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German Pages 282 Year 2014
Katharina Liebsch, Ulrike Manz (Hg.) Leben mit den Lebenswissenschaften
Band 7
Editorial Die neuere empirische Wissenschaftsforschung hat sich seit den späten 1970er Jahren international zu einem der wichtigsten Forschungszweige im Schnittfeld von Wissenschaft, Technologie und Gesellschaft entwickelt. Durch die Zusammenführung kulturanthropologischer, soziologischer, sprachwissenschaftlicher und historischer Theorie- und Methodenrepertoires gelingen ihr detaillierte Analysen wissenschaftlicher Praxis und epistemischer Kulturen. Im Vordergrund steht dabei die Sichtbarmachung spezifischer Konfigurationen und ihrer epistemologischen sowie sozialen Konsequenzen – für gesellschaftliche Diskurse, aber auch das Alltagsleben. Jenseits einer reinen Dekonstruktion wird daher auch immer wieder der Dialog mit den beobachteten Feldern gesucht. Ziel dieser Reihe ist es, Wissenschaftler/-innen ein deutsch- und englischsprachiges Forum anzubieten, das • inter- und transdisziplinäre Wissensbestände in den Feldern Medizin und Lebenswissenschaften entwickelt und national sowie international präsent macht; • den Nachwuchs fördert, indem es ein neues Feld quer zu bestehenden disziplinären Strukturen eröffnet; • zur Tandembildung durch Ko-Autorschaften ermutigt und • damit vor allem die Zusammenarbeit mit Kollegen und Kolleginnen aus den Natur- und Technikwissenschaften unterstützt, kompetent begutachtet und kommentiert. Die Reihe wendet sich an Studierende und Wissenschaftler/-innen der empirischen Wissenschafts- und Sozialforschung sowie an Forscher/-innen aus den Naturwissenschaften und der Medizin. Die Reihe wird herausgegeben von Martin Döring und Jörg Niewöhner. Wissenschaftlicher Beirat: Regine Kollek (Universität Hamburg, GER), Brigitte Nerlich (University of Nottingham, GBR), Stefan Beck (Humboldt Universität, GER), John Law (University of Lancaster, GBR), Thomas Lemke (Universität Frankfurt, GER), Paul Martin (University of Nottingham, GBR), and Allan Young (McGill University Montreal, CAN).
Katharina Liebsch, Ulrike Manz (Hg.)
Leben mit den Lebenswissenschaften Wie wird biomedizinisches Wissen in Alltagspraxis übersetzt?
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
© 2010 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus Lektorat & Satz: Katharina Liebsch, Ulrike Manz, Claudia Sontowski Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-8376-1425-1 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]
I N H AL T
Einleitung KATHARINA LIEBSCH/ULRIKE MANZ
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Biosozialität Neue Vergemeinschaftungen? Entstehungskontexte, Rezeptionslinien und Entwicklungstendenzen des Begriffs der Biosozialität THOMAS LEMKE »Einfach so mal schauen, was gerade los ist.« Biosoziale Familialisierung in der Schwangerschaft EVA SÄNGER Making up people in school. Schule als biosozialer Raum KATHARINA LIEBSCH/ULRIKE MANZ
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Medikalisierung Erfolgreich schüchtern und niemals alt? Ratgeberliteratur als Medium der Medikalisierung WILLY VIEHÖVER/PETER WEHLING Die Ökonomie biowissenschaftlicher Wissensproduktion KENDRA BRIKEN/CONSTANZE KURZ ›Neuro-Enhancement‹ – Gesellschaftlicher Fortschritt oder neue Dimension der Medikalisierung? TORSTEN HEINEMANN
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Prävention Epistemische Vermischung: Zur Gleichsetzung von Person und Risikoprofil in der genetischen Beratung SILJA SAMERSKI Gen-Wissen zwischen Labor und Früherkennung SONJA PALFNER
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Tiefgekühlte Vorsorge. Die Gestaltung von Zukunft durch die Lagerung von Stammzellen aus Nabelblut SEBASTIAN SCHLEBUSCH
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Organisiertes Risiko: Wie die Wechseljahre zum Bilanzierungsobjekt werden MEIKE WOLF
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Diskurs/Diskursivierungen Das »Wissen der Leute«. Zur Diskursivierung der Biowissenschaften im Internet ANNE WALDSCHMIDT
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Mediale »Reinigungsarbeit«. Der Diskurs um die PID in der ZEIT MALAIKA RÖDEL
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Rahmenwechsel: Die ADHS als Innovationspotenzial ROLF HAUBL
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Autorinnen und Autoren
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Dank
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Einleitung KATHARINA LIEBSCH/ULRIKE MANZ
Technologien und Wissensformen der sogenannten Lebenswissenschaften werden in den Sozialwissenschaften im Rahmen der »interdisziplinären Wissenschafts- und Technikforschung«, wissenssoziologischer Perspektiven auf die Biotechnologien und Biomedizin und als »Biopolitik« untersucht und diskutiert. Erschienen sind in den vergangenen zwei Jahrzehnten eine Vielzahl von Studien über die Produktion und Stabilisierung biotechnologischer und biomedizinischer Wissensbestände, Klassifikationssysteme und Klassifikationspraxen. Sie haben sichtbar gemacht, dass das Wissen und die Technologien der Lebenswissenschaften die Einzelnen und die Gesellschaft in ein neuartiges Verhältnis zueinander bringen, beispielsweise indem sie neue Verständnisse und Repräsentationen von Gesundheit und Körpernatur zur Verfügung stellen, Menschen dazu auffordern, für ihre eigene ›Natur‹, ihr ›genetisches Schicksal‹ Verantwortung zu übernehmen und indem sie soziale und professionelle Praxis verändern. Die Bedeutung von körperlichen Faktoren in Identitätskonzepten, in Formen sozialer Vergemeinschaftung, bei Perspektiven auf soziale Probleme und Risiken sowie in Normen und gesellschaftlichen Zuschreibungen und Erwartungen ist dabei alles in allem größer geworden. Stellenwert und Bedeutung der lebenswissenschaftlichen Wissensbestände und Technologien sind jedoch umstritten. Unklar ist der Zusammenhang des sozialen Phänomens mit seiner psychischen und habituellen Verankerung und seiner Basierung auf biologischen Faktoren unter Rekurs auf molekulare Mechanismen. Weder sind die Wechselwirkungen zwischen den genannten Ebenen erforscht noch können die Spezifik der sozialen, psychischen, physischen und molekularen Prozesse sowie deren Reichweite benannt werden. Die Epigenetik thematisiert 7
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genau dies (vgl. z.B. Jaenisch/Bird 2003) und in den Sozialwissenschaften ist beispielsweise auf die Erkenntnis leitende Bedeutung des empirisch befragten Systems (etwa: Psyche, Sozialstruktur, Kultur, molekulare Prozesse) hingewiesen (vgl. Luhmann 1992) oder auch die Rolle von spezifischen Vorannahmen, sozialen Praktiken und gesellschaftlichen Trends bei der Produktion biomedizinischen Wissens beschrieben worden (vgl. z.B. Rabinow 1996). Hier wird deutlich, dass es, um den komplexen Produktionsprozess lebenswissenschaftlichen Wissens nicht als entweder (molekular-)biologisch, psychologisch oder sozial zu vereinseitigen, eine relationale und prozessuale Betrachtung von sowohl Wissenschaft als auch Gesellschaft braucht. Indem die jeweils konkret ausgestalteten Schnittstellen von Natur und Kultur und die damit verbundenen materiell-diskursiven Praxen positioniert, sichtbar gemacht und analytisch durchdrungen werden, erschließt sich auch die Bedeutung des lebenswissenschaftlichen Wissens. Ian Hacking hat in diesem Zusammenhang postuliert, dass es für die Bearbeitung von Fragen nach der Entstehung und Aneignung von Wissen und dessen Auswirkungen auf Physiologie und Sozialformen ein Verständnis der Wechselwirkungen zwischen Wissensbeständen aus den Bereichen (Natur-)Wissenschaft, Politik und Wirtschaft, den sozial und symbolisch wirksamen Klassifizierungen sowie den Aneignungsprozessen und Widerstandsformen der von den Klassifizierungen Betroffenen braucht. Er nennt diese Kombination verschiedener Einflussfaktoren »looping effect« (Hacking 2006: 23) und verweist damit darauf, dass biotechnologische und biomedizinische Wissensbestände nicht per se vorhanden sind, sondern als in Alltagspraxen übersetzte Klassifikationen wirksam werden. Ziel und Ansinnen des vorliegenden Bandes ist es nun, solche »looping effects« empirisch zu veranschaulichen und theoretisch präzise zu konzeptualisieren. Dazu nehmen die hier versammelten Beiträge vor allem die Wege der Weitergabe, Verbreitung und Aneignung der lebenswissenschaftlichen Wissensbestände und Technologien in den Blick. Im Mittelpunkt der Beiträge stehen die Mechanismen der Übersetzung, des Transfers und der Prozessierung von biomedizinischen Wissensbeständen. Die analytische Grundlage für das Verstehen der alltagspraktischen und lebensweltlichen Relevanz biomedizinischen Wissens ist dabei jeweils die relationale und prozessuale Betrachtung materiell-diskursiver Praxen, insbesondere von Wissenspraxen.
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Prozessierung neuen Wissens Die Weitergabe lebenswissenschaftlichen Wissens ist an Werkzeuge der Transmission und »translation« (vgl. Callon 1986) gebunden und wird in spezifischen Diskursen und Praxen zum Bestandteil des gesellschaftlichen Sinn- und Deutungsrepertoires. Die Prozessierung von Wissen und Technologien aus den Lebenswissenschaften als komplexer und vielschichtiger Vorgang der Weitergabe, Aneignung, Umarbeitung und Neuproduktion dieses Wissens wird in den hier vorgelegten Beiträgen im Rahmen verschiedener Untersuchungs- und Diskussionsperspektiven betrachtet. Die Fragen lauten:
• • • •
Welche Verbreitung, Wege und Formen des Austauschs können in historischer, institutioneller und ökonomischer Perspektive beschrieben werden? Wie laufen Wissenstransfers ab? Welche »tools« kommen dabei zum Einsatz? Welche Mechanismen von Übersetzungsprozessen können beobachtet werden? Wie funktionieren die kollektive und individuelle Aufnahme und die Aneignung neuen Wissens? Welche neuen Umgangsformen etablieren sich im Zuge dessen? Welche sozialen, ökonomischen und politischen Relevanzen, welche gesellschaftlichen und kulturellen Bedeutungen und Normativitäten etablieren sich im Zuge der Prozessierung des lebenswissenschaftlichen Wissens?
Zur Beantwortung dieser Fragen wird zum einen das empirische, material-fundierte Wie? der Weitergabe, der Übersetzung und Aneignung des neuen Wissens in den Blick genommen. Zum zweiten ist von Interesse, wie die jeweiligen situativen und kontextlogischen Erfordernisse von lebensweltlichen und alltäglichen Handlungszusammenhängen ihrerseits das neue Wissen strukturieren und organisieren, es also umarbeiten, anpassen und dynamisieren. Darüber hinaus werden drittens die Bedeutungszuschreibungen, normativen Aufladungen und die Einbettungen in gesellschaftliche und soziale Zusammenhänge der Wissensprozessierung beschrieben. Viertens schließlich dienen die empirisch fundierten Beschreibungen und Analysen der Prozessierung neuen Wissens der Weiterentwicklung einschlägiger theoretischer Konzepte und Begrifflichkeiten. Die hier vorgelegten Beschreibungen und Analysen knüpfen an vier ausgewählte Konzepte an, die sowohl den thematisch-theoretischen Rahmen dieses Bandes bilden als auch den Horizont weiterer, zukünfti9
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ger Forschungen und Theoretisierungen abstecken. Die Prozessierung neuen Wissens, so soll hier verdeutlicht werden, zeigt sich erstens in der Entstehung neuer »Biosozialität«, findet zweitens in Form von »Medikalisierung« statt, wird drittens als »Prävention« zur Anwendung gebracht und viertens im Rahmen spezifischer »Diskurs/Diskursivierungen« weiter gegeben. Die in den Beiträgen verhandelte Empirie wird jeweils einem der genannten Bezugskonzepte entsprechend gedeutet und dient dessen Fundierung und Weiterentwicklung.
Biosozialität Das zu Beginn der 1990er Jahre von Paul Rabinow vorgelegte Konzept reagiert auf die breit diskutierten Entwicklungen in Genforschung und Medizin. Als »Biosozialität« bezeichnet Rabinow eine Tendenz zur Umformung bzw. Auflösung des Sozialen, die auf der Grundlage neuen genetischen Wissens geschieht. Das neue Wissen werde, so seine These, »auf der Mikroebene vermittels einer Reihe biopolitischer Praktiken und Diskurse in das gesamte soziale Gefüge eingebunden« (Rabinow 2004: 139). Das durch die expandierende Genetik diffundierende Wissen erhalte im Rahmen biopolitischer Praktiken eine soziale Qualität, die insgesamt bewirke, dass das gesellschaftliche Gefüge und die sozialen Beziehungen, also die Verfasstheit des Sozialen, zukünftig auf Grundlage einer (techno-sozialen) Artifizialität entworfen würden. Dies habe zur Folge, so Rabinows These, dass Kultur und Natur als gleichursprüngliche Praxis wirken. Verbunden mit der Biosozialität sind Auswirkungen des neuen Wissens auf das Verständnis und die Repräsentation von Individualität, Gemeinschaft und Gesellschaft. Zum einen prognostiziert Rabinow neue Selbstverhältnisse und Formen von individuellen und kollektiven Identitäten, zum zweiten zeichne sich für den Gesellschaftsbegriff ab, dass er angesichts der vielfältigen Interaktions- und Transaktionsprozesse zwischen sozialen, natürlichen und technischen Akteuren neu konzipiert werden müsse. Gleichermaßen ins Wanken gerate der Naturbegriff, der als eigenständige ontologische Sphäre zunehmend der Nachvollziehbarkeit entbehre. Insgesamt, so lautet die zentrale These, komme es zu einer wechselseitigen Durchdringung von Natur und Gesellschaft, die eine grundsätzliche Sortierung oder eine eindeutige Zuordnung unmöglich mache. Das Konzept der Biosozialität postuliert soziale Veränderungen durch lebenswissenschaftliches Wissen, ohne selbst die Abläufe und Mechanismen der Transformationen genauer auszuweisen. Eine empirische Veranschaulichung bzw. Überprüfung von Rabinows Thesen bietet 10
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sich daher genauso an wie dessen konzeptuelle und theoretische Erweiterung und Ergänzung um die Abläufe und Prozesse der konstatierten Neuerungen. Dazu zeichnet der Beitrag von Thomas Lemke Entstehungskontexte, Rezeptionslinien und Entwicklungstendenzen der »Biosozialität« nach und veranschaulicht die empirische Relevanz des Konzepts im Rückgriff auf Studien über Selbsthilfegruppen und Patientenvereinigungen sowie anhand von Forschungen zur »genetischen (bzw. biologischen) Bürgerschaft«. Er macht deutlich, dass der Begriff der Biosozialität ein wichtiges Analyseinstrument, eine Art »heuristisches Werkzeug« darstellt, das dabei hilft, Verhältnisse von lebenswissenschaftlichem Wissen und biotechnologischen Innovationen einerseits und der Entstehung neuer individueller und kollektiver Identitäten andererseits zu untersuchen. Keinesfalls sollte der Begriff aber als Epochen- oder Universalbegriff verstanden werden, der überall und in gleicher Weise genutzt werden kann. Um das analytische Potenzial des Konzepts weiter zu entfalten, schlägt Lemke vor, dass Forschungsarbeiten sich neben Selbsthilfegruppen und Patientenvereinigungen auch anderen Gegenständen zuwenden und zudem Macht- und Herrschaftsverhältnisse stärker einbeziehen. Eva Sänger illustriert und diskutiert in ihrem Text eine »biosoziale Familialisierung in der Schwangerschaft«, die durch die Ultraschalltechnologie und die damit verbundenen Repräsentations- und Interventionsformen möglich wird. Ihr empirisches Material veranschaulicht eine erlebnissteigernde und konsumistische Verwendung der Ultraschallbilder durch die Schwangeren. Sänger zeigt, wie die Prozessierung des medizintechnischen Wissens in Praktiken vollzogen wird, in denen materielle, symbolische und Wissensdimensionen ineinander verwoben sind. Auf diese Weise wird das biosoziale Moment einer Gleichursprünglichkeit von Natur, Kultur und Artifizialität deutlich. Darüber hinaus verdeutlicht der Beitrag, wie Biologie, Medizin und Lebenswissenschaften an der Naturalisierung der Geschlechterdifferenz und der Befestigung von Zweigeschlechtlichkeit beteiligt sind und verweist damit auf die Notwendigkeit, das Konzept »Biosozialität« geschlechtlich zu differenzieren. Die Weitergabe biomedizinischer und biotechnologischer Themen im schulischen Unterricht ist Gegenstand des Beitrags von Katharina Liebsch und Ulrike Manz. Sie zeigen, wie die schulische Aufbereitung des neuen Wissens darauf zielt, neue, biosoziale Bilder vom Selbst, von Körperlichkeit und sozialen Beziehungen einzuüben und zu erproben. Schule stellt, so die These, einen »biosozialen Raum« zur Verfügung, der sich durch einen Unterricht zum Thema Lebenswissenschaften realisiert, in dem die Vorstellung einer Wahlfreiheit und die Option der indi11
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viduellen Gestaltbarkeit des neuen Wissens postuliert werden. Von den Schülerinnen und Schülern wird dabei erwartet, dass sie üben, Entscheidungen zu bioethischen und biopolitischen Fragen autonom, verantwortungsbewusst und erfahrungsorientiert zu begründen und zu treffen. Damit werden zum einen die von Paul Rabinow postulierten »veränderten Selbstverhältnisse« der Biosozialität zukunftsorientierend anvisiert. Zum zweiten normalisiert der Unterricht das lebenswissenschaftliche Wissen durch die normative Verselbstständigung des technisch Möglichen.
Medikalisierung Mit »Medikalisierung« ist die Ausweitung medizinischer Autorität auf immer mehr Bereiche des menschlichen Lebens bezeichnet. Phänomene, die zuvor als soziale Probleme gefasst wurden, werden verstärkt mit Kategorien von Krankheit und Gesundheit klassifiziert. Diese Ausdehnung medizinischer Definitionen auf immer neue Lebensbereiche ist für die Individuen einerseits mit einer moralischen Entlastung verbunden (krank sein bedeutet zumeist, weniger mit gesellschaftlichen Anforderungen konfrontiert zu sein), andererseits mit neuen Mustern der Verantwortlichkeit verknüpft (z.B. einem erhöhten Druck, zum Arzt zu gehen und Medikamente einzunehmen, um schnell wieder gesund zu werden). Auf Grund der gegenwärtig zu beobachtenden Expansion neuer soziomedizinischer Störungen, neuer diagnostischer Technologien und Maßnahmen zur prä-symptomatischen Versorgung (z.B. Brustkrebs-Screening) erfreut sich die Medikalisierungsthese großer Beliebtheit. Allerdings ist das Konzept nicht unumstritten. Kritisiert wird, dass Medikalisierung zu einseitig auf ärztliche Kontrolle sowie auf die Gegenüberstellung von Medizin und Gesellschaft ausgerichtet sei (vgl. Conrad 2005). 2003 wurde das Konzept von Adele Clarke und anderen erweitert und durch den Begriff der »Biomedikalisierung« differenziert (vgl. Clarke et al. 2003). Der Begriff Biomedikalisierung will der Verschiebung in der medizinischen Wissensproduktion und ihren Anwendungen Rechnung tragen. Vorgeschlagen wird die begriffliche Unterscheidung zwischen einer »Medikalisierung im Modus I«, welche die Prozesse der Kontrolle von Krankheiten und der Kontrolle der äußeren Natur bezeichnet, und einer Biomedikalisierung als »Medikalisierung im Modus II«. Letztere will die biotechnologischen und medizinischen Interventionen berücksichtigen, die auf eine Transformation von »life itself« zielen und die mit neuen Formen der Kontrolle und Regulierung der »inneren« Natur des Menschen verbunden sind. Diese verändern die Vorstellungen und Bilder, die Menschen von ihrer eigenen Körpernatur 12
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haben sowie die Prinzipien und Funktionsweisen des Körperlichen selbst. Eine solche Verschiebung des theoretischen Verständnisses fordert dazu auf, das Ausmaß und die Reichweite von Kontroll- und Disziplinierungsregimes der Medikalisierung zu untersuchen. Zugleich sind damit aber auch Fragen nach neuen, widersprüchlichen Ko-Produktionsverhältnissen zwischen Wissenschaft und Gesellschaft aufgeworfen, die hier in drei Beiträgen anhand aktueller Phänomene und Entwicklungen betrachtet und diskutiert werden. Peter Wehling und Willy Viehöver untersuchen die Medikalisierung von Schüchternheit und Alter, die sie anhand von Ratgeberliteratur veranschaulichen. Dazu werden zunächst das Medikalisierungskonzept sowie seine Modifizierungen als ein Prozess weg von sozialer Kontrolle hin zur Selbst-Medikalisierung vorgestellt. Die anschließende exemplarische Analyse von jeweils fünf Ratgebern aus den genannten Themenfeldern verdeutlicht den Modus der Dramatisierung und Responsibilisierung zur Aktivierung von Zielgruppen. Insofern repräsentiert die Ratgeberliteratur genau jene analytische Perspektive in der Medikalisierungsdebatte, die auf die zentrale Bedeutung der Selbstmedikalisierung und damit der Selbstaktivierung des Individuums verweist. Die Autoren argumentieren deshalb für ein Festhalten am Medikalisierungsparadigma und betonen dessen Potenzial für Analyse und Kritik. Der Beitrag von Kendra Briken und Constanze Kurz beschreibt die Ökonomisierung biowissenschaftlichen Wissens durch die pharmazeutische Industrie als materiale Basis und Voraussetzung von Medikalisierung. Die Autorinnen zeigen im Rückgriff auf empirisches Material aus der forschenden pharmazeutischen Industrie der 1990er Jahre, dass biowissenschaftliches Wissen zunächst in kleinen Biotechunternehmen hergestellt und nachfolgend in profitable Anwendungsbereiche der Pharmaindustrie transferiert wurde. Im Rahmen dieser Arbeitsteilung blieben, so wird veranschaulicht, Heilserwartungen und Innovationsund Arbeitsmarktversprechen auf der Strecke. Zugleich aber sorgten genau diese Hoffnungen dafür, dass die Pharmaindustrie ihre ökonomischinstitutionelle Position weiter ausbauen und festigen konnte. Ein Motor von Medikalisierung liegt, so gesehen, auch in der beschriebenen spezifischen »Ökonomie biomedizinischer Wissensproduktion«. Die Verbreitung pharmazeutischer Produkte in immer neue Bereiche diskutiert Torsten Heinemann am Beispiel »Neuro-Enhancement«. Er zeigt, dass die Entwicklung und Popularisierung von Medikamenten, die die kognitive Leistungsfähigkeit steigern sollen, eine medial verbreitete Erfolgsgeschichte ist, der ein eher bescheidenes medizinisch-technologisches Wissen gegenübersteht. Die Medienpräsenz des »Neuro-En13
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hancement« verweist, so die These, vor allem auf die Bedeutung gesellschaftlicher Leistungsanforderungen, die als unveränderbarer Sachzwang gelten und als Anlass für neue rhetorische Deduktionen zum Thema ›Gerechtigkeit‹ dienen. Dabei, so macht der Beitrag deutlich, geht es jedoch weniger darum, soziale Ungleichheiten zu minimieren, sondern darum, pragmatische Lösungen für gesellschaftliche Zwänge anzubieten. Hier, so schlussfolgert der Autor, zeige sich eine Tendenz zur »Medikalisierung der Gesellschaft« in einem übergreifenden Sinne.
Prävention Prävention als Überwachung des wahrscheinlichen Auftretens von Krankheiten, Anomalien und sogenanntem abweichenden Verhalten, zielt auf die Maximierung von Verhaltensweisen, die als gesundheitsfördernd betrachtet werden. Prävention »folgt dem Prinzip des Latenthaltens« (Bröckling 2008: 38). Dieser Modus antizipiert mögliche Stätten der Gefahr durch die Identifikation von Schnittstellen, die auf Grund von Normen und Durchschnittswerten statistisch lokalisierbar sind. Im Bereich der Gesundheitspolitik gibt es eine Reihe von sowohl repressiv als auch produktiv agierenden Präventionsprogrammen. Beispielsweise wird in Anti-Raucher-Kampagnen oder in Form von Rücken-Trainings entsprechendes Verhalten bestraft bzw. belohnt und durch Drohung und Ermutigung, Abschreckung und Belehrung, durch Vergabe und Entzug von Ressourcen und unter Nutzung sozialer Netzwerke etabliert (vgl. Castel 1983). Präventionsprogramme bilden eine Schnittstelle zwischen professioneller Praxis in Wissenschaft, Wirtschaft und (politischer) Verwaltung auf der einen Seite und alltäglicher sozialer Praxis auf der anderen Seite. Sie konstituieren einen Raum, in dem soziale Praxis explizit mit normativen und pragmatischen Vorgaben konfrontiert wird (vgl. Niewöhner 2007: 35). Prävention wirkt dabei nicht nur in Form von konkreten Programmen in den Alltag hinein, sondern beeinflusst individuelle und gesellschaftliche Praxis auch in Form von Ansprüchen und impliziten Leitbildern, beispielsweise durch ein spezifisches Verständnis von Körperlichkeit oder in Form von Risikokonstruktionen. Wie durch Prävention alltägliche, politische und medizinische und biowissenschaftliche Wissensbestände miteinander in Zusammenhang gebracht und im Rahmen eines gesundheitspolitischen Settings prozessiert werden, suchen die folgenden vier Beiträge zu klären. Der Beitrag von Silja Samerski untersucht das Präventionshandeln am Beispiel der genetischen Beratung. Die konkrete Beratungssituation, so zeigt der Beitrag, ist von einer Vermischung von Person und statisti14
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schem Konstrukt gekennzeichnet; im Zentrum der Beratung steht die Einstufung der konkreten Klientin in statistisch ermittelte Risikopopulationen. Entlang der Analyse einer Beratungssituation illustriert der Beitrag, wie die Klientin im Laufe des Beratungsgespräches in ein Risikoprofil verwandelt wird, das an bestimmten Kriterienkatalogen orientiert ist, aber letztlich keine Aussagen über die konkrete Person zulässt. Diese »epistemische Vermischung« sei, so die These, konstitutiv für die Etablierung medizinischer Präventionsprogramme. Unter dem Stichwort ›informierte Entscheidung‹ eröffneten diese für den Einzelnen keine Handlungsoptionen zur Vermeidung von Krankheit, sondern böten lediglich die Möglichkeit der Beteiligung an einer statistisch ermittelten Risikoverwaltung. Wie aber genau kommt es zu derartigen Vermischungen, zu Konstruktionen von Risiko und statistischen Wahrscheinlichkeiten, wenn es doch um konkrete Beschwerden, individuell erlittene Krankheiten und Befürchtungen von Einzelnen geht? Diesem Zusammenhang geht Sonja Palfner in ihrem Beitrag über das Gen-Wissen zum Thema Brustkrebs nach. In der Gleichzeitigkeit zwischen Wissenschaft und Alltagswissen entstehen, so illustriert der Aufsatz, in wechselseitigen Prozessen zwei Definitionen eines »Brustkrebs-Gens«. Vier zentrale »Übersetzungsmechanismen«, nämlich ›Modellbildung‹, ›Subjektivierung‹, ›Versprechen‹ und ›Geschlechterwissen‹, schaffen ein spezifisches Krankheitswissen über Brustkrebs und eine Situation für die betroffenen Individuen, in der entweder von ihren kranken Genen die Rede ist oder sie als gesunde Kranke gelten, eine Situation, die eine »pathogene Signatur« in das Leben schreibe. Ein zukünftig noch zu erschließendes Feld von Prävention thematisiert Sebastian Schlebusch in seinem Beitrag über die Lagerung von Stammzellen aus dem Nabelschnurblut. Sein Text ist als ein erster Aufriss und Annäherung an die Thematik zu verstehen und gibt einen Einblick in die normativen Aufladungen, mit Hilfe derer die Einlagerung von Stammzellen als sinnvolle Präventionsstrategie entworfen wird. Anhand von Internet-Seiten entsprechender Blutbanken wird skizziert, wie das Postulat von elterlicher Verantwortung und das Versprechen auf Therapie von möglicherweise zukünftig auftretenden Krankheiten mit dramatischen Krankheitsschilderungen verbunden werden, um die Maßnahme als sinnvoll und als dringlich erscheinen zu lassen. Das kommerzielle Angebot einer Lagerung von Stammzellen bietet ein Zukunftsversprechen besonderer Art. Hier wird Prävention als mögliche Absicherung gegen zukünftige Unsicherheiten verkauft. Der Beitrag von Meike Wolf illustriert am Beispiel der Menopause, wie aus konkreten körperlichen Beschwerden riskante Körperlichkeiten 15
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konstruiert werden. Denn in der gynäkologischen Praxis sind Menopause und Prävention eng miteinander verflochten: Frauen, die zur Krebsfrüherkennung gehen werden über den menopausalen Zustand ihres Körpers informiert und umgekehrt spielen in der Behandlung von menopausalen Beschwerden die Themen Osteoporose und Brustkrebs eine wichtige Rolle. Ausgehend von teilnehmenden Beobachtungen rekonstruiert die Autorin den Weg von der Behandlung konkreter Beschwerden hin zum Risikomanagement. Dabei wird deutlich, dass in den Sprechstunden die Behandlung der menopausalen Beschwerden als gleichzeitig potenziell präventiv und potenziell riskant entworfen wird: Der menopausale Körper gerät in der gynäkologischen Sprechstunde zum »Bilanzierungsobjekt« verschiedener Wahrscheinlichkeiten. Den Patientinnen in der gynäkologischen Menopausen-Sprechstunde wird weniger eine konkrete Therapie denn eine Verwaltung von Risiken nahegelegt.
Diskurs/Diskursivierungen Die gesellschaftliche Produktion und Organisation von Wissen als »Diskurs« verweist einerseits auf die Regelförmigkeiten des Sprechens, Handelns und Verhaltens und andererseits auf die Möglichkeit zur Bedeutungsveränderung sowie auf die Unkontrolliertheit und Dynamik der Bezeichnungen und Deutungen. Michel Foucault (1972) versteht Diskurse als Praktiken, die Wahrheiten hervorbringen und auf diese Art und Weise soziale Wirklichkeit konstituieren. Über Diskurse wird das in einer Gesellschaft Gültige sowohl problematisiert als auch re-definiert. Sie installieren sich in Form von diskursiven Ereignissen, als »Serie«, mit »Regelhaftigkeit« und spezifischen »Möglichkeitsbedingungen«, die im Verfahren der Diskursanalyse herausgearbeitet werden können. Einerseits wird der Diskurs durch Verbote, Schwellen und Schranken reguliert; andererseits spricht Foucault von dem »großen, unaufhörlichen und ordnungslosen Rauschen des Diskurses« (Foucault 1972: 33), der eingebunden in ein komplexes Kräfte-Diagramm immer wieder neue Diskurse hervorbringt und Wirklichkeiten mittels gesellschaftlicher SinnOrdnungen und Sinn-Unordnungen herstellt. Diskurse, so Foucaults These, werden reguliert durch Klassifikations-, Anordnungs- und Verteilungsprinzipien, die den Zugang zu Diskursen regeln und dafür sorgen, dass bestimmte Wissensformen wiederholt und reaktualisiert werden. Dazu gehört auch, so macht Foucault deutlich, die Idee des ›Autors‹, also einer Person, die Ideen vereinheitlicht, deren Integration in die Wirklichkeit vorantreibt und einen Zusammenhang herstellt. Als weiteres Prinzip kommt die ›Disziplin‹ hin16
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zu, die die Einordnung in Systeme und Regeln und die Wiederholbarkeit ermöglicht. Um in Erscheinung treten zu können, setzt sich der Diskurs in Beziehung zu »Institutionen, ökonomischen und gesellschaftlichen Prozessen, Verhaltensformen, Normsystemen, Techniken, Klassifikationstypen und Charakterisierungsweisen« (Foucault 1969: 68), aktiviert also verschiedene gesellschaftliche Bereiche und Einflüsse, um als ein »diskursives Ereignis« sichtbar zu werden. Das Konzept von Diskurs/Diskursivierung fordert also dazu auf, die Einbettung von neuem Wissen in soziale Situationen, den Rekurs auf vorgegebene Denk-Kategorien und die verschiedenen semantischen Ebenen samt der Mechanismen, Instanzen, Techniken und Verfahren, die eine Unterscheidung von wahren und falschen Aussagen ermöglichen, empirisch fundiert zu veranschaulichen. In diesem Sinne analysiert Anne Waldschmidt in ihrem Aufsatz ein diskursives Großereignis: das von 2002 bis 2009 initiierte bioethische Internet-Forum »1000Fragen.de«. Das in dem Internet-Forum explizierte Alltagswissen wird zum einen auf einer formalen Ebene analysiert, indem Sprecherpositionen, Diskursstrategien und -kontrollen sowie die Vielfalt der Wissensbestände und -formen herausgearbeitet werden. Zum zweiten veranschaulicht der Beitrag auf einer inhaltlichen Ebene die Subjektvorstellungen, Ethikkonzepte und Machtbegriffe der Beitragenden. Dabei ist auffällig, dass die Kategorie ›Subjekt‹ die Diskursordnung des Internetforums prägt und sich die alltagstypische Neigung zeigt, menschliches Leben normativer Bewertung zu unterziehen und mit ›Sinn‹ versehen zu wollen. Waldschmidts Diskursanalyse des medial vermittelten »Sprechens der Leute« beschreibt einen spezifischen Erkenntnisstil des Alltags, für den eine Logik des Pragmatismus sowie der Rekurs auf (auto-)biografische Schilderungen, Narrationen, ›Alltagsweisheiten‹, Ratschläge; eben eine intensive Subjektivierung charakteristisch ist. Im nachfolgenden Beitrag von Malaika Rödel wird der Diskurs um die reproduktionsmedizinische Anwendung der Präimplantationsdiagnostik (PID) in der Wochenzeitung ZEIT als ein Beispiel einer medialen Vermittlung von Expertenwissen betrachtet. Der Aufsatz versteht die Spezifika der medialen Berichterstattung in Anlehnung an Bruno Latour (2008) als eine Form von »Reinigungsarbeit«, in der die durch die neue Technologie vorgenommene Vermischung von Natur und Kultur erneut getrennt und im Rahmen der alten Ordnung von entweder Natur oder Kultur präsentiert wird. Indem in der Berichterstattung die Beschreibung der Technologie und ihrer Anwendung von der Diskussion der Folgen der Technologie getrennt wird, etabliert sich eine eigene, neue Bedeutung für den Wissensbestand PID, deren Relevanz in den Zeitungsarti17
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keln anhand der Felder Ethik, Wirtschaft und Politik veranschaulicht wird. Diese Art der medialen Diskursivierung des wissenschaftlichen Wissens um die Präimplantationsdiagnostik fungiert damit selbst als ein Ordnungsmoment der Weitergabe des lebenswissenschaftlichen Wissens. Die ordnende und sinnstrukturierende Funktion von diskursiven Rahmungen veranschaulicht auch der Beitrag von Rolf Haubl. Er versteht die anhaltende Kontroverse um Diagnose und Therapie der Aufmerksamkeits-Hyperaktivitäts-Störung (ADHS) als ein Ringen um Deutungshoheiten, die von unterschiedlichen Interessen geleitet operieren. Am Beispiel sechs verschiedener Diskursivierungen von ADHS zeigt er, dass der jeweilige »Rahmenwechsel« Deutungsmuster zur Verfügung stellt, die den leidenden und in Mitleidenschaft gezogenen Personen nicht äußerlich bleiben, sondern deren Selbstverständnis beeinflussen. Die verwendeten Deutungsmuster, so die These, bieten nicht nur eine kognitive Orientierung, sie strukturieren auch emotionale Erfahrungen und Reaktionen und haben eine kollektivierende Wirkung. Je nach Rahmung sind ganz unterschiedliche Erfahrungen möglich und bei Veränderung des Rahmens verändert sich auch die Erfahrung. Indem ein sozialer Akteur einen bestimmten Rahmen ›wählt‹, reiht er sich in die Gruppe derer ein, die die gleiche ›Wahl‹ getroffen haben. Rahmen schaffen Zugehörigkeiten. Die hier versammelten Beiträge zeigen die Bandbreite der Aufnahme lebenswissenschaftlichen Wissens in die Alltagswelten. Zum einen wird sichtbar, dass die in den Forschungslaboren produzierten Erkenntnisse der Lebenswissenschaften in vielen Alltagskontexten, an vielen Orten angekommen sind. Biowissenschaftliche Wissensbestände werden in Schulen gelehrt, in Arztpraxen vermittelt, in Internetforen diskutiert. Ob am Zeitschriftenkiosk in den Schlagzeilen die Entdeckung des »Brustkrebs-Gens« angepriesen wird oder in der U-Bahn die Werbung für die Einlagerung von Nabelschnurblut den Fahrgästen ins Auge springt – die Orte der Vermittlung, der Weitergabe und Thematisierung lebenswissenschaftlicher Wissensbestände haben sich derart vervielfältigt, dass der Umgang mit diesen Themenstellungen nicht auf spezifische Lebenssituationen beschränkt bleibt, sondern von den Individuen eine veralltäglichte Handhabung verlangt. Zum zweiten zeigt sich die Bandbreite verschiedener Werkzeuge der Vermittlung der lebenswissenschaftlichen Wissensbestände in alltägliche Kontexte. Printmedien, wie Tagespresse, Ratgeberliteratur und Schulbücher spielen hier genauso eine Rolle wie neue Institutionalisierungen von Interaktion, die sich in Beratungssettings von Patienten18
LIEBSCH/MANZ: EINLEITUNG
Arzt-Gesprächen, in der gemeinsamen Betrachtung von Ultraschallbildern am Familientisch oder der Bezugnahme auf neu akzentuierte soziale Repräsentationen von Verantwortung und Prävention zeigt. Drittens illustrieren die Beiträge die Bedeutung lebenswissenschaftlicher Themen für die Entstehung neuer Formen von Intersubjektivität und Sozialität. Ob die Erzieherin im Kindergarten Eltern auf die Möglichkeit einer ADHS-Diagnostik hinweist, Freundinnen beim Kaffeetrinken über Anti-Aging diskutieren oder in Selbsthilfegruppen Strategien der Anerkennung von genetisch bedingten Krankheiten erörtert werden – die Lebenswissenschaft ist zum Bestandteil von Alltagswelten geworden. Zur theoretisch-begrifflichen Erfassung der Prozessierung dieses Wissens haben die hier versammelten Beiträge sich an den vier Konzepten »Biosozialität«, »Medikalisierung«, »Prävention« und »Diskursivierungen« orientiert. Eine solche Systematisierung ist zunächst einmal der Versuch, den verschiedenen Wegen und Mechanismen der Weitergabe und Aufnahme von neuem Wissen näher zu kommen. Sie hat die Funktion, das Verstehen der widersprüchlichen interaktiven Aufnahme des Wissens zwischen Norm, Macht und sozialen Unterschieden zumindest entlang ausgewählter Perspektiven zu bündeln und zu strukturieren. Dass dabei die beschriebenen Phänomene auch in einer jeweils anderen Perspektive betrachtet werden können – beispielsweise Ratgeberliteratur als Teil von Prävention oder pharmazeutische Ökonomie als Bestandteil neuer Biosozialitäten gelesen werden können – verweist auf die Komplexität der betrachteten Prozesse. Hier bedarf es anschließender Überlegungen, um die gegenwärtigen Bedeutungen eines »Lebens mit den Lebenswissenschaften« genauer zu veranschaulichen.
Literatur Bröckling, Ulrich (2008): »Vorbeugen ist besser … Zur Soziologie der Prävention«, in: Behemoth. A Journal on Civilisation 1, S. 38-48. Callon, Michel (1986): »Some Elements of a Sociology of Translation: Domestication of the Scallops and the Fishermen of Saint Brieuc Bay«, in: John Law (Hg.), Power, Action, and Belief: a new Sociology of Knowledge? London: Routledge and Kegan Paul, S. 196-233. Castel, Robert (1983): »Von der Gefährlichkeit zum Risiko«, in: Manfred M. Wambach (Hg.), Der Mensch als Risiko. Zur Logik von Prävention und Früherkennung, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 51-74. Clarke, Adele et al. (2003): »Biomedicalization: Technoscientific Transformations of Health, Illness, and U.S. Biomedicine«, in: American Sociological Review 68, S. 161-194. 19
LEBEN MIT DEN LEBENSWISSENSCHAFTEN
Conrad, Peter (2005): »The Shifting Engines of Medicalization«, in: Journal of Health and Social Behavior, 46/3, S. 3-14. Foucault, Michel (1972): Die Ordnung des Diskurses, Frankfurt a.M. 1998: Suhrkamp. Foucault, Michel (1969): Archäologie des Wissens, Frankfurt a.M. 1993: Suhrkamp. Hacking, Ian (2006): »Making Up People«, in: London Review of Books 28/16, S. 23-26. Jaenisch, Rudolf/Bird, Adrian (2003): »Epigenetic regulations of gene expression: how the genome integrates intrinsic and environmentals signals«, in: Nature Genetics Supplement 33, S. 224-238. Latour, Bruno (2008): Wir sind nie modern gewesen, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Luhmann, Niklas (1992): Die Wissenschaft der Gesellschaft. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Niewöhner, Jörg (2007): Forschungsschwerpunkt Präventives Selbst, in: Humboldt-Spektrum 1, S. 34-37. Rabinow, Paul (1996): Making PCR: A Story of Biotechnology, Chicago: University of Chicago Press. Rabinow, Paul (2004): »Artifizialität und Aufklärung. Von der Soziobiologie zur Biosozialität«, in: Ders., Anthropologie der Vernunft. Studien zu Wissenschaft und Lebensführung, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 129-152.
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Neue Vergemeinschaftungen? Entste hungs kontexte , Rez eptionslinie n und Entw icklungs te nde nze n des Be griffs de r Bios ozia litä t THOMAS LEMKE
Mit dem Beginn des wissenschaftlichen Projekts zur Entschlüsselung des menschlichen Genoms in den 1980er Jahren nahm das öffentliche und mediale Interesse an molekularbiologischen Fragestellungen in den folgenden Jahren beständig zu. Von dem Humangenomprojekt erhofften sich die beteiligten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler nicht nur die Entzifferung des ›Buchs des Lebens‹, sondern auch neue medizinische Optionen der Krankheitsdiagnose und -behandlung. Regelmäßig wurde in der Tagespresse von neuen Entdeckungen im Bereich der Genomforschung berichtet (vgl. Gerhards/Schäfer 2006) und genetische Deutungsmuster und Erklärungsmodelle erhielten eine immer größere Bedeutung innerhalb der Alltagskultur (vgl. Nelkin/Lindee 1995; van Dijck 1998; Duden/Samerski 2007). Der »Genhype« (Fleising 2001) oder »Genfetischismus« (Haraway 2001) hatte zur Folge, dass häufig nicht nur bestimmte Erkrankungen, sondern auch Verhaltensmerkmale und Eigenschaften wie Intelligenzleistungen, Aggressivität oder sexuelle Präferenzen als genetisch verursacht oder bedingt begriffen wurden. In dieser zeithistorischen und medialen Konstellation prägte der USamerikanische Anthropologe Paul Rabinow Anfang der 1990er Jahre den Begriff der »Biosozialität« (2004). Seine These war, dass im Zuge des Humangenomprojekts und der darauf aufbauenden Forschung eine 21
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neue gesellschaftliche Ordnung entsteht, die die strikte Trennung von Natur und Kultur überwindet und durch eine Veränderung und Neuartikulation von Identitäten gekennzeichnet ist. Rabinows Überlegungen haben die sozialwissenschaftliche Debatte um die sozialen, politischen und ethischen Folgen biowissenschaftlichen Wissens entscheidend bestimmt und sind in vielfältiger Weise aufgegriffen und im Rahmen von empirischen Studien weiterverfolgt worden (vgl. Hacking 2006; Atkinson/Glasner 2007; Gibbon/Novas 2008). Im Folgenden sollen zunächst die grundlegenden Argumente der Biosozialitätsthese genauer vorgestellt werden. Im zweiten Teil zeige ich, dass »Biosozialität« eine Perspektive auf das Verhältnis von Genetik und Gesellschaft markiert, die sich in zentralen Punkten von konkurrierenden Konzepten und Theorieansätzen unterscheidet. Sie bewegt sich in Distanz zum Begriff der Genetifizierung und setzt sich kritisch ab sowohl vom impliziten Naturalismus mancher gentechnologiekritischer Positionen als auch vom Konstruktivismus vieler sozialwissenschaftlicher Arbeiten. Im Mittelpunkt des dritten Teils stehen wichtige Rezeptionslinien der Biosozialitätsthese und ihr Fokus auf Selbsthilfegruppen und Patientenvereinigungen. Abschließend gehe ich kurz auf einige analytische Blindstellen und empirische Verkürzungen des Diskurses um Biosozialität ein.
Biosozialität: Zwei zentrale Thesen Paul Rabinows Essay »Artifizialität und Aufklärung. Von der Soziobiologie zur Biosozialität« zählt zu den am meisten zitierten Buchbeiträgen der letzten zwanzig Jahre.1 Der Begriff der Biosozialität, den Rabinow darin vorstellt, verklammert zwei zentrale Motive, die in dem Text immer wieder aufgegriffen und variiert werden. Zum einen markiert der Neologismus schon begrifflich die wechselseitige Durchdringung und Verschränkung von Lebensprozessen und Gesellschaftlichkeit, »Biosozialität« steht hier für einen epochalen Bruch, ein Neuarrangement des Verhältnisses von Natur und Kultur, das durch das Verschwinden einer eindeutigen und klaren Grenzziehung zwischen beiden Bereichen gekennzeichnet ist. Zum anderen bezeichnet der Begriff aber auch die Entstehung neuer Formen von Identität auf der Grundlage biologischen Wissens. Beide Bedeutungskomponenten sind eng miteinander ver-
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Der Aufsatz erschien zuerst 1992 in dem von Jonathan Crary und Samuel Kwinter herausgegebenen Band Incorporations (New York: Zone, S. 234253).
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knüpft, aber die zweite fand in der Rezeption die weitaus größere Resonanz. Rabinows Überlegungen nehmen ihren Ausgang in Foucaults Konzept der Biomacht, das dieser in seinem Buch Der Wille zum Wissen (1977) vorstellt. Foucault nimmt darin eine analytische und historische Abgrenzung unterschiedlicher Machtmechanismen vor und stellt der Souveränitätsmacht die »Biomacht« gegenüber. Letztere kennzeichne die westliche Moderne seit dem 17. Jahrhundert, wobei Foucault zwei Entwicklungsstränge unterscheidet: die Disziplinierung des Individualkörpers und die Regulierung der Bevölkerung (ebd.: 166). Rabinows These ist, dass sich die beiden von Foucault identifizierten Pole des Körpers und der Bevölkerung gegenwärtig »neu artikulieren« (2004: 129), wobei dem Humangenom-Projekt und den damit verbundenen biotechnologischen Innovationen eine entscheidende Rolle zukomme. Es entstehe eine postdisziplinäre Ordnung (vgl. ebd.), die die strikte Trennung zwischen Natur und Kultur überwindet und ein neues Verhältnis zu Lebensprozessen entwickelt. Rabinow geht davon aus, dass sich »unsere sozialen und ethischen Praktiken im Zuge des Projekts verändern« (ebd.: 132) und seine ethnografische Neugierde gilt der Frage, in welcher Weise dies der Fall ist (vgl. auch 1999: 12 f.). Der zeitgenössischen Genetik komme eine revolutionäre Rolle bei der Gestaltung und Umformung von Sozialformen und Lebensprozessen zu. Sie operiere – anders als viele andere Naturwissenschaften – auf der »Mikroebene« molekularer Interventionen und sei darüber hinaus »in das gesamte soziale Gefüge eingebunden« (ebd.: 138). Angesichts dieses epochalen und umfassenden Transformationsprozesses könne die »neue Genetik« nicht mehr in den Begriffen der Vergangenheit beschrieben werden. Zu beobachten sei heute keine Biologisierung des Sozialen, die Übersetzung sozialer Projekte in biologische Termini (etwa nach den bekannten Modellen der Soziobiologie oder des Sozialdarwinismus), sondern eine Neukonfigurierung gesellschaftlicher Verhältnisse mittels biologischer Kategorien: »In der Zukunft wird die neue Genetik [...] keine biologische Metapher der modernen Gesellschaft mehr sein, sondern sich stattdessen in ein ZirkulationsNetzwerk von Identitätsbegriffen und Restriktionsstellen verwandeln, durch das eine neue Gestalt von Autopoiesis entstehen wird, die ich ›Biosozialität‹ nenne. Handelte es sich bei der Soziobiologie um eine Form von Kultur, die auf der Grundlage einer biologischen Metapher konstruiert ist, dann wird die Natur in der Biosozialität auf der Grundlage von Kultur modelliert werden, wobei ich Kultur als Praxis verstehe. Natur wird mit Hilfe von Technik er-
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kannt und neu hergestellt werden. Und sie wird schließlich artifiziell werden, genauso wie Kultur natürlich werden wird.« (Ebd.: 139)
Rabinows Diagnose der »Auflösung der Kategorie des ›Sozialen‹« (ebd.: 139) und seine Forderung nach einer Neujustierung des Begriffs der Gesellschaft als »umfassende Lebensart eines Volkes« (ebd.: 140; vgl. auch Rabinow 1989) nimmt Intuitionen der neueren Wissenschaftsund Technikforschung auf. Diese begreift Natur und Gesellschaft nicht als zwei voneinander getrennte und gegeneinander abgeschlossene Bereiche, sondern als ein Kontinuum von Hybriden, Netzwerken und Akteurskoalitionen (Haraway 1995; Callon 2006; Latour 2006; Law 2006). Der Gesellschaftsbegriff sei angesichts der vielfältigen Interaktions- und Transaktionsprozesse zwischen sozialen, natürlichen und technischen Akteuren aufzugeben bzw. zu umgehen. Dies gelte ebenso für den Naturbegriff, sofern darunter eine eigenständige ontologische Sphäre verstanden wird. Es komme zu einer wechselseitigen Durchdringung von Natur und Gesellschaft, die eine grundsätzliche Sortierung oder eine eindeutige Zuordnung unmöglich mache. Rabinows Begriff der Biosozialität steht aber nicht nur für die These eines neuen Verhältnisses von Natur und Kultur; er will zweitens auch »auf die Möglichkeit der Bildung neuer kollektiver und individueller Identitäten hinweisen sowie auf die Praktiken aufmerksam machen, die aus diesen neuen Wahrheiten hervorgehen werden« (2004: 143), die im Kontext der Genomforschung produziert werden. Es sei zu erwarten, dass in Zukunft immer mehr und präzisere genetische Testverfahren verfügbar sein werden, die es erlauben, Krankheitsrisiken zu ermitteln und auf diese Weise schließlich dazu beitragen, das Auftreten von Krankheiten wirksam zu verhindern oder Symptome frühzeitig zu behandeln. Die technischen Neuerungen und die wissenschaftlichen Klassifikationssysteme schaffen – so die Annahme – die materiale Voraussetzung für neue Vergemeinschaftungsformen, Repräsentationsmuster und Identitätspolitiken, wobei das Wissen um bestimmte körperliche Eigenschaften und genetische Charakteristika die Beziehung der Individuen zu sich selbst und zu anderen entscheidend bestimmt: »[Man kann sich] soziale Gruppen vorstellen, die sich um Chromosom 17, Lokus 16.256, Position 654.376 und Allele mit Guanin-Vertauschung bilden. Solche Gruppen werden über medizinische Spezialisten, Labors, Geschichten und Traditionen ebenso verfügen wie über eine ganze Anzahl pastoraler Betreuer, die ihnen behilflich sein werden, ihr Schicksal zu erfassen, zu teilen, zu beeinflussen und ›verstehen‹.« (Ebd.: 143 f.)
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Die Biosozialitäts-These ist also in Rabinows Essay eng verknüpft mit einer doppelten historischen Zäsur. Die Re-artikulation von Natur und Gesellschaft wird ergänzt durch die Entstehung ›neuer‹ sozialer Identitäten auf der Grundlage biologischen Wissens. Beide Brüche verweisen aufeinander: Die zunehmende ›Künstlichkeit‹ von Natur ermöglicht die Entstehung neuer Formen von Gesellschaftlichkeit, für die der Bezug auf gemeinsame biologische Merkmale konstitutiv ist. Allerdings war Rabinow trotz des starken Akzents auf Diskontinuitäten und Brüche vorsichtig genug, den historischen Einschnitt nicht überzubetonen. Im Gegenteil wies er darauf hin, dass »ältere Klassifikationen mit einem umfassenden Bereich neuerer Klassifikationen zusammenstoßen werden, was zu Überschneidungen, teilweise zu Ablösungen und endlich zur Neudefinition überkommender Kategorien führen wird« (ebd.: 145). Ebenso nahm er die starke These eines Abschieds von der Disziplinargesellschaft zum Teil wieder zurück, wenn er herausstellt, dass sich »herkömmliche Formen kultureller Klassifikation biologischer Identität wie etwa Rasse, Geschlecht [gender] und Alter ebenso wenig aufgelöst [haben] wie Medikalisierung und Normierung« (ebd.). Rabinow geht weniger von einem Nacheinander oder einem Ablösungsprozess aus, als vielmehr von einem Nebeneinander und einem Prozess wechselseitiger Verschränkung, in dem »postdisziplinäre Praktiken […] neben disziplinierenden Technologien existieren« (ebd.).
Distanzierungen: Genetifizierung, Naturalismus und Sozialkonstruktivismus Der Begriff der Biosozialität verdankt seine Popularität nicht allein der These einer Neuartikulation von Identitäten durch die Implosion der Natur-Kultur-Differenz. Vielmehr sind Rabinows Überlegungen auch deshalb auf eine große Resonanz gestoßen, da sie sich von alternativen Perspektiven auf das Verhältnis von Genetik und Gesellschaft signifikant unterscheiden. Mehr noch: Der Begriff der Biosozialität erlaubt eine Art Meta-Kritik von Argumentationsmustern und Theorieansätzen, die aus sozialwissenschaftlicher Sicht die wachsende Bedeutung genetischer Deutungsmuster und Praktiken problematisieren. Fast gleichzeitig mit dem Erscheinen von Rabinows Essay prägte die kanadische Sozialwissenschaftlerin Abby Lippman den Begriff Genetifizierung (geneticization). Dieser zielte – wie »Biosozialität« – auf die Interaktionsdynamik zwischen genetischen Forschungsergebnissen und Praktiken auf der einen und sozio-kulturellen Prozessen auf der anderen Seite. Lippmann kritisierte mit der Wortschöpfung eine wissenschaft25
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liche Perspektive, die in Genen eine Art Programm für die Entwicklung und Steuerung des Organismus sieht und die Genetik als das zentrale konzeptionelle Modell zur Erklärung menschlichen Lebens und Verhaltens, von Gesundheit und Krankheit, Normalität und Abweichung betrachtet: »Geneticization refers to an ongoing process by which differences between individuals are reduced to their DNA codes, with most disorders, behaviours and physiological variations defined, at least in part, as genetic in origin.« (Lippman 1991: 19)
Viele Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler haben seit den 1990er Jahren den Begriff der Genetifizierung aufgegriffen und als ein Analyseinstrument genutzt, um auf unerwünschte soziale Folgen, problematische politische Konsequenzen oder ideologische Implikationen der Genomforschung hinzuweisen. Sie kritisierten die analytische Konzentration auf genetische Erklärungsvariablen und Interpretationsmuster als einseitig oder fehlerhaft, da sie wichtige Kausalfaktoren nicht oder nur unzureichend berücksichtige (vgl. Koch 1993; 2002; Fitzgerald 1998; Hoedemaekers/ten Have 1998; Sherwin/Simpson 1999). Rabinows Biosozialitätsthese markiert eine kritische Distanz zum Begriff der Genetifizierung, obwohl dieser in dem Essay nicht auftaucht und zum Zeitpunkt seiner Veröffentlichung noch weitgehend unbekannt war. Während »Genetifizierung« von einer mehr oder weniger intakten Grenzlinie zwischen Biologie und Gesellschaft, Natur und Kultur ausgeht (und auf dieser Grundlage die ›illegitime‹ Ausweitung genetischer Erklärungsmodelle und Deutungsmuster kritisiert), diagnostiziert Rabinow die »Überwindung der Natur/Kultur-Trennung« (S. 139). In dieser Perspektive ist weder eindeutig festgelegt, was ›genetisch‹ meint; noch ist die Bedeutung von ›Gesellschaft‹ klar bestimmt. Darüber hinaus richtet der Begriff der Biosozialität das Augenmerk auf die Formen der Aufnahme und Verhandlung genetischen Wissens und dessen Übersetzung in Alltagspraktiken und Subjektivierungsprozesse. Er wurde daher häufig herangezogen, um auf Vereinseitigungen und Schwächen der Genetifizierungsthese aufmerksam zu machen (Freese/Shostak 2009). So monierte etwa Sahra Gibbon, dass der Begriff der Genetifizierung ein ›top-down‹-Modell favorisiere und sich auf die Folgen der Verbreitung genetischer Technologien und genetischen Wissens konzentriere, während die sozio-kulturellen Prozesse der Entstehung, Aneignung und Aushandlung tendenziell unterbelichtet blieben (Gibbon 2002: 430; vgl. auch Novas/Rose 2000: 489; Rose 2007: 109-113).
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Jenseits der theoretischen Differenzen zur Genetifizierungsthese hinsichtlich der Einschätzung der gesellschaftlichen Implikationen gentechnologischer Innovationen signalisiert der Begriff der Biosozialität noch eine zweite Distanzierungsbewegung. Rabinows »Lob der Artifizialität« (2004: 150) provozierte gentechnikkritische Bewegungen und Intellektuelle, die unmittelbar auf ›Natur‹ als normativen Bezugspunkt für eine Kritik der Biowissenschaften rekurrieren. Grundlage (und Richtschnur) des Vorwurfs der ›Verdinglichung‹ oder ›Instrumentalisierung‹ der Natur war häufig ein essentialistischer Begriff der Natur, der diese als das Andere der Gesellschaft begreift und als ursprünglich und vorgegeben betrachtet. Dieser implizite Naturalismus ist jedoch einer ambivalenten Ontologie verpflichtet, die für die Moderne charakteristisch ist (vgl. Horkheimer/Adorno 1984; Latour 1995). Während ›Gesellschaft‹ sich einerseits über den Ausschluss bzw. die Überwindung von Natur bestimmt, wird ›Natur‹ andererseits als rein, ganzheitlich und unschuldig imaginiert. Rabinows Provokation zielt hier wie der CyborgMythos Donna Haraways, auf die er sich explizit bezieht, auf eine »Neuerfindung der Natur« (Haraway 1995). Diese soll es ermöglichen, eine polarisierte Wissenschaftsordnung zu überdenken, die Biologie mit Schicksal und Soziales mit Veränderung assoziiert, und neue Handlungsoptionen und Gestaltungsspielräume ausloten. Drittens schließlich situiert sich der Begriff der Biosozialität jenseits von sozialkonstruktivistischen und technikdeterministischen Untersuchungsperspektiven, die die sozialwissenschaftliche Analyse des Verhältnisses von Technologie und Gesellschaft dominieren (vgl. Lemke 2007). Biosozialität steht für eine Position, die weder gesellschaftliche Verhältnisse als Folge (der Anwendung) von Technologien betrachtet noch umgekehrt Technologien als Projektionsfläche sozialer Praktiken begreift. Im Mittelpunkt des Forschungsinteresses steht vielmehr die systematische Koproduktion von Technik und Gesellschaft (vgl. Singer 2003; Harbers 2005; Jasanoff 2006). Der Begriff der Biosozialität geht daher über jede Annahme eines unidirektionalen Determinationsprozesses hinaus: »Rabinow’s essay not only suggests that biological knowledge has an effect on social processes, but also that knowledges of and practices relating to the biological are affected by social concerns and forms. [..] It seems useful here to think in terms of a sort of looping or feedback effect between the social (re)organization of the biological, on the one hand, and the biological (re)organization of the social, on the other hand.« (Vrecko 2008: 53)
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Rezeptionslinien: Patientenorganisationen als biosoziale Gemeinschaften Rabinows Begriff der Biosozialität ist vielfach aufgegriffen, weiterentwickelt und für empirische Forschungsfragen eingesetzt worden. So vielfältig und heterogen die Rezeption war und ist, lässt sich doch eine spezifische Schwerpunktbildung beobachten. Im Mittelpunkt der meisten Arbeiten steht weniger die Konstitution von individuellen und kollektiven Identitäten durch Expertendiskurse und medizinische Autoritäten; im Gegenteil fokussierte die Forschung zu Biosozialität auf Subjektivierungsprozesse ›von unten‹. Sie interessierte sich vor allem für neue Formen von Solidarität und Sozialität auf der Grundlage eines gemeinsamen Wissens um genetische Merkmale und Eigenschaften, die Kommunikation über medizinische Heilungschancen und die Auseinandersetzung mit ethischen Entscheidungskonflikten (vgl. Gibbon/Novas 2008; siehe auch Hacking 2006). Diese Akzentsetzung führte dazu, dass die Forschungsarbeiten vor allem Praktiken und organisationale Formen von Selbsthilfegruppen, Patientenzusammenschlüssen und Angehörigenvereinigungen in den Blick nahmen. Deren wachsende Bedeutung für die Produktion, Legitimation und Aneignung genetischen (oder allgemeiner: biomedizinischen) Wissens stellten die sich auf den Begriff der Biosozialität beziehenden Arbeiten heraus. Die Grundlage für diese Fokussierung hatte Rabinow selbst bereits in seinem Essay gelegt, in dem er »NeurofibromatoseGruppen, deren Mitglieder sich treffen, um Erfahrungen auszutauschen, um auf ihre Krankheit hinzuweisen, um ihre Kinder der Krankheit entsprechend zu erziehen und um ihre Umwelt ihrem Lebensumstand anzupassen« als »Beispiel« (2004: 143) für biosoziale Gemeinschaften anführte. Drei Aspekten bzw. Arenen der Arbeit von Selbsthilfegruppen und Patientenorganisationen haben die an Rabinow anschließenden Studien besondere Aufmerksamkeit gewidmet.2 Das erste Aktivitätsfeld von Selbsthilfegruppen, Patientenvereinigungen und Angehörigenverbänden besteht in der Lobbyarbeit, die die Öffentlichkeit für die Anliegen der Kranken und ihr Leiden sensibilisieren und auf politische Entscheidungsträger einwirken soll. Ein klassisches Beispiel für diese Form politischen Engagements ist eine US-amerikanische Initiative von Eltern mit Kindern, die an Epidermolysis bullosa (EB) leiden, einer genetisch bedingten, schwerwiegenden Hautkrankheit, die zur Blasenbildung und offenen Wunden am Körper führt. Aus dieser Elternvereinigung ging spä2 28
Vgl. für das Folgende Kollek/Lemke 2008: 187-191.
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ter die Aktivistengruppe DEBRA hervor (the Dystrophic Epidermolysis Bullosa Research Association). Ende der 1970er Jahre brachte eine Reihe von Eltern aus dieser Gruppe ihre Kinder in die Büroräume des Senats in Washington, um den Mitgliedern des Kongresses die schwerwiegenden Folgen der Krankheit und das Leiden ihrer Kinder vor Augen zu führen. Die Aktion verfehlte ihr Ziel nicht. Die Gruppe erhielt die Unterstützung von Senatoren, die sich erfolgreich für eine staatliche Förderung der biomedizinischen Forschung auf dem Gebiet von EB einsetzten. Das Engagement von DEBRA ging jedoch über die Lobbyarbeit hinaus: »Members of DEBRA were subsequently instrumental in creating a registry of EB patients’ tissue samples, which have been crucial to laboratory research on the disease. In forging alliances with legislators like Senator Hatfield, and with biomedical researchers, members of DEBRA and other genetic advocacy groups are making citizenship claims on behalf of their genetically vulnerable offspring.« (Heath et al. 2004: 155)
Die zweite Arena politischen Aktivismus ist der Kampf gegen eine restriktive und exklusive Konzeption geistigen Eigentums im Rahmen biomedizinisch-genetischer Forschungen. Ausgangspunkt ist in diesem Fall der Widerstand gegen eine allein an kommerziellen Motiven orientierte Nutzung genetischen Wissens, die zu Beschränkungen für die weitere Forschung, aber auch zu einer Verteuerung der Entwicklung und Nutzung von Gentests führen kann. Um diese Nachteile zu verhindern, hat die Selbsthilfevereinigung PXE International3 ein Modell der Patentregelung entworfen, das inzwischen von weiteren Patientenorganisationen übernommen wurde, um eigentumsrechtliche Fragen vorab zu klären und um einen möglichst kostengünstigen Zugang zu Testverfahren zu ermöglichen. Die von dem Elternpaar Pat und Sharon Terry gegründete Selbsthilfeorganisation baute in Eigenregie eine Blutprobenbank auf, dokumentierte familiäre Stammbäume und verpflichtete Forschergruppen, die auf diese zurückgreifen wollten, dass PXE International in der Patentschrift genannt und an Gewinnen beteiligt wird. Die Terrys unterstützten auch aktiv die Suche nach dem ›PXE-Gen‹ und leisteten ehrenamtliche Arbeit in einem Bostoner Forschungslabor. Ihre Anstrengungen waren schließlich erfolgreich: »In June 2000 Sharon Terry was a co-author on two of the three scientific journal articles announcing the discovery of a gene for PXE. PXE Internation3
PXE steht für Pseudoxanthoma elasticum, eine degenerative Systemerkrankung elastischer Gewebe in der Haut. 29
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al and the University of Hawaii have agreed to file their application for the PXE gene as co-inventors. The group is committed to ensuring both open access to the gene for all researchers, and preventing royalty fees that might increase the costs to any individual seeking testing for PXE.« (Heath et al. 2004: 164; Novas 2001: 16-21)
Ein drittes Feld des Engagements von Selbsthilfegruppen und Patientenvereinigungen besteht in der Ausarbeitung von Richtlinien zur Regulierung des Einsatzes (prädiktiver) genetischer Tests. Eine paradigmatische Rolle kommt dabei der internationalen Huntington-Selbsthilfebewegung zu. Die »Internationalen Richtlinien« zum Einsatz des Gentests wurden von einem Komitee erarbeitet, das aus Vertretern der Internationalen Huntington-Assoziation und der Huntington-Forschungsgruppe des Weltverbandes für Neurologie bestand. Als Mitte der 1980er Jahre der indirekte Gentest bereitstand, bildeten die beiden Organisationen einen Ausschuss zur Vorbereitung von Richtlinien für dessen Einsatz. Die Empfehlungen des Komitees sind 1989 verabschiedet und anschließend in großen medizinischen Fachzeitschriften veröffentlicht worden. Dieses Regelwerk wurde nach der Entdeckung des ›Huntington-Gens‹ im Jahr 1993 nochmals überarbeitet und in der heute gültigen Form 1994 beschlossen (Guidelines 1994). Damit wurde ein auch für andere molekulargenetisch diagnostizierbare Krankheiten richtungsweisendes Konzept der humangenetischen Beratung und psychosozialen Betreuung vorgelegt. Die in den Richtlinien enthaltenen Regelungen sind inzwischen von anderen Selbsthilfegruppen aufgegriffen und ihren Bedürfnissen angepasst worden (Engel/Lohkamp 2003; vgl. auch Lemke 2004). Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass im Zentrum der an den Begriff der Biosozialität anknüpfenden Arbeiten die wachsende Bedeutung von Patienten- und Selbsthilfeorganisationen für die Finanzierung, Koordinierung und Regulierung genetischer Forschung steht. Sie untersuchten, wie diese direkte Allianzen und Netzwerkstrukturen mit Medizinern und Wissenschaftlern aufbauen, sich dabei Formen der Selbstund Fremdwahrnehmung verändern und neue Praktiken politischgesellschaftlichen Engagements entstehen (vgl. dazu insbesondere Rabeharisoa/Callon 1999; 2002).
Blindstellen: Die Grenzen der Biosozialität Die bisherige Forschung zum Begriff der Biosozialität hatte ihr Schwergewicht auf dem Verhältnis von kollektiven Handlungsformen, Gruppenidentitäten und gesellschaftlichem Engagement bzw. politischem 30
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Aktivismus von Patienten- und Selbsthilfegruppen. Die Studien in diesem Feld haben wichtige neue Erkenntnisse über Zugehörigkeitskriterien und Praxisformen ›biosozialer‹ Gruppen erbracht und aufgezeigt, welche Motive das Handeln der kollektiven Akteure anleiten, welche Allianzen sie bilden und welche Einflusskanäle und Vermittlungsinstanzen sie für die Interessenartikulation einsetzen. Allerdings zeichnen sich die Arbeiten auch durch eine Reihe von empirischen Verkürzungen und analytischen Defiziten aus, von denen ich im Folgenden auf drei kurz eingehen möchte: die Verengung der biosozialen Problematik, die aus der Fokussierung auf Patientenvereinigungen und Angehörigenorganisationen resultiert; die Vorstellung einer stabilen und eindeutigen Biologie als Grundlage von Prozessen der Identitätsbildung und die weitgehende Ausblendung bzw. die Dethematisierung von Machtverhältnissen.
Die Verengung der Perspektive Die Rezeption der Biosozialitätsthese zeichnet sich durch eine doppelte Engführung aus. Zunächst einmal ist zu beobachten, dass die Forschungsarbeiten nur einen Teil der biosozialen Problematik einbeziehen. Im Mittelpunkt stehen Akteure bzw. Kollektive, die sich durch organisationale Grenzen und Mitgliedschaftsregeln auszeichnen. Die Fokussierung auf Patientengruppen hat ihren Preis darin, dass viele andere empirische Felder und Fragen nicht oder nur unzureichend untersucht werden. Scott Vrecko hat zu Recht angemerkt, dass Analysen im Anschluss an Rabinow »overlook the many other social (trans)formations that Rabinow suggests may arise in relation to the new biosciences. The cultural practices and forms Rabinow mentions as subject to biosocial reorganization are not only patient groups, but also educational programmes, the design and planning of homes, tastes and practices of consumption, the structure of industry […] as well as linguistic and labour practices.« (Vrecko 2008: 53)
Allerdings ist nicht nur kritisch anzumerken, dass die forschungsstrategische Konzentration auf Patientenvereinigungen und Angehörigenorganisationen lediglich einen kleinen Ausschnitt der Praktiken erfasst, die Identitäten im Rahmen genetischer Forschung verändern; selektiv ist häufig auch die Analyse dieser Interessenvertretungen. Insbesondere die wachsende Literatur zu genetischer bzw. biologischer Bürgerschaft zeichnet regelmäßig ein überraschend einseitiges Bild der Rolle von
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Selbst- und Patientengruppen.4 Der Blick richtet sich meist auf neue Teilhabemöglichkeiten und erweiterte Gestaltungs- und Interventionsspielräume. Demnach führe »biologische Bürgerschaft« zu »neuen Formen demokratischer Partizipation« (Heath et al. 2004: 152) und stelle eine »neue Form von Bürgerschaft« (Rose/Novas 2005: 439) dar, die nationalstaatliche Regulationsformen herausfordert und eine entscheidende historische Zäsur gegenüber den eugenischen Projekten der Vergangenheit markiert (vgl. Rose 2007: 54-64; 132 f.). In der Regel wird in der an Rabinow anschließenden Literatur aus der wachsenden Bedeutung von Selbsthilfegruppen für die Finanzierung, Koordinierung und Regulierung genetischer Forschung unmittelbar auf einen Zugewinn an demokratischen Partizipations- und Mitwirkungsrechten geschlossen. Dies kann, muss aber nicht der Fall sein (vgl. Petersen/Bunton 2002: 180-207). Es besteht durchaus die Gefahr, dass sich Selbsthilfegruppen für kommerzielle und wissenschaftliche Interessen instrumentalisieren lassen. Diese problematischen Dimensionen der Zusammenarbeit werden zunehmend von gentechnologiekritischen Vereinen und Initiativen, aber auch innerhalb der Selbsthilfebewegung thematisiert (vgl. Health Action International 1999; Grüber/Wagenmann 2002; Breast Cancer Action Germany 2006). Weiterhin fällt auf, dass die Studien einige Gesundheitsbewegungen und Patientenorganisationen ins Blickfeld rücken, während andere keine Rolle spielen. Im Mittelpunkt stehen Gruppen und Bewegungen, die auf medizinische Lösungen für Gesundheitsprobleme hinwirken, während oppositionelle und medizinkritische Gruppen keine Resonanz in der Forschungsliteratur finden. Bill Hudges kontrastiert daher Arbeiten, die sich am Begriff der Biosozialität orientieren, mit Ansätzen aus dem Umfeld der disability studies. Diese Forschungsrichtung begreift in Abgrenzung von dem vorherrschenden medizinischen Paradigma Behinderung als ein gesellschaftliches Phänomen. Während die disability studies die historische Kontingenz und soziale Konstruktion von Behinderung herausstellen, rekurriert die Biosozialitätsforschung auf das medizinische Modell, das Behinderung als einen körperlichen oder geistigen Defekt auffasst, der einem Individuum und dessen Körper zugerechnet werden kann: »Biological citizens and biosocial groups begin with a clearly articulated and medicalised concept of self-identity. Such individuals and groups admit to and embrace a ›vital deficit‹. Proponents of the DPM [Disabled Peoples’s Movement] work hard to abrogate the negative ontology that has haunted disability
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Für eine ausführliche Analyse und Kritik vgl. Lemke/Wehling 2009.
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throughout modernity. They do so because this negativity has its historical roots in the value-laden and socially tyrannical medical distinction between the normal and the pathological.« (Hudges 2008: 686; vgl. auch Palladino 2002: 158, n. 23)
Die Natur der Gesellschaft Die Suche nach dem Ansatzpunkt für Identitätsbildung und Strategien politischer Auseinandersetzung verweist auf die grundsätzlichere Frage, auf welchen Vorstellungen von Biologie und Natur das Konzept der Biosozialität aufbaut und wie diese die Rezeption bestimmen. Bei der Lektüre der einschlägigen Arbeiten entsteht häufig der Eindruck, als bildeten biologische Charakteristika eine feste und eindeutige materielle Grundlage für moralische Problematisierungen, politisches Engagement und soziale Vergemeinschaftungsprozesse. Die Forschungsarbeiten gehen in der Regel davon aus, dass die Identitätsbildung und die politischen Artikulationsprozesse auf objektiv feststellbaren biologischen Merkmalen basieren, die von bestimmten Individuen und Gruppen geteilt werden. Diese Annahme lässt sich mit guten Gründen bezweifeln. Nicht nur ist die Biologie selbst Entwicklungsprozessen unterworfen und offen für Transformations- und Optimierungsstrategien; auch die Abgrenzung von biologischen und nicht-biologischen Faktoren und Merkmalen ist alles andere als einfach und evident, sondern abhängig von vorherrschenden Deutungsmustern und Erklärungsmodellen. Die »neuen Wahrheiten« (Rabinow 2004: 143) sind daher nicht einfach unstrittig und gegeben; vielmehr sind die Definition von Krankheiten ebenso wie die Erklärung der Verursachungswege und Interventionsstrategien wissenschaftlich und medizinisch umkämpfte Felder (vgl. Lemke/Wehling 2009: 95; Wehling 2010). Ironischerweise fällt die Vorstellung einer eindeutigen und stabilen Biologie hinter die Grundintuition der Biosozialitätsthese zurück, die ja gerade die Überwindung bzw. die tendenzielle Auflösung der strikten Trennung von Kultur und Natur betont. Die Rezeption verschiebt hingegen wieder den Akzent auf die Biologie, die als Grundlage für Prozesse der Vergemeinschaftung fungiert, ohne dass die Interaktionsdynamik zwischen Gesellschaft und Natur systematisch berücksichtigt würde. Dieser theoretische Rückschritt zeigt sich auch darin, dass die Prozesse der Vergemeinschaftung allein als soziale Praktiken begriffen werden. Die mit dem Begriff der Biosozialität operierenden Arbeiten fokussieren regelmäßig auf Identitätsbildung bzw. -veränderung durch das Engagement von Patientenorganisationen in genetischer und klinischer Forschung. Das Kollektiv besteht nur aus menschlichen Akteuren. Auch 33
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hierin ist eine Engführung sichtbar, die hinter Einsichten der science and technology studies zurückbleibt. So weisen Michel Callon und Vololona Rabeharisoa zurecht darauf hin, dass nicht-menschlichen Akteuren eine zentrale Rolle bei diesen Sozialisierungsprozessen zukommt: »As in classical ANT [actor network theory] case studies, this socialization […] is mainly effected by nonhumans. They are the ones that by circulating and linking heterogeneous entities produce and determine the shape of networks of alliances and solidarity. For example, the gene, whose deletions are responsible for the spinal muscular atrophy (SMA) disease, links patients and their families to various actors, including the researchers at the Necker Hospital who took samples of their DNA and ended up locating and identifying the gene, the clinicians who performed prenatal tests, the researchers who published articles on the activity of proteins produced by the gene or worked on models of transgenic mice, and so forth.« (Callon/Rabeharisoa 2008: 240)
Die Macht der Identität Der Ausgangspunkt der Biosozialitätsdebatte lag in einer Aktualisierung und Neuausrichtung der Foucaultschen Analyse der Biomacht. Das Interesse an einer Untersuchung der Transformation zeitgenössischer Machtverhältnisse im Zuge der Entwicklung und Verbreitung genetischen Wissens spielt jedoch innerhalb der Rezeption kaum noch eine Rolle (vgl. auch Rommetveit 2009: 180 f.). Zu beobachten ist, dass moralische Problematisierungen und ethische Konfliktlagen an die Stelle der Auseinandersetzung mit Formen von Ausschluss, Ausbeutung und Herrschaft treten. Die unzureichende Thematisierung von Machtverhältnissen in der Analyse biosozialer Gemeinschaften resultiert aus einer Reihe von Blindstellen. Kaushik Sunder Rajan hat auf die spezifischen Voraussetzungen und Grenzen des Begriffs der Biosozialität aufmerksam gemacht. Wie er anhand von ethnografischen Studien in einem Forschungskrankenhaus in Mumbai zeigt, ist in einer globalen kapitalistischen Ökonomie die Lebensverbesserung oder Leidensverminderung der einen an die systematische Ausbeutung der Körper und die gesundheitliche Schädigung anderer gekoppelt. Diejenigen, die als ›Freiwillige‹ an klinischen Studien in Indien teilnehmen und ihre Körper als Experimentierfelder biowissenschaftlicher Untersuchungen zur Verfügung stellen, werden kaum von den neuen Therapien profitieren, die möglicherweise aus dieser Forschung resultieren:
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»The experimental subject […] is a condition of possibility for biosociality and the neo-liberal therapeutic consumer.« (Sunder Rajan 2008: 178)5
Darüber hinaus ist festzustellen, dass die Neuartikulation von Identitäten auf der Grundlage biologischen Wissens keine exklusive Domäne selbstorganisierter Praktiken von Patientenorganisationen und Angehörigenvereinigungen ist. Die neuen bzw. veränderten Sozialformen und Identitätsmuster werden maßgeblich durch Expertendiskurse vermittelt. Medienberichte, Internetpublikationen, Gesundheitserziehung, medizinische Ratgeber, populärwissenschaftliche Bücher etc. tragen dazu bei, dass Individuen genetische Analyse- und Deutungsangebote aufgreifen und diese in ihr Alltagshandeln integrieren. Seit einigen Jahren boomt das Geschäft mit der direkten Vermarktung genetischer Tests (»directto-consumer«) durch kommerzielle Gendiagnostik-Anbieter. Zwar werden die meisten der aktuell verfügbaren Gentests für sehr seltene Leiden angeboten, die Diagnostik-Industrie zielt jedoch in wachsendem Maße auf weit verbreitete und/oder durch zivilisatorische Faktoren beeinflusste Krankheiten. Ihre Produktpalette umfasst etwa prädiktive Tests für genetische Veranlagungen für Hämochromatose, Brustkrebs (BRCA), Thrombose oder Osteoporose. Die Förderung biosozialer Identitäten gerät in diesem Zusammenhang zu einer gezielten Marketingstrategie, die unter dem Label einer Demokratisierung der Genetik angeboten wird. Die Zukunftsvision von Anne Wojcicki, eine der Gründerinnen des weltweit operierenden Gendiagnostik-Anbieters 23andMe, sieht daher folgendermaßen aus: »We envision a new type of community where people will come together around specific genotypes, and these artificial barriers of country and race will start to break down.« (Zit. n. Weiss 2008)6
» N a c hw o r t « In einem »Nachwort« zu dem von Sahra Gibbon und Carlos Novas herausgegebenen Band zur Rezeption des Begriffs der Biosozialität (Gibbon/Novas 2008), zieht Paul Rabinow selbst eine Bilanz der Wirkungs-
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Zu fragen ist daher, ob Rabinows Annahme, dass sich »unsere sozialen und ethischen Praktiken im Zuge des [Humangenom-]Projekts verändern« (2004: 132; Hervorheb. TL) nicht auf eine eurozentrische Verengung des Blicks verweist. Den Hinweis auf die biosozialen Angebote der Gendiagnostikindustrie verdanke ich Barbara Prainsack. 35
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geschichte (Rabinow 2008). Er verweist auf den besonderen zeithistorischen Kontext, in dem er den Begriff prägte, und macht auf seine impliziten Grenzen aufmerksam. Die These der »Biosozialität« sei eng verknüpft mit der ungeheuren wissenschaftlichen Dynamik des Humangenomprojekts und den medizinischen Erwartungen und Hoffnungen, die sich damit verbanden: »It may be that the 1990s will be seen as the Golden Age of Molecular Biosociality. There was hope, there was progress, there was a reason to be urgent even strident – there were reasons to want to be biosocial.« (Ebd.: 190) Im Rückblick – so Rabinow – sei dieses Szenario zu optimistisch gewesen. Die Sequenzierung des menschlichen Genoms zeigte, dass Genotyp und Phänotyp nur in vergleichsweise wenigen Fällen in linearer und unidirektionaler Weise miteinander verknüpft sind. Die Ergebnisse der Genomforschung fordern das ›zentrale Dogma‹ der molekularen Genetik heraus, das die einschlägige Forschung seit den Anfängen der Gentechnik zu Beginn der 1970er Jahre angeleitet hat. Diesem Dogma zufolge trägt jedes Gen die Information für die Bildung eines Proteins. Es wurde deutlich, dass ein solches reduktionistisches Konzept von Genfunktion und Genregulation durch ein differenzierteres Verständnis ersetzt werden muss. Gene sind in der Regel keine determinierenden Faktoren, sondern ihre Aktivität wird in hohem Maße nicht nur durch andere genetische und zelluläre, sondern auch durch Entwicklungs- und Alterungsprozesse sowie durch Umweltfaktoren beeinflusst. Die wachsende Einsicht in die Komplexität biologischer Regulationsprozesse legte eine deutlich verhaltenere Einschätzung der zukünftigen diagnostischen und therapeutischen Möglichkeiten einer ›molekularen Medizin‹ nahe. Rabinows Fazit klingt ernüchtert: »the hopes and hype of the genomic decade have failed to provide adequate diagnostic or risk assessment tools or treatments based on them.« (Ebd.: 192) In Rabinows Lesart bleibt der Begriff der Biosozialität trotz – oder gerade wegen – dieser Korrekturen und Verschiebungen hinsichtlich der gesellschaftlichen Einschätzung und der wissenschaftlichen Bewertung der Genomforschung ein wichtiges Analyseinstrument. Er sei weniger als Epochensignatur denn als ein heuristisches Werkzeug intendiert gewesen, um das Verhältnis von genetischem Wissen und gentechnologischen Innovationen einerseits und der Entstehung neuer individueller und kollektiver Identitäten andererseits zu untersuchen. Es handele sich nicht um einen Universalbegriff, der überall und in gleicher Weise genutzt werden könne. Die beobachtbaren Grenzen des Begriffs seien daher der schlüssige Beweis für seine anhaltende analytischen Fruchtbarkeit: »These limitations were a confirmation of the approach not its refu-
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tation. Inquiry reveals specifities and limits, an excellent definition of critical thinking.« (Ebd.: 191) Dieser Einschätzung kann man sich sicher anschließen. Sie ist aber eher eine programmatische Forderung als eine empirische Feststellung. Wie gesehen wird der Begriff der Biosozialität in der konkreten Forschungspraxis oft einseitig oder selektiv verwendet, so dass wichtige Dimensionen biosozialer Praktiken und Diskurse nicht erfasst werden. Um das von Rabinow zurecht herausgestellte analytische Potenzial zu erschließen, ist es notwendig, die Privilegierung genetischer Faktoren und Merkmale für die Entstehung von Erkrankungen und die Herausbildung von Identitäten aufzugeben (vgl. auch Kliems 2008). Darüber hinaus ist es erforderlich, dass sich die Forschungsarbeiten von der empirischen Fixierung auf die Arbeit von Selbsthilfegruppen und Patientenvereinigungen lösen, essentialistische Konzepte einer stabilen und eindeutigen Biologie zum Gegenstand der Untersuchung machen statt sie unkritisch zu reproduzieren, und die Macht- und Herrschaftsverhältnisse systematisch in die Analyse der Transformation kollektiver und individueller Identitäten einbeziehen.
