Lebensweisheit und Praktische Theologie: Christiane Burbach zum 65. Geburtstag 9783666624292, 9783525624296, 9783647624297


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German Pages [276] Year 2014

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Lebensweisheit und Praktische Theologie: Christiane Burbach zum 65. Geburtstag
 9783666624292, 9783525624296, 9783647624297

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Arbeiten zur Pastoraltheologie, Liturgik und Hymnologie Herausgegeben von Lutz Friedrichs, Eberhard Hauschildt, Franz Karl Praßl und Anne Steinmeier

Band 77

Friedrich Heckmann (Hg.)

Lebensweisheit und Praktische Theologie Christiane Burbach zum 65. Geburtstag

Vandenhoeck & Ruprecht

Mit sechs Abbildungen Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-525-62429-6 ISBN 978-3-647-62429-7 (E-Book) Ó 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen/ Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Bristol, CT, U.S.A. www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Printed in Germany. Satz: Konrad Triltsch Print und digitale Medien GmbH, Ochenfurt Druck und Bindung: Hubert & Co, Göttingen Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.

Inhalt

Vorwort – zur Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Predigt und Gottesdienst, Verkündigung und Kirche Annette Behnken Morgenandachten auf NDR-Kultur (2.–7. Januar 2012)

. . . . . . . . . .

Hartmut Burbach Über Lyrik in Andacht und Predigt. Annäherung an Gedichte

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Sonja Domröse „Ich habe euch kein Frauengeschwätz geschrieben“. Frauen der Reformationszeit als Verkündigerinnen . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Susanne Wendorf-von Blumröder „Es fehlt kein Pastor, nur Vikarin Kimm“ . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Annette Behnken Predigt am Sonntag Quasimodogeniti 2012. Kolosser 2, 12 – 15 und „Ziemlich beste Freunde“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Seelsorge und Pastoralpsychologie Norbert Rückert Seelsorge im Gespräch. Psychotherapie, Beratung oder was sonst? . . . . 101 Michael Klessmann Seelsorge mit depressiven Menschen. Pastoralpsychologische Perspektiven . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115

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Inhalt

Dieter Weber Empathie – oder zur Seelsorge begabt? Ein Forschungsbericht . . . . . . 133 Tilman Kingreen Potentiale suchen (das) Licht! . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169

Spiritualität, Erkenntnis und Erinnerung Johannes von Lüpke Die Seele. Raum der Gotteserkenntnis und Selbsterkenntnis Anne Steinmeier „Dynamische Präsenzen“. Zur Poetik des Er-Innerns

. . . . . . . 189

. . . . . . . . . . . 203

Magdalena Schultz Die Praxis jüdischer Segenssprüche als Anregung für christliche Spiritualität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 221 Friedrich Heckmann Einübung in die christliche Lebenskunst. Sterben und Tod – Trauern und Leben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 239 Anhang

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 269

Verzeichnis der Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . 273

Vorwort – zur Einführung

I. „Lebensweisheit“ – dazu will Praktische Theologie in kirchlicher Arbeit wie in theologischer Lehre anleiten. Die akademische Lehre hat in ihrer Beschäftigung mit Gottesdienst und Verkündigung, Seelsorge und Spiritualität längst die Weisheit als ihr ureigenes Thema wiederentdeckt. Die Arbeit von Christiane Burbach in Lehre und Forschung hat dies als theologische Aufgabe mit anderen neu in den Blick gerückt. Praktische Theologie als wissenschaftlich reflektierte Praxis der Weisheit ist Christiane Burbach ein Anliegen gewesen in ihrer praktisch-kirchlichen Arbeit und in ihrer praktisch-theologischen Arbeit an der Hochschule. Wir kommen weit her und können weit gehen.

Mit diesen zwei Zeilen eines abgewandelten Gedichts von Heinrich Böll schließt Christiane Burbach einen wichtigen Beitrag zu Weisheit und Lebenskunst, den sie 2001 auf der Jahrestagung der Internationalen Gesellschaft für Tiefenpsychologie (früher : Arzt und Seelsorger) gehalten hat.1 Sie verweist in diesem Beitrag die Zentralanliegen der Weisheit und die gesellschaftlichen Herausforderungen der Globalisierung aneinander, um Werte, insbesondere den der Gerechtigkeit, zu aktualisieren, die in unserer Gesellschaft dringend benötigt werden. Gerechtigkeit und Recht bestimmen den Weg biblischer Weisheit; Weisheit kann verwirklichen, worauf Gottes Willen den Weg der Menschen bestimmt. Christiane Burbach verortet die Anliegen der Weisheit weiter, sie bestimmt die Weisheit im weiten Horizont der orientalischen Weisheitstradition, der Ma’at, der Chokmah und der Sophia. 1 Christiane Burbach, Weisheit und Lebenskunst, in: H. Egner ; Neue Lust auf Werte. Herausforderung durch Globalisierung, Düsseldorf und Zürich 2001, 107 – 133; vgl. 132.

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Vorwort – zur Einführung

Aspekte einer weisheitlichen Lebenskunst sucht und entfaltet Christiane Burbach in dem genannten Aufsatz zum einen in dem interreligiösen Konzept der Lebenskunst, in dem die Religionen im Kraftfeld von Ma’at-Chokmah-Sophia zur Sinnsuche einladen, als einem Prozess der Lebensgestaltung, der aus der Fülle schöpft und sich am Gelingen des Lebens orientiert, einen Horizont der Toleranz und Anerkennung unter den Religionen eröffnet, der die Wahrnehmung von Ähnlichkeiten und Differenz erlaubt.2

Den zweiten Aspekt findet Christiane Burbach in der symbolischen Präsenz weiblicher Weisheit, deren Gestalt im gesellschaftlichen und kirchlichen Leben sie nicht repräsentiert sieht. Die Erinnerung an Kraft und Kapazität weiblicher Weisheit verleiht Frauen Kraft und Mut, zu den eigenen Werten zu stehen. Erinnerung an die eigenen Mütter, Großmütter und andere Frauen kann auch Männer inspirieren, sich auf Sophia als Leitbild klugen Handelns einzulassen. Und dies hat etwas mit dem dritten Aspekt zu tun, der Motivation zu einer ökologischen Lebenskunst, die im Zeitalter globaler ökologischer Bedrohung dringend notwendig ist. Eine weisheitlich motivierte Lebenskunst lehrt das kluge Handeln zwischen Nehmen und Geben, das Austarieren zwischen Tun und Lassen sowie den klugen Umgang mit Raum und Zeit.3 Christiane Burbach verweist in ihrem vierten Aspekt darauf, dass Hannah Arendt menschliches Handeln und damit auch die Politik „an den beiden Grundbedingtheiten der menschlichen Existenz orientiert: der Mortalität und der Natalität“.4 Natalität versteht sie als Inbegriff der Fähigkeit zum Neubeginn. Beide, Natalität wie Mortalität, bringen verschiedene Perspektiven zum Nachdenken über das Leben ein. Über diese vier Aspekte hinaus wird die weisheitliche Lebenskunst andere in den Blick nehmen und neue Themen als Chance zu einer klugen Lebensführung aufgreifen. Christiane Burbachs Beschäftigung mit der Weisheit und die weiter anhaltende Debatte um die Lebenskunst in Theologie und Philosophie haben die Autorinnen und Autoren dieses Buches bewogen, sich Themen der Praktischen Theologie mit dem Paradigma der Weisheit zu nähern. Fragen einer klugen Lebensführung und des guten Leben bestimmen einerseits die kirchliche Praxis und andererseits lässt sich Praktische Theologie als wissenschaftlich reflektierte Praxis der Weisheit beschreiben.5 Autoren und Autorinnen dieser Festschrift kommen aus der kirchlichen Praxis und andere arbeiten an Universitäten und Hochschulen, sind aber 2 3 4 5

Burbach, Weisheit, 123. Burbach, Weisheit, 127 – 129. Burbach, Weisheit, 129. Vgl. den TRE Artikel von Ralph Kunz, Weisheit/Weisheitsliteratur VI, in: G. Krause/G. Müller (Hg.), TRE, Bd. 35, 52 0 – 522, Berlin u. a. 2003.

Vorwort – zur Einführung

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ebenfalls aus der Praxis verbunden. Sie haben sich vorgenommen Christiane Burbachs Anliegen der Lebensweisheit und Lebenskunst aufzugreifen; sie verstehen mit ihr Praktische Theologie als eine Wissenschaft und eine Praxis in der „Kraft der Weisheit“. Und sie bringen das in ihren je eigenen Beiträgen in die Festgabe für Christiane Burbach ein. Es sind zum einen weisheitliche Beiträge, in der Praxis und im praktischen Handeln der Kirche entstanden. Diese Beiträge implizieren Wahrheiten und Lebensweisheit, ohne Explikation zu benötigen. Die einfache Gottesrede und die Weisheit sind verborgen, sie erschließen sich dem Hörenden und dem Lesenden. Zum anderen sind es Beiträge, die die Weisheit und Weisheitliches selbst zum Thema haben und die versuchen, die Weisheit als lebenskluges und lebensbegleitendes, als lebenserschließendes und orientierendes Lebenswissen aufzuzeigen. Die Autorinnen und Autoren dieser Festschrift haben sich bemüht, an den Fragestellungen zu arbeiten, die Christiane Burbachs Anliegen als Pfarrerin und Professorin der Praktischen Theologie gewesen sind und die ihr immer noch in der Praxis kirchlichen Handelns und in der theologischen Arbeit an der Hochschule wichtig sind. So haben sich relativ organisch drei Kapitel dieser „Praktischen Theologie“ herausgebildet, die das Wirken von Christiane Burbach in Kirche und Hochschule abbilden: Ein erstes Kapitel zu Predigt und Gottesdienst, Verkündigung und Kirche, ein zweites Kapitel zu Seelsorge und Pastoralpsychologie und ein drittes Kapitel zu Spiritualität, Erkenntnis und Erinnerung.

II. Das erste Kapitel Predigt und Gottesdienst, Verkündigung und Kirche beginnt mit einer Reihe von sechs Morgenandachten, die Annette Behnken im Norddeutschen Rundfunk im Januar 2012 gehalten hat. Sie erzählt in dieser wöchentlichen Reihe von Andachten die Geschichte und Vision von Philippe Petit, der 1974 auf einem Drahtseil zwischen den Türmen des World Trade Center getanzt hat. Die Türme, die Jahre später am 11. September 2001 Symbole für die Grausamkeit und das Unfassbare menschlichen Lebens werden sollten, stehen für die Vision eines Artisten, auf einem Seil 400 Meter über dem Erdboden den Tanz seines Lebens zu tanzen. Dieser Tanz steht für die Schönheit und Kostbarkeit des Lebens. Er ist ein Bild für das Leben: Unendlich kostbar! Der zweite Beitrag dieses Kapitels kommt von Hartmut Burbach, der Lyrik

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Vorwort – zur Einführung

und Homiletik miteinander ins Gespräch bringt und zeigt, wie spannend und bereichernd dieser Dialog sein kann: Zur Lyrik in Andacht und Predigt. Der Ausgangspunkt seines Beitrages ist die Nähe von Religion und Dichtung im nachmetaphysischen Zeitalter. Die Sinnsuche ist beiden gemeinsam. Sprachliche Bilder suchen nach dem wirklichen Leben. Sorgsam tastet sich Hartmut Burbach im Gespräch mit Dichterinnen wie Ulla Hahn an nachhaltig brennende Fragen des Lebens heran. Gedichte und Predigten können Kunststücke sein. Sie eröffnen ein schwebendes Verfahren im Prozess des Lebens. Gedichte wie Predigten können eine kathartische Chance initiieren. Burbach vertraut darauf, dass Gedichte die sprachliche und inhaltliche Kraft zum Elementarisieren auch in theologischen Zusammenhängen haben. Er macht das mit drei „Versuchen“ deutlich: Zur Schöpfung, zur Christologie und Anthropologie sowie zur Eschatologie. Dichter und Dichterinnen sowie Prediger und Predigerinnen sieht Burbach in Zeitgenossenschaft mit und in allen menschlichen Lebenserfahrungen. Das Ziel der gemeinsamen Arbeit ist die Bildung eines gemeinsamen Humanum. Einen historischen Beitrag zur evangelischen Verkündigung trägt Sonja Domröse bei mit ihrem Aufsatz Ich habe euch kein Frauengeschwätz geschrieben – über Frauen der Reformationszeit als Verkündigerinnen. Diese Arbeit zu drei Frauen der Reformationszeit verbindet Predigt und kirchliche Verkündigung und die Frage nach der Rolle der Frauen in den reformatorischen Kirchen. Gender-Aspekte haben in der Arbeit Christiane Burbachs und in ihren Auseinandersetzungen in gesellschaftlichen wie kirchlichen Lebensführungsfragen eine wichtige und tragende Rolle gespielt. Die hier vorgelegte Arbeit zu drei Frauen der Reformationszeit erinnert daran, wie lange Zeit es gebraucht hat, bis Frauen gleiche Rechte in Verkündigung und Sakramentsverwaltung, sowie im kirchenleitenden Handeln zugestanden wurden, seit Argula von Grumbach als kämpferische Streiterin für die Reformation die männliche Gelehrtenschar der Universität Ingolstadt unter Vorsitz ihres Rektors Johannes Eck herausgefordert hat, seit Katharina Zell, Predigerin und reformatorische Kirchenmutter sich in Straßburg das Recht der Wortverkündigung genommen hat und seit Elisabeth von Braunschweig-Lüneburg als hannoverische Regentin und Säugamme der Kirche sich in kirchliche Leitungsaufgaben eingemischt und eine Kirchenordnung durchgesetzt hat. Um das uneingeschränkte Recht der Wortverkündigung und der Sakramentsverwaltung durch Frauen und damit der fehlenden Geschlechtergerechtigkeit geht es auch im vierten Beitrag von Susanne Wendorf – v. Blumröder. „Es fehlt kein Pastor nur Vikarin Kimm“ ist die historische Aufarbeitung der fehlenden Gleichstellung von Männern und Frauen noch in der Mitte des 20. Jh. in der hannoverschen Landeskirche. Am Beispiel einer voll ausgebildeten Theologin – der Vikarin Kimm –, der der uneingeschränkte Dienst in Verkündigung

Vorwort – zur Einführung

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und Sakramentsverwaltung verweigert wird, obwohl sie de facto diesen Dienst in den Jahren des zweiten Weltkrieges versehen hat, wird die Verweigerung des Rechtes der vollen Verkündigung exemplarisch aufgezeigt. Das leider nicht abbildbare „Dienstsiegel“ der Vikarin ist ein Symbol für den Kampf mit den landeskirchlichen Behörden und zeigt die subversive Kreativität einer Frau, der ihr Leben lang das Amt einer Pastorin vorenthalten geblieben ist, die aber dennoch in Gemeinde und Krankenhaus unverzagt das Evangelium verkündigt hat. Der letzte Beitrag des ersten Kapitels ist eine Predigt über Kolosser 2, 12 – 15, gehalten am Sonntag Quasimodogeniti 2012, wie schon die Morgenandachten ebenfalls von Annette Behnken. Der Co – Text für die Predigt ist der Film Ziemlich beste Freunde. Es ist eine Auferstehungspredigt, die zu den Gedanken Hartmut Burbachs passt. Nur diesmal teilen die Predigerin und ihr Predigttext aus dem Kolosserbrief die Zeitgenossenschaft mit dem Film Ziemlich beste Freunde sowie mit den Regisseuren Olivier Nakache und Êric Toledano und mit den vielen Zuschauern, die mit dem Film alle ein Kunststück der Lebenskunst gesehen haben. Das zweite Kapitel Seelsorge und Pastoralpsychologie beginnt mit einem Beitrag von Norbert Rückert, der aus der psychotherapeutischen und psychologischen Perspektive ein Gespräch mit der Seelsorge über deren Selbstverständnis führt: Seelsorge im Gespra¨ ch: Psychotherapie, Beratung oder was sonst? Norbert Rückert denkt über eine Verortung des seelsorgerlichen Gesprächs zwischen Psychotherapie und Beratung nach. Dabei entwickelt er eine Idee, wie sich die Seelsorge verorten könne, um zu ihrer Sache zu kommen. Er macht den Vorschlag, die Konzeption von Seelsorge solle sich eher an der Beratungspsychologie orientieren als an der ärztlichen oder psychologischen „Heilkunde“. Mit seinem Plädoyer für einen Bezug der Seelsorge auf integrative Beratungsansätze empfiehlt Norbert Rückert ein explizit wertgeleitetes Modell und mit seiner Empfehlung trägt er auch einem Anliegen Christiane Burbachs Rechnung, von pastoralpsychologischer Seite den Dialog mit den psychologischen Humanwissenschaften zu führen. Christiane Burbach hat sich gegen die psychoanalytische Engführung in der Seelsorge ausgesprochen und sich für die Integration gerade der personenzentrierten Seelsorgeausbildung in den landeskirchlichen Ausbildungsmodellen engagiert. Wie wichtig der Vorschlag Rückerts für die Konzeption von Seelsorge sein kann, wird durch den Beitrag von Michael Klessmann über Seelsorge mit depressiven Menschen geradezu illustriert. Seine pastoralpsychologischen Perspektiven wollen Anregungen zur Seelsorge geben. Fokussiert auf die Seelsorge mit depressiven Menschen. Klessmann gibt aus der Vielfalt dessen, was aus der Arbeit mit depressiven Menschen zu sagen ist, wichtige und grundsätzliche

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Vorwort – zur Einführung

Hinweise. Die wertschätzende Begleitung und die Kunst der Beziehungsarbeit durch den Seelsorger oder die Seelsorgerin stehen dabei im Vordergrund. Er weist darauf hin, dass Depression eine Möglichkeit des menschlichen Erlebens ist! So stellt die Begleitung depressiver Menschen auch Lern- und Lebensmöglichkeiten für die nicht unmittelbar Betroffenen dar. In der Erkenntnis dessen können Seelsorger und Seelsorgerinnen trotz aller Abgründigkeit des Lebens die Begleitung depressiver Menschen leisten. Diese wichtige Aufgabe ist christliche Lebens- und Glaubenskunst! Im Weiteren gibt Dieter Weber einen Forschungsbericht und greift mit Empathie oder zur Seelsorge begabt die aktuelle und intensiv geführte multidisziplinäre Debatte um das Phänomen der Empathie auf. Er sucht aufzuzeigen, dass Empathie sich nicht einfach auf vererbte Dispositionen oder in der Sozialisation erworbene Kompetenzen zurückführen lässt. Weber plädiert dafür, sie als ein intersubjektives Phänomen anzusehen. Auch wenn beide, der Seelsorger und der Seelsorge Suchende, ein Vermögen zur Empathie mitbringen, bildet unser Einfühlungsvermögen nicht einfach den Anfang eines therapeutischen oder seelsorgerlichen Gesprächs. Es ist vielmehr als dessen (implizites) Ziel und mögliches Ergebnis anzusehen. Um dies aufzuzeigen knüpft Weber an die Einsichten der psychoanalytisch arbeitenden und forschenden Gruppe um Daniel Stern (die Boston Change Process Study Group) an. Dieter Weber versucht Veränderungsprozesse im psychoanalytischen Gespräch, die auf einen Moment der Begegnung zulaufen, nicht nur als narrativen Kontext von Empathie freizulegen, sondern Empathie als unverfügbares intermediäres Geschehen eines dialogischen Prozesses aufzudecken. Kann analog zum psychoanalytischen Gespräch Empathie auch im seelsorgerlichen Gespräch als ein unverfügbares, dynamisches Drittes angenommen werden, ergibt sich nach Weber die Frage: Bedeutet Seelsorge, die Kunst sich von eben diesem Dritten führen zu lassen? Die Erfahrung von Empathie in der Arbeit mit dem Personenzentrierten Ansatz ist auch Inhalt des letzten Beitrags im zweiten Kapitel. Tilman Kingreen berichtet aus der pastoralpsychologischen Praxis seiner Arbeit als Leiter der Arbeitsstelle fu¨ r Personalberatung und Personalentwicklung in der Evangelisch Lutherischen Landeskirche Hannovers: Potentiale suchen (das) Licht! Pastorinnen und Pastoren fragen nach Sinnhaftigkeit, nach Motivation und suchen nach Perspektiven für die eigene berufliche Arbeit. Bei ihrer Suche nehmen sie das offene Angebot ihrer Landeskirche in Form der kirchlichen Personalberatungsstelle an. Pastoren und Pastorinnen machen selbst die Erfahrung der empathischen Einfühlung und können sich offen, mehrperspektivisch und umfänglich ihren inneren Erlebnisinhalten zuwenden. Kingreen sucht einen Ansatz zu beschreiben, der ein tiefes Grundvertrauen in die Konstruktivität allen Lebens aufweist.

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Positive Erfahrungen in der Arbeit der Personalberatung leiten zur Ehrfurcht vor dem Geheimnis des Lebens an. Das abschließende dritte Kapitel Spiritualität und Weisheit, Erkenntnis und Erinnerung knüpft ein drittes Mal an Christiane Burbachs Auseinandersetzung mit dem Sanctum, mit Lebensweisheit und Lebenskunst an. Johannes von Lüpke fragt nach der Seele als dem Raum der Gotteserkenntnis und Selbsterkenntnis. Letztlich ist sein weisheitlicher Beitrag ein nachgetragener Kommentar zu den vier Beiträgen zu Seelsorge und Pastoralpsychologie. Sein Verweis auf Luthers Vorrede zum Psalter von 1528 illustriert das, was in den Beiträgen von Michael Klessmann und Tilman Kingreen zum Ausdruck kommt. Luther beschreibt das menschliche Herz als ein Schiff im wilden stürmischen Meer. Das Bild lässt die menschlichen Nöte begreifen, die in der Seelsorge und im Gespräch über Lebensführung zur Sprache kommen. Johannes von Lüpke sieht seinen Beitrag im Vorfeld der Seelsorge, wenn er nach dem Ort der Seele fragt. Mit Augustinus verbindet er die Suche nach Selbsterkenntnis mit der notwendigen Gotteserkenntnis. Indem der Mensch sich selbst zu erkennen sucht, findet er sich auf Gott verwiesen. Der Paradigmenwechsel in der Moderne von der Metaphysik zur Physik der Seele zwingt die Theologie sich dieser atheistischen Herausforderung zu stellen. Dem Rückzug in den Fuchsbau der Metaphysik sucht Johannes von Lüpke dadurch zu entgehen, dass er die Seele relational beschreibt: Gott und die Seele sind konstitutiv in ihrer Bezogenheit aufeinander zu denken. Dieses Beziehungsgefüge umfasst räumliche ebenso wie zeitliche Dimensionen: Die Seele ist in ihrer Zeitlichkeit offen zur Ewigkeit; sie ist Raum der Gottesbegegnung und in dieser Hinsicht so etwas wie ein Sanctum, ein Heiligtum. Die Antwort auf die Fragen, die sich Johannes von Lüpke stellt, die Erkenntnis, die er sucht, liegt auf der Ebene der Weisheit, die immer schon um die Grenzen der menschlichen Erkenntnis weiß. Wie von Lüpke abschließend zeigt – und hier trifft er sich mit Hartmut Burbach – können nicht zuletzt Dichter (wie beispielhaft Goethe und Stifter) der Theologie in Verkündigung und Seelsorge zu einer Sprache verhelfen, die gerade in ihrer metaphorischen Bildlichkeit, Mehrdeutigkeit und Offenheit der Wirklichkeit der Seele angemessen ist. Der zweite Beitrag des dritten Kapitels schließt einerseits an die Suche nach Selbsterkenntnis an und andererseits an Christiane Burbachs Gestalt dynamischer Präsenz, die die Aspekte der göttlichen und irdischen Welt im jeweiligen Hier und Jetzt zusammenfließen läßt, an die personifizierte Weisheit.6 Anne

6 Christiane Burbach, Seelsorge in der Kraft der Weisheit. Perspektiven einer Re-Vision der Konzeptualisierung von Poimenik, WzM 52, 2000, 51 – 68.

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Steinmeier gratuliert Christiane Burbach mit „Dynamische Präsenzen“-Zur Poetik des Er-Innerns. Die Gratulation ist verbunden mit einem Satz Walter Benjamins: Glücklich sein heißt ohne Schrecken seiner selbst inne werden können, den Anne Steinmeier mit eben der personifizierten Weisheit in Verbindung bringt. Sie beschäftigt sich in ihrem Beitrag mit Poetik der Erinnerung Walter Benjamins, mit der dieser auf die Diskontinuität der modernen Lebenswelt geantwortet hat. Und wieder sind es literarische Texte, die in diesem Beitrag eine zentrale Rolle spielen. Anne Steinmeier bestimmt das „Gedichtete“ als weisheitliches Weltverhältnis. Sie weist auf die Bedeutung des Schreibens für das Er-Innern hin, auf die Bedeutung für die Spurensuche zu verlorenen Dimensionen des eigenen Lebens, für Selbsterkenntnis und auch für Gotteserkenntnis. Es geht Anne Steinmeier mit der Medizinerin und Psychoanalytikerin Luise Reddemann darum, dass der Akt des Schreibens uns mit Bereichen in Berührung bringen kann, zu denen wir sonst keinen Zugang hätten. Auch im dritten Beitrag des letzten Kapitels geht es um literarische Texte, nämlich um religiöse und um weisheitliche Texte, um verdichtete Spruchweisheiten. Magdalena Schultz beschreibt die Praxis jüdischer Segenssprüche als Anregung für christliche Spiritualität. Diese Segenssprüche sind gesammelt im Siddur, dem jüdischen Gebetbuch und wichtigsten Buch für die religiöse Praxis im Leben des Einzelnen und der Gemeinde. Segenssprüche gibt es zu vielerlei Gelegenheiten, sie sollen hörbar ausgesprochen werden und nicht nur gedacht werden, wie es auch beim Gebet in der Synagoge üblich ist. Damit unterscheidet sich die Rezitation des Spruchs von einem flüchtigen Gedanken, der schnell verflogen ist und für den man keine Verantwortung übernehmen muss, von einer Aussage, einem statement, mit dem man behauptet: So ist die Welt, so verhält es sich. „Der Hauptzweck der Segenssprüche ist es, uns zu allen Zeiten an unseren Schöpfer zu erinnern“7. Das spirituelle Potential der Segenssprüche möchte Magdalena Schultz für die christliche Praxis nutzbar machen. Der letzte Beitrag des dritten Kapitels und der Festschrift ist ein Beitrag von Friedrich Heckmann zur ars moriendi: Einübung in die christliche Lebenskunst. Tod und Sterben – Trauern und Leben. Der Aufsatz ist zugleich eine Dokumentation akademischer Lehrveranstaltungen, die Friedrich Heckmann und Christiane Burbach an der Evangelischen Fachhochschule Hannover und später an der Hochschule Hannover entwickelt haben und die beide zusammen viele Semester mit unterschiedlichen Ansätzen und Schwerpunkten durchgeführt haben. Mit seinem Beitrag über die Einübung in die christliche und philosophische 7 Ben Maimonides, Yad Brachot, nach Encyclopedia Judaica, Bd.4, 488.

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Lebenskunst zielt Friedrich Heckmann auf eine zeitgemäße Einübung in die ars moriendi, die sich absetzt von traditionellen Formen der ars moriendi, aus denen sie aber durchaus traditionelle Elemente aufnimmt und so auch eine Spiritualität des Sterbens mit einschließt. Zum einen intendieren die Lehrveranstaltungen die notwendige Auseinandersetzung von Studentinnen und Studenten mit Sterben und Tod, Trauer und Lebensgestaltung. Ganz pragmatisch sollen sie ihren Klienten und Klientinnen einmal im Leben und im Sterben nicht schuldig bleiben, was zu einer professionellen Ausübung ihres Berufes gehört. Dazu gehört zum anderem das Verstehen religiöser Bilder und der Respekt vor einem Weg, der auch am Lebensende durch den Glauben geprägt ist. Wie der christliche Glaube und christliche Frömmigkeit schon immer zum Trauern und damit zum Leben helfen wollten und immer noch wollen, so kann christliche Sterbebegleitung bei Sterbenden, die sich in ihrem Leben und im Glauben auf ihr Sterben vorbereitet haben, hilfreich und tröstend sein. Der Beitrag führt ein in ein akademisches Curriculum von Sterben und Tod, Trauern und Leben, in seine Didaktik und zeigt eine Vermittlung von Wissen und erfahrungsbezogenem Lernen. Es geht bei diesem Curriculum um die reflektierende Erarbeitung der Themen von Sterben und Tod, Trauer und Leben unter Berücksichtigung emotionaler Betroffenheit, basierend auf eigenen Erlebnissen und Erfahrungen, die sich die Studierenden in der Lehrveranstaltung erschlossen haben, und damit vor allem um die Vermittlung der ars moriendi als Lebensführungskompetenz.

III. Vielen, die mitgeholfen haben, dass diese Festschrift an Christiane Burbach zu ihrem 65. Geburtstag überreicht werden kann, ist zu danken: zu allererst den Kollegen und Kolleginnen, die sich mit ihren Beiträgen an dem Diskurs zu Lebensweisheit und Praktische Theologie beteiligt haben, Anne Steinmeier und den Mitherausgebern für die Aufnahme dieses Bandes in die Reihe Arbeiten zur Pastoraltheologie, Liturgik und Hymnologie, dem Verlag Vandenhoeck & Ruprecht, Norbert Rückert und Dieter Weber für die Begleitung bei den Vorüberlegungen zur Festschrift, Rebekka Plettner für die Hilfe bei der Erstellung der Druckvorlage! Der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Hannovers danke ich für den Druckkostenzuschuss. Wir sehen hierin eine Anerkennung für die theologische Arbeit von Christiane Burbach als kritische Begleiterin ihrer Kirche und als Professorin für Praktische Theologie zuerst an der landeskirchlichen Evangelischen Fachhochschule, deren Prorektorin und Rektorin sie über sieben Jahre

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Vorwort – zur Einführung

war, und später an der V. Fakultät „Diakonie, Gesundheit und Soziales“ der Hochschule Hannover. Unser aller Dank aber gilt vor allem Christiane Burbach, der theologischen Weggefährtin und Kollegin, der Seelsorgerin und akademischen Lehrerin! Hannover, den 18. Dezember 2013, Friedrich Heckmann

Predigt und Gottesdienst, Verkündigung und Kirche

Annette Behnken

Morgenandachten auf NDR-Kultur (2.–7. Januar 2012)

2. Januar 2012 Ein Morgen im August. In den Straßen von New York schaut niemand in den Himmel. Der Blick richtet sich geradeaus oder starr auf den Boden. Aber dann ruft jemand: „Gucken Sie doch mal! Da oben!“ Ganz schnell bildet sich eine Menschentraube und alle schauen nach oben. Was sie da sehen, raubt ihnen den Atem. Da scheint ein Mann im Himmel zu tanzen. Man kann kaum erkennen, dass er sich auf einem Seil bewegt. Er tanzt zwischen den Türmen des World Trade Center, auf einem Seil in 400 Metern Höhe. Und er tanzt ohne Netz, ohne Sicherung. Dann verbeugt er sich auf dem Seil, geht in die Knie und legt sich hin. Jetzt steht er wieder auf und tanzt weiter, achtmal zwischen den Türmen hin und her. Das ist im August 1974. Da sind die Zwillingstürme gerade eben fertig gebaut. Der Mann heißt Philippe Petit. Ein französischer Artist. Er träumt schon seit Jahren davon, zwischen den Zwillingstürmen zu tanzen. Er möchte einfach ein Seil dort spannen und darauf balancieren. Und dann macht er es. Das ist illegal, wahnsinnig und auf unheimliche Weise wunderschön. Konzentriert und elegant bewegt er sich. Und unter ihm der Abgrund. Er setzt mit überirdischer Sicherheit einen Fuß vor den anderen, auf dem schmalen Grat zwischen Leben und Tod. Der Film „Man on wire“ erzählt diese Geschichte. Eine wahre Geschichte. Er ist 2008 gedreht worden, sieben Jahre nach dem 11. September. Unsere Augen sehen diese Bilder immer mit. Aber Philippe Petit ist davon noch frei – er kann damals, vor über 30 Jahren, den 11. September nicht vorausahnen. Ein seltsamer Widerspruch, dieses zarte, poetische Seiltanzen und darüber legen sich heute die anderen Bilder. Noch nicht zu erahnen, welch unglaubliche Dinge hier passieren werden zwischen den Türmen. Petit – der unbewusste Prophet, der das Kostbare beschwört, das Wertvolle und Schöne. Und so bizarr und verrückt dieser Tanz ist, so wunderschön ist er. Ein Bild für das Leben: Jeder Schritt, den du tust, ist ein Drahtseilakt. Jeder Atemzug ein

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Annette Behnken

phantastischer Tanz zwischen Himmel und Erde. Jeder Moment deines Lebens: Unendlich kostbar. 3. Januar 2012 Alle Anklagepunkte gegen Philippe Petit werden fallengelassen. Schließlich hatte er versprochen, für die Kinder auf der Straße zu jonglieren. Ihm wird das „künstlerische Verbrechen des Jh.“ vorgeworfen. So hat es der amerikanische Schriftsteller Paul Auster damals genannt. Das Ganze hat sich in den Tagen von Watergate abgespielt, im August 1974. Da spannt Philippe Petit ein Seil zwischen den Türmen des World Trade Center, 417 Meter hoch. Und er tanzt darauf. Ohne Netz, ohne doppelten Boden. Sechs Jahre lang plant und übt er diesen Coup, zusammen mit ein paar Freunden. Die Zwillingstürme sind noch gar nicht fertig gebaut. Die Freunde geben sich als Journalisten aus. So kommen sie auf die Baustelle und können sich da oben genau umgucken. Als dann die Türme fertig sind, müssen sie eine Menge Material nach oben schaffen. Also verkleiden sie sich als Handwerker und tragen das 75 Meter lange Drahtseil, eine sehr schwere Balancierstange sowie Pfeil und Bogen nach oben: Damit schießen sie dann das Seil vom einen Dach aufs andere. Das ist damals schon schwierig, weil die Türme gut bewacht sind; heute, zehn Jahre nach dem 11. September haben wir ganz andere Bilder im Kopf. In einer Nacht- und Nebelaktion befestigen die Freunde das Seil zwischen den Türmen. Sie haben Angst, aufzufliegen. Und gleichzeitig sind sie wie Strolche, die das Verbotene reizt. Zwei Polizisten sollen die illegale Luftnummer mittendrin beenden. Sie warten auf einem der Türme – der Seiltänzer kommt ihnen langsam entgegen. Aber er lacht nur, als er sie sieht und kehrt um, zurück auf das Seil. Ein Katz- und Maus-Spiel. Eine getanzte Satire über Autorität. Petit flieht nicht als Revolverheld oder Betrüger vor den weltlichen Ordnungen. Er versucht nur, dem Himmel ein Stück näher zu kommen. Er erobert die Lufthoheit zwischen den Türmen. Die Gesetze der Welt sind da oben nur ein Lachen wert. Auf dem Seil ist er vollkommen frei. Philippe Petit: Ein subversiver Clown, der den Gesetzen der Welt eine lange Nase macht. Sein Tanz: Er lädt ein, Verrücktheiten zu pflegen. Aus der Reihe zu tanzen. Nicht ins Raster zu passen. Das Unmögliche möglich zu machen. Petits Tanz nährt die Sehnsucht, Visionen zu folgen. Aus innerer Freiheit zu leben. Er holt den Himmel mitten auf die Erde. 4. Januar 2012 Manchmal gibt es kein Warum – manches kann man nicht erklären – warum ich glaube, warum ich liebe? Paris, 1968. Ein muffiges Wartezimmer in einer

Morgenandachten auf NDR-Kultur (2.–7. Januar 2012)

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Zahnarztpraxis. Der 17-jährige Philippe Petit hat Zahnschmerzen. Er blättert in einer Illustrierten. Und ist wie vom Schlag getroffen, als er eine Zeichnung entdeckt. Er sieht die Zwillingstürme des World Trade Centers. Man hat gerade mit dem Bau begonnen. So sollen die Türme später aussehen. Philippe Petit ist Artist und Seiltänzer. Als er das Bild der Zwillingstürme sieht, hat er sofort eine Vision. „Wenn ich drei Orangen sehe, muss ich jonglieren, wenn ich zwei Türme sehe, muss ich ein Seil spannen und tanzen“, sagt er. Wie ein Besessener arbeitet er, plant und übt zusammen mit Freunden und Helfern. Sechs Jahre lang. Im Sommer 1974 ist es soweit. Petit tanzt zwischen den Türmen. Fast dreißig Jahre vor dem 11. September stockt den Menschen auf der Straße der Atem, als sie auf das World Trade Center schauen. Was sie sehen, ist ungeheuer waghalsig und wunderschön. Petit verbeugt sich auf dem Seil und geht dann in die Knie – als ob er sich vor der Möglichkeit des Unmöglichen verneigt. Petit wird festgenommen, als er seinen Tanz beendet hat. Er wird vor Gericht gestellt und wird psychiatrisch untersucht. Und wird ganz schnell wieder entlassen. Dann geht der Medienrummel los. Die amerikanische Presse möchte den Sinn verstehen. Immer wieder fragen die Journalisten: „Why? Warum? Warum haben Sie das getan?“ Und Petit lächelt und sagt: „There is no why.“ Ein Kunstwerk „ohne Warum“. Es gibt keinen Zweck. „Das ist ja das Schöne daran“, sagt er, „es gab für mich nie ein Warum“. Zweckfrei, aber vielleicht nicht sinnlos. Ein vorweggenommener Kontrapunkt zur Sinnlosigkeit des 11. September. Petit tanzt im Himmel – er schafft Himmels-Kunst. Die Frage nach dem Zweck ist für ihn die Frage von Banausen. Er ist nur davon besessen, seine Vision zu verwirklichen. Zweckfrei und schön. Traumerfüllt. „Ich muss ein Schiffbrüchiger auf der einsamen Insel meiner Träume sein“, sagt er. Er feiert seinen Traum. Er kommt dem Himmel näher, weil er nicht anders kann. Ohne Warum. Bremst den zweckbesessenen betriebsamen Alltag aus. Lässt innehalten, aufblicken: In Himmelsweite und Wolkenfreiheit. 5. Januar 2012 „Denn was heißt sterben anderes, als nackt im Wind zu stehen und in der Sonne zu schmelzen? Wenn die Erde eure Glieder fordert, dann werdet ihr wahrhaft tanzen“ – das schreibt der Schriftsteller Khalil Gibran. Ein junger Franzose springt nackt im Wind in schwindelerregender Höhe – auf der Aussichtsplattform des World Trade Center. Er bereitet sich auf den Tanz seines Lebens vor. Es ist der 7. August 1974. Ganz früh am Morgen, die Sterne stehen noch am Himmel. Der Franzose heißt Philippe Petit. Er ist Artist. Und er sucht einen Pfeil mit einem Seil daran. Ein Freund hat ihn vom anderen Turm herüber geschossen. Aber es ist noch so dunkel, dass er ihn nicht finden kann. Jetzt hofft er, mit seiner nackten Haut das Seil zu erspüren. Er ist aufgeregt und nervös. Über

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das Seil will er laufen. Dann findet er es. Er und seine Freunde befestigen es zwischen den Zwillingstürmen. Eine mühsame Aktion. Petit hat seine Kleidung wieder angelegt. Er setzt prüfend den Fuß aufs Seil. Macht vorsichtig die ersten Schritte. Und dann fällt Alles von ihm ab. Er tanzt. Eine dreiviertel Stunde lang. Durch nichts gesichert. Kein Netz. Und er tanzt wie auf Wolken, unbeschreiblich glücklich, unsagbar frei. Philippe Petit weiß, was er tut. Er sagt: „Auf dem Seil ist der Tod immer dabei.“ Was treibt einen Menschen dazu, für einen Tanz sein Leben aufs Spiel zu setzen? Nackt im Wind zu stehen – vollkommen schutzlos. Ist er wahnsinnig? Oder lebensmüde? Wahnsinnig ist Philippe Petit nicht. Höchstens ein bisschen verrückt. Lebensmüde? Nein. Wohl eher : Lebenshungrig. Er möchte das Leben schmecken, es als Fest feiern, koste es, was es wolle. Leidenschaftlich leben. Das Leben an seinem intensivsten Ort spüren. Da, wo Leben und Tod miteinander tanzen: Auf einem ungesicherten Drahtseil, einige hundert Meter hoch. „Was für ein schöner Tod das ist, wenn du stirbst, während du deiner Leidenschaft folgst“, sagt er. Sein Tanz hat einen feierlichen Ernst, weil der Tod mittanzt. Den Menschen unten auf der Straße stockt der Atem, als er in die Knie geht und sich hinlegt, der Länge nach auf das Seil, die Balancierstange quer über der Brust. Ein zartes, schwebendes Kreuz. Im Himmel zwischen den Zwillingstürmen, beinahe dreißig Jahre vor dem 11. September. Die Symbolik ist nicht beabsichtigt. 9/11 kann niemand vorausahnen. Petits Himmelstanz zeigt eine nüchterne und radikale Lebenswahrheit: Jeder Augenblick des Lebens ist ein Tanz auf dem Grat zwischen Leben und Tod. Doch: „was heißt sterben anderes, als nackt im Wind zu stehen und in der Sonne zu schmelzen?“ 6. Januar 2012 Epiphanias Er scheint rebellische Züge zu haben. Philippe Petit muss fünf verschiedene Schulen verlassen. Mit 15 läuft er von Zuhause weg. Er will sich nicht vorschreiben lassen, was er lernen soll. Oder wie er leben soll. Er weiß selber ganz genau, was er möchte. Er hat eine Vision. Seiltanzen. Er bringt es sich selber bei. Nach einem Jahr kann er alles, was man auf dem Drahtseil machen kann: Salto vorwärts und rückwärts, Zweirad fahren, Einrad fahren, durch den Reifen springen. All die bekannten Tricks. Und er findet sie alle langweilig. Hässlich. Er verachtet alle vorgegebenen Formen. Lehnt sich gegen alles auf, das festlegt und einengt. Er kann nicht anders: Alles, was er tut, muss er neu erfinden. Dabei leitet ihn eine Sehnsucht, ein inneres Bild: So soll es aussehen. So soll es sich anfühlen. So soll es sein. Im August 1974 wird seine Vision wahr. Philippe Petit spannt ein Seil zwischen den Türmen des World Trade Center und tanzt darauf. Fast 30 Jahre vor dem 11. September tanzt er zwischen den Zwillingstürmen

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seinen Traum. Seine Vision hat ihn hierhin geführt: Auf ein Seil in schwindelerregender Höhe. Meiner Sehnsucht zu folgen und im Himmel zu tanzen. Es ist gut, so eine klare Vision und starke Sehnsucht zu haben wie Philippe Petit. Sie zeigt mir, wo mein Weg lang geht. So eine klare Vision kann auch hart sein: Möglicherweise zwingt sie mich, mich über Regeln hinwegzusetzen und anzuecken. So eine starke Sehnsucht kann wehtun: Ich spüre, was unerfüllt ist, den schmerzhaften Unterschied zwischen dem Leben, wie es ist, und dem Leben, wie es sein könnte. 2012 – das Jahr ist noch jung. Welche Sehnsucht, welche Vision leitet mich durch das neue Jahr? Wie soll es aussehen? Wie soll es sich anfühlen? Heute ist ein besonderer Tag. Epiphanias. Oder : Heilige-Drei-Könige. Die heiligen drei Könige oder die weisen Männer aus der Weihnachtsgeschichte folgen einem Stern, der sie zum Gotteskind führt. Welchem Stern folge ich? Welches Licht leitet mich? Paulus spricht von dem hellen Schein, den Gott in unsere Herzen gegeben hat. Ein Glimmen und Scheinen, das ich in jedem Herzschlag spüren kann. Eine leuchtende Spur in mir, zu der ich hin fühlen kann. Und die mir einen Weg weist. Meine Visionen auf dem Weg. Unbekanntes Gebiet. Aber immer ist da die Sehnsucht, der leuchtenden Spur zu folgen. Das Jahr ist noch jung. 7. Januar 2012 Dem Heiligen Moment auf der Spur. Der Artist Philippe Petit kann nicht anders, als immer wieder nach dem heiligen Moment zu suchen. Das Leben erfährt er als Heiligen Tanz. Zuerst der Seiltanz zwischen den Türmen von Notre Dame, ein weiterer über der Sydney Harbour Bridge. Und dann, an einem Sommermorgen im Jahr 1974, ist es so weit: Philippe Petit tanzt auf einem Drahtseil zwischen den Türmen des World Trade Centers. Es gibt kein Netz. Halt geben ihm seine Balancierstange, das Vertrauen in sein Können und der Zauber dieses unglaublichen Tanzes. Ein Traumtänzer rückt die Zwillingstürme in die öffentliche Aufmerksamkeit. Als Kulisse eines poetischen Kunstwerks, lange vor dem 11. September. Philippe Petit sagt: „Du kannst auf dem Seil nicht zweifeln, über Versagen, Fehler, Pannen nachdenken. Du kannst nur voll da sein – mit all deiner Energie.“ Er vollführt seinen Tanz fast überirdisch sicher, elegant und geistig absolut präsent. Auf dem Seil landet er vollkommen im Augenblick. In der Mitte von dem, was er erlebt hat und was er erleben wird. Mitten zwischen Leben und Tod. Zwischen Überlebenstanz und heiligem Tanz. Der amerikanische Franziskaner-Pater Richard Rohr spricht vom Überlebenstanz und vom heiligen Tanz des Lebens, dance of survival und sacred dance of life. Er meint damit zwei verschiedene Lebensphasen. Der survival dance ist der Tanz des Egos. Eine Lebensphase, ein Tanz voller Getriebensein und Suche.

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Seine Fragen sind: Was macht mich wichtig? Was macht mich bedeutend? Wie werde ich erfolgreich? Doch irgendwann frage ich mich: Ist das wirklich alles? Die Kräfte der Seele bekommen mehr Gewicht. Es wächst das Gespür für die heiligen Momente des Lebens. Der sacred dance of life beginnt. Philippe Petit tanzt und bringt den Himmel auf die Erde. Und ich glaube, er kann gar nicht anders, er sagt: Ich habe mein ganzes Leben lang gefühlt, dass das Leben kurz ist und dass du deshalb … nur in Dinge eintauchen solltest, die wichtig und bedeutungsvoll sind. Du solltest keine Zeit vergeuden mit etwas, das nicht schön, nicht bereichernd ist.

In den konzentrierten Schritten auf dem Seil kommt das Getriebensein des dance of survival zur Ruhe. Er tanzt den sacred dance, den heiligen Tanz. Er tanzt die unsichtbaren Regungen der Seele. Jeder Schritt ist heiliges Bewegtsein. Der Tanz in den Wolken: Erfüllte Sehnsucht! Quellenverweis: „Evangelische Kirche im NDR (err e.V.)“

Hartmut Burbach

Über Lyrik in Andacht und Predigt. Annäherung an Gedichte

Gewünscht haben wir uns immer große Schreibtische, von beiden Seiten zu nutzen. Auf der einen Seite die Ablage für das Predigen; auf der anderen die Ablage für das Literarische. Keine Seite braucht der anderen Platz zu machen. Der je eigene Ort von Lyrik und Predigt ist garantiert.1 Auch in der Bücherwand steht unsere Germanistik mit großer Gelassenheit und ebensolcher Akzeptanz zwischen Homiletik und Systematischer Theologie. Konfessionell Separates ist nicht vorgesehen. Den nicht enden wollenden Disput über Dominanz und Autonomie, diese Neid-Debatte darüber, wer wen zwischen Predigt-Wort und Dichter-Wort offen oder versteckt bevormundet, hoffen wir damit zurücktreten lassen zu können. Für erstrebenswert halten wir ein sich gegenseitiges Respektieren der beiden Ausdrucksseiten Predigt und Gedicht, wobei gerade der Unterschiedlichkeit ein besonderes Interesse zukommt. Sperriges könnte ja beiderseits inspirierendes „Salz“ beinhalten. Bei denen, die in Andacht und Predigt sich auf dieses Respektieren verstehen wollen, geht in der Regel der Blick aber eindeutig von dem Predigttisch auf den Lyriktisch. Eben diese Blickrichtung verfolge ich hier in dezidiert praktischer Absicht. Sie entspricht unserer gemeinsamen Predigtarbeit; mögen Anlass und biblischer Grundtext noch so unterschiedlich sein. Was ist aber nun auch allgemein für Predigende von Interesse an den Dichtenden gerade der neueren Zeit? In dem Vorwort zu: „Protestantismus und Dichtung“ haben Petra Bahr, Aleida Assmann, Wolfgang Huber und Bernhard Schlink dazu eine Ausgangsposition formuliert:

1 Die historischen Linien von literarischer und homiletischer Nähe und Distanz sind in: Langenhorst, Theologie und Literatur, 13ff dargelegt.

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Religion und Dichtung bleiben sich auch im nachmetaphysischen Zeitalter nah. Es ist, als würde sich in der Sprache der Lyrik eine Lücke auftun für eine andere Dimension, oft unbestimmt und ohne konfessionelles Profil, dafür aber schonungslos in der Suche nach Aufrichtigkeit – bei der Suche nach einer Sprache, in der man, zumindest für eine Zeit, zuhause sein kann.2

Gefragt sind „Zugänge zu dieser Freundschaft zwischen Dichtung und Religion…“3 Beginnen kann diese Freundschaft oft recht zurückhaltend und deutungsoffen: Nach Hause Eines Abends kommt aus der Kirche in seinem Stadtteil ein hübscher kleiner Junge, macht sich auf den Weg nach Hause Es wird langsam dunkel und er drischt seinen Ball steilhoch Richtung Himmel auf dem Weg nach Hause Auf der ruhigen Straße halten Menschen und Bäume die Luft still und der Himmel fliegt vorüber und sieht einen Traum.4

Ein Lufthauch von Religion durchzieht dieses Gedicht. Von welcher Art ist das „nach Hause“? Und seine Kirche? Es dunkelt; in der Ruhe der Straße, der Menschen, der Bäume: der gedroschene Ball. Kraftvoll. Zu welchem Himmel? Aber „ein hübscher kleiner Junge“ hat seinen Traum, und der wird gesehen von seinem vorbeiziehenden Himmel. Die eigene Aura von Gedichten zieht Erwartungen auf sich: Was haben diese dichtenden Sprachgenies uns Predigenden voraus? Oder auch nicht? Wo finden sich sprachliche Bilder, die gemeinsame Sinnsuche fördern? Ist die Art der Sprachgebens zwischen beiden Sprach- und Bildwelten kommunikationsfähig? Wer ist näher dran an dem wirklichen Leben? 2 Bahr/Assmann/Huber/Schlink, Protestantismus, 8. 3 Ebd. 4 Hahn, Nach Hause, Ó Deutsche Verlags-Anstalt, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH.

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Wer will mehr? Was berührt uns – und andere? Andeutungen von neugierigen, aber doch auch drängenden Erwartungen. Anfragen!

I.

Redende und Hörende

Ulla Hahn, die ich im Folgenden als markante Stimme der Dichtenden in unseren Diskurs miteinbeziehen möchte, hat in einer „Dichterlesung“5 nach der vorausgehenden Schilderung des Auditoriums eine für Dichtende wie Predigende in gleicher Weise anzutreffende Situation von Hörenden und Redenden beschrieben: … Und dann beginnt dieses schwebende Verfahren Wellengang Klartext Gesang Leinen los und hinaus auf hohe See Durch Gehörgang Gehirngang ins gute alte Herz (vulgo: Nucleus accumbens im Striatum) Zu Herzen gehen Das Geräusch der Wellen der Wörter die gegen den Felsen schlagen Manchmal auch Meuterei Piraten Über-Bord-Gehen Kentern an Land gespült werden raus aus dem Buch machen die Wörter den Mund auf atmen lachen weinen kribbeln dir auf und unter der Haut nisten sich ein (manchmal) (Kannst sie auch in die Manteltasche stecken schön warm im Winter) Und dann Am Ende: Stille. Stille beruhigte Stille. Rausgehen. Die Jacke zuknöpfen. Das Ticken 5 Hahn, …Und dann, Ó Deutsche Verlags-Anstalt, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH (Das erste E ist im Original spiegelverkehrt gedruckt.).

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der Uhr in deinem Körper vergessen. Vorübergehend.

Turbulent und befriedend im Wechsel. „Meuterei“ und „Manteltasche“. Mit diesem Gedicht aus „Wiederspruch“ verweist Ulla Hahn noch einmal auf frühere Gedanken, auf Antworten, die sie gegeben hat „Für den, der fragt“.6 Diesen Fragen und Antworten möchte ich weiter nachgehen. Jeweils zur Person gestellt sind diese nachhaltig brennenden Fragen auch für Predigende unausweichlich. Wir müssen uns ihnen stellen. Wir können uns nicht retten wollen in die Welt der hermeneutischen Fachsprache. Und wenn uns diese Fragen nicht schon mit Worten oder mit Blicken am Kirchenausgang gestellt werden, dann werden wir ihnen spätestens auf dem Weg von der Kirche in die privaten Wände gegenüberstehen. In dem „schwebenden Verfahren“ sind wir mit „Herzen, Mund und Händen“ ebenfalls Handelnde und Betroffene.

II.

„Warum schreiben Sie?“

Die Antwort beginnt mit einer ironischen Abkehr von jeder Beichtstuhlmentalität; sie übersteigt das Vorfindliche. „Weil es mehr und Besseres geben muss als das, was wir sind und haben.“7 Diese These verlangt danach, vereindeutigt zu werden. Die prospektivische Blickrichtung ohne Jenseitigkeitsverlangen jedenfalls ist nachvollziehbar. Horizonterweiterung mit Wirklichkeitsqualität ist angesagt. Eine Vision entsteht im Ausloten von Möglichkeiten, die das Wirkliche selbst bietet. Phantasiegebilde jenseits der Realität sind suspekt. In dieser Form kann die Konzentration auf den Blick in das Voraus einen Brückenschlag anzeigen. Ulla Hahns erste Antwort ermöglicht eine distanzierte Nähe zu einer Grundtendenz neuzeitlichen Predigens, in der es darum geht, die Perspektiven der christlichen Eschatologie in einem wirklichkeitsverändernden Anspruch zur Geltung zu bringen. In diesem Kontext predigen wir. Es geht dann um Worte der Verheißung, die eine neue Wirklichkeit benennen. In ihr wird ein belebbares Zuhause seinen Ort haben. Worte suchen wir für einen verbindlichen Anfang einer anderen Zeit. Diese Wortsuche für das „Bessere“ und „Andere“ hat eine lange Tradition: 6 Hahn, Unerhörte Nähe, 83 ff. 7 Ebd., 85.

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Siehe da, die Hütte Gottes bei den Menschen! Und er wird bei ihnen wohnen, und sie werden sein Volk sein, und er selbst, Gott mit ihnen, wird ihr Gott sein; und Gott wird abwischen alle Tränen von ihren Augen, und der Tod wird nicht mehr sein, noch Leid noch Geschrei noch Schmerz wird mehr sein; denn das Erste ist vergangen. Und der auf dem Thron saß, sprach: Siehe, ich mache alles neu!8

III.

„Und warum – Gedichte?“

„Ein Gedicht ist das freiheitlich-demokratischste Gebilde der Welt.“9 Das ist entwaffnend konkret! Dieses „Bekenntnis“ schmeckt nach Begeisterung für das dichterische Metier und spricht für ein dichtendes Subjekt, das selbstverantwortliche Alleinvertretung für sich in Anspruch nimmt. „Ich lernte … das Verwandeln der Wirklichkeit.“10 Ein ansteckend wirkendes Selbstbewusstsein – wünschenswert auch für uns Predigenden! Denn der Zweifel an dem Vertrauen zum eigenen Wort ist nur wenigen fremd. Da wird es verlockend, auch eine Predigt für vergleichbar zu halten mit diesen „freiheitlich-demokratischsten“ Kreationen unserer kleinen Welt; und damit anzugehen gegen eine exemplarisch von Ernst Jandl notierte demotivierende Selbstbild-Erfahrung: selbstbild er hat sich gezeichnet und er radiert sich aus“11 Demgegenüber könnte eine trotzige Zufriedenheit damit, sich unabhängig und frei zu wissen, der predigenden Phantasie zugutekommen. Josef Reding hat dieses Lebensgefühl treffend beschrieben: 8 9 10 11

Offenbarung 21, 3 – 5. Hahn, Unerhörte Nähe, 86. Ebd., 85. Jandl, Der beschriftete Sessel, 231, Ó Luchterhand Literaturverlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH.

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„man sagt dir : du kommst nicht an mit dem, was du sagst, was du tust, was du nicht tust. … wenn man dir vorwirft: du kommst nicht an, nimm,s nicht als beschimpfung: geh weiter!“12

IV.

„Wie Gedichte entstehen?“

Im Gehen. Mit den Füßen auf der Erde, mit den Wörtern im Kopf. Aus der Gangart erwächst ein Rhythmus, Wörter nähern sich, Bilder begleiten mich, halten mit mir Schritt, bis sie mich zum Inne-Halten, Aufschreiben nötigen. Dann entsteht das Gedicht: aus Ergangenem. Wie ist es dir ergangen? Was hast du begangen? Nur, was sich bewegt, lebt.13

Virtuelle Peripatetiker sind sie beide, die Dichtenden und die Predigenden. Das Zufällige und Beliebige häuft sich an, bis aus dem Sichten, aus dem Sammeln und Verwerfen ein Grad von stimmiger Notwendigkeit entsteht, der einem literarisch-religiösen Kairos ähnlich ist. Gefunden wird unterwegs; Pilgern tut not! Das Ziel wird erreicht, das „Wunderbare, wenn sich die Wörter im Gedicht zu wandeln beginnen; vom Zeichen, das Wirklichkeit benennt, zum Ding, das Wirklichkeit schafft.“14 Dieses „Wunderbare“ bedarf aber der Hoffnung; der menschenfreundlichen Energie von Realisten. Dazu Hilde Domin: Nicht müde werden Nicht müde werden sondern dem Wunder leise wie einem Vogel die Hand hinhalten15

12 13 14 15

aus Reding, Asphaltgebete, 42, Ó Echter Verlag Würzburg. Hahn, Unerhörte Nähe, 87. Ebd. Domin, Nicht müde werden, Ó S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt a.M.

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V.

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„Haben Sie das alles gelesen?“

„Literatur muß, wie alle Kunst, um verständlich zu sein, auf das Vorhandene aufbauen, auch Redundanzen enthalten.“16 Die lyrische Tradition meldet sich zu Wort. Und diese Tradition wird eindeutig bejaht. „Wer lebt, schreibt, urteilt, als gehöre die Welt den Lebenden allein, der ist ein historischer Provinzler.“ In diese Abwehr eines vermeindlich wurzellosen Modernismus können wir Predigenden uns nur zu gut einbringen. Wenn wir uns auch oft an einem Zuviel an Tradition abarbeiten müssen, ist doch die Kenntnis des eigenen Gewordenseins unseres Berufs zur Ausübung von Schreiben und Reden als eines ehrlichen Handwerks unabdingbar. Professionalität ist angesagt; Vorrausetzung für alle, die sich einem kreativen und innovativen Arbeiten mit Sprache verpflichtet wissen, gleichzeitig aber auch die Herkunft aus der abendländischen Kultur nicht vergessen wollen. Gewährleistet werden soll damit, dass überbrachte Botschaften verstehbar, verständlich aufgenommen werden können. Dichten und Predigen dürfen keine Geheimwissenschaften mit numerus clausus sein. Ulla Hahn gibt dazu noch einen spitzfindigen Gebrauchshinweis: „Ich kann das Neue im Alten verbergen.“17 Ihr für alle burn-out-Betroffenen nahezu seelsorgerlich wirkender Sisyphos: „Ballade von S.“ ist dafür ein „klassischer“ Beleg. … Wenn er den Kopf am Stein sich wund stieß spürte S.: Ich bin. Jetzt ohne Bürde spürte er nichts mehr. Nahm weder Wind noch Quellen noch den Dattelbaum den Abendstern nicht wahr und nicht den Weg hinunter zu den Menschen. S. hatte überlebt. Zu leben nicht gelernt. Der Fels ließ sich nie wieder von der Stelle rühren.18

16 Hahn, Unerhörte Nähe, 89. 17 Hahn, Unerhörte Nähe, 89. 18 Dies., Ballade von S., Ó Deutsche Verlags-Anstalt, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH.

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VI.

„Haben Sie das alles selbst erlebt?“

„Man muß nicht in jeder Pfütze gebadet haben, um zu wissen, daß sie dreckig ist. Sagte der Religionslehrer.“19 Ein Predigender hält dagegen: Selbst in der kleinsten Pfütze spiegelt sich die Weite des Himmels! Ein Unterschied in der Blickrichtung deutet sich an. Die Lyrikerin stellt fest: „Erst wenn das Fleisch Wort wird, entsteht ein Gedicht.“20 Die Predigenden sind dagegen in das andere Sinngefälle eingeübt: Erst wenn das Wort Fleisch wird, entsteht eine Predigt. Die Umkehrung der Wort-Reihenfolge muss in der Welt der Sprache nun keine Gegensätzlichkeit bedeuten. Sie verweist aber doch auf eine fundamentale Aufgabenstellung für Predigende, sich zeitlebens abzuarbeiten an der singulären Validität des Wortes (Gottes) im Unterschied und im Gegenüber zu unseren menschlichen Worten der auslegenden Entsprechung als Predigt. Für den Respekt vor der freien confessio zu der Autonomie dieses Sinnes von „Wort“ wird in dem angestrebten freundschaftlichen Gespräch von Dichtung und christlicher Religion immer erst zu werben sein.

VII.

„Was bewirkt ein Gedicht?“21

Gedichte eröffnen ein „schwebendes Verfahren.“22 Sie initiieren eine kathartische Chance. Endlich Endlich besoffen und ehrlich und immer noch’n Sonett Reißt mir den Himmel auf legt mir die Welt ins Bett: Ich hab genug ich steh mir selbst bis oben und werd dies Leben nicht vor seinem Tode loben. Jaja ich weiß ihr habt mir keinen Grund für dieses Wut- und Wehgeschrei gegeben Mir geht es gut ich halt ja schon den Mund 19 20 21 22

Ebd., 91. Ebd., 91. Hahn, Unerhörte Nähe, 95. Hahn, Wiederworte, 111.

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nur eine Frage sei noch zugegeben Seid ihr ganz sicher dass ihr lebt und heißt Nichttotsein schon Leben?23

Unter die Haut und zu Herzen24 sollen sie gehen. Sie sind nicht dazu da, ein schlechtes Gewissen zu produzieren. Gedichte sind moralinfrei, aber mitunter durchaus appellierend. „Wir finden immer mehr von uns selbst. Gedichte nehmen uns ins Gebet, decken auf, was wir zudecken möchten.“25 Allerdings: kontrollierende, urteilende und verurteilende Instanzen sind sie nie. „Das Gedicht ist einfach nur da. Es hat allein die Macht, die der Leser ihm einräumt.“ Predigende werden, auch ohne die Kraft des Heiligen Geistes zu schmälern, hier aufmerksam zuhören. Ein „schwebendes Verfahren“ im freien weiten Raum, ohne die unheilige Zeigefingertradition, kommt nahezu einer Selbstverpflichtung gleich. Denn da gibt es doch auch für Predigende ganz andere Traditionen, die es wert sind, ihrerseits in lebendiger Überlieferung als zeitnah gebliebene Gedichte gewürdigt zu werden. Als herausragender Beleg dafür kann der „Lobgesang der Maria“, das „Magnificat“ (Lukas 1, 46 – 55) gelten; ein Manifest der gelungenen Konvergenz von Predigt und Gedicht.

VIII. „Darf ein Gedicht schön sein?“26 „Das Auge ißt mit. Indes: Es muß etwas zum Kauen da sein.“ Ulla Hahns Ideal eines schönen Gedichts versinnbildlicht sich in dem „Apfel von früher, den es nicht mehr gibt, glänzt am schönsten, schmeckt am besten und macht groß und stark. Jedes Gedicht ist der Versuch, diesen Apfel zu erreichen. Der hängt aber im Paradies.“ Die paradiesische Ferne beinhaltet jedoch den kreativen Impetus, diesem vollendeten Apfelunikat möglichst nahe zu kommen; zu trachten nach „der Versöhnung von Erkenntnis und Schönheit, Sinn und Sinnlichkeit, Gehalt und Form.“ Für einen Predigenden schiebt sich dagegen mit dem Bild des Paradiesapfels 23 Dies., Endlich, Ó Deutsche Verlags-Anstalt, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH. 24 Ebd., 111. 25 Hahn, Unerhörte Nähe, 95. 26 Ebd., 96.

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das dramatische Ereignis der Entfremdung in den Vordergrund. Entzweiung und eben nicht Versöhnung. Der versierten Lyrikerin ist dies ebenso bewusst. „Das vollendete Gedicht wäre der Tod der Dichtung. Die Dichtung ist unsterblich, weil sie irdisch ist.“ Das vollkommene Gedicht wird auf sich warten lassen. Zum Glück für alle Lyrikbegeisterten bleibt also die Suche danach ein irdisches Bestreben und „Gedichte lesen wie Äpfel essen“ ein irdisches Vergnügen. Eine sättigende Antwort für den, der fragt.

IX.

Lyrik in Andacht und Predigt

Im Kirchenjahr gehört zu jedem Gottesdienst mit Predigt eine biblische „Perikope“; ein ausgewählter Abschnitt aus dem Alten oder Neuen Testament. Diese Ordnung ist zwar reformierbar, hat aber nicht zuletzt liturgiegeschichtlich ein starkes traditionsbeharrendes Gewicht. Demgegenüber hat jedes Gedicht ein schlechthin freies Eigenleben. Diese Unterschiedlichkeit respektierend hat aber nun unser exemplarischer Diskurs im Gespräch mit der Lyrikerin Ulla Hahn gezeigt, dass zwischen Dichtung und Religion das je Eigene der einen eben durch das der anderen Seite nicht bestritten wird, oftmals geradezu nach sich gegenseitig erläuternder Kommunikation ruft, und ein Verzicht auf diese Kommunikation auch eine Minderung sowohl an sprachlicher Weite als auch an Konzentration auf den je anstehenden Probleminhalt, auf Nähe zur Wirklichkeit bedeuten würde. Wird aber nun diese Kommunikation im Dienst von Andacht und Predigt ernsthaft aufgenommen, dann stellt sich die Frage, wer denn bei der relativ klaren Fixierung auf Seiten der biblischen Perikopen nun auf Seiten der Gedichte für die Auswahl und Zuordnung verantwortlich zeichnet. Die Entscheidung für ein Gedicht in einer Predigt ist grenzenlos subjektiv und gehört neben der Entscheidung: „Ob überhaupt“, in den ausschließlichen Verantwortungsbereich der Predigenden. Diese Entscheidung fordert Kreativität und einen angemessenen Einblick in „Geschichte und Gegenwart“ von Lyrik. Fundamental ist dabei für Verantwortliche in Andacht und Predigt aber auch immer das Akzeptieren der theologiegeschichtlichen-dogmatischen Äquivokation im Begriff von „Wort“: Gottes-Wort und Menschen-Wort. Die Nuancen oder auch Alternativen in der sprachlich-strukturellen Zuordnung beider „Worte“ geben Auskunft über das subjektive theologische Selbstverständnis der christlich Redenden; geben aber auch einen Hinweis auf die Bereitschaft, säkulare Worte in Gestalt eines Gedichts als ernst zu nehmende Gesprächspartner gelten zu lassen.

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Lyrikschaffende sind von dieser Verantwortlichkeit nicht tangiert; es sei denn, dass auch ihnen das „Predigen“ nicht so fern ist. Das aber ist ebenso eine Frage der je eigenen Identität.

X.

Erfahrungen mit Bibel-Wort und Dichter-Wort

Johann Hinrich Claussen hat seine Erfahrung mit diesem Zusammentreffen so beschrieben: Die Konfrontation von Lyrik und Bibel kann zu vielen, wechselseitigen Überraschungen führen. Nicht nur, dass man als Theologe aus den hergebrachten Bahnen der kirchlichen Richtigkeiten herausgeworfen wird. Es kann auch dazu kommen, dass einem die große poetische Kraft des eigenen Textfundaments neu aufgeht. Und diese poetische Kraft der Bibel ist mehr als ein hübscher Zierrat, ein Lockmittel für moderne Ästheten und geschmäcklerische Intellektuelle. Es ist eine Gotteskraft, die den ganzen Menschen erheben und verwandeln kann, so dass ihm endlich aufgeht: Gottes Wort ist schön – und deshalb wahr.27

Ausgehend von solchen „wechselseitigen Überraschungen“ hat Claussen einen das eigene Experimentieren anregenden Ideen-Fundus mit dem Leitgedanken: „Spiegelungen“28 vorgelegt. In diesen Spiegelungen werden biblische Verse und moderne Gedichte einander so gegenübergestellt, dass sie sich in die Augen schauen können. Sie stehen sich gleichberechtigt gegenüber, haben ihren eigenen Ton, ihre eigene Aussage. Aber etwas ist da, das sie auf ihren Gegentext beziehbar macht: ein Motiv, eine Stimmung, eine Frage, eine Geschichte, ein Ding, ein Thema. So entstehen Spiegelungen.29

Ein markantes Beispiel ist für mich das In-Beziehung-Setzen von Prediger 3, 18 – 22 mit Robert Gernhardts Gedicht: „Im Kreis Kreisen“30. Unter der Überschrift: „Verzweifelt fröhlich“ ist der Prediger-Mensch mit der allgegenwärtigen Vergänglichkeit allen Seins konfrontiert. Leben lässt ihn ein paradoxes „Dennoch“ unter Verzicht auf die Frage nach dem Danach: „Darum sah ich, dass nichts Besseres ist, denn dass ein Mensch fröhlich sei in seiner Arbeit; denn das ist sein Teil. Denn wer will ihn dahin bringen, dass er sehe, was nach ihm geschehen wird?“ 27 28 29 30

Claussen, „Profane Offenbarungen“, in: P. Bahr u. a., 29. Claussen, Spiegelungen. Ebd., 12. Ebd., 104 f.

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Robert Gernhardts Wir-Menschen dagegen existieren im Kreis – kreisend; ohne Ende. Doch: „Da geht ein Riss durchs Leben.“31 Nahezu ein Euphemismus für das Endgültige, für das Sinnlose. Zwischen Bibel-Wort und Dichter-Wort: eine subtile Spiegelung ihrer Fremdheit. Es wird immer für Predigende eine Herausforderung bleiben, mit der je eigenen Sprachgestaltung in diesem großen Spektrum von Zuordnungsmöglichkeiten eine nachvollziehbare Predigtbotschaft den Hörenden nahe zu bringen. Aber dieser Herausforderung werden Predigende, die ein Gedicht in Andacht und Predigt mit einbeziehen, sich immer zu stellen haben.

XI.

Die Gemeinschaft der Hörenden

Die Gemeinschaft der Predigthörenden wird selten homogen sein. Neben den regionalen Besonderheiten dürfte die Milieuvielfalt allen vor Augen stehen. Ulla Hahn hat dazu mit selbstironischem Unterton eine für Dichtende wie Predigende zutreffende Milieustudie vorgelegt, in der – vergleichbar – von den Konfirmanden bis zu den Senioren, zuzüglich der Anrufung einer höheren Kraft wie Pegasus und die Engel, alle in der Regel auch bei einem Sonntagsgottesdienst Anwesenden repräsentiert sind: Dichterlesung Eine Schulklasse kichernd in den hinteren Reihen Lyrik Leistungsstufe eins: Bildlich gesprochen Und nun suchen sie live zu erfragen: Was will uns der Dichter damit sagen? Da sitzt sie buchstäblich, ziemlich klein und schon grau und die Schuhe! Sonst sind wie immer mehr Frauen gekommen Kinder ausm Haus und jetzt musenverliebt leibund seelenvergnügt, fühlen sich viel zu jung für ihr Alter und gehen in erdnahen Schuhen wie ich. Auch Herr E. LitÀre ist da. An seinem Mangel an Muskulatur erkennbar, bebrillt und in höhere Bildung gebettet: 31 Ebd., 105.

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Hätten Sie den zweiten Hyndekasyllabus nach dem dritten Hendiadyoin nicht onomatopoeitisch transferierend transzendieren müssen? Nah der Tür – damit sie,s, wenn,s sein muß, aufs Klo schafft – das alte Paar : so ähnlich einander so innig verschmolzen wie Wort und Ding im Gedicht. Hufe scharren. Ich setze mich gerade: auch mein Pegasus ist nur ein Pferd unter Engeln. Mal hören, ob er heute abend fliegt.32

Wir treffen auf eine vergleichbare Milieuvielfalt. Aber Dichtende und Predigende wollen in ebenso vergleichbarer Weise von möglichst vielen Hörenden verstanden werden. Bei beiden ist das „schwebende Verfahren“ auf ein Gelingen hin angelegt, eben auf Verstehen und Beherzigen. Vor diesem Hintergrund ist zu erwarten, dass sich die Anzahl der Gedichte, die den Aufnahme-Check in eine Predigt ohne Umdeutung verkraften, nicht ins Uferlose gehen wird. Und zu bedenken sein wird auch: Jeder Brunnen in Rom muss einmal zu pflegen und jeder Radwechsel einmal gelungen sein. Jede Lebensstufe wird einmal ausgetreten sein und jede Hand wird einmal zu fallen aufhören wollen.

XII. Gedichte und kirchliche Tradition Ich vertraue darauf, dass viele Gedichte eine besondere Fähigkeit unter Beweis stellen werden: die sprachliche und inhaltliche Kraft zum Elementarisieren; und dies gerade auch in theologischen Zusammenhängen. Der Disput mit unseren theologischen „Richtigkeiten“33 ist damit eröffnet. Erwartet werden können aber Anregungen zu einer theologisch-biblischen Kontroverse; Angebote zu nicht abgegriffenen Sprachgebungen und zu unkonventionellen Ansätzen zu einem unmittelbaren Verstehen. Ein erster Versuch: Zur Schöpfung Was war am Anfang und was ist daraus geworden? Ulla Hahn: Schöne Landschaft Mitunter tut sich der Himmel auf 32 Hahn, Dichterlesung, Ó Deutsche Verlags-Anstalt, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH. 33 Vgl. Claussen, hier Anm. 28.

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zeigt sein Geheimnis im Spiegel der Erde Zeigt uns was wir noch übrigließen von der Erde die einmal sein Ebenbild war.34

„Und siehe, es war sehr gut!“ Diese Welt spiegelt das Geheimnis des Himmels. Unsere Erde als Imago Dei? Die Möglichkeit ist eröffnet, in Schöpfungspsalmen zu schwelgen. Wer mag, ist auch zu einem Ausflug in die Systematische Theologie eingeladen. Das Gedicht geht allerdings einen eigenen Weg und zeigt seinen nicht nur indirekten adhortativen Charakter. Das irdisch gespiegelte Geheimnis des Himmels offenbart den Zerstörungsprozess der Erde, als dessen Urheber „wir“ unter dem kurzzeitig geöffneten Himmel erkennbar werden. Die paradiesischen Zeiten sind vorbei. Die Erde ist ihrer Würde als Ebenbild des Himmels beraubt worden. Kein Imperativ ; aber eine klare Zielvorgabe. Der Traum von der „schönen Landschaft“ muss nicht schon zu Ende sein. Ein zweiter Versuch: Zur Christologie und Anthropologie „Sehet, welch ein Mensch!“ (Johannes 19, 5) Dieser Ausspruch des Pilatus kann als ein Schlüssel-Wort zum Verständnis der Person des Jesus angesehen werden. Zusammen mit der Deutung des Kreuzes treffen sich hier Jesus-Bild und Menschen-Bild. Hilde Domin hat dies in ihrem viel beachteten Gedicht zum Ausdruck gebracht: Ecce Homo Weniger als die Hoffnung auf ihn das ist der Mensch einarmig immer Nur der gekreuzigte beide Arme weit offen der Hier-Bin-Ich35

34 Hahn, Schöne Landschaft, Ó Deutsche Verlags-Anstalt, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH. 35 Domin, Ecce Homo, Ó S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt a. M.

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Dieser einarmige Mensch ist in seiner Unvollkommenheit gefangen. Er bleibt immer hinter dem zurück, was an Visionen von einem idealen Menschsein je über ihn erdacht, geschrieben und gesagt worden sein mag. Weder ist da ein „Sowohl als auch“ noch ein „Simul – simul“ zu erwarten. Das Einarmige ist dem Menschen wesentlich; für immer. Allein der Unverwechselbare, der Geschundene ist der verlässlich Gegenwärtige, der Zugewandte. Dieser Mensch, der Vollender humanen Seins. Was heißt da: theologisch zu reduziert? Stimmt. Aber irdisch präsent in diesem Augenblick; dieser : Hier – bin – ich. Ein dritter Versuch: Zu den Letzten Dingen Lyrik zum Übergang, Gedichte vom Sterben und vom Tod gehören für Literaten zum Grundbestand dichterischen Schaffens. In Sprache zu gestalten, was nie post festum hat beschrieben werden können, setzt eine visionäre Phantasie frei, die fast biblisch von einem „neuen Himmel und einer neuen Erde“36 träumen lässt. Ein Gedicht von Heinz Piontek gehört für mich in diese Tradition: FREIES GELEIT Da wird ein Ufer zurückbleiben. Oder das End eines Feldwegs. Noch über letzte Lichter hinaus wird es gehen. Aufhalten darf uns niemand und nichts! Da wird sein unser Mund voll Lachens – Die Seele reiseklar –

36 Offenbarung 21, 1 ff.

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Das All nur eine schmale Tür, angelweit offen –37

Die Bilder sind vertraut. Ufer, Weg-Ende, Dunkel. Sie nehmen die Angst. Ein Gegen-uns gibt es nicht mehr. Unser befreites Lachen hat den Cherub vertrieben. Kein Pedell mehr am Türpfosten. Keine Rückfrage nach dem Gelebten. Wir sind bereit für den neuen Himmel. Eng ist die Tür, jede und jeder wird in ihrer und seiner Besonderheit gewürdigt. „Angelweit offen“! „Aufhalten darf uns niemand und nichts!“ Voraus liegt die unendliche Weite, die bleibende Welt des Schöpfers. So anders als es frühere Angst ahnen ließ. Befreit und nicht endend geborgen.

XIII. Biographische Einblicke im Gedicht Konfliktträchtig kann auch durch Predigten das Berichten von biographischen Details aus Besuchen und Gesprächen sein. Die Irritation setzt sich in diesem Fall bei den Hörenden fest, wenn in der Predigt die einleitende Formel zu hören ist: „Bei einem meiner Besuche in der Klinik hat sich dieses Gespräch ergeben ….“ Je authentischer hier berichtet wird, desto nachhaltiger setzt sich bei den Hörenden die Rückfrage nach der seelsorgerlichen Verschwiegenheit fest; selbst wenn das „Predigtbeispiel“ aus einer schon lange gedruckten Vorbereitungshilfe stammt. Hier bieten dagegen lebensnahe Gedichte oft vielfältige Möglichkeiten zu spontanen Assoziationen aus der eigenen Biographie der Hörenden. Diese Erinnerungen an selbst Erlebtes sind dann individuell und konkret. Friederike Mayröcker bietet solch ein Gedicht: an meine Mutter, 84 hinter meiner Stirn wenn ich dich anblicke immer die gleiche bange Frage : wie lange noch? ich halte die Stirn versteckt hinter Haaren: du sollst mich nicht lesen aber du denkst womöglich dasselbe im selben Augenblick ich vermeide es auch Jahreszahlen zu nennen vor dir im nächsten Winter zum Beispiel im Sommer danach

37 Ó Zwanger, Helmut/Kuschel, Karl-Josef (Hg.), Gottesgedichte, Ein Lesebuch zur deutschen Lyrik nach 1945, Tübingen, 2011 (Klöpfer& Meyer, 232 Seiten), 164.

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weil ich weisz was du fürchtest: (»dann bin ich vielleicht nicht mehr da –«)38

Nach diesem situationsbezogenen Einblick vermittelt uns Friederike Mayröckers Lebensgefährte Ernst Jandl einen lebensgeschichtlich-übergreifenden Blick auf seine Biographie, in der sich nicht Wenige an eigene Entwicklungen erinnert fühlen werden: an gott daß an gott geglaubt einstens er habe fürwahr er das könne nicht sagen es sei einfach gewesen gott da und dann nicht mehr gewesen gott da und dazwischen sei garnichts gewesen jetzt aber er müßte sich plagen wenn jetzt an gott glauben er wollte garantieren für ihn könnte niemand indes vielleicht eines tages werde einfach gott wieder da sein und garnichts gewesen dazwischen39

Auch ein Gedicht von Rose Ausländer hat diese repräsentative Kraft. Je eigene Erfahrungen von Freundschaft und Liebe können hier vergegenwärtigt werden Wort an Wort Wir wohnen Wort an Wort Sag mir dein liebstes Freund meines heißt DU40

38 Mayröcker, An meine Mutter, 84, Ó Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 39 Jandl, Der beschriftete Sessel, 203, Ó Luchterhand Literaturverlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH. 40 Ausländer, Wort an Wort, Ó S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt a. M.

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XIV. Gedicht und Predigt in Konvergenz Albrecht Grözingers41 Darstellung der Aufnahme poetischer Texte in eine Predigt wirkt wie ein freundlicher und tunlichst zu beherzigender Katechismus für die entsprechende Predigtarbeit. Zunächst einmal sollten wir wissen, dass wir uns mit einem guten poetischen Text einen starken Gast in die Predigt einladen. … Allerdings müssen wir mit unserer Predigtsprache in gewisser Weise der Sprache der Dichtung standhalten, was etwas anderes ist als es mit ihr aufzunehmen. Gäste lieben in der Regel ein gepflegtes Interieur. Einem Sprach-Gast sollten wir in unserer Predigt auch ein gepflegtes sprachliches Interieur bereitstellen. Das heißt: Wir sollten – in den Grenzen unserer Möglichkeiten! – der Sprache unserer Predigt die gleiche Sorgfalt angedeihen lassen, wie dies etwa bei einem Gedicht der Fall ist.

„Gästen begegnet man mit Respekt.“ Sie sind etwas anderes als Dekoration. „Gästen hört man zu. … Nur als eine authentische Stimme mit ihrem Eigenrecht ist die Aufnahme poetischer Texte homiletisch legitim.“ Schließlich plädiert Grözinger für eine gediegene Begrüßung und Verabschiedung des Sprach-Gastes. Die angemessene sprachliche Fassung der „Übergange“, die die Unterschiedlichkeit von Predigtsprache und Poesie erkennen lässt, aber auch die Konvergenz andeutet, ist eine durchaus kunstvolle Aufgabe. Und die Perspektiven? Für die Predigenden erscheint die Dichtung als eine geachtete Gesprächspartnerin. Die Ressentiments gegenüber dem Nicht-Religiösen dürften überwunden sein. Auch auf „Freundschaft“42 wird gebaut werden können. Protestantische Predigten können dabei mit dem aufmerksamen Beobachten neuerer Lyrik eine deutliche Erweiterung ihrer Wirkungsmöglichkeiten gewinnen. Das gilt zunächst für ein konkreteres „Auf-den-Punkt-Kommen“ beim sprachlichen Erfassen von Problemkonstellationen. Ein gelungenes Liebesgedicht, auch mit Ecken und Kanten, kann in einer Trauansprache stimmiger sein als erzählerische Interpretationen oder gängige Sinnsprüche über „Liebe“. Und in dem Eingehen auf soziale Konfliktsituationen wird ein aktuell gedeutetes Erinnern an Brechts: „Kohlen für Mike“43 mehr Betroffenheit bewirken als eine Armuts-Statistik aus der Tageszeitung. Eine Erweiterung von Wirkungsmöglichkeiten wird es auch geben, wenn 41 Grötzinger, Homiletik, 236 ff. 42 Bahr/Assmann/Huber/Schlink, Protestantismus, 8. 43 Brecht, Die Gedichte, 669 f.

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biblisch-christliche Traditionen assoziiert werden in einer verfremdenden Sprachgestaltung; so zum achten Gebot von dem Arbeiterdichter Josef Reding: herr brockstiepel und das eigene nest ich beschmutze nie das eigene nest, sagt herr brockstiepel und spricht die wahrheit. wenn herr brockstiepel nach hause kommt, hat er seinen täglichen sack schmutz schon restlos auf fremde nester verteilt.44

Auch in gesellschaftlich-politischen Existenzfragen, aktuell z. B. bei dem Für und Wider über den Einsatz von Drohnen, ist Hilde Domins: „Abel steh auf“45 durchgreifender als ein analysierender Halbsatz aus der Fernsehshow vom Vorabend. …Abel steh auf damit es anders anfängt zwischen uns allen…

Besondere Erwartungen habe ich daran, dass uns Predigenden durch die Dichtenden eine größere Freiheit in der sprachlichen Erfassung theologischer Themen abverlangt und zugemutet wird. Marie-Luise Kaschnitz hat mit ihrem Gedicht: „Auferstehung“46 einen anerkannt hohen dichterischen Maßstab gesetzt: …Und dennoch leicht Und dennoch unverwundbar Geordnet in geheimnisvoller Ordnung Vorweggenommen in ein Haus aus Licht. 44 Reding, Asphaltgebete, 112. 45 Domin, Gesammelte Gedichte, 364 f. 46 Ó Zwanger, Helmut/Kuschel, Karl-Josef (Hg.), Gottesgedichte, Ein Lesebuch zur deutschen Lyrik nach 1945, Tübingen, 2011 (Klöpfer& Meyer, 232 Seiten), 155.

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Schließlich bin ich davon überzeugt, dass Dichtende und Predigende eine kreative Partnerschaft in solidarischer Zeitgenossenschaft mit dem gesamten Spektrum menschlicher Lebenserfahrungen bilden können. Sie werden fähig sein, in der Summe vieler Facetten ein gemeinsames Humanum darzustellen.

Literatur Quellen Nach Hause, S. 17: Ulla Hahn: Nach Hause, aus: Dies., So offen die Welt. Gedichte, Ó Deutsche VerlagsAnstalt, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH, 22004, 82. …Und dann, S. 17: Ulla Hahn: …Und dann, aus: Dies., Wiederworte, Gedichte, Ó Deutsche Verlags-Anstalt, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH, 2011, 109 ff. Der beschriftete Sessel, S. 19: Ernst Jandl, Der beschriftete Sessel. Autobiographische Gedichte und Texte, Bernhard Fetz/Klaus Siblewski (Hg.), Salzburg/Wien 1997, aus: Ernst Jandl, Poetische Werke, Klaus Siblewski (Hg.), Ó Luchterhand Literaturverlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH, 1997. Asphaltgebete, S. 20: Aus: Josef Reding, Asphaltgebete, Ó Echter Verlag, Würzburg 1999, 42. Nicht müde werden, S. 20: Hilde Domin, Nicht müde werden, aus: Dies., Gesammelte Gedichte, Ó S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt a.M. 1987, 294. Ballade von S. , S. 21: Ulla Hahn, Ballade von S. , aus: Dies., Unerhörte Nähe. Gedichte, Ó Deutsche VerlagsAnstalt, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH, 1988, 74 f. Endlich, S. 22: Ulla Hahn, Endlich, aus: Dies., Wiederworte, Ó Deutsche Verlags-Anstalt, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH, 2011, 148. Dichterlesung, S. 25: Ulla Hahn, Dichterlesung, aus: Dies., So offen die Welt, Gedichte, Ó Deutsche VerlagsAnstalt, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH, 22004, 41.

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Schöne Landschaft, S. 26: Ulla Hahn, Schöne Landschaft, aus: Dies., Freudenfeuer. Gedichte, Ó Deutsche VerlagsAnstalt, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH, 1985, 71. Ecce Homo, S. 26: Hilde Domin, Ecce Homo, aus: Dies., Gesammelte Gedichte, Ó S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt a.M. 1987, 345. An meine Mutter, 84, S. 28: Friederike Mayröcker, An meine Mutter, 84, aus: Dies., Gesammelte Gedichte 1939 – 2003, Marcel Beyer (Hg.), Ó Suhrkamp Verlag, Frankfurt a.M. 2004, 554. Der beschriftete Sessel, S. 29: Cf. S. 19 Wort an Wort, S. 29: Rose Ausländer, Wort an Wort, aus: Dies., Gelassen atmet der Tag, Ó S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt a.M. 1984, 107.

Sekundärliteratur Ausländer, R., Gelassen atmet der Tag, Frankfurt a. M. 1984. Bahr, P./Assmann, A./Huber, W./Schlink, B. (Hg.), Protestantismus und Kultur, Bd. 2: Protestantismus und Dichtung, Gütersloh 2008. Brecht, B., Die Gedichte von Bertolt Brecht in einem Band, Frankfurt a. M. 112002. Claussen, J.-H. (Hg.), Spiegelungen. Biblische Texte und moderne Lyrik, Zürich 2004. Profane Offenbarungen, Anmerkungen eines Lyrik lesenden Theologen, in: P. Bahr (Hg.), Protestantismus und Dichtung. Domin, H., Gesammelte Gedichte, Frankfurt a. M. 1987. Grözinger, A., Lehrbuch Praktische Theologie, Bd.2: Homiletik, Gütersloh 2008. Hahn, U., Freudenfeuer. Gedichte, München 1985. – So offen die Welt. Gedichte, München 22004. – Unerhörte Nähe. Gedichte, München 1988. – Wiederworte, München 2011. Jandl, E., Der beschriftete Sessel, Autobiographische Gedichte und Texte, Fetz, B./Siblewiski, K. (Hg.), Salzburg/Wien 1997. Langenhorst, G., Theologie und Literatur. Ein Handbuch, Darmstadt 2005. Mayröcker, F., Gesammelte Gedichte, Frankfurt a.M. 2004. Reding, J., Asphaltgebete, Würzburg 1999. Zwanger, K./Kuschel, K.-J. (Hg.), Gottesgedichte, Ein Lesebuch zur deutschen Lyrik nach 1945, Tübingen 2011.

