzeug zusammenwirkt (vgl. unten § 62 II 7). Kritisch dazu auch Stratenwerth, Allg. Teil I Rdn. 756f., 793 ff.; Bloy, Beteiligungsform S. 229ff.; Langer, Sonderverbrechen S. 223 ff.; SK (Samson) § 25 Rdn. 35; Maurach/Gössel/Zipf, Allg. Teil II § 47 Rdn. 90 f. 31 So Blei, Allg. Teil S. 253 f.; Bockelmann/Volk, Allg. Teil S. 177; Eser, Strafrecht II 37 A Rdn. 14ff.; Gallas, Materialien Bd. I S. 128; derselbe, ZStW Beiheft Athen 1957 S. 13; Heinitz, JR 1954, 405; Herzberg, Täterschaft S. 8; Jakobs, Allg. Teil 21/35ff. (mit weiterer Unterteilung des Begriffs der Tatherrschaft); Jescheck, SchwZStr 71 (1956) S. 234; Kohlrausch/ Lange, Vorbem. I 4 vor § 47; Lackner, Vorbem. 6 vor § 25; M aurach / Gössel/Zipf, Allg. Teil II § 47 Rdn. 84ff.; Niese, DRiZ 1952, 23; Otto, Grundkurs S. 259f.; Kühl, Allg. Teil § 20 Rdn. 29; Rudolphi, Bockelmann-Festschrift S. 372 ff.; Sax, ZStW 69 (1957) S. 432 ff.; Schroeder, Der Täter hinter dem Täter S. 70f.; Welzel, Lehrbuch S. 100; Stratenwerth, Allg. Teil I Rdn. 749ff.; SK (Samson) § 25 Rdn. 18; Wessels, Allg. Teil Rdn. 518. Ein früher Ansatz zu dieser Lehre findet sich auch schon bei Welzel, ZStW 58 (1939) S. 539 („finale Tatherrschaft"). Eine subjektiv verankerte Tatherrschaftslehre vertritt Nowakowski, JZ 1956, 546. In diesem Zusammenhang ist auch die „Ganzheitstheorie a von Schmidhäuser, Allg. Teil S. 582 zu nennen, die sich aber nicht definitorisch, sondern phänomenologisch versteht. Eingehende Kritik der Tatherrschaftslehre bei Stein, Die strafrechtliche Beteiligungsformenlehre S. 189 ff. Der Versuch von Bottke, Täterschaft und Gestaltungsherrschaft, 1992, den Begriff der Täterschaft im Hinblick auf ein gemeineuropäisches Strafrechtssystem auf die Benutzung der „europäischen Alltagssprachen" zu gründen, bringt keine verläßliche Erkenntnis, weil es für den Begriff der Täterschaft in den europäischen Rechten nicht auf die Alltagssprache, sondern auf den Gesetzestext und seine Auslegung in Rechtsprechung und Lehre ankommt. Vgl. dazu Lesch, G A 1994, 112 ff. 32 So Gallas, Materialien Bd. I S. 128. Dabei ist Engisch, ZStW 66 (1954) S. 383 f. durchaus zuzugeben, daß es sich um ein „Bild" handelt, aber mehr als eine bildhafte Umschreibung des Sachverhalts ist nicht möglich. 30

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3. Der Täterbegriff ist jedoch nicht, wie die formell-objektive Theorie annahm, auf die Vornahme einer im strengen Wortsinn tatbestandsmäßigen Handlung zu beschränken. Aus der Fassung von § 25 ergibt sich vielmehr, daß der Tatbestand unter gewissen Voraussetzungen auch von solchen Beteiligten erfüllt werden kann, die zwar nicht eine tatbestandsmäßige Handlung im formellen Sinne vornehmen, aber trotzdem die Tatherrschaft innehaben oder an dieser beteiligt sind. a) Es handelt sich dabei einmal um die von Lehre und Rechtsprechung anerkannten Fälle der mittelbaren Täterschaft (§ 25 I zweiter Fall), bei denen der Hintermann sich zur Begehung der Tat eines anderen Menschen als Werkzeug bedient und durch sein „Übergewicht" eine der unmittelbaren Begehung gleichwertige Tatherrschaft erlangt 33 ( B G H 32, 38 [42]: Verleitung zum Selbstmord als Tötungsdelikt kraft überlegenen Wissens [Sirius-Fall]). Wer zur Tat dagegen eine tatbestandsmäßig, rechtswidrig und voll verantwortlich handelnde Person bestimmt, ist Anstifter, selbst wenn er den anderen rein tatsächlich mehr oder weniger „beherrscht", denn die Herbeiführung des Tatentschlusses bleibt Anstiftung, auch wenn dieser wie meist unter dem starken Einfluß des Hintermanns gefaßt w i r d 3 4 . b) Die zweite Gruppe von Fällen betrifft das Zusammenwirken mehrerer bei der Mittäterschaft (§ 25 II). Hier müssen zunächst alle Beteiligten Mitträger des gemeinsamen Tatentschlusses sein, weil sie nur dadurch zu Teilhabern an der Ausübung der Tatherrschaft werden können. Darüber hinaus muß jeder auch objektiv einen bedeutsamen Tatbeitrag leisten, der jedenfalls über eine bloße Vorbereitungshandlung hinausgeht. Durch die zweckmäßigste Art der „Rollenverteilung" kann es sich jedoch bei der Mittäterschaft ergeben, daß auch ein Tatbeitrag, der formell nicht in den Rahmen der tatbestandsmäßigen Handlung fällt, zur täterschaftlichen Bestrafung ausreicht. Es muß sich nur um ein notwendiges Teilstück der Ausführung des Gesamtplans im Rahmen sinnvoller „Arbeitsteilung" handeln (funktionelle Tatherrschaft) 35. 33

So zuerst Hegler, RG-Festgabe S. 307. So auch Gallas., Materialien Bd. I S. 134; derselbe, ZStW Beiheft Athen 1957 S. 14ff.; § 26 Rdn. 4; Herzberg, Täterschaft S. 19; RoH. Mayer, Lehrbuch S. 313; Dreher/Tröndle, xin y Täterschaft und Tatherrschaft S. 161 ff.; Stratenwerth, Allg. Teil I Rdn. 771; Welzel, SJZ 1947, 650; Wessels, Allg. Teil Rdn. 523. Für Täterschaft bei Willensherrschaft des Hintermanns dagegen die im Vordringen begriffene Lehre vom „Täter hinter dem Täter"; vgl. in diesem Sinne Baumann, NJW 1963, 564; Blei, Allg. Teil S. 258; Gramer, Bockelmann-Festschrift S. 393; Hardwig, GA 1954, 260f.; Jäger, MSchrKrim 1962, 79; Maurach/Gössel/Zipf, Allg. Teil I I §48 Rdn. 85ff.; Kühl, Allg. Teil §20 Rdn. 77ff.; Kohlrausch/Lange, Vorbem. I 5 Β 1, 2 f. vor § 47; bei vermeidbarem Verbotsirrtum, Nötigung und Willensherrschaft kraft organisatorischer Machtapparate auch Roxin, Täterschaft und Tatherrschaft S. 199ff., 242 ff.; derselbe, Lange-Festschrift S. 177ff.; derselbe, GA 1963, 199ff.; LK U (Roxin) § 25 Rdn. 83ff., 128ff. Grundlegend Schroeder, Der Täter hinter dem Täter S. 119ff. Gegen diese Lehre zutreffend Spendel, Lange-Festschrift S. 171. Der BGH hat in dem freilich extrem gelagerten „Katzenkönig-Fall" (BGH 35, 347 [351 ff.]) Täterschaft auch für die Hinterleute des die Tat vorsätzlich und voll verantwortlich Ausführenden angenommen. Noch einen Schritt weiter geht der BGH in einer Entscheidung, die Mitglieder des Nationalen Verteidigungsrats der DDR als mittelbare Täter hinter den voll verantwortlich handelnden Grenzsoldaten der DDR ansieht, die Flüchtlinge vorsätzlich getötet haben (BGH 40, 218 [236 ff.] m. zust. Anm. Roxin, JZ 1995, 49). 35 Vgl. Gallas, DRZ 1950, 67f.; Roxin, Täterschaft und Tatherrschaft S. 275ff., 614ff.; Maurach/Gössel/Zipf, Allg. Teil II § 49 Rdn. 5; Kühl, Allg. Teil § 20 Rdn. 103 ff.; Lackner, § 25 Rdn. 11; Stratenwerth, Allg. Teil I Rdn. 823; SK (Samson) § 25 Rdn. 43; Wessels, Allg. Teil Rdn. 526. Einschränkend Herzberg, Täterschaft S. 57ff.; kritisch Frisch, Lexikon 8/1620 S. 4. 34

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Beispiele: Wer als Anführer einer Einbrecherbande am Tatort den Einsatz seiner Leute leitet, ist Mittäter, auch wenn er selbst die Beute nicht in eigener Person wegnimmt. Wer dagegen erst unmittelbar vor der Tat in den vorbereiteten Plan eines Raubmordes eingeweiht wird und sich dann darauf beschränkt, die Mordwaffe zur Verfügung zu stellen und den Tätern dadurch Mut zu machen, daß er in der Nähe des Tatorts verbleibt, ist nur Gehilfe (anders OGH 1, 365 [367]). Wer eine Blockade gegen die Polizei durch Aufrufe und Leitungstätigkeit mitbeherrscht, ist Mittäter i.S.v. §§ 105, 125, 125 a, auch wenn er sich nicht am Tatort befindet (BGH 32, 165 [180] Fall Startbahn West). Wer sich in voller Kenntnis aller Umstände in die Agententätigkeit eingliedert, ist, auch wenn er nur Hilfsdienste leistet, Mittäter i.S.v. § 99 (BGH NStZ 1984, 287). 4. In der Rechtsprechung des B G H herrschte bisher die subjektive Theorie (vgl. oben § 61 IV 2). Für ihre weitere Anwendung ist nach dem zweiten Weltkrieg die Problematik der NS-Gewaltverbrechen von Einfluß gewesen. Bei der Aburteilung von befohlenen Mordtaten im Rahmen von Organisationen haben sich die Gerichte in der Regel gescheut, Täterschaft anzunehmen, wenn die Ausführenden im Machtbereich der Befehlsgeber lebten, und sind statt dessen im Wege der subjektiven Teilnahmetheorie auf Beihilfe ausgewichen36. Die neuere Rechtsprechung hat die früher rein subjektive Theorie inzwischen stark mit objektiven Kriterien durchsetzt, indem auf eine Gesamtwertung abgestellt wird, bei der es auf das Interesse und die Tatherrschaft oder wenigstens den Willen zur Tatherrschaft als „Anhaltspunkte" ankommt 37 . Durch diese Annäherung dürfte im praktischen Ergebnis für die große Mehrzahl der Fälle Übereinstimmung erzielt sein. Beispiele: Beim Devisenvergehen kommt es für die Mittäterschaft darauf an, inwieweit jeder Beteiligte den Ablauf der Tat mit beherrscht hat (BGH JR 1955, 304 [305]). Wer einen Menschen mit eigener Hand tötet, ist Täter, auch wenn er es unter dem Einfluß und in Gegenwart eines anderen sowie ausschließlich in dessen Interesse tut (BGH 8, 393 [396]). Beim einseitig fehlgeschlagenen Doppelselbstmord ist der Überlebende Täter nach § 216, wenn er das zum Tode führende Geschehen bis zuletzt in der Hand hatte (BGH 19, 135 [140]). Für die Annahme der Mittäterschaft bei der räuberischen Erpressung kommt es auf den Täterwillen an, über dessen Vorliegen aber „in wertender Betrachtung" zu entscheiden ist, wobei Interesse und Grad der Tatherrschaft eine Rolle spielen (BGH 28, 346 [348 f.]). Mittäterschaft beim Mord setzt voraus, daß beide Angeklagte die Tat als eigene gewollt haben, wofür „Anhaltspunkte" aber im Grad des eigenen Interesses, im Umfang der Tatbeteiligung und in der Tatherrschaft oder doch wenigstens dem Willen zur Tatherrschaft zu finden sind (BGH G A 1984, 287). Übereinstimmend BGH 36, 363 (367); BGH NStZ 1982, 27; 1984, 287; 1985, 165; 1987, 224. VI. Die Beteiligung an der fahrlässigen Straftat Wenn mehrere Personen infolge unbewußter Fahrlässigkeit gemeinsam eine Straftat begehen, ist eine Unterscheidung von Täterschaft und Teilnahme nicht möglich, weil es allen Beteiligten in gleicher Weise an der Voraussicht des tatbestandsmäßigen Erfolges fehlt und deshalb von einer Beherrschung des Geschehens bei keinem von ihnen die Rede sein kann 38 . Dagegen ist bei der bewußten Fahrlässigkeit eine 36 Vgl. dazu kritisch Baumann, Die strafrechtliche Problematik S. 317; Hanack, Bestrafung nationalsozialistischer Gewaltverbrecher S. 34ff.; LK 9 (Busch) Vorbem. 19a vor § 47; ferner die Entschließung der Kommission des DJT, JZ 1966, 715. 37 Vgl. Roxin, Täterschaft und Tatherrschaft S. 277ff.; LK U (Roxin) § 25 Rdn. 29; Lackner, Vorbem. 5f. vor § 25; Küpper, GA 1986, 440ff., 444 ff.; Otto, Jura 1987, 249; Geerds, Jura 1990, 175 f.; Wessels, Allg. Teil Rdn. 522. 38 Vgl. Gallas, Materialien Bd. I S. 128 f.; derselbe, ZStW Beiheft Athen 1957 S. 18; HerzAllg. Teil II § 47 berg, Täterschaft S. 72 ff.; Jakobs, Allg. Teil 21/111; Maurach/Gössel/Zipf, Rdn. 102; Schönke/Schröder/Gramer, Vorbem. 15 vor § 25; Stratenwerth, Allg. Teil I Rdn. 1152; Welzel, Lehrbuch S. 99.

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Aufgliederung, wie sie derjenigen bei der Vorsatztat entsprechen würde, an sich denkbar, weil die Beteiligten sich hier die Verwirklichung des Tatbestandes als mögliche Folge ihres Tuns immerhin vorstellen. Das Gesetz bedroht jedoch in §§ 26, 27 nur die vorsätzliche Teilnahme an einer Vorsatztat mit Strafe. Maßgebend für Abstufungen innerhalb der Fahrlässigkeit ist allein der Grad der Sorgfaltspflichtverletzung, und dieser bemißt sich nach anderen Kriterien, als sie die Tatherrschaftslehre liefern kann 3 9 . Täter der fahrlässigen Straftat ist daher jeder, der unter Verletzung der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt dazu beiträgt, den Tatbestand zu verwirklichen, wobei freilich zu beachten ist, daß er, soweit es sich nicht um ein reines Erfolgsdelikt handelt (z.B. §§ 222, 230, 309), auch die Handlungsmerkmale erfüllen muß, um strafbar zu sein (z.B. §§ 163, 310b IV, 315c I I I Nr. 2, 316 II, 326 I V ) 4 0 . Einen Unterschied zwischen Täterschaft und Teilnahme gibt es auch bei der bewußten Fahrlässigkeit nicht (vgl. oben § 54 IV). Beispiele: Wenn die Begleiterin den Kraftfahrer zu leichtsinniger Fahrweise anspornt und dadurch einen Unfall mit verursacht, sind beide Täter der fahrlässigen Tötung (nur der Fahrer aber wird auch nach § 315c I Nr. 2b i.Verb.m. Abs. 3 Nr. 2 bestraft). Fahrlässige Tötung in Nebentäterschaft liegt vor, wenn zwei Bauarbeiter gemeinschaftlich einen Balken so unvorsichtig auf die Strafe werfen, daß ein Passant getötet wird. V I I . Die Abhängigkeit der Teilnahme von der Haupttat (Akzessorietät) 1. Die Teilnahme (Anstiftung und Beihilfe) ist von der Existenz einer vorsätzlichen Haupttat abhängig (Akzessorietät), denn erst durch die Begehung der Haupttat vollendet sich der Unrechtstatbestand der §§ 26, 27. Dies führt zu der Frage, welche Eigenschaften die Haupttat aufweisen muß, um geeigneter Anknüpfungspunkt für die Verantwortlichkeit des Teilnehmers zu sein. Diese Frage spielt auch bei der Mittäterschaft eine Rolle, da auch hier der Tatbeitrag des einen Beteiligten durch den des anderen bis zur vollen Erfüllung des Deliktstatbestandes ergänzt wird41. Bis 194342 galt der Grundsatz der strengen Akzessorietät, wonach der Haupttäter eine „strafbare" Handlung begangen haben mußte. Darunter verstand man eine Handlung, die nach Tatbestand, Rechtswidrigkeit und Schuld alle Merkmale der Strafbarkeit aufweisen mußte, abgesehen von den persönlichen Strafausschließungsgründen und den Prozeßvoraussetzungen . Überstürzt und ohne klare Voraussicht der Konsequenzen44 führte die VO vom 29.5.1943 (RGBl. I S. 341) die limitierte Akzessorietät ein, um angebliche Strafbarkeitslücken auszufüllen, obwohl § 4 JGG 1923 die Akzessorietätsfrage bei der Teilnahme an Straftaten Jugendlicher schon längst im Sinne der Limitierung gelöst hatte und die übrigen Fälle durch die allseits anerkannte Figur der mittelbaren Täterschaft ohne weiteres erfaßt werden konn39

Vgl. LK U (Roxin) § 25 Rdn. 217ff. Fahrlässige Beteiligung an einer Vorsatztat ist nach h.L. fahrlässige Nebentäterschaft (vgl. oben § 54 IV). Gegen Strafbarkeit des fahrlässig Handelnden in solchen Fällen Spendel, JuS 1974, 756. Vorsätzliche Teilnahme an fahrlässiger oder vorsätzlicher Selbstgefährdung ist nur dann als Körperverletzung oder Tötung strafbar, wenn der Teilnehmer kraft überlegenen Sachwissens das Risiko besser erfaßt als der sich selbst Gefährdende (BGH 32, 262 [265]; BGH NStZ 1984, 452; zustimmend LK 10 [Jähnke] § 222 Rdn. 21; Stree, JuS 1985, 181 ff.). Für Unterscheidbarkeit von Täterschaft und Teilnahme auch im Fahrlässigkeitsbereich Otto, Spendel-Festschrift S. 271 ff. 40 So zu Recht Jakobs, Allg. Teil 21/111. 41 Ebenso LK 9 (Busch) Vorbem. 28 vor § 47. 42 Über die ältere Entwicklung des Begriffs der Akzessorietät vgl. Schlutter, Zur Dogmengeschichte der Akzessorietät S. 13 ff. 43 Vgl. Frank, § 48 Anm. I I 2; § 49 Anm. I; RG 31, 395 (396); 57, 272 (273); 70, 26 (27). Anders schon damals Kantorowicz y Tat und Schuld S. 120 f. 44

Vgl. Oehler y Festschrift z u m 41. D J T S. 255.

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ten. Die Haupttat brauchte nur noch eine „mit Strafe bedrohte Handlung" zu sein (§§ 48 I, 49 a.F.). Wie das zu verstehen war, erläuterte § 50 I a.F. durch die Bestimmung, daß jeder Beteiligte „ohne Rücksicht auf die Schuld des anderen nach seiner Schuld strafbar" sein sollte. Umstritten war bei dieser Regelung vor allem die Frage, ob die Möglichkeit der Teilnahme vom Vorsatz des Täters abhängt oder nicht (vgl. dazu 2. Auflage S. 498 f.). 2. Das seit der Reform von 1975 geltende Recht hat diesen Streit in Ubereinstimmung mit der schon bisher herrschenden Lehre und teilweise auch der Rechtsprechung (BGH 9, 370) dahin entschieden, daß Anstiftung und Beihilfe eine vorsätzlich begangene rechtswidrige Haupttat ( § 1 1 1 Nr. 5) voraussetzen 45. Durch diese Regelung ist der Bezugspunkt von Anstiftung und Beihilfe klar festgelegt. Es entstehen jedoch Strafbarkeitslücken in den Fällen, in denen der Haupttäter fahrlässig handelt und der Hintermann die vom Tatbestand verlangten persönlichen Voraussetzungen der Täterschaft nicht aufweist: er kann dann mangels vorsätzlicher Haupttat nicht als Anstifter und mangels Täterqualität nicht als mittelbarer Täter bestraft werden 46 . Ähnliche Probleme tauchen bei eigenhändigen Delikten auf. Beispiele: Wer einen Arzt zur fahrlässigen Mitteilung einer Tatsache verleitet, auf die sich die Schweigepflicht bezieht, kann nicht wegen Anstiftung zur Geheimnisverletzung (§ 203 Nr. 1) bestraft werden (anders BGH 4, 355; 5, 47). Wer dem Fahrer eines unfallbeteiligten Kraftwagens vorspiegelt, der andere Beteiligte habe auf Feststellungen verzichtet, kann nicht wegen Beihilfe zu § 142 bestraft werden (OLG Stuttgart JZ 1959, 579)47. 3. Zweifelhaft ist die Frage, ob es für die Strafbarkeit des Teilnehmers genügt, wenn der Teilnehmer irrig daran geglaubt hat, der Täter werde vorsätzlich handeln. Hier erfüllt der Teilnehmer nach seiner Vorstellung alle Voraussetzungen der §§ 26, 27. Die Vorschrift des § 32 Ε 1962, die eine nur vorgestellte Vorsätzlichkeit ausdrücklich genügen lassen wollte, ist 1975 jedoch nicht in das neue Recht übernommen worden (vgl. BT-Drucksache V/4095 S. 13). Da das Gesetz in den §§ 26, 27 ausdrücklich den (objektiv vorhandenen) Vorsatz des Haupttäters für die Strafbarkeit des Teilnehmers verlangt, wird man sich ohne Verletzung des Analogieverbots nicht mit vermeintlichem Vorsatz begnügen dürfen (BGH 9, 382; K G NJW 1977, 817 [819]) 48 (anders die 2. Auflage S. 499). Das bedeutet, daß nur noch wegen versuchter Anstiftung zu einem Verbrechen nach § 30 bestraft werden kann, während alle anderen Fälle straflos bleiben. 45 Vgl. zustimmend Baumann/Weber, Allg. Teil S. 555ff.; Bockelmann, Gallas-Festschrift S. 261 ff. m.w.Nachw. in Fußnote 2; Dreher/Tröndle, Vorbem. 10 vor § 25; Lackner, Vorbem. 9 vor § 25; Maurach/Gössel/Zipf, Allg. Teil II § 53 Rdn. 107; SK (Samson) Vorbem. 27 vor § 26; Stratenwerth, Allg. Teil I Rdn. 880; Wessels, Allg. Teil Rdn. 553. 46 Auch die Kritiker halten jedoch die Regelung der §§ 26, 27 für eindeutig und bindend; vgl. LK 11 (Roxin) Vorbem. 28 vor § 26; Roxin, Täterschaft und Tatherrschaft S. 552 f.; Jakobs, Allg. Teil 22/12f.; Schmidhäuser, Allg. Teil S. 539 Fußnote 11; Schönke/Schröder/ Cramer, Vorbem. 29 f. vor § 25. Eine bloß „verletzungsbewußte Haupttat" läßt Langer, Sonderverbrechen S. 468 genügen (zu diesem Begriff S. 301), eine „willentlich vorgenommene Handlung des Täters" soll nach Schmidhäuser, Studienbuch S. 274 ausreichen. 47 Vgl. dazu Herzberg, JuS 1975, 577f.; Roxin, Einführung S. 31. 48 So die überwiegende Meinung; vgl. Bockelmann, Gallas-Festschrift S. 261 ff.; Herzberg, Täterschaft S. 45f.; Jescheck, SchwZStr 90 (1975) S. 32; Letzgus, Vorstufen S. 31; Maurach/

Gössel/Zipf,

Allg. Teil I I § 48 Rdn. 32; LK n

(Roxin) § 25 Rdn. 143; Preisendanz,

§ 25

Anm. III 2caa; Roxin, Täterschaft und Tatherrschaft S. 556 ff.; SK (Samson) Vorbem. 27 vor § 26; Schönke/Schröder/ Cramer, Vorbem. 30 vor § 25; Stratenwerth, Allg. Teil I Rdn. 963; Wessels, Allg. Teil Rdn. 554. Die Gegenmeinung vertreten Baumann/Weber, Allg. Teil S. 557 f.; Dreher/Tröndle, Vorbem. 10 vor § 25; Lackner, Vorbem. 10 vor § 25; Eser, Strafrecht II Nr. 41 A Rdn. 22f.; Schöneborn, ZStW 87 (1975) S. 911 Fußnote 38.

V I I . D i e Abhängigkeit der Teilnahme v o n der H a u p t t a t (Akzessorietät)

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4. Die Teilnahme trägt ihren vollen Unrechtsgehalt nicht in sich selbst, sondern bezieht ihn aus der fremden Tat. Deswegen darf die Limitierung der Akzessorietät nicht so weit gehen, daß von dem Erfordernis einer tatbestandsmäßigen und rechtswidrigen Haupttat Abstriche gemacht werden. Eine starre Regelung der Akzessorietät, die jedes die Haupttat qualifizierende oder privilegierende Unrechtsmerkmal unbesehen auf alle Beteiligten ausdehnte, würde indessen ungerecht wirken, weil das die Strafbarkeit ändernde Moment in so hohem Maße an die Person gebunden sein kann, daß es nur denjenigen Beteiligten belasten oder entlasten darf, bei dem es auch tatsächlich vorliegt 4 . Deswegen bestimmt § 28 II, daß besondere persönliche Merkmale, die die Strafe schärfen, mildern oder ausschließen, nur demjenigen Beteiligten zugerechnet werden, bei dem sie vorliegen 50 . Dies bedeutet, daß straferhöhende bzw. strafmildernde besondere persönliche Merkmale bei der Wahl des anzuwendenden Straftatbestandes nur bei demjenigen Täter bzw. Teilnehmer zu berücksichtigen sind, bei dem sie vorliegen. Bei Anstiftung zur Körperverletzung im Amt wird z.B. der Beamte nach § 340 I, der nicht qualifizierte Anstifter nach § 223 bestraft 51 . Die Lage des Teilnehmers kann durch diese Regelung nicht nur gemildert, sondern auch verschärft werden, denn strafschärfende persönliche Merkmale, die zwar bei ihm, nicht aber beim Täter vorliegen, belasten ihn, strafmildernde persönliche Umstände, die zwar beim Täter, aber nicht bei ihm vorliegen, kommen ihm nicht zugute. Zusätzlich zu § 28 I I bestimmt § 28 I zugunsten des nichtqualifizierten Teilnehmers, daß beim Fehlen besonderer persönlicher Merkmale, die die Strafbarkeit des Täters begründen, Strafmilderung nach § 49 I eintritt. Aus dieser Regelung lassen sich, über ihren Wortlaut hinaus, zwei Schlüsse ziehen: erstens, wer selbst keine Täterqualität besitzt, kann auch durch die Beteiligung einer als Täter qualifizierten Person nicht zum Täter werden (anders § 14 I 2 OWiG); zweitens, wer einen qualifizierten Täter bei der Tat als Anstifter oder Gehilfe unterstützt, wird auch dann (allerdings milder) bestraft, wenn er selbst die Täterschaftsvoraussetzungen nicht besitzt. a) Zweifelhaft ist, was man unter „besonderen persönlichen Merkmalen" zu verstehen hat 5 2 . Nach der Definition des § 14 I handelt es sich um „besondere persönliche Eigenschaften, Verhältnisse oder Umstände". Für die strafändernden persönlichen Merkmale des § 50 I I a.F. wurde früher teilweise das Moment der Dauer verlangt (RG 25, 266 [267]; O G H 1, 95 [104]; O L G Braunschweig M D R 1948, 183). Doch kommt es nicht darauf, sondern nur auf den höchstpersönlichen Charakter des Merkmals an (BGH 8, 205 [209]; 23, 103 [105]) 53 . Zu unterscheiden ist 49 Dazu eingehend Schünemann, Jura 1980, 356f.; Grünwald, Armin Kaufmann-Gedächtnisschrift S. 555 ff. 50 Der Grundgedanke des § 28 II ist auf Regelbeispiele entsprechend anzuwenden, so daß z.B. der Erschwerungsgrund des § 243 I Nr. 3 den Teilnehmer nur dann belastet, wenn er selbst gewerbsmäßig handelt; vgl. Wessels, Maurach-Festschrift S. 307; Dreher/Tröndle, § 46 Rdn. 49. 51 Dagegen wollen LK n (Roxin) § 28 Rdn. 3 f.; Cortes Rosa, ZStW 90 (1978) S. 433 und Wagner, Amtsverbrechen S. 386ff. den vom Täter verwirklichten Tatbestand auf den Teilnehmer anwenden, während der Tatbestand, der sich nach § 28 II für den Teilnehmer ergibt, nur für die Strafzumessung in Betracht kommen soll. 52 Vgl. die Darstellungen von Heidland, Die besonderen persönlichen Merkmale S. 28 ff.; Jährigy Die persönlichen Umstände S. 56ff.; Gerl, Die besonderen persönlichen Merkmale S. 81 ff. Grundsätze für die Auslegung der Tatbestände entwickelt Schwerdtfeger, Besondere persönliche Unrechtsmerkmale S. 235 ff. 53 So die h.L.; vgl. Blei, Allg. Teil S. 268; Dreher/Tröndle, § 28 Rdn. 3 ff.; Gallas., ZStW Beiheft Athen 1957 S. 35; Kohlrausch/Lange, § 50 Anm. III; LK 9 (Busch) § 50 Rdn. 17f.; Maurach/Gössel/Zipf, Allg. Teil II § 53 Rdn. 48; Schönke/Schröder /Cramer, § 28 Rdn. 15; 4

esch

.

.

Die

658

u n g

der Lehre v o n Täterschaft u n d Teilnahme

zwischen tatbezogenen und täterbezogenen persönlichen Merkmalen (beim Mord z.B. einerseits die Heimtücke, B G H 23, 103 [105], andererseits die niedrigen Beweggründe, B G H 22, 375 [378 ff.] und die Verdeckungsabsicht, B G H 23, 39) 54 . Unter § 28 fallen nur die täterbezogenen persönlichen Merkmale, während die tatbezogenen Merkmale, da sie das von jedermann begehbare Unrecht der Haupttat kennzeichnen, nach den allgemeinen Regeln der Akzessorietät behandelt werden 55 . Zu den persönlichen Eigenschaften, Verhältnissen und Umständen gehören demgemäß nicht alle Merkmale, die die personale Seite des Handlungsunrechts mitbestimmen (vgl. oben § 24 I I I 4). Auszunehmen sind einmal der Vorsatz, zum anderen von den subjektiven Unrechtsmerkmalen die Absichten (RG 56, 171 [173]) (vgl. oben § 30 I I 1), weil sie nur ins Subjektive verlegte Merkmale des objektiven Tatbestands darstellen 56. Auch die Garantenpflichten bei den unechten Unterlassungsdelikten gehören nicht hierher, denn das im Tatbestand des unechten Unterlassungsdelikts enthaltene Verbot richtet sich an jedermann, und die Garantenpflicht hat nur die Bedeutung, positives Tun und Unterlassen bei der Zurechnung des tatbestandsmäßigen Erfolgs gleichzustellen57. Endlich sind hier auch die objektiven Tätermerkmale des § 14 I Nr. 1 - 3 nicht gemeint, auf die bei richtiger Auslegung die in derselben Vorschrift enthaltene Definition der besonderen persönlichen Merkmale nicht zu beziehen ist (vgl. oben § 23 V I I I 2). aa) Strafschärfende

persönliche Eigenschaften,

Verhältnisse

oder Umstände sind z.B. die

Gewerbs- und Gewohnheitsmäßigkeit in §§ 180a, 260 I, 260a, 261 IV 2 (RG 26, 3; 61, 268; 71, 72), das Anvertrautsein der Sache in § 246 zweite Handlungsform (besondere Vertrauensstellung des Täters)58, die Habgier beim Mord (BGH NStZ 1989, 19) und die Amtsträgereigenschaft bei den unechten Amtsdeliken (RG 65, 102 [105]; 75, 289 [290]; BGH NJW 1955, 720). § 28 II gilt auch für die Teilnahme von Zivilpersonen an militärischen

SK (Samson) § 28 Rdn. 16; Welzel, Lehrbuch S. 120ff.; Wessels, Allg. Teil Rdn. 555. Dagegen bezieht Stratenwerth, Allg. Teil I Rdn. 935 den § 28 (abgesehen von Schuldmerkmalen) nur auf Sonderpflichten (z.B. § 266 zweite Handlungsform oder § 340 im Verhältnis zu § 223). Ebenso Arzt, JZ 1973, 685 und LK 11 (Roxin) § 28 Rdn. 51 ff. Herzberg, GA 1991, 173

hält ein persönliches Merkmal dann für streng akzessorisch, „wenn es über den objektiven Unwert der Tat nichts aussagt und für die Rechtsgutsverletzung keine Rolle spielt". Auf Sonderpflichten und Eigenhändigkeit beschränkt Jakobs, Allg. Teil 23/12 ff. den § 28, während Schünemann, Jura 1980, 364 ff. alle persönlichen Merkmale einbeziehen will („Einheitslösung"). Zur Kritik der Rechtsprechung Langer, Ernst Wolf-Festschrift S. 339 ff. 54 Vgl. Bockelmann/Volk, Allg. Teil S. 199f.; Dreher/Tröndle, § 28 Rdn. 2; Lackner, § 28 Rdn. 4; Vogler, Lange-Festschrift S. 267f.; Schönke/Schröder /Cramer, § 28 Rdn. 15; SK (Samson) § 28 Rdn. 16; Wessels, Allg. Teil Rdn. 558. 55 Die Unterscheidung von Langer, Lange-Festschrift S. 261 zwischen „Gemeinunrecht" und „Sonderunrecht" ist zu eng, weil sie nur Tatbestandsmerkmale betrifft und z.B. die Gewerbsmäßigkeit nicht mit einschließt. Auch die Unterscheidung von Herzberg, ZStW 88 (1976) S. 68 ff., Täterschaft S. 124 ff. und JuS 1983, 738 ff. zwischen „wertneutralen" und „wertbezogenen" persönlichen Merkmalen ist ungeeignet, da letztlich alle Merkmale des Tatbestandes wertbezogen sind. Vgl. dazu die Diskussionsbemerkung von Gallas bei Grebing, ZStW 88 (1976) S. 173 f. sowie LK U (Roxin) § 28 Rdn. 44ff.; Jakobs, Allg. Teil 23/11; SK (Samson) § 28 Rdn. 18aff. 56 Vgl. Schönke/Schröder /Cramer, § 28 Rdn. 20; anders Jakobs, Allg. Teil 23/16. 57 So zutreffend Geppert, ZStW 82 (1970) S. 70; Gerl, Die besonderen persönlichen Verhältnisse S. 165; Herzberg, ZStW 88 (1976) S. 108; Lackner, § 28 Rdn. 6; Preisendanz, § 28

Anm. 3; Schönke / Schröder / Cramer, § 28 Rdn. 19; anders Baumann/Weber,

Dreher/Tröndle,

Allg. Teil S. 584;

§ 28 Rdn. 6; Eser, Strafrecht II Nr. 42 A Rdn. 12; Jakobs, Allg. Teil 23/25;

Langer, Lange-Festschrift S. 262; LK n

(Roxin) § 28 Rdn. 64; Roxin, Täterschaft und Tat-

herrschaft S. 515; Stratenwerth, Allg. Teil I Rdn. 935; SK (Samson) § 28 Rdn. 21 sowie mit eingehender Begründung Vogler, Lange-Festschrift S. 283. 58

D i e Frage ist umstritten; w i e hier Schönke/Schröder/Eser,

§ 246 Rdn. 29 m . N a c h w .

V I I . D i e Abhängigkeit der Teilnahme v o n der H a u p t t a t (Akzessorietät)

659

Straftaten nach § 1 IV WStG, wenn die Tat zugleich nach allgemeinem Strafrecht strafbar ist, so daß z.B. der Soldat wegen Nötigung eines Vorgesetzten nach § 24 WStG, der als Anstifter oder Gehilfe teilnehmende Zivilist aber nach § 240 bestraft wird 59 . bb) Ein strafmilderndes

persönliches Merkmal ist das Handeln auf ernstliches und aus-

drückliches Verlangen des Getöteten (§ 216), während die sonst in diesem Zusammenhang gewöhnlich genannten Umstände (z.B. verminderte Schuldfähigkeit, § 21; die Eigenschaft als nichteheliche Mutter, § 217) richtigerweise Schuldmilderungsgründe darstellen, für die § 29 gilt (vgl. unten § 61 VII 4 c). cc) Daß die persönlichen Strafausschließungs-

und Strafaufhebungsgründe

die Verantwort-

lichkeit des Teilnehmers unberührt lassen (z.B. der strafbefreiende Rücktritt vom Versuch nach § 24, die Indemnität der Abgeordneten nach Art. 46 I GG), war schon unter der Herrschaft der strengen Akzessorietät anerkannt, denn eine „extreme Akzessorietät" hat es nie gegeben (vgl. oben § 52 III 2) 60 .

b) Die Lockerung der Akzessorietät nach § 28 I I kommt bei unselbständigen Abwandlungen des Grundtatbestandes zum Zuge (vgl. oben § 26 I I I 2), wenn diese besondere persönliche Merkmale enthalten (z.B. § 221 II, 223 II, 260 I Nr. 1, 292 III, 340). Ob die Vorschrift auch auf eigenständige Delikte (vgl. oben § 26 I I I 3) angewendet werden kann, ist durch Auslegung zu ermitteln. Wenn ein gemeinsamer Ausgangstatbestand fehlt, zu dem ein besonderes persönliches Merkmal als strafschärfend oder -mildernd in Beziehung gesetzt werden könnte, muß die Frage verneint werden 61 . c) Die Merkmale des Schuldtatbestandes, insbesondere die Gesinnungsmerkmale (vgl. oben § 42 I I 3), sind keine besonderen persönlichen Merkmale im Sinne des § 28, sondern fallen unter § 29, der den Grundsatz der Schuldunabhängigkeit der Beteiligung ausspricht 62. Für die strafändernden Merkmale des Schuldtatbestandes (z.B. § 217) spielt die Frage der Einordnung in § 28 oder § 29 im Ergebnis keine Rolle, da insoweit beide Vorschriften die Akzessorietät ausschließen, wohl aber für die strafbegründenden Merkmale (vgl. dazu unten § 61 V I I 4d). Beispiele: Wer die nichteheliche Mutter zur Kindestötung anstiftet, wird nach §§ 212, 26 bestraft, während auf die Täterin § 217 Anwendung findet (§ 29). Ebenso wird jemand, der einmal mit einem Bekannten fremdem Wild nachstellt, welcher die Wilderei gewerbsmäßig betreibt, nach § 292 I, nicht nach dem Absatz 3 bestraft. 59 60 61

Vgl. Scholz/Lingens, WStG § 1 Rdn. 41, § 24 Rdn. 14. Vgl. Stratenwerth, Allg. Teil I Rdn. 929. So die h.L.; vgl. Blei, Allg. Teil S. 269f.; LK 9 (Busch) § 50 Rdn. 14; H. Mayer, Lehr-

buch S. 340; Schönke/Schröder /Cramer,

§ 28 Rdn. 23; SK (Samson) § 28 Rdn. 23; Straten-

werth, Allg. Teil I Rdn. 940. Für Ausschluß der eigenständigen Delikte Baumann /Weber, Allg. Teil S. 582; Heinitz, Festschrift zum 41. DJT S. 112; M aurach/Gössel/Zipf Allg. Teil II § 53 Rdn. 172. 62 Die Frage der Einordnung der Schuldtatbestandsmerkmale ist streitig; wie der Text Kühl, Allg. Teil §20 Rdn. 157; Langer, Lange-Festschrift S. 252 ff.; M aurach/Gössel/Zipf Allg. Teil II § 53 Rdn. 110; Jakobs, Allg. Teil 23/7; Küper, ZStW 104 (1992) S. 574, 584; Schmidhäuser, Allg. Teil S. 547; Wessels, Allg. Teil Rdn. 559; LK n (Roxin) § 28 Rdn. 14f.; Herzberg, ZStW 88 (1976) S. 71 f. (die beiden letzteren unter Beschränkung auf straf begründende Schuldmerkmale). Die h.L. wendet § 29 jedoch nur auf die allgemeinen Regeln über Schuldausschluß und Schuldminderung an (z.B. §§ 17, 19, 20, 33, 35); so Gallas, ZStW Beiheft Athen 1957 S. 156; derselbe, Diskussionsbeitrag bei Grebing, ZStW 88 (1976) S. 174; Lackner, § 28 Rdn. 1; SK (Samson) § 28 Rdn. 14; Schönke/Schröder /Cramer,

§ 28 Rdn. 5;

Stratenwerth, Allg. Teil I Rdn. 926; Vogler, Lange-Festschrift S. 267; Grünwald, Armin Kaufmann-Gedächtnisschrift S. 566 ff. § 14 II des österr. StGB folgt der im Text vertretenen Auffassung; vgl. Triff ter er, Allg. Teil S. 419. 4

2

660

§ 6 1 D i e Grundlagen der Lehre v o n Täterschaft u n d Teilnahme

d) Die strafbegründenden persönlichen Merkmale sind von der Regelung des § 28 I I ausgenommen, weil sie in der Person des Täters gegeben sein müssen, damit überhaupt der Tatbestand einer strafbaren Handlung vorliegt. Sie können daher nur beim Teilnehmer fehlen; in diesem Fall mildern sie dessen Strafe (§§ 28 I, 49 I), da Unrecht und Schuld des nicht qualifizierten Teilnehmers weniger schwer wiegen als die des Täters 63 . Strafmilderung nach § 28 I und § 27 I I kommt ihm freilich nur einmal zugute (BGH 26, 53). Hat die Annahme der Beihilfe jedoch eine eigene sachliche Grundlage und folgt nicht nur aus dem Fehlen eines persönlichen Merkmals, so tritt doppelte Strafmilderung ein (BGH NStZ 1981, 299). Beispiel: Wer einen Postbeamten zur Unterdrückung eines Briefes anstiftet, ist strafbar nach dem Strafrahmen des § 354 (RG 28, 100 [102]; 71, 330 [332]), der jedoch gemäß §§ 28 I, 49 I zu mildern ist. Ebenso für die Begünstigung im Amt (§ 346 a.F. [jetzt § 258a]) BGH 5, 75 (81 f.). In beiden Fällen nimmt die Rechtsprechung im Unterschied zur Lehre ein echtes Amtsdelikt an. Dagegen ist die Verwandteneigenschaft bei § 173 ein tatbezogenes Merkmal, so daß der nicht-verwandte Anstifter nach §§ 173, 26 strafbar ist (BGH NJW 1994, 271). Die strafbegründenden bzw. strafschärfenden persönlichen Merkmale, die beim Täter bzw. Teilnehmer vorliegen, brauchen nicht identisch zu sein, sondern können auseinanderfallen 64. Fehlt ein strafbegründendes Merkmal des Schuldtatbestandes beim Teilnehmer, so ist § 29 anzuwenden mit der Folge, daß der Teilnehmer straflos bleibt. Darin liegt der entscheidende Unterschied zur h.L., die in diesem Fall nur Strafmilderung nach §§ 28 I, 49 I annimmt (vgl. oben § 61 V I I 4 c, insbes. Fußnote 62). Beispiel: Wer, um sich in Not ein paar Mark zu verdienen, einen Wahlaufruf gegen die CSU verteilt, in dem das Land Bayern böswillig verächtlich gemacht wird, ist nicht nach §§ 90 a I Nr. 1, 27 strafbar, weil er selbst nicht böswillig gehandelt hat. Fehlt dagegen ein spezielles Schuldmerkmal, z.B. die Rücksichtslosigkeit der Vorfahrtverletzung (§ 315c I Nr. 2a), beim Täter, so ist der Teilnehmer, bei dem Rücksichtslosigkeit vorliegt, weil er z.B. den Taxifahrer angetrieben hat, straflos, weil dann der Tatbestand der Haupttat gar nicht gegeben ist und das Vorliegen des Tatbestands, den der Täter erfüllt, nach §§ 26, 27 I die unverzichtbare Grundvoraussetzung der Strafbarkeit der Teilnahme darstellt (anders BayObLG NJW 1985, 1566 zum Merkmal der „Beharrlichkeit" in § 184a) 65 . 5. Die Regelung des § 28 umfaßt somit alle besonderen persönlichen Merkmale, die dem Unrechisbereich angehören. Für den Sckuldbereich schließt § 29 die Akzessorietät ganz aus, was an sich schon aus der Limitierung der Akzessorietät durch §§ 26, 27 folgt. Der Grundsatz der Schuldunabhängigkeit bedeutet, daß von mehreren Beteiligten jeder nur nach seiner eigenen Schuld bestraft wird. Die Selbständigkeit des Schuldvorwurfs gilt für die allgemeinen Schuldausschließungsund Schuldminderungsgründe (§§ 17, 19 - 21, 33, 35) ebenso wie für die besonderen Schuldtatbestandsmerkmale. Für die erste Gruppe ist jedoch zu beachten, daß bei Schuldausschließungs- und Entschuldigungsgründen in der Person des „Täters" 63

Vgl. Lackner, § 28 Rdn. 2; LK U

(Roxin) § 28 Rdn. 60ff.; Schönke/Schröder /Cramer,

§ 28 Rdn. 25. Kritisch zu § 28 I Schmidhäuser, Allg. Teil S. 550. 64 Vgl. BGH 23, 39 m.Anm. Jakobs, NJW 1970, 1089. Kritisch dazu Arzt, JZ 1973, 682 ff. 65 So zu Recht LK n (Roxin) § 28 Rdn. 15; ebenso Herzberg, ZStW 88 (1976) S. 72; Jakobs, Allg. Teil 23/7; Küper, ZStW 104 (1992) S. 584ff.; Langer, Lange-Festschrift S. 252ff. Zweifelnd Dreher/Trönale, § 28 Rdn. 7; ablehnend Schönke/Schröder/ Cramer, § 28 Rdn. 5; SK (Samson) § 28 Rdn. 12; Stratenwerth, Allg. Teil I Rdn. 926 (der Einwand des Fehlens des Garantietatbestandes trifft diese vermittelnde Lösung allerdings nicht).

V I I I . Ausländisches Recht

661

der Hintermann zum mittelbaren Täter wird, wenn er diesen Umstand zur Tat ausnutzt (vgl. unten § 62 I I 4 - 6); für die zweite Gruppe gilt, daß beim Fehlen eines Merkmals des Schuldtatbestands in der Person des Täters auch der Teilnehmer nicht bestraft werden kann, der dieses Merkmal an sich aufweist. V I I I . Ausländisches Recht Von den ausländischen Rechtsordnungen verwenden nur wenige den Einheitstäterbegriff 66, während die meisten ebenso wie das deutsche Recht verschiedene Beteiligungsformen unterscheiden67. Hauptbeispiel einer konsequenten Einheitstäterregelung sind die §§12, 14 des österreichischen StGB . Besondere persönliche Merkmale, die das Unrecht betreffen, wirken nach § 14 I 1 für und gegen alle Beteiligten, wenn sie auch nur bei einem von ihnen vorliegen. In der Schweiz ist bei der Abgrenzung der verschiedenen Beteiligungsformen die subjektive Theorie führend 69; die Rechtsprechung verlangt vorsätzliches und schuldhaftes Handeln des Haupttäters70, während ein Teil der Lehre der limitierten Akzessorietät ohne Vorsatzerfordernis beim Haupttäter den Vorzug gibt 71 . Das französische Recht beruht auf dem Grundsatz der Gleichbestrafung von Täterschaft und Teilnahme (Art. 59 C.p. 1810, Art. 1216 C.p. 1994)72. Die Lehre grenzt nach objektiven Gesichtspunkten ab73. In der Rechtsprechung finden sich zwar Entscheidungen, die in weitgehender Weise subjektive Kriterien verwenden74, doch haben sie scharfe Kritik gefunden 75. Der ursprünglich strenge Grundsatz des „emprunt de criminalité" ist nach und nach zur limitierten Akzessorietät ohne Vorsatzerfordernis bei der Haupttat abgeschwächt worden 76. Der italienische C.p. enthält in Art. 110 den Einheitstäterbegriff, so daß sich weder das Problem der Unterscheidungskriterien noch das der Akzessorietät stellt77. Sogar bei eigenhändigen und Sonderdelikten soll nach Art. 117 66 Vgl. Kienapfel, Einheitstäterschaft S. 30 ff.; ferner derselbe, Der Einheitstäter S. 17 Fußnote 36. 67 Vgl. dazu Dietz, Täterschaft und Teilnahme S. 108 ff. Auslandsrechtliches Material ferner in Rev int dr pén 1956, 156ff.; 1957, 49ff. Zum griechischen Recht Benakis, Täterschaft und Teilnahme S. 37 ff., 60 ff., 122 ff. Zum Vergleich deutschen und polnischen Rechts Spotowski, Erscheinungsformen S. 83 ff.; Herzberg y ZStW 99 (1987) S. 73 ff.; Hünerfeld, ebenda S. 228 ff. Zur Rechtsvergleichung allgemein Jescheck, ebenda S. 124 ff. 68 Vgl. Kienapfel JBl 1974, 113 ff.; Platzgummer, JBl 1970, 244 ff. Vgl. ferner die Kontroverse zwischen Burgstaller, ÖRiZ 1975, 13 ff. und Kienapfel, ÖRiZ 1975, 165 ff. Vermittelnd dazu Schmoller, ÖJZ 1983, 337ff.; Tnffterer, Beteiligungslehre S. 33 f.; Höpfel, ÖJZ 1982, 314 ff. Die Tendenz zu einem widerspruchsvollen „Mischsystem" rügt Bloy, R. Schmitt-Festschrift S. 44 ff. 69 Vgl. Germann, Die Bestimmungen über die Teilnahme S. 36; Schultz, SchwZStr 71 (1956) S. 244ff.; BGE 69 (1943) IV S. 97; 76 (1950) IV S. 160; 77 (1951) IV S. 91; 101 (1975) IV S. 311. Für die Tatherrschaftslehre Noll/Trechsel, Allg. Teil I S. 176. 70 BGE 71 (1945) IV S. 135; 85 (1959) IV S. 135. 71 So Germann y Das Verbrechen S. 78 f.; Schwander, Das Schweiz. StGB S. 129; Schultz, Einführung I S. 291; anders aber Stratenwerth, Schweiz. Strafrecht, Allg. Teil I S. 335, der den Vorsatz zum Tatbestand der Haupttat fordert; ebenso Noll/Trechsel y Allg. Teil I S. 186. 72 Über den Unterschied in der Wortfassung der beiden Bestimmungen Desportes/Le Gunehecy Présentation Nr. 27 und Pradel y Rev dr pén crim 73 (1993) S. 936 f.; derselbe, Le nouveau Code pénal Nr. 32. 73 Bouzat y Traité S. 751 f.; Merle/Vitu y Traité I Nr. 523; Stefani/Levasseur/Bouloc y Droit pénal général Nr. 255. 74 Vgl. z.B. Cass, vom 14.1.1921, Sirey 1922 I S. 235; Cass, vom 13.4.1922, Sirey 1923 I S. 41. Vgl. ferner Merle/Vitu y Traité I Nr. 525ff. über die weitgehende Ermessensfreiheit der Cour de Cassation durch Anwendung der „assimilation". 75 Vgl. Gulphe y Rev sc crim 1948, 682 f. 76 Vgl. Léauté y SchwZStr 72 (1957) S. 14 ff. 77 Abweichend Detzer, Einheitstäterlösung S. 112 ff. Zur Kritik Seminara y Tecniche normative S. 1 ff. Über die Gründe für die Wahl der Einheitstäterregelung (im Unterschied zum Codice penale von 1889) Romano/Grasso, Commentario II, Vorbem. 9ff. vor Art. 110.

662

§ 62 D i e mittelbare Täterschaft

C.p. jede kausale Mitwirkung für die Täterschaft ausreichen78. Der Entwurf von 1993 bleibt bei der Einheitstäterregelung, beschreibt die Voraussetzungen der Beteiligung aber konkreter (Art. 26). Das spanische Recht geht von einem restriktiven Täterbegriff aus (Art. 14 C.p.), grenzt objektiv zwischen den verschiedenen Beteiligungsformen ab und legt die limitierte Akzessorietät zugrunde79. In den Niederlanden wird wie im deutschen Recht zwischen den bekannten Formen der Beteiligung unterschieden (Art. 47 f. W.v.S.). Die Abgrenzung wird nach objektiven Merkmalen vorgenommen80. Der belgische Code pénal unterscheidet die Täterschaft, der die Anstiftung gleichgestellt wird (Art. 66 C.p.), von der Beihilfe (Art. 67 C.p.), die milder bestraft wird (Art. 69 C.p.). Die verschiedenen Formen der Täterschaft und Beihilfe werden aufgrund der gesetzlichen Beschreibung objektiv unterschieden81. Das brasilianische Recht legt in Art. 29 C.p. nach italienischem Vorbild den Einheitstäterbegriff zugrunde, doch wird in der Wissenschaft zwischen verschiedenen Formen der Beteiligung nach objektiven Kriterien unterschieden82. Im englischen Recht findet die Abgrenzung zwischen Täterschaft und Teilnahme ebenfalls nach rein objektiven Gesichtspunkten statt: Täter ist, wer eigenhändig eine Ausführungshandlung vornimmt, alle anderen Beteiligten sind Teilnehmer, die in ein kompliziert abgestuftes Schema eingeordnet werden83. Die Beteiligten, die nicht unmittelbare Täter sind („secondary parties"), werden nach dem Accessories and Abettors Act 1861, Art. 8 in der Fassung des Criminal Law Act 1977 als Täter („principal offenders") angesehen84. Die Strafbarkeitslücken der strengen Akzessorietät werden durch weitreichende Anerkennung von mittelbarer Täterschaft (principal by the means of an innocent agent) ausgeglichen8 . Das amerikanische Recht steht in den neueren Gesetzbüchern im Unterschied zum englischen Recht dem Einheitstäterbegriff nahe (vgl. Model Penal Code Sect. 2.06)86, nur der „accessory after the fact" (Begünstigung) wird noch besonders hervorgehoben. Soweit Beteiligungsformen nach common law unterschieden werden müssen, gelten obj ektive Abgrenzungskriterien 87. § 62 Die mittelbare Täterschaft Baumann, Mittelbare Täterschaft oder Anstiftung bei Fehlvorstellungen über den Tatmittler? JZ 1958, 230; Binding, Die drei Subjekte strafrechtlicher Verantwortlichkeit usw., GS 71 (1908) S. 1; derselbe, Das Subjekt des Verbrechens usw., GS 76 (1910) S. 87; Bockelmann, Zur Problematik der Beteiligung an vermeintlich vorsätzlich rechtswidrigen Taten, Festschrift für W. Gallas, 1973, S. 261; Drost, Anstiftung und mittelbare Täterschaft, ZStW 51 (1931) S. 359; Engelsing, Eigenhändige Delikte, Strafr. Abh. Heft 212, 1926; Exner, Fahrlässiges Zusammenwirken, Festgabe für R. v. Frank, Bd. I, 1930, S. 569; Gallas, Anmerkung zu BGH 2, 150, JZ 1952, 371; derselbe, Strafbares Unterlassen im Falle der Selbsttötung, JZ 78 Vgl. dazu mit kritischen Anmerkungen Bettiol/Pettoello Mantovani, Diritto penale S. 674 ff.; ferner Nuvolone, Sistema S. 380; Pagliaro, Principi S. 530f.; Mantovani, Diritto penale S. 518 ff.; Fiandaca/Musco, Diritto penale S. 358 ff.; Heinitz, Festschrift zum 41. DJT S. 96ff.; Kienapfel, Einheitstäterschaft S. 30ff. 79 Vgl. Gimbernat Ordeig, ZStW 80 (1968) S. 915 ff.; Rodriguez Devesa/ Serrano Gômez, Derecho penal S. 808 ff.; Cobo del RosaU Vives Anton, Derecho penal S. 572 f.; Anton Oneca,

Derecho penal S. 433 ff.; Mir Puig, Adiciones Bd. II S. 909ff. 80 Vgl. dazu mit Rechtsprechung Pompe, Handboek S. 233 ff.; van Bemmelen/van Veen, Ons strafrecht S. 255ff.; Hazewinkel-Suringa/Remmelink, Inleiding S. 413 f. (mit Hinweis auf die deutsche Tatherrschaftslehre). 81 Hierzu Dupont /Ver Straeten, Handboek Nr. 585 ff.; Hennau/Verhaegen, Droit pénal général Nr. 298 ff. 82

Fragoso, Liçôes S. 262 ff.; de Jesus, Comentarios, Art. 29 Anm. 3 ff.; da Costa jr., Art. 29

Anm. 5 f. 83 Straub, Täterschaft und Teilnahme S. 67. 84 Smith/Hogan, Criminal Law S. 123 ff. 85

86

Vgl. Kenny / Turner,

Outlines S. 111; Glanville Williams,

Criminal Law S. 349 ff.

Zur Regelung des Model Penal Code Herlitz, Parties to a Crime S. 87ff.; LaFave/Scott, Substantive Criminal Law II S. 132 ff. 87 Vgl. Honig, Das amerikanische Strafrecht S. 218, 233; Kadish, California Law Review 73 (1985) S. 336 ff.

I. Wesen u n d Abgrenzung der mittelbaren Täterschaft

663

1960, 649, 686; Grünwald, Die Beteiligung durch Unterlassen, GA 1959, 110; Hegler, Zum Wesen der mittelbaren Täterschaft, RG-Festgabe, Bd. V, 1929, S. 305; derselbe, Mittelbare Täterschaft bei nicht rechtswidrigem Handeln der Mittelsperson, Festgabe für R. Schmidt, Bd. I, 1932 (Sonderdruck); Herzberg, Mittelbare Täterschaft bei rechtmäßig oder unverboten handelndem Werkzeug, 1967; derselbe, Eigenhändige Delikte, ZStW 82 (1970) S. 896; derselbe, Der Versuch beim unechten Unterlassungsdelikt, MDR 1973, 89; derselbe, Der Anfang des Versuchs der mittelbaren Täterschaft, JuS 1985, 1; Hillenkamp, Die Bedeutung von Vorsatzkonkretisierungen bei abweichendem Kausalverlauf, 1971; Hirsch, Anmerkung zu BGH vom 18.7.1978, JR 1979, 429; Jäger, Verbrechen unter totalitärer Herrschaft, 1967; Johannes, Mittelbare Täterschaft bei rechtmäßigem Handeln des Werkzeugs. Ein Scheinproblem, 1963; Kadel, Versuchsbeginn bei mittelbarer Täterschaft, G A 1983, 299; Armin Kaufmann, Die Dogmatik der Unterlassungsdelikte, 1959; Kienapfel, Anmerkung zu BGH 32, 262, JZ 1984, 750; Krüger, Der Versuchsbeginn bei mittelbarer Täterschaft, 1994; Kühl, Versuch in mittelbarer Täterschaft, JuS 1983, 180; Küper, Der Versuchsbeginn bei mittelbarer Täterschaft, JZ 1983, 361; derselbe, Mittelbare Täterschaft, Verbotsirrtum des Tatmittlers und Verantwortungsprinzip, JZ 1989, 935; J. Meyer, Kritik an der Neuregelung der Versuchsstrafbarkeit, ZStW 87 (1975) S. 598; M.-K Meyer, Ausschluß der Autonomie durch Irrtum, 1984; Puppe, Grundzüge der actio libera in causa, JA 1980, 345; Roxin, Der Anfang des beendeten Versuchs, Festschrift für R. Maurach, 1972, S. 213; derselbe, Literaturbericht, ZStW 85 (1973) S. 76; derselbe, Anmerkung zu BGH 32, 38, NStZ 1984, 70; Rudolphi, Ist die Teilnahme an einer Notstandstat strafbar? ZStW 78 (1966) S. 67; derselbe, Strafbarkeit der Beteiligung an den Trunkenheitsdelikten im Straßenverkehr, G A 1970, 353; Schaff stein, Der Täter hinter dem Täter bei vermeidbarem Verbotsirrtum und verminderter Schuldfähigkeit des Tatmittlers, NStZ 1989, 153; Schilling, Verbrechensversuch des Mittäters und des mittelbaren Täters, 1975; Schröder, Eigenhändige und Sonderdelikte bei Fahrlässigkeitstatbeständen, Festschrift für H. v.Weber, 1963, S. 233; Schumann, Anmerkung zu BGH 35, 347, NStZ 1990, 32; Schweiger, Das Urteil des BGH zur Frage der Denunziation, NJW 1952, 1200; Sippel, Mittelbare Täterschaft bei deliktisch handelndem Werkzeug, NJW 1983, 2226; Sowada, Täterschaft und Teilnahme beim Unterlassungsdelikt, Jura 1986, 399; Tröndle, Zur Frage der Teilnahme an unvorsätzlicher Haupttat, G A 1956, 129; v. Uthmann, Objektive und subjektive Tatherrschaft, NJW 1961, 1908; Welzel, Anmerkung zu OLG Bamberg vom 27.7.1949, DRZ 1950, 303. Vgl. ferner die Schrifttumsangaben vor § 61. I. Wesen und Abgrenzung der mittelbaren Täterschaft 1. Die mittelbare Täterschaft ist eine Form der Täterschaft und wird ebenso wie die unmittelbare Täterschaft durch das Bestehen der Tatherrschaft charakterisiert (vgl. oben § 61 V 3a) 1 . Mittelbarer Täter ist, wer den Straftatbestand in der Weise verwirklicht, daß er sich zur Ausführung der tatbestandsmäßigen Handlung 1

So Blei, Allg. Teil S. 256; Bockelmann/Volk, Allg. Teil S. 179; Gramer, BockelmannFestschrift S. 397; Hegler, R. Schmidt-Festgabe S. 21; derselbe, RG-Festgabe S. 307; Gallas, Materialien Bd. I S. 133; derselbe, ZStW Beiheft Athen 1957 S. 15; Kohlrausch/Lange, Vorbem. I Β 2 vor § 47; Maurach/Gössel/Zipf Allg. Teil II § 48 Rdn. 11; Jakobs, Allg. Teil 21/

63; LK n

(Roxin) § 25 Rdn. 54; Lackner, § 25 Rdn. 2; Welzel,

Lehrbuch S. 102; Straten-

werth, Allg. Teil I Rdn. 760; Wessels, Allg. Teil Rdn. 538. An die Stelle der Tatherrschaft setzt Schumann, Handlungsunrecht S. 74 ff. den engeren Begriff der „Handlungsherrschaft" durch Eingriff in die Willensbildung eines zu verantwortlicher Selbstbestimmung fähigen Vordermanns. Bei Pflichtdelikten (z.B. Amtsdelikten) will Roxin, Täterschaft und Tatherrschaft S. 360 die Pflichtverletzung an die Stelle der Tatherrschaft treten lassen. Richtig ist es jedoch, generell bei der Tatherrschaftslehre zu bleiben (vgl. oben § 61 V Fußnote 30). Stehen nämlich mehrere Beteiligte in der gleichen Pflicht, kommt es wiederum allein auf die Tatherrschaft an. Ist bei einem echten Sonderdelikt der ausführende Beteiligte „qualifikationslos", ist die Tatherrschaft des Hintermanns normativ zu begründen (vgl. unten § 62 II 7). Schmidhäuser, Allg. Teil S. 58 f. will die mittelbare Täterschaft aus der Lehre von der objektiven Zurechnung ableiten; ihm folgend M.-K Meyer, Ausschluß der Autonomie S. 72. SK (Samson) § 25 Rdn. 22 hält die mittelbare Täterschaft bei den reinen Erfolgsdelikten für überflüssig, läßt damit aber das Kriterium für die Abgrenzung zur Teilnahme offen.

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§ 62 D i e mittelbare Täterschaft

eines anderen als „Werkzeug" bedient. Die Tatherrschaft setzt bei mittelbarer Täterschaft voraus, daß sich das Gesamtgeschehen als Werk des steuernden Willens des Hintermanns darstellt und daß dieser den Tatmittler durch seinen Einfluß in der Hand hat. Das Strafgesetzbuch erwähnt die mittelbare Täterschaft in § 25 I (als Täter wird bestraft, wer die Straftat „durch einen anderen" begeht), ohne freilich wie Ε 1958 § 28 I I die verschiedenen Erscheinungsformen der mittelbaren Täterschaft zu definieren 2. Dogmengeschichtlich hat die mittelbare Täterschaft ursprünglich nur die Rolle eines „Lückenbüßers" gespielt. Man wollte damit diejenigen Fälle erfassen, bei denen die Bestrafung wegen Anstiftung mit Rücksicht auf die strenge Akzessorietät der Teilnahme nicht möglich war. Heute wird jedoch mit Recht allgemein angenommen, daß die Täterschaft auch in der Form der mittelbaren Täterschaft gegenüber der Teilnahme den Vorrang genießt (primärer Täterbegriff, vgl. oben § 61 I I 3) und daß deswegen bei Vorliegen von Tatherrschaft mittelbare Täterschaft des Hintermanns auch dann anzunehmen ist, wenn Anstiftung infolge der Limitierung der Akzessorietät konstruktiv an sich möglich wäre (z.B. im Fall des schuldlos handelnden Werkzeugs) 3. 2. Die Rechtsfigur der mittelbaren Täterschaft ist jedoch nicht unbegrenzt verwendbar. Die Möglichkeit mittelbarer Täterschaft endet einmal dort, wo das Täter ist, denn das Strafgesetz geht davon Werkzeug selbst voll verantwortlicher aus, daß der unmittelbar Handelnde in diesem Falle für die Tat in eigener Person als Täter einzustehen hat, so daß er nicht gleichzeitig bloßes „Werkzeug" in der Hand eines anderen sein kann; für den anderen Beteiligten kommt also nur Mittäterschaft, Anstiftung oder Beihilfe in Betracht (anders B G H 35, 347 [351 ff.]; 40, 218 [236ff.]; vgl. oben § 61 V 3a Fußnote 34 a.E.) 4 . Da alle Strafbarkeitsvoraussetzungen in der Person des Hintermanns erfüllt sein müssen, ist mittelbare Täterschaft ferner dann ausgeschlossen, wenn der Tatbestand die körperliche oder wenigstens persönliche Vornahme der tatbestandsmäßigen Handlung durch den Täter verlangt (eigenhändige Delikte) oder wenn dem Hintermann die besondere Qualifikation (echte Sonderdelikte) (vgl. oben § 26 I I 6) fehlt, die der Tatbestand der betreffenden Deliktsart voraussetzt 5. Endlich ist die Möglichkeit fahrlässiger mittelbarer Täterschaft zu verneinen, da bei der Fahrlässigkeit mangels eines die Tat steuernden Willens keine Tatherrschaft möglich ist und eine solche Figur hier auch entbehrlich erscheint, weil jeder sorgfalts widrig Handelnde, der den 2

Der Ε 1962 hatte bereits in § 29 I wegen der „Vielgestaltigkeit der Formen der mittelbaren Täterschaft" auf eine solche Umschreibung verzichtet (Begründung S. 149). 3 Vgl. Baumann/Weber, Allg. Teil S. 548; Binding , GS 71 (1908) S. 4f.; Gallas., Materialien Bd. I S. 135; H. Mayer, Lehrbuch S. 305; Schönke/Schröder/Gramer, § 25 Rdn. 30. 4 So auch Jakobs, Allg. Teil 21/63. Zu Recht gründet Schumann, Handlungsunrecht S. 73 ff. diesen Satz auf das Prinzip der Selbstverantwortung. Ein Sonderfall der mittelbaren Täterschaft ist das deliktisch handelnde Werkzeug, das nur einen Teil des ihm vom mittelbaren Täter angesonnenen Tatplans überblickt (Raub, nicht Tötung); mittelbare Täterschaft ist hier hinsichtlich des dem Werkzeug verborgen gebliebenen Tatplans möglich (BGH 30, 363 [365] m.abl.Bespr. Sippel, NJW 1983, 2226). Für Täterschaft des Hintermanns bei vermeidbarem Verbotsirrtum und Irrtum über den konkreten Handlungssinn auf Seiten des Vordermanns sowie bei Verbrechen mittels organisatorischer Machtapparate Roxin, LangeFestschrift S. 173 ff. Dagegen Schumann, Handlungsunrecht S. 75 ff.; M.-K. Meyer, Ausschluß der Autonomie S. 170, 185; Spendel, Lange-Festschrift S. 171. 5 Vgl. näher LK 9 (Busch) § 47 Rdn. 30f.; Jakobs, Allg. Teil 21/67; Herzberg, ZStW 82 (1970) S. 314 ff.; Schönke/Schröder/Gramer, § 25 Rdn. 44, 45; Stratenwerth, Allg. Teil I Rdn. 756, 758.

I.

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665

g r e n der mittelbaren Täterschaft

Erfolg mit herbeiführt, ohnehin als Nebentäter betrachtet wird (vgl. oben § 61 VI) 6 . 3. Das Werkzeug muß sich gegenüber dem Hintermann, damit dessen Tatherrschaft bejaht werden kann, in einer unterlegenen Stellung befinden. Alle Strafbarkeitsvoraussetzungen müssen demgemäß in der Person des Hintermanns gegeben sein7. Die Unterlegenheit kann auf Zwang, Irrtum, Schuldunfähigkeit oder auch nur auf der Tatsache beruhen, daß die Tat, zu der der Hintermann das Werkzeug verleitet hat, von diesem gar nicht als Straftat begangen werden kann, weil ihm die erforderliche Qualifikation oder Absicht fehlt. Die Frage, wann diese unterlegene Stellung im einzelnen gegeben ist, kann freilich zweifelhaft sein und wird bei den verschiedenen Fallgruppen der mittelbaren Täterschaft nicht einheitlich beantwortet (vgl. unten § 62 II). Mittelbare Täterschaft setzt jedenfalls nicht immer voraus, daß der Hintermann das Werkzeug zur Tat veranlaßt hat. Auch bei einer Mitwirkung, die sich äußerlich als Beihilfe darstellt, kann mittelbare Täterschaft dann in Betracht kommen, wenn es von dem Verhalten des Hintermanns abhängt, ob die Tat überhaupt begangen wird (der Neffe schüttet z.B. unbemerkt Gift in die Kaffeetasse, die die Pflegerin nichtsahnend der Erbtante reicht) 8 . Darüber hinaus wird man aber bei den Erfolgsdelikten auch eine äußerlich ganz unwesentliche Mitwirkung in einer Nebenrolle ausreichen lassen müssen, wenn der unmittelbar Handelnde ohne Vorsatz ist, weil dann der Hintermann als einziger die Zusammenhänge überblickt (jemand reicht z.B. einem anderen auf dessen Bitte ein Glas Wasser zur Auflösung eines Medikaments, hat aber erkannt, daß der andere irrtümlich ein tödliches Gift ergriffen hat) 9 . Die Grenze der mittelbaren Täterschaft ist jedoch erreicht, wenn das Strafgesetz das Verhalten des unmittelbar Handelnden als volldeliktische Vorsatztat bewertet, weil dann rechtlich eine Beherrschung durch den Hintermann nicht mehr möglich ist 1 0 . II. Die Fallgruppen der mittelbaren Täterschaft Die Fälle der mittelbaren Täterschaft weisen im wesentlichen klare Konturen auf, die durch Rechtsprechung und Lehre nach und nach herausgearbeitet worden sind. Die bestehenden Zweifel beschränken sich auf Fragen der Abgrenzung und der Begründung. 1. Der Fall des tatbestandslos handelnden Werkzeugs ist gegeben, wenn jemand sich unter dem übermächtigen Einfluß eines anderen selbst tötet oder ver6

Wie hier Baumann, JuS 1963, 92; Maurach/Gössel/Zipf

(Busch) § 47 Rdn. 33; Schönke/Schröder/Gramer,

Allg. Teil II § 48 Rdn. 2; LK 9

§ 25 Rdn. 59; Schröder,

v. Weber-Fest-

schrift S. 236 f. Eine Strafbarkeitslücke entsteht bei §§ 315 c III, 316 II als fahrlässigen eigenhändigen Delikten (hierzu BGH 18, 6 [9]; Schönke/Schröder /Cramer, § 315c Rdn. 36b; Rudolphi, GA 1970, 359). Für mittelbare fahrlässige Täterschaft Exner, Frank-Festgabe Bd. I

S. 570; LK S (Mezger) § 47 Anm. 9a; Kohlrausch/Lange,

§ 47 Anm. I Β 3; Schmidhäuser,

Alle. Teil S. 519; M.-K Meyer, Ausschluß der Autonomie S. 73; bei Pflichtdelikten auch LIC 7

8

X

(Roxin) § 25 Rdn. 220. Ebenso LK 9 (Busch) § 47 Rdn. 45; Schönke/Schröder /Cramer,

§ 25 Rdn. 7.

Vgl. Gallas, Materialien Bd. I S.138; Maurach/Gössel/Zipf, Allg. Teil II § 48 Rdn. 61; Mezger, Lehrbuch S. 429; LK 9 (Busch) § 47 Rdn. 32; Stratenwerth, Allg. Teil I Rdn. 767. 9 So Nowakowski, JZ 1956, 549; Roxin, Täterschaft und Tatherrschaft S. 175 ff. Anders aber M. E. Mayer, Lehrbuch S. 377; Binding, GS 76 (1910) S. 102 Fußnote 2. 10 Vgl. den Überblick in LK n (Roxin) § 25 Rdn. 54; ferner Otto, Jura 1987, 254; Kühl, Allg. Teil § 20 Rdn. 41. Anders aber BGH 35, 347 (351); 40, 218 (236ff.) (vgl. oben § 61 V 3a Fußnote 34 a.E.).

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§ 62 D i e mittelbare Täterschaft

letzt. Der Tatmittler kann hier die tatbestandsmäßige Ausführungshandlung in eigener Person deswegen nicht vornehmen, weil der betreffende Tatbestand die Tötung oder Verletzung eines anderen verlangt. Die Tatherrschaft des Hintermanns besteht in diesem Fall darin, daß er das Werkzeug infolge von Irrtum, Zwang oder mangelnder Einsicht oder Willenskraft in der Hand hat Beispiele: Vorsätzliche Tötung ist gegeben, wenn A den nichtsahnenden Β veranlaßt, eine Hochspannungsleitung zu berühren, Körperverletzung, wenn der Lehrherr den Lehrling zwingt, ein ungereinigtes Stück Darm zu essen (RG 26, 242). Mord ist anzunehmen, wenn die Eltern ein Kind durch Schläge, Drohungen und fortwährende seelische Zermürbung in den Selbstmord treiben (Fall der Hildegard Hoefeld) 12, ebenso bei Veranlassung eines geisteskranken Familienmitglieds zum Selbstmord. Mord liegt auch dann vor, wenn der Täter sein Opfer, das ihm blind vertraut, durch die Vorspiegelung zum Selbstmord treibt, es werde in eine neue (irdische) Existenz eingehen (BGH 32, 38 m.Anm. Roxin, NStZ 1984, 70, „Sirius-Fall"). Dasselbe gilt bei Verursachung des Selbstmords durch die Täuschung, mit aus dem Leben scheiden zu wollen (BGH GA 1986, 509). Dagegen ist die Förderung des Selbstmords einer voll verantwortlichen Person durch Erregung eines Motivirrtums straflos, sofern das Opfer weiß, daß es seinen Tod herbeiführt und bis auf den Motivirrtum freiverantwortlich handelt (RG 70, 313 [315]; BGH 2, 150 [151 f.] m.Anm. Gallas, JZ 1952, 371 13 ) 14 . Auch die Förderung des Drogenkonsums durch einen eigenverantwortlich Handelnden ist erst dann ein Körperverletzungs- oder Tötungsdelikt, wenn der Beteiligte kraft überlegenen Sachwissens das Risiko besser erfaßt als der sich selbst Gefährdende (BGH 32, 262 m.Anm. Kienapfel JZ 1984, 750; BGH NStZ 1984, 452; NStZ 1985, 25; MDR 1984, 503); ebenso bei Herbeiführung eines lebensgefährlichen Alkoholrauschs eines Unerfahrenen BGH NStZ 1986, 266; anders bei ärztlicher Garantenstellung BGH JR 1979, 429 m.abl. Anm. Hirsch. 2. Ein Fall des tatbestandslos handelnden Werkzeugs liegt konstruktiv an sich auch dann vor, wenn es am Vorsatz des Tatmittlers fehlt, doch wird diese Gruppe meist unter dem Stichwort „vorsatzlos handelndes Werkzeug" gesondert zusammengefaßt 15 . Hier erlangt der mittelbare Täter dadurch die Tatherrschaft, daß er den Handelnden absichtlich in einen Tatbestandsirrtum versetzt oder einen vorhandenen ausnutzt (vgl. das germanische Sagenmotiv von dem Lichtgott Balder, der auf Veranlassung des Loki durch ein Wurfgeschoß des blinden Hödur getötet wird). Auch bei unbewußt fahrlässigem Handeln des Vordermanns hat der Hintermann die Tatherrschaft, wenn er, anders als der Vordermann, die Zusammenhänge erkennt 16 . 11 Vgl. dazu Jakobs, Allg. Teil 21/78 ff.; LK U (Roxin) § 25 Rdn. 106ff.; Maurach/Gössel/ Zipf Allg. Teil I I § 48 Rdn. 91 ff.; Roxin, Täterschaft und Tatherrschaft S. 225 ff.; Schönke/

Schröder/Cramer,

§ 25 Rdn. 9; SK (Samson) § 25 Rdn. 30; Stratenwerth,

Allg. Teil I

Rdn. 765; Wessels, Allg. Teil Rdn. 537. Unmittelbare Täterschaft liegt dagegen vor, wenn das Verhalten des „Vordermanns" sogar der Handlungsqualität entbehrt; ebenso Stratenwerth, Allg. Teil I Rdn. 762 f. 12 Vgl. die Schilderung bei Lange, Der moderne Täterbegriff S. 32 f. 13 Vgl. auch Gallas, JZ 1960, 687; ferner Stratenwerth, Allg. Teil I Rdn. 774. 14 Weitergehend M aurach/Gössel/Zipf Allg. Teil II § 48 Rdn. 91 (psychologische Tatherrschaft); Roxin, Täterschaft und Tatherrschaft S. 227. Für Beschränkung der mittelbaren Täterschaft auf den „klassischen Bereich" aber mit Recht Schroeder, Der Täter hinter dem Täter S. 92. Zur fahrlässigen Teilnahme am Selbstmord vgl. BGH 24, 342; Spendel, JuS 1974, 749 ff. 15 Vgl. dazu Bockelmann/Volk, Allg. Teil S. 179; Maurach/Gössel/Zipf, Allg. Teil II § 48 Rdn. 60; Frisch, Lexikon 8/1620 S. 5; Blei, Allg. Teil S. 258; Roxin, Täterschaft und Tatherrschaft S. 170 ff.; Schmidhäuser, Allg. Teil S. 522 f.; SK (Samson) § 25 Rdn. 31; Stratenwerth, Allg. Teil I Rdn. 764ff.; Wessels, Allg. Teil Rdn. 537. 16 So zu Recht Stratenwerth, Allg. Teil I Rdn. 766 und Roxin, Täterschaft und Tatherrschaft S. 178 f.

I.

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g r e n der mittelbaren Täterschaft

667

Beispiele: Wer einen Gutgläubigen mit zollpflichtiger Ware über die Grenze schickt, begeht Zollhinterziehung als mittelbarer Täter (RG 39, 298). Wer unberechtigt Eisenbahnschwellen durch einen gutgläubigen Käufer vom Bahngelände abholen läßt, ist mittelbarer Täter des Diebstahls (RG 47, 147 [148]; RG 70, 212). Mittelbarer Täter einer vorsätzlichen Tötung ist, wer einem anderen, der sich mit einem ungeladenen Gewehr einen Scherz erlauben möchte, eine geladene Waffe reicht. Der Arzt, der den gutgläubigen Apotheker zur Abgabe von Rauschgiften an Unbefugte veranlaßt, macht sich des unerlaubten Inverkehrbringens als mittelbarer Täter schuldig (RG 62, 369 [390]). Wer einen anderen zum Raub ausschickt, bei dem dieser das Opfer unbewußt töten soll, ist mittelbarer Täter des Tötungsdelikts (BGH 30, 363 [365])17. Dagegen ist die Annahme mittelbarer Täterschaft im Falle der Täuschung des vorsätzlich Handelnden über die Schwere des tatsächlich von ihm verwirklichten tatbestandsmäßigen Unrechts (z.B. über den Wert des zerstörten Bildes) 18 oder über einen qualifizierenden Tatumstand (z.B. die Eigenschaft des in Brand gesetzten Gebäudes als Wohnhaus) 19 abzulehnen. Es liegt Anstiftung vor, der weitergehende Vorsatz des Hintermanns ist bei der Strafzumessung zu berücksichtigen. Auch die Hervorrufung eines error in persona (vgl. oben § 29 V 6 a) ist kein Fall mittelbarer Täterschaft 20. Wer dem Täter durch Identitätstäuschung ein anderes Opfer unterschiebt, ist, wenn er auf den Täter einwirkt, Anstifter, sonst Nebentäter 21 . 3. Besonders deutlich zeigt sich die Rückbeziehung aller Strafbarkeitsvoraussetzungen auf den Hintermann bei der mittelbaren Täterschaft durch ein rechtmäßig handelndes Werkzeug 22 . Das Werkzeug selbst handelt in diesen Fällen zwar objektiv und subjektiv rechtmäßig (z.B. der Polizeibeamte, der aufgrund einer bewußten Falschverdächtigung gutgläubig eine Festnahme vornimmt, vgl. oben § 35 I 3), aber es kommt nicht auf dessen rechtmäßiges Handeln, sondern auf die Unrechtmäßigkeit des Handelns des Hintermanns an, und dieser weiß, daß die Freiheitsentziehung der Sache nach nicht gerechtfertigt ist. Die Tatherrschaft wird hier dadurch begründet, daß das Werkzeug sich aufgrund der bestehenden Rechtsvorschriften so verhalten muß, wie es der bösgläubige Hintermann bezweckt 23 . Beispiele: Die Bewirkung der Festnahme eines Unschuldigen durch Irreführung der Behörde ist Freiheitsberaubung (RG HRR 1935, 471; BGH 3, 4 [6]; 10, 306 [307]; BGH LM § 3 Nr. 2). Wer den Richter im Zivilprozeß durch bewußt unwahre Parteibehauptungen zu einer den Gegner benachteiligenden Entscheidung veranlassen will, begeht versuchten Prozeßbetrug (RG 72, 150). Beleidigung in mittelbarer Täterschaft liegt vor, wenn dem Vordermann der Rechtfertigungsgrund des § 193 zur Seite steht, nicht aber dem Hintermann, in dessen Auftrag jener handelt (RG 64, 23 [24]). Hat der Hintermann absichtlich eine Notwehrlage herbeigeführt, damit der Verteidiger als dessen Werkzeug den Angreifer verletze, so ist mittelbare Täterschaft des Hintermanns 17

So zu Recht Kadel, GA 1983, 302. So Roxin, Lange-Festschrift S. 184 ff. Wie der Text Stratenwerth, Allg. Teil I Rdn. 785. 19 So aber Roxin, Lange-Festschrift S. 186 ff. 20 So aber Roxin, Täterschaft und Tatherrschaft S. 212 ff.; derselbe, Lange-Festschrift S. 189 ff. 21 So mit Recht Herzberg, Täterschaft S. 49f.; Stratenwerth, Allg. Teil I Rdn. 784; Welzel, Lehrbuch S. 111. 22 Vgl. dazu Blei, Allg. Teil S. 258; Hegler, R. Schmidt-Festgabe S. 21 ff.; Herzberg, Mittelbare Täterschaft S. 28ff.; Jakobs, Allg. Teil 21/81 ff.; Maurach/Gössel/Zipf Allg. Teil II 18

§ 48 Rdn. 68 ff.; LK n

(Roxin) § 25 Rdn. 69, 80; Schönke/Schröder /Cramer,

§ 25 Rdn. 26ff.;

SK (Samson) § 25 Rdn. 32; Wessels, Allg. Teil Rdn. 537. 23 Nicht zu billigen ist jedoch das vom extrem subjektiven Standpunkt gewonnene Ergebnis von Johannes, Mittelbare Täterschaft S. 59, daß es bei der mittelbaren Täterschaft grundsätzlich gar nicht darauf ankommen soll, ob das Werkzeug rechtmäßig oder rechtswidrig handelt (vgl. dagegen den Fall BGH 3, 110).

§ 62 D i e mittelbare Täterschaft

668

nur dann anzunehmen, wenn sowohl gegenüber dem Angreifer als auch gegenüber dem Verteidiger Tatherrschaft besteht. Der Verteidiger wird durch den vom mittelbaren Täter provozierten Angriff in eine Notlage versetzt, die ihm keine andere Wahl läßt, als den Angreifer zu verletzen, er ist ihm dadurch in die Hand gegeben. Beim Angreifer ist die gegenüber dem mittelbaren Täter unterlegene Stellung dagegen nur dann zu bejahen, wenn es sich um ein Kind oder um einen Geisteskranken handelt, während die arglistige Verursachung eines Motivirrtums nicht ausreicht24. Eine wahre Anzeige, selbst wenn sie aus üblen Motiven erfolgt, begründet dagegen in einem rechtsstaatlichen System niemals mittelbare Täterschaft, weil der Anzeigende selbst rechtmäßig handelt (BGH 3, 110 [114 f.]) 25 . Die Verurteilung von Denunzianten aus der NS-Zeit wegen Verbrechens gegen die Menschlichkeit nach dem KRG Nr. 10 beruhte auf dem Gedanken der Preisgabe materiell unschuldiger Personen an ein unmenschliches System in unmittelbarer Täterschaft nach einer auf diese Fälle zugeschnittenen Sondervorschrift ( O G H 1, 6; 1, 11; 2, 17; 2, 67). 4. Während die bisher behandelten Fallgruppen im wesentlichen unstreitig sind, entstehen Zweifel, wenn jemand eine Straftat durch ein schuldunfähiges Werkzeug (Kind, Betrunkener, Geisteskranker) ausführen läßt, denn diese Fälle können wegen der Limitierung der Akzessorietät konstruktiv sowohl der mittelbaren Täterschaft als auch der Anstiftung zugeordnet werden. Maßgebend ist hier wie stets die Tatherrschaft des Hintermanns 6 . Es kommt jedoch darauf an, ob deren Vorliegen nach tatsächlichen oder nach rechtlichen Kriterien zu beurteilen ist. Versteht man Tatherrschaft, wie der Text, als die Beherrschung des Geschehens aufgrund rechtlicher Überlegenheit des Hintermanns, so liegt in allen Fällen, in denen bewußt ein Schuldunfähiger eingesetzt wird, mittelbare Täterschaft vor, und zwar auch dann, wenn der schuldunfähige Vordermann tatsächlich in der Lage war, das Unrecht seines Verhaltens zu erkennen und sich normgemäß zu verhalten 27 . Beispiel: Der Täter beauftragt einen aufgeweckten 13jährigen Jungen mit einer Brandstiftung. Es liegt mittelbare Täterschaft vor, auch wenn der Junge „genügendes Verständnis" vom Rechtswidrigen seines Tuns hat und den Auftrag aus eigenem Antrieb ausführt (anders RG 61, 265 [267]). Ist die Schuldfähigkeit des Tatmittlers nur erheblich vermindert, wird mittelbare Täterschaft des Hintermanns überwiegend abgelehnt28. 24

So Herzberg, Mittelbare Täterschaft S. 29; Jakobs, Allg. Teil 21/85; Schönke/Schröder/

Cramer , § 25 Rdn. 28; SK (Samson) § 25 Rdn. 32; Stratenwerth,

Allg. Teil I Rdn. 789; Wel-

zel, Lehrbuch S. 105; LK 11 (Roxin) § 25 Rdn. 69. Ohne diese Einschränkung jedoch Drost, ZStW 51 (1931) S. 369; Maurach/Gössel/Zipf, Allg. Teil II § 48 Rdn. 73; Schroeder, Der Täter hinter dem Täter S. 100. 25 Dazu Schweiger, NJW 1952, 1200; Maurach/Gössel/Zipf, Allg. Teil II § 48 Rdn. 74; Eser, Strafrecht II Nr. 38 A Rdn. 22. Dagegen wollte OLG Bamberg DRZ 1950, 302 m. abl. Anm. Welzel den Anzeiger, wenn der Richter ein formell gültiges, aber sittenwidriges Gesetz anzuwenden hat, wegen Freiheitsberaubung in mittelbarer Täterschaft verurteilen. 26 Vgl. Blei, Allg. Teil S. 259; Bockelmann/Volk, Allg. Teil S. 181; Gallas, Materialien Bd. I S. 134; Kohlrausch/Lange, Vorbem. I Β 2a vor § 47; Maurach/Gössel/Zipf, Allg. Teil II § 48 Rdn. 79; Schönke/Schröder /Cramer, § 25 Rdn. 39 ff.; Stratenwerth, Allg. Teil I Rdn. 778; Welzel, Lehrbuch S. 103; Wessels, Allg. Teil Rdn. 537. 27 Dagegen nimmt Roxin, Täterschaft und Tatherrschaft S. 591 Teilnahme dann an, wenn der Schuldunfähige den Tatentschluß selbständig gefaßt hat und der Hintermann die Tat lediglich fördert. 28 So Herzberg, Täterschaft S. 12f.; Jakobs, Allg. Teil 21/94; Stratenwerth, Allg. Teil I Rdn. 778; Schumann, Handlungsunrecht S. 76; derselbe, NStZ 1990, 32. Dagegen Schönke/

Schröder/Cramer,

§ 25 Rdn. 41; Maurach/Gössel/Zipf,

Allg. Teil I I § 48 Rdn. 86; Lackner,

§ 25 Rdn. 4. Differenzierend LK n (Roxin) § 25 Rdn. 120; Schaffstein,

NStZ 1989, 153.

I.

e

g r e n der mittelbaren Täterschaft

669

5. Wenn das Werkzeug in einem unvermeidbaren Verbotsirrtum handelt, ist Tatherrschaft des Hintermanns nicht nur dann anzunehmen, wenn er den Irrtum absichtlich herbeiführt, sondern auch, wenn er ihn nur kennt und ausnutzt. Ist der Irrtum jedoch für den die Tat unmittelbar Ausführenden vermeidbar, so handelt er zwar mit gemilderter Schuld (vgl. oben § 41 I I 2 a, IV ld), aber doch strafrechtlich voll verantwortlich; der Tatbeitrag des Hintermanns ist dann bloße Teilnahme (anders B G H 35, 347 [351 ff.] m. krit.Besprechung Küper, JZ 1989, 937ff.; B G H 40, 257 [267]) 29 . Beispiel: Begeht der Soldat ein Verbrechen oder Vergehen auf Befehl, so ist seine Schuld ausgeschlossen, wenn er die Strafrechtswidrigkeit der Tat weder erkannt hat noch ohne weiteres erkennen mußte (vgl. oben § 46 II 3 b). Der Vorgesetzte ist dann nach § 33 WStG mittelbarer Täter. Handelt der Untergebene dagegen schuldhaft, so ist er Täter, wenn auch nach § 5 II wegen geringer Schuld Strafmilderung oder Absehen von Strafe eintreten kann. Den Vorgesetzten trifft in diesem Fall nach § 33 WStG die Strafe als Anstifter 30. 6. Allgemein anerkannt ist weiter der Fall des unfrei handelnden Werkzeugs. Wer einen anderen absichtlich in eine Notstandslage nach § 35 bringt, aus der sich dieser nur durch die vom Hintermann bezweckte Straftat befreien kann, ist als mittelbarer Täter der Notstandstat verantwortlich. Wer dagegen eine Notstandslage bereits vorfindet und den Notstandstäter durch Weisung des Rettungsweges oder sonstige Unterstützung lediglich fördert, ohne die äußere Lage zu Lasten des Opfers der Notstandstat umzugestalten, begeht Anstiftung bzw. Beihilfe zur Notstandstat und ist deswegen auch strafbar 31. Beispiele: Der Bräutigam, der einen Jugendlichen durch Todesdrohungen zwingt, seine Verlobte, deren er überdrüssig geworden ist, zu erschießen (§ 35), ist mittelbarer Täter des Mordes (RG 64, 30 [32]). Entsprechendes gilt für den erzwungenen Abtreibungsversuch (RG 31, 395 [398]) sowie für den Versuch, jemanden mit der Waffe zu zwingen, einen Menschen zu überfahren (BGH NStZ 1986, 547). 7. Schwierigkeiten bereitet der Tatherrschaftslehre die Begründung der mittelbaren Täterschaft bei der Tatausführung durch ein absichtsloses bzw. qualifikationsloses Werkzeug 32 . Ein Ausweichen auf Anstiftung oder Beihilfe ist hier nicht mög29

So Bloy, Beteiligungsform S. 351; Bockelmann /Volk, Allg. Teil S. 181; Gallas, Materialien Bd. I S. 134; Jakobs, Allg. Teil 21/96; Stratenwerth, Allg. Teil I Rdn. 780. Dagegen wird mittelbare Täterschaft auch bei vermeidbarem Verbotsirrtum angenommen von Herzberg, Täterschaft S. 23 (anders noch derselbe, JuS 1974, 374); Maurach/Gössel/Zipf, Allg. Teil II §48 Rdn. 81; Preisendanz,

§25 Anm. 3d bb; Roxin, Lange-Festschrift S. 178ff.; Lackner,

§ 25 Rdn. 4; Schumann, Handlungsunrecht S. 79. Nach Welzel, Lehrbuch S. 103 liegt in diesem Falle immer Teilnahme vor, während Blei, Allg. Teil S. 260 mittelbare Täterschaft nur annimmt, wenn der Hintermann den Verbotsirrtum herbeigeführt hat, um den Handelnden zu der Tat zu veranlassen. 30 Vgl. näher Schroeder, Der Täter hinter dem Täter S. 135 ff., der sich mit Recht gegen BGH 8, 393 (397) wendet, wo auch der vollverantwortliche Soldat nur als Gehilfe angesehen wird. Wie der Text auch LK n (Roxin) § 25 Rdn. 71; Schönke/Schröder /Cramer, § 25 Rdn. 29. 31 Ebenso Blei, Allg. Teil S. 259; LK n (Roxin) § 25 Rdn. 65; Jakobs, Allg. Teil 21/96; Lackner, § 35 Rdn. 15; Welzel, Lehrbuch S. 102 f.; Roxin, Täterschaft und Tatherrschaft S. 153; Herzberg, Täterschaft S. 13 ff.; Stratenwerth, Allg. Teil I Rdn. 773. Straflosigkeit der Teilnahme an einer Haupttat, die nach § 35 oder § 33 entschuldigt ist, nehmen an Maurach/Zipf, Allg. Teil I § 32 Rdn. 6 (Tatverantwortung fehlt); Rudolphi, ZStW 78 (1966) S. 98 f.; SK (Rudolph ή) § 35 Rdn. 21 (zumindest Strafmilderung); für letzteres auch LK n (Roxin) § 29 Rdn. 3. 32 Vielfach wird angenommen, daß die Tatherrschaftslehre beim qualifikationslosen Werkzeug überhaupt versage und daß die mittelbare Täterschaft hier auf die Verletzung der Sonderpflicht durch den Hintermann (z.B. die Amtspflicht) gegründet werden müsse; so Roxin, Täterschaft und Tatherrschaft S. 360ff.; derselbe, ZStW 85 (1973) S. 102; LK U (Roxin) § 25 Rdn. 134; Bloy, Beteiligungsform S. 233 ff.; Jakobs, Allg. Teil 21/104; Wagner, Amtsverbre-

670

§ 62 D i e mittelbare Täterschaft

lieh, weil dem Tatmittler gerade die strafbarkeitsbegründende Absicht oder persönliche Eigenschaft fehlt und er deswegen nicht Täter sein kann. Von einer Willensherrschaft des Hintermanns über das Werkzeug kann aber ebensowenig die Rede sein, sofern nicht außerdem Zwang, Irrtum oder Schuldunfähigkeit auf Seiten des Werkzeugs hinzutreten. Tatherrschaft läßt sich hier nur normativ begründen 33 . Die Straftat kann von dem Tatmittler ohne die Mitwirkung des Hintermanns gar nicht begangen werden, ein strafrechtlich erhebliches Geschehen entsteht überhaupt erst dadurch, daß dieser die vom Tatbestand geforderte Absicht oder Eigenschaft mitbringt. Wenn man in diesen Fällen nicht ganz auf eine Bestrafung verzichten w i l l - was freilich zu erheblichen Ungerechtigkeiten führen würde - muß man daher den rechtlich notwendigen Einfluß des Hintermanns als Tatherrschaft genügen lassen. Notwendig ist allerdings auch eine psychische Einflußnahme auf den Vordermann, die etwa das Gewicht einer Anstiftungshandlung hat (normativ-psychoFehlt es an einer Einwirkung, so liegt nur ein Unterlaslogische Tatherrschaft). sungsdelikt des Hintermanns vor 3 4 . Beispiele: Mittelbarer Täter des Diebstahls ist, wer sich durch einen bösgläubigen Helfer einen Ball aus einem fremden Garten holen läßt, um ihn sich selbst zuzueignen (RG 39, 37 [39]). Ein Bürgermeister, der als Ortspolizeibehörde eine Urkunde über den Transport von Gefangenen auszustellen hat, begeht Falschbeurkundung im Amt nach § 348 I, wenn er die Urkunde durch seinen Privatangestellten falsch ausstellen läßt (nach RG 28, 109 [110]). 8. Neuerdings wird vielfach auch eine Tatherrschaft kraft organisatorischer Machtapparate (Holocaust, Polizeiterror, Mafia, Schießbefehl an der früheren DDR-Grenze) angenommen, so daß der „Schreibtischtäter", der die Organisation in der Hand hat, immer als mittelbarer Täter erscheint (BGH 40, 218 [236 ff.] m. zust. Anm. Roxin, JZ 1995, 49)35. Dieser Ansicht ist jedoch nur dann zuzustimmen, wenn die Ausführenden nicht selbst als voll verantwortliche Täter betrachtet werden können (z.B. nach § 5 I WStG). Sind sie das aber, so ist der Mann in der Zentrale, gerade weil er die Organisation beherrscht, Mittäter 36 . Die Gemeinsamkeit des Tatentschlusses wird durch das Bewußtsein der Leitenden und Ausführenden hergestellt, daß eine bestimmte Tat oder mehrere Taten gleicher Art entsprechend den Weisungen der Leitung vorgenommen werden sollen. I I I . Die Behandlung der Irrtumsfälle Drei Gruppen von Irrtumsfällen sind zu unterscheiden. chen S. 378 ff.; SK (Samson) § 25 Rdn. 35; Schroeder, Der Täter hinter dem Täter S. 88. Straflosigkeit nehmen dagegen Herzberg, Täterschaft S. 34 und Stratenwerth, Allg. Teil I Rdn. 797 an. Die Figur des „absichtslosen Werkzeugs" lehnt Roxin, Täterschaft und Tatherrschaft S. 341 ff. und LK 11 (Roxin) § 25 Rdn. 141 ganz ab und nimmt statt dessen Täterschaft des Werkzeugs mit Anstiftung durch den Hintermann oder Unterschlagung des Hintermanns mit Beihilfe des Werkzeugs an. Herzberg, Täterschaft S. 35; Bloy, Beteiligungsform S. 240 und Stratenwerth, Allg. Teil I Rdn. 801 sind auch hier für Straflosigkeit. 33 So Blei, Allg. Teil S. 257f.; Bockelmann/Volk, Allg. Teil S. 180; Gallas, Materialien Bd. I S. 135 f.; Dreher/Tröndle,

§ 25 Rdn. 3; Gramer, Bockelmann-Festschrift S. 398; Heg-

ler, R. Schmidt-Festgabe S. 22; Lackner, § 25 Rdn. 4; Hünerfeld, ZStW 99 (1987) S. 239?.; Welzel, Lehrbuch S. 104; Wessels, Allg. Teil Rdn. 537 (nur für das absichtslose Werkzeug); M aurach / Gössel/Zipf, Allg. Teil I I § 48 Rdn. 57, 66 (mit differenzierter Lösung); Schönke/ Schröder/Cramer, Vorbem. 81 f. vor § 25; Ε 1962 Begründung S. 149. 34 So Schmidhäuser, Allg. Teil S. 328; SK (Samson) § 25 Rdn. 35. 35

So Dreher/Tröndle,

§ 25 Rdn. 3; LK n

(Roxin) § 25 Rdn. 128; Maurach/Gössel/Zipf,

Allg. Teil II § 48 Rdn. 88; Roxin, Täterschaft und Tatherrschaft S. 242ff.; Schmidhäuser, Allg. Teil S. 526f.; Stratenwerth, Allg. Teil I Rdn. 790f. 36 Wie der Text SK (Samson) § 25 Rdn. 36; Otto, Grundkurs S. 273; Jakobs, Allg. Teil 21/ 103. Zur Situation der Untergebenen vgl. Jäger, Verbrechen unter totalitärer Herrschaft S. 166 ff.

I I I . D i e Behandlung der Irrtumsfälle

671

1. Der Hintermann nimmt irrig an, der unmittelbar Handelnde habe den Tatvorsatz bzw. sei schuldfähig, während dieser in Wirklichkeit ohne Vorsatz handelt bzw. schuldunfähig ist. Beispiele: Der ungetreue Forstwart verkauft in eigenem Namen Holz im Wald und läßt es von dem Käufer abfahren, wobei er diesen zu Unrecht für bösgläubig hält. Jemand dingt zur Ausführung einer Mordtat einen Verbrecher, der aber unerkennbar geisteskrank ist. In beiden Fällen glaubt der Hintermann, eine Anstiftung zum Diebstahl bzw. zum Mord zu begehen, handelt aber objektiv als mittelbarer Täter, ohne indessen seine Tatherrschaft zu erkennen, so daß er auch nicht wegen mittelbarer Täterschaft bestraft werden kann 3 7 . Ein Teil der Lehre w i l l hier versuchte Teilnahme bejahen 38 , was freilich nur im Falle der Anstiftung zu einem Verbrechen (§30 I) zur Strafbarkeit führt. Richtig ist im Falle des unerkannt geisteskranken Täters die Bestrafung wegen vollendeter Anstiftung (vgl. Ε 62 § 32), da objektiv vollendete mittelbare Täterschaft (also ein Mehr gegenüber der Anstiftung) und subjektiv Anstiftervorsatz sowie auch der nach § 26 erforderliche Vorsatz beim Täter gegeben sind 3 9 . Fehlt freilich dem Täter der Vorsatz wie im Falle des vermeintlichen Holzdiebstahls, so kommt nur versuchte Anstiftung in Betracht (vgl. oben § 61 V I I 3). I m umgekehrten Fall, in dem der unmittelbar Handelnde voll verantwortlich ist, während der Hintermann irrig annimmt, daß Vorsatz oder Schuldfähigkeit fehlten, glaubt er die Tatherrschaft zu besitzen, während er in Wirklichkeit nur eine Anstiftung bewirkt. Auch hier ist im Ergebnis vollendete Anstiftung anzunehmen, da der Anstiftungsvorsatz im Tatherrschaftsbewußtsein enthalten ist 4 0 . Entsprechendes gilt für den Fall, daß der Hintermann irrig annimmt, das Werkzeug beim Diebstahl werde ohne Zueignungsabsicht handeln (RG 57, 274 nimmt jedoch Täterschaft an). 2. Im dritten Fall unterliegt das Werkzeug einem Objektsirrtum (vgl. oben § 29 V 6 a). Hier wird von einem Teil der Lehre darauf abgestellt, ob der Tatmittler vorsätzlich handelt oder nicht. Bei vorsätzlichem Handeln soll der Objektsirrtum dem Hintermann als mittelbarem Täter ebensowenig zugute kommen, wie wenn er selbst unmittelbar gehandelt hätte. N u r bei unvorsätzlichem Handeln des Werkzeugs wird dagegen ein Fall der aberratio ictus angenommen 41 (vgl. oben § 29 V 6 c). Die Gegenmeinung will das menschliche Werkzeug ganz dem mechani37

Dennoch für mittelbare Täterschaft Kohlrausch/Lange,

Vorbem. I Β 2a vor § 47; H.

Mayer, Lehrbuch S. 329; Eb. Schmidt, Frank-Festgabe Bd. I I S. 131; v. Uthmann, NJW 1961,

1909.

38 So Bockelmann, Untersuchungen S. 96; derselbe, Gallas-Festschrift S. 266; Blei, Allg. Teil S. 261; Heinitz, Festschrift zum 41. DJT S. 106; Maurach/Gössel/Zipf Allg. Teil I I § 48 Rdn. 32f.; Tröndle, GA 1956, 143; Welzel, Lehrbuch S. 123; Letzgus, Vorstufen S. 29ff.; Stratenwerth, Allg. Teil I Rdn. 963. 39 So die überwiegende Meinung; vgl. Baumann/Weber, Alle. Teil S. 558; Gramer, Bokkelmann-Festschrift S. 400; Lackner, Vorbem. 10 vor § 25; LK (Roxin) § 25 Rdn. 145; Gallas, Materialien Bd. I S.139; Mezger, Lehrbuch S. 449; Sax, MDR 1954, 69; Schroeder, ROW 1964, 104; Roxin, Täterschaft und Tatherrschaft S. 267f.; Schönke/Schröder/Gramer, Vorbem. 83 vor § 25. 40

So Gallas, Materialien Bd. I S. 139; LK n

(Roxin) § 25 Rdn. 147; Roxin, Täterschaft

und Tatherrschaft S. 271 ff.; Schmidhäuser, Allg. Teil S. 530; Wessels, Allg. Teil Rdn. 547; Stratenwerth, Allg. Teil I Rdn. 959 f.; Schönke/Schröder/Gramer, Vorbem. 83 vor § 25. Für mittelbare Täterschaft wegen des „Täterwillens" jedoch Baumann, JZ 1958, 233. Für versuchte mittelbare Täterschaft Herzberg, Täterschaft S. 45; Maurach /Gössel /Zipf Allg. Teil I I § 48 Rdn. 41; SK (Samson) § 25 Rdn. 38. 41

So Jakobs, A l l g . T e i l 21/106; Welzel, L e h r b u c h S. 75.

672

§ 62 D i e mittelbare Täterschaft

sehen gleichstellen und behandelt deswegen beide Fälle nach den Regeln der aberratio ictus, wie wenn eine Waffe ihr Ziel verfehlt 42 . Richtig ist die zweite Meinung, weil der Vorsatz des mittelbaren Täters ebenso wie der Anstiftervorsatz den Erfolg der Tat umfassen muß und der Objektsirrtum des Werkzeugs deswegen beim mittelbaren Täter als aberratio ictus in Erscheinung tritt. Beispiele: A bestimmt Β unter Todesdrohung, seinen Feind C zu erschießen; Β erschießt aber infolge einer Personenverwechslung den D. A läßt durch das nichtsahnende Hausmädchen Β für C eine Tasse vergifteten Kaffee bereitstellen, den aber D zu trinken bekommt, weil die Β diesen mit C verwechselt. In beiden Fällen ist A nur wegen Tötungsversuchs strafbar. 3. Der mittelbare Täter ist nicht für strafbare Handlungen verantwortlich, die das Werkzeug über den Tatplan hinaus aus eigenem Antrieb oder in irrtümlichem Verständnis des vom Hintermann Bezweckten begeht (Exzeß), weil dieser Teil des Geschehens seiner Tatherrschaft entzogen ist 4 3 . IV. Versuch und Unterlassung bei der mittelbaren Täterschaft 1. Mittelbare Täterschaft kann auch in Versuchsform begangen werden. Umstritten ist jedoch die Frage, in welchem Zeitpunkt das Versuchsstadium i.S. von § 22 beginnt (vgl. oben § 49 IV 5). Auch hier wird von einem Teil der Lehre zwischen dem gutgläubigen und dem bösgläubigen Werkzeug unterschieden. Beim gutgläubigen Werkzeug soll der Versuch schon mit der Einwirkung durch den Hintermann beginnen, weil dieser Fall ebenso behandelt werden müsse, wie wenn eine mechanische Ursachenkette in Gang gesetzt wird. Beim bösgläubigen Werkzeug beginne der Versuch dagegen erst mit der Ausführungshandlung des Werk44

zeugs . Beispiele: Die Vorlage einer unrichtigen Warenbestandsliste an den gutgläubigen Vergleichsverwalter, die dieser den Gläubigern alsbald übermitteln soll, wäre danach bereits versuchter Betrug (BGH 4, 270 [273]). Das Einschütten des Gifts in den Tee, den die gutgläubige Pflegerin dem Opfer sogleich darreichen wird, wäre versuchte Vergiftung (RG 59, 1; vgl. 66, 141 [142]). Wer den gutgläubigen Käufer durch Täuschung veranlaßt, ihm nicht gehörende Eisenträger aus einem Warenlager abzufahren, beginge schon mit der Täuschungshandlung versuchten Diebstahl (RG 70, 212 [213]). Wer den gedungenen Verbrecher zu einem Raub in Bewegung setzt, der aber, dem Werkzeug unbewußt, zur Tötung des Opfers führen soll, beginge schon versuchten Mord (BGH 30, 363 [365]). Die Unterscheidung von gut- und bösgläubigem Werkzeug ist jedoch auch an dieser Stelle nicht begründet. Der Versuch setzt nach § 22 voraus, daß der Täter nach seinem Gesamtplan unmittelbar zur Verwirklichung des Tatbestandes ansetzt (vgl. oben § 49 IV 1). Das gilt auch für die mittelbare Täterschaft. Versuch liegt daher jedenfalls immer dann vor, wenn der Tatmittler bereits zur Ausführung der 42 So LK U (Roxin) §25 Rdn. 149; Hillenkamp, Vorsatzkonkretisierungen S. 49ff.; LK U (Schroeder) § 16 Rdn. 14; Roxin, Täterschaft und Tatherrschaft S. 215; Schmidhäuser, Allg. Teil S. 530; SK (Rudolphi) § 16 Rdn. 30; Wessels, Allg. Teil Rdn. 550. 43 Ebenso Maurach/Gössel/Zipf Allg. Teil II § 48 Rdn. 45; Schmidhäuser, Allg. Teil S. 531; Wessels, Allg. Teil Rdn. 545; mit subjektiver Begründung auch Baumann/Weher, Allg. Teil S. 549. 44 So Blei, Allg. Teil S. 261 f.; Kohlrausch/Lange, Vorbem. II 3 vor § 43; Mezger, Lehrbuch S. 386, 401; LK 9 (Busch) § 43 Rdn. 33; Welzel, Lehrbuch S. 191. Dagegen nehmen Versuch bei Einwirkung auf den Tatmittler in jedem Falle an Baumann, JuS 1963, 92 f.; Baumann/Weher, Allg. Teil S. 542f.; Bockelmann/Volk, Allg. Teil S. 183; Jakobs, Allg. Teil 21/ 105; eingehend Schilling, Verbrechensversuch S. 104 (sog. „Einzellösung").

I V . Versuch u n d Unterlassung bei der mittelbaren Täterschaft

673

Straftat ansetzt 45 . Aber auch schon im Vorstadium kann Versuch dann zu bejahen sein, wenn der mittelbare Täter den Tatmittler instruiert und ihn in der Annahme aus seinem Einflußbereich entlassen hat, er werde die Tat alsbald ausführen. Dabei macht es keinen Unterschied, ob das Werkzeug dolos oder nicht dolos handelt ( B G H 30, 363 [365]) 46 . 2. Ob eine Tat in mittelbarer Täterschaft auch durch Unterlassung begangen werden kann, ist streitig. Ein Teil der Lehre bejaht die Möglichkeit mittelbarer Täterschaft, wenn jemand entgegen einer Garantenpflicht die strafbare Handlung des Werkzeugs nicht verhindert 4 . Der Pfleger in einer Heilanstalt unterläßt es z. B. willentlich, einen Geisteskranken daran zu hindern, einen Mitpatienten anzugreifen. Zutreffend ist jedoch die im Vordringen begriffene Gegenmeinung 48 , die in diesen Fällen unmittelbare Täterschaft durch Unterlassen annimmt, weil die Pflicht zur Beaufsichtigung des Geisteskranken den Pfleger zum Garanten dafür macht, daß der Geisteskranke niemanden schädigt; des Umwegs über mittelbare Täterschaft bedarf es hier nicht (vgl. oben § 59 I V 4 c). § 63 Die Mittäterschaft Berolzheimer, Die akzessorische Natur der Teilnahme, Diss. München 1909; Beulke, Anmerkung zu OLG Köln vom 5.9.1978, JR 1980, 423; Bindokat, Fahrlässige Mittäterschaft im Strafrecht, JZ 1979, 434; v. Buri, Urheberschaft und Beihilfe, GA 17 (1869) S. 233; derselbe, Die Mittäterschaft im Sinne des deutschen StGB, GS 25 (1873) S. 237; Busse, Täterschaft und Teilnahme bei Unterlassungsdelikten, Diss. Göttingen 1974; Derksen y Heimliche Unterstützung fremder Tatbegehung als Mittäterschaft, G A 1993, 163; Fincke, Der Täter neben dem Täter, G A 1975, 161; Furtner, Zur Frage der Anrechnung erschwerender Umstände usw., JR 1960, 367; Gössel y Sukzessive Mittäterschaft und Täterschaftstheorien, Festschrift für H.-H. Jescheck, Bd. I, 1985, S. 537; Hardwig, Zur Abgrenzung von Mittäterschaft und Beihilfe, GA 1954, 353; Herzberg, Mittäterschaft durch Mitvorbereitung: eine actio communis in causa? JZ 1991, 856; Kion, Grundfragen der Kausalität bei Tötungsdelikten, JuS 1967, 499; Kühl, Grundfälle zur Vorbereitung usw., JuS 1982, 189; Küper, Versuchsbeginn und Mittäterschaft, 1978; derselbe, Zur Problematik der sukzessiven Mittäterschaft, JuS 1981, 568; Küpper, Der gemeinsame Tatentschluß als unverzichtbares Moment der Mittäterschaft, ZStW 105 (1993) S. 295; Lesch, Die Begründung mittäterschaftlicher Haftung als Moment der objektiven Zurechnung, ZStW 105 (1993) S. 271; Murmann, Die Nebentäterschaft im Strafrecht, 1993; Niese, Anmerkung zu BGH 2, 344, NJW 1952, 1176; Oehler, Das erfolgsqualifizierte Delikt und die Teilnahme an ihm, G A 1954, 33; Otto, Versuch und Rück45 Für den Beginn der Ausführungshandlung des Werkzeugs als maßgebenden Zeitpunkt des Versuchs treten ein Frank, § 43 Anm. I I 2 a a.E.; Hegler, R. Schmidt-Festgabe S. 66 f.;

v.Hippel Bd. I I S. 475; Eb. Schmidt, Frank-Festgabe Bd. I I S. 132; Kühl y JuS 1983, 182; derselbe, Allg. Teil § 20 Rdn. 97; Küper, JZ 1983, 369; Kadel, GA 1983, 299; LK 10 (Vogler)

§ 22 Rdn. 101; Maurach/Gössel/Zipf Allg. Teil I I § 48 Rdn. 115; Stratenwerth, Allg. Teil I Rdn. 838 (sog. „Gesamtlösung"). Otto, Grundkurs S. 281 stellt auf die unmittelbare Gefährdung des Rechtsguts ab. Nach Krüger, Versuchsbeginn S. 186 kommt es darauf an, daß der mittelbare Täter das angegriffene Rechtsgut „in den Griff" bekommt. 46 So treffend Roxin., Maurach-Festschrift S. 227ff.; ferner Dreher/Tröndle, § 22 Rdn. 18; LK n

(Roxin) § 25 Rdn. 152; Herzberg, MDR 1973, 94f.; derselbe, JuS 1985, 6; J. Meyer,

ZStW 87 (1975) S. 608; Puppe, JuS 1980, 348 f.; Schönke/Schröder/Eser, § 22 Rdn. 54f.; SK (Rudolphi) § 22 Rdn. 20; Wessels, Allg. Teil Rdn. 615. Kritisch dazu Küper, JZ 1983, 371 f. 47 So Baumann /Weber, Allg. Teil S. 547; Blei, Allg. Teil S. 260; Engelsing, Eigenhändige Allg. Teil I I § 48 Rdn. 95; Schmidhäuser, Allg. Teil Delikte S. 42; Maurach/Gössel/Zipf, S. 706. 48

So Grünwald, GA 1959, 122; Armin Kaufmann, Unterlassungsdelikte S. 294; Roxin,

Täterschaft und Tatherrschaft S. 471; Schönke/Schröder /Cramer, § 25 Rdn. 55; SK (Rudolphi) § 13 Rdn. 33; Sowada, Jura 1986, 410; Welzel, Lehrbuch S. 206; Stratenwerth, Allg. Teil I Rdn. 1066. 43 Jescheck, 5. A.

674

§ 6

Die

ittäterschaft

tritt bei mehreren Tatbeteiligten, JA 1980, 641; derselbe, Mittäterschaft beim Fahrlässigkeitsdelikt, Jura 1990, 47; Puppe, Anmerkung zu BGH 37, 214, NStZ 1991, 124; dieselbe, Anmerkung zu BGH 37, 289, NStZ 1991, 571; dieselbe, Anmerkung zu BGH 31, 106, JR 1992, 30; Roxin, Die Mittäterschaft im Strafrecht, JA 1979, 519; derselbe, Anmerkung zu BGH 37, 289, JR 1991, 206; Rudolphi, Zur Tatbezogenheit des Tatherrschaftsbegriffs usw., Festschrift für P. Bockelmann, 1979, S. 369; Scheffler, Der Verfolger-Fall (BGH 11, 268) usw., JuS 1992, 920; Schröder, Anmerkung zu BGH 11, 268, JR 1958, 427; Seelmann, Mittäterschaft im Strafrecht, JuS 1980, 571; Stoffers, Mittäterschaft und Versuchsbeginn, MDR 1989, 208; Timpe, Anmerkung zu BGH 36, 231, JZ 1990, 97; Valddgua, Versuchsbeginn des Mittäters, ZStW 98 (1986) S. 839; Winter, Die Entwicklung der Mittäterschaft im 19. Jahrhundert, Diss. Heidelberg 1981; Zimmert, Zur Lehre vom Tatbestand, Strafr. Abh. Heft 237, 1928. Vgl. ferner die Schrifttumsangaben vor §§ 61, 62. I. Begriff und Abgrenzung der Mittäterschaft 1. Wenn mehrere eine Tat gemeinschaftlich begehen, wird jeder als Täter bestraft (§ 25 II). Das Gesetz selbst nennt die Beteiligten in diesem Falle „Mittäter". Die Mittäterschaft ist ebenso wie die mittelbare Täterschaft eine Form der Täterschaft. Voraussetzungen und Abgrenzung der Mittäterschaft sind trotz dieser gesetzlichen Regelung umstritten 1 . a) Auch die Mittäterschaft wird durch Tatherrschaft begründet. Da an ihrer Ausübung aber mehrere beteiligt sind, muß die Tatherrschaft eine gemeinschaftliche sein (vgl. oben § 61 V 3 b). Jeder Mittäter beherrscht das Gesamtgeschehen im Zusammenwirken mit einem oder mehreren anderen. Die Mittäterschaft besteht somit in einer „Arbeitsteilung", die die Tat entweder überhaupt erst möglich macht oder erleichtert oder doch das Tatrisiko wesentlich herabsetzt. Sie verlangt auf der subjektiven Seite, daß die Beteiligten sich durch einen gemeinsamen Tatentschluß miteinander verbinden, wobei jeder eine im Rahmen des ganzen wesentliche Teilaufgabe übernehmen muß, die ihn als Mitträger der Verantwortung für die Ausführung der Gesamttat erscheinen läßt. Der gemeinsame Tatentschluß ist die Klammer, die die einzelnen Teilstücke zum ganzen zusammenfügt. In objektiver Beziehung muß das, was jeder Mittäter bewirkt, ein bestimmtes Maß an funktionaler Bedeutung aufweisen, so daß sich die Mitwirkung eines jeden in der ihm zugefallenen Rolle als wesentliches Teilstück der Verwirklichung des Gesamtplans darstellt (funktionale Tatherrschaft) (BGH 24, 286 [288]; B G H NStZ 1985, 165)2. b) Die subjektive Teilnahmetheone sieht dagegen auch hier den Täterwillen als entscheidend an3. Es soll allein darauf ankommen, daß jeder Beteiligte die Tat unter 1

Zur Geschichte Winter, Die Entwicklung der Mittäterschaft im 19. Jahrhundert, 1981. So Blei, Allg. Teil S. 278; Bloy, Beteiligungsform S. 369ff.; Bockelmann/Volk, Allg. Teil S. 186; Jakobs, Allg. Teil 21/40; LK 11 (Roxin) § 25 Rdn. 154; Eser, Strafrecht II Nr. 39 A Rdn. 6; Lackner, § 25 Rdn. 11; Kühl, Allg. Teil § 20 Rdn. 99; Frisch, Lexikon 8/1620 S. 7; Gallas, Materialien Bd. I S. 136f.; Maurach/Gössel/Zipf, Allg. Teil II §49 Rdn. 5; Roxin, Täterschaft und Tatherrschaft S. 277ff.; Welzel, Lehrbuch S. 107; Schmidhäuser, Allg. Teil 2

S. 509; Seelmann, JuS 1980, 574; SK (Samson) § 25 Rdn. 43; Stratenwerth,

Allg. Teil I

Rdn. 823; Wessels, Allg. Teil Rdn. 528. Kritisch dazu Herzberg, Täterschaft S. 57 ff., der einschränkend verlangt, daß der Tatbeitrag des Mittäters „in enger Beziehung zur eigentlichen Tatbestandshandlung" stehen muß (S. 66); gegen das Kriterium der funktionalen TatherrVorbem. 86 vor § 25. Die formell-objektive Theorie, die schaft Schönke/Schröder/Gramer, für die Mittäterschaft eine Beteiligung an der Ausführungshandlung verlangte, wurde zuletzt noch von H. Mayer vertreten; vgl. Lehrbuch S. 313 f. und Grundriß S. 161. 3 So Baumann/Weber, Allg. Teil S. 536ff.; Baumann, JuS 1963, 90; Kohlrausch/Lange, Vorbem. I 5c vor § 47; Olshausen, Vorbem. 24 vor § 47; LK 9 (Busch) § 47 Rdn. 6. Den Übergang zur Tatherrschaftslehre stellte LK S (Mezger) § 47 Anm. 2 c her durch die Formel, daß es auf die „objektive Würdigung des willentlichen Handelns" ankomme.