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»Einfach so mal schauen, was gerade los ist.« Bios ozia le Familia lis ierung in der Sc hw angersc haft EVA SÄNGER
Hinsichtlich der Frage, was schwangere Frauen wissen, wenn sie Ultraschallbilder betrachten, die bei einer Schwangerschaftsvorsorgeuntersuchung hergestellt werden, diskutiere ich in meinem Beitrag zwei Thesen zur Frage, wie neues biomedizinisches Wissen prozessiert und in Alltagspraxen übersetzt wird. Erstens: Das durch Ultraschallbilder produzierte Wissen ist nicht ›neu‹. Zweitens: ›Neuartig‹ bzw. ›zeitgenössisch‹ sind die Erlebnisdimensionen des Wissens und die Indexikalisierung von Ultraschallbildern als stellvertretend für ein werdendes Baby. In meinem Beitrag arbeite ich auf der Grundlage der »Anthropologie des Zeitgenössischen« von Paul Rabinow die Modernität der epistemischen Trennung von schwangerer Frau und Fötus heraus und argumentiere, dass diese epistemische Trennung und die Etablierung des Fötus als ›Naturtatsache‹ eine Voraussetzung für die Indexikalisierung von Ultraschallbildern ist. Darauf aufbauend wird mit Blick auf ein laufendes Forschungsprojekt über die Bedeutung von Ultraschallbildern und -untersuchungen für Frauen mit erwünschten Schwangerschaften exemplarisch aufgezeigt, welches Wissen beim Betrachten von Ultraschallbildern prozessiert wird und welche Bedeutung diesem Wissen zugeschrieben wird. Abschließend zeige ich, inwieweit der damit verbundene Prozess der ›biosozialen Familialisierung‹ eine Dimension zeitgenössischer Praktiken der Schwangerschaft ist. 43
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Biosozialität und das »Zeitgenössische« Mit dem Begriff der »Biosozialität« beschreibt der Anthropologe Paul Rabinow Veränderungen in den »Praktiken des Lebens« (Rabinow 2004, S. 131). Mit ›Leben‹ ist hier allerdings nicht das Alltagsleben gemeint, sondern Rabinow schließt an die Ausführungen Foucaults an, der in »Die Ordnung der Dinge« zeigte, dass sich die Figur ›Mensch‹, am Ende des klassischen Zeitalters als vermeintlich souveränes Subjekt an der Schnittstelle der Bereiche Arbeit (politische Ökonomie), Leben (Biologie) und Sprache (Philologie) konstituierte. Wie Foucault interessieren Rabinow die Rationalitätsformen, die in der Moderne den Menschen als Subjekt des Wissens und Objekt der Erkenntnis hervorbringen sowie deren Veränderung (vgl. Rabinow 2004: 35f.). Rabinow kritisiert jedoch an Foucaults genealogischer Methode, dass dieser seine Analysen in der Vergangenheit enden lasse und zwar an dem Punkt, an dem sich das aktuell vorherrschende Dispositiv formiere (vgl. Rabinow 2004: 24). Rabinow hält zudem Foucaults Einschätzung nicht für zutreffend, dass es die Sprache sein wird, welche den Weg zu einer neuen Episteme bahnen wird und vertritt demgegenüber die Ansicht, dass es die »Praktiken des Lebens [… sind], die gegenwärtig das bedeutendste Feld von Macht und Wissen bilden« (vgl. Rabinow 2004: 131). Verbunden damit ist aus Rabinows Sicht die Frage, mit welchen Modalitäten das Neue zu erkennen ist und er fragt: »Was wäre, wenn wir die jüngsten Veränderungen in den logoi von Arbeit, Leben und Sprache nicht als einen epochalen Wandel begreifen würden, sondern als fragmentarische und bereichsspezifische Veränderungen, die nicht nur an und für sich zu Problemen führen, sondern auch angesichts des Versuchs, die Formen zu verstehen, die anthropos gegenwärtig annimmt?« (Rabinow 2004: 35)
Deshalb diskutiert Rabinow moralische, methodische und ästhetische Dimensionen einer Anthropologie des Zeitgenössischen. Er fasst Modernität als eine Handlungsorientierung auf, als ein Ethos und eine Rationalitätsform, die beweglich ist: »Just as one can take up the ›modern‹ as an ethos and not a period, one can take it up as a moving ratio.« (Rabinow 2008: 2) Aus diesem nicht-epochalen Verständnis von Modernität und der Vorstellung von Ungleichzeitigkeit resultiert auch Rabinows Forschungsgegenstand und -interesse: die Suche nach sich ereignenden Formen, in denen sich das Zeitgenössische abzeichnet, ohne bereits eine neue Epoche einzuleiten. Die Emergenz partiell neuer Formen, Objekte und Orte bezeichnet Rabinow als »Assemblages« (Rabi44
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now 2004: 119). Asssemblages sind Ereignisse, die sich noch nicht zu einem Macht-Wissen-Komplex, zu einer festen Form gefügt haben. Sie ergeben sich aus dem Zusammenspiel institutioneller Entwicklungen, symbolischer Formen, Wissenspraktiken, rechtlicher Entwicklungen, Lebensführungsmustern und Subjektivierungsweisen. Rabinow verzeichnet eine Tendenz zur Umformung des Sozialen auf der Grundlage neuen genetischen Wissens und biotechnologischer Entwicklungen und bezeichnet diese als ›Biosozialität‹. Er situiert sein Verständnis von Biosozialität im Horizont eines Konzepts von Biomacht (vgl. Rabinow/Rose 2006, für die deutsche Diskussion vgl. Wehling et al. 2007) und geht davon aus, dass das genetische Wissen »auf der Mikroebene vermittels einer Reihe biopolitischer Praktiken und Diskurse in das gesamte soziale Gefüge eingebunden sein wird« (Rabinow 2004: 139). Rabinow entwirft das gesellschaftliche Gefüge und die sozialen Beziehungen nicht analog einer metaphorisch etablierten ›natürlichen‹ Natur. Ihm zufolge wird das genetische Wissen keine »biologische Metapher der modernen Gesellschaft mehr sein« (Rabinow 2004: 139). Er geht davon aus, dass das Soziale auf der Grundlage einer (technosozialen) Artifizialität verfasst sein wird, die Kultur und Natur als gleichursprüngliche Praxis einschließt. Hierunter fallen auch neuartige Formen der Vergemeinschaftung. Rabinow nennt Selbsthilfegruppen, die auf Basis genetischen Wissens neue Lebensstile entwickeln. Auf der Grundlage einer artifiziellen modellierten Natur können hierarchisierte Zuschreibungen entlang von Geschlecht und Rasse gleichwohl aufrecht erhalten und neu konfiguriert werden – alte und neue Klassifikationen und hierarchische Zuschreibungen können auf der Grundlage neuen Wissens sogar zusammenfallen: »Offenkundig haben sich herkömmliche Formen kultureller Klassifikation biologischer Identität wie etwas Rasse, Geschlecht [gender, i.O.] und Alter ebenso wenig aufgelöst wie Medikalisierung und Normierung, obwohl sich die Bedeutungen und Praktiken wandeln, auf denen sie gründen. Postdisziplinäre Praktiken werden neben disziplinierenden Technologien existieren; postsoziobiologische Klassifikationen werden bloß graduell in ältere kulturelle Muster eindringen. […] Mein Argument ist schlicht, das ältere kulturelle Klassifikationen mit einem umfassenden Bereich neuerer Klassifikationen zusammenstoßen.« (Rabinow 2004: 145)
Ein solches Aufeinandertreffen von alten und neuen Klassifikationen und hierarchischen Zuschreibungen soll im Folgenden am Beispiel der Herausbildung eines Verständnis vom Fötus als ›Entität‹, also als eine
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vom schwangeren Körper der Mutter getrennte ›Naturtatsache‹ genauer betrachtet werden.
Epistemische Trennung v o n s c hw a n g e r e r F r a u u n d F ö t u s Die Naturalisierung der Geschlechterdifferenz, die Etablierung einer polar angesiedelten Zweigeschlechtlichkeit in der Moderne ist mit der Etablierung der Lebenswissenschaften, der Biologie und Medizin kokonstitutiv (vgl. Laqueur 1992; Schiebinger 1993; Honegger 1996). Die Frage nach dem ›Leben‹ und die Frage nach der Bedeutung der modernen Geschlechterdifferenz sind untrennbar verbunden und zutiefst modern. Verbunden mit der Etablierung der Lebenswissenschaften in der Moderne und der »asymmetrischen Medikalisierung« (Wöllmann 2005: 273) vergeschlechtlichter Subjekte ist auch ein neuartiger Blick auf den schwangeren Körper. Auf welchen Wissensformationen, Technologien und Praktiken die Personalisierung menschlichen Lebens vor der Geburt beruht, wie also aus dem schwangeren Körper zwei (verkörperte) Subjekte − die Schwangere und der Fötus − werden konnten, und inwieweit auch diese Entwicklung höchst modern ist, darauf möchte ich im Folgenden eingehen. Skizziert werden soll, welche materialen und diskursiven Praktiken dazu beigetragen haben, dass ›ungeborenes Leben‹ mit autonomem Subjektstatus versehen werden kann.1 Daher frage ich, auf welchen strukturellen, technogenen und materialen Voraussetzungen die epistemische Trennung von schwangerer Frau und Fötus beruht und durch welche material-diskursiven Praktiken das ›menschliche Leben‹ als eine Naturtatsache vor der Geburt sozial wirkmächtig wird. Es geht mir darum, die modernen Voraussetzungen im Verständnis von Schwangerschaft aufzuzeigen, die sich mit der Ontologisierung des Fötus zeigen. Denn diese Grenzziehungspraktiken zwischen schwangerer Frau und Fötus sind sich ereignende Formen, in denen – wie Rabinow nahe legt – ›Altes‹ und ›Neues‹ verhandelt wird. Somit folge ich nicht einer modernisierungstheoretischen Perspektive, die beschreibt, wie in verschiedenen Grenzziehungspraktiken der Beginn des menschlichen Lebens verhandelt wird (vgl. Viehöver et al. 2004). Viehöver et al. fo1
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Genannt werden müssen an dieser Stelle die Arbeiten von Gesa Lindemann über die Grenzregime moderner Gesellschaften (vgl. exemplarisch Lindemann 2009) auf die ich nicht gesondert eingehe, da mich der systematische Zusammenhang von Grenzziehungspraktiken und Epochenwandel interessiert.
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kussieren auf den ›Beginn menschlichen Lebens‹, womit ihrer Argumentation die epistemische Trennung von schwangerer Frau und Fötus sowie eine Vorstellung natürlicher Fakten zugrunde liegt, von der zugleich abstrahiert wird. ›Natürliche Fakten‹ sind jedoch nie statisch sondern in epistemischer und politischer Bewegung (vgl. Arni 2008: 293), was insbesondere die ›Naturtatsache‹ Embryo betrifft (vgl. Orland 2008a). Im Folgenden benenne ich überblicksartig diskursive und historische Voraussetzungen für das Entstehen der Figur des autonomen Fötus. Ich differenziere, wie ›moderne‹ und ›zeitgenössische‹ Strukturen und Praktiken zur Realisierung des Fötus als Interventionsobjekt und personalisierter autonomer Entität im Sinne einer ›Assemblage‹ führen. Vier diskontinuierliche Entwicklungen haben zur epistemischen Etablierung des Ungeborenen als ›Naturtatsache‹ und autonomer Entität beigetragen.
Erstens: Wahrnehmung des Ungeborenen im Medium der Entwicklungsbiologie In anatomischen Zeichnungen vor dem 18. Jahrhundert zeigt man das Ungeborene als einen Aspekt des schwangeren Körpers (Duden 2002). Das ›kommende Kind‹ galt in der anatomischen Grafik als Emblem des Werdens und wurde als geborgen und abgeschlossen dargestellt. Kinder zeigten sich erst mit der Geburt. Naturforscher erkannten Kinder in winzigen Größen im Mikroskop und Frauen nahmen den ›Zustand des Schwangergehens‹ haptisch und bewegungsbezogen wahr. Diese »historischen Objektivationen« (Duden 2002: 12) transformieren sich im 18. Jahrhundert: das entwicklungsbiologische Wissen und die Vorstellung einer linearen Entwicklung werden vorherrschend. Das embryologische Wissen ermöglichte beispielsweise in den ›Monstren‹ die aus dem Körper einer Frau kommen konnten, und den ›normal‹ gestalteten Lebewesen nicht mehr zwei separate Entitäten zu sehen, sondern sie als Abweichungen von einer linearen Entwicklung, als ein unterbrochenes oder fehlgeleitetes Stadium hin zu einem voll ausgebildeten Fötus zu sehen (vgl. Hagner 2005). Dabei sind embryologisches Wissen und die Visualisierungs- und Herstellungstechniken von Modellembryonen nicht voneinander zu trennen. Ab dem 19. Jahrhundert hielt eine Vielzahl von Visualisierungstechniken in Biologie und Medizin Einzug. Diese Techniken machten Befruchtung, Embryogenese und Schwangerschaftsverlauf sichtbar. Bereits Mitte des 18. Jahrhunderts nahm die Anfertigung von eigenständigen Modellen aus Holz, Wachs und Tuch auf Grund des steigenden Bedarfs an Lehrmitteln für die Geburtshilfe zu. Im Labor wur47
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den abortierte Embryonen fotografiert, haltbar gemacht und gezeichnet. Diese zerlegten Embryonen dienten als Vorlage für große Wachsmodelle, die in Gerichtssälen, Museen, medizinischen Fakultäten, anatomischen Sammlungen und Kunstkabinetten zum Einsatz kamen. Die Suche nach Archetypen einer normalen Entwicklung wurde dann zur Hauptaufgabe der wissenschaftlichen Embryologie des 19. Jahrhunderts – eine möglichst dichte Folge von Zeitpunkten sollte durch die Anordnung typischer Exemplare abgebildet werden. Wilhelm His erstellte 1885 eine Normentafel von 25 Embryonen, die den Zeitraum vom Ende der zweiten Schwangerschaftswoche bis zum Ende des zweiten Monats der Schwangerschaft abbildeten. Die Anordnung der Modelle in den Serien und Normentafeln vermittelte den zeitgenössischen Betrachterinnen den Eindruck, es handele sich um die Entwicklungsstadien eines einzigen Embryos − dabei waren es viele aus Aborten und Gebärmutterentfernungen beschaffte Embryonen. Diese Denkweise der linearen Entwicklung sollte sich »nach und nach verselbständigen« (Orland 2008b: A 36). Am Carnegie-Institute of Washington, das den Grundbestand für die heute noch weltweit größte Sammlung von über 10.000 präparierten Embryonen des National Institute of Child and Human Development in den USA lieferte, wurden auf der Grundlage dieser aus Aborten und Gebärmutterentfernungen gesammelten Embryonen die ›CarnegieStadien‹ entwickelt. Dieses Entwicklungsschema, welches auf die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts zurückgeht, bildet bis heute das weltweit verwandte Referenzmodell der embryologischen und reproduktionsmedizinischen Forschung (vgl. Orland 2008b).
Zweitens: Das Konzept der Abstammung als eine »intergenerationelle Weitergabe von hereditärer Substanz« Eine weitere Voraussetzung für die Etablierung des Ungeborenen als autonome Entität in der Moderne entfaltete sich an der Schnittstelle eines medizinisch, biologisch und semantisch neu begründeten Verständnisses von ›Reproduktion‹ (im Sinne von ›Fortpflanzung‹) und ›Genealogie‹ (im Sinne von Abstammung/Heredität), welches in Gegenwartsgesellschaften ein Paradox begründet: Prokreativen Substanzen wie Sperma und Eizelle kommt auf der Grundlage ihrer genetischen Trägerschaft ein hoher Stellenwert als Indikator für Herkunft und Verwandtschaft zu. Gleichzeitig werden prokreative Substanzen als Träger genetischer Information, die Verwandtschaftsverhältnisse begründen, abgewertet. Dies geschieht beispielsweise im Kontext von Reproduktionstechnologien, wo per Vertrag die Vater- oder Mutterschaft außer Kraft gesetzt wird
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(vgl. Arni 2008: 294f.). Dieser paradoxen Auf- und Entwertung biologischer Substanz als genealogische Substanz liegt historisch »ein vom sexuellen Akte und menschlichen Akteuren abstrahiertes und auf den biologischen Mechanismus der Verschmelzung von Keimzellen reduziertes Verständnis des prokreativen Aktes zugrunde. Erst die Isolierung dieses Ereignisses von den spezifischen Handlungsformen, die es in Gang bringen – sei dies der Geschlechtsverkehr oder die Labortechnik – ermöglicht eine Wertung, die sich auf den biologischen Sachverhalt per se richtet.« (Arni 2008: 269)
Das Konzept der Abstammung als eine »intergenerationelle Weitergabe von hereditärer Substanz« (Arni 2008: 299) musste sich gegen die konkurrierende Vorstellung durchsetzen, dass Eigenschaften und Ähnlichkeiten des Gezeugten aus der Beschaffenheit des Zeugungsaktes entstünden. Dabei verlief die Abstrahierung vom Vollzug des sexuellen Aktes auf einen biologischen Mechanismus, bei dem Substanzen die Stelle menschlicher Akteure einnehmen, parallel zur theoretischen, experimentellen und mikroskopischen Isolierung von Ei- und Samenzelle. Als Folge dieser Abstrahierung sind – so hebt Arni hervor – Akt und Substanz voneinander geschieden, die in vorangegangenen biologischen und medizinischen Deutungen noch nicht getrennt waren. Das ›Tun‹ der Eltern und das Zusammenkommen von Körpersubstanzen wurde als notwendig kosubstanziell für die Zeugung gedacht. Gleichzeitig fand in semantischer Hinsicht eine Veränderung statt: Bis weit in das 19. Jahrhundert hinein wurde für alle mit der Fortpflanzung verbundenen Aspekte der Ausdruck ›generatio‹ verwandt. Der im 18. Jahrhundert aufkommende Begriff der ›Reproduktion‹, der sich durchsetzen sollte, bezog sich allgemein auf die Gattung und fokussierte auf (Wieder-) herstellung der bereits existierenden Art. Arni zufolge kumuliert die Abstrahierung von dem konkreten menschlichen Tun, welche sich in den semantischen und medizinischen Veränderungen aufzeigen lässt, in der Verdinglichung des Embryos. Dieser werde im Horizont embryologischen Wissens als maßgeblich durch Entwicklungsstadien charakterisiert und gelte − als Produkt der Prokreation ohne das Paar − als exemplarischer Repräsentant der menschlichen Gattung.
Drittens: Nationalstaatliche Gesundheits- und Präventionsprogramme zur Optimierung der Bevölkerung In euroamerikanischen Gesellschaften wurde im Zeitraum von den 1920er bis zu den 1950er Jahren das medizinische Konzept einer ›peri49
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natalen Phase‹ bevölkerungspolitisch etabliert. In diesem Verlauf werden der Fötus der letzten Schwangerschaftswochen und das neugeborene Kind epistemisch zu einer Einheit zusammengefasst, indem beispielsweise Totgeburten und der Tod von Neugeborenen bevölkerungsstatistisch gleichermaßen erfasst werden. Das Mitzählen von Totgeburten in der perinatalen Sterblichkeitsrate konstruiert Totgeburten als Bevölkerungssubjekte. Der Tod aller – auch dieser − Bevölkerungssubjekte soll vermieden werden, um den Gesundheitszustand der Bevölkerung zu verbessern und die Sterblichkeitsrate der gesamten Bevölkerung zu minimieren (vgl. Weir 2006: 11). Damit verschiebt sich zu Beginn der 1920er Jahre in den westeuropäischen Gesellschaften und in den USA die ›Schwelle‹ zum lebendigen Subjekt auf eine Phase vor der Geburt. Lorna Weir (2006) betont, dass nicht nur die bildgebenden Verfahren und insbesondere die Ausbreitung von Ultraschalldiagnostik, sondern vielmehr die biopolitischen Strategien zur Optimierung des Gesundheitsstatus von Bevölkerungen den Eintritt des Ungeborenen in den Subjektstatus auf eine vorgeburtliche Phase verlagerten. Somit wird Mitte des 20. Jahrhunderts die epistemische Trennung von schwangerer Frau und ungeborenem Kind in den euroamerikanischen Gesellschaften auch bevölkerungspolitisch auf der Grundlage des medizinischen Konzepts der perinatalen Phase verstärkt.
Viertens: Die Popularisierung des Ungeborenen durch den Ultraschall Ultraschalltechnologie wurde bereits im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts in nichtmedizinischen Bereichen entwickelt und angewandt. Ein Team um Douglass Howry entwickelte in den 1950er Jahren in den USA die zweidimensionale Schnittbildtechnik, welche Grundlage für das sogenannte B-Mode-Verfahren (»brightness«) ist. Hierbei entsteht der Eindruck eines Schnittes durch das beschallte Objekt. Dieses Verfahren ist die Grundlage der heutigen Schnittbildtechnik, die dem bildgebenden Verfahren in der Ultraschalldiagnostik zugrunde liegt (Yoxen 1987: 291ff.; Holtzmann-Kevles 1997: 228ff.). Seit den 1980er Jahren wird an der Entwicklung von Ultraschallverfahren gearbeitet, die das beschallte Gewebe dreidimensional darstellen. Zur Zeit etablieren sich 3Dund 4D-Ultraschallverfahren in der Gynäkologie. Eine Vielzahl von medien- und kulturwissenschaftlichen Arbeiten aus der angelsächsischen und US-amerikanischen Frauen- und Geschlechterforschung hebt die zentrale Bedeutung dieser sonografischen Visualisierungstechnik für die mediale Popularisierung und Personalisierung des Ungeborenen hervor. Die Visualisierung des Fötus durch die 50
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Fötalfotografie und durch den Ultraschall gilt einhellig als entscheidende Voraussetzung für seinen öffentlichen Status und die epistemische Trennung vom Frauenkörper (vgl. Berlant 1994; Kaplan 1994; Stabile 1998; Michaels 1999). Der für diese Forschungsrichtung wegweisende Beitrag von Rosalind Pollack Petchesky (1987) zeigt, dass der Fötus das Produkt eines Rekurses auf biomedizinisches Wissen ist, dem durch bildgebende Verfahren wie Fötalfotografie und Ultraschall in Echtzeit der Status von Wahrheit und Objektivität verliehen wird. Petchesky vertritt die These, dass schwangere Frauen Ultraschallbilder als Personenfotografien und als Repräsentationen eines zukünftigen Familienmitglieds auffassen. Zugleich trägt die Visualisierung dazu bei, dass der Fötus als autonom vorgestellt wird. Sarah Franklin (1991) und Valerie Hartouni (1992) heben hervor, dass die epistemische Trennung von schwangerer Frau und Ungeborenem zur Folge habe, dass Frauen ihren Repräsentationsstatus als politische Subjekte verlieren. Der öffentliche Status des Fötus beeinflusste maßgeblich den Kampf zwischen Vertretern der USamerikanischen Antiabtreibungsbewegungen und denjenigen, die die Rechte von Frauen auf Entscheidungsfreiheit und Privatheit verteidigen. Alle diese Arbeiten zeigen, dass die Konstruktion des Fötus als autonomes Individuum mit personalen Rechten, das den Schutz des Staates und als »ungeborener Patient« (Casper 1998) die Beachtung der Medizin verdient, nur durch die Entwicklung der bildgebenden Verfahren sozial wirkmächtig werden konnte. Es etablierten sich, wie alle Autorinnen betonen – und wie Barbara Duden (2007) und Verena Krieger (1995) für den deutschsprachigen Raum zeigen – neue kulturelle Muster des Sehens.
Indexikalisierung von Ultraschallbildern Die vorangehende Skizzierung der historischen Genese des Wissens über ›den Fötus‹ zeigt, dass weniger das zugrunde liegende entwicklungsbiologische Wissen ›neu‹ bzw. ›zeitgenössisch‹ ist, sondern die technosoziale Form seiner Verbreitung. Wissen über den Fötus wird im Medium bildgebender Verfahren transportiert. Ultraschallbilder sind jedoch – techniksoziologisch betrachtet – wie andere wissenschaftliche Bilder auch, apparativ erzeugte Bilder, deren Bedeutung sich nicht unmittelbar erschließt: Visualität ist Regula Burri (2008) zufolge eine analytische Kategorie, die erst durch Praktiken des Sehens und der Wahrnehmung zur sozialen Wirklichkeit wird, was in der Regel nicht reflexiv geschieht, sondern habituell und praktisch. Ultraschallbilder sind materielle Artefakte, die in soziotechnischen Prozessen hergestellt, genutzt 51
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und durch symbolische Praktiken mit Bedeutung versehen werden. Rhetorisch werden Ultraschallbilder jedoch als visualisierte Evidenz präsentiert. Im medialen Diskurs des Mainstream werden ›Sehen‹ und ›Wissen‹ miteinander vermischt. Ultraschallbilder, die Föten zeigen, werden als Abbild einer außerbildlichen Realität präsentiert (vgl. Palmer 2009: 176). Hierbei wird Ultraschallbildern medial ein Referenzbezug zugesprochen, wie er im 20. Jahrhundert Fotografien zugeschrieben wurde. In dem Maße, in dem Fotografien durch die physikalisch-chemische Wirkung des vom Objekt ausgehenden Lichts entstehen, sind sie indexikalische Zeichen, weil sie eine physische Spur aufweisen (vgl. Sekula 2003: 223). Fotografien wurde ein besonderer wirklichkeitsbezeugender Status zugeschrieben, eine objektive Referenz auf die empirischen Referenten. Sie galten als Abdruck der Natur, der nicht zuletzt auf dem physikalisch-chemischen Prozess von Wirkung und Ursache gründete, wobei andere Faktoren der Bedeutungszuweisung, wie Motivwahl, Inszenierung oder Bearbeitung des Abzugs, ausgeblendet wurden (vgl. Holschbach 2010). Auch Ultraschallbilder sind in dem Maße, wie sie durch die Wirkung des vom Objekt reflektierten Schalls entstehen, Zeichen, die eine physische Spur aufweisen, womit ihnen Indexikalität zu eigen ist. Welcher Art diese ›sonografische Indexikalität‹ ist und auf was das Ultraschallbild verweist, hängt jedoch von den technosozialen Praktiken und den Handlungsfeldern ab, in denen diese Praktiken eingebunden sind. So florieren in den USA und in England Ultraschallstudios, in denen man sogenannte »Keepsake-Images« erwerben kann, ebenso wie 4-DUltraschallaufzeichnungen, die dann zu Hause als Videofilm im Kreise von Bekannten und Verwandten angesehen werden können. Die Studios tragen Namen wie »Babybond« oder »Baby insight«. Das Studio »Love at first sight« wirbt mit dem Motto »Seeing your baby for the first time will touch your heart«. Auch im deutschsprachigen Raum verlässt das Ultraschallbild den medizinischen Deutungsrahmen und erhält im Rahmen vielfältiger Repräsentationsstrategien Bedeutung, beispielsweise spielen Ultraschallbilder stellvertretend für ein lebendiges Baby und werdendes Familienmitglied im Unterhaltungsfernsehen eine Rolle (vgl. Tegethoff 2008). Visualisierungstechniken der Populärkultur und der medizinischen bildgebenden Verfahren haben sich hinsichtlich ihrer Bezüge auf tradierte ästhetische Normen einander angenähert. Es hat »auf epistemischer Ebene längst eine Synthese von Wissenschaft, Kunst und Medizin stattgefunden« (Orland 2008b: A 47). Sehr verschiedene Genres sind populär: digitale Filme über vorgeburtliches Leben, im medizinischen Kontext produzierte sonografische Darstellungen des Körperinneren 52
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schwangerer Frauen, Bildbände über Schwangerschaft und Geburt. Die Faszination, die diese Darstellungen auslösen, gründet in ihrem Verweis auf externe Referenten, auf ›Naturtatsachen‹ wie Vierzeller, Blastozystenstadien, lebendige Babys und Föten. Der Dramaturgie von digitalen Filmen über virtuelle Schwangerschaften liegt Orland zufolge das Narrativ der Zeitreise zugrunde, welches über die Montage von Entwicklungsstadien produziert wird. Der ›Plot‹ der Filme besteht in der embryonalen Entwicklung, wobei die ästhetisierte ›Story‹ auf dem im Verlaufe des 19. Jahrhunderts etablierten Entwicklungsgedanken beruht.
Medizinische und soziale Handlungsrationalitäten Narrative Interviews mit schwangeren Frauen und Frauen, die kürzlich entbunden haben, die wir im Rahmen einer Studie unlängst geführt haben, zeigen, wie insbesondere die medizinischen Logiken zeitgenössisches Wissen von Schwangerschaft strukturieren.2 Unter den 19 befragten Frauen übernimmt die überwiegende Mehrzahl die Perspektive der medizinischen Risikoorientierung. Die Ultraschalluntersuchung wird als technische Möglichkeit der Kontrolle und der Absicherung vor Schwangerschaftsrisiken erfahren. Die Interviews geben zudem einen Einblick, welche Bedeutung Ultraschallbildern im Horizont von familialen und konsumistischen Deutungsmustern bzw. Handlungsrationalitäten zugesprochen wird. Denn obwohl die Risikoorientierung der medizinischen Vorsorgelogik die Wahrnehmung von Schwangerschaft dominierte, sind verschiedene Indexikalisierungsstrategien in Bezug auf Ultraschallbilder zu verzeichnen. Viele Interviewpartnerinnen schreiben den Ultraschallbildern die Bedeutung einer Personenfotografie zu. Weit über die Hälfte der von uns befragten Frauen kleben Ultraschallbilder in Familienalben oder in Schwangerentagebücher ein und hängen sie auf Leinwand bezogen oder in Babybilderrahmen zur Dekoration in Kinderzimmern auf. Die Ultraschallbilder werden eingescannt oder direkt mit der HandyKamera vom Monitor abfotografiert und per E-mail an abwesende Väter, Freundinnen oder Verwandte gesandt; ein Paar nutzte das Ultraschallbild um die Schwangerschaft in der Verwandtschaft zu verkünden. 2
Die Interviews wurden im Rahmen eines von der Verfasserin dieses Beitrags geleiteten Forschungsprojekts geführt. Im Projekt »Bildgebende Verfahren und die Performanz des Körperlichen in der Schwangerschaft« wurden 19 leitfadengestützte Interviews mit schwangeren Frauen und mit Frauen geführt, die kürzlich entbunden hatten. Die Namen sind anonymisiert. 53
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Ultraschallbilder werden an Kühlschränke gepinnt oder wie eine Art gelungener Schnappschuss zur Erheiterung herumgezeigt. Manche Frauen messen dem Ultraschallbild manifest wenig Bedeutung als Repräsentation eines Babys zu und sehen die Ultraschalluntersuchungen als medizinisch und moralisch notwendigen Teil der Schwangerenvorsorge. Einige entwickeln Abgrenzungsstrategien gegenüber einer als expansiv wahrgenommenen medizinischen Kontrolle und Beobachtung. Auf dem aktuellen Stand der Auswertung lassen sich verschiedene Erzählmuster mit Bezug auf die Bedeutung von Ultraschallbildern und -untersuchungen differenzieren:
• • •
Ultraschalluntersuchungen und -bilder als technische Mittel der Kontrolle und (dilemmatischen) Absicherung vor und Begrenzung von Schwangerschaftsrisiken; Ultraschallbilder als (phantasmatische) Möglichkeit, das Ungeborene kennenzulernen und familiär zu vergemeinschaften; Ultraschalluntersuchungen und -bilder als medizinisch notwendiger, jedoch ambivalent erfahrener Aspekt der ärztlichen Vorsorgeuntersuchungen.
Was also sehen schwangere Frauen wenn sie sich einer Ultraschalluntersuchung unterziehen auf dem Monitor bzw. auf einem Ultraschallbild? Was Ultraschallbilder ›bedeuten‹ hängt davon ab, ob familialistische oder medizinische Deutungsmuster und Wahrnehmungen der Schwangerschaft vorherrschend sind. Die Mehrzahl der Frauen gab jedoch an, auf Ultraschallbildern bzw. im Echtzeitultraschall – abhängig vom Zeitpunkt der Schwangerschaft – Körperumrisse erkennen und anatomische Details, wie Kopf, Wirbelsäule, Arme und Beine zuordnen zu können. Was divergiert, ist die ›Bildkompetenz‹ bzw. wem die Bildkompetenz zugeschrieben wird. Die Interviewpartnerinnen führen die Möglichkeit, etwas zu erkennen auf unterschiedliche Bedingungen zurück. Um Körperumrisse oder Gliedmaßen zu erkennen, sind nahezu alle Frauen auf die Erläuterungen und Erklärungen des Arztes angewiesen (generell wird der Gynäkologin zugeschrieben, in medizinisch-diagnostischer Hinsicht bildkompetent zu sein − also sehen zu können, ob ›alles in Ordnung‹ ist). Während einige wenige Frauen angeben, ohne die Erläuterungen des Arztes rein gar nichts erkennen zu können – sich selbst also keinerlei Bildkompetenz zusprachen – weisen viele darauf hin, dass die Kompetenz etwas erkennen zu können durch Übung oder ›Hineindenken‹ erlernbar ist. Viele wurden im Schwangerschaftsverlauf in Bezug auf ihre Bilder kompetent und konnten Freunden und Verwandten erklären, welche Körperteile beispielsweise wo auf dem Bild zu sehen 54
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sind. Manche Frauen führen ihre Bildkompetenz auch darauf zurück, dass sie als Mütter in besonderem Ausmaße kompetent sind, etwas auf den Ultraschallbildern zu erkennen. Bildkompetenz wird zudem in die Technik verlagert. Viele Interviewpartnerinnen gaben an, dass sie im Echtzeitultraschall sowie im 3- und 4-D-Ultraschall Körperumrisse besser erkennen, Gliedmaßen gut identifizieren und Bewegungsabläufe selbst wahrnehmen können oder dass das Betrachten von Bewegungsabläufen schult, Körperumrisse und Körperteile auf statischen Ultraschallbildern zu erkennen. Interviewübergreifend gibt eine Mehrzahl der Frauen an, ab Beginn des letzten Drittels der Schwangerschaft trotz eingeübter Bildkompetenz weniger zu erkennen, da nur noch Ausschnitte auf dem Monitor zu sehen sind. In der Frühschwangerschaft beschreiben die Frauen fantasievoll, das, was sie sehen: mehrere Frauen verwenden Ausdrücke, die verniedlichend auf die Kleinheit des Gesehenen verweisen und sprechen von einem »Gummibärchen«, einem »klitzekleinen Punkt« oder einem »kleinem Punkt, der blinkte«. Andere nutzen biologisierende Ausdrücke wie »schwarz-weiße Klumpen« und »kleines Zellhäufchen« oder ziehen Vergleiche mit der Tierwelt und sprechen von einem »kleinen Würmchen«, einem »Engerling« oder Naturprodukten wie »Hühnerei« »Gurke«, »Bohne« oder »Mohnkorn«. Es werden auch Ausdrücke verwandt, die Fremdheit und Angst betonen, wie »Alien« oder »gruseliger Schatten«.
Der »erhobene Zeigefinger« – Zur Personalisierung des Ungeborenen Exemplarisch soll die Indexikalisierung von Ultraschallbildern als stellvertretend für ein werdendes Familienmitglied an einem Fallbeispiel ausgeführt werden. Renate Weiß ist zum Zeitpunkt des Interviews 25 Jahre alt. Sie erwartet ihr erstes Kind in fünf Monaten. Frau Weiß ist mit sich und ihrer Schwangerschaft im Reinen. Im Vordergrund steht das ungeborene Kind, die Freude daran, aber auch die damit verbundenen Ängste, und seine Integration in die Familie. Im Erzählmuster sind medizinische und soziale Handlungsrationalität in Bezug auf die Bedeutung des Ultraschalls und den Gebrauch der Bilder miteinander verwoben. Zum einen verschaffen die Ultraschalluntersuchungen Sicherheit und Gewissheit, indem das Sicherheitsversprechen der Medizin übernommen wird und Ambivalenzen ausgeblendet werden. Zum anderen wird dem Ungeborenen Aktivität, Handlungsfähigkeit und Emotionalität zugeschrieben. Zum Zeitpunkt des Interviews und nachdem aus Frau Weiß’ Sicht die Phase der Schwangerschaft begonnen hat, die »safe« ist, steht 55
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für sie Anteilnahme im Vordergrund: es ist jetzt »spannender, das Kind zu beobachten«. Renate Weiß möchte wissen, was ihr Kind »gerade macht« und möchte »einfach so mal […] schauen, was gerade los ist. Also ich merke so ein bisschen, wenn es sich bewegt, aber die Zwischenzeit weiß ich ja nicht.« Der Ausdruck »was gerade los ist« evoziert die Vorstellung, es gäbe einen vielfältigen Handlungsradius für das Ungeborene und es könne alles Mögliche »los« sein. Frau Weiß nimmt Anteil am Leben des Ungeborenen und hat die Vorstellung eines von ihr unabhängigen Wesens, von dem sie nicht weiß, was es macht, wenn sie es nicht sich bewegen fühlt und es nicht im Ultraschall beobachten kann. Sie schildert, dass sie im Echtzeitultraschall »genau erkennen [kann], was es gerade tut«. So konnte sie beobachten, dass das Kind ruhig dasitzt und mit seinen Händen spielt. Auf physische Reize seiner Umwelt, den Schallkopf des Ultraschalls, reagiert es, indem es beginnt, zu strampeln und mit den Armen zu rudern, was Frau Weiß mit großer Spannung beobachtet: »Also man kann jetzt auch genau erkennen, was es grade tut. Als wir letzte Woche zuerst geguckt haben, hat es also mit den Händen-, da gesessen und ganz ruhig mit den Händen gespielt. Und als die Ärztin dann mit dem Schallkopf ein bisschen gedrückt hat, fing es also total an zu strampeln und mit den Armen zu rudern, das ist einfach unheimlich spannend schon zu beobachten.«
Renate Weiß geht davon aus, dass die Bilder es prinzipiell ermöglichen, etwas zu erkennen. Sie erkennt Körperumrisse und Organe wie Gehirn, Blase, Magen und Wirbelsäule. Allerdings sind die Ultraschallbilder nicht selbstevident und Renate Weiß ist auf Erläuterungen ihrer Frauenärztin angewiesen, um Körperumrisse oder Organe zu erkennen. Etwas sehen zu können, bedeutet für Renate Weiß etwas zu erkennen, das sie mit ihrem Kind identifiziert. So kann sie beim ersten Ultraschall ihrer Schwangerschaft zunächst nichts erkennen, obwohl sie »dachte, ja, und jetzt muss man ja was sehen und da war nichts« und stellt ernüchtert fest, dass »im Prinzip nur diese verdickte Schleimhaut zu sehen« war. In Bezug auf die Evidenz der Bilder unterscheidet Renate Weiß zwischen den ausgedruckten Bildern und dem Echtzeitultraschall, mit dem Bewegungen darstellbar sind. Der Echtzeitultraschall ist für Renate Weiß selbsterklärend. Es werden nicht nur einzelne Organe und die Körperumrisse besser erkennbar, sondern das ganze Kind ist besser zu identifizieren und durch die Bewegungen »viel leichter [zu] erkennen«. Das Ansehen des Echtzeitultraschalls hilft zudem, die unbewegten Bilder besser zu deuten. Familienangehörige und Bekannte, welche die Bewegungsabläufe im Echtzeitultraschall nicht gesehen haben, müssen 56
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entsprechend von ihr oder ihrem Mann angeleitet werden, um auf den ausgedruckten Bildern nicht nur die Wirbelsäule sondern auch das »Drumrum« zu erkennen. Die Frauenärztin trägt zur Personalisierung des Ungeborenen bei, indem sie davon spricht, ein »Herzchen« schlagen zu sehen. Überdies druckt die Ärztin ein besonders individualisierendes Bild aus, auf dem der Fötus mit erhobenem Zeigefinger zu sehen ist, welches die werdenden Eltern sehr erheitert, und betont hierbei die Rarität und Gelungenheit, die das Bild auszeichnet. Zur Personalisierung trägt bei, wenn Frau Weiß die (physische) Entwicklung des Kindes in einem Schwangerschaftsalbum dokumentiert. Sie klebt Fotografien, die sie in der jeweiligen Woche von ihrer Umgebung gemacht hat, und die Ultraschallbilder ein und schreibt dazu, »was die Woche war«. Beim Einkleben orientiert sie sich an einem »Ticker« aus dem Internet, der die wöchentliche Entwicklung des Kindes anzeigt. Durch das Album schafft sie einen generationenübergreifenden Erinnerungsraum: »Für mich ein Stück weit eine Erinnerung und für das Kind dann auch später, um ihm zu zeigen, hej, so war das damals. Weil ich weiß, meine Mama hatte so ein Album angelegt nach der Geburt, und ich habe aber auch so ganz viel gedacht, hm, was war denn vorher. Einfach auch so als ich klein war, da war mal irgend so ein Familienfest und da habe ich dann gefragt, wo war ich denn da. Ja, da warst du noch nicht geboren (lacht). Und das dann ein Stück weit vorher schon zeigen zu können.«
Renate Weiß imaginiert für ihr Kind einen Platz in der familiären Gemeinschaft, dessen es sich später selbst durch das Album vergewissern können soll und den es bereits vorgeburtlich einnimmt. Mit der Personalisierung einher geht in diesem Interview auch eine starke Familialisierung. Frau Weiß spricht nahezu durchgängig aus der Position eines paarbezogenen ›Wir‹. Sie etabliert eine Paarperspektive und imaginiert eine familiäre Gemeinschaft, die das Ungeborene und die elterliche Herkunftsfamilie generationenübergreifend zusammenbringt.
Fazit: Biosoziale Familialisierung durch z e i t g e n ö s s i s c h e P r a k t i k e n d e r S c hw a n g e r s c h a f t Was ist jetzt ›zeitgenössisch‹ im Sinne einer ›Assemblage‹, eines neuen Existenzmodus von Dingen und Akteuren? Die zeitgenössische Relevanz der Ultraschallbilder und -untersuchungen bzw. der damit verbundenen Praktiken liegt in der Verknüpfung von Wissens- und Erlebnisdi57
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mension. In zeitgenössischen Praktiken erwünschter (Mittelschichts-) Schwangerschaften zeichnet sich ein Prozess der ›biosozialen Familialisierung‹ ab, der konsumistische Züge aufweist. Konsumistisch bedeutet, dass Situationen, Dinge und Erfahrungen unter dem Aspekt ihrer Verwendbarkeit zur Steigerung der eigenen Erlebnisintensität betrachtet werden (vgl. Schrage 2004). Die lebensweltliche Bedeutung des diagnostischen Ultraschalls in der Schwangerenvorsorge gründet nicht zuletzt in dem Konsum von Situationen, die mit der Erfahrung von Mutterschaft und Elternschaft in Verbindung gebracht werden. Es findet eine familialistische Aneignung des Ultraschallbildes als ein indexikalisches Zeichen für das Baby als werdendes Familienmitglied statt, wobei das Ultraschallbild wie eine vorgeburtliche Personenfotografie behandelt wird. Es wird nicht abstraktes Wissen über den Fötus prozessiert, sondern im technischen und sozialen Handlungsvollzug wird dem Ultraschallbild Indexikalität zugewiesen und damit der Fötus als sozialer Akteur handlungspraktisch realisiert. Die Indexikalisierung von Ultraschallaufzeichnungen ist zugleich ›zeitgenössisch‹ und ›modern‹: Sie sattelt auf der Grundlage des Narrativs der linearen Entwicklung auf dem entwicklungsbiologischen Wissen vom Embryo bzw. Fötus als ›Naturtatsache‹ auf. Eine paradoxe Voraussetzung für den Prozess der biosozialen Familialisierung ist zudem die epistemische Trennung von schwangerer Frau und Fötus − die technologische Etablierung des Fötus als ›Naturtatsache‹ bringt diesen nicht nur als Interventionsobjekt der Biomedizin hervor, sondern macht ihn auch zu einem vom schwangeren Körper epistemisch getrennten Wissensobjekt für schwangere Frauen. Wirkmächtig und ›realistisch‹ sind Ultraschallbilder jedoch nicht, weil sie unmittelbar eine ›Naturtatsache‹ repräsentieren, sondern weil diese Bilder in zeitgenössischen Schwangerschaftspraktiken Vergnügen, Freude und Angst evozieren, ebenso wie sie neue biosoziale Formen der emotionalen Inbesitznahme und der familiären Vergemeinschaftung ermöglichen.
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SÄNGER: BIOSOZIALE FAMILIALISIERUNG
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Mak ing up people in sc hool. Sc hule a ls bios oz ialer Ra um KATHARINA LIEBSCH/ULRIKE MANZ
»I have long been interested in classifications of people, in how they affect the people classified, and how the affects on the people in turn change the classifications. […] They are moving targets because our investigations interact with them, and change them. And since they are changed, they are not quite the same kind of people as before. The target has moved. I call this the ›looping effect‹. Sometimes, our sciences create kinds of people that in a certain sense did not exist before. I call this ›making up people‹.« (Hacking 2006: 23, 26)
Seit ungefähr zehn Jahren werden Kinder und Jugendliche in der Schule mit den Einsichten und Neuerungen des Wissenszuwachses in den Lebenswissenschaften bekannt gemacht und zugleich korrespondierenden Programmen und Doktrinen unterzogen. In den Schulfächern Biologie, Ethik und Religion – selten in Gesellschaftslehre – werden biotechnologische Wissensbestände vermittelt und die einhergehenden Problemstellungen zur Diskussion gestellt. Dazu gehört auch das Nachdenken darüber, welche Interventionen durch neue Technologien und Wissensformen zugelassen werden sollen, beispielsweise indem Schülerinnen und Schüler im Unterricht dazu angeregt werden, sich über ihr »genetisches Schicksal« zu informieren und über Verhaltensoptionen zu räsonieren. Dabei wird das neue Wissen im schulischen Unterricht zumeist als absolut und von den Produktionsbedingungen abstrahiert präsentiert. Wissenschaftliche Präferenzen, spezifische Vorannahmen, soziale Praktiken und gesellschaftliche Trends, die bei der Herstellung von natur63
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und lebenswissenschaftlichem Wissen eine Rolle spielen, finden in der Schule nur selten Erwähnung. Stattdessen wird davon ausgegangen, dass das genetische oder biotechnologische Wissen mehr oder weniger unbestritten ist und biomedizinische Sachverhalte eindeutig beschreibt. In Übereinstimmung mit der traditionellen Auffassung von Wissen als kumulativ und universell, nach einem Modell der Wissenshierarchien organisiert, wird prototypisch davon ausgegangen, dass zunächst Wissenschaftler und Forscher, also Experten, die Welt entdecken und ihre Entdeckungen als Wissen verbreiten. Dann folgen pädagogische und schuladministrative Experten, die zum Beispiel Lehrpläne erstellen. Die Lehrkräfte sind am Ende der Hierarchie angesiedelt. Sie geben ›das Wissen‹ an die Lernenden weiter. Die vielfältigen Wissensbestände sind dabei in der Form einer relativen Isolation von Schulfächern zusammen gebracht. Rückmeldungen von unten nach oben kommen kaum vor, so dass zwar die Empfänger die Wissensbestände reduzieren, ordnen und kontextualisieren, die Wissensdiskurse aber von dieser Arbeit unberührt bleiben. Eine solche Organisationsform der Weitergabe von neuem Wissen, das ist von Seiten der Kultur- und Sozialwissenschaften eingewendet worden, sorgt nun aber keineswegs dafür, dass die Erklärungen und Klassifikationen neuer biotechnologischer und biomedizinischer Forschungen direkte, lineare Aufnahme und Aneignung in den Alltagskontext erfahren. Vielmehr entfalte sich die Wirkmächtigkeit des neuen Wissens in einem komplexen Wechselspiel in jeweils spezifischen intersubjektiven Konstellationen und soziokulturellen Kontexten. Auch sei davon auszugehen, dass das Ergebnis der individuellen Aneignung des neuen Wissens seinerseits zurück wirkt auf politische, wirtschaftliche und wissenschaftliche Vorstellungen von z.B. Körper, Krankheit und kulturellen Umgangsformen mit beidem. Der kanadische Wissenschaftsphilosoph Ian Hacking spricht hier von einem »looping effect« (Hacking 1999). Er zeigt am Beispiel von psychiatrischen Krankheiten, dass neue Wissensbestände aus der Medizin und Biotechnologie in Form von Risikoklassifikationen an die sogenannten Laien herangetragen und sowohl affirmativ, produktiv als auch widerständig angeeignet werden. Darüber hinaus produzieren Forschungen und klinische Praxis nicht nur wissenschaftliche Einsichten, sondern auch bestimmte Formen von Selbstinterpretationen und Selbstverhältnissen, Varianten von Individualität und Sozialität, die sich wiederum auf der Ebene von Körper und Körperlichkeit manifestieren können (vgl. z.B. Beck-Gernsheim 2001; Berg/Akrich 2004; Mol/Law 2004). Solche Hinweise zum Zusammenhang zwischen veränderten Regimes der Wissensproduktion einerseits und den Erfahrungen von Körper64
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lichkeit andererseits haben zu einer Reihe von Vorschlägen geführt, die dynamische Interaktion im Sinne einer wechselseitigen, symmetrischen Beziehung zwischen Materialität und Sozialität zu konzeptualisieren. In Konzepten wie »Biosozialität« (Rabinow 1992), »somatische Individualität« (Rose 2001) oder »lokale Biologie« (Lock 2004) wird versucht, einem interaktiven Raum zwischen Laborwissen und Körperwissen, dem Entstehen eines neuen Hybridfeldes sowie den neuartigen Verhältnissen zwischen Individuen und Gesellschaft Rechnung zu tragen. Eine solche Verschränkung verschiedener Phänomene, die gemeinhin als entweder natürlich oder kulturell verstanden werden, findet sich auch in der schulischen Bearbeitung biomedizinischer und biotechnologischer Themen. Das Interesse des vorliegenden Beitrags richtet sich auf die Fragen, welche ausgewählten Wissensbestände wie und warum in welcher spezifischen Verschränkung für den schulischen Alltag herangezogen werden und welche Allianzen sich in diesem Vermittlungsbzw. Integrationsprozess zeigen. Schule, so unsere These, übernimmt dabei die Funktion eines biosozialen Raumes, in dem die durch das neue Wissen induzierten neuen Formen des Selbst, von Körperlichkeit und sozialen Beziehungen sowie Familiarität erprobt und eingeübt werden. Zur Begründung und Veranschaulichung dieser These soll zum einen das Konzept der Biosozialität, wie Paul Rabinow es entwickelt hat, kurz vorgestellt werden. Nachfolgend werden Methoden und Mechanismen der schulischen Einübung in die biosoziale Praxis beschrieben, um abschließend die im empirischen Material sichtbar gewordenen Aspekte von Biosozialität heraus zu arbeiten.
Schule und »Biosozialität« Rabinows Rede von den Biosozialitäten postulierte bereits zu Beginn der 1990er Jahre eine durch die Entwicklungen in der Genforschung und Medizin initiierte Zirkulation verschiedener Identitätsbegriffe und Restriktionen, welche, so seine These, zukünftig die Organisation von Gesellschaft und unser Verständnis davon in Frage stellen werden. Rabinow geht davon aus, dass in der Biosozialität Natur mit Hilfe von Technik erkannt und neu hergestellt wird und nun die Natur auf der Grundlage von Kultur modelliert werde. Schließlich, so lautet seine Überzeugung, werde Natur artifiziell, während Kultur natürlich, im Sinne von selbstverständlich, werden würde. Dies werde für die Vergemeinschaftung von Menschen wichtige Veränderungen mit sich bringen, die Rabinow anhand diverser Beispiele veranschaulicht.
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So beleuchtet er beispielsweise eine Facette von Biosozialität, indem er den Aufsehen erregenden Rechtsstreit zwischen dem Privatmann John Moore und der Universität von Los Angeles analysiert. Moore hatte die Universität verklagt, nachdem Ärzte der universitätseigenen Klinik unter Verwendung von Zellen aus seiner operativ entfernten Milz ohne sein Wissen und seine Einwilligung eine unsterbliche, sich selbst reproduzierende Zelllinie hergestellt hatten und diese patentieren ließen. Rabinow zeigt an diesem Fall, dass christliche und liberale Grundüberzeugungen hinter der Komplexität des zu verhandelnden Problems zurückbleiben. Ihnen sei es anzulasten, dass wir den Biotechniken »kulturell unvorbereitet« gegenüberstehen: »Aus ethnographischer Warte erweisen sich die Diskurse über Ethik und Verantwortung, wie auch die Subjekte, denen sie sich zuschreiben lassen, als zentrale Komponenten dessen, was sich als Genom-Maschinerie der Gegenwart bezeichnen ließe.« (Rabinow 2004: 180)
In diesem Zusammenhang macht Rabinow deutlich, dass die mit den Praktiken und Techniken verbundenen Vorstellungswelten, die institutionellen Vorgaben und Vernetzungen, die »moralischen Landschaften« gleichermaßen Bestandteil der Biosozialitäten sind. Zugleich seien mit der Biosozialität neue Praktiken und Selbstbezüge verbunden. Wenn es beispielsweise möglich werde, Alzheimer mit Hilfe eines Diagnoseverfahrens vorher zu sagen, dann entstünden neue kollektive und individuelle Identitäten samt neuen Praktiken und neuen ›Wahrheiten‹. Die neuen Gruppen werden über Spezialisten, Labors, Geschichten und Traditionen ebenso verfügen wie über eine ganze Anzahl pastoraler Betreuer, die ihnen behilflich sein werden, ihr Schicksal zu erfassen, zu teilen, zu beeinflussen und zu ›verstehen‹. Oder wie Rabinow diagnostiziert: »Schicksal wird es sein. Einen tieferen Sinn wird es allerdings nicht zu entdecken geben.« (Rabinow 2004: 144)
Ob sich Sinn- und Deutungsmöglichkeiten tatsächlich erübrigen, sobald sich Wissen über Krankheit biosozial etabliert, ist keinesfalls ausgemacht und bedarf der aufmerksamen Beobachtung, Beschreibung und Analyse. Zu vermuten ist aber, dass die Aufnahme und Bearbeitung neuen Wissens und die damit verbundene Entstehung neuer Erfahrung von prozessualen Ambivalenzen und Zirkeln begleitet sind, deren Berücksichtigung den Begriff und das Konzept der Biosozialität differenzieren und präzisieren könnten (vgl. Wehling et al. 2007). 66
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In diesem Sinne soll hier die gegenseitige Durchdringung biomedizinischer und sozialer Praxen und die damit einhergehende Frage, wie genau neues, in Expertenkreisen produziertes Wissen an die »Laien« herangetragen und von ihnen aufgenommen und verstanden wird, am Beispiel des schulischen Umgangs mit biotechnologischen und bioethischen Themen veranschaulicht werden. In der diesem Beitrag zu Grunde liegenden Studie wurden mittels Leitfadeninterviews Lehrkräfte aus allen drei Schulformen in Baden-Württemberg mit den Fächern Biologie, Religion/Ethik sowie Deutsch nach ihrer schulischen Arbeit mit dem neuen Wissen befragt und die Interviews themenbezogen wie auch fallrekonstruktiv ausgewertet (vgl. Liebsch/Manz 2007). Die Studie zielte darauf, die interaktive Dynamik verschiedener Wissenspraxen sowie die alltäglichen Aushandlungen zwischen Akteuren und Wissen in ihrer Verschränkung sichtbar zu machen. Deutlich wurde, dass hier »translation« (Callon 1999) gerade nicht in der schlichten Übertragung von Wissensbeständen besteht, sondern einen Umarbeitungsvorgang bezeichnet, der im Folgenden veranschaulicht werden soll. So wird deutlich, dass Schule sowohl eine zentrale gesellschaftliche Institution zur Weitergabe von Wissen als auch ein Raum darstellt, in dem soziale Praxis mit normativen und pragmatischen Vorgaben konfrontiert und neu gestaltet wird.
Biotechnologisches und bioethisches Wissen und die schulische Einübung in die Biosozialität Die Integration des neuen Wissens in den schulischen Unterricht, so zeigt das empirische Material, geht einher mit Verschiebungen und Veränderungen auf unterschiedlichen Ebenen des schulischen Feldes: Sie betreffen die Strukturen der Institution, die Zielsetzungen des Unterrichts sowie drittens eine Umwertung der Lerninhalte.
»Moralische Landschaften« neuen Wissens: Veränderung institutioneller Strukturen und neue Rationalitäten Die schulische Behandlung biotechnologischer und bioethischer Fragestellungen ist mit einer Etablierung von public-private-partnershipKonstellationen verbunden. Angesichts der neuen technologischen Anforderungen an die Laborausstattung der Schulen und gleichzeitig knapper öffentlicher Kassen versuchen zahlreiche Lehrkräfte, ihre Verbrauchsmaterialien sowie spezifische technische Apparate über die Industrie zu finanzieren. Die Biotech-Industrie zeigt sich hier durchaus in67
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teressiert und stellt großzügig Laborausstattungen und auch Unterrichtsmaterialien zur Verfügung. In Baden-Württemberg kam es 2003 zur Gründung eines fahrbaren Genlabors, das von den Schulen angefordert werden kann. Unter dem Namen »BioLab« hat es sich eine Initiative zum Ziel gesetzt »über den aktuellen Forschungsstand und die Entwicklungspotenziale der modernen Lebenswissenschaften und der Biotechnologie« (http://www.biolab-bw.de/) zu informieren – finanziert u.a. durch den Verband der Chemischen Industrie. Zur Ausstattung des BioLabs gehören drei Biologen, die die Schüler und Schülerinnen über einen Zeitraum von mehreren Tagen über Themen der Biotechnologie und ihrer Anwendungsmöglichkeiten informieren sowie die Durchführung von Experimenten und genetischen Versuchen betreuen. Die Zusammenarbeit zwischen Schule und Industrie bezieht sich somit nicht nur auf Materialien, sondern auch auf personelle Ressourcen. Mit der Aufnahme des neuen Wissens verbindet sich demzufolge eine Öffnung der Schulen für sogenannte ›Experten‹ aus Industrie und auch der Wissenschaft. Es werden Netzwerke gebildet, Experten in den Unterricht geladen oder außerschulische Einrichtungen wie spezifische Industrielabore mit Expertenführungen besucht. In Entsprechung dazu öffnen sich die Schulen auch bei der Behandlung ethischer Fragen für außerschulische Einrichtungen. Hier werden Menschen mit Behinderungen oder Vertreter von Interessensverbänden, wie z.B. Lebenshilfe, Pro Familia oder Aids-Hilfe als ›Experten für ethische Fragen‹ in den Unterricht eingeladen. Allerdings sind diese Kooperationen eher selten zu beobachten. Die Bemühungen, die neuen Sachverhalte von ›Experten‹ aus der Industrie vermitteln zu lassen, sind Ausdruck des Anliegens der Lehrkräfte die für sie neuen Wissensbestände den SchülerInnen in einer ›sachlich angemessenen‹ Art und Weise zu präsentieren. Verbunden damit sind spezifische Plausibilisierungsstrategien, die in der unterrichtlichen Vermittlung zum Tragen kommen und sich beispielsweise in dem Gebot zeigen, Wissensbestände als ›Fakten‹ darzustellen und sich als Lehrkraft einer Bewertung weitgehend zu enthalten. Um dem Vorwurf der Einflussnahme und ›Indoktrination‹ entgegen zu wirken und um dem Bild von Schule als wertneutraler Institution zu entsprechen, sehen es viele der befragten Lehrkräfte als ihre Aufgabe an, das neue Wissen als ›neutral‹ zu präsentieren. Die Thematisierung biotechnologischer Entwicklungen im Unterricht allerdings gerät mit dieser Vorstellung an ihre Grenzen, weil es gerade ein Spezifikum biotechnologischer Entwicklungen ist, dass hier Fakten und Normen ineinander greifen. Da bereits das bloße Vorhandensein der Techniken schon eine Normverschiebung bedeutet, wird auch die Normativität der Technik zum Fakt, beispielweise wenn Re68
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produktionstechnologien wie In-Vitro-Fertilisation die Umgangsweisen bei einem unerfüllten Kinderwunsch strukturieren oder wenn mit der Geburt von sogenannten »donor children« eine neue Art von Funktionalität am Beginn des Lebens steht. Diese immanente Verbindung von Fakten und Normen im biotechnologischen Wissen aber lösen die befragten Lehrkräfte auf, indem sie bei der Behandlung biomedizinischer Themen in ihrem Unterricht darauf achten, ›Fakten‹ und ›Bewertungen‹ voneinander zu trennen. Der weitaus größte Anteil aller Aussagen zur Existenz eines ›faktischen Wissens‹ bezieht sich auf das Fachgebiet der Biologie. Hier sind fast alle Lehrkräfte der Ansicht, dass das Wissensgebiet der Biologie aus »Fakten« und »Informationen« bestehe. Begründet wird diese angenommene Faktizität mit zwei Argumenten: Zum einen wird, wie das folgende Zitat veranschaulicht, die Biotechnologie als per se wertneutrales Verfahren angesehen: »Das Wissen, das sind ja einfach Fakten. Wie man zum Beispiel klont oder wie man gentechnisch manipulierte Lebensmittel herstellt sind einfach nur bestimmte Vorgänge.« (Interview Lehrerin B: 5)
Hier wird die Ansicht vertreten, dass biotechnologische Verfahren auf Grund ihrer Existenz im Labor als Vorgang oder Ablauf schlicht gegeben seien und demzufolge als bloße Information (»einfach Fakten«) auch im Unterricht behandelt werden können. Zum zweiten wird die Faktizität des biotechnologischen Wissens mit seiner experimentellen Genese begründet. So sagt eine Lehrkraft: »Die Faktenebene ist für mich immer die, wo ich jetzt eigentlich mit Experimenten und Versuchen und Nachweisen zu bestimmten Ergebnissen komme.« (Interview Lehrer H: 6)
Auch in dieser Aussage begründet das naturwissenschaftliche Verfahren, der Versuch oder das Experiment, den Status der Faktizität von Wissen. Indem das Wissen als unbestreitbar existent dargestellt wird, transportiert sich zugleich der Anspruch, dass es hier auch nichts zu streiten gäbe. In dieser Fokussierung auf das, was als »matter of factly«, einer auf naturwissenschaftlicher Betrachtung basierende Tatsache verstanden wird, bleiben sowohl die sozialen Bedingungen und gesellschaftlichen Kontexte von experimenteller Forschung unberücksichtigt als auch die Bedeutung solchen Wissens, das jenseits von Experimenten generiert wird. Da gerade in der Biologie und der Biotechnologie vielfach mit 69
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Modellbildungen und theoriegeleiteten Überlegungen gearbeitet wird (Gill 2004; Knorr-Cetina 1984; Latour 1998), stellt diese Perspektive eine sachliche Verkürzung dar; die ausschließliche Bindung biologischen Wissens an die experimentelle Genese blendet andere Formen der Wissensgenese aus. Umgekehrt ermöglicht genau diese Reduktion es, die biologischen Wissensbestände auf der Ebene von Faktizität anzusiedeln. Durch die Nicht-Beachtung von Kontexten und Settings der Labore, ihrer Versuche und der theoriegeleiteten Deutungsbemühungen von Experimenten wird das biotechnologische Wissen zu einem ›biologischen Fakt‹. Im schulischen Unterricht erhalten die biologischen Wissensbestände damit den Status von Basiswissen. Sie werden als Ausgangspunkt angesehen, um überhaupt über biotechnologische Entwicklungen und ihre ethischen Implikationen nachdenken zu können. So formulieren zwei Lehrerinnen: »[...] und trotzdem kann man sich eben nicht ein Urteil bilden, wenn man sich auch fachlich einfach nicht auskennt. Wenn kein Wissen da ist, dann kann man eben auch nicht angemessen darüber diskutieren und sich eine Meinung bilden.« (Interview Lehrerin D und F: 19)
In der Aufspaltung von Faktizität und Normativität in zwei getrennte Gegenstandsbereiche, die nebeneinander stehen oder aufeinander folgen, wird lediglich die eine Seite zum Gegenstand der Auseinandersetzung gemacht. In dieser Aufteilung wird ›das Wissen‹ dem Faktischen zugeschlagen, die normative, bewertende Stellungnahme hingegen ›der Ethik‹ zugeordnet und diese Trennung gerät zum organisierenden Prinzip des Umgangs mit dem neuen Wissen: »Wichtig war uns, dass das Arbeitsblatt auch diese Zweiteilung zeigt: Zum einen das Wissen und zum anderen das Ethische.« (Interview Lehrerinnen D und F: 3) So wird insgesamt das Themenfeld zugänglich gemacht, indem technische und technologische Entwicklungen einerseits und Normen, Werte und Normativitäten andererseits betrachtet werden. In dieser aufteilenden Betrachtungsweise transportiert sich das, was Paul Rabinow als spezifische »Rationalitäten« bezeichnet hat, als Bestandteile der »moralischen Landschaften«, in die das Wissen zum Thema Biotechnologien eingebettet ist. Von Rationalitäten im Plural zu sprechen, heißt dabei, auf empirisch auffindbare Plausibilisierungsstrategien und Logiken des Verstehens und Verhandelns zu verweisen. Diese Rationalitäten sind nicht nur in Form von Argumentationen, vernunft- und wissensgeleiteter Sachlichkeit und systematischer Begrifflichkeit vorfindlich. Sie zeigen sich auch als sinngebende Strukturen und handlungsleitende Maxime, wenn sie narrativ, affektiv oder moralisch-normativ präsentiert 70
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werden. In diesem Sinne praktizieren auch Lehrer und Lehrerinnen Rationalitäten, indem sie wissenschaftliche Produkte und Wissensbestände in konkrete schulische Praktiken, Logiken und Ziele umsetzen.
Biosoziale Selbstbezüge und Sozialitäten als Ziel von Unterricht Mit der Aufteilung biopolitischer Themenstellungen in einerseits Biotechnologien als (biologisches) Faktenwissen und andererseits deren ethische Bewertung verschieben sich auch die Zielsetzungen des Unterrichts. Geht es im herkömmlichen Verständnis schulischen Unterrichtens vor allem um die Vermittlung ausgewählter Wissensbestände, so steht bei der Vermittlung biomedizinischen Wissens das Lernziel der ›Meinungsäußerung‹ im Zentrum der Bemühungen. Alle befragten Lehrkräfte erklären, dass die Äußerung eines individuellen Standpunkts, die Formulierung einer ›eigenen‹ Meinung, Ziel ihres Unterrichts sei. Auf diese Weise, so erklären die Befragten, soll vor allem die ethische Dimension biotechnologischen Wissens in den Unterricht eingebracht werden. So führt zum Beispiel eine Lehrerin aus: »Also in Reli ist mir wichtig, dass jeder Schüler seine eigene Meinung ausdrücken kann, dass er überhaupt formulieren kann und dass er sich auch eine Meinung bilden kann. Das ist eigentlich mein Ziel.« (Interview Lehrerin P: 6)
Eine andere Lehrkraft sagt: »Die Entscheidung, was sie dann für richtig oder falsch halten, da müssen sie selber zu einem Urteil kommen.« (Interview Lehrer K: 5)
Die Äußerung des Lehrers zeigt, dass er die im Unterricht artikulierten Meinungen der Schülerinnen und Schüler als individuell getroffene und begründete Einschätzungen versteht, die sich einer allgemeinen Beurteilung entziehen. Zwar begreift er es als seine Aufgabe, Informationen zur Verfügung zu stellen, an denen die Schüler sich im Zuge ihrer Meinungsbildung orientieren können. Die Entscheidung über die Bewertung und den Umgang mit diesen Informationen (»was sie für richtig oder falsch halten«) überlässt er aber letztlich den Schülerinnen und Schülern. Diese Art der Definition von Lernzielen versagt sich die Möglichkeit einer inhaltlichen Auseinandersetzung und politisch-gesellschaftlichen Bewertung.
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Indem sie auf eine kriteriale Bestimmung verzichtet und lediglich eine individuelle Perspektive zulässt, wird von einem allgemeinen Maß und existierenden Normen abstrahiert. Gleichzeitig rückt das Individuum in den Mittelpunkt des Interesses, denn nur die Perspektive des Einzelnen wird zur Grundlage der Bewertung gemacht. Eine solche Umgestaltung von Lernzielen akzentuiert das subjektive Moment im schulischen Unterricht. Welche Kriterien und Anforderungen an Subjektivität aber formulieren die Lehrkräfte, wenn sie eine ›individuelle Meinung‹ als Maßstab bioethischer Entscheidungen deklarieren? Wie ist das ›Selbst‹ bestimmt, das entscheiden soll? Im unterrichtlichen Handeln werden, so zeigt das empirische Material, drei Aspekte von Subjektivität bemüht: Zum einen wird die Autonomie von Schülerinnen und Schülern angesprochen. So fordern beispielsweise eine Reihe von Lehrkräften, dass die Schülerinnen und Schüler eigenständig und alleine zu einer Einschätzung der Unterrichtsthemen gelangen müssten. Sie nennen als Ziel ihres Unterrichts, dass die Schülerinnen und Schüler eine Position formulieren, die ihnen selbst entspricht, dass sie eine ›eigene Meinung‹ zum Ausdruck bringen. So sagt eine Lehrerin: »Es ist auch nicht meine Aufgabe, die in irgendeine Richtung zu lenken. Sondern ich habe versucht, allgemein zu informieren und habe dann eigentlich von den Schülern erwartet, dass sie sich ihre eigene Meinung dazu bilden.« (Interview Lehrerin W: 2)
Hier wird geschildert, dass Schüler und Schülerinnen lediglich »allgemeines«, will sagen: unspezifisches und überblicksartiges Wissen von Seiten der Lehrkräfte zur Verfügung gestellt bekommen. Den zentralen Lernerfolg, die Entwicklung einer ›eigenen Meinung‹, hingegen sollen die Lernenden allein realisieren. Erwartet wird eine autonome, unabhängige, individuelle Entscheidung der einzelnen Schüler und Schülerinnen. Damit wird zum Ausgangspunkt gemacht, was doch bestenfalls punktuelles Ergebnis von Bildungsprozessen und systematischer Auseinandersetzung sein kann: ein souverän entscheidendes und deshalb als autonom verstandenes Subjekt. Zum zweiten werden die Schülerinnen und Schüler als verantwortlich denkende und handelnde Individuen entworfen. Diese Vorstellung transportiert sich in den spezifischen Anforderungen, die die Lehrkräfte an die Äußerungen der Schüler und Schülerinnen stellen. Denn diese sollen nicht nur zu einer eigenen Meinung gelangen und diese ausdrücken, sondern die Angemessenheit dieser Meinungsäußerungen wird bestimmt über den Grad von ›Verantwortung‹. Die Bewertung der ge72
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troffenen Aussagen bei vielen der befragten Lehrkräfte misst sich daran, inwieweit sich bei den Lernenden in der Art und Weise der im Unterricht ja lediglich simulierten Entscheidung ein Verantwortungsbewusstsein zeigt. Sie machen das Ausmaß der Reflexion und Nachdenklichkeit der Schülerinnen und Schüler daran fest, ob diese sich ›verantwortlich‹ verhalten. Dabei ist das Spektrum dessen, was unter ›Verantwortung‹ verstanden wird, breit. Einige der Interviewten stellen die Verantwortung sich selbst gegenüber heraus, andere betonen eine Verantwortung gegenüber der Natur und dritte sprechen von der Notwendigkeit einer religiösen Verantwortung. Das Postulat verantwortlichen Handelns bezieht sich demnach auf verschiedene Referenzsysteme (Selbst, Natur, Gott) und ermöglicht so eine inhaltliche Pluralität der konkreten Begründung ›verantwortlicher‹ Entscheidungen. Drittens schließlich betonen die Lehrkräfte die Evidenz von Erfahrungen als wichtigen Faktor bioethischen Handelns. Es wird unterstellt, dass sich die Entscheidung in bioethischen Konfliktsituationen vor allem aus dem spezifischen Erfahrungshintergrund der betroffenen Personen speise. Die Lehrkräfte machen das Argument stark, dass bioethische Fragen auf der Grundlage besonderer, individueller Lebenslagen entschieden werden. Als verstehbar gilt allen Befragten bioethisches Handeln dann, wenn es der jeweiligen Lebenssituation entspricht bzw. aus der individuellen Lebenssituation heraus erklärbar wird. So äußert sich eine Lehrerin zum Thema des therapeutischen Klonens im Unterricht: »Weil ich weiß auch nicht, ob ich dann nicht letztendlich doch irgendwann dafür wäre. Wenn es mich selber betrifft.« (Interview Lehrerin P: 3)
Hier wird auf mögliche Erfahrungen verwiesen, die als Basis von Entscheidungen und als Richtlinie für Entscheidungen fungieren, ohne dass biografische, diskursive oder strukturelle Faktoren, die Erfahrungen hervorbringen, ermöglichen oder verhindern, weitere Erwähnung finden. Stattdessen wird erneut betont, dass Erfahrungen evident, authentisch und der Person zugehörig seien. So wird ein abstrakter und entkontextualisierter Begriff von Erfahrung zum Maßstab angemessenen Handelns gemacht. Zugleich verschiebt sich damit das Ziel von Unterricht. Als autonome, verantwortliche und erfahrungsgeleitete Subjekte sollen die Schülerinnen und Schüler individuelle Lösungen für bioethische Fragestellungen entwickeln und diese als Ausdruck der eigenen Meinung formulieren. Im Mittelpunkt steht die Einübung in eine Verhaltensweise, die zwar hochgradig hypothetisch ist, aber zur Methodisierung des Verhaltensrepertoires der Schülerinnen und Schüler beiträgt. Schule übernimmt 73
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hier insofern die Funktion eines biosozialen Raums, als dass eine den neuen, biomedizinischen und biotechnologischen Möglichkeiten entsprechende Verhaltenserwartung vorwegnehmend erprobt und geübt wird.
Neue soziale Kontexte und soziale Zugehörigkeiten Es zählt zu den strukturellen Kennzeichen schulischen Handelns, dass die oben beschriebenen individuellen Entscheidungen und Meinungen der SchülerInnen als imaginierte Handlungen konzipiert werden. Es geht in der Schule ja keinesfalls um reale Entscheidungen von jeweils betroffenen Personen, sondern um vollständig konstruierte Entscheidungssituationen. Insofern können die von den Schülern und Schülerinnen formulierten Positionen als eine Art Entwurf betrachtet werden, der in seiner Konstruiertheit auch immer die Möglichkeit einer anderen Handlungsentscheidung mit einschließt. Eingeübt werden dabei allerdings nicht nur fiktive Positionierungen, sondern auch eine möglicherweise zukünftig relevante Form der Gruppenbildung und Gruppenzugehörigkeit. Denn die an SchülerInnen herangetragenen Fragestellungen betreffen Situationen, in denen bestimmte Praktiken auch eine neue Form der Vergemeinschaftung mit sich bringen. Dies gilt zum einen für potenzielle Situationen, mit denen die SchülerInnen in ihrem Leben irgendwann einmal tatsächlich konfrontiert sein könnten, wie zum Beispiel ein Komazustand in Folge eines schweren Motorradunfalls. Verwendung im Unterricht finden hier vor allem Fallbeispiele, in denen Jugendliche bei Verkehrsunfällen Hirnverletzungen erlitten. Die modernen Medizintechnologien ermöglichen verschiedene Varianten des Umgangs mit einer solchen Situation, die Bandbreite reicht hier vom Abschalten der Maschinen bis hin zum jahrelangen Überleben im Komazustand. Folgt man Rabinow, so schaffen die medizintechnischen Möglichkeiten eine neue Form der Vergemeinschaftung bestehend aus Betroffenen, ihren Angehörigen, dem Pflegepersonal und Selbsthilfegruppen. Umgeben von Experten, z.B. Medizinern, Rechtwissenschaftlern, PsychologInnen, entsteht hier ein moderner Mikrokosmos, der aus der spezifischen Umgangsweise mit dem komatösen Körper resultiert und auf diesen zurück wirkt (siehe dazu auch Lindemann 2004). Allerdings bleibt diese neue Sozialität in der schulischen Bearbeitungen der Thematik vollständig unbeachtet. Stattdessen wird auch hier das Einzelschicksal in den Mittelpunkt gestellt. Eine Lehrerin formuliert:
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»Wenn Dir das passiert und Du in ein langes Koma fällst, dass ist dann Deine Gewissensache.« (Interview Lehrerin E: 9)
In dieser individualisierten Perspektive finden die sozialen Settings der Situation keine Erwähnung, die neue Form der Sozialität im Zuge des Einsatzes medizinischer Technologien bleibt unthematisiert. Dies gilt auch für solche Varianten von Entscheidungssituationen, die auf Grund des derzeitigen Forschungsstandes spekulativ, respektive fiktiv sind. Als eines der beliebtesten Beispiele fiktionaler Entscheidungen gilt den Lehrkräften der Bereich des menschlichen Klonens. Die Fiktionalität dieser Fragestellung findet ihren Ausdruck auch im Einsatz entsprechenden Unterrichtsmaterials. Verwendet werden hier hauptsächlich Texte aus der Sciencefiction-Literatur, wie beispielsweise der Jugendroman »blue print« der Autorin Charlotte Kerner. Im Mittelpunkt dieses Buches steht das Identitätsproblem eines adoleszenten Mädchens, das als Klon seiner Mutter lebt. Gefangen zwischen der Kontrolle durch den Reproduktionsmediziner, der ihr Leben technisch produzierte einerseits und den Unsterblichkeitsfantasien der Genmaterial gebenden Mutter andererseits, werden möglich Folgen der Gen- und Reproduktionstechnologie am Beispiel der Klonierungstechnik thematisiert. Die Lehrkräfte allerdings, so zeigen die Schilderungen des konkreten Unterrichtsgeschehens, bearbeiten anhand des Romans zwar den Identitätskonflikt eines möglichen menschlichen Klons, behandeln diesen aber vorwiegend als individuelles Problem der Protagonistin. In den Mittelpunkt gestellt wird die Frage nach der Einzigartigkeit des Menschen; Fragen nach den möglichen Veränderungen des Sozialen, die zu erwarten sind, wenn der eine Körper die technisch induzierte Reproduktion des anderen darstellt, bleiben unberücksichtigt. Entsprechend steht die individualisierende Perspektive auch im Zentrum, wenn es um eine Beurteilung des Klonens durch die Schüler und Schülerinnen geht. Hier formuliert eine Lehrerin: »Ich denke immer, man kann in der Theorie immer sagen ›Ich bin dagegen‹. Und wenn es einen mal wirklich betrifft, sieht es garantiert ganz anders aus.« (Interview Lehrerin W: 3)
Das Zitat illustriert zwei Momente, welche die Aufnahme des neuen Wissens und den Umgang mit biowissenschaftlichen Themenstellungen in der Schule bestimmen: Zum einen wird die individuelle Perspektive der Einzelperson in den Vordergrund gestellt. Mit der Formulierung »Ich bin dagegen« wird ein persönliches Statement bemüht, das aber abstrakt ist und für sich steht. Es ist losgelöst von Referenzen, wie z.B. 75
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familiäre Bindungen, generative Vorstellungen, freundschaftliche Beziehungen und ökonomische Rahmenbedingungen – das ganze Netzwerk des Sozialen, das Entscheidungen und Haltungen mitbestimmt. Zum zweiten wird in dem Zitat eine Vorläufigkeit von Positionierungen unterstellt: »Wenn es einen betrifft, sieht es garantiert ganz anders aus«. Mit dieser Aussage wird postuliert, dass ethische Positionierungen frei von sozialen Verbindlichkeiten stetig neu verhandelbar, gestaltbar und situativ variabel seien. Die Einübung, sich in eine mögliche Situation hinein zu entwerfen und sich dort zu positionieren, soll so gerechtfertigt werden. Die inhaltliche Ausrichtung und Ausformulierung der Argumentation und Begründung für die eingenommene Position aber bleibt nachgeordnet. Sie erscheint als vorläufig und veränderbar, ohne dass ihre Bedingungen, Kontexte und sozialen Gefüge Erwähnung finden und gewichtet werden. Es zeigt sich, dass hier Schule bislang nur ansatzweise als biosozialer Raum genutzt und gestaltet wird; bioethische Positionierungen im Hinblick auf Fragen dieser Art sind keine Entscheidungen mit realer Handlungskonsequenz, sondern mehr oder weniger plausibilisierte Verhaltenswahrscheinlichkeiten. Auch ist die biosoziale Wirkung dieser Übung insofern reduziert, da die Orientierung und Vorbereitung auf zukünftige, biosoziale Arrangements, Gruppenzugehörigkeiten und Problemfelder lediglich den Einzelpersonen zugeschrieben und in ihren sachlich-inhaltlichen Dimensionen auf individuell zu bestimmende Parameter eines Wahl- und Entscheidungsverhaltens reduziert werden. Mögliche soziale und gruppenbildende Neuerungen einer zukünftigen Biosozialität hingegen bleiben in dem von den Befragten beschriebenen Unterricht unreflektiert. Allerdings, und darin liegt die biosoziale Qualität dieser Praxis, transportiert auch die Beschäftigung mit den auf das Individuum fokussierten möglichen Auswirkungen von Biotechnologien und Biomedizin eine Ahnung davon, dass hier nicht nur ein Einzelfall verhandelt wird. Auch wenn die sozialen Implikationen der neuen Technologien der Lebenswissenschaften im Unterricht bislang nur in Form von Sciencefiction-Literatur vorkommen, soll an diesem Material gelernt werden, dass die Einfühlung in eine personale und soziale Situation, die sich von der heutigen grundlegend unterscheidet, zukünftig womöglich erforderlich und angemessen sein könnte.
