Wovon die Seele berührt wird - und wie sie unser Leben bewegt 9783666462429, 3525462425, 9783525462423


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Wovon die Seele berührt wird - und wie sie unser Leben bewegt
 9783666462429, 3525462425, 9783525462423

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Gerhard Liebetrau

Wovon die Seele berührt wird – und wie sie unser Leben bewegt

Mit 2 Abbildungen und einer Tabelle

Vandenhoeck & Ruprecht

Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar. ISBN 3-525-46242-5 Umschlagabbildung: Claude Monet, Der Garten in Giverny (Ausschnitt), 1922/26, Öl auf Leinwand, 93 × 74 cm. © 2006, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen / www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Hinweis zu § 52a UrhG: Weder das Werk noch seine Teile dürfen ohne vorherige schriftliche Einwilligung des Verlages öffentlich zugänglich gemacht werden. Dies gilt auch bei einer entsprechenden Nutzung für Lehr- und Unterrichtszwecke. Printed in Germany. Satz: Satzspiegel, Nörten-Hardenberg Druck und Bindung: Hubert & Co., Göttingen Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.

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Gewidmet allen, die meine Seele berührten

Vorwort

Aus der Geschichte können wir lernen, dass es zu allen Zeiten Unruhen und Kriege gab. Abgesehen davon war das Leben der Menschen immer aus vielerlei Gründen existenziell gefährdet. Es dauerte in seinen Anfängen allenfalls so lange, bis Nachwuchs geboren und zum Überleben versorgt war. Die durchschnittliche Lebenserwartung dürfte nicht sehr viel höher gelegen haben. Die Unbilden der Natur, Ernährungsmängel sowie unheilbare Erkrankungen haben das Leben seinerzeit fraglos erheblich verkürzt. Danach vollzogen sich bewundernswerte Veränderungen in der Lebenshaltung und -gestaltung. Man lernte, sich in der Natur besser zu schützen und sie schließlich, im Verein mit Fortschritten der Heilkunde, zur Gesunderhaltung zu nutzen. Dies mag jedoch nicht deutlich lebensverlängernd gewirkt haben, denn »bis 1600, wo wir den Beginn der industriellen Entwicklung ansetzen, lag die durchschnittliche Lebenserwartung bei 25 Jahren« (Piel 1994, zit. nach Brockhaus 2004). Später sind allerdings erhebliche Entwicklungssprünge zu verzeichnen. Allein von 1950 bis 2000 wuchs die Lebenserwartung der Weltbevölkerung (jeweils bei Geburt) von 46,7 auf 65,5 Jahre.1 Unruhen, Kriege, Naturkatastrophen gefährden nach wie vor das menschliche Leben. Dennoch behauptet und entwickelt es zunehmend seine erstaunliche Potenz in allen Bereichen des individuell und global wahrgenommenen Daseins. Man muss sich in diesem Zusammenhang doch fragen: Wie ist das Agens zu benennen, das – laut Duden – als »tätiges Wesen oder Prinzip« dem menschlichen Leben seine Dynamik und die Fähigkeit zur Selbst1 Hochgerechnete Tabelle 13-10 in »Global 2000«, S. 533; sie findet im Brockhaus 2004 Bestätigung.

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gestaltung verleiht? In den zweitausend Jahren bekannter Geistesgeschichte ist diese Kraft Seele genannt worden. Immer ging man davon aus, dass sie dem Leben von vornherein innewohnt. Ihre Potenz äußert sich in der aktiven Begegnung mit dem, was die Seele berührt. Gemeint ist dies zum einen in dem Sinne, dass sie von sich aus zugreifend berührt, was sie in der Welt vorfindet und ihr bedeutsam erscheint. Zum anderen antwortet sie aber auch auf Berührungen, die sie von außen kommend betreffen. Damit ist der elementare Prozess der Auseinandersetzung angesprochen, den jeder einzelne Mensch kontinuierlich mit sich in der Welt bewusst erlebt und zu bearbeiten versucht. Die Bewusstheit des Erlebens und Bearbeitens seiner abhängigen Beziehungen von anderen Menschen, von ihn umgebenden Räumlichkeiten, zeitlichen Gegebenheiten und Wertorientierungen hebt den Menschen von allen anderen Lebewesen ab, mit denen er sich die Erde teilt. Im Ergebnis bildet er dabei Verhaltensmuster heraus, die es ihm ermöglichen, auf wechselnde Lebensbedingungen jeweils bedürfnisentsprechend zu reagieren. Die flexible Ausbildung solcher Muster im Zusammenhang mit sich ändernden Bedingungen meines eigenen Daseins ist von jeher Gegenstand des mich selbst bewegenden Interesses gewesen. Insbesondere bezog sich dies auf meine Begegnungen mit anderen Menschen. Entsprechende Erfahrungen formten meinen Lebensweg und wurden schließlich auch in meiner beruflichen Tätigkeit als Lehrer, Psychologe und Psychotherapeut verwertbar. Immer ging und geht es um die verstehende Betrachtung dessen, was meine beziehungsweise unsere Menschenseele bewegt. Ich lade die Leserinnen und Leser ein, mich dabei mit ihrem je eigenen Spiegel zu begleiten.

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Was meint »Seele«?

Umgangssprachlich ist die Seele sehr real, »Essen und Trinken hält Leib und Seele zusammen«. In dem viel besungenen »Ännchen von Tharau« wird sie sogar direkt angesprochen: »Du meine Seele, mein Fleisch und mein Blut.« Zwei Menschen können offenbar »ein Herz und eine Seele« sein. Mancher Mensch bekennt, sogar »zwei Seelen in der Brust« zu tragen, die sich noch nicht einmal gut verstehen, weil jede sich, ach, von der anderen trennen will. Gilt für die »zwei Seelen, ein Gedanke«? Wenn ihre Trennung gelänge, dann hätte »die liebe Seele Ruh«. Anderen dagegen ist in ihrem Erleben die Erkenntnis vergönnt: »Himmelhoch jauchzend, zu Tode betrübt – glücklich allein ist die Seele, die liebt« (aus Goethes »Egmont«, III, 2). Goethe philosophiert dazu: »Seele des Menschen, wie gleichst du dem Wasser! – Schicksal des Menschen, wie gleichst du dem Wind!«2 Wie soll man dann aber »jemanden etwas auf die Seele binden« können? In diesem Buch spreche ich der Seele den hohen Stellenwert zu, den sie meiner Meinung nach für die Qualität des menschlichen Zusammenlebens haben sollte. Sie ist die begriffliche Klammer, durch die alle menschlichen Lebewesen über jede individuelle Differenz hinweg einander verwandt und miteinander verbunden sind. Ihr haftet nichts Kleinliches, kein Detailzerfall an. Seele ist in diesem Sinne ein emotional grundsätzlich positiv besetzter Ganzheitsbegriff. Er wird mit Achtung und Respekt bedacht, indem er elementare Tiefenschichten der Person anspricht. Es ist jedoch unüblich, den Begriff Seele zu gebrauchen, weil er inhaltlich nicht eindeutig begriffen werden kann. Erklärt 2 »Gesang der Geister über den Wassern«, letzter Vers (Goethe, Gedichte, S. 255).

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das auch die Scheu, ihn mit Bezug auf sich und andere zu verwenden? Oder glaubt man, die Seele durch eine häufige und vorschnelle Exponierung zu missbrauchen und sie dadurch zu entwerten? Was ist der Grund dafür, dass sie im üblichen Sprachgebrauch gemieden und allenfalls in Enklaven der Religion und Kunst wertgeschätzt ist? Kann man den Sinn der Menschen – auch in ihrem Dasein als Einzelwesen – existenziell erfassen und gelten lassen, ohne das menschliche Dasein beseelt zu sehen? Was hat Ihnen denn, liebe Leser, Ihre unverwechselbare Seele eingehaucht? – Zum einen wurde sie per Zeugung übertragen und übernommen. Sensibilität und Beeindruckbarkeit gehören als grundlegende Wesensmerkmale dazu. Ohne sie wäre die Gestaltwerdung einer je eigenen Art von Seele (also der Eigenart) gar nicht möglich. Zum anderen gewinnt sie ihre individuelle Wesensart in mehr oder weniger tiefgreifenden Berührungen mit Menschen, Räumen, Zeiten und Werten. Dem wird auf den nachfolgenden Seiten nachgegangen. Ich habe mich dafür entschieden, hier vor allem konstruktive Merkmale seelischer Berührungen darzustellen. Destruktive, schädigende Berührungen der Seele bleiben deshalb zunächst außer Betracht, obgleich sie natürlich mindestens gleich bedeutsam sind.3

Zur Geschichte der Seele Seele wird jedem Wesen zugesprochen, insbesondere uns Menschen, aber auch Tieren, ja sogar den Pflanzen, obgleich niemand sie direkt wahrnehmen oder beschreiben kann. Sie existiert als geistige Gestalt und fordert in ihrer Unfassbarkeit seit eh und je die Menschen heraus. In verschiedenen Religionen durchläuft sie auf ihrem langen individuellen Läuterungsweg seit mehr als zweitausend Jahren zahllose Existenzen, was mit dem Begriff der Seelenwanderung gekennzeichnet ist. Plato (427–347 v. Chr.) 3 Diese thematische Ergänzung wird für ein anderes Buch vorbereitet.

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setzte sie mit einer höchsten und allgemeinsten Idee gleich, der Idee des Guten. Auch für ihn existieren Ideen ewig und unveränderlich. In diesem Sinne können sie nicht sinnlich erdacht, sondern nur erinnert werden, denn sie sind immer da, also bereits noch bevor sie wahrgenommen werden können! Konkret Wahrgenommenes versteht er als Abbilder oder Schatten der Ideen. Deshalb gibt es kein Wissen von realen Gegebenheiten, sondern wir bilden uns nur Meinungen darüber. Sein Schüler Aristoteles (384–322 v. Chr.) hielt die Seele für eine dem Körper innewohnende und zielgerichtete Kraft, die das Leben verwirklicht. In seinem Werk »Über die Seele« definierte er sie als universelle Lebenskraft, die allen Lebewesen und Pflanzen innewohnt. Ich halte es für sinnvoll, die Vergangenheit darüber zu befragen, was Seele sei, denn sie ist wichtiger Teil unserer Menschengeschichte und unseres Selbstverständnisses. Bis ins 19. Jahrhundert hinein beschäftigten sich alle Philosophen mit ihr, insbesondere mit ihrer Wechselbeziehung zum Leib. Als Begriff ging sie in der Gegenwart fast verloren, fristet allenfalls noch in den Künsten ihr lyrisches Schattendasein. Der stattdessen gebräuchlichere Begriff Psyche heißt im Griechischen Atem oder Hauch. In dieser Bezeichnung kommt die relativ unstofflichgeistartige Eigenschaft zum Ausdruck, die man der Seele zuschreibt. Nach wie vor wird ihr Unsterblichkeit zugesprochen, wonach sie nicht mit dem Zerfall des Körpers vergeht. Manche Urnen, die der Aufnahme des Leichenbrandes dienten, weisen Seelenlöcher auf (z. B. bei den Illyrern), durch die die Seelen der Verstorbenen ihrem irdischen Gefängnis entweichen konnten. Den menschlichen Atem verspüren wir bei entsprechender Nähe als Hauch. Wir verspüren sie! Ist sie also doch nicht so ganz unstofflich? So uneindeutig Seele oder Psyche auch verstanden sein mag, ist sie doch ein gefühltes und erdachtes, auf jede Person bezogenes Gebilde, zu dessen persönlich eigener Art jeder sich bekennt. Niemand lebt seelenlos. Des Weiteren gehen wir davon aus, dass wir uns ihrer nicht in Form eines starren Urzustands inne sind, der sich nie wandelt. Ständig sind wir in Berührung mit immer neu zu bestehenden Herausforderungen des Daseins. Das damit ver13

bundene eigene Wachstum nennen wir auch seelische Reifung, was nichts anderes heißt, als dass die Seele lernfähig ist. Die Kinderseele ist in ihrer zugewendeten Offenheit beeindruckbar, empfängt in vielerlei Berührungen mit Menschen, Dingen, Tieren, zeitlichen Erfahrungswerten ihre Eindrücke, wird also geprägt. Sie differenziert dabei ihr ganzheitliches Dasein durch Bedürfnisse, bewusste Wahrnehmungen, unbewusste Hemmungen, erlebte Gefühle, nutzbares Wissen, gedankliche Aktivitäten, bewahrte Erinnerungen, hoffende oder befürchtete Erwartungen, offene Wünsche. Die noch kindlichen Dimensionen der Kinderseele sind offensichtlich schon relativ weiträumig und insgesamt sinnvoll stimmig aufeinander bezogen. Mit dem Älterwerden werden sie zunehmend tiefer, dauerhafter und eindrucksvoller geprägt von der Geschichte ihres Erlebens und bilden darin ihre individuelle Eigenart ab. Durch die immer weiter gehendere Differenzierung von Bedürfnissen und Daseinsmustern in der Berührung mit dem je Gegebenen werden aus Kindern und Jugendlichen Erwachsene, so dass der Mensch sich zu dem entwickelt, der er schließlich ist. Im zweiten Teil des »Faust« lässt Goethe seinen Schüler Wagner in der Retorte einen künstlichen Menschen schaffen, den »Homunkulus«. Nehmen wir einmal an, das Unterfangen hätte sich nicht nur auf den physischen, sondern auch auf den seelischen Bauplan bezogen, was wäre dafür ganz speziell vonnöten gewesen? Den körperlich-sinnlichen Gegebenheiten wären noch unkörperliche hinzuzufügen, wie Wachheit, Bedürfnis, Gefühl, Wille, Neugier, Verstand, Erfahrung, Gedächtnis und Wissen. »Nichts ist im Verstand, was nicht vorher in den Sinnen war«, stellte 1748 der schottische Philosoph David Hume (1711–1776) in seiner »Untersuchung in Betreff des menschlichen Verstandes« fest. Beides hängt danach zusammen und voneinander ab: Körper und Seele bedingen einander. Der Körper ist von konkret wahrnehmbarer und fassbarer materieller Beschaffenheit. Für Hume war die Seele dagegen ein immaterielles, nicht konkret fassbares »Bündel von Bewusstseinsinhalten«.

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Seelen-Wissenschaft Die Psychologie als die »Wissenschaft von der Seele« hat sich erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts etabliert, ohne nachgewiesen zu haben, was und wie »Seele« eigentlich ist. Deshalb wird sie in der Sicht von Naturwissenschaftlern auch als »seelenlose Wissenschaft« bezeichnet, die über keinen eigenen Forschungsgegenstand verfügt. Für Wilhelm Wundt ist »der Begriff der Seele eine Hülfskraft der Psychologie«, nur »insofern unentbehrlich, als wir durchaus eines die Gesamtheit der psychischen Erfahrungen eines individuellen Bewusstseins zusammenfassenden Begriffs bedürfen«.4 Seele ist substanziell nicht nachzuweisen und lässt sich folglich auch nicht untersuchen. Als Bezeichnung für die Gesamtheit aller bewussten und unbewussten Erlebens- und Verhaltensweisen bleibt sie auf die dementsprechenden Funktionen beschränkt. Dazu gehören Empfindung, Wahrnehmung, Denken, Lernen oder Gedächtnis. Deren Basis sind physiologische Prozesse im Gehirn und im gesamten Nervensystem. Diese psychischen Funktionen sind bewährten experimentell-naturwissenschaftlichen Untersuchungsmethoden durchaus zugänglich, die Seele selbst jedoch nicht. Dem Anspruch auf Wissenschaftlichkeit konnte eher der Begriff Psyche genügen, zumal er fremdwörtlich griechisch klingt. Er meint im Grunde das Gleiche, ist jedoch bedeutungsmäßig nicht vorgeprägt durch eine tradierte Abhängigkeit von Kultur, Geschichte oder Religion. Die psychologische Forschung suchte von Anfang an nach Elementen seelischer Befindlichkeiten und folgte dabei weitgehend den durch viele Jahrhunderte ausgearbeiteten Erkenntnissen und Verfahrensweisen der Medizin. Gesucht wurden kleinste »Zellen«, aus denen der »psychische Organismus« besteht. Dazu bediente sie sich vor allem zunächst quantifizierender Untersuchungsmethoden um psychische Prozesse zu messen (vgl. 4 Wilhelm Wundt (1832–1920) gründete 1879 an der Universität Leipzig das erste Psychologische Institut der Welt.

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Sonntag),5 zum Beispiel sinnliche Empfindungen, unterschiedliches Leistungsverhalten, verschiedene Fähigkeiten (Intelligenz, Talent, Kompetenz etc.), Sozialverhalten, Frustrationstoleranz oder Belastbarkeit. Aus den Ergebnissen wurden Hypothesen zu vermuteten psychischen Gesetzmäßigkeiten abgeleitet, die darüber hinaus auch nach statistischen Beweisführungen verlangten. So ergab sich in akribischer Detailarbeit nach und nach zwar ein recht umfassendes Inventar verschiedenster seelischer Tatbestände, ohne dass damit jedoch auch schon die Ganzheitlichkeit komplexer Erlebens- und Verhaltensprozesse zufrieden stellend verstanden werden konnte. Das seelische Ganze ist eben etwas qualitativ Anderes, als die Summe seiner Teile. Qualitative Untersuchungsmethoden fanden relativ spät Eingang in die psychologische Forschung. Dabei geht es in der Hauptsache nicht um Häufigkeitsverteilungen, sondern um Gütekriterien. In welcher Qualität und mit welchem Gefühl etwas erlebt wird, ist hier wichtiger, als »wie stark«, »wie oft« oder »wie lange« es geschieht. Natürlich ist es schwierig, qualitativ eindeutige Unterscheidungsmerkmale zu definieren, die sich ihrem Aussagegehalt nach für die psychologische Forschung als verwertbar erweisen. Das ist sicherlich immer im Zusammenhang mit der jeweiligen Fragestellung, dem Ziel der Untersuchung, den angewendeten Methoden und den Kriterien zu sehen, nach denen die Ergebnisse gewichtet werden. Aber auch unter diesen Voraussetzungen ist psychologische Forschung möglich, die unter Umständen auch noch quantifizierte Daten und deren sinnvolle statistische Bearbeitung zulassen. Mit der Entdeckung des Unterbewusstseins eröffnete Sigmund Freud (1856–1939) als Begründer der Psychoanalyse ein weites Forschungsfeld, das nur qualitativ zu erschließen war. Im Jahr 1900 erschien sein Werk »Die Traumdeutung«. Ein Traum ist nicht zu berechnen, sondern nur in Bezug auf seinen für den Träumer bedeutsamen Sinngehalt zu verstehen. Auch das wird von vielen nicht für eine akzeptable wissenschaftliche Wahrheitssuche gehal5 Der Verwissenschaftlichung der Welt fällt »die Seele als Gegenstand des Wissens zum Opfer«, Sonntag 2001, S. 361.