I. Begriff u n d A b g r e n z u n g der Mittäterschaft

675

Mitwirkung der anderen „als eigene" gewollt hat (vgl. oben § 61 IV 2). Bei Vorliegen des Täterwillens soll im Rahmen des gemeinschaftlichen Tatentschlusses jeder kausale Tatbeitrag, auch wenn er äußerlich noch so geringe Bedeutung hat, für die objektiven Erfordernisse der Mittäterschaft ausreichen. Die Rechtsprechung 4 hat sich dieser Lehre frühzeitig angeschlossen (RG 2, 160 [163]; 3, 181 [182]). Sie hat damit eine klare Abgrenzung zwischen Mittäterschaft einerseits und Beihilfe bzw. Anstiftung andererseits zugunsten einer am Einzelfall orientierten wertenden Betrachtungsweise aufgegeben. Beispiele: Die bloße psychische Förderung der Tat durch Ratschläge kann Mittäterschaft bei der Zollhinterziehung sein (RG 35, 13 [17]), die Beschreibung der örtlichen und sonstigen Verhältnisse Mittäterschaft beim Diebstahl (RG 53, 138). Das Ausdenken des Plans und die Erkundung der Gelegenheit für einen Raub ist ebenfalls bereits Mittäterschaft (BGH NJW 1951, 410). Wer den Brandstifter lediglich zum Tatort befördert, kann bereits Mittäter der Brandstiftung sein (RG HRR 1934, 147). Bei einer Tat von zwei Männern nach § 179 II kann auch derjenige, welcher selbst nur billigend am Tatort anwesend ist, ohne sich selbst an der Geisteskranken zu vergreifen, Mittäter sein (RG 71, 364). Die Mutter, die den Sohn zur Tötung des Vaters bestimmt und die Tatausführung mit ihm bespricht, ist Mittäterin (RG DR 1944, 147 [148]). Andererseits kann, wer selbst den tödlichen Schuß abgegeben hat, nur als Gehilfe erscheinen, sofern er sich einem anderen Beteiligten völlig untergeordnet hat (OGH 1, 95 [102]). Dasselbe gilt auch für die Mitwirkung an der Ausführung eines Bandenschmuggels (BGH 8, 70 [73]). Wer einen anderen zum Diebstahl eines Kraftwagens anstiftet, mit dem eine gemeinsame Fahrt unternommen werden soll, ist Mittäter (BGH 16, 12 [13]). Andererseits ist, wer im Auftrag eines ausländischen Geheimdienstes zwei Morde ausführt, mangels eigenen Täterwillens nur Gehilfe, wenn er sich den Auftraggebern nur widerstrebend gebeugt hat (BGH 18, 87 [95]). Kurierdienst beim Betäubungsmittelhandel ist Mittäterschaft, wenn der Beteiligte die Tat als eigene wollte (BGH GA 1984, 572). Der Mittäter beim Betäubungsmittelhandel muß eigennützig tätig sein (BGH 34, 124 [125]). Mittäterschaft beim Mord setzt voraus, daß der Beteiligte die Tat als eigene wollte (BGH GA 1984, 287). Im Zweifel ist nicht Mittäterschaft, sondern Beihilfe anzunehmen (BGH 23, 203 [207]). c) Die neuere Rechtsprechung geht zwar vom Täterwillen aus, verwendet aber zur Begründung der Mittäterschaft zunehmend auch objektive Merkmale wie die Ausarbeitung des Tatplans, den Umfang der Tatbeteiligung, die Tatherrschaft oder doch wenigstens den Willen zur Tatherrschaft (BGH 33, 50 [53]; 37, 289 [291]; B G H GA 1984, 287; NStZ 1982, 27; 1984, 413; 1985, 165). Maßgebend ist weiter insbesondere die „gleichberechtigte Partnerschaft" der Beteiligten (BGH G A 1984, 572 f.). 2. Für die Mittäterschaft gilt nicht das Prinzip der Zurechnung kraft Akzessorietät (vgl. aber unten § 63 V), sondern die unmittelbare gegenseitige Zurechnung aller Tatbeiträge, die im Rahmen des gemeinsamen Tatentschlusses geleistet werden (RG 58, 279; 66, 236 [240]; O L G Hamm NJW 1971, 1954)5. Es ist also nicht so, daß der Mittäter an einer fremden Haupttat mitwirkt, sondern alle Beiträge von Mittätern werden rechtlich als gleichbedeutend betrachtet und in ihrer Gesamtheit jedem einzelnen Mittäter zugerechnet. Dabei gelten für die Irrtumsfälle die allgemeinen Regeln. Der unbeachtliche Objektsirrtum eines Mittäters kommt auch keinem der anderen Beteiligten zugute. Abweichungen ergeben sich nur daraus, daß die Mittäterschaft bei jedem Beteiligten Täterschaft ist, so daß jeder auch für 4 Sie folgte auch hier den aus der Kausalitätslehre v. Buris gezogenen Konsequenzen; vgl. v. Buri, GA 17 (1869) S. 233ff.; derselbe, GS 25 (1873) S. 237ff. Zur Kritik vgl. v. Birkmeyer, Die Lehre von der Teilnahme S. 194 ff. 5 Dies ist, wie Kühl, Allg. Teil § 20 Rdn. 99 zu Recht betont, der „springende Punkt"; ebenso Wessels, Allg. Teil Rdn. 531.

43*

§ 6

676

Die

ittäterschaft

den Tatanteil des anderen ein tauglicher Täter sein muß (vgl. unten § 63 I 3 b). Richtet sich z.B. eine gemeinschaftliche Sachbeschädigung infolge Irrtums des Handelnden gegen das Eigentum eines der Mittäter selbst, so kommt für diesen nur versuchte Sachbeschädigung in Frage 6. Daraus ergibt sich auch die Lösung des folgenden Falles, in dem der Angriff infolge eines Irrtums des unmittelbar Handelnden für einen der Mittäter die vom Tatbestand geforderte Richtung „gegen einen anderen" verliert. Beispiel: Ein Mittäter schießt aufgrund des gemeinschaftlichen Tatentschlusses in der Dunkelheit auf einen vermeintlichen Verfolger, der aber in Wirklichkeit einer der anderen Mittäter ist. BGH 11, 268 (271) hat hier auch für den Mittäter, dem der Schuß galt, versuchten Mord angenommen, obwohl die Tat, wenn er sie gegen sich selbst verübt hätte, nur strafloser versuchter Selbstmord gewesen wäre7. Aus zwei Gründen liegt hier nur Versuch vor, einmal weil der Schuß sein Ziel verfehlt hat, zum andern weil derjenige, dem er galt, die Tat als Täter nicht hätte vollenden können. Dieser letztere Gesichtspunkt muß jedoch für diesen selbst zur Straffreiheit führen, weil er nicht tauglicher Täter sein kann. Da die gegenseitige Zurechnung bei der Mittäterschaft nicht nach Akzessorietätsregeln stattfindet, kann die rechtliche Beurteilung der einzelnen Tatbeiträge auseinanderfallen, solange noch die Einheit des ganzen im Rahmen des gemeinschaftlichen Tatentschlusses gewahrt ist (RG 12, 8 [ I I ] ) 8 . Beispiele: Mittäterschaft beim Betrug wird nicht dadurch ausgeschlossen, daß einer der Beteiligten eigennützig, der andere fremdnützig handelt (RG 59, 104 [107]). Ein Mittäter kann wegen Raubs, der andere wegen Diebstahls verantwortlich sein. Mord und Totschlag können in Mittäterschaft begangen werden (BGH 36, 231 m.zust.Anm. Timpe, JZ 1990, 97). Ein Tatbeitrag kann in einem Tun, der andere in einem Unterlassen bestehen; so wenn der Nachtwächter aufgrund gemeinschaftlichen Entschlusses die Sicherung eines Gebäudes unterläßt, damit die Diebe freien Zugang haben. Doch wird hier besser Beihilfe durch Unterlassen anzunehmen sein, weil die Tatherrschaft für den Diebstahl allein bei den Dieben liegt. Dagegen liegt ein Exzeß vor, der insoweit Alleintäterschaft begründet, wenn einer der Mittäter über die vereinbarte Körperverletzung hinausgeht und das Opfer vorsätzlich tötet (RG 44, 321 [324]; ferner RG 57, 307; 67, 367 [369]). 3. Die Grenzen der Mittäterschaft ergeben sich daraus, daß es sich um eine Form der Täterschaft handelt, die auf gemeinsamem Tatentschluß beruht. a) Es gibt deswegen keine Mittäterschaft bei Fahrlässigkeitstaten, da es hier an dem gemeinsamen Tatentschluß fehlt 9 . Wenn mehrere in fahrlässiger Weise zusammenwirken, ist jeder Beteiligte Nebentäter, sofern bei ihm alle Voraussetzungen 6

Ebenso SK (Samson) § 25 Rdn. 49. Anders Schröder, JR 1958, 428, der hier ausnahmsweise die Teilnahmegrundsätze vorgehen lassen will, so daß vollendete Sachbeschädigung anzunehmen wäre. Dagegen spricht, daß die Mittäterschaft gerade keine Teilnahme ist. Abweichend auch Roxin, Täterschaft und Tatherrschaft S. 286f.; Baumann, JuS 1963, 127. 7 Zustimmend Baumann, JuS 1963, 126 f.; Dreher/Tröndle, § 25 Rdn. 8; Jakobs, Allg. Teil 21/45; Küper, Versuchsbeginn S. 40; Maurach/Gössel/Zipf Allg. Teil II § 49 Rdn. 40; Puppe, NStZ 1991, 124; Schönke/Schröder /Cramer, § 25 Rdn. 89; zweifelnd Eser, Strafrecht I I Nr. 39 A Rdn. 14; Lackner, § 25 Rdn. 17. Ablehnend Schmidhäuser, Allg. Teil S. 508; Herzberg, Täterschaft S. 63; Spendel, JuS 1969, 314; LK 11 (Roxin) § 25 Rdn. 178; Roxin, JA 1979, 519f.; Rudolphi, Bockelmann-Festschrift S. 380; Seelmann, JuS 1980, 572; Schröder, JR 1958, 428; Scheffler, JuS 1992, 922 ff. 8 Vgl. Blei, Allg. Teil S. 282; Dreh er/Tröndle, § 25 Rdn. 5; Lackner, § 25 Rdn. 16;

Schmidhäuser, Allg. Teil S. 513; Stratenwerth, Allg. Teil I Rdn. 828. 9 So BGH VRS 18, 415 (421 f.); Baumann/Weber, Allg. Teil S. 527f.; Bindokat, JZ 1979, 434; Dreher/Tröndle,

Maurach/Gössel/Zipf

§ 25 Rdn. 10; v. Liszt/ Schmidt, S. 337; LK 11

(Roxin) § 25 Rdn. 221;

Allg. Teil I I § 49 Rdn. 107; Schönke/Schröder /Cramer,

SK (Samson) § 25 Rdn. 54, 41.

§ 25 Rdn. 101;

I.

er

und

r n g

677

der Mittäterschaft

der Fahrlässigkeitsstrafbarkeit vorliegen; eine gegenseitige Zurechnung findet hier nicht statt (vgl. unten § 63 I I 3) 1 0 . b) Da Mittäterschaft eine Form der Täterschaft darstellt, kann Mittäter nur sein, wer auch hinsichtlich der anderen Tatbeiträge tauglicher Täter ist 1 1 . Deshalb gibt es keine Mittäterschaft bei eigenhändigen Delikten ohne eigene Vornahme der tatbestandsmäßigen Handlung ( O G H 1, 303 [304] für die Amtsanmaßung; RG 61, 199 [201] für den Meineid; unrichtig RG 71, 350 [353]) und ebensowenig bei den echten Sonderdelikten ohne die erforderliche Eigenschaft (RG 42, 382 für die Bestechlichkeit). Mittäterschaft kommt ferner dann nicht in Frage, wenn der Tatbestand ein bestimmtes rechtliches Merkmal beim Täter voraussetzt und dieses bei dem betreffenden Beteiligten nicht vorliegt, wie die Inhaberschaft des Gewahrsams bei der Unterschlagung (RG 59, 79 [81]; B G H 2, 317 [318]), der Wille, über das Geschenk für eigene Zwecke zu verfügen, bei der Bestechlichkeit ( B G H 14, 123 [127]), die eigene Unfallbeteiligung beim Sichentfernen vom Unfallort ( B G H 15, 1 [3]), die Eigennützigkeit beim Handeltreiben mit Betäubungsmitteln ( B G H NJW 1986, 2584). Die Rückrufpflicht obliegt den Geschäftsführern der Firma, die ein gesundheitsschädliches Produkt in Verkehr gebracht hat, gemeinschaftlich ( B G H 37, 106 [114ff.]). Dagegen kann Mittäter einer Steuerhinterziehung auch sein, wer selbst nicht Steuerschuldner ist ( B G H NStZ 1986, 463). Auch die subjektiven Tatbestandsmerkmale wie die Zueignungsabsicht beim Diebstahl und Raub oder die Vorteilsabsicht bei der Hehlerei müssen bei jedem Beteiligten vorliegen, der als Mittäter angesehen werden soll ( B G H NJW 1987, 77; G A 1986, 417; StV 1989, 250; NStZ 1994, 29 [30]; O L G Hamburg M D R 1975, 772). c) Die gemeinsame strafrechtliche Verantwortlichkeit der Mittäter reicht aber nur so weit, wie der gemeinsame Tatentschluß geht. Handlungen einzelner Beteiligter, die darüber hinausführen (Exzeß), können nur diesen als Alleintätern zur Last gelegt werden ( B G H 35, 231 [ 2 3 4 ] / 2 . Beispiele: Ein Mittäter tötet das Opfer, obwohl nur eine Körperverletzung verabredet war (RG 44, 321 [324]), er verwendet zur Körperverletzung ein Messer (§ 223 a), während nur ein Faustkampf stattfinden sollte (RG 67, 367 [369]). Unterschlagen werden von den Mittätern andere Gegenstände als vereinbart war (RG 57, 307). Ein Mittäter begeht einen Raub, während nur eine Nötigung geplant war (BGH G A 1968, 121). Ein Mittäter beim Raub tötet das Opfer, das nur betäubt werden sollte (BGH NJW 1973, 377). Unwesentliche Abweichungen im Kausalverlauf kommen aber auch hier keinem der Beteiligten zugute. Ein Exzeß kann auch während der Tat stillschweigend in den gemeinsamen Tatentschluß einbezogen werden (BGH Daliinger MDR 1971, 545). 10

So zu Recht Murmann, Nebentäterschaft S. 237 ff.; Dreh er/Tröndle,

§ 25 Rdn. 11. Da-

gegen treten für die Möglichkeit fahrlässiger Mittäterschaft ein Berolzheimer,

Teilnahme

S. 49; Exner, Frank-Festgabe Bd. I S. 572; Frank, § 47 Anm. III; Kohlrausch/Lange,

§ 47

Anm. III; Mezger, Moderne Wege S. 32; Zimmerl, Lehre vom Tatbestand S. 107; Schmidhäuser, Allg. Teil S. 515; Otto, Jura 1990, 47. Für fahrlässige Mittäterschaft auch Schweiz. BGE 113 (1987) IV 58. 11 Einhellige Meinung; vgl. Baumann/Weher, Allg. Teil S. 528; Blei, Allg. Teil S. 275; Bockelmann/Volk, Allg. Teil S. 189f.; Dreher/Tröndle, § 25 Rdn. 6; Lackner, § 25 Rdn. 9; LK U

(Roxin) §25 Rdn. 168; Schönke/Schröder /Cramer,

§25 Rdn. 81; SK (Samson) §25

Rdn. 49; Wessels, Allg. Teil Rdn. 530. 12 Einhellige Meinung; vgl. Baumann/Weh er, Allg. Teil S. 541; Bockelmann/Volk,

Allg.

Teil S. 190f.; Dreher/Tröndle, § 25 Rdn. 8a; LK U (Roxin) § 25 Rdn. 175; Maurach/Gössel/ Zipf, Allg. Teil I I § 49 Rdn. 58; Schönke/Schröder /Cramer, § 25 Rdn. 93; SK (Samson) § 25

Rdn. 51; Wessels, Allg. Teil Rdn. 531.

678

§ 6

Die

ittäterschaft

Alle Beteiligten müssen als Mittäter für solche Handlungen einzelner einstehen, mit denen sie, z.B. für den Fall unerwarteten Widerstands des Opfers, gerechnet haben ( B G H G A 1985, 270). Bei erfolgsqualifizierten Delikten trifft die Strafschärfung nur denjenigen Beteiligten, dem selbst Fahrlässigkeit hinsichtlich der schweren Folge zur Last fällt (S 18)"· II. Der gemeinsame Tatentschluß 1. Die notwendige subjektive Komponente der Mittäterschaft ist der gemeinsame Tatentschluß. Die gegenseitige Zurechenbarkeit der Tatbeiträge wird allein durch diesen gerechtfertigt. Ein einseitiges Einverständnis genügt nicht, vielmehr müssen „alle in bewußtem und gewolltem Zusammenwirken handeln" (RG 8, 42 [44]; B G H 6, 248 [249]). In der Willensübereinstimmung muß die Rollenverteilung festgelegt sein, durch die der gemeinschaftlich angestrebte Erfolg mit vereinten Kräften erreicht werden soll ( B G H 24, 286 [288]). Die Art der Rollenverteilung muß ferner ergeben, daß die Verantwortung für die Ausführung der Tat auf den Schultern aller Beteiligten ruht 1 4 . Das Einverständnis kann freilich auch stillschweigend oder durch schlüssiges Handeln hergestellt werden (RG 49, 239 [241]; OGH 2, 352 [355]; BGH 37, 289 [292] m.krit.Anm. Puppe, NStZ 1991, 571). Die Mittäter brauchen sich nicht einmal gegenseitig zu kennen, „sofern sich jeder nur bewußt ist, daß neben ihm noch ein anderer oder andere mitwirken und diese von dem gleichen Bewußtsein erfüllt sind" (RG 58, 279)15. 2. Das Einverständnis der Beteiligten wird in der Regel vor Beginn der Tat hergestellt werden (Komplott). Doch kann ein Mittäter auch während der Tat bis zu deren Beendigung (vgl. oben § 49 I I I 3) hinzutreten ( B G H GA 1969, 214; G A 1986, 229) 1 6 (zur Beendigung insbesondere B G H 2, 344 [345]; B G H G A 1966, 210; JZ 1981, 596 m.abl.Anm. Küper, JZ 1981, 568; B G H 39, 260 [279]) 1 7 und ist dann für die ihm bekannten, von den anderen Beteiligten begangenen Tatanteile mit verantwortlich, soweit sie von dem nachträglich hergestellten Einverständnis zwischen den Beteiligten erfaßt sind und er die Tatbestandsverwirklichung gefördert oder zumindest abgesichert hat ( B G H Dallinger M D R 1975, 365 f., B G H NStZ 1985, 215; B G H StV 1985, 145; O L G Köln JR 1980, 422 [423] m.Anm. Beulke). Handlungen, die eine selbständige Straftat begründen und beim Eintritt bereits abgeschlossen sind, belasten den später hinzutretenden Mittäter jedoch nicht ( B G H Dallinger M D R 1969, 533) (sukzessive Mittäterschaft). 1S 13

Vgl. Maurach/Gössel/Zipf Allg. Teil II §49 Rdn. 61; LK U (Roxin) §25 Rdn. 176; Jakobs, Allg. Teil 21/46; Oehler, GA 1954, 37; Schönke/Schröder/Gramer, § 18 Rdn. 7. 14 Vgl. Maurach/Gössel/Zipf Allg. Teil I I § 49 Rdn. 47; Kühl, Allg. Teil § 20 Rdn. 104; LK n

(Roxin) §25 Rdn. 173; Schönke/Schröder /Cramer,

§ 25 Rdn. 70ff.; Stratenwerth,

Allg. Teil I Rdn. 810 ff.; Welzel, Lehrbuch S. 107. 15 Dagegen wird der gemeinsame Tatentschluß bei Jakobs, Allg. Teil 21/43 zu Unrecht durch den einseitigen „Einpassungsentschluß" ersetzt. Lesch, ZStW 105 (1993) S. 292 will sogar das tragende subjektive Element der Mittäterschaft durch die objektive Zurechnung ersetzen. Ebenso Derksen, GA 1993, 163 ff. Dagegen zutreffend Küpper, ZStW 105 (1993) S. 295 ff. 16

LK n

(Roxin) § 25 Rdn. 192; Schönke/Schröder/Eser,

Vorbem. 10 vor § 22; Lackner,

§ 25 Rdn. 10; Kühl, Allg. Teil § 20 Rdn. 126. 17 Vgl. hierzu kritisch Gössel, Jescheck-Festschrift Bd. I S. 537 ff. mit einschränkendem Ergebnis S. 552ff.; ferner Baumann/Weber, Allg. Teil S. 540; Furtner, JR 1960, 367; Mau-

rach/Gössel/Zipf

189 f.

Allg. Teil I I § 49 Rdn. 76; Dreher/Tröndle,

§ 25 Rdn. 9; Kühl, JuS 1982,

679

I I I . D i e gemeinschaftliche Tatausführung

Beispiel: Beim Raubüberfall auf eine Tankstelle ist Mittäter auch für die an sich nicht geplante Körperverletzung des Opfers, wer, ohne daran mitzuwirken, am Tatort verbleibt und dadurch eine psychische, die Körperverletzung fördernde Wirkung erzielt (BGH GA 1986, 229). 3. Wenn mehrere Personen den tatbestandsmäßigen Erfolg gemeinschaftlich herbeiführen, ohne durch einen gemeinsamen Tatentschluß verbunden zu sein, liegt Nebentäterschaft vor 1 9 . Sie ist selten bei Vorsatztaten, häufig dagegen bei der Fahrlässigkeit, weil fahrlässiges Zusammenwirken mehrerer eine alltägliche Erscheinung ist und Mittäterschaft hier nicht in Frage kommt (vgl. oben § 63 I 3 a). Beispiele: Zwei Wilderer schießen unabhängig voneinander auf den Förster (RG 8, 42 [44]). Mutter und Tochter töten ohne Verabredung durch selbständige Tatbeiträge den Ehemann und Stiefvater (BGH NJW 1966, 1823). Zum Abschluß eines Kegelabends veranstalten A und Β auf Vorschlag des X eine Wettfahrt zu dritt auf Motorrädern, bei der der betrunkene X durch eigenes Verschulden ums Leben kommt. A und Β sind hier beide wegen fahrlässiger Tötung verantwortlich, weil sie sich auf die Wettfahrt mit dem Betrunkenen eingelassen haben (nach BGH 7, 112). Entsprechendes gilt für Gast und Gastwirt, wenn dieser dem schon Fahruntüchtigen weiter zu trinken gibt und jener auf der Heimfahrt einen tödlichen Unfall verursacht (BGH 4, 20 [21]), oder wenn ein Unfall auf die Unachtsamkeit zweier Fahrer zurückzuführen ist (BGH VRS 28, 202; BayObLG NJW 1960, 1964). Auch die Ausnutzung fahrlässigen Verhaltens durch eine voll verantwortliche Person zu einer Vorsatztat ist Nebentäterschaft. Der Begriff der Nebentäterschaft hat nur Sinn als zusammenfassende Bezeichnung für alle Erscheinungsformen, die Gegenstück der Mittäterschaft sind. Dogmatisch hat er keinen eigenständigen Wert, da es sich nur um ein zufälliges Zusammentreffen mehrerer Fälle von Alleintäterschaft handelt 20 . Das Problem der Nebentäterschaft liegt bei der Frage nach der Kausalität der verschiedenen Tatbeiträge für einen gemeinsam herbeigeführten Erfolg (vgl. oben § 28 I I 5) 2 1 . I I I . Die gemeinschaftliche Tatausführung 1. Nach § 25 I I verlangt die Mittäterschaft gemeinschaftliche Tatausführung. Jeder Beteiligte, der als Mittäter angesehen werden soll, muß daher einen objektiven Tatbeitrag leisten. Nach der Tatherrschaftslehre müssen alle Mittäter an der Ausübung der Tatherrschaft beteiligt sein (funktionale Tatherrschaft). Diese Voraussetzung ist jedenfalls immer dann gegeben, wenn jeder der Beteiligten aufgrund des gemeinsamen Tatentschlusses in eigenhändiger und voll verantwortlicher Weise ein Tatbestandsmerkmal verwirklicht (vgl. oben § 61 V 2). Keiner braucht jedoch in seiner Person allein alle Tatbestandsmerkmale zu erfüllen, da jedem die Tatbeiträge der anderen Beteiligten aufgrund und im Rahmen des gemeinsamen Tatent18 Gegen sukzessive Mittäterschaft, wenn der Beitretende nicht selbst die von den anderen Beteiligten verwirklichten Tatteile noch mit bewirkt hat, zu Recht Eser, Strafrecht I I

Nr. 40 A Rdn. 20; Herzberg, Täterschaft S. 153; LK n

(Roxin) § 25 Rdn. 195; Roxin, Täter-

schaft und Tatherrschaft S. 289f.; Schmidhäuser, Allg. Teil S. 510; Stratenwerth,

Rdn. 818ff.; SK (Samson) § 25 Rdn. 48; Schönke/Schröder /Cramer,

Allg. Teil I

§ 25 Rdn. 91; Wessels,

Allg. Teil Rdn. 527. 19 Vgl. näher Murmann, Nebentäterschaft S. 140 ff.; Baumann/Weber, Allg. Teil S. 525; LK U (Roxin) § 25 Rdn. 222f.; Fincke, GA 1975, 164ff. (Darstellung der Fallgruppen); Maurach/Gössel/Zipf, Allg. Teil II § 49 Rdn. 80ff.; Stratenwerth, Allg. Teil I Rdn. 830ff.; Schönke/Schröder/ Cramer, § 25 Rdn. 100; Wessels, Allg. Teil Rdn. 525; Schmidhäuser, Allg. Teil S. 517. 20

Ebenso Fincke, GA 1975, 176; SK (Samson) § 25 Rdn. 56.

21

Vgl. Kion, JuS 1967, 499.

§ 6

680

Die

ittäterschaft

schlusses als eigene Handlung zugerechnet werden. Daraus folgt, daß bei mehraktigen Delikten (vgl. oben § 26 I I 5) für die Annahme von Mittäterschaft die Vornahme eines Tatteils genügt 22 . Beispiel: Bei einer Vergewaltigung (§ 177), bei der einer der Beteiligten die Gewalt anwendet, während der andere den Geschlechtsverkehr ausführt, sind beide Mittäter (BGH 27, 205 [206]; BGH NStZ 1985, 70). Die Tatherrschaft ist jedoch auf Fälle eigenhändiger Begehung einer tatbestandsmäßigen Handlung nicht beschränkt. Vielmehr kann der Ablauf des Gesamtplans eine Rollenverteilung notwendig oder zweckmäßig machen, die den einzelnen Beteiligten auch Tatbeiträge außerhalb des gesetzlichen Tatbestandes zuweist und die Ausführung der Tat von der auf diese Weise festgelegten Zusammenarbeit abhängig macht (vgl. oben § 61 V 3 b) 2 3 . Verlangt wird jedoch mindestens ein die Tat fördernder Beitrag (BGH NStZ 1985, 165). Auf die persönliche Anwesenheit am Tatort kommt es dabei allerdings nicht unbedingt an (RG 54, 152 [153]; O L G Düsseldorf M D R 1963, 521). Wer an der Tatherrschaft aufgrund des gemeinsamen Tatentschlusses teilhat, ist Mittäter; seine Einlassung, er habe nur „Gehilfe" sein wollen, ändert daran nichts (anders RG 74, 84; B G H 18, 87). Beispiele: Bei einem Bankraub wird so vorgegangen, daß ein Beteiligter im Kraftwagen mit laufendem Motor wartet, ein anderer die Alarmanlage aueschaltet, ein dritter den Ausgang sichert, ein vierter das Kassenpersonal mit der Pistole in Schach hält und ein fünfter die Beute zusammenrafft. Alle sind Mittäter nach §§ 25 II, 250 I Nr. 1, obwohl nur der vierte und fünfte ein Tatbestandsmerkmal erfüllen. Gehilfe ist jedoch, wer nur als Fahrer gegen festes Entgelt beim Diebstahl mitwirkt (BGH StV 1983, 50) oder die Drogen aus dem Ausland antransportiert, ohne an der Einfuhr und dem Absatz beteiligt zu sein (BGH JZ 1985, 100). Vgl. auch RG 55, 60 über einen Fall von gemeinschaftlichem Hausfriedensbruch. Problematisch und umstritten ist die Frage, welches Gewicht der Tatbeitrag des Mittäters mindestens haben muß. Tatherrschaft setzt zunächst voraus, daß der Beitrag des Mittäters die Tat fördert (BGH NStZ 1985, 165). Bloße typische Unterstützungshandlungen wie die Lieferung von Waffen oder Diebeswerkzeug reichen jedoch nicht aus, da durch sie das Ob und Wie der Tatausführung nicht hinreichend bestimmt wird, erst recht nicht eine Mitwirkung bei der Vorbereitung der Tat 2 4 . Tatherrschaft kann aber schon dann gegeben sein, wenn der Beteiligte, etwa durch Entwickeln des Tatplans und die Organisation des Tatablaufs, nur im Vorfeld des eigentlichen Tatgeschehens aktiv wird (vgl. B G H 35, 50 [53]; B G H NStZ 1982, 27) 2 . Man wird daher Mittäterschaft nicht auf eine Mitwirkung im Versuch s- oder Vollendungsstadium der Tat beschränken können 26 . 22

23

Vgl. Schönke/Schröder /Cramer,

§ 25 Rdn. 65.

Vgl. Roxin, Täterschaft und Tatherrschaft S. 277ff.; Kohlrausch/Lange,

Lackner, § 25 Rdn. 11; LK n

(Roxin) § 25 Rdn. 182; Stratenwerth,

§ 47 Anm. I 1;

Allg. Teil I Rdn. 823;

Welzel, Lehrbuch S. 110f.; Schmidhäuser, Allg. Teil S. 509; SK (Samson) § 25 Rdn. 47; Wessels, Allg. Teil Rdn. 529. 24 Anders aber Roxin, Täterschaft und Tatherrschaft S. 292 ff.; Gallas, Materialien Bd. I S. 113; Gimbernat Ordeig, ZStW 80 (1968) S. 928; Herzberg, Täterschaft S. 66; derselbe, JZ 1991, 856; LK n (Roxin) § 25 Rdn. 181; Rudolphi, Bockelmann-Festschrift S. 369; Bloy, Be-

teiligungsform S. 196ff.; wohl auch Schmidhäuser, Allg. Teil S. 509; Stratenwerth, Allg. Teil I Rdn. 824. Wie hier die st. Rspr. (BGH 11, 268 [272]; 14, 123 [128]; 16, 12 [14]; 28, 346 [348]; 37, 289 [292] m.krit.Anm. Roxin, JR 1991, 206; BGH NJW 1951, 410; NStZ 1984, 413; OLG Köln JR 1980, 422) und SK (Samson) § 25 Rdn. 47. 25 So Maurach/Gössel/Zipf, Allg. Teil II § 49 Rdn. 35; Jakobs, Allg. Teil 21/52; Welzel, Lehrbuch S. 110f.; Stratenwerth, Allg. Teil I Rdn. 824, während Roxin, Täterschaft und Tatherrschaft S. 299 Leitung oder Absicherung am Tatort oder doch wenigstens eine Verbindung während der Tatausführung verlangt; so auch LK U (Roxin) § 25 Rdn. 183.

I V . Versuch u n d Unterlassung bei der Mittäterschaft

681

2. Nach der subjektiven Teilnahmetheorie, der vor allem die Rechtsprechung folgt, genügt es dagegen zur Annahme von Mittäterschaft bereits, wenn ein Beteiligter mit Täterwillen irgendeinen kausalen Tatbeitrag leistet, mag es sich dabei auch sachlich nur um Planung, Vorbereitung, Anstiftung oder Unterstützung handeln (vgl. oben § 63 I 1 b). Zur Begründung der Ausdehnung der täterschaftlichen Mitverantwortung auf Personen, die selbst nur im Vorfeld oder am Rande des Tatbestandes tätig geworden sind, wird darauf verwiesen, daß die Mittäterschaft als Sonderfall der mittelbaren Täterschaft zu verstehen sei. Weil jeder Tatbeitrag jedem Beteiligten als eigene Tat zugerechnet wird, komme es auf das eigene tatbestandsmäßige Handeln nicht an (RG 63, 101 [103]; 66, 236 [240]; 71, 23 [24]) 27 . Dieses Argument ist jedoch nicht stichhaltig, da es bei der Mittäterschaft an der für die mittelbare Täterschaft charakteristischen alleinigen Tatherrschaft des Hintermanns gerade fehlt 28 . I V . Versuch und Unterlassung bei der Mittäterschaft 1. Mittäterschaft an versuchter Tat liegt infolge der unmittelbaren Zurechnung für alle Beteiligten schon dann vor, wenn einer der Mittäter im Rahmen des gemeinsamen Tatentschlusses zur Verwirklichung des Tatbestandes ansetzt (§ 22) (sog. Gesamtlösung). Mittäterschaft setzt freilich auch hier voraus, daß die anderen Beteiligten nach der im gemeinsamen Tatentschluß festgelegten Rollenverteilung Tatbeiträge übernommen haben, die sie an der Tatherrschaft beteiligt hätten und die zur Ergänzung der begangenen Versuchshandlung zu leisten gewesen wären 29 . Beispiel: Ein Mittäter sollte die Urkundenfälschung vornehmen, der andere die Falschurkunde im Rechtsverkehr gebrauchen. Wenn der eine mit der Fälschungshandlung begonnen hat, ist auch der andere wegen versuchter Urkundenfälschung (§ 267) verantwortlich (nach RG 58, 279). Bei einer unerlaubten Betäubungsmitteleinfuhr beginnt für einen im Inland tätigen Mittäter der Versuch erst, wenn die beiden anderen sich „kurz vor der Grenze oder der vor ihr eingerichteten Kontrollstelle" befinden (BGH 36, 249 [251]). Wenn ein Raub mit dem Klingeln an der Haustür des Opfers beginnen soll, ist dies Versuch nur dann, wenn derjenige Mittäter, der klingelt, noch mit dem Willen handelt, die Tat zur Ausführung zu bringen (BGH NJW 1993, 2251). Vgl. BGH 40, 299 (301 f.); ferner BGH NJW 1980, 1759 und NStZ 1981, 99. Über den Rücktritt vom Versuch bei der Mittäterschaft vgl. oben § 51 V I 3. 2. Auch bei Unterlassungsdelikten kommt Mittäterschaft in Betracht 30 . Mittäterschaft wird einmal dann angenommen, wenn einer der Beteiligten einen Tatbei26

§ 25 Rdn. 7; JaSo auch Baumann/Weber, Allg. Teil S. 531 f., 536; Dreher/Tröndle, kobs, Allg. Teil 21/50; Maurach/Gössel/Zipf, Allg. Teil II § 49 Rdn. 30, 36; LK 9 (Busch) § 47 Rdn. 20f.; Schönke/Schröder/ 27

Cramer, § 25 Rdn. 66.

Vgl. Kohlrausch/Lange, Vorbem. I C vor § 47. 28 Vgl. dazu Schroeder, Der Täter hinter dem Täter S. 100 ff.; Roxin, Täterschaft und Tatherrschaft S. 276. 29

So die h.L.; vgl. Baumann, JuS 1963, 86f.; Dreher/Tröndle,

§ 22 Rdn. 18; Jakobs, Allg.

Teil 21/61; Otto, JA 1980, 646; Küper, Versuchsbeginn S. 69; LK f t (Vogler) § 22 Rdn. 88ff.; Küpper, GA 1986, 446f.; Kühl, Allg. Teil § 20 Rdn. 123; Maurach/Gössel/Zipf, Allg. Teil I I § 49 Rdn. 100; Schmidhäuser, Allg. Teil S. 616; Schönke/Schröder/Eser, § 22 Rdn. 55; Stoffers,

M D R 1989, 213; SK (Samson) § 25 Rdn. 55; Welzel, Lehrbuch S. 191; Wessels, Allg.

Teil Rdn. 611. Die Gegenposition vertritt Schilling, Verbrechensversuch S. 104, der für jeden Mittäter den Versuch erst mit seinem eigenen Tatbeitrag beginnen läßt (sog. Einzellösung)' ebenso Rudolphi, Bockelmann-Festschrift S. 383 ff.; Bloy, Beteiligungsform S. 264ff.; LK (Roxin) § 25 Rdn. 199; SK (Rudolphi) § 22 Rdn. 19a; Stein, Beteiligungsformenlehre S. 318;

Valddgua, ZStW 98 (1986) S. 870 ff. (mit eingehender Begründung). 30 Roxin, Täterschaft und Tatherrschaft S. 469f.; LK n (Roxin) § 25 Rdn. 215; Dreher/ Tröndle, § 25 Rdn. 7a; M aurach / Gössel/ Zipf, Allg. Teil I I § 49 Rdn. 87. Zum ganzen eingehend Sowada, Jura 1986, 399 ff.

682

§ 63 D i e Mittäterschaft

trag durch positives Tun leistet, während der andere es entgegen einer Rechtspflicht unterläßt, ihn daran zu hindern ( O G H 3, 1 [4]; B G H NJW 1966, 1763) (vgl. oben § 60 I I I 1). Doch entspricht es der Tatherrschaftslehre besser, den Unterlassenden in diesem Falle als Gehilfen anzusehen, weil er sich gegenüber dem aktiven Täter in der Regel in einer untergeordneten Stellung befindet (BGH NStZ 1985, 24; BayObLG VRS 60, 188 [189]) (vgl. unten § 64 I I I 5). Mittäterschaft ist dagegen die Unterlassung der Erfolgsabwendung entgegen einer mehrere Personen gemeinschaftlich treffenden Rechtspflicht zum Handeln (RG 66, 71: Vater und Mutter unterlassen gemeinsam die Versorgung des neugeborenen nichtehelichen Kindes; B G H 37, 106 [129] m.Anm. Puppe, JR 1992, 30 [zur Kausalität]: mehrere Geschäftsführer einer GmbH unterlassen gemeinsam den Rückruf eines gesundheitsschädlichen Produkts) 31 . Doch braucht hier die für die Mittäterschaft charakteristische gegenseitige Zurechnung der Tatbeiträge gar nicht stattzufinden, da jeder Unterlassungstäter als Garant ohnehin für den ganzen Erfolg verantwortlich ist. Der eigentliche Fall der Mittäterschaft liegt nur dann vor, wenn die gemeinschaftliche Pflicht nur gemeinsam erfüllt werden kann (z.B. die Einkommensteuererklärung zusammen veranlagter Ehegatten oder der Rückruf des gesundheitsschädlichen Produkts) 32 . Fehlt es an einer gemeinschaftlichen Pflicht, so kann gleichwohl Mittäterschaft gegeben sein, wenn sich nämlich mehrere in der gleichen tatbestandsmäßigen Situation Handlungspflichtige gemeinschaftlich entschließen, nicht tätig zu werden, z.B. mehrere Unfallbeteiligte, die einen Verletzten ins Krankenhaus gebracht haben, vereinbaren, sich nicht zu melden (§ 142 I I ) 3 3 . V. Die Bestrafung der Mittäterschaft Jeder Mittäter wird nach dem für ihn zutreffenden Strafgesetz als Täter bestraft (§ 25 II). Ist einer der Beteiligten geisteskrank, so berührt das die Strafbarkeit der anderen Mittäter nicht, da auch hier die Regel gilt, daß jeder nach seiner Schuld bestraft wird (§ 29) 34 . Strafschärfende oder strafmildernde persönliche Merkmale sind nur demjenigen Beteiligten zuzurechnen, bei dem sie vorliegen (§ 28 II), ohne daß dadurch das Verhältnis der Mittäterschaft in Frage gestellt würde (bei gemeinschaftlicher gefährlicher Körperverletzung durch einen Amtsträger und einen Nichtqualifizierten ist der erstere nach § 340, der letztere nach § 223 a zu bestrafen) 3 . Auch Anstiftung und Beihilfe können gemeinschaftlich begangen werden (RG 71, 23) und sind dann nach § 26 bzw. § 27 I I strafbar 36.

31 Vgl. teilweise abweichend Dreh er/Tröndle, § 25 Rdn. 7 a; M aurach/Gössel/Zipf, Allg. Teil II § 49 Rdn. 90; LK n (Roxin) § 25 Rdn. 206 (vom Standpunkt der Pflichtdeliktslehre ist jeder Garant Täter); Busse, Unterlassungsdelikte S. 312 ff.; Stratenwerth, Allg. Teil I Rdn. 1067 ff. 32 Die Möglichkeit einer „Unterlassungsmittäterschaft" wird geleugnet von Grünwald, GA 1959, 111; Armin Kaufmann, Unterlassungsdelikte S. 189; Welzel, Lehrbuch S. 206, weil es keinen Unterlassungsvorsatz gebe. Dagegen zutreffend Maurach/Gössel/Zipf, Allg. Teil II § 49 Rdn. 92; Roxin, Täterschaft und Tatherrschaft S. 469f.; LK U (Roxin) § 25 Rdn. 215. 33 So Schmidhäuser, Allg. Teil S. 705. 34 Vgl. Maurach/Gössel/Zipf, Allg. Teil II § 49 Rdn. 112; LK n (Roxin) § 25 Rdn. 171; Roxin, Täterschaft und Tatherrschaft S. 288 f. 35

Vgl. Baumann, JuS 1963, 86; Maurach/Gössel/Zipf,

tenwerth, Allg. Teil I Rdn. 827 ff. 36

Vgl. LK n

(Roxin)

§ 25 Rdn. 172.

Allg. Teil I I § 49 Rdn. 112; Stra-

Schrifttum z u § 64

683

§ 64 Anstiftung und Beihilfe Backmann, Die Rechtsfolgen der aberratio ictus, JuS 1971, 113; Baumann, Nichthinderung einer Selbsttötung, JZ 1987, 131; Bemmann, Zum Fall Rose-Rosahl, MDR 1958, 817; derDie Umstimmung des Tatentschlossenen usw., Festschrift für W. Gallas, 1973, S. 273; derselbe, Die Objektsverwechslung des Täters in ihrer Bedeutung für den Anstifter, Festschrift für W. Stree und J. Wessels, 1993, S. 397; Bindokat, Fahrlässige Beihilfe, JZ 1986, 421; Bohne, Kuppelei, Festgabe für R. v. Frank, Bd. II, 1930, S. 440; Bringewat, Die Strafbarkeit der Beteiligung an fremder Selbsttötung, ZStW 87 (1975) S. 801; Bruns, Anmerkung zu BGH 26, 53, JR 1975, 510; derselbe, Zur Frage der Folgen tatprovozierenden Verhaltens polizeilicher Lockspitzel, StV 1984, 388; derselbe, Uber die Unterschreitung der Schuldrahmengrenze usw., MDR 1987, 177; Claß, Die Kausalität der Beihilfe, Festschrift für U. Stock, 1966, S. 115; Coenders, Uber die objektive Natur der Beihilfe, ZStW 46 (1925) S. 1; Cramer , Anmerkung zu BGH 19, 339, JZ 1965, 31; Dreher, Kausalität der Beihilfe, MDR 1972, 553; derselbe, Der Paragraph mit dem Januskopf, Festschrift für W. Gallas, 1973, S. 307; Engisch, Das Problem der psychischen Kausalität beim Betrug, Festschrift für H. v. Weber, 1963, S. 247; Esser, Die Bedeutung des Schuldteilnahmebegriffs im Strafrechtssystem, G A 1958, 321; Freudenthal, Die notwendige Teilnahme am Verbrechen, Strafr. Abh. Heft 37, 1901; Frisch, Tatbestandsmäßiges Verhalten und Zurechnung des Erfolgs, 1988; Gallas, Anmerkung zu RG 71, 193, ΖΑΚ 1937, 438; derselbe, Anmerkung zu BGH 8, 137, JR 1956, 226; Geilen, Suizid und Mitverantwortung, JZ 1974, 145; Gössel, Dogmatische Überlegungen zur Teilnahme am erfolgsqualifizierten Delikt usw., Festschrift für R. Lange, 1976, S. 219; Gropp, Deliktstypen mit Sonderbeteiligung, 1992; Grünwald, Die Beteiligung durch Unterlassen, GA 1959, 110; derselbe, Der praktische Fall, JuS 1965, 311; Hanack/Sasse, Zur Anwendung des § 56 StGB auf den Teilnehmer, DRiZ 1954, 216; Heilborn, Der agent provocateur, 1901; Herzberg, Anstiftung und Beihilfe als Straftatbestände, GA 1971, 1; derselbe, Zum strafrechtlichen Schutz des Selbstmordgefährdeten, JZ 1986, 1021; derselbe, Anstiftung zur unbestimmten Haupttat - BGHSt 34, 63, JuS 1987, 617; Hillenkamp, Die Bedeutung von Vorsatzkonkretisierungen bei abweichendem Tatverlauf, 1971; derselbe, Anmerkung zu OLG Celle vom 13.1.1987, JR 1987, 254; Hirsch, Zur Problematik des erfolgsqualifizierten Delikts, G A 1972, 65; Hruschka, Alternativfeststellung zwischen Anstiftung und sog. psychischer Beihilfe, JR 1983, 177; Ingelfinger, Anstiftervorsatz und Tatbestimmtheit, 1992; Isenbeck, Beendigung der Tat bei Raub und Diebstahl, NJW 1965, 2326; Joerden, Strukturen des strafrechtlichen Verantwortlichkeitsbegriffs usw., 1988; Armin Kaufmann, Die Dogmatik im Alternativ-Entwurf, ZStW 80 (1968) S. 34; Keller, Rechtliche Grenzen der Provokation von Straftaten, 1989; Kielwein, Unterlassung und Teilnahme, GA 1955, 223; Kohlrausch, Anmerkung zu RG 72, 373, ΖΑΚ 1939, 245; Kratzsch, Recht - mit zweierlei Maß? JR 1975, 102; Krümpelmann, Die strafrechtliche Behandlung des Irrtums, ZStW Beiheft Budapest, 1978, S. 6; Kühl, Die Beendigung des vorsätzlichen Begehungsdelikts, 1974; Küper, Der „agent provocateur" im Strafrecht, GA 1974, 321; derselbe, Sukzessive Tatbeteiligung vor und nach Raubvollendung, JuS 1986, 862; Küpper, Anmerkung zu BGH 37, 214, JR 1992, 294; Lange, Die notwendige Teilnahme, 1940; derselbe, Die Schuld des Teilnehmers, insbesondere bei Tötungs- und Wirtschaftsverbrechen, JR 1949, 165; Leß, Der Unrechtscharakter der Anstiftung, ZStW 69 (1957) S. 43; Loewenstein, Error in obiecto und aberratio ictus, JuS 1966, 314; Lüderssen, Zum Strafgrund der Teilnahme, 1967; derselbe, Verbrechensprophylaxe durch Verbrechensprovokation? Festschrift für K. Peters, 1974, S. 349; derselbe, Die V-Leute-Problematik usw., Jura 1985, 113; de Maglie, L'agente provocatore, 1991; Martin, Beihilfe zur Anstiftung, DRiZ 1955, 290; Maurach, Beihilfe zum Meineid durch Unterlassung, DStr 1944, 1; derselbe, Zur neueren Judikatur über Meineidsbeihilfe durch Unterlassen, SJZ 1949, 541; D. Meyer, Das Erfordernis der Kollusion bei der Anstiftung, Diss. Hamburg 1973; derselbe, Zum Problem der Kettenanstiftung, JuS 1973, 755; derselbe, Anstiftung durch Unterlassen? MDR 1975, 982; J. Meyer, Zur V-Mann-Problematik aus rechtsvergleichender Sicht, Festschrift für H.-H. Jescheck, Bd. II, 1985, S. 1311; M.-K Meyer, Tatbegriff und Teilnehmerdelikt, GA 1979, 252; Montenbruck, Abweichung der Teilnehmervorstellung von der verwirklichten Tat, ZStW 84 (1972) S. 323; Müller-Dietz/ Backmann, Der praktische Fall, JuS 1971, 412; Ν agier, Die Teilnahme am Sonderverbrechen, 1903; derselbe, Die Neuordnung der Strafbarkeit von Versuch und Beihilfe, GS 115 (1941) S. 24; Oehler, Das erfolgsqualifizierte Delikt und die Teilnahme an ihm, GA 1954, 33; Ostendorf/Meyer-Seitz, Die strafrechtlichen Grenzen des polizeilichen Lockspitzeleinsatzes, StV 1985, 73; Otto, Straflose Teilnahme, Festschrift für R. Lange, 1976, S. 197; derselbe, Anstiftung und Beihilfe, JuS 1982, 557; Plate, Zur Strafbarkeit des agent provoca-

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§ 64 A n s t i f t u n g u n d Beihilfe

teur, ZStW 84 (1972) S. 294; Puppe, Der Erfolg und seine kausale Erklärung, ZStW 92 (1980) S. 363; dieselbe, Zurechnung und Wahrscheinlichkeit, ZStW 95 (1983) S. 286; dieselbe, Der objektive Tatbestand der Anstiftung, GA 1984, 101; dieselbe, Anmerkung zu BGH 37, 214, NStZ 1991, 124; Ranft, Garantiepflichtwidriges Unterlassen der Deliktshinderung, ZStW 94 (1982) S. 815; derselbe, Das garantiepflichtwidrige Unterlassen der Taterschwerung, ZStW 97 (1985) S. 268; Rengier, Erfolgsqualifizierte Delikte und verwandte Erscheinungsformen, 1986; Rogall, Die verschiedenen Formen des Veranlassens fremder Straftaten, GA 1979, 11; Roxin, Uber den Tatentschluß, Gedächtnisschrift für H. Schröder, 1978, S. 145; derselbe, Die Strafbarkeit von Vorstufen der Beteiligung, JA 1979, 169; derselbe, Anmerkung zu BGH 34, 63, JZ 1986, 906; derselbe, Zum Strafgrund der Teilnahme, Festschrift für W. Stree und J. Wessels, 1993, S. 369; Roxin/Schünemann/Haffkey Strafrechtliche Klausurenlehre, 4. Auflage 1982; Rudolphi, Inhalt und Funktion des Handlungsunwertes im Rahmen der personalen Unrechtslehre, Festschrift für R. Maurach, 1972, S. 51; derselbe, Anmerkung zu BGH vom 17.5.1982, StV 1982, 518; derselbe, Die zeitlichen Grenzen der sukzessiven Beihilfe, Festschrift für H.-H. Jescheck, Bd. I, 1985, S. 559; Salomon, Vollendete und versuchte Beihilfe, Diss. Göttingen 1968; Samson, Hypothetische Kausalverläufe im Strafrecht, 1972; derselbey Die Kausalität der Beihilfe, Festschrift für K. Peters, 1974, S. 121 ff.; Sax, Uber Rechtsbegriffe, Festschrift für H. Nottarp, 1961, S. 133; derselbe, Zur Problematik des „Teilnehmerdelikts", ZStW 90 (1978) S. 927; Schaff stein, Rechtswidrigkeit und Schuld im Aufbau des neuen Strafrechtssystems, ZStW 57 (1938) S. 295; derselbe, Die Risikoerhöhung als objektives Zurechnungsprinzip im Strafrecht usw., Festschrift für R. Honig, 1970, S. 169; Scheffler, Beihilfe zur Falschaussage durch Unterlassen seitens des Angeklagten, GA 1993, 341; Schmidhäuser, Selbstmord und Beteiligung am Selbstmord usw., Festschrift für H. Welzel, 1974, S. 801; Schreiber, Grundfälle zu „error in objecto" und „aberratio ictus" im Strafrecht, JuS 1985, 873; Schulz, Die Bestrafung des Ratgebers, 1980; derselbe, Anstiftung oder Beihilfe, JuS 1986, 933; Schumann, Strafrechtliches Handlungsunrecht und das Prinzip der Selbstverantwortung, 1986; derselbe, Verfahrenshindernis bei Einsatz von V-Leuten? JZ 1986, 66; derselbe, Die „rechtswidrige" Haupttat als Gegenstand des Teilnahmevorsatzes, Festschrift für W. Stree und J. Wessels, 1993, S. 383; Schünemann, Der polizeiliche Lockspitzel, StV 1985, 424; Schwarzburg, Tatbestandsmäßigkeit und Rechtswidrigkeit der polizeilichen Provokation, 1991; Schwind, Grundfälle der „Kettenteilnahme", MDR 1969, 13; Seebald, Teilnahme am erfolgsqualifizierten und am fahrlässigen Delikt, G A 1964, 161; Sieber, Die Abgrenzung von Tun und Unterlassen bei der „passiven" Gesprächsteilnahme, JZ 1983, 431; Sippel, Zur Strafbarkeit der „Kettenanstiftung", 1989; Sommer, Verselbständigte Beihilfehandlungen usw., JR 1986, 485; derselbe, Das tatbestandslose Tatverhalten des agent provocateur, JR 1986, 485; Sowada, Die „notwendige Teilnahme" als funktionales Privilegierungsmodell im Strafrecht, 1992; Spendel, Beihilfe und Kausalität, Festschrift für E. Dreher, 1977, S. 167; Stoffers, Streitige Fragen der psychischen Beihilfe im Strafrecht, Jura 1993, 11; Stork, Anstiftung eines Tatentschlossenen zu einer vom ursprünglichen Tatplan abweichenden Tat, Diss. Münster 1969; Stratenwerth, Der agent provocateur, MDR 1953, 717; derselbe, Objektsirrtum und Tatbeteiligung, Festschrift für J. Baumann, 1992, S. 57; Stree, Bestimmung eines Tatentschlossenen zur Tatänderung, Festschrift für E. Heinitz, 1972, S. 277; derselbe, Begünstigung, Strafvereitelung und Hehlerei, JuS 1976, 137; Tiedemann/Sieber, Die Verwertung des Wissens von V-Leuten im Strafverfahren, NJW 1984, 753; Trechsel, Der Strafgrund der Teilnahme, 1967; Vogler, Zur Frage der Ursächlichkeit der Beihilfe usw., Festschrift für E. Heinitz, 1972, S. 295; Weßlau, Der Exzeß des Angestifteten, ZStW 104 (1992) S. 105; Widmaier, Der mißverständliche Bestechungsversuch, JuS 1970, 242; G. Wolf, Anmerkung zu BayObLG vom 27.3.1991, JR 1992, 428; Wolter, Notwendige Teilnahme und straflose Beteiligung, JuS 1982, 343; Ziege, Die Bedeutung des § 56 StGB für Anstiftung und Beihilfe, NJW 1954, 179; Zöller, Die notwendige Teilnahme, Diss. Bonn 1970. Vgl. ferner die Schrifttumsangaben vor §§61 - 63. I. Der Strafgrund der Teilnahme Anstiftung und Beihilfe sind gegenüber der Täterschaft Strafausdehnungsgründe (vgl. oben § 61 I I I 1). Die Strafbarkeit von Anstiftung und Beihilfe bedarf deshalb besonderer Begründung. Aus dem Strafgrund der Teilnahme ergibt sich, wie die Begriffe Anstiftung und Beihilfe gegenüber der Täterschaft und dem straffreien Bereich abzugrenzen sind.

I. D e r Strafgrund der Teilnahme

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1. Nach der älteren Schuldteilnahmetheorie1 wird der Teilnehmer deswegen bestraft, weil er den Täter in Schuld und Strafe geführt und außerdem bei der Tat mitgewirkt hat („peccat in se et alium peccare facit") 2. Diese Lehre ist schon deswegen nicht mehr haltbar, weil sie dem § 29 widerspricht, der Teilnahme auch an schuldloser Haupttat zuläßt3. Die Fälle der Teilnahme an der Tat des schuldunfähigen Täters sind zwar in der Praxis selten, da meistens mittelbare Täterschaft vorliegen wird. Doch ist auch in den Normalfällen wenigstens das Maß der Schuld des Teilnehmers von der des Täters ganz unabhängig, was gegen die Schuldteilnahmetheorie überhaupt spricht 4. 2. Herrschend ist heute die an der Akzessorietät der Teilnahme orientierte Förderungs- (oder Verursachungs)theorie 5. Danach liegt der Strafgrund der Teilnahme darin, daß der Teilnehmer eine tatbestandsmäßige und rechtswidrige Handlung durch Erwecken des Tatvorsatzes herbeiführt oder durch Rat oder Tat unterstützt und dabei selbst schuldhaft handelt. Aus der Förderungstheorie ergibt sich, daß der Wille des Teilnehmers auf Ausführung der Haupttat gerichtet sein muß (RG 15, 315 [316]) und daß für die Haupttat Vorsatz zu verlangen ist ( B G H 9, 370 [382]; anders früher B G H 4, 355 [358]). N u r diese Theorie ist mit dem Gesetz vereinbar, indem sie klarstellt, daß der Teilnehmer nicht selbst die im Deliktstatbestand enthaltene N o r m verletzt, sondern daß sein Unrecht darin besteht, daß er an der Normverletzung des Täters mitwirkt. Das Unrecht der Teilnehmertat ist nach 1

Zur Dogmengeschichte vgl. Lange, Notwendige Teilnahme S. 36 ff. So Kohlrausch., Bumke-Festschrift S. 48; Leß, ZStW 69 (1957) S. 47; H. Mayer, Lehrbuch S. 318 ff.; derselbe, Rittler-Festschrift S. 254ff.; derselbe, Grundriß S. 155; Nagler y Teilnahme am Sonderverbrechen S. 142; Schaff stein, ZStW 57 (1938) S. 323. 3 H. Mayer, Grundriß S. 155 ff. wendet deshalb in Fällen der Teilnahme an schuldloser Haupttat die „Urhebertheorie" an, doch sollte durch § 50 I a.F. (jetzt § 29) gerade nicht die Strafbarkeit der Urheberschaft begründet werden. Eine Abwandlung der Schuldteilnahmetheorie entwickelt für das schweizerische und deutsche Recht Trechsel, Strafgrund S. 32, 54 f. durch die Lehre von der „sozialen Desintegration", der der Haupttäter durch den Anstifter ausgesetzt werde, während Strafgrund der Gehilfenschaft nur der kausale Beitrag zur Haupttat sei (S. 107). Auch diese Lehre scheitert jedoch am positiven Recht, da § 26 für die Bestrafung des Anstifters allein auf die Straftat des Täters und nicht darauf abstellt, ob und inwieweit dieser durch die Folgen der Tat aus der Bahn geworfen worden ist (ebenso übrigens auch Art. 24 Schweiz. StGB); vgl. dazu LK n (Roxin) Vorbem. 11 vor § 26; SK (Samson) Vorbem. 6 vor § 26; Stratenwerth, Allg. Teil I Rdn. 854. 4 So zutreffend Stratenwerth, Allg. Teil I Rdn. 853; SK (Samson) Vorbem. 5 vor § 26; Schönke/Schröder/ Cramer, Vorbem. 19 vor § 25. 5 So Baumann/Weber, Allg. Teil S. 553 f.; Bockelmann, Untersuchungen S. 93 f.; Esser, GA 1958, 333; Heinitz, Berliner Festschrift zum 41. DJT S.101; Lange, JR 1949, 168; Kohl2

rausch/Lange, § 48 Anm. III; M aurach / Gössel/ Zipf, Allg. Teil I I § 50 Rdn. 57; Baumann,

JuS 1963, 136; Frisch, Lexikon 8/1620 S. 9; Rudolphi, GA 1970, 365; Preisendanz, Vorbem. 3 vor § 25; Schönke/Schröder/ Cramer, Vorbem. 22 vor § 25; Welzel, Lehrbuch S. 115; Wessels, Allg. Teil Rdn. 552. Diese Lehre wird bei Stratenwerth, Allg. Teil I Rdn. 858 durch die Betonung des ««selbständigen Charakters des Beitrags des Teilnehmers zur Verwirklichung des tatbestandsmäßigen Unrechts durch den Täter verdeutlicht (Unrechtsteilnahmetheorie). Ahnlich SK (Samson) Vorbem. 14ff. vor § 26; Lackner, Vorbem. 8 vor § 25; Kühl, Allg. Teil § 20 Rdn. 132; Otto, JuS 1982, 558 („akzessorischer Rechtsgutsangriff"). Ähnlich auch Jakobs, Allg. Teil 22/6 (die Verursachung der Haupttat ist eigenes Unrecht des Teilnehmers). Nicht eigentlich abweichend die Gefährdungstheorie von Otto, Lange-Festschrift S. 209 f., da Gefährdung nichts anderes als Verursachung von Gefahr ist. Eine Verfeinerung der an der Akzessorietät orientierten Verursachungstheorie stellt die Lehre von Roxin, Stree-WesselsFestschrift S. 369ff. und LK n (Roxin) Vorbem. 2, 7 vor § 26 dar, die darauf abstellt, daß der Teilnehmer ein auch ihm gegenüber geschütztes Rechtsgut verletzen muß. Auf die „Solidari-

sierung mit fremdem Unrecht" stellt dagegen Schumann, Handlungsunrecht S. 49 ff. ab, was aber den entscheidenden Punkt vernachlässigt, daß der Teilnehmer selbst zur Begehung des Unrechts der Haupttat beiträgt.

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Grund und Maß vom Unrecht der Haupttat abhängig (§§ 26, 27, 28). Zur Akzessorietät der Teilnahme vgl. im einzelnen oben § 61 VII. 3. Im Schrifttum sind verschiedene Theorien entwickelt worden, die den Strafgrund der Teilnahme ohne Rückgriff auf die Akzessorietät gegenüber der Haupttat zu bestimmen suchen. So nimmt Lüderssen 6 selbständige, vom Unrecht der Haupttat gelöste Teilnahmetatbestände an; er geht davon aus, daß der Teilnehmer nicht für die Förderung fremder Tat, sondern für eigenes tatbestandliches Unrecht verantwortlich gemacht werde. Die Abhängigkeit der Strafbarkeit des Teilnehmers vom Vorliegen der Haupttat sei „rein faktischer Natur". Auf diese Weise wird die Akzessorietät der Teilnahme und damit auch die an den Tatbeständen des Besonderen Teils ausgerichtete Struktur von Anstiftung und Beihilfe preisgegeben. Strafbar wird damit z.B. auch die Teilnahme am Selbstmord; die Teilnahme an der unterlassenen Hilfeleistung durch positives Tun wird sogar zur Teilnahme am Tötungsverbrechen7. Mit dem geltenden Recht ist diese Lehre nicht vereinbar. Das gleiche Bedenken richtet sich gegen die Annahme eines nicht nur im Schuld-, sondern auch im Unrechtstatbestand selbständigen „Teilnehmerdelikts", das nur aus Gründen der Strafwürdigkeit prinzipiell von einer begangenen Haupttat abhängig gemacht werde8. Gegen seine eigene Auffassung der Teilnahmevorschriften als „echte Deliktstatbestände" führt Herzberg 9 selbst mögliche Einwendungen an, die überzeugend sind. Die Beihilfe läßt sich nach der Struktur der Teilnahmevorschriften jedenfalls nicht als „abstraktes Gefährdungsdelikt" verstehen10. II. Die Anstiftung 1. Anstiftung ist das vorsätzliche Bestimmen eines anderen zu der von ihm vorsätzlich begangenen rechtswidrigen Tat (§ 26). Der Anstifter beschränkt sich darauf, bei dem Täter den Tatentschluß hervorzurufen, an der Tatherrschaft selbst hat er keinen Anteil. Dadurch unterscheidet sich die Anstiftung von der Mittäterschaft (vgl. oben § 61 V 3 b). Für die subjektive Theorie ist dagegen maßgebend, daß der Anstifter lediglich den Teilnehmer- und nicht den Täterwillen hat (vgl. oben § 61 IV 2). Anstiftung ist immer geistige Beeinflussung des Täters; das Verschaffen einer günstigen Gelegenheit, die den Täter in Versuchung führen soll, reicht zur Annahme von Anstiftung nicht aus 11 . 6

Lüderssen, Strafgrund S. 119 ff. Vgl. Lüderssen, Strafgrund S. 168, 192. Vgl. dagegen Schönke/Schröder/ Cramer, Vorbem. 20 vor § 25. 8 So Schmidhäuser, Allg. Teil S. 532f.; Sax, ZStW 90 (1978) S. 927ff.; M.-K Meyer, GA 1979, 252ff. Vgl. dagegen Maurach/Gössel/Zipf, Allg. Teil II § 50 Rdn. 56; SK (Samson) Vorbem. 11 vor § 26. 7

9

10

Vgl. Herzberg, GA 1971, 2, 8 ff.

Zur Problematik der Teilnahme am Selbstmord BGH 24, 342; 32, 367 (371, 374); vgl. dazu Geilen, JZ 1974, 145ff.; Spendel, JuS 1974, 749ff.; Schmidhäuser, Welzel-Festschrift S. 819ff.; Bnngewat, ZStW 87 (1975) S. 623ff.; Gropp, NStZ 1985, 97ff.; Herzberg, JZ 1986, 1022; Baumann, JZ 1987, 131.

So Frisch, Tatbestandsmäßiges Verhalten S. 333 ff.; LK n (Roxin) §26 Rdn. 4, 15; H Mayer, Lehrbuch S. 321; D. Meyer, Das Erfordernis der Kollusion S. 141 f.; derselbe, MDR 11

1975, 982; Otto, JuS 1982, 560; Rogall, GA 1979, 12; Schmidhäuser, Allg. Teil S. 553; Schön-

ke /Schröder /Cramer, § 26 Rdn. 7; Stratenwerth, Allg. Teil I Rdn. 881; Welzel, Lehrbuch S. 116; Wessels, Allg. Teil Rdn. 568; Schumann, Selbstverantwortung S. 52; Stein, Beteiligungsformenlehre S. 271. Dagegen Blei, Allg. Teil S. 285; Bloy, Beteiligungsform S. 329;

Herzberg, Täterschaft S. 146f.; Lackner, § 26 Rdn. 2; SK (Samson) § 26 Rdn. 5; Dreher/

Tröndle, § 26 Rdn. 3; Preisendanz, § 26 Anm. 4, die auch das Schaffen einer Reizsituation genügen lassen wollen. Zur „Diebesfalle" OLG Celle JR 1987, 253 m.Anm. Hillenkamp, sowie OLG Düsseldorf NStZ 1992, 237. Zu weit in die Richtung der von § 26 nicht geforderten Bindung der Beteiligten geht Puppe, GA 1984, 112 ff., die für die Anstiftung „eine Art Pakt mit dem Täter" fordert. Ähnlich wie Puppe auch Jakobs, Allg. Teil 22/22 (Tatentschluß „in Abhängigkeit vom Willen des Beeinflussenden") und Schulz, Ratgeber S. 137 („Planherrschaft").

II. Die Anstiftung

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2. Anstiftung verlangt den Einsatz bestimmter Mittel, die über die Psyche des Haupttäters Einfluß auf die Tatausführung gewinnen. a) Die Mittel der Anstiftung sind in § 26 nicht genannt. Doch sagte das Gesetz schon früher ausdrücklich in § 48 a.F., daß es sich bei seinen Angaben (Geschenke, Versprechen, Drohungen, Mißbrauch des Ansehens oder der Gewalt, Herbeiführung eines Irrtums) nur um Beispiele handelte, so daß auch der Ausspruch eines Wunsches (RG 36, 402 [405]), einer Frage ( B G H G A 1980, 183), eines Hinweises ( B G H 34, 63) oder einer Bitte (RG H R R 1942, 741), das Mittel der Überredung (RG 53, 189 [190]) oder selbst ein scheinbares Abraten in Betracht kamen, wobei aber der wahre Wille des Anstifters dem anderen erkennbar sein mußte 12 . Grundsätzlich sind alle Mittel für die Anstiftung tauglich, sofern es sich um Mittel geistiger Beeinflussung handelt. Anstiftung ist auch in Form der Anstiftung zur Anstiftung zur Haupttat denkbar (Kettenanstiftung) 13 . Der in der Kette stehende Anstifter braucht dabei weder Zahl und Namen der Zwischenglieder noch den Namen des Haupttäters zu kennen ( B G H 6, 359 [361 f.]; 7, 234 [237]), wenn er nur eine konkrete Vorstellung von der Haupttat hat. Anstiftung kann ferner in der Form der Mitanstiftung und Nebenanstiftung ( O L G Düsseldorf SJZ 1948, 479) sowie auch in Form der mittelbaren Anstiftung begangen werden, wobei der Anstifter gegenüber dem Täter nicht in Erscheinung tritt, sondern sich eines Dritten als „Werkzeug" bedient ( B G H 8, 137 [139] m.Anm. Gallas, JR 1956, 225) 14 . b) Der Anstifter muß vorsätzlich handeln, wobei bedingter Vorsatz genügt (RG 72, 26 [29]). Fahrlässige Anstiftung ist als solche nicht strafbar, kann aber fahrlässige Täterschaft darstellen. Der Vorsatz des Anstifters muß einmal auf die Herbeiführung des Tatentschlusses, zum anderen auf die Ausführung der Haupttat durch den Täter, einschließlich der subjektiven Tatbestandsmerkmale und der Verwirklichung des tatbestandsmäßigen Erfolgs, gerichtet sein (doppelter Vorsatz). Ein Tatbestandsirrtum beim Anstifter läßt den Anstiftervorsatz entfallen, ein Verbotsirrtum oder Erlaubnistatbestandsirrtum (vgl. oben § 41 IV l d ) berührt dagegen nur die Schuld des Anstifters 15 . Von der h. L. wird angenommen, daß der Anstifter die Vollendung der Haupttat anstreben müsse; wolle er es nur bis zum Versuch der Haupttat kommen lassen (agent provocateur), dann sei er straflos (RG 15, 315 [317]; 44, 172 [174]; BGH GA 1975, 333)16. Weitergehend 12 13

So zu Recht Schumann, Selbstverantwortung S. 53 f. Vgl. dazu eingehend D. Meyer, JuS 1973, 755 ff.; ferner Eser, Strafrecht I I Nr. 44 A

Rdn. 3 ff.; Schönke/Schröder/Gramer,

§26 Rdn. 9; Sippel, Kettenanstiftung S. 82, der ein-

schränkend, aber zu Unrecht fordert, daß der Hintermann mit dem Täter in Kontakt stehen muß. 14

Vgl. dazu LK n

(Roxin) § 26 Rdn. 64; Schönke/Schröder/Gramer,

§ 26 Rdn. 7; Straten-

werth, Allg. Teil I Rdn. 967; Maurach/Gössel/Zipf, Allg. Teil I I § 51 Rdn. 19. 15 Vgl. Welzel, Lehrbuch S. 117; dagegen nehmen Schönke/Schröder/Gramer, § 26 Rdn. 15 und LK U (Roxin) § 26 Rdn. 66 beim Irrtum des Anstifters über das Vorliegen der tatsächlichen Voraussetzungen der Notwehr auf Seiten des Haupttäters ebenfalls Tatbestandsirrtum an. Auch Schumann, Stree-Wessels-Festschrift S. 392 verneint beim Erlaubnistatbestandsirrtum des Anstifters den Anstiftervorsatz. 16 So Baumann/Weber, Allg. Teil S. 560 f.; Blei, Allg. Teil S. 284; Dreher/Tröndle, § 26 Rdn. 8; Jakobs, Allg. Teil 23/16; Eser, Strafrecht I I Nr. 43 A Rdn. 14; Küper, GA 1974, 335; Maurach/Gössel/Zipf, Allg. Teil I I §51 Rdn. 28; Maaß, Jura 1981, 514ff.; Lackner, §26 Rdn. 4; Schmidhäuser, Allg. Teil S. 555; LK n (Roxin) § 26 Rdn. 67ff.; Herzberg, JuS 1983, 737; Rudolphi, Maurach-Festschrift S. 65ff.; Schönke/Schröder/Gramer, § 26 Rdn. 16; Sommer, JR 1986, 485 ff.; Welzel, Lehrbuch S. 117; Stratenwerth, Alle. Teil I Rdn. 889; SK (Samson) § 26 Rdn. 38; Wessels, Allg. Teil Rdn. 573. Dagegen für volle Strafbarkeit des agent

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wird sogar angenommen, daß auch dann nicht wegen Anstiftung zu bestrafen sei, wenn der agent provocateur zwar die Tatvollendung beabsichtigt, aber die materielle Rechtsgutsverletzung (z.B. durch Weitergabe des verkauften Rauschgifts an Konsumenten) verhindern will 1 7 . An sich ist in diesen Fällen nach den Grundsätzen der Akzessorietät Anstiftung gegeben, da der agent provocateur bewußt die Verwirklichung des (versuchten oder vollendeten) Delikts bewirkt. Allein aus kriminalpolitischen Gründen kann man hier unter der Voraussetzung auf Bestrafung verzichten, daß der agent provocateur jede materielle Gefahr für das tatbestandlich geschützte Rechtsgut sorgfältig ausgeschlossen hat 18 . Die Rechtsprechung hält freilich den Einsatz von V-Leuten und Lockspitzeln zur Bekämpfung anderweitig schwer aufklärbarer Formen der schweren Kriminalität (z.B. Rauschgift- und Waffenhandel) generell für zulässig (vgl. BVerfGE 57, 250 [284]; BVerfG NStZ 1991, 445; BGH 32, 115 [122]), jedenfalls solange sie nicht in besonders massiver Weise auf Personen einwirken, die zuvor noch nicht zur Tatbegehung bereit waren (vgl. BGH NStZ 1984, 78). Selbst in diesen Fällen werden die agents provocateurs selten strafrechtlich verfolgt, während dem Provozierten nur eine Strafmilderung zugestanden wird, die freilich selbst zur Unterschreitung der eigentlich schuldangemessenen Strafe führen kann (BGH 32, 345 [355]; 33, 283; BGH NJW 1986, 75; NJW 1986, 1764; NStZ 1992, 488)19. Der Vorsatz des Anstifters muß ferner konkret, d.h. auf eine bestimmte Tat und einen bestimmten Täter gerichtet sein, bei dem der Tatentschluß herbeigeführt werden soll. Sobald der Personenkreis, an den sich die Aufforderung richtet, nicht mehr individuell bestimmbar ist, scheidet Anstiftung aus 20 . Dagegen brauchen weder Zeit und Ort der Tat, noch das Opfer, noch alle Einzelheiten der Begehungsweise endgültig festgelegt zu sein, weil diese Fragen oft erst von der späteren Entwicklung abhängen (RG 34, 327 [328]). Der Vorsatz muß sich jedoch auf die Ausführung einer „in ihren wesentlichen Merkmalen oder Grundzügen konkretisierten Tat" beziehen ( B G H 34, 63 [66] m.abl.Anm. Roxin, JZ 1986, 908) 21 . provocateur Heilborn, Der agent provocateur S. 85 ff.; H. Mayer, Lehrbuch S. 336 (aufgrund der Schuldteilnahmetheorie, anders Grundriß S. 163); P. Merkel, Frank-Festgabe Bd. I I S. 147; Olshausen, § 48 Anm. 13; Keller, Provokation von Straftaten S. 165ff.; früher auch Stratenwerth, MDR 1953, 717 ff. (m.w.Nachw. in Fußnoten 1 und 2). Im ausländischen Recht wird der agent provocateur überwiegend als strafbar angesehen; vgl. Jescheck, ZStW 99 (1987) S. 134ff.;/. Meyer, Jescheck-Festschrift Bd. I I S. 1323ff.; de Maglie, L'agente provocatore, 1991. 17 So Schönke/Schröder/ Cramer , § 26 Rdn. 16; Maurach/Gössel/Zipf, Allg. Teil I I § 51 Rdn. 35; differenzierend LK 11 (Roxin) § 26 Rdn. 70ff. 18 So Plate, ZStW 84 (1972) S. 306ff.; Otto, JuS 1982, 561 Fußnote 48; SK (Samson) Vorbem. 38 vor § 26. Dagegen aber Herzberg, GA 1971, 12; Küper, GA 1974, 333, insbes. Fußnote 81; Stratenwerth, Allg. Teil I Rdn. 891. 19 Zu der äußerst umstrittenen Frage der Rechtsfolgen des Einsatzes von V-Leuten und Lockspitzeln für Strafbarkeit und strafprozessuale Behandlung des Provozierten Bruns, StV 1984, 388; Lüderssen, Jura 1985, 113; LK U (Roxin) § 26 Rdn. 70ff. (besonders eingehend); J.

Meyer, Jescheck-Festschrift Bd. I I S. 1311; Ostendorf/Meyer-Seitz, StV 1985, 73; Schumann, JZ 1986, 66; Tiedemann/Sieber, NJW 1984, 753; Schünemann, StV 1985, 424; Schwarzburg,

Polizeiliche Tatprovokation S. 35 ff. (Nichtvollendung durch „handlungsneutralisierendes Verhalten" des Provokateurs). Gegen die Unterschreitung der schuldangemessenen Strafe (BGH NJW 1986, 1764) zu Recht Bruns, M D R 1987, 177; Dreher/Tröndle,

§ 26 Rdn. 8 a.

Ein Verfahrenshindernis nimmt das Strafgericht Basel-Stadt JZ 1986, 100 an. 20 Vgl. LK n (Roxin) § 26 Rdn. 46ff.; Ingelfinger, Anstiftervorsatz S. 220ff.; Schönke/ Schröder/ Cramer, § 26 Rdn. 13 f.; Stratenwerth, Allg. Teil I Rdn. 888. 21 Übereinstimmend Jakobs, Allg. Teil 22/27; Lackner, § 26 Rdn. 5; SK (Samson) § 26 Rdn. 7; Wessels, Allg. Teil Rdn. 572. Dagegen LK 11 (Roxin) § 26 Rdn. 47ff. (es genüge, wenn die „wesentlichen Dimensionen des Unrechts" festliegen); noch unbestimmter Herzberg, JuS 1987, 618, der darauf abstellt, ob dem Anstifter die Haupttat „objektiv zuzurechnen" ist (S. 621).

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II. Die Anstiftung

Einen Auffangtatbestand bildet die öffentliche Aufforderung zu Straftaten (§ 111). Die Vorschrift kommt zum Zuge, wenn sich die Aufforderung nicht an bestimmte Einzelpersonen richtet 22. c) Endlich muß die Anstifterhandlung den Tatentschluß des Haupttäters herbeiführen. Ist der Anzustiftende bereits zur Tat entschlossen (omnimo do facturus), so kommt nur versuchte Anstiftung (§ 30 I) oder psychische Beihilfe in Betracht (RG 13, 121 [122]; 36, 402 [404]; 72, 373 [375]; B G H Dallinger M D R 1972, 569) 23 . „Tatgeneigtheit" ist jedoch noch kein Tatentschluß, Anstiftung also möglich 24 . Wer den zum Raub Entschlossenen bestimmt, bei der Tat eine Waffe zu verwenden (Übersteigerung), soll nicht nur wegen Anstiftung zu dem zusätzlichen Tatteil, sondern wegen Anstiftung zum schweren Raub schuldig sein (BGH 19, 339 [340] m.abl.Anm. Cramer , JZ 1965, 31). Nach dem Grundgedanken der Anstiftung muß dagegen (psychische) Beihilfe zum schweren Raub in Tateinheit mit Anstiftung zur Körperverletzung angenommen werden25. Wird der Täter dazu bestimmt, anstelle eines qualifizierten Delikts sich mit dem Grunddelikt zu begnügen (z.B. Raub statt Raub mit Waffen) (Abstiftung), ist in der Regel psychische Beihilfe gegeben26. 3. Die Tat, zu der angestiftet ist, muß vollendet sein oder wenigstens einen mit Strafe bedrohten Versuch darstellen. Ist die Haupttat nicht einmal versucht worden, so beschränkt sich die Strafbarkeit auf den Fall, daß ein Verbrechen begangen werden sollte (§ 30 I). Die Haupttat muß ferner vorsätzlich begangen sein (vgl. oben § 61 V I I 2). Möglich ist auch Anstiftung durch einen Nichtqualifizierten zum echten Sonderdelikt 27 . Nach § 28 I trifft den Anstifter in diesem Fall aber nicht die volle Täterstrafe des echten Sonderdelikts, die Strafe wird vielmehr nach § 49 I gemildert (vgl. oben § 61 V I I 4d). 4. Der Anstifter haftet nur insoweit, als die Haupttat mit seinem Vorsatz übereinstimmt. Wenn der Haupttäter dagegen mehr tut, als vom Anstifter gewollt war (Exzeß), ist dieser nur bis zur Grenze seines Anstiftervorsatzes verantwortlich 28 . Zu unterscheiden ist zwischen den Fällen, in denen der Täter eine andere Tat begeht als die, zu der ihn der Anstifter bestimmen wollte (qualitativer Exzeß), und den Fällen, in denen der Täter im Rahmen der ihm angesonnenen Tat mehr tut als der Anstifter beabsichtigte (quantitativer Exzeß). Bei allen Abweichungsfällen ist jedoch zu berücksichtigen, daß die Grenzen des Anstiftervorsatzes weiter gezogen werden müssen als die Grenzen des Vorsatzes bei Mittäterschaft und mittelbarer 22

Vgl. Lackner, § 111 Rdn. 1 ; anders aber Dreher, Gallas-Festschrift S. 324.

23

Vgl. dazu Kohlrausch , Ζ Α Κ 1939, 245; Schönke/Schröder /Cramer, (Roxin) § 26 Rdn. 17; Letzgus, Vorstufen S. 32 f. 24 25

§ 26 Rdn. 5;

LK n

Zur Abgrenzung näher Roxin, Schröder-Gedächtnisschrift S. 154 ff. Ebenso Bemmann, Gallas-Festschrift S. 273; Eser, Strafrecht II Nr. 43 A Rdn. 8; Grün-

wald, JuS 1965, 311 Fußnote 32; Letzgus, Vorstufen S. 33; Schulz, JuS 1986, 935ff.; Puppe,

ZStW 92 (1980) S. 887; Schönke/Schröder /Cramer, § 26 Rdn. 6; SK (Samson) § 26 Rdn. 4; Welzel, Lehrbuch S. 117. Wie der BGH jedoch Baumann/Weber, Allg. Teil S. 559 Fußnote

20; Dreher/Tröndle, § 26 Rdn. 3; Stree, Heinitz-Festschrift S. 291 ff.; Lackner, § 26 Rdn. 2; Preisendanz, §26 Anm. 3 c; M aurach/Gössel/Zipf, Allg. Teil I I § 51 Rdn. 11; Otto, JuS

1982, 561; LK U (Roxin) § 26 Rdn. 39; Wessels, Allg. Teil Rdn. 571; Stork, Anstiftung eines Tatentschlossenen S. 175. 26

27

Vgl. LK U

(Roxin) § 26 Rdn. 33 ff.

Kritisch dazu Langer, Sonderverbrechen S. 484 ff.; Schmidhäuser, Allg. Teil S. 546 Fußnote 25. 28 Allg. Teil II § 51 Vgl. Baumann/Weber, Allg. Teil S. 565ff.; Maurach/Gössel/Zipf,

Rdn. 44; LK 11

44 Jescheck, 5. A.

(Roxin) § 26 Rdn. 89; Schönke /Schröder /Cramer,

§ 26 Rdn. 18.

690

§ 64 A n s t i f t u n g u n d Beihilfe

Täterschaft, weil es zum Wesen der Anstiftung gehört, daß der Anstifter dem Täter die Einzelheiten der Ausführung anheimstellt . Beispiele: Wer einen anderen zum Raub anstiftet, ist für die Tat nicht verantwortlich, wenn dieser statt dessen eine Vergewaltigung begeht. Vielmehr liegt eine nach §§ 30 I, 249 strafbare erfolglose Anstiftung vor. Wer einen anderen zum einfachen Diebstahl anstiftet, ist nur nach §§ 26, 242 zu bestrafen, wenn der Täter statt dessen ohne sein Wissen einen Raub begeht (RG 67, 343). Wer einen anderen zur Körperverletzung anstiftet, ist nur nach §§ 26, 223 ff. verantwortlich, wenn der Angestiftete das Opfer vorsätzlich tötet (BGH 2, 223 [225]; vgl. auch BGH 11, 66). Unwesentliche Abweichungen der Haupttat vom Anstiftervorsatz kommen jedoch für die Entlastung des Anstifters nicht in Betracht: Die Mutter stiftet den Sohn zur gemeinschaftlichen Tötung des Stiefvaters an, er führt die Tat jedoch allein aus (RG 70, 293 [295]); der Angeklagte will den Zeugen zu einer positiven Falschaussage bestimmen, dieser beschwört jedoch nur, von der Sache nichts zu wissen (BGH LM § 154 StGB Nr. 37). Der Irrtum über das Handlungsobjekt, der auf seiten des Täters in der Regel unwesentlich ist (vgl. oben § 29 V 6 a), wird in Ubereinstimmung mit dem Urteil des Preuß. Obertribunals im Falle Rose-Rosahl (GA 7 [1859] S. 322) auch vom Bundesgerichtshof für den Anstifter als unwesentlich angesehen, weil er den Vorsatz des Täters hervorgerufen habe und deswegen ebensowenig entlastet werden könne wie dieser, es sei denn, daß die Verwechslung außerhalb der Grenzen des nach allgemeiner Lebenserfahrung Voraussehbaren liege (BGH 37, 214)30. Richtig ist jedoch, mit einer vordringenden Meinung zugunsten des Anstifters einen vom Vorsatz nicht gedeckten Tatverlauf anzunehmen31. Da der Anstiftervorsatz auch den Erfolg der Haupttat zu umfassen hat, wirkt sich der Objektsirrtum des Täters beim Anstifter als aberratio ictus aus (vgl. oben § 29 V 6 c). Der Anstifter kann daher nur wegen versuchter Anstiftung zum Mord nach §§ 30 I, 21132, möglicherweise in Tateinheit mit fahrlässiger Täterschaft bestraft werden (ebenso für die mittelbare Täterschaft oben § 62 I I I 2). Bei den erfolgsqualifizierten Delikten haftet der Anstifter für die schwere Folge nur dann, wenn ihm insoweit Fahrlässigkeit zur Last fällt (§ 18). Die Tat des Anstifters stellt sich in diesen Fällen als vorsätzliche Anstiftung zum Grunddelikt und fahrlässige Nebentäterschaft hinsichtlich der schweren Folge dar (BGH 2, 223 [225]; 19, 339 [341 f.] m.zust.Anm. Cramer, JZ 1965, 32)33. Dieses Ergebnis wird durch § 11 I I und § 18, der die Teilnahme ausdrücklich einschließt, gestützt. 29 Zur Systematisierung vgl. Baumann/Weber, Allg. Teil S. 565 ff.; Schmidhäuser, Allg. Teil S. 444f.; Letzgus, Vorstufen S. 43ff.; Montenbruck, ZStW 84 (1972) S. 323ff. 30 Ebenso Backmann, JuS 1971, 119; Dreh er/Tröndle, §26 Rdn. 15; Kohlrausch/Lange, § 48 Anm. V I I ; Loewenheim, JuS 1966, 314; LK 9 (Busch) § 48 Rdn. 22; Maurach/Gössel/

Zipf; Allg. Teil I I § 51 Rdn. 57; Puppe, NStZ 1991, 124; Küpper, JR 1992, 294; Bemmann, Stree-Wessels-Festschrift S. 397ff.; Schönke/Schröder /Cramer, § 26 Rdn. 19; Welzel, Lehrbuch S. 75, 117; Müller-Dietz/Backmann, JuS 1971, 416; Weßlau, ZStW 104 (1992) S. 130f.; Wessels, Allg. Teil Rdn. 479. 31 So Baumann/Weber, Allg. Teil S. 568; Binding, Normen Bd. III S. 213; Bemmann, MDR 1958, 817ff.; Blei, Allg. Teil S. 285; Eser, Strafrecht I I Nr. 43 A Rdn. 21; Hillenkamp, Vorsatzkonkretisierungen S. 63ff.; Letzgus, Vorstufen S. 55ff.; LK n (Roxin) § 26 Rdn. 92ff.; Kühl, Allg. Teil § 20 Rdn. 209; Krümpelmann, ZStW Beiheft Budapest 1978 S. 23 f.; Otto, Grundkurs S. 294; Roxin, Täterschaft und Tatherrschaft S. 215; Schmidhäuser, Allg. Teil S. 561; Stratenwerth, Allg. Teil I Rdn. 287; derselbe, Baumann-Festschrift S. 66 ff.; SK (Samson) Vorbem. 40 vor § 26. Anders zu entscheiden wäre in Schillers Gedicht „Der Gang nach dem Eisenhammer", weil hier der Irrtum über die Individualisierung des Opfers beim Anstifter selbst lag. 32 Für Anstiftung zum Versuch dagegen Schmidhäuser, Allg. Teil S. 561; Stratenwerth, Allg. Teil I Rdn. 287; derselbe, Baumann-Festschrift S. 66f.; Puppe, NStZ 1991, 124; SK (Samson) Vorbem. 40 vor § 26. Die Ausführung am falschen Objekt ist jedoch in der Regel kein Versuch der Ausführung am richtigen Objekt. 33 Ebenso Baumann/Web er, Allg. Teil S. 556; Eser, Strafrecht I I Nr. 43 A Rdn. 23; Jakobs, Allg. Teil 22/29; Hirsch, GA 1972, 76; AK (Paeffgen) § 18 Rdn. 129; Schönke/Schröder /Cramer, § 26 Rdn. 17; SK (Rudolphi) § 18 Rdn. 6; Schmidhäuser, Allg. Teil S. 563 (Zusammen-

I I I . D i e Beihilfe

691

5. Der Anstifter wird nach dem auf die Haupttat anzuwendenden Gesetz bestraft (§ 26), soweit sich nicht mit Rücksicht auf besondere persönliche Merkmale Abweichungen ergeben (§ 28 I, II). Dies gilt auch dann, wenn die Haupttat nicht über den Versuch hinausgelangt ist. Das Strafgesetzbuch hat an dem Prinzip der Gleichbestrafung zu Recht festgehalten und die in § 28 I I AE vorgesehene fakultative Strafmilderung abgelehnt 4 , weil der Anstifter zur Tat den Anstoß gibt und oft die treibende Kraft ist (BT-Drucksache V/4095 S.13). Die Strafe des Anstifters kann demgemäß im Einzelfall auch schwerer ausfallen als die des Täters, so wenn er den Unrechtsgehalt der Tat im Unterschied zum Täter voll übersieht. Deshalb besteht kriminalpolitisch kein Anlaß, der Anstiftung die schwersten Fälle durch die Figur des „Täters hinter dem Täter" zu entziehen3 . 6. Eine Anstiftung durch Unterlassen ist rechtlich nicht möglich 36 . Der Anstifter muß den Handlungsentschluß des Täters im Wege psychischer Beeinflussung hervorrufen. Durch Untätigkeit wird aber nur dessen selbständige Entstehung nicht verhindert; dies reicht zur Begründung des Handlungsunrechts der Anstiftung nicht aus. III. Die Beihilfe 1. Beihilfe ist die vorsätzliche Unterstützung eines anderen bei dessen vorsätzlich begangener rechtswidriger Tat (§ 27 I). Der Gehilfe beschränkt sich darauf, eine fremde Tat zu fördern; an der Tatherrschaft hat er ebensowenig Anteil wie der Anstifter; der Täter braucht nicht einmal von der ihm zuteil gewordenen Unterstützung zu wissen (sog. heimliche Beihilfe). In diesem Punkte unterscheidet sich die Beihilfe von der Mittäterschaft, da diese die funktionale Tatherrschaft auf der Grundlage eines gemeinsamen Tatentschlusses voraussetzt (vgl. oben § 63 I 1 a). Für die subjektive Theorie liegt die Unterscheidung dagegen allein in der „inneren Einstellung und Willensrichtung des Handelnden" (vgl. oben § 63 I 1 b). 2. Ebenso wie die Anstiftung setzt auch die Beihilfe eine Verbindung von Haupttat und Gehilfenhandlung voraus. a) § 27 I spricht nur von „Hilfe leisten" und nennt die Mittel der Beihilfe nicht, die früher mit „Rat" und „Tat" umschrieben waren. Gleichwohl wird man wie bisher zwischen intellektueller (psychischer) und technischer (physischer) Beihilfe zu unterscheiden haben 37 . Die Mittel der Beihilfe sind jedoch unbeschränkt, so daß treffen vorsätzlicher und fahrlässiger Teilnahme); Welzel, Lehrbuch S. 122; LK U (Roxin) § 26 Rdn. 99f.; Rengier., Erfolgsqualifizierte Delikte S. 249ff. Abweichend Oehler, GA 1954, 38 (der Täterschaft hinsichtlich des erfolgsqualifizierten Tatbestands annimmt); Hanack/ Sasse, DRiZ 1954, 217 und Ziege, NJW 1954, 179 (die bedingten Vorsatz des Teilnehmers verlangen); Seehaid, G A 1964, 165 ff. (der Teilnahme an einem qualifizierten Fahrlässigkeitsdelikt annimmt). Ablehnend Gössel, Lange-Festschrift S. 236, weil er alle Vorsatz-Fahrlässigkeitskombinationen für Fahrlässigkeitsdelikte hält. 34 Vgl. Gallas, ZStW 80 (1968) S. 32; dazu kritisch Stratenwerth, Allg. Teil I Rdn. 892; Jakobs, Allg. Teil 22/31; Armin Kaufmann, ZStW 80 (1968) S. 37; LK n (Roxin) §26 Rdn. 15. 35 So aber Schroeder, Der Täter hinter dem Täter S. 204. 36 So die überwiegende Lehre; vgl. Baumann/Weber, Allg. Teil S. 562; Busse, Unterlassungsdelikte S. 139; Grünwald, GA 1959, 122; Armin Kaufmann, Unterlassungsdelikte S. 292; H. Mayer, Lehrbuch S. 321; D. Meyer, M D R 1975, 982; Roxin, Täterschaft und Tatherrschaft S. 484; LK n (Roxin) §26 Rdn. 61 ff.; Schönke/Schröder/Gramer, §26 Rdn. 7.

Anders Maurach/Gössel/Zipf, Allg. Teil II § 51 Rdn. 17; Lackner, § 26 Rdn. 3; LK 9 (Busch) § 48 Rdn. 14; Schmidhäuser, Allg. Teil S. 707; Joerden, Strukturen S. 118 f. 37

Vgl. Schönke/Schröder/Gramer,

§ 27 Rdn. 4. 4

§27 Rdn. 12; SK (Samson) §27 Rdn. 11; Lackner,

692

§ 64 A n s t i f t u n g u n d Beihilfe

jede vorsätzliche Förderung fremder Vorsatztat eine Beihilfe darstellt (BayObLG NJW 1984, 1366: Lieferung von Material für Sendungen eines ungenehmigten Senders). Die Beihilfe kann auch darin bestehen, daß jemand ein Merkmal eines Straftatbestandes verwirklicht (wenn etwa Mittäterschaft am Fehlen des gemeinsamen Tatentschlusses scheitert). Ausgeschlossen ist Beihilfe nur dann, wenn alle Tatbestandsmerkmale eigenhändig und in voller Verantwortlichkeit erfüllt werden (vgl. oben § 61 V 2). Psychische Beihilfe kann insbesondere durch Stärkung des Tatwillens des Haupttäters geleistet werden. Sie kommt unter anderem dann in Betracht, wenn die vom Gehilfen eigentlich geplante physische Hilfeleistung fehlschlägt (der Haupttäter benutzt das gelieferte Tatwerkzeug nicht, fühlt sich aber in seinem Tatentschluß durch das Hilfsangebot bestärkt) 3 . Beispiele: Der Freund gibt dem Täter „für alle Fälle" Diebeswerkzeug mit, das dieser aber nicht benötigt, weil er die Tür unverschlossen findet (vgl. den in RG 58, 113 [115 f.] erwähnten Fall; ferner RG 38, 156). Die Geliebte stellt dem Gattenmörder die Eheschließung für den Fall der Tötung der Ehefrau in Aussicht (RG 73, 52 [53]). Die im voraus gegebene Zusage, gestohlene Rinder nach der Tat abzusetzen, begründet Beihilfe zum Diebstahl (BGH 8, 390 [391]). Eine Verkäuferin stärkt den Tatentschluß eines bei einem nächtlichen Warenhausdiebstahl beteiligten Kollegen, indem sie ihm durch Benutzung seiner Straßenbahnkarte einen Alibibeweis in Aussicht stellt (BGH NJW 1951, 451). Jemand ruft dem Unfallbeteiligten, der sich bereits entfernt, zu, er solle weiterfahren (BGH VRS 23, 209). Ein Rechtsanwalt stärkt den Vorsatz seiner Klienten durch weitere Anwesenheit bei dem Gespräch mit dem Opfer, nachdem er erkannt hat, daß diese eine Erpressung beabsichtigen (BGH JZ 1983, 462 m.Anm. Rudolphi,, StV 1982, 518ff. 39; BGHR StGB § 27 I Unterlassen 3, 5). Bloßes „Dabeisein" ohne Förderung der Tat reicht aber nicht aus (BGH NStZ 1993, 385). b) Auch der Zeitraum für die Beihilfe ist weit bemessen. Die Unterstützung braucht nicht bei der Verwirklichung eines Tatbestandsmerkmals geleistet zu beziehen, werden, sondern kann sich lediglich auf eine Vorbereitungshandlung sofern die Haupttat wenigstens in strafbarer Weise versucht wird (RG 59, 376 [380]: Stärkung des Tatentschlusses durch Versprechen des Fernbleibens vom Tatort; RG 61, 360 [362]: Nachweis der Adresse eines Abtreibers; RG 71, 193: Beihilfe durch Unterlassung des Löschens eines gelegten Brandes; RG DR 1941, 987: Beihilfe zur Abgabe einer falschen eidesstattlichen Versicherung eines Prüflings durch Mithilfe an der Examensarbeit). Beihilfe ist ferner nicht nur bis zur formellen Vollendung, sondern ebenso wie Mittäterschaft bis zur materiellen Beendigung der Haupttat möglich (RG 23, 292; B G H 6, 248 [251]; 19, 323 [325]; B G H NJW 1985, 814; JZ 1989, 759) (vgl. oben § 49 I I I 3) 4 0 . 38

Ebenso LK 11 (Roxin) § 27 Rdn. lOff.; Otto, JuS 1982, 564. Stark einschränkend aber Samson, Hypothetische Kausalverläufe S. 189ff.; SK (Samson) § 27 Rdn. 15 (keine psychische Beihilfe durch bloße Festigung des Tatentschlusses des Täters); für Straflosigkeit der psychischen Beihilfe auch durch Bestärken des Tatentschlusses Hruschka, JR 1983, 178 f. Die Beweisschwierigkeiten betont Stratenwerth, Allg. Teil I Rdn. 899. 39 Zustimmend Sieber, JZ 1983, 437. Gegen die Annahme psychischer Beihilfe durch bloße Anwesenheit am Tatort Stoffers, Jura 1993, 15. 40 So die h.L.; vgl. Baumann/Weber, Allg. Teil S. 573; Blei, Allg. Teil S. 287; Bockel-

mann/Volk, Allg. Teil S. 198; Dreher/Tröndle, § 27 Rdn. 3; Lackner, § 27 Rdn. 3; Küper, JuS 1986, 862; LK 9 (Busch) § 49 Rdn. 21; Otto, JuS 1982, 565; Roxin, Täterschaft und Tat-

herrschaft S. 291; Schönke/Schröder /Cramer, § 27 Rdn. 13, 17; Wessels, Allg. Teil Rdn. 583; Schmidhäuser, Allg. Teil S. 567 f. Grundsätzlich ablehnend zur Möglichkeit der Beihilfe nach Vollendung der Haupttat Gallas, ΖΑΚ 1937, 439; Sax, Nottarp-Festschrift S. 137 Fußnote 11; Herzberg, Täterschaft S. 71 f.; Roxin/Schünemann/Haffke, Strafrechtliche Klausurenlehre S. 232 f.; LK 11

(Roxin) § 27 Rdn. 35; Rudolphi, Jescheck-Festschrift Bd. I S. 576; Jakobs,

Allg. Teil 22/40f.; Maurach/Gössel/Zipf, Kühl, Die Beendigung S. 94ff.; derselbe, Rdn. 18.

Allg. Teil II §39 Rdn. 11, 40. Differenzierend Allg. Teil §20 Rdn. 235 f.; SK (Samson) §27

I I I . D i e Beihilfe

693

Beispiele: Nach der Inbrandsetzung eines Gebäudes ist Beihilfe noch möglich, wenn sich der Vorsatz des Brandstifters auf die Einäscherung des ganzen Gehöfts erstreckt (RG 71, 193 [194]; OGH 3, 1 [3]). Beihilfe zum Diebstahl durch Gewaltanwendung gegen den Eigentümer kann noch geleistet werden, wenn die Diebe bereits auf der Flucht sind (BGH 6, 248 [251]). Ableugnung des Besitzes von vorläufig untergestelltem Schmuggelgut ist Beihilfe zur Zollhinterziehung (OLG Köln NJW 1956, 154). Die Lieferung von Mikrosendern an Privatpersonen ist Beihilfe zur Errichtung einer nicht genehmigten Fernmeldeanlage (OLG Frankfurt NJW 1971, 1622). Beihilfe zum unerlaubten Sichentfernen vom Unfallort kann noch geleistet werden, solange sich der Täter noch nicht endgültig in Sicherheit gebracht hat (BayObLG JZ 1981, 241). c) Zweifelhaft ist, was man objektiv unter einer Hilfeleistung zur Haupttat zu verstehen hat. Bei der Anstiftung ist klar, welchen objektiven Tatbeitrag das Gesetz von Seiten des Anstifters voraussetzt: er muß den Täter zur Tat bestimmt haben. Der Begriff der Hilfeleistung sagt jedoch nichts darüber aus, welche Voraussetzungen die Beihilfe erfüllen muß, um den Anforderungen des § 27 zu genügen. Die Frage ist darum zweifelhaft und umstritten 41 . Fest steht nur, daß bloß versuchte Beihilfe nicht strafbar ist, da die im Jahre 1943 eingeführte Strafbarkeit des Beihilfeversuchs zum Verbrechen (§ 49a I I I a.F.) durch das 3. StA G von 1953 als zu weitgehend aufgehoben worden ist (vgl. BT-Drucksache 1/3713 S. 31). Nach der Rechtsprechung genügt es, daß die den Tatbestand verwirklichende Handlung des Täters zu irgendeinem Zeitpunkt vor ihrer Beendigung durch die Hilfeleistung gefördert worden ist, während der Erfolg der Haupttat dadurch nicht ursächlich mitbewirkt sein muß (RG 6, 169; 11, 63; 58, 113 [114f.]; 67, 191 [193]; 71, 176 [178]; 73, 153 [154]; RG DR 1941, 978; B G H 8, 390 [391]; B G H VRS 8, 199 [201]; B G H Dallinger M D R 1972, 16; B G H NStZ 1985, 318; StV 1982, 516; O G H 1, 321 [330]; 2, 23 [44]; BayObLG 1959, 132 [138]; O L G Freiburg JZ 1951, 85; O L G Hamburg JR 1953, 27; O L G Karlsruhe NStZ 1985, 78) 42 . Auch Fälle, in denen ein durch den Gehilfen geliefertes Werkzeug vom Täter bei der Tat nicht benutzt worden war, hat die Rechtsprechung zu weitgehend als Förderung der Haupttat angesehen, selbst wenn eine Stärkung des Tatentschlusses (psychische Beihilfe) nicht ausdrücklich festgestellt wurde (RG 6, 169; 58, 113 [114f.]; B G H Dallinger M D R 1972, 16). Im Schrifttum wird überwiegend verlangt, daß der Beitrag des Gehilfen ursächlich für den vom Haupttäter bewirkten Erfolg (bzw. für die Ausführung der konkreten Tat) ist 4 3 . Allerdings lassen sich „Fördern" der Tat und „Verursachen" des Taterfolges in der Sache kaum unterscheiden 44. Da auch bei der Beihilfe hypothetische „Reserveursachen" nicht berücksichtigt werden dürfen 45 , liegt in der Lieferung eines Nachschlüssels, den der Dieb dann nicht verwendet, nicht nur keine 41

Vgl. die eingehenden Darstellungen bei Dreher, MDR 1972, 553 ff.; Letzgus, Vorstufen

S. 71 ff.; LK U 42

(Roxin) § 27 Rdn. 23 ff.; SK (Samson) § 27 Rdn. 5 ff.

Zustimmend Blei, Allg. Teil S. 288f.; Preisendanz, § 27 Anm. 3d; Wessels, Allg. Teil Rdn. 582; auch Claß, Stock-Festschrift S. 126 mit der Lehre von der „Verstärkerkausalität". 43 Vgl. Baumann/Weher, Allg. Teil S. 572; Bloy, Beteiligungsform S. 289; Bockelmann/ Volk, Allg. Teil S. 197; Dreher, M D R 1953, 553 ff.; Dreher/Tröndle,

§ 27 Rdn. 2; Eser, Straf-

recht II Nr. 45 A Rdn. 7; Jakobs, Allg. Teil 22/34; Lackner, § 27 Rdn. 2; Letzgus, Vorstufen

S. 74; Maurach/Gössel/Zipf, Allg. Teil I I § 52 Rdn. 19; LK (Roxin) § 27 Rdn. 5; Schmidhäuser, Allg. Teil S. 569 f.; Schönke/Schröder/Gramer, § 27 Rdn. 10; SK (Samson) § 27 Rdn. 9f.; Samson, Peters-Festschrift S. 130; Spendel, Dreher-Festschrift S. 185 ff.; Welzel,

Allg. Teil S. 119. 44 So zu Recht Bockelmann/Volk, Hypothetische Kausalverläufe S. 55. 45

Allg. Teil S. 197; LK 8 (Mezger) § 49 Anm. 2; Samson,

So z u Recht Puppe, Z S t W 95 (1983) S. 292.

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§ 64 A n s t i f t u n g u n d Beihilfe

Verursachung des Diebstahls, sondern auch keine Förderung der konkreten von dem Dieb begangenen Tat. Insoweit unterscheiden sich die Auffassungen der Rechtsprechung und der überwiegenden Literatur mehr in der Ausdrucksweise als in der Substanz. Ein auch materiell anderes Verständnis der Beihilfe haben freilich diejenigen Autoren, die in ihr ein abstraktes 46 oder konkretes 47 Gefährdungsdelikt sehen. Richtig ist es, an dem Erfordernis der Kausalität der Beihilfe festzuhalten (so auch B G H 14, 280 [282]). Wollte man sie als bloßes Gefährdungsdelikt verstehen, so würde man am geltenden Recht vorbeigehen, nach dem sie ihren Unrechtsgehalt durch die Mitverursachung der Haupttat empfängt, die Beihilfe zum selbständigen Teilnahmedelikt nach dem Muster der Begünstigung (§ 257) umgestalten und im Ergebnis auch die bloß versuchte Beihilfe bestrafen. Freilich genügt es für die Kausalität der Beihilfe, daß diese die Haupttat ermöglicht, erleichtert, beschleunigt oder intensiviert hat 48 . Dem entspricht es, wenn diese nur mittelbare Art der kausalen Förderung der Haupttat durch den Begriff der „Risikoerhöhung a gekennzeichnet wird 4 9 . Das bedeutet, daß in Fällen, in denen der Gehilfe ein Werkzeug geliefert hat, das zur Tat nicht benutzt wird (RG 58, 113), Beihilfe nur unter dem Gesichtspunkt der psychischen Unterstützung des Haupttäters angenommen werden kann 50 . Daß auch psychische Unterstützung für eine Tat im Sinne der Erleichterung und Förderung ursächlich sein kann, ist nicht zu bezweifeln 51 , nur darf man auch hier nach der Kausalität nicht im Sinne der conditio sine qua nonFormel fragen, ob die Tat ohne die Gehilfenhandlung unterblieben wäre (vgl. B G H JZ 1983, 462; B G H VRS 59, 185; O L G Freiburg JZ 1951, 85) 52 . Nur durch diese Auflockerung des Kausalitätserfordernisses lassen sich die Fälle der psychischen Beihilfe unter § 27 subsumieren. Andererseits verliert man damit den festen Maßstab für die Beantwortung der Frage, ob ein konkreter Beitrag die Haupttat „gefördert" hat. Man wird hier streng auf den konkreten Ablauf der Tat achten und fragen müssen, ob sich in ihr der jeweilige Beitrag als förderliches Element wiederfindet; auf die abstrakte Gewichtigkeit der Unterstützungshandlung kommt es dabei nicht an. Beispiel: A reicht dem erschöpften Einbrecher, der den Tresor aufzuschweißen versucht, eine erfrischende Dose Mineralwasser, durch die der Täter neue Energie bekommt; Β besorgt ihm ein Fluchtauto, dessen sich der Täter aber nicht bedient: A ist Gehilfe, Β nicht (bei ihm kommt allenfalls psychische Beihilfe in Frage). 46 47

So Herzherg, GA 1971, 7. So Salomon, Beihilfe S. 134 ff.; Schaff stein, Honig-Festschrift S. 184; Otto, Lange-Fest-

schrift S. 210; Stratenwerth, Allg. Teil I Rdn. 899. Auch Vogler, Heinitz-Festschrift S. 311 will die „generelle Eignung der Mitwirkung für die Rechtsgutsverletzung durch die Haupttat" ausreichen lassen (abstrakt-konkretes Gefährdungsdelikt). Dagegen zu Recht Samson, Hypothetische Kausalverläufe S. 202ff.; derselbe, Peters-Festschrift S. 123 ff.; LK n (Roxin) § 27 Rdn. 27 f. „Solidarisierung" des Gehilfen mit dem Haupttäter verlangt Schumann, Handlungsunrecht S. 57 ff. 48 Samson, Peters-Festschrift S. 132; SK (Samson) § 27 Rdn. 10; Wessels, Allg. Teil Rdn. 582. Im gleichen Sinne spricht Claß, Stock-Festschrift S. 126 von „Zufluß- oder Verstärkerkausalität"; ebenso Dreher, MDR 1972, 555. Damit erledigt sich auch der Fall der Erschwerung der Haupttat, der nach den Grundsätzen der objektiven Zurechnung nicht in Betracht kommt (vgl. oben § 28 IV 1). Auch die Beseitigung der Folgen einer Straftat ist natürlich keine Beihilfe (OLG Düsseldorf JZ 1985, 590). 49 50

51 52

So LK n (Roxin) § 27 Rdn. 5. Vgl. Bockelmann, DR 1941, 987 ff.; Spendel, Dreher-Festschrift S. 186.

Vgl. Engisch, v. Weber-Festschrift S. 269. V g l . Claß, Stock-Festschrift S. 121 ff.; ferner Coenders, Z S t W 46 (1925) S. 3 ff.

I I I . D i e Beihilfe

695

Auch „neutrale" Handlungen, wie der Verkauf eines Schraubenziehers durch eine Eisenwarenhandlung, können Beihilfe sein, wenn der Verkäufer genau weiß, daß das Werkzeug alsbald zu einem Einbruchsdiebstahl benutzt werden soll. Dasselbe gilt für den Verkauf von Valium-Tabletten, wenn dem Apotheker bewußt ist, daß der Käufer diese zu einem Giftmord benutzen w i l l 5 3 . Beihilfe ist in diesen Fällen dann anzunehmen, wenn der Erwerb für den Käufer, wie der Verkäufer weiß, nur den Sinn hat, die Straftat alsbald zu begehen, und das Mittel dabei benutzt wird 5 4 . d) Der Gehilfe muß endlich vorsätzlich handeln. Fahrlässige Beihilfe ist als solche nicht strafbar, kann aber fahrlässige Täterschaft sein 55 . Als Vorsatzart ist wie bei der Anstiftung bedingter Vorsatz ausreichend (RG 72, 20 [24]; B G H 2, 279 [281]; B G H Holtz M D R 1981, 808). Der Vorsatz des Gehilfen muß sich sowohl auf die Ausführung der Haupttat selbst als auch auf ihre Förderung beziehen, ebenso wie bei der Anstiftung muß also der Vorsatz ein doppelter sein (BGH 3, 65; B G H NStZ 1985, 318) 56 . Für Tatbestands- und Verbotsirrtum des Gehilfen gilt das zur Anstiftung Gesagte entsprechend (vgl. oben § 64 I I 2 b). Auch der Vorsatz des Gehilfen muß sich auf eine tatbestandlich bestimmte Haupttat richten (RG 59, 245 [246]; BGHR, StGB § 27 I, Vorsatz 6), doch braucht bei Unterstützungshandlungen im Vorbereitungsstadium die Person des Täters noch nicht festzustehen (RG 11, 87 [88]; 31, 35 [37]; B G H GA 1981, 133; NJW 1982, 2453 [2454]; BayObLG JR 1992, 427 m.krit. Anm. G. Wolf). Für den Vorsatz des Gehilfen ist die persönliche Billigung der Haupttat nicht erforderlich (BGH Holtz M D R 1985, 284 und M D R 1989, 305; O L G Karlsruhe GA 1971, 281). Ebenso wie für die Anstiftung wird von der h.L. auch für die Beihilfe verlangt, daß der Vorsatz auf Vollendung der Haupttat gerichtet sein muß (BGH Dallinger MDR 1973, 554). Wer die Tat nur bis zum Versuch kommen lassen will oder von vornherein weiß, daß sie nicht zur Vollendung gelangen kann (untauglicher Versuch), sei nicht wegen Beihilfe strafbar (RG 15, 315 [317]; 17, 377; 60, 23; BGH StV 1981, 549)57. Der Apotheker z.B., der der Schwangeren bewußt ein zur Abtreibung untaugliches Mittel gibt, damit sie sich mit der Zeit eines besseren besinne, begeht keine Beihilfe zum Abtreibungsversuch. Wenn der Gehilfe aber das geschützte Rechtsgut bewußt einer Gefährdung aussetzt und dessen Verletzung in Kauf nimmt, muß auch hier Teilnahme am Versuch angenommen werden (vgl. oben § 64 II 2 b). 3. Die Tat, zu der Hilfe geleistet wird, muß vollendet sein oder wenigstens zu einem mit Strafe bedrohten Versuch geführt haben. Erfolglose Beihilfe ist nur noch bei der Gefangenenbefreiung (§ 120 III) und bei der Hehlerei (§ 259) unter Strafe gestellt (BGH 26, 358; 27, 45) . Die Haupttat muß nach § 27 I vorsätzlich begangen sein (vgl. oben § 61 V I I 2). Beihilfe zu fahrlässiger Tat ist als solche nicht strafbar, kann aber mittelbare Täterschaft sein (vgl. oben § 62 I I 2). Für die Beihilfe zum echten Sonderdelikt gilt das zur Anstiftung Gesagte entsprechend 53 Für Straflosigkeit dagegen Jakobs, Allg. Teil 24/13 ff.; Schumann, Selbstverantwortung S. 56ff.; Frisch, Tatbestandsmäßiges Verhalten S. 295 ff. 54 So zu Recht LK n (Roxin) § 27 Rdn. 17. 55 Dazu Bindokat, JZ 1986, 421 ff. 56 Vgl. Baumann/Weber, Allg. Teil S. 574; Eser, Strafrecht II Nr. 46 A Rdn. 2; Frank,

§ 49 Anm. II; Letzgus, Vorstufen S. 66; LK U (Roxin) § 27 Rdn. 45; Lackner, § 27 Rdn. 7. 57 So die h.L.; vgl. Letzgus, Vorstufen S. 66; LK U (Roxin) § 27 Rdn. 48; Baumann/We-

ber, Allg. Teil S. 574; Maurach/Gössel/Zipf,

Teil I Rdn. 901; Schönke/Schröder /Cramer,

Allg. Teil II § 52 Rdn. 32; Stratenwerth,

Allg.

% 27 Rdn. 25; Welzel, Lehrbuch S. 120; Wessels,

Allg. Teil Rdn. 584. 58 Ablehnend (auch „Absetzen" und „Absatzhilfe" setzen erfolgreiche Schönke/Schröder/Stree, § 259 Rdn. 32, 38 m.w.Nachw.

Tätigkeit voraus)

§ 64 A n s t i f t u n g u n d Beihilfe

696

(vgl. oben § 64 I I 3). Auch der Gehilfe ist nicht für den Exzeß des Täters verantwortlich (vgl. oben § 64 I I 4). 4. Die Strafe für den Gehilfen richtet sich nach der Strafdrohung für den Täter, doch muß die Strafe nach § 49 I gemildert werden (§ 27 I I 2). Bei Beihilfe zum Versuch kann somit doppelte Strafmilderung eintreten (dagegen kann die sowohl in § 27 I I als auch in § 28 I vorgeschriebene Strafmilderung nur einmal gewährt werden, B G H 26, 53 m.zust.Anm. Bruns, JR 1975, 510; anders bei zwei Milderungsgründen von verschiedenem sachlichen Gehalt, B G H G A 1980, 255). Mit der Reform von 1975 ist das Strafgesetzbuch zu der bis 1939 geltenden obligatorischen Strafmilderung zurückgekehrt (übereinstimmend Ε 1962, § 31 I I 2 und AE, § 29 I I 2). Dem liegt der Gedanke zugrunde, daß der Unrechtsgehalt der Beihilfe wegen ihrer nur verstärkenden Förderung der Haupttat und ihres nur mittelbaren Einflusses auf den Erfolg in allen Fällen geringer ist als der Unrechtsgehalt der Haupttat und daß deswegen auch die Schuld des Gehilfen leichter wiegt als die des Täters. Die Schuld des Gehilfen kann aber durch besondere Erschwerungsgründe, die ihm nach § 29 zuzurechnen sind, auch stärker ins Gewicht fallen als die des Täters. Verselbständigte Beihilfe (z.B. Unterstützen der Vereinigung in §§ 129 I, 129a III) gilt als Täterschaft und geht der Beihilferegelung in § 27 vor 5. Beihilfe kann auch durch Unterlassen geleistet werden, sofern dem Gehilfen eine Garantenpflicht obliegt (vgl. oben § 59 IV) 6 1 . Die Frage der Abgrenzung von Mittäterschaft und Beihilfe ist dabei in der Regel unproblematisch, da neben dem die Tatherrschaft ausübenden Täter eines vorsätzlichen Begehungsdelikts der Tatbeitrag des die Tat nicht hindernden Garanten grundsätzlich nur die Bedeutung von Beihilfe besitzt 62 . Die Tatherrschaft geht erst dann auf den Unterlassenden über, wenn der Handelnde den Tatablauf nicht mehr beherrscht. Beispiele: Wer als Aufsichtsbeamter Diebstähle durch Gefangene bei Außenarbeiten duldet, begeht Beihilfe zum Diebstahl (RG 53, 292; vgl. auch OLG Karlsruhe GA 1971, 281). Der Vorgesetzte, der die unerlaubte Entfernung des Untergebenen vom Unfallort nicht hindert, ist Gehilfe (RG 69, 349). Der Schiffsoffizier, der den Schmuggel der Schiffsmannschaft zuläßt, macht sich der Beihilfe zur Zollhinterziehung schuldig (RG 71, 17663). Die Geliebte des verheirateten Mannes, die diesen an der Tötung der Frau nicht hindert, kann der Beihilfe zum Mord schuldig sein (RG 73, 53 [54]). Der Gastwirt, der billigend eine Körperverletzung eines Gastes in seinen Räumen duldet, kann nur wegen Beihilfe verantwortlich 59 Über die Ersetzung der obligatorischen durch die fakultative Strafmilderung vgl. Nagler, GS 115 (1941) S. 36 ff. 60 Kritisch dazu Sommer, JR 1981, 490 ff. 61 Die Frage ist umstritten; wie hier Baumann/Weber, Allg. Teil S. 573; Blei, Allg. Teil

S. 287; Busse, Unterlassungsdelikte S. 325 ff.; Frank, §49 Anm. I 2; Dreh er/Tröndle, §27 Rdn. 7; Otto, JuS 1982, 564f.; Lackner, § 27 Rdn. 5; LK n (Jescheck) § 13 Rdn. 57; Preisen-

danz, § 27 Anm. 3 b; Maurach/Gössel/Zipf, Allg. Teil II § 52 Rdn. 9; Jakobs, Allg. Teil 29/ 102a; Schönke/Schröder /Cramer, § 27 Rdn. 15; Wessels, Alle. Teil Rdn. 733; einschränkend LK 11 (Roxin) § 27 Rdn. 43; Roxin, Täterschaft und Tatherrscnaft S. 476ff., der mit Rücksicht auf die Garantenpflicht in der Regel Unterlassungstäterschaft annimmt (S. 485). Gegen die Möglichkeit von Beihilfe durch Unterlassen Armin Kaufmann, Unterlassungsdelikte S. 291 ff.; Grünwald, GA 1959, llOff.; Welzel, Lehrbuch S. 222. Zum ganzen Sowada, Jura 1986, 399ff. 62 So Bockelmann/Volk, Allg. Teil S. 203f.; Gallas, JZ 1952, 372; derselbe, JZ 1960, 687 Fußnote 67; Lackner, § 27 Rdn. 5; Kielwein, GA 1955, 227; Ranft, ZStW 94 (1982) S. 823 ff.; Schmidhäuser, Allg. Teil S. 707; Schönke/Schröder/ Cramer, §27 Rdn. 15. Dagegen Bloy, Beteiligungsform S. 218; LK n (Roxin) § 25 Rdn. 209; Stratenwerth, Allg. Teil I Rdn. 1077. Nach der Art der Garantenpflicht (Beschützergaranten bzw. Überwachungsgaranten) differenziert Herzberg, Täterschaft S. 82 ff. a

ft, Z S t W

( 1 9 5 ) S. 3

f.

697

V . D i e notwendige Teilnahme

gemacht werden (anders BGH NJW 1966, 1763). Die Versicherte, die die Brandstiftung an dem versicherten Gebäude nicht hindert, ist wegen Beihilfe zu §§ 306 Nr. 2, 265 zu bestrafen (BGH Dallinger MDR 1951, 144f.). Zur Meineidsbeihilfe durch Unterlassen vgl. BGH 4, 327; 14, 229; 17, 321; BGH NStZ 1993, 489; OLG Hamm NJW 1992, 197764. Vgl. ferner BGH 30, 391 (393); BGH NStZ 1985, 24. IV. Das Zusammentreffen mehrerer Beteiligungsformen 1. An Teilnahmehandlungen ist wiederum Teilnahme möglich65. Dabei ist Anstiftung zur Anstiftung gleichbedeutend mit Anstiftung zur Haupttat (Kettenanstiftung, vgl. oben § 64 II 2 a). Anstiftung zur Beihilfe, Beihilfe zur Anstiftung 66 und Beihilfe zur Beihilfe (BGH 6, 361; 8, 137) sind mittelbare Beihilfe zur Haupttat (Kettenbeihilfe) (keine doppelte Herabsetzung des Strafrahmens 67) (RG 14, 318 [320]; 23, 300 [306]; 59, 396). 2. Wenn in einer Person Täterschaft und Teilnahme oder Anstiftung und Beihilfe in bezug auf die gleiche Tat zusammentreffen (der Täter stiftet z.B. einen anderen zur Mittäterschaft oder Beihilfe an oder stiftet an und leistet außerdem Beihilfe zur Haupttat), so treten die schwächeren Formen der Beteiligung hinter den stärkeren zurück, d.h. die Anstiftung geht der Beihilfe, die Mittäterschaft der Anstiftung und der Beihilfe vor (Subsidiarität, vgl. unten § 69 II 2a) (RG 62, 72 [73]; BGH 4, 244 [247]; Sonderfälle in RG 70, 138; 293 [296f.]) 68. 3. Wird durch dieselbe Handlung zu mehreren Taten angestiftet oder Beihilfe geleistet, so liegt nur eine Anstiftung oder Beihilfe in gleichartiger oder verschiedenartiger Idealkonkurrenz vor (RG 70, 26 [31]). Mehrere Hilfeleistungen zu einer Haupttat stehen in Realkonkurrenz 69. V. Die notwendige Teilnahme 1. Notwendige Teilnahme ist dann gegeben, wenn ein Tatbestand so gefaßt ist, daß zu seiner Erfüllung begrifflich die Beteiligung von mehr als einer Person erforderlich ist, wie Tötung auf Verlangen (§ 216), Wucher (§ 302 a), Beischlaf zwischen Verwandten (§ 173), sexueller Mißbrauch von Schutzbefohlenen (§ 174), Förderung sexueller Handlungen Minderjähriger (§ 180), Strafvereitelung (§ 258), Zuhälterei (§ 181a) oder Gläubigerbegünstigung (§ 283 c). Mit Recht wird darauf hingewiesen, daß der Ausdruck „notwendige Teilnahme" nicht ganz exakt ist, weil es sich einmal auch um Mittäterschaft handeln kann und weil die Mitwirkung zum andern die Stufe der Teilnahme nicht zu erreichen braucht 70 . Die Fälle der notwendigen Teilnahme werden eingeteilt in Konvergenz- und Begegnungsdelikte71. Bei den 64

Vgl. dazu eingehend im Sinne der Begrenzung der Strafbarkeit Bockelmann, Untersu-

chungen S. 126 ff.; Maurach, DStr 1944, Iff.; derselbe, SJZ 1949, 541 ff.; Schönke /Schröder/

Lenckner, Vorbem. 38ff. vor § 153; Scheffler, GA 1993, 341. 65 Über die einzelnen Fallgestaltungen Schwind, MDR 1969, 13 ff.; LK n (Roxin) §27 Rdn. 54ff.; Stratenwerth, Allg. Teil I Rdn. 965 ff.; Schmidhäuser, Allg. Teil S. 584f. 66 Vgl. Martin, DRiZ 1955, 299; SK (Samson) Vorbem. 50 vor § 26. Dagegen nimmt Schönke/Schröder/ Cramer, § 27 Rdn. 18 bei der Hilfeleistung für den Anstifter nicht mittelbare Beihilfe zur Haupttat, sondern Beihilfe zur Anstiftung an; ebenso RG 14, 318. 67 Ebenso LK U (Roxin) §27 Rdn. 61; Schönke/Schröder/ Cramer, §27 Rdn. 18. Differenzierend Stratenwerth, Allg. Teil I Rdn. 971 f. 68 Vgl. Lackner, Vorbem. 13 vor § 25; Schönke/Schröder /Cramer, Vorbem. 49 vor § 25; Stratenwerth, Allg. Teil I Rdn. 973 f. 69

So Schönke/Schröder /Cramer,

§ 27 Rdn. 38. Anders LK n

(Roxin) § 27 Rdn. 54: nur

eine Beihilfe, da das Unrecht aus einer einzigen Haupttat hergeleitet wird. 70

So Herzberg, Täterschaft S. 133; LK 11

(Roxin) Vorbem. 32 vor § 26; Maurach/Gössel/

Zipf, Allg. Teil II § 50 Rdn. 8; Stratenwerth, Allg. Teil I Rdn. 944. 71 So grundlegend Freudenthal, Notwendige Teilnahme S. 1, 122. Zur Entwicklung vgl. LK 9 (Busch) § 50 Rdn. 25. Gropp, Deliktstyp en mit Sonderbeteiligung S. 125 ff. unterscheidet aufgrund einer Untersuchung von Straftatbeständen und Ordnungswidrigkeiten sechs Kategorien solcher Deliktstypen. Zur traditionellen Einteilung vgl. LK 11 (Roxin) Vorbem. 33 vor § 26; Jakobs, Allg. Teil 24/7 f.