Biosoziales Bildungswissen Ein weiteres Charakteristikum der schulischen Behandlung biotechnologischer und bioethischer Fragestellungen ist, dass das Wissen nicht mehr in Form eines fest umrissenen Gegenstandes erscheint, der den Schüle76
LIEBSCH/MANZ: SCHULE ALS BIOSOZIALER RAUM
rinnen und Schülern im Unterricht vermittelt werden soll. Vielmehr ist mit der neuen Thematik eine gewisse Vag- und Offenheit verbunden, die sich auch darin zeigt, dass die Lehrkräfte der Pluralität des neuen Wissens in ihrem Unterricht gerecht werden wollen. Sie präsentieren deshalb vielfältige Wissensbestände, überlassen aber die Auswahl und Bearbeitung des zumeist recht breiten Materialangebots den Schülerinnen und Schülern. Zwei Lehrerinnen erzählen: »Also, es war uns wichtig die Vielfalt ihnen zu zeigen und zum anderen auch diese, der Schule wirft man ja oft vor, dass es diese Häppchen gibt. So genau portioniert auf 45 Minuten und genau das wollten wir nicht. Sondern ihnen eher so einen Haufen hinlegen und sagen, jetzt sucht mal bitte, was ihr braucht. Wir helfen Euch, aber ihr sucht.« (Interview Lehrerinnen D und F: 5)
Die Auswahl des Lernmaterials orientiert sich an dem, was die SchülerInnen »brauchen«, ist also rückgebunden an die individuelle Einschätzung und Vorlieben der Lernenden. Die Relevanz bestimmter Wissensbestände für den schulischen Unterricht bestimmt sich hier weder aus einer inhaltlichen Bewertung und Gewichtung noch aus didaktischen Überlegungen zum Lern- und Entwicklungsstand der Schülerinnen und Schüler. Vielmehr wird Wissen als Vermittlungsgegenstand erst im Prozess der Aufnahme durch die SchülerInnen mit Bedeutung versehen. In spezifischen Interaktionskonstellationen wird das biotechnologische und bioethische Wissen von den Schülerinnen bearbeitet, verworfen und als Baustein ihres Lernens verwendet. Diese Praxis bringt eine neue und spezifische Variante von Wissen hervor, die wir als biosoziales Bildungswissen bezeichnen. Das biosoziale Bildungswissen zeichnet sich erstens durch eine immanente Relativierung der Wissensbestände aus. Da die ›persönliche Meinung‹ sowohl der Ausgangspunkt als auch das Ziel des Unterrichts ist, werden die Geltung und die Bedeutung der Wissensbestände zunehmend beliebig und zufällig. Wissen aus dem Bereich von Biotechnologie, Bioethik und Biopolitik erscheint nur relativ zu individuellen Einschätzungen und es gibt keinen Ort für eine Analyse und ein reflektierendes Verstehen von charakteristischen Merkmalen des biotechnologischen und lebenswissenschaftlichen Wissens. Der Prozess der Anwendung und Aneignung dieses Wissens in der Schule ist von der Ausgangsannahme bestimmt, dass angesichts von Pluralität und Vielfalt der biotechnologischen Möglichkeiten nur noch die Einzelperson bedenken und entscheiden kann und soll, was sie für angemessen und richtig hält. Das dabei entstehende biosoziale Bildungswissen ist deshalb eher spekulativ und suchend als feststehend und wahrhaftig. 77
BIOSOZIALITÄT
Zweitens ist das biosoziale Bildungswissen verbunden mit einer Normalisierung der technikspezifischen Wissensformen aus Lebenswissenschaften und Biotechnologien. Denn die individualisierende Betrachtungsweise wird durch ein methodisches Instrumentarium der Unterrichtsgestaltung bestärkt: die weit verbreitete Praxis, mittels Fallbeispielen nach dem Motto »Wir würden Sie entscheiden, wenn...?« Entscheidungsszenarien zu entwickeln. Mittels solcher Szenarien wird ein Zustand, in den man sich einfühlen soll, vorweggenommen und unterstellt, dass es vorsorglich ratsam sei, im Hinblick auf das Beispiel bereits schon jetzt Entscheidungen zu formulieren. Ein Unterricht, der mit Hilfe von Fallbeispielen ethische ›Dilemmata‹ durchspielt, präsentiert eine Art Entscheidungszumutung, die auf der Basis einer oder mehrerer wählbarer, rationaler Optionen getroffen werden soll. Durch diese Art der Anwendung, der spielerischen Übung, dem Herstellen eines Alltagsbezugs, objektiviert sich, was bislang lediglich eine technologische Möglichkeit, eine potenzielle Option oder Wahrscheinlichkeit darstellt. Der biotechnologische Ausgangspunkt der bioethischen Diskussion gerät zum Faktum, dessen Machbarkeit gar nicht mehr betrachtet und dessen Wahrhaftigkeit nicht mehr kritisch in den Blick genommen wird. Es geht vor allem darum, Selbstentwürfe und Selbstfestlegungen zu üben, und sich mit mainstream-Perspektiven auseinander zu setzen. In der Vorwegnahme von bislang Unsagbarem und Undefiniertem vollzieht sich eine Normalisierung. Indem thematisiert wird, dass diese Horizonte zukünftig zum Regulativ von Subjektivität gehören, praktizieren die Schülerinnen und Schüler eine Vorbereitung auf das Mögliche, das Wahrscheinliche, eine Gewöhnung und Einübung auf etwas, was erst durch die Versprechen der neuen Technologie zu einem Bereich von menschlicher Entscheidung geworden ist. Statt das qualitativ neue Moment der Veränderung durch die Technologien zu thematisieren und zu verstehen, wird das Ziel von Unterricht auf die Einübung von Entscheidungen ausgerichtet. Dies antizipiert und favorisiert eine neue – eben biosoziale – Normalität und vollzieht zugleich die Normalisierung des neuen Wissens.
Schule als biosozialer Raum Die Prozessierung biotechnologischen und bioethischen Wissens in der Schule, so kann abschließend festgehalten werden, erfolgt als ein spezifischer Umarbeitungsprozess dieses Wissens. Die These von der Schule als biosozialer Raum verdeutlicht eine Gleichzeitigkeit von Aneignung und Umarbeitung des Ausgangswissens, die sich in einem Wechselverhältnis von vorgestellten, potenziellen biomedizinischen Praxen einer78
LIEBSCH/MANZ: SCHULE ALS BIOSOZIALER RAUM
seits und schulischen, sozialen Praxen andererseits vollzieht. Dabei werden zwei Kennzeichen von Biosozialität, so wie Paul Rabinow sie entwickelt hat, konkretisiert: 1. Die Integration des neuen Wissens erfolgt entlang der spezifischen Logiken und Erfordernisse des schulischen Felds. Die Vorgehensweisen wie auch die Vorstellungswelten der Lehrkräfte prägen als »moralische Landschaften« die Art des Denkens und des Umgangs mit dem Themenbereich. Am Beispiel der weit verbreiteten Trennung zwischen Faktizität und Normativität haben wir zu zeigen versucht, wie hartnäckig und grundlegend in der schulische Wissenspraxis zwischen einem ›Basiswissen‹ einerseits und seiner ethischen Bewertung andererseits unterschieden wird. Diese Trennung ist folgenreich, da über die Auslagerung an die sogenannte ›eigene Meinung‹ die ethische und politische Dimension der Thematik in den schulischen Unterricht integriert wird, ohne dass ein Zusammenhang zu den biotechnologischen und lebenswissenschaftlichen Wissensbeständen hergestellt wird. Stattdessen wird die Heterogenität der biotechnologischen und bioethischen Wissensbestände in der Aufforderung zur Meinungsbildung abgebildet und die einzelne Schülerin/der einzelne Schüler soll aus der Fülle der Optionen und Meinungen eine ihr entsprechende auswählen. So ist die Aufnahme des neuen Wissens in den schulischen Unterricht reduziert auf die Vorstellung, über die Anwendung der korrespondierenden Technologie selbstbestimmt und frei entscheiden zu können. Die Bearbeitung und Aneignung von lebenswissenschaftlichem Wissen ist in eine schulische »moralische Landschaft« eingebettet, die Leistung und Logik von Einzelpersonen heraushebt und diese zugleich auf ein Fundament von Wissen gründet, das als gegeben und objektiv deklariert wird. Damit wird zum einen eine Vorstellung von naturwissenschaftlichem Wissen favorisiert, die von dessen Produktionskontexten und -erfordernissen abstrahiert. Zum zweiten wird das lebenswissenschaftliche Wissen durch die Akzentuierung der individuellen Auswahl, Begründung und Aneignung normalisiert, indem das technisch Mögliche zum normativen Bezugspunkt von Entscheidungen gemacht wird. 2. Die Integration von Wissensbeständen aus den Biotechnologien und den Lebenswissenschaften in Lehr-/Lernprozesse erfolgt mit Hilfe des Lernziels der individuellen Meinungsäußerung. Damit verbunden ist die Anforderung an die SchülerInnen, individuelle Lösungsansätze für bioethische Fragestellungen zu entwickeln und diese im Modus einer ›eigenen Meinung‹ zu formulieren. In dieser Art der Thematisierung biotechnologischer und bioethischer Fragen transportiert sich eine spezifische 79
BIOSOZIALITÄT
Vorstellung von den Lernenden als Subjekte: Von den Schülerinnen und Schülern wird nicht die Rezeption bestimmter Wissensbestände erwartet, sondern dass sie üben, Entscheidungen zu bioethischen und biopolitischen Fragen autonom, verantwortungsbewusst und erfahrungsorientiert zu begründen und zu treffen. Damit erfolgt eine Orientierung an die von Paul Rabinow postulierten »veränderten Selbstverhältnisse« der Biosozialität. Diese biosoziale Praxis erhält, das sei hier nur angemerkt, darüber hinaus in Gestalt von beispielsweise »Gesundheitserziehung«, »ethischer Bildung« oder »Erziehung zu Verantwortung und Mündigkeit« zusätzliche Unterstützung. Sie trägt dazu bei, dass sich im schulischen Alltag eine von Medizin, Psychologie, Politik und Ökonomie geprägte normative Ausrichtung etabliert, die kindliche und jugendliche Individuen dazu auffordert, entlang von gesundheitsfördernden und ethischen Leitlinien, an ›sich selbst zu arbeiten‹ und für den eigenen Körper Verantwortung übernehmen. Die Form der Adressierung des Individuums zur Selbstgestaltung und Eigenverantwortlichkeit fordert Kinder und Jugendliche nicht nur zum Eindenken in veränderte Selbstverhältnisse auf, sondern macht auch eine Form des Sozialen erfahrbar, in der Gemeinschaft und Kollektivität lediglich vorläufig, eher als ein flüchtiger Entwurf denn als eine soziale Institution erscheinen. Möglicherweise sind die von Rabinow postulierten biosozialen Verhältnisse nicht nur von dem Entstehen neuer biosozialer Gemeinschaften begleitet, sondern auch mit einer Relativierung sozialer Verbindlichkeit und ethischer Verpflichtung verbunden. Zumindest zeigt sich eine solche in der vorwegnehmenden Einübung der Biosozialität in der Schule.
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LIEBSCH/MANZ: SCHULE ALS BIOSOZIALER RAUM
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Erfolgreich schüchtern und niemals alt? Ratgeberliteratur als Me dium de r Me dikalisie rung WILLY VIEHÖVER/PETER WEHLING
Schüchterne Menschen, so die tröstliche Kunde eines der neueren Ratgeber-Bücher, sind ihrem Schicksal nicht hilflos ausgeliefert: »Schüchternheit ist keine unkorrigierbare Eigenschaft, die man hat oder nicht, die ein ganzes Leben bestehen bleibt und die durch nichts zu verändern ist. Schüchternheit kann man loswerden – durch Selbsthilfe oder durch professionelle Therapie.« (Bandelow 2007: 17) Genau betrachtet, lautet die Botschaft aber nicht allein, dass man Schüchternheit »loswerden« kann, sondern dass man sie auch loswerden soll. Denn, so heißt es wenig später im »Buch für Schüchterne« des Psychiaters Borwin Bandelow, »Schüchternheit ist kein harmloses Problem« (ebd.: 18). Für Schüchternheit zahle man einen »hohen Preis«, bekräftigt ein weiterer Ratgeber, das Buch »Erfolgreich schüchtern« des US-amerikanischen Psychologen Bernardo Carducci (2000: 24). Der Autor fügt hinzu: »Leider geben sich viele Schüchterne mit weniger zufrieden, als sie vom Leben haben könnten, weil sie nicht wissen, wie sie es anders machen könnten.« (Ebd.: 27) Augenscheinlich vermittelt die Ratgeber-Literatur zum Thema Schüchternheit nicht nur (vermeintlich) neutrales medizinisch-psychologisches Wissen, sondern transportiert darüber hinaus, offen oder unausgesprochen, normative Aussagen darüber, welche Verhaltensweisen wünschenswert und gesellschaftlich anerkannt sind – und welche behandlungs- und verbesserungsbedürftig sind. Gerade im Fall der Schüchternheit ist deren negative Bewertung alles andere als trivial und 83
MEDIKALISIERUNG
selbstverständlich. Sie erweist sich vielmehr, wie wir unten darstellen werden, als Resultat eines in der Mitte der 1970er Jahre einsetzenden Problematisierungsprozesses, in dessen Verlauf Schüchternheit zunehmend als eine therapiebedürftige Verhaltensauffälligkeit oder als Vorform einer psychischen Störung, der Sozialphobie oder sozialen Angststörung, gedeutet wurde. Eine in vielen Aspekten vergleichbare Entwicklung ist im Hinblick auf das Altern zu beobachten. Wenngleich in der Geschichte immer wieder nach Wegen der Lebensverlängerung gesucht und die abenteuerlichsten Verjüngungsexperimente unternommen worden sind (vgl. Bergdolt 1999; Stoff 2004), wurden das Älterwerden und die damit in der Regel verbundenen körperlichen und geistigen Einschränkungen zumeist zwar als unangenehme Begleiterscheinung der menschlichen Existenz beklagt,1 letztlich aber als unvermeidlich und naturgegeben hingenommen. In den letzten rund zwei Jahrzehnten jedoch haben Fortschritte in der Erforschung der biologischen Grundlagen des Alterns, vor allem auf dem Gebiet der Genetik, die Vorstellung gefördert, Altern sei kein unausweichliches Schicksal, sondern ein biologischer Vorgang, der wissenschaftlich kontrolliert und auf diese Weise zumindest verlangsamt, wenn nicht gar aufgehalten werden könne (vgl. Gems 2009). Als Ziel wird vor allem die Verringerung altersbedingter Erkrankungen angesehen, aber gelegentlich wird sogar das Altern selbst als Krankheit begriffen. In beiden Fällen, Schüchternheit und Altern, hat man es mit einem Prozess der Medikalisierung zu tun. Während die Medikalisierung der Schüchternheit erst in den letzten Jahren sozialwissenschaftlich analysiert (und kritisiert) worden ist (McDaniel 2003; Scott 2006, 2007; Lane 2007; Wehling 2008a, 2010), ist auf die Probleme und Gefahren einer Medikalisierung des Alterns schon recht früh hingewiesen worden (Estes/Binney 1989; Zola 1991 sowie aktuell Mykytyn 2008, 2010). Da wir auf das Konzept der Medikalisierung im nächsten Kapitel ausführlicher zu sprechen kommen, mag hier als vorläufiger Hinweis genügen, dass damit in der Regel ein Prozess bezeichnet wird, durch den ein bestimmtes, zuvor nicht als medizinisch begriffenes Problem in den Bereich medizinischer Zuständigkeit einbezogen wird und dementsprechend in Begriffen von Krankheit, Störung, Auffälligkeit oder Krankheitsrisiko definiert und als medizinisch behandelbar betrachtet wird. Es wird, kurz 1
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Allerdings darf nicht übersehen werden, dass in vielen menschlichen Kulturen das Alter mit positiven Eigenschaften wie Erfahrung und Weisheit verbunden wurde und daher keineswegs durchgängig so negativ konnotiert war, wie es heute überwiegend der Fall ist. Zur wechselnden Geschichte der Wahrnehmung des Alters siehe Borscheid (1992).
VIEHÖVER/W EHLING: ERFOLGREICH SCHÜCHTERN UND NIEMALS ALT?
gesagt, eine neue medizinisch-wissenschaftliche Definition der entsprechenden Phänomene etabliert: Schüchternheit wurde 1977 von dem renommierten Psychologen Philip Zimbardo zu einer »Volkskrankheit« von epidemischen Ausmaßen erklärt (Zimbardo 1994: 20) und in den folgenden Jahrzehnten zunehmend in biomedizinischen Termini als Störung im Hormonstoffwechsel des Gehirns begriffen (vgl. Bandelow 2007: 58-59). Das Altern wurde, verstärkt seit Beginn der 1990er Jahre, als ein biologischer Verfallsprozess begriffen, der medizinisch beeinflusst oder gar aufgehalten werden könne, etwa durch Hormongaben oder gezielte genetische Interventionen aber auch durch Präventionsmaßnahmen und Lebensstiloptimierung (vgl. Mykytyn 2010: 184-190). Auch wenn die sogenannte Anti-Aging-Medizin immer wieder heftiger Kritik ausgesetzt war und ist, ist es ihr in den letzten Jahren doch gelungen, den Status der Scharlatanerie und des ›Quacksalbertums‹ wenigstens teilweise zu überwinden und wissenschaftliche Anerkennung zu finden (Mykytyn 2010: 190). Doch wie gelangt das neue medizinische Wissen zu der Gruppe von Adressaten, zu den direkt Betroffenen, also zu den schüchternen Menschen und zu denen, die früher oder später mit dem Älterwerden konfrontiert sind? Und wie wird dieses Wissen dabei dargestellt, gegebenenfalls übersetzt und transformiert? An dieser Stelle kommt unter anderem die Ratgeberliteratur als ein wichtiges Medium der Vermittlung medizinisch-wissenschaftlichen Wissens an die unmittelbar betroffenen Personen ins Spiel. Im Fall der Schüchternheit ist die große Bedeutung von Ratgeberbüchern besonders augenfällig, denn das Buch des schon erwähnten Psychologen Zimbardo, das eine Art ›Intialzündung‹ für die Medikalisierung der Schüchternheit darstellte, beanspruchte, sowohl wissenschaftliche Abhandlung als auch Ratgeber für Betroffene zu sein. Damit stand es, wie die britische Soziologin Susie Scott (2007: 10) angemerkt hat, am Beginn einer »growing industry of self-help books« für Schüchterne. Auch im Bereich der Anti-Aging-Medizin, die sich als wissenschaftliche fundierte Anleitung zum erfolgreichen Altern begreift, spielt Ratgeberliteratur erwartungsgemäß eine hervorgehobene Rolle bei der Verbreitung und Vermittlung medizinischen Wissens. Im Folgenden möchten wir an den Beispielen der Schüchternheit und des Alterns analysieren, wie biomedizinisches Wissen in Ratgeberliteratur an die Adressaten weitergegeben wird und wie solche Bücher dementsprechend als Medien der Medikalisierung fungieren. Hierzu wird zunächst das Konzept der Medikalisierung und seine konzeptionelle Entwicklung in den letzten Jahrzehnten vorgestellt. Anschließend werden wir die Medikalisierung der Schüchternheit sowie des Alterns in und mit Hilfe von Ratgeberliteratur analysieren. Das Fazit resümiert, in 85
MEDIKALISIERUNG
welcher Weise die beiden Fallbeispiele dazu beitragen, sowohl die Präsentation biomedizinischen Wissens für (potenziell) Betroffene besser zu verstehen als auch das Konzept der Medikalisierung weiter zu differenzieren und zu präzisieren.
Von sozialer Kontrolle zur Selbstmedikalisierung: Das Konzept der Medikalisierung und seine Entwicklung Das Konzept der Medikalisierung hat seit den 1970er Jahren Eingang in die sozial- und geschichtswissenschaftliche Diskussion gefunden und bildet seitdem einen wichtigen Bezugspunkt der (medizin-)soziologischen, aber auch der historischen Forschung.2 Die Entwicklung des Konzepts speiste sich aus verschiedenen, teilweise recht heterogenen Quellen (Conrad 1992: 210). Zu erwähnen sind hierbei vor allem:
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erstens die teilweise politisch motivierte Medizin- und Psychiatriekritik der 1960er und 70er Jahre (z.B. Szasz 1961; 1970; Illich 1975/1995); zweitens die Arbeiten Michel Foucaults über die Entstehung medizinischer Disziplinarregime und des ärztlichen Blicks (vgl. Lupton 1997; Nye 2003); drittens die soziologische Theorierichtung des Symbolischen Interaktionismus und besonders der davon inspirierte sogenannte Labeling-Ansatz zur Erklärung abweichenden Verhaltens, wonach bestimmte Verhaltensweisen nicht ›an sich‹ abweichend sind, sondern gesellschaftlich als abweichend definiert und ›konstruiert‹ werden (vgl. Conrad/Schneider 1980a: 2-3); viertens so heterogene Inspirationsquellen wie die Medizinsoziologie Talcott Parsons’ (1951) und die kritische Professionssoziologie Eliot Freidsons (1970), die jeweils aus ganz unterschiedlichen Perspektiven die Bedeutung der ärztlichen Profession für die Regulierung und Kontrolle individuellen Verhaltens verdeutlichten; fünftens schließlich hat sich die geschichtswissenschaftlich orientierte Forschung zur Medikalisierung vor allem auf die historischen Prozesse der »zunehmenden ärztlichen Monopolisierung und Kontrolle der Gesundheitsversorgung« (Stolberg 1998: 75), aber auch
Vgl. zur (Vor-)Geschichte und Weiterentwicklung des Konzepts vor allem die Überblicksbeiträge von Conrad (1992); Loetz (1994) und Nye (2003).
VIEHÖVER/W EHLING: ERFOLGREICH SCHÜCHTERN UND NIEMALS ALT?
auf die Einbeziehung immer größerer Teile der Bevölkerung in das offizielle Gesundheitssystem konzentriert. Der US-amerikanische Soziologe Peter Conrad, einer der prominentesten Vertreter der Medikalisierungsforschung, definiert Medikalisierung als »a process by which nonmedical problems become defined and treated as medical problems, usually in terms of illnesses or disorders« (Conrad 1992: 209). Medikalisierung wird aus einer sozialwissenschaftlichen Perspektive nicht als zwangsläufige und unausweichliche Durchsetzung überlegenen ärztlichen Wissens und effektiver Therapien begriffen (vgl. Stolberg 1998: 72). In den Blick gerückt wird vielmehr die Kontingenz und Historizität medizinischer Krankheitsdefinitionen und Behandlungspraktiken. Wesentliche Voraussetzungen für diese Perspektive sind ein reflexives Verständnis wissenschaftlich-medizinischen Wissens sowie die Abkehr von einer Auffassung, wonach Krankheiten »natürliche Gegebenheiten« darstellen, »die als solche völlig unabhängig von ihrer Isolierung und Benennung durch die Ärzte existieren« (Schlich 1998: 114). Auch wenn das Konzept der Medikalisierung wesentlich aus medizinkritischen Kontexten heraus formuliert wurde, ist es eine analytisch-deskriptive, keine normative Kategorie (vgl. Conrad 2007: 5). In der Regel treffen Analysen von Medikalisierungsprozessen daher keine Aussagen darüber, ob die in Rede stehenden Phänomene ›wirklich‹ medizinische Tatbestände sind oder nicht (ebd.: 3-4). Medikalisierungsforscher interessieren sich weniger für die Ätiologie der medikalisierten Befindlichkeiten und Verhaltensweisen selbst, sondern in erster Linie für die »etiology of definitions« (Conrad 1992: 212): Unter welchen Bedingungen werden neue medizinische Definitionen und Erklärungsansprüche formuliert, weshalb können sie sich durchsetzen (oder nicht durchsetzen), welche Gegentendenzen und Gegenbewegungen treten auf den Plan, welche Implikationen und Konsequenzen hat die Medikalisierung bestimmter Phänomene? Um diesen Fragen nachzugehen, ist das Konzept der Medikalisierung in den vergangenen Jahren in Reaktion sowohl auf verschiedene Kritiken als auch auf neue gesellschaftliche Entwicklungen differenziert und weiterentwickelt worden.3 Wir möchten im Folgenden drei Aspekte besonders hervorheben, die für ein reflektiertes Verständnis von Medikalisierung entscheidend sind, wie es vor allem von Conrad (1992; 2005; 2007) skizziert worden ist.
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Zur Kritik des Konzepts siehe z.B. Lupton 1997; Beck 2007; Rose 2007. 87
MEDIKALISIERUNG
I Medikalisierung und Demedikalisierung Medikalisierung steht für einen »two-way-process« (Conrad 1992: 224), worin Demedikalisierung (»demedicalization«) von vorneherein als Möglichkeit mitgedacht wird. Demedikalisierung bedeutet, dass eine Verhaltensweise, Lebensform oder Befindlichkeit nicht länger in medizinischen Begriffen definiert wird und medizinische Behandlungen daher nicht mehr als adäquate Lösung angesehen werden (Conrad 2007: 7). Eines der wichtigsten Beispiele stellt die Demedikalisierung von (männlicher) Homosexualität dar, die erst in den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts ›offiziell‹ erreicht wurde (vgl. Conrad/Schneider 1980a: 172-213; Conrad 2007: 97-113). Im Jahr 1974 wurde männliche Homosexualität als eigenständige psychische Störung aus der sogenannten ›psychiatrischen Bibel‹, dem von der American Psychiatric Association herausgegebenen »Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders« (DSM) herausgenommen – gegen durchaus beachtliche Widerstände (vgl. Conrad/Schneider 1980a: 204-209). Das Beispiel ist, abgesehen von seiner enormen politischen Bedeutung, auch deshalb aufschlussreich, weil Homosexualität zum einen erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts medikalisiert worden ist, d.h. als psychische Erkrankung definiert und nicht länger in religiösen Begriffen als Sünde oder in juristischen Termini als Straftat wahrgenommen wurde. Zum anderen sind, vor allem seit den 1990er Jahren, im Kontext der humangenetischen Forschung (etwa bei der Suche nach dem ›Gen für Homosexualität‹), einige, wenn auch schwache Anzeichen für eine Remedikalisierung von Homosexualität unter veränderten Vorzeichen zu beobachten (Conrad 2007:107-113). Auch Demedikalisierungen müssen also keineswegs dauerhaft stabil bleiben. So verdeutlicht das Beispiel der Homosexualität, dass Medikalisierung ein prinzipiell reversibles und auch ein graduelles Geschehen ist (Conrad 1992: 220). Während manche Befindlichkeiten vollständig medikalisiert sind, d.h. als ausschließlich medizinisches Problem wahrgenommen werden, gilt dies für andere nur partiell. Medikalisierung kann, mit anderen Worten, mehr oder weniger erfolgreich und expansiv sein.
II Neue Akteure und Triebkräfte Frühe Studien zur Medikalisierung hatten vor allem den Aspekt der Verhaltenskontrolle durch die medizinische Profession in den Vordergrund gerückt und diesen Aspekt teilweise auch als konstitutiv für Medikalisierungsprozesse begriffen (Zola 1972; Conrad 1975, 1979). Einer der Gründe hierfür liegt vermutlich darin, dass in vielen der ersten Ana88
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lysen die Medikalisierung ›abweichenden Verhaltens‹ (Hyperaktivität, Alkoholismus u.Ä.) im Vordergrund stand (vgl. Conrad/Schneider 1980a), so dass die medizinischen Deutungen und Interventionen primär als eine neuartige Variante der Verhaltensregulierung und -kontrolle anstelle von moralischer Stigmatisierung und/oder rechtlicher Sanktionierung begriffen wurden: »from badness to sickness«, wie Conrad und Schneider (1980a) dies formulierten. Doch schon diese ersten Fallstudien ließen erkennen, dass die ärztliche Profession keineswegs in allen Fällen die Hauptantriebskraft für Medikalisierungen sein muss. So wurde die Wahrnehmung von Alkoholismus als medizinisches Problem nicht zuletzt durch Selbsthilfe-Gruppen von Betroffenen (wie die »Anonymen Alkoholiker«) etabliert, während nicht wenige Ärzte zögerlich und zurückhaltend blieben (vgl. Conrad/Schneider 1980a: 88-90; Conrad 2007: 9). Gerade in den letzten Jahren hat sich diese Bedeutung von Patientenund Selbsthilfegruppen deutlich erhöht. Nicht wenige dieser Gruppen sind als Akteure und Fürsprecher einer weitreichenden Medikalisierung bestimmter Befindlichkeiten, etwa der sogenannten AufmerksamkeitsDefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS), aufgetreten (vgl. Moynihan/ Cassels 2005: 61-81). Neben der finanziellen Förderung und damit nicht selten einhergehenden Beeinflussung solcher Gruppen durch wirtschaftlich potente Akteure (insbesondere die Pharmaindustrie) dürfte hierbei eine wichtige Rolle spielen, dass vielen Betroffenen die Anerkennung ihres Verhaltens oder Befindens als ›Krankheit‹ oder ›Störung‹ Vorteile bringen kann (oder zu bringen scheint), etwa in Form erweiterter finanzieller Unterstützung, eines besseren Zugangs zu Medikamenten oder der Abwehr moralischer Verurteilung. Parallel dazu nimmt das Phänomen der Selbstmedikalisierung (potenziell) Betroffener enorm an Bedeutung zu (Conrad 2005: 9). Medienberichte, Selbsttests (die im Internet oder in Arztpraxen verfügbar sind), Arzneimittelwerbung, Listen mit (vielfach sehr unspezifischen und weit verbreiteten) Symptomen oder auch entsprechende Diagnosen bei den eigenen Kindern oder nahen Verwandten können Menschen dazu bringen, bestimmte Krankheiten oder Störungen an sich selbst zu diagnostizieren. Häufig suchen sie dann den Arzt mit sehr klaren Behandlungswünschen auf, etwa der Forderung nach einem bestimmten Medikament. Dies kann die Rolle und den Status der Ärzte erheblich verändern. Zwar kommt ihnen auch weiterhin eine Schlüsselrolle für den (legalen) Zugang zu Arzneimitteln zu. Doch ihre Bedeutung für die Diagnose gerade von (tatsächlichen oder vermeintlichen) psychischen Störungen sowie für die Wahl der angemessenen Therapie kann sich deutlich abschwächen (Conrad/Leiter 2004: 171172; Metzl 2007). 89
MEDIKALISIERUNG
Insgesamt ist seit den 1990er Jahren zunehmend zu beobachten, dass andere Akteure und Akteursgruppen, vor allem die pharmazeutische Industrie, Medien und Internet, aber auch Patientenorganisationen, Selbsthilfegruppen und Konsumenten als die treibenden Kräfte von Medikalisierung in Erscheinung treten. Conrad (2005; 2007: 133-145) spricht deshalb von den »shifting engines of medicalization« (vgl. auch Conrad/Leiter 2004): Auch wenn die Ärzte noch immer »gatekeepers« für medizinische Behandlungen sind, ist ihre Bedeutung in Medikalisierungsprozessen deutlich verringert.4
III Medikalisierung als mehrdimensionaler sozialer Prozess Um die Vielschichtigkeit von Medikalisierungsprozessen zu erfassen, ist die Unterscheidung von drei Ebenen der Medikalisierung hilfreich, die Conrad und Schneider (1980b) sowie Conrad (1992) vorgeschlagen haben: erstens die konzeptionelle, zweitens die institutionelle und drittens die interaktive Ebene: Auf der konzeptionellen Ebene wird eine medizinische Begrifflichkeit verwendet, um ein Phänomen zu definieren und zu erklären; auf der institutionellen Ebene übernehmen Organisationen eine medizinische Perspektive gegenüber bestimmten Problemen (etwa Kindergärten oder Schulen gegenüber ›hyperaktiven‹ Kindern) auch wenn die alltägliche Arbeit von nicht-medizinischem Personal geleistet wird; auf der interaktiven Ebene kommt vor allem die Arzt-PatientBeziehung in den Blick. Medikalisierung bedeutet hierbei, dass ein Arzt die Befindlichkeit einer Patientin in medizinischen Begriffen deutet und entsprechend behandelt, wenngleich man dafür unter Umständen auch soziale Ursachen (beruflicher Stress, Eheprobleme u.Ä.) verantwortlich machen könnte (vgl. Conrad 1992: 211). Medikalisierungsprozesse können auf diesen drei Ebenen durchaus gegensätzlich verlaufen: Aufmerksamkeitsstörungen bei Kindern etwa können auf konzeptioneller Ebene als medizinisches Problem definiert werden, während Ärzte in der alltäglichen Praxis unter Umständen die Verschreibung entsprechender Medikamente ablehnen. Umgekehrt ist ebenso möglich, dass bestimmte Phänomene (z.B. altersbedingte körperliche Veränderungen wie Falten) allgemein als nicht-medizinisch wahrgenommen werden, von Ärzten aber de facto medikalisiert, d.h. mit medizinischen Mitteln behandelt 4
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Dementsprechend ist Medikalisierung heute immer weniger deckungsgleich mit ärztlicher Professionalisierung und der Monopolisierung von Gesundheitsdienstleistungen durch die Ärzteschaft. Solange ein Phänomen weiterhin als medizinisches definiert wird, ist seine Herauslösung aus exklusiver ärztlicher Zuständigkeit (»Deprofessionalisierung«) auch nicht identisch mit Demedikalisierung (vgl. Conrad 1992: 224-25).
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werden. Medikalisierung ist somit nicht nur ein graduelles Geschehen, sondern kann auch in sich widersprüchlich verlaufen. Ärzte und ihre spezifischen professionellen Sichtweisen stellen nur auf der dritten, interaktiven Ebene die Ausschlag gebende Instanz der Medikalisierung dar, auf den anderen Ebenen kann die Ärzteschaft unter Umständen nur am Rande oder gar nicht beteiligt sein. Betrachtet man das Zusammenspiel dieser verschiedenen Ebenen, so stellt Medikalisierung, wie Conrad schreibt, eine Form kollektiven Handelns dar: »While physicians and the medical profession have historically been central to medicalization, doctors are not simply colonizing new problems or labeling feckless patients. Patients and other laypeople can be active collaborators in the medicalization of their problems or downright eager for medicalization […].« (Conrad 2007: 9)
Welchen Beitrag zur Medikalisierung bestimmter Probleme, Befindlichkeiten und Verhaltensformen leisten Ratgeberbücher im Rahmen dieses vielschichtigen sozialen Prozesses? Obwohl die kulturelle und alltagspraktische Bedeutung von Ratgeberliteratur weithin anerkannt wird, ist diese Frage noch nicht sehr häufig explizit untersucht worden. Wichtige Erkenntnisse bietet die Studie von Barker (2002) über die Bedeutung von Ratgeber- und Selbsthilfebüchern für die Erzeugung einer ›Krankheits-Identität‹ (»illness identity«) am Beispiel der Fibromyalgie (sogenannter Weichteil-Rheumatismus); Conrad und Potter (2000) weisen auf die zentrale Rolle hin, die ratgeberähnliche Erfahrungsberichte Betroffener bei der Ausweitung des Krankheitsbildes ADHS auf Erwachsene in den 1990er Jahren spielten. Rimke (2000) schließlich verdeutlicht, in welcher Weise vor allem psychologisch orientierte Ratgeberbücher im Rahmen von Techniken der »Regierung« (im Sinne Foucaults) in liberalen Gesellschaften fungieren, indem sie die Adressaten zu Selbsterkenntnis, Selbstverantwortung und Selbstveränderung aufrufen. Ähnlich wie in diesen Analysen geht es uns im Folgenden nicht um die gewissermaßen ›quantitative‹ Bedeutung von Ratgebern bei der Verbreitung bestimmter Krankheitsbilder und -definitionen. Unser vorrangiges Interesse ist es vielmehr, zu rekonstruieren, wie biomedizinisches und psychologisches Wissen in dieser Literatur präsentiert wird und wie die jeweiligen Adressaten dabei angesprochen und zugleich ›konstruiert‹ werden. Es ist ausdrücklich nicht Thema unserer Überlegungen, sondern wäre Gegenstand einer eigenen Untersuchung, wie die in den Büchern kommunizierten Deutungsmuster, normativen
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Wertungen und Ratschläge von den jeweils Angesprochenen aufgenommen und angeeignet werden.5
Nicht so schüchtern! Ratgeber-Literatur und die Medikalisierung der Schüchternheit 6 Wie bereits erwähnt lässt sich für die zweite Hälfte der 1970er Jahre ein »Wendepunkt in der emotionalen Kultur der Schüchternheit« erkennen (McDaniel 2003: 54): Schüchternheit, bis dahin eher milde beurteilt und bei Frauen sogar positiv (als angemessene kommunikative Zurückhaltung) bewertet, wurde nunmehr in extrem negativen Begriffen wahrgenommen und zugleich zum Objekt medizinisch-psychologischer Intervention erklärt.7 Seinen wohl prägnantesten Ausdruck fand dieser Perspektivenwechsel in Philip Zimbardos bereits erwähntem, 1977 veröffentlichtem Buch »Shyness: what it is, what to do about it«, einem der ersten und sicherlich einflussreichsten Ratgeber zur Thematik. In stark dramatisierender Weise heißt es darin, Schüchternheit sei ein »heimtückisches persönliches Problem, das solche epidemischen Ausmaße erreicht, daß man ohne weiteres von einer Volkskrankheit sprechen« könne (Zimbardo 1994: 20). Und: »Wenn wir nicht bald etwas tun, werden unsere Kinder und Enkelkinder zu Gefangenen ihrer eigenen Schüchternheit werden.« (Ebd.) Zimbardo hatte zuvor an der StanfordUniversität eine Studie unter Studierenden beiderlei Geschlechts durchgeführt, wonach 40 Prozent der Befragten sich als aktuell schüchtern bezeichneten – wenngleich nach sehr ›weichen‹, auf Selbsteinschätzung basierenden Kriterien. Bemerkenswerterweise scheint die psychologische Literatur ohnehin fast völlig auf verallgemeinerbare Kriterien für Schüchternheit zu verzichten: »Wenn Sie glauben, daß Sie schüchtern 5
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Wir unterstellen daher keineswegs, dass die wissenschaftlichen Wissensansprüche von den Betroffenen gleichsam ›eins zu eins‹ übernommen werden und ihnen keinerlei Spielraum für eigensinnige Interpretationen lassen. Im Gegenteil: die medizinischen Interpretationen werden von den Alltagsakteuren in der Regel in je spezifischer Weise selektiv wahrgenommen und in eigene Selbstdeutungen übersetzt. Allerdings bedeutet dies auch, dass medikalisierte Definitionen von Verhalten oder Befindlichkeiten zumeist gesellschaftlich nicht folgenlos bleiben. Vgl. zur Medikalisierung der Schüchternheit ausführlicher McDaniel (2003); Moynihan/Cassels (2005: 119-138); Scott (2006, 2007); Lane (2007); Wehling (2008a, 2010). Zu den wichtigsten Hintergründen für diesen Wandel gehört sicherlich die im Beruf, in den Medien und im privaten Alltag enorm gestiegene Bedeutung von Kommunikationsfähigkeit, Selbstbewusstsein und Durchsetzungsvermögen.
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sind, dann sind Sie es. Wenn es um Schüchternheit geht, sind Einschätzung und Realität eins [...].«, heißt es in dem eingangs erwähnten Ratgeber »Erfolgreich schüchtern« (Carducci 2000: 21; vgl. Zimbardo 1994: 28). Seit den 1980er Jahren wurde Schüchternheit mehr und mehr in die Nähe einer behandlungsbedürftigen mentalen Störung, der Sozialphobie (»Social Phobia«), gerückt. Das Krankheitsbild der »Social Phobia«, auch als »Social Anxiety Disorder« bezeichnet, wurde 1980, drei Jahre nach Zimbardos Studie, seinerseits erstmals in das »Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders« aufgenommen (vgl. hierzu Lane 2007). Die im DSM aufgeführten Symptome dieser mutmaßlichen Störung, wie anhaltende Angst vor öffentlichen Situationen, in denen die betroffene Person dem prüfenden Blick anderer ausgesetzt ist, sowie die Befürchtung, dabei etwas Peinliches zu tun, unterscheiden sich nur graduell von Schüchternheit. In der Folgezeit wurden nicht nur die Grenzen zwischen ›normaler‹ Schüchternheit und ›pathologischer‹ Sozialphobie immer mehr verwischt; gleichzeitig zogen wissenschaftliche Studien mit fragwürdigen Methoden den Kreis der von dieser Störung Betroffenen immer größer. Eine Untersuchung aus dem Jahr 1994 kam sogar zu dem Ergebnis, in Nordamerika könnten mehr als 18 Prozent der Bevölkerung an einer Sozialen Angststörung leiden. Ab den 1990er Jahren wurden sowohl Sozialphobie als auch Schüchternheit zunehmend in biomedizinischen Begriffen als (teilweise erblich bedingte) Störung im Gehirnstoffwechsel aufgefasst, für deren Behandlung vor allem Psychopharmaka angezeigt seien. Eine wichtige Rolle für diese neue Problemdefinition spielte nicht zuletzt die Tatsache, dass in den USA ab 1997 auch für verschreibungspflichtige Medikamente Werbung direkt bei den Verbrauchern erlaubt wurde und 1999 das Antidepressivum Paxil die Zulassung zur Therapie auch von Sozialangststörungen erhielt (vgl. hierzu ausführlicher Moynihan/Cassels 2005: 119-138; Lane 2007: 104-138). In welcher Weise werden diese hier kurz skizzierten psychologischmedizinischen Wissensansprüche in der Ratgeberliteratur für Schüchterne präsentiert? Die folgenden Überlegungen stützen sich auf fünf ausgewählte Ratgeberbücher: Zimbardo (1994); Carducci (2000); Fehm/Wittchen (2004); Bandelow (2004) und Bandelow (2007).8 Aus 8
Die Auswahl orientiert sich nicht primär an quantitativen Kriterien wie etwa den Verkaufszahlen, wenngleich alle fünf Bücher inzwischen jeweils mindestens zwei Auflagen erreicht haben. Im Vordergrund steht vielmehr, dass sie alle von WissenschaftlerInnen verfasst worden sind (und nicht von persönlich betroffenen ›Laien‹) und dass sie sowohl einen eher psychologisch-verhaltenstherapeutischen Zugang (Zimbardo, Carducci, Fehm/Wittchen) als auch einen überwiegend psychiatrisch-biomedi93
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Platzgründen werden die einzelnen Bücher dabei nicht jeweils separat dargestellt, sondern signifikante Ergebnisse der Untersuchung thesenartig zusammengefasst und durch beispielhafte Zitatbelege illustriert. Analysiert man die Argumentationsweise der Ratgeber, so fallen drei eng miteinander verknüpfte Strukturelemente auf, die sich in allen fünf Büchern, wenngleich in je unterschiedlicher Ausprägung und Gewichtung beobachten lassen: erstens die Dramatisierung von Schüchternheit, zweitens die Individualisierung der Problematik sowie drittens die Aktivierung der Adressaten. Dramatisierung: Schüchternheit wird in den Ratgebern sowohl in quantitativer Hinsicht (Zahl der Betroffenen) als auch in qualitativer Hinsicht (Schwere des Problems) stark dramatisiert (vgl. die oben zitierten Formulierungen Zimbardos). Carducci warnt in seinem Ratgeber, der Preis für Schüchternheit könne in einem erstickten und vernichteten Leben bestehen, und führt eine ganze Reihe von Problemen und negativen Verhaltensweisen auf Schüchternheit zurück, angefangen von beruflichem Misserfolg über die Neigung zu Alkohol und Drogen bis hin zu sexuellen Schwierigkeiten (Carducci 2000: 24-27). Vor allem in den neueren, stärker psychiatrisch orientierten Büchern besteht ein wesentliches Element der Dramatisierung darin, Schüchternheit als Vorform einer psychischen Erkrankung, der bereits erwähnten Sozialphobie, anzusprechen. Die Grenzen werden dabei als fließend angesehen; es sei nicht ganz einfach, so Bandelow (2007: 198), »Schüchternheit als Eigenschaft einer Persönlichkeit glasklar von der Sozialen Phobie als Krankheit abzugrenzen« (vgl. auch Bandelow 2004: 75-76). Fehm und Wittchen (2004: 33) plädieren deshalb für eine gleichsam präventive Behandlung von Schüchternheit, um die »Schwelle für eine Soziale Phobie« heraufzusetzen. Doch auch die neueren Ratgeber heben wiederholt hervor, eine Sozialphobie sei »mehr als Schüchternheit« (Bandelow 2004: 73). Dies hindert sie allerdings nicht, die Differenz schon sprachlich immer wieder zu verwischen, am auffälligsten bei Bandelow (2007), der beide Begriffe häufig synonym verwendet, so dass unklar bleibt, ob von Schüchternen oder Sozialphobikern die Rede ist (vgl. z.B. Bandelow 2007: 29). Mit der Dramatisierung von Schüchternheit und ihren möglichen Konsequenzen kontrastiert in den Ratgebern ein fast überschwängliches Lob der Eigenschaften und Verhaltensweisen schüchterner Menschen, das zumindest auf den ersten Blick paradox anmutet. »Die Welt wäre unerträglich, wenn es die Schüchternen nicht gäbe, die zuvorkommend, hilfsbereit und pflichtbewusst ihr Bestes geben und die sozialen Systeme zinischen (Bandelow 2004; 2007; teilweise auch Fehm/Wittchen 2004) repräsentieren. 94
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aufrechterhalten. […] (Z)u viele Menschen mit unbegründeter Selbstsicherheit würden diesen Planeten mit Sicherheit zugrunde richten« (Bandelow 2007: 246; vgl. auch Zimbardo 1994: 37-38; Carducci 2000: 28-30; Bandelow 2004: 77). Gerade dieser merkwürdige Kontrast scheint wichtig zu sein, um die Angesprochenen nicht durch eine negative Bewertung ihrer Persönlichkeit vor den Kopf zu stoßen und um die Botschaft der Ratgeber normativ fundieren zu können: Die Schüchternen sind ›eigentlich‹ wertvolle Menschen, doch auf Grund ihrer Schüchternheit werden sie im Leben nicht so anerkannt und belohnt, wie sie es verdient hätten – und genau dieses »Schicksal« müssen und sollen sie nicht akzeptieren (Bandelow 2007: 20). Andernfalls wären sie beispielsweise im Berufsleben »dazu verdammt, sich anderen Mitarbeitern unterzuordnen, die womöglich nicht bessere berufliche Fertigkeiten, aber mehr Selbstbewusstsein und Durchsetzungsvermögen haben« (Bandelow 2004: 78). Individualisierung: Die zuletzt zitierte Passage könnte darauf hindeuten, dass in den Ratgebern auch eine sozial- und kulturkritische Sichtweise angelegt ist, die sich gegen die einseitige Prämierung von Durchsetzungsvermögen und Selbstbewusstsein in den gegenwärtigen Gesellschaften wendet. Auch die Rede von der ›Volkskrankheit‹ würde es erwarten lassen, nach gesellschaftlichen Hintergründen für die vermeintliche Epidemie zu fragen.9 Dennoch weist die Argumentationsstruktur der Bücher in Richtung einer Individualisierung und Entkontextualisierung des ›Problems‹ Schüchternheit. Schüchternheit gilt als »persönliches Problem« (Zimbardo) und »Eigenschaft einer Persönlichkeit« (Bandelow), während die soziologisch nahe liegende Vermutung marginalisiert wird, dass Schüchternheit in sozialen Kontexten entsteht und eine essentialistische Grenzziehung zwischen schüchternen und nichtschüchternen Menschen fragwürdig ist (Scott 2007: 2). Bei dieser Entkontextualisierung ergänzen sich psychologisch-medizinische Erklärungen von Schüchternheit als individuellem mentalem Defizit mit dem Appell an die Einzelnen, ihr Schicksal selbst und eigenverantwortlich in die Hand zu nehmen. Vor allem neuere biomedizinische Theorien legen das Hauptgewicht auf unkontrollierte biochemische Vorgänge im individuellen Gehirn (Bandelow 2007: 58) und teilweise auf genetische Fak-
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Zwar kam Zimbardo im Schlusskapitel seines Buches auch auf mögliche soziale und kulturelle Ursachen von Schüchternheit zu sprechen. Gleichwohl adressierte er seine Überlegungen primär an das »schüchterne Individuum« und machte dieses »selbst für die Veränderungen verantwortlich, […] die zur Überwindung der Schüchternheit erforderlich sind« (Zimbardo 1994: 273). 95
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toren, auch wenn vordergründig eine multifaktorielle Erklärung angeboten wird (vgl. z.B. ebd: 67). Ein zweites wesentliches Element, das der Individualisierung der Problematik dient, besteht in Fragebögen und/oder Symptomlisten, die sich in allen fünf Büchern finden (Zimbardo 1994: 179-197; Carducci 2000: 37-44, 78-80; Fehm/Wittchen 2004: 32; Bandelow 2004: 353; Bandelow 2007: 207-208). Mit deren Hilfe sollen die Leserinnen und Leser selbst überprüfen, ob sie schüchtern sind, wie schüchtern sie sind oder ob sie sogar an einer Sozialphobie leiden. Während die eher psychologisch orientierten Fragebögen versuchen zu klären, wie schüchtern die Betroffenen sind (vgl. Carducci 2000: 36), interessieren stärker psychiatrisch ausgerichtete Tests sich vor allem dafür, ob eine Soziale Phobie vorliegt (Fehm/Wittchen 2004: 32; Bandelow 2004: 353). Vor allem bei den letzteren beiden Selbsttests fällt auf, wie unspezifisch die verwendeten diagnostischen Kriterien sind. Um in den Verdacht zu geraten, an einer medikamentös zu behandelnden psychischen Störung zu leiden, genügt es beispielsweise im Test von Bandelow, dass eine Person von sich selbst glaubt, wenig Durchsetzungsvermögen zu haben, dass sie Ängste vor ›Respektspersonen‹ entwickelt und bei einem Treffen mit einem Vorgesetzten rot wird. Der gleiche Verdacht trifft auch diejenigen, die glauben, ihre Schüchternheit habe ihren beruflichen Aufstieg verhindert, die außerdem Angst haben, wenn sie einen öffentlichen Vortrag halten müssen, und dabei ins Zittern geraten oder rote Flecken am Hals bekommen. Diese diagnostische Einordnung ist umso bemerkenswerter, als der Autor im gleichen Buch darauf hinweist, vermutlich würden 80 Prozent der Menschen die Frage bejahen, »ob sie Angst hätten, in einem Raum vor 200 Zuhörern eine Rede zu halten«. Dies allein reiche daher noch nicht aus, um eine Sozialphobie zu diagnostizieren (Bandelow 2004: 76). Offenbar genügt es aber für den Verdacht auf eine psychische Störung, wenn die Betroffenen neben der weit verbreiteten Angst, öffentlich zu sprechen, bei ihrem Vortrag erröten und sich selbst im Übrigen ein geringes Durchsetzungsvermögen attestieren.10 Ob beabsichtigt oder nicht: die Unschärfe dieser diagnostischen Kriterien verwischt die Grenze zu ernsthaften psychischen Störungen und trägt wesentlich zur Pathologisierung und Medikalisierung der Schüchternheit bei. Gleichzeitig erleichtert die Auflistung gerade sehr unspezifischer Symptome die Herausbildung einer weitgefassten »KrankheitsIdentität« (Barker 2002), die es den potentiell Betroffenen ermöglicht, ihre Befindlichkeit einem diagnostischen ›Label‹ zuzuordnen, was so10 Der Selbsttest im Buch von Fehm und Wittchen (2004: 32) baut auf ähnlich fragwürdigen Kriterien auf (vgl. hierzu Wehling 2008a: 157). 96
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wohl Entlastung von Selbstzweifeln und moralischen Vorwürfen als auch Zugang zu medizinischer Unterstützung mit sich bringen kann. Nicht zuletzt versprechen die Fragebögen den Leserinnen und Lesern der Ratgeber bessere und tiefere Selbsterkenntnis (vgl. z.B. Carducci 2000: 37). Doch gerade dieses Versprechen erweist sich als trügerisch: »Rather than discovering their ›real selves‹, self-helpers create and constitute their identities by the very practices and techniques prescribed for knowing and uncovering« (Rimke 2000: 70). Die Selbstüberprüfung im Fragebogen legt nicht einfach den immer schon bestehenden Kern des Selbst frei, sondern schafft ein Angebot zur »narrativization of the self« (ebd.), zur Deutung des eigenen Selbst, der eigenen Identität im Rahmen von »public illness narratives« (Barker 2002: 284). Das sich auf diese Weise als ›schüchtern‹ (oder sogar ›sozialphobisch‹) deutende und konstituierende Individuum wird schließlich dazu aufgerufen, sich mit seinen Problemen nicht abzufinden, sondern »Wege aus der Selbstblockade« (Bandelow 2007) zu suchen. Aktivierung: Man könnte vermuten, der Einsatz vermeintlich objektiven biomedizinischen Wissens sei darauf ausgerichtet, die Leserinnen und Leser ›expertokratisch‹ zu überwältigen. Doch ganz im Gegenteil werden die potentiell Betroffenen dazu aufgerufen, ihr Problem aktiv anzugehen – und damit auch anzuerkennen, dass sie als Schüchterne ein Problem haben: »Nehmen Sie Ihr Problem nicht mehr als Ausrede für Inaktivität«, heißt es im »Buch für Schüchterne« (Bandelow 2007: 69). Und selbst eine mögliche genetische Grundlage von Schüchternheit kann nicht als »Ausrede« akzeptiert werden, denn: »Gene sind nicht unser Schicksal« (ebd.: 45), sie entbinden die Betroffenen nicht von der Aufgabe, etwas gegen ihre Schüchternheit zu unternehmen. Das Idealbild, das hier vermittelt wird, ist das hart an der Überwindung »seines Problems« arbeitende schüchterne Individuum. Verantwortlich ist dieses zwar nicht für seine Schüchternheit, wohl aber dafür, diese zu überwinden oder zumindest ihre negativen Folgen zu begrenzen. Wenn Schüchternheit »persönliches Missbehagen« verursache, sei dies »die Folge von Entscheidungen, die Sie getroffen haben« (Carducci 2000: 23). Der Autor appelliert daher an die Leserschaft: »Treffen Sie bessere Entscheidungen, die Ihr Leben vielfältiger und reicher machen« (ebd.: 407), Entscheidungen, »die es Ihnen erleichtern, auf erfolgreiche Weise schüchtern zu leben« (ebd.: 31). Erfolg in Privatleben und Beruf ist das entscheidende Ziel, das zu erreichen die Ratgeberliteratur ihren Adressaten verspricht (vgl. auch Bukkfalvi Hilliard 2005). Die vorgeschlagenen Wege dahin sind vielfältig und werden in der Ratgeberliteratur unterschiedlich gewichtet: Während die psychologisch orientierten Bücher vor allem auf Selbsttraining und Verhaltenstherapie bauen, nicht 97
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zuletzt in sogenannten »Shyness Clinics«,11 setzen vor allem psychiatrisch ausgerichtete Ratgeber auch auf die Medikation mit Psychopharmaka, vor allem mit den sogenannten ›neuen‹ Antidepressiva, die in den Stoffwechsel des Gehirns eingreifen, aber wegen ihrer Nebenwirkungen und eines möglichen Suchtpotenzials nicht unumstritten sind. Häufig wird in den neueren Büchern eine Kombination aus medikamentöser Behandlung und Psychotherapie als besonders geeignet angesehen (Fehm/Wittchen 2004: 37).
R a t g e b e r u n d d i e M e d i k a l i s i e r u n g d e s Al t e r n s Unter dem Label des ›Anti-Aging‹ hat sich seit den späten 1970er Jahren ausgehend von den USA12 ein (neuer) Handlungsbereich der Medizin konstituiert, in dem einerseits der alternde menschliche Körper in seiner Gesamtheit zum Objekt präventiver wissenschaftlich-technischer Intervention geworden ist, worin andererseits der (alternde) Mensch aber auch als ein selbstverantwortliches, sich frühzeitig um seinen Körper sorgendes Subjekt adressiert wird (A4M 2002; GSAAM 2009a, 2009b; Jacobi 2004; 2005; Jacobi et al. 2005). Ziel ist die Beeinflussung von Alterungsprozessen auf bio-chemischer und molekulargenetischer, zum Teil aber auch auf biomechanischer und psychologischer Ebene (vgl. etwa Oberdorfer 2004). Die Ausgangsannahme ist dabei, dass Alterungsprozesse wissenschaftlich verstehbar, messbar und veränderbar sind. Die medizinische Anti-Aging-Konzeption umfasst die Risikoanalyse sowie präventive Verhaltensmedizin und -therapien und Gesundheitskonzepte (Jacobi 2004). Dass es sich bei der Anti-Aging-Medizin um einen Beitrag zur weiteren Medikalisierung der Gesellschaft handelt, kann kaum bestritten werden. Aber nur auf den ersten Blick dreht es sich hier um einen Prozess der Medikalisierung im herkömmlichen Sinne, in dem biologische Sachverhalte sowie soziale Verhaltensweisen in den Definitionsbereich medizinischen Wissens gezogen und unter die Deutungshoheit einer sich kurativ verstehenden medizinischen Profession gestellt werden (vgl. Viehöver et al. 2009). Vielmehr zeichnet sich ab, dass das durch die Anti-Aging-Medizin produzierte, verbreitete und reflektierte Körperwissen sich auf eine neue Weise an den potenziellen ›Klienten‹ und dessen 11 Eine dieser Schüchternheitskliniken ist von Zimbardo im kalifornischen Palo Alto gegründet worden und praktiziert ein sechsmonatiges Therapieprogramm mit dem bezeichnenden Namen »Social Fitness Model«. 12 In Deutschland greift die Anti-Aging Bewegung erst seit Beginn dieses Jahrhunderts (GSAAM 2009a, 2009b; Jacobi 2005). 98
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Körper wendet: Die Anti-Aging-Medizin spricht nicht oder nicht notwendig den kranken (alten) Menschen an. Die heute bereits praktizierte Anti-Aging-Medizin visiert eine Anleitung zur gesunden Lebensführung an, die prinzipiell die gesamte Lebensspanne umfasst (vgl. etwa Markert 2008: 94-95).13 Gesundheit als (lebenslanges) Projekt aktiven Handelns und nicht die Heilung von Krankheiten ist zum Eingriffsziel der AntiAging-Mediziner geworden, und ihre ganzheitlich orientierten Therapieformen lassen sich als Anleitungen zu einem vernünftigen Lebensstil verstehen. Bezogen auf die Ratgeber kann man in diesem Sinne sagen: sie formulieren ein »Ethos des erfolgreichen Alterns« (Viehöver 2008). Damit strebt die Anti-Aging-Medizin eine Optimierung der alterungsrelevanten somatischen und psychischen Prozesse des menschlichen Körpers an (Viehöver et al. 2009). Der Weg zur Realisierung dieses Zieles ist aus ihrer Sicht nur über eine Reformierung der alltäglichen Lebensführung zu erreichen, sie bezieht sich dabei kritisch auf den für westliche Gesellschaften typischen Lebensstil (Bamberger 2008; Markert 2008). In diesem Sinne ist Anti-Aging als Versuch einer Medikalisierung des Alltags jenseits des klassischen Heilauftrages zu verstehen (Crawford 1980; Wehling et al. 2007; Viehöver et al. 2009). Voraussetzung dafür ist aus der Sicht der Anti-Aging-Mediziner ein verändertes Wissen vom Körper. Dies ist der Punkt, an dem die Ratgeberliteratur maßgeblich ins Spiel kommt. Anti-Aging-Ratgeber lassen sich in einem ersten Schritt als Missing Link zwischen einem relativ jungen aufstrebenden Bereich medizinischen Wissens und den alltäglichen Praktiken des Umgangs mit dem eigenen Körper begreifen. In diesem Sinne verweisen sie zwar auf ein Arsenal von Selbsttechniken (Foucault 2005), sind aber selbst ein diskursives, textförmiges Medium, dessen tatsächlicher Einfluss auf die Handlungsweisen ihrer Adressaten offen bleibt. Indirekt lassen sie sich zudem als biopolitische Instrumente im Sinne Foucaults (2005) verstehen, die die alternden Populationen moderner liberalistischer Leistungs(steigerungs)gesellschaften (Lanzerath 2003; Coenen 2008), nicht zuletzt im Angesicht der Krise ihrer 13 Wir folgen hier im Wesentlichen den Maximen einer bestimmten Spielart der aktuellen Anti-Aging-Medizin, welche sich weniger die Verlängerung der Lebensspanne über die magische Grenze von 120 Jahren hinaus (so aber DeGrey 2004; DeGrey/Rae 2007), als die Steigerung der Lebensqualität zum Ziel setzt, entweder indem die krankheitsfreie Lebensphase verlängert oder aber die Phase der aktiven Leistungsfähigkeit bis ins hohe Alter maximiert werden soll (vgl. Klentze 2003; Bamberger 2008; Markert 2008). Diese in Deutschland dominante Interpretation des Anti-Aging, verstanden als »good« oder »successful aging«, entwirft Altern als ein lebenslanges Projekt, das nach selbstverantwortlichem Handeln in präventiver Absicht verlangt. 99
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Gesundheitssysteme, auf ein neues Körperverhältnis einzustimmen suchen. Ratgeberbücher zur Anti-Aging-Medizin zeichnen sich in dreierlei Hinsicht aus: Erstens schlagen sie eine Reinterpretation des Selbstverständnisses der Medizin vor (z.B. von der kurativen Medizin zur Präventionsmedizin; vgl. Bamberger 2008). Zweitens richten sie sich explizit an das Individuum; sie sind im Gegensatz zur Hygienepolitik des 19. Jahrhunderts dezidierter auf die »Führung zur Selbstführung« (Foucault 2005) von Personen ausgerichtet. Drittens lassen sich die Ratgeber nicht auf die Distribution kognitiven medizinischen Wissens reduzieren. Sie zielen auf eine methodisch durch ›Experten‹ angeleitete ethischasketische Ausrichtung der Lebensführung und haben in diesem Sinne eine stark ›normative‹ Komponente (Viehöver 2008). Man könnte sagen, dass Anti-Aging-Ratgeber den Charakter des ethischen Optativs haben (Ricœur 2005: 250-267). Diese ethische Ausrichtung kommt in den ›Labels‹ des »good aging« oder »successful aging« besser zum Ausdruck als im Terminus Anti-Aging. In diesem Sinne sind die Bücher als Anleitungen zur Initiative und zur Sorge um sich selbst zu verstehen. Was ›leisten‹ Anti-Aging-Ratgeber dabei, welches Wissen präsentieren sie, wie und an wen richten sie sich mit welchen Zielsetzungen? Wir haben hierzu fünf Ratgeber analysiert, die im Jahre 2009 zu den meist nachgefragten in Deutschland gehörten (Klentze 2003; Frohn 2006, (2000); Huber/Buchacher 2007; Bamberger 2008; Markert 2008).14 Ohne den Anspruch auf Vollständigkeit zu erheben, lassen sich folgende Dimensionen der Vermittlung der auf Anti-Aging bezogenen reflexiven Körperpraktiken im Rahmen von Ratgebern bezeichnen.
Kognitives Wissen zur Reformierung des Körpers und der Konzepte des Alterns Alle fünf untersuchten Ratgeber sind Versuche der Wissensvermittlung, jedoch in einem spezifischen Sinne. Sie sind Aufforderungen an die Leser, den eigenen Körper unter dem Aspekt des Alterns (nicht des Alters) mittels des medizinischen Wissens neu lesen zu lernen. Alle setzen sich mehr oder weniger umfassend mit Alterstheorien auseinander, sie fokussieren aber auf unterschiedliche Schwerpunkte z.B. Gentheorie des Al14 Unter den Ratgebern lassen sich unterschiedliche Typen unterscheiden: a): Kosmetische und psycho-hygienische Ratgeber (Frohn 2006), b): Ganzheitliche Prävention und Präventionscoaching (Bamberger 2008); c): Technozentrische und Science-Fiction-Ratgeber (Ende des Alterns; Transhumanismus etc; siehe Huber/Buchacher 2007); d): Professionsinterne Ratgeber (Jacobi et al. 2005). 100
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terns (Huber/Buchacher 2007; Bamberger 2008), Telomeretheorie des Alterns (Bamberger 2008; Markert 2008), Abnutzungstheorie des Alterns (Huber/Buchacher 2007; Bamberger 2008; Markert 2008), freie Radikale/oxidativer Stress (Klentze 2003; Frohn 2006; Markert 2008) und Hormontheorie des Alterns (Klentze 2003; Frohn 2006; Bamberger 2008; Markert 2008). Auf den ersten Blick vermitteln einige der Ratgeber ein biologistisches Körperbild (vgl. Huber/Buchacher 2007: 15-156; Markert 2008: 41-61). Faktisch wird aber erstens auf einem Zusammenhang von biologischen Prozessen des Alterns und dem Lebenswandel in (modernen) Gesellschaften insistiert und zweitens wird davon ausgegangen, dass Alterungsprozesse in hohem Maße durch individuelles (und soziales) Handeln beeinflussbar sind. Insofern wird in den AntiAging-Ratgebern ein rein biologistisches oder gar genetizistisches Körperbild relativiert.15 Es wird ein Körperbild vermittelt, welches das somatische und physische Befinden einerseits von der Lebensführung und -geschichte abhängig macht und es andererseits in einen dialektischen Zusammenhang stellt: Zum Altern als genetischem Schicksal tritt das Altern als »Herausforderung« (Bamberger 2008: 15-54), die allerdings nach Selbsterkenntnis, Selbstbeobachtung und permanenter Arbeit am eigenen Körper zu verlangen scheint (vgl. Viehöver 2008). Die Ratgeber bieten dem Leser im Hinblick darauf kognitive Deutungsmuster, die als Interpretationsfolien für die Reformierung des eigenen Körperverhältnisses dienen (sollen). Entscheidend ist dabei, dass Anti-Aging-Ratgeber Altern als einen lebenslangen Prozess beschreiben, der gleichsam bereits in der Wiege beginnt und keinesfalls nur für die sogenannte dritte Lebensphase relevant ist (Klentze 2003; Bamberger 2008; Markert 2008: 94). In diesem Sinne versuchen sie zur Dynamisierung der Altersvorstellungen beizutragen, was wiederum Voraussetzung für die empfohlenen Anti-Aging- und Präventionspraktiken ist.
Ratgeber als Motivvokabularien Anti-Aging-Ratgeber sind in einer zweiten Hinsicht von besonderem Interesse, weil sie nicht nur kognitives Wissen vermitteln, sondern zugleich Aufforderungen zu Verhaltensänderung sind. Sie haben also eine performative Dimension. Diesbezüglich enthalten sie ein Arsenal an Motiv-Vokabularien (Mills 1940), durch die der potenzielle Klient zur 15 Eine Ausnahme bildet vielleicht Huber/Buchachers »Das Ende des Alterns. Bahnbrechende medizinische Möglichkeiten der Verjüngung«, da es in wesentlichen Teilen eine technizistische Position des Anti-Aging vertritt und sich auch als einziger ›Ratgeber‹ gen- und nanotechnischen Visionen der ›Unsterblichkeit‹ widmet (Huber/Buchacher 2007: 262-272). 101
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aktiven Sorge um sich selbst und seinen Körper aufgefordert wird. »Motives are words […] Motives are justifications for present, future, or past programs or acts. [...] When they appeal to others involved in one's act, motives are strategies of action.« (Mills 1940: 907, Herv. i.O.) Als Teil diskursiver Praktiken zielen Motive freilich auf ein motivationales Verstehen (Weber) auf Seiten des Lesers. Zu solchen handlungsmotivierenden Strategien der Anti-Aging Ratgeber gehören unter anderem
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Dramatisierungen von Körpererfahrungen, die als typische Warnsignale aufgefasst werden sollen: Altersstarrsinn, rasche Ermüdung, mangelnde Bewegung, verminderte Psychomotorik, fehlender Durst, erhöhte BMI-Werte, fatalistische Lebenshaltung, Verlust der Spannkraft der Haut etc. (vgl. Markert 2008: 20-23, 63-76; Bamberger 2008: 9-12; Frohn 2006: 11-15); eine gegenläufige Entdramatisierung des Alters als Lebensphase körperlichen und geistigen Verfalls. Dies erfolgt beispielweise in den meisten Ratgebern durch rhetorische Strategien, die das Alter als Chance fassen (»Man ist so jung, wie man sich fühlt«, Markert 2008: 31-35) oder das »Privileg der Lebenserfahrung« und Zukunftsoffenheit als »Wege aus der Endlichkeitsfalle« apostrophieren (Markert 2008: 31); die Aufforderung zur Mündigkeit gegenüber dem eigenen Körper, und damit der Anschluss an aufklärerische Werte – eine weitere Strategie, durch die Prozesse des Alterns zum Gegenstand bewussten ethischen Handeln werden sollen. »Es gibt wohl kaum einen Menschen, der ein langes, gesundes Leben nicht als das höchste Gut betrachten würde. Gleichzeitig gibt es immer noch sehr wenige Menschen, die meinen, hierauf einen nachhaltigen Einfluss zu haben. Warum ist das so? Ich denke, wir alle befinden uns, was unseren Körper und unsere Gesundheit angeht, in einem tief verwurzelten Zustand der Unmündigkeit.« (Bamberger 2008: 9)
Anti-Aging-Empfehlungen als ein Versprechen der Machbarkeit Drittens sind Anti-Aging-Ratgeber nicht nur Wissen vermittelnde und das Individuum zu einem aktiven Handeln dem eigenen Körper gegenüber motivierende Texte. Sie sind vielmehr auch als ein Versprechen von Seiten der Ratgebenden aufzufassen (Olshansky/Carnes 2002). Das Versprechen besteht darin, glaubhafte Wege zum gesunden und glücklichen Altern weisen zu können (Bamberger 2008: 193-203; Markert 2008: 103-149; Huber/Buchacher 2007: 224-246; Klentze 2003: 29-39, 105-183): »Die Zeit ist angebrochen, in der wir tatsächlich mitbestim102
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men können, wie schnell wir altern, welche Krankheiten wir im Alter bekommen und welche nicht.« (Bamberger 2008: 12) Das Versprechen versucht, Glaubwürdigkeit für die Behauptung zu erzeugen, dass das Ziel des guten und erfolgreichen Alterns wirklich erreichbar ist, wenn und sofern man den (selbst gewählten) Regeln der Anti-Aging-Medizin Folge leistet. Glaubwürdigkeit versuchen die Ratgeber unter anderem durch die Unterscheidung von akzeptierten und umstrittenen AntiAging-Strategien (z.B. Hormontherapien) sowie durch eine Abgrenzung von der Wellness-Branche zu erzeugen (vgl. Bamberger 2008: 55-147; Klentze 2003; Jacobi 2005; Jacobi et al. 2005).16
Techniken des Anti-Aging Den Kern der Anti-Aging-Ratgeber bilden freilich die konkreten Vorschläge für bestimmte körper- und lebenstilbezogene Techniken des Selbst. Thematisch weisen die Anti-Aging-Ratgeber eine ganze Palette von alters- und alterungsbezogenen Problematiken auf, so zum Beispiel Hautalterung, Sexualfunktionsstörungen, alkohol- bzw. nikotinbedingte Alterungsphänomene und Krankheiten, Depression, Diabetes, Krebs, oxidativer Stress, neurodegenerative Erkrankungen. Um diesbezüglich Probleme zu vermeiden oder zu überwinden, enthalten die Ratgeber im Wesentlichen folgende Module oder Präventionsprogramme:
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Programme der Vorsorge und Früherkennung (Bamberger 2008: 205-211); Programme und Strategien der Lebensstiloptimierung (Bamberger 2008: 211-234); Medikamente und Hormone (Klentze 2003: 85-103; Bamberger 2008: 235-251); spirituelle oder psychohygienische Programme (Bamberger 2008: 252-263; Markert 2008: 133-145) und kosmetische und ästhetisch-chirurgische Optionen (Frohn 2006: 4989).
Einige Ratgeber bieten ausführliche Präventionsnavigatoren (Arztbesuche, Selbsttests und finanzielle Reinvestitionen in den eigenen Körper, in denen der Leser über die auf ihn zukommenden Kosten von regelmä16 Ob das Versprechen der Ratgeber glaubwürdig ist, entscheidet sich erst im Akt des Lesens. Deshalb wäre es notwendig, die Aneignungsweisen von Ratgebern im Allgemeinen und den Versprechen der Anti-Aging-Medizin im Spezifischen durch die individuellen Akteure zu untersuchen (vgl. ansatzweise Viehöver et al. 2009). 103
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ßig eingehaltenen Präventionsintervallen informiert wird; siehe etwa Bamberger 2008: 268-301). In allen Ratgebern wird zudem deutlich, dass sie sich nicht vorwiegend an Menschen der sogenannten dritten Lebensphase richten. Betrachtet man die Präventionsnavigatoren der Ratgeber, wird schnell deutlich, dass Sie spätestens mit dem 30. Lebensjahr beginnen sollten, sich um Ihren Körper zu sorgen. Bamberger (2008: 269) geht sogar davon aus, dass bei ›Vorbelastungen‹ in der Familie bereits in der Kindheit Präventionsmaßnahmen angezeigt seien.
Fazit: Ratgeberliteratur, Selbstmedikalisierung und soziologische Kritik Die beiden Fallbeispiele Schüchternheit und Anti-Aging weisen ungeachtet vieler Gemeinsamkeiten einen wichtigen Unterschied auf: Im Fall der Schüchternheit verläuft der Medikalisierungsprozess vor allem über die (versuchte) Etablierung einer neuen Krankheitsdefinition (Schüchternheit als Volkskrankheit und/oder Vorstufe zu einer Sozialen Phobie). Hingegen verzichtet die Anti-Aging-Medizin, zumindest in der von uns untersuchten Richtung, weitgehend auf eine Deutung des Alterns als Krankheit, sondern konzipiert Altern als Gegenstand lebenslanger präventiver Bemühungen jedes Einzelnen um »successful aging«. Unabhängig davon haben unsere Beispiele zweierlei verdeutlicht: Ein differenziertes Konzept der Medikalisierung bietet erstens einen geeigneten heuristischen und theoretischen Rahmen für die Analyse gesundheitsbezogener Ratgeberbücher; umgekehrt trägt diese Analyse zweitens wesentlich zu einem besseren und differenzierteren Verständnis von Medikalisierungsprozessen bei. Wie beide Beispielsfälle unterstreichen, lässt sich der Einsatz biomedizinischen Wissens in Ratgeberliteratur weder nach dem Modell objektiv-neutralen Wissenstransfers noch als bloße Popularisierung und ›Verflachung‹ komplexen wissenschaftlichen Wissens angemessen begreifen. Denn die Ratgeber vermitteln nicht nur neues medizinisches Wissen an interessierte und (potentiell) betroffene Personen, sondern bauen dieses Wissen gleichzeitig in einen ethischnormativen Rahmen ein, der die angesprochenen Individuen dazu motivieren soll, dieses Wissen aktiv zu nutzen. Diesem Ziel der ›Aktivierung‹ der Betroffenen dienen eine Reihe von argumentativen und rhetorischen Elementen der Bücher: die Dramatisierung des jeweiligen Problems, die Zuschreibung von Verantwortung (›Responsibilisierung‹) an die Individuen für ihr eigenes Wohlergehen und ihren Erfolg im Leben sowie, vor allem im Fall der Schüchternheit, das Angebot einer weit ge-
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fassten ›Krankheits-Identität‹, die moralische Entlastung und medizinische Unterstützung verspricht. Ratgeberliteratur wirkt (ebenso wie Medienberichte oder Medikamentenwerbung) primär auf der konzeptionellen Ebene der Medikalisierung. Sie bleibt dabei als Textform zwar (zunächst) jenseits der direkten Arzt-Patient-Interaktion, kann unter Umständen aber sogar Konflikte in dieser auslösen, wenn die Patienten schon mit festgefügten Vorstellungen über Diagnose und angemessene Therapie in der Praxis erscheinen. Ratgeber sind somit ein nicht unwesentlicher Teil der »shifting engines of medicalization« (Conrad 2005; 2007). Vermittelt über Medienberichte, Werbung und Ratgeberliteratur basiert Medikalisierung heutzutage immer stärker auf der Selbstmedikalisierung der Betroffenen, nicht auf deren passiver Unterordnung unter eine ärztliche oder wissenschaftliche Autorität. Damit wird aber auch eine Kritik am Konzept der Medikalisierung obsolet, die unterstellt, dieses impliziere »passivity on the part of the medicalised« (Rose 2007: 702). Dagegen spricht die in unseren Beispielsfällen sichtbar gewordene Bedeutung, die dem aktiven, sich mit seinen Problemen und seiner Zukunft intensiv auseinandersetzenden Individuum zugewiesen wird. Dabei machen Ratgeberbücher ihren Leserinnen und Lesern ein Deutungs- und Interpretationsangebot für ihr Leben, für ihre jeweiligen Probleme, das diese annehmen können oder nicht. Auch wenn diese Angebote keineswegs nur in neutraler Wissensvermittlung bestehen, sondern in normative Rahmungen eingebettet sind, mit suggestiven Rhetoriken arbeiten und – wie besonders im Fall der Schüchternheit – fragwürdige Grenzverwischungen zwischen dem ›Normalen‹ und dem ›Pathologischen‹ vornehmen, üben sie keinen unentrinnbaren Zwang zur Übernahme der entsprechenden Deutungen und ›Krankheitsnarrative‹ aus.17 Susie Scott (2007: 159-165) etwa beschreibt, wie sich ›widerständige‹ Wahrnehmungsmuster von Schüchternen herausbilden können, die sich der verbreiteten Stigmatisierung von Schüchternheit ebenso zu entziehen versuchen wie der Aufforderung, ihre ›soziale Fitness‹ zu verbessern. Diese Möglichkeit zur Distanzierung gilt in ähnlicher Weise auch für die Narrative des »successful aging« (Viehöver 2008, Viehöver et al. 2009).