Sonja Domröse

„Ich habe euch kein Frauengeschwätz geschrieben“. Frauen der Reformationszeit als Verkündigerinnen

Einleitung Schon zu Lebzeiten Jesu sind ihre Spuren immer wieder in den neutestamentlichen Schriften zu finden: Frauen als Verkündigerinnen des christlichen Glaubens begegnen uns immer wieder in der Heiligen Schrift. Im Johannesevangelium ist es die samaritanische Frau am Brunnen, von der es heißt: „Aus jener Stadt aber wurden viele von den Samaritern glaubend an ihn – auf das Wort der Frau hin, die bezeugt hatte“ (Joh. 4, 39). Die außergewöhnliche Rolle der Maria Magdalena als Jüngerin und Apostelin wird in verschiedenen Evangelien überliefert. Bei Matthäus erteilt Jesus am Ostermorgen den Frauen am Grab – unter ihnen auch Maria Magdalena – den Auftrag, seinen Jüngern von seiner Auferstehung zu berichten (Mt 28,9 – 10), auch bei Markus erscheint der Auferstandene Maria Magdalena zuerst, aber die Jünger glauben ihrer Botschaft nicht (Mk 16,9 – 11). Ähnlich berichtet es auch Lukas (Lk 24,1 – 11). In der Apostelgeschichte wird erzählt, wie Lydia, eine Purpurhändlerin aus Philippi, die erste Christin in Europa wird und in ihrem Haus sich die christlichen Gemeinde versammelt (Apg 16,11 – 15.40). Neben dem Petrus-Bekenntnis („Du bist der Christus.“ Mk 8,29) findet sich auch ein Martha-Bekenntnis („Ja, Herr, ich glaube, dass du der Christus bist, der Sohn Gottes, der in die Welt gekommen ist.“ Joh 11,25 – 27). Durch den reformatorischen Grundsatz des „sola scriptura“ rückte die Bedeutung der Bibel im frühen 16. Jh. erneut in den Mittelpunkt. Nicht wenige Frauen aus Bürgertum und Adel fühlten sich durch das eigene Studium der Schriften sowohl aus dem Alten wie dem Neuen Testament ermutigt, in diesen Zeiten des geistlichen, politischen und gesellschaftlichen Umbruchs als Verkündigerinnen auf die öffentliche Bühne zu treten und den Freiraum zu nutzen, der durch das Postulat des „Priestertums aller Glaubenden“ entstanden war. Exemplarisch für dieses gelehrte, aber auch mutige und glaubensfeste Auftreten von Frauen in den Anfängen der Reformation sollen im Folgenden drei

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Sonja Domröse

Protagonistinnen in Leben und Werk skizziert werden.1 Argula von Grumbach gilt als erste evangelische Publizistin und erreichte zeitweise in ihren Veröffentlichungen Auflagenzahlen, die sich mit denen Martin Luthers und seiner frühen reformatorischen Schriften messen lassen konnten.2 Mit Katharina Zell, auch bekannt als Katharina Schütz oder Schütz-Zell, begegnet uns eine selbstbewusste Bürgerstochter, die Zeit ihres Lebens eigene Schriften veröffentlichte, eine Liedersammlung herausgab und sogar als Predigerin hervortrat. Als Frau mit politischer Macht führte Elisabeth von Braunschweig-Lüneburg unter ihrer Regentschaft die Reformation in ihrem Gebiet ein und legte Grundsteine für Institutionen, die sich bis ins 21. Jh. erhalten haben.

I.

Argula von Grumbach – Kämpferische Streiterin für die Reformation

An einem Spätsommertag Jahres 1523 sitzt eine mutige und gebildete Frau in ihrer Schreibstube. Zügig und in entschlossenem Ton schreibt sie einen Brief an die gelehrten Männer der Universität Ingolstadt. Argula von Grumbach heißt diese Frau, sie ist 31 Jahre alt, verheiratet und Mutter von vier Kindern. Schon seit langem beschäftigt sie sich intensiv mit der Bibel, denn ihr Vater hat ihr als 10-Jährige eine deutsche Bibel geschenkt, in der sie – besonders nach seinem frühen Tod – oft liest. So kennt sie sich bestens aus in der Heiligen Schrift und fordert die gesamte männliche Gelehrtenschar der Universität Ingolstadt unter Vorsitz ihres Rektors Johannes Eck heraus. Eck ist zu dieser Zeit einer der bekanntesten deutschen Theologen und profiliertester Gegner Martin Luthers. In Leipzig hat er 1519 während eines heftigen theologischen Streitgesprächs nicht nur mit Luther, sondern auch mit Andreas Bodenstein von Karlstadt und Philipp Melanchthon disputiert, ein Jahr später verbrennt Luther u. a. auch einige Schriften Ecks öffentlich in Wittenberg. Mit diesem Johannes Eck samt der theologischen Fakultät will Argula von Grumbach – eine einzelne Frau – öffentlich über die Auslegung der Heiligen Schrift diskutieren. Sie stellt allerdings eine Bedingung: Das Gespräch soll auf Deutsch stattfinden, denn Latein, die damals gängige Universitätssprache, beherrscht sie nicht. Selbstbewusst schließt sie ihre Botschaft mit den Worten „Ich habe euch kein Frauengeschwätz geschrieben, sondern das Wort Gottes als ein Glied der christlichen Kirche.“3 1 Vgl Domröse, Frauen der Reformationszeit. 2 Vgl. von Grumbach, Schriften. 3 Von Grumbach, Schriften, 75. Die Zitate sind der Lesbarkeit wegen dem heutigen Deutsch angepasst. Im Original heißt es: Jch hab euch nit weibs tedig geschriben, sund dz wort gottes als ain gelyd der Christeliche kirche.“

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Was genau trieb sie zu ihrem mutigen Brief, mit dem sie als erste Frau öffentlich für die Reformation eintrat? Kein Mann hatte es gewagt sich offen für den 18-jährigen Magister Arsacius Seehofer einzusetzen, der ein Anhänger der reformatorischen Ideen war und an seiner Universität in Ingolstadt dafür Werbung machte. Die bayrischen Herzöge hatten aber bereits 1522 verboten, sich dem neuen Glauben zuzuwenden. Schon allein das Lesen und Diskutieren über Luthers Schriften war unter Strafe gestellt. Und so wurde der junge Mann gezwungen, öffentlich seinen Überzeugungen abzuschwören und als Konsequenz für seine vermeintliche Renitenz in ein nahes Kloster verbannt. Argula hatte von diesen Geschehnissen gehört, Erkundigungen eingezogen und sich nun mutig ans Werk gesetzt. Denn für sie ist offenkundig: Unter Androhung von Gewalt fordern die Gelehrten einen Widerruf Seehofers, ohne ihn durch biblische Zeugnisse widerlegen zu können. Solch ein Vorgehen ist nach ihrer Meinung aber gegen Gottes Willen, denn „ich finde an keinem Ort der Bibel, dass Christus noch seine Apostel oder Propheten jemanden eingekerkert, gebrannt noch gemordet haben oder das Land verboten.“4 Für sie ist klar : Sowohl Männer als auch Frauen sind berufen, für ihren Glauben öffentlich einzutreten und ein Bekenntnis zu Jesus Christus abzulegen. Und so fährt sie glaubensfest fort: Auch wenn es dazu kommen sollte, wovor Gott sei, dass Luther widerruft, so soll es mir nichts zu schaffen machen. Ich baue nicht auf sein, mein oder sonst eines Menschen Verstand, sondern allein auf den wahren Felsen Christus selber.5

Argula von Grumbach wird mit diesem mutigen Schritt eine kämpferische Streiterin für die Reformation. Inspiriert von Luthers frühen Schriften, in denen er zum einen fordert: Allein, was in der Heiligen Schrift steht, hat Gültigkeit und ist Maßstab für das eigene Urteil und Handeln („sola scriptura“). Zum anderen formulierte der Reformator bereits 1520 in seiner Schrift „An den christlichen Adel deutscher Nation von des christlichen Standes Besserung“ Folgendes: „Denn was aus der Taufe gekrochen ist, das kann sich rühmen, dass es schon zum Priester, Bischof und Papst geweiht sei, obwohl es nicht jedem ziemt, solches Amt auszuüben.“6 Gerade dieses Postulat des Priestertums aller Glaubenden stärkte das Selbstbewusstsein nicht nur der Laien, sondern auch gerade vieler Anhängerinnen der Reformation. So wie Frauen heute die Bibel aus weiblicher Sicht lesen, so tat es auch schon Argula von Grumbach vor 500 Jahren. Sie erinnert daran, dass Jesus ausführlich mit Frauen diskutierte und gelehrte Gespräche mit ihnen führte. Als exzellente 4 Ebd., 65. 5 Von Grumbach, Schriften, 74. 6 Luther, Werke, Bd. 1, 367.

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Kennerin der biblischen Worte kennt sie auch die weiblichen Gottesbilder, die sich an etlichen Stellen im Alten und Neuen Testament finden. So zitiert sie Verse aus dem Propheten Hosea, in denen Gott sich selbst mit einer Bärin vergleicht, der ihre Jungen genommen sind.7 Wir begegnen hier also durchaus ganz modernen Formen der Bibelinterpretation, denn auch Frauen heute ist es wichtig, Gott nicht ausschließlich in männlich geprägten Bildern zu denken, sondern auch die weiblichen Seiten zu integrieren. Bereits in seinen frühen Schriften hatte Luther auch eine Schulpflicht für Mädchen gefordert8, und so wurde die Mädchenbildung in den protestantischen Kirchenordnungen verankert. In den sogenannten „Jungfrauenschulen“ unterrichteten zumeist Lehrerinnen die Mädchen; dabei ging es vor allem um die Vermittlung religiöser Bildung. Die Schulordnungen fanden zum großen Teil Aufnahme in die evangelischen Kirchenordnungen, obwohl sie eigentlich in die Verantwortung der weltlichen Obrigkeit fielen. Dies zeigt, dass der Unterricht der Mädchen als wichtig angesehen wurde. Als Hausfrauen und Mütter kam ihnen eine Multiplikatorenfunktion zu: Von ihnen hing es ab, wie gut die heranwachsenden Bürgerinnen und Bürger das religiöse Bildungsgut verinnerlichten.9

Zur von Argula von Grumbach angestrebten Diskussion mit den Universitätsgelehrten sollte es dagegen nie kommen. Sie wurde noch nicht einmal eines Antwortbriefes aus Ingolstadt für wert geachtet. Aber ihre Schrift wurde von evangelischer Seite gedruckt und veröffentlicht, innerhalb von zwei Monaten erlebte sie 13 Auflagen. Flugschriften waren in den frühen Jahren der Reformation ein sehr erfolgreiches Medium, das in den Jahren von 1521 bis 1525 ihren Höhepunkt erlebte. Nach dem Bauernkrieg nimmt die Veröffentlichung von Flugschriften deutlich ab, die vorher mit einem bemerkenswert hohen Anteil von Laien-Theologen geführte Debatte „mündete seit etwa 1525 in eine vornehmlich von Theologen geführte Diskussionssituation ein.“10 Was sich wie eine Erfolgsgeschichte anhört, war für die Adelstochter selbst aber eine bittere Zerreißprobe mit ihrer Familie. Denn Argula war mit einem gläubigen Katholiken verheiratet und ihr Mann, der aus fränkischem Adel stammende Friedrich von Grumbach, teilte ihre Ansichten in keiner Weise. Bei ihrem öffentlichen Auftreten war sie bereits seit neun Jahren mit ihm verheiratet, drei Söhne und eine Tochter waren bis dahin dem Paar geboren worden. Seit 1515 war Friedrich von Grumbach gut bezahlter Pfleger von Dietfurt, ein herzoglicher Statthalter mit besonderen Vollmachten also, und stand damit im 7 8 9 10

„Ich will sie anfallen wie eine Bärin, der ihre Jungen genommen sind …“ Hosea 13,8. Luther, Werke, Bd. 2, 456. Gause, Weg ins Pfarramt. Kaufmann, Reformation, 304.

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Dienst der bayrischen Herzöge. Seine Ehefrau aber setzte sich nicht nur über das geltende Verbot hinweg, weder lutherische Schriften zu lesen, noch sie zu verbreiten, sondern nahm in ihrem Sendbrief an die Hochschule sogar noch öffentlich einen Anhänger der Reformation in Schutz und stellte sich auf seine Seite. Und sie schrieb am selben Spätsommertag 1523 noch einen zweiten Brief. Adressat diesmal: Landesherr Wilhelm IV. von Bayern. Sie legte diesem Brief eine Kopie ihres Schreibens an die Ingolstädter Universität bei und schrieb dem Herzog, den sie aus ihren Kindertagen am Münchener Hof persönlich kannte, um ihn von den Vorfällen in Ingolstadt zu unterrichten.11 Dieser Brief wurde als ein Reformationsmanifest im großen Stil gelesen, denn u. a. befasst sich seine Autorin darin mit dem Gehorsam eines Christenmenschen gegenüber der Obrigkeit. Auch Herzog Wilhelm von Bayern befand die Autorin keiner Antwort für würdig, entließ aber ihren Mann umgehend aus dem Dienst, da er seine Frau nicht gehindert hatte solche Briefe zu schreiben. So verlor Friedrich von Grumbach durch das eigenständige Handeln seiner Frau seine gut dotierte Stellung und die Familie geriet in finanzielle Schwierigkeiten. Da Friedrich bis zu seinem Tod 1529 ein gläubiger Katholik blieb, war das eheliche Verhältnis wohl zerrüttet. Argula schrieb über ihren Mann: „Er tut leider viel zu viel dazu, dass er Christus in mir verfolgt.“12 Doch trotz dieser familiären Spannungen schrieb sie wenige Wochen später erneut einen Sendbrief, diesmal an den Rat der Stadt Ingolstadt gerichtet, indem sie auf die vielen Anhängerinnen der Reformation in der Stadt anspielt und auch ihren eigenen Tod nicht fürchtet: „Ja, wenn ich allein sterbe, so werden doch hundert Frauen wider sie schreiben. Denn ihrer sind viele, die belesener und geschickter sind als ich.“13 Weitere Schriften folgten, alle innerhalb eines Jahres verfasst. Nach 1524 hat sich Argula von Grumbach nie wieder öffentlich zu Wort gemeldet. Und so liegt viel bittere Wahrheit in dem Deckblatt der ersten gedruckten Flugschrift, die Argula von Grumbach verfasste, eben jenem Schreiben an die Universität von Ingolstadt: Eine einzelne Frau steht mit der Bibel in der Hand der Anzahl der männlichen Ingolstädter Gelehrten allein gegenüber. Jedoch hat die bayrische Landeskirche vor einiger Zeit eine Stiftung nach ihr benannt. Ziel der Argula von Grumbach-Stiftung ist es, die Gleichstellung von Frauen und Männern in der Landeskirche zu fördern sowie die Auseinander-

11 Von Grumbach, Schriften, 8 6 – 93. 12 Ebd., 121. 13 Ebd., 99.

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setzung mit Geschlechterfragen im gesellschaftlichen und kirchlichen Kontext zu unterstützen. Eine späte Würdigung einer mutigen Frau.

II.

Katharina Zell – Predigerin und Kirchenmutter

Bis kurz vor ihrem Tod veröffentlichte dagegen eine andere gelehrte und glaubensfeste Frau der Reformationszeit eigene Schriften: Katharina Zell, bekannt auch unter ihrem Geburtsnamen Katharina Schütz. Sie hielt nicht viel von dem Verdikt des Paulus, Frauen sollten in der Gemeinde schweigen. Konventionen ignorierte sie, wo sie sie für falsch hielt, und den Mund ließ sie sich erst recht nicht verbieten. Die selbstbewusste Straßburger Bürgerstochter war schon als Kind an der Theologie interessiert. Ich bin, seit ich zehn Jahr alt, eine Kirchen-Mutter, eine Ziererin des Predigtstuhls und Schulen gewesen, habe alle Gelehrten geliebt, viel besucht, und mit ihnen mein Gespräch, nicht von Tanz, Weltfreuden noch Fassnacht, sondern vom Reich Gottes gehabt,14

so schrieb sie als reife Frau im Rückblick auf ihr Leben. Denn ihr besonderes Interesse galt dem religiösen Disput. In ihren Briefen und Auslegungen setzte sie sich immer wieder mit der biblischen Überlieferung auseinander. Sie konnte aber auch tatkräftig zupacken. Als wieder einmal Glaubensflüchtlinge nach Straßburg kamen, organisierte sie für 150 der Flüchtigen eine Unterkunft. Allein achtzig von ihnen brachte sie in ihrem eigenen Haus unter, einem Pfarrhaus. Mit 26 Jahren hatte sie den evangelischen Prediger und ehemaligen Mönch Matthäus Zell geheiratet. Durch ihre Hochzeit, die im Jahr 1523 stattfand und als Skandal galt, wurde sie eine der ersten Pfarrfrauen. Da ihre Vermählung so viel Aufsehen erregte, verteidigte sie diesen Schritt wortgewaltig in einer ersten Schrift aus ihrer Feder. Kein Geringerer als der katholische Bischof von Straßburg hatte Matthäus Zell und mit ihm weitere Geistliche, die eine Ehe eingegangen waren, exkommuniziert. Durch päpstlichen Bann wurden sie aus der Gemeinschaft der Kirche ausgeschlossen. Wie in all ihren Werken tritt Katharina bereits in dieser Publikation als eine selbstbewusste und couragierte Frau auf, die gewandt ist im Schreiben, und deren Umgang mit der Heiligen Schrift auf eine große Vertrautheit mit der Bibel schließen lässt. Beides, ihr Mut wie ihre bibelfeste Argumentation, werden bereits in dieser Rechtfertigung offenbar. Katharina verteidigt in ihrem Brief ihre Eheschließung und setzt sich gegen 14 Füsslin, Briefwechsel, 196.

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üble Nachrede zur Wehr. Matthäus Zell sei ihr ein liebender Ehemann so wie sie ihm eine liebende Ehefrau, beide seien „nie kein Viertelstund uneins gewesen”15. Gegen das paulinische Schweigegebot für Frauen argumentiert sie klug. Paulus sagt: Die Weiber sollen schweigen. Antworte ich: Weißt aber nicht auch, dass er sagt, Galater 3: In Christus ist weder Mann noch Weib; und dass Gott im Propheten Joel sagt im 2. Kapitel: Ich werde ausgießen von meinem Geist über alles Fleisch und eure Söhne und Töchter werden weissagen etc. Und weißt auch, da Zacharias ein Stummer ward, hat Elisabeth die Jungfrau Maria gebenedeit.16

Gemäß dieser Maxime, dass Frauen sehr wohl ein Recht haben, sich theologisch zu äußern und in der Kirche ihre Stimme zu erheben, verfasst Katharina Zell immer wieder eigene Schriften, gibt ein Liederbuch heraus und steht mit etlichen Reformatoren ihrer Zeit in regem Briefwechsel. Sie scheut sich dabei nicht, Martin Luther zu kritisieren, und disputiert mit ihm über das rechte Verständnis des Abendmahls. Eigene Glaubenszweifel mögen Katharina angesichts ihrer Kinderlosigkeit überkommen haben. Sie schenkte zwar zwei Kindern das Leben, aber keines überlebte das Säuglings- und Kleinkindalter. Wie sie in einem Brief schrieb, deutete sie dieses Los als göttliches Zeichen und Strafe für ihre Sünden. Dieser innere Druck mag einer der Gründe für ihr unermüdliches Arbeiten und Wirken gewesen sein. Als im Januar 1548 ihr Mann stirbt, ergreift die 51-Jährige nach der Grabrede des Pfarrers als Witwe selbst das Wort und wendet sich an die Gemeinde. Sie belässt es aber nicht nur bei dieser ersten öffentlichen Predigt ihrerseits, sondern gibt darüber hinaus noch eine Schrift zum Gedenken ihres Mannes heraus. Da die Predigt am Grab ihres Mannes bereits für Unmut gesorgt hatte, betont sie in ihrer Einleitung, dass sie sich nicht in das Amt des Predigers oder Apostels stellen möchte, sondern allein wie die liebe Maria Magdalena ohne Vorbedacht ihrer Gedanken zu einer Apostelin ward und vom Herrn selbst gedrungen den Jüngern zu sagen, dass Christus auferstand wäre und zu seinem und unserem Vater aufgestiegen, also ich jetzt auch.17

Über ihren Mann, der von allen Straßburger Reformatoren der liberalste – auch im Umgang mit den Täufern – war, schrieb Katharina: Also hat auch mein frommer Mann selig Matthäus Zell so oft geredet in seinem Leben, wer Christus für den wahren Sohn Gottes, und einzigen Heiland aller Menschen glaube 15 Zell, Entschuldigung. 16 Ebd. 17 Zell, Klagerede.

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und bekenne, der solle Teil und Gemeinschaft an seinem Tisch und Herberge haben, er wolle auch Teil und Gemeinschaft mit ihm in dem Himmel haben.18

Von Katharinas ebenfalls toleranter Haltung, von der nicht wenige vermuteten, dass sie die eigentlich treibende Kraft hinter der liberalen Einstellung ihres Mannes war, zeugen auch ihre anrührenden Besuche bei Melchior Hoffmann. Er war einer der unruhigsten unter den Täufern und einer Prophezeiung wegen nach Straßburg gekommen, denn er erwartete dort in Kürze die Wiederkunft Christi. Hoffmann wurde verhaftet und blieb bis zu seinem Lebensende zehn Jahre lang im Gefängnis. Katharina stimmte seiner Lehre nicht zu, aber sah es als einen Akt der Nächstenliebe an, den quasi lebendig Begrabenen zu besuchen. Noch zweimal hat Katharina öffentlich an einem Grab gepredigt. Beide Male am Sarg von Frauen, die kein lutherischer Pfarrer beerdigen wollte, da sie der Täuferbewegung angehörten. Denn Katharina Zell sah die Not und Bedrängnis, in die die Täufer auch von Seiten der lutherischen Glaubensstreiter geraten waren: Nun die armen Täufer, da ihr so grimmig, zornig über sie seid, und die Obrigkeit allenthalben über sie hetzt wie ein Jäger die Hund auf ein wildes Schwein und Hasen, die doch Christus den Herrn auch mit uns bekennen im Hauptstück, darinnen wir uns vom Papsttum getrennt haben, über die Erlösung Christi … und viel unter ihnen bis in das Elend, Gefängnis, Feuer und Wasser bekannt haben.19

So lautete ihre Auffassung. Damit begegnet sie uns, fünfhundert Jahre nach den Glaubenskämpfen, als eine moderne und liberale Theologin. Im Sommer des Jahres 2010 fand in Stuttgart ein historischer Akt statt. In einem Bußgottesdienst versöhnten sich der Lutherische Weltbund und die Mennonitische Weltkonferenz, ein Zusammenschluss der evangelischen Gemeinden, die aus der Täuferbewegung hervorgegangen sind. Vorausgegangen war diesem Bußgottesdienst ein einstimmig verfasstes Schuldbekenntnis der Lutheraner gegenüber den Mennoniten. In der Erklärung heißt es, die lutherischen Kirchen empfänden tiefes Bedauern und Schmerz über die Verfolgung der Täufer durch lutherische Obrigkeiten und besonders darüber, dass lutherische Reformatoren diese Verfolgung theologisch unterstützt haben… Im Vertrauen auf Gott, der in Jesus Christus die Welt mit sich versöhnte, bitten wir deshalb Gott und unsere mennonitischen Schwestern und Brüder um Vergebung für das Leiden, das unsere Vorfahren im 16. Jh. den Täufern zugefügt haben, für das Vergessen oder Ignorieren dieser Verfolgung in den folgenden Jh.n und für alle unzutreffenden, irreführenden und verletzenden Darstellungen der Täufer und Mennoniten, die lutherische AutorenInnen bis heute in wissenschaftlicher oder nichtwissenschaftlicher Form verbreitet haben.20 18 Füsslin, Briefwechsel, 270. 19 Bainton, Reformation, 78. 20 www.lwb-vollversammlung.org/uploads/media/Mennonite_Statement-DE.pdf.

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1558 veröffentlichte Katharina Zell ihr letztes Werk: Einen Trostbrief an Felix Armbruster mit einer Auslegung des 51. Psalms sowie des Vaterunsers. Felix Armbruster war ein ehemals hochangesehenes Ratsmitglied. Nun war er vom Aussatz befallen und lebte vor den Toren Straßburgs als Ausgestoßener. Einige Jahre zuvor hatte Katharina sich bereits aufopfernd einem anderen Kranken zugewandt, einem Neffen, mit dem sie gemeinsam einige Zeit in einem ”Blatternhaus” lebte. Über die katastrophalen Zustände in diesem Hospiz beschwerte sie sich in einem vernichtenden Bericht an den Rat der Stadt. Neben der couragierten Kritik der sozialen Missstände machte sie aber auch ganz praktische Vorschläge. Nicht nur eine materielle Versorgung der Kranken lag ihr dabei am Herzen, sondern sie forderte auch eine geistliche und seelsorgerliche Betreuung der Kranken ein. Es sollte aber einer am Morgen da sein, das Evangelium zu sagen oder zu lesen und mit ihnen beten … Am Morgen ist jeder Mensch geschickter, andächtiger und das Herz empfänglicher für göttliche Dinge … Es kommen (Leute) hinein, die das Vaterunser nicht können beten.21

Hier wird noch einmal deutlich, dass sowohl Katharina wie auch ihr Mann Matthäus Zell zeitlebens daran mitgearbeitet haben, die sozialen Bedingungen in Straßburg zu verbessern sowie für eine allgemeine Bildung und die Einführung eines Schulwesens zu sorgen. Katharina Zell machte darüber hinaus den Vorschlag, dass es neben einem Hausvater in einem Hospiz auch eine Hausmutter geben müsse. Damit regte sie ein Diakonenamt für Frauen an, doch dieser Vorschlag wurde nicht weiter aufgegriffen. Aus heutiger Sicht finden sich in Katharina Zells theologischem Werk bereits Ansätze zu dem, was feministischer Theologie wichtig ist. So las sie die Bibel bewusst aus der Perspektive einer Frau, wie ihre theologischen Auseinandersetzungen mit den paulinischen Schriften deutlich machen. Weibliche Gestalten der biblischen Tradition waren ihr Vorbild. Sie bezog sich nicht nur auf die Apostelin Maria Magdalena, auch Frauen wie die Mutter Jesu und deren Cousine Elisabeth waren für sie handlungsleitend. Aber auch alttestamentliche Figuren wie Judith und Abigail, die sich bei David für ihren Mann Nabal einsetzte, waren für sie weibliche Leitbilder. In ihrer Auslegung des Vaterunsers nimmt sie Bezug auf weibliche Gottesbilder : Gott könne auch mit einer Frau verglichen werden, die die Schmerzen der Geburt und die Freude, ein Kind zu stillen, kennt. So ist sie, die am 5. September 1562 starb, wahrhaftig eine Kirchen-Mutter gewesen, die nicht nur aktiv am Aufbau der evangelischen Kirche in Straßburg beteiligt war, sondern darüber hinaus in der Öffentlichkeit in Wort und Tat für das 21 Bainton, Reformation, 75.

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Evangelium eintrat. Dabei setzte sie für Frauen neue Akzente und lebte vor, wie eine gleichberechtigte Beteiligung von Frauen und Männern im Dienst der Kirche von Beginn der Reformation an hätte gestaltet werden können.

III.

Elisabeth von Braunschweig-Lüneburg – Regentin und Säugamme der Kirche

Sie war eine der bemerkenswertesten Frauen der Reformationszeit, denn in ihrem Leben verband sich politische Macht mit religiöser Überzeugung auf das Engste. Und so ist sie nicht nur als Reformationsfürstin in die Geschichtsbücher eingegangen, sondern auch als Schriftstellerin und gelehrte Laientheologin. Die Rede ist von Elisabeth von Braunschweig-Lüneburg. Sie verfügte als Frau über die politische Macht in ihrem Fürstentum die Reformation einzuführen und legte damit einen der Grundsteine zur Entstehung der hannoverschen Landeskirche, heute die zahlenmäßig größte in Deutschland. Aber sie gilt auch als Wegbereiterin der heutigen Klosterkammer Hannover, die als staatliche Behörde für mehr als 800 überwiegend unter Denkmalschutz stehende Gebäude sowie rund 10.000 Kunstgegenstände zuständig ist und über einen Jahresetat von ca. 25 Millionen Euro verfügt. Sie selber charakterisierte ihr Lebenswerk so: „Gottes Wort tat ich lieben und bracht’s in das Land. Vieles taten sie mir zuschieben, Unkost in meine Hand. Dennoch nach Gott’s Gefallen klinget hier noch Gottes Wort und gehet darin mit Schalle und ist allein mein treuer Hort.“22 Wer war diese Regentin, deren eigenes Leben durch die Erschütterungen der Reformationszeit auf das tiefste geprägt und deren Familie durch die konfessionellen Spaltungen immer wieder auf die Zerreißprobe gestellt wurde? Geboren wurde Elisabeth 1510 in Cölln, dem heutigen Berlin. Ihre Eltern, Kurfürst Joachim I. von Brandenburg und seine Frau Elisabeth von Dänemark, sorgten für eine gute Ausbildung, so dass ihre Tochter eine für Mädchen damals ungewöhnliche Schulbildung erhielt. Hier sollte die Grundlage für ihre spätere schriftstellerische Tätigkeit gelegt werden, denn Elisabeth war nicht nur eine einflussreiche Regentin, sondern gilt auch als eine der produktivsten deutschsprachigen Schriftstellerinnen der Frühen Neuzeit. Bereits als Fünfzehnjährige musste sie die elterliche Obhut verlassen, um den 40 Jahre älteren Herzog Erich I. von Calenberg-Göttingen zu heiraten, der verwitwet und kinderlos war. Auf dem Brautbild ist sie als eine schlanke, ganz in schwarz gekleidete Mädchengestalt mit einer Lilie in der Rechten als Symbol 22 Von der Goltz-Greifswald, Lieder, 196.

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ihrer Jungfräulichkeit zu sehen.23 Elisabeths Mann war erheblich älter als ihr eigener Vater und die ihr zugedachte Aufgabe war es, dem Land zum bislang fehlenden Erbfolger zu verhelfen. Bis zu ihrem 25. Lebensjahr hatte sie vier Kinder geboren: Die Töchter Elisabeth (1526), Anna Maria (1532) und Katharina (1534) sowie 1528 den ersehnten Stammhalter Erich II. Ihre Ehe wird als harmonisch beschrieben, auch wenn sie nicht von ernsten Krisen verschont blieb. So hatte sich ihr Mann nach einigen Jahren wieder seiner früheren Geliebten Anna Rumschottel zugewandt. Daraus erwuchs 1533 ein ernsthafter Ehekonflikt. Elisabeth, die nach der Entbindung von ihrer Tochter Anna Maria im Wochenbett erkrankt war, bezichtigte die Nebenbuhlerin der Zauberei und ließ sie als Hexe verfolgen. Die so Verfemte konnte sich zwar durch Flucht einer Strafe entziehen, aber einige ihrer vermeintlichen Helferinnen starben auf dem Scheiterhaufen. Elisabeth ging aus dieser Ehekrise gestärkt hervor. Hatte ihr bislang durch Ehevertrag nur das Amt Calenberg als Leibzucht und damit eigene Einkunftsquelle zugestanden, gestand ihr der reumütige Ehemann nun fast das gesamte Fürstentum Göttingen als eigenes Herrschaftsgebiet zu. Damit nahm sie neben ihm eine fast selbstständige Herrschaftsstellung ein. Nicht nur die Verfolgung Anna Rumschottels als Hexe wirft ein differenziertes Licht auf diese so bemerkenswerte Frau. Da sie letztendlich ihre religiöse Überzeugung über ihr politisches Handeln stellte, wurde ihr eigenes Leben zu einem einzigen Seismographen für die religiösen Veränderungen ihrer Zeit und ihres Territoriums. In diesem Sinn ist wohl auch die Denunziation ihrer eigenen Mutter zu sehen. Die 17-jährige Elisabeth, noch fest im katholischen Glauben verwurzelt, erfährt, dass ihre Mutter sich dem evangelischen Glauben zugewandt hat und verrät dies ihrem Vater. Dieser zwingt daraufhin seine Ehefrau, das Land zu verlassen und ins Exil zu gehen, in dem sie u. a. einige Zeit in Wittenberg lebte. Durch ihr Verhalten glaubte Elisabeth etwas Gutes getan zu haben, denn die Frage nach dem Seelenheil ließ ihr alles andere als nebensächlich erscheinen. Durch die Besuche bei ihrer Mutter in Wittenberg, mit der es zu einer Aussöhnung gekommen war, lernte sie Martin Luther kennen. Ein reger Briefwechsel folgte und im Jahr 1538 war es dann so weit: Zwei Wochen vor Ostern nahm sie in ihrer Residenz in Münden in Abwesenheit ihres Mannes selber das Abendmahl in beiderlei Gestalt und bekannte sich damit öffentlich zum evangelischen Glauben. Der katholisch gebliebene Erich I. reagierte darauf sehr tolerant. „Weil unsere Gemahlin uns in unserem Glauben nicht hindert, so wollen wir sie auch in ihrem Glauben ungehindert lassen“,24 soll er gesagt haben. So 23 Das Brautbild befindet sich im Kunstmuseum Stockholm, u. a. zu sehen unter http:// www.klosterkammer.de/html/pdf/kkh_geschichte_2010.pdf . 24 Bainton, Reformation, 135.

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lebte das Paar in seinen beiden letzten gemeinsamen Jahren in einer gemischt konfessionellen Ehe: Sie evangelisch, er katholisch. Erst als ihr Mann 1540 starb, machte sich Elisabeth daran, die Reformation in ihrem Territorium einzuführen. Dabei werden auch politische Gründe eine Rolle gespielt haben, denn schon seit längerer Zeit stand sie mit Philipp von Hessen, einem der führenden evangelischen Köpfe des Schmalkaldischen Bundes in regem Kontakt. Ihr Neffe, Herzog Heinrich von Braunschweig-Wolfenbüttel, Herrscher über das benachbarte Fürstentum und einer der entschiedensten Verfechter der katholischen Tradition, war durch den Tod seines Onkels per Testament einer der Vormünder des 12-jährigen Erich II. geworden. Dadurch erhoffte er sich eine nicht unbedeutende Einflussmöglichkeit im ebenfalls welfischen Fürstentum Calenberg-Göttingen. Elisabeth erkämpfte sich jedoch erfolgreich die alleinige Regentschaft für ihren noch unmündigen Sohn. Beraten durch Antonius Corvinus, der ihr von Philipp von Hessen zur Verfügung gestellt wurde und als erster Landessuperintendent unter ihrer Herrschaft fungierte, führte sie 1542 die Reformation in ihrem Gebiet ein. Sie erließ die von Corvinus verfasste Kirchenordnung und legte damit einen der Grundsteine für die Entstehung der späteren hannoverschen Landeskirche. Mit der im selben Jahr erlassenen Klosterordnung regelte sie die gesonderte Verwaltung des an die Landesherrin gefallenen Kirchenguts für kirchliche, schulische und mildtätige Zwecke. Daraus resultiert bis heute die Klosterkammer Hannover. Der Kirchenordnung hatte Elisabeth ein von ihr selbst verfasstes Vorwort vorangestellt. Nicht aus Neuerungssucht führe sie in ihrem Herrschaftsbereich die Reformation ein, sondern damit „Gottes Wort rein und lauter“25 gepredigt werde, betont sie. Sie beklagt die vorher herrschenden Missstände, denn keiner habe etwas gewusst vom rechten Gebrauch des Abendmahls, der Taufe oder dem Verständnis der Rechtfertigung vor Gott. Denn die Geistlichen seien „mit lauter Fabeln umgegangen“ und die Vergebung der Sünden wäre „um Geld“ verkauft worden. Da Kaiser Karl V. bislang noch keine Einigung in den Religionsfragen erzielt habe und sie als Fürstin für ihre Untertanen vor Gott Rechenschaft ablegen müsse, wolle sie dem Beispiel ihres Bruders Joachim II. von Brandenburg folgen. Bis zur Entscheidung eines freien Konzils über die religiös drängenden Fragen gelte die von ihr herausgegebene Kirchenordnung. Die Kirchenordnung ziert ein Porträt der 32-jährigen Regentin, selbstbewusst und gebieterisch ist sie mit Amtskette und federgeschmücktem Hut zu sehen.26 Sie steht auf dem Höhepunkt ihrer politischen Macht und schreibt sich durch ihren Erlass als „Reformationsfürstin“ in die Geschichtsbücher ein. Dieses bischöflich-geistige Amt, durch das sie sich direkt für das Seelenheil ihrer Un25 Vgl. von Braunschweig-Lüneburg, Mandat. 26 Vgl. http://www.klosterkammer.de/html/pdf/kkh_geschichte_2010.pdf.

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tertanen vor Gott verpflichtet sah, nahm sie überaus ernst. So begleitete sie ihren Landessuperintendenten Corvinus bei seinen Visitationen und achtete selber auf die theologische Bildung der Geistlichen in ihrem Territorium. In einem „Sendbrief an die Untertanen“ wandte sie sich zwei Jahre später direkt an die Bürger ihres Fürstentums und formulierte eine evangelische Ethik. Sie spricht in diesem Sendbrief alle Gesellschaftsgruppen ihres Fürstentums an, um sie in diesen bedrohlichen Jahren darauf einzuschwören: Das Vertrauen zu Gott steht über allem anderen. Sie weist ihre Untertanen auf die Zehn Gebote hin, damit diese sich in ihrem Lebenswandel selber prüfen mögen. Denn der erste Teil der Besserung sei die Erkenntnis der eigenen Sünde, der dann der Glaube und das Gebet folgen müssen. An den Adel gerichtet heißt es in ihrem Sendbrief: „Es gilt vor Gott wenig, dass man vor der Welt edel geboren, wenn man nicht gottselig und fromm dabei ist.“27 Die Pfarrer wiederum ermahnte sie „bei ihren Pfarrkindern mit ernster Bußpredigt“ fortzufahren. Schon ein Jahr später folgt aus ihrer Feder ein neues Werk, denn Elisabeth gilt nicht umsonst als eine der produktivsten Schriftstellerinnen der Neuzeit. In ihrem sowohl politischen wie auch mütterlichen Testament zum Regierungsantritt ihres Sohnes Erich II., für den sie sechs Jahre lang die Regierungsgeschäfte geführt hatte, reflektiert sie im Jahr 1545 die besondere Verantwortung eines Fürsten. 196 Seiten umfasst dieses Buch, von Elisabeth selber per Hand geschrieben und in silberbeschlagene Deckel gefasst. Selbstbewusst reiht sie sich im Einband in die Tradition der biblischen Frauengestalten Sarah und Ester ein. Zwei biblische Zitate sind auf dem Deckel zu finden. Die Vorderseite schmückt ein Wort aus 1. Mose 21, 12: „Gott sprach zu Abraham: Alles was Sara dir gesagt hat, dem folge“28. Auf der Rückseite ist ein Satz aus dem Buch Esther zu lesen: „Mordechai ging hin und tat alles, was ihm Ester geboten hatte.“ So wie Abraham und Mordechai den beiden Frauen gefolgt seien, so solle auch ihr Sohn den Worten einer Frau folgen, nämlich denen seiner Mutter. Ihm, den sie genau wie seine drei Schwestern evangelisch erzogen hatte, legte sie noch einmal die Zehn Gebote aus. Ergänzt wird diese Aufstellung durch neun Gebote für einen rechten Fürsten. In ihnen hält Elisabeth fest: Gott steht über allem, das Evangelium soll richtig gepredigt werden, die Geistlichen sind zu achten und die Zehn Gebote zu unterrichten. Außerdem soll sich ein rechter Fürst der Witwen, Waisen und armen Fremdlinge annehmen sowie sich um Siechenhäuser und Spitäler kümmern. Erich solle keine geistlichen Abwege betreten, dem Kaiser gegenüber sei er als seiner Obrigkeit zum Gehorsam verpflichtet. Allerdings mit der entscheidenden Einschränkung: So lange diese Obrigkeit nicht gegen Gottes Wort handle. Damit formulierte die Welfenfürstin die erste protestantische Staats27 Tschackert, Herzogin Elisabeth, 14. 28 Vgl. Tschackert, Herzogin Elisabeth, 22 ff.

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ethik überhaupt, die sie nicht nur ihrem Sohn zugedachte, sondern „allen jungen Herrn ein Anfang zu christlicher Regierung“ sein sollte. Hatte der protestantisch erzogene Erich II. zwar seiner Mutter wie seiner evangelischen Frau Sidonie von Sachsen versprochen, stets für die evangelische Seite einzutreten, so trat er doch bereits wenig später auf dem Reichstag zu Regensburg 1546 auf die Seite des katholischen Kaisers Karl V. Ein jahrelanger Streit mit seiner Mutter sollte dieser Entscheidung folgen, denn Erich II. stand in fundamentaler Opposition zu ihr. Er kämpfte im Schmalkaldischen Krieg 1546 – 1547 auf Seiten des Kaisers und nahm ein Jahr später das Augsburger Interim an. Dieses machte den Protestanten zwar einige Zugeständnisse wie die Austeilung des Abendmahls in Brot und Wein an alle Gläubigen und die Duldung der Priesterehe, schrieb aber ansonsten die Rückkehr zum römisch-katholischen Glauben vor. Erich II. trat zum katholischen Glauben über und rekatholisierte die Gebiete in seinem unmittelbaren Herrschaftsbereich. Die Gebiete der Leibzucht Elisabeths blieben auf Grund ihrer eigenen Machtstellung jedoch größtenteils verschont. Doch ihr Vertrauter Antonius Corvinus wurde 1549 von Erich gefangen genommen und blieb drei Jahre in Haft. Ein Jahr nach seiner Freilassung starb Corvinus 1553 an den Folgen der Gefangenschaft. Elisabeth hatte sich 1546 erneut verheiratet mit dem Grafen Poppo zu Henneberg, einem Schwager ihrer ältesten Tochter Elisabeth. In ihrer Residenz in Münden wurde Hochzeit gehalten, den über kein sonderlich großes Vermögen verfügenden Poppo beschenkte seine Frau mit wertvollen Pretiosen. Für ihre Tochter Anna Maria, die 1550 Albrecht von Preußen heiratete, verfasste sie im selben Jahr ein Ehestandsbuch. In dieser – wiederum per Hand verfassten Schrift – zeigt sich die ansonsten so selbstbewusste Fürstin als Kind ihrer Zeit. Ganz den einschlägigen Bibelstellen aus dem 1. Korinther- und dem Epheserbrief verpflichtet, schreibt sie zum Verhältnis von Mann und Frau in der Ehe: „Da wird der Frauen alle ihr Wille genommen und unter des Mannes Gehorsam gelegt, also das sie keinen freien Willen haben soll als allein des Mannes Willen.“29 Sie kennt allerdings auch hier eine Einschränkung: Richtet sich der Wille des Mannes gegen Gottes Gebot, so ist die Frau ihm ihrer Meinung nach nicht mehr zum Gehorsam verpflichtet. Gestiftet sei die Ehe von Gott, so Elisabeth, damit der Mensch nicht allein lebe, sondern „bequemlich und wohl sein Leben“ mit einem Gegenüber verbringe, die Menschen sich vermehren und „böse Lüste“ vermieden werden. Die Verheißungen der Ehe gelten Frau und Mann: Die Frau wird selig werden, wenn sie Kinder gebärt und im Glauben bleibt, dem gottesfürchtigen Mann wird verheißen, dass Gott für seine Nachkommen sorgen wird. Als fatal sollte sich Elisabeths Verstrickung in die Schlacht von Sievershausen bei Lehrte erweisen. In dieser blutigsten Auseinandersetzung der gesamten 29 Vgl. Tschackert, Herzogin Elisabeth, 44 ff.

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Reformationszeit mit 30.000 Kämpfern und mehr als 4.000 Toten unterlag ihr Bündnispartner Albrecht Alcibiades von Brandenburg-Kulmbach. An der Seite Erich II., der sich zwischenzeitlich wieder seiner Mutter angenähert hatte, kämpfte Albrecht gegen Heinrich von Braunschweig-Wolfenbüttel und Moritz von Sachsen. Die beiden ältesten Söhne Heinrichs starben in dieser Schlacht. Moritz von Sachsen, Bruder Sidonie von Sachsens und damit Erichs Schwager, erlitt tödliche Verletzungen. Elisabeth selber verlor all ihre Besitztümer und Rechte; so hatte es Heinrich im Friedensvertrag verfügt. Sie musste ihre Residenz verlassen und zog mit ihrer jüngsten Tochter Katharina nach Hannover. Hier lebte sie – trotz des Verkaufs ihres persönlichen Schmuckes – in hoher Verschuldung gegenüber den Bürgern Hannovers. Nach zwei Jahren voller demütigender Beschränkungen verließ sie im Frühjahr 1555 für immer ihr Land, um auf dem thüringischen Besitz ihres Mannes in Ilmenau noch drei Jahre lang ein bescheidenes Leben zu führen. Sie verfasste in dieser Zeit ein Witwentrostbuch, das bis 1609 in insgesamt fünf Auflagen erschien. Mit dieser Schrift wollte die 46-jährige andere Frauen in ihrem Witwentum trösten, indem sie von ihren eigenen Erfahrungen als Witwe berichtete. Wie sie schreibt, habe es in allen Zeiten ihres Lebens nichts Tröstlicheres gegeben „als das feste Vertrauen zu Gott und seinem Wort.“30 Wie auch in ihren früheren Schriften reflektiert sie ihr Thema, hier das Witwentum, ausführlich auf dem Hintergrund der Heiligen Schrift. Sie zeigt auf, wie Gott für Witwen und Waisen sorgt und sie beschützt, wie er Menschen straft, die Witwen und Waisen bedrängen und sie erläutert das rechte Verhalten einer Witwe. Die Ethik spielt also auch im letzten ihrer Werke eine große Rolle. Erfahrungsgesättigt beendete sie diese letzte Schrift mit den Worten: „Sünde vermeiden – ist ein Schrein; Geduld im Leiden – lege drein; Gut für Arges – tu dazu; Freude in Armut – Nun schließ zu.“ Ihre körperlichen und geistigen Kräfte nahmen stetig ab, Zeichen des Verfalls wurden immer deutlicher. Tobsuchtartige Anfälle ließen zunehmend an ihrer seelischen und geistigen Gesundheit zweifeln. Umsorgt von ihrem Ehemann Poppo starb sie am 25. Mai 1558 als 48-Jährige nach einem Leben, in dem die Umbrüche der Reformationszeit tiefe Spuren hinterlassen hatten. Sie war eine ungewöhnliche Frau und bischöfliche Regentin im Sinne des von Martin Luther geforderten Priestertums aller Gläubigen. In zahlreichen Schriften hat sie mit großem laientheologischen Sachverstand für die Reformation gestritten. Ihre kirchenreformerischen Maßnahmen haben sich als dauerhafter erwiesen, als sie selbst in ihrem Leben wohl zu hoffen wagte. Denn trotz der katholischen Kirchenpolitik ihres Sohnes blieb vor allem in den größeren Städten ihres Territoriums der evangelische Einfluss unumkehrbar. Und so konnte Herzog Julius von Braunschweig-Wolfenbüttel, der nach dem Tod 30 Ebd.

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Erichs II. das Fürstentum Calenberg-Göttingen erbte und auf diese Weise die beiden Teilfürstentümer wieder vereinte, das begonnene Werk seiner Großtante Elisabeth vollenden. Unter seiner Herrschaft festigte sich der evangelische Glaube in seinem gesamten Herzogtum.

IV.

Fazit

In den theologischen Grundsätzen der Reformation gab es prinzipiell viele Motive, die zu einer größeren Emanzipation von Frauen hätte führen können, wie an den Biographien dreier Protagonistinnen der frühen Neuzeit deutlich gemacht wurde. So bot die zentrale reformatorische Überzeugung des „Priestertums aller Glaubenden“ Anschlussmöglichkeiten für Frauen, die sich theologisch artikulierten und in den Disput der männlichen Gelehrten eingriffen. Auch das Schriftprinzip bot Emanzipationsmöglichkeiten für Frauen. Denn jede Christin, jeder Christ konnte und sollte Bibelstudien betreiben und sich ein selbstverantwortetes Urteil bilden. Gerade zu Beginn der Reformation ließen sich von diesem Prinzip des „sola scriptura“ nicht wenige Frauen dazu ermutigen, ihre theologischen Erkenntnisse selbstbewusst und wortgewandt in die Öffentlichkeit zu tragen. Nach den Aufbrüchen der frühen Reformationszeit folgten aber in Bezug auf eine Emanzipation von Frauen innerhalb der protestantischen Kirche Jh. der Stagnation. Erst durch die Frauenbewegung des 20. Jh., zu der auch Frauen in der Kirche ihren Beitrag leisteten, verwirklichte die evangelische Kirche in Deutschland diese Möglichkeiten einer gleichberechtigten Teilhabe von Frauen und Männern am Leben und Wirken der Kirche.

Literatur Bainton, R., Frauen der Reformation. Von Katharina von Bora bis Anna Zwingli, Gütersloh 1996. Domröse, S., Frauen der Reformationszeit, Göttingen 22011. Füsslin, J.-C., Briefwechsel Frauen Catharina Zellin von Straßburg und Herrn Ludwig Rabus, Superintendenten zu Ulm., in: J. C. Füsslin, Beyträge zur Erläuterung der Kirchen-Reformations-Geschichte des Schweitzerlandes, 5. Theil, Zürich 1753. Gause, U., Der weite Weg ins Pfarramt – Frauen zur Reformationszeit, http://www.luther2017.de/18659/der-weite-weg-ins-pfarramt-frauen-zur Reformationszeit (abgerufen 29. 10. 2012). Halbach, S., Argula von Grumbach als Verfasserin reformatorischer Flugschriften, in: Europäische Hochschulschriften 468, Frankfurt a.M. 1992. Kaufmann, Th., Geschichte der Reformation, Frankfurt a.M./Leipzig 2009.

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Luther, M., Luthers Werke in Auswahl, Bd. 8, O. Clemen (Hg.), Berlin 1966. Lutherischer Weltbund, Texte zur Vollversammlung des Lutherischen Weltbundes 2010, Beschlussfassung zum Erbe der lutherischen Verfolgung von Täuferinnen und Täufer, http://www.lwbvollversammlung.org/uploads/media/Mennonite_Statemen tDE.pdf, (abgerufen 1. 11. 2012). Tschackert, P., Herzogin Elisabeth von Münden, geborne Markgräfin von Brandenburg, die erste Schriftstellerin aus dem Haus Brandenburg und aus dem braunschweigischen Hause, ihr Leben und ihr Werk, Leipzig, Berlin 1899. Von Braunschweig-Lüneburg, E., Der Durchleuchtigen/Hochgebornen Fürstin un Frawen/Frawen Elizabeth geborne Marckgräffin zu Brandenburg etc. Hertzogin zu Braunßweig und Leunenberg beschlossen und verwilligtes Mandat/in jrem fürstenthumb gottes wort auffzurichten/und irrige/verfürte leer außzurotten/belanget, 1542. Von der Goltz-Greifswald, Lieder der Herzogin Elisabeth von Braun schweig-Lüneburg, Gräfin von Henneberg, Zu Hannover von 1553 – 1555 gedichtet, in: Zeitschrift der Gesellschaft für niedersächsische Kirchengeschichte, Bd. 19, Braunschweig 1914, 1. 196. Von Grumbach, A., Schriften, P. Matheson (Hg.), Gütersloh 2010. Zell, K., Entschuldigung Katharina Schützinn, 1524. –, Klag red und ermahnung Catharina Zellin zum volk bey dem grab m: Matheus Zellen pfarer zum münster zu Straßburg, 1548.

Susanne Wendorf-von Blumröder

„Es fehlt kein Pastor, nur Vikarin Kimm“

Dieses Zitat aus dem Protokoll der Pfarrkonferenz des Kirchenkreises Wesermünde-Stadt, jetzt Kirchenkreis Bremerhaven, benennt die Abwesenheit der Vikarin Minna Kimm bei dieser Zusammenkunft am 24. Juni 1947. Es kann gleichzeitig für die Bewegung in der Dionysiuskirchengemeinde Wulsdorf stehen, die nach dem 2. Weltkrieg gern die Pfarrstelle der Kirchengemeinde mit der Frau Vikarin besetzt hätte. 225 Unterschriften wurden im Frühjahr 1948 gesammelt, aber das im Dezember 1948 von der Ev.-luth. Landeskirche Hannovers erlassene Vikarinnengesetz wog stärker. Es gab den Rahmen vor, der die Tätigkeit von Theologinnen, die im Krieg einen großen Anteil daran hatten, dass das kirchliche Leben aufrechterhalten werden konnte, wieder einschränkte. Daran konnte weder eine engagierte Theologin, noch ein Kirchenvorstand, noch ein Superintendent etwas ändern. Die Akte der Vikarin Kimm im Archiv des Kirchenkreises Bremerhaven gibt einen Einblick in die Praxis und Denkweisen, die den beruflichen Alltag der Theologinnen in der Mitte des vergangenen Jh. bestimmt haben. Im Mai 1949 ist mit GG Art. 3 Abs. 2 die Gleichberechtigung von Männern und Frauen als Grundrecht in die Verfassung aufgenommen worden. Im Bereich der EKD war die Gleichstellung von Pastoren und Pastorinnen bis auf wenige Ausnahmen ab 1978 Gesetz.1

I.

Der Beginn der Berufsgeschichte der Theologinnen

Seit Anfang des 20. Jh. war es in Deutschland für Frauen möglich sich an den Universitäten zu immatrikulieren, auch in Theologie.2 Ende der 1920er Jahre begannen die Landeskirchen Anstellungsmöglichkeiten für Theologinnen zu 1 Hummerich-Diezun, Berufsgeschichte, 469 f. 2 Henze, Anfänge, 32.

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Susanne Wendorf-von Blumröder

schaffen. Das Amt der Pfarramtshelferin wurde eingeführt.3 Die Hannoversche Landeskirche regelte im Mai 1930 mit einem Kirchengesetz die Vorbildung der Pfarramtshelferinnen (Studium der Theologie und zweieinhalb Jahre „Vorbereitung in die Arbeit der Inneren Mission, der Wohlfahrtspflege und ähnlicher Gebiete“, Abschluss jeweils mit Erstem bzw. Zweitem Examen),4 mit einem zweiten Kirchengesetz die Anstellung der Pfarramtshelferinnen. Hier heißt es: Die Pfarramtshelferin ist befugt 1. Zur Wortverkündigung im Kindergottesdienst, in Bibelstunden, Bibelsprechstunden und Andachten, vornehmlich für Frauen, 2. Zur Seelsorge vornehmlich an Frauen, insbesondere in Mädchenheimen, Frauenanstalten, Krankenhäusern, Siechen- und Altersheimen und in Strafanstalten für weibliche Gefangene, 3. Zum Unterricht der Jugend. Sie ist nicht befugt zur pfarramtlichen Tätigkeit im Gemeindegottesdienste, zur Verwaltung der Sakramente, sowie zur Vornahme der anderen nur vom Pfarrer zu vollziehenden Handlungen. Die in §6 beigelegten Befugnisse der Pfarramtshelferin ruhen während der Ehe, in besonderen Fällen kann das Landeskirchenamt Ausnahmen zulassen […] Die Pfarramtshelferin erhält die Amtsbezeichnung Vikarin […] vor der erstmaligen Anstellung findet eine Einsegnung zum Dienste der Pfarramtshelferin durch den zuständigen Generalsuperintendenten statt. Die Einführung erfolgt durch den Superintendenten.5

Man mühte sich in allen Landeskirchen mit theologischen Argumenten, die oft genug mit Diskussionen über das Wesen der Frau und das Lehrverbot 1. Kor 14,33 – 36 geführt wurden.6 Man mühte sich mit Unterschieden. So gab es für die Theologinnen eine den Theologen entsprechende Ausbildung und Prüfungen, aber die Einsegnung statt der Ordination, den Zölibat statt Ehe und Familie im Pfarrhaus, das schwarze Kleid an Stelle des Talars, und wenn sie einen Talar trugen, dann war es die Frage, ob er mit oder ohne Beffchen getragen werden sollte. Die ersten Theologinnen haben so manche Hürde, die ihnen zur Ausübung ihres Berufes auferlegt wurde, mit langem Atem in der Diskussion aber auch mit phantasievollen Provokationen genommen. In Deutschland wurden als erste Frauen am 12. Januar 1943 Hannelotte Reiffen und Ilse Härter in Sachsenhausen von Kurt Scharf, Präses der BK BerlinBrandenburg, ohne Einschränkungen ordiniert,7 der Talar aber sollte ihnen verweigert werden. Also provozierten sie. „In schrillen roten und grünen Kleidern gingen sie zur Vorbereitung ihrer Ordination und fragten an, ob sie denn in

Köhler, Theologinnengesetzgebung, 122 f. KABl 1930, 57. KABl 1930, 60. Brunner, Gutachten, 117 – 131 und Jacobi, Ordinationsformular, 138; Herbrecht, Emanzipation, 75ff; Globig, Frauenordination, 49ff; Konvent, Weib, 8 – 33; zum aktuellen Stand in der Ökumene zur Frauenordination s. Nüssel/Sattler, Einführung, 100 ff. 7 Köhler, Meilenstein. 3 4 5 6

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diesen Gewändern erscheinen sollten. Daraufhin wurde allen Amtierenden das Tragen des Talars genehmigt.“8 In der hannoverschen Landeskirche sieht erst das „Pastorinnengesetz“ von 1964 die Ordination vor.9 Es gibt aber Ausnahmen. Im Februar 1937 ist Margarete Daasch im Sprengel Calenberg ordiniert worden, weil die Formulare verwechselt wurden, sie blieb allerdings Vikarin.10 Im Jahr 1953 ist auch die Ordination von Hilde Schneider in der Christuskirche Bremerhaven angeordnet worden, hier wurde der bereits ausgefüllte „Ordinationsschein“ zum „Einsegnungsschein“ korrigiert.11 Sieben Theologinnen haben in Bremerhaven12 gearbeitet, bis im Februar 1964 freudig verkündet werden konnte: „Bremerhaven wird demnach bald die erste Pastorin bekommen. Das wird Frau Gerda Friedmann sein, die z. Zt. als Kirchenkreisvikarin in unserer Stadt tätig ist.“13 Die Namen der Theologinnen sind: Fräulein Günter, cand. theol., 193814 ; Minna Kimm, 1938 – 1950; Lina Ippensen, 1940 – 1946, Helene von Viebahn, 1940 – 1946, Gerda Voß, 1951 – 1952, Hilde Schneider, 1953 – 1959, Eta Linnemann, 1960 – 1961.

II.

Die erste Vikarin in Bremerhaven

Minna Anna Maria Kimm wurde am 26. 4. 1910 in Duisburg geboren. In Göttingen legte sie 1930 am Städtischen Oberlyceum ihr Abitur ab, studierte dort sowie in Marburg und Wien vom Sommersemester 1930 bis zum Sommersemester 1935 in den Semestern 1 – 5 Theologie und Naturwissenschaften, in den Semestern 6 – 10 allein Theologie. Ihre Erste Theologische Prüfung bestand sie nach dreitägiger Prüfung am 20. September 1935, ihr Lehrvikariat fand vom 1. 11. 1935 bis zum 31. 7. 1936 an St. Albani Göttingen bei Konsistorialrat Wieba statt, die Prädikantenzeit vom 1. 8. 1936 bis 1. 4. 1937 ebenfalls in St. Albani Schatz-Hurschmann, Kleider, 293; Foto s. Köhler, Himmel, 52. KABl, 1964, 25. Blatz, Daasch, 558. Schmidt, Riga, 229; Köhler, Himmel, 132; einen Ordinationsschein erhielt auch Gertrud Schäfer in Thüringen, s. Konvent, Weib, 16. 12 Ich benutze den heutigen Namen der Stadt Bremerhaven, die von 1924 bis 1947 den Namen Wesermünde hatte. In den Quellen zitiere ich jeweils den dort genannten Namen. Mit „Bremerhaven“ wäre hier ausschließlich das Gebiet des heutigen Stadtteils BremerhavenMitte gemeint. Der heutige ev.-luth. Kirchenkreis Bremerhaven ist aus dem Kirchenkreis Wesermünde Stadt entstanden. Der wiederum ergab sich aus der Neuordnung der Kirchenkreise im Jahr 1940 als aus den ehemaligen Kirchenkreisen Wulsdorf und Lehe die Kirchenkreise Wesermünde-Stadt, -Süd und-Nord wurden. 13 Geestemünder Gemeindebote, 2; Gerda Voß war seit 1963 in Bremerhaven. 14 Genannt ist jeweils die Zeit ihres Dienstes in Bremerhaven.

8 9 10 11

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Göttingen. Ein weiteres Lehrvikariat vom 16. 4. 1937 bis 31. 8. 1938 verbrachte sie an der St. Johanneskirche Göttingen bei Superintendent Lueder. Die Zweite Theologische Prüfung legte sie vom 22.–23. März 1938 ab.15 Am 22. Mai 1938 wurde sie in der Christuskirche Wesermünde-Geestemünde von Landessuperintendent Wiebe eingesegnet. Bevor es dazu kam, waren einige Fragen zu klären. Der Briefwechsel zwischen Superintendent Wilhelm Wendebourg und dem Landeskirchenamt der hannoverschen Landeskirche zeigt, dass die Auslegung des Kirchengesetzes von 1930 in der Praxis erst geübt werden musste. Wendebourg: Wie Herr Oberlandeskirchenrat Stalmann mir mitgeteilt hat, ist Fräulein cand. min. Minna Kimm als Vertretung für Fräulein cand. theol Günter, die zum Zwecke der Vorbereitung auf ihr 2. theologisches Examen den hiesigen Kirchenvorstand um Beurlaubung gebeten hat, vorgesehen. Der Kirchenvorstand hat sich mit dieser Regelung einverstanden erklärt und Fräulein Günter ab 15. April 1938 bis zur Ablegung ihrer Prüfung beurlaubt. Danach steht einer Entsendung von Fräulein Kimm als Vikarin nach Wesermünde-G. zum 15. April nichts im Wege.16

Das Landeskirchenamt bittet: Wir ersuchen ergebenst uns eine Dienstanweisung zur Genehmigung vorzulegen und gegebenenfalls besondere Wünsche betr. Anstellung noch zu äussern. Wir werden dann die der Pfarramtshelferin zu machende Eröffnung festlegen, und dem Kirchenvorstand mit dem Ersuchen um eine Erklärung zuleiten, dass auch er entsprechend dieser der Pfarramtshelferin zu machenden Eröffnung verfahren wird. Wir würden uns freuen, wenn der Kirchenvorstand möglichst bald das Erforderliche veranlassen könnte.17

Klärungsbedarf besteht zu folgenden Fragen: 1. Wie hoch ist das Gehalt, das Fräulein Kimm zusteht? Fräulein Günter bekam als Prädikantin nur ein Gehalt, das der Entschädigung der früheren Jugendpflegerin entsprach. 2. Ist Fräulein Kimm versicherungspflichtig? (Krankenkasse, Angestelltenversicherung). 3. Soll die nach dem Kirchengesetz vom 1. Mai 1930 §10 vorgesehene Einsegnung hier in der Christuskirche geschehen?18

Die Versicherungsfragen werden klar bejaht (Krankenkasse und Angestelltenversicherung), gegen die Einsegnung in der dortigen Christuskirche bestehen keine grundsätzlichen Bedenken. Zur Gehaltsfrage allerdings wird erläutert:

15 16 17 18

Akte Wulsdorf, Personalbogen vom 12. Dezember 1944. Akte Geestemünde/Marien, Abschrift 6. April 1938, Wendebourg an LKA. Ebd., Abschrift 4. April 1938, OLKR Stalmann an Wendebourg. Ebd., Abschrift 4. April 1938, Wendebourg an LKA.

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Es gibt bisher keine feste Gehaltsordnung für Pfarramtshelferinnen. Bei der Anstellung einer Pfarramtshelferin in Goslar ist vorgesehen, dass die nach Gruppe A 7 a der Reichsbeamten besoldet wird. Die Pfarramtshelferin würde danach ein Gehalt von jährlich 2.350 – bis 3.500 –RM. abzüglich 19 % plus Ortszuschlag erhalten.19

Minna Kimm kommt nach Bremerhaven. Vor ihrer Einsegnung wird sie von Landessuperintendent Wiebe verpflichtet. Die Verpflichtung zur Pfarramtshelferin, mit der sie zur Vikarin ernannt wird, enthält Angaben über ihren Dienstort, Dienstantritt, Modalitäten für eine Beendigung des Dienstverhältnisses, den Hinweis auf Dienstanweisung und Dienstaufsicht, Urlaubsansprüche, Gehalteinstufung, Dienstalter, Fortzahlen der Dienstbezüge im Krankheitsfall, Pflicht zur Verschwiegenheit, Genehmigungspflicht einer Nebenbeschäftigung sowie den Hinweis auf das Kirchengesetz vom 1. 5. 1930.20 Auch die Dienstanweisung, die für sie erstellt und genehmigt wird, entspricht dem Gesetz von 1930. Die Dienstanweisung ist in zwei Versionen und Abschriften erhalten. Bei der 1. Version handelt es sich wahrscheinlich, da sie vor der unterschiebenen Version steht, um den vom Kirchenvorstand eingereichten Entwurf. Hier ist zum ersten Mal zaghaft die sich im Laufe der Zeit verfestigende Tatsache zu erkennen, dass Kirchenvorstände und die Geistlichen vor Ort, den Theologinnen großzügiger Rechte zugestehen als das Landeskirchenamt, dem alle Dienstanweisungen zur Genehmigung vorgelegt werden müssen. Vorläufige Dienstanweisung für die Pfarramtshelferin Wesermünde-Geestemünde. [Entwurf: Dienstanweisung für …] Die Pfarramtshelferin wird angestellt, um die Pastoren in bestimmten Arbeitsgebieten, besonders in der weiblichen Jugendarbeit, zu ergänzen und zu entlasten. [Entwurf: … wird eingestellt, um die Pastoren in bestimmten Arbeitsgebieten zu ergänzen und zu entlasten. Sie untersteht wie die übrigen Geistlichen dem zuständigen Superintendenten von Wesermünde-Geestemünde.] Ihr werden folgende Gebiete übertragen: 1. Jugendarbeit a) Kindergottesdienst: Die Pfarramtshelferin übernimmt den Kindergottesdienst in der Christuskirche nebst der entsprechenden Vorbereitung des Helferkreises b) Konfirmandenunterricht: Über ihre Teilnahme am Konfirmandenunterricht für Mädchen soll später entschieden werden. [Entwurf: b) Konfirmandenunterricht: Die Pfarramtshelferin übernimmt den Vorkonfirmandenunterricht für Mädchen im 1. Bezirk der Marienkirche.] c) Arbeit mit der weiblichen Jugend: Die Pfarramtshelferin übernimmt die Arbeit an der schulpflichtigen und konfirmierten weiblichen Jugend der Gesamtgemeinde in Geestemünde in je zwei Gruppen der Christuskirche – wie in der Marienkirchen19 Ebd., Abschrift 9. April 1938, OLKR Stalmann an Sup. Wendebourg. 20 Ebd., Abschrift Verpflichtungsprotokoll vom 22. Mai 1938.

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Bezirke. [Entwurf: … übernimmt die Arbeit an der schulpflichtigen und konfirmierten weiblichen Jugend der Gesamtgemeinde Geestemünde.] 2. Gemeindearbeit a) Gemeindebesuche: Die Pfarramtshelferin hat bei den Eltern der betreuten Jugend Hausbesuche zu machen und, soweit möglich, Fühlung zu nehmen mit den Gemeindegliedern. b) Frauenarbeit: Sie hat die Frauenhilfe des 1. Bezirkes der Christuskirche zu leiten, einen Mütterdienst in dem 2. Bezirk der Marienkirche aufzubauen und in jeder Frauenhilfe vierteljährlich je einen Vortrag oder eine Bibelbesprechung zu halten. [Entwurf: Die Pfarramtshelferin hat in jeder Frauenhilfe der Gesamtgemeinde Geestemünde vierteljährlich je einen Vortrag oder eine Bibelbesprechung zu halten und hat in dem 2. Bezirk der Marienkirche einen Mütterdienst aufzubauen.] 3. Krankenhausseelsorge: Die Pfarramtshelferin hat die Frauenstationen des städtischen Krankenhauses in Geestemünde zu besuchen und die zuständigen Pastoren über die dort liegenden Schwerkranken auf dem Laufenden zu halten. [Entwurf: Die Pfarramtshelferin hat im Städtischen Krankenhaus von Geestemünde alle 14 Tage den Predigtgottesdienst zu halten und die Frauenstationen zu besuchen. Die zuständigen Pastoren sind über die dort liegenden Schwerkranken ihres Bezirks auf dem Laufenden zu halten.] Hannover, den 20. Mai 1938 Das Landeskirchenamt der ev.-luth. Landeskirche Hannovers21

Die Dienstanweisung entspricht den damaligen Bestrebungen für die Theologinnen ein eigenes Amt zu schaffen als Unterstützung zum Pfarramt, also ohne Anweisung zur Wortverkündigung und zur Sakramentsverwaltung. Minna Kimm wird im November 1938 auf Wunsch des Kirchenvorstandes von Wesermünde-Geestemünde fest angestellt, die Beschränkung ihrer vorläufigen Anstellung bis Ende September wird aufgehoben. Superintendent Wendebourg fragt an, in welcher Weise Fräulein Kimm, die im Frühjahr durch den Herrn Landessuperintendenten Wiebe hier in der Christuskirche eingesegnet worden ist, hier noch eingeführt werden muss. Und ferner : Ist Fräulein Kimm ordentliches Mitglied des Konventes?22

Die Mitgliedschaft im Konvent wird im Kirchengesetz von 1930 nicht erwähnt, es ist die wichtigste Erneuerung im Vikarinnengesetz von 1948, das den Vikarinnen einen Gaststatus im Konvent zugesteht.23 Die Anwesenheit der Vikarin Kimm bei der Pfarrkonferenz ist in Protokollen von 1938 bis 1950 belegt.24 Eine 21 22 23 24

Akte Geestemünde/Marien, Abschrift Dienstanweisung vom 20. Mai 1938. Akte Geestemünde/Marien, Abschrift 4. November 1938, Wendebourg an LKA. KABL 1948, 115. Die Anwesenheit wird nicht konsequent protokolliert. Am 25. 4. 1938 stellt sie sich in der

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Einführung wurde während ihrer wechselnden Tätigkeit in Bremerhaven nie durchgeführt, weder zu Beginn, da kam sie ja nur als Vertretung, noch zu ihrer Stellenübernahme, da war sie ja schon längere Zeit in Geestmünde tätig, noch zu Beginn ihres Dienstes in Wulsdorf, der war eine Ausnahme im Krieg, und danach, da war sie wieder schon zu lange in dieser Stelle tätig. Mit ihrer Festanstellung 1938 musste das Gehalt verhandelt werden. Es entfällt der Abzug vom Gehalt nach Gruppe A7 a der Reichsbeamten. Darin sind sich alle einig. Der Ausschuss des Gesamtverbandes hat beschlossen, ihr mit der Festanstellung „die Bezüge eines Hilfsgeistlichen der untersten Gruppe zu gewähren.“25 Die Finanzabteilung des Landeskirchenamtes hält es nicht für berechtigt, ihr dieses Gehalt zu zahlen, es soll bei einem Bruttogehalt von 186,27 RM (Gruppe A 7 a der Reichsbeamten) bleiben. Das Gehalt eines Hilfsgeistlichen lag bei 206,– RM. Superintendent Wendebourg erreicht, dass ihr ein Mietzuschuss in Höhe von 60,– – RM. gewährt wird und fragt „ganz ergebenst an, ob Sie gewillt sind, unter den von der Finanzabteilung vorgeschlagenen Gehaltsbedingungen das Amt einer Pfarramtshelferin in Geestemünde endgültig zu übernehmen.“26 Im Juni 1939 stimmt Minna Kimm dem ihr gemachten Vorschlag zu, schreibt aber, dass das „aus mancherlei Gründen nur als eine vorläufige Regelung angesehen werden [kann … Immerhin] beginnt das Dienstalter ja wohl am 15. April 1938“27 erinnert sie an die gemeinsame Basis und setzt sich nach einigen Monaten mit ihren Anliegen durch. Ab September 1939 bekommt sie das Gehalt eines Hilfsgeistlichen in Höhe von 206,– RM. zuzüglich einem entsprechenden Wohnungsgeld.28 Die Dienstanweisung wird mit der Festanstellung nicht geändert. Seit ihrem Dienstantritt haben die Aufgaben einer Theologin Konturen bekommen. Es entsteht eine wachsende Sicherheit über den Sinn und Erfolg ihrer Arbeit. Wendebourg schreibt: Im Laufe der 1 12 Jahre, das Frl. Kimm hier tätig ist, ist uns Geistlichen der Kirchengemeinde Geestemünde deutlich geworden, dass eine Pfarramtshelferin wie Fräulein Kimm diejenigen Aufgaben, die unsere frühere Jugendpflegerin und die eine Gemeindehelferin wahrnimmt, wie es verständlich ist, zurückstellt. Immer mehr ist Fräulein Kimm hineingewachsen in einen Aufgabenkreis, der über die Gemeinde hinausreicht. Durch die Arbeit in der Frauenhilfe, durch Vorträge und Bibelkurse, die sie in vorbildlicher Weise gehalten hat, ist sie immer mehr tätig geworden in allen

25 26 27 28

Konferenz vor, vom 8. Mai 1940 bis zum 29. März 1950 ist ihr Name in den Anwesenheitslisten zur Pfarrkonferenz zu finden, s. Stadtkirchenkonferenz, 4 – 36. Akte Geestemünde/Marien, Abschrift 4. November 1938, Wendebourg an LKA. Ebd., Abschrift 24. 4. 1939, Wendebourg an Kimm. Ebd., Abschrift 7. Juni 1939, Kimm an Wendebourg. Ebd., Abschrift 25. 10. 1939, Beschluss der Finanzabteilung des LKA; Ebd., Abschrift 18. November 1939, Eröffnung durch LS Wiebe.

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Gemeinden der Stadt Wesermünde. Es ist mir infolgedessen fraglich, ob es zweckmässig ist, dass Fräulein Kimm nur gemeindeseitig angestellt wird, und ob es nicht richtiger wäre, sie als Stadtvikarin anzustellen. Dieser Gedanke liegt umso näher, als man auch in Lehe in Erwägung darüber eingetreten ist, ob man nicht früher oder später eine theologische weibliche Kraft gewinnen möchte.29

Seine wertschätzenden Worte werden von stellenplanerischen Überlegungen abgelöst, er möchte eine Stelle einer Stadtvikarin schaffen und zwei Stellen für Gemeindehelferinnen. Das Ganze sei „allerdings eine finanzielle Frage, die in der gegenwärtigen Kriegszeit nicht gelöst werden kann.“30

III.

Zur politischen und kirchlichen Haltung zwischen NSDAP und Bekenntnis

Die Entwicklung der Perspektiven für Theologinnen geschieht in Kriegszeiten. Einen kleinen Eindruck vom kirchlichen Leben in dieser Zeit geben die Protokolle der Pfarrkonferenzen. 14. September 1939, nachmittags 4 12 in Lehe: Die Konferenz bespricht die durch den Krieg geschaffene Lage der Kirchengemeinden und die gottesdienstliche Versorgung derselben. Die Schwierigkeit der Abhaltung der Konfirmandenstunden, die Durchführung von Konfirmandenstunden, Kriegsbetstunden, ja der Gottesdienste bei Fliegerangriffsgefahr wurde beraten. Der Versand von Heimatbriefen an die eingezogenen Gemeindeglieder wie die Vertretung der zum Militär einberufenen Amtsbrüder wird erörtert.31

Im Rückblick heißt es 1958: „Einen schweren Stand hatte Wendebourg während der Zeit des Nationalsozialismus, als in oft nervenaufreibender Auseinandersetzung versucht wurde, den christlichen Gemeinden ihr Lebensrecht und ihre Wirksamkeit zu erhalten.“32 Es ist das Mühen um das Aufrechterhalten kirchlichen Lebens, das die Protokolle bestimmt. Es wird während des Krieges immer wieder versucht, an den kirchlichen Strukturen, insbesondere der Gestaltung des Gesamtverbandes zu arbeiten. Die Kriegsereignisse bringen diese Bemühungen zum Erliegen.33 29 30 31 32

Ebd., Abschrift 30. Oktober 1939, Wendebourg an LKA. Akte Geestemünde/Marien, Abschrift 30. Oktober 1939, Wendebourg an LKA. Stadtkirchenkonferenz, 9. Akte Wendebourg, 29. März 1958, Zeitungsartikel zur Verabschiedung Wendebourgs in den Ruhestand. 33 Zitat aus dem Protokoll vom 8. Mai 1940: „ Der augenblickliche Zeitpunkt, da die Geschäftsführung der Kirchenbüros infolge militärischer Einberufung auf Schwierigkeiten stösst, ist für eine Ausweitung des Gesamtverbandes nicht günstig.“, Stadtkirchenkonferenz, 11.

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Zwischen Fragen wie der Einführung des neuen Choralbuches und die Anmeldung der Vorkonfirmanden finden sich spärliche Notizen über die politische Lage. So z. B. Tagesordnungspunkt 3. der Konferenz vom 27. März 1940: Das am Karfreitag an Kirchen u. Pfarrhäusern angebrachte Plakat ,Deutschland braucht keine Beter, sondern Kämpfer‘ wird als Ausdruck einer antikirchlichen Gesinnung gewertet. Es soll deswegen der Kirchenvorstand von Lehe veranlasst werden, Anzeige bei dem Staatsanwalt zu erstatten.

Und 5.: Der Vorsitzende teilt Besprechungen betr. Überlassung von Gotteshäusern und kirchlichen Mitteln an die Deutschen Christen mit. Es wird beschlossen, die gemeinsame Ansicht in dieser Angelegenheit, ehe sie Dritten gegenüber zum Ausdruck gebracht wird, dem Herrn Landesbischof vorzulegen. Bei aller Festigkeit des eigenen Standpunktes soll eine entgegenkommende Haltung gewahrt werden.

Der letzte Satz war zuerst formuliert: „Bei aller Festigkeit des eigenen Standpunktes soll eine entgegenkommende Haltung nicht gewahrt werden“, das „nicht“ wird dann durchgestrichen, bringt vielleicht aber auch eine gewisse Ungeduld zum Ausdruck. In den Anlagen zum Fragebogen des Military Government of Germany von 1946 ist eins der wenigen persönlich verfassten Schriftstücke von Minna Kimm erhalten. Sie erklärt ihre politische Haltung: Mein Eintritt in die nationalsozialistische Frauenschaft erfolgte 1934 unter dem Druck, daß mein Studium gefährdet sei. Da die Universitätsstadt Göttingen zugleich meine Heimatstadt ist und ich deshalb zumeist auch die Semesterferien am gleichen Ort verbrachte, war der Druck besonders stark. Zudem wurde ich damals darauf hingewiesen, daß die Mitgliedsbeiträge der Frauenschaftsmitglieder zu sozialen Zwecken verwendet würden und mich doch wohl nicht meinen sozialen Pflichten meinem Volke gegenüber, zumal als angehende Theologin, entziehen wolle oder dürfe. Politische Auswirkungen konnte ich damals als Studentin darin nicht erkennen. So hat meine Mitgliedschaft einzig und allein in der Beitragszahlung (monatlich 52 Pf.) bestanden. Regelmäßige Pflichtversammlungen habe ich nicht besucht. (vgl. Anlage 134 ; weitere Unterlagen sind bei der Ausbombung im Sept. 1944 verbrannt). Als ich 1938 mein Amt in Wesermünde antrat, verlangte ich meinen Austritt aus der NS-Frauenschaft, der aufs schärfste abgelehnt wurde. Ich glaubte, meinen Austritt erzwingen zu können, indem ich auch weiterhin allen Pflichtversammlungen fernblieb. Etwa 1942 oder 1943 habe ich eine Versammlung der NS-Frauenschaft besucht, zu der 34 Akte Wulsdorf, Anlage 1 ist eine Abschrift eine Briefes der Ortsfrauenschaftsleiterin, Führerin im Deutschen Frauenwerk, NSDAP, Gauleitung Süd-Hannover-Braunschweig, Kreisleitung Göttingen Stadt und Land, Ortsgruppe „Frankfurter Hof“ vom 6. Januar 1938, in der beklagt wird, dass Minna Kimm ohne Entschuldigung „in der Anwesenheitsliste des Jahres 1937 leider keinmal verzeichnet“ sei, es würde wohl nur einer „Erinnerung an verschiedene Dinge“ bedürfen, um sie wieder begrüßen zu können.

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auch Nichtmitglieder als Gäste geladen waren, weil der Redner als heftiger Kämpfer gegen Bibel und Kirche bekannt war und ich unsere Gegner, die ja auch unsere kirchlichen Frauen zu beeinflussen versuchten, kennenlernen wollte und mußte. Im Jahr 1944 stellte ich meine Beitragszahlungen ein, und damit erlosch trotz allen Widerspruchs meine Mitgliedschaft. Es sei noch bemerkt: seit 1941 etwa wurde ich besonders dringlich aufgefordert, der NSV beizutreten. Ich bin nicht eingetreten, weil ich schon damals vielerorts eine die Kirche und ihre Arbeit bekämpfende Einstellung der NSV erkannte (Wegnahme von kirchlichen Diakonissenstationen usw.). Mir wurde mitgeteilt, ich stände sowieso auf der „schwarzen Liste“ und solle nicht unvorsichtig sein. Trotzdem bin ich bei meiner Weigerung geblieben. Wesermünde, den 22. November 1946, Minna Kimm.35

Mit der zweiten persönlich verfassten Anmerkung erklärt sie ihre kirchliche Zuordnung zur Bekenntnisgemeinschaft: Ich bin 1933 als Studentin der Theologie der Gruppe der sogenannten Deutschen Christen in Göttingen beigetreten, weil sich dort eine studentische Gemeinschaft mit dem Ziel und der persönlichen Verpflichtung zu volksmissionarischem Dienst in unveränderter evangelischer und kirchlicher Einstellung zusammengefunden hatte. Ich gebe zu, daß ich als Studentin noch nicht in der Lage war, die mit dieser Bewegung verbundenen Gesamtwirkungen gleich im Anfang zu erkennen und zu übersehen. Doch schon 3 Monate später war mir dieses möglich, sodaß ich auch umgehend wieder meinen Austritt erklärte und dann 1934 der Bewegung beitrat, die diese Ziele der evangeliumsgemäßen Verkündigung klarer erkennen ließ, der Bekenntnisgemeinschaft. Ihr gehöre ich seitdem bis heute an.36

IV.

Die Auswirkungen des Krieges auf die Stellung der Vikarin

Die Stadtkonferenz, hierbei handelt es sich um die Superintendenten und Pastoren aus den städtischen Kirchengemeinden der bis 1940 bestehenden Kirchenkreise Wulsdorf und Lehe hatte im Februar 1938 elf Mitglieder, im März 1940 sechs. Im Laufe des Jahres kommen die Pastoren aus den Landgemeinden Schiffdorf und Imsum dazu, beide Kirchengemeinden hatten sich dem Gesamtverband angeschlossen.37 35 Akte Wulsdorf, Anmerkung 1 zum Fragebogen. 36 Ebd., Anmerkung 2 zum Fragebogen. 37 Damit entsprach der Umfang des Gesamtverbandes von 1940 dem heutigen Kirchenkreis Bremerhaven. Nicht dabei waren die beiden ursprünglichen Bremerhavener Gemeinden, von denen heute die Kreuzkirche zum Kirchenkreis gehört. Die Anfang der 1940 Jahre aufgenommenen Verhandlungen mit der Vereinigten Protestantischen Gemeinde zur Bürgermeister-Smidt-Gedächtniskirche, die 1940 infolge der „Verordnung über den Wiederaufbau des Reiches“ aus dem Verband der Bremischen Evangelischen Kirche ausgeschieden war und die zunächst unter die Finanzverwaltung der hannoverschen Landeskirche gestellt wurde

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Ab Mai 1940 gehört Vikarin Minna Kimm zur Stadtkonferenz. Im Juli 1940 kommt Vikarin Lina Ippensen38 dazu, im Juni 1942 Vikarin Helene von Viebahn39. Im Oktober 1945 zählten zur Konferenz „P. Meier, Lehe; P. Spreckelsen, P. Koch, P. Manecke und Sup. Wendebourg, die Vikarinnen Kimm z. Z. Wulsdorf; v. Viebahn z. Z. Schiffdorf, Ippensen – Lehe.“40 Die Zahl hatte sich auf vier Pastoren reduziert, 75000 Menschen gehörten zum Kirchenkreis. Die Konferenz trifft sich bis 1943 regelmäßig, die folgenden zwei Jahre werden sporadisch nachprotokolliert. Minna Kimm übernimmt im Mai 1941 die Kriegsvertretung in Wulsdorf, beide Pfarrstellen der Dionysiusgemeinde waren von 1938 bis 1948 vakant. Offizieller Vakanzvertreter und Vorsitzender im Kirchenvorstand ist Superintendent Wendebourg. Im Pfarrhaus wohnt die Frau des Pastors Asmussen, der zum Kriegsdienst eingezogen war und Ende 1941 gefallen ist. Eine Stellungnahme des Landeskirchenamtes lässt Rückschlüsse auf den Dienst der Vikarin zu: Wenn auch der Vikarin Fräulein Kimm zurzeit infolge der besonderen Kriegsverhältnisse andere Aufgaben zugewiesen werden mussten als in ihrer Dienstanweisung vorgesehen sind, so ist dies kein Grund, die Dienstanweisung zu ändern, da es sich nur um vorübergehende Kriegsmassnahmen handelt. Selbstverständlich muss auch eine Pfarramtshelferin sich in dieser Zeit gefallen lassen, mit anderen Aufgaben als den ursprünglich für sie vorgesehenen beauftragt zu wissen. In Vertretung: gez. Stalmann.41

Hatte sie sich beklagt? Der Pfarrermangel führte in der hannoverschen Landeskirche dazu, dass der Kreis derer, die mit dem Amt der Wortverkündigung und des kirchlichen Jugendunterrichts beauftragt waren, überschritten wurde. Lektoren und Katecheten, Diakonissen, Kirchenvorsteher und Pfarrfrauen waren im Einsatz, trotzdem gilt: „Differenzen betreffen vor allem d. Umfang d. Befugnisse zur freien Wortverkündig., ferner d. Sakramentsverwaltung u.d. Beauftragung von Frauen.“42 Im März 1942 werden für Vikarin Kimm in einem ausführlichen Ausnahmeund Genehmigungsverfahren die Aufgaben einer Pfarramtshelferin festgelegt. Man müht sich mit den Hauptgottesdiensten, hat starke Bedenken bezüglich der

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(KABL 1941, 105ff), führten zu keiner Verbindung. Die Gemeinde gehört heute wieder zur Bremischen Evangelischen Kirche. Cunow, Ippensen, 189. Härter, von Viebahn, 416. Stadtkirchenkonferenz, 22. Spreckelsen und Koch waren Pastoren in Geestemünde, Manecke in Speckenbüttel. Akte Geestemünde/Marien, Abschrift 24. Juli 1941, OLKR Stalmann an Wendebourg. Kück, Wochenbriefe, 1624. Von Grumbach,

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Abendmahlsfeier in einem öffentlichen Gottesdienst und beschränkt Trauungen, Beerdigungen und Konfirmationen auf dringendste Notfälle. Nach den hier für die Ausführung des §6 Absatz 2 des Kirchengesetzes über die Anstellung der Pfarramtshelferin in der Fassung vom 12. November 1942 aufgestellten Grundsätzen soll die Abhaltung eines Hauptgottesdienstes durch die Pfarramtshelferinnen unter normalen Verhältnissen ausgeschlossen sein. Dagegen sollen Ausnahmen gestattet werden bei allen Nebengottesdiensten. Ferner sollen auch unter normalen Verhältnissen Ausnahmen gemacht werden bei Abendmahlsfeiern in Frauengefängnissen, Frauenkrankenhäusern und ähnlichen Anstalten. Eine entsprechende Änderung der Dienstanweisung der Pfarramtshelferin würde zur Voraussetzung das Einverständnis des Kirchenvorstandes haben. In Notfällen können auch Ausnahmen für den Hauptgottesdienst gemacht werden, aber nur dann, wenn das Landeskirchenamt im einzelnen Fall den Notstand anerkennt und die Ausnahme zugelassen hat. Wir würden, da wir wissen, dass dort zurzeit ein erheblicher Notstand vorliegt, keine Einwendungen dagegen haben, wenn die Pfarramtshelferin in der Festzeit bis einschließlich Sonntag nach Ostern auch Hauptgottesdienst abhält. Sollte auch nach dem Feste die Abhaltung von Hauptgottesdiensten durch die Pfarramtshelferin dort als unbedingt erforderlich angesehen werden, so ist uns ein begründeter Antrag vorzulegen. Dagegen bestehen starke Bedenken, der Pfarramtshelferin die Abhaltung einer Abendmahlsfeier im öffentlichen Gottesdienst zu gestatten. Die Abhaltung einer Trauung, einer Beerdigung oder einer Konfirmation durch die Pfarramtshelferin soll sich nur auf dringendste Notfälle beschränken und jeder einzelne Fall erst, nachdem die Notwendigkeit nachgewiesen ist, durch uns genehmigt werden.43

Einblicke in den Alltag der Dionysiusgemeinde Wulsdorf, die mit ihrer Vikarin und den Anordnungen zu leben hat: „Die Vikarin soll veranlasst werden, feste Sprechstunden im Pfarrhaus anzusetzen.“44 Soweit im Pfarrhaus „Dachpfannen durch Flakeinwirkung beschädigt sind, sind die Reparaturen zu veranlassen und zwar auf Kosten des Reiches“45 Der Vikarin soll die Verteilung der Armengelder im Einverständnis mit der Gemeindediakonisse überlassen bleiben. Jedoch soll sie gehalten sein, auf Verlangen dem Kirchenvorstand über die Verteilung Rechenschaft abzulegen.46

Vikarin Kimm wird für die weibliche Jugendarbeit berufen und „eine telefonische Anlage für die Vikarin Kimm in ihrer Geestemünder Privatwohnung wird 43 Akte Geestemünde/Marien, Abschrift 27. März 1942, LKA an Wendebourg. KABL 1942, 19: §6 Absatz 2 enthält folgenden Zusatz: „Das Landeskirchenamt kann im Einvernehmen mit dem Landesbischof in einzelnen Fällen Ausnahmen gestatten.“ 44 Kirchenvorstandsprotokollbuch, 2. Juni 1941, 6.1. 45 Ebd., 11. Juni 1941, 6.3. 46 Ebd., 6.4.