698

§ 64 A n s t i f t u n g u n d Beihilfe

Konvergenzdelikten richten sich die Tätigkeiten der Beteiligten von derselben Seite her auf dasselbe Ziel, wie bei der Gefangenenmeuterei (§ 121), dem schweren Hausfriedensbruch (§ 124) und dem Bandendiebstahl (§ 244 I Nr. 3). Da in diesen Fällen kraft Gesetzes alle Beteiligten als Täter strafbar sind, stellt sich das Problem der notwendigen Teilnahme nicht. Bei den Begegnungsdelikten richten sich die Tätigkeiten der Beteiligten zwar auch auf dasselbe Ziel, aber von verschiedenen Seiten her, so daß sich die Handlungen gewissermaßen aufeinander zubewegen 72 , wie bei der Förderung sexueller Handlungen Minderjähriger (§ 180). Hier droht das Gesetz in einzelnen Strafvorschriften nur bestimmten Beteiligten Strafe an, während es die anderen straflos läßt. Das gilt z.B. für den sexuellen Mißbrauch von Schutzbefohlenen (§ 174), den Beischlaf zwischen Verwandten bei noch nicht 18 Jahre alten Beteiligten (§ 173 III), die Vorteilsannahme (§ 331), die Begünstigung (§ 257 I I I 1) oder die Strafvereitelung (§ 258 V). Problematisch ist in diesen Fällen, ob sich aus dem Wesen der Teilnahme, dem Sinn der betreffenden Strafvorschrift und dem Gleichheitsprinzip ergibt, daß der notwendig Beteiligte auch dann nicht wegen Anstiftung oder Beihilfe bestraft werden kann, wenn er über die „Mindestbeteiligung" hinausgegangen ist, die der Tatbestand notwendig voraussetzt. Die Rechtsprechung hat eine solche Beschränkung bisher abgelehnt und Strafbarkeit des notwendig Beteiligten dann angenommen, wenn er den anderen Teil zur Tat anstiftet oder ihn in „rollenüberschreitender Weise" unterstützt 73 . Beispiele: Strafbar ist die Hehlerei des Anstifters oder Gehilfen zur Vortat (BGH 7, 134; 8, 390 [392]; 13, 403 [406]), die Anstiftung zur Gefangenenbefreiung durch den Gefangenen selbst (RG 61, 31 [33]; BGH 4, 396 [401]; 17, 369 [373]; straflos freilich die wechselseitige Hilfe sich gemeinsam befreiender Gefangener) sowie die Anstiftung und Beihilfe durch die begünstigte Partei zum Parteiverrat (RG 71, 114 [116]). Das gleiche gilt im Bereich der Sittlichkeitsdelikte: So wurde die Anstiftung des Verkuppelten zur Kuppelei (§ 180 a.F.) als strafbar angesehen (RG 26, 369 [370]; BGH 10, 386 [387]; 15, 377 [382])74, ebenso die des Zuhälters durch die von ihm abhängige Frau (BGH 19, 107). Strafbar ist ferner die Anstiftung und Beihilfe zur Gläubigerbegünstigung (§ 283 c) durch den Begünstigten (RG 65, 416, [417]; 61, 314 [315f.]) 75, die Anstiftung zum Verkauf über den Höchstpreis durch den Käufer (RG 70, 344 [347]), die Anstiftung zum verbotenen Alkoholausschank durch den Gast (RG 70, 233 [234])76. 2. Die Strafbarkeit der notwendigen Teilnahme wird dagegen im Schrifttum mit Recht wesentlich eingeschränkt 7 . a) Ubereinstimmung (auch mit der Rechtsprechung; vgl. B G H 10, 283 [284]) besteht zunächst darüber, daß der notwendig Beteiligte immer straflos ist, soweit 72

So Lange, Notwendige Teilnahme S. 12. Jakobs, Allg. Teil 24/12 und Herzherg, Täterschaft S. 137f. nehmen dagegen Strafbarkeit der notwendigen Teilnahme auch dann an, wenn diese das zur Erfüllung des Tatbestandes erforderliche Mindestmaß nicht überschreitet. 74 Zustimmend Biet, Allg. Teil S. 264. 75 Zustimmend Herzherg, Täterschaft S. 137f.; Otto, Lange-Festschrift S. 214. 76 Zustimmend Otto y Lange-Festschrift S. 214; Schönke/Schröder /Cramer, Vorbem. 49 vor § 25. 77 Vgl. dazu Baumann/Weher, Allg. Teil S. 587; Herzherg, Täterschaft S. 133 ff.; LK n (Roxin) Vorbem. 37ff. vor § 26; Otto, Lange-Festschrift S. 210ff.; Maurach/Gössel/Zipf Allg. Teil II § 50 Rdn. 24; SK (Samson) Vorbem. 49 vor § 26; Welzel, Lehrbuch S. 122 f.; Stratenwerth, Allg. Teil I Rdn. 945 ff.; Schmidhäuser, Allg. Teil S. 583 f.; Wolter, JuS 1982, 348 ff. Eine Systembildung auf induktivem Wege auf der Grundlage des Gleichheitssatzes (Unterschied des verwirklichten Unrechts oder der in der Person liegenden Umstände beim Sonderbeteiligten gegenüber dem Regelfall) unternimmt Gropp, Deliktstypen mit Sonderbeteiligung S. 340. Ähnlich, aber im engeren Anschluß an das traditionelle System Sowada, Die „notwendige Teilnahme" S. 269 ff. 73

V . D i e notwendige Teilnahme

699

die Strafvorschrift gerade seinen Schutz bezweckt. In diesen Fällen wird die Mitwirkung des anderen Teils meist nicht einmal die Stufe der Beihilfe erreichen, so wenn ein Schulkind die unzüchtige Berührung durch den Lehrer geschehen läßt. Straflos ist als geschützte Person aber auch die Schülerin, die den Lehrer zu sexuellen Handlungen mit ihr selbst anstiftet (§174 I Nr. 1), der Minderjährige, der an der Vereitelung des Personensorgerechts mitwirkt (§ 235), der Bewucherte, der den Geldgeber zum Abschluß des wucherischen Geschäfts veranlaßt (§ 302 a) (RG 18, 273 [281]) 78 . b) Ferner wird bei Strafvorschriften, die die Unterstützung eines Straftäters verbieten, Straflosigkeit der aktiven Teilnahme des Begünstigten angenommen, weil die für die Tat charakteristische Motivationslage eine rollenüberschreitende Mitwirkung als verständlich erscheinen läßt. Danach müssen Anstiftung und Beihilfe zur Gefangenenbefreiung durch den Gefangenen selbst (§ 120) straflos bleiben 79 . Bei der Strafvereitelung (§ 258 V) ist die Straflosigkeit dessen, der durch die Tat begünstigt werden soll (z.B. wegen Anstiftung zur Strafvereitelung) jetzt durch das Gesetz selbst vorgeschrieben. Dasselbe gilt für den an der Vortat Beteiligten bei der Begünstigung (§ 257 III), doch bleibt die Anstiftung seitens eines Unbeteiligten strafbar 80. In den Fällen der §§ 120, 258 a V ist es die wesentliche Minderung der Schuld (notstandsähnliche Lage), die zur Straflosigkeit führt 8 1 . c) Endlich hält ein Teil der Lehre die Straflosigkeit des notwendig Beteiligten auch dann für gerechtfertigt, wenn die Initiative zu der Tat typisch erweise von seiner Seite auszugehen pflegt. Unter diesem Gesichtspunkt würden die Anstiftung zur Zuhälterei und zur Förderung der Prostitution durch die Prostituierte (§ 180 a) sowie die Anstiftung zum Verkauf unter Verletzung der Preisbindung durch den Käufer straflos sein 2 . Maßgebend ist hier der Gedanke der kriminalpolitischen Zwecklosigkeit derartiger Verbote. Dagegen ist die Strafbarkeit der Anstiftung zur Gläubigerbegünstigung (§ 283 c) oder zum Parteiverrat (§ 356) weder zwecklos noch ungerecht 83. Einzelfragen müssen durch Auslegung der Strafvorschriften des Besonderen Teils beantwortet werden 84 . 78

Vgl. LK U

(Roxin) Vorbem. 38 vor § 26; SK (Samson) Vorbem. 47 vor § 26; Otto,

Lange-Festschrift S. 211; Wessels, Allg. Teil Rdn. 587. 79 So Binding , Lehrbuch Bd. II 2 S. 590; Kohlrausch/Lange, Vorbem. IV 1 vor § 47; LK U (Roxin) Vorbem. 39 vor § 26; Maurach/Schroeder/Maiwald, Bes. Teil II § 71 Rdn. 13; Welzel, Lehrbuch S. 507. 80 Kritisch dazu Stree, JuS 1976, 138; Lackner, § 257 Rdn. 8. 81 Ubereinstimmend Stratenwerth, Allg. Teil I Rdn. 950. Dagegen geht die von Herz h erg, GA 1971, 10 empfohlene Behandlung des Triebmotivs als strafausschließendes Merkmal (§28 II) zu weit, weil dadurch auch Fälle straffrei gelassen würden, bei denen die Straflosigkeit unverdient wäre (z.B. Anstiftung zu § 283c). Auch die gesetzeslogischen Konsequenzen, die Zöller, Die notwendige Teilnahme S. 170ff., 230ff. aus der angeblich „mittäterschaftsähnlichen" Struktur der notwendigen Teilnahme zieht, sind schon deswegen nicht überzeugend, weil sich diese Struktur keineswegs immer nachweisen läßt. 82

So Bohne, Frank-Festgabe Bd. I I S. 471; Gerland, Lehrbuch S. 417; Kohlrausch/Lange,

Vorbem. II 2 vor § 47; Welzel, Lehrbuch S. 123; Schmidhäuser, Allg. Teil S. 583f.; Maurach/ Gössel/Zipf, Allg. Teil II § 50 Rdn. 27. Zum Schutzzweck des § 181 a BayObLG JZ 1974,460. 83 So mit Recht M aurach/Gössel/Zipf, Allg. Teil II §50 Rdn. 21; Schönke/Schröder/ Stree, § 283 Rdn. 21, § 356 Rdn. 25; Stratenwerth, Allg. Teil I Rdn. 952. Herzberg, Täterschaft S. 139 geht hier einen Schritt zu weit, indem er auch die Strafbarkeit der bloßen Entgegennahme des Vorteils als Beihilfe annimmt. 84 So zu Recht LK 11 (Roxin) Vorbem. 41 vor § 26; Wolter, JuS 1982, 348 f. Dazu eingehend Gropp, Deliktstypen mit Sonderbeteiligung, 1992.

700

§ 65 Versuchte A n s t i f t u n g z u m Verbrechen u n d andere Vorstufen der Beteiligung

§ 65 Versuchte Anstiftung zum Verbrechen und andere Vorstufen der Beteiligung Blei, Anmerkung zu BGH 10, 388, NJW 1958, 30; Bloy, Grund und Grenzen der Strafbarkeit der mißlungenen Anstiftung, JR 1992, 493; Börker, Zur Bedeutung besonderer persönlicher Eigenschaften bei der versuchten Anstiftung zu einem Verbrechen, JR 1956, 286; Bottke, Strafrechtswissenschaftliche Methodik usw., 1979; derselbe, Rücktritt vom Versuch der Beteiligung, 1980; J.-D. Busch, Die Teilnahme an der versuchten Anstiftung, NJW 1959, 1119; derselbe, Die Strafbarkeit der erfolglosen Teilnahme usw., Diss. Marburg 1964; R. Busch, Zur Teilnahme an den Handlungen des § 49 a StGB, Festschrift für R. Maurach, 1972, S. 245; Coenders, Zum neuen Strafgesetz, RG-Festgabe, Bd.V, 1929, S. 266; Dreher, Anmerkung zu BGH 3, 228, NJW 1953, 313; derselbe, Grundsätze und Probleme des § 49 a StGB, G A 1954, 11; derselbe, Anmerkung zu BGH 6, 308, MDR 1955, 119; derselbe, Anmerkung zu BGH 14, 156, NJW 1960, 1163; derselbe, Anmerkung zu B G H 24, 38, M D R 1971, 410; Gallas, Der

dogmatische Teil des Alternativentwurfs, ZStW 80 (1968) S.l; Herzberg, Rücktritt vom Versuch trotz bleibender Vollendungsgefahr? JZ 1989, 114; Jakobs, Kriminalisierung im Vorfeld einer Rechtsgutsverletzung, ZStW 97 (1985) S. 751; Armin Kaufmann, Anmerkung zu BGH 9, 131, JZ 1956, 606; Kern, Die Äußerungsdelikte, 1919; Kühl, Grundfälle zu Vorbereitung usw., JuS 1979, 874; derselbe, Anmerkung zu BGH 32, 133 und BGH vom 7.10.1983, JZ 1984, 292; Küper, Versuchs- und Rücktrittsprobleme bei mehreren Tatbeteiligten, JZ 1979, 775; derselbe, Die Problematik des Rücktritts von der Verbrechensverabredung, JR 1984, 265; Langer, Zum Begriff der „besonderen persönlichen Merkmale", Festschrift für R. Lange, 1976, S. 241; Letzgus, Vorstufen der Beteiligung, 1972; Maiwald, Literaturbericht, ZStW 88 (1976) S. 712; Maurach, Die Problematik der Verbrechensverabredung (§ 49a II StGB), JZ 1961, 137; H Mayer, Teilnahme und Gefangenenmeuterei, JZ 1956, 434; Meister, Zweifelsfragen zur versuchten Anstiftung, MDR 1956, 16; Otto, Personales Unrecht usw., ZStW 87 (1975) S. 539; derselbe, Die Aussagedelikte, JuS 1984, 161; Roxin, Die Strafbarkeit von Vorstufen der Beteiligung, JA 1979, 169; R. Schmitt, Rücktritt von der Verabredung zu einem Verbrechen, JuS 1961, 25; Schröder, Grundprobleme des Rücktritts vom Versuch, JuS 1962, 81; derselbe, Grundprobleme des § 49a StGB, JuS 1967, 289; derselbe, Anmerkung zu BGH 24, 38, JZ 1971, 563; Vogler, Funktion und Grenzen der Gesetzeseinheit, Festschrift für P. Bockelmann, 1979, S. 715; Vogler/Kadel, Eine verhängnisvolle Bitte, JuS 1976, 245; Zipf, Probleme der versuchten Bestimmung zu einer Straftat, Strafr. Probleme 8, 1980, S. 143. Vgl. ferner die Schrifttumsangaben vor §§ 61 - 64. I. Allgemeine Grundlagen 1. Die maßgebende Vorschrift über die Strafbarkeit von Vorstufen der Teilnahme ist § 30. Bis zum Jahre 1974 galt § 49 a, der eine wechselvolle Geschichte gehabt hat. Eingeführt wurde die Strafbarkeit bestimmter Vorstufen der Teilnahme durch ein Gesetz vom 26.2.1876, nachdem sich unter dem Eindruck des Kulturkampfs in Preußen der Belgier Duchesne gegenüber dem Erzbischof von Paris erboten hatte, Bismarck gegen Zahlung von 60000 Francs zu ermorden („Duchesne-Paragraph") 1. Durch VO vom 29.5.1943 wurde die Strafbarkeit auf Verabredung eines Verbrechens, Eintreten in eine ernsthafte Verhandlung und erfolglose Beihilfe zu einem Verbrechen ausgedehnt und die Strafdrohung verschärft . Das 3. StÄG vom 4.8.1953 gab § 49a eine neue Gestalt: die Strafbarkeit der erfolglosen Beihilfe und der Verbrechensverhandlung wurde wieder beseitigt, die Rücktrittsvorschriften wurden verbessert. Das geltende Recht hat in den §§ 30, 31 grundsätzlich die bisherige Regelung übernommen, 1 Zur Entstehungsgeschichte vgl. J.-D. Busch, Erfolglose Teilnahme S. 47ff.; LK U (Roxin) § 30 vor Rdn. 1. 2 Gegen diese Entwicklung bereits Coenders, RG-Festgabe S. 277 f. („eine Vorschrift von geradezu unheimlicher Unsicherheit"). Kritisch zum § 49a a.F. insbesondere Kohlrausch/ Lange, § 49 a Anm. II, III („Ausdruck polizeilichen Geistes"); ferner Baumann/Weber, Allg. Teil S. 590; Busch, Maurach-Festschrift S. 252 ff.; Stratenwerth, Allg. Teil I Rdn. 921. Für die kriminalpolitische Berechtigung des § 30 dagegen Letzgus, Vorstufen S. 126 ff. (besondere Gefährlichkeit des konspirativen Tatentschlusses); Jakobs, Allg. Teil 21H (Kommunikation über das Stattfinden des Verbrechens); LK n (Roxin) § 30 Rdn. 10f. (abgesehen vom SichBereiterklären in § 30 II); Kühl, JuS 1979, 874f.; Roxin, JA 1979, 170f.

I. Allgemeine Grundlagen

701

und zwar übereinstimmend mit §§ 35, 36 Ε 1962, aber gegen §§ 32, 33 AE, der die Bereiterklärung, die Annahme eines Erbietens und die Verabredung auch bei Verbrechen straflos lassen wollte. Die zuletzt genannten Fälle erschienen dem Gesetzgeber deswegen strafwürdig, weil „sehr gefährliche Bindungen entstehen können" (so BT-Drucksache V/4095 S. 13). 2. Vorbereitungshandlungen sind auch bei schwersten Verbrechen in der Regel straflos, die Strafbarkeit beginnt erst mit dem unmittelbaren Ansetzen zur Verwirklichung des Tatbestandes (§ 22). Davon macht § 30 eine Ausnahme für gewisse auf Verbrechen gerichtete Vorbereitungshandlungen, an denen mehrere Personen beteiligt sind und die sich als Vorstufen der strafbaren Teilnahme darstellen. § 30 I erfaßt die versuchte Anstiftung zu einem Verbrechen, § 30 I I andere Vorbereitungshandlungen (Erklärung der Bereitschaft, Annahme des Erbietens eines anderen, Verabredung), die materiell Vorstufen von Mittäterschaft, Anstiftung oder Beihilfe darstellen. Der Strafgrund des § 30 liegt in der besonderen Gefährlichkeit konspirativer Bindungen, die durch Einbeziehung anderer Personen in den Tatentschluß entstehen 3 . Dadurch wird es dem Täter psychologisch erschwert, das Vorhaben der Tat wieder aufzugeben. Sehr weit geht allerdings die Strafbarkeit auch für den Fall, daß die Anstiftung mißlingt oder daß das Anerbieten des Täters, ein Verbrechen zu begehen, nicht angenommen wird 4 . Hier kann man dem Täter lediglich den (mißglückten) Versuch einer Anstiftung oder Verabredung vorwerfen 5 . 3. Systematisch handelt es sich um Erscheinungsformen, die der Teilnahme verwandt sind. Da die Haupttat hier jedoch nicht wirklich begangen wird, beschränkt sich der Unwert der Tat auf ein im geistigen Bereich verbleibendes Handlungsunrecht, das objektiv allein durch die Äußerung der verbrecherischen Absicht bzw. des Einverständnisses mit dieser in Erscheinung tritt 6 . In allen Fällen - mit Ausnahme der systemfremden mißlungenen Anstiftung und des erfolglosen Sich-Erbietens, die noch weiter im Vorfeld liegen - beruht die Strafwürdigkeit der Tat auf der konspirativen Bindung des Tatentschlusses an einen fremden Willen. Die Einordnung des § 30 in den Abschnitt über die Teilnahme rechtfertigt sich durch die Abhängigkeit der Strafbarkeit von dem vorgestellten Verbrechen, dessen Vollendung alle Beteiligten wollen müssen (hypothetische Akzessorietät) 7. Auch die Limi3

Vgl. Lackner, § 30 Rdn. 1; Maurach/Gössel/Zipf Allg. Teil I I § 53 Rdn. 3; Kühl, JuS 1979, 874; derselbe, Allg. Teil § 20 Rdn. 245; Schröder, JuS 1967, 289; eingehend Letzgus, Vorstufen S. 126 ff. 4 Aus diesem Grunde will Letzgus, Vorstufen S. 141 ff. de lege ferenda zu Recht die Strafbarkeit nach § 30 I auf den Fall der erfolglosen Anstiftung (der Tatvorsatz wird herbeigeführt, aber die Tat unterbleibt) beschränken, während die mißlungene Anstiftung (nicht einmal der Tatentschluß wird herbeigeführt) straflos bleiben soll (S. 145). Entsprechendes hätte für das erfolglose Sich-Erbieten nach § 30 I I zu gelten, weil in diesem Falle ein Tatentschluß ebensowenig zustande kommt (S. 175 f.) Kritisch dazu Maiwald, Literaturbericht, ZStW 88 (1976) S. 720. Dagegen denkt Busch, Maurach-Festschrift S. 256 de lege ferenda an eine differenzierte Regelung im Besonderen Teil bei den einzelnen Deliktsarten. 5 Kritisch dazu LK n (Roxin) § 30 Rdn. 11. Gegen die Berechtigung der Strafbarkeit wegen Verbrechensverabredung (§ 30 II) wendet sich nicht überzeugend Jakobs, ZStW 97 (1985) S. 756. 6 § 30 ist Außerungsdelikt im Sinne von Kern, Die Außerungsdelikte S. 9 ff.; Erklärungen können daher auch durch konkludentes Verhalten erfolgen. 7 So die h.M.; vgl. Baumann/Weber, Allg. Teil S. 590; Dreher/Tröndle, § 30 Rdn. 2; Letzgus, Vorstufen S. 219ff.; Kohlrausch/Lange, § 49a Anm. II (wenn auch kritisch); Mau-

rach, JZ 1961, 138; Maurach/Gössel/Zipf, Allg. Teil I I § 53 Rdn. 7; LK U (Roxin) § 30 Rdn. 40; Schönke/Schröder/Gramer, § 30 Rdn. 2; Schmidhäuser, Allg. Teil S. 644; Schröder,

JuS 1967, 289. Dagegen nimmt H. Mayer, Lehrbuch S. 341 im Anschluß an Binding, Lehrbuch Bd. II, 2 S. 838 ff. einen selbständigen Tatbestand an (Angriff gegen die rechtstreue Gesinnung des Partners).

702

§ 65 Versuchte A n s t i f t u n g z u m Verbrechen u n d andere Vorstufen der Beteiligung

tierung der Akzessorietät gilt für § 30, so daß z.B. die versuchte Anstiftung eines unerkennbar Geisteskranken strafbar ist. Es ist jedoch nicht zu verkennen, daß auch die Einordnung in den Abschnitt über den Versuch begründet werden könnte, da die für die Teilnahme charakteristische Abhängigkeit von der Haupttat mangels der Existenz einer solchen nicht besteht und durch eine bloß „hypothetische Akzessorietät" auch nicht ersetzt werden kann. Es handelt sich deshalb um selbständig Straßare Vorbereitungshandlungen, die aber in ihrer Struktur, da es sich um Konspirationsfälle handelt, die Erscheinungsformen der Teilnahme aufweisen ( B G H 9, 131 [134]; 14, 378 [379]) 8 . 4. Für den Verbrechenscharakter der geplanten Straftat ist nicht die wirkliche Sachlage, sondern die davon möglicherweise abweichende Vorstellung des Handelnden von dem zu verwirklichenden Sachverhalt maßgebend, da durch § 30 ebenso wie beim Versuch der geäußerte rechtsfeindliche Wille erfaßt werden soll ( B G H 4, 254; B G H NJW 1951, 666 [667]; G A 1963, 126; NJW 1982, 2738). Anzuwenden ist auch hier die abstrakte Betrachtungsweise (vgl. oben § 7 I V 2). Umstritten ist jedoch die Frage, wie zu entscheiden ist, wenn besondere persönliche Merkmale (§ 28) die Tat zum Verbrechen machen (z.B. die Amtsträgereigenschaft) 9. Für die Qualifizierung der in Aussicht genommenen Tat stellt die Lehre überwiegend auf die Person des Anstifters bzw. des ein Erbieten Annehmenden ab (nicht auf die als Täter in Aussicht genommene Person), wendet also § 28 II auch auf die Frage der Verbrechensnatur der Tat an 10 . Richtig ist es jedoch, ein Verbrechen im Sinne des § 30 nur dann anzunehmen, wenn die besonderen persönlichen Merkmale in der Person dessen gegeben sind, der die Tat begehen soll, denn es sind nicht die gefährlichen Täter, die § 30 erfassen will, sondern die besonders schweren Taten. Deren Vorbereitung soll unter Strafe gestellt werden 11. Daraus folgt zugleich, daß nur diejenigen persönlichen Merkmale zur Begründung der Verbrechensnatur der beabsichtigten Tat herangezogen werden dürfen, die ihren materiellen Unrechtsgehalt betreffen (also nicht etwa der Rückfall [z.B. § 244 a.F.] [RG 32, 267]), da nur im Falle eines erhöhten Unrechtsgehalts der beabsichtigten Tat das erhöhte Schutzbedürfnis der Allgemeinheit zu bejahen ist, das die Anwendung des § 30 rechtfertigt 12. Der Einwand, daß der erfolg8 So Letzgus, Vorstufen S. 219ff.; LK U (Roxin) § 30 Rdn. 2 gegen die Teilnahmetheorie Allg. Teil I I § 53 Rdn. 4. bei Maurach/Gössel/Zipf 9 Der Gesetzgeber hat die Frage, die in § 35 I I I Ε 1962 und in § 32 I I AE kontrovers geregelt war, bewußt offen gelassen (BT-Drucksache V/4095 S. 13); kritisch dazu Roxin, Einführung S. 26 f. 10 So Blei, Allg. Teil S. 292; Jakobs y Allg. Teil 27/6; Heinitz, Berliner Festschrift für den

41. DJT S. 117; Kohlrausch/Lange,

§ 49a Anm. IV 3; Lackner, § 30 Rdn. 2; Langer, Lange-

Festschrift S. 249; Maurach, JZ 1961, 141; Maurach/Gössel/Zipf

Allg. Teil I I § 53 Rdn. 29;

Kühl, Allg. Teil § 20 Rdn. 247; Schröder, JuS 1967, 292 f.; Schönke/Schröder/Gramer, Rdn. 14; SK (Samson) §30 Rdn. 11; Schmidhäuser, Allg. Teil S. 645; Vogler/Kadel,

§ 30 JuS

1976, 249; Wessels, Alle. Teil Rdn. 562. Verbrechensqualität in der Person beider Beteiligten verlangt Baumann /Web er, Allg. Teil S. 592. 11

So Bockelmann/Volk,

Allg. Teil S. 217; LK 9 (Busch) § 49a Rdn. 21 ff.; J.-D. Busch, Er-

folglose Teilnahme S. 149f.; Börker, JR 1956, 286; Dreher, NJW 1953, 313· derselbe, GA 1954, 17; derselbe, M D R 1955, 119; Dreher/Tröndle, §30 Rdn. 6; LK U (Roxin) §30 Rdn. 44; Preisendanz, § 30 Anm. 3a; Letzgus, Vorstufen S. 205; Meister, M D R 1956, 16;

Niese, JZ 1955, 324; Stratenwerth, Allg. Teil I Rdn. 915; Welzel, Lehrbuch S. 118. Bei der Verabredung (§ 30 II) genügt zur Bestrafung für alle Beteiligten, daß für einen der Komplottanten die Tat ein Verbrechen wäre; ebenso LK 9 (Busch) § 49a Rdn. 32; Dreher, GA 1954, 16; Letzgus, Vorstufen S. 206 ff. Nach Schönke/Schröder/Gramer,

§ 30 Rdn. 14; Schröder,

JuS 1967, 292 f.; M aurach, JZ 1961, 141 soll dagegen bei der Verabredung der präsumtive Mittäter, für den die verabredete Tat nur ein Vergehen darstellte, nicht nach § 30 I I bestraft werden können. 12 So Gallas, ZStW 80 (1968) S. 33; Dreher, GA 1954, 16f.; Letzgus, Vorstufen S. 205f.

I I . D i e versuchte A n s t i f t u n g (§ 30 I)

703

lose Anstifter nach § 30 schärfer hafte als der Mittäter, dem ein die Tat zum Vergehen herabstufendes besonderes persönliches Merkmal zugute kommt (z.B. beim Versuch nach § 313, der in Abs. 2 nicht mit Strafe bedroht ist), läßt sich dadurch ausräumen, daß man in einem derartigen Sonderfall auch nach § 30 Straflosigkeit eintreten läßt (argumentum a maiore ad minus). Beispiel: Für die Frage, ob erfolglose Anstiftung zum Mord oder zum Totschlag anzunehmen ist, kommt es allein darauf an, wie sich der Anstifter (§ 30 I) die Ausführung der Tat vorgestellt hat (BGH NJW 1951, 666). Vgl. zu § 347 a.F. (jetzt § 120 II) ferner BGH 6, 308 (309f.); BGH StV 1987, 386. Auf den Anstifter sollte es auch nach BGH 14, 353 (355f.) im Falle von § 218 III a.F. (jetzt § 218 I) ankommen. 5. Die Strafe ist in allen Fällen des § 30 die Versuchsstrafe des vorbereiteten Verbrechens, doch ist die Strafmilderung im Unterschied zu § 23 I I obligatorisch. Wäre das geplante Verbrechen ein minder schwerer Fall, so ist der dafür vorgesehene Strafrahmen nach § 49 I zu mildern (BGH 32, 133 [136]). § 28 I I ist anzuwenden, so daß die erfolglose Anstiftung eines Amtsträgers nach § 345 für den Nichtqualifizierten nach §§ 239, 30, 49 I bestraft wird. Bei § 28 I (echtes Amtsdelikt) tritt doppelte Versuchsmilderung ein. Da es sich bei § 30 immer um Versuchsfälle handelt, ist bei grobem Unverstand § 23 I I I anzuwenden (§ 30 I 3) (vgl. oben § 50 I 5b). II. Die versuchte Anstiftung (§ 30 I) Bestraft wird nach § 30 I einmal die versuchte Anstiftung zu einem Verbrechen 13 . Ausdrücklich für strafbar erklärt ist zum anderen in Übereinstimmung mit der früheren Rechtsprechung und Lehre (vgl. 2. Auflage S. 534) die erfolglose Anstiftung zur Verbrechensanstiftung (versuchte Kettenanstiftung), während die versuchte Anstiftung zur Verbrechensbeihilfe und die Beihilfe zur versuchten Verbrechensanstiftung straflos bleiben, weil die versuchte Beihilfe auch als solche nicht mehr mit Strafe bedroht ist (BGH 14, 156 [157]; 31, 10 [ I I ] ) 1 4 . In § 159 ist die Vorschrift auf die beiden Vergehen der falschen uneidlichen Aussage (§ 153) und der falschen Versicherung an Eides Statt (§ 156) ausgedehnt. Die Überschreitung des Rahmens der Verbrechen läßt sich an sich wegen der spezifischen Gefährlichkeit dieser beiden Rechtspflegedelikte rechtfertigen; widersprüchlich ist es jedoch, daß der Versuch der Tatbegehung selbst bei §§ 153, 156 nicht unter Strafe gestellt ist 1 5 . 1. Als Handlung muß ein unmittelbares Ansetzen (§ 22) zur Bestimmung eines anderen zum Verbrechen vorliegen 16 . Richtig ist es dabei zu verlangen, daß die Erklärung dem Adressaten wenigstens zugegangen sein muß, weil sonst das Minimum an Gefährlichkeit nicht erreicht ist, das für die Strafwürdigkeit der Tat erfor13 Zur Kritik des § 15 österr. StGB, der von den Vorstufen der Teilnahme nur die erfolglose Anstiftung, diese aber auch bei Vergehen unter Strafe stellt,"Zipf, Strafr. Probleme 8 S. 165 ff. 14 Für Strafbarkeit der Beihilfe zu § 30 aber Dreher, GA 1954, 17f.; derselbe, NJW 1960, 1163 f.; Busch, Maurach-Festschrift S. 255. 15 Zweifelhaft daher BGH 24, 38, wo die Strafbarkeit des Anstifters verneint wird, wenn die eidesstattliche Versicherung des Täters als untauglicher Versuch straflos ist. Kritisch da-

her auch Schröder, JZ 1971, 563; Dreher, M D R 1971, 410; Otto, JuS 1984, 170; Lackner,

§ 159 Rdn. 3. 16 BGH 8, 294 (296) will dafür „jedes Handeln" genügen lassen. Mit Recht betont dage-

gen H. Mayer, JZ 1956, 435, daß ein Versuch geistiger Beeinflussung vorliegen muß, da es

sich um versuchte Anstiftung handelt; ebenso LK n (Roxin) § 30 Rdn. 16.

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§ 65 Versuchte A n s t i f t u n g z u m Verbrechen u n d andere Vorstufen der Beteiligung

derlich erscheint 17 . Die Vollendung der Anstiftung kann fehlen, weil der Anzustiftende den Tatentschluß nicht faßt (mißlungene Α.), weil er ihn nicht ausführt (erfolglose A.) oder weil er zur Tat schon vorher entschlossen war (untaugliche A.) (vgl. oben § 64 I I 2 c). Wenn der Angestiftete die Haupttat wenigstens in der Form eines strafbaren Versuchs begeht, greift § 26 ein, da die Anstiftung dann nicht mehr versucht, sondern vollendet ist. 2. Der Täter muß weiter den doppelten Vorsatz des Anstifters haben, d.h. er muß den Anzustiftenden zu dem Verbrechen bestimmen und zugleich die Ausführung der Haupttat herbeiführen wollen. Auch was den Grad der Bestimmtheit des Vorsatzes anlangt, gelten die für den Anstifter aufgestellten Regeln (vgl. oben § 64 I I 2 b). Maßgebend ist, daß es von Seiten des Anstifters keiner weiteren Mitwirkungshandlungen für die Ausführung der Haupttat mehr bedurfte ( O L G Hamm JR 1992, 521 mit Bespr. Bloy, JR 1992, 493 [497]). Die Ernstlichkeit der Aufforderung setzt nur voraus, daß der Anstifter damit rechnet, daß der Anzustiftende die Aufforderung ernst nimmt 1 8 . Freilich muß er auch selbst die Ausführung der Haupttat wollen. Deshalb scheidet § 30 I aus, wenn die Tat nur mit dem Auffordernden gemeinsam begangen werden kann und dieser den Vorschlag nicht ernst gemeint hat ( B G H 18, 160). I I I . Verabredung, Annahme des Anerbietens, Erklärung der Bereitschaft in bezug auf Verbrechen (§ 30 I I ) M i t Strafe bedroht sind weiter nach § 30 I I gewisse Vorbereitungshandlungen, die sich als Vorstufen von Mittäterschaft, Anstiftung und Beihilfe darstellen. 1. Praktisch wichtig und in hohem Grade strafwürdig ist vor allem die Verabredung eines Verbrechens; sie kommt besonders bei Terrorismus, Raub und anderen Gewaltdelikten, insbesondere bei den Straftaten nach §§ 239a, 239b, 316c vor. Beim schweren Diebstahl (§§ 243, 244) ist sie häufig, aber nicht strafbar, wohl aber beim schweren Bandendiebstahl (§ 244 a). Verabredung bedeutet, daß sich mindestens zwei Menschen ernstlich darüber einig werden, eine als Verbrechen mit Strafe bedrohte Handlung als Mittäter zu begehen oder einen anderen gemeinschaftlich dazu anzustiften ( B G H NStZ 1982, 244; NStZ 1993, 137) 19 . Die Verabredung ist also nichts anderes als der gemeinschaftliche Tatentschluß im Sinne des § 25 I I (vgl. oben § 63 I I l ) 2 0 . Eine bloße Vorbesprechung ist noch keine Verabredung ( B G H 12, 306 [309]), doch steht die Abhängigkeit der Ausführung der Tat von 17 So RG 26, 81; 47, 230; Eser, Strafrecht I I Nr. 47 A Rdn. 19; Letzgus., Vorstufen S. 41 Fußnote 89; Schmidhäuser, Allg. Teil S. 647 Fußnote 43; Schröder, JuS 1967, 290; SK (Samson) § 30 Rdn. 14; Stratenwerth, Allg. Teil I Rdn. 917. Die Gegenmeinung, die im Sinne der allgemeinen Versuchsgrundsätze das „Ansetzen zur Ausführung" genügen läßt und daraus schließt, daß die Erklärung nicht einmal in den Besitz des Adressaten gelangt sein müsse, vertreten BGH 8, 261; 31, 10 (11); Lackner y § 30 Rdn. 4; Maurach/Gössel/Zipf Allg. Teil I I

§ 53 Rdn. 16; Schönke/Schröder/ Cramer, § 30 Rdn. 19; Blei, Allg. Teil S. 291; Bockelmann/ Volk, Allg. Teil S. 216; Dreher, GA 1954, 14; Dreher/Tröndle, § 30 Rdn. 9; LK U (Roxin)

§ 30 Rdn. 15f.; Preisendanz, § 30 Anm. 3d; Wessels, Allg. Teil Rdn. 563. 18 Vgl. Schröder, JuS 1967, 292 sowie auch Letzgus, Vorstufen S. 182 f. m. w. Nachw. in Fußnote 289. 19 Vgl. Baumann/Weher, Allg. Teil S. 592f.; Dreher, GA 1954, 14; Kohlrausch/Lange, § 49a Anm. V 1; Lackner, § 30 Rdn. 6; LK n

(Roxin) § 30 Rdn. 60; Maurach/Gössel/Zipf

Allg. Teil I I § 53 Rdn. 42; Schönke/Schröder /Cramer, § 30 Rdn. 25; Letzgus, Vorstufen S. 110; Schmidhäuser, Allg. Teil S. 644; Stratenwerth, Allg. Teil I Rdn. 921. 20 Zur Struktur der Verabredung vgl. im einzelnen Letzgus, Vorstufen S. 105 ff.

I I I . Verabredung, A n n a h m e des Anerbietens, Erklärung der Bereitschaft

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erst zu schaffenden Bedingungen der Annahme einer Verabredung nicht entgegen (vgl. zum bedingten Handlungswillen oben § 29 I I I 3e) 21 . Unter § 30 I I fällt auch die Verabredung zu einer Anstiftung zum Verbrechen, sofern die Anstiftungshandlung gemeinschaftlich ausgeführt werden soll. An den Grad der Bestimmtheit des Verbrechensplans stellt die Praxis mit Recht keine allzu hohen Anforderungen, sofern dieser selbst nur ernst gemeint ist. Strafbar ist auch die Anstiftung zur Verbrechensverabredung 22. Beispiele: § 30 II ist anzunehmen, wenn Mittäter sich zur Ausführung eines Angriffs auf Kraftfahrer (§ 316a) an die Autobahn begeben (OLG Köln NJW 1951, 612); der Tatbestand ist auch erfüllt, wenn die Täter noch nicht wissen, ob sie eine Raststätte oder eine Tankstelle überfallen wollen (BayObLG NJW 1954, 1257). Zu eng ist OLG Hamburg MDR 1948, 368 („irgendwo in Hamburg" soll für die Verabredung einer räuberischen Erpressung nicht ausreichen). Wenn die Räuber an der Haustür des Opfers klingeln und mit dessen Erscheinen rechnen, um es alsbald mit der Waffe zu bedrohen, liegt schon Versuch, nicht mehr nur Verabredung vor (BGH NStZ 1984, 506). 2. Die Annahme des Anerbietens bedeutet, daß der Annehmende sich mit der Bereitschaft eines anderen, ein bestimmtes Verbrechen begehen oder zu ihm anstiften zu wollen, durch seine Zustimmung einverstanden erklärt. Seine eigene Mitwirkung liegt darin, daß er durch die Annahme den Tatentschluß des Sich-Erbietenden festigt (erfolglose psychische Beihilfe) 23. Führt er den Tatentschluß erst herbei, so liegt erfolglose Anstiftung nach § 30 I vor. Nicht zu folgen ist der Auffassung, daß zwar die Annahmeerklärung, nicht aber das Anerbieten ernstlich gemeint sein müßte, denn nur ein unter der Bedingung der Annahme tatsächlich vorhandener Wille stellt eine Gefahr dar, die die Strafe gegen den Annehmenden rechtfertigt (anders BGH 10, 3 8 8) 24 . Für die Annahmeerklärung genügt es, wenn der Annehmende damit rechnet, daß der andere aufgrund der Erklärung die Tat ausführen werde. 3. Am weitesten ist der Gesetzgeber in der Bestrafung des Sich-Bereiterklärens gegangen: erfaßt wird hier nicht die Gefahr, daß ein anderer infolge der Erklärung des Täters ein Verbrechen begehen könnte, sondern schon die ernstlich gemeinte (BGH 6, 346 [347]; OLG Celle MDR 1991, 174) Äußerung der eigenen Bereitschaft, die allerdings jemandem zugehen muß, von dessen Zustimmung der Täter die Ausführung des Verbrechens abhängig macht. Die Bereitwilligkeit muß gegenüber einer Person erklärt werden, die der Erklärung erst zustimmen soll. Das Sich-Bereiterklären kann ferner in der Weise erfolgen, daß der Erklärende die Aufforderung zur Tat durch einen anderen annimmt. Ist der Erklärende von dem anderen angestiftet worden, bedarf es nicht einmal des Zugangs der Erklärung 25. Dieser Fall erfaßt den präsumtiven Täter bei der erfolglosen Anstiftung. Sogar die Erklärung der Bereitschaft zu einer Anstiftung reicht nach geltendem Recht ausdrücklich aus.

21 22 23

Vgl. Maurach, JZ 1961, 139; Schröder, JuS 1967, 291; R. Schmitt, JuS 1961, 25. So Schönke/Schröder/ Cramer, § 30 Rdn. 36; dagegen Maurach, JZ 1951, 143. So Dreher, GA 1954, 18; Dreher/Tröndle, § 30 Rdn. 11; LK 9 (Busch) § 49a Rdn. 36;

Blei, Allg. Teil S. 293. Anderer Ansicht die h.L., die einen Spezialfall der versuchten Anstiftung annimmt; vgl. Letzgus, Vorstufen S. 97 f. m. Nachw.; Jakobs, Allg. Teil 27/9; LK U (Ro-

xin) § 30 Rdn. 93 f.; Schönke/Schröder /Cramer, 24

§ 30 Rdn. 24; SK (Samson) § 30 Rdn. 22.

Wie der Text RG 57, 243 (245); Blei, NJW 1958, 30; Kohlrausch/Lange, § 49a Anm. V 3; Letzgus, Vorstufen S. 184 f.; Schmidhäuser, Allg. Teil S. 646. Dagegen aber Lackner, § 30 Rdn. 6; Maurach/Gössel/Zipf Allg. Teil II § 53 Rdn. 48; LK U (Roxin) § 30 Rdn. 97; Dreher/Tröndle, §30 Rdn. 11; Otto, ZStW 87 (1975) S. 569 Fußnote 105; Preisendanz, §30 Anm. 4b; Schönke/Schröder /Cramer, § 30 Rdn. 28. 25 So LK U (Roxin) § 30 Rdn. 87; Letzgus, Vorstufen S. 94 Fußnote 27; Maurach/Gössel/

Zipf ; Allg. Teil II § 53 Rdn. 47; SK (Samson) § 30 Rdn. 21; Schröder, JuS 1967, 291. Dagegen verlangen den Zugang auch in diesem Falle Dreh er/Tröndle, § 30 Rdn. 10; Schönke / Schröder /Cramer,

§ 30 Rdn. 23.

45 Jescheck, 5. A.

706

§ 65 Versuchte A n s t i f t u n g z u m Verbrechen u n d andere Vorstufen der Beteiligung

I V . Der Rücktritt vom Versuch der Beteiligung (§31) 1. Die Rücktrittsvorschrift des § 24 findet nur auf Versuchshandlungen i.S. von § 22 Anwendung 2 6 . Für den Rücktritt von den Vorstufen der Beteiligung hat der Gesetzgeber deshalb in § 31 Sondervorschriften geschaffen ( B G H 15, 199; B G H NStZ 1992, 537). Der Rücktritt muß auch hier freiwillig sein ( B G H 12, 306 [308 f., 311]) 2 7 (vgl. oben § 51 I I I 2). Tritt der Täter des in Aussicht genommenen Verbrechens später freiwillig vom Versuch nach § 24 zurück, so lebt die Strafbarkeit nach § 30 nicht wieder auf, da keine erfolglose Vorbereitungshandlung mehr vorliegt, wenn ein mit Strafe bedrohter Versuch stattgefunden hat ( B G H 14, 378; B G H NStZ 1983, 364) 28 (vgl. unten § 69 I I I 1). Diese Folge wird man auch dann anzunehmen haben, wenn die Tat, die versucht und von der zurückgetreten wurde, weniger schwer wiegt als die geplante, weil die Straflosigkeit der Tat auch die Straflosigkeit der Teilnahme und ihrer Vorstufen als den geringeren Formen des Handlungsunrechts umfassen muß 2 9 . 2. § 31 ist auf die einzelnen Fälle der erfolglosen Teilnahme zugeschnitten. Beim Anstiftungsversuch genügt an sich das Aufgeben der Einwirkung auf den anderen; sobald jedoch die (subjektiv vom Anstifter zu beurteilende) Gefahr besteht, daß der Anzustiftende die Tat begeht, muß der Anstifter diese Gefahr abwenden (§ 31 I Nr. I) 3 0 . Für den Rücktritt von der Bereiterklärung verlangt Nr. 2, daß der Täter sein Vorhaben in nach außen erkennbarer Weise31 aufgibt, z.B. durch Widerruf gegenüber dem Erklärungsempfänger. Für den Rücktritt von der Verabredung und der Annahme des Anerbietens ist nach Nr. 3 die Verhinderung der Tat erforderlich. Auch bloße Untätigkeit kann dafür genügen, wenn nach der Vorstellung des Zurücktretenden die verabredete Tat ohne ihn nicht begangen werden kann (BGH 32, 133 [134 f.]) oder wenn jeder der Beteiligten für sich zurücktritt, ohne dies dem anderen zu offenbaren (BGH JZ 1984, 290 m.zust.Anm. zu beiden Entscheidungen von Kühl, JZ 1984, 292 und Küper, JR 1984, 265). Mißlingt der Rücktritt von der Verabredung, weil die anderen Beteiligten die Tat ausführen, so haftet der Rücktritts willige als Mittäter oder Gehilfe (BGH 28, 346 [348 f.]). Nach § 31 I I genügt freiwilliges und ernsthaftes Bemühen um die Verhinderung, wenn die Tat ohne Zutun des Zurücktretenden unterbleibt (der Anstiftungsversuch ist ohne sein Wissen fehlgeschlagen) oder wenn sie unabhängig von seinem vorausgegangenen Verhalten begangen wird (der Anzustiftende war schon zur Tat entschlossen) (BGH NStZ 1987, 118)32.

26

27 28

Vgl. Schröder, JuS 1962, 85.

Vgl. dazu kritisch R. Schmitt, JuS 1961, 25 ff. So auch Baumann /Weh er, Allg. Teil S. 594; Lackner, § 31 Rdn. 7; Bottke, Methodik

S. 560ff.; LK 9 (Busch) § 49a Rdn. 11; Maurach, JZ 1961, 145; Roxin, JA 1979, 175; Küper, § 30 Rdn. 16. JZ 1979, 782; Schönke/Schröder /Cramer, § 30 Rdn. 40; Dreher/Tröndle,

29 Ebenso Roxin, JA 1979, 175; LK n (Roxin) § 30 Rdn. 82; Bottke, Methodik S. 564f.; Schönke/Schröder/ Cramer, § 30 Rdn. 40; Schmidhäuser, Allg. Teil S. 648. Die Gegen-

meinung vertreten Dreher/Tröndle,

§ 30 Rdn. 16; Lackner, § 31 Rdn. 7; Maurach, JZ 1961,

146; LK 9 (Busch) § 49a Rdn. 11; Vogler, Bockelmann-Festschrift S. 728f. 30 Vgl. hierzu näher SK (Samson) § 31 Rdn. 7 ff., zur Frage des Irrtums des Anstifters über das Bestehen der Gefahr Rdn. 11. Für subjektives Verständnis der Gefahr wie der Text LK n

(Roxin) §31 Rdn. 5ff.; Herzberg, JZ 1989, 114f.; Lackner, §31 Rdn. 3; Schönke/

Schröder/Cramer,

§ 31 Rdn. 5; SK (Samson) § 31 Rdn. 11. Für objektive Beurteilung wie

Ε 1962, Begründung S. 155 Dreher/Tröndle,

rach/Gössel/Zipf, 31

§ 31 Rdn. 4; LK 9 (Busch) § 49a Rdn. 45; Mau-

Allg. Teil I I § 53 Rdn. 62; Bottke, Rücktritt vom Versuch S. 58.

Ebenso Dreher/Tröndle,

§ 31 Rdn. 5; Lackner, § 31 Rdn. 4; Baumann /Web er, Allg.

Teil S. 593. Die bloße innerliche Willensumkehr soll indessen genügen nach Bottke, Rücktritt S. 47f.; Jakobs, Allg. Teil 27/17; LK U (Roxin) § 31 Rdn. 17; Schönke/Schröder /Cramer, § 31 Rdn. 8; SK (Samson) § 31 Rdn. 17. 32

Vgl. hierzu näher SK (Samson) § 31 Anm. 14ff.; Bottke, Rücktritt S. 59ff.

V . D i e Subsidiarität des § 30

707

V. Die Subsidiarität des § 30 Die Strafbarkeit nach § 30 ist subsidiär, da es sich um Vorstufen der Teilnahme handelt (vgl. unten § 69 I I 2 b). Die Vorschrift tritt zurück, sobald das geplante Verbrechen wenigstens in Versuchsform ausgeführt wird 3 3 . Dies gilt auch dann, wenn bei der Ausführung der Tat über den Verbrechensplan hinausgegangen wird, nicht aber, wenn die ausgeführte Tat eine ganz andere oder weniger schwere ist als die geplante. In dem zuletzt genannten Fall ist Tateinheit mit § 30 anzunehmen34. Tateinheit besteht auch, wenn der Anstiftungsversuch zugleich eine andere Straftat darstellt (BGH 6, 308 [311]). Beispiele: § 30 tritt zurück, wenn der Raub, zu dem aufgefordert wurde, wirklich begangen wird, mag auch an die Stelle des erfolglos Aufgeforderten ein anderer getreten sein (BGH 8, 38). Die erfolglose Anstiftung zum Meineid steht dagegen in Tateinheit mit Anstiftung zur uneidlichen Falschaussage, wenn der Zeuge wider Erwarten nicht vereidigt wird (BGH 9, 131 [134] unter Aufgabe von BGH 1, 131 [135]). Die Strafbarkeit wegen Verbrechensverabredung (§ 30 II) lebt nicht wieder auf, wenn die Komplottanten nach § 24 II vom Versuch zurücktreten (BGH 14, 378) (vgl. oben § 65 IV 1).

5. Kapitel: Einheit und Mehrheit von Straftaten Wenn mehrere Gesetzesverletzungen zusammentreffen, erhebt sich die Frage, ob die Rechtsfolgen gesondert bemessen und dann addiert werden sollen (Kumulationsprinzip) oder ob ein weniger strenges System anzuwenden ist. In Betracht kommen dafür die Verschärfung der schwersten Strafe (Asperationsprinzip), die Straffestsetzung allein nach dem schwersten der verletzten Gesetze (Absorptionsprinzip), die Verknüpfung der Strafdrohungen der verschiedenen verletzten Gesetze zu einer gemeinsamen Strafdrohung (Kombinationsprinzip) und die Bestimmung einer einheitlichen Strafe ohne Rücksicht auf die Zahl der Gesetzesverletzungen und die Art ihres Zusammentreffens (Prinzip der Einheitsstrafe) x. Im geltenden Recht werden drei Fallgruppen unterschieden 2' 3 . Verletzt eine Handlung 33

BGH 14, 378 (379); BGH NStZ 1983, 364; Baumann/Weber, Allg. Teil S. 594; Blei, Allg. Teil S. 292; Lackner, §30 Rdn. 10; LK 10 (Vogler) Vorbem. 122 f. vor §52; LK n (Roxin) § 30 Rdn. 52; Küper, JZ 1979, 782; Maurach, JZ 1961, 145; Schröder,

JuS 1967,

294f.; Schönke/Schröder/ Cramer, § 30 Rdn. 38. 34 Ebenso heute der BGH und die h.L.; vgl. BGH 9, 131 m.zust.Anm. Armin Kaufmann,

JZ 1956, 607; Baumann/Web er, Allg. Teil S. 594; Dreh er/Tröndle, § 30 Rdn. 16; Lackner, § 30 Rdn. 10; LK n (Roxin) § 30 Rdn. 54; Preisendanz, § 30 Anm. 5b; Letzgus, Vorstufen S. 63 f.; Maurach/Gössel/Zipf Allg. Teil I I § 53 Rdn. 53; Schröder, JuS 1967, 294; Schönke/ Schröder/ Cramer, § 30 Rdn. 39; Vogler, Bockelmann-Festschrift S. 725.

1 Zu den Prinzipien der Konkurrenzlehre näher LK 10 (Vogler) Vorbem. 3 f. vor § 52; Jakobs, Allg. Teil 31/9 (mit klärenden Ergänzungen); Geerds, Konkurrenz S. 452ff.; SK (Samson) Vorbem. 4ff. vor § 52; Wegscheider, Konkurrenz S. 20ff. 2 Die Abschnittsüberschrift „Rechtsfolgen der Tat" (vor § 38) zeigt, daß man sich an der „Nahtstelle zwischen der Lehre von der Straftat und der Lehre von den Unrechtsfolgen" befindet (Wessels, Allg. Teil Rdn. 751). 3 Die Vorschläge zur Einführung des Pnnzips der Einheitsstrafe (vgl. 1. Auflage S. 483) sind zwar vom AE in § 64, nicht aber vom Ε 1962 (vgl. Begründung S. 189 f.) und auch nicht vom geltenden Recht (vgl. BT-Drucksache V/4094 S. 25) übernommen worden (zum ausländischen Recht vgl. unten § 67 V). Für die Einheitsstrafe Rebmann, Bengl-Festschrift S. 105 f.; Schönke/Schröder/Stree, Vorbem. 7f. vor § 52 (zweifelnd); Stratenwerth, Allg. Teil I Rdn. 1208. Zur Einheitsstrafe im Jugendrecht Schaffstein/Beulke, Jugendstrafrecht S. 79 (Prinzip der einheitlichen Maßnahme).

45*

708

§ 66 Handlungseinheit u n d Handlungsmehrheit

dasselbe Strafgesetz mehrmals, so wird der Täter nur einmal nach dem mehrmals verletzten Gesetz bestraft (§ 52 I). Wenn eine Handlung verschiedene Strafgesetze verletzt, so werden die Strafdrohungen dieser Gesetze nach dem Kombinationsprinzip zu einer gemeinsamen Strafdrohung zusammengefaßt (§ 52 I I - IV). Wenn dagegen mehrere Handlungen desselben Täters zur gleichen Zeit abgeurteilt werden, findet teils das Asperations-, teils das Kumulationsprinzip Anwendung (§§ 53 - 55). In einer weiteren Gruppe von Fällen, die im Gesetz nicht geregelt ist, liegt eine mehrfache Gesetzesverletzung nur scheinbar vor, während sich in Wirklichkeit aus dem Verhältnis der beteiligten Strafvorschriften ergibt, daß nur eine einzige anzuwenden ist und die anderen zurücktreten. Die erste Fallgruppe nennt man Idealkonkurrenz, die zweite Realkonkurrenz, die dritte Gesetzeskonkurrenz (oder besser Gesetzeseinheit oder scheinbare Konkurrenz) 4 . Das Gesetz und die Rechtsprechung verwenden für die Idealkonkurrenz den Begriff „Tateinheit" (§ 52), für die Realkonkurrenz den Ausdruck „Tatmehrheit" (§ 53). § 66 Handlungseinheit und Handlungsmehrheit Arzt, Die fortgesetzte Handlung geht - die Probleme bleiben, JZ 1994, 1000; Bindokat, Zur Frage des prozessualen Tatbegriffs, GA 1967, 362; Blei, Die natürliche Handlungseinheit, JA 1973, 95; Bnngewat, Fortsetzungstat und „in dubio pro reo", JuS 1970, 329; Bruns, Ungeklärte materiell-rechtliche Fragen des Contergan-Prozesses, Festschrift für E. Heinitz, 1972, S. 317; v.Buri, Einheit und Mehrheit der Verbrechen, 1879; Dahm, Das Strafrecht Italiens im ausgehenden Mittelalter, 1931; Doerr, Das fortgesetzte Delikt, GS 71 (1908) Beilageheft; derselbe, Die Lehre vom fortgesetzten Delikt usw., Festgabe für R. v. Frank, Bd. II, 1930, S. 210; Graf zu Dohna, Betrachtungen über das fortgesetzte Verbrechen, DStr 1942, 19; Fischer, Entwicklungslinien der fortgesetzten Handlung, NStZ 1992, 415; Fleischer, Die materiellrechtliche Bewältigung von Serienstraftaten, NJW 1979, 248; Geerds, Zur Lehre von der Konkurrenz im Strafrecht, 1961; derselbe, Anmerkung zu BGH 18, 376, JZ 1964, 593; Geppert, Grundzüge der Konkurrenzlehre, Jura 1982, 358; derselbe, Die „fortgesetzte Tat" im Spiegel jüngerer Rechtsprechung und neuerer Literatur, Jura 1993, 649; Hartmann, Die Entbehrlichkeit des fortgesetzten Delikts usw., 1977; Hellmer, Das Zusammentreffen von natürlicher Handlungs- und rechtlicher Tateinheit bei Verletzung höchstpersönlicher Interessen, GA 1956, 65; Herzberg, Ne bis in idem - die Sperrwirkung des rechtskräftigen Strafurteils, JuS 1972, 113; v. Hippel, Die allgemeinen Lehren vom Verbrechen in den Entwürfen, ZStW 42 (1921) S. 525; Honig, Studien zur juristischen und natürlichen Handlungseinheit, 1925; Höpfner, Einheit und Mehrheit der Verbrechen, Bd. I, 1901; Hruschka, Der Begriff der „Tat" im Strafverfahrensrecht, JZ 1966, 700; Jähnke, Grenzen des Fortsetzungszusammenhangs, G A 1989, 376; Jescheck, Die Konkurrenz, ZStW 67 (1955) S. 529; Jung, Die fortgesetzte Handlung, JuS 1989, 289; derselbe, Zur Nachahmung empfohlen: Aufgabe der Rechtsfigur der fortgesetzten Handlung durch das Schweizer Bundesgericht, NJW 1994, 916; Kindhäuser, Normverstoß und natürliche Handlungseinheit, JuS 1985, 105; J. Ch. Koch, Institutiones juris criminalis, 9. Auflage 1791; F. W. Koch, Zur fortgesetzten Fahrlässigkeitstat, NJW 1956, 1267; Kratzsch, Die fortgesetzte Tat: eine Sonderform des Vorsatzdelikts, JR 1990, 177; Kühl, Das leidige Thema der Konkurrenzen, JA 1978, 475; Maiwald, Die natürliche Handlungseinheit, 1964; derselbe, Die Feststellung tatmehrheitlicher Deliktsbegehung, NJW 1978, 300; D. und U. Mann, Materielle Rechtskraft und fortgesetzte Handlung, ZStW 75 (1963) S. 251; Marxen, Der prozessuale Tatbegriff in der neueren Rechtsprechung, StV 1985, 472; Mezger, Der Fortsetzungszusammenhang im Straf recht, JW 1938, 3265; Mitsch, Konkurrenzen im Strafrecht, JuS 1993, 385; Näf Das fortgesetzte Delikt ist abgeschafft, ZBJV 128 (1992) S. 408; Noll, Tatbestand und Rechtswidrigkeit usw., ZStW 77 (1965) S. 1; Nowakowski, Fortgesetztes Verbrechen und gleichartige Verbrechensmenge, 1950; Ostendorf, Negative Folgen der Fortsetzungstat? DRiZ 1983, 426; Preiser, Einheitsstrafe für eine Mehrheit gleichartiger Handlungen usw., ZStW 71 (1959) S. 341; Puppe, Idealkonkurrenz und Einzelverbrechen, 1979; dieselbe, Funktion und Konstitution der ungleichartigen Idealkonkurrenz, G A 1982, 143; dieselbe, Anmerkung zu 4 Der Ausdruck Konkurrenz kommt von dem „concursus delictorum" der gemeinrechtlichen Lehre.

I. H e r k u n f t u n d Kriterien der Begriffe Handlungseinheit u n d Handlungsmehrheit

709

BGH vom 28.11.1984, JR 1985, 245; Rebmann, Überlegungen zur Einheitsstrafe im Erwachsenenstrafrecht, Festschrift für Karl Bengl, 1984, 99; Roth-Stielow, Kritisches zur fortgesetzten Handlung, NJW 1955, 450; Roxin, Strafverfahrensrecht, 23. Auflage 1993; Riiping, Beendigung der Tat und Beginn der Verjährung, GA 1985, 437; Schlosky y Über Tateinheit und fortgesetztes Verbrechen, ZStW 61 (1942) S. 245; Schmidhausen Über die strafrechtliche Konkurrenzlehre, 140 Jahre GA, 1993, S. 191; Eb. Schmidt, Anmerkung zu OLG Bremen vom 4.5.1950, JZ 1951, 21; R. Schmitt, Die Konkurrenz im geltenden und künftigen Strafrecht, ZStW 75 (1963) S. 43, 179; Schmoller, Bedeutung und Grenzen des fortgesetzten Delikts, 1988; derselbe, Zur aktuellen Diskussion um das „fortgesetzte Delikt", ÖRiZ 1989, 232; Schultz, Die strafrechtliche Rechtsprechung des Bundesgerichts im Jahre 1964, ZBJV 102 (1966) S. 41; Stratenwerth, Zum Verbrauch der Strafklage beim Fortsetzungszusammenhang, JuS 1962, 220; Stree, In dubio pro reo, 1962; derselbe, Teilrechtskraft und fortgesetzte Tat, Festschrift für K. Engisch, 1969, S. 671; derselbe, Probleme der fortgesetzten Tat, Festschrift für F.-W. Krause, 1990, S. 404; Struensee, Die Konkurrenz bei Unterlassungsdelikten, 1971; Timpe, Fortsetzungszusammenhang und Gesamtvorsatz, JA 1991, 12; Wahle, Die sog. „Handlungseinheit durch Klammerwirkung", G A 1968, 97; Warda, Grundfragen der strafrechtlichen Konkurrenzlehre, JuS 1964, 81; derselbe, Funktion und Grenzen der natürlichen Handlungseinheit, Festschrift für D. Oehler, 1985, S. 241; Wegscheidel Echte und scheinbare Konkurrenz, 1980; Werle, Die Konkurrenz bei Dauerdelikt usw., 1981; Wolter, Normative Handlungseinheit usw., StV 1986, 315. Ausgangspunkt der Konkurrenzlehre ist die Unterscheidung von Handlungseinheit und .Handlungsmehrheit, weil darauf die Differenzierung der Rechtsfolgen in den §§ 52 und 53 aufbaut 5. Zu betonen ist bei der Unterscheidung, daß der sachlich-rechtliche Begriff der „Handlungseinheit" und der verfahrensrechtliche Begriff der „Tat" i.S. von § 264 StPO voneinander unabhängig sind (RG 24, 370 [372]; B G H 10, 396 [397]; 23, 141 [144ff.]; 32, 215 [216]) 6 . Gemeint ist in § 264 StPO der dem Strafverfahren zugrunde liegende geschichtliche Vorgang in seiner Gesamtheit. I. Herkunft und Kriterien der Begriffe Handlungseinheit und Handlungsmehrheit 1. Die Gliederung der Konkurrenzlehre nach den beiden Grundbegriffen Handlungseinheit und Handlungsmehrheit geht auf die gemeinrechtliche Strafrechtswissenschaft zurück. Hier ist es J. Ch. Koch 7 gewesen, der durch die Unterscheidung von concursus simultaneus (Handlungseinheit), concursus successivus (Handlungsmehrheit) sowie concursus continuatus (fortgesetzte Handlung) und die Lösung dieser Fälle nach dem Absorptions-, Asperations5

So die h.L.; vgl. Bockelmann/Volk, Allg. Teil S. 252; Geppert, Jura 1982, 361; Maurach/ Gössel/ Zipf y Allg. Teil I I § 54 Rdn. 10; Mitsch, JuS 1993, 385 ff.; Lackner y Vorbem. 2 vor § 52; LK td (Vogler) Vorbem. 2 vor § 52; R. Schmitty ZStW 75 (1963) S. 46; Schönke/Schröder/Stree, Vorbem. 10 vor § 52; Stratenwerth, Allg. Teil I Rdn. 1207f.; Warda, JuS 1964, 82; Wessels, Allg. Teil Rdn. 753. Prinzipiell abweichend Puppe, Idealkonkurrenz S. 170ff., 282 ff. und G A 1982, 151 ff., die nicht vom Handlungsbeeriff, sondern von der „Unrechtsverwandtschaft der verletzten Tatbestände" und dem „relevanten Zeitausschnitt aus dem Leben des Täters" ausgeht. Dagegen spricht vor allem die Unsicherheit der beiden Grundbegriffe und die Tatsache, daß diese Lehre mit § 52 nicht vereinbar ist. Vgl. zur Kritik Werle, Konkurrenz S. 119ff.; SK (Samson) Vorbem. 16a und b vor § 52; Jakobs, Allg. Teil 31/16 Fußnote 18; Maurach/Gössel/Zipf\ Allg. Teil I I § 54 Rdn. 25. Anders als die h.L. auch Schmidhausen 140 Jahre G A 1993, 201 ff., der von der Frage nach der Anzahl der Straftaten ausgeht. 6 Zu dem verfahrensrechtlichen Begriff näher Löwe/Rosenberg (Gollwitzer) 24. Auflage § 264 StPO Rdn. 4ff.; Roxin y Strafverfahrensrecht §20 Rdn. 5ff.; Bindokat y GA 1967, 362 ff.; Hruschkay JZ 1966, 700ff.; Marxen, StV 1985, 472 ff. 7 Vgl. /. Ch. Kochy Institutiones juris criminalis § 24. Die italienische Theorie und Praxis des ausgehenden Mittelalters folgte dagegen meist dem Kumulationsprinzip entsprechend der Zahl der Erfolge und der Zahl der strafbaren Handlungen, die einzelnen Konkurrenztypen finden sich aber auch schon bei den italienischen Kriminalisten; vgl. Dahmy Das Strafrecht Italiens im ausgehenden Mittelalter S. 237 ff. Zum ganzen auch Schaffstein y Die allgemeinen Lehren S. 212 ff., 218f.

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§ 66 Handlungseinheit u n d Handlungsmehrheit

bzw. Einheitsprinzip die Grundlagen der Entwicklung geschaffen hat. Die Unterscheidung von Ideal- und Realkonkurrenz findet sich durchweg in den deutschen Partikularstrafgesetzbüchern des 19. Jahrhunderts, sie ist über das preußische StGB von 18518 ohne tiefgreifende Veränderungen in das RStGB von 1871 übergegangen. Die Regelung der Konkurrenzprobleme ist somit eines der ältesten Teilstücke des geltenden Strafrechts, sie hat auch den Sturm der großen Reform von 1975 ohne wesentliche Änderungen überstanden. 2. Menschliches Verhalten besteht aus einer kontinuierlichen Folge von Handlungen und Unterlassungen. Deshalb erhebt sich die Frage, nach welchen Kriterien dieser Prozeß in Abschnitte zu zerlegen ist, die als Handlungseinheiten bzw. Handlungsmehrheiten aufgefaßt werden können. Eine Aufgliederung in kleinste Teilstücke nach der Anzahl der Muskelinnervationen (physiologische Handlungseinheit) hätte offensichtlich keinen Sinn, denn für die hier geforderte juristische Betrachtungsweise ist eine Aufgliederung menschlichen Verhaltens in winzige Teilstücke nach einem medizinischen Maßstab nicht sinnvoll. Die alte Unterscheidung nach der Zahl der eingetretenen Erfolge ist heute aufgegeben, da eine Mehrheit von Erfolgen, selbst wenn diese höchstpersönliche Rechtsgüter beeinträchtigen, durch eine einzige Willensbetätigung herbeigeführt sein kann und in diesem Falle auch nur eine Handlung anzunehmen ist (BGH 1, 20; 6, 81 [82]; 16, 397; RG 70, 26 [31]) 9 . Auch die Zahl der verwirklichten Tatbestände kann nicht maßgebend sein, da § 52 gerade davon ausgeht, daß mehrere Gesetzesverletzungen durch eine Handlung begangen werden können. Der strafrechtliche Handlungsbegriff ist für die Lösung ebenfalls nicht ergiebig, da es dort nur um die Festlegung der Mindestanforderungen geht, die menschliches Verhalten generell erfüllen muß, um strafrechtlicher Würdigung zugänglich zu sein (vgl. oben § 23 V I 3). 3. Rechtsprechung und h.L. legen bei der Bestimmung des Handlungsbegriffs der Konkurrenzlehre die natürliche Lebensauffassung zugrunde 10 . Eine Mehrheit von äußerlich trennbaren Bestandteilen eines Geschehensablaufs soll dann eine einheitliche Handlung bilden, wenn die verschiedenen Teilakte von einem einheitlichen Willensentschluß getragen sind und zeitlich und räumlich in so engem Zusammenhang stehen, daß sie von einem unbeteiligten Beobachter als Einheit empfunden werden 11 . Beispiele: Mehrere sexuelle Handlungen an oder vor einem Kinde bei derselben Gelegenheit sind danach eine einheitliche Handlung (BGH 1, 168 [170]), ebenso Entführung (nicht Hausfriedensbruch) und anschließende Vergewaltigung (BGH 18, 29 [32 ff.]) oder mehrere auf der Flucht vor der Polizei begangene Straftaten (BGH 22, 67 [76]; BGH VRS 65, 428) oder mehrere Schüsse auf verschiedene Personen (BGH JZ 1985, 250). Trotz vorübergehender Aufgabe des Diebstahlsvorsatzes liegt eine einheitliche Handlung vor, wenn die Tat nach 8 9

Vgl. dazu Goltdammer, Materialien Bd. I S. 447 f., 453 ff. Vgl. Warda,

JuS 1964, 82; Schönke/Schröder/Stree,

§ 52 Rdn. 26; Welzel, Lehrbuch

S. 318; Wessels, Allg. Teil Rdn. 758. Anders dagegen für den Fall der Tötung mehrerer Menschen durch eine Handlung (z.B. durch einen Sprengstoffanschlag) Eb. Schmidt, JZ 1951, 22* Baumann/Weber, Allg. Teil S. 654; Geerds, Konkurrenz S. 272 ff. Dagegen zu Recht LK 1 (Vogler) § 52 Rdn. 35. Vgl. auch BayObLG NJW 1984, 68. 10 Der Begriff der „Handlung im natürlichen Sinne" ist vom Begriff der „natürlichen Handlungseinheit" (vgl. unten § 66 III) zu unterscheiden; vgl. LK 10 (Vogler) Vorbem. 8 vor § 52; Kühl, Jura 1978, 478; derselbe, Allg. Teil § 21 Rdn. lOff.; Schönke/Schröder/Stree, Vorbem. 11 vor § 52. 11 Vgl. Baumann/Weber, Allg. Teil S. 653 f.; Dreh er/Tröndle, Vorbem. 2 vor § 52; LK 10 (Vogler)

Vorbem. 8 vor § 52; Schönke/Schröder/Stree,

Vorbem. 11 vor § 52; Warda,

JuS

1964, 83. Dagegen stellt Blei, Allg. Teil S. 342 f. nur auf die Zahl der Willensakte, H. Mayer, Lehrbuch S. 407 nur auf den einheitlichen Willensentschluß ab. Kritisch gegenüber der Lehre von der natürlichen Lebensauffassung mit Recht Geerds, Konkurrenz S. 244 ff.; Kühl, Allg. Teil § 21 Rdn. 17; Puppe, GA 1982, 163 f.; Kindhäuser, JuS 1985, 105.

I I . D i e tatbestandliche Handlungseinheit i m engeren Sinne

711

Beendigung der Störung durch die Polizei fortgesetzt wird (BGH 4, 219). Handlungseinheit besteht auch bei mehreren Tötungshandlungen gegen dasselbe Tatopfer, auch bei einem längeren zeitlichen Zwischenraum (BGH NJW 1990, 2896). Auch beim Wechsel in der Wahl des Tötungsmittels ist Handlungseinheit anzunehmen, wenn der Täter den Tatentschluß nach dem unerwarteten ersten Fehlschlag alsbald auf andere Weise zu verwirklichen sucht (BGH 10, 129). Mehrere zu verschiedenen Zeitpunkten vorgenommene Abtreibungshandlungen an derselben Frau sollen dagegen keine Handlungseinheit darstellen (RG 58, 113 [116 f.]). Tatmehrheit ist auch bei Anstiftung zum Diebstahl und anschließender Sachhehlerei anzunehmen (BGH 22, 206 [209]), ebenso bei Körperverletzung und anschließender Tötung des Opfers (BGH NJW 1984, 1568). Die Formel von der „natürlichen Lebensauffassung" führt indessen nicht weiter, sondern verdeckt nur die wirklichen Gründe für die Annahme des Vorliegens einer Handlung als Gegenstand der Beurteilung. Denn weder gibt es vorrechtliche soziale Handlungseinheiten, auf die die juristische Betrachtung ohne weiteres zurückgreifen könnte, noch kann die Einheit des Täterplans ausschlaggebend sein 12 , da einem einheitlichen Tatentschluß viele Einzelakte entspringen können, die schon aus Gründen der Gerechtigkeit nicht zu einer Handlungseinheit zusammengezogen werden dürfen (z.B. Diebstahl der Mordwaffe, Tötung des Opfers, Raub eines Kraftwagens zur Flucht). Maßgebend für die Abgrenzung kann vielmehr nur der Sinn der jeweils verletzten gesetzlichen Tatbestände sein, wie er durch Auslegung zu erschließen ist 1 3 . II. Die tatbestandliche Handlungseinheit im engeren Sinne Vielfach ergibt sich die Annahme von Handlungseinheit schon aus der einfachen Verwirklichung des Tatbestandes selbst. 1. Eine einheitliche Handlung ist immer die Erfüllung der Mindestvoraussetzungen des gesetzlichen Tatbestandes, mag sich auch das tatbestandsmäßige Verhalten bei rein faktischer Betrachtung in mehrere Einzelakte zerlegen lassen (so ist eine Handlung i.S. von § 218 I die aus zahlreichen Einzelakten bestehende Durchführung einer Abtreibung) 14 . 2. Eine Handlung liegt ferner dann vor, wenn der Tatbestand selbst die Vornahme mehrerer Einzelakte voraussetzt (mehraktige Delikte, vgl. oben § 26 I I 5). So ist eine Handlung i.S. von § 177 die Gewaltanwendung und die Ausübung des außerehelichen Beischlafs, eine Handlung i.S. von § 307 Nr. 3 die Brandstiftung und die Entfernung der Löschgerätschaften. Auch wenn der zweite Akt im Tatbestand nur als subjektives Unrechtsmerkmal (Absicht) erscheint, wird im Falle seiner tatsächlichen Vornahme eine einzige Handlung angenommen (eine Handlung i. S. von § 267 ist die Fälschung einer Urkunde und das Gebrauchmachen von ihr zum Zwecke der Täuschung)15. 12

So aber die für einen großen Teil der Praxis (vgl. etwa BGH VRS 28, 359 [361]; VRS 48, 191; BGH 22, 67 [76 f.]) charakteristische Auffassung von Schlosky, ZStW 61 (1942) S. 257. Gegen die Annahme, daß die Handlungseinheit durch den Täterplan hergestellt werden könne, schon v. Buri, Einheit und Mehrheit der Verbrechen S. 37. Ebenso LK 10 (Vogler) Vorbem. 10 vor § 52; Maiwald, Natürliche Handlungseinheit S. 68 ff.; derselbe, NJW 1978, 301 ff.; Schönke/Schröder/Stree, Vorbem. 24 vor § 52. 13 So LK 10 (Vogler) Vorbem. 14 vor § 52; M aurach/Gössel/Zipf, Allg. Teil II § 54 Rdn. 38. 14 Vgl. Blei, Allg. Teil S. 346; LK 10 (Vogler) Vorbem. 15 vor § 52; Geerds, Konkurrenz S. 264; R. Schmitt, ZStW 75 (1963) S. 46. 15

Vgl. LK i0

(Vogler)

Vorbem. 16 vor § 52; Geppert, Jura 1982, 362; Maurach/Gössel/

Zipf, Allg. Teil II § 54 Rdn. 47; Schönke/Schröder/Stree, Vorbem. 14 vor § 52; SK (Samson) Vorbem. 23 vor § 52; Stratenwerth, Allg. Teil I Rdn. 1211; Welzel, Lehrbuch S. 225; Warda, JuS 1964, 84f.; Wessels, Allg. Teil Rdn. 760.

712

§ 66 Handlungseinheit u n d Handlungsmehrheit

3. Eine tatbestandliche Handlungseinheit im engeren Sinne bildet endlich das Dauerdelikt. Hier wird durch die Straftat ein rechtswidriger Zustand geschaffen, den der Täter aufrecht erhält und durch dessen Fortdauer der Straftatbestand ununterbrochen weiter verwirklicht wird (vgl. oben § 26 I I l a ) 1 6 . Das ist z.B. der Fall beim Hausfriedensbruch (§ 123), bei der Verletzung der Fürsorgepflicht (§ 170d), der Freiheitsberaubung (§ 239), der Transportgefährdung durch Hindernisbereiten (§ 315b I Nr. 2), selbst wenn nacheinander verschiedene Personen gefährdet werden ( B G H 22, 67 [71 f.]), bei einer Trunkenheitsfahrt, selbst mit mehreren konkreten Gefährdungen ( B G H StV 1989, 154) und beim Fahren ohne Fahrerlaubnis (§ 21 I Nr. 1 StVG). Die Begründung des rechtswidrigen Zustands bildet zusammen mit allen Akten, die seiner Aufrechterhaltung dienen sollen, eine einheitliche Handlung (z.B. die Einsperrung und Fesselung des Opfers bei § 239) (vgl. unten § 67 I I I 2). I I I . Die tatbestandliche Handlungseinheit im weiteren Sinne In anderen Fällen ist Handlungseinheit nach dem Sinn der betreffenden Strafvorschrift auch dann anzunehmen, wenn der Täter über die einfache Verwirklichung des Tatbestandes hinausgeht (natürliche Handlungseinheit). 1. In Betracht kommt einmal die wiederholte Verwirklichung des gleichen Tatbestandes in kurzer zeitlicher Abfolge. Manche Strafvorschriften schließen schon in die Handlungsbeschreibung eine unbestimmte Vielzahl von Einzelakten ein, wie die Agententätigkeit (§§ 98, 99), die Geldfälschung (§ 146), die Vornahme sexueller Handlungen (§§ 174 ff.) ( B G H 1, 168), das Nachstellen (§ 292) oder die Schlägerei (§ 227) 17 . Aber auch wenn der Tatbestand dies nicht ausdrücklich vorsieht, kommt bei wiederholter Tatbestandserfüllung Handlungseinheit in Betracht, z.B. bei der Abfassung und Ubersendung eines Schriftstücks mit mehreren Beleidigungen (RG 34, 134 [135]), bei der Anstiftung verschiedener Haupttäter durch eine Besprechung (RG 70, 26 [31]), bei der Ausführung eines Diebstahls durch eine Mehrheit von Wegnahmehandlungen ( B G H 10, 230), bei der Beleidigung durch mehrere Schimpfworte 18 . Voraussetzung für die Annahme von Handlungseinheit ist in diesen Fällen, daß die Rechtsgutsverletzung durch die mehrfache Wiederholung des Tatbestandes nur eine rein quantitative Steigerung erfährt (einheitliches Unrecht) und daß die Tat außerdem auf einer einheitlichen Motivationslage beruht (einheitliche Schuld) 19 . Die natürliche Handlungseinheit wird nicht dadurch ausgeschlossen, daß höchstpersönliche Rechtsgüter verschiedener Träger verletzt werden ( B G H 1, 20 [22]; RG 27, 19 [21]) 2 0 . 16

Vgl. Maurach/Gössel/Zipf Allg. Teil II § 54 Rdn. 55 ff.; LK 10 (Vogler) Vorbem. 17ff. vor § 52; Blei, Allg. Teil S. 346; Dreher/Tröndle, Vorbem. 41 vor § 52; Schönke/Schröder/ Stree, Vorbem. 81 vor § 52; SK (Samson) Vorbem. 26f. vor § 52; Stratenwerth, Allg. Teil I Rdn. 1218. 17 Vgl. LK 10 (Vogler) Vorbem. 30 vor § 52; SK (Samson) Vorbem. 25 vor § 52. 18 Vgl. Binding, Handbuch S. 544; Doerr, GS 72 (1908) Beilageheft S. 86; Honig, Studien S. 77ff.; Höpfner, Einheit und Mehrheit S. 222 ff.; Kohlrausch/Lange, Vorbem. I I A vor § 73; LK 10 (Vogler) Vorbem. 31 vor § 52; Schönke/Schröder/Stree, Vorbem. 17 vor § 52; Stratenwerth, Allg. Teil I Rdn. 1214, 1216; Warda, JuS 1964, 84. 19 So treffend Maiwald, Natürliche Handlungseinheit S. 72ff.; SK (Samson) Vorbem. 28 ff. vor § 52; Stratenwerth, Allg. Teil I Rdn. 1216. 20 Ebenso Bockelmann/Volk, Allg. Teil S. 253; Blei, Allg. Teil S. 344f.; Dreher/Tröndle, Vorbem. 2c vor § 52; Hellmer, GA 1956, 68; LK 10 (Vogler) Vorbem. 32f. vor § 52. Anders Maiwald, Natürliche Handlungseinheit S. 81; derselbe, NJW 1978, 302; SK (Samson) Vor-

bem. 29 vor § 52.

I V . Handlungseinheit u n d -mehrheit bei Fahrlässigkeits- u n d Unterlassungsdelikten

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2. Handlungseinheit kann ferner vorliegen bei fortlaufender Tatbestandsverwirklichung durch eine Folge von Einzelakten, mit denen sich der Täter dem tatbestandsmäßigen Erfolg nach und nach nähert 21 . Das ist etwa der Fall beim Übergang vom Versuch zur Vollendung, bei der Durchführung eines Einbruchsdiebstahls in zwei Etappen (BGH 4, 219), beim Handeltreiben nach § 29 I Nr. 1 BtMG (BGH 25, 290), beim Wechsel der Ausführungsart einer vorsätzlichen Tötung (BGH 10, 129; B G H NJW 1967, 60). Maßgebend für die Annahme von Handlungseinheit ist dabei das Fortbestehen der gleichen Motivationslage bei einheitlicher Tatsituation 22 . Bei Vorsatzwechsel von Körperverletzung zu Tötung scheidet natürliche Handlungseinheit aus (BGH NJW 1984, 1568; StV 1986, 293), ebenso bei Ausdehnung des Vorsatzes auf ein zweites Opfer (BGH NJW 1977, 2321). 3. Die Rechtsprechung neigt dazu, den Begriff der natürlichen Handlungseinheit auszudehnen. Einbezogen werden z.B. Fälle, in denen die verschiedenen Handlungen lediglich gleichzeitig oder in einem engen raum-zeitlichen Zusammenhang oder zur Erreichung eines einheitlichen Zwecks vorgenommen werden (vgl. z.B. RG 11, 355 [359]; OLG Celle SJZ 1947, 272; OLG Bremen JR 1953, 388; BGH Dallinger MDR 1973, 17; JZ 1985, 250; VRS 66, 20; 57, 277); auch bei mehreren fahrlässigen Ordnungswidrigkeiten (BayObLG wistra 1982, 38). Eine „natürliche Handlungseinheit" über die obengenannten Fallgruppen hinaus ist jedoch abzulehnen23. Das RG ist der Tendenz der Untergerichte zur Ausdehnung wiederholt entgegengetreten, ohne indessen die Entwicklung aufhalten zu können. So hat der BGH selbst bei einer Unfallflucht mit Gewaltanwendung gegen die Polizei den einheitlichen Fluchtwillen des Täters genügen lassen, um zwischen mehreren, sachlich weit auseinanderliegenden Delikten eine natürliche Handlungseinheit herzustellen (BGH 22, 67 [76 f.]; BGH VRS 28, 359 [361]; einschränkend VRS 48, 191; OLG Koblenz VRS 47, 341). „Massenverbrechen" bilden jedoch keine Handlungseinheit (BGH 1, 219 [221]). IV. Handlungseinheit und Handlungsmehrheit bei Fahrlässigkeits- und Unterlassungsdelikten Besonderheiten gelten für die Annahme von Handlungseinheit bzw. -mehrheit bei Fahrlässigkeits- und Unterlassungstaten. 1. Bei fahrlässigen Erfolgsdelikten liegt Handlungseinheit immer dann vor, wenn der tatbestandsmäßige Erfolg nur einmal eingetreten ist, mag ihm auch eine Mehrheit von Sorgfaltspflichtverletzungen zugrunde liegen (BGH VRS 9, 353). Sind dagegen mehrere tatbestandsmäßige Erfolge eingetreten oder derselbe Erfolg mehrmals, so kommt es darauf an, ob der Täter zwischen dem Eintritt der verschiedenen Erfolge jeweils erneut in der Lage gewesen ist, dem Sorgfaltsgebot zu genügen. Handlungseinheit ist z.B. anzunehmen, wenn der Kraftwagen des Täters ins Schleudern gerät und unmittelbar nacheinander mehrere Personen verletzt (BayObLG NJW 1984, 68), Handlungsmehrheit, wenn der Täter durch Außerachtlassung der Verkehrssicherungspflicht in längerem zeitlichen Abstand drei Unfälle Jakobs, Allg. Teil 32/6ff.; LK 10 (Vogler) Vorbem. 34 vor § 52. So Maiwald, Natürliche Handlungseinheit S. 90. Zur Unterbrechung der Handlungseinheit durch das Moment der „ethischen Abmahnung" mittels einer Verurteilung vgl. v.Bar, Gesetz und Schuld Bd. III S. 564; Schönke/Schröder/Stree, Vorbem. 19 vor § 52. 23 Ebenso Schönke/Schröder/Stree, Vorbem. 22 ff. vor § 52; SK (Samson) Vorbem. 21 vor § 52; Jakobs, Allg. Teil 32/35; Maurach/Gössel/Zipf Allg. Teil II § 54 Rdn. 34 f.; Blei, Allg. Teil S. 347ff.; R. Schmitt, ZStW 75 (1963) S. 58; Stratenwerth, Allg. Teil I Rdn. 1217; Warda, Oehler-Festschrift S. 261; Wessels, Allg. Teil Rdn. 765. Für Einführung einer „normativen Handlungseinheit" Wolter, StV 1986, 320. Ganz ablehnend zur natürlichen Handlungseinheit Kindhäuser, JuS 1985, 105. 21

22

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§ 66 Handlungseinheit u n d Handlungsmehrheit

verschuldet (RG 16, 290) 24 . Bei fahrlässigen Tätigkeitsdelikten muß ebenfalls darauf abgestellt werden, ob der Täter das Sorgfaltsgebot zwischen den einzelnen Teilakten jeweils neu zu erfüllen vermochte. So liegt bei mehrfachem fahrlässigen Verstoß gegen Preisvorschriften Handlungsmehrheit vor (RG 53, 226 [227]) 25 . zu 2. Nach den gleichen Grundsätzen ist auch bei den Unterlassungsdelikten verfahren 26. Unterläßt es der Täter entgegen einer Garantenpflicht, mehrere tatbestandsmäßige Erfolge abzuwenden (unechtes Unterlassungsdelikt), so ist eine Unterlassung dann anzunehmen, wenn er durch eine einzige Handlung alle Erfolge hätte abwenden sollen. Mehrere Unterlassungen liegen dagegen vor, wenn nach dem Eintritt des einen Erfolges die Abwendung des anderen noch möglich gewesen wäre. So ist bei Verletzung der Unterhaltspflicht gegenüber mehreren Berechtigten eine Mehrheit von Unterlassungen gegeben (BGH 18, 376 [379]; BayObLG NJW 1960, 1730). Unterläßt der Täter beim echten Unterlassungsdelikt gleichzeitig die Erfüllung mehrerer Handlungsgebote, so ist eine Mehrheit von Unterlassungen dann anzunehmen, wenn die verschiedenen Handlungspflichten nacheinander erfüllt werden konnten (RG 76, 140 [144]; B G H JR 1985, 244) 27 . V. Die fortgesetzte Handlung 1. Die Zusammenfassung einer Mehrheit von Einzelakten zu einer Handlungseinheit durch Auslegung des Tatbestandes ist nur in verhältnismäßig engen Grenzen möglich. Nicht gelöst wird auf diese Weise ein häufiger Fall rein tatsächlichen Zusammenhangs, den man „gleichartige Verbrechensmenge" genannt hat28. Es handelt sich dabei darum, „daß einer und derselben Person eine Menge dem gleichen Deliktstypus unterfallender Taten zur Last liegt, deren individuelle prozessuale Feststellung und Behandlung sinnlos und unmöglich ist". Die Rechtsprechung hat sich in diesen Fällen durch Annahme einer „rechtlichen Handlungseinheit" bemüht, dem Zwang zur Feststellung aller Einzelakte und zur Anwendung der Regeln über die Realkonkurrenz (§§ 53 ff.) zu entgehen (RG 70, 243 [244]: „eine lästige, überflüssige und wunderlich anmutende Arbeit"; vorsichtiger aber BGH 5, 136 [138]). Diesem Zweck diente bisher die fortgesetzte Handlung29. Den praktischen Vorteilen dieser Aushilfe stehen jedoch einmal erhebliche kriminalpolitische Nachteile gegenüber (BGH 36, 106 [109ff.]): Infolge der Nichtanwendung des § 54 ist der Strafrahmen enger als bei der Tatmehrheit, was sich im Sinne unangebrachter Milde auswirkt; die Strafzumessung verliert an Genauigkeit und Nachprüfbarkeit, weil keine Einzelstrafen ausgeworfen werden müssen; die Möglichkeit der Verhängung von Sicherungsverwahrung nach § 66 II wird eingeschränkt; die Rechtskraftwirkung schneidet die weitere Verfolgung auch dann ab, wenn wesentliche Teile der Tat erst später entdeckt werden (RG 70, 243; BGH NStZ 1982, 213); der Beginn der Verjährung wird verzögert 30 (BGH 1, 84 [91 f.]; BGH JZ 1985, 352; anders nur bei Presseinhaltsdelikten, 24

Vgl. Höpfner, Einheit und Mehrheit S. 250; Bockelmann/Volk, Allg. Teil S. 254; Maiwalal, Natürliche Handlungseinheit S. 111; LK i0 (Vogler) Vorbem. 42 vor § 52. 25 Vgl. Maiwald, Natürliche Handlungseinheit S. 112. 26 Dazu von ihrem abweichenden Standpunkt aus kritisch Puppe, JR 1985, 246 f. 27 Vgl. zum ganzen Geerds, Konkurrenz S. 262 f.; Höpfner, Einheit und Mehrheit S. 164ff.; LK 10 (Vogler) Vorbem. 40 f. vor §52; Maiwald, Natürliche Handlungseinheit S. 105 ff.;

Herzherg, M D R 1971, 883; Schönke/Schröder/Stree,

Vorbem. 28 vor § 52; Struensee, Kon-

kurrenz S. 37ff.; Wessels, Allg. Teil Rdn. 762. 28 So Nowakowski, Fortgesetztes Verbrechen S. 51. Zur modernen Problematik der Serienkriminalität in der Wirtschaft Fleischer, NJW 1979, 250. 29 Allg. Teil II §54 Vgl. dazu Graf zu Dohna, DStr 1942, 21; Maurach/Gössel/Zipf,

Rdn. 59 ff.; Dreh er/Tröndle,

Vorbem. 25 ff. vor § 52; Geppert, Jura 1982, 363 ff.; LK 10 (Vog-

ler) Vorbem. 44 ff. vor § 52; Lackner, Vorbem. 12 ff. vor § 52; Schönke/Schröder/Stree, Vorbem. 3Off. vor § 52; SK (Samson) Vorbem. 33ff. vor § 52. 30 Dagegen aber Schönke/Schröder/Stree, Vorbem. 33 vor § 52; Ostendorf, DRiZ 1983, 429; Rüping, GA 1985, 443 ff.; Noll, ZStW 77 (1965) S. 4.

V . D i e fortgesetzte H a n d l u n g

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BGH 27, 18 [22])31. Zum anderen leidet auch die Praxis selbst unter der zum Teil fiktiven Natur und der Fragwürdigkeit der Merkmale der fortgesetzten Handlung, ohne einen wirklichen Entlastungseffekt zu verspüren, da die Einzelakte der fortgesetzten Handlung ohnehin aufgeklärt werden müssen (BGH StV 1982, 17; 1984, 363) und die Festsetzung der Einzelstrafen dann keine besondere Mühe mehr macht. Es ist deshalb kein Wunder, daß sich die Stimmen für die Preisgabe der fortgesetzten Handlung gemehrt haben32. 2. I m Hinblick auf die Gesamtheit der Gründe, die gegen die Anerkennung der fortgesetzten Handlung als „rechtliche Handlungseinheit" sprechen, hat der Große Senat für Strafsachen des Bundesgerichtshofs kürzlich entschieden, daß die Rechtsprechung zur fortgesetzten Handlung, jedenfalls für den Bereich des Betrugs (§ 263) und des sexuellen Mißbrauchs (§§ 173, 174, 176) - hierauf bezogen sich die Vorlagen des 2. und 3. Strafsenats gemäß § 132 IV G V G - nicht weiter beibehalten werden kann (BGH-GS 40, 138) 33 . Hinsichtlich anderer Straftatbestände hat sich der Große Senat für Strafsachen darauf beschränkt zu erklären, daß die gesetzlichen Bestimmungen über die Tatmehrheit in aller Regel dazu ausreichen werden, um gleichartige Taten bei der Strafzumessung nach ihrem Gesamtunwert erfassen zu können. Der Rückgriff auf die Rechtsfieur des Fortsetzungszusammenhangs könne daher nur eine seltene Ausnahme sein3 . I m Hinblick auf die Ungenauigkeit ihrer Begriffsmerkmale und ihre nachteiligen Auswirkungen auf die Gerechtigkeit von Strafzumessung und Verjährung, worauf der Beschluß des Großen Senats hauptsächlich beruht, dürfte in Zukunft nur das engste Verständnis der fortgesetzten Handlung in Betracht kommen. B G H 40, 195 hat die Anwendung der fortgesetzten Handlung inzwischen auch für die Steuerhinterziehung abgelehnt. Die Auswirkungen der Abschaffung der fortgesetzten Handlung auf die Verjährung zeigt B G H NJW 1994, 2966 (die zurückliegenden Einzelakte verjähren viel früher als bisher die fortgesetzte Handlung im ganzen). 3. Die Voraussetzungen der fortgesetzten Handlung sind trotz der großen praktischen Bedeutung, die dieser Rechtsfigur bisher zukam, keineswegs vollständig geklärt. Sie wurden, je nachdem, ob man mehr ihre Vorteile oder ihre Nachteile im Auge hatte, bald weiter, bald enger gefaßt. a) Objektiv erforderlich ist einmal die Gleichartigkeit der Begehungsweise (Einheit des objektiven Handlungsunrechts). Dazu gehört, daß den durch die Einzelakte verletzten Strafvorschriften materiell die gleiche Norm zugrunde liegt und daß auch der Tathergang im wesentlichen die gleichen äußeren und inneren Merkmale aufweist. Fortsetzungszusammenhang ist z.B. möglich zwischen einfachem und schwerem Diebstahl (RG 53, 262 [263]; BGH MDR 1967, 13); zwischen Diebstahl von Diebes Werkzeug und Tatausführung (OLG Düsseldorf JZ 1984, 1000); zwischen leichter und gefährlicher Körperverletzung (RG 57, 81), zwischen einfacher und räuberischer Erpressung (BGH 22, 90 [94]), nicht aber zwischen Diebstahl und Unterschlagung (RG 58, 228 [229]; BGH GA 1962, 78) oder zwischen einfachem 31

Vgl. Dreher/Tröndle, Vorbem. 40 vor § 52; Wessels, Allg. Teil Rdn. 771. So Hartmann, Die Entbehrlichkeit des fortgesetzten Delikts, 1977; Fischer, NStZ 1992, 415; Jakobs, Allg. Teil 32/50; Jähnke, GA 1989, 376ff.; Jung, JuS 1989, 289ff.; Jescheck, ZStW 67 (1955) S. 553 f.; Preiser, ZStW 71 (1959) S. 383 f.; Schmidhäuser, Allg. Teil S. 728 f.; R. Schmitt, ZStW 75 (1963) S. 59ff.; Schultz, ZBJV 102 (1966) S. 55; Timpe, JA 1991, 12; Schmoller, ÖRiZ 1989, 232 ff.; Wahle., GA 1968, 109. Für Beibehaltung jedoch LK 10 (Vogler) Vorbem. 47 vor § 52; Maurach/Gössel/Zipf Allg. Teil I I § 54 Rdn. 78 (Ersetzung des Gesamtvorsatzes durch einen Fortsetzungsvorsatz); allein für die täterfreundlichen Folgen Ostendorf, DRiZ 1983, 431; bei erheblicher Einschränkung Kratzsch, JR 1990, 177 ff. Einen Überblick über den letzten Stand der Entwicklung gibt Geppert, Jura 1993, 649 ff. 33 Schon früher hat das schweizerische Bundesgericht die Rechtsfigur der fortgesetzten Handlung aufgegeben (BGE 116 IV 121 [1990]; 117 IV 408 [1991]). Zustimmend Näf ZBJV 128 (1992) S. 408; Jung, NJW 1994, 916. Skeptisch hinsichtlich der Auswirkungen der Abschaffung der fortgesetzten Handlung Arzt, JZ 1994, 1000 ff. 34 Hierzu Jähnke, GA 1989, 390 ff. 32

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§ 66 Handlungseinheit u n d Handlungsmehrheit

Diebstahl und Raub (BGH Dallinger MDR 1973, 554). Die Gleichartigkeit ist nicht ausgeschlossen, wenn die Einzelakte teils in Versuchsform, teils als vollendete Tat begangen werden (BGH Dallinger MDR 1975, 542), wohl aber bei Zusammentreffen von positivem Tun und Unterlassen (RG 68, 315 [317]; anders BGH 30, 207 [211 f.]). Die Gleichartigkeit der Begehungsweise setzt endlich auch einen gewissen zeitlichen und räumlichen Zusammenhang voraus. b) Die Einzelakte müssen ferner das gleiche Rechtsgut beeinträchtigen (Einheit des Erfolgsunrechts). Handelt es sich um höchstpersönliche Rechtsgüter y so ist eine fortgesetzte Handlung ausgeschlossen, wenn sich die Einzelakte gegen verschiedene Rechtsgutsträger richten (RG 70, 243 [245]; BGH NStZ 1984, 311: Tötung verschiedener Personen; anders bei natürlicher Handlungseinheit, BGH JZ 1985, 250; RG 53, 274: sexueller Mißbrauch verschiedener Kinder; BGH 18, 26 [28]: Vergewaltigung verschiedener Frauen; BGH 26, 24 [26]: Nötigung verschiedener Personen). Diese Einschränkung ist begründet, denn bei höchstpersönlichen Rechtsgütern müssen in bezug auf jeden Einzelakt sowohl das Handlungs- und Erfolgsunrecht als auch der Schuldgehalt der Tat im Urteil gesondert festgestellt und gewürdigt werden. c) Für die Abgrenzung der fortgesetzten Handlung entscheidend ist die Einheitlichkeit des Vorsatzes (Einheit des personalen Handlungsunrechts). Die Rechtsprechung fordert einen echten Gesamtvorsatz, der den Gesamterfolg der Tat in seinen wesentlichen Zügen nach Ort, Zeit, Person des Verletzten und Begehungsart in der Weise umfassen muß, daß sich die Einzelakte nur als sukzessive Verwirklichung des spätestens während des letzten Teilakts (BGH 23, 33 [35]; BGH JZ 1984, 55; NStZ 1985, 407) einheitlich gewollten Ganzen darstellen (RG 66, 45 [47]; BGH 1, 313 [315]; 16, 124 [128]; 19, 323; 21, 319 [322]; 26, 4 [7f.]; 37, 45 [47f.]; 38, 165 [166ff.]; BGH StV 1990, 494; OLG Köln GA 1975, 123)35. Dieser relativ engen Auffassung der fortgesetzten Handlung ist zuzustimmen, da im Gesetz jeder Anhaltspunkt dafür fehlt, daß der Richter befugt sein sollte, aus mehreren Taten eine einzige zu machen, sofern die Einzelakte nicht wenigstens von einem sie tragenden subjektiven Band zusammengehalten werden. Es ist jedoch nicht zu übersehen, daß ein Gesamtvorsatz im strengen Sinne in Wirklichkeit nur selten vorkommt, weswegen die Gerichte, wenn die fortgesetzte Handlung überhaupt praktische Bedeutung haben soll, zu künstlichen Begründungen genötigt werden36. Die Lehre begnügte sich aus diesem Grunde vielfach mit einem kriminologisch verstandenen Fortsetzungsvorsatz y der sich als ein psychisch immer gleichartiges Versagen des Täters in der gleichen Tatsituation darstellt37. Teilweise wurde auch eine rein objektive Theone der Fortsetzungstat vertreten, die allein auf die äußeren Merkmale der Gleichartigkeit von Bege35 So auch Baumann/Weber, Allg. Teil S. 667f.; Bockelmann/Volk, Allg. Teil S. 256; Dreher/Tröndle, Vorbem. 26ff. vor § 52; Preisendanz, Vorbem. IV 1 vor § 52; v. Weber, Grundriß S. 100; LK 10 (Vogler) Vorbem. 57ff. vor § 52; Lackner, Vorbem. 15 vor § 52; Wessels, Allg. Teil Rdn. 770. Kritisch dazu Stratenwerth, Allg. Teil I Rdn. 1229ff.; Jakobs, Allg. Teil 32/44. Die gegen den Gesamtvorsatz vorgebrachten Einwände von Preiser, ZStW 71 (1959) S. 346; Maurach/Gössel/Zipf, Allg. Teil II § 54 Rdn. 76, 79; Schönke/Schröder/Stree, Vorbem. 52 vor § 52; SΚ (Samson) Vorbem. 44 vor § 52 sind nicht überzeugend, da eine Handlungseinheit, die ohne Rücksicht auf den unterschiedlichen Unrechts- und Schuldgehalt der Einzelakte aus rein pragmatischen Gründen angenommen würde, um die Arbeit der Justiz zu vereinfachen, der rechtlichen Begründung entbehrte. 36 Warum hier freilich der Grundsatz „in dubio pro reo" nicht gelten soll, wie von der Rechtsprechung angenommen wird (vgl. BGH 23, 33 [35]; BGH MDR 1980, 984; NStZ 1983, 311; ebenso Dreh er/Tröndle, Vorbem. 28 vor § 52; M aurach/Gössel/Zipf Allg. Teil II § 54 Rdn. 73), ist nicht einzusehen; richtig Lackner, Vorbem. 15c vor § 52; Schönke/Schröder/Gramer, Vorbem. 63 vor § 52; Stree, In dubio pro reo S. 24ff.; derselbe, Krause-Festschrift S. 404; Bringewat, JuS 1970, 331 m.Nachw. 37 So Blei, Allg. Teil S. 354 f.; v. Hippel, Bd. II S. 542; M aurach/Gössel/Zipf Allg. Teil II

§54 Rdn. 78; Mezger, JW 1938, 3268; Roth-Stielow, NJW 1955, 451; Schönke/Schröder/ Stree, Vorbem. 52 vor § 52; SK (Samson) Vorbem. 44 vor § 52; Eb. Schmidt, SJZ 1950, 286;

Welzel, Lehrbuch S. 229; Göhler, Vorbem. 14 vor § 19 OWiG (für das Ordnungswidrigkeitenrecht). Ein Modell mit „beweglichen Kriterien" auf der Grundlage der „Uberwindung der entscheidenden Hemmstufe" entwickelt Schmoller, Fortgesetztes Delikt S. 56 ff.

V . D i e fortgesetzte H a n d l u n g

717

hungsart und Rechtsgut, auf den zeitlichen Zusammenhang der Einzelakte und die Ausnutzung derselben Gelegenheit abstellte38. Beispiele: Um mehrere Betrügereien zur fortgesetzten Tat zusammenzufassen, muß der Vorsatz von vornherein auf die Gesamtheit der verschiedenen Vermögensbeschädigungen gerichtet gewesen sein; der allgemein gefaßte Entschluß, möglichst viele Betrügereien bestimmter Art zu begehen (RG 44, 392 [396]) oder möglichst viele Straßenpassanten auszurauben (BGH MDR 1972, 752), genügt nicht. Gesamtvorsatz liegt vor, wenn der Täter den Entschluß gefaßt hat, aus einer bestimmten Werkstätte unter Ausnutzung der bestehenden günstigen Umstände möglichst viele Fahrräder zu entwenden, nicht aber, wenn er sich lediglich vorgenommen hat, zahlreiche Fahrraddiebstähle zu begehen, deren Ausführung nach Ort, Zeit und Art noch ungewiß ist (RG 66, 236 [239]; 72, 211 [214]). Nicht ausreichend ist für die Annahme einer Fortsetzungstat bei 36 Einbrüchen, daß die Angeklagten „von vornherein" eine Reihe von im wesentlichen gleichartigen Diebstählen ins Auge faßten (BGH NStZ 1986, 408; vgl. auch BGH NJW 1983, 2827). Einen bloßen Fortsetzungsvorsatz hat jedoch BGH NJW 1962, 115 in einem Fall wiederholter Kindesmißhandlung genügen lassen. Ein Gesamtüberblick über die Tat wird nicht verlangt (BGH 26, 4 [8]). d) Wird für die fortgesetzte Handlung Gesamtvorsatz gefordert, so kann es bei Fahrlässigkeitstaten keinen Fortsetzungszusammenhang geben (RG 73, 230 [231]; 76, 68 [71]; BGH 5, 371 [376]; 22, 67 [71])39. Dagegen besteht für die objektive Theorie zu dieser Einschränkung kein Anlaß 40. 4. Die bisherige Behandlung der Fortsetzungstat wurde dadurch bestimmt, daß ihre Teilakte als eine einzige Straftat betrachtet wurden (RG 68, 297 [298]). Daraus ergeben sich verschiedene Konsequenzen. Nur eine einzige Strafe ist nach dem Strafrahmen des schwersten Delikts festzusetzen, doch kann die Schwere und Zahl der Einzelakte strafschärfend berücksichtigt werden (RG DR 1944, 329; BGH Dallinger MDR 1975, 724)41. Im Sinne von § 66 II ist die fortgesetzte Handlung nur eine Tat. Wenn die Einzelakte teils die einfache, teils die qualifizierte Form desselben Delikts erfüllen, so wird nur die qualifizierte Strafvorschrift angewendet (RG 67, 183 [188]: versuchter Mord und versuchter Totschlag). Treffen Versuch und Vollendung zusammen, so ist die Tat in vollendeter Form begangen (BGH NJW 1957, 1288). Ist dagegen das Delikt in der leichteren Form vollendet, in der schwereren Form nur versucht, ist Idealkonkurrenz anzunehmen (§ 52)42. Die Fortsetzungstat ist mit dem ersten Teilakt vollendet, beendet aber erst, wenn alle Teilakte ausgeführt sind (RG 66, 36). Die Verjährung der Fortsetzungstat beginnt deswegen erst mit der Beendigung des letzten Teilakts (RG 64, 33 [40]; BGH 1, 84 [91 f.]). Dagegen ist das Strafantragserfordernis für jeden Einzelakt gesondert zu prüfen (BGH 17, 157). Die Rechtskraft des Urteils umfaßt alle vor der Verkündung begangenen Einzelakte, gleichgültig ob sie das Gericht gekannt hat oder auch nur kennen konnte (RG 72, 211 [212]); BGH 6, 92 [95]; 15, 268 [272]; 33, 122 [124])43. 38

So Graf zu Dohna, Verbrechenslehre S. 66; derselbe, DStr 1942, 19; Frank, § 74 Anm. V

2c (S. 240); Honig, Studien S. 137; M. E. Mayer, Lehrbuch S. 167; v. Liszt/ Schmidt, S. 352. 39 Ebenso Baumann/Weber, Allg. Teil S. 668; Doerr, Frank-Festgabe Bd. II S. 212; Lackner, Vorbem. 15 vor § 52; LK 10 (Vogler) Vorbem. 70, 73 vor § 52 (nur bei Vorsatz-Fahrlässigkeitskombinationen wie § 315c I Nr. la i.Verb.m. Abs. 3 Nr. 1); Welzel, Lehrbuch S. 229. Anders Stratenwerth, Allg. Teil I Rdn. 1232; Schönke/Schröder/Stree, Vorbem. 55 vor § 52; SK (Samson) Vorbem. 45 vor § 52; OGH 1, 344 (347); F. W. Koch, NJW 1956, 1268; MauVorbem. 55 vor § 52; rach /Gössel/Zipf Allg. Teil II § 54 Rdn. 81; Schönke/Schröder/Stree, Welzel, Lehrbuch S. 229. 40 Vgl. Frank, § 74 Anm. V 2c (S. 240); v.Hippel, ZStW 42 (1921) S. 545; Honig, Studien S. 135. 41 Vgl. näher Bruns, Strafzumessungsrecht S. 464; Schönke/Schröder/Stree, Vorbem. 65

vor § 52; LK X 0 (Vogler) 42

§52. 43

Vorbem. 84 vor § 52.

So mit Recht Lackner, Vorbem. 18 vor § 52; Schönke/Schröder/Stree, So auch die h.L.; vgl. LK 10 (Vogler)

Rdn. 93 vor § 52; Löwe/Rosenberg

Vorbem. 66 vor (Schäfer),

Ein-

leitung Kap. 12 Rdn. 65f.; Schönke/Schröder/Stree, Vorbem. 69 vor § 52; Dreher/Tröndle, Vorbem. 39 vor § 52; Stratenwerth, JuS 1962, 220. Für eine prozessuale Aufspaltung der fortgesetzten Handlung dagegen D. und U. Mann, ZStW 75 (1963) S. 258 ff.

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§ 67 D i e Idealkonkurrenz

§ 67 Die Idealkonkurrenz Abels, Die „Klarstellungsfunktion" der Idealkonkurrenz, 1991; Achenbach, „Tat", „Straftat", „Handlung" und die Strafrechtsreform, MDR 1975, 19; Baumgarten, Die Lehre von der Idealkonkurrenz und Gesetzeskonkurrenz, Strafr. Abh. Heft 103, 1909; derselbe, Die Idealkonkurrenz, Festgabe für R. v. Frank, Bd. II, 1930, S. 188; Bockelmann, Zur Lehre von der Idealkonkurrenz, ΖΑΚ 1941, 293; Coenders, Über die Idealkonkurrenz usw., 1921; Cramer, Das Strafensystem usw., JurA 1970, 183; H. Dreher, Real- und Idealkonkurrenz im französischen und deutschen Strafrecht usw., Diss. Freiburg i.Br. 1950; Keller, Anmerkung zu BGH vom 3.6.1982, JR 1983, 210; Kraß, Die Identität der Ausführungshandlungen bei der Tateinheit, JuS 1991, 821; Lippold, Zur Konkurrenz bei Dauerdelikten usw., 1985; Mezger, Anmerkung zu RG 75, 19, DR 1941, 922; Montenbruck, Zur „Beteiligung an einer Schlägerei", JR 1986, 138; Niese, Empfiehlt sich die Einführung einer einheitlichen Strafe auch im Falle der Realkonkurrenz? Materialien, Bd. I, S. 155; Oehler, Das erfolgsqualifizierte Delikt als Gefährdungsdelikt, ZStW 69 (1957) S. 503; Oske, Das Konkurrenzverhältnis der Dauerdelikte zu den übrigen Straftaten, MDR 1965, 532; Rippich, Die verfahrensrechtlichen Auswirkungen der Idealkonkurrenz und Realkonkurrenz usw., Strafr. Abh. Heft 322, 1935; Schröder, Konkurrenzprobleme bei den erfolgsqualifizierten Delikten, NJW 1956, 1737; Schweling, Die Bemessung der Gesamtstrafe, GA 1955, 289; Stoecker, Die Konkurrenz, Materialien, Bd. II, 1, S. 449; Wegscheider, Echte und scheinbare Konkurrenz, 1980; Wilhelm, Die Konkurrenz zwischen Begehungs- und Unterlassungsdelikten, Diss. Münster 1992; Zagrebelski, Concorso di reati e reato continuato, in: Vassalli (Hrsg.), Dizionario di diritto e procedura penale, 1986, S. 85 ff. Vgl. ferner die Schrifttumsangaben vor § 66. I. Das Wesen der Idealkonkurrenz 1. Idealkonkurrenz liegt vor, wenn der Täter durch dieselbe Handlung mehrere Strafgesetze oder dasselbe Strafgesetz mehrmals verletzt (§ 52 I) 1 . Voraussetzung der Idealkonkurrenz ist also zweierlei: einmal muß Handlungseinheit gegeben sein (BGH 33, 163) (vgl. oben § 66 I I - V), zum anderen muß durch die eine Handlung eine Mehrheit von Gesetzesverletzungen stattgefunden haben. Dabei kommt sowohl die Anwendbarkeit verschiedener Strafgesetze als auch die Möglichkeit in Betracht, daß dasselbe Strafgesetz mehrfach anzuwenden ist. Den ersten Fall nennt man ungleichartige, den zweiten gleichartige Idealkonkurrenz. Durch die Einrichtung der Idealkonkurrenz ist es möglich, das rechtsgutsverletzende Verhalten des Täters im Urteilsspruch vollständig zu erfassen, ohne doch mehrere Strafen wegen der verschiedenen strafrechtlichen Teilaspekte des Verhaltens verhängen zu müssen (KlarStellungsfunktion der Idealkonkurrenz 2). Denn eine Tat, auch wenn sie mehrere Strafgesetze oder dasselbe Strafgesetz mehrmals verletzt, ist im Schuldgehalt milder zu bewerten als eine Mehrheit von Taten; sie muß jedoch unter allen zutreffenden rechtlichen Gesichtspunkten beurteilt werden. Beispiele: Gewaltsamer Geschlechtsverkehr des Vaters mit der noch nicht 18 Jahre alten Tochter ist zugleich Vergewaltigung (§ 177), Beischlaf zwischen Verwandten (§ 173 I), sexueller Mißbrauch von Schutzbefohlenen (§ 174 I Nr. 3) und möglicherweise Körperverletzung (§ 223). Täuschung des Geschäftspartners über die eigene Kreditwürdigkeit mittels einer gefälschten Bankauskunft ist Betrug (§ 263) und Urkundenfälschung (§ 267). Tötung mehrerer Menschen als politische Gegner durch einen Sprengstoffanschlag ist Mord in der entsprechenden Anzahl von Fällen (§211). 1 Der Ausdruck „Idealkonkurrenz" ist so zu verstehen, daß eine Handlung der „Idee" nach den Typus mehrerer Gesetzesverletzungen erfüllt, während bei der „Realkonkurrenz" „realiter" mehrere Handlungen vorliegen. Zur Änderung des Begriffs „Straftat" in „Handlung" in § 52 I vgl. Achenbach, MDR 1975, 20. 2 So treffend Schönke/Schröder/Stree, § 52 Rdn. 2; Abels, Die „Klarstellungsfunktion" der Idealkonkurrenz S. 99.

I I . D i e Erscheinungsformen der Idealkonkurrenz

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2. Zur Erklärung des Wesens der Idealkonkurrenz sind die Einheits- und die Mehrheitstheorie aufgestellt worden 3 . Die Einheitstheorie nimmt an, daß wegen des Vorliegens nur einer Handlung im Falle der Idealkonkurrenz auch nur eine Straftat gegeben sei, obwohl mehrere Straftatbestände angewendet werden 4. Die Mehrheitstheorie betont dagegen, daß die Verletzung mehrerer Strafgesetze zur Annahme mehrerer Straftaten führen müsse, obwohl äußerlich gesehen nur eine Handlung vorliegt 5 . Der Theorienstreit betrifft indessen nur eine konstruktive Frage ohne praktische Bedeutung. Er ist nicht viel mehr als ein Streit um Worte 6 , da im Ergebnis darüber Einigkeit besteht, daß nur eine Handlung vorliegt, auf die mehrere Strafgesetze im Wege einer Kombination von Strafdrohungen angewendet werden 7. Auch die verfahrensrechtliche Behandlung der Idealkonkurrenz ist von beiden Standpunkten aus dieselbe8. Auch wenn man davon ausgeht, daß nur eine Straftat vorliegt, kann der Strafantrag geteilt werden (RG 62, 83 [87]) und ist der Angeklagte wegen aller idealkonkurrierenden Strafgesetze zu verurteilen, da die Tat unter verschiedenen rechtlichen Gesichtspunkten betrachtet werden muß. Ebenso besteht auch vom Standpunkt der Mehrheitstheorie aus kein Bedenken dagegen, daß durch die rechtskräftige Aburteilung das Strafklagerecht hinsichtlich aller zusammentreffenden Tatbestände verbraucht wird und daß bei Verneinung eines der im Eröffnungsbeschluß als idealkonkurrierend angeführten Strafgesetze kein Freispruch erfolgt. II. Die Erscheinungsformen der Idealkonkurrenz Idealkonkurrenz bedeutet, daß durch eine Handlung mehrere Straftatbestände verwirklicht werden. Es reicht dabei aus, daß verschiedene Teilstücke der als einheitlich verstandenen Handlung (vgl. oben § 66) jeweils einen Straftatbestand erfüllen. Je nach dem Ausmaß und der Art der Ubereinstimmung sind mehrere Erscheinungsformen der Idealkonkurrenz zu unterscheiden. 1. Das Gesetz nennt in § 52 I zunächst den Normalfall, daß eine Handlung zwei oder mehr verschiedene Strafgesetze verletzt (ungleichartige Idealkonkurrenz) 9. Mehrere Kombinationen kommen dabei in Betracht. Die Tatbestände können sich in der Handlungsbeschreibung vollständig decken, aber verschiedene Erfolge voraussetzen; das ist z.B. gegeben, wenn jemand durch einen Schuß einen Menschen tötet und zugleich eine Sache beschädigt (§§ 212, 303) oder durch eine Körperverletzung einen anderen zu einer 3

Dazu LK 10 (Vogler) Vorbem. 6 vor § 52; Puppe, Idealkonkurrenz S. 27ff. So Baumann /Weher, Allg. Teil S. 651; Blei, Allg. Teil S. 343; Baumgarten, Frank-Festgabe Bd. II S. 189; Höpfner, Einheit und Mehrheit S. 101 ff.; v. Liszt/ Schmidt, S. 359 Fußnote 6; Maurach/Gössel/Zipf, Allg. Teil II § 54 Rdn. 24; LK i0 (Vogler) Vorbem. 4 vor § 52; M. E. Mayer, Lehrbuch S. 156 Fußnote 2; Mezger, Lehrbuch S. 469. 4

5

So Binding, Handbuch S. 569 ff.; Coenders, Idealkonkurrenz S. 12 f.; Dreher/Tröndle,

Vorbem. 4 vor §52; Frank, §73 Anm. 1; Jakobs, Allg. Teil 32/15; H. Mayer, Lehrbuch S. 412; derselbe, Grundriß S. 191; Niese, Materialien Bd. I S. 156; Schmidhäuser, Allg. Teil S. 736. 6 Maiwald, Natürliche Handlungseinheit S. 64. 7

So Graf zu Dohna, Verbrechenslehre S. 64; Geerds, Konkurrenz S. 324 ff.; v. Hippel,

Bd. II S. 504ff.; Jescheck, ZStW 67 (1955) S. 533; Gramer, JurA 1970, 206; Schönke/Schröder/Stree, 8

§ 52 Rdn. 3.

Vgl. LK 10 (Vogler) § 52 Rdn. 50 ff. Dagegen hat die Unterscheidung von Ideal- und Realkonkurrenz erhebliche verfahrensrechtliche Konsequenzen, vgl. dazu näher Rippich, Die verfahrensrechtlichen Auswirkungen S. 9 ff. 9 Prinzipiell anders unterscheidet Puppe, G A 1982, 143 ff. nach Unrechtsverwandtschaft (Idealkonkurrenz) und Unrechtsfremdheit (Realkonkurrenz) bei den verwirklichten Tatbeständen (vgl. oben § 66 Fußnote 5).

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§ 67 D i e Idealkonkurrenz

Handlung nötigt (§§ 223, 240). Der Fall kann aber auch so liegen, daß der Täter durch die Tathandlung zugleich einen in einem anderen Tatbestand erfaßten Erfolg herbeiführt; so wenn ein sexueller Mißbrauch eines Kindes (§ 176) zu einer fahrlässigen Körperverletzung (§ 230) führt. Auch zwei reine Tätigkeitsdelikte, z.B. Meineid (§ 154) und Verleumdung (§ 187) oder räuberischer Angriff auf Kraftfahrer (§ 316a) und versuchte Vergewaltigung (§§ 177, 22) (BGH VRS 60, 102) oder Einfuhr und Handeltreiben bei Drogen (BGH NJW 1983, 602), können in Form der ungleichartigen Idealkonkurrenz zusammentreffen. Endlich ist Idealkonkurrenz anzunehmen, wenn ein versuchter qualifizierter mit einem vollendeten einfachen Tatbestand zusammentrifft (BGH 21, 78 [80]: versuchter Raub und vollendeter Diebstahl). Idealkonkurrenz liegt ferner auch dann vor, wenn durch eine Handlung dasselbe Strafgesetz mehrfach verletzt wird (gleichartige Idealkonkurrenz). Diese Möglichkeit ist jetzt in § 52 I ausdrücklich genannt, sie wurde aber schon früher von der Rechtsprechung und h . L . 1 0 bejaht. Beispiele: Wenn jemand in einer Besprechung fünf Personen zum Meineid überredet, treffen die fünf Anstiftungen in Idealkonkurrenz zusammen (RG 70, 334 [335]). Idealkonkurrenz liegt auch vor, wenn ein Schuß mehrere Personen tötet, ein Schimpfwort zwei Personen zugerufen wird, durch eine Aufforderung zwei Kinder zur Verübung unzüchtiger Handlungen veranlaßt werden (BGH 1, 20 [22]), eine unzüchtige Handlung vor mehreren Kindern stattfindet (BGH 6, 81 [82]) oder ein Annoncenbetrug zwei Opfer schädigt (BGH Dallinger MDR 1970, 381 f.). Gleichartige Idealkonkurrenz ist nicht nur bei Straftaten gegen höchstpersönliche Rechtsgüter (z.B. Leib, Leben, Freiheit, Ehre) oder Rechtsgüter des Staates oder der Allgemeinheit (z.B. Rechtspflege oder Sicherheit des Rechtsverkehrs) möglich 1 1 , sondern auch bei Straftaten gegen Vermögensrechte 12. Da Vermögensrechte Individualpersonen „zustehen", wird der Achtungsanspruch des in der Strafvorschrift geschützten Rechtsguts mehrfach verletzt, wenn die Tat mehrere Opfer schädigt. Der praktische Unterschied der beiden Auffassungen ist freilich gering, da auch bei gleichartiger Idealkonkurrenz die Höchststrafe des betreffenden Tatbestandes maßgebend bleibt. 2. Idealkonkurrenz verlangt nicht die volle Deckung der Handlungen, die in den zusammentreffenden Tatbeständen vorausgesetzt werden. Ausreichend ist vielmehr die „teilweise Identität der Ausführungshandlungen" im objektiven Tatbestand der konkurrierenden Strafgesetze (RG 32, 137 [139f.]; 52, 298 [300]; B G H 7, 149 [151]; 18, 29 [34]; 28, 18 [19]; B G H NStZ 1985, 546) 13 . Idealkonkurrenz kann nach h.M. auch noch dadurch begründet werden, daß nach Vollendung, aber vor Beendigung der Begehung des ersten Tatbestandes ein weiterer verwirklicht wird (BGH 26, 24 [27]: Bankraub und Geiselnahme zur Sicherung der Beute; BayObLG NJW 1983, 406: Diebstahl und Trunkenheitsfahrt zur Bergung des Diebesguts; weitere Beispiele: B G H StV 1983, 413; 1984, 374; NStZ 1993, 77) (vgl. 10

So Frank., § 73 Anm. III; v. Hippel, Bd. II S. 520; Jescheck, ZStW 67 (1955) S. 547; LK 8

(Jagusch) § 73 Anm. 3 b; Kohlrausch/Lange,

§ 73 Anm. II; Mezger, Lehrbuch S. 468; Ols-

hausen, § 73 Anm. 4; R. Schmitt, ZStW 75 (1963) S. 185. 11 12 13

So aber LK i0 (Vogler) § 52 Rdn. 35; Schönke/Schröder/Stree, § 52 Rdn. 29. So zutreffend B G H Dallinger M D R 1970, 381 f.; SK (Samson) § 52 Rdn. 25. Ganz h.L.; vgl. Frank, §74 Anm. I; Geerds, Konkurrenz S. 279; Baumann/Weber,

Allg. Teil S. 657; Bockelmann/Volk,

Allg. Teil S. 259; Kohlrausch/Lange,

Vorbem. IIa vor

§ 73; Maurach/Gössel/Zipf, Allg. Teil I I § 55 Rdn. 72; Kraß, JuS 1991, 821; LK i0 (Vogler) § 52 Rdn. 22; Schönke/Schröder/Stree, § 52 Rdn. 9; Schmidhäuser, Allg. Teil S. 736 f.; Stra-

tenwerth, Allg. Teil I Rdn. 1242; Welzel, Lehrbuch S. 231; Wessels, Allg. Teil Rdn. 777. Kritisch zu der Formel des RG wegen der Zufälligkeit der Ergebnisse aber Honig, Studien S. 25 ff., insbes. S. 42. Das Vorliegen von Handlungseinheit „bei natürlicher Betrachtung" verlangt für die Fälle der Teilidentität Wahle, G A 1968, 110.