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ten.Es wirft dann freilich Fragen danach auf,was Wissenschaft und Wahrheit sei. Ohne die umfangreiche Literatur zu diesen Themen sichten zu wollen, fragen wir nach der Wissenschaftlichkeit der Psychologie, im Speziellen der Psychologie des Unterbewusstseins, die unter dem Begriff Tiefenpsychologie unterschiedliche Ansätze zusammenfasst. Wenn wir schlicht von der Begrifflichkeit ausgehen, wird zu prüfen sein, ob sie für Menschen Wissen schafft, das sie ihnen auch verfügbar machen kann. Was wäre Wissenschaft denn sonst? Geschaffen hat sich die Tiefenpsychologie in hundert Jahren ein weites Feld akademischer und psychotherapeutischer Betriebsamkeit, die in vielen Bibliotheken einen breiten Raum und somit in unserer Kultur ihren Niederschlag gefunden hat. Weiter kann man fragen: Ist es denn wahr, nachvollziehbar, was Tiefenpsychologie belegt? Stimmt das alles und nützt es was? – Gegenfrage: Wo finden sich objektive Befunde für oder gegen ihre individuell bezeugten »Wahrheiten«? Unter diesem Blickwinkel fehlt den Fragen der wissenschaftliche Bezug, weil die Belege ausschließlich subjektiv erbracht werden können. Das Bewusstsein kann ernsthaft nicht angezweifelt werden, denn, wie Descartes (1596–1650) in lapidarer Beweisführung im 1637 erschienen »Discours de la méthode« feststellte: »cogito ergo sum« = »Ich denke, also bin ich«. Läge nach Freud nicht eine ähnliche Ableitung nahe, etwa: »Ich träume, also formuliert sich aus der Tiefe meiner Seele das Erleben in einer besonderen Sprache!«? Das Unterbewusste vermischt sich mit dem Bewusstsein, indem es sich wahrnehmbar äußert mit Ängsten, Sehnsüchten, Zweifeln, Ahnungen, Seligkeiten, Traumbildern, Verstimmungen, unterschwelligen Erinnerungen, Hemmnissen oder Selbstvertrauen. Menschen erfahren, dass sich bestimmte Erlebnisse und Verhaltensmuster ihres eigenen Seelenlebens regelhaft wiederholen. Darin entdecken sie ihr seelisches Inventar sowie psychische Gesetzmäßigkeiten und akzeptieren dies am Ende, ohne im Einzelnen weitere Beweisführungen zu brauchen. Jeder hat staunend erfahren müssen, dass er von Impulsen getrieben worden ist, etwas zu tun oder zu lassen, was er nachsinnend zunächst selbst nicht verstehen konnte. In der Regel nimmt man das schließlich als gegeben und für den Moment stimmig hin. Aber auch wenn 17

er schließlich nach zeitlichem Abstand oder mit fremder Hilfe, eine plausible Erklärung für das Unerklärliche gesucht und gefunden hat, kann sich am Ende dennoch herausstellen, dass er die »wahren« Gründe nicht zu erkennen vermochte. Etwas zu vergessen, zu verlegen, zu wiederholen, sich zu irren, zu verlaufen, zu über- oder unterschätzen kann zwar mit den Mitteln des Verstands »vernünftige« Erklärungen finden, möglicherweise bieten jedoch tiefer liegende, unbewusste Begründungen noch schlüssigere Zusammenhänge. Träume »ohne Sinn und Verstand« hinterlassen trotz vieler Vorbehalte manchmal das Gefühl, verschlüsselte Wahrheiten anzudeuten, deren Botschaft man gern auf die Spur kommen möchte. Sie rühren etwas an, das erkundet werden will. Das Staunen kann sich zu bedeutsamen Erkenntnissen entwickeln, wenn Träume und ihre Themen sinngebend »entschlüsselt« werden. Es ist unsinnig entsprechende Ergebnisse mit objektiven Kriterien bewerten zu wollen. Richtig oder falsch kann eine Addition sein, nicht das Ergebnis einer Folge von Erlebnissen. Über erkannte Traum-Wahrheiten stünde nur dem Träumer ein Urteil zu, niemandem sonst. Es soll und kann nicht darum gehen, die eine oder andere »Wissenschaftlichkeit« für unsere Erörterungen über die Berührungen der Seele gelten lassen zu wollen. Darin würde sich ungewollt ein die Realität und das Gemeinte verkürzendes Missverständnis ausdrücken. Die Absicht und Tendenz des Gesagten zielt vielmehr auf Erweiterungen nicht auf Ausschließlichkeit des Einen um das Andere: Sowohl strenge Grundlagenforschung zum Gewinn objektivierter psychischer Befunde ist nötig als auch an subjektiven Befindlichkeiten erhobene Regelhaftigkeiten menschlichen Erlebens und Verhaltens. Die Wirklichkeit bietet zu ihrem ganzheitlichen Verständnis objektive und subjektive Zugänge, von denen keiner über- oder unterbewertet werden sollte.

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Dasein im Kontakt

Seele und Psyche wurden als sinnverwandt verstanden. Ähnlich verhält es sich mit den Begriffen Berührung, der schon im Buchtitel vorkommt, und Kontakt, der später im Text verwendet wird. Berührung kann konkret auf den Tastsinn bezogen sein, findet sich aber auch in Äußerungen wie: »Das hat mein Herz berührt«, »Ich war ganz gerührt!«, »Es berührt meine Ehre!« Diese Art von Berührungen vollziehen sich nicht physisch-direkt, eher psychisch-indirekt. Kontakt meint auch Berührung, enthält wohl zudem noch eine Dimension von Verbindung. In diesem Sinne werden Berührung und Kontakt im Buch wechselweise gebraucht. Zwischen ihnen erkenne ich die dünne Membran von subtil Erfühltem und konkret Wahrgenommenem. Zugegeben: Die Grenzen fließen. Leben ist die Daseinsform aller Organismen, die sich durch biochemische Stoff- und Energiewechselvorgänge entwickeln und erhalten. Es ist von gewissen begünstigenden Umweltbedingungen abhängig (Temperatur, bestimmtes Luftgemisch, Nährstoffe, Fortpflanzungsmöglichkeit, Bewegungsspielraum etc.). Insoweit sind Kontakte zwangsläufig differenziert existenznotwendig. Philosophisch wird Leben darüber hinaus als eine metaphysische Gegebenheit verstanden, nach der das Sein an sich in seinen Zusammenhängen letztlich weder erfahren noch erkannt werden kann. Leben existiert nur in Verbindungen. Ganz grundsätzlich gesehen verbinden sich im Leben Materie und seelisch-geistiges Dasein, zumindest in Bezug zum Menschen. Dasein bezeichnet den komplexen Ist-Zustand aller Kontakte von Einzelwesen: zu ihresgleichen, zum beherbergenden Raum, zur durchlebten Zeit und zu Werten, die dem Leben seinen je speziellen Sinn verleihen. »Das In-der-Welt-Sein des Menschen bedeutet, dass er von der 19

Welt berührt werden und diese von ihm verstanden werden kann. Jedes Berührtwerden und Verstehenkönnen setzt ein ursprüngliches Weltoffensein voraus, das einem lediglich vorhandenen Gegenstand oder Funktionssystem abgeht. Somit kann man beispielsweise vom Menschen nicht sagen, er sehe, weil er Augen, er höre, weil er Ohren habe; der Mensch kann nicht einmal zärtlich streicheln oder zuschlagen, weil er Hände, oder gehen, weil er Beine hat. Vielmehr hat er Augen, Ohren, Arme und Beine, weil er primär ein sehendes, hörendes Wesen ist, dem die Möglichkeiten des tätigen, liebenden und hassenden Verhaltens gegeben sind, der sich fortbewegen kann. Aus diesem Grunde und kraft der ihm gegebenen Bedingungen geht der Mensch mit Leib und Seele in seinem Bezughaben zu den Dingen und Mitmenschen auf« (Binswanger6 1942, zit. nach Condrau 1979, S. 201). Berührung wie Kontakt werden nur bemerkt, wenn der Mensch dem wach begegnet, was um ihn herum existiert. Seine Sinne sind die Tore, durch die Eingang findet, was ist. Das gilt, so lange er sie offen hält. Das Gegebene kann sich allerdings kraft seiner eigenen Dynamik Einlass verschaffen, selbst wenn es nicht eingeladen ist. Man denke beispielsweise an lautes Geschrei, Erleiden von Verletzungen, Infektionen, unerwünschte Zudringlichkeiten. Gegen solche »Berührungen« kann man sich vielleicht wehren und schützen. Andere wird man gern zulassen oder gar herbeiführen, wenn sie anziehend wirken, zur Teilnahme einladen, so dass man dabei sein und berührt sein möchte. Das umschreibt ein zugewendetes Interesse, durch das Unbekanntes kennen gelernt und Fremdes vertraut gemacht werden kann. Interesse ist Orientierungshilfe und ein die Erfahrung erweiternder Lernimpuls zugleich. Es verschafft Eindrücke, die so oder so verwertet werden. In diesem Sinne hinterlassen Berührungen beziehungsweise Kontakte Spuren, formen den Charakter, was nichts anderes heißt als das Eingeprägte, die Eigenart. Der Mensch wird von dem geformt, was ihn im Lauf seines Lebens bedeutsam berührt hat. Seine Seele wird gebildet, »hat Bildung«, könnte man 6 Ludwig Binswanger (1881–1966) begründete die daseinsanalytische Forschungsrichtung und Psychotherapie.

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im erweiterten Sinn sagen. Dazu ein persönliches Bild aus meinem eigenen Leben:

Wer trägt lange Hosen? Als Kind wurde ich in eine Welt hineingeboren, die sich mir verwirrend vielgestaltig darbot. Am aufdringlichsten waren die Menschen. Sie traten nahe an mich heran, beeinflussten meine Orientierung und veränderten meine Befindlichkeit. Es gab große und kleine Menschen, deren Verhalten zunächst jeweils nicht einzuschätzen war und willkürlich schien. Erst im Lauf der Zeit ergaben sich durch deren Wiederholungen des Gleichen vorhersehbare Gesetzmäßigkeiten, mit denen ich rechnen konnte und musste. Auch räumliche Gegebenheiten forderten zu Begegnungen heraus und vermittelten Eindrücke, nach denen ich mich zu orientieren vermochte. Andere Abfolgen des Gleichen vollzogen sich erfahrungsgemäß nacheinander und zu bestimmten Zeiten im Tageslauf: Schlafen und Essen, später Schlafen/Essen/neugierige Erkundung dessen, was da ist und wie es sich verhält, wenn ich es berührte, mit Mund und Händen betastete. Dabei erfuhr ich, was sich gut oder ungut anfühlt, lecker oder schlecht schmeckt, nicht aus dem Weg geht oder nachgiebig Platz macht. So lernte ich zu erkennen, wie meine Welt beschaffen war und wie ich mich in ihr mit meinen Bedürfnissen zurechtfinden konnte. Spätestens als Schulkind lernte ich Merkmale einer Ordnung kennen, nach der das Zusammenleben aller Menschen organisiert zu sein schien. Ich erhielt eine Schülermütze, die mich als Schüler einer bestimmten Klasse der Knaben-Volksschule kennzeichnete, welche ich regelmäßig leistungsbetont aufzusuchen hatte. Das war ohne mein Zutun vororganisiert. Ich nahm es wohl einfach zur Kenntnis. Anders verhielt es sich mit gewissen Entdeckungen, die ich an unterscheidbaren Äußerlichkeiten festmachen konnte. So erkannte ich seinerzeit, dass kurze Hosen nur von kleinen Jungen getragen wurden. Wer lange Hosen trug, war groß und verhielt sich »erwachsen«. In diesem Bezugsrahmen verstand sich der fünfjährige Knabe anfangs der dreißiger Jahre. 21

Langbehoste hatten meist eine tiefe Stimme, waren so stark wie schlau und konnten gehen, wohin sie wollten. Wer lange Hosen trug, durfte offensichtlich überall dabei sein und mitreden. Kurzbehoste hatten grundsätzlich zu warten und zu gehorchen. Kleine Mädchen mussten zwar auch warten, brauchten aber nicht so zwingend zu gehorchen oder waren von sich aus schon folgsamer. Mit der ersten langen Hose zum Konfirmanden-Anzug sollte sich angeblich alles ändern, weil ich in die »Gemeinschaft der Erwachsenen« aufgenommen wurde. Die einzige wirklich bemerkenswerte Änderung bestand jedoch nur darin, mal an Vaters Bier nippen zu dürfen, was ich, wenn möglich, vorher heimlich ohnehin öfter schon getan hatte. Die weiter reichende Bedeutung langer Hosen erkannte ich später: Sie waren augenscheinlich »Entwicklungskriterien« sowohl für den sozialen Stand als auch für die emotionale Selbsteinschätzung seines Trägers. Sie symbolisierten Fähigkeiten, aber auch gewisse Rechte, eigene Bedürfnisse zugestandenermaßen verwirklichen zu dürfen. Sie waren tradierte Positionsmerkmale des je persönlichen Reifegrads und der sozialen Rolle. Irgendwie scheinen solche relativ eindeutigen Kriterien im Verlauf des vergangenen Jahrhunderts verwischt worden zu sein. Textile Wandlungen kennzeichnen oft genug historische Veränderungen. In einem Sinnspruch von Logau7 heißt es gar: »Wie sich’s wandelt außen, wandelt sich’s auch innen.« Eine Pluderhose entspricht einem anderen Lebensgefühl als Leggins. »Kleider machen Leute«, behauptete Gottfried Keller (1819–1890)8. Inzwischen trägt doch jede und jeder lange Hosen! Sind wir damit tatsächlich insgesamt erwachsener geworden? Sind etwa langbehoste Frauen im Lauf weniger Jahrzehnte »männlicher« geworden, oder vereindeutigt sich damit nicht eher die Wandlung ihres sozial-emotionalen Selbstverständnisses im Sinne einer entsprechenden Gleichwertigkeit? 7 Friedrich v. Logau (1604–1655) ist Verfasser vieler prägnanter Sinngedichte, vgl. Glaser et al. 1963, S. 98ff. 8 Gleichnamiger Titel einer Novelle in der Sammlung: »Die Leute von Seldwyla« (in: Glaser et al. 1963, Bd. 2, S. 9–54).

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Es wird zudem behauptet, wer die Hosen anhat, hätte auch was zu sagen. Wenn das wahr ist, hätten wir alle was zu sagen – verallgemeinernd weitergedacht –, sollten wir dies auch so wollen. Es gibt immer wieder und überall Menschen, die nie in die hier so genannten »langen Hosen« hineinwachsen wollen, denn diese symbolisieren Reife und Verantwortung. Welche Art innerer Befreiung von welchen Zwängen wird eigentlich durch die weltweit rasante Verbreitung der Bluejeans markiert? Jeans vermitteln ein Image von Solidität, Einfachheit, Robustheit und Anspruchslosigkeit. Einerseits scheinen sie den um Echtheit bemühten, bescheidenen Lebensstil zu demonstrieren, andererseits verbergen sie aber wohl auch den ambivalenten Anspruch auf souveräne Unabhängigkeit vom »besonderen Geschmack«, obgleich man sich dennoch auch dem angleicht, was gängig ist. Kennzeichnen die Jeans soziale und emotionale Veränderungen einer gesellschaftlichen und individuellen Kultur? Welche »Qualitätsmarken« hängen heute an unseren Hosen? Ohne das Hosen-Beispiel noch mehr strapazieren zu wollen, muss doch auch zugestanden werden, dass die lange Hose einfach ein bequemes und praktisches Kleidungsstück ist. Immerhin kann es zu denken geben, wie sich entwicklungsspezifische Veränderungen beim Einzelnen und in der Gesellschaft schon in Äußerlichkeiten abzubilden scheinen. Mit der Aufnahme in den Kindergarten, der Einschulung, Kommunion, Firmung oder Konfirmation verbindet sich mancherorts eine relativ festgelegte Kleiderordnung. In manchen Ländern tragen die jeweiligen Schulklassen noch heute Uniformen (ihre Wiedereinführung wird fallweise diskutiert). In studentischen Organisationen oder einigen Firmen werden sie bewusst getragen und insbesondere natürlich beim Militär. Stellen wir mit der Wahl unserer Kleidung also direkt oder auch indirekt Zuordnungen und Veränderungen unserer Persönlichkeit dar? Tatsächlich ist Kostümgeschichte, über die individuelle Selbstdarstellung hinaus gedacht, auch eine spezielle Spielart politischer Geschichte. Will man möglichst angenehm auffallen, »schmeißt man sich passend in Schale«. Für die Oper bemühen wir uns in der Regel um ein anderes Styling als für die Strandpromenade, bei dieser 23

sogar kurzbehost. Was sich jeweils eignet, lernen wir am Beispiel anderer sowie durch deren Reaktionen darauf, wie wir sie nachahmen oder abwandeln. Am Ende hat man vielleicht »die eigenen Hosen« an, die, ob kurz oder lang, wie eine gewählte zweite Haut passen. Durch diverse Entwicklungsprozesse hindurch werden sie erworben und nur in ihnen weiß man sich richtig zu bewegen. Damit ist im übertragenen Sinn das Ziel sozialen und emotionalen Lernens hinreichend beschrieben. Es besteht, wie jedes Lernen, im erlebnisbetonten Erwerb der jeweils zweck- und sinnentsprechenden Veränderung des eigenen Verhaltens. Wer mit sich und seinem Tun unzufrieden ist, wird sich fragen, woran das liegt. Wenn er die Gründe erkennt, gewinnt er vielleicht Einsicht in das, was zum Gelingen fehlt, beziehungsweise in das, was er möglicherweise falsch macht. Die Unzufriedenheit benennt das Bedürfnis und liefert gleichzeitig die Energie für das Bemühen um Änderung. Die Einsicht wählt geeignete Mittel und organisiert das bessere Tun. Kommt man dadurch zum gewünschten Ziel, wird man den erfolgreichen Weg immer weiter gehen wollen, solange sich die gegebenen Bedingungen nicht grundlegend verändern. Schachspieler sprechen in solchen Fällen vom erlernten »System der gelungenen Züge«. Wenn das Aktionsfeld umgestaltet ist und die Figuren neu platziert sind, lassen sich zuvor gelungene Züge oder Aktionen nicht einfach wiederholen. Fehlende oder fehlerhafte Verhaltensmuster können im Ergebnis nicht zu Befriedigungen führen, werfen aber Fragen auf, deren Antworten zu Einsichten führen können, die weitergehende Lernprozesse herausfordern.