17 Rose zeichnet allerdings ein idyllisches Bild der Marketing-Aktivitäten von Unternehmen, wenn er schreibt: »Marketing does not so much invent false needs, as suggested by cultural critics, but rather seeks to understand the desires of potential customers, to affiliate those with their products, and to link these with the habits needed to use those products« (Rose 2007: 702). Vgl. dagegen die zahlreichen Beispiele für (teilweise durchaus erfolgreiches) »selling sickness« bei Moynihan/Cassels (2005). 105
MEDIKALISIERUNG
Wenn man die »orthodox medicalisation critique« (Lupton 1997: 95-98) zurückweist, die moderne Medizin sei insgesamt eine Institution sozialer Kontrolle, und wenn man Medikalisierung nicht als per se negativ und illegitim bewertet, stellt sich die Frage, inwieweit das Konzept der Medikalisierung noch über ein kritisches Potenzial verfügt. Anders als Nikolas Rose annimmt (2007: 701-702), sind wir der Ansicht, dass die Analyse von Medikalisierungsprozessen durchaus eine sozialwissenschaftliche Kritikperspektive eröffnet, und zwar gerade dann, wenn sie sich im Sinne Peter Conrads auf die »etiology of definitions« konzentriert und sich nicht unmittelbar auf die Frage einlässt, ob die in Rede stehenden Phänomene ›tatsächlich‹ medizinischer Natur sind oder nicht. Eine ›dichte Beschreibung‹ der Entstehung und Etablierung neuer medizinischer Deutungen für Phänomene wie Altern oder Schüchternheit, wie Unglücklichsein und Unkonzentriertheit, kann zeigen, dass und wie hierbei, neben wissenschaftlichem Wissen, kulturelle Prägungen und normative Vorannahmen ebenso wie wirtschaftliche, politische oder professionelle Interessen eine konstitutive Rolle spielen. Ein wissenschaftssoziologischer und -historischer Blick kann darüber hinaus verdeutlichen, dass auch das vermeintlich objektive und universell gültige wissenschaftliche Wissen selbst durch teilweise unerkannte kulturelle Hintergrundannahmen beeinflusst wird, wie das oben erwähnte Beispiel der Medikalisierung von Homosexualität als psychische Störung demonstriert. Darüber hinaus machen sozialwissenschaftliche Analysen die Existenz alternativer Deutungen und Minderheitspositionen innerhalb von Medizin und Wissenschaft sichtbar, die bei fast allen gegenwärtig umstrittenen Medikalisierungsprozessen beobachtbar sind. Und schließlich lenken solche Analysen die Aufmerksamkeit auf durchaus ambivalente gesellschaftliche Folgen von Medikalisierungen, wie etwa die Bekräftigung der Erfolgskriterien und Normen gegenwärtiger neoliberaler Gesellschaften (Jugendlichkeit, Vitalität, Durchsetzungsvermögen etc.). All dies macht, wie eingangs erwähnt, die Historizität und Vorläufigkeit medizinischer Diagnosen und Deutungen sichtbar und schafft damit Spielräume für reflexive und skeptische Distanz zur Definitionsmacht der Biomedizin (vgl. Wehling 2008b), auch und gerade dann wenn diese nicht von vorneherein als fragwürdig bewertet wird. Nicht zuletzt verbessern differenzierte Analysen von Medikalisierung die von den Kritikern des Konzepts immer wieder herausgestellte Möglichkeit der Adressaten, sich medizinischen Deutungen zu entziehen oder diese zumindest eigensinnig zu modifizieren. Denn individuelle Autonomie gegenüber medizinisch-wissenschaftlicher Deutungsmacht ist keineswegs ein vorgegebenes und unverrückbares Faktum, sondern selbst von 106
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bestimmten gesellschaftlichen Bedingungen abhängig. Gerade in dem Bemühen, die Voraussetzungen für Distanz und Reflexion zu erhalten und zu verbessern, besteht ein wesentliches und unverzichtbares kritisches Potenzial sozialwissenschaftlicher Analysen zur zunehmenden Medikalisierung der Gesellschaft.
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Die Ök onomie biow isse nsc haftlic her Wissensproduktion KENDRA BRIKEN/CONSTANZE KURZ
Vor nunmehr einem Jahrzehnt wurde die Sequenzierung des menschlichen Genoms vom naturwissenschaftlichen Fachmagazin Science zu dem »Breakthrough of the Year« ernannt (Pennisi 2000: 2220). Und nicht nur die scientific community zollte den Forscherteams Tribut: In den USA machte Bill Clinton daraus ein politisches Ereignis und lud als erster Präsident Wissenschaftler zur öffentlichen Präsentation ihrer Ergebnisse in das Weiße Haus ein. In Deutschland berichtete etwa die FAZ ausführlich und druckte in ihrem Feuilleton am 27.06.2000 die vierbuchstabigen Sequenzenfolgen ab. Mehr als 30 Jahre zuvor war, wie Lily E. Kay in ihrer Rekonstruktion der Geschichte des genetischen Codes nachweist, die Metapher der »genomischen Textualität« (Kay 2005: 427) von der Analogie zur Ontologie geworden. Der damit verbundene wissenschaftliche Wettstreit um die genauesten Ergebnisse fand zumindest in der US-amerikanischen Öffentlichkeit eine ähnliche mediale Resonanz, in diesem Fall war das publizistische Leitmedium die New York Times. In beiden Fällen versprachen sich Öffentlichkeit, Pharmaindustrie und Fachwelt von den neuen Erkenntnissen nicht nur die Heilung bislang als unheilbar geltender Krankheiten, es ging auch um lukrative neue Märkte für die Pharmafirmen, für die Regierungen schließlich um Arbeitsplätze und Standortvorteile (vgl. z.B. Menrad et al. 2003). In beiden Fällen konkurrierten Institute und Wissenschaftler medienwirksam darum, den Wettlauf um die Erstveröffentlichung der Codierung/Sequenzierung des menschlichen Genoms zu gewinnen.
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MEDIKALISIERUNG
Während aber in den 1960er Jahren US-amerikanische Forschungslaboratorien ausgestattet mit staatlichen Fördergeldern um die wissenschaftlichen Meriten rangen, standen sich in den 1990er Jahren mit dem maßgeblich staatlich geförderten internationalen Forschungsverbund des Human Genome Projects (HGP) und dem rein privatwirtschaftlich finanzierten Unternehmen Celera Genomics zwei unterschiedliche wissenschaftliche Forschungsansätze wie auch ›Geschäftsmodelle‹ gegenüber.1 Gründer von Celera Genomics war der ehemalige Mitarbeiter des US-amerikanischen National Institute of Health, Craig Venter. Venter trat mit der erklärten Absicht an, deutlich schneller zum Ziel zu gelangen als das HGP-Konsortium – und er konnte dabei zwei entscheidende Vorteile nutzen: Er profitierte erstens von den Veröffentlichungsregeln des HGP-Projekts, das alle Ergebnisse frei zugänglich machte, und konnte bei der Auswertung dieser zugleich von seinen eigenen Erfahrungen in diesem Bereich der Grundlagenforschung profitieren. Als entrepreneurial scientist (vgl. Clark 1998; Etzkowitz 1983) konnte Venter zweitens in seiner eigenen Firma über die Forschungsmethoden und Ressourcen weitgehend allein und kurzfristig entscheiden und brauchte keine Abstimmungsprozesse abzuwarten. Venter konnte so gleichsam als machtvoller ›Zwerg auf den Schultern von Riesen‹ in das Rennen einsteigen. Seine medienwirksamen Auftritte trugen das ihre dazu bei, das internationale Konsortium in eine bis dato ungewohnte Wettbewerbssituation zu bringen. Im stilisierten Kampf ›privat gegen öffentlich‹ konnten Venter und seine Firma Celera Genomics zum Symbol eines neuen Typs wissenschaftlicher Wissensproduzenten werden: Forschungsnahe Biotechnologie-Unternehmen, die möglichst aus der universitären Grundlagenforschung heraus »Forschungsergebnisse mit Gewinn vermarkten«.2 Hier setzt unser Beitrag an. Wir analysieren im Folgenden, ausgehend von der Fragestellung des vorliegenden Sammelbandes, Prozesse der Übersetzung biomedizinischen Wissens in Alltagspraxen für das Feld der Ökonomie biomedizinischer Wissensproduktion. Wir möchten zeigen, dass die im deutschen Kontext seit den 1990er Jahren zu beobachtenden Unternehmensneugründungen im Bereich der Biotechnologie als neuartiger Transmissionsriemen bei der Übersetzung biomedizi-
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Ein profunder Überblick über die Geschichte, Forschungsansätze sowie die politischen Debatten findet sich unter http://plato.stanford.edu/ entries/human-genome/ vom 02.04.2010. Siehe unter http://www.existenzgruender.de/selbstaendigkeit/entscheidung /gruendungsarten/01838/index.php vom 03.04.2010.
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BRIKEN/KURZ: ÖKONOMIE DER W ISSENSPRODUKTION
nischer Forschungsergebnisse3 in die (pharma-)industrielle (Alltags-) Praxis wirken. Dazu werden wir im ersten Teil den traditionellen Prozess der Wissensgenerierung der Pharmaindustrie erläutern und die daraus resultierenden Problemkonstellationen umreißen. Im zweiten Abschnitt wird die Bedeutung der Biowissenschaften für das Forschungsund Entwicklungsparadigma der pharmazeutischen Industrie dargestellt. Daran schließt sich drittens eine Beschreibung der veränderten Strukturen und Institutionen an, in denen biowissenschaftliches Wissen organisiert wird. Im vierten Teil werden wir zeigen, dass insbesondere die Pharmaindustrie von dieser Entwicklung profitieren kann – während Heil(ung)s- ebenso wie Innovations- und Arbeitsmarktversprechen auf der Strecke bleiben. Unser empirischer Fokus auf der forschenden pharmazeutischen Industrie und auf Entwicklungen in Deutschland beginnend in den 1990er Jahren4 zeigt, dass die Pharmaindustrie in einer Situation, in der ihr Forschungs- und Entwicklungsmodell durch aktuelle wissenschaftliche Entdeckungen relevant in Frage gestellt wurde, nicht nur nutznießen konnte. Im Schatten eines hegemonialen Gesundheitsversprechens sowie staatlich geschürter Hoffnungen auf zusätzliche Arbeitsplätze und die Stärkung der nationalen ökonomischen Leistungsfä-
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Genauer gesagt geht es vorwiegend um Forschungsergebnisse aus dem Bereich der sogenannten Roten Biotechnologie. Unter dem Begriff ›Rote Biotechnologie‹ fasst man heute alle Bereiche der Biotechnologie zusammen, die medizinische Anwendungen zum Ziel haben. Dazu gehören die Entwicklung entsprechender Produkte (Therapeutika, Diagnostika, Impfstoffe etc.), ebenso die erforderlichen Plattformtechnologien sowie die Modellorganismen aus dem tierischen Bereich, die zur Entwicklung neuer Therapeutika benötigt werden. Eingeschlossen ist die Produktion von Wirkstoffen durch genetisch veränderte Tiere und Pflanzen (Zuordnung gemäß des BMBF-Förderschwerpunkts »Nachhaltige BioProduktion« 2001). Der Aufsatz basiert auf einer Interpretation der empirischen Befunde unterschiedlicher Projekte, die im Feld der biopharmazeutischen Industrie angelegt waren und sind und von uns teils gemeinsam geplant, beantragt und/oder durchgeführt wurden: »Wissenstransfer in ausdifferenzierten Innovationsketten. Neue Formen der Organisation von Innovationen in forschungs- und entwicklungsintensiven Industrien am Beispiel der Biotechnologie« (2001-2004); »Wissens- und Innovationstransfer von der Hochschule in die Wirtschaft: Institutionelle Anreizstrukturen und Arbeits- und Berufsorientierungen von (Bio)Wissenschaftlern« (2004-2007); »Qualifikationsentwicklungen und innerbetriebliche Arbeitsmarktsegmentation am Beispiel der Laborbeschäftigten« (seit Oktober 2008). Informationen zu den Projekten und Veröffentlichungen finden sich unter www.sofigoettingen.de 115
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higkeit aber vermochte es die Branche insgesamt, ihre machtvolle ökonomisch-institutionelle Position weiter auszubauen und zu festigen.5
Das Modell Pharma: Übersetzung neuen wissenschaftlichen W i s s e n s a l s u n t e r n e h m e r i s c h e Al l t a g s p r a x i s Hartnäckig hält sich die Vorstellung, dass – historisch betrachtet – die Produktion wissenschaftlichen Wissens in den Universitäten vornehmlich auf Grundlagenforschung ausgerichtet war, die dann in ihre Anwendungskontexte, also in diesem Fall ihre industrielle Verwertung, übersetzt wurde.6 Der Blick auf die Entwicklung der (chemisch-) pharmazeutischen Industrie lässt allerdings eine schlüssige Unterscheidung zwischen Grundlagen- und Anwendungsforschung kaum zu. Die pharmazeutische Industrie gilt als science based industry, als eine Industrie, deren Produktions- und Innovationsmodell durch die Übersetzung eigenständig produzierten wissenschaftlichen Wissens in Produkte gekennzeichnet ist. In enger Parallelität entwickelten sich im ausgehenden 19. Jahrhundert universitäre chemisch-pharmazeutische Forschung und chemisch-pharmazeutische Industrie. Die beträchtlichen Gewinne sowie die neuartigen Produkte der ersten Chemiefabriken, so zeigen wissenschaftshistorische Studien, brachten Ressourcen und Akzeptanz für die Etablierung einer neuen naturwissenschaftlichen Disziplin der chemischen Wissenschaft und damit verbunden der universitären Forschung. Schon früh entstanden eigenständige unternehmenseigene Forschungsabteilungen, die Produkte und Verfahren durchaus auch in grundlagenaffinen Bereichen weiterentwickelten. Dies sicherte den Beschäftigten in den Forschungsabteilungen ein durchaus der universitären Forschung vergleichbares Berufsbild. Darüber hinaus wurde so gewährleistet, dass Forschungsergebnisse aus dem akademischen Feld fachlich qualifiziert beurteilt werden konnten und mithin eine lose Kopplung an die Grundlagenforschung gesichert war. Insbesondere für die Frage, welche neueren Forschungsergebnisse in die Unternehmen übernommen werden sollten und welche Resultate man zunächst einmal nur von weitem beobachtete, ist diese Form des Vorhaltens von internen For5 6
Aus unseren Analysen ausgeblendet bleiben (aktuelle) Entwicklungen im Bereich der Gesundheitspolitik. Insbesondere die Protagonisten des sogenannten Mode 2 der Wissensproduktion behaupten, dass erst seit den 1990er Jahren Wissen in heterogenen Akteursnetzwerken produziert wird (vgl. Gibbons et al. 1994; kritisch dazu Weingart 2001).
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schungskompetenzen hochproduktiv (für einen Überblick vgl. Briken 2004).7 Die Kopplung industrieller Bearbeitungskontexte mit der wissenschaftlichen Forschung erfolgte einmal durch die Eigenaktivitäten der Industrieforschung. An Universitäten ausgebildete WissenschaftlerInnen besetzten die Abteilungen und Laboratorien der Industrieforschung und integrierten ihre wissenschaftlichen Kompetenzen in die Unternehmen, neben den Arbeitstechniken des Labors etwa auch die regelmäßige Beobachtung der relevanten wissenschaftlichen Literatur. Das chemische Paradigma8 der Medikamententwicklung ließ insbesondere in den Forschungsabteilungen der Großunternehmen immer auch Raum für das, was als kreatives und damit eher universitäres Forschertum bezeichnet wird. Weitere Kopplungen mit der universitären Forschung erfolgten darüber hinaus über Stiftungsprofessuren, Meinungsbildner,9 Beraterverträge sowie Auftragsforschung – allesamt mit dem Ziel, sowohl frühzeitig neue Märkte zu definieren als auch wissenschaftliche Entwicklungen zeitnah zu verfolgen. Dieses Modell geriet in den 1980er Jahren unter Druck. Trotz steigender Ausgaben für Forschung und Entwicklung scheiterten mehr und mehr Projekte im Bereich der klinischen Studien, die Anzahl der weltweiten Neuzulassungen etwa sank von 63 Medikamenten im Jahr 1987 auf 38 Medikamente im Jahr 1991. Zudem war das Ablaufen vieler um7
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Dieses sich im 19. Jahrhundert etablierende Modell (das seine historische Parallele in der Elektroindustrie findet) entspricht in etwa dem, was Gernot Böhme und andere in den 1970er Jahren als Finalisierung der Wissenschaft (mit einiger Resonanz) wissenschaftspolitisch skandalisieren konnten (vgl. Böhme/van den Daele/Krohn 1973). Dass gerade diese Finalisierung, darauf verwies etwa Peter Weingart (1997), später zum unhinterfragten Bezugspunkt einer staatlichen Innovationspolitik werden konnte, ist eine Ironie der Geschichte. Der Begriff des Paradigmas ist in diesem Fall insofern passend, als hier in der Tat ein vorherrschendes Denkmuster sowie damit verbundene Modellvorstellungen zur Funktionsweise der für die Medikamentenentwicklung notwendigen Wissensbestände gemeint ist: Die Medikamententwicklung folgte einer auf Versuch und Fehler basierenden Methode, da die molekularen Ansatzpunkte für die Ursachenanalyse von Krankheiten nicht abbildbar sind und das damit verbundene Auffinden und Optimieren von Wirkstoffen keiner rationalen wissenschaftlichen Methode folgt. Als Meinungsbildner gelten diejenigen ForscherInnen, die einen besonderen Einfluss auf die Durchsetzung neuer, für die Pharmaindustrie interessanter Forschungslinien haben. Die Meinungsbildner werden – ähnlich wie ÄrztInnen, die an Studien teilnehmen oder besonders regelmäßig neue Medikamente verschreiben – in besonderer Weise ›umsorgt‹, d.h. zu Tagungen eingeladen, die z.B. in Südfrankreich oder in der Toskana stattfinden. 117
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satzstarker Patente absehbar, ohne dass den Unternehmen Nachschub zur Verfügung stand. Einige Unternehmen schließlich verloren auf Grund unerwartet heftiger, teils tödlicher Nebenwirkungen ihre Blockbuster (d.h. Medikamente, die mehr als eine Milliarde Dollar Umsatz pro Jahr ausmachen). Umsatzeinbußen, fallende Aktienkurse sowie Schadenersatzklagen waren die Folge.10 Auch schienen die Methoden des chemischen Paradigmas an ihre Grenzen zu stoßen: Von den 500 Zielmolekülen, die bislang überhaupt erst als Anknüpfungspunkte der Medikamententwicklung identifiziert worden waren, konnten nur etwa 10 Prozent bearbeitet werden – Aufwand und Ertrag standen in einem immer ungünstigeren Verhältnis. Dass die Pharmaindustrie global gesehen dennoch auch in dieser als ›Krise‹ bezeichneten Phase regelmäßig Gewinne im zweistelligen Prozentbereich einfuhr und weit mehr in Marketing als in Forschung und Entwicklung investierte, verweist auf eine unternehmerische Struktur, die unter dem Deckmantel des Heil(ung)sversprechens hocheffizient zu funktionieren schien. Dieser ökonomische Erfolg ist schon lange Bezugspunkt für vielfältige Kritiken. Diese beziehen sich seit den 1970er Jahren nicht allein auf die Frage der Vertuschung von Nebenwirkungen (wie etwa im Contergan-Skandal), sondern ebenso auf die Produktion, d.h. in diesem Fall den Prozess der Medikamententwicklung (Tierversuche, klinische Studien als Menschenversuche), die Distribution (Patente, Preisabsprachen, keine global zugänglichen lebensnotwendige Medikamente) die Konsumtion (gezielte Einflussnahme auf ÄrztInnen durch PharmareferentInnen; kostenlose Verteilung von Gratismedikamenten an Kliniken und ÄrztInnen), die Etablierung neuer Märkte (auch durch Medikalisierung) sowie auf die Verbindungen zwischen Pharmaindustrie und Staat (Pharmalobby) (stellvertretend für viele vgl. Angell 2005).
B i ow i s s e n s c h a f t e n a l s n e u e H e r a u s f o r d e r u n g für die Pharmaindustrie Seit den 1970er Jahren setzten sich die Biowissenschaften als neue Leitdisziplin zur Erkundung innovativer Ansatzpunkte für die Ursachenanalyse von Krankheiten durch. Mit dem biologischen Paradigma wurde das Auffinden und Optimieren von Wirkstoffen sowie die Entwicklung 10 Ein prominentes Beispiel war etwa die Rücknahme des Cholesterinsenkers Lipobay durch die Bayer AG im Jahr 2001 (vgl. zu den Konsequenzen http://www.manager-magazin.de/geld/artikel/0,2828,239945,00.html. vom 03.04. 2010). 118
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von bislang in ihrer Tragweite noch unzureichend genutzten Möglichkeiten zur Verbesserung der Diagnose und Behandlung von Krankheiten auf eine informationelle Basis gestellt. Die von Lily E. Kay (2005) luzide analysierte dahinterliegende Konstruktion des genetischen Codes als Ontologie sowie als logisches Problem tritt eine fruchtbare Verbindung mit neuen technologischen, d.h. computerbasierten Methoden ein. Rational Drug Design sowie Computer Modeling versprechen als neue Verfahren exaktere Ergebnisse. Erhebliche Mengen an Wirkstoffen konnten fortan auf ihre Nützlichkeit in Kombination mit Zielmolekülen getestet werden. War ein Labor in den 1980er Jahren in der Lage, im Jahr 500 oder 1.000 Datenpunkte zu generieren, erzeugten Anfang des 21. Jahrhunderts einzelne Labors mehrere Millionen pro Jahr. Alles in allem war damit eine Aufbruchstimmung in Gang gesetzt, die einen forschungsparadigmatischen wie auch technologischen Wandel beinhaltete. Industrielle Akteure standen vor grundlegend neuen Möglichkeiten, Innovationen sowohl im Hinblick auf neue Produkte (etwa in Form von Medikamenten) als auch auf neue Prozesse (in Form neuer Verfahren der Wirkstoffsuche und neuer Wirkmechanismen) zu generieren. Zugleich wuchs das öffentliche Interesse an einer Wissenschaft wie an einer Branche, die nun vielleicht doch in der Lage zu sein schien, überspitzt formuliert, ›Gesundheit für alle‹ zu sichern. Das (neue) biowissenschaftliche Wissen stellt für die traditionelle pharmazeutische Industrie und für die damit verbundenen Technik-, Organisations- und Handlungsstrukturen eine besondere Herausforderung dar. Diese ist in einem mit dem biowissenschaftlichen Wissen verbundenen veränderten Krankheitsverständnis begründet: Biowissenschaften versprechen mit der strategischen Ausrichtung am ›Gen‹ oder auch dem ›Code‹ als dem zentralen An- und Einsatzort von Wirkstoffen, Krankheiten nicht allein phänotypisch zu erkennen, sondern sie in ihrem Genotyp voraussagen zu können. Diese Logik hat, bei aller Kritik, zumindest eine legitimatorische Funktion. Biowissenschaften lassen das chemische Paradigma der Wirkstoffsuche, das als ›Schrotschussmethode‹ bezeichnet wird, in unternehmerischer Perspektive recht alt aussehen – welches Unternehmen mag schon auf eine irrationale Medikamententwicklung setzen, wenn es andere, exaktere, auf der Analyse von Ursache und Wirkung fußende Angebote gibt? Biowissenschaftliches Wissen eröffnet darüber hinaus interessante Perspektiven für neue Produkte (die sogenannten New Biological Entities), für die Definition neuer Märkte (durch eine ›individualisierte‹ Medizin und durch Medikalisierung diverser sozialer Probleme, vgl. Conrad 2007) sowie für die Nutzung neuer Verfahren, die erhebliches Ratio-
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nalisierungspotenzial für die konkrete Laborarbeit versprechen (z.B. das sogenannte High Throughput Screening). Dem steht auf der anderen Seite eine erhebliche Steigerung unternehmerischer Unsicherheit im Prozess der Medikamententwicklung gegenüber. Es gibt immer mehr und in ihrer Tiefenstruktur unbekannte Targets (Zielmoleküle), die neuen Technologien lassen neue Anforderungen der (internationalen) Regulierungsbehörden erwarten – und bedingen damit eine innerorganisationale Veränderung bzw. Anpassung bislang geltender und weitgehend routinisierter bürokratischer Prozeduren (vgl. Briken/Kurz 2003; 2004). Eine gängige Einschätzung der Entwicklung der biopharmazeutischen Branche ist denn auch, dass die Pharmaunternehmen sich aus der Forschung zurückziehen und stattdessen forschungsnahe biomedizinisch orientierte Unternehmensneugründungen als Zulieferer neuen Wissens sich etablieren werden (vgl. z.B. die Beiträge in Bender 2000; Dolata 1996; 2000). Seit den 1990er Jahren ist in der Pharmalandschaft einiges in Gang gekommen (vgl. Giesecke 2001; Knie et al. 2002). Zu beobachten war eine strategische Neuausrichtung der Therapiegebiete vieler Unternehmen. Diese wurden teils deutlich reduziert und fokussiert. Die Branche insgesamt reorganisierte sich sowohl im Hinblick auf den Technikeinsatz als auch im Hinblick auf die Stofflichkeit und die kognitiven Prozeduren ihrer Wissensproduktion, dazu gehörte schließlich auch eine stärkere Integration der biowissenschaftlichen Wissensbestände.
Das institutionelle setting der biomedizinischen Wissensproduktion Parallel dazu entwickelte sich auch das die biomedizinische Wissensproduktion rahmende institutionelle setting. Eine besondere Rolle spielte zunächst die staatliche Technologie- und Innovationspolitik. Sie schwenkte in den 1990er Jahren auf einen Kurs um, der in der Innovationsforschung als ›technology pull‹ oder ›demand pull‹ bezeichnet wird. Bestimmte in den 1980er Jahren mit Blick auf die Gentechnologie die Frage nach den (unbeabsichtigten) Nebenfolgen sowie der Technikfolgenabschätzung die Diskurse, steht seit den 1990er Jahren die aktive Förderung der Biowissenschaften im Zentrum.11 Deutlich wird dies bei11 Dies war auch die hohe Zeit der Institutionalisierung der Technikfolgenabschätzung. Unser Eindruck ist allerdings, dass diese durch die Professionalisierung viel von ihrem Einfluss gerade auf industriepolitische Entscheidungen eingebüßt hat. Mit Blick auf die partizipationsorientierten Modelle ist sie zumeist an ethisch-moralischen Fragen orientiert, mit Blick 120
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spielsweise an den Fördersummen: So wachsen die jährlichen staatlichen Ausgaben für biotechnologische Forschung und Entwicklung bei zugleich sinkenden FuE-Gesamtausgaben von 89 Mio. DM im Jahr 1979 auf 480 im Jahr 1997. Von 1998 an werden die Biotechnologie sowie die molekulare Medizin bis über einen Zeitraum von drei Jahren mit einer Milliarde unterstützt. Im Rahmenprogramm ›Biologische Forschung und Technologie‹ des BMBF sind rund 1,5 Milliarden Mark vorgesehen, verteilt von 2001 bis 2005 (vgl. BMBF 1988; 1998; 2000). In Programmen wie ›BioRegio‹ oder ›BioProfile‹ wird die Bildung regionaler Netzwerke unterstützt, den Transfer in marktfähige Produkte setzt sich die ›BioIndustrie‹ zum Ziel, neu gegründete Biotech-Unternehmen bekommen eine ›BioChance‹, NachwuchsforscherInnen sehen mit ›Biofuture‹ und ›GoBio‹ in die Zukunft – die Verbundforschungsprojekte von Industrie, außeruniversitären Forschungseinrichtungen sowie Hochschulen können sich Fördermittel im Rahmen von ›BioPharma‹ einwerben. Die aktuellste Bündelung fand 2006 im Rahmen der High-TechStrategie des Bundes statt. Die Reform des Hochschulsystems definiert die Hochschulen neu als Zulieferer von Wissen und Innovation, etwa durch die sogenannte Verwertungsoffensive des BMBF, die explizit den Transfer von Innovationen aus der Hochschule in die Wirtschaft fordert sowie durch die Adressierung von Wissenschaftlern als potenziellen Gründerinnen. Im Zentrum steht hierbei die universitäre Forschung. Wissenschaftlerinnen sollen in ihrer Forschungspraxis stärker den Anwendungskontext berücksichtigen und damit gerade im Bereich der Biowissenschaften den Weg zu neuen Produkten beschleunigen (vgl. Kurz/Wolf 2009). Weiterhin werden Maßnahmen zum public understanding of science ausgeweitet durch die gezielte Förderung des inhaltlichen Verständnisses biowissenschaftlicher Prozesse (etwa durch die Bereitstellung umfassender Schulmaterialien, Aktionen wie das durch Deutschland fahrende ›Life Science Mobil‹ und durch spezielle sich an Schüler und Schülerinnen richtende Aktionstage), die diskursive Einbindung der Bevölkerung (durch Bürgerkonferenzen) sowie die Bündelung/Monopolisierung der öffentlichen Meinungsbildung durch Gremien wie den Nationalen Ethikrat. Schließlich wird dem in Deutschland als mangelhaft gedeuteten Bestand an verfügbarem Risikokapital, das zum Aufbau der Neugründungen dringend benötigt wird, durch die Bereitstellung von Kapital etwa im Rahmen der Kreditanstalt für Wiederaufbau (durch die TechnologieBeteiligungsgesellschaft) entgegen gewirkt. Und last not least liefert das auf politische Entscheidungsträger – zugespitzt – zu einer Beratungsagentur mit legitimatorischer Funktion geworden. 121
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Gentechnikgesetz von 1993 zusätzlich einen soliden rechtlichen Rahmen für kommerzielle Forschungs- und Entwicklungstätigkeit in Deutschland. Damit verbunden ist zugleich auch ein diskursiver Wandel der Öffentlichkeit. Medial überwiegen, wie Gerhards und Schäfer (2006) in ihrer Analyse der öffentlichen Diskurse zeigen, die positiv konnotierten Aussagen zur Biomedizin quantitativ. Die Deutungsmonopolisten sind dabei in erster Linie Wissenschaftler selbst, von ihnen stammen über 50 Prozent der Beiträge, es folgen Politiker und Akteure aus der Wirtschaft, weit abgeschlagen sind Stimmen aus dem Bereich der Nichtregierungsorganisationen. Die umfassenden Veränderungen führten tatsächlich zu einem relevanten Anstieg biowissenschaftlicher Firmengründungen. Zwischen 1997 und 2001 stieg die Anzahl der (forschungsorientierten) Unternehmen von 197 auf 381 (Ernst&Young 2001). Gleicht man die Resultate mit den durch hohen Ressourcenaufwand12 hochgeschraubten Erwartungen ab, so ist der Ertrag jedoch eher ernüchternd: Weder hat sich die Biotechnologiebranche zum Arbeitsplatzgenerator entwickelt noch konnte sie im Medikamenten- und Therapiebereich die in sie gesetzten Heil(ung)serwartungen erfüllen. Seit 2003 bleiben die Unternehmenswie Beschäftigungszahlen in etwa konstant, in ca. 390 Unternehmen arbeiten ungefähr 10.000 Beschäftigte (vgl. zuletzt Ernst&Young 2009). Insbesondere das nahezu gleichgewichtige Verhältnis von Zu- und Abgängen (d.h. von Insolvenzen und Neugründungen) bei den Unternehmen und die Tatsache, dass das Gros der Unternehmen noch immer im Bereich von unter 100 Beschäftigten operiert, sind Hinweise darauf, dass das Geschäftsmodell der Biotech-Unternehmen nicht nachhaltig funktioniert – und, wie wir nun anhand unserer empirischen Befunde zeigen werden, auch nicht ohne Weiteres funktionieren kann.
» I t ’ s t h e e c o n o m y, s t u p i d « ? D e r s c h m a l e G r a t zwischen Forschungsinteressen und Finanzierungsnöten Betrachtet man den Finanzierungsbedarf, der auf dem Weg von der Gründung bis zur Marktreife eines biotechnologischen Produkts aufzubringen ist, so wird deutlich, vor welchem Problem die jungen UnternehmensgründerInnen standen und stehen: In kurzer Zeit (zwischen ei12 Seit 1995 sind in institutionelle Fördermaßnahmen seitens der Bundesregierung ca. drei Mrd. Euro geflossen. Das entspricht einer Subventionierung jedes Arbeitsplatzes von etwa 30.000 Euro pro Jahr. 122
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nem bis drei Jahren) müssen wissenschaftliche Ergebnisse (die in fremden Kontexten anfallen), in marktfähige Bausteine transformiert werden, die die kurzfristigen Renditeerwartungen der Financiers überzeugend bedienen. Insofern saß der medial geschürte und den Regeln des Neuen Markts bzw. der New Economy gehorchende Hype um die Biotechunternehmen schon immer einer grandiosen Fehlinterpretation auf. Gerade die vermeintliche ›Forschungsnähe‹ und Kreativität, die den jungen Start ups ähnlich ihren Geschwistern aus der IT-Szene zugewiesen wurde, ist für die biowissenschaftliche Produktionsweise eine irreführende Analogie, die die Komplexität und die mit vielfältigen regulativen wie wissenschaftsimmanenten Hürden bestückte Produktentwicklung in diesem Feld unterschätzt: Ein Labor aufzubauen ist teurer als einen Computer in eine Garage zu stellen. Dies ist folgenreich für die Frage, unter welchen Bedingungen die wissenschaftliche Wissensproduktion erfolgen kann. Denn: Entscheidend ist, wer die Definitionsmacht darüber behält, was das ›richtige‹ Geschäft ist, d.h. welche Weichen gestellt werden müssen, um den hohen Kapitalbedarf zu sichern. Für die Forschung entstehen innerhalb des Unternehmens im Zeitverlauf immer neue Abhängigkeiten und Anforderungen, auf die sie reagieren und sich einlassen muss: Controller, die Budgets prüfen, Entwickler, die sicher geglaubte Erkenntnisse in Frage stellen, Chief Executive Officers, die einen Strategiewechsel ins Auge fassen, Kapitalgeber, die wissenschaftlich vielversprechende Projekte killen wollen. Alles in allem: Schwierige Balanceakte zwischen Forschungs-, Markt- und Kundenlogik, die erste Anhaltspunkte dafür liefern, dass die kreativen Vorteile von biomedizinischen Unternehmensgründungen von Friktionen, stärker noch durch die Einkehr von Marktförmigkeit gefährdet sind. Das »Killen« und »Pushen« von Projekten verbleibt nicht in der Definitionsmacht der WissenschaftlerInnen, sondern wird zu einem großen Teil an die Business-Seite übertragen.13 Dass damit ein Spannungs- und Konfliktfeld aufgezeigt ist, das weder in die eine noch in die andere Richtung eindeutig aufzulösen ist, zeigt unsere Empirie.14 Die Rationalitäts- und Entscheidungsmaßstäbe bzw. die 13 Entsprechend resignierend/resigniert formuliert denn auch die CFO: »Wir haben gesehen, dass wir noch so gut arbeiten können, die Börse interessiert das nicht« (A/1). 14 So meint etwa ein Forschungsleiter: »Es ist erstaunlich wie gut unsere Planung, jetzt auch mit ein paar Jahren Erfahrung, funktioniert. [...] Unsere internen Aktivitäten können wir sehr gut planen und kontrollieren. Sowie sich irgendwo Sackgassen auftun, wird Schluss gemacht. Oder wir sagen, das führt zu weit, das vergeben wir vielleicht an ein Forschungsinstitut. Die Frage ist so interessant für die Forschung, aber das bringt uns jetzt nicht weiter, das können wir nicht bearbeiten. Dann können wir eines unserer Uni-Institute fragen, ob die das interessiert. Wenn sie das interes123
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Denk- und Handlungsmuster beider Seiten sind vielfach unvereinbar. Die erkenntnisgeleitete Forschung kennt kein Scheitern, da jedes Ergebnis wissenschaftlich relevant sein kann und zum Ansatz neuer Versuche wird. In dieser Perspektive sind Zeit und Ressourcen eher nachrangige Entscheidungsmaßstäbe für Projekte. Für das am betriebwirtschaftlichen Ergebnis orientierte Management des Unternehmens hingegen gilt der potentielle finanzielle Ertrag eines Projekts als Entscheidungsgrundlage. Werden die Kosten im Verhältnis zum Nutzen zu hoch, wird in Zeiten knapper Finanzmittel zu Lasten des Forschungsansatzes entschieden, der die meisten Ressourcen verbraucht und den geringsten Ertrag bringt. Die interne betriebswirtschaftliche Entscheidung wird dabei häufig durch die externen Risikokapitalgeber vorgegeben, die der Devise folgen: maximale Sicherheit im Unsicheren. Für die Festlegung von Forschungsplanungen heißt dies übersetzt, dass es zu konservativen Planungs- und Finanzierungshorizonten kommt – wissenschaftliche Interessen werden dann zwar wohlwollend angesehen, aber als blauäugig verortet. Die WissenschaftlerInnen bzw. das (berufsbiografisch universitär ausgebildete) Gründungsteam müssen häufig erfahren, dass ihr wissenschaftliches Interesse und Wissen mit der Führung einer an kommerziellen Interessen orientierten Firma nicht immer vereinbar sein kann – und Laborergebnisse mit langfristigen Erfolgsaussichten keine gewichtigen Argumente gegen kurzfristige negative ökonomische Kennzahlen sind. Damit verbindet sich eine Limitierung von therapeutischen und diagnostischen Zielsetzungen, die auch darauf hinauslaufen kann, genau die Produktentwicklungen, die tatsächlich hochinnovativ mit Blick auf ihr
siert, machen die das, wenn sie es bedingt interessiert, müssen wir es halt bezahlen. So kann man eigentlich eine gute Planung und eine gutes Controlling machen«. Deutlich pessimistischer äußert sich ein Laborleiter eines kleinen Biotechunternehmens. »Dieses System, was im Moment aufgezogen wird, das ist nicht erfolgsorientiert im wissenschaftlichen Sinn, sondern businessorientiert, kommerzorientiert. Es geht darum: Wie kann ich die Ergebnisse, die die Firma im Moment produziert, so vermarkten, dass ich mehr Geld in die Firma rein bekomme. Egal wie. Das ist wieder mein Beispiel mit dieser Substanz. Die wird ausgerollt wie ein Stück Teigfladen, aber die Ergebnisse, die Erkenntnisse, die wir gewinnen bei der Produktion, die werden wir nie in einem Therapeutikum anwenden können. Wir generieren Ergebnisse für das Upper Management, für die Kapitalgeber, und der einzige, der davon ein Benefit hat, ist das Upper Management, die im Moment Aktionäre oder Mitbesitzer der Firma sind.« (B/5) Interviewpassagen aus dem Projekt: »Wissenstransfer in ausdifferenzierten Innovationsketten. Neue Formen der Organisation von Innovationen in forschungs- und entwicklungsintensiven Industrien am Beispiel der Biotechnologie«, vgl. auch Briken/Kurz 2004. 124
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therapeutisches Potential sind, als zu risikoreich einzustufen und die Ressourcen für die Weiterentwicklung einzufrieren. Für die beteiligten WissenschaftlerInnen heißt dies in der Regel, ein durchaus interessantes und vielversprechendes Projekt gegen den Sachzwang der Wirtschaftlichkeit zu verlieren. Dies deutet bereits an, dass in den Biotechunternehmen zwei ganz unterschiedliche Wissensdomänen existieren. Diese sind zwar funktionell aufeinander angewiesen, konfligieren aber zugleich in hohem Maße. In diesen Konflikten, die das wissenschaftlich Machbare gegenüber den Anforderungen von Investoren und Marktzugängen ins Spiel bringen, ziehen die WissenschaftlerInnen in der Regel den Kürzeren. Die Konzessionen, die an die wissenschaftlichen Motivationen gemacht werden müssen, sind hoch. Wissenschaftlich interessante Projekte werden auf Eis gelegt; herausfordernde Technologien werden auslizensiert, sobald Umsatz generiert werden kann; Ergebnisse werden mit Gewinn verkauft, obgleich sie nach wissenschaftlichen Maßstäben nicht valide sind. Was die Börse und die Kapitalgeber interessiert, sind schnell zugängliche Gewinnbringer, die das verkaufsfördernde Siegel ›kausal wirkend‹ oder ›neu‹ erhalten und darüber hinaus in der stofflichen wie finanziellen Dimension beherrschbare Risiken versprechen. Nicht wenige unserer Gesprächspartner wiesen denn auch darauf hin, dass es eher die wissenschaftlich gesehen ›braven‹ Wirkstoffe seien, die verwertet bzw. der Kommodifizierung zugeführt werden mit dem Ziel, das Unternehmen am Markt zu halten. Die Forschung wird in diesem Prozess sukzessive ausgedünnt. Zwar lässt sich nicht mit Sicherheit sagen, wie viele Patente verkauft, wie viele Projekte aus Geldmangel auf Eis gelegt wurden, doch scheint zumindest aus Perspektive der beteiligten WissenschaftlerInnen die betriebswirtschaftliche Sicht auf die Projekte immer zu dominieren. 15 Konflikte entstehen dabei für die Beschäftigten in mindestens zwei Perspektiven. Einmal geht es um die wissenschaftliche Grundhaltung, die überraschend stark mit einer Vision, dem Heil(ung)sversprechen verbunden ist. Den ›Krebs zu heilen‹ ist eine Metapher, die von vielen zwar als ›running joke‹ banalisiert wird, die indes einen erheblichen normativen Wert für die WissenschaftlerInnen gerade auch in der In-
15 Wie es ein Mitarbeiter eines Start up formuliert: »Entweder sie kaufen mir mein Wissen als Dienstleistung ab. Vielleicht kaufen sie es mir ab, indem sie mit mir eine Partnerschaft eingehen und mich am Erfolg partizipieren lassen. Vielleicht kaufen sie es mir ab, indem sie mich ganz aufkaufen. Das sind einfach drei verschiedene Eskalationsstufen, aber letztendlich läuft es immer auf dasselbe hinaus. Dazu sind wir da.« (A/3) 125
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dustrieforschung hat. Die Verbindung von beruflicher Höchstleistung und sozialer Verantwortung wird sehr deutlich. Zugleich haben aber auch die (zumeist) jungen ForscherInnen keineswegs eine ungebrochen altruistische Haltung, vielmehr geht es dabei immer auch um das Eigeninteresse. Die Erfolgsgeschichten der New Economy wirkten für viele noch nach, und allen Negativmeldungen zum Trotz wird das Heil(ung)sversprechen auch als Möglichkeit gedeutet, am allgemeinen ProfiteMachen mit einem eigenen Projekt zu partizipieren. »Have your cake and eat it too«, fasst es etwa ein Befragter zusammen. Die Erfahrung der immer stärkeren wissenschaftlichen Begrenzung der eigenen Arbeit sowie der oft genug in weite Ferne rückende ökonomische Benefit kombinieren sich dann mit im Vergleich zur großen Industrie wie auch zur Wissenschaft schlechten Arbeitsbedingungen: Sowohl das Gehalt, die Arbeitszeiten als auch die Beschäftigungssicherheit bleiben weit hinter den pharmaindustriellen Angeboten zurück. Wenig überraschend also, dass es zu einer hohen Fluktuation kommt. Die GründerInnen verlassen zumeist recht schnell ihr eigenes Unternehmen, und wissenschaftliche Angestellte sind frustriert, vielfach demoralisiert (vgl. Sennett 2008), sehen kaum Möglichkeiten, ihre eigenen Ansprüche an gute (wissenschaftliche) Arbeit umzusetzen – und müssen sich darüber hinaus noch sagen lassen, sie verstünden nichts von dem Geschäft, das sie selbst aufgebaut haben. Vor dem Hintergrund dieser Entwicklungen lassen sich die neuen Möglichkeitsstrukturen für die Pharmaindustrie skizzieren. Sie profitiert von der Entwicklung auf vielfältige Art und Weise, indem sie (zumeist kostengünstig) Zugänge zu Patenten (aus Liquidationen), qualifiziertem Personal (aus Biotechunternehmen) und Produkten (zumeist in Form von Targets, Substanzen, Spezialtechnologien aus Biotechunternehmen) bekommt. Außerdem kann sie im Rahmen der staatlichen Innovationsoffensiven ihre öffentliche Akzeptanz verbessern, denn das Heil(ung)sversprechen der Biowissenschaften färbt auch auf die Pharmaindustrie ab.
Fazit: Prozessierung neuen Wissens als Prozessierung ökonomischen Wissens Die Verfügbarkeit über das biowissenschaftliche Anwendungswissen liegt mit Blick auf die aktuellen Entwicklungen in relevantem Maß bei den Großunternehmen der pharmazeutischen Industrie. Unsere Empirie zeigt, dass sowohl universitäre Forschung als auch Biotech-Unternehmen im Rahmen einer forschungs- und förderpolitischen Innovati126
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onsoffensive ihre Aktivitäten an einer Form ökonomischen Handelns ausrichten sollen und dies zunehmend auch tun. Diese Form und die damit verbundene Kommodifizierung von Wissen forcieren eine direkte und enge Anbindung an die pharmazeutische Industrie, an ihre Märkte und die darauf ausgerichtete Produktionsweise (d.h. Indikationen, Therapiefelder, aber auch: Definition von Krankheiten) – und reproduziert zugleich bestehende Strukturen auf einem qualitativ wie legitimatorisch neuen Niveau. Nützlich ist dies vor allem für die Pharmaindustrie, denn auf diesem Weg kann sie einen Teil der Risiken der Pharmaforschung kostengünstig externalisieren. Die Biotechunternehmen übernehmen in den frühen, teuren und riskanten Phasen der Forschung das Risikomanagement. Die Pharmafirmen sind in der komfortablen Situation, zum einen nicht alle Forschungslinien selbst aufbauen zu müssen. Zum anderen können sie diesen neuen Markt als gefragter Partner der neuen Akteure gelassen beobachten. Denn für viele Biotechunternehmen ist die Kooperation mit einem großen Pharmaunternehmen bitter nötig, um an Reputation, vor allem auch an Kapital zu kommen und damit von den privaten Risikokapitalgebern als vertrauensvoll und solide eingestuft zu werden. Der Einzug ökonomischer Imperative in nahezu alle gesellschaftlichen Bereiche ist Teil zeitdiagnostischer Kritiken. Auch die von uns untersuchte Form der Prozessierung biowissenschaftlichen Wissens ist eng gekoppelt an Maxime der vornehmlich unternehmerischen Logik und Effizienz. Die daraus resultierenden konfligierenden Interessenlagen werden, dies haben wir gezeigt, in der Regel zugunsten der betriebswirtschaftlichen Gewinnlogik hin aufgelöst – mit derzeit noch nicht absehbaren Folgen für die biowissenschaftliche Forschung. Ob und wie weit es zu einer Homogenisierung von Forschungslinien kommen wird, sollte die Orientierung an der ökonomischen Verwertung weiterhin maßgeblich sein, bleibt abzuwarten. Die Hoffnung, dass dem Trend der strukturellen Verbetriebswirtschaftlichung (vgl. PROKLA 2007) widerständige Praxen auf der Mikro-Ebene entgegen stehen, können wir für unser Untersuchungsfeld bislang nicht teilen. Zu stark wirkt insbesondere im Bereich der Biowissenschaften anscheinend der Anspruch nach, dass man als WissenschaftlerIn vornehmlich einer gesellschaftlich nützlichen Arbeit nachginge. Die von den BiowissenschaftlerInnen geäußerten Enttäuschungen über ihre Arbeit in den Biotechunternehmen zeigen, dass sie recht ungebrochen der Idee der ›good work‹ (vgl. Gardner et al. 2002) im Bereich der Medikamententwicklung folgen. Nur vereinzelt wird darüber nachgedacht, dass das Wohl der Menschheit womöglich nicht nur durch die mangelnde Geduld der Investoren wie die Profitinteressen der Pharmaindustrie 127
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behindert wird, sondern dass die Ökonomie der Wissensproduktion auch die Forschungslinien, die darin eingebetteten Gelegenheitsstrukturen sowie die Interessen der Akteure im biowissenschaftlichen Feldes spiegelt. In dem Maß, in dem Interessenverbände, Unternehmen und Universitätsleitungen unisono nach einem Mehr an unternehmerischem Können verlangen und in Gründungszentren die management skills zur Unternehmensführung auch für Natur- und Gesellschaftswissenschaften wie selbstverständlich angeboten werden, sollte die Vermittlung ökonomischer Kenntnis genauso wenig an den Grenzen des Unternehmens enden wie umgekehrt ethische Debatten vor allem auf das Subjekt fokussieren. Vielmehr ginge es darum, den Kontext je spezifischer Produktionsweisen und damit ihrer gesellschaftlichen Formierung dechiffrieren zu können, um ihn neben ökonomischen Anforderungen zu einem festen (Wissens-)Bestandteil des Prozesses der Übersetzung neuen Wissens zu machen.
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BRIKEN/KURZ: ÖKONOMIE DER W ISSENSPRODUKTION
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›Neuro-Enhance me nt‹ – Gese lls c haftlic he r Fortsc hritt ode r ne ue Dime ns ion der Me dikalisierung? TORSTEN HEINEMANN
Schöne neue Neuro-Welt? In der heutigen ›Wissensgesellschaft‹ wird von verschiedenen Seiten, darunter Bildungspolitikerinnen1, Wirtschaftsvertreter, Wissenschaftlerinnen und die Medien, ein immer größerer kognitiver Leistungs- und Erfolgsanspruch formuliert. Das ungeborene Kind soll bereits im Mutterbauch mit klassischer Musik, vorzugsweise Mozart, beschallt werden, damit sich seine kognitiven Fähigkeiten möglichst früh entwickeln. Kleinkinder sollen am besten gleich einen bilingualen Kindergarten besuchen und Schulkinder nicht nur drei oder vier Sprachen sprechen, sondern im Idealfall auch ein Musikinstrument beherrschen und dazu eine Sportart auf höchstem Niveau betreiben. Kinder werden heute häufig schon mit fünf Jahren eingeschult, damit sie möglichst jung Studium oder Ausbildung abschließen und ins Berufsleben starten können. Mit dem Verkürzen der Abiturphase wird der gleiche Lehrstoff in kürzerer Zeit vermittelt und diese Entwicklung setzt sich in den neuen Bachelorund Master-Studiengängen an den Hochschulen fort.2 Zum erhöhten 1
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Gegenüber dem großen ›I‹ habe ich gewisse sprachästhetische Hemmungen. Gleiches gilt für Schreibweisen wie ›_innen‹ oder ›/innen‹ Deshalb gilt für den gesamten Text, dass verschiedentlich sowohl das generalisierte Femininum als auch das generalisierte Maskulinum verwendet wird. Empirisch ist es in vielen Fächern mehr als fraglich, häufig auch schon widerlegt, inwiefern die Einführung der neuen konsekutiven Studiengänge 131
MEDIKALISIERUNG
Lernpensum an den Hochschulen kommen die heute häufig obligatorischen Praktika und wenn man später auf dem Arbeitsmarkt Erfolg haben will, sollte auch das eine oder andere Auslandssemester nicht fehlen. Zusätzlich zu diesen diversen Anforderungen und Verpflichtungen, müssen viele Studierende neben dem Studium arbeiten oder sich durch fortwährend herausragende Leistungen für ein Stipendium qualifizieren, um ihren Lebensunterhalt zu bestreiten. Im Berufsleben wird uns dann angetragen, uns fortwährend weiterzubilden, um erfolgreich zu sein und nicht plötzlich den Job zu verlieren. Dass eine Karriere eine »steile Lernkurve« voraussetzt, wie es im Wirtschaftskontext heißt, ist ohnehin selbstverständlich. Selbst Rentnerinnen sollen im Alter noch »Gehirnjogging« betreiben, sich geistig und körperlich fit halten, damit sie ein langes erfülltes Leben führen und den Krankenkassen und der Gesellschaft möglichst wenig zur Last fallen. »Lebenslanges Lernen« und »Fit bis ins Alter« sind hier die Stichworte. Wer sich in der ›Wissensgesellschaft‹ nicht fortwährend qualifiziert und flexibel auf neue Herausforderungen reagiert oder wer als weniger begabt oder unqualifizierbar gilt, läuft Gefahr, abgehängt und von der gesellschaftlichen Teilhabe ausgeschlossen zu werden (beispielhaft Glotz 1999; Willke 1998; kritisch dazu Laster/Steinert 2003; Steinert 2000). Nun versprechen die Neurowissenschaften auf der Grundlage neuer Forschungsergebnisse eine simple und doch wirkungsvolle Lösung für das Problem des ständigen Erfolgs- und Leistungsdrucks in der wissensbasierten Ökonomie des Neoliberalismus: das sogenannte »NeuroEnhancement«. »Neuro-Enhancement«, teilweise auch als »cognitive enhancement«, »Hirn-« oder »Gehirndoping« bezeichnet, beschreibt die Möglichkeit, durch Einnahme von bestimmten Substanzen die kognitive Leistungsfähigkeit und das psychische Befinden bei gesunden Menschen gezielt zu steigern und sich somit in Beruf und Privatleben Vorteile und Erleichterungen zu verschaffen3 (vgl. Förstl 2009; Nagel/Stephan 2009). Auf Grund der fundamentalen Fortschritte in unterschiedlichen Bereichen der Neurowissenschaften scheint es heute möglich, durch die ge-
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mit einer tatsächlichen Verkürzung der Studienzeiten einhergeht. Zumindest aber, und das ist in diesem Kontext von entscheidender Bedeutung, ist das Reduzieren der Studienzeiten bei gleichbleibend hohen fachlichen Bildungs- und Ausbildungsstandards das erklärte Ziel von Hochschulplanerinnen und Bildungspolitikerinnen. Ich verwende im Folgenden vor allem die Begriffe »Neuro-Enhancement« und »Gehirndoping«, jedoch jeweils mit einfachen Anführungszeichen. Da die Begriffe selbst hoch umstritten sind, ist allein auf begrifflicher Ebene Distanz geboten. Im englischen Sprachraum, wo die Debatte ihren Ursprung hat, ist es üblich, von »cognitive enhancement« zu sprechen, jedoch findet sich dieser Begriff kaum in deutschsprachigen Publikationen.
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HEINEMANN: ›NEURO-ENHANCEMENT‹
zielte Einnahme von Pillen die geistigen Fähigkeiten signifikant und mit lediglich geringen, jedenfalls vertretbaren Nebenwirkungen zu verbessern (beispielhaft Farah et al. 2004, Stix 2009). Dieses Bild wird der interessierten Leserin in diversen massenmedialen Dokumentationen von und über neurowissenschaftliche Forschung vermittelt. Die futuristisch anmutenden Darstellungen werden dort häufig von Moralphilosophinnen und Ethik-Expertinnen kommentiert, die darauf hinweisen, dass man ›Neuro-Enhancement‹ nicht vorschnell verteufeln sollte und sich auch moralische und ethische Fragen der Leistungsgerechtigkeit in einer zukünftigen hirngedopten Gesellschaft befriedigend werden lösen lassen. Eine bessere Gesellschaft mit einer gesunden, ernst gemeinten »Work-Life-Balance« scheint möglich (Galert et al. 2009: 43). Ganz in diesem Sinne wird bereits die »Neuro-Revolution« ausgerufen, die unser Leben und die Welt, wie wir sie bisher kennen, grundlegend verändern werde (vgl. Lynch 2009). Die von Neurowissenschaftlern und Philosophen geführte Debatte über die Möglichkeiten und gesellschaftlichen Folgen des ›NeuroEnhancement‹ hat dabei in den letzten zwei Jahren die Diskussion um den »freien Willen«, die seit der Jahrtausendwende die feuilletonistischen Berichte über neurowissenschaftliche Forschung dominierte, abgelöst. In regelmäßigen Abständen sind heute in Tages- und Wochenzeitungen, populärwissenschaftlichen Journalen sowie im Fernsehen Berichte über ›Neuro-Enhancement‹ zu finden. Bemerkenswert ist dabei, dass sich die Positionen zwischen den Disziplinen nicht konträr gegenüber stehen, sondern sich wechselseitig ergänzen. Neurowissenschaftlerinnen präsentieren Möglichkeiten einer modernen hirngedopten Gesellschaft, Philosophen und Ethiker liefern die Rechtfertigung dazu. Das Signal an die wissenschaftliche und mediale Öffentlichkeit ist deutlich: Hier wird nicht leichtfertig über technische und medizinische Verfahren spekuliert, sondern es werden auch die Konsequenzen reflektiert. Die Diskussion um ›Neuro-Enhancement‹ ist dabei keine bloße Medieninszenierung, sondern sie wird prominent in wissenschaftlichen Kontexten, beispielsweise den bekannten Journalen Nature und Science sowie in einer Reihe von interdisziplinären Forschungsprojekten geführt. Auch hier ist im Unterschied zur Debatte um den »freien Willen« eine ausgeprägte Tendenz zu einem Dialog und gemeinsamen Miteinander zwischen Neurowissenschaftlerinnen und Ethikerinnen erkennbar, bei dem vor allem die Chancen und Möglichkeiten des ›Neuro-Enhancement‹ betont werden (beispielhaft Greely et al. 2008; Schöne-Seifert et al. 2009). Die Debatte scheint damit ein eindrucksvolles Beispiel der Prozessierung neuen Wissens zu sein und zwar in zweifacher Hinsicht: Im Labor produziertes wissenschaftliches Wissen verändert erstens grundle133
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gend die menschlichen Möglichkeiten und sorgt für gesellschaftlichen (Leistungs-)Fortschritt. Zweitens werden verschiedene Öffentlichkeiten durch eine konsequente Popularisierung4 des wissenschaftlichen Wissens über diesen theoretischen und praktischen wissenschaftlichen Fortschritt informiert. Verbunden ist dieser Prozess mit einer kritischen Reflexion der damit einhergehenden Folgen – aufgeklärtes ›Neuro-Enhancement‹ also. Die Lebenswissenschaften, genauer die Neurowissenschaften, bieten mit ›Neuro-Enhancement‹ die Lösung für ein erfolgreiches und sorgenfreies Leben an und weisen damit den Weg in eine vermeintlich bessere und leistungsfähigere Gesellschaft. Schöne neue Neuro-Welt!? Doch was ist eigentlich so neu an der Debatte um ›Neuro-Enhancement‹? Gibt es nicht seit Jahrhunderten Versuche, die kognitive Leistungsfähigkeit und das psychische Befinden mit Mitteln wie Nikotin, Koffein oder Alkohol zu verbessern? Welche ›Neuro-Enhancer‹ gibt es, mit denen die Rede von einer neuen Qualität und Aktualität des Themas belegt und rechtfertigt wird? Grundsätzlicher ist zudem zu klären, was für ein Bild von Gesellschaft in diesen scheinbar neuen NeuroRealitäten und -Fiktionen gezeichnet wird. Welche Rolle spielen soziale und kulturelle Faktoren überhaupt in der aktuellen Debatte um ›NeuroEnhancement‹ und welche individuellen und gesellschaftlichen Nebenwirkungen sind damit verbunden? Diesen und damit verbundenen Fragen werde ich im Folgenden nachgehen. Ziel ist es, die Debatte um das ›Neuro-Enhancement‹ als Beispiel der Prozessierung neuen Wissens nachzuzeichnen und deren gesellschaftliche Implikationen herauszuarbeiten. Ich werde zeigen, dass die vermeintlich aufgeklärte Debatte um ›Neuro-Enhancement‹ einen weiteren Schritt in Richtung einer zunehmend medikalisierten Gesellschaft darstellt und sich hier ein neuer Modus von Medikalisierung zeigt. Allgemein wird unter Medikalisierung ein durch den medizinischen und medizintechnischen Fortschritt induzierter gesellschaftlicher Wandel verstanden, bei dem vormals soziale Rahmenbedingungen, Prozesse und Probleme als medizinische Fälle und Pathologien definiert werden, um sie dann mit entsprechenden medizinischen Maßnahmen zu behandeln (beispielhaft Conrad 2007, Illich 1976). Bei ›Neuro-Enhancement‹ geht es jedoch nicht um die Konstruktion neuer Pathologien, sondern um einen möglichen gesellschaftlichen Fortschritt im Sinne einer gesteigerten Leistungsfähigkeit durch die Einnahme von entspre4
Im Anschluss an die Definition von Whitley (1985: 12) meint Popularisierung hier zunächst nichts anderes als die Transformation von Wissen aus dem Entstehungskontext in einen anderen Kontext. Der Begriff wird somit rein deskriptiv verwendet (vgl. Kretschmann 2009: 84f).
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chenden Mitteln. Es handelt sich damit nicht mehr um die Pathologisierung bestimmter Lebensbereiche, sondern um einen umfassenderen Zugriff der Medizin auf gesellschaftliche Funktionen und Erwartungen. Damit unmittelbar verbunden ist ein neues Verständnis des individuell und gesellschaftlich Normalen und Möglichen. Weiterhin wird zu zeigen sein, dass selbst die vermeintlich kritischen Positionen zu diesem Thema häufig eher ein Bestandteil dieser Entwicklung sind, als dass sie zu ihrer Reflexion beitragen. Die neue Form der Medikalisierung wird dabei nicht durch das neurowissenschaftliche Wissen selbst, sondern durch dessen Popularisierung verbreitet. Die Rekonstruktion dieses Phänomens erfolgt in vier Schritten: Eingangs werde ich einige ›Erfolgsgeschichten‹ des ›Neuro-Enhancements‹ vorstellen, wie sie in populärwissenschaftlichen Artikeln zu finden sind. Anschließend nehme ich das Fundament der Debatte, die ›NeuroEnhancer‹ selbst in den Blick. In einem dritten Teil wird die gesellschaftliche und ethische Reflexion des ›Gehirndopings‹, die ein zentraler Bestandteil des Diskurses ist, untersucht, bevor abschließend die implizite Struktur einer kognitiv leistungsverbesserten Gesellschaft herausgearbeitet wird. Es ist also gerade nicht das Ziel, ›Neuro-Enhancement‹ zu skandalisieren oder zu verharmlosen, sondern die der Debatte innewohnende Logik zu explizieren. Hierfür werden die verschiedenen Argumentationen untersucht und gegenüber gestellt. Diese werden dann zusammenfassend vor dem Hintergrund der Medialisierung wissenschaftlichen Wissens und einer neuen Dimension von Medikalisierung reflektiert.
Hirngedopte ›Erfolgsgeschichten‹!? In den letzten zwei Jahren gab es eine ganze Reihe von populärwissenschaftlichen Veröffentlichungen und TV-Dokumentationen zum Thema ›Neuro-Enhancement‹. Die Strukturen dieser Beiträge weisen große Ähnlichkeiten auf: Meist beginnt der Artikel mit einer echten oder fiktiven ›Erfolgsgeschichte‹. Hier wird dem Leser vorgeführt, welche Möglichkeiten ›Gehirndoping‹ bietet beziehungsweise bieten wird. In einem Artikel der im Sommer 2009 im Nachrichtenmagazin Der Spiegel erschienen ist, wird von Maria Westermann berichtet. Die promovierte Apothekerin und Mutter zweier Kinder fühlte sich von den an sie gestellten Anforderungen und selbst gewählten Aufgaben zunehmend überfordert. Nach einer Krebserkrankung und der damit verbundenen Operation wurde die Angst, nicht mehr so leistungsfähig zu sein wie vorher, so stark, dass Frau Westermann »reif fürs Hirndoping« war 135
MEDIKALISIERUNG
(Blech et al. 2009: 46). Sie nahm Ritalin®, ein Mittel, welches hauptsächlich in Verbindung mit der Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) eingesetzt wird und welches »ihre hyperaktiven Kinder« verschrieben bekommen hatten. Das Mittel verfehlte seine Wirkung nach Darstellung des Spiegel nicht: »Westermann war mit den Tabletten so leistungsfähig wie nie […]. Morgens schon managte sie perfekt den Apothekenbetrieb. Sie schmiss eine Pille ein, nahm sich die Kassenumsätze vor und konnte genau verfolgen, wie das Geschäft am Vortag gelaufen war, ohne im Laden gewesen zu sein. […] Nachmittags war Maria Westermann Übermutter und paukte ihre Jungs durch die Schularbeiten. Nebenbei bereitete sie Vorträge für die Elternschaft vor. Keine gewöhnlichen Referate, bewahre – das Ritalin in ihr stachelte sie zu Höherem an. Sie arbeitete das Standardwerk über Rhetorik durch, betrieb Werbung, schaltete die Lokalpresse ein, am Ende kamen 130 Leute. Rekord. Sobald die Kinder im Bett waren, las Maria Westermann den SPIEGEL an einem Stück durch. Dann Fachliteratur über Psychologie, Medizin, Philosophie, Theologie. Sie verschlang Schopenhauer und Nietzsche. ›Sie hat die Bücher nicht gelesen‹, erinnert sich ihr Mann, ›sie hat sie regelrecht aufgesogen.‹ Westermann war in der Lage, sich Inhalte exakt zu merken, Zusammenhänge herzustellen und Erklärungen für ihr eigenes Leben abzuleiten. ›Jedes Buch war so spannend wie ein Krimi‹, sagt sie.« (Blech et al. 2009: 48)
All das klingt zweifellos nach einer beeindruckenden Erfolgsgeschichte. Mehr in kürzerer Zeit leisten und sich dennoch gut fühlen, das scheint das Versprechen des ›Hirndopings‹ zu sein. Erst einige Seiten später in den letzten Absätzen des Artikels erfährt man jedoch, dass Frau Westermann nach drei Jahren ›Neuro-Enhancement‹ vollkommen am Ende war und in eine Entzugsklinik für suchtkranke Menschen ging. Nebenwirkungen kann es also offensichtlich geben. In der Ausgabe 11/2009 von Gehirn&Geist ist ›Neuro-Enhancement‹ die Titelgeschichte. In dem von sieben Neurowissenschaftlerinnen geschriebenen Artikel, den sie selbst als Memorandum bezeichnen, wird ebenfalls ein Szenario entworfen, in welchem ›Hirndoping‹ ein adäquater Weg zu sein scheint. »Der Tag der Hochzeit ihrer besten Freundin: ein Tag, auf den sich Anna seit Monaten gefreut hat und an dem alles perfekt sein soll – schließlich ist sie die Trauzeugin. Doch ausgerechnet an diesem Morgen kommt es zum großen Zerwürfnis zwischen Anna und ihrem Freund Roland. Der Streit ist so heftig, dass es ihr unmöglich erscheint, danach ein Fest zu besuchen, geschweige denn zu koordinieren, wie sie es versprochen hat. Aber ebenso wenig kann sie der besten Freundin den ›schönsten Tag des Lebens‹ verderben. Was tun? Vie136
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le würden ihre Verzweiflung in einer ähnlichen Situation vermutlich mit ein paar Gläsern Sekt hinunterspülen. Doch in diesem Fall verbietet sich das, denn für die Organisation braucht Anna einen klaren Kopf. Nehmen wir nun an, ihr WG-Mitbewohner Tim, der das ganze morgendliche Drama verfolgt hat, schlägt Abhilfe vor: eine Pille, die er selbst wegen seiner Depressionen einnimmt. Bei ihm wirke das Mittel regelrecht Wunder, außerdem habe er neulich gelesen, dass es auch die Stimmung gesunder Menschen verbessere. Einen Versuch sei es jedenfalls wert – Nebenwirkungen habe die Tablette sehr selten und fast nur harmlose.« (Galert et al. 2009: 40)
Auf diese Geschichte folgt die direkte Frage an die Leserin, ob sie in Annas Situation den Versuch wagen würde und ob es »verwerflich« wäre, durch Doping das Fest zu retten. Im folgenden Satz wird dann allerdings darauf verwiesen, dass es eine solche Pille noch nicht gäbe. In einem früheren Artikel in Gehirn&Geist – auch hier ist das Thema »IQ-Doping« die Titelgeschichte – wird die Versuchung bzw. Problematik des ›Neuro-Enhancement‹ insbesondere im wissenschaftlichen Kontext noch deutlich zugespitzt. Dort heißt es: »Berlin: Auf einer Pressekonferenz gab die Neuropsychologin und Leibnizpreisträgerin des Jahres 2010 Rita Lien bekannt, sie nehme seit Jahren Hirndopingmittel ein. Frau Lien bot an, den mit mehreren Millionen Euro dotierten Forschungspreis zurückzugeben. Die meisten ihrer bahnbrechenden Arbeiten seien unter dem Einfluss von Wachmachern und konzentrationsfördernden Mitteln entstanden; nur so habe sie dem ungeheuren Druck standhalten können, in immer kürzerer Zeit neue Ergebnisse produzieren und große Summen Drittmittel einwerben zu müssen.« (Berger/Normann 2008: 36)
Auch hier wird deutlich, dass es sich zunächst um ein Zukunftsszenario handelt. Im Jahr 2008 wird über die Ereignisse im Jahr 2010 spekuliert. Zwar ist der Artikel von Berger und Normann insgesamt deutlich kritischer als die zwei zuvor zitierten, doch dies ändert nichts daran, dass auch hier eine vermeintliche Erfolgsgeschichte erzählt wird. Durch ›Gehirndoping‹ hat es eine fiktive Wissenschaftlerin zu Ruhm und Ehre gebracht. Gleichzeitig vermitteln die Autoren den Eindruck, dass ihre Geschichte so fiktiv nun auch wieder nicht ist. Bezug nehmend auf die durch einen Nature-Artikel ausgelöste Diskussion in einem Onlineforum schreiben sie: »Ein Fünftel der […] debattierenden Wissenschaftler gab an, selbst schon einmal Medikamente zur Steigerung der geistigen Leistungsfähigkeit eingenommen zu haben. Nicht nur in Labors und Universitäten, auch in vielen anderen
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Bereichen scheint der Gebrauch von ›Neuroenhancern‹ – Medikamenten zur mentalen Leistungssteigerung – weit verbreitet zu sein.« (Ebd.)
Der Leserin werden in allen drei Fällen Erfolgsgeschichten, zuweilen verbunden mit kleinen Schönheitsfehlern, vorgeführt, die es entweder schon gibt oder in naher Zukunft geben wird, dann, so wird suggeriert, aber mit vernachlässigbaren Nebenwirkungen. Die neuro-gedopte Gesellschaft scheint dabei unglaubliches Potenzial zu haben: Lernen ohne Erschöpfung, Energie und Tatendrang verbunden mit einer unbändigen Freude am Leben, all das könnte mit ›Neuro-Enhancement‹ schon bald Wirklichkeit werden. Dies sind zumindest die Phantasien, mit denen man in Artikeln zum Thema ›Gehirndoping‹ konfrontiert wird. Sieht man von den vorhandenen Nebenwirkungen ab, so wird das Bild vermittelt, dass es sich bei ›Neuro-Enhancement‹ um einen erstrebenswerten Zustand handelt, der ein insgesamt besseres Leben ermöglichen kann. Genau gegen diese Darstellungen und Phantasien regt sich von verschiedenen Seiten Kritik. Es lassen sich zwei zentrale Kritikpunkte unterscheiden. Erstens wird insbesondere von Pharmakologinnen kritisiert, dass im Rahmen der Debatte um ›Neuro-Enhancement‹ der Eindruck erweckt wird, es gäbe bereits brauchbare ›Neuro-Enhancer‹ beziehungsweise es würde sie in absehbarer Zeit geben. Zweitens werden von Moralphilosophen und Ethikexperten ethische Bedenken geäußert, da es sich bei ›Neuro-Enhancement‹ um unlauteren Wettbewerb handle und ein sozialer Zwang zum Dopen entstehen könnte. Dieser zweite Kritikpunkt wird häufig von den gleichen Expertinnen formuliert, die ›Gehirndoping‹ grundsätzlich befürworten, und die das Problem eher hypothetisch darstellen, um sich dann daran abzuarbeiten. Zugespitzt kann man fragen, ob es in absehbarer Zeit wirksame ›Neuro-Enhancer‹ geben wird und ob dies ein ethisch vertretbarer Zustand ist.
Al t e P i l l e n – N e u e s W i s s e n ? Nimmt man die Intensität der Medienpräsenz als Maßstab, so könnte man in der Tat meinen, dass die Neurowissenschaften und die Pharmazeutik in den vergangenen Jahren eine Reihe von bahnbrechenden Entdeckungen gemacht haben. Steht der Durchbruch im ›Gehirndoping‹ also kurz bevor? Betrachtet man die Beispiele, mit denen ›NeuroEnhancement‹ in diversen Artikeln illustriert wird, so wird dort ausschließlich auf Medikamente verwiesen, die es seit mindestens 20 Jah-
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ren gibt.5 Besonders häufig werden Methylphenidat, welches unter Handelsnamen wie Ritalin® oder Concerta® vertrieben wird, verschiedene Selektive Serotonin-Wiederaufnahmehemmer (SSRI), allen voran Prozac®, Modafinil, bekannt als Provigil®, Antidementiva wie Aricept® und verschiedene Betablocker genannt. Was also ist neu am ›Neuro-Enhancement‹, wenn es die Medikamente selbst schon seit vielen Jahren – Ritalin® beispielsweise seit Mitte der 1950er Jahre – gibt? An diesem Punkt setzt der Psychopharmakologe Quednow mit seiner Kritik an. Er spricht in Bezug auf das Buch Neuro-Enhancement (Schöne-Seifert et al. 2009), welches exemplarisch für die Diskussion um ›Neurodoping‹ ist, von einer Phantomdebatte: »Nahezu alle Beiträge des Bandes gehen von der Annahme aus, dass es in naher Zukunft Präparate geben wird, die nicht nur die geistige Leistungsfähigkeit erhöhen, sondern zudem sicher und gut verträglich sind, so dass sie von jedem eingenommen werden können. Es ist jedoch nicht anzunehmen, dass es solche Mittel in absehbarer Zeit geben wird. Es scheint, als würden sich viele Medizinethiker von Neurowissenschaftlern in die Irre führen lassen, die entweder Kollaborateure von Pharmafirmen sind oder sich gezwungen sehen, ihre Forschungsergebnisse künstlich aufzubauschen, um an neue Forschungsgelder zu kommen. Tatsächlich sind wir heute nicht einmal in der Lage, psychiatrische und neurologische Pathologien umfassend zu behandeln und wir wissen auch nicht, wie wir dies in der Zukunft erreichen können. [Übersetzung, TH]« (Quednow 2010: 154)
Deutlicher kann man wohl nicht in Opposition zu den vermeintlichen Erfolgsgeschichten des ›Neuro-Enhancements‹ gehen. Neue Medikamente, die ›Gehirndoping‹ versprechen, gibt es, zumindest nach Aussage von Quednow und anderen Experten, schlicht nicht. Aber vielleicht gibt es ein neues Wissen um die alten Pillen, so dass ›NeuroEnhancement‹ kein Traum, wahlweise auch Horrorszenario, für eine ferne Zukunft bleibt. Scheinbar gibt es ja bereits Medikamente, auf die konkret Bezug genommen wird, wie das Beispiel von Frau Westermann zeigt. Die oben genannten Mittel, beispielsweise Ritalin®, die häufig als ›Neuro-Enhancer‹ bezeichnet werden, fördern vor allem die Konzentrationsfähigkeit und Wachheit. Nach aktuellen Studien haben sie jedoch keine unmittelbaren Auswirkungen auf das Gedächtnis oder ähnliche kognitive Funktionen. Sie fördern die Leistungsfähigkeit deshalb allenfalls indirekt beziehungsweise stabilisieren und konservieren sie auf ei5
Eine ausführliche Klassifikation von ›Neuro-Enhancern‹ findet sich bei Förstl (2009). 139
MEDIKALISIERUNG
nem niedrigen Level. Tatsächliche kognitive Leistungssteigerungen konnten bisher vor allem in Experimenten mit genveränderten Mäusen nachgewiesen werden (vgl. Lee/Silva 2009; Lehrer 2009). Diese Forschungsarbeiten werden zwar im populärwissenschaftlichen Kontext zuweilen in Verbindung mit dem medikamentösen ›Neuro-Enhancement‹ gebracht, jedoch handelt es sich dabei um einen grundlegend anderen Forschungsansatz, da die Leistungssteigerungen durch gentechnische Veränderungen erzielt werden. Zudem gibt es selbst in diesen Studien ungewollte Nebenwirkungen. Bei den zuvor genannten Medikamenten kommt hinzu, dass sich Leistungssteigerungen vor allem dann zeigen, wenn bereits kognitive Defizite, etwa durch Übermüdung, bestehen, während bei Menschen mit ohnehin überdurchschnittlicher Leistungsfähigkeit zum Teil eine Verminderung geistiger Fähigkeiten zu beobachten ist. Ein weiteres Problem betrifft die Dosierung. Die Wirkungskurve gleicht dabei einem umgedrehten »U«: Niedrige Dosierungen können zu leichteren Verbesserungen führen, während hohe Dosierungen eher das Gegenteil bewirken (vgl. de Jongh et al. 2008; Langlitz 2010; Minzenberg/Carter 2008; Normann/Berger 2008). Frau Westermann ist insbesondere für den letzten Punkt ein eindrucksvolles Beispiel. Nimmt man die genannten Kritikpunkte ernst, so kann zusammenfassend festgehalten werden, dass es sich bei ›Neuro-Enhancement‹ eher um Zukunftsphantasien handelt, denn um einen wissenschaftlich fundierten Trend. Es gibt bisher weder die entsprechenden Medikamente noch ein umfassendes Wissen darüber, wie ›Neuro-Enhancer‹ hergestellt werden können. Gleichwohl ist eine solche Kritik des ›NeuroEnhancement‹ nicht unproblematisch, da es sich hierbei ausschließlich um pragmatische Argumente handelt: Bisher gibt es keine entsprechend wirkenden Medikamente, also sollten wir aufhören, ›Neuro-Enhancement‹ zu propagieren. Im Umkehrschluss ist es zulässig, ›Gehirndoping‹ zu befürworten und zu thematisieren, wenn solche mehr oder weniger wirkungsvollen und nebenwirkungsfreien Medikamente erfunden werden. Da viele der großen pharmazeutischen Entdeckungen, zumindest dem Mythos nach, Zufälle waren, ist es nicht ausgeschlossen, dass es schon morgen ein Medikament geben wird, welches zu recht als ›NeuroEnhancer‹ bezeichnet wird. Tatsächlich wird in einigen der hier zitierten Artikel genau in dieser Weise argumentiert (beispielhaft Lehrer 2009; Normann/Berger 2008; Stix 2009). Den Befürwortern des ›Neuro-Enhancement‹ dient ein zweites Argument, um zu verdeutlichen, dass ihre Debatte jetzt und zu keinem anderen Zeitpunkt geführt werden sollte. Man kann dieses Argument als die normative Kraft des Faktischen bezeichnen. ›Gehirndoping‹ sei in 140
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den letzten Jahren zu einem virulenten, empirisch beobachtbaren Phänomen geworden. Es ist höchste Zeit, das offen anzuerkennen und die Chancen des ›Gehirndopings‹ zu nutzen. Um dies zu untermauern, findet sich in diversen wissenschaftlichen und populärwissenschaftlichen Artikeln ein Verweis auf amerikanische Studentinnen, von denen behauptet wird, dass sie in den letzten Jahren zunehmend zu ›NeuroEnhancern‹ greifen und bereits 10-15 Prozent, in einigen Berichten sogar deutlich mehr, diese Art der Leistungssteigerung einsetzen. Einige sprechen bereits von einer »Enhancement-Epidemie« (Metzinger 2009: 51). Die renommierte Zeitschrift Nature führte im Anschluss an eine Untersuchung von Sahakian und Morein-Zamir (2007), in der Wissenschaftler zu ›Neuro-Enhancement‹ befragt wurden, unter den NatureLesern eine eigene Umfrage zu diesem Thema durch. Hierbei zeigte sich, dass eine von fünf Befragten bereits Gehirndopingmittel benutzt hat (vgl. Maher 2008: 674). Die in Gehirn&Geist entworfene Fiktion der gedopten Leibnizpreisträgerin scheint demnach mehr zu sein als Science-Fiktion. An dieser Stelle zeigt sich, dass es der Debatte an einem grundlegenden Geschichtsbewusstsein mangelt. Formen des ›NeuroEnhancements‹ gibt es bereits seit Jahrzehnten und das Thema hatte in der Vergangenheit mehrfach Konjunktur. Sehr eindrucksvoll zeigen das die Arbeiten von Herzberg (2009) und Tone (2009), in denen unter anderem die heute fast in Vergessenheit geratene Geschichte des in den 1960er und 70er Jahren als Wundermittel gefeierten Medikaments Miltown® nachgezeichnet wird. Auch Vogt (1985, Kap. 2) hat in ihrem Buch Für alle Leiden gibt es eine Pille empirische Daten zusammengetragen, die deutlich zeigen, dass der Wunsch nach einer medikamentösen Leistungssteigerung so neu nicht ist. Der aktuell behauptete Hype um ›Neuro-Enhancement‹ kann nicht allein aus einer empirisch beobachtbaren Zunahme dieses Phänomens erklärt werden. Weiterhin stellt sich die Frage, ob das Thema zur Zeit überhaupt so virulent ist. Genaue und verlässliche Zahlen gibt es insbesondere für Deutschland nicht, wie die Autoren in den verschiedenen Studien selbst zugeben (beispielhaft Galert et al. 2009: 43). Deshalb wird eine Dunkelziffer angenommen, von der einigermaßen unklar ist, wie sie eigentlich bestimmt wird, die aber von den Autorinnen mit der Autorität wissenschaftlicher Erkenntnisse nachdrücklich und offensiv vertreten wird. Insgesamt ist die Botschaft in den entsprechenden Artikeln deutlich: Da ›Neuro-Enhancement‹ bereits weit verbreitet ist, muss man aufhören, diese Form der Leistungssteigerung zu verteufeln und sollte offen und unvoreingenommen die neuen Möglichkeiten in den Blick nehmen. Es sei im Gegenteil geradezu unverantwortlich und unethisch, nicht über 141
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einen offenen Umgang mit ›Neuro-Enhancern‹ zu sprechen (vgl. Cakic 2009; Greely et al. 2008). Nur so könne ein umfassender gesellschaftlicher Fortschritt erreicht und gesichert werden. Mit dieser Argumentationslogik hat die Debatte Potenzial, zu einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung zu werden. Je häufiger in den Medien über das Thema berichtet wird, desto mehr wird ein öffentliches Bewusstsein dafür geschaffen, dass kognitives ›Doping‹ möglich und auch nicht illegitim ist, wie Langlitz (2010) kritisch herausarbeitet. Davon liest man in den Beiträgen der Enhancement-Befürworter jedoch nichts.