I I . D i e Erscheinungsformen der Idealkonkurrenz

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oben § 49 I I I 3). Die Möglichkeiten der Idealkonkurrenz werden durch diese Lehre nicht unwesentlich ausgeweitet14. Beispiele: Idealkonkurrenz besteht zwischen Raub (§ 249) und Erpressung (§ 253), wenn die Gewaltanwendung sowohl zur Wegnahme als auch zur Herausgabe von Sachen führt (RG 55, 239 [241]), zwischen Körperverletzung (§ 223) und Widerstand (§ 113), wenn der Gerichtsvollzieher mit Schlägen verletzt wird (RG 41, 82 [84]). Da die Urkundenfälschung (§ 267) erst mit dem Gebrauchmachen von der falschen Urkunde beendet ist, wird Idealkonkurrenz mit Betrug (§ 263) angenommen, wenn der Fälscher die Urkunde zum Zwecke der Täuschung vorlegt (BGH JZ 1952, 89; BGH GA 1955, 245 [246]; einschränkend jetzt aber BGH 17, 97 [99] zu § 267). Entführung (§ 237) und Vergewaltigung (§ 177) stehen in Tateinheit, wenn der Entführer die hilflose Lage der Frau zur Tat ausnutzt (BGH 18, 29 [34]), ebenso Vergewaltigung (§ 177) und sexuelle Nötigung (§ 178), wenn die Gewaltanwendung einheitlich ist (BGH GA 1981, 168). 3. Das Verhältnis der Idealkonkurrenz kann endlich dadurch hergestellt werden, daß zwei an sich selbständige Handlungen jeweils mit einer dritten Handlung in Idealkonkurrenz stehen (Handlungseinheit durch Klammerwirkung) 15 . Diese von der Rechtsprechung schon frühzeitig (RG 44, 223 [228]) für zulässig gehaltene Erweiterung des Anwendungsbereichs des § 52 ist anzuerkennen, wenn der die Idealkonkurrenz vermittelnde Tatbestand im Unrechtsgehalt den anderen, an sich selbständigen Straftaten annähernd gleichkommt (BGH NStZ 1982, 69; JR 1983, 210; NStZ 1984, 408) 16 . Die Klammerwirkung wird dagegen mit Recht abgelehnt, wenn auch nur eine der zu verbindenden Handlungen einen wesentlich höheren Unrechtsgehalt aufweist als das Verbindungsstück, weil zwei an sich selbständige Taten nicht dadurch der strengeren Strafzumessung nach § 53 entzogen werden können, daß jede von ihnen mit demselben leichteren Delikt zusammentrifft (BGH 1, 67 [69]; 3, 165 [167]; B G H NJW 1975, 985 [986]; JR 1983, 210 m.zust.Anm. Keller). Die neuere Rechtsprechung vertritt jedoch den Standpunkt, daß die Klammerwirkung nicht entfällt, wenn nur eines der beiden anderen Delikte schwerer ist als das die Tateinheit vermittelnde Bindeglied (BGH 31, 29 [30]: das Vergehen der Ausübung der tatsächlichen Gewalt über eine Waffe verbindet den unerlaubten Waffenerwerb und den Totschlag zur Tateinheit; B G H StV 1983, 148: das Führen einer Schußwaffe verbindet Totschlag und Nötigung) 17 . Bei dem Schwerevergleich wird nicht auf die abstrakten Strafdrohungen, sondern auf die konkrete Fallgestaltung abgestellt (BGH 33, 4 [7]; B G H NStZ 1989, 20; 1993, 133). Beispiele: Den Gesichtspunkt der „Wertgleichheit" vernachlässigt noch RG 68, 216 [218]: der unbefugte Gebrauch eines Kraftfahrzeugs (§ 248 b) soll die während der Fahrt begangene fahrlässige Tötung (§ 222) und Verkehrsunfallflucht (§ 142) zur Idealkonkurrenz verbinden. Richtig dagegen RG HRR 1935 Nr. 535: die unbefugte Titelführung hat keine Klammerwir14

Zustimmend LK 10

(Vogler)

§ 52 Rdn. 23; Schönke/Schröder/Stree,

§ 52 Rdn. 11; SK

(Samson) § 52 Rdn. 12; Stratenwerth, Allg. Teil I Rdn. 1244; Struensee, Konkurrenz S. 24f.; Warda, JuS 1964, 87. Ablehnend Jakobs, Allg. Teil 33/7. 15 Dazu eingehend Wahle, G A 1968, 97 ff. 16 Ebenso Geerds, Konkurrenz S. 280ff.; Geppert, Jura 1982, 370; Lackner, § 52 Rdn. 5 (kritisch); Maurach/Gössel/Zipf, Allg. Teil II § 55 Rdn. 74ff.; LK 10 (Voller) § 52 Rdn. 27ff.;

Schönke/Schröder/Stree,

§52 Rdn. 16f.; Dreh er/Tröndle,

Vorbem. 5ff. vor §52; Welzel,

Lehrbuch S. 232; Wessels, Allg. Teil Rdn. 780. Dagegen wollen Jakobs, Allg. Teil 33/12; R. Schmitt, ZStW 75 (1963) S. 48; Schmidhäuser, Allg. Teil S. 592; Stratenwerth, Allg. Teil I Rdn. 1246; Wahle, GA 1968, 107ff. die Fälle der „Verklammerung" ganz der Realkonkurrenz zuweisen. Anders auch Puppe, GA 1982, 156 sowie Werle, Konkurrenz S. 205 ff. 17 Zustimmend Wessels, Allg. Teil Rdn. 780; Lackner, § 52 Rdn. 5; Schönke/Schröder/

Stree, § 52 Rdn. 17 a; Dreher/Tröndle, 46 Jescheck, 5. A.

Vorbem. 5 c vor § 52.

722

§ 67 D i e Idealkonkurrenz

kung hinsichtlich mehrerer selbständiger Betrugshandlungen; BGH 2, 246 (247): mehrere Mordversuche werden durch das Zusammentreffen mit einem einheitlichen Raubversuch nicht zur Idealkonkurrenz zusammengefaßt; BGH 18, 66 (69): das Fahren ohne Fahrerlaubnis kann mehrere Kraftfahrzeugdiebstähle nicht zur Einheit zusammenschließen. Die für das Verkehrsstrafrecht praktisch wichtige Klammerwirkung der Trunkenheitsfahrt (§ 316) hat der BGH dadurch eingeschränkt, daß er bei Eintritt eines Unfalls eine Zäsur annimmt, so daß die fahrlässige Tötung mit der Unfallflucht nicht verbunden wird (BGH 21, 203 [204]; OLG Celle VRS 61, 345). III. Sonderfälle der Idealkonkurrenz 1. Vorsätzliche und fahrlässige Handlungen können in Idealkonkurrenz stehen, z.B. vorsätzliche Transportgefährdung (§ 315) mit fahrlässiger Tötung (§ 222) (RG DR 1943, 753), Beihilfe zur Abtreibung (§§ 218 I, 27) mit fahrlässiger Tötung (BGH 1, 278 [280]), vorsätzliches Vergehen nach § 323 a und fahrlässige actio libera in causa zu § 222 (BGH 17, 333 [337]) 18 . 2. Bei Dauerdelikten (vgl. oben § 26 I I 1 a) ist zu unterscheiden 19: Handlungen, die nur gelegentlich eines Dauerdelikts vorgenommen werden, z.B. die Beleidigung des Hausherrn, der den Eindringling zur Rede stellt (§ 123), stehen nach allgemeiner Ansicht mit dem Dauerdelikt in Realkonkurrenz. Idealkonkurrenz ist dagegen anzunehmen bei Straftaten, die der Aufrechterhaltung des rechtswidrigen Zustands dienen, wie die Körperverletzung des Hausherrn, der sich gegen den Eindringling zur Wehr setzt. Teilweise wird darüber hinaus Idealkonkurrenz auch dann angenommen, wenn das Dauerdelikt die Voraussetzungen für die Begehung einer anderen Straftat schaffen soll, z.B. das unbefugte Führen einer Schußwaffe dient zur Verübung eines Raubs (RG 66, 117 [119]) . In der Regel verlangt die Rechtsprechung jedoch zu Recht auch beim Dauerdelikt die teilweise Deckung der Tathandlungen (RG 32, 137 [140]; 54, 288 [289]; B G H L M § 177 Nr. 8; B G H 18, 29 [34]; 27, 66 [67]; 29, 288 [290]; B G H GA 1967, 21; O L G Karlsruhe NJW 1977, 2222), läßt also eine Lockerung der allgemeinen Grundsätze über die Idealkonkurrenz auch bei Bestehen einer Mittel-Zweck-Beziehung nicht zu 2 1 . Auch mehrere Dauerdelikte stehen zueinander in Tateinheit, wenn sich die Ausführungshandlungen wenigstens teilweise decken, z.B. Fahren ohne Fahrerlaubnis (§ 21 I Nr. 1 StVG) und Trunkenheitsfahrt (§316) (BayObLG G A 1975, 54). 3. Besondere Konkurrenzprobleme stellen sich weiter bei den erfolgsqualifizierten Delikten sowohl im Verhältnis zu den Fahrlässigkeits- als auch zu den Vorsatztatbeständen, die die fahrlässige bzw. vorsätzliche Herbeiführung des qualifizierenden Erfolges als solchen unter Strafe stellen 22 . Kann der Täter die qualifizierende Folge nur fahrlässig herbeiführen, weil bei Vorsatz ein anderer Deliktstypus gegeben wäre, ist die Frage nach dem Verhältnis zu dem betreffenden Fahrlässigkeitstatbestand nicht zweifelhaft. Nach § 18 kommt allein Gesetzeskonkurrenz, und zwar Spezialität (vgl. unten § 69 I I 1) in Betracht, da das erfolgsqualifizierte 18

Vgl. Lackner, § 52 Rdn. 7; Schönke/Schröder/Stree,

Rdn. 7; Jakobs., Allg. Teil 33/6; Welzel, Lehrbuch S. 232. 19

Vgl. Lackner, § 52 Rdn. 7; LK 10

(Vogler)

Vorbem. 23 f. vor § 52; Lippold, Konkurrenz

S. 29ff.; Schönke/Schröder/Stree, Vorbem. 88 ff. vor Stratenwerth, Allg. Teil I Rdn. 1245; Welzel, Lehrbuch 20 Zustimmend Schönke/Schröder/Stree, Vorbem. Welzel, Lehrbuch S. 232; Wessels, Allg. Teil Rdn. 779. 21 Ebenso Baumann/Weber, Allg. Teil S. 657; Oske, Teil S. 738. 22

Vgl. dazu Schröder, N J W 1956, 1737ff.

§ 52 Rdn. 7; SK (Samson) § 52

§ 52; Schmidhäuser, Allg. Teil S. 738; S. 232. 91 vor § 52; Jakobs, Allg. Teil 33/10; MDR 1965, 534; Schmidhäuser, Allg.

723

I V . D i e Behandlung der Idealkonkurrenz

Delikt den Fahrlässigkeitstatbestand immer einschließt (vgl. B G H 8, 54 zum Verhältnis von § 226 und § 222) 23 . Wenn dagegen der qualifizierende Erfolg nicht nur fahrlässig, sondern auch vorsätzlich verwirklicht werden kann, ohne daß der Grundtatbestand des erfolgsqualifizierten Delikts entfällt, muß Idealkonkurrenz zu dem betreffenden Vorsatz- bzw. Fahrlässigkeitstatbestand angenommen werden, da dann nur auf diese Weise klarzustellen ist, ob die schwere Folge im konkreten Fall vorsätzlich oder fahrlässig herbeigeführt wurde. Deshalb stehen Brandstiftung mit Todesfolge (§ 307 Nr. 1) sowie Freiheitsberaubung mit Todesfolge (§ 239 III) mit §§ 211, 212 bzw. mit § 222 in Tateinheit. 4. Die Erörterung der Konkurrenzprobleme bei den Unterlassungsdelikten hat auszugehen von den Begriffen der „Unterlassungseinheit" und „Unterlassungsmehrheit" (vgl. oben § 66 IV 2) 2 4 . Bei Unterlassungseinheit kommt sowohl gleichartige als auch ungleichartige Idealkonkurrenz in Betracht. Beispiel: Wenn ein Wachmann einen Bankeinbruch dadurch unterstützt, daß er im Einvernehmen mit den Tätern eine Hintertür unverschlossen läßt und zugleich aus Fahrlässigkeit übersieht, daß diese imstande sein könnten, beim Aufschweißen eines Geldschranks einen Brand zu verursachen, ist er wegen Beihilfe zum Einbruchsdiebstahl (§§ 242, 243 I Nr. 1, 27) in Idealkonkurrenz mit fahrlässiger Brandstiftung (§ 309), beides begangen durch Unterlassen, zu verurteilen. Umstritten ist dagegen die Frage, ob ein Unterlassungs- auch mit einem Begehungsdelikt in Idealkonkurrenz stehen kann. Sie ist nach richtiger Ansicht zu verneinen, da sich Unterlassen und positives Tun auch nicht teilweise decken, sondern nur zeitlich zusammentreffen können (RG 68, 315 [317f.]; B G H 6, 229 [230]) 25 . So ist Idealkonkurrenz zwischen unterlassener Hilfeleistung (§ 323 c) und Sichentfernen vom Unfallort (§ 142) zu verneinen (anders aber RG 75, 355 [360]; B G H GA 1956, 120), ebenso zwischen Sichentfernen vom Unfallort und vorsätzlicher Tötung, begangen durch unterlassene Hilfeleistung (anders aber BayObLG NJW 1957, 1485). Anders ist es nur dann, wenn das Unterlassungsdelikt ein Dauerdelikt darstellt und das Begehungsdelikt der Aufrechterhaltung dieses Zustandes dienen soll, z.B. Vereiteln der Zwangsvollstreckung (§ 288) zwecks Nichtleistung des Unterhalts (§ 170 b). IV. Die Behandlung der Idealkonkurrenz Die Annahme von Idealkonkurrenz hat Einfluß darauf, wie der Schuldspruch abzufassen und welcher Strafrahmen auf die Tat anzuwenden ist. 1. Einfach sind diese Fragen bei der gleichartigen Idealkonkurrenz zu beantworten. Der Schuldspruch muß hier zwar die mehrfache Verletzung desselben Gesetzes zum Ausdruck bringen, wegen deren der Angeklagte verurteilt wird („A wird wegen Mordes an drei Menschen zu lebenslanger Freiheitsstrafe verurteilt"). Die Strafe wird dem mehrfach verletzten Gesetz aber nur einmal entnommen 23

So auch LK 11

(Schroeder)

§ 18 Rdn. 43; Schönke/Schröder /Cramer,

§ 18 Rdn. 6; SK

(Rudolphi) § 18 Rdn. 9; anders Kohlrausch/Lange, § 56 Anm. IV 5; Oehler, ZStW 69 (1957) S. 519, die Idealkonkurrenz annehmen. 24 Vgl. Welzel, Lehrbuch S. 233; Struensee, Konkurrenz S. 46ff.; LK 10 (Vogler) Vorbem. 39 f. vor § 52; Maiwald, Natürliche Handlungseinheit S. 107 ff. Kritisch dazu Puppe, JR 1985, 246 f. („trübes Kapitel der Konkurrenzlehre"). 25

Ebenso Lackner, § 52 Rdn. 7; Struensee, Konkurrenz S. 16; Kohlrausch/Lange,

§ 73

Anm. I; Schönke/Schröder/Stree, § 52 Rdn. 19; Stratenwerth, Allg. Teil I Rdn. 1245. Dagegen aber Baumann/Weher, Allg. Teil S. 654 f.; Jakohs, Allg. Teil 8/33; Wilhelm, Konkurrenz S. 40 f. 46*

724

§ 67 D i e Idealkonkurrenz

(§ 52 I). Im Rahmen der angedrohten Höchststrafe dieses Tatbestandes wird die Tatsache der mehrfachen Verletzung desselben Gesetzes in der Regel strafschärfend zu berücksichtigen sein (§ 46 II: „Die Art der Ausführung und die verschuldeten Auswirkungen der Tat"). Die mehrfache Gesetzesverletzung kann vor allem die Annahme eines besonders schweren Falls rechtfertigen (der Vormund verletzt z.B. durch dasselbe nachteilige Geschäft die Vermögensinteressen dreier Mündel, § 266 II) (BGH StV 1981, 545; NJW 1982, 2265) 26 . 2. Bei der ungleichartigen Idealkonkurrenz muß der Schuldspruch alle zusammentreffenden Strafgesetze angeben („A wird wegen Vergewaltigung in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung zu drei Jahren Freiheitsstrafe verurteilt"). Dies ist zwar in § 52 nicht ausdrücklich ausgesprochen, aber selbstverständlich, weil sich der volle Unrechtsgehalt der Tat erst aus sämtlichen anwendbaren Strafgesetzen ergibt 27 . Die Strafe wird aus einem nach dem Kombinationsprinzip (§ 52 I I IV) gebildeten Strafrahmen entnommen, der aus den Strafrahmen sämtlicher verletzten Gesetze zusammengestellt wird 2 8 . Der Strafrahmen der Hauptstrafe wird nach oben durch die schwerste Höchststrafe der zusammentreffenden Gesetze, nach unten durch die strengste Mindeststrafe begrenzt. Höchst- bzw. Mindeststrafe des zu bildenden gemeinsamen Strafrahmens werden nicht nach der abstrakten Betrachtungsweise festgestellt, die bei der Einteilung der strafbaren Handlungen in Verbrechen und Vergehen nach § 12 am Platze ist (vgl. oben § 7 IV 2). Maßgebend ist vielmehr, welches der konkurrierenden Gesetze in Anbetracht der im konkreten Fall vorliegenden Strafschärfungs- bzw. Strafmilderungsgründe die strengste Höchst- bzw. Mindeststrafe zuläßt (zum früheren Recht vgl. RG 75, 14 [18]; 75, 19 [22]; 76, 59 [60]) 29 . Beispiele: Trifft Untreue (§ 266) mit Parteiverrat (§ 356) zusammen, so ist, wenn keine Besonderheiten vorliegen, die Mindeststrafe drei Monate (§ 356), die Höchststrafe fünf Jahre (für § 266 und § 356 gleich). Liegt gleichzeitig § 356 II vor, so ist die Mindeststrafe ein Jahr. Ist ein besonders schwerer Fall der Untreue gegeben, so kommt nur der Strafrahmen des § 266 II zur Anwendung. Geldstrafe kann neben Freiheitsstrafe bei Bereicherungsabsicht (§ 41) verhängt werden (§ 52 III). 3. Geldstrafe kann nach § 52 I I I neben Freiheitsstrafe verhängt werden, wenn die Voraussetzungen des § 41 vorliegen (vgl. das vorstehende Beispiel). Auf Nebenstrafen, Nebenfolgen und Maßnahmen (§11 I Nr. 8) muß oder kann erkannt werden, wenn eines der anwendbaren Gesetze sie vorschreibt oder zuläßt (§ 52 IV). Endlich ist bei der Strafzumessung das Vorliegen mehrerer Gesetzesverletzungen innerhalb des Kombinationsstrafrahmens in der Regel strafschärfend zu berücksichtigen (RG 22, 388 [393]; 49, 401 [402]; B G H M D R 1966, 26; VRS 37, 365; O L G Hamburg JR 1951, 86; O L G Köln M D R 1956, 374) 30 . 26

Vgl. Schönke/Schröder/Stree, § 52 Rdn. 33; LK 10 (Vogler) § 52 Rdn. 39. Vgl. Baumgarten, Idealkonkurrenz S. 89ff.; Bockelmann , Ζ Α Κ 1941, 294; Dreher/ Tröndle, § 52 Rdn. 2; Stratenwerth, Allg. Teil I Rdn. 1248; SK (Samson) § 52 Rdn. 26. 27

28

Vgl. Maurach/Gössel/Zipf Allg. Teil II § 55 Rdn. 82ff.; LK 10 (Vogler) § 52 Rdn. 40ff.; Schönke/Schröder/Stree, § 52 Rdn. 34; Schmidhäuser, Allg. Teil S. 783; Stratenwerth, Allg. Teil I Rdn. 1250 ff. 29 Vgl. Maurach/Gössel/Zipf, Allg. Teil II § 55 Rdn. 89; Schönke/Schröder/Stree, § 52 Rdn. 37; Bockelmann/Volk, Allg. Teil S. 260. 30 So auch die h.L.; Bruns, Strafzumessungsrecht S. 469; Lackner, § 52 Rdn. 10; LK 10 (Vogler) § 52 Rdn. 46; Maurach/Gössel/Zipf, Allg. Teil I I § 55 Rdn. 92; Schönke/Schröder/ Stree, § 52 Rdn. 47; SK (Samson) § 52 Rdn. 27.

V . Ausländisches Recht

725

4. Verfahrensrechtlich 31 ist bedeutsam, daß es keinen Teilfreispruch hinsichtlich einzelner idealkonkurrierender Tatbestände gibt und daß durch das rechtskräftige Urteil die Straf klage hinsichtlich aller Teilaspekte verbraucht ist (ne bis in idem). Das Verfahren kann jedoch wegen solcher Tatbestände, die für die zu erwartende Strafe oder Maßregel nicht beträchtlich ins Gewicht fallen, teilweise eingestellt werden, so daß diese Tatbestände dann im Urteil nicht zu berücksichtigen sind ($ 154a StPO) 32 . V. Ausländisches Recht 33

Im ausländischen Recht ist vielfach die Einheitsstrafe für beide Konkurrenzarten vorgesehen, so in Österreich (§ 28 StGB)34, in der Schweiz (Art. 68 StGB)35 und Frankreich (Art. 5 C.p. 1810; Art. 132-3 C.p. 1994; Kumulation aber bei verschiedenen Strafarten und nach Art. 132-7 C.p. 1994 bei Übertretungen) 36. Das italienische Recht behandelt die Realkonkurrenz im wesentlichen nach dem Prinzip der Kumulation mit Höchstgrenzen (Art. 71 ff. C.p.), die Idealkonkurrenz nach dem Absorptionsprinzip mit Strafschärfung (Art. 81 C.p.) und wendet dieses auch auf die allein durch den „medesimo disegno criminale" bestimmte fortgesetzte Handlung an (Art. 81 II C.p.)37. Spanien geht bei der Realkonkurrenz vom Kumulationsprinzip aus, kombiniert dieses aber mit dem Absorptions- und dem Asperationsprinzip sowie mit gewissen Höchstgrenzen (Art. 69f. C . p . ) . Für die Idealkonkurrenz gilt das Absorptionsprinzip mit Strafschärfung (Art. 71 C.p.). Nach niederländischem Recht gilt für die Idealkonkurrenz dasselbe (Art. 55 W.v.S.). Bei der Realkonkurrenz wird nur eine Strafe ausgesprochen, für die gewisse Höchstgrenzen gelten (Art. 57ff. W.v.S.)39. Der belgische Code pénal unterscheidet zwischen Ideal- und Realkonkurrenz 40. Bei Idealkonkurrenz wird nur die schwerste Strafe ausgesprochen (Art. 65 C.p.), bei Realkonkurrenz gilt Kumulation mit Höchstgrenzen (Art. 58 - 64 C.p.). Im brasilianischen Recht wird bei Idealkonkurrenz das Absorptionsprinzip angewendet, wobei die schwerste Strafdrohung um ein Sechstel bis zur Hälfte erhöht wird (Art. 70 C.p.), bei Realkonkurrenz das Kumulationsprinzip (Art. 69). Das fortgesetzte Verbrechen ist durch objektive Merkmale gekennzeichnet (Art. 71 ) 4 1 . Im englischen Recht wird bei Tatmehrheit das Kumulationsprinzip angewendet, 31

§ 52 Rdn. 48 ff. Dazu näher LK 10 (Vogler) § 52 Rdn. 49ff.; Schönke/Schröder/Stree, Für bessere Nutzung dieser Möglichkeit Montenbruck, JR 1986, 142. 33 Vgl. die umfassende Darstellung von Geerds, Konkurrenz S. 71 ff.; ferner LK 10 (Vogler) Vorbem. 147 vor § 52. 34 Vgl. näher Leukauf/Steininger, § 28 Rdn. 13; Triffterer, Allg. Teil S. 446f.; Wegscheidel Konkurrenz S. 44. Zum früheren Recht, dessen Regelung übernommen wurde, Rittler, Bd. I S. 338 ff.; Nowakowski, Grundriß S. 120f. 35 Vgl. H after, Allg. Teil S. 378; Pfenninger, Das schweizerische Strafrecht S. 233; Stratenwerth, Schweiz. Strafrecht, Allg. Teil I S. 429 f. Auch der Vorentwurf von Schultz bleibt in Art. 51 bei der Einheitsstrafe. 36 Vgl. Merle/Vitu, Traité I Nr. 371; Stefani/Levasseur/Bouloc, Droit pénal général Nr. 596; H. Dreher, Real- und Idealkonkurrenz S. 55ff. Zu Art. 132-3 C.p. 1994 vgl. Desportes/Le Gunehec, Présentation Nr. 69; Pradel, Le nouveau Code pénal Nr. 90; Ministère de la Justice, Circulaire S. 73 ff. 37 Vgl. Bettiol/Pettoello Mantovani, Diritto penale S. 691 ff.; Pagliaro, Principi S. 582 ff.; Mantovani, Diritto penale S. 461 ff.; Nuvolone, Sistema S. 360ff.; Fiandaca/Musco, Diritto penale S. 490ff.; Zagrebelski, Concorso S. 85 ff. 32

38

Vgl. Rodriguez Devesa/ Serrano Gômez, Derecho penal S. 848ff.; Anton Oneca, De-

recho penal S. 456 ff.; Mir Puig, Adiciones Bd. II S. 1023 ff., 1031 ff. Zu den Höchstgrenzen Cordoba Roda/ Rodriguez Mourullo, Art. 70 Anm. II.

39 Dazu eingehend Pompe, Handboek S. 274 ff.; van Bemmelen/van Veen, Ons strafrecht S. 316ff., 323 ff.; Hazewinkel-Suringa/Remmelink, Inleiding S. 832 ff. 40 Vgl. Dupont /Verstraeten, Handboek Nr. 885 ff., 903 ff.; Hennau/Verhaegen, Droit pénal général Nr. 481 ff.; Tulkens/van de Kerchove, Introduction S. 329ff. 41 Vgl. Fragoso, Liçôes S. 364 ff.; de Jesus, Comentärios, Art. 70 Anm. 4, Art. 69 Anm. 5c, Art. 71 Anm. 1; da Costa jr., Comentärios, Art. 70 Anm. 5, Art. 69 Anm. 4, Art. 71 Anm. 5.

726

§ 6

Die

ealkonkurrenz

das aber durch die fakultative Zulassung gleichzeitiger Vollstreckung mehrerer Freiheitsstrafen eine Milderung erfährt. Für einen Teil der Fälle der Idealkonkurrenz (merger of offences) gilt das Absorptionsprinzip, sonst auch Kumulation42. Die gleichen Grundsätze finden sich überwiegend im amerikanischen Straf recht 43. § 68 Die Realkonkurrenz Bender, Doppelte Gesamtstrafe oder „Einheits"-Gesamtstrafe? NJW 1964, 807; Bringewat y Die Bildung der Gesamtstrafe, 1987; derselbey Anmerkung zu BGH vom 17.1.1989, JR 1989, 426; Bruns y Zum Verbot der Doppelverwertung von Tatbestandsmerkmalen usw., Festschrift für H. Mayer, 1966, S. 353; Cramer, Das Strafensystem usw., JurA 1970, 183; Dreher, Doppelverwertung von Strafbemessungsumständen, JZ 1957, 155; Henßler, Unterlassene Gesamtstrafenbildung nach § 79 StGB als Revisionsgrund, NJW 1953, 452; Küper, Zur Problematik der nachträglichen Gesamtstrafenbildung, MDR 1970, 885; derselbe, Anmerkung zu OLG Hamm vom 20.3.1970, NJW 1970, 1559; derselbe, Anmerkung zu BGH 25, 380, NJW 1975, 547; Maiwald y Nachträgliche Gesamtstrafenbildung und das Verbot der reformatio in peius, JR 1980, 353; Montenbruck, Gesamtstrafe - eine verkappte Einheitsstrafe? JZ 1988, 332; derselbe y Abwägung und Umwertung, 1989; Niederreuther y Die prozessuale Behandlung der Realkonkurrenz im geltenden und künftigen Recht, Strafr. Abh. Heft 278, 1930; Sacksofsky y Die Problematik der doppelten Gesamtstrafe, NJW 1963, 894; Schoren, Strafbemessung bei mehreren Gesetzesverletzungen, Festschrift für K. Rebmann, 1989, S. 443; Schorn, Fragen zur Gesamtstrafe, JR 1964, 45; Schräder, Bildung einer Gesamtstrafe nach vollstreckter Einzelstrafe, MDR 1974, 718; Schweling y Die Bemessung der Gesamtstrafe, G A 1955, 289; Stree, Anmerkung zu BGH 33, 367, JR 1987, 73; Vogt, Die nachträgliche Bildung einer Gesamtgeldstrafe usw., NJW 1981, 890. Vgl. ferner die Schrifttumsangaben vor § 66. I. Das Wesen der Realkonkurrenz 1. Realkonkurrenz liegt vor, wenn der Täter mehrere selbständige Straftaten begangen hat, die in demselben Strafverfahren abgeurteilt werden (§§ 53 ff.). Voraussetzung der Realkonkurrenz ist also einmal das Vorliegen mehrerer Handlungen (vgl. oben § 66 I), zum anderen die Möglichkeit ihrer gemeinsamen Aburteilung. Nicht jeder Fall von Handlungsmehrheit führt allerdings zur Anwendung der Strafzumessungsregeln über die Realkonkurrenz. Es kann sein, daß die Handlungsmehrheit als ein Fall der Gesetzeseinheit (Konsumtion) anzusehen ist und deswegen nicht den §§ 53 ff. unterliegt (vgl. unten § 69 I I 3), es kann auch sein, daß es an der Möglichkeit gemeinsamer Aburteilung in demselben Strafverfahren fehlt. Wie bei der Idealkonkurrenz wird auch bei der Realkonkurrenz zwischen gleichartigen und ungleichartigen Konkurrenzfällen unterschieden. Gleichartige Realkonkurrenz liegt vor, wenn der Täter dieselbe Straftat mehrmals begangen hat, ungleichartige Realkonkurrenz, wenn verschiedene Straftatbestände zusammentreffen. Beispiele: Mehrere während einer Fahrt begangene Verkehrsverstöße stehen grundsätzlich in Tatmehrheit (OLG Hamm VRS 46, 338). Fahrlässige Straßenverkehrsgefährdung und unerlaubtes Sichentfernen vom Unfallort stehen in Tatmehrheit (OLG Saarbrücken VRS 46, 21), ebenso Trunkenheitsfahrt (mit Unfall) und Unfallflucht (OLG Celle GA 1982, 41). Die Weiterveräußerung von Betäubungsmitteln ist gegenüber dem Besitz (§ 29 I Nr. 3 BtMG) eine selbständige Straftat. 2. Die Vorschriften über die Realkonkurrenz gehören nicht nur dem materiellen Recht, sondern auch dem Verfahrensrecht an, denn ob die Möglichkeit gemein42 43

Vgl. Stoecker y Materialien Bd. II, 1 S. 452 f.; Grünhuty Das englische Straf recht S. 190 f. Vgl. Honigy Das amerikanische Strafrecht S. 239 f.; Model Penal Code Sect. 7.06.

I I . D i e Behandlung der Realkonkurrenz

727

samer Aburteilung für eine Mehrheit von strafbaren Handlungen gegeben ist, hängt von den Regeln des Strafprozesses ab1. U m aber die unvermeidlichen Zufälligkeiten der Verfahrensgestaltung auszugleichen, hat der Gesetzgeber die Möglichkeit der nachträglichen Bildung einer Gesamtstrafe nach § 55 StGB und § 460 StPO geschaffen. Der Anwendungsbereich der Regeln über die Realkonkurrenz wird durch diese Vorschriften wesentlich erweitert. II. Die Behandlung der Realkonkurrenz 1. Die Regelung der Realkonkurrenz in den §§ 53 ff. hat an der nach dem Asperationsprinzip zu bildenden Gesamtstrafe festgehalten 2 und hat dieses Verfahren auf die Geldstrafe ausgedehnt, weil die frühere Addierung von Geldstrafen die Schwere der Strafe zu Lasten des Verurteilten ebenso unproportional veränderte wie die Addierung von Freiheitsstrafen (§ 53 I) 3 . Im Jugendstrafrecht gilt dagegen das Prinzip der einheitlichen Sanktion (§31 JGG). Die lebenslange Freiheitsstrafe, die früher von der Bildung der Gesamtstrafe ausgeschlossen war und stets gesondert ausgesprochen werden mußte, ist durch das 23. StA G vom 13.4.1986 (BGBl. I S. 393) in die Gesamtstrafenregelung der §§ 53 ff. einbezogen worden4. Selbständig zu erkennen ist jedoch weiterhin auf Geldbuße nach dem OWiG, wenn in einem Strafverfahren neben einer Straftat eine in Tatmehrheit stehende Ordnungswidrigkeit abzuurteilen ist, weil der Gesetzgeber von einem Wesensunterschied zwischen Geldstrafe und Geldbuße ausgegangen ist (OLG Köln NJW 1979, 379)5. Insoweit bleibt es also beim Kumulationsprinzip. Auch mehrere Geldbußen werden addiert (§ 20 OWiG)6. 2. Zu unterscheiden ist weiter zwischen den Fällen, in denen die Bildung einer Gesamtstrafe vorgeschrieben, und den Fällen, in denen sie lediglich zugelassen ist. Eine Gesamtstrafe muß gebildet werden, wenn mehrere Freiheitsstrafen (auch lebenslange Freiheitsstrafe sowie Strafarrest nach § 9 WStG) oder mehrere Geldstrafen jeweils gesondert verwirkt sind (§ 53 I). Im ersten Fall wird eine Gesamtfreiheitsstrafe, im zweiten eine Gesamtgeldstrafe ausgesprochen. Soll wegen mehrerer Straftaten Vermögensstrafe (§ 43 a) verhängt werden, so wird insoweit auf eine Gesamtvermögensstrafe erkannt (§ 53 III). Eine Gesamtfreiheitsstrafe kann auch gebildet werden, wenn Freiheits- und Geldstrafe zusammentreffen (§ 53 I I 1). Jedoch kann das Gericht in diesem Falle auf Geldstrafe auch gesondert erkennen (§ 53 I I 2). Sind mehrere Geldstrafen verwirkt, so ist auf eine Gesamtgeldstrafe zu erkennen (§ 53 I I 2 zweiter Halbsatz). Umstritten ist dabei die Frage, ob in diesem Falle die Bildung der Gesamtstrafe in der Regel stattzufinden hat (BGH Dallinger MDR 1973, 17; BayObLG MDR 1982, 770; OLG 1

Vgl. dazu Niederreuth er, Die prozessuale Behandlung der Realkonkurrenz S. 12 ff. Kritsch dazu Schmidhäuser, Allg. Teil S. 784; Gramer, JurA 1970, 212; Jakobs, Allg. Teil 33/14 f. Über die Schwierigkeiten bei der Bildung der Gesamtstrafe Bruns, Strafzumessungsrecht S. 470 f. Zustimmend Baumann/Weber, Allg. Teil S. 653, 674; Bringewat, Gesamtstrafe S. 1. Die Gesamtstrafe versteht Montenbruck, JZ 1988, 338 und Abwägung S. 95 ff. zu Unrecht als „verkappte Einheitsstrafe". Ein neues Konzept für die Strafbemessung bei mehreren Gesetzesverletzungen entwickelt Schoreit, Rebmann-Festschrift S. 461 ff. 3 Vgl. Schönke/Schröder/Stree, Vorbem. 4 vor § 52. 4 Dazu Bringewat, Gesamtstrafe S. 91 f. 5 Ablehnend dazu Cramer, JurA 1970, 205; kritisch auch Schönke/Schröder/Stree, § 53 Rdn. 16. 6 Über die verfahrensrechtlichen Schwierigkeiten, die der Einführung der Gesamtgeldbuße entgegengestanden haben, vgl. Begründung zu § 13 Entwurf OWiG, BT-Drucksache V/1269. Über die Härten, die durch mehrfache Verhängung eines Fahrverbots (§ 25 StVG) entstehen können, KK OWiG (Bohnert) § 20 Rdn. 7. 2

728

§6

Die

ealkonkurrenz

Koblenz G A 1978, 188)7 oder ob umgekehrt in der Regel auf Freiheits- und Geldstrafe gesondert zu erkennen ist8 oder ob dem Gesetz überhaupt kein Regel-Ausnahmeverhältnis entnommen werden kann (so wohl BGH JR 1989, 425 m.Anm. Bringewat) 9. Richtig erscheint die zuletzt genannte Ansicht. Die erste würde den Verurteilten über Gebühr benachteiligen, da sich die Geldersparnis dann regelmäßig in den viel schwereren Freiheitsverlust umsetzte, und sie widerspricht auch dem kriminalpolitischen Grundsatz des Vorrangs der Geldstrafe im Bereich der geringeren Kriminalität. Für das umgekehrte Regelverhältnis gibt es angesichts der Fassung des Gesetzes, die eher für das Gegenteil spricht, keinen Anhaltspunkt. Kriminalpolitisch ist es jedenfalls die beste Lösung, dem Richter bei der spezialpräventiv sehr bedeutsamen Entscheidung, ob die Freiheitsstrafe auf Kosten der Geldstrafe erhöht werden soll, freie Hand zu lassen, so daß er die allgemeinen Strafzumessungsregeln anwenden kann. Eine Geldstrafe darf nur dann nicht in eine Gesamtstrafe mit einer Freiheitsstrafe einbezogen werden, wenn sie als fakultative zweite Hauptstrafe ausgesprochen worden ist, weil sonst der besondere kriminalpolitische Zweck, der mit der Geldstrafe in diesem Falle verbunden ist - z.B. die Abschöpfung der durch die Tat erlangten Bereicherung (§ 41) - verlorengehen würde (§§ 53 III, 52 III). Waren in dieser Weise mehrere Geldstrafen ausgesprochen, die gegenüber der Freiheitsstrafe selbständig zu bleiben haben, so wird aus ihnen nach der Regel des § 53 I wiederum eine Gesamtgeldstrafe gebildet (BGH 23, 260). Andere Geldstrafen, die nicht selbständig bleiben, werden nach § 53 I in die Gesamtgeldstrafe einbezogen, falls sie das Gericht nicht nach § 53 I I 1 in die Freiheitsstrafe einbeziehen will (BGH 25, 380 m.zust.Anm. Küper, NJW 1975, 547) 10 . 3. Im Gesetz nicht geregelt und zweifelhaft ist die Frage, ob aus einer Freiheitsstrafe und einer Ersatzfreiheitsstrafe, die im Falle der Uneinbringlichkeit an die Stelle einer gesondert verhängten Geldstrafe zu treten hätte (§ 43), eine Gesamtfreiheitsstrafe zu bilden ist, um den Verurteilten nicht im Ergebnis dadurch zu benachteiligen, daß das Gericht die für ihn günstigere Möglichkeit der gesonderten Verhängung der Geldstrafe gewählt hat. Die Frage ist zu verneinen, da nichts dafür spricht, daß der Gesetzgeber das früher für diese Fälle in § 78 II a.F. ausdrücklich angeordnete Kumulationsprinzip preisgeben wollte und durch die Bildung einer Gesamtstrafe auch Schwierigkeiten bei teilweiser Bezahlung der Geldstrafe und bei Anwendung der §§ 56 und 57 entstehen würden (BayObLG MDR 1971, 860; LG Flensburg GA 1984, 577)11. 4. Für Nebenstrafen usw. verweist § 53 I I I auf die Regelung bei der Idealkonkurrenz (vgl. oben § 67 IV 3). Diese Rechtsfolgen müssen oder können somit angeordnet werden, wenn sie auch nur neben einer Einzelstrafe vorgeschrieben oder zulässig sind. III. Die Bildung der Gesamtstrafe 1. Wie die Gesamtstrafe zustande kommt, bestimmt § 54. Die Bildung der Gesamtstrafe vollzieht sich in drei Stufen. 7

So Baumann/Weber, Allg. Teil S. 677; Dreher/Tröndle,

§ 53 Rdn. 3; LK 9 (Mösl) § 74

Rdn. 10; Maurach/Gössel/Zipf Allg. Teil II § 56 Rdn. 64; Ε 1962 Begründung S. 193; wohl auch Stratenwerth, Allg. Teil I Rdn. 1261. 8

So Schönke/Schröder/Stree, § 53 Rdn. 20. So Bringewat, Gesamtstrafe S. 94f.; Cramer, JurA 1970, 210; LK 10 Rdn. 16; Lackner, § 53 Rdn. 4; SK (Samson) § 53 Rdn. 14. 9

10 11

So auch Schönke/Schröder/Stree,

(Vogler) § 53

§ 53 Rdn. 23; Bringewat, Gesamtstrafe S. 102 f.

§ 53 Rdn. 2; Lackner, § 53 Ebenso Bringewat, Gesamtstrafe S. 104 ff.; Dreher/Tröndle, Rdn. 4; LK 10 (Vogler) § 53 Rdn. 18. Anders Schönke/Schröder/Stree, § 53 Rdn. 27; SK (Samson) § 53 Rdn. 15; Cramer, JurA 1970, 210.

I I I . D i e B i l d u n g der Gesamtstrafe

729

a) Zunächst ist für jede Straftat im Urteil eine Einzelstrafe auszuwerfen, wobei hinsichtlich der Strafzumessung grundsätzlich so zu verfahren ist, als ob die Einzeltat allein zur Aburteilung stünde; bei Geldstrafen ist auch jeweils die Tagessatzhöhe anzugeben (BGH 30, 93 [96]). Die isolierte Würdigung der Einzeltat gilt an sich auch für die Frage, ob nach § 47 ausnahmsweise eine kurzfristige Freiheitsstrafe zu verhängen ist. Doch wird die Berücksichtigung der Tatsache, daß der Täter mehrere Straftaten begangen hat, zu Recht schon an diesem Punkte zugelassen, weil sonst eine spezialpräventiv möglicherweise dringend erforderliche Freiheitsstrafe auch bei Bildung einer Gesamtstrafe nicht zustande kommen könnte (BGH 24, 268 [271]; B G H Dallinger M D R 1970, 196; O L G Hamm NJW 1977, 2087 f.) 12 . Die Einzelstrafen haben in mehrfacher Hinsicht selbständige rechtliche Bedeutung13 und bedürfen daher auch selbständiger Begründung (BGH 24, 268 f.). b) Im Anschluß daran wird nach den Grundsätzen, die auch bei der Idealkonkurrenz gelten (vgl. oben § 67 IV 2), die schwerste Einzelstrafe ermittelt, die Einsatzstrafe heißt. Sind nur gleichartige Einzelstrafen verhängt (z.B. zwei Freiheitsstrafen von zehn bzw. acht Monaten), so ist Einsatzstrafe die höchste Einzelstrafe. Sind dagegen ungleichartige Einzelstrafen ausgesprochen (z.B. ein Jahr Freiheitsstrafe und Geldstrafe in Höhe von zehn Tagessätzen von je 100 DM), so ist Einsatzstrafe die Freiheitsstrafe als die ihrer Art nach schwerste Strafe (§ 54 I). Ist eine der Einzelstrafen eine lebenslange Freiheitsstrafe, so ist auf diese auch als Gesamtstrafe zu erkennen (§ 54 I 1). c) Ist die Einsatzstrafe festgestellt, so findet zum Schluß die Erhöhung dieser Strafe nach dem Asperationsprinzip statt. Dabei ist eine doppelte Obergrenze zu beachten. Einmal darf die Gesamtstrafe nach § 54 I I 1 nicht die Summe der Einzelstrafen erreichen (relative Obergrenze). Wird eine Gesamtstrafe aus Freiheits- und Geldstrafe gebildet (§ 53 I I 1), so dient zur Berechnung der relativen Obergrenze, soweit Geldstrafen in Betracht kommen, die allgemeine Regel, daß ein Tagessatz einem Tag Freiheitsstrafe entspricht (§§ 43 S. 2, 54 III). Zum anderen darf die Gesamtstrafe bei Freiheitsstrafe 15 Jahre, bei Geldstrafe 720 Tagessätze nicht übersteigen (absolute Obergrenze). Die Höchststrafdrohung der verletzten Strafvorschriften kann dabei überschritten werden. Innerhalb dieses Rahmens ist die Gesamtstrafe als gesonderter A k t der Strafzumessung zu bestimmen. § 54 I 3 gibt dafür eigene, über § 46 hinausgehende Bewertungsgrundsätze (BGH 24, 268 [269] m.zust.Anm. Jagusch, NJW 1972, 454). Nach dieser Vorschrift müssen die Person des Täters und die einzelnen Straftaten zusammenfassend gewürdigt werden, was eine besondere Begründung der Gesamtstrafe erforderlich macht 4 . Auf diese Weise soll erreicht werden, daß die Bildung der Gesamtstrafe sich nicht in einer schematischen oder willkürlichen Erhöhung der Einsatzstrafe erschöpft, sondern die Täterpersönlichkeit und die Einzeltaten in ihrem Zusammenhang und ihrer Häufung widerspiegelt (vgl. früher RG 44, 302 [306]) 15 . Bei der Würdigung der Person des Täters wird deshalb vor allem auf die Frage abzustellen sein, ob die 12

Ebenso Bockelmann/Volk,

Allg. Teil S. 261; Dreher/Tröndle,

(Vogler) § 53 Rdn. 4; Schönke/Schröder/Stree, 208; SK (Horn) § 47 Rdn. 6. 13 Vgl. Lackner, § 53 Rdn. 3.

§47 Rdn. 10; LK 10

§ 53 Rdn. 10; anders Cramer, JurA 1970,

14

Kritisch Bruns, Strafzumessungsrecht S. 145 ff.; Bringewat, Gesamtstrafe S. 178 ff. So zu Recht BT-Drucksache V/4094 S. 26; Bringewat, Gesamtstrafe S. 141 ff.; Bruns, Strafzumessungsrecht S. 473ff.; Geerds, Konkurrenz S. 373ff.; Dreher/Tröndle, § 54 Rdn. 6; 15

LK 10 (Vogler) § 54 Rdn. 7ff.; Schorn, JR 1964, 45 ff.; Schweling, GA 1955, 289ff.; Lackner, § 54 Rdn. 6 f.; Schönke/Schröder/Stree, § 54 Rdn. 14.

730

§ 6

Die

ealkonkurrenz

Taten Ausdruck eines kriminellen Hangs sind oder nur unzusammenhängende Gelegenheitsdelikte darstellen. „Serientäterschaft" ist in der Regel strafschärfend zu berücksichtigen (BGH 24, 268 [270]). Auch die Wirkung der Strafe auf das künftige Leben des Täters (§ 46 I 2) ist unter dem Gesichtspunkt des Vorliegens einer Mehrheit von strafbaren Handlungen zu prüfen. Die zusammenfassende Würdigung der Einzeltaten wird insbesondere das Gesamtgewicht des Unrechtsgehalts und die Frage des inneren Zusammenhangs der Einzelakte einzuschätzen haben. Strafzumessungserwägungen, die schon bei der Bemessung der Einzelstrafen verwendet worden sind, dürfen wegen des „Verbots der Doppelverwertung" (vgl. unten § 83 V I I 1) bei der Bildung der Gesamtstrafe nicht mehr berücksichtigt werden (anders B G H 8, 205 [210f.]; 24, 268 [270f.]; O L G Köln NJW 1953, 275 [276]) 16 . Die Einzelstrafen behalten trotz der Bildung der Gesamtstrafe, die allein im Urteilstenor erscheint, in mehrfacher Hinsicht ihre Bedeutung. An sie knüpfen sich die im Urteil ausgesprochenen Nebenwirkungen (§§ 53 III, 52 IV); sie sind die Grundlage für die Verhängung einer Vermögensstrafe nach § 43 a (§ 53 III); mit ihnen können außerstrafrechtliche Rechtsfolgen verbunden werden (z.B. die Entziehung der Jagderlaubnis); wird die Gesamtstrafe im Rechtsmittelverfahren aufgehoben, so bleiben die Einzelstrafen grundsätzlich bestehen; Einzelstrafen können selbständig rechtskräftig werden, sie dürfen jedoch nicht im voraus vollstreckt werden. 2. Eine Gesamtstrafe kann nach § 55 auch nachträglich gebildet werden. Voraussetzung dafür ist einmal, daß die später abgeurteilte Tat vor der früheren Verurteilung begangen worden war und demgemäß schon in dem ersten Verfahren zur Bildung einer Gesamtstrafe hätte herangezogen werden müssen, wenn sie dem Gericht damals bekannt gewesen wäre. Maßgeblicher Zeitpunkt für die Frage, ob die später abgeurteilte Tat vor der früheren Verurteilung begangen wurde, ist die Verkündung des letzten Urteils, durch das über die Schuldund Straffrage entschieden wurde und in dem das Gericht demgemäß auf eine Gesamtstrafe hätte erkennen können (§ 55 I 2) (ebenso schon BGH 15, 66 [69]; 17, 173 [175]; zum Strafbefehl, bei dem es auf den Zeitpunkt des Erlasses ankommt, BGH 33, 230 [232])17. Weiter darf die frühere Strafe im Zeitpunkt der späteren Aburteilung noch nicht vollstreckt, verjährt oder erlassen sein, weil nur eine noch nicht erledigte Strafe in das neue Verfahren einbezogen und zur Bildung einer Gesamtstrafe verwendet werden kann (zum Härteausgleich durch Unterschreitung der Einsatzstrafe BGH 31, 102 [104], durch Anrechnung von Leistungen auf Bewährungsauflagen BGH 33, 326). Maßgeblicher Zeitpunkt der „späteren Verurteilung" ist das letzte tatrichterliche Urteil (BGH 2, 230 [232]; 15, 66 [71])18. Ist schon in dem früheren Urteil auf eine Gesamtstrafe erkannt worden, so wird diese aufgelöst und auf der Grundlage der damals ausgesprochenen Einzelstrafen und der Strafe des zweiten Urteils erneut die Einsatzstrafe ermittelt. Diese wird dann nach den allgemeinen Regeln über die Bildung der Gesamtstrafe verschärft. Nebenstrafen usw. werden einheitlich durch das spätere Urteil ausgesprochen. Sind sie in der früheren Entscheidung enthalten, so bleiben sie grundsätzlich bestehen (§ 55 II). War für die früher erkannte Strafe Strafaussetzung zur Bewährung (§ 56) bewilligt worden, so steht das der nachträglichen Bildung einer Gesamtstrafe nicht entgegen. Die Strafaussetzung wird durch die Einbeziehung in das neue Urteil gegenstandslos, bei der Bildung der Gesamtstrafe hat der zweite Richter auch über die Strafaussetzung neu zu entscheiden (BGH 7, 180). Maßgebend ist dafür die Höhe der Gesamtstrafe (§ 58 I). Die 16

Wie der Text Dreher, JZ 1957, 157; Dreher/Tröndle,

18; SK (Samson) § 54 Rdn. 9; Schönke/Schröder/Stree,

§ 54 Rdn. 6; Jakobs, Allg. Teil 33/

§ 54 Rdn. 15; Schweling, GA 1955,

292. Für Doppelverwertung aber Bruns, Strafzumessungsrecht S. 473 f.; derselbe, H. MayerFestschrift S. 374f.; Geerds, Konkurrenz S. 376 Fußnote 765; LK 10 (Vogler) § 54 Rdn. 11; Lackner, § 54 Rdn. 6.

17 Die Fassung des § 55 I 2 ist in diesem die Straffrage einschließenden Sinne zu verstehen; vgl. Bringewat, Gesamtstrafe S. 153. 18 Dagegen ist nach Schönke/Schröder/Stree, § 55 Rdn. 25 auf den Zeitpunkt der letzten richterlichen Entscheidung vor dem Eintritt der Rechtskraft, nach Schräder, MDR 1974, 719 auf das erstinstanzliche Urteil abzustellen.

I I I . D i e B i l d u n g der Gesamtstrafe

731

Anrechnung der bereits abgelaufenen Bewährungszeit und der vom Verurteilten erbrachten Leistungen ist in § 58 II geregelt. Liegen die Taten, die den Gegenstand der neuen Verurteilung bilden, teils vor, teils nach der früheren Verurteilung, so müssen zwei selbständige Gesamtstrafen gebildet werden (RG 4, 53 [55]; BGH GA 1955, 244)19. Ist die nachträgliche Bildung einer Gesamtstrafe nach § 55 in dem späteren Urteil unterblieben, weil das Gericht von dem früheren Urteil keine Kenntnis gehabt hat, so kann die Entscheidung im Beschlußwege nach § 460 StPO nachgeholt werden20. Das Verfahren richtet sich nach § 462 StPO. Ausnahmsweise kann die Bildung der Gesamtstrafe dem Nachtragsverfahren dann überlassen bleiben, wenn das frühere Urteil zwar rechtskräftig ist, der Angeklagte jedoch einen aussichtsreichen Wiedereinsetzungsantrag gestellt hat (BGH 23, 98) 2 2 . Über die Zäsurwirkung einer früheren Verurteilung im Rahmen einer nachträglichen Gesamtstrafenbildung BGH 33, 367 (369) m.krit.Anm. Stree, JR 1987, 73 ff. 23 .

§ 69 Die Gesetzeseinheit Baumann, Straflose Nachtat und Gesetzeskonkurrenz, MDR 1959, 10; derselbe, Amtsunterschlagung und Betrug, NJW 1961, 1141; Bockelmann, Anmerkung zu OLG Hamm vom 4.11.1952, JZ 1953, 233; derselbe, Zur Konkurrenz der Vermögensdelikte, JZ 1960, 621; Bruns, Anmerkung zu BGH 30, 166, JR 1982, 166; Burgstaller, Die Scheinkonkurrenz im Strafrecht, JBl 1978, 393; Graf zu Dohna, Grenzen der Idealkonkurrenz, ZStW 61 (1942) S. 131; Dreher, Anmerkung zu OLG Braunschweig vom 28.6.1963, MDR 1964, 167; Dünnebier, Die Subsidiaritätsklausel, GA 1954, 271; Gelbert, Die mitbestrafte Tat, Diss. Heidelberg 1934; Gössel, Die Strafzumessung im System des Strafrechts, Festschrift für H. Tröndle, 1989, S. 357; Hirschberg, Zur Lehre von der Gesetzeskonkurrenz, ZStW 53 (1934) S. 34; Honig, Straflose Vor- und Nachtat, 1927; Klug, Zum Begriff der Gesetzeskonkurrenz, ZStW 68 (1956) S. 399; Köhler, Die Grenzlinien zwischen Idealkonkurrenz und Gesetzeskonkurrenz, 1900; Kohlmann, Schließt die Verjährung der Vortat auch die Bestrafung wegen der Nachtat aus? JZ 1964, 492; Krauß, Zum Begriff der straflosen Nachtat, GA 1965, 173; v.Krog, Die straflosen Vor- und Nachtaten, Diss. Hamburg 1976; Lenckner, Anmerkung zu OLG Stuttgart vom 4.4.1973, JZ 1973, 741, 794; Mezger, Anmerkung zu RG 70, 357, JW 1937, 627; Peters, Einheitsstrafe bei Verbrechensmehrheit, Festschrift für E. Kohlrausch, 1944, S. 199; Pflaum, Über Gesetzeskonkurrenz, Diss. Erlangen 1898; Rittmann, Wesen und Bedeutung der Konsumtion im Rahmen der strafrechtlichen Konkurrenzlehre, Diss. Tübingen 1955; R. Schmitt, Die Konkurrenz im geltenden und künftigen Recht, ZStW 75 (1963) S. 43, 179; Schneider, Zur Gesetzeskonkurrenz im strafrechtlichen Gutachten, JZ 1953, 660; Schneidewin, Inwieweit ist es möglich und empfehlenswert, die Art der Konkurrenz zwischen mehreren Straftatbeständen im Gesetz auszudrücken? Materialien, Bd. I, S. 221; Schröder, Anmerkung zu BGH 20, 235, JZ 1965, 729; Seier, Die Gesetzeseinheit und ihre Rechtsfolgen, Jura 1983, 225; Wessels, Zur Problematik der Regelbeispiele usw., Festschrift für R. Maurach, 1972, S. 295; Wolter, Verurteilung aus nicht tatbestandsmäßiger Nachtat? G A 1974, 161. Vgl. ferner die Schrifttumsangaben vor §§ 66 und 67.

19 Für Bildung einer einzigen Gesamtstrafe Sacksofsky, NJW 1963, 894; dagegen mit Recht Bender, NJW 1964, 807. 20 Die unterlassene Gesamtstrafenbildung nach § 55 bleibt aber trotz dieser Möglichkeit nachträglicher Korrektur ein Revisionsgrund (BGH 12, 1); vgl. Henßler, NJW 1953, 453. 21 Vgl. dazu Küper, MDR 1970, 885 ff. Vgl. ferner OLG Hamm, NJW 1970, 1200

m. Anm. Küper, NJW 1970, 1559. 22

Zum Verbot der reformatio in peius bei der nachträglichen Bildung einer Gesamtstrafe

vgl. Bringewat, Gesamtstrafe S. 215 ff.; Maiwald, JR 1980, 353 ff.; Schönke/Schröder/Stree,

§ 55 Rdn. 42. Zur nachträglichen Bildung einer Gesamtgeldstrafe Vogt, NJW 1981, 890 ff. 23 Gegen diese Rechtsprechung zutreffend SK (Samson) § 53 Rdn. 9.

732

§ 69 D i e Gesetzeseinheit

I. Das Wesen der Gesetzeseinheit 1. Neben die beiden echten Konkurrenzarten (Ideal- und Realkonkurrenz) treten andere Fallgestaltungen, bei denen mehrere Strafgesetze nur scheinbar zusammentreffen, während in Wirklichkeit eines die anderen ausschließt (unechte Konkurrenz). Der gemeinsame Grundgedanke dieser Gruppe besteht darin, daß der Unrechts- und Schuldgehalt einer strafbaren Handlung schon nach einem der in Betracht kommenden Strafgesetze erschöpfend bestimmt werden kann (BGH 11, 15 [17]; 25, 373)1. Da nur das primäre Gesetz angewendet wird und das verdrängte Gesetz im Schuldspruch gar nicht in Erscheinung tritt, erscheint es angebracht, den herkömmlichen, aber irreführenden Ausdruck „Gesetzeskonkurrenz" durch „Gesetzeseinheit" zu ersetzen2. Während der Gesetzgeber für die Ideal- und Realkonkurrenz besondere Vorschriften über die Bildung des Strafrahmens und die Art und Weise der Strafzumessung aufgestellt hat, ist die Gesetzeseinheit im Allgemeinen Teil nicht erwähnt, weil im Ergebnis nur ein Strafgesetz angewendet wird, obwohl zunächst mehrere Vorschriften anwendbar erscheinen. Ebenso ist die Frage, ob verschiedene Strafbestimmungen zueinander im Verhältnis der Gesetzeseinheit stehen, im Gesetz nicht ausdrücklich geregelt, sondern kann nur durch Auslegung der in Betracht kommenden Tatbestände beantwortet werden. Angesichts der Unübersehbarkeit der Möglichkeiten, die sich dabei ergeben, hat der Gesetzgeber wohl zu Recht darauf verzichtet, Konkurrenzverhältnisse durch allgemeine Regeln äußerlich festzulegen 3. 2. Die Unterscheidung der echten Konkurrenzarten von der Gesetzeseinheit hat dadurch erheblich an Bedeutung verloren, daß die Rechtsprechung dem verdrängten Gesetz auch bei der letzteren nach und nach in verschiedener Richtung Einfluß auf die Entscheidung des Einzelfalls eingeräumt hat (vgl. unten § 69 III) 4 . Immerhin bleiben aber trotz dieser Annäherung doch bedeutsame Unterschiede zu den echten Konkurrenzarten bestehen. Einmal wird bei der Gesetzeseinheit die 1 Ebenso R. Schmitt, ZStW 75 (1963) S. 48; Baumann/Weber, Allg. Teil S. 660; Burgstaller, JBl 1978, 393; Blei, Allg. Teil S. 357f.; LK 10 (Vogler) Vorbem. 101 vor § 52; Schmidhäuser, Allg. Teil S. 730; Schönke/Schröder/Stree, Vorbem. 102 vor § 52; Seier, Jura 1983, 227; SK (Samson) Vorbem. 57 vor § 52; Stratenwerth, Allg. Teil I Rdn. 1175. In ähnlicher Weise stellt Geerds, Konkurrenz S. 163 darauf ab, ob „wirklich oder nur scheinbar eine Mehrheit von Strafberechtigungen" gegeben ist. Vgl. auch Köhler, Die Grenzlinien S. 62, der das Hauptgewicht darauf legt, ob die Mehrheit der Tatbestände eine „Mehrheit von Schuldvorstellungen" erwecken mußte. Vogler, Bockelmann-Festschrift S. 721 f.; Jakobs, Allg. Teil 31/ 12; v. Krog, Die straflosen Vor- und Nachtaten S. 14; Wegscheider, Konkurrenz S. 211 f. erklären die Gesetzeseinheit überzeugend mit dem Verbot der Doppelbestrafung. Dagegen kann man die Auffassung von Puppe, Idealkonkurrenz S. 313 ff., die als Gesetzeseinheit allein den Fall der Spezialität gelten läßt, nur für richtig halten, wenn man auch ihrer Konzeption von der Idealkonkurrenz als Unrechtsverwandtschaft folgt (vgl. oben § 66 Fußnote 5). 2 So BGH 11, 15 (17); 18, 26 (27); 25, 373; 28, 11 (15). Vgl. ferner Bockelmann/Volk Allg. Teil S. 257f.; Geerds, Konkurrenz S.156; v. Liszt/ Schmidt, S. 356 Fußnote 2; LK

(Vogler)

Vorbem. 101 vor § 52; Schönke/Schröder/Stree,

Vorbem. 102 vor § 52; Pflaum, Ge-

setzeskonkurrenz S. 9; Sauer, Allgemeine Strafrechtslehre S. 231; Schmidhäuser, Allg. Teil S. 730; Wessels, Allg. Teil Rdn. 787. Im Sinne einer „Konkurrenz um die Anwendung" versteht Hirschberg, ZStW 53 (1934) S. 37 den Ausdruck Gesetzeskonkurrenz. Kohlrausch/Lange, Vorbem. III vor § 73 spricht von Ausschluß (Konsumtion), Burgstaller, JBl 1978, 393 von „Scheinkonkurrenz". 3 Vgl. dazu Schneidewin, Materialien Bd. I S. 229; Ε 1962 Begründung S. 191; BT-Drucksache V/4094 S. 25. 4 Nach Schönke/Schröder/Stree, Vorbem. 103 vor § 52 habe die Praxis den Unterschied „nahezu auf Null reduziert".

I I . D i e Fallgruppen der Gesetzeseinheit

733

zurücktretende Strafvorschrift nicht in den Schuldspruch aufgenommen, trägt also auch zur Kennzeichnung der Tat nichts bei. Zum anderen steht der Mitberücksichtigung des ausgeschlossenen Gesetzes bei der Strafzumessung nicht selten die Tatsache entgegen, daß dessen Merkmale im Tatbestand des anzuwendenden Gesetzes bereits enthalten sind (Verbot der Doppelverwertung). Endlich bleibt das verdrängte Gesetz dann endgültig aus dem Spiel, wenn das primär anzuwendende Gesetz eine Privilegierung enthält, die der Täter durch den Rückgriff auf das verdrängte Gesetz verlieren würde (vgl. unten § 69 I I I l ) 5 . II. Die Fallgruppen der Gesetzeseinheit Während Ideal- und Realkonkurrenz durch die ihnen jeweils zugeordneten Grundbegriffe der Handlungseinheit und Handlungsmehrheit klar unterschieden sind, kann Gesetzeseinheit in beiden Fällen vorliegen und sich demgemäß sowohl als „scheinbare (unechte) Idealkonkurrenz" wie auch als „scheinbare (unechte) Realkonkurrenz" darstellen 6. Die Abgrenzung der Gesetzeseinheit muß daher nach anderen Kriterien vorgenommen werden. Die Fragen, die hierbei auftreten, sind bis in die Terminologie hinein stark umstritten. Die überwiegende Meinung unterscheidet zwischen Spezialität, Subsidiarität und Konsumtion 7 . 1. Das Verhältnis der Spezialität liegt vor, wenn eine Strafvorschrift alle Merkmale einer anderen aufweist und sich nur dadurch von dieser unterscheidet, daß sie mindestens noch ein weiteres Merkmal enthält, das den Sachverhalt unter einem besonderen Gesichtspunkt erfaßt 8. Bei der Spezialität ist das logische Abhängigkeitsverhältnis der Subordination gegeben, denn jede Handlung, die den Tatbestand des speziellen Delikts erfüllt, verwirklicht notwendigerweise zugleich auch den Tatbestand des allgemeinen, während das Umgekehrte nicht gilt 9 . In diesem Fall tritt das allgemeine Gesetz zurück: „lex specialis derogat legi generali Spezialität besteht immer im Verhältnis zwischen dem Grundtatbestand und seinen qualifizierenden bzw. privilegierenden Abwandlungen (vgl. oben § 26 I I I 2). So sind etwa Mord (§ 211) und Kindestötung (§ 217) spezielle Strafvorschriften im Verhältnis zum Totschlag (§ 212), Diebstahl mit Waffen und Bandendiebstahl (§ 244) sowie Haus- und Familiendiebstahl (§ 247) im Verhältnis zum einfachen Diebstahl (§ 242)10. Ebenso stehen auch die zu 5

Vgl. Bruns, Strafzumessungsrecht S. 467. Vgl. M. E. Mayer, Lehrbuch S. 501, 511; Hirschberg, ZStW 53 (1934) S. 50; Blei, Allg. Teil S. 357; Schönke/Schröder/Stree, Vorbem. 102 vor § 52; Wessels, Allg. Teil Rdn. 787. Allg. Teil I I § 55 Anders Baumann, MDR 1959, 10 Fußnote 1 und Maurach/Gössel/Zipf, Rdn. 27, die den Begriff der Gesetzeseinheit auf die Handlungseinheit beschränken. 7 Wie der Text z.B. Baumann/Weber, Allg. Teil S. 660; Blei, Allg. Teil S. 358ff.; Bockelmann/Volk, Allg. Teil S. 258; Burgstaller, JBl 1978, 395; Dreher/Tröndle, Vorbem. 18ff. vor § 52; Jakobs, Allg. Teil 31/19ff.; LK 10 (Vogler) Vorbem. 105 vor § 52; Lackner, Vorbem. 25 ff. vor § 52; SK (Samson) Vorbem. 60ff. vor § 52; Preisendanz, Vorbem. III vor § 52; Welzel, Lehrbuch S. 234f.; Wessels, Allg. Teil Rdn. 787; Schmidhäuser, Allg. Teil S. 730 ff. Gesondert erfassen die straflose Nachtat Stratenwerth, Allg. Teil I Rdn. 1195 f.; Wessels, Allg. Teil Rdn. 795. Gegen den selbständigen Begriff der Konsumtion Kohlrausch/ Lange, Vorbem. III vor § 73; M aurach/Gössel/Zipf Allg. Teil I I § 55 Rdn. 51; Klug, ZStW 68 (1956) S. 406ff.; Schönke/Schröder/Stree, Vorbem. 131 vor § 52. 8 So die klare Definition von Honig, Straflose Vor- und Nachtat S. 113; vgl. ferner Geerds, Konkurrenz S. 193; LK 10 (Vogler) Vorbem. 108ff. vor § 52; R. Schmitt, ZStW 75 Vorbem. 110 vor § 52; Burgstaller, JBl 1978, 396. (1963) S. 49; Schönke/Schröder/Stree, 9 Über die logische Beziehung zwischen dem generellen und dem speziellen Gesetz Klug, ZStW 68 (1956) S. 405 f. 10 Über die bei § 243 auftretenden Konkurrenzprobleme vgl. Schönke/Schröder/Eser, § 243 Rdn. 59. 6

734

§ 69 D i e Gesetzeseinheit

eigenständigen Delikten erhobenen Sondertatbestände (vgl. oben § 26 III 3) zu ihrem Ausgangstatbestand im Verhältnis der Spezialität, so der Raub (§ 249) zum Diebstahl (§ 242) und zur Nötigung (§ 240). Zweifel entstehen nur dann, wenn der Grundtatbestand durch verschiedene Erschwerungsgründe qualifiziert ist und die Frage auftritt, in welchem Verhältnis diese qualifizierenden Tatbestände zueinander stehen, z.B. die gefährliche Körperverletzung (§ 223 a) zur absichtlichen schweren Körperverletzung (§ 225 II) und zur Körperverletzung mit Todesfolge (§ 226). Entgegen der Rechtsprechung 1 ist hier in der Regel Idealkonkurrenz anzunehmen, weil sonst der besondere Unrechtsgehalt des zurücktretenden Gesetzes verloren ginge. Das Gegenstück zur Spezialität ist die Alternativität. Sie liegt dann vor, wenn zwei Tatbestände einander widerstreitende Handlungsbeschreibungen enthalten und sich deswegen gegenseitig ausschließen wie Diebstahl (§ 242) und Unterschlagung (§ 246) 12 . Da die Gesetzeseinheit - abgesehen vom Fall der straflosen Vorbzw. Nachtat - mindestens eine teilweise Deckung der Tatbestandshandlungen voraussetzt, scheidet die Alternativität als Untergruppe der Gesetzeseinheit schon aus logischen Gründen aus. 2. Subsidiarität bedeutet, daß eine Strafvorschrift nur hilfsweise für den Fall Anwendung finden soll, daß nicht schon eine andere Strafvorschrift eingreift. Das als Auffangtatbestand gedachte Gesetz tritt hinter dem primär anzuwendenden Gesetz zurück: „lex primaria derogat legi subsidianae Den materiellen Grund der Subsidiarität sieht Honig darin, „daß verschiedene Strafrechtssätze dasselbe Rechtsgut in verschiedenen Angriffsstadien schützen" 13 . Die logische Struktur der Subsidiarität ist nicht die der Subordination, sondern die der Überschneidung (Interferenz) 14 . Beispiele: Es gibt Fälle der falschen Verdächtigung (§ 164), die zugleich die Vortäuschung einer Straftat (§ 145d) enthalten, es gibt jedoch auch Sachverhalte, die nur unter den einen oder den anderen Tatbestand fallen. Dasselbe Verhältnis besteht zwischen Betrug (§ 263) und Automatenmißbrauch (§ 265 a), zwischen erpresserischem Menschenraub (§ 239 a) und Geiselnahme (§ 239b) (BGH 25, 386). Das Verhältnis der Subsidiarität ergibt sich entweder aus dem Wortlaut des Gesetzes15 oder durch Auslegung des Sinnzusammenhangs mehrerer Strafvorschriften. Man unterscheidet demgemäß zwischen ausdrücklicher (formeller) und sachgegebener (materieller) Subsidiarität 16. Die hilfsweise Geltung eines Gesetzes kann in der Weise geregelt sein, daß es hinter jeder anderen Strafvorschrift zurücktreten soll (so früher § 143 I 2 a.F.) (absolute S.). In der Regel genießt jedoch nur ein 11

Gesetzeseinheit zwischen § 223a und §§ 224, 225 nehmen an BGH 21, 194 (195) und BGH NJW 1967, 297. 12 So Hirschberg, ZStW 53 (1934) S. 48; Honig, Straflose Vor- und Nachtat S. 113;

v. Liszt/ Schmidt, S. 357; Maurach/Gössel/Zipf,

Allg. Teil I I §55 Rdn. 12; LK 10 (Vogler)

Vorbem. 106 vor § 52. Ein früher weitergehender Begriff der Alternativität ist durch Bereinigung der Strafrahmen inzwischen gegenstandslos geworden, vgl. dazu Klug, ZStW 68 (1956) S. 409 ff. 13 Honig, Straflose Vor- und Nachtat S. 113; vgl. ferner Hirschberg, ZStW 53 (1934) S. 46 ff. sowie Burgstaller, JBl 1978, 400 ff. mit den Fallgruppen Versuch-Vollendung, Vorbereitung-Versuch und Gefährdung-Verletzung. Dagegen begnügt sich Geerds, Konkurrenz S. 179 gegen Honig mit einer formellen Definition. Jakobs, Allg. Teil 31/26 betrachtet die Subsidiarität als Fall der Spezialität. 14 Vgl. dazu näher Klug, ZStW 68 (1956) S. 406; Schmidhäuser, Allg. Teil S. 732; Stratenwerth, Allg. Teil I Rdn. 1190. 15 Vor der Verwendung der Subsidiaritätsklausel im Gesetz warnt Schneidewin, Materialien Bd. I S. 224. Über Auslegungszweifel BGH GA 1974, 149. 16 Vgl. LK 10 (Vogler) Vorbem. 118ff. vor § 52; Schönke/Schröder/Stree, Vorbem. 106ff. vor § 52; SK (Samson) Vorbem. 63 ff. vor § 52; Stratenwerth, Allg. Teil I Rdn. 1191 ff.

I I . D i e Fallgruppen der Gesetzeseinheit

735

Tatbestand den Vorrang, der die Handlung mit schwererer Strafe bedroht (z.B. §§ 125, 145d, 248b, 265 a) (relative S.). Meist wird weiter anzunehmen sein, daß die subsidiäre Strafvorschrift nur hinter einem Gesetz zurücktreten soll, das Handlungen gleicher krimineller Angriffsrichtung erfaßt, weil das der innere Grund für den Vorrang des primär anzuwendenden Gesetzes ist (BGH 6, 297 [298]) 17 . Diese Beschränkung ergibt sich teils aus dem Wortlaut (z.B. §§ 98 I, 99 I, 145d I), teils aus dem Sinn des Gesetzes. a) Sachgegebene Subsidiarität gilt einmal, wenn in einer Person Täterschaft und Teilnahme bzw. verschiedene Formen der Teilnahme hinsichtlich der gleichen Straftat zusammentreffen, für die schwächere im Verhältnis zur stärkeren Beteiligungsform (vgl. oben § 64 IV 2) 18 . Hat jemand z.B. zu der Tat, zu der er angestiftet hat, auch Beihilfe geleistet, ist letztere subsidiär; hat der Täter sich einen Mittäter geworben, ist er nur wegen Täterschaft, nicht auch wegen Anstiftung verantwortlich. Subsidiär ist auch die fahrlässige Tatbegehung gegenüber der vorsätzlichen in bezug auf das gleiche Handlungsobjekt, z.B. wenn ein Kraftfahrer vorsätzlich die Rettung eines von ihm verletzten Fußgängers unterläßt, der mangels sofortiger Hilfeleistung stirbt (anders BGH 7, 287 [288]). b) Die zweite Gruppe der sachgegebenen Subsidiarität bilden die Durchgangsdelikte. Diese erfassen Vorstufen der Deliktsverwirklichung und verlieren ihre selbständige Bedeutung, sobald auf einer späteren Stufe eine weitergehende Beeinträchtigung des geschützten Rechtsguts eintritt (straflose Vortat). Hierhin gehören die selbständig strafbaren Vorbereitungshandlungen (z.B. § 30, vgl. oben § 65 V), der Versuch und die Delikte, die ihrer Natur nach stets mehrere Tatbestände durchlaufen müssen, wie z.B. die Tötung den Bereich der Körperverletzung (BGH 16, 122; 21, 265; 22, 248). Subsidiär ist unter dem Gesichtspunkt der straflosen Vortat ferner das konkrete Gefährdungsdelikt gegenüber dem Verletzungsdelikt, sofern der Gefährdungserfolg nicht über den eingetretenen Schaden hinausgeht, während abstrakte Gefährdungdelikte, wenn sie sich gegen Rechtsgüter der Allgemeinheit richten, selbständige Bedeutung behalten19. Beispiele: So ist die Aussetzung des neugeborenen Kindes (§ 221) gegenüber der Kindestötung (§217) subsidiär (RG 68, 407 [409]), während für § 315 c im Verhältnis zu § 222 Idealkonkurrenz anzunehmen ist 20 . 3. Umstritten ist besonders der Fall der Konsumtion (BGH 10, 312 [314f.]) 21 . Allgemein läßt sich darüber nur sagen, daß Konsumtion dann anzunehmen ist, wenn der Unrechts- und Schuldgehalt einer tatbestandsmäßigen Handlung eine andere Tat bzw. einen anderen Tatbestand mit einschließt, so daß bereits die Verurteilung unter dem einen rechtlichen Gesichtspunkt den Unwert des Gesamtgeschehens erschöpfend ausdrückt: „lex consumens derogat legi consumptae" 22. Der 17

Ebenso LK i0 (Vogler) Vorbem. 119 vor § 52; SK (Samson) Vorbem. 63 vor § 52; abweichend Schönke/Schröder/Stree, Vorbem. 106 vor § 52, der im Zweifel unbedingtes Zurücktreten annehmen will. 18 Vgl. Schönke/Schröder/Stree, Vorbem. 107 vor § 52; SK (Samson) Vorbem. 70 vor § 52. 19 Vgl. Schönke/Schröder/Stree, Vorbem. 129 vor § 52; Stratenwerth, Allg. Teil I Rdn. 1193 für die Gemeingefahr in §§ 312ff. 20

21

So Lackner, § 315c Rdn. 35; Dreh er/Tröndle,

§ 315c Rdn. 23.

Vgl. zum Begriff der Konsumtion Baumann/Weber, Allg. Teil S. 662 f.; Burgstaller, JBl 1978, 459; Geerds, Konkurrenz S. 222; Köhler, Die Grenzlinien S. 88 ff.; Kühl, Allg. Teil § 21 Rdn. 60ff.; Rittmann, Konsumtion S. 40ff.; Schmidhäuser, Allg. Teil S. 733; SK (Samson) Vorbem. 71 ff. vor § 52; Welzel, Lehrbuch S. 235. Für überflüssig halten den Begriff der Konsumtion Klug, ZStW 68 (1956) S. 415; Maurach/Gössel/Zipf Allg. Teil II § 55 Rdn. 51; Schönke/Schröder/Stree, Vorbem. 131 vor § 52 und R. Schmitt, ZStW 75 (1963) S. 55. Dagegen tritt bei Kohlrausch/Lange, Vorbem. III vor § 73 der Ausdruck „Konsumtion" (mit den Untergliederungen Spezialität, Subsidiarität und straflose Nachtat) an die Stelle des Ausdrucks „Gesetzeseinheit". 22 Vorbem. 20 vor § 52; Lackner, Vorbem. 27 Vgl. Blei, Allg. Teil S. 360; Dreher/Tröndle, vor § 52; LK 10 (Vogler) Vorbem. 131 vor § 52; Stratenwerth, Allg. Teil I Rdn. 1187ff.

736

§ 69 D i e Gesetzeseinheit

Unterschied der Konsumtion gegenüber der Subsidiarität liegt darin, daß die verschiedenen Straftatbestände hier nicht in einem bestimmten logischen, wohl aber einem kriminologischen Näheverhältnis zueinander stehen, was der Gesetzgeber bei der Aufstellung der Strafrahmen der in Betracht kommenden Tatbestände auch berücksichtigt 2 . Was gemeint ist, läßt sich nur anhand der in die Konsumtion einbezogenen Fälle erklären. a) Eine der Straftat nachfolgende tatbestandsmäßige Handlung, die den durch die erste Tat erlangten rechtswidrigen Gewinn sichern, ausnutzen oder verwerten soll, wird konsumiert, wenn kein neues Rechtsgut verletzt ist und der Schaden quantitativ nicht über das bereits eingetretene Maß hinaus erweitert wird (straflose oder besser mitbestrafte Nachtat) (BGH 6, 67; BGH NStZ 1987, 23)24. Das Typische des Zusammenhangs zwischen Tat und Nachtat besteht hier darin, daß der Täter in der Regel auch die Nachtat begehen muß, um sich die Vorteile aus der Haupttat zu erhalten. So ist die Zueignung der gestohlenen Sache durch den Dieb keine selbständig zu erfassende Unterschlagung (nach BGH 14, 38 [45] soll es sogar am Tatbestand der Unterschlagung fehlen 25), weil damit nur die Zueignungsabsicht des § 242 verwirklicht wird, wohl aber ist der Verkauf der Sache an einen gutgläubigen Dritten als Betrug zu bestrafen, weil in dem Vermögen des Erwerbers ein neues Rechtsgut verletzt wird (RG 49, 16 [20]). Entsprechendes gilt für das Verhältnis von Unterschlagung und Betrug (RG 62, 61)26. Wird mittels einer gestohlenen Urkunde dem Bestohlenen durch Betrug ein zusätzlicher Schaden zugefügt, so ist die Nachtat selbständig strafbar (RG 49, 405 [408]; 64, 281 [284])27. Die konsumierte Nachtat ist auch dann straflos, wenn die Vortat mit geringerer Strafe bedroht ist, z.B. Unterschlagung (§ 246) gegenüber Anstiftung zur Hehlerei (§§ 26, 259), oder wenn sie tatsächlich nicht bestraft werden kann (z.B. wegen Straflosigkeit des Versuchs, fehlenden Strafantrags oder eingetretener Verjährung 28), denn der die Vortat erfassende Straftatbestand bildet in diesen Fällen die ausschließliche Bewertungsgrundlage für das Gesamtgeschehen. Für Dritte bleibt die Nachtat dagegen geeignete Grundlage eigener Strafbarkeit wegen Teilnahme, Hehlerei und Begünstigung, da es nicht an der Tatbestandsmäßigkeit der Nachtat, sondern nur an der Strafbarkeit des Nachtäters fehlt (RG 67, 70 [77]). 23 Im Unterschied zur Spezialität liegt bei der Konsumtion nicht das Verhältnis der Subordination vor; vgl. Klug, ZStW 68 (1956) S. 409. 24 Vgl. Honig, Straflose Vor- und Nachtat S. 81; Geerds, Konkurrenz S. 205ff.; LK 10 (Vogler) Vorbem. 137 vor § 52; Wessels, Allg. Teil Rdn. 795. Eine Ausweitung des Begriffs der Nachtat befürwortet Baumann, MDR 1959, 10 ff. Dagegen sehen Maurach/ Gössel/Zipf, Allg. Teil II § 56 Rdn. 23 und Jakobs, Allg. Teil 31/34 die Nachtat als „durch die Vortat abschließend bewertet" an. Schönke/Schröder/Stree, Vorbem. 112 vor § 52; R. Schmitt, ZStW 75 (1963) S. 55 und im wesentlichen auch Stratenwerth, Allg. Teil I Rdn. 1195 ordnen die straflose Nachtat in die Kategorie der Subsidiarität ein. 25

Dagegen zu Recht Baumann, NJW 1961, 1141; Bockelmann, JZ 1960, 621; Schönke/

Schröder/Eser, § 242 Rdn. 76; Stratenwerth, Allg. Teil I Rdn. 1196. 26 Weitere Rechtsprechung bei Gelbert, Die mitbestrafte Tat S. 6 ff., 12 ff., 19 ff. Zum Sicherungsbetrug insbes. Schönke/Schröder/Gramer, § 263 Rdn. 184f. 27 Zweifelhaft ist die Frage, ob auch die spätere Zerstörung der Sache durch § 242 bzw. § 246 mit abgegolten ist, wie die Rechtsprechung (RG 35, 64 [65]) und die h. L. mit Schönke / Schröder / Stree, Vorbem. 114 vor § 52 annimmt. Sie ist zu verneinen, da die Zerstörung der Beute keine Zueignungshandlung ist; vgl. Jakobs, Allg. Teil 31/35; Jescheck, ZStW 67 (1955) S. 535; Krauß, GA 1965, 180; Sauer, Allgemeine Strafrechtslehre S. 242. Zweifelnd Dreher/Tröndle, Vorbem. 50 vor § 52. 28 So OLG Braunschweig, NJW 1963, 1936. Zustimmend Baumann/Weber, Allg. Teil S. 684; Blei, Allg. Teil S. 363; Maurach/Gössel/Zipf, Allg. Teil II § 56 Rdn. 44; Krauß, GA 1965, 178; Schönke/Schröder/Stree, Vorbem. 116 vor § 52; SK (Samson) Vorbem. 76 vor § 52; Stratenwerth, Allg. Teil I Rdn. 1204; Welzel, Lehrbuch S. 228. Dagegen BGH Dallinger MDR 1955, 269; BGH JZ 1968, 710; GA 1971, 83; NStZ 1993, 96; Dreher, MDR 1964, 167; Geerds, Konkurrenz S. 229; Kohlmann, JZ 1964, 492; LK 10

(Vogler)

Vorbem. 146 vor

§ 52; Sauer, Allg. Strafrechtslehre S. 242; Schmidhäuser, Allg. Teil S. 734; Wessels, Allg. Teil Rdn. 796. Vgl. ferner Wolter, GA 1974, 161 ff.

I I I . D i e Behandlung der Gesetzeseinheit

737

b) Konsumiert wird ferner die typische Begleittat29. Ein solcher Fall ist dann anzunehmen, wenn der Gesetzgeber bei Aufstellung einer qualifizierten Strafvorschrift den Umstand schon in Rechnung gestellt hat, daß die Tat regelmäßig im Zusammenhang mit einer anderen Tat von wesentlich geringerem Unrechtsgehalt auftritt, die gegenüber der Haupttat nicht ins Gewicht fällt 30. Das gilt z.B. für den Hausfriedensbruch (§ 123) und die Sachbeschädigung (§ 303) im Verhältnis zum Einbruchsdiebstahl (§ 243 Nr. 1) (RG 40, 430 [431]; BGH 22, 127 [129])31, für die Beleidigung (§ 185) im Verhältnis zu den Sittlichkeitsdelikten (RG 45, 344; BGH 8, 357 [359] für Spezialität), für die Sachbeschädigung (§ 303) im Verhältnis zum Totschlag (§ 212), für den räuberischen Angriff auf Kraftfahrer (§ 316 a) im Verhältnis zum versuchten Raub (§§ 249, 22) (BGH 25, 373), für den Erwerb nicht zugelassener Munition (S 18 I Nr. 3 WaffG 1968) im Verhältnis zum Besitz (§ 25 I Nr. 3 WaffG 1938) (BayObLGE 73, 171), für die Unterschlagung (§ 246) im Verhältnis zur Untreue (§ 266) (OLG Stuttgart JZ 1973, 739 [741] m.zust.Anm. Lenckner, JZ 1973, 796). Der Gedanke der Konsumtion der Begleittat darf jedoch dann nicht angewendet werden, wenn das Nebendelikt aus dem regelmäßigen Verlauf herausfällt und einen eigenen Unrechtsgehalt aufweist, so wenn der Einbrecher eine besonders wertvolle Sache (z.B. ein Kirchenfenster) zerstört, um den Diebstahl ausführen zu können. Idealkonkurrenz, nicht Konsumtion ist auch für das Verhältnis des § 251 zu § 250 - mit Ausnahme von Nr. 3 - anzunehmen (anders BGH 21, 183). III. Die Behandlung der Gesetzeseinheit Bei Vorliegen von Gesetzeseinheit hätte das verdrängte Gesetz an sich gänzlich aus der Betrachtung auszuscheiden, doch ist der Grundsatz der vollen Deliktsabsorption durch die Rechtsprechung erheblich modifiziert worden (Kombinationsprinzip) 32 . Da das zurücktretende Gesetz auf die Entscheidung Einfluß haben kann, muß es in allen Fällen, in denen ein solcher Einfluß in Betracht kommt, geprüft und festgestellt werden 33 . 1. Beim Rücktritt vom Versuch wird eine im Versuch enthaltene vollendete Straftat (qualifizierter Versuch), auch wenn der betreffende Tatbestand an sich wegen Gesetzeseinheit ausgeschlossen ist, mit dem Wegfall der Versuchsstrafe selbständig strafbar (vgl. oben § 51 V I 2). Kann das Primärdelikt wegen eines persönlichen Strafausschließungsgrundes oder wegen fehlenden Strafantrags nicht bestraft werden, so darf - abgesehen von dem Fall der mitbestraften Nachtat (vgl. oben § 69 I I 3 a) - auf das verdrängte Delikt zurückgegriffen werden. Beispiel: Der Sohn verübt einen Einbruch in die Wohnung der Eltern (§ 247), und die Betroffenen stellen nur Strafantrag wegen Hausfriedensbruch (§ 123) und Sachbeschädigung (S 303). Der verdrängte Tatbestand bleibt jedoch unanwendbar, wenn der Täter durch den Primärtatbestand privilegiert werden soll (BGH 24, 262 [266]). Die Strafbar29 Vgl. dazu Geerds, Konkurrenz S. 216 ff.; Hirschberg, ZStW 53 (1934) S. 43 ff.; Jakobs, Allg. Teil 31/30ff.; LK 10 (Vogler) Vorbem. 132 vor § 52; Welzel, Lehrbuch S. 235; Stratenwerth, Allg. Teil I Rdn. 1188 f. 30 Für weitgehende Einschränkung der Idealkonkurrenz durch den Gedanken der typischen Begleittat Graf zu Dohna, ZStW 61 (1942) S. 136; Peters, Kohlrausch-Festschrift S. 222. 31 Daran hat sich dadurch, daß § 243 I 1 nur noch eine Strafzumessungsregel darstellt, nichts geändert; vgl. Dreher/Tröndle, § 243 Rdn. 45; Schönke/Schröder/Eser, § 243 Rdn. 59; Wessels, Maurach-Festschrift S. 308. Dagegen Gössel, Tröndle-Festschrift S. 366. 32 Vgl. dazu Dreher/Tröndle, Vorbem. 23 vor § 52; Dünnebier, GA 1954, 273f.; Jescheck, ZStW 67 (1955) S. 535 f.; Schönke/Schröder/Stree, Vorbem. 141 vor § 52; SK (Samson) Vorbem. 78 vor § 52; Stratenwerth, Allg. Teil I Rdn. 1200 ff. Anders Geerds, Konkurrenz S. 230ff.; Burgstaller, JBl 1978, 469 (für das österr. Recht). 33 So mit Recht Schneider, JZ 1953, 660.

47 Jescheck, 5. A.

§ 69 D i e Gesetzeseinheit

738

keit nach dem ausgeschlossenen Delikt kann in diesem Fall nicht Wiederaufleben, weil der Täter sonst schlechter gestellt würde, als wenn die primäre Strafvorschrift anwendbar wäre. So kann nicht auf § 240 zurückgegriffen werden, wenn der Strafantrag nach §§ 237, 238 ausbleibt (BGH 19, 320 [321]) 34 . Auch die Strafbarkeit nach § 30 I, I I lebt nicht wieder auf, wenn der Täter später vom Versuch zurücktritt (vgl. oben § 65 IV 1). 2. Das verdrängte Gesetz hat ferner auf den Strafrahmen des anzuwendenden Gesetzes Einfluß. So muß eine höhere Mindeststrafe (BGH 1, 152 [156]; 10, 312 [315]) berücksichtigt werden und darf das Gericht dem verdrängten Gesetz Nebenstrafen und Maßnahmen ( § 1 1 1 Nr. 8) entnehmen (BGH 7, 307 [312]; 8, 46 [52]) 35 . Das Ergebnis entspricht also der Regelung bei der Idealkonkurrenz. 3. Auch bei der Strafzumessung kann das durch Gesetzeseinheit ausgeschlossene Gesetz strafschärfend berücksichtigt werden, soweit es sich nicht um Merkmale handelt, die schon zum Tatbestand des anzuwendenden Gesetzes gehören (RG 59, 147 [148]; 62, 61 [62]; 63, 423 [424]; RG HRR 1939 Nr. 471; O G H 2, 324 [328]; B G H 19, 188 [189]) 36 .

34 Vorbem. 136 vor § 52; Stratenwerth, Ebenso Schönke/Schröder/Stree, Rdn. 1204; Welzel, Lehrbuch S. 235. Anders Jakobs, Allg. Teil 32/47. 35

Allg. Teil I

So mit Recht Bockelmann, JZ 1953, 235; Cramer, JurA 1970, 207; Dreher/Tröndle,

Vorbem. 23 vor § 52; Haft, Allg. Teil S. 265; Lackner, Vorbem. 29 vor § 52; Schönke/Schröder/Stree, Vorbem. 141 vor § 52; SK (Samson) Vorbem. 78 vor § 52. Dagegen besteht keine Bindung an die Höchststrafe des verdrängten Gesetzes (BGH 30, 166 [167f.] m.zust.Anm. Bruns, JR 1982, 166). 36

Vgl. Bruns, Strafzumessungsrecht S. 465 ff.; Schönke/Schröder/Stree,

Vorbem. 141 vor

§ 52. Den Bedenken von M aurach / Gössel/ Zipf, Allg. Teil I I § 55 Rdn. 25 und Geerds, Kon-

kurrenz S. 231 f. ist durch die im Text gemachte Einschränkung Rechnung getragen.

D r i t t e r H a u p t t e i l : D i e Rechtsfolgen d e r S t r a f t a t Die rechtliche Ausgestaltung und die tatsächliche Anwendung der strafrechtlichen Sanktionen bestimmen den Geist eines Strafrechtssystems - vielleicht in noch stärkerem Maße, als es die allgemeinen Normen über die Voraussetzungen der Strafbarkeit tun. Das Recht der Sanktionen war in den letzten Jahrzehnten Gegenstand der Reformbemühungen des deutschen Gesetzgebers und findet auch zunehmendes Interesse in der Rechtswissenschaft und der Kriminologie. I m folgenden werden die strafrechtlichen Sanktionen des deutschen Rechts dargestellt. Nach dem Prinzip der „Zweispurigkeit" gliedern sie sich in Strafen (Freiheitsstrafe, Geldstrafe und die Nebenstrafe des Fahrverbots [§§ 38 - 44]) und Maßregeln der Besserung und Sicherung (§§61-72); außerdem sind im StGB noch „Nebenfolgen" einer Straftat vorgesehen, nämlich der Verlust der Amtsfähigkeit und des Wahlrechts (§§ 45 - 45 b), der Verfall (§§ 73 - 73 e) und die Einziehung (§§ 74 - 75). Von besonderer praktischer Bedeutung ist die Frage, nach welchen Kriterien die Sanktionen zugemessen werden sollen (dazu unten §§ 82, 83). § 70 Tendenzen und Probleme der Kriminalpolitik H.-J. Albrecht, Strafzumessung bei schwerer Kriminalität, 1994; H.-J. Albrecht/Schädler, Die gemeinnützige Arbeit auf dem Weg zur eigenständigen Sanktion? ZRP 1988, 278; P.-A. Albrecht, Spezialprävention angesichts neuer Tätergruppen, ZStW 97 (1985) S. 831; Allen, The Decline of the Rehabilitative Ideal, 1981; Alschuler , The Failure of Sentencing Guidelines, University of Chicago Law Review 58 (1991) S. 901; Ashworth , Reform des englischen Strafzumessungsrechts, ZStW 106 (1994) S. 605; Baumann u.a., Alternativ-Entwurf Wiedergutmachung (AE-WGM), 1992; Baurmann, Vorüberlegungen zu einer empirischen Theorie der positiven Generalprävention, G A 1994, 368; Bishop, Non-Custodial Alternatives in Europe, 1988; Blau, Diversion und Strafrecht, Jura 1987, 25; Dirnaichner , Der nordamerikanische Diversionsansatz usw., 1990; Dolcini/Paliero, Alternativen zur kurzen Freiheitsstrafe in Italien und im Ausland, ZStW 102 (1990) S. 222; Dolde/Rössner, Auf dem Wege zu einer neuen Sanktion, ZStW 99 (1987) S. 424; Driebold, Sanktionsverzicht? in: Peters (Hrsg.), Muß Strafe sein? 1993, S. 27; Dünkel/Spieß (Hrsg.), Alternativen zur Freiheitsstrafe, 1983; Eser, Neue Wege der Gewinnabschöpfung im Kampf gegen die organisierte Kriminalität? Festschrift für W. Stree und J. Wessels, 1993, S. 833; Feuerhelm, Gemeinnützige Arbeit als Alternative in der Geldstrafenvollstreckung, 1991; Fräse, The Uncertain Future of Sentencing Guidelines, Law and Inequality 12 (1993) S. 1; Frehsee , Schadenswiedergutmachung als Instrument strafrechtlicher Sozialkontrolle, 1987; Frisch, Die Maßregeln der Besserung und Sicherung im strafrechtlichen Rechtsfolgensystem, ZStW 102 (1990) S. 343; Frister, Die Struktur des „voluntativen Schuldelements", 1993; Hassemer y Konstanten kriminalpolitischer Theorie, Festschrift für R. Lange, 1976, S. 501; derselbe, Bilder vom Strafrecht, in: Böllinger/ Lautmann (Hrsg.), Vom Guten, das noch stets das Böse schafft, 1993, S. 235; Heinz, Strafrechtsreform und Sanktionsentwicklung usw., ZStW 94 (1982) S. 632; derselbe, Diversion im Jugendstrafverfahren, ZStW 104 (1992) S. 591; derselbe, Strafzumessungspraxis im Spiegel der empirischen Strafzumessungsforschung, in: Jehle (Hrsg.), Individualprävention und Strafzumessung, 1992, S. 85; Heinz/Storz y Diversion im Jugendstrafverfahren der Bundesrepublik Deutschland, 1992; Hertie, Schadenswiedergutmachung als opfernahe Sanktionsstrategie, 1994; Hirsch, Bilanz der Strafrechtsreform, Gedächtnisschrift für H. Kaufmann, 1986, S. 133; derselbe, Wiedergutmachung des Schadens im Rahmen des materiellen Strafrechts, ZStW 102 (1990) S. 534; von Hirsch, Doing Justice, 1976; derselbe, Gegenwärtige Tendenzen in der amerikanischen Strafzumessungslehre, ZStW 94 (1982) S. 1047; derselbe, Past or Future 47*

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Schrifttum z u § 70

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DJT, 1992; Schreckling, Bestandsaufnahmen zur Praxis des Täter-Opfer-Ausgleichs in der Bundesrepublik DeutschJugendkriminalität und die Grenzen der land, 1991; Schumann/Berlitz/Guth/Kaulitzki, Generalprävention, 1987; Snacken/Beyens/Tubex, Changing Prison Populations in Western Countries, European Journal of Crime, Criminal Law and Criminal Justice 3 (1995) S. 18; Stratenwerth, Tatschuld und Strafzumessung, 1972; Tonry, Structuring Sentencing, Crime and Justice 10 (1988) S. 267; Trauisen, Die Entwicklung der ambulanten Sanktionen nach allgemeinem Strafrecht seit der Strafrechtsreform, BewH 1993, 87; Walter, Wandlungen in der Reaktion auf Kriminalität, ZStW 95 (1983) S. 32; Weigend, „Neoklassizismus" - ein transatlantisches Mißverständnis, ZStW 94 (1982) S. 801; derselbe, Die kurze Freiheitsstrafe - eine Sanktion mit Zukunft? JZ 1986, 260; derselbe, Richtlinien für die Strafzumessung, Festschrift der Rechtswissenschaftlichen Fakultät Köln, 1988, S. 579; derselbe, Renaissance der kurzen Freiheitsstrafe? in: Deutsche Bewährungshilfe (Hrsg.), Die 13. Bundestagung, 1990, S. 495; derselbe, Sanktionen ohne Freiheitsentzug, G A 1992, 345; derselbe, Fragen der Rechtsstaatlichkeit beim Täter-Opfer-Ausgleich, in: Marks/Meyer/Schreckling/Wandrey (Hrsg.), Wiedergutmachung und Strafrechtspraxis, 1993, S. 37; Weßlau, Neue Methoden der Gewinnabschöpfung? StV 1991, 226; Zipf, Die Integrationsprävention, Festschrift für F. Pallin, 1989, S. 479.

I. Schuldausgleich u n d Prävention als Leitgesichtspunkte

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I. Schuldausgleich und Prävention als Leitgesichtspunkte 1. Die Ausgestaltung, Anwendung und Reform des Sanktionensystems im Angesicht der sich wandelnden sozialen Verhältnisse wird zusammenfassend mit dem (im engeren Sinne1) bezeichnet (siehe oben § 4). Von entBegriff „Kriminalpolitik" scheidender Bedeutung für die grundsätzliche Orientierung einer Kriminalpolitik ist die Aufgabe, die sie der staatlichen Strafe als ihrem primären Reaktionsmittel zuweist. Seit jeher liegen hier zwei Denkansätze miteinander in Konflikt: Der eine betont den Sinn der Strafe und sieht ihn im Ausgleich des vom Täter verschuldeten Unrechts; der andere betont den Zweck der Sanktion, der in einer Einwirkung sowohl auf die Gesellschaft (Generalprävention) als auch auf den Täter selbst (Individualprävention) mit dem Ziel der Verhütung weiterer Straftaten liegen kann (näher dazu oben § 8 I I - V) 2 . Für den engeren Bereich der Strafzumessung hat der Gesetzgeber in § 46 I versucht, diese unterschiedlichen Denkansätze zu benennen und gleichzeitig in ein ausgewogenes Verhältnis zu bringen: „Die Schuld des Täters ist die Grundlage für die Zumessung der Strafe. Die Wirkungen, die von der Strafe für das künftige Leben des Täters in der Gesellschaft zu erwarten sind, sind zu berücksichtigen." Für eine vernünftige Kriminalpolitik kommt es wesentlich darauf an, den Sanktionen Sinn und Zweck zu geben, d.h. ein System von Rechtsfolgen zu schaffen, die sich je nach der Schwere der Tatschuld abstufen lassen und die gleichzeitig zur Vermeidung weiterer Straftaten beitragen können. Wird hingegen einer der beiden Aspekte einseitig in den Vordergrund gestellt, so führt dies in letzter Konsequenz entweder zu einer unmenschlichen oder zu einer ungerechten Kriminalpolitik: Wenn man die Strafe ausschließlich als Vergeltung der Schuld versteht, wird dem Täter nur um des Prinzips willen erhebliches Leid zugefügt, ohne daß ihm oder jemand anderem daraus irgendein Vorteil entstünde; wenn man die Strafe nur an ihrem sozialen Zweck (z.B. der Abschreckung oder der „Heilung" des Täters) orientiert, gelangt man in verschiedenen Fällen zu Sanktionen, die außer Verhältnis zu dem vom Täter schuldhaft verwirklichten Unrecht stehen (z.B. bei einem Ladendieb, bei dem man eine psychisch bedingte Rückfallgefährdung feststellt und durch langjährige psychiatrische Zwangsbehandlung zu „heilen" versucht). 2. Im Verlauf der letzten Jahrzehnte haben sich die Gewichte zwischen den beiden genannten Denkansätzen in der internationalen kriminalpolitischen Debatte mehrfach verschoben. a) Aufgrund von Anstößen aus Psychiatrie und Psychologie sowie aus der „Modernen Schule" des Strafrechts (siehe dazu oben § 8 I V 3, 4) stand die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts weitgehend im Zeichen des Behandlungsgedankens, einer täterbezogenen Ausprägung der Zweckorientierung des Sanktionensystems. Man wollte die als antiquiert empfundene Vergeltungsstrafe durch eine „positive", für den Täter heilsame und erzieherische Sanktion überwinden, für die die began1 In einem weiteren Sinne gehört zur Kriminalpolitik auch die Anpassung der Strafbarkeitsvoraussetzungen sowie der Straftatbestände an die Bedürfnisse der Zeit, ebenso die zweckmäßige Ausgestaltung von Strafverfahren und -Vollstreckung; siehe Kaiser, Kriminologie § 119 Rdn. 6-10; noch umfassender die Begriffsbestimmung bei Maurach/Zipf\ Allg. Teil I § 3 Rdn. 20 („Die Kriminalpolitik ... befaßt sich mit der Gewinnung und Realisierung der Ordnungsvorstellungen bei der Verbrechensbekämpfung."); zu den Aufgaben einer kriminalpolitischen Theorie Hassemer, Lange-Festschrift S. 508 ff. 2 Instruktiv hierzu Hassemer, Einführung S. 281 ff.; Roxin, Allg. Teil I § 3 Rdn. 2 - 53.

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§ 70 Tendenzen u n d Probleme der K r i m i n a l p o l i t i k

gene Straftat nur der Anlaß, nicht der maßgebende Grund sein sollte 3 . Die Vertreter dieser Richtung gingen (häufig unausgesprochen) von der Annahme aus, daß die strafrechtlichen Sanktionen, wenn man sie nur für den konkreten Täter „individualisiert" und richtig dosiert anwendet, das Rückfallrisiko zu beseitigen, zumindest deutlich zu senken vermögen. Eine typische Frucht des Behandlungsgedankens war die Freiheitsstrafe von unbestimmter Dauer, deren Länge den von der Strafvollzugsbehörde festgestellten Fortschritten des Verurteilten bei seiner Rehabilitation angepaßt werden sollte 4 . b) Etwa seit Ende der sechziger Jahre läßt sich international, vor allem aber im englischsprachigen Raum, eine kriminalpolitische Kehrtwende zu einer tatschuldorientierten Sanktionstheorie feststellen 5. Dieser Umschwung hat verschiedene Ursachen 6. Bestimmend dürfte die Erkenntnis gewesen sein, daß eine ausschließlich auf Individualprävention gerichtete Sanktionspolitik zwangsläufig zu gravierenden Gerechtigkeitsdefiziten führt, da sie den schuldausgleichenden Sinn der Strafe verfehlt 7 . Überdies nährten verschiedene empirische Untersuchungen Zweifel daran, daß Strafen, insbesondere Freiheitsstrafen, überhaupt in meßbarer Weise spezialpräventive Wirksamkeit entfalten 8 ; wenn aber die verfügbare stationäre „Therapie" die Krankheit Kriminalität nicht zu heilen vermag, dann bricht die empirische Grundlage des Behandlungsgedankens zusammen, und die weitreichenden Freiheitsbeschränkungen, die zum Zweck der Straftatprophylaxe „verordnet" werden, verlieren ihre Rechtfertigung. Vor allem in England und den USA läßt sich daher seit den siebziger Jahren eine starke Tendenz zu einer Festsetzung der Sanktionen ausschließlich nach dem Kriterium des Unrechts (Tatschwere und Rückfallhäufigkeit) feststellen 9. In den USA hat diese Tendenz allerdings nicht, wie 3 Grundlegend das „Marburger Programm" von Franz von Liszt , ZStW 3 (1883) S. 1; zu dessen philosophischem Hintergrund Naucke, ZStW 94 (1982) S. 533 - 539, zu dessen Fortwirkung Roxin, ZStW 81 (1969) S. 613. Zur Herkunft der „Behandlungsideologie" aus dem „schlechten Gewissen des strafenden Strafrechts" Hassemer, in: Böllinger/Lautmann (Hrsg.), Vom Guten, das noch stets das Böse schafft S. 241 - 243. 4 In Deutschland gab es die unbestimmte Freiheitsstrafe bis 1990 im Jugendstrafrecht (§19 a.F. JGG); verbreitet ist sie noch in den USA (siehe z.B. Criminal Laws of Florida § 775.082; Ohio Criminal Code § 2929.11). 5 Aus der reichen amerikanischen Literatur siehe Allen, The Decline of the Rehabilitative Ideal, 1981; von Hirsch, Doing Justice, 1976; derselbe, Past or Future Crimes, 1985; Morris , The Future of Imprisonment, 1974; deutschsprachige Zusammenfassungen bei von Hirsch, ZStW 94 (1982) S. 1047; Weigend, Festschrift Rechtswiss. Fakultät Köln S. 584 - 597. Zur entsprechenden Entwicklung in Schweden siehe Jareborg, ZStW 106 (1994) S. 140; Jareborg/ von Hirsch, in: Eser/Cornils (Hrsg.), Neuere Tendenzen der Kriminalpolitik S. 35. Kritisch zum Gedanken der Spezialprävention in Deutschland etwa P.-A. Albrecht, ZStW 97 (1985) S. 831. 6 Siehe hierzu Weigend, ZStW 94 (1982) S. 805 ff. 7 Hierzu grundlegend von Hirsch, Past or Future Crimes S. 38 ff.; von Hirsch/Jareborg, Strafmaß und Strafgerechtigkeit S. 9 ff. 8 Immer wieder genannt wird in diesem Zusammenhang die Sekundäranalyse von Lipton/ Martinson/Wilks, The Effectiveness of Correctional Treatment, 1975, die ihre These, es sei bei keiner Behandlungsmethode unter den Bedingungen des Freiheitsentzugs ein Erfolg nachzuweisen, allerdings vor allem auf methodische Mängel der untersuchten Primärstudien stützt. Zum gegenwärtigen Forschungsstand zur Effizienz von Behandlungsprogrammen siehe H.-J. Albrecht, Strafzumessung S. 66 - 70; Eisenberg, Kriminologie § 42; Kaiser, Kriminologie § 114. 9 Zur Reform in England siehe Ashworth, ZStW 106 (1994) S. 605. Typisch für die Reformbewegung in den USA ist die Strukturierung des Strafzumessungsvorgangs durch verbindliche Strafzumessungsrichtlinien („Sentencing Guidelines"), bei denen die Tatschwere

I. Schuldausgleich u n d Prävention als Leitgesichtspunkte

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erhofft, zu einer Milderung, sondern teilweise sogar zu einer deutlichen Verschärfung der Eingriffsintensität, insbesondere zu einer Verlängerung der tatsächlich zu verbüßenden Freiheitsstrafen geführt 10 . 3. In Deutschland hat die Kriminalpolitik die beschriebene Pendelbewegung nicht mitgemacht, sondern sich von Anfang an um einen Ausgleich zwischen den Anforderungen des Schuldprinzips und dem Wunsch nach einer präventiv zweckmäßigen Anwendung der Sanktionen bemüht. Dabei ist durch die 1975 in Kraft getretene umfassende Reformgesetzgebung das Ziel der Resozialisierung gefördert worden, vornehmlich dadurch, daß man den Anwendungsbereich der Freiheitsstrafe eingeengt und verschiedene Ersatzsanktionen an ihre Stelle gesetzt hat; andererseits ist das Prinzip, daß die Sanktion in einer angemessenen Relation zur Tatschuld stehen und insgesamt dem verfassungsrechtlichen Grundsatz der Verhältnismäßigkeit entsprechen muß, nie in Frage gestellt worden (vgl. §§46 I 1, 62) 11 . Unausgesprochen liegt dem modernen kriminalpolitischen Konzept des deutschen StGB auch die Einsicht zugrunde, daß ein Aufenthalt im Strafvollzug mit allen seinen negativen Konsequenzen für das Selbstwertgefühl und das soziale Ansehen des Täters der Wiedereingliederung in die freie Gesellschaft im allgemeinen nicht förderlich ist. Daraus folgt, daß Individualprävention und Rückfallverhütung am besten dadurch betrieben werden können, daß man den Vollzug von Freiheitsstrafe vermeidet und sich mit ambulanten Sanktionen (z.B. Geldstrafe oder Strafaussetzung zur Bewährung) begnügt 12 . 4. Eine gleichzeitig täter- und resozialisierungsfreundliche Kriminalpolitik würde nach dem soeben Dargelegten zu äußerster Zurückhaltung bei der Auferlegung von Sanktionen tendieren und eher soziale Hilfen an deren Stelle setzen. Dem steht jedoch der Gedanke der Generalprävention entgegen, nach dem die strafrechtliche Sanktion den (weiteren) Zweck hat, gegenüber der Allgemeinheit deutlich zu machen, daß die Begehung von Straftaten nicht hingenommen wird und für den Täter nicht ohne fühlbare Konsequenzen bleibt (siehe oben § 8 I I 3 a). In der rechtswissenschaftlichen Diskussion hat sich dabei der Schwerpunkt in den letzten Jahren von der Abschreckung (bei der die Bestrafung des Täters als warnendes Beispiel für potentielle Nachahmer verstanden wird) zur sog. Integrationsprävention verschoben 13 . Nach dem letzteren Konzept dient die förmliche Verurteilung und Sanktionierung des Täters dazu, die von ihm mißachtete Verhaltensnorm im öffentlichen Bewußtsein als unvermindert gültig zu bestätigen. Keine der beiden Spielarten der Idee der Generalprävention vermag freilich einen Maßstab anzugeben, nach dem die Sanktion bemessen werden könnte - die Abschreckung nicht, weil es für und die Anzahl der Vorverurteilungen nach einem mathematischen System über die Höhe der Strafe entscheiden; siehe hierzu Fräse, Law and Inequality 12 (1993) S. 1; von Hirsch/ Knapp/Tonry, The Sentencing Commission and its Guidelines, 1987; Tonry , Crime and Justice 10 (1988) S. 267; Weigend , Festschrift Rechtswiss. Fakultät Köln S. 589 - 597. 10 Siehe Alschuler, University of Chicago Law Review 58 (1991) S. 901 zu den U.S. Sentencing Guidelines; günstigere Einschätzung einzelstaatlicher Strafzumessungsrichtlinien bei Marvell, Journal of Criminal Law and Criminology 85 (1995) S. 696. 11 Würdigung der Strafrechtsreform bei Jescheck, ZStW 91 (1979) S. 1037; derselbe, Archives de politique criminelle 8 (1985) S. 153; Roxin, JA 1980, 549; zu ihren praktischen Auswirkungen Heinz, ZStW 94 (1982) S. 632; Horstkotte, BewH 1984, 2; Schöch, Gutachten C zum 59. DJT S. C 20 ff. 12 Vgl. NK (Villmow) Vorbem. 30 vor § 38. 13 Aus der reichen Literatur hierzu siehe die grundlegenden Arbeiten von Roxin, Bockelmann-Festschrift S. 279 sowie Jakobs, Allg. Teil 1/4-11; ferner Moos, Pallin-Festschrift S. 283; Müller-Dietz, Jescheck-Festschrift Bd. II S. 813; Zipf Pallin-Festschrift S. 479.

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§ 70 Tendenzen u n d Probleme der K r i m i n a l p o l i t i k

die Verhütung weiterer ähnlicher Straftaten nur darauf ankommt, daß der Täter sanktioniert wird, während das Ausmaß der Strafe keine wesentliche Rolle spielt 14 ; die Integrationsprävention nicht, weil sich nicht feststellen läßt, welches Maß an Strafe im konkreten Einzelfall zur „Normverdeutlichung" erforderlich (aber auch ausreichend) ist 1 5 . Für das Sanktionensystem hat der Gedanke der Generalprävention demnach nur insofern Gewicht, als er einem Verzicht auf jede für den Täter fühlbare Reaktion auf seine Tat entgegensteht: Ließe man gravierende Straftaten ganz ungesühnt, so würde man längerfristig tatsächlich die Geltung der übertretenen Normen in Frage stellen und zu ihrer weiteren Verletzung ermuntern. Der Gesetzgeber hat diesen Gedanken in §§ 47 I und 56 I I I zum Ausdruck gebracht, indem er bestimmte Vergünstigungen für den Täter (Ersetzung der Freiheitsstrafe durch Geldstrafe bzw. Strafaussetzung zur Bewährung) ausschließt, wenn die Verhängung einer strengeren Sanktion „zur Verteidigung der Rechtsordnung" geboten oder gar unerläßlich ist (siehe näher unten § 79 I 5). 5. Insgesamt trägt das deutsche Sanktionensystem hinsichtlich seiner Zielrichtung deutlich die Züge eines Kompromisses 16. Dies ist jedoch kein Nachteil, da eine eindimensionale Zwecksetzung zwar theoretisch befriedigen mag, aber in der praktischen Anwendung häufig zu übermäßiger Repression führt 1 7 . Das Zusammenspiel der unterschiedlichen Strafzwecke wirkt auch als ein System von „checks and balances", das im Ergebnis zu einer Humanisierung und Rationalisierung der strafrechtlichen Rechtsfolgen führen kann 1 8 . Entscheidend ist dabei allerdings weniger die theoretische Zielsetzung als vielmehr der Stellenwert, den die einzelnen Sanktionen bei der praktischen Anwendung des Rechts besitzen.

II. Die einzelnen Sanktionen 1. a) Nach der Systematik des StGB steht die Freiheitsstrafe (§§ 38 f.) an der Spitze des Sanktionenkatalogs. In der Rechtswirklichkeit ist sie dagegen, statistisch gesehen, zur Ausnahme geworden: Im Jahre 1991 erhielten nur 5 % aller verurteilten Erwachsenen eine vollstreckbare Freiheitsstrafe 19. Der Gedanke, daß der Freiheitsentzug nur als „ultima ratio", d.h. wenn keine Alternative mehr ersichtlich ist, als Strafe eingesetzt werden soll, ist also in Deutschland weitgehend Wirklichkeit 14 Darüber ist man sich in der empirischen Kriminologie heute einig; siehe etwa Eisenberg, Kriminologie § 41 Rdn. 5 - 7 ; Kunz, Kriminologie S. 273 - 279; Schöch, Jescheck-Festschrift Bd. II S. 1098 - 1105; Schumann u.a., Jugendkriminalität S. 34 - 58 jeweils m.w.N. 15 Mit Recht weist Schöch, Gutachten C zum 59. DJT S. C 39 darauf hin, daß jede strafrechtliche Reaktion, die den Normbruch deutlich macht, zur Erfüllung der generalpräventiven Aufgabe geeignet ist. Zum Problem der empirischen Verifikation der Theorie der Integrationsprävention siehe Baurmann, GA 1994, 368; Frister, Die Struktur des „voluntativen Schuldelements" S. 32 - 42; siehe auch unten § 82 IV 7a. 16 Siehe die Kontroverse zum „Formelkompromiß" in § 46 I zwischen Lackner, GallasFestschrift S. 117 und Stratenwerth, Tatschuld und Strafzumessung, 1972. 17 Insbesondere funktionale Straf Zweckbestimmungen tragen die Gefahr in sich, daß man bei dem Streben nach Erreichung des gesetzten Ziels (z.B. Abschreckung, Besserung des Täters) die Angemessenheit des Mittels aus den Augen verliert. Wie die jüngste Entwicklung des US-amerikanischen Strafzumessungsrechts zeigt (siehe oben Fußnote 10), kann aber auch eine einseitige Betonung des Vergeltungsgedankens, da rationale Maßstäbe für die Strafmaßbestimmung fehlen, zu exzessiver Härte führen; vgl. hierzu auch Radzinowicz, ZStW 105 (1993) S. 259-264. 18 Ähnlich Maurach/Gössel/Zipf\ Allg. Teil II § 57 Rdn. 16 -18. 19 Statistisches Bundesamt, Rechtspflege, Reihe 3: Strafverfolgung 1991, 1993, S. 42f.