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abgelehnt.“47 „Der Oberbürgermeister soll gebeten werden, die Altwulsdorfer Schule für Konfirmandenunterrichtszwecke zur Verfügung zu stellen, damit Gas gespart werde“48 und schließlich: Hinsichtlich der Tätigkeit der Vikarin Kimm als Pfarramtshelferin in Wulsdorf spricht der Kirchenvorstand sich dankbar aus. Er begrüsst ihre Vertretungsarbeit und ist damit einverstanden, dass sie im Hauptgottesdienst die Predigt hält, die Taufen und Krankenabendmahle übernimmt,“49 er wünscht sich bald, dass der Vikarin das Recht Kindtaufen und Krankenabendmahle ohne besondere Einzelgenehmigung zu halten, zugestanden wird.“50

Der Kirchenvorstand Wulsdorf vereinfacht die ausgetüftelten Regelungen für Hauptgottesdienst und Sakramentsverwaltung. Andere Probleme stehen im Vordergrund. Man bemüht sich vergeblich um eine Wiederbesetzung der Pfarrstellen. Das Pfarrhaus bleibt an die Pfarrfrau vermietet, unter der Voraussetzung, dass sie im Winter das Haus heizt und dass sie weiterhin die Aufgaben einer evangelischen Pfarrfrau in der Gemeinde wahrnimmt, dass sie insbesondere das Diensttelefon bedient und Amtshandlungen vermittelt.[…] Im Bedarfsfall soll, wenn kein Prediger für den Morgengottesdienst zur Verfügung steht, der Hauptgottesdienst auf den Sonntagnachmittag verlegt werden.51

Am 3. Februar 1944 erfolgt der erste große Bombenangriff auf Bremerhaven. Anlagen und Werften im Fischereihafen werden zerstört52. Der Kirchenvorstand protokolliert am 11. Februar 1944: „Anlass zu dieser Sitzung gab der am 3. 2. 1944 erfolgte Terrorangriff auf unser Wulsdorf. Schweres Leid ist über unsere Gemeinde hereingebrochen. Wir haben zu beklagen 32 Tote, 56 Verwundete, 132 Obdachlose.“53 Die Kirche wurde leicht beschädigt, sie wird später im Juni 1944 schwer getroffen. Das Gemeindehaus ist sehr stark beschädigt, das Pfarrhaus durch einen Volltreffer ganz zerstört. Weitere Luftangriffe auf Bremerhaven folgen. Im Herbst 1944 betrug der Zerstörungsgrad in Bremerhaven-Mitte 97 %, in Geestemünde 75 % und in Lehe 12 %. Sechs Kirchen und vierzehn Schulen sind völlig zerstört.54 Im Juni 1944 trifft sich der Kirchenvorstand in Wulsdorf zur letzten Sitzung während des

47 48 49 50 51 52 53 54

Ebd., 4. November 1942, 7 f. Ebd., 24. Januar 1942, 9. Ebd., 26. April 1942, 14. Ebd., 19. Oktober 1942, 17. Ebd., 17. Juli 1942, 15 f. Vgl. Scheper, Geschichte, 332. Kirchenvorstandsprotokollbuch, 24. Vgl. Scheper, Geschichte, 334.

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Krieges im Altenheim und beschäftigt sich mit der „Raumfrage für den Konfirmandenunterricht und gottesdienstlichen Handlungen im Bunker.“55 Vikarin Minna Kimm hat Gottesdienste gehalten, Konfirmandenunterricht erteilt und konfirmiert. Es ist fraglich, ob es dafür immer die geforderte Genehmigungen gab.

V.

Die Nachkriegszeit

Die erste Kirchenvorstandssitzung nach Kriegsende ist am 5. September 1945. Das kirchliche Leben gewinnt wieder Struktur. Eine Liste mit sechs Bauvorhaben wird beschlossen, der Kirchenvorstand neu gewählt und Pastor coll. Lehnhoff auf die zweite Pfarrstelle ernannt. Die Gemeinde wird in zwei Bezirke aufgeteilt. „Vik. Kimm soll den I. Bezirk, P.c. Lehnhoff den II. übernehmen.“56 So einfach beginnen langwierige Komplikationen. Minna Kimm wurde im November 1945 Urlaub für eine Theologinnentagung gewährt. Außerdem erstellt sie einen Arbeitsbericht, für den Superintendent Wendebourg sich bedankt: „Er hat mir die Notwendigkeit, die Vikarinnen im kirchlichen Gemeindeleben mit einzusetzen wieder recht nahe gebracht. Ich halte jedenfalls dafür, dass die Vikarin in der Gemeinde mehr am Platz ist als als Reisebeauftragte für einen Sprengel.“57 Am 15. April 1946 heißt es in Wulsdorf: „Der K.V. will beim L.K.A. vorstellig werden, die Vikarin Kimm mit der Versehung der Pfarrstelle zu beauftragen.“58 Das Landeskirchenamt verfügt daraufhin: Die Vikarin Kimm ist als Pfarramtshelferin für die Gemeinde Wesermünde-Geestemünde angestellt. Wegen der im Kriege eingetretenen besonderen Verhältnisse wurde sie mit der Aushilfe in Wulsdorf beauftragt und hat dort, wie auch uns bekannt ist, überaus erfolgreich gearbeitet, wofür ihr zweifellos Dank gebührt. Da derartige im Kriege notwendig gewordenen Verschiebungen jetzt auch an anderer Stelle rückgängig gemacht werden, wäre es das Gegebene, daß auch die Vikarin Kimm ihren früheren Dienst wieder aufnimmt. In einer Gemeinde wie Wesermünde-Geestemünde müßte u. E. Arbeit für eine Pfarramtshelferin in reichem Maße vorhanden sein. Wir würden aber auch keine Bedenken tragen, wenn dort der Wunsch bestände, die Vikarin Kimm als Pfarramtshelferin in Wulsdorf anzustellen. Die Versehung einer Pfarrstelle kann ihr freilich nach den für die Beschäftigung der Pfarramtshelferinnen geltenden Bestimmungen nicht übertragen werden. Aber es wäre möglich, daß mit Rücksicht auf die 55 Kirchenvorstandsprotokollbuch, 26. 56 Kirchenvorstandsprotokollbuch, 33. Eine genaue und gleichberechtigte Aufteilung der Arbeitsgebiete findet sich in Akte Amtsführung, ohne Datum. 57 Akte Wulsdorf, 15.11.45, Brief Wendebourg an Kimm. 58 Kirchenvorstandsprotokollbuch, 38.

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Tätigkeit der Pfarramtshelferin eine der beiden Pfarrstellen zunächst unbesetzt bliebe. Bei der Festlegung der Tätigkeit der Pfarramtshelferin muß berücksichtigt werden, daß die durch die außerordentlichen Verhältnisse des Krieges bedingten Ausnahmen von den gesetzlichen Bestimmungen heute nicht mehr in dem Maße berechtigt sind. Wir bitten zu prüfen, wie am zweckmäßigsten die bewährte Kraft der Vikarin Kimm unter Berücksichtigung der gesetzlichen Bestimmungen dort eingesetzt werden kann […] Ihre Stellung ist zwar nicht die eines Geistlichen, aber auch nicht die eines Kirchenbeamten, sondern besonderer Art. Es besteht die Absicht, die Stellung und Tätigkeit der Vikarinnen durch ein neues Kirchengesetz zum Teil abweichend von der bisherigen Art zu regeln.59

Die Rücknahme notwendig gewordener Veschiebungen ist der Gemeinde nicht zu vermitteln. Die Möglichkeit durch Nichtbesetzung der 2. Pfarrstelle die Notsituation zu verlängern führt zu einer vierjährigen Auseinandersetzung. Wendebourg schreibt: Nach Rücksprache mit dem Herrn Landessuperintendenten Wiebe und entsprechend dem Wunsche des Kirchenvorstandes Wulsdorf schlage ich vor, die Vikarin Kimm als Pfarramtshelferin in Wulsdorf einzustellen und die 2. Pfarrstelle in Wulsdorf zunächst unbesetzt zu lassen.60

Er begründet seine Entscheidung damit, dass in Wulsdorf kein Pfarrhaus vorhanden sei und aufgrund der Zerstörung die beiden Stadtteile Geestemünde und Wulsdorf überbelegt seien, weswegen wiederum neben dem den Hilfsgeistlichen Lehnhoff abgelöste „Ostgeistliche“ Albertz eine weitere geistliche Kraft in Wulsdorf tätig sein müsse. Da der Kirchenvorstand von Wulsdorf, wie ich der hohen Behörde berichtet habe, um eine Anstellung der Vikarin Kimm in Wulsdorf gebeten hat, scheint es mir richtig zu sein, daß der im Kriege erfolgten Beauftragung der Vikarin Kimm nunmehr ihre Anstellung in Wulsdorf folgt […] Solange wir in Geestemünde infolge der Zerstörung der Marienkirche nur eine Predigtstätte haben, würde für die Vikarin Kimm, die in Wulsdorf alle 14 Tage predigt, hier kaum ein Predigtdienst in Frage kommen […] Gerne sähe ich die Vikarin Kimm auch als Stadtvikarin, fehlt doch in der großen Kirchengemeinde Lehe eine Pfarramtshelferin, aber bei der Einstellung der dortigen Geistlichen ist es vielleicht richtiger, von einem solchen Plane vorläufig abzusehen.61

Das Landeskirchenamt erklärt sich mit einer Anstellung in Wulsdorf grundsätzlich einverstanden und verlangt eine Dienstanweisung, bei der die Vorschriften des Kirchengesetzes über die Anstellung von Pfarramtshelferinnen in

59 Akte Wulsdorf, 28. Mai 1946, Brief OLKR Stalmann an Wendebourg. 60 Akte Wulsdorf, 4. September 1946, Brief Wendebourg LKA. 61 Ebd.; Lina Ippensen hatte Lehe im Juni 1946 auf eigenen Wunsch hin verlassen, s. Gerke, Dauer, 67.

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der Fassung vom 12. November 1942 zu beachten sind. Diese wird zum Problem. Superintendent Wendebourg schildert die Eigenständigkeit der Vikarin: Praktisch hat Frl. Kimm den gesamten pfarramtlichen Dienst ausgerichtet mit Ausnahme von Beerdigungen, Trauungen, Kirchenvorstandsgeschäften. Das Altarsakrament hat sie, sofern kein Geistlicher zur Verfügung stehen konnte, auch verwaltet, wenn auch ausnahmsweise, ebenso Krankenabendmahle gehalten. Im Predigtdienst hat sie nur alle 14 Tage amtiert. Als Pastor Lehnhoff vor Jahresfrist nach Wulsdorf kam, hat der Landessuperintendent die pfarramtliche Arbeit zwischen ihm und Frl. Kimm nach den beiden vorhandenen Seelsorgebezirken aufgeteilt. Jedoch mit der Einschränkung, daß Trauungen und Beerdigungen allein von Lehnhoff zu halten seien. Für die freien kirchlichen Arbeiten hat er eine Sonderregelung getroffen. Was die Taufen anlangt, so war während des Krieges vom LKA. bestimmt, daß der Vikarin Taufen im Anschluß an den Gottesdiesnt zuzugestehen seien. Hierin habe ich noch nichts geändert, ebensowenig der Herr Landessuperintendent, da es wohl mißlich sein dürfte, der Vikarin in ein und derselben Gemeinde ein Recht vorzuenthalten, das ihr zeitweilig eingeräumt war, besonders wo der K.V. von Wulsdorf sich immerwieder dafür eingesetzt hat, daß der Vikarin Kimm das volle Pfarramt übertragen werden möchte. Ob es geraten ist, Frl. Kimm auf die Dauer in Wulsdorf zu belassen, ist mir noch nicht gewiß […] Wenn nicht den Pfarramtshelferinnen das volle Pfarramt eingeräumt wird, wird, so vermute ich, die Vikarin Kimm in der Wulsdorfer Gemeinde unter den Einschränkungen leiden.62

Mit Spannung wird die Neufassung des Vikarinnengesetzes erwartet. Auch Minna Kimm möchte ihre Entscheidung über ihre berufliche Laufbahn laut Aussage Wendebourg von der Entscheidung der kirchlichen Organe, der Landessynode, abhängig machen. Er selbst befürchtet, dass in der Synode nur wenige Sachverständige sein werden, die dazu ein kompetentes Urteil sich erlauben dürfen. Vielmehr wäre es wünschenswert, wenn das Arbeitsgebiet der Vikarinnen in Kontakt mit den übrigen deutschen evangelischen Landeskirchen geregelt würde.63

Gemäß aller Absprachen ernennt das Landeskirchenamt die Pfarramtshelferin Frau Vikarin Kimm zur Pfarramtshelferin in der Kirchengemeinde Wulsdorf. Die Dienstanweisung wird weiterhin eingefordert: „Wir bitten sie möglichst bald aufzustellen und uns zur Genehmigung einzureichen. Wir möchten aber die Ernennung nicht abhängig davon machen, damit endlich dort Klarheit geschaffen wird.“64 Minna Kimm entwirft daraufhin selbst eine Dienstanweisung, die größtenteils mit der bisher gültigen Geschäftsverteilung zwischen Vikarin Kimm und

62 Akte Wulsdorf, 8. November 1946, Brief Wendebourg an LKA. 63 Akte Wulsdorf, 8. November 1946, Brief Wendebourg an LKA. 64 Akte Wulsdorf, 18. November 1946, Brief LKA an Wendebourg.

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P.c. Lehnhoff übereinstimmt, die am 3. 12. 1945 von Landessuper†ntendent Wiebe aufgestellt worden war.65 Sie lautet: Dienstanweisung für die Vikarin in Wulsdorf-Süd. 1. Gottesdienste: sind im 14 tägigen Turnus mit Kindergottesdienst und Kinderlehre des Predigers zu halten (Festtage im jährlichen Wechsel mit den Geistlichen des Nordbezirks). 2. Seelsorgebezirk: wie bisher Wulsdorf-Süd. 3. Unterricht nach dem Seelsorgebezirke. 4. Frauenarbeit: im eigenen Seelsorgebezirk. 5. Männerarbeit: im eigenen Seelsorgebezirk. 6. Weibliche Jugendarbeit: für Wulsdorf-Nord und -Süd. 7. Geschäftsführung des Kindergartens der Gemeinde. 8. Casus: Taufen und Abendmahl; Konfirmation der unterrichteten Kinder des Seelsorgebezirks. 9. Vertretung über Bezirksgrenzen hinaus infolge seelsorgerlicher Beziehungen zu den Familien wird mit dem Geistlichen des Nordbezirks gegenseitig zugestanden und mitgeteilt. Wesermünde-Wulsdorf, den 9. Januar 1947.66

Dem Landeskirchenamt wird folgender Entwurf vorgelegt: Entwurf einer Dienstanweisung für die Pfarramtshelferin Minna Kimm in Wesermünde-Wulsdorf. 1. Die Vikarin hält in 14 tägigem Turnus den Predigtgottesdienst mit Kindergottesdienst und Kinderlehre. 2. In dem Seelsorgebezirk Wulsdorf-Süd hat sie spezielle Seelsorge, besonders an den Kranken auszuüben. 3. Der Konfirmandenunterricht mit der Konfirmation ist ihr an den Kindern ihres Bezirkes anvertraut. 4. Insbesondere hat ihr die Gemeindefrauenarbeit dieses Bezirkes am Herzen zu liegen. 5. Die Arbeit an der weiblichen Gemeindejugend ist von ihr für die ganze Kirchengemeinde wahrzunehmen. 6. Soweit Taufen und Krankenberichte von ihr erbeten werden, hat sie die Sakramente zu verwalten. 7. An den Kirchenvorstandssitzungen hat sie mit Stimmrecht teilzunehmen.67

Superintendent Wendebourg erwähnt in seinem Begleitbrief noch einmal, dass der Kirchenvorstand „Pastor und Vikarin als pfarramtlich gleichberechtigte Größen betrachtet“, fragt sich aber auch „ob der Vikarin Kimm nicht eine Stellung gegeben wird, die ihr nach dem Kirchengesetz nicht zusteht.“68 65 Akte Amtsführung. 66 Akte Wulsdorf, 9. Januar 1947. 67 Ebd., Notiz aus dem Januar 1947, wieder aufgenommen im Brief 23. April 1947, Wendebourg an LKA. 68 Ebd., 13. Januar 1947, Brief Wendebourg an LKA.

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Das Landeskirchenamt kann die Dienstanweisung bezüglich der Punkte 3,4,5, und 7 ohne weiteres genehmigen. Die Aufnahme der unter 1, 2 und 6 vorgesehenen Amtsverrichtungen der Pfarramtshelferin in der Dienstanweisung ist nach den Bestimmungen des Kirchengesetzes vom 1. Mai 1930 wie auch des Kirchengesetzes vom 12. November 1942 nicht möglich. Nachdem aber die Vikarin Kimm in einer Zeit, als die Entsendung eines Geistlichen nicht möglich war, pfarramtlich umfassend tätig gewesen ist und aus der Gemeinde heraus keine Bedenken gegen diese Tätigkeit erhoben sind, der Kirchenvorstand im Gegenteil eine solche Tätigkeit sogar gewünscht hat, wollen wir von der Möglichkeit, die uns §1 des Krichengesetzes vom 12. November 1941 gibt, Gebrauch machen und uns damit einverstanden erklären, daß die Vikarin Kimm bis auf weiteres, jedoch nur bis zur Besetzung der 2. Pfarrstelle, in Wesermünde-Wulsdorf die in den genannten Punkten vorgesehene Dienste wahrnimmt. Wir bitten, den Kirchenvorstand davon in Kenntnis zu setzen.69

Der Superintendent fragt nach: „Soll die Verrichtung von Taufen und Abendmahlsfeiern der Vikarin Kimm generell zugestanden werden? Daß sie auch ihre Kinder konfirmiert, ist nach der bisherigen Praxis wohl nicht mehr fraglich.“70 Die Nummerierung war durcheinander geraten, also wird die Dienstanweisung in der oben genannten Fassung noch einmal eingereicht, nun aber mit immer skeptischer werdenden Bemerkungen. Wendebourg hält die mit dem Kirchenvorstand besprochene Lösung, nach der zu 1. beide Geistlichen alle 14 Tage dienstfrei haben, „nicht für glücklich“. Nach seinen Erfahrungen „muß der Kindergottesdienst in einer Hand liegen.“71 Zu 2. schreibt er : so möchte ich doch glauben, daß der Träger des Pfarramtes auf Wunsch von Kranken das Recht haben muß, auch in dem Bezirk der Vikarin Kimm Kranke zu besuchen. Es darf doch nicht Kranken versagt sein, den Pfarrer um seinen Dienst zu bitten72.

Das gelte auch für den Konfirmandenunterricht. Zu 6. heißt es: Der Regelfall ist der, daß Taufen und Krankenberichte für die ganze Gemeinde in der Hand des Ortspastors liegen. Hinsichtlich Abendmahls wäre noch klarzustellen, ob die Vikarin Kimm dasselbe auch im öffentlichen Gottesdienste austeilen darf, wie sie es je und dann, jedenfalls immer bei der Konfirmation, tut. Ist doch der lutherische Predigtgottesdienst grundsätzlich mit dem Abendmahl verbunden. Wird nicht die Vikarin, wenn sie schon den Predigtgottesdienst übernommen hat, auch das Sakrament verwalten müssen? In der Praxis lassen sich Predigt und Abendmahl ja nicht trennen. Vielleicht wird die Synode neue Bestimmungen treffen.73 69 70 71 72 73

Ebd., 8. Februar 1947, LKA an Wendebourg. Ebd., 7. März 1947, Wendebourg an LKA. Ebd., 23. April 1947, Wendebourg an LKA. Ebd. Ebd.

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Die Antwort des Landeskirchenamtes: Zu 1) Es wird ausdrücklich festgestellt, dass die Vikarin nicht das Recht erhalten soll, Abendmahlsfeiern im Hauptgottesdienst zu halten. Zu 2) Es muss jedem Gemeindeglied auch des Bezirks Wulsdorf-Süd frei stehen, in der Seelsorge den in der Gemeinde Wulsdorf angestellten Geistlichen in Anspruch zu nehmen. Zu 3) Das Gleiche gilt bezüglich der Konfirmation. Zu 7) Der Beschluss des Kirchenvorstandes betr. Verleihung des Stimmrechtes an die Vikarin Kimm wird von uns genehmigt.74

Vikarin Kimm wird die Dienstanweisung mit einer Änderung und einer Anmerkung genehmigt. Die Veränderung besteht darin, dass sie die Arbeit an der weiblichen Jugend nicht für die ganze Gemeinde, sondern nur für ihren Bezirk wahrnehmen soll. Die Anmerkung bezieht sich auf den Predigtgottesdienst, den sie nur bis zur Besetzung der zweiten Pfarrstelle halten darf. Außerdem wird ausdrücklich fesgestellt, dass sie nicht das Recht hat, Abendmahlsfeiern im Hauptgottesdienst zu feiern.75 Es kommt zu den befürchteten Spannungen in Wulsdorf, es werden immer mehr Briefe geschrieben, der Ton wird kleinlich. Eine Bitte um Erstattung von Fahrtkosten für die Teilnahme an der Rotenburger Pastorenfreizeit 1947 trägt den Vermerk „nicht beantwortet“. Die von Vikarin Kimm beim Gesamtverband beantragte Übernahme der Aufwendungen für eine zusätzliche Reinigungsgebühr von monatlich 5,–RM seit dem 1.4.47 in Anbetracht der pfarramtlichen Besucher wird abgelehnt.76 Als sie beantragt vom Unterricht eines Vorkonfirmanden entpflichtet zu werden, muss sie an eine Antwort erinnern.77 Der Kindergarten wird eröffnet und 1947 von 54 Kindern besucht. Einigkeit besteht darin, dass eine Zuzugsgenehmigung für eine Kindergärtnerin eingeholt werden muss. „Gerne würde ich Ihnen helfen um für die in Aussicht genommene Kindergärtnerin hier Zuzug zu erwirken. Ich werde die Sache mit zuständigen Herren besprechen, bin aber skeptisch.“78 Im selben Brief ein Verweis: „Sie schreiben, dass die Einladungskarten für Jungmännerarbeit bestimmt seien. Nach Ihrer Dienstanweisung ist Jungmännerarbeit ihnen nicht zugewiesen. […] Für diesmal habe ich die Rechnung noch angewiesen.“79 Im Dezember 1947 wird wieder die Bezahlung einer Rechnung zum Anlass für eine Nachfrage genommen: „Vor kurzem hörte ich, daß Sie einer Frau in Wulsdorf das Abendmahl zu reichen abgelehnt hätten. Es wurde mir dies […] berichtet. Darf ich Sie bitten, mir darüber zu berichten?“80 Im Juni 1948 muss sich Minna 74 75 76 77 78 79 80

Ebd., 6. Mai 1947, Brief LKA an Wendebourg. Ebd., 17. Mai 1947, Brief Wendebourg an Kimm. Ebd., 21. 8. 1947 mit Vermerk vom 25.9.47, Brief Kimm an Wendebourg. Ebd., 21.8.47 und 17. September 1947, Brief Kimm an Wendebourg. Ebd., 23. September 1947, Brief Wendebourg an Kimm. Ebd. Ebd., 18. Dezember 1947, Brief von Wendebourg an Kimm.

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Kimm wegen ihrer Portoauslagen rechtfertigen, sie argumentiert geschickt und die Geduld wahrend, gibt noch einmal einen Hinweis, in welcher Zeit sie arbeitet: „Die von mir eingereichten Portoauslagen für das Rechnungsjahr 1947/48 in Höhe von 38,41 RM enthalten keine Auslagen für sonstige Bürounkosten wie Papier (das ich z. T. für meine persönliche Zigarettenzuteilung beschaffte).“81 Im September beklagt sich Pastor Albertz, dass sie Anweisungen gab, einen Kanzelbehang, der das Kruzifix verdeckte, zu entfernen, ohne vorher gefragt zu haben.82 Die Abendmahlsfrage gerät in den Mittelpunkt der Auseinandersetzungen. Zwei Listen über die Teilnahme am Abendmahl am 7. und 15. Dezember 1947 sind vorhanden. Notiert wurde, wer in welchem Stand am Abendmahl teilgenommen hat und dass Vikarin Kimm die Abendmahlsfeiern gehalten hat. Auf Nachfragen, wie sie das mit ihrer Dienstanweisung vereinbaren könne, antwortet sie: Die Abendmahlsfeier am 7. Dezember wurde gehalten vornehmlich für den Mütterkreis und den Jugendkreis meines Bezirkes. Im Übrigen besagt Ihr Schreiben vom 17.5.47, daß „Abendmahlsfeiern im Hauptgottesdienst“ nicht zu halten seien. Heute findet ein Wochenabendmahl für Alte und Schwache statt, wie ich es seit über 6 Jahren hier in Wulsdorf gehalten habe.83

Superintendent Wendebourg dazu: Wie ich festgestellt habe, haben an demselben verschiedene Gemeindeglieder teilgenommen, die zu den Alten und Schwachen nicht gehören. Die Angelegenheit ist daraufhin im Kirchenvorstand in Wulsdorf besprochen. Von verschiedenen Kirchenvorstehern wurde es bedauert, daß der Vikarin Abendmahlsfeiern im Hauptgottesdienste zu halten, verboten sei, und daß sie infolgedessen genötigt sei, ihre Abendmahlsfeiern auf Nachmittagsgottesdienst zu legen. Gäbe es doch verschiedene Gemeindeglieder, die nur bei der Vikarin zu kommunizieren wünschten. Andere Kirchenvorsteher schlossen sich der darin zum Ausdruck gebrachten Ansicht nicht an.84

Die Abendmahlsfeiern am Nachmittag waren Notlösung und Provokation. Damit dürfte immer klarer geworden sein, wie sehr das Kirchengesetz die Gemeindearbeit behindert und wie sehr Minna Kimm bereit war, ihre Auffassung von Gleichberechtigung von Männern und Frauen, Pfarramtshelferinnen und Pastoren, zu leben. Superintendent und Landeskirchenamt waren nicht bereit, diesen Gedanken zu folgen. Es wird beschlossen, die zweite Pfarrstelle schnell zu besetzen und somit den Anlass zu geben, Vikarin Kimm eindeutig auf den Dienst einer Pfarramtshelferin beschränken zu können. 81 82 83 84

Ebd., 19. 6. 1948, Brief Kimm an Wendebourg. Ebd., 25. 9. 1948, Brief Albertz an Wendebourg. Ebd., 15. Dezember 1947, Brief Kimm an Wendebourg. Ebd., 22. Dezember 1947, Brief von Wendebourg an LKA.

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Minna Kimm werden Grenzen aufgezeigt. Zunächst mit dem Verbot eines Schildes, das vor iher Wohnung auf das Ev.-luth. Pfarramt hinwies: Dagegen müssen wir sie bitten, das jetzt vor Ihrer Wohnung angebrachte Schild abzuändern, da das Ev.-luth. Pfarramt in Wulsdorf von Ihnen nicht verwaltet wird, Sie vielmehr als Vikarin dort tätig sind. Wir bitten, uns zu bestätigen, daß die Abänderung erfolgt ist.85

Dann werden Grenzen bezüglich der Abendmahlsfeiern vom Superintendenten gefordert. Sie feiert weiterhin Abendmahl mit den Konfirmanden und mit dem Gemeindefrauenkreis, er versteht dies und wäre „dankbar, wenn das Landeskirchenamt der Vikarin Kimm klare Grenzen zöge.“86 Antwort: „Wir möchten im Augenblick davon absehen, in der Angelegenheit eine Entscheidung zu treffen.“87 Im April 1948 wird die Pfarrstelle Wulsdorf II zur Wiederbesetzung ausgeschrieben.88 Um einen Verbleib der Vikarin in Wulsdorf zu erreichen, wendet sich eine Frau an den Superintendenten mit einer von 225 Mitgliedern (49 Männer und 176 Frauen) der Kirchengemeinde Wulsdorf unterschriebenen Eingabe, mit der Bitte diese an das LKA weiterzuleiten. Superintendent Wendebourg leitet die Unterschriftenliste weiter, spielt deren Bedeutung aber herunter : Da die Kirchengemeinde Wulsdorf etwa 11000 Seelen umfaßt, stellen die Unterzeichner nur einen kleinen Teil der Kirchengemeinde dar. Unter den Kirchgängern stellen sie selbstverständlich einen höheren % Satz dar. Trotzdem hat die Unterschriftensammlung keine größere Bedeutung für das gesamtkirchliche Leben […] Ich halte diese Eingabe nicht für glücklich. Sie verrät eine schwärmerische Verehrung, die innerhalb des Raumes der Kirche nicht gesund ist. Wurde mir doch im K.V. von Wulsdorf gesagt, […] daß eine Reihe von Gemeindegliedern dem Sakrament des Altars fernblieben, wenn nicht der Vikarin Kimm das Austeilungsrecht zugestanden würde.89

Im Mai 1948 wird die Eingabe abgelehnt. Wir erkennen die Tüchtigkeit und Treue der Frau Vikarin Kimm in vollem Maße an […] Wir werden uns auch immer bemühen, die großen Gaben, die Frau Vikarin Kimm verliehen sind, für unsere Kirche nutzbar zu machen, können das aber nur im Rahmen der bestehenden gesetzlichen Bestimmungen, über die wir uns nicht hinwegsetzen dürfen.90

85 86 87 88 89 90

Ebd., 24. Februar 1948, Brief LKA an Kimm. Ebd., 16. März 1948 Brief Wendebourg an LKA. Ebd., 30. 3. 1948, Brief LKA an Wendebourg. KABL 1948, 36. Akte Wulsdorf, 19. April 1948, Brief Wendebourg an LKA. Ebd., 4. Mai 1948, Brief LKA an Quehl.

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Der Kirchenvorstand führt weitere Argumente für den Verbleib der Vikarin in Wulsdorf an. Er fühlt sich verpflichtet, dem Superintendenten einen „ungeschminkten Bericht über die Stimmung der Gemeinde im Südbezirk zu geben.“91 Sie führen unter anderem an, dass in Hameln, Bodenwerder und Lutterberg Ausnahmen gemacht werden und in Blexen (Oldenburgische Landeskirche) „Vikarin Starke zur Freude der Gemeinde ein volles Pfarramt ausüben darf.“92 Die Besetzung der Pfarrstelle verzögert sich durch die schwierige Wohnsituation in Bremerhaven. Den Hinweisen des Kirchenvorstandes ist das Landeskirchenamt nachgegangen und stellt fest: Nur in wenigen Einzelfällen sind die Vikarinnen dieser Bezirke zu Aufgaben herangezogen, die das Gesetz für sie nicht vorsieht. Keiner dieser Vikarinnen sind aber in ihrer Dienstanweisung Aufgaben übertragen, wie sie für die Vikarin Kimm gefordert werden.93

Es wird stimmen, dass den Vikarinnen die Rechte nicht in ihrer Dienstanweisung zugestanden werden, Wendebourg selbst hat aber von seinem Kollegen aus Süd-Hannover berichtet bekommen, dass Vikarin Ippensen in Hann.-Münden sowohl Trauungen als auch Beerdigungen durchführt. Hierauf berufen sich die Bremerhavener.94 Vom Landeskirchenamt wird dies dementiert, Vikarin Ippensen habe „nach dem 5.7.48 in Notfällen einmal eine Taufe und eine Trauung abgehalten.“95 Ausnahmeregelungen, Erlaubnisse und Verbote führten im Bereich der hannoverschen Landeskirche zu einer diffusen Vielfalt. Ende 1948 soll das neue Gesetz die Anstellungen der Vikarinnen regeln. Das Landeskirchenamt nimmt die bevorstehende Neuordnung zum Anlass, zunächst keine Ausnahme für Vikarin Kimm zu erlassen, da das Vikarinnengesetz „unter Umständen die Möglichkeit der Sakramentsverwaltung auch für Vikarinnen vorsieht.“96 Es dauert, bis das Gesetz veröffentlich wird. Enttäuscht wendet sich Sup. Wendebourg gegen mögliche Regelungen, die für den Dienst der Vikarin vor Ort getroffen werden sollen. Er bittet, davon abzusehen und klare für alle Gemeinden verbindliche Dienstverhältnisse zu schaffen. Sie können sich kaum vorstellen, mit welch einer Konsequenz eine frauenrechtlerisch eingestellte Dame ihr Ziel verfolgt, um sich eine Position zu verschaffen und eben darum innerhalb der Gemeinde alle Hebel in Bewegung setzt.97 91 92 93 94 95 96 97

Ebd., 19. 5. 1948, Brief KV an Wendebourg. Ebd. Ebd., 18. Oktober 1948, Brief LKA an Wendebourg. Ebd., 15. November 1948, Brief Wendebourg an LKA. Ebd., 10. Dezember 1948, Brief LKA an Wendebourg. Ebd., 29. 11. 1948, Brief LKA an Wendebourg. Ebd., 7. Dezember 1948, Brief Wendebourg an OLKR Stalmann.

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Die Auseinandersetzungen beschäftigen ihn, er sucht Wege die schwierige, ungerechte Situation zu lösen. Sollen Theologinnen weiterhin die gleiche Ausbildung machen wie die Theologen? Gleiche Bildung erfordere gleichen Dienst und gleiche Gehaltszahlung wird argumentiert. Würden die Theologinnen keine zweite Prüfung ablegen, „werden sie auch nicht mehr auf den Gedanken kommen, den Pastoren gleichgestellt zu sein.“98 Und: „Gesteht man den Vikarinnen das Recht zu, im Hauptgottesdienst zu predigen, müssen sie auch berechtigt sein, die Sakrament zu verwalten.“99 Wendebourg argumentiert logisch, kann aber den Gedanken der Gleichberechtigung nicht annehmen. Engagierte Gemeindearbeit einer Vikarin versieht er mit einer negativen Note, er versucht die Pfarrer zu schützen, vor allem die Ostgeistlichen entschuldigt er in ihrem „Mangel an Initiative“, den Vikarinnen legt er ihr Engagement aus als „beherrschenden Einfluß“.100 Über Vikarin Starke in Blexen schreibt er : „Bei ihrer außerordentlichen Fähigkeit, Menschen zu beeinflussen, ihrer Gewandheit und Liebenswürdigkeit habe sie es fertig gebracht, das kirchliche Leben zu beherrschen. Da sie gegenüber dem dortigen Ostgeistlichen die intelligentere Persönlichkeit sei, die auch in den Konfirmandenstunden besser Disziplin halten könne, auch einen stärkeren Kirchenbesuch als der Pfarrer habe, sei es nicht ausgeschlossen, daß ihr seitens des Oldenburger Kirchenrates das Pfarramt übertragen würde.“101 Zu Kimm: Umso verhängnisvoller ist es, daß neben ihm eine Vikarin arbeitet, die ihre Position glänzend auszunützen versteht. Sie hat in einem Teile der Frauenwelt und im Kirchenvorstande eine starke Anhängerschaft.102

Landessuperintendent Lienhop schließt sich dem neagtiven Blick auf die engagierten Theologinnen an, er schreibt: Es beruhen die Schwierigkeiten ohne Zweifel auf der überhöhten Stellung der Vikarin Kimm, die sie durch jahrelange Alleinherrschaft während des Krieges, aber auch durch ihre vielseitige Tüchtigkeit erworben hat. […] So scheint es mir das Richtigste zu sein, Fräulein Kimm, wenn irgend möglich, auf eine andere Vikarinnenstelle zu versetzen bzw. eine Stelle für sie zu schaffen, damit den männlichen Vertretern des Pfarramts in Wulsdorf wieder freie Bahn geschaffen wird, Fräulein Kimms Gaben aber für die Landeskirche verwertet werden.103

98 99 100 101 102 103

Ebd. Ebd. Akte Wulsdorf, 27. April 1949, Brief Wendebourg an OLKR Stalmann. Ebd. Ebd. Ebd., Brief von Lienhop an LKA vom 31. Mai 1949.

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Das neue Vikarinnengesetz vom 20. Dezember 1948104 bringt keine großen Veränderungen, die nach den Erfahrungen der Kriegszeit möglich gewesen wären. Es schreibt weiter fest, dass Vikarinnen zur Unterstützung des Pfarramtes angestellt werden. Somit kommt nicht in Frage, dass eine Vikarin mit der Versehung einer Pfarrstelle beauftragt wird, es bleibt bei einem „Dienst eigener Art“.105 Vikarinnen sollen sich vornehmlich um Frauen und Kinder sorgen, das Recht zur Verwaltung der Sakramente für diesen Arbeitsbereich kann eingeräumt werden, eine Dienstanweisung ist vor Ort zu erstellen. Das alles ist auch Stand von 1930, neu ist wie gesagt: Vikarinnen sind Gäste des Konventes. Die Höhe des Gehaltes ist nun auch klar definiert, sie erhalten 80 % des Pfarrgehaltes, die Zölibatsregel gilt weiter. „Das neue Vikarinnengesetz stellt die Vikarinnen im Grunde nicht günstiger als bisher“106 heißt es in einem Brief an Wendebourg. „Die Übernahme eines Pfarramtes oder die Beauftragung mit der pfarramtlichen Versehung einer Gemeinde durch eine Vikarin ist durch das Gesetz völlig ausgeschlossen.“107 Und: Nach den Bestimungen des Vikarinnengesetzes ist es ausgeschlossen, daß eine Vikarin in der Art beschäftigt wird, wie es jetzt bei der Vikarin Kimm der Fall ist. Der KV in Wulsdorf, sowie die Vikarin Kimm müssen sich darüber im Klaren sein, daß dieses Gesetz eine längere Weiterführung der jetzigen Arbeit der Vikarin unmöglich macht.108

Minna Kimm, die so sehr als „Pastor“ in Wulsdorf gilt,109 wird um Trauungen gebeten, d. h. es wird um eine Ausnahme gebeten, dass sie die Trauung machen darf, „es ist dieses unser sehnlicher Wunsch,“110 wird dem Superintendenten geschrieben. Die Genehmigung von zwei Trauungen wird erbeten und abgelehnt, nach der zweiten Ablehnung besteht dann der Verdacht, dass die Vikarin Kimm eine der Trauung ähnliche Handlung vollzogen hat und daß damit Eheschließende veranlaßt sind, den Segen einer kirchlichen Trauung nicht nachzusuchen.111

Außerdem legt sie sich ein Siegel zu, das sie für Urkunden benutzt. Um ein Kreuz in der Mitte zeigt das Siegel die Aufschrift: Vikarin der Ev.-Luth. Kirche Bremerhaven-Wulsdorf. Das Dienstsiegel sei ohne ausdrückliche Genehmigung des

104 105 106 107 108 109 110 111

KABL 1948, 115 f. Vgl. Hummerich-Diezun, Berufsgeschichte, 466 ff. Akte Wulsdorf, 10. Dezember 1948, Brief LKA an Wendebourg. Ebd., 11. Januar 1949, Brief LKA an Wendebourg. Ebd., 12. März 1949 Brief LKA an Wendebourg. Ebd., 22. Februar 1949, Nachtrag zum Brief Wendebourg an das LKA. Ebd.; auch Akte Wulsdorf, 1. März 1949, Brief Wehrenberg an Wendebourg. Akte Wulsdorf, 28. März 1949, Brief Wendebourg an LKA; Ebd., 4. April 1949 Brief LKA an Kimm.

„Es fehlt kein Pastor, nur Vikarin Kimm“

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Landeskirchenamtes eingeführt, diese müsse eingeholt werden. Das Verfahren endet damit, dass Minna Kimm erklärt, das Siegel nicht mehr zu benutzen.112 Im September 1949 stellt das Landeskirchenamt eindeutig fest, dass es keine Dienstanweisung geben kann, die einer Vikarin die Rechte zugesteht, die Vikarin Kimm in Wulsdorf praktiziert hat. Die in der eingereichten Dienstanweisung für die Vikarin vorgesehen Aufgaben würden die Vikarin weithin zur Pfarrerin machen. Aber gerade das ist in den Verhandlungen auch von den Mitgliedern, die für das Vikarinnengesetz eintraten, abgelehnt. Es wird auch dort nicht unbekannt sein, daß das Vikarinnnengesetz in der Synode auf heftigen Widerstand gestoßen ist und es nicht geringen Anstrengungen bedurft hat, die Annahme des Gesetzes zu erreichen.113

Der Streit um gleiche Rechte im Beruf des Geistlichen endet in Wulsdorf mit der Wiederbesetzung der zweiten Pfarrstelle im April 1950. Minna Kimm bekommt zum 1. April 1950 eine Vikarinnenstelle für die katechetische Arbeit der Landeskirche mit dem Sitz in Hermannsburg.114 Die Chronik der Kirchengemeinde Wulsdorf findet würdige Worte für Vikarin Minna Kimm: Inzwischen war […] Frau Minna Kimm als Vikarin nach Wulsdorf gekommen. Mit großer Hingabe und Liebe nahm sie sich der Gemeinde an, in der sie neun Jahre, bis 1950, Dienst tat. Sie war es, die dafür sorgte, daß kein Gottesdienst auszufallen brauchte, besonders nach 1945.115

Die Vikarinnen Lina Ippensen und Charlotte von Viebahn haben Bremerhaven bereits im Jahr 1946 verlassen. Im Oktober 1951 wird die Stadtvikarin Gerda Voß in der Christuskirche eingesegnet, im April 1953 nimmt Hilde Schneider diese Stelle ein. Sie will nicht nach Bremerhaven. „Sie fürchtete um ihren Gesundheitszustand. Zudem hatte der Kirchenkreis den schlechtesten Ruf bei den jungen Theologinnen.“116 Für Bremerhaven wird vom Landeskirchenamt peinlich genau darauf geachtet, dass eine Vikarin keinen Dienst ausübt, der einem Pastor vorbehalten ist.117 In anderen Fällen wurde mit Schweigen toleranter verfahren, in Hannover-Stöcken z. B. reichte der nicht weiter verfolgte Hinweis des Kirchenvorstandes „In unseren Gottesdiensten sind vornehmlich Frauen und Kinder“118 als Erlaubnis für Gottesdienste, Taufen und Abendmahl. Minna Kimm kehrt 1952 in ihre Heimatstadt Göttingen zurück. Bis zu ihrem 112 Ebd., 14. Mai 1949, Brief Wendebourg an Kimm; Ebd., 4. Juni 1949, Brief Wendebourg an Kimm. 113 Ebd., 24. September 1949, Brief LKA an KV Wulsdorf. 114 Ebd., 3. März 1950, Brief LKA an Kimm. 115 Grunwald, Chronik, 155. 116 Schmidt, Riga, 225. 117 Vgl. Akte Voß, 8. März 1952 Brief Wendebourg an LKA. 118 Schröder, Erfahrungen, 256.

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Ruhestand ist sie Vikarin an den Universitätskliniken. Gestorben ist sie am 13. November 1984 in Göttingen. Sie lebte ihren Einsegnungsspruch 1. Chr. 28,20 „Sei getrost und unverzagt, der Herr wird mit dir sein.“119

Literatur Ungedruckte Quellen Akte Amtsführung, Spec. Wulsdorf I, 200, Archiv der Superintendentur Bremerhaven. Akte Geestemünde/Marien, Gen. 202 – 4 Vikarin Kimm, Archiv der Superintendentur Bremerhaven. Akte Geschäftsverteilung, Spec. Wulsdorf I, 202 – 2, Archiv der Superintendentur Bremerhaven. Akte Vikarin Voß, Gen. 203/T-Z. Pfarrer, persönliches, Archiv der Superintendentur Bremerhaven. Akte Superintendent Wendebourg, Gen. 203/T – Z Pfarrer persönliches, Archiv der Superintendentur Bremerhaven. Akte Wulsdorf, Spec. Wulsdorf I, 202 – 1 Vikarin Kimm, Archiv der Superintendentur Bremerhaven. Grunwald, G., Chronik von Wulsdorf, Bremerhaven-Wulsdorf, 1990, Archiv der Kirchengemeinde Dionysius Bremerhaven-Wulsdorf. Kirchenvorstandsprotokollbuch Evangelisch-lutherischer Kirchenvorstand WesermündeWulsdorf.1940 – 1965, Archiv der Kirchengemeinde Dionysius Bremerhaven-Wulsdorf. Protokollbuch Kreiskirchenvorstand Wesermünde-Stadt und Stadtkirchenkonferenz, Februar 1938–Mai 1951, Archiv der Superintendentur Bremerhaven.

Gedruckte Quellen Brunner, P., Gutachten über die Frage, ob die Vikarin in das Predigtamt berufen und ordiniert werden kann, in: D. Herbrecht/I. Härter/H. Erhart (Hg.), Der Streit um die Frauenordination in der Bekennenden Kirche. Quellentexte zu ihrer Geschichte im Zweiten Weltkrieg, Neukirchen-Vluyn 1997, 117 – 138. Geestemünder Gemeindebote. Mitteilungsblatt der ev.-luth. Kirchengemeinden Bremerhaven-G., 15. Jg., Februar 1964 Nr. 2, 2. Jacobi, G., Mein Ordinationsformular für Vikarinnen, in: D. Herbrecht/I. Härter/H. Erhart (Hg), Der Streit um die Frauenordination in der Bekennenden Kirche. Quellentexte zu ihrer Geschichte im Zweiten Weltkrieg, Neukirchen-Vluyn 1997, 138 f. Kirchengesetz betreffend Abänderung des Kirchengesetzes über die Anstellung der Pfarramtshelferinnen vom 1. Mai 1930 (Kirchliches Amtsblatt Seite 59) vom 12. November 1941, Kirchliches Amtsblatt für die evangelisch-lutherische Landeskirche Hannovers, 1942, 19 f. 119 Cunow, Kimm, 212.

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Kirchengesetz über die Vorbildung der Pfarramtshelferinnen. Vom 1. Mai 1930, Kirchliches Amtsblatt für die evangelisch-lutherische Landeskirche Hannovers, 1930, 57 – 59. Kirchengesetz über die Anstellung der Pfarramtshelferinnen. Vom 1. Mai 1930, Kirchliches Amtsblatt für die evangelisch-lutherische Landeskirche Hannovers, 1930, 59 – 61. Kirchengesetz über die Rechtsstellung der Pastorinnen (Pastorinnengesetz). Vom 13. Dezember 1963, Kirchliches Amtsblatt für die evangelisch-lutherische Landeskirche Hannovers, 1964, 24 – 26. Kirchengesetz über die Dienstverhältnisse der Vikarinnen (Vikarinnengesetz). Vom 20. Dezember 1948, Kirchliches Amtsblatt für die evangelisch-lutherische Landeskirche Hannovers, 1948, 115 f.

Sekundärliteratur Blatz, B., Margarete Daasch (1908 – 1993), in: I. Mager, Frauenprofile des Luthertums. Lebensgeschichten im 20. Jh., LKGG, Bd. 22, Gütersloh 2005, 558 – 570. Cunow, D., Lina Ippensen. 1911, in: Lexikon früher evangelischen Theologinnen. Biographische Skizzen, Neukirchen-Vluyn 2005, 189. –, Minna Kimm. 1910 – 1984, in: Lexikon früher evangelischen Theologinnen. Biographische Skizzen, Neukirchen-Vluyn 2005, 212. Gerke, W., „Für die Dauer des Krieges“ – Eine Pfarrvikarin in Lehe, in: Ev.-luth. Michaelis- und Pauluskirchengemeinde (Hg.), 1905 – 2005, Pauluskirche, Bremerhaven 2005, 65 ff. Globig, Ch., Frauenordination im Kontext lutherischer Ekklesiologie. Ein Beitrag zum ökumenischen Gespräch, KiKonf, Bd. 36, Göttingen 1994. Härter, I., Helene von Viebahn. 1892 – 1973, in: Lexikon früher evangelischen Theologinnen. Biographische Skizzen, Neukirchen-Vluyn 2005, 416. Henze, D., Die Anfänge des Frauenstudiums in Deutschland, in: Frauenforschungsprojekt zur Geschichte der Theologinnen (Göttingen) (Hg.), Historisch-theologische Studien zum 19. und 20. Jh., Bd. 7: „Darum wagt es, Schwestern…“. Zur Geschichte evangelischer Theologinnen in Deutschland, Neukirchen-Vluyn 1994, 19 – 40. Herbrecht, D., Emanzipation oder Anpassung. Argumentationswege der Theologinnen im Streit um die Frauenordination in der Bekennenden Kirche, Neukirchen-Vluyn 2000. Hummerich-Diezun, W., Die Weiterentwicklung der Berufsgeschichte der Theologinnen nach 1945 – ein Überblick, in: Frauenforschungsprojekt zur Geschichte der Theologinnen (Göttingen) (Hg.), Historisch-theologische Studien zum 19. und 20. Jh., Bd. 7: „Darum wagt es, Schwestern…“. Zur Geschichte evangelischer Theologinnen in Deutschland, Neukirchen-Vluyn 1994, 465 – 484. Köhler, H., Die Entwicklung der Theologinnengesetzgebung bis 1932, in Frauenforschungsprojekt zur Geschichte der Theologinnen (Göttingen) (Hg.), Historischtheologische Studien zum 19. und 20. Jh., Bd. 7: „Darum wagt es, Schwestern…“. Zur Geschichte evangelischer Theologinnen in Deutschland, Neukirchen-Vluyn 1994, 109 – 128.

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Susanne Wendorf-von Blumröder

–, Meilenstein der Frauenordination, Tagesthema 12. Januar 2013, http://www.landeskirche-hannovers.de/evlka-de/presse-und-medien/frontnews/2013/01/12. –/Henze, D./Herbrecht, D./Erhart, H., Dem Himmel so nah – dem Pfarramt so fern. Erste evangelische Theologinnen im geistlichen Amt, Neukirchen-Vluyn 1996. Konvent Evangelischer Theologinnen in der Bundesrepublik Deutschland und Berlin (West), Das Weib schweigt nicht mehr. Wie das Amt der Theologin Wirklichkeit wird. Katalog zur Ausstellung, 1991. Kück, Th. J. (Hg.), Zur Lage der Kirche. Die Wochenbriefe von Landesbischof D. August Marahrens 1934 – 1947, Bd. 3, Göttingen 2009. Nüssel, F./Sattler, D., Einführung in die ökumenische Theologie, Darmstadt 2008. Schatz-Hurschmann, R., Kleider machen Pfarrerinnen, in: Frauenforschungsprojekt zur Geschichte der Theologinnen (Göttingen) (Hg.), Querdenken. Beiträge zur feministisch-befreiungstheologischen Diskussion, FS Hannelore Erhart zum 65. Geburtstag, L. Siegele-Wenschkewitz u. a. (Hg.), Theologische Frauenforschung – Erträge und Perspektiven, Bd. 1, 290 – 306. Scheper, B., Die jüngere Geschichte der Stadt Bremerhaven, Bremen 1977. Schmidt, H., Zwischen Riga und Locarno. Bericht über Hilde Schneider, Christin jüdischer Herkunft, Diakonisse, Ghetto- und KZ-Häftling, Berlin 22001. Schröder, A., Meine Erfahrungen in der Landeskirche 1946 – 1992, in: D. Biermann/H. Otte (Hg.), Frauen-Christentum-Geschichten aus Niedersachsen, Hannover 2003.

Abkürzungen Kabl Kirchliches Amtsblatt für die evangelisch-lutherische Landeskirche Hannovers

Annette Behnken

Predigt am Sonntag Quasimodogeniti 2012. Kolosser 2, 12 – 15 und „Ziemlich beste Freunde“

I. Liebe Gemeinde, es muss wie Sterben gewesen sein. Wie ein Vogel mit gelähmten Flügeln vom Himmel gefallen. Vom Schönsten zum Schlimmsten. Die größte Freiheit, die es für ihn gab. Der absolute Genuss. Durch die Luft fliegen. Über alles da unten drüberwegschweben. Vollkommen frei hat er sich jedes Mal gefühlt. Verwachsen mit seinen Flügeln, seinem Gleitschirm. Dann der Absturz. Wie Sterben. Viel hat nicht gefehlt. Jetzt sitzt er in Paris in seiner Villa. Im Rollstuhl gleitet er übers Parkett, steuert ihn mit dem Kinn. Vom Hals abwärts kann er sich nicht bewegen und nichts fühlen. Es muss wie Sterben gewesen sein. Dabei hätte alles neu anfangen können. Endlich raus aus dem Knast, nach einem halben Jahr. Zurück in die Wohnung der Mutter, das Nest, in das er immer zurückkehren konnte. Sie wusste von nichts. Er hat sich nicht getraut, ihr davon zu erzählen. Natürlich nicht. Bewaffneter Bankraub. Er wusste, wie weh ihr das getan hätte. Und wenn’s um seine Mutter ging, dann war er, der harte Kerl aus der Pariser Vorstadt, butterweich. Er hatte es endlich hinter sich, das halbe Jahr in der Zelle. Und er hätte gut ihre starken Arme brauchen können, die ihn auffangen nach all dem. Aber es war zu spät. Natürlich dachte sie sich ihren Teil. Ein halbes Jahr war er wie vom Erdboden verschwunden. Sie konnte ihm nicht mehr vertrauen. Es war zu viel. Er hatte so viel Mist gebaut, immer wieder. Jetzt reichte es. Sie hat ihn rausgeschmissen. Raus aus dem viel zu kleinen Nest. Wie einen Vogel, der endlich fliegen lernen soll. Aber er war im freien Fall. Er wusste nicht, wie das geht: Fliegen. Jetzt streunt er durch Paris und weiß nicht, wohin mit sich. Dann treffen sie aufeinander. Zwei Männer, die unterschiedlicher nicht sein könnten. Der steinreiche, querschnittsgelähmte und griesgrämige Philippe, bei

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dem es kein Pfleger lange aushält. Alle hat er mürbe gemacht mit seiner mürrischen Art. Und der obercoole, vorbestrafte Driss, der nur irgendwie durchkommen will, kiffen, Musik hören, mit Freunden abhängen. Er bewirbt sich als Pfleger bei Philippe. Nicht, weil er ernsthaft vorhätte, als Pfleger zu arbeiten. Er will die Absage und die Unterschrift fürs Arbeitsamt, dass er da war und es versucht hat. Sie schauen einander in die Augen. Und ahnen nicht, dass sie später ziemlich beste Freunde werden.

II. Liebe Gemeinde, es war wie Auferstehen. Ein Gefühl, als ob die Flügel der Seele sich wieder ausbreiten, endlich. Aufatmen, Losfliegen. Das Leben hatte sie wieder. Da saßen sie nun, vor langer Zeit, weit weg von hier. Kolossa hieß der Ort. Es muss kurz nach Ostern gewesen sein, vielleicht 50 Jahre nach Beginn unserer Zeitrechnung. Da saßen sie und fühlten sich tief miteinander verbunden. Ganz unterschiedliche Menschen, die normalerweise nichts gemein hatten. Aber dies alles hier, das war so verbindend, als wären sie Schwestern und Brüder. – Männer und Frauen, Jüdinnen und Griechen, Sklaven und Freifrauen. Sie hatten sich taufen lassen, in der Osternacht. In der Nacht zum Fest der Auferstehung. Sie sind ins Wasser getaucht worden, mit Haut und Haaren. Wie sterben. Und dann: Wie Auferstehen. In weißen Gewändern, als würden sie in einem neuen Licht leben, haben sie gemeinsam ihren Glauben bekannt. Nicht so lang, wie wir heute. Kurz und knapp sagten und sangen sie: „Wir glauben, dass Jesus gestorben und auferstanden ist.“ Das war ihr Glaubensbekenntnis. In diesen wenigen Worten steckte ihr ganzes Leben, ihre Sehnsucht, ihr Vertrauen, ihre Hoffnung, ihr Glaube. Sie trafen sich regelmäßig. Erzählten einander ihre Geschichten. Von der Trauer um ihren Mann erzählte eine. Von seinem Leben als Sklave ein anderer. Die Krankheit – und wie allein sie war. Sein Betrug, das ganze Unrecht, das er getan hatte und wie er sich selbst nicht mehr ertragen konnte. Jeder erzählte. Und die anderen hörten zu. Und dann erzählten sie von dem neuen Leben. Wie das Leben wieder anfing zu schmecken. Die Lust am Leben wuchs. Sie neugierig wurden, und stärker. Bei manchen passierte das zuerst unmerklich, kaum spürbar, wie ein sanfter Windhauch. Bei anderen wie ein Blitz, der einschlug. Sie erzählten von Menschen, die auf einmal da waren. Jemand, der die Trauer mit ausgehalten hat. Einer, der in die Arme genommen hat. Eine, die mit kühler Hand die fiebrige

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Stirn gestreichelt hat. Einer, der zugehört hat und nichts beschönigt, aber auch nicht verurteilt hat. Getauft werden, das war für sie wie Bekennen, als wollten sie damit sagen: Das neue Leben hat mich angeweht. Es hat mich neu lebendig gemacht, ich fühle mich wie neugeboren. Und es kennt keine Grenzen, dieses neue Leben, im Gegenteil, es überschreitet Grenzen, sozial ebenso wie ethnisch und sogar ethisch. Männer und Frauen, Jüdinnen und Griechen, Sklaven und Freifrauen Jede und jeder konnte da hineingenommen werden, davon erfasst werden, wirklich jeder. Manchmal lasen sie sich etwas vor. Einen der Briefe, die in den christlichen Gemeinden umhergereicht wurden. Sie hörten zu, als einer von ihnen las: (Kolosser 2, 12 – 15) Mit ihm seid ihr begraben worden durch die Taufe; mit ihm seid ihr auch auferstanden durch den Glauben aus der Kraft Gottes, der ihn auferweckt hat von den Toten. Und er hat euch mit ihm lebendig gemacht, die ihr tot wart in den Sünden und in der Unbeschnittenheit eures Fleisches, und hat uns vergeben alle Sünden. Er hat den Schuldbrief getilgt, der mit seinen Forderungen gegen uns war, und hat ihn weggetan und an das Kreuz geheftet. Er hat die Mächte und Gewalten ihrer Macht entkleidet und sie öffentlich zur Schau gestellt und hat einen Triumph aus ihnen gemacht in Christus.

Schwer zu verstehen. So ging es ihnen oft mit diesen Briefen. Aber eine Kraft ging von den Worten aus, die sie alle, wie sie da saßen mit ihren Geschichten vom Sterben und Auferstehen, ergriff. Genauso, wie es da stand, empfanden sie es. Die alten Mächte, die sie tot und unlebendig gemacht hatten, hatten keine Macht mehr. Sie lebten neu auf. Ihre Seelen breiteten die Flügel aus. Auferstehen.

III. Philippe sitzt im Rollstuhl, Driss steht ihm gegenüber. Philippe hat eine lange Reihe von Bewerbern angehört, alle freundlich-korrekt – sie öden ihn unsagbar an. Dann Driss. Unverschämt-ungeduldig-zappelig: „Ich brauch drei Unterschriften“ Philippe: „Verstehe. Sie brauchen das Geld. Haben Sie denn keine anderen Ziele im Leben?“ Zielsicher ins Schwarze getroffen. Driss fordert ihn auf, sofort zu unterschreiben und braucht eine Weile, bis er kapiert, dass Philippe das nicht kann. „Echt beschissen, hä?“ sagt er. „Echt beschissen“, bestätigt Philippe. Driss wird Philippes Pfleger, ein Pfleger der ungewöhnlichen Art. Und Philippe ein Chef der ungewöhnlichen Art. Ohne Vorsatz und Plan eröffnen die beiden einander neue Welten und neues Leben. Zeigen einander ihre Welten.

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Musikwelten, Carl Maria von Weber trifft Earth Wind and Fire. Schnelle Autos. Frauen. Kunst. Alles, was das Herz höher schlagen lässt. Sie werden Freunde. Hinter diesen Figuren aus dem Film „Ziemlich beste Freunde“ stehen echte Menschen und eine echte Geschichte. Wenn man die beiden Männer heute fragt, wo sie wären, wären sie einander nicht begegnet, sagt der echte Driss: „Ich wäre tot oder im Knast.“ Der echte Philippe sagt: „Ich säße weiter im goldenen Käfig und wäre allmählich auf kleiner Flamme gestorben.“ Sie drehen einander die Lebensflammen höher. Es ist nicht mehr lauwarm. Das Leben hat Hitze und Leidenschaft. Driss steht für Philippe ein. Wer unberechtigter Weise auf Behindertenparkplätzen parkt, hat nichts Gutes von ihm zu erwarten. Fast zärtlich hält er Philippe seine Zigarette zum Ziehen an die Lippen. – Und schließlich sorgt er dafür, dass Philippe die Frau trifft, von der er träumt, mit der ihn seit Jahren eine Brieffreundschaft verbindet. Sie weiß nichts von Philippes Behinderung. Philippe will ihr nicht begegnen. Aber Driss hat Philippe als so wunderbaren Mann kennengelernt – das muss diese Frau doch auch erkennen. Und Philippe steht für Driss ein. Als Driss viel zu schnell mit Philippes Maserati fährt und von der Polizei angehalten wird, täuscht Philippe auf dem Beifahrersitz einen epileptischen Anfall vor. Von der Polizei eskortiert fahren sie zum Krankenhaus. Als die Polizei wieder weg ist, können sie nicht aufhören zu lachen und Driss dreht die Anlange voll auf. Earth Wind and Fire. Sie eröffnen einander Welten. Fangen neu an, zu leben. Wie aufatmen. Wie fliegen. Und genau das tun sie dann. Sie fliegen.

IV. Wie Auferstehen. Sie wurden in der Osternacht getauft. In weiße Gewänder gekleidet. Und zogen so, getauft und in Weiß, die ganze Osterwoche hindurch von Kirche zu Kirche gezogen. Dort haben sie Station gemacht und Gottesdienst gefeiert. Eine Festwoche ganz in weiß. Eine Woche Leben wie in einer eigenen Welt, voller Duft von Salbölen, voller Kerzenlicht und Gesang. Eine eigene Welt, eine Liturgie des Lebens, die da eingeübt wurde. Dann kam der 1. Sonntag nach Ostern, der weiße Sonntag. Sie haben die weißen Kleider abgelegt und ihre Alltagskleidung wieder angezogen. Ab jetzt sollte jeder Tag diese Lebensluft und Lebenslust atmen. Jetzt soll das neue Leben den Alltag durchwirken.

Predigt am Sonntag Quasimodogeniti 2012

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V. Sie eröffnen einander Welten. Fangen neu an, zu leben. Wie aufatmen. Wie fliegen. Und das tun sie, sie fliegen. Mit Gleitschirmen. Jeder mit einem erfahrenen Partner im Tandemflug, Philippe zusätzlich mit einer besonderen Vorrichtung wegen seiner Behinderung. Als die Gleitschirme abheben, fängt Driss an zu schreien. Erst in Panik, dann in freudiger Ekstase. Absolute Freiheit. Absoluter Genuss. Neben ihm in der Luft: Philippe. Er lächelt still. Das Leben hat ihn wieder. Auferstehen. Mitten im Leben. Amen Quellenverweis: Evangelische Kirche im NDR (err e.V.)

Seelsorge und Pastoralpsychologie

Norbert Rückert

Seelsorge im Gespräch. Psychotherapie, Beratung oder was sonst? Vielleicht fällt uns das Sprechen im Gespräch oft so schwer, weil wir nicht angemessen über das Gespräch zu sprechen vermögen. Martin Nicol, Gespräch als Seelsorge, 17.

In der oben zitierten Publikation vergleicht M. Nicol verschiedene „exemplarische Gesprächskonzeptionen“ der Seelsorge und meint, drei unterschiedliche „Paradigmen der Gesprächsbeziehung“1 zwischen dem Pastor und seinen Adressaten identifizieren zu können: Der Pastor als Arzt: Bei C.I. Nitzsch wird im 19. Jh. der Pastor mit dem „Seelenarzt“ verglichen, an dessen diagnostischer Fähigkeit sich seine berufliche Qualität zu erweisen habe. Damit bewege sich die Seelsorge im „Arzt-Patient-Paradigma“.2 Dass die Seelsorge vor Irrtum, Leiden und Sünde „gleichsam medizinisch-präventiv“3 auch schützen möchte, bestätige diese Einschätzung. Der Pastor als Prediger : Die Seelsorge soll in erster Linie eine Verkündigung des Wort Gottes sein. Das hier nur angedeutete Paradigma bezeichnet Nicol als „Prediger-Hörer-Paradigma“, in dem sich kaum „ein wirkliches Gespräch entfalten könne“.4 „Gespräch und Verkündigung lassen sich letztlich nicht organisch miteinander verbinden“.5 Der Pastor als Therapeut: Der Pastor wird als Therapeut (bzw. präziser : als Psychotherapeut) betrachtet. Der Schweizer Theologe und Psychoanalytiker Oskar Pfister wird häufig als Begründer und Verfechter dieses Therapeut-Analysand-(bzw. Klient-)Paradigmas genannt, das durchaus bis heute – unterschiedlich akzentuiert – vertreten wird. Nicol weist hier auf folgende mögliche Problematik hin: „Je mehr Psy1 2 3 4 5

Nicol, 128. Ebd., 132. Ebd., 133. Ebd., 136. Ebd., 146.

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Norbert Rückert

chotherapie und Seelsorge sowohl im Blick auf ihre Methode als auch auf ihr Ziele übereinstimmen, desto mehr handelt der Seelsorger… nicht wie, sondern als Therapeut“.6 Seiner Einschätzung, dass alle drei Paradigmen von einem „Gefälle“ zwischen dem/der Seelsorger/in und Adressat/in gekennzeichnet seien, kann man zustimmen. Allerdings lässt Nicols Bild von der Psychotherapie eher an eine belehrende bzw. dirigierende Veranstaltung denken. Dies galt m. E. jedoch schon nach Sigmund Freuds Wende von der Hypnose zur „analytischen Kur“ nicht mehr : Wir haben es entschieden abgelehnt, den Patienten … zu unserem Leibgut zu machen, sein Schicksal für ihn zu formen, ihm unsere Ideale aufzudrängen und ihn im Hochmut des Schöpfers zu unserem Ebenbild, an dem wir Wohlgefallen haben sollen, zu gestalten.7

Udo Rauchfleisch nimmt „Grenzgänge zwischen Psychotherapie und Seelsorge“8 vor, indem er einerseits das „religiöse Tabu in der Psychotherapie“ und andererseits das „psychotherapeutische Tabu im religiösen Kontext“ analysiert. Seine Ausführungen zum Distanzierungsbestreben der eher naturwissenschaftlich geschulten Psychotherapeuten und Psychotherapeutinnen gegenüber der Religion (etwa aus Furcht vor einem Rückfall in ein vorwissenschaftliches Weltbild) sind plausibel. Gleiches gilt ebenso für seine kritischen Hinweise, dass dadurch in der Psychotherapie die Gefahr bestehe, den Stellenwert der Religion bei einigen Patienten und Patientinnen zu verkennen oder nicht zu thematisieren.9 Ein weiteres Problem läge darin, dass die psychotherapeutischen Schulen selbst den „Charakter von ,Kirchen‘ mit je eigenen Dogmen“ angenommen hätten. Dass die Strukturen der kirchlichen und psychotherapeutischen Institutionen eine frappante Ähnlichkeit aufwiesen, scheint doch sehr „forciert“ formuliert zu sein. Wenn man allerdings das explizit propagierte Bestreben der Bundespsychotherapeutenkammer betrachtet, Fachhochschulabsolventen/-innen den bislang im Psychotherapeutengesetz vorgesehenen Zugang zur Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie zu erschweren bzw. sogar zu verhindern, könnte Rauchfleisch z. T. doch recht haben. Anschließend beschreibt und analysiert er psychotherapeutische Tabus in 6 7 8 9

Ebd. Freud, Wege, 190; zit. n. Rauchfleisch, Seele, 47. Man beachte Freuds biblische Sprache! So lautet der Untertitel seiner Publikation. Aufgrund eigener Beobachtungen würde ich – etwas flapsig formuliert – behaupten, dass „Sex, Money and Religion“ die in der Psychotherapie am meisten tabuisierten Themen sind.

Psychotherapie, Beratung oder was sonst?

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religiösen Kreisen. Als Grund nennt er u. a., dass psychotherapeutische Vorgehensweisen als Konkurrenz für seelsorgerliche Konzepte empfunden werden. Eine weitere Ursache bilde die Diskrepanz zwischen „traditionellen“ religiösen Vorstellungen und „modernen“ Auffassungen der Lebensführung (z. B. hinsichtlich gleichgeschlechtlicher Partnerschaften). Seine weiteren Ausführungen gehören zwar zum Hintergrund für meine Überlegungen, sind jedoch für die zentrale Fragestellung des vorliegenden Beitrags nicht so sehr von Belang. Hier geht es eher darum, zu fragen, warum die Seelsorge sich sehr häufig mittels der Psychotherapie expliziert10 und warum kaum andere Handlungskonzepte bzw. „Verfahren“ als Anregungen oder Vorbilder in Betracht kommen? Ohne über empirische Daten zu diesem Thema zu verfügen, sollte die Vermutung erlaubt sein, dass dies u. a. mit einer Statusänderung der Kirchen und ihrer Vertreter/-innen zusammenhängen könnte: Bis zur Mitte des 20. Jh. waren – vor allem im ländlichen Raum – drei Berufsgruppen als Autoritäten sehr anerkannt, nämlich Ärzte, Lehrer und Pfarrer bzw. Pastoren. Im Zuge der sich stärker ausbreitenden Säkularisierungstendenzen, die bis heute noch virulent sind, könnte es für die Seelsorge attraktiv sein, sich noch etwas im Nimbus der heilenden Berufe bzw. der „Halbgötter in Weiß“ zu bewegen und sich nicht (nur) als Dienstleister in der profanen Moderne verstehen zu müssen.11 Dabei kommt, worauf u. a. I. Kahle hinweist, noch Folgendes hinzu: „Menschen haben an … Seelsorger und Seelsorgerinnen andere Erwartungen als an nicht kirchlich gebundene Therapeuten und Therapeutinnen“.12 Zudem hat sich das Berufsfeld der Psychotherapie durch das am 1. Januar 1999 in Kraft getretene Psychotherapeutengesetz (PsychThG)13 deutlich verändert. Der Zugang zu diesem Beruf ist nun auf einen kleineren Kreis eingeschränkt worden (für die Psychotherapie Erwachsener nur noch mit einem Abschluss in Medizin oder in Psychologie mit Schwerpunkt „Klinische Psychologie“).Theologen/-innen, Soziologen/-innen sowie vielen anderen Studienabschlüssen ist der Zugang daher nicht mehr möglich.14 Eine weitere Änderung ist auch dadurch eingetreten, dass die Psychotherapie als Behandlung einer 10 D. Stollberg, Aspekte, 203 bezeichnet die Seelsorge und Psychotherapie sogar als „Zwillingsschwestern“. 11 Das Image von Lehrer/innen scheint heute hingegen keine attraktive Alternative mehr zu sein. 12 Kahle, 240. 13 Dessen vollständiger Name lautet: Gesetz über die Berufe des Psychologischen Psychotherapeuten und des Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten. 14 Für die Psychotherapie von Kindern und Jugendlichen können auch (sozial)pädagogische oder äquivalente Studienabschlüsse als Zugangsvoraussetzung anerkannt werden. Wie bereits erwähnt, gibt es seitens der universitären Psychologie jedoch Bestrebungen, diese Möglichkeit einzuschränken.

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krankheitswertigen Störung und somit als Heilkunde gilt. Wer dies in Deutschland ohne Lizenz, d. h. Approbation tut, kann wegen unerlaubter heilkundlicher Tätigkeit eine Abmahnung erhalten und bei deren Nichteinhaltung bestraft werden. Wenn heute jemand mit Stollbergs häufig zitierter Bezeichnung der Seelsorge als „Psychotherapie im kirchlichen Kontext“15 werben sollte, aber keine Approbation hat, könnte er oder sie streng genommen durch einen findigen Anwalt oder eine Anwältin abgemahnt werden. Es könnte also mehrere gute Gründe geben, in der Konzeption von Seelsorge sich nicht zu einseitig an der ärztlichen oder psychologischen „Heilkunde“ zu orientieren. Während vor allem Fachgesellschaften der Psychologie in englischsprachigen Ländern (besonders im britischen und kanadischen Raum) schon lange Sektionen speziell für Beratungspsychologie (mit reger Publikationstätigkeit und Qualifizierungsmaßnahmen) vorweisen, ist dies in Mitteleuropa (noch) nicht so stark zu beobachten. Die Beratungspsychologie könnte eines Tages vielleicht sogar für die Seelsorge ein passenderes Pendant sein als die Psychotherapie. Um dies plausibel machen zu können, wäre zunächst zu klären, was überhaupt unter Beratung zu verstehen ist. Dies ist aus zwei Gründen kein leichtes Unterfangen. Zum einen ist der Begriff Beratung nicht normiert bzw. geschützt und kann daher von jeder Person für ihre Tätigkeit verwendet werden (s. Beispiele in Tab. 1). Zum anderen ist nicht nur in der Seelsorge, sondern leider auch im Bereich der Beratung eine „Psychotherapeutisierung“ zu beobachten, die anschließend zu thematisieren sein wird. Tab. 1: Beispiele für Beratungsfelder Berufsberatung, Drogenberatung, Ehe-/Paarberatung, Ernährungsberatung, Erziehungsberatung, Farb- und Stilberatung, Lebensberatung, Organisationsberatung, Politikberatung, Schuldnerberatung, Schwangerenberatung, Sexualberatung, Studienberatung, Trennungs-/Scheidungsberatung, Unternehmensberatung, Vermögensberatung.

Zunächst soll die Frage, warum für die hier (alphabetisch) aufgelisteten Felder der Begriff Beratung passend scheint, in erster Näherung mit Blick auf deren Anlass beantwortet werden: Dieser besteht darin, dass eine oder mehrere Personen sich Unterstützung bzw. Hilfe suchen bei einer Person, die etwas mehr weiß oder kann als sie selbst und die ihre Kompetenz zur Verfügung stellt – entweder unentgeltlich oder gegen Bezahlung. Eine zweite Gemeinsamkeit ist darin zu sehen, wie Beratung erfolgt. Dies lässt sich bereits an verwandten Begriffen wie Ratsversammlung oder Ältestenrat 15 Stollberg, Mein Auftrag, 63; zit. n. Stollberg, Aspekte, 220.

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ablesen: Es werden dort Überlegungen angestellt und ausgetauscht. Bei der Beratung geht es also um ein kommunikatives Handeln. Dies gilt m. E. sogar für eine Aussage wie „Ich werde mit mir nochmals zu Rate gehen“; auch ein Selbstgespräch ließe sich demnach noch als Beratung bezeichnen. Um jedoch einem allzu diffusen Verständnis von Beratung, wie es m. E. in der Sozialen Arbeit gelegentlich anzutreffen ist,16 zu begegnen, wäre die Beratung von zwei anderen Formen der Unterstützung bzw. Hilfe abzugrenzen (vgl. Abb. 1).

Abb. 1. Formen der Unterstützung/Hilfe

Eine typische Form der Hilfe kann auch darin bestehen, Menschen weniger mit Rat, sondern überwiegend mit Taten zu unterstützen. Dies kann z. B. eine Begleitung bei Behördengängen oder bei Gerichtsverhandlungen oder eine eher pflegerische Tätigkeit oder die Durchführung von Freizeitaktivitäten sein. Zum anderen kann Hilfe auch in Form einer Sachleistung (z. B. Essenausgabe, Unterkunft, Kleiderkammer oder Geldbeträge) erfolgen. Diese hier auf einer theoretischen Ebene differenzierten Vorgehensweisen werden sich mitunter sowohl in der Alltagspraxis sozialer Berufe als auch in der Seelsorge unweigerlich vermischen.17 Häufig ist jedoch erkennbar, welche Form im Mittelpunkt steht. Von einer Beratung sollte nur dann die Rede sein, wenn tatsächlich die (verbale und nonverbale) Kommunikation überwiegt. Für die Seelsorge könnte eine Orientierung an der Beratung folgende Vorteile haben:

16 Vgl. Danzer, Alltag. 17 Angesichts dieser Differenzierung wird später zu fragen sein, inwieweit Seelsorge sich überhaupt als „Gespräch“ verstehen kann oder soll.

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Beratung ist in vielen Organisationsformen („Settings“) möglich, nämlich sowohl in einer Komm- als auch in einer Geh-Struktur (z. B. im Krankenhaus); wörtlich genommen, kann es sich auch um einen Spaziergang handeln. Beratung ist nicht, wie häufig unreflektiert gemeint wird, auf die Einzelfallhilfe fixiert. Sie kann sich auch an Paare, Familien, Gruppen und Organisationen richten (vgl. Tab. 1). In der Beratung muss nicht ein Problem bzw. gar ein Defizit vorliegen. Das Anliegen könnte – im Sinne des Coachings – z. B. auf die Weiterentwicklung vorhandener Glaubens- und Wissensbestände oder Fähigkeiten ausgerichtet sein. Da also im Unterschied zur Psychotherapie der Anlass einer Beratung nicht notwendig eine an der Person „haftende“ krankheitswertige Störung ist, bedeutet dies, dass das Ziel einer Beratung nicht zwingend in der Veränderung der eigenen Persönlichkeit liegen muss. In einigen Publikationen zum Thema Beratung wird genau diese Veränderungsbereitschaft gefordert.18 Damit wird jedoch einer kritikwürdigen „Psychotherapeutisierung“ Vorschub geleistet und ein unangemessener Anspruch an Beratung (z. B. als „Schmalspurtherapie“) gerichtet. Was wäre dann das Proprium der Beratung? In der Beratung geht es aus meiner Sicht zunächst um eine Unterstützung bei der Externalisierung des eigenen Befindens und der eigenen Überlegungen.19 In Anlehnung an W. Rechtien steht dann bei der Beratung die Klärung der Situation im Vordergrund.20 In manchen Fällen kann dies allein schon erleichternd bzw. hilfreich sein. Wie bereits angedeutet, kann die Beratung hier im Vergleich zur Psychotherapie offener und alltagsnäher sowie auch entwicklungsorientiert und präventiv erfolgen.21 Fazit 1: Beratung ist keine „Psychotherapie light“ oder „Psychotherapie für Arme“. Bei Beratung geht es primär nicht um eine Veränderung der persönlichen Struktur, sondern um die Bestandsaufnahme sowie Mobilisierung interner und externer Ressourcen. 18 Exemplarisch sind zu nennen: Rahm, Gestaltberatung sowie Barthelmess, Systemische Beratung. 19 Dieser Effekt kann teilweise auch durch das Führen eines Tagebuchs erreicht werden. 20 Rechtien, Beratung, 9 definiert Beratung als „zwischenmenschlichen Prozess, in welchem eine Person … in und durch die Interaktion mit einer anderen Person … mehr Klarheit über eigene Probleme und deren Bewältigungsmöglichkeiten gewinnt.“ Abgesehen von der unberechtigten Einengung auf eine Person scheint mir diese Beschreibung ziemlich passend zu sein. 21 Vgl. ausführlicher Engel u. a., Beratung, 33 – 39.

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Dass die hier vorgeschlagene Klärung der Situation einen wichtigen Wirkfaktor der „kommunikativen Unterstützung“ darstellt, hat K. Grawe mit sog. Meta-Studien zum Erfolg von Psychotherapien hinlänglich belegen können. In der „Beratungslandschaft“ wird der Aspekt der Klärung vor allem im Konzept der klientenzentrierten Gesprächsführung weitgehend umgesetzt: „Wirksame Beratung besteht aus einer eindeutig strukturierten, gewährenden Beziehung, die es dem Klienten ermöglicht, zu einem Verständnis seiner Selbst in einem Ausmaß zu gelangen, das ihn befähigt, aufgrund dieser neuen Orientierung positive Schritte zu unternehmen“.22 Als Königsweg zur sog. Selbstexploration sehen Carl Rogers und seine Schüler die Verbalisierung der emotionalen Erlebnisinhalte der zu beratenden Person. Leider ist dieses Konzept im deutschsprachigen Raum teilweise missverständlich rezipiert worden, indem dafür der Begriff „Spiegeln“ verwendet worden ist. Dass Rogers’ erstes Buch (Counseling and Psychotherapy 1942) in Deutschland erstmals 1972 mit dem Titel „Die nicht-direktive Beratung“ publiziert worden ist, könnte zu seiner begeisterten, jedoch auch simplifizierten Rezeption beigetragen haben. Sicherlich hat auch C. Rogers selbst dazu beigetragen, indem er Psychotherapie und Beratung nicht kategorisch unterscheiden wollte und im Lauf der Zeit seinen Ansatz als generelle „personenzentrierte“ Einstellung für verschiedene Lebensbereiche (Paarbeziehung, Lernen, Politik) verstand. Seit den 90er Jahren des letzten Jh. hat sich jedoch die klientenzentrierte Psychotherapie (nur z. T. erfolgreich) bemüht, als vollwertiges wissenschaftlich begründetes Verfahren (mit einer Störungs- und Behandlungskunde) anerkannt zu werden. U.a. ist es R. Sachse zu verdanken, dass inzwischen sehr gute Forschungsergebnisse dazu vorliegen, wie die Selbstexploration „operationalisiert“ und entsprechend angeregt werden kann.23 Aufgrund seiner Ergebnisse lässt sich auch präziser fassen, worauf der Begriff „nicht-direktive Beratung“ sich bezieht. Da „Non-Direktivität“ eine Negation darstellt, ist nicht sogleich ersichtlich, was eigentlich genau nicht direkt angegangen werden soll. Wichtig und hilfreich ist hier im Blick auf die Rolle der beratenden Person folgende Frage: Wofür sieht sie sich in der Beratung als Expertin zuständig?24 Anhand der Unterscheidung zwischen Inhalt und Prozess lässt sich das Rätsel der Non-Direktivität einigermaßen entwirren: In der Beratung nach Rogers versteht sich B (= Berater/in) eindeutig als Expertin für den Prozess der 22 Rogers, Beratung, 28. 23 Sachse, Gesprächspsychotherapie. Sachse spricht nicht von Selbstexploration, sondern von „Bearbeitungsweise“. Mir scheint indes der Begriff „Selbstklärung“ verständlicher und passender zu sein. 24 Die grafische Darstellung ist angeregt von Margulies u. Raia, Organizational development.

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Abb. 2. Unterscheidung zwischen Inhalt und Prozess

Selbstklärung der zu beratenden Person. Rogers lehnt es katgorisch ab, seinem Gegenüber ein Thema vorzugeben, bei ihm einen „Komplex festzustellen“25 oder gar eine inhaltliche Lösung vorzuschlagen. Wie die Forschungsergebnisse von Sachse eindrucksvoll zeigen, steuert jedoch die beratende Person mit ihrer Kommunikation nolens volens den Prozess und die Dynamik des Gesprächs. Wenn z. B. Rogers in einem Lehrfilm den Klienten – inhaltlich neutral – fragt, worüber er weinen möchte, bleibt er enthaltsam hinsichtlich eines bestimmten Themas. Er macht damit jedoch einen Vorschlag, der durchaus den weiteren Gesprächsprozess steuert.26 Die Formulierung von Stollberg, dass „keine direktiven Verhaltensanweisungen“27gegeben werden, ist insofern nicht zutreffend, da sie eben die Unterscheidung zwischen Inhalt und Prozess nicht beachtet. Man könnte also sagen, die Stärke der klientenzentrierten Beratung liegt u. a. darin, dass die Ratsuchenden als Experten/innen für die Klärung ihrer Situation ernst genommen werden, indem B weder eine Diagnose oder Lösung vorgibt, sondern das Gegenüber die Chance hat, sich selbst zu helfen – vielleicht nach dem Motto „Wer sich als Teil des Problems sieht, kann auch Teil der Lösung sein.“ In manchen Feldern der Beratung, z. B. in der Schuldnerberatung oder Ernährungsberatung, kann es jedoch zu Situationen kommen, in denen die Berater/innen auch ihre „inhaltliche Expertise“ gefragt sehen und entsprechende Vorgaben machen (müssen). Aber auch hier sollte zuerst ausgelotet werden, welche eigenen Ideen die Ratsuchenden (er)finden. Eine häufig formulierte Kritik an der klientenzentrierten Beratung moniert, dass sie eher auf sprachlich gewandte und selbstreflexive Ober- und Mittelschichtsbürger/innen zugeschnitten sei und andere Bevölkerungsgruppen (z. B. Jugendliche, Migranten/innen) weniger gut erreichen könne. Dabei spielt zwar 25 Siehe Interview mit C. Rogers im Film „Die Kraft des Guten“ in der Reihe „Wege zum Menschen“. 26 Nach Sachse „dirigieren“ sog. Prozessinstruktionen (z. B. „Versuchen Sie, tief zu atmen) nicht das Thema bzw. den Inhalt der Beratung; für die Förderung der Selbstklärung stellen sie sogar ein gutes Hilfsmittel dar. 27 Stollberg, Aspekte, 213.

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auch das Geschick der Beratenden eine wichtige Rolle. Manchmal erweisen sich die sprachlichen Barrieren doch als zu hoch oder die ungewohnte emotionale Bearbeitungsweise in der Beratung scheint zu schwierig zu werden. Hier könnte die kaum bekannte Idiolektische Gesprächsführung weiterhelfen. Deren Vorgehen beruht auf der Sensibilität für die Eigensprache des Gegenübers, die gewissermaßen als Türöffner genutzt wird. Dies können eher ungewöhnliche Formulierungen (Schlüsselwörter) oder Metaphern sein.28 Es kann z. B. danach gefragt werden, was genau damit gemeint ist, wenn der Ratsuchende äußert, es ginge im Moment Vieles „schief“ oder er fühle sich wie ein „baufälliges Haus“. Wenn es besonders schwer fällt, seine Gefühle zuzulassen, kann es – manchmal auch für die Beratenden – erleichternd sein, nicht immer wieder das emotionale Befinden „verbalisieren“ zu müssen. Das idiolektische Vorgehen könnte auch für die Seelsorge eine interessante Abwechslung bzw. eine gute Ergänzung darstellen. Fazit 2: Das Konzept der klientenzentrierten Beratung lässt sich kurz folgendermaßen charakterisieren: Es fokussiert vor allem auf die Klärung der (Problem-)Situation und auf das intrapsychische Befinden, besonders das emotionale Erleben der Betroffenen. Hinsichtlich des methodischen Vorgehens handelt es sich eindeutig um ein prozessorientiertes Konzept „par excellence“. Die beratende Person sieht sich in erster Linie dafür zuständig, den Prozess der Selbstexploration auf Seiten der Klienten/innen soweit zu unterstützen, bis sie eigene konstruktive Schritte unternehmen. Kritik wäre allenfalls dahingehend zu äußern, dass hier die Problemfokussierung zu sehr überwiegt und sehr auf der emotionalen Ebene gearbeitet wird. Letzteres könnte dazu führen, dass die Gründe eines Problems zu einseitig nur beim Individuum verortet werden. Da wir Menschen Lebewesen sind, die einerseits Sorgen haben bzw. Probleme machen, aber andererseits auch Hoffnungen und Wünsche hegen, könnte es sinnvoll sein, diese schlichte anthropologische Verfasstheit auch in der Beratung mehr zu berücksichtigen. Dafür könnte das Konzept der lösungsorientierten Beratung, wie es z. B. Steve de Shazer und Insoo Kim Berg entwickelt haben, gut geeignet sein.29 In einem Punkt weist es sogar eine große Gemeinsamkeit mit der klientenzentrierten Beratung auf, nämlich das nicht-direktive Vorgehen: Auch in 28 Daniels/Jonas, Alltagsgespräche; Bindernagel u. a., Schlüsselworte; Poimann, Idiolektik. 29 Vgl. Bamberger, Beratung; de Shazer, Dreh; Klessmann, Seelsorge, 288 f. sieht dieses Konzept auch als nützliche Anregung für die Seelsorge; seine Aufmerksamkeit richtet er jedoch eher auf seine „kurzzeittherapeutischen Impulse“ für die Seelsorge.

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der auf Lösungen und Ressourcen fokussierten Beratung versteht sich die beratende Person nicht als Expertin für den Inhalt der Lösung, sondern für den Prozess der Zielfindung und der Mobilisierung von Ressourcen. In der Abb. 3 werden vier mögliche Typen einer Beratung bzw. Phasen einer Beratung dargestellt, die aus einer Gegenüberstellung der Expertenpositionen (Inhalt vs. Prozess) sowie der Schwerpunkte des Gesprächs (Klärung vs. Lösung) resultieren. Dieses Schema könnte den Beratenden zur Orientierung dienen, wo sie sich gerade mit ihrem Gegenüber befinden.

Zum Abschluss soll ein Beratungsmodell kurz skizziert werden, das eine Integration einiger bisher thematisierter Aspekte sowie Ergänzungen ermöglichen kann. Es handelt sich um das von dem Theologen und Psychologen Gerard Egan entwickelte „Skilled-Helper Model“. Es ist 1979 unter dem Titel „Der fähige Helfer“ auf Deutsch erschienen. Während in der Originalsprache das „SkilledHelper Model“ inzwischen schon in vielfachen Neuauflagen (10. Aufl. Anfang 2013) erschienen ist, sind davon keine in deutscher Sprache veröffentlicht worden. Die drei Grundelemente („Stage“ 1 – 3) dieses Beratungsmodells lassen sich m. E. recht einfach mit dem Vorgehen bei einer Wanderung darstellen:30 Zunächst vergewissert man sich, 1. wo man sich aktuell befindet („Ist-Stand“), um 30 Die folgenden Ausführungen beziehen sich überwiegend auf die Formulierungen der 9. Auflage.

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dann 2. zu schauen, in welche Richtung es weiter gehen soll („Soll-Stand“) und 3. auf welchem Weg dies am besten geschehen kann. Bei der Beratung geht es im Stadium 1 um das Bild der gegenwärtigen Situation mit der Frage „What’s going on? Das Stadium 2 bezieht sich auf die Vorstellung des anzustrebenden Ziels mit der Frage „What do I need or want?“. Im Stadium 3 steht dann im Vordergrund die Überlegung, auf welche Weise ich (als Klient) meinen Soll-Zustand erreichen kann („how do I get what I need or want?“).31 Für jede dieser drei Stadien bzw. Phasen des Beratungsprozesses sind jeweils nochmals drei Schritte bzw. Aufgaben vorgesehen: Stage 1: Current Picture Story

Stage 2: Preferred Picture Possibilities

Stage 3: The Way Forward Possible strategies

New perspectives Value

Change agenda Commitment

Best fit strategies Plan

Stadium 1: 1. Die Menschen ermutigen, ihre Sicht der Dinge zu erzählen. 2. Sie darin unterstützen, einen konstruktiven Blick auf ihre Situation zu bekommen und „blinde Flecken“ zu erkennen. 3. Den Menschen helfen, die für sie wichtigsten Themen zu identifizieren („getting value“). Stadium 2: 1. Die Menschen unterstützen, das Bild einer besseren Zukunft zu entwickeln. 2. Den Menschen helfen, realistische und für die Problemlösung passende Ziele zu wählen. 3. Mit den Menschen herauszufinden, wie wichtig es für sie ist, sich für ihr Ziel einzusetzen. Stadium 3: 1. Die Menschen ermutigen, verschiedene mögliche Handlungsmöglichkeiten zu eruieren. 2. Aus verschiedenen Möglichkeiten die am besten passende Strategie auswählen. 3. Die Menschen begleiten bei der Erstellung von Plänen zur Erreichung ihrer Ziele.

31 In der 6. Aufl. hat Egan noch etwas andere Begriffe verwendet, nämlich Current scenario, Preferred scenario und Action strategies.