Vermeintlich gesellschaftliche Dimensionen des ›Neuro-Enhancements‹ In Artikeln zu ›Neuro-Enhancement‹ werden die vermeintlich gesellschaftlichen Implikationen und ethischen Aspekte meist ganz offensiv angesprochen. In vielen Beiträgen wird ›Gehirndoping‹ zunächst befürwortet. Gleichzeitig werden gesellschaftliche Probleme offengelegt, die aber nach Ansicht der jeweiligen Autorinnen allesamt lösbar seien. Den Kritikern und Skeptikern wird direkt mitgeteilt, dass man sehr bedacht mit dem Thema umgehe und auch eventuelle gesellschaftliche Nebenwirkungen im Blick habe. Meist geht es dabei um Fragen der Leistungsund Verteilungsgerechtigkeit, utilitaristische Abwägungen über ›das größte Glück der größten Zahl‹ sowie um individuelle und gesellschaftliche Verantwortungen. Insbesondere in naturwissenschaftlichen Journalen sind die Argumentationen bezüglich der gesellschaftlichen Implikationen jedoch auffallend schlicht. So wird konstatiert, dass viele Leistung steigernde Mittel gesellschaftlich längst als vollkommen unproblematisch anerkannt sind. Sahakian und Morein-Zamir (2007: 1158) schreiben in »Professor’s little helper«, dass wohl kaum ein Leser auf die Idee käme, die Einnahme eines doppelten Espresso als unfairen geistigen Vorteil zu verstehen. Auch wenn der Gedanke an der entsprechenden Stelle nicht weiter ausgeführt wird, ist klar, worauf die Autorinnen hinaus wollen. Ein Espresso zur richtigen Zeit kann Menschen helfen, dringende Aufgaben zu erledigen und letztlich individuell und gesamtgesellschaftlich etwas Wertvolles zu leisten. Als Fortschreibung dieser Tradition der Leistungssteigerung wird nun ›Neuro-Enhancement‹ mittels Medikamenten dargestellt. Deshalb sollte man auch die neuen Möglichkeiten nicht vorschnell verteufeln. Ausgehend von althergebrachten ›Dopingmitteln‹ wie Koffein, Nikotin und Alkohol und deren gesellschaftlicher Anerkennung wird auf zukünftig erhältliche Substanzen und deren ethi142
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sche Vertretbarkeit geschlossen. Folglich gibt es keinen Grund, diese neuen Mittel abzulehnen. Gerade im Licht der obigen Ausführungen zur bisher äußerst fragwürdigen Wirkung von ›Neuro-Enhancern‹ scheint ein solcher Vergleich nicht zutreffend zu sein. Der Espresso-Medikamenten-Vergleich verharmlost die mit ›Neuro-Enhancement‹ verbundenen Konsequenzen. Auch folgt aus der Existenz von gesellschaftlich anerkannten ›Enhancern‹ wie Nikotin, Alkohol und Koffein nicht, dass jedes andere Mittel auch legitim verwendet werden sollte. Es handelt sich um einen klassischen Fehlschluss: Nur weil Alkohol und andere Substanzen nicht verboten sind, lässt sich daraus nicht ableiten, dass dies auch objektiv vernünftig und gesellschaftlich sinnvoll ist. Solche Überlegungen finden jedoch im Rahmen der Debatte kaum statt. Nach einem ähnlichen Muster werden auch andere mit ›NeuroEnhancement‹ in Verbindung gebrachte Sachverhalte analysiert. Galert et al. (2009: 44) sprechen in ihrem Memorandum beispielsweise das Thema des sozialen Drucks an, ›Gehirndoping‹ zu betreiben, und widmen ihm einen kompletten Abschnitt samt Zwischenüberschrift. Zunächst arbeiten sie mit kritischem Impetus heraus, dass die Freigabe von ›Neuro-Enhancement‹ Menschen, die dem Doping eigentlich ablehnend gegenüber stehen, dazu zwingen könnte, solche Mittel zu nehmen, um in einer sonst umfassend gedopten Gesellschaft nicht abgehängt zu werden. Diese Problematik wird jedoch unmittelbar abgeschwächt, in dem ein Vergleich mit dem Autoverkehr hergestellt wird. »So schafft etwa der Autoverkehr mit seinen zahlreichen Opfern auch ein ›erlaubtes Risiko‹, obwohl selbst für Personen, die sich sorgfaltsgemäß verhalten, schädliche Folgen nicht auszuschließen, ja nach der Statistik sogar sehr wahrscheinlich sind.« (Ebd.) Es gibt also scheinbar ganz andere Zwänge mit deutlich schlimmeren Folgen, die wir jedoch bereitwillig in Kauf nehmen. Warum sollte man dann etwas gegen ›Neuro-Enhancement‹ haben, welches doch letztlich zu einer leistungsfähigeren und kreativeren Gesellschaft führen könnte? Risiken und Zwänge werden in dieser Argumentation als etwas dargestellt, was man zwar erkennen, jedoch letztlich nicht ändern kann. Wenn die Zwänge als »sozialadäquat« eingestuft werden, wie es im Artikel heißt, so sind sie gesamtgesellschaftlich akzeptabel. Einen bestehenden sozialen Zwang als Argument dafür heranzuziehen, neue soziale Zwänge, gleichsam eine neue Medikalisierung weiterer gesellschaftlicher Bereiche zu rechtfertigen, ist ein Fehlschluss nach dem bereits skizzierten Muster. Non sequitur! Selbst wenn man sich auf die Argumentation einlässt, bleibt vollkommen offen, wer festlegt, was »sozialadäquat« eigentlich bedeutet. 143
MEDIKALISIERUNG
Zudem fällt bei der obigen Aussage auf, dass ein vermeintliches Risiko der ›Neuro-Enhancer‹, das heißt mögliche Nebenwirkungen, nach Ansicht der Autorinnen der einzig legitime Grund sind, diesen Zwang überhaupt zu thematisieren. Dass es andere Gründe geben kann, selbst ein risikofreies ›Neuro-Enhancement‹ abzulehnen, scheint undenkbar. Dabei betreffen Fragen der medikamentösen, kognitiven Leistungssteigerung grundlegende Aspekte des menschlichen Selbst und der Identität. Wer ist es eigentlich, der die Leistungen erbringt? Bin das noch ich? Wie verändert sich meine Persönlichkeit durch verschiedene Mittel und inwiefern beeinflusst dann eine Pille meine Identität und Individualität? Solche Fragen finden in der Debatte keine Beachtung. Als erstrebenswertes Ziel des ›Neuro-Enhancements‹ wird in verschiedenen Beiträgen ein individueller und gesellschaftlicher, ethisch vertretbarer Fortschritt genannt. Man sei sich bewusst, dass »Pillen allein zu dem Zweck, Managern das Arbeiten rund um die Uhr und so das Ausstechen ihrer Konkurrenten zu ermöglichen, moralisch ohne Wert [wären]. Wenn dem Effizienzgewinn außerdem eine stetig steigende Arbeitsbelastung folgt, gewinnt der Einzelne letztlich nichts – im Gegenteil.« (Galert et al. 2009: 43)
Hier zeigt sich eine ähnlich pragmatische Kritik wie bereits bei der Frage der verfügbaren Mittel. Substanzen, die nur die Arbeitsfähigkeit steigern, werden in fast allen Artikeln als unethisch abgelehnt. Wenn diese Medikamente zusätzlich aber auch glücklich machen und den Konsumenten sonst ein schöneres Leben ermöglichen, kann man sie gesellschaftlich tolerieren. Ganz in diesem Sinne heißt es im gleichen Text einige Zeilen später: »[D]as Bild einer möglichen künftigen Neuro-Enhancement-Gesellschaft wäre unvollständig, ja irreführend, fasste man nur die fragwürdigen Nutzungsmotive ins Auge und verschwiege das Potenzial von NEPs [Neuro-EnhancementPräparaten, TH], unsere Lebensfreude oder unser Mitgefühl zu fördern. Wenn solche Mittel Menschen dazu verhülfen, ihre Leistungsanforderungen besser zu bewältigen und dadurch mehr Spielräume zu haben, wenn sie tieferen Musikgenuss, größere Empathiefähigkeit oder den leichteren Erwerb von Fremdsprachen ermöglichten, so wären die damit verbundenen persönlichen und sozialen Veränderungen schwerlich zu beklagen. Und selbst im kompetitiven Bereich, sei es in Wissenschaft oder Wirtschaft, könnten gesteigerte kognitive und emotionale Kompetenzen das Leben vieler Menschen besser machen.« (Galert et al. 2009: 43)
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Die Skepsis gegenüber ›Neuro-Enhancement‹ können viele der Autorinnen dennoch sehr gut nachvollziehen. Es handle sich dabei um einen Reflex der Unwissenden, alles Neue und Technisch-Innovative zunächst abzulehnen. Computer seien uns noch vor wenigen Jahrzehnten ähnlich unheimlich gewesen, wie den ersten Passagieren das Zug fahren im 19. Jahrhundert. Heute sind uns Massentransportmittel und informationstechnische Hilfsmittel dagegen selbstverständlich. Beim ›Neuro-Enhancement‹ sei das nicht anders. Es gibt gesellschaftliche Normen dafür, was legitim und anerkannt ist, und was nicht. Es sei also nur eine Frage der Zeit, bis sich auch das Verhältnis zu ›Neuro-Enhancement‹ ändere (beispielhaft Greely et al. 2008: 702f; Galert et al. 2009: 48). »Wann zum Beispiel die Trauer nach dem Tod eines Angehörigen als krankhafte Depression gilt, ist eine kulturelle Norm, die sich ebenfalls wandelt. Früher gab es diese Diagnose gar nicht. Da sagte man in vielen Fällen: So ist das Leben! Wenn es aber die Möglichkeit gibt, diesen Zustand abzustellen, dann entsteht auch ein gesellschaftliches Bedürfnis danach. Irgendwann denken die Leute: ›Das muss nicht mehr sein.‹« (Metzinger 2009: 51)
Der gesellschaftliche Fortschritt – im konkreten Fall die Verringerung persönlicher Leiden – lässt sich, so die Logik der Argumentation, nicht aufhalten. Wer das nicht wahrhaben will, gehöre entsprechend zu den konservativen Kräften, die sich dem Fortschritt verschließen und ihn im Extremfall verhindern wollen. Gleichzeitig wird von einer stringenten Nachfragelogik ausgegangen: Es gibt ein gesellschaftliches Problem, welches es zu lösen gilt. Dafür bieten dann im Fall von ›Neuro-Enhancement‹ die Pharmafirmen die entsprechenden Mittel. Metzinger (2009: 51) weist zwar darauf hin, dass vermeintlich gesellschaftliche Probleme nicht objektiv vorhanden sind, sondern auch durch das Angebot einer vermeintlichen Lösung erst konstruiert werden können: »Wenn ich zehn Jahre lang an neuen, gedächtnisfördernden Medikamenten gearbeitet habe, brauche ich dann natürlich die passende Krankheit, um die Substanz verschreiben zu können – und schon ist eine neue Diagnose erfunden.« Diese Entwicklung sieht er jedoch nicht sonderlich problematisch, denn auch Psychotherapeutinnen würden mit ihren Angeboten Geld verdienen und hätten ein Interesse, die Nachteile der Pharmakotherapie aufzuzeigen. »Philosophisch gesehen leuchtet es jedoch nicht ein, warum eine der beiden Eingriffsebenen, die geistige oder die molekulare, ethisch besser sein sollte.« (Ebd.) Seine Analyse bleibt damit letztlich ebenfalls der Nachfragelogik verhaftet. Er reflektiert nicht, dass auch die Psychotherapie kein objektiver Maßstab ist, sondern in gleicher Weise an der Produktion gesellschaftlicher 145
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›Krankheiten‹ beteiligt ist. Entsprechend kann die Psychotherapie nicht einfach als Rechtfertigung des ›Neuro-Enhancement‹ herangezogen werden, sondern wäre in gleicher Weise kritisch zu analysieren. Metzingers Aussagen verweisen auf einen weiteren Aspekt. ›NeuroEnhancement‹ wird mit der Therapie von Pathologien verglichen und in der gleichen Weise gerechtfertigt wie die Heilung von sogenannten Zivilisationskrankheiten, beispielsweise Depression oder ADHS. So wird die übermäßige Trauer zur Depression erklärt, die man mit einer Psychotherapie und entsprechenden Psychopharmaka behandeln kann. Von Beispielen wie diesem wird dann auf die Legitimität des ›Neuro-Enhancements‹ geschlossen. Vollkommen außer Acht gelassen wird jedoch, dass hier nicht eine Krankheit behandelt wird, sondern sich die Medikalisierung in diesem Fall auf einen Zustand bezieht, der gesellschaftlich als ›normal‹ oder ›gesund‹ bezeichnet wird. Auch wenn es in beiden Fällen um den Einsatz von Medikamenten geht, ist doch die Intention grundverschieden: ›Gehirndoping‹ hat nicht zum Ziel, eine vermeintliche Normabweichung zu korrigieren, sondern die Grenzen des Machbaren zu verschieben. Zutreffender wäre entsprechend der Vergleich mit Doping im Leistungssport. Sportler nehmen Medikamente, um ihre Leistungsgrenzen zu verschieben. Es ist hier nicht das Ziel, Doping im Sport zu legitimieren oder zu befürworten. Unweigerlich stellt sich jedoch die Frage, warum Doping im Sport als ethisch und moralisch nicht vertretbar angesehen und in den Medien als unerlaubte Leistungssteigerung skandalisiert und angeprangert wird, während ›Gehirndoping‹ im gesellschaftlichen Kontext legitim, ja sogar erstrebenswert erscheint. Eine Antwort auf diese Frage gibt die Debatte jedoch nicht. Vielmehr wird der Vergleich zum Sportdoping auf ein Minimum reduziert oder ganz vermieden. Dies dürfte nicht zuletzt an der negativen Konnotation von Doping im Leistungssport liegen, die dem vermeintlich positiven Image des ›Neuro-Enhancement‹ entgegen steht.
Medikalisierte Gesellschaft als gesellschaftlicher Fortschritt? In der Debatte um ›Neuro-Enhancement‹ findet eine grundlegende Reflexion gesellschaftlicher Verhältnisse, die beispielsweise auch psychotherapeutische Verfahren einschließt, schlicht nicht statt. Dies wird an den eingangs beschriebenen ›Erfolgsgeschichten‹ deutlich. ›Gehirndoping‹ wird als praktikable und pragmatische Antwort auf vielfältige gesellschaftliche Probleme gesehen, die selbst jedoch als unveränderbare Sachzwänge dargestellt werden. Die neoliberale Gesellschaft basiere 146
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nun einmal auf einer umfassenden Wissensökonomie und verlange den Individuen vielfältige kognitive Leistungen ab. Wenn ›Neuro-Enhancement‹ dazu beitragen kann, das Wohlbefinden der Menschen in dieser Gesellschaft zu verbessern und gleichzeitig hilft, die vielfältigen Herausforderungen zu meistern, so wäre das schon ein großer Fortschritt (vgl. Greely et al. 2008; Galert et al. 2009). Selbst in Beiträgen, die vom Tenor grundsätzlich kritisch sind, wie bei Berger und Normann (2008) der Fall, wird die Gesellschaft als ein quasi natürlicher Rahmen verstanden, der nicht zu verändern ist. Zwar lassen sie ihre fiktive Leibnizpreisträgerin nach einer Entschuldigung gegenüber ihren Mitarbeitern, der Universität sowie der Öffentlichkeit zurücktreten, doch ist ihnen diese Geschichte kein Anlass für eine kritische Gesellschaftsanalyse (vgl. Berger/Normann 2008: 36). Ihre Kritik bleibt auf einer pragmatischen Ebene. Wenn man an den richtigen Stellschrauben dreht, wird es irgendwann eine gerechte und glückliche Zukunft mit ›Neuro-Enhancement‹ geben. Eine umfassende Gesellschaftsanalyse und -kritik, wie sie die Debatte um ›Neuro-Enhancement‹ zu leisten vorgibt, sieht indes anders aus. So wäre für den wissenschaftlichen Kontext kritisch zu fragen, ob Publikationsdruck und die Notwendigkeit, immer größere Summen an Drittmitteln einzuwerben, dem Wissenschaftsbetrieb in jeder Hinsicht zuträglich sind. Diese Verhältnisse sind alles andere als unveränderlich und für alle Zeit gültig. Auch der Erfolgsdruck, den eine berufstätige Mutter von zwei Kindern verspürt, ist kein beständiger Sachverhalt, sondern geht von einer gesellschaftlichen Norm aus, über die es nachzudenken gilt und die alles andere als konstant ist. Die dargestellten ›Erfolgsgeschichten‹ machen jedoch eine solche Gesellschaftsanalyse überflüssig. Mit der richtigen Pille lassen sich die Probleme schon lösen. Sofern es, wie bei Frau Westermann, noch Nebenwirkungen gibt oder die Pillen, wie im Fall des kürzlich verstorbenen Fußballers Robert Enke, nicht ausreichend wirken, muss mit Hochdruck daran gearbeitet werden, diese Probleme in den Griff zu bekommen und schon haben wir sie, die wirklich schöne neue Neuro-Welt. Mit diesen Vorstellungen macht die Diskussion um ›Neuro-Enhancement‹ einen weiteren Schritt in eine medikalisierte Gesellschaft. Eindruckvoll kann man die Konsequenzen schon heute an der Diagnose ADHS ablesen, auch wenn es sich, wie bereits dargelegt, beim ›Gehirndoping‹ um einen anderen Modus der Medikalisierung handelt. Eine spezifische Form von Aufmerksamkeit und Aktivität wird als gesellschaftlich wünschenswerte, ›natürliche‹ Norm gesetzt und wer von dieser Norm abweicht, wird durch Medikamente auf ein entsprechend ›gesundes‹ Maß eingestellt. Ritalin® und andere Mittel bieten hier schnelle 147
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Abhilfe. Es geht dabei nicht darum, in Frage zu stellen, ob es Kinder mit Symptomen gibt, die gemeinhin als ADHS diagnostiziert werden. Zu klären ist aber, ob diese Aufmerksamkeitsdefizite und Hyperaktivitäten nicht ein Produkt der modernen Gesellschaft sind und somit nicht allein die Symptome pathologisch sind, sondern die Gesellschaft selbst in diesem Sinn pathologische Aspekte hervorbringt. Träfe dies zu, so wäre nicht allein die Suche nach Medikamenten angebracht, sondern eine kritische Analyse der modernen Gesellschaft insgesamt. Solange aber allein auf einer pragmatischen Ebene nach Lösungen für vermeintlich gesellschaftliche Probleme gesucht wird, führt gesellschaftlicher Fortschritt fast zwangsläufig zu einer Medikalisierung der Gesellschaft.6 Die neuroethische Debatte um ›Neuro-Enhancement‹, die vorgibt, eine gesellschaftstheoretisch fundierte Kritik zu leisten, trägt wie gezeigt nicht zu einer Reflexion und in diesem Sinne Aufklärung der Gesellschaft bei, sondern ist Teil einer umfassenderen Ideologieproduktion. Gesellschaftliche Zwänge werden verharmlost und als pragmatisch lösbar dargestellt. Wer die Risiken des ›Gehirndopings‹ scheut, hat noch nicht verstanden, welche Chancen die medikamenteninduzierte Leistungssteigerung bietet und muss im Zweifelsfall mit den Konsequenzen leben. Die neurogedopte ›Erfolgsgeschichte‹ ist eine, in der die Individuen die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen ungefragt hinnehmen und durch die Einnahme von verschiedenen Mitteln erträglich gestalten, ein Schritt in eine medikalisierte Gesellschaft, wie die oben genannten Beispiele eindrucksvoll belegen. Die vorliegende Rekonstruktion der Debatte um ›Neuro-Enhancement‹ wirft zwangsläufig die Frage auf, wie mit dem Thema in Zukunft umgegangen werden sollte. Bei allen hier herausgearbeiteten argumentativen Schwächen und zum Teil fragwürdigen Inhalten kann es nicht das Ziel sein, die hier nur kursorisch rekonstruierte Debatte abzubrechen oder für überflüssig zu erklären. Im Gegenteil ist eine kritische und offene Auseinandersetzung mit dem Thema – hier kann man den zentralen Akteuren wie beispielsweise Greely et al. (2008), Normann und Berger (2008) oder Galert et al. (2009) nur zustimmen – dringend notwendig. Sofern die Beteiligten mit der Prozessierung neuen Wissens eine aufgeklärte Diskussion in einer größeren als der wissenschaftlichen Öffentlichkeit erreichen wollen, wie sie es vorgeben, so gehört dazu eine verantwortungsvolle Transformation wissenschaftlichen Wissens ebenso wie eine grundlegende Analyse der gesellschaftlichen Rahmenbedingungen und der kulturhistorischen Wurzeln. Nur dann kann die Debatte 6
Ausführliche Überlegungen zu diesem Thema finden sich bei Haubl (2007) und Liebsch (2007).
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mehr sein als eine kurzfristige Mode, wie es beispielsweise beim Begriff ›Gehirnjogging‹ zu beobachten ist, der teilweise für eine geistige Aktivität verwendet wird, die noch vor wenigen Jahren schlicht ›Kreuzworträtsel lösen‹ hieß. Für das Verständnis einer Prozessierung neuen Wissens ist die Debatte um ›Neuro-Enhancement‹ ein aufschlussreiches Beispiel. Indem neurowissenschaftliches neues Wissen aus seinem Entstehungskontext in einen anderen gesellschaftlichen Kontext übertragen wird, verschiebt sich der Fokus auf die von Philosophinnen diskutierten ethischen und moralischen Probleme einer gedopten Gesellschaft. Als problematisch erscheint dabei nicht das neurowissenschaftliche Wissen per se, sondern dessen Anwendung in einem spezifischen Kontext. Im Zuge der Popularisierung wird das neurowissenschaftliche Wissen in seiner Komplexität reduziert und vor allem vereindeutigt (vgl. Heinemann/Heinemann 2010). Die im wissenschaftlichen Kontext formallogisch denkbare, aber in der Umsetzbarkeit mindestens umstrittene kognitive Leistungssteigerung wird im populärwissenschaftlichen Kontext zur konkreten Handlungsoption mit allen Chancen und Risiken. Die im Zuge der Übertragung in einen anderen gesellschaftlichen Kontext etablierte Verabsolutierung von Ergebnissen mag zwar spekulativ und naturwissenschaftlich unbegründet sein, hat aber den bedeutsamen Effekt, die gesellschaftliche Relevanz biomedizinischer Forschungen zu postulieren und uns auf eine Medikalisierung weiterer Lebensbereiche einzustimmen.
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Episte misc he 1 Vermischung: Zur Gle ic hse tz ung von Pe rson und Risik oprofil in der ge netisc he n Bera tung SILJA SAMERSKI
Leben mit ›Genen‹ und ›Risiken‹? Das Beispiel genetische Beratung Frau S., Mitte fünfzig, sitzt einer genetischen Beraterin gegenüber. Weil mehrere ihrer Verwandten an Darmkrebs erkrankten, hat ihr Hausarzt sie zur genetischen Beratungsstelle der nächstliegenden Universitätsklinik überwiesen. Hier lernt Frau S., dass sie als Hochrisikoperson gilt und eine sogenannte ›informierte Entscheidung‹ über einen möglichen Gentest treffen soll. Um sie für diese neue Aufgabe zu rüsten, klärt die Genetikerin sie etwa anderthalb Stunden über DNA, Mutationen, Mendel’sche Regeln, Krebsstatistik und genetische Untersuchungsverfahren auf. Frau S. erfährt, wie Chromosomen aufgebaut sind, und dass diese, »wenn man das ausklamüsert oder genauer darstellt«, aussehen »wie ’ne Doppelhelixstruktur«. Dann wird sie darüber instruiert, dass auf den Chromosomen »perlschnurartig aufgereiht verschiedene Gene« liegen, und
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Bewusst spreche ich hier nicht nur von einer wissensmäßigen, sondern audrücklich von einer epistemischen Vermischung. Genetisch-statistisches Fachwissen auf der einen Seite und alltagsgebundenes, umgangssprachlich faßbares Wissen auf der anderen Seite unterscheiden sich fundamental, nämlich in ihren epistemologischen, also erkenntnistheoretischen Grundlagen. Zur Heterogenität von moderner Naturwissenschaft und Common Sense siehe Arendt (1993). 153
PRÄVENTION
»unter anderem auch auf gewissen Chromosomen Gene, die eben für erblichen Darmkrebs verantwortlich sind«. Eine solche Veränderung könne aus einem Austausch oder Verlust einer sogenannten Base bestehen, so die Genetikerin weiter, »und dann ist dieses sogenannte Eiweißmolekül, Protein nennen wir das, hat dann eben 'ne veränderte oder 'ne fehlende Funktion im Vergleich zur üblichen Funktion, die es im Körper ausübt. Und das ist das, was dann letztlich dann (–) diesen Träger Richtung Krebs führt.« 2 Im Zentrum einer genetischen Beratung steht die Einstufung der Klientin in Risikopopulationen. Nach der obligatorischen Stammbaumaufnahme zu Beginn der Sitzung erfährt Frau S., wie sie biostatistisch klassifiziert wird: Die Genetikerin offenbart ihr, dass sie auf Grund ihrer Polypen im Darm und ihrer Familiengeschichte zu den »Hochrisikofamilien« für erblichen Darmkrebs gezählt wird. Sie solle sich daher auf jeden Fall regelmäßigen Früherkennungsuntersuchungen unterziehen, empfiehlt die Genetikerin eindringlich. Es könne nicht ausgeschlossen werden, dass sie eine Genveränderung in sich trüge. Diese Genveränderung, erfährt Frau S., könne eine »Minimalveränderung sein«, die »vorhanden sein kann und die dann eben zu der gesamten nachfolgeträchtigen […] Krebsentwicklung führen kann«. Ob sie eine solche Veränderung habe, ließe sich durch einen Gentest untersuchen. Fiele der positiv aus, so würde ihr ein sehr hohes Risiko für Darmkrebs sowie für zahlreiche weitere Krebsrisiken attestiert. Zudem könnte man dann auch ihre Töchter untersuchen und feststellen, ob sie zu »dieser« oder »dieser Linie« gehören – wobei sie auf das mendelsche Kreuzungsschema zeigt, das sie ihrer Klientin aufgezeichnet hat. Ob ein solcher Test allerdings der »richtige Weg« für sie sei, das müsse sie selbst entscheiden, betont die Genetikerin. Sofort erklärt Frau S., dass sie ja nicht den »Kopf in den Sand« stecken möchte. Am Ende der Sitzung unterschreibt sie die Einwilligungserklärung für den genetischen Test. Ziel der genetischen Beratung ist es, Frau S. zur Selbstbestimmung zu befähigen. Sie soll keinesfalls zum Test überredet werden, sondern lernen, eine »autonome, selbstverantwortliche Entscheidung für oder gegen eine Untersuchung zu treffen«, wie es genetische Berater formulieren (Zoll 2009: 87). Immer wieder betonen genetische Berater, dass 2
Die genetische Beratung von Frau S. habe ich im Rahmen des Forschungsprojektes »Das ›Alltags-Gen‹: Die semantischen und praxeologischen Umrisse von ›Gen‹, wenn es in der Alltagssprache eingesetzt wird« teilnehmend beobachtet. Das Projekt fand unter der Leitung von Barbara Duden an der Universität Hannover statt und wurde vom BMBF gefördert. Alle Zitate sind wörtlich meinen Transkripten entnommen. Siehe hierzu auch Duden/Samerski (2007).
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SAMERSKI: GENETISCHE BERATUNG
die »Selbstbestimmung der Ratsuchenden für Beratende das Leitkonzept der genetischen Beratung darstellt« (Grießler/Littig/Pichelstorfer 2009: 287). Dies bedeutet jedoch nicht, dass die Beratenen nach eigenem Gutdünken überlegen und handeln können. Im Zusammenhang mit ›Genen‹ und ›Risiken‹ legen Genetiker fest, was Selbstbestimmung bedeutet: Frau S. soll lernen, ihre Entscheidungen auf genetischen und statistischen Begrifflichkeiten zu gründen. Sie soll nicht auf ihre Wahrnehmung und Intuition vertrauen, sondern wird darin instruiert, die Gesetzmäßigkeiten von Populationen, Korrelationen und Wahrscheinlichkeiten zu ihren eigenen zu machen. Genetische Beratung ist also eine Dienstleistung, in der Klienten dazu angehalten werden, sich in den Dienst von Prävention und Risikomanagement zu stellen. Etwa 50.000 solcher Beratungssitzungen finden jährlich in Deutschland statt. In den meisten Fällen sitzen dem Mediziner, der sich mehrere Jahre lang auf Genetik, Biostatistik und psychologische Gesprächsführung spezialisiert hat3, schwangere Frauen gegenüber. Die Frauen wurden von ihrem Frauenarzt auf Grund ihres Alters, eines auffälligen Ersttrimestertests oder ihrer Familiengeschichte als ›risikoschwanger‹ eingestuft und gelten damit als potentielle Kandidatinnen für eine Fruchtwasseruntersuchung. In der genetischen Beratung werden sie nun für die Entscheidung präpariert, ob sie ihr kommendes Kind genetisch untersuchen lassen wollen oder nicht. Doch auch die Anzahl derjenigen steigt, die sich anhand eines prädiktiven Gentests ihre eigene Gesundheit vorhersagen lassen. Da das neue GendiagnostikGesetz zudem seit Februar 2010 die Sitzung mit einem genetischen Berater zur Pflicht macht – sowohl vor als auch nach einem pränatalen oder prädiktiven genetischen Test – wird die Zahl genetischer Beratungssitzungen in Zukunft deutlich steigen.4 3
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Genetische Berater sind entweder Fachärzte für Humangenetik oder Ärzte, die durch eine mehrjährige Weiterbildung die Zusatzbezeichnung »Medizinische Genetik« erworben haben. In den meisten anderen Ländern dagegen, ob USA, Kanada, Großbritannien oder Australien sind genetische Beraterinnen – tatsächlich überwiegend Frauen – keine ausgebildeten Medizinerinnen, sondern haben sich durch eine eigenständige, meist zwei- bis dreijährige Ausbildung für ihre Tätigkeit qualifiziert. Bisher haben sich die humangenetischen und medizinischen Berufsverbände in ihren Richtlinien selbst dazu verpflichtet, eine Gen- oder Chromosomenuntersuchung erst nach einer genetischen Beratung durchzuführen. Tatsächlich finden bisher jedoch deutlich mehr vorgeburtliche Chromosomenuntersuchungen und Gentests statt als genetische Beratungen. Von den ca. 60.000 Frauen, die ihr kommendes Kind jährlich einem Chromosomencheck unterziehen, werden die meisten von ihren Frauenärzten beraten. Doch auch die Anzahl molekulargenetischer Tests, einschließlich Tests zur Diagnosesicherung bei behinderten oder kranken 155
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Als Aufklärungs- und Entscheidungsunterricht ist die genetische Beratung ein aufschlussreiches Beispiel für den Versuch, Bürger zum »Leben mit den Lebenswissenschaften« zu erziehen. Hier zeigt sich deutlich, was passiert, wenn Begrifflichkeiten aus Genetik und Statistik im Alltag Bedeutung beanspruchen. Im Unterschied zu anderen Vermittlungsinstanzen wie Schule, Medien oder Diskussionsveranstaltungen, treffen hier Wissenschaft und handlungsrelevante Alltagsentscheidungen unmittelbar aufeinander. Experte und Laie befinden sich in einem persönlichen Gespräch; sie sind sozusagen auf ›Du‹ und ›Du‹. Und dieses Gespräch hat ein ganz bestimmtes Ziel: Frau S. soll ja zu einer bestimmten Handlung befähigt werden, nämlich zu einer ›informierten Entscheidung‹. Sie erwartet daher, prinzipiell verständliche und sinnvolle Sätze zu hören – Aussagen, die für sie persönlich relevant sind. Die Genetikerin hat daher nicht nur die Aufgabe, ihr Fachwissen möglichst verständlich darzustellen, sondern auch, es in Bezug zu bringen zu ihrem Gegenüber. Sie vermittelt ihre Expertise nicht nur, sondern deutet, vor dem Hintergrund ihres Fachwissens, das Sosein und Sollen ihrer Klientin: Sie schreibt ihr ›Gene‹ und ›genetische Risiken‹ zu. Bei dieser Zuschreibung bleibt Frau S. nicht die Gleiche. Sie wird epistemisch verwandelt. Aus Frau S. aus Fleisch und Blut wird ein abstraktes Risikoprofil. Diese epistemische Verwandlung der Person in ein statistisches Profil ist in der genetischen Beratung unvermeidlich. Sobald die Genetikerin ihrer Klientin ein Risiko oder ein ›Gen für‹ Darmkrebs attestiert, macht sie aus ihrem Gegenüber ein gesichtsloses Abstraktum. Diese epistemische Verwandlung, die Rekonstruktion der Person als Risikoprofil will ich nun am Beispiel einer genetischen Beratungssitzung genauer untersuchen. Was setzen Begriffe wie ›Risiko‹ und ›Gen‹ gedanklich voraus? Welche Umdeutungen muss die Genetikerin Menschen, lag im Jahre 2004 bereits bei über 200.000 (siehe Schmidtke/Pabst 2007). Das Bundesgesundheitsministerium gibt die Anzahl der gesamten genetischen Tests inzwischen sogar mit über 300.000 an – Tendenz steigend, siehe http://www.bmg.bund.de/cln_151/nn_ 1605522/SharedDocs/Standardartikel/DE/AZ/G/GlossarGendiagnostik gesetz/Fragen__und__Antworten__zum__Gendiagnostikgesetz.html#doc 1508646bodyText2 vom 15.12.09. Auf Grund dieser Diskrepanz zwischen Test und Aufklärung haben die Humangenetiker bereits vor Jahren eine Art Beratungsnotstand ausgerufen: Das genetische Beratungswesen muss dringend ausgebaut werden, so die Forderung, damit Genetiker deutlich mehr Bürger zu „informierten Entscheidungen“ über mögliche genetische Tests befähigen können. Der Vorsitzende der Deutschen Gesellschaft für Humangenetik, Claus Bartram, hat im Jahre 2005 einen Bedarf von jährlich 120.000 genetischen Beratungen diagnostiziert, siehe http://www.gfhev.de/de/presse/pressemitteilungen/GfH2005_Statement_ Bartram.pdf vom 7.12.2009. 156
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vornehmen, um ihrer Klientin ein ›hohes Risiko‹, also eine statistische Wahrscheinlichkeit attestieren zu können? Was macht sie aus ihrer Klientin, wenn sie sie als potentielle Trägerin einer Genveränderung markiert, einer Genveränderung, die »letztlich dann (–) diesen Träger Richtung Krebs führt«? Und schließlich: Welche Folgen hat diese epistemische Verwandlung für Frau S. und ihre Entscheidung?
D i e e p i s t e m i s c h e V e rw a n d l u n g der Person in ein statistisches Konstrukt Die Klientin als Risikoprofil Die meisten genetischen Beratungen, ob vor oder nach einer genetischen Untersuchung, dienen dazu, Klienten ein Risikoprofil zuzuweisen – ein Konstrukt aus berechneten Wahrscheinlichkeiten. Auch Frau S. bekommt ein solches Risikoprofil zugewiesen. Die Genetikerin offenbart ihr, dass sie zu den Hochrisikopersonen für erblichen Darmkrebs gezählt wird. Das ist die zentrale Aussage, die sie über ihre Klientin macht. Auf diesem Risikoprofil baut die weitere Beratungssitzung auf. Wegen des erhöhten Risikos empfiehlt die Genetikerin Frau S., sich engmaschigen Früherkennungsuntersuchungen zu unterziehen – »man muss aufpassen«, wie sie sagt – und bietet ihr an, einen genetischen Test machen zu lassen. Dieser Test würde, so behauptet die Genetikerin, das Risiko »konkretisieren«. Das bedeutet nicht, dass Frau S. damit mehr über ihre Gesundheit oder ihre Zukunft erführe; auch der Test würde Frau S. lediglich statistisch neu einstufen. Frau S. würde dann zur Population der Genträger gezählt, in der die Wahrscheinlichkeit, im Laufe des Lebens an Darmkrebs zu erkranken, mit 80 Prozent angegeben wird. Neben diesem ›konkretisierten Risiko‹ würde sie sich mit dem Test auch noch weitere Krebsrisiken einhandeln, eines beängstigender als das andere: ein erhöhtes Risiko für Magenkrebs, Gebärmutterhalskrebs, Dünndarmkrebs, Eierstockkrebs, Krebs des Gallen-Bauchspeicheldrüsen-Systems und Krebs im Bereich der ableitenden Harnwege. Auch diese Risiken, so fordert die Genetikerin Frau S. auf, solle sie durch regelmäßige Überwachung managen. Ein solches Risikoprofil ist jedoch nichts, das die Genetikerin an der konkreten Frau S. erkennen und festmachen könnte. Es ist keine Diagnose, die die Genetikerin anhand von konkreten Symptomen stellt und die etwas über Frau S.’s gesundheitliche und körperliche Verfassung aussagt. Ein Risikoprofil ist etwas grundsätzlich anderes. Es ist ein statistisches Konstrukt. Dieses Konstrukt stellt die Genetikerin her, indem 157
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sie ihre Klientin in verschiedene statistische Grundgesamtheiten steckt und deren probabilistische Eigenschaften kombiniert. Anhand von standardisierten Merkmalen, die sie abfragt, ordnet sie Frau S. also in verschiedene Risikopopulationen ein; anschließend weist sie die Erkrankungshäufigkeiten dieser künstlichen Kollektive Frau S. wieder zu – und zwar als ›persönliche Risiken‹. Die Merkmale, die sie für die Risikoklassifikation von Frau S. braucht, erfasst die Genetikerin zu Beginn der Sitzung. Wie die meisten genetischen Beratungen beginnt auch die Sitzung von Frau S. mit einer ausführlichen Befragung der Klientin. Für ihre Anmeldung hatte sie bereits Angaben zu ihrer Verwandtschaft gemacht. Diese liegen der Genetikerin schriftlich vor, und sie geht sie gemeinsam mit ihrer Klientin durch. Dabei hakt sie einen ganzen Katalog an Fragen ab. Dieser Fragenkatalog dient dazu, die Merkmale zu erfassen, anhand derer sie ein Risikoprofil erstellen kann. Sie erkundet das Alter ihrer Klientin, ihre bisherige Gesundheit sowie mögliche medizinische Befunde und Diagnosen. Anschließend dehnt sie die Fragerunde auf die gesamte Verwandtschaft aus. Die Genetikerin erfragt Polypen und Krebserkrankungen von Eltern, Großeltern, Tanten, Onkel, Nichten und Neffen und deren Kindern. Männer kommen dabei als Quadrat und Frauen als Kreis aufs Papier, so dass die Genetikerin eine ganze Ansammlung von miteinander verbundenen geometrischen Figuren zeichnet. Dieser Stammbaum dient ihr als Grundlage für die Risiko-Klassifizierung von Frau S. Frau S. weiß nichts davon, dass die Genetikerin auf der Suche nach bestimmten Merkmalen ist. Sie bringt das zur Sprache, was ihr im Zusammenhang mit den Krankheiten ihrer Verwandten und mit ihrem eigenen Inneren bedeutsam erscheint, und zwar in Form von kleinen Geschichten oder Erzählungen. Dass sie vom Krankenhaus, in dem ihr Vater an Darmkrebs starb, nur eine »patzige« Antwort bekamen, dass ihre Mutter nicht die Kraft hatte, genauer nachzufragen, und dass sie zur Familie ihres Vaters keinen Kontakt mehr hat. Mit diesen Geschichten, mit denen Frau S. ihren Erfahrungen und den Schicksalen ihrer Verwandten Sinn gibt, kann die Genetikerin jedoch nichts anfangen. Persönliche Geschichten sind im Raster von ›Genen‹ und ›Risiken‹ bedeutungslos; relevant sind hier lediglich standardisierte, objektivierbare Informationen. Die Genetikerin möchte ganz bestimmte Daten erheben und fragt daher nach Krankheitsdiagnosen, Erkrankungsalter und Verwandtschaftsgraden. Die Erzählung über Leid und Tod übersetzt die Genetikerin in Merkmale, anhand derer sie ihre Klientin statistisch klassifizieren kann. Die Genetikerin verhält sich keinesfalls unaufmerksam oder ignorant, wenn sie von den konkreten Lebensumständen und Erfahrungen
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von Frau S. abstrahiert. Statistik befasst sich prinzipiell nicht mit konkreten Personen, sondern nur mit gesichtslosen Fällen. »In statistical affairs [...] the first care before all else is to lose sight of the man taken in isolation in order to consider him only as a fraction of the species. It is necessary to strip him of his individuality to arrive at the elimination of all accidental effects that individuality can introduce into the question.« (Poisson et al. 1835, zit. n. Hacking 1990: 81)
Daher muss auch die Genetikerin aus ihrer Klientin ein solches ›Bruchstück‹ der menschlichen Spezies machen. Um sie in den Wissensraum von Wahrscheinlichkeiten und statistischen Kalkulationen zu überführen, muss sie Frau S. epistemisch verwandeln: Sie rekonstruiert die Person aus Fleisch und Blut als Risikoprofil, als Konstrukt aus den Erkrankungswahrscheinlichkeiten statistischer Grundgesamtheiten.
Das Klassifikationsraster: Internationale Kriterienkataloge Die Einstufung von Menschen als Risikopersonen für erblichen Darmkrebs orientiert sich entlang zweier internationaler Kriterienkataloge: Die »Amsterdam-Kriterien« und die etwas weniger strikten »BethesdaKriterien«. Diese Kriterienkataloge dienen dazu »konkret abzuschätzen«, wie die Genetikerin sagt, »ob eine Familie zu – in Anführungszeichen – Hochrisiko-Familien für Erblichkeit gehört oder nicht«. Diese Kriterienkataloge hat die Genetikerin im Kopf, als sie Frau S. nach ihrer Gesundheit und Familie befragt. Sie sind das Raster, mit Hilfe dessen sie in den Erzählungen von Frau S. ›Auffälligkeiten‹ identifiziert, wie es im Genetikerjargon heißt – Auffälligkeiten, die ihr als Risikofaktoren oder Klassifikationsmerkmale dienen. Frau S. erfüllt diese Kriterien. Sowohl an ihr selbst als auch an ihrem Stammbaum hat die Genetikerin Merkmale festgestellt, auf Grund derer sie zur Hochrisikogruppe für erblichen Darmkrebs gezählt wird. »Drei Verwandte mit Darmkrebs, in mindestens zwei aufeinanderfolgenden Generationen, mindestens einer erkrankte vor dem 50. Lebensjahr« ist eines dieser Kriterien, das auf Frau S. Familiengeschichte zutrifft. Doch auch sie selbst mit ihren Polypen, die das erste Mal im Alter unter 40 auftraten, erfüllt eines der Kriterien: »So dass man eigentlich bei Ihnen schon sagen muss, Sie erfüllen diese Kriterien und man muss eigentlich davon ausgehen, dass da ein hohes Risiko vorliegt.«
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Die Genetikerin hat ihrer Klientin nun ein erhöhtes Risiko für eine erbliche Darmkrebsdisposition zugeschrieben. Sie hat festgestellt, dass Merkmale von Frau S. dem standardisierten Merkmalsraster der internationalen Kriterien entsprechen, und hat sie daher in eine Population gesteckt, in der »die Wahrscheinlichkeit gegeben ist, dass da diese erbliche Form vorliegen kann«, wie sie an anderer Stelle sagt. Auf Grund des Stammbaumes und ihrer Vorgeschichte wird Frau S. zu einer Merkmalskohorte gezählt, in der erblicher Darmkrebs sehr häufig ist. Diese Häufigkeit, statistisch als Wahrscheinlichkeit gefasst, schreibt die Beraterin ihrer Klientin nun als „hohes Risiko“ zu. Frau S. wurde als jemand eingestuft, der eine erhöhte Wahrscheinlichkeit für eine genetische Disposition bzw. ein genetisches Risiko hat – genaugenommen eine erhöhte Wahrscheinlichkeit für eine erhöhte Wahrscheinlichkeit.5
Die Bedeutungslosigkeit von Risiken Die Genetikerin hat Frau S. ein Risikoprofil zugewiesen und sie dazu aufgefordert, sich selbst als ein solches zu verstehen. Wenn ihre Entscheidung als ›informiert‹ und ›selbstbestimmt‹ gelten soll, so der Tenor der Beratung, dann muss sie dieses neue Selbstverständnis zur Grundlage ihrer Entscheidungen machen. Frau S. soll sich also überlegen, ob der Gentest angesichts ihres – vermeintlich persönlichen – »Hochrisikos« für erblichen Darmkrebs der »richtige Weg« ist. Was hat Frau S. jedoch nun mit diesem Risiko über sich selbst erfahren? Was genau hat die Beraterin zu und über Frau S. gesagt? Statistische Wahrscheinlichkeiten haben eine präzise, aber auch begrenzte Aussagekraft. Sie sagen etwas darüber aus, was in einer langen Serie gleichartiger Experimente oder Ereignisse geschieht – aber sie sagen nicht voraus, wie ein Einzelexperiment ausgehen wird. Per definitionem beziffern Wahrscheinlichkeiten Häufigkeiten in Grundgesamtheiten, machen jedoch keine Vorhersagen über den Einzelfall. Für die leibhaftige Frau S. ist das »hohe Risiko«, das ihr die Genetikerin attestiert, daher irrelevant.6 Es sagt genauso wenig über sie aus wie die Regen5 6
Die Deutschen Krebshilfe betreibt eine Webseite zu erblichem Darmkrebs, wo sich in der Rubrik für Ärzte auch Angaben zu den Klassifikationskriterien finden, siehe http://www.hnpcc.de/. Mit der Feststellung, dass das ›hohe Risiko‹ für Frau S. bedeutungslos ist, möchte ich nicht bestreiten, dass sie Grund zur Sorge und Vorsicht hat. Es scheint medizinisch vernünftig, einer Frau, in deren Familie mehrfach Darmkrebs vorkam und die selbst mehrere Polypen hatte (die ja als Vorstufen bösartiger Tumore angesehen werden können), zur regelmäßigen Darmspiegelung zu raten. Mir geht es hier jedoch darum, die Denkvoraussetzungen einer genetisch begründeten Risikomedizin zu analysieren.
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wahrscheinlichkeit über den heutigen Tag. Laut Zeitung beträgt sie 80 Prozent, doch noch am Abend zeigt sich keine Wolke am blauen Himmel. Anhand einer Regenwahrscheinlichkeit zu entscheiden, ob der Schirm zu Hause bleibt und welche Kleidung angemessen ist, ist ein reines Glücksspiel. Die Wahrscheinlichkeit macht keine Aussagen darüber, wie das Wetter tatsächlich sein wird: Ob Niederschlag fallen wird oder nicht, wie viel, wie lange oder wann, noch ob es ein wenig tröpfelt, ob Nieselregen einsetzt oder Gewitter herunter brechen – alles das lässt eine Regenwahrscheinlichkeit offen. Was die 80 Prozent stattdessen sagen ist Folgendes: Der Meteorologe hat ein fiktives ›heute‹ konstruiert, an dem es an 80 von 100 Fällen regnet. Gäbe es also 100 Tage nach gestern, dann würde an 80 von ihnen – irgendwann – Regen fallen. Tatsächlich gibt es ›heute‹ aber nur einmal. Und für dieses eine ›heute‹ sind die 80 Prozent irrelevant.7 Auf ganz ähnliche Weise, wie ein Meteorologe ein fiktives ›heute‹ konstruiert, konstruiert die Genetikerin eine fiktive Frau S. Mit der leibhaftigen Person, die ihr gegenübersitzt, hat dieses Risikoprofil nicht viel zu tun.8 Alles das, was Frau S. ausmacht, alles Konkrete, Einmalige und Körperliche ist aus dem Risikoprofil herausgewaschen. Übrig geblieben ist nur, was statistisch berechenbar ist: Ein Abstraktum, ein Set aus Variablen.9
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Der Kognitionspsychologe Gerd Gigerenzer widmet einen beträchtlichen Teil seiner Forschung der Vermittlung und dem Verständnis von Risiken. In seinem »Einmaleins« des Risikodenkens (Gigerenzer 2002), macht er auf die gängigen und sowohl bei Experten als auch Laien weit verbreiteten Missverständnisse in Bezug auf Wahrscheinlichkeiten und Risiken aufmerksam. Wandern Risiken aus der Statistik in die Arztpraxis oder ans Krankenbett aus, verändern sie sich grundlegend: Sowohl Mediziner als auch Patienten verstehen Risiken nicht als statistische Häufigkeiten, sondern als handfeste Wirklichkeiten: Als »objective clinical signs of disease« (Gifford 1986: 222). Solche ›klinischen Risiken‹ sind jedoch hochgradig widersprüchlich. Sie entstehen durch die Vermischung von unvereinbaren Denkweisen; der Feststellung und Berechnung statistischer Risikofaktoren einerseits und der Diagnose von Gesundheit und Krankheit andererseits: »Clinical risk comprises an unstable amalgam of incompatible forms of reasoning« (Weir 2006: 19). Das genetische Risikoprofil ist ein statistisches Konstrukt, ein zusammengestelltes Faktoren-Bündel. Eine solche Erfassung von ›potentiellen Kranken‹ und Risikogruppen zeugt daher, wie Deleuze betont, »keineswegs von einem Fortschritt zur Individuierung […], wie man sagt, sondern der individuelle oder numerischen Körper wird durch die Chiffre eines dividuellen Kontroll-Materials ersetzt« (Deleuze 2006: 13). 161
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Die epistemische Vermischung und ihre Folgen Die Verwandlung der Klientin in ein abstraktes Risikoprofil führt fast unvermeidlich zu folgenreichen Verwirrungen. Zum einen geht Frau S. ja zu Recht davon aus, dass die Genetikerin ihr nicht nur die probabilistischen Eigenschaften statistischer Populationen zuschreibt, sondern glaubt, dass ihre Aussagen Hand und Fuß haben. Daher ist es nicht erstaunlich, wenn Frau S. meint, mit einem ›hohen Risiko‹ würde ihr eine Krankheitsanfälligkeit bescheinigt oder gar eine beängstigende Diagnose gestellt. Doch auch die Genetikerin selbst spricht von Genen, Risiken und Wahrscheinlichkeiten, als ob es sich dabei ebenfalls um etwas Konkretes, Persönliches und Erfahrbares handeln würde. Formulierungen wie ›Ihr Risiko‹ oder ›Sie haben ein Risiko‹ erwecken den Eindruck, man könne ein Risiko auf die gleiche Weise haben wie eine Blinddarmentzündung oder einen Knoten in der Brust. In der genetischen Beratung werden also zwei heterogene Sphären, das umgangssprachliche ›Du‹ (bzw. ›Sie‹), mit dem sie Frau S. anspricht, und das statistische Konstrukt, über das sie Aussagen macht, systematisch vermischt.10 Obwohl die Genetikerin Aussagen über das Risikoprofil macht, das sie konstruiert hat, spricht sie ihre Klientin weiterhin persönlich an; sie adressiert ihre Aufklärung über Gene und Risiken direkt an ihr Gegenüber, an ein ›Du‹. Adressat und Referent ihrer Rede klaffen also auseinander. Per definitionem beziehen sich die Risiken, die sie ihrer Klientin zuschreibt, nicht auf eine konkrete Person, sondern auf einen konstruierten ›Kasus‹; niemals auf das ›ICH‹ oder ›DU‹ in einer umgangssprachlichen Aussage, sondern immer nur auf einen ›Fall‹ aus einer statistischen Population. Verstärkt wird diese epistemische Vermischung zwischen Person und Konstrukt, zwischen Einmaligem und Berechenbarem, zwischen Konkretem und Abstraktem durch die Rede von ›Genen‹ und ›Genfehlern‹. Spricht die Genetikerin von einem ›Gen für‹ Darmkrebs oder von Genveränderungen, die Krebs ›triggern‹ oder ›machen‹, so sind das populärwissenschaftliche Formulierungen, die sich auf nichts anderes als eine statistische Korrelation beziehen. Ein solches ›Gen‹ bezeichnet in den meisten Fällen ein statistisches Merkmal, das mit dem Auftreten von Krankheiten statistisch assoziiert werden kann. Die umgangssprachliche 10 Auf die Kluft zwischen genetischen Befunden und statistischen Daten auf der einen Seite und persönlichem Erleben auf der anderen Seite haben auch Rapp (1999, insbesondere 53-77, 78ff), Rapp (2000), Schwennesen, Koch und Svendsen (2009) aufmerksam gemacht. Sie fassen diese Kluft jedoch nicht als eine epistemische, sondern lediglich als eine begriffliche oder kulturelle und problematisieren sie daher nicht weiter. 162
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Rede von einem Gen, das die Erkrankung ›triggert‹ oder ›macht‹ suggeriert jedoch, dass mit dem Gen eine handfeste Krankheitsursache oder gar der versteckten Beginn der Krebserkrankungen festgestellt werden kann. Attestieren Genetiker ihren Klienten ein genetisches Risiko, so scheint es daher, als hätten sie damit eine körperliche Anfälligkeit oder eine vorprogrammierte Erkrankung dingfest gemacht. Das ›Entwederoder‹ einer ungewissen Zukunft, die in Analogie zum Glücksspiel statistisch vorauskalkuliert werden kann, gerinnt dadurch zu einem latenten Noch-nicht. Es scheint, als hätte die Genetikerin mit dem ›genetische Risiko‹ eine Aussage über das gemacht, was versteckt bereits da ist – und nicht nur über das, was vielleicht passieren könnte. Diese epistemische Vermischung zwischen einem angesprochenen ›Du‹ und einem konstruierten Risikoprofil ist pathogen. Sie macht aus kerngesunden Menschen lebenslange Patienten, die unter einer neuen iatrogenen Angst leiden: der Risikoangst. Wie empirische Studien zeigen, wähnen sich Menschen, denen ein Risiko bescheinigt wird, oftmals am Rande des Abgrundes. Sie fühlen sich nicht mehr gesund und meinen, sich auf direktem Weg zu einer beängstigenden Erkrankung zu befinden (Gifford 1986; Kavanagh/Broom 1998). Ihnen fehlt nichts, doch ihr Körper verwandelt sich in eine Zeitbombe (Lock 1998), in eine Quelle latenten Unheils.11 Eine Frau, der nach einem PAP-Test12 ein erhöhtes Krebsrisiko bescheinigt wurde, will sich daher alles herausschneiden lassen, was sie nicht unbedingt zum Leben braucht: »Because the tiniest bit can go wrong, and if that’s not there, well, you can’t have a problem with it.« (Kavanagh/Broom 1998: 440)13
11 Welche pathogenen Folgen Tests und Risikovorhersagen haben, schildert Lisbeth Sachs sehr eindrücklich am Beispiel des Cholesterinscreenings. Obwohl sie mit den Zahlen selbst nicht viel anfangen können, verändert sich das Lebensgefühl der Getesteten grundlegend: »My talks with the twelve men revealed that although the abstract cholesterol figure did not mean much to them, it still elicited marked reaction.« (Sachs 1996: 640) Manche fühlten sich – bei bester Gesundheit – krank und gestört, und andere litten unter starken Ängsten, ja sogar unter Todesangst. 12 Der PAP-Test ist ein Abstrich des Muttermundes, anhand dessen Zellveränderungen festgestellt werden können zur Früherkennung von Gebärmutterhalskrebs. Häufig werden dabei auch Zellveränderungen festgestellt, die sich wieder von alleine zurückbilden. Die betroffenen Frauen gelten nach einem solchen auffälligen Test jedoch als Risikopersonen und wähnen sich meist am Rande einer bedrohlichen Krebserkrankung. Siehe u.a. Kavanagh und Broom (1998). 13 Die Medizin bietet Risikoträgern Verstümmelung als Weg zur Risikoreduktion an: Frauen, denen ein erhöhtes Risiko für Brustkrebs attestiert wird, weil sie als BRCA1 oder BRCA2 positiv gelten, wird die prophylaktische Amputation der Eierstöcke und Brüste empfohlen. 163
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Die epistemische Vermischung macht Menschen jedoch nicht nur von Experten und Technik abhängig, sondern hat auch noch eine andere soziale Funktion. Sie bürdet Menschen eine ganz neue Form von Verantwortung auf: die Verantwortung für das, was ihnen zustoßen könnte. Genetiker bringen Klienten bei, sich als Träger von Genen und Krankheitsrisiken zu verstehen und dieses neue ›Wissen‹ zur Grundlage ihrer Entscheidungen zu machen. Das, was ihnen in Zukunft passieren könnte, zum Beispiel an Krebs zu erkranken, nehmen die Genetiker als feststellbare Genveränderung und berechenbares Risiko vorweg. Es scheint nun, als könnten Klienten nicht nur über Testoptionen und Überwachungsmaßnahmen entscheiden, sondern auch über ihre zukünftige Gesundheit. Die Gen-Lektionen, Risikoatteste und Testangebote suggerieren, es ließe sich etwas wissen und entscheiden über das, was kommen könnte. Krankheit ist nun kein Schicksalsschlag mehr. Stößt ihnen etwas zu, so müssen sie die Schuld bei sich selbst suchen – und zwar auf zweifache Weise. Zum einen war es kein Zufall, kein Unglück und kein Umweltgift, das sie krank gemacht hat, sondern es waren sie selbst. Ihre fehlerhafte Konstitution, ihr angeborenes genetisches Risiko hat zur Krankheit geführt. Und zweitens, so suggeriert die genetische Aufklärung, gab es etwas zu wissen und zu entscheiden. Das Angebot des Tests, die ausführliche Beratung und die Pflicht zur ›informierten Entscheidung‹ suggerieren, Gesundheit sei technisch machbar. Es scheint, als könnten sich die Klienten tatsächlich ihrer Zukunft bemächtigen. Werden sie dennoch krank, so haben sie vielleicht versagt. Gilt Gesundheit als machbar, so kann Krankheit nur noch als Folge falscher Entscheidungen verstanden werden, als Zeichen mangelhafter Selbstbestimmung: »A health that can be chosen […] testifies more than just a physical capacity, it is the visible sign of initiative, adaptability, balance, and strength of will. In this sense, physical health has come to represent, for the neo-liberal individual who has ›chosen‹ it, an objective witness to his or her suitability to function as a free and rational agent.« (Greco 1993, 369/70)14
14 Präventionskampagnen stellen Krankheiten oft als Folge ungesunder Entscheidungen dar. Herzerkrankungen, so stellen beispielsweise Davison und Frankel in ihrer Studie zur »Laienepidemiologie« fest, gelten hier als Folge von Unwissenheit oder Undiszipliniertheit: »›Choosing health‹ is thus central to the official ideology, with the strong implication being that much heart disease is attributable either to ignorance or to a lack of selfdiscipline.« (Davison/Frankel/Davey Smith 1992: 3) Zur ›selbstbestimmten Entscheidung‹ als Sozialtechnologie siehe Samerski (2009). 164
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Die epistemischen Verwirrungen, die die genetische Beratung durch die Vermischung von Person und Statistik erzeugt, sind paradigmatisch für das »Leben mit den Lebenswissenschaften«. Ob pränatale Diagnostik, prädiktive Gentests oder Krebsprävention – Menschen werden überall als Risikoprofile behandelt.15 Zahlreiche Aufklärungs- und Beratungsveranstaltungen bringen ihnen zudem bei, diese statistische Perspektive auch auf sich selbst einzunehmen. Im Namen von Prävention und Selbstbestimmung werden sie instruiert, sich aktiv an ihrer Risikoverwaltung zu beteiligen.16 Die epistemische Vermischung zwischen Konkretem und Abstraktem, zwischen Persönlichem und Statistischem, die ich beispielhaft an der genetischen Beratung untersucht habe, kann also nicht auf didaktische Unzulänglichkeit oder populärwissenschaftliche Vereinfachung zurückgeführt werden, sondern ist Programm: Sie ist die Grundlage des heutigen Risiko- und Präventionsdenkens in der Medizin. Bereits in den 1980er Jahren haben Autoren wie Robert Castel (1983) und Jonathan Simon (1988) darauf hingewiesen, dass der Ausgangspunkt und die Zielscheibe der Risiko- und Präventionstechnologien nicht mehr konkrete Personen sind, sondern konstruierte Profile.17 Inzwischen ist vorausschauendes Risikomanagement jedoch nicht mehr nur Ziel von Versicherungsunternehmen, Behörden, Gesetzgebern, Eugenikern, Psychiatern oder anderen Verwaltungsexperten, sondern zählt zu den Pflichten aller Bürger. Wer als ›selbstbestimmt‹ und ›eigenverantwortlich‹ gelten will, muss lernen, einen statistisch begründeten Verwaltungsblick auf sich selbst einzunehmen und sich für Risiken verantwortlich zu fühlen. Zunehmend fordern Gesetze und Richtlinien diese epistemische Verwirrung, die Selbstwahrnehmung als Risikoprofil, ausdrücklich ein. Der Gemeinsame Bundesausschuss18 hat beispielsweise erkannt, dass die Erzeugung von Risikobewusstsein und Verantwortungsgefühl effektiver ist als Zwang und Kontrolle: Statt Bürger – wie ursprünglich vorgesehen – zu risikobehafteten Früherkennungsunter-
15 Armstrong unterscheidet die Risiko- und Überwachungsmedizin grundlegend von der klinischen Medizin der vergangenen 200 Jahre, siehe Armstrong (1995). 16 Zur sozialen Funktion der ›selbstbestimmten Entscheidung‹ und zur genetischen Beratung als Entscheidungsunterricht siehe Samerski (2010, im Druck). 17 Auch Ewald stellt fest, dass es das ›Individuum‹ in der Moderne nur noch als Ableitung eines neuen Kollektivgegenstandes gibt: Nämlich als Fall einer Population, siehe Ewald (1993). Zur Konstruktion von ›Population‹ als neuem Wissensgegenstand siehe Jansen (2002). 18 Der Gemeinsame Bundesausschuss ist das oberste Beschlussgremium der Selbstverwaltung der Ärzte, Zahnärzte, Psychotherapeuten, Krankenhäuser und Krankenkassen. 165
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suchungen zu zwingen, müssen sie sich nun beraten lassen und selbst entscheiden, wie sie mit den vorhergesagten Risiken umgehen: Wollen bestimmte Alterskohorten von Frauen und Männern die volle Zuzahlung erhalten, wenn sie an Darmkrebs, Brustkrebs oder Gebärmutterhalskrebs erkranken, müssen sie sich von einem Arzt über Krebsrisiken sowie die Chancen und Risiken von Vorsorgeangeboten belehren lassen. Die Belehrung ist in einem Präventionspass zu dokumentieren. Diese Beratungspflicht soll sicherstellen, dass Bürger ihre Entscheidungen auf ärztlich attestieren und vermittelten Risiken gründen (Gemeinsamer Bundesausschuss 2007). Und auch das neue Gendiagnostik-Gesetz macht Gen- und Risikobewusstsein zur neuen Bürgerpflicht: Es schreibt vor, dass Klienten sowohl vor als auch nach pränatalen oder prädiktiven genetischen Tests zur genetischen Beratung müssen. Damit legt es fest, dass nur diejenigen als informiert und aufgeklärt gelten, die epistemisch verwirrt worden sind: die gelernt haben, sich als Gen- und Risikoträger zu verstehen und als solche zu managen. Wenn sozialwissenschaftliche Forschung die sozialen und kulturellen Auswirkungen von sogenanntem ›genetischen Wissen‹ untersuchen will, sollte sie diese epistemische Vermischung zwischen Person und Risikoprofil nicht übersehen. Wer über ›Gene‹ und ›Risiken‹ im Alltag nachdenkt, sollte nicht im Dunkeln lassen, was diese Begriffe gedanklich voraussetzen: Eine Form des Kohortendenkens, bei dem der Einzelne zum gesichtslosen Mitglied einer Grundgesamtheit mutiert.
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Schmidtke, Jörg/Pabst, Brigitte (2007): »Daten zu ausgewählten Indikatoren II«, in: Jörg Schmidtke/Bernd Röber (Hg.), Gendiagnostik in Deutschland. Status Quo und Problemerkundung. Supplement zum Gentechnologiebericht, Berlin: Berlin-Brandenburgische Akdademie der Wissenschaften, S. 195-203. Schwennesen, Nete/Koch, Lene/Svendsen, Mette N. (2009): »Practising informed choice: decision making and prenatal risk assessment – the Danish experience«, in: Christoph Rehmann-Sutter/Hansjakob Müller (Hg.), Disclosure Dilemmas. Ethics of Genetic Prognosis After the ›Right to Know/Not to Know‹ Debate, Farnham/Burlington: Ashgate, S. 191204. Simon, Jonathan (1988): »The Ideological Effects of Actuarial Practices«, in: Law and Society Review 22, S. 771-800. Weir, Lorna (2006): Pregnancy, Risk, and Biopolitics: On the Threshold of the Living Subject, London/New York: Routledge. Zoll, Barbara (2009): »Autonomie, Entscheidungsfindung und Nicht-Direktivität in der genetischen Beratung - eine ethische Betrachtung«, in: Irene Hirschberg et al. (Hg.), Ethische Fragen Genetischer Beratung, Frankfurt a.M.: Peter Lang, 85-102.
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Ge n-Wisse n zw isc he n La bor und Früherkennung SONJA PALFNER
»tat cag ggt agt tct gtt tca aac ttg cat gtg gag cca tgt ggc aca aat act cat gcc agc tca tta cag cat gag aac agc agt tta tta ctc act aaa gac aga atg aat gta gaa aag gct gaa ttc tgt aat aaa«
Au s g a n g s b e o b a c h t u n g Eine interessante Meldung konnte man in verschiedenen Zeitungen im Winter 2008/2009 lesen: »Erstes Baby ohne Brustkrebs-Gen in London erwartet«. Mittels künstlicher Befruchtung, so hieß es, seien zunächst Embryonen erzeugt und einer Präimplantationsdiagnostik (PID) unterzogen worden. Sechs der untersuchten Embryonen hätten das Brustkrebs-Gen BRCA1 getragen und seien zerstört worden. Zwei ohne das gefährliche Gen seien in die Gebärmutter der Frau verpflanzt worden. Ein Baby ohne Brustkrebs-Gen – diese Information irritiert mich. Doch vermutlich wurde sie von den meisten Leserinnen und Lesern unhinterfragt aufgenommen. Das Brustkrebs-Gen – wer würde bei diesem Namen nicht an die Krankheit Brustkrebs denken und das Gen hierfür verantwortlich machen? Der Name ist sozusagen Programm. Und dementsprechend scheint es nur konsequent, wenn das ›gefährliche Gen‹ beseitigt, sprich ein Kind ohne dieses Gen geboren wird. Warum also Irritation? Weil es noch ein anderes Wissensgebiet über Brustkrebs-Gene gibt, welches auf den ersten Blick nicht mit dem kranken oder gefährlichen Gen übereinstimmt, das man mittels PID identifizieren und dann beseitigen kann – sondern sogar konträr dazu steht. Es handelt sich um 169
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genetisches Wissen oder auch das Brustkrebs-Gen der Wissenschaft. Denn wissenschaftlich betrachtet haben alle Menschen – Männer und Frauen – Brustkrebs-Gene. Erst durch eine vererbte Mutation auf einem dieser beiden Gene wird die Wahrscheinlichkeit erhöht, dass die betreffende Person an Brust- bzw. Eierstockkrebs erkrankt: »Mutationen in Tumorsupressorgenen bilden die Grundlage der erblichen Disposition für verschiedene Tumoren beim Menschen« (Scherneck/Jandrig 1997: 1). Die Mutation platzierte sich als bedeutende Einheit im Wissen über BRCA1 und BRCA2 und als Key Player zwischen Klinik und Forschung (Bourret 2005: 54). Nicht die Gene sind aus dieser Perspektive gefährlich oder krank machend. Im Gegenteil: In ihrer Funktion als sogenannte Tumorsuppressorgene schützen sie davor, dass Tumore überhaupt entstehen können. Gibt es zwei verschiedene Wissensgebiete, zwei unterschiedliche Brustkrebs-Gene? Von Seiten der Wissenschaft könnte man leicht in Versuchung geraten, das andere Wissen um das gefährliche Gen, welches es zu beseitigen gälte, als falsch und als unwissenschaftlich zu bezeichnen. Ist es nur eine Frage mangelnder Information, dass solch ein Wissen um kranke Gene überhaupt auftauchen kann? Dafür scheint folgende Erfahrung aus der humangenetischen Beratung bei Familiärem Brust- und Eierstockkrebs in Berlin zu sprechen, wo ich Interviews durchgeführt habe: Immer wieder, so die beratende Ärztin, käme es vor, dass die ›Ratsuchenden‹ nach ihrer Darlegung der genetischen Erkenntnisse ansetzen würden mit »Wenn ich dieses Gen habe...«. Dann müsse sie intervenieren und erläutern, dass alle Menschen Brustkrebs-Gene besäßen. Was man lediglich haben könne oder nicht, seien Mutationen auf den Genen. Sie führt dieses »Missverständnis« auf die Komplexität der Thematik zurück (Spiegel 2006: 21f.). Muss demnach das Wissen um kranke Gene, die man haben kann oder eben auch nicht, als ein falsches Wissen betrachtet werden? Und liegt der Grund hierfür darin, dass »die meisten Menschen [viel] zu wenig von Genetik und Molekularbiologie [wissen], als dass sie mit dem Fachmann einen rationalen Dialog über gentechnische Fragen führen könnten« (Mohr 2004: 280)? Haben wir es also nur mit Verständigungsschwierigkeiten ob der Komplexität molekularen Wissens zu tun oder ist das Problem grundsätzlich anders gelagert? Nehmen wir den zweiten Fall an. Wie könnte die geschilderte Beobachtung der Gleichzeitigkeit von ›kranken‹ und ›wissenschaftlichen‹ Brustkrebs-Genen dann begriffen werden? Einen Hinweis erhalten wir in der »Archäologie des Wissens« von Michel Foucault. Fast am Ende des Buches formuliert er einen interessanten Gedanken zum Verhältnis von Wissen und Wissenschaft:
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»In jeder diskursiven Formation findet man eine spezifische Beziehung zwischen Wissenschaft und Wissen; und die archäologische Analyse muss, anstatt zwischen ihnen eine Beziehung des Ausschlusses oder der Entziehung zu definieren (indem sie das sucht, was vom Wissen sich der Wissenschaft entzieht und ihr noch widersteht, und das, was von der Wissenschaft noch durch die Nachbarschaft und den Einfluss des Wissens gefährdet wird), positiv zeigen, wie sich eine Wissenschaft ins Element des Wissens einreiht und funktioniert.« (Foucault 1981: 263)
Von dieser Überlegung ausgehend lässt sich formulieren, dass sich krankes Gen und wissenschaftliches Gen nicht gegenseitig ausschließen. Im Gegenteil muss das wissenschaftliche Wissen auf das Wissen einer diskursiven Formation, auf eine diskursive Praxis bezogen werden. Von daher gilt es zu fragen, was die Bedingungen der Möglichkeit für die beobachtete Gleichzeitigkeit sind; wie sich »ein Gebiet der Wissenschaftlichkeit im archäologischen Territorium« (Foucault 1981: 262) lokalisiert und wie es darin funktioniert. Mich interessiert also, wie das Brustkrebs-Gen in und zwischen Forschung, Diagnostik, Beratung und Früherkennung, »zwischen Wissenschaft und Wissen« (Foucault 1981: 263), zu seiner Existenz kommen konnte. Ähnlich der Forschungsperspektive Foucaults – »Angenommen, der Wahnsinn existiert nicht. Was ist dann die Geschichte, die man anhand dieser verschiedenen Ereignisse, dieser verschiedenen Praktiken schreiben kann, die sich anscheinend um diese unterstellte Sache, den Wahnsinn, gruppieren?« (Foucault 2006: 16) – frage ich, was für eine Geschichte wohl um die BrustkrebsGene herum geschrieben werden müsste, angenommen sie existierten nicht immer schon als unwandelbare Entitäten der Natur? Ich argumentiere, dass die Prozesse der Übersetzung biomedizinischen Wissens in Alltagspraxen nicht als ein linearer Prozess im Sinne einer Translation »from bench to bedside« verstanden werden können. Eher sind diese Prozesse als sich wiederholende und sich selbstmodifizierende Produktionen gesellschaftlicher Wirklichkeit »rhizomatisch« (Deleuze/Guattari 1977) in konkreten materialen Arrangements situiert1.
1
Die Ausführungen basieren auf meiner Doktorarbeit »Gen-Passagen« (Palfner 2009). Die Arbeit umspannt Zeitgeschichte und Gegenwart der Brustkrebs-Gene mit Fokus auf die Arbeitsgruppe Tumorgenetik am MaxDelbrück-Centrum für Molekulare Medizin und auf lokale Praktiken im Berliner Zentrum für Familiären Brustkrebs, wo BRCA-Diagnostik mit einer humangenetischen Beratung und einem intensivierten gynäkologischen Früherkennungsprogramm angeboten wird. 171
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Übersetzen I: Modellbildung – oder: Wie der Familiäre Brustkrebs in die Forschung kam Dort, wo Brustkrebs-Gene in den 1980er Jahren zunehmend ins Zentrum wissenschaftlicher Aufmerksamkeit rückten, geschah dies am Familiären Brustkrebs. Das Wissen um den Zusammenhang von gehäuft auftretendem Brustkrebs über mehrere Generationen stellte dabei für die Forschenden nichts Neues dar. Die erste signifikante Beschreibung eines solchen Stammbaumes, so erfährt man, findet sich in einer Publikation des französischen Arztes Paul Broca aus dem Jahr 1866 (vgl. Lynch et al. 2004: 12). Die familiäre Häufung von Brustkrebs wurde und wird bis heute als ein »gesicherter und strenger Risikofaktor für die Erkrankung« (Scherneck/Hofmann 1999: 373) beschrieben. In Familien, in denen man von einem erblichen Brustkrebs spricht, wird das Auftreten von Brustkrebs in mehreren Generationen einer Familie beobachtet. Dazu kommt das Charakteristikum eines jungen Erkrankungsalters (vor dem 45. Lebensjahr) und einer höheren Rate an bilateralen Tumoren. Neben Brustkrebs spielte auch der Eierstockkrebs im Vererbungswissen eine Rolle. Wenn Familienangehörige in der beschriebenen Art und Weise von Brustkrebs betroffen waren, gab das Anlass zur Annahme, dass es sich um die Vererbung einer genetischen Disposition handeln musste. Sogenannte Segregationsanalysen erhärteten den Verdacht auf die Existenz eines für Brustkrebs disponierenden Gens. »Sie sehen das im Stammbaum. Da muss irgendwas sein.« (Scherneck 2006: 27) Sprich, der sehende und damit verstehende Blick setzte die Möglichkeit der Kombination von Erkrankungen und Vererbung voraus; sonst hätte man erst gar nichts im Stammbaum sehen können. So trafen sich Familiärer Brustkrebs und Brustkrebs-Gen: »Recent likelihood analyses of breast cancer families have confirmed that the pattern of breast cancer is best explained in some families by an autosomal dominant gene [...].« (Skolnick et al. 1984: 364) Die Vorstellung, dass die Ursache der Krebsentstehung in einem Gen zu finden sei, faszinierte in ihrer Einfachheit. Wobei es durchaus auch andere – jedoch zunehmend marginalisierte – Stimmen zur Frage nach den Ursachen für die Krankheit Brustkrebs gab. Das qualitativ Neue in der Forschung der 1980er und 1990er Jahre war, dass man nicht nur Segregationsanalysen machen konnte, sondern dass man mit der Entwicklung gentechnologischer Methoden das Feld öffnete, um auf der Ebene des Molekularen selbst zu operieren. Der Zusammenhang von Brustkrebs, familiärer Häufung und Vererbung wurde auf das forschungsaktuelle Tableau der Zeit gehoben, weil gentechnolo172
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gische Methoden und Werkzeuge jetzt die Möglichkeit eröffneten, das anwesende/abwesende Gen hinter dem Phänotyp dingfest machen zu können, der Ursache für das beobachtete gehäufte Auftreten von Brustkrebs in Familien habhaft zu werden. Ich will im Folgenden vom Familiären Brustkrebs als Aussage resp. Modell sprechen. Zwar könnte man in die Vergangenheit schauen und würde auf den Familiären Brustkrebs stoßen. Das frühe Beispiel des französischen Arztes Paul Broca habe ich genannt. Aber dieser Krebs ist nicht derselbe wie der Familiäre Brustkrebs, der im Gefüge der Brustkrebs-Gene zu seiner Existenz kommen konnte. Das Zusammentreffen des Familiären Brustkrebses mit dem Brustkrebs-Gen passierte in einer neuen Konstellation aus Wissen, Technologien, Menschen und Dingen. Altes und Neues kam zusammen und indem dies geschah, entstanden nicht nur neue Beziehungen, sondern die Menschen und Dinge selbst veränderten sich darin. Es entstand ein dichtes Netz aus diskursiven und nicht-diskursiven Praktiken um das Brustkrebs-Gen herum, welches dadurch unentrinnbar an Gestalt gewann und so zu seiner Existenz kam, noch bevor es Mitte der 1990er Jahre schließlich sequenziert wurde. Der Familiäre Brustkrebs kam zu seiner Existenz als Modell der molekularen Forschung. Nicht nur die Möglichkeit über Stammbäume zu erkennen, dass eine familiäre Häufung vorliegt, machte den Familiären Brustkrebs zu einer Aussage. Seine Relevanz und Besonderheit erhielt er erst im Zusammentreffen mit der Brustkrebs-Genforschung und ihren neuen gentechnischen Verfahren. Was ist unter Modell zu verstehen und was macht die spezifische Existenzweise des Familiären Brustkrebses als Modell aus? Um Modell zu sein, bedarf es für den Gegenstand einer Reihe von »Rekonfigurationsschritten« (Amann 2000: 36), zum Beispiel der Systematisierung der Züchtung, der Standardisierung der Haltungsbedingungen oder der Dokumentation von Forschungsergebnissen. Übertragen wir die Modellqualitäten auf den Familiären Brustkrebs. Er scheint als Modell anderen standardisierten Entitäten der Natur (Bakterien, Viren, Fruchtfliegen, Mäuse, Frösche) zu gleichen und besitzt eindeutige Charakteristika zu seiner Bestimmung: junges Erkrankungsalter, erhöhte Rate an bilateralen Tumoren, gehäuftes Auftreten in einer Familie. Aus dieser definierten Gruppe wiederum brauchte es eine vertretbare Extraktion nötiger Körperstoffe und ein spezifisches Familien-Wissens: Von Interesse waren erstens Stammbäume und zweitens Körperstoffe (Blutproben/DNA, Gewebe). Um ein Verständnis von Familiärem Brustkrebs als Modell zu gewinnen, ist es weiterhin wichtig zu erfassen, was als das zu Modellierende bestimmt werden kann und wie das Verhältnis zwischen beiden 173
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funktioniert. Wie der Name Modell schon sagt, steht es für etwas anderes. Wofür stand der Familiäre Brustkrebs Modell? »Bisher wurde nur spekuliert, dass ein Tumor auch eine genetische Grundlage hat. Man hat gesehen, dass die Chromosomen verändert sind, aber dominant für einen Tumor verantwortliche Gene kannte man nicht. Gerade bei einer so großen Tumoreinheit wie Brustkrebs, da sah man zwar die Familien, aber man wusste nicht, ist da wirklich nur ein Gen oder was gibt es da?« (Scherneck 2006: 38)
Daran wird deutlich, dass das Modell in einem vagen Verhältnis zu seinem zu modellierenden Gegenüber stand. Das zu Modellierende selbst entzog sich (noch) einer genauen Bestimmung; gab es ein Gen oder vielleicht mehrere? Wie funktionierten sie? Es wurde zwar angenommen, dass es ein Gen und eine spezifische biologische Funktion auf molekularer Ebene geben müsste, die auf Grund einer Störung dazu führt, dass die Wahrscheinlichkeit steigt, den Phänotyp (Brustkrebs) auszubilden. Der Familiäre Brustkrebs als Modell erhielt durch die Verbindung von familiär gehäuften Erkrankungen und anwesendem/abwesendem Brustkrebs-Gen seine Relevanz und besitzt sie im Übrigen auch heute noch, da vieles für die Forschung nach wie vor im Unklaren liegt. Ich komme auf eine letzte Facette des Modells zu sprechen. Modelle helfen bei der Gewinnung von Einsichten, die über das Besondere auf ein Allgemeines weisen. Die Voraussetzung für solche Translationsbegehren ist die »Vorstellung, dass grundlegende Eigenschaften des Lebendigen für alle Lebewesen charakteristisch sind und daher stellvertretend an besonderen Lebewesen experimentell untersucht werden können« (Rheinberger 2006: 13). Nun hatte man in der BrustkrebsGenforschung das Problem, dass man mit Tiermodellen nicht zu den erhofften Ergebnissen gelangen konnte. Übertragungen waren nicht immer möglich und deshalb wurde es notwendig, am menschlichen Material zu forschen. Man erhoffte sich dabei nicht nur Erkenntnisse über biologische Funktionen auf molekularer Ebene im Fall von erblichen Krebsen, sondern man war der Überzeugung, über den Familiären Brustkrebs vom Besonderen zum Allgemeinen gelangen zu können. Es waren nicht die im Vergleich zum sporadischen Krebs recht wenigen Fälle von familiärer Häufung – also mit Verdacht auf Vererbung – die ausschließlich interessierten. Brustkrebserkrankungen, die erblich bedingt sind, machen ›nur‹ fünf Prozent aller Brustkrebse aus und stellen im Vergleich zu den sporadischen Tumoren eine kleine Gruppe dar. Die Attraktivität bestand in der Verbindung von erblichen und sporadischen Krebsen. Es ging nie ausschließlich um die relativ wenigen Fälle von Familiärem Brustkrebs 174
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in der Medizin. Die Forschung zielte auf größere Zusammenhänge und die Möglichkeit der Verallgemeinerung von den erblichen auf die sporadischen Tumore: »The important point is that the same gene is involved in both hereditary and sporadic cancers.« (Vogelstein/ Kinzler 1994: 1) Diese dargelegte Perspektive auf den Familiären Brustkrebs erscheint einleuchtend. Der Familiäre Brustkrebs – ein notwendiges Modell für die Forschung. Diese Betrachtung ist jedoch einseitig. Das Modell wäre ins Leere gelaufen, wenn man nicht auf geeignete Familien hätte zurückgreifen können. Die Materialgewinnung geschah über die Kontaktaufnahme zu Betroffenen. Denn von Beginn der Brustkrebs-Genforschung an war das Referential der Aussage auch die Erfahrung der Erkrankung sowie ein Familien-Wissen über Brust- und/oder Eierstockkrebs.