I I . D i e einzelnen Sanktionen

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geworden 20 . Bei dem Anteil der Freiheitsstrafen an allen strafrechtlichen Sanktionen liegt Deutschland auch im europäischen Vergleich recht günstig 21 . Gewachsen ist jedoch in den letzten Jahren die Quote der Strafgefangenen, d.h. der Personen (pro 100000 Einwohner), die an einem bestimmten Stichtag in einer Justizvollzugsanstalt einsitzen 22 . Diese Entwicklung hängt mit der Zunahme längerer Freiheitsstrafen (über zwei Jahren) zusammen; diese wiederum erklärt sich wohl aus einer Verschärfung der Sanktionierungspraxis bei Gewalt-, Sexual- und Drogendelikten 2 3 . b) Das erklärte Ziel der Strafrechtsreform der sechziger Jahre, die Anwendung der kurzen Freiheitsstrafe (bis zu sechs Monaten) zurückzudrängen, ist zunächst in spektakulärer Weise erreicht worden: Der Anteil kurzer an allen Freiheitsstrafen ging zwischen 1967 und 1975 von 87% auf 50% zurück 2 4 . Seit der Mitte der siebziger Jahre ist der Anteil kurzer Freiheitsstrafen jedoch stabil geblieben; immer noch befindet sich fast ein Drittel der Gefangenen kürzer als sechs Monate im Strafvollzug 25 . Solche kurzen Vollzugszeiten sind in vielen Fällen nicht das Ergebnis einer gezielten Strafzumessungsentscheidung des Gerichts, sondern erklären sich daraus, daß die Freiheitsstrafe auch als „back-up sanction" für den Fall des Fehlschlagens anderer Sanktionen (z.B. bei Widerruf einer Strafaussetzung zur Bewährung nach § 56 f oder bei Uneinbringlichkeit einer Geldstrafe nach § 43) dienen muß 6 . In Deutschland wird das Fortbestehen der kurzen Freiheitsstrafe zum Teil als ein Defizit bei der Durchsetzung der Strafrechtsreform empfunden 27 . Demgegenüber hält man in manchen ausländischen Staaten (z. B. in den Niederlanden und in der Schweiz) bewußt an den kurzen Freiheitsstrafen fest, da man sich von ihnen - auch wenn sie zur Bewährung ausgesetzt werden eine hohe Abschreckungswirkung verspricht 28 . Tatsächlich sollte man, bevor man sich dem „Kreuzzug gegen die kurze Freiheitsstrafe" anschließt, zu dem schon Franz von Liszt aufgerufen hatte 29 , bedenken, ob ein vier- bis sechswöchiger Freiheitsentzug, der im Urlaub verbüßt werden kann 3 0 , nicht als Alternative zu längeren und in ihrer entsozialisierenden Wirkung für den Täter weit schädlicheren Freiheitsstrafen einen sinnvollen Platz im Sanktionensystem haben könnte 3 1 . 20

Zum ultima-ratio-Gedanken siehe auch Jescheck, Miyazawa-Festschrift S. 375. Schöch, Gutachten C zum 59. DJT S. C 21; siehe auch Snacken/Beyern/Tuhex, European Journal of Crime, Criminal Law and Criminal Justice 3 (1995) S. 19. 22 Siehe die Angaben bei NK (Villmow) Vorbem. 43 - 47 vor § 38 (mit Tabellen 3 und 5); danach hat sich die Zahl der Gefangenen zwischen 1971 und 1990 um 26% auf 34799 (77,8 Gefangene pro 100000 Einwohner) erhöht. 23 Siehe hierzu Driehold, in: Peters (Hrsg.), Muß Strafe sein? S. 37 - 39, 46. 24 Siehe Schöch, Gutachten C zum 59. DJT S. C 121 (Tabelle 2). 25 Kaiser, Kriminologie. Einführung S. 593; siehe auch Heinz, in: Jehle (Hrsg.), Individualprävention und Strafzumessung S. 102 f.; NK (Villmow) Vorbem. 38 vor § 38. 26 Siehe Kaiser, Kriminologie § 116 Rdn. 16; Weigend, in: Deutsche Bewährungshilfe (Hrsg.), Die 13. Bundestagung S. 497. 27 Siehe etwa Kürzinger, in: Jescheck (Hrsg.), Die Freiheitsstrafe Bd. III S. 1837 f. 28 Siehe den Uberblick bei Jescheck, in: Jescheck (Hrsg.), Die Freiheitsstrafe Bd. III S. 2040 - 2052. 29 von Liszt , Aufsätze und Vorträge Bd. I S. 347. Auch nach § 36 I AE sollten keine Freiheitsstrafen unter sechs Monaten verhängt werden können. 30 Zur Ausgestaltung kurzfristigen Freiheitsentzugs als Freizeitstrafe Dolde/Rössner, ZStW 99 (1987) S. 424; siehe auch Schaffmeister, Jescheck-Festschrift Bd. II S. 991. 31 Eingehend hierzu Weigend, JZ 1986, 260. 21

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2. Von zunehmender Bedeutung ist die Strafaussetzung zur Bewährung (§§ 56 - 58). In Deutschland ist diese Sanktionsform an den Ausspruch einer bestimmten Freiheitsstrafe gekoppelt; eine bis zu zweijährige Freiheitsstrafe kann insgesamt ausgesetzt werden, und bei jeder Freiheitsstrafe ist die Aussetzung von einem Drittel (unter besonderen Umständen auch der Hälfte) möglich, nachdem der Täter den übrigen Teil der Strafe verbüßt hat. Die Vergünstigung der Strafaussetzung kann mit weitreichenden Weisungen und Auflagen verbunden werden, die die Sanktion insgesamt für den Täter zu einer durchaus fühlbaren Beschränkung seiner Freiheit werden lassen; insbesondere kann der Täter der Aufsicht eines Bewährungshelfers unterstellt werden, der ihn gleichzeitig bei seinen Bemühungen um eine straffreie Lebensführung unterstützt (§ 56d). Aufgrund der weitgehenden Freiheit, die das Gericht bei der Ausgestaltung von Weisungen nach § 56 c besitzt, läßt sich die Strafaussetzung zur Bewährung als eine Hülse verstehen, die zu einer individuell auf den Täter zugeschnittenen ambulanten Sanktion aufgefüllt werden kann. Eine Variante der Strafaussetzung zur Bewährung ist die Verwarnung mit Strafvorbehalt (§ 59). Hier droht dem Täter, falls er die ihm auferlegten Bedingungen mißachtet, insbesondere neue Straftaten begeht, allerdings keine Freiheits-, sondern nur eine Geldstrafe. Die Bewährungsaussetzung wird auch international zunehmend als sinnvolles Instrument der gleichzeitig kontrollierenden und stützenden Einwirkung auf den Täter anerkannt 2 . Ihre Wirksamkeit könnte durch einen personellen Ausbau der Bewährungshilfe noch verbessert werden (siehe unten § 79 I 8d) 3 3 . 3. Die Geldstrafe (§§ 40 -43a) ist mit einem Anteil von 84% (1991) an allen Strafen in Deutschland die bei weitem häufigste strafrechtliche Sanktion. Auch in anderen Ländern hat sie sich als wichtiges Mittel zur Ahndung der leichteren Kriminalität durchgesetzt, wenn auch nicht in gleichem Maße wie in Deutschland 34 . Zu ihrem großen Erfolg hat sicher der Umstand beigetragen, daß heute viele Möglichkeiten der persönlichen Entfaltung und des Konsums (nur) gegen Geld erhältlich sind, so daß der Entzug finanzieller Mittel den Täter schmerzlich in seiner Freiheit zur „Selbstverwirklichung" trifft, ohne ihm die Fortbewegungsfreiheit zu nehmen. Dies gilt jedenfalls für Gesellschaften mit einem relativ hohen Lebensstandard, in denen dem einzelnen auch meist ausreichend „freie" Geldmittel zur Bezahlung der Strafe zur Verfügung stehen. Die Probleme der Geldstrafe liegen zunächst in ihrer unterschiedlichen Wirkung je nach der wirtschaftlichen Situation des Verurteilten 35 und ferner in der Schwierigkeit ihrer Anwendung gegenüber Tätern ohne Vermögen und Einkommen (siehe dazu unten § 73 I 4). Gegen beide Nachteile hat man jedoch einigermaßen wirksame Gegenmittel gefunden: Durch das in § 40 verwirklichte Tagessatz system ist es möglich geworden, die Höhe der Geldstrafe an das Einkommen des individuellen Täters anzupassen, und mit der Vermögensstrafe (§ 43 a) verschafft man dem Gericht bei Angehörigen der „Organisierten Kriminalität" sogar Zugriff auf deren gesamtes Vermögen. Für mittellose Täter, bei denen man ursprünglich nur auf die Notmaßnahme der Ersatzfreib eits32 Siehe Dünkel/Spieß (Hrsg.), Alternativen zur Freiheitsstrafe, 1983; Jescheck, in: Jescheck (Hrsg.), Die Freiheitsstrafe Bd. III S. 2096 - 2112; siehe auch Dolcini/Paliero, ZStW 102 (1990) S. 235 -239. Zur quantitativen Zunahme der Bewährungsaussetzung in Deutschland siehe die Angaben oben § 5 V 1 sowie bei NK (Villmow) Vorbem. 34 - 36 vor § 38; Schöch, Gutachten C zum 59. DJT S. C 22 f.; Tranken,, BewH 1993, 96 - 99. 33 Siehe hierzu Kaiser, Kriminologie § 116 Rdn. 31 f. 34 Eingehend Jescheck/Grebing (Hrsg.), Die Geldstrafe, 1978; siehe auch Bishop, NonCustodial Alternatives S. 79 - 86. 35 Siehe hierzu Trauisen, BewH 1993, 94 f.

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strafe (§ 43) zurückgreifen konnte, besteht seit einiger Zeit die Möglichkeit, die Geldstrafe durch gemeinnützige Tätigkeiten abzuarbeiten (vgl. Art. 293 EGStGB). Durch diese kriminalpolitisch sinnvollen Maßnahmen hat der Gesetzgeber für die typischen Anwendungsschwierigkeiten der Geldstrafe Auswege aufgezeigt; deren Umsetzung stößt allerdings in der Praxis noch verschiedentlich auf Schwierigkeiten (z.B. bei der Feststellung des tatsächlichen Einkommens des Täters als Grundlage für die Bemessung der Tagessatzhöhe [§ 40 I I 2]). Ungeklärt ist auch, warum von der Geldstrafe in Fällen mit höherem Schuldgehalt (in denen mehr als 90 Tagessätze Geldstrafe zu verhängen wären) so geringer Gebrauch gemacht wird36. 4. Während in Deutschland die gemeinnützige Arbeit nur als (indirekte) Ersatzsanktion für die Geldstrafe (Art. 293 EGStGB) 7 sowie als Auflage bei verschiedenen anderen strafrechtlichen Maßnahmen (z.B. bei der vorläufigen Einstellung des Strafverfahrens [§ 153 a I Nr. 3 StPO] oder bei der Strafaussetzung zur Bewährung [§ 56 b I I Nr. 3]) vorgesehen ist, stellt sie in einer Reihe von anderen Ländern eine eigenständige Strafe dar 3 8 . Für diese Lösung sprechen die evidenten Vorteile dieser Sanktion: Der Täter wird in abstufbarer Weise (durch unterschiedlich hohe Arbeitsverpflichtung) belastet, insbesondere in seiner Freizeitgestaltung eingeschränkt, und er erbringt gleichzeitig eine konstruktive Leistung, etwa für soziale Einrichtungen oder für den Umweltschutz, die gegenüber der Allgemeinheit als sinnfällige Negation seiner Straftat erscheinen kann . Andererseits darf man nicht übersehen, daß es besonders in Zeiten knapper Arbeit schwierig werden kann, eine ausreichende Zahl von Einsatzmöglichkeiten zu schaffen 40; jedenfalls verlangt die Organisation und Betreuung der gemeinnützigen Arbeit einen erheblichen Verwaltungsaufwand. Problematisch wäre auch die Vereinbarkeit einer neuen Sanktion „Freie Arbeit" mit dem ausdrücklichen Verbot von Zwangsarbeit in Art. 12 I I I GG, das auch durch eine formelle Zustimmung des Betroffenen nicht ohne weiteres außer Kraft gesetzt w i r d 4 1 . Es würde allerdings den Versuch lohnen, diese Probleme zu überwinden, wenn sichergestellt werden könnte, daß die gemeinnützige Arbeit in der Praxis nicht an die Stelle milderer Sanktionen (etwa der Geldstrafe) tritt, sondern tatsächlich gegenüber Straftätern angewandt wird, die sonst eine Freiheitsstrafe verbüßen müßten. 5. M i t großem Aufwand hat der deutsche Gesetzgeber in den letzten Jahren versucht, diejenigen strafrechtlichen Sanktionen auszubauen, mit deren Hilfe man die 36

Siehe NK (Villmow) Vorbem. 32 vor § 38; Schöch, Gutachten C zum 59. DJT S. C 26f. An die Stelle der Geldstrafe tritt bei Uneinbringlichkeit die Ersatzfreiheitsstrafe (§ 43); an deren Stelle kann der Täter gemeinnützige Arbeit leisten, wobei die Einzelheiten von den Ländern zu regeln sind. 38 So z.B. in England (s. 14 Powers of Criminal Courts Act 1973), Frankreich (Art. 131-8, 131-9 IV Code pénal) und in vielen Einzelstaaten der USA (siehe z.B. § 755.091 Florida Criminal Laws; 38 Illinois Revised Statutes §§ 1005-1-18.1, 1005-5-7). 39 Zur Beurteilung der gemeinnützigen Arbeit siehe H.-J. Albrecht/Schädler, ZRP 1988, 278; Jung, Sanktionensystem S. 165 ff.; zur Praxis Feuerhelm, Gemeinnützige Arbeit, 1991. 40 Mit dieser Begründung hat die Bundesregierung bisher die Einführung der gemeinnützigen Arbeit als Hauptstrafe abgelehnt; siehe BT-Drucks. 12/3718 S. 12. 41 Siehe zu diesen Bedenken Schall, in: Deutsche Bewährungshilfe (Hrsg.), Die 13. Bundestagung S. 353 f.; Weigend, GA 1992, 359f.; siehe auch die Einwände von fehle, Pfeiffer und Robra, in: Verhandlungen des 59. DJT, Sitzungsbericht Ο S. Ο 120 - Ο 126. Auf dem 59. Deutschen Juristentag 1992 wurde die Einführung der gemeinnützigen Arbeit als selbständige Sanktion mehrheitlich abgelehnt (Verhandlungen S. Ο 188). 37

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Gewinne abschöpfen kann, die der Täter aus dem Delikt gezogen hat 4 2 . Die Geldstrafe, deren Höhe vom Einkommen des Täters abhängt, kann diesem Ziel nur in geringem Maße dienen (siehe aber § 41). Das schon seit längerem eingeführte Instrument der Gewinnabschöpfung ist der Verfall (§ 73), der allerdings bisher aufgrund seiner relativ eng und kompliziert gefaßten Voraussetzungen kaum zur Anwendung gelangt ist (siehe unten § 76 I). Im Jahre 1992 hat der Gesetzgeber durch eine Änderung von § 73 zunächst dafür gesorgt, daß dem Täter der gesamte Ertrag (und nicht nur der Netto-Gewinn) seiner Tat abgenommen werden kann. Darüber hinaus sind die Beweisanforderungen hinsichtlich der deliktischen Herkunft von Gegenständen, die der Täter in Besitz hat, durch das neue Institut des Erweiterten Verfalls (§ 73 d) herabgesetzt worden. Als Mittel der Gewinnabschöpfung war wohl auch die Vermögensstrafe (§ 43 a) gedacht, die freilich so, wie sie ins Gesetz aufgenommen worden ist, nicht zu diesem Zweck taugt (siehe unten § 73 IV 5 a). Das Prinzip, daß der Straftäter die unrechtmäßig erworbenen Gewinne und Gegenstände (oder deren Surrogate) herausgeben muß, ist als solches unbestritten und kann auch ohne große Mühe gesetzlich normiert werden. Häufig ist jedoch schwer zu beweisen, daß ein bestimmter Vermögensgegenstand (oder eine Geldsumme) aus der abgeurteilten Straftat stammt. Ob dieses Problem freilich mit Hilfe des Sanktionenrechts gelöst werden kann, muß auch angesichts der bisherigen Versuche des deutschen Gesetzgebers stark bezweifelt werden 43 . 6. Über die Rolle der Wiedergutmachung der Folgen der Straftat gegenüber dem individuellen Verletzten (oder der Allgemeinheit) ist in jüngster Zeit heftig diskutiert worden 4 4 . Der Gesetzgeber hat in § 46 a die Schadenswiedergutmachung unter bestimmten Voraussetzungen als Grund für eine Strafmilderung oder ein Absehen von Strafe anerkannt. In dieser Regelung schlägt sich die verbreitete Auffassung nieder, daß der Täter, der die Tatfolgen durch eigene Leistung ausgleicht, die denkbaren Zwecke einer Bestrafung (Schuldausgleich, Anerkennung der Gültigkeit der übertretenen Verhaltensnorm) mindestens zum Teil erfüllt und gleichzeitig seine Abkehr von der früheren rechtsgutsfeindlichen Einstellung dokumentiert 45 . Auch wenn die Schadensersatzleistung pönale Elemente enthält, wird sie nicht selbst zur Strafe; unter bestimmten Voraussetzungen, insbesondere wenn sich der Täter um einen persönlichen Ausgleich mit dem Verletzten bemüht hat, können jedoch die Zwecke der Strafe so weitgehend erfüllt sein, daß es einer Sanktionierung nicht mehr bedarf. In diesem Rahmen stehen auch die zahlreichen Projekte des Täter-Opfer-Ausgleichs, die sich auf örtlicher Ebene darum bemühen, schon während des Strafverfahrens den Beschuldigten und den Verletzten miteinander ins Gespräch zu bringen, um auf diese Weise eine Erledigung der Tat ohne förmliche Sanktionierung vorzubereiten 46 . Wenn dies 42

Allgemein zur Frage der Gewinnabschöpfung im Strafrecht Kaiser, Tröndle-Festschrift S. 685; auch rechtsvergleichend J. Meyer/Dessecker/Smettan (Hrsg.), Gewinnabschöpfung bei Betäubungsmitteldelikten, 1989. 43 Siehe hierzu Eser, Stree-Wessels-Festschrift S. 833; Perron, JZ 1993, 918; Weßlau, StV 1991, 226. 44 Grundlegend Frehsee, Schadenswiedergutmachung, 1987; Schöch (Hrsg.), Wiedergutmachung und Strafrecht, 1987; zum internationalen Kontext Jung, Sanktionensystem S. 147ff.; zur Akzeptanz in der Praxis Hertie, Schadenswiedergutmachung als opfernahe Sanktionsstrategie, 1994; Gesetzgebungsvorschlag in: Alternativ-Entwurf Wiedergutmachung, 1992; zur Gegenposition Hirsch, ZStW 102 (1990) S. 534; siehe ferner oben § 1 I I 4. 45 Siehe hierzu Roxin, in: Schöch (Hrsg.), Wiedergutmachung und Strafrecht S. 37; Schöch, Gutachten C zum 59. DJT S. C 63 - C 66. 46 Überblick bei Schreckling, Bestandsaufnahmen, 1991.

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gelingt, wird nicht nur dem Interesse des Täters an der Vermeidung einer Bestrafung, sondern auch dem Interesse des Opfers an zügiger Wiedergutmachung Rechnung getragen. 7. Die Wiedergutmachung liegt bereits an der Grenze zwischen strafrechtlichen und außerstrafrechtlichen Sanktionen. Diese gewinnen zunehmend an Bedeutung als Alternativen zu einer Bestrafung nach förmlichem Schuldspruch. Zu denken ist in diesem Zusammenhang nicht nur an die Geldbußen des Ordnungswidrigkeitenrechts (§§ 1, 17 OWiG), sondern vor allem auch an die Zahlungen, die dem Täter als Gegenleistung für die Einstellung des Strafverfahrens nach § 153 a StPO von der Staatsanwaltschaft oder dem Gericht auferlegt werden. Der Sache nach handelt es sich auch in dem letzteren Fall um eine staatliche Sanktion für das vom Täter verwirklichte Unrecht; formell wird hier die Tatschuld jedoch gar nicht festgestellt, sondern die Zahlung beruht auf „freiwilliger" Unterwerfung des Täters unter den „Vorschlag" einer staatlichen Instanz 47 . Diese Form der Verfahrenserledigung hat große praktische Bedeutung gewonnen: Im Jahre 1991 wurde das Strafverfahren in über 236.000 Fällen nach § 153 a StPO eingestellt 48 ; rechnet man alle (formellen und informellen) Formen der Sanktionierung wegen einer Straftat zusammen, so entfällt auf Auflagen nach § 153 a StPO ein Anteil von 26 % 4 9 . In der internationalen Diskussion spricht man in diesem Zusammenhang von Diversion, d.h. von der Umleitung des eigentlich einer Verurteilung entgegengehenden Beschuldigten zu einer informellen Form der Sanktionierung 5 . Verschiedene Formen der Diversion sind insbesondere im Jugendstrafrecht von Bedeutung, wo erzieherische Maßnahmen ohne formelle Verurteilung eingeleitet werden können (§§ 45, 47 JGG). Die Probleme dieser Art des Umgangs mit Kriminalität liegen hauptsächlich auf verfahrensrechtlichem Gebiet (Richtervorbehalt, Unschuldsvermutung, Schutz vor erzwungener Selbstbezichtigung, Verfahrensgarantien) 51. Aus der Perspektive des Sanktionenrechts ist die Ergänzung des Spektrums offizieller Reaktionen bei leichteren Delikten um solche weniger belastende Varianten durchaus willkommen. Freilich muß man hier die Gefahr des „net widening" im Auge behalten, d.h. der Erstreckung der informellen Sanktionierung auf Personen, die ohne die Existenz 47

Die Vorschrift des § 153 a StPO war bei ihrer Einführung im Jahre 1975 sehr umstritten, hat sich aber inzwischen in der Praxis wegen ihrer leichten Handhabbarkeit durchgesetzt. Kurze Darstellung der rechtspolitischen Diskussion und der Reformvorschläge in AK StPO {Schöch) § 153 a Rdn. 71 - 80; Löwe/Rosenberg/Rieß,

15.

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§ 153 a Rdn. 11 -

Die Zahl bezieht sich nur auf die „alten" Bundesländer und bezieht die Verfahrenseinstellungen durch das Gericht nach 153 a II StPO ein; sie ist errechnet nach: Statistisches Bundesamt, Rechtspflege, Reihe 2: Gerichte und Staatsanwaltschaften 1991, 1993, S. 66, 72, 86. 49 Errechnet nach den Angaben der Rechtspflegestatistik für 1991 (siehe oben Fußnote 48). Schöch, Gutachten C zum 59. DJT S. C 34 gibt sogar einen Diversionsanteil von 42% an allen Erledigungen an; dort werden jedoch auch die folgenlosen Verfahrenseinstellungen nach § 153 StPO einbezogen. 50 Siehe hierzu Blau, Jura 1987, 25; Walter, ZStW 95 (1983) S. 32; zur Praxis der staatsanwaltschaftlichen Erledigung ohne Anklage Eisenberg, Kriminologie §27 Rdn. 16-40; zur Diversion bei Jugendlichen Dirnaichner, Der nordamerikanische Diversionsansatz, 1990; Heinz, ZStW 104 (1992) S. 591; Heinz/Storz, Diversion im Jugendstrafverfahren, 1992; eher kritisch zur informellen Erledigung Janssen, in: Kerner (Hrsg.), Diversion statt Strafe? S. 15; Kuhlen, Diversion im Jugendstrafverfahren, 1988; Schaff stein, Jescheck-Festschrift Bd. II S. 937. 51 Siehe hierzu neben den in Fußnote 50 genannten Autoren Weigend, in: Marks u.a. (Hrsg.), Wiedergutmachung und Strafrechtspraxis S. 37.

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solcher Möglichkeiten eine folgenlose Verfahrenseinstellung (etwa nach § 153 StPO) oder gar einen Freispruch erhalten hätten 52 . 8. Insgesamt stellt das deutsche Sanktionenrecht eine breite Palette an möglichen Reaktionen auf Straftaten zur Verfügung; der Vorwurf der „Phantasielosigk e i t " 5 3 erscheint daher nicht berechtigt. Jedenfalls bei Vergehen, die mit einer Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr zu ahnden sind, stehen die verschiedenen Sanktionen (Freiheitsstrafe, Freiheitsstrafe mit Aussetzung zur Bewährung, Geldstrafe, Verfahrenseinstellung unter Auflagen) dem Gericht auch nebeneinander zur Auswahl. Zu stark eingeschränkt sind allerdings die Kombinationsmöglichkeiten verschiedener Strafen. Könnte man etwa Geldleistungen, Arbeitsleistungen, Wiedergutmachung und Betreuungsweisungen in größerem Umfang miteinander verbinden 4 , so ließen sich daraus Sanktionen zusammenstellen, die Freiheitsentzug vermeiden, aber dennoch für den Täter eine so gewichtige Belastung darstellen, daß sie als Reaktion auch auf schwerere Taten ausreichend sind. In diesem Zusammenhang wäre auch daran zu denken, eine umfassende und variable „Bewährungsstrafe" nach dem Vorbild der anglo-amerikanischen probation einzuführen, bei der nicht, wie nach § 56 f I, ein Versagen des Verurteilten ohne weiteres zur Vollstreckung der festgesetzten Freiheitsstrafe führt 5 5 . 9. Ein breites Spektrum von Behandlungs- und Sicherungsmöglichkeiten decken schließlich die Maßregeln (§§ 61 - 72) ab. Ihre Ausgliederung aus dem Bereich der Strafen ist eine Konsequenz aus der strengen Durchführung des Schuldprinzips: Da die Strafe nicht über das Maß des verschuldeten Unrechts hinausgehen darf, werden zur Bekämpfung einer „überschießenden" Gefährlichkeit des Täters besondere, nach ihrem Rechtscharakter nicht-punitive Sanktionen bereitgestellt. Die daraus folgende Zweispurigkeit der strafrechtlichen Sanktionen ist zwar systematisch stimmig, sie vermag jedoch nicht darüber hinwegzutäuschen, daß die Maßregeln dem Täter eine häufig sehr gravierende zusätzliche Belastung auferlegen (z.B. bei der Fahrerlaubnisentziehung [§ 69] und speziell bei der Sicherungsverwahrung [§ 66]), die von diesem verständlicherweise als Strafe empfunden wird 6 . Durch die weitgehende Anrechnung einer verbüßten Maßregel auf die Strafe (siehe § 67 IV) erkennt dies auch der Gesetzgeber an. Im Ausland hat man das System der Zweispurigkeit nur zum Teil übernommen (siehe unten § 77 I 5). Für seine grundsätzliche Beibehaltung spricht vor allem der Gedanke der Sachnähe des Strafgerichts, das bei der Feststellung der Tatschuld und der damit verbundenen Erforschung der Täterpersönlichkeit gleichzeitig einen Eindruck von der potentiellen Gefährlichkeit des Täters erhält und so am besten die zweckmäßigen präventiven Maßnahmen anordnen kann. 52 Hierzu Blau, Jura 1987, 33 f.; Kerner, in: BMJ (Hrsg.), Jugendstrafrechtsreform durch die Praxis S. 265. 53 So Hirsch, Hilde Kaufmann-Gedächtnisschrift S. 162; siehe auch M aurach / Gössel/ Zipf Allg. Teil II § 57 Rdn. 7. 54 Solche Kombinationen sind allerdings schon nach geltendem Recht möglich, wenn eine Freiheitsstrafe zur Bewährung ausgesetzt (§§ 56, 56b II) oder eine Verwarnung mit Strafvorbehalt (§§ 59, 59 a) ausgesprochen wird. Stärker ausgeprägt ist das „Baukastensystem" aus miteinander kombinierbaren ambulanten Sanktionen aber etwa in England (siehe s. 11 Criminal Justice Act 1991) und in Frankreich (siehe Art. 131-3 bis 131-9 Code pénal). 55 Siehe hierzu Horn, ZRP 1990, 81; Schöch, Gutachten C zum 59. DJT S. C 106 - C 108; Weigend, GA 1992, 357 ff. Variable Reaktionsmöglichkeiten auf Bewährungsversagen enthält auch schon das geltende Recht in § 56f II. 56 Grundlegend zur Problematik des Maßregelrechts Frisch, ZStW 102 (1990) S. 343; Kaiser, Befinden sich die kriminalrechtlichen Maßregeln in der Krise? 1990.

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10. Insgesamt bietet das deutsche Sanktionensystem nach der Strafrechtsreform von 1975 eine brauchbare Grundlage für rationale und schuldadäquate Reaktionen des Staates auf die Begehung von Straftaten. Im einzelnen bleibt allerdings noch manches zu korrigieren und den Herausforderungen neuer Erscheinungsformen der Kriminalität anzupassen. Bei der Lösung dieser Aufgabe sollte man stets die begrenzten Wirkungsmöglichkeiten des strafrechtlichen Sanktionensystems berücksichtigen: Da das Strafrecht in seiner Gesamtheit nur einen relativ kleinen Teilbereich im komplexen System der sozialen Verhaltenskontrolle bildet, haben Veränderungen im Sanktionenrecht weder im Positiven noch im Negativen meßbare Auswirkungen auf Art und Häufigkeit krimineller Handlungen 5 . Zwar wirkt die Existenz eines insgesamt funktionierenden (bzw. von der Bevölkerung als funktionierend vermuteten) Systems der Strafrechtspflege der Begehung von Straftaten entgegen; Verschiebungen innerhalb dieses Systems haben jedoch kaum Auswirkungen auf die Wirklichkeit des Kriminalitätsgeschehens. Diese Einsicht erleichtert eine Reform des Sanktionenrechts insofern, als sie vermeintliche Barrieren gegen seine Humanisierung abbaut: Wenn die Tätigkeit der Strafgerichte die Verbrechensverhütung nicht meßbar fördert oder behindert, dann kann man die Sanktionen so ausgestalten und anwenden, daß sie sich als gerechte und maßvolle Antwort der Gemeinschaft auf die Straftat darstellen und gleichzeitig dem Täter, soweit möglich, Hilfen zur Resozialisierung geben. § 71 Exkurs: Die Todesstrafe Alternativ-Kommentar zum Grundgesetz, Bd. 2, 2. Auflage 1989; Althaus, Die Todesstrafe als Problem der christlichen Ethik, Sitzungsberichte der Bayer. Akademie der Wissenschaften, philos.-histor. Klasse, 1955, Heft 2; Amnesty International, United States of America. The Death Penalty, 1987; Ancel, Quelques observations sur l'abolition de la peine de mort, Crime and Criminal Policy, Festschrift für M. Lôpez-Rey, 1985, S. 33; Archbold, Criminal Pleading, Evidence and Practice, 1995; Ballhausen, Todesstrafe durch Alliierte, NJW 1988, 2656; Bedau (Hrsg.), The Death Penalty in America, 3. Auflage 1982; Bedau/Radelet, Miscarriages of Justice in Potentially Capital Cases, Stanford Law Review 40 (1987) S. 21; Benstain, Katholizismus und Todesstrafe, ZStW 89 (1977) S. 215; Black, Capital Punishment, 1974; Blom-Cooper (Hrsg.), The Hanging Question, 1969; Bockelmann, Todesstrafe, Niederschriften, Bd. XI, S. 14; derselbe, Die rationalen Gründe gegen die Todesstrafe, in: Die Frage der Todesstrafe, 1962, S. 131; Calliess, Die Todesstrafe in der Bundesrepublik Deutschland, NJW 1988, 849; derselbe, Die Abschaffung der Todesstrafe, NJW 1989, 1019; Dreher, Für und wider die Todesstrafe, ZStW 70 (1958) S. 543; Düsing, Die Geschichte der Abschaffung der Todesstrafe usw., 1952; Ermecke, Zur ethischen Begründung der Todesstrafe heute, 2. Auflage 1963; Frankowski, Die Todesstrafe in den USA, ZStW 100 (1988) S. 951; Giegerich, Richtermacht und Todesstrafe in den USA, EuGRZ 1995, 1; Gieß, Gary Graham - Ein Todes-Fall in den Vereinigten Staaten von Amerika, MschrKrim 1994, 69; Government of Japan, Summary of the White Paper on Crime, 1993; Helfer, Todesstrafe, HWB Krim, Bd. III, 1975, S. 326; Herrmann, Der Supreme Court der Vereinigten Staaten erklärt die Todesstrafe für verfassungswidrig, JZ 1972, 615; Hollweg, Das neue Internationale Tribunal der UNO und der Jugoslawienkonflikt, JZ 1993, 980; Arthur Kaufmann, Schuld und Strafe, 1966; Keller, Die Todesstrafe in kritischer Sicht, 1968; Lagodny, Anmerkung zu EuGMR vom 7.7.1989, NJW 1990, 2189; Lange, Die Todesstrafe im deutschen Strafrecht, in: Colôquio comemorativo do centenario da aboliçao da pena de morte em Portugal, Bd. 1, o.J. (1968), S. 161; Möhrenschlager, Ausländische und internationale Bestrebungen gegen die Todesstrafe, Festschrift für H. Dünnebier, 1982, S. 611; derselbe, Internationale Konferenz über die Todesstrafe in Syrakus, ZStW 100 (1988) S. 252; derselbe, Völkerrechtliche Abschaf57

In diesem Sinne auch die Stellungnahme der Bundesregierung in BT-Drucks. 12/3718 S. 2 (die Aufgabe der Generalprävention ist „keineswegs in erster Linie vom Strafrecht, sondern von allen für das Gemeinwohl Verantwortlichen zu erfüllen"); siehe auch Kunz, recht 1988, 62; NK (Villmow) Vorbem. 82 vor § 38.

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§ 7 1 Exkurs: D i e Todesstrafe

fung der Todesstrafe, Festschrift für J. Baumann, 1992, S. 297; Noelle-Neumann/Köcher (Hrsg.), Allensbacher Jahrbuch der Demoskopie, Bd. 9, 1993; Reuband, Sanktionsverlangen im Wandel, KZfSS 32 (1980) S. 535; Schabbas, International Norms on Execution of the Insane and the Mentally Retarded, Criminal Law Forum 4 (1993) S. 95; Sellin, The Penalty of Death, 1980; Stern , Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. I I I / l , 1988; Tettinger , Aufhebung des Art. 102 GG? JZ 1978, 128; Wieck, Wider alle Vernunft: Die Todesstrafe in den Vereinigten Staaten, MDR 1990, 113; Würtenberger, Zur naturrechtlichen Problematik der Todesstrafe, Festschrift für J. Messner, 1961, S. 521; Yoder, A Christian Perspective, in: Bedau (Hrsg.), The Death Penalty in America, 3. Aufl. 1982, S. 370; Zeisel , The Deterrent Effect of the Death Penalty, in: Bedau (Hrsg.), The Death Penalty in America, 3. Aufl. 1982, S. 116; Zimring/Hawkins, Capital Punishment and the American Agenda, 1986. I. Die Abschaffung der Todesstrafe in Deutschland 1. Die Todesstrafe ist durch Art. 102 G G abgeschafft 1. Durch diese Verfassungsnorm wird nicht nur das allgemeine Gebot, das Recht auf Leben zu achten und zu schützen, konkretisiert 2 , sondern auch der Anspruch des einzelnen auf Wahrung seiner Menschenwürde gesichert. Daher ist eine Wiedereinführung der Todesstrafe durch Art. 79 I I I i.V.m. Art. 1 I G G endgültig ausgeschlossen3. Nach § 8 IRG darf ein Straftäter auch nicht an ein Land ausgeliefert werden, in dem ihm die Todesstrafe droht, es sei denn, der ersuchende Staat sichert zu, daß die Todesstrafe in diesem Fall nicht verhängt oder zumindest nicht vollstreckt wird. 2. Maßgebend für die Abschaffung der Todesstrafe durch den Parlamentarischen Rat war vor allem die Erschütterung über den Mißbrauch, der mit der Todesstrafe unter der NSHerrschaft getrieben worden war 4. Auch unabhängig von der historischen Situation ist die Todesstrafe in einem humanen Strafrecht strikt abzulehnen, da sie einerseits keinen rationalen Zwecken zu dienen vermag, andererseits verschiedene Nachteile und Gefahren in sich birgt 5. Als Ausgleich selbst für schwerste Schuld ist die Tötung eines Menschen moralisch nicht zu vertreten, da es keinem Richter zusteht, einem anderen Menschen das Recht auf Leben abzusprechen6. Kriminalpolitisch ist die Todesstrafe überflüssig, da sie keine stärkere Abschreckungswirkung entfaltet als etwa die lebenslange Freiheitsstrafe 7. Auch die Aufgabe der Sicherung der Allgemeinheit vor dauernd gefährlichen Straftätern kann durch die lebenslange Freiheitsstrafe sowie die Sicherungsverwahrung (§ 66) hinreichend erfüllt werden. 1

Vgl. zur Vorgeschichte Düsing , Abschaffung der Todesstrafe S. 276 ff. Die Todesstrafe ist allerdings in Art. 21 I 2 Hess. Landesverfassung noch ausdrücklich vorgesehen. Diese Bestimmung, die wegen Art. 31 GG keine praktische Bedeutung hat, wurde teilweise als „Vorratsklausel" für den Fall einer Wiedereinführung der Todesstrafe verstanden, doch ist ihre Aufhebung geboten; vgl. Calliess , NJW 1989, 1020 f. 2 AK GG (Azzola) Art. 102 Rdn. 48; Maunz/Dürig, Art. 102 Rdn. 10. 3 Zutreffend Calliess , NJW 1988, 852; derselbe , NJW 1989, 1020; im Ergebnis auch AK GG {Azzola) Art. 102 Rdn. 51; a. A. Ballhausen , NJW 1988, 2658; Tettinger, JZ 1978,131 f. Die verfassungsrechtliche Endgültigkeit der Abschaffung der Todesstrafe ergibt sich auch aus der Erwägung des Bundesverfassungsgerichts, die Menschenwürde gebiete es, dem Straftäter eine Aussicht auf Wiedergewinnung der Freiheit zu belassen; BVerfGE 45, 187 (228 f., 239). 4 Vgl. Bockelmann, Niederschriften Bd. X I S. 15; Arthur Kaufmann , Schuld und Strafe S. 13. Im übrigen hatte schon § 139 der Paulskirchen-Verfassung die Abschaffung der Todesstrafe vorgesehen; siehe Stern, Staatsrecht I I I / l S. 372. 5 Siehe Bockelmann , Die rationalen Gründe gegen die Todesstrafe S. 131 ff.; Dreher , ZStW 70 (1958) S. 553 ff.; Kaiser, Kriminologie § 118 Rdn. 2 - 14. 6 Aus christlicher Perspektive gegen die Todesstrafe Beristain , ZStW 89 (1977) S. 227f.; Yoder, in: Bedau (Hrsg.), The Death Penalty in America S. 370ff.; anders jedoch Althaus , Die Todesstrafe S. 25; Ermecke , Todesstrafe S. 33 ff.; siehe auch Würtenberger, Messner-Festschrift S. 527 ff. 7 Siehe hierzu Amnesty International , The Death Penalty S. 162 ff.; Helfer , HWB Krim Bd. III S. 343 ff.; Sellin, The Penalty of Death S. 121 ff.; Zeisel, in: Bedau (Hrsg.), The Death Penalty in America S. 116 ff.

I I . D i e Todesstrafe i m Völkerrecht u n d i m Ausland

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Eine Wiedereinführung der Todesstrafe würde überdies erhebliche Probleme aufwerfen: Ihr Vollzug gäbe sozialpsychologisch ein schlechtes Beispiel und würde eher einer Brutalisierung des öffentlichen Bewußtseins Vorschub leisten als Gewaltfreiheit fördern 8; die Voraussetzungen für die Verhängung der Todesstrafe lassen sich nicht so beschreiben, daß einerseits Willkür bei ihrer Verhängung, andererseits ihre Anwendung auf solche Fälle ausgeschlossen werden kann, in denen sie unangemessen streng ist 9 ; und Justizirrtümer bei der Vollstrekkung der Todesstrafe sind nicht wieder gutzumachen10. Die Einstellung der Öffentlichkeit zur Todesstrafe hat sich seit Kriegsende nicht unerheblich gewandelt: Während früher noch viel Zustimmung zur Todesstrafe zu verzeichnen war, überwiegt heute deutlich die Ablehnung Auch angesichts schwerster Straftaten und selbst für den Fall von inneren Unruhen oder Krieg spricht daher nichts für eine Wiedereinführung der Todesstrafe. II. Die Todesstrafe i m Völkerrecht und i m Ausland 1. I m Völkerrecht gibt es in jüngerer Zeit vermehrt Ansätze zu einer Abschaffung der Todesstrafe 12. a) Die Europäische Menschenrechtskonvention geht allerdings in Art. 2 I 2 1 3 noch von der Zulässigkeit der Todesstrafe aus, und der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat auch dem Versuch eine Absage erteilt, aus dem Verbot unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung in Art. 3 E M R K ein allgemeines Verbot der Todesstrafe abzuleiten 14 . Doch hat der Gerichtshof festgestellt, daß die mit der praktischen Anwendung der Todesstrafe verbundenen Folgen, vor allem die langen Wartezeiten in der Todeszelle, eine unmenschliche Behandlung im Sinne der E M R K darstellen können 15 . Einen wesentlichen Schritt weiter geht das im Jahre 1983 verabschiedete 6. Zusatzprotokoll zur EMRK, nach dessen Art. 1 8 Zur Hinrichtungspraxis in den USA siehe Amnesty International, The Death Penalty S. 108 - 155. 9 Stellt man die Verhängung der Todesstrafe bei bestimmten Delikten in das Ermessen des Gerichts, so besteht die Gefahr diskriminierender Anwendung (vgl. zur entsprechenden Situation in den USA Black, Capital Punishment, 1974; McCleskey v. Kemp, 107 S. Ct. 1756 [1987]); schließt man Ermessen aus, so muß die Todesstrafe auch in Fällen verhängt werden, in denen die Schuld des Täters nicht so schwer wiegt wie vom Gesetzgeber angenommen (siehe zu den parallelen Problemen bei der lebenslangen Freiheitsstrafe BGH 30, 105 [118 121])· 10 Zur Häufigkeit von Justizirrtümern siehe Bedau (Hrsg.), The Death Penalty in America S. 234ff.; Bedau/Radelet, Stanford Law Review 40 (1987) S. 21; Keller, Die Todesstrafe S. 143 ff. 11 Im Jahre 1992 sprachen sich in den westdeutschen Bundesländern 56% und in den ostdeutschen Ländern 49% der Bevölkerung gegen die Todesstrafe aus; der Anteil der Befürworter lag bei 24% bzw. 29%; Noelle-Neumann/Köcher (Hrsg.), Allensbacher Jahrbuch der Demoskopie 9 (1993) S. 607. Zur Entwicklung der Einstellung siehe Dreher, ZStW 70 (1958) S. 548; Lange, Die Todesstrafe S. 163; Kaiser, Kriminologie § 118 Rdn. 4; Reuhand, KZfSS 32 (1980) S. 535 ff. 12 Hierzu eingehend Möhrenschlager, Dünnebier-Festschrift S. 621 ff.; derselbe, ZStW 100 (1988) S. 252; derselbe, Baumann-Festschrift S. 297. 13 Art. 2 12 EMRK lautet: „Abgesehen von der Vollstreckung eines Todesurteils, das von einem Gericht im Falle eines durch Gesetz mit der Todesstrafe bedrohten Verbrechens ausgesprochen worden ist, darf eine absichtliche Tötung nicht vorgenommen werden." 14 Soering gegen Vereinigtes Königreich, NJW 1990, 2183 (2186) m. Anm. Lagodny. 15 Soering gegen Vereinigtes Königreich, NJW 1990, 2183 (2188). Siehe auch die Stellungnahme des Menschenrechtsausschusses der Vereinten Nationen im Fall Ng gegen Kanada, Human Rights Law Journal 1994, 149, wonach die Hinrichtungsmethode des Vergasens gegen das Verbot unmenschlicher Behandlung in Art. 7 IPbürgR verstößt.

48 Jescheck, 5. A.

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§ 7 1 Exkurs: D i e Todesstrafe

die Todesstrafe abgeschafft ist und niemand zu dieser Strafe verurteilt oder hingerichtet werden darf 16 . Dieses Zusatzprotokoll wurde von Deutschland im Jahre 1988 ratifiziert und in innerstaatliches Recht umgesetzt (BGBl. 1988 I I S. 662; 1989 I I S. 814). Das 6. Zusatzprotokoll ist bis Ende 1994 in 24 Mitgliedstaaten des Europarats in Kraft getreten (BGBl. 1994 I I Fundstellennachweis Β S. 285), allerdings nicht in der Türkei, dem einzigen Mitgliedstaat, in dem die Todesstrafe noch angewandt wird. Das Europäische Auslieferungsübereinkommen von 1959 (BGBl. 1964 I I S. 1371) bestimmt in Art. 11, daß der ersuchte Staat die Auslieferung ablehnen darf, wenn die Handlung im ersuchenden Staat mit der Todesstrafe bedroht ist, sofern dieser nicht die Zusicherung gibt, daß die Todesstrafe nicht vollstreckt wird17. b) Im Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte wird die Todesstrafe zwar nicht ausgeschlossen, aber auf „schwerste Verbrechen" und auf Taten Erwachsener beschränkt (Art. 6 II, V IPbürgR). Außerdem hebt Art. 6 V I des Paktes ausdrücklich hervor, daß die Regelungen über die Todesstrafe nicht dazu herangezogen werden dürfen, um die Abschaffung dieser Strafe in einem Vertragsstaat zu verhindern oder zu verzögern. Auch zum IPbürgR wurde im Jahre 1989 von der Generalversammlung der Vereinten Nationen ein (2.) Fakultativprotokoll verabschiedet, das Hinrichtungen (also nicht die Verhängung der Todesstrafe) verbietet 18 . Dieses Fakultativprotokoll ist seit 1991 in Kraft und gilt seit 1992 auch für Deutschland (BGBl. 1993 I I S. 880). Seine besondere Bedeutung liegt darin, daß es einen weltweiten Standard für die Rechtsentwicklung setzt und für alle Mitgliedstaaten der Vereinten Nationen zumindest einen Anreiz zur Entscheidung gegen die Todesstrafe schafft. Bezeichnend ist auch, daß Art. 24 des Statuts für das Internationale Tribunal zur Aburteilung von Kriegsverbrechen auf dem Gebiet des ehemaligen Jugoslawien die Todesstrafe nicht vorsieht 19 . 2. Bisher ist die Todesstrafe allerdings in der Mehrzahl der Staaten noch anwendbar 20 , insbesondere in den USA, China, Japan 21 sowie den meisten übrigen asiatischen und afrikanischen Staaten. Demgegenüber ist die Todesstrafe aus Europa weitgehend verdrängt, wenngleich dies zum Teil erst gegen heftigen Widerstand gelang, wie etwa in der Schweiz 22 , in Frankreich 23 , Spanien 24 und in Eng16

Hierzu eingehend Möhrenschlager, Baumann-Festschrift S. 298 ff. Ob diese Zusicherung als ausreichend anzusehen ist, wird durch das Gericht im Zulässigkeitsverfahren geprüft (BGH 34, 256 [262 ff.]) 18 GARes 44/128, abgedruckt in: Vereinte Nationen 1990, 118. Die Resolution wurde mit 59:26 Stimmen verabschiedet; die USA, China, Japan und zahlreiche islamische Staaten lehnten sie ab. Siehe zur Vorgeschichte und zu den deutschen Bemühungen um das Zustandekommen des 2. Fakultativprotokolls Möhrenschlager, Baumann-Festschrift S. 308 - 313. Zu den Beschlüssen internationaler Kongresse über die Todesstrafe siehe 4. Auflage S. 685 f. 19 Siehe hierzu Hollweg,, JZ 1993, 984 f. 20 Nach einer bei Möhrenschlager, Baumann-Festschrift S. 313 f. wiedergegebenen Aufstellung von Amnesty International wurde im Jahre 1991 die Todesstrafe in 106 Staaten angewandt, während sie in 81 Staaten jedenfalls für „gewöhnliche" Verbrechen abgeschafft war oder nicht praktiziert wurde. 21 In Japan wurden im Jahre 1991 drei Personen zum Tode verurteilt; Government of Japan, Summary of the White Paper on Crime 1993 S. 71. 22 Das schweizerische StGB von 1937 wurde beim Referendum nur gegen starke Gegnerschaft der Anhänger der Todesstrafe angenommen; Hafter, Allg. Teil S. 260f.; Schultz, Einführung I I S. 26. 23 Die Abschaffung der Todesstrafe erfolgte im Jahre 1981; siehe hierzu Ancel, Crime and Criminal Policy S. 33 ff. 17

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land 2 5 . In England und in Kanada wurde sogar die Wiedereinführung der Todesstrafe in den jeweiligen Parlamenten versucht, jedoch ohne Erfolg. Einen ganz anderen Weg als in Europa ging die Entwicklung in den U S A 2 6 . Dort hatte der U.S. Supreme Court, nachdem jahrelang niemand mehr hingerichtet worden war, im Jahre 1972 die Anwendung der Todesstrafe für unvereinbar mit der Bundesverfassung der USA erklärt 27 . Nachdem die Gesetzgeber vieler Einzelstaaten daraufhin genauere Kriterien für die Verhängung der Todesstrafe in ihre Gesetzbücher aufgenommen hatten, stellte dasselbe Gericht jedoch 1976 fest, daß die Todesstrafe nunmehr keine nach dem 8. Zusatzartikel zur Bundesverfassung verbotene „ungewöhnliche" Strafe mehr sei 28 . Seither ist die Todesstrafe in der Mehrzahl der amerikanischen Einzelstaaten sowie im Bundesrecht vorgesehen. Sie wird zunehmend auch vollstreckt, wobei selbst Personen hingerichtet werden, die Straftaten als Jugendliche 29 oder im Zustand beschränkter Schuldfähigkeit 30 begangen haben. Da die öffentliche Meinung in den USA die Anwendung der Todesstrafe unterstützt 31 , dürfte sich die Rechtslage dort in absehbarer Zukunft nicht ändern.

1. Kapitel: Strafen und Nebenfolgen Durch die Strafrechtsreform von 1975 hat der Gesetzgeber ein umfangreiches, differenziertes Instrumentarium von Sanktionen geschaffen. Es reicht von dem Verzicht auf Anklageerhebung (§ 153 StPO) über milde Formen des „Denkzettels" (§ 153 a StPO, §17 O W i G , §59) und die Geldstrafe (§§ 40 -43 a), die kleine Summen, aber auch das gesamte Vermögen des Täters erfassen kann, bis zur zeitigen und schließlich zur lebenslangen Freiheitsstrafe (§§ 38, 39). M i t den Hauptstrafen können unter bestimmten Voraussetzungen die Nebenstrafe des Fahrverbots (§ 44) sowie status- und vermögensrechtliche Nebenfolgen (§§ 45, 73 - 76 a) verbunden werden. Neben den Strafen stehen die gesondert (unten §§ 77, 78) zu behandelnden Maßregeln der Besserung und Sicherung, die in erster Linie präventiven Zwecken dienen, im Vollzug jedoch auch die Aufgaben der Strafe teilweise erfüllen und daher mit dieser „verrechnet" werden können (vgl. § 67). In der Rechtswirklichkeit steht bei den Strafen eindeutig die Geldstrafe im Vordergrund. Sie wurde im Jahre 1991 in den westdeutschen Bundesländern gegen 24

Hier wurde die Todesstrafe durch Art. 15 der Verfassung von 1978 beseitigt; zur Geschichte siehe Rodriguez Devesa/ Serrano Gomez, Derecho penal S. 891 ff. 25 In England wurde die Todesstrafe im Jahre 1965 zunächst befristet und 1969 endgültig abgeschafft. Sie ist aber immer noch bei Hochverrat und gewaltsamer Piraterie anwendbar (Archbold, Criminal Pleading 5 - 712). Zur Diskussion um die Todesstrafe siehe Blom-Cooper (Hrsg.), The Hanging Question, 1969. 26 Überblick bei Frankowski, ZStW 100 (1988) S. 951; Wieck, MDR 1990, 113; Umring/ Hawkins , Capital Punishment, 1986; siehe auch Gieß, MschrKrim 1994, 69. 27 Furman v. Georgia, 408 U.S. 238 (1972). Siehe dazu Herrmann, JZ 1972, 615. 28 Gregg ν. Georgia, 428 U.S. 153 (1976). 29 Vgl. hierzu Stanford v. Kentucky, 492 U.S. 361 (1989). Die USA hat gegenüber dem Verbot der Hinrichtung Jugendlicher in Art. 6 V IPbürgR einen Vorbehalt erklärt. 30 Siehe hierzu einerseits Ford v. Wainwright, 477 U.S. 399 (1986), andererseits Penry v. Lynaugh, 492 U.S. 302 (1989). Zur Frage der völkerrechtlichen Zulässigkeit dieser Praxis Giegerich, EuGRZ 1995, 1 (10 - 16); Schabbas, Criminal Law Forum 4 (1993) S. 95. 31 Siehe die Angaben bei Frankowski, ZStW 100 (1988) S. 971 f. 48*

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§ 72 D i e Freiheitsstrafe

84% aller verurteilten Erwachsenen verhängt 1 . 16% der Täter erhielten Freiheitsstrafen, von denen allerdings rund zwei Drittel zur Bewährung ausgesetzt wurden (§ 56), so daß nur 5 % aller Verurteilten sogleich eine Freiheitsstrafe verbüßen mußten 2 . Die große quantitative Bedeutung der Straßenverkehrsdelikte zeigt sich daran, daß 29% aller Täter die Fahrerlaubnis entzogen wurde (§ 69); weitere 5 % erhielten ein Fahrverbot (§ 44). Die übrigen Maßregeln spielen zahlenmäßig eine vergleichsweise sehr geringe Rolle; sie wurden nur bei 0,2% aller verurteilten Straftäter angewandt. § 72 Die Freiheitsstrafe Alschuler, The Failure of Sentencing Guidelines, University of Chicago Law Review 58 zum Strafvollzugsgesetz, 3. Auflage 1991; Ancel , (1991) S. 901; Alternativ-Kommentar L'abolition de la peine de mort et le problème de la peine de remplacement, Studies in Penology to the Memory of Sir Lionel Fox, 1964, S. 1; Arzt, Die Delikte gegen das Leben, ZStW 83 (1971) S. 1; Ashworth, Reform des englischen Strafzumessungsrechts, ZStW 106 (1994) S. 605; Baltzer, Zur Problematik der lebenslangen Freiheitsstrafe, StV 1989, 42; Beckmann, Ist die lebenslange Freiheitsstrafe noch ein verfassungsrechtliches Problem? G A 1979, 441; Bemmann, Für und wider die Vereinheitlichung der Freiheitsstrafe, G A 1967, 129; derselbe, „Im Vollzug der Freiheitsstrafe soll der Gefangene fähig werden" usw., StV 1988, 549; Bertel, Die Wiederkehr der kurzen Freiheitsstrafe, ÖJZ 1987, 75; Bringewat, Anmerkung zu BGH vom 23.6.1988, JR 1989, 248; Brughelli, Alternativen zur Freiheitsstrafe, in: Kunz (Hrsg.), Die Zukunft der Freiheitsstrafe, 1989, S. 1; Bruns, Gesetzesänderung durch Richterspruch? Festschrift für Th. Kleinknecht, 1985, S. 49; derselbe, Das Recht der Strafzumessung, 2. Aufl. 1985; Calliess/ Müller-Dietz, Strafvollzugsgesetz, 6. Auflage 1994; Dolcini/ Paliero, Alternativen zur kurzen Freiheitsstrafe in Italien und im Ausland, ZStW 102 (1990) S. 222; Dolde/Rössner, Auf dem Wege zu einer neuen Sanktion, ZStW 99 (1987) S. 424; Dopslaff Abschied von Entscheidungsfreiräumen bei Ermessen usw., ZStW 100 (1988) S. 567; Dreher, Richterliche Aussetzung des Strafrestes auch bei lebenslanger Freiheitsstrafe? Festschrift für R. Lange, 1976, S. 323; Dünkel, Gegenwärtige kriminalpolitische Strömungen zur (sozialtherapeutischen) Behandlung usw., in: Bundeszusammenschluß für Straffälligenhilfe (Hrsg.), Sozialtherapie als kriminalpolitische Aufgabe, 1981, S. 27; derselbe, Die Öffnung des Vollzugs - Anspruch und Wirklichkeit, ZStW 94 (1982) S. 669; Eser, Empfiehlt es sich, den Tatbestand des Mordes usw. neu abzugrenzen? Gutachten D zum 53. DJT, 1980, S. 3; Goemann, Das Schicksal der Lebenslänglichen, 1977; Grünwald, Das Rechtsfolgensystem des AE, ZStW 80 (1968) S. 89; Hanack, Die lebenslange Freiheitsstrafe, Kriminologische Gegenwartsfragen 1974, Heft 11, S. 72; Hüsler/Locher, Kurze Freiheitsstrafen und Alternativen, 1991; Jescheck, Die Freiheitsstrafe und ihre Surrogate in rechtsvergleichender Darstellung, in: Jescheck (Hrsg.), Die Freiheitsstrafe und ihre Surrogate im deutschen und ausländischen Recht, Bd. III, 1984, S. 1939; derselbe, Das Strafensystem des Vorentwurfs des Schweiz. StGB usw., Festschrift für K. Lackner, 1987, S. 901; Jescheck/Triffterer (Hrsg.), Ist die lebenslange Freiheitsstrafe verfassungswidrig? 1978; Jung/ Müller-Dietz (Hrsg.), Langer Freiheitsentzug - wie lange noch?, 1994; Kaiser, Strafvollzug im europäischen Vergleich, 1983; Kerner, Kriminologische Aspekte bei der Reform der lebenslangen Freiheitsstrafe, Kriminologische Gegenwartsfragen 1974, Heft 11, S. 85; Kürzinger, Bundesrepublik Deutschland, in: Jescheck (Hrsg.), Die Freiheitsstrafe und ihre Surrogate im deutschen und ausländischen Recht, Bd. III, 1984, S. 1737; Kunz, Die kurzfristige Freiheitsstrafe usw., SchwZStr 103 (1986) S. 182; derselbe, Der kurzfristige Freiheitsentzug in der Schweiz, in: Schuh (Hrsg.), Aktuelle Probleme des Straf- und Maßregelvollzugs, 1987, S. 49; derselbe, Soziales Lernen ohne Zwang, ZStW 101 (1989) S. 75; Kury, Die Behandlung Straffälliger, Bd. 1, 1986, Bd. 2, 1987; Laubenthal, Lebenslange Freiheitsstrafe, 1987; derselbe, Strafvollzug, 1995; Lenckner, Die kurze Freiheitsstrafe nach den Strafrechtsreformgesetzen, JurA 1971, 319; v. Liszt, Kriminal 1 Die hier wiedergegebenen Anteile sind errechnet nach den Angaben in Statistisches Bundesamt, Rechtspflege, Reihe 3: Strafverfolgung 1991, 1993, S. 42f., 68 - 70. 2 Allerdings ist zu berücksichtigen, daß die Aussetzung der Freiheitsstrafe in etwa einem Drittel der Fälle widerrufen werden muß (vgl. unten § 79 I 9) und daß bei etwa 5 % der Geldstrafen die Vollstreckung einer Ersatzfreiheitsstrafe (§ 43) notwendig wird.

I. D i e lebenslange Freiheitsstrafe

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politische Aufgaben, in: Strafrechtliche Aufsätze und Vorträge, Bd. I, 1905, S. 290; Mauer, Russia, United States World Leaders in Incarceration, Overcrowded Times 5 (1994), H. 5, S. 1; Morris/Tonry, Between Prison and Probation, 1990; Müller-Dietz, Lebenslange Freiheitsstrafe und bedingte Entlassung, in: Einsele u.a. (Hrsg.), Die Reform der lebenslangen Freiheitsstrafe, 1972, S. 35; derselbe, Strafvollzugsrecht, 2. Aufl. 1978; derselbe, Schuldschwere und Urlaub aus der Haft, JR 1984, 353; derselbe, Strafvollzug, Tatopfer und Strafzweck, G A 1985, 147; Otto, Die Mordmerkmale in der höchstrichterlichen Rechtsprechung, Jura 1994, 141; Rengier, Der Große Senat für Strafsachen auf dem Prüfstand, NStZ 1982, 225; Röhl, Uber die lebenslange Freiheitsstrafe, 1969; Sagel-Grande, Niederlande, in: Jescheck (Hrsg.), Die Freiheitsstrafe und ihre Surrogate im deutschen und ausländischen Recht, Bd. I, 1983, S. 373; Schaffmeister, Durch Modifikation zu einer neuen Strafe, Festschrift für H.-H. Jescheck, Bd. II, 1985, S. 991; Schöch, Empfehlen sich Änderungen und Ergänzungen bei den strafrechtlichen Sanktionen ohne Freiheitsentzug? Gutachten C zum 59. DJT, 1992; Schüler-Springorum, Tatschuld im Strafvollzug, StV 1989, 262; Schwind/ Böhm (Hrsg.), Strafvollzugsgesetz, 2. Auflage 1991; Schwind/Steinhilper/Böhm (Hrsg.), 10 Jahre Strafvollzugsgesetz, 1988; Sollberger, Die kurze Freiheitsstrafe aus der Sicht von Strafrichter und Staatsanwalt, in: Kunz (Hrsg.), Die Zukunft der Freiheitsstrafe, 1989, S. 63; Sturm, Die Strafrechtsreform, JZ 1970, 81; Tak, Sentencing and Punishment in the Netherlands, Overcrowded Times 5 (1994), H. 5, S. 5; Tonry, Sentencing Guidelines and their Effects, in: von Hirsch/Knapp/Tonry, The Sentencing Commission and its Guidelines, 1987, S. 16; Tonry / Hamilton (Hrsg.), Intermediate Sanctions in Overcrowded Times, 1995; Triffterer, Die lebenslange Freiheitsstrafe usw., ZRP 1976, 91; Triffterer/ Bietz, Strafaussetzung für „Lebenslängliche"? ZRP 1974, 141; Veh, Mordtatbestand und verfassungskonforme Rechtsanwendung, 1986; Walter, Stellung und Bedeutung der Freiheitsstrafe in rechtsvergleichender Sicht, ZfStrVo 1985, 325; derselbe, Strafvollzug, 1991; Wqsik, Die kriminalpolitische Bedeutung der kurzfristigen Freiheitsstrafe, Festschrift für G. Blau, 1985, S. 599; Weber, Die Abschaffung der lebenslangen Freiheitsstrafe usw., MschrKrim 1990, 65; Weber/Scheerer (Hrsg.), Leben ohne Lebenslänglich, 1988; Weigend, Die kurze Freiheitsstrafe - eine Sanktion mit Zukunft? JZ 1986, 260; derselbe, Richtlinien für die Strafzumessung, Festschrift der Rechtswissenschaftlichen Fakultät zur 600-Jahr-Feier der Universität zu Köln, 1988, S. 579; derselbe, Renaissance der kurzen Freiheitsstrafe? in: Deutsche Bewährungshilfe (Hrsg.), Die 13. Bundestagung, 1990, S. 495; derselbe, Die Rechte Gefangener in internationaler Perspektive, in: Müller-Dietz/Walter (Hrsg.), Strafvollzug in den 90er Jahren, 1995, S. 141. I. Die lebenslange Freiheitsstrafe 1. Nach der Abschaffung der Todesstrafe durch Art. 102 G G ist die lebenslange Freiheitsstrafe die schwerste Strafart des geltenden Rechts. Sie ist angedroht als absolute, d.h. dem richterlichen Ermessen entzogene Strafe bei Mord (§211 I) 3 und beim schwersten Fall des Völkermordes (§ 220 a I Nr. 1), in einigen Strafvorschriften als Regelstrafe wahlweise neben zeitiger Freiheitsstrafe (z.B. §§ 80, 81 I, 307), manchmal für besonders schwere Fälle allein (z.B. §§ 212 II, 316a I 2) oder neben zeitiger Freiheitsstrafe (z.B. §§ 94 II, 100 II, 310b III), manchmal als Regelstrafe, die in minder schweren Fällen durch zeitige Freiheitsstrafe ersetzt wird (§ 220 a I Nr. 2 - 5 , II), endlich bei einigen erfolgsqualifizierten Delikten neben zeitiger Freiheitsstrafe (z.B. §§ 229 II, 239a I I I , 251, 312). In den Fällen, in denen die Strafe nach § 49 I gemildert werden kann oder muß (z.B. §§ 13 II, 21, 23 II, 27 I I 2), reicht der Strafrahmen von drei bis fünfzehn Jahren Freiheitsstrafe. Bei Heranwachsenden kann das Gericht, wenn es allgemei3 BGH GS 30, 105 hat jedoch in Fällen heimtückischer Tötung bei Vorliegen außergewöhnlicher Umstände eine Strafmilderung nach § 49 I Nr. 1 zugelassen; zustimmend Rengier, NStZ 1982, 225; aus verfassungsrechtlichen Gründen ablehnend Bruns, KleinknechtFestschrift S. 49; Dreher/Tröndle, §211 Rdn. 17; Lackner/Kühl, Vorbem. 20 vor §211; §211 Rdn. 10b; Spendel, JR 1983, 269; Otto, Jura 1994, 143f.; Schönke/Schröder/Eser, Veh, Mordtatbestand S. 123.

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§ 72 D i e Freiheitsstrafe

nes Strafrecht anwendet, an Stelle von lebenslanger Freiheitsstrafe eine zeitige Freiheitsstrafe von zehn bis fünfzehn Jahren verhängen (§ 106 I JGG). 2. Die Verfassungsmäßigkeit der lebenslangen Freiheitsstrafe ist aus verschiedenen Gründen in Zweifel gezogen worden 4 . Sie wurde jedoch durch das Bundesverfassungsgericht (BVerfGE 45, 187) im Jahre 1977 bestätigt 5 . Zwar läßt sich bei der lebenslangen Freiheitsstrafe ebensowenig wie bei der Todesstrafe empirisch nachweisen, daß sie eine stärkere abschreckende Wirkung ausübt als etwa eine lange zeitige Freiheitsstrafe. Doch kann man die lebenslange Freiheitsstrafe nach der Abschaffung der Todesstrafe als Symbol für die Entschlossenheit des Staates verstehen, auf die bewußte Verletzung wichtigster Rechtsgüter mit äußerster Entschiedenheit zu antworten 6 . Bedenklich ist allerdings die absolute Androhung der lebenslangen Freiheitsstrafe bei Mord (§211 I), da hier Fälle auftreten können, in denen zwar ein Mordmerkmal verwirklicht ist, aber der Täter dennoch nicht so schwere Schuld auf sich geladen hat, daß die Höchststrafe angemessen wäre. Dies ist jedoch nicht eigentlich ein Problem der lebenslangen Freiheitsstrafe, sondern der Fassung von § 211; es sollte durch eine umfassende Reform dieser Vorschrift gelöst werden 7 . 3. Probleme wirft auch der Vollzug der lebenslangen Freiheitsstrafe auf, da langjährige Haft zu erheblichen Persönlichkeitsstörungen führen kann 8 . Dennoch bleibt auch hier das Vollzugsziel gültig, daß der Gefangene fähig werden soll, „künftig in sozialer Verantwortung ein Leben ohne Straftaten zu führen" ( § 2 1 1 StVollzG). Die lebenslange Freiheitsstrafe setzt daher schon zur Wahrung der Menschenwürde voraus, daß dem Gefangenen die Aussicht auf eine Entlassung in Freiheit erhalten bleibt (BVerfGE 45, 187 [228f.]; 86, 288 [312]). Diesem Postulat trägt § 57a Rechnung, wonach auch die lebenslange Freiheitsstrafe zur Bewährung ausgesetzt werden kann (siehe dazu unten § 79 I I 7); außerdem ist auch für „Lebenslängliche" Urlaub aus der Haft vorgesehen (§13 I I I StVollzG).

4 Vgl. LG Verden NJW 1976, 980; dazu Röhl, Über die lebenslange Freiheitsstrafe ZRP 1976, 92. Allgemein gegen die lebenslange Freiheitsstrafe S. 153 ff.; Triffterer, Arzt, ZStW 83 (1971) S. 23 f.; Bemmann, GA 1967, 139; Grünwald, ZStW 80 (1968) S. 99; Müller-Dietz, in: Einsele u.a., Die Reform der lebenslangen Freiheitsstrafe S. 38ff.; Hanack, Kriminologische Gegenwartsfragen 1974, 72; Kerner, ebda. S. 85; Schmidhäuser, Allg. Teil S. 761; Triffterer/Bietz, ZRP 1974, 174f.; aus jüngerer Zeit Baltzer, StV 1989, 42; Weber, MschrKrim 1990, 65; Weber/Scheerer (Hrsg.), Leben ohne Lebenslänglich, 1988. 5 Dokumentation der Anhörung von Sachverständigen vor dem BVerfG in: Jescheck/ Triffterer (Hrsg.), Ist die lebenslange Freiheitsstrafe verfassungswidrig? 1978; kritisch Beck-

mann, GA 1979, 441.

6 Vgl. Ancel, Fox-Studies S. 11 ff.; Dreher, Lange-Festschrift S. 327ff.; Röhl, Über die lebenslange Freiheitsstrafe S. 199. 7 Siehe hierzu eingehend Eser, Gutachten D zum 53. DJT S. 34ff.; weitere Nachweise zur Reformliteratur bei Lackner/Kühl, Vorbem. 25 vor § 211. 8 Siehe Eisenberg, Kriminologie § 37 Rdn. 9 - 13; Goemann, Das Schicksal der Lebenslänglichen S. 57ff.; Laubenthal, Lebenslange Freiheitsstrafe S. 113ff.

I I I . D i e kurzfristige Freiheitsstrafe

759

II. Die zeitige Freiheitsstrafe 1. Das Höchstmaß der zeitigen Freiheitsstrafe beträgt fünfzehn Jahre 9, ihr Mindestmaß einen Monat (§ 38 II) Doch gelten diese Grenzen nur, soweit nicht die anzuwendende Strafvorschrift eine geringere Höchststrafe oder eine höhere Mindeststrafe vorsieht (vgl. z.B. §§ 243 I, 249, 250, 251). Das Höchstmaß von fünfzehn Jahren darf auch bei der Bildung einer Gesamtstrafe nicht überschritten werden (§ 54 I I 2); es können jedoch, wenn eine Gesamtstrafe nicht gebildet werden kann, mehrere Freiheitsstrafen hintereinander vollstreckt werden, so daß sich eine Vollzugsdauer von mehr als fünfzehn Jahren ergibt (vgl. B G H 33, 367). ist ein Tag (§ 43 S. 2). Das Mindestmaß für die Ersatzfreiheitsstrafe 2. Die Zeiteinheiten für die Bemessung der Freiheitsstrafe sind in § 39 geregelt. Dabei wird zwischen Freiheitsstrafen unter einem Jahr und Freiheitsstrafen von längerer Dauer unterschieden. Freiheitsstrafe unter einem Jahr wird nach vollen Wochen und Monaten, Freiheitsstrafe von längerer Dauer nach vollen Monaten und Jahren bemessen (über Ausnahmen bei der Gesamtstrafenbildung BGH 16, 167; BGH JR 1989, 247 m. Anm. Bringewat). Zur Strafzeitberechnung vgl. §§ 37ff. StVollstrO. I I I . Die kurzfristige Freiheitsstrafe 1. Freiheitsstrafen von weniger als sechs Monaten Dauer werden als kurzfristige Freiheitsstrafen bezeichnet. Kriminalpolitisch sind sie schon seit langem umstritten 1 1 , und der A E (§ 36 I) hat sogar ihre generelle Abschaffung vorgeschlagen. Der Gesetzgeber hat diesen Schritt zwar nicht unternommen, aber dennoch versucht, die Anwendung kurzer Freiheitsstrafen in der Praxis stark einzuschränken 12 . Freiheitsstrafen unter einem Monat sind nach § 38 I I ganz ausgeschlossen; Freiheitsstrafen bis zu sechs Monaten dürfen nach § 47 I nur verhängt werden, wenn besondere Umstände sie zur Einwirkung auf den Täter oder zur Verteidigung der Rechtsordnung „ unerläßlich " machen. In der Rechtswirklichkeit sind kurze Aufenthaltszeiten im Strafvollzug dennoch weiterhin nicht selten. Dies liegt allerdings nicht daran, daß die Gerichte entgegen § 47 I häufig kurze Freiheitsstrafen verhängen und deren Vollstreckung anordnen würden 1 3 ; kurze Vollzugszeiten kommen vielmehr durch Restvollstreckungen nach 9 Die vom Ε 1962 vorgeschlagene Anhebung des Höchstmaßes der Freiheitsstrafe auf 20 Jahre hat der Gesetzgeber als unnötig und im Sinne der Resozialisierung bedenklich nicht übernommen; vgl. dazu Sturm, JZ 1970, 83. Zur Problematik langfristiger Freiheitsstrafen siehe Jung/Müller-Dietz (Hrsg.), Langer Freiheitsentzug, 1994. 10 Zum Vordringen von mittel- und langfristigen Freiheitsstrafen in der Sanktionspraxis während der siebziger und achtziger Jahre siehe NK (Villmow) Vorbem. 41 vor § 38 mit statistischen Angaben. 11 Siehe schon v. Liszt , Strafrechtliche Aufsätze und Vorträge Bd. I S. 346 - 353; zur neueren Diskussion Kaiser, Kriminologie §116 Rdn. 14-24; Kunz, SchwZStr 103 (1986) S. 182; Walter, ZfStrVo 1985, 325; Wçsik, Blau-Festschrift S. 599; Weigend, JZ 1986, 260; derselbe, in: Deutsche Bewährungshilfe (Hrsg.), Die 13. Bundestagung S. 495. 12 Zur Geschichte der Zurückdrängung der kurzen Freiheitsstrafe siehe M aurach/Gössel/ Zipf Allg. Teil I I § 64 Rdn. 1 - 3; zu den Absichten des Reformgesetzgebers BT-Drucks. V/ 4094 S. 5. 13 Im Jahre 1989 wurden aber immerhin 44.321 Freiheitsstrafen unter sechs Monaten ausgeprochen; das entspricht einem Anteil von 44 % an allen Freiheitsstrafen. Von den verhängten kurzfristigen Freiheitsstrafen wurden jedoch 77 % zur Bewährung ausgesetzt, so daß nur rund 10.000 kurze Freiheitsstrafen unmittelbar vollstreckt wurden. Angaben aus: Statistisches Bundesamt, Rechtspflege, Reihe 3: Strafverfolgung 1991, 1993, S. 46. Siehe auch die Zahlenangaben bei Schöch, Gutachten C zum 59. DJT S. C 25.

760

§ 72 D i e Freiheitsstrafe

langer Untersuchungshaft (vgl. § 51) oder nach widerrufener Bewährungsaussetzung (vgl. §§ 56 f, 57 III) sowie durch den Vollzug von Ersatzfreiheitsstrafen (§ 43) zustande 14 ' . Die kriminalpolitische Beurteilung der kurzfristigen Freiheitsstrafe hängt davon ab, mit welchen Alternativen man sie vergleicht. Ein kurzfristiger Aufenthalt im Strafvollzug hat keine meßbaren spezialpräventiven Vorteile gegenüber ambulanten Sanktionen (wie Geldstrafe oder Strafaussetzung zur Bewährung), sondern kann eher dazu beitragen, die Resozialisierungschancen des Täters durch die Störung bestehender sozialer Bindungen in Beruf, Familie oder Bekanntenkreis zu mindern 1 6 . Auch eine überlegene Abschreckungswirkung kurzer Freiheitsstrafen läßt sich allenfalls für manche Tätergruppen vermuten, aber bisher nicht nachweisen 17 . Andererseits vermögen aber auch langfristige Freiheitsstrafen die Resozialisierung nicht wesentlich zu fördern, sondern beeinträchtigen noch nachhaltiger die Chancen des Täters auf ein späteres Leben ohne Straftaten (wenn man von der kriminalitätshemmenden Wirkung des Alterungsprozesses absieht). Daher sind kurze Freiheitsstrafen in spezialpräventiver Hinsicht längeren Freiheitsstrafen überlegen und sollten deshalb keineswegs generell ausgeschlossen, sondern als Mittel zur Absenkung des Sanktionsniveaus begriffen werden 18 . Die gesetzgeberische Präferenz für Geldstrafen gegenüber kurzen Freiheitsstrafen, wie sie in § 47 I zum Ausdruck kommt, richtet sich sowohl gegen die vollstreckte als auch gegen die nach § 56 zur Bewährung ausgesetzte Freiheitsstrafe. Sie steht damit quer zu der kriminologisch allein bedeutsamen Unterscheidung zwischen freiheitsentziehenden und ambulanten Sanktionen und hat zur Folge, daß auch die Verhängung einer kurzen Freiheitsstrafe mit Aussetzung unter Auflagen und/oder Weisungen, die im Einzelfall spezialpräventiv durchaus sinnvoller sein kann als eine Geldstrafe, nur für Ausnahmefälle zugelassen w i r d 1 9 . 2. Die Wahlregel des § 47 kommt zur Geltung, wenn eine Freiheitsstrafe von wenigstens sechs Monaten über das Maß der Strafzumessungsschuld (§ 46 I 1) hinausginge20 und wenn andererseits nicht von vornherein nur eine in der betreffen14

Siehe hierzu Kaiser, Kriminologie § 116 Rdn. 16; Weigend, JZ 1986, 261 f. Im Ausland spielt die kurzfristige Freiheitsstrafe teilweise noch eine quantitativ wesentlich bedeutsamere Rolle als in Deutschland; vgl. den Überblick bei Jescheck, Die Freiheitsstrafe Bd. III S. 2039 ff. Dies gilt insbesondere für die Schweiz (siehe Hüsler/Locher, Kurze Freiheitsstrafen S. 9ff.; Kunz, in: Schuh [Hrsg.], Aktuelle Probleme S. 49; Brughelli, in: Kunz [Hrsg.], Die Zukunft der Freiheitsstrafe S. 7; Sollherger, ebda. S. 85 f.), für die Nieder15

lande (siehe Sagel-Grande, in: Jescheck [Hrsg.], Die Freiheitsstrafe Bd. I S. 415; Schaffmei-

ster, Jescheck-Festschrift Bd. I I S. 991), wo allerdings der Anteil kurzer Freiheitsstrafen im Verlauf der achtziger Jahre stark zurückgegangen ist (siehe Tak, Overcrowded Times 1994, H. 5, S. 6 f.), sowie für England, wo 1993 34% aller unbedingt verhängten Freiheitsstrafen kürzer als sechs Monate waren (Criminal Statistics England and Wales 1993, 1994, S. 174). 16 Vgl. Kaiser/Kerner/Schöch, Strafvollzug § 9 Rdn. 23. Über Ansätze zu einer sinnvollen Gestaltung des Vollzugs kurzer Freiheitsstrafen berichten Dolde/Rössner, ZStW 99 (1987) S. 433 ff. 17 Zu den generalpräventiven Auswirkungen kurzer Freiheitsstrafen siehe einerseits Tiedemann, Wirtschaftsstrafrecht S. 73 f., 247 ff., andererseits Weigend, JZ 1986, 265 m.w.N. 18 Näher Weigend, in: Deutsche Bewährungshilfe (Hrsg.), Die 13. Bundestagung S. 501 ff. 19 Mit Recht kritisch SK (Horn) § 47 Rdn. 10-13. Verfassungswidrig ist § 47 wegen dieses Problems jedoch nicht (BVerfGE 28, 386). 20 Dies kann sich auch aus der Anwendung einer allgemeinen Milderung nach § 49 I ergeben; Lackner, § 47 Rdn. 1; Schönke/Schröder/Stree,

§ 47 Rdn. 5.

761

I I I . D i e kurzfristige Freiheitsstrafe

den Strafvorschrift vorgesehene Geldstrafe in Frage kommt 2 1 . Sieht der vom Täter verwirklichte Straftatbestand ausschließlich Freiheitsstrafe ohne erhöhtes Mindestmaß als Sanktion vor, so kommt als Alternative stets auch Geldstrafe in Betracht (Art. 12 I EGStGB); auch für diesen Fall genießt die Geldstrafe Vorrang (§ 47 I I 1). Dasselbe gilt auch dann, wenn die im Tatbestand angedrohte Freiheitsstrafe im Mindestmaß erhöht ist, im konkreten Fall aber keine Freiheitsstrafe von sechs Monaten oder mehr schuldangemessen wäre (§ 47 I I 2) 2 2 . Beispiele: Hat der Täter einen sehr leichten Fall der uneidlichen Falschaussage (§ 153) begangen, so ist anstelle des gesetzlichen Mindestmaßes von drei Monaten Freiheitsstrafe nach § 47 II 2 eine Geldstrafe von 90 Tagessätzen zu verhängen, wenn nicht besondere Umstände i.S.v. § 47 I den Ausspruch einer Freiheitsstrafe unerläßlich machen. Ebenso kann bei einem Diebstahl in einem besonders schweren Fall (§§ 242, 243) eine Geldstrafe zwischen 90 und 179 Tagessätzen verhängt werden, wenn die Tat an der unteren Grenze des Strafrahmens, der von drei Monaten bis zu zehn Jahren reicht, einzustufen ist. 3. Eine kurzfristige Freiheitsstrafe darf ausnahmsweise verhängt werden, wenn sie aus besonderen Umständen unerläßlich 23 ist (§ 47 I), d. h. wenn keine andere schuldangemessene Sanktion ersichtlich ist, die zur Erreichung der präventiven Strafzwecke ausreicht (vgl. O L G Düsseldorf StV 1991, 264; O L G Bremen StV 1994, 130). Da hier nur die „Einwirkung auf den Täter" und die „Verteidigung der Rechtsordnung" als Ziele der Bestrafung berücksichtigt werden dürfen 24 , kann der Einsatz der Freiheitsstrafe nicht allein auf den Gesichtspunkt der „besonderen Schwere der Schuld" 25 oder gar auf sachfremde Erwägungen wie die Eigenschaft des Täters als Asylbewerber (dazu O L G Celle StV 1993, 195) gestützt werden. a) Die „besonderen Umstände a26 können zunächst in der Tat, etwa in der Schwere des Schadens oder in einem besonderen Maß der Pflichtverletzung liegen. Dabei ist zu beachten, daß allgemeine kriminologische „Erkenntnisse" über Täter bestimmter Tatbestände, etwa darüber, daß Hehler durch Geldstrafen nicht hinreichend zu beeindrucken seien, schon wegen des Doppelverwertungsverbotes (§ 46 III) keine „besonderen" Umstände darstellen können (BGH StV 1993, 360). Die Tat muß sich vielmehr in ihrer konkreten Ausprägung so deutlich vom Durchschnittsbild des entsprechenden Delikts unterscheiden, daß man von einem „schweren Fall" sprechen kann 27 . Besondere Umstände in der Persönlichkeit des Täters, die für die Verhängung einer kurzen Freiheitsstrafe sprechen können, sind vor allem wiederholte Rückfälligkeit oder ein ausgeprägter Hang zu bestimmten Straftaten. Doch betont die neuere Rechtsprechung mit Recht, daß die bloße Tatsache mehrfacher Wiederholung von Straftaten allein noch nicht die Verhängung einer kurzen Freiheitsstrafe rechtfertigt, insbesondere dann nicht, wenn sich die Lebensumstände des Täters in der Zwischenzeit günstiger gestaltet haben (vgl. 21 Horstkotte, JZ 1970, 127; LK n {Gribbohm) § 47 Rdn. 8. Zu Unrecht interpretieren Dreher/Tröndle, § 47 Rdn. 6 die Vorschrift als eine Erlaubnis dazu, bei Vorliegen „besonderer Umstände" eine Freiheitsstrafe anstelle einer schuldangemessenen Geldstrafe zu verhängen. 22 Siehe hierzu Horn, NStZ 1990, 270; Lackner, § 47 Rdn. 8; Schönke/Schröder/Stree, § 47 Rdn. 9. 23 Dies bedeutet mehr als „geboten" i. S.v. § 56 III; LK n {Gribbohm) § 47 Rdn. 13. 24

SK {Horn) § 47 Rdn. 23. Bruns, Recht der Strafzumessung S. 111; Dreher/Tröndle, bohm) § 47 Rdn. 15, 31. 25

26

Siehe hierzu LK 1 1 {Gribbohm) § 64 Rdn. 13 f. 27

Dreher/Tröndle,

§ 47 Rdn. 3; LK U

§47 Rdn. 6; LK n

§ 47 Rdn. 9 - 12; Maurach/Gössel/Zipf, {Gribbohm)

§ 47 Rdn. 9.

{Grib-

Allg. Teil II

762

§ 72 D i e Freiheitsstrafe

O L G Düsseldorf StV 1991, 264; O L G Zweibrücken StV 1992, 323; O L G Schleswig StV 1993, 29) 28 . b) Entscheidend ist nämlich die weitere Voraussetzung, daß die Verhängung der Freiheitsstrafe zur Einwirkung auf den Täter unerläßlich ist. U m dies festzustellen, müssen die voraussichtlichen Auswirkungen einer Freiheitsstrafe auf den individuellen Täter mit den Auswirkungen einer Geldstrafe verglichen werden. Nur wenn letztere das Ziel der Verhinderung von (weiteren) Straftaten mit großer Sicherheit verfehlen würde und die Freiheitsstrafe demgegenüber positiv zu dessen Erreichung beitragen kann, darf eine Freiheitsstrafe ausgesprochen werden 29 . Dabei ist zu berücksichtigen, daß die Höhe einer Geldstrafe durch das Tagessatzsystem (§ 40 II) der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit des Täters angepaßt und daß die Geldstrafe unter Umständen durch ein Fahrverbot (§ 44) oder eine Maßregel (z. B. Entziehung der Fahrerlaubnis nach § 69) ergänzt werden kann 30 . Andererseits sind die besonderen Resozialisierungsmöglichkeiten (aber auch die Risiken) zu erwägen, die die Aussetzung einer Freiheitsstrafe zur Bewährung im Vergleich mit der Geldstrafe bietet (vgl. §§ 56b - 56d) 31 . Für die Praxis von Bedeutung ist insbesondere die Frage, wie verfahren werden soll, wenn eine Geldstrafe den Täter wirtschaftlich nicht trifft, weil er über ein sehr großes Vermögen verfügt, weil er die Geldstrafe voraussichtlich nicht bezahlen wird oder weil ein anderer ihm das wirtschaftliche Opfer abnimmt. In keinem dieser Fälle ist jedoch der Übergang zur Verhängung einer kurzfristigen Freiheitsstrafe berechtigt: Die wirtschaftliche Situation des Täters ist ausschließlich durch die Bestimmung der Tagessatzhöhe in Anschlag zu bringen 32; als Sanktion für zahlungsunwillige Verurteilte ist die Ersatzfreiheitsstrafe (§ 43) vorgesehen33; die Bezahlung der Geldstrafe durch einen Dritten schließlich ist strafrechtlich nicht verboten (vgl. BGH 37, 226) und dürfte im übrigen häufig zu Regreßforderungen des Dritten gegenüber dem Täter führen 34. c) Ist die Verhängung einer kurzfristigen Freiheitsstrafe nicht aus spezialpräventiven Gründen geboten, so kann sie nur auf den Gedanken der „Verteidigung der Rechtsordnung" gestützt werden (näher dazu unten § 79 I 5). Maßgeblich ist hier die Erwägung, daß es zur Erhaltung der Rechtstreue der Bevölkerung notwendig sein kann, in besonderen Ausnahmefällen auch eine spezialpräventiv unwirksame strengere Strafe zu verhängen, wenn sonst das Vertrauen der Bevölkerung in die „Unverbrüchlichkeit des Rechts" erschüttert würde (BGH 24, 40 [46]; siehe auch K G StV 1993, 120) 35 . Anders als im Zusammenhang des § 56 III, wo dieselbe Formulierung verwendet wird, geht es hier nur um die bloße Verhängung einer Freiheitsstrafe, nicht um ihre Vollstreckung; aus § 56 I I I ergibt sich sogar, daß eine 28 29

Ebenso SK (Horn) § 47 Rdn. 24. Lackner, § 47 Rdn. 3; Maurach/Gössel/Zipf

Allg. Teil I I § 64 Rdn. 15; SK (Horn) § 47

Rdn. 14. Verfehlt daher die Entscheidung BayObLG NStZ 1989, 75, wo die Verhängung einer kurzen Freiheitsstrafe gegenüber einer vielfach rückfälligen 74jährigen Ladendiebin mit der Erwägung begründet wird, eine „Resignation der Justiz" gegenüber unverbesserlichen Straftätern könne nicht hingenommen werden. 30

Dreher/Tröndle,

Teil II § 64 Rdn. 17. 31

32

§ 47 Rdn. 7; Lenckner, JurA 1971, 332; Maurach/Gössel/Zipf

Schönke/Schröder/Stree,

LK 11 (Grihhohm)

§ 47 Rdn. 11 f.; SK (Horn) § 47 Rdn. 18 f.

§ 47 Rdn. 24; Maurach/Gössel/Zipf,

Schönke/Schröder/Stree, § 47 Rdn. 11. 33 Vgl. SK (Horn) § 47 Rdn. 27. 34

Allg. Teil II § 64 Rdn. 16;

Im Ergebnis wie hier BayObLG NJW 1994, 167; Dreh er/Tröndle,

§ 47 Rdn. 7; LK n

(Grihhohm) § 47 Rdn. 25f.; a. A. SK (Horn) § 47 Rdn. 29. 35

Allg.

Beispiele aus der Praxis bei Dreh er/Tröndle,

§ 47 Rdn. 5; Lackner,

§ 47 Rdn. 5.

I V . D e r V o l l z u g der Freiheitsstrafe

763

Freiheitsstrafe unter sechs Monaten auch nicht „zur Verteidigung der Rechtsordnung" vollstreckt werden darf, wenn die Vollstreckung nicht aus spezialpräventiven Gründen notwendig ist. Dies bedeutet für § 47 I, daß es zur Erhaltung der Rechtstreue der Bevölkerung gerade erforderlich sein müßte, nicht eine Geldstrafe, sondern eine spezialpräventiv nicht angezeigte Freiheitsstrafe auszusprechen (und dann meist zur Bewährung auszusetzen). Diese Voraussetzung wird sich nur in sehr seltenen Fällen bejahen lassen36. 4. Im Ausland enthält § 37 österr. StGB eine dem § 47 vergleichbare Vorschrift zur Einschränkung der kurzfristigen Freiheitsstrafe; dort sind freilich die Ausnahmen weniger eng formuliert als im deutschen Recht. In der Schweiz sollte die kurzfristige Freiheitsstrafe nach Art. 32 des VE Schultz ganz beseitigt werden, während in Art. 40, 41 des Vorentwurfs der Expertenkommission eine dem deutschen § 47 weitgehend entsprechende Lösung vorgeschlagen wird. IV. Der Vollzug der Freiheitsstrafe 1. Der Vollzug der Freiheitsstrafe richtet sich nach dem Gesetz über den Vollzug der Freiheitsstrafe und der freiheitsentziehenden Maßregeln der Besserung und Sicherung vom 16.3.1976 (BGBl. I S. 581) 37 . Den Vollzug von Freiheitsstrafe, Strafarrest und Jugendarrest an Soldaten durch die Behörden der Bundeswehr regelt die Bundeswehrvollzugsordnung vom 29.11.1972 (BGBl. I S. 2205), deren allgemeiner Grundsatz ist, daß der Soldat in der Regel am Dienst teilnimmt (§ 2 I I BwVollzO). Das Strafvollzugsgesetz enthält als wichtigsten Grundsatz den Vorrang der Resozialisierung als Vollzugsziel (§ 2 S. 1 StVollzG) 38 . Zu diesem Zweck soll das Leben im Vollzug den allgemeinen Lebensverhältnissen so weit wie möglich angeglichen werden (§3 1 StVollzG) und soll der Gefangene an der Gestaltung seiner Behandlung und an der Erreichung des Vollzugsziels mitwirken (§4 1 StVollzG) 39 . Der Schutz der Allgemeinheit vor weiteren Straftaten tritt hinter dem Resozialisierungsziel zurück (§ 2 S. 2 StVollzG). Für jeden Gefangenen wird auf der Grundlage einer Behandlungsuntersuchung (§ 6 StVollzG) ein Vollzugsplan aufgestellt (§ 7 StVollzG). Die Gefangenen sollen nach Möglichkeit im offenen Vollzug untergebracht werden (§10 StVollzG). Außenbeschäftigung und Freigang, Ausführung und Ausgang sind als Lockerungen des Vollzugs vorgesehen (§11 36

SK {Horn) § 47 Rdn. 36 f. führt Situationen an, in denen außergewöhnlich hohem Tatunrecht die geringe Schuld des Täters gegenübersteht und umgekehrt. Mit Recht für eine Streichung des Merkmals „Verteidigung der Rechtsordnung" Maurach/Gössel/Zipf, Allg. Teil II § 64 Rdn. 22. 37 Siehe dazu die Kommentare von Calliess/Müller-Dietz, 6. Auflage 1994; AK StVollzG, 3. Auflage 1990; Schwind/Böhm (Hrsg.), 2. Auflage 1991 sowie die Lehrbücher von Calliess, Strafvollzugsrecht, 3. Auflage 1992; Laubenthal, Strafvollzug, 1995 und Walter, Strafvollzug, 1991. 38 Zur verfassungsrechtlichen Grundlage BVerfGE 35, 202 (235); 40, 276 (284 f.) sowie Kaiser/Kerner/Schöch, Strafvollzug S. 152 ff. Zu der zunehmenden Berücksichtigung von Generalprävention und Schuld des Gefangenen bei der Vollzugsgestaltung (z.B. BVerfGE 64, 261; OLG Frankfurt NStZ 1983, 140; OLG Stuttgart NStZ 1987, 430; OLG Karlsruhe NStZ 1989, 247; OLG Bamberg NStZ 1989, 389) zu Recht kritisch Bemmann, StV 1988, 549; Müller-Dietz,

GA 1985, 154 ff.; derselbe, JR 1984, 359 ff.; Schüler-Springorum,

StV 1989,

265; Walter, Strafvollzug S. 58ff. Bei Vollzugslockerungen aber der Rechtsprechung zustimmend Böhm, in: Schwind/Böhm, StVollzG, § 2 Rdn. 6; siehe auch die Beiträge von Dietl und Baumann, in: Schwind/Steinhilper/Böhm (Hrsg.), 10 Jahre Strafvollzugsgesetz S. 55, 69. 39 Die Vorschrift unterstreicht die Subjektrolle des Gefangenen und das Prinzip der Zusammenarbeit im Sinne der Resozialisierung; vgl. Müller-Dietz, Strafvollzug S. 87; Kunz, ZStW 101 (1989) S. 87 ff.

764

§ 72 D i e Freiheitsstrafe

StVollzG). Urlaub kann bis zu 21 Kalendertagen im Jahr gewährt werden (§13 StVollzG) 40 . Die Gefangenen arbeiten gemeinsam (§17 StVollzG) und sind während der Ruhezeit allein in ihren Hafträumen untergebracht (§18 StVollzG). Das Arbeitsentgelt der Gefangenen beträgt vorläufig nur 5% des durchschnittlichen Arbeitsentgelts aller Versicherten in der gesetzlichen Rentenversicherung der Arbeiter und Angestellten (§§ 43, 200 StVollzG) 41 . Die Gefangenen werden bei der Arbeitslosenversicherung versichert. Die Bestimmungen über die Kranken- und Rentenversicherung sollten durch ein besonderes Bundesgesetz in Kraft gesetzt werden (§ 198 I I I StVollzG), das bisher nicht ergangen ist. Der Gefangene hat das Recht der Beschwerde an den Anstaltsleiter (§ 108 StVollzG) und das Recht, auf die Entscheidung der Strafvollstreckungskammer anzutragen, wenn er geltend macht, durch eine Maßnahme oder ihre Ablehnung oder Unterlassung in seinen Rechten verletzt zu sein (§§ 109 ff. StVollzG) 42 . Die Entlassung der Gefangenen wird durch Lockerungsmaßnahmen vorbereitet (§15 StVollzG) und durch soziale Hilfen gefördert (§§ 74 f. StVollzG). Im ganzen hat der Strafvollzug seit dem Erlaß des Strafvollzugsgesetzes von 1976 erhebliche Fortschritte gemacht. Die Rückfallziffer ist zwar noch immer hoch, doch gelangen in den Vollzug ganz überwiegend Personen, die schon einige Straftaten begangen haben und die mehr als andere zu erneutem Rückfall neigen 43 , so daß auch eine nur begrenzte Anzahl gelungener Fälle von Resozialisierung schon einen Erfolg darstellt. 2. Internationale Mindestanforderungen für die Ausgestaltung des Strafvollzugs in den nationalen Rechtsordnungen sind in den „Einheitlichen Mindestgrundsätzen für die Behandlung der Gefangenen" aufgestellt 44. Sie wurden im Jahre 1955 vom Ersten Kongreß der Vereinten Nationen über Verbrechensverhütung und die Behandlung Straffälliger in Genf angenommen und durch eine Entschließung des Wirtschafts- und Sozialrats der Vereinten Nationen vom 31.7.1957 den Regierungen zur Annahme und Anwendung empfohlen. Für die Mitgliedstaaten des Europarats gelten die vom Ministerkomitee 1987 verabschiedeten „Règles pénitentiaires européennes"45. Die zentrale Bestimmung dieser Regeln lautet: „Der Freiheitsentzug hat unter materiellen und sittlichen Bedingungen zu erfolgen, die die Achtung der Menschenwürde gewährleisten" (Erster Teil Nr. 1). Die Mindestgrundsätze der Vereinten Nationen für die Jugendgerichtsbarkeit von 198546 sehen in Nr. 27 die Anwendung der Mindestgrundsätze für die Behandlung von Strafgefangenen auf die stationären Maßnahmen für Jugendliche vor 47 . 40 Eingehende Untersuchung der Vollzugpraxis mit im wesentlichen positivem Ergebnis bei Dünkel, ZStW 94 (1982) S. 669ff. Zur Sozialtherapie im Vollzug (§ 9 StVollzG) Dünkel, in: Bundeszusammenschluß für Straffälligenhilfe (Hrsg.), Sozialtherapie S. 27 ff. Zur empirischen Behandlungsforschung Kaiser/Kerner/Schöch, Strafvollzug S. 501 ff.; Kury, Die Behandlung Straffälliger, Bd. 1, 1986, Bd. 2, 1987. 41 Die ursprünglich geplante Anhebung dieses Satzes ist bisher nicht erfolgt; siehe Matzke, in: Schwind/Böhm, StVollzG § 200 Rdn. 1 f. 42 Es bestehen allerdings weitgehende Ermessensspielräume der Vollzugsbehörden, die gerichtlich nur eingeschränkt überprüfbar sind; kritisch hierzu Dopslaff, ZStW 100 (1988) S. 567. 43 Vgl. Kaiser/Kerner/Schöch, Strafvollzug S. 376f.; Streng, Sanktionen S. 108 ff. 44 Englischer Text der „Standard Minimum Rules for the Treatment of Prisoners" in: UN, Sales No. 1956 IV. 4. Deutsche Übersetzungen in ZStW 67 (1955) S. 667 und ZfStrVo 1958, 141. 45 Recommandation No. R (87) 3 et Exposé des motifs, Strasbourg 1987. 46 Deutsche Übersetzung in ZStW 99 (1987) S. 253; siehe hierzu Dünkel, ZStW 100 (1988) S. 361; Kaiser, RdJB 1989, 44. 47 Siehe zum Strafvollzug im internationalen Vergleich Kaiser, Strafvollzug im europäiStrafvollzug S. 22ff.; Weigend, in: Müllerschen Vergleich, 1983; Kaiser/Kerner/Schöch, Dietz/Walter (Hrsg.), Strafvollzug in den 90er Jahren S. 141.

V . Ausländisches Recht

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V. Ausländisches Recht Die Freiheitsstrafe ist auch im Ausland48 noch immer das Rückgrat des Strafensystems, wenn auch die Kritik an ihr überall zunimmt. Der Anteil der Freiheitsstrafen an der Gesamtheit der gerichtlichen Verurteilungen wie auch der Anteil der Vollstreckungen gegenüber der Strafaussetzung zur Bewährung ist jedoch sehr verschieden. Osterreich kennt sowohl die lebenslange als auch die zeitige Freiheitsstrafe, die mindestens einen Tag und höchstens 20 Jahre beträgt (§18 österr. StGB). Eine Prioritätsregel zugunsten der Geldstrafe gilt wie in Deutschland im Bereich bis zu sechs Monaten (§37 österr. StGB)49. Das schweizerische StGB hat die Unterscheidung von Zuchthaus, Gefängnis und Haft aufrechterhalten und droht auch die lebenslange Freiheitsstrafe an. Im Vorentwurf der Expertenkommission ist nunmehr Einheitsfreiheitsstrafe zwischen sechs Monaten und 20 Jahren vorgesehen, außerdem die lebenslange Freiheitsstrafe sowie für Ausnahmefälle eine kurze Freiheitsstrafe zwischen acht Tagen und sechs Monaten (Art. 40, 41)50. Im Vordergrund steht der bedingte Strafvollzug, der bei Freiheitsstrafe von nicht mehr als 18 Monaten gewährt werden kann. In Frankreich ist die lebenslange Freiheitsstrafe an die Stelle der im Jahre 1981 abgeschafften Todesstrafe getreten und auch im neuen Code pénal beibehalten worden (Art. 131-1). Es gibt mehrere Arten der Freiheitsstrafe, jedoch einheitlichen Vollzug. Eine ausdrückliche Prioritätsregel zugunsten von Surrogaten der Freiheitsstrafe kennt das französische Recht nicht, doch stellt der Code pénal eine Reihe von Sanktionen zum Ersatz der kurzen Freiheitsstrafe zur Verfügung (Art. 131-5 bis 131-8)51. Im italienischen Strafrecht gibt es sowohl die lebenslange Freiheitsstrafe als auch die zeitige Freiheitsstrafe von 15 Tagen bis zu 24 Jahren und von fünf Tagen bis zu drei Jahren (bei Übertretungen). Das wichtige Reformgesetz „Modifiche al sistema penale" von 1981 brachte die Entkriminalisierung der Bagatelldelikte, führte Surrogate für die kurze Freiheitsstrafe ein, modernisierte die Geldstrafe und schuf neue Ersatzsanktionen bei Uneinbringlichkeit der Geldstrafe, nachdem der Verfassungsgerichtshof die Ersatzfreiheitsstrafe für verfassungswidrig erklärt hatte52. In Spanien wurde die Todesstrafe 1978 abgeschafft, aber die lebenslange Freiheitsstrafe nicht eingeführt. Die zeitige Freiheitsstrafe ist im Regelfall von einem Tag bis zu 30 Jahren, ausnahmsweise bis zu 40 Jahren angedroht. Vorgesehen sind vier Arten der Freiheitsstrafe, deren Vollstreckung durch Strafaussetzung zur Bewährung in bestimmten Grenzen vermieden werden kann. In den Niederlanden gibt es zwar die lebenslange Freiheitsstrafe, doch wird sie nur höchst selten angewendet. Das Mindestmaß der zeitigen Freiheitsstrafe ist ein Tag, das Höchstmaß 15 Jahre, in wenigen Tatbeständen auch 20 Jahre. Neben der Gefängnisstrafe ist die Haftstrafe praktisch bedeutungslos. Belgien kennt neben der noch immer regelmäßig verhängten, aber nicht mehr vollstreckten Todesstrafe die lebenslange Freiheitsstrafe und verschiedene zeitige Freiheitsstrafen, die aber im Vollzug als solche nicht unterschieden werden53. In England sehen die Strafvorschriften nur - zum Teil sehr hohe Höchststrafen vor. Die lebenslange Freiheitsstrafe ist für Mord obligatorisch, für andere schwere Delikte fakultativ angedroht. Nach dem Criminal Justice Act 1991 stehen als Alternativen zur Freiheitsstrafe die Geldstrafe sowie verschiedene „community sentences" (z.B. gemeinnützige Arbeit und Bewährung) zur Verfügung. Das Gericht soll von diesen Alternativen Gebrauch machen, wenn nicht die Schwere der Tat dazu Anlaß gibt, eine Freiheitsstrafe zu verhängen; auch die Höhe der Freiheitsstrafe richtet sich nach dem Tatunrecht, wobei die Rechtsprechung für bestimmte Delikte durch „guideline judgements" Richtlinien vorgegeben hat. Nur bei Gewalt- und Sexualdelikten kann die Höhe der Freiheitsstrafe auch auf der Notwendigkeit beruhen, die Allgemeinheit vor dem Täter langfristig zu schützen (s. 1 [2] Criminal Justice Act 1991)54. In den USA steht die Freiheitsstrafe deutlich im Vor48 Vgl. die Angaben bei Jescheck (Hrsg.), Die Freiheitsstrafe und ihre Surrogate im deutschen und ausländischen Recht Bd. III S. 1975 ff. 49 Siehe Bertel, ÖJZ 1987, 75. 50 Zu den abweichenden Vorschlägen im Vorentwurf von Schultz siehe Jescheck, LacknerFestschrift S. 903 ff. 51 Zur französischen Reform siehe im einzelnen Zieschang, Sanktionensystem S. 209 ff. 52 Siehe zu diesem Gesetz Dolcini/Paliero, ZStW 102 (1990) S. 222. 53 Vgl. Tulkens/van de Kerchove, Introduction S. 308 ff. 54 Überblick bei Ashworth, ZStW 106 (1994) S. 605.

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dergrund der Sanktionspraxis: 1993 befanden sich mehr als 1,3 Millionen Amerikaner im Strafvollzug 55. Lebenslange und langjährige Freiheitsstrafen werden häufig verhängt, und die früher übliche frühzeitige Entlassung nach Ermessen der Vollzugsbehörden ist im Zuge einer Politik der gleichmäßigen Strafzumessung („truth in sentencing") stark eingeschränkt worden. Auch die Einführung von verbindlichen Strafzumessungsrichtlinien (sentencing guidelines) im Rechtssystem des Bundes sowie in einer Reihe von Einzelstaaten hat eher zu einer Verlängerung der verhängten Freiheitsstrafen geführt 56. Alternativen zur Freiheitsstrafe (Bewährungsstrafe, Hausarrest, gemeinnützige Arbeit) werden zwar verstärkt propagiert 57, haben aber bisher die Herrschaft der Freiheitsstrafe nicht brechen können. In Brasilien ist die lebenslange Freiheitsstrafe durch die Verfassung verboten, das Höchstmaß der Freiheitsstrafe beträgt 30 Jahre. § 73 Die Geldstrafe und die Vermögensstrafe H.-J. Albrecht, Strafzumessung und Vollstreckung bei Geldstrafen unter Berücksichtigung des Tagessatzsystems, 1980; derselbe, Legalbewährung bei zu Geldstrafe und Freiheitsstrafe Verurteilten, 1982; H.-J. Albrecht/Dünkel/Spieß, Empirische Sanktionsforschung und die Begründbarkeit von Kriminalpolitik, MschrKrim 1981, 310; H.-J. Albrecht/ Schädler, Community Service - Gemeinnützige Arbeit usw., 1986; dieselben, Die gemeinnützige Arbeit auf dem Weg zur eigenständigen Sanktion? ZRP 1988, 278; Archbold, Criminal Pleading, Evidence and Practice, 1995; Arzt, Geldwäscherei - eine neue Masche usw., NStZ 1990, 1; Ashworth, Reform des englischen Strafzumessungsrechts, ZStW 106 (1994) S. 605; Baumann, Von den Möglichkeiten einer Laufzeitgeldstrafe, JZ 1963, 733; Blau, Die gemeinnützige Arbeit als Beispiel für einen grundlegenden Wandel des Sanktionenwesens, Gedächtnisschrift für Hilde Kaufmann, 1986, S. 189; Bock, Kriminologie und Spezialprävention, ZStW 102 (1990) S. 504; Brandis, Geldstrafe und Nettoeinkommen, 1987; Bringewat, Strafvollstreckung, 1993; derselbe, Die Bildung der Gesamtvermögensstrafe - ein kriminalpolitisches Kuckucksei, NStZ 1993, 316; Brughelli, Alternativen zur Freiheitsstrafe, in: Kunz (Hrsg.), Die Zukunft der Freiheitsstrafe, 1989, S. 1; Burgstaller, Das neue österreichische Strafrecht in der Bewährung, ZStW 94 (1982) S. 723; Conso/Barbalinardo, Codice penale e norme complimentari, 8. Auflage 1994; Dessecker, Gewinnabschöpfung im Strafrecht und in der Strafrechtspraxis, 1991; Dölling, Die gemeinnützige Arbeit als eigenständige strafrechtliche Sanktion, in: Deutsche Bewährungshilfe (Hrsg.), Die 13. Bundestagung, 1990, S. 363; derselbe, Die Weiterentwicklung der Sanktionen usw., ZStW 104 (1992) S. 259; Dolcini/Paliero, Alternativen zur kurzen Freiheitsstrafe in Italien und im Ausland, ZStW 102 (1990) S. 222; Driendl, Die Reform der Geldstrafe in Osterreich, 1978; Ermgassen, Skandinavien, in: Jescheck/Grebing (Hrsg.), Die Geldstrafe im deutschen und ausländischen Recht, 1978, S. 855; Eser, Neue Wege der Gewinnabschöpfung im Kampf gegen die organisierte Kriminalität? Festschrift für W. Stree und J. Wessels, 1993, S. 833; Feuerhelm, Gemeinnützige Arbeit als Alternative in der Geldstrafenvollstreckung, 1991; Fleischer, Die Strafzumessung bei Geldstrafen, Diss. Gießen 1983; Frank, Das „Nettoeinkommen" des § 40 II 2 StGB, MDR 1976, 626; Gerken/ Henningsen, Ersetzung der Ersatzfreiheitsstrafe durch freie Arbeit, ZRP 1987, 387; Grebing, Probleme der Tagessatz-Geldstrafe, ZStW 88 (1976) S. 1049; derselbe, Recht und Praxis der Tagessatz-Geldstrafe, JZ 1976, 745; derselbe, Bundesrepublik Deutschland, in: Jescheck/Grebing (Hrsg.), Die Geldstrafe im deutschen und ausländischen Recht, 1978, S. 13; Heghmanns, Abweichungen vom Nettoeinkommensprinzip bei der Bemessung von Geldstrafen, NStZ 1994, 519; Hillenkamp, Zur Höchstpersönlichkeit der Geldstrafe, Festschrift für K. Lackner, 1987, S. 455; derselbe, Anmerkung zu BGH 37, 226, JR 1992, 74; Horn, Zwei Jahre neues Geldstrafensystem usw., JR 1977, 95; derselbe, Probleme bei der Bestimmung der Mindest- und Höchstgeldstrafe, NStZ 1990, 270; Hüsler/Locher, Kurze Freiheitsstrafen und Alternativen, 1991; Janssen, Die Praxis der Geldstrafenvollstreckung, 1994; Jescheck, Die Kriminalpolitik der deutschen Strafrechtsreformgesetze usw., Festschrift für W. Gallas, 1973, 55

Angaben bei Mauer, Overcrowded Times 5 (1994) H. 5, S. 1. Siehe Tonry, in: von Hirsch/Knapp/Tonry, Sentencing Commission S. 36f.; Alschuler, University of Chicago Law Review 58 (1991) S. 929 -938; allgemein zu den Sentencing Guidelines Weigend, Festschrift Rechtswiss. Fakultät Köln S. 591 - 598. 57 Siehe Morris/Tonry, Between Prison and Probation, 1990; Tonry/Hamilton (Hrsg.), Intermediate Sanctions in Overcrowded Times, 1995. 56

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S. 27; derselbe, Deutsche und österreichische Strafrechtsreform, Festschrift für R. Lange, 1976, S. 365; derselbe, Die Geldstrafe als Mittel moderner Kriminalpolitik in rechtsvergleichender Sicht, Festschrift für Th. Würtenberger, 1977, S. 257; derselbe, Die Freiheitsstrafe und ihre Surrogate in rechtsvergleichender Darstellung, in: Jescheck (Hrsg.), Die Freiheitsstrafe und ihre Surrogate im deutschen und ausländischen Recht, Bd. III, 1984, S. 1939; Jescheck/Grebing (Hrsg.), Die Geldstrafe im deutschen und ausländischen Recht, 1978; Kaiser, Gewinnabschöpfung als kriminologisches Problem und kriminalpolitische Aufgabe, Festschrift für H. Tröndle, 1989, S. 685; Kapp, Dürfen Unternehmen ihren (geschäftsleitenden) Mitarbeitern Geldstrafen bzw. -büßen erstatten? NJW 1992, 2796; Kerner/Kästner (Hrsg.), Gemeinnützige Arbeit in der Strafrechtspflege, 1986; Köhler, Zur Kritik an der Zwangsarbeitsstrafe, GA 1987, 145; Köhler/Beck, Gerechte Geldstrafe statt konfiskatorischer Vermögenssanktion, JZ 1991, 797; Kohlmann, § 40 Abs. 2 und 3 StGB - in Steuerstrafverfahren bedeutungslos? Festschrift für G. Spendel, 1992, S. 257; Krehl, Vermögensberücksichtigung bei der Gesamtstrafenbemessung? NStZ 1988, 62; derselbe, Die Berücksichtigung von Verbindlichkeiten bei der Geldstrafenbemessung, NStZ 1989, 463; Krey / Dierlamm, Gewinnabschöpfung und Geldwäsche, JR 1992, 353; Lemke, Entwurf eines Gesetzes zur Einführung der Vermögensstrafe, StV 1990, 87; Meier, Umleitung der Geldstrafe für Zwecke der Wiedergutmachung, ZRP 1991, 68; D. Meyer, Zu Fragen bei der Festsetzung der Höhe eines Tagessatzes usw., MDR 1976, 274; /. Meyer, Gewinnabschöpfung durch Vermögensstrafe? ZRP 1990, 85; J. Meyer/Dessecker/Smettan (Hrsg.), Gewinnabschöpfung bei Betäubungsmitteldelikten, 1989; Mezzetti, Perspektiven eines neuen italienischen Strafgesetzbuchs, ZStW 105 (1993) S. 625; Mitsch, Die Geldstrafe, JA 1993, 304; derselbe, Die Vermögensstrafe, JA 1994, 425; Morns /Tonry, Between Prison and Probation, 1990; Obendorf, Empfiehlt sich eine Ausgestaltung des strafrechtlichen Sanktionensystems, in: Verhandlungen des Zehnten Osterreichischen Juristentages, Strafrechtliche Abteilung, 1988, S. 51; Perron, Vermögensstrafe und Erweiterter Verfall, JZ 1993, 918; Sagel-Grande, Das niederländische Strafensystem, MschrKrim 1989, 245; Schaeffer, Die Bemessung der Tagessatzhöhe usw., 1978; Schall, Ehegattensplitting und Tagessatzsystem, JuS 1977, 307; derselbe, Die Sanktionsalternative der gemeinnützigen Arbeit usw., NStZ 1985, 104; Schiavi, La conversione delle pene pecuniarie, Rivista italiana di diritto e procedura penale 1989, 722; Schoreit, Für und gegen die Vermögensstrafe, MDR 1990, 1; Schöch, Anmerkung zu OLG Celle vom 1.4.1982, NStZ 1983, 316; derselbe, Empfehlen sich Änderungen und Ergänzungen bei den strafrechtlichen Sanktionen ohne Freiheitsentzug? Gutachten C zum 59. DJT, 1992; Seih, Die Strafzumessung nach Einführung der Tagessätze, in: 13. Deutscher Verkehrsgerichtstag, 1975, S. 106; von Seile, Der Begriff der unbilligen Härte in § 459f StPO, NStZ 1990, 118; derselbe, Vermögen, Strafe und Steuer, wistra 1995, 161; Stile, Neue italienische Kriminalpolitik usw., ZStW 96 (1984) S. 172; Strate, Stellungnahme des Strafrechtsausschusses des Deutschen Anwaltvereins usw., StV 1992, 29; Tröndle, Geldstrafe und Tagessatzsystem, ÖJZ 1975, 589; derselbe, Anmerkung zu OLG Celle vom 8.3.1977, JR 1977, 385; Vogler, Demontage des Tagessatzsystems? JR 1978, 353; Weßlau, Neue Methoden der Gewinnabschöpfung? StV 1991, 226; Wieczorek, Bestimmung der Tagessatzhöhe und Steuergeheimnis, wistra 1987, 173; Wodicka, Anmerkung zu BGH 37, 226, NStZ 1991, 487; Zipf, Die Rechtsfolgen der Tat im neuen StGB, JuS 1974, 137; derselbe, Empfiehlt sich eine Ausgestaltung des strafrechtlichen Sanktionensystems, in: Verhandlungen des Zehnten Österreichischen Juristentages, Strafrechtliche Abteilung, 1988, S. 75.

I. Die Geldstrafe im strafrechtlichen Sanktionensystem 1. Die Geldstrafe ist in der heutigen Strafrechtspraxis die bei weitem häufigste Sanktion. Während sie bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts im Schatten der Freiheitsstrafe gestanden hatte, wurde ihr Anwendungsbereich zunächst durch die Geldstrafengesetze von 1921 und 1924 ausgedehnt und dann bei der Strafrechtsreform von 1975 mit dem Ziel noch weiter ausgebaut, die kurze Freiheitsstrafe zu verdrängen 1. Gleichzeitig stellte der Reformgesetzgeber die Bemessung der Geld1 Zur Geschichte und Entwicklung der Geldstrafe siehe Grebing, Bundesrepublik Deutschland, in: Jescheck/Grebing (Hrsg.), Die Geldstrafe S. 18 - 23, 29 - 39; LK 10 (Tröndle) Vorbem. 6-11 vor § 40.

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strafe von dem früher geltenden Gesamtsummensystem auf das Tagessatzsystem um. Dadurch wurde der Zumessungsakt transparent, und die Sanktion konnte der finanziellen Leistungsfähigkeit des Täters angepaßt werden (zur Funktionsweise des Tagessatzsystems siehe unten § 73 II). Dies alles führte zu einem wahren Siegeszug der Geldstrafe im deutschen Sanktionensystem: I m Jahre 1991 wurden gegen 84 % aller Verurteilten Geldstrafen verhängt 2 . Die Geldstrafe ist in den Tatbeständen des StGB durchweg nicht als einzige Sanktion, sondern als Alternative zur Freiheitsstrafe angedroht. Sie steht immer dann zur Verfügung, wenn das Mindestmaß der Freiheitsstrafe nicht erhöht ist (vgl. auch Art. 12 I 1 EGStGB), und auch bei schwereren Delikten ist Geldstrafe verschiedentlich als Sanktion für minder schwere Fälle ausdrücklich vorgesehen (z.B. §§ 146 II, 152a II, 223b I). Häufig kann Geldstrafe auch dann verhängt werden, wenn der vom Täter verwirklichte Tatbestand nur Freiheitsstrafe androht. Dies ist zum einen dann der Fall, wenn eine allgemeine oder spezielle Strafmilderungsvorschrift (z.B. §§ 21, 23 II, 27 I I 2, 46a, 157 II) auf § 49 I Nr. 3 oder I I verweist, zum anderen dann, wenn das Gericht eine Freiheitsstrafe unter sechs Monaten für angemessen hält; in letzterem Fall statuiert § 47 I, I I 1 den Vorrang der Geldstrafe, sofern nicht die Verhängung einer Freiheitsstrafe aus general- oder spezialpräventiven Gründen unerläßlich ist (siehe hierzu oben § 72 I I I 2, 3) 3 . 2. Dem kriminalpolitischen Zweck der Geldstrafe, dem Täter die Freiheitsstrafe zu ersparen, entspricht es, daß sie in der Regel nicht neben einer Freiheitsstrafe verhängt wird 4 . Dies gilt auch dann, wenn eine Freiheitsstrafe zur Bewährung ausgesetzt wird; für diesen Fall besteht allerdings die Möglichkeit, dem Täter die Zahlung eines Geldbetrages aufzuerlegen (§ 56 b I I Nr. 2, 4). Von der Regel der Exklusivität der Geldstrafe macht § 41 eine Ausnahme für den Fall, daß sich der Täter durch die Tat bereichert oder dies versucht hat. Da die Geldstrafe nicht den Sinn hat, unrechtmäßige Gewinne beim Täter abzuschöpfen - dazu dient der Verfall nach §§ 73 ff. - , ist nicht recht klar, welchem Zweck die resozialisierungsfeindliche Kumulation von Freiheitsstrafe und Geldstrafe dienen soll 5 . § 41 schafft aber immerhin die Möglichkeit, eine an sich verwirkte höhere Freiheitsstrafe mit Rücksicht auf eine gleichzeitig verhängte Geldstrafe so herabzusetzen, daß sie die ZweiJahres-Grenze erreicht und damit zur Bewährung ausgesetzt werden kann (vgl. B G H 32, 60 [65 - 67]; B G H NJW 1985, 1719)6. 3. Im Jugendstrafrecht ist die Geldstrafe nicht vorgesehen. In der Praxis tritt an ihre Stelle dort jedoch häufig die Auferlegung einer Geldzahlung als Zuchtmittel (§ 15 I Nr. 4 JGG) oder als Bewährungsauflage (§ 23 I 2 JGG). Im Ordnungswidrigkeitenrecht steht die finanzielle Sanktion der Geldbuße (§§ 1, 17 OWiG) ganz im Vordergrund. Sie wirkt weitgehend wie eine Geldstrafe, ist jedoch nicht wie diese mit einem ethischen Tadel verbunden und wird nicht nach dem Tagessatzsystem festgesetzt. 2

Statistisches Bundesamt, Rechtspflege, Reihe 3: Strafverfolgung 1991, 1993, S. 46, 50. Zur Frage des Strafrahmens für die Geldstrafe in solchen Fällen Horn, NStZ 1990, 270. 4 Möglich ist allerdings die Verbindung von Freiheitsstrafe und Geldstrafe bei der Bildung einer Gesamtstrafe nach § 53 II 2; vgl. dazu BGH NJW 1990, 2897. 5 Streng, Sanktionen S. 55; kritisch auch Grebing, JZ 1976, 749; LK 10 (Tröndle) § 41 3

Rdn. 2; Zipf JuS 1974, 140.

6 Dreher/Tröndle, § 41 Rdn. 4a; Lackner, § 41 Rdn. la; Maurach/Gössel/Zipf, Allg. Teil I I § 59 Rdn. 33; SK (Horn) § 41 Rdn. 4. Man fragt sich allerdings, warum sich der Täter die für ihn günstige erhöhte Flexibilität bei der Strafzumessung erst durch seine Bereicherungsabsicht „verdienen" muß; insoweit kritisch auch Mitsch, JA 1993, 307; Schönke/Schröder/Stree, §41 Rdn. 6. Ahnliche Probleme bestehen hinsichtlich der zweiten Möglichkeit einer Kumulation von Freiheits- und Geldstrafe, der Vermögensstrafe (§ 43 a). Siehe dazu unten § 73 IV.

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4. Der kriminalpolitische Erfolg der Geldstrafe läßt sich aufgrund ihrer zahlreichen Vorteile leicht erklären 7. Sie bedeutet für den Verurteilten eine fühlbare Einbuße an „Lebensqualität", da viele Möglichkeiten der Entfaltung und des Genießens nur gegen Geld verfügbar sind. Andererseits wird der Täter nicht aus seinen familiären und sozialen Kontakten sowie aus dem Arbeitsprozeß herausgerissen, wie dies bei der Freiheitsstrafe geschieht. Die Geldstrafe ist auch insofern „ökonomisch", als sie dem Wirtschaftsleben die Arbeitskraft des Täters erhält und den Staat nicht dazu zwingt, ihm im Vollzug Unterkunft, Kost und Betreuung zu gewähren. Mit Hilfe des Tagessatzsystems ist es ferner möglich, das Maß der Strafe nicht nur auf die Tatschuld, sondern auch auf die individuelle wirtschaftliche Leistungsfähigkeit des Täters abzustimmen. Schließlich kann durch die Einräumung von Ratenzahlungen (§ 42) dem Täter die Bezahlung der Geldstrafe erleichtert und ihre Wirkung zeitlich gestreckt werden. Dem stehen nur relativ geringe Nachteile8 gegenüber: Selbst die Bemessung der Geldstrafe nach Tagessätzen vermag die ungleiche Strafempfindlichkeit vermögender und armer Täter nicht ganz auszugleichen; Anwendungsschwierigkeiten ergeben sich bei „unermeßlich" reichen und ganz mittellosen Tätern; durch die Vollstreckung der Geldstrafe kann die Aussicht des Verletzten auf Schadensersatzleistungen des Täters beeinträchtigt werden (vgl. aber § 459a I 2 StPO); und es läßt sich nicht sicherstellen, daß der Täter das mit der Geldstrafe intendierte Vermögensopfer wirklich selbst erbringt 9 . Über die general- und spezialpräventive Wirkung der Geldstrafe im Vergleich zur Freiheitsstrafe liegen aus der kriminologischen Forschung keine wirklich aussagekräftigen Daten vor 1 0 . Es läßt sich zwar feststellen, daß Täter, die mit Geldstrafe belegt werden, deutlich weniger häufig rückfällig werden als solche, die eine Freiheitsstrafe erhalten oder diese gar verbüßen müssen11; doch ist sehr schwer zu ermitteln, in welchem Maße dieses Ergebnis dadurch beeinflußt ist, daß Freiheitsstrafen vornehmlich gegenüber solchen Straftätern verhängt werden, bei denen von vornherein eine höhere Rückfallgefahr besteht. Die bisherigen Ergebnisse sprechen am ehesten für die Hypothese der Austauschbarkeit 12, nach der es - statistisch gese7

Siehe hierzu Grebing, ZStW 88 (1976) S. 1109-1111; LK 10 (Tröndle) Vorbem. 47 - 57 vor § 40. 8 Zusammenfassend Grebing, Bundesrepublik Deutschland, in: Jescheck/Grebing (Hrsg.), Die Geldstrafe S. 43 -46; Kaiser, Kriminologie §116 Rdn. 45; Mitsch, JA 1993, 304f.; Schöch, Gutachten C zum 59. DJT S. C 83 f. 9 Die Bezahlung einer fremden Geldstrafe ist nach BGH 37, 226 nicht gemäß § 258 II strafbar. Gleichgültig, wie man zu dieser Entscheidung steht (kritisch etwa Dreh er/Tröndle, § 258 Rdn. 9; Hillenkamp, JR 1992, 74; Wodicka, NStZ 1991, 487), ändert sie nichts daran, daß die Geldstrafe eine höchstpersönliche Verpflichtung des Verurteilten zur Zahlung begründet; verfehlt deshalb Kapp, NJW 1992, 2799 f., der unter bestimmten Voraussetzungen sogar einen Erstattungsanspruch des Täters gegen sein Unternehmen nach § 670 BGB annimmt. Allerdings hat das Recht keine Möglichkeit, zu gewährleisten, daß der Täter seinen finanziellen Verlust nicht auf Kosten Dritter (etwa von unterhaltsberechtigten Familienangehörigen) ausgleicht; vgl. hierzu Eisenberg, Kriminologie § 33 Rdn. 15 f.; Hillenkamp, Lackner-Festschrift S. 456 - 458; LK 10 (Tröndle) Vorbem. 58 vor § 40; Streng, Sanktionen S. 49. 10 Zusammenstellung älterer Untersuchungen bei H.-J. Albrecht, Legalbewährung S. 28ff.; siehe ferner Eisenberg, Kriminologie § 41 Rdn. 8 f., 14 - 16. 11 Siehe die Übersicht bei Streng, Sanktionen S. 114 (Rückfallquote bei Geldstrafe 25%, bei Freiheitsstrafe mit Bewährung 42 - 55%, bei Freiheitsstrafe ohne Bewährung 70 - 79%). 12 Siehe hierzu H.-J. Albrecht, Legalbewährung S. 28, 227; H.-J. Albrecht/Dünkel/Spieß, MschrKrim 1981, 310; Dölling, ZStW 104 (1992) S. 266f., 271 f.; Kaiser, Kriminologie § 114 Rdn. 3; NK (Villmow) Vorbem. 68 - 72 vor § 38. 49 Jescheck, 5. A.