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Diese Übersicht sollte jedoch auf keinen Fall so missverstanden werden, dass die einzelnen Schritte zeitlich strikt in der vorgestellten Reihenfolge erfolgen müssen! Anhand der kurzen Beschreibung des Modells von G. Egan ist zu ersehen, dass er ein Modell bietet, in dem – sehr viel differenzierter als hier angedeutet – sowohl Schritte für die Klärung einer Problemsituation als auch Schritte für die Ressourcenaktivierung zur Bewältigung eines Problems beschrieben werden. Für die Seelsorge dürfte zudem von Interesse sein, dass er durchgängig auf den Wertebegriff („values“) zurückgreift. Beispielweise bezeichnet er in der Überschrift des Kapitels 2 die helfende Beziehung als „Values in Action“. Zwei Aspekte hebt er dabei besondere hervor: „Respect as the foundation value“32 und „Empathy as a primary orientation value“.33 Fazit 3: Soweit zu sehen ist, liegt mit G. Egans Modell des Skilled-Helper ein integratives Beratungsmodell vor, das in eindrucksvoller Weise von seinen Anfängen bis heute zu einem der elaboriertesten integrativen Beratungsansätze weiterentwickelt worden ist.34 Hervorzuheben ist zudem, dass mit den Aspekten der Klärung und Bewältigung zwei Faktoren, die sich in der Psychotherapieforschung als zentrale Wirkfaktoren erwiesen haben,35 hier relativ zwanglos in diesem Modell miteinander kombiniert werden. Da es sich um ein explizit wertgeleitetes Modell handelt, dürfte für die Seelsorge eine gute Anschlussmöglichkeit bestehen. Auch wenn hiermit Eulen nach Athen getragen werden, ist zum Abschluss doch darauf hinzuweisen, dass Seelsorge ja nicht nur im Gespräch, also kommunikativ erfolgt (vgl. Abb. 1), sondern auch in Form einer tätigen Unterstützung – sei es z. B. im rituellen oder im karitativen Handeln. Insofern ist die Seelsorge auf jeden Fall im Kontrast zur Psychotherapie und evtl. auch im Vergleich zur Beratung vielfältiger in ihrem Repertoire. Es wäre daher zu begrüßen, wenn Seelsorge sich nicht vorbehaltlos einer Psychotherapeutisierung ausliefert und ausliefern wird.

32 Egan, Helper, 42. 33 Egan, 44. 34 Andere integrative Beratungsansätze, wie sie z. B. von Cornelia Schäfter, Beratungsbeziehung, 77 – 85 kursorisch beschrieben werden, sind – ausgenommen vielleicht die sog. „Motivierende Gesprächsführung“ von Miller u. Rollnick – jedenfalls nicht so differenziert wie bei Egan. Da seine diversen Neuauflagen nicht mehr in deutscher Sprache erschienen sind, sind sie hierzulande kaum noch rezipiert worden. 35 Vgl. Grawe, Wirkfaktoren.

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Literatur Bamberger, G., Lösungsorientierte Beratung, Weinheim 42010. Barthelmess, M., Systemische Beratung. Eine Einführung für psychosoziale Berufe, Weinheim 2005. Bindernagel, D./Krüger, E./Rentel, T./Winkler, P. (Hg.), Schlüsselworte. Idiolektische Gesprächsführung in Therapie, Beratung und Coaching, Heidelberg 22013. Daniels, A./Jonas, A. D., Was Alltagsgespräche verraten. Verstehen Sie limbisch?, Würzburg 32008. Danzer, B., Beratung[s], Alltag und Subjekt, Regensburg 1996. De Shazer, S., Der Dreh, Heidelberg 42006. Egan, G., Helfen durch Gespräch, Weinheim/Basel 1990. –, The Skilled Helper. A Problem-Management and Opportunity-Development. Approach to Helping, Belmont 92010. Engel, F./Nestmann, F./Sickendiek, U., „Beratung“ – Ein Selbstverständnis in Bewegung, in: F. Nestmann/F. Engel/U. Sickendiek, Das Handbuch der Beratung, Bd. 1: Disziplinen und Zugänge, 33 – 43. Freud, S., Wege der psychoanalytischen Therapie, GW XII, Frankfurt a.M. 1919. Grawe, K., Empirisch validierte Wirkfaktoren statt Therapiemethoden, in: Report Psychologie 7/8, 2005, 311. Kahle, I., Seelsorge in der Moderne, Neukirchen-Vluyn 1996. Klessmann, M., Seelsorge. Ein Lehrbuch, Neukirchen-Vluyn 2008. Margulies, N./Raia, A.P., Organizational development. Values, process, and technology. New York 1972. Miller, W.R./Rollnick, S., Motivierende Gesprächsführung, Freiburg 32009. Nicol, M., Gespräch als Seelsorge, Göttingen 1990. Poimann, H., Vier Ebenen der Idiolektik. Würzburg 2000. Rahm, D., Gestaltberatung, Paderborn 1979. Rauchfleisch, U., Wer sorgt für die Seele? Grenzgänge zwischen Psychotherapie und Seelsorge, Stuttgart 2004. Rechtien, W., Beratung, Theorien, Modelle und Methoden, München u. a. 22004. Rogers, C., Die nicht-direktive Beratung, München 1972 (Original 1942: Counseling and Psychotherapy). –, Die klient-bezogene Gesprächstherapie, München 1973 (Original 1951: Client-centered Therapy). Sachse, R., Zielorientierte Gesprächspsychotherapie. Eine grundlegende Neukonzeption, Göttingen 1992. –, Praxis der zielorientierten Gesprächspsychotherapie, Göttingen 1996. Schäfter, C., Die Beratungsbeziehung in der Sozialen Arbeit. Eine theoretische und empirische Annäherung, Wiesbaden 2010. Stollberg, D., Psychotherapeutische Aspekte des seelsorgerlichen Gesprächs, in: W. Engemann (Hg.), Handbuch der Seelsorge. Grundlagen und Profile, Leipzig 2007, 202 – 226. Thomann, C./Schulz von Thun, F., Klärungshilfe, Reinbek 1988.

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Seelsorge mit depressiven Menschen. Pastoralpsychologische Perspektiven

I.

Was bedeutet „pastoralpsychologisch orientierte Seelsorge“?

In der Seelsorge begegnen wir häufig depressiv gestimmten Menschen: Ich denke an eine junge Frau, die sich gerade von ihrem Mann getrennt hatte und nun wie erstarrt in ihrer Wohnung saß und nicht wusste, wie es für sie weitergehen sollte. Ich denke an den Besuch eines Pfarrers bei Konfirmandeneltern; bei diesem Besuch erfuhr er, dass im Obergeschoss die Mutter des Mannes im Bett lag, nur noch jammerte, sich überfordert fühlte von jeder kleinen Aufgabe, ständig von Ängsten und Schuldgefühlen umgetrieben war. Ich denke an den alten Mann, der ein Jahr nach dem Tod seiner Frau nicht mehr allein zurechtkam, in ein Altenheim ziehen musste, in das er nicht wollte und nun darüber nachgrübelte, wie er sich umbringen könnte. Ich denke an einen anderen Mann, der im depressiven Stupor bewegungslos in der psychiatrischen Klinik in seinem Bett lag und mit dem Seelsorger, der an sein Bett trat und ihn begrüßte, keinerlei erkennbaren Kontakt aufnahm. Wir begegnen in der Seelsorge Menschen mit solchen unterschiedlichen Ausdrucksformen von Depression relativ häufig. Das hat damit zu tun, dass Seelsorge ein niedrigschwelliges Angebot der Kirchen zur Begleitung von Menschen darstellt. Lange bevor Betroffene zum Arzt oder in die Klinik gehen, kann es sein, dass eine Seelsorgerin/ein Seelsorger bei einem Hausbesuch oder einem Krankenhausbesuch ihnen begegnet und dann herausgefordert ist, sich angemessen zu verhalten. Sie müssen dann wache Aufmerksamkeit für die Person, ihre Biographie und ihr Umfeld zeigen; bereits das tut den meisten Menschen ausgesprochen gut, wenn jemand so – absichtslos – für sie Interesse zeigt und darin Wertschätzung bekundet. Das Besondere der Seelsorge im Vergleich zu psychologischer Beratung oder Psychotherapie ist der religiöse Horizont, in den sie eingebunden ist. Sobald sich jemand als Pfarrer/in oder als Mitglied eines kirchlichen Besuchsdienstes vorstellt, ist dem Gegenüber klar, dass das folgende Gespräch im Horizont von Religion stattfindet, d. h. in einem Horizont, in dem die Unterscheidung von

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Michael Klessmann

Transzendenz und Immanenz, von Gott und Mensch, Sünde und Gnade, Leben und Tod, Gut und Böse etc. leitend ist. Die Seelsorgeperson bringt gewissermaßen Gott mit und steht für „ihn“ ein (ob das ausdrücklich zur Sprache kommt oder nicht) – und das belebt natürlich im Gegenüber alte Erfahrungen und Gefühle mit Religion: Mit den Geschichten der Oma, mit dem Konfirmator, mit der Religionslehrerin in der Schule, mit dem Pfarrer bei der Trauung, mit der Pfarrerin bei der Beerdigung des Opas. Interesse oder Langeweile, Angst oder Zuwendung, Wut, Enttäuschung, Sehnsucht, Hoffnung, Zutrauen – alte Erfahrungen werden lebendig und in die neue Situation eingetragen. Bei depressiven Menschen ist manchmal die Erwartung an den Seelsorger als Repräsentanten Gottes oder des Heiligen besonders groß. Depressive Menschen erleben sich selbst als weitgehend hilflos, ohnmächtig oder minderwertig – umso größer sind die Erwartungen an jemanden, der im Namen Gottes auftritt. Und die Gefahr ist besonders groß, dass der Seelsorger oder die Seelsorgerin dieser Suggestion gerecht werden möchte: Nach einer Weile sind beide unvermeidlich umso tiefer enttäuscht. Auch der Mann Gottes oder die Frau Gottes kocht nur mit Wasser und muss an übergroßen Erwartungen scheitern! Pastoralpsychologisch orientierte Seelsorge ist eine, die das Geschehen der Seelsorge zusätzlich zu einem theologischen Grundverständnis mit Hilfe von psychologischen bzw. sozialpsychologischen Erkenntnissen und Methoden besser und vertieft zu verstehen und zu praktizieren sucht. Die Theologie, die ein Pfarrer/in im Studium gelernt hat, reicht nicht für die Praxis der Seelsorge aus, und auch der gesunde Menschenverstand langt nicht. Man sollte zusätzlich etwas gelernt haben über Gesprächsführung, Kenntnisse aus Kommunikationstheorie und Psychotherapie mitbringen – und vor allem: Man sollte sich mit der eigenen Person und Biographie intensiv auseinandergesetzt haben. Denn Seelsorge bedeutet immer, sich auf eine Beziehung einzulassen – und an einer Beziehung sind beide beteiligt, auch die Seelsorgeperson bleibt da nicht neutral und distanziert. Ein Mensch, der mir gegenübertritt, aktiviert und reaktiviert auch in mir als Seelsorger alte Erfahrungen, die ich in meinem Leben gemacht habe; alte Ängste und Hoffnungen, Verletzungen und Erfolge, Vorlieben und Abneigungen fließen ein in die Interaktion mit dem oder der anderen – dazu muss ich meine Anteile ansatzweise kennen, sonst werde ich unbewusst von ihnen bestimmt. Es geht in der Seelsorge darum, einen Raum der Wertschätzung und des Vertrauens entstehen zu lassen, in dem sich ein fremder Mensch ermutigt fühlt, sich zu öffnen. Damit ein solcher Raum entstehen kann, muss ich wissen, was ich dazu beitragen kann oder wie ich es – unbeabsichtigt und unbewusst – verhindere. In diesem Sinn verstehe ich Pastoralpsychologie als eine Wissenschaft mit einer Reihe von methodischen Ansätzen, die Seelsorge kritisch bereichert, vertieft und ihr eine professionelle Qualität verleiht. Einige Perspektiven, die mir

Seelsorge mit depressiven Menschen

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für die Seelsorge mit depressiven Menschen hilfreich und wichtig erscheinen, möchte ich im Folgenden vorstellen.

II.

Soziologische Perspektiven

Depression als individuelles Schicksal ist in gesellschaftliche Rahmenbedingungen eingebettet, die man auch in der Seelsorge berücksichtigen sollte. Ich nenne drei Punkte: 1. Der französische Soziologe Alain Ehrenberg vertritt in seinem 1998 erschienenen Buch „Der erschöpfte Mensch“ die These: Der depressive Mensch „ist erschöpft von der Anstrengung, er selbst werden zu müssen.“1 Es gibt nur noch wenige verbindliche Vorgaben, denen wir folgen müssten; moralische Gesetze, Halt gebende Traditionen pluralisieren und relativieren sich immer mehr, Institutionen wie die Kirchen verlieren ihre Leitfunktion und lassen uns gleichsam führungslos werden. Die Möglichkeit zu wählen und zu entscheiden ist zum Zwang geworden: Wir müssen ständig Entscheidungen treffen, weil nichts mehr selbstverständlich vorgegeben ist. „Das ideale Individuum wird nicht mehr an seiner Gefügigkeit gemessen, sondern an seiner Initiative.“2 Depression, so Ehrenberg, ist die Krankheit derer, die sich angesichts dieser Daueranstrengung, man selbst zu werden, originell zu sein, ständig in Kommunikation mit anderen zu stehen, erschöpfen und kaputt machen; deren Ansprüche und Ziele zu hoch sind, deren Ressourcen zu begrenzt sind, als dass sie diesem Dauerstress gewachsen wären; die sich dann in eine umfassende „Hemmung aller psychischen Vorgänge“, wie sie schon Emil Bleuler als für die melancholische Depression charakteristisch genannt hat3, zurückziehen und sich gleichsam dem Leben, dem Lebendigen mit seinem Auf und Ab, mit seinen schönen und schmerzlichen Seiten verweigern. Die soziale Erwartung verstärkt die individuelle Dynamik: Es ist bekannt, dass depressiv gestimmte Menschen sich häufig durch ein hohes Leistungs- und Perfektionsideal auszeichnen und jedes Zurückbleiben hinter diesen Idealen als persönliches Versagen bewerten. Damit entsteht ein Kreislauf zwischen gesellschaftlichen und individuellen Faktoren: Der gesellschaftliche Leistungsanspruch wird von Einzelnen übernommen und verschärft, das individuelle Ideal wird durch den gesellschaftlichen Rahmen verstärkt und gleichsam zementiert. 2. Der Psychoanalytiker Eberhard Haas spitzt diese Diagnose noch um den 1 Ehrenberg, Das erschöpfte Selbst, 14 f. 2 Ebd., 19. 3 Vgl. Tölle/Windgassen, Psychiatrie, 238.

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Begriff des Transzendenzverlustes als Kehrseite und Folge der Aufklärung zu4 : Religion bietet vom Ansatz her Entlastung von Selbstüberforderung an: Gott rechtfertigt den Sünder – das heißt, wir müssen uns nicht ständig selbst beweisen und rechtfertigen, sondern dürfen aus dem Vertrauen heraus leben, dass wir in einem letzten Sinn getragen und gehalten sind, egal was passiert. Aber ein solches Grundvertrauen ist für viele Zeitgenossen entfallen; das Sinnpotential der Religion erscheint überholt und abständig; der Verlust einer Jenseitsvorstellung erhöht den Druck, nun alles Wünschenswerte im Diesseits erleben zu müssen; der Glaube an den Menschen erscheint leichter als der Glaube an Gott als einer transzendenten Instanz, der man, wie es ein Gesangbuchvers formuliert, „Leib, Seel’ und Leben anheimstellen“ könnte (EG 443,6). Jetzt muss man alles selber leisten – viele sind davon überfordert, müssen mit dem Druck leben oder zerbrechen daran. 3. Schließlich ist auf die verbreitete Verdrängung von Sterben und Tod und die damit verbundene Unterdrückung von Trauer in unserer Gesellschaft verweisen.5 Wenn Trauer als notwendige und hilfreiche Reaktion auf die unvermeidlichen Abschiede im Leben, vor allem im Blick auf den letzten Abschied, den Tod, vermieden, durch Drogen betäubt, durch eine Event-Kultur überspielt wird, legt sich gleichsam ein Schatten über das ganze Leben, dämpft die gesamte Lebendigkeit, das Erleben wird irgendwie gleichförmiger und gleichgültiger. „Alles Verdrängen von Trauer gleicht einem Ansparen auf eine Depression“, schreibt Rüdiger Dahlke.6 Es ist mir wichtig, solche gesellschaftlich-kulturelle Dimensionen dieser Erkrankung im Blick zu haben: Dann erscheint Depression nicht nur als individuelles Schicksal, sondern auch als Spiegel gesellschaftlicher Verhältnisse. Und dann stellt sich m. E. die Frage, ob Kirche als Gemeinschaft der Gläubigen Gegenakzente setzen und Lebensmilieus entwickeln kann, in denen Betroffene von diesem Stress, sie selbst zu sein, ein wenig entlastet sind; in denen Fragen nach Gott und dem Heiligen, nach Leben und Tod Platz haben; in denen Menschen ermutigt werden zu trauern, da wo es angebracht ist. Katholische Pastoralpsychologen haben von der Gemeinde als einem potentiell redemptiven, also einem erlösenden, befreienden und unterstützenden Milieu gesprochen.7 Ich zögere, in diese anspruchsvolle Formulierung einzustimmen, weil klar ist, dass Kirche den gesellschaftlichen Trends nicht entnommen ist und insofern nur in sehr begrenztem Maß eine Gegenwelt aufbauen kann. Trotzdem scheint es

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Haas, Transzendenzverlust und Melancholie. Vgl. Dahlke, Depression, 186 ff. Ebd., 370. Vgl. Wahl, Lebenszeichen von Gott – für uns, 250 ff.

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mir wichtig, den Netzwerkcharakter von Gemeinde als Ressource zu erkennen und zu fördern.

III.

Religion und Depression – religionspsychologische Perspektiven

Religionspsychologische Forschungen haben in der Vergangenheit das pathologische Potential einer religiösen Orientierung in den Vordergrund gerückt: Das christliche Menschenbild mit seiner Betonung der Sünde und Schuld des Menschen und der Drohung von Verdammung und Hölle verstärke die düsteren und ängstigenden Aspekte des Lebens, fördere den anstrengenden moralischen Kampf für das Gute und gegen das Böse, klammere die freudigen und lockeren Seiten des Alltagslebens tendenziell aus und verstärke damit depressive Charakterstrukturen. So konnte man es verbreitet lesen. Seit einer Reihe von Jahren hört man viel über die gegenläufige These: Neuere Forschungen zum Zusammenhang von Religion und Gesundheit kommen manchmal sehr vollmundig daher, vor allem wenn sie aus dem US-amerikanischen Kontext stammen, und behaupten, Religiosität fördere in jedem Fall das physische und psychische Wohlbefinden, trüge zur besseren Krankheits- und Lebensbewältigung bei. Solche Behauptungen sind kaum aufrecht zu erhalten; denn Religion ist der Ambivalenz des Lebens nicht entnommen: Religion enthält zweifellos depressionshemmende Faktoren, sie trägt aber auch Elemente in sich, die Depression verstärken oder ihr Vorschub leisten. Auf beide Aspekte sollte man in der Seelsorge achten: Zunächst einmal erscheint die Unterscheidung von intrinsischer und extrinsischer Religiosität, die der amerikanische Religionspsychologe Gordon Allport schon in den 50er Jahren des 20. Jh. vorgeschlagen hat, von großer Bedeutung. Intrinsische Religiosität bezeichnet eine religiöse Einstellung, in der die betreffende Person aus innerer Überzeugung heraus, sozusagen aus ganzem Herzen, ihren Glauben lebt. Die Person ist überzeugt von ihrem Glauben, die entsprechende Praxis, Engagement für religiöse Lehren und Traditionen und Einsatz für andere Menschen ist dann um der Sache willen selbstverständlich und unverzichtbar. Extrinsische religiöse Orientierung meint demgegenüber eine Haltung, die sich an Glaube und Kirche vorrangig deshalb orientiert, weil dies als sozial wünschenswert erachtet wird: Wenn es in bestimmten Kreisen üblich ist, dass man sich religiös interessiert gibt, dann tun wir das auch, das bringt Vorteile in der Einschätzung anderer, ist also im Grunde utilitaristisch motiviert. Wer in der Diakonie einen Arbeitsplatz haben will, muss seine Zugehörigkeit zu einer Kirche nachweisen und gelegentlich auch mal im Gottes-

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dienst erscheinen. Weihnachten geht man in den Gottesdienst, weil dadurch das Fest erst feierlich wird, usw. Interessant ist nun das inzwischen vielfach bestätigte Ergebnis religionspsychologischer Forschung, dass Personen mit einer intrinsischen religiösen Orientierung niedrigere Depressivitätswerte aufweisen als extrinsisch motivierte.8 Für ein solches Ergebnis lassen sich eine Reihe von Gründen namhaft machen: – Religiös engagierte Menschen gehören häufig zu einer Gemeinde, die als stützendes Netzwerk erlebt werden kann. In der Gemeinde erfahren Betroffene Anerkennung und Zuwendung – und das stabilisiert natürlich besonders in Krisensituationen. – Religiös engagierte Menschen finden in ihrem Glauben Sinngebungen für eine unüberschaubare Welt und für schwierige biographische Ereignisse. Der Glaube an Gott und seine Liebe kann dazu motivieren, ein krisenhaftes Ereignis besser anzunehmen oder auch dagegen zu klagen und zu protestieren. Der israelische Gesundheitswissenschaftler Aaron Antonowsky hat die inzwischen verbreitete These vertreten, dass ein Köhärenzgefühl, also das Gefühl, dass im eigenen Leben die Dinge mehr oder weniger sinnhaft geordnet sind, einen wichtigen Beitrag zum Gesundsein oder zum Bewältigen von Krankheit darstellt. – Das Vertrauen, von Gott geliebt und angenommen zu sein, stärkt das Selbstwertgefühl. Auch wenn man sich selbst gerade in Krisensituationen nichts mehr zutraut und sich selbst nicht leiden kann, bleibt die Zusage des Glaubens, dass jeder Mensch als Geschöpf Gottes liebens- und anerkennenswert ist. Religiosität kann, so gesehen, eine Art von Pufferwirkung ausüben: Der Glaube an einen liebenden Gott tritt gewissermaßen zwischen das eigene Ich und die Angstvorstellungen, die es sich macht.9 Allerdings gibt es auch die Kehrseite: Biblische Geschichten vom strafenden und richtenden Gott, der die sündigen Menschen gnadenlos der Höllenstrafe überantwortet (denken Sie an das Gleichnis vom großen Weltgericht Mt 25); die Vorstellung vom Menschen als einem, der ganz und gar in Sünde und Schuld verstrickt und zu nichts Gutem fähig ist, wie das in vielen Sündenbekenntnissen zum Ausdruck kommt; der Satz, dass die Sünde gegen den hl. Geist nicht ver8 Vgl. Dörr, Religiosität und Depression/Grom, Religionspsychologie, 251. Vgl. auch Thomas u. a., Religiöse Motivation und Depression im Alter, 603 – 613. Die AutorInnen der klinisch-prospektiven Studie kommen zu dem Fazit: Religiöse stärker motivierte Patienten sind bei der stationären Aufnahme und im Verlauf weniger depressiv als nicht und weniger religiös motivierte Patienten“ (613). 9 Vgl. Grom, Religionspsychologie, 90.

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geben werden kann; Passionslieder, die ausführlich darstellen, wie der Mensch durch seine Sünde den Tod des Gottessohnes verursacht hat (z. B. EG 81,3) etc. – von solchen Vorstellungen fühlen sich depressiv gestimmte Menschen besonders angesprochen, alle Anklänge an Sünde und Schuld bestätigen sie in ihrem Gefühl des Scheiterns, der Verlorenheit und Verworfenheit.10 Oft genug habe ich von depressiven Menschen gehört, dass sie nicht mehr glauben könnten, dass sie den Zugang zum Gebet verloren hätten, dass ihnen Kirchgang oder das Singen eines Chorals eine Qual geworden seien etc. – und wegen dieses „nicht-mehrKönnens“ empfanden sie zusätzliche Scham- und Schuldgefühle. Die „gute Nachricht“ erreicht sie nicht, findet in dieser Situation kein Gehör und kein Verständnis. So entsteht ein sich selbst verstärkender negativer Regelkreis. Es hängt also stark davon ab, welche Art von Kirchlichkeit bzw. Religiosität ein depressiver Mensch erlebt hat, ob die depressionshemmenden oder die depressionsfördernden Aspekte überwiegen. Es lohnt sich, in der Gestaltung von Gottesdiensten z. B. darauf zu achten – auch wenn man es natürlich nicht in der Hand hat, wie bestimmte Aussagen in Liturgie oder Predigt von depressiven Menschen aufgenommen werden.

IV.

Gottesbilder und ihre Ambivalenzen

Am deutlichsten kommt die Ambivalenz von Religion zum Ausdruck in den Gottesbildern, und zwar sowohl in denen, die in den biblischen Traditionen überliefert werden als auch in denen, die einzelne Menschen aus der großen Vielzahl der Vorstellungen auswählen. Verschiedenen Stellen der biblischen Botschaft zeigen auf, dass Gott nicht erkannt werden kann, dass er „in einem unzugänglichen Licht wohnt“ (1 Tim 6,16) und als Geheimnis und Urgrund allen Lebens ganz anders ist, als wir es uns vorstellen. Trotzdem oder gerade deswegen machen wir uns Bilder von dem Göttlichen, vom Heiligen, weil es sonst abstrakt bleibt und wir uns mit Abstraktionen nicht in Beziehung setzen können. Die Bilder, die wir uns von Gott machen, sind Spiegel der jeweiligen Kultur und der individuellen Lebenserfahrungen bzw. Lebensgefühle, und sie sind und bleiben Annäherungen an die Wirklichkeit des Heiligen – nicht mehr und nicht weniger. In der Vergangenheit bis in die erste Hälfte des 20. Jh. wurde Gott häufig als der strenge und strafende Richter dargestellt, so war er Bestandteil und Spiegel einer autoritären Gesellschaftsstruktur und Erziehungspraxis. Der Film „Das weiße Band“ zeigt in erschütternder Weise, wie dieses Gottesbild eine autoritäre Erziehung religiös legitimiert und bei den betroffenen 10 Vgl. die Schilderungen von Kuiper, Seelenfinsternis, 90 ff.

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Kindern Ängste und Beschämung auslöst, die sich dann wiederum ein Ventil in heimlichen Gewalttaten suchen. So sah „schwarze Pädagogik“ aus. Nicht zufällig kam in den 50er Jahren des letzten Jh. das Stichwort von der ekklesiogenen Neurose auf, also einer neurotischen Entwicklung, die überwiegend von strengen, angsteinflößenden religiösen Bildern und Normen ausgelöst wurde. Das bekannteste literarische Zeugnis einer solchen seelischen Verkrümmung ist das Buch „Gottesvergiftung“ von Tilman Moser – ein Buch, in dem in der Form der direkten Anrede an Gott eindringlich erzählt wird, wie der kleine Tilman angesichts eines alles sehenden und alles wissenden Gottes in ständige Angst und Schrecken versetzt war und in einen depressiv getönten Selbsthass geriet.11 Alles Lebendige, Sexualität, Aggression, Neugier etc. war verboten, musste unterdrückt werden. Wundert es, wenn dadurch der depressiven Erstarrung, der Abspaltung lebendiger Gefühle, Vorschub geleistet wird? Gegenwärtig sind solche religiösen Erziehungsstrukturen kaum noch anzutreffen, vielleicht noch in einigen freikirchlich-pietistischen Milieus.12 Wichtig bleibt trotzdem, die Ambivalenz der Gottesbilder nicht zu übersehen! Sie entsprechen der Wahrnehmung des Heiligen, wie es schon Rudolf Otto beschrieben hat: Das Heilige wird als faszinosum et tremendum erlebt, als das Faszinierende und zu Fürchtende – wie denn auch Luther in der Erläuterung der Zehn Gebote jede Erklärung beginnt mit dem Satz „Wir sollen Gott fürchten und lieben…“. Es geht also nicht ohne eine solche Zwiespältigkeit: Die göttliche Wirklichkeit, die uns trägt und bewahrt, ist zugleich auch die, die uns schlägt und vernichtet. Im Buch Hiob heißt es: „Denn er [der Allmächtige] verletzt und verbindet, er zerschlägt und seine Hand heilt.“(Hi 5,18) Damit entspricht diese doppelgesichtige Gotteserfahrung der menschlichen Lebenserfahrung, in der sich immer Freude und Leid, Hoffnung und Angst, Macht und Ohnmacht, Erfolg und Scheitern mischen. Gott ist nicht nur der „liebe Gott“, zu dem wir ihn in Gebeten häufig verharmlosen, sondern immer diese liebevolle und erschreckende, gnädige und richtende Wirklichkeit zugleich. Wenn diese Spannung festgehalten und nicht einseitig aufgelöst wird, können Menschen nach meinem Eindruck durchaus damit leben, sich der göttlichen Wirklichkeit in Lob und Klage zuwenden. Erst wenn die richtenden und strafenden Aspekte der Gotteserfahrung einseitig hervorgehoben und zusätzlich in eine autoritäre pädagogische Struktur eingebunden werden, wenn Gott zum verborgenen großen Erzieher wird, der die strafenden Impulse von Eltern und Lehrern religiös legitimiert und unangreif11 Moser, Gottesvergiftung. Der Psychiater Piet Kuiper a. a. O., 40 ff. schreibt über die strengenden religiösen Überzeugungen seiner Mutter, denen er eine Mitursache an seiner Depression zuweist. 12 Morgenthaler/Schibler berichten in ihrem Buch „Religiös-existentielle Beratung“, 79 und 94 ff. von Theologiestudierenden, die aus einem freikirchlichen Milieu stammen und unter religiös motivierten Ängsten und Schuldgefühlen leiden.

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bar macht, entsteht daraus eine Angst und Schulgefühle erzeugende Atmosphäre. Als ein Beispiel dafür kann man das lutherische Sündenbekenntnis mit seiner starken Betonung der Sündhaftigkeit und Schuld des Menschen heranziehen: „meine Schuld, meine Schuld, meine große Schuld“. Eine Form der Reaktion auf die Angst und Schuldgefühle auslösende Dimension der Gottesbegegnung ist die Depression, d. h. die seelische Erstarrung angesichts der Angst. In der Erstarrung vermeidet der Betroffene die Auseinandersetzung, vermeidet Klage und Anklage, zieht sich zurück auf das eigene Ungenügen, den Kleinglauben oder Glaubensmangel. Und die Vertreter der Kirche haben immer wieder dazu beigetragen, diese Erstarrung zu fördern, weil sie den Machtinteressen der Institution entgegen kam. Wenn im seelsorglichen Gespräch die Rede auf Gottesbilder kommt, erscheint es mir wichtig, den ambivalenten Charakter dieser Bilder zu berücksichtigen.

V.

Die Rolle der Angehörigen

Wie bei allen Krankheiten steht in aller Regel die betroffene Person im Mittelpunkt seelsorglicher Aufmerksamkeit. Bei einer depressiven Erkrankung sind jedoch Angehörige und Freunde in besonderer, oft verwirrender Weise mitbetroffen – und wir sollten in der Seelsorge dafür sensibilisiert sein, diesen familiären Kontext, die Familie als System, mit in den Blick zu nehmen. Angehörige sind, sofern ein depressiv erkrankter Mensch nicht in eine Klinik aufgenommen werden muss, mehr oder weniger den ganzen Tag mit ihm oder ihr zusammen und emotional natürlich besonders eng verbunden und verstrickt. Wenn es nun dazu kommt, dass ein Familienmitglied in einem schleichenden Prozess depressiv wird, seine alltäglichen Aufgaben nicht mehr angemessen wahrnehmen, seine Rolle als Vater oder Mutter, als Partner oder Partnerin nicht mehr ausüben kann, von Todesängsten geplagt wird, hilflos und abhängig erscheint, dann erleben Angehörige einen solchen Prozess mit einer heftigen Gefühlsmischung: Da entsteht echtes Mitgefühl und Erschrecken angesichts solcher Veränderungen des vertrauten Menschen; da entsteht der Wunsch, verstärkt Liebe, Rücksicht und Zuwendung zu vermitteln; da wächst aber auch Unverständnis „es kann doch nicht sein, dass du nicht einmal mehr die Teller abwaschen kannst“; da ist der spontane Impuls zu sagen „reiß dich doch zusammen, so schwierig kann es doch nicht sein…“; da entsteht zunehmend Frustration und Ärger, die wiederum Schuldgefühle auslösen. Hilflosigkeit und unterdrückte Aggression des depressiven Menschen übertragen sich auf das Umfeld: Man will ihm oder ihr doch helfen, will einfühlsam und nahe sein, Zuwendung und Mitgefühl anbieten – und erlebt schnell, wie

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diese Zuwendung nicht ankommt, die Depression sich manchmal sogar zu verschlimmern scheint, so dass die Angehörigen ihrerseits sich zunehmend hilflos und ärgerlich fühlen. Es ist, als ob die unterdrückte Aggression der hauptsächlich betroffenen Person von den Außenstehenden umso stärker empfunden wird – worauf sie wiederum mit Schuldgefühlen reagieren, weil man auf einen leidenden Menschen doch nicht ärgerlich sein darf. So entstehen Teufelskreise von Depression und Aggression, von Schuldgefühlen, Besänftigungs- und Wiedergutmachungsversuchen, von Rückzug, Streit und Wiederannäherung – Teufelskreise, die für alle Beteiligten anstrengend und kräftezehrend wirken. Man könnte manchmal geradezu von einem Liebestest sprechen, den die depressive Person mit ihrem Umfeld anstellt: Wer hat mich wirklich lieb? Wer hält mich – so schrecklich wie ich bin – aus?13 Es ist klar, dass dieser paradoxe Test für alle nur destruktiv ausgehen kann. Der hilfsbereite Angehörige erlebt sich selbst als frustriert und ärgerlich und unterstellt dem hilfsbedürftigen Familienmitglied, dass es einen quälen und erpressen wolle. Es ist so schwierig einzusehen, dass eben beides zugleich da ist: das Gefühl absoluter Wertlosigkeit einerseits und (unbewusst) massiver Hass auf reale oder ,verinnerlichte’ Bezugspersonen andererseits. Der Wunsch zu sterben einerseits und (unbewusst) der Wunsch zu ,töten’. Die Meinung, total zu versagen und (unbewusst) ein sehr hoher Anspruch an sich selbst und/oder an die Hilfe und Aufmerksamkeit der Umwelt. Beides liegt in ein und derselben Person, aber es liegt weit, weit auseinander…14

Angesichts dieser schwierigen und belastenden Situation tut es Mitbetroffenen wohl, wenn sie überhaupt von der Seelsorge wahrgenommen und ihre Belastung auch gewürdigt wird. Angehörige von depressiven Menschen brauchen selber Zuwendung und Aufmerksamkeit. Weiter kann es für die Angehörigen entlastend sein zu hören, dass sie Mitbetroffene einer ernst zu nehmenden Krankheit sind, dass sie Angehörige sind und bleiben, also nicht zu Therapeuten des Familienmitglieds werden sollen, dass sie das Recht haben, sich zeitweilig zurückzuziehen und für ihr eigenes Wohlbefinden zu sorgen, dass sie ärztliche oder psychotherapeutische Hilfe einschalten sollten, nicht zuletzt, um eigenen Erschöpfungszuständen vorzubeugen.

VI.

Anregungen zur Seelsorge

Aus der Vielfalt der Anregungen, die es für eine seelsorgliche Begleitung von depressiven Menschen aus pastoralpsychologischer Sicht gibt, nenne ich einige ausgewählte Punkte: 13 Schweizer/von Schlippe, Lehrbuch der systemischen Therapie und Beratung, 80. 14 Nohl, Mit seelischer Krankheit leben, 158.

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Einen Raum der unbedingten Wertschätzung eröffnen: Seelsorge geschieht absichtslos in dem Sinn, dass sie zunächst einmal nichts erreichen will. Seelsorge stellt keine Diagnose im medizinischen Sinn, muss und will nicht wie Psychotherapie oder psychiatrische Hilfe bestimmte Ziele erreichen. Seelsorge ist ein Angebot, in dem Betroffene ohne Vorleistung Wertschätzung erfahren sollen und können, Wertschätzung durch die seelsorgende Person, die gewissermaßen Gott mitbringt und in ihrer begrenzten Zuwendung und Wertschätzung die grenzenlose Zuwendung und Wertschätzung Gottes ansatzweise erfahrbar werden lässt. Beziehung hat Vorrang: Kurze stützende und regelmäßige Kontakte sind wichtiger als lange Gespräche, die mit depressiven Menschen sowieso häufig nicht gelingen.15 Seelsorgende müssen von sich aus immer wieder auf depressive Personen zugehen; mangelnde Resonanz heißt nicht, dass die Begegnung nicht wichtig war. Präsenz, Freundlichkeit, Verlässlichkeit und Initiative-ergreifen sind Qualitäten, die die Grundlage bilden für eine vertrauensvolle Beziehung. In einer solchen Beziehung kann sich jemand, dem aller Halt verloren gegangen ist, gehalten fühlen. So setzt eine vertrauensvolle Beziehung heilende Kräfte frei. Auch das, was wir als Trost oder Glaube oder Hoffnung weiter geben möchten, kommt im Grunde nur an, wenn es auf der Beziehungsebene eingebunden ist. „Ein Seelsorger ,erzählt’ doch gerade dann glaubwürdig von Gottes Nähe und Treue, wenn er selbst einem leidenden Menschen nahe und treu und so mit ihm solidarisch ist.“16 Lebensdeutungen gemeinsam bedenken17: Depressive Menschen sehen in ihrem Leben nur das, was fehlt: das Dunkle, das Scheitern, die Sinnlosigkeit. Die Bedeutungen, die sie ihrem Leben im Ganzen und in fast allen Details geben, sind von der Depression schwarz oder bestenfalls grau eingefärbt. Selbst ein Sonnentag wirkt deprimierend auf einen depressiv gestimmten Menschen. Diese Bedeutungsgebung ist von der Seelsorgeperson zunächst einfach ernst zu nehmen: So sieht und erlebt dieser Mensch sich selbst und seine Welt, so sehen seine Gedanken und Gefühle momentan aus. Man darf als Außenstehender nicht versuchen, dem Anderen nun gleichsam beweisen zu wollen, dass sein Leben oder die Welt so schwarz doch nicht sei; das führt nur dazu, dass sich der Depressive nicht ernst genommen fühlt und seine negative Sicht nur noch verstärkt. Aber man kann gemeinsam nach Differenzierungen und kleinen Akzentuie15 Vgl. Kießling, Seelsorge bei Seelenfinsternis, 320 ff. 16 Kießling, Seelsorge bei Seelenfinsternis, 361. 17 Zum Thema Lebensdeutung in der Seelsorge vgl. Klessmann, Seelsorge, 178 ff.

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rungen suchen: Z.B. ob sich denn das Dunkle immer gleich anfühle oder ob es in bestimmten Zusammenhängen Unterschiede gäbe etc. Besonders hilfreich finde ich das Bedenken von Bildern: Ein Klinikseelsorger hat mit einem depressiven Patienten das Logo der evangelischen Krankenhausseelsorge angeschaut: Zunächst konnte sich der Mann in dem Baumstumpf wieder finden, abgebrochen und vertrocknet; aber dann konnte er auch vorsichtig den seitlich neu austreibenden Zweig wahrnehmen: Gibt es neben dem Vertrockneten auch Neues? Wichtig ist, dass der Betroffene das selbst erkennen und sagen darf bzw. muss, dass ihm solche Einsichten nicht außen aufgedrängt werden. Depression als Krankheit anerkennen: Es ist für Betroffene und ihre Angehörigen von Bedeutung, Depression als Krankheit und schwere Belastung anzuerkennen und sie nicht als Mangel an Energie und Tatkraft abzuwerten. Wer nie eine Depression durchlebt hat, weiß nicht wirklich, wie sich dieser Zustand anfühlt. Außenstehende können sich dem höchstens ahnend annähern – obwohl das auch schon viel ist. Alle Beteuerungen, man sei auch schon mal deprimiert gewesen und könne deswegen den Zustand des anderen Menschen verstehen und nachfühlen, wird von diesem als kränkend und abwertend erlebt, verstärkt insofern die depressive Symptomatik. Wer Depression als Krankheit würdigt, sollte dann auch Betroffene und Angehörige ermutigen, ärztliche, psychiatrische, psychotherapeutische Hilfe zu suchen. Depression als Ausdruck von Sensibilität würdigen: Depression kann auch als Ausdruck von Sensibilität, Feingefühl, und berechtigtem Leiden am Elend der Welt gewürdigt werden. Es stimmt ja, dass depressive Menschen sich von den Umständen der Welt und des Lebens viel tiefer anrühren lassen als der Großteil der Zeitgenossen, die cool über alle düsteren Zukunftsprognosen hinweggehen (obwohl die äußeren Umstände in aller Regel nicht die Depression auslösen, sondern nur noch verstärken!). Das Leiden depressiver Menschen kann als durchaus angemessene Resonanz auf Ungerechtigkeit, Gewalt und Hoffnungslosigkeit im menschlichen Zusammenleben verstanden werden. Es sähe wahrscheinlich anders aus in unserer Welt, wenn mehr Menschen so von den Umständen betroffen wären. Depression und Trauer unterscheiden: Seelsorgende haben oft mit trauernden Menschen zu tun, da ist es notwendig, das Phänomen der Trauer von Depression abgrenzen zu können:18 18 Zum Folgenden: Morgenthaler, Seelsorge, 184 f.

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Trauernde beschäftigen sich mit einer verloren gegangenen Person, depressive Menschen mit der eigenen Person. Trauernde kennen den Grund ihres Zustandes, Depressive meistens nicht oder nicht mehr. Depressive haben häufig heftigere und umfassendere Schuldgefühle als Trauernde. Bei depressiven Menschen sind Denken und Handeln verlangsamt. Bei Trauernden lassen sich heftige und wechselnde Gefühle (Schmerz, Wut, Ängste) beobachten, Depressive erscheinen chronisch niedergeschlagen und gefühllos. Da menschliches Leben ständig von Abschieden geprägt ist, bezeichnet Trauer eine notwendige, lebenswichtige Reaktion. Depression kann man dann als vermiedene, nicht gelebte Trauer verstehen. Depressive Dynamik verstehen: Die depressive Dynamik zu verstehen, kann hilfreich sein, weil man Distanz gewinnt und nicht unmittelbar in die depressive Atmosphäre verstrickt wird. Eine der grundlegenden Erkenntnisse der Psychoanalyse heißt: Alles Seelenleben ist ambivalent und konflikthaft strukturiert. Wir sind bewusst und unbewusst immer von spannungsvollen Emotionen bestimmt. Konkret: Der Liebe sind immer auch Anteile von Hass oder Ablehnung beigemengt, Glaube ist von Zweifel durchzogen, Vertrauen ist dem Misstrauen benachbart, Depression ist nicht ohne Aggression zu haben. Auf diesen Zusammenhang zu achten, ist auch für die Seelsorge von großer Bedeutung. Der depressive Mensch erscheint auf den ersten Blick völlig aggressionslos. Er löst Mitleid, Schonung und Fürsorge aus. Wer sich darauf einlässt, wird dann bald spüren, wie in der Begegnung Gefühle von Ärger und Zorn entstehen und vielleicht dafür dann auch noch Schuldgefühle. Es kann hilfreich sein, dieses eigene Gefühl gewissermaßen als Spiegel der inneren Befindlichkeit des depressiven Menschen zu sehen, als Spiegel seines verdrängten Ärgers, seiner abgespaltenen Wut, die nicht nach außen dringen darf, sondern nur gegen ihn selbst gerichtet bleibt – so dass der Psychiater Klaus Dörner die Depression charakterisiert hat mit den Worten: „Der sich und andere niederschlagende Mensch“.19 Wenn man das so versteht, vervollständigt sich die Wahrnehmung, man bekommt eine Ahnung davon, wie sich in dem depressiven Menschen gegensätzliche Kräfte bekämpfen und wie er darunter leidet.

19 Dörner/Plog, Irren ist menschlich, 193 ff.

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Suizidalität offen ansprechen: Depressive Menschen sind latent immer suizidgefährdet. Die Stimmung „es hat ja doch alles keinen Zweck“, „alles ist sinnlos“, „ich habe keine Hoffnung mehr“ etc. legt es nahe, dass man dem eigenen Leben wenig Wert beimisst und aufgeben möchte. Häufig wollen sich depressive Menschen nicht primär umbringen, sondern vor allem den gegenwärtigen, als unerträglich empfundenen Zustand beenden. In jedem Fall ist es entlastend sie zu fragen, ob sie von suizidalen Gedanken umgetrieben sind. Eine solche Frage wirkt in aller Regel erleichternd, weil etwas, das als so bedrängend erfahren wird, ausgesprochen und geteilt werden kann – statt es für sich behalten zu müssen und ganz allein damit zu kämpfen. Seelsorge heißt Beistand leisten: Man kann den Begriff des Beistandes wörtlich nehmen und dann den Akzent auf den Aspekt des Stehen-Bleibens legen: Als Seelsorger bemühe ich mich, bei dem depressiven Menschen stehen zu bleiben – mich also weder in die Tiefen der Depression hinabziehen zu lassen (was bei vielen Helfern eine Gefahr darstellt) noch einfach wegzugehen, wenn es mir zu viel wird. Verlässlich dazubleiben und in regelmäßigen Abständen wieder zu kommen – das sieht auf den ersten Blick nach wenig aus und ist doch sehr viel. Es ist viel vor allem, wenn man sich klar macht, dass die Seelsorgeperson immer auch als Repräsentant Gottes gesehen wird und die Verlässlichkeit und Stetigkeit des Kontakts, die Annahme und Wertschätzung durch die Seelsorgeperson, wie fragmentarisch all dies auch sein mag, doch durchaus eine symbolische Bedeutung gewinnt, implizit auf die Zuwendung und Verlässlichkeit Gottes verweist. Nach Anknüpfungspunkten für Sympathie suchen: Depressive Menschen sind manchmal für Außenstehende schwer auszuhalten – ich habe schon darauf hingewiesen. Dann kann es hilfreich sein, nach Seiten oder Eigenschaften oder Erfahrungen in der anderen Person oder ihrer Umgebung zu suchen, die man wertschätzen oder mögen kann. Es ist leichter, bei einem Menschen stehen zu bleiben und auszuharren, wenn man solche Anknüpfungspunkte für Sympathie und Wertschätzung entdecken kann. Zeit und Geduld mitbringen: Mit depressiven Menschen ist oft kein Gespräch, in dem Gesprächsbeiträge lebendig hin und her wechseln, möglich. Als Seelsorgeperson braucht es die besondere Fähigkeit, schweigen zu können, Einsilbigkeit und Pausen auszuhalten – und trotzdem da zu bleiben und darauf zu vertrauen, dass bereits Präsenz als solche wohltuend sein kann, wenn sie denn aus einer inneren Gelassenheit und Geduld heraus entsteht und nicht dem depressiven Gegenüber

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latent vermittelt, er möge doch endlich einmal aktiv werden und zu reden anfangen. Gemeinde als Netzwerk nutzen: Dass eine Kirchengemeinde ein stützendes Netzwerke sein kann, habe ich schon mehrfach angesprochen: Zu erfahren, dass sich andere um einen kümmern, nachfragen, Anteil nehmen, für einen beten, gelegentlich eine Mahlzeit kochen etc. – all das tut gut, auch wenn depressive Menschen das im Moment nicht artikulieren und sich nicht bedanken können. Allerdings sollte man auch darauf achten, dass sich die betroffene Person durch solche Hilfsangebote nicht bedrängt fühlt. Pfarrerinnen und Pfarrer können wechselseitige Anteilnahme und Unterstützung in der Gemeinde initiieren. Zur Vernetzung gehört auch, dass Seelsorgende nach Möglichkeit Kontakte zu niedergelassenen Psychiatern, zu Beratungsstellen, zu sozialpsychiatrischen Diensten haben sollten, um sich im Ernstfall Rat und Hilfe holen bzw. Betroffene an andere Fachleute überweisen zu können. Geprägte Texte und Rituale anbieten: Gerade bei älteren Menschen, denen biblische Texte noch vertraut sind, kann es hilfreich sein, z. B. Verse aus Klagepsalmen zu lesen: Schon die biblischen Zeugen haben quälende Zweifel am Unrecht in der Welt und der Verborgenheit Gottes gekannt. Solche Klagen sind Bestandteil des Glaubens, man muss deswegen nicht zusätzliche Scham- und Schuldgefühle entwickeln, sondern kann darüber mit Gott im Gespräch bleiben. Ein Gebet, ein Segen, Abendmahl/Eucharistie kann die Zuwendung Gottes dann auch in ritualisierter Form sinnlich erfahrbar machen. Stellvertretenden Glauben, stellvertretende Hoffnung leben: Depressiven Menschen ist Glaube und Hoffnung meistens abhandengekommen. Wenn sie noch Hoffnung hätten, wären sie nicht in einem depressiven Zustand. Deswegen ist die Stellvertretung durch andere so wichtig, z. B. mit einem Satz wie „Für Sie sieht im Moment alles schwarz aus, aber ich vertraue und hoffe stellvertretend für Sie darauf, dass Ihre Depression wieder vorüber geht“ o. ä. Zwar bewirkt so ein Satz im Moment nicht viel, aber es gibt zahllose Beispiele, wo Betroffene, nachdem sie aus dem depressiven Zustand wieder herausgekommen waren, berichtet haben, dass sie einen solchen Satz sehr wohl gehört hätten und er ihnen gut getan habe – auch wenn sie das in dem Moment nicht zum Ausdruck bringen konnten.

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Segen statt Vergebung anbieten20 : Anfänger in der Seelsorge fallen oft darauf herein, dass sie die Schuldbezichtigungen depressiver Menschen mit der Zusage der göttlichen Vergebung beantworten. Das ist in den meisten Fällen falsch, weil die depressiven Selbstbezichtigungen und Schuldzuweisungen in der Regel weit übertrieben sind (von außen gesehen), und weil eine Vergebungszusage die Annahme des depressiven Menschen verstärkt, dass er sich eben doch wirklich und zutiefst schuldig gemacht habe – sonst brauchte man ja keine Vergebung. Der Segen ist demgegenüber eine bedingungslose Zusage des Schutzes, der liebenden Zuwendung Gottes. Der Segen gilt Menschen unabhängig von dem, was sie getan oder gelassen haben, unabhängig davon, ob sie sich als versagend und ohnmächtig oder als tüchtig und lebensfroh erleben. Insofern erscheint es angemessen, sich von depressiven Menschen mit einem Segenswunsch zu verabschieden – sei es in ritualisierter Form mit Handauflegung und den Worten des Aaronitischen Segens – oder als weniger gewichtiger Schlusssatz „Gott segne Sie“. In jedem Fall geht es darum, die an keine Bedingungen geknüpfte Zusage Gottes weiter zu geben und sich nicht in die Schuld-Vergebung-Dynamik verwickeln zu lassen. Um eigene depressive Anteile oder Strukturen wissen: Wer mit depressiven Menschen als Seelsorger oder Seelsorgerin zu tun hat, muss immer damit rechnen, dass durch die Begegnung eigene depressive Anteile aktiviert werden. Das kann auf verschiedene Weise geschehen: Manche werden einfach unmittelbar angesteckt von so einer depressiven Atmosphäre, andere kämpfen dagegen an, indem sie sich übermäßig kümmern und bemühen, und dabei in Gefahr geraten, sich selber zu erschöpfen und auszubrennen; wieder andere reagieren schnell ärgerlich und ablehnend, vielleicht auch, weil sie spüren, wie leicht sie sich anstecken lassen könnten. Deswegen erscheint ein gutes Maß an Selbsterfahrung wichtig: Um die eigene Verletzlichkeit zu wissen, die eigenen hohen Ansprüche und die damit verbundene Gefahr des Scheiterns und immer wieder Enttäuscht-Werdens zu kennen. Wo eine solche Selbstkenntnis nicht ausreicht, ist Supervision oder eigene Psychotherapie angezeigt. Wer sich um Hilfe von außen bemüht, lebt von der weisen Einsicht, dass niemand sich selbst genug ist, wir alle immer wieder aufeinander angewiesen sind.

VII.

Schluss

Depression ist eine Möglichkeit des menschlichen Erlebens; jede und jeder von uns kann davon betroffen sein. In der Begegnung mit depressiven Menschen 20 Vgl. zu dieser Thematik Bade, Depression und Segen, besonders 321 ff.

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können wir etwas über uns selbst lernen: Über die Abgründigkeit des Lebens, über das unvermeidliche Leiden und Sterben in der Welt, über die Notwendigkeit und Unausweichlichkeit von Trauer und Angst etc. Die Begleitung depressiver Menschen, so schwer und herausfordernd sie meistens ist, stellt so gesehen auch Lernmöglichkeiten für die nicht unmittelbar Betroffenen dar. Wenn man sich das klar macht, fällt es möglicherweise leichter, sich dieser wichtigen Aufgabe zu stellen.

Literatur Bade, J., Depression und Segen. Zur seelsorgerlichen Begegnung mit depressiven Menschen, Münster 2000. Dahlke, R., Depression. Wege aus der dunklen Nacht der Seele, München 2010. Dörner, K./Plog, U., Irren ist menschlich, Bonn 81994. Dörr, A., Religiosität und Depression, Weinheim 1987. Ehrenberg, A., Das erschöpfte Selbst. Depression und Gesellschaft in der Gegenwart, Frankfurt 2008. Grom, B., Religionspsychologie, München 32007. Hass, E. Th., Transzendenzverlust und Melancholie. Depression und Sucht im Schatten der Aufklärung, Gießen 2006. Kiessling, K., Seelsorge bei Seelenfinsternis, Freiburg 2002. Klessmann, M., Seelsorge. Begleitung, Begegnung, Lebensdeutung im Horizont des christlichen Glaubens. Ein Lehrbuch, Neukirchen 22009. Kuiper, P., Seelenfinsternis, Frankfurt 1988. Morgenthaler, Ch., Seelsorge, Gütersloh 2009. –/Schibler, G., Religiös-existentielle Beratung, Stuttgart 2002. Moser, T., Gottesvergiftung, Frankfurt 1976. Nohl, P. G., Mit seelischer Krankheit leben. Hilfen für Betroffene und Mitbetroffene, Göttingen 1981. Schweizer, J./Von Schlippe, A., Lehrbuch der systemischen Therapie und Beratung II, Göttingen 22007. Thomas, Ch. u. a., Religiöse Motivation und Depression im Alter, in: G. Thomas/I. Karle (Hg.), Krankheitsdeutung in der postsäkularen Gesellschaft, Stuttgart 2009, 603 – 613. Tölle, R./Windgasse, K., Psychiatrie, Heidelberg 142006. Wahl, H., Lebenszeichen von Gott – für uns, Münster 2008.

Dieter Weber

Empathie – oder zur Seelsorge begabt? Ein Forschungsbericht

I.

Einleitung

Wertschätzung, Einfühlungsvermögen und Echtheit, diese drei, aber das Einfühlungsvermögen ist die größte unter ihnen, so klingt der Tenor in der personenzentrierten Interaktion von Carl Rogers.1 In kaum einem Seelsorgekonzept fehlt der Hinweis auf die Empathie. Der Begriff der Einfühlung hat nach seiner Einführung zu Beginn des 20. Jh. in der Psychologie im deutschsprachigen Raum und seiner kritischen Diskussion in der Philosophie2 eine zunächst zögerliche Rezeption sowohl in der Psychologie (insbesondere in der Psychoanalyse3) wie 1 An keinem anderen Konzept hat Rogers während seiner therapeutischen wie wissenschaftlichen Arbeit so gefeilt wie an dem Verständnis von Empathie; vgl. Rogers, A theory of therapy, 210 – 211 und Rogers, Empathic, 3 – 5. Dabei entwickelte sich sein Verständnis von Empathie weg von der Vorstellung eines Zustandes hin zur Deutung der Empathie als einem Prozess. 2 Vgl. Lipps, Einfühlung, 185 – 204; Lipps, Weiteres zur Einfühlung, 465 – 519; vgl. ferner Stein, Einfühlung; Worringer, Einfühlung; Geiger, Bedeutung der Einfühlung, 29 – 73; Volkelt, Gewißheit; vgl. auch Schloßberger, Erfahrung des Anderen, der rekonstruierte, wie bei Lipps, Dilthey, Scheler und Husserl jeweils die Erfahrung des Anderen über das Verstehen der Gefühle des Anderen diskutiert wird. Unter dem Begriff der Sympathie (wohl im Sinne von Empathie) ist die Einfühlung bei David Hume und Adam Smith bedeutsam für das Gefühl (sentiment) der moralischen Billigung oder Missbilligung von Handlungen Anderer. Auch für das Verstehen der Gründe von Handlungen ist für den Geschichtsphilosophen Collingwood Empathie erforderlich. Für eine sehr knappe und konzise Übersicht über die philosophische Diskussion des Phänomens der Empathie vgl. Stueber, Empathy. 3 Im Blick auf die Reserve gegenüber dem Konzept der Empathie in der Psychoanalyse, vgl. Staemmler, Das Geheimnis des Anderen, 22, Fußnote 11; siehe dort auch weiterführende Literatur. Sie ist getragen von der Skepsis gegenüber der Möglichkeit der Wahrnehmung von Fremdpsychischem, von den immer noch vorherrschenden Rationalitätsvorstellungen und der Schwierigkeit, empathische Prozesse von Übertragungsprozessen zu unterscheiden. Freud hat zwar auf die Notwendigkeit der Empathie/Einfühlung für das therapeutische Gespräch hingewiesen (vgl. Freud, Zur Einleitung der Behandlung, 473 f). Zugleich aber scheint er bei der Einfühlung auf Seiten des Arztes die Gefahr der Gegenübertragung zu wittern; so etwa, wenn er im Kontext des Phänomens der Übertragungsliebe in der Analyse feststellt: „Während nämlich der Patient sich an den Arzt hängt, unterliegt ja der Arzt einem ähnlichen Prozeß, der ,Gegenübertragung‘. Diese Gegenübertragung muß vom Arzt vollständig über-

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der Philosophie erfahren, um dann mit der humanistischen Psychologie ins Blickfeld der Psychotherapie4 zu rücken und ab den 1970er Jahren Karriere zu machen, nicht nur in der psychoanalytischen Psychotherapie – insbesondere der relationalen Psychoanalyse, sondern auch der Psychologie insgesamt, der Säuglings- und Kleinkindforschung5, der Neurobiologie (bedingt durch die Weiterentwicklung bildgebender Verfahren)6 und Autismusforschung,7 der Ökonomie (unter dem Stichwort der Neuroökonomie),8 der Philosophie (hier im Rahmen der Leibphilosophie aber auch der Sozialphilosophie).9 Dies hat in verwandten Begriffen und Konzepten wie „Soziale Kognition“, „emotionale Intelligenz“, „Theory of Mind“, „Mentalisierung“ seinen Niederschlag gefunden. Was zur Überwindung der Skepsis gegenüber einem Vermögen der Empathie führte, vermag ich hier nicht zu rekonstruieren. Es handelt sich um einen Begriff, der alles andere als schon geklärt ist und in seiner Bedeutung für die Psychotherapie und Seelsorge, denen hier mein Hauptinteresse gilt,10 nicht zu unterschätzen ist. Immerhin kann man beobachten, dass die Karriere der Empathie in der Neurobiologie getriggert ist durch die modernen bildgebenden Verfahren, durch den anhaltenden Boom in der Säuglingsforschung und in der Psychoanalyse eng mit dem „Intersubjective Turn“11 bzw. der Durchsetzung des Paradigmas der relationalen Psychoanalyse verknüpft ist.

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wunden werden; das allein macht ihn psychoanalytisch mächtig. Das macht ihn zum vollkommen kühlen Objekt, um das der andere liebend sich bewerben muß“ (Nunberg/Federn, Protokolle, Bd. II, 407, Hervorheb. DW). Vgl. auch den Brief Freuds an Jung vom 31. Dezember 1911, wo er von der „nötige(n)Kühle in der Praxis“ spricht (vgl. McGuire/Sauerländer, Briefwechsel, 212). Exemplarisch sei nur auf die Bedeutung der Empathie in der Selbstpsychologie von Kohut verwiesen; vgl. Kohut, Psychoanalyse, 44; Kohut, Selbst, 129; Kohut, Introspection, empathy, 395 – 407; vgl. in jüngerer Zeit Bolognini, Verborgene Wege; Bolognini, Psychoanalytische Einfühlung. In dem Maße, in dem sich das Paradigma der relationalen Psychoanalyse durchsetzt, wächst auch die Bedeutung der Empathie in der Psychoanalyse. Vgl. Br”ten, Intersubjektive Partizipation, 832 – 861. Vgl. exemplarisch Iacoboni, Mirror Neurons, 653 – 670; Bernhardt/Singer, The Neural Basis of Empathy, 1 – 23; Engen/Singer, Empathy circuits, 1 – 8; Zaki/Ochsner, Understanding, 207 – 226; Zaki/Ochsner, Neuroscience of empathy, 675 – 680, siehe dort auch weiterführende Literatur. Vgl. Vogeley, Rückkehr des Sozialen; Frith/Frith, Implicit and explicit processes, 503 – 510. Singer/Fehr, Neuroeconomics, 340 – 345. Fuchs, Beziehungsorgan; Gallagher, Narrative, 167 – 196; Zahavi, Direct social perception, 541 – 558. Wie sehr im Gespräch von Philosophie, Neurobiologie, Psychologie hier um die Klärung des Phänomens der Empathie gerungen wird, mögen exemplarisch die Auseinandersetzungen zwischen Zahavi/Overgaard, Empathy without Isomorphism, 7 und de Vignemont/Singer, The Empathic Brain, 435, ferner zwischen Gallagher, Narrative, 167 – 196; ders., Empathy, 355 – 381; und Zahavi, Direct social perception, 541 – 558, einerseits und Jacob, A critique, 519 – 540; Stueber, Allure, 265 – 292; ders., Varieties of Empathy, 55 – 63 andererseits zeigen. Gerhardt et al., Intersubjective Turn.

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Ich möchte der Frage nachgehen, was uns zu diesem Vermögen der Empathie befähigt. Dabei wird sich zeigen, dass das Verständnis, was Empathie ausmacht, und was zu seiner Genese führt, sehr eng zusammenhängen. Der Kerngedanke ist: Empathie ist nicht einfach als eine Eigenschaft eines Individuums, sondern als emergentes Ereignis eines dialogischen Prozesses anzusehen. Ich versuche dies durch eine zunächst anerkennungstheoretische Deutung der Kommunikation von Empathie plausibel zu machen. In einem zweiten Schritt knüpfe ich an zentrale Einsichten der Interaktion von Säugling und primärer Bezugsperson an. Denn das Vermögen zur Empathie ist an die frühe Entwicklung unseres Selbst gebunden. In diese Richtung weist die relationale Psychoanalyse und die mit ihr eng liierte Säuglingsforschung. Daran anknüpfend versuche ich aufzuzeigen, dass sich das Vermögen der Empathie selbst im Prozess der Interaktion etwa zwischen Analysand und Analytiker bzw. Patient und Therapeut (und davon ableitbar auch zwischen Gemeindeglied und Seelsorger) weiterentwickelt und bildet. Ich nehme hierzu Bezug auf den Gegenwartsmoment der Boston Change Process Study Group, der viele Gemeinsamkeiten zum Aspekt der Präsenz in der personenzentrierten Interaktion aufweist. Wenn der Gegenwartsmoment zum Begegnungsmoment wird, ermöglicht die intersubjektive Bildung der Empathie ein Wiedererkennen der Interaktionspartner. Dieses Wiedererkennen kann als ein neues Selbstverhältnis durch ein Sozialverhältnis verstanden werden, das sich im empathischen Prozess bildet. Das sich bildende Selbstverhältnis enthält im Kern ein neues Selbstgefühl vermittelt durch die Einfühlung eines Anderen in uns. Schließlich will ich darauf verweisen, dass der Ort der Bildung der Empathie die Zwischenleiblichkeit ist. Diese steht für eine besondere Beziehungsweise. In dieser finden wir uns in einer passiven Intentionalität vor. Wir sind angesprochen und herausgefordert von einem unverfügbaren Anderen. Es ist dieses Andere, das unser Vermögen stiftet ganz bei einer anderen Person zu sein, empathisch zu sein, um so uns als uns selbst wiedererkennen zu können.

II.

Zum Begriff der Empathie

In den verschiedenen disziplinären Bemühungen, das Phänomen der Empathie zu klären, zeichnet sich trotz vieler Detaildebatten eine gemeinsame Tendenz ab, zwischen einer affektiven, in der Regel impliziten, vorbewussten, spontanen, nichtinferentiellen Empathie und einer kognitiven, komplexeren expliziten, reflexiven, inferentiellen Empathie als Subprozesse der Empathie zu unterscheiden,12 auch wenn diese Subprozesse sehr eng ineinander verwoben sind.13 12 Vgl. Zaki/Ochsner, Neuroscience of empathy, 675 – 680; vgl. auch Frith/Frith, Implicit and

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Erstere ist weitgehend im prozeduralen Gedächtnis verankert und wird häufig mit der Simulationstheorie in Beziehung gebracht. D.h. es würde keine bewußte Erfahrung etwa der affektiven oder intentionalen Zustände des Gegenübers erfolgen, sondern es käme in unserem Gehirn zu einer (weitgehend unbewussten) Simulation dessen, was der andere erlebt, wahrnimmt und tut, was dann bei uns einen ähnlich affektiven oder intentionalen Zustand erzeugt. Letztere wird im deklarativen Gedächtnis verarbeitet und als bewusste Fähigkeit zum Perspektivenwechsel verstanden und mit der “Theory of Theory“ assoziiert. Hier schließen wir bewusst und reflexiv aus dem, was wir bei dem anderen wahrnehmen. In beiden Fällen, der impliziten vorbewussten, wie der expliziten, bewussten Empathie spielt für die Simulation wie für die bewusste Folgerung der Kontext/die Situation, in der unser Gegenüber ist, eine wichtige Rolle. Auch wenn beide Formen klinisch und neurobiologisch voneinander unterscheidbar und zum Teil unterschiedliche neuronale Aktivierungsprozesse mit ihnen verbunden sind,14 so legt sich doch nahe, dass die affektive, prozedural und implizit sich vollziehende Empathie der kognitiven, deklarativ und explizit sich äußernden Empathie zugrundeliegt.15 D.h., es dürfte die eher präreflexive affektive Empathie der reflexiven, kognitiven Fähigkeit der Perspektivenübernahme, vorausgehen und diese unterstützen. So vermögen zwar Kinder mit Symptomen der Autismusspektrumstörung mit zeitlicher Verzögerung (etwa zwischen 10 – 12 Jahren) im Vergleich zu Kindern ohne Symptome der Autismusspektrumstörung (zwischen 4 – 6 Jahren, vermutlich noch früher) die Fähigkeit der Theory of Mind zu erwerben. Diese aber erfolgt weniger spontan und explicit, 503 – 510, die im Blick auf soziale Kognition zwischen impliziten und expliziten Vorgängen unterscheiden; vgl. auch Vogeley, Rückkehr des Sozialen, 1 – 12, vgl. Gallagher, Narrative, 188. Diese Unterscheidung zwischen affektiver und kognitiver Empathie wird man als grundlegend annehmen können, auch wenn weit mehr Facetten der Empathie, insbesondere der affektiven Empathie noch unterschieden werden können wie jüngst Preston/Hofelich, Many Faces, 24 – 33 nahelegen. 13 Vgl. Ray/Zald, Interaction, 479 – 501; siehe dort weiterführende Literatur. Nach Jeannerod/ Pacherie, Self-Identification, 128 f, „Simulation can be conceived as the explicit, conscious imaginary enactment of the mental states and processes of others. It can be considered as a subpersonal process unfolding automatically and without conscious control. Or it can be thought of as a hybrid of implicit and explicit simulation. […] We […] believe that simulation is the root form of interpersonal mentalization and that it is best conceived as a hybrid of explicit and implicit processes, with subpersonal neural simulation serving as a basis for explicit mental simulation.“ 14 Blair, Developmental approach, 1 – 29, hält die kognitive und affektive Komponente von Empathie für unabhängig voneinander bestehend, da bei Psychopathen wohl erstere intakt, letztere aber schwer beeinträchtigt ist. Vgl. auch Cox et al., Feeling and knowing, 727 – 737. 15 Dies legt sich aufgrund neurologischer Untersuchungen mit Hilfe bildgebender Verfahren nahe ungeachtet der Tatsache, dass auch die prozedurale Verarbeitung emotionaler Stimuli durch kognitive Prozesse möglich ist; vgl. Kellermann et al., Modulating, 263 – 273; vgl. auch Blair et al:, Modulation of emotion, 430 – 440.

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mit einer signifikant höheren Rate von Fehlinterpretationen im Blick auf die Wünsche, Intentionen und Überzeugungen einer anderen Person, von der Wahrnehmung der affektiven Zustände ganz abgesehen.16 Entsprechend hat Gallagher das Verhältnis zwischen primärer, vorbewusster Intersubjektivität und sekundärer bewusster Intersubjektivität – eine Unterscheidung, die Trewarthen17 eingeführt hat – bestimmt: primary, embodied intersubjectivity is not primary simply in developmental terms. Rather it remains primary across all face-to-face intersubjective experiences, and it subtends the occasional and secondary intersubjective practices of explaining or predicting what other people believe, desire or intend in the practice of their own minds.18

Auch für Erwachsene gilt: we continue to rely on embodied capabilities that facilitate our primary-intersubjective understanding of others through our perception of their postures, facial expressions, actions, etc., and our secondary-intersubjective capacities to engage with them in highly contextualized situations.19

Unter dem Konzept der Theory of Mind20 wurde lange Zeit nur die komplexere, reflexive Form der Empathie bzw. des Mindreading empirisch untersucht. Mit der Entdeckung der Spiegelneurone und Intensivierung der Säuglingsforschung mit immer subtileren Forschungsdesigns konnten präreflexive Vorformen der Theory of Mind entdeckt und analysiert werden. Ich verweise hier nur exemplarisch auf die Annahme von vier hierarchisch aufeinander aufbauenden modulären Mechanismen als Stufen hin zur Entwicklung der Theory of Mind von Simon Baron-Cohen. Neben dem intentionality detector (ID) (vor dem 9. Lebensmonat), und dem eye direction detector (EDD) (ab dem 9. Lebensmonat) geht Baron-Cohen von einem shared-attention mechanism (SAM), der für triadische Interaktionen bedeutsam ist, und dem finalen Mechanismus einer theory of mind mechanism (ToMM) aus.21 16 Vgl. Lombardo und Baron-Cohen haben die z. T. noch unübersichtliche Forschungssituation im Blick auf spontanes implizites Mentalisieren und explizites, kognitives Mentalisieren bei Personen mit autism spectrum conditions (ASC) wie folgt summiert: „Rather than a complete lack of theory of mind, meta-analytic evidence suggests that many (though not all) individuals with ASC do develop a rudimentary explicit mentalizing ability, albeit at a very delayed point in development (…) However, even here, this explicit mentalizing ability developed at later ages may mask the true deficits in understanding and attributing mental states, as studies of automatic or implicit mentalizing find deficits in ASC all the way up to adulthood“, Lombardo/Baron-Cohen, The role of the self, 139. 17 Vgl. Trewarthen, Communication and cooperation, 321 – 347. 18 Gallagher, The practice of mind, 91. 19 Gallagher, Interactive coordination, 294. 20 Vgl. Wimmer/Perner, Beliefs about beliefs, 41 – 68. 21 Vgl. Baron-Cohen, Mindblindness, Kapitel 4, insbes. S. 51.

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Nach Michael Tomasello kann die Fähigkeit zum Blick-Folgen (gaze following) im Zuge einer gemeinsam geteilten/verbundenen Aufmerksamkeit (joint attention) bei Kindern bereits ab dem 9. Lebensmonat22 und die Fähigkeit zur Ausbildung von we-intentions/shared intentions ab dem 14. Lebensmonat beobachtet werden. In entsprechenden Settings konnte gezeigt werden, dass Kinder ab dem 14. Lebensmonat die Fähigkeit entwickeln, die Perspektive einer anderen Person einzunehmen, die bei ihrer Tätigkeit Hilfe braucht.23 Als Element zur Perspektivenübernahme bildete sich bald schon die Fähigkeit zur Rollenübernahme heraus. False-Belief-Tasks (Falsche-Überzeugung-Aufgaben), die auf nicht sprachlicher Ebene gestellt wurden, konnten deutlich früher in der Entwicklung (ab dem 13. Lebensmonat) gelöst werden, als dies früher bei False-Belief-Tasks beobachtet wurde, die sprachlich formuliert bzw. durch eine sprachliche Äußerung begleitet wurden. Dies zeigte die Analyse des Blickverhaltens von Kleinkindern ab dem 13. Lebensmonat. Viele Beobachtungen sprechen dafür, dass ein implizites nonverbales Verstehen von falschen Überzeugungen einem expliziten, sprachlich vermittelten Verstehen falscher Überzeugungen vorausgeht. Es ist, als wäre unser intuitives, implizites, nonverbales, durch unser Blickverhalten kommuniziertes Verstehen der Überzeugungen und Intentionen anderer (und also Empathievermögen) schneller und früher entwickelt als unser explizites, sprachlich vermitteltes.24 Auch wenn es für viele Autorinnen und Autoren25 nahelag, die Affektansteckung als eine Form der präreflexiven, spontanen, prozedural erfolgenden Empathie anzusehen, so sprechen gute Gründe dafür, sie von der genuinen Empathie abzugrenzen. Nach Stueber muss nämlich bei der Affektansteckung kein Bewusstsein darüber bestehen, dass man sich von den Affekten anderer, 22 Tomasello, Joint attention, 103 – 130. 23 Warneken/Tomasello, Cooperation, 271 – 294. 24 So zeigten Onishi/Baillargeon 15 Monate alte Babys einen Film, in dem ein Akteur über den Ort eines Objektes eine falsche Überzeugung hatte. Anschließend wurden den Babys zwei Szenen gezeigt. In der ersten Szene suchte der Akteur entsprechend seiner falschen Überzeugung das Objekt an einem falschen Ort. In der zweiten Szene sahen die Babys, wie der Akteur, trotz seiner falschen Überzeugung, das Objekt dort suchte, wo das Objekt tatsächlich auch war. Das Blickverhalten der Babys zeigte, dass sie überrascht waren, dass der Akteur entgegen seiner falschen Überzeugung, das Objekt am richtigen Ort suchte (vgl. Onishi/ Baillargeon, Do 15–month-old infants, 255 – 258; vgl. auch Senju/Csibra, Gaze following, 668 – 671). Doch nicht nur durch Blickverhalten zeigen Babys ein implizites Verstehen falscher Überzeugungen. Sie informieren auch spontan einen Akteur durch Zeigen (gewissermaßen in einer antizipatorischen Intervention), wenn sie gesehen haben, dass dieser eine falsche Überzeugung hat, etwa im Blick auf den Ort eines Gegentandes; vgl. Knudsen/ Liszkowski, 18–Month-Olds Predict Specific Action, 672 – 691. 25 Vgl. Staemmler, Das Geheimnis des Anderen; Hatfield et al., Emotional contagion, 96 – 99; Zaki/Ochsner, Neuroscience of Empathy, 676.

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etwa lachender oder ernster Personen hat affektiv anstecken lassen. Babys, die sich durch andere Babys zum Schreien anstecken lassen, vermögen im Blick auf den im Schreien ausgedrückten affektiven Zustand noch nicht zwischen sich und anderen zu unterscheiden. Als Abgrenzungskriterium gegenüber der Affektansteckung wird angenommen, dass die genuine Empathie die Fähigkeit zwischen einem selbst und einem anderen zu unterscheiden, voraussetzt: „It requires that one is minimally aware of the fact that one is having an emotional experience due to the perception of the other’s emotion, or more generally due to attending to his situation“ (Hervorheb. DW).26 Zahavi und Overgaard argumentieren ähnlich im Blick auf die Notwendigkeit der Abgrenzung von Affektansteckung von Empathie, sehen aber durchaus die Möglichkeit, dass wir uns von den affektiven Zuständen einer anderen Person haben anstecken lassen zugleich aber fähig sind, diese affektiven Zuständen der anderen Person zuzuschreiben und zu realisieren, dass der eigene affektive Zustand eine Reaktion auf den affektiven Zustand zu der anderen Person ist. Den entscheidenden Unterschied zwischen der Affektansteckung und der Empathie sehen sie vielmehr darin, dass wir in der Affektansteckung self-centered bleiben, während wir in der Empathie other-centered sind.27 Natürlich schließt diese Abgrenzung einer selbstzentrierten Affektansteckung von einer an einem anderen zentrierten Empathie nicht aus, dass Affektansteckung von grundlegender Bedeutung für eine Verständigung ist und dass sie einer an einem anderen zentrierten Empathie vorausgehen kann. So kann es möglich sein, dass man einiges über die emotionale Verfasstheit des Anderen erfährt, wenn man auf seine eigenen affektiven Reaktionen, die sich aus einer Affektansteckung ergeben, achtet28 etwa in der Haltung der gleichschwebenden Aufmerksamkeit. Ebenso wurde einige Mühe darauf verwandt, Empathie von Sympathie zu unterscheiden. In der Sympathie geht es nicht (nur) darum, den jeweiligen affektiven Zustand einer anderen Person wahrzunehmen, sondern um eine Emotion sui generis, die die negative Emotion oder die Situation einer anderen Person zum Gegenstand hat. Und das geschieht aus einer Haltung der Fürsorge für diese andere Person. Gerade die Haltung der Fürsorge für eine andere Person

26 Stueber, Empathy. Unklar ist, ob es nicht doch auch eine Form der Affektansteckung gibt, die begleitet ist von einem Gewahrsein des Unterschieds von ich und anderer. Diese deutliche Unterscheidung zwischen Affektansteckung und affektiver Empathie wird aus neurophysiologischer Sicht nicht immer durchgehalten, vgl. Zaki/Ochsner Neuroscience of empathy, 675 – 680. 27 Zahavi/Overgaard, Empathy without Isomorphism, 6 und 7; vgl. auch de Vignemont, Affective Mirroring. 28 Vgl. Hatfield et al. Emotional contagion, 96.

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muss nicht notwendig bei der Empathie gegeben sein.29 Jemand kann sehr gut sein empathisches Vermögen auch zur Manipulation eines anderen nutzen. Solche analytischen Unterscheidungen sind bei der Klärung von Begriffen und für die Operationalisierung in methodischer Hinsicht unerlässlich. Es darf allerdings nicht übersehen werden, dass wir es bei der Fähigkeit zu sozialer Kognition30 mit einer komplexen Gemengelage an miteinander interferierenden Fähigkeiten zu sozialer Kognition zu tun haben. Die Vorstellung, bestimmte emotionale, sozialkognitive Prozesse laufen in reiner Form ab, muss als eine Fiktion angesehen werden. Von daher wären Untersuchungen im Blick auf das mögliche Zusammenspiel – sei es einander hemmend oder stimulierend – von z. B. einer selbst-zentrierten Affektansteckung oder einem selbst-zentrierten Mitleid und einer an einem anderen zentrierten Empathie sowie von fürsorgender Sympathie und Empathie anzustreben. Ohne ein empathisches Vermögen dürfte eine Sympathie sehr eingeschränkt sein. Umgekehrt konnte beobachtet werden, dass ein mitfühlendes Meditieren die empathische Genauigkeit sowie die damit verbundene neuronale Aktivität erhöht.31 Und ohne ein fürsorgendes Mitgefühl wird sich auch im Laufe der Interaktion zwischen zwei Personen kein empathisches Vermögen weiterentwickeln können.

III.

Empathie als dialogisch-narratives Geschehen

Für den Prozess des einfühlenden Verstehens ist die Rückkopplung durch die Adressatin des einfühlenden Verstehens mitentscheidend. Die Reaktion der Person, der das einfühlende Verstehen gilt, ist bedeutsam für die Person, die ihr empathisch zu begegnen versucht und auch für deren Vermögen, ihr empathisch begegnen zu können. Wenn eine entsprechende Interaktion zu einer Weiterentwicklung des Vermögens der Empathie führen können soll, dürfte auf Dauer eine Empathie, die nicht aus Fürsorge und vermutlich daher nicht authentisch erfolgt, für diesen Prozess nicht hilfreich sein. Jemand, der einem anderen empathisch begegnet, wird Motive seiner empathischen Haltung, die nicht im 29 Vgl. Gallagher, Empathy, 360 f. 30 Wenn ich im Folgenden von sozialer Kognition spreche, soll damit in einem breiten Sinne all unser Vermögen umfasst sein, die Gefühle, Intentionen, Wünsche, Motive, Gedanken und Überzeugungen eines anderen intuitiv-affektiv, spontan, nichtinferentiell, prozedural vermittelt direkt (analog der direkten Wahr-nehmung einer Gestalt als eines emergenten Phänomens) zu perzipieren wie auch bewusst, reflektierend, interpretierend-inferentiell zu erschließen und teilweise auf die eine oder andere Weise mit ihm unbewusst, implizit wie bewusst, explizit zu teilen. Dies geschieht im Bewusstsein, dass Phänomene wie etwa Affektansteckung, Affektabstimmung, Sympathie und Mitleid mit diesem Vermögen in irgendeiner noch näher zu untersuchenden und zu bestimmenden Weise interferieren. 31 Vgl. Mascaro et al., Compassion meditation, 48 – 55.

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Interesse seines Gegenübers sind, verschleiern. Man wird die Motive und die dahinter stehende jeweilige Haltung wie auch die Beziehung(squalität) der Interaktionspartner, die z. B. mit dem Grad der Vertrautheit korrelieren kann,32 nicht von dem empathischen Verhalten einer Person abstrahieren können. Sie bildet gewissermaßen einen wichtigen Kontext, insbesondere für den Adressaten dieses empathischen Verhaltens. Das empathische Verhalten setzt nämlich auf Seiten des Adressaten dieses Verhaltens ebenfalls eine bestimmte positive Haltung gegenüber dem Absender dieses empathischen Verhaltens voraus. Es kann nicht als selbstverständlich angesehen werden, dass der Adressat empathischen Verhaltens eben solch ein empathisches Verhalten von jeder beliebigen anderen Person bekommen bzw. annehmen möchte. Im positiven Falle wird das empathische Verstehen auf Seiten des Senders, der sich empathisch gibt, auf Seiten des Empfängers dankbar angenommen werden. Dieser wird sich einem anderen in dem Maße gegenüber öffnen, anvertrauen und bereit sein, ihm etwas von sich preiszugeben, als er ein empathisches Verstehen sich zu erhoffen traut. Und in dem Maße, in dem er sich durch den anderen verstanden weiß, hat er etwas von sich preisgegeben und sich dem Anderen ausgeliefert. Wäre dies nicht der Fall, wäre jene Empathie, die nur der Manipulation des anderen dient, nicht so problematisch und gefährlich und würde nicht als extremer Vertrauensmissbrauch und persönliche Verletzung erfahren werden. Es liegt also nahe, dass das Vermögen zur Empathie selbst ein gewisses Maß an Vertrautheit zwischen den Interaktionspartnern voraussetzt.33 In der Regel 32 Als eindrückliches Beispiel für die Bedeutung der Vertrautheit der Beziehung für die Entwicklung empathischer Prozesse sei an das Verhalten eines Kindes ab dem Alter von 9 Monaten gegenüber vertrauten Personen wie etwa den Eltern und nicht vertrauten/nicht vertraut aussehenden Personen, denen gegenüber das Kind fremdelt, erinnert. Das Kind wird sich so lange einem anderen gegenüber im „Fremdeln“ und später in der Scham entziehen und verbergen und also sich nicht öffnen und preisgeben, solange der Andere nicht vorsichtig und feinfühlig auf direktem oder indirekten Weg sein Vertrauen gewonnen hat bzw. bis das Kind innere Mechanismen entwickelt hat, seine Affekte zu regulieren und seine Gedanken, Wünsche und Überzeugungen zu reflektieren und ggfs. zu verbergen. 33 In diesem Sinne kann man das unterschiedliche Vermögen zur Empathie etwa für den Schmerz (den physischen wie vermutlich auch für den psychischen) einer anderen Person deuten in Abhängigkeit von dem Maß der Vertrautheit mit dieser Person; vgl. Mazzola et al., Loved One’s Pain; Gutsell/Inzlicht, Intergroup, 596 – 603. Die Tatsache, dass wir Personen gegenüber, die aus derselben sozialen Gruppe wie wir stammen, ein höheres Empathievermögen zeigen als bei Personen, die aus einer „outgroup“ kommen, bringen Gutsell/Inzlicht mit „the intuitive sharing of other’s emotional and motivational states“ (ebd., 596) in Verbindung. Das intuitive Teilen emotionaler und motivationaler Zustände dürfte gegenüber Personen aus der „ingroup“ deutlich höher sein, wie gegenüber Personen aus der „outgroup“, von Personen, denen gegenüber wir Vorurteile hegen, ganz abgesehen. Die Implikationen dieser sich hier andeutenden Ambivalenz unseres empathischen Vermögens hinsichtlich Vorurteilen und Diskriminierungen uns wenig vertrauten Personen gegenüber sind

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liefern beide Interaktionspartner einander im Prozess der Empathie aus. Weder weiß derjenige, der sich in einen anderen einzufühlen versucht, ob dieser das empathische Verhalten und die darin mitkommunizierte Nähe annehmen möchte. Noch weiß der, dem die empathische Zuwendung gilt, zu 100 %, ob die Motive hehre sind. Die Kehr- oder Rückseite dessen, der sich empathisch verstanden weiß, ist, dass er auch weiß, dass der andere dabei ist, persönliches, ja ggfs. Intimes, Schambesetztes mitzubekommen. In diesem Sinne ist er dem anderen preisgegeben und ausgeliefert. Zudem wird der Empfänger empathischen Verhaltens selbst spontan empathisch auf den Geber empathischen Verhaltens reagieren, sofern durch das empathische Verhalten seines Gegenübers seine Bedürfnisse nach Anerkennung befriedigt werden. Sollte das empathische Verhalten nicht aus Fürsorge rühren und damit korrelierend aller Wahrscheinlichkeit nicht authentisch sein, sinkt die Wahrscheinlichkeit, dass der Adressat der Empathie sich in seinen affektiven Bedürfnissen durch den Anderen anerkannt erfährt. Damit sinkt natürlich auch dessen Bereitschaft dem, der (vor-)gibt aus Gründen der Fürsorge empathisch zu sein, selbst empathisch und fürsorgend zu begegnen. Umgekehrt gilt es aus Sicht des Gebers empathischen Verhaltens zu bedenken, dass aus Angst und Selbstschutz gegenüber dem Adressaten seiner Empathie sein spontanes intuitives über Spiegelneurone vermitteltes Vermögen zu empathischer Reaktion vermindert sein wird. Kurz gesagt: Empathie antwortet immer schon a) auf einen Wunsch nach Einfühlung als eines elementaren primär affektiven Bedürfnisses nach Anerkennung:34 sei es, dass dieses Bedürfnis anerkannt, verkannt oder gar missbraucht wird, und b) auf geschenktes oder nicht geschenktes Vertrauen, das ebenfalls als eine Form der Anerkennung interpretiert werden kann. Ikäheimo hat Anerkennung als „always a case of A taking B as C in the noch nicht abschätzbar. Untersuchungen von Beckes et al., Familiarity, 1 – 8, legen nahe, dass im Falle der empathischen Wahrnehmung der Bedrohung eines anderen, mit dem wir sehr vertraut sind, sich selbst auf neurophysiologischer Ebene von der empathischen Wahrnehmung der Bedrohung einer fremden, uns wenig vertrauten Person deutlich unterscheidet. Je höher Vertrautheit und das soziale Band mit der Person, deren Bedrohung wir empathisch wahrnehmen, umso mehr überlappt die neuronale Repräsentation der empathischen Wahrnehmung dieser Bedrohung mit der neuronalen Repräsentation der Erfahrung einer Bedrohung für einen selbst. 34 Die Annahme eines elementaren primär affektiven Bedürfnisses nach Anerkennung möchte ich im Kontext der Annahme einer angeborenen Intersubjektivität in Anknüpfung von Stein Br”ten sehen. Dieser geht davon aus, dass das Kind mit dem impliziten Konzept eines virtuellen Anderen geboren wird (vgl. Br”ten, Altero-centric participation, 105 – 124; ders., Intersubjektive Partizipation, 832 – 861). Stern hat diesen Gedanken mit dem Begriff einer „intersubjektiven Matrix“ (Stern, Gegenwartsmoment, 106) aufgenommen. Wir brauchen den anderen, um uns zu uns verhalten zu können, um uns als uns leibhaftig erleben und unsere affektiven Zustände als unsere affektiven Zustände erleben zu können.

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dimension of D, and B taking A as a relevant judge“35 charakterisiert. Übertragen auf die Therapeut-Patient-Beziehung kann man sagen: Wenn ein Therapeut (Person A) einem Patienten (Person B) im Kontext D (der Therapie) als C (z. B. wertzuschätzende Person) anerkennt, dann wird in der Regel der Patient (Person B) seinen Therapeuten (Person A) als fachliche Autorität anerkennen, bzw. schon anerkannt haben, etwa als er ihn als Therapeuten ausgewählt hat. Und weiter kann man (in dem Beispiel bleibend) folgern, dass der Therapeut genau aus dieser Anerkennung (qua geschenkten Vertrauens) von seinem Patienten schöpfen kann. Davon wird auch sein empathisches Vermögen beflügelt werden, sodass er ganz bei dem Patienten sein kann. Bei einer weitergehenden anerkennungstheoretischen Rekonstruktion empathischen Verhaltens, wird sich zeigen, dass kommunizierte Empathie von einer Ambivalenz durchzogen ist. Diese liegt in der Alterität/Individualität der Interaktionspartner begründet und der damit einhergehenden Ambivalenz ihrer affektiven Anerkennungsbedürfnisse. So kann man auf Seiten des Empfängers der Empathie sagen: So sehr wir uns von einem anderen verstanden wissen wollen, so sehr wollen wir wir selbst bleiben und nicht gänzlich durch das Verstehen des anderen dem Anderen preisgegeben sein. In unserem durch einen anderen Verstanden-werden, sind wir immer etwas von der Alterität des Anderen infiziert. Auf Seiten des Gebers kann man sagen: So sehr wir den Anderen in einer other-centered manner verstehen wollen, wir wollen und können dabei nie ganz von uns absehen und uns ganz dem anderen hingeben und bei ihm sein. Die weitere Entwicklung des empathischen Vermögens in der Interaktion hängt nicht nur an der Anerkennung dieses affektiven Bedürfnisses nach empathischem Verstehen, sondern auch von der entsprechenden Erwiderung dieser empathischen Reaktion ab. Die Ursache für diese affektiven Bedürfnisse nach Anerkennung dürfte darin liegen, dass wir zu Beginn unseres Lebens noch kein Selbstgefühl haben. (vgl. Kapitel IV). Die Befriedigung dieses Bedürfnisses ist konstitutiv für unsere Selbstwerdung. Unsere Selbstwerdung aber vollzieht sich über die Möglichkeit, sich zu sich verhalten zu können. Dass wir uns zu uns selbst verhalten können, vollzieht sich über einen anderen, der uns empathisch begegnet, In dieser Begegnung können wir uns wiedererkennen. Die Beobachtungen aus der Bindungstheorie legen nahe, dass Feinfühligkeit als ein für die frühe Interaktion von Säugling und primärer Bezugsperson besonderes empathisches Vermögen selbst aus positiven Bindungserfahrungen hervorgeht.36 Doch wird dieses Selbstgefühl über das Einfühlungsvermögen 35 Ikäheimo, Recognition, 450. 36 Vgl. die Ergebnisse aus den „Adult Attachment Interviews“. Diese erlauben es die Bindungsrepräsentation von Erwachsenen zu rekonstruieren. Laut Brisch liegt die Übereinstimmung zwischen der Bindungsrepräsentation der Eltern und der Bindungsklassifikation ihrer Kinder bei 70 %, vgl. Brisch, Bindungstheorie, 68 f, siehe dort weiterführende Literatur.