Übersetzung II: Subjektivierungen Es stellt sich die Frage, ob und wenn ja wie Familiärer Brustkrebs innerhalb der teilnehmenden Familien existent war. Hatte das Wissen über Häufungen eine Verbindung zu einem Wissen über Familiären Brustkrebs als Krankheit? Oder anders formuliert: Gab es Familiären Brustkrebs als Familien-Wissen? Und welche Art Wissen könnte dies gewesen sein? Zunächst kann festgehalten werden, dass es ein FamilienWissen über ein gehäuftes Auftreten der Krankheit gegeben haben muss, weil die betroffene Familie sonst nicht in den Blick der Forschung geraten wäre. Wenn Häufung das entscheidende Merkmal war, dann kann allerdings einschränkend gesagt werden, dass das Familien-Wissen aus einem Wissen um eine weibliche Krankheit, einen weiblichen Körper und nicht um eine geschlechterindifferente Form der Vererbung bestand, da sich Häufung auf die Erkrankungen und nicht auf den Genotyp bezog, der weder sichtbar noch feststellbar war. Damit ist nicht gesagt, dass das Modell als die konstruierte Seite und der weibliche Körper als die natürliche Seite der Aussage begriffen werden können. Vielmehr schlage ich vor, die Erfahrung von Krankheit in Verbindung mit der Engführung auf die biologische Familie ebenso wie das Modellwissen als Bedingungen der Möglichkeit für den Familiären Brustkrebs zu untersuchen – ohne eine Trennung in natürlich und konstruiert vorauszusetzen. Es war aus der Perspektive der Arbeitsgruppe Tumorgenetik Anfang der 1990er Jahre nicht vorgesehen gewesen, medizinische Ratschläge zu erteilen. Man wollte schließlich forschen und das Gen finden, um dann, auf der Grundlage ›gesicherter‹ Ergebnisse, anderen zu ermöglichen, medizinische Konsequenzen zu ergreifen. Erst die Forschung und dann 175
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die Anwendung, eine typische Vorstellung der Beziehungen zwischen wissenschaftlich-technischem und medizinischem Fortschritt, die doch so einfach nicht ist. Von Anfang an schien die wissenschaftliche Arbeit mit einem anderen Wissen kontaminiert oder von einem anderen Begehren durchkreuzt zu werden. Plötzlich war man damit konfrontiert, dass die Dinge, wie Blutproben, auch noch auf ganz andere Weise existierten: Sie hafteten am Menschen und schienen unweigerlich mit der Erkrankung Brustkrebs verbunden zu sein. Das Familien-Wissen um Brustkrebs und die Krankheitserfahrungen der Betroffenen trafen das Forschungs-Wissen um Familiären Brustkrebs und das Begehren nach den Genen. Für einen der Mitarbeiter der Arbeitsgruppe ist es rückblickend erstaunlich, dass die Menschen, obwohl man sie über die Reichweite der damaligen Forschung informiert hatte – »Also hat man versucht denen klar zu machen, warum wir es machen und was wir überhaupt daraus ersehen können. Und das war nicht viel« (Wender 2006: 8) – Fragen stellten, die aus der Perspektive der Forschung nicht beantwortet werden konnten; dass eine Hoffnung existierte, die nicht auszulöschen war. Ich weiß, dass ich mich auf dünnes Eis begebe, wenn ich von Krankheitserfahrung spreche und damit den Eindruck erwecke, als handle sich hierbei um eine voraussetzungsfreie und selbstverständlich anzunehmende Angelegenheit. Denn wie wird was zu welcher Zeit und an welchem Ort als Krankheit erfahren oder zu einer Krankheit gemacht? Eine Verkettung von Brustkrebs, weiblicher Krankheit, Weitergabe von Krankheit über die weibliche Linie, kranken Genen und erkrankten Frauen – in der Summe verdichtete sich dabei ein Brustkrebs-Wissen darüber, dass pathogene Vererbung weiblich ist. Die Bedeutung von Geschlecht unterstreicht auch Martin Richards, der davon spricht, dass Frauen als »genetic housekeepers for the kinship« handeln, wenn es um genetische Belange innerhalb der Familie ginge (Richards 1996: 260f.). Zu einer ähnlichen Beobachtung kommt Rayna Rapp bei Familien, in denen Angehörige von genetischen Krankheiten betroffen sind. Gerade in Bezug auf Kinder sei es oftmals ein »highly familial, often gendered working knowledge« (Rapp 2003: 135). Ist der Familiäre Brustkrebs eine Krankheit; ist die Krankheit ein Modell? Nun – es kann zumindest gesagt werden, dass es genau diese Zweiheit zu sein scheint, welche die Existenzmöglichkeit des Familiären Brustkrebses ausmacht.
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Übersetzen III: Versprechen Was mochte die einzelnen Familienmitglieder dazu veranlasst haben, in Kontakt mit Forschern zu treten, die sich auf der Suche nach dem Brustkrebs-Gen befanden? Dass der Kontakt glücken konnte, lag zum einen daran, dass das Familien-Wissen um die Krankheit Brustkrebs mit dem Interesse der Forschung an Familiärem Brustkrebs zusammentraf. Aber es war wohl besonders das Zusammentreffen des Erfahrens der Erkrankung Brustkrebs mit dem durch die Forschung in Aussicht gestellten spezifischen Mehrwert Leben: Wenn ein Gen gefunden werden sollte, dann würde dies einen Gewinn für die Forschung, aber auch für die Betroffenen darstellen. Die Hoffnungen auf zukünftige therapeutische Möglichkeiten waren ohne Zweifel da: »Künftig soll die Arbeit der Genforscher ermöglichen, schon im Kindesalter die krebserregenden Gene zu finden. Als nächsten Schritt müsse es gelingen, die Gene zu verändern oder sie herauszufiltern, damit die Krankheit später nicht ausbrechen kann und die Veranlagung dazu nicht weiter vererbt wird.« (Ulrich 1994: 31)
Dieser Zukunftsentwurf ist zudem interessant und gesellschaftspolitisch bedeutsam, weil wir auch hier – wie in dem eingangs zitierten Artikel über das Baby ohne Brustkrebs-Gen – die Rede von der Möglichkeit Gene herauszufiltern finden. Mit einem Unterschied: Heute wird – wenn auch nicht in Deutschland – das Herausfiltern mittels PID praktiziert. Aber nicht die Gene werden herausgefiltert. Gleich der ganze Embryo wird selektiert. Damit wird sozusagen jedes auf Grund einer pathogenen Mutation potentiell kranke Leben mit der Selektion weggeschrumpft. Der Mehrwert Leben besteht darin: Nicht mehr Heilung, sondern gesunde Gene; keine Therapie, sondern Eingriff in die Reproduktion durch Selektion. Man könnte kritisch anmerken, dass das Versprechen von Seiten der Forschung lediglich ein Instrument gewesen sei, um an das gewünschte Material zu gelangen. Mein Einwand hierzu lautet, dass man damit aus der heutigen Perspektive einer Lesart des Vergangenen aufsitzt, ohne anzuerkennen, dass »Wissenschaft die Qualität einer historischen Praxis annimmt« (Haraway 1995: 105). Damit ist gemeint, dass wissenschaftliche Wahrheiten immer in einem Berichtigungs- und Reorientierungsprozess stattfinden und dementsprechend gilt, »dass die wissenschaftliche Wahrheit von heute selbst als Irrtum der Vergangenheit enden kann« (Rheinberger 2006: 43). So gesehen ist es nur logisch, dass man heute – viele Jahre nach der Sequenzierung von BRCA1 und BRCA2 – Folgen177
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des in einem Interview des Magazins DER SPIEGEL mit der Leiterin der Uni-Frauenklinik der TU München lesen kann: »SPIEGEL: Ist es übertrieben, die Entdeckung einzelner Brustkrebs-Gene als ›Durchbruch‹ gegen die Krankheit zu feiern? Kiechle-Bahat: Das ist in der Tat eine sehr naive Hoffnung. […] Aber wenn Wissenschaftler nicht euphorisch wären, würden sie auch nicht weiterforschen.« (Stockinger 2007: 170) In dieser Äußerung stecken beide Momente von Historizität: Das Urteil über Vergangenes und die Fortschrittserzählung von Wissenschaft, in welcher dieselbe immer Gefahr läuft, überholt zu werden. Rheinberger zufolge lässt sich eines der Missverständnisse der Molekularen Medizin auf die Formel »intakte Gene, nicht bloß Heilung, für das ganze Volk« bringen (Rheinberger 1996: 288). Er führt aus: »Solche Missverständnisse pflegen die Vehikel historisch erfolgreicher kultureller Bewegungen zu sein. In der Regel kleiden sie sich in den Mantel des Fortschritts und werden im Namen transzendentaler Prinzipien verkündet, die man nicht länger in Frage stellen kann.« (Rheinberger 1996: 288)
Vielleicht ist der Begriff des Missverständnisses nicht ganz glücklich, da er die Frage provoziert, wer missverstanden haben soll. Zudem suggeriert er, dass es hinter dem Missverständnis ein richtiges Verständnis gegeben habe. Mir scheint, dass es mit dem Begriff des Versprechens besser gelingt, zu verstehen, warum Familien und Angehörige den Kontakt mit der Forschung aufnahmen. Das Versprechen musste an eine »Batterie von bioethischen Objekten« gekoppelt werden: »die ›legitimen Wünsche‹ und die ›legitimen oder unnötigen Ängste‹ nämlich, mit denen nachfragbare Biotechniken stets korrespondieren« (Gehring 2006: 133). Ein Verhältnis von Angebot und Nachfrage, nur dass das Angebot als ein zukünftiges in Aussicht gestellt wurde. Familiäres Begehren auf Hilfe und Heilung traf auf ein Angebot an Hilfe und Heilung, welches als Versprechen »unsicher im Raum zwischen Gegenwart und Zukunft« (Fortun 2000: 115) weilte.
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Übersetzung IV: Geschlechter-Wissen Das Material der Forschung war nicht ohne Familien-Wissen und nicht ohne kranke Frauen zu erhalten. Familien, in denen man die biologische Linie nicht hätte verfolgen können, wären unbrauchbar gewesen. Das soll nicht bedeuten, dass Familie für die adressierten Menschen nur biologisch gelebt oder verstanden worden ist. Man könnte auch sagen, dass eine geteilte DNA noch lange keine Familie macht, wenn Familie nicht immer auch aktiv von Menschen hergestellt wird. In diesem Zusammenhang ist es nicht unwichtig darauf hinzuweisen, dass der Mensch eine spezifische Subjektposition einnehmen musste, um gehört zu werden. Es ist freilich die Frage, welche Position von wem eingenommen werden konnte und musste, um »jemandes Subjekt« (Foucault 1987: 247) zu sein. Es waren und sind in erster Linie Frauen und nicht Männer, die von der Brustkrebs-Genforschung adressiert wurden und nach wie vor in der medizinischen Praxis bezüglich des Familiären Brust- und Eierstockkrebses adressiert werden. Man mag zu Recht einwenden, dass dies nicht weiter verwunderlich ist, da Brustkrebs nun einmal in erster Linie und Eierstockkrebs ausschließlich Frauen trifft. Aber beide Geschlechter vererben eine Mutation sowohl an männliche als auch an weibliche Nachkommen. Männer können also ohne weiteres eine Mutation an einen Sohn vererben. Beide hätten im Vergleich zu einer Frau ein geringes Risiko an Brustkrebs zu erkranken. So würde die erbliche Komponente unerkannt bleiben. Nach wie vor muss man zu dem Schluss kommen, dass es jenseits eines disziplinären Wissens über Genetik kaum ein breites gesellschaftliches Wissen um die geschlechtsneutrale Vererbung und damit um Männer als potentielle Träger von BRCA-Mutationen zu geben scheint. Dies gilt nicht nur für den beschriebenen Fall, bei dem wegen fehlender Erkrankungen (auf Grund fehlender weiblicher Nachkommen) die Frage nach Vererbung nicht gestellt wird oder werden kann, weil auftretende Krebse eher als sporadisch denn als erblich begriffen werden, sondern auch für den Fall des gehäuften Auftretens von Erkrankungen in einer Familie. Könnte das Nichtwissen über den männlichen Beitrag zur Vererbung damit zusammenhängen, dass Vererbung im Falle der Verbindung mit Krankheiten negativ konnotiert ist, also kein rühmliches Erbe darstellt? Man könnte auch fragen: Wer will schon etwas Krankmachendes an seine Nachkommen weitergeben? Dass Brustkrebs gemeinhin als eine weibliche Krankheit gesehen wird, weil sie nun einmal mehrheitlich bei Frauen und nicht bei Männern auftritt, unterstützt die Verdrängung des möglichen männlichen Beitrags zu dieser Erkrankung. Wenn 179
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auch der Vererbungsmodus nicht geschlechtsspezifisch verstanden wird, so wird durch Kopplung an die weibliche Krankheit Brustkrebs das Geschlecht in die ›neutrale‹ Vererbung geholt. Disziplinäres Vererbungswissen über den geschlechtsindifferenten Vererbungsmodus bei BRCA1 und BRCA2 gewann also keineswegs zwangsläufig auf Grund von Forschungskonjunkturen als allgemeines Wissen an Boden. Die enge Verbindung von Krankheit und Gen im Brustkrebs-Gen, von weiblichem Körper und Brustkrebs, von Brustkrebs als Frauenkrankheit, lagerte gleichsam von Anbeginn an in der Forschung. Das Verhältnis zwischen disziplinärem Vererbungswissen und dem dargestellten Wissen über Krankheit und Geschlecht kann man sich im Bild eines inneren Ausschlusses vorstellen. Krankheit und Geschlecht wurden in die molekulare Forschung eingeschlossen, gerade weil man den Forschungsgegenstand nur über das Material (Stammbäume und Blutproben), also über die Menschen oder vielmehr über die Frauen, erreichen konnte. Gleichzeitig wurde der Vererbungsmodus nicht spezifisch geschlechtlich definiert und insofern konnte Geschlecht aus dem Vererbungsmodus ausgeschlossen werden. Das Brustkrebs-Gen wurde von Anbeginn an als ein Universales gefasst, weil es alle Menschen zu ihrer genetischen Ausstattung zu zählen haben, universal und neutral! Martina Schlünder hat mit Rückgriff auf Giorgio Agamben den Begriff des inneren Ausschlusses benutzt, um die Frage nach der Position von Frauen in akademischen Reproduktionsmechanismen zu beschreiben und die Geschlechterarbeit der Gynäkologie zu erfassen (vgl. Schlünder 2007: 66f, 163ff.). Auf ein politisches System bezogen sieht Agamben (2002) in der Ausnahme/im Ausnahmezustand eine Ausschließung aus der generell herrschenden Norm. Jedoch bleibe das Ausgeschlossene immer mit der Norm verbunden. Genau diese Beziehung ist es, die Agamben interessiert. Die Regel des Innen werde genau dadurch, dass sie in Beziehung mit dem Außen bleibe, erst zur Regel. Insofern sei das Außen nicht nur ein Teil des Innen, sondern maßgeblich an seiner Existenz und Erhaltung beteiligt. So erscheine die Ausnahme im Inneren wieder, »wie bei einem Möbius-Band oder einer Leidener Flasche; und die souveräne Macht ist genau diese Unmöglichkeit, Außen und Innen, Natur und Ausnahme, phýsis und nómos auseinanderzuhalten« (Agamben 2002: 48). Schlünder fasst den inneren Ausschluss als eine »Beziehungsfigur« und betont, dass es wichtig sei, diese Beziehungsformen innerhalb spezifischer Machtgefüge zu konkretisieren (Schlünder 2007: 178f.). Das Außen, in unserem Fall die Krankheit in ihrer Verbindung zum weiblichen Geschlecht, würde in diesem Bild im Innen, also im Gen liegen, wäre Teil des Gens und in einer Art innerem 180
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Ausschluss an der Existenz des Gens maßgeblich beteiligt. Diese spezifische Beziehungsform ermöglicht es erst, das biologische Wissen geschlechtsneutral und objektiv entstehen zu lassen. Während also auf der einen Seite eine Trennungsarbeit stattfindet und zwischen Gen und Krankheit unterschieden wird, wird diese Ordnung gleichzeitig von der Struktur des inneren Ausschlusses regelrecht gestört. Die unmögliche, aber auch ungewollte Aufgabe: eine Trennung vorzunehmen, das Gen vom Brustkrebs zu reinigen – unmöglich auf Grund der besagten möbius-bandartigen Verbindung. Die hier skizzierte Subjektposition besitzt eindeutig ein Geschlecht: Sie ist weiblich. Und sie besitzt eine Eigenschaft: Sie ist betroffen. Als Betroffene hatte frau wiederum zweierlei Charakteristika aufzuweisen. Zum einen musste sie ein nachfragendes Subjekt sein, zum anderen musste sie ein überfordertes Subjekt sein. Diese Subjektposition wurde besonders relevant als sich mit der Sequenzierung der Weg zur genetischen Testung eröffnete. Angebot – so die Logik – erzeuge zwangsläufig Nachfrage. Zentraler Auslöser für den dringenden Handlungsbedarf sei gewesen, dass die kommerzielle Verfügbarkeit von Gentests eine große Gefahr darstellte, weil damit unkontrolliert hätte getestet werden können. Eine Gefahr für Frauen, die durch die neue Möglichkeit der Gendiagnostik mit Informationen konfrontiert worden wären, welche ohne eine adäquate Hilfestellung massive Schäden hätten angerichteten können? Es wurde nicht in erster Linie die Problematik eines kommerziellen Angebotes in den Vordergrund gerückt. Vielmehr wurde dieses Angebot als schädlich eingestuft, weil frau mit den Informationen nicht richtig hätte umgehen können und aus diesem Grunde unbedingt eine Beratung nötig gewesen sei. Der Test – und das war das Entscheidende – bildete sowohl die Möglichkeit, das Begehren nach Mehr-Wissen zu befriedigen, als auch die Gefahr der Zerstreuung der Grundlagen des Wissens. Sprich, dort wo Tests frei verfügbar sein sollten und sie jede Person anwenden konnte, bestand die Gefahr, dass eine Gewinnung von Daten und Forschungsmaterial nicht mehr möglich war. Das bedeutet: Wenn man weiterhin forschen wollte, dann musste man einen Rahmen schaffen, der dies ermöglichte. Mit dem Test war die Möglichkeit gegeben, das wissenschaftliche Unternehmen fortzusetzen, allerdings mit einer entscheidenden Neujustierung: Es sollte nun in ein interdisziplinäres Projekt eingefasst werden. Damit veränderte sich nicht nur die Zusammensetzung der Beteiligten, sondern auch die Qualität der Einbettung in den medizinischen und institutionellen Zusammenhang Klinik. Die Forschung wurde gleichsam Teil eines medizinischen Projekts, in dessen Gravitationszentrum sich die molekulargenetische Testung festsetzte. 181
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Institutionalisierung und Subjektivierung werden so als wechselseitige Konstitutionsprozesse beschreibbar. Es ist interessant, dass weitere Facetten einer Subjektivierung hinzukamen, als die betroffene Frau in die medizinische Praxis einer sich etablierenden Früherkennung eingeschlossen wurde und auf die Humangenetik traf. Es erschien die Subjektposition der humangenetisch informierten und selbstbestimmten Patientin am gendiagnostischen Horizont. Das Konzept der humangenetischen Beratung mit solchen Elementen wie Nicht-Direktivität und Entscheidungsfreiheit legt nahe, Steuerungsmomente durch den Berater und die Institution auszublenden. Doch wo fängt Steuerung an? Wir sehen, wie schwierig es ist, Subjektivierung und Objektivierung ausschließlich als gegenübergestellte Prozesse zu verstehen. Charis Cussins hat in ihrer Analyse von Handlungsfähigkeit in Reproduktionskliniken zeigen können, wie vielgestaltig die Verbindungen und Prozesse sein können und sie formuliert die Annahme, »that the women’s objectification involves her active participation, and is managed by herself as crucially as it is by the practitioners, procedures and instruments« (Cussins 1996: 580).
Gen-Praktiken der biomedizinischen Institutionalisierung 1994 wurde zum Jahr der ›Entdeckung‹ von BRCA1, weil es in diesem Jahr gelang, seine Isolierung und Sequenzierung vorzunehmen. »The Race to find the Breast Cancer Gene«, wie es im Titel eines Buches über die BRCA-Story (Davies/White 1995) heißt, war weniger ein Wettlauf des Findens (man wusste seit 1990, wo sich BRCA1 befand), als vielmehr ein Wettlauf um das gentechnologische Verfügbarmachen dieses Gens. Mit der Sequenzierung war die Bedingung für die Testung gegeben. Mit ihr wurde das Brustkrebs-Gen molekular im technischen Bild sichtbar und damit wahr. Doch ein Problem stellte sich alsbald heraus: Kurze Zeit nach der Sequenzierung von BRCA1 und BRCA2 musste man feststellen, dass sie nicht hielten, was man sich von ihnen versprochen hatte. Oder anders formuliert: »Like all important research, the discovery of BRCA1 has raised more questions than it has answered.« (Vogelstein/ Kinzler 1994: 3) Schon 1996 wurde deutlich, dass ein großer Anteil der getesteten Brustkrebs-Gene von Personen, bei denen man auf Grund des Stammbaumes annahm, eine Mutation zu finden, keine solche Mutation aufwies (vgl. Narod/Foulkes 2004: 673). Diese Befunde erschütterten aller182
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dings kaum die Wirkmächtigkeit der Gene. Vielmehr erschien eine neue Figur am Forscherhimmel: BRCAx. Eine Art Stellvertreter-Gen für all jene Erkenntnisse, die es noch zu gewinnen galt. Die anwesenden Gene BRCA1 und BRCA2 wurden von abwesenden Genen (Kandidatengene, BRCAx) flankiert. Von BRCA1 und BRCA2 zu neuen Genen – diese Argumentation stellte die molekulargenetische Diagnostik nicht in Frage. Vielmehr wurde auf Grund des Stammbaums, wenn er auf erbliche Tumore hinwies, geschlossen, dass eine negative Mutationsanalyse keineswegs ein erhöhtes Risiko ausschloss. Was sich hier abspielte, kann vielleicht als Prozess der Rückübersetzung biomedizinischen Alltagswissens in Forschungswissen bezeichnet werden. Das Brustkrebs-Gen führte nicht nur zur Institutionalisierung einer prädiktiven Praxis, es führte auch zu neuen Forschungsfragen und diente als Antreiber für die Wissenschaft. Die Formierung einer biomedizinischen Praxis um die Brustkebs-Gene kann nicht ohne das Begehren der Forschung verstanden werden: BRCA entfaltete ein multiples Experimentierfeld. Sprich, dass es nach der »Entdeckung/Erfindung/ Konstruktion« (Latour 1996: 107) der beiden Brustkrebs-Gene in Deutschland schnell zu Aktivitäten kam, um die genetische Diagnostik in eine offizielle medizinische Praxis zu überführen, darf nicht als einseitige Transmission missverstanden werden. 1997 wurden im Rahmen des durch die Deutsche Krebshilfe geförderten Schwerpunktprogramms »Familiärer Brust- und Eierstockkrebs« Beratung und Diagnostik bei hereditärem Brustkrebs an zwölf Kliniken möglich. Es entwickelte sich ein Verbundprojekt, welches zwischen 1997 und 2004 mit insgesamt 14 Millionen Euro durch die Deutsche Krebshilfe unterstützt wurde (siehe Gerhardus et al. 2004: 148) und anschließend den Weg in die Regelversorgung, also die Finanzierung durch die Krankenversicherungen, fand. Aus dem Namen des Programms wird bereits deutlich, dass nicht jede beliebige Person Zugang zur genetischen Diagnostik erhalten durfte. Nur diejenigen, die über den Stammbaum als potentielle Mutationsträger identifiziert wurden, sollten Zugang erhalten. Ob die Testung überhaupt etwas bringen würde, war keine Frage. Es ging vielmehr darum, wie die Gendiagnostik anzubieten sei. In der medizinischen Praxis schien sich zwar alles um das Brustkrebs-Gen zu zentrieren, aber auf Grund der geringen Finderate musste der Stammbaum (alt) als diagnostisches Werkzeug neben die genetische Diagnostik (neu) treten. Der Test konnte nicht als alleiniges Selektionskriterium für den Ein- oder Ausschluss aus einer intensivierten Früherkennung gelten. 2002 wurde für das Verbundprojekt festgehalten, dass Personen auch dann spezielle präventive Maßnahmen angeboten werden 183
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sollten, wenn bei ihnen keine Mutation nachgewiesen werden konnte, jedoch mit Hilfe eines computerassistierten mathematischen Modells (Cyrillic) ein erhöhtes Lebenszeitrisiko errechet wurde. Der zu überschreitende Schwellenwert wurde auf mindestens 20 Prozent festgesetzt. Damit wurde ein statistisches Erkrankungsrisiko zur Maßgabe für medizinische Maßnahmen: »Trotz der gegenwärtig noch begrenzten Erfahrungen steht außer Frage, dass Frauen aus betroffenen Familien ein Präventionskonzept angeboten werden sollte. Dies gilt sowohl für gesunde als auch bereits erkrankte Frauen aus belasteten Familien.« (Schmutzler et al. 2002: A-1374)
Das Leben von Subjekten fand mit dem Eintritt des Familiären Brustkrebses in das Gefüge der Brustkrebs-Gene und mit der Entstehung der molekulargenetischen Testung Eingang in das Verbundprojekt »Familiärer Brust- und Eierstockkrebs« und damit in eine medizinische Praxis innerhalb der Institution Klinik. Die Klinik ist ein institutioneller Teil innerhalb der Ordnung des Lebens zwischen Krankheit und Gesundheit. Krankenhäuser dienen der Krankenbehandlung und der Geburtshilfe, sie stehen unter ständiger ärztlicher Leitung, verfügen über therapeutische und diagnostische Möglichkeiten, bieten ärztliche und pflegerische Hilfeleistungen um »Krankheiten der Patienten zu erkennen, zu heilen, ihre Verschlimmerung zu verhüten, Krankheitsbeschwerden zu lindern oder Geburtshilfe zu leisten« (Rosenbrock/Gerlinger 2004: 137). Man könnte auch sagen, dass die natürliche Verfasstheit des Gens (pathogene Mutation oder Polymorphismus) der institutionellen Verfasstheit der Klinik (gesund oder krank) entspricht. Oder anders formuliert: Die hingestellte Natur des Gens funktioniert wie die Klinik. Beides sind abgeschlossene Bereiche mit klar zugewiesenen Funktionen. Alles verläuft über die Trennung zwischen krank und gesund. Doch ist diese Trennung haltbar? Die Rede von der Wahrscheinlichkeit deutet auf die Uneindeutigkeit hin, wobei Prozentzahlen wiederum Eindeutigkeiten vorzutäuschen vermögen. Georges Canguilhem schreibt über die paradoxe Pathologie des normalen Menschen: »Unter der Krankheit des normalen Menschen wäre vielmehr jene Störung zu verstehen, die mit der Zeit dem Fortdauern des Normalzustands, der gleichmäßigen Einförmigkeit des Normalen entspringt, jene Krankheit also, die aus dem Mangel an Krankheiten, aus einem mit der Krankheit quasi unverträglichen Dasein entsteht. [...] Die Krankheit des normalen Menschen besteht letzt-
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lich darin, dass sein biologisches Selbstvertrauen einen Knacks bekommt.« (Canguilhem 2004: 60f.)
Canguilhem räumt ein, dass diese pathologische Skizze eine Fiktion sei. Seine Beobachtungen über das Pathologische sind vor allem deshalb spannend, weil sie erstens daran erinnern, dass Krankheit und Gesundheit keine feststehenden Begriffe sind. Zweitens weist Canguilhem darauf hin, wie tief und grundlegend das Pathologische im Normalen zu Hause ist. Mit den Möglichkeiten der prädiktiven Medizin kann man wohl sagen, dass die von Canguilhem beschriebene Fiktion einer paradoxen Pathologie des normalen Menschen in Alltagspraktiken vorgerückt ist.
Pathogene Signaturen In einer Epoche, in der die Medizin alles daran setzt »Leben zu machen« (Foucault 1993: 36), lassen Brustkrebs-Gene erahnen, dass das Leben selbst zu einer ambivalenten Angelegenheit geworden ist. BrustkrebsGene zu haben macht keine Erkrankung, Mutationen zu haben auch nicht. Aber Brustkrebs-Gene schreiben eine pathogene Signatur ins Leben, zu der es keine Alternative gibt. Wo das Gesunde seinen Weg über das Kranke nimmt, bleibt dies unweigerlich haften. Folgende Äußerung stellt in diesem Sinne keinen Zufall dar: »Wenn ich selber betroffen wäre, würde ich wahrscheinlich das Vorhandensein einer Mutation in einem der beiden Gene für Familiären Brustkrebs wie eine Krankheit werten, auch wenn ich selber nicht krank wäre. Ich denke, es würde mein Leben entscheidend beeinflussen was die Familienplanung anginge, was vielleicht auch die Berufswahl anginge, was die Konsequenzen prophylaktischer Operationen anginge – ich würde mich wahrscheinlich als Mutationsträger krank fühlen.« (Spiegel 2006: 10)
Es ist kein Wunder, dass auf der einen Seite von kranken Genen und auf der anderen Seite von gesunden Kranken gesprochen wird. Hier gälte es zu intervenieren und nach den Bedingungen der Möglichkeit solcher Wissensgebiete über Krankheit und Gesundheit im Zeichen der Gene zu fragen. Hat die paradoxe Pathologie des normalen Menschen eine pathogene Signatur bekommen? Das Pathologische wird normal, aber es wird nicht mehr dasselbe wie noch innerhalb der dichotomen Ordnung sein. Mir scheint, dass wir hierfür noch keine Sprache entwickelt haben. Auch 185
PRÄVENTION
scheint es noch keine Institutionen zu geben, die dieser sozialen Wirklichkeit im Modus der Entdifferenzierung entsprächen. Ob der Begriff des genetischen Risikos oder des gesunden Kranken – man bewegt sich damit nach wie vor in einer Ordnung, welche von Krankheit und Gesundheit ausgeht. Das Risiko inkorporiert die Krankheit ohne Erkrankung, der gesunde Kranke ist frei von körperlichen Symptomen, aber nicht frei von Wissen über sein in den Genen lagerndes krankes Potenzial. Was aber geschieht, wenn die Grenzen verwischen? Wenn die Logik der Alternative keine Alternative mehr zulässt?
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Tie fgek ühlte Vors orge. Die Ges taltung von Zuk unft durc h die Lagerung von Stammzellen aus Nabelblut SEBASTIAN SCHLEBUSCH
Dieser Beitrag thematisiert die Produktion und Vermarktung von Wissen im Kontext der Lagerung von Stammzellen in profitorientierten Blutbanken. Gefragt wird, wie in den öffentlichen Präsentationen profitorientierter Blutbanken mit Wissen umgegangen wird und welche Handlungsaufforderungen hiermit verbunden sind. In einem ersten Schritt wird hierzu zunächst die Forschung an Stammzellen aus Nabelblut sowie deren profitorientierte Lagerung kurz skizziert. Im Anschluss daran sollen entlang ausgewählten Werbematerials verschiedene Argumentationslinien nachvollzogen werden, anhand derer die Einlagerung von Stammzellen als sinnvolle Präventionsmaßnahme erscheint. Abschließend gilt es dann den Stellenwert der hier zu Tage tretenden Zukunftsvisionen für die Vermittlung unsicheren Wissens zu deuten.
Au f b ew a h r u n g v o n S t a m m z e l l e n a u s N a b e l b l u t 1973 gilt als das Jahr der Entdeckung von blutbildenden Stammzellen im Nabelblut und 1988 als das Jahr, indem die erste Transplantation von Stammzellen aus Nabelblut stattfand (vgl. Rubenstein 2006). Auf Grund der Erfolge in der Forschung zu Stammzellen aus Nabelblut sowie erfolgreicher Transplantationen, hat sich die Behandlung von Blutkrankheiten mit Nabelblutstammzellen als Alternative zur Transplantation von Stammzellen aus dem Knochenmark etabliert. 191
PRÄVENTION
Bei der Transplantation von Stammzellen aus Nabelblut wird zwischen autologer und allogener Transplantation unterschieden. Unter autologer Transplantation wird die Transplantation von Stammzellen unter nahen Blutsverwandten verstanden, während allogen die Transplantation unter nicht Verwandten bezeichnet. Für die Blutbanken werden mittlerweile zunehmend Hybridmodelle empfohlen und etabliert, in denen 20 Prozent des Nabelbluts (bzw. der Stammzellen) für die autologe und 80 Prozent für die allogene Nutzung aufbewahrt werden. Die im Nabelblut vorhandenen Stammzellen sind im Vergleich zu Stammzellen aus dem Knochenmark jünger und differenzierungsfähiger. Die Verwendung für Therapiezwecke ist daher vielversprechender. Stammzellen aus Nabelblut sind zudem einfacher zu gewinnen als bei einem Eingriff in das Knochenmark. Nach der Entbindung werden die Stammzellen, wird das Nabelblut, mit einer Nadel in einen Beutel geleitet und von dort weiter aufbereitet bis hin zur Lagerung in einer Blutbank bei minus 196 Grad Celsius über flüssigem Stickstoff. Manche Blutbanken lagern das gesamte Nabelblut während andere Blutbanken die adulten Stammzellen extrahieren und nur diese lagern. Gepriesen wird ein unermessliches Potenzial der im Nabelblut enthaltenen Stammzellen; Stammzellen aus Nabelblut seien »flüssiges Gold« (Cordblood.com 2010a). Nachdem im Jahre 1992 nicht-profitorientierte, öffentliche Blutbanken begannen, die bis dahin weitestgehend entsorgten Nabelschnurblutpräparate zu lagern, wurden nachfolgend zunehmend profitorientierte, private Blutbanken gegründet (vgl. Martin et al. 2008: 130).1 Wie viele Nabelblutpräparate weltweit gelagert werden, ist nur grob zu schätzen. Eine Einschätzung geht davon aus, dass von den weltweit circa 940.000 Präparaten gut 800.000 in profitorientierten Blutbanken gelagert werden (vgl. ebd.). Die Anzahl von Blutbanken, die Nabelblutpräparate lagern, wird auf circa 60 profitorientierte und 112 nicht-profitorientierte weltweit geschätzt (vgl. ebd.). Bei der Lagerung von Stammzellen aus Nabelblut in profitorientierten Blutbanken geht es nicht primär um die aktuelle Nutzbarkeit von Stammzellen, sondern um zu erwartende Erfolge in der Stammzellenforschung und die damit verbundene zukünftige Anwendbarkeit. Die Möglichkeit, dass das Neugeborene und nahe Blutsverwandte zu Nutznießern der eigenen Stammzellen werden können, ist die Antriebsfeder der Überlegung, das Nabelblut des Neugeborenen einlagern zu lassen. Erst
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Die »European Group on Ethics in Science and Technology« empfiehlt, dass profitorientierte Blutbanken nicht von Mitgliedstaaten gefördert werden sollten (vgl. Puigdomenech-Rosell/Virt 2004: 14).
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SCHLEBUSCH: TIEFGEKÜHLTE VORSORGE
sie lässt diese Entscheidung sinnvoll erscheinen. Stammzellen aus Nabelblut, so lauten wohlgemerkt bislang nur die Prognosen, können zukünftig bei der Behandlung etwaiger Krankheiten wie unter anderem bei Schlaganfällen, Herzinfarkten, Alzheimer und Diabetes Anwendung finden. Zudem sollen Stammzellen in der regenerativen Medizin und zur Herstellung von Hautpartikeln, Organen sowie künstlichen Herzklappen zum Einsatz kommen können. Profitorientierte Blutbanken verweisen bei ihrem Dienstleistungsangebot darauf, dass in der Zukunft »jeder 7. Mensch bis zum 70. Lebensjahr allein für die Behandlung einer HerzKreislauf-Erkrankung Stammzellen« benötigen wird (Vita34.de 2009).
Für Vorsorge werben – n o r m a t i ve Au f l a d u n g e n Auf Grund dieser vielversprechenden bzw. vielversprochenen Aussichten auf Erfolge in der Stammzellenforschung und der Hoffnung auf neue Behandlungsmöglichkeiten erscheint die Lagerung von Stammzellen aus Nabelblut zunehmend als ein handlungspraktisches Feld potenzieller Nutzer. Um diese zu interessieren bewerben die Blutbanken die Einlagerung von Stammzellenblut in ihren Selbstdarstellungen mit normativen Aufladungen, die im Folgenden skizziert werden sollen. So trägt eine profitorientierte Blutbank in der Schweiz, die Nabelblut für die autologe Nutzung einlagert, bezeichnenderweise den Namen »Cellavie« mit dem Untertitel »Die Zelle für das ganze Leben«. Auf der Internetseite der Firma werden Stammzellmedizin und Stammzellenforschung als Technologien der Zukunft beschrieben und das Nabelblutpräparat als »Notfallpaket für das ganze Leben« gepriesen. Das Produkt, das bis dato einfach weggeworfen wurde, wird nun vermarket als »a gift in itself«. Die Lagerung von Stammzellen eines neugeborenen Kindes biete Eltern ein »ruhiges Gewissen« (Cordblood.com 2010b). Deutlich werden hier neu entstehende Verantwortlichkeiten für Eltern, die die Option haben, Stammzellen ihres Kindes in einer profitorientierten Blutbank zu lagern. Unterstellt wird eine Art elterliches Schuldbewusstsein, falls das eigene Kind an einer durch Stammzelltransplantation möglicherweise heilbaren Krankheit erkrankte, ohne dass die Eltern Stammzellen für die eigene Nutzung gelagert hätten. Die Frage, ob sich Eltern schuldig machen, wenn sie von der Einlagerung der Stammzellen absehen und das Kind später erkranken sollte, wird durch die Blutbanken aufgeworfen und in Diskussionsforen und Netzwerken verhandelt.
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PRÄVENTION
Die Lagerung von Stammzellen aus Nabelblut als biologische Versicherung macht bereits den Moment der Entbindung zur »einmaligen Chance« (Cordblood.com 2010c). Eine einmalige Chance, die es zu nutzen gilt und für die sich Eltern schon vor der Geburt entscheiden müssen. Eltern werden so entweder verpflichtet oder als fahrlässig handelnd gelabelt. Verpflichtend wird das von der Blutbank distribuierte Wissen sobald die Eltern es für ihr Kind und für das eigene Gewissen als moralische Notwendigkeit ansehen und sofern sie es sich auch finanziell leisten können. Nach Martin et al. entsteht daher eine Art moralische Ökonomie, die Eltern in gewisser Weise zu der Entscheidung verpflichtet, die Stammzellen einlagern zu lassen (vgl. Martin et al. 2008: 139). Es erscheint als zeitgemäße Norm, alles im Rahmen des Möglichen für die Gesundheit der eigenen Familie zu tun, d.h. die Stammzellen für eine mögliche autologe Nutzung einfrieren zu lassen, auch wenn keine akute Notwendigkeit besteht. Die Wahrscheinlichkeit (sozusagen die Realität von Erwartungen) einer autologen Nutzung von Stammzellen wird mit 1:20.000 bis zu 1:4.000 angegeben, dennoch gilt die Einlagerung von Nabelblutstammzellen als verantwortliches Handeln elterlicher Fürsorge. Zum zweiten ist die Artikulation von Erfolg, z.B. ein als unaufhaltsam postulierter Fortschritt in Stammzellforschung und Medizin, integraler Bestandteil des Werbens seitens der Förderer von Technologien (vgl. Geels/Smit 2000a: 879; Geels/Smit 2000b), so auch für die Nutzung der Blutbanken. Das Schüren von Erwartungen bis hin zum Hype ist von signifikanter Bedeutung für die finanzielle, politische und soziale Unterstützung der Technologie. Hypes beziehen sich auf die Zukunft und wirken so bereits gegenwärtig wissensbildend und handlungsanleitend. Wie Brown schreibt, wirkt der Hype konstitutiv, indem die Zukunft in der Gegenwart keinesfalls moralisch neutral mobilisiert wird (vgl. Brown 2003: 6). Für die Mobilisierung der Öffentlichkeit hin zu einer positiven Erwartungshaltung gegenüber der Notwendigkeit das Nabelblut des eigenen Kindes für die mögliche autologe Nutzung zu lagern, sind nach Brown zwei Grundvoraussetzungen zu erfüllen: Erstens, das Erfinden einer vielversprechenden Geschichte, einer Vision von Zukunft sowie das Aufzeigen eines Weges dorthin, und zweitens, die Übertreibung der Versprechen, um Allianzen und die notwendigen Ressourcen zu mobilisieren (vgl. ebd.). Eine den Hype unterstützende und performative Rolle spielen neben Wahrscheinlichkeiten auch sogenannte »sickness narratives«. Sickness narratives erzählen von Szenarien, die nicht eintreten sollen, aber in gewissen Fällen eintreten müssen. Auch auf den Webseiten und Informationsmaterialien der Blutbanken finden sich derartige 194
SCHLEBUSCH: TIEFGEKÜHLTE VORSORGE
Krankheitserzählungen, sie bilden einen dritten Modus normativer Aufladungen. Obwohl von Seiten der Blutbanken bedauert wird, wenn eine Familie die für die autologe Nutzung gelagerten Stammzellen anwenden muss, so sind solche Geschichten in gewisser Weise notwendige Geschichten, ohne die die Blutbanken weniger Argumente für die Lagerung von Stammzellen haben würden. Durch das Aufzeichnen etwaiger Szenarien wird die Lagerung von Stammzellen aus Nabelblut in profitorientierten Blutbanken für diejenigen zur Verpflichtung, die sich dieses Angebot leisten können.
Wissen und Handeln: Die gestaltbare Zukunft Die normativen Aufladungen, die im Umgang mit der Lagerung von Stammzellen in profitorientierten Blutbanken entstehen, hängen alle, so zeigt der Blick in die Selbstdarstellungen der Blutbanken, mit einem Wissen von und über Zukunft zusammen. Die Lagerung von Stammzellen aus Nabelblut in profitorientierten Blutbanken verspricht tiefgekühlte Vorsorge für ein zukünftig gesundes Leben. Die Entscheidung, die Stammzellen für eine mögliche autologe Nutzung in einer profitorientierten/privaten Blutbank lagern zu lassen, geht mit der Absicherung von Zukunft einher, einer Zukunft, die bereits heute vom Klienten selbst gesichert, fast schon (mit-)gestaltet werden kann. Das deutlichste Beispiel für die Absicherung von Zukunft und ihrer Manipulierbarkeit ist der Moment der Entscheidung für die Einlagerung der Stammzellen und der daran gekoppelte Moment der Gewinnung der Stammzellen zum Zeitpunkt der Entbindung. Wurde die gesundheitliche Zukunft der Kinder bislang noch als gegeben und damit als nicht manipulierbar verstanden, entwickelt sich nun ein anderes Verständnis. Die Zukunft gilt zunehmend als manipulierbar und aus der Gegenwart heraus gestaltbar. Diese Verortung der Zukunft in der Gegenwart zeigt sich auch in der Lagerung von Stammzellen für die autologe Nutzung, während sich die Verortung der Gegenwart in der Vergangenheit relativiert: Obwohl Gene, Vererbung und Anlagen weiterhin als Faktoren der Gegenwartsbestimmung herangezogen werden, bietet die Verortung der Zukunft in der Gegenwart mehr Handlungsvermögen und Eingriffsmöglichkeiten. Dabei wird die Lagerung von Stammzellen aus Nabelblut gerade nicht in Anbetracht der gegenwärtigen Nutzbarkeit, sondern vor allem im Hinblick auf die zukünftige Nutzbarkeit der Stammzellen von Einzelnen in Betracht gezogen. Diese Zukunft orientiert sich an Hoffnungen gegenüber den möglichen zukünftigen Errungenschaften in der Forschung zu und mit Stammzellen, die per se unge195
PRÄVENTION
wiss bleiben. Die zukünftige Potenzialität der Therapiemöglichkeiten mit Stammzellen aus Nabelblut wird von profitorientierten Blutbanken als linear aufsteigender Verlauf dargestellt, als Linearität in einem Prozess, der bislang eher diskontinuierlich verlaufen ist. Engel et al. sprechen hinsichtlich der wachsenden Zukunftsorientierung von einem näher rückenden Wissensproblem. Zwischen Wissen und Nicht-Wissen, so die Autoren, liegt die Grauzone des Nicht- bzw. noch nicht abgesicherten Wissens. Dieses Nicht-Wissen wird durch Entscheidungen über Sachverhalts- und Situationsdeutungen in Wissen transformiert (vgl. Engel et al. 2002: 9/10). Den Autoren zufolge sind Wissen, Nicht-Wissen sowie unsicheres Wissen eine Konsequenz der die moderne Gesellschaft prägenden Zeitbindung. Menschen, die ihr Handeln auf Potenzialitäten gründen, erleben diese Potenzialitäten der Zukunft als Diskrepanz zwischen der jeweils gegenwärtigen Zukunft und den künftigen Gegenwarten (vgl. ebd.). Dies vollzieht sich auch im Fall der Lagerung von Stammzellen in profitorientierten Blutbanken. Innerhalb von nur zwanzig Jahren hat das Nabelblut sowie die darin enthaltenen Stammzellen durch einen Nutzungswandel eine Bedeutungstransformation durchlaufen. Diese Transformation hin zu gestiegener Nutzbarkeit und Vermarktbarkeit basiert auf wachsenden Sinn- und Bedeutungsmöglichkeiten, mit der sich auch der Umgang mit dem verändert, was wir glauben zu wissen oder glauben wissen zu wollen. Die Lagerung von Stammzellen in profitorientierten Blutbanken erscheint für Einzelne sinnvoll, weil sie sinnvoll gemacht, gestaltet und sinnstiftend beworben wird. Das Denken, Handeln und Wissen die Stammzellen aus Nabelschnurblut betreffend basiert nicht auf festen und evidenten Fakten, sondern auf vagen und nicht etablierten Zuständen, ausgedrückt in Potenzialitäten und Wahrscheinlichkeiten (vgl. Brown 2003: 17). Es ist zu erwarten, dass sich im Kontext der Lagerung von Stammzellen in profitorientierten Blutbanken Transformationen im Umgang mit Wissen einstellen werden: Fragen nach Eigentumsansprüchen und -rechten, nach Mündigkeit und Vererbungsrechten, Fragen, wie generierte Informationen über die Gesundheit beziehungsweise Krankheit der Zellen übermittelt werden und welche Auswirkungen dieses in Bezug auf Wissen hat, werden häufiger gestellt und wichtiger werden. Auch die grundsätzliche Bedeutung von Stammzellen wird zu klären sein: Inwiefern verkörpern Stammzellen, ähnlich wie Gene, als neue biologische Akteure die in Aussicht gestellte Kontrolle über unsere Biologie und Gesundheit (vgl. Waldby 2002: 306)? Welche Außerkörperlichkeit von Leben wird entstehen, wenn Körperteile für einen selbst aufbewahrt werden und möglicherweise zum Einsatz kommen (vgl. Copeman 2005)? 196
SCHLEBUSCH: TIEFGEKÜHLTE VORSORGE
Die von profitorientierten Blutbanken propagierte Sicherung von Zukunft ist im strengen Sinne die angestrebte Kontrollausübung über zukünftige Unsicherheiten, über Zukunft an sich. Die einmalige Chance, diese once in a lifetime chance, binnen 48 Stunden die Stammzellen aus dem Nabelblut eingelagert haben zu müssen, repräsentiert eine Zeitbindung von Entscheidungen, die performativ wirkt und moralisch aufgeladen ist. Diese Zeitbindung ist, wie Barth es nennt, der charakteristische Moment, in dem spezifisches Wissen gehandelt wird und schließlich auf eine Entscheidung drängt – als ob es selbstständig sei (vgl. Barth 2002). Das Wissen über die Möglichkeiten und Nicht-Möglichkeiten spielt sich dabei immer in einem ständigen Hin und Her von Wahrscheinlichkeiten und konstruierten Notwendigkeiten ab. Die Lagerung von Stammzellen repräsentiert ein Modell von »Zukunft, die um die Ecke wartet« (Väliverronen 2004: 365), sowie die »Möglichkeit etwas in Gang zu setzen« und somit auch das »Werden einer Welt« (Stehr 2002: 20).
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Organisiertes Risiko: Wie die Wechseljahre z um Bila nzierungs objekt w erde n MEIKE WOLF
Muss man von sinkenden Hormonspiegeln, von nachlassender Knochendichte, von IG-Leistungen, Brustkrebsrisiko und Mammografien sprechen, wenn man von den Wechseljahren spricht? Eine Selbstverständlichkeit ist das nicht. Dass die weiblichen Wechseljahre das Resultat »erschöpfter Eierstöcke« darstellen, wie es eine Gynäkologin mir gegenüber einmal erklärte, ist eine relativ neue medizinische Annahme. Als ebenso wenig selbstverständlich lässt sich die Tatsache betrachten, dass das Problem des weiblichen Alter(n)s an Gynäkologinnen und Gynäkologen herangetragen wird. Denn noch vor 180 Jahren stellte das klimakterische Leiden ein keineswegs spezifisch weibliches Problem dar, ganz im Gegenteil: Bis in das beginnende 19. Jahrhundert hinein waren die klimakterischen Jahre – und damit einhergehend die klimakterischen Krankheiten – der Männer ein medizinisch wohlbekanntes Phänomen (vgl. Stolberg 2007; Hofer 2007). Der Begriff des Klimakteriums selbst – abgeleitet aus dem Griechischen ›klimakter‹ für ›Stufe‹ – verweist inhaltlich auf das Erreichen der nächsten Phase der körperlichen Reifung und des Wachstums. Die Symptome, die mit diesem Klimakterium einhergingen, waren aus heutiger Sicht eher unspezifisch. Müdigkeit, Gewichtsverlust, geschwollene Beine, eine träge Verdauung oder mangelnder Appetit schienen ihre Ursache in einer allgemeinen Schwäche der inneren Organe, der Drüsen und des Lymphsystems zu haben (vgl. Lock 1993). Eine Verengung und exklusive Zuspitzung des Beschwerdebildes auf das weibliche Geschlecht und seine Physiologie begann 1821, als der französische Arzt 199
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Charles-Pierre-Louis de Gardanne den Begriff und den Gegenstand der Menopause in die medizinische Fachliteratur einführte. Zugleich war die Konstruktion einer rein weiblichen Menopause eingebettet in den Prozess der Etablierung, Institutionalisierung und Verwissenschaftlichung der Frauenheilkunde. Mit dem Aufkommen dieses neuen medizinischen Expertentums entwickelte sich ein Instrumentarium zur Untersuchung, Klassifizierung und Bestimmung menopausaler Beschwerden, das eine Neuordnung weiblicher Körper und Sexualitäten bewirkte: In einer spezifischen Verknüpfung des Biologischen mit dem Politischen rückten diese Körper in den Mittelpunkt des Experteninteresses (vgl. Foucault 1978). Obwohl Mitte des 19. Jahrhunderts bereits bekannt war, dass ein Zusammenhang zwischen den Ovarien und dem Menstruationszyklus besteht, wusste man zu diesem Zeitpunkt noch nichts über die Ursprünge und den genauen Mechanismus dieser Zusammenhänge – das Hormonsystem war noch nicht ›entdeckt‹ worden. Dank technischer Fortschritte in der Laborchemie und der Pharmakologie konturierte eben jene ›Entdeckung‹ des endokrinen Systems zu Beginn des 20. Jahrhunderts den Diskurs um das weibliche Alter und begrenzte ihn auf das Versagen der Hormondrüsen. Zugleich brachten die 30er Jahre des vergangenen Jahrhunderts auch die Entwicklung erster Hormon(ersatz) präparate mit sich – eine Form der Therapie, die auch heute weiterhin in der Behandlung (post-)menopausaler Frauen eingesetzt wird (vgl. Meyer 2004; Klauber et al. 2005). Diese stark verkürzte Übersicht über den Werdegang des medizinischen Konzepts Menopause verdeutlicht, inwieweit die wissenschaftliche (und auch laienhafte) Auseinandersetzung mit dem weiblichen Alter(n) schon immer als historisch und kulturell kontextiert verstanden werden muss – die hierin auftretende spezifische Verschränkung der Differenzkategorien Alter und Geschlecht kann damit keinesfalls lediglich als das Resultat ›natürlicher‹, ›biologischer‹ oder gar ›universeller‹ Körperlichkeiten betrachtet werden. Medizinisches Wissen über den alternden Frauenkörper steht immer in Abhängigkeit von kulturellen Ordnungsvorstellungen, Konzeptionen von Normalität, Gesundheit, Verantwortung, Weiblichkeit, während diese umgekehrt stets auch dem Einfluss vorherrschender medizinischer Technologien, Diskurse und Praxisformen ausgesetzt sind (siehe auch Beck 2004). Wenngleich die Wechseljahre heute im herkömmlichen Sinn nicht als Krankheit, sondern als physiologischer und damit ›normaler‹ weiblicher Prozess verstanden werden – und somit Frauen mittleren Lebensalters nicht zwangsläufig als ›Patientinnen‹ betrachtet werden können – muss die gynäkologische Praxis in Deutschland gegenwärtig als der zentrale Ort begriffen werden, an dem Wissen um die Hormonmangel200
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situation der Menopause institutionalisiert wird. Frauen mittleren Lebensalters, die wegen Wechseljahrsbeschwerden die gynäkologische oder gynäkologisch-endokrinologische Sprechstunde aufsuchen, erhoffen sich hier vor allem, Sicherheit über Zustände körperlicher Ungewissheiten zu erlangen. Darüber hinaus werden aber auch Frauen mittleren Lebensalters, die die gynäkologische Krebsfrüherkennung wahrnehmen, mit dem Thema Wechseljahre konfrontiert. Denn einzelne in diese Untersuchung eingebundene Praxisformen wie die Inspektion der Vaginalschleimhäute, das Abtasten der Brust, die Mammografie oder das Erfragen des Menstruationszyklus’ erlauben es den behandelnden Ärzten oder Ärztinnen, im Kontext des Lebensalters ihrer Patientinnen und des vorausgegangenen Gesprächs, Aussagen über den möglicherweise menopausalen Zustand der Frau zu treffen. In der gynäkologischen Praxis sind Menopause und Prävention somit eng miteinander verflochten: Stellen die Wechseljahre den Anlass des Besuchs dar, so spielt beispielsweise das Thema der Brustkrebsfrüherkennung oder der Osteoporoseprävention eine wichtige Rolle, während umgekehrt Frauen, die die Früherkennung wahrnehmen, sich mitunter mit Aussagen über den menopausalen Status ihres Körpers konfrontiert sehen. Im Rahmen dieser Untersuchungs- und Beratungsszenarien verspricht medizinisches Wissen, Antworten auf die Fragen der Frauen bereitzuhalten. Mittel hierzu ist die vermeintliche Objektivität medizinischer Experten, die als Resultat unterschiedlichster materieller und diskursiver Praktiken betrachtet werden kann (vgl. Helman 2007). Der Besuch einer gynäkologischen Sprechstunde und die Teilnahme an Präventionsprogrammen zur Krebsfrüherkennung stellen für viele Frauen im Menopausenalter eine gängige Alltagspraxis dar. Gerade vor dem Hintergrund der demografischen Entwicklungen und dem damit verbundenen Anstieg der Gesundheitskosten wird Prävention dabei häufig als gesamtgesellschaftliche Aufgabe dargestellt, wobei besonders die alternde Bevölkerung in Deutschland – zu der auch Frauen in der Prä-, Peri- und Postmenopause zählen – als Zielgruppe in der Konzeption präventiver Maßnahmen ausgemacht wird. Apitz und Winter verorten speziell in der alternden Bevölkerung »große unausgeschöpfte Präventionspotenziale«; vor allem aus gesundheitspolitischer Perspektive scheint die Bedeutung einer adäquaten konzeptionellen Ausgestaltung von Gesundheit im Alter stetig anzuwachsen (Apitz/Winter 2004: 145). Zugleich herrscht jedoch noch immer Unsicherheit darüber, welcher gesellschaftliche Ort der Prävention zukommt und welchen Regelungen ihre gesellschaftliche Umsetzung unterliegen soll (Walter/Stöckel 2002: 11). Unter Prävention sind hier zunächst alle Maßnahmen zu verstehen, die sowohl einer Förderung von Gesundheit dienen als auch der Früherkennung und Verhin201
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derung von Krankheiten (Walter/Schwartz 2003). Im Fall der Menopause ließen sich beispielsweise Mammografiescreenings, die Aufklärung über calciumreiche Ernährung, die Teilnahme an Sportprogrammen, die Knochendichtemessung oder der Verzicht auf Alkohol- und Tabakkonsum nennen. Dabei ist Prävention nicht nur ein medizinisches oder gesundheitspolitisches Konzept, sondern sie muss immer auch als kulturelle Praxis, und damit als gekennzeichnet von spezifischen Körperverständnissen, Regulations- und Risikokonstruktionen sowie einem veränderten Umgang mit medizinischen Informationen, verstanden werden. Viele Frauen mittleren Lebensalters handeln in Analogie zu den angenommenen Risiken ihres alternden Körpers: Für das Jahr 2004 beispielsweise weist eine Berechnung des Zentralinstituts für die kassenärztliche Versorgung nach, dass 54,3 Prozent der Frauen zwischen 45-49 Jahren, 52,3 Prozent der Frauen zwischen 50-54 Jahren und 48,8 Prozent der Frauen zwischen 55-59 Jahren an Krebsfrüherkennungsprogrammen teilgenommen haben; Männer gleichen Alters hingegen nehmen nur halb so häufig an Vorsorge- und Früherkennungsangeboten teil (Zi 2004; Lademann/Kolip 2005). Daten wie diese verweisen darauf, dass Frauen mittleren Lebensalters unter Umständen auf andere Weise von biomedizinischen Präventionsangeboten und Risikozuschreibungen betroffen sind, als dies für Männer der gleichen Alterskohorte gilt. Ist Alter(n) also ein weibliches Phänomen – unterliegt der weibliche Körper spezifischen Altersrisiken, die eines gezielten biomedizinischen Managements bedürfen? Der vorliegende Beitrag möchte vor diesem Hintergrund der Frage nachgehen, wie Frauen mittleren Lebensalters in der gynäkologischen Sprechstunde ihre Körper organisieren, wie das Wissen um bestimmte Krankheitsrisiken dynamisiert wird und wie in diesem Prozess die Handlungsoptionen menopausaler Frauen neu strukturiert werden – kurz, der Beitrag widmet sich der Frage, wie die Wechseljahre von einer ›natürlichen‹ Lebensphase zum Bilanzierungsobjekt werden können. Meine Argumentation fußt dabei auf den Ergebnissen einer medizinanthropologischen Studie, die sich mit der Frage befasste, inwieweit die Menopause als biokulturelles Phänomen das Resultat eines Aushandlungsprozesses zwischen medizinischen Experten und Frauen mittleren Lebensalters darstellt (vgl. Wolf 2009). Die Studie basiert auf Teilnehmender Beobachtung in gynäkologisch-endokrinen Sprechstunden und qualitativen Interviews mit Frauen in der Prä-, Peri- und Postmenopause sowie medizinischen Experten und Expertinnen, von denen sich die meisten auf die Behandlung dieser Zielgruppe spezialisiert haben. Vor dem Hintergrund des Themas dieses Sammelbandes möchte der vorliegende Beitrag jenen Weg zurückverfolgen, an dessen Anfang eine Frau 202
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mittleren Lebensalters ihre Beschwerden als hormonell verursacht identifiziert und einen Gynäkologen oder eine Gynäkologin als adäquaten Ansprechpartner ausmacht, und an dessen Ende schließlich eine Entscheidungsoption steht. Eingangs sollen zunächst biomedizinische Definitionen der Lebensphase »Wechseljahre« vorgestellt werden. Der Schwerpunkt des Beitrags liegt hieran anschließend auf der Analyse der Kommunikationssituation zwischen Gynäkologen und ihren Patientinnen. Anhand zweier Beispiele aus der Feldforschung soll veranschaulicht werden, wie die gynäkologische Sprechstunde als jener Ort fungiert, an dem auf der Basis biomedizinischen Wissens über den (post-)menopausalen Körper Risikoabwägungen und daraus begründete Handlungsentscheidungen entwickelt werden. Im letzten Teil des Beitrags schließlich wird auf der Grundlage der Forschungsbefunde gefragt, inwieweit die biomedizinische Konzeption der Menopause als Hormonmangelzustand in der Konsequenz riskante Körperlichkeiten produziert, die ein spezifisches Management medizinischer Präventionspraktiken erfordern.
Was sind die Wechseljahre? Während das Konzept der ›natürlichen‹ und dichotomen Zweigeschlechtlichkeit sich mit wachsender Selbstverständlichkeit hinsichtlich seiner soziokulturellen Konstruiertheit hinterfragen lassen muss, gilt dies für die Kategorie des Alters noch immer erst in Ansätzen (siehe auch Hartung et al. 2007). Dass wir alle altern, scheint ebenso normal wie natürlich, eine Konsequenz der biologischen Verfasstheit unserer Körper. Was gibt es unter diesen Voraussetzungen überhaupt über das Altern zu wissen? Anders gefragt: Woher wissen Frauen von ihrer Menopause? Was wissen sie darüber? Welche normativen Dimensionen birgt dieses Wissen? Und was bedeutet dies für die Alltagspraxis von Frauen über 50? Medizinisch betrachtet, liegt die Ursache der Menopause in der nachlassenden ovarialen Östrogenproduktion, einem Ereignis, das durchschnittlich um das 50. Lebensjahr herum die Körper der Frauen nachhaltig zu prägen beginnt. Sie wird definiert als »die letzte vom Ovar gesteuerte uterine Blutung […]. Sie tritt zwischen dem 50. und 52. Lebensjahr ein. Da der Zeitpunkt der Menopause erst retrospektiv festgelegt werden kann, schließt man den Zeitraum von einem Jahr danach in den Begriff Menopause mit ein.« (Göretzlehner/Lauritzen 1995: 366) Mit der Menopause können verschiedene Symptome einhergehen, von denen die Hitzewallungen (zumindest in Deutschland und den USA) 203
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sicher zu den bekanntesten gehören. Aber auch andere Symptome, die gelegentlich in neurovegetative, psychische und somatische Beschwerden eingeteilt werden (siehe beispielsweise Göretzlehner/Lauritzen 1997: 384), gelten als charakteristisch für die Zeit der Wechseljahre – so zum Beispiel Schweißausbrüche, Herzrasen und Beklemmungsgefühle, Schlafstörungen, Antriebslosigkeit oder depressive Verstimmungen, Ängstlichkeit, nachlassende Libido, Erschöpfung und Vergesslichkeit, Beschwerden beim Wasserlassen und trockene Schleimhäute, insbesondere der Vagina, sowie Muskel- und Gelenkschmerzen. Hiervon sind nach Ansicht der befragten Ärzte und Ärztinnen ein Drittel aller Frauen überhaupt nicht, ein Drittel leicht oder gelegentlich sowie ein letztes Drittel massiv betroffen (ähnliche Aussagen sind auch in der Fachliteratur zu finden, vgl. z.B. Göretzlehner/Lauritzen 1997: 370). Dabei fällt auf, dass einerseits eine große Vielfalt von Symptomen vorherrscht, andererseits keines dieser Symptome für sich genommen einen eindeutigen Rückschluss auf die Menopause zulässt. Die Symptomatik bedarf daher einer Kontextierung durch biomedizinische Experten oder menopausale Frauen selbst, um bedeutungsvoll zu werden. Eine kausale Therapie der Menopause und ihrer Beschwerden ist derzeit nur durch eine Hormon(ersatz)behandlung möglich. Diese Form der Therapie ist im Jahr 2002 erstmals auf breiter Ebene in die Kritik geraten, als eine Langzeitstudie der Women’s Health Initiative (WHI) nachwies, dass die Therapie von Wechseljahrsbeschwerden mit Hilfe von Hormonsubstitution in ihrer präventiven Wirkung auf HerzKreislauf-Erkrankungen umstritten ist sowie zudem eine Erhöhung des Brustkrebs-, Thrombose- und Schlaganfallrisikos beobachtbar wurde. Belegt werden konnte hingegen die Wirksamkeit der Hormongabe als Mittel der Osteoporoseprävention. Als davon ausgegangen wurde, dass die Risiken für die Studienteilnehmerinnen den anzunehmenden präventiven Nutzen überstiegen, wurde der Studienarm der kombinierten Östrogen- und Gestagentherapie vorzeitig abgebrochen (WHI 2002, Kritiker der Studie beispielsweise Birkhäuser 2002; Huber et al. 2002). Unmittelbar nach der breit rezipierten Bekanntgabe der Studienergebnisse (die häufig stark vereinfacht als »Hormone verursachen Brustkrebs« kommuniziert werden) brachen zahlreiche Frauen ihre Hormontherapie verunsichert ab – dies ist insofern relevant, als seither das Konzept des Risikos gerade in gynäkologischen Beratungssituationen zunehmend an Bedeutung gewonnen hat.
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V o r O r t – M e n op a u s e n b e s p r e c h e n Die Tür zum Sprechstundenraum ist eine weiße Tür unter vielen. Frauen, die hier in die Sprechstunde kommen, haben sich zuvor angemeldet, zumeist auf Überweisung eines anderen Arztes – im Nachbarzimmer koordiniert eine Sprechstundenhilfe hinter einem hohen Tresen die Termine der Sprechstunde und assistiert bei den gynäkologischen Untersuchungen. Das kleine Wartezimmer unterscheidet sich kaum von den vielen anderen Wartezimmern, die ich im Laufe der Jahre kennen gelernt habe: weiße Wände, eine Handvoll nebeneinander aufgereihter Stühle, abgegriffene Zeitschriften auf einem kleinen Tischchen in der Ecke, ein Waschbecken. Manche der Frauen grüßen beim Eintreten, andere nehmen unmittelbar Platz und greifen nach einer der ausgelegten Zeitschriften. Ab und zu betritt eine Schwester den Raum und ruft die nächste Patientin auf. In Begleitung von Herrn Tabor – einem Facharzt für gynäkologische Endokrinologie – betrete ich das Sprechzimmer. Auch hier eine weiße, sachliche Atmosphäre: weiß gestrichene Wände, ein weißer, deckenhoher Schrank, ein Schreibtisch aus hellem Holz, gemusterte Vorhänge, gerahmte Bilder an den Wänden. Der bequem gepolsterte Stuhl des Arztes ist so ausgerichtet, dass er mit dem Rücken zum Fenster sitzt, während ihm die Patientinnen auf einfachen, hölzernen Stühlen am Schreibtisch gegenübersitzen und der Eingangstür den Rücken zuwenden. Auch die Gegenstände auf dem Schreibtisch sind auf den Arzt hin ausgerichtet: ein Telefon, ein Monitor, eine funktionale Lampe, eine dicke Krankenakte. Bevor die Patientinnen – begleitet von der diensthabenden Schwester – eintreten, wirft Herr Tabor einen Blick in die Akte und erklärt mir kurz, was er über die Krankengeschichte der Frauen weiß. Die nächste Patientin ist eine äußerst gepflegt wirkende Dame Anfang 60, deren Kleidung schon auf den ersten Blick teuer aussieht. Gleich zu Beginn des Gesprächs wird deutlich, dass sie eine lange Vorgeschichte und eine dicke Krankenakte mitbringt. Als eine der wenigen Patientinnen, die auf dem äußeren der beiden Besucherstühle Platz nehmen, hält sie maximalen Abstand zu Herrn Tabor und mir, ganz anders als die letzte Patientin noch wenige Minuten zuvor. Auch den Stuhl hat sie von der Schreibtischkante weggerückt, als wolle sie viel Raum zwischen sich und den Arzt bringen. Ihre Taschen hat Frau Riehl auf dem Boden abgestellt, mit einem leisen Klatschen fällt eine der beiden Taschen um und bleibt unter dem Schreibtisch liegen, ohne jedoch dass sich Frau Riehl darum kümmern würde. Sie ist heute zum ersten Mal in der Sprechstunde, und Herr Tabor fragt zunächst ihre Vorgeschichte ab: Nach einem gutartigen Tumor in der Gebärmutter wurden ihr vor über 20 Jahren bei einer Totaloperation Uterus und beide Eierstöcke entfernt; vor 20 Jahren wurde zudem Brustkrebs diagnostiziert und eine Brust teilweise entfernt – ein Rezidiv ist seither nicht aufgetreten, 205
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womit sie als geheilt gilt. Seit einiger Zeit nimmt Frau Riehl zwei verschiedene Präparate zur Hormonsubstitution ein, eines in Form eines Hormonpflasters, das andere als Tablette. Herr Tabor geht die Medikation in den Akten durch und bleibt sofort bei der Tablette hängen. »Das ist ein reines Gestagen, das bräuchten Sie eigentlich nicht nach einer Hysterektomie. Wie kommen Sie denn zurecht mit dieser Medikation?« Jetzt ginge es ganz gut, erklärt Frau Riehl, »aber Sie können sich nicht vorstellen, wie das vorher war! Eine absolute Katastrophe! Ich hatte Herzrasen und Schwindel und Schweißausbrüche, das war so schlimm! Einmal bin ich sogar umgekippt, das war absolut nicht auszuhalten!« Ihre Worte sind sowohl an Herrn Tabor als auch an mich gerichtet. Ich lächele ihr zu, nach vielen Nachmittagen in der Sprechstunde ist mir ihre Erzählung inzwischen gut vertraut – sie ähnelt den Erzählungen vieler anderer Frauen, die wegen ihrer Wechseljahre in die Sprechstunde kommen. Herr Tabor führt das Gespräch zurück auf die Medikation und schlägt eine Alternative vor, ein neues Medikament. »Das ist ein Präparat, das ein Östrogen, ein Androgen und ein Gestagen enthält, das wirkt ganz ausgezeichnet. Vielleicht könnten wir das mal versuchen.« Frau Riehl scheint dem Vorschlag nicht abgeneigt zu sein. Er erklärt, dass es vor allem den Antrieb wieder herstelle und auch »eine Aktivierung mit sich bringe.« Zur Unterstützung dieser Aussage macht er eine dynamische Geste mit der rechten Hand. »Einen Nachteil hat es allerdings, und zwar kann durch das Androgen die Behaarung zunehmen.« Er streicht sich über die Haare des eigenen Handrückens. Frau Riehl macht eine abwehrende Geste: »Oh je, da bin ich sowieso überreich beschenkt. Als die Haare verteilt wurden, habe ich gleich dreimal zugeschlagen!« Ich muss lächeln bei dieser Erklärung. Herr Tabor kommt auf weitere Risiken zu sprechen. »Das will ich nicht verschweigen, bei einer Studie vor drei, vier Jahren ist herausgekommen, dass diese Präparate das Brustkrebsrisiko erhöhen. Jetzt müsste man bei Ihnen sehen… Der Brustkrebs ist 20 Jahre her, das kann man vernachlässigen.« Nach heutigen Erkenntnissen gelte sie nach dieser Zeit als geheilt, und im Befund könne man sehen, dass die Rezeptoren negativ gewesen seien. Ohnehin stelle die Medikation erst nach über zehn Jahren ein Problem in Bezug auf Brustkrebs dar. »Dennoch, ein gewisses Risiko ist aber da«, relativiert Herr Tabor seine Aussagen wieder. Frau Riehl wehrt seine Bedenken ab – man könne ja nie wissen, wann und woher der Krebs komme, und schließlich ginge sie ja auch regelmäßig und intensiv zur Kontrolle, es gäbe ja auch so viele Studien… Wie solle man da denn wissen…? Im Prinzip habe sie nichts gegen eine solche Therapie, eine Sorge allerdings mache ihr doch zu schaffen: »Nehme ich davon zu? Ich will nicht so auseinander gehen!« Mit den Händen deutet sie den Umfang an, den sie zu bekommen befürchtet. Erstaunlich bereitwillig akzeptiert sie als ehemalige Brustkrebspatientin das angesprochene Risiko. Nein, nein, wiegt Herr Tabor ab, eine Gewichtszunahme sei nicht zu erwarten. Und wenn Frau Riehl einver-
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standen sei, könne man es ja mit dem neuen Medikament versuchen. Sie müsse dann statt des Pflasters eine halbe Tablette einnehmen und ihre bisherige Medikation absetzen. »Also einmal pro Woche eine halbe Tablette?« »Nein nein, die halbe Tablette müssten Sie täglich einnehmen.« Frau Riehl zögert, zum ersten Mal sind ihr Zweifel anzusehen. »Jeden Tag eine halbe Tablette?« Herr Tabor bestätigt wieder. Sie denkt einen Moment nach und wirkt skeptisch. Herr Tabor schlägt eine Seite der Akte auf und bleibt mit dem Finger auf einem Absatz stehen: »Man könnte natürlich auch versuchen… Ihre Knochendichte ist hervorragend (insgeheim ›scanne‹ ich Frau Riehl bei diesen Worten nach den mir mittlerweile wohlbekannten Risikoprofilen ab, also schlank, blond, Raucherin), Sie bräuchten das Östrogen aus dieser Richtung gar nicht. Wir könnten auch versuchen, wie Sie ganz ohne Medikation auskommen würden…« Nein, das wolle sie auf keinen Fall, wehrt Frau Riehl sofort ab. Sie merke es schon, wenn ihr Pflaster mal verrutscht oder durch starkes Schwitzen ganz verloren gegangen sei, wie sofort ihre Unruhe und die anderen Beschwerden wiederkehrten. »Wissen Sie, dann bleibe ich doch lieber bei meinen alten Tabletten.« Mich überrascht ihre Entscheidung – so brachte zwar das Brustkrebsargument Frau Riehls Skepsis nicht zutage, aber offenbar ist ihr die Vorstellung einer täglichen Tabletteneinnahme so zuwider, dass sie sich dafür entscheidet, die bisherige Behandlung weiterzuführen. Erstaunlicherweise würde nicht die Dosierung den Unterschied machen (diesen Punkt hat Herr Tabor extra nochmals angesprochen), sondern lediglich die Darreichungsform – für Frau Riehl offenbar das ausschlaggebende Argument. »Dann machen wir es so – Sie nehmen weiter das Pflaster, setzen aber auf jeden Fall die Tablette ab, denn das Gestagen nimmt doch einiges von der Östrogenwirkung. Damit müsste es Ihnen auf jeden Fall besser gehen.« Abschließend gibt Herr Tabor ihr noch den Tipp, dass sie auch mal ein Pflaster mit der Schere halbieren und zusätzlich aufkleben könne, wenn die Beschwerden zu stark würden. Dann verschwinden die beiden im Untersuchungszimmer, um die Narbe an der Brust zu betrachten.
Deutlich wird in diesem Gespräch, dass sich hier ein bestimmter Umgang mit dem Konzept des Risikos abzeichnet, der die weiteren Handlungsoptionen strukturiert. Der Anlass für das Gespräch ist die bestehende Medikation, mit der Frau Riehl nicht zurechtkommt, so dass ihr Gynäkologe sie zu einem Spezialisten überwiesen hat. Auf Grund ihrer Totaloperation und auch ihres Alters stellt Frau Riehl im klassischen Sinne keine Wechseljahrspatientin dar (siehe hierzu Wolf 2009), doch ihre Symptome – Herzrasen, Schwindel, Schweißausbrüche – werden sowohl von den beiden beteiligten Ärzten als auch von ihr selbst als ty207
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pisch menopausal identifiziert. Das Gespräch zwischen Herrn Tabor und Frau Riehl kreist von Beginn an um die Frage einer Änderung der bestehenden Medikation und die damit möglicherweise verbundenen Risiken und Nebenwirkungen. Während Herr Tabor zunächst versucht, die Patientin von der in Frage kommenden neuen Medikation mit dem Argument einer »Aktivierung« durch den Androgenanteil zu überzeugen, weist Frau Riehl dies ebenfalls unter Verwendung des AndrogenArguments zurück: Sie befürchtet vermehrten Haarwuchs (der zwar kein medizinisches Risiko, aber doch ein kosmetisches Problem darstellen kann). Herr Tabor spricht daraufhin weitere Risiken dieser Form der Behandlung an, nämlich das erhöhte Brustkrebsrisiko – dabei berichtet er über die WHI-Studie, die für Frau Riehl als ehemalige Brustkrebspatientin von besonderem Interesse sein könnte. Frau Riehl wiederum ist sich einerseits der Widersprüchlichkeit medizinischer Studien und Statistiken bewusst, andererseits betont sie die Schicksalhaftigkeit einer Krebserkrankung. Für sie steht vielmehr ein anderes Problem im Vordergrund des Interesses – die mögliche Gewichtszunahme. Als Herr Tabor vor dem Hintergrund all dieser Bedenken in Erwägung zieht, die Hormon(ersatz)präparate ganz abzusetzen, geschieht dies auf der Basis der Datenlage in den Akten: Als Risiko einer unbehandelten (Post-) Menopause wird die Osteoporose in das Gespräch eingebracht, doch da Frau Riehl eine gute Knochendichte aufweist, greift Herr Tabor diesen Aspekt nur kurz auf. Vor dem Hintergrund des Abgleichs verschiedener Handlungsoptionen nimmt Frau Riehl schließlich die angesprochenen Risiken bereitwillig in Kauf, um durch eine (geringfügig modifizierte) Fortführung der Therapie ihre als massive Beeinträchtigung empfundenen Beschwerden zu lindern. Die nächste Patientin – sie ist Mitte 40 – ist Herrn Tabor gut bekannt, er schlägt sofort die Akte auf und fragt, wie es ihr geht. Frau Werder wirkt bereits in ihrer Körperhaltung sehr selbstbewusst: Wo andere Frauen auf der Kante des Stuhls balancieren und die Arme verschränken, nimmt sie am Tisch ebensoviel Raum ein wie Herr Tabor. Die beiden sitzen einander fast spiegelverkehrt gegenüber: den Stuhl nah an die Tischkante gerückt, mit gebeugtem Rücken und gefalteten Händen auf der Tischkante. Wie es denn mit ihrem Zyklus jetzt laufe, erkundigt sich Herr Tabor nach einer kurzen Begrüßung. Er wirft einen Blick in die Akte. Frau Werder, die an das Vorgespräch vor wenigen Wochen anknüpft, erklärt, dass ihr Zyklus noch immer unregelmäßig sei, mal zwei, mal drei Wochen. »Und diese ständige Blutung, alle zwei Wochen, das ist so lästig!« Sie wendet sich direkt an mich und sucht offenbar die gemeinsame Bezugsebene als Frau »das können Sie sich ja vielleicht vorstellen, wie unangenehm das ist!« 208
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Ich nicke bestätigend, das kann ich mir in der Tat vorstellen. Herr Tabor sieht nach dem Mammografiebefund, den die Frau vor ihn auf den Tisch gelegt hat und schiebt den Zettel mit den letzten Labordaten – dem Hormonstatus – daneben. Mit einem Kugelschreiber tippt er auf einen Wert, das Testosteron. Frau Werder blickt ebenfalls auf die kleine Zahlenkolonie auf dem Zettel. Er wendet sich an mich, spricht aber auch zu Frau Werder: »Hier, das Testosteron ist auf 2,1 – normal wäre etwa 0,8.« Mit dem Kugelschreiber in der Hand geht er durch den Mammografiebefund der letzten Woche und hält gelegentlich bei einzelnen Wörtern inne und liest sie leise vor, mehr für sich als für die Ohren der Patientin bestimmt. Frau Werder folgt ihm mit den Blicken. »Das Gestagen hatten wir ja wieder abgesetzt bei Ihnen, nicht wahr?« »Ja.« »Und da haben Sie überhaupt keine Verbesserung bemerkt, sagen Sie?« Nein, das habe sie nicht. Herr Tabor überlegt einen Moment und lehnt sich in seinem Stuhl zurück. »Man könnte es bei Ihnen natürlich auch einfach mal mit der Pille versuchen. So richtig peri-menopausal sieht das bei Ihnen noch nicht aus…« Frau Werder unterbricht ihn, an Selbstbewusstsein gegenüber einem Arzt mangelt es ihr offensichtlich nicht: »Die Pille? Die Antibabypille? Aber ich bin starke Raucherin, das geht nicht!« »Ach so, Sie sind starke Raucherin? Soso.« Auf das Rauchen geht Herr Tabor überraschenderweise nicht weiter ein. »Da haben Sie natürlich Recht. Die Thrombose ist eines der Risiken dieser Präparate, auch wenn man es mit einem anderen versuchen würde… Hatten Sie denn mal eine Thrombose in der Familie?« Frau Werder verneint. Herr Tabor sucht nach einer geeigneten Therapieoption, er überlegt, in seinem Stuhl zurückgelehnt. »Haben Sie denn auch manchmal Symptome, die auf die Menopause hindeuten? Zum Beispiel Hitzewallungen, Schweißausbrüche oder Schlafstörungen?« Ja, bestätigt Frau Werder, die habe sie allerdings gelegentlich. Vor allem die Schlafstörungen quälten sie besonders, oft läge sie bis in den Morgen hinein wach und plage sich mit der Schlaflosigkeit herum. Das deute dann doch auf die Wechseljahre hin, erklärt Herr Tabor und gibt zu bedenken, dass sie vor allem entscheiden müsse, ob die Zyklusunregelmäßigkeiten und die Schlafstörungen einen Krankheitswert hätten und Frau Werder dafür das Risiko einer Thrombose in Kauf nehmen wolle (sie raucht ein bis zwei Schachteln Zigaretten am Tag), oder ob die Beschwerden auszuhalten seien. »Das ist schon auszuhalten«, entgegnet Frau Werder, »es ist zwar lästig, da alle zwei Wochen… Aber es sind ja nur ein paar Tage, das geht schon.« »Was noch dazu kommt, das haben Sie ja vielleicht schon gehört, dass diese Präparate bei der Studie vor drei, vier Jahren in Verruf geraten sind. Die Studien sind zwar nicht sauber durchgeführt worden, aber man muss trotzdem sagen, dass sich das Brustkrebsrisiko erhöht hat um etwa 30-40 Prozent. Das ist nicht viel, mit einem Glas Alkohol pro Tag haben Sie eine größere Erhöhung, aber es lässt sich trotzdem nicht von der Hand weisen.«
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PRÄVENTION
Frau Werder hört ihm aufmerksam und mit schief gelegtem Kopf zu, ich vermute, dass sie sich – vor allem wegen ihrer Mastopathie, die mit einer Verhärtung und Verdichtung des Brustgewebes einhergeht – schon häufiger mit dem Thema Brustkrebs auseinander gesetzt hat. Ja, gibt sie zu bedenken, Brustkrebs sei so eine Sache, und man wisse ja nie, was da in einem vor sich ginge… Herr Tabor geht auf ihre Bedenken ein und schlägt eine Alternative vor: »Was man noch machen könnte, wenn Sie sagen, Ihre Beschwerden sind noch auszuhalten – ich kann Ihnen ein pflanzliches Präparat aufschreiben. Das ist ein sehr gutes Präparat, und die Phyto-Östrogene nutzen dieselben Rezeptoren wie die richtigen Östrogene. Es gibt darüber zwar noch keine Studien, aber…« Frau Werder willigt sofort ein – mit einem pflanzlichen Präparat sei sie einverstanden, und Homöopathie fände sie ohnehin gut. Allerdings, betont sie: »Angst vor Chemie habe ich aber keine!«
Den Kern dieses Gesprächs nimmt die Frage nach einer möglichen Therapie ein: Frau Werder soll entscheiden, ob sie ihren Beschwerden einen Krankheitswert beimisst oder nicht. Herr Tabor stellt sie vor die Entscheidung, ob sie eine Hormon(ersatz)therapie beginnen möchte – diese Option verknüpft er sogleich mit einem erhöhten Brustkrebsrisiko von ca. 30 Prozent, das er in Relation zum Alkoholkonsum setzt, um Frau Werder ein Gefühl für das ›tatsächliche‹ Risiko zu geben. Frau Werder hingegen wirft zwei ihr bekannte Risiken, die Thrombose und eine bestehende Mastopathie, in die Waagschale, was bei ihr Zweifel an der Hormon(ersatz)therapie hervorruft. Als Raucherin hat Frau Werder die zugeschriebene Erhöhung des Thromboserisikos verinnerlicht und reagiert entsprechend verantwortungsvoll, indem sie den Vorschlag des Arztes kritisch reflektiert. Es ist jedoch in erster Linie das Brustkrebsrisiko, das sie stark verunsichert. Herr Tabor wiederum greift diese Zweifel auf und verweist auf pflanzliche Präparate (auch hier nicht ohne Hinweis darauf, dass es keine Studien gäbe, die die Unbedenklichkeit dieser Präparate belegen). Zugleich wird in den beobachteten Gesprächssituationen deutlich, dass die gynäkologische Sprechstunde von den Frauen nicht zu einer bloßen Aneignung von Wissen über die Menopause und die damit einhergehenden Risiken genutzt wird. Vielmehr bringen die Frauen medizinische Kenntnisse in die Beratungssituation mit ein, die sich aus den unterschiedlichsten Quellen speisen und in der Beratungssituation dynamisiert werden: Diese Informationen stammen beispielsweise aus dem Kontakt zu weiblichen Bekannten im Menopausenalter, aus der Apothekenumschau oder aus einer Gesundheitssendung im Fernsehen. Die Grundlage dieser Beratungssituation bildet die Anerkennung einer Hormonmangelsituation als ›natürliche‹ Tatsache, die sich im oben genann210
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ten Sinne als medizinischer Fakt darstellt und eine Verhandlung unterschiedlicher Handlungsoptionen sowie des damit verbundenen Nutzen oder der Risiken mit sich zieht. Aber zurück zu Frau Werder: Sie einigt sich mit ihrem Gynäkologen unter diesen Bedingungen schließlich darauf, es zunächst mit einem pflanzlichen Präparat zu versuchen – die Risikobilanzierung (ein erhöhtes Brustkrebsrisiko durch Mastopathie sowie das mit dem Zigarettenkonsum einhergehende Thromboserisiko einerseits, der gefühlte Krankheitswert andererseits) gab hier den Ausschlag gegen eine Hormon(ersatz)therapie.