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hen, d.h. nicht notwendig im konkreten Einzelfall 13 - für die Rückfallwahrscheinlichkeit gleichgültig ist, ob jemand eine Freiheits- oder eine Geldstrafe erhält. II. Die Bemessung der Geldstrafe nach dem Tagessatzsystem 1. Bei der Strafrechtsreform von 1975 hat sich der Gesetzgeber für das Tagessatzsystem entschieden, das zuvor schon in Dänemark, Finnland und Schweden angewandt worden war 1 4 . Nach diesem System ergibt sich die Geldstrafe als Produkt aus der Anzahl der Tagessätze, die nach der Tatschuld des Täters zu bestimmen ist, und der Höhe eines Tagessatzes, die von seinem verfügbaren Einkommen abhängt. Das Tagessatzsystem hat einen zweifachen Vorteil: Es macht den Strafzumessungsvorgang transparent und es schafft „ Opfergleichheit" für wirtschaftlich unterschiedlich situierte Täter 1 5 . 2. Der erste Akt der Strafzumessung besteht darin, daß das Gericht die Anzahl der Tagessätze nach dem Maßstab des Schuldausgleichs unter Berücksichtigung der sozialen Folgen für den Täter (§ 46 I) festsetzt. Die Bestimmung der schuldangemessenen Strafe ist hier ebenso schwierig wie bei der Freiheitsstrafe; deshalb hilft auch der Vorschlag nicht weiter, sich daran zu orientieren, wie viele Tage Freiheitsstrafe die Tat „wert" wäre 16 . Die wirtschaftlichen Verhältnisse des Täters dürfen auf die Bestimmung der Tagessatzanzahl nur dann (ausnahmsweise) Einfluß nehmen, wenn sie für das Maß der Tatschuld relevant sind (z.B. bei einem Diebstahl aus Not); im übrigen sind sie, wie sich aus § 40 I I 1 entnehmen läßt, ausschließlich bei der Festlegung der Höhe eines Tagessatzes zu berücksichtigen 17 . Nach §§ 40 I 2, 54 I I 1 können mindestens fünf, höchstens 360 (bei Bildung einer Gesamtstrafe maximal 720) Tagessätze verhängt werden. In der Praxis wird dieser Rahmen allerdings nach oben nicht ausgeschöpft; es überwiegen Geldstrafen bis zu 30 Tagessätzen, und Strafen über 90 Tagessätzen werden nur sehr selten verhängt 1 . 3. I m zweiten Akt der Strafzumessung wird die Höhe des Tagessatzes „unter Berücksichtigung der persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse des Täters" (§ 40 I I 1) festgelegt. Im Gesetzgebungsverfahren war ursprünglich beabsichtigt, die Tagessatzhöhe danach zu bemessen, was der Täter nach Abzug laufender Ver13

So der berechtigte Einwand von Bock, ZStW 102 (1990) S. 526 f. Siehe zu den Erfahrungen dieser Länder Ermgassen, Skandinavien, in: Jescheck/Grebing (Hrsg.), Die Geldstrafe S. 905 -911. Durchgesetzt hat sich das Tagessatzsystem auch in Frankreich (Art. 131-5 Code pénal; siehe hierzu Zieschang, Sanktionensystem S. 225 -228) und Österreich (§19 österr. StGB). In § 49 AE war demgegenüber die Idee der LaufzeitGeldstrafe verwirklicht, die zwar auch vom Einkommen des Täters abhängig sein, aber nicht als feste Summe, sondern als Rate verhängt werden sollte, die der Täter während eines bestimmten Zeitraums fortlaufend zu erbringen hat; siehe dazu Baumann, JZ 1963, 733. 15 Siehe LK 10 (Tröndle) Vorbem. 12 vor § 40; Maurach/Gössel/Zipf Allg. Teil II § 59 Rdn. 25f.; Mitsch, JA 1993, 308f.; SK (Horn) § 40 Rdn. 1; Streng, Sanktionen S. 50. 16 So aber BGH 27, 70 (72); Schönke/Schröder/Stree, § 40 Rdn. 4 (unter Hinweis auf die Höhe der nach § 43 drohenden Ersatzfreiheitsstrafe); SK (Horn) § 40 Rdn. 4a; dagegen LK 10 (Tröndle) § 40 Rdn. 10-13 mit der zutreffenden Begründung, daß die Maßstäbe von Freiheits- und Geldstrafe - trotz des rechtspolitisch verfehlten Umrechnungsmaßstabs 1:1 in § 43 S. 2 - nicht vergleichbar sind. 17 Bockelmann/Volk, Allg. Teil S. 224; Grebing, ZStW 88 (1976) S. 1057; Lackner, § 40 14

Rdn. 5; Schönke/Schröder/Stree, 18

§ 40 Rdn. 4; SK (Horn) § 40 Rdn. 4.

Eisenberg, Kriminologie § 33 Rdn. 3; Schöch, Gutachten C zum 59. DJT S. C 26, C 123. Im Jahre 1991 lagen nur 3% der verhängten Geldstrafen über 90 Tagessätzen; Statistisches Bundesamt, Rechtspflege, Reihe 3: Strafverfolgung 1991, 1993, S. 50.

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I I . D i e Bemessung der Geldstrafe nach dem Tagessatzsystem

pflichtungen sowie seines Unterhaltsbedarfs entbehren kann („Einbußeprinzip"). Man hat dann jedoch dem jetzt in § 40 I I 2 verankerten strengeren Nettoeinkommensprinzip den Vorzug gegeben19. Danach ist von der Summe auszugehen, die der Täter an einem Tag verdient oder bei zumutbarem Einsatz seiner Arbeitskraft verdienen könnte (zum potentiellen Einkommen siehe B G H NJW 1993, 408 [409]; BayObLG NStZ 1988, 499; O L G Frankfurt NJW 1988, 2624). Dabei sind neben Einkünften aus selbständiger und unselbständiger Arbeit auch Versorgungs- und Unterhaltsleistungen 20 , Kapitalerträge, Mieten und Pachtzinsen zu berücksichtigen; andererseits sind Belastungen durch Steuern, Sozialabgaben und vergleichbare Versicherungsprämien sowie Betriebsausgaben und -Verluste abzuziehen l . Bei verschiedenen Fallgruppen wirft die Bemessung der Tagessatzhöhe Sonderprobleme auf: a) Häufig ist der Täter laufende Zahlungsverpflichtungen eingegangen, z.B. durch den Erwerb eines Eigenheims oder die Aufnahme eines Kredits zum Ankauf von Konsumgütern (Auto, Wohnungseinrichtung, Urlaubsreise). Solche Verpflichtungen sind in dem Rahmen zu berücksichtigen, wie sie zur Ermöglichung einer angemessenen Lebensführung notwendig sind; Luxusaufwendungen können nicht zu einer Minderung der Geldstrafe führen 22 . Daher können etwa laufende Zahlungen an eine Bausparkasse vom Nettoeinkommen abgezogen werden; andererseits muß sich der Täter aber den Wert des mietfreien Wohnens im eigenen Haus als einkommensgleichen Vorteil anrechnen lassen23. Finanzielle Verpflichtungen, die der Täter durch rechtswidriges Verhalten selbst verschuldet hat (z.B. Schadensersatzleistungen an den Verletzten, Nachzahlung hinterzogener Steuern), verringern sein Nettoeinkommen nicht ( O L G Stuttgart NJW 1995, 67) 2 4 ; kommt der Täter 19

Man befürchtete ein zu starkes Absinken der Geldstrafenhöhe gegenüber der früheren Praxis; vgl. BT-Drucks. VII/1261 S. 5. Kritisch zum Nettoeinkommensprinzip Baumann/ Weber, Allg. Teil S. 606; Grebing,, ZStW 88 (1976) S. 1063 - 1070; Jescheck, Gallas-Festschrift S. 43; derselbe, Lange-Festschrift S. 378; SK (Horn) § 40 Rdn. 6; siehe auch Brandis, Geldstrafe und Nettoeinkommen S. 16 ff. 20 Abzustellen ist auf den tatsächlich geleisteten, nicht auf den nach Meinung des Gerichts „angemessenen" Unterhalt; BayObLG NStZ 1988, 499; Krehl, NStZ 1989, 464; Lackner, § 40 Rdn. 11; Schönke/Schröder/Stree, § 40 Rdn. 14. Bei Familienangehörigen, die mit dem Täter zusammenleben und von ihm versorgt werden, können pauschale Abzüge ( z.B. 20% für den Ehegatten, 10% für ein Kind) vom Netto-Einkommen vorgenommen werden; Dre-

her/ Tröndle,

§ 40 Rdn. 17f.; LK 10

(Tröndle)

§ 40 Rdn. 46; Schäfer,

Praxis Rdn. 65; SK

(Horn) § 40 Rdn. 8; für die Regelunterhalt-Verordnung und entsprechende Leitlinien der Oberlandesgerichte als Ausgangspunkt OLG Hamm NJW 1976, 722; Grebing, ZStW 88 (1976) S. 1074f.; Lackner, §40 Rdn. 11; Seib, 13. Deutscher Verkehrsgerichtstag S. 113 f.; 4. Auflage S. 703. Der BGH überläßt die Berechnung den Tatgerichten; BGH 27, 212 (215). 21 Das Einkommen ist wirtschaftlich, nicht steuerrechtlich zu bestimmen; Schäfer, Praxis Rdn. 61. Kindergeld und Wohngeld zählen nicht zum Einkommen; Frank, MDR 1976, 627;

Schönke/Schröder/Stree,

§40 Rdn. 14; a.A. O L G Düsseldorf NJW 1977, 260; Dreher/

Tröndle, § 40 Rdn. 7. Zu weiteren Einzelheiten siehe LK 10 (Tröndle) § 40 Rdn. 22f.; Mäurach/Gössel/Zipf, Allg. Teil II § 59 Rdn. 50f.; Schönke/Schröder/Stree, § 40 Rdn. 9. 22

Dreher/Tröndle,

§ 40 Rdn. 20; Krehl, NStZ 1989, 465; LK 10

(Tröndle)

§ 40 Rdn. 49;

Schönke/Schröder/Stree, §40 Rdn. 14a; vgl. auch OLG Karlsruhe NStZ 1988, 500; BayObLG NJW 1992, 2583; gegen jede Berücksichtigung „investitionsbedingter" Aufwendungen jedoch Grebing, ZStW 88 (1976) S. 1078 f.; zurückhaltend auch Lackner, §40

Rdn. 11; Schäfer, Praxis Rdn. 64; SK (Horn) § 40 Rdn. 7. 23 LK 10 (Tröndle) § 40 Rdn. 36, 49; Schönke/Schröder/Stree, § 40 Rdn. 14a. 24 Dreher/Tröndle, §40 Rdn. 20; D. Meyer, M D R 1976, 278; a.A. Schönke/Schröder/ Stree, § 40 Rdn. 14 a. 49*

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§ 73 D i e Geldstrafe u n d die Vermögensstrafe

durch die Kumulation von Geldstrafe und Schadensersatzpflicht in Zahlungsschwierigkeiten, so kann eine Benachteiligung des Verletzten nach § 459 a I 2 StPO dadurch vermieden werden, daß die Geldstrafe ganz oder teilweise gestundet wird25. b) A n sich hat der Gesetzgeber einen überaus weiten Rahmen für die Festsetzung der Tagessatzhöhe bereitgestellt: Der Mindestbetrag ist 2 D M , der Höchstbetrag 10000 D M (§ 40 I I 3) 2 . Dennoch macht die Bemessung Schwierigkeiten, wenn der Täter über kein eigenes Einkommen verfügt, sondern ganz von den Leistungen Dritter abhängig ist, wie etwa haushaltführende Ehegatten oder bei den Eltern lebende Schüler und Studenten. Deren „Einkommen" kann man spiegelbildlich zu den Abzügen bestimmen, die der Unterhaltleistende vornehmen könnte, wenn er selbst eine Geldstrafe bezahlen müßte, d.h. am einfachsten nach pauschalen Prozentsätzen (etwa 1 0 - 2 0 % ) vom Einkommen des Unterhaltleistenden 27 . Bei auswärts wohnenden Studenten, bei denen Unterhalt in Geld geleistet wird, ist der gezahlte Betrag das relevante Einkommen; weitere Einkünfte aus Ferienjobs sind nur zu berücksichtigen, soweit sie tatsächlich erzielt werden, da einem Studenten die volle Konzentration auf das Studium nicht als pflichtwidriges Unterlassen von Arbeit i.S.v. § 40 I I 2 angelastet werden kann ( O L G Frankfurt NJW 1976, 635; O L G Köln NJW 1976, 636) 28 . c) Bei Personen mit sehr geringem Einkommen, wie etwa Sozialhilfeempfängern, Asylbewerbern oder Strafgefangenen, kann grundsätzlich der tatsächlich empfangene Betrag als Nettoeinkommen angesehen werden 29 . Da jedoch eine Geldstrafe mit einer höheren Anzahl von Tagessätzen, wenn man sie auf dieser Grundlage nach § 40 I I berechnen wollte, häufig das Existenzminimum beeinträchtigen würde, neigt die Rechtsprechung dazu, die Geldstrafe in solchen Fällen nicht schematisch, sondern nach Billigkeit festzusetzen (siehe O L G Hamburg JR 1982, 160; O L G Stuttgart StV 1993, 364; O L G Köln StV 1993, 365). d) Hinsichtlich des Vermögens des Täters gibt das Gesetz widersprüchliche Hinweise. Einerseits fällt der Kapitalwert eines Vermögens nicht unter das „Netto25 Ob diese Möglichkeit ausreicht, um in allen Fällen den Vorrang der Wiedergutmachung zu gewährleisten, ist allerdings zweifelhaft; vgl. den weitergehenden Vorschlag bei Meier, ZRP 1991, 68. 26 In dem Bestreben, relative Gerechtigkeit auch gegenüber Spitzenverdienern zu ermöglichen, ist man mit dem Höchstsatz (der einem jährlichen Netto-Einkommen von 3,6 Mio. DM entspricht) über das Ziel hinausgeschossen: Bei dem Höchst-Tagessatz „kostet" ein Bagatelldelikt, das mit einer Strafe von 10 Tagessätzen geahndet wird, bereits 100000 DM. Andererseits droht der Minimaltagessatz von 2 DM das Strafrecht der Lächerlichkeit preiszugeben. Berechtigte Kritik bei Grebing, ZStW 88 (1976) S. 1086f.; Jescheck, Lange-Festschrift S. 378; LK i0 (Tröndle) Vorbem. 23 - 27 vor § 40. In der Rechtspraxis kommt man im allgemeinen mit Taeessätzen zwischen 10 DM und 100 DM aus; siehe Eisenberg, Kriminologie § 33 Rdn. 7; Schöch, Gutachten C zum 59. DJT S. C 26 f. 27 So auch SK (Horn) § 40 Rdn. 9. Es ist nicht etwa schematisch die Hälfte des Einkommens des arbeitenden Ehegatten zugrunde zu legen (so aber OLG Hamm MDR 1976, 595);

Grebing, JZ 1976, 748; LIC 0 (Tröndle)

§ 40 Rdn. 29; Schönke/Schröder/Stree,

§ 40 Rdn. I I a .

Andere Berechnungsvorschläge z.B. bei Dreh er/Tröndle, § 40 Rdn. 9 („tatsächlich gewährter Naturalunterhalt"); Grebing, ZStW 88 (1976) S. 1080 f. (hypothetischer Unterhaltsanspruch); Schall, JuS 1977, 312; zusammenfassend Schaeffer, Bemessung der Tagessatzhöhe, 1978. 28

Lackner, § 40 Rdn. 9; Schönke/Schröder/Stree,

§ 40 Rdn. I I a ; SK (Horn) § 40 Rdn. 10;

a. A. LK 10 (Tröndle) § 40 Rdn. 31; D. Meyer, MDR 1976, 277; für Entscheidung je nach Einzelfall BGH NJW 1977, 1459. 29

Dreher/Tröndle,

§ 40 Rdn. 12.

I I . D i e Bemessung der Geldstrafe nach dem Tagessatzsystem

773

einkommenvon dem nach § 40 I I 2 bei der Festsetzung der Tagessatzhöhe auszugehen ist; andererseits weist § 40 I I I ausdrücklich darauf hin, daß das Gericht „das Vermögen und andere Grundlagen für die Bemessung eines Tagessatzes" schätzen kann. Man wird daraus den Schluß ziehen müssen, daß ein Sach- oder Immobiliarvermögen zwar nicht in der Regel, wohl aber in Ausnahmefällen bei der Bemessung der Tagessatzhöhe einzubeziehen ist, nämlich dann, wenn der Täter nur geringe laufende Einkünfte, aber wertvolle Rücklagen hat, auf die er jederzeit zugreifen kann (in diesem Sinne auch O L G Celle NStZ 1983, 315 m. krit. Anm. Schöch\ BayObLG NJW 1987, 2029) 30 . Außer Betracht bleiben müssen daher übliche Kapitalanlagen, wie sie etwa zur Altersversorgung oder zur Absicherung von Angehörigen dienen, insbesondere das Eigenheim, ein Bausparvertrag oder eine Lebensversicherung 31. Zurückhaltung ist hier auch deshalb geboten, weil § 43 a eine besondere, vom Gesetzgeber aber bewußt auf bestimmte Delikte beschränkte Möglichkeit des Zugriffs auf das Vermögen des Täters bietet. 4. Insbesondere bei der Verhängung einer hohen Anzahl von Tagessätzen kann die in § 40 vorgesehene Berechnungsmethode zu einer unverhältnismäßig starken finanziellen Belastung des Täters führen, denn durch das Nettoeinkommensprinzip wird ihm ja auch das genommen, was er zu seinem Unterhalt benötigt. Deshalb stellt sich die Frage, ob die Gesamthöhe der Geldstrafe aus Billigkeitserwägungen korrigiert werden kann. Hierfür spricht zum einen, daß schon der Wortlaut von § 40 I I 1, 2 dem Gericht bei der Bestimmung der Tagessatzhöhe einen gewissen Spielraum gewährt, zum anderen, daß die Strafe nach § 46 I 2 keine entsozialisierende Wirkung haben soll 3 2 . Daher wäre es verfehlt, durch eine mechanische Durchführung der in § 40 vorgesehenen Multiplikation von Anzahl und Höhe der Tagessätze sehenden Auges eine unangemessen hohe Belastung für den Täter herbeizuführen. Verschiedentlich wird vorgeschlagen, bei Bedarf schon die Anzahl der Tagessätze im Hinblick auf eine im Ergebnis akzeptable Strafe zurückzunehmen 33 . Der richtige Ansatz dürfte jedoch darin liegen, die Anzahl der Tagessätze entsprechend der Tatschuld festzusetzen, aber die größere Flexibilität von § 40 I I im Hinblick auf die Bestimmung der Tagessatz^ö^e zur Herbeiführung eines adäquaten Gesamtergebnisses zu nutzen ( B G H 26, 325 [329 - 331]) 34 . Beispiel: Ein gut verdienender Handwerker hat einen Betrug mit erheblichem Schaden begangen; der Verhängung einer Freiheitsstrafe bedarf es bei ihm nicht. Es mag eine Geldstrafe von 120 Tagessätzen angemessen sein. Nach dem Nettoeinkommen des Täters ergibt sich eine Tagessatzhöhe von 150 DM. Wenn die daraus errechnete Geldstrafe von 18000 DM insgesamt unverhältnismäßig hoch erscheint, kann man die Höhe des Tagessatzes angesichts der progressiv ansteigenden Belastung des Täters auf ein akzeptables Maß (z.B. 100 DM) absenken. 30 § 40 Rdn. 22; Lackner, § 40 Rdn. 12; Schönke/Schröder/Stree, Ebenso Dreher/Tröndle, § 40 Rdn. 12; SK (Horn) § 40 Rdn. 11; Streng, Sanktionen S. 51; konkreter Vorschlag zur Berücksichtigung des Vermögens bei Schaeffer, Bemessung der Tagessatzhöhe S. 172 - 174; siehe auch Krehl, NStZ 1988, 62. 31 Maurach/Gössel/Zipf, Allg. Teil II § 59 Rdn. 59. 32 Dreher/Tröndle, § 40 Rdn. 19; Lackner, § 40 Rdn. 13; gegen eine „Aufweichung" des Tagessatzsystems aber Grebing, ZStW 88 (1976) S. 1088 - 1092; Maurach/Gössel/Zipf, Allg. Teil I I § 59 Rdn. 37; Vogler, JR 1978, 354. 33 Heghmanns, NStZ 1994, 521 f.; Maurach/Gössel/Zipf, Allg. Teil I I § 59 Rdn. 38; gegen eine solche „Gesamtbetrachtung" der Geldstrafenhöhe Lackner, § 40 Rdn. 10; SK (Horn) § 40 Rdn. 14. 34 Horn, JR 1977, 99; Lackner, § 40 Rdn. 13; LK 10 (Tröndle) Vorbem. 61 vor § 40, § 40 Rdn. 57f.; Schäfer, Praxis Rdn. 66; SK (Horn) § 40 Rdn. 13; Schönke/Schröder/Stree, § 40 Rdn. 8; Streng, Sanktionen S. 52; Tröndle, JR 1977, 385.

774

§ 73 D i e Geldstrafe u n d die Vermögensstrafe

5. Die für die Bemessung der Tagessatzhöhe relevanten Tatsachen (Einkommen, Vermögen) kann das Gericht auch durch Schätzung feststellen (§ 40 III). Da der Angeklagte nicht dazu verpflichtet ist, (glaubwürdige) Angaben über seine Vermögensverhältnisse zu machen, und da die Heranziehung anderer verläßlicher Informationsquellen (z.B. Bankauskünfte) 35 in den Routinefällen des Alltags als zu umständlich empfunden wird, greifen die Gerichte sehr häufig auf die Möglichkeit der Schätzung zurück 36 . Durch die mangelhafte Ermittlung der tatsächlichen Vermögensverhältnisse wird allerdings ein wesentliches Anliegen des Tagessatzsystems, die Anpassung der Strafe an die individuelle wirtschaftliche Leistungsfähigkeit des Verurteilten, vereitelt 37 . 6. Grundsätzlich muß der Täter die gesamte Geldstrafe sogleich nach Rechtskraft des Urteils bezahlen. Wenn ihm dies aufgrund seiner persönlichen oder wirtschaftlichen Verhältnisse nicht zuzumuten ist, sind ihm jedoch Zahlungserleichterungen zu gewähren (§ 42) 3 8 ; er kann dann die Geldstrafe in Raten begleichen. Die Entscheidung über Zahlungserleichterungen trifft das erkennende Gericht im Urteil 3 9 . Auch nachträglich kann die Vollstreckungsbehörde die Geldstrafe stunden oder Ratenzahlungen gewähren, insbesondere dann, wenn anderenfalls die Durchsetzung eines Schadensersatzanspruchs des Verletzten gefährdet wäre (§ 459 a I StPO). Eine Aussetzung der Vollstreckung der Geldstrafe zur Bewährung ist nicht möglich; eine ähnliche Wirkung hat jedoch die Verwarnung mit Strafvorbehalt (§ 59; siehe dazu unten § 80). III. Die Vollstreckung der Geldstrafe 1. Die Vollstreckung der Geldstrafe obliegt, wie allgemein die Strafvollstrekkung, der Staatsanwaltschaft (§ 451 StPO, § 4 I StVollstrO). Nach Eintritt der Rechtskraft des Urteils wird der Täter zunächst zur Zahlung aufgefordert. Bezahlt er nicht, so wird die Geldstrafe nach § 6 Justizbeitreibungsordnung (RGBl. 1937 I S. 298) und §§ 8 ff. Einforderungs- und Beitreibungsanordnung (BAnz. 1974 35 Das Steuergeheimnis ist auch für die Bedürfnisse der Einkommensermittlung im Strafverfahren nicht durchbrochen; siehe hierzu Kohlmann, Spendel-Festschrift S. 257; Wieczorek, wistra 1987, 173. 36 Ursprünglich war diese Möglichkeit nur als ultima ratio bei Beweisnot gedacht (BTDrucks. V/4095 S. 21). Inzwischen wird sie jedoch allgemein ohne weitere Voraussetzungen

für zulässig gehalten; Dreh er/Tröndle, § 40 Rdn. 26a; Lackner, § 40 Rdn. 17; {Tröndle) § 40 Rdn. 60f.; SK {Horn) § 40 Rdn. 15; Streng, Sanktionen S. 52f.

LK 10

37 Siehe zur Praxis der Einkommensfeststellung H.-J. Albrecht, Strafzumessung und Vollstreckung bei Geldstrafen S. 78 ff., 204; Reformvorschläge bei Fleischer, Strafzumessung S. 255 ff.; Grebing, ZStW 88 (1976) S. 1101 - 1104; Schaeffer, Tagessatzhöhe S. 208 ff. 38 Wenn die Voraussetzungen von § 42 erfüllt sind, hat der Verurteilte grundsätzlich einen Anspruch auf die Gewährung von Zahlungserleichterungen; BGH Detter NStZ 1990, 578;

O L G Stuttgart StV 1993, 475; Dreher/Tröndle,

§ 42 Rdn. 2; Lackner, § 42 Rdn. 3; SK

{Horn) § 42 Rdn. 4. Die Praxis ist durchaus „ratenzahlungsfreundlich"; H.-J. Albrecht, Strafzumessung und Vollstreckung bei Geldstrafen S. 279. Sie versucht auf diese Weise, die Anwendung der Ersatzfreiheitsstrafe nach Möglichkeit zu vermeiden; M aurach/Gössel/Zipf, Allg. Teil II § 59 Rdn. 43. Bei weniger begüterten Tätern kann durch die Gewährung von Ratenzahlungen de facto das „Einbußeprinzip" verwirklicht werden, indem das finanzielle Opfer auf das beschränkt wird, was der Täter monatlich entbehren kann; vgl. SK {Horn) § 42 Rdn. 3. 39 Um die pünktliche Ratenzahlung zu sichern, kann das Gericht anordnen, daß der gesamte Betrag fällig wird, wenn der Verurteilte eine Rate nicht rechtzeitig bezahlt (§ 42 S. 2); dadurch erspart man sich einen umständlichen Widerruf der Zahlungserleichterung (vgl. § 459 a III 1 StPO).

I I I . D i e Vollstreckung der Geldstrafe

775

Nr. 230) wie eine zivilrechtliche Forderung in das bewegliche und unbewegliche Vermögen vollstreckt 40 . Einer nachträglichen Verschlechterung der Vermögenslage des Verurteilten kann durch Gewährung von Zahlungserleichterungen Rechnung getragen werden (§ 459 a I 1 StPO) 41 . 2. Ist die Geldstrafe weder freiwillig bezahlt noch beigetrieben worden, so tritt an ihre Stelle eine Ersatzfreiheitsstrafe (§ 43 S. 1). Die Ersatzfreiheitsstrafe ist echte (Ersatz-) Strafe, nicht ein Zwangsmittel, um die Bezahlung der Geldstrafe doch noch durchzusetzen 42. Dies bedeutet, daß mit der Verbüßung der Ersatzfreiheitsstrafe die Geldstrafe erledigt ist 4 3 . Die Vollstreckungsbehörde ordnet - nach vorheriger Androhung - die Vollstreckung der Ersatzfreiheitsstrafe an, wenn die Geldstrafe nicht eingebracht werden konnte oder wenn die Beitreibung wegen Aussichtslosigkeit gar nicht erst versucht wurde (§ 459 e I I StPO). Grundsätzlich kommt es nicht darauf an, ob der Verurteilte die Uneinbringlichkeit verschuldet hat. Allerdings ist die Ersatzfreiheitsstrafe nach § 459f StPO dann nicht zu vollstrecken, wenn dies eine „unbillige Härte" für den Verurteilten darstellen würde 44 . Die Rechtsprechung legt diesen Begriff sehr eng aus: Eine unbillige Härte soll nicht schon bei unverschuldeter Vermögenslosigkeit, sondern nur ausnahmsweise bei Hinzutreten besonderer Umstände (etwa: dauernde Krankheit des Ehegatten, unverschuldeter Verlust des Arbeitsplatzes) gegeben sein (BGH 27, 90 [93]; O L G Düsseldorf M D R 1983, 341; 1985, 76; O L G München GA 1984, 185 [187]) 45 . Angesichts des qualitativen Sprunges, der in dem Übergang von der Geld- zur Freiheitsstrafe liegt, ist jedoch die Vollstreckung der Ersatzfreiheitsstrafe schon dann unbillig, wenn dem Täter seine Zahlungsunfähigkeit nicht zum Vorwurf gemacht werden kann 4 6 ; er müßte dann nämlich nur wegen seiner Armut ein zusätzliches Strafübel erleiden 47. Nach § 43 S. 2 entspricht einem Tagessatz ein 40 Nach der empirischen Untersuchung von H.-J. Albrecht, Strafzumessung und Vollstrekkung bei Geldstrafen S. 251 bleibt die Zwangsvollstreckung in 80% der Fälle ohne Erfolg. Wenn die Aussichtslosigkeit von vornherein abzusehen ist, kann der Versuch der Beitreibung nach § 459 c II StPO unterbleiben; siehe im einzelnen Bringewat, Strafvollstreckung, § 459 c Rdn. 8-12. Zu den Problemen und Mängeln der Geldstrafenvollstreckung eingehend Janssen, Die Praxis der Geldstrafenvollstreckung, 1994. 41 Zu der Frage, ob diese Möglichkeit erweitert werden sollte, siehe Schöch, Gutachten C zum 59. DJT S. C 84 f. 42 In der Praxis wird häufig (nach der Untersuchung von Feuerhelm, Gemeinnützige Arbeit S. 69 in 76% der Fälle) die Geldstrafe noch nach Androhung der Ersatzfreiheitsstrafe bezahlt. Insofern hat die Ersatzfreiheitsstrafe also durchaus auch die Wirkung eines Druckmittels. Dies liegt freilich auch daran, daß eine Beitreibung vor der Androhung der Ersatzfreiheitsstrafe häufig gar nicht ernsthaft versucht wird; Feuerhelm S. 71 - 73. 43 Andererseits unterbleibt die Vollstreckung der Ersatzfreiheitsstrafe, wenn (bzw. soweit) der Täter die Geldstrafe noch aufbringt (§ 459 e IV StPO). Da auch Teilzahlungen zu berücksichtigen sind, kann sich der vollstreckbare Teil einer Ersatzfreiheitsstrafe bis auf das Minimum von einem Tag (§ 43 S. 3) reduzieren; siehe hierzu Bringewat, Strafvollstreckung, § 459e Rdn. 9; Dreher/Tröndle, § 43 Rdn. 5; SK {Horn) § 43 Rdn. 6. 44 Zuständig für diese Entscheidung ist das (erkennende oder Vollstreckungs-) Gericht, nicht die Vollstreckungsbehörde. 45 Ebenso Dreher/Tröndle, § 43 Rdn. 10; KK StPO {Fischer) § 459f Rdn. 2; Kleinknecht/

Meyer-Goßner,

§ 459f Rdn. 2; Lackner, § 43 Rdn. 3; LK 10 {Tröndle)

§ 43 Rdn. 14; Löwe/

Rosenberg/Wendisch, § 459f Rdn. 5; 4. Auflage S. 707. 46 Bringewat, Strafvollstreckung, § 459f Rdn. 5; KMR {Müller) § 459f Rdn. 2; Maurach/ Gössel/Zipf, Allg. Teil II § 59 Rdn. 70; Schönke/Schröder/Stree, § 43 Rdn. 8; von Seile, NStZ 1990, 119f.; Streng, Sanktionen S. 54. 47 Für vollständige Abschaffung der Ersatzfreiheitsstrafe daher Gerken/Henningsen, ZRP 1987, 389; Köhler, GA 1987, 161.

776

§ 73 D i e Geldstrafe u n d die Vermögensstrafe

Tag Ersatzfreiheitsstrafe. Auch diese Regelung wird dem unterschiedlichen Gewicht von Vermögens- und Freiheitsentzug nicht gerecht; vorzugswürdig ist daher die Regelung des österreichischen Rechts (§19 I I I 2 österr. StGB), wonach ein Tag Ersatzfreiheitsstrafe zwei Tagessätzen entspricht 48 . Die Ersatzfreiheitsstrafe kann nach herrschender Meinung weder ganz noch teilweise zur Bewährung ausgesetzt werden (siehe unten § 79 I I 3). In der Praxis spielt die Ersatzfreiheitsstrafe eine nicht unbedeutende Rolle: I m Jahre 1987 wurden 6 % aller Geldstrafen und 13% der „uneinbringlichen" Geldstrafen durch eine Freiheitsstrafe ersetzt 49 . 3. U m die Härte, die in dem Einsatz der Ersatzfreiheitsstrafe gegenüber vermögenslosen Geldstrafenschuldnern liegt, zu mildern, sieht Art. 293 EGStGB die „freie Arbeit" als Surrogat der Ersatzfreiheitsstrafe vor: Wenn der Verurteilte einverstanden ist, kann er anstelle der Ersatzfreiheitsstrafe gemeinnützige Arbeit leisten und auf diese Weise die Geldstrafe tilgen. Die Einzelheiten dieser Möglichkeit, eine Geldstrafe durch gemeinnützige Tätigkeiten, etwa in sozialen Einrichtungen oder im Umweltschutz, abzuarbeiten, sind allerdings nicht bundeseinheitlich geregelt; Art. 293 I 3, I I EGStGB gibt lediglich bestimmte Grundsätze an (die Arbeit muß unentgeltlich sein und darf nicht erwerbswirtschaftlichen Zwecken dienen; es wird weder ein Arbeitsverhältnis noch ein sozialversicherungspflichtiges Beschäftigungsverhältnis begründet 50 ) und überläßt die Einrichtung der „freien Arbeit" im übrigen den Landesregierungen (Art. 293 I 1 EGStGB). Von dieser Befugnis ist inzwischen in fast allen Ländern Gebrauch gemacht worden. Dabei hat sich gezeigt, daß das Angebot der gemeinnützigen Arbeit zwar nur einen kleinen Teil der häufig sozial desintegrierten Klientel der Ersatzfreiheitsstrafe erreicht, daß aber bei ausreichender Information, Betreuung und Organisation durch geschulte Sozialarbeiter gute Erfolge erzielt werden können 51 . Nachdem die gemeinnützige Arbeit so ihre „Probezeit" bestanden hat und nachdem die Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit derartiger Arbeitsverpflichtungen beseitigt sind (BVerfGE 77, 102; 83, 119) 52 , wäre es angebracht, die wesentlichen Rechtsfragen, insbesondere den Umrechnungsmodus (in den meisten Ländern beträgt er sechs Arbeitsstunden für einen Tag Ersatzfreiheitsstrafe 53) einheitlich zu regeln 54 . Eine ganz andere Frage 48

Kritisch zum geltenden deutschen Recht auch Dreher/Tröndle, § 43 Rdn. 4; Grebing, ZStW 88 (1976) S. 1111; Jescheck, Lange-Festschrift S. 379; LK 10 {Tröndle) § 43 Rdn. 4f. Schönke/Schröder/Stree, § 40 Rdn. 4 und SK {Horn) § 43 Rdn. 2 wollen das Problem dadurch lösen, daß sie bei der Zumessung der Geldstrafe bereits von der Höhe der schuldangemessenen Ersatzfreiheitsstrafe ausgehen. 49 Angaben in BT-Drucks. 12/3718 S. 7 sowie bei Feuerhelm, Gemeinnützige Arbeit S. 69. 50 Einem arbeitslosen Verurteilten bleibt daher der Anspruch auf Arbeitslosengeld erhalten; vgl. Dölling, in: Deutsche Bewährungshilfe 51

(Hrsg.), Die 13. Bundestagung S. 372.

Siehe vor allem Feuerhelm, Gemeinnützige Arbeit S. 89ff.; ferner H.-J. Albrecht/Schädler,

ZRP 1988, 278; Blau, Hilde-Kaufmann-Gedächtnisschrift S. 189; Brughelli, in: Kunz (Hrsg.),

Die Zukunft der Freiheitsstrafe S. 1; Dölling, in: Deutsche Bewährungshilfe (Hrsg.), Die 13. Bundestagung S. 363; Gerken/ Henningsen, ZRP 1987, 386; Jung, Sanktionensysteme S. 165 181; Kerner/Kästner (Hrsg.), Gemeinnützige Arbeit S. 161 ff. Im Jahre 1989 haben über 7000 Personen ihre Geldstrafe durch gemeinnützige Arbeit getilgt; BT-Drucks. 12/3718 S. 8. 52 Siehe aber die Kritik von Köhler, GA 1987, 149 ff. 53 Überblick bei Feuerhelm, Gemeinnützige Arbeit S. 31 - 33. 54 Siehe dazu Dölling, in: Deutsche Bewährungshilfe (Hrsg.), Die 13. Bundestagung S. 372; Schöch, Gutachten C zum 59. DJT S. C 86-C 88. Die Bundesregierung hat allerdings im Jahre 1986 eine einheitliche Regelung unter Hinweis auf die unterschiedlichen Arbeitsmarktverhältnisse in den einzelnen Ländern abgelehnt; BT-Drucks. 10/5828 S. 5.

IV.

D i e Vermögensstrafe (§ 43 a)

777

ist, ob die gemeinnützige Arbeit, wie dies in einigen ausländischen Rechtsordnungen geschehen ist 5 5 , als eigene Hauptsanktion ausgestaltet werden soll (siehe dazu oben § 70 I I 4). IV. Die Vermögensstrafe (§ 43 a) 1. Die im Jahre 1992 neu eingeführte Vermögensstrafe ist eine besondere Form der Geldstrafe. Sie kann nur bei bestimmten Delikten zusätzlich zu einer mehr als zweijährigen Freiheitsstrafe verhängt werden; insoweit ähnelt sie der kumulativen Geldstrafe nach § 41. Im Gegensatz zu dieser wird sie jedoch nicht nach Tagessätzen bemessen, sondern kann - ohne daß der Gesetzgeber sonstige Hinweise für die Festsetzung ihrer Höhe gäbe - das gesamte Vermögen des Täters erfassen (§ 43 a I 1). Für den Fall, daß die Strafe nicht beigetrieben werden kann, hat das Gericht eine Ersatzfreiheitsstrafe zwischen einem Monat und zwei Jahren zu bestimmen (S 43 a III). 2. Voraussetzung für die Verurteilung zu einer Vermögensstrafe ist zunächst, daß der Täter eine Straftat begangen hat, deren Tatbestand ausdrücklich auf § 43 a verweist. Da der Gesetzgeber die Vermögensstrafe als Waffe im Kampf gegen die „Organisierte Kriminalität" betrachtet (siehe BT-Drucks. 12/2720 S. 41), hat er sie nur für solche Delikte vorgesehen, die typischerweise durch organisierte Gruppen begangen werden, nämlich Drogenhandel (§ 30 c BtMG), Geldfälschung (§ 150 I), Menschenhandel und Zuhälterei (§ 181c), Bandendiebstahl (§§ 244 III, 244 a III), Bandenhehlerei (§§ 260 III, 260 a III), Geldwäsche (§ 261 V I I 3) und Glücksspiel (§ 285 b I). In allen Fällen wird vorausgesetzt, daß der Täter das Delikt als Mitglied einer Bande begangen hat 56 . Wegen der Straftat muß gegen den Täter eine Freiheitsstrafe von mindestens zwei Jahren und einem Monat (siehe § 39) verhängt worden sein 57 . Anwendbar ist § 43 a auch dann, wenn der auf diese Vorschrift verweisende Tatbestand mit einem anderen Delikt in Tateinheit (§ 52 IV l ) 5 8 oder in Gesetzeskonkurrenz 59 steht. Durch die Kumulation von Freiheitsstrafe und der für die Vermögensstrafe angedrohten Ersatzfreiheitsstrafe darf der Strafrahmen des jeweiligen Tatbestandes nicht überschritten werden 60 . Die insgesamt verhängte 55

Siehe etwa in England sections 6 (1), 11 Criminal Justice Act 1991; in Frankreich Art. 131-8 Code pénal; in den Niederlanden Art. 22 b Wetboek van Straf recht; für die Schweiz siehe Art. 32 Vorentwurf der Expertenkommission (gemeinnützige Arbeit statt Geldstrafe mit Zustimmung des Täters). Rechtsvergleichende Uberblicke bei H.-J. Albrecht/ Schädler (Hrsg.), Community Service, 1986; Jescheck, in: Jescheck (Hrsg.), Die Freiheitsstrafe Bd. III S. 2124-2131; siehe auch Morris/Tonry, Between Prison and Probation S. 150 - 175. 56 Zu diesem Begriff Mitsch, JA 1994, 427 f. 57 Eine nach § 51 angerechnete Zeit der Untersuchungshaft bleibt außer Betracht; Lackner, § 43 a Rdn. 3. 58 Nur durch diese Regelung erklärt sich die in § 43 a I 1 ausdrücklich erwähnte Möglichkeit der Verhängung einer Vermögensstrafe neben einer lebenslangen Freiheitsstrafe; an sich sieht keiner der auf § 43 a verweisenden Tatbestände lebenslange Freiheitsstrafe vor. 59 Hierzu eingehend Mitsch, JA 1994, 428 f. Zum Problem der Gesamtstrafenbildung bei Tatmehrheit mit einem die Vermögensstrafe zulassenden Tatbestand siehe § 53 III und dazu Bringewat, NStZ 1993, 316. 60

BT-Drucks. 11/5461 S. 6f.; Dreh er/Tröndle,

§ 43a Rdn. 6; Lackner, § 43a Rdn. 6;

Lemke, StV 1990, 89. Es dürfte also z.B. wegen eines Bandendiebstahls nach § 244 nicht eine Freiheitsstrafe von 10 Jahren und Vermögensstrafe verhängt werden. Bedenklich ist unter diesem Aspekt die Verbindung von lebenslanger Freiheitsstrafe und Vermögensstrafe: Bezahlt der Täter die Vermögensstrafe in diesem Fall nicht, so müßte er im Extremfall „lebenslang und zwei Jahre" verbüßen. Der Gesetzgeber hat offensichtlich nur an die Berück-

§ 73 D i e Geldstrafe u n d die Vermögensstrafe

778

Strafe muß ferner dem schuldhaft verwirklichten Unrecht entsprechen (BGH NJW 1995, 1368). Diese Entsprechung läßt sich am ehesten in der Weise herstellen, daß von der eigentlich (allein) verwirkten Freiheitsstrafe ein Abschlag vorgenommen und dieser in eine Geldstrafe „umgerechnet" wird 6 1 . Ob das Gericht so vorgeht und von der Möglichkeit der Vermögensstrafe Gebrauch macht, liegt in seinem Ermessen; es hat sich dabei an den allgemeinen Grundsätzen der Strafzumessung, insbesondere daran zu orientieren, ob der Zugriff auf das Vermögen des Täters eine spezialpräventiv günstige Wirkung verspricht 62 . 3. Die Zumessung der Vermögensstrafe wird dadurch erschwert, daß das Gesetz wesentliche Fragen offenläßt. Dies gilt zunächst für die Bestimmung der Höhe der Geldstrafe: Insoweit wird keine Untergrenze, sondern nur eine Höchstgrenze festgelegt („das Vermögen des Täters"); vor allem aber bleibt, da das Tagessatzsystem nicht anwendbar ist 6 3 , unklar, nach welchen Kriterien das Gericht die Strafe festlegen soll. Praktikabel dürfte am ehesten eine vorsichtige Anlehnung an § 40 I I 1, 3 sein, wobei an die Stelle des Einkommens das Vermögen des Täters als Maßstab zu treten hätte. Danach könnte die Vermögensstrafe je nach der Höhe der durch sie auszugleichenden Freiheitsstrafe bis zu 7,2 Mio. D M (10000 D M mal 720 Tage) ausmachen64. Auf diese Weise ließe sich auch das zweite Zumessungsproblem annähernd lösen, nämlich die Festsetzung der Ersatzfreiheitsstrafe, deren Höhe § 43 a I I I zwischen einem Monat und zwei Jahren fixiert, im übrigen aber in das Ermessen des Gerichts stellt 65 . Berechnet man die Höhe der Vermögensstrafe, indem man das Vermögen (oder einen näher bezeichneten Bruchteil des Vermögens) des Täters in Tagesrationen aufteilt und zu der „ersparten" Freiheitsstrafe in Beziehung setzt, so läßt sich die Ersatzfreiheitsstrafe relativ leicht bestimmen: Sie entspricht dann der Freiheitsstrafe, die der Täter zusätzlich zu verbüßen hätte, wenn er keine Vermögensstrafe erhielte. Eine weitere praktische Schwierigkeit liegt darin, den Umfang des Vermögens des Verurteilten festzustellen. Hierzu hat das Gericht sämtliche Geld- und Sachwerte sowie Forderungen, die dem Täter zustehen, zu ermitteln und davon die Passiva einschließlich der gegen den Täter bestehenden Unterhaltsansprüche abzuziehen66. Da dies gerade im Bereich der „Organisierten Kriminalität" nur selten möglich sein dürfte, gestattet § 43a I 3 eine Schätzung des Vermögens; auch diese muß jedoch auf einer einigermaßen soliden Grundlage beruhen 67 . 4. Die Vermögensstrafe wird ebenso vollstreckt wie eine andere Geldstrafe; unter den Voraussetzungen des § 42 sind auch Zahlungserleichterungen zu gewähsichtigung der Vermögensstrafe bei der Entscheidung über die Aussetzung einer lebenslangen Freiheitsstrafe zur Bewährung (§ 57a) gedacht; BT-Drucks. 11/5461 S. 7; kritisch auch Eser, Stree-Wessels-Festschrift S. 840. 61 Bringewat, NStZ 1993, 317; Dreher/Tröndle, § 43a Rdn. 6; Lackner, § 43a Rdn. 7; SK (Horn) § 43 a Rdn. 7. 62

(Nur) in diesem Rahmen ist die Überlegung zulässig, daß ein Entzug oder eine wesentliche Schmälerung der finanziellen Grundlage den Täter möglicherweise daran hindert, seine strafbare Tätigkeit während oder nach der Verbüßung der Freiheitsstrafe fortzusetzen. 63

64

Dreher/Tröndle,

§ 43a Rdn. 6; Lackner, § 43a Rdn. 7.

Ähnlich SK (Horn) § 43 a Rdn. 6; ein ähnliches Verfahren (allerdings ohne feste Höchstgrenze) schlägt auch Lackner, § 43 a Rdn. 7 vor; für eine Orientierung an § 7 StrEG (20 DM

pro Tag) Mitsch, JA 1994, 430. 65

So ausdrücklich BT-Drucks. 11/5461 S. 6; siehe hierzu Bringewat,

Dreher/Tröndle, § 43a Rdn. 12; Schoreit, MDR 1990, 3. 66 SK (Horn) § 43 a Rdn. 8, 15. 67

B T - D r u c k s . 11/5461 S. 6; Dreher/Tröndle,

§ 43a Rdn. 8; Lackner,

NStZ 1993, 317;

§ 43a Rdn. 4.

IV.

D i e Vermögensstrafe (§ 43 a)

779

ren (§ 43 a II). Wird die Vermögensstrafe nicht bezahlt oder beigetrieben, so tritt an ihre Stelle die zuvor festgesetzte Ersatzfreiheitsstrafe. Diese kann nicht durch „freie Arbeit" abgegolten werden 68 . 5. Die Vermögensstrafe ist schon vor ihrer Einführung heftiger Kritik ausgesetzt gewesen; verschiedentlich wird auch ihre Verfassungswidrigkeit behauptet 69 . a) Ein Vorwurf geht dahin, der Gesetzgeber strebe mit Hilfe der Vermögensstrafe die unzulässige Konfiskation rechtmäßig oder nicht nachweisbar rechtswidrig erlangten Vermögens des Täters an 7 0 . Daran trifft zu, daß man bei der Schaffung der Vermögensstrafe auch das Ziel verfolgt hat, den Tätern aus dem Bereich der „Organisierten Kriminalität" die materielle Grundlage für weitere Straftaten zu entziehen 71 . Diese Absicht hat sich jedoch in der Ausgestaltung der Sanktion nicht unmittelbar niedergeschlagen. Die Orientierung des Strafmaßes an der Tatschuld bleibt unberührt, und § 43 a I I 2 schreibt ausdrücklich vor, daß Vermögensvorteile 72 , deren Verfall angeordnet wird, bei der Bemessung der Vermögensstrafe nicht zu berücksichtigen sind; dadurch wird eine klare Trennungslinie zwischen Strafe und Gewinnabschöpfung nach §§ 73, 73 a gezogen (siehe B G H NJW 1995, 1368). Auch die Behauptung, § 43 a verstoße als „erdrosselnder" Eingriff in das Vermögen gegen Art. 14 G G 3 , steht auf schwachen Füßen, da je nach der Vermögenslage des Täters auch jede andere Geldstrafe sämtliche verfügbaren Vermögenswerte erfassen kann 7 4 . Tatsächlich „existenzvernichtende" Vermögensstrafen dürfen im übrigen schon wegen § 46 I 2 nicht angeordnet werden. b) Bedenklich ist allerdings die (oben § 73 I V 3) bereits hervorgehobene Unbestimmtheit der Vorschrift 75 . Abgesehen von dem Fehlen inhaltlicher Kriterien für die Zumessung im Einzelfall liegt auch deshalb ein Verstoß gegen das Bestimmtheitsgebot des Art. 103 I I G G nahe, weil die Höhe der Strafe, sofern sie nur durch das Vermögen des Verurteilten begrenzt ist, ins Ungemessene geht; damit unterscheidet sich § 43 a selbst von solchen Normen, die sehr weite, aber letztlich doch begrenzte Strafrahmen vorsehen 76 . 68

Art. 293 EGStGB verweist nur auf die Ersatzfreiheitsstrafe nach § 43, nicht nach § 43 a

III; Mitsch, JA 1994, 431; SK {Horn) § 43 a Rdn. 12.

69 Kritik z.B. bei Arzt, NStZ 1990, 5 f.; Dreh er/Tröndle, § 43a Rdn. 3; Eser, Stree-Wessels-Festschrift S. 836 - 842; Köhler/Beck, JZ 1991, 797; Krey/Dierlamm, JR 1992, 356f.; ].

Meyer, ZRP 1990, 87f.; Perron, JZ 1993, 918; Strate , StV 1992, 32; Weßlau, StV 1991, 233 -

235.

70

Siehe etwa Dreher/Tröndle,

Krey/Dierlamm, 71

§ 43 a Rdn. 3; Eser, Stree-Wessels-Festschrift S. 83 7 f.;

JR 1992, 356; Strate, StV 1992, 32; Weßlau, StV 1991, 233 f.

Nach BT-Drucks. 11/5461 S. 5 soll es die Vermögensstrafe dem Täter unter anderem erschweren, „künftig eine neue, auf kriminellen Erwerb gerichtete Organisation aufzubauen". Nach Arzt, NStZ 1990, 5 kommen in § 43 a „Ungeduld über und Resignation gegenüber strafrechtspolitisch unbefriedigenden Konsequenzen der Unschuldsvermutung" zum Ausdruck. 72 Gemeint sind wohl „Vermögensgegenstände", d.h. „etwas" i.S.v. § 73 I 1; die gebotene sprachliche Harmonisierung von § 43 a mit § 73 wurde verabsäumt (vgl. Dreh er/Tröndle, § 43 a Rdn. 9). 73 Eser, Stree-Wessels-Festschrift S. 838; Krey/Dierlamm, JR 1992, 356; Weßlau, StV 1991, 234. 74 Einen Verstoß gegen Art. 14 GG verneinen auch BGH NJW 1995, 1369; Mitsch, JA 1994, 430f.; von Seile, wistra 1995, 161; SK {Horn) § 43a Rdn. 8. 75 Arzt, NStZ 1990, 5f.; Bnngewat, NStZ 1993, 317; Dreher/Tröndle, § 43a Rdn. 3; Eser, Stree-Wessels-Festschrift S. 841. 76

Anders SK {Horn)

§ 43 a Rdn. 9.

780

§ 73 D i e Geldstrafe u n d die Vermögensstrafe

c) Auch wenn man die denkbare Höhe der Strafe durch eine Kombination von SS 40 I I 3, 43 a I I I 2 auf 7,2 Mio. D M begrenzt (siehe oben S 73 IV 3), bleibt die Einrichtung der Vermögensstrafe jedenfalls kriminalpolitisch verfehlt. Sie ist zunächst überflüssig, da S 41 bereits die Möglichkeit vorsieht, eine Geldstrafe mit einer Freiheitsstrafe zu kombinieren, wenn dies zur Einwirkung auf den Täter angebracht ist 7 7 ; verfügt der Täter über geringes Einkommen, aber hohes Vermögen, so kann dies bei der Bemessung des Tagessatzes auch im Rahmen von SS 40 II, 41 berücksichtigt werden (siehe oben S 73 I I 3d). S 43a dürfte sich ferner als nutzlos gegenüber dem ins Auge gefaßten Täterkreis erweisen, da gerade innerhalb krimineller Organisationen die Zuordnung von Vermögensstücken leicht zu vertuschen ist und da überdies die Vermögenseinbußen, die noch in angemessener Relation zu einer höchstens zweijährigen Ersatzfreiheitsstrafe stehen, für Drahtzieher der „Organisierten Kriminalität" keine besonders starke Abschreckungswirkung haben dürften 78 . Schließlich ist die Regelung kontraproduktiv, weil sie letztlich auf eine Strafmilderung für begüterte Straftäter hinausläuft: Wer unvermögend ist, muß die gesamte schuldangemessene Freiheitsstrafe verbüßen; wer dagegen Vermögen besitzt, kann sich von einem Teil des Freiheitsentzuges durch die Vermögensstrafe „freikaufen" 79 . Ist schon diese Wirkung des Gesetzes im Hinblick auf den Gleichbehandlungsgrundsatz bedenklich, so kommt als weitere irrationale Disparität hinzu, daß die Möglichkeit, anstelle der Freiheit einen Teil des Vermögens hinzugeben, ausschließlich besonders gefährlichen Tätern, nämlich Mitgliedern krimineller Banden, zugute kommt. M i t der Einführung der Vermögensstrafe hat der Gesetzgeber beabsichtigt, sowohl unredlich erworbenes Vermögen abzuschöpfen als auch eine besonders wirksame Strafe zu schaffen - er wollte zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen und hat sie letztlich beide verfehlt. Daher sollte das mißglückte Rechtsinstitut wieder abgeschafft werden. V. Die Geldstrafe im ausländischen Recht 80 Das Tagessatzsystem hat seinen Ursprung in Skandinavien. Es gilt dort in Dänemark (SS 50 ff. dän. StGB), Finnland (§§ 4ff. finn. StGB) und Schweden (Kap. 5 schwed. StGB), nicht jedoch in Norwegen. Auch in Österreich (§19 österr. StGB) ist die Geldstrafe seit 1975 in Tagessätzen zuzumessen; es gilt dort allerdings das Einbußeprinzip und für die Ersatzfreiheitsstrafe der günstigere Umrechnungssatz von 2 Tagessätzen zu einem Tag Haft (§19 III österr. StGB)8 . Die gemeinnützige Arbeit ist dort bisher noch nicht eingeführt worden 82. In der Schweiz steht die Geldstrafe in der praktischen Anwendung immer noch hinter der kurzen Freiheitsstrafe zurück 83. Man hält dort bisher an dem traditionellen Geldsummensystem fest (Art. 48 Schweiz. StGB)84. Bei der Umwandlung in Haft werden 30 77

78

J. Meyer, ZRP 1990, 88; a. A. Perron, JZ 1993, 923 f.

Siehe hierzu H.-J. Albrecht, in: J. Meyer/Dessecker/Smettan (Hrsg.), Gewinnabschöpfung bei Betäubungsmitteldelikten S. 33; Dessecker, Gewinnabschöpfung im Strafrecht und in der Strafrechtspraxis S. 120 ff.; Kaiser, Tröndle-Festschrift S. 685; Perron, JZ 1993, 920 - 923. 79 Dies kritisieren auch J. Meyer, ZRP 1990, 88 und Mitsch, JA 1994, 432 f. 80 Dazu eingehend Jescheck/Grebing (Hrsg.), Die Geldstrafe im deutschen und ausländischen Recht, 1978; ferner Jescheck, Würtenberger-Festschrift S. 257. Zur Vermögensstrafe vergleichend J. Meyer/Dessecker/Smettan (Hrsg.), Gewinnabschöpfung bei Betäubungsmitteldelikten, 1989. 81 Siehe Burgstaller, ZStW 94 (1982) S. 727; Driendl, Die Reform der Geldstrafe in Österreich, 1978; Jescheck, Lange-Festschrift S. 378 f.; Tröndle, ÖJZ 1975, 589. 82 Siehe hierzu die Referate von Obendorf und Zipf, in: Verhandlungen des 10. OJT 1988, Abteilung Strafrecht S. 63 f., 87 - 98. 83 Siehe die Angaben bei Beckmann, in: Jescheck/Grebing (Hrsg.), Die Geldstrafe S. 846; Hüsler/Locher, Kurze Freiheitsstrafen S. 10 f.

V . D i e Geldstrafe i m ausländischen Recht

781

Franken einem Tag Haft gleichgesetzt; die Ersatzhaft darf jedoch drei Monate nicht übersteigen (Art. 49 III Schweiz. StGB). Eine Ersetzung durch „freie Arbeit" ist möglich (Art. 49 I 2 85 Schweiz. StGB), wird aber kaum praktiziert . In Art. 29 Vorentwurf der Expertenkommission ist eine Umstellung auf das Tagessatzsystem vorgesehen. Das französische Recht kennt sowohl die Geldsummenstrafe (amende) als auch die Tagessatzgeldstrafe (jour-amende)86. Erstere ist als Hauptstrafe bei Vergehen und Übertretungen sowie als Zusatzstrafe bei Verbrechen vorgesehen (Art. 131-2, 131-3, 131-12 Code pénal). Ihre Obergrenze wird bei dem jeweiligen Straftatbestand angegeben; für Übertretungen beträgt sie 10000 Francs (bzw. 20000 Francs bei Rückfall). Bei der Festsetzung der Geldsummenstrafe ist auch auf das Vermögen und die Verbindlichkeiten des Täters Rücksicht zu nehmen (Art. 132-24 Code pénal). Dieselben Überlegungen hat das Gericht anzustellen, wenn es die Höhe des Tagessatzes bei der „jour-amende" festsetzt; die Anzahl der Tagessätze (höchstens 360) richtet sich nach der Schwere der Tat (Art. 131-5 Code pénal). Bei Anordnung der Ersatzfreiheitsstrafe entspricht ein Tag Haft zwei Tagessätzen (Art. 131-25 Code pénal). Die gemeinnützige Arbeit mit einer Dauer von 40 bis 240 Stunden ist bei Vergehen als eigenständiges Surrogat für die Freiheitsstrafe vorgesehen; sie kann nicht mit der Geldstrafe kombiniert werden (Art. 131-8, 131-9 IV Code pénal). In Italien wird die Geldstrafe als Surrogat der kurzen Freiheitsstrafe (bis zu drei Monaten) verstanden87. Es gilt dort das Geldsummensystem. Allerdings sind die wirtschaftlichen Verhältnisse des Täters bei der Bemessung zu berücksichtigen; sie können zu einer Verdreifachung des gesetzlichen Höchstmaßes bzw. zu einer Herabsetzung des Mindestmaßes auf ein Drittel führen (Art. 133 bis Codice penale). Da der Verfassungsgerichtshof die Ersatzfreiheitsstrafe bei Zahlungsunfähigkeit des Täters für verfassungswidrig erklärt hat, sind jetzt als Alternativsanktionen ambulante Überwachung (libertà controllata) oder gemeinnützige Arbeit vorgesehen (Art. 102, 105 Gesetz 689/ 198188)89. Nach den Vorschlägen des Entwurfs der „Kommission Pagliaro" (1992) zur Reform des Strafrechts soll die Geldstrafe mit erweitertem Anwendungsbereich gleichberechtigt neben die Freiheitsstrafe treten 90. Der spanische Côdigo penal schreibt in Art. 63 die Berücksichtigung der finanziellen Leistungsfähigkeit des Täters vor und läßt in Art. 90 II Ratenzahlungen zu9 . Der Vorentwurf von 1983 (Art. 45 ff.) wollte zur Laufzeit-Geldstrafe übergehen; der Entwurf 1994 übernimmt das Tagessatzsystem (Art. 50). In Portugal (Art. 46 C.p.) ist das Tagessatzsystem bereits verwirklicht. In den Niederlanden spielt die Geldstrafe im Vergleich zur kurzen Freiheitsstrafe immer noch eine begrenzte Rolle . Durch das Gesetz über die Vermögenssanktionen von 1983 wurde die Geldstrafe jedoch in den Mittelpunkt des Sanktionensystems gestellt; sie kann bei allen Delikten an die Stelle der Freiheitsstrafe treten. Die Geldstrafe wird als Gesamtsumme zugemessen und kann bis zu einer Million Gulden betragen (Art. 23 niederl. StGB); auf die Vermögensverhältnisse des Verurteilten ist Rücksicht zu nehmen (Art. 24 niederl. StGB). In Belgien kann die Geldstrafe nur bei Vergehen und Übertretungen als einzige Strafe verhängt werden; bei Verbrechen ist sie als Nebenstrafe vorgesehen93. Sie wird als Gesamtsumme zugemessen. Die Ersatzfreiheitsstrafe wird vom Gericht bestimmt und darf bei Vergehen drei Monate nicht überschreiten (Art. 40 I belg. StGB). In England kann die Geldstrafe bei allen Delikten (außer Mord) sowohl als einzige wie als zusätzliche Strafe verhängt werden (s. 30 Powers of Criminal Courts Act 1973)94. Sie wird 84

Kritisch Stratenwerth, Schweiz. Strafrecht, Allg. Teil II S. 176 ff. Trechsel, Schweiz. StGB, Art. 49 Rdn. 3. 86 Siehe hierzu Zieschang, Sanktionensystem S. 224 - 232. 87 Siehe Dolcini/Paliero, ZStW 102 (1990) S. 232. 88 Das Gesetz vom 24.11.1981 ist abgedruckt bei Conso/Barhalinardo, Codice penale S. 697 ff. 89 Romano/Grasso, Commentario Art. 136 Rdn. 1 - 9; Stile, ZStW 96 (1984) S. 178 - 186. 90 Mezzetti, ZStW 105 (1993) S. 635; Schiavi, Rivista italiano di diritto e procedura penale 1989, 722. 91 Siehe Rodriguez Devesa/ Serrano Gômez, Derecho penal S. 922 ff. 92 Sagel-Grande, MschrKrim 1989, 257 f. 93 Hennau/Verhaegen, Droit pénal général Nr. 434 ff.: Dupont /Verstraeten, Handboek Nr. 654 ff. 85

94

Ü b e r b l i c k bei Archbold,

C r i m i n a l Pleading § 5 - 437 ff.

782

§ 74 Das Fahrverbot

als Gesamtsumme je nach der Schwere der Tat unter Berücksichtigung der wirtschaftlichen Verhältnisse des Täters zugemessen (s. 18 Criminal Justice Act 1991). Im Jahre 1991 wurde das Tagessatzsystem eingeführt, jedoch aufgrund von Anwendungsschwierigkeiten in der Praxis schon zwei Jahre später wieder aufgegeben 95. Für die Magistrates' Courts stellt das Gesetz für leichte Delikte eine „standard scale of fines" (s. 37 Criminal Justice Act 1982) auf; im übrigen ist die Höhe der Geldstrafe unbegrenzt. Dementsprechend können auch Ersatzfreiheitsstrafen bis zu zehn Jahren festgesetzt werden (s. 31 [3A] Powers of Criminal Courts Act 1973). In den USA spielt die Geldstrafe selbst bei der Ahndung relativ leichter Delikte nur eine untergeordnete Rolle 96 . Viele einzelstaatliche Strafgesetzbücher haben die Einstellung des Model Penal Code von 1962 übernommen, wonach die Geldstrafe bei schwereren Straftaten nur zur Abschöpfung illegaler Gewinne und nicht als alleinige Sanktion eingesetzt werden soll (sec. 7.02 MPC). Die Höhe der Geldstrafe soll sich auch an der Zahlungsfähigkeit des Täters orientieren (siehe sec. 7.02 [3] MPC). Die Vollstreckung einer Ersatzfreiheitsstrafe ist nach der Rechtsprechung des U.S. Supreme Court unzulässig, wenn der Täter die Geldstrafe ohne eigenes Verschulden nicht aufzubringen vermag97. Im brasilianischen Recht (Art. 49 C.p.) ist das Tagessatzsystem verwirklicht 98. § 74 Das Fahrverbot Cramer , Die Austauschbarkeit der Entziehung der Fahrerlaubnis gegen ein Fahrverbot, NJW 1968, 1764; Himmelreich/ Hentschel, Fahrverbot - Führerscheinentzug, Bd. I, 7. Auflage 1992; Kulemeier, Fahrverbot (§ 44 StGB) und Entzug der Fahrerlaubnis (§§ 69 ff. StGB), 1991; derselbe, Fahrverbot und Fahrerlaubnisentzug - Sanktionen zur Bekämpfung allgemeiner Kriminalität? NZV 1993, 212; Müller-Metz, Zur Reform von Vergehenstatbeständen und Rechtsfolgen im Bereich der Verkehrsdelikte, NZV 1994, 89; Schef) Ter, Fahrverbot und Ordnungswidrigkeitenrecht, NZV 1995, 176. 1. Als einzige Nebenstrafe sieht das geltende Recht das Fahrverbot (§ 44) vor. Diese Strafe besteht darin, daß dem Verurteilten für einen Zeitraum zwischen einem und drei Monaten das Führen von Kraftfahrzeugen im Straßenverkehr untersagt wird. Durch das Fahrverbot soll dem Kraftfahrer, der sich einen gravierenden Verkehrsverstoß hat zuschulden kommen lassen, ein „Denkzettel" erteilt werden; die Strafe soll also in erster Linie spezialpräventiv darauf hinwirken, daß der Täter in Zukunft die Normen des Straßenverkehrs besser beachtet. Derselbe Gedanke der nachdrücklichen „Pflichtmahnung" durch Auferlegung einer Sanktion ist auch charakteristisch für das Recht der Ordnungswidrigkeiten; es erstaunt daher nicht, daß das Fahrverbot auch dort gegenüber Kraftfahrern eingesetzt wird, die ihre Pflichten „grob und beharrlich" verletzt haben (§ 25 I 1 StVG). Dadurch entsteht freilich das seltsame Ergebnis, daß ein und dieselbe Rechtsfolge einmal als Kriminalstrafe (§ 44) und einmal als bloße „Nebenfolge" ohne Strafcharakter 1 aufzufassen ist (zur Verfassungsmäßigkeit dieser Regelung BVerfGE 27, 36 [41 - 44]) 2 . 2. Zu unterscheiden ist das Fahrverbot von der Maßregel der Entziehung der Fahrerlaubnis (§ 69; siehe dazu unten § 78 II). Zwar haben beide Sanktionen zur Folge, daß der Verurteilte nicht als Kraftfahrer am Straßenverkehr teilnehmen darf, doch unterscheiden sie sich im übrigen deutlich in ihrer Rechtsnatur und ihren Voraussetzungen: Das Fahrverbot setzt als Nebenstrafe die Verurteilung wegen einer 95

Siehe hierzu Ashworth, ZStW 106 (1994) S. 610 - 612. Eingehend und kritisch hierzu Morris /Tonry, Between Prison and Probation S. I l l 149 (die die Einführung des Tagessatzsystems empfehlen). 97 Tate v. Short, 401 U.S. 395 (1971). 98 Vgl. Fragoso, Liçoes S. 328 ff.; de Jesus, Comentarios, Art. 49 Anm. 1; da Costa jr., Comentarios, Art. 49 Anm. 2 c. 1 Himmelreich / H entschel, Fahrverbot Bd. IS. 170 m.w.N. 2 Kritisch Scheffler, NZV 1995, 176. 96

§ 74 Das Fahrverbot

schuldhaft begangenen Tat sowie die Verhängung einer Hauptstrafe voraus; ihr Ziel ist die erzieherische Einwirkung auf den an sich zur Teilnahme am Straßenverkehr geeigneten Kraftfahrer durch die mit einer kurzfristigen Suspendierung der Fahrerlaubnis verbundene Warnung vor weiteren Verkehrsverstößen 3. Demgegenüber zielt die Entziehung der Fahrerlaubnis nach § 69 auf den längerfristigen Ausschluß ungeeigneter Personen vom Kraftfahrzeugverkehr ab, um einer Gefährdung der Allgemeinheit entgegenzuwirken; Anlaß für die Anordnung der Maßregel kann daher auch eine im Zustand der Schuldunfähigkeit begangene rechtswidrige Tat sein4. 3. Voraussetzung für die Verhängung eines Fahrverbots ist die Begehung einer Straftat bei oder im Zusammenhang mit dem Führen eines Kraftfahrzeugs oder unter Verletzung der Pflichten eines Kraftfahrzeugführers. Ebenso wie bei der Maßregel nach § 69 legt die Rechtsprechung diese Begriffe sehr weit aus5. Dies gilt insbesondere für den „Zusammenhang" mit dem Führen eines Kraftfahrzeugs, der schon dann gegeben sein soll, wenn der Täter das Fahrzeug etwa für den Abtransport der Beute nach einem Raub (BGH 10, 333 [336]) oder zum Vortäuschen der Kreditwürdigkeit im Rahmen eines Betrugs (BGH 5, 179 [181 f.]; 17, 218) benutzt, ebenso wenn ein Kraftfahrer einem anderen aus Ärger über dessen Verkehrsverhalten einen Faustschlag versetzt (BayObLG NJW 1959, 2126). Auch das Überlassen des Wagens an einen Fahruntüchtigen soll mögliche Grundlage eines Fahrverbots sein; der Täter braucht das Fahrzeug also nach der Rechtsprechung gar nicht selbst geführt zu haben (BGH 10, 333; 15, 316 [318]). In vielen dieser Fälle ist jedoch die Verhängung eines Fahrverbots nicht gerechtfertigt, da der Täter die Verkehrssicherheit nicht beeinträchtigt hat und daher insoweit keiner Pflichtmahnung bedarf 6. Besondere Anforderungen an die Schwere der Verkehrsstraftat stellt § 44 - anders als § 25 I StVG - nicht. Dennoch wäre es unverhältnismäßig und daher unzulässig, ein Fahrverbot bei einem leicht fahrlässigen Verkehrsverstoß zu verhängen, auch wenn dieser zu einer Körperverletzung (§ 230) geführt hat 7 . 4. Auch wenn die Voraussetzungen von § 44 I erfüllt sind, liegt die Verhängung eines Fahrverbots grundsätzlich im Ermessen des Gerichts. Es hat nach den allgemeinen Regeln der Strafzumessung (vgl. § 46) zu prüfen, ob die Kombination von Freiheits- oder Geldstrafe und Fahrverbot angesichts der Schwere des schuldhaft verwirklichten Unrechts als Anwort auf die Tat erforderlich ist (BGH 29, 58 [60 f.]). In diesem Zusammenhang spielt auch die individuelle Belastung des Täters durch das Fahrverbot eine Rolle: So kann ein dreimonatiges Fahrverbot für einen bloßen Freizeitfahrer eine angemessene Sanktion darstellen, während es für einen Berufskraftfahrer existenzvernichtende Wirkung haben könnte und daher ihm 3 Der Gesichtspunkt der Abschreckung Dritter hat daher bei der Verhängung eines Fahrverbots keine eigenständige Bedeutung; vgl. LK U (Geppert) § 44 Rdn. 2; NK (Herzog) § 44 Rdn. 6; a.A. Schönke/Schröder/Stree, § 44 Rdn. 1. Da sich bei einem langen zeitlichen Abstand zwischen Tat und Sanktion die erzieherische Wirkung des Fahrverbots stark vermindert, kann es nach Ablauf von mehreren Jahren nach der Tat in der Regel nicht mehr verhängt werden; vgl. OLG Düsseldorf StV 1993, 310 (311). 4 Zum Verhältnis zwischen Fahrverbot und Fahrerlaubnisentziehung siehe LK 11 (Geppert) § 44 Rdn. 16-18; siehe auch Cramer, NJW 1968, 1764. 5 Nachweise bei Dreher/Tröndle, § 44 Rdn. 6; Kulemeier, Fahrverbot S. 187- 192; NK

(Herzog) § 44 Rdn. 15 f. 6

Kritisch zur übermäßigen Ausdehnung des Anwendungsbereichs von § 44 auch Kule-

meier, N Z V 1993, 214f.; Lackner, § 44 Rdn. 3; NK (Herzog) § 44 Rdn. 17. 7 Ebenso Himmelreich/ H entschel, Fahrverbot Bd. I S. 146; LK n (Geppert) § 44 Rdn. 7; §44 Rdn. 6; a.A. Dreher/Tröndle, NK (Herzog) §44 Rdn. 11; Schönke/Schröder/Stree, § 44 Rdn. 2; SK (Horn) § 44 Rdn. 5.

784

§ 74 Das Fahrverbot

gegenüber nicht verhängt werden dürfte (vgl. O L G Celle VRS 62, 38 [39]); stattdessen wäre dann eine Freiheits- oder Geldstrafe angemessen zu erhöhen 8. Eingeschränkt ist das Strafzumessungsermessen des Gerichts nach § 44 I 2 allerdings dann, wenn der Täter schuldhaft ein Vergehen der Trunkenheit im Verkehr (§§ 315c I Nr. la, I I I oder 316) begangen hat. In diesem Fall soll entweder die Fahrerlaubnis entzogen oder ein Fahrverbot verhängt werden, sofern nicht besondere Umstände entgegenstehen9. 5. Das Fahrverbot hat die Wirkung, daß der Verurteilte von seiner Fahrerlaubnis für den im Urteil festgesetzten Zeitraum keinen Gebrauch machen darf; führt er dennoch ein Kraftfahrzeug, so macht er sich nach § 21 StVG strafbar. Der Führerschein des Verurteilten wird während der Dauer des Fahrverbots amtlich verwahrt (§ 44 III 2). Das Fahrverbot wird an sich mit Rechtskraft des Urteils oder Strafbefehls (vgl. § 407 II 1 Nr. 1 StPO) wirksam. Die Frist beginnt jedoch erst zu laufen, sobald sich der Führerschein in amtlicher Verwahrung befindet (§44 IV 1); außerdem bleiben Zeiten außer Betracht, in denen dem Täter die Freiheit entzogen ist (§ 44 IV 2), da ein Fahrverbot insoweit leerliefe 10. Wurde dem Täter während des Strafverfahrens die Fahrerlaubnis nach § l i l a StPO vorläufig entzogen, so ist die ohne Fahrerlaubnis verbrachte Zeit nach § 51 V vollständig auf die Dauer des Fahrverbots anzurechnen. Dies führt häufig dazu, daß bei Erlaß des Urteils die dreimonatige Höchstdauer des Fahrverbots bereits verbraucht ist. Dennoch soll in solchen Fällen das Fahrverbot noch im Urteilstenor erscheinen, um - zumindest für das Bundeszentralregister - die verdiente Sanktion vollständig zu erfassen (BGH 29, 58)11. 6. Die Praxis macht von der Nebenstrafe des Fahrverbots recht häufig Gebrauch: Im Jahre 1991 wurde sie in mehr als 33 000 Fällen verhängt 12 ; hinzu kommt eine noch wesentlich größere Anzahl von Fahrverboten nach § 25 StVG 13 . Im Strafrecht bleibt der Anwendungsbereich von § 44 jedoch auf relativ geringe Verstöße beschränkt; bei gravierenderen Delikten neigt die Praxis zur Entziehung der Fahrerlaubnis, da man sich von ihr einen wirksameren Schutz der Allgemeinheit verspricht. Um insbesondere die Lücke zwischen der Höchstdauer des Fahrverbots (drei Monate) und der Mindestdauer der Fahrerlaubnisentziehung (sechs Monate) zu schließen, wird verschiedentlich vorgeschlagen, Fahrverbote bis zu einer Dauer von einem Jahr zuzulassen14. 8 Siehe hierzu LK n {Geppert) § 44 Rdn. 27 - 29; NK {Herzog) § 44 Rdn. 28a; Schönke/ Schröder/Stree, § 44 Rdn. 15; SK {Horn) § 44 Rdn. 7.

9 Durch diese Regelung soll erreicht werden, daß der alkoholisierte Kraftfahrer, der eine Straftat nach § 315 c oder § 316 begeht, nicht günstiger behandelt wird als derjenige, dem nur eine Ordnungswidrigkeit nach § 24 a StVG zur Last fällt; auch bei diesem wird nach § 25 I 2 StVG „in der Regel" ein Fahrverbot angeordnet. Zu möglichen Ausnahmefällen bei § 44 sie-

he LK U 10

{Geppert) § 44 Rdn. 38 - 40.

Nach herrschender Meinung werden auch Zeiten nicht mitgerechnet, in denen der Verurteilte Hafturlaub hat oder als Freigänger tätig ist; OLG Stuttgart NStZ 1983, 429; LK U {Geppert) § 44 Rdn. 62; SK {Horn) § 44 Rdn. 14. Dies erscheint ungerecht, da die Suspendierung der Fahrerlaubnis in diesen Zeiträumen für den Täter ein durchaus fühlbarer Nachteil ist; zutreffend NK {Herzog) § 44 Rdn. 42. 11

Dreher/Tröndle,

§ 44 Rdn. 3; Lackner, § 44 Rdn. 7; LK 11

{Geppert) § 44 Rdn. 35f. Für

die Möglichkeit, in diesen Fällen von der Verhängung des Fahrverbots abzusehen, jedoch

Himmelreich/Hentschel, Fahrverbot Bd. I S. 148f.; NK {Herzog) § 44 Rdn. 33; Schönke/ Schröder/Stree, § 44 Rdn. 15.

12 Statistisches Bundesamt, Rechtspflege, Reihe 3: Strafverfolgung 1991, 1993, S. 68. Die Entziehung der Fahrerlaubnis nach § 69 wird allerdings mehr als fünfmal so häufig angeordnet (vgl. oben § 5 II). 13 Siehe hierzu die Angaben bei Ν Κ {Herzog) § 44 Rdn. 3. 14 Siehe etwa Kulemeier, Fahrverbot S. 336f.; Müller-Metz, NZV 1994, 95f.; Beschluß des 59. Deutschen Juristentages, in: Sitzungsbericht Ο zum 59. DJT 1992 S. Ο 189.

I. D e r Verlust der Amtsfähigkeit, der Wählbarkeit u n d des Stimmrechts

785

§ 75 Die Nebenfolgen Jekewitz, Der Ausschluß vom aktiven und passiven Wahlrecht usw., GA 1977, 161; Ν elles, Statusfolgen als „Nebenfolgen" einer Straftat, JZ 1991, 17; Palandt, Bürgerliches Gesetzbuch, 54. Auflage 1995; Schöch, Empfehlen sich Änderungen und Ergänzungen bei den strafrechtlichen Sanktionen ohne Freiheitsentzug? Gutachten C zum 59. DJT, 1992; Schomburg, Die öffentliche Bekanntmachung einer strafrechtlichen Verurteilung, ZRP 1986, 65; Schwarz, Die strafgerichtliche Aberkennung der Amtsfähigkeit und des Wahlrechts, 1991; Sturm, Die Strafrechtsreform, JZ 1970, 81. Neben den Strafen sieht das StGB verschiedene weitere Rechtsfolgen vor, die sich nur schwer in das zweispurige Sanktionensystem einordnen lassen und deshalb neutral mit dem Begriff „Nebenfolgen" bezeichnet werden. Es handelt sich dabei zum einen um den Verlust der Amtsfähigkeit, der Wählbarkeit und des Stimmrechts (§§ 45 - 45 b), zum anderen um die in einzelnen Tatbeständen des Besonderen Teils gewährte Befugnis zur öffentlichen Bekanntmachung des Urteils (§§ 103 II, 165, 200). Aus dem unklaren Rechtscharakter dieser Sanktionen folgen gewisse Probleme bei ihrer Anwendung. I. Der Verlust der Amtsfähigkeit, der Wählbarkeit und des Stimmrechts (§§ 45-45b) 1. Das Gesetz sieht den Verlust des passiven Wahlrechts sowie der Fähigkeit, öffentliche Ämter zu bekleiden, zunächst als zwingende Folge einer Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe von mindestens einem Jahr wegen eines Verbrechens vor (§ 45 I). Außerdem kann das Gericht auch in anderen Fällen, in denen dies bei dem jeweiligen Straftatbestand besonders angeordnet ist, dem Täter die genannten Fähigkeiten und außerdem auch das aktive Wahlrecht für die Dauer von zwei bis fünf Jahren aberkennen (§ 45 II, V). Sinn und Zweck dieser sog. Statusfolgen einer strafrechtlichen Verurteilung sind nicht leicht zu erklären. Historisch gesehen handelt es sich um letzte Nachklänge früherer Ehrenstrafen, die vor allem mit der Verurteilung zu Zuchthaus verbunden waren 1 . Der heutige Zweck kann wohl kaum in einer Förderung der Individualprävention 2 , sondern allenfalls in der Wahrung des Ansehens öffentlicher Ämter und Funktionen gesehen werden 3 : Dieses Gut soll nicht dadurch gefährdet werden, daß Personen unmittelbar nach Verurteilung wegen eines schweren (§ 45 I) oder eines politisch gefärbten (§ 45 II) Delikts weiter einflußreiche Positionen in der öffentlichen Verwaltung oder einem Wahlgremium einnehmen. U m dieses außerstrafrechtlichen Zieles willen wird dem Täter neben der Strafe eine zusätzliche Rechtseinbuße auferlegt, nämlich der Verlust der Fähigkeit zur Mitwirkung an der Gestaltung des staatlichen Lebens. Da das Gesetz ersichtlich nicht die Abwendung solcher Gefahren intendiert, die sich aus weiteren gleichartigen Straftaten des Verurteilten für die Funktionsfähigkeit der öffentlichen Verwaltung ergeben könnten, muß man annehmen, daß es sich bei den Statusfolgen einer Verurteilung nicht um maßregelähnliche Sanktionen, sondern um Nebenstrafen handelt, auch wenn der Gesetzgeber systematisch zwischen der Nebenstrafe des § 44 und der „Neben1 Nach § 31 a.F. war bis 1970 der dauernde Verlust der Amtsfähigkeit zwingende Folge einer Verurteilung zu Zuchthaus; außerdem konnte nach § 32 a.F. auf „Verlust der bürgerlichen Ehrenrechte" erkannt werden. Siehe zur historischen Entwicklung Schwarz, Aberkennung der Amtsfähigkeit S. 20 - 39. 2 So aber SK (Horn) § 45 Rdn. 12. 3 Im Gesetzgebungsverfahren wurde der Zweck als „Reinhaltung des öffentlichen Lebens" formuliert; Nachweise bei Ν elles, JZ 1991, 21.

50 Jescheck, 5. A.

786

§ 75 D i e Nebenfolgen

folge" des § 45 unterscheidet 4. Daraus folgt weiter, daß das „Sonderopfer", das der Täter zugunsten des Ansehens der staatlichen Verwaltung zu erbringen hat, nach den allgemeinen Grundsätzen der Strafzumessung, insbesondere nach dem Kriterium eines insgesamt angemessenen Schuldausgleichs zu bemessen ist. Dies bedeutet, daß die punitive Wirkung der Statusfolgen bei der Festsetzung der Freiheitsstrafe zugunsten des Täters in Rechnung zu stellen ist 5 . 2. In kriminalpolitischer Hinsicht ist die Existenzberechtigung der „Nebenfolge" des § 45 sehr zweifelhaft 6 . Hinsichtlich des Verlustes des Wahlrechts bestehen schon verfassungsrechtliche Bedenken, da Art. 38 I I G G in Verbindung mit dem Demokratieprinzip das allgemeine Wahlrecht gewährleistet und eine Aberkennung nicht einmal in Art. 18 G G vorgesehen ist 7 . Auch im übrigen bedarf es einer allgemeinen strafrechtlichen Regelung zum Schutz des „Reinheitsinteresses" des öffentlichen Lebens nicht, da bereits in zahlreichen Einzelregelungen Statusfolgen an die Verurteilung wegen einer Straftat geknüpft sind (siehe z.B. § 24 BRRG, § 48 BBG, §§ 13, 15 BWahlG; ferner §§ 7 Nr. 2, 14 I I Nr. 2 B R A O ; §§ 38 I Nr. 2, 53 I I Nr. 1 SoldG) 8 . 3. a) Nach § 45 I werden die Statusfolgen durch die Verurteilung wegen eines Verbrechens zu einer Freiheitsstrafe von mindestens einem Jahr begründet. Es kommt hierbei auf die im Urteil ausgesprochene Strafe, nicht auf deren Vollstreckung an; die Statusfoleen treten daher auch ein, wenn die Freiheitsstrafe zur Bewährung ausgesetzt wird . b) Der Täter verliert zunächst die Fähigkeit, öffentliche Ämter zu bekleiden, d.h. insbesondere als Beamter des Bundes, eines Landes oder einer Gemeinde tätig zu sein; erfaßt sind auch Ämter in anderen Körperschaften des öffentlichen Rechts sowie die Stellung als Notar (vgl. RG 62, 24 [26 f.]) 1 0 . Außerdem verliert der Verurteilte ein öffentliches Amt, das er innehat (§ 45 IV). Weitere Folge der Verurteilung ist, daß der Täter nicht in öffentlichen Wahlen gewählt werden kann 1 1 . Der Begriff der „öffentlichen Wahlen" erfaßt neben den Wahlen zum Bundestag, zu 4

Nach LK U (G. Hirsch) § 45 Rdn. 1 handelt es sich um „Sanktionen eigener Art mit schwerpunktmäßig strafrechtlichem Charakter"; ähnlich 4. Auflage S. 712. Zwischen den Rechtsfolgen nach Abs. 1 (Nebenfolgen) und denjenigen nach Abs. 2, 5 (Nebenstrafen) unterscheiden Dreher/Tröndle, § 45 Rdn. 2, 9; Lackner, § 45 Rdn. 2, 3; wohl auch Schönke/ Schröder/Stree, § 45 Rdn. 3, 4; gegen diese Differenzierung zutreffend Nelles, JZ 1991, 18.

5 Im Ergebnis ebenso Dreh er/Tröndle, § 45 Rdn. 9; Lackner, § 45 Rdn. 3; LK U (G. Hirsch) § 45 Rdn. 15; Schwarz, Aberkennung der Amtsfähigkeit S. 48; a.A. SK (Horn) § 45

Rdn. 12. 6 Für Streichung der Vorschrift Baumann/Weher, Allg. Teil S. 602 f.; Nelles, JZ 1991, 24; Schwarz, Aberkennung der Amtsfähigkeit S. 185 f.; wohl auch Schönke/Schröder/Stree, § 45 Rdn. 1 („fragwürdig und durchaus entbehrlich"). Auch im AE waren keine entsprechenden Sanktionen vorgesehen (Begründung S. 77). 7 Eingehend hierzu Schwarz, Aberkennung der Amtsfähigkeit S. 81 ff. 8 Manche dieser Regelungen verweisen allerdings als Voraussetzung auf die gerichtliche Aberkennung der Wählbarkeit usw., was bei einer Streichung von § 45 zu gesetzestechnischen Problemen führen könnte; vgl. Nelles, JZ 1991, 21. Zur Frage der Konkurrenz spezialgesetzlicher Regelungen mit § 45 siehe im einzelnen LK U (G. Hirsch) § 45 Rdn. 34 - 40. 9 10

SK CHorn) § 45 Rdn. 9. Dreher/Tröndle, § 45 Rdn. 2; LK U

(G. Hirsch) § 45 Rdn. 3 - 6; SK (Horn) § 45 Rdn. 3.

Rechtsanwälte sind von der Regelung nicht erfaßt, die Verurteilung führt bei ihnen aber nach § 14 II 2 BRAO zum Widerruf der Zulassung. 11 Mit Recht kritisch zur automatischen Verknüpfung der Verurteilung zu einjähriger Freiheitsstrafe mit dem Verlust der Wählbarkeit Jekewitz, G A 1977, 169.

I. D e r Verlust der Amtsfähigkeit, der Wählbarkeit u n d des Stimmrechts

787

Länderparlamenten und Gemeindevertretungen z.B. auch Wahlen zu den Organen der Sozialversicherung sowie der Industrie- und Handelskammern 12. Auch hier geht gleichzeitig die Stellung verloren, die der Verurteilte durch Wahl erlangt hatte (§ 45 IV). Dies gilt jedoch nicht für Mitglieder des Bundestages, da über den Verlust der Abgeordnetenstellung nur der Altestenrat des Bundestages entscheiden kann (§ 47 I Nr. 3 BWahlG). c) Die Dauer des Rechtsverlustes nach § 45 I beträgt immer fünf Jahre. In diese Frist wird allerdings eine Zeit nicht eingerechnet, während der der Täter eine wegen der Tat verhängte 13 Freiheitsstrafe oder freiheitsentziehende Maßregel verbüßt (§ 45 a II); wurde jedoch die Freiheitsstrafe oder die Maßregel zur Bewährung ausgesetzt, so ist die Bewährungszeit auf die Dauer der Statusfolge anzurechnen, sofern die (verbleibende) Strafe letztlich wegen erfolgreicher Bewährung (§ 56g) erlassen wird (§ 45 a I I I ) 1 4 . 4. a) Fakultativ ist die Aberkennung von Amtsfähigkeit und Wählbarkeit in den Fällen, in denen ein Straftatbestand diese Rechtsfolge ausdrücklich vorsieht (§ 45 II). Dies ist der Fall z.B. bei bestimmten Delikten gegen die Sicherheit und gegen wesentliche Einrichtungen des Staates (§§ 92 a, 101, 109i), bei Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung (§ 129 a VI) sowie bei Subventionsbetrug (§ 264 V I ) , wobei das Gesetz jeweils unterschiedliche Anforderungen an die Höhe der Hauptstrafe stellt. Nur die Fähigkeit zur Bekleidung öffentlicher Amter kann das Gericht entziehen, wenn es wegen eines Amtsdelikts eine Freiheitsstrafe von mindestens sechs Monaten verhängt (§ 358). Schließlich besteht noch die Möglichkeit, dem Täter das aktive Wahlrecht in öffentlichen Angelegenheiten befristet abzuerkennen, wenn er eine in §§ 108 c, 108e I I im einzelnen genannte Straftat gegen die Integrität öffentlicher Wahlen (z.B. Wählerbestechung oder Wahlfälschung) begangen hat und deshalb zu einer Freiheitsstrafe von mindestens sechs Monaten verurteilt wird. Dieselbe Nebenfolge ist auch bei den Staatsschutzdelikten (§§ 92 a, 101, 109i) vorgesehen, wo sie freilich noch weniger legitimiert ist: Selbst wenn man den Verlust des aktiven Wahlrechts für den Wahlfälscher als „spiegelnde Strafe" für akzeptabel hält, ist kein Grund dafür ersichtlich, daß etwa derje-nige, der den Bundespräsidenten verunglimpft hat, von der Beteiligung an demokratischen Wahlen ausgeschlossen wird (§§ 90, 92 a). b) Zu der Frage, in welcher Weise das Gericht von seinem Ermessen bei der Verhängung der Statusfolgen Gebrauch machen soll, schweigt das Gesetz. Maßgebend können daher nur der allgemeine Zweck der Nebenfolge (siehe oben § 75 I 1) sowie die Regelung des § 46 sein 15 . Danach dürfen Amts- und Wahlfähigkeit nur dann entzogen werden, wenn dies aufgrund der Schwere und des Charakters der Straftat notwendig ist, um die Gefahr abzuwenden, daß die Bevölkerung wegen einer weiteren bestimmenden Mitwirkung des Verurteilten am öffentlichen Leben das Vertrauen in die betroffenen staatlichen Institutionen verliert 16 . Der Schuld12

13

Dreher/Tröndle,

§ 45 Rdn. 3.

Verbüßt der Täter noch eine weitere Freiheitsstrafe wegen einer anderen Tat, so ist diese Zeit nach dem Wortlaut von § 45 a II nicht von der Dauer des Rechtsverlustes abzuziehen; LK 11

(G. Hirsch) § 45a Rdn. 4; Schönke/Schröder/Stree,

§ 45 a Rdn. 6. 14 Siehe hierzu LK n (G. Hirsch) § 45a Rdn. 10.

15 Dreher/Tröndle, § 45 Rdn. 9; Lackner, § 45 Rdn. 3; LK n Schönke/Schröder/Stree, § 45 Rdn. 4, 13.

§ 45a Rdn. 4; a.A. SK {Horn)

(G. Hirsch) § 45 Rdn. 15;

16 Im Einzelfall mögen auch spezialpräventive Erwägungen (z.B. Wiederholungsgefahr bei weiterer Innehabung des Amtes) eine Rolle spielen; zu Unrecht für eine ausschließliche Be-

50*

788

§ 75 D i e Nebenfolgen

grundsatz (§46 I 1) verlangt dann, daß der Eintritt der Statusfolge bei der Bemessung der Freiheitsstrafe strafmildernd berücksichtigt wird. 5. Nach § 45 b I besteht die Möglichkeit, die nach § 45 I, II, V verlorenen Wahlrechte sowie die Amtsfähigkeit (aber nicht eine frühere Amtsstellung 17) nach Ablauf der Hälfte der ursprünglich festgesetzten Frist wieder zu verleihen, wenn zu erwarten ist, daß der Verurteilte künftig keine vorsätzlichen Straftaten 18 mehr begehen wird. Diese Regelung ist mit der ratio des § 45 schwer zu vereinbaren, da der Eintritt der Statusfolgen keine Rückfallgefahr voraussetzt. Dennoch kann man die Möglichkeit, die Sperrfrist für die aktive Teilnahme am politischen Leben zu verkürzen, aus kriminalpolitischer Sicht begrüßen, da auf diese Weise für den Täter ein zusätzlicher Anreiz zu straffreiem Verhalten geschaffen wird 1 9 . II. Die Bekanntgabe der Verurteilung (§§ 103 II, 165, 200) Bei bestimmten Formen der Beleidigung (§§ 103 II, 200; ähnlich §§ 15, 23 I UWG) und der falschen Verdächtigung (§ 165) sieht das Gesetz als strafrechtliche Nebenfolge die öffentliche Bekanntmachung der Verurteilung vor 2 0 . Ähnliche Regelungen enthält das Nebenstrafrecht bei bestimmten Verletzungen von Urheberrechten (§111 UrhG, §142 V I PatG, §14 V I GMG, § 25 d V I WZG). Die Veröffentlichung der Verurteilung soll einerseits der Genugtuung und Rehabilitation des Verletzten dienen 21 ; deshalb ist sie im StGB nur für den Fall vorgesehen, daß die herabsetzende Äußerung öffentlich oder durch Verbreiten von Schriften kundgegeben wurde, und deshalb ist es Sache des Verletzten, die Anordnung und dann noch gesondert den Vollzug (vgl. § 463 c I I StPO) der Veröffentlichung zu beantragen. Andererseits stellt die Bekanntmachung den Verurteilten öffentlich bloß und enthält so ein zusätzliches Element der Bestrafung 22. In ein modernes Konzept des Strafrechts, das auf Resozialisierung ausgerichtet ist, paßt eine solche „Prangerstrafe" nicht, zumal sie auf relativ leicht wiegende Straftaten (z.B. §§ 164, 185) beschränkt ist 2 3 . Da das Zivilrecht dem in seiner Ehre Verletzten in den meisten hier relevanten Fällen ohnehin einen Anspruch auf Widerruf rücksichtigung präventiver Erwägungen jedoch SΚ (Horn) § 45 Rdn. 12; gegen jede Bindung an den Schuldgrundsatz Bockelmann /Volk, Allg. Teil S. 230; für dessen nur eingeschränkte Wirkung 4. Auflage S. 713 f. 17

Dreher/Tröndle,

§ 45b Rdn. 1; LK n

(G. Hirsch) § 45b Rdn. 1; SK (Horn) § 45b

Rdn. 2. 18 Entgegen der herrschenden Meinung kann die Gefahr irgendwelcher vorsätzlicher Straftaten der Wiedererteilung der Befugnisse nicht entgegenstehen; gerechtfertigt ist deren Verweigerung nur dann, wenn solche Vorsatztaten befürchtet werden müssen, die erneut die Sanktion des § 45 auslösen würden. 19 Als Mittel der Resozialisierung wird § 45b auch verstanden bei LK U (G. Hirsch) § 45b Rdn. 6; Sturm, JZ 1970, 84.

20 Die Art der Bekanntmachung ist im Urteil festzulegen (§ 200 II 1). Sie soll hinsichtlich des Adressatenkreises und der Offentlichkeitswirkung etwa der abgeurteilten Tat entsprechen; Dreher/Tröndle, § 200 Rdn. 5; Schönke/Schröder/Lenckner, § 165 Rdn. 9; siehe auch BGH 10, 306 (310 - 312). 21 Auf diese Funktion beschränken die Urteilsbekanntgabe Dreh er/Tröndle, § 200 Rdn. 1;

LK 10 22

(Tröndle)

Vorbem. 38 vor § 38; Schönke/Schröder/Lenckner,

§ 165 Rdn. 1.

Als „strafähnliche Nebenfolge" wird die Bekanntmachung daher bezeichnet bei Lack-

ner/Kühl, § 200 Rdn. 1, als „Nebenstrafe" bei SK (Rudolphi) § 200 Rdn. 1. 23

M i t Recht kritisch Schomburg,

Z R P 1986, 65.

I I . D i e Bekanntgabe der Verurteilung (§§ 103 I I , 165, 200)

789

24

bietet , kann man daher auf die strafrechtliche Nebenfolge der Urteilsbekanntmachung ohne Schaden verzichten 25 . § 76 Verfall und Einziehung Dessecker, Gewinnabschöpfung im Straf recht und in der Strafrechtspraxis, 1991; Eser, Die strafrechtlichen Sanktionen gegen das Eigentum, 1969; derselbe, Zum Eigentumsbegriff im Einziehungsrecht, JZ 1972, 146; derselbe, Neue Wege der Gewinnabschöpfung im Kampf gegen die organisierte Kriminalität? Festschrift für W. Stree und J. Wessels, 1993, S. 833; Franzheim, Der Verfall des Vermögensvorteils in Umweltstrafsachen, wistra 1989, 87; Gilsdorf\ Die verfassungsrechtlichen Schranken der Einziehung, JZ 1958, 641, 685; Göhler, Die neue Regelung zum Verfall im StGB und OWiG, wistra 1992, 133; Güntert, Die Gewinnabschöpfung als strafrechtliche Sanktion, 1983; Heckmann, Die Einziehung verdächtigen Vermögens, ZRP 1995, 1; Hoy er, Der Konflikt zwischen richterlicher Beweiswürdigungsfreiheit und dem Prinzip „in dubio pro reo", ZStW 105 (1993) S. 523; derselbe, Die Rechtsnatur des Verfalls angesichts des neuen Verfallsrechts, GA 1993, 406; Kaiser, Gewinnabschöpfung als kriminologisches Problem und kriminalpolitische Aufgabe, Festschrift für H. Tröndle, 1989, S. 685; Katholnigg, Die Neuregelungen beim Verfall, JR 1994, 353; }. Meyer/Dessecker/ Smettan (Hrsg.), Gewinnabschöpfung bei Betäubungsmitteldelikten, 1989; Κ Meyer, Anmerkung zu BGH 24, 222, JR 1972, 385; von Münch/Kunig (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. 1, 4. Auflage 1992; Perron, Vermögensstrafe und Erweiterter Verfall, JZ 1993, 918; R. Schmitt, Aktivierung des „Verfalls"! Gedächtnisschrift für P. Noll, 1984, S. 295; Weßlau, Neue Methoden der Gewinnabschöpfung? StV 1991, 226. Durch die Institute des Verfalls (§§ 73 - 73 e) und der Einziehung (§§ 74 - 75) wird die Möglichkeit geschaffen, dem Täter - unter bestimmten Voraussetzungen auch einem Dritten - Vermögensgegenstände zu entziehen, die durch eine enge Verbindung mit der Straftat gekennzeichnet sind. Es kann sich dabei um Sachen handeln, die der Täter zur Ausführung der Tat verwendet hat, oder um Gegenstände, die durch die Straftat hervorgebracht worden sind (§ 74 I), aber auch um den Gewinn, den der Täter aus seinem rechtswidrigen Verhalten gezogen hat (§ 73). I m letztgenannten Fall greift der Verfall ein, in den ersten beiden Fällen die Einziehung. Die Zweckrichtung dieser beiden miteinander verwandten Rechtsinstitute ist nicht einheitlich. In erster Linie geht es um die Abschöpfung unrechtmäßig erlangter Vorteile und damit mittelbar auch um Deliktsprävention („crime doesn't pay"); daneben soll aber auch die Allgemeinheit vor gefährlichen Gegenständen (z.B. Waffen, Drogen, Falschgeld) geschützt werden (vgl. § 74 I I Nr. 2). Die Einordnung von Verfall und Einziehung in die Systematik der Sanktionen 1 ist überaus schwierig, da jedes der beiden Institute strafende, präventive und sonstige (z.B. kondiktionsähnliche) Elemente enthält, wobei sich der Schwerpunkt je nach dem betroffenen Objekt und den Gründen der Anordnung verschieben kann. Der Gesetzgeber bezeichnet Verfall und Einziehung neutral als „Maßnahmen" ( § 1 1 1 Nr. 8); damit soll wohl zum Ausdruck gebracht werden, daß es sich weder um Strafen noch um Maßregeln der Besserung und Sicherung, sondern um eine eigenständige Gruppe von Sanktionen handelt. Die Frage, unter welchen Voraussetzungen Verfall und Einziehung im Einzelfall angewandt werden dürfen, läßt sich jedoch nicht ohne Rücksicht auf ihre Rechtsnatur beantworten; diese wird daher im folgenden noch näher zu erörtern sein. 24

Siehe Palandt/Thomas, Vorbem. 27 - 32 vor § 823 m. w.N. Jedenfalls gegen eine Ausdehnung der Sanktion auf weitere Tatbestände Schöch, Gutachten C zum 59. DJT S. C 95 Fußnote 100 sowie die Beschlüsse des 59. DJT, Sitzungsbericht 0 S. 0 191. 1 Siehe hierzu zusammenfassend Schönke/Schröder/Eser, Vorbem. 12-19 vor § 73. 25

790

§ 76 Verfall u n d Einziehung

I. Der Verfall (§§ 73 - 73 e) 1. Durch den Verfall soll dem Täter dasjenige entzogen werden, was er durch die Straftat erlangt hat. Erfaßt sind von § 73 I 1 sowohl der aus der Tat unmittelbar gezogene Gewinn (z.B. der Erlös aus einem Drogenverkauf) als auch die Belohnung, die der Täter für die Ausführung der Tat von einem Dritten erhalten hat. Der Verfall hat also die Aufgabe der Gewinnabschöpfung - eine Aufgabe, die die Geldstrafe wegen ihrer Verknüpfung mit dem Einkommen des Täters (§ 40 II) in der Regel nicht leisten kann 2 . 2. Der Verfall ist nach § 73 unter folgenden Voraussetzungen anzuordnen: a) Der Täter muß eine rechtswidrige Tat i.S.v. § 11 Nr. 5 begangen haben. Der Täter kann also auch ohne Schuld (z.B. wegen §§ 17, 20, 35) gehandelt haben3. Auf die Art oder Schwere der Tat kommt es nicht an. b) Der Täter muß durch oder für die Tat unmittelbar einen materiellen Vorteil („etwas") erlangt haben. Als Vorteile sind nicht nur Sachen und Rechte, sondern auch faktische Nutzungsmöglichkeiten (z.B. an einem entwendeten PKW) und ersparte Aufwendungen (z.B. bei umweltgefährdender Abfallbeseitigung nach § 3264) anzusehen. Daß der Täter das Erlangte nicht mehr in Besitz hat, schließt die Anordnung des Verfalls nicht aus; in diesem Fall hat das Gericht die Wahl, entweder ein für die weitergegebene Sache erlangtes Surrogat (§ 73 I I 2) oder einen Geldbetrag, der dem Wert des Erlangten entspricht (§ 73 a) 5 , für verfallen zu erklären 6. Beispiel: Gerät der Betrüger mit dem durch Täuschung erlangten PKW in einen Verkehrsunfall und wird das Auto dabei zerstört, so erfaßt der Verfall die Versicherungssumme, die der Täter aufgrund des Unfalls erhalten hat (§ 73 II 2), oder einen Geldbetrag, der dem ursprünglichen Wert des Wagens entspricht (§ 73 a). Auf „Wegfall der Bereicherung" kann sich der Täter nicht berufen (siehe allerdings § 73 I 2). Der Vorteil muß dem Täter grundsätzlich selbst zugeflossen sein; bei Sachen muß er Eigenbesitz erlangt haben (BGH 36, 251 [253 f.]) 7 . Ausnahmsweise kann der Verfall auch gegen Dritte angeordnet werden: zum einen dann, wenn der Täter für den Dritten gehandelt8 und dieser den Vorteil sogleich erlangt hat (§ 73 III); 2

Siehe jedoch § 41 (kumulative Geldstrafe) und § 43 a (Vermögensstrafe); letztere ist allerdings gegenüber dem Verfall subsidiär (§ 43 a I 2). Im Ordnungswidrigkeitenrecht übernimmt die Geldbuße auch die Aufgabe der Gewinnabschöpfung (§§ 17 IV, 30 III OWiG); die Einrichtung des Verfalls existiert dort nur für die Fälle, in denen eine Geldbuße nicht verhängt werden kann (§ 29a OWiG). Zu den Möglichkeiten der Gewinnabschöpfung im ausländischen Recht eingehend J. Meyer/Dessecker/Smettan (Hrsg.), Gewinnabschöpfung, 1989. 3 Wenn nur vorsätzliche Begehungsweise unter Strafe steht, muß der Täter allerdings vorsätzlich gehandelt haben; Dre h er/Tröndle, § 73 Rdn. 2; LK 10 (Schäfer) § 73 Rdn. 8; SK (Horn) § 73 Rdn. 6. 4

Siehe hierzu Franzheim, wistra 1989, 87. Wertersatz nach § 73 a muß auch dann geleistet werden, wenn das Erlangte in einem bloßen Gebrauchsvorteil oder in ersparten Aufwendungen besteht. 6 Von einer dieser beiden Möglichkeiten muß das Gericht Gebrauch machen, wenn die sonstigen Voraussetzungen des Verfalls vorliegen (beachte jedoch § 73c I 2); SK (Horn) § 73 Rdn. 12. 5

7

Dreher/Tröndle,

§ 73 Rdn. 3b; Schönke/Schröder/Eser,

§ 73 Rdn. 11; SK (Horn) § 73

Rdn. 13; a.A. (Eigentumserwerb notwendig) BGH 31, 145 (148); Eberbach, NStZ 1987,

488 f.; NK CHerzog) § 73 Rdn. 7.

8 Dabei braucht der Dritte nicht an der Tat beteiligt, sondern kann auch vollkommen gutgläubig sein; Lackner, § 73 Rdn. 9; SK (Horn) § 73 Rdn. 14. Auch eine Stellvertretung i.S.v. §§ 164 ff. BGB ist nicht erforderlich, sondern es reicht faktisches Handeln des Täters zugun-

I. D e r Verfall (§§ 73 - 7 3 e)

791

zum anderen dann, wenn der Dritte noch Eigentümer des Gegenstandes ist, er ihn dem Täter aber für die Tat oder in Kenntnis der Tatumstände „gewährt" hat (§ 73 IV) 9 . „Dritter" kann auch eine juristische Person oder eine Personenvereinigung sein. Ein betroffener Dritter ist nach § 442 I I StPO am Strafverfahren zu beteiligen, damit er seine Rechte geltend machen kann. 3. Gegenstand des Verfalls ist das, was der Täter (oder in den Fällen von § 73 I I I der Dritte) erlangt hat. Bis 1992 setzte man den damals im Gesetz als „Vermögensvorteil" bezeichneten Verfallsgegenstand mit dem Nettogewinn gleich, den der Täter aus der Tat gezogen hatte (BGH 28, 369; 30, 46 [51 f.]; B G H NStZ 1988, 496); dies hatte zur Folge, daß die Aufwendungen des Täters (z.B. der Kaufpreis für das erworbene Rauschgift) und seine mit der Tat verbundenen Unkosten (z.B. der Preis für die Bahnfahrt zum Tatort) bei der Ermittlung des Verfallsgegenstandes abgezogen werden mußten 10 . Durch die Ersetzung des Wortes „Vermögensvorteil" durch das neutrale „etwas" zur Bezeichnung des Verfallsgegenstandes 1 im Jahre 1992 hat der Gesetzgeber demgegenüber das „Bruttoprinzip" eingeführt; danach muß der Täter alles Erlangte ohne Rücksicht auf seine Aufwendungen herausgeben (BGH NStZ 1994, 123) 2 . Diese Änderung hat weitreichende Folgen für die Bestimmung des Rechtscharakters des Verfalls (siehe unten § 76 I 5). Dem Verfall unterliegt grundsätzlich nur dasjenige, was unmittelbar aus der Tat oder für sie erlangt wurde. Er erstreckt sich allerdings auch auf die gezogenen Nutzungen (§ 73 I I 1), z.B. auf die Mieterträge aus einem unrechtmäßig erworbenen Wohnhaus. Außerdem können, wie erwähnt, auch Surrogate, die an die Stelle eines nicht mehr beim Täter vorhandenen Gegenstandes getreten sind, für verfallen erklärt werden (§ 73 I I 2). Wert und Umfang des Erlangten kann das Gericht schätzen, wenn das gebotene Bemühen um Aufklärung zwar eine hinreichende Grundlage für die Schätzung (BGH NStZ 1989, 361), aber kein eindeutiges Ergebnis erbracht hat oder verspricht (S 73 b) 1 3 . 4. Auch wenn die Voraussetzungen des Verfalls gegeben sind, hat er in zwei Fällen zu unterbleiben: a) Er darf insoweit nicht angeordnet werden, als er für den Betroffenen eine „unbillige Härte" darstellen würde (§ 73c I 1). Diese Einschränkung ist notwendig, um die sonst zwingende Anordnung des Verfalls mit dem allgemeinen Ubermaßverbot in Einklang zu bringen 14 . Eine „unbillige Härte" kann vor allem dann vor§ 73 Rdn. 13; LK 10 (Schäfer) § 73 Rdn. 41; Schönke/ sten des Dritten aus; Dreher/Tröndle, Schröder/Eser, § 73 Rdn. 36; a.A. NK (Herzog) § 73 Rdn. 25. In beidem zeigt sich die Strenge des staatlichen Durchgriffs auf die Früchte von Straftaten. 9 Der Täter wird in diesen Fällen in der Regel ohnehin Eigenbesitz an dem betroffenen Gegenstand haben; § 73 IV hat daher vor allem die Funktion, dem Gericht die genaue Aufklärung der Eigentumsverhältnisse zu ersparen; vgl. Dreher/Tröndle, § 73 Rdn. 14; SK (Horn) § 73 Rdn. 21; zu Einzelheiten siehe Schönke/Schröder/Eser, § 73 Rdn. 39 - 43. 10 Siehe hierzu die Kritik bei Katholnigg, JR 1994, 355 f. 11 Kritisch Göhler, wistra 1992, 135 f. 12 BT-Drucks. 12/1134 S. 12; siehe dazu Dessecker, Gewinnabschöpfung S. 362; Dreher/ Tröndle, § 73 Rdn. 3 a (die zu Unrecht bezweifeln, daß das Bruttoprinzip in § 73 hinreichend deutlich zum Ausdruck komme); SK (Horn) § 73 Rdn. 5. 13 Siehe NK (Herzog) § 73b Rdn. 2; Schönke/Schröder/Eser, § 73 b Rdn. 6 („Notbehelf mangels besserer Ermittlungsmöglichkeiten"). 14

Eberbach, NStZ 1987, 489; NK (Herzog) § 73c Rdn. 1; Schönke/Schröder/Eser,

Rdn. 1.

§ 73c

792

§ 76 Verfall u n d Einziehung

liegen, wenn der Täter das ursprünglich Erlangte ohne Gegenleistung weitergegeben oder verloren hat (vgl. § 73 c I 2)15. b) Von weit größerer praktischer Bedeutung ist der Ausschluß des Verfalls in all den Fällen, in denen dem Verletzten aus der Tat ein Anspruch erwachsen ist, der sich auf das Objekt des Verfalls richtet (§ 73 I 2). Hier kommt es nicht darauf an, ob der Verletzte seinen Herausgabe- oder Ersatzanspruch (etwa aus § 823 oder § 985 BGB) gegen den Täter tatsächlich geltend macht, sondern schon das bloße Bestehen des Anspruchs schließt die Anordnung des Verfalls aus 16 . Diese Regelung will zum einen eine Benachteiligung des Verletzten durch den raschen Zugriff des Staates auf den deliktischen Gewinn verhindern, zum anderen den Täter vor doppelter Inanspruchnahme schützen17. Wenn diese Zielsetzung auch berechtigt ist, so sorgt § 73 I 2 doch dafür, daß das Rechtsinstitut des Verfalls bei der großen Mehrzahl der praktisch vorkommenden Straftaten, nämlich bei den gegen Individuen 18 gerichteten Eigentums- und Vermögensdelikten, leerläuft 19 . Bei der notwendigen Reform der gesamten Materie müßte daher in diesem Punkt eine andere Lösung gefunden werden. 5. Hinsichtlich der Rechtsnatur des Verfalls wurde während der Geltung des „Nettoprinzips" (siehe oben § 76 I 3) überwiegend angenommen, es handle sich um eine „quasi-kondiktionelle Ausgleichsmaßnahme ff2 0, die dem Täter die ungerechtfertigte Bereicherung auch in den Fällen entzieht, in denen kein individueller Anspruchsteller vorhanden ist (sonst hat dieser nach § 73 I 2 Vorrang). Nach der Neufassung des § 73 I 1 soll dem Täter durch den Verfall jedoch mehr genommen werden als er durch das Delikt tatsächlich gewonnen hat. Beispiel: Ein Geldfälscher wendet 5000 DM auf, um „Blüten" herzustellen, die er für 10000 DM verkauft. Werden die 10000 DM insgesamt für verfallen erklärt, so hat der Täter einen wirtschaftlichen Gesamtverlust von 15000 DM; seine Netto-Bereicherung aus dem Geschäft hätte dagegen nur 5000 DM betragen. 15 16

17

Weitere Beispielsfälle bei LK 10 (Schäfer) Dreher/Tröndle,

§ 73c Rdn. 5; SK (Horn) § 73c Rdn. 4.

§ 73 Rdn. 4; NK (Herzog) § 73 Rdn. 17; SK (Horn) § 73 Rdn. 19.

Eser, Die strafrechtlichen Sanktionen S. 294 ff.; LK 10 (Schäfer)

§ 73 Rdn. 21, 25; NK

(Herzog) § 73 Rdn. 16.

18 Nach herrschender Meinung zählt auch die Staatskasse zu den „Verletzten", deren An§ 73 Rdn. 5; sprüche dem Verfall vorgehen; LG Berlin NStZ 1991, 437; Dreh er/Tröndle,

Lackner, § 73 Rdn. 6; NK (Herzog) § 73 Rdn. 18; Schönke/Schröder/Eser,

§ 73 Rdn. 26;

einschränkend SK (Horn) § 73 Rdn. 17. Bei Beamtenbestechung ist allerdings der Fiskus nicht „Verletzter", so daß hier § 73 I 2 nicht eingreift (BGH 30, 46 [47 f.]). 19 Die praktische Bedeutung des Verfalls ist erstaunlich gering: Im Jahre 1991 wurde er nur in 434 Fällen angeordnet (Statistisches Bundesamt, Rechtspflege, Reihe 3: Strafverfolgung 1991, 1993, S. 67). Eherhach, NStZ 1987, 491 spricht von § 73 I 2 als „Totengräber des Verfalls". Zu weiteren Gründen der seltenen Anwendung siehe Güntert, Die Gewinnabschöpfung S. 91 ff.; Hoy er, G A 1993, 408 f. Auf einem Umweg kann dem Täter allerdings auch dann der Gewinn entzogen werden, wenn Ansprüche von Verletzten bestehen (aber nicht geltend gemacht werden): Nach § 111b IV StPO kann im Strafverfahren die vorläufige Sicherstellung möglicher Verfallsgegenstände auch dann angeordnet werden, wenn die Voraussetzungen von § 73 I 2 vorliegen. Meldet sich der Verletzte auch nach Rechtskraft des Urteils (vgl. § l l l i StPO) nicht, so wird der sichergestellte Gegenstand wie eine Fundsache versteigert, wobei der Erlös letztlich an den Fiskus fällt (§ 983 i.V.m. §§ 979, 981 I BGB; siehe hierzu Nr. 75 V RiStBV sowie LK 10 [Schäfer] § 73 Rdn. 26 - 29; R. Schmitt, Noll-Gedächtnisschrift S. 301). 20 Grundlegend Eser, Die strafrechtlichen Sanktionen S. 284ff.; siehe auch Eberbach, NStZ 1987, 489 f.; Lackner, § 73 Rdn. 1; R. Schmitt, Noll-Gedächtnisschrift S. 296; Schönke/

Schröder/Eser,

Vorbem. 18 vor § 73.

I. D e r Verfall (§§ 73 - 73 e)

793

Soweit dem Täter mehr als die Netto-Bereicherung entzogen wird, erhält der Verfall unzweifelhaft den Charakter einer Zusatzstrafe 1 . Dies führt jedoch zu gravierenden Problemen mit dem Schuldgrundsatz, da § 73 nur die Begehung einer rechtswidrigen Tat, nicht auch die Schuld des Täters voraussetzt. W i l l man den neugefaßten § 73 nicht insgesamt wegen Verletzung des Schuldgrundsatzes für verfassungswidrig erklären 22 oder im Gegensatz zum erklärten Willen des Gesetzgebers das Netto-Prinzip beibehalten 23 , so bleibt nur eine „gespaltene Lösung" 4 : Hat der Täter schuldhaft gehandelt, so wird als zusätzliche Strafe - unter den Voraussetzungen von § 14 auch bei dem vertretenen Dritten - der Bruttogewinn aus der Tat für verfallen erklärt; diese Zusatzbelastung ist bei der Bemessung der Freiheits- oder Geldstrafe zugunsten des Täters in Anrechnung zu bringen. Hat der Täter nicht schuldhaft gehandelt oder wird der Verfall (etwa nach § 73 III) zum Nachteil eines Tatunbeteiligten ausgesprochen, so verbietet es der Schuldgrundsatz, mehr als den Netto-Gewinn für verfallen zu erklären; der Verfall ist dann also auf die tatsächlich gezogenen Vorteile abzüglich der Aufwendungen zu beschränken. 6. In der Absicht, Verbrechensgewinne aus dem Bereich der „Organisierten Kriminalität" umfassender abzuschöpfen, hat der Gesetzgeber im Jahre 1992 die Möglichkeit des Verfalls unter bestimmten Voraussetzungen auf Erträge erstreckt, die aus einer anderen als der abgeurteilten Tat stammen (Erweiterter Verfall, § 73 d). Dieses Rechtsinstitut soll der Situation gerecht werden, daß bei einem Täter Vermögensgegenstände (insbesondere Bargeld oder Bankkonten) gefunden werden, für deren Herkunft sich angesichts des geringen Ausmaßes seiner legalen Einkünfte die Annahme aufdrängt, daß sie aus Straftaten stammen (vgl. BT-Drucks. 12/989 S. 23). Wenn dann das vom Täter begangene Delikt dessen Verstrickung in die „Organisierte Kriminalität" anzeigt, soll sich der (Erweiterte) Verfall auch auf die gefundenen Vermögensgegenstände erstrecken. Diese Möglichkeit besteht allerdings nur dann, wenn der Täter rechtswidrig einen Tatbestand verwirklicht hat, der ausdrücklich auf § 73 d verweist. Solche Verweisungen finden sich vor allem im Betäubungsmittelstrafrecht (§ 33 I BtMG) sowie bei anderen gewerbs- oder bandenmäßig begangenen Delikten, die als typische Erscheinungsformen der „Organisierten Kriminalität" angesehen werden, wie z.B. Geldfälschung (§ 150 I), Menschenhandel (S 181c) sowie Bandendiebstahl und -hehlerei (§§ 244 I I I , 260 I I I ) 2 5 . a) Nach dem Wortlaut von § 73 d I 1 ist der Erweiterte Verfall nur an zwei Voraussetzungen gebunden: Der Täter muß rechtswidrig (nicht notwendig schuldhaft!) einen der auf § 73 d verweisenden Straftatbestände (Anlaßtat) verwirklicht haben, und es müssen „die Umstände die Annahme rechtfertigen", daß ein Gegenstand, der bei dem Täter aufgefunden w i r d 2 6 , für oder aus dieser oder einer anderen rechtswidrigen Tat (Herkunftstat) erlangt worden ist. Beispiel: Der Täter wird wegen unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln im Wert von 5000 DM abgeurteilt. Das Gericht nimmt angesichts der Tatsache, daß der Täter nur Sozialhilfe bezieht, an, daß ein in seiner Wohnung aufgefundener Geldbetrag von 50000 21 Ebenso Dreher/Tröndle, § 73 Rdn. lc; Eser, Stree-Wessels-Festschrift S. 843 f.; Hoyer, GA 1993, 414f.; Lackner, § 73 Rdn. 4b; NK (Herzog) Vorbem. 8 vor § 73; SK (Horn) § 73 Rdn. 5. 22 Das vertritt Eser, Stree-Wessels-Festschrift S. 835. 23 Für diese Lösung NK (Herzog) § 73 Rdn. 14. 24 Dafür schon nach früherem Recht M aurach / Gössel/ Zipf Allg. Teil II § 61 Rdn. 15; § 73 Rdn. 3a; Hoyer, GA 1993, 421 f.; Lackner, § 73 Rdn. 4b, ähnlich jetzt Dreher/Tröndle, 4 c; SK (Horn) § 73 Rdn. 5, 7 (der mit der Anwendung von § 73 c helfen will). 25 Vollständige Übersicht bei Dreher/Tröndle, § 43a Rdn. 5, § 73d Rdn. 6. 26

D e r Gegenstand kann auch i m E i g e n t u m eines D r i t t e n stehen; vgl. § 73 d I 2.