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durch andere sich nie so stabil ausbilden, dass es nicht immer wieder der Vergewisserung bedarf. Denn aufgrund der Alterität des anderen werden wir uns durch den anderen nie ganz so verstanden erleben, wie wir es wünschen. So dürfte für das Verstehen des Phänomens der Empathie eine diachrone Perspektive bedeutsam sein, wie diese sich im Laufe von Interaktionen und den darin gemachten Beziehungs- und daraus resultierenden Selbsterfahrungen entwickelt. Dahingehend möchte ich den Hinweis von Gallagher auf die narrative Dimension als unerlässlichen Hintergrund und Kontext für den Prozess der Empathie37 interpretieren. Schließlich ist für das genauere Verstehen affektiver Interaktion, insbesondere im Blick auf das Vermögen der Empathie, das Zusammenspiel einerseits von dem, was intuitiv in einer „Wir-Perspektive“ z. B. einer „joint attention“ oder „shared intention“ miteinander geteilt wird und andererseits, was in einer Erste-Person-Perspektive je individuell erlebt wird, grundlegend. Für die Entwicklung des wechselseitigen empathischen Prozesses ist das Zusammenspiel von Verbundenheit und Getrenntheit, bzw. die Prozesse von miteinander Verbinden und Trennen (vgl. Bubers Analyse in „Urdistanz und Beziehung“), von Sozial- und Selbstverhältnis bedeutsam. Mir scheint für das Verstehen des Prozesses der Interaktion und der mit ihr einhergehenden Empathie allein die strikte Trennung Ich – Anderer, die nach Stueber ein zentrales Kriterium für Empathie darstellt, gerade nicht hilfreich für das Verstehen der Ausbildung von Empathie. Empathie beruht immer auch auf etwas gemeinsam Geteiltem. Dies kann auch eine Affektansteckung beinhalten. Dieses Geteilte muss natürlich so beschaffen sein, dass es zugleich Raum gibt für die Alterität und Individualität der Interaktionspartner. Gallagher und De Jaegher sehen Empathie nicht einfach nur als den mentalen oder affektiven Zustand eines Individuums, sondern als ein intersubjektives und narratives Phänomen an.38 Ich möchte genau hieran anknüpfen. Die Forschungen zu den Spiegelneuronsystemen und ihre Bedeutung für ein spontanes Miterleben intentionaler und affektiver Zustände, die Ergebnisse der Forschungen zur Alexithymie in der Arbeitsgruppe von Tanja Singer, das in der frühen Kindheit sich entwickelnde Vermögen der Mentalisierung, die enormen Anstrengungen zur differenzierten Analyse der verschiedenen Entwicklungsstadien der Theory of Mind konnten wichtige Aspekte des Vermögens der Empathie aufdecken. Aufgrund des methodischen, je spezifisch experimentellen und Individuum-zentrierten Ansatzes können sie nur Momentaufnahmen dessen liefern, was in der Interaktion, insbesondere im Bereich der Beratung, des psychotherapeutischen oder seelsor37 Vgl. Gallagher, Empathy ; ders., Narrative. 38 Vgl. Gallagher, Empathy, 6; De Jaegher et al., Interaction, 441 – 447 und Hakansson & Montgomery, Interpersonal phenomenon, 267 – 284.

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gerischen Gesprächs als Empathie zum Tragen kommt. Die notwendigen Versuche, das Phänomen der Empathie kategorial zu fassen und Kriterien und Kennzeichen zu seiner Identifikation anzugeben, drohen in dem Maße den Schwächen des methodischen Reduktionismus aufzusitzen, wo sie sich selbst nur an diesen Momentaufnahmen orientieren, die in den jeweils spezifischen experimentellen Forschungsansätzen gewonnen wurden.39 Ich möchte daher im Folgenden zeigen, dass dieses Vermögen zur Empathie sich erst im komplexen Prozess der Interaktion ausbildet. Dies geschieht weitgehend implizit, eingebettet in eine über weite Strecken prozedural erfolgende Interaktion, wird aber besonders an bestimmten, „kritischen“ Wendepunkten der Interaktion explizit, wie ich unten mit Bezugnahme auf Stern und die Boston Change Process Study Group plausibel zu machen versuche. Man wird ggfs. in diesem Interaktionsprozess bestimmte Formen sozialer Kognition mehr oder minder gut wiedererkennen können, doch geht es mir primär darum Empathie als emergentes, im Interaktionsprozess40 sich bildendes Phänomen verständlich zu machen. Dabei möchte ich zeigen, dass es an der Gelenkstelle der Ausbildung des Selbstverhältnisses über das Sozialverhältnis sitzt. Grundlegend ist hierbei die Interaktion von Säugling und primärer Bezugsperson.

IV.

Die frühkindliche Entwicklung eines Selbstgefühls und von Empathiefähigkeit

The state of empathy or being empathic is to perceive the internal frame of reference of another with accuracy and with the emotional components and meanings which pertain thereto as if one were the person, but without ever losing the ‘as if ’ condition. Thus, it means to sense the hurt or the pleasure of another as he senses it and to perceive the causes thereof as he perceives them, but without ever losing the recognition that it is as if I were hurt or pleased and so forth.41 39 Im Blick auf die Kritik, soziales Verstehen auf bestimmte Mechanismen, die im individuellen Individuum oder Gehirn lokalisiert werden, zu reduzieren, vgl. auch Gallagher, Defense, 189; vgl. auch De Jaegher et al., Interaction, 441 – 447. 40 Jüngste Untersuchungen von Tyl¦n et al., Distintive modes, 1 – 11 legen nahe, dass man auf der Ebene der neuronalen Verarbeitung zwischen einer über Beobachtung (Dritte-PersonPerspektive) erfolgenden sozialen Kognition und einer interaktiven sozialen Kognition (Zweite-Person-Perspektive) unterscheiden kann. 41 Rogers, Theory of therapy, 210 – 211. Schmid hat den Begriff der Präsenz im Kontext der personenzentrierten Therapie, so charakterisiert, dass einige zentrale Parallelen zur Charakterisierung des Begriffs der Empathie deutlich werden, wenn er feststellt, dass die Herausforderung bei der Präsenz ist, zu ein und derselben Zeit “to be oneself and in relationship. Being able to be touched, impressed, surprised, changed, altered, growing and also being able to stick to one’s own experiences and symbolizations (instead of taking the experiences,

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Bezeichnend an dieser prominenten Charakterisierung von Empathie durch Rogers ist zum einen die Spannung zwischen der Genauigkeit, mit der der interne Bezugsrahmen eines Anderen mit seinen emotionalen Komponenten und Bedeutungen wahrgenommen wird, und zum anderen, dass dies „without ever losing the ‘as if ’ condition“ erfolgt. D.h., so sehr ich „bei dem anderen bin“, bleibe ich doch immer (bei mir) selbst. Hier scheinen sich ebenfalls Empathie und Authentizität zu kreuzen. Im Folgenden möchte ich aufzeigen, dass diese Als-ob-Bedingung konstitutiv ist für die Fähigkeit zur Empathie und auch für die Ausbildung eines Selbstgefühls als Basis für unsere Empathiefähigkeit.42 Diese Als-ob-Bedingung für die Fähigkeit zur Wahrnehmung der affektiven Zustände eines Anderen im Unterschied zu den eigenen soll in der Folge als Hinweis für ein Drittes, Vermittelndes zwischen zwei Interaktanden ausgelegt werden. Schon bald nach der Geburt ahmt der Säugling spontan ihm gezeigte Gesichtsausdrücke nach. Er kann aber noch nicht seine affektiven Zustände als seine wahrnehmen und vermag also noch nicht seine affektiven Zustände von den affektiven Zuständen eines anderen erlebnismäßig zu unterscheiden. Bis zum dritten Lebensmonat ist die kontingente Koordination die von dem Säugling zwischen sich und seiner sozialen wie nicht sozialen Umwelt angestrebt wird, sehr hoch. D.h. er sucht eine unmittelbare (zeitliche und damit kausale) Beziehung der Umwelt zu seinem eigenen Verhalten.43 Er versucht wahrnehmend und bewegend sich in hoher Übereinstimmung mit seiner Umwelt wiederzufinden und sich als selbstwirksam zu erleben.44 Ab dem dritten Lebensmonat aber ändern sich diese Erfordernisse an die kontingente Koordination. Nun muss die Interaktion des Säuglings mit seiner primären Bezugsperson nicht mehr vollständig sein.45 Sie erfolgt im „Als-Ob-Modus“. Das Kind vermag spontan seine affektiven Zustände mimisch-gestisch, lautlich und vermutlich auch durch seine Körperspannung und Körperhaltung zu äußern. Die primäre Bezugsperson spiegelt mimisch-gestisch, lautlich-vokalisierend, ebenfalls spontan, aber markiert und übertrieben die affektiven Zustände des Säuglings.

42

43 44 45

interpretations and stances of the others), to value from within (without judging the person of the other), to have one’s own point of view“ (Schmid, Facilitative Responsiveness, 86). Eine reine Spiegelneuronaktivität könnte nicht erklären, wie eine Unterscheidung in der Wahrnehmung zwischen den eigenen affektiven Zuständen und den affektiven Zuständen eines Anderen möglich ist; vgl. Fuchs, Beziehungsorgan, 202, vgl. auch Gallagher, Narrative, 178 f. Zum Begriff der Kontingenz in der Interaktion des Säuglings mit seiner Umwelt vgl. auch Papousek/Papousek, Intuitives elterliches Verhalten, 234. Dies haben die Beobachtungen von Gergely und Watson gezeigt; vgl. dies., Biofeedback, 143 – 194. Im Blick auf den hier skizzierten Prozess der Affektspiegelung vgl. Fonagy, Affektregulierung, 153 – 209.

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Der Säugling, der auch schon die unmarkierten, originären affektiven Zustände der primären Bezugsperson erfahren hat, vermag die markierten affektiven Zustände von der primären Bezugsperson zu entkoppeln. Zugleich können die von der primären Bezugsperson im Als-Ob-Modus externalisierten affektiven Zustände mit den interozeptiv (vegetativ-propriozeptiv) erlebten affektiven Zustände in Resonanz gehen – der Säugling ist zu crossmodaler Wahrnehmung fähig.46 Das Kind kann spontan die externalisierten, von der primären Bezugsperson im Als-Ob-Modus gezeigten affektiven Zustände auf sich beziehen. Es lernt in dieser Beziehung nicht nur seine affektiven Zustände als seine affektiven Zustände kennen, sondern erwirbt auch ein implizites Beziehungswissen. Fuchs hat dieses implizite, prozedural-leibhaftig verankerte Beziehungswissen im Anschluss an Daniel Stern neurophysiologisch als Bereitschaftspotential entsprechender Neuronengruppen interpretiert. In dem Bereitschaftspotential entsprechender Neuronengruppen sind sensorische Erfahrungen (z. B. der gesehene mimisch-gestisch-lautliche Ausdruck der primären Bezugsperson, die die affektiven Zustände des Säuglings im Als-ob-Modus spiegelt) mit motorischen (der selbst gezeigte mimisch-gestisch-lautliche Ausdruck seiner affektiven Zustände) intermodal verknüpft.47 Zu diesem impliziten Beziehungswissen gehört nicht nur die Entwicklung eines internen Arbeitsmodells,48 sondern auch dieser Als-Ob-Modus des Spiegelns seiner affektiven Zustände, d. h. wie die primäre Bezugsperson seine affektiven Zustände gespiegelt hat und wie er so seine affektiven Zustände als seine erfahren konnte und im Laufe der Entwicklung zu ihnen sich verhalten und sie entsprechend regulieren kann.49 Das Vermögen der Empathie scheint mir genau in jenem impliziten Beziehungswissen eingebettet zu sein. Anders formuliert: Der narrative Kontext, auf den Gallagher als konstitutivem Element der Empathie hinweist, ist in diesem impliziten Beziehungswissen 46 Fonagy et al., Affektregulierung, 186. 47 Vgl. Fuchs, Beziehungsorgan. Merleau-Ponty spricht in diesem Zusammenhang von einer präreflexiven, präperzeptuellen, prä-kognitiven operativen Intentionalität, die die vorprädikative Einheit von Welt und unserem Leben meint vgl. Merleau-Ponty, Perception, XX. 48 Bartholomew/Horowitz, Attachment styles, nehmen an, dass das interne Arbeitsmodell aus zwei Teilen besteht: ein Teil, der befasst ist mit Gedanken über das Selbst; der Andere, der befasst ist mit Gedanken über Andere. 49 Die Beobachtungen von Singer und Lamm im Blick auf Schwierigkeiten in der Wahrnehmung von affektiven Zuständen (am Beispiel der motivational-affektiven Komponente der Schmerzwahrnehmung) bei sich und bei anderen, sprechen für einen Zusammenhang zwischen der Fähigkeit der Wahrnehmung und Benennung eigener affektiver Zustände als eigenen affektiven Zuständen und der Wahrnehmung und Benennung affektiver Zustände bei Anderen. Singer und Lamm haben diesen Zusammenhang am Beispiel von Personen mit Alexithymie untersucht, die eine eingeschränkte Fähigkeit haben, affektive Zustände bei sich selbst oder anderen Personen wahrzunehmen und zu benennen; vgl. Singer/Lamm, Empathy, 81 – 96.

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zu finden. Im Lauf der Interaktion kann dieses implizite Beziehungswissen expliziert werden und muss es wohl in gewissem Maße auch, wie ich unten zeigen will. Weitere zentrale Einsichten, wie dieses implizite Beziehungswissen sich in der Mutter-Kind-Interaktion entwickelt, hat Edward Tronick mit seinen Mitarbeitern gewonnen. Tronick und Cohn haben die typische Mutter-Kind-Interaktion als einen flexiblen Prozess charakterisiert. In ihm kommt es zu einem kontinuierlichen Wechsel zwischen koordinierten (matches) und unkoordinierten (mismatches oder interactive errors oder disruptions) interaktionellen Verhaltensweisen. Mismatches gehen typischerweise mit einem negativen und matches mit einem positiven Affekt einher. Die interaktionelle Transformation eines unkoordinierten Wechsels in einen koordinierten Zustand wird als ein interactive repair bezeichnet. In Face-to-Face-Interaktionen mit einem sechs Monate alten Säugling kommt es normalerweise zu einer schnellen Reparatur von interaktionellen Fehlern.50 Hans von Lüpke hat jüngst zentrale Ergebnisse zur kontingenten Koordination zwischen Säugling und primärer Bezugsperson, die die Unberechenbarkeit als konstitutiven Faktor nicht nur für die dialogische Wechselseitigkeit, sondern auch für die Entwicklung des Säuglings aufzeigt, prägnant zusammengefasst: Die Bedeutung von Wechselseitigkeit für das spätere Bindungsverhalten zeigen Studien von Beebe et al. (2002) zur Koordination von Sprachrhythmen zwischen Müttern und Säuglingen im Alter von vier Monaten. Die Autoren kamen zu dem Ergebnis, dass die Bindungssicherheit mit zwölf Monaten am größten war, wenn die Sprachkoordination im Alter von vier Monaten eine eher lockere Struktur zeigte. Enge Koordination ging mit ambivalentem, eine kaum strukturierte mit vermeidend-unsicherem Bindungsverhalten einher. Diese Ergebnisse verweisen darauf, dass ein gewisses Maß an Unberechenbarkeit als konstituierender Faktor einer dialogischen Wechselseitigkeit verstanden werden kann. Milani Comparetti (1996) spricht von der Differenz zwischen den Beiträgen der Partner als notwendigem Element des Dialogs und dem offenen Ergebnis als der Dimension der Kreativität. Für Beebe und Mitarbeiter ist der Wechsel von Störung und Wiederherstellung (disruption and repair) ein notwendiger Bestandteil von Entwicklung.51

50 Vgl. Tronick/Gianino, Interactive mismatch and repair, 1 – 6. 51 Lüpke, Affektspiegelung, 37; vgl. Beebe et al., Koordination, 47 – 85 sowie Milani-Comparetti, Behandlung. Eine ausführliche Darstellung verschiedener Untersuchungsergebnisse hinsichtlich der Bedeutung kontingenter Koordination für eine sichere Bindung bietet Beebe et al., The origins, 23 f. Die Beobachtungen von Beebe et al. deuten ganz daraufhin, dass eine sichere Bindung bei 12 Monate alten Kindern mit einer kontingenten Koordination mittlerer Stärke – also mit einem gewissen Maß an Unberechenbarkeit/Spielraum für Kreativität – in der Interaktion zwischen Mutter und Kind korreliert und nicht mit einer hohen kontingenten Koordination.

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In dem Maße, in dem im Spiel der Interaktion mit mittlerer Kontingenz zwischen primärer Bezugsperson und Kind sich eine affektive Verbundenheit und eine sichere Bindung ausbildet, in dem Maße lernt das Kind dabei auch für sich zu sein und wird fähig zur Exploration. Es sind genau jene Beobachtungen der Interaktion zwischen Säugling und primärer Bezugsperson, zu der Stern bzw. die Boston Change Process Study Group52 deutliche strukturelle Parallelen zur und Interferenzen mit der Interaktion von Analytiker und Analysand im Gegenwartsmoment sieht, ohne die jeweilige Einzigartigkeit jeder Beziehung verleugnen zu müssen.53 Wenn ich im Folgenden den Gegenwartsmoment als Ort der Veränderung in der Psychoanalyse bei Stern bzw. der BCPSG genauer betrachte, dann tue ich dies vor dem Hintergrund des Verständnisses von Empathie als Ort, an dem eine Person ganz bei einer anderen Person ist. Diese Präsenz, das Sein-bei-einem anderen, das an einem anderen-Zentriert-Sein oder auf einen anderen Gerichtet-Sein (vgl. oben Zahavi), scheint mir ganz im Zentrum des Einsatzes beim Gegenwartsmoment bei Stern und der BCPSG zu stehen.54

V.

Die Reinszenierung der Fähigkeit zur Empathie in der Interaktion von zwei Individuen

Ausgangspunkt in einem therapeutischen Setting in der Patient-TherapeutDyade ist ein initialer intersubjektiver Zustand basierend auf einem gemeinsamen Beziehungswissen, „den jeder der beiden über sich selbst und den anderen sowie über die Weise, wie sie gewöhnlich miteinander arbeiten und zusammen sind, besitzt.“55 Bei diesem Wissen handelt es sich wie bereits erwähnt um ein weitgehend implizites, prozedural-leibhaftig verankertes Wissen. Dieses Wissen wird weitgehend in der frühkindlichen Sozialisation in der Interaktion mit der primären Bezugsperson erworben. Diese Interaktion ist bereits kulturell geprägt, da die Interaktionsweise, etwa die Weise der Spiegelung der Affekte des

52 Im folgenden wähle ich für die Boston Change Process Study Group das Kürzel BCPSG. 53 Für die genauere Charakterisierung auch der Interferenzen verschiedener jeweils einzigartiger Beziehungen siehe auch die instruktiven Überlegungen von Tronick, Relationships, 473 – 491, insbes. 483 f. 54 Vgl. auch Schmid, für den empathisch zu sein „phenomenologically, anthropologically, epistemologically and socio-ethically describes part of what it means to be present person to person“ (Schmid, Empathy as dialogue, 54; vgl. auch Schmid, Presence, 182 – 203. Zur Präsenz gehören natürlich bei Rogers auch die Momente der Authentizität (auch für die BCPSG bedeutsam) und der unbedingten positiven Wertschätzung. 55 BCPSG, Veränderungsprozesse, 63.

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Säuglings durch die primäre Bezugsperson kulturelle Eigenheiten enthält.56 Insgesamt ist unsere Fähigkeit zu sozialer Kognition kulturell überformt. Auf der Basis dieses Beziehungswissens und ausgehend von einem mehr oder minder klaren Ziel ergibt sich im therapeutischen Prozess ein Vorangehen, ein Zugehen auf dieses Ziel. Da das Ziel nicht ganz klar sein muss und auch nicht ganz klar ist, wann dieses Ziel erreicht sein wird, spricht die BCPSG davon, dass Therapeut und Patient in einem „Improvisationsmodus“ operieren.57 In diesem Vorangehen bezeichnet die BCPSG die einzelnen Schritte als Gegenwartsmomente. In den Gegenwartsmomenten kann es jeweils zu kleinen Richtungsänderungen kommen, so dass zwischen den Schritten eine gewisse Diskontinuität besteht. So bewegt sich die Interaktion zwischen Therapeut und Patient zwar allmählich aber nicht stetig (also nichtlinear) auf ein Ziel zu. Da der Gegenwartsmoment das bezeichnen soll, „was jetzt, hier, zwischen uns geschieht“,58 liegt seine zeitliche Dauer zwischen Mikrosekunden bis wenigen Sekunden. In diesen Gegenwartsmomenten kommt es immer wieder zu kleinen Neujustierungen im Blick auf das gemeinsame Beziehungswissen wie das angestrebte Ziel. Als Modell für diese Neujustierungen der intersubjektiven Umwelt verweist die BCPSG auf die ständigen „improvisierenden, selbstfindende(n) und selbstkorrigierende(n) Prozesse … im Interaktionsprozess von Mutter und Säugling“, wie sie Tronick beschrieben hat.59 Die BCPSG hebt in diesem Zusammenhang diesen Improvisationsmodus der Interaktion hervor, dieses ständige wechselseitige Spiel zwischen den Interaktanden (zwischen Säugling und primärer Bezugsperson) mit seinen ständigen Anpassungen, Fehlanpassungen/Brüchen und Reparaturen dieser Brüche.60 Begleitet ist dieser Improvisationsmodus von disruption and repair von der „Wiederholung zahlreicher Aktivitäten in der Mutter-Kind-Interaktion.“61 56 Vgl. Callaghan et al. Early social cognition, 1 – 142. 57 Vgl. BCPSG, Veränderungsprozesse, 64. Diese Vorgehensweise mag bereits in mancher Hinsicht an das non-direktive Vorgehen der personenzentrierten Therapie erinnern. Was es hierbei heißt, empathisch zu sein, hat Schmid aus einer epistemiologischen und dialogischen Perspektive beschrieben: “… to be empathic means to face the unexpected, to accompany a person and to start a journey with an uncertain destination, perhaps never reached before, in an uncertain way, perhaps never travelled before. The interesting and challenging part is the unknown and not-yet-understood, the openness to wonderment, surprise and disclosure“ (Schmid, Empathy as dialogue, 1). 58 Ebd. 59 Vgl. BCPSG, Veränderungsprozesse, 64; vgl. Tronick Emotional Communication, 112 – 119; Tronick et al. Dyadically expanded states, 290 – 299. 60 Man mag sich hier an den Gestaltkreis von Viktor von Weizsäcker als Einheit von Wahrnehmen und Bewegen erinnert fühlen. Diese Einheit von Wahrnehmen und Bewegen ist begleitet von Ausbildung von Kohärenz zwischen Beobachtetem und Beobachter und Kohärenzzerreißung; vgl. Weizsäcker, Gestaltkreis. 61 BCPSG, Veränderungsprozesse, 65.

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Diese Wiederholungen erzeugen Vertrautheit und Erwartungen und schlagen sich nieder in einem interaktionsspezifischen Beziehungswissen von Schemata des Zusammenseins-Mit.62 Dieses besondere Beziehungswissen der MutterKind-Interaktion macht genau das aus, was Bowlby unter den internen Arbeitsmodellen verstanden hat. Die BCPSG sieht dieses implizite Beziehungswissen niedergelegt in den inneren Arbeitsmodellen von Bowlby in Analogie zu dem impliziten Beziehungswissen zwischen Therapeut-Patient und erinnert an den von Bollas beschriebenen ungedachten Bekannten63 bzw. das nicht-reflexive Unbewusste von Stolorow, Atwood und Brachaft64 bzw. dem Vergangenheitsunbewussten von Sandler und Fonagy.65 Die Nichtbewusstheit und Implizitheit dieses Beziehungswissens ist in der Regel nicht als eine Folge von Verdrängungsprozessen zu sehen. Implizites Beziehungswissen unterscheidet sich von dem herkömmlichen psychoanalytischen Konzept der aus unbewusstem Konflikt herrührenden Übertragung, weil es – obgleich es unbewusst ist – nicht zwangsläufig dynamisch verdrängt wurde. Implizites Beziehungswissen umfasst auch interpersonal nicht akzeptable Elemente, die dyadische und intrapsychische Konflikte hervorrufen; diese können der Verdrängung oder anderen Abwehrmechanismen unterliegen und dann auch dynamisch unbewusst werden.66

Nun können sich in der Reihe diskontinuierlicher aber ständig voranschreitender Gegenwartsmomente plötzlich besonders affektiv besetzte Augenblicke („Augenblick der Wahrheit“67) ergeben, ein heißer Gegenwartsmoment. Weil in diesem Gegenwartsmoment die Interaktanden stärker in die Gegenwart gezogen werden, nennt die BCPSG dies einen „Jetzt-Moment“. Dieser eröffnet eine besondere Gelegenheit, einen Kairos, im Lauf des Vorangehens der Gegenwartsmomente. Entsprechend des plötzlichen Auftretens dieser affektiv aufgeladenen Jetzt-Momente, in denen eine Interaktion eine ganz neue Wendung nehmen kann, bezeichnet die BCPSG diese als „emergente Eigenschaft des komplexen dynamischen Systems, das durch die zwei ,vorangehenden‘ Beteiligten des therapeutischen Prozesses konstituiert wird.“68 Der Jetzt-Moment stellt eine Störung besonderer Art innerhalb dieses Systems dar. Die Störung kann nicht einfach durch eine erneute mehr oder minder implizit sich einstellende Reparatur (gewissermaßen als Folge einer Synchronisierung der zwischenleiblichen Interaktion/vgl. Affektansteckung) behoben 62 63 64 65 66 67 68

Ebd.; vgl. Stern, The Motherhold Constellation. Vgl. Bollas, Das ungedachte Bekannte. Vgl. Stolorow, Atwood und Brachaft, The Intersubjective Perspective. Sandler/Fonagy, Recovered Memories. BCPSG, Veränderungsprozesse, 88. BCPSG, Veränderungsprozesse 66. Ebd.

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werden. Er lässt sich nicht durch etablierte Interaktionsregeln korrigieren. Vielmehr trifft der Jetzt-Moment Therapeut und Patient gänzlich unvorbereitet, er „überrascht, ja überrumpelt“ sie. „Er stellt einen nicht-linearen Sprung dar.“69 Die Störung im Jetzt-Moment macht eine völlige Reorganisation/Umbau komplexer dynamischer Interaktionssysteme erforderlich. Im Jetzt-Moment kann sich der Therapeut nicht „unter dem Deckmantel bewährter Technik“70 verstecken; vielmehr wird der Therapeut wie der Patient in diese neue Situation „katapultiert“. Im Jetzt-Moment sind beide, Therapeut und Analysand, betroffen. Es geht um sie selbst, und zwar leibhaftig. Nie sind wir selbst so stark betroffen, wie wenn wir leiblich betroffen sind. Der Leib meint hier primär keine Entität, sondern eine Beziehungsweise. In der Beziehungsweise des Leiblichen geht es um etwas, das durch nichts anderes mehr vertreten werden kann. Es geht um das implizit Selbstverständliche von uns selbst, dass wir uns als uns selbst verstehen. In diesem Moment unmittelbarer wechselseitiger Betroffenheit sind wir einander ausgesetzt. Wir bewegen uns dabei auf unbekanntem Terrain.71 Wir können aus diesem Jetzt-Moment durch ein plötzliches sich und den anderen Wiedererkennen72 hervorgehen. Wenn dies geschieht, ist aus dem JetztMoment ein Begegnungsmoment73 geworden. Der Begegnungsmoment muss gemeinsam als solcher (an)erkannt werden. Hierzu muss aber „jeder der beiden Partner etwas Einzigartiges und Authentisches in Reaktion auf den Jetzt-Mo-

69 BCPSG, Veränderungsprozesse, 67. 70 Ebd. In dem die BCPSG bei dem Jetzt-Moment auch von einem Kairos spricht, macht sie auch die Unverfügbarkeit des Aufkommens eines solchen Momentes kenntlich. Die Frage ist dann, inwieweit die Interakteure offen und bereit sind, diesen Moment als solchen zu realisieren. Ich möchte diesen Jetzt-Moment in Beziehung zu dem Begriff des Anlasses (vgl. occasion bei Whitehead) bei Dietrich Ritschl setzen. Ritschl versteht den Begriff des Anlasses als einen potentiellen Moment der Erschließung (disclosure), der zu einem Wiedererkennen und ein neu Werden von Beziehungen führen kann. Dieses Wiedererkennen soll hier den biblizistisch-fundamentalistisch leicht fehlzudeutenden Begriff der Offenbarung ersetzen bzw. übersetzen; vgl. Ritschl, Wiedererkennen, 146 f. 71 Man könnte diesen Moment unmittelbarer wechselseitiger Betroffenheit, auf den die Interaktion im Wechselspiel von Passung, Interaktionsstörung und Anpassung zulaufen kann, in Analogie zu dem Wechselspiel von Kohärenz, Kohärenzzerreißung und neuer Kohärenz im Gestaltkreis als Einheit von Wahrnehmen und Bewegen bei Viktor von Weizsäcker sehen. Der Gestaltkreis kann ebenfalls auf einen kritischen Zustand der Unentscheidbarkeit und Ununterscheidbarkeit zulaufen. Erst im Nachhinein kann man die Lösung dieses kritischen Prozesses erkennen. Der Unterschied allerdings zum Gestaltkreis ist, dass die BCPSG die Interaktion zwischen zwei Subjekten vor Augen haben. 72 Dieses Wiedererkennen beinhaltet nicht nur eine neue Beziehungsqualität durch ein neues implizites Beziehungswissen, es beinhaltet auch ein neues Selbstverhältnis. Ich komme weiter unten noch einmal darauf zurück. 73 Die BCPSG hat das Konzept des Begegnungsmomentes von Louis Sander, Mother-childinteraction, 144 – 166 aufgegriffen.

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ment“74 beisteuern. Die Reaktion muss auf Seiten des Therapeuten dessen „persönliche Handschrift tragen“. Nicht nur der Patient, auch der Therapeut gibt etwas von sich hin, liefert sich dem Anderen aus. Die BCPSG erinnert daran, dass ähnliche Veränderungsprozesse sich auch in der Mutter-Kind-Interaktion zeigen. Im Jetzt-Moment, der zum Begegnungsmoment wurde, wurde die Interaktion „auf eine neue, höhere Ebene der Aktivierung von Freude gehoben, die das Baby zuvor vielleicht noch nie erreicht hat und die von Mutter und Kind bislang nie als intersubjektiver Kontext geteilt wurde.“75 Im Jetzt-Moment, der zum Begegnungsmoment werden kann, findet eine Unterbrechung des Musters von Übertragung und Gegenübertragung statt. Die in Übertragung und Gegenübertragung enthaltenen gewohnten Rollen (z. B. auf Seiten des Therapeuten, der gewohnten therapeutischen Rolle und auf Seiten des Patienten einer klischeehaften Rolle, die in bestimmten Situationen zur Reinszenierung festgelegter immer wiederholter stereotyper Verhaltens- bzw. Antwortmuster führten) werden aufgegeben. Damit wird der Weg frei, dass sie einander empathisch begegnen können, ohne sich dabei zu sehr in Prozesse der Übertragung und Gegenübertragung zu verstricken. Dass dies möglich ist, könnte dann damit zu tun haben, dass beide mehr sie selbst sein können, authentischer sein können – zumindest in dieser Beziehung. Dies aber beinhaltet, dass auf die eine oder andere Weise, bisher unversöhnt gebliebene Anerkennungsbedürfnisse ihre Befriedigung finden konnten. Ausdruck für die Befriedigung von bisher unversöhnt gebliebenen Anerkennungsbedürfnissen ist das neue sich Wiedererkennen als Folge dieses Begegnungsmomentes. Es kann dadurch zu einer „Transformation von implizitem Beziehungswissen zu einer expliziten Beziehungserfahrung“76 kommen. Die Transformation von implizitem Beziehungswissen zu einer expliziten Beziehungserfahrung mag dadurch bedingt sein, dass ein bisher wirksames implizites Beziehungswissen, das bestimmte Prozesse der Übertragung und Gegenübertragung provozierte und zu stereotypen Interaktionsmustern auf beiden Seiten führte, expliziert werden kann. Beide Interaktionspartner sind nicht mehr der Begrenzung und Festlegung durch das implizite Beziehungswissen im jeweiligen Selbst- und Sozialverhältnis ausgeliefert, sondern können sich selbst kritisch dazu verhalten. Zugleich aber darf man annehmen, dass sich ein neues implizites Beziehungswissen ausgebildet hat, das einen „offenen Raum“ ermöglicht. In ihm können sich beide Interaktionspartner voneinander lösen und in Anwesenheit des Anderen allein sein. Schließlich können sie sich auf der Basis eines neuen impliziten

74 BCPSG, Veränderungsprozesse, 68. 75 Ebd. 76 Giesemann, Gegenwartsmoment, 67.

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Beziehungswissens und eines neuen Selbstverhältnisses einander neu und anders mit einem größeren weiteren Empathievermögen begegnen. In dem Analytiker und Analysand jeder sein sozialisationsbedingtes implizites Beziehungswissen in die Interaktion einbringt, entsteht ein intersubjektives Feld, in dem beide Beteiligte mehr oder weniger zutreffend wahrnehmen, wie der Partner sein Zusammensein-mit-Anderen lebt. (…) Dieses intersubjektive Feld wird im Laufe der wiederholten Begegnungen zwischen Patient und Therapeut komplexer und durch neu entstehende Verbindungen stabiler. Es generiert emergente neue Möglichkeiten kohärenterer und adaptiverer Interaktionsformen. Während eines Transaktionsvorgangs, den wir als Begegnungsmoment bezeichnen, kristallisiert sich eine neue dyadische Möglichkeit heraus, wenn die beiden Partner die zwei Ziele (a) komplementär passenden Aktionen und (b) der gemeinsamen intersubjektiven (An-)erkennung auf einer neuen Ebene erreichen.77

Man kann dieses intersubjektive Feld auch als Improvisationsfeld bezeichnen. In ihm finden Austauschprozesse nicht nach einem „regelgebundenen Spiel“ statt. Vielmehr generieren in diesem Improvisationsfeld die „kreativen und selbstorganisierenden Eigenschaften der miteinander interagierenden komplexen lebenden Systeme eine unüberschaubare Fülle an Möglichkeiten.“78 Zugleich birgt dieses intersubjektive Feld als Improvisationsfeld die Möglichkeit, dass sich in ihm ko-konstruktiv etwas gemeinsam Geteiltes bildet, niedergelegt in einem neuen impliziten Beziehungswissen, und lässt auch Spielraum für den Ausdruck der jeweiligen Individualität/Alterität der Interaktionspartner mit ihren je individuellen affektiven Zuständen, ihrer Geschichte erfahrener Beziehungen und Anerkennungserfahrungen. Offen ist die Frage nach der Notwendigkeit der Bewusstheit des in diesem intersubjektiven Feld emergent auftauchenden wechselseitigen „(An-)erkennungsprozesses“. Nach BCPSG ist ein gewisses selbstreflexives Gewahrsein notwendig, „damit Patient und Therapeut gemeinsam erkennen und einander bestätigen können, dass eine wichtige und neue Weise des Zusammenseins zwischen ihnen ausgehandelt wurde.“79 Wenn Sander sein Konzept des Erkennungsprozesses auch auf die frühe Mutter-Säugling-Interaktion anwendet, wird doch klar, dass dieser Erkennungsprozess nicht notwendig ein bewusster sein muss. Dennoch wird er insofern ein reflexives Verhältnis beinhalten, als in ihm ein neues Selbstverhältnis durch ein Sozialverhältnis gestiftet wurde. Man denke etwa an die Ausbildung einer sekundären Repräsentanz der affektiven Zustände des Säuglings, durch die er seine affektiven Zustände als seine erleben kann, vermittelt durch die Ex77 Lyons-Ruth, Implicit relational knowing, 282. 78 BCPSG, Veränderungsprozesse, 91. 79 BCPSG, Veränderungsprozesse, 89.

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ternalisierung/Spiegelung seiner affektiven Zustände durch die primäre Bezugsperson. Dieses neue Selbst- und Sozialverhältnis wird nicht unbedingt reflexiv gewusst, sondern eher gespürt und vitalisierend wirken.80 Intuitiv wächst in dem Improviationsfeld ein gemeinsam geteiltes weitgehend implizites Beziehungswissens, in dem „man weiß, dass der andere weiß, dass man weiß …“. Man könnte auch sagen, es wächst die Empathiefähigkeit füreinander, gerade weil durch sie vermittelt auch das Selbstverhältnis, insbesondere das Selbstgefühl intensiviert wurde. Diese Intensivierung des Selbstgefühls wie auch das Gefühl für den Anderen mag man als Spannung, Engagiert- und InteressiertSein, als Neugier, Freude, Vertrauen erleben. Der Paradigmenwechsel nach Auffassung der BCPSG besteht darin, dass nicht intrapsychische Dynamiken, gewissermaßen als Entitäten die Interaktion bestimmen, sondern die Interaktion gilt als primär “and generates the raw material from which we draw the generalized abstractions that we term conflicts, defenses, and phantasy.” Konflikte und Widerstände werden also in der Interaktion geboren und sind in ihr als Potential enthalten. … this relational living out is the deep layer of experience, while the abstractions that we use to describe the repetitive aspects of these relational strategies, such as conflict and defense, are secondary descriptors of the deep level, but not the level itself, and exist further from the lived experience.81

Übertragen auf die Frage nach der Entwicklung der Empathiefähigkeit liegt die Vermutung nahe, dass nicht die Empathiefähigkeit im Individuum vorgegeben ist, sondern diese erst sich im jeweiligen Prozess der Interaktion ausbildet. Schließlich ermöglicht der Interaktionsprozess, dass selbst Übertragungs- und Gegenübertragungsprozesse im Begegnungsmoment überwunden werden können. An ihre Stelle kann dann eine jeweils an dem anderen zentrierte Empathie treten. Voraussetzung dafür, dass der Gegenwartsmoment als Begegnungsmoment wahrgenommen werden kann, ist, dass beide Seiten der Interaktionspartner mehr oder minder intuitiv diesen besonderen Moment in ihrer Beziehung erkennen und authentisch sein können. Sie brauchen nichts zu verbergen und öffnen sich gegenüber dem anderen, geben etwas von sich preis. Als Folge dieses Begegnungsmomentes wird das implizite Beziehungswissen nicht nur für diese Beziehung auf eine neue Ebene gehoben. Es erweitert insgesamt unsere Beziehungsfähigkeit. Man kann vermuten, dass so mit jeder Wahrnehmung und mit jeder neu gewonnenen Einsicht unsere Erinnerung früherer Erfahrungen, Gedanken sowie Konzepte umgeschrieben und neuformiert werden, auch unser implizites Beziehungswissen. Bezogen auf die konkrete Beziehung, in 80 Vgl. BCPSG, Veränderungsprozesse, 90. 81 BCPSG, The Foundational Level, 857.

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der es zu einem Begegnungsmoment gekommen ist, wächst das Moment der Vertrautheit, in dem das, was sie miteinander teilen, an Intensität und Breite gewinnt. Zugleich aber entdecken wir, als Folge dieser Neuwerdung unseres Beziehungsvermögens (und darin eingebettet unseres Empathievermögens), dass wir uns selbst neu wiedererkennen im Sinne eines plötzlichen Wiedererkennens. Über das Sozialverhältnis bildet sich ein neues Selbstverhältnis.

VI.

Zwischenleiblichkeit als Geburtsort der Empathie

Wie wir gesehen haben, wird mit dem impliziten prozeduralen Beziehungswissen nicht primär Verdrängtes bezeichnet. Es ist auch nicht unbedingt artikulierbar und nicht zu explizieren, solange es sich von selbst versteht. Was sich für uns von selbst versteht, ist das, was uns in Fleisch und Blut übergegangen ist wie etwa unser Leib, der sich erst in einem Prozess der Inkarnation, der Einverleibung bildet. Dieser Inkarnationsprozess bildet sich in der Interaktion mit anderen. Erst hier machen wir die Erfahrung unseres Leibes als unseres eigenen, uns vertrauten, gehörenden, fungierenden, d. h. uns blind gehorchenden Leibes. Er gehorcht uns blind nicht in dem Sinne, wie uns etwas gehorcht, über das wir unbegrenzt verfügen können. Er gehorcht uns vielmehr blind, weil wir selbst blind sind dafür, dass er uns gehorcht und fungiert. Das macht gerade seine Selbstverständlichkeit für uns aus. Insofern ist uns unser Leib im Vertrautsein und Fungieren zugleich fremd und entzogen82 und gerade nicht verfügbar, wie uns ein Ding verfügbar sein kann. Daher können wir unser implizites Beziehungswissen und eben auch unseren Leib in Verbindung bringen mit dem ungedachten Bekannten von Bollas oder dem nicht-reflexiven Unbewussten von Stolorow, Atwood und Brachaft bzw. dem Vergangenheitsunbewussten von Sandler und Fonagy. Unser Leib ist uns bekannt, vertraut. Er ist kondensiertes Ergebnis der Geschichte unserer Beziehungen und in diesem Sinne Vergangenheit, die aber unbewusst bleiben kann und muss, ebenso wie unser implizites Beziehungswissen. Als Selbstverständliches, Nichtthematisierbares können weder unser Leib noch unser implizites Beziehungswissen zum Gegen-Stand werden, uns gegenübertreten, ohne sich als uns Selbstverständliches, unser Selbstverständnis Ausmachendes aufzulösen. Insofern beschreibt unser Leib wie unser Beziehungswissen nicht etwas, auf das wir uns wie auf ein Ding oder ein Objekt (Dritte-Person-Perspektive) beziehen können, sondern auf den wir zunächst nur in der Erste- und Zweite-PersonPerspektive83 bezogen sind, solange und insofern sie eben unser Selbstver82 Vgl. Waldenfels, Das Fremde im Eigenen; vgl. Weber, Das Gehirn, 145 f., Fn 14. 83 Zum Zusammenspiel von Erste-, Zweite- und Dritte-Person-Perspektive, in dem die Zweite-

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ständnis und unsere Beziehungsfähigkeit ausmachen. Diese hängen ja zusammen. Selbstverständlich geworden ist uns unser „Leib“84 als unser eigener Leib, sind uns unsere affektiven und intentionalen Zustände als unsere affektiven und intentionalen Zustände nur in der zwischenleiblichen Interaktion mit einem anderen. Ich erinnere hier an die Affektspiegelung. Im Zuge der Affektspiegelung bildet sich eine sekundäre Repräsentanz unserer affektiven Zustände, indem wir die externalisierte, gespiegelte und dabei markierte Präsentation unserer affektiven Zustände durch unsere primären Bezugspersonen im Als-obModus selbst internalisieren. Unser Leib wie unser implizites Beziehungswissen markiert also das Selbstverständliche schlechthin. Denn vor dessen Hintergrund können wir überhaupt erst etwas in Frage stellen. Unser implizites Beziehungswissen kann man als den Aspekt unseres Leibes ansehen, vermittels dessen wir ganz selbstverständlich zu einem anderen in Beziehung treten können. Und ganz selbstverständlich können wir vermittels dieser Leibdimension zu einem anderen in Beziehung treten, als in diesem impliziten Beziehungswissen niedergelegt ist, wie wir durch einen anderen uns als uns selbst (unseren Leib als unseren Leib, unsere affektiven Zustände als unsere affektiven Zustände, unsere intentionalen Zustände als unsere intentionalen Zustände …) kennen lernen konnten.85 In unserem impliziten Beziehungswissen sind auch unsere Anerkennungserfahrungen enthalten! Es ist dabei nicht ausgeschlossen, dass dieses sich Kennenlernen durch einen anderen, wie es in unserem impliziten Beziehungswissen niedergelegt ist, kein gelingendes Selbstverhältnis und darin eingeschlossen kein Selbstgefühl im Sinne eines mit sich selbst Vertrautseins stiftete. D.h. dass es dazu führte, dass wir uns verkannt erfahren haben oder zumindest etwas von uns nicht so (an) erkannt wurde, wie es unserem elementaren Bedürfnis nach Anerkennung (präsent im „I“ Meads) entspricht, dass gewissermaßen die sekundären Repräsentanzen als Resultat der Präsentation von uns selbst durch einen anderen nicht wirklich eine Selbstbegegnung, ein konsistentes Selbstgefühl ermöglichte. Person-Perspektive (und damit die Zwischenleiblichkeit) eine Schlüsselrolle spielt, vgl. Fuchs, Social perspectives, 84 Ich setze hier „Leib“ bewusst in Anführungszeichen, weil er noch nicht „unser“ Leib als fungierender, uns blind gehorchender Leib uns gegeben ist. Es ist aber auch nicht unser Körper. Denn weder erleben wir ihn als uns eigen, uns gehörend, noch können wir ihn haben, wie ein Gegenstand, dem wir eben selbstredend gegenüberstehen, den wir uns gegenüberstellen, begreifen und fassen können. 85 Die sekundäre emotionale Repräsentation als Niederschlag der Affektspiegelung und als Folge des Empfangs der spontanen aber markierten Hingabe der primären Bezugsperson als Antwort auf die ebenfalls spontane Hingabe des Säuglings geht mit in unser implizites Beziehungswissen ein.

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Jenes nicht (An)erkannte, bedingt z. B. durch eine nicht gelungene Affektspiegelung),86 und dadurch nicht Integrierbare, mit dem wir nicht vertraut sind, für das wir kein Gefühl haben, das gewissermaßen ohne gelingende, kongruente Beziehung in uns präsent ist, wird man nicht als selbstverständlich ansehen. Wir haben kein Gefühl dafür, insofern wir nicht angemessen gespiegelte affektive Zustände als unsere affektiven Zustände erleben. Es fehlt in uns die entsprechende sekundäre Repräsentation, das entsprechende Containment. Da es aber dennoch in einer bestimmten Weise präsent ist, wirkt es „störend“. D.h. auch solche nicht (an)erkannten und darum nicht integrierbaren Anteile unseres Selbst und in diesem Sinne unversöhnten Anerkennungsbedürfnisse, können teil unseres impliziten Beziehungswissen sein. Sie teilen sich bei entsprechenden kommunikativen Gelegenheiten mit, kommen unbewusst zur Reinszenierung in Übertragungsreaktionen. Sie schränken damit nicht nur unser Selbstgefühl, sondern auch unser empathisches Vermögen ein. Im Improvisationsfeld überkreuzen sich unser implizites Beziehungswissen mit dem impliziten Beziehungswissen des anderen und gegebenenfalls auch unsere unversöhnten Anerkennungsbedürfnisse mit den unversöhnten Anerkennungsbedürfnissen des Anderen. In diesem Improvisationsfeld kann es zugleich zur Reinszenierung und Aktualisierung früherer Beziehungserfahrungen kommen. Diese Reinszenierung kann als ein zwischenleibliches Spüren der Überkreuzung des jeweiligen impliziten Beziehungswissen der Interaktionspartner und der darin eingeschlossenen Anerkennungserfahrungen verstanden werden. Im Zuge dessen kann das Improvisationsfeld zunächst als Seismograph wirken. In ihm werden unversöhnte Anerkennungsbedürfnisse spürbar – zunächst möglicherweise so, dass sie keine Befriedigung finden. Sie können keine Befriedigung finden, weil und solange das implizite Beziehungswissen selbst wie ein sich selbst reproduzierendes System, das zu einer Self-Fulfilling-Prophecy führt, fungiert. In der Interaktion mag dies sichtbar werden in Übertragungsprozessen, in starrem Rollenverhalten, Rollenerwartungen und Rollenzuweisungen bezogen auf den anderen. Zugleich kann das implizite Beziehungswissen des anderen, das sich ggfs. auch in entsprechendem Rollenverhalten, Rollenerwartungen und Rollenzuweisungen (weitgehend auf der präsymbolischen Ebene) äußert, eben diese autopoietische Tendenz des impliziten Beziehungswissen dauerhaft und immer wieder stören. Es sei hinzugefügt, dass dies nur auf einer Ebene gemeinsam geteilter Interaktionsmuster möglich ist, wo das implizite Beziehungswissen der Interaktionspartner schnell in Resonanz miteinander gehen kann. Andernfalls wäre die Unverträglichkeit und sogar das präreflexive Nichtverstehen zwischen den Interaktionspartnern so groß, dass nicht 86 Vgl. Fonagy/Target, Affektregulation, 855 f.

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einmal die Störung und Infragestellung des impliziten Beziehungswissen gespürt werden könnte. Wo diese impliziten Störungen so stark werden, dass auf eine „disruption“ nicht mehr unmittelbar ein spontanes „repair“ kommen kann, merken die Interaktionspartner, dass sie auf einmal betroffen und heraus-gefordert sind. Aus dem Gegenwartsmoment wird ein Jetzt-Moment. Dieser nimmt die Interaktionspartner so in Anspruch, zieht sie so in die Gegenwart, fordert sie so heraus, dass stereotypes Rollenverhalten, Rollenerwartungen und Rollenzuweisungen, die sich in Übertragungen und ggfs. Gegenübertragungen äußern, (selbst präreflexiv) nicht mehr als kongruent, sinnhaft und möglich erscheinen. Man kann vermuten, dass durch immer wiederkehrende Störungen, disruptions, es nicht zu einer wirklich gelingenden Reparatur gekommen ist. Vielmehr akkumulieren und verdichten sich diese Störungen, sodass plötzlich der Moment kommt, dass eine Äußerung einer der beiden Interaktionspartner zum Anlass werden kann, dass diese Störung, etwa in einer ungewöhnlichen Frage oder Mitteilung Gestalt annimmt und sich äußert und dabei die ganze bisherige Interaktion in eine neue Perspektive rückt. (Man mag hier an einen Phasenübergang denken.) So groß dieses Mal die Störung ist, so sehr müssen dennoch beide Interaktionspartner im gleichen Maße das Betroffen- und Herausgefordertsein erfahren und zugleich den darin sich ankündigenden Anlass erkennen, und sich von bisherigen Interaktionsmustern lösen und dabei auf eine Weise authentisch sein, wie sie es bisher noch nicht waren, um diesen Jetzt-Moment als Begegnungsmoment wahrzunehmen zu können. Erst dann kann der Kairos, dieser Jetzt-Moment zum Augenblick der Wahrheit, der Aletheia – der Entbergung – werden. Ohne dass dies in der Gänze sichtbar werden muss, wird es natürlich dabei schon zu einer Reorganisation der impliziten Beziehungsmuster gekommen sein. Wie bereits aus dem Vorangehenden erkennbar werden sollte, kann das Improvisationsfeld nicht nur wie ein Seismograph wirken, der jene unversöhnten Anerkennungsbedürfnisse aufzuspüren vermag und entsprechende Beziehungserfahrungen zur Reinszenierung bringen kann. Das Improvisationsfeld kann auch wie ein Katalysator für die Veränderung und Reorganisation unseres impliziten Beziehungswissen fungieren. D.h. die Interaktion mit dem Gegenüber kann über Prozesse von Anpassung, Störung und neuer Anpassung wechselseitig zu einer Dynamisierung des impliziten Beziehungswissen führen. Diese vermag (unverhersehbar) auf einen Jetzt-Moment zulaufen. Dieser kann, wenn wie gesagt beide Interaktionspartner in ähnlicher Weise herausgefordert, fähig und bereit sind und wenn er darum von beiden als besonderer Moment erkannt wird, zum Begegnungsmoment werden. Beide vermögen aus ihren starren Rollenmustern, Rollenerwartungen und Rollenzuweisungen herauszutreten. Sie können, befreit von Übertragungsreaktionen, in neuer Weise authentisch sein und nicht nur zu dem anderen in Beziehung treten. Als Folge

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hiervon lernen sie in diesem Moment selbst einander neu wiedererkennen.87 Es konnte sich ein neues Selbstverhältnis bilden. In diesem Ineinander von Sozialund Selbstbezug geht aber der Sozialbezug immer dem Selbstbezug voraus. Das in dem Begegnungsmoment sichtbar und Gestalt annehmende Empathievermögen ist als ein intersubjektives Vermögen zu sehen, dem ein neues Selbstgefühl folgt. Erst nachträglich und indirekt mögen die impliziten Prozesse der Neuorganisation unseres impliziten Beziehungswissen benennbar sein.88

VII.

Die Kunst von einem Dritten sich führen zu lassen

So wie die Seelsorge sich häufig in der personenzentrierten Interaktion wiedererkannt hat, mag sie sich auch im Gegenwartsmoment wiederfinden, wie ihn die BCPSG für die Psychoanalyse entdeckt hat. Das Wiedererkennungsmoment ist dabei das Begegnungsmoment. Im Begegnungsmoment gelingt es, dass beide Interaktionspartner ganz in der Gegenwart, ganz bei dem Anderen sein können. In die Gegenwart finden sie sich im Augenblick der Wahrheit hineingezogen, in 87 In diesem Kontext sind die Überlegungen von Wittgenstein zum Phänomen des Wiedererkennens instruktiv ; vgl. Wittgenstein PU, 35, 166, 258, 270, 602 – 604 und Seite 525 – 526. Als Beispiel führt Wittgenstein das Wiedererkennen der Gestalten bei Kippfiguren, wie etwas einen Hasen-Enten-Kopf, an. Diesen erkennen wir einmal als Hase und einmal als Ente. Das Wiedererkennen geschieht hier als ein Sehen-als. Dabei ruft in diesem Wiedererkennen der Aspektwechsel jeweils ein Staunen hervor, „den das Erkennen nicht hervorrief“ (vgl. ebd., Seite 527 f.). Vgl. auch Wittgenstein, Bemerkungen, §544 – 572. Hier in den Vorstudien zum zweiten Teil der Philosophischen Untersuchungen führt er ein weiteres anschauliches Beispiel für das „plötzliche Wiedererkennen“ an: „Nimm an, das Kind erkennt plötzlich einen Menschen. Es sei das erste Mal, daß es jemand plötzlich erkennt. — Es ist als wären ihm plötzlich die Augen aufgegangen. Man kann z. B. fragen: Wenn es den N. N. plötzlich erkennt, — könnte es dasselbe Seherlebnis haben, aber ohne ihn zu erkennen? Es könnte doch z. B. falsch wiedererkennen“ (ebd., § 572). In den nachfolgenden Beispielen wird deutlich, dass es sich hier um eine halb visuelle halb gedankliche Erfahrung handelt. Dietrich Ritschl hat sein Konzept des Wiedererkennens als eine Art und Weise, wie sich Offenbarung ereignen bzw. wie sie erfahren werden kann, mit Bezugnahme auf Wittgenstein erläutert; vgl. Ritschl, Wiedererkennen, 146. 88 Ich möchte an dieser Stelle an das heuristische Konzept der impliziten Axiome von Dietrich Ritschl erinnern. Mit Bezug auf das implizite Beziehungswissen der BCPSG kann man die impliziten Axiome als Kondensat dieses impliziten Beziehungswissens interpretieren. Sie steuern die story, die wir von uns erzählen. Sie steuern aber auch unsere Wahrnehmungs-, Urteils-, Handlungs- und Kommunikationsweisen. Im Zuge dessen sind sie auch entscheidend für unser Empathievermögen und damit auch für unser Vermögen, andere zu erkennen und dafür, wie und als wen wir jemanden (wieder oder/und an)erkennen oder nicht (wieder oder/und an)erkennen. Beim Versuch, diese impliziten Axiome zu explizieren, bewegen wir uns am Rande der Sprache. Sie „können nur im Bewußtsein, daß ihre Benennung das Risiko des Erstarrens mit sich bringt, hinter unserem Denken gesucht werden. Wären sie aber gar nicht benennbar, so könnten sie ihre Steuerungsfunktion vielleicht verlieren“ (Ritschl, Erfahrung, 148 f; vgl. auch Weber, Familienähnlichkeit, 216 f, 221 f.).

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sie hinein – katapultiert. Sie können ganz in der Gegenwart, ganz präsent sein, wenn sie nicht mehr in Übertragungs- und Gegenübertragungsprozessen gefangen sind. Die Be-gabung zur Präsenz (vgl. die gleichschwebende Aufmerksamkeit), in deren Mitte die Empathie steht, kann also nicht vorausgesetzt werden! Sie ist vielmehr das, was sich er-geben kann, was gemeinsam entdeckt werden kann. Entdeckt werden kann diese Begabung, je mehr Seelsorger und Gemeindeglied im Gespräch lernen: die Regie in diesem Gespräch führt ein Dritter, ein unverfügbarer schöpferischer zwischenleiblicher Prozess. Und auf diesen können wir uns einlassen, diesem können wir uns überlassen. Einlassen und überlassen und so sich dem anderen hingeben und preisgeben können wir, wenn das Unversöhnte, das sich in Übertragungsprozessen äußert, uns nicht einsperrt. Das gemeinsam geteilte Dritte, das Improvisationsfeld, in dem sich (in der Diktion der BCPSG) das implizite Beziehungswissen der beiden Gesprächspartner kreuzt, paart, interferiert, mag Angst lösen. Es mag die Scham der Vertrautheit mit dem Anderen und mit sich selbst weichen lassen, so dass Selbstwirksamkeit entdeckt, Schuld vergeben und um Vergebung gebeten werden kann und unversöhnte Anerkennungsbedürfnisse stillschweigend Befriedigung erfahren. Auf dem Weg dorthin aber führt das Gespräch sie an einen kritischen Moment, den Augenblick der Wahrheit, den Jetzt-Moment. Wieder liegt es nicht an einem der beiden Gesprächspartner und kann auch nicht dessen Schuld sein, den Kairos zu erkennen. Es muss sich ein Drittes gebildet haben, das sie verbindet und das beide den Augenblick der Wahrheit gemeinsam erkennen und annehmen lässt, sodass es zur Begegnung kommt. Im Moment der Begegnung können beide authentischer sein als vorher, können mehr präsent sein, können bei dem Anderen und so bei sich selbst sein. Dieses Dritte mag dabei seine Spur in einem veränderten neuorganisierten impliziten Beziehungswissen in jedem der beiden Gesprächspartner hinterlassen haben. Es hat hier ein Gestaltwandel stattgefunden – zunächst in der zwischenleiblichen Beziehung miteinander, in der Empathie füreinander und im Verstehen voneinander, um dann je für sich sein zu können. Für sich sein können sie, weil etwas gelungen ist und Befriedigung gefunden hat. Für sich sein wollen sie, weil das Erfahrene verarbeitet werden muss. Wenn die Gesprächspartner im Moment des sich selbst Wiedererkennens entlassen, freigegeben werden, können sie diesen Veränderungsprozess vor sich und gegenüber einem anderen bezeugen.

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VIII. Fazit Im Blick auf die Frage nach der Entwicklung des Vermögens der Empathie konnten drei Merkmale aufgezeigt werden: 1. Empathie ist kein Zustand, sondern ein emergentes Ereignis, ein dialogisches Phänomen, das sich erst in der Interaktion mit einem Anderen bildet. D.h. sie ist nicht nur Voraussetzung für eine gelingende, heilsame Begegnung, sondern mögliches Ergebnis einer Begegnung. Erst in der Interaktion mit dem Anderen, werden wir zur Empathie begabt. 2. Diese Begabung ist unauflöslich verwoben mit der Bildung unseres Selbst als eines Selbstverhältnisses. Wie anhand der Rekonstruktion und Analyse des Begegnungsmomentes erkennbar wird, sind im Prozess der Interaktion über das gemeinsam dialogisch Entwickelte und Geteilte das Verstehen des Anderen und das eigene Selbstverständnis in einander verwoben und bedingen einander.89 Der Andere wie man selbst vermag sich nach der Bewältigung des kritischen Momentes der Begegnung, wo wir (mehr oder minder implizit oder explizit) das Wagnis eingegangen sind, uns einander zu öffnen, und bereit sind, etwas von uns dem anderen preis zu geben, selbst neu wiederzuerkennen. Wir vermögen uns im Anschluss an diesen Augenblick der Wahrheit, wo wir ganz bei dem anderen zu sein vermögen und in diesem Sinne präsent und empathisch sind, uns selbst neu zu empfangen. 3. Der Ort, genauer die Beziehungsweise, in der wir offen sind, das Wagnis einzugehen, uns dem Anderen zu öffnen, bei ihm zu sein, ist die Leibliche bzw. Zwischenleibliche. In dieser Beziehungsweise sind unvertretbar die Interaktionspartner gemeint und betroffen. Es geht sie unbedingt an. Dieses Zwischenleibliche macht das Improvisationsfeld aus, in dem sich das implizite Beziehungswissen der Interaktionspartner kreuzt. Dieses kann nie genau expliziert, nie genau benannt werden. Dies bedeutet nicht, dass das, was auf der Basis dieses Improvisationsfeldes zwischen zwei Interaktionspartnern explizit (symbolisch, sprachlich) zur Darstellung kommt, was an expliziten Formen der Empathie kommuniziert wird, nicht auf das Improvisationsfeld und auf das in ihm interferierende implizite Beziehungswissen der beiden Interaktionspartner strukturierend und reorganisierend zurückwirkt. Doch auch diese Explikationen, in denen den Interaktionspartnern ihr Kommunikationsverhalten und das Verstehen des je anderen zu Bewusstsein kommt, reflexiv eingeholt und gedeutet wird, werden nur möglich in der zwischenleiblichen Sphäre eines neu sich formierenden Improvisationsfeldes von interferierendem, sich neu organisierenden impliziten Beziehungswissen. Erst vor dem Hintergrund dieses Zwischenleiblichen 89 Vgl. Merleau-Ponty, The unvisible, 138.

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und einer darin sich bildenden zwischenleiblichen Empathie erhält die explizite, reflexive, inferentielle Empathie ihre Bedeutung. Es bleibt diese zwischenleibliche Empathie, die sich in diesem Improvisationsfeld ausbilden kann, nie ganz einholbar und verfügbar. So wird der zwischenleibliche Bildungsort der Empathie zur Chiffre für das Unverfügbare, zum unverfügbaren Zwischen im Sinne Bubers. Und Seelsorge kann zur Kunst werden, sich von einem Dritten führen zu lassen.

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Tilman Kingreen

Potentiale suchen (das) Licht!

I.

Hinführung

Menschen fragen verstärkt danach, ob ihre beruflichen Aufgaben sie persönlich ausfüllen. Für die jüngere Generation wirkt dieses Bedürfnis bereits namensgebend. Als sogenannte „Generation Y“1 hinterfragt die Generation der nach 1980 Geborenen besonders kritisch das Betriebsklima und die Arbeitskultur von Betrieben.2 Die Y-Vertreter sind in einer Welt unzähliger Optionen aufgewachsen. Ihre Eltern entstammen der als eher konsumorientiert und geschäftig beschriebenen „Generation Golf“. Sie hatten umfängliche Möglichkeiten, ihre Kinder mit viel Aufmerksamkeit zu begleiten und zu fördern. Diese Fürsorgeerwartung könnte die „Generation Y“ jetzt auf ihre Arbeitgeber übertragen, so lautet meine Vermutung. Sie wählt ihre Arbeitgeber nicht mehr priorisiert unter dem Gesichtspunkt von Karriere und Gehalt aus. Vielmehr sind Fragen von Sinnhaftigkeit und Selbstbestimmtheit der Arbeit, von kreativen Gestaltungsmöglichkeiten und Flexibilität zu Schlüsselfragen geworden, auf die Personalverantwortliche bei der Suche nach Nachwuchskräften eine Antwort bieten müssen. Was diese neue Generation als Forderung vorbringt, bewegt zutiefst auch jene, die schon lange in Arbeitsprozessen stehen. Sie fragen: Wofür arbeite ich wirklich? Wo liegen meine wahren Begabungen? Was will ich beruflich bewirken? Fragen nach Sinnhaftigkeit, Motivation und die Suche nach Perspektiven für das eigene berufliche Wirken wecken auch bei Pastorinnen und Pastoren großes Interesse. Sie nehmen das offene Angebot ihrer Landeskirche in Form der kirchlichen Personalberatungsstelle an.3 Anfragen an die Relevanz von Kirche und tiefgreifende Strukturveränderungen im direkten Arbeitsumfeld markieren 1 Hergeleitet aus dem Englischen „Why“. 2 Vgl. hierzu Bund u. a. 3 Für die evangelisch-lutherische Landeskirche Hannovers s. u. http://www.personalberatunglka.de.

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äußere Faktoren, die zu erheblichen beruflichen Belastungen führen. Die Ratsuchenden reagieren darauf mit ihrer Bereitschaft, das Angebot einer professionell ausgerichteten Personalberatung aufzusuchen und sich damit auf einen Klärungsweg zu begeben, der sie zuerst zu sich selbst führt. Der folgende Beitrag4 möchte an zwei Praxisbeispielen aufzeigen, wie ein solcher Klärungsprozess, der zuerst nach innen gerichtet ist, die Basis schafft, um gut aufgestellt, lebendig und damit auch verändernd wieder in das System hinein zu wirken. Eigene Potentiale sichtbar zu machen entfaltet eine sinnstiftende und motivatorische Wirkung. Potentiale suchen das Licht! Es gibt aber Situationen, da können sie nicht ans Licht gelangen. Der Beitrag will zeigen, wie berufliche Potentiale dennoch immer danach streben, in das innere Licht der Gewahrwerdung einer Person zu gelangen. Sie durchlaufen dabei einen komplexen Prozess, der die Tendenz in sich trägt, Potentiale nicht im Verborgen zu lassen, sondern ans Licht zu bringen. Die Personenzentrierte Systemtheorie bietet einen Theorieansatz, der es ermöglicht, die notwendige Verschränkung des „Innen“ der Person und des „Außen“ einer Organisation methodisch erschließend darzustellen. Der Ansatz soll deshalb zunächst ausführlicher vorgestellt werden. Die beiden Praxisbeispiele versuchen, den Transformationsprozess näher zu beschreiben, den eine Person auf ihrem Weg von der inneren Selbstklärung in die organisationsbezogene Umsetzung durchläuft. Schließlich sollen in einem Ausblick Aspekte eines wachstumsorientierten Verständnisses beruflicher Potentiale beschrieben werden.

II.

Die personenzentrierte Systemtheorie

Die personenzentrierte Systemtheorie5 versucht das Erleben von Menschen an der Grenze von Innen- und Außenwelt verstehbar zu machen. Dabei setzt sie die personenzentrierte Perspektive, die den inneren Bezugsrahmen des Menschen in seiner konstruktiven Wachstumsorientierung fokussiert, mit einem spezifischen Bild des Außen in Beziehung. Dieses Außenbild ist von einer selbstorganisierenden Struktur geprägt. Damit tragen beide Seiten, das Innen der Person wie das Außen der Organisation, den Charakter des Prozesshaften. Das bedeutet: Alles ist im Wandel. Nichts ist vorhersagbar und statisch festgelegt, weder im Innen noch im Außen. Und alles organisiert sich aus eigenen Ressourcen heraus stets neu in Richtung sinnvoller Muster und lebensfähiger 4 Ich danke Claudia Schubert und Ulrike Watschke für den inspirierenden fachlichen Austausch und Sylvia Beier für die Bearbeitung der Bilddokumente. 5 Zum Folgenden vgl. von Schlippe/Schweitzer, Grundlagenwissen, bes. 89 – 128 sowie 199 – 210.

Potentiale suchen (das) Licht!

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Ordnungen. Es entstehen labile Bewegungen; sie münden aber immer wieder in stabile Ordnungen, die zugleich nur vorübergehend in Geltung sind. Beobachtungen aus der Physik und der Chemie geben dieser Sicht eines dauernden Wandels bei gleichzeitiger Stabilität eine naturwissenschaftliche und damit Universalität beanspruchende Erkenntnisbasis. So bilden etwa Moleküle, die unter Wärme in Bewegung kommen, ein wiederkehrendes Fließmuster, das aus vielen mikrokosmischen Einzelrotationen ein makrokosmisch festes System herausbildet. Dies wirkt strukturbildend auf die Einzelrotationen zurück. Durch diese „zirkuläre Kausalität“6 bestimmt das Gesamtsystem wiederum die mikrokosmischen Prozesse. Aus einer Vielzahl von Bewegungsrichtungen bildet sich so ohne jedes Eingreifen einer ordnenden externen Macht ein neues Bewegungsmuster, das gegen Veränderungen von außen stabil bleibt. Als „attrahierende Dynamiken“7 werden diese Wandlungsprozesse beschrieben. Umgekehrt kann aber auch eine bislang gültige Ordnung in ein labiles Stadium geraten, bei dem ein kleiner unspezifischer Impuls von der Kraft eines „Schmetterlingsschlags“8 ausreicht, um eine Gesamtbewegung aller Teilchen auszulösen, an deren Ende eine neue Gesamtstruktur entsteht. Die Ursache, die eine solche Wirkung hat, lässt sich weder direkt noch kausal im Blick auf die von ihr ausgelöste Gesamtwirkung beschreiben. Lediglich Umweltbedingungen sind beschreibbar, die solche labilen Zustände als Auslöser selbststeuernder Wandlungsprozesse fördern können, wie eben das Zuführen von Wärme, die bei Flüssigkeiten die beschriebenen Molekularbewegungen ermöglicht. Wenn ein System in Bewegung kommt, entstehen entsprechende „Attraktoren-Landschaften“, in denen sich „Attraktoren paarweise bilden: Das System hat dann die Möglichkeit, den einen oder den anderen Attraktor zu ,wählen‘“9. Dieses Verständnis naturwissenschaftlicher Vorgänge und äußerer Systeme bietet eine theoretische Deutungshilfe, um auch innerpsychische Vorgänge beschreibbar zu machen. Sinnfindungsdynamiken und persönliche Wahrnehmungen, die darauf zielen, sich selbst, die anderen und die Welt zu verstehen, fordern ein Ordnen und Einordnen äußerer und innerer Reize. Dieser Vorgang kann als ein attrahierender Prozess verstanden werden. Innerpsychisch wird die Person als ein System beschreibbar, in der ähnliche Prozesse ablaufen wie in äußeren Systemen. Aus einer Vielzahl von Optionen bilden sich im Menschen prägende Deutungsmuster heraus, die als „Sinnattraktoren“10 helfen, ein stabiles Selbst- und Weltbild zu entwickeln. 6 7 8 9 10

Kriz, Personenzentrierte Systemtheorie, 35. Ebd., 37. Zum „Schmetterlingseffekt“ vgl. von Schlippe/Schweitzer, 105 – 107. Kriz, Personenzentrierte Systemtheorie, 32. Ebd., 48.

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Sinnattraktoren verleihen der Person Orientierung und Stabilität. Allerdings können sie die Person auch in die Krise führen. Dies ist dann der Fall, wenn die lebendige organismische Entwicklung der Person in eine Richtung weist, die von den bisherigen Sinnattraktoren nicht mehr hinreichend erfasst wird. Der lebendige innere Prozess kommt ins Stocken. Statt Wandlung und Prozess entsteht Erstarrung. Dadurch können keine neuen Sinnattraktoren, die das Selbsterleben und Umweltverstehen der Person hinreichend zu repräsentieren vermögen, wieder selbststeuernd herausgebildet werden. Schwerwiegende biographische Erfahrungen, dominant einwirkende Rollenerwartungen oder Zuschreibungen aus sozialen Kommunikationsprozessen beschreiben Ursachen, die diesen Selbstorganisationsprozess des Organismus zum Stocken bringen können. Dies äußert sich in der leidvoll erlebten Erfahrung, inkongruente Verhaltensmuster herauszubilden. Sie entstehen, wenn die lebendigen organismischen Erfahrungen von dem Selbstkonzept, das sich in einer Person gebildet hat, nicht mehr erfasst werden kann, sondern in eine Richtung weisen, die von der Selbstaktualisierung dieses Selbstkonzeptes nicht mehr zutreffend gedeutet und symbolisiert wird.11 Mit seinem nicht-direktiven Vorgehen beschreitet der personenzentrierte Beratungsansatz einen therapeutisch wirksamen Weg, diese systemischen Selbstorganisationsprozesse in einem Menschen wieder in Gang zu setzen. Der personenzentrierte Ansatz lebt davon, keine Interventionsinstrumentarien zu kennen. Er beschreibt hingegen sehr präzise die spezifischen Rahmenbedingungen, unter denen selbstständig verlaufende, innerpsychische Prozesse wieder in Gang gesetzt werden können. Die Rahmenbedingungen müssen spezifisch qualifiziert sein. Dies geschieht durch eine bewusste Gestaltung der Beziehung, die die beratende Person zu der ratsuchenden aufbaut und während der Beratung in einem ausreichenden Maße durchgängig realisiert.12 Unter der Erfahrung einer bedingungslos von Wärme und Empathie geprägten Zuwendungsbereitschaft, die sich ohne Einschränkung akzeptierend allem zuwendet, was die ratsuchende Person vorbringt und dabei in ihrer Haltung als echt und wahrhaftig erlebt wird, entsteht ein Energiefeld, das die Bildung innerpsychischer Wachstumspozesse fördert. Empathisch zu sein bedeutet, den inneren Bezugsrahmen des anderen möglichst exakt wahrzunehmen, mit all seinen emotionalen Komponenten und Bedeutungen, gerade so, als ob man die andere Person wäre, jedoch ohne jemals diese ,als ob‘-Position aufzugeben.13

11 Vgl. Rogers, Theorie, 24. 12 Vgl. Rogers, Theorie, 40 – 42. 13 Rogers, Entwicklung, 37.

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Mit der Erfahrung dieser empathischen Einfühlung kann sich die Person offen, mehrperspektivisch und umfänglich ihren inneren Erlebnisinhalten zuwenden. Aus der Sicherheit dieser spezifischen therapeutisch wirksamen Haltung heraus können bedrängende und angstauslösende Spannungen und Inkongruenzerfahrungen14 in jenen konstruktiv-labilen Zustand überführt werden, aus dem heraus sich neue Sinn-Attraktoren bilden. Verfestigte Beschreibungen lösen sich unter dieser Beziehungserfahrung auf und die dem innerpsychischen System der Person inhärenten Deutungsmöglichkeiten werden dem Bewusstsein der Person neu zugänglich. Rogers rückt mit seinem Verständnis der „Personwerdung der Person“15 die zukunftsoffene Sinndimension allen menschlichen Lebens in den Blick. Für die berufliche Beratungspraxis bietet der von Jürgen Kriz entwickelte Begriff der „teleologischen Kausalität“16 eine weitere konkretisierende Facette, um die systemoffene Wirksamkeit, die solche personalen Entwicklungsprozesse freisetzen, zu beschreiben. Die Person kann sich auf neue, vorerst nur behutsam imaginierte Ziele zubewegen, die eine „bedeutsame Kraft zur Ordnung weiterer Lebensvorgänge“17 entwickeln. Die Person gewinnt Vertrauen in die „werdende ,Gestalt‘“18 ihrer Person. Diese Zukunftsoffenheit wirkt zirkulär-kausal nachhaltig in die Selbststruktur der Person zurück und sensibilisiert sie für eine wachsamere Haltung gegenüber ihren organismischen Aktualisierungstendenzen.

III.

Aus der Praxis

An zwei Praxisbeispielen soll dargestellt werden, wie dieser Theorieansatz die Beratungsarbeit mit seinen aufschließenden Perspektiven befruchtet. Der Theorieansatz fordert die Beratungspraxis heraus, sich in den Grundhaltungen des personenzentrierten Beratungsansatzes zu bewähren.

III.1

Das Außen ändert sich und regt eine Entwicklung im Inneren an.

Paul19 sucht die Beratung auf, weil sich seine Pfarrstelle durch Zusammenlegung mit Nachbargemeinden zukünftig strukturell tiefgreifend verändert. Das Aufgabenprofil wird verstärkt organisations- und leitungsspezifische Tätigkeiten 14 15 16 17 18 19

Rogers, Entwicklung, 29. Vgl. Schmid, Begegnung, 138. Kriz, Personenzentrierte Systemtheorie, 57. Ebd. Kriz, Personenzentrierte Systemtheorie, 58. Ich nutze hier die Variable Paul, um die Anonymität der Person zu wahren.

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umfassen. Er ist über die Entwicklung entsetzt, fühlt sich ihr machtlos ausgeliefert und ist enttäuscht über den Verlust des ihn bislang erfüllenden Aufgabenprofils. Er reagiert zuerst mit Trotz und Trauer, war zwischenzeitlich auch resignativ gestimmt und will jetzt mit Aufnahme der Beratung initiativ werden. Er denkt an einen Wechsel, ist aber ratlos, wohin ihn ein lohnender Aufbruch führen kann. In über 20-jähriger Berufstätigkeit hat er bereits zwei Wechsel realisiert. Da nun im Außen scheinbar alles in Bewegung ist, fokussiert die Beratung diesen Bewegungsmodus auch auf das Innere. Wird durch diesen Impuls im Außen vielleicht auch eine innere Suche angestoßen? Die Aufstellungsarbeit der ersten Sitzung stelle ich im Folgenden vor und beschreibe die Richtung, in die die darin enthaltenen Selbstexplorationen verweisen. Dies kann der ratsuchenden Person Ideen für ihre eigene Weiterarbeit liefern. Perspektive aus der Beobachtungssicht Seelsorge/Diakonie

1. 2. 3. 4. 5.

Fortbildung „Gemeindeleitung“ Sitzung, Moderation Leitungsaufgaben Orientierung, Struktur Erlebnispädagogik

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6. Prägende Wirkung im Team 7. Predigen 8. Gezielt Einfluss nehmen auf Gruppen In Form eines explorierenden Reflexionsgesprächs stellt Paul seine erworbenen beruflichen Kompetenzen und Erfahrungen dar und wird dabei durch Aufstellungsfiguren in Form kleiner Holzstühle unterstützt. Paul wählt einen der Modellstühle und stellt ihn vor sich auf den Tisch. Dieser Ich-Repräsentanz ordnet er nun weitere Modell-Stühle zu, die jeweils berufliche Kompetenzen beschreiben. Er beginnt mit der emotional-lustvoll besetzten Arbeit im Bereich Diakonische Seelsorge (Stuhl 1). Hier kann er auf eine 11-jährige erfolgreiche Schwerpunktsetzung zurückblicken. „Ich bringe Licht zu den Menschen in einem sonst traurigen Umfeld.“ Mit Stuhl 2 folgt ein kognitiv-fachlicher Aufgabenschwerpunkt: Theorie-Impulse im Bereich Gemeindeleitung vermitteln. Hier ist er fachlich kompetent und kann sein Wissen gut vermitteln. Es folgt die Moderation von Sitzungen (Stuhl 3). Er kann planvoll Dinge auf den Weg bringen und Menschen hierfür gemeinsam an den Tisch holen und motivieren. Dabei hilft ihm Stuhl 4: In Strukturen denken, Zusammenhänge erkennen und so für sich und andere Überblick verschaffen. Mit Stuhl 5 tritt eine schwach ausgeprägte Seite hervor: Leitungsfunktionen wahrnehmen. Schmerzhafte biographische Erfahrungen aus der Perspektive als selber Leitender und aus der Perspektive dessen, der an sich Leitung erfahren hat, brechen sich Bahn. Er berichtet zudem von seinen leitungskritischen Grundüberzeugungen aus Zeiten des Studiums, die manchmal in ihm wieder lebendig werden. „Die Funktion von Leitung und Führung ist mir allerdings in den letzten Jahren klarer geworden.“ Danach schwenkt er hinüber zum lustbesetzten Feld Erlebnispädagogischer Arbeitsfelder (Stuhl 6), die er als „highlight“ seiner Arbeit beschreibt. Er spürt zugleich eine diffuse, z. T. seinem Alter geschuldete Furcht, sich von dieser Arbeit in ihrer bisherigen intensiven Form verabschieden zu müssen. Mit der Darstellung dieses Kompetenzstuhls entdeckt er bei sich einen weiteren Stuhl (7) Prägende Wirkung im Team, sein Wort hat Gewicht. „Ich will was und ich will, dass die anderen merken, dass ich was will.“ Zum Abschluss folgt mit Stuhl 8: Predigen eine Schwerpunktsetzung im Bereich kreativer Zielgruppengottesdienste und schließlich benennt Stuhl 9 als Kompetenz Gezielt Einfluss nehmen auf Gruppen und damit die Einwirkungskraft, die er auch auf größere Gruppen besitzt. In einem nächsten Schritt lässt die Person ihr fertiges Aufstellungsbild aus mehreren Blickwinkeln auf sich wirken. „Das Bild hat zwei Hälften. Eine links, eine rechts von mir!“, lautet der spontane Ersteindruck. Es gibt die schwach strukturierte lustvolle Seite links vom „Ich-Stuhl“ und die machtorientiert

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strukturbezogene Seite rechts davon. Sie fallen in zwei Hälften auseinander. Die rechte ist quantitativ stärker aufgestellt. Vielleicht wurde hier mehr investiert? Aber auch die Hürde, bzw. der Widerstand stehen auf dieser Seite. Die linke Seite ist nicht nur quantitativ schwächer aufgestellt; sie nimmt auch zukünftig weiter ab, sollten die erlebnispädagogischen Fertigkeiten bald weniger gelebt werden. Eine bedrohliche Verschiebung der inneren Balance wird sichtbar. Die Dynamik während der Aufstellung weist eine Pendelbewegung zwischen den beiden Bildhälften auf. Paarweise finden jeweils Repräsentanten der lustund der strukturgeprägten Seite zusammen. Nach diesem Muster bilden sich drei völlig homogene, selbständige Ordnungen, die an Mikrosysteme erinnern, heraus, die jeweils von der Lust-Seite zur Struktur-Seite pendeln.20 Dieses Muster der Mikrosysteme ist zugleich identisch mit dem Muster des Makrosystems, in dem sich das Gesamtbild darstellt. Dies bewirkt offenbar, dass bei jeder neuen Aufstellungsphase das Pendel der Aufmerksamkeit zuerst zur Lustseite hin ausschlägt, danach zur Macht- und Strukturseite pendelt und von dort wieder zurück auf die Lustseite. Es ist zu vermuten, dass dieses Muster in den Mikrosystemen durch Rückkoppelungsschleifen zum Sinn-Attraktor avancierte, der dies als herrschende Ordnung des Gesamtsystems steuert und dadurch rückwirkend entsprechend die Mikrosysteme auf diese Ordnung festlegt. Die Person pendelt innerlich und stabilisiert damit ihren Stand. Dies funktioniert in den Aufstellungsphasen 1, 2 und 4. Es funktioniert also offenbar so lange, wie die lustbetonte, im Aufstellungsbild linke Seite, hinreichend viele Kompetenzen in sich versammelt und sie auch gelebt und abgefordert werden. Wir sahen aber, dass diese Seite abnehmen wird. Damit steuert das System bereits auf eine labile Phase zu. Dies kann jene Traurigkeit erklären, mit der die Person anfangs auf die anstehende Veränderung im Aufgabenprofil der Pfarrstelle reagierte. Aus der inneren Perspektive der Aufstellung ergibt sich folgendes Bild: Bisher stabilisierte das Außen mit seinem Angebot an Lust freisetzenden Aufgabenfeldern das bereits labiler werdende innere System und gab ihm Sicherheit und Orientierung. Es wirkte stabilisierend auf das Innere ein, während das Innere selbst bereits schon im Fluss und in Bewegung geraten war. Ändern sich mit den neuen Strukturen auch die äußeren Rahmenbedingungen der Arbeit, dann könnte das wie ein auslösender Impuls wirken, so dass das innere System nun endgültig in eine Phase hoher innerer Labilität eintritt. Darauf reagiert die Person vorerst mit Trotz, Trauer und Resignation als verständliche Formen der Angstabwehr ; zugleich kann hier ein kreatives Wachstumspotential ruhen. Wie kann es für Paul weitergehen? Auch hier bietet die Aufstellung einen wichtigen Hinweis. Dieser kommt nicht von außen, sondern zeigt im System an, in welche Richtung die innere Weiterentwicklung streben kann. In der Auf20 In Abbildung 1 beschrieben als die Phase 1,2 und 4.

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stellungs-Phase 2 wurden erste Turbulenzen erkennbar. Die Paarbildung findet jetzt nur noch auf der rechten Bildhälfte statt. Und sie gelingt auch nur noch unter der Bedingung, dass mit dem „umgefallenen“ Stuhl zugleich ein erweiternder Hinweis mitgeliefert wird, der Richtung Grenzerfahrungen weist. In Aufstellungs-Phase 2 wird damit ein Mikrosystem sichtbar, das sich einerseits mit dem Sinn-Attraktor „Balance von Lust und Struktur“ ordnen lässt, denn schließlich ist die Kompetenz von Stuhl 3 Moderation von Sitzungen auch lustbetont und mit Stuhl 5 Orientierung geben durch Strukturen findet er seinen strukturgebenden Partner. Andererseits reicht diese Paarung nicht mehr aus, um ein uneingeschränkt kraftvolles Kompetenzgefühl zu entwickeln. Das symbolisiert der hinzutretende „umgefallene“ Stuhl. Die Person gerät in eine innere Spannung. Fragen der eigenen Identität, ihres Selbstbildes, ihres Leitungsverständnisses sowie ihres Rollenbildes werden aufgeworfen und fordern, ihr Bild von Führung und Leitung tiefergehend zu klären. Das Aufstellungsbild regt Paul an, in welche Richtung eine Aktualisierung seiner Potentiale gehen könnte. „Fragen nach der eigenen Autorität“, das „Vertrauen in das Gewicht eigener Worte“, der „Selbstanspruch an sich als Leitungsperson“ sowie „Sinnkonstrukte und Verletzungserfahrungen in Machtkonstellationen“ könnten nach weiterer Klärung suchen. Auch die Frage nach „Lusterfahrungen in distanzorientierteren Beziehungs-settings“ wie in Sitzungen und bei Gremienarbeit könnten wichtige Facetten selbsterfahrungsbezogener Beratungssequenzen werden, die dazu beitragen, in der bisherigen Erfahrung von Inkongruenz das lebendig aufbrechende Moment zu spüren, das ins Bewusstsein drängt. Das Selbst hat sich bislang immer wieder dahingehend aktualisiert, dass es Kompetenzfelder priorisiert, die lustvoll und zugleich unmittelbar Nähe stiftend wirken. Die Selbstaktualisierung wird immer wieder dazu drängen, dieser inneren Struktur zu folgen und das Außen daran anzupassen. Es trägt regressive Züge. Entwicklungspotentiale, die jetzt sichtbar werden, weisen in Richtung einer weiteren Ausbildung des „ErwachsenenIch’s“. Sind sie es, die nun ans Licht drängen? Solange sie aber untrennbar mit schmerzhaften Erinnerungen verbunden bleiben, ist zu vermuten, dass sie das Licht scheuen werden. Als innere Bewegungen scheinen sie aber danach zu drängen, neu verstanden zu werden. Die personenzentrierte Haltung folgt in ihrer Aufmerksamkeit der tastenden Suche der ratsuchenden Person. Sie schaut mit den Augen des anderen und versucht ganz in ihre Sphäre, in die Welt ihrer Gefühle und persönlichen Sinngebungen einzutreten und alles so zu sehen, wie sie es sieht, ohne dabei das „als ob“ als beraterische Differenz aufzugeben. Damit bildet die Aktualisierungstendenz der Person die Legende, aus der heraus aufbrechende Wege im Bild entdeckt und erkannt werden. Die Beratung folgt dieser sich im Augenblick der Beratung vollziehenden Aktualisierung.

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Die Person hat mit den externalisierten inneren Bildern einen Raum der Betrachtung eröffnet. Sie selber führt durch diese Galerie. Die Beziehung zum Berater hilft der Person, an einzelnen Bildfacetten zu verweilen, vor der sie alleine vielleicht aus Angst und Schmerz weiter fliehen würde. Das, was als lebendig, fühlend, flukturierend zu beschreiben ist, tritt hervor. Das Aufstellungsbild liefert erste Ideen, in welche Richtung die Gestaltwerdung der persönlichen Potentiale gehen kann: Tiefer in die Trauer hinein! Oder in die Aktivierung neuer lustvoll-naher beruflicher Kompetenzerfahrungen! In den Ausbau lustvoll-distanzierter Kommunikationskompetenz! In eine funktionale Rollenklärung oder neue Haltung zum eigenen Leitungshandeln! Die personenzentrierte Beratungshaltung schafft den Rahmen, damit die Person als „Struktur im Prozess“21 frei herausfinden kann, in welcher Richtung sich ihr potentielles Selbst weiterentwickelt. Die Beziehung zum Berater hilft der ratsuchenden Person, freundlich auf ihre inneren Mitteilungen zu schauen. Das Innere stellt sich ihr als ein sehr komplexer Prozess dar. Das Aufstellungsbild verhilft dazu, die Angst vor dieser Komplexität zu mindern, indem es Zugänge sichtbar macht und in die positive Erfahrung führt, dass die Person sich ihrem Selbst ordnend und verstehend zuwenden kann. Sie ist keinem Chaos ausgeliefert. Die Aufstellung selbst symbolisiert aber nichts Statisches. Sie ist in der Beratungsarbeit Teil eines Prozesses. Sie bietet Richtungen an, in die Entwicklungen gehen können. Sie legt keine Ziele fest. Die Person wird ermutigt, sich ihre eigenen inneren Informationsquellen zu erschließen und Facetten ihres Selbst, die ihr bislang nicht zugänglich waren, auszuhalten, zu akzeptieren und liebevoll zu betrachten. Damit stärkt sie das Vertrauen der Person, sich an sich selbst und ihrem inneren Selbstausdruck zu orientieren. In diesem Licht kann sich die Erfahrung manifestieren, dass die eigenen inneren Mitteilungen im Tiefsten vor allem eines sind: freundlich! Die Person erfährt sich selbst nicht mehr ausschließlich als Opfer des sich verändernden Außen. Sie wird wieder zum Akteur. Sie wird ermächtigt, die Autorenschaft ihres inneren beruflichen Entwicklungswegs zurückzugewinnen und aktiv zu gestalten. Sie beginnt zu bestimmen. Sie übernimmt verstärkt Verantwortung für sich selbst. Sie bestimmt, welche inneren Potentiale ans Licht der inneren Klärung gelangen und damit auch, dass Potentiale ins Licht nach Außen treten können. Aber allein die innere Klärung stärkt in nachhaltiger Weise das Gefühl der Ermächtigung! Und dies wirkt konstruktiv auf alle Begegnungen mit dem Außen ein und wird im Außen wiederum konstruktive Prozesse evozieren.