Riskante Körperlichkeiten, riskantes Wissen Deutungsoffenheit – wie zu Beginn des Beitrags diskutiert – stellt ein zentrales Merkmal der Menopause dar: Zum einen sind die ihr zugeschriebenen Symptome äußerst heterogen, unspezifisch und nur im Kontext von Lebensalter und Geschlecht bedeutungsvoll. Zum anderen gibt es kein diagnostisches Verfahren, das eine ›objektive‹ und gegenwartsgültige Aussage über den möglicherweise menopausalen Zustand einer Frau zu treffen vermag. Damit jedoch bedarf die Menopause – so etwa auch im Fall von Frau Werder und Frau Riehl – einer Kontextierung durch biomedizinische Experten und die betreffenden Frauen. Erst die Anerkennung bestimmter biomedizinischer Fakten (nämlich die einer natürlichen Hormonmangelsituation) ermöglicht es den Frauen, gewisse Körpererfahrungen der Menopause machen und diese auch kommunizieren zu können (vgl. Dumit 2000). Dies ist gewiss kein körperloser Diskurs, und selbstverständlich soll hier nicht die Realität von Hitzewallungen, Schweißausbrüchen und Herzrasen in Abrede gestellt werden. Als Akteuren zugleich materieller wie diskursiver Natur (vgl. Haraway 2004) kommt Hormonen jedoch die Funktion zu, einerseits auf der Ebene der Hormonwirkung, andererseits auf der Ebene bedeutungsvoller Konnotationen den alternden weiblichen Körper auszuformen. Durch Hormone – genauer gesagt, das graduelle Nachlassen der ovarialen Östrogenproduktion – wird dieser Körper mit sprießenden Barthaaren, versiegender Blutung, Schweißausbrüchen, Hitzewallungen und Herzrasen ebenso ausgestattet wie mit Bedeutungen von (Un-)Weiblichkeit, von Alter, Verfall, Freiheit, Krebs, Unabhängigkeit oder dem Lebensende. Diese kulturelle und biologische Wirklichkeit der Menopause wird in der sozialen Interaktion zwischen Frauen mittleren Lebensalters und biomedizinischen Experten ausgehandelt, so dass das biomedizinische System (vgl. DiGiacomo 1987) 211
PRÄVENTION
letztlich eine wesentliche Produktionsbedingung in der Konstruktion des alternden Frauenkörpers darstellt und diese institutionalisiert, organisiert und strukturiert. Dies geschieht jedoch weder vor dem Hintergrund einer authentischen Körper-›Natur‹, noch handelt es sich hierbei lediglich um soziokulturelle Konstrukte – vielmehr resultiert das Konzept Menopause aus einer Verschränkung beider Erklärungsansätze: Es ist Biologie und Wissensobjekt zugleich. Ein Selbstverständnis als menopausale Frau lässt sich daher ohne Bezug auf biomedizinische Fakten schwerlich herstellen, wobei erst die Verschränkung der relationalen Differenzkategorien Alter (ab 45) und Geschlecht (weiblich) es ermöglicht, unterschiedliche Informationen über den körperlichen Status einer Frau in einen bedeutungsvollen Zusammenhang zu stellen und in eine medizinische Beratungssituation einzubetten. Medizinisches Wissen wird hierin, wie es Stefan Beck formuliert, zum einem »Mittel der – angst- wie hoffnungsvollen – Selbstrepräsentation und -reflexion« (Beck 2004: 2). Dieser Prozess zeichnet sich dadurch aus, dass er (zumindest in der gynäkologischen Sprechstunde) einer zukunftsgerichteten Perspektive unterliegt: Während für die Frauen vor allem die Linderung klimakterischer Beschwerden im Vordergrund der Gesprächssituation steht (woran bei weitem nicht alle Frauen mittleren Alters zu leiden haben), fokussierten die Gespräche vor allem die zukünftige Gesundheit der Patientinnen, die durch Erkrankungen wie Brustkrebs oder Osteoporose gefährdet zu sein scheint und einem gezielten Präventionsregime unterworfen werden muss. Die Erfahrung der Menopause muss daher immer als medikalisierte Erfahrung betrachtet werden (hierzu siehe auch Harding 1998; Kaufert/Gilbert 1986; Bell 1987): Ein ehemals als ›natürlich‹ oder ›normal‹ konzeptualisierter Zustand des Alterns erfährt eine Überformung mittels biomedizinischer Kategorien, die neue Körpernormen und -praxen mit sich ziehen. Gelten die Östrogenspiegel junger und reproduktiver Frauen als körperliche Norm für Frauen aller Altersstufen, lassen sich die veränderten Östrogenwerte der Menopause als abweichend, behandlungsbedürftig und krankhaft verstehen. Aus der medizinischen Einbindung dieser potenziell krankhaften Körper resultiert die Notwendigkeit einer adäquaten Prävention: Die ›normale‹ Menopause gilt als potenziell riskant. Dabei stehen vor allem Brustkrebs und Osteoporose im Zentrum der medizinischen und laienhaften Aufmerksamkeit. Wie sich während meiner Feldforschung zeigte, zeichneten sich die beobachteten Gesprächssituationen dadurch aus, dass die Frauen einen selbstverständlichen Umgang mit dem Konzept des Risikos (und seiner Prävention) als Alltagserfahrung pflegten.
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Dem Konzept Risiko wird hierin eine Schlüsselposition zuteil: Es verweist auf die Kalkulierbarkeit von Krankheitsereignissen und ist geprägt vom Glauben an das gezielte Steuern von Eintrittswahrscheinlichkeiten; als in erster Linie statistische Aussage ist es zugleich eng an (medizinisches) Expertenwissen geknüpft. Während die epidemiologische Herangehensweise an das Konzept des Risikos traditionell zwischen jenen Risiken unterscheidet, die sich aus Umweltbelastungen ergeben und solchen, die aus einem riskanten Lebenswandel (Lifestyle) resultieren, gewinnt gegenwärtig das Konzept des sogenannten Embodied Risk an Bedeutung (vgl. Kavanagh/Broom 1998). Darunter lassen sich solche Risiken verstehen, die im Körper der Betroffenen verankert liegen, jedoch von ihrer individuellen und verkörperten Erfahrung abgekoppelt sind (beispielsweise genetisch bedingte Krankheitsdispositionen für Osteoporose oder Brustkrebs). Es erfordert die Diagnostik medizinischer Experten, um diese Risiken sichtbar (und damit erlebbar) zu machen, zugleich beginnen die Grenzen zwischen Krankheit und Gesundheit unter diesen Bedingungen zu verschwimmen (siehe auch Lemke 2003): Ein Körper, der beispielsweise einer Hormon(ersatz)behandlung unterzogen wird, bedarf zugleich eines rigiden Risikomanagements in Form von gynäkologischen Untersuchungen, Mammografien oder dem Einschränken bestimmter Genussmittel. Das heißt, die Linderung akuter Wechseljahrsbeschwerden ist eng an die Prävention altersassoziierter Erkrankungen gebunden und birgt zugleich die Produktion neuer Krankheitsrisiken in sich. Unter den Bedingungen der gynäkologischen Beratungssituation erweist sich Krankheit – selbst wenn es sich nur um potenzielle Krankheit handelt – als handlungsleitend, weniger ein Ausnahmezustand denn ein Regelfall. Frau Werder und Frau Riehl verhalten sich in Analogie zu diesem Bewusstsein: Als verantwortungsvolle Akteurinnen entwerfen sie entsprechende präventive Handlungsregimes, lassen ihre Knochendichte überprüfen, die Brust untersuchen, nehmen an Früherkennungsprogrammen teil, informieren sich, lehnen bestimmte Medikamente ab oder nehmen andere ein. Dies tun sie jedoch nicht in Missachtung möglicher Risiken, die beispielsweise mit einer Hormon(ersatz)behandlung einhergehen, sondern in Anerkennung dieser Risiken: Frau Riehl betont die Schicksalhaftigkeit von Krebs, Frau Werder verhandelt das aus ihrem Nikotinkonsum resultierende Thromboserisiko. Somit können derartige Praxen als verantwortungsvolle Praxen des Risikomanagements verstanden werden, die auf der Basis biomedizinischer Wissensbestände entworfen werden – die Gesundheit des menopausalen Körpers scheint damit eng an ein Bewusstsein für Bedrohung, Unsicherheit und Verlust dieser Gesundheit gekoppelt zu sein (vgl. Lemke 2004). 213
PRÄVENTION
Die Prävention altersassoziierter Erkrankungen und damit die Abwendung dieser Bedrohung, ergibt jedoch – der Logik von Public- HealthKampagnen folgend (vgl. Lupton 1997; Peterson/Bunton 1998) – nur dann Sinn, wenn die betroffene Zielgruppe davon überzeugt ist, dass sich Krankheit und Gesundheit positiv beeinflussen lassen: Voraussichtlich werden sich nur solche Frauen präventiv verhalten, die die jeweilige Krankheit (z.B. Osteoporose) als riskant und gleichzeitig behandelbar einstufen und sich selbst als gefährdet verstehen. Das Wissen um mögliche Risiken der Menopause und ihrer Behandlung birgt somit auch eine handlungsleitende Dimensionen: eine eng am Prinzip der Rationalität ausgerichtete Lebensführung. Die riskanten Körperlichkeiten müssen verwaltet, beobachtet und behandelt werden, verschiedene Handlungsoptionen gilt es im Hinblick auf Risiko und Nutzen gegeneinander abzuwägen. Sobald sich Verantwortung immer weiter individualisieren und Krankheitsereignisse (scheinbar) vermeiden lassen, erhält Gesundheit eine moralische Konnotation: Lässt sich bestimmten Erkrankungen präventiv entgegenwirken, kann der Krankheitsfall zumindest teilweise der ›Schuld‹ der Akteure zugeschrieben werden. Wie der Soziologe Thomas Lemke betont, lässt sich diese spezifische Form des Risikos nur unter neoliberalen Bedingungen analysieren: Es erhält seine spezifische Qualität dadurch, dass es nicht mehr an eine konkret benennbare Gefahr gekoppelt erscheint und frei von jeglicher zeitlicher Begrenzung ist (vgl. Lemke 2004). So lassen sich auch die riskanten Körperlichkeiten der Menopause unter diesen Bedingungen verstehen; sie lassen sich nicht auf eine bestimmte Erkrankung hin festschreiben, sondern erstrecken sich von brüchigen Knochen über trockene Schleimhäute bis hin zu Depressionen und Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Als prä-, peri- und postmenopausale Phänomene stellen sie sich als zeitlich unbegrenzt dar, womit das weibliche Alter eine potenziell lebenslange Angriffsfläche für biomedizinische Therapie- und Präventionsangebote bietet. Das besondere Dilemma des biomedizinischen Wissens um den ›Hormonmangelzustand‹ alternder Frauen und die Frage seiner (Nicht)Behandlung besteht nun indes darin, dass sich beide Handlungsoptionen (Durchführung oder Nicht-Durchführung einer Hormon(ersatz)therapie) als zugleich potenziell riskant wie potenziell präventiv verstehen lassen. So kann sich die Durchführung einer Hormon(ersatz)behandlung in Bezug auf die Entstehung von Brustkrebs oder Thrombose als möglicherweise riskant erweisen, während sie hinsichtlich der Entstehung von Osteoporose möglicherweise präventiven Nutzen birgt. Im Umgang mit dem menopausalen Körper wird dieser zum Ansatzpunkt medizinischer Risikobilanzierungen gemacht – die Eintrittswahrscheinlichkeit verschiedener Krankheiten wird gegeneinander abgewogen, wobei es in der 214
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Entscheidungsfindung auf ein »Gleichgewicht der Wahrscheinlichkeiten« ankommt, wie es eine Gynäkologin mir gegenüber erläuterte: Der menopausale Körper wird zum Bilanzierungsobjekt. Das Erleben des menopausalen Körpers, so lässt sich resümierend festhalten, stellt immer auch eine medikalisierte Körpererfahrung dar: Erst im Rückgriff auf biomedizinische Deutungsmuster, Konzepte, Technologien und Praxisformen entfaltet die Menopause als Hormonmangelzustand ihre volle Bedeutung. Biomedizinischem Wissen kommt hier die Funktion zu, die Zusammenhänge zwischen Körpern, Krankheit und Gesundheit zu strukturieren und zu organisieren. Die gynäkologische Praxis ist der Ort, an dem dieser Prozess institutionalisiert wurde: Im Austausch mit medizinischen Experten und Expertinnen konstruieren Frauen – vor dem Hintergrund der Deutungsoffenheit menopausaler Symptomatik – ihre Körper als menopausale Körper. Dies gelingt erst im Rückgriff auf die Kategorien von Alter und Geschlecht, die es Frauen und Gynäkologen/Gynäkologinnen erlaubt, im wechselseitigen Austausch das spezifisch menopausale Körpererleben mit medizinischer Bedeutung zu besetzen. Zugleich kommt es hierbei zur Verknüpfung von präventiven Praxisformen, von neu produzierten Risiken, von Risikomanagement und Eigenverantwortung, die an den Prozess der Entscheidungsfindung für oder gegen eine Hormon(ersatz)therapie gekoppelt sind und die auch außerhalb der gynäkologischen Praxis ihre Wirkung auf die Körper- und Selbstkonzeptionen alternder Frauen entfalten. Es liegt vor diesem Hintergrund in der Natur medizinischen Risikohandelns, dass die Konsequenzen dieser gerne als Entscheidungsfreiheit repräsentierten Entscheidungsnotwendigkeit in einer ungewissen Zukunft verankert liegen – und dass diese Freiheit eine sozialmoralische Kehrseite versteckt (vgl. Conrad 1994). Die Besonderheit des Gesundheitshandelns, das aus dem Wissen um die Menopause und den Prozess des weiblichen Alterns resultiert, liegt indes darin, dass es weniger mit Sanktionen einhergeht, denn vielmehr von einer Forderung nach Rationalität und kalkulierendem Handeln begleitet wird, die das Verhältnis zwischen Körper und Selbst neu definiert (siehe Rabinow 2004; Foucault 1998). Da es im Fall der riskanten Körperlichkeiten der Menopause kein medizinisch ›richtiges‹ Handeln zu geben scheint, muss an dieser Stelle insbesondere hinterfragt werden, inwieweit die Gesundheit des menopausalen Körpers nur eine von zahlreichen Körperoptionen darstellt oder vielmehr eine »funktionelle Statusanforderung« (Baudrillard 1981: 109) – und ob das Wissen um die Hormonmangelsituation ihres alternden Körpers für die betreffenden Frauen damit selbst zu einem Risiko wird. Es scheint einiges darauf hinzudeuten. 215
PRÄVENTION
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Das » Wiss e n de r Le ute«. Zur Disk ursi vie rung de r Biow isse ns c hafte n im Interne t ANNE WALDSCHMIDT
Geht es um die Lebenswissenschaften und ihre Praxis, lässt sich eine besondere Relevanz des alltagsweltlichen Wissens konstatieren, schließlich erweist sich erst am Prüfstein der Alltagstauglichkeit, ob sich Wissenselemente wie z.B. die Metaphern ›Gen‹ und ›Klon‹ dauerhaft und nachhaltig in Kulturen durchsetzen können. Auch gentechnologische Produkte und Verfahren wie etwa Medikamente und prädiktive Diagnostik könnten ohne Akzeptanz ›von unten‹ nicht an ›den Mann‹ bzw. ›die Frau‹ gebracht werden. Insbesondere die Anwendungsbereiche am Menschen basieren auf der Beteiligungsbereitschaft und damit auch auf dem Wissen des oder der Einzelnen. Was aber wissen ›die Leute‹ über Biomedizin, Biotechnik und Gentechnologie? Dem alltagsnahen Wissen über die Lebenswissenschaften, wie es im Internet zu Tage tritt, geht dieser Beitrag nach; dabei wird erkundet, wie in einem bestimmten Onlineforum, nämlich »www.1000fragen.de« über Bioethik kommuniziert wurde. Bei der von Oktober 2002 bis Dezember 2009 existierenden, in den ersten Jahren von einer breit angelegten Öffentlichkeitskampagne begleiteten Internetplattform handelte es sich um ein Diskursprojekt, das im Sinne partizipativer Technikfolgenabschätzung die Bevölkerung dazu aufforderte, sich aktiv in die gesellschaftliche Debatte um die Lebenswissenschaften einzumischen. Der vorgegebene Beteiligungsmodus des virtuellen Bürgerforums bestand zum einen darin, persönliche Fragen zu formulieren und die Beiträge anderer User zu kommentieren; dabei wurde vom Projektträger weitgehend auf eine 219
DISKURS/DISKURSIVIERUNGEN
Moderation verzichtet. Zum anderen wählten in einer späteren Phase prominente Persönlichkeiten im Rahmen sogenannter »Patenschaften« einzelne Fragen aus und ließen diese in moderierten Foren diskutieren. Verantwortlich für die Webseite war die Aktion Mensch, eine von den Wohlfahrts- und Behindertenverbänden sowie dem Zweiten Deutschen Fernsehen getragene, private Förderorganisation, die die größte Soziallotterie Deutschlands betreibt, umfangreiche Projektförderung leistet und sich als Kooperationspartner der Behindertenselbsthilfe versteht. Das von der Aktion Mensch angestoßene Diskursprojekt hatte eine erstaunliche Resonanz und konnte eine beeindruckende Fülle von Stimmen aus der Zivilgesellschaft zu zahlreichen bioethischen Problemstellungen generieren: Bis März 2006 wurden etwa 16.000 Fragen und mehr als 54.000 Kommentare eingegeben; im Rahmen der Patenschaften entstanden zusätzliche Beiträge. Zum Abschluss vermeldete der Projektträger, dass über 100.000 Kommentare gesammelt worden seien (vgl. www.1000fragen.de: Zugriff am 20.01.2010). Auch künftig wird die Webseite geöffnet sein. Zwar können keine neuen Fragen und Kommentare mehr eingegeben werden, jedoch bleiben die gesammelten Beiträge für die Öffentlichkeit zugänglich; außerdem bietet die Rubrik »Hintergründe« Möglichkeiten, sich Wissen anzueignen. Das Material dieses Internetforums, das sicherlich als das größte Bürgerforum gelten kann, das jemals in Deutschland zu bioethischen Fragen stattgefunden hat, bildete den Datenkorpus einer Studie, die basierend auf diskursanalytischen und wissenssoziologischen Überlegungen mit quantitativen und qualitativen Methoden umgesetzt wurde. Von der empirischen Untersuchung erfasst wurden die von Oktober 2002 bis Mai 2004 gesammelten 10.000 Fragen plus die dazugehörenden 34.611 Kommentare sowie in einer weiteren Projektphase die zwischen Mai 2004 und März 2006 eingegebenen 20.205 Diskussionsbeiträge der moderierten Patenschaften (vgl. Waldschmidt et al. 2009). Ausgewählte Ergebnisse dieser Forschungsarbeit werden im Folgenden vorgestellt, um die Ordnung dieses diskursiven Ereignisses zu veranschaulichen und das hier explizierte Alltagswissen genauer zu beschreiben.
T h e o r e t i s c h e Au s g a n g s p u n k t e : I n t e r n e t – Al l t a g – W i s s e n Um den möglichen Erkenntniswert des empirischen Materials einzuschätzen, erweist es sich zunächst als notwendig, die medialen Rahmenbedingungen auszuloten. Das Internet als Ort der Debatte hat sicherlich nicht nur die Art und Weise der Kommunikation geprägt, sondern auch 220
WALDSCHMIDT: ALLTAGSWISSEN IM INTERNET
Einfluss auf die verhandelten Inhalte gehabt. Zum einen bot es einen relativ barrierefreien Raum, der dazu einlud, sich ›einfach so‹, ohne über ein spezifisches Wissen zu verfügen oder eine Expertenrolle vorweisen zu müssen, zum Thema zu äußern. Da mit der »Bioethik« die thematische Rahmung des Onlineforums vielschichtig ist und – zumindest für Laien – als ›anspruchsvoll‹ gilt, sorgte das mediale framing dafür, Beteiligungshemmnisse abzubauen. Zum anderen hat sicherlich auch die Anonymität des Mediums die Kommunikation stimuliert: Die User konnten, mussten aber nicht ihre personale Identität preisgeben; über 52 Prozent (Waldschmidt et al. 2009: 122) entschieden sich entweder für Anonymität oder für »künstliche Identitäten«, sogenannte »Chiffrenexistenzen« (Krämer 1998: 8). Und nicht zuletzt haben die virtuellen Rahmenbedingungen die Art des Sprechens beeinflusst. Auch in »www. 1000fragen.de« trifft man auf die typische Internetsprache, die durch Akronyme, umgangssprachliche Wendungen, Jargon etc. gekennzeichnet ist und in netzlinguistischen Untersuchungen als kreative Erweiterung von Sprachspielräumen verstanden wird (Döring 2003: 182). Es finden sich beispielsweise sogenannte Emoticons am Ende eines Kommentars als Hinweis auf Ironie oder die Benutzung eines Namen mit einem @-Zeichen davor, um einen anderen User direkt anzusprechen. Charakteristisch für die Internetkommunikation ist die sogenannte »Oraliteralität« (Döring 1997: 289f.): Die geschriebenen Texte haben den Charakter gesprochener Sprache, einer »Sprache der Nähe« (Döring 2003: 184). Damit ist nicht die physische Nähe sprechender Subjekte gemeint, sondern ein Gefühl der Vertrautheit, das allein im sprachlichen Handeln hergestellt wird. Subjektkonstitution erfolgt im Internet als ›Simulation‹: Die User speisen Elemente ihrer Subjektivität in die Forumsdebatte ein, die Empfänger und Autor(inn)en bleiben jedoch weitestgehend anonym. Das Spannungsverhältnis von körperlicher Abwesenheit und sinnlicher Präsenz kann Imaginationsprozesse und »Sehnsuchtsbilder« (ebd.: 169f.) hervorrufen, so dass der scheinbaren Distanziertheit und ›Neutralisierung‹ sozialer Beziehungen im virtuellen Netz zahlreiche Möglichkeiten der Bedeutungsaufladung gegenüber stehen. Das mediale framing hat höchstwahrscheinlich dazu beigetragen, mindestens alltagsnahe, wenn nicht alltagsweltliche Äußerungen zu evozieren. Was aber ist unter Alltag zu verstehen? Und welche Merkmale kennzeichnen die für den Alltag typische Wissensform? Alltag und Alltagswissen als analytische Kategorien nutzen zu wollen, erscheint als nicht unproblematisch, denn beide Begriffe sind vieldeutig, schillernd und werden oft genug in wertender Absicht gebraucht. Jedoch kann man an dieser Stelle Norbert Elias (1978) folgen; er plädiert dafür, Alltag als eine soziologische Kategorie zu betrachten, die dazu geeignet ist, »einen 221
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zivilisatorischen Kanonwechsel zu veranschaulichen, der mit anderen Strukturwandlungen der Gesellschaft, also etwa mit der zunehmenden Funktionsteilung oder mit Staatsbildungsprozessen, in unablösbarem Zusammenhang steht« (ebd.: 24). Statt die soziologische Aufmerksamkeit auf die subjektiven Aspekte, also auf den gemeinten Sinn und das Erleben zu richten, sollte es darum gehen zu verstehen, dass »die Untersuchung der Erfahrungsdimension, der Art, wie Menschen im Zusammenhang mit ihrem Erleben dieser Strukturen zu deren Reproduktion wie zu deren Wandel beitragen, ebenso unerlässlich [ist]« (ebd.). Diese Überlegungen regen dazu an, Alltagswissen einmal nicht handlungs-, sondern eher strukturtheoretisch zu untersuchen. Nicht nur Elias kann als Gewährsmann dienen; auch in dem wissenssoziologischen Grundlagenwerk »Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit« von Peter L. Berger und Thomas Luckmann (1966/2000) werden in auffälliger Weise strukturtheoretische Akzente gesetzt. Berger/Luckmann zufolge spielt Alltagswissen bei der Konstitution und Konstruktion einer von ihren Mitgliedern als ›wirklich‹ erfahrenen Gesellschaft, an deren Bestand sie gleichzeitig mitwirken, eine zentrale Rolle. Zu ergründen ist, »wie es vor sich geht, daß gesellschaftlich entwickeltes, vermitteltes und bewahrtes Wissen für den Mann [und die Frau, d. Verf.] auf der Straße zu außer Frage stehender ›Wirklichkeit‹ gerinnt« (ebd.: 3). Schließlich steht im Alltag immer schon ein gesellschaftlicher Wissensvorrat bereit, den die Einzelnen zum Zusammenbasteln ihrer subjektiven Wissensbestände nutzen, der im Hintergrund individuelles Handeln strukturiert und das soziohistorische Apriori subjektiver Deutungen und intersubjektiver Beziehungen darstellt (ebd.: 47). Dieser komplexe und heterogene Wissensvorrat wird von den Alltagsmenschen nicht in vollem Umfang, sondern als »Fertigware« (ebd.) zur Kenntnis genommen, also in einer ›verbraucherfreundlichen‹, gut zu ›konsumierenden‹ Form. Der dem Alltag immanente Handlungsdruck verlangt einen pragmatischen Umgang mit Wissen: Demzufolge ist Alltagswissen ein vorrangig anwendungsbezogenes Wissen, das durch drei Eigenschaften charakterisiert ist: Da erstens »Zweckmäßigkeitsmotive die Alltagswelt leiten, steht Rezeptwissen, das sich auf Routineverrichtungen beschränkt, im gesellschaftlichen Wissensvorrat an hervorragender Stelle« (ebd.: 44). Zweitens werden routinemäßig von den Gesellschaftsmitgliedern ständig »Typisierungen« (ebd.), d.h. Taxonomien gebildet, die es ermöglichen, die Flut an alltäglichen Ereignissen zu ordnen und in bereits vorhandene subjektive Wissensvorräte zu integrieren. Drittens weist das Alltagswissen »Relevanzstrukturen« (ebd.: 46ff.) auf, die dazu dienen,
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Wichtiges von Unwichtigem zu unterscheiden, Prioritäten zu setzen, zu Werturteilen zu gelangen – und damit letztlich handlungsfähig zu sein. Festhalten lässt sich somit: Wenn auch in hohem Maße ein auf Performanz hin orientierter Wissenstyp, so zeichnet sich das Alltagswissen doch zugleich durch strukturierende Elemente aus. Als eine zentrale Funktion des Alltagswissens tritt die Bildung von ›Objektivation‹, d.h. die Institutionalisierung hervor. Das Individuum ›vergesellschaftet‹ sich nicht nur durch Sinngebung und Interaktion, Typisierung und Habitualisierung, sondern gerade auch durch die Herausbildung von Normen, Regeln und Gesetzen, die letztlich den Alltag prägen. Sollen soziale Institutionen, wie z.B. ›Religion‹ oder ›Mutterschaft‹, bei den Subjekten Akzeptanz finden und zeitlichen Bestand haben, benötigen sie Begründungszusammenhänge, die ihre Existenz rechtfertigen, kurz: sie bedürfen der ›Legitimation‹. Mit diesem Begriff treffen wir auf ein weiteres wesentliches Merkmal von Alltagswissen. Legitimation rechtfertigt »die institutionale Ordnung dadurch, daß sie ihren pragmatischen Imperativen die Würde des Normativen verleiht« (ebd.: 100). Sie ist nicht nur »eine Frage der ›Werte‹, sondern impliziert immer auch ›Wissen‹« (ebd.). Vier hierarchisch in sich geschachtelte Ebenen der Legitimation lassen sich Berger/Luckmann (ebd.: 101ff.) zufolge unterscheiden: Die erste Ebene ist die Begriffsbildung, d.h. die Ausformung eines sprachlichen Vokabulars zur Beschreibung eines Sachverhalts. Auf der zweiten Legitimationsebene findet man »theoretische Postulate in rudimentärer Form«, d.h. pragmatische und praktische »Schemata, die objektive Sinngefüge miteinander verknüpfen« (ebd.: 101). Hierzu gehören Lebensweisheiten und Narrative, die Deutungsmuster und Handlungsanweisungen vermitteln. Drittens rechtfertigen »explizite Legitimationstheorien [.] einen institutionalen Ausschnitt an Hand eines differenzierten Wissensbestandes« (ebd.). Für bestimmte Lebensbereiche gibt es spezielle Wissensbestände, die sich häufig professionell oder wissenschaftlich ausdifferenzieren. Schließlich wirken viertens »symbolische Sinnwelten« legitimierend, da sie umfassende Systeme zum Weltverständnis und zur Weltdeutung anbieten, verschiedene Deutungsbereiche integrieren und »die institutionale Ordnung als symbolische Totalität überhöhen« (ebd.: 102). Auf dieser Basis kann der Erkenntnisstil des Alltags unter drei Gesichtspunkten für eine diskursanalytische Untersuchung fruchtbar gemacht werden: Erstens zeigt sich Alltagswissen als eine Wissensform, die durch strukturierende Elemente wie Routine, Typenbildung und Relevanz gekennzeichnet ist. Damit befinden wir uns gewissermaßen im »Vorhof der Institutionalisierung« (ebd.: 60). Zweitens kann subjektives Wissen im Alltag nicht getrennt von Prozessen fortschreitender Struktu223
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rierung, d.h. sozialen Institutionen und übergreifenden gesellschaftlichen Ordnungsmustern, betrachtet werden. Drittens bietet es sich an, die im Alltag wirksamen Legitimationen näher zu untersuchen. Die Überlegungen von Berger/Luckmann erweisen sich also durchaus als produktiv, wenn es darum geht, die Strukturiertheit der gesellschaftlichen Wirklichkeit – und damit auch des Wissens – in den Blick zu nehmen. Dennoch sind aus Sicht der Diskursanalyse nach Foucault (1974; 1990) kritische Anmerkungen vonnöten. Zum einen fällt auf, dass die beiden Wissenssoziologen die zentrale Frage der Macht eher ausblenden bzw. auf die Frage von Akzeptanz reduzieren. Abgehoben wird darauf, dass sich die Alltagsmenschen in den ›Gang der Dinge‹ einfügen, kompatibel werden für das Funktionieren in der ›Normalität‹. Die potenzielle Widerspenstigkeit der Subjekte wird zu wenig mitgedacht. Zum anderen mögen zwar situatives Handeln und subjektives Erfahrungswissen auf Strukturmerkmalen basieren und in strukturierten Zusammenhängen stattfinden, jedoch ist dieses ›elementare‹ Wissen wenig differenziert, nicht generalisierbar und im Raum des ›objektiven‹, ›wahren‹ Wissens vermutlich nicht sagbar. Zudem müsste der Gedanke, dass das Alltagswissen auch durch das ›Wuchern des Diskurses‹, das ›Ereignis‹, den ›Zufall‹ (vgl. Foucault 1974) gekennzeichnet, d.h. sowohl heterogen als auch tendenziell unberechenbar ist, größeren Raum einnehmen. An dieser Stelle scheint ein Aspekt auf, der in der Diskurstheorie von Jürgen Link ebenfalls eine Rolle spielt. Link ordnet den Alltag der Elementarkultur zu und beschreibt diese als »Kultur intensivster Subjektivierung des Wissens« (Link 2003: 90). Die Elementarkultur sei »durch höchste Subjektivität und höchste Intensität (geringe Distanz)« (Link 2005: 15) gekennzeichnet. Auf der Ebene des Alltagsdiskurses kombiniere sich »das stark komplexitätsreduzierte historisch-spezifische Wissen (seit geraumer Zeit vor allem von den naturwissenschaftlichen Diskursen und Praktiken gespeist) mit dem sogenannt anthropologischen Alltagswissen (über allgemeinste Lebensstrategien, Liebe, Familie, rudimentäre associative Solidaritäten und Kollisionen usw.)« (ebd.: 91). Gleichzeitig bleibt der Diskurstheoretiker gegenüber der Subjektivierung und ihrer legitimatorischen Bedeutung skeptisch: Da die »Subjektivierung des Wissens […] stets mit seiner Reduktion durch Grenzen der Sag- und Wissbarkeit« (ebd.: 94) einhergeht, könne die subjektive Erfahrung keinesfalls als ›originär‹, ›authentisch‹ oder ›echt‹ bezeichnet werden. Vielmehr sei es gerade »diese Subjektivierung des Wissens durch Grenzen, die in den Subjekten eine ›Willigkeit‹ generiert, die sie wiederum für Machtverhältnisse disponibel macht« (ebd.). Diesen Vor-
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behalt galt es bei der empirischen Analyse, die im Folgenden auszugsweise vorgestellt werden soll, im Auge zu behalten.1
Empirischer Ertrag I : Sprecherpositionen – Diskurskontrollen – Diskursstrategien Wenden wir uns zunächst auf der formalen Ebene der Diskursordnung den Sprecherpositionen zu. Im Anschluss an Foucault geht es hier um »diskursinterne Strukturierungen und Hierarchiebildungen« (vgl. Keller 2004: 69f.), somit um die Frage, wer legitimer Weise sprechen darf. Dabei gilt für Internetforen: Eigentlich sind alle User prinzipiell gleichberechtigt, es gibt keine formellen Positionen, auf deren Grundlage eine Hierarchie begründet werden könnte. Folglich kann es sich nur um Verweise auf Positionen im ›richtigen Leben‹ handeln. Zum einen findet man in dem Material typischerweise »Positionierungen durch Abgrenzung«, d.h. Fundstellen, in denen eine Distanzierung gegenüber den Stellungnahmen anderer erfolgt: »Bestimmte Leute, meistens ›naturwissenschaftlich angehaucht‹, wollen mittels Zynismus die Unvernunft ihrer Vierzeiler kaschieren.« (Thread 12289)2
Eine solche Negativ-Definition lässt offen, wofür man eintritt; fest steht nur, dass man kein Zyniker sein will. Strategisch gesehen sind mit einer solchen Positionierung breitere Allianzen möglich als mit einer expliziten Festlegung. Zum anderen sind relativ viele »Selbst-Positionierungen« auffällig, d.h. Ich- und Wir-Statements, die subjektiv formulierte Stellungnahmen beinhalten. Ein Ich-Statement hat etwa die Form: »Ich bin selber behindert« (Thread 8039). Im Unterschied dazu wird ein WirStatement so formuliert: »Wenn wir die Isolation und Entfernung des defekten Gens zur Vermeidung von Behinderungen verbieten wollen, sollten wir dann nicht auch alle Therapien, die den Behinderten das Leben nachträglich erleichtern sollen, ebenfalls verbieten?« (Thread 10193)
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Zur methodischen Vorgehensweise siehe Waldschmidt et al. (2009). Die mit »Thread« und laufender Nummerierung gekennzeichneten Originalzitate entstammen dem analysierten Datenkorpus. Die Texte werden originalgetreu in der vom Projektträger übermittelten Fassung wiedergegeben; Rechtschreibfehler etc. sind deshalb nicht korrigiert. 225
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In dem angeführten Ich-Statement bildet die eigene, subjektive Erfahrung die Legitimationsebene. Bezug genommen wird auf eine soziale Rolle: Es spricht ein »behindert[er]« Mensch. Im Unterschied dazu bezieht sich das obige Wir-Statement auf ein eher diffuses ›Wir-Gefühl‹. Das demokratische »wir« suggeriert das Vorhandensein eines allgemeinen Konsenses. Der User nimmt die Rolle eines ›Verantwortungsträgers‹ an; das »wir« soll die Meinung der Mehrheit ausdrücken. Aus dieser Perspektive stellen Ich-Statements eine schwächere Stellungnahme dar und eine »Wir«-Positionierung wird benutzt, um die eigene Argumentation aufzuwerten. Drittens gibt es »Fremd-Positionierungen«; sie beinhalten Anknüpfungen an etablierte Organisationen, anerkannte Institutionen oder auch ›wichtige‹ Namen. Man findet hier Verweise auf Rollenträger aus Wissenschaft und Geschichte ebenso wie solche mit religiösem Hintergrund. Indem anerkannte Autoritäten stellvertretend eingebracht werden, werden gleichzeitig Diskurspositionen besetzt. Im folgenden Beispiel ist der Rollenträger, der zur Legitimation herangezogen wird, zur konkreten Person geworden (der »Kloner«): »Das Klonschaf Dolly hat schon in jungen Jahren Arthritis und andere Beschwerden; selbst deren Kloner sagt, dass man das Klonen von Menschen lassen soll!« (Thread 6430)
Die Nennung des Namens – Ian Wilmut – hätte der Argumentation womöglich noch mehr Nachdruck verliehen. Auch Institutionen können, wie das folgende Beispiel zeigt, als Autoritäten dienlich sein: »Warum lassen wir die Mediziner nicht forschen? Warum geben wir ihnen nicht die Gelder, die Geräte, um Leben zu retten und unserer Menschheit zu helfen? Sie sind es, die die Menschen gesund machen, sie sind es, die dir und mir helfen! Sie sind es, die dafür sorgen, dass ich meinem herzkranken Vater jeden Tag guten Morgen sagen kann. Sie sind es, die die ungeklärten Morde durch genetische Fingerabdrücke aufklären. […] Ich danke Gott, dass er uns die Kraft und die Inteligenz gegeben hat, in der Medizien so fortgeschritten zu sein!« (Thread 2478)
Diese Äußerung ist deshalb interessant, weil zusätzlich das eigene Argument dadurch stark gemacht wird, dass zwei Selbst-Positionierungen mit einer Fremd-Positionierung verknüpft werden: Der Gläubige (»Ich danke Gott […]«) und der Fortschrittsbefürworter (»Sie sind es, die die Menschen gesund machen […]«) verbünden sich mit dem Verantwor-
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tungsträger (»Warum lassen wir die Mediziner nicht forschen? Warum geben wir ihnen nicht […]«). Für das Internet sicherlich, aber wahrscheinlich auch für den Alltagsdiskurs charakteristisch sind die vielen »Diskurskontrollen«, die man im Material in auffälliger Häufung antrifft. Gemeinsam ist ihnen, dass es sich um Versuche handelt, die Reaktionen anderer User zu steuern, Äußerungen entweder zu beschränken oder anzureizen. Eine entsprechende Intention ist sehr auffällig bei den Äußerungen, die unter eine der drei folgenden Kategorien fallen: Erstens enthalten »Bewertungen von Beiträgen« eindeutige Stellungnahmen in der Form von Zustimmung (»Ich finde, dass du völlig Recht hast.«, Thread 4471), Ablehnung (»[...] Schon wieder eine Falschaussage, es ist genau umgekehrt […]«, Thread 8299) oder Nichtverstehen (»Diese Frage ist unverständlich.«, Thread 6681). Zweitens umfasst die »Beschränkung legitimer Sprecher« Versuche, andere User von der Diskussion explizit auszuschließen. Leitend ist offenbar der Gedanke, dass sich nur besonders qualifizierte Sprecher beteiligen sollten. Ein weiteres Muster der »Beschränkung legitimer Sprecher«, das in mehreren Themenbereichen zu beobachten ist, erhebt die autonome Entscheidung des Individuums zum Prinzip: »kann nicht jeder selbst entscheiden, was er für gut und schlecht hält?« (Thread 6377). Geht es drittens darum, »Gegner zu diffamieren«, werden Diskurskontrollen benutzt, die sich ausgeprägter Feindseligkeit und Aggressivität bedienen. Hierunter fallen Beschimpfungen und Vorwürfe von »Scheinheiligkeit«, »Gier«, »Egoismus« und »Irrationalität«. Ebenso werden vermeintliche Fehler oder schlechte Eigenschaften anderer User, die vor allem als Gegner angesehen werden, hervorgehoben, z.B.: »Du hast von allem null Ahnung und redest nur Müll. Ich wünsche niemandem etwas Schlechtes, aber deiner Sorte wünsche ich es, schwer unheilbar krank zu sein und dann von irgendwelchen Maschinen künstlich am Leben erhalten zu werden, statt einen schnellen und schmerzlosen Tod zu sterben.« (Thread 9039)
Neben den »Diskurskontrollen« findet man im Material typisierbare »Strategien«, die sich wiederum in »Frageformen« und »Argumentationen« unterteilen lassen. Während mittels »Frageformen« – dem Stellen von Informationsfragen, Gegenfragen und Nachfragen sowie suggestiven, provokativen oder reflexiven Fragen etc. – versucht wird, der Diskussion eine bestimmte Richtung zu geben, umfassen »Argumentationen« die Fundstellen, in denen Weltanschauungen, Menschenbilder und Gesellschaftsvorstellungen zum Ausdruck kommen. Vor allem die Argumentation »Fortschrittsglauben, -ängste äußern« ist einer näheren Be227
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trachtung wert. Hier tauchen Szenarien auf, die mit Hilfe von historischen Bezügen, Hinweisen auf partikulare Interessen oder Ländervergleichen auf bioethischen Handlungsbedarf aufmerksam machen wollen: »Hatten Menschen nicht schon IMMER eine Heidenangst, wenn irgendwo etwas Neues erfunden oder eingeführt wurde? Eine gesunde Reserviertheit muss nicht negativ sein, sollte aber gedanklich flexibel bleiben, da man sonst irgendwann von der Realität eingeholt werden würde.« (Thread 12324)
Im weiteren Verlauf dieses Threads wird eine historische Analogie benutzt: »Schönes Beispiel: Bei der ersten Eisenbahn in Deutschland wurde diskutiert, ob der Mensch die Beschleunigung und Geschwindigkeit (etwa 30 km/h) aushalten kann, der Zug hätte fast das doppelte geschafft, das wurde aber gesetzlich verboten!« (Thread 12324)
Vor dem Hintergrund des Themas Bioethik ist bemerkenswert, dass die verwendete Metapher reichlich altmodisch ist. Neben der Eisenbahn und dem Uhrmacher (»Wir sind etwa in der Lage wie ein Uhrmacher aus dem 19. Jh der vor einem modernen Benz steht und nun den Motor optimieren soll...«, Thread 15983) wird auch das Handwerk des Schusters bemüht: »Wo kann ich mir die Bauteile für mein Kind bestellen? […] Kinder werden auch in Zukunft nicht aus Einzelkomponenten zusammengeschustert.« (Thread 11904)
Für die Bio- und Medizintechnologien hat der alltagsweltliche Diskurs anscheinend noch keine zeitgemäßen Bilder gefunden oder sie sind – wie die Doppelhelix der Erbsubstanz – noch nicht in das Alltagswissen eingedrungen.
Empirischer Ertrag II: Subjektvorstellungen – Ethikkonzepte – Machtbegriffe Wenden wir uns nun der inhaltlichen Ebene, d.h. den Gegenständen und Begrifflichkeiten der untersuchten Diskursordnung zu. Vorab sei erwähnt, dass mittels Kategorisierung die Trias Subjekt, Ethik und Macht erschienen ist, ein sicherlich den Erwartungen entsprechendes Ergebnis, berücksichtigt man die thematische Rahmung des Diskursereignisses.
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Bemerkenswert ist jedoch, dass die Kategorie »Subjekt« die Diskursordnung des Internetforums in auffälliger Weise prägt. Was ist der Mensch? Was macht menschliches Leben aus? – Das sind die zentralen Fragen, um die sich die Äußerungen immer wieder auf’s Neue drehen. Unter die Kategorie »Was ist der Mensch?« fallen Fundstellen, die Stellung dazu nehmen, was als typisch menschlich gelten kann. Es geht um den »Menschlichen Körper«, um »Geist/Vernunft/ Seele«, um »Gefühle« und »Menschliche Individualität«. Auf den ersten Blick sieht es so aus, als gebe es einen begrifflichen Grundkonsens; bei der genaueren Durchsicht zeigen sich jedoch zum Teil kontroverse Klassifikationsmuster. Beispielsweise ist eine rein materielle Vorstellung vom menschlichen Körper (»Der Mensch IST nur die Summe seiner Geninformationen plus die Einwirkungen der Umwelt auf ihn!«, Thread 3787) nicht mit einem holistischen Menschenbild in Einklang zu bringen, das den Körper als vom Geist untrennbaren Leib ansieht: »[D]er Mensch ist doch immer als Ganzes zu sehen und nicht nur aus wissenschaftlicher Sicht.« (Thread 2850)
Bei dem letztgenannten Textbeispiel ist die aufgebaute Opposition interessant. Der »Mensch […] als Ganzes« – Ausdruck eines ganzheitlichen Menschenbildes – wird nicht etwa – wie in Thread 3787 – dem Menschen als »Summe seiner Geninformationen« gegenübergestellt. Vielmehr wird als Gegensatz zum holistischen Menschenbild eine nicht näher spezifizierte »wissenschaftliche[.] Sicht« genannt. Die hier angedeutete Korrespondenz zwischen Materialismus und wissenschaftlichem Denken könnte möglicherweise für alltagsweltliche Redeweisen typisch sein. In selektiv-vereinfachender Art wird das Menschenbild ›der Wissenschaft‹ auf Sichtbares und empirisch Messbares (Körperzellen, Elektronenfluss etc.) festgelegt. Je nach Standpunkt kann dies als hinreichend gelten oder, wie im zitierten Beispiel, als reduktionistisch kritisiert werden. Auch die in den Threads benutzten Bildfragmente zum »Menschlichen Körper« lassen sich jeweils einem mehr oder weniger kohärenten Klassifikationsmuster zuordnen, das zusammen mit weiteren Aspekten Hinweise auf aktuelle Formen der Subjektkonstitution zu geben vermag. Die Zuordnungen sind zwar nicht immer eindeutig, jedoch auch nicht beliebig. Begriffe wie »Zelle«, »Fleisch«, »Materie« wiederholen sich; Begriffe wie »Geist«, »Seele«, »Gefühle« bilden andere, davon zu unterscheidende Häufungen. Anscheinend handelt es sich um Elemente verschiedener Wissensordnungen, deren Kämpfe um Definitionsmacht im Material beobachtet werden können. Geht es um »Menschliche Cha229
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rakteristika« fällt auf, dass hier regelmäßig »Grenzziehungen« thematisiert werden. Beispielsweise wird unterschieden in Mensch/Gott, Mensch/Maschine, Mensch/Klon usw.: »Ein Zwilling ist etwas Natürliches. Daher auch ein Mensch. Ein Klon aber nicht. Es ist ein technisches Produkt und eine Ware wie ein Fernseher oder ein Auto.« (Thread 309)
Die Frage, was das Menschsein ausmacht, wird mittels diskursiver Abgrenzungen beantwortet. Außerdem wird immer wieder das Thema »Mensch zu Mensch – Beziehungen zwischen Menschen« angesprochen. Nahezu ausschließlich kommen aber die Beziehungen zwischen den Generationen und in der Verwandtschaft zur Sprache; unter ihnen spielt das Verhältnis zwischen Eltern und Kindern die größte Rolle. Elternschaft, Kinderwunsch, Kinderlosigkeit werden meist in Verbindung mit den reproduktionsmedizinischen Handlungsmöglichkeiten angesprochen. »Wunschkinder kommen nicht durch Gentechnik zustande, sondern gerade durch die Fähigkeit der Eltern, ihren Kindern Respekt entgegenzubringen und sie verantwortungsvoll zu erziehen. Die besten Anlagen bringen nichts, wenn Erwachsene nicht die Geduld aufbringen, ihre Kinder zu akzeptieren.« (Thread 2979)
Während dieser Beitrag keinen Grund dafür sieht, dass die neuen Technologien zu Veränderungen in der Elternrolle führen, findet man auch Äußerungen, die sich durchaus Folgen für das familiäre Zusammenleben vorstellen können: »Könnte ein Kind seine Eltern verklagen, wenn diese es trotz technischer und rechtlicher Möglichkeiten unterlassen haben, z.B. eine Fehlsichtigkeit zu korrigieren?« (Thread 7530)
Eng verbunden mit der Auseinandersetzung um Menschenbilder und Subjektvorstellungen ist die Frage nach Sinngebung und Bewertung des eigenen Lebens. In der Kategorie »Wie lebt der Mensch? – Menschliches Leben« mischt sich der ontologische Aspekt des Menschseins mit moralischen Gesichtspunkten. In Textstellen wie »Die Natur ist ein riesiges System, der Mensch ist der Fehler darin, er zerstört die Natur und die Erde« (Thread 2) geht es um Fragen nach Wert, Sinn und auch Schönheit des menschlichen Lebens. Die Bewertung kann negativ (»der mensch ist wie ein krebsgeschwür in einem gesunden körper«, Thread
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12174) oder positiv ausfallen (»der Mensch ist von grund auf erst mal etwas sehr gutes«, Thread 9873); es gibt jedoch nur wenige Beiträge, die Bewertung an sich in Frage stellen. Die folgende Äußerung könnte als ein solcher Versuch angesehen werden, da erkennbar mit dem Stilmittel Sarkasmus gearbeitet wird: »der materialwert eines menschen liegt circa bei 7,50 euro. also wertlos würde ich ihn nicht nennen. eher billig.« (Thread 10215)
Diese Textstelle lässt sich auch im Sinne einer strategischen Themenwahl interpretieren, d.h. als ein Versuch, monetäre Größen als Bewertungskriterium für menschliches Leben einzuführen. Das Bedürfnis, Leben nicht nur als nüchternen Fakt zu betrachten (»damals, als sich unter hohem druck und großer energieeinwirkung vier kleine aminosäuren verbanden, und der moment geboren ward, an welchem das erste mal leben entstand... «, Thread 9232), sondern mit Bewertungen aufzuladen und somit ›Sinngebung‹ zu betreiben, wird auch dort deutlich, wo der Mensch definiert wird als »wohl die grausamste Bestie auf diesem Planeten« (Thread 8003), »der größte Fehler der Evolution« (Thread 8315), »eines der größten Erfolgsmodelle der Evolution« (Thread 8315), »eine Marionette seiner Gene – auch seines angeborenen Forschertriebes« (Thread 8899) oder auch als »ein Ebenbild Gottes« (Thread 5811). Insgesamt ergibt die Kategorie »Subjekt«, dass grundlegende Menschenbilder zur Disposition stehen. Die Grenzziehungen zwischen dem, was fraglos als menschlich gelten kann, und dem, was nicht dazu gehören soll, erfolgen nach unterschiedlichen Klassifikations- und Bewertungsmustern. Dabei werden uralte Mythen über die kosmische Ordnung ebenso herangezogen wie der moderne Mythos ›Wissenschaft‹. Des Weiteren scheint für alltagsnahe Auseinandersetzungen die Auseinandersetzung mit der Elternrolle typisch zu sein, dem Archetypus des alltäglichen Rollenmusters. Außerdem zeigt sich die alltagstypische Neigung, menschliches Leben normativer Bewertung unterziehen und mit ›Sinn‹ versehen zu wollen. Bei der Diskussion um die Gen- und Reproduktionsmedizin werden nicht nur technologische, sondern auch ethisch-moralische Fragen relevant. Insofern ist es nicht weiter erstaunlich, dass das untersuchte Material die Kategorie »Ethik« ergibt. Auffällig ist jedoch, dass die entsprechenden Fundstellen nur eine sehr beschränkte – und insofern für das Diskursereignis charakteristische – Auswahl aus der Vielzahl möglicher ethischer Gesichtspunkte abbilden. Unter der Überschrift »Was darf der Mensch? – Moralisches Handeln« wird auf reale oder konstruierte Extremsituationen Bezug genommen, in denen es um Entscheidungen über 231
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Leben und Tod geht. Die beiden anderen Themen »Ethische Werte« und »Reflexion über Ethik« beinhalten auf abstrakterer Ebene Äußerungen, die auf Bezugssysteme (wie etwa Freiheit und Gerechtigkeit oder auch Religion bzw. ›Wertepluralität‹) verweisen, mit denen moralische Entscheidungen begründet werden. Unter den vielen denkbaren »Ethischen Werten« werden bezeichnenderweise nur die Aspekte »Freiheit« und »Gerechtigkeit« angesprochen, die oft in einer Art Abwägung zusammen auftreten: »Aber bedauerlicherweise scheint die Freiheit und der Wohlstand einiger das Leid anderer zu rechtfertigen.« (Thread 6143)
Geht es um »Reflexion über Ethik«, werden die Grundannahmen ethischer Argumentation prinzipiell in Frage gestellt. Während sich einige Beiträge mit Kritik an Institutionen wie dem Ethikrat begnügen und andere Textstellen die Wertepluralität und den damit verbundenen Relativismus hervorheben, ist in weiteren Äußerungen das Bemühen zu erkennen, das vorgegebene Thema »Bioethik« grundsätzlich zu hinterfragen: »Dieser ganze Quatsch mit der Ethik versucht doch nur zu rechtfertigen, was sowieso nicht passieren wird, weil es ökonomisch unsinnig, evolutionär gefährlich und höchstens mit Gefühlsduselei und diesem verlogenen ›Gutmenschentum‹ zu rechtfertigen ist. Fair ist, das zu tun, was dem Menschen hilft. Nicht das, was irgendwelche Religionsheinis, Bedenkenträger oder Moralisten gerne hätten, um ihr krankes Seelchen zu pinseln. Fair ist, einem Menschen Leiden zu ersparen.« (Thread 4242)
In dieser Fundstelle findet sich eine Konstruktion von Gegensätzen, die wiederum als Versuch, diskursiv Grenzen zu ziehen, gelesen werden kann. Die ethische Argumentation wird als »Quatsch« abgetan. Als nicht zu akzeptierende ethische Legitimationsquellen werden »Gefühlsduselei« und »Gutmenschentum« genannt. Erkennbar ist die Ablehnung von Diskurspositionen, die mit dem Verweis auf Gefühle argumentieren; dagegen wird eine objektiv-rationalistische Sichtweise bevorzugt. Des Weiteren werden ethische Autoritäten als »Religionsheinis, Bedenkenträger oder Moralisten« diskreditiert. Doch welches Klassifikationsmuster schlägt die Äußerung selbst für die Bewertung von richtig und falsch, gut und böse vor? Als Kontrastfolie zum »verlogenen ›Gutmenschentum‹« findet man die Ökonomie, die Evolution und, durch Wiederholung hervorgehoben, den individuellen Nutzen. Der Verweis, dass es »fair« sei, »Leiden zu ersparen«, lässt eine bestimmte Lehrmeinung in232
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nerhalb des ethischen Spezialdiskurses, nämlich den Utilitarismus anklingen. Gearbeitet wird mit einer Kombination von spezialdiskursiven Versatzstücken (»ökonomisch unsinnig, evolutionär gefährlich«); dabei werden kleinste Bruchstücke aus komplexen Wissensgebieten verwendet. Während dies in wissenschaftlichen Diskussionen nicht hingenommen würde, erscheint im Kontext eines Internetforums die Verwendung derart selektiv-kombinatorischen Wissens als unproblematisch, darf doch davon ausgegangen werden, dass andere User in der Lage sind, die verwendeten Wissenselemente mit Hilfe ihres Hintergrundwissens angemessen zu verknüpfen. Als Ganzes betrachtet, wirkt die Formulierung sinnvoll und die abgesteckte Position klar, nicht zuletzt durch die polemische Abgrenzung von vermeintlichen Gegnern. Jedoch wäre dieselbe Äußerung in alltagsferneren, stärker formalisierten Kontexten (Fachdiskussion, Zeitungsartikel, Fernsehinterview etc.) nicht akzeptabel. Auch auf inhaltlicher Ebene erweist sich die Textstelle als Versuch diskursiver Grenzziehung: Gemeinsamer Nenner der hier kombinierten Elemente (ökonomisch, evolutionär, individuell) ist die Orientierung am Nutzen. Ob etwas ökonomisch sinnvoll ist oder nicht, lässt sich – so wird impliziert – durch eine monetäre Kosten-Nutzen-Rechnung herausfinden. Was unter »evolutionär gefährlich« zu verstehen ist, wird zwar nicht näher erklärt. Wenn man aber berücksichtigt, dass in einer vulgarisierten Form der Evolutionstheorie die Geschichte der menschlichen Spezies als eine Höherentwicklung betrachtet wird, hätte man das fehlende Puzzleteil gefunden: Der evolutionäre Nutzen läge im genetischen Fortschritt – umgekehrt würde suggeriert: ›Degeneration‹ ist gefährlich. Die verwendeten Beispiele für den individuellen Nutzen (»Fair ist, das tun, was dem Menschen hilft« und »einem Menschen Leiden zu ersparen«) beziehen sich ausschließlich auf den Menschen als Einzelwesen. Man hätte auch die sprachlichen Wendungen »die Menschen« oder gar »die Menschheit« verwenden können, jedoch ergibt es diskurstaktisch mehr Sinn, auf die individuelle Ebene zu verweisen, denn hier lässt sich mit dem Nutzen-Kriterium überzeugender argumentieren. Mit der beispielhaft ausgedeuteten Äußerung wird die Frage aufgeworfen, ob die Kombination von vulgarisierter Evolutionstheorie, Ökonomie und populär-utilitaristischer Ethik möglicherweise für eine spezifisch moderne Subjektvorstellung kennzeichnend ist. Es wird ein ›Raum des Sagbaren‹ umrissen, der ethisch-moralische Argumentation nur auf der Basis von Nutzenkalkulation bzw. eines ›evolutionären Prinzips‹ zulässt. Als legitim dargestellt werden der individuelle Nutzen (Eigennutz), der monetäre Nutzen (auf volkswirtschaftlicher Ebene) und schließlich der Nutzen für die menschliche Gattung. Dagegen bleiben Gefühle ebenso ausge-
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schlossen wie ethische Ansätze, die von nicht verhandelbaren Grundwerten und -rechten ausgehen. Schließlich geht es in dem untersuchten Material auffallend häufig um »Macht«, in anderen Worten, um das Gesellschaftssystem, das als Handlungsrahmen und zugleich Kontrollprinzip thematisiert wird. Unter dem Thema »Staat/Politik« wird der Akzent auf institutionalisierte Macht gelegt, auf Entscheidungen, die im politischen System verortet werden können. Übereinstimmend wird insbesondere die Forschungspolitik als eine Machtfrage behandelt; mehrheitlich werden unter Verweis auf unterschiedliche Machtinstanzen, »die Politiker« oder »die Wissenschaft«, die Grenzen der Forschung thematisiert. Zumeist aber wird an die eigene Verantwortung appelliert: »Wer will einem die Forschungsfreiheit nehmen? Irgendwie sind alle Menschen in Staaten sortiert. Momentan nach geographischen Richtlinien. Innerhalb dieser Staaten kann der Inhaber der Macht Forschung verbieten, aber es wird immer Raum geben, woanders.« (Thread 19)
Die Befürworter von Forschungsfreiheit machen auch auf »Einschränkungen« aufmerksam, wie etwa das Prinzip ›nihil nocere‹, das sie offenbar für akzeptabel halten: »Wieso soll es Einschränkungen in der Forschung geben, solange keine Menschen zu Schaden kommen?« (Thread 7452)
Des Weiteren geht es um »Gesetzgebung/Rechtsprechung«; an dieser Stelle tritt der Staat eher als übermächtiger Zwangsapparat in Erscheinung und nur selten als soziale, schützende oder fürsorgliche Instanz. Geht es um Gesetzgebung im engeren Sinne, fällt auf, dass die Positionen stark polarisiert sind. Einerseits werden Verbote dezidiert gefordert, andererseits aber auch entschieden abgelehnt: »muss die eigenverantwortlichkeit durch richterliche beschlüsse reglementiert werden […]?« (Thread 9634)
Ein anderer, häufig thematisierter Aspekt ist »Medienmacht/Information«; hier findet man Textstellen, welche die Massenmedien als Trendsetter öffentlicher Debatten oder Instrumente der Manipulation durch Interessenverbände ansehen: »Warum werden Ereignisse erst zu Ereignissen, wenn sie durch die Medien reflektiert werden?« (Thread 13499)
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An anderer Stelle heißt es: »Warum wird in Deutschland zum Thema Umweltschutz und Biotechnologie eigentlich so gezielt Desinformation betrieben? Wenn man sich nämlich etwas tiefer mit der Thematik auseinandersetzt, wird man feststellen können, wie stark unsere Gesellschaft durch gezielte Informationen (ob wahr oder gelogen) beeinflusst wird! « (Thread 4675)
In weiteren Beiträgen geht es darum, dass die richtige Auswahl der Medien wichtig sei, um sich ein realistisches Bild über Gentechnik und Bioethik zu machen. »Na ja, durch Genmanipulation werden wir ganz bestimmt nicht unbemerkt beeinflusst - aber von Gesellschaft, Staat und Medien mit Sicherheit...« (Thread 4487)
Auch der Aspekt »Ökonomie/Geld« wird ins Spiel gebracht. In der großen Mehrheit der Beiträge, die das Machtmittel Geld thematisieren, wird Kritik am Kapitalismus bzw. an der fortschreitenden Ökonomisierung geübt. Von zehn entsprechend kategorisierten Äußerungen sind neun kritisch und einer provozierend die Marktgesetze bejahend. »Der Mensch hantiert aus Profitgier mit den elementaren Grundlagen unseres Lebens herum, ohne die Auswirkungen auch nur abschätzen geschweige denn kontrollieren zu können.« (Thread 16075)
Eher wirtschaftsethisch wird so argumentiert: »wie kann man es ändern, dass immer nur der wirtschaftliche erfolg im vordergrund steht, aber nicht die moral und die menschen, die leiden??« (Thread 7212)
Mehrheitlich finden sich Textstellen, welche die Interessen der Mächtigen und deren Herrschaft kritisch sehen: »Geld regiert die Welt. Nichts zählt so viel wie der Profit, und der Mensch und seine Würde treten in den Hintergrund.« (Thread 3773)
Nicht zuletzt tauchen unter der Überschrift »Gesellschaft/sozialer Druck« Problematisierungen des gesellschaftlichen Umgangs mit Abweichung bzw. Behinderung auf:
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DISKURS/DISKURSIVIERUNGEN
»Warum werden behinderte Menschen nicht als ›anders normale‹ Menschen akzeptiert?« (Thread 5234) »Was ist die Norm? Wer ist normal? Was ist normal? - Sind nur die Mitläufer normal?« (Thread 15612)
Als weiterer Topos lässt sich das Streben nach einer ›besseren‹ Gesellschaft erkennen. Es werden verschiedene Gesellschaftsbilder entworfen, in denen Gemeinschaftlichkeit und ethische Werte vorherrschen, dagegen Grenzen und soziale Zwänge verschwunden sind. Diese Utopien dienen der Kritik an der Gegenwartsgesellschaft als Kontrastfolien: »Bereits jetzt wird in unserer Gesellschaft selektiert: versicherte Mitglieder der Krankenkassen. Es fängt an mit dem Versicherungswesen bzw. Krankenkassen. Private Kassen versichern z.B. nur junge, gesunde Mitglieder, gesetzliche Kassen müssen solidarisch kranke Mitglieder versorgen. Warum nicht die privaten Kassen auch? Zweiklassenmedizin? Warum nicht alles auf eine Grundebene stellen und die Versorgung stufenweise aufbauen? Leistungen, Zusatzversorgungen etc. Gibt es bessere Menschen oder die, die nur mehr Geld haben, um sich eine gute medizinische Versorgung leisten zu können?« (Thread 8785)
Gleichzeitig gibt es Beiträge, die nicht direkt die ›Verbesserung‹ der Gesellschaft einfordern, sondern die Einzigartigkeit des Individuums hervorheben: »die moral stellt wohl den gesellschaftspiegel da. ich lebe nicht nach der moral. ich lebe, wie ich bin. ich bin nicht auf dieser welt, damit die anderen mich so haben, wie sich mich haben wollen. die moral, was schreibt sie genau vor? was erwartet sie von einem?« (Thread 5433)
Diese Äußerung ist insofern typisch für das untersuchte Forum, als sie darauf abhebt, dass das Individuum Machtverhältnissen unterworfen ist, die es nur sehr begrenzt aktiv gestalten kann.
Empirischer Ertrag III: Vielfältige Wissensbestände – zahlreiche Wissensformen Eine weitere Ebene der formalen Diskursordnung ist unmittelbar für die Wissenssoziologie von Bedeutung. In dem untersuchten Diskursereignis lässt sich ein breites Spektrum von wissensrelevanten Anknüpfungen auffinden, für deren Strukturierung die beiden Kategorien »Wissensbestände« und »Wissensformen« gebildet wurden. 236
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Unter »Wissensbestände« fallen die Fundstellen, die spezielles Wissen zur Legitimierung eigener Positionen einsetzen. Da es sich um alltagsnahe Äußerungen handelt, sind die Formulierungen, die an etablierte Wissenschaftsdisziplinen (z.B. Biologie, Medizin, Ökonomie) anknüpfen, nicht immer ›originalgetreu‹; eher findet man Versatzstücke dieser Art: »Grundgesetz der Biologie: Das Ganze ist immer mehr als die Summe seiner Teile. – Denn das Ganze ergibt sich immer auch aus synergistischen Effekten im Zusammenwirken der einzelnen Komponenten.« (Thread 11403)
Zudem stammen viele Wissensbestände typischerweise aus den Massenmedien oder der Literatur, wie dieses Beispiel: »Hast du die Schmerzen gelindert je des Beladenen? Hast du die Tränen gestillet je des Geängsteten? ... Hier sitze ich, forme Menschen nach meinem Bilde, ein Geschlecht, das mir gleich sei, zu weinen, zu leiden, zu genießen und zu freuen sich und dein nicht zu achten wie ich!« (Thread 10120)
Der Unterschied zu einer wissenschaftsorientierten Stellungnahme sticht sofort ins Auge. Dennoch ist es nicht ganz abwegig, auf Goethes Gedicht »Prometheus« Bezug zu nehmen, wenn es um die Biotechnologie geht. Überhaupt ist bemerkenswert, wie vielfältig die eingebrachten Wissensbestände sind. Es werden Forderungen zum Schutz des ungeborenen Lebens oder für liberalere Abtreibungsgesetze formuliert, gesellschaftliche Zukunftsentwürfe diskutiert, Schuldige für die niedrigen Wachstumsraten der deutschen Wirtschaft gesucht etc. – die überaus breite Themenpalette kann hier nicht einmal ansatzweise wiedergegeben werden. Welche Wissensbereiche verwendet werden, um sich gegenüber konkurrierenden Beiträgen durchzusetzen, ist nicht zuletzt Ausdruck einer strategischen Wahl; immerhin haben die User ein Minimum an Ressourcen für das Verfassen ihrer Beiträge investiert. Daher erscheint es plausibel, dass nur solche Wissensbestände verwendet werden, denen ausreichend Überzeugungskraft zugeschrieben wird. Angesichts des Themas »Bioethik« könnte man eine Dominanz der (Natur-)Wissenschaften erwarten. Dies ist aber eindeutig nicht der Fall. Vielmehr nehmen Wissenselemente aus Religion, Medien, Literatur, sonstiger Fiktion und Metaphysik einen ebenso bedeutenden Platz ein. Geht es der Kategorie »Wissensbestände« darum, auf welche Gebiete sich die Äußerungen beziehen, erfasst die Kategorie »Wissensformen« die Art und Weise, in der Wissen eingebracht wird. Zum einen lassen sich die »Wissensformen« nach der »Verlässlichkeit von Wissen« 237
DISKURS/DISKURSIVIERUNGEN
differenzieren, d.h. nach dem Grad an Gewissheit, den die Äußerungen zu erkennen geben. Hier steht das »Nicht-Wissen« neben dem »unsicheren Wissen« und der »Gewissheit«. Die thematische Rahmung der Onlineplattform, der explizite Appell, Fragen zur Bioethik zu formulieren, hat sicherlich dazu motiviert, Beiträge mit Nichtwissen und unsicherem Wissen – meist in Frageform – einzugeben. Auffallend ist, dass dennoch unsicheres Wissen prinzipiell eine schwächere Position inne zu haben scheint als die »Gewissheit«, auf welcher Grundlage auch immer diese beruhen mag. Besonders interessant sind in diesem Zusammenhang die Bemühungen, Fragen anderer User eindeutig zu beantworten und Zweifel auszuräumen. So erhält die Frage »Kann die Krankheit Diabetes geheilt werden […]?« diese Antwort: »Zellulare Medizin ist die Lösung. Krankheiten kann nur die Natur heilen und keine Chemie.« (Thread 8614)
Zum anderen erweist sich eine Differenzierung zwischen den beiden Erkenntnisstilen wissenschaftliches »Spezialwissen« und nicht wissenschaftliches »Alltagswissen« als sinnvoll. Eigentlich vermutet man Spezialwissen nur in explizit als wissenschaftlich ausgewiesenen Bereichen, z.B. in Hochschulen, Fachpublikationen oder auf Kongressen. Jedoch wird in dem untersuchten Bürgerforum Spezialwissen ebenfalls benutzt, zumeist in radikal vereinfachter, zum Teil aber auch in erstaunlich elaborierter Form. Beim ebenfalls auffällig präsenten Alltagswissen fällt der hohe Stellenwert des subjektiven Erfahrungswissens auf; offensichtlich wird der eigenen ›Betroffenheit‹ eine hohe Legitimität beigemessen. An manchen Stellen gewinnt man allerdings auch den Eindruck, dass Spezialwissen und Alltagswissen miteinander ›kämpfen‹. Für diese Vermutung spricht folgende Dynamik in einem Thread: Nachdem ein User in drei aufeinanderfolgenden Beiträgen zunächst Argumentationen nach dem Muster des Spezialwissens verwendet hatte, ohne dass eine erkennbare Beeinflussung der Diskussion gelungen wäre, bringt er oder sie im vierten Beitrag eigene Erfahrungen ein: »Ich habe leichte Erbschäden und wäre sehr, sehr froh gewesen, hätte man sie vor meiner Geburt beseitigt, weil mir dann ein Leben voller Demütigung und Depressionen erspart geblieben wäre, trotz der ständigen Ermutigung meiner Eltern. […] Ich weiß schon, wovon ich rede!« (Thread 9590)
Dieses Umschwenken weg vom Spezialwissen hin zum subjektivierten Alltagswissen kann als Diskursstrategie gewertet werden. Nachdem spezialdiskursive Wissenselemente nicht als Trumpf ausgespielt werden 238
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können, weil sie offensichtlich von den anderen Usern nicht akzeptiert werden, wird die neue Karte ›subjektive Erfahrung‹ gezogen. Zumindest in diesem Fall erweisen sich die Spielregeln des Alltagswissens als offensichtlich dominant. Für das gesamte Material lässt sich jedoch die Frage nach den Beziehungen zwischen Alltagswissen und Spezialwissen nicht eindeutig beantworten. Beobachtet wurden in den Threads sowohl Widerstreit als auch Kombinationen und friedliche Koexistenz sowie die Abwesenheit einer Wissensform.
Schlussfolgerungen: W i s s e n i m Al l t a g – Al l t a g i m W i s s e n Im Grunde hat die empirische Analyse den Effekt einer Desillusionierung. Romantisierende Vorstellungen vom authentischen, gesellschaftskritischen, ›wilden‹ Alltagswissen müssen aufgegeben werden. Insofern erweist sich die eingangs mit Bezug auf Jürgen Link (2005) ins Spiel gebrachte Skepsis als berechtigt: Die Subjekte sind durchaus bereit, sich herrschenden Machtverhältnissen anzupassen. Und dennoch: Immer wieder blitzt in dem untersuchten Material auch ein »unterworfenes Wissen« (Foucault 1999) auf, das sich der Vereinnahmung widersetzt und Eigensinn beweist. Was die analytische Ebene betrifft, lässt das Datenmaterial es zu, folgende Merkmale des Alltagswissens herauszuarbeiten (vgl. hierzu ausführlicher Waldschmidt et al. 2009: 200ff.). Erstens führt der Überblick über die eingebrachten Wissensbestände zu der Schlussfolgerung, dass es sich bei dem Erkenntnisstil des Alltags um eine sogenannte elementare Wissensform handelt; sie ist wenig spezialisiert und bietet eine Fülle an Wissensbezügen. Zweitens ist, worauf insbesondere die Ethikkonzepte und Machtbegriffe verweisen, im Alltag ein pragmatisches Wissen vonnöten, das Problemlösungen anbieten kann, da alltägliche Lebenssituationen von Handlungsdruck geprägt sind. Aus diesem Grund ist drittens für das Alltagswissen auch nicht die Formallogik, sondern eine Logik des Pragmatismus kennzeichnend: Rezeptwissen ist gefragt, dies illustrieren z.B. die Äußerungen, die sich darum bemühen, Komplexitäten zu reduzieren oder ›Gewissheiten‹, Handlungsempfehlungen etc. einzubringen. Außerdem veranschaulichen die Fundstellen, die biotechnische Verfahren mit traditionellem Handwerk vergleichen, dass die Alltagssprache es sich erlauben kann, mehrdeutig und nicht denotativ zu sein; man findet eine Häufung konnotativer Äußerungen, von Metaphern und bildhaften Vergleichen. Viertens trifft man in allen herausgearbeiteten Kategorien regelmäßig auf Äußerungen, die (auto)-biografische 239
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Schilderungen, Narrationen, ›Alltagsweisheiten‹ und Ratschläge darstellen, d.h. auf typische Figuren des alltagsweltlichen Erkenntnisstils. Fünftens ist – und zwar nicht nur für die Fundstellen der Subjektkategorie – für alltagsweltliches Wissen offenbar tatsächlich eine intensive Subjektivierung charakteristisch: In der untersuchten diskursiven Praxis zeigt sich der hohe Stellenwert des Subjekts zum einen auf der inhaltlichen Ebene, auf der im Grunde die alte philosophische Frage nach dem Wesen des Menschen zentral ist. Zum anderen dokumentiert sich auf der formalen Ebene der Diskursordnung die Subjektivierung im häufigen Gebrauch der Ich-Perspektive, z.B. in den Sprecherpositionen, durch das explizite Einbringen von Gefühlen, wie etwa bei den Diskurskontrollen, und durch den Verweis auf die persönliche Erfahrung, wie im Falle der »leichte[n] Erbschäden«, die im Thread 9590 zur Selbstlegitimierung benutzt werden. Letzteres Beispiel zeigt in prägnanter Weise, dass sechstens das Alltagswissen tendenziell ein ›Jedermanns-Wissen‹ ist und einen geringen Grad an Institutionalisierung aufweist: Das Sagen haben Betroffene, die ein Erleben am ›eigenen Leib‹ bzw. mit ›eigenen Sinnen‹ vorweisen können. Auch ein allgemeines ›Wir‹ hat Begründungskraft, wie die Sprecherpositionen zeigen; ebenfalls überzeugend ist die Kombination von Ich-, Wir- und Fremd-Perspektiven. Wer dagegen ›nur‹ auf einen Expertenstatus rekurrieren kann, sieht sich im Kontext des Alltags eher mit Legitimitätsproblemen konfrontiert. Als Quintessenz lässt sich formulieren: Die in »www.1000 fragen.de« zu Tage tretende Wissensproduktion bestätigt die Begrenztheit eines szientistischen Wissensbegriffs. Somit lassen sich die Zweifel von Nico Stehr (2003: 37) ohne weiteres ausräumen: Keineswegs ist es »verwunderlich«, »dass alltägliches Wissen in modernen Gesellschaften überhaupt überleben kann«; vielmehr gilt: Das Alltagswissen ist höchst lebendig.
Literatur Berger, Peter L./Luckmann, Thomas (2000): Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie, Frankfurt a.M.: Fischer (zuerst: New York 1966). Döring, Nicola (1997): »Kommunikation im Internet: Neun theoretische Ansätze«, in: Bernad Batinic (Hg.), Internet für Psychologen, Göttingen: Hogrefe, S. 267-298. Döring, Nicola (2003): Sozialpsychologie des Internet. Die Bedeutung des Internet für Kommunikationsprozesse, Identitäten, soziale Beziehungen und Gruppen, Göttingen: Hogrefe.
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Elias, Norbert (1978): »Zum Begriff des Alltags«, in: Kurt Hammerich/Michael Klein (Hg.), Materialien zur Soziologie des Alltags, Opladen: Westdeutscher Verlag, S. 22-29. Foucault, Michel (1974): Die Ordnung des Diskurses, München: Carl Hanser. Foucault, Michel (1990): Archäologie des Wissens, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Foucault, Michel (1999): In Verteidigung der Gesellschaft. Vorlesungen am Collège de France (1975-1976), Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Keller, Reiner (2004): Diskursforschung. Eine Einführung für SozialwissenschaftlerInnen, Wiesbaden: VS. Krämer, Sybille (1998): »Das Medium als Spur und als Apparat«, in: Sybille Krämer (Hg.), Medien, Computer, Realität: Wirklichkeitsvorstellungen und neue Medien, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 73-94. Link, Jürgen (2003): »Kulturwissenschaft, Interdiskurs, Kulturrevolution«, in: KultuRRevolution. Zeitschrift für angewandte Diskurstheorie o.Jg., 45/46, S. 10-23. Link, Jürgen (2005): »Warum Diskurse nicht von personalen Subjekten ›ausgehandelt‹ werden. Von der Diskurs- zur Interdiskurstheorie«, in: Reiner Keller et al. (Hg.), Die diskursive Konstruktion von Wirklichkeit: Zum Verhältnis von Wissenssoziologie und Diskursforschung, Konstanz: UVK, S. 77-100. Stehr, Nico (2003): Wissenspolitik. Die Überwachung des Wissens, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Waldschmidt, Anne/Klein, Anne/Tamayo Korte, Miguel (2009): Das Wissen der Leute. Bioethik, Alltag und Macht im Internet. Unter Mitarbeit von Sibel Dalman-Eken, Wiesbaden: VS.
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Me diale » Reinigungsarbe it« . Der Diskurs um die PID in de r ZEIT MALAIKA RÖDEL
In der medialen Berichterstattung über neues biomedizinisches Wissen nehmen die Entwicklungen der (humanen) Gentechnologie einen dominanten Stellenwert ein. Meldungen über die Entschlüsselung des genetischen Codes des Menschen sowie über neue Ergebnisse für die Analyse der DNA im Hinblick auf spezifische Krankheitsbilder finden ihren Weg nicht nur in fachspezifische Publikationen, sondern werden auch in Magazinen, Zeitschriften und Zeitungen vorgestellt und auf Titelseiten platziert.1 Mit den Erfolgen der Humangenetik hat sich ein spezifisches Wissen über die genetische Verfasstheit unseres Körpers und die Funktionsweisen gentechnologischer Anwendungen gebildet. DNA-Analysen zeigen genetische Dispositionen auf oder werden als Vorsorge für mögliche spätere Krankheiten genutzt. Es wird erläutert, wofür die Diagnoseverfahren angewendet werden, wie eine Untersuchung verläuft und welche Nutzen und Risiken mit dieser Anwendung einhergehen. So sind 1
Der Spiegel widmet der Entschlüsselung des menschlichen Genoms im Juni 2000 mit »Entschlüsselt: Der Bauplan des Menschen. Die zweite Schöpfung – Aufbruch ins Biotechzeitalter« (Spiegel 26/2000) ebenso eine Titelseite wie die Times mit »Cracking The Code! (3. Juli 2000). Gentechnologische Neuerungen finden nicht erst seitdem wiederholt ihre Wege in die Printmedien. Populärwissenschaftliche Magazine wie Geokompakt, GEOWissen oder Nature haben Themenhefte zur Genforschung herausgebracht und Qualitätszeitschriften wie bspw. die ZEIT berichten ausführlich über neue Forschungsergebnisse und daran anknüpfende Debatten. In der Reihe Zeitpunkte hat die ZEIT 2001 außerdem ein Themenheft zu »Biomedizin« herausgegeben, in dem gentechnologische Entwicklungen in der Medizin vorgestellt und besprochen werden. 243
DISKURS/DISKURSIVIERUNGEN
neue Wissensbestände entstanden, die nicht nur durch ein spezifisches Wissen über die körperliche Codiertheit und die technologische Anwendung charakterisiert werden können, sondern zudem durch eine öffentliche und medial nachvollziehbare Debatte um die Chancen und Risiken der Technologie geprägt sind. An der Diskussion in den Medien sind neben RedakteurInnen auch ExpertInnen aus den Bereichen der Medizin, des Rechts und der Ethik beteiligt, die ihre Bewertungen der Technologie vorstellen. In meinem Beitrag möchte ich die Spezifika des medialen Diskurses ausleuchten und untersuchen, wie das teils komplexe Wissen um gentechnologische Anwendungen vermittelt wird. Dafür werde ich zuerst Überlegungen zum Verhältnis von Wissensproduktion und Mediendiskurs skizzieren, um im Anschluss den Diskurs um die reproduktionsmedizinische Anwendung der Präimplantationsdiagnostik in der ZEIT als Beispiel einer medialen Vermittlung von Expertenwissen vorzustellen.