Von der Wahrnehmung des kleinen Zehs Kleiner Exkurs: Haben Sie heute eigentlich schon ihren eigenen linken kleinen Zeh wahrgenommen, liebe Leserin, lieber Leser? Bitte tun Sie es jetzt! – Wann hat sich der Kleine zuletzt Ihrer so ungeteilten Aufmerksamkeit erfreuen können? Wahrscheinlich nur dann, wenn er sich, nachdem Sie sich dort gestoßen hatten, schmerzend in Ihr Bewusstsein drängte. Wenn Sie seinen Nagel 24

schnitten, war er auch nur einer von vielen, der zudem wahrscheinlich eh nur zuletzt dran kam. Der kleine Zeh ist ja nicht nur klein, sondern auch relativ unbedeutend und sitzt ganz unten links (oder rechts), als Außenseiter dazu noch unsichtbar eingezwängt in den Rand eines »Lederetuis«. Der Kragen, der Ihren Hals umschließt, blieb bisher vielleicht auch unbemerkt, obwohl er rein räumlich dem Kopf-Bewusstsein wesentlich näher ist. Spüren Sie ihn jetzt? Ist er bequem und weit oder eng und drückend? Durch den Hals fließt Ihre nährende Speise und der Luftzug Ihres Atems. Lässt Ihr Kragen das alles unbehindert passieren, während er gleichzeitig noch den Nacken stützt? Früher gab es Kragen, die man »Vatermörder« nannte. Den Nacken mögen sie versteift haben, vielleicht aber auch den Atem gelegentlich abgedrückt bis zum unseligen Ende seines Trägers, daher wohl sein schlimmer Name. So weit, so gut, wo aber ist inzwischen Ihr linker kleiner Zeh? Ist er noch im Bewusstsein anwesend oder schon wieder ins Abseits verbannt? Mit der Wahrnehmung Ihrer Zehen oder der Passform Ihrer Kleidung füllen Sie ganz sicher nicht Ihren Tag. Diese Beispiele mögen immerhin versinnbildlichen, wie eng unser Bewusstsein über das aktuell erlebte Sein ist. Wir unterliegen einer Fülle von Eindrücken, von denen nur ein verschwindend kleiner Teil uns wirklich präsent ist. Das meiste bleibt unter der Schwelle des Bewusstseins, ist damit allenfalls vorbewusst. Unmessbar ist darüber hinaus die Breite und unauslotbar die Tiefe dessen, was Unterbewusstsein genannt wird. Um im Bild zu sprechen: Das Bewusstsein verhält sich zum Unbewusstsein, wie die einzelne Seerose zu ihrem großen Teich, auf dem sie schwimmt. An der Rose lässt sich nicht erkennen, wie tief der Teich ist, der sie trägt, denn sie weist nur auf die Oberfläche hin. Wollte man in einem anderen Bild unser psychisches Geschehen mit einem Theater vergleichen, in dem ununterbrochen gespielt wird, so hätten wir uns eine Bühne vorzustellen, die so klein ist, dass immer nur jeweils ein Schauspieler auf ihr seiner Rolle entsprechend agieren könnte. Souffleur, Inspizient, Garderobier, andere Mitwirkende, Beleuchter, Bühnenarbeiter, Platzanweiser, Billetverkäufer gehören zwar auch zum funktionstüchtigen Gan25

zen, erscheinen dem Zuschauer aber für das eigentliche Geschehen irrelevant und sind deshalb ziemlich unbeachtet. Im Fokus des szenischen Verlaufs bleibt nur der Mime als Träger des akuten Geschehens, hier: als Beispiel für einen Bewusstseinsinhalt, neben dem kein anderer Platz hat. Szenenwechsel heißt auch Darstellerwechsel. Einer verlässt die Bühne, indem ein anderer sie betritt. Der szenische Verlauf folgt nicht Zufällen, sondern dramaturgischen Regelungen. Ähnlich verhält es sich mit Gedanken und Einfällen, die einander folgen und in diesem Sinne assoziativ verknüpft sind. Auch das geschieht nicht zufällig, sondern wird aktiv bewirkt. Mit anderen Worten: Es gibt zwar eine frei schwebende, zunächst noch absichtslose Wachheit, die jedoch jederzeit von akut verspürten Bedürfnissen aktiv auf Befriedigungsangebote gelenkt werden kann, die sie dann ins Bewusstsein holt, das heißt, sie wahrnimmt. Wahrnehmung ist demnach kein passiver, sondern ein sich aktiv zuwendender psychischer Prozess. Im Begriff Wahrnehmen ist sowohl der Vorgang des Bemerkens als auch des In-Anspruch-nehmens und Darüber-Verfügens enthalten. Umgangssprachlich ist etwas Ähnliches mit der Formulierung gemeint, wenn man ankündigt, eine Gelegenheit wahrnehmen zu wollen. Mit dem Begriff Wahrnehmen verbindet sich also nicht nur der sinnenhaft optische, akustische, taktile oder emotional-affektive Vorgang des Bemerkens, sondern bezieht auch gleich ein, was dadurch beim Wahrnehmenden bewirkt wird. Trifft das, was meine Sinne berührt hat, also wahrgenommen wurde, auf ein entsprechendes Bedürfnis meiner Seele, dann erhält es in der gegebenen Situation seinen spezifischen Wert-Sinn. Insoweit ist jede Wahrnehmung immer auch Wertnehmung, nämlich Ausdruck unserer Wert- und Sinnsuche. Wenn das Wahrgenommene das Bedürfnis nicht berührt, wird es übersehen, wenn es dem widerspricht, wird es abgewiesen. In jedem Fall ist die Antwort eine bedürfnisentsprechende Reaktion. Ein Dürstender greift nach dem entfernteren Glas Wasser und lässt ein nahe liegendes Stück Brot unbeachtet. Bedürfnisse richten die Aufmerksamkeit auf eine geeignete Befriedigungsmöglichkeit aus, die Beachtungsreize aussenden. Ein solcher Beachtungsreiz löst beim Bedürftigen den Impuls aus, 26

befriedigend zu reagieren, in unserem Fall also das Glas zu ergreifen und zu trinken. Schon das macht deutlich, dass dies nicht ein passives, sondern ein aktives Geschehen ist. Wahrnehmung ist in diesem Sinn direkt gerichtet, indem etwas angesehen, angehört, berührt, geschmeckt oder berochen wird. In diesem Sinne befassen sich Menschen mit ihrem momentanen Hier-, Da- und SoSein. Es ist ihre Art, ganzheitlich auf die Welt bezogen zu sein.

Augen-Blick Wenden wir nun, bitte, unsere Aufmerksamkeit Ihrer Person zu, wo und wie sie sich im Moment befindet. In diesem Augenblick – also wörtlich: mit diesem Blick Ihrer Augen – entsteht ein Kontakt. Einmal stellt sich ein persönlicher Kontakt her zwischen Ihnen und mir, dem Autor. Das ist aber sicherlich nicht der einzige Kontakt, in dem Sie sich im Augenblick befinden. Wenn ich vermute, dass Sie sich derzeit in einem Buchladen aufhalten, dann haben Sie gleichzeitig auch Kontakt mit dem Buchhändler. Um Sie herum werden möglicherweise noch andere Käufer ihr Lesebedürfnis befriedigen wollen. Mit diesen berührt Sie zumindest ein ähnliches Interesse. Auch im Verhalten gleichen Sie sich wahrscheinlich, denn im Buchladen bewegt man sich in der Regel gelassen und dämpft die Stimme. Damit sind für diesen Fall einige indirekte oder auch direkte Kontakte zu anderen Menschen angesprochen. Vielleicht befinden Sie sich mit diesem Buch in Ihrem eigenen Heim, in dem Sie von noch anderen Büchern und vertraut gewordenen Dingen umgeben sind. In diesen Räumen sind Sie wie in einer Hülse zu Hause, die Sie bewusst gewählt und ausgestattet haben. Darin fühlen Sie sich beheimatet und behaust, wie man diesen Raumkontakt wohl auch nennen darf. Ihr Name steht an der Tür und kennzeichnet Ihre Räumlichkeiten. Sie können sich darin aufhalten und bewegen, kennen Länge, Breite und Höhe und finden sich zurecht, ohne anzustoßen oder aus dem Fenster zu fallen. Sie haben gelernt, mit den Gegebenheiten umzugehen und über sie zu verfügen. 27

Indem Sie nun dieses Buch in der Hand halten, ist ein Kontakt darstellt. Es ist zwar zunächst nur der Bezug zu einem Gegenstand, einer Sache, meint im übertragenen Sinn aber doch auch die Berührung mit Menschen, also mit mir oder dem Buchhändler. Unmittelbar ist es der Bezug zu einem Objekt, einer Sache. Sie fühlen den Buchkörper sowie den Umschlag und Papier. Darüber hinaus öffnet es Ihnen auch den geistigen Raum der Philosophie und Psychologie. Ist es nicht so, dass wir uns auch in erdachten Räumen aufhalten und bewegen? Zukunftsträume und Erinnerungen gehören ebenso dazu wie wissenschaftliche Theorien oder Phantasien darüber, welche »Räume« man aufschließen könnte, wenn man sechs Richtige im Lotto hätte. Auch Ideen oder ganze Ideologien schaffen Kontakte. Man denke zum Beispiel nur an die Mitgliedschaft in Parteien und Vereinen. Ich weiß nicht, wie lange Sie in diesem Buch lesen werden. Vielleicht sind es nur zwei oder drei Minuten, um festzustellen, inwieweit es sich für Sie lohnt. Möglicherweise lesen Sie interessiert weiter und geben sich dafür über den Moment hinweg mehr Zeit. Es würde mich jedenfalls freuen, mit Ihnen länger im Kontakt zu sein und mit Ihnen in den mir vertrauten Räumen der Psychologie zu verweilen. Wenn ich verweilen sage, dann hoffe ich, dass wir Zeit miteinander verbringen. Das benennt eine weitere Kontaktdimension: den Kontakt zur genommenen oder gegebenen Zeit, dem Geschehen im Hier und Jetzt. Seit wir uns mit Terminen über die genaue Zeit verständigen, haben wir keine Zeit mehr. Sie läuft mehr oder weniger unbeachtet nebenher und uns deshalb schließlich davon. Wenn Sie das bisher Gelesene anspricht, dann hätten wir darüber hinaus auch Kontakt zu gemeinsamen Werten. Ihnen wie mir ist es wichtig, über uns und die Menschen nachzudenken, über das, was das Leben lebenswert erfüllt und wie man sich daran erfreuen kann. Wer die zuvor genannten ideellen Räume aufsucht und sich bemüht, sie zu besiedeln, schreibt ihnen persönliche Bedeutung zu. Es kann der Glaube, die Schützenbruderschaft oder eine Gemeinschaft von Münzensammlern sein. Wer still für sich Briefmarken oder Käfer bestimmt, sein Gärtchen oder Familienbande pflegt, findet vielleicht in dieser individuellen Bedeutsam28

keit den Sinn für sein eigenes Leben. Auf der Suche nach dem eigenen Weg zum Glück verdient jeder Respekt, solange er nicht Andere zwingen will, den gleichen Weg zu gehen oder das zu verbieten. Woran einer sein Herz hängt, ist allein dessen Sache, Hauptsache er findet etwas, an das er es hängen kann.

Von Ameisen und Menschen Ich erlaube mir, Sie, liebe Leser, abermals zu einem kleinen Exkurs einzuladen, in dem ich nun über meinen Tellerrand hinwegblicke, der wahrscheinlich auch Ihrer ist. Betrachten wir den Rahmen (= Tellerrand) unseres Daseins, dann finden wir darin einige Gesetzmäßigkeiten, die unser aller Leben bestimmen, und versuchen zu verstehen, »was unsere Welt zusammenhält«. Psychologisch haben wir bereits erkannt, bedürfnisgeleitet und kontaktbezogen orientiert und organisiert zu sein. Ist das nur für die Gemeinschaft gültig, auf die wir bezogen sind, nur für den Raum und die Zeit, in der wir gerade leben? Verfolgen wir alle die gleichen Zwecke? Müssen wir nicht die Bedingungszusammenhänge berücksichtigen, wenn wir erkennen wollen, was »normal« ist, was es heißt, Mit-Mensch in dieser Welt zu sein? Die alltäglichen Berührungen bringen Höhen und Tiefen des Erlebens mit sich, die über den Tag hinweg sehr lange nachwirken können. Gegebenenfalls können sie so belastend sein, dass sie Hilfen erfordern, die im Umfeld vielleicht schon bereitliegen, oder dass sogar professionell organisierte Psychotherapie in Anspruch genommen werden muss. Gerade in diesem Fall braucht es ein plausibles und verallgemeinerbares Verständnis dafür, was es heißt, sich im gegebenen Lebensfeld gut einzurichten. Zum einen wird es deshalb nötig sein zu betrachten, was für alle gilt, zum anderen hilft es verstehen, wie in diesem Rahmen der Einzelne sein Dasein organisiert. Nun zum Blick über den Tellerrand. Nach der Lektüre des Buches von Hölldobler und Wilson (2001) über die »faszinierende Welt« der Ameisen stand ich vor einiger Zeit an einem Ameisenhaufen und bewunderte das chaotisch anmutende Gewusel. Mit meinem Wissen um die tatsächlich doch vorhandene Regelhaf29

tigkeit des Zusammenlebens dieser emsigen kleinen Lebewesen vermochte ich leicht zu erkennen, dass sich die Geschäftigkeit des Einzelnen einem Ordnungsprinzip der Gesamtheit zuordnen lässt. Zum Beispiel transportieren zwei Ameisen unter offensichtlich gemeinsamer Anstrengung ein Ei. Konsequent verfolgen sie die Richtung auf einen bestimmten Ort zu. Um diese beiden herum ist ein ununterbrochenes zielgerichtetes Kommen und Gehen. Jedes der kleinen Wesen bewegt sich aktiv eingebunden in sinnstiftende Aktivitäten aller, die zu diesem Gemeinwesen »Ameisenhaufen« gehören. Jedes hat zumindest im Moment meiner Betrachtung seinen Dienst, sein Ziel, seine Ameisen-Identität als Angehöriger dieses dynamischen Feldes, das wir »Staat« nennen. Ich sage »Staat« und verwende einen Begriff, den wir Menschen diesem lebendigen Ordnungsgefüge des Ameisenhaufens zugesprochen haben, gewissermaßen von oben her. Und unwillkürlich drängt sich ein Vergleich auf: Wie wirkte wohl für einen Außerirdischen der Blick auf die Erde mit seinen menschlichen Lebewesen? Welche Regelhaftigkeiten ließen sich (wenn überhaupt) erkennen? Grob stellten sich dem Betrachter voneinander abgegrenzte bewegte Gewässer und relativ starre Landmassen dar. Wie einzelne Ameisenhügel sind Städte und Dörfer über unterschiedliche Landmassen verteilt, in denen verschiedenartiges Leben und Treiben herrscht. Die Orte sind miteinander durch fließende Gewässer und feste Verbindungen vernetzt, in denen hin und her viel Bewegung herrscht. Innerhalb dieses Netzwerks bewegen sich Menschen sowohl aufeinander zu als auch voneinander weg, treffen sich, bleiben einige Zeit beieinander und verlassen sich wieder. Da, wo solche Treffen eine Weile andauern, geschehen oft Veränderungen am Ort. Ganz neue oder erweiterte Menschenhäufungen entstehen, andere verschwinden. Es wachsen Bauwerke in den Himmel, in die mehrere tausend Menschen wuselig ein und aus gehen, andernorts gibt es nur Maulwurfshügel, die sich kaum über den Boden erheben und in denen nur wenig Leben zu sein scheint. Es gibt grüne Zonen mit viel und andere braune oder graue mit weniger oder gar keinem Wasser. Eine gewisse Gesetz30

mäßigkeit wird erkennbar in Hinsicht auf die Dichte der Verteilung der Menschen in diesen verschiedenen Räumen. Die Art ihrer Bleibe passen sie den Gegebenheiten mehr oder weniger emsig an. Auch die Dauer ihrer Bleibe ist unterschiedlich, mal länger, mal kürzer. Manche Stelle bevölkern sie nur besuchsweise, andere besetzen sie andauernd. Bei näherer Betrachtung fällt auf, dass auch die einzelnen Menschen Veränderungen unterliegen. Sie sind nicht immer da, sondern erscheinen irgendwann auf der Bildfläche, sind noch klein und passiv, werden getragen und behandelt, bis sie immer größer, selbständiger und aktiver werden. Sie begegnen einander entweder nur gelegentlich oder immer wieder. Mal bleiben sie nur kurz oder sehr lange beieinander und trennen sich dann offensichtlich erst dadurch, dass eines der Wesen ganz in der Erde verschwindet. Von unterschiedlicher Dauer ist auch ihr Tun und Lassen. Nicht jeder tut das Gleiche wie der Andere, aber jeder wiederholt immer wieder sein Gleiches, meist am gleichen Ort mit fast den gleichen Mitteln. Was geschaffen wird, bleibt da, auch wenn jener verschwindet, der es geschaffen hat. Andere benutzen es weiterhin, solange es ihnen dienlich zu sein scheint. Es gibt also Übergänge von Einem zum Anderen, über die Verweildauer des Einzelnen hinaus. Aktuelle und überdauernde Nützlichkeit bietet sich an als Schlüssel zum Verständnis für die zielstrebige Betriebsamkeit der Menschen. Da sie unterschiedlichen Zielen zustreben, gewinnen sie wohl auch von Einzelwesen zu Einzelwesen unterschiedlichen, also individualisierten Nutzen. – So weit das beobachtbare Geschehen. Die Vielgestaltigkeit der Aktivitäten und Strebungen lässt den außerirdischen Betrachter sicher nicht sofort erkennen, welche Kraft oder Kräfte im Einzelnen und im Ganzen das Geschehen steuern. Er könnte sich fragen: Reagiert jeder Mensch bloß auf Befehle, die er von außen erhält, und wer mag die geben? Oder handelt er gewissermaßen aus eigenem Antrieb? Trägt er den Motor seiner Bemühungen in sich? Enthält die Unterstellung von Nützlichkeiten des Tuns und Lassens schon Hinweise auf den Bewegungsantrieb? Es ließe sich zumindest beobachten, dass der einzelne Mensch auf der Bildfläche verbleibt, solange er in Bewe31

gung ist. Aber was bewegt ihn? Ruhepausen sind selten. In jedem Streben vermutet man doch ein Ziel, manchmal sogar gleichzeitig mehrere! Und was ist dann, wenn es erreicht ist? Genügt das? Nein! In der Regel fängt er bald wieder an zu streben, braucht weitere Befriedigungen. Sein Bedarf ist nie endgültig gedeckt. Wie wir bereits wissen, bestimmen Bedürfnisse und Möglichkeiten Art und Maß ihrer Befriedigung. Hier wollen wir nun die Vogelperspektive verlassen. Sie diente uns dazu, einen etwas verfremdenden Abstand zu uns selbst zu finden, denn: Wenn man die Nase auf dem Spiegel hat, kann man sich selbst nicht ganz sehen. Deshalb traten wir mit dem Blick auf das Ganze ein wenig zurück, wollen nun aber Einzelheiten innerhalb des Rahmens deutlicher wahrnehmen.