21 Schmid, Begegnung, 41.

Potentiale suchen (das) Licht!

III.2

179

Das geklärte Innere drängt nach Außen

Das folgende Beispiel soll zeigen, wie im geschützten Raum der Beratung der Weg ins Licht der organisationsbezogenen Öffentlichkeit vorbereitet werden kann. Dazu dient die Arbeit mit Zielbildern. Zielbilder sind dabei nicht statisch zu verstehen, sondern drücken die dynamische Ausrichtung des Selbst aus, das aus der Beziehung mit einem konkreten Gegenüber erwächst. Im Folgenden werden Ursprungs- und Zielbild in der Beratung dargestellt und erläutert. Ruth22 hat ihren pfarramtlichen Dienst zu jener Zeit begonnen, als Landeskirchen verstärkt nur eingeschränkte Dienstaufträge vergaben. Mit Anfang 50 drängt sie seit einiger Zeit auf einen vollen Dienstauftrag und sucht die Beratung auf, weil die Erfolglosigkeit ihrer Suche sie inzwischen zermürbt. Sie empfindet ihre Stellensituation als Ausdruck geringer Wertschätzung ihrer Leistung. Perspektive aus der Beobachtungssicht

1.

Wissensvermittlung, Unterricht

22 Auch an dieser Stelle gilt Ruth zum Schutz der Anonymität als Variable.

180 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10. 11. 12. 13.

Tilman Kingreen

Begeisterungsfähigkeit Kreativer Methodeneinsatz Ziele erreichen und durchsetzen Mitarbeitende führen Mentoratstätigkeit Verantwortung für Mitarbeitende Analysieren Produktiv und nachhaltig arbeiten Politisch-taktisches Geschick Für sich werben Gedanken verschriftlichen Öffentlichkeitsarbeit

Im Ursprungsbild werden alle Potentiale und Fähigkeiten in einer Reihe vor der Ich-Repräsentanz aufgebaut. Die schwach ausgeprägten Begabungen liegen ebenfalls in Reihung geordnet daneben. Die Betrachtung ihrer Aufstellung löst bei Ruth eine erregte Reaktion aus: „Ich bin doch so breit aufgestellt! Wieso entsteht dann dieses schmale Bild?“ Aber sie sagt auch: „Ja, ich bin zielorientiert und bringe viel mit. Ich will etwas erreichen. Das sehe ich auch in meinem Bild!“ Die Sinn-Attraktoren, die das Muster dieser Aufstellung verstehbar machen, werden mit Ruth erarbeitet. Biographische Erfahrungen und der professionsspezifische Werdegang treten ins Bewusstsein. Ruth stammt aus einer Familie von Selbständigen. Eigenverantwortlich zu handeln, produktiv zu arbeiten und dabei eigene Ideen zu generieren, stellen Werte da, die im Elternhaus hoch gehandelt und dort erlernt wurden. „Keine Krone tragen!“ sondern hinter dem Produkt, das die eigene Leistung hervorbringt, selber zurückzutreten, war ein ebenso verinnerlichter Satz, wie jener : „Das Produkt erobert sich den Markt.“ Ruth verlangt viel von sich. Sie hat ein Doppelstudium absolviert und weitere Zusatzkompetenzen erworben. Eckig und unbequem zu sein ist für sie Ausdruck eigener Profilbildung und Stärke, schafft Identifizierbarkeit. Das Außen (halbe Pfarrstelle) wirkt auf sie minimalisierend. Sie reagiert darauf mit ihrer Vorstellung von Produktivität. Sie initiiert zusätzliche Projekte und schafft sich weitere Foren, alles jeweils auf inhaltlich sehr anspruchsvollem Niveau. Der „Markt“ kirchlich Interessierter fragt dieses „Produkt“ entsprechend ab. Damit wird der elterliche Satz bestätigt. Er wirkt als Sinn-Attraktor und ordnet offenbar auch ihr Inneres.23 Der dienstrechtliche Rahmen blieb starr. In ihrer innerlichen Aufstellung kommt es wie zu einem Stau. Kompetenzen reihen sich aneinander, ,stapeln‘ sich förmlich übereinander und können dennoch das 23 Zur Macht der Erbschaft elterlicher Botschaften und der Erarbeitung befreiender Lösungswege vgl. die eindrückliche Darstellung bei Christiane Burbach, Generationenfrage 77– 88.

Potentiale suchen (das) Licht!

181

,hohe Ziel‘ einer neuen attraktiven Stelle nicht erreichen, während zugleich ihre Produktivität in den laufenden Arbeitsprozessen auf gleich hohem Niveau weiterläuft. Ihre Enttäuschung ist zu verstehen. Ihre Durchhaltekraft weist zugleich sehr hohe Resilienzwerte auf. Das Aufstellungsbild bringt aber auch den Schatten ins Bild: Alles, was nicht produktiv ist, wurde bislang aussortiert. So entsteht eine parallele Reihung schwach ausgeprägter Begabungen. Sie liegen unverbunden aber ebenso säuberlich aufgereiht ,daneben‘. Das Bild nimmt sie auf. Und sie strecken ihrerseits das Bild in die Breite. Die Beratung wendet sich mit gleichbleibender Wärme und Aufmerksamkeit auch diesen im Schatten liegenden Fähigkeiten, insbesondere dem Stuhl 13 Öffentlichkeitsarbeit und Stuhl 11 Für sich werben zu. In einer der nächsten Sitzungen fragt die Ratsuchende: „Wie geht das, für meine Sache zu werben, ohne als Person dahinter zu verschwinden?“ Ihr kommt eine konkrete Bewerbungssituation vor Augen. Wir stellen die Situation auf. Für Ruth wird dies zu einem attraktiven Zielbild.24 Perspektive aus der Seitenansicht

24 Bei Aufstellungen für Bewerbungszwecke verwende ich Aufstellungsfiguren, um die persönliche Sichtbarwerdung von Potentialen hervorzuheben. Die Potentiale selbst werden in Form von Würfeln neben den Figuren symbolisiert.

182 W A B C D E F G

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= Mitglieder des Wahlgremiums = Biblische Wissensvermittlung = Einfluss nehmen durch Dialog-Kompetenz = Bewahren und erneuern = Emotional-aufschließend Wissen weitergeben = Kirchliche Erfahrungen in Funktions- und Gemeindepfarrstelle = Diversity = Grenzüberschreitend kooperieren können

Ruth wählt drei Repräsentanten, die als Vertreter des Wahlausschusses das Außen vertreten. Damit setzt sie einen ersten wichtigen Impuls: Sie imaginiert das Außen mehrperspektivisch. Die größere Offenheit gegenüber dem, was sich in ihrem Inneren abspielt, wird von ihr jetzt bereits in Verbindung gebracht mit einer ähnlich großen Offenheit für Erfahrungen der äußeren Realität. Ihre eigene innere Aufstellung folgt in ihrem Design dieser aus der Wahrnehmung des Außen entwickelten Formation. Sie staunt jetzt bei der Betrachtung ihrer Aufstellung und stellt fest: „Meine Reihe hat Flügel bekommen.“ Die Längsachse erinnert sie weiter an ihre Ursprungsaufstellung. Das Gesamtbild ist aber breiter geworden. Sie wird für das Gegenüber sichtbarer und stellt sich jetzt auf verschiedenen Ebenen dar. Die einzelnen Kompetenzen bekommen dadurch ihr eigenes Gewicht. Bezogen auf den Attraktor „Produktstolz“ wird damit eine wesentliche Veränderung sichtbar. Bislang ist offenbar eine Ordnung in Geltung, die ,Produktivität‘ ausschließlich auf das externalisierte ,Produkt‘ bezog. Jetzt aber werden die dahinterstehenden kognitiven, motivationalen und emotionalen Leistungen als jeweilige produktive Einzelleistung sichtbar, die diese Produkte überhaupt erst möglich machen. Der „Produktstolz“ wandelt sich zur ganzheitlichen Verkörperung einer grundlegend produktiven Gesamthaltung. Sie avanciert zu einem Gesamtausdruck der Persönlichkeit. Der Attraktor ,Produktstolz‘ entwickelt sich in Richtung ,Freude an der eigenen Produktivität‘. So erklärt sich vielleicht dieses offene Bild, das zugleich ein sehr stabiles System darstellt. In den einzelnen Kompetenzen, die jetzt als Mikrosysteme sichtbar werden, manifestiert sich dieselbe Ordnung, die das Gesamtbild als Makrosystem bestimmt. Das wirkt formgebend. Substanziell verarbeitet das Zielbild erinnerte Potentiale wie sie im Ursprungsbild aufgestellt wurden. Und es werden neue hinzugefügt. Die Beschreibung der Potentiale zeichnet jetzt eine dynamischere Sprache aus, die stärker auf das eigene Handeln in dieser Kompetenz fokussiert. Figur A Biblische Wissensvermittlung greift zurück auf die Kompetenzen, die im Ursprungsbild die Stühle 1, 3 und 8 darstellen, Figur B Einfluss nehmen durch Dialog-Kompetenz auf Stühle 5 und 6, Figur C Bewahren und erneuern auf Stühle 8 und 9, Figur D Emotional-aufschließend Wissen weitergeben auf Stuhl 2 und Figur G Grenzüberschreitend kooperieren können auf Stühle 1 und 8. Neu ist Ebene 4 mit den Figuren E Kirchliche Erfahrungen und F Diversity. Hier werden Erfahrungen als

Potentiale suchen (das) Licht!

183

Ressource reklamiert. Damit würdigt die Person eigene Prozesse, die sie in der Arbeit an sich selbst entdeckt hat. Es fällt auf, dass sogar Erfahrungen, die in der Pfarrstelle gesammelt wurden, benannt werden. Plötzlich wird das, was bislang nur negativ, kränkend und aus ihrer faktischen Begrenzung und Einengung heraus erlebt wurde, auch als Entwicklungsraum beschreibbar und nach Außen in seiner nutzenstiftenden Funktion, die sie bei allem Kränkenden für sie dennoch auch hat, sichtbar gemacht. Diversity markiert für Ruth auch einen neu entdeckten Erfahrungswert. Sie spürt, wie sie ihre spezifische Form entwickelt, um sich und ihre Kompetenzen sichtbar zu machen und erkennt darin auch eine Fähigkeit: Sie kann jedem eine vergleichbare Eigenständigkeit und Individualität in seiner Entwicklung zugestehen. Dies kann auf vielen Gebieten wie Ehrenamtsgewinnung, Aufgabenzuschnitte oder Seelsorge von ihr dargestellt und entfaltet werden. Mit diesem Zielbild erfährt sich die Person als eine ,Struktur im Prozess‘. Sie trägt die Tendenz zur Entwicklung in sich.25 Es bedarf der Beziehung, damit diese Entwicklung tatsächlich stattfindet. Mit ihrer Aufstellung tritt sie bereits in eine von ihr konstruktiv entworfene Beziehung zu einem konkret vorgestellten Außen und sie wird darin immer lebendiger. Auf fünf Ebenen wird eine differenzierte und auf eine klare Identität verweisende Sichtbarkeit hergestellt. Fachlichkeit ist ihr Kernprofil und steht dabei weiter deutlich priorisiert auf der vordersten Ebene (Figur A). Die dahinter stehende Dialog- und Innovationskompetenz (Figuren B und C) wird gleichzeitig sichtbar. Ihr folgt auf Ebene 3 die Kompetenz emotional aufschließender Wissensvermittlung. Die Figuren A, D und G erinnern an die „ursprüngliche“ Längsachse. Sie bleibt weiter eine identitätsbildende Kraft. Diese Längsachse ließe sich so beschreiben: „Ich biete fachlich Hochwertiges, kann dies in Gottesdienst, Unterricht und Veranstaltungen emotional erschließend vermitteln und bin durch meine dahinterstehende Doppelqualifikation für einen grenzüberschreitend offenen Dialog gut ausgerüstet.“ Das neue Zielbild wurde möglich, weil die Ratsuchende ausgehend vom Ausgangsbild die beiden dort „umgekippt“ liegenden Stühle 13 Öffentlichkeitsarbeit und 11 Für sich werben als zu ihr gehörige Ressource erkannte und aus dieser Entdeckung heraus Interesse empfindet, darin neue Erfahrungen zu sammeln. Die Ressource war bislang durch Leitsätze aus der Herkunftsfamilie verschattet worden. Die Aktualisierungstendenz bewirkt, dass sich diese Ressource im inneren System aufrichtet. Dadurch gerät die gesamte innere Aufstellung in Bewegung. Dies geschieht überraschend und ist nicht von außen gesteuert. Wie konstruktiv die Aktualisierungstendenz nun wirkt, wird auch daran ablesbar, dass sich mit diesem Zielbild eine weitere, ursprünglich auch als 25 Vgl. Schmid, Begegnung, 41.

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Defizit beschriebene Kompetenz: Politisch-taktisches Geschick (Stuhl 11) bereits schon konstruktiv realisiert und sich zumindest in diesem Zielbild im Blick auf die konkreten Adressaten eindrücklich vollzieht. Bislang als beschwerlich erlebte Erfahrungen werden zu einer hilfreichen Ressource und verlieren damit ihren Schrecken und ihre Bedrohung. Die Ratsuchende zieht für sich Bilanz, blickt in die Zukunft und nimmt dabei noch einmal Bezug auf das Ausgangsbild: „Aus meinem Stühle-Lager hole ich mir jetzt für die und die Situation meine Stühle heraus. Ich weiß, in meinem Stühle-Lager befindet sich ein schöner Schatz; da steht gut was drin. Und für die eine Situation brauche ich diese Stühle und für die andere jene.“ Sie ist nicht allein auf das Zielbild fixiert. Sie zieht aus beiden Bildern Kraft. Das Zielbild bietet prospektive Sichten auf die Menge der Potentiale, die im Ursprungsbild in ihrer Fülle sichtbar werden. Bilder wirken. Und sie wirken scheinbar selbstermächtigend und ermutigend. Die Ratsuchende fühlt sich gewappnet, mit ihren Potentialen ans Licht zu treten. Und sie fühlt sich souverän, gezielt jeweils gerade das ans Licht zu bringen, was in der jeweiligen Situation gefordert und sinnvoll ist. Sie kann damit jetzt ein grundsätzlich selbstbestimmteres und produktives Verhältnis zu allen ihren Potentialen entwickeln.

IV.

Resümee

Die personenzentrierte Systemtheorie bietet einen Theorierahmen, der die Person und die Organisation als jeweils dynamische Systeme versteht. Beide können gegenseitig Impulse aufnehmen und diese in je spezifisch ausgerichtete eigene Sinnkonstrukte wandeln. Die Theorie evoziert damit Vertrauen! Dieses Vertrauen richtet sich auf die Person und ihre Möglichkeiten, es richtet sich auf die Möglichkeiten der Organisation und es richtet sich auf die Möglichkeiten ihres beiderseitig konstruktiven Zusammenwirkens. Bezogen auf die von Spannungen, Rückschlägen und Verletzungen geprägten Realitätserfahrungen bewährt sich dieses Vertrauen darin, dass es den Blick auf die konstruktiven Verarbeitungsleistungen auch sehr belastend wirkender Erfahrungsinhalte richtet. Die Theorie vermittelt ein grundsätzlich positives Verhältnis zum Phänomen beruflichen Erfolgs. Zugleich gibt sie Erfahrungen von Leid, Schmerz und Trauer Raum. Sie tabuisiert solche beruflichen Erfahrungen nicht und eröffnet zugleich einen Zugang zu der menschlichen Sehnsucht, beruflich erfolgreich sein zu wollen. Von der Beraterin und dem Berater fordert ein solches Verständnis von Erfolg kein Geschick oder eine besondere Genialität in der Kenntnis „pfiffiger“ Interventionsmethoden, um Menschen „aus dem Tal der Tränen wieder zum

Potentiale suchen (das) Licht!

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Erfolg zu führen“, sondern vielmehr die Fähigkeit und die Intuition der Einfühlung. Sie erwächst aus einem kompetenten Erfassen der inneren Erlebniswelt der Ratsuchenden. Damit rücken die von Carl Rogers entwickelten drei Grundhaltungen uneingeschränkter Empathie, bedingungsloser Akzeptanz und eigener Wahrhaftigkeit in das Zentrum dieser beraterischen Disziplin. Sie schaffen ein Klima des Vertrauens; in diesem gedeihlichen Schutzraum können Potentiale wieder dem Bewusstsein zugänglich werden und folgen ihrer Grundtendenz: Potentiale suchen Licht! Der Ansatz weist ein tiefes Grundvertrauen in die Konstruktivität allen Lebens auf. Er stellt das Werden und weniger das Geworden-Sein, das Wachsende und nicht das Vergangene in den Fokus seines Interesses. Damit fördert er eine nach vorne gerichtete, wertschätzende Kommunikationskultur und trägt zu einem offenen, vertrauensstiftenden Betriebsklima bei. Das trifft das Interesse der zukünftigen Generation. Sie erwartet kreative Entfaltungsmöglichkeiten im Beruf. Die Aufstellungsarbeit gibt Einblick in die innere Architektur und Dynamik beruflicher Kompetenz. Die „Generation Y“ könnte diese berufliche Selbstklärung verstärkt aufsuchen, um die von ihr angestrebten kreativitätsoffenen Arbeitsfelder und -formen besser identifizieren und dann auch kompetent ausfüllen zu können. Der Ansatz regt Person und Organisation zu Entwicklungen an. Potentiale suchen schließlich „das“ Licht; sie wollen im Außen wirksam werden! Geraten Entwicklungen ins Stocken, so hat sich gezeigt, dass diese Grundtendenz dennoch erhalten bleibt und gefördert werden kann. Diese Erfahrung kann zu einer Ehrfurcht vor dem Geheimnis des Lebens anleiten. EhrFurcht beschreibt dabei mit seinem Wortstamm bereits die Bereitschaft, die Furcht zu ehren; ihr standzuhalten und nicht auszuweichen. Sofern Beratung an solchen ergreifenden Erfahrungen Anteil nehmen darf und miterleben kann, wie aus der Tiefe sehr schmerzhafter beruflicher und biographischer Erfahrungen verschüttet geglaubte Potentiale dennoch in dieser konstruktiven Richtung wieder zum Licht aufbrechen, dann wird es vorstellbar, dass die Ehrfurcht vor dem Leben den Rang eines „Sinn-Attraktors“ für die Beratungsarbeit gewinnt. Dann wäre auch eine berufliche Personalberatung im Tiefsten an der PersonWerdung des Menschen orientiert und diente damit der Person-Werdung des Personals in einer Organisation. Auch eine solche Sicht auf das moderne Arbeitsleben sucht vielleicht das Licht und könnte unseren Begriff von Arbeit um diese elementare Erfahrungsdimension bereichern.

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Literatur Bund, K./Heuser, U. J./Kunze, A., Wollen die auch arbeiten? Junge Beschäftigte verlangen eine neue Arbeitswelt, in: http://www.zeit.de/2013/11/Generation-Y-Arbeitswelt, abgerufen am 30. 03. 2013. Burbach, Ch., „Die Väter haben saure Trauben gegessen und den Kindern … ?“ (Jer 31,29). Wie ungelöste Probleme in der Familie weiter gegeben werden, in: Ch. Burbach/ F. Heckmann (Hg.), Generationenfrage. Theologische Perspektiven zur Gesellschaft des 21. Jh., Göttingen 2007, 77 – 88. Kriz, J., Personenzentrierte Systemtheorie – Grundfragen und Kernaspekte, in: A. von Schlippe/W. Ch. Kriz (Hg.), Personenzentrierung und Systemtheorie. Perspektiven für Psychotherapeutisches Handeln, Göttingen 2004, 13 – 67. Rogers, C. R., Eine Theorie der Psychotherapie, der Persönlichkeit und der zwischenmenschlichen Beziehungen. Entwickelt im Rahmen des klientenzentrierten Ansatzes. Übersetzt von G. Höhner/R. Brüseke, Köln 31991. –, Entwicklung der Persönlichkeit. Psychotherapie aus der Sicht eines Therapeuten. Übersetzt von J. Giere, Stuttgart 61988. Schlippe, A. von/Schweitzer, J., Lehrbuch der Systemischen Therapie und Beratung I. Das Grundlagenwissen, Göttingen 2012. Schmid, P. F., Begegnung von Person zu Person. Die anthropologischen Grundlagen Personenzentrierter Therapie, in: J. Kriz/Th. Slunecko (Hg.), Psychotherapie. Ansätze und Akzente, Bd. 2: Gesprächspsychotherapie. Die therapeutische Vielfalt des personenzentrierten Ansatzes, Wien 2007, 34 – 48.

Spiritualität, Erkenntnis und Erinnerung

Johannes von Lüpke

Die Seele. Raum der Gotteserkenntnis und Selbsterkenntnis

I.

Eine metaphorische Annäherung. See und Seele

Ob das deutsche Wort „Seele“ etymologisch mit dem Wort „See“ zusammenhängt oder ob es sich hier nur um eine zufällige Gemeinsamkeit im Lautbestand der beiden Wörter handelt, in jedem Fall hat sich die See- und Wassermetaphorik als überaus aufschlussreich zur Erkenntnis der Seele erwiesen. Goethes Gedicht „Gesang der Geister über den Wassern“ formuliert die These: „Des Menschen Seele gleicht dem Wasser“, um dann das Gleichnis in mehrfachen Hinsichten auszumalen und auszudeuten: „Vom Himmel kommt es [sc. das Wasser],/Zum Himmel steigt es,/Und wieder nieder/Zur Erde muß es,/Ewig wechselnd.“1 So wie das Wasser zwischen Himmel und Erde in der Doppelbewegung des Niederschlags und des Aufstiegs begriffen ist, so ist auch die Seele in einer doppelten Bewegung auf Himmel und Erde bezogen. Im Wechsel ihrer Zustände erfährt sie ihre Zeitlichkeit und zugleich ihre Ewigkeit, wenn denn die beiden Bewegungen einander immer wieder ablösen. In anderer Weise und durchaus im Widerspruch zur Vorstellung einer ewigen Wiederkehr des Gleichen weiß auch die christliche Anthropologie um das Zusammenkommen von Zeit und Ewigkeit in der menschlichen Seele. Die Seele ist der Raum, in dem die Unbeständigkeit des menschlichen Lebens erfahren und erlitten wird. Hier erfährt sich der Mensch Mächten ausgeliefert, die auf ihn einwirken, ohne dass er sie in seine Gewalt bringen könnte. Hier kann aber auch das Ewige in der Zeit gegenwärtig werden, sei es nun, dass es in das zeitliche Leben einfällt, oder sei es, dass sich die Zeit zur Ewigkeit öffnet. Mit der Wassermetaphorik kann so der fließende Charakter des menschlichen Lebens verdeutlicht werden, bis hin zu der Dramatik eines Sturzbaches, der von einer „hohen,/Steilen Felswand“ herunter strömt; es kann aber auch in der

1 Gesang der Geister über den Wassern (1779), in: J. W. Goethe, Gedichte, Bd. 1, 318.

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Metapher des Sees eine relative Beständigkeit zum Ausdruck kommen, wenn denn „in dem glatten See/Weiden ihr Antlitz/Alle Gestirne.“2 Übertragen auf die Wirklichkeit der Seele heißt das: Dort, wo die Seele sich sammeln kann und zur Ruhe kommt, taugt sie zum Spiegel des Himmels. In der Logik des Bildes wird ein Zusammenhang erkennbar, der in der Logik begrifflicher Distinktionen paradox erscheint: Hier kommen Endlichkeit und Unendlichkeit, Immanenz und Transzendenz zusammen. Im Gleichnis eines Sees erscheint die Seele als ein begrenzter, endlicher Raum, in der Horizontale eingefasst durch das sie umgebende Ufer, in der Vertikale gehalten von einem mehr oder weniger tief liegenden Grund und auf der Oberfläche dem offenen Himmel begegnend.3 So wenig See und Seele ihre Umgebung in sich einholen und fassen können, so sehr sind sie doch auf das Außerhalb ihrer Endlichkeit bezogen: sie verdanken sich der Quelle, aus der ihnen der Zustrom neuen Lebens widerfährt, und sie haben ihr Telos in einem Jenseits, das man traditionell gern in den Unendlichkeitsmetaphern des Meeres4 und des Himmels ausgedrückt findet. Ob die Seele in ihrer Endlichkeit zum Spiegel der himmlischen Unendlichkeit wird, hängt von ihrer ,Gestimmtheit‘ ab. Sie ist ja – und auch darin gleicht sie dem See – unterschiedlichen Einwirkungen ausgesetzt, die sie in Unruhe halten und in verschiedene Richtungen treiben können. Was in der äußeren Natur die Stürme, Winde und Strömungen sind, das sind im Haushalt der Seele die Affekte, die Gefühle und Stimmungen. Die Seele hat ihre unterschiedlichen Temperaturen, Spannungen und ,Aggregatzustände‘. In seiner Vorrede auf den Psalter von 1528 hat Luther diese Situation der Seele 2 Ebd. 3 Im Blick auf weitere metaphorische Motive sei beispielhaft auf Goethes Gedicht „Auf dem See“ verwiesen, in dem das Umgebensein und Aufgehobensein in der Natur auf die Aktualität des Schöpferischen hin ausgelegt wird; vgl. Goethe, Gedichte (s. Anm. 26), 169 und 297. 4 Rückblickend heißt es bei Friedrich Nietzsche: „Einst sagte man Gott, wenn man auf ferne Meere blickte; nun aber lehrte ich euch sagen: Übermensch.“], Bd. 4, 108 [Zarathustra II, Auf den glückseligen Inseln]).–Das Meer als Gottesmetapher bleibt freilich in der Dichtung auch weiterhin faszinierend. Dafür nur ein Beispiel aus der jüngsten Literatur: „Ich erlebe einen Moment der Geborgenheit […] immer dann, wenn ich mich am Meer oder an einem anderen Gewässer befinde. Und die Sonne sorgt dafür, dass kleine Lichtkristalle auf dem Wasser sichtbar werden. Ich weiß nicht, wie ich’s erklären soll. Ich stelle mir immer vor, dass sie für jeden anders leuchten. Dass ihre Form, ihre Anordnung, ihre Choreographie dem Auge des Betrachters angepasst sind. Dass das Leuchten, das ich in dem jeweiligen Moment auf der Wasseroberfläche wahrnehme, mir auf eine Weise ganz persönlich zugedacht ist. Und das ist ein gutes Gefühl.“ (Benjamin Lebert, 45). Man kann hier in poetischer Sprache ausgedrückt finden, was die Theologie meint, wenn sie Gott in seiner Unendlichkeit zugleich als „Gott für mich“ zu verstehen sucht, mithin als den Gott, der sich jedem Menschen in seiner Individualität zuwendet und mit dem jeder Mensch in seiner je besonderen Lebenssituation, mit seiner je individuellen Seele zu kommunizieren vermag. Dass und wie „Gott und die Seele“ aufeinander bezogen sind und zusammenkommen können, soll im Folgenden weiter bedacht werden.

Die Seele. Raum der Gotteserkenntnis und Selbsterkenntnis

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eindrücklich vor Augen gestellt und dabei nicht zufällig das Bildfeld des Meeres aufgenommen: Ein menschlich Herz ist wie ein Schiff auf einem wilden Meer, welches die Sturmwinde von den vier Orten der Welt treiben. Hier stößt her Furcht und Sorge vor zukünftigem Unfall; dort fähret Grämen her und Traurigkeit von gegenwärtigem Übel. Hier weht Hoffnung und Vermessenheit von zukünftigem Glück; dort bläset her Sicherheit und Freude in gegenwärtigen Gütern. Solche Sturmwinde aber lehren mit Ernst reden und das Herz öffnen und den Grund herausschütten.5

Bezogen auf diese Situation stellt sich die Aufgabe der Seelsorge, die dazu beitragen kann, dass sich das stürmische Meer in einen himmlischen Paradiesgarten verwandelt. Auch dazu leisten die Psalmen Sprachhilfe: „Da siehest du allen Heiligen ins Herz wie in schöne lustige Gärten, ja wie in den Himmel, wie feine, herzliche, lustige Blumen darinnen aufgehen von allerlei schönen, fröhlichen Gedanken gegen Gott und seine Wohltat.“6 Wie die damit gestellte Aufgabe der Seelsorge wahrgenommen wird, hängt nicht zuletzt davon ab, was unter der Seele verstanden wird. Was ist die Seele? Wie verhält sie sich zu ihrem „Grund“? Und wenn wir diesen Grund in Gott erkennen, stellt sich die weitere Frage, ob und in welchem Sinn die Seele auf Gott bezogen ist. Ist dieser Bezug so wesentlich, dass die Seele, die sich in sich selbst zu begründen sucht, letztlich sich selbst verfehlen muss? Wie sind Gott und die Seele aufeinander bezogen?

II.

Gott und die Seele. Das klassische Programm (Augustin)

Gott und die Seele begehre er zu erkennen, sagt Augustin in den „Selbstgesprächen“; und auf die Nachfrage hin, ob es nicht noch mehr Wissenswertes für ihn gäbe, fügt er bekräftigend hinzu: „überhaupt nichts“7. Es ist so, als würde neben diesem herausragenden, einzig interessanten Doppelgegenstand alles andere bedeutungslos, belanglos. Wenn nach Gott und der Seele gefragt wird, tritt die Welt in den Hintergrund. Sie wird zur Nebensache. Damit ist nicht bestritten, dass auch die Welt Gegenstand des menschlichen Wissens ist. Aber dieses Wissen ist doch kategorial anderer Art als das Wissen um Gott und die Seele. Das eine fällt in den Bereich der Wissenschaft von den zeitlichen Dingen; das andere ist Sache der Weisheit, die sich auf das Ewige versteht. Nun gehört zwar auch die Seele zu diesem zeitlichen Leben; aber sie ist doch zugleich der Ort, an dem dieses über sich selbst hinausweist. Sie ist der Ort, der in der 5 Bornkamm, Heinrich (Hg.), Luthers Vorreden zur Bibel, Frankfurt a.M. 1983, 67. 6 Ebd. 7 Augustin, Soliloquia I,2,7: „Deum et animam scire cupio. Nihilne plus? Nihil omnino!“

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Endlichkeit dieses irdischen und zerbrechlichen Lebens offen ist für die Wirklichkeit Gottes. In der Seele ist der Mensch ausgerichtet auf das glückselige Leben in Gott. So ist er geschaffen, auch wenn er in seiner durch die Sünde bestimmten Existenz diese Bestimmung nicht wahrhaben will. „Du hast uns geschaffen hin zu dir, und unruhig ist unser Herz, bis es Ruhe findet in dir“8. Gott ist der Raum, in den die Seele einzukehren hofft; und zugleich ist die Seele der Raum, in den Gott einkehrt. Gott und die Seele kommen so zusammen, dass sie in doppelter Weise ineinander liegen. Nur in dieser Beziehung werden sie erkannt. Je für sich betrachtet, bleiben sie unerkennbar. Also: Will der Mensch sich selbst erkennen, muss er sich auf Gott hin überschreiten. Will er Gott erkennen, muss er in sich selbst einkehren. In der Wendung nach innen vollzieht sich der Überschritt in die Transzendenz. Nirgendwo sonst. Die Welt als solche zeugt zwar davon, dass sie von Gott geschaffen ist. Aber um Gott selbst zu erkennen, erweist sich die Erkenntnis der Außenwelt als unzureichend. In dieser Hinsicht gilt der Vorrang der Innenwelt. So heißt es in den Confessiones: Ich wandte mich auf mich und sprach zu mir : wer bist nun du? Und gab zur Antwort: Mensch. Und da sind in mir mir zugegen Körper und Seele, eines draußen, das andere drinnen. Was von beiden ist’s, wo ich meinen Gott suchen soll, den ich ja schon durch den Körper von der Erde bis zum Himmel gesucht hatte, soweit ich als Boten die Strahlen meiner Augen aussenden konnte? Aber besser ist, was innen ist. Denn alle körperlichen Boten brachten Meldung dem der den Vorsitz hat und urteilt über die Antworten des Himmels und der Erde und aller Dinge in ihnen, wenn sie sagen: ,nicht wir sind Gott, und er selbst hat uns erschaffen.‘ Der innere Mensch hat dies erkannt durch den Dienst des äußeren; ich, der innere, habe dies erkannt, ich, der Geist, durch die Sinne meines Körpers.9

Der Seele, dem inneren Menschen, gebührt der Vorrang vor dem Leib; sie ist „das Bessere“, weil sie „die Masse des Körpers bewegt und ihm Leben verleiht, wie kein Körper es einem anderen Körper gibt.“ Aber auch sie ist noch auf eine höhere Instanz hin zu relativieren: „Dein Gott aber ist auch dir des Lebens Leben.“10 Gott selbst hat seinen Ort „über dem Haupt der Seele“; aber um dorthin zu gelangen, muss der Mensch sich zunächst in die Seele begeben und in ihr und durch sie aufsteigen.11

8 9 10 11

Augustin, Confessiones I,1,1. Augustin, Confessiones X,6,9. Augustin, Confessiones X,6,10. Augustin, Confessiones X,7,11.

Die Seele. Raum der Gotteserkenntnis und Selbsterkenntnis

III.

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Gott oder die Seele. Die moderne Entkoppelung (Nietzsche)

Augustin hat das Paradigma geprägt, von dem sich die abendländische christliche Theologie bis in die Neuzeit hinein hat leiten lassen. Indem der Mensch sich selbst zu erkennen sucht, findet er sich geradezu notwendig auf Gott verwiesen. Noch im 18. Jh. konnte Lessing konstatieren: „Sie, die Selbsterkenntnis, war allezeit der nächste Weg zu der Religion, und ich füge hinzu, der sicherste.“12 Eben im Zeitalter der Aufklärung wird jedoch dieser Weg auch fundamental in Frage gestellt. Führt die Selbsterkenntnis von selbst, in ihrer eigenen Konsequenz hin zu Gotteserkenntnis? Kann die Seele nicht auch atheistisch verstanden werden? Und ist sie überhaupt ein Gegenstand der Erkenntnis? Die Abkehr vom augustinischen Paradigma vollzieht sich zunächst unter dem Vorzeichen einer erkenntnistheoretischen Skepsis. In einem Dialog Diderots wird die Frage aufgeworfen: „Was halten Sie von der Seele?“ Und die Antwort, die man auch als Antwort auf Augustins eingangs zitierte Aussage lesen kann, lautet: „Ich spreche nicht von dem, was ich nicht zu erkennen vermag.“ Genauer wird dieses Nichtwissen ausgelegt als ein Nichtwissen der Substanz. „Da ich ihre Substanz nicht kenne, wie sollte ich wissen, ob sie unsterblich ist?“13 Bestritten wird mithin nicht jegliches Wissen von der Seele, wohl aber die Vorstellung, die Seele sei substanzhaft zu denken als selbstständiger Träger von Eigenschaften. Die Abkehr gilt der Ontologie der Seele oder der metaphysischen Psychologie. Und sie vollzieht sich zugleich als Hinwendung zur empirischen Psychologie. Die Seele ist ein Phänomen der Natur, das als solches genauso untersucht werden kann wie andere Phänomene. Was den seelischen Phänomenen aber zugrunde liegt, was sie an sich ist, entzieht sich der Erkenntnis. Seit der Aufklärung hat sich eine empirische Psychologie herausgebildet, von der ein Kritiker schon im 19. Jh. gesagt hat, sie sei eine Psychologie ohne Seele. Seelische Phänomene werden untersucht, sofern sie an objektiven Daten erkennbar sind. Es geht um das Seelische im Spiegel seiner materiellen Äußerungen oder Bedingungen. Die Psychologie verbündet sich mit der Neurologie, in der jüngeren Entwicklung mit der Neurobiologie. Ihr Begriff von Wissenschaft folgt dem der Naturwissenschaften. An die Stelle der alten Metaphysik der Seele ist weithin eine Physik der Seele getreten. Aber braucht diese naturwissenschaftliche Psychologie überhaupt noch den Begriff der Seele? Bezeichnend dürfte das folgende Votum des Neurobiologen Francis Crick sein: Ein moderner Neurobiologe braucht die religiöse Vorstellung einer Seele nicht, um das Verhalten von Menschen und anderen Lebewesen zu erklären. 12 Gotthold Ephraim Lessing, Werke, Bd. 1, 170. 13 Zitiert nach Max Horkheimer, Zur Idee der Seele, in: H. J. Schultz (Hg.), Was weiß man von der Seele? Erforschung und Erfahrung, Stuttgart/Berlin 1967, 11 – 19, Zitat 15.

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Man erinnert sich hier daran, wie Napoleon, als Pierre-Simon Laplace ihm das Sonnensystem erklärt hatte, fragte: „Und wo kommt Gott in all das hinein?“ Worauf Laplace erwiderte: „Sire, ich brauche diese Hypothese nicht.“14

Am radikalsten dürfte Friedrich Nietzsche diesen Paradigmenwechsel von der Metaphysik zur Physik der Seele proklamiert und vollzogen haben. Seine Parole lautet „Hoch die Physik!“15 Wir müssen […] die besten Lerner und Entdecker alles Gesetzlichen und Nothwendigen in der Welt werden: wir müssen Physiker sein, um […] Schöpfer sein zu können, – während bisher alle Werthschätzungen und Ideale auf Unkenntnis der Physik oder im Widerspruch mit ihr aufgebaut waren. Und darum: Hoch die Physik! Und höher noch das, was uns zu ihr zwingt, – unsre Redlichkeit!16

Darin liegt das Hauptinteresse: die Natur so zu erkennen, dass wir sie verändern können, dass wir etwas Neues aus ihr machen können und dadurch zu Schöpfern werden. Erhebt der Mensch sich damit selbst zum Schöpfer über die Natur, dann werden für ihn die Themen der alten Metaphysik „Gott und die Seele“ uninteressant. Sie fallen aus dem Kanon dieser Wissenschaft heraus. Wer sich noch mit ihnen befasst, beweist damit nur, dass er noch einem eigentlich schon überwundenen Denken verhaftet bleibt. Ihm geht es so wie Kant, über den Nietzsche spottet, er habe sich „das Ding an sich“ erschlichen und sei „zur Strafe dafür […] vom ,kategorischen Imperativ‘ beschlichen“ worden und „mit ihm im Herzen [habe] er sich wieder zu ,Gott‘, ,Seele‘, ,Freiheit‘ und ,Unsterblichkeit‘ zurückverirrt, einem Fuchse gleich, der sich in seinen Käfig zurückverirrt“17. Die Metaphysik als Rückzugsort und zugleich als Ort der Gefangenschaft – so stellt es sich in dieser Sicht dar. Der Weg zur schöpferischen Freiheit aber wird durch die Physik gebahnt. Indem sie die Natur in ihrer Gesetzmäßigkeit und Notwendigkeit erforscht, indem sie erkennt, warum es sich so und nicht anders verhält, entdeckt sie zugleich Möglichkeiten der Veränderung. Eine Welt, die man analysiert und rekonstruiert, kann man auch nach den erkannten Gesetzen synthetisieren und konstruieren. Das gilt nicht zuletzt auch für die Innenwelt der Seele. Auch sie stellt sich in dieser wissenschaftlichen Perspektive als etwas Machbares dar. Zweierlei ist hier zu betone. Zum einen: Die Seele als ein „etwas“ anzusehen und zu behandeln, das heißt ihr Personalität und Subjektivität abzusprechen. In Nietzsches Formulierung:

14 Zitiert nach Josef Quitterer, Ist unser Selbst Illusion oder neurobiologische Realität?, 79 – 97. Zitat 81. 15 KSA 3, 560 (Fröhliche Wissenschaft, Nr. 335). 16 KSA 3, 563 f. 17 KSA 3, 562.

Die Seele. Raum der Gotteserkenntnis und Selbsterkenntnis

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„Leib bin ich ganz und gar, und Nichts ausserdem; und Seele ist nur ein Wort für ein Etwas am Leibe.“18 Zum anderen: Das Etwas der Seele ist eine machbare, eine veränderbare, eine abhängige Größe. In dem Maße, in dem wir ihre Funktionsweise durchschauen, können wir sie verbessern. Neurodegenerative Prozesse können aufgehalten, positive Leistungen können unterstützt, vielleicht sogar neue Fähigkeiten induziert werden. Hier eröffnet sich das weite Feld medizinischen Handelns bis hin zu den Möglichkeiten des Neuro-Enhancement. Über die neuronale Basis des Gehirns lässt sich das Potential der Seele steigern und optimieren. Zeichnet sich hier die Möglichkeit einer Seele nach Entwurf ab, so stellt sich freilich die Frage, wer für diesen Entwurf verantwortlich ist. Der Naturalisierung der Seele zu einem machbaren Etwas korrespondiert ein gesteigerter schöpferischer Anspruch, der im Gegenüber zur Natur erhoben wird und damit eigentümlich ortlos erscheint. Aber gehört nicht auch dieses schöpferische Bewusstsein, das sich den Stoff, aus dem sich die Seele aufbaut, unterwirft, auch zur Seele? Ist somit die Seele beides: Geschöpf und Schöpfer? Nietzsche war sich dieser Dialektik durchaus bewusst. Die Losung „Hoch die Physik!“ ist der Metaphysik entgegengesetzt, aber indem sich mit dieser Physik der Anspruch der schöpferischen Selbsthervorbringung verbindet, tritt sie auch das Erbe der alten Metaphysik an. So wie der Physiker zum Schöpfer wird, so soll der Mensch überhaupt die Stelle Gottes einnehmen und den Tod Gottes als seine eigene Tat vollziehen. Die Seele, in der klassischen Theologie Augustins der Ort der Gotteserkenntnis und der Gottesbeziehung gedacht, wird damit zur „Mördergrube“19, also zu dem Ort, an dem die Beziehung zum Schöpfer aufgekündigt und in eine Selbstbeziehung eingeholt wird. An die Stelle der Konjunktion „Gott und die Seele“ tritt die Disjunktion „Gott oder die Seele“. Der Mensch wird sich selbst zum Gott. „Einst sagte man Gott, wenn man auf ferne Meere blickte; nun aber lehrte ich euch sagen: Übermensch.“20 Der „Übermensch“ im Sinne Nietzsches ist derjenige, dessen Seele sich in radikaler Weise in sich selbst zu sammeln unternimmt, um sich nicht an ein Außerhalb in Gott zu verlieren. Nun gilt: „Das neue Große nicht über sich, nicht außer sich sehen, sondern aus ihm eine neue Funktion unser selbst machen. Wir sind der Ozean, in den alle Flüsse des Großen fließen müssen.“21 Die Seele entwirft sich als „Umfang der Umfänge“22In der Metaphorik des Sees gibt Nietzsche diese Umkehrung folgendermaßen zu bedenken: 18 KSA 4, 39 (Zarathustra I, Von den Verächtern des Leibes). 19 So die hellsichtige Diagnose Johann Georg Hamanns; vgl. dazu Johannes von Lüpke, Der Aberglaube der Vernunft, 190 – 205. 20 S. oben Anm. 29. 21 KSA 9, 621. 22 KSA 4, 279 (Zarathustra III, Von der großen Sehnsucht).

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Johannes von Lüpke

E x c e l s i o r ! –,Du wirst niemals mehr beten, niemals mehr anbeten, niemals mehr im endlosen Vertrauen ausruhen – du versagst es dir, vor einer letzten Weisheit, letzten Güte, letzten Macht stehen zu bleiben und deine Gedanken abzuschirren – du hast keinen fortwährenden Wächter und Freund für deine sieben Einsamkeiten – du lebst ohne den Ausblick auf ein Gebirge, das Schnee auf dem Haupte und Gluten in seinem Herzen trägt – es gibt für dich keinen Vergelter, keinen Verbesserer letzter Hand mehr – es gibt keine Vernunft in dem mehr, was geschieht, keine Liebe in dem, was dir geschehen wird – deinem Herzen steht keine Ruhestatt mehr offen, wo es nur zu finden und nicht mehr zu suchen hat, du wehrst dich gegen irgend einen letzten Frieden, du willst die ewige Wiederkunft von Krieg und Frieden:–Mensch der Entsagung, in Alledem willst Du entsagen? Wer wird dir die Kraft dazu geben? Noch hatte Niemand diese Kraft!‘–Es gibt einen See, der es sich eines Tages versagte, abzufließen, und einen Damm dort aufwarf, wo er bisher abfloss: seitdem steigt dieser See immer höher. Vielleicht wird gerade jene Entsagung uns auch die Kraft verleihen, mit der die Entsagung selber ertragen werden kann; vielleicht wird der Mensch von da an immer höher steigen, wo er nicht mehr in einen Gott a u s f l i e ß t .23

VI.

Gott und die Seele in Kommunikation

Will die Theologie die Wahrheit des christlichen Glaubens in der Gegenwart verantworten, hat sie sich dieser atheistischen Herausforderung zu stellen. Aber welche Antworten kann sie geben? Bleibt ihr nur der Weg zurück in den „Fuchsbau der Metaphysik“? Diesen Weg zu empfehlen, hieße das Recht der Kritik zu leugnen, die an der klassischen metaphysischen Seelenlehre ja nicht ohne Grund geübt worden ist. Wenn das metaphysische Konzept der Seele diese als Substanz zu denken sucht und in der Weise des Dualismus von der anderen Substanz des Körpers nicht nur unterscheidet, sondern verselbständigt, dann dürfte es sich in der Tat als unhaltbar erwiesen haben. Wenn es kein Zurück zur Metaphysik gibt, dann in diesem präzisierten Sinn: Kein Zurück zur Vorstellung einer substanzhaft gedachten Seele. Mir scheint allerdings, dass die alte Theologie, als deren Protagonisten ich hier Augustin vorgestellt habe, die Wirklichkeit der Seele gerade nicht als für sich bestehende Substanz verstanden hat, sondern konstitutiv als ein relationales Gefüge, als Einheit von Gottes- und Selbstbeziehung. Und in diesem relationalen Verständnis kann die Brücke geschlagen werden zwischen der altkirchlichen Theologie und einer modernen Phänomenologie, die gerade von der nicht zu umgehenden Einheit von Leib und 23 KSA 3, 527 f (Fröhliche Wissenschaft, Nr. 285: Excelsior); ausführlicher dazu: Johannes von Lüpke, Homo poeta. Zur atheistischen Wendung eines Gottesprädikats bei Nietzsche, in: U. H. J. Körtner (Hg.), Poetologische Theologie. Zur ästhetischen Theorie christlicher Sprach- und Lebensformen. Ein Werkstattbericht (= Interdisziplinäre Forschung und fachverbindender Unterricht, Bd. 2), Ludwigsfelde 1999, 214 – 234.

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Seele ausgeht und dabei um die Irreduzibilität beider Größen weiß: Weder können die leiblichen Prozesse auf den reinen Geist noch die seelischen Vorgänge auf bloß Materielles reduziert werden. Das Sein des Menschen ist konstitutiv ausgespannt zwischen den beiden Polen und kann angemessen nur als Beziehungswirklichkeit verstanden werden. Die Seele ist so verfasst, dass sie verschiedene Beziehungen in sich vermittelt. Das sei unter folgenden Gesichtspunkten verdeutlicht: – Die Seele bildet einen Innenraum, der sich von der Außenwelt unterscheidet. Die Innen-Außen-Differenz ist unhintergehbar. Bei allem, was wir von außen in den Blick nehmen, bleibt die Frage, ob es sich von innen anders darstellen könnte. Es bleibt die Differenz der Perspektiven: 3. Person und 1. Person. – Die Seele ist als der Innenraum der Außenwelt doch nicht kommensurabel mit dieser. Sie hat eine eigentümliche Weise der Gegenwart, die sich von der Lokalität in der Außenwelt unterscheidet. Die scholastische Theologie hat verschiedene Weisen der Gegenwart unterschieden und die reformatorische Theologie hat diese Unterscheidung in der Abendmahlslehre rezipiert.24 Danach kann eine Sache „localiter“ gegenwärtig sein, aber zum anderen auch „spiritualiter“: Die Seele ist im Körper, aber sie ist doch nicht kommensurabel mit ihm. Sie ist in ihrer räumlichen Gegenwart nicht einzuordnen, nicht eindeutig zu verorten. In den Worten Luthers: – „Der Ort ist wohl leiblich und begreiflich und hat seine Maße nach der Länge, Breite und Dicke; aber das, so drinnen ist, hat nicht gleiche Länge, Breite oder Dicke mit der Stätte, darin es ist, ja es hat gar keine Länge oder Breite.“25 – Seele hat kosmische Dimensionen. „Im Innern ist ein Universum auch“, dichtet Goethe. Und eindrücklich hat Augustin die Innenwelt der Seele unter dem Begriff der memoria zu erkunden gesucht.26 In den weiten Hallen der Erinnerung, des Bewusstseins stößt man nirgendwo an Grenzen. Schon Heraklit hat diese Erfahrung zum Ausdruck gebracht. „Der Seele Grenzen kannst du im Gehen nicht ausfindig machen, und ob du jegliche Straße abschrittest; so tiefen Sinn hat sie.“27 Die Seele ist sich selbst unergründlich. Und das heißt dann auch: So weit sich das seelische Erleben ausspannt, so wenig vermag der Mensch sich in dieser Weite zu fassen, so eng ist sein Bewusstsein, zu eng, um sich selbst erkennen zu können.28 – Zur Dialektik der Raumerfahrung kommt die Dialektik der Zeiterfahrung. Diese wird besonders deutlich, wenn man die Seele unter der Symbolik des Herzens versteht. Der Herzschlag ist die beständige Erinnerung an die 24 25 26 27 28

Vgl. Luther, Vom Abendmahl Christi, WA 26, 328 – 332 und BSLK 1006 – 1008. WA 26, 328, 23 – 26. Augustin, Confessiones X,8,12 ff. Heraklit, Fragment B 45. Augustin, Confessiones X,8,15: animus ad habendum se ipsum angustus est.

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Johannes von Lüpke

Endlichkeit, mit ihm ist die Möglichkeit des Todes ständig präsent. Wir erfahren uns in unserer Sterblichkeit. Aber zugleich ist die Seele der Ort, an dem die Vergänglichkeit in gewisser Weise auch aufgehoben wird. Augustin hat Zeit als distentio animi definiert. Und damit ist zu bedenken gegeben, dass wir in unserer Seele die Modi der Zeit zusammenhalten können. So hören wir in einer Tonfolge nicht nur distinkt den jeweils erklingenden Ton, sondern eine Melodie, in der das Vergangene noch und das Zukünftige schon präsent ist. Man könnte schon darin eine Ahnung der Ewigkeit erkennen. Der christliche Glaube geht hier noch einen Schritt weiter. Gott hat die Ewigkeit in unser Herz gelegt, heißt es beim Prediger Salomo (3,11). Und die Gaben des Geistes, die wir im Herzen empfangen, Glaube, Liebe und Hoffnung, sind gleichsam Fenster in die Ewigkeit. – Schließlich: Die Seele ist Ort der Kommunikation. In ihr hat das Sprachvermögen seinen Ort. Und gerade an ihm wird die Unhintergehbarkeit der leibseelischen Einheit des menschlichen Lebens deutlich. „Wörter haben […] ein ästhetisches und logisches Vermögen.“29 Wir nehmen sie leiblich, sinnlich wahr und verstehen sie geistig. Und die Seele ist genau der Ort, an dem beides zusammenkommt. Hier wird leiblich, im Gehirn, unter Beteiligung besonderer Areale, Sprache verarbeitet und produziert. Und mit diesem leiblichen Prozess ist konstitutiv das Verstehen als geistiger Akt verbunden. Das Rätsel der Seele in ihrer leib-seelischen Einheit verdichtet sich auf das Rätsel der Sprache: Was ist Sprache? In ihrer Relationalität der Seele korrespondiert die Seele der Wirklichkeit Gottes, die ihrerseits relationalen Charakter hat. Auch und erst recht im Blick auf Gott gilt der erkenntniskritische Grundsatz, wie ihn Luther mehrfach eingeschärft hat: Nicht unter der Kategorie der Substanz, verstanden als an und für sich Seiendes, sondern unter der Kategorie der Relation erschließt sich der Gegenstand der Theologie.30 Dabei kommen verschiedene und durchaus gegensätzliche Relationen zusammen. Keineswegs geht es nur um eine die eine Kausalbeziehung, in der Gott als erste Ursache, alles andere aber als das von Gott letztlich Verursachte und damit Abhängige wahrgenommen wird. 1. Gottes Beziehung zu der von ihm geschaffenen Welt umfasst den Gegensatz

29 Johann Georg Hamann, Metakritik über den Purismum der Vernunft, § 15; zitiert nach: Oswald Bayer, Vernunft ist Sprache. Hamanns Metakritik Kants, Stuttgart-Bad Cannstatt 2002, 374. 30 Deum quaerendum esse non in praedicamento substantiae, sed relationis. So zitiert bei Johann Gerhard, Loci theologici, prooemium de natura theologiae, 28; in der Ausgabe von Ed. Preuss, Bd. 1, Berlin 1863, 8; vgl. ebd., 287 (loc. II, 94) sowie bei Luther, WA 40/II, 354,3 f; 421,6 f (22 – 24); 40/III, 62,38 – 63,20; 334,23 – 26; 42, 634,20 – 22; 635,19; 46, 4 f (27 f).

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von Außenwelt und Innenwelt. Gott ist weder nur außen noch nur innen. Klassisch hat Goethe diesen Gedanken zum Ausdruck gebracht: Was wär ein Gott, der nur von außen stieße, Im Kreis das All am Finger laufen ließe! Ihm ziemts, die Welt im Innern zu bewegen, Natur in sich, Sich in Natur zu hegen, So daß was in ihm lebt und webt und ist, Nie seine Kraft, nie Seinen Geist vermisst.31

Dass Goethe hier biblische Sprache aufnimmt, ist deutlich. Zitiert wird die Areopagrede des Paulus, in der der Apostel das Gespräch mit der griechischen Philosophie und Poesie sucht: „Fürwahr, er ist nicht ferne von einem jeden unter uns. Denn in ihm leben und weben und sind wir“ (Apg 17,27 f). Der Schöpfer, so hat es die christliche Schöpfungslehre immer wieder betont, ist nicht ein Hersteller, der ein Werk hervorbringt, um es dann sich selbst zu überlassen. Er ist vielmehr in seinem Werk, schöpferisch und erhaltend wirksam. Als der Erbauer des Schiffes ist er zugleich in ihm zugegen, so dass dieses ohne seine fortlaufende Wirksamkeit gar nicht existieren könnte. Er bewegt die Schöpfung von außen und von innen. Er umfasst sie und ist zugleich in ihr. 2. In Gott fallen die Extreme des Allergrößten und Allerkleinsten zusammen. Nikolaus von Cues hat dafür den Begriff der coincidentia oppositorum geprägt. Gott ist das Maximum, über das hinaus nichts Größeres gedacht werden kann; und er ist gegenläufig dazu zugleich das Minimum, das in den kleinsten Teil der Schöpfung einzugehen vermag. So umgreift er die Differenz von Teil und Ganzem, so vermag er das Ganze zu umfassen und ist zugleich als ganzer in der partikularen Wirklichkeit gegenwärtig. Bezogen auf die Wirklichkeit der Seele hat schon Augustin diese doppelte Relationalität formuliert. Gott ist „superior summo meo et interior intimo meo.“ 3. Die Beziehung des Schöpfers zu seinen Geschöpfen ist sprachlich vermittelt. Das Wort ist das Band der Gemeinschaft zwischen Gott und Mensch. Das heißt zum einen. Was Gott und Mensch verbindet, geht aus Gott selbst hervor. Anders als ein Handwerker, der sich zur Herstellung seiner Werke äußerer Instrumente bedient, die er dann auch wieder beiseitelegen kann, schafft Gott mit der Kraft, die aus dem Innersten seiner selbst hervorgeht. Er ist selbst beteiligt und geht in seinem Wort selbst in die Schöpfung ein. Das Wort als Band der Gemeinschaft zwischen Gott und den Geschöpfen, das heißt zum anderen auch: Die Geschöpfe haben ihr Sein im Wort. Ihr Sein kann nicht 31 Johann Wolfgang Goethe, Gedichte 1800 – 1832, Karl Eibl (Hg.) (= Sämtliche Werke in 40 Bd., I. Abt., Bd. 2), Frankfurt a. M. 1988, 379.

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Johannes von Lüpke

abstrahiert werden von dem Geschehen des Wortes Gottes, in dem sie geschaffen werden. In diesem Sinne betont Luther die bleibende Präsenz und unaufhörliche Wirksamkeit des schöpferischen Wortes in den Geschöpfen. „[…] wie himel, Erden, Sonn, Mond, Stern, menschen und alles, was da lebet, durchs wort im anfang geschaffen sind, also werden wie wünderbarlich durch dasselbe regirt und erschafen.“32 Zusammenfassend schreibt Luther in seinen Predigten über das 1. Buch Mose (1527): […] kein Creatur vermag yhr wesen von sich selbs zu haben, Darümb so lang ein Creatur weret, so lang weret das wort auch, so lang die erde tregt odder vermag zu tragen, so gehet ymmer das sprechen on auffhören. Also verstehe Mosen, wie er uns Gott fürhelt ynn allen Creaturen und durch die selbigen zu Gott füre: So bald wir die Creaturen ansehen, das wir dencken: sihe da ist Gott, also das alle Creaturen ynn ihrem wesen und wercken on unterlas getrieben und gehandhabt werden durch das wort.33

4. Mit dieser sprachlichen Vermittlung des Gottesverhältnisse ist eine besondere Weise der Gegenwart verbunden. Von den beiden schon genannten Weisen der Gegenwart ist noch eine dritte zu unterscheiden, die allein Gott zukommt. Ähnlich wie die Seele im Körper gegenwärtig ist, so ist auch Gott an verschiedenen Orten gegenwärtig, und zwar so, dass er in der Partikularität, in den verschiedenen Orten jeweils ganz gegenwärtig zu sein vermag. „Alle Kreatur sind ihm durchläufig und gegenwärtig.“34 Gott ist so gegenwärtig, dass der Mensch sich vor ihn gestellt weiß, sich erkannt weiß. Wir erkennen Gott nur so, dass wir uns zugleich von ihm erkannt wissen (1Kor 13,12).

V.

Ein dichterisches Nachwort

Was können wir von der Seele wissen? Augustin wollte nichts anderes als „Gott und die Seele“ erkennen, und er war sich zugleich dessen bewusst, dass dieses gesuchte Wissen über das Wissen, so wie es in den Wissenschaften erworben wird, hinausgeht. Die gesuchte Erkenntnis liegt auf der Ebene der Weisheit, die immer auch um die Grenzen der menschlichen Erkenntnis weiß. Lassen wir uns am Ende von einem Dichter an diese Begrenztheit des Wissens erinnern: Wenn wir in einem jener Bücher lesen, in denen die menschliche Seele beschrieben wird, so ist alles klar, die Kräfte sind gesondert, die Verrichtungen fertig, und die Sache liegt vor uns; seh’n wir dann aber in die Seele selber, so ist es wieder dunkel, magische Dinge geschehen, als stünde in jenem Buche noch nicht das Rechte, wir ahnen endlose 32 WA 46, 558, 35 – 38 (Auslegung von Joh 1 und 2; 1537/38). 33 WA 24, 37, 21 – 38, 10. 34 WA 26, 330, 9 f.

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Gebiete, dann blitzt es oft auf, als läge hinter denen erst noch recht ein seltsames Land, und so fort, daß das Herz sich vor sich selber fürchten möchte – wer weiß, wie weit es geht; eine gelegentliche That, ein glücklicher Blick der Wissenschaft zuckt zuweilen den Schleier weg, aber das Ahnen ist dann schauerlicher, als das Wissen […]. Wie tief mag der Abgrund erst noch sein, blos an seinem Rande hat die Wissenschaft ein Kerzlein angezündet […].

Und was hier zur Verwunderung Anlass gibt, das ist zum einen die Verbindung der Seele mit den Sinnen, die ihr als „ihre Diener“ „den festen beschränkten Bau der Welt in ihre Unendlichkeit hereintragen müssen“. Zum anderen ist es das geistige Beziehungsnetz, in das die Seele eingelassen ist. […] wie zahllos, mannigfaltig, unbegreiflich müssen […] jene Fäden und Brücken sein, die zwischen Geist und Geist gespannt sind, Niemand hat sie gesehen und gezählt, und dennoch sind sie da, und mehr, als die Zahl der Sterne am Firmament – auf ihnen geht die fremde Seele zu den unsern herüber, liebt sie, haßt sie, umhüllt sie, schmeichelt ihr, zieht sie aus dem Leibe, und nimmt sie zu sich hinüber – – unbegreiflich, unausstaunbar sind wir oft gekettet an ein anderes, lechzen nach ihm, verspritzen unser Blut für ihn – und wissen nicht warum. […] wir wollen nicht weiter grübeln – o es ist ein Abgrund, in dem Gott und die Geister wandeln – die Seele in Momenten der Verzückung antizipirt ihn oft, die Poesie in kindlicher Unbewußtheit lüftet ihn zuweilen, aber die Wissenschaft mit ihrem Hammer und Richtscheite steht noch weit von ihm ab […] Sie besieht und beschreibt den Körper, das Wesen liegt noch in heiliger Finsterniß, wie am ersten Schöpfungstage, und wer weiß, ob uns nicht erst nach und nach im Jenseits oder im jenseits des Jenseits die Siegel von den Dingen abfließen werden?35

Literatur Bayer, O., Vernunft ist Sprache. Hamanns Metakritik Kants, Stuttgart/Bad-Cannstatt 2002. Die Bekenntnisschriften der evangelisch-lutherischen Kirche (BLSK), Göttingen 1930, 13 2010. Goethe, J.W., Gedichte 1756 – 1799, Karl Eibl (Hg.), in: Sämtliche Werke in 40 Bd., Abt. I, Bd. 1, Frankfurt a.M. 1987. Horkheimer, M., Zur Idee der Seele, in: Hans Jürgen Schultz (Hg.), Was weiß man von der Seele? Erforschung und Erfahrung, Stuttgart/Berlin 1967. Lebert, B., Im Winter dein Herz, Hamburg 2012. Lessing, G. E., Werke, Göpfert, Herbert G./Karl S. Guthke (Hg.), Bd. 1 Gedichte, München 1970. Lüpke, J. von, Der Aberglaube der Vernunft. Zur Diagnose des Todes Gottes bei Hamann und Nietzsche, in: O. Bayer (Hg.), Johann Georg Hamann. „Der hellste Kopf seiner Zeit“, Tübingen 1998. 35 Adalbert Stifter, Brigitta, in: Ders., Sämtliche Erzählungen nach den Erstdrucken, Wolfgang Matz (Hg.), Bd. 1, München 2005, 531 – 533.

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Johannes von Lüpke

–, Homo poeta. Zur atheistischen Wendung eines Gottesprädikats bei Nietzsche, in: U. H. J. Körtner (Hg.), Interdisziplinäre Forschung und fachverbindender Unterricht, Bd. 2: Poetologische Theologie. Zur ästhetischen Theorie christlicher Sprach- und Lebensformen. Ein Werkstattbericht, Ludwigsfelde 1999. Luther, M., in: D. Martin Luthers Werke. (WA), 120 Bd., Weimar 1883 – 2009. –, Luthers Vorreden zur Bibel, H. Bornkamm (Hg.), Frankfurt a.M. 1983. Nietzsche, F., Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bd., G. Colli/Mazzino Montinari (Hg.), München/Berlin/New York 1980 [im Folgenden zitiert: KSA]. Quitterer, J., Ist unser Selbst Illusion oder neurobiologische Realität? Ein Beitrag zur Aktualität des Seelenbegriffs, in: P. Neuner (Hg.), Naturalisierung des Geistes – Sprachlosigkeit der Theologie? Die Mind-Brain-Debatte und das christliche Menschenbild, QD 205, Freiburg 2003.

Anne Steinmeier

„Dynamische Präsenzen“. Zur Poetik des Er-Innerns

I.

Mémoire involontaire und die Grabung in Sprache

„Glücklich sein heißt ohne Schrecken seiner selbst inne werden können.“1 Es scheint ein leichtes, zu leichtes, fast naiv erscheinendes Wort zu sein, das da des Weges kommt und zum Geburtstag grüßen will. Ohne Schrecken und glücklich? Aber was so leicht aussieht, war doch lange unterwegs. Dieses Wort Walter Benjamins könnte jener Spruchsammlung entstammen, wie sie in Spr 1 – 9 umrissen ist und in Spuren bis in die Evangelien zu finden ist. Es könnte ein Spruch der Sophia sein, jener von Christiane Burbach als „personifizierte Weisheit“ beschriebenen „Gestalt dynamischer Präsenz, die die Aspekte der göttlichen und irdischen Welt im jeweiligen Hier und Jetzt zusammenfließen läßt,“2 in der Traditionsabbruch und Aufbruch zu neuer Traditionsbildung konvergieren, ohne schon ein fertiges oder fest konturiertes neues Paradigma vorweisen zu können, […] eine Figur der Initiierung eines Prozesses, in dem die Reflexion Gottes und der Welt zusammenkommen

und die darum „am weitestgehenden kompatibel mit dem derzeitig möglichen Verständnis des einzelnen, der Gesellschaft, der Welt und der Religion in der Postmoderne“ ist, das skeptisch „gegenüber den großen Systemen zur einheitlichen Welterklärung“ ist.3 Das leicht klingende Wort vom glücklichen Innewerden seiner Selbst ist die verdichtete Fassung seiner Poetik der Erinnerung, mit der Benjamin auf die Diskontinuität der modernen Lebenswelt geantwortet hat. Hier hat er einen ersten Beitrag geleistet, der aber ausführlich erst nach seiner Zeit ausgearbeitet wird.4 1 2 3 4

Benjamin, Einbahnstraße, 59. Burbach, Kraft der Weisheit, 64. Ebd., 63 f. Vgl. Pethes, Mnemographie, 15. Pethes situiert Benjamins Erinnerungsdiskurs in der Theo-

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Anne Steinmeier

Seine Poetik der Erinnerung lässt sich als „Ordnung literarischer Erinnerung in Texten“5 verstehen. Eine Ordnung, in der ich auch Christiane Burbachs Weisung, in der Praktischen Theologie der Literatur einen größeren Ort zu geben, verstehe.6 Denn der Ort der Erinnerung ist an die Medialität der Schrift und des Schreibens und die Gegenwart des Schreibenden, das heißt, die „Jetztzeit“ der Erinnerung gebunden. Im wechselseitigen Verhältnis zwischen Erinnern und Schreiben eröffnet sich ein Denken und Erzählen der Erinnerung, das die Artikulation verstummter Stimmen zu eröffnen und das Prinzip des Vergessens zu integrieren vermag. In der als transitorische „Augenblickspoetik“ eröffneten Spannung von Erinnern und Vergessen lässt sich eine Kunst des Gedächtnisses beschreiben, die in den Herausforderungen der Hermeneutik des eigenen Lebens in seinen transgenerationellen Verflechtungen von Bedeutung sein und werden kann. Die Sprache hat es unmißverständlich bedeutet, daß das Gedächtnis nicht ein Instrument für die Erkundung des Vergangenen ist, vielmehr das Medium. Es ist das Medium des Erlebten wie das Erdreich das Medium ist, in dem die alten Städte verschüttet liegen.7

Die hier von Benjamin vorgestellte archäologische Metaphorik des Ausgrabens: „Wer sich der eignen verschütteten Vergangenheit zu nähern trachtet, muß sich verhalten wie ein Mann, der gräbt“,8 ist als Absage an einen rein teleologisch suchenden Zugang zu Erinnerungsphänomenen zu verstehen. Denn Erinnerung ist ein schöpferischer Prozess, in dem man „nicht mit Kindheitserinnerungen, sondern durch Kindheitsblöcke“ schreibt: „Erinnerung-Werden“ könnte man im Anschluss an Gilles Deleuze die Grabung, diese Geste der Memoria vielleicht nennen.9 Was die „Grabung lohnt“, eröffnet sich in Bildern, die, aus früheren Zu-

5 6 7 8 9

riedebatte, die erst „nach diesem stattgefunden hat“, und zeigt „umgekehrt diese Debatte ,nach‘ Benjamin“ als eine auf, die sich erst im Anschluss an Benjamins Theoreme entwickeln konnte (vgl. Pethes, Mnemographie, 15). Neben Vorstellungen einer Bewahrung von Undarstellbarem bei Adorno und Lyotard und Derridas „Iterierbarkeit“ gilt das vor allem für die schöpferische Erinnerung im Denken von Gilles Deleuze (vgl. neben Deleuze, Differenz und Wiederholung, ders., Proust und die Zeichen). Damit ist Benjamin als Theoretiker des Gedächtnisses verstanden, der von dem „seit Augustin bekannten Paradox ausgeht, sich nicht nur des Vergessens selbst, sondern […] des Vergessenen zu erinnern“ (Pethes, Gedächtnistheorien, 130). Von hierher begründet Pethes den Unterschied zur Theorie des kulturellen Gedächtnisses von Jan und Aleida Assmann, die sich „eher auf den Prozess der Kanonisierung und also den manifesten Überlieferungsstand einer Kultur“ konzentrieren (ebd.; vgl. ebd., 59ff; 126ff). Pethes, Mnemographie, 6. Burbach, Moments, 207. Benjamin, GS IV, 400. Ebd. Deleuze/Guattari, Philosophie, 197, zit. in: Pethes, Mnemographie, 29.

„Dynamische Präsenzen“. Zur Poetik des Er-Innerns

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sammenhängen losgebrochen, „als Kostbarkeiten in den nüchternen Gemächern unserer späten Einsicht – wie Torsi in der Galerie des Sammlers – stehen.“10 In der Geste des Grabens, „immer wieder auf einen und denselben Sachverhalt zurückzukommen – ihn auszustreuen, wie man Erde ausstreut, ihn umzuwühlen, wie man Erdreich umwühlt“,11 wird Erinnerung zur Geste einer differenten Wiederholung, wie Nicolas Pethes „nach“ Benjamin im Blick auf Deleuze interpretiert. In seinem Essay zu Proust liest Benjamin erstmalig ein literarisches Werk im Zeichen der Erinnerung: Man weiß, daß Proust nicht ein Leben wie es gewesen ist in seinem Werke beschrieben hat, sondern ein Leben, so wie der, der’s erlebt hat, dieses Leben erinnert. […] Denn hier spielt für den erinnernden Autor die Hauptrolle gar nicht, was er erlebt hat, sondern das Weben seiner Erinnerung, die Penelopearbeit seines Eingedenkens.12

Hier findet Benjamin nicht bloß aufgeschrieben, nicht nachträglich in der Erzählung bloß angefertigt, was an Ereignissen geschehen und verfügbar wäre. Hier wird nicht ein Vergangenes bloß an die Oberfläche des Bewusstseins geholt. Vielmehr ersteht im „behutsame[n], tastende[n] Spatenstich in’s dunkle Erdreich“13 des Gedächtnisses der Gegenstand der Erinnerung schöpferisch neu. Was Benjamin entdeckt hat, findet sich wieder in gegenwärtigen literarischen Suchbewegungen. Der Schriftsteller Ulrich Treichel beschreibt den Verlust des „autobiographischen Gedächtnisses“ der Eltern.14 Er habe sich in der Arbeit an seinem Roman Der Verlorene „schreibend der Familienvergangenheit zugewandt“, weil das „traumatisierende Zuviel“ sich in ihm als ein Mangel und eine Art Leerstelle festgesetzt hatte. Wo bei den Eltern zu viel war, war bei mir selbst zu wenig. Und manchmal auch nichts. Doch dieses Nichts schmerzte und wollte behandelt werden.15

Treichel bezeichnet die Abwehr gegen alles Vergangene als sein „signifikantestes Erbteil“, das ihm aber gerade doch deswegen so nah „auf den Leib“ rückt. Er gibt zu denken, „neben den Begriff der transgenerationellen Traumatisierung den 10 Benjamin, GS IV, 400. 11 Ebd. 12 Benjamin, GS II, 311. Der Erinnerung, die dem Unverfügbaren ihrer Inhalte entspricht, korrespondiert „die Allegorisierung der Erinnerung als ,Penelopearbeit des Eingedenkens‘. Denn Penelope löst nachts genau aus demselben Grund das am Tag Gewebte auf, aus dem Proust sein Schreiben zu einem unabschließbaren macht: Um nie zum Ende zu kommen, um die trügerische Ankunft der Erinnerung aufzuschieben“ (Pethes, Mnemographie, 326). 13 Benjamnin, GS IV, 400. 14 Treichel, Anatolin, 76. 15 Treichel, Anatolin, 77.

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der transgenerationellen biographischen Verleugnung“ zu stellen. Er spricht von einer Art „Seelenblindheit für das, was man den Lebenslauf nennt“.16 Aber „ich und mein Text“, so Treichel, „sind nicht das gleiche.“17 Das heißt: Es gibt keine verfügbare, nur abzurufende, „längst in meinem Inneren ausformulierte Lebenserzählung“.18 Mir fehlt das, was man eine narrative Identität nennt. In der Bibliothek meines Unbewußten fehlt der Familienroman. Er ist nicht da, aber ich suche ihn dauernd. Ich kann zu mir nichts sagen und muß mir darum meine eigene Lebenserzählung fortlaufend erarbeiten.19

In der Grabung in Sprache kommen Bilder, die nicht gerufen sind, die unwillentlich, unwillkürlich kommen, Bilder, die verschüttet, vergessen und doch in einer ihr eigenen Zeit wie in kostbaren Gefäßen bewahrt sind. Bilder, gesehen, empfunden, geschmeckt, begehrt, Bilder in der „Dunkelkammer des gelebten Augenblicks“.20 Aufblitzend in einer „m¦moire involontaire“. Augenblicke sinnenhafter Erfahrung, wie das Schmecken jenes unvergleichlichen Gebäcks der Madeleine, das Empfinden beim Anblick der Farbe jener Schuhe, die eine Dame auf einer Party getragen hat. Benjamin spricht von Bildern, „die wir nie sahen, ehe wir uns ihrer erinnerten.“21 Denn „die gelebte Zeit“, so hat es Herta Müller in ihrer Tübinger Poetikvorlesung ausgedrückt, „streunt nicht in großen Blöcken, sondern als Facetten von Dingen, die sich vorher im Gedächtnis noch nie begegnet sind.“22 W.G. Sebald, jener Schriftsteller, der seinen deutschen Namen nicht ausgeschrieben sehen wollte, hat in seinem Roman Austerlitz von dem kleinen Jungen geschrieben, den er plötzlich wieder-sah, wieder-findet, er-innert: Ja, und nicht nur den Priester sah ich und seine Frau, sagte Austerlitz, sondern ich sah auch den Knaben, den abzuholen sie gekommen waren. Er saß für sich allein seitab auf einer Bank. Seine Beine, die in weißen Kniesocken steckten, reichten noch nicht bis an den Boden, und wäre das Rucksäckchen, das er auf seinem Schoß umfangen hielt, nicht gewesen, ich glaube, sagte Austerlitz, ich hätte ihn nicht erkannt. So aber erkannte ich ihn, des Rucksäckchens wegen, und erinnerte mich zum erstenmal, soweit ich zurückdenken konnte, an mich selber in dem Augenblick, in dem ich begriff, daß es in diesem Wartesaal gewesen sein mußte, daß ich in England angelangt war vor mehr als einem halben Jh.23 16 17 18 19 20 21 22 23

Treichel, Anatolin, 85 f. Treichel, Anatolin, 101. Treichel, Anatolin, 105. Ebd. Benjamin, GS II, 1064. Ebd. Müller, Einmal anfassen – zweimal loslassen, 29. Sebald, Austerlitz, 201.

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Sebald hat einen vielfach verschachtelten Rekonstruktionsprozess auf der Suche nach Identität beschrieben, der nicht nur eigene, sondern auch fremde Erinnerungen betrifft. Als kleiner Junge im Rahmen der „Kindertransporte“ nach England verschickt, bei einer Pfarrersfamilie unter fremdem Namen aufgewachsen, hat Jacques Austerlitz keine bewussten Erinnerungen mehr. Er hat das alles vergessen, er erinnert sich nicht mehr an seine Eltern, und er weiß nichts von seiner eigentlichen Herkunft. Erst als er von einem Lehrer auf seinen eigentlichen Namen hingewiesen wird, gerät er in eine innere Unruhe, getrieben allein durch diffuse Gefühle, die bestimmte Orte, an denen er meint, noch nie gewesen zu sein, in ihm auslösen. Und er beginnt sich auf die Suche nach seiner eigenen Geschichte zu machen. Wo ein Bild auftaucht, wo es einmal gesehen ist, kann es zum Schlüssel werden zu allem, was vor ihm war und zu allem, was nach ihm kommen wird.24 So kann ein einzelnes Bild „als Brücke zu anderen Bildern“ fungieren25 und gleichsam „Kunde“ „von einem Ganzen“ geben.26 Nicht so, als würden die Bilder in einen ihnen vorgängigen Sinnzusammenhang integriert werden, es geht vielmehr um ein Ganzes im Sinne einer nicht abschließbaren Beziehbarkeit. Nicht abschließbar in der wesentlichen Kontingenz, der bleibenden Unverfügbarkeit und Alterität der Bilder. Der Text ist ein kostbares Gewebe mit „unendlichen Faltungen im Unbewußten.“27 Das Gedächtnis interveniert in die zeitliche Ordnung. In labyrinthisch ineinander verschachtelten imaginativen Räumen eröffnen sich Passagen zwischen den Zeiten. Zeigen sich Bilder, aneinandergereiht, eins an das nächste, wie Fenster, die sich öffnen. Fenster ins Innere, Fenster zum verlorenen Selbst, wie zu jenem Nachmittag spät im November des Jahres 1968, als ich mit Marie de Verneuil […] in dem Schiff der wunderbaren, auf weiter Flur allein sich erhebenden Kirche von Salle in Norfolk gestanden bin und die Worte nicht herausbrachte, die ich ihr hätte sagen sollen.

Es sind Erinnerungen wie diese, die Austerlitz ankamen in dem aufgelassenen Ladies Waiting Room des Bahnhofs von Liverpool Street, Erinnerungen, hinter denen und in denen sich viel weiter noch zurückreichende Dinge verbargen, immer das eine im andern verschachtelt, gerade so wie die labyrinthischen Gewölbe, die [..] sich fortsetzten in unendlicher Folge. Tatsächlich hatte ich das Gefühl, […] als enthalte der Wartesaal, in dessen Mitte ich wie ein Geblendeter 24 25 26 27

Vgl. Benjamin, GS II, 312. Pethes, Mnemographie, 327 im Anschluss an Benjamin, GS VI, 467. Benjamin, GS II, 323, vgl. Weigel, Entstellte Ähnlichkeit, 54. Pethes, Mnemographie, 327 im Anschluss an Benjamin, GS VI, 467.

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stand, alle Stunden meiner Vergangenheit, all meine von jeher unterdrückten, ausgelöschten Ängste und Wünsche, als sei das schwarzweiße Rautenmuster der Steinplatten zu meinen Füßen das Feld für das Endspiel meines Lebens, als erstrecke es sich über die gesamte Ebene der Zeit.28

Mit den Bildern, die auftauchen, kehren zugleich Gefühle wieder. Austerlitz entsinnt sich, von einem ihm „bis dahin unbekannten Kummer erfüllt gewesen zu sein“.29 Zur Entgrenzung der Zeit gehört mit Sebald auch die Wahrnehmung, dass die Grenze zwischen Tod und Leben durchlässiger ist, „als wir gemeinhin glauben.“30 Und wäre es nicht denkbar, fuhr Austerlitz fort, daß wir auch in der Vergangenheit, in dem, was schon gewesen und größtenteils ausgelöscht ist, Verabredungen haben und dort Orte und Personen aufsuchen müssen, die quasi jenseits der Zeit, in einem Zusammenhang stehen mit uns?31

In ihrem mimetischen Vermögen, in ihrer Gabe, „unsinnliche Ähnlichkeiten“ wahrzunehmen und zu schaffen, können mit Benjamin Bilder „eine Sache der Sprache“ werden.32 Aber [n]icht so ist es, daß das Vergangene sein Licht auf das Gegenwärtige oder das Gegenwärtige sein Licht auf das Vergangene wirft, sondern Bild ist dasjenige, worin das Gewesene mit dem Jetzt blitzhaft zu einer Konstellation zusammentritt. […] Bild ist die Dialektik im Stillstand. […] Nur dialektische Bilder sind echte (d. h.: nicht archaische) Bilder und der Ort, an dem man sie antrifft, ist die Sprache.33

An dieser Stelle bedarf es eines Innehaltens.

II.

Das dialektische Bild: Das Unbewusste und die Sprache

In Benjamins dialektischem Bild begegnet eine kreative psychoanalytische Relecture seiner frühen Sprachtheorie. Die Berliner Kulturwissenschaftlerin Sigrid Weigel interpretiert: Die „unsinnliche Ähnlichkeit“ ist als „blitzartige Erscheinung des Magischen bzw. Mimetischen […] an die Stelle des Nicht-Mitteilbaren getreten.“34 In diesem Konzept der „unsinnlichen“ oder „entstellten Ähnlich28 29 30 31 32 33 34

Sebald, Austerlitz, 199 ff. Sebald, Austerlitz, 236. Sebald, Austerlitz, 401. Sebald, Austerlitz, 367. Mernke, Sprachfiguren, 444. Benjamin, Passagen, 576 f. Weigel, Entstellte Ähnlichkeit, 92.

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keit“ überkreuzen sich zwei Spuren sprachtheoretischer Anstrengungen Benjamins: „die am Begriff der Ähnlichkeit haftende Spur sprachmagischer Reflexionen, die auf die Genesis-Lektüre zurückgeht“35 und „das an den Begriff der Entstellung gebundene Konzept einer Sprache des Unbewußten, das Benjamin sich über seine Studien zum Gedächtnis angeeignet hat“.36 Aber in dieser kreativ-verbindenden Lektüre geht Benjamin zugleich über Freud hinaus. Die psychoanalytische Denkfigur als Sprache des Anderen, die die Differenz zur frühen Theorie der Sprachmagie bildet, lässt sich nicht von einem Denken der Sprache verstehen, die „aufhebt“, Verdrängtes hervorholt, über Tiefenregionen der Psyche „aufklärt“, die sucht, was „dahinter“ und „darunter“ liegt, um es ins Verstehen und „auf die vom Ich einsehbare Bühne des Bewußtseins zu befördern.“37 Hier entsteht vielmehr ein „differenzschaffendes Potential“,38 das das Unbewusste und die Sprache teilen. Eine Dynamik, die erst in der Relecture Jacques Lacans wieder und neu entdeckt worden ist: die Einsicht in die Alterität von Sprache, „die in jeden Zeichengebrauch, in jede Symbolisierung unverfügbar mit eingeht“, durch die in jeder Deutung etwas geschieht, über das wir nicht verfügen, das „wir nicht in der Hand haben, das uns im Rücken bleibt und mit uns geschieht“.39 In den Bildern der Sprache eröffnet sich ein Raum für die „eigentümliche Zeitlichkeit“ eines Anderen, so dass sich „Wiedererinnerung an etwas“ ereignen kann, „das erst nachträglich zu einer solchen Konstellation geworden ist.“40 Damit ist zugleich auf die Spur einer „Emergenz“ gewiesen, in der – wie durch Zufall erscheinend – ein Neues sich zu einer Konstellation findet, einer Wiederholung in der Differenz. Einer Gegenwart, in der in Differenz und Wiederholung Mnemosyne und Eros verbunden sind, wie nach Benjamin Gilles Deleuze schreibt: „An die Stelle reproduktiver Repräsentation tritt die autonome, auf keiner Negativfolie fußende produktive Bejahung eines vorwärtsgewandten, schöpferischen Begehrens.“41 Benjamins Abgrenzung gegen die archaischen Bilder sind aus dem Einspruch gegen jede Art von repäsentationslogischen Bestimmungen zu verstehen, als eine derer er auch das Archaische liest. In der Profilierung des „echten“ Bildes gegenüber den archaischen ist die diff¦rance formuliert gegenüber allen „etablierten Bedeutungen“, allen „Archiven der Metaphorik, Rhetorik und Ikono-

35 36 37 38 39 40 41

Vgl. Benjamin, GS II, 140 ff. Weigel, Entstellte Ähnlichkeit, 93. Krämer, Sprache, Sprechakt, Kommunikation, 197. Ebd. Vgl. Mersch, Verstehen?, 119. Gondek, Lacan, 524. Pethes, Mnemographie, 29 im Anschluss an Deleuze, Differenz und Wiederholung, 137; 80 f.

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graphie“.42 Aber Benjamins Sprachbilder unterscheiden sich von der diff¦rance, indem er eben diese Bewegungen „im Bild, als Konstellation zu arretieren und der Reflexion zugänglich zu machen“43 sucht. Diese, Benjamin eigene, Denkfigur ist nicht ohne seine Hölderlin-Lektüre zu verstehen.44 Nicht ohne die Bedeutung des Gedichteten als eines Gegenwärtigwerdens im schöpferischen Akt der Sprache.

III.

Das „Gedichtete“ als weisheitliches Weltverhältnis

Das wesentliche Denkmotiv, das Benjamin bei Hölderlin findet, ist die Bedeutung von schöpferischer Sprachfindung als „Form erfahrungszugänglicher Transzendenz“.45 Im Unterschied zu jenem „Augenblick religiös-ästhetischer Epiphanie“, in dem alles Endliche als „verschwindend“ gewähnt wird, in einer alles Geschichtlich-Endliche übergreifenden Ordnung aufgehoben wäre bzw. ästhetisch erlöst erscheint, sind die tranzendentalen Augenblicke, in denen ein Leben seiner selbst inne wird, in den Verhältnissen der Endlichkeit verstanden, in ihrer Temporalität, ihrer Kontingenzen, ihrer Gefährdungen, ihrer Verwundbarkeit.46 „[N]icht als statisches Gefüge distinkter Fundierungsrelationen, sondern im Sinne einer transzendentalen Genese“ ist „das Bedingungsverhältnis zwischen dem Absoluten und dem Ich“ zu verstehen.47 Darum „ist das Göttliche (,der Gott‘)“, der sich mitteilt, „nicht als Objekt“, sondern „im Geschehen“ der Sprache wirklich. Darum erhält sich das „menschlich höhere Leben“ erst im 42 Weigel, Entstellte Ähnlichkeit, 59. 43 Weigel, Entstellte Ähnlichkeit, 60. 44 Die Dialektik des Bildes bei Benjamin „folgt keinem triadischen Schema: sie schreibt sich weniger von Hegel als vielmehr von Hölderlin her“ (vgl. Weigel, Entstellte Ähnlichkeit, 58 f). Weigel verweist auf Hölderlins Text: „Vom Werden im Vergehen“ als der „sprachliche[n] Darstellung einer Konstellation des Entspringens“ als „Bewegung einer wechselseitigen Transformation vom Status des Möglichen in den des Wirklichen“ (ebd.). „Im Zustande zwischen Seyn und Nichtseyn wird aber überall das Mögliche real und das wirkliche ideal, und diß ist in der freien Kunstnachahmung ein furchtbarer aber göttlicher Traum (Hölderlin, zit. Weigel, Entstellte Ähnlichkeit, 59). 45 Kreuzer, Lektüre, 101. 46 Vgl. Henrich, Grund im Bewußtsein, Versuch über Kunst und Leben, 156. 47 Barth, Letzte Gedanken, 196. „Daß kein Gott in der Weise allmächtig sei, wie es der Urgrund selbst als Person zu sein hätte, ist für Hölderlin die Bedingung dafür, der Konsequenz des Denkens, dem Wissen von der Wirklichkeit der Menschenwelt […] gerecht zu werden oder, wie er selbst sagen würde, treu zu bleiben (Henrich, Grund im Bewußtsein, 769). „Die Erfahrung des Schönen bedeutet darum keine Versöhnung jenseits des Streits. Sie enthält Entgegensetzung – […] Zerrissenheit – in sich. Sie bildet sich durch diese Zerrissenheit. ,Deswegen sollte alles Erkennen vom Studium des Schönen anfangen – denn der hat viel gewonnen, der das Leben verstehen kann, ohne zu trauern‘“ (Kreuzer, Einleitung, XIX).