794

§ 76 Verfall u n d Einziehung

DM ebenfalls aus Rauschgiftgeschäften stammt (vgl. BGH 40, 371). Der Erweiterte Verfall ist nach dem Wortlaut von § 73 d in diesem Fall auch dann anzuordnen, wenn der Täter wegen Geisteskrankheit schuldunfähig (§ 20) war. b) Objekt des Erweiterten Verfalls ist jeder Gegenstand, auf den sich die Annahme des deliktischen Erwerbs bezieht, einschließlich Nutzungen und Surrogaten (§ 73 d I 3 i.V.m. § 73 II). Kann der Gegenstand selbst nicht mehr herausgegeben werden, so muß der Täter Wertersatz leisten (§ 73d I I i.V.m. § 73a). Unverständlicherweise hat der Gesetzgeber beim Erweiterten Verfall die bestehenden Rechte individueller Verletzter unberücksichtigt gelassen27; wenn die Voraussetzungen von § 73 d I erfüllt sind, erwirbt der Staat also auch an solchen Gegenständen Eigentum (vgl. § 73 e I 1), bezüglich derer der Geschädigte einen Rückübertragungsanspruch (etwa nach § 812 BGB) besitzt. c) Die Vorschrift über den Erweiterten Verfall ist in mehrfacher Hinsicht der Kritik ausgesetzt. Zunächst schießt sie dadurch über das Ziel hinaus, daß der Erweiterte Verfall nach dem Wortlaut von § 73 d I 1 auch solche Gegenstände erfaßt, die der Täter nicht durch eine „organisierte", sondern durch eine beliebige private Straftat erlangt hat 2 8 ; die Erstreckung des Verfalls etwa auf eine Geldsumme, die aus einem spontanen Taschendiebstahl des Drogenhändlers stammt, kann mit dem Ziel, gerade die „Organisierte Kriminalität" zu bekämpfen, nicht gerechtfertigt werden. Hinsichtlich der Mißachtung des Schuldgrundsatzes gilt dasselbe wie beim Verfall (siehe oben § 76 I 5): Da und soweit auch für den Erweiterten Verfall das „Bruttoprinzip" gelten soll, ist dieser eine strafende Sanktion und darf daher nur bei schuldhafter Begehung sowohl der Anlaßtat als auch der Herkunftstat (da der Täter ja gerade wegen deren Begehung über den Netto-Gewinn hinaus in Anspruch genommen werden soll) angeordnet werden 29 . Die weitgehende Beeinträchtigung des Eigentumsgrundrechts (Art. 14 GG) des Täters oder des Dritten (in den Fällen von § 73 d I 2) läßt sich allenfalls damit legitimieren, daß die deliktisch erworbenen Gegenstände, unabhängig von der zivilrechtlichen Rechtslage, von vornherein nicht als gegenüber staatlichem Zugriff geschütztes „Eigentum" i.S.v. Art. 14 I G G angesehen werden. Der Staat kann zwar durch seine Gesetzgebung solche Exklaven auf dem Gebiet des grundrechtlichen Eigentumsschutzes schaffen 30, doch ist dies nur dann zulässig, wenn der Zugriff auf bestimmte private Gegenstände zum Schutz wichtiger Gemeinschaftsinteressen geeignet und erforderlich, nicht durch mildere Eingriffe zu ersetzen und überdies gegenüber dem Betroffenen verhältnismäßig ist 3 1 . Diese Voraussetzungen mögen 27 § 73 I 2 ist in § 73 d nicht für entsprechend anwendbar erklärt; Lackner, § 73 d Rdn. 3, § 73d Rdn. 5. 11; dennoch für analoge Anwendung Dreher/Tröndle, 28 Vgl. NK (Herzog) § 73 d Rdn. 8. SK (Horn) § 73 Rdn. 6 scheint die Vorschrift sinnvoll (aber entgegen ihrem Wortlaut) so zu verstehen, daß auch die Herkunftstat eine solche sein muß, deren Tatbestand auf § 73 d verweist. 29 Ebenso Lackner, § 73 d Rdn. 4; siehe auch Weßlau, StV 1991, 231. Der mit dem Erweiterten Verfall verbundene Vermögensnachteil ist bei der Strafbemessung zugunsten des Täters zu berücksichtigen (and. BGH NJW 1995, 2235). 30 Grundlegend zur eigenständigen öffentlich-rechtlichen Bestimmung des Eigentums BVerfGE 58, 300 (335 f.). Die Erklärung des Eigentumsverlustes bei §§ 73, 74 durch den Gedanken der „Verwirkung" wegen Mißbrauchs des Eigentumsrechts (so Eser, Die strafrechtlichen Sanktionen S. 148 ff., 181 ff.; ihm folgend Weßlau, StV 1991, 229), der in bezug auf die durch Straftat erworbenen Vermögensgegenstände ohnehin nicht sehr einleuchtend war, dürfte damit überholt sein. 31 Siehe BVerfGE 58, 300 (339); von Münch/Kunig/Bryde, GG-Kommentar Art. 14 Rdn. 11 f., 59; Papier, in: Maunz/Dürig, Art. 14 Rdn. 311 (Parallele zur Stufentheorie bei Art. 12 GG).

I. D e r Verfall (§§ 73 - 73 e)

795

bei dem (einfachen) Verfall (§ 73) und bei der Strafeinziehung (§ 74 I I Nr. 1; siehe aber unten § 76 I I 3 Fußnote 43) erfüllt sein, da und soweit die Belassung deliktischer Gewinne beim Täter einen Anreiz zur Straftatbegehung schaffen und damit generalpräventiven Notwendigkeiten entgegenarbeiten würde. Ob dies auch für die Erstreckung des Verfalls auf delikts/remde Gegenstände gilt, ist jedoch sehr zweifelhaft, da keine verwertbaren Erkenntnisse über einen zusätzlichen Abschrekkungseffekt dieser Maßnahme vorliegen 32 . Ins Auge springt bei § 73 d I 1 die Absenkung der Beweisanforderungen hinsichtlich der Begehung der Herkunftstat durch den Verurteilten und hinsichtlich des Entstammens des Verfallsgegenstandes aus der Herkunftstat: In bezug auf beide Voraussetzungen verlangt das Gesetz nur, daß „die Umstände die Annahme rechtfertigen". Dies ist mit Recht als ein Verstoß gegen den Grundsatz „in dubio pro reo" gerügt worden 33 . Offensichtlich ist die Unvereinbarkeit mit dem Zweifelssatz insoweit, als der Erweiterte Verfall (bei Anwendung des Brutto-Prinzips) eine Strafe darstellt. Aber auch soweit der Erweiterte Verfall nur den Netto-Gewinn erfaßt und daher „quasi-kondiktionellen" Charakter hat, bleibt er eine im Strafverfahren wegen einer Straftat verhängte Sanktion und unterliegt daher den strengen Beweisanforderungen der StPO 34 . Die Rechtsprechung hat daher den Wortlaut von § 73 d I 1 mit Recht durch verfassungskonforme Auslegung dahin korrigiert, daß die Anordnung des Erweiterten Verfalls die „uneingeschränkte richterliche Uberzeugung" von der deliktischen Herkunft der Gegenstände voraussetzt (BGH 40, 371 [373]). Damit schwindet allerdings der vom Gesetzgeber offenbar gewünschte Vorteil problemloser Anwendung des Rechtsinstituts: Das Gericht muß nunmehr überzeugt sein, daß der Täter die Anlaßtat begangen und einen auf § 73 d verweisenden Herkunftstatbestand verwirklicht hat sowie ferner, daß der Verfallsgegenstand aus dieser Herkunftstat stammt. Ist die Schuld des Täters hinsichtlich der Anlaß- oder der Herkunftstat nicht bewiesen, so darf nur der Netto-Gewinn für verfallen erklärt werden. Ungeachtet dieser Einschränkungen bleibt § 73 d in prozessualer Hinsicht problematisch, da der Anklagegrundsatz (§ 155 I StPO) mißachtet wird: Da der Erweiterte Verfall Gegenstände aus einer Vielzahl von Straftaten erfassen kann, mutet der Gesetzgeber dem Angeklagten zu, sich gegen den Vorwurf der Begehung von Delikten zu verteidigen, die die allein auf die Anlaßtat bezogene Anklage in keiner Weise zu konkretisieren braucht; der Gegenstand des Strafverfahrens wird damit uferlos, eine Verteidigung - außer durch den aktiven Nachweis legaler Herkunftsquellen - so gut wie unmöglich. Insgesamt mag das Institut des Erweiterten Verfalls kriminalistische Interessen befriedigen; es paßt aber nicht in das einzeltatbezogene System des deutschen Straf- und Strafprozeßrechts, ist verfassungsrechtlich zweifelhaft und sollte daher wieder gestrichen werden. 32

Hierzu eingehend Kaiser, Tröndle-Festschrift S. 690 - 704; Perron, JZ 1993, 920 - 925. H.-J. Albrecht, in: J. Meyer/Dessecker/Smettan (Hrsg.), Gewinnabschöpfung S. 60f.; Dessecker, Gewinnabschöpfung S. 359; Dreher/Tröndle, § 73d Rdn. 4; Weßlau, StV 1991, 232. Die Unschuldsvermutung als solche ist durch die Regelung nicht verletzt, da die Unschuldsvermutung nichts über das Beweismaß aussagt, mit dem sie widerlegt werden kann; vgl. Hoyer, ZStW 105 (1993) S. 538. 34 Mit unterschiedlichen Argumenten versucht man im Schrifttum die „Strafähnlichkeit" des Erweiterten Verfalls zu begründen; vgl. Heckmann, ZRP 1995, 2f.; Hoyer, GA 1993, 413, 421; Weßlau, StV 1991, 230-232. Darauf kommt es jedoch gar nicht entscheidend an, denn auch bei Maßregeln der Besserung und Sicherung, die keine Schuldfeststellung voraussetzen, käme niemand auf den Gedanken, für deren Anordnung die bloße „Annahme" ihrer Anordnungsvoraussetzungen ausreichen zu lassen. 33

796

§ 76 Verfall u n d Einziehung

II. Die Einziehung (§§ 74 - 75) 1. Objekt der Einziehung sind nach § 74 I die Gegenstände, die durch eine vorsätzliche Straftat hervorgebracht worden sind (^producta sceleris"), bei ihrer Durchführung verwendet wurden oder für diese bestimmt waren („instrumenta sceleris"). Der Begriff „Gegenstand" umfaßt dabei nicht nur körperliche Sachen, sondern auch Rechte (vgl. §§ 74 e I, 74 f I) 3 5 . Die durch die Tat hervorgebrachten Gegenstände sind nicht identisch mit dem Gewinn, den der Täter aus dem Delikt zieht (und der dem Verfall nach § 73 unterliegt); von § 74 werden als producta sceleris vielmehr nur solche Gegenstände erfaßt, deren körperliche Entstehung oder gegenwärtige Beschaffenheit auf die Straftat zurückzuführen ist, wie z.B. Falschgeld (§ 150) oder eine gefälschte Urkunde (§ 267), nicht aber das vom Täter gestohlene Geld oder der Kaufpreis für das von ihm verkaufte Rauschgift (BGH Schmidt M D R 1989, 1039)36. Zur Tatausführung benutzte Gegenstände wiederum sind von solchen Objekten zu unterscheiden, auf die sich die Tat lediglich bezieht; dem § 74 unterfallen nur solche Gegenstände, die der Täter instrumental zur Förderung seines Vorhabens einsetzt, nicht solche, deren Verwendung oder Anwesenheit bereits im betreffenden Straftatbestand vorausgesetzt wird 3 7 . Beispiele: Eingezogen werden können als instrumenta sceleris die Tatwaffe des Mörders, das Werkzeug des Einbrechers und das Kraftfahrzeug, mit dem der Täter das Vergewaltigungsopfer an den Tatort gebracht hat (BGH NJW 1955, 1327; siehe aber BayObLG NJW 1963, 600), sowie ein Geldbetrag, mit dem der Täter den Rauschgifttransport finanziert hat (BGH NStZ 1993, 340)38. Nicht nach § 74 eingezogen werden können das Fahrzeug, mit dem der Täter ohne Fahrerlaubnis oder im Zustand der Fahruntüchtigkeit fährt (BGH 10, 28), sowie die Waffen, die er ohne Erlaubnis besitzt (OLG Hamm NJW 1954, 1169)39. 2. Hinsichtlich der Zielrichtung sind zwei Fallgruppen der Einziehung zu unterscheiden: die Strafeinziehung, die im wesentlichen gegenüber Tatbeteiligten (im weiteren Sinne) als zusätzliche Sanktion in Frage kommt (§ 74 I I Nr. 1), und die Sicherungseinziehung, die dem Schutz der Allgemeinheit vor solchen Gegenständen dient, die per se gefährlich sind oder zur Deliktsbegehung verwendet werden können (§ 74 I I Nr. 2) 4 0 . Diese beiden Arten der Einziehung unterscheiden sich auch weitgehend hinsichtlich ihrer Anwendungsvoraussetzungen 41. 35

LK 10

(Schäfer)

§ 74 Rdn. 13; Schönke/Schröder/Eser,

§ 74 Rdn. 6; SK (Horn) § 74

Rdn. 5. Daß bloße Rechtspositionen (z.B. Ansprüche aus Bankguthaben) tatsächlich Deliktsgegenstände i. S. v. § 74 I sind, dürfte allerdings nicht häufig vorkommen. 36

37

Dreher/Tröndle,

§ 74 Rdn. 5; Schönke/Schröder/Eser,

§ 74 Rdn. 8.

Siehe die Beispiele bei LK 10 (Schäfer) § 74 Rdn. 16 - 19; NK (Herzog) § 74 Rdn. 8 -13; SK (Horn) § 74 Rdn. 8; zur (schwierigen) Abgrenzung siehe auch Schönke/Schröder/Eser, § 74 Rdn. 12 a. 38 Mit Recht einschränkend bezüglich „neutraler" Gegenstände (z.B. Flugticket, das dem § 74 Rdn. 12; siehe auch Drogenkurier die Reise ermöglichen soll) Schönke/Schröder/Eser, OLG Düsseldorf NJW 1992, 3050; LG Frankfurt StV 1984, 519. Nach überwiegender Meinung unterliegen auch zur Flucht vom Tatort benutzte Fahrzeuge der Einziehung (BGH

NJW 1952, 892; Dreher/Tröndle,

§ 74 Rdn. 9; LK 10

[Schäfer]

§ 74 Rdn. 17; Schönke/Schrö-

der/Eser, § 74 Rdn. 12); dabei wird als „Begehung der Straftat" i.S.v. § 74 der Zeitraum bis zur „Beendigung" der Tat angesehen (vgl. oben § 49 III 3). 39 Verschiedene Spezialregelungen sehen allerdings auch die Einziehung solcher Gegenstände vor; siehe z.B. § 92b Nr. 2 i.V.m. § 86a (Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen), § 132 a IV (unbefugt getragene Uniformen), § 282 (unechte Urkunden, Ausweise usw.). 40 Die Unterscheidung entspricht der ganz herrschenden Meinung; siehe etwa Eser, Die strafrechtlichen Sanktionen S. 57; Lackner, § 74 Rdn. 1, 2; Maurach/Gössel/Zipf, Allg. Teil II § 61 Rdn. 26; Schönke/Schröder/Eser, Vorbem. 13-15 vor § 73; SK (Horn) § 74 Rdn. 11, 19.

I I . D i e Einziehung (§§ 74 - 75)

797

3. Die Strafeinziehung (§ 74 I I Nr. 1) stellt eine (zusätzliche) Sanktion gegenüber dem Täter oder Tatbeteiligten dar, der schuldhaft eine vorsätzliche Straftat begangen hat. Der Grund dafür, daß dem Täter gerade das Tatwerkzeug oder das Produkt seines Tuns entzogen wird, ist unter dem Aspekt der Strafzwecke (Schuldausgleich, Prävention) schwer zu finden 42 ; er könnte in historischen Reminiszenzen der Art liegen, daß der betreffende Gegenstand durch die Verstrickung in die Tat „unrein" oder „bemakelt" wird 4 3 . Über die Strafeinziehung und deren Ausmaß sowie über die Möglichkeit weniger einschneidender Ersatzmaßnahmen (vgl. § 74 b II, III) ist nach dem in § 46 I 1 ausgesprochenen Schuldgrundsatz zu entscheiden44; und wenn sie angeordnet wird, ist ihr - unter Umständen sehr erhebliches - Gewicht bei der Bemessung der übrigen Sanktionen zugunsten des Täters zu berücksichtigen (BGH StV 1983, 327; 1994, 76) 45 . a) Die Strafeinziehung darf sich grundsätzlich nur auf Sachen beziehen, die dem Täter gehören (bzw. auf Rechte, die ihm zustehen). Streitig ist in diesem Zusammenhang, ob es hierbei auf die wirtschaftliche oder die rechtliche Zugehörigkeit des Gegenstandes zum Vermögen des Täters ankommt; bedeutsam wird diese Frage etwa dann, wenn der Täter einen Einziehungsgegenstand unter Eigentumsvorbehalt gekauft oder seinem Gläubiger zur Sicherung übereignet hat. Während die Rechtsprechung hier strikt auf die formelle Rechtslage abstellt und lediglich die Einziehung des Anwartschaftsrechts für zulässig hält (BGH 19, 123; 24, 222; 25, 10) 46 , erstreckt sich die Einziehung nach herrschender Lehre auf alles, worüber der Täter wirtschaftlich verfügen kann 47 . Die letztgenannte Auffassung hat die größere Praktikabilität für sich: Die Sanktion trifft denjenigen, der von dem Gegenstand tatsächlich Gebrauch gemacht hat; der Staat ist nicht gezwungen, den Anspruch des formellen Eigentümers gegen den Täter zu erfüllen 4 ; und der formelle Eigentümer 41

Leider sind die Grundgedanken des Einziehungsrechts den überaus komplizierten und ausgefeilten Einzelregelungen des Gesetzes kaum zu entnehmen. 42 Eine Vielzahl unterschiedlicher Zwecke nennen Lackner, § 74 Rdn. 1; LK 10 (Schäfer) § 74 Rdn. 4 f. Nach Schönke/Schröder/Eser, § 74 Rdn. 18 besteht der Zweck darin, dem Täter die Verwerflichkeit seines Tuns besonders nachhaltig vor Augen zu führen. 43 SK (Horn) § 74 Rdn. 11. Damit steht das Rechtsinstitut der Strafeinziehung allerdings verfassungsrechtlich auf schwankendem Boden: Der Umfang des nach Art. 14 GG geschützten Eigentums kann zwar unabhängig von den Regeln des Zivilrechts beschränkt werden (BVerfGE 58, 300 [335 f.]), doch ist eine inhaltliche Begrenzung des Schutzbereichs auf „unbemakelte" Gegenstände nur unter den engen Voraussetzungen des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes zur Abwendung erheblicher Gefahren von der Gemeinschaft zulässig (vgl. oben § 76 I 6c); die rational kaum faßbare Zweckrichtung der Sanktion erfüllt diese Voraussetzung nicht. Die Verfassungsrechtslehre versucht das Problem in zweifelhafter Weise durch die Annahme zu lösen, daß die Zulässigkeit der Einziehung bei der Schaffung von Art. 14 GG „offensichtlich vorausgesetzt" worden sei und daher keine Enteignung i.S.v. Art. 14 III GG darstellen könne;

vgl. von Münch/Kunig/Bryde,

GG-Kommentar Art. 14 Rdn. 78; Papier, in: Maunz/Dürig,

Art. 14 Rdn. 662f., jeweils m. w.N.; in diesem Sinne auch BVerfGE 22, 387 (422). 44 Zutreffend schon Gilsdorf, JZ 1958, 687; für eine Bindung allein an das Verhältnismäßigkeitsprinzip, das allerdings nach § 74 b I eine zusätzliche Schranke aufstellt, 4. Auflage S. 718. 45

46 47

Lackner, § 74 Rdn. 1; NK (Herzog) § 74 Rdn. 39; SK (Horn) § 74 Rdn. 18.

Zustimmend LK 10 (Schäfer) § 74 Rdn. 26 - 38; Κ Meyer, JR 1972, 385; 4. Auflage S. 719. Dreher/Tröndle, § 74 Rdn. 12; Eser, Die strafrechtlichen Sanktionen S. 309ff.; derselbe,

JZ 1972, 146; Lackner, § 74 Rdn. 7; NK (Herzog) § 74 Rdn. 26; Schönke/Schröder/Eser, § 74 Rdn. 24; SK (Horn) § 74 Rdn. 16. 48

Nimmt man mit der Rechtsprechung an, daß die Einziehung beim Kauf unter Eigentumsvorbehalt nur das Anwartschaftsrecht erfaßt, so müßte der Staat sämtliche ausstehenden Kaufpreisraten bezahlen, um Eigentum an dem Gegenstand zu erlangen.

798

§ 76 Verfall u n d Einziehung

kann entsprechend seinem tatsächlichen wirtschaftlichen Interesse nach § 74 f I entschädigt werden 49 . b) Besonders deutlich wird der Strafcharakter der Einziehung in der Möglichkeit, anstelle der deliktsverstrickten Sache einen Geldbetrag in Höhe des Gegenstandsweites einzuziehen (§ 74 c) 5 0 . Da die Einziehung nur solche Gegenstände erfaßt, die dem Täter im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung zustehen, kann dieser die Sanktion dadurch vereiteln, daß er den Einziehungsgegenstand „rechtzeitig" verbraucht oder an einen Dritten weitergibt, bei dem er nicht eingezogen werden kann. Wird eine solche Vereitelungshandlung festgestellt, so kann das Gericht den Täter dazu verurteilen, anstelle des ursprünglich der Einziehung unterliegenden Gegenstandes eine dessen Wert entsprechende Geldsumme zu zahlen (§ 74 c I) 5 1 . Das Gesetz spricht zwar von „Einziehung" des Geldbetrages, tatsächlich handelt es sich jedoch um eine Zahlungspflicht, die wie eine Geldstrafe (allerdings ohne die Möglichkeit der Ersatzfreiheitsstrafe) zu vollstrecken ist (BGH 28, 369 [370]; siehe § 459g I I StPO) 52 . c) Die Strafeinziehung kann unter bestimmten Voraussetzungen auf Dritte erstreckt werden, die an der Tatbegehung selbst unbeteiligt waren. So kann zunächst nach § 75 mit der Einziehung auf das Eigentum von juristischen Personen und bestimmten Personenverbänden zugegriffen werden, wenn deren gesetzliche Vertreter, Prokuristen oder Handlungsbevollmächtigte die Einziehungsvoraussetzungen geschaffen haben. Außerdem kann nach § 74 a das Eigentum eines Dritten eingezogen werden, wenn dieser wenigstens leichtfertig zur Verstrickung des Gegenstandes in die Straftat beigetragen oder wenn er ihn nach der Tatbegehung „in verwerflicher Weise" 53 und in Kenntnis der Einziehungsvoraussetzungen erworben hat; außerdem muß die anwendbare Strafvorschrift ausdrücklich auf § 74a verweisen (siehe etwa §§ 92b S. 2, 264 V 2, 285b I I 2, 295 S. 2; § 33 I I BtMG für Beziehungsgegenstände, d.h. Rauschgift). Gedacht ist etwa an die Fälle, daß der Dritte dem Täter ein Jagdgewehr überläßt, obwohl er ohne weiteres dessen 49 Umstritten ist auch die Rechtslage für den Fall, daß der Täter nur Miteigentümer des betroffenen Gegenstandes ist. Hier kommt an sich die Einziehung des Miteigentumsanteils in Betracht (BGH NStZ 1991, 496; LK 10 [Schäfer] § 74 Rdn. 49; Schönke/Schröder/Eser, § 74 Rdn. 6), und zwar auch dann, wenn der Gegenstand selbst und nicht gerade die Rechtsposition als Miteigentümer Tatwerkzeug war (so aber wohl Dreher/Tröndle, § 74 Rdn. 12; SK [Horn] § 74 Rdn. 5); besonders praktisch ist diese Möglichkeit jedoch nicht, da der Staat als bloßer Miteigentümer nicht unmittelbar dafür sorgen kann, daß dem Täter die Gebrauchsmöglichkeit an dem Gegenstand entzogen wird. 50 Baumann /Weh er, Allg. Teil S. 621 lehnen den Straf charakter der Einziehung generell ab und betrachten daher die Möglichkeit des § 74c (konsequent) als „absolut unsinnig". An sich erfaßt § 74c auch die Fälle der Sicherungseinziehung (vgl. BGH 28, 369 [370]), doch dürften die Voraussetzungen der Vorschrift dort kaum je erfüllt sein, da gefährliche Gegenstände i.S.v. § 74 II Nr. 2 auch bei Dritten noch eingezogen werden können, so daß der Täter durch deren Weitergabe die Einziehung in der Regel nicht „vereitelt"; vgl. Schönke/

Schröder/Eser, 51

§ 74c Rdn. 4.

Für den praktisch wohl nicht sehr bedeutsamen Fall, daß der Täter den Gegenstand zwar behält, aber mit dem Recht eines Dritten belastet (etwa durch Verpfändung), sorgt § 74c II vor. 52

LK 10

(Schäfer)

§ 74c Rdn. 21 f.; Schönke/Schröder/Eser,

§ 74c Rdn. 13; SK (Horn)

§ 74c Rdn. 13. 53 Schon die Kenntnis der Umstände, die die Einziehungsmöglichkeit begründen, soll die § 74a Rdn. 8; LK 10 (Schäfer) § 74a Rdn. 18. „Verwerflichkeit" indizieren; Dreher/Tröndle, Gemeint sind Fälle, die objektiv und subjektiv der Hehlerei (§ 259) angenähert sind; Schön-

ke/Schröder/Eser,

§ 74a Rdn. 10; SK (Horn) § 74a Rdn. 9.

799

I I . D i e Einziehung (§§ 74 - 75)

Absicht erkennen könnte, damit Wilderei zu begehen, oder daß der Dritte das zur Wilderei eingesetzte Kraftfahrzeug zwar ohne genaue Kenntnis der Vortat, aber unter verdächtigen Umständen billig einkauft. Sowohl in kriminalpolitischer als auch in verfassungsrechtlicher (Schuldgrundsatz, Art. 14 GG) Hinsicht ist die Erstreckung der Strafeinziehung auf Personen, die nur in derart entfernter Weise mit der Tat „zu tun haben", sehr problematisch 54 , zumal der betroffene Eigentümer für den Verlust auch nicht entschädigt wird (§ 74f I I Nr. 1, 2). 4. Die Sicherungseinziehung hat keinen Strafcharakter, sondern dient allein dem polizeilichen Zweck des Schutzes der Bevölkerung vor Gefahren, insbesondere vor der Begehung von Straftaten 55 . Sie erstreckt sich auf solche Gegenstände, die ihrer Art nach unter den konkreten Umständen die Allgemeinheit 56 gefährden (z.B. Gift, Sprengstoff) oder bei denen aufgrund konkreter Anhaltspunkte 5 7 die Gefahr besteht, daß sie zu Straftaten verwendet werden (z.B. gefälschte Urkunden, verbotene Waffen) 58 . Angesichts des Sicherungszwecks kommt es hier weder darauf an, ob die Anlaßtat schuldhaft begangen wurde (§ 74 I I I ) 5 9 , noch darauf, wer Eigentümer des Gegenstandes ist. Betrifft die Einziehung jedoch einen Tatunbeteiligten, der auch nicht im weiteren Sinne des § 74a mit dem deliktischen Geschehen verbunden ist (vgl. oben § 76 I I 3 c), so ist diesem eine Entschädigung zu gewähren, die dem Verkehrswert des Gegenstandes entspricht (§ 74 f I ) 6 * 5. Die Einziehung steht grundsätzlich im Ermessen des Gerichts. In den Fällen der Sicherungseinziehung (§ 74 I I Nr. 2) ist die Einziehung aber zum Schutz der Allgemeinheit häufig (auch schon als vorläufige Maßnahme im Ermittlungsverfahren, § 111b I StPO) geboten. Verschiedene Sonderregelungen schließen das Ermessen des Gerichts aus und schreiben die Einziehung vor (z.B. § 150 I I für Falschgeld, § 285b I I 1 für Einrichtungen des verbotenen Glücksspiels). 6. Eine gesonderte Regelung trifft § 74d für die Einziehung von Schriften i.S.v. § 11 III. Deren Einziehung ist obligatorisch, sofern ihre Verbreitung wegen ihres Inhalts (§ 74 d I) 6 1 , 54

Kritisch auch Baumann /Weber,

Allg. Teil S. 619 f.; Eser, Die strafrechtlichen Sanktio-

nen S. 221 ff.; NK ÇHerzog) § 74a Rdn. 1; Papier, in: Maunz/Dürig, Schönke/Schröder/Eser, § 74a Rdn. 2; SK (Horn) § 74a Rdn. 2.

Art. 14 Rdn. 663;

55 Die polizeiliche Gefahrenabwehr wird als immanente Schranke des Eigentumsrechts i.S.v. Art. 14 I 2 GG verstanden, doch ist bei der Eigentumsentziehung gegenüber bloßen „Zustandsstörern" streng auf das Erfordernis der Verhältnismäßigkeit zu achten; vgl. Papier,

in: Maunz/Dürig, 56

Art. 14 Rdn. 512, 524.

Erfaßt sind allerdings auch Fälle, in denen nur Einzelpersonen

gefährdet sind; LK 10

(Schäfer) § 74 Rdn. 54; NK (Herzog) § 74 Rdn. 34; Schönke/Schröder/Eser, § 74 Rdn. 32. 57 So zutreffend Lackner, § 74 Rdn. 8; Schönke/Schröder/Eser, § 74 Rdn. 34; SK (Horn)

§ 74 Rdn. 33. Daher ist die Einziehung gefälschter Bilder nicht ohne weiteres zulässig (BGH JZ 1988, 936). 58 Die Art der drohenden Straftat wird sich regelmäßig aus der Beschaffenheit des Gegenstandes ergeben. Wenn dies nicht der Fall ist (z.B. bei einem großen Geldbetrag in der Hand einer terroristischen Gruppe), muß die Tat wenigstens in groben Zügen absehbar sein; BGH VRS 50, 38; NK (Herzog) § 74 Rdn. 35; Schönke/Schröder/Eser,

§ 74 Rdn. 34; zu weitge-

hend BGH NStZ 1985, 262; LK 10 (Schäfer) § 74 Rdn. 56; 4. Auflage S. 721. 59 Die Tat muß jedoch vorsätzlich begangen sein; vgl. BGH 31, 80. 60 Eine Ausnahme gilt dann, wenn die Sache dem Dritten nach außerstrafrechtlichen Vorschriften (etwa nach Polizeirecht) entschädigungslos hätte entzogen werden dürfen (§ 74 II Nr. 3). 61 Gemeint sind z.B. volksverhetzende (§ 130), gewaltverherrlichende (§ 131) oder gewaltpornographische (§ 184 III) Schriften. Während ein Kennzeichnungsverfahren nach § 6 JÖSchG noch läuft, darf allerdings keine Einziehung stattfinden ( BVerfGE 87, 209 [232 f.]).

§ 76 Verfall u n d Einziehung

800

und sei es nur bei Hinzutreten weiterer Umstände (§ 74 d III) 6 2 , strafbar wäre. Trotz des Gesetzeswortlauts muß die Einziehung jedoch unterbleiben, wenn sie übermäßig in die Grundrechte nach Art. 5 GG eingriffe (BGH 23, 208; 267 [269 f.]). Obwohl es sich um einen Fall der Sicherungseinziehung handelt63, erstreckt sie sich aus Gründen der Praktikabilität nicht auf diejenigen Exemplare der Schrift, die sich bereits bei dem Käufer oder sonstigen Empfänger (siehe hierzu BGH Holtz MDR 1990, 103) befinden (§ 74d II); zulässig ist die Einziehung jedoch gegenüber jedermann bei Darstellungen, die sexuelle Handlungen mit Kindern zum Gegenstand haben, da insoweit auch der Besitz strafbar ist (§ 184 V 2, VII 2). Um eine weitere Verbreitung der verbotenen Schriften zu verhindern, werden die Vorrichtungen zu ihrer Vervielfältigung (z.B. Druckstöcke, Computer-Disketten)64 unbrauchbar gemacht (§ 74 d I 2). III. Wirkung von Verfall und Einziehung Sowohl beim Verfall (§ 73 e I) als auch bei der Einziehung (§ 74 e I) hat die Anordnung der Maßnahme mit Rechtskraft des Urteils unmittelbar dingliche Wirkung, d.h. das Eigentum an dem betroffenen Gegenstand geht auf den Staat über. Rechte Dritter an dem Gegenstand (z.B. Pfandrechte) bleiben bei Verfall und Strafeinziehung bestehen (§§ 73e I 2, 74e I I 1), nicht jedoch bei der Sicherungseinziehung (§ 74 e I I 2), und auch bei der Strafeinziehung dann nicht, wenn das Gericht das Erlöschen anordnet und der Dritte den Verlust der Sache entschädigungslos dulden müßte (§ 74e I I 3 i.V.m. § 74f I I Nr. 1, 2). IV. Verfahren bei Verfall und Einziehung Der besondere Charakter der hier behandelten Maßnahmen, insbesondere die Berührung nicht tatbeteiligter Dritter, macht verschiedene Sonderregelungen für den Ablauf des Strafverfahrens notwendig. 1. Liegen dringende Gründe für die Annahme vor, daß im Urteil der Verfall oder die Einziehung eines Gegenstandes angeordnet wird, so kann dieser schon während des Ermittlungsverfahrens sich er gestellt, nötigenfalls beschlagnahmt werden (§§ 111b - l l l d StPO). Wenn sich während des Verfahrens herausstellt, daß die Frage von Verfall oder Einziehung den Fortgang des Prozesses aufhalten würde, dann können diese Rechtsfolgen unter bestimmten Voraussetzungen aus dem Verfahren ausgeschieden werden (§§ 430, 442 I StPO); andererseits können die beiden Maßnahmen auch in einem Nachverfahren nach Rechtskraft des Urteils nachgeholt werden, wenn sich ihre Voraussetzungen erst später herausstellen (§ 76; zum Verfahren § 462 StPO). Falls der Täter aus tatsächlichen Gründen nicht verfolgt werden kann (z.B. weil er nicht auffindbar ist), besteht nach § 76a I die Möglichkeit, Verfall oder Einziehung isoliert anzuordnen (sog. objektives Verfahren, §§ 440 f. StPO) 65 . 2. Wichtig ist, daß der Eigentümer des von Verfall oder Einziehung bedrohten Gegenstandes, sofern er nicht mit dem Beschuldigten identisch ist, im Strafprozeß rechtliches Gehör erhält. Dies wird durch detaillierte Regelungen über seine Einbeziehung in das Verfahren (§§ 431 - 438 StPO) sichergestellt. 62 63

64

Z.B. beim Vertrieb pornographischer Schriften im Versandhandel (§ 184 I Nr. 3).

LK 10

(Schäfer)

§ 74d Rdn. 2; Schönke/Schröder/Eser,

§ 74d Rdn. 1.

Druckmaschinen, Fotokopiergeräte und dergleichen sind nicht erfaßt; Dreher/Tröndle, § 74 d Rdn. 9. 65 Der Sicherungsverfall kann nach § 76a II 1 auch dann isoliert angeordnet werden, wenn eine Strafverfolgung aus rechtlichen Gründen (z.B. wegen Schuldunfähigkeit des Täters) nicht möglich ist.

I V . Verfahren bei Verfall u n d Einziehung

801

3. I m Urteil muß der betroffene Gegenstand möglichst genau bezeichnet werden, damit keine Schwierigkeiten bei der späteren Vollstreckung auftreten ( B G H NStZ 1993, 95). Diese erfolgt dadurch, daß dem Besitzer die verfallene oder eingezogene Sache weggenommen wird (§ 459g I StPO); für die „Einziehung" von Wertersatz nach §§ 73a, 74c gelten jedoch die Regeln über die Vollstreckung von Geldstrafen, mit Ausnahme der Ersatzfreiheitsstrafe (§ 459 g I I StPO).

2. Kapitel: Maßregeln der Besserung und Sicherung § 77 Maßregeln mit Freiheitsentziehung P. Albrecht, Die allgemeinen Voraussetzungen der Anordnung freiheitsentziehender Maßnahmen usw., 1981; Athen/Böcker, Maßregelvollzug in Bayern, Forensia 8 (1987) S. 125; Bae, Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit im Maßregelrecht, 1985; F. R. Baur, Der Vollzug der Maßregeln der Besserung und Sicherung usw., Diss. Münster 1988; derselbe, Probleme der unbefristeten Unterbringung und der Entlassungsprognose bei psychisch kranken Tätern (§ 63 StGB), MDR 1990, 473; Baurmann, Zweckrationalität und Strafrecht, 1987; Bericht über die Lage der Psychiatrie (Psychiatrie-Enquête), BT-Drucks. 7/4200; Bernsmann, Einige kritische Anmerkungen zum Verhältnis von Grundgesetz und strafrechtlicher Unterbringung usw. in: Blau/Kammeier (Hrsg.), Straftäter in der Psychiatrie, 1984, S. 142; Blau, Regelungsmängel beim Vollzug der Unterbringung gem. § 63 StGB, Festschrift für H.-H. Jescheck, Bd. II, 1985, S. 1014; Blau/Kammeier (Hrsg.), Straftäter in der Psychiatrie, 1984; Böhm, Zur Sozialtherapie, NJW 1985, 1813; Bruns, Zur Problematik rausch-, krankheitsoder jugendbedingter Willensmängel usw., JZ 1964, 473; Buchala, Freiheitsentziehende Maßregeln der Sicherung im polnischen Strafrecht, ZStW 102 (1990) S. 394; Busch, Selective Incapacitation, 1988; Dessecker, Hat die strafrechtliche Unterbringung in einer Entziehungsanstalt eine Zukunft? NStZ 1995, 318; Dreher, Liegt die Sicherungsverwahrung im Sterben? DRiZ 1957, 51; Eisenberg, Persönliche Beweismittel in der StPO, 1993; Ermer-Externbrink, Das psychiatrische Gutachten zur Unterbringung nach § 64 StGB, MschrKrim 1991, 106; Frisch, Prognoseentscheidungen im Strafrecht, 1983; derselbe, Die Maßregeln der Besserung und Sicherung im strafrechtlichen Rechtsfolgensystem, ZStW 102 (1990) S. 343; derselbe, Dogmatische Grundfragen der bedingten Entlassung usw., ZStW 102 (1990) S. 707; Frisch/ Vogt (Hrsg.), Prognoseentscheidungen in der strafrechtlichen Praxis, 1994; Floerecke, Die Entstehung der Gesetzesnormen zur Führungsaufsicht, 1989; Gebauer, Entwicklung und Struktur der strafrechtlichen Unterbringungspraxis, in: Gebauer/Jehle (Hrsg.), Die strafrechtliche Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus, 1993, S. 27; Geilen, Sukzessive Zurechnungsunfähigkeit, Unterbringung und Rücktritt, JuS 1972, 73; Grünwald, Sicherungsverwahrung usw., ZStW 76 (1964) S. 633; Hall, Sicherungsverwahrung und Sicherungsstrafe, ZStW 70 (1958) S. 41; van den Haar, Zum Urteil des BVerfG über die Unterbringung usw., NStZ 1995, 315; Hanack, Anmerkung zu BGH vom 25.8.1987, JR 1988, 379; derselbe, Vier Bemerkungen zur Reform usw., in: Gebauer /Jehle (Hrsg.), Die strafrechtliche Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus, 1993, S. 181; Hellmer, Der Gewohnheitsverbrecher und die Sicherungsverwahrung 1934- 1945, 1961; derselbe, Anmerkung zu BGH vom 16.2.1968, JZ 1969, 197; Höhner, Verweildauer, Diagnose und Delikte der § 63-Forensik-Patienten usw., MschrKrim 1993, 83; Horn, Gesamtwürdigung - Sinn und Unsinn eines Rechtsbegriffs, Gedächtnisschrift für A. Kaufmann, 1989, S. 573; Horstkotte, Die Vorschriften des 1. StrRG über den Rückfall und die Maßregeln usw., JZ 1970, 152; derselbe, Strafrechtliche Fragen zur Entlassungspraxis nach § 67d Abs. 2 StGB, MschrKrim 1986, 332; Jescheck, Rechtsvergleichende Bemerkungen zum Allgemeinen Teil des neuen liechtensteinischen Strafgesetzbuchs, SchwZStr 108 (1991) (Festgabe für R. Hauser) S. 133; Jung, Das Ende der Maßregel der sozialtherapeutischen Anstalt, JuS 1985, 248; Kaiser, Ist das Maßnahmensystem im Kriminalrecht noch zu retten? Festschrift für F. Pallin, 1989, S. 183; derselbe, Befinden sich die kriminalrechtlichen Maßregeln in der Krise? 1990; derselbe, Menschenrechte im Straf- und Maßregelvollzug, Festschrift für R. Schmitt, 1992, S. 359; Kammeier (Hrsg.), Maßregelvollzugsrecht, 1995; Kögler, Die zeitliche Unbestimmtheit freiheitsentziehender Sanktionen des Strafrechts, 1988; Köhler, Der Begriff der Strafe, 1985; Konrad, Zur Begutachtung der Einweisungskriterien usw., StV 1992, 597; derselbe, Zur Dauer der Unterbringung im Maßre51 Jescheck, 5. A.

802

§ 7

Maßregeln

Freiheitsentziehung

gelvollzug, in: Jung/Müller-Dietz (Hrsg.), Langer Freiheitsentzug - wie lange noch? 1994, S. 167; M. Kreuzer , Institutionelle und organisatorische Probleme des Maßregelvollzugs, in: Gebauer/Jehle (Hrsg.), Die strafrechtliche Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus, 1993, S. 81; Kühl/Schumann, Prognosen im Strafrecht, Recht und Psychiatrie 1989, 126; Laubenthal , Wege aus dem Maßregelvollzug im psychiatrischen Krankenhaus, Festschrift für F.-W. Krause, 1990, S. 357; Less, Die Unterbringung von Geisteskranken, 1989; Leygraf\ Psychisch kranke Straftäter, 1988; derselbe , Zu den empirischen Grundlagen für fundierte Reformvorschläge, in: Gebauer/Jehle (Hrsg.), Die strafrechtliche Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus, 1993, S. 199; Marneros u.a., Motivation und subjektive Einstellung zur Therapie von alkoholkranken Straftätern, MschrKrim 1993, 169; Marquardt , Dogmatische und kriminologische Aspekte des Vikariierens von Strafe und Maßregel, 1972; H. Mayer , Behandlung der Rezidivisten (gefährlichen Gewohnheitsverbrecher) im deutschen Strafrecht, ZStW 80 (1968) S. 139; Mrozynski, Krankheit - Hang - schädliche Neigungen, MschrKrim 1985, 1; Müller/Siadak, Häufigkeit psychiatrischer Begutachtung im Strafverfahren, MschrKrim 1991, 316; Müller-Christmann , Die Maßregeln der Besserung und Sicherung, JuS 1990, 801; Müller-Dietz , Grundfragen des strafrechtlichen Sanktionensystems, 1979; derselbe, Rechtsfragen der Unterbringung nach § 63 StGB, NStZ 1983, 145, 203; derselbe, Unterbringung im psychiatrischen Krankenhaus und Verfassung, JR 1987, 45; derselbe, Anmerkung zu OLG Celle vom 19.6.1990, NStZ 1991, 358; Musco, Maßregeln der Besserung und Sicherung im strafrechtlichen Rechtsfolgensystem Italiens, ZStW 102 (1990) S. 415; Nagy, Arten und Reform punitiver und nicht-punitiver Sanktionen in Ungarn, in: Eser/Kaiser/E. Weigend (Hrsg.), Von totalitärem zu rechtsstaatlichem Strafrecht, 1993, S. 313; Neu, Zur erheblichen Straftat usw., MDR 1972, 915; Nowakowski, Die Maßnahmenkomponente im StGB, Festschrift für Ch. Broda, 1976, S. 193; Ortmann, Zur Evaluation der Sozialtherapie, ZStW 106 (1994) S. 782; Pollähne, Lockerungen im Maßregelvollzug, 1994; Rasch, Die Prognose im Maßregelvollzug als kalkuliertes Risiko, Festschrift für G. Blau, 1985, S. 309; derselbe, Nachruf auf die sozialtherapeutische Anstalt, BewH 1985, 319; derselbe, Forensische Psychiatrie, 1986; derselbe, Voraussetzungen der Unterbringung nach § 64 StGB aus psychiatrischer Sicht usw., Recht und Psychiatrie 1991, 109; Rebsam-Β ender, Neuregelung für alkoholabhängige Straftäter? NStZ 1995, 158; Rincke, Therapeutische Zwangsmaßnahmen beim Maßregelvollzug im Psychiatrischen Krankenhaus, NStZ 1988, 10; Ritzel, Stand und Entwicklung des psychiatrischen Maßregelvollzugs in Niedersachsen, MschrKrim 1989, 123; Rotthaus, Die Sozialtherapeutische Anstalt als Modell usw., in: Jung/Müller-Dietz (Hrsg.), Langer Freiheitsentzug - wie lange noch?, 1994, S. 143; Sagel-Grande, Die Maßregeln der Besserung und Sicherung im strafrechtlichen Rechtsfolgensystem der Niederlande, ZStW 103 (1991) S. 732; Schalast, Unterbringung in der Entziehungsanstalt, Recht und Psychiatrie 1994, 1; Schalast/ Leygraf, Maßregelvollzug gemäß § 64 StGB, MschrKrim 1994, 1; R. Schmitt, Was hat die Strafrechtsreform von der Zweispurigkeit übriggelassen? Festschrift für Th. Würtenberger, 1977, S. 277; Schroth, Die strafrechtliche Regelung der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus, Festschrift für H. Schüler-Springorum, 1993, S. 595; Schüler-Springorum, SV ohne Hang? MschrKrim 1989, 147; V. Schumann, Psychisch kranke Rechtsbrecher, 1987; Stree, Deliktsfolgen und Grundgesetz, 1960, Streng, Vikariierens-Prinzip und Leidensdruck, StV 1987, 41; Teyssen, Die Entscheidung über die Aussetzung der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus usw., Festschrift für H. Tröndle, 1989, S. 407; Ungewitter , Verfassungswidrigkeit der Anrechnungsversagung nach § 67 IV 2 StGB, MDR 1989, 685; Victor, Maßregeln der Besserung und Sicherung im strafrechtlichen Rechtsfolgensystem. Eine schwedische Perspektive, ZStW 102 (1990) S. 435; Volckart, Die Höchstfrist der Unterbringung in einer Entziehungsanstalt, NStZ 1987, 215; derselbe, Verteidigung in der Strafvollstreckung und im Vollzug, 1988; derselbe, Maßregelvollzug, 3. Auflage 1991; Wagner, Die neue Entscheidung des BVerfG zur lebenslangen Freiheitsstrafe usw., Recht und Psychiatrie 1992, 131; Weichen, Sicherungsverwahrung - verfassungsgemäß? StV 1989, 265; Weihrauch, Die materiellen Voraussetzungen der Sicherungsverwahrung, NJW 1970, 1897; Wolfslast, Rechtliche Grenzen der Behandlung, Zeitschrift für Strafvollzug 1987, 323.

I. Allgemeines 1. Der Grund dafür, daß das deutsche Strafrecht neben den Strafen auch schuldunabhängige Maßregeln der Besserung und Sicherung vorsieht, wurde bereits oben (§ 9 I, II) dargestellt. Er liegt darin, daß der Staat seine Aufgabe, die Allge-

I. Allgemeines

803

meinheit und die einzelnen Bürger vor der Begehung von Straftaten zu schützen 1 , in manchen Fällen nicht allein mit Hilfe der Strafe erfüllen kann, da diese nur bei schuldhaft begangenen Taten verhängt wird und auch in ihrer Höhe durch das Maß des schuldhaft verwirklichten Unrechts begrenzt ist. Bei einer näheren Untersuchung der Tatumstände und vor allem der Täterpersönlichkeit im Strafverfahren zeigt sich manchmal, daß von dem Täter noch weitere erhebliche Straftaten zu erwarten sind, zu deren Verhütung eine schuldadäquate Strafe - sofern der Täter überhaupt schuldfähig ist - ersichtlich nicht hinreichend wirksam wäre. In solchen Fällen bietet es sich an, die ihrer Rechtsnatur nach eigentlich präventivpolizeilich ausgerichteten therapeutischen oder auch bloß sichernden Maßnahmen, die solche weiteren Straftaten zu verhindern geeignet sind, in demselben Verfahren anzuordnen, in dem über die Bestrafung wegen des begangenen Delikts entschieden wird. Diesen Verbund der Deliktsfolgen schafft das System der „Zweispurigkeit". Aus der Zielrichtung der Maßregeln ergibt sich gleichzeitig ihre inhaltliche Beschränkung. Maßregeln der Besserung und Sicherung dürfen nur verhängt werden, soweit erstens das Ziel der Individualprävention durch die schuldangemessene Strafe voraussichtlich nicht erreicht werden kann 2 und soweit zweitens eine geeignete Maßregel zur Verfügung steht. Außerdem darf eine Maßregel ausschließlich mit dem Ziel angeordnet werden, künftige Straftaten des Verurteilten zu vermeiden, nicht etwa um dessen sittliche „Besserung" oder auch eine für ihn nützliche Therapie zu erreichen (vgl. BVerfGE 22, 180 [219 f.]) 3 . Da und soweit die Maßregel erforderlich ist, um ein gegenüber dem Freiheitsinteresse des Verurteilten höherrangiges Interesse der Allgemeinheit an der Integrität bedrohter Rechtsgüter zu schützen, ist der Täter verpflichtet, den in der Maßregelanordnung liegenden (zusätzlichen) Eingriff 4 in seine Freiheit hinzunehmen 5 . 2. Die Verbindung der präventiven Maßnahme mit der Ahndung der begangenen Straftat hat den Vorteil, daß die beiden Sanktionen beim Vollzug in gewissem Umfang miteinander „verrechnet" werden können 6 : Da auch die Vollstreckung einer Maßregel eine erhebliche Freiheitseinbuße für den Täter bedeutet, kann man auf den Vollzug zumindest eines Teils der Strafe verzichten, wenn die Maßregel, 1 Daß die Einrichtung der Maßregeln auf diese Aufgabe des Staates zurückzuführen ist, betont zutreffend Frisch, ZStW 102 (1990) S. 367f.; ebenso LK n (Hanack) Vorbem. 20, 28 vor § 61; Roxin, Allg. Teil I § 3 Rdn. 57; Stratenwerth, Schweiz. Strafrecht Allg. Teil II § 9 Rdn. 20, 43; kritisch P. Albrecht, Maßregeln S. 20ff.; allgemein skeptisch gegenüber der Möglichkeit, ein Maßregelrecht zu rechtfertigen, Naucke, Einführung S. 112 f., 120; NK CBöllinger) Vorbem. 19 ff. vor § 61. 2 Es besteht also ein Vorrang der Strafe, soweit diese den Zweck der Besserung und Sicherung bereits hinreichend zu verwirklichen imstande ist; Frisch, ZStW 102 (1990) S. 379 -381;

Lackner, § 61 Rdn. 2. 3

Vgl. NK {Böllinger) Vorbem. 31 vor § 61; SK {Horn) § 62 Rdn. 6. Der freilich keine Doppelbestrafung darstellt, da er nicht eine Sanktion für die begangene Straftat ist; zutreffend Baumann /Weber, Allg. Teil S. 711. 5 Zutreffend LK U {Hanack) Vorbem. 28, 32 vor § 61. Weniger überzeugend ist dagegen der Versuch, die Maßregeln durch den Rechtsgedanken der Verwirkung zu rechtfertigen, da diese ein - hier nicht notwendig gegebenes - zurechenbares Verhalten voraussetzt, das den mit der Verwirkung verbundenen Rechtsverlust begründet; im Ergebnis ebenso Frisch, ZStW 102 (1990) S. 365f.; LK n {Hanack) Vorbem. 29-31 vor §61; Roxin, Allg. Teil I §3 Rdn. 57; Stratenwerth, Schweiz. Strafrecht Allg. Teil I I § 9 Rdn. 19 (anders für Berufsverbot und Entziehung der Fahrerlaubnis oben § 9 II 1). 6 Zum Verhältnis von Strafe und Maßregel vertiefend Frisch, ZStW 102 (1990) S. 355 362; LK n {Hanack) Vorbem. 15f., 27 vor §61; Müller-Dietz, Grundfragen S. 70 - 73; Nowakowski, Broda-Festschrift S. 193; siehe auch Müller-Christmann, JuS 1990, 805. 4

1

804

§ 7

Maßregeln

Freiheitsentziehung

wie es nach § 67 I für die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus oder in einer Entziehungsanstalt die Regel ist, vorab vollstreckt wird (§ 67 IV, V). 3. Das Gesetz unterscheidet zwischen freiheitsentziehenden (§§ 63 - 66) und sonstigen Maßregeln der Besserung und Sicherung 7. Bei ersteren besteht ebenso wie bei der Freiheitsstrafe (§§ 56, 57) die Möglichkeit, die Vollstreckung schon bei der Anordnung (§ 67b; dies gilt jedoch nicht für die Sicherungsverwahrung) oder nach Beginn der Vollstreckung (§ 67d II) zur Bewährung auszusetzen (siehe unten § 77 V I 2 c). 4. Es entspricht dem Zweck der freiheitsentziehenden Maßregeln, daß sie ohne zeitliche Begrenzung angeordnet werden; sie sollen (und dürfen nur) so lange vollzogen werden, bis die von dem Verurteilten ausgehende Gefahr für wichtige Rechtsgüter beseitigt oder wesentlich vermindert und damit das Ziel der Maßregel erreicht ist. Für die Unterbringung in einer Entziehungsanstalt ist allerdings eine Höchstfrist von zwei Jahren und für die erste Unterbringung in der Sicherungsverwahrung eine Höchstfrist von zehn Jahren vorgesehen (§ 67d I 1). Nach Ablauf dieser Fristen muß der Untergebrachte entlassen werden, und die Maßregel ist unabhängig davon erledigt, ob ihr Zweck tatsächlich erreicht worden ist (§ 67 d III). 5. Insbesondere die freiheitsentziehenden Maßregeln sind seit jeher, verstärkt aber in jüngerer Zeit in verschiedener Hinsicht der Kritik ausgesetzt gewesen („Krise der Zweispurigkeit" ; siehe oben § 9 II) 8 . a) Unberechtigt ist allerdings der Einwand, die Maßregeln trügen zu einer Verdinglichung des Menschen bei, indem sie statt an die verantwortete Rechtsverletzung an utilitaristische Zwecksetzungen des Staates anknüpften 9. Denn zwar unterliegen die Maßregeln nicht dem Schuldgrundsatz, doch rechtfertigen sie sich als Notmaßnahmen der Gefahrenabwehr. Die eingriffsbegrenzende Funktion, die das Schuldprinzip bei der Bemessung der Strafe wahrnimmt, übernimmt bei den Maßregeln der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, der sich schon aus dem Verfassungsrecht ergibt (vgl. BVerfGE 70, 297)10 und in § 62 noch einmal ausdrücklich hervorgehoben wird 11 . Diese Vorschrift gilt für alle Maßregeln der Besserung und Sicherung; nur bei der Entziehung der Fahrerlaubnis bedarf es keiner weiteren Prüfung der Verhältnismäßigkeit, wenn das Gericht festgestellt hat, daß der Täter zum Führen von Kraftfahrzeugen ungeeignet ist (§ 69 I 2). Im übrigen ist jeweils zu fragen, ob die Maßregel nach ihrer Art und ihrem Gewicht in einem angemessenen Verhältnis zu ihrem Zweck steht. Da die Maßregeln dazu dienen, zukünftige Rechtsgutsverletzungen zu verhindern, ist letztlich das Gewicht der drohenden, nicht der begangenen Taten ausschlaggebend; allein mit der Schwere der Anlaßtat läßt sich daher die Verhängung einer Maßregel nicht rechtfertigen (vgl. BGH 24, 134)12. Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz gilt im übrigen nicht nur für die 7

Zur Systematik siehe Maurach / Gössel/Zipf Allg. Teil II § 67 Rdn. 5 f. Siehe Kaiser , Pallin-Festschrift S. 183; derselbe , Befinden sich die kriminalrechtlichen Maßregeln in der Krise? 1990; LK n (Hanack) Vorbem. 13 - 19 vor § 61. 9 In diesem Sinne aber NK (Böllinger) § 61 Rdn. 31, 35; siehe auch Köhler , Der Begriff der Strafe S. 81. 10 Siehe hierzu Teyssen , Tröndle-Festschrift S. 407. 11 Daß der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz zur Begrenzung von Eingriffen dem Schuldprinzip sogar überlegen sei, behauptet mit guten Gründen Baurmann . Zweckrationalität und Strafrecht S. 253 ff.; gegen eine Vergleichbarkeit beider Maßstäbe LK (Hanack) § 62 Rdn. 2. Zum Verhältnismäßigkeitsgrundsatz bei den Maßregeln eingehend Bae, Verhältnismäßigkeit S. 72 ff. Daß § 63 in seiner gegenwärtigen Ausgestaltung gegen den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz verstoße, nimmt Schroth, Schüler-Springorum-Festschrift S. 598 f. an. 12 Ebenso SK (Horn) § 62 Rdn. 3, 5. Die begangene Tat („Anlaßtat") ist nur insoweit von Bedeutung, als sie die zukünftige Gefährlichkeit des Täters indiziert; LK 11 (Hanack) § 62 8

Rdn. 11; Ν Κ (Böllinger)

§ 62 Rdn. 6.

805

I. Allgemeines

Anordnung einer Maßregel, sondern ist in gleicher Weise auch bei der Entscheidung über ihre Fortdauer zu beachten (BVerfGE 70, 297 [315]; OLG Karlsruhe NJW 1971, 204)13. b) Das eigentliche Problem der freiheitsentziehenden Maßregeln liegt bei der Feststellung ihrer Anwendungsvoraussetzungen. Zulässig ist ihre Anordnung nur dann, wenn erstens weitere (gewichtige) Straftaten des Verurteilten prognostiziert werden und wenn zweitens die Maßregel geeignet ist, diese Straftaten zu verhüten. In beiden Punkten begründen die Erkenntnisse der modernen Kriminologie Skepsis: Weder verfügen wir über verläßliche Methoden zur Vorhersage künftigen Legalverhaltens eines Individuums 1 4 , noch besteht empirisch begründeter Anlaß zu der zuversichtlichen Annahme, ein Aufenthalt z.B. in einer Entziehungsanstalt (§ 64) werde einen mehrfach rückfälligen Alkohol- oder Drogentäter in Zukunft zu rechtstreuem Verhalten veranlassen1 . Das Sonderopfer, das mit der Anordnung einer Maßregel stets verbunden ist, wird also in jedem Einzelfall auf einer sehr unsicheren Tatsachengrundlage auferlegt. Diese Einsicht sollte zu einem besonders zurückhaltenden Umgang mit den freiheitsentziehenden Maßregeln Anlaß geben. Dies betrifft zunächst die Prognose künftiger Straftaten. Hier setzt die Anordnung einer Unterbringung zunächst voraus, daß „erhebliche" rechtswidrige Taten zu erwarten sind. Darunter sollte man in der Regel nur solche Delikte verstehen, die unter Anwendung von Gewalt oder Drohung mit Gewalt begangen werden, nicht bloße Vermögensstraftaten 16. Dies gebietet schon der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. Des weiteren muß die Analyse des bisherigen Täterverhaltens zweifelsfrei den Schluß zulassen, daß der Verurteilte bestimmte Situationen, in die er auch in Zukunft wieder kommen kann, regelmäßig nur durch strafbares Verhalten zu „bewältigen" versteht 17 ; die bloße Möglichkeit künftiger Taten oder die (aus therapeutischer Sicht bestehende) Indikation zu einer psychiatrischen Behandlung reichen nicht aus 18 . Was schließlich die Geeignetheit der Maßregel zur Beseitigung der Gefahr betrifft, so mag bei praktischer Betrachtung zunächst der Sicherungscharakter der stationären Unterbringung im Vordergrund stehen 19 . Doch dürfen die stationären Maßregeln - mit Ausnahme der allein der Sicherung dienenden Verwahrung nach § 66 - jedenfalls nicht von vornherein als therapeutisch aussichtslos erscheinen; das Sonderopfer des Maßregelvollzugs darf dem Täter nur abverlangt 13

14

LK n

CHanack) § 62 Rdn. 6; Schönke/Schröder/Stree,

§ 62 Rdn. 3.

Siehe hierzu Baur, MDR 1990, 476 ff.; Frisch, Prognoseentscheidungen im Strafrecht S. 34 ff.; Frisch /Vogt (Hrsg.), Prognoseentscheidungen in der strafrechtlichen Praxis, 1994; Kaiser, Befinden sich die kriminalrechtlichen Maßregeln in der Krise? S. 16ff.; Kögler, Die zeitliche Unbestimmtheit freiheitsentziehender Sanktionen des Strafrechts S. 89ff.; Kühl/ Schumann, Recht und Psychiatrie 1989, 126; Leygraf, in: Gebauer/Jehle (Hrsg.), Die strafrechtliche Unterbringung S. 199; LK n {Hanack) Vorbem. 107- 127 vor § 61; Rasch, BlauFestschrift S. 309; SK {Horn) § 61 Rdn. 7 ff.; Streng, Sanktionen S. 223 ff. 15 Zu den Ergebnissen der Behandlungsforschung siehe Eisenberg, Kriminologie § 42 Rdn. 18, 18 a; Kaiser, Kriminologie §§ 114, 116 Rdn. 62 - 64. 16 Vgl. Frisch, ZStW 102 (1990) S. 384 - 386; Hanack, in: Gebauer/Jehle (Hrsg.), Die strafrechtliche Unterbringung S. 183; LK n {Hanack) §63 Rdn. 45 -57; NK {Böllinger) §61 Rdn. 45. Daß die Erwartung bloßer Bagatelltaten die Maßregel nach § 63 nicht zu begründen vermag, ist in der Rechtsprechung seit jeher anerkannt; siehe BGH StV 1992, 571; KG StV 1992, 580; weitere Nachweise bei Dreh er/Tröndle, § 63 Rdn. 8. 17 Frisch, Prognoseentscheidungen im Strafrecht S. 80ff.; derselbe, ZStW 102 (1990) S. 373 - 376. Die herrschende Lehre behilft sich dagegen mit der Anwendung des Grundsatzes „in dubio pro reo" auf die Prognosevoraussetzungen; siehe LK n {Hanack) Vorbem.

48 - 50 vor § 61; SÄ" {Horn) § 61 Rdn. 9. 18

Dreher/Tröndle,

19

LK n

{Hanack)

Vorbem. 3 vor § 61; Schönke/Schröder/Stree,

§ 62 Rdn. 18; SK {Horn)

§ 62 Rdn. 6.

Vorbem. 9 vor § 61.

806

§ 77 M a ß r e g e l n m i t Freiheitsentziehung

werden, wenn die Chance der Besserung seines Leidens mit ihm verbunden ist (vgl. BVerfGE 91, 1; ähnlich auch B G H 37, 373 [374f.]; einschränkend O L G Hamburg NJW 1995, 2424) 20 . Für Fälle, in denen allein der Schutz der Allgemeinheit vor gefährlichen Geisteskranken durch deren sichere Verwahrung geboten ist, kann auf die Unterbringungsgesetze der Länder zurückgegriffen werden. 6. Bei rechtsvergleichender Betrachtung zeigt sich hinsichtlich der Einstellung zu den Maßregeln kein einheitliches Bild. In ihrem „Mutterland", der Schweiz, sollen die Maßregeln auch nach dem Vorentwurf der Expertenkommission (Art. 59 - 69) beibehalten und um die Maßnahme der ambulanten Behandlung (Art. 67) erweitert werden 21. Praktiziert wird das zweispurige System außerdem z.B. in Osterreich (§§ 21-25 österr. StGB), den Niederlanden22, Polen2 und Ungarn 24; eine längere Tradition hat es auch in Italien, wo jedoch vor allem aufgrund von Mißständen in der Praxis eine „Identitätskrise" 25 der Maßregeln festgestellt wird. Dagegen sind strafrechtliche Maßregeln als eigenständiges Institut der Gefährlichkeitsbekämpfung unbekannt im anglo-amerikanischen Rechtskreis 6 , in Frankreich 27 und in Schweden2 . II. Die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus (§ 63) 1. a) Die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus dient dem Zweck, die Allgemeinheit vor dauernd gefährlichen geisteskranken Straftätern zu schützen und diesen gleichzeitig die Möglichkeit einer Besserung ihres Leidens zu eröffnen (vgl. § 136 StVollzG: „Die Behandlung des Untergebrachten in einem psychiatrischen Krankenhaus richtet sich nach ärztlichen Gesichtspunkten. Soweit möglich, soll er geheilt oder sein Zustand soweit gebessert werden, daß er nicht mehr gefährlich ist."). Gerade bei diesen Personen wird die Notwendigkeit einer Maßregel besonders deutlich sichtbar, denn entweder kann wegen Schuldunfähigkeit (§ 20) gar keine Strafe verhängt werden, oder die Strafe bietet aufgrund der in § 2 1 vorgesehenen Milderung für eine wirksame Behandlung keinen ausreichenden Zeitraum; außerdem sind die Strafvollzugsanstalten für geistig-seelisch erheblich beeinträchtigte Personen in jeder Hinsicht ungeeignete Aufenthaltsorte. b) Allerdings löst auch die Existenz der Maßregel die besonderen Probleme dieser doppelt stigmatisierten („kriminell und geisteskrank") 29 Personengruppe nicht wirklich: Sie bildet auch in den psychiatrischen Krankenhäusern einen 20 Ebenso NK {Böllinger) § 63 Rdn. 103; SK (Horn) § 64 Rdn. 2; zum Vorrang des Behandlungsziels auch LK (Hanack) § 63 Rdn. 2 unter Hinweis auf § 136 StVollzG; bezüglich § 63 zurückhaltend jedoch Kammeier , in: derselbe (Hrsg.), Maßregelvollzugsrecht Rdn. Β 13. 21 Zum geltenden Recht der Schweiz siehe Art. 42 ff. Schweiz. StGB sowie Stratenwerth , Schweiz. Strafrecht Allg. Teil I I §§9-14; zur Einführung der Zweispurigkeit in Liechtenstein Jescheck , SchwZStr 108 (1991) (Hauser-Festgabe) S. 151 f. 22 Eingehend hierzu Sagel-Grande , ZStW 103 (1991) S. 732. 23 Siehe Buchala , ZStW 102 (1990) S. 394. 24 Siehe Nagy , in: Eser/Kaiser/E. Weigend (Hrsg.), Von totalitärem zu rechtsstaatlichem Strafrecht S. 327 ff. 25 So MHSCO , ZStW 102 (1990) S. 426. 26 Zur Bewältigung des Sachproblems in den USA siehe Less, Die Unterbringung von Geisteskranken, 1989. 27 Dort sieht Art. 131-6 Code pénal allerdings eine Reihe von Zusatzstrafen wie den Entzug der Fahrerlaubnis oder der Waffenbesitzerlaubnis vor, die auch der Bekämpfung der Gefährlichkeit dienen; siehe hierzu Zieschang , Sanktionensystem S. 122 ff. 28 Zum schwedischen System Victor , ZStW 102 (1990) S. 435.

Siehe

inger

Rdn. 2 .

I I . D i e U n t e r b r i n g u n g i n einem psychiatrischen Krankenhaus (§ 63)

807

Fremdkörper, der schon wegen der gesteigerten Sicherungsbedürfnisse auch räumlich abgesondert wird, und sowohl die Möglichkeiten als auch die Anstrengungen zur gezielten Behandlung der Untergebrachten sind häufig stark reduziert Der tatsächliche Zustand des Maßregelvollzugs ist vielfach heftig kritisiert worden 3 1 ; bereits 1978 war in der Psychiatrie-Enquête von der „Schlußlichtposition im Versorgungsbereich" innerhalb der Psychiatrie die Rede 32 , und trotz verstärkter Bemühungen scheint sich daran nichts Grundlegendes geändert zu haben 33 . Angesichts dieser Misere ist zu erwägen, ob die Unterbringung geisteskranker oder psychisch abnormer Straftäter - zu denken ist insbesondere an Psychopathen, die unter den Begriff der „schweren anderen seelischen Abartigkeit" (§ 20) fallen - nicht besser in eigenen Anstalten statt in psychiatrischen Krankenhäusern erfolgen sollte 34 . Die Unterbringung in psychiatrischen Krankenhäusern ist auch bei Anwendung von Jugendstrafrecht vorgesehen (§ 7 JGG), und zwar auch dann, wenn der Jugendliche nach § 3 JGG verantwortlich, jedoch i.S.v. § 21 vermindert schuldfähig ist (BGH 26, 67). Die Maßregel darf gegenüber einem Jugendlichen aber nur angeordnet werden, wenn sie zu dessen Heilung oder Pflege dient und erforderlich ist (BGH 37, 373). c) Von der Maßregel des § 63 wird seit Jahrzehnten in etwa konstantem Umfang Gebrauch gemacht: Die Zahl der Anordnungen liegt jährlich zwischen 400 und 450, und am Stichtag sind jeweils etwa 2500 Personen untergebracht 35. Bedenken erwecken die langen Verweildauern, die (nach unterschiedlichen Untersuchungen) im Durchschnitt zwischen 7 und 10 Jahren betragen, wobei die (gewaltlosen) Sexualtäter die durchschnittlich längsten Zeiten im Maßregelvollzug zubringen müssen36. In vielen Fällen liegt die Dauer der Maßregel nach § 63 deutlich über der gesetzlichen Höchstgrenze der Strafe 7 . Unter den gegebenen Umständen ist die verbreitete Forderung nach einer zeitlichen Begrenzung der Unterbringung durch Gesetz durchaus verständlich38. Gegen sie kann allenfalls die Befürchtung sprechen, daß die Praxis dazu neigen könnte, gesetzliche Höchstgrenzen auch auszuschöpfen. 30

Zur Realität der Unterbringung nach § 63 siehe die eingehenden Untersuchungen von Leygraf, Psychisch kranke Straftäter, 1988 und V. Schumann, Psychisch kranke Rechtsbrecher, 1987. Siehe ferner Athen/Böcker, Forensia 8 (1987) S. 125; Blau/Kammeier (Hrsg.), Straftäter in der Psychiatrie, 1984; Gebauer, in: Gebauer/Jehle (Hrsg.), Die strafrechtliche Unterbringung S. 27ff.; Höhner, MschrKrim 1993, 83; Konrad, in: Jung/Müller-Dietz (Hrsg.), Langer Freiheitsentzug S. 167ff.; NK (Böllinger) §63 Rdn. 5-23; Ritzel, MschrKrim 1989, 123. 31 Siehe etwa Blau, Jescheck-Festschrift Bd. I I S. 1015; M. Kreuzer, in: Gebauer/Jehle (Hrsg.), Die strafrechtliche Unterbringung S. 81 ff.; Müller-Dietz, JR 1987, 52; NK {Böllinger) § 63 Rdn. 12-14; Rasch, Forensische Psychiatrie S. 85; eingehend und überwiegend kritisch Volckart, Maßregelvollzug S. 26 ff. Zur Geltung der Menschenrechte im Maßregelvollzug siehe Kaiser, R.-Schmitt-Festschrift S. 359. 32 Psychiatrie-Enquête, BT-Drucks. 7/4200 S. 281. 33

LK n

CHanack) § 63 Rdn. 10; NK (Böllinger)

S. 116; LK

(Hanack) § 63 Rdn. 8; NK (Böllinger)

34

§ 63 Rdn. 33.

Vgl. dazu BT-Drucks. 10/5828 S. 6; LK n (Hanack) § 63 Rdn. 3, 4, 127; NK (Böllinger) § 63 Rdn. 64f. Die ursprünglich in § 65 vorgesehene Sozialtherapeutische Anstalt hätte jedenfalls einen Teil der jetzt in der allgemeinen Psychiatrie untergebrachten Täter aufnehmen sollen. 35 Detaillierte Zahlenangaben bei Gebauer, in: Gebauer/Jehle (Hrsg.), Die strafrechtliche Unterbringung S. 27-32; LK U (Hanack) §63 Rdn. 7; NK (Böllinger) §63 Rdn. 5 f.; zu regionalen Unterschieden siehe Müller/Siadak, MschrKrim 1991, 316. Vgl. ferner oben § 5 V 2. 36 Nachweise bei Athen/Böcker, Forensia 8 (1987) S. 133 f.; Konrad, in: Jung/MüllerDietz (Hrsg.), Langer Freiheitsentzug S. 170 - 172; Leygraf\ Psychisch kranke Straftäter 37

§ 63 Rdn. 7.

Blau, Jescheck-Festschrift Bd. I I S. 1025; Horstkotte, MschrKrim 1986, 332. 38 Siehe z.B. Baur, Der Vollzug der Maßregeln S. 227f.; Bernsmann, in: Blau/Kammeier (Hrsg.), Straftäter in der Psychiatrie S. 142; Kaiser, Befinden sich die kriminalrechtlichen

§ 7

808

Maßregeln

Freiheitsentziehung

2. Die Unterbringung ist an verschiedene Voraussetzungen geknüpft; diese betreffen die auslösende Tat, die (mangelnde) Schuldfähigkeit des Täters sowie die Gefährdung der Allgemeinheit, die von dem Täter ausgeht. a) Die Anordnung der Maßregel setzt zunächst voraus, daß der Täter eine „rechtswidrige Tat" i.S.v. § 11 Nr. 5 begangen hat. Angesichts der Schwere des Eingriffs in die Freiheit des Täters, den die Unterbringung bedeutet, können aber geringe Vergehen als Anlaßtaten nicht ausreichen (BGH 20, 232; B G H GA 1965, 282; NJW 1970, 1242; verfehlt B G H 24, 134, wonach schon der Diebstahl von 100 D M als Anlaßtat genügen soll) 39 . Das Erfordernis einer „rechtswidrigen Tat" greift auch insoweit zu kurz, als es die Unterbringung im psychiatrischen Krankenhaus z.B. auch dann zuließe, wenn der Täter im entschuldigenden Notstand (§ 35) gehandelt hat oder von einem Versuch strafbefreiend zurückgetreten ist (§ 24). In diesen Fällen ist die Anordnung der Unterbringung jedoch ausgeschlossen, weil Anlaß für eine strafrechtliche Maßregel nur ein Verhalten sein kann, das an sich die Strafbarkeit des Täters begründen würde, wenn nicht seine Schuldfähigkeit ausgeschlossen oder zumindest erheblich eingeschränkt (§21) wäre; § 63 setzt also eine vollständige strafbare Handlung voraus, mit Ausnahme der Schuldfähigkeit des Täters (BGH 31, 132 m. Anm. Blau , JR 1984, 27; B G H NStZ 1991, 52sf°. Personen, die für ihre Mitmenschen oder sich selbst gefährlich erscheinen, ohne eine im dargelegten Sinne strafbare Handlung begangen zu haben, können nach den Unterbringungsgesetzen der Länder in psychiatrische Krankenhäuser eingewiesen werden. Problematisch sind die Fälle, in denen der Täter aufgrund seiner Geisteskrankheit einem Irrtum über das Bestehen eines Tatbestandsmerkmals oder über die tatsächlichen Voraussetzungen eines Rechtfertigungsgrundes unterliegt. Beispiele: Ein geisteskranker Künstler nimmt hohe Darlehen auf, da er in seiner Verblendung glaubt, er werde schon bald zu großem Reichtum gelangen und die Darlehen zurückzahlen können (BGH 3, 287); ein unter krankhaftem Verfolgungswahn leidender Täter glaubt, ein harmloser Spaziergänger wolle ihn töten, und schlägt diesen in vermeintlicher Notwehr nieder (vgl. BGH 10, 355). Nach der hier vertretenen Irrtumslehre fehlt es im ersten Fall mangels Vorsatzes an einer „rechtswidrigen Tat", während sie im zweiten Fall gegeben ist, da der Irrtum nur die Vorsatz schuld berührt (vgl. oben §§ 24 I I I 4 c, 41 IV ld). Andererseits ist nicht daran zu zweifeln, daß die Täter in beiden Fällen aufgrund ihrer Geisteskrankheit gefährlich sind, die objektiven Merkmale einer strafbaren Handlung erfüllt und deren subjektive Merkmale nur wegen ihrer Geisteskrankheit nicht verwirklicht haben. Obwohl also die Anordnung einer Maßregel nach § 63 hier sachlich angebracht wäre 41 , ist sie im Fall des Tatbestandsirrtums doch nach dem klaren Wortlaut („rechtswidrige Tat"), über den man sich wegen des AnalogieverMaßregeln in der Krise? S. 36f.; Lauhenthal, Krause-Festschrift S. 368ff.; LK 10 (. Horstkotte ) § 67d Rdn. 8; Wagner , Recht und Psychiatrie 1992, 131. 39 Erheblichkeit der Anlaß tat verlangen auch NK (. Böllinger ) § 63 Rdn. 75; Volckart, Maß-

regelvollzug S. 8; a.A. Dreher/Tröndle

, § 63 Rdn. 7; Schönke/Schröder/Stree,

§ 63 Rdn. 8;

4. Auflage S. 729; abwägend LK 11 (Hanack) § 63 Rdn. 77 - 79 (zwar komme es entscheidend auf die künftige Gefährlichkeit des Täters an, aber der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz sei hinsichtlich der Anlaßtat „besonders zu profilieren"). 40

41

LK U

CHanack ) § 63 Rdn. 31, 34; NK (Böllinger)

§ 63 Rdn. 74; SK (Horn) § 63 Rdn. 3.

Für die Anwendbarkeit von § 63 in diesen Fällen daher BGH 3, 287; Baumann/Weher, Allg. Teil S. 716; Bockelmann/Volk, Allg. Teil S. 284; LK U (Hanack) § 63 Rdn. 25 -29; Schönke / Schröder / Stree, § 63 Rdn. 7.

I I . D i e U n t e r b r i n g u n g i n einem psychiatrischen Krankenhaus (§ 63)

809

bots nicht hinwegsetzen kann, ausgeschlossen42. I m Fall eines Erlaubnistatbestandsirrtums (und erst recht im Fall eines Verbotsirrtums oder eines Irrtums über das Vorliegen von Entschuldigungsgründen) erkennt dagegen auch der geisteskranke Täter, daß er die in einem Straftatbestand typisierten Unrechtsmerkmale verwirklicht. Deshalb steht hier die Wortlautgrenze einer sachlich gebotenen Anordnung der Maßregel nicht entgegen ( B G H 10, 3 55) 4 3 , auch wenn die Appellwirkung der Tatbestandserfüllung bei geisteskranken Tätern eher fiktiv sein dürfte. b) Weiterhin muß feststehen, daß der Täter bei der Tat schuldunfähig (§ 20) oder vermindert schuldfähig (§21) war. Bei verminderter Schuldfähigkeit tritt die Unterbringung neben die Strafe und wird in der Regel vor dieser vollzogen (§ 67 I). Bleibt zweifelhaft, ob der Täter schuldunfähig oder nur vermindert schuldfähig war, so kann er zwar nicht bestraft werden, doch ist die Anordnung der Maßregel nach § 63 zulässig (BGH 18, 167). Läßt sich dagegen nicht klären, ob der Täter voll oder nur vermindert schuldfähig war, so kommt eine Unterbringung nicht in Betracht, da diese bei einem - wie hier im Zweifel anzunehmen ist - voll verantwortlichen Menschen ausgeschlossen ist (BGH 34, 22 [26]; BGH NJW 1983, 350; NStZ 1990, 538). Kann das Gericht nicht feststellen, ob der Täter voll oder vermindert schuldfähig war, und sind auch die Voraussetzungen des § 20 nicht auszuschließen, so kann weder eine Strafe verhängt noch die Unterbringung angeordnet werden 44. Die Schuldunfähigkeit muß auf einem länger andauernden seelischen Zustand beruhen, nicht etwa auf einem einmaligen Affekt; dies ergibt sich schon daraus, daß auch die Prognose weiterer Taten aus dem „Zustand" des Täters folgen muß ( B G H StV 1990, 260; NStZ 1993, 181) 45 . Unter einer Geisteskrankheit im medizinischen Sinne braucht der Täter allerdings nicht zu leiden; auch andere schuldausschließende psychisch-seelische Defekte (z.B. Psychopathie) können die Unterbringung begründen ( B G H 34, 22 [27f.]; B G H NStZ 1990, 122) 46 . Für Alkoholkranke kommt, da mit § 64 eine für den Regelfall besser geeignete und überdies weniger belastende (vgl. § 72 I 2) Maßregel zur Verfügung steht, die Unterbringung im psychiatrischen Krankenhaus nur in seltenen Ausnahmefällen in Betracht, nämlich dann, wenn eine krankhaft überhöhte Empfindlichkeit schon gegenüber ganz geringen Alkoholmengen vorliegt ( B G H 10, 57; 34, 313; B G H Detter NStZ 1989, 471; siehe auch B G H JR 1995, 115 m.Anm. Blau) 47. c) Entscheidend für die Frage der Unterbringung ist zumeist die Prognose, daß von dem Täter „infolge seines Zustandes erhebliche rechtswidrige Taten zu erwarten sind" 4 8 . Der mit der Unterbringung verbundene schwere Eingriff in die persönliche Freiheit kann dem schuldunfähigen oder in seiner Schuldfähigkeit eingeschränkten Täter nur dann zugemutet werden, wenn ohne die Unterbringung gra42

§ 63 So im Ergebnis auch Blei,, Alle. Teil S. 433; Bruns, JZ 1964, 478; Dreher/Tröndle, Rdn. 2a; Maurach/Gössel/Zipf Allg. Teil II § 68 Rdn. 7; NK (Böllinger) § 63 Rdn. 72; SK (Horn) § 63 Rdn. 4; Welzel, Lehrbuch S. 264. 43 LK 11 (Hanack) § 63 Rdn. 32 und die herrschende Meinung; a.A. wohl Dreher/ Tröndle, § 63 Rdn. 2 a; NK (Böllinger) 44

§ 63 Rdn. 72; SK (Horn) § 63 Rdn. 4.

Kritisch dazu Geilen, JuS 1972, 75. 45 Es muß also durch die geistig-seelische Störung eine innere Verbindung zwischen der Anlaßtat und den zu erwartenden weiteren Straftaten hergestellt werden; BGH StV 1984, 508; NStZ 1991, 528; NK (Böllinger) § 63 Rdn. 82. 46 Ebenso LK n (Hanack) § 63 Rdn. 66. 47 Eingehend hierzu LK 11 (Hanack) § 63 Rdn. 67 - 73. 48 Die Prognose muß auf der Grundlage einer „Gesamtwürdigung von Tat und Täter" getroffen werden; siehe hierzu BGH NStZ 1990, 122; 1992, 538; kritisch Horn, A. Kaufmann· Gedächtnisschrift S. 573.

810

§ 77 Maßregeln m i t Freiheitsentziehung

vierende Rechtsverletzungen bevorstünden (vgl. zur Prognose aus der Rechtsprechung B G H NStZ 1991, 528; NJW 1992, 1570; NStZ 1993, 78 sowie oben § 77 I 4b); dies gilt insbesondere deshalb, weil die therapeutischen Möglichkeiten im Maßregelvollzug sehr begrenzt sind, so daß sich die Unterbringung de facto häufig auf eine bloße Einschließung des Täters beschränkt. Die Wahrscheinlichkeit bloß lästigen Verhaltens (z.B. Beleidigungen, kleinere Diebstähle oder Betrügereien) kann daher die Anordnung in keinem Fall begründen (BGH 20, 232; B G H NJW 1989, 2959; NStZ 1992, 173, 178; 1995, 228). Auch bei der Gefahr von gewaltlosen „mittelschweren" Eigentums- oder Vermögensdelikten kann man die Unterbringung allenfalls in besonderen Ausnahmefällen als verhältnismäßig ansehen (zu weitgehend B G H 27, 246 [247f.]; B G H M D R 1989, 1051)49. Neben der Prognose erheblicher Straftaten muß festgestellt werden, daß der Täter „für die Allgemeinheit" gefährlich ist. Aufgrund dieser Formulierung sind - entgegen der wohl herrschenden Meinung (BGH 26, 321; 34, 22 [28 f.]) 5 0 - Fälle auszuschließen, in denen sich die kriminellen Absichten des Täters nur gegen eine bestimmte Person (z.B. seine Ehefrau) richten 51 ; in diesen Fällen kann die Gefahr meist in anderer Weise als durch eine zeitlich unbestimmte Unterbringung des Täters abgewendet werden. Auch im übrigen haben weniger eingreifende, aber spezialpräventiv gleich wirksame Maßnahmen, wie z.B. eine ambulante psychiatrische Behandlung, Vorrang vor der Anordnung der Maßregel (vgl. O L G Stuttgart JZ 1961, 53) 52 ; ob die Unterbringung nach den entsprechenden Gesetzen der Länder eine mildere Maßnahme ist, ist umstritten 53 . 3. Wenn die Voraussetzungen von § 63 erfüllt sind, ist die Anordnung der Unterbringung zwingend (vgl. B G H 37, 373 [374]). Eine bestimmte Dauer ist bei dieser Maßregel nach geltendem Recht nicht vorgesehen; die Unterbringung ist zu beenden, wenn sie zum Zweck der Sicherung nicht mehr erforderlich ist (BVerfG NJW 1995, 3048). Allerdings hat das Gericht jedes Jahr zu prüfen, ob die Unterbringung nicht zur Bewährung ausgesetzt werden kann (§ 67e I, II). Der Vollzug der Maßregel richtet sich nach landesrechtlichen Gesetzen54. Dort ist auch - in unterschiedlicher Weise - die wichtige Frage geregelt, in welchem Umfang der Untergebrachte ohne seine Zustimmung therapeutischen Maßnahmen unterworfen werden kann 55 . 4. Wird gegen den Täter ein Strafverfahren durchgeführt, so ist die Maßregel - nach Anhörung eines Sachverständigen (§ 246 a StPO) 56 - durch Urteil auszusprechen. Ist von vornherein abzusehen, daß ein Schuldspruch wegen Schuldunfä49 50

In der Tendenz zutreffend LK n {Hanack) § 63 Rdn. 53 f.; SK (Horn) § 63 Rdn. 12.

Lackner , § 63 Rdn. 7; LK n {Hanack) § 63 Rdn. 59, 59a; Maurach/Gössel/Zipf, Teil I I § 68 Rdn. 4; Schönke/Schröder/Stree, § 63 Rdn. 16; SK {Horn) § 63 Rdn. 13. 51 Wie der Text Dreh er/Tröndle, § 63 Rdn. 10; NK {Böllinger) § 63 Rdn. 80 f.

Allg.

52 In diesem Fall muß nach richtiger Auffassung schon die Anordnung (nicht erst der Vollzug) der Maßregel unterbleiben; LK n {Hanack) Vorbem. 60f. vor § 61 sowie § 63 Rdn. 83. 53 Hierzu eingehend LK n {Hanack) § 63 Rdn. 99-118. 54 Sie sind abgedruckt bei Kammeier (Hrsg.), Maßregelvollzugsrecht S. 409 ff. sowie bei Volckart , Maßregelvollzug S. 177 ff. 55 Siehe z.B. für Baden-Württemberg § 18 UnterbringungsG vom 11.4.1983 (GBl. BW 1983 S. 133), für Nordrhein-Westfalen §15 Maßregelvollzugsgesetz vom 18.12.1984 (GV NW 1985 S. 14); siehe hierzu auch NK {Böllinger) § 63 Rdn. 49 - 55; Rincke, NStZ 1988, 10; Volckart, Maßregelvollzug S. 105 ff.; Wolfslast, ZfStrVo 1987, 323. 56

Siehe hierzu Eisenberg,

Persönliche Beweismittel Rdn. 1314 - 1320.

I I . D i e U n t e r b r i n g u n g i n eine

t i e h u s

(§ 6 )

811

higkeit des Täters nicht in Betracht kommt, so kann das für diese Fälle vorgesehene Sicherungsverfahren (§§413-416 StPO) mit dem Ziel der Unterbringung durchgeführt werden (§ 71 I). I I I . Die Unterbringung in einer Entziehungsanstalt (§ 64) 1. Der Gesetzgeber hat durch die Ausgestaltung der Unterbringung in einer Entziehungsanstalt seine Vorstellung zum Ausdruck gebracht, daß bei dieser Maßregel nicht der Sicherungs-, sondern der Besserungszweck im Vordergrund stehen soll: Nach § 64 I I hat die Anordnung zu unterbleiben, wenn eine Entziehungskur „von vornherein aussichtslos erscheint"; und nach § 67d V kann das Gericht den Vollzug nachträglich abbrechen, wenn der (Besserungs-)Zweck der Maßregel nicht erreicht werden kann. Das Bundesverfassungsgericht hat in einer Entscheidung aus dem Jahre 1994 (BVerfGE 91, 1) festgestellt, daß der Schutz des Freiheitsgrundrechts (Art. 2 I I 2 GG) eine noch stärkere Ausrichtung der Unterbringung am Behandlungsgedanken erfordere, und deshalb §§ 64 I, 67 I V 2, 67d V teilweise für verfassungswidrig erklärt 57 . Da die Unterbringung in einer Entziehungsanstalt nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts nur dann angeordnet werden darf, wenn sie geeignet ist, den Schutz der Allgemeinheit gerade durch Behandlung (und nicht durch das bloße Einsperren des Täters) zu erreichen, setze die Maßregel die positive Feststellung des Gerichts voraus, daß bei dem Täter eine „hinreichend konkrete Aussicht auf Behandlungserfolg" besteht; die in § 64 I I angesprochene Verneinung der „Aussichtslosigkeit" genüge nicht (BVerfGE 91, 1 [30 f.]) 5 8 . Konsequenterweise muß dann die Unterbringung auch sogleich abgebrochen werden, wenn festgestellt wird, daß sie eine Heilung oder Besserung der Sucht nicht zu bewirken imstande ist. Die in § 67d V 1 angeordnete einjährige Wartefrist hat das Bundesverfassungsgericht deshalb für verfassungswidrig erklärt (BVerfGE 91, 1 [34]). 2. Die Unterbringung in der Entziehungsanstalt hat in den letzten Jahren zunehmende Bedeutung gewonnen. Im Jahre 1991 wurde sie in 626 Fällen angeordnet, und es wurden insgesamt 1160 nach § 64 untergebrachte Personen gezählt59. Unter ihnen überwiegen die Alkoholsüchtigen gegenüber denjenigen, die von sonstigen Rauschgiften abhängig sind60. Angesichts der hohen Zahl der Rauschmittelabhängigen in der, Gesamtbevölkerung und insbesondere unter den Straftätern erstaunt der Umstand, daß von der Maßregel relativ selten Gebrauch gemacht wird. Dies mag unter anderem mit den geringen Möglichkeiten einer wirksamen Therapie speziell unter den teilweise beklagenswerten Bedingungen des Maßregelvollzugs zusammenhängen61. 57

Deutlich ablehnend zu dieser Entscheidung Dreher/Tröndle, § 64 Rdn. la-le; in der Grundtendenz zustimmend van der Haar, NStZ 1995, 315; Lackner, § 64 Rdn. 1. Im Sinne der Entscheidung BVerfGE 91, 1 schon früher SK (Horn) § 64 Rdn. 2; für Gleichrangigkeit des Sicherungszwecks dagegen LK 11 (Hanack) § 64 Rdn. 3-6. 58 Kritisch ist bei dieser Prognose unter anderem die Voraussage bezüglich der Behandlungsbereitschaft des Täters, die letztlich unverzichtbare Voraussetzung für eine erfolgreiche Therapie ist; siehe hierzu Marneros u.a., MschrKrim 1993, 169. Zu weiteren Erfolgsbedingungen LK U (Hanack) § 64 Rdn. 93 - 100c. 59 Zahlenangaben auch für zurückliegende Jahre bei Kaiser, Kriminologie S. 951; NK (Böllinger) § 64 Rdn. 3 f. Vgl. ferner oben § 5 V 2. 60 Vgl. die Angaben bei Schalast, Recht und Psychiatrie 1994, 3. 61 Der Vollzug ist landesrechtlich geregelt; siehe oben Fußnote 55. Zur Vollzugswirklichkeit plastisch Schalast, Recht und Psychiatrie 1994, 1 -4; siehe auch Dessecker, NStZ 1995, 318; LK U (Hanack) § 64 Rdn. 17. Für Drogenabhängige besteht im übrigen die Möglichkeit der Behandlung nach §§ 35, 36 BtMG, gegenüber der § 64 allerdings Vorrang hat (BGH StV 1993, 302).

§ 7

812

Maßregeln

Freiheitsentziehung

3. Die Voraussetzungen der Unterbringung in der Entziehungsanstalt sind ähnlich strukturiert wie diejenigen der Unterbringung nach § 63 (siehe oben § 77 I I 2), allerdings teilweise abweichend formuliert 62 . a) Der Täter muß den „Hang" haben, alkoholische Getränke oder andere berauschende Mittel im Übermaß zu sich zu nehmen. Der Begriff des „Hanges" entspricht demjenigen der Sucht 63 ; der Täter muß also von dem Rauschmittel körperlich oder psychisch in der Weise abhängig sein, daß er das häufig wiederkehrende Verlangen danach nur noch schwer beherrschen kann (vgl. B G H 3, 339; B G H Holtz M D R 1989, 857; B G H NStZ 1993, 339) 64 . b) Die auslösende Tat kann, anders als bei § 63, auch im Zustand der vollen Schuldfähigkeit begangen sein (z.B. Beschaffungskriminalität; vgl. B G H NJW 1990, 3282; M D R 1990, 886); andererseits kann aber die Unterbringung in der Entziehungsanstalt auch dann angeordnet werden, wenn eine Bestrafung wegen Schuldunfähigkeit (§ 20) nicht in Frage kommt. Die Anlaßtat muß zumindest symptomatisch auf der Rauschmittelsucht des Täters beruhen ( B G H Dallinger M D R 1971, 895); ein bloß zufälliges Zusammentreffen von Straftat und Rauschmittelabhängigkeit (bei einem Betrüger wird im Strafverfahren z.B. auch dessen Drogenabhängigkeit festgestellt) genügt nicht, da es nicht Aufgabe der strafrechtlichen Maßregeln sein kann, therapeutische Maßnahmen zu erzwingen, die nicht gerade zur Reaktion auf erwiesene kriminelle Gefährlichkeit notwendig sind 6 5 . c) Schließlich muß die Gefahr bestehen, daß der Täter aufgrund seines Hanges auch in Zukunft erhebliche Straftaten begeht 66 . Die umstrittene Frage, ob hinsichtlich der Sicherheit der Prognose und des Gewichts der zu erwartenden Straftaten hier geringere Anforderungen zu stellen sind als bei der Unterbringung im psychiatrischen Krankenhaus 67 , ist zu verneinen, da auch der Aufenthalt in der Entziehungsanstalt sehr lang dauern kann 6 8 und da die Heilungsaussichten hier trotz der therapeutischen Intention der Maßregel nicht wesentlich günstiger einzuschätzen sind als bei der Unterbringung nach § 63 6 9 . 62

109.

Zu den Voraussetzungen aus psychiatrischer Sicht Rasch, Recht und Psychiatrie 1991,

63 NK CBöllinger ) § 64 Rdn. 86; Rasch, Recht und Psychiatrie 1991, 110; zum Begriff des Hanges eingehend LK n ÇHanack ) § 64 Rdn. 38 - 54. 64 Dabei muß sich die Abhängigkeit des Täters auf den Genuß des Rauschmittels „im Übermaß", d.h. in letztlich gesundheitsschädlichem Ausmaß, beziehen; LK U {Hanack) § 64 Rdn. 41. 65

66

NK {Böllinger)

§ 64 Rdn. 91; SK {Horn) § 64 Rdn. 7.

Diese Prognose ist regelmäßig mit Hilfe von Sachverständigen zu stellen (§ 246 a StPO). Zur häufigen Mangelhaftigkeit der Sachverständigengutachten in diesem Bereich siehe Ermer-Externhrink, MschrKrim 1991, 109ff.; Konrad , StV 1992, 597; Schalast/Leygraf MschrKrim 1994, 1. 67 Dafür Bockelmann/Volk, Allg. Teil S. 286f.; Dre h er/Tröndle, § 64 Rdn. 6; Lackner, § 64 Rdn. 5; Streng, Sanktionen S. 138; 4. Auflage S. 732; skeptisch hinsichtlich der Unterscheidbarkeit der Wahrscheinlichkeitsgrade BGH NStZ 1994, 30 (31). Nicht hinreichend ist die Gefahr, daß der Täter in Zukunft kleine Mengen Rauschgift zum Eigenkonsum erwirbt (BGH NStZ 1994, 280). 68 Nach BGH 37, 160 kann die Maßregel auch neben lebenslanger Freiheitsstrafe angeordnet werden; ihre Dauer ist dann nach § 67 d I 3 unbegrenzt. 69 Auf das konkrete Gewicht des Sonderopfers im Verhältnis zu den drohenden Taten stellen LK U {Hanack) § 64 Rdn. 73 f. und NK {Böllinger) § 64 Rdn. 108 ab. Wie der Text SK {Horn) § 64 Rdn. 13.

V . D i e U n t e r b r i n g u n g i n der Sicherungsverwahrung (§ 66)

813

4. Die Anordnung der Maßregel ist zwingend, wenn ihre Voraussetzungen erfüllt sind, wenn also insbesondere eine konkrete Aussicht auf erfolgreiche Behandlung des Süchtigen besteht (BVerfGE 91, 1). Neben diesem Erfordernis einer positiven Feststellung immerhin möglicher Wirksamkeit, das sich aus verfassungskonformer Interpretation von § 64 I ergibt, dürfte § 64 I I keine Rolle mehr spielen. Die Dauer der tatsächlichen Vollstreckung 70 der Maßregel ist nach § 67 d I 1 auf zwei Jahre begrenzt, und zwar auch dann, wenn vor Erledigung der Maßregel erneut eine Unterbringung nach § 64 angeordnet wird (§ 67f) Eine wichtige Einschränkung dieser im Hinblick auf eine sinnvolle Therapie gebotenen zeitlichen Begrenzung 2 enthält jedoch § 67d I 3: Danach entspricht die Höchstdauer der Unterbringung in dem (Regel-)Fall, daß die Maßregel vor einer gleichzeitig verhängten Freiheitsstrafe vollzogen wird, der Summe aus zwei Jahren und zwei Dritteln der verhängten Freiheitsstrafe 73. I V . Die Unterbringung in einer sozialtherapeutischen Anstalt Die sozial therapeutische Anstalt war bei der Strafrechtsreform von 1969 als ein Kernstück des neuen Sanktionenrechts angesehen worden. Die dafür vorgesehene Vorschrift (§ 65) ist jedoch nie in Kraft getreten. Im Jahre 1984 wurde sie auch formell aufgehoben; die sozialtherapeutische Anstalt ist jetzt nur eine besondere Form des Vollzugs der Freiheitsstrafe (zu den Gründen für diese Entscheidung siehe oben § 9 I 2) 74 , die in § 9 StVollzG geregelt ist. Im Unterschied zu der früher in § 65 vorgesehenen Maßregel ist die Verlegung in eine sozialtherapeutische Anstalt jetzt an die Zustimmung des Leiters dieser Anstalt geknüpft (§ 9 II StVollzG); damit wird vermieden, daß die Anstalten mit besonders problematischen Personen belastet werden, die andererseits aber der sozialtherapeutischen Hilfe besonders bedürften 75. In jedem Fall sollten die bestehenden sozialtherapeutischen Anstalten mit ihren besonderen therapeutischen Möglichkeiten und Erfahrungen erhalten und ausgebaut werden 76. V. Die Unterbringung in der Sicherungsverwahrung (§ 66) 1. Die Unterbringung in der Sicherungsverwahrung ist die „letzte Notmaßnahme der Kriminalpolitik" (BT-Drucks. V/4094 S. 19) zum Schutz der Allgemeinheit vor mehrfach rückfälligen Straftätern, von denen auch nach der Verbüßung einer längeren Freiheitsstrafe weitere schwere Delikte erwartet werden müssen und für die eine Heilbehandlung nicht in Betracht kommt 7 7 . Das Charak70

Zeiten, in denen die Maßregel zur Bewährung ausgesetzt war (§ 67d II), bleiben außer Betracht; Lackner, § 67d Rdn. 2. 71 Zur Wirkung von § 67f siehe LK 10 (Horstkotte) § 67f Rdn. 4, 6. 72 Aus der Sicht der Praxis für eine absolute Obergrenze der Unterbringung bei zwei Jahren Rasch, Recht und Psychiatrie 1991, 113; gegen die Kombination von § 64 und langer Freiheitsstrafe auch Rebsam-Β ender, NStZ 1995, 159. 73 Die Berechnungsweise ist im einzelnen umstritten; wie der Text OLG Frankfurt NStZ 1993, 454; Dreher/Tröndle, § 67d Rdn. 3a; Lackner, § 67d Rdn. 2; a.A. (Höchstdauer vier Jahre) SK (Horn) § 67d Rdn. 5; Volckart, NStZ 1987, 215. 74 Siehe BT-Drucks. 10/309 und 10/2213; Böhm, NJW 1985, 1813; Jung, JuS 1985, 248; Rasch, BewH 1985, 319; Uberblick zur aktuellen Praxis bei Rotthaus, in: Jung/Müller-Dietz (Hrsg.), Langer Freiheitsentzug S. 143. 75 Vgl. hierzu Calliess/Müller-Dietz, § 9 StVollzG Rdn. 6, 10. 76 Zu den Behandlungsergebnissen der Sozialtherapie zusammenfassend Ortmann, ZStW 106 (1994) S. 782 mit Nachweisen weiterer Untersuchungen S. 818 Fußnote 35. Der Vorentwurf eines StGB der Expertenkommission der Schweiz sieht in Art. 64 die sozialtherapeutische Anstalt als Maßregel vor, allerdings beschränkt auf junge Erwachsene bis zu 30 Jahren. 77 Baumann/Weber, Allg. Teil S. 724; Lackner, § 66 Rdn. 1; LK n Schönke/Schröder/Stree, § 66 Rdn. 2.

(Hanack) § 66 Rdn. 1;

814

§ 7

Maßregeln

Freiheitsentziehung

teristikum und gleichzeitig das Problem dieser Maßregel liegt darin, daß sie fast ausschließlich auf den Zweck der Sicherung, d.h. auf die Einschließung des Täters ausgerichtet ist 7 8 ; dem steht freilich keineswegs entgegen, daß man sich im Vollzug um die Resozialisierung des Untergebrachten bemühen soll (vgl. §§129 I 2, 134 StVollzG). Die Sicherungsverwahrung, die ebenso wie die übrigen Maßregeln im Jahre 1933 eingeführt wurde, fand in der Zeit des Dritten Reiches gegenüber Rückfalltätern aller Art häufig Anwendung79. Nach 1945 zeigten die Gerichte größere Zurückhaltung, da sie wegen der Schwere des von der Tatschuld unabhängigen Eingriffs in die Freiheit Bedenken hatten80. Betroffen waren von der Sicherungsverwahrung überwiegend nicht Schwerkriminelle, sondern Täter der kleinen und mittleren Eigentums- und Vermögenskriminalität, die immer wieder rückfällig geworden waren81. Durch die Strafrechtsreform wurden die Anforderungen an die Verurteilung zu Sicherungsverwahrung nicht unwesentlich angehoben. Seither ist die Zahl der Anordnungen stark zurückgegangen; im Jahre 1991 wurden nur noch 38 Personen zu Sicherungsverwahrung verurteilt, und es gab insgesamt 187 Sicherungsverwahrte 82. Die Maßregel bleibt jedoch als Prototyp der reinen Sicherungsmaßnahme kriminalpolitisch bedeutsam83. Verschiedentlich wird die Verfassungsmäßigkeit der Sicherungsverwahrung in Zweifel gezogen84. Das gesetzgeberische Konzept des § 66 verstößt jedoch als solches nicht gegen die Menschenwürde, da zur Abwehr dringender Gefahren für überragend wichtige Rechtsgüter auch schuldunabhängige Eingriffe in die Freiheit des einzelnen zulässig sein müssen, und auch ein Verstoß gegen den Bestimmtheitsgrundsatz ist trotz des interpretationsbedürftigen Begriffs des „Hanges zu erheblichen Straftaten" nicht zu erkennen. Ebensowenig liegt eine unzulässige Doppelbestrafung vor, da die Sicherungsverwahrung nicht als Strafübel intendiert ist . Eine andere Frage ist allerdings, ob in jedem Einzelfall die strengen Voraussetzungen der Verhältnismäßigkeit gewahrt sind und ob nicht die Vollzugsbedingungen die Grenze zur menschenunwürdigen Behandlung (Art. 104 I 2 GG; vgl. auch Art. 3 EMRK) überschreiten 86. 78 Von einer „grundsätzlichen Krise der Sicherungsverwahrung" sprechen deshalb Maurach /Gössel/Zipf, Allg. Teil II § 68 Rdn. 22; für ersatzlose Streichung NK {. Böllinger ) § 66 Rdn. 41. 79 Schon 1934 wurde Sicherungsverwahrung gegen 3723 Personen angeordnet, im Jahre 1940 gegen 1916 Täter; diese und weitere Angaben bei Hellmer , Der Gewohnheitsverbrecher S. 442 f. 80 Vgl. dazu Dreher, DRiZ 1957, 52. 81 Grünwald, ZStW 76 (1964) S. 643 f.; siehe ferner die Angaben bei LK U {Hanack) § 66 Rdn. 25 f. 82 Statistisches Bundesamt, Rechtspflege, Reihe 3: Strafverfolgung 1991, 1993, S. 70f.; Dreher/ Tröndle, § 66 Rdn. 2. Weitere Angaben zur zahlenmäßigen Entwicklung der Sicherungsverwahrung bei Weichen, StV 1989, 267f. 83 Seit 1995 ist die Sicherungsverwahrung auch bei Taten anwendbar, die in den neuen Bundesländern begangen werden, nachdem der deutsche Einigungsvertrag zunächst bestimmt hatte, daß die Maßregel für die neu hinzutretenden Gebiete nicht übernommen wird (§ la a. F. EGStGB). 84 Hall, ZStW 70 (1958) S. 54; H. Mayer, Lehrbuch S. 380; neuerdines NK {Böllinger) §66 Rdn. 33 f., 39; Weichen, StV 1989, 270 - 273; zweifelnd auch LK {Hanack) §66 Rdn. 22, 22 a. 85 Frisch, ZStW 102 (1990) S. 361 f.; a.A. Weichen, StV 1989, 270 f. 86 Ähnlich die Einschätzung bei LK n {Hanack) § 66 Rdn. 22 a; Streng, Sanktionen S. 152. Eine Verfassungswidrigkeit der Sicherungsverwahrung wird verneint in BVerfGE 2, 118 so-

wie bei Baumann/Weber, Allg. Teil S. 711; Dreher/Tröndle, § 66 Rdn. 2; Lackner, § 66 Rdn. 1; Schönke / Schröder / Stree, § 66 Rdn. 3; SK {Horn) § 66 Rdn. 2; Stree, Deliktsfolgen

S. 223.

V . D i e U n t e r b r i n g u n g i n der Sicherungsverwahrung (§ 66)

815

2. Zu unterscheiden ist zwischen der zwingend vorgeschriebenen Sicherungsverwahrung bei Tätern mit mehreren Vorstrafen (§ 66 I) und der in das Ermessen des Gerichts gestellten Sicherungsverwahrung bei Tätern mit mehreren Vortaten (§ 66 II). Nach § 66 I müssen vier Voraussetzungen für die Anordnung der Sicherungsverwahrung erfüllt sein: a) Zunächst muß der Täter bereits zweimal wegen einer Vorsatztat zu Freiheitsstrafe von mindestens einem Jahr verurteilt worden sein 87 . Dabei ist nach § 66 I I I 1 die Verurteilung zu einer Gesamtstrafe nach § 54 oder § 55 als eine einzige Verurteilung anzusehen (vgl. B G H 30, 220); mindestens eine der in der Gesamtstrafe enthaltenen Strafen muß aber wenigstens ein Jahr betragen (BGH 24, 243 [245]; 34, 321) 88 . Da die zwingende Anordnung der Sicherungsverwahrung nur dann gerechtfertigt ist, wenn der Täter die mit den rechtlich verbindlichen Vorverurteilungen verbundenen Warnungen in den Wind geschlagen hat, muß man voraussetzen, daß die jeweils neue Tat begangen wurde, nachdem die Verurteilung wegen der vorangegangenen Tat rechtskräftig geworden war (BGH 35, 12; 38, 259) 89 . Als Vorverurteilungen kommen auch die Verhängung von Jugendstrafe (BGH StV 1989, 247 [248]) sowie eine Verurteilung im Ausland wegen einer (nach deutscher Beurteilung) vorsätzlichen Straftat in Betracht (§ 66 V 3). b) Nach § 66 I Nr. 2 wird weiter gefordert, daß der Täter bereits mindestens zwei Jahre im Strafvollzug oder im Vollzug einer freiheitsentziehenden Maßregel verbracht hat. Dabei gilt auch die auf eine nicht zur Bewährung ausgesetzte Freiheitsstrafe angerechnete Untersuchungshaft (§51) als Vorverbüßung (§ 66 I I I 2). Die zweijährige Vollzugsdauer kann sich auch aus der Kumulation mehrerer kürzerer Vollzugszeiten ergeben 90, doch müssen mindestens zwei der zugrunde liegenden Strafen auf wenigstens ein Jahr gelautet haben. c) Nach den beiden rechtskräftigen Vorverurteilungen und der Verbüßung von mindestens zwei Jahren Freiheitsstrafe muß der Täter erneut eine vorsätzliche verStraftat begangen haben, für die eine wenigstens zweijährige Freiheitsstrafe hängt wird. Wird eine Gesamtstrafe ausgesprochen, so muß darin eine Einzelstrafe von mindestens zwei Jahren enthalten sein (BGH NJW 1972, 384). d) Schließlich muß sich aus einer Gesamtwürdigung des Täters und seiner Taten ergeben, daß von dem Täter weitere erhebliche Straftaten zu erwarten sind, so daß er „für die Allgemeinheit gefährlich" ist. Durch Beispiele erläutert das Gesetz, was unter „erheblichen" Straftaten zu verstehen ist: Es muß sich um Taten handeln, 87 Nach Frisch, ZStW 102 (1990) S. 3 74 f. soll eine zwei- oder dreimalige Vorverurteilung allerdings noch nicht ausreichen, damit man einem voll verantwortlichen Täter die Fähigkeit zur Normbefolgung absprechen kann. 88 Ebenso Dreher/Tröndle, § 66 Rdn. 4, 5; Horstkotte, JZ 1970, 155; Lackner, § 66 Rdn. 5;

LK n

(Hanack) § 66 Rdn. 32; NK (Böllinger)

§ 66 Rdn. 51; Schönke/Schröder/Stree,

LK U

(Hanack) § 66 Rdn. 30; NK (Böllinger)

§ 66 Rdn. 53; SK (Horn) § 66 Rdn. 6; a.A.

§ 66

Rdn. 10; SK (Horn) § 66 Rdn. 8. Wird der Täter ausschließlich zu lebenslanger Freiheitsstrafe verurteilt, so kommt eine (nach § 67 I im Anschluß an die Strafe zu vollstreckende!) Sicherungsverwahrung nicht in Betracht; dies gilt nicht, wenn der Täter außerdem zu einer zeitigen Freiheitsstrafe von mindestens zwei Jahren verurteilt wird (BGH 33, 398; BGH NJW 1985, 2839; NStZ 1987, 83 [84]). 89 Ebenso BT-Drucks. V/4094 S. 19; Horstkotte, JZ 1970, 155; Lackner, § 66 Rdn. 5;

Dreher/Tröndle, § 66 Rdn. 5a; Schönke/Schröder/Stree, § 66 Rdn. 7; Streng, Sanktionen S. 149. 90 LK U (Hanack) § 66 Rdn. 36; NK (Böllinger) § 66 Rdn. 62 f. (mit der Forderung, die Zwei-Jahres-Grenze zu erhöhen); Schönke/Schröder/Stree, § 66 Rdn. 14.

816

§ 7

Maßregeln

Freiheitsentziehung

durch die das Opfer seelisch oder körperlich schwer geschädigt oder schwerer wirtschaftlicher Schaden angerichtet wird (§ 66 I Nr. 3). Dabei handelt es sich zwar um keine abschließende Aufzählung (BGH 24, 153 [154 f.]), doch muß, wenn die Beeinträchtigung anderer Rechtsgüter durch den Täter befürchtet wird, die Sozialschädlichkeit der erwarteten Taten ebenfalls erheblich sein 91 . Die Rechtsprechung und die überwiegende Lehre stellen hinsichtlich der Prognose keine sehr hohen Anforderungen: Schon die „Wahrscheinlichkeit", daß der Täter weitere Taten begehen wird, deren Summe einen erheblichen wirtschaftlichen Schaden bewirkt, soll zur Anordnung der Sicherungsverwahrung genügen, selbst wenn die einzelne Tat nicht über den Bereich der mittleren Kriminalität hinausragt (BGH 24, 153 [155]; B G H NJW 1980, 1055; NStZ 1988, 496) 92 ; allein Bagatelltaten sollen zur Begründung der Maßregel nicht ausreichen (BGH 24, 153 [154]; O L G Hamm NJW 1971, 205). Diese Auslegung wird jedoch dem Gewicht der Maßregel nicht gerecht. Eine Einschließung des Täters bis zu zehn Jahren Dauer (§ 67 d I) allein aufgrund seiner Gefährlichkeit läßt sich nur rechtfertigen, wenn andernfalls unerträglich schwere Belastungen des sozialen Friedens mit einiger Sicherheit zu erwarten wären. Daher sind die Voraussetzungen des § 66, insbesondere § 66 I Nr. 3 restriktiv auszulegen93. Eine Einschränkung des Anwendungsbereichs ergibt sich aus dem zusätzlichen Erfordernis, daß die weiteren Delikte infolge eines Hanges des Täters zu erheblichen Straftaten drohen müssen. Der Begriff des Hanges ist hier ersichtlich anders zu interpretieren als in § 64, wo er die (Rauschmittel-)Sucht bezeichnet. Die Auslegung im Rahmen des § 66 ist sehr umstritten 94 . Sie ist häufig zirkulär: Der Hang zur Begehung von Straftaten wird aus der Begehung von Straftaten gefolgert, und aus ihm wird wiederum die Prognose weiterer Straftaten abgeleitet95. Dennoch sollte man auf die Voraussetzung des „Hanges" nicht verzichten. Sie macht immerhin deutlich, daß die begangenen und die erwarteten Straftaten durch ein gemeinsames Band, nämlich eine Neigung des Täters zu einer bestimmten Art kriminologisch verwandter Delikte, verbunden sein müssen (vgl. B G H Detter NStZ 1994, 477). Außerdem wird man von einem „Hang" - entgegen der herrschenden Meinung, die als Wurzeln eines Hanges auch Willensschwäche oder gar körperliche Defekte des Täters anerkennt 96 - nur dann sprechen können, wenn die Straftaten insgesamt von einer rechtsfeindlichen Gesinnung des Täters getragen werden, wie etwa in dem Fall, daß der Täter die Begehung von Delikten zu seiner wirtschaftlichen Lebensgrundlage macht oder daß er trotz mehrfacher Bestrafung hartnäckig 91

Noch enger (nur „nicht reparierbare oder gesellschaftlich kompensierbare" Schäden)

NK CBöllinger ) § 66 Rdn. 91. 92 Siehe etwa Dreh er/Tröndle,

§ 66 Rdn. 14, 15; LK n

ÇHanack ) § 66 Rdn. 115; Schönke/

Schröder/Stree, § 66 Rdn. 39; zurückhaltender Lackner , § 66 Rdn. 14, der Straftaten verlangt, die einzeln oder aufgrund einheitlicher Planung geeignet sind, den Rechtsfrieden empfindlich zu stören; siehe auch Neu, MDR 1972, 915. 93

NK ÇBöllinger ) § 66 Rdn. 71; Schönke/Schröder/Stree,

§ 66 Rdn. 21; Weihrauch,

NJW

1970, 1897. 94 Eingehende Darstellung des juristischen und kriminologischen Erkenntnisstandes bei LK {Hanack) § 66 Rdn. 65 - 101; siehe auch Schönke/Schröder/Stree, § 66 Rdn. 22 29. 95 Siehe etwa LK U {Hanack) § 66 Rdn. 84 („eingeschliffener innerer Zustand des Täters", der ihn immer wieder neue Straftaten begehen läßt). Mit Recht kritisch hierzu SchiilerSpringorum, MschrKrim 1989, 147; Streng, Sanktionen S. 149. 96 BGH 24, 160 (161); BGH wistra 1988, 304; MDR 1994, 761; Dreher/Tröndle, §66 Rdn. 13; Lackner, § 66 Rdn. 13; LK n

4. Auflage S. 735.

{Hanack) § 66 Rdn. 79 - 82; SK {Horn) § 66 Rdn. 18;

V . D i e U n t e r b r i n g u n g i n der Sicherungsverwahrung (§ 66)

817

nach Gelegenheiten zu weiteren gleichartigen Straftaten (z.B. Sexualdelikten) sucht 97 . Falls alle Voraussetzungen von § 66 I erfüllt sind und keine mildere Maßnahme zur Abwendung der prognostizierten Straftaten ersichtlich ist, muß die Sicherungsverwahrung verhängt werden ( B G H JZ 1969, 196 m.abl. Anm. Hellmer). 3. Fakultativ ist die Anordnung der Sicherungsverwahrung im Fall von § 66 II. Diese Vorschrift soll die Möglichkeit schaffen, gegenüber einem „Serientäter" die Sicherungsverwahrung auch dann anzuordnen, wenn er sich einer Verurteilung bisher entzogen hat (BT-Drucks. V/4094 S. 21; vgl. B G H NJW 1976, 300; NStZ 1989, 67) 98 . Voraussetzung der Anordnung der Maßregel ist, daß der Täter aufgrund seines „Hanges" mindestens drei rechtlich selbständige Vorsatztaten begangen hat, derentwegen er jeweils Freiheitsstrafe von wenigstens einem Jahr verwirkt hat, und daß er nunmehr zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren oder mehr verurteilt wird; insoweit kommt auch eine Gesamtstrafe in Betracht 99 . Frühere Straftaten sind nur dann zu berücksichtigen, wenn sie entweder bereits rechtskräftig abgeurteilt sind 1 0 0 oder gleichzeitig von dem erkennenden Gericht abgeurteilt werden ( B G H 25, 44). Diese Vorschrift ist subsidiär gegenüber der Möglichkeit, Sicherungsverwahrung nach § 66 I zu verhängen; sie setzt ebenso wie diese die Gefahr schwerer Straftaten in der Zukunft voraus. Ob das Gericht Sicherungsverwahrung nach § 66 I I verhängt, liegt in seinem - durch das Revisionsgericht nur in engen Grenzen nachprüfbaren - Ermessen ( B G H NStZ 1985, 201; 1988, 496; M D R 1988,

100).

4. Durch die sog. Rückfallverjährung (§ 66 I I I 3, 4) bleibt für die Feststellung der formellen Voraussetzungen des § 66 I und I I eine Tat außer Betracht, wenn zwischen ihrer Begehung und der folgenden Tat mehr als fünf Jahre verstrichen sind 1 0 1 ; in diese Frist wird jedoch ein Zeitraum nicht eingerechnet, in dem der Täter sich in behördlicher Verwahrung (z.B. Vollzug einer Freiheitsstrafe) befunden hat 1 0 2 . 5. Die Dauer der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung beträgt bei der ersten Verhängung der Maßregel höchstens zehn Jahre; bei weiteren Anordnungen besteht keine Höchstgrenze (§ 67d I 1). Die Sicherungsverwahrung wird zur Bewährung ausgesetzt, sobald eine Erprobung des Täters in Freiheit verantwortet 97

Ähnlich Horstkotte, JZ 1970, 155; NK (Böllinger) § 66 Rdn. 75, 116; de lege ferenda auch Mrozynski, MschrKrim 1985, 12. H. Mayer, ZStW 80 (1968) S. 160f. hat schon 1968 gefordert, die „Masse der bisherigen Sicherungsverwahrten", die lediglich angesichts ihrer Willensschwäche Halt und Anleitung brauchten, in offenen Anstalten („Schutzhilfe") unterzubringen. 98 Horstkotte, JZ 1970, 155; LK 11 (Hanack) § 66 Rdn. 52; M aurach/Gössel/Zipf Allg. Teil II § 68 Rdn. 27. 99 LK n (Hanack) § 66 Rdn. 63; Schönke /Schröder/Stree, ger) § 66 Rdn. 68.

§ 66 Rdn. 55; a.A. NK (Böllin-

100 Wenn der Täter früher eine Gesamtstrafe erhalten hat, kommt es darauf an, ob in ihr eine oder mehrere Einzelstrafen von mindestens einem Jahr enthalten sind; Schönke/Schrö-

der/Stree, 101

§ 66 Rdn. 53; SK (Horn) § 66 Rdn. 24.

Für die (materielle) Gesamtwürdigung der Täterpersönlichkeit sollen nach herrschender Meinung auch länger zurückliegende Taten herangezogen werden dürfen; BGH NStZ 1983, 71; Dreher/Tröndle, Stree, § 66 Rdn. 62.

102 F

ü r

eine

NK (Böllinger)

52 Jescheck, 5. A.

§ 66 Rdn. 17; LK 11

(Hanack) § 66 Rdn. 42; Schönke/Schröder/

starke Einschränkung dieser Ausnahme aus verfassungsrechtlichen Gründen § 66 Rdn. 60.

818

§ 7

Maßregeln

Freiheitsentziehung

werden kann (§ 67d II). Die Aussetzung kann auch schon in unmittelbarem Anschluß an die Verbüßung der Freiheitsstrafe, also vor Beginn der Vollstreckung der Maßregel erfolgen (§ 67c I). Der Vollzug muß ausgesetzt werden, wenn und sobald eine Voraussetzung für die Anordnung der Maßregel, insbesondere die Erwartung erheblicher Straftaten, weggefallen ist 0 3 . 6. Die Sicherungsverwahrung wird stets im Anschluß an die Freiheitsstrafe vollzogen (§ 67 I). Da für die Vollstreckung der Sicherungsverwahrung nur geringe Abweichungen gegenüber dem Regime der Freiheitsstrafe gelten (vgl. §§ 129- 135 StVollzG), verändert sich für den Täter in der Praxis mit dem Übergang vom Straf- in den Maßregelvollzug sehr wenig. 7. Im Ausland versucht man die Aufgabe der Sicherung der Allgemeinheit vor gefährlichen Tätern teilweise durch eine Ausdehnung der Freiheitsstrafe zu lösen104. In Österreich entspricht die „Unterbringung in einer Anstalt für gefährliche Rückfallstäter" (§ 23 österr. StGB) weitgehend der Sicherungsverwahrung; sie ist ebenso wie in Deutschland nach der Vollstreckung der Freiheitsstrafe zu vollziehen (§ 24 II österr. StGB). In der Schweiz tritt die Verwahrung von „Gewohnheitsverbrechern" an die Stelle der Freiheitsstrafe (Art. 42 Schweiz. StGB); nach Art. 68 des Reformentwurfs der Expertenkommission soll die Verwahrung, deren Anordnung allerdings auf schwerste Delikte beschränkt wird, im Anschluß an die Freiheitsstrafe vollzogen werden, sofern sie dann noch als erforderlich angesehen wird. V I . Einspurigkeit im Vollzug der mit Freiheitsentziehung verbundenen Maßregeln 1. Strafen und Maßregeln unterscheiden sich zwar in ihrer Zielrichtung und in ihren Voraussetzungen; im Vollzug kann jedoch die eine Sanktionsart zumindest teilweise die Aufgaben der anderen miterfüllen. Dieser Einsicht entspricht das im geltenden Recht weitgehend verwirklichte System der Einspurigkeit auf der Stufe des Vollzugs, das insgesamt darauf ausgerichtet ist, Doppelbelastungen des Verurteilten durch die Kumulation von Strafe und Maßregel zu vermeiden sowie die bestmöglichen Voraussetzungen für die Resozialisierung zu schaffen 105. 2. Das Gesetz enthält ein kompliziertes, nur schwer durchschaubares System von Regelungen, das insgesamt eine möglichst flexible Behandlung des Verurteilten gewährleisten soll. Dabei ergänzen einander Strafe, Maßregel, Bewährungsaussetzung und Führungsaufsicht. a) Nach § 67 I wird die Unterbringung im psychiatrischen Krankenhaus und in der Entziehungsanstalt grundsätzlich vor einer gleichzeitig verhängten Freiheits103

Frisch , ZStW 102 (1990) S. 771 - 773; NK ÇBöllinger ) § 67c Rdn. 15; SK (Horn) § 67c

Rdn. 6, § 67d Rdn. 8. Die wohl überwiegende Meinung verlangt demgegenüber entsprechend dem Wortlaut von § 67 d II 1, daß erprobt werden kann, ob der Täter in Freiheit keine rechtswidrigen Taten mehr begeht; Dreher/Tröndle, § 67 c Rdn. 3 a; Lackner , § 67 c Rdn. 2; LK 10 (Horstkotte) § 67c Rdn. 46; Schönke/Schröder / Stree, § 67c Rdn. 4. Dies wird jedoch der Besonderheit der Sicherungsverwahrung, die ja bei der Gefahr bloß geringfügiger Delikte nicht angeordnet werden darf, nicht gerecht. 104 Siehe etwa in England s. 1 (2)(b) Criminal Justice Act 1991 (Strafverlängerung bei gefährlichen Tätern von Gewalt- und Sexualdelikten); zur Idee der Gefährlichkeitsbekämpfung durch lange Freiheitsstrafen in den USA Busch, Selective Incapacitation, 1988. 105 Grundlegend zum Prinzip des „Vikariierens" Marquardt, Dogmatische und kriminologische Aspekte, 1972; siehe ferner LK 10 {Horstkotte) § 67b Rdn. 5 - 10; LK 11 {Hanack) § 67 Rdn. 1 - 10; NK (Böllinger)

§ 67 Rdn. 1 - 13; Nowakowski, Broda-Festschrift S. 21 Iff.; R.