Lernen mit Gefühl Bei der obigen Beschreibung der Daseinsform von Organismen fehlte eine wichtige Fähigkeit, die hier nachgetragen werden soll, weil sie Wachstum und Entwicklung erst ermöglicht. Alle Organismen sind lernfähig, indem sie sich Wandlungen anzupassen vermögen, von denen sie in ihrem Umfeld berührt werden. Sie reagieren auf Veränderungen, indem sie selbst ihr darauf bezogenes Verhalten ändern. Neben dem zielgerichtet zu nennenden Lernen im Sinne des Wissenserwerbs, sprachlicher Schulung und motorischem oder sportlichem Training geschieht lebenslang eine permanente, fast beiläufige Umsetzung von neuen Erfahrungen in Verhaltensänderungen. Soziales und emotionales Lernen spielen dabei eine entscheidende Rolle. Die Forschung schenkte dem allerdings erst relativ spät Aufmerksamkeit und nachhaltiges Bemühen, obgleich es das tägliche Zusammenleben sehr weitgehend beeinflusst. Soziales Lernen hat seinen historischen Ort vor allem in der Pädagogik. Es kann sich unterschiedlich vollziehen. Zum einen meint es eine Form von direktem Modelllernen in dem Sinne, dass ein Vorbild als Modell dient (Eltern, Lehrer, Meister). Das Vorbild lebt beispielgebend vor, was der Lernende wahrnehmen 32

und dann nachvollziehen soll. Am gebotenen Beispiel überprüft dieser direkt und indirekt seine eigenen Verhaltensmuster und sucht sie entsprechend zu verbessern und zu erweitern. Zum anderen bezieht soziales Lernen sich auf die eher beiläufige Eingliederung in eine Gemeinschaft sowie durch die Angleichung an die von ihren Mitgliedern bewusst und unbewusst dargestellten Modellvorgaben. Vielerorts geschieht das inzwischen sehr bewusst: in Schulen, Betrieben, Glaubens- und Aktionsgruppen, Clubs und Vereinen. Zielorientierte Arbeit in Gruppen, Teams und an Projekten sowie wohl organisierte Gemeinschaftserlebnisse sind die Medien, die das bewirken sollen. Auffällige Verhaltensweisen vor allem von jungen Menschen weisen auf das beklagenswerte Fehlen von akzeptierten, positiv zu nennenden Vorbildern und förderlich tragenden Gemeinschaften hin. In diesen Zusammenhang gehören auch Überlegungen zu Möglichkeiten emotionalen Lernens. Emotionales Lernen ist, für sich gesehen, noch kein gebräuchlicher Begriff. Wenn überhaupt, wird er in der Regel mit dem sozialen Lernen verbunden, wie auch hier gedacht. Das ist grundsätzlich stimmig, denn emotionale Befindlichkeiten begleiten vor allem zwischenmenschliche Kontakte. Emotionales Lernen kann allerdings auch unabhängig davon stattfinden. Man denke nur an bewegende Berührungen der Seele durch das Hören oder Ausüben von Musik, durch Lyrik oder Naturerleben. Das Wort Emotion kommt aus dem Lateinischen (emovere) und meint übersetzt »aufwühlen, erschüttern«. Es ist also eine plötzlich aufwallende Gefühlsintensität, die im Augenblick des Geschehens nicht kognitiv kontrolliert werden kann, sondern allenfalls nachträglichem »Bedenken« zugänglich wird. Seit Goleman (1996) wird der Begriff emotionale Intelligenz endlich unbefangener verwendet. Ihm werden Fähigkeiten zugeordnet, mit Gefühlen situationsgerecht umgehen zu können. Situationen werden im Augenblick zum Erlebnis und sind dabei an den jeweiligen Augenblick gebunden. Sie werden von Gefühlen begleitet, die dann zu darauf abgestimmten Reaktionsweisen führen. Wenn sich ähnliche Situationen wiederholen, kann auf die zuvor erworbenen Verhaltensmuster zurückgegriffen werden. Das kennzeichnet den Prozess, in dem sich bedürfnisgeleitete 33

Einstellungen herausbilden, die das Selbstverständnis und Verhalten situationsspezifisch steuern. Jeder Mensch trägt viele Bilder darüber in sich, wie er für sich und andere sein möchte, und versucht so zu werden. In diesem Bemühen erreicht er keinen Idealzustand und findet deshalb auch nie sein Ende. Zwangsläufig verändern sich entwicklungsbedingte Sichtweisen und Bedürfnisse. Zudem erfordern auch die Verhältnisse, in denen man lebt,immer neue Orientierungen. Im Ergebnis wandeln sich soziale und emotionale Einstellungen und Verhaltensmuster. So wird, bedingt durch den Prozess stetigen Alterns, unaufhörlich neu- und umgelernt. Das Kind wandelt sich zum Jugendlichen, der Jugendliche zum Erwachsenen, aus Schülern werden Berufstätige und so weiter. Mit den Jahren ändern sich nicht einzelne Fähigkeiten und Orientierungen, sondern der ganze Mensch in seiner je anderen Daseinslage. Innerhalb jeder dieser Entwicklungsphasen finden diverse Veränderungsprozesse statt: Man wird größer, klüger, kriegt »neue Zähne für den anderen Biss« und lernt peu à peu mitwachsende Bedürfnisse mit ihren jeweiligen Möglichkeiten zu befriedigen. Auch ein Zugewinn an bloßem Wissen und neuer Erfahrung ändert das Verhalten. Einsichten und Einstellungen wandeln sich, gewonnene Fertigkeiten machen handlungsfähiger und weisen erweiterte Verantwortlichkeiten zu. Wesentliches Lernfeld ist dabei immer der Umgang der Menschen miteinander, in das jeder von uns aktiv und passiv einbezogen ist. Insbesondere dient jede Form von Ausbildung oder Fortbildung der Anpassung an die sich ständig wandelnden Gegebenheiten der Lebenswirklichkeit. Das gilt für den Einzelnen wie für die menschliche Gemeinschaft als Ganzes. Auch sie muss lernen, sich den ökonomisch wie politisch-historisch bedeutsamen Veränderungen ihres Daseins anzupassen. Die Gegenwart und Zukunft fordert angesichts vieler defizitärer Entwicklungen entsprechende Hilfen vor allem für die Entwicklungsländer.

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Die menschliche Daseinslage

Um das zu Sagende über nur gedanklich zu fassende Begrifflichkeiten hinweg etwas anschaulicher, gewissermaßen sichtbar werden zu lassen, biete ich eine Graphik an, die der Theorie eine optische Gestalt und gedanklichen Halt geben kann. Der steten aktuellen Verwobenheit des kontaktbedingten Berührungsgefüges sind wir uns nicht immer bewusst. Tatsächlich ist jederzeit alles um und in uns gegenwärtig. Die Ganzheitlichkeit unseres Daseins wird in viele Detailerlebnisse des momentanen Erlebens aufgelöst und bildet somit nur mehr den Hintergrund (erinnern Sie sich an das Beispiel »Kleiner Zeh«?). Die nachstehende Abbildung soll seine globale Struktur veranschaulichen. Es ist die Daseinslage des Menschen, sich ständig in vier Kontaktfeldern zu befinden – selbst dann, wenn er dies erlebnismäßig nicht direkt realisiert. Wenn etwas da ist, lässt es sich durch die Sinne gegenständlich als vorhanden wahrnehmen. Über das Da-Sein des Menschen eröffnen sich viel weitergehende Dimensionen der Wahrnehmung. »Wenn wir ›den Menschen‹ von vornherein in den Ansatz bringen, sei es als ›Psyche‹, ›Organismus‹, ›Geist‹, ›Ich‹, ›Person‹, ›Leib-Seele-Einheit‹ oder wie auch immer, verbauen wir uns nur zu leicht den Blick darauf, wie eigentlich ein Mensch ›da‹ ist, wie er sich darlebt. Der Mensch soll gerade nicht als beforschtes Objekt, ›an‹ dem dies oder jenes festzustellen ist, vorausgesetzt, sondern in seiner Weise ›da‹ zu sein, zum Problem werden« (Blankenburg 1977, S. 948). Im Folgenden geht es um das Wie des menschlichen Daseins. Es soll betrachtet werden unter den individuell gegebenen Umständen sowie unter den generell sich bietenden Verhältnissen. Der Mensch ist hineingeworfen in die Welt und muss sich in ihr mit seinen Bedürfnissen zurechtfinden. Lebenslage und Bedürf35

nislage müssen kontinuierlich aufeinander abgestimmt werden. Die sich daraus konstituierende Befindlichkeit nenne ich die persönliche Daseinslage. Anhand der Mandala-Graphik mit entsprechenden Erklärungen wird dies zum besseren Verständnis noch veranschaulicht. Mag sein, dass Sie sich wiederholt fragen, was diese Ausführungen zum Verständnis von Seele oder Psychologie beitragen. Ich meine, dass unsere Wissenschaft berücksichtigen muss, in welchen Kontext, sprich: in welche Kontakte unser Dasein eingebettet ist. Das erfordert Leistungen der Abstraktion, also des Absehens von individuellen Besonderheiten, um allgemeine Gesetzmäßigkeiten zu erkennen, denen jede Art von Leben unterworfen ist und denen es bedürfnisgemäß entsprechen muss. Die größte Hilfe leistet mir dabei die Einsicht in die Logik psychischen Geschehens. Wenn ich mir die Freiheit nehme, Psyche = Seele mit logica = Logik zu verbinden, erhalte ich Seelen-Logik beziehungsweise Psycho-Logik. Dieses Wortspiel enthält viel Sinn. In der ursprünglichen Bedeutung von Psyche als »Hauch« und auch »Atem«, findet das nichtkörperliche Dasein des Menschen einen Ausdruck. Unter Logik versteht man die Lehre von den Gesetzen, denen Denken unterworfen ist. Wir bezeichnen heute allerdings nicht nur unser Denken als logisch, wenn es in seiner Abfolge nachvollziehbar verläuft, sondern entsprechend psychologisch erscheint auch unser gesamtes Verhalten, wenn und weil es in seinem Geschehenszusammenhang folgerichtig, in sich stimmig und nachvollziehbar erlebt wird. Für unsere Überlegungen ist zudem entscheidend, menschliches Verhalten dahingehend zu verstehen, dass es von Bedürfnissen geleitet ist. Jedes Verhalten ist nur aus motivationalen Begründungszusammenhängen heraus zu begreifen, also niemals ohne Bezug zu einem Beweggrund, auch wenn die daraus entstehenden Folgen dem manchmal zu widersprechen scheinen. Für alles, was wir tun oder lassen, haben wir Gründe, auch wenn diese nicht ohne weiteres offenkundig sind. Gemäß einer Zeitungsnotiz soll sich ein Einbrecher während des Einbruchs aus dem Kühlschrank der Wohnung seiner Opfer so orgiastisch versorgt haben, dass er danach am Küchentisch einschlief und dann erwischt 36

wurde. Was ist an seinem Verhalten »psycho-logisch« und von seinen Bedürfnissen her begründbar? Ein anderer Einbrecher soll seine Notdurft sichtbar am Tatort verrichtet haben. Er reinigte sich mit einem Briefumschlag, auf dem seine volle Adresse stand. Mit herkömmlicher Logik findet man dafür keine Erklärung. Kognitiv haben diese Einbrecher vielerlei vorbedacht, um nicht entdeckt zu werden: Sie haben die günstigste Gelegenheit ausbaldowert, wählten geeignetes Werkzeug, waren leise, vermieden Fingerabdrücke, planten den Rückweg und lieferten sich dennoch so plump »ans Messer«. Wenn die Logik-Hypothese gehalten werden soll, muss sie sich hier auf eine Qualität von Folgerichtigkeit beziehen, die verdeckt, nicht bewusst, also unbewusst verläuft. Tiefenpsychologisch würde man in diesen Fällen von Formen eines unterbewussten Selbstverrats sprechen. Es darf angenommen werden, dass die Täter ihre Tat – aus welchen Gründen auch immer – nicht ungestraft lassen konnten, denn offensichtlich inszenierten sie unbewusst ihre Entdeckung mit den zwangsläufig zu erwartenden Folgen. Die Spannung, in die sie sich begeben haben, konnten sie weder aushalten noch adäquat verarbeitend abbauen. Ohne Wissen um die verdeckte Absicht appellierten sie deshalb gewissermaßen an Andere, sie durch Bestrafung von ihrer unterbewusst eingestandenen Schuld zu entlasten. Es wäre auch denkbar, dass sie sich (und Anderen?) im Bewusstsein eigener Unzulänglichkeiten demonstrativ beweisen mussten, dass sie sich von der herkömmlichen Art zu leben abkoppeln können. Wahrscheinlich nehmen sie für sich in Anspruch, in geglaubter Unabhängigkeit und Stärke jenen überlegen zu sein, die sie gerechtfertigterweise übervorteilen. Zudem mag sie auch das Gefühl entlasten, einen vertretbaren Ausgleich zwischen Besitzenden und Habenichtsen zu verwirklichen. Solche Erklärungen auch für die merkwürdigsten Fehlleistungen kann man psycho-logisch nennen! Nachfolgend soll ausführlicher darauf eingegangen werden, welche Schnittflächen sich in Kontaktbereichen menschlichen Daseins bilden und was diese psycho-logisch bedeuten. Ich hoffe, dass Sie, liebe Leser, die Ableitungen aus dem Mandala auch als Anregung für die Wahrnehmung Ihrer eigenen Lage im Dasein 37

in Anspruch nehmen können. Im Anhang des Buches finden Sie ein weiteres leeres Mandala, das Sie gegebenenfalls entsprechend verwenden können.

Gesetzmäßigkeiten menschlichen Daseins Am Anfang jeder Erörterung, die das menschliche Leben betreffen, muss von einem grundsätzlichen und verallgemeinerungsfähigen Verständnis dafür ausgegangen werden, wie Menschen da sind. Ihr Dasein ist eingebettet in vielerlei Berührungen, die das Leben erst möglich machen, ausfüllen und bestimmen. Sie sind ausnahmslos bezogen auf: – Lebewesen (Menschen und Tiere), mit denen und von denen Menschen leben; – Räume, in denen Menschen sich aufhalten (leiblich und gedanklich) und die sie gestalten; – Zeiten, die den Rahmen bemessen, in dem Menschen sich bewegen und entwickeln; – Werte, durch die Menschen ihr Dasein inhaltlich und sinngebend orientieren; – Bedürfnisse, die sich in den genannten Berührungen ergeben und sich im Erleben und Verhalten des Einzelnen ausdrücken.

Abbildung 1: Mandala: Daseinslage des Menschen

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Graphisch lässt sich das in Form des Kreisbildes (Abb. 1; s. a. farbiges Mandala im Anhang, S. 164) darstellen, wie es in fernöstlichen Religionen als Mandala tiefer geistiger Sammlung dient. Hier soll es in der Hauptsache auf die seelischen Aspekte menschlichen Daseins zentriert sein. Die obere Ellipse steht für Lebewesen, die linke für Räume, die rechte für Zeiten, die untere für Werte, der Mittelkreis für Person. Damit ist meines Erachtens die generelle Daseinslage aller Menschen strukturell erfasst und dargestellt. Nur innerhalb dieser Kreissegmente realisiert der Mensch seine Wahrnehmungen sowie sein bedürfnisgeleitetes Befinden und Handeln mit allen Absichten, Freuden und Leiden; dies immer im Zusammenhang mit Kontakten nach innen und außen. Nach innen meint die Wahrnehmung seiner selbst, nach außen meint die Anderen, den Raum, die Zeit und Werte. Das Mandala veranschaulicht so die Komplexität der menschlichen Daseinslage. Der äußere Kreis kennzeichnet die umfassende Daseinslage des Menschen. Mit ihm ist umrissen, in welchem Beziehungsgefüge und in welchen Schnittmengen sich sein Leben verwirklicht. Grafisch sind hier aus technischen Gründen zwar nur zwei Dimensionen dargestellt, gedacht sind jedoch die drei Dimensionen: Länge, Breite und Tiefe. Dadurch erhält die ganze Figur eine Kugelform. Das bedeutet vorstellungsgemäß einen wesentlichen Gewinn an Ausdehnung und Rauminhalt vor allem im Blick auf die unterstellte Tiefe. Es ermöglicht so assoziative Verknüpfungen mit vorgenannten Ausführungen zum globalen Charakter unserer Lage. Das Mandala kann durchaus als Daseinsglobus angesehen werden, in dem kernhaft ein kleinerer Persönlichkeitsglobus enthalten ist. Die Dreidimensionalität soll natürlich auch für die Ellipsen gelten, die oben, an den Seiten und unten zu finden sind. Die Vorstellung räumlicher Ausdehnungen dieser Felder innerhalb des Außenkreises lässt diverse Möglichkeiten der gedanklichen Verschiebung ihrer Inhalte in jede Richtung zu: mehr in den Vorder- oder Hintergrund, näher oder ferner zu benachbarten Feldern. Vier Ellipsen sind nach ihren gedachten Inhalten benannt – Menschen, Räumen, Zeiten, Werten – und liegen bei den jeweiligen Begriffen innerhalb des großen Kreises. Die Graphik lässt 39

erkennen, dass jede Ellipse sich mit jeder anderen schneidet und eine je gemeinsame Schnittfläche beziehungsweise Schnittmenge bildet: 1, 2, 3 und 4. Dies zu betrachten gibt Aufschluss darüber, inwiefern sich Menschen und Räume, Menschen und Zeiten, Räume und Werte sowie Zeiten und Werte gegenseitig bedingen und beeinflussen. Dabei wird zu berücksichtigen sein, dass es immer direkt konkrete, aber auch indirekt abstrakte Gemeinsamkeiten gibt. Räume und Menschen können zum Beispiel dadurch miteinander verbunden sein, dass bewohnt und gestaltet wird und dass dabei gegenseitige Beeinflussungen stattfinden. Noch komplexer sind Verbindungen ideeller Natur. Ich sprach an früherer Stelle davon, dass wir uns im ideellen Raum wissenschaftlicher Literatur begegnen, hier im Raum der Psychologie. Alle Schnittflächen sollen in diesem Sinne nach inhaltlichen Gemeinsamkeiten der sie definierenden Felder befragt werden. Vielleicht versuchen Sie selbst schon vorab, eigene Zusammenhänge zu finden und sie speziell auf Ihre reale Daseinslage zu beziehen. Das Mandala kann Ihnen dabei einige begleitende Hilfen bieten. Die singulären Mandala-Flächen A, B, C und D schneiden sich mit keiner anderen Fläche. Auch sie sind dreidimensional zu denken. Die darin untergebrachten Inhalte heben sich also von den Kontaktfeldern 1, 2, 3, 4 ab. Damit soll ausgedrückt sein, dass sie auch nicht einem dementsprechend übergreifenden Erleben zugeordnet werden können. Betrachten wir sie zuerst, bevor wir uns den Feldern 1 bis 4 und dem Innenraum »Person« zuwenden.