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Medium des „Sich-einander-Zugesellens“ in Sprache: im „Gedichteten“ als einem poetischen Verhältnis zur Welt, in jener „freien Kunstnachahmung“, in der die Erfahrungen des Lebendigen bewahrt werden und der endliche Gott dem menschlichen Leben die Treue hält. So haben Erinnerung und Dankbarkeit in ihm „Anhalt und Adresse“ und werden „immer zugleich auch über ihn hinausgreifen und eines Ganzen innesein, das ihn und uns noch übergreift.“48 Gegen eine „idealistische Auflösung“, die „furchtlos“ ist, weil „Anfangs- und Endpunkt […] schon gesetzt, gefunden, gesichert“ sind,49 ist die „wirkliche“ in der Erinnerung mehrstellig. Nur in den Formen ihrer Äußerung, „in“ und nicht „durch“ Sprache, in der „offenen Struktur der Erinnerung als der Wechselwirkung des Schwebens der Einbildungskraft.“50 Aber gerade durch eben dieses, „durch den wissenden Bezug auf das, was von ihr unterschieden bleibt“, kann Sprache zum „Residuum“, zum „Asyl“ werden.51 Es ist gerade diese „Mehrstelligkeit“, die ein schöpferisches Erkanntwerden, ein schöpferisches Seiner-Selbst-Innewerden ermöglicht. Oder für die Herausforderungen der Gegenwart formuliert: Als ein schöpferisches Ursprungsverhältnis in Sprache vermag Literatur erfahrene Kontingenz zu gestalten und Weisheitskompetenz zu aktivieren.52 Hier liegt eine religiöse Dimension begründet, die, wie Ulrike Draesner formuliert, kein „Streugut“ ist, das man weglässt oder hinzufügt. Die sich vielmehr nur im „Raum zwischen Leser und Text“ eröffnet. Als eine „Atmosphäre“, die man „im Schreiben stärken oder herunterspielen“, aber die man nicht „ausschalten“ kann, wenn es denn um etwas „im eigentlichen Sinne Literarisches“ geht: die „Teilung des Raums, Verknotung von Bedeutungen, Mehrdeutigkeit.“53 Was eine Erzählung ausmacht, dieses im eigentlichen Sinne Literarische, benennt Siri Hustvedt mit dem Wort yonder, das, wie sie von ihrem Vater, dem Literaturwissenschaftler Lloyd Hustvedt, gelernt hat, ein Wort „zwischen hier und dort“ ist.54 „[A]us dem Rohmaterial der Welt“, also aus Träumen, Wünschen, aus Phantasien und Erinnerungen, „gemacht“, ist eine Erzählung eine „Bewegung zwischen dem, was da ist, und dem, was nicht da ist, ein Fließen vom Henrich, Grund im Bewußtsein, 769. Henrich, 762. Kreuzer, Logik von Zeit und Erinnerung, 477. Kreuzer, Lektüre, 116. Dazu gehört die Fähigkeit, vorübergehend einen Perspektivwechsel einnehmen zu können, die Fähigkeit zur Selbstdistanz, Emotionswahrnehmung und Emotionsakzeptanz, die Möglichkeit zur Empathie, Fakten- und Problemlösewissen, Fähigkeit zum Kontextualismus, Werterelativismus, Selbstrelativierung, Ungewissheitstoleranz, Fähigkeit, mit Paradoxien zu leben, Humor (vgl. Sachsse). 53 Draesner, Schreibende geben Auskunft, 184. 54 Hustvedt, Nicht hier, nicht dort, 9.

48 49 50 51 52

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Gesehenen zum Ungesehenen.“55 Denn Wörter leben „in einer Zone zwischen Anwesenheit und Abwesenheit“ und können darum auch zu dem sprechen, „was fehlt“.56 Für diese Wahrnehmungen, deren Konturen schweben, bedarf es dessen, was Paul Auster als „Kunst des Hungerns“ bezeichnet. Eine Kunst „des Verlangens“, in der „Gewissheit […] Zweifeln“ weicht, in der der Vorgang selbst wichtiger wird als die Form und doch zugleich Klarheit notwendig ist. „Eine solche Kunst beginnt mit dem Wissen, dass es keine richtigen Antworten gibt. Und deshalb kommt man nicht daran vorbei, die richtigen Fragen zu stellen. Man findet sie, indem man sie lebt.“57 Das bedeutet mit ZoÚ Jenny die Ermutigung, „das Augenmerk auf das Kleine zu lenken, um dort das Große zu entdecken“, „und anstelle des Ausrufezeichens die Emanzipation des Fragezeichens zu setzen.“58 Aber die Fragezeichen beziehen sich nicht allein auf die äußere Handlung, nicht auf das bloße Verhalten der Gestalten, sondern vor allem auf Prozesse äußerer und subtiler innerer Veränderungen, die die „Komplexität des moralischen und affektiven Lebens“ umfassen.59 Nur deshalb sind Erzählungen „Medien der Interpassivität.“60 Nur deshalb können sie eine stellvertretende Funktion einnehmen. Eine Leserin, ein Leser kann sich selbst als andere, als anderer erfahren und verstehen. Eine Wahrnehmung, die von Ellen Dissanayake, die eine der Wenigen ist, die schon seit Längerem den Zusammenhang von Kunst und Hirnforschung bedenkt, präzisiert wird: Bestimmte Emotionen werden in fiktionalen Situationen zum Teil erst bewusst wahrnehmbar.61 Diese Zumutung der Literatur ist nicht einfach, die Versuchung, das Glück des Innewerdens „auf Gemütlichkeit“ zu reduzieren, ist ständig gegenwärtig. Bezüglich ihres Romans Der Ruf des Muschelhorns gefragt, „warum das erste Kapitel ,in der ländlichen Idylle‘ so kurz ist und mit dem ,abrupten Tod’ der Großmutter endet“, antwortet Jenny : „Aber ist der Tod schon einmal zur rechten Zeit gekommen und ist er nicht selbst dann abrupt, wenn wir ihn vorausgesehen haben?“ Der Tod der Großmutter markiert gleichzeitig das Ende eines Abschnitts in Elizas Leben. Wir haben also, genau wie auch die Protagonistin, nur einen kurzen Einblick, einen fragmentarischen Ausschnitt aus dem Leben dieser alten Frau erhalten. Das erste Kapitel endet damit, dass die Meerschaumpfeife in tausend Stücke zerbrochen am Boden liegt, so, wie Eliza genau in diesem Moment vor ihrem Leben steht, als wäre es ihr 55 56 57 58 59 60 61

Ebd., 142. Ebd., 143. Auster, Kunst des Hungers, 17. Jenny, Das Vollkommenste ist ein Fragment, 86. Ricceur, Zeit und Erzählung, II, 19. Stoeliger, Narration, 42. Eibl, Animal Poeta, 283.

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aus den Händen gefallen und sie stünde nun vor den Trümmern. Auf den folgenden hundert Seiten wird Eliza immer wieder von neuem vor Trümmern stehen, sich aufrappeln, um daraus hervorzugehen, weil ihr Leben ja weitergehen muss. Um dann, am Ende, mit dem Muschelhorn, dem Erbe, im buchstäblichen Sinn ,in Einklang’ zu kommen.62

Der „Einklang“, von dem Jenny spricht, ist „keine glatte Harmonie“, er ist nicht „ohne Schrecken“, vielmehr ein Glück, das sich durch „Brüche, Kanten und Störungen“ auszeichnet, aber in dem doch alles zu einer inneren Balance findet und in einem Innewerden zusammenspielt.63 Die zeitgenössische Schriftstellerin weiß sich in dieser Herausforderung nicht allein. Flaubert hat es für Madame Bovary nicht besser gewusst, er hat sie nicht um seinen „schriftstellerischen Finger gewickelt“, sondern er hat sie „ernstgenommen“ und „ihr ein Leben gegeben“. Er hat sie laufen lassen, und das heißt: ins Messer laufen lassen. In die zahllosen Messer, die in jedem Leben aufklappen, um es zu zerstückeln in Abschnitte, Fragmente. […] Er hat Madame Bovary, schlicht gesagt, in Schuld und Unwürde, mitleidlos, einen Suizid begehen lassen.64

Mitleidlos – oder nicht vielmehr in der Würde, eben von all diesem in diesem Leben zu erzählen? Erzählungen können die Empfindsamkeit stärken, die Geschichten, die sich um uns herum abspielen, überhaupt zu erkennen, die „existentiellen Momente“, die sie ausmachen, wie Christiane Burbach in Bezug auf die Wahrnehmung des Alter(n)s in der Literatur der Gegenwart aufgezeigt hat.65 Die Emanzipation des Fragezeichens ist wie ein Licht, das in Geschichten leuchtet, die nicht mehr und nicht weniger sein wollen als ein Fragment: „Das Vollkommenste ist ein Fragment.“66 Fragment, die in der Praktischen Theologie so wirkkräftig gewordene Denkfigur Henning Luthers, die „das UnvollständigBleiben“, das „Abgebrochene“67 theologisch ernst nimmt, verweist zum einen auf das Vergangene, zum anderen auf ein Noch-nicht-Vollendetes, das es aber doch bereits in sich trägt. Fragment – das heißt lebendig zu sein in „Schmerz und Sehnsucht“, im Schmerz über Verletzungen, zugefügte und erlittene, über widerfahrene Verluste und Niederlagen, in der Sehnsucht und der Hoffnung auf noch nicht Sichtbares, im unruhigen Sinn für noch nicht reale Möglichkeiten.68 62 63 64 65 66 67 68

Jenny, Das Vollkommenste ist ein Fragment, 87. Vgl. Lehnerer, Lesebuch, 65. Jenny, Das Vollkommenste ist ein Fragment, 88. Burbach, Moments, 207. Kafka, zit. in: Jenny, Das Vollkommenste ist ein Fragment, 85. Ebd., 161. Vgl. Luther, Identität und Fragment, 167.

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Jenny bezieht sich auf Franz Kafka. Einen Autor, der sich „nie durch literaturtheoretische Thesen [hat] belehren lassen, nur durch das Leben selbst.“69 Einen Autor, der darum auch für Benjamin entscheidend war. Das Thema seines Kafka-Essays ist „durch den Zusammenhang von Körper und Vergessen strukturiert“.70 Der Körper ist selbst Ort des Gedächtnisses. „So wie der K. im Dorf am Schloßberg lebt der heutige Mensch in seinem Körper : ein Fremder, Ausgestoßener, der nichts von den Gesetzen weiß, die diesen Leib mit den höheren weiteren Ordnungen verbinden.“71 Nichts anderes als die Verbindung des Körpers und seines Wissens mit den höheren Ordnungen ist das Thema der m¦moire involontaire. Es sind die „in den Gliedmaßen deponierten Gedächtnisbilder, von denen Proust spricht.“72 Die dialektischen Bilder bedürfen der messianischen Lesung: Lesung nicht nur des Raumes, sondern, „die Entstellungen, die der Messias zurechtzurücken, einst erscheinen wird“, sind wie Benjamin über Kafka schreibt, „gewiß auch solche unserer Zeit.“73 Und, wie mit Sigrid Weigel hinzuzufügen ist, auch „solche des Körpers und der Sprache.“74 Diese Bilder tragen zugleich affektive Schlüsselkomponenten von Erfahrungen, die das Empfinden eines Kern-Selbst betreffen, wie der Psychoanalytiker, Entwicklungspsychologe und Säuglingsforscher Daniel Stern beobachtet hat. Sie können darum zum entscheidenden Ausgangspunkt einer verlorenen Narration werden.75 Das „Asyl“76 der Sprache, die Bergung des Sinns gerade durch den Bezug auf das, was von ihr unterschieden bleibt, bezieht sich auf dieses Er-Innern. Jenes andere Wissen, das zugleich der Gewalt entrinnen lässt. Er-Innern ist das Vermögen als auch der Anspruch, dem Rückfall in vorfindliche Gewaltverhältnisse zu widerstehen.

IV.

„Nur über diesen Körper“

Im Rahmen der Künste hat Christiane Burbach auf die Bedeutung des Schreibens als performative und transformative Geste hingewiesen.77 In diesem Zu69 70 71 72 73 74 75 76 77

Luther, Identität und Fragment, 161. Weigel, Entstellte Ähnlichkeit, 77. Weigel, Franz Kafka, 548. Weigel, Entstellte Ähnlichkeit, 77, in Bezug auf Benjamin I.2, 613. Benjamin, GS II, 433. Weigel, Benjamin, 78. Stern, Lebenserfahrung, 366. Kreuzer, Lektüre, 116, Anm. 53. Vgl. Burbach, Schreiben, 99.

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sammenhang ist die Metapher der so genannten „anderen“ Hand von Bedeutung. Die „andere“ Hand weist auf das Körpergedächtnis, den Leib als Ort des Gedächtnisses hin.78 Walter Benjamin schreibt an Gretel Adorno: „Der WB hat – und das ist bei einem Schriftsteller nicht selbstverständlich – darin aber sieht er seine Aufgabe und sein bestes Recht – zwei Hände.“79 Es geht hier nicht um eine unsichtbare Hand, sondern um die im Sinne von Deleuze zu verstehende „haptische Autonomie“ der Hand, der Hände, die sich nur entwickelt, wenn sich die motorische Kontrollfunktion des Bewußtseins derart zurückzieht, daß die Hand selbst bildkonstitutiv verfährt. Dies macht auch ihre Bedeutung für die literarische Produktion aus.80

Von hierher wird das Schreiben selbst als inszenatorischer Akt verstanden. Darum kann in einer Poesietherapie das phänomenale mit dem reflexiven Bewusstsein verbunden werden. Unter Poesietherapie versteht Silke Heimes „jedes therapeutische oder selbstanalytische Verfahren […], das durch Schreiben“– und das meint kreatives, therapeutisches, literarisches und (auto) biographisches Schreiben – „den subjektiven Zustand eines Individuums zu bessern versucht.“81 Keiner bestimmten Schule verpflichtet, gehört die Poesietherapie zu den „expressiven und kreativen Therapien, die über Förderung der schöpferischen Potentiale, der Wahrnehmungs- und Erlebnisfähigkeit und der Einsicht in relevante lebensgeschichtliche Konflikte zur Heilung und Persönlichkeitsentwicklung beitragen.“82 Im Ausdruck des Schreibens geht es vor allem darum, auf dem Weg der Sprache Spuren zu sich selbst, zu vielleicht verlorenen Dimensionen des eigenen Lebens wahrzunehmen, zu anderen, zur Welt, vielleicht wieder und neu auch zu Gott zu finden. Dabei stehen Ausdruck und Wahrnehmung nicht gegeneinander, sondern im Ausdruck können sich ein vertieftes Verständnis und eine intensivere Wahrnehmung erschließen. Dieses

78 79 80 81 82

Zur Tradition der Verbindung der Hand zur memoria vgl. Pethes, ebd., 124 ff. Benjamin, Passagen, 1141, vgl. Pethes, Mnemographie, 134. Pethes, Mnemographie, 133. Heimes, Schreiben, 17. Zur Geschichte der Poesietherapie, vgl. a. a. O., 10 ff. Heimes, Schreiben. Poesietherapie als Ausdruckstherapie kann in einem weiten Spektrum Anwendung finden. Bei psychiatrischen, neurotischen und somatischen Krankheiten, bei psychosomatischen Erkrankungen, zum Beispiel aus dem rheumatischen Formenkreis oder bei Asthma bronchiale, und allgemein in krisenhaften Lebenssituationen kann Poesietherapie heilend wirken. Sie dient aber auch zur „Vorbeugung und Psychohygiene“, was nicht nur in den medizinischen Bereich der Vorbeugung fällt. Hier liegt vielmehr ein Potential, das in seiner salutogenetischen und Ressourcen bildenden Kraft auch in der Seelsorge zu entdecken ist.

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Potential, Gegenwart zu schaffen, ist das Entscheidende in der Ausdruckstherapie des Schreibens. Die Dimensionen, die mit dem Schreiben ins Spiel kommen, sind andere als in der mündlichen Gesprächssituation. Die Bedeutung von Schrift, von Sprache, die sich im Schreiben formiert, der Worte, die im Prozess des Schreibens zur Gestalt finden, ist eine andere als im direkten Gegenüber des Gesprächs. Im Schreiben kann etwas zur Sprache kommen, das sich der mündlichen Kommunikation entzieht, für das sich in der Gesprächssituation vielleicht keine Worte finden. Luise Reddemann schreibt, dass der kreative Akt des Schreibens mit Bereichen in Berührung bringen kann, „zu denen wir sonst keinen Zugang hätten.“83 Das gilt besonders auch angesichts des „Unerinnerbare[n] und Unvergessliche[n]“,84 nicht nur der frühesten eigenen Entwicklung, sondern auch angesichts des Verwobenseins der eigenen Geschichte in transgenerationellen Weitergaben von Erfahrungen, die sprachlos geblieben sind und wie ein „Stein auf dem Boden eines Sees“ liegen mögen.85 Schreiben kann auf Spuren des bisher Sprachlosen führen, auf Spuren dessen, was bisher geschützt war vor Sprache und Wahrwerdung. Der Prozess des Schreibens kann über das individuelle Gedächtnis hinaus in die Leerstellen auch des kollektiven Gedächtnisses führen. In den Impressionen aus dem Roman Aus einem dunklen Garten von Sophie Brandes kommen in wechselnden Erzählperspektiven das Leben der Romanheldin und die Geschichte der Familie mit ihren traumatisierenden Themen von Flucht und Vertreibung ins Verstehen und Empfinden. Der Prozess des Schreibens trägt die Möglichkeit in sich, die transgenerationelle Macht von Krieg und Fluchterfahrungen, von Gewalt, von Angst und Sprachlosigkeit aufzudecken, ins Erleben zu bringen. Schreiben wird zum Ereignis seelisch-körperlicher Wahrnehmung. Die Autorin beschreibt, wie sich in Form von bedrängenden und beunruhigenden körpernahen Gefühlen wie Atemnot, Schwäche und Todesängsten ein innerer Auseinandersetzungsprozess entwickelt, der es ihr ermöglicht, die verdrängte Vergangenheit als Erinnerung zugänglich zu machen und nachträglich zu verarbeiten.86

Als Zentrum seiner Philosophie des Alters in und angesichts der Einsicht in das eigene Leben als Stückwerk, ermutigt Leopold Rosenmayer dazu, die eigene Geschichte neu und anders zu schreiben. „Das alte Ich kann sich nur wandeln, 83 Reddemann, Überlebenskunst, 24. 84 Frank, The Unrememberable and the Unforgettable, zit. in: Kraft, Psychoanalyse, Kunst und Kreativität, 36. 85 Vgl. Janus (Hg.), Geboren im Krieg, 227. 86 Brandes, Garten, 32.

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wenn es eine andere Geschichte darüber erzählt, wer es selbst ist und war. So wird ein Horizont darüber aufgerissen, wer es noch sein könnte.“87 Solche Erfahrungen betreffen nicht nur ältere Menschen, sondern, wie Sabine Bode in ihren Aufzeichnungen von Erzählungen der in den 1960/70er Jahren Geborenen zeigt, auch Menschen in der mittleren Generation, die unter der Deutungsmacht der Konstruktionen von Familienerzählungen in ihren eigenen Wahrnehmungen und Empfindungen blockiert und bis heute in ihrer eigenen Identität verletzt sind.88 Im Schreiben kann bisher Unsagbares und Unerhörtes auf das Papier und zu Gehör kommen, sagbar und wirklich werden, für einen selbst und vor und mit anderen. Weil im Schreiben etwas wahr, wahrer werden kann, kann die Frage des Schreibens zum Konflikt zwischen der Loyalität den Eltern gegenüber und der Suche nach dem eigenen Leben führen. Loyalität den Eltern gegenüber hat oft sehr viel eigenes Leben blockiert. Hier wird die Differenzierung, dass Klagen nicht Schuldzuweisungen sind, lebenswichtig. So kann Schreiben dazu verhelfen, sich den entscheidenden Fragen zum eigenen Leben und zur Gestaltung der eigenen Zukunft zu stellen. Es wird einer nicht bleiben, der er war, schreibt der Schriftsteller Patrick Roth. Im Unterschied zu Benjamin bezieht sich Roth auf C.G. Jung. Über „Die Toten in James Joyce’ Dubliner“ schreibt er : Die Zeit war für ihn gekommen, seine Reise gen Westen anzutreten’, dieser bewußte Entschluß zur eigentlichen Reise: Das ist die Gabriel-Conroy-Sekunde. In dieser Sekunde späten Erkennens öffnet sich alles, die enge Welt Dublins wird aufgelöst, dissolviert,89

das heißt, sie wird in der „bis dahin unsichtbare[n] Schicht“, deren „Auftauchen die ganze Geschichte hindurch angebahnt wurde“, sichtbar.90 „In den kleinen Raum seines Zimmers im Gresham-Hotel scheint das All, die Enge ich-besessenen Trachtens öffnet sich auf ein Universales, eine Vision, Einsicht in große, übermenschlich umfassende Zusammenhänge.“ Wie spät sie auch kommt, in dieser einen Sekunde kann „tot gelebtes Leben lebenstief reifen“ und sich darin ein Leben noch „sinn-voll runden“.91 Roth spricht von einer Suchbewegung, die sich von zwei Seiten vollzieht, von Seiten des Schreibenden und von Seiten des „Stoffes“, der im Schreibenden „tief […] vergraben“ ist, „kein Bewußtsein mehr streift“ und doch „gleichzeitig hoch

87 88 89 90 91

Rosenmayr, Schöpferisch altern, 44. Vgl. Bode, Kriegsenkel. Roth, Ins Tal der Schatten, 62. Ebd., 63. Ebd., 62.

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lebendig“ ist:92 eine Perspektive, die sich auch bei Heimes findet, mit der sie zum Schreiben zu ermutigen sucht. Sie zitiert Andr¦ Breton: „dass in jedem Augenblick in unserem Bewusstsein ein unbewusster Satz existiert, der nur darauf wartet, ausgesprochen zu werden.“93 Für Roth ist es die Figur des Thomas, die im schöpferischen Prozess leitend wird: Im Moment, da er seine Hand in die Seite des Auferstandenen legt – Roth wagt den Vergleich „wie die Feder in Tintengrund“ – „schreibt sich das Gefundene, der gefundene Stoff, das gefundene Corpus, von selbst. […] Das Bild vom Zweifler, der Jesus die Hand in die Seite taucht, ist ein Bild vom Wort, das noch nicht geschrieben ist“.94 Der Weg führt nur durch die Tiefen, ins Dunkle, über Vergänglich-Konkretes. „Nur über diese materielle Welt, jetzt und hier. Nur über diesen Körper, an den ich Hand anlege, jetzt und hier.“95 Roth spricht vom auferweckenden Schreiben, einer Epiphanie, in der „das Andere zu mir kommt, mit mir lebt, den Sehenden verwandelt. Und wie wird verwandelt? Indem ich erkenne, wie ich erkannt bin.“96 In der Geschichte von Maria am Grab (Joh 20) entdeckt Roth eine Lücke, eine Leerstelle, einen Moment, den der Text der Bibel überspringt. Einen Moment einer entscheidenden Bewegung: Maria geht an Jesus, den sie für den Gärtner hält, vorbei. Hier muß es einen Moment gegeben haben – in diesem Vorbeigehen –, da beide, Jesus und Maria, voneinander abgewandt standen. […] Gott und Mensch – das ist der Moment –, sehen einander nicht mehr. Stehen auseinander-gestellt, bis plötzlich das Vorbeilaufen der Maria Jesus sich wenden lässt. Er muß sich gewandt haben, als er ihren Namen aussprach.97

Erst bei der Namensnennung – Maria – setzt der Text wieder ein. Das Entscheidende ist für Roth das Ausgelassene, jener entscheidende Moment der Wandlung: „Jesus selbst ist ein ,Sichgewandthabender‘. Er wendet sich – noch bevor Maria von Magdala sich wandte.“98 Die Magdalenensekunde: diese Sekunde der Wiedererkennung von Mensch und Gott: „einer ist jetzt im Auge des anderen. […] Eine völlige Wandlung.“99 92 93 94 95 96 97 98

Ebd., 12. Heimes, Schreib es, 24. Roth, Ins Tal der Schatten, 13 f. Ebd., 22. Ebd., 53. Ebd., 109. Ebd., 110. Roth interpretiert: „Gott wandelt sich, sagt dieses Bild, durch unser Suchen nach Ihm, ja selbst durch unser An-Ihm-Vobeigehen noch: wandelt er sich, um sich nach uns zu wenden nämlich, in seinem Verlangen zu sehen, das heißt: bewusst gesehen zu werden“ (ebd.). 99 Ebd., 111.

„Dynamische Präsenzen“. Zur Poetik des Er-Innerns

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Die existentiellen Momente des Menschlichen sind in der unendlichen Lebendigkeit des auferweckenden Gedächtnisses Gottes bewahrt. Und erkannt. Und darin verwandelt. Für Gott und Menschen, zum Glück.

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Die Praxis jüdischer Segenssprüche als Anregung für christliche Spiritualität

Segenssprüche Über wohlriechendes Öl: Gelobt seist du, Ewiger, unser Gott, König der Welt, der du wohlriechendes Öl erschaffen. Wenn es blitzt, sowie beim Anblick hoher Gebirge oder großer Wüsten: Gelobt seist du, Ewiger unser Gott, König der Welt, der das Schöpfungswerk vollbracht. Bei donnern, Erdbeben oder Sturm: Gelobt seist du, Ewiger, unser Gott, König der Welt, deine Kraft und Allmacht erfüllt die Welt. Beim Anblick des Regenbogens: Gelobt seist du, Ewiger, unser Gott, König der Welt, der du des Bundes gedenkst, treu deinen Bund hältst und dein Wort erfüllst. Beim ersten Anblick blühender Bäume im Frühling: Gelobt seist du, Ewiger, unser Gott, König der Welt, der du nichts hast fehlen lassen in deiner Welt und in ihr gute Geschöpfe und gute Bäume erschaffen hast, damit die Menschen zu erquicken. Beim Anblick vorzüglicher Gewächse oder ausgezeichnet schöner Geschöpfe: Gelobt seist du, Ewiger, unser Gott, König der Welt, der du solche besitzest in deiner Welt. Beim Anblick eines Zwerges oder Riesen: Gelobt seist du, Ewiger, unser Gott, König der Welt, der du die Geschöpfe mannigfaltig gebildet. Beim Ankauf eines Hauses oder beim Anziehen eines neuen Kleides sowie beim Genuss einer jeden Frucht: Gelobt seist du, Ewiger, unser Gott, König der Welt, der du uns hast Leben und Erhaltung gegeben und uns hast diese Ziele erreichen lassen. Beim Anziehen eines neuen Kleides: Gelobt seist du, Ewiger, unser Gott, König der Welt, der du die Nackten bekleidest. Beim Empfange einer für den Empfänger und andere freudige Nachricht: Gelobt seist du, Ewiger, unser Gott, König der Welt, der du gütig bist und Gutes erweist. Beim Empfange einer Nachricht vom Tode eines Nichtverwandten: Gelobt seist du, Ewiger, unser Gott, König der Welt, gerechter Richter.

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Wer seinen Freund nach einem Jahr wieder erblickt: Gelobt seist du, Ewiger, unser Gott, König der Welt, der du die Toten belebst. Wenn man wiedererstandene Gotteshäuser sieht: Gelobt seist du, Ewiger, unser Gott, König der Welt, der du die verwaiste Stätte wiederhergestellt. Siddur, S. 291

Im Siddur, dem jüdischen Gebetbuch und wichtigsten Buch für die religiöse Praxis im Leben des Einzelnen und der Gemeinde, findet sich folgende Anweisung: Beim ersten Anblicke blühender Bäume im Frühling [ist zu sagen]: Gelobt seist du, Ewiger, unser Gott, König der Welt, der du nichts hast fehlen lassen in deiner Welt und in ihr gute Geschöpfe und gute Bäume erschaffen hast, damit die Menschen zu erquicken1.

Es geht hier um eine im Frühjahr alltägliche Situation, die sicher bei den meisten Menschen ein Gefühl der Freude und des Glücks auslöst. Aber diese durch und durch profane Situation wird von dem Betrachter, der mit dem Siddur aufgewachsen ist, transformiert: Indem er den vorgesehenen Segensspruch ausspricht, wird sie zu etwas Spirituellen, Heiligem. Das deutsche Zitat steht in der zweisprachigen Ausgabe des Siddur, die in Deutschland benutzt wird, dem hebräischen Original gegenüber. In diesem ist aber nicht „gelobt“, sondern „baruch“, d. h. „gesegnet“ zu lesen. Von diesem „baruch“ ist der Oberbegriff ”Brachot”, Segenssprüche (Singular : Bracha) abgeleitet.2 Sie nehmen im Siddur ein besonderes Kapitel ein3, finden sich aber auch an zahlreichen anderen Stellen integriert in Gebete und Liturgie. Hundert solcher Segenssprüche sollen jeden Tag ausgesprochen werden, wie Rabbi Meir (2. Jh. n. Chr.)4 vorschreibt, in Ableitung von der hundertfachen Ernte, mit der Isaak gesegnet wurde. Dieser war anlässlich einer Hungersnot auf Gottes Anweisung in das Land der Philister gezogen, wo ihm das Land und Nachkommen wie Sterne am Himmel verheißen wurden, es heißt: „Isaak säte in dem Lande und erntete desselben Jahres hundertfältig, denn der Herr segnete ihn“5. Nun ist aber das Auffallende beim Vergleich der Erzählung über Isaak und der Stelle im Siddur, dass erstere unserem Verständnis von Segen entspricht, näm1 Siddur, a. a. O., S. 291. 2 In der Alltagssprache kommt das Wort “Baruch” oder im Plural „Baruchim” häufig bei der Begrüßung und auf Schildern am Ortseingang vor in der Zusammensetzung, als „Baruchim habaim“, d. h. „Gesegnet, die da kommen“, im Sinne von “Willkommen“. Es handelt sich um ein Zitat aus Psalm 118:26: „Gesegnet, der da kommt im Namen des Herrn“, was an dieser Stelle auch im Siddur mit „gesegnet“ übersetzt ist, 207. 3 Siddur, a. a. O., 289 – 292. 4 Men 43b, nach: Encyclopedia Judaica (EJ), a. a. O., Bd. 4, 488. 5 Genesis 26:12.

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lich von Gott als dem Urheber -„doch der Segen kommt von oben“, wie es in Schillers Glocke heißt – und dem Menschen als Empfänger des Segens, dass sich die Sache aber beim Segensspruch umgekehrt verhält, denn hier segnet der Mensch Gott, der Segen kommt also sozusagen „von unten“. Der Besonderheit dieses menschlichen Gottsegnens soll in diesem Aufsatz nachgegangen werden. Die Segenssprüche waren bereits seit biblischer Zeit in weiten Teilen der Judenheit gebräuchlich und wurden im 1. Jh. n. Chr. zusammengefasst und in den täglichen Gebeten vorgeschrieben. Daher ist davon auszugehen, dass Jesus und seine Jünger und Jüngerinnen sie als selbstverständliche religiöse Praxis rezitierten. Ein Blick auf diese in der theologischen Auseinandersetzung mit dem Judentum wenig beachteten religiösen Elemente könnte daher das christliche Verständnis von jüdischer Frömmigkeit erweitern und vertiefen – und möglicherweise sogar die eigene Spiritualität anregen.

I.

Die rabbinische Tradition der Segenssprüche

Das Wort „baruch“ ist nicht austauschbar, denn im Siddur finden sich auch zahlreiche gebräuchlichere Ausdrucksformen des Dankes, des Lobes, der Ehrerbietung usw., die aber nicht mit „baruch“ eingeleitet werden, z. B. heißt es in Psalm 118: „Danket dem Herrn, denn er ist sehr freundlich“ „hodu“, nicht „baruch“. Aber „baruch ata“ unterscheidet sich von Bekundungen des Dankes. Für einen Empfänger oder Beschenkten ist der Dank immer eine angemessene, ja eine zu erwartende Reaktion, er bezieht sich auf die Gabe. Bei dem „Baruch“ geht es eher um eine Beurteilung, der Beschenkte maßt sich ein Urteil an über das Handeln des Gebers, ja über sein Wesen, und nimmt damit eine andere, eine „höhere“ Position ein. In der hebräischen Bibel kommt diese Einleitung nur zweimal vor, in der Übersetzung ist sie jedoch oft nicht zu erkennen, so in der Züricher Bibel: „Gelobt seist du, o Herr, lehre mich deine Satzungen“6, oder in I. Chronik 29:10: „Und David pries den Herrn vor der ganzen Volksgemeinde mit den Worten: Gepriesen seist du, Herr…“. Es müsste aber übersetzt werden: „Gesegnet seist du, o Herr“. Die rabbinische Tradition hat die Diskussion über die Segenssprüche im Talmud, in der Mischna, im Traktat Brachot niedergelegt und in späteren Jahrhunderten ausgiebig weitergeführt. Die Mischna ist ein in sechs ,Ordnungen‘ organisiertes Werk des Rabbi Jehuda ha-Nassi, der es ungefähr um 200 n. Chr. abschloss. In ihr ist die mündliche Lehre, wie sie sich bis zu jener Zeit angesammelt hatte und bis dahin nicht offiziell schriftlich niedergelegt 6 Psalm 119:12.

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worden war, thematisch kompiliert, vor allem, aber nicht nur, in Bezug auf die Halacha7.

Die Halacha ist „jener Teil der Mündlichen Lehre, der sich mit der Anwendung der Schriftlichen Lehre (Bibel) auf veränderte Zeitumstände und unvorhergesehene Bedingungen beschäftigt“. Sie „ist verpflichtend und ihre Festlegung daher das Vorrecht der rabbinischen Autoritäten. Sie ist – per definitionem – nie endgültig abgeschlossen, sondern Ihre Entwicklung ein kontinuierlicher Prozess“8. Die Segenssprüche sind das erste Traktat im Babylonischen Talmud, diesem grundlegenden Werk des Judentums, und gerade wegen der Anrufung und Segnung Gottes, sind sie sozusagen als „das Präludium“ zum Talmud zu verstehen9. Aus der umfangreichen rabbinischen Literatur soll hier die Einteilung der Segenssprüche übernommen werden, die Moses Ben Maimonides (1135 – 1204) vorgenommen hat10. Er unterscheidet drei Typen: Erstens die, die bei einem Genuss, z. B. einem besonderen Anblick, Duft oder Nahrung gesprochen werden, zweitens die, die vor der Ausübung einer religiösen Pflicht, einer Mizwa, angebracht sind, z. B.: „Gesegnet seist du …, der uns befohlen hat, in der Laubhütte zu wohnen“11, und drittens die, die im liturgischen Rahmen, z. B. als Preis und Dank im Gottesdienst rezitiert werden, wie: „Gesegnet …, der die Gebeugten aufrichtet“12. Die folgende Betrachtung konzentriert sich vor allem auf den ersten, persönlichen Typ, da er vorwiegend an das Erleben des Einzelnen gebunden und weniger in die jüdische Liturgie integriert ist, von den beiden anderen Typen werden nur einzelne Beispiele herangezogen, die im Zusammenhang erhellend sind. In der jüdischen Praxis können die dieser Gruppe zuzuordnenden Sprüche von Einzelnen ausgesprochen werden, es bedarf dazu keines Minyans13. Allen Segenssprüchen gemeinsam, sozusagen als Erkennungsmerkmal, ist die Einleitung „Baruch“, d. h. „Gesegnet …“. Im Englischen heißen sie „Benedictions“, jiddisch fordert man zum „Benschen“ auf. Wenn man von dieser lateinischen Übersetzung des Hebräischen ausgeht und sie ins Deutsche überträgt mit der Bedeutung von „benedicere“ als „bejahen, gutheißen“, dann trifft das sehr gut den jüdischen Sinn. Dann bejaht der Mensch in diesem Zwiegespräch, was Gott geschaffen hat oder ihm zustoßen lässt. Und dies ist etwas qualitativ anderes als ein Dank. Wenn ein Jude an Pessach die Mazzot, die 7 8 9 10 11 12 13

Radday, 87. Radday, 86. Encyclopedia Judaica, Bd. 4, 587. Yad Brachot 1:4, nach Encyclopedia Judaica, Bd. 4, 487. Siddur, 218. Siddur, 5. Anwesenheit von zehn religiös volljährigen jüdischen Männern.

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ungesäuerten Brote, isst, diese aber vielleicht nicht mag, so muss er sich nicht bedanken, sondern er würdigt und feiert mit dem Verzehr und dem Segensspruch: Gesegnet seist du, „Ewiger, unser Gott, König der Welt, der uns durch seine Gebote geheiligt und uns befohlen hat, Mazza zu essen“14, die individuelle und kollektive Befreiung aus der Knechtschaft in Ägypten, d. h. Gottes Handeln und Heilsplan, und akzeptiert dies für sich. Der Spruch kommt einem Bekenntnis gleich und geht weit über den Dank für ein Lebensmittel hinaus. Das zweite Wort im Segensspruch ist „ata“, du, 2. Pers. Singular, und bezieht sich auf ein persönliches Verhältnis, einen nahen Partner. Diese Nähe Gottes zu fühlen, unabhängig von heiligen Orten, Räumen oder Ritualen, veranlassten die Rabbinen zu der einleitenden Formel, wobei sie sich auf Psalm 16:2 bezogen: ,Ich habe gesagt zu dem Herrn: Du bist ja der Herr! Ich weiß von keinem Gut außer dir‘ und fügten hinzu: ,Wer so betet, sollte sich selbst immer so sehen, als stünde ihm die Schechina gegenüber15.

Schechina ist der Name für die göttliche Gegenwart, „die numinose Gegenwart Gottes in der Welt“16, er wird meist gebraucht für besonders erkennbare, „sichtbare“ Offenbarungen Gottes in der Geschichte des Volkes Israel, z. B. vor Moses am Dornbusch und bei der Gabe der Tora am Sinai, in der Feuersäule und der wegweisenden Wolke beim Exodus, als „Offenbarung des Heiligen inmitten des Profanen“17. Die Schechina geht mit dem Volk Israel ins Exil und leidet dort mit. Es folgt das dritte Wort im Segensspruch: Ewiger, „Adonai“, das Tetragramm JHWH, das nur im Gebet als „Adonai“ ausgesprochen, niemals als Jehova, beim Zitieren lediglich „der Name“ genannt wird, gefolgt von dem vierten Wort „elohenu“, übersetzt „unser Gott“. Diese beiden Anreden sind keineswegs synonym. Der erste Begriff „Adonai“ steht für die persönliche Beziehung, nicht nur des einzelnen Juden zu Gott, sondern von „Am Israel“, also dem jüdischen Volk, zu Gott, der vor allem gnädig und barmherzig ist, der mit seinem Volk einen bestimmten Plan hat. „Elohenu“, von „Elohim“, ist der allgemeinere Aspekt, das „höhere Wesen“, „der Höchste“. Die unterschiedlichen Gottesnamen werden also unterschiedlichen Aspekten Gottes zugeordnet und nicht auf unterschiedliche biblische Verfasser oder Quellen zurückgeführt. Es folgt die weitere Ausweitung: „Melech Haolam“, d. h. „König der Welt“, der zuständig ist für alle und alles, was er geschaffen hat. Die Hervorhebung der Königsherrschaft dürfte erst im 2. Jh. n. Chr. eingeführt worden sein, das Motiv dafür war wohl der 14 15 16 17

Die Pessach-Haggadah, 49. Garfield, a. a. O., 61 (Übersetzung aus dem Englischen, auch in späteren Zitaten: M.S.). Encyclopedia Judaica, Bd.14, 1349. Encyclopedia Judaica, Bd.14, 1350.

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Wunsch, Gott als den ausschließlichen Herrscher und König zu preisen, als Protest gegen den römischen Kaiserkult18. Im nächsten Teil des Segensspruchs wird dann jeweils Bezug genommen auf die Gelegenheit oder den Anblick oder die Erfahrung, die den Segensspruch sozusagen „auslöst“, d. h. ihn angebracht sein lässt, und die dazugehörenden Ausführungen, z. B. wie oben die blühenden Bäume, die die Reaktion hervorrufen: „der nichts in seiner Welt hat fehlen lassen“. An dieser Stelle muss noch einmal auf die Problematik der deutschen Übersetzung im Siddur verwiesen werden19. Während am Anfang des vorliegenden Aufsatzes aus diesem Buch die deutsche Version zitiert wurde, steht nun hier die wörtliche Übersetzung aus dem Hebräischen20. Die beiden Versionen unterscheiden sich im Gebrauch der 2. bzw. 3. Person Singular. Die deutsche Übersetzung sagt: „du hast … geschaffen“, das hebräische Original dagegen wechselt vom Du zum Er : „er hat geschaffen …“. Dabei trägt der Wechsel von der zweiten in die dritte Person einem wichtigen Aspekt in der Gott-Mensch-Beziehung Rechnung: Denn es gibt keine simple Ich-Du-Beziehung zwischen Mensch und Gott im Judentum… und die Rabbinen drücken durch diesen Wechsel beides gleichzeitig aus, die Intimität und die Ehrfurcht, und verweisen damit darauf, dass Gott wie kein anderer ist21.

Segenssprüche sollten hörbar ausgesprochen, nicht nur gedacht werden, „so dass das Ohr hört, was der Mund sagt“, wie es auch beim Gebet in der Synagoge weithin üblich ist. Damit unterscheidet sich die Rezitation des Spruchs von einem flüchtigen Gedanken, der schnell verflogen ist und für den man keine Verantwortung übernehmen muss, von einer Aussage, einem statement, mit dem man behauptet: So ist die Welt, so verhält es sich.

II.

Segenssprüche bei bestimmten Anlässen

Kehren wir zu unserem ersten Beispiel zurück, zum „Anblicke blühender Obstbäume“, und versuchen diese Gelegenheit zu analysieren. Es handelt sich zwar um Obstbäume, aber es gibt noch nichts zu essen, der Vorübergehende wird jedoch angehalten, sich schon jetzt zu „erquicken“, am bloßen Anblick, 18 Encyclopedia Judaica, Bd. 4, 485. 19 Im hebräisch-deutschen Siddur, wie er in deutschsprachigen Ländern benutzt wird, kann man zwar von der Korrektheit des hebräischen Textes ausgehen, die deutsche Übersetzung ist jedoch oft ungenau, wie im Folgenden erkenntlich wird. Auch die Tempora werden oft unrichtig wiedergegeben. Daher ist in diesem Aufsatz immer das hebräische Original die Grundlage. 20 Siddur, 291. 21 Garfield, 62.

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nicht erst beim Verzehr. Der Segensspruch erhebt ihn über die materielle, triebhafte (Hunger) Ebene, in eine Freude nichtmaterieller Art, in ein geistiges, ja ästhetisches Erlebnis. Einer der bedeutendsten jüdischen Religionsphilosophen der Moderne, Joseph B. Soloveitschik, hat den ästhetischen Aspekt als wichtigen Impuls in der jüdischen Ethik herausgearbeitet. Er leitet seine Ausführungen ab von der Interpretation des Maimonides zu Genesis 2:17, der den Baum der Erkenntnis von „tow we ra“, im Deutschen meist übersetzt mit „Gut und Böse“, interpretiert als die Erfahrung von angenehmen und unangenehmen Empfindungen, „pleasant and unpleasant emotions“22. Allerdings, so urteilt der Religionsphilosoph Zwi Kurzweil in seiner Analyse der modernen Impulse des traditionellen Judentums, scheint Soloveitschik noch über Maimonides hinauszugehen, da er ausdrücklich behauptet, dass Adams … Bewusstsein gesteuert wird nicht von dem Guten, sondern von dem Schönen, ein ethisches Konzept, das völlig auf ästhetischen Aspekten beruht23.

Mehrere Segenssprüche sind vorgesehen für solche angenehmen und ästhetischen Erlebnisse, für „nehenim“, d. h. „Genüsse“, wie diese Gruppe von Segenssprüchen genannt wird: Einer für wohlriechende Kräuter, ein anderer für wohlriechende Gewürze, ein anderer für wohlriechendes Öl, ein weiterer für das Wiedersehen mit einem Freund, einer bezieht sich auf den Empfang einer freudigen Nachricht, auf den Ankauf eines neuen Kleides oder Hauses. Einer gilt für den „Anblick vorzüglicher Gewächse und ausgezeichnet schöner Geschöpfe – Gesegnet, …, dem solches in seiner Welt gehört“24. Praktizierenden Juden sind die Reaktionen mit einem Segensspruch in Fleisch und Blut übergegangen, und schon bei den Kindern können sie nachhaltigen Eindruck hinterlassen: „Früher hat ihm der Vater erlaubt, am Freitagabend den Wein für den Segensspruch einzugießen“25, erinnert sich ein Heranwachsender wehmütig in einer Erzählung von David Grossman. Ein anderes Beispiel für die Internalisierung der Segenssprüche, welches die Situation aber gleichzeitig pervertiert, findet sich in einem Roman der religiösen Schriftstel22 Kurzweil, 94. 23 Ebd. 24 Diese Begeisterung für „ausgezeichnet schöne Geschöpfe“, z. B. Menschen, wird allerdings sozusagen abgefangen durch die auffallenderweise nur bei diesem Genuss vorgeschriebene Wendung, „dem solches in seiner Welt gehört“, eine Bemerkung, die ja auf alle Erscheinungen zutrifft. Der hebräische Text hebt den Dativ „ihm“ hervor und klingt wie im hessischen Dialekt „es ist ihm“ etwas umständlich und holprig. Solche sprachlichen „Stolpersteine“ bedeuten in der jüdischen Exegese meist, etwas innezuhalten, da es mit der Stelle etwas auf sich hat. In diesem Sinn kann der einmalige Hinweis auf den „göttlichen Besitzstand“ durchaus als Schranke verstanden werden: Diese Schönheit existiert, gehört aber zu mir, sie ist unantastbar. 25 Groossman, 319.

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lerin Mira Mag¦n. Eine junge unverheiratete Frau schnüffelt heimlich im Schrank ihres Angebeteten, sie sucht nach Erinnerungen an dessen verstorbene Ehefrau, an der er immer noch hängt, weshalb sie keinen Erfolg bei ihm hat. Während sie im Schrank wühlt, bemerkt sie: „Die Stoffe verströmten einen Duft nach Stärke, aber ich war nicht gekommen, um den Segensspruch ,bore minei besamim‘ [der die Arten der Gewürze erschafft] zu sagen …“26. Ähnlich internalisiert werden die Segenssprüche für weitere Gelegenheiten: „Beim Anblicke des Regenbogens“ lautet der vorgesehene Spruch: Gesegnet seist du, „der du des Bundes gedenkst, treu deinen Bund hältst und dein Wort erfüllst“27. Hier wird aus einem (vor allem in früheren Zeiten) geheimnisvollen Phänomen eine feste und sichere Verankerung in der Heilsgeschichte und einer göttlichen Zusage für alle Zeiten. Bei Donner, Erdbeben oder Sturm wird das erschreckende Erlebnis eingeordnet in die gute Schöpfung: „Gesegnet…, dessen Kraft und Allmacht die Welt erfüllt“28. Die beunruhigende Emotion wird sozusagen kanalisiert und in eine beruhigende Bahn gelenkt. „Beim Anblick eines Zwergen oder Riesen“ ist die vorgeschriebene Reaktion: „Gesegnet …, der die Geschöpfe mannigfach bildet“29. Die mögliche Irritation durch die Wahrnehmung wird hier nicht unterdrückt oder verdrängt, sondern wieder gelenkt durch den Blick auf eine gute Ordnung, in der die auslösenden „Geschöpfe“ als unterschiedlich aber gleichwertig und selbstverständlich definiert werden. Oder man stelle sich das Leben in einem osteuropäischen „Schtetl“ vor und dort eine arme jüdische Familie, die kaum weiß, wovon sie leben soll. Die Frau legt ein Holzscheit ins Feuer, um eine einfache Suppe zu kochen. Als sie das Holzstück aufnimmt, bemerkt sie seinen angenehmen Duft, und sie sagt, wie sie es gelernt hat, wie es die Tradition vorschreibt: „Gesegnet seist du, Ewiger, unser Gott, König der Welt, der wohlriechendes Holz schafft“30. Dass ein frommer Mensch seinen Dank ausdrückt, wenn er Nahrung zum Überleben oder zur Stillung seines Hungers erhalten hat, ist in den meisten Religionen üblich. Aber hier geschieht etwas anderes, hier wird nicht für die vegetative Lebenserhaltung, die Nahrung oder das nötige Heizmittel gedankt. Nein, hier wird für einen Duft gedankt. Man könnte sagen, dass ist in einer Situation existenzieller Not wirklich 26 Mag¦n, 50. Dieser Segensspruch wird u. a. am Ende des Schabbats, bei der Hawdala-Feier gesprochen, wenn man aus einem eigens dafür bestimmten kleinen mit Gewürzen gefüllten Gefäß eine Prise eingeatmet hat. Durch das angenehme Gefühl soll der Abschied vom Feiertag und der Einstieg in den Alltag erleichtert werden. 27 Siddur, 291. 28 Ebd. 29 Ebd. 30 Ebd.

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überflüssig, man hat andere Sorgen. Aber die Logik der Segenssprüche verändert die Situation und verändert sozusagen den Status der Segnenden, indem sie sich selbst als im Besitz von etwas sehr Kostbarem, „Unnötigen“, Überflüssigen, eigentlich Teuren definiert. Sie sagt aus: Ich habe einen Luxus und schreibt damit ihrer armen Lebenswirklichkeit eine positive Qualität zu. Diese Interpretation darf keinesfalls als Bagatellisierung der Armut in Richtung von „arm aber glücklich“ missverstanden werden, das wäre gerade beim Judentum nicht angebracht, das schnelle und großzügige Hilfe vorschreibt, über Almosen weit hinausgehend. Aber es ist eine Wahrnehmungserziehung, die beim Urteil „survivre n’est pas vivre“ ein kleines bisschen in Richtung „vivre“ hebt. Soziologisch wird der Begriff der Armut bekanntlich durch mehrere Faktoren bestimmt, nicht zuletzt durch das Gefühl der Hilflosigkeit, Selbstunwirksamkeit und dem Mangel an Geborgenheit. Der Segensspruch, der über die materielle Notlage erheben kann, entspricht der Situationsbeschreibung eines vor den Nationalsozialisten aus Deutschland nach Palästina/Israel geflohenen Juden: „Wir waren nicht arm, wir hatten nur kein Geld!“31. Bleiben wir weiter bei den Segenssprüchen vom Typ „Genuss“, z. B. nach dem Genuss von Früchten. Nach dem Genuss eines Apfels wäre zu sagen: „Gesegnet …, der die Frucht des Baumes schafft“32. Aber bei Datteln, Oliven, Granatäpfeln und Trauben heißt es: „Gesegnet seist du … für das Land und die Frucht des Baumes“33. Der feine Unterschied, das Land betreffend, ist entscheidend: Letztere Früchte gehören zu den herausgehobenen „Sieben Sorten des Landes“ (sheva minim), nämlich des Landes Israel, Weizen, Gerste und Honig vervollständigen die sieben Sorten, die in Deut. 8:8 verheißen werden. Dieser Segensspruch verbindet also, egal in welchem Teil der Welt er gesprochen wird, mit dem „Land der Väter“, und erhebt das Erlebnis damit wieder aus der materiellen und auch aus der individuellen Ebene, es bettet ein in die besondere Geschichte des Volkes Israel und in seine Gemeinschaft. Beim „Kiddusch“ am Schabbat werden die Segenssprüche über Wein und Brot gesprochen: „…, der die Frucht des Weinstocks erschafft“, und: „…, der das Brot aus der Erde hervorbringt“34. Diese Segenssprüche dürften zweifellos von Jesus und seinen Anhängern gesprochen worden sein, das christliche Abendmahl geht auf diese Situation zurück35. Es gibt keinen Segensspruch über Fleisch, da in diesem Fall ein Leben ausgelöscht wurde. Der übliche Segensspruch über ein neues Kleid, „…, der die 31 32 33 34 35

Persönliche Mitteilung eines Freundes. Siddur, 290. Ebd. Siddur, 136. Der Wechsel in der Reihenfolge von Brot und Wein (Schabbat) zu Wein und Brot (Abendmahl) ist ein Thema für sich.

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Nackten kleidet“36, sowie der damit verbundene Wunsch: „Erneuere Dich!“, den einem jede Verkäuferin in einem israelischen Laden nach dem Kauf eines Kleidungsstücks zuruft, ist untersagt, wenn es sich um ein Gewand aus Leder handelt, weil hier ebenfalls ein Tier sein Leben lassen musste. Dabei spielt es keine Rolle, ob das Leder von einem „reinen“ oder „unreinen“ Tier stammte, beide haben das gleiche Gewicht. Im Garten Eden war kein Fleischgenuss vorgesehen, er wird erst in Gen. 9: 4 – 7 unter großen Bedenken und Einschränkungen sozusagen als Zugeständnis erlaubt. Es gibt auch einzelne Mizwot, nur für Juden vorgeschriebene Gebote (im Gegensatz z. B. zum Dekalog), die entgegen dem üblichen Verhalten immer ohne Segensspruch ausgeführt werden, z. B. das Almosengeben. Wahrscheinlich ist es ein Problem, die Schöpfung und das Handeln Gottes für vollendet zu bezeichnen, d. h. „Gesegnet seist du Herr, unser Gott, König der Welt…“ zu sagen, wenn so offensichtliche Mängel wie Almosenbedürftigkeit vorliegen. Auch die Rückgabe von Diebesgut ist zwar ein Gebot, jedoch wird es ohne Segensspruch ausgeübt, aus dem nachvollziehbaren Grund, dass ja eine kriminelle Handlung voranging. Es gibt auch einen Segensspruch für eine traurige Situation, „beim Empfange einer Nachricht vom Tode eines Nichtverwandten“37: „Gesegnet seist du, Ewiger, unser Gott, König der Welt“, und weiter nur kurz: „gerechter Richter“. Hier ist der Verweis auf „Nichtverwandte“ anrührend, weil berücksichtigt wird, dass nur in diesem Fall von einer Akzeptanz des Ereignisses als gerecht ausgegangen werden kann, was für einen nahen Angehörigen möglicherweise eine Unaufrichtigkeit oder Überforderung wäre. In diesem Fall ist nur Platz für Trauer, vielleicht Sprachlosigkeit, da mischt sich keine Vorschrift ein, so wenig wie beim anderen Extrem, der außergewöhnlichen Freude in den Tagen nach der Hochzeit, wo die Brautleute eine Woche von vielen Vorschriften befreit sind, denn wer hätte jetzt dafür Gedanken38 ! Der Segensspruch „gerechter Richter“ ist übrigens sehr gebräuchlich, auch für Säkulare ist er offenbar eine Hilfe, wenn sie keine Worte finden bei einer Todesnachricht oder bei einer Beerdigung. Ich erinnere mich an eine Szene in einem israelischen Roman39, in dem sich zwei areligiöse junge Männer über eine gemeinsame ehemalige Freundin unterhalten. Der eine berichtet, dass sie vor kurzem eine Abtreibung vorgenommen habe, worauf der andere sagt: „Gesegnet sei der gerechte Richter“, was einerseits die noch vorhandene Vertrautheit mit den Segenssprüchen zeigt, andererseits aber auch den Zynismus im Umgang mit der religiösen Tradition. Die hohe Anerkennung von Gelehrsamkeit und Studium40 findet ihren Aus36 37 38 39 40

Siddur, 291. Ebd. Encyclopedia Judaica, Bd.4, 585. Leider konnte ich die Quelle für dieses Zitat nicht mehr rekonstruieren. Schultz, 1996.

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druck in zwei für den Anblick von Gelehrten vorgesehenen Segenssprüchen. Dabei wird unterschieden zwischen dem Anblick eines Toragelehrten und dem eines „sonstigen weltberühmten Gelehrten“41. Im ersten Fall lautet der Text: „Gesegnet seist du, Ewiger, unser Gott, König der Welt, der von seiner Weisheit denen mitgeteilt, die ihn fürchten“. Im zweiten Fall heißt es: „…, der von seiner Weisheit Fleisch und Blut mitgeteilt“. Beide Versionen drücken Respekt aus, beiden Gelehrtengruppen steht ein Segensspruch zu, in der ersten Formulierung wird hingewiesen auf die Verbundenheit und Gleichgesinntheit von Gott und Gottesfürchtigen, in der zweiten wird die Erfüllung der menschlichen Aufgabe, die Erde zu gestalten und schöpferisch tätig zu sein, gewürdigt. Ein wichtiger Segensspruch ist der „Zeitsegen“: „Gesegnet …, der uns hat Leben und Erhaltung gegeben und uns hat diese Zeit erreichen lassen“42. Dieser Segensspruch wird individuell oder kollektiv ausgesprochen bei der jährlichen Wiederkehr eines Festes, aber auch bei so profanen Gelegenheiten wie dem ersten Genuss einer Frucht der neuen Ernte. Der Segensspruch gilt also in gleicher Weise anlässlich der kollektiven Freude über die Wiederkehr des Pessachfestes und dem ganz individuellen Glücksgefühl beim ersten Spargelessen im Jahr. Diese bewusst krasse Nebeneinanderstellung verdeutlicht die gleiche Heiligkeit der Augenblicke und damit die Intention der Segenssprüche: „Der Hauptzweck der Segenssprüche ist es, uns zu allen Zeiten an unseren Schöpfer zu erinnern“43.

III.

Das spirituelle Potential der Segenssprüche

Dieses Ziel könnte erreicht werden, wenn man die hundert empfohlenen Segenssprüche auf die üblichen Wachstunden umrechnet, dann wäre etwa alle zehn Minuten ein Segensspruch fällig. Diese Rechnung stimmt allerdings nicht ganz mit der Realität überein, da der größte Teil nicht bei persönlichen Gelegenheiten, sondern innerhalb der feststehenden täglichen Gebete (morgens, nachmittags und abends) ausgesprochen wird. In der amerikanischen kommentierten Standardausgabe des Gebetbuches, dem ArtScroll Siddur, wird die Intention der Segenssprüche so ausgeführt: Ideally, every act and pleasure should be undertaken with an awareness that it is God who is being served and He who dispenses to us our needs and desires. In order to help incalculate this awareness in the Jewish People, the Sages … composed the various blessings and ordained the occasions upon which they must be recited. The very fact 41 Siddur, 292. 42 Ebd. 43 ben Maimonides: Yad Brachot, nach Encyclopedia Judaica Bd.4, 488.

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that the day is filled with events that require blessings provides constant inspiration. The thinking person finds himself drawn ever closer to the loving God by the awareness that every delicious morsel and soothing drink affords him a fresh opportunity to recognize and thank the Giver of all. In the words of the Talmud, whoever enjoys this world’s pleasure without reciting a blessing is tantamount to one who steals from God (Berachot 35a)44.

In diesem Zitat wird die Spiritualität als Ziel der Segenssprüche benannt: Die Tatsache, dass der Tag gefüllt ist mit Ereignissen, die einen Segensspruch nahelegen, versorgt mit dauernder Inspiration. Es mag überraschen, gerade den Begriff der Inspiration hier zu finden, vielleicht hätte man in Anbetracht der Fülle von Geboten eher Begriffe wie Ordnung, Disziplin, Beständigkeit oder Regelmäßigkeit erwartet. Aber in dieser verbreiteten Ausgabe des Siddur wird – sicher beruhend auf der Erfahrung der praktizierenden Juden – gerade die kreative, spontane, bereichernde und erhebende Wirkung hervorgehoben. Bei den Segenssprüchen für „Genüsse“ fällt die Differenzierung ins Auge, z. B. je eine eigene Bracha für wohlriechende Kräuter, wohlriechende Gewürze, wohlriechendes Öl und wohlriechendes Holz. Diese „Zerlegung“ der Wohltaten in einzelne Elemente ist ein typisches pädagogisches und seelsorgerliches Mittel in der orthodoxen Praxis, um die Fülle der Beweise göttlicher Fürsorge bewusst zu machen45. Das bekannteste Beispiel dafür findet sich in der Pessach-Haggada, die am Sederabend gelesen wird. Da werden fünfzehn „Schritte“ oder „Stufen“ der Errettung beim Exodus in einem Lied aufgezählt, z. B.: Hätte er auch für uns das Meer gespalten, doch uns nicht trocken durch dessen Mitte hindurchgeführt, dies allein wäre für uns genug gewesen. Hätte er uns auch trocken durch dessen Mitte geführt, doch unsere Verfolger nicht hinein versenkt, dies allein wäre für uns genug gewesen. Hätte er auch unsere Verfolger hinein versenkt, doch unseren Bedarf in der Wüste nicht so reichlich vierzig Jahre uns zugeteilt, dies allein wäre für uns genug gewesen. Hätte er auch unseren Bedarf in der Wüste reichlich vierzig Jahre uns zugeteilt, doch uns nicht das Manna genießen lassen, dies allein wäre für uns genug gewesen. Hätte er uns auch das Manna genießen lassen, doch uns nicht den Sabbath geschenkt, dies allein wäre für uns genug gewesen. Hätte er uns auch den Sabbath geschenkt und uns nicht zum Berge Sinai hingeführt, dies allein wäre für uns genug gewesen…46.

„D.h. jede einzelne dieser hergezählten Wohltaten und jedes für uns geschehene Wunder wäre schon an und für sich ein hinlänglicher Grund für uns gewesen zur ewigen Dankbarkeit gegen den Schöpfer“47 . Der Refrain „Dajenu“ d. h. „dies wäre uns genug gewesen“, gibt diesem Lied seinen Namen, das mit einer 44 45 46 47

Siddur, 224. Die Engländer benutzen die Redewendung „to count your blessings“. Die Pessach-Haggada, 39. Hirsch, 3, Anm. 59.

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schmissigen Melodie vor allem von den Kindern mit Begeisterung geschmettert wird – und damit wohl seinen Zweck erfüllt. Die Beweise göttlicher Fürsorge so zu feiern, sie so in einzelne Akte differenziert zu genießen, ist Erziehung zur Freude, wie sie auch der Forderung nach hundert Segenssprüchen zugrunde liegt. Sich im Tagesverlauf immer wieder Anlässe für Genuss und Freude bewusst zu machen, ist Sorge für die eigene Seele, die Gemeinde dazu zu erziehen, ist Seelsorge. Die Entscheidung, sein Leben mit Segenssprüchen zu gestalten, sich auf diese Zäsuren einzulassen, für diese herausgehobenen Augenblicke innezuhalten und sich für die Schechina zu öffnen, ja, sie zu genießen, ist Seelsorge und Spirtualität. Die jüdische Literatur zu den Brachot befasst sich aber im allgemeinen weniger mit deren Spiritualität als mit Fragen ihrer historischen Entwicklung und Verbreitung: Wann wurden sie gesammelt, welche Unterschiede gab es in den verschiedenen Ländern, in denen die Juden lebten, sind sie auf biblische oder rabbinische Begründung zurückzuführen? Ein wichtiges Thema sind auch immer Fragen der korrekten Ausübung: Ab welcher Tageszeit darf das Morgengebet, und damit der erste Segensspruch, gesagt werden? Darauf soll hier nicht eingegangen werden. Aber es wird schon im Talmud diskutiert über die für den spirituellen Aspekt wichtige Frage, ob man, wenn es einen dazu drängt, einen eigenen Segensspruch erfinden darf. In sehr alten Zeiten war das erlaubt, wurde dann aber ausgeschlossen, um den göttlichen Namen – bei dauernder Anrufung – nicht zu missbrauchen: „Wer einen unnötigen Segensspruch rezitiert, wird betrachtet wie der Übertreter eines Gebotes“48. So ist bei manchen Brachot, z. B. dem erwähnten „Zeitsegen“ gewissermaßen als „Sicherheitsabstand“ ein Intervall von dreißig Tagen vorgesehen. Relevant ist auch die Diskussion, ob und wie weit und wann besonders intensive innere Beteiligung (Kavana) vorhanden sein muss, der wichtigste Hinweis dazu betrifft das Achtzehnergebet, das aus achtzehn Segenssprüchen besteht, bei dem in der Synagoge Ruhe herrschen muss49. Mit Einschränkung positiv entschieden wurde die für die Spiritualität bedeutsame Frage, ob man den Segensspruch, der sich auf ein persönliches Erlebnis bezieht, in der Muttersprache rezitieren darf50. Ein stark umstrittenes Thema ist der im Morgengebet vorgeschriebene Segensspruch für Männer : „Gesegnet seist du,…, der mich nicht als Frau erschaffen“51, gegen den vor allem die jüdische feministische Theologie heftig Einspruch erhebt. Während sich das liberale Judentum leichter mit Abänderungen oder Auslassungen tut, schlägt die orthodoxe Feministin Blue Greenberg unter großer Anfeindung 48 49 50 51

Encyclopedia Judaica, Bd 4, 487. Encyclopedia Judaica, Bd 4, 585. Encyclopedia Judaica, Bd 4, 487. Siddur, 5.

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vor, beide Geschlechter jeweils sagen zu lassen: „…, der mich als Mann erschaffen“ oder : „…, der mich als Frau erschaffen“52. Die Herabsetzung, als die der traditionelle Segensspruch von vielen Frauen erlebt wird, steht natürlich jeder spirituellen Bereicherung im Weg. Die Veränderungen gehen sehr schleppend oder gar nicht voran und können von Synagoge zu Synagoge verschieden sein53. Die deutsche Redewendung „das Zeitliche segnen“ ist ein Euphemismus und bezieht sich gerade nicht auf das Zeitliche, sondern bezeichnet dessen Ende und den Beginn der Ewigkeit. Vielleicht soll ein nun abgeschlossenes Zeitliches im Rückblick gesegnet werden. Die Zeit durch einen Segensspruch zu segnen, oder auch den „Zeitsegen“ zu sprechen, hat dagegen die ganz reale, irdische Situation, den Augenblick im Hier und Jetzt mit seinem konkreten Anlass im Blick. In dessen Verlauf widerfährt einem Menschen etwas, ein Genuss, ein Schrecken, eine Freude, jedenfalls etwas, das diese Situation für ihn zu einem besonderen Augenblick macht. Durch seine traditionelle jüdische Sozialisation erkennt der fromme Jude diesen Augenblick als einen besonderen, von anderen verschiedenen. Dieser Augenblick wird für ihn sozusagen zu einem „moment existentiel“54. Zwar bleibt der Genuss ganz irdisch und materiell, es findet keine, auch keine imaginierte, Transformation statt, aber die reale Situation wird herausgehoben und durch den Spruch mit der Nähe Gottes verbunden. Damit erhält der Augenblick die Dimension von Ewigkeit, vielleicht in dem Sinn, in dem es Hesse in Siddharta beschreibt: „Tief empfand er, tiefer als jemals, in dieser Stunde die Unzerstörbarkeit jedes Lebens, die Ewigkeit jedes Augenblicks“55. Das kann potentiell jeder Augenblick sein. Diese Offenheit schafft ein Gegengewicht zu zeitlichen Vorschriften bei vielen Geboten, wie die Zeiten für Feste, Gebete, Speisegesetze, Fasten, Trauern, Geschlechtsverkehr, Landwirtschaft usw.56, die fast einer Zeitbesessenheit gleichkommen. Es ist nicht die profane Sache, nicht die Frucht oder die Naturerscheinung, die gesegnet wird, sondern Gott wird gesegnet, der eine derartige Welt und „conditio humana“ geschaffen hat, bzw. im Präsenz: schafft, wie es im hebräischen Original oft heißt. Das ist eine völlig andere Erfahrung als Fausts Ausruf ge-

52 Greenberg, Vortrag in der Hochschule für Jüdische Studien Heidelberg, am 2. Mai 2012: „Women and Judaism: Yet To-Be Resolved Tensions Within the Tradition“. 53 In einer israelischen Synagoge, keineswegs in einem orthodoxen Viertel gelegen, habe ich erlebt, dass der Vorbeter des Morgengebets boykottiert, d. h. von der weiteren Leitung des Morgengottesdienstes für ein Jahr ausgeschlossen wurde, nachdem er darauf bestand, als Mann die für Frauen vorgeschriebene Version zu lesen: „Gesegnet,…, der mich nach seinem Willen erschaffen“, Siddur, 5. 54 Burbach, 199. 55 Hesse, 93. 56 Ausführlich dazu siehe Schultz, 1987.

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genüber dem erfüllenden, aber nicht über sich hinausweisenden Augenblick: „Verweile doch du bist so schön“. Der Vorgang ist typisch für die jüdische Spiritualität, die nicht „abhebt“ mit Räucherwerk und prunkvollen Ritualen, sie gingen mit der Zerstörung des Tempels zu Ende, und Instrumentalmusik ist am Shabbat – als „Werk“ – verboten. Nur ein Satz, ein Segensspruch, trennt den Werktag vom Tag der Werkruhe und verändert alles: „Gesegnet seist du Ewiger, …, der den Shabbat heiligt“57. Und nach fünfundzwanzig Stunden wird diese Pause vom Alltag wieder durch einen Segensspruch beendet: „ Gesegnet …, der unterscheidet zwischen Heiligem und Profanen, zwischen dem siebenten Tag und den sechs Werktagen … “58. Es ist jeweils nur ein Satz, der die (Lebens-)Welt verändert. Nur noch ein Brauch am Jom Kippur bringt einen Duft in die Synagoge: Wenn die Betenden nach den Stunden des Fastens ermattet sind, lässt man ein wohlriechendes Gewürz, etwa Rosmarin oder Gewürznelken, durch die Reihen wandern, um sich59 durch den Duft und den Segensspruch „Gesegnet …, der die Arten wohlriechender Kräuter erschafft“ zu beleben. Ein weiteres Element der Vergewisserung gerade in schweren Zeiten ist die Einbettung in die Gemeinschaft: „Elohenu“, „Unser Gott“, womit natürlich zunächst die Gemeinschaft der Juden gemeint ist. Man ordnet sich ein in die Kette der Generationen, die vorgefertigten Formeln beweisen: Schon Unzählige von uns und vor mir haben diese Situation bereits gekannt. Oft wird auch ausdrücklich Bezug genommen auf Überlieferungen der Heilsgeschichte, so bei den Festen, beim Exodus oder der Gabe der Torah. Ganz bestimmt wirkt sich auch das bereits erwähnte Präsenz in vielen Segenssprüchen als emotional stärkend aus, sagt es doch aus: Gott „mischt weiter mit“. Diese Wirkung einer Aussage im Präsenz ist bekannt vom Autogenen Training, wo die Autosuggestion eben nur in dieser Form gelingt: „Mein rechter Arm ist schwer“, und nicht: „wird schwer“, oder „soll schwer werden“. Die Bereitschaft, mit einem Segensspruch auf ein Erlebnis zu reagieren, kann zahlreiche emotionale und kognitive Vorgänge auslösen: Eine erhöhte Wahrnehmungsbereitschaft für die Außenwelt, das was mich umgibt, Menschen und Dinge, die Konzentration auf den Augenblick, auf das Hier und Jetzt, auf das, womit ich konfrontiert werde. Aber gleichzeitig wird eine Rückbesinnung auf das eigene Selbst bewirkt, ich reagiere, ich werde aktiv, ich sage etwas. Ich binde mich ein in die Werke des Schöpfers der Welt, ich bestätige, dass er gut handelt, ich sage: siehe, es ist sehr gut60. Der Blick kann so für einen Augenblick, einen 57 58 59 60

Siddur, 100. Siddur, 199. Siddur, 291 und Anm. 21. Genesis 1:25, 31.

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„moment existentiel“, „erlöst“ werden von dem Fokus auf Unvollkommenheit, Verderbtheit, Hilflosigkeit und Erlösungsbedürftigkeit. Das führt nicht zu einem Wegschauen von den Problemen der Welt, denn dagegen hat das Judentum starke ethische Vorgaben, und auch nicht zu einem Negieren von Klage und Zweifel, wofür an anderer Stelle ebenfalls Platz ist, auch liturgisch. Das Leben mit Segenssprüchen hat das Potential, Achtsamkeit, Wachheit, sowie ein Gefühl der Unabhängigkeit und Selbstwirksamkeit zu bestärken, und auch das von Hoffnung, Geborgenheit, Lebensfreude, Fülle und Reichtum. Das religiöse Erlebnis der Segenssprüche entspricht einer Einstellung, die in Patrick Roths Roman „Sunrise“ in einem Gespräch zum Ausdruck kommt, wo jemand sagt: „Nicht glauben sollt ihr, sondern erfahren“61. Die Reaktion dessen, der den Segensspruch sagt, geht immer von einer Erfahrung aus, nicht von einer theologischen Fragestellung, nur dass Gott der Schöpfer ist, ist die undiskutierte Voraussetzung. Ausgangspunkt ist immer ein Anlass, die Brachot werden gesagt anlässlich einer Erfahrung. Die hundert Segenssprüche beziehen sich also auf eine hundertfache positive Erfahrung, sie sind eine hundertfache positive Erfahrung. Diese hundertfache positive Erfahrung, diesen Segen, zurück zu spiegeln in hundert Segenssprüchen, und zwar fast „auf gleicher Höhe“, weist auf ein besonderes Verhältnis und eine besondere Kommunikation zwischen Mensch und Gott, dazu geeignet, beim Menschen das Gefühl von Selbstwert und Selbstwirksamkeit zu unterstützen. Die Segenssprüche sind wichtiger Bestandteil der jüdischen Tradition, und so wie viele Elemente, die das Christentum dem Judentum entnommen und in die eigene Praxis und Liturgie integriert hat62, könnte von ihnen auch für einzelne Christen und die Gemeinden eine spirituelle Anregung ausgehen. Allerdings, jüdisch gesehen, geht es hier um ein ganzes, sinnvolles kohärentes System, das ohne Lernen und Wissen nicht zu haben ist. Aber es bleibt denen, die sich – im weitesten Sinne – auf diese Tradition beziehen, frei gestellt, sich davon inspirieren zu lassen.

Literatur Art Scroll, S., New York 1987. Burbach, Ch., „Moments existentiels“, Wege zum Menschen 2,64, 2012, 199 – 207. Encyclopedia Judaica, Jerusalem 1971, Bd. 4. 61 Vom Autor zitiert in der Poetikvorlesung in der Universität Heidelberg am 22. Juni 2012. 62 Allerdings vermutlich in der Übersetzung von „Baruch“ mit „Gelobt“ statt „Gesegnet“, womit etwas Wesentliches, wie hier herausgearbeitet werden sollte, verloren geht.

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–, Jerusalem 1971, Bd. 14. Garfiel, E., The Service of the Heart. A Guide to the Jewish Prayer Book, New York 1958. Goldschmidt, L., Das Babylonische Talmud, Berlin 1930. Grossmann, D., Der Kindheitserfinder, Frankfurt a.M. 2011. Hesse, H., Siddharta, Frankfurt a.M. 622012. Hirsch-Hagada, Nach Rabbiner Samson Raphael Hirsch, Zürich 1988. Kurzweil, Z., The Modern Impulse of Traditional Judaism, New Jersey 1985. Magén, M., Klopf nicht an diese Wand, München 2001. Die Pessach-Haggadah (Hebräisch-deutsch), Tel Aviv 1990. Raddy, Y./Schultz, M., Ein Stück Tora. Auf den Spuren der Parascha. Arbeitsmappe 2, Frankfurt a.M. 1991. Schultz, M., „Erziehungshistorische Aspekte der Zeitstrukturierung im mittelalterlichen Judentum“, in: C. Rittelmeyer/E. Wiersing (Hg.), Erziehung und Bildung im Mittelalter und in der frühen Neuzeit, Hannover 1987, 179 – 227. –, „Der jüdische Gelehrte im vormodernen Europa“, in: R.W. Keck/E. Wiersing/K. Wittstadt (Hg.): Literaten – Kleriker – Gelehrte, Köln 1996, 207 – 220. Emet, S. S., Mit deutscher Übersetzung von Rabbiner Dr. S. Bamberger, Basel 1956 – 1964. Soloveitschik, J. B., „The Lonely Man of Faith“, Tradition 7/2, 1965, Neuauflage Jerusalem 2011.

Friedrich Heckmann

Einübung in die christliche Lebenskunst. Sterben und Tod – Trauern und Leben

I.

Dokumentation einer Lehrveranstaltung

Anleitungen zur Lebenskunst, Anweisungen zum guten Leben und Sterben gibt es zuhauf: die modernen, häufig esoterischen und die eher traditionellen der Philosophie- und Theologiegeschichte. Die kleine Anleitung De imitatione Christi des Augustiner-Chorherrn und großen spätmittelalterlichen Mystikers Thomas a Kempis ist nur eine unter vielen, die wir im Laufe der Philosophie- und der Theologiegeschichte zur Kenntnis nehmen können.1 Doch seine Erinnerung Hier hast du doch keine bleibende Stätte klingt auch in Zeiten der Wiederentdeckung der Lebenskunst und des sorgsamen Umgangs mit Sterbenden in Hospizen und durch Palliativmedizin wenig zeitgemäß. Thomas a Kempis Hinweis, dass Trübsal uns viel nütze und seine Aufforderung: Sei gern einsam und stille, kommen recht unzeitgemäß daher im 21. Jh. Christiane Burbach und ich haben in unseren Lehrveranstaltungen, die sich mit dem Lebensende beschäftigen, einen anderen Ansatz verfolgt. Es wären wohl auch kaum Hörer und Hörerinnen gekommen, wenn wir den Strang christlicher Lebenskunst stark machen würden, der bei Thomas a Kempis und anderen darauf zielt, das zu verachten, was vergänglich ist. Die ultimative Selbsterkundung angesichts des nahen Todes, die in dem Aufspüren nicht gebeichteter und nicht bereuter Sünden die Tür zum Himmelreich weit aufstoßen möchte, ist eine Zugang zur ars moriendi, der Studenten und Studentinnen eher unbegreiflich ist – und nicht nur ihnen. Jene Selbsterkundung und die Beschäftigung mit dem Himmel als Ort „künftigen Verbleibens“, die ebenfalls der Spiritualität des Sterbens zugerechnet wird, mag der römisch-katholischen Selbstvergewisserung vorbehalten bleiben, die JeanPierre Wils recht einseitig als ars moriendi bezeichnet.2 1 Von Kempen, Anleitung zum Leben und Sterben. 2 Wils, Über das Sterben, 23 ff.

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Mit meinem Beitrag in der Festschrift für Christiane Burbach über die Einübung in die christliche und philosophische Lebenskunst ziele ich auf eine zeitgemäße Einübung in die ars moriendi, die durchaus auch eine Spiritualität des Sterbens mit einschließt. Das, was wir in unseren Lehrveranstaltungen anstreben, ist aber erst einmal ganz pragmatisch den zukünftigen Berufen unserer Studentinnen und Studenten geschuldet. Sie sollen sich mit Sterben und Tod, Trauer und Lebensgestaltung auseinandersetzen, damit sie ihren Klienten und Klientinnen im Leben und im Sterben nicht schuldig bleiben, was zu einer professionellen Ausübung ihres Berufes gehört. Und dazu gehört unter anderem auch das Verstehen religiöser Bilder. Dazu gehört der Respekt vor einem Weg, der auch am Lebensende durch den Glauben geprägt ist. Natürlich ist eine Spiritualität des Sterbens in ein religiöses Weltbild eingebettet, das auch von „religiös unmusikalischen“ Helfern verstanden werden will. Wie der christliche Glaube und christliche Frömmigkeit schon immer zum Trauern und damit zum Leben helfen wollten und immer noch wollen, so kann christliche Sterbebegleitung bei Sterbenden, die sich in ihrem Leben und im Glauben auf ihr Sterben vorbereitet haben, hilfreich und tröstend sein. Dies fließt natürlich in unsere Lehrveranstaltungen ein. Zum anderen aber hat es neben der christlichen Kunst zu leben und zu sterben immer schon die philosophische Weise der ars moriendi gegeben, die nicht so leicht unter den Verdacht von Wils und anderen geraten kann, dass diese Sterbekunst lediglich ein begriffliches Gefäß sei, das die Kritik an der Sterbehilfe transportieren soll. Ich habe mit wenigen Worten eine Auseinandersetzung um die ars moriendi umrissen, die in der Beförderung einer ars moriendi einen Angriff auf Sterbehilfe und Euthanasie in den Niederlanden und in Belgien zum Hintergrund hat. Im Gegensatz zu dem katholischen Ethiker Wils will ich mit meinem Beitrag die Notwendigkeit einer durchaus christlich geprägten Sterbekunst unterstreichen und eine an unserer Fakultät überaus nachgefragte Lehrveranstaltung zur Sterbekunst dokumentieren und damit zugleich deutlich machen, wie notwendig und wichtig Lehrveranstaltungen zu Sterben und Tod – Trauern und Leben in den verschiedenen Wissenschaften sind. Ich meine die Wissenschaften, die sich im weitesten Sinn mit dem Leben beschäftigen. In diesen sollten die Curricula Vorlesungen und besser noch Seminare und Übungen zu Lebensende, zur Existenz von Sterben und Tod, zum Umgang mit Sterbenden und Toten, mit Trauer und Trauernden enthalten, um Studenten und Studentinnen im weitesten Sinne in der ars vivendi, deren Voraussetzung eine ars moriendi ist, zu bilden. Lehrveranstaltungen dieser Art gehören, so meine These, nicht nur in die Theologie und Philosophie und in unsere Studiengänge der Sozialen Arbeit, der Religionspädagogik und Diakonie, der Pflegewissenschaften und der Heilpäd-

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agogik, sondern vor allem auch in Medizin und in Recht, in geistes- und sozialwissenschaftliche Studiengänge, in Lehramts-Studiengänge, in Politologie und in Soziologie, aber auch in alle technik- und naturwissenschaftlichen Studiengänge, die sich mit menschlichem und anderem Leben beschäftigen und für sich in Anspruch nehmen, zu einem guten Leben zu helfen oder dem Leben zu dienen. Viele Semester haben Christiane Burbach und ich von unseren gemeinsamen und je verschiedenen biographischen und wissenschaftlichen Ausgangspunkten Lehrveranstaltungen an der Evangelischen Fachhochschule und später an der Hochschule Hannover angeboten und seit mehr als 20 Semestern ist daraus unser gemeinsames Seminar Sterben und Tod – Trauern und Leben geworden. In diesem Seminar versuchen wir in immer wieder neuen Ansätzen das Lebensende als den einen zentralen Punkt menschlichen Lebens – neben der Geburt – zur Sprache und den Studenten und Studentinnen nahe zu bringen. Als Lehrende sind wir in unseren Seminaren auch immer weiter Lernende gewesen, haben uns in eigener Authentizität eingebracht, verändert und versucht, die eigene ars moriendi weiter zu entwickeln. Ein Höhepunkt in dieser gemeinsamen Arbeit ist sicher das Buchprojekt Übergänge. Annäherungen an das eigene Sterben gewesen.3 An diesem Projekt haben Kollegen und Kolleginnen verschiedener Disziplinen mitgearbeitet, die sich von ihrer Arbeit und Disziplin her mit Sterbenden und mit dem Tod beschäftigen und sich nun ebenfalls von ihrer Professionalität her mit dem eigenen zukünftigen Sterben auseinandergesetzt haben. Nichts anderes machen die Studenten und Studentinnen in unseren Seminaren: Sich mit ihrer eigenen Sterblichkeit auseinandersetzen. Die Auseinandersetzung soll ihnen helfen, später in ihrem Beruf, dem Sterben anderer mit Empathie und professioneller Anteilnahme und Souveränität zu begegnen, soll den Studierenden in ihren Berufen helfen, sich berühren zu lassen, ohne sich selbst und ihre Aufgabe zu verlieren. Für die Entwicklung eines Curriculums Sterben und Tod, Trauern und Leben mit den entsprechenden Lehrveranstaltungen an unserer Hochschule und unserer Fakultät Diakonie, Gesundheit und Soziales wie an anderen Hochschulen und Fakultäten gibt es viele gute Gründe. Die Verdrängung der eigenen Sterblichkeit ist nach wie vor ein weit verbreitetes Phänomen und ein allgemein gesellschaftliches Problem. Ich kann hier auf eine Flut von Literatur verweisen, die in den letzten Jahrzehnten dazu geschrieben worden ist.4 Vielleicht ist Verdrängung auch nicht ganz das richtige Wort. Dirk Kohn redet davon, dass der Tod den Menschen regelrecht aus der 3 Burbach/Heckmann, Übergänge. 4 Vgl. u. a. Schreiber, Das gute Ende; Cesana, Bereden des Sterbens; Heller, Kultur des Sterbens.

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Hand genommen wurde in den letzten Jahrzehnten, wir quasi enteignet worden sind.5 Es hat sich viel geändert an diesem Krisenphänomen. Ich erinnere an die Entwicklung der Hospizbewegung, seit dem Ende der 80er Jahre des vergangenen Jh. auch in Deutschland. Zeitlich war das etwa zwei Jahrzehnte nach der Eröffnung des St. Christopher’s Hospice in London (1967) durch Cicely Saunders. St. Christopher’s Hospice war das erste Hospiz der Neuzeit, ein freundliches Haus und ein guter Ort, an dem Schwerkranke sterben konnten und können. Nahezu zeitgleich entwickelte sich ein für Deutschland neues medizinisches Fachgebiet, die Palliativmedizin. 1994 gründete sich die Deutsche Gesellschaft für Palliativmedizin (DGP), 1999 wurde ein erster Lehrstuhl für Palliativmedizin in Bonn errichtet. Heute vertritt der Deutsche Hospiz- und Palliativ Verband e.V. (DHPV) nahezu 1000 Hospizvereine und Palliativeinrichtungen mit rund 80.000 ehrenamtlichen und zahlreichen hauptamtlich Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen. Diese Zahlen kennzeichnen eine rasante Entwicklung und einen deutlichen Bewusstseinswandel in der Gesellschaft. Und es hat sich dennoch nur wenig geändert. Die Studentinnen und Studenten, die zu uns in die Seminare kommen, haben bis auf wenige Ausnahmen noch keine Menschen sterben sehen, geschweige denn Sterbenden beigestanden. Viele haben im Alter von 20 bis 25 Jahren noch nie einen toten Menschen, eine Leiche gesehen. Das Gefühl, dass Kinder und Jugendliche von Sterben und Tod fern zu halten seien, ist bei Eltern weit verbreitet und unsere Studenten sind häufig die Kinder, die eben nicht am Sterbebett der Großmutter gestanden haben, sind diejenigen, die nicht mit zur Beerdigung des Großvaters durften. Andere Studierende werden an medizinischen Fakultäten mit einem Studium konfrontiert, in dem Sterben und Tod keinen curricularen Stellenwert hat, medizinische Ethik allerhöchstens ein Nebenprodukt der Geschichte der Medizin ist und den Charakter eines Wahlfaches hat. Nach wie vor räumen wir in unserer Gesellschaft der Beschäftigung mit Sterben und Tod nur wenig Platz und Zeit im eigenen Leben ein. Nach wie vor versuchen viele Menschen, der Konfrontation mit den Tabus im Zusammenhang mit Sterben, Tod und Trauer möglichst auszuweichen. Menschen erleben sich und ihre Erfahrungen mit dem Sterben von Angehörigen und Freunden und beim Abschiednehmen als singulär, ihre Trauer als Störung des „Normalen“. Um bei dieser oft schwierigen Lebensaufgabe des Abschiednehmens nicht nur auf sich selbst gestellt zu sein und den Trauerprozess in konstruktiver Weise erfahren zu können, gibt es zwar die Möglichkeit professioneller Begleitung. Sie bietet Hilfestellung und Entlastung, hilft bei der Begegnung mit dem Tabu. Die Zahl von 80.000 ehrenamtlichen Helferinnen und Helfern in Hospizvereinen ist beeindruckend – und sie ist es doch nicht, wenn gesellschaftliche Strukturen 5 Kohn, Restrisiko.

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und kollektiv vorhandene Tabus eine Integration von Sterben, Tod und Trauer ins Leben hinein doch eher verhindern. Denn nach wie vor scheint mir die sozialwissenschaftliche Analyse von Norbert Elias Gültigkeit zu haben, dass der Tod in der Moderne weitgehend aus dem Alltag herausgedrängt worden ist.6 Nicht allein unsere Studenten und Studentinnen erschreckt und verstört der Tod der Mitmenschen über alle Maßen, vielleicht die meisten Menschen in unserer Gesellschaft. Norbert Elias interpretiert das als Verdrängung im psychoanalytischen Sinne: Die Lebenden werden aufgrund der Identifikation mit den Sterbenden und vor allem der Gestorbenen an den eigenen Tod erinnert, das macht Angst und deswegen wird der mögliche Tod eines älteren oder alten Verwandten ausgeblendet. So stirbt dann auch der 78jährige Großvater oder die 93-jährige Urgroßmutter noch plötzlich und unerwartet. Diese Erinnerung und Vergegenwärtigung erschreckt, weil der Tod in der Identifikation uns bedrohlich nahe kommt. In unseren Seminaren kommt es zu besonders intensiven Gesprächen, wenn Studenten oder Studentinnen von dem Sterben und/oder dem Tod eines Gleichaltrigen erzählen, von dem Tod eines Klassenkameraden, eines Freundes. Elias benutzt ja nicht zufällig den Freudschen Begriff der Verdrängung, wenn er von dem individuellen Problem an den eigenen Tod zu denken spricht. Die darüber hinaus gehenden sozialen Probleme der Verleugnung des Todes versteht Elias als einen Aspekt eines umfassenden Zivilisationsschubes, in dessen Verlauf elementare, animalische Aspekte des menschlichen Lebens und Zusammenlebens in einem „höheren Maße hinter die Kulissen des Gesellschaftslebens verlagert“ werden.7 Die Verlagerung des Sterbens und des Todes aus unserem gesellschaftlichen Leben, die Elias historisch wie sozialwissenschaftlich belegt, drückt sich vor allem in der sprachlichen Verschleierung des Sterbens und in der Unfähigkeit der Lebenden aus, in Gegenwart von Sterbenden emotional angemessen zu reden und sich mitzuteilen. So sind unsere Seminare an der Hochschule auch Orte der Auseinandersetzung mit sozialen Problemen der Verdrängung des Lebensendes, sie sollen helfen Sprachlosigkeit zu überwinden und dort sprachfähig zu werden, wo die Gesellschaft Sterben ausblendet und die Ausblendungen zu Verletzungen, Einsamkeit und unnötigen Beschwernissen Sterbender und ihrer Angehörigen führen. Die angesprochenen Ausblendungen sind es, die zu Überforderung der Professionellen führen. Unser Ziel ist es, den Studentinnen und Studenten Wissen zu vermitteln über die Umstände und Beschwernisse des Sterbens, aber auch über die vielen Lebensmöglichkeiten, die der Sterbeprozess noch mit sich 6 Elias, Einsamkeit, 19. 7 Vgl. Burbach/Heckmann, Übergänge, 224 f.

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bringen kann, vor allem wenn er länger andauert. Hier lässt sich sehr viel weitergeben, was sich in den etwa 25 Jahren Wirksamkeit der deutschen Hospizbewegung an Wissen im Umgang mit Sterbenden angesammelt hat. Und natürlich geht es in den verschiedenen Seminareinheiten – je nach Schwerpunkt – auch darum, dass das Sterben eines Menschen unermessliches Leiden mit sich bringen kann, das ausgehalten werden muss. Es geht uns darum, den Tod und die Umstände nach dem Sterben ins Leben hinein zu holen, Tabuisierungen des Todes zu hinterfragen und ihn den Studenten und Studentinnen nahe zu bringen als unabdingbaren Bestandteil und eben das Ende des Lebens, wie die Geburt der Anfang ist. Und drittens geht es uns darum, denen, die in helfenden Berufen mit und für Menschen arbeiten werden, die Trauer als eine notwendige und lebensstärkende Kraft aufzuzeigen, sie zu sensibilisieren für hilfreiche Trauerprozesse und destruktive Verdrängung der Trauer.

II.

Thematische Vielfalt: Ein Hinweis auf mannigfaltige gesellschaftliche Probleme

So unterschiedlich unsere Seminarschwerpunkte von Semester zu Semester auch sind, die Fragen der gesellschaftlichen Verdrängung von Sterben, Tod und Trauer werden im Seminargespräch thematisiert: Über die eigenen Erfahrungen der Studenten oder deren Fehlen erarbeiten sich die Seminarteilnehmer den gesellschaftlichen Umgang mit Sterben. Über die Frage, wie in meinem Dorf, in meiner Stadt gestorben wird nehmen die Studentinnen und Studenten den gesellschaftlichen Umgang mit dem Sterben wahr, erkennen den sozialen Wandel im Umgang mit dem Sterben und in der Art und Weise der Trauer. Über Fragen, wie sie selber mit Sterben, Tod und Trauer umgehen, tauschen sich Studentinnen und Studenten über unterschiedliche gesellschaftliche Entwicklungen aus. Sie sammeln und diskutieren Bilder und Auffassungen vom Tod, die sie in der Gesellschaft wahrnehmen, suchen vorherrschende Auffassungen vom Tod zu finden und erkennen die Breite der thematischen Vielfalt und der eigenen Fragen, die sich in den Seminardiskussionen häufig das erste Mal ergeben. Nach einer längeren Phase der Diskussion individuellen und gesellschaftlichen Umgangs mit Sterben, Tod und Trauer haben sich im Laufe der Semester in der thematischen Vielfalt – je nach Zielrichtung des Seminars in der Dichte unterschiedlich gewichtet – vier Themenkomplexe ergeben: 1. Sterben, Tod, Trauer und Auferstehung in den Religionen 2. Themen des Sterbens 3. Themen im Zusammenhang des Todes 4. Themen der Trauer

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Ad 1. Der erste Themenkomplex über Sterben, Tod, Trauer und Auferstehung in den Religionen muss im Seminarverlauf nicht unbedingt auch zeitlich das erste Themenfeld sein. Sicherlich legt sich die Frage nahe, wie denn der Umgang der Menschen mit Sterben, Tod und Trauer „früher“ gewesen ist, was sich historisch und religionswissenschaftlich dazu sagen lässt. Genauso sinnvoll aber ist es, an die Erfahrungen der Studierenden anzuknüpfen, die sie bei ihren Praktika im Feld sozialer Arbeit oder in der Gemeinde gemacht haben. So sind einmal historische Zugänge von besonderem Interesse, ein anderes Mal wächst das Interesse am Umgang der Menschen mit dem Lebensende in früheren Zeiten, der ja historisch immer auch ein religiöser gewesen ist, erst im Laufe der Lehrveranstaltung. Es hat sich in unseren Seminaren immer wieder herausgestellt, dass selbst im Bereich der eigenen Religion (Christentum bzw. Islam) vielfältige Wissenslücken bestehen. Das Interesse an anderen Religionen ist im Laufe der Jahre recht unterschiedlich gewesen. Ein durchgehendes Desinteresse hat es in der langen Zeit nie gegeben. Wenn wir ein überwiegend von Religionspädagogen und Religionspädagoginnen besuchtes Seminar gehalten haben, haben wir uns für die Behandlung der ägyptischen, altorientalischen und jüdischen Wurzeln deutlich mehr Zeit genommen. Neben Judentum, Christentum und Islam gab es immer wieder auch Vorlesungs- und Seminareinheiten zu Buddhismus, Esoterik, Schamanismus und deren Umgang mit Sterben, Tod und Trauer. Hierher gehören dann auch religiöse Antworten auf helfende Unterstützung für die Nöte, Angst und Trauer. Dass es vielen Studentinnen und Studenten schwer fällt, Elemente christlicher ars moriendi, Begleitung des Sterbens mit Gebeten, Psalmen und Liedern, Rituale der Trauer und des Trostes, seelsorgerlichen Zuspruch und andere tradierte Elemente des Umgangs mit Schmerz und Leiden zu verstehen, heißt nicht, dass sie diese ablehnen. Unsere Erfahrungen in den Lehrveranstaltungen zeigen, dass gerade diejenigen, die keinen oder nur wenig Zugang zur christlichen Religion haben, sich besonders interessiert und nachfragend in das Seminargespräch einbringen. Ebenso offen sind sie für den Umgang der Menschen anderer Religionen mit dem Lebensende und der Trauer. Der Islam wird – wenn auch fremd und unbekannt – als eine in Deutschland durchaus heimische Religion verstanden, dessen wichtigste Glaubenssätze ein Sozialarbeiter, eine Religionspädagogin, ein Pflegepädagoge wie eine Heilpädagogin schon aus Gründen der Professionalität kennen sollte. Auffallend ist einerseits die große studentische Offenheit, sich im Zusammenhang mit Sterben und Tod, Trauern und Leben mit religiösen Fragen zu beschäftigen, und andererseits eine große Unkenntnis der religiösen Glaubensaussagen zum Umgang mit den letzten Dingen.

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Ad 2. Die großen Themen des Sterbens behandeln wir ebenfalls in unterschiedlicher Intensität, dabei stehen die studentischen Interessen und Fragen wieder im Vordergrund. Die Phasen im Erleben Sterbender, das Sterben von Kindern und die Patientenverfügung und Betreuungsvollmacht in der Beratung von Klienten, aber auch für die eigene Person gehören zum Kanon, der in jedem Seminar behandelt wird. Das studentische Interesse und die eigene Betroffenheit sind vor allem bei der Behandlung des Sterbens von Kindern und Jugendlichen groß. Die Nachfragen zielen dann häufig auf die möglichen Hilfen für betroffene Familien, auf Kinderhospize und ambulante Hospizdienste. Teilnehmer und Teilnehmerinnen aus den Studiengängen Religionspädagogik und Sozialarbeit bemühen sich nach der Teilnahme an unseren Lehrveranstaltungen immer wieder um Praktikumsmöglichkeiten in einem Kinderhospiz oder anderen Hospizen. Je nach Interesse spielen dann schon im Seminar Geschichte und Anliegen der Hospizbewegung, der Palliativmedizin und der entsprechenden Pflege eine größere Rolle. Für Religionspädagogen, die in unserer Fakultät einen Schwerpunkt in Seelsorge haben, aber auch für andere, ergeben sich Fragen zur Sterbebegleitung und Fragen hinsichtlich des Umgangs mit Sterbenden. Ganz einfache Fragen zum Sterbevorgang und Prozess führen zu dichten Gesprächen, eigene Betroffenheit wird sichtbar. Studenten bringen eigene Fragen, aber auch eigene Erfahrungen ein. Auf der Erfahrungsebene der Studentinnen und Studenten ist uns die Übung einer Sterbemeditation wichtig geworden. Auch wenn gerade diese Übung sehr angstbesetzt ist, gehen die meisten Teilnehmer betroffen, aber auch gestärkt aus der Übung heraus. Ich gehe unten auf die Übung der Sterbemeditation noch näher ein. Weitere wichtige Themen sind Fragen der Organspende und der Organtransplantation, gerade auch im Zusammenhang mit dem eigenen Sterben. Dabei wird immer wieder auch der Hirntod als definitive Grenze zwischen Leben und Tod von studentischer Seite problematisiert. Sterbehilfe und Beendigung des Leidens als ethischer Grenzfall, Euthanasie in den Niederlanden u. a. Nachbarländern, die Eigenverantwortung für das eigene Sterben und die (Ohn-) Macht gegenüber medizinischer Fremdbestimmung, Intensivmedizin und ökonomisch dominierter Medizin werden von unserer Seite angesprochen, stoßen aber von Semester zu Semester auf unterschiedliche Resonanz. Häufig sind Presse- und Prozessberichte der Grund für ein stärkeres Interesse: Fragen und Problemanzeigen zu Freitod, Suizid oder Selbstmord werden im Zusammenhang mit der Sterbehilfe thematisiert oder kommen aus Praktikumserfahrungen in Sozialpsychiatrie und Psychiatrie.

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Ad 3. Der Tod selbst ist der Themenkomplex, der in einem Seminar in der Hochschule am schwierigsten zu diskutieren und zu bearbeiten ist, selbst wenn es sich um ein Ethik-Seminar zu philosophischen oder theologischen Texten handelt. Abstrakte Fragestellungen, wie die Frage nach einem Leben ohne den Tod oder wie der Tod zu denken sei, sind genauso wenig von Interesse wie die Grenze zwischen Leben und Tod und andere Fragen des Todes. Eine Ausnahme bildet ein Thema, das immer wieder breit diskutiert wird: Wie entwickelt sich das kindliche Vorstellungsvermögen in Bezug auf den Tod. Wir lassen die Studierenden mit Hilfe einer breiten Themenliste, die auch hier in diesen Text eingeflossen ist, mitentscheiden, welche Themen bearbeitet werden. Die Todeskonzeptionen von Kindern interessieren und interessierten alle Seminargruppen. Diese Wahl hebt sich deutlich ab von anderen Fragen dieses dritten Themenkomplexes. Sicherlich liegt das mit daran, dass die Zuordnung der Themen zu dem Komplex des Todes nicht ganz eindeutig zu bestimmen ist: Gehören die einen Themen nicht eher zu dem, was zum Sterben zu sagen wäre, und die anderen eher zur Trauer? Ein Thema gehört ganz offensichtlich zum Themenkomplex des Todes. Der Hirntod und die Frage, wann denn der Mensch tot sei. Das ist eine spannende Frage, über die sich interessant und kontrovers diskutieren lässt. Trotzdem wird dieses Thema von Studenten selten angewählt, so dass wir sie zumeist einbringen. Der Hirntod ist eine neue gedankliche Konstruktion (seit 1968), mit der der Versuch gemacht wird zu definieren, wann der Tod denn genau eingetreten ist. Mit der Konstruktion Hirntod soll die Grenze markiert werden, an der das Sterben beendet und der Mensch wirklich tot ist. Er wird von den Medizinern als ein unumkehrbares Erlöschen der Funktionen des Gehirns beschrieben. Die entscheidende Frage ist in der Hirntod-Debatte unbeantwortet, nämlich ob als hirntot bezeichnete Menschen auch tatsächlich tot sind. Dieses ethische Dilemma ist sicherlich eines der brisantesten Themen zwischen der theologischen und der philosophischen Ethik auf der einen Seite und der Medizin auf der anderen Seite. Nichtsdestotrotz sind die Studierenden unserer Seminare an diesem Thema wenig interessiert. Es sind eher die Alltagsthemen, die mit dem Wort Tod assoziiert werden. Sie sind es ja, die für die späteren beruflichen Tätigkeiten im Spektrum der Sozialen Arbeit bis hin zur kirchlichen Tätigkeit in Kirchengemeinde und Diakonie relevant sind: Fragen des Abschieds und der Bestattung, Bestattungswesen und Begräbniskulturen, Sozialbeerdigung und das entsprechende Verfahren mit der Überprüfung des Vermögens der Angehörigen, christliche Bestattung und Beerdigungsliturgie, islamische Bestattung und andere religiöse Bestattungen, moderne Entsorgungsmethoden und die Frage der Kosten im Allgemeinen. Beim Thema Tod geht es den Studierenden ums Leben, so seltsam das klingen

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mag, vor allem darum, wie die Überlebenden mit dem Tod des Verstorbenen umgehen und wie Soziale Arbeit oder kirchliche Diakonie und Seelsorge helfend zur Seite stehen können. Die Übergänge zu meinem vierten Themenkomplex sind fließend. Wir nehmen den Tod zum einen als Abschluss des Sterbeprozesses wahr und zum anderen als zur Trauer gehörig. Ad 4. Die Themen der Trauer zielen vielleicht deutlicher als die übrigen Themenkomplexe auf die späteren Berufsbilder unserer Studenten und Studentinnen: Es sind die verschiedenen Trauerwege, denen es empfindsam nachzuspüren gilt, es ist die Kenntnis der Trauerphasen Angehöriger und anderer Hinterbliebener, die Sozialarbeitern oder Diakoninnen unmittelbar bei der Beratung und der Trauerbegleitung helfen. In der Beratung, Seelsorge und Begleitung von trauernden Menschen ist es unabdingbar, sich auf die Trauernden, ihre Wege und ihr gegenwärtiges Erleben einzulassen. Empathie können wir nur aufbringen, wenn wir zum einen nicht selber durch unsere eigene Abwehr von Sterben und Tod blockiert sind und wenn wir zum anderen Wissen und Kenntnis über das Verhalten Trauernder haben, beispielsweise eben über die verschiedenen Trauerphasen, die ein Trauernder durchläuft oder durchlaufen kann. Es geht ja auch in der Trauer um einen Sterbeprozess, etwas geht zu Ende, die Beziehung, die uns lange begleitet hat. Und aus der Trauer entsteht etwas Neues, ein Leben, das mit der Erinnerung an jemanden, der uns weggestorben ist, auskommen muss. Die Erinnerung bleibt, aber derjenige oder diejenige, die gestorben ist, ist nicht mehr und damit auch nicht die Beziehung. Was aus der Trauer heraus neu geboren wird – nach dieser Beziehung-, kann vielfältig sein wie das Leben selbst. Wie wir mit der Trauer umgehen, hat viel mit dem Leben, das wir leben, zu tun. Und zu diesem Leben kann Religion gehören, die unserer Trauer hilft und ihren Ausdruck bestimmt. Ganz sicher aber gehören zu jedem menschlichen Leben die kulturelle(n) Prägung(en). Kulturelle Unterschiede in der Trauerarbeit werden in der multireligiösen Gesellschaft für die Trauerbegleitung immer wichtiger, je stärker Kultur und Religion sich ausdifferenzieren. Vor allem in der Sozialen Arbeit aber auch in den Pflegewissenschaften sind Kenntnisse der verschiedenen religiösen Wege, der Trauer Ausdruck zu geben, wichtig und hilfreich. Das gilt auch dann, wenn der Sozialarbeiter oder die Sozialarbeiterin nicht unmittelbar mit der Beratung von trauernden Menschen zu tun haben, sondern im Feld Sozialer Arbeit von der Jugendhilfe bis zur Arbeit in Bildungseinrichtungen auf Trauernde treffen. Verlustsituationen und Krisenzeiten werden religiös und kulturell unterschiedlich gelebt und verarbeitet. Muslimische Gläubige gehen anders mit dem Tod nahestehender Menschen um als Buddhisten. Evangelische Christen gehen

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anders mit der Trauer um als katholische Christen, beide miteinander sicher anders als Nicht-Christen! Die Zusammenhänge zwischen den vier Themenkomplexen sind mit den Händen zu greifen, das eine Thema geht in das andere über. Die Zusammenhänge von Sterben, Tod und Trauern mit der Religion sind erheblich und letztlich kausal. Auch untereinander, mit und ohne Beziehung zur Religion, sind einzelne Themen aus den verschiedenen Themenkomplexen ineinander und miteinander verwoben. Der soziale Wandel lässt Sterben, Tod und Trauern nicht außen vor. Die Bedingungen des sozio-ökonomischen Kontextes bestimmen diesen Wandel momentan besonders stark. Ich erinnere nur an das Bestattungswesen und hier besonders an den „Bestattungs-Tourismus“. Für unsere Seminare mit Studentinnen und Studenten will ich das Kapitel der thematischen Vielfalt von Sterben und Tod, Trauern und Leben mit einem letzten Hinweis zur Trauer abschließen. Von ihren Erfahrungen her haben unsere Studenten und Studentinnen wie auch schon viele Menschen der Eltern- und Großelterngeneration erheblich weniger Zugang zu Sterben und Tod als die Generationen davor und erst recht als Generationen weit früherer Zeiten. Ich erinnere nur ein historisches Beispiel, die Frühneuzeit mit ihren Kriegen, Seuchen, Naturkatastrophen wie der „kleinen Eiszeit“ (ca. 1600 – 1700). Paul Gerhardt ist mit seinen Trostliedern ein getreulicher Chronist dieser Zeit. Der Erfahrungszugang zu Sterben und Tod ist demgegenüber heute durch die oben angesprochenen Verdrängungsphänomene doch sehr begrenzt. Mit der Trauer ist es ganz anders. Jeder unserer Studenten und Studentinnen hat Trauererfahrung!

II.1

Didaktik des Curriculums von Sterben und Tod, Trauern und Leben und erfahrungsbezogenes Lernen

Auf welche Weise hat diese beschriebene thematische Vielfalt Raum und Zeit in unseren Lehrveranstaltungen? Wie vermitteln wir Wissen und Lebenserfahrung, die ja auch immer Erfahrung mit dem Sterben und Tod anderer ist? Wie gehen wir um mit den gesellschaftlichen Verdrängungsmechanismen? Lehrveranstaltungen an der Hochschule sind keine Selbsterfahrungsseminare – jedenfalls nicht im therapeutischen Sinn. Trotz und gerade wegen der Stoff- und Themenvielfalt geht es uns darum, nicht nur Wissen über Sterben, Tod und Trauer zu vermitteln, sondern auch erfahrungsbezogen zu arbeiten. Erfahrungen, seien es eigene oder vermittelte Erfahrungen, können die Studierenden zu sich selbst bringen. Insofern halten wir es für sinnvoll, die Themen aus der Vielfalt auszuwählen und mit den Hörern und Hörerinnen der aktuellen Lehrveranstaltung gemeinsam zu klären, wo ihre

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Prioritäten liegen. Aber wir definieren auch in den ersten Gesprächen mit ihnen unabdingbare Themen, Übungen und Gesprächsrunden. Es ist uns wichtig, dass die Studierenden sich ihre eigenen Einstellungen zu Tod und Sterben bewusst machen, für sich klären und auch entwickeln können. Dem dienen offene Gesprächsrunden und das Gespräch in kleineren HomeGroups ohne uns Lehrende. Die Home-Groups bleiben während der gesamten Lehrveranstaltung in ihrer Zusammensetzung zusammen und die Studenten tauschen sich autonom aus. Die Home-Groups bestimmen selbst, welche Gesprächsteile oder Ergebnisse sie in das Plenum zurückspiegeln. Den Wechsel aus dem Plenum in die „vertrauten“ Kleingruppen halten wir in diesen Seminaren für besonders wichtig. Der persönliche Erfahrungsaustausch, die Möglichkeit, sich auch emotional auszutauschen, und die Auseinandersetzung mit den ja in der Tat emotional besetzten Themen, der sich dann auch in einer offeneren Beteiligung im Plenum niederschlägt, ist geradezu konstitutiv für die Art von erfahrungsbezogenem Lernen, wie wir es anstreben. An dieser Stelle ist wohl der Hinweis wichtig, das unsere Lehrveranstaltungen zu Sterben und Tod, Trauern und Leben nicht zu den wöchentlichen Lehrveranstaltungen zählen, sondern in der Regel in zwei Blöcken zu Beginn und zum Ende des Semesters mit der Verpflichtung zur strikten kontinuierlichen Teilnahme angeboten werden. Ohne diese zeitliche Konzentration wären auch Übungen wie die Sterbemeditation, die durchaus Selbsterfahrungsanteile enthalten, nicht möglich. So ist uns zweitens wichtig, dass die Studierenden sich ihrer Gefühle bewusst werden und möglichst auch – z. B. in den Home-Groups – darüber reden können. Das wird im Plenum meist im thematischen Bereich der Trauer deutlich, wenn die Studenten von ihren Abschieden und Trennungen erzählen. Im Gespräch über Trauersituationen sind sie sich ihrer Gefühle bewusst und bringen ihre Erfahrungen ein. Und drittens ist uns wichtig, dass die Studentinnen und Studenten die Einzigartigkeit jedes Sterbens und jedes Todes an sich heran lassen und von dieser Erkenntnis her – solange die Erfahrung der Sterbebegleitung fehlt – zurückhaltend und akzeptierend mit Situationen umgehen, in denen sie in ihren sozialoder religionspädagogischen, pflegewissenschaftlichen und diakonischen Berufsfeldern, in Beratung und Seelsorge, Betreuung und Unterricht mit Sterben, Tod und Trauer konfrontiert sind. Um die Erfahrungsebene zu stärken gehen wir also, soweit das möglich ist, auf die Erfahrungen ein, die Studenten und Studentinnen mit Trauern, Sterben und Tod bereits gemacht haben. Das ist bei vielen Themen aus den bereits genannten Gründen häufig nicht der Fall. Es gibt dann die Möglichkeit, dass wir ein bestimmtes Thema, beispielsweise Tod und Auferstehung oder Leben nach dem Tod in den Religionen mit einer oder mehreren Vorlesungseinheiten einleiten oder

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kurze Texteinheiten aus der einschlägigen Literatur in den Home-Groups und dann im Plenum bearbeiten. Dieser normale Vorlesungs- und Seminarstil hat durchaus in unseren Lehrveranstaltungen einen wichtigen Platz, da die Wissensvermittlung und die Anstöße zur Reflexion uns wichtig sind. Aber bei all den Möglichkeiten der Anknüpfung kommt die Erfahrungsebene im akademischen Alltag ja in der Regel doch zu kurz. Um nicht allein auf Vorlesungseinheiten unsererseits oder auf plenare Diskussionen nach dem Studium der Literatur angewiesen zu sein, setzen wir eine Reihe von Medien und Übungen ein. Medien benutzen wir nur sehr vorsichtig, da das Konzept unserer Lehrveranstaltung die Studentinnen und Studenten mit einbeziehen will, sie nicht in der gesellschaftlich weit verbreiteten Beobachter-Rolle verweilen lassen will. Es gibt eine große Anzahl von Medien zu Sterben, Tod und Trauer, aus der wir vorsichtig auswählen.8 Eine besondere mediale Übung ist die Tagesschau mit „Vier ernsten Gesängen“. Johannes Brahms schrieb die Gesänge zu vier biblischen Texten kurz vor seinem Tod, in einer Zeit, in der er selbst von Menschen Abschied nehmen musste, die ihm sehr nahe standen. Während einer aktuellen Tagesschau (ARD), die ohne den dazugehörigen Ton angeschaut wird, hören die Studierenden die Gesänge mit Texten aus Prediger 3 und aus Prediger 4, aus Jesus Sirach 41 und aus Korinther 1, 13. Die Studenten und Studentinnen, die die Gesänge in der Regel nicht kennen, sind über die Verfremdung und stets eintreffende, immer wieder unterschiedliche Übereinstimmung der Bilder im Fernsehen und der Texte der Gesänge sehr beeindruckt.9 Die medial vermittelte Unmittelbarkeit des Todes teilt sich den Zuhörern und Zusehern mit und macht betroffen. Einige Übungen sind der Schreibwerkstatt zuzurechnen. Den Studentinnen und Studenten wird die Frage nach dem Sinn meines Lebens gestellt. Diese Frage lässt sich im Kontext von Krankheit und Leiden, Sterben und Tod, im Kontext der Lehrveranstaltung also, gut zum Einstieg einsetzen. Sie wird dem Einzelnen gestellt, in der Regel schriftlich bearbeitet und in den Home-Groups intensiv besprochen. Weitere Übungen der Schreibwerkstatt, die wir didaktisch ganz ähnlich einsetzen, sind konkretere Übungen zu „Abschied gestalten“, „wie könnte mein Tod aussehen?“ sowie die Übung, die eigene Grabrede zu schreiben. Hier soll der und die Einzelne sich Gedanken machen und aufschreiben, wie er oder sie den 8 Ich will nur auf wenige Filme, die wir z. T. einsetzen, aufmerksam machen: Leben bis wir Abschied nehmen müssen (Film über eine leukämiekranke Studentin); Das Meer in mir (Originaltitel: Mar Adentro; preisgekrönter Film von Alejandro Amen‚ba); Hör Dein Leben (ein Kurzfilm von Zueli Aladag, 7 Min.); Nokan – Die Kunst des Ausklangs (japanischer Film vonVoljiro Takita, 130 Min.). 9 Diese verfremdete Tagessschau habe ich an der Evangelischen Akademie Tutzing kennengelernt.

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Abschied von dem eigenen Leben gestalten will oder wie, sofern er bei Bewusstsein ist, das letzte Jahr, die letzten Tage oder die letzten Stunden gestalten will. Etwas anderes ist die eigene Phantasie, wie der eigene Tod aussehen könnte. Schwerer fällt in der Regel die Schreibübung, die eigene Grabrede zu formulieren: Was soll, was muss gesagt werden? Eher zu Beginn lässt sich ein modifizierter Marcel-Proust-Fragebogen einsetzen und zwar mit dem Schwerpunkt auf Fragen, wie jemand leben und sterben möchte.10 Eine weitere Übung aus der Schreibwerkstatt sind die „unerledigten Geschäfte“. Diese Übung zielt auf den Sterbeprozess, in dem etwas, das unerledigt geblieben ist im eigenen Leben, den Sterbenden quält und ihn unter Umständen nicht sterben lässt. Die Sterbemeditation, eine Phantasiereise zu Abschied und Sterben, kann unsere intensivste Übung sein. Die Übenden werden an ihr Lebensende, ihr Sterbebett geführt und können sich von denen verabschieden, die ihnen wichtig sind. Wie bei den meisten „Meditationen“ oder Phantasiereisen können die Teilnehmer und Teilnehmerinnen intensive Erfahrungen machen. Unsere Meditationen sind nicht geeignet den Widerstand der Übenden zu überwinden, wenn diese sich auf die Übung innerlich nicht einlassen können oder wollen. (Vgl. unten Excercitum moriendi.) Nicht mehr ganz zu dieser Art Übungen gehört der Brief von Elisabeth Kübler-Ross an Eltern, die um ein Kind trauern. Dieser eindrückliche Text kann gemeinsam in kleinen Gruppen wie unseren Home-Groups gelesen und verarbeitet werden.11 Eine ähnliche Funktion, die studentischen Erfahrungen mit in die Lehrveranstaltung hereinzuholen und den Studierenden Erfahrungen in den Seminaren selbst zu ermöglichen, erfüllen die Ortswechsel oder Exkursionen, die wir – sparsam – in den Lehrveranstaltungen einsetzen. So haben wir in der Vergangenheit zur Ergänzung des Themenkomplexes Sterben die verschiedenen Hannoveraner stationären Hospize besucht oder ersatzweise einen hauptamtlichen Mitarbeiter eines ambulanten Hospizdienstes in die Hochschule eingeladen. Auch wenn wir lediglich in einem Hospiz die gemeinschaftlichen Räume der Gäste des Hospizes betreten können, ist allein die Erfahrung, mit Hospizmitarbeitern in einem separaten Raum des Hospizes zu sprechen, eine wichtige Erfahrung: Hier sterben Menschen! Zu den Themenkomplexen Tod und Trauer gehören Ortswechsel in ein Be10 In verschiedenen Zeitungen kursierte eine Zeit lang ein Fragebogen aus den Pariser Salons, den Marcel Proust ausgefüllt haben soll. Die verschiedenartigsten Fragen wurden jeweils von einer Person beantwortet, so dass die anderen Gäste einen bestimmten Gast, in diesem Fall Proust, kennen lernen konnten. 11 Kübler-Ross, Kinder, 15 – 23.

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stattungsunternehmen und in das dazugehörige Sarglager, der Besuch eines Krematoriums, Exkursionen auf die großen parkähnlichen hannöverschen Friedhöfe mit ihren städtebaulich interessanten Anlagen, die viel über den sozialen Wandel der Bestattungskultur erzählen. Bei diesen Friedhofsbesuchen finden sich je nach Friedhof Gräber und Erinnerungsmale früh verstorbener oder totgeborener Kinder, immer größere anonyme Gräberfelder, je ein buddhistisches Gräberfeld und eine muslimische Abteilung mit Gräbern, die nach Mekka hin ausgerichtet werden können. Die jüdischen Gemeinden bestatteten und bestatten ihre Toten auf eigenen Friedhöfen.12 Bestattungsunternehmen und Sarglager, Krematorium und Friedhof sind Orte, an denen sich unsere Studenten und Studentinnen eher wenig aufhalten. Der Ortswechsel und die Exkursionen, das gemeinsame Gespräch mit Menschen, die beruflich damit umgehen, holen Sterben und Tod und Trauer ins Leben hinein. Ein letzter Hinweis zum erfahrungsbezogenen Lernen in unserem Kontext an der Hochschule: Das Kennenlernen von Ritualen im Kontext von Sterben, Tod und Trauer kann die Erfahrungsbezogenheit von Lehrveranstaltungen zu Sterben und Tod, Trauer und Leben bereichern und den Teilnehmern und Teilnehmerinnen helfen, sich auf das Thema einzulassen. Erfahrungen entstehen erst aus der bewussten Reflexion und der Diskussion über das, was ich im Umfeld von Sterben, Tod und Trauer erlebt habe. Wenn die Studierenden diese Erlebnisse aus ihrer Biographie nicht mitbringen, müssen wir ihnen an der Hochschule einen Raum öffnen, an dem sie vermittelte Erfahrungen machen können, und sie motivieren, sich über das vermittelt Erlebte auszutauschen. Erst durch den Austausch wird Erlebtes zu Erfahrung! Wo sie einen todkranken Angehörigen oder Freund besucht haben oder an einer Beerdigung teilgenommen haben und es keinen Raum oder Ansprechpartner gegeben hat, darüber zu reden, kann es nicht zu Erfahrungen kommen. Es geht also darum, aktiv mit dem Erlebten umzugehen: Wo das Erlebte verarbeitet wird, da entstehen Erfahrungen. Das praktische Erleben und sinnliche Erfassen von Sterben und Tod, das vielen fehlt, versuchen wir vermittelt und vermittelnd in unsere Lehrveranstaltungen zu holen, in der Hoffnung, dass die reflektierten Erfahrungen der Seminar-Blöcke hineinwirken in das Denken und Handeln der Studierenden über die Seminarzeit hinaus und so das spätere berufliche Handeln beeinflussen. Wie wir immer wieder festgestellt haben, geht bei vielen Studierenden in der Tat die aktive und bewusste Auseinandersetzung mit Sterben und Tod – Trauern und Leben weiter. Studenten schreiben Seminar und Bachelor-Arbeiten, Studentinnen machen Praktika in Hospizen und Hospiz12 Die beiden innerstädtischen jüdischen Friedhöfe werden nicht mehr belegt. Der Alte Jüdische Friedhof ist der älteste erhaltene jüdische Friedhof in Norddeutschland. (etwa um 1550 angelegt und während des deutschen Faschismus nicht zerstört!)

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vereinen, können sich spätere berufliche Tätigkeiten mit alten Menschen vorstellen.

II.2

Ars moriendi als Lebensführungskompetenz

Wenn ehemalige Studenten und Studentinnen, die unsere Lehrveranstaltungen besucht haben, sich aufgrund dessen, was sie bei uns erfahren und gelernt haben, in ihren jeweiligen Berufen um eine gute Fachlichkeit in ihrer Arbeit bemühen und das Erfahrene immer weiter vertiefen, wo sie es mit Kranken, Sterbenden und Trauernden zu tun haben, so ist unser Seminar gelungen und so kann bei ihnen im Laufe der Zeit die Kunst des Sterbens wachsen.13 Wenn ich die ars moriendi, die unseren Lehrveranstaltungen zugrunde liegt, als eine Kunst bezeichne, die den Studentinnen und Studenten hilft – oder einmal helfen wird – ihr Leben besser zu führen, so ist das durchaus ernst gemeint. Sicher kann bei einer solchen Lehrveranstaltung mit zwei bis vier Semesterwochenstunden, so intensiv sie auch sein mag, nicht von einer Einübung in die ars moriendi gesprochen werden. Aber es bleibt der Anstoß, sich um ein Ethos zu bemühen, das einen professionellen Umgang mit Menschen ermöglicht, die von eigenem oder fremdem Sterben betroffen sind, die dem Tod hilflos gegenüber stehen oder in ihrer Trauer gefangen sind. Wie ich oben aufgezeigt habe, geht es uns an der Hochschule ja in erster Linie um die reflektierende Erarbeitung der Themen von Sterben und Tod, Trauern und Leben unter Berücksichtigung emotionaler Betroffenheit, basierend auf eigenen Erlebnissen und Erfahrungen, die sich den Studierenden in der Lehrveranstaltung erschlossen haben. Der Bezug zu den späteren Berufsfeldern und eine Stärkung der Kompetenz mit betroffenen Menschen zu arbeiten, ist in der Theorie-Praxis-Verschränkung der angewandten Wissenschaften selbstverständlich ein weiteres Ziel. Darüber hinaus aber wollen wir bei den Teilnehmerinnen und Teilnehmern unserer Lehrveranstaltungen einen Prozess anstoßen, der sie selbst zu einem bewussteren Umgang mit Sterben, Tod und Trauer motiviert und sie auf einen lebenslänglichen Weg bringt, die Lebenskunst als ars moriendi einzuüben. Wohlgemerkt, es geht um einen Anstoß! Die Frage hinter dem Nachdenken und Nachspüren über Sterben, Tod und Trauer ist die Frage, wie ich denn mein Leben 13 Wie weit ein Studium bzw. bestimmte Studieninhalte nachhaltig sind, wird selten empirisch untersucht, der Wert von Evaluationen ist da eher fraglich. Für unsere Lehrveranstaltungen, die immer wieder positiv evaluiert werden, spricht, dass die Nachfrage durch die Studierenden vor und nach dem Bologna-Prozess, vor und nach der Modularisierung und verschiedenen Akkreditierungen gleichbleibend hoch geblieben ist und sich eher noch gesteigert hat.

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lebe – als Student oder Studentin noch weitgehend am Anfang stehend – damit ich dann dereinst zu einem guten Sterben und einem guten Tod komme. Dieses Ziel, dereinst zu einem guten Sterben und einem guten Tod zu kommen, scheint keine Frage an junge Menschen zu sein, und es scheint keine Zielvorstellung für ein gelungenes Seminar zu sein, Studenten und Studentinnen für das Projekt der ars moriendi zu gewinnen. Das ist einerseits richtig, denn es wäre anmaßend als Hochschullehrerin und als Hochschullehrer dieses als curriculares Ziel auch nur zu erwägen. Und es ist andererseits falsch, denn es geht uns in dieser Art von Lehrveranstaltungen um einen Anstoß oder um Anstöße für das weitere berufliche und auch private Leben. Theologie und Philosophie und eine Reihe anderer Wissenschaften können gar nicht anders gelehrt werden, als dass sie auch existentielle Anstöße geben. Selbst wenn ich als akademischer Lehrer „nur“ das Ziel habe, die Studenten und Studentinnen durch meine Lehrveranstaltungen und Betreuung möglichst gut voranzubringen in meinem und ihrem Fach, sie möglichst kompetent in unserer akademischen Disziplin zu bilden, wirkt dies sich existentiell aus in ihrem späteren beruflichen Leben – und darüber hinaus. Und genau das wollen wir auch mit unseren Lehrveranstaltungen: Wir wollen existentielle Anstöße geben. Wir wollen, dass die Studenten und Studentinnen unserer Lehrveranstaltungen zu Sterben und Tod, Trauer und Leben später einmal als Religionspädagoginnen und Diakone, Sozialarbeiterinnen, Heilpädagogen und Pflegewissenschaftlerinnen möglichst professionell mit und für Menschen arbeiten – oder soll ich sagen, die gut mit und für Menschen arbeiten? –, die auf den Tod zugehen oder Trauer tragen oder die in der einen oder anderen Weise von Sterben, Tod und Trauer betroffen sind. Zumindest für die hier vorgestellten Lehrveranstaltungen aber wollen wir noch etwas mehr. Wir wollen denjenigen, die kommen, auch Anstöße für ihr weiteres Leben geben. Ich habe einmal an einer anderen Stelle geschrieben, dass ich Ethos vermitteln will an der Hochschule.14 Ich will die sittliche Grundhaltung derjenigen, mit denen ich arbeite, mit – prägen, sittliche Gesinnung mit Studenten und Studentinnen beobachtend erheben, bedenken und reflektieren. Und so setze ich darauf, dass Sterben und Tod, Trauern und Leben ein erster Anstoß zur weiteren Einübung in die Lebenskunst ist. Und damit komme ich zu dem Entscheidenden unserer Lehrveranstaltung. Das letzte Wort im Titel der Lehrveranstaltung ist Leben. Trauern hilft zum Leben! Und zur Trauer und zum Abschied gehört das Hinsehen und Hinfühlen auf Sterben und Tod. Die Akzeptanz, dass Sterben und Tod zum Leben gehören, ist Teil des Trauerprozesses, dass unser Leben endlich ist und wir sterben müssen. Und auch junge Menschen, denen in ihren Lebensbezügen – und bei 14 Fritzsche/Kwiran, Ethos lernen- Ethos lehren.

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unseren Studierenden vor allem in ihren beruflichen Bezügen – Sterben und Tod begegnen wird, können sich in ihrem Leben auf den Abschied und das Ende vorbereiten. Wenn wir mit den Studenten und Studentinnen über das Leben im Zusammenhang von Sterben und Tod, Trauer und Leben nachdenken, dann kommen wir natürlich auch zu der Frage, wie wir unser Leben führen sollen, damit es am Ende zu einem guten Sterben und einem guten Tod kommt. Das ist mit ars moriendi, mit der Kunst des guten Sterbens gemeint. Damit Menschen das können, gut sterben, müssen sie sich damit frühzeitig beschäftigen, muss die ars moriendi mitten im Leben gelernt werden. Die Haltung, die wir uns dem Sterben gegenüber angewöhnt haben, wird im eigenen Verhalten zur sozialen Wirklichkeit „gelernt“. Nun müssen wir aber im Hinblick auf Sterben, Tod und Trauer feststellen, dass die soziale Wirklichkeit, das Gewohnte, die Gebräuche und Sitten (Ethos) dem Sterben gegenüber nicht in dem Maße hilfreich sind, wie es für die, die sterben, und für die, die dem Tod fassungslos gegenüber stehen, gut wäre. Ich erweitere an dieser Stelle die Bedeutung von Ethos als das Gewohnte und die Sitte, die einfach zu mir gehört, um die Reflexion. Ethos ist dann die reflektierte sittliche Grundhaltung und Gesinnung des Einzelnen, einer Gruppe, der Gesellschaft und der Kultur. Den Anstoß zu Reflexion der gesellschaftlichen und sozialen Wirklichkeit im Zusammenhang mit Sterben und Tod wollen wir mit diesem Seminar geben. Und wir wollen auch Hinweise und Anstöße auf die für das reflektierte Ethos notwendigen Haltungen des Individuums geben. Diese für eine Kunst des Sterbens als Lebenskunst notwendige Ausbildung von Haltungen ergibt sich aus der Bildung des Ethos. Die Herausbildung eines Habitus, in dem sich Ethos ausprägt und das der ars moriendi verpflichtet ist, setzt eine reflektierte Haltung zu sich selbst voraus. Bildung des Ethos meines Selbst geschieht durch den Prozess und das Erlernen der Lebensgestaltung und der Lebensführung. Wir sprechen von Lebensführungskompetenz.15 Was können wir darunter verstehen? Nur wer sich kennt, wer sich selbst hinterfragt, ja geprüft hat, ob er den Aufgaben als Mensch gewachsen ist, kann über sich und sein Leben, seine Fähigkeiten und seine Aufgaben Klarheit gewinnen. Die Lebensführungskompetenz bewährt sich angesichts der Konfrontation mit dem eigenen Sterben und angesichts des Todes – nicht allein in der Sterbemeditation. Wie führe ich mein Leben, wenn ich mit meinem Sterben konfrontiert werde? Gehe ich in die Klinik und gebe mich ab in dem Wunsch, dass dort alles, was möglich ist, mit mir unternommen wird? Oder wäge ich ab und

15 Vgl. Volz, Lebensführungshermeneutik.

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gewinne die restliche Zeit meines Lebens, indem ich in meinen nahen Tod einwillige? Peter Noll, dessen Diktate über Sterben & Tod ein Hinweis auf diese Kompetenz sind, hat sein Leben eigenverantwortlich bis ans Ende geführt, indem er eine angeratene – vielleicht – lebensverlängernde Operation ablehnte und sein Leben so bewusst ohne Irritation durch den Medizinapparat und ohne „Lebenszwang“ zu Ende führte.16 Noll „will nicht sterben als entmündigtes Objekt der Medizin. Wie also stirbt man?“17 Das ist die Frage nach der Lebensführungskompetenz. Nolls Kompetenz für das eigene Leben zeigt sich auch in der Auseinandersetzung mit Weisheit der ars moriendi, sowohl der philosophischen bei Michel de Montaigne als auch der jüdischen und christlichen in Psalm 90, 12.18 Wieder scheint das finale Argument auf, wenn Noll an seinem Ende erlebt: Es „wird die Zeit umso wichtiger, je klarer das Wissen um ihre Grenze“.19 Dann wird die Zeit, ja die Lebenszeit, wertvoller als Geld und der des Lebens Kompetente wird die „Möglichkeiten des Lebens“ sorgfältig überdenken, „selektiver sein und nicht einfach diejenigen akzeptieren, die konventionell“ sind. Das hat natürlich Konsequenzen, die der „Lebensführungshermeneutiker“20 nach seiner klugen Wahl auch in aller Weisheit akzeptieren und tragen muss: Dies ist die vertane, verlorene Zeit, nicht diejenige, die einer bei einer Frau verbringt oder in Gesprächen mit Freunden. Auf der anderen Seite wirst du weniger Aufgaben auf später verschieben, du wirst nicht ins System passen, nicht übereinstimmen mit dem, was von dir erwartet wird von denjenigen, die das System am Funktionieren erhalten.21

Die Erkenntnis, dem Gedanken an das eigene Ende nicht mehr aus dem Wege zu gehen, ist es, die uns unser Leben vom Tod her leben lässt, die aus der ars moriendi eine weisheitliche Kunst des Lebens macht! Die Lebensführungskompetenz geht über die fachlichen Kompetenzen, die unsere Studierenden für die helfenden Berufe benötigen, die sie einmal ausüben werden, weit hinaus. Ich halte sie für die entscheidende Kompetenz, die der Einübung einer klugen Lebensführung gilt, aus der alle anderen Kompetenzen sich mühelos ableiten lassen.

16 17 18 19 20 21

Noll, Diktate über Sterben und Tod. Frisch über Noll, in: Noll, Diktate über Sterben und Tod, 279. Noll, Diktate über Sterben und Tod, 78 – 84. Ebd., 81. Vgl. Volz. Noll, Diktate über Sterben und Tod, 81.

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II.3

Ethosbildung für Menschen, die mit Sterbenden und Trauernden zu tun haben

Im Zusammenhang mit der Lebensführung von Menschen kommen Sozialarbeiter und Diakoninnen mit Sterben, Tod und Trauer von Menschen in Kontakt. Bei Fragen und Problemen von Menschen, mit dem eigenen oder fremden Sterben oder Trauern zurechtzukommen, begegnen sie wie in anderen Situationen beruflichen Handelns auch Orientierungsproblemen von Menschen. Sie treffen auf Menschen mit ihren spezifischen Problemen und mit ihren unterschiedlich ausgebildeten Kompetenzen der Lebensführung. Für die gemeinsame Bewältigung von Sterben und Trauer können die Absolventinnen unserer Studiengänge auf ihr im Studium erworbenes Wissen und die berufliche Methodenkompetenz zurückgreifen. Daneben hilft ihnen ihre eigene Lebensführungskompetenz weiter, die sie nur zu einem geringeren Teil ihrem Studium verdanken. Deswegen halte ich es für unabdingbar, dass Angehörige helfender Berufe bereits im Studium mit der Bildung ihres eigenen Selbst und dessen Ethos konfrontiert werden. Ethosbildung hat den Menschen in seiner gesamten Lebensgeschichte im Blick, es geht um das Leben, wie es gelebt wird und zwar bis ins Alter, bis ins Sterben hinein. Auf die Frage nach dem, was Menschen in helfenden Berufen im Prozess der Ethosbildung einüben müssen, verweise ich immer wieder auf Aristoteles. Für ihn ist nur dann ein Mensch im Vollbesitz seines Verstandes, wenn er taktvolle Güte, mitfühlendes Verständnis, gute Wahrnehmung, ein kluges mit sich Zu-Rate-Gehen und Wohlberatenheit entwickelt hat.22 Zur Weiter-Entwicklung des Ethos des Selbst, die die reflektierte Haltung zu sich selbst voraussetzt, habe ich an anderer Stelle sechs Bereiche der Ethosbildung benannt, die meines Erachtens in dem lebenslangen Prozess in den Blick kommen, vermittelt, angeeignet und eingeu¨ bt werden sollten: Das Wissen um das Strukturelle, das Training der Urteilsbildung, die Gestaltungsfa¨ higkeit von Beziehungen (Interaktionsfa¨ higkeit), die Bildung der Klugheit (aristotelisch verstanden), die Sta¨ rkung der Wahrnehmung und die Erweiterung der Erfahrung sowie das Ethos der Sensibilität.23 Diese habituellen Fa¨ higkeiten, die es weiter zu entwickeln und zu differenzieren gilt, sind Bestandteile des Ethos. Es sind Haltungen, die erst einmal fu¨ r alle Menschen, die für ihr Leben nach Orientierung suchen, von Interesse bei der Selbst-Reflexion ihres Ethos sind. Die sechs Haltungen sind mir in meinem Nachdenken über den Begriff des Habitus wichtig geworden, aber sie sind natürlich erweiterbar. Zum Ethos der Sensibilita¨ t geho¨rt die Haltung der Acht22 Aristoteles, NE VI 12, 135/1143a. 23 Heckmann, Ethos, 82.

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samkeit. Die Übung der Achtsamkeit dient sowohl der Selbstsorge (Foucault) als auch der Fürsorge für andere, für Sterbende und Trauernde. Der Begriff der Selbstsorge ist, das wird in der Arbeit für und mit Sterbenden und Trauernden besonders deutlich, kein Gegenbegriff zur Fürsorge. Der sorgsame Umgang mit sich selbst scheint mir in den Arbeitsfeldern, in denen unsere Studierenden mit und für Sterbende und Trauernde arbeiten, wie ambulanter Hospizdienst oder stationäre Hospize, wichtig zu sein. Der sorgsame Umgang im Hinblick auf das eigene und fremde Zeiterleben und der sorgsame Umgang im Hinblick auf die eigene und die fremde Zeitgestaltung muss zu einer Haltung werden, die es zu pflegen gilt. V. Begemann hat in ihrer Studie zum Hospiz als Lehr- und Lernort des Lebens die aristotelische Klugheit und ihr entsprechende Haltungen für die Arbeit mit Sterbenden auch empirisch herausgearbeitet. Als erste Haltung benennt sie die Abschiedlichkeit angesichts der Endlichkeit des Lebens, die als Teil der aristotelischen Klugheit zu einer guten Lebensführung und einem guten Leben beiträgt und die die Mitarbeiter im Hospizdienst durch ihr Dasein für die Sterbenden und ihr Dabeisein bei den Sterbenden einüben.24 Die zweite Haltung, die sie angesichts der Endlichkeit einüben, ist die Prioritätensetzung als Grundhaltung im Umgang mit ihrer Zeit (vgl. o. Peter Noll). Die Grundhaltung zur Lebenszeit räumt der Gegenwart Priorität ein und hilft bei der Prioritätensetzung im Jetzt durch Zeitsensibilität. Und schließlich führt die Entwicklung der Zeitsensibilität zu einer dritten Haltung der Klugheit angesichts des Sterbens der Menschen im Hospiz, die Haltung der Besonnenheit.25 Ich gehe angesichts des Sterbens der anderen, bei deren Sterben ich dabei war, anders mit meinem Leben um. Die befragten Hospizmitarbeiter übernahmen Verantwortung für die eigene Lebenszeit. Die antike ars moriendi hat der Kompetenz zur Lebensführung und der Ausbildung entsprechender Haltungen angesichts der Begrenztheit und der Endlichkeit des Lebens immer einen hohen Stellenwert eingeräumt. Ethosbildung, ethische Normen- und Urteilsbildung, ja Ethik selbst machen nur Sinn aufgrund des finalen Argumentes. Aufgrund der Kürze unseres Lebens müssen wir ein kluges Leben führen, müssen wir unser Leben überhaupt gestalten! Lucius A. Seneca bringt das eben von mir Ausgeführte in De brevitate vitae kurz und knapp auf den Punkt: Wir haben aber nicht wenig Zeit, wir haben viel vergeudet. Hinreichend lang ist das Leben und großzügig bemessen, um Gewaltiges zu vollbringen, würde man es im Ganzen nur richtig investieren. Doch …wenn wir es keinem guten Zweck widmen, dann wird uns erst in unserer letzten Not bewußt, daß, was von uns unbemerkt verging, 24 Begemann, Hospiz- Lehr- und Lernort, 93 – 95. 25 Ebd. 95 – 99.

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vorbei ist! So ist’s: Wir erhalten kein kurzes Leben, sondern haben es dazu gemacht, und es mangelt uns nicht an Zeit, sondern wir verschwenden sie.26

Die moderne Rezeption des finalen Argumentes, des schlagenden Argumentes für eine kluge Gestaltung des Lebens, zielt auf das Bewusstsein von der Endlichkeit und der Begrenztheit des Lebens. Ohne die Grenze des Todes müssten wir uns um die Lebensführungshermeneutik keinerlei Gedanken machen, müssten nicht darüber nachdenken, wie wir unser Leben gestalten. Sicher, viele Menschen tun das sowieso nicht. Aber vielleicht passiert ihnen deswegen genau das, was die Philosophen ihnen prophezeit haben: Sie langweilen sich! Sie langweilen sich bei der Arbeit und Freizeit, zwischen Fernsehen und fast food. Ohne den Tod aber würden wir alle ein unsterblich langweiliges Leben führen. Ihm, dem Tod, verdanken wir die Freude am Leben!27 Aus dem Bewusstsein von der Endlichkeit des Lebens und der Grenze, die der Tod markiert, kommen wir erst dazu, über das Leben nachzudenken und es gestalten zu wollen. In einem zweiten Schritt des Nachdenkens kamen und kommen Menschen aller Jh. dazu, die Bildung des eigenen Selbst ins Auge zu fassen, die eigenen Haltungen angesichts der Begrenztheit zu reflektieren und das Leben aktiv und verantwortungsvoll vor der eigenen Person zu führen.

II.4

Exercitium moriendi

Mit der von uns entwickelten Lehrveranstaltung suchen wir nicht nur einen ersten Schritt zu einer reflektierten Lebensgestaltung zu gehen, sondern wir legen die ersten Schritte auf einem Schulungsweg des guten Sterbens und Lebens zurück. Der Tod gehört zum Leben, weil dieses endlich ist. Das ist der cantus firmus, der uns auf unserem Schulungsweg begleitet. Der Lebensweg, der gleichfalls ein Schulungsweg ist, sucht das Sterben einzuüben. Sich mit dem Tod vertraut zu machen, ist Teil der Lebenskunst. Das ist ein manchmal schwieriges Paradox – in unserer Gesellschaft allzumal. Die Einübung ins Sterben ist die Kunst, gut zu leben, oder anders ausgedrückt: Das exercitium moriendi führt zur Lebenskunst. 1. Der erste Schritt besteht sicherlich darin, dem Tabu des Todes zu begegnen und sich der eigenen wie der gesellschaftlichen Tabuisierung von Sterben und Tod zu stellen. Wer der Begegnung mit Krankheit, Sterben und Tod nicht ausweicht, wird mit der eigenen Angst konfrontiert. Und trotz aller berechtigter Furcht vor einem schweren Sterben legt sich die Angst durch vielfältige Begeg26 Seneca, Die Kürze des Lebens, 19 f. 27 Vgl. z. B. Wilhelm Schmid, Philosophie der Lebenskunst.

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nung mit der Krankheit anderer und deren Sterben. Ehrenamtliche Hospizmitarbeiterinnen und Mitarbeiter berichten immer wieder genau dieses, je länger sie im Hospizbereich Sterben und Tod begegnen, die Furcht wird weniger, das Erleben wird reicher und die eigene Angst erfährt Trost.28 Ein anderer Weg der Begegnung und der Konfrontation ist der der Übung. Mein Urgroßvater, ein Tischler, baute sich im mittleren Lebensalter seinen eigenen Sarg. Dieser stand im Lager bereit und einmal im Jahr bis zu seinem Tod legte er sich in diesen Sarg und bereitete sich so auf seinen letzten Weg vor. Ein anderer, populärer und heute bekannterer Übungsweg ist die Sterbemeditation, die ich oben bereits erwähnt habe. Diese Übung kann helfen, sich der eigenen Angst vor dem Sterben zu stellen und einen Teil der Ängste zu überwinden. Es ist eine recht einfache und effektive Übung, sofern sie nicht nur einmal gemacht wird. Die regelmäßige Übung hilft vor der Angst – wie die jährliche Sargprobe meines Urgroßvaters. Der oder die Übende liegt entspannt und gut zugedeckt auf einer Matte auf dem Boden. Der Entspannungszustand wird durch vorherige körperliche Bewegung, durch Atemübungen im Liegen und die Einleitung der Übung durch Formeln aus dem autogenen Training oder durch Übungen der Progressiven Muskelentspannung nach Edmund Jacobsen eingeleitet. Der Hauptteil ist eine Phantasie, in der der Übende sich vorstellt, dass er in einem Krankenhausbett liegt und von einem Arzt mitgeteilt bekommt, dass er bald sterben müsse. Die Vorstellung des Sterbeprozesses und des Abschiedes von Angehörigen und Freunden kann dann je nach der Belastbarkeit der Übenden variiert werden. Wichtig ist eine sorgfältige Rückholung der Übenden, um sie nicht weiter in der Phantasiewelt zu belassen. Auch hier bieten sich Formeln des Autogenen Trainings an. Danach ist eine sorgsame Nachbereitung mit den Übenden notwendig. Es braucht Zeit zum Nachspüren und Zeit und Raum für den Austausch der Erfahrungen mit dieser Übung. Die „Vorstellung angsterregender Situationen im entspannten Zustand“, wie Psychologen die angeleitete Sterbemeditation, Sterbeübung oder Phantasiereise nennen, kann helfen, die Ängste vor dem Sterben etwas abzubauen und sich so auch auf die eigene Sterblichkeit einzulassen.29 Eine solche Sterbemeditation ist eine Möglichkeit, sich auf das eigene Sterben und den eigenen Tod vorzubereiten. Die Sterbemeditation oder besser die angeleitete Sterbemeditation hat sich in Selbsterfahrungsgruppen, in Ausbildungsgruppen zu Verfahren der humanistischen Psychologie und in Vorbereitungsgruppen auf die Mitarbeit in einem 28 Vgl. die Studie von Begemann. 29 Lohmann, Sterbemeditation, I.

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Hospiz oder Hospizverein als ein wichtiger Versuch etabliert, mit den eigenen Ängsten im Zusammenhang mit dem Sterben und dem Tod anderer, aber auch vor dem eigenen Sterben und Tod umzugehen. 2. Die Sterbeübung oder Sterbemeditation kann aber nicht das ersetzen, was in der traditionellen Lebenskunst die praemeditatio mortis, die „Gewöhnung“ an den Tod, ist. Sicherlich, es ist richtig, an den Tod kann sich niemand gewöhnen, weil wir ihn nicht kennen, bis wir dann gestorben sind. Auch Sterben lässt sich nicht üben, weil wir nur einmal sterben. Daran ändern auch alle Nahtoderfahrungen nichts. Und dennoch: Der christliche Übungsweg des Lebens schließt Tod und Sterben mit ein, wir sollen unser Leben leben angesichts des Todes. Die Grausamkeit und Schwere des Todes und vieler Sterbeprozesse voller Leid und Schmerz sind Teil des wirklichen menschlichen Lebens. Vielleicht ist es deswegen so schwer, die Endlichkeit des Lebens zu akzeptieren. Wie schnell hat die westliche Welt das ewige Rad der Wiedergeburten und die Reinkarnationsvorstellungen aufgegriffen, um die absolute Letztgültigkeit des Todes zu umgehen. Dass der buddhistische Weg das gerade als eine unendlich entsetzliche Wiederkehr des Leides begreift, die es zu überwinden gilt, bleibt in der Todesabwehr außen vor. Auch eine populäre Spielart des christlichen Jenseitsglaubens verschließt vor der biblischen Botschaft häufig die Augen, indem dieser Jenseitsglaube die Grenze und Endgültigkeit des Todes nicht ernst nimmt, der Glaube an ein Weiterleben des modernen Subjekts – verknüpft mit einer falsch verstandenen Auferstehungshoffnung – hindert das Individuum daran, den Tod und die Endlichkeit zu akzeptieren. 3. Aus diesem Grund m ü ssen wir uns das Sterben und den Tod wieder an-eignen, ihn in unser Leben hineinlassen, denn er gehö rt zu unserem Leben. Auch wenn es aus der Übung gekommen ist, der beste Weg die Kunst des Sterbens und damit auch die Lebenskunst zu lernen, ist die Sterbebegleitung. Wie sollen wir das Sterben lernen, wenn das erste Sterben, das wir erleben, unser eigenes ist? Sterbebegleitung, wie sie jene 80.000 ehrenamtlichen Hospizmitarbeiter, unzählige Schwestern und Pfleger, Ärzte und Pfarrerinnen leisten, holen den Tod wieder ins Leben hinein, zumindest für sie ist der Tod real, gehört das Sterben zu ihrem Leben. Aber auch diejenigen, für die eine solche ehrenamtliche Aufgabe der Begleitung von Menschen, die sterben, zu schwer ist, gibt es Möglichkeiten, das Sterben, den Tod und die Trauer ins Leben hereinzuholen. Das gilt auch für unsere Absolventen und Absolventinnen, Sozialarbeiterinnen und Diakone, die ja nur in seltenen Fällen

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hauptberuflich direkt mit und für Sterbende arbeiten. Wir machen unseren Studenten deutlich, dass Sterbende besucht werden können, dass Abschiednehmen am Ende des Lebens und nach dem Tod für die psychische Bewältigung zum eigenen Leben hilft. Wenn der Leichnam nur noch entsorgt wird, die Kostenminimierung wichtiger ist als die Leichenwäsche durch die Angehörigen, wird die Angst vor dem Unfassbaren immer größer. Die Bestattungsunternehmer, mit denen wir in unseren Lehrveranstaltungen zusammenarbeiten, ermutigen die Studenten, die Zeit zwischen dem Eintreten des Todes und der Beerdigung in die eigenen Hände zu nehmen, nicht alles den Bestatter machen zu lassen. Angehörige helfender Berufe können hier Hinweise und Anstöße geben, wo Familien von sich aus dazu nicht mehr in der Lage sind. Für sie ist es wichtig, einmal im Studium die traditionellen Rituale um Sterben und Tod kennengelernt zu haben, oder besser noch, sie sich in privaten und beruflichen Vollzügen übend anzueignen. Im Ritual scheinen christliche oder kulturelle Verhaltensmuster auf, die den Einzelnen helfen können, in einer psychischen Anspannung mit Sterben, Tod und Trauer angemessen umzugehen. Das Fallenlassen in ritualisierte Bräuche der Tradition will nicht mehr gelingen wie z. B. die selbstverständliche Aufbahrung in der Wohnung und die Totenwache, die den Abschied erleichtert, auch weil sie gar nicht mehr bekannt sind. Die vielen organisatorischen Notwendigkeiten, die vom Schmerz ein wenig ablenken und deswegen eigentlich auch hilfreich sein können, werden als Belastung empfunden und können doch helfen, mit dem Schmerz umzugehen. Sie werden heute von den Bestattern bloß „erledigt“ und signalisieren nicht mehr die Realität, dass der geliebte Mensch beerdigt werden wird. Diese Wahrnehmung hilft beim Abschiednehmen. Die Trauerbesuche durch die Nachbarn und Verwandten, mit denen das Leid geteilt werden kann, schwarze Kleidung, die schützt und andererseits Leid anzeigt, ohne dass Trauernde von sich aus das Unfassbare erklären müssen, – diese und andere Rituale brechen weg. Es gilt, hilfreiche Rituale wiederzuentdecken, sie neu zu deuten und ihre Tragfähigkeit zu erleben, aber auch neue Rituale zu entwickeln. Indem wir Rituale für unseren Umgang mit dem Sterben neu entdecken und nach dem Tod die Trauerprozesse ritualisiert gestalten, eignen wir uns den Tod wieder an. 4. Das Ethos und die Haltungen, die notwendig sind, die Schritte auf dem Weg der Lebenskunst zu gehen, können nun in der Tat geübt werden. Ethosbildung ist ein lebenslanger Prozess, der immer wieder die Frage reflektiert, was angesichts des Todes zum guten Leben hilft. Neben der Ausbildung von Haltungen und der Ethosbildung, auch der Bildung eines Berufsethos, wie ich es oben beschrieben habe, will ich noch auf weitere Haltungen hinweisen, die für die Übung der ars moriendi als Lebenskunst wichtig sind. Wir werden sie bewusst einüben müssen, mag sein, dass in dem einen oder anderen Fall auch Krankheiten die Lehrmeister sind. Hilfreich

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ist sicherlich, dass die Professionsethik in den helfenden Berufen immer wichtiger wird und bei der Übung helfen kann. Meine Aufzählung ist eher assoziativ, aber deswegen nicht weniger relevant. Mir geht es um Beispiele wie die Lebenskunst im Kontext fremden und eigenen Sterbens, fremder und eigener Trauer Gestalt gewinnen kann, wie die ars moriendi sich in Haltungen konkretisiert. Es gilt auf dem Weg u. a. folgende Haltungen – zumeist der Klugheit im aristotelischen Sinne zugehörig – einzuüben: Die Haltung der liebevollen gütigen Zuwendung zu Sterbenden und Trauernden, aber auch den Toten gegenüber. Achtsamkeit ist eine unverzichtbare Haltung gegenüber Sterbenden und Trauernden, sie beginnt schon mit der Selbstwahrnehmung: Wo vermeide ich den Kontakt, wie gehe ich aus der Beziehung, was brauche ich, um zugewandt zu bleiben. Daniela Tausch-Flammer spricht von der „Hingabe an sich selbst und die Hingabe an den anderen“.30 In der Literatur zu den Themenkomplexen, die wir in den Lehrveranstaltungen bearbeiten, finden sich immer wieder ähnliche Haltungen, die wichtig sind im Umgang mit Sterbenden, aber auch für das eigene Sterben. Es sind menschenfreundliche Haltungen, wie die Fähigkeit, bitten zu können, die Tugend sich öffnen und empfangen können, loslassen zu können, danken und dankbar sein zu können sowie sich ent-schuld-igen und vergeben zu können. Eine sehr wichtige Haltung im Zeitalter der Medikalisierung und Technisierung der Heilkunst ist der Widerstand gegen eine allein auf das Leben fixierte Medizin, die den Sterbenden zum Leben verdammt. Die Einübung in Aushaltevermögen, Widerstand und Trotzkraft31 ist Teil der Lebenskunst ganz allgemein und wichtig in der Arbeit helfender Berufe. Es geht uns in den Seminaren darum, Anstöße zu menschenfreundlichen und lebensfreundlichen Haltungen zu geben. Wir können sie ein Leben lang einüben, auf dass sie uns das Sterben und den Abschied leichter machen. 5. Daniela Tausch-Flammer u. a. betonen immer wieder die spirituelle Grundlagen der Sterbekunst, z. B. bei Cicely Saunders und der Hospizbewegung. Elisabeth Kübler-Ross’ Arbeit ist ohne ihre tiefe Frömmigkeit und Prägung durch die schamanistische-indianische Religiosität nicht denkbar. Der christliche Glaube ist Motiv und Motor für die junge Hospizbewegung in Deutschland gewesen und ist es immer noch. 30 Tausch-Flammer, „Hallo! Ist dort jemand?“, 34 – 59. 31 Trotzkraft ist ein schöner bildhafter Ausdruck für eine wichtige Haltung. Ich habe ihn in der Lebenskunst-Literatur gelesen, mir aber nicht gemerkt, wo ich die Trotzkraft entdeckt habe. M. Hillmann spricht mit Bezug auf V. Frankl von der Trotzmacht des Geistes. Vgl. M. Hillmann, Sinnerleben und Sinnorientierung, in: Soziale Praxis gestalten, hg. v. V. Begemann u.a., Stuttgart 2011, 242.

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In der Praxis der christlichen ars moriendi geho¨rt das Bewusstsein, dass die uns gegebene Zeit anvertraute Zeit ist und deshalb nach einem sinnerfu¨ llten Lebensstil verlangt, unabdingbar zum Übungsweg. Zur christlichen Lebenskunst geho¨ ren sowohl das Erleben des eigenen Sterbens, als auch das Geschick, andere im Sterben zu begleiten und sie auf ihren Tod vorzubereiten. In den beiden großen Kirchen ist allerdings die Frömmigkeit der Alten im Sterbeprozess, praktiziert in den vielen Generationen, die vor uns waren, vielfach abgelöst durch eine unbestimmtere Spiritualität. Vor noch nicht langer Zeit hat die Beheimatung der Menschen im biblischen Psalter und in Worten Jesu die Sterbebegleitung bestimmt. Psalm 23 gab dem Sterbenden in den vertrauten Worten Halt und Trost. Die christliche ars moriendi braucht seit je her das Gebet und die biblischen Texte am Sterbebett, die Zusage der Vergebung von Schuld und die Feier des Abendmahls als Vorbereitung und Hinweis auf die ewige Mahlgemeinschaft dereinst. Christliche Lebenskunst als Kunst des Sterbens lebt aus der Hoffnung, dass das Leben von Gott im Tod unbedingt angenommen ist. Eingeübte Gebete, Psalmen, Liedverse und das Abendmahl nehmen die hilfreichen Worte und Bilder auf, die sich ein Leben lang eingeprägt haben. Ohne diese Einübung und Meditation von Worten und Bildern bleibt die christliche ars moriendi fragmentarisch. Auch bei einem sterbenden buddhistischen Tibeter wird die mögliche Hilfe und Begleitung beim Sterben nicht helfen, wenn er das tibetische Totenbuch nicht mehr kennt und er die Worte, die es im Sterbeprozess zu sprechen gilt und die es im Hören wiederzuerkennen und zu vergegenwärtigen gilt, nicht eingeübt hat ein Leben lang. Antworten auf die Fragen des Lebens und des Sterbens sind durch die Menschheitsgeschichte hindurch immer Aufgabe von Religion gewesen. Religionen zeigen Übungswege, auf denen die Gläubigen sich mit Sterben und Tod versöhnen. Religion gibt Antworten auf die Frage nach dem Sinn des Lebens, dem Ziel menschlicher Existenz und der Suche nach göttlicher Hilfe, um gut leben und gut sterben zu können. Religiöses Leben in all seinen Erscheinungsformen hilft Menschen, den Tod als Teil und Ende des irdischen Lebens zu verstehen und anzunehmen. Neben der religiösen und theologischen Durchdringung und Orientierung des Lebens und des Todes hilft die praktizierte Religion durch Übung, sei es durch traditionelle Formen der Sterbebegleitung, sei es durch Rituale im Umgang mit dem Tod, sei es durch ritualisierte Verarbeitung des Verlustes und der Trauer. Selbstverständlich vertraut und seit Urzeiten vertraut gemacht in der Gemeinschaft der Gläubigen ist die Einübung der ars moriendi als Lebenskunst für die schweren Zeiten des Sterbens und der Trauer eine spirituelle Notwendigkeit. Das religiöse Vertrautwerden mit Sterben, Tod und Trauer kann in unserer

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Zeit und säkularisierten Gesellschaft nicht mehr vorausgesetzt werden. Der christliche Jenseits-Glaube an ein Weiterleben nach dem Tode, zumal ein individualisiertes, steht unter dem Verdacht der billigen Vertröstung. Aber bei aller Trauer, dass das christliche Vertrauen in ein ganz anderes Leben nach dem Tod nicht mehr tragbar scheint, ist es mir durchaus wichtig, daran zu erinnern, dass die christliche Hoffnung über den Tod hinaus nicht in einem fest umrissenen Jenseitsglauben wurzelt.

II.5

Christliche Hoffnung

Heinz Rüegger weist mit Recht darauf hin, dass der christliche Glaube evangelischer Konfession ohne den platonischen Ausweg der Unsterblichkeit der Seele auskommt; der Mensch ist biblisch-alttestamentlich eine leib-seelische Einheit.32 Der Sterbende stirbt ganz und gar, Körper wie Seele, auch wenn Christen und Christinnen beider Konfessionen eher das seelische Weiterleben glauben mögen. Doch für das gute Sterben mag das nicht wichtig sein, der Glaube an die theologisch „richtig“ verstandene Auferstehung macht das Leben mit dem Tod und das Sterben nicht einfacher. Eine christlich verstandene ars moriendi und Lebenskunst wird es bei einer über den Tod hinausgehende Hoffnung belassen, dass die Toten aufgehoben sind in der Liebe Gottes. Gott wird uns im Tode nicht fallen lassen, wie er uns schon im Leben gehalten hat. Wahrscheinlich lässt sich das in der abstrakten Sprache des theologischen Denkens nicht adäquat aussagen. Wahrscheinlich wird in der modernen prae-meditatio mortis deswegen so häufig ein Herbstgedicht von Rainer Maria Rilke zitiert: Die Blätter fallen, fallen wie von weit, … Wir alle fallen. Diese Hand da fällt. Und sieh dir andre an: es ist in allen. Und doch ist Einer, welcher dieses fallen Unendlich sanft in seinen Händen hält.33

Dieser Eine ist es, auf den sich christliche Hoffnung im Leben und im Tod gründet. Insofern weist christliche Lebenskunst auf ihn hin als den Grund für ein gutes Leben und ein gutes Sterben. Wer die christliche Lebenskunst übt, lebt in der Hoffnung, dass Gott sein Leben im Sterben und im Tod unbedingt auffängt. Christen und Christinnen werden in der prae-meditatio heute wie in alten Zeiten eine Betrachtung und ein Vorbedenken des Sterbens und des Todes 32 Rüegger, Das eigene Sterben, 101. 33 Rüegger, Das eigene Sterben, 103 f.

Einübung in die christliche Lebenskunst

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einüben. Und dieses ist zumindest in der alttestamentlichen wie in der protestantischen Form recht schlicht und eindeutig. Es gilt mit der biblischen Weisheit (Jesus Sirach 41, 1 – 4) dem modernen Tabu des Todes zu begegnen und zu erinnern, dass der Gedanke an den Tod bitter ist und quälend. Es ist aber auch gut und tröstend, dass er uns geschickt wird, wenn wir unglücklich sind und die Kräfte im Greisenalter schwinden, von Sorgen geplagt quält sich der mürrische und ungeduldige Alte. Ganz realistisch ist diese Grenze des Todes, die alle trifft, die vor uns und die nach uns. Der Tod ist Anteil allem Fleisch von Gott, warum also unwillig sein gegen die Bestimmung des Allerhöchsten? Ob tausend Jahre, hundert oder zehn, in der Scheol gibt es keine Klage über das Leben. (Jesus Sirach 45, 4)

Die ars moriendi wird die Christenmenschen also nicht ein düsteres wolkenumhangenes Leben führen lassen. Die christliche Lebenskunst lässt den Menschen üben, besser zu sterben und besser zu leben. Psalm 90, 12 ist der weisheitliche Anstoß: Die Grenze des Lebens ist der Tod, er erinnert den Menschen an die Kostbarkeit des Lebens. Mag der Tod auch noch so fern liegen, wie bei unseren Studierenden, so können auch sie den weisheitlichen Anstoß aufnehmen, sich Sterben und Tod gedanklich in die Gegenwart holen. Sich Vorstellungen über ihn machen, kann an die Fülle des Lebens erinnern, hält dazu an, das Leben zu schätzen und es voll auszuschöpfen. Der Übende kann, je länger er übt, den Augenblick genießen, ohne ihn festhalten zu wollen. Das Verlieren lässt sich üben. Die Benediktinerin Corona Bamberg verweist auf das Einüben des Abschiednehmens und Loslassens in der Überzeugung, „dass Gott nicht loslässt“. Sie beschreibt das „Geheimnis dieser christlich-menschlichen Einübung“ als eine Einübung in Gott.34 Einübung in Gott, das heißt, „in jedem Augenblick bietet sich die Chance des kleinen Todes an, in vielerlei Verzicht kann man ihn sterben lernen. So erfährt man zunehmend Befreiung von der Angst, die den Tod eigentlich erst fürchten lässt: nämlich die Angst, zu verlieren“.35 Wichtig erscheint mir daran abschließend ein entscheidendes Moment der christlichen ars moriendi. Sicher ist es für den Übenden wichtig, sein Leben, Sterben und Tod in den Blick zu nehmen. In der christlichen Lebenskunst aber kommt gegenüber der philosophischen ars moriendi noch etwas hinzu. Es wird nicht nur der eigene Tod betrachtet und meditiert, sondern das Leiden, der Tod und die Auferstehung Jesu Christi. Wenn ich das Bild des leidenden und sterbenden Christus betrachte, kann ein Hoffnungsbild entstehen. In ihm selbst, hat der dreieinige Gott gelitten und ist gestorben. Christliche Lebenskunst meditiert 34 Bamberg, Askese, 197. 35 Ebd.

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Friedrich Heckmann

hin auf den Tod Jesu Christi am Kreuz und das unterscheidet sie von der philosophischen ars moriendi. Mit den Worten des Paulus im Römerbrief geht es trotz Qual und Schmerz und der ganzen Grausamkeit des Todes um den Grund der Hoffnung, von der ich eben gesprochen habe: Wer will uns scheiden von der Liebe Gottes? Trübsal oder Angst oder Verfolgung oder Hunger oder Blöße oder Fährlichkeit oder Schwert? … Aber in dem allem überwinden wir weit um deswillen, der uns geliebt hat. Denn ich bin gewiss, dass weder Tod noch Leben, weder Gegenwärtiges noch Zukünftiges, weder Hohes noch Tiefes noch irgendeine andere Kreatur kann uns scheiden von der Liebe Gottes, die in Christus Jesus ist, unserem Herrn. (Rö 8, 35; 37 – 39)

Literatur Aristoteles, Nikomachische Ethik (NE), in: Philosophische Schriften, Bd. 3, Hamburg 1995 Bamberg, C., Askese, St. Ottilien 2008. Begemann, V., Hospiz-, Lehr- und Lernort des Lebens, Stuttgart 2006. Burbach Ch./Heckmann, F. (Hg.), Übergänge. Annäherungen an das eigene Sterben, Göttingen 2011. Cesana, A., Bereden des Sterbens, Beschweigen des Todes. Bemerkungen zur philosophischen Auseinandersetzung mit dem Todesproblem, Kunst und Kirche 4, 1997, 196 – 200. Elias, N., Über die Einsamkeit der Sterbenden in unseren Tagen – humana conditio, Frankfurt a.M. 1982. Heckmann, F., Ökumenische Sozialethik, Bd. 4: Ethos lernen – Ethos lehren, A. Fritzsche/M. Kwiran (Hg.), München 2001. Heller, A. (Hg.), Kultur des Sterbens, Freiburg 1994. Von Kempen, Th., Anleitung zum Leben und Sterben. Aus dem Buch von der Nachfolge Christi, München 2008. Kohn, D., Vom „Restrisiko“ Tod zu einer neuen Kultur des Sterbens, NG/FH 4, 2007, 42 – 45. Kübler-Ross, E., Kinder und Tod, Zürich 1984. Lohmann, M., Die Auswirkungen einer geleiteten Vorstellungsübung über Sterben und Tod im entspannten Zustand, Frankfurt 1987. Noll, P., Diktate über Sterben & Tod, mit einer Totenrede von Max Frisch, Zürich1984. Rüegger, H., Das eigene Sterben, Göttingen 2006. Schmid, W., Philosophie der Lebenskunst, Frankfurt 1998. Schreiber, H., Das gute Ende, Wider die Abschaffung des Todes, Reinbek 1996. Seneca, L. A., Die Kürze des Lebens, in: D. Grünbein, An Seneca, Frankfurt 2004. Tausch-Flammer, D., „Hallo! Ist dort jemand?“ Von der Hingabe an sich selbst und die Hingabe an den anderen, in: D. Tausch-Flamme u. a. (Hg.), Spiritualität der Sterbebegleitung, Freiburg 1997. Volz, F. R., Lebensführungshermeneutik, Neue Praxis1 u. 2, 1993. Wils, J.-P., ars moriendi. Über das Sterben, Frankfurt/Leipzig 2007.

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Curriculum Vitae. Christiane Burbach Christiane Burbach wurde am 21. 12. 1948 als älteste Tochter von Fritz Ewert und dessen Ehefrau Frieda Auguste geb. Klein in Lüneburg geboren. Nach Ablegung der Reifeprüfung am Wildermuth-Gymnasium in Tübingen studierte sie von 1970 – 1975 Evangelische Theologie, Germanistik, Philosophie und Pädagogik in Tübingen, Zürich und Göttingen. 1973 Heirat mit Dr. theol. Hartmut Burbach; 1975 Erstes Theologisches Examen an der Theologischen Fakultät der GeorgAugust-Universität zu Göttingen; 1975 – 1977 Vikarin in Göttingen-Nikolausberg; 1977 Zweites Theologisches Examen und Ordination; 1977 – 1985 Pastorin in Obernjesa, Dramfeld, Dahlenrode, Atzenhausen; seit 1984 Ausbilderin für Personenzentrierte Seelsorge und Beratung; 1985 – 1990 Studentenpfarrerin in Göttingen; 01. 07. 1989 Promotion an der Theologischen Fakultät zu Göttingen mit der Arbeit: Argumentation in der „politischen Predigt“. Untersuchungen zur Kommunikationskultur in theologischem Interesse; 01. 03. 1990 Professorin an der Evangelischen Fachhochschule Hannover ; 1993 – 1996 Prorektorin der Evangelischen Fachhochschule Hannovers und von 1996 – 2000 Rektorin der Evangelischen Fachhochschule Hannovers; seit 2007 Professorin an der Hochschule Hannover. U.a. Mitglied der Deutschen Gesellschaft für Pastoralpsychologie, der Gesellschaft für wissenschaftliche Gesprächspsychotherapie, der Internationalen Gesellschaft für Tiefenpsychologie e.V., der Europäischen Gesellschaft für theologische Forschung von Frauen, Mitglied des Herausgeberkreises von „Wege zum Menschen“

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Wichtige Publikationen von Christiane Burbach Christiane Burbach, Argumentation in der „politischen Predigt“. Untersuchungen zur Kommunikationskultur in theologischem Interesse, Frankfurt a. M./Bern/New York 1990. Christiane Burbach, FRAUEN ERINNERN. Frauen in der Gedächtniskultur der Kirche, Hannover 2000. Christiane Burbach, Aus weiblicher Sicht. Erfahrungen, Analysen und Anstöße zu frauenspezifischen Themen. Interdisziplinäre Ringvorlesung der Hochschullehrerinnen der Evangelischen Fachhochschule Hannover, Hannover 1993. Christiane Burbach/E.C. Merkel (Hg.), Aufbruch zum Diesseits, FS Wilhelm Fahlbusch, Hannover 1995. Christiane Burbach/Susanne Wendorf-v. Blumröder (Hg.), Frauen gestalten Frauengestalten. Katalog zur Ausstellung, Hannover 62000. Christiane Burbach/Heike Schlottau (Hg.), Abenteuer Fairness. Ein Arbeitsbuch zum Gender-Training, Göttingen 2001. Christiane Burbach/Peter Döge (Hg.), Gender Mainstreaming. Lernprozesse in wissenschaftlichen, kirchlichen und politischen Organisationen, Göttingen 2006. Christiane Burbach/Friedrich Heckmann (Hg.), Generationenfragen. Theologische Perspektiven zur Gesellschaft des 21. Jh., Göttingen 2007. Christiane Burbach (Hg.), … bis an die Grenze. Hospizarbeit und Palliative Care, Göttingen 2010. Christiane Burbach/Friedrich Heckmann (Hg.), Übergänge – Annäherungen an das eigene Sterben, Göttingen 2011.

Quellennachweise

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Quellennachweise Josef Reding, Asphaltgebete, Würzburg 1999. Echter Verlag GmbH, Ebd. 42. Josef Reding, Asphaltgebete, Würzburg 1999. Echter Verlag GmbH: Josef Reding, herr brockstiepel und das eigene nest, in: Ders., Asphaltgebete, Würzburg 1999, 112. Ernst Jandl, Der beschriftete Sessel. Autobiographische Gedichte und Texte, Fetz, Bernhard/Siblewski, Klaus (Hg.), Salzburg/Wien 2012. Verlagsgruppe Random House, Ernst Jandl, an gott, in: Ernst Jandl, Der beschriftete Sessel. Autobiographische Gedichte und Texte, Fetz, Bernhard/Siblewski, Klaus (Hg.), Salzburg/Wien 2012, 203. Ernst Jandl, Der beschriftete Sessel. Autobiographische Gedichte und Texte, Fetz, Bernhard/Siblewski, Klaus (Hg.), Salzburg/Wien 2012. Verlagsgruppe Random House, Ebd. 231. Rose Ausländer, Gelassen atmet der Tag, Frankfurt a.M. 1984. S. Fischer Verlag GmbH: Rose Ausländer, Wort an Wort, in: Dies., Gelassen atmet der Tag, Frankfurt a.M. 1984, 107. Hilde Domin, Gesammelte Gedichte, Frankfurt a.M. 1987. S. Fischer Verlag GmbH: Hilde Domin, Nicht müde werden, in: Dies. Gesammelte Gedichte, Frankfurt a.M. 1987, 294. Hilde Domin, Gesammelte Gedichte, Frankfurt a.M. 1987. S. Fischer Verlag GmbH: Hilde Domin, Ecce homo, in: Dies. Gesammelte Gedichte, Frankfurt a.M. 1987, 345. Ulla Hahn, So offen die Welt, Gedichte, München, 22004. DVA (Random House): Ulla Hahn, Nach Hause, in: Dies., So offen die Welt, Gedichte, München, 22004, 82. Ulla Hahn, So offen die Welt, Gedichte, München, 22004. DVA (Random House): Ulla Hahn, Dichterlesung, in: Dies., So offen die Welt, Gedichte, München, 22004, 41. Ulla Hahn, Wiederworte, Gedichte, München 2011. DVA (Random House)

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Ulla Hahn, …Und dann, in: Dies., Wiederworte, Gedichte, München 2011, 109 ff. Ulla Hahn, Wiederworte, Gedichte, München 2011. (Random House): Ulla Hahn, Endlich, in: Dies., Wiederworte, Gedichte, München 2011, 148. Ulla Hahn, Unerhörte Nähe, Gedichte, Stuttgart, 22001. DVA (Random House) Ulla Hahn, Ballade von S., in: Dies., Unerhörte Nähe, Gedichte, Stuttgart, 22001, 74 f. Ulla Hahn, Freudenfeuer, Gedichte, Stuttgart 31989 DVA (Random House): Ulla Hahn, Schöne Landschaft, in: Dies., Freudenfeuer, Gedichte, Stuttgart 31989, 71. Friederike Mayröcker, Gesammelte Gedichte, Frankfurt a.M. 2004. Suhrkamp Verlag GmbH & Co.: Friederike Mayröcker, an meine Mutter, 84, in: Dies., Gesammelte Gedichte, Frankfurt a.M. 2004, 554.

Verzeichnis der Autorinnen und Autoren

Behnken, Annette, geb. 1969, Studium der Theologie, Pastorin, weitere Tätigkeiten in Personenzentrierter Beratung, Geistliche Begleitung, Coaching, Morgenandachten auf NDR-Kultur seit 2012, Wort-zum-Sonntag-Sprecherin ab 2013. Publikation: Dasein und Mittragen – Eindrücke aus dem Kinderhospiz, in: Christiane Burbach (Hg.), …bis an die Grenze. Hospizarbeit und Palliative Care, Göttingen 2011. Burbach, Hartmut, geb. 1943, Dr. theol., Pastor i.R., Studium der Germanistik u. ev. Theologie, Wiss. Assistent an der Theologischen Fakultät in Göttingen. Wichtige Publikationen: Das ethische Bewußtsein, Studien zur Systematik der theologischen Ethik Schleiermachers, Göttingen 1984; „Sei brav, sei ein Christ!“, Aspekte theologischer Ethik im praktischen Widerspruch, in: Dietrich Korsch/Hartmut Ruddies (Hg.), Wahrheit u. Versöhnung, Theologische u. philosophische Beiträge zur Gotteslehre, Gütersloh 1989. Domröse, Sonja, geb. 1960, Pastorin, Kommunikationsmanagerin und Pastoralpsychologin, Pressesprecherin im Sprengel Stade der Ev.-luth. Landeskirche Hannovers. Publikationen: Frauen der Reformationszeit. Gelehrt, mutig und glaubensfest, Göttingen 22011; Orte der Besinnung: Suchen – Entdecken – Erleben; Advent und Weihnachten zwischen Elbe und Weser. Heckmann, Friedrich, geb. 1953, Dr. theol., Pfarrer in Weimar bei Marburg, Wiss. Mitarbeiter und Akad. Rat FAU Erlangen, Studentenpfarrer TU Braunschweig, Prof. für Theologie u. Sozialethik an der EFH Hannover, seit 2007 an der Hochschule Hannover, Theologie im Gespräch (Hg.), Ausbildungen in Psychodrama, Organisationsentwicklung und Primärtherapie. Wichtige Publikationen: Arbeitszeit und Sonntagsruhe, Essen 1986; Wirtschaft von unten. Selbsthilfe und Kooperation (mit Spoo), Heilbronn 1997;

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Verzeichnis der Autorinnen und Autoren

Evangelische Sozialethik und Soziale Arbeit (mit Brömse), Hannover 1999; Übergänge. Annäherungen an das eigene Sterben (mit Burbach), Göttingen 2011. Kingreen, Tilman, geb. 1960; Pastor, Pastoralpsychologe und Supervisor (DGfP und GwG), seit 2010 Leiter der Arbeitsstelle fu¨ r Personalberatung und Personalentwicklung in der Evang. Luth. Landeskirche Hannovers. Publikation: Tilman Kingreen, Auf Kirchenbänken und Konferenzstühlen – vielfältige Rollenerwartungen an Pastorinnen und Pastoren. Personenzentrierte Personalberatung und Personalentwicklung, in: Gesprächspsychotherapie und Personenzentrierte Beratung 2/2011 (Jg. 42), 66 – 71. Klessmann, Michael, geb. 1943, Studium der Theologie und der Pastoralpsychologie in Deutschland und USA. Dr. theol., Professor für Praktische Theologie an der Kirchlichen Hochschule Wuppertal/Bethel. Emeritiert seit 2008. Ausbildung in Gestalttherapie, zum Supervisor und Lehrsupervisor (DGfP), viele Jahre als Krankenhausseelsorger und in der Seelsorgeausbildung in den von Bodelschwingschen Anstalten Bethel tätig. Wichtige Publikationen: Pastoralpsychologie. Ein Lehrbuch, Neukirchen 4 2009; Das Kreuz mit dem Beruf. Supervision in Kirche und Diakonie (mit Lammer), Neukirchen 2000; Seelsorge. Begleitung, Begegnung, Lebensdeutung im Horizont des christlichen Glaubens, Neukirchen 42012; Das Pfarramt. Einführung in Grundfragen der Pastoraltheologie, Neukirchen 2012. v. Lüpke, Johannes, geb. 1951, Dr. theol., Studium der Ev. Theologie, Wiss. Assistent an der Ruhr-Universität Bochum (1978 – 1981) und an der Universität Lüneburg (1987 – 1993), Pastor der Ev.-luth. Landeskirche Hannovers (1981 – 1987 und 1993 – 1995), seit 1995 Professor für Systematische Theologie an der Kirchlichen Hochschule Wuppertal/Bethel. Wichtige Publikationen: Wege der Weisheit. Studien zu Lessings Theologiekritik, Göttingen 1989; Anvertraute Schöpfung. Biblisch-theologische Gedanken zum Thema „Bewahrung der Schöpfung“, Hannover 1992; Dogmatik, Bd. 2 (mit Joest), Göttingen 52010/2012. Rückert, Norbert, geb. 1956, Dr. rer. biol. hum.; Dipl. Psychologe und Dipl. Theologe; Professor für Psychologie an der EFH-Hannover, seit 2007 an der Hochschule Hannover mit den Schwerpunkten Beratung, Klinische Psychologie, Allgemeine Psychologie humanwissenschaftliche Grundlagen der Heilpädagogik und der Sozialen Arbeit. Wichtige Publikationen: Aufbau und klinische Erprobung einer neuropsychologischen Testreihe, 1990; Leib und Seele – Salutogenese und Pathogenese/

Verzeichnis der Autorinnen und Autoren

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Body and Soul – Salutogenesis and Pathogenesis, European Inclusion Studies 4 (mit Ondracek/Romanenkova), Berlin 2006; Wirklichkeit erfinden oder entdecken oder was sonst? Konstruktive und nicht-konstruktive Kritik am Konstruktivismus, in: R. Balgo (Hg.), Systemtheorie – eine hilfreiche Perspektive für Behinderung, Gesundheit und Soziales?, Hannover 2010. Schultz, Magdalena, geb. 1940, Dr. phil., Dipl. Pädagogin, Praxis im Lehramt, Wiss. Assistentin PH Heidelberg, Lehrbeauftragte a. d. Universität und der Hochschule für Jüdische Studien in Heidelberg, seit 1989 – 2005 Professorin für Pädagogik an der EFH Hannover. Schwerpunkte: Allgemeine Pädagogik, Familien- und Altenarbeit, ChristlichJüdischer Dialog. Steinmeier, Anne, geb. 1957, Dr. theol., Habilitation 1997, Professorin für Praktische Theologie an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg; geschäftsführende Herausgeberin von Wege zum Menschen; Mitherausgeberin der Berliner Theologischen Zeitung; Mitherausgeberin der Arbeiten zur Pastoraltheologie, Liturgik und Hymnologie. Forschungsschwerpunkte: Seelsorge und Psychoanalyse, interdisziplinäre Beschäftigung mit Literatur, bildender und darstellender Kunst der Gegenwart. Wichtige Publikationen: Wiedergeboren zur Freiheit, Göttingen 1998; Schöpfungsräume. Auf dem Weg einer Prakt. Theologie als Kunst der Hoffnung, Gütersloh 2003; Kunst der Seelsorge. Religion, Kunst und Psychoanalyse im Diskurs, Göttingen 2010. Weber, Dieter, geb. 1960, Dr. theol., Pfarrer, Diplombiologe, Prof. für Sozial- und Medizinethik an der Hochschule Hannover. Forschungsschwerpunkte: Dialog Theologie – Naturwissenschaften; Analyse von Reziprozitätsbeziehungen; Begründung moralischer Urteile; Leibgebundenheit der Vernunft. Wichtige Publikationen: Die Geschichte Gottes und die Geschichte der Natur – eine Familienähnlichkeit, Münster 2000; Theologie und Kosmologie (mit Hübner/Stamatescu), Tübingen 2004; Aufsätze zur Begründung moralischer Urteile, zu Leib u. Identität, zum Phänomen „Geben“. Wendorf – von Blumröder, Susanne, geb. 1960, Studium der Theologie in Göttingen, Tübingen und Hamburg, Pastorin in Ronnenberg (1989 – 1991) und Empelde (1992 – 2006), seit 2006 Superintendentin in Bremerhaven. Mit Christiane Burbach Ideengeberin und Initiatorin der Ausstellung „Frauen gestalten Frauengestalten“, Herausgeberin des Kataloges zur Ausstellung und von Postkarten hierzu.

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Verzeichnis der Autorinnen und Autoren

Veröffentlichungen von Predigtmeditationen und regelmäßige Rundfunkgottesdienste.