Schmitt, Würtenberger-Festschrift S. 277.

VI. Einspurigkeit im Vollzug der mit Freiheitsentziehung verbundenen Maßregeln 819 strafe vollzogen 106 . Die Strafe darf allerdings nach § 67 I I (nur) dann ganz oder zum Teil vor der Maßregel vollzogen werden, wenn sich bei dieser Reihenfolge der Rehabilitationszweck der Maßregel besser erreichen läßt; dies ist insbesondere dann der Fall, wenn die günstige Wirkung einer psychiatrischen Behandlung oder einer Suchttherapie durch den anschließenden Strafvollzug wieder zunichte gemacht werden würde (vgl. B G H 33, 285; B G H NStZ 1990, 204; 1991, 252; 1993, 43 7) 1 0 7 . Nicht zulässig ist es dagegen, den Vollzug der Freiheitsstrafe vorzuziehen, um bei dem Täter einen „Leidensdruck" zu erzeugen, der ihn für die Therapie empfänglicher machen soll (so aber B G H 33, 285 [286f.]; B G H JR 1988, 378 m.abl.Anm. Hanack) 108. Die Strafvollstreckungskammer kann die Vollzugsreihenfolge auch nachträglich ändern, wenn dafür Umstände in der Person des Verurteilten sprechen, z.B. um seine Uberweisung in eine sozialtherapeutische Anstalt (§ 9 StVollzG) zu ermöglichen (vgl. O L G Hamm NJW 1979, 2359). Wird die Maßregel vor der Strafe vollzogen, so ist die Dauer des Maßregelvollzugs auf die Strafe anzurechnen (§ 67 IV 1). Die Anrechnung ist jedoch auf zwei Drittel der Strafe begrenzt. Damit soll erreicht werden, daß der Verurteilte in der psychiatrischen oder Entziehungsanstalt aktiv an seiner Rehabilitation mitarbeitet, um sich auf diese Weise die Aussetzung des Strafrestes (die nach § 67 V 1 in diesen Fällen auch schon nach der Hälfte der Strafzeit zulässig ist) zu verdienen. Verbreitete Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit dieser Regelung (siehe O L G Celle NStZ 1991, 356 m.Anm. Müller-Dietz) 9 hat das Bundesverfassungsgericht zurückgewiesen (BVerfGE 91, 1 [35f.]; BVerfG NJW 1995, 1080) 110 . b) Auch der Austausch von Maßregeln untereinander im Vollzug ist möglich (§ 67a I), wenn dadurch die Resozialisierung des Täters besser gefördert werden kann. So besteht auch für den in der Sicherungsverwahrung Untergebrachten die Möglichkeit, in ein psychiatrisches Krankenhaus oder in eine Entziehungsanstalt verlegt zu werden (§ 67a II) 1 1 1 . Die Fristen für die Dauer der Unterbringung richten sich nach der im Urteil angeordneten Unterbringungsart, damit der Austausch der Maßregeln den Täter nicht benachteiligt (§ 67a IV). 106 Werden Strafe und Maßregel gegen denselben Täter in verschiedenen Urteilen ausgesprochen, so entscheidet die Vollstreckungsbehörde über die Reihenfolge des Vollzugs; auch sie ist jedoch an die in § 67 getroffene Regelung gebunden (OLG München NStZ 1988, 93; OLG Dresden NStZ 1993, 511). 107 Nach den Angaben bei Leygraf Psychisch kranke Straftäter S. 74 war bei 27% der im Jahre 1983 in einem psychiatrischen Krankenhaus Untergebrachten zunächst die Strafe vollzogen worden. Wird der Täter zu lebenslanger Freiheitsstrafe verurteilt und eine Maßregel nach § 64 angeordnet, so muß immer zunächst die Unterbringung in der Entziehungsanstalt vollzogen werden (BGH 37, 162 [163 f.]). 108 Dreher/Tröndle, § 67 Rdn. 3c; Kammeier, in: derselbe (Hrsg.), Maßregelvollzugsrecht Rdn. A71 - A73; LK n (Hanack) § 67 Rdn. 50-53; Müller-Dietz, NStZ 1983, 145; NK (Böllinger) § 67 Rdn. 34; Streng, StV 1987, 41 f.; derselbe, Sanktionen S. 141; Volckart, Maßregel§ 67 Rdn. 7; sehr zurückhaltend Lackner, vollzug S. 143f.; a.A. Schönke/Schröder/Stree, § 67 Rdn. 5. 109 Ebenso LK U (Hanack) § 67 Rdn. 19; Ungewitter, MDR 1989, 685; Volckart, Verteidigung in der Strafvollstreckung Rdn. 118. 110 Verfassungswidrig ist jedoch § 67 IV 2, der jede Anrechnung in dem Fall ausgeschlossen hatte, daß die Unterbringung in einer Entziehungsanstalt aus Gründen, die in der Person des Täters lagen, nach § 67d V 1 vom Gericht abgebrochen wurde (BVerfGE 91, 1 [34]; BVerfG NStZ 1995, 174). 111 Der umgekehrte Weg (Verlegung vom psychiatrischen Krankenhaus in die Sicherungsverwahrung) ist nicht eröffnet; vgl. zur Verfassungsmäßigkeit dieser Regelung BVerfG NJW 1995, 772.

52*

820

§ 78 Maßregeln ohne Freiheitsentziehung

c) Die Maßregeln können auch zur Bewährung ausgesetzt werden 112. Die Aussetzung erfolgt schon vor dem Vollzug der Maßregel, wenn der Erfolg der Maßregel auch auf andere Weise erreicht werden kann; bei der Sicherungsverwahrung kommt dies jedoch erst nach Verbüßung der Strafe in Betracht (§§ 67b I 1, 67c I) 1 1 3 . Falls mit dem Vollzug der Maßregel bereits begonnen wurde, kommt es darauf an, ob das Risiko der Rückkehr in die Freiheit verantwortet werden kann oder ob von dem Verurteilten weiterhin erhebliche Straftaten erwartet werden müssen (§ 67d II; siehe dazu oben § 77 V 5) 114 . In allen Fällen der Bewährungsaussetzung einer Maßregel tritt kraft Gesetzes Führungsaufsicht ein (§§ 67b II, 67c I 2, 67d I I 2). Die Strafvollstreckungskammer kann die Frage der Bewährungsaussetzung jederzeit prüfen (§ 67 e I 1). Wenn der Verurteilte sechs Monate in einer Entziehungsanstalt, ein Jahr in einem psychiatrischen Krankenhaus bzw. zwei Jahre in der Sicherungsverwahrung verbracht hat, ist die Prüfung zwingend vorgeschrieben (§ 67e II). Die Aussetzung zur Bewährung ist zu widerrufen, wenn der Verurteilte erneut Straftaten begangen oder gegen Weisungen des Gerichts beharrlich verstoßen, insbesondere sich der Aufsicht durch den Bewährungshelfer oder die Aufsichtsstelle (§ 68 a) entzogen hat und wenn außerdem der Zweck der Maßregel die erneute Unterbringung erfordert (Einzelheiten in § 67 g). § 78 Maßregeln ohne Freiheitsentziehung P.-A. Albrecht/ Hassemer/Voß (Hrsg.), Rechtsgüterschutz durch Entkriminalisierung, 1992; Antons, Möglichkeiten einer gesetzlichen Neuregelung der Führungsaufsicht, BewH 1992, 282; Baumann, Zur Entziehung und Wiedererteilung der Fahrerlaubnis, Forensia 1987, 49; Bode, Beratung, Begutachtung und Schulung alkoholauffälliger Kraftfahrer während der Sperrfrist, DAR 1994, 348; Breuckmann , Innenansichten des beruflichen Alltags usw., in: Dertinger/Marks (Hrsg.), Führungsaufsicht, 1990, S. 118; Bundesamt für Justiz (Hrsg.), Bericht zur Revision des Allgemeinen Teils und des Dritten Buches des Strafgesetzbuches usw., 1993; Copie , Berufsverbot und Pressefreiheit, JZ 1963, 494; Cramer , Die Austauschbarkeit der Entziehung der Fahrerlaubnis gegen ein Fahrverbot, NJW 1968, 1764; derselbe , Zur Reform von Fahrerlaubnis und Fahrverbot, Gedächtnisschrift für H. Schröder, 1978, S. 533; Dencker , Strafzumessung bei der Sperrfristbemessung? StV 1988, 454; Denzlinger , Der Führerschein als Menschenfalle, ZRP 1988, 369; Dölling , Die Weiterentwicklung der Sanktionen ohne Freiheitsentzug usw., ZStW 104 (1992) S. 259; Floerecke, Die Entstehungsgeschichte der Gesetzesnormen zur Führungsaufsicht, 1989; derselbe , Was leistet die Führungsaufsicht? in: Dertinger/Marks (Hrsg.), Führungsaufsicht, 1990, S. 51; Geppert , Die Bemessung der Sperrfrist bei der strafgerichtlichen Entziehung der Fahrerlaubnis, 1968; derselbe , Reicht das gesetzliche Instrumentarium zur Verbesserung der Verkehrssicherheit aus? BA 1990, 23; Gontard , Die Reform der Entziehung der Fahrerlaubnis, Festschrift für K. Rebmann, 1989, S. 211; Gontard/Janker, Die Nachschulung alkoholauffälliger Kraftfahrer, DAR 1992, 8; Groth , Die verfassungsrechtliche Zulässigkeit usw., NJW 1979, 743; Himmelreich / Hentschel, Fahrverbot - Führerscheinentzug, Bd. I, 7. Auflage 1992; Horn , Neuerungen der Kriminalpolitik im deutschen StGB, ZStW 89 (1977) S. 547; Jacobsen, Forschungsergebnisse zum Themenkomplex Führungsaufsicht, in: Dertinger/Marks (Hrsg.), Führungsaufsicht, 1990, S. 10; Jagusch / Hentschel, Straßenverkehrsrecht, 31. Auflage 1991; Kaiser , Befinden sich die kriminalrechtlichen Maßregeln in der Krise? 1990; Kerner , Tabellen zur Entwicklung und 112

Siehe hierzu eingehend Frisch , ZStW 102 (1990) S. 766 - 783. Die Möglichkeit der Bewährungsaussetzung von Anfang an ist - entgegen Dreher/ Tröndle , § 67 b Rdn. 2, 3 - nicht auf Ausnahmefälle beschränkt und behält auch nach der Entscheidung BVerfGE 91, 1 noch einen Anwendungsbereich für die Fälle, in denen der Vollzug der Maßregel zwar an sich erfolgversprechend, aber angesichts weniger belastender Alternativen nicht notwendig ist; vgl. LK 0 (Horstkotte) § 67 b Rdn. 45. 114 Die im Strafvollzug möglichen Lockerungen (Urlaub, Freigang usw.) können auch im Maßregelvollzug gewährt werden. Für den Vollzug der Sicherungsverwahrung verweist § 130 StVollzG insoweit auf die für den Strafvollzug geltenden Vorschriften. Für die übrigen Maßregeln gelten unterschiedliche landesrechtliche Regelungen. Siehe hierzu Frisch , ZStW 102 (1990) S. 783 - 792; Pollähne , Lockerungen im Maßregelvollzug, 1994; Volckart , Maßregelvollzug S. 87 ff. 113

I. D i e Führungsaufsicht (§§ 68 - 68 g)

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zur Struktur der Führungsaufsicht usw., in: Dertinger/Marks (Hrsg.), Führungsaufsicht, 1990, S. 77; Krehl, Regel und Ausnahme bei der Entziehung der Fahrerlaubnis, DAR 1986, 33; Kulemeier, Fahrverbot (§ 44 StGB) und Entzug der Fahrerlaubnis (§§ 69ff. StGB), 1991; Lang-Hinrich sen, Umstrittene Probleme bei der strafgerichtlichen Untersagung der Berufsausübung, Festschrift für E. Heinitz, 1972, 477; Lemke/Vetter, Die Führungsaufsicht abschaffen? BewH 1992, 146; Müller-Metz, Zur Reform von Vergehenstatbeständen und Rechtsfolgen im Bereich der Verkehrsdelikte, NZV 1994, 89; Nettesheim, Führerscheinentzug und Fahrverbot bei DDR-Führerscheinen usw., DtZ 1991, 363; Preiser, Die Führungsaufsicht, ZStW 81 (1969) S. 912; Raahe, Die Führungsaufsicht im 2. StrRG, Diss. Hamburg 1973; Rasch, Wie soll es weitergehen mit der Führungsaufsicht? in: Dertinger/Marks (Hrsg.), Führungsaufsicht, 1990, S. 157; Rosner, Alkohol am Steuer, Fahrerlaubnisentziehung und Nachschulung, 1988; Schöch, Kriminologische und sanktionsrechtliche Aspekte der Alkoholdelinquenz im Verkehr, NStZ 1991, 11; derselbe, Bewährungshilfe und Führungsaufsicht in der Strafrechtspflege, NStZ 1992, 364; derselbe, Empfehlen sich Änderungen und Ergänzungen bei den strafrechtlichen Sanktionen ohne Freiheitsentzug? Gutachten C zum 59. DJT, 1992; Schulz, Die Führungsaufsicht, 1982; Schwenck, Umfang und Wirkung von Meinungs- und Pressefreiheit, NJW 1962, 1321; Stephan, Eignung, 1,6-Promille-Grenze und Abstinenzforderung, DAR 1995, 41; Stephan/Kunkel, Verkehrspsychologische Stellungnahme usw., BA 1989, 347; Utzelmann, Der unwiderlegte Nutzen von Kursen für alkoholauffällige Kraftfahrer, BA 1990, 106; Winkler, Die sogenannte „Nachschulung" alkoholauffälliger Kraftfahrer, NZV 1988, 41; Zabel/Zabel, Abkürzung der Fahrerlaubnissperre bei Alkoholtätern usw., BA 1991, 345. Das geltende Recht sieht drei Maßregeln ohne Freiheitsentziehung vor, nämlich die Führungsaufsicht (§§ 68 - 68 g), die Entziehung der Fahrerlaubnis (§§ 69 - 69 b) und das Berufsverbot (§§ 70 - 70 b). Jede von ihnen dient dem Zweck, befürchtete weitere Straftaten des Verurteilten zu verhüten. Bei der Führungsaufsicht soll dies durch eine Kombination von Überwachung und Unterstützung geschehen, bei den beiden übrigen ambulanten Maßregeln dadurch, daß der Täter von bestimmten Betätigungen ausgeschlossen wird, die Auslöser der begangenen Straftat(en) waren. Wenn diese Maßregeln auch nicht in die Bewegungsfreiheit des Verurteilten eingreifen, so können sie doch seine Handlungsfreiheit sehr fühlbar einschränken; deshalb ist auch bei ihnen der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz (§ 62) strikt zu beachten. I. Die Führungsäufsicht (§§ 68 - 68 g) 1. Die Führungsaufsicht ist durch die Strafrechtsreform von 1975 neu eingeführt worden 1 . Sie richtet sich an eine heterogene Zielgruppe; diese enthält Personen mit negativer Prognose, wie z.B. Täter, die nach zehn Jahren aus der Sicherungsverwahrung entlassen werden (§ 67d IV), aber auch Personen, die in erster Linie der Hilfe und Unterstützung bedürfen, wie z.B. Verurteilte, deren Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus zur Bewährung ausgesetzt wird (§ 67b II). So trägt auch die Maßregel selbst ein Doppelgesicht: Dem Verurteilten stehen die Aufsichtsstelle und ein Bewährungshelfer „helfend und betreuend zur Seite" (§ 68 a II); andererseits kann in seine Lebensführung durch eine Vielzahl von Weisungen (§ 68 b) eingegriffen und deren Mißachtung durch Kriminalstrafe (§ 145 a) geahndet werden. Das Ziel der Führungsaufsicht liegt in erster Linie in der Deliktsprävention durch intensive Unterstützung und Betreuung besonders problematischer Tätergruppen. Wo freilich die erwünschte Kooperation des Verurteilten ausbleibt, wird dasselbe Ziel durch Freiheitsbeschränkung und Überwachung angestrebt 2. 1 Zur Geschichte Floerecke, Die Entstehungsgeschichte der Gesetzesnormen zur Führungsaufsicht, 1989; LK n {Hanack) Vorbem. 16 - 23 vor § 68. 2 Dreher/Tröndle, Vorbem. 2 vor §68; LK n ÇHanack) Vorbem 3 - 5 vor §68; NK

(Frehsee) § 68a Rdn. 8; Schönke/Schröder/Stree,

§ 68 Rdn. 2; SK {Horn) § 68 Rdn. 2 - 4.

822

§ 78 Maßregeln ohne Freiheitsentziehung

2. Die Maßregel der Führungsaufsicht kann sowohl gegenüber voll verantwortlichen als auch gegenüber schuldunfähigen Tätern angeordnet werden. Drei Anwendungsbereiche lassen sich unterscheiden: a) Führungsaufsicht kann als zusätzliche Sanktion neben der Strafe bei bestimmten Straftaten verhängt werden (§ 68 I). Diese Möglichkeit besteht z.B. bei den Tatbeständen des Diebstahls (§ 245), des Betruges (§ 263 V), der Hehlerei (§ 262), der Körperverletzung (§ 228) sowie des Raubes und der räuberischen Erpressung (§ 256 I). Die Anordnung der Führungsaufsicht setzt allerdings voraus, daß der Täter wegen eines entsprechenden Delikts eine Freiheitsstrafe von mindestens sechs Monaten erhalten hat 3 und daß außerdem die Gefahr der Begehung weiterer erheblicher Straftaten besteht4. In diesen Fällen liegt die Anordnung der Führungsaufsicht im Ermessen des Gerichts. b) Von Gesetzes wegen tritt Führungsaufsicht immer dann ein, wenn der Täter eine Freiheitsstrafe von mindestens zwei Jahren 5 wegen einer vorsätzlichen Straftat vollständig verbüßt hat (§ 68f) oder wenn er nach der zehnjährigen Höchstdauer einer erstmaligen Sicherungsverwahrung entlassen wird (§ 67d IV). Bei diesem Personenkreis besteht häufig eine hohe Rückfallgefahr, da die Strafe oder Maßregel andernfalls wohl teilweise zur Bewährung ausgesetzt worden wäre (siehe §§ 57 I, 67d I I 1). Auch in den Fällen, in denen eine Bewährungsaussetzung nur an der fehlenden Zustimmung des Gefangenen gescheitert ist (§ 57 I Nr. 3), ist wegen der langen in Unfreiheit verbrachten Zeit während der kritischen Phase nach der Strafentlassung eine intensive Unterstützung angezeigt. c) Schließlich tritt Führungsaufsicht immer dann ein, wenn eine stationäre Maßregel zur Bewährung ausgesetzt wird (§§ 67b II, 67 c I 2, 67 d I I 2); in diesen 3

Wenn gegen den Täter eine Gesamtstrafe verhängt wird, ist Führungsaufsicht nur möglich, sofern in der Gesamtstrafe eine mindestens sechsmonatige Einzelstrafe wegen der Verletzung eines Tatbestandes enthalten ist, der Führungsaufsicht zuläßt; Lackner , § 68 Rdn. 3;

LK U (Hanack) § 68 Rdn. 6; Maurach/Gössel/Zipf, Allg. Teil I I § 69 Rdn. 2; NK (Frehsee) § 68 Rdn. 5; SK (Horn) § 68 Rdn. 6; a. A. Dreher/Tröndle, § 68 Rdn. 4; Schönke/Schröder/

Stree, § 68 Rdn. 5, die es bei gleichartigen Delikten ausreichen lassen, daß die Gesamtsträfe sechs Monate beträgt (dies würde jedoch gegen den Willen des Gesetzgebers dazu führen, daß Führungsaufsicht schon bei geringfügigen Taten angeordnet werden kann). Führungsaufsicht ist auch möglich, wenn die Freiheitsstrafe zur Bewährung ausgesetzt wird, da gerade die besonderen Uberwachungsmöglichkeiten, die die Maßregel bietet, das Rückfallrisiko auf das bei § 56 tolerierbare Maß absenken können; LK 11 (Hanack) § 68g Rdn. 11; SÄ" (Horn) § 68 Rdn. 10; für Ausnahmefälle auch Dreher/Tröndle, § 68 Rdn. 5; a.A. Preiser, ZStW 81 (1969) S. 916; 4. Auflage S. 742 Fußnote 7. 4 Die befürchteten Straftaten müssen kriminologisch der abgeurteilten Tat ähnlich sein; außerdem verlangt der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, daß die Führungsaufsicht nur zur Abwendung solcher Taten eingesetzt wird, die wieder mit (erheblicher) Freiheitsstrafe zu ahnden wären; LK n

(Hanack) § 68 Rdn. 10; NK (Frehsee) § 68 Rdn. 6 f.; SK (Horn) § 68

Rdn. 8; geringere Anforderungen stellen Dreh er/Tröndle, Rdn. 4; Schönke/Schröder/Stree,

§ 68 Rdn. 6.

§ 68 Rdn. 5 f.; Lackner,

§ 68

5 Insoweit kommt es nur darauf an, daß der Täter wegen der langen Dauer der im Strafvollzug verbrachten Zeit besonderer Unterstützung beim Ubergang in die Freiheit bedarf; daher löst auch eine Gesamtstrafe von zwei Jahren Dauer die Führungsaufsicht aus, und tatsächlich verbüßte Untersuchungshaft, die nach § 51 auf die Strafe angerechnet wird, ist zu berücksichtigen; OLG München NStZ 1984, 314; Dreher/Tröndle, § 68f Rdn. 2, 2a; hinsichtlich des Ausreichens von Gesamtstrafe a.A. OLG Stuttgart NStZ 1992, 101; Lackner , § 68f Rdn. 1; LK n (Hanack) § 68f Rdn. 14 (mit zahlreichen Rechtsprechungsnachweisen);

NK (Frehsee) § 68 f Rdn. 4; Schönke/Schröder/Stree, § 68f Rdn. 5.

§ 68f Rdn. 4; unentschieden SK (Horn)

I. D i e Führungsaufsicht (§§ 68 - 68 g)

823

Fällen steht die Aufgabe der Bewährungshilfe für einen aufgrund psychisch-seelischer Beeinträchtigungen besonders gefährdeten Personenkreis deutlich im Vordergrund. 3. Die Doppelgesichtigkeit der Führungsaufsicht zeigt sich auch bei ihrer Durchführung (§ 68 a): Der Verurteilte untersteht einerseits einer beim Landgericht eingerichteten Auf sichtssteile, die mit einem Verwaltungsbeamten, aber auch mit einem Sozialarbeiter besetzt sein kann (vgl. Art. 295 I I EGStGB) 6 ; andererseits wird er von einem Bewährungshelfer betreut. Das Gesetz schreibt den beiden Organen der Führungsaufsicht in § 68 a I I ausdrücklich „Einvernehmen" vor, das notfalls durch Entscheidung des Gerichts herzustellen ist (§ 68 a IV). Im übrigen wird die Aufgabenverteilung zwischen den beiden Organen durch die gesetzliche Regelung nicht ganz deutlich. Sie läßt sich am ehesten so vornehmen, daß die Aufsichtsstelle die Funktionen der Überwachung (vgl. dazu die Befugnisse nach § 463 a StPO) und der Koordination praktischer Hilfeleistungen übernimmt, während der Bewährungshelfer eine Vertrauensbeziehung zu dem Verurteilten aufbauen und ihm als Betreuungs- und Anlaufstelle bei allen Schwierigkeiten zur Verfügung stehen soll 7 . 4. Das Bild der Führungsaufsicht ist durch die Möglichkeit geprägt, die Lebensführung des Verurteilten durch gerichtliche Weisungen zu beeinflussen (§ 68 b). Die Anordnung von Weisungen steht im Ermessen des Gerichts; sie können den Aufenthalt des Täters sowie die Bereiche der Arbeit, der Freizeit und der wirtschaftlichen Verhältnisse betreffen (§ 68 b II). Insbesondere kann das Gericht Verhaltensweisen untersagen, mit denen für den individuellen Täter eine besondere Versuchung zur Begehung neuer Straftaten verbunden ist; diese Weisungen sind in § 68 b I näher spezifiziert. Die vorsätzliche Mißachtung von Weisungen nach § 68 b I kann zur Bestrafung des Täters nach § 145 a führen, wenn sie den Erfolg der Maßregel gefährdet 8 . Diese Strafvorschrift wurde als notwendig angesehen, da ohne sie selbst die gröbsten Verletzungen der Weisungen immer dann folgenlos bleiben würden, wenn der Täter die Strafe voll verbüßt hat (insbesondere in den Fällen des § 68 f) 9 . Wenn die Weisungen hinreichend bestimmt sind (vgl. § 68 b I 2), ist unter dem Gesichtspunkt von Art. 103 I I GG gegen die Strafvorschrift nichts einzuwenden. In kriminalpolitischer Hinsicht ist die Androhung dieser „Ungehorsamsstrafe", von der in der Praxis bezeichnenderweise kaum Gebrauch gemacht wird 1 0 , jedoch verfehlt, da 6 Zur örtlich unterschiedlichen Praxis siehe die Beiträge von Breuckmann und Floerecke, in: Dertinger/Marks (Hrsg.), Führungsaufsicht S. 51, 118 sowie Schulz, Führungsaufsicht S. 163 ff. 7

Siehe Dreher/Tröndle,

§ 68a Rdn. 5f.; LK n

{Hanack) § 68a Rdn. 5; Rasch, in: Dertin-

ger/Marks (Hrsg.), Führungsaufsicht S. 168-171; Schöch, NStZ 1992, 371; stärkere Betonung der Betreuungsfunktion heider Instanzen bei NK {Frehsee) § 68a Rdn. 8-13; Schönke/ Schröder/Stree, 8

§ 68 a Rdn. 7.

Ob diese zusätzliche Voraussetzung bei Mißachtung der nur die Uberwachungsmöglichkeit sichernden Weisungen nach § 68b I Nr. 7 - 9 jemals erfüllt sein kann, ist zumindest zweifelhaft; ablehnend AK {Schild) § 145a Rdn. 11; LK U {Hanack) § 68b Rdn. 18; NK {Frehsee) § 68b Rdn. 19; Raahe, Die Führungsaufsicht im 2. Strafrechtsreformgesetz S. 151 f.; bejahend Dreher/Tröndle, § 145a Rdn. 4. 9 Vgl. BT-Drucks. V/4095 S. 46; AK {Schild) § 145 a Rdn. 3, 7; Schönke/Schröder/Stree, § 145 a Rdn. 1; SK {Horn) § 145 a Rdn. 1.

10 Im Jahre 1991 wurden 31 Personen nach § 145 a verurteilt; Statistisches Bundesamt, Rechtspflege, Reihe 3: Strafverfolgung 1991, 1993, S. 20 f. Die niedrige Zahl liegt vor allem daran, daß die Aufsichtsstellen nur selten von ihrer (alleinigen) Strafantragsbefugnis Gebrauch machen; siehe Floerecke, in: Dertinger/Marks (Hrsg.), Führungsaufsicht S. 68; Schöch, NStZ 1992, 370 f.

824

§ 78 Maßregeln ohne Freiheitsentziehung

die Verhängung von Kriminalstrafen zur Eindämmung abstrakter Rückfallgefahren kein geeignetes Mittel darstellt 11 . 5. Die Dauer der Führungsaufsicht beträgt nach § 68 c mindestens zwei, höchstens fünf Jahre. Diese Regelung wirft Probleme auf, weil sie dazu zwingt, die Führungsaufsicht auch dann mindestens zwei Jahre lang aufrecht zu erhalten, wenn es der Überwachung und Unterstützung des Täters zur Rückfallverhütung gar nicht mehr bedarf 12 - aufgehoben werden darf die Maßregel frühestens nach Ablauf der gesetzlichen Mindestdauer (§ 68 e I 2), und ihr Ruhen kann nur dann angeordnet werden, wenn gleichzeitig eine Bewährungszeit für den Täter läuft (§ 68g I I 1, III). Günstiger ist die Situation allerdings für die „Vollverbüßer" einer Freiheitsstrafe: Bei ihnen kann das Gericht anordnen, daß die Führungsaufsicht entfällt, wenn zu erwarten ist, daß sie auch ohne die Maßregel keine Straftaten begehen werden (§ 68 f II). Es ist nicht einzusehen, daß die Möglichkeit einer vorzeitigen Beendigung der Führungsaufsicht vor Ablauf von zwei Jahren in den Fällen der §§ 67 d IV, 68 I auch bei günstigster Prognose nicht bestehen soll; daher ist der Auffassung zuzustimmen, die mit Rücksicht auf den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz (§ 62) im Einzelfall eine Korrektur dieses gesetzgeberischen Fehlgriffs zuläßt 13 . 6. Schon aufgrund ihrer zwingenden Anwendung in den Fällen der Vollverbüßung einer mindestens zweijährigen Freiheitsstrafe hat die Führungsaufsicht erhebliche praktische Bedeutung. Im Jahre 1989 standen etwa 12400 Personen unter Führungsaufsicht 14. Der größte Anteil entfällt auf die Fälle des § 68 f (Vollverbüßung einer langjährigen Freiheitsstrafe); die gerichtliche Anordnung im Urteil nach § 68 I spielt dagegen in der Praxis nur eine sehr geringe Rolle 15 . Die rechtspolitische Beurteilung der Maßregel fällt sehr unterschiedlich aus16. Eine sinnvolle Funktion hat die Führungsaufsicht vor allem in den Fällen, in denen sie den Täter nach der Bewährungsaussetzung einer Maßregel begleitet; hier ermöglicht häufig erst die Aussicht auf eine wirksame ambulante Betreuung eine vorzeitige Entlassung des Täters 17. Verzichtbar ist dagegen die Fallgruppe des § 68 I, die auf der überholten Vorstellung beruht, bei bestimmten Tätertypen sei eine fortdauernde Überwachung geboten. Bei den entlassenen 11

Ebenso AK (Schild) § 145a Rdn. 8f.; Grünwald, ZStW 76 (1964) S. 664; Horn , ZStW 89 (1977) S. 556; Lackner/Kühl, § 145a Rdn. 1; Schöch, Gutachten C zum 59. DJT S. C 112 f.; Schönke/Schröder/Stree, § 145a Rdn. 2. Verfassungswidrig ist die Vorschrift allerdings deshalb nicht; eingehend Groth, NJW 1979, 743; für teilweise Verfassungswidrigkeit LK 0 (Hanack) § 145 a Rdn. 6.

12 Eingehend zu diesem Problem LK U (Hanack) § 68e Rdn. 10 - 25; NK (Frehsee) § 68e Rdn. 8-12. 13 NK (Frehsee) § 68 e Rdn. 10; teilweise übereinstimmend die differenzierende Lösung bei LK n (Hanack) § 68e Rdn. 17-23. SK (Horn) § 68 Rdn. 12f. entschärft das Problem dadurch, daß er in den Fällen der nach § 68 I angeordneten Führungsaufsicht immer dann § 68f II anwendet, wenn eine mindestens zweijährige Freiheitsstrafe verbüßt wurde. Nach Schönke/Schröder/Stree, § 68 e Rdn. 4 soll die Führungsaufsicht in den hier angesprochenen Fällen „so milde wie möglich gehandhabt" werden. 14 Schöch, NStZ 1992, 366. Umfangreiche statistische Nachweise zur Entwicklung der Maßregel bei Kerner, in: Dertinger/Marks (Hrsg.), Führungsaufsicht S. 77 ff. 15 Siehe die Angaben für Nordrhein-Westfalen in NK (Frehsee) § 68 nach Rdn. 20. 16 Der AE (S. 159) hatte die Führungsaufsicht abgelehnt, und insbesondere von Seiten der Bewährungshelfer wird nach wie vor ihre Abschaffung gefordert; siehe z.B. Jacobsen, in: Dertinger/Marks (Hrsg.), Führungsaufsicht S. 43 - 50; Stellungnahme der Arbeitsgemeinschaft Deutscher Bewährungshelfer ebda. S. 179; weitere Nachweise bei Schöch, NStZ 1992, 369f. Fußnoten 52 - 54. Eher skeptisch auch die Stellungnahme bei LK U (Hanack) Vorbem. 24 - 27a vor § 68; siehe ferner Lemke/Vetter, BewH 1992, 146. 17 Ebenso Kaiser, Befinden sich die kriminalrechtlichen Maßregeln in der Krise? S. 46; Schöch, NStZ 1992, 370.

I I . D i e Entziehung der Fahrerlaubnis (§§ 69 - 69 b)

825

Vollverbüßern schließlich dürfte eine freiwillige Betreuung und Unterstützung während der ersten Monate nach der Entlassung aus dem Strafvollzug sinnvoller sein als die als Gängelung empfundene Führungsaufsicht 18. In jedem Fall sollte die Doppelung der Betreuungsund Überwachungsinstanzen, die häufig zu Reibungsverlusten und Kompetenzstreitigkeiten führt, durch eine praktikablere Regelung ersetzt werden 19.

II. Die Entziehung der Fahrerlaubnis (§§ 69 - 69 b) 1. Die Maßregel der Fahrerlaubnisentziehung dient der Gewährleistung der Verkehrssicherheit. Sie sucht dieses Ziel in der Weise zu erreichen, daß sie Personen, die sich durch strafbares Verhalten als ungeeignet zum Führen von Kraftfahrzeugen erwiesen haben, vorübergehend oder auf Dauer von der Verkehrsteilnahme als Kraftfahrer ausschließt. Die Betroffenen empfinden die Entziehung der Fahrerlaubnis häufig als (zusätzliche) Bestrafung 20 . Dies ändert jedoch nichts an der ausschließlich präventiven Zielsetzung der Maßregel, deren Verhängung oder Bemessung - anders als beim Fahrverbot nach § 44 - keinesfalls auf Schulderwägungen gestützt werden darf ( B G H VRS 11, 425; O L G Düsseldorf N Z V 1993, 117) 21 . Andererseits ist jedoch bei der Bemessung einer gleichzeitig verhängten Strafe die Tatsache zu berücksichtigen, daß dem Täter auch die Fahrerlaubnis entzogen wurde; da diese Maßregel die spezialpräventive Funktion der Sanktion weitgehend übernimmt, kann die Strafe milder ausfallen (BT-Drucks. IV/651 S. 16) 22 . 2. Die Entziehung der Fahrerlaubnis ist in der Praxis die bei weitem häufigste Maßregel: Im Jahre 1991 wurde sie in mehr als 180000 Fällen angeordnet (vgl. oben § 5 V 2) 23 . Anders als das Fahrverbot (vgl. § 25 StVG) ist die Entziehung der Fahrerlaubnis nur bei Straftaten, nicht als Reaktion auf bloße Ordnungswidrigkeiten vorgesehen. Zulässig ist die Fahrerlaubnisentziehung allerdings auch gegenüber Jugendlichen (§ 7 JGG). Uber die spezialpräventive Wirksamkeit im Sinne einer Verhütung von Verkehrsstraftaten nach Wiedererteilung der Fahrerlaubnis ist wenig bekannt24. Insbesondere bei dem großen Kreis der Alkoholfahrer dürfte die Fahrerlaubnisentziehung nur dann nachhaltig wirken, wenn die Zeit der Fahrabstinenz zu einer therapeutischen Konfrontation des Täters mit dem bei ihm bestehenden Alkoholproblem genutzt wird 25 . Neben der Maßregel der Entziehung der Fahrerlaubnis, die im Strafverfahren angeordnet wird, steht die ebenfalls „Entziehung der Fahrerlaubnis" genannte verwaltungsbehördliche (präventivpolizeiliche) Maßnahme im Straßenverkehrsrecht (§ 4 StVG, § 15b StVZO), die die mangelnde Eignung zum Führen von Kraftfahrzeugen, aber nicht die Begehung einer Straftat voraussetzt. Kommt es zu einer Zuständigkeitskonkurrenz zwischen Strafgericht und Verwaltungsbehörde, so hat nach § 4 II, I I I StVG ersteres Vorrang: Während eines laufenden Strafverfahrens darf die Verwaltungsbehörde den Sachverhalt, der Gegenstand des Straf18 Jacobsen, in: Dertinger/Marks (Hrsg.), Führungsaufsicht S. 49f.; NK (Frehsee) Vorbem. 24 - 27 vor § 68; a.A. Antons, BewH 1992, 283f.; Dölling, ZStW 104 (1992) S. 288. Verfassungswidrig ist die bestehende Regelung allerdings nicht (BVerfGE 55, 28 [30 f.]). 19 Siehe hierzu Rasch, in: Dertinger/Marks (Hrsg.), Führungsaufsicht S. 163 - 171. 20

Vgl. Cramer , NJW 1968, 1765. Dreher/Tröndle, § 69 Rdn. 2; LK 10 (Rüth) § 69 Rdn. 1; NK (Herzog) § 69 Rdn. 5; SK (Horn) § 69 Rdn. 2. 22 NK (Herzog) § 69 Rdn. 6; SK (Horn) § 69 Rdn. 3. 21

23

Statistisches Bundesamt, Rechtspflege, Reihe 3: Strafverfolgung 1991, 1993, S. 68. Überblick über allgemeine Untersuchungen zur Rückfälligkeit von Verkehrsstraftätern bei Kulemeier, Fahrverbot S. 161 - 164; siehe auch Schöch, NStZ 1991, 15 - 17; derselbe, Gutachten C zum 59. DJT S. C 30. 25 Geppert, BA 1990, 27 f. Zur „Nachschulung" Alkoholabhängiger siehe Stephan, DAR 24

1995, 41; Winkler,

N Z V 1988, 41.

826

§ 78 Maßregeln ohne Freiheitsentziehung

Verfahrens ist, nicht berücksichtigen; und nach Abschluß des Strafverfahrens darf sie nicht zum Nachteil des Betroffenen von den Feststellungen des Strafgerichts abweichen26. 3. Die Anordnung der Maßregel setzt voraus, daß der Verurteilte eine rechtswidrige Tat begangen hat und sich dadurch als ungeeignet zum Führen von Kraftfahrzeugen erwiesen hat. a) Bei der begangenen Tat müssen alle Voraussetzungen der Strafbarkeit erfüllt sein, mit Ausnahme der Schuldfähigkeit des Täters 27 . Die Tat muß bei oder im Zusammenhang mit dem Führen eines Kraftfahrzeugs oder „unter Verletzung der Pflichten eines Kraftfahrzeugführers" begangen worden sein. Dieses Erfordernis ist notwendig, weil andernfalls die Maßregel des § 69 ihren spezifischen Charakter verlöre und sich in eine praktikable Zusatzbestrafung für alle Arten von Delikten verwandeln würde 28 . Die Rechtsprechung neigt allerdings zu einer extensiven Auslegung des „Zusammenhangs" mit dem Führen von Kraftfahrzeugen und läßt die Entziehung der Fahrerlaubnis etwa dann zu, wenn der Täter mit dem Fahrzeug Drogen transportiert (BGH NStZ 1992, 586), wenn er sich den Besitz eines Mietwagens durch Betrug verschafft (BGH 5, 179) oder wenn er durch falsche Gutachten über manipulierte Verkehrsunfälle Betrügereien gegenüber einer Kraftfahrzeugversicherung ermöglicht hat (OLG München NJW 1992, 2777) 29 . In solchen Fällen besteht jedoch keine hinreichend enge Verbindung zwischen der Tat und der Gefährdung des Straßenverkehrs 30. b) Aus der Tat (und nicht etwa aus anderen Umständen) muß sich außerdem ergeben, daß der Täter zum Führen von Kraftfahrzeugen ungeeignet ist. Das Gericht hat eine Gesamtwürdigung von Tat und Täterpersönlichkeit vorzunehmen. Sie führt dann zur Anordnung der Maßregel, wenn in der Tat gravierende körperliche, geistige oder - praktisch am häufigsten - charakterliche Mängel zutage getreten sind, die die mangelnde Eignung des Täters zur Verkehrsteilnahme am Steuer eines Kraftfahrzeugs begründen Die Frage der Eignung ist immer auf zukünftiges Verhalten gerichtet und verlangt deshalb - entgegen der wohl herrschenden Meinung (BGH 5, 168 [174]; 7, 165 [168]) 32 - eine Prognose 33. Diese ergibt sich jedoch in der Regel ohne weiteres aus dem für die Gegenwart festgestellten 26 Die Verwaltungsbehörde soll jedoch nur dann an die Feststellungen des Strafgerichts gebunden sein, wenn dieses vom gleichen Sachverhalt ausgegangen ist wie er der Verwaltungsbehörde vorliegt (BVerwG NZV 1988, 37); eingehend Jagusch / H entschel, Straßenverkehrsrecht § 4 StVG Rdn. 15 ff. 27 SK (Horn) § 69 Rdn. 13. In Frage kommt auch eine Verurteilung nach § 323 a oder eine Verurteilung unter Absehen von Strafe; NK (Herzog) § 69 Rdn. 9; Schönke / Schröder / Stree, § 69 Rdn. 20, 22. 28 Für eine Veränderung des Fahrverhots in diesem Sinne Schöch, Gutachten C zum 59. DJT S. C 120. 29 Zahlreiche weitere Nachweise bei Dreh er/Tröndle, § 44 Rdn. 6 f.; Kulemeier, Fahrver-

bot S. 222 - 229; Schönke/Schröder/Stree, 30

§ 69 Rdn. 12 - 16.

Für zurückhaltendere Anwendung auch NK (Herzog) § 69 Rdn. 13; SK (Horn) § 69 Rdn. 8 a; siehe auch BGH NStZ 1995, 229 (Verwendung des Kraftfahrzeugs nach Vergewaltigung ist keine hinreichende Anlaßtat). 31 Nachweise zur Rechtsprechung über die mangelnde Eignung z.B. bei Dreh er/Tröndle, § 69 Rdn. 9 - 9c; Jagusch/ Hentschel, Straßenverkehrsrecht § 69 StGB Rdn. 12; Kulemeier, Fahrverbot S. 95 - 106; LK 10 (Rüth) § 69 Rdn. 21 - 30. 32 33

Lackner, § 69 Rdn. 6; LK 10 (Rüth) § 69 Rdn. 31; 4. Auflage S. 745. NK (Herzog) § 69 Rdn. 26; Schönke/Schröder/Stree, § 69 Rdn. 30f.; SK (Horn) § 69

Rdn. 14; Streng, Sanktionen S. 124.

I I . D i e Entziehung der Fahrerlaubnis (§§ 69 - 69 b)

827

Zustand des Täters oder seiner Einstellung zu seinen Pflichten im Straßenverkehr 34 . Die Entscheidung über die Eignung ist nicht für den Zeitpunkt der Tat, sondern für denjenigen des Urteils (in der Tatsacheninstanz) zu treffen. Daher sind positive Veränderungen in der Persönlichkeit des Täters zwischen Tat und Hauptverhandlung zu seinen Gunsten zu berücksichtigen (OLG Zweibrücken StV 1989, 250) 35 . Dies gilt insbesondere für den Fall, daß dem Täter die Fahrerlaubnis unmittelbar nach der Tat gem. § l i l a StPO vorläufig entzogen worden ist; schon dadurch kann seine Einsicht in die Gefährlichkeit seines früheren Verkehrsverhaltens entscheidend gefördert und ein charakterlicher Mangel beseitigt worden sein (BGH StV 1992, 64) 36 . c) Einer besonderen Feststellung der mangelnden Eignung des Täters bedarf es in der Regel dann nicht, wenn er einen der in § 69 I I aufgezählten Tatbestände verwirklicht hat. Die Ungeeignetheit wird vermutet, wenn der Täter eines der beiden spezifischen Verkehrsgefährdungsdelikte (§§ 315 c, 316) oder eine Verkehrsunfallflucht (§ 142) nach Verursachung eines Personen- oder bedeutenden Sachschadens37 begangen hat; dasselbe gilt, wenn er eine dieser Taten im Zustand des Vollrausches (§ 323 a) verübt hat. Der Gesetzgeber nimmt an, daß man durch die - wenn auch bei §§ 315 c, 316 möglicherweise nur fahrlässige - Begehung eines dieser typischen Verkehrsdelikte regelmäßig charakterliche Mängel offenbart, die die Entziehung der Fahrerlaubnis begründen. Diese Annahme ist jedenfalls für die fahrlässige folgenlose Fahrt unter Alkoholeinfluß (§316 II) schwerlich berechtigt. Auch wenn die Voraussetzungen von § 69 I I erfüllt sind, hat das Gericht daher zu prüfen, ob nicht aufgrund von Besonderheiten der Tat (z.B. besonders leichte Fahrlässigkeit, notstandsähnliche Situation) oder des Täters eine Ausnahme vom gesetzlichen Regelfall vorliegt 38 . 4. Sind die Voraussetzungen von § 69 erfüllt, so muß die Fahrerlaubnis entzogen werden; die Verhältnismäßigkeit der Maßregel, etwa im Hinblick auf wirtschaftliche oder berufliche Folgen für den Täter, ist nach der ausdrücklichen Regelung in § 69 I 2 nicht zu untersuchen 39. Grundsätzlich ist die Fahrerlaubnis insgesamt zu 34 Kein Anlaß für eine Fahrerlaubnisentziehung besteht jedoch etwa dann, wenn der Täter bei der Tat so schwer verletzt wurde, daß er nicht mehr autofahren kann; Schönke / Schröder/Stree, § 69 Rdn. 52; a.A. LK 10 (Rüth) § 69 Rdn. 31. Soweit man Straftaten mit geringem Bezug zum Straßenverkehr (z.B. Sexualdelikte) als Anlaßtaten ausreichen läßt, muß wenigstens konkret zu erwarten sein, daß der Täter seine Fahrerlaubnis weiterhin zur Begehung von Straftaten mißbrauchen wird (BGH StV 1994, 314 [315]). 35 Schon die Tatsache, daß der Täter seit der Tat über einen längeren Zeitraum hinweg beanstandungsfrei autogefahren ist, kann für seine Eignung sprechen; Dreher/Tröndle, § 69

Rdn. 10; Kulemeier, Fahrverbot S. 106; NK (Herzog) § 69 Rdn. 34; Schönke/Schröder/Stree, § 69 Rdn. 52; a.A. Himmelreich/ H entschel, Fahrverbot Bd. I S. 23.

36 Lackner, § 69 Rdn. 8; LK 10 (Rüth) § 69 Rdn. 31. Umstritten ist die Frage, in welchem Umfang die Teilnahme an Ν ach Schulungskursen nach der Tat die Eignung zum Führen von Kraftfah rzeugen wiederherstellen kann; siehe hierzu Bode, DAR 1994, 348; Gontard/Janker,

D A R 1992, 8; Himmelreich/ Η entschel, Fahrverbot Bd. I S. 29 - 35; Rosner, Alkohol am

Steuer, 1988; Stephan/Kunkel, BA 1989, 347; Utzelmann, BA 1990, 106; zahlreiche Nachweise aus der Rechtsprechung bei Dreher/Tröndle, § 69 Rdn. 10a, 10b. 37 Die Grenze liegt bei etwa DM 1500 - 2000; vgl. OLG Hamburg MDR 1989, 477; OLG Düsseldorf NZV 1990, 197; 1991, 237; LG Baden-Baden NZV 1989, 405; weitere Nachweise bei Himmelreich / Η entschel, Fahrverbot Bd. I S. 26 f. 38 Vgl. die Beispielsfälle bei Dreher/Tröndle, § 69 Rdn. 12a; Krehl, D A R 1986, 36f.; Lackner, § 69 Rdn. 7; LK 10 (Rüth) § 69 Rdn. 38; Schönke/Schröder/Stree, § 69 Rdn. 42f. 39

38.

Hierzu mit Recht kritisch Baumann, Forensia 1987, 49f.; NK (Herzog) § 69 Rdn. 36 -

828

§ 78 Maßregeln ohne Freiheitsentziehung

entziehen40. Nach § 69a I I kann das Gericht jedoch der Verwaltungsbehörde die Möglichkeit eröffnen, dem Täter für bestimmte Arten von Fahrzeugen sogleich wieder eine Fahrerlaubnis zu erteilen; eine solche Entscheidung kann etwa dann sinnvoll sein, wenn bei dem Täter eine Alkoholgefährdung nur in der Freizeit besteht, während er die beruflich gefahrenen Lastkraftwagen stets in nüchternem Zustand führt (vgl. BayObLG JZ 1983, 33; O L G Celle D A R 1985, 90) 41 . Mit der Rechtskraft des Urteils erlischt die Fahrerlaubnis; ein deutscher Führerschein wird eingezogen (§ 69 III). Führt der Verurteilte danach dennoch ein Kraftfahrzeug, so macht er sich nach § 21 I StVG strafbar. Besitzt jemand eine im Inland gültige ausländische Fahrerlaubnis, so wirkt die Fahrerlaubnisentziehung nur in bezug auf den inländischen Straßenverkehr (§ 69 b I), da ein deutsches Gericht die von einer ausländischen Behörde erteilte Erlaubnis nicht als solche aufheben kann. Aus demselben Grunde wird auch ein ausländischer Führerschein nicht eingezogen, sondern die Entziehung der Fahrerlaubnis wird lediglich in ihm vermerkt (§ 69 b II). Fahrerlaubnisse, die von Behörden der DDR ausgestellt wurden, bleiben wirksam (Anlage I Kap. XI Sachgebiet Β Abschnitt III Nr. 2 EV); sie sind allerdings jetzt als inländische anzusehen, so daß auch ein aus der DDR stammender Führerschein nach ξ 69 III 2 einzuziehen ist 42 . 5. Zugleich mit der Entziehung der Fahrerlaubnis setzt das Gericht eine Frist fest, innerhalb derer die Verwaltungsbehörde dem Täter keine neue Fahrerlaubnis erteilen darf (§ 69 a I I ) . Diese Sperre kann zwischen sechs Monaten43 und fünf Jahren oder auch unbefristet festgesetzt werden. Maßgeblich für die Dauer der Sperrfrist sind weder Erwägungen der Schuldschwere noch der Generalprävention (vgl. BGH 15, 393 [397]; BGH NStZ 1991, 183; OLG Düsseldorf NZV 1993, 117), sondern allein die Frage, für wie lange Zeit der Täter voraussichtlich zum Führen von Kraftfahrzeugen ungeeignet bleiben wird 44 . Nach Ablauf der Sperrfrist liegt es bei der Verwaltungsbehörde, ob und unter welchen Voraussetzungen sie dem Täter eine neue Fahrerlaubnis erteilt (vgl. BVerfGE 20, 365). Das Gericht kann nach Ablauf der Mindestfrist die Sperre vorzeitig aufheben 45, wenn Grund zu der Annahme besteht, daß die Eignung des Täters früher als erwartet wiederhergestellt ist (§ 69 a VII l) 4 6 . Es reicht aus, wenn die für die Fahrerlaubnisentziehung bestimmende negative Prognose nicht mehr aufrechterhalten werden kann47; stellt das (Vollstreckungs-) Gericht 48 nunmehr fest, daß der Verurteilte wieder zum Führen von Kraftfahrzeugen geeignet ist, so hat dieser einen Anspruch auf vorzeitige Aufhebung der Sperre, da eine nicht mehr erforderliche Freiheitsbeschränkung beendet werden muß. Das Mindestmaß der Sperrfrist verkürzt sich um die Zeit, während der dem Täter die Fahrerlaubnis nach § l i l a StPO vorläufig entzogen war (§ 69 a IV 1). Die Zeit der vorläufigen Fahrerlaubnisentziehung wird also nicht auf die 40 Besitzt der Täter keine Fahrerlaubnis, so wird nach § 69a I 3 lediglich eine Sperre für die Erteilung einer Fahrerlaubnis angeordnet. 41 Zu den teilweise umstrittenen Einzelheiten siehe Dreher/Tröndle, § 69 a Rdn. 3, 3 a;

Himmelreich / Hentschel, Fahrverbot Bd. I S. 81 - 91; Schönke/Schröder/Stree, 42 Lackner, § 69a Rdn. 12; Nettesheim, DtZ 1991, 365.

§ 69a Rdn. 3.

43 Wurde gegen den Täter innerhalb der letzten drei Jahre bereits eine Sperre angeordnet, so beträgt die Mindestfrist ein Jahr (§ 69a III). 44 Zur Festsetzung der Sperrfrist eingehend Dencker, StV 1988, 454; Geppert, Die Bemessung der Sperrfrist, 1968; Himmelreich/Hentschel, Fahrverbot Bd. I S. 58 - 65; Kulemeier, Fahrverbot S. 111 - 115, 243 -245 (auch zu informellen „Sperrfristtaxen"); NK (Herzog) § 69a Rdn. 3 - 6. 45 Diese Möglichkeit besteht auch hinsichtlich einer unbefristeten Sperre nach § 69a I 2;

vgl. O L G Düsseldorf D A R 1991, 466; Dreh er/Tröndle, schel, Fahrverbot Bd. I S. 91; SK (Horn) § 69a Rdn. 12.

§ 69a Rdn. 15; Himmelreich / Hent-

46

Auch in diesem Zusammenhang kann von Bedeutung sein, daß sich der Täter einer Nachschulung unterzogen hat; vgl. Dreher/Tröndle, § 69a Rdn. 15b; Zabel/Zabel, BA 1991, 345. 47

NK (Herzog) § 69a Rdn. 25; SK (Horn) § 69a Rdn. 14.

48

Z u m Verfahren siehe §§ 462, 463 aV StPO.

I I I . Das Berufsverbot (§§ 70 - 70 b)

829

Sperrfrist angerechnet, sondern es wird nur dem Tatrichter die Möglichkeit gegeben, positive Wirkungen der vorläufigen Maßnahme in gewissem Umfang zu berücksichtigen. Es muß jedoch eine Restsperrfrist von mindestens drei Monaten festgesetzt werden (§ 69a IV 2). Diese Regelung wird mit der Überlegung gerechtfertigt, daß die im Urteil festgestellte Nicht-Eignung des Täters ja nicht sogleich wieder wegfallen könne49. Sie ist jedoch problematisch, weil sie den erstinstanzlich Verurteilten von der Einlegung einer Berufung 5 abhalten kann, durch die das Verfahren und damit die Gesamtdauer der Fahrerlaubnisentziehung verlängert würde 51. 6. Verschiedene Vorschläge sind in jüngerer Zeit zur Reform der Entziehung der Fahrerlaubnis gemacht worden. Gegenüber der vereinzelt vorgetragenen Forderung, die Maßregel abzuschaffen bzw. mit dem Fahrverbot (§ 44) zu verschmelzen , ist jedoch daran festzuhalten, daß die Fahrerlaubnisentziehung in ihrer derzeitigen Ausgestaltung ein unverzichtbares Mittel zur Sicherung des Straßenverkehrs darstellt. Dies schließt nicht aus, daß man die Regelungen der §§ 69 - 69 b im Detail aufgrund der Erfahrungen der Praxis verbessert 5 . III. Das Berufsverbot (§§ 70 - 70 b) 1. Ähnlich wie die Entziehung der Fahrerlaubnis zielt auch die Maßregel des Berufsverbots (§ 70) darauf ab, die Gefährlichkeit des Täters in einem bestimmten Bereich zu bekämpfen; hier geht es um die Verhütung von Straftaten, die im Zusammenhang mit der gewerblichen oder beruflichen Tätigkeit des Verurteilten drohen. Da das Berufsverbot nicht nur in das Grundrecht des Art. 12 GG eingreift, sondern dem Täter zumeist auch seine wirtschaftliche Lebensgrundlage entzieht und damit seine Resozialisierung wesentlich erschwert, stellt es eine überaus einschneidende Maßnahme dar, die nur zur Abwendung gravierender Gefahren für die Allgemeinheit zulässig sein kann 5 4 . Die Gerichte machen von dieser Maßregel zu Recht einen sehr zurückhaltenden Gebrauch 55 . Ob das Berufsverbot als strafrechtliche Sanktion überhaupt notwendig ist, kann man auch deshalb bezweifeln, 49

50

Lackner, § 69a Rdn. 5.

Nach der Entscheidung der letzten Tatsachewinstanz wird die Zeit der vorläufigen Fahrerlaubnisentziehung vollständig angerechnet (§ 69 a V 2), so daß mit der Einlegung der Revision nicht das Risiko verbunden ist, die Rückerlangung der Fahrerlaubnis zu verzögern. 51 § 69 a Siehe hierzu Gontard, Rebmann-Festschrift S. 218 - 225; Schönke/Schröder/Stree, Rdn. 13; für eine weitergehende Verkürzung der Sperrfrist für den Fall, daß die Staatsanwaltschaft erfolglos Berufung eingelegt hat, zutreffend (allerdings ohne gesetzliche Grundlage) Dreher/Tröndle, 52

§ 69a Rdn. 9a.

Siehe etwa P.-A. Albrecht/Hassemer/Voß (Hrsg.), Rechtsgüterschutz durch Entkriminalisierung S. 20; Cramer , Schröder-Gedächtnisschrift S. 544-547; Denzlinger, ZRP 1988, 369; weitere Nachweise bei Himmelreich / H entschel, Fahrverbot Bd. I S. 1. 53 Für Beibehaltung der Maßregel mit kleineren Veränderungen auch Gontard, RebmannFestschrift S. 211; H entschel, BA 1986, 1; Kulemeier, Fahrverbot S. 342 -351; Müller-Metz, NZV 1994, 93 - 95; Schöch, Gutachten C zum 59. DJT S. C 114 - C 116. 54

55

LK i0

{Hanack) § 70 Rdn. 3.

Seit 1970 wurde Berufsverbot durchweg in weniger als 100 Fällen pro Jahr angeordnet; Schöch, Gutachten C zum 59. DJT S. C 124 (Tab. 8); siehe auch oben § 5 V 2. Im französischen Recht ist das Berufsverbot in vielen Einzelvorschriften als Nebenstrafe vorgesehen; siehe Art. 131-10, 131-28 Code pénal sowie Zieschang, Sanktionensystem S. 116-118. Auch nach Art. 54 Schweiz. StGB wird das Berufsverbot als Nebenstrafe angesehen; die Expertenkommission zur Reform des Allgemeinen Teils hat mit beachtlichen Gründen (Unverhältnismäßigkeit, Schwierigkeit einer klaren Beschreibung des verbotenen Verhaltens) seine Streichung vorgeschlagen; vgl. Bericht zur Revision des Allgemeinen Teils S. 92 f. Für häufigere Anwendung des Berufsverbots dagegen Kaiser, Befinden sich die kriminalrechtlichen Maßregeln in der Krise? S. 41 f.

§ 78 Maßregeln ohne Freiheitsentziehung

830

weil die Begehung von berufsbezogenen Straftaten in vielen Bereichen Anlaß zu standes- oder verwaltungsrechtlichen Maßnahmen mit dem Ziel der vorübergehenden oder dauernden Untersagung der Berufsausübung gibt (siehe z.B. §§ 35, 59 GewO, § 15 i.V.m. § 4 GaststättenG)56. 2. Die Anordnung des Berufsverbots setzt eine Anlaßtat sowie eine ungünstige Prognose voraus. a) Als auslösendes Delikt kommt grundsätzlich jede rechtswidrige Tat in Betracht, die der Täter unter Mißbrauch seines Berufs oder unter Verletzung berufsbezogener Pflichten begangen hat. Der Täter kann bei der Tatbegehung auch schuldunfähig gewesen sein. Angesichts des weitreichenden Eingriffs in die Lebensführung, die das Berufsverbot bedeutet, können jedoch nur erhebliche Straftaten zur Anordnung der Maßregel Anlaß geben57. Die Tat muß überdies in einem inneren Zusammenhang mit dem tatsächlich ausgeübten Beruf des Täters stehen (BGH 22, 144; B G H NJW 1983, 2099; 1989, 3231 [3232]; NStZ 1988, 176) 58 . Beispiele: Ein Mißbrauch des Berufs ist gegeben, wenn eine Krankenschwester Morphium aus dem Krankenhaus stiehlt (OLG Hamburg NJW 1955, 1568), wenn ein Rechtsanwalt seinem Mandanten Waffen in die Untersuchungshaft schmuggelt (BGH 28, 84) oder wenn ein Lehrer sexuelle Handlungen an Schulkindern vornimmt. Dagegen liegt keine berufstypische Pflichtverletzung vor, wenn ein Gewerbetreibender die fälligen Steuern oder Sozialabgaben nicht entrichtet, da die entsprechenden Pflichten jedermann in gleicher Weise treffen (BayObLG NJW 1957, 958; KG JR 1980, 247)59. b) Eine Gesamtwürdigung von Tat und Täter muß weiterhin die Gefahr erkennen lassen, daß der Täter auch in Zukunft erhebliche berufsbezogene Straftaten begehen wird. Nur wenn solche Delikte aufgrund des bisherigen Verhaltens und der Einstellung des Täters mit großer Wahrscheinlichkeit erwartet werden müssen, darf die Maßregel angeordnet werden. Diese Prognose ist insbesondere dann schwer zu stellen, wenn gegen den Täter eine vollstreckbare Freiheitsstrafe verhängt wird, da das Gericht in diesem Fall die mögliche (positive oder negative) Wirkung der Freiheitsstrafe zu berücksichtigen hat: Ein Berufsverbot wird erst nach der Entlassung aus dem Strafvollzug wirksam (§ 70 IV 3) und kann, anders als z.B. eine Unterbringung in der Entziehungsanstalt (vgl. § 67c I), auch nicht sogleich zur Bewährung ausgesetzt werden60. Um den Täter nicht mit einer letztlich überflüssigen Maßregel zu belasten, sollte man in diesen Fällen von der Annahme ausgehen, daß die Strafverbüßung zur Beseitigung der berufsbezogenen Gefährlichkeit beiträgt. In jedem Fall ist angesichts des Verhältnismäßigkeitsprinzips (§ 62) zunächst zu prüfen, ob die Gefahr nicht durch weniger einschneidende Maßnahmen beseitigt werden kann. In Betracht kommt auch eine Beschränkung des Verbots auf die Ausübung eines bestimmten Berufszweiges, wenn sich dieser mit hinreichender 56

Nach 35 III GewO darf die Verwaltungsbehörde, wenn sie jemandem die Ausübung eines Gewerbes wegen UnZuverlässigkeit untersagen will, nicht zu Lasten des Gewerbetreibenden von den Feststellungen eines Strafgerichts in derselben Sache abweichen. Siehe zum Verhältnis von Straf- und Verwaltungsrecht in diesem Bereich eingehend LK 10 (Hanack) § 70 Rdn. 85 - 92. 57 58

59

LK 10 (Hanack) § 70 Rdn. 8; SK (Horn) § 70 Rdn. 3. Beispiele bei Dreh er/Tröndle, § 70 Rdn. 4; LK 10 (Hanack) § 70 Rdn. 20 - 27.

Ebenso Maurach/Gössel/Zipf Allg. Teil II § 69 Rdn. 36; Schönke/Schröder/Stree, Rdn. 7; nur die Hinterziehung von Sozialabgaben, nicht aber die Steuerhinterziehung sehen als berufstypisch an Dreher/Tröndle,

§ 70 Rdn. 3; Lackner, § 70 Rdn. 3; LK

10

(Hanack)

§ 70 Rdn. 28-31; Lang-Hinrichsen, Heinitz-Festschrift S. 492 ff. 60 Siehe zu der dadurch begründeten Problematik LK 10 (Hanack) § 70 Rdn. 45 f.; Schön-

ke/Schröder/Stree,

§ 70 Rdn. 13.

§ 70

I I I . Das Berufsverbot (§§ 70 - 70 b)

831

Bestimmtheit beschreiben läßt (vgl. § 260 I I StPO). Eine freiwillige Verpflichtung des Täters, seinen Beruf nicht weiter auszuüben, sieht das Gesetz allerdings nicht vor, und auch die Möglichkeit einer standes- oder verwaltungsrechtlichen Maßnahme beseitigt nicht unbedingt die Gefahr 61 . Beides ist vom Gericht jedoch insoweit zu berücksichtigen, als eine glaubhafte Bereitschaft des Täters, sich eine andere Berufstätigkeit zu suchen, oder eine Gewerbeuntersagung die Gefahr eines Rückfalls so stark herabsetzen kann, daß die Maßregel nicht mehr erforderlich ist 6 2 . c) Umstritten ist die Anwendbarkeit von § 70 auf Beamte und Journalisten. Hinsichtlich der Beamten wird vielfach angenommen, daß die Möglichkeit der Aberkennung oder des Verlustes der Amtsfähigkeit (§ 45 I, II) als lex specialis die Anordnung eines Berufsverbots ausschließe63. Dies überzeugt aber schon deshalb nicht, weil jene strafähnliche Nebenfolge einer Verurteilung nicht dem spezifisch präventiven Zweck des Berufverbots dient und daher auch von ganz anderen Voraussetzungen abhängt. Selbst wenn beispielsweise ein Lehrer wegen sexueller Verfehlungen mit Schülern nach § 45 I seine Amtsstellung verliert, kann es geboten sein, ihn durch ein zusätzlich ausgesprochenes Berufsverbot an einer späteren Fortsetzung seines Tuns an einer Privatschule zu hindern 64. Bei Journalisten (und auch bei Lehrenden i.S.v. Art. 5 III GG) stellt sich die Frage, ob ihre berufliche Tätigkeit ausschließlich durch das in Art. 18 GG vorgesehene Verfahren (Ausspruch der Verwirkung des Grundrechts der Meinungsfreiheit durch das Bundesverfassungsgericht) beendet werden kann. Auch insoweit schließt das Bestehen einer Spezialregelung die Anwendbarkeit von § 70 jedoch nicht aus, da ein Berufsverbot auch dann angezeigt sein kann, wenn die Verfehlung des Täters nichts mit einer Ablehnung der freiheitlich demokratischen Grundordnung zu tun hat, wie dies Art. 18 GG voraussetzt . Ausschließlich anwendbar ist das Grundrechtsverwirkungsverfahren nach Art. 18 GG allerdings in den Fällen, in denen die dem Täter vorgeworfene Handlung gerade in einer politischen Meinungsäußerung liegt (and. BGH 17, 38) . 3. Auch wenn alle Voraussetzungen des § 70 erfüllt sind, liegt die Anordnung des Berufsverbots im Ermessen des Gerichts. Bei der Ausübung des Ermessens ist insbesondere die Verhältnismäßigkeit der Sanktion zu prüfen. 4. Wird ein Berufsverbot verhängt, so darf der Verurteilte nicht nur selbst nicht mehr in dem betreffenden Beruf oder Gewerbe arbeiten, sondern er darf das Verbot auch nicht dadurch zu umgehen versuchen, daß er andere weisungsabhängige Personen für sich tätig werden läßt (§ 70 III). Verstöße gegen ein Berufsverbot sind nach § 145 c strafbar. Das Berufsverbot wird für einen festen Zeitraum zwischen einem Jahr und fünf Jahren angeordnet; nur in besonderen Ausnahmefällen dürfte ein Ausspruch des Berufsverbots „für immer" (§ 70 I 2) in Betracht kommen. 61

Dreher/Tröndle,

§ 70 Rdn. 17; Lackner, § 70 Rdn. 7; Schönke/Schröder/Stree,

§ 70

Rdn. 14. 62 Ähnlich LK 10 CHanack) § 70 Rdn. 44, 47f. 63 Bockelmann/Volk, Allg. Teil S. 302; LK 10 (Hanack) § 70 Rdn. 32f.; Maurach/Gössel/ Zipf,i Allg. Teil II § 69 Rdn. 36. 64 Wie der Text SK (Horn) § 70 Rdn. 6; für eine Beschränkung der Maßregel auf den Bereich privater Tätigkeit Dreher/Tröndle, § 70 Rdn. 5. 65 Insoweit übereinstimmend LK 10 (Hanack) § 70 Rdn. 64 - 67; SK (Horn) § 70 Rdn. 7. In formeller Hinsicht ist § 70 ein freiheitseinschränkendes „allgemeines Gesetz" i.S.v. Art. 5 I I GG. 66 Ebenso Copie , JZ 1963, 494; Lang-Hinrichsen, Heinitz-Festschrift S. 482, 488 -491;

Schwenck, NJW 1962, 1323; a.A. LK 10

(Hanack) § 70 Rdn. 72f.; Schönke/Schröder/Stree,

§ 70 Rdn. 4. Das Bundesverfassungsgericht hat die Frage noch nicht allgemein entschieden, aber ein Berufsverbot nach § 70 jedenfalls in dem Fall für unbedenklich gehalten, daß der Täter durch seine Veröffentlichungen die Tätigkeit einer verbotenen Partei unterstützt (BVerfGE 25, 88).

832

§ 79 Aussetzung der Freiheitsstrafe zur Bewährung

5. Eine nachträgliche Verkürzung der Dauer des Berufsverbots sieht das Gesetz nicht vor. Möglich ist jedoch eine Aussetzung der Maßregel zur Bewährung, wenn die gesetzliche Mindestfrist von einem Jahr abgelaufen ist (§ 70 a I, I I 1). Für die Bewährungszeit können dem Täter Weisungen erteilt, insbesondere ein Bewährungshelfer bestellt werden (§ 70 a I I I 1 i.V.m. §§ 56 c, 56d). Besteht der Täter die Bewährungszeit erfolgreich, so erklärt das Gericht die Maßregel für erledigt (§ 70 b V); andernfalls widerruft es die Bewährung (siehe im einzelnen § 70b I, II). 6. Zeigt sich im Laufe des Strafverfahrens, daß gegen den Beschuldigten voraussichtlich ein Berufsverbot angeordnet wird, so kann der Richter schon im Ermittlungsverfahren als delikts-präventive Maßnahme ein vorläufiges Berufsverbot verhängen (§ 132 a StPO). Die Zeit, in der der Verurteilte aufgrund einer solchen Anordnung während des Verfahrens seinen Beruf nicht ausüben konnte, wird auf das einjährige Mindestmaß des Berufsverbots angerechnet; allerdings darf das im Urteil ausgesprochene Berufsverbot eine Mindestdauer von drei Monaten nicht unterschreiten (§ 70 II; zu der damit verbundenen Problematik siehe oben § 78 I I 5).

3. Kapitel: Strafaussetzung, Verwarnung mit Strafvorbehalt, Absehen von Strafe § 79 Aussetzung der Freiheitsstrafe zur Bewährung Baur, Die Bewährungsauflage der Schadenswiedergutmachung und das Zivilrecht, GA 1957, 338; Berndt, Bewährungsauflage und Freiheitsstrafe, 1994; Blau, Die gemeinnützige Arbeit als Beispiel für einen grundlegenden Wandel des Sanktionenwesens, Gedächtnisschrift für Hilde Kaufmann, 1986, S. 189; Bock, Zur dogmatischen Bedeutung unterschiedlicher Arten empirischen Wissens usw., NStZ 1990, 457; Bockwoldt, Strafaussetzung und Bewährungshilfe, 1982; Bode, Die bedingte Aussetzung der lebenslangen Freiheitsstrafe, Festschrift für H. J. Faller, 1984, S. 325; Boetticher, Zum Widerruf der Strafaussetzung zur Bewährung, NStZ 1991, 1; Böhm/Erhard, Die Praxis der bedingten Strafrestaussetzung, MschrKrim 1984, 365; Bruns, Zur rechtsdogmatischen Problematik strafrichterlicher Auflagen, NJW 1959, 1393; Buhlies, Die Aussetzung des Restes der Ersatzfreiheitsstrafe, 1989; Cornel, Rechtliche Aspekte der Wahrnehmung der Dienst- und Fachaufsicht im Bereich der Bewährungshilfe, G A 1990, 55; Dölling, Die Verlängerung der Bewährungszeit nach § 56 f I I StGB, NStZ 1989, 345; derselbe, Die Weiterentwicklung der Sanktionen ohne Freiheitsentzug usw., ZStW 104 (1992) S. 259; Dünkel, Probleme der Strafaussetzung zur Bewährung usw., ZStW 95 (1983) S. 1039; derselbe, Strafaussetzung zur Bewährung usw. im internationalen Vergleich, in: Dünkel/Spieß (Hrsg.), Alternativen zur Freiheitsstrafe, 1983, S. 397; Dünkel/ Ganz, Kriterien der richterlichen Entscheidung bei der Strafrestaussetzung, MschrKrim 1985, 157; Dünkel/Spieß, Kriminalpolitische Bewertung der Strafaussetzung, in: dieselben (Hrsg.), Alternativen zur Freiheitsstrafe, 1983, S. 503; dieselben, Perspektiven der Strafaussetzung zur Bewährung usw., BewH 1992, 117; Eisenberg, Auslegungsprobleme des § 57 II Nr. 1 StGB n.F., NStZ 1987, 167; derselbe, Anmerkung zu BVerfGE 86, 288, JZ 1992, 1188; Eisenberg/Ohder, Aussetzung des Strafrestes zur Bewährung, 1987; Elf, Die Relativierung der lebenslangen Freiheitsstrafe für Mord usw., NStZ 1992, 468; Fenn, Kriminalprognose bei jungen Straffälligen, 1981; Figueiredo Dias, Direito penal português, Parte geral II, 1993; Frehsee, Schadenswiedergutmachung als Instrument strafrechtlicher Sozialkontrolle, 1987; Frisch, Prognoseentscheidungen im Strafrecht, 1983; derselbe, Dogmatische Grundlagen der bedingten Entlassung usw., ZStW 102 (1990) S. 707; Geis, Die pragmatische Sanktion der „verfassungskonformen Analogie", NJW 1992, 2938; Hesener, Die Arbeitsbeziehung Bewährungshelfer - Proband, 1986; Horn, Der Aussetzungswiderruf und das Absehen davon, JR 1981, 5; derselbe, „Vertrauensschutz" contra Aussetzungs widerruf ? Gedächtnisschrift für Hilde Kaufmann, 1986, S. 545; derselbe, Die Bemessung der Geldauflage nach § 56b Abs. 2 Nr. 2 StGB, StV 1992, 537; Horstkotte, Praktische Konsequenzen der Strafzumessungsforschung, in: Pfeiffer/Oswald (Hrsg.), Empirische Forschung und Strafrechtsdogmatik im Dialog, 1989; Jescheck, Die Freiheitsstrafe und ihre Surrogate in rechtsvergleichender Darstellung, in: Jescheck (Hrsg.), Die Freiheitsstrafe und ihre Surrogate im

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Quelle: Statistisches Bundesamt, Rechtspflege, Reihe 3: Strafverfolgung 1991, 1993, S. 46f. Siehe die Angaben bei Dünkel/Spieß, BewH 1992, 118 - 121.

5 Jescheck, 5. A.

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§ 79 Aussetzung der Freiheitsstrafe zur Bewährung

2. Über die Rechtsnatur der Strafaussetzung zur Bewährung herrscht UneinigBetrachtungsweise stellt die Aussetzung eine strafkeit 3 . Bei kriminalpolitischer rechtliche Sanktion eigener Art dar, die je nach der Ausgestaltung im Einzelfall stärker den Charakter eines Strafverzichts (bei Beschränkung auf Festsetzung einer Bewährungszeit), einer Strafe (z.B. bei der Anordnung stark belastender Auflagen), einer Maßregel (vgl. die in § 56 c I I I genannten Weisungen) oder einer Kombination von Strafe und Maßregel annehmen kann. Gerade in der Möglichkeit, die Sanktion an die individuellen Gegebenheiten und Bedürfnisse des Täters anzupassen, liegt der Vorteil der Strafaussetzung. In systematischer Hinsicht setzt die Strafaussetzung allerdings die Verhängung einer Freiheitsstrafe voraus und stellt daher nicht mehr als das bedingte Absehen von Strafvollstreckung dar 4 . 3. Die Gewährung der Strafaussetzung nach § 56 setzt in jedem Fall die Erwartung des Gerichts voraus, daß der Täter in Zukunft keine Straftaten mehr begehen wird (günstige Prognose; § 56 I 1). Im übrigen hängt die Zulässigkeit der Aussetzung von unterschiedlichen Voraussetzungen ab, je nachdem, wie hoch das Gericht die Freiheitsstrafe bemessen hat 5 : Freiheitsstrafen unter sechs Monaten sind bei günstiger Prognose immer auszusetzen, wie sich aus § 56 I, I I I ergibt 6. Die Vollstreckung von Freiheitsstrafen zwischen sechs Monaten und einem Jahr ist ebenfalls grundsätzlich auszusetzen, es sei denn, die Verteidigung der Rechtsordnung gebiete den Vollzug der Strafe (§ 56 III). Bei Freiheitsstrafen, die über einem Jahr liegen und zwei Jahre nicht überschreiten, müssen zu der günstigen Prognose noch „besondere Umstände" hinzutreten, die sich aus einer Gesamtwürdigung von Tat und Täterpersönlichkeit ergeben und die Vergünstigung der Aussetzung nahelegen (§ 56 II); außerdem darf auch hier die Verteidigung der Rechtsordnung nicht die Vollstreckung gebieten. Diese Abstufung der Voraussetzungen macht deutlich, daß mit zunehmender Schwere der Tat das generalpräventiv orientierte Interesse am tatsächlichen Vollzug der Sanktion gegenüber dem spezialpräventiv begründeten Vollstreckungsverzicht an Bedeutung gewinnt. Bei Freiheitsstrafen über zwei Jahren ist die Aussetzung ganz ausgeschlossen. Vorschläge, die Aussetzungsmög3

Vgl. hierzu Baumann /Web er, Allg. Teil S. 694 („Rechtsfolge besonderer Art, dritte Spur im Strafrecht"); Lackner, § 56 Rdn. 2 („Modifikation der Vollstreckung"); LK 11 (Gribbohm) § 56 Rdn. 1 („Sanktionsmittel eigener Art"); Schönke/Schröder/Stree, § 56 Rdn. 3 f.; SK (Horn) § 56 Rdn. 2.

4 Ähnlich BGH 24, 40 (43); Dreher/Tröndle, § 56 Rdn. la; Maurach/Gössel/Zipf, Allg. Teil II § 65 Rdn. 12 („ambulante Resozialisierung"); Schäfer, Praxis Rdn. 104. SK (Horn) § 56 Rdn. 3 stellt dagegen die Bewährungssanktion in den Vordergrund und faßt die verhängte Freiheitsstrafe nur als „Ersatzstrafe" auf. 5 Entscheidend ist die Höhe der verhängten Strafe, nicht ihr noch vollstreckbarer Teil; LK n (Gribbohm) § 56 Rdn. 6; SK (Horn) § 56 Rdn. 8. So darf etwa eine Freiheitsstrafe von drei Jahren auch dann nicht zur Bewährung ausgesetzt werden, wenn 18 Monate bereits durch Anrechnung erlittener Untersuchungshaft (§51) erledigt sind. Ist eine Freiheitsstrafe schon vollständig durch Untersuchungshaft verbüßt, so kann sie nach herrschender Meinung gar nicht mehr zur Bewährung ausgesetzt werden, obwohl dies für den Täter registerrechtliche Vorteile hätte (vgl. § 34 I BZRG); BGH 31, 25; Dreher/Tröndle, § 56 Rdn. 2; Lackner, §56 Rdn. 6; LK n (Gribbohm) §56 Rdn. 7; Maurach/Gössel/Zipf, Allg. Teil II §65 Rdn. 16; kritisch Schäfer, Praxis Rdn. 106; für die Möglichkeit der Strafaussetzung auch in diesem Fall Schönke/Schröder/Stree, § 56 Rdn. 13. 6 Dies gilt auch (und gerade) dann, wenn das Gericht die Verhängung einer Freiheitsstrafe bis zu sechs Monaten „zur Verteidigung der Rechtsordnung" oder „zur Einwirkung auf den Täter" für erforderlich gehalten hat; denn mit dieser Feststellung ist nicht gesagt, daß es auch der Vollstreckung der Strafe bedarf; BGH 24, 164; Lackner, § 56 Rdn. 13; SK (Horn) § 56 Rdn. 20; Streng, Sanktionen S. 66; widersprüchlich hierzu Dreher/Tröndle, § 56 Rdn. 7.

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5 )

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lichkeit nach ausländischem Vorbild 7 auf höhere Strafen auszudehnen8, haben sich bisher nicht durchzusetzen vermocht. Die Festsetzung der Strafhöhe hat sich ausschließlich an den in § 46 angegebenen Maßstäben zu orientieren. Das Gericht darf also nicht auf die Zwei-JahresGrenze des § 56 I I „schielen" und eine nicht schuldangemessen hohe (bzw. niedrige) Strafe deshalb festsetzen, weil es die Strafaussetzung zur Bewährung vermeiden (bzw. ermöglichen) will ( B G H 29, 319; B G H NStZ 1988, 309; 1992, 489) 9 . Das schließt freilich nicht aus, daß bei der Festsetzung des Strafmaßes innerhalb des „Schuldrahmens" (siehe dazu unten § 82 I V 6) die Konsequenzen im Hinblick auf § 56 in die Erwägungen einbezogen werden (vgl. § 46 I 2) 1 . 4. a) Die entscheidende Schwelle für die Gewährung der Strafaussetzung ist die günstige Prognose i.S.v. § 56 I 1. Die Gerichte treffen sie in aller Regel intuitiv aufgrund der Erfahrungen, die die Richter selbst gemacht haben und die durch die (ober-)gerichtliche Rechtsprechung tradiert und fortgeschrieben werden. Statistische Prognosemethoden haben sich in der Praxis ebensowenig durchsetzen können wie - für den Regelfall - die aufwendige klinische Begutachtung des Täters durch einen Sachverständigen 11. Das Gesetz sieht die Strafaussetzung für den Fall vor, daß - im Zeitpunkt der Urteilsfällung 12 - zu erwarten ist, daß der Verurteilte auch ohne die Einwirkung des Strafvollzugs keine Straftaten mehr begehen wird. b) Diese Formulierung ist in mehrfacher Hinsicht problematisch. Zunächst geht sie von der wirklichkeitsfernen Annahme aus, die „Einwirkung des Strafvollzugs" könne zur Reso7

Freiheitsstrafen von mehr als zwei Jahren können zur Bewährung ausgesetzt werden z.B. in Belgien (Art. 8 Loi concernant la suspension, le sursis et la probation vom 29.6.1964: Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren), in Frankreich (Art. 132-40, 132-41 C.p.: Gefängnis bis zu fünf Jahren; siehe hierzu Zieschang, Sanktionensystem S. 162 - 177) und in Portugal (Art. 48-1 port. StGB: Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren; siehe hierzu Figueiredo Dias, Direito penal português, Parte geral II S. 341 f.), ferner nach Art. 42 des Vorentwurfs der Expertenkommission für die Schweiz (Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren). In Österreich (§ 43 a IV österr. StGB) kann bei Freiheitsstrafen bis zu drei Jahren immerhin ein Teil der Strafe zur Bewährung ausgesetzt werden; vgl. zur Teilaussetzung eingehend Zipf Jescheck-Festschrift I I S. 977; derselbe, Göppinger-Festschrift S. 463. Zu beachten ist aucn, daß in den Ländern, die das System der Probation verwenden (vgl. oben § 8 VI 2), von vornherein keine Beschränkung auf eine bestimmte Strafhöhe besteht. Siehe im einzelnen die rechtsvergleichenden Überblicke bei Dünkel, ZStW 95 (1983) S. 1058 ff.; Jescheck, in: derselbe (Hrsg.), Die Freiheitsstrafe und ihre Surrogate S. 2099 ff. 8 Dölling, ZStW 104 (1992) S. 277f.; Dünkel, ZStW 95 (1983) S. 1072f.; Dünkel/Spieß, in: dieselben (Hrsg.), Alternativen zur Freiheitsstrafe S. 507; Maurach/Gössel/Zipf, Allg. Teil II § 65 Rdn. 9; Schall, in: Deutsche Bewährungshilfe

(Hrsg.), Die 13. Bundestagung S. 345 -

349; siehe auch Kürzinger, in: Jescheck (Hrsg.), Die Freiheitsstrafe und ihre Surrogate Bd. III S. 1918 - 1920; ablehnend aber die Stellungnahme der Bundesregierung, BT-Drucks. 10/5828 S. 3; Zieschang, Sanktionensystem S. 450 f. 9 LK n (Gribbohm) § 56 Rdn. 2; Schönke/Schröder/Stree, § 56 Rdn. 6; de lege ferenda für einen systematischen Vorrang der Entscheidung über die Strafaussetzung Dünkel/Spieß, BewH 1992, 122 f., 132 f. 10 Zutreffend Schäfer, Praxis Rdn. 105. Die Rechtsprechung läßt es beispielsweise zu, daß zusätzlich zu einer Freiheitsstrafe nach § 41 eine Geldstrafe verhängt wird, um so eine noch aussetzungsfähige Höhe der Freiheitsstrafe zu erreichen; BGH 32, 60 (65 - 67); Dreher/ Tröndle, § 56 Rdn. 2.

11 Zu den verschiedenen Methoden der Prognose strafbaren Verhaltens siehe Fenn, Kriminalprognose S. 7ff.; Frisch, Prognoseentscheidungen S. 108ff.; Kaiser, Kriminologie §§ 108112; LK n (Hanack) Vorbem. 107 - 127 vor § 61; Streng, Sanktionen S. 223 ff. 12 Maurach/Gössel/Zipf, Allg. Teil I I § 65 Rdn. 18; Schäfer, Praxis Rdn. 111; Schönke/

Schröder/Stree, 5*

§ 56 Rdn. 17.

§ 79 Aussetzung der Freiheitsstrafe zur Bewährung

836

zialisierung des Täters mehr leisten als die Strafaussetzung 13. Dadurch ist das Gericht nach herrschender Meinung daran gehindert, die voraussichtlichen Wirkungen von Strafvollstrekkung und Aussetzung miteinander zu vergleichen und die spezialpräventiv im konkreten Fall günstigere Alternative zu wählen14. Stattdessen ist (nur) zu ermitteln, ob das Verbleiben des Täters in Freiheit die Erwartung eines straffreien Lebens zuläßt. Dabei stellt sich die weitere Frage, ob die Aussetzung schon dann verweigert werden muß, wenn mit irgendeiner Straftat (etwa einer Beleidigung oder einem Ladendiebstahl) zu rechnen ist. Überwiegend werden insoweit höhere Anforderungen gestellt: Nur die Prognose von Straftaten, die mit dem abgeurteilten Delikt nach Art und Schwere vergleichbar sind, soll einer Aussetzung im Wege stehen15. Für eine solche Einschränkung ist dem Gesetzeswortlaut allerdings nichts zu entnehmen. Die Voraussage von persönlicnkeitsfremden Straftaten oder von „Allerweltsdelikten", wie sie viele Menschen begehen, wird sich freilich nur in den seltensten Fällen rational aus der Begehung anderer Straftaten ableiten lassen; und das allgemeine Risiko, daß jedermann einmal der Versuchung erliegen kann, eine Straftat zu begehen, darf den Täter im Rahmen von § 56 nicht belasten16. Grundsätzlich muß die Straffreiheit des Täters sofort zu erwarten sein. Bei bestimmten habituell angelegten Neigungen zur Begehung von Straftaten ist eine solche Erwartung freilich unrealistisch; erst im Verlaufe einer längeren Therapie kann damit gerechnet werden, daß der Täter wieder zu einem straffreien Leben fähig wird. Für die Gruppe der Exhibitionisten hat das Gesetz diese Sachlage ausdrücklich anerkannt, indem es die Strafaussetzung zur Bewährung auch dann erlaubt, wenn zu erwarten ist, daß der Täter „ erst nach einer längeren Heilbehandlung" keine exhibitionistischen Handlungen mehr vornimmt (§ 183 III; siehe hierzu B G H 34, 150). Ähnlich verfährt die Praxis zunehmend auch bei therapiebereiten Drogendelinquenten; hier sind die Gerichte sogar gehalten, nach geeigneten ambulanten Therapiemöglichkeiten zu suchen, um die Verhängung einer vollstreckbaren Freiheitsstrafe zu vermeiden (BGH NJW 1991, 3289; StV 1992, 63; vgl. auch BayObLG StV 1992, 15) 17 . c) Die Hauptschwierigkeit liegt bei der Frage, wie sicher die Erwartung der Straffreiheit zu sein hat. Da über die zukünftige Entwicklung eines Menschen über unabsehbare Zeit (§ 56 I 1 begrenzt nicht die Dauer der zu prognostizierenden Straffreiheit) schlechterdings keine verläßlichen Aussagen möglich sind, ist klar, daß die Strafaussetzung nicht an die Gewißheit straffreien Verhaltens gebunden sein kann. Meist wird angenommen, daß eine begründete Wahrscheinlichkeit straffreier Führung ausreicht (BGH NStZ 1986, 27) 18 . Problematisch ist jedoch die Auswirkung des strafprozessualen Grundsatzes „ I m Zweifel für den Angeklagten". Wenn im Rahmen des § 56 jede Ungewißheit zugunsten des Täters zu lösen wäre, könnte eine ungünstige Prognose nur in den ganz seltenen Fällen gestellt werden, in denen der Rückfall mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit vorausgesagt werden kann. Diesem Dilemma entgeht man auch dann nicht, wenn 13

Siehe Horstkotte, Rdn. IIb. 14

Dreher/Tröndle,

in: Pfeiffer/Oswald § 56 Rdn. 4; LK n

(Hrsg.), Strafzumessung S. 284f.; SK (Horn) § 56

(Gribbohm) § 56 Rdn. 25; Schönke/Schröder/Stree,

§ 56 Rdn. 18; für eine vergleichende Analyse aber Dünkel/Spieß,

(Horn) § 56 Rdn. 11c. 15 Schönke/Schröder/Stree,

BewH 1992, 133; SK

§ 56 Rdn. 15; SK (Horn) § 56 Rdn. 9a; vgl. auch Lackner,

§ 56 Rdn. 8 (Erwartung geringfügiger Delikte bleibt außer Ansatz). 16 Im Ergebnis übereinstimmend LK 11 (Gribbohm) § 56 Rdn. 14. 17 Siehe hierzu auch Lackner, § 56 Rdn. 13; Schäfer, Praxis Rdn. 115; SK (Horn) § 56 Rdn. 11. 18

LK 11

Rdn. 11.

(Gribbohm) § 56 Rdn. 11; Schönke/Schröder/Stree,

§ 56 Rdn. 16; SK (Horn) § 56

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ussetzung zur Bewährung (§§ 5 -

5 )

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man, wie die herrschende Meinung, den Satz „in dubio pro reo" nur auf die Tatsachen anwendet, die die Grundlage der Prognose bilden, nicht auf die Prognose selbst 19 . Beispiel: Bei dem Täter eines Rauschgiftdelikts bleibt ungewiß, ob er sich dauernd von der Rauschgiftszene abgewandt hat, ob er in der Lage ist, eine begonnene Entzugstherapie durchzuhalten, und ob die Beziehung zu einer neuen Partnerin stabilisierend auf ihn wirkt. Entscheidet man alle diese Fragen „im Zweifel" zugunsten des Täters, so gelangt man zwingend zu einer positiven Prognose. Indes ist die Prognose gerade deshalb unsicher, weil die genannten Zweifel in tatsächlicher Hinsicht bestehen. Zu lösen ist das Problem wohl nur dadurch, daß man den Zweifelssatz hier, wo es nicht um die Aufklärung vergangener Tatsachen geht, gar nicht anwendet, sondern die unvermeidbaren Ungewißheiten der Prognose bestehen läßt und eine normative Regel für die Entscheidung auf unsicherer Tatsachengrundlage aufstellt. Der materielle Inhalt dieser Regel hängt davon ab, welches Rückfallrisiko die Rechtsgemeinschaft in Kauf zu nehmen bereit ist. Da die Vollstreckung von Freiheitsstrafen, insbesondere solcher bis zu zwei Jahren, die Gefahr weiterer Straftaten häufig nur (zeitlich) verschiebt und nicht beseitigt, spricht viel dafür, auch bei bestehender Unsicherheit großzügig von der Aussetzungsmöglichkeit Gebrauch zu machen 20 . d) In § 56 I 2 sind einzelne Umstände exemplarisch aufgezählt, die auf die Prognose Einfluß haben können. Die Persönlichkeit des Täters kann hier auch dann zu seinem Nachteil berücksichtigt werden, wenn er bestimmte rückfallfördernde Persönlichkeitszüge nicht zu verantworten hat (z.B. Intelligenzschwäche oder krankhafte Neigung zu strafbarem Sexualverhalten) 21. Hinsichtlich des „ Vorlehens" wirken vor allem frühere Straftaten 22 belastend. Sie sind jedoch sorgfältig auf ihre prognostische Bedeutung hin zu würdigen und dürfen keineswegs „automatisch" zur Verweigerung der Aussetzung führen 23 . Die Umstände der Tat sind gleichfalls 19

So Dreher/Tröndle,

§ 56 Rdn. 5; Lackner, § 56 Rdn. 8; LK n

(Grihhohm) § 56 Rdn. 16;

Schäfer, Praxis Rdn. 110; Schönke/Schröder/Stree, § 56 Rdn. 16; gegen die Anwendung des Zweifelssatzes auf die der Prognose zugrunde liegenden Tatsachen aber SK (Horn) § 56 Rdn. 12. 20 Zutreffender Ansatz in der grundlegenden Untersuchung von Frisch, Prognoseentscheidungen S. 49 -53, 80ff.; die sehr weitgehenden Folgerungen, die Frisch im einzelnen zieht (S. 133 - 142), können hier nicht diskutiert werden (siehe hierzu kritisch SK [Horn] § 56 Rdn. IIa). 21 Dreher/Tröndle, § 56 Rdn. 6a; LK n (Grihhohm) § 56 Rdn. 24; Streng, Sanktionen S. 68; siehe aber auch Bock, NStZ 1990, 462 f., der die Gewährung der Strafaussetzung davon abhängig machen will, ob der Täter für seine kriminogenen Eigenschaften verantwortlich gemacht werden kann. Auch bei Üherzeugungs- und Gesinnungstätern kommt eine Strafaussetzung in Betracht, da ja nicht von Bedeutung ist, ob der Täter sein persönliches Wertesystem verändert, sondern nur, ob er von weiteren Straftaten Abstand nimmt; LK 11 (Grihhohm) § 56 Rdn. 17; Maurach/Gössel/Zipf Allg. Teil II § 65 Rdn. 19. 22 Ihr Vorliegen braucht noch nicht rechtskräftig festgestellt zu sein. Es reicht aus, wenn sich das Gericht, das über die Strafaussetzung zu entscheiden hat, von der Begehung der Indiztaten durch den Täter überzeugt hat; BVerfG NStZ 1988, 21; Lackner, § 56 Rdn. 10; LK n (Grihhohm) § 56 Rdn. 19; Schönke/Schröder/Stree, § 56 Rdn. 21. Andererseits dürfen frühere Straftaten, die bereits aus dem Bundeszentralregister getilgt sind, wegen § 51 II BZRG auch nicht zur Begründung einer ungünstigen Prognose herangezogen werden. 23 Zutreffend LK n (Grihhohm) § 56 Rdn. 18; Schäfer, Praxis Rdn. 113; Schönke/Schröder /Stree, § 56 Rdn. 22; SK (Horn) § 56 Rdn. 17. Die Rechtsprechung verlangt allerdings eine eingehende Begründung des Gerichts, wenn dem Täter trotz einschlägiger Vorstrafen und/oder Bewährungsbrüche Strafaussetzung gewährt werden soll; vgl. OLG Düsseldorf JR § 56 Rdn. 6b. 1988, 72; restriktiv auch Dreher/Tröndle,

838

§ 79 Aussetzung der Freiheitsstrafe zur Bewährung

nur dann zu Lasten des Täters zu berücksichtigen, wenn sie in besonderer Weise auf eine Wiederholungsgefahr schließen lassen; bei erstmaliger Tatbegehung dürfte dies nur selten der Fall sein. Umgekehrt kann die Einmaligkeit einer Tatsituation eine günstige Prognose nahelegen. Das Verhalten nach der Tat indiziert dann eine positive Aussetzungsentscheidung, wenn es zeigt, daß sich der Täter - aus eigenem Antrieb oder mit Hilfe anderer - wieder auf den Boden des Rechts gestellt hat. Ein besonders starkes Anzeichen hierfür ist sein Bemühen um Wiedergutmachung der Tatfolgen (vgl. §§ 46 I I a.E., 56 I I 2). Andererseits kann man negative Prognosen aus dem Nachtatverhalten nur mit großer Vorsicht ableiten. Dies gilt insbesondere für Verhaltensweisen, durch die der Täter seine Überführung und Verurteilung zu vermeiden trachtet (BGH StV 1988, 61 ) 2 4 . Die Lebensverhältnisse sind vor allem insofern von Bedeutung, als sie darüber Auskunft geben, ob der Täter durch seine Umwelt (Familie, Arbeitsplatz) bei seinem Bemühen um rechtstreues Verhalten gestützt wird. Von besonderer Wichtigkeit für die Prognose sind die Wirkungen, die von der Aussetzung zu erwarten sind. Die Strafaussetzung kann zunächst schon dadurch stabilisierend wirken, daß sie negative Einflüsse des Strafvollzugs abwendet 25 . Außerdem sind die rückfallhemmenden Möglichkeiten zu erwägen, die die Auflagen und insbesondere die Unterstellung unter einen Bewährungshelfer (§ 56 d) sowie die Erteilung von Weisungen (§ 56 c) eröffnen 26 . Eine negative Prognose kann also nur dann gestellt werden, wenn auch das gesamte Resozialisierungspotential, das das Gesetz in §§ 56b - 56d bereithält, voraussichtlich wirkungslos bleiben würde. 5. Bei Freiheitsstrafen zwischen sechs Monaten und einem Jahr darf eine Strafaussetzung auch bei günstiger Prognose nicht gewährt werden, wenn die „Verteidigung der Rechtsordnung" die Vollstreckung gebietet (§ 56 III). Dieses Kriterium ist auch für die Frage von Bedeutung, ob eine kurzfristige Freiheitsstrafe verhängt werden soll (§ 47 I; vgl. oben § 72 I I I 1). Ebenso wie bei § 47 gilt auch hier, daß durch eine Gesamtwürdigung aller Umstände von Tat und Täterpersönlichkeit (siehe zu deren Einfluß B G H Detter NStZ 1994, 474, 477) festgestellt werden muß, ob der bloße Strafausspruch ohne Vollstreckung „von der Bevölkerung angesichts der außergewöhnlichen konkreten Fallgestaltung als ungerechtfertigte Nachgiebigkeit und unsicheres Zurückweichen vor dem Verbrechen verstanden werden könnte"; nur wenn die Strafaussetzung „für das allgemeine Rechtsempfinden schlechthin unverständlich erscheinen müßte und das Vertrauen der Bevölkerung in die Unverbrüchlichkeit des Rechts" erschüttert werden könnte, darf eine Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr vollstreckt werden (BGH 24, 40 [46]). Diese grundlegende Aussage des BGH, die allgemein Zustimmung gefunden hat , interpretiert die Formel von der „Verteidigung der Rechtsordnung" betont restriktiv als Ausnahme gegenüber dem Normalfall, in dem schon die Verhängung einer Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr und deren Aussetzung zur Bewährung auch zur Erhaltung des Normvertrauens der Bevölkerung ausreicht. Nur wenn anderenfalls der Glaube an die Vernunft der Rechtspflege erschüttert wäre, darf dem Täter 24 So begründet das Leugnen der Tat ebensowenig eine ungünstige Prognose wie das Unterlassen der Wiedergutmachung, da letztere dem Täter ja gerade bei Aussetzung der Vollstreckung auferlegt werden kann (§ 56b II Nr. 1); Lackner, § 56 Rdn. 12; LK n (Gribbohm)

§ 56 Rdn. 23; Schönke/Schröder/Stree, 25

§ 56 Rdn. 24; SK (Horn) § 56 Rdn. 14f.

In diesem Zusammenhang ist es durchaus geboten, mögliche negative Einflüsse des Strafvollzugs in die Abwägung einzubeziehen. 26

Schönke/Schröder/Stree,

tionen S. 68. 27

Vgl. Dreher/Tröndle,

§ 56 Rdn. 24b; SK (Horn) § 56 Rdn. I I b , 18a; Streng, Sank-

§ 56 Rdn. 8 - 8b; LK n

(Gribbohm)

§ 56 Rdn. 46 m . w . N .

I. D i e

ussetzung zur Bewährung (§§ 5 -

5 )

839

trotz günstiger Bewährungsprognose als Mittel zur Erhaltung der „positiven Generalprävention" die Freiheit entzogen werden. Damit wird deutlich, daß bestimmte Faktoren zur Begründung der Verteidigungsnotwendigkeit ausscheiden: Die Versagung der Strafaussetzung darf nicht (allein) auf die Schwere der Schuld 28 oder auf die Verwirklichung eines bestimmten Tatbestandes29 gestützt werden; auch spezialpräventive Erwägungen wären hier fehl am Platze. Andererseits ist, auch wenn dies aus den zitierten Passagen nicht deutlich wird, die Notwendigkeit zur Verteidigung der Rechtsordnung nicht empirisch zu bestimmen - es kommt daher weder auf das Ergebnis von Meinungsumfragen in der Bevölkerung noch auf Stellungnahmen des Verletzten oder anderer Einzelpersonen an (BGH 24, 40 [44]) 30 . Letztlich entscheidet daher eine Bewertung der Tat (einschließlich relevanter Merkmale der Täterpersönlichkeit) durch das Gericht 31 : Wenn es der Auffassung ist, daß die Tat so schwer wiegt, daß Schuldspruch, Strafverhängung und Auflagen (§ 56 b) zusammen noch keine ausreichende Reaktion des Staates darstellen, ordnet es die Vollstreckung an, auch wenn dies spezialpräventiv ungünstige Folgen haben kann. Verfehlt ist es dann freilich, den Täter auch noch mit etwaigen Bedürfnissen der Allgemeinabschreckung (weil die Tat „Ausdruck einer verbreiteten Einstellung" sei; so B G H 24, 40 [47]) 2 zu belasten. 6. Verhängt das Gericht eine Freiheitsstrafe, die höher als ein Jahr ist, aber zwei Jahre nicht übersteigt, so kommt eine Strafaussetzung nur dann in Betracht, wenn neben einer günstigen Prognose noch „besondere Umstände" für sie sprechen (§ 56 II). Auch hier verlangt das Gesetz eine (erneute) „Gesamtwürdigung" der Tat und der Persönlichkeit des Verurteilten. Worin die „besonderen Umstände" liegen können, spezifiziert das Gesetz nicht; hervorgehoben wird lediglich das Bemühen des Täters um Wiedergutmachung des Schadens (§ 56 I I 2). Die Rechtsprechung nimmt mit Recht an, daß alle Arten von strafmildernden Erwägungen zur Begründung der Strafaussetzung herangezogen werden können 33 ; durch ihr Zusammentreffen können auch solche Faktoren, die einzeln nicht sehr gewichtig sind, zu „besonderen Umständen" werden (BGH NStZ 1986, 27; 1991, 5 8 1 ) . Auch im Bereich zwischen ein und zwei Jahren darf die Strafe dann nicht zur Bewährung ausgesetzt werden, wenn die „ Verteidigung der Rechtsordnung" ihre Vollstreckung gebietet (§ 56 III). Selbst wenn die Strafe - wie dies zunehmend häufig geschieht - an der Obergrenze des noch „aussetzungsfähigen" Bereichs fest28

29

Schönke/Schröder/Stree,

§ 56 Rdn. 43.

Vgl. BGH StV 1989, 150 (Rauschgiftdelikte); BGH NJW 1990, 193 (Trunkenheitsfahr-

ten); Lackner, § 56 Rdn. 16; LK n

(Grihhohm) § 56 Rdn. 55; Schönke/Schröder/Stree,

§ 56

Rdn. 40. 30 LK n (Grihhohm) § 56 Rdn. 46, 48; Maurach/Gössel/Zipf, Allg. Teil II § 65 Rdn. 24. 31 Mit Recht weist SK (Horn) § 56 Rdn. 24 darauf hin, daß niemand plausibel erklären könne, „wie eine Tat aussehen muß, damit sie ihre ,gerechte' Antwort nur in vollstreckter Freiheitsstrafe finden kann". Für eine Streichung des Vorbehalts des „Verteidigung der Rechtsordnung" daher Dünkel/Spieß, BewH 1992, 133. 32 Ähnlich auch LK n (Grihhohm) § 56 Rdn. 49; Schäfer, Praxis Rdn. 117; Schönke/Sehröder/Stree, § 56 Rdn. 38; 4. Auflage S. 756. 33 Dies gilt auch dann, wenn sie bereits bei der Bemessung der Freiheitsstrafe eine Rolle gespielt haben, denn das „Doppelverwertungsverbot" nach § 50 ist hier nicht anwendbar; BGH NStZ 1985, 261; LK n (Grihhohm) § 56 Rdn. 38; M aurach/Gössel/Zipf Allg. Teil II § 65 Rdn. 29; Schönke/Schröder/Stree, § 56 Rdn. 24 c. 34 Dreher/Tröndle, § 56 Rdn. 9d; Lackner, § 56 Rdn. 20; LK n

Schäfer, Praxis Rdn. 124.

(Grihhohm) § 56 Rdn. 35;

§ 79 Aussetzung der Freiheitsstrafe zur Bewährung

840

gesetzt wird, braucht das Gericht auf § 56 I I I im Urteil jedoch nicht notwendig einzugehen (BGH NJW 1995, 1038 f.). Wenn das Gericht alle Voraussetzungen des § 56 I I bejaht, verbleibt ihm nach dem Wortlaut des Gesetzes dennoch ein Ermessensspielraum: Es kann die Strafe zur Bewährung aussetzen35. Es ist allerdings nicht ersichtlich, mit welchen legitimen Ermessenserwägungen die Strafaussetzung dann noch abgelehnt werden könnte 36 . 7. Die Entscheidung, die Freiheitsstrafe zur Bewährung auszusetzen, ist in die Urteilsformel aufzunehmen (§ 260 IV 4 StPO). In einem eigenen Bewährungsbeschluß trifft das Gericht Anordnungen über die Dauer der Bewährungszeit sowie über etwaige Auflagen und Weisungen. Dieser Beschluß ist zusammen mit dem Urteil zu verkünden (§ 268 a I StPO), ist aber gesondert mit der Beschwerde anfechtbar (§ 305 a I StPO). 8. Zu den Bedingungen der Strafaussetzung zur Bewährung gilt im einzelnen folgendes: a) Die Bewährungszeit ist zwischen zwei und fünf Jahren festzusetzen (§ 56 a I). Sie beginnt zu laufen, sobald das Urteil (nicht: der Bewährungsbeschluß) rechtskräftig wird (§ 56 a I I l ) 3 7 . Das Gericht kann die Dauer der Bewährungszeit auch nachträglich verkürzen oder verlängern (§ 56 a I I 2), etwa wenn sich zeigt, daß die erteilten Weisungen (§ 56 c) früher als erwartet Erfolg haben oder daß der Täter mehr Zeit benötigt, um die Auflagen (§ 56 b) zu erfüllen. Eine nachträgliche Verlängerung der Bewährungszeit nach deren Ablauf kommt hier jedoch nicht in Betracht (vgl. dagegen unten § 79 I 9b zu § 56f). b) Durch die Erteilung von Auflagen, die als strafähnliche Sanktionen die Aufgabe haben, Genugtuung für das begangene Unrecht zu schaffen 39, wird vermieden, daß die Tat für den Verurteilten ohne jede fühlbare Folge bleibt. Schon um den Täter, der eine ausgesetzte Freiheitsstrafe erhält, nicht besser zu stellen als denjenigen, der mit einer Geldstrafe belegt wird, sollte die Strafaussetzung in der Regel mit einer Auflage verbunden werden 40 (auch wenn das Gesetz in § 56b I 1 die Erteilung in das Ermessen des Gerichts stellt). § 56 b I I enthält einen abschließenden Katalog der zulässigen Auflagen, so daß das Gericht gehindert ist, zusätzliche Auflagen zu erfinden (vgl. BVerfG NStZ 1995, 25: Pflicht zur Offenlegung der Vermögens Verhältnisse; O L G Bremen StV 1986, 253: Auskunftserteilung über Verbleib der Beute) 41 . Durch das Verbrechensbekämpfungsgesetz von 1994 (BGBl. I S. 3186) wurde das Sanktionsmittel der Auflage vorrangig in den Dienst der Schadenswiedergutmachung zugunsten des Verletzten gestellt: Die Auflage, den Schaden nach Kräften wiedergutzuma35

36

Lackner, § 56 Rdn. 22; Schönke/Schröder/Stree,

§ 56 Rdn. 31; Streng, Sanktionen S. 70.

Für eine zwingende Strafaussetzung bei Vorliegen aller Voraussetzungen des § 56 II

daher SK (Horn) § 56 Rdn. 31; Ventzke, StV 1988, 367. 37

LK U (Gribbohm) § 56a Rdn. 3. Die Tatsache, daß sich der Verurteilte in behördlicher Verwahrung befindet, ändert am Lauf der Frist nichts; Schönke/Schröder/Stree, § 56a Rdn. 3. 38

39

Dreher/Tröndle,

§ 56a Rdn. 1; LK U

(Gribbohm) § 56a Rdn. 4.

Die Auflage hat jedoch nicht die Funktion, den erzielten Gewinn abzuschöpfen (OLG Hamm NStZ 1991, 583) oder den Täter ständig daran zu erinnern, daß die Strafvollstreckung nur ausgesetzt ist (so aber OLG Celle NStZ 1990, 148; 1992, 336 [337]); sie darf auch nicht als „Strafe" für die Mißachtung von Weisungen erteilt werden (OLG Zweibrücken JR 1991,

290 m. Anm. Horn). 40 Dreher/Tröndle, 4

he/röderSr

§ 56b Rdn. 3; Schönke/Schröder/Stree, § 56

Rdn.

.

§ 56b Rdn. 1, 17.

I. D i e

ussetzung zur Bewährung (§§ 5 -

5 )

841

chen (§ 56 b I I 1 Nr. 1), steht an erster Stelle und hat Priorität vor den übrigen Auflagen (§ 56b I I 2) 42 . Die herrschende Meinung nimmt an, daß die Höhe der auferlegten Wiedergutmachung den zivilrechtlichen Ersatzanspruch (einschließlich eines Schmerzensgeldes nach § 847 BGB) nicht übersteigen darf (OLG Hamburg MDR 1980, 246; OLG Stuttgart NJW 1980, 1114); allerdings steht eine Verjährung des Anspruchs der Auflage nicht im Wege (OLG Stuttgart MDR 1971, 1023; OLG Hamm NJW 1976, 527)43. Die Gegenmeinung44 weist zwar mit Recht darauf hin, daß das Strafrecht nicht gehindert ist, den notwendigen Ausgleich der Tatfolgen anders zu bestimmen als das Zivilrecht; doch ist nicht einzusehen, warum der Verletzte gerade aufgrund des Umstandes, daß gegenüber dem Täter nach §§ 56, 56b verfahren wird, einen Betrag erhalten sollte, der ihm zivilrechtlich nicht zusteht. Soweit die Leistung von Schadensersatz nicht als ausreichende Genugtuung angesehen wird, kann das Gericht dem Täter weitere Auflagen nach § 56 b I I 1 Nr. 2 - 4 erteilen. Das Gericht kann dem Täter auch auferlegen, einen Geldbetrag an eine gemeinnützige Einrichtung (§ 56 b I I 1 Nr. 2) oder an die Staatskasse (§ 56 b I I 1 Nr. 4) zu zahlen. Vor allem bei der letzteren Alternative wird die Nähe zur Geldstrafe sehr deutlich. Daher stellt sich die Frage, ob die Auflage auch nach denselben Grundsätzen wie eine Geldstrafe (§ 40) zu bemessen ist (so O L G Frankfurt StV 1989, 250) 45 . Dies wird ganz überwiegend verneint 46 , doch darf das Gewicht der Zahlungsauflage (einschließlich etwaiger weiterer Sanktionen) das Maß des verschuldeten Unrechts nicht überschreiten und den Täter nicht in unzumutbarer Weise belasten (§ 56b I 2; siehe dazu auch O L G Düsseldorf NStZ 1993, 136). Nicht unproblematisch ist schließlich auch die Auflage, „sonst gemeinnützige Leistungen zu erbringen" (§ 56 b I I 1 Nr. 3). Gegen sie wurden verschiedentlich verfassungsrechtliche Bedenken erhoben: Die Vorschrift sei zu wenig bestimmt (Art. 103 I I GG) und verstoße überdies gegen das Verbot der Zwangsarbeit (Art. 12 II, I I I G G ) 4 7 . Beide Einwände hat das Bundesverfassungsgericht zurückgewiesen, wobei es allerdings hervorgehoben hat, daß die Leistungsauflage in ihrer Schwere einer Strafe nicht gleichkommen dürfe (BVerfGE 83, 119 [127]; vgl. auch BVerfGE 74, 10). Sinnvoll sind vor allem solche Auflagen, die einen Bezug zu der vom Täter begangenen Straftat haben (z.B. Hilfstätigkeit in einem Krankenhaus bei fahrlässiger Tötung im Straßenverkehr). Unzumutbares darf allerdings auch hier dem Täter nicht abverlangt werden. 42

43

Vgl. Dreher/Tröndle, § 56b Rdn. 2. Baur, GA 1957, 340; Dreher/Tröndle,

§ 56b Rdn. 6; Lackner, § 56b Rdn. 3;

LK n

(Grihhohm) § 56b Rdn. 5; Müller-Dietz, D. Schultz-Gedächtnisschrift S. 265 ff.; Schmidhäuser, Allg. Teil S. 821; SK (Horn) § 56b Rdn. 4. 44 Berndt, Bewährungsauflage S. 131 ff.; Frehsee, Schadenswiedergutmachung S. 237-249; Schönke/Schröder/Stree, 45

§ 56 b Rdn. 9.

Bejaht in SK (Horn) § 56b Rdn. 9. Horn, StV 1992, 539f. will sogar noch weiter gehen und die Geldauflage immer in derselben Höhe wie eine der verhängten Freiheitsstrafe nach § 43 entsprechende Geldstrafe bemessen. Dafür läßt sich dem Gesetz kein Anhaltspunkt entnehmen; die so ermittelte fiktive Geldstrafe dürfte aber jedenfalls die Ο hergrenze einer zulässigen Auflage markieren. 46

Dreher/Tröndle,

§ 56b Rdn. 7; Lackner, § 56b Rdn. 4; LK U

(Grihhohm)

§ 56b

Rdn. 15; Schönke/Schröder/Stree, § 56b Rdn. 11. Entgegen OLG Celle NStZ 1990, 148 kann das Gericht de lege lata dem Täter auch nicht gestatten, die Geldauflage durch freie n Arbeit „abzudienen"; LK (Grihhohm) § 56b Rdn. 16; SK (Horn) § 56b Rdn. 13. 47 Blau, H.-Kaufmann-Gedächtnisschrift S. 205 ff.; Köhler, JZ 1988, 749 (zur gleichen Frage im Jugendstraf recht); Schönke/Schröder/Stree, § 56 b Rdn. 14 f.; Stree, Deliktsfolgen und Grundgesetz S. 144 ff., 185.

842

§ 79 Aussetzung der Freiheitsstrafe zur Bewährung

Der Täter kann auch von sich aus 48 Genugtuungsleistungen anbieten 49 . Reichen diese aus und ist auch zu erwarten, daß der Täter sie tatsächlich in angemessener Frist erbringt, so sieht das Gericht davon ab, eine entsprechende Auflage zu erteilen (§ 56 b I I I ) 5 0 . Dies kann jedoch nachgeholt werden, wenn sich zeigt, daß der Verurteilte seine Zusage nicht einhält (§ 56 e). c) Die Weisungen (§ 56 c), die mit der Strafaussetzung verbunden werden können, dienen ausschließlich dem Zweck, Straftaten des Verurteilten in Zukunft zu verhindern, und dürfen daher auch nur im hierfür erforderlichen Umfang erteilt werden 51 . Das Gesetz enthält einen recht detaillierten Katalog zulässiger Weisungen (§ 56c II, III). Die Aufzählung ist jedoch nur beispielhaft, so daß das Gericht grundsätzlich darin frei ist, diejenigen Anordnungen für die Lebensführung des Täters zu treffen, die ihm zur wirksamen Spezialprävention notwendig erscheinen 52. Dabei dürfen sich die Weisungen auch auf die unumgänglichen Maßnahmen zur Kontrolle der primären Anordnungen erstrecken, da und soweit eine Weisung sonst wirkungslos bliebe. M i t dieser Begründung wird es etwa als zulässig angesehen, einem Probanden die regelmäßige Abgabe von Urinproben abzuverlangen, durch die die Einhaltung der Weisung, keine Drogen zu konsumieren, überwacht werden soll (BVerfG NJW 1993, 3315; O L G Zweibrücken JR 1990, 121 m. Anm. Stree) 53. Andere Zwecke, etwa eine zusätzliche Bestrafung, dürfen mit der Weisung jedoch nicht verfolgt werden 5 4 ; unzulässig ist daher etwa eine Weisung, sich während der Bewährungszeit nicht in Deutschland aufzuhalten ( O L G Koblenz NStZ 1987, 24). Auch abgesehen von ihrer Beschränkung durch den ausschließlich spezialpräventiven Zweck unterliegen die Weisungen verschiedenen Schranken. Das Gesetz selbst nennt die Grenze der Zumutbarkeit (§ 56c I 2). Danach ist etwa eine Weisung rechtswidrig, die dem Verurteilten aufgibt, zu seiner seit langem von ihm getrennt lebenden Ehefrau zurückzukehren (vgl. O L G Nürnberg NJW 1959, 1451) 48 Nach § 265 a StPO hat das Gericht „in geeigneten Fällen" durch eine Anfrage bei dem Angeklagten die Initiative zu ergreifen. 49 Dabei kann der Täter nach herrschender Meinung auch Leistungen anbieten, deren Auferlegung wegen Unzumutbarkeit verboten wäre, wie z.B. Blut- oder Organspenden; vgl.

LK f l

(Gribbohm) § 56b Rdn. 22; Schönke/Schröder/Stree,

§ 56b Rdn. 30; SK (Horn) § 56b

Rdn. 15. Dies erscheint wegen der Zwangssituation, in der sich der Täter angesichts der drohenden Strafvollstreckung befindet, nicht unbedenklich. Zumindest die Wahrung der Menschenwürde bildet auch für solche „freiwilligen" Leistungen eine unübersteigbare Grenze; wie hier LK U (Gribbohm) § 56c Rdn. 15. 50 § 56 b III spricht davon, daß dann „in der Regel" keine Auflagen ausgesprochen werden. Bei Vorliegen der Voraussetzungen sind jedoch keine Gründe erkennbar, aus denen von der Regel abgewichen werden könnte; SK (Horn) § 56 b Rdn. 14. 51

52

SK (Horn) § 56c Rdn. 2.

Dies läßt sich mit dem Bestimmtheitsgebot des Art. 103 II GG, das sich auch auf die strafrechtlichen Sanktionen bezieht, schwerlich vereinbaren; siehe Bruns, NJW 1959, 1395. Die heute herrschende Meinung nimmt an, aus dem spezialpräventiven Zweck der Weisungen ergäben sich die Grenzen der richterlichen Phantasie mit hinreichender Bestimmtheit (LK

n

[Gribbohm]

§ 56c Rdn. 4; Schönke/Schröder/Stree,

§ 56c Rdn. 3; SK [Horn] § 56c

Rdn. 3), doch ist nicht ersichtlich, wie sich gerade aus der Ausrichtung auf individuelle Bedürfnisse die Gestaltungsmöglichkeiten des Gerichts hinreichend sollten konturieren lassen. 53 Zweifelnd Lackner, § 56c Rdn. 4; ablehnend Mrozynski, JR 1983, 402 f. Auch die in § 56 c II Nr. 2 ausdrücklich vorgesehene Weisung, sich regelmäßig bei Gericht oder einer anderen Stelle zu melden, dürfte in erster Linie als flankierende Kontrollmaßnahme zu verstehen sein. 54

Dreher/Tröndle,

§ 56c Rdn. 1; LK n

(Gribbohm)

§ 56c Rdn. 3; SK (Horn)

§ 56c Rdn. 5.

I. D i e

ussetzung zur Bewährung (§§ 5 -

5 )

843

oder (bei Verurteilung wegen Ladendiebstahls) keinen Selbstbedienungsladen mehr zu besuchen55. Weitreichende Beschränkungen ergeben sich auch aus den Grundrechten. Selbstverständlich sind Weisungen unzulässig, die gegen die Menschenwürde verstoßen; aber auch in die Religionsfreiheit (Art. 4 GG) oder die Vereinigungsfreiheit (Art. 9 GG) darf nicht eingegriffen werden (etwa durch eine Weisung zum regelmäßigen Gottesdienstbesuch bzw. zum Eintritt in einen Sportverein) 5 . Problematisch sind Eingriffe in solche Grundrechte, die unter Gesetzesvorbehalt stehen, insbesondere die Berufsfreiheit (Art. 12 I GG). Die Weisung, eine feste Arbeit entsprechend der Ausbildung des Täters anzunehmen und beizubehalten, kann im Einzelfall spezialpräventiv sehr sinnvoll sein; es ist jedoch fraglich, ob sie nicht gegen die verfassungsrechtlich gesicherte Freiheit der Berufswahl verstößt. Die herrschende Meinung, die solche Anordnungen zuläßt (BGH 9, 258 [260]; O L G Hamm NStZ 1985, 3 1 0) 5 7 , kann sich immerhin auf die ausdrückliche Erwähnung des Bereichs der Arbeit in § 56 c I I Nr. I 5 8 sowie materiell auf das überragend wichtige Gemeinschaftsgut der Verbrechensprävention berufen, das durch den Eingriff in die Berufsfreiheit gesichert werden soll. Umstritten ist auch die Zulässigkeit von Weisungen, die inhaltlich mit bestimmten Maßregeln der Besserung und Sicherung (§§ 61 ff.) übereinstimmen, wie etwa die Weisung, eine bestimmte Zeit lang kein Kraftfahrzeug zu führen (vgl. § 69). Für die Fälle der Heilbehandlung und der Entziehungskur sieht das Gesetz solche maßregelersetzenden Weisungen ausdrücklich vor (§ 56c III Nr. 1), allerdings nur mit Zustimmung des Verurteilten 59. Man kann daraus jedoch nicht den Schluß ziehen, daß das Gericht auch im übrigen die Entscheidung über die Notwendigkeit einer Maßregel oder auch einer Nebenstrafe (§ 44) dadurch umgehen könne, daß es dem Täter eine inhaltlich gleichartige Bewährungsweisung erteilt; denn der Gesetzgeber hat die Zulässigkeit der mit den Maßregeln verbundenen Eingriffe bewußt an die dort detailliert geregelten engen Voraussetzungen geknüpft, insbesondere an die Notwendigkeit zur Sicherung der Allgemeinheit (vgl. § 62)60. Insgesamt ergeben sich also für die „Erfindung" von Weisungen durch das Gericht recht enge Grenzen. Diese werden auch nicht wesentlich durch die Möglichkeit gelockert, daß der Täter von sich aus Zusagen für seine künftige Lebensführung macht (§ 56 c IV). Das Gericht ist zwar - ebenso wie bei den Auflagen (§ 56 b III) - gehalten, bei realistischen Zusagen von der Erteilung entsprechender Weisungen abzusehen61, aber schlechthin Unzumutbares darf auch nicht als „frei55

Weitere Beispiele bei LK 11 (Grihhohm) § 56c Rdn. 2. Zumutbar soll jedoch die Weisung sein, sich jeglichen Alkoholgenusses zu enthalten (OLG Düsseldorf NStZ 1984, 332). 56

57

Lackner, § 56c Rdn. 2; Schönke/Schröder/Stree,

§ 56c Rdn. 8.

Dreher/Tröndle, § 56c Rdn. 2 (der schon § 56c I 1 als gesetzliche Grundlage für Grundrechtseingriffe ausreichen lassen will); LK n (Gribbohm) § 56c Rdn. 20; a.A. Schön-

ke/Schröder/Stree,

§ 56c Rdn. 8, 17; einschränkend Lackner, § 56c Rdn. 2; SK (Horn) § 56c

Rdn. 4 (Eingriff zulässig, soweit Weisung in § 56 c II, III ausdrücklich aufgeführt). 58 Mit Recht hat dagegen BVerfGE 58, 358 eine Bewährungsrf«/7