Bezug zu Menschen (Mandala-Fläche A) Die Mandala-Fläche A liegt isoliert bei dem Begriff »Menschen«. Was der Mensch eigentlich sei, ist nicht eindeutig definierbar, sondern wird je nach Orientierung vieldeutig bestimmt. Folgt man der Ableitung aus dem althochdeutschen »mannisco«, dann wäre nur »der Männliche« ein Mensch. Dieser Verengung der begrifflichen Bedeutung auf die Hälfte der Menschheit kann man einen historischen Kontext verleihen, zustimmen kann man ihr nicht. Nach dem lateinischen Satz »Homo homini lupus« ist der 40

Mensch dem Menschen ein Wolf! – oft wird er immerhin auch als »vernunftbegabtes Tier« bezeichnet; Homo erectus, faber, religiosus, sapiens, also der aufgerichtete, geschickte, religiöse oder kluge Mensch. Solche Kennzeichnungen gipfeln in der Zuschreibung »Krone der Schöpfung« zu sein. – Ereignete es sich in der Schule des Sokrates, dass einer seiner Schüler den Menschen definierte als »ein zweibeiniges, aufrecht gehendes, am Körper unbehaartes Lebewesen«? Sokrates soll beim nächsten Treffen einen gerupften Hahn präsentiert haben. Wenn es nicht wahr ist, ist es doch gut erfunden. Auch Anthropologen können jedenfalls nicht eindeutig bestimmen, was ein Mensch eigentlich sei, obgleich sie die Wissenschaft vom Menschen betreiben. Diese Frage will auch ich nicht abschließend und allgemein verbindlich zu beantworten versuchen. Tatsächlich hat jeder von uns aus dem Erleben seiner selbst heraus ein Verständnis dafür, was ein Mensch ist. Kant sprach vom »Ding an sich« (in seinem Werk »Kritik der reinen Vernunft«), das in seiner Wirklichkeit unabhängig vom erkennenden Subjekt existiert. Könnte man sich in der Übertragung auch so etwas wie den »Menschen an sich« vorstellen? Kann ein Mensch von der Wirklichkeit unabhängig nur für sich selbst da sein, gewissermaßen mit einem bloßen Bewusstsein seiner selbst? Es müsste dann noch etwas Anderes da sein, wovon er sich abhöbe, wenn man ihm denn Unabhängigkeit zuschreiben wollte. Nein, der Mensch ist nicht »an und für sich« vorstellbar, geschweige denn in dieser Daseinsform lebensfähig. Eines seiner wesentlichsten Merkmale ist es, ein Lebewesen zu sein, das nur in Abhängigkeiten existieren kann. Es wird gezeugt, genährt, behaust, gestützt, beschützt, versorgt und befähigt. Aus dem Gesagten lässt sich auf ein generalisiertes Verständnis von »Menschheit« schließen. Auch sie existiert nicht »an und für sich«. Selbst wenn man alle Menschen angesichts gewisser Ähnlichkeiten summierend als Ganzheit ansehen wollte, ergäbe sich keine eindeutige Einheit im konkret-spezifischen Bezug, sondern so etwas wie ein bunter Flickenteppich mit vielen Untereinheiten, in denen sich Völker, Gruppen, und Kulturen höchst unterschiedlich mischen. Es bliebe auch im Dunkeln, was Kultur ausmacht 41

und was sie für die besondere Qualität menschlichen Lebens leistet durch Kunst, Wissenschaft, Glauben, Wirtschaft, Politik und Sozialwesen. Die Bedingungen ihrer Entstehungsgeschichte und die Stadien ihres Verlaufs blieben unerkannt. Für das Verständnis der Menschwerdung im Allgemeinen und damit für Gesetzmäßigkeiten ihres heutigen Da- und So-Seins sind sie aber unerlässlich. Diese Überlegungen sind als Beispiel gemeint und sollen Beleg sein für die Behauptung, dass zur Daseinslage des Menschen, hier in Bezug auf Mandala-Fläche A, auch von der Wirklichkeit abstrahierte Gegebenheiten gehören. Der einzelne Mensch hat dazu zwar keinen direkten Erlebnisbezug, kann sich solchen bedeutungsvollen Vokabeln immerhin irgendwie zuordnen, vorausgesetzt, dass sie Bestandteil seines Sprachschatzes sind. Auch der Inhalt von Mandala-Fläche B ist eine Abstraktion, also nur gedanklich, begrifflich gemeint.

Bezug zu Räumen (Mandala-Fläche B) Die Mandala-Fläche B liegt isoliert beim Begriff »Räume«. Psychologie habe ich als unseren gemeinsamen ideellen Raum der Begegnung ins Gespräch gebracht. Es gibt darüber hinaus natürlich viele andere ideelle Räume in recht unterschiedlichen Abstraktionsgraden. Sie und ich haben zum Beispiel eine »Heimat«. Damit kennzeichnen wir zwar etwas konkret Benennbares in Gestalt von Orten oder Landschaften, das jedoch als unsere Realität nur in gefühlsbetonten Zuschreibungen existiert. Heimat an sich lässt sich weder direkt berühren noch an einen anderen Ort versetzen. Oder: Wir wissen auch um die Unendlichkeit des Universums, können sie aber nicht einmal durch noch so intensive Vorstellungsbemühungen in ihrer Wirklichkeit sinnlich erfahrbar werden lassen. Gibt es also einen nur für sich bestehenden abstrakten Raum, der völlig unabhängig in unserem Erleben existiert? Das ist nicht vorstellbar! Wir beziehen uns auf konkrete Kontakte mit Details einer uns komplex betreffenden Wirklichkeit, die wir »Heimat« nennen. In meinem Fall ist es der Geruch von Kiefernwäldern, der nachgebende Streusand unter meinen Füßen und 42

das kühlende Wasser des Zescher Sees in der Mark Brandenburg. Auch hier entsteht erst in der Zusammenschau einzelner eigenartiger Gegebenheiten eine Art von heimatlicher Ganzheit. In der Mandala-Fläche B existiert das alles nur als allgemeine Abstraktion, die auch auf Island oder Neuseeland als »Heimat« passen könnte. Der das Allgemeine fassende Begriff enthält noch keine spezifischen Besonderheiten einer sehr persönlichen räumlichen Zuordnung.

Bezug zur Zeit (Mandala-Fläche C) Die Mandala-Fläche C liegt isoliert beim Begriff »Zeiten«. Kasten (2001) formuliert: »Zeit ist das, was ein Objekt braucht, um eine Strecke oder Distanz in einem Raum zurückzulegen« (S. 9). Das klingt wie eine Definition, die es aber nicht ist, denn wieder werden Bedingungen zur Erklärung herangezogen, die nicht die Zeit (»an und für sich«) selbst sind.Zeit wird immer nur im Zusammenhang mit wahrnehmbaren Verläufen fassbar. Die Vorsilbe »Ver-« enthält Endlichkeit, »-läufe« kennzeichnet Bewegung. In diesen Zusammenhang passt der Heraklit zugeschriebene Grundsatz: »panta rhei«, also »alles fließt«, oder besser noch seine bildliche Aussage: »Man kann nicht zweimal in den gleichen Fluss steigen!«, denn am gleichen Ufer ist es immer ein anderes Wasser – und im gleichen Wasser ein anderes Ufer. Nichts ist vergänglicher als der Augenblick. Wie lange die Ewigkeit dauert, können wir nicht erfahren, zumal jeder etwas anderes darunter verstehen mag. Die Geschichte der Psychologie bietet eine Fülle von Beispielen dafür, wie zeitbezogen modern oder überholt manche Theorie, Technik und Methode ist und war. Philipp Melanchthon (1497– 1560)9 wird zugeschrieben, als Erster den Begriff Psychologia gebraucht und Gemütsbewegungen wichtiger als die Idee gefunden zu haben. Franz Josef Gall (1758–1828) begründete die Phreno9 Organisator des Hoch- und Lateinschulwesens (»Praeceptor Germaniae« = »Lehrer der Deutschen«); vgl. Paulsen 1912, S. 34ff.; Der Reformator Melanchthon war auch engster Mitarbeiter Luthers.

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logie (vgl. Zeier 1978, S. 1090), wonach aus der Form des Schädels der Charakter und die Begabung des Menschen abgeleitet werden. Gustav Theodor Fechner (1801–1887) gilt als Begründer der Psychophysik, durch die mit Hilfe experimenteller Methoden Beziehungen zwischen »Leib und Seele« untersucht werden können. Von Sigmund Freud und seiner Entdeckung des Unterbewusstseins war bereits die Rede. Über diese Bausteine der Psychologie hinweg hat sich eine Fülle unterschiedlichster Theorien und Methoden differenziert entwickelt, die das Feld heute recht unübersichtlich erscheinen lassen. Welche generelle Zeit-Qualität kommt ihr zu? Gleiches gilt für jede Daseinsform, man betrachte die Wechsel der Mode, der Malerei, Musik und Literatur, der Informationssysteme, der Politik, des Sports, der Freizeitgestaltung. Die »Bewegung von Objekten in den Räumen unserer Daseinslage«, um obige Definition der Zeit übertragen abzuwandeln, war wohl nie zuvor so rasant und verwirrend vielgestaltig in allen Lebensbereichen, wie gegenwärtig. Es ist schwer, in diesem Verlauf die Zeit überhaupt wahrzunehmen, weil alles sich gleichzeitig zu vollziehen und zu überlagern scheint. So kann man nicht – panta rhei – mit dem Strom gehen, kann aber auch nicht am Ufer (welchem?) stehen bleiben. Gibt es nur wirbelnde Wasser am gleichen Ort, die nicht weiter wandern? Wie sehen Sie unsere Zeit, liebe Leserinnen und Leser?

Bezug zu Werten (Mandala-Fläche D) Die Mandala-Fläche D liegt isoliert beim Begriff »Werte«. Hier relativieren sich die Gegebenheiten von Person zu Person, von Gruppe zu Gruppe am meisten. Wert sagt etwas über die Geltung aus, die einem Erlebnis, einer Wahrheit oder Einsicht, einem Ding, einer Person, ihrem Einsatz oder ihrer Leistung zugesprochen wird. Die Aufzählung kann beliebig verlängert werden. Und immer würden sich weitergehend relativierende Fragen daraus ergeben: Wert wozu?, für wen?, in welchem Zusammenhang?, woran gemessen? Wenn es überhaupt einen allgemein gültigen 44

Wert gibt, unabhängig von allen Religionen, philosophischen und politischen Orientierungen, dann gilt dies meines Erachtens uneingeschränkt für das Leben schlechthin. Auch dieses Gut ist begrifflich natürlich nur ein Konstrukt. Ohne Leben ist kein Sein, denn das Sein setzt unsere Wahrnehmung, also ein zumindest sich selbst erfahrendes und damit real existierendes Subjekt, voraus. Was wir nicht wahrnehmen, also nicht für wahr nehmen können, ist auch nicht vorhanden, es sei denn, wir konstruieren es. Wahrgenommene »Wahr-heiten« haben zumeist nur beschränkte Verbindlichkeiten, egal wie allgemein ihre Geltung und wie weit die Zeiträume sind, die ihnen zugestanden werden. Die Flüchtigkeit des bewussten Seins lehrte uns schon der linke kleine Zeh (siehe oben). Insofern ist der Mensch das Maß aller Dinge. Jedes Ding wird vor allem durch die Tatsache existent und relevant, dass es wahrgenommen wird. Bedeutsam ist es als Gut dann, wenn sich ein Bedürfnisbezug herstellt, indem es dem Wahrnehmenden also irgendwie wünschbar, brauchbar oder gar nötig erscheint. Eignung und Bedarf bestimmen den aktuellen Wert. Meint »Gut« einen Besitz? Was meint »Besitz«? Dies ist eigentlich ein Unwort, weil es in Wahrheit nichts beinhalten kann: Alles ist immer nur begrenzte Leihe, unaufhaltbarer Durchlauf, wie das Leben selbst. In der Individualisierung des Seins relativiert sich alles, was ist. Es gibt keine absolute Wertbestimmung, es sei denn, das Sein als Ganzes wird zum umfassend abstrahierten Wertbezug. Wäre das der eigentliche »Wert an und für sich«: die vorübergehende Berührung einer Seele durch die Erfahrung ihres in der Ganzheit aufgehenden Seins?

Schnittflächen als Erlebnisbezug In der Mandala-Fläche 1 überschneiden sich »Menschen« und »Räume«. Hierin sind konkrete Erlebnisbezüge enthalten. Unter Raum sei hier das Umgebende in vielerlei Gestalt gemeint. Immer ist Raum um uns, beziehungsweise befinden wir uns in Räumen. Es kann die Stube wie der Wald, die Stadt oder das Meer sein. Die 45

Kontaktflächen »Menschen« und »Räume« decken sich insoweit, als sich zum Beispiel bestimmte Menschen in bestimmten Räumen kennen lernen, begegnen und spezielle Erfahrungen miteinander machen. Mit der elterlichen Wohnung, dem Geburtsort, dem Kindergarten, der Schule, Lehr- und Ausbildungsstätten verbinden sich Gesichter, Namen und Ereignisse. Die Person und der Ort, der sich mit dem ersten Liebeserlebnis verbindet, bleiben oft ebenso unvergessen, wie unerwartet schwerwiegende Zurückweisungen. Wir bewahren in der Erinnerung das elterliche Heim sowie die erste Wohnung in gewählter Partnerschaft; die Klinik, in der die eigenen Kinder geboren worden sind; Urlaubserlebnisse mit Bekannten und in Landschaften; Orte und Situationen, die sich mit freudvollen Erlebnissen oder auch mit peinlichem Versagen verbinden, bleiben erinnerlich; erlittene Ängste und Feindseligkeiten nehmen mancher Begegnung mit bestimmten Orten die innere Freiheit. In der Mandala-Fläche 2 überschneiden sich »Menschen« und »Zeiten«. »Zeit« hat eine ähnliche grundsätzliche Umgebungsqualität wie »Raum«. Wir sind in vielfältiger und sogar endgültiger Begrenztheit auf sie bezogen. Sie ist immerwährend um uns und in uns ohne je stillzustehen. Stunden, Tage und Nächte gehen wechselnd dahin wie Jahreszeiten und nehmen uns mit. Wir stellen uns auf ihre Rhythmen ein und passen uns entsprechend an. Zeit gibt den Takt ins Dasein. Besonders bedenkenswert scheint mir die Tatsache, dass Zeit durch unsere eigene Aktivität zum unbarmherzigen Metronom für das Tun und Lassen wird. Selbst macht sie nichts, ihre Fließqualität bewirkt aber viel. Sie gleitet stetig dahin und nimmt uns mit, unabhängig davon, ob wir sie wahrnehmen oder nicht. Oft genug bleibt sie sogar unbeachtet, zumal sie sich in ihrem Vergehen der kontinuierlichen Wahrnehmung entzieht. Bedeutsam wird sie erst dadurch, dass wir sie handelnd füllen und gestalten. Anhand entsprechender Ergebnisse registrieren wir unsere Daseinsabschnitte. Im Prozess menschlichen Alterns setzt sie ihre Zeichen. In der Mandala-Fläche 3 überschneiden sich »Räume« und »Werte«. Was ist ihnen gemeinsam? Abstrakt gedacht, braucht jeder Mensch Raum für sein Leben, kurz und treffend gesagt: sei46

nen Lebensraum. Konkreter erfahrbar wird die gemeinsame Schnittmenge, wenn man »meine Wohnung«, »mein Haus«, »meine Heimat« oder gar »mein Vaterland« sagt. Das persönliche Fürwort »mein« stellt den Wertbezug her. Kinder heften gern ein Namensschild an ihre Zimmertür, manchmal mit dem Zusatz: »Zutritt verboten!«. Recht subtil gestaltet sich die Schnittmenge, wenn »meine Meinung«, »mein Recht« oder »dein Erwartungshorizont«, »dein Verantwortungsbereich« reklamiert werden. Kirchen, Theater, Museen, Golfplätze, Vereinslokale oder Clubräume sind geschaffen für die Befriedigung ganz eigener hochwertiger Bedürfnisse der Besucher, die nur dort zu ihrer speziellen Befriedigung kommen. Gleich, höher oder niederwertig kann ein Sportplatz, eine Disko oder ein Slum sein. Letztlich sucht und schafft sich auch jeder den individuellen Raum, mit dem er sich identifiziert, in dem seine Seele angenehm berührt wird. Darin findet das Lebensgefühl seinen je spezifischen Ausdruck, ob in barocker Fülle oder nüchterner Strenge. In der Mandala-Fläche 4 haben »Zeiten« und »Werte« ihre Schnittmenge. »Schön war die Jugend . . .«, singt man. »Morgenstund’ hat Gold im Mund«; »Auch der Herbst hat noch schöne Tage!«. Feier- und Gedenktage emotionalisieren uns, je nach dem, welchen aktuellen Bezug wir zu ihnen haben: Geburtstag, Hochzeitstag, Weihnachten, Ostern oder Totensonntag. Kinder freuen sich auf die Ferien, Erwachsene auf ihren Feierabend und ihren Urlaub. Schulzeit und Lehre schaffen Werte sogar in die Zeit hinein. Selbst der Alltag mit seinem steten Wechsel von Anspannung und Entspannung, Wachen und Schlafen wird werterfüllt erlebt. Sehr verkürzt auf ein relativ enges Sinnthema bezogen heißt es: »Zeit ist Geld!« Wenn man dies wirklich so generell gelten lassen wollte, machte Geld schließlich arm, weil es den Wert der Zeit nicht zum Ausdruck bringt. Wer sich erlebnismäßig in der Mitte seines Lebens zu befinden meint, bilanziert vielleicht, wohin ihn sein Weg bis dahin geführt hat und was noch kommen mag oder soll. Selten stellt die Bilanz wirklich zufrieden und endet sowohl im schmerzlich registrierten Defizit als auch im Hoffnungsdebet, kurz, in einer so genannten Midlifecrisis. In der oft gebrauchten Formulierung: »Wie viel Zeit 47

habe ich noch?« steckt vielleicht nur eine Frage im Blick auf die Leistung des Augenblicks, manchmal aber auch die bange Befürchtung vor der Kürze einer möglicherweise nur noch verbleibenden Lebenszeit.

Ergänzungsschnittflächen im Personkreis bei A, B, C, D An der Umfangslinie des »Person«-Mittelkreises liegen kleine dreieckige Leerfelder, die mit ihren nach außen weisenden Spitzen auf die Buchstaben A, B, C und D weisen: Auf die Mandala-Fläche A weist die Schnittmenge »Menschen, Räume und Zeiten«. Darin wird zum Ausdruck gebracht, dass sich im Verlauf des Lebens auch die Beziehungen ändern, die Menschen zueinander in verschiedenen Räumen haben. Das Elternhaus oder der Heimatort behalten zumeist nicht für das ganze Leben die Bindung, die sie für das Kind noch haben. Man mag in der Zeit der Lehre oder des Studiums noch in den Räumen bleiben, in denen man bis dahin lebte, vollzieht gleichzeitig doch auch schon das Wachstum in andere Daseinsfelder hinein. Jede Biographie weist auf vielerlei gleichzeitig verlaufende Übergänge und Wandlungen in Kontakten mit Menschen, Räumen und Zeiten hin. Jeder Umzug an einen anderen Ort und jeder Wechsel einer Arbeitsstelle ist ein solches Ereignis. Auf die Mandala-Fläche B weist die Schnittmenge »Menschen, Räume und Werte«. Symbolisiert wird darin, dass wir Menschen gewissen Räumen bestimmte Werte zusprechen. Den Monarchen erhebt sein Thron, den Kapitän seine Brücke. Das eigene Zimmer bietet dem Einzelnen ein Gefühl gesicherter Beheimatung mit Wohlbehagen. Wertbesetzt ist Laubenbesitzern ihre Kolonie, Schützen ihr Schützenhaus, Beschäftigten ihr Arbeitsplatz, Polizisten oder Förstern ihr Revier. Mit diesen Räumlichkeiten verbinden sich Kontakterlebnisse mit Personen, in Begegnungen, Situationen und Orientierungen, die dem eigenen Dasein Inhalt und Sinn verleihen. Auf die Mandala-Fläche C weist die Schnittmenge »Räume, Werte und Zeiten«. Konkret kann jeder Häusle-Bauer ein Lied 48

davon singen, wie ihn jede Dimension für sich genommen spannungsvoll beschäftigt hat: Wie soll es werden? Was wird es kosten? Wann ist es endlich fertig? – Abstrakter denke ich gegenwärtig in Bezug auf mein Buch: Was gehört hinein? Welchen Stellenwert hat es eigentlich für mich und welchen kann es für Leser haben? Wie lange wird es mich noch beschäftigen? Es muss im Blick auf die Zeit keineswegs nur weiträumig gedacht werden. Selbst eine relativ kurze Bahn-, Flug- oder Schiffsreise kann recht spezielle Kontakterlebnisse vermitteln. Schon in der bloßen Vorstellung unterscheiden sich die Reisemöglichkeiten erlebnismäßig. Mit dem Ozeanriesen »Queen Mary 2« reist man länger und anders als mit einem Vorortzug. Noch wichtiger, weil vielleicht bedeutsamer, mögen der Anlass und das angestrebte Ziel der Ortsveränderung sein. Ein ersehntes Treffen mit einem lieben Menschen löst sicherlich andere Gefühle aus als die vage Hoffnung auf eine gewinnträchtige geschäftliche Verbindung oder die Wahrnehmung eines problematischen Gerichtstermins. Auf die Mandala-Fläche D weist die Schnittmenge »Menschen, Zeiten und Werte«. Es ist nahe liegend, hier zum Beispiel an Kuraufenthalte zu denken, insbesondere dann, wenn sie körperliche Beschwernisse beheben sollen. Auch Aus- und Fortbildungen sind zeitlich und im Blick auf gewünschte oder erwartete Ergebnisse relativ eindeutig definiert. Die Vorbereitung auf bedeutsame zukünftige Ereignisse ist meist voller Spannung, die positiv oder negativ geprägt sein kann. Die Schwangerschaft erzeugt persönlichere Erwartungshaltungen als der jährlich wiederkehrende Advent. In allen Ländern bereiten sich viele junge Menschen langfristig mit erheblichen Anstrengungen und voller Entbehrungen selbst als Außenseiter auf die Olympischen Spiele vor, weil ihnen teilnehmen wichtiger ist als siegen. In Wahlkampagnen von Parteien wird viel Energie, Geld und Geltungsanspruch investiert, werden Versprechen geleistet, Hoffnungen geweckt und Besserungen beschworen, die sich nach dem Wahltermin einstellen sollen. Bitte versuchen Sie, liebe Leser, auch zu diesen kleinen Schnittmengen wieder aus Ihrem ganz persönlichen Erleben Beispiele zu finden, um deutlicher als bisher wahrzunehmen, womit und wodurch sich Ihr Dasein fast beiläufig organisiert. Sie können 49

anhand des Mandalas so etwas wie eine eigene Daseinsanalyse unternehmen und dabei erkennen, in welches Beziehungsnetz Sie wie dicht und abhängig eingebunden sind.

Das Person-Kaleidoskop Schließlich muss nun auch noch über das wichtige Mittelfeld gesprochen werden, das im Ganzen liegt. Die Mitte wurde mit dem Begriff »Person« belegt. Heute ist in der Regel damit der einzelne Mensch in seiner spezifischen Eigenart gemeint, der sich als ein von Anderen unterscheidbares Ich versteht. Am Mandala ist zu erkennen, dass dieses Feld Schnittmengen mit allen Kontaktbereichen enthält. Man könnte den Kreis gewissermaßen als das Okular eines Kaleidoskops verstehen, in das man hineinblickt, um zu sehen, wie sich die Teile des Ganzen im Daseinsgeschehen immer neu mischen. Jede Person ist in Gestalt ihrer Besonderheit eine solche eigene Mischung der das Ganze des Lebens ausmachenden individuellen Anteile. Das kennzeichnet den Unterschied etwa zwischen Ihnen und mir, der in der Unterschiedlichkeit von Form und Größe einzelner Schnittflächen sichtbar werden würde. So wie keine Person einer anderen in in irgendeiner Hinsicht gleicht, so verschieden stellen sie sich auch dem Blick ins Kaleidoskop dar. Die Schnittmengen sind ihren generellen Inhalten nach gleich, womit gemeint ist, dass die grundsätzliche Daseinslage für alle Menschen die gleiche ist, wenn auch unterschiedlich gelebt und ausgefüllt durch Erfahrungen im aktuellen Kontakt zu räumlichen, zeitlichen und wertbezogenen Bedürfnissen und Befindlichkeiten. Mit dem Kaleidoskop ist auch gemeint, dass die Figur und Struktur der Gestalt nicht starr, sondern flexibel ist. Jede Erschütterung, jeder Impuls schüttelt die Teile durcheinander und bildet aktuell eine neue Gestalt. In der Übertragung möchte ich dieses Bild auch für das menschliche Leben gelten lassen. Es ist ein fortwährender Prozess der Veränderung und Entwicklung, je nach dem, welche Anstöße wann und mit welcher Intensität auf das momentane Gefüge, sprich: das Ich, einwirken. 50

Die Bewegung im Ganzen ist also abhängig von der Art und Intensität der impulsgebenden Anstöße von außen. Im Blick auf den Menschen ist in diesem Zusammenhang zu denken an Erziehung und Schulung ebenso wie an beiläufige Lernerfahrungen im Umgang mit Menschen, Tieren, Dingen und Sachverhalten. Wirksam werden Anstöße allerdings nur dann, wenn sie auf mehr oder weniger beeindruckbare und flexible Personen treffen. Rigides, also starres Festhalten an bestimmten Einstellungen und Verhaltensmustern verhindert sinnvolle Anpassungs- und Umstellungsleistungen an die sich ohnehin ständig ändernden Lebensbedingungen. Man könnte sich fragen, ob man sich denn überhaupt jemanden vorstellen kann, der sich so starr verhalten wollte. Denkbar ist es, denn der Gewinn rigiden Verhaltens ist immerhin ein Gefühl von Sicherheit im Gewohnten. Sein Mangel dagegen liegt in der Lernbehinderung durch die Macht des Zwangs, die unflexibel macht und Fähigkeiten behindert, sich auf wandelnde Lebensbedingungen angemessen einlassen zu können. Man könnte das Mittelfeld auch mit dem Begriff Charakter belegen. Charakter meint soviel wie Geprägtsein, abgeleitet aus der griechischen Bedeutungswurzel »Prägung«, »Einritzung« und kennzeichnet somit etwas Dauerndes, Bleibendes. Dazu passt aber nicht das Bild vom flexiblen Persönlichkeits-Kaleidoskop. Ich ziehe deshalb also den Begriff Persönlichkeit vor. Er liegt zwar im herkömmlichen Verständnis nahe beim Charakter, lässt meines Erachtens zumindest in Bezug auf individuelle Erscheinungsbilder und Verhaltensmuster Veränderungen zu, die Entwicklung und Erfahrung mit sich bringen. Seit Menschen sich gegenseitig wahrnehmen, erleben sie einander ähnlich, aber auch verschieden. Um Gesetzmäßigkeiten der Verschiedenartigkeit zu verstehen, entwickelten sie Theorien. Bis heute sind zum Beispiel die Temperamentstypen Sanguiniker, Phlegmatiker, Choleriker und Melancholiker gebräuchlich. Vor über zweitausend Jahren wurden sie auf die Elemente Luft, Wasser, Feuer und Erde bezogen und vom griechischen Arzt Hippokrates (460–370 v. Chr.) mit bestimmten Körpersäften in Zusammenhang gebracht. Danach gab es zahlreiche wissenschaftliche 51

Versuche, Persönlichkeit nach Merkmalen zu typisieren. 1925 veröffentlichte der Psychiater Ernst Kretschmer sein Buch »Körperbau und Charakter«, in dem er folgende Konstitutionstypen unterschied: leptosom (griech. lepto- = dünn, fein, zart) für groß, schlank/im Temperament ernst, verschlossen; pyknisch (griech. pyknos: dicht, fest, stark) für untersetzt, klein/fröhlich, gesellig; athletisch = muskulös, kraftvoll, eher schwerfällig, unbeholfen. Es gibt Modelle, die die Psyche in mehrere Schichten gliedert, zum Beispiel bei Freud (Es – Ich – Über-Ich), oder sich auf Eigenschaften (Allport 1970) oder Lernergebnisse (Bandura 1970) beziehen. Für unser gegenseitiges Verständnis in der aktuellen Situation und den daraus ableitbaren Umgang miteinander helfen die Persönlichkeitstheorien aber nicht viel weiter, denn ins konkret praktische Handeln lassen sie sich nicht ohne weiteres umsetzen. Jeder ist oder hat Persönlichkeit im Sinne der Besonderheit seines Verhaltens und Erlebens. Das Wort mutet so erwachsen an, dass man dies in Bezug auf ein Kind eigentlich gar nicht gelten lassen möchte. Mit Hilfe des Mandalas kann man sich jedoch klar machen, dass jeder Mensch, egal wie alt er ist, wie und wo er sich auch immer befindet, in Gestalt seiner Person ein sehr spezieller Fokus spezifischer Zusammenhänge ist, mit denen er in Wechselwirkung steht. Niemand kann sich je aus dem Rahmen der im Mandala versinnbildlichten dynamischen Daseinslage entfernen oder aus ihr herausfallen. Jeder unterliegt den Gesetzen der Abhängigkeit alles Lebendigen von dem, was es zeugt, umgibt, nährt, trägt, fordert wie fördert – aber auch einschränkt, gefährdet und letztlich wieder sterben lässt, nachdem es seine Zeit durchlaufen hat. Konsequenterweise muss der Innenkreis »Person – Persönlichkeit« als eine fünfte Kontakt-Dimension betrachtet werden, in der alle Schnittmengen sowohl individualisiert als auch als global zu verstehende Ganzheit vorkommen. Was macht die Einzelperson aus und wie kann jeder seine Daseinslage am Beispiel des persönlichen Mandalas verstehen, die als eine Art persönlichkeitsspezifischer Landkarte angesehen werden kann? Ist es möglich, auf diese Weise präziseren Kontakt zum Selbstverständnis zu finden? Welches Muster wird im jeweiligen Kaleidoskop erkennbar und was wird dadurch verdeutlicht? Wie ausgewogen oder 52

gegeneinander exzentrisch verzogen erscheinen gewisse Kontaktbereiche und Schnittmengen? Können wir uns darin ähnlich begegnen wie im morgendlichen Selbstgespräch vor dem Spiegel? Kann es nicht wie ein Spiegel unserer aktuellen Daseinslage genutzt werden? Vor anstehenden Entscheidungen könnten wir dazu Informationen über unsere gegenwärtige Sachlage gewinnen wollen, die geeignet wären, uns beispielsweise Mut zuzusprechen, indem wir Merkmale dafür finden, anstehende Probleme oder Konflikte bereits einmal gelöst zu haben. Möglicherweise verstehen wir aber auch Warnungen anhand gewisser Verengungen und unterschiedlicher Expandierungen. Wir können mit Hilfe der Graphik hinschauen, wie wir über allen Feldern im Leben liegen, wie und wo welche Gewichte verteilt sind. Vielleicht erkennen wir eine Schieflage, die uns aus der Balance bringt. Es geht darum, sich seiner bewusst zu sein, Bestand aufzunehmen und sich, wo nötig, neu zu orientieren und zu ordnen. Diese »fünfte Dimension« ist gewiss die wichtigste von allen, auch wenn sie nur selten deutlich und differenziert genug wahrgenommen wird.10 Außenbeziehungen werden gewöhnlich direkter, sorgfältiger und vollständiger wahrgenommen als Innenbeziehungen. Deshalb bedarf es zielender Aufmerksamkeit für die personale Mitte. Hochgefühle oder Niedergeschlagenheit, Lust und Leid drängen sich durch die Intensität ihrer Empfindung unmittelbar in den Fokus des inneren Geschehens. Dazwischen herrscht eher ein Gleichmaß relativ unbeachteter Gefühle, die von Außeninteressen überlagert sind.

Der Blick auf das Ganze Ausdrücklich sei dem Vorhalt zuzustimmen, eine Aufteilung in die Kontaktbereiche »Menschen, Räume, Zeit und Werte« sowie die 10 Die graphische Darstellung des Person-Bereichs (auch das ganze Mandala) ließe sich als Kopie durch die Wahl eines Formats wie DIN-A3 vergrößern, um die Gegebenheiten besser hervortreten zu lassen und aktuell eventuell vorzunehmende Korrekturen einzeichnen zu können.

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Zergliederung in diverse Schnittmengen werde der lebendigen Ganzheit eines Menschen nicht gerecht. Tatsächlich ist ein Ganzes grundsätzlich mehr und etwas völlig Anderes, als die Summe seiner Teile. Legte man zum Beispiel alle Teile eines Fahrrads nebeneinander, wäre es natürlich noch kein Fahrrad. Das ist es erst dann, wenn die Teile zu einem funktionstüchtigen Ganzen zusammengebaut worden sind, die ein Fahrer in Gang setzt. Ähnlich verhält es sich mit der Seele. Sie erklärt sich nicht als bloßes Gemenge diverser psychophysischer Funktionen, sondern als ein organisches Ganzes, das sich im menschlichen Dasein entfaltet. Funktionell erwirbt sie ihre flexible Gestalt in bedeutsam erlebten Berührungen mit ihresgleichen in den Lebensräumen der konkreten Umgebung, der zur Verfügung stehenden Zeit sowie sinnstiftenden Werten. Die verwirrend zahlreichen Überschneidungen und Verbindungen in der Abbildung des Mandala-Modells machen deutlich, wie verwickelt und komplex gefügt die dynamischen Prozesse sind, die sich im Zusammenhang damit ergeben. Von der Zeugung oder Geburt an hat die menschliche Seele zwar eine gewissermaßen ursprüngliche, jedoch noch längst nicht ihre endgültige Gestalt. Zufolge der als dynamisch bezeichneten Prozesse wird es die auch nicht geben können. Die im Begriff des Charakters zum Ausdruck kommende Prägung ist immer auch nur eine vorläufige. In diesem Sinne ist auch der Charakter durchaus noch beeindruckbar. Es gibt wohl auch Münzen, die mehrere Stanz- und Prägungsphasen durchlaufen. Fraglos trifft dieser etwas hinkende Vergleich auf die menschliche Seele zu, die jedes wichtige Erlebnis zum Eindruck verarbeitet und bewahrt. Zurückbleibende Eindrucksspuren liegen nachfolgenden zugrunde und formen diese mit. Die Vielgestaltigkeit der sich im Verlauf eines Lebens begegnenden Menschen, die Unterschiedlichkeit der Räume, in denen sie sich aufhalten und beheimaten, sowie ungleiche Gewichtungen dessen, was gut, schön und richtig ist, bringt in zahllosen einander bedingenden Berührungen je besondere Menschen hervor. (Einzig die Zeit ist die objektiv unveränderliche Variable im Gesamtgeschehen. Erlebnismäßig kann aber auch sie erheblichen Gestaltwandel erfahren, indem sie sich dehnt oder verkürzt, je 54

nachdem ob man sie verlassen oder halten möchte.) Keine Person, keine Seele gleicht einer anderen, trotz vieler ähnlicher Prägungstypen. Vergleichbar sind allenfalls gewisse Grundausstattungen, die den Menschen in ihr jeweiliges Leben mitgegeben sind: wahrnehmende Sinne, spürbare Bedürfnisse, Fähigkeiten aktiver Zuwendung und Inanspruchnahme, passive sowie aktive Beantwortung von Gefährdungen. Individualität entsteht in der persönlichen Nutzung dieser Grundausstattung während entsprechender Begegnungen mit Menschen, Räume, Werte und – last, not least – mit der eigenen Zeit. Auf Menschen bezogen drückt sie sich zum Beispiel aus als Liebe, Anhänglichkeit, Dankbarkeit, Forderung, Kränkung, Abwehr oder Bestrafung. Auf Räume bezogen heißt das, seinen Platz beanspruchen, einnehmen, ausgestalten und verteidigen. Auf Werte bezogen ergeben sich Parameter zum persönlichen Dasein sowie zur Identifikation mit Gemeinschaften und ihren Sinn- und Zweckverständnissen. Im Zeitbezug geht es um Fristen, Verläufe, Endlichkeiten. Ausgehen müssen wir jedenfalls von einem Menschenbild, das die verallgemeinerbaren Bedürfnisse des Daseins zutreffend abbildet. Daraus wird ableitbar, welche Defizite und Komplikationen sich zeigen und mit welchem Verständnis für die je spezifischen Bedingungen ihrer Entstehung sie beseitigt werden können. Psychologie hat jedenfalls ein plausibles Verständnis dafür zugrunde zu legen, was es heißt, Mensch mit Anderen im gleichen Lebensfeld und zur gleichen Zeit zu sein. Jeder Mensch ist für sich ein dynamisches System, das in seinem Erleben und Verhalten von individuellen Bedürfnissen geleitet ist. Das schafft im Geflecht der Beziehungen unterschiedliche Spannungen, die nach Auflösungen drängen, also nach Befriedigungen der Bedürfnisse. Werden sie nicht befriedigt, entstehen Defizite im Sinne des Fehlenden. Je notwendiger der Bedarf des Fehlenden ist, desto dringlicher wird sein Mangel erlebt und äußert sich schließlich als psychisches Leid, dem begegnet werden sollte, wenn es über den gegebenen Anlass hinaus anhält. Zusammenfassend lässt sich bisher sagen: Aus den beschriebenen Abhängigkeiten der psychischen Daseinslage können wir 55

Menschen uns weder befreien, noch können wir aus ihr entlassen werden. In dieser Hinsicht gibt es keinerlei Unabhängigkeit, solange das Leben dauert. Wir sind absolut angewiesen auf Beziehungen zu uns bedeutsamen Personen, auf konkrete Umgebungen mit ihren Angeboten an Lebens-Mitteln sowie an zeitliche Lebens-Räume und an wertbestimmte Sinngebungen. Am Beispiel des Kaleidoskops kann veranschaulicht werden, dass auch im menschlichen Leben mannigfaltige äußere Einflüsse Positionsverschiebungen bewirken können, durch die alle Teile des personalen Ganzen durcheinander gebracht und neu geordnet werden. Immer aufs Neue entsteht ein anderes Ganzes. Dies ist nicht ein missliches Geschehen, welches uns passiv betrifft, sondern es ist unser Trainings-Abonnement für das Erlernen flexibler Reaktionen auf Außenreize, die unser Leben sowohl erhalten als auch gefährden können. Flexibilität im Sinne einer inneren Freiheit ist dann gegeben, wenn man wählen kann, ob und wie bedürfnisadäquat zu reagieren ist. Abhängig ist dies natürlich auch davon, was der Außenreiz bedeutet, wozu er auffordert oder anreizt. Trifft er im Augenblick auf ein entsprechendes Bedürfnis, so wird der Reiz angenommen und umgesetzt, andernfalls wird er abgewiesen oder bleibt unbeachtet. Das ist nicht der Verlauf eines starren Reiz-ReaktionsSchemas, sondern ein kontinuierlicher Veränderungsprozess, der konstruktiv handelnd vollzogen wird. Psychologen und Gruppendynamiker können sich in diesem Bild des Trainings als Coach verstehen und die Mitglieder einer Lerngruppe als Sparringspartner.

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Wandel durch Berührungen

Veränderung als Prinzip des Lebens Schnell sagt man so dahin: »Nichts bleibt, wie es ist!« Alles ist tatsächlich in ständiger Veränderung begriffen, unmerklich und merklich. Unsere Erde rotiert, Bäume wachsen, der Mond geht auf und unter, Jahreszeiten wechseln, die Sonne sinkt und steigt, das Wetter ändert sich, Menschen sind entstanden und haben sich den Daseinsbedingungen angepasst, indem sie sich mit diesen kontinuierlich veränderten. Inzwischen sind wir Heutigen »veränderungsgewohnt«, wenngleich wir doch eigentlich auch gern behalten wollen, was wir haben. Am schwersten tun wir uns oft mit dem, was unsere persönlichen Veränderungen betrifft: Altern, Hineinwachsen und Herauswachsen, Verlust, Verlassen, Loslassen, Verzicht, Umorientierung, Neuordnung. Gefordert ist: die Bejahung aktiver Unruhe wie des aktuell Unabänderlichen, geduldiges Zuwarten, schlussendlich die Akzeptanz der Vergänglichkeit. Leben bedeutet einerseits organisches Geschehen, andererseits die fortwährend abgenötigte Antwort auf die Wechselfälle des Daseins. Das eine betrifft aktuelle physiologische Abläufe, zum Beispiel den Blutkreislauf, den Stoffwechsel, die Atmung, Verdauung oder Empfindung; das andere bezieht sich auf die dynamische Kontinuität eines langfristigen Daseins, die gekennzeichnet ist von Begriffen wie Entwicklung, Wachstum, Reifung, Werdegang. Hier wie dort geht es um Veränderung als wesentliches Merkmal von Leben. Veränderung ist Leben. Auch wenn man einfach nur »vor sich hin« zu leben versucht, ergeben sich ohne absichtsvolles Zutun zwangsläufige Veränderungen. Man wird größer, breiter, später kleiner, vielleicht dün57

ner, verliert schließlich Haare und Zähne und wird langsamer. Nur in Grenzen lässt sich dies beeinflussen. Nehmen wir das auch widerstrebend hin, so müssen wir uns jedoch nicht mit allem abfinden, schon gar nicht mit dem, was durch eigene Initiative verändert werden kann. Dazu gehört vor allem das Kontaktverhalten in Bezug auf Menschen, Räume, Zeiten und Werte. Außerdem gehört in diese Betrachtung auch der Kontakt zu uns selbst (wie am Person-Kaleidoskop dargestellt), den wir uns im Hier und Jetzt bewusst machen können und auch sollten – jedenfalls immer wieder einmal. Es ist vorherzusehen, dass in verschiedenen Betrachtungen des Selbstbildes unterschiedliche Merkmale aufscheinen. Das mag durch konkret verifizierbare Veränderungen der Person (Alterung, neue Partnerbindung, Umzug, Arbeitsplatzwechsel etc.) bedingt sein, kann sich jedoch auch aus dadurch veränderte Sichtweisen ergeben. Im Zugewinn von Kenntnissen, Verantwortungen oder begründeten Hoffnungen stellen sich Realitäten gegebenenfalls neu und anders dar. Endgültigkeit ist im Zusammenhang mit dem Leben immer nur ein Konstrukt; eines seiner Wesensmerkmale ist der unaufhörliche Austausch und die Verarbeitung von Stoffen, die seine Existenz begründen und erhalten. Setzt dies aus, findet das Leben endgültig sein Ende. Wie dem Leben an sich Veränderung immanent ist, ist auch dem menschlichen Erleben Veränderung immanent. Jede Berührung ist selbst in Wiederholungen für den gegebenen Moment einmalig und wird wie neu erlebt. Das Erleben ist der Fluss wahrgenommener Ereignisse in den Gezeiten des Lebens. Es kennt keinen Halt und produziert noch im Schlaf die Träume. Insoweit nimmt es Herantretendes nicht einfach nur an, sondern zieht es aktiv herbei und erfasst es im Sinne hingreifenden Erlebens. Dieser Erwerb schafft kontinuierlich einen veränderten Besitzstand an Erkenntnissen, Einstellungen und Fähigkeiten. Verallgemeinernd lässt sich folgern, dass der Mensch ein Veränderer seiner selbst und – somit bedeutungsüberhöht – zugleich Produkt und Produzent seines eigenen Daseins ist. Wenn man sich die Mühe machte, die Berührungen zu zählen, die sich bewusst und unbewusst täglich ergeben, würden wir 58

wahrscheinlich überrascht entdecken, dass unvermutet viele raumbezogene Kontakte aufgenommen werden. Sie geschehen oft beiläufig, unmerklich: zur Zahnbürste im Bad, zu den Kleidungsstücken im Schlafzimmer, der Frühstückstasse in der Küche, dem Mantel in der Diele, dem Treppenhaus, der Straße und so weiter. Macht man sich dazu noch klar, dass alle Realien, also auch die berührten Dinge, räumliche Ausdehnungsqualitäten haben, etwa die Zahnbürste und die Kleidung, dann kann diese Entdeckung Erstaunen auslösen. Sie beweist uns nämlich, abhängig von scheinbaren Nichtigkeiten zu sein. Aus Nichtigkeiten können jedoch Wichtigkeiten werden, sobald sie fehlen oder sich für den bestimmten Zweck als ungeeignet erweisen. Mit einem Schraubenzieher kann man schlecht einen Knopf annähen und mit einer Nadel keine Schraube eindrehen. Die Wahrnehmung der speziellen Umgangsqualität ist das Ergebnis eines Lernprozesses. In einer ersten Berührung mit einer Nadel beziehungsweise einem Schraubenzieher wurden Erfahrungen über deren Beschaffenheit gemacht und ihr Verwendungszweck erahnt. Bei passender Gelegenheit wird dann auf dem Weg über Versuch und Irrtum ausprobiert, was und wie es geht. Damit ist ein Lernprozess beschrieben, dessen Ergebnis die zweckdienliche Organisation des Verhaltens ist. »Versuch und Irrtum« (trial and error) beschreibt ein probeweises Verhalten, das Änderungen des Vorgehens einschließt. In der Regel werden auf diese Weise Erfahrungswerte gewonnen, die gegebenenfalls gewisse verallgemeinernde Rückschlüsse zulassen. Im Beispiel liegt nahe, mit einem Schraubenzieher auch versuchen zu können, Schrauben hineinzudrehen. Das Schraubenzieher-/Nadel-Beispiel ist pars pro toto gedacht, lässt sich also übertragen auf alle Erst-Berührungen und entsprechende Übungs- und Lernprozesse. Es gibt im menschlichen Verhaltensinventar nur wenige unbedingte Reflexe, die, unbeeinflusst von aktuellen Bedürfnissen, Reaktionen auf Berührungen direkt und zwingend vorgeben. Dazu gehört der bekannte und unmittelbar lebensnotwendige Saugreflex oder auch der Greifreflex des Säuglings. Der wird aktiviert, sobald die Innenfläche der Hand berührt wird. Reizt man sie mit dem Finger, dann 59

ist der Zugriff direkt und stark genug, das Kind daran hochzuheben. Sollte es gerade gesättigt worden sein, fällt der Griff weniger heftig aus, so dass das Hochheben misslingen kann. Bei älteren Kindern hat dieser Reflex seine Unbedingtheit verloren. Selbst so rigide Reaktionen wie der Pupillenreflex oder der Saugreflex sind erfahrungsgemäß beeinflussbar. Der physische Organismus des Menschen hat in Abhängigkeit von den gebotenen Lebensbedingungen eine grundsätzliche Lernbereitschaft entwickeln müssen, sonst hätte er die ökologischen Veränderungen der Jahrtausende mit ihren ernährungsspezifischen Folgen wohl nicht überlebt. Für unsere Überlegungen ist die seelische Lernbereitschaft besonderer Betrachtung wert. Dem Neugeborenen ist alles neu, was seine Seele berührt. Er wendet sich dem mit einer ursprünglichen Neugier zu, die ihn weiterhin in die sich ändernden Interessen begleiten wird. Es ist sicherlich nicht ganz abwegig, das Wort nach seinem Bedeutungsgehalt zu befragen. Kann man das gelten lassen, dass Menschen nach Neuem gieren? Fragen wir anders: Was wäre, wenn der Mensch rigide beharrt bei dem, was er hat und kennt? Er würde aufhören zu leben! Wir wissen, dass Kinder berührt werden müssen, um zu leben. Inzwischen ist das Roomingin in Kinderkrankenhäusern nicht nur für Gebärende fast schon selbstverständliche Gepflogenheit, weil der Kontakt zwischen Kind und Mutter lebenserhaltender ist als eine sterile Umgebung. Als Vater durfte ich seinerzeit meine neugeborenen Kinder in der Klinik nur durch eine Glasscheibe sehen, keinesfalls irgendwie berühren! Eltern, Erzieher, Psychologen wissen seit langem – und das aus grundlegend eigenen Erfahrungen und zahllosen wissenschaftlichen Belegen –, dass Berührungen für die gesunde psychische Entwicklung jedes Kindes (und der Eltern!) erforderlich sind. Ohne Nähe und Wärme fühlt niemand sich wirklich angenommen und wertgeschätzt. Wer sich nicht wertgeschätzt fühlt, hält sich für unwert, für minderwertig. Mit einem solchen Selbstverständnis entwickelt man kein gesundes Expansionsstreben und verlagert seine Neugier auf möglichst anstrengungsfreie Scheinbefriedigungen. Das Fernsehen oder Angebereien bieten dazu leider, zumindest für den gegebenen Moment, genug passende Aufenthalts60

räume. Expansive Veränderungsabsichten werden dann allenfalls noch in Gestalt wiederholter Phantasiespiele zur Tat. Man vertröstet und belügt sich dabei gleichzeitig ein wenig: Man täte es ja, wenn man nur wollte, aber man kann einfach nicht – jetzt noch nicht – irgendwann später vielleicht – wenn die Zeit dazu einmal reif sein wird, dann aber ganz bestimmt! – Eine Veränderung kann bereits in der Phantasie so gefährlich scheinen, dass man vor ihr ängstlich zurückschreckt. Auf diese Weise bleiben jedoch Genugtuungen über tatsächlich vollbrachte Leistungen und erkennbare Entwicklungsschritte versagt.

Denkmensch/Fühlmensch Man kann sich aber auch mutig oder sogar freudig auf sie vorbereiten, je nach dem, was man sich davon verspricht. Eine entscheidende Rolle spielen dabei die Gefühle. Sie können zu Attraktionen hinziehen und vor Widrigkeiten zurückdrängen. Schaut man sich das genauer an, dann stecken darin meist Vorerfahrungen aus durchlebten oder durchlittenen Veränderungen. Es ist alles engstens miteinander verwoben im menschlichen Dasein. Es gibt keine Wahrnehmung ohne Erinnerung und emotionale Bewertung. Es gibt kein Gefühl, das nicht auch Wahrnehmung und Erinnerung ist, gewissermaßen als Voraussetzung für bedürfnisadäquates Handeln. Der Schwierigkeit, Gefühl beziehungsweise Emotion eindeutig beschreiben zu können, weichen wir im Sprachgebrauch dadurch aus, dass wir sie im Besonderen benennen: Angst, Lust, Freude, Mitleid, Ärger, Hoffnung, Trauer, Abscheu und dergleichen. Wahrgenommen werden sie als Anmutungen, Stimmungen, Befindlichkeiten, die bestimmte Inhalte des individuellen Erlebens durchdringen und begleiten. Sie werden auch als Gemütsbewegungen im Sinne seelischer Erregungszustände verstanden. Im Unterschied zu inhaltlichen Wahrnehmungen, in denen etwas Objekthaftes, also außerhalb der Person Befindliches erlebt wird, lassen sich Gefühle auf nichts anderes zurückführen, als auf sich selbst und sind daher nur der Selbstbeobachtung zugänglich. 61

Entsprechende Erlebnisinhalte lösen sie nur aus, erklären sie aber nicht in ihrer Eigenart. Ciompi hebt hervor, »das . . . die Gefühle als eine Art von globaler Wahrnehmung unter Mitbeteiligung des ganzen Körpers betrachtet werden müssen« (1988, S. 197). Er unterscheidet den »Fühlmenschen« vom »Denkmenschen«: »Der ›Fühlmensch‹ bildet gewissermaßen den tragenden, bis weit in unsere unbewussten, tierischen Ursprünge hinabreichenden Sockel der Psyche, auf den sich erst sekundär der ›Denkmensch‹ im Laufe der Entwicklung allmählich aufpfropft.« Ersterer lebt grundsätzlich gewissermaßen körper-seelisch aus seinen Gefühlen heraus im Augenblick. Er ist wechselnden Stimmungen unterworfen und drückt diese durch die Sprache seines Körpers in Gestik, Mimik, Haltung und Bewegung aus. Das spätere und viel kurzatmigere Denkwesen dagegen verfügt, wiederum schematisch dargestellt, über Sprache, Abstraktionsvermögen und über gegliederte Zeit. Wie Erlebnisse und Sachverhalte zusammenhängen, wird es wissend wahrnehmen und untersuchen wollen. Denkmenschen sind vor allem kopfgesteuert, was schon begrifflich nahe gelegt ist. Sie kommunizieren und interagieren mit dem, was der Kopf zur Verfügung stellt, also aus Kenntnissen, Regeln und Überlegungen mit möglichst präzise zutreffenden Wörtern. Der ganze übrige fühlende Körper spielt dabei allenfalls eine untergeordnete Rolle (vgl. Ciompi, S. 192). Solche Unterscheidungen sind zwar als psychologisches Konstrukt zu verstehen, finden jedoch auch gewisse Entsprechungen in der Entwicklungsgeschichte der generellen Menschwerdung. Die differenzierenden Fähigkeiten des Denkens werden erst mit der Ausformung später neurologischer Strukturen möglich. Auch dem Blick auf die Entwicklung jedes einzelnen Menschen bieten sich dazu passende Parallelen an. Nach dem umstrittenen »biogenetischen Grundgesetz« von Haeckel (vgl. Strube 1977, S. 890f.)wiederholt jedes Einzelwesen in seiner Entwicklung Teile der menschlichen Stammesgeschichte. Im Grunde wäre es nahe liegend, nach Bergius (1959) ein ähnliches »psychogenetisches Grundgesetz« für die Entwicklung der Psyche anzunehmen, nach dem sich aus ersten affektivemotionalen Regungen der Frühmenschen dann Schritt für 62

Schritt immer strukturiertere und differenziertere Formen psychischer Prozesse ergeben. Auf den Einzelmenschen bezogen liefert die wissenschaftliche Entwicklungspsychologie dazu bereits genug Belege. Eine verallgemeinerungsfähige Leitlinie und Strukturierungshilfe für das Verständnis jeder psychischen Entwicklung kann die schrittweise Differenzierung des individuellen Kontakterlebens und –verhaltens sein. Darin dürfte sich auch die psychische Entwicklung der Spezies Mensch abbilden. Ciompi betont in diesem Zusammenhang zu Recht, dass Fühlen und Denken eindeutig komplementär sind, einander also ergänzen. Sie schließen sich gegenseitig nicht aus, sondern gehören zusammen (S. 189). Das Gefühl erfasst das Geschehen also in seiner ganzheitlichen Qualität. Wenngleich es an das Erlebnis des Augenblicks gebunden ist, reagiert es doch eher etwas verzögert. Es bildet gewissermaßen ein unsprachliches Signalsystem, das bildhaft und räumlich wahrnehmbaren Ausdruck findet, zum Beispiel in spürbaren Veränderungen der Muskelspannung (Haltung, Mimik), der Atmung oder Gesichtsfarbe. Physiologisch gesehen ist emotionales Geschehen wohl vorwiegend rechten Bereichen des Hirns zuzuordnen. Das Denken dagegen ist eher linkshirnig organisiert und vollzieht sich in raschen Aufeinanderfolgen einzelner analytischer Schritte unter Verwendung sprachlicher und zeitlicher Merkmale. Erst nach einem durchlebten Gefühl und infolge der anschließend sinngebenden Aneinanderreihung der analytischen Schritte entsteht eine spontan emotionalisierte Erkenntnis, etwa in Gestalt eines so genannten gefühlhaften Aha-Erlebnisses. Wenn man die Voraussetzung akzeptiert, dass Gefühle die Ganzheitlichkeit des Menschen zutreffender abbilden als Gedanken, dann zwingt sich auch der Schluss auf, dass wesentliche Veränderungen, die das Erleben und Verhalten betreffen, nicht über bloße verstandesmäßige Überzeugungsarbeit bewirkt werden kann. Es genügt eben nicht, jemandem seine Schwierigkeiten nur ausreden zu wollen, die er mit sich und den Anderen hat. Diese vergebliche »Liebesmüh« hat wohl jeder schon sowohl als Täter wie als Opfer erfahren können. Einsicht in die Notwendigkeit allein reicht nicht aus. Entsprechende Ängste oder Komplexe müssten in Sicherheit, Selbstgewissheit und Gelassenheit umgewan63

delt und bestätigt werden. Solche ganzheitlichen Ansprüche kann offenbar nur emotionales Lernen mit Anderen im Sinne der Erlebens- und Verhaltensänderung erfüllen. Für sich genommen, würde das bloße Erleben auch nicht genügen, wenn nicht zugleich schlüssig verstanden werden kann, dass das eine mit dem anderen zusammenhängt. Gefühl und Verstand erhielten erst dadurch ihre gesunde Doppelgestalt. Gefühle sind uns Menschen unmittelbar gewahr. Sie erfassen und betreffen uns direkt und setzen uns umweglos in Beziehung zu Personen und Sachverhalten. Es gibt nichts Weiteres zwischen uns und dem, was uns spürbar betrifft. Wir sind betroffen, wenn uns das Geschehen etwas angeht. Wie wird es persönlich bewertet und welche Handlungsimpulse ergeben sich daraus? Wird es als Herausforderung angenommen oder als Überforderung gemieden? So oder so hängt das von Erfahrungen ab, die in der Begegnung mit ähnlichen Situationen zuvor schon gemacht worden sind. Aus ihnen ergibt sich jener Grad von Selbst-Wirksamkeit, der sich im Selbstvertrauen abbildet. Wenn sie ermutigt wird, sind Neugier, Offenheit für Berührungen, Unternehmungslust, Veränderungsbereitschaft und Selbstentwurf die Folge. Es entwickeln sich dann Anspruch und Zugriff auf einen eigenen Teil von der Welt; anders gesagt: Die Gegenwart ist das Entree und die Zukunft bietet vielversprechende Perspektiven. Aus einem qualitativ positiven Bezug zur Umwelt ergibt sich folgerichtig auch die Bejahung des Lebens – und umgekehrt! Auf diesem Weg sind Gefühle die Träger der Energie, Signalgeber und Richtungsweiser zugleich. Noch einmal sei Ciompi gewissermaßen programmatisch zitiert: »Stellen wir den globalen tierischen Überlebensstrategien diejenigen gegenüber, die wir selber mit unserem Verstand in den letzten Jahrzehnten ausgebrütet haben, so können wir nur hoffen, dass der Mensch bald einmal den Wert der Gefühle für die Erfassung der ganzen Wirklichkeit wieder schätzen und aktivieren lernt« (1988, S. 190). Das sei der gegenwärtigen Gesellschaft, aber auch jedem einzelnen Menschen ins Stammbuch geschrieben.

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Leben verwirklicht sich im Kontakt Die Entstehung des Lebens ist ein immer wieder bewundertes Mysterium. Es wird empfangen ohne aktives Zutun des entstehenden Individuums. Bezogen auf Menschen streben Mann und Frau, Sperma und Ei aufeinander zu, um sich ineinander dringend zu vereinen. Die analogische Verknüpfung dieser Vorgänge ist für sich schon staunenswert. Noch staunenswerter ist das Wunder der Menschwerdung insgesamt.Aus zwei zunächst voneinander unabhängigen und verschiedenen Wesen entsteht ein neues, ganzheitlich eigenes Geschöpf mit eigener Seele. Mit dem Eindringen des Samens ins Ei entsteht das individuelle Sein. Es entfaltet sich mit zunehmender Aktivität. Immer differenziertere interne Zell- und Gewebestrukturen entstehen, bis das Menschenkind geburtsreif ist. Bis dahin hat es sich während des Reifungsprozesses mit Gegebenheiten seines intrauterinen Milieus auseinander zu setzen. Genau genommen gibt es keine direkten Außenreize. Stöße auf den Bauch der schwangeren Mutter treffen das Kind als Bewegung des Fruchtwassers. Geräusche gehen durch den gleichen internen Filter. Darauf antwortende Spontanbewegungen des Kindes bleiben ebenfalls noch im geschlossenen Milieu. Das ändert sich mit der Geburt. Das Kind wird zumindest in dem Sinne unabhängig, als es nach der Durchtrennung der Nabelschnur innerhalb seiner Haut wie jeder andere allein lebt. Diese Vereinzelung realisiert das Neugeborene natürlich noch nicht. Zum einen lebt es zunächst weiterhin in einer gewissermaßen symbiotischen Verbindung mit der Mutter, zum anderen sind seine psychischen Funktionen noch zu undifferenziert, um die Abtrennung und Verselbständigung wahrnehmen zu können. Zunächst befindet es sich in einem Zustand sozialer Unbezogenheit; aus einer mehr oder weniger biologisch bestimmten Verbindung zur Umwelt entwickelt sich dann Schritt für Schritt das, »was schließlich zur ersten sozialen Beziehung des Individuums wird. Wir werden hier Zeugen eines Übergangs vom Physiologischen zum Psychologischen und Sozialen. Im biologischen Zustand (in utero) sind die Beziehungen des Fötus rein parasitärer Natur. Aber im Laufe des ersten Lebensjahres durchläuft der Säugling ein Sta65

dium der psychischen Symbiose mit der Mutter, aus dem er zum nächsten Stadium fortschreitet, in dem sich soziale, das heißt hierarchische Wechselbeziehungen entwickeln« (Spitz 1972, S. 31). Das Neugeborene verfügt noch über kein Erfahrungsgut darüber, was Sinnesreize bedeuten und wie sie bedürfnisbezogen beantwortet werden können. Die Fähigkeit dazu erwirbt es im Dialog mit seinem mütterlichen Beziehungsobjekt. »Der Dialog ist der sequenziell ablaufende Zyklus von Aktion, Reaktion und wieder Aktion innerhalb der Mutter-Kind-Beziehungen . . . Dieser Zyklus . . . ist es, der das Kleinkind befähigt, Schritt für Schritt bedeutungslose Reize in bedeutungserfüllte Signale umzuwandeln« (Spitz, S. 61). So verstanden ist das Kind in dieser Abhängigkeit einerseits das Objekt der mütterlichen Liebe und Fürsorge, zugleich jedoch auch ein Subjekt, das aus seiner eigenen Bedürfnisspannung heraus agiert, indem es zum Beispiel saugt, schreit, sich bewegt. Die Wahrnehmung des Kindes gewinnt erst dann soziale Bedeutung, wenn es erfährt, dass sein Verhalten, etwa das Schreien, sich mit von außen kommenden Veränderungen verbindet: zum Beispiel be-handelt zu werden, also in fürsorgende Hände zu geraten. Es wird aufgenommen, angesprochen, genährt, gesäubert und herumgetragen. In aller Regel tut das die jeweils gleiche Person, normalerweise die Mutter, inzwischen gleichermaßen auch der Vater. In aller Regel hat das entlastende Veränderungen des kindlichen Befindens im Sinne der Behebung seiner Unlustempfindungen zur Folge. Auf diese Weise bildet sich im Lauf der Zeit eine relativ stabile Reizkonfiguration heraus, in der die Bedürfnisspannung des Kindes durch das darauf entsprechend antwortende Verhalten der Bezugspersonen zum Spannungsabbau führt. Diese wiederholte Aufeinanderfolge von Spannungszuständen mit spezifisch von außen bewirkten Entspannungen, führt in der Konsequenz zu soliden Verknüpfungen des einen mit dem anderen. Spannungsverringerung und die tätig entlastende Anwesenheit der Mutter werden im Sinne eines noch relativ unbewussten Aha-Erlebnisses zum Lernergebnis, das wir Erfahrung nennen. Im Lauf der Zeit wird diese sich wiederholende Erfahrung zum 66

Schlüssel für die aktive Befriedigung aktueller Bedürfnisse. Das Kind verlangt die Aufhebung seiner Unlustspannung und ruft dadurch schließlich die Mutter herbei. Auf diese Weise entwickelt sich die wechselweise Steuerung zwischen Individuum und Umwelt, die zunehmend differenzierter wahrgenommen werden wird. Damit realisiert sich das Grundmuster menschlichen Verhaltens, nämlich: im Kontakt Bedürfnisse wahrnehmen und befriedigen zu wollen. Kontakt besteht oder kommt nur dann zustande, wenn mindestens von einem Kontaktpartner entsprechende Aktivitäten ausgehen, die von einem Anderen beachtet werden. Die Aktivitäten des Kindes und der Bezugsperson beziehen ihren Sinn, ihre Kraft und ihren Schwung aus beiderseitigen Bedürfnisspannungen. Diese folgen nicht irgendwelchen undurchsichtigen Gegebenheiten der jeweiligen Situation, sondern sind abhängig vom aktuellen Erleben und Verhalten der beteiligten Personen. Jedes menschliche Verhalten ist aus seinen Bedürfnissen hergeleitet. Erfüllte und unerfüllte Befriedigungen solcher Bedürfnisse machen das persönliche Erfahrungsgut aus, an dem sich jeder orientiert. Da der Mensch kein isoliert geschlossener, sondern ein offener Organismus ist, bleibt er auf Anderes und Andere bezogen. Auf unterschiedlichste Weise ist er mit außerhalb von ihm existierenden Systemen verknüpft. Seine Bedürfnisse führen damit direkt und indirekt, unmittelbar und mittelbar zur Herstellung von Kontakten, die je nach gegebener Situation und Daseinslage gelingend oder misslingend gestaltet werden.

Kontakte können gelingen und misslingen Kontakt ist ein Schlüsselbegriff für das Verständnis der Organisationsprinzipien des Lebens schlechthin. Leben hat Bedarf. Es braucht Nahrung, Pflege, Orientierung und Schutz. Leben realisiert sich in der Wahrnehmung von Bedürfnissen, die sich nur in gezielten Kontaktnahmen erfüllen. Leben ist eben nicht autark, sondern muss mannigfaltige Beziehungen aufbauen, um existieren und fortbestehen zu können. Solche Beziehungen stellen sich 67

dar im direkten Umgang mit Personen, Räumen, Dingen und Sachverhalten zu gegebener Zeit. Uns Menschen steht zwar grundsätzlich alles zur Verfügung, was uns umgibt, ist uns aber dennoch nicht immer verfügbar. Das mag von den gegebenen Umständen abhängen: zu entfernt, zu hoch, zu groß, zu teuer, zu winzig, zu kompliziert, zu spät oder generell ungeeignet zur Befriedigung des aktuellen Bedürfnisses. Verfügbarkeit meint Anspruch, aktive Inanspruchnahme, Aneignung und Verwendung. Darin sind aggressive Anteile schon in begrifflichem Sinn enthalten. Aggression wird üblicherweise destruktiv als Angriff verstanden, meint aber auch das konstruktive »sich nähern, darauf zu gehen« (lat. aggredi). Alle Lebewesen entstehen und existieren im Kontakt. Das Wort Kontakt ist ein abstrakterer Ausdruck für Berührung. Berührungen sind Grenzerlebnisse. Sie setzen uns in Beziehung zu Anderem, Fremdem, Nicht-Eigenem, verweisen uns auf Grenzen und auf das, was jenseits ist und worüber somit nicht unmittelbar verfügt werden kann. Abgesehen davon, dass es unmöglich ist, Berührungen/Kontakte überhaupt zu vermeiden, müssen alle Lebewesen an ihre Grenzen gehen und darüber hinaus streben, eben weil sie nicht autark sind, sich nicht absolut selbst genügen können. Bedürfnisse führen in der Regel nicht direkt zu innerpsychischen Selbstbefriedigungen, sondern brauchen ein geeignetes Medium. Geeignet ist ein Mittel (man könnte auch »Objekt« sagen) immer dann, wenn es das Bedürfnis befriedigen kann, das den Kontakt stiftete, das heißt aus dem heraus der Kontakt angestrebt und hergestellt worden ist. Mit unseren Bedürfnissen sind wir vorzugsweise auf die verfügbare Welt bezogen. Jeder erlebt sich selbst in der Mitte seiner Erfahrung. Das gilt auch in seiner Bezogenheit auf alles das, was ihn berührt und wie er es wahrnimmt. Wenn zwei Menschen das Gleiche sehen oder hören, hat es für jeden wahrscheinlich eine je eigene Bedeutung. Auch wenn die Standorte nur fußweit voneinander entfernt sind, gehen sie doch von unterschiedlichen Sichtweisen aus. Dennoch haben sie gemeinsamen Kontakt mit dem, was ist. Niemand kann allein aus sich heraus und nur auf sich bezogen existieren, weder physisch noch psychisch. Nicht nur Kinder, Kranke und hilfebe68

dürftige alte Leute kommen in mancher Hinsicht nicht allein zurecht, sind auf den Kontakt und auch Beistand Anderer angewiesen. Das trifft schon bei oberflächlicher Betrachtung allerdings auf jeden zu, denn wir heutigen Menschen beschaffen zum Beispiel in der Regel nicht einmal unsere eigenen Nahrungsmittel, Bekleidungen und Werkzeuge, sondern beziehen sie meist sogar nur indirekt über den Handel von Fremden. Darüber hinaus es ist auch wahr, dass wir insbesondere sozial bedürftig sind, zugehören wollen, Gemeinschaft suchen und organisieren, dabei Nähe und Distanz erleben und bestimmen. Wir sind überdies generell auf vielerlei Hilfen angewiesen, zum Beispiel auf Informationen, Unterweisungen oder Unterstützungen, denn unser Dasein ist überaus komplex und damit auch entsprechend kompliziert zu organisieren. Es ist nur durch die Kenntnis und Beachtung relativ differenzierter Informationen zu regeln, die Vorerfahrene uns vermitteln. Die Beachtung solcher Informationen beziehungsweise die Befolgung der Regeln ist Voraussetzung für die akzeptierte Zugehörigkeit zu dem sozialen System, auf das man notwendigerweise bezogen ist. Die Missachtung verbindlicher Informationen und Regeln birgt zahlreiche Gefährdungen in sich. Oberflächlich betrachtet gilt das für die Teilnahme am Straßenverkehr genau so wie für die Einhaltung der Gesetze. Man kann sogar ohne eigenes Zutun aus dem gegebenen Ordnungsgefüge herausfallen, von dem man mit wesentlichen Bedürfnissen abhängt. Die Arbeitslosigkeit liefert hierfür hinreichende Beispiele. Es ist nicht möglich, solche Voraussetzungen für eine ungestörte individuelle Entwicklung zu ignorieren. Zu unterscheiden sind gelingende und misslingende Kontakte. Kontakte sind gelungen, wenn ich zum Beispiel jemandem sage: »Komm zu mir!«, oder: »Höre mir bitte zu!«, oder: »Erkläre mir bitte, was du dir dabei gedacht hast!«, oder: »Begleite mich!« und der Angesprochene tut das Entsprechende, dann wäre das ein gelungener Kontakt, denn das war so gewollt. In solchen Fällen darf man wohl davon ausgehen, dass die oder der Angesprochene seinerseits ein entsprechendes Bedürfnis verspürt und deshalb positiv reagiert haben mag. Zumindest ist beim Angesprochenen 69

kein Widerstand erkennbar geworden. Kommt der Andere nicht, hört er nicht zu, erklärt er sich nicht oder kommt er nicht mit, dann wäre der Kontakt misslungen. Als misslungen kann ein Kontakt folglich immer dann gelten, wenn das kontaktstiftende Bedürfnis unbefriedigt geblieben ist. Es hat sich übrigens inzwischen eingebürgert, von »Frustrationen« zu sprechen, wenn Wünsche nicht erfüllt oder Erwartungen enttäuscht werden. Frustratio heißt im Lateinischen Nichterfüllung, Vereitelung, auch Enttäuschung. Darin kommt zum Ausdruck, dass sich jemand etwas gewünscht haben mag oder erwartet hat, was sich nicht erfüllte. Bedürfnisse blieben unbefriedigt. Der angestrebte Kontakt misslang also. Die gegenseitige Entsprechung der Bedürfnislage bei beiden Interaktionspartnern ist nun freilich nicht immer gegeben, denn nicht jedes Ansinnen trifft auf Gegenliebe. In dem Fall hätten wir es auf der einen Seite mit einem Antrag und auf der anderen Seite mit einer Nichtbeachtung zu tun, die einer Zurückweisung gleichkommt. Auf der einen Seite bliebe das Bedürfnis unerfüllt, auf der anderen könnte die Zurückweisung oder Verweigerung jedoch genau dem aktuellen Bedürfnis entsprechen. Hier erkennen wir einen misslingenden, dort einen gelingenden Kontakt im Sinne unseres Verständnisses. Denkbar ist also, dass die Nichtbefolgung einer Aufforderung als ein gelungener Kontakt beim Verweigerer verstanden werden kann. Verweigert zum Beispiel ein Untergebener den Gehorsam, weil er eine Dienstleistung unzumutbar findet, und er kommt damit durch, dann hat dieses Erfolgserlebnis für ihn den Charakter eines gelungenen Kontakts zu sich selbst, seinen Intentionen gemäß. Es ist sicherlich zunächst etwas verwirrend von »gelungenem Kontakt« auch dann zu sprechen, wenn jemand sich verweigert oder im direkten wie übertragenen Sinn »aus dem Feld geht«. Kontakt meint doch eigentlich Berührung, die in diesem Fall gerade verunmöglicht wird. Die Befriedigung von Kontaktbedürfnissen bleibt jedoch nicht immer nur auf zwischenmenschliche, interindividuelle Begegnungen beschränkt. Jeder Mensch erlebt bewusst und unbewusst auch sich selbst, kennt sich und seine Bedürfnisse, steht im Kontakt mit ihnen, während er sie spürt. 70

Innerpsychisch setzt sich jeder beobachtend und handelnd also auch mit seinen eigenen Bedürfnissen auseinander, erfüllt oder versagt sie sich. Damit nimmt er anhand seines Mandalas, im Sinne unserer Ausführungen, gelingende und misslingende Kontakte mit sich selbst wahr. In dieser Hinsicht können Sie, liebe Leser, selbst wahrscheinlich viele Situationen erinnern, in denen Sie mit sich selbst zufrieden (= gelungen) oder unzufrieden (= misslungen) gewesen sind.

Kontakt-Signale Alle vorgenannten Kontakt-Beispiele beziehen sich auf konkrete wörtliche Äußerungen, deren Bedeutung jeder sinnestüchtige und der Sprache mächtige Mensch wahrnehmen und verstehen können sollte. Bedürfnisse artikulieren sich jedoch auch ohne die Verwendung von Worten, zum Beispiel durch Signale im Sinne von Haltung, Mimik, Gestik, Zuwendung oder Abwendung, worauf schon im Zusammenhang mit der Erörterung des »Gefühlsmenschen« hingewiesen worden ist. Die Signalgebung muss allerdings zuvor generell erlernte und dadurch allgemein bekannte Bedeutungsmuster verwenden, damit sie vom Empfänger möglichst eindeutig entschlüsselt werden können. Ohne dies bleiben die Botschaften unverständlich und sind nicht nachvollziehbar. Für Gefühle der Freude, Trauer, Furcht, Ärger oder Ekel sind die entsprechenden Ausdrucksformen wohl genetisch gewissermaßen vorgeprägt, denn sie sind in allen Kulturen weitgehend gleich. Darüber hinaus kodiert jeder Mensch im Umgang mit Anderen sein Verhalten mit dem dazugehörenden Ausdruck. Zuerst erlernt er dabei eine nonverbale Sprache, die sich vorzugsweise der Mimik und Gestik bedient, danach beziehungsweise gleichzeitig entschlüsselt und benutzt er sinngebende Wörter. Der Kontakt von Mensch zu Mensch lebt von Signalen, die im Umgang miteinander auf mehreren Ebenen gleichzeitig gesendet und empfangen