Wissensproduktion und Medien Für die Analyse der neuen biomedizinischen Wissensbestände und um die Frage zu klären, wie biomedizinisches Wissen eigentlich generiert und als solches ausgewiesen wird, bieten diskurstheoretische Anschlüsse an Michel Foucault und Bruno Latours Konzept der »Reinigungsarbeit« eine begriffliche Hilfestellung. Beide eignen sich zur theoretischen Rahmung der Prozessierung von Wissen und leuchten unterschiedliche Bereiche und Aspekte der Vermittlung aus. Als einer der prominentesten Vertreter der Akteur-Netzwerk-Theorie (ANT) ist Bruno Latour vor allem durch seine Arbeiten im Feld der Science and Technology Studies bekannt geworden. In seinen Beobachtungen von Forschungsprozessen im Labor sowie in detaillierten Beschreibungen des Umgangs mit (technischen) Artefakten im Alltag, eröffnet Latour seinen LeserInnen eine neue Perspektive: Er beschreibt Forschungsprozesse und Gesellschaft als hybride Netzwerke menschlicher und nicht-menschlicher Akteure, die tradierte Grenzziehungen zwischen Natur/Kultur, Subjekt/Objekt, Menschen/Nicht-Menschen überschreiten (vgl. bspw. Latour/Woolgar 1986; Latour 2002; Latour 2008; Belliger/Krieger 2006). In seinem Essay »Wir sind nie modern gewesen« (Latour 2008) untersucht er die Etablierung und Aufrechterhaltung dieser Dualismen und zeichnet dabei ein widersprüchliches Modell der Moderne. Seine pointierte These, die dem Essay seinen Titel verleiht, leitet Latour daraus ab, dass die Garantien der Moderne, die eine Grenze 244
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zwischen Natur und Kultur, zwischen nicht-menschlichen und menschlichen Wesen vorsehen, nie uneingeschränkt gültig gewesen seien (vgl. Latour 2008: 20). Bruno Latour bietet uns damit eine andere Perspektive an: Anstatt von einer klaren Trennbarkeit der Bereiche auszugehen, untersucht er, welche Praktiken zur Grenzziehung führen und fasst diese als Arbeit der Reinigung zusammen. Der Begriff »Arbeit der Reinigung« benennt jenes Ensemble von Praktiken, die »zwei vollkommen getrennte ontologische Zonen« (Latour 2008: 19) herstellen und damit die Dichotomie zwischen Menschen und Nicht-Menschen etc. überwachen und unterstützen. Während die Reinigungsarbeit die klaren Grenzziehungen zwischen den Bereichen festigt, findet gleichzeitig jedoch auch eine »Arbeit der Übersetzung« statt, die quasi unterhalb der Arbeit der Reinigung verläuft und die Dichotomie zwischen Natur und Kultur um eine dritte zugrunde liegende Ebene erweitert. Die Praktiken der Übersetzung bringen »Hybride, Mischwesen zwischen Natur und Kultur« (ebd.) hervor, die sich weder eindeutig der Natur noch der Kultur zuordnen lassen und das dichotome Ordnungsprinzip der Reinigungsarbeit unterlaufen. So ergibt sich nach Latour ein widersprüchliches Bild der Moderne: Während auf der vertikalen Ebene eine klare Trennung praktiziert wird, entstehen auf der horizontalen Ebene »unterhalb« der Aufteilung Mischwesen, die gerade ihre nicht eindeutige Zuordbarkeit zu einer Sphäre charakterisiert (Latour 2008: 20). Die zugrunde liegenden komplexen Netzwerke, die Latour in der Akteur-Netzwerk-Theorie anhand vieler Beispiele herausgearbeitet hat, werden durch die Arbeit der Reinigung überdeckt und/oder in eine eindeutige Klassifizierung überführt. So ließen sich die neuen biomedizinischen Wissensbestände durchaus als das Ergebnis von Netzwerken beschreiben, in denen eine Vielzahl von Akteuren wie WissenschaftlerInnen, PatientInnen, Gensequenzanalysegeräte, Embryonen, ethische Beratungsgremien, Stammzellen, Versuchstiere etc. zusammentreffen und die Grenze zwischen Natur und Gesellschaft aufgehoben ist. Inwieweit sich eine solche hybride Lesart jedoch in dem Mediendiskurs wiederfinden lässt oder ob dort bereits gereinigte Wissensbestände vorgestellt werden, muss für die verschiedenen Felder der Biomedizin geprüft werden. Bruno Latour entwickelt in seiner Netzwerktheorie mit der »Arbeit der Reinigung« eine begriffliche Rahmung zur Prozessierung biomedizinischen Wissens und beschreibt damit Prozesse der Grenzziehung, die mit einer Zuordnung von Wissen zu spezifischen Feldern einhergehen. Ich möchte vorschlagen, sein Analyseinstrument auch für die Untersuchung des Verhältnisses von Wissen und (Medien-)Diskurs zu nutzen und den Diskurs als die Vermittlungsinstanz zu verstehen, in der das gereinigte Wissen aufbereitet und verbreitet wird. Unter dieser Perspektive 245
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ließe sich untersuchen, inwieweit die Medien in ihrer Aufbereitung des biomedizinischen Wissens selbst aktiv an der Reinigungsarbeit beteiligt sind und ob sich die Grenzziehungen im Mediendiskurs als Instrument der Absicherung von Wissen wiederfinden lassen. Die Verbreitung und Vermittlung von Wissen bildet auch in diskurstheoretischen Arbeiten einen zentralen Ansatzpunkt. Sie schließen (zumeist) an das theoretische Werk von Michel Foucault an, der den Begriff des Diskurses maßgeblich geprägt hat. Foucault geht in seinen Arbeiten der Produktion und Entstehung von Wissen nach und legt den Schwerpunkt auf den Komplex Diskurs, Macht und Wissen. In archäologischen/historischen Analysen zeichnet er nach, wie sich neue Formen des Wissens herausbilden und Subjekte und ihre Körper durchziehen.2 Dabei etabliert er einen Begriff des Diskurses, der Diskurs als die Konstruktion und Vermittlung von Deutungs- und Handlungsmustern beschreibt, die sich im Feld der gesellschaftlichen Praxen, Institutionen und historischen Prozesse ansiedeln (vgl. Bublitz 2003: 50). Im Diskurs bilden sich Gegenstände und Praktiken für das soziale Handeln aus, sodass Diskurse als gegenstandskonstituierende und strukturierende Praktiken verstanden werden können (vgl. Keller 2005). In vielen Diskursanalysen liegt der Fokus auf Publikationen und Beiträgen in den Medien (Printmedien, Fernsehen/Film, Onlineforen/ Internet).3 Dies ist nicht überraschend, wenn man der Argumentation von Fraas/Klemm folgt, nach welcher »die gesellschaftliche Dimension von Diskursen impliziert, dass sie auf Verbreitung und auf Vermittlungsinstanzen angewiesen sind, auf Plattformen sozialen Austauschs, 2
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Michel Foucault untersucht in seinen Arbeiten verschiedene Aspekte des Lebens und der Verwaltung von Lebensprozessen. Er analysiert an Beispielen wie der Entstehung der Klinik, der Schule und des Gefängnisses wie sich Diskurse über Medizin, Ordnung und Disziplin etablieren (vgl. Foucault 1988; 1993; 1994). In seinen späteren Arbeiten bietet er mit den begrifflichen Rahmen der Biopolitik und der Gouvernementalität Analyseinstrumente für die Entwicklungen der Biowissenschaften und damit einhergehenden Normierungsprozessen (vgl. Foucault 1977; 2004). Thomas Lemke hat in seinem Aufsatz »Regierung der Risiken« eindrücklich beschrieben, wie im Rahmen des neuen gentechnologischen Wissens um Krankheitsdipositionen und genetische Veranlagung eine »Regierung des genetischen Risikos« einsetzt, die das Individuum zu einem vernünftigen und vorsorgenden Umgang mit sich selbst anleitet (vgl. Lemke 2000). Er führt an Beispielen wie der Chorea Huntington-Krankheit aus, wie sich das Verhältnis von Krankheitsdispositionen und Verantwortung verschiebt und Krankheitsrisiken vermehrt individualisiert und damit zur Eigenverantwortung werden (vgl. Lemke 2004). Für den Bereich der Gentechnologie sei hier bspw. auf die Arbeiten von Bettina Bock von Wülfingen (2007) sowie Jürgen Gerhards und Mike Steffen Schäfer (2006) verwiesen.
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also auf Medien« (Fraas/Klemm 2005: 4). Die Analyse der Medien bietet Einblick in die Strukturen, die Durchsetzung und gesellschaftliche Relevanz eines Diskurses. Siegfried Jäger legt mit der Methode der kritischen Diskursanalyse einen Schwerpunkt auf das Verhältnis von Diskurs, Wissen und Medien (vgl. Jäger 2004). Für die Aufrechterhaltung und die Entwicklung der Diskurse spielen die (Print-)Medien eine zentrale Rolle und bilden das »Brennglas, das vorhandenes Wissen ›spezifisch‹ bündelt und dieses Wissen an ein Massenpublikum weitergibt« (Jäger 1997: 19). Das Verständnis der Medien in der kritischen Diskursanalyse ist jedoch keines, das von einer reinen Abbildlogik der Medien ausgeht, die wissenschaftliche Diskurse einer breiten Öffentlichkeit zugänglich machen. In ihrer Untersuchung zu »Biomacht und Medien« verweisen Siegfried und Margret Jäger darauf, dass die Printmedien nicht nur einen »verbal-diskursiven Teil des biopolitischen Dispositivs« (Jäger 1997: 306) repräsentieren, sondern auch an der Produktion und Reproduktion des Dispositivs beteiligt sind. Sie betonen, dass die Printmedien eine Diskursebene darstellen, »durch die der Alltagsdiskurs nachhaltig geprägt wird« (Jäger 1997: 5) und in welcher die Themen wissenschaftlicher und politischer Diskurse aufgenommen und aufbereitet werden. Einerseits stellen die Printmedien die wissenschaftliche Debatte vor und öffnen sie für eine öffentliche Diskussion. Sie bereiten schwer zugängliches Spezialwissen in spezifischer Weise auf und transferieren es. Anderseits setzen sie selbst Schwerpunkte, schaffen durch die Berichterstattung diskursive Ereignisse und geben hiermit die Argumentationslinien medial vor (vgl. Jäger 1997: 19). Bei der Vermittlung biomedizinischen Wissens und der Diskussion neuer gentechnologischer Möglichkeiten nehmen die Medien eine Schlüsselrolle ein: Sie bereiten das zum Teil komplexe Wissen spezifisch auf und strukturieren den Diskurs. Die Berichterstattung über die humane Gentechnologie ist zudem durch die Präsenz von ExpertInnen aus den Bereichen der humanen Genforschung, der Medizin, des Rechts und der Ethik geprägt, die zu Entwicklungen Stellungen nehmen, Forschungsergebnisse vorstellen oder Chancen und Risiken diskutieren. Sigrid Graumann hat in ihrer Untersuchung über »Die Rolle der Medien in der öffentlichen Debatte zur Biomedizin« (Graumann 2003) aufgezeigt, dass die Diskussion um Neuerungen in der Biomedizin nicht auf wissenschaftliche Fachzeitschriften begrenzt ist, sondern vielmehr direkt in deutschen Qualitätszeitschriften wie der ZEIT, der FR, der FAZ, der SZ und dem Spiegel nachvollzogen werden könne und somit die »akademische Debatte […] im O-Ton in den öffentlichen Medien geführt« (Graumann 2003: 220) wurde. Dies wirft die Frage auf, wie das Spezi-
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DISKURS/DISKURSIVIERUNGEN
alwissen in dem Diskurs vermittelt wird und welche Aspekte eine besondere Relevanz erhalten und damit die Debatte prägen.
Die Präimplantationsdiagnostik (PID) In den letzten Jahren konzentrieren sich Debatten über die humane Gentechnologie immer wieder auf einzelne Anwendungen, anhand derer nahezu exemplarisch die Entwicklungen der Technologie diskutiert werden. Bei Fragen nach dem Status des Embryos, der Abwägung zwischen Heilung oder Instrumentalisierung des Menschen und den Möglichkeiten der Forschung stand neben der Stammzellforschung die Präimplantationsdiagnostik (PID) im Zentrum der Diskussion. Sie wird seit ihrer Entwicklung Ende der 1980er Jahre durch den Londoner Humangenetiker Handyside ambivalent diskutiert und zählt zu einem der umstrittensten Verfahren der humanen Gentechnologie. Die PID ist ein Verfahren, das bei künstlichen Befruchtungen eingesetzt werden kann, um die befruchteten Eizellen vor dem Transfer in den Uterus der Frau auf genetische oder chromosomale Defekte zu untersuchen oder auf spezifische Eigenschaften hin zu überprüfen. So kann beispielsweise das Geschlecht des Kindes oder die Veranlagung zu Brustkrebs festgestellt werden oder ebenso überprüft werden, ob der Embryo als möglicher Spender für ein Geschwisterkind infrage kommt. Erst nach diesem Check werden Eizellen ausgewählt und in den Uterus der Frau transferiert (vgl. Kollek 2002: 31). Die PID verbindet die genetische Diagnose, wie sie im Rahmen der Schwangerschaft beispielsweise mit Hilfe einer Fruchtwasseruntersuchung vorgenommen wird, mit der In-Vitro-Fertilisation und bildet damit eine der Schlüsseltechnologien im Bereich der Reproduktionsmedizin. Sarah Franklin betont in »Born and Made« (2006) die zentrale Position der PID in der gesellschaftlichen Auseinandersetzung um Chancen und Risiken der Humangenetik, da sie eine gezielte Auswahl und Selektion von Merkmalen erlaubt und damit die Technologie bildet, die mit der Metapher der »designer babies« verbunden ist. Neben dem selektiven Charakter der PID wird in der medizinischen Presse (z.B. Deutsches Ärzteblatt) vor allem die Verbesserung der Erfolgsquoten einer IVF mit Hilfe von PID diskutiert. Hier werden vor allem zwei Effekte der PID betont, die sich gegenseitig ergänzen: Erstens soll die Quote der Aborte durch den Ausschluss von befruchteten Eizellen mit genetischen oder chromosomalen Anomalien verringert werden, da für einen Großteil der Aborte eben jene Anomalien als Verursacher gelten. Zweitens soll durch die ›Qualitätskontrolle‹ der Eizellen die Zahl der zu übertragenden Eizellen reduziert werden, um Mehrlingsschwangerschaften zu 248
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vermeiden, ohne dabei zu riskieren, dass die Erfolgsquote der IVF sinkt (Sütterlin/Hoßmann 2007). Da die PID darauf zielt, nur jene Embryonen für die künstliche Befruchtung zu nutzen, die die Qualitätskontrolle bestanden haben, steht die Technik in Deutschland im Widerspruch mit dem Embryonenschutzgesetz (ESchG), das verbietet, Embryonen zu anderen Zwecken als der Befruchtung herzustellen. Bis auf eine Ausnahme, die Polkörperdiagnostik, auf die ich an späterer Stelle noch zurückkommen werde, kann sie daher in Deutschland nicht legal angewendet werden, und – dies ist vermutlich einer der signifikantesten Unterschiede zu anderen Bereichen der humanen Gentechnologie – dadurch nicht ohne eine Gesetzesänderung in die Forschung bzw. den reproduktionsmedizinischen Alltag einfließen.4 Vor der Anwendbarkeit steht die Auseinandersetzung um die Legitimität der Technologie, um ihren Nutzen und ihre Risiken. Die Diskussion um den ethischen und rechtlichen Status des Embryos fand und findet also nicht zufällig gerade anhand der PID statt, gleiches gilt sicherlich auch für die Stammzellenforschung. Die Medien haben diese Debatten intensiv begleitet und nehmen in der Vermittlung der verschiedenen Positionen eine wichtige Rolle ein. Ich möchte im Folgenden den Diskurs um die PID in der ZEIT als ein Beispiel für die mediale Vermittlung von Expertenwissen vorstellen und daraufhin untersuchen, wie das teils komplexe Wissen um die humane Gentechnologie in den Printmedien aufbereitet wird.
Die PID in der ZEIT In der deutschen Mediendebatte hat die ZEIT sich erfolgreich bemüht, Diskussionen im Feld der humanen Gentechnologie zu besetzen und anzustoßen. Das bekannteste Beispiel bildet hier sicherlich die HabermasSloterdijk-Debatte, die 1999 in der ZEIT begonnen und weitestgehend ausgetragen wurde. Die ZEIT berichtet über diese Auseinandersetzung hinaus und mit einer weiten thematischen Bandbreite über Entwicklungen und Diskussionen im Feld der Biowissenschaften. In der Debatte um die PID in der ZEIT melden sich neben festangestellten und freien Redakteuren der Zeitung eine Vielzahl von WissenschaftlerInnen, MedizinerInnen und PolitikerInnen zu Wort, die durch ihren Tätigkeitsbereich und ihr Fachwissen als ExpertInnen ausgewiesen sind (vgl. Meu4
Dass nicht so sehr ethische Skrupel, sondern die Gesetzeslage eine Durchsetzung der Technologie in Deutschland verhindert, zeigt sich an der Polkörperdiagnostik, die in deutschen Reproduktionszentren bereits eingesetzt wird. 249
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ser/Nagel 2002). Mit Interviews und Berichten über die Entwicklungen der PID deckt die ZEIT ein breites Spektrum an Argumenten und Akteuren ab und ermöglicht somit, genauer zu untersuchen, wie Wissen über die Anwendung transportiert wird, welches Wissen in den öffentlichen Diskurs hineingetragen und sichtbar wird und welche Akteure Erwähnung finden. Ich möchte im Folgenden zuerst einen knappen Überblick über die Themen geben, die in der Diskussion in der ZEIT eine Rolle spielen, um im Anschluss daran am Beispiel der Vermittlung des medizinischen Wissens genauer zu untersuchen, wie die konkrete Bewertung und Aushandlung dieses Wissen vorgenommen wird.
Das Themenspektrum In dem Zeitrahmen meiner Untersuchung von 2000 bis 2005 sind 72 Artikel in der ZEIT erschienen, in denen die Präimplantationsdiagnostik thematisiert wird. Zwar variieren die Artikel in Form, Länge und inhaltlicher Schwerpunktsetzung, es lassen sich aber fünf Diskursstränge als inhaltliche Rahmensetzung der ZEIT ausmachen. Ein Schwerpunkt der ZEIT liegt in diesem Zeitraum auf der Auseinandersetzung um den ethischen und rechtlichen Status des Embryos und damit einhergehenden rechtlichen Fragen zum Verhältnis von Embryonenschutzgesetz (ESchG), Menschenwürde und Forschungsfreiheit. Die Auseinandersetzung um den Beginn des menschlichen Lebens und den Beginn des rechtlichen Schutzes des Lebens verläuft entlang der Frage, ob ein Embryo bereits als Mensch anerkannt wird oder ihm zwar die Potenzialität des Menschwerdens zukommt, er aber noch nicht den unteilbaren Schutz der Menschenwürde genießt. Letztere Position würde eine Öffnung des ESchG zulassen, da sie einen Konflikt zum Artikel 1 des Grundgesetzes umgehen würde. Neben den ZEIT-AutorInnen melden sich in diesem Diskursstrang Rechtwissenschaftler und Philosophen wie Reinhard Merkel, Jürgen Habermas und Robert Spaemann zu Wort. Der zweite Diskursstrang lenkt die Perspektive auf Politik und Wissenschaftspolitik. In diesem Strang verbinden sich zwei Bereiche. Zum einen werden ökonomische Argumente für oder wider die PID gewichtet und mit Blick auf den Ausbau und die Sicherung von Deutschland als Wissenschaftsstandort angeführt. Es werden neue Forschungsbereiche beschrieben, aber auch Forschungshindernisse benannt: insbesondere der Embryonenschutz wird mit Verweis auf internationale Konkurrenzfähigkeit und der Sicherung hochqualifizierter Arbeitsplätze im Inland als Forschungshindernis dargestellt. Zum anderen finden sich ebenfalls Bezüge und Beurteilungen der rechtlichen Situation und des Status des EschG, da diese für die Auseinandersetzungen um die PID auf der poli250
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tischen Ebene relevant sind. Schließlich bildet der Bundestag das rechtsgebende Gremium, in welchem Mehrheiten für oder gegen eine Änderung des EschG ausgehandelt werden müssen. Im dritten Themenfeld, der Expertenberatung, werden die eingerichteten Beratungsgremien und ihre demokratische Legitimation diskutiert sowie Entscheidungen der Enquetekommission und des Ethikrates vorgestellt. Dieses Themenfeld ist eng mit den beiden ersten Diskurssträngen verknüpft, da die Mitglieder beider Gremien auch als ExpertInnen für die rechtliche und ethische Einschätzung der PID gelten. Direkt zu Wort kommen als VertreterInnen des Ethikrates Regine Kollek, Wolfgang van den Daele und Volker Gerhardt sowie Margot von Renesse für die Enquetekommission. Im vierten Diskursstrang stehen Fragen nach den wissenschaftlichen Verfahren und medizinischen Anwendungen im Fokus. In diesen Artikeln werden neue technische Anwendungen erläutert und Verfahrenstechniken und -abläufe präsentiert. WissenschaftlerInnen kommen in Artikeln oder Interviews selbst zu Wort, stellen ihre Arbeitsbereiche in der Humangenetik vor und formulieren ihre Erwartungen an die Technologie. Durch ausländische Mediziner werden zudem Praxismodelle der PID im Ausland vorgestellt. Der Blick auf die AnwenderInnen, und damit auf diejenigen Frauen und Paare, die sich zu einer Durchführung der PID entschlossen haben, bildet den letzten der thematischen Schwerpunkte. In diesen Artikeln werden die subjektiven Hintergründe und Wünsche vorgestellt, die zu der Entscheidung für die PID geführt haben und es wird ebenfalls aus der Perspektive der AnwenderInnen der Prozess von der Entscheidung bis zur konkreten Anwendung beschrieben. Die fünf Diskursstränge zeigen die thematische Bandbreite der Berichterstattung an und laufen entlang zentraler Diskussionslinien biomedizinischer Debatten, beispielsweise bildet der Status der Embryos ebenfalls einen zentralen Streitpunkt in der Diskussion um die Stammzellforschung. Die ZEIT hat neben den eigenen Redakteuren externe AutorInnen und InterviewpartnerInnen angefragt, die dabei entweder über ihre Funktion (bspw. als Mitglied des Ethikrates oder als Justizministerin) oder aber über ihren Tätigkeitsbereich (bspw. als HumangenetikerIn, ReproduktionsmedizinerIn oder PhilosophieprofessorIn) als ExpertInnen gekennzeichnet werden. Mit der Wahl der ExpertInnen versucht die ZEIT, heterogene Positionen der Debatte zu repräsentieren und sowohl zustimmende als auch kritische Positionen gegenüber einer Einführung der PID vorzustellen. Gerade auf der Ebene der ExpertInnen in der bioethischen Diskussion und bei der Vorstellung der Akteure der politi251
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schen Ebene werden unterschiedliche Positionen und Personen gegenübergestellt. Diese heterogene Auseinandersetzung der ExpertInnen nivelliert sich allerdings im Bereich der medizinischen Verfahren und Anwendungen. Hier treten ReproduktionsmedizinerInnen und HumangenetikerInnen als ExpertInnen auf, die bis auf eine Ausnahme eine zustimmende Position zur PID einnehmen. Ähnliches gilt für die Beispiele der Anwenderinnen. Legt man den Fokus auf die konkrete Anwendung der Technologie, und damit auf die Beschreibung der Verfahrensweise der PID, so erfahren der Leser oder die Leserin der ZEIT am meisten in Artikeln, in denen die technologische Anwendung erklärt wird oder die Erfahrungen von Frauen und Paaren beschrieben werden, die eine PID im Ausland vorgenommen haben. Diese Artikel prägen damit das Verständnis von der Technologie und ihrer Wirkungsweise. Interessanterweise sind dies jedoch zugleich die beiden Diskursstränge, in denen die Bedürfnisse der Anwenderinnen sowie die positiven Möglichkeiten der PID im Vordergrund stehen. Im Folgenden möchte ich anhand ausgewählter Artikel untersuchen, wie die PID beschrieben wird und im Anschluss daran fragen, welche Form des Wissens über die PID generiert wird.
Anwendungsverfahren: brummende Kästen und bunte Kurven In Artikeln und Interviews mit ReproduktionsmedizinerInnen wird die PID als hochkompliziertes, aber effizientes Verfahren vorgestellt, das in engen Zeitfenstern stattfinden muss. Mit Hilfe grafischer Darstellungen und einer Beschreibung der einzelnen Schritte wird erläutert, wie diese genetische Untersuchung durchgeführt wird. Ein Beispiel hierfür bietet der Artikel »Das ethisch geprüfte Ei«, der 2004 erschienen ist. Die Autorin Angelika Sauerer stellt darin die Polkörperdiagnostik – das Verfahren der PID, das in Deutschland angewendet werden kann – ausführlich vor. Bei der Polkörperdiagnostik wird die Eizelle vor der Verschmelzung von Eizelle und Spermium untersucht, sie zählt daher im Sinne des ESchG noch nicht als Embryo. Die Polkörper sind Abschnürungen aus der Eizelle und entstehen während der Reifeteilung, werden aber für die spätere Entwicklung des Embryos nicht benötigt. Sie enthalten eine Kopie des Erbgutes der Eizelle und eignen sich daher nur für eine Untersuchung der Erbanlagen der biologischen Mutter. Wie nach der Entnahme der Polkörper die Untersuchung vorgenommen wird, erfahren wir in dem Artikel: 252
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»Im Fall von Beate Weber war es am frühen Morgen der Biologe Bernd Paulmann, der jeder Eizelle – pro Entnahme sind es meist etwa zehn – unter dem angewärmten Mikroskop ein Spermium injizierte. Danach entwickelten sich die Eizellen im Brutschrank. Wieder unter dem Mikroskop entnahm ihnen Paulmann die ersten Polkörperchen, auf die schon das Laborteam wartete. Gegen 13 Uhr begann es damit, die DNA der Polkörper zu vervielfältigen (durch die Polymerase-Kettenreaktion PCR) und aufzutrennen. Danach wurden die Proben im ›Genetic Analyzer‹, einem großen, grauen Kasten, unter leisem Brummen ›gelesen‹. Der Computer glich die Daten mit dem Profil der Mutter ab: Grüne, rote, blaue Kurven erschienen auf dem Bildschirm und machten die in den Chromosomen verborgene Mutation sichtbar. Gegen 20 Uhr lagen die ersten Ergebnisse vor. Die zweiten Polkörper entnahm Bernd Paulmann gegen 21 Uhr. Es folgte der zweite Durchgang im Labor. Und am frühen Morgen, 24 Stunden nachdem der Einsatz begonnen hatte, tauchte Ute Hehr im Labor auf und warf einen Blick auf die Ergebnisse. Dann wurden Beate Weber drei Eizellen eingesetzt, die in Bezug auf Norrie5 in Ordnung waren. Das Hoffen begann – und einer kam durch.« (DIE ZEIT 41/2004, 34)
Diese Beschreibung bietet einen Einblick in das Labor, in dem die Polkörperdiagnostik durchgeführt wird. Die einzelnen Arbeitsschritte, die beteiligten ReproduktionsmedizinerInnen sowie die notwendige Technik, das Mikroskop und der ›genetic analyzer‹, ein brummender, grauer Kasten werden vorgestellt. Und auch die Ergebnisse werden als bunte Kurven visualisierbar. Die Aufzählung der Arbeitsschritte und der Personen, die als Reproduktionsmediziner oder Laborteam an dem Ergebnis mitarbeiten, vermittelt einen Eindruck von der Komplexität der genetischen Untersuchung. Auch der Faktor Zeit unterstreicht diese Komplexität. So verweist der amerikanische Humangenetiker Marc Hughes in einem Interview auf das schmale Zeitfenster, in dem die Untersuchung stattfinden muss: »Einen Gendefekt in einer einzelnen Zelle des Embryos aufzuspüren bedeutet, die Empfindlichkeit der Gentests bis zum Limit zu strapazieren. Das müssen 5
Das Norrie-Syndrom wird rezessiv über das X-Chromosom vererbt und tritt daher zumeist nur bei Jungen auf. Es bezeichnet einen Defekt in der Augenentwicklung. Träger der Krankheit leiden unter angeborener Blindheit oder einer Netzhautablösung, Trübung der Hornhaut, der Linse oder des Glaskörpers. Bei ca. einem Drittel der Betroffenen tritt zudem eine starke Schwerhörigkeit auf. Umstritten ist, ob bei Trägern des Syndroms auch ein höheres Risiko für Verhaltensauffälligkeiten und Lernstörungen besteht, die gelegentlich in Kombination auftreten, oder ob diese als Reaktionen auf die Sinneseinschränkungen gewertet werden müssen. Ist die Mutter Trägerin des Defekts, liegt die Chance, die Krankheit an ein männliches Kind weiterzugeben bei 50 %. 253
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Sie sich mal klarmachen: Wir hatten mit 100 Prozent diagnostischer Sicherheit einen einzigen Schreibfehler unter den 3,3 Milliarden Buchstaben des Erbguts zu finden, und das innerhalb von 12 bis 15 Stunden. Der Embryo war schließlich schon bereit für den Transfer, und der Uterus der Frau war bereit für die Einnistung des Embryos.« (ZEIT 39/2000, 41)
Die Komplexität und zeitliche Eingrenzung des Verfahrens werden häufig als Argumente dafür genannt, dass die PID keine Standarduntersuchung werden wird, da nur wenige Zentren über die Geräte und Fachkräfte verfügen würden, die für die Untersuchung notwendig sind. Die angeführte Expertise der Humangenetiker wird in den Artikeln und Interviews mit den Beweggründen der beteiligten Mediziner und Paare verknüpft. Diese dienen als Hintergrund und Kontextualisierung der Anwendung. Auf Seiten der ReproduktionsmedizinerInnen erfahren wir nicht nur, wie sie eine Untersuchung durchführen, sondern auch warum sie sich für die Durchführung einer PID entscheiden. Dabei wird immer wieder auf die Vermeidung von Leiden der Eltern, die an einem unerfüllten Kinderwunsch oder Krankheiten ihrer bereits vorhandenen Kinder verzweifeln, verwiesen. So betont auch der französische Gynäkologen René Frydman in einem Interview über die Novellierung des französischen Bioethikgesetzes, dass die PID vor allem Vorteile für die Eltern berge. Er gibt die beiden ersten Fälle, in denen er eine PID durchgeführt hat, als Belege an: »Die Mutter von Valentin, unserem ersten Kind, hatte drei Kinder durch eine tödliche Krankheit verloren. Unsere Diagnose hat verhindert, dass die Eltern noch einmal in diese schmerzhafte Situation geraten. Das zweite Kind, die kleine Lilou, kommt aus einer Familie mit einem hohen Risiko für eine erbliche Geisteskrankheit.« (DIE ZEIT 22/2001, 38)
Mit dem Ausbau der diagnostischen Möglichkeiten der PID kann die Hilfe sogar noch über die beteiligten Eltern und das zu zeugende Kind hinausreichen. So stellt Marc Hughes einen Fall vor, in dem er zuerst abwägen musste, ob er der Bitte der Eltern nachkommen kann: »Ich schildere Ihnen mal einen Fall: Ein Ehepaar kommt zu mir, es hat ein Kind mit erblicher Immunschwäche. Das Kind wird sterben, denn es gibt keinen geeigneten Knochenmarkspender. Nun wollen sie ein zweites Kind, ein gesundes natürlich, und möchten eine Präimplantationsdiagnose, um da sicher zu sein. Aber sie baten mich außerdem, mit dem Gentest einen Embryo auszuwählen, der nach seiner Geburt als Knochenmarkspender für seinen kranken Bruder dienen kann. […] ich bin Arzt und hatte mich um diese Familie zu kümmern, und ich beschloss, in diesem Fall zu helfen. Wenn es die Möglich254
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keit gibt, diesem Kind die wunderbare Kraft zu verleihen, das erste Kind zu retten, was ist daran schlecht?« (ZEIT 39/2000, 42)
Ungeachtet der ethischen Schwierigkeiten, die in Bezug auf sogenannte ›donor-childs‹ diskutiert werden, sammelt dieser Ausschnitt die zentralen Aspekte, die von Seiten der Reproduktionsmediziner in den Diskurs eingebracht werden: Zentral ist das Leiden der Eltern, dazu kommen die zur Verfügung stehenden technischen Möglichkeiten und die Verpflichtung als Arzt den PatientInnen zu helfen. Diese Kombination führt fast zwangsläufig zu dem Schluss, dass jene »wunderbaren Kräfte« genutzt werden müssen. Auch in der Darstellung der Gründe, aus denen sich Frauen und Paare für eine PID entscheiden, wird das Leiden an einer Situation, die durch die PID gelöst werden könnte, als ein zentraler Punkt angeführt. Im Fall von Beate Pauli, die mit ihrem Mann seit längerem versucht, ein Kind zu bekommen, werden die Stationen ihres Weges skizziert: »Sex nach Plan, jahrelange Hormonbehandlungen, sechs Inseminationen, vier künstliche Befruchtungen: Beate Pauli hat sämtliche Eskalationsstufen einer Kinderwunschpatientin hinter sich. Es brachte alles nichts. Das Kinderzimmer im Einfamilienhaus, das für den Nachwuchs bestimmt ist, blieb leer. Das Rätsel, warum sich aus ihren Eizellen nie eine Schwangerschaft entwickelte, löste erst ein humangenetisches Gutachten: Eine Fehlfunktion der Gene lasse den Embryo kurz nach dem Transfer in die Gebärmutter absterben. Aber nicht alle Embryonen sind belastet. Jeder vierte Keimling, rechnete der Genexperte aus, könnte gesund sein.« (DIE ZEIT, 20/2002, 37)
Die Gründe, die eine PID notwendig machen, sind vielfältig. Hier ist es ein Gendefekt, der zu erfolglosen Schwangerschaften führt. An anderen Stellen werden Erbkrankheiten angeführt, die nicht weitergeben werden sollen. Hinzu kommen die Beispiele, in denen die PID helfen soll, eine altersbedingte Einschränkung der Fertilität auszugleichen und durch den Test die Eizellen zu finden, die noch keinen Chromosomenschaden haben und damit eine erfolgreiche Schwangerschaft versprechen. Zentral ist in all diesen Beispielen jedoch der Wunsch, Mutter zu sein und diesen Wunsch nicht aufgeben zu wollen oder zu können. »Jeder Mensch hat ein Bild von seiner Zukunft. Kinder gehören für Claudia Herbart dazu, seit sie denken kann. Und so setzt sich die Münchnerin (›Ich bin ein hartnäckiger Typ‹) an den Computer und beginnt zu suchen.« (DIE ZEIT, 20/2002, 35)
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Was Claudia Herbart sucht, sind Internetseiten und Forenberichte zu Kliniken und Reproduktionszentren im europäischen Ausland, da ihr das ESchG in Deutschland eine Behandlung verbietet. Dies verweist auf einen zweiten Aspekt: An Beispielen aus der BRD werden die Schwierigkeiten aufgezeigt, die sich für die AnwenderInnen und ÄrztInnen durch das Verbot der PID ergeben. So können die AnwenderInnen eine PID nur im Ausland vornehmen lassen, was nicht nur erhöhte Kosten bedeute, sondern ebenso eine höhere psychische und physische Belastung. Die Unsicherheiten durch die fremde Sprache und einen unbekannten Arzt werden als zusätzlicher Stress angeführt, der das Ergebnis negativ beeinflussen kann. Dass dieser Schritt nicht so sehr als Umgehung der deutschen Gesetzgebung verstanden wird, sondern vielmehr als Form einer Benachteiligung im Verhältnis zu Paaren aus anderen europäischen Ländern, zeigt sich im folgenden indirekten Zitat: »Warum, fragen sie, muss man solche Torturen auf sich nehmen, wenn man sich doch nur ein Kind wünscht? Warum dürfen wir das Gleiche nicht bei einem uns vertrauten Arzt machen?« (DIE ZEIT, 20/2002, 37)
ÄrztInnen verweisen darauf, dass ihnen durch das Verbot sowohl die Möglichkeit fehle, selbst Praxis und Erfahrung in diesem Bereich der Reproduktionsmedizin zu sammeln, als auch die Möglichkeiten eingegrenzt würden, ihren PatientInnen zu helfen (vgl. 20/2002). Bernd Seifert vom Regensburger Zentrum für Gynäkologische Endokrinologie, Reproduktionsmedizin und Humangenetik nennt dies als einen der Gründe, warum an seinem Zentrum die Polkörperdiagnostik angewendet wird: »Es hat mich einfach geärgert, dass Paare, in deren Familien es schwere Erbkrankheiten gibt, ins Ausland gehen müssen. Die Polkörperdiagnostik ist schwieriger als die PID. Wir stellen uns dieser Aufgabe.« (ZEIT 41/2004, 34)
»Reinigungsarbeit« und Diskurs Die Darstellung der Präimplantationsdiagnostik in der ZEIT veranschaulicht beispielhaft die Vermittlung biomedizinischen Wissens in den Medien. In detailreichen Schilderungen der Durchführung einer PID werden die LeserInnen mit in das reproduktionsmedizinische Labor genommen und erhalten einen Einblick in die Arbeit der HumangenetikerInnen. In den Artikeln dieser Diskursstränge werden die Beweggründe von Reproduktionsmedizinern und Anwenderinnen vorgestellt, aber 256
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auch berichtet, wie sich ungeachtet des deutschen Verbots durch das ESchG eine Praxis herausgebildet hat, die in Form des sogenannten Reproduktionstourismus die Angebote im Ausland nutzt und durch ein Ausschöpfen der Lücken im Gesetz zumindest eine Variante der PID in Deutschland etabliert wird. Damit bieten die Artikel ein Wissen darüber an, wie Präimplantationsdiagnostik angewendet und durchgeführt werden kann und stellen die PID als bereits etablierte reproduktionsmedizinische Praxis vor, ungeachtet der Diskussion um das für und wider in Deutschland. Als ExpertInnen fungieren an dieser Stelle Humangenetiker und Kinderwunschpatientinnen, die mit ihren Beschreibungen das ›praktische‹ Verständnis der Technologie prägen. Diese Aufteilung verweist auf eine Diskursformation, die sich als Reinigungsarbeit innerhalb des Diskurses in der ZEIT beschreiben ließe. Durch die Zuordnung des Wissens über die PID in unterschiedliche Diskursstränge werden zugleich die verschiedenen Aspekte voneinander isoliert und hierarchisiert. Zwar kann die PID im Sinne Latours als Hybrid aus Natur und Gesellschaft definiert werden. In der medialen Vermittlung findet sich jedoch ihr hybrider Charakter nicht wieder; dort wird sie als neue Technologie vorgestellt, die dem Bereich der Lebenswissenschaften angehört. Weitere Aspekte der PID, bspw. rechtliche, ethische und soziale Implikationen der Technologie, werden lediglich als mögliche Folge ihrer Anwendung diskutiert.6 Folgt man der Argumentation Latours, so scheint diese Aufteilung nicht nur das Ergebnis verschiedener Facetten und inhaltlicher Aspekte zu sein, vielmehr treffen wir auf biomedizinisches Wissen in Form bereits ›gereinigter‹ Wissensbestände, in denen die Grenzen zwischen Natur und Gesellschaft, aber auch zwischen medizinischen und ethischen Fragen bereits gesetzt sind. Die Diskursivierung des wissenschaftlichen Wissens über Präimplantationsdiagnostik stellt damit selbst ein Ordnungsmoment dar. Die Einordnung und Verortung des Wissens in verschiedene Diskurse und Diskursstränge der Ethik, Politik, Wirtschaft, Medizin und AnwenderInnen nimmt eine Ordnungsfunktion ein und kann als ein integraler Be-
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Diese Aufteilung lässt sich nicht nur für den Bereich der Medien beobachten. Katharina Liebsch und Ulrike Manz kommen in ihrer Studie zu Transformationen biopolitischen Wissens in der Schule zu ähnlichen Ergebnissen. Sie können zeigen, dass Lehrkräfte bei der Aufbereitung von biotechnologischem Wissen in der Schule dieses zuerst als biologisches Grundlagenwissen vermitteln. Erst in einem zweiten, nachgeordneten Schritt geraten bioethische Problematiken und Folgeprobleme in den Blick (vgl. Liebsch/Manz 2007: 140 ff.). Auch hier wird das Wissen über die Biotechnologie damit auf die Funktionsweise der Technologie und ihre biologischen Grundlagen reduziert. 257
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standteil der Bedeutungsproduktion für den Wissensbestand der PID verstanden werden. Dass diese Zuordnung zu einer Hierarchisierung von Wissen führen kann, zeigt der Diskurs in der ZEIT sehr deutlich: Die Berichterstattung spaltet sich in die Beschreibung der Technologie und ihrer Anwendung einerseits und in die Diskussion der Folgen der Technologie anderseits, die anhand verschiedener Felder wie Ethik, Wirtschaft und Politik durchgespielt werden. Die Grenzziehung, die durch diese Zweiteilung sichtbar wird, führt dazu, dass die ethischen Fragen des Embryonenschutzes (zumeist) nicht im Kontext der konkreten Anwendungen diskutiert werden. Durch diese Form der Aufteilung stehen sich die Beschreibung der medizinischen und subjektiven Entscheidungsgründe und ethische/gesellschaftliche Aspekte der PID relativ unvermittelt gegenüber. Während die Diskussion um den Status des Embryos auf einem zumeist abstrakten Niveau kontrovers geführt wird, verbindet sich die Beschreibung der Technologie mit persönlichen Leidenswegen, die sowohl aus der Perspektive der MedizinerInnen als auch der AnwenderInnen vorgestellt werden. Das Wissen um die Funktionsweise der PID verknüpft sich dementsprechend mit dem Ziel der Anwendung, das neben der Verhinderung von Krankheiten auch als Verhinderung von Leid – und zwar sowohl der Eltern als auch des zukünftigen Kindes – definiert wird und in subjektiv nachvollziehbaren Beschreibungen präsentiert wird. Diese Beschreibungen lassen sich als Appelle für Patientinnenautonomie und Öffnung des Embryonenschutzgesetzes lesen, während gleichzeitig die Frage nach den rechtlichen, ethischen und gesellschaftlichen Konsequenzen einer Einführung der Technologie weitestgehend ausgeklammert wird. In dem Diskurs der ZEIT werden damit unterschiedliche Wissensbestände über PID aufbereitet, die gerade durch ihre fehlende Verknüpfung blinde Stellen produzieren. Die zentralen Punkte der Auseinandersetzung scheinen auch in dieser Debatte die Frage der Patientinnenautonomie und die Frage nach dem Status des Embryos zu bilden. Beide Fragen werden von bioethischen Expertinnen in der ZEIT zentral debattiert, aber zugleich durch Reproduktionsmediziner und Kinderwunschpatientinnen an anderer Stelle einseitig in Richtung der Patientinnenautonomie aufgelöst. Während der Fokus wahlweise auf dem Lebensrecht des Embryos oder dem Leiden der Eltern liegt, fallen jedoch weitere Perspektiven aus der Debatte heraus. Gerade die Perspektive von Behindertenverbänden und feministische Positionen zur Reproduktionsmedizin halten in dem Diskurs um die PID nur marginal Einzug. Am Beispiel der Darstellung der Präimplantationsdiagnostik in der ZEIT lassen sich damit verschiedene Probleme der medialen Vermitt258
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lung biomedizinischer Wissensbestände abbilden. Neben dem Ausschluss bestimmter Positionen aus der Debatte, ist die Zuordnungspraxis selbst problematisch. Mit der Erweiterung des diskurstheoretischen Ansatzes um Latours Begriff der Reinigungsarbeit wird deutlich, dass die Einordnung in Diskursstränge mit einer Hierarchisierung der Wissensbestände einhergeht: In diesem Beispiel legt die Splittung in ein praktisches Wissen über die PID und die Diskussion der ethischen Folgen ein Primat der Technologie fest und blendet den hybriden Charakter der Anwendung aus. Die Medien sind damit in ihrer Vermittlung der biomedizinischen Wissensbestände aktiv an Prozessen der Reinigung beteiligt und festigen die Trennung in technologische und praktische Aspekte der Technologie und deren ethischen, rechtlichen und sozialen Folgen.
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Rahmenw echse l: Die ADHS als Inno vationspotenzial ROLF HAUBL
Betrachtet man die anhaltende Kontroverse um Diagnose und Therapie der ADHS diskursanalytisch, dann steht das Ringen um die Deutungshoheit im Vordergrund. Eine solche Perspektive auf die mit einer Prävalenz in Deutschland von 4,8 Prozent (vgl. Schlack et al. 2007) häufigste aller psychosozialen Belastungen von Kindern und Jugendlichen leugnet nicht, dass die Betroffenen leiden und ihre Familien, Peers und Lehrer in Mitleidenschaft ziehen, betont aber, dass die Thematisierung von Leid immer schon innerhalb einer sozialen Matrix stattfindet, in der soziale Akteure mit unterschiedlicher Deutungsmacht von unterschiedlichen Interessen geleitet operieren. Davon abgesehen stellt der ADHSDiskurs verschiedene Deutungsmuster zur Verfügung, die den leidenden und in Mitleidenschaft gezogenen Personen nicht äußerlich bleiben, sondern deren Selbstverständnis und damit auch deren Leiden oder Mitleiden beeinflussen. Das derzeit dominante biomedizinisch-psychiatrische Deutungsmuster bestimmt die ADHS als eine chronische Krankheit, deren Ursache eine genetisch disponierte Störung des Dopamin-Stoffwechsels ist, die zu einer Funktionsminderung des Frontalhirns führt, so dass eine Selbstkontrollschwäche entsteht, die sich in einer Trias von Symptomen – Unkonzentriertheit, Impulsivität, motorische Unruhe – manifestiert (vgl. Biederman 2005; Hüther 2008) und mit Psychostimulanzien erfolgreich zu therapieren ist (vgl. Pelz et al. 2008). Da es bislang keine hinreichend sensiblen und spezifischen neurobiologischen Marker gibt, die eine
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Kausaldiagnose erlauben würden, muss die Diagnose als Symptomdiagnose erfolgen. Dieses Deutungsmuster ist sowohl unter Experten (exemplarisch: Timimi 2002; 2005) als auch unter Laien nicht unwidersprochen geblieben. Während die Protagonisten des biomedizinisch-psychiatrischen Deutungsmusters soziokulturellen Faktoren bestenfalls eine die Disposition modulierende Wirkung zugestehen, stellen ihre Kritiker heraus, dass es sich bei der ADHS um eine Medizinalisierung und Medikalisierung soziokultureller Probleme handelt (vgl. Conrad 1981; 1992; 2005), die entstehen, weil Kindheit in der modernen Erwachsenengesellschaft nicht länger als Schonraum institutionalisiert ist (vgl. Büchner 2003), der Kinder vor Reizüberflutung und überfordernden Leistungsansprüchen schützt (vgl. Haubl 2008).
D i e D e u t u n g d e r AD H S a l s p s yc h o p a t h o g e n e r G e n d e f e k t i m D i e n s t e p s yc h i s c h e r E n t l a s t u n g Deutungsmuster bieten nicht nur eine kognitive Orientierung. Sie strukturieren auch emotionale Erfahrungen und Reaktionen. So besteht hinsichtlich der Therapie der ADHS unter Experten ein Konsensus darüber, dass eine psychopharmakologische Behandlung in der Regel nicht genügt, sondern gegebenenfalls durch pädagogische oder psychotherapeutische Maßnahmen ergänzt werden muss (vgl. Remschmidt 2005). Gelegenheitsbeobachtungen lassen vermuten, dass sich viele Eltern nicht an diese Empfehlung halten, auch wenn es in ihrer Reichweite entsprechende Hilfsangebote gibt. Sie beschränken sich auf Tabletten, weil eine solche Behandlung von Schuldgefühlen zu entlasten vermag. Die Dauermedikation bestätigt ihnen, dass die ADHS eine genetisch bedingte, chronische, neurobiologische Krankheit ist, für deren Entstehung sie keine Verantwortung tragen. Dagegen haben Eltern nicht-medikamentöse, vor allem psychotherapeutische Maßnahmen und unter denen wiederum vor allem Sinn verstehende Maßnahmen in Verdacht, sie und ihren Lebensstil dafür verantwortlich zu machen, dass ihre Kinder sozial auffällig geworden sind (vgl. Pozzi 2002). Das Deutungsmuster der ADHS als Gendefekt suggeriert, dass es auf den Sinn der Symptome nicht ankommt. Es gehört dann auch in das Argumentationsrepertoire der meisten Elterninitiativen, von denen es eine große Zahl gibt. Wie es das Beispiel des AdS e.V. veranschaulicht, binden sie die Mitgliedschaft an das Bekenntnis, »dass ADS/ADHS hauptsächlich biologisch begründet ist (z.B. angeboren), kaum dagegen
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durch Umweltfaktoren, durch interaktionelle oder frühkindliche Entwicklungsprobleme« (http://www.s-line.de/homepage/ads). Freilich ist die Deutung der ADHS als Gendefekt letztlich ein schwaches Argument. Denn erwiesenermaßen wird das Erleben und Handeln von Menschen zwar durch Gene gesteuert, aber nicht determiniert. Gene erzeugen Bereitschaften des Erlebens und Handelns, deren Aktivierung und De-Aktivierung durch die jeweilige Interaktionsdynamik zwischen Organismus und Umwelt erfolgen (vgl. Faller 2003). Mithin nehmen die Erwachsenen, Eltern und andere signifikante Bezugspersonen, großen Einfluss darauf, wie sich die genetische Ausstattung von Kindern auswirkt. Und sie tun dies zwangsläufig als soziale Akteure: als Frauen und Männer, die bestimmte gesellschaftliche Werte und Normen mehr oder weniger bewusst repräsentieren. So gesehen, entlastet eine Deutung der ADHS als Gendefekt keineswegs von Verantwortung für die Entstehung der Symptome – oder nur dann, wenn auf eine vorwissenschaftliche Genetik rekurriert wird. In den Verlautbarungen von Elternvereinen finden sich deshalb auch Vorstellungen propagiert, die wissenschaftlich zwar längst obsolet geworden sind, sich aber eignen, von Schuldgefühlen zu entlasten.
D i s k u r s i ve V a r i a t i o n e n v o n D ev i a n z Bietet das Deutungsmuster der ADHS als Gendefekt den Eltern der betroffenen Kinder und Jugendlichen eine Möglichkeit, sich psychisch zu entlasten und den eigenen Lebensstil aus vermeintlich guten Gründen nicht auf den Prüfstand stellen zu müssen, wie prekär diese Rationalisierung auch immer bleibt, so ist sie nicht die einzige Entlastungsstrategie. Eine zweite Strategie erklärt die Symptome zu Manifestationen einer positiven genetischen Besonderheit. Folglich erscheinen nunmehr diejenigen Kinder und Jugendlichen als defizitär, denen diese Besonderheit fehlt. Elternvereine, wie der bereits zitierte, nutzen auch diese Strategie. Sie betonen, dass ihre Kinder »nicht nur Schwächen (haben), sondern häufig auch überdurchschnittlich ausgeprägte Stärken«. Die Liste der angeführten Stärken ist lang, sie reicht von »Begeisterungsfähigkeit« über einen »ausgeprägten Gerechtigkeitssinn« bis hin zu »Originalität und Sinn für unkonventionelle Problemlösungen«. Als Belege dienen herausragende Persönlichkeiten wie Benjamin Franklin oder Winston Churchill, denen eine ADHS zugeschrieben wird, oder man führt statushohe Berufsgruppen wie »Ärzte – besonders in der Notfallmedizin – Journalisten, Psychologen, Rechtsanwälte und Hochrisikoberufe« an, in 263
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denen Menschen mit einer ADHS besonders häufig anzutreffen seien. Deshalb könne die ADHS, »in die richtigen Bahnen gelenkt, den Betroffenen zum Vorteil gereichen«. Auch wenn diese Strategie in klinischer Perspektive die Gefahr bergen mag, die Behandlungsbedürftigkeit der betroffenen Kinder und Jugendlichen – zumal in Anbetracht der bestehenden Komorbiditäten – sträflich zu unterschätzen, so impliziert sie doch auch, dass alles Verhalten einer gesellschaftlichen oder gruppenspezifischen Bewertung unterliegt. Wenn Eltern ihre durch eine ADHS belasteten Kinder als unkonventionell beschreiben, dann deuten sie an, dass nicht jede Abweichung von einer Verhaltensnorm sogleich korrigiert werden muss (ob medikamentös oder psychotherapeutisch). Im Gegenteil: Es ist ein Kennzeichen kreativen Verhaltens, von Normen abzuweichen und sie so unter Veränderungsdruck zu setzen. Grenzen nicht anzuerkennen, sondern sie wegen der Befriedigung von Bedürfnissen und der Erfüllung von Wünschen zu überschreiten sowie keinen Verzicht zu üben, gehört zum Innovationspotenzial einer modernen Gesellschaft. Wie bei der ersten Entlastungsstrategie werden auch die betonten kreativen Normabweichungen genetisch erklärt: Die Kinder und Jugendlichen weichen von den geltenden Normen ab, weil sie nicht anders können. Nur wird ihre Devianz nunmehr als gesellschaftliches Gewinnpotenzial dargestellt. Ihre genetische Ausstattung weist das Ziel, dessen Erreichung es erzieherisch zu unterstützen gilt.
Au f d e n R a h m e n k o m m t e s a n Bezug nehmend auf die mikrosoziologische »Rahmenanalyse« (Goffman 1977), lässt sich die skizzierte Strategie als Versuch eines Rahmenwechsels beschreiben. Von jedem Gegenstand der Welt gibt es nicht nur eine einzige, wohl bestimmte Erfahrung, sondern je nach Rahmung sind ganz unterschiedliche Erfahrungen möglich. Erfahrung ist somit ein Produkt aus dem Inhalt (I) und dem Rahmen (R) einer Erfahrung, ergo: E = f (I, R). Wird der Rahmen verändert, verändert dies auch die Erfahrung. Für den vorliegenden Fall: Erfahrungsinhalt sind die auffällige Unkonzentriertheit, Impulsivität und motorische Unruhe der betroffenen Kinder und Jugendlichen. Wird dieser Inhalt biomedizinisch-psychiatrisch gerahmt, dann erscheinen die Auffälligkeiten als eine medizinisch behandlungsbedürftige psychopathologische Devianz. Da Rahmungen kontingent sind, lassen sich die Auffälligkeiten aber auch so rahmen, dass sie als kreatives Potenzial erscheinen. Dadurch werden medizinische Behandlungen, die das Ziel verfolgen, die Devianz zu 264
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normalisieren, delegitimiert. Wenn die Devianz positive Varianz ist, dann bedarf sie nicht der Normalisierung, sondern der Förderung. Rahmungen sind Handlungen sozialer Akteure, die mit mehr oder weniger Macht operieren. Je nach Machtgefälle kommen steilere oder flachere Rahmenhierarchien zustande. Die biomedizinisch-psychiatrische Rahmung ist (derzeit) so mächtig, dass den Protagonisten eines kreativen Potenzials keine vergleichbar mächtige Neurahmung gelingt. Ihre Rahmung bleibt marginal, wenn auch nicht ohne Einfluss. Alle, die Erfahrungsinhalte gleich rahmen und folglich gleiche Erfahrungen machen, gehören zumindest virtuell zusammen. Indem ein sozialer Akteur einen bestimmten Rahmen ›wählt‹, reiht er sich in die Gruppe derer ein, die die gleiche ›Wahl‹ getroffen haben. Rahmen schaffen Zugehörigkeiten.
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Je kleiner/machtloser die Gruppe ist, desto schärfer wird die Gruppengrenze gegenüber konkurrierenden Rahmungen gezogen: entweder – oder. Große/machtvolle Gruppen können es sich leisten, marginale Rahmungen zu ignorieren. Kleine/machtlose Gruppen gewinnen an Größe/Macht, wenn sie potente soziale Akteure (Journalisten, Politiker, Wissenschaftler) gewinnen und an sich binden, die bereit sind, für einen Rahmenwechsel einzutreten. Kleine/machtlose Gruppen können auch punkten, indem sie ihre Rahmung als unterdrückte ›Wahrheit‹ darstellen (unabhängig davon, wie weit sie tatsächlich unterdrückt ist).
Die Versuche, die ADHS als genetisch disponiertes kreatives Potenzial zu rahmen, zeigen Züge einer solchen, weit verbreiteten Diskursdynamik (vgl. auch das Konzept der Mustererzählung: Haubl 2007: 36ff.).
AD H S u n d K r e a t i v i t ä t Einer prominenten medizinhistorischen These folgend (vgl. Fox 1979: 468), haben Gesellschaften die ›Wahl‹, wie sie mit Devianzen umgehen. Sie können sie als moralische Verfehlung (Sünde), als Verbrechen, als Krankheit oder als tolerierten alternativen Lebensstil rahmen. Alle vier Stufen, die prototypisch für die Geschichte der Homosexualität nachzuweisen sind, lassen sich auch für die ADHS ausmachen. Zu den biedermeierlichen Zeiten von Heinrich Hofmann macht sich dessen »Zappelphillip« des moralisch verwerflichen Ungehorsams gegen die Autorität seines Vaters schuldig. Heute gilt der »Zappelphillip« als ADHS-Kind, 265
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das an einer Krankheit leidet. Die zahlreichen Untersuchungen, die mit der Hypothese arbeiten, dass die ADHS zu gehäufter Straffälligkeit führt (vgl. Retz/Rösler 2006), legen einen forensischen Rahmen an. Schließlich werfen die Protagonisten des kreativen Potenzials die Frage auf, ob die Auffälligkeiten der betroffenen Kinder nicht Merkmale eines gesellschaftlich positiv zu beurteilenden Persönlichkeitsprofils sind. Im Zentrum dieses Profils steht eine außergewöhnliche Kreativität, die den Kindern zugeschrieben wird, wobei das kulturelle Gedächtnis den Topos von ›Genie und Wahnsinn‹ bereit hält, um die ADHS als eine ›kreative Krankheit‹ zu plausibilisieren. Zieht man allerdings Untersuchungen heran, die nach der Kreativität von Kindern mit einer ADHSDiagnose fragen, wird man eines Besseren belehrt (vgl. z.B. Healy/Rucklidge 2005; 2006): Ein systematischer Zusammenhang zwischen der ADHS und außergewöhnlicher Kreativität lässt sich nicht feststellen, schon gar nicht als Kausalzusammenhang, bei dem die ADHS als eine Bedingung für außergewöhnliche Kreativität imponieren würde. Stattdessen gibt es einzelne außergewöhnlich kreative Kinder, die gleichzeitig eine ADHS haben. Manche von ihnen sind trotz ihrer ADHS kreativ. Und auch eine psychopharmakologisch behandelte ADHS führt im Vergleich mit einer Kontrollgruppe von gleich intelligenten Kindern ohne eine ADHS zu keinen überlegenen kreativen Problemlösungen (vgl. Funk et al. 1993). Rahmenwechsel der beschriebenen Art sind keine Besonderheiten des ADHS-Diskurses. Ein weiteres prominentes Beispiel ist der Autismus. Im Autismusdiskurs unterscheidet man zwischen einem frühkindlichen Autismus vom Kenner-Typus und einer späteren Form, dem Asperger-Typus (vgl. Draismaa 2008: 84-319). Vom letzteren Typus wird gerne behauptet, er finde sich bevorzugt bei Hochbegabten, so wie auch die ADHS gerne nicht nur mit Kreativität, sondern generell mit Hochbegabung assoziiert wird. Viele der historischen Geistesgrößen, die dafür als Zeugen herhalten müssen, stehen auf beiden Listen.
Das DaVinci-Gen Die Vorstellung, die ADHS könnte ein Ausdruck von Kreativität sein, ist ebenso suggestiv wie nachweislich falsch. Dennoch finden sich etliche pseudowissenschaftliche Versuche, die Suggestion zu intensivieren. So ist seit einiger Zeit von einem ›DaVinci-Gen‹ die Rede, das zu der genetischen Ausstattung von Personen mit einer ADHS gehören soll. Leonardo DaVinci als Personifikation des postulierten Gens einzusetzen, beweist ein gutes Gespür für die Bedürftigkeit der Zielgruppe, an die 266
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sich die Botschaft wendet. Denn sie ist in der Sprache eines Größenselbst verfasst, das auf seine Realisierung drängt: »Let us be clear right from the beginning. The personality trait which leads to Attention Deficit Hyperactivity Disorder is a great thing, but our society has not traditionally honoured this gift. Because 9 out of 10 people do not have the DaVinci trait, popular opinion and culture tends to be intolerant of the DaVinci temperament and the DaVinci’s general approach to life. DaVincis are full of spontaneous and unexpected ideas and behavior. So, as you might expect, DaVincis are generally condemned or shamed for their new approaches or spontaneous actions – no matter how right they may actually be. If this condemnation and shaming is internalized by a DaVinci child, it generally leads to one of a myriad of personality or behavioural disorders. One of the most common disorders developed is ADD. Some others often note are depression, narcissism, anxiety, oppositional defiance disorder, bipolar disorder, and addiction – but all of them seem to lead back to a root of Attention Deficit Hyperactivity Disorder. That does not mean that if you have the DaVinci trait, you must develop a disorder. But chances are if, in your formative years, you were exposed to environmental hostile to your DaVinci temperament you probably have developed at least some traces of what Otto Rank called ›neurotic tendencies‹ or what today is called ADD. So Attention Deficit Hyperactivity Disorder and these other disorders are basically the negative expression of the DaVinci temperament. ADD is generally the symptom of a frustrated and out of balance DaVinci. If you are a DaVinci and you have not cultivated yourself in a way that is compatible with your natural DaVinci temperament, you will most likely have developed Attention Deficit Hyperactivity Disorder. This is curable. ADD is the result of not working to your strength when you have the DaVinci trait. Attention Deficit Hyperactivity Disorder is the other edge of the DaVinci gene’s double edged sword. With the DaVinci gene you will either be ›in the flow‹ with your God-given brilliance or you will be struggling to fit in – trying to be like the other 90% of the population called ›normal‹. You are not normal. You have a choice, let go and be brilliant with grace and ease, or struggle your whole life just to be mediocre. ADD is the direct result and symptom of rejecting your brilliance. Attention Deficit Hyperactivity Disorder comes from forcing yourself to behave in artificial ways, (often fuelled by your desire to ›fit in‹), instead of just getting go of ›shoulds‹ and just being you. You – with the activated DaVinci gene – basically have a choice; be brilliant or suffer from the symptoms of ADD along with the potential to develop many other disorders like depression, addiction, narcissism, anxiety, obsessive compulsive disorder, and bi-polar disorder« (http://www.davincimethod.com/ ADHD.html).
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Verdichtet man die Botschaft dieses Aufrufs, dann lautet sie in etwa: Wer an einer ADHS leidet, ist Teil einer soziokulturell unterdrückten Minderheit, die Gott gegebene grandiose Erbanlagen besitzt, es aber nicht wagt, ihre Brillanz zu leben. Stattdessen passt sie sich der mittelmäßigen Mehrheit an und wird dadurch krank. Aber die Angehörigen dieser Minderheit haben es selbst in der Hand: Sie müssen lernen, sich gegen den soziokulturellen Konformitätsdruck zu ihren grandiosen Erbanlagen zu bekennen, und sie kultivieren, dann geht es ihnen gut. Um diesen Lernprozess erfolgreich zu absolvieren, stehen hilfreiche Begleiter (vgl. z.B. Dixon 2006) zur Verfügung.
Von Jäger- und Farmergenen Die vielleicht am weitesten verbreitete ›Theorie‹ der ADHS, die auf einen Rahmenwechsel aus ist, argumentiert evolutionsbiologisch. Auf dem Hintergrund vergleichsweise seriöser Spekulationen darüber, ob die Symptome der ADHS in der Gattungsgeschichte des Menschen nicht auf Grund von Reproduktionsvorteilen einst positiv selektiert worden seien (vgl. Williams/Taylor 2006), etabliert sich ein phantasmatisches Modell: Behauptet werden zwei Gentypen, in denen zwei verschiedene gattungsgeschichtliche Epochen ihren genetischen Niederschlag gefunden hätten: einerseits ›Jäger-Gene‹, andererseits ›Farmer-Gene‹. Im »Evangelischen Pressedienst für Bayern« vom 13. 10. 2006 wird unter der Überschrift »Jäger wie vor zehntausend Jahren« über die Forschungen einer ADHS-Forschergruppe um den Psychiater Prof. Dr. Klaus-Peter Lesch der Universität Würzburg berichtet. Im Text steht zu lesen: »Entwicklungsgeschichtlich gesehen ist ADHS eigentlich gar keine Erkrankung. Vor zehntausend Jahren mussten die damals vor allem als Jäger tätigen Menschen impulsiv sein und schnell reagieren können, um zu überleben. Etwa jeder fünfte Bundesbürger, schätzt Lesch, besitzt heute noch die Persönlichkeitsausstattung des steinzeitlichen Jägers. Nicht wenigen Menschen mit der ›Jägerpersönlichkeit‹ gelingt es, ihre im Vergleich zur Durchschnittsbevölkerung erhöhte Aktivität positiv auszuleben. ADHS-Kandidaten finden sich laut Lesch unter Politikern, Schauspielern oder Journalisten. Es hänge unter anderem an der Intelligenz eines Menschen, ob er einen guten Umgang mit seiner Tendenz zum ›Overdrive‹ findet.«
Gleich, wie exakt die Journalistin die Forschungsergebnisse wiedergegeben hat, sie betreibt eine Positivierung der ADHS, indem sie eine
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Verbindung des kultivierten gattungsgeschichtlichen Erbes mit gesellschaftlich angesehenen Berufsgruppen herstellt. Genau das tut auch der Psychotherapeut Thom Hartmann (1999), der das phantasmatische Modell der beiden Gentypen populär gemacht hat. Im Genpool des modernen Menschen fänden sich sowohl ›Jäger-Gene‹ als auch ›Farmer-Gene‹. Die Verteilung dieser Gene sei allerdings unterschiedlich. Es gebe geschlechtsspezifische und soziokulturelle Differenzen: Geschlechtsspezifisch betrachtet, hätten Jungen mehr ›Jäger-Gene‹ und Mädchen mehr ›Farmer-Gene‹, kulturspezifisch betrachtet, seien die Meltingpot-Kulturen der Neuen Welt wie die USA oder Australien von ›Jäger-Genen‹ dominiert, Altweltkulturen dagegen von ›Farmer-Genen‹. Die Symptome einer ADHS sprächen dafür, dass bei den Betroffenen die ›Jäger-Gene‹ überwiegen würden. Diese Gene seien unter bestimmten Lebensbedingungen von Vorteil, nämlich bei der Jagd. Dort seien eine schnelle Aufmerksamkeitsverschiebung und eine starke motorische Aktivität überlebensnotwendige und damit bestens angepasste Fähigkeiten. Jäger müssten ständig ihre Blicke streifen lassen, um frühzeitig zu erkennen, wann eine potenzielle Beute auftaucht oder aber sie stehen in Gefahr, selbst zu einer Beute zu werden. Anschließend müssten sie sofort angreifen oder fliehen können. Um unter solchen Bedingungen erfolgreich zu sein, sei es zudem notwendig, Sicherheitserwägungen für Leib und Leben hinter die Bereitschaft zurückzustellen, Leib und Leben für eine reiche Beute zu riskieren, was Unempfindlichkeit gegenüber Schmerzen einschließe. Riskantes Handeln und Schmerzunempfindlichkeit werde aber auch bei Menschen mit einer ADHS beobachtet. Unter veränderten Lebensbedingungen wird aus einem Vorteil ein Nachteil. Somit würden Menschen, bei denen ›Jäger-Gene‹ überwiegen, in einer Farmerkultur zwangsläufig als unangepasst auffallen müssen. Nimmt man Hartmann beim Wort, dann wären Altweltkulturen und von Frauen geprägte Kulturen solche Farmerkulturen. Wenn die ›Jäger‹ in solchen Kulturen auffällig werden, dann führt das in der Regel zu einer negativen Bewertung. Dagegen versucht Hartmann eine positive Bewertung zu lancieren und ist deshalb entsetzt, weil er auf konservative gesellschaftliche Gruppen trifft, die sein Modell nutzen, um Menschen mit einer ADHS – wie er es formuliert – als »neue Untermenschen« (vgl. Hartmann 2000) zu stigmatisieren. Für Hartmann dagegen markieren moderne ›Jäger‹ den gesellschaftlichen Fortschritt, zumindest den wirtschaftlichen. So verweist er darauf, dass die Phänomenologie der ADHS der Beschreibung von Entrepreneuren ähnle, wie sie in der arbeits- und organisationswissenschaftlichen Literatur zu finden ist (vgl. Caird 1993). Der Unternehmer, aber auch der 269
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unternehmerisch handelnde Angestellte, der Intrapreneur (vgl. Pinchot 1988), sind seine Helden eines kapitalistischen Wirtschaftssystems, in dem Profite über eine kontinuierliche, zunehmend forcierte Erneuerung erzielt werden, was impliziert, auch Bewährtes erneuerungsbedürftig aussehen zu lassen. So gesehen, sind der Entrepreneur und der Intrapreneur ihrem Habitus nach ›Jäger‹ – jederzeit hellwach und auf dem Sprung, auftauchende Gelegenheiten zu nutzen, um Profit zu machen, und von diesen Gelegenheiten sofort zu lassen, sobald neue Gelegenheiten mehr Profit versprechen. Die Schattenseite dieser Vision wird beleuchtet, wenn man nicht zuletzt auf dem Hintergrund der aktuellen Finanzkrise den metaphorischen Gebrauch der ADHS ernst nimmt, wie er sich in einem wirtschaftswissenschaftlichen Text findet. Dort steht von verwandter Seite geschrieben zu lesen, dass das »Finanzkapital einem hyperaktiven Kind (gleicht), unfähig, sich auch nur eine Sekunde still zu halten« (Thrift 2002: 29).
D i e n e o - l i b e r a l e V e r e i n n a h m u n g d e r AD H S Tatsächlich findet sich eine empirische Untersuchung, die belegt, dass Jungen mit einer ADHS im Erwachsenenalter annähernd vier Mal so oft Entrepreneure werden wie Jungen ohne eine ADHS (vgl. Mannuzza et al. 1993). Als vorläufiger Endpunkt einer solchen Argumentation ergeht der Vorschlag, die Bezeichnung ADHS abzuschaffen und durch die Bezeichnung »latenter unternehmerischer Persönlichkeitstyp« zu ersetzen (Gilbertson 2005)! Auch wenn der passend herausgesuchte Befunde das Gros der verfügbaren Daten unterschlägt, die belegen, dass die betroffenen Kinder, Jugendlichen und Erwachsenen eher nicht zu den erfolgreichen Gesellschaftsmitgliedern gehören, weder in der Schule noch im Beruf (vgl. Biederman/Faraone 2006), ist die Botschaft bemerkenswert: Der Neoliberalismus braucht ›Jäger‹. Damit wird die Pathologisierung der Symptome nicht zurückgewiesen, um den Eigensinn der Betroffenen zu stärken, sondern um einen vermeintlich genetisch prädisponierten Sozialcharakter zu fördern, der dem neoliberalen Umbau der kapitalistischen Gesellschaft psychostrukturell entspricht. Werden die beobachteten Auffälligkeiten dagegen pathologisiert, dann erscheint dies als eine Parteinahme für einen ebenso genetisch disponierten Sozialcharakter, der den gesellschaftlichen Fortschritt behindert. Deshalb soll an die Stelle einer Normalisierung die Kultivierung der Devianz zu einer positiven Varianz treten, an der allerdings in erster Linie ihre sozioökonomische Verwertung interessiert. 270
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D i s k u r s i ve P r o z e s s i e r u n g biomedizinischen Wissens Der beschriebene »Rahmenwechsel« macht deutlich, dass beide Seiten mit den Mitteln der Pauschalisierung und Dramatisierung operieren. Das biomedizinische Wissen, das sie dabei anführen, ist anscheinend eines jeden Zweifels enthoben. Irrtumsanfälligkeit wird kassiert und durch einen essentialistischen Wahrheitsanspruch ersetzt. Das Deutungsmuster einer genetischen Determinierung der ADHS reklamiert eindeutige Zuständigkeiten für die Naturwissenschaften, Kultur- und Gesellschaftswissenschaften mögen sich mit Randbemerkungen begnügen. Mehr noch: Die Naturwissenschaften werden als Wissenschaften inszeniert, die als Einzige ein Wissen produzieren, das frei von Interessen ist. Bleibt ihre Inszenierung unwidersprochen, müssen sich alle Kinder, Jugendlichen und Erwachsenen mit einer ADHS-Diagnose samt deren Bezugspersonen als hochgradig unvernünftig vorkommen, wenn sie sich der erwarteten Naturalisierung der Symptome nicht unterwerfen.
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AU T O R I N N E N
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AU T O R E N
Briken, Kendra, Dr., Soziologin, wissenschaftliche Assistentin am Arbeitsschwerpunkt »Organisation, Rationalisierung, Arbeit« der GoetheUniversität Frankfurt am Main, Fachbereich Gesellschaftswissenschaften. Forschungsschwerpunkte: Arbeitswelt im Wandel, Innovation als sozialer Prozess, Labour Process Theory, Produktion von Sicherheit. Kontakt: [email protected] Haubl, Rolf, Dr. Dr., Professor für Soziologie und psychoanalytische Sozialpsychologie an der Goethe-Universität sowie Direktor des Sigmund-Freud-Instituts Frankfurt am Main. Forschungsschwerpunkte: Erforschung der Emotionsnormen, Entstehung von Gewaltbereitschaft, gewalttätige Konflikte in und zwischen Gruppen. Zudem betreibt er seit langem Supervisions- und Beratungsforschung in psychodynamischsystemischer Perspektive. Kontakt: [email protected] Heinemann, Torsten, Diplom-Soziologe, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Arbeitsschwerpunkt »Biotechnologie, Natur und Gesellschaft« der Goethe-Universität Frankfurt am Main. Forschungsinteressen: Wissenschafts- und Erkenntnistheorie, Wissenschaftsgeschichte, Kultursoziologie. Kontakt: [email protected] Kurz, Constanze, Dr., Diplom-Sozialwissenschaftlerin, derzeit politische Sekretärin im IG-Metall-Vorstand, Fachbereich WirtschaftTechnologie-Umwelt, Ressort Technologie-Umwelt. Arbeitsschwer275
LEBEN MIT DEN LEBENSWISSENSCHAFTEN
punkte: Forschungs-, Technologie-, und Innovationspolitik sowie Nachhaltigkeit und Umweltpolitik. Lemke, Thomas, Dr. phil, Professor für Soziologie mit dem Schwerpunkt »Biotechnologie, Natur und Gesellschaft« am Fachbereich Gesellschaftswissenschaften der Goethe-Universität Frankfurt am Main. Arbeitsgebiete und Forschungsschwerpunkte: Gesellschaftstheorie, soziologische Theorie, Biopolitik, politische Soziologie, Wissenschafts- und Techniksoziologie. Kontakt: [email protected] Liebsch, Katharina, Dr. phil., Professorin für Soziologie mit dem Schwerpunkt Jugend- und Familiensoziologie an der Goethe-Universität Frankfurt am Main sowie Direktorin im Cornelia Goethe Centrum für die Erforschung der Geschlechterverhältnisse. Arbeitsschwerpunkte: Erforschung der konstitutionstheoretischen Ausgangslagen (Körper, Sprache, Religion) von Subjektivität und Intersubjektivität. Kontakt: [email protected] Manz, Ulrike, Dr. phil., Soziologin, seit 2006 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Fachbereich Gesellschaftswissenschaften der GoetheUniversität Frankfurt am Main, Sprecherin des DFG-geförderten Netzwerkes »Praxeologien des Körpers«. Forschungsschwerpunkte: Körpersoziologie, Wissenssoziologie, Gender Studies, Biopolitik. Kontakt: [email protected] Palfner, Sonja, Dr., Diplom-Politologin, seit 2008 Postdoktorandin am Graduiertenkolleg »Topologie der Technik« an der Technischen Universität Darmstadt. Forschungsinteressen: E-Infrastrukturentwicklungen in der Wissenschaft (E-Science), die Geschichte des Deutschen Klimarechenzentrums, Gen-Forschung und Biomedizin am Beispiel von Brustkrebs-Genen. Kontakt: [email protected] Rödel, Malaika, M.A. Philosophie, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Fachbereich Gesellschaftswissenschaften der Goethe-Universität Frankfurt am Main. Arbeitsschwerpunkte: Biopolitik, Wissenschafts- und Technikforschung, feministische und soziologische Zugänge zu Körper und Reproduktionstechnologien. Kontakt: [email protected]
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AUTORINNEN UND AUTOREN
Samerski, Silja, Dr. phil, Sozialwissenschaftlerin und Biologin, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Soziologie der LeibnizUniversität Hannover. Forschungsschwerpunkte: soziale und kulturelle Folgen von Genetik, Verwissenschaftlichung des Alltags, gesellschaftliche Auswirkungen professioneller Beratung. Kontakt: [email protected] Sänger, Eva, Dr. phil., Soziologin, Post-Doc-Fellow an der Bielefeld Graduate School in History and Sociology (BGHS). Arbeitsbereiche: Frauen- und Geschlechterforschung, Körper- und Wissenssoziologie, politische Soziologie. Kontakt: [email protected] Schlebusch, Sebastian, M.A., Ethnologe, arbeitet derzeit im Bereich HIV/AIDS-Mainstreaming des Deutschen Entwicklungsdienstes in Lilongwe, Malawi. Viehöver, Willy, Dr., Sozialwissenschaftler, wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Philosophisch-Sozialwissenschaftlichen Fakultät der Universität Augsburg. Arbeitsschwerpunkte: Soziologische Theorie, Kulturtheorie, Umweltsoziologie, Soziale Bewegungen, Policy-Analysen, Methoden qualitativer Sozialforschung. Kontakt: [email protected] Waldschmidt, Anne, Dr. rer. pol., Professorin für Soziologie und Politik der Rehabilitation und Disability Studies an der Humanwissenschaftlichen Fakultät der Universität zu Köln, leitet die Internationale Forschungsstelle Disability Studies (iDiS). Forschungsschwerpunkte: Soziologie der Behinderung und Rehabilitation, Wissenssoziologie, Körpersoziologie, Politische Soziologie, Bioethik/Biopolitik, Normalität und Abweichung, Europäische Behindertenpolitik, Disability Studies, Diskurstheorie und -analyse. Kontakt: [email protected] Wehling, Peter, PD Dr. phil., Soziologe, wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Augsburg und Privatdozent an der Universität München. Arbeitsschwerpunkte: Wissenssoziologie, Wissenschafts- und Techniksoziologie, Soziologie der Biopolitik, Gesellschaftstheorie und soziologische Theorie, Umweltsoziologie. Kontakt: [email protected]
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LEBEN MIT DEN LEBENSWISSENSCHAFTEN
Wolf, Meike, Dr., Kulturanthropologin, seit 2009 Vertretungsprofessorin am Institut für Kulturanthropologie/Europäische Ethnologie an der Goethe-Universität Frankfurt am Main. Forschungsschwerpunkte: Körperlichkeit, Risiko- und Präventionsforschung, Alter und Geschlecht. Kontakt: [email protected]
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D AN K
Die Idee zu diesem Buch sowie ein Teil der hier versammelten Beiträge gehen zurück auf eine Tagung, die unter dem Titel »Prozessierung neuen Wissens – Umgangsformen und Aneignungsweisen von Bio- und Reproduktionstechnologien« im Februar 2009 an der Goethe-Universität in Frankfurt a.M. stattfand. Für die finanzielle Unterstützung dieser Tagung sowie der Drucklegung des Sammelbandes danken wir dem Ministerium für Wissenschaft, Forschung und Kunst des Landes BadenWürttemberg. Ohne die sorgfältige und sachkundige Unterstützung unserer Kollegin Claudia Sontowski bei der Redigierung der Texte und der Erstellung des Manuskripts wäre die Arbeit an diesem Buch weniger schnell und weniger anregend gewesen. Ihr gilt unser allerherzlichster Dank. Katharina Liebsch und Ulrike Manz Frankfurt a.M. im Mai 2010
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VerKörperungen/MatteRealities – Perspektiven empirischer Wissenschaftsforschung Susanne Bauer, Christine Bischof, Stephan Gabriel Haufe, Stefan Beck, Leonore Scholze-Irrlitz (Hg.) Essen in Europa Kulturelle »Rückstände« in Nahrung und Körper Juli 2010, 196 Seiten, kart., 24,80 €, ISBN 978-3-8376-1394-0
Martin Lengwiler, Jeannette Madarász (Hg.) Das präventive Selbst Eine Kulturgeschichte moderner Gesundheitspolitik August 2010, ca. 352 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1454-1
Thomas Mathar Der digitale Patient Zu den Konsequenzen eines technowissenschaftlichen Gesundheitssystems Oktober 2010, ca. 320 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1529-6
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de
VerKörperungen/MatteRealities – Perspektiven empirischer Wissenschaftsforschung Jörg Niewöhner, Christoph Kehl, Stefan Beck (Hg.) Wie geht Kultur unter die Haut? Emergente Praxen an der Schnittstelle von Medizin, Lebens- und Sozialwissenschaft 2008, 246 Seiten, kart., 25,80 €, ISBN 978-3-89942-926-8
Sonja Palfner Gen-Passagen Molekularbiologische und medizinische Praktiken im Umgang mit Brustkrebs-Genen. Wissen – Technologie – Diagnostik 2009, 390 Seiten, kart., 33,80 €, ISBN 978-3-8376-1214-1
Willy Viehöver, Peter Wehling (Hg.) Entgrenzung der Medizin Von der Heilkunst zur Verbesserung des Menschen? Oktober 2010, ca. 300 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1319-3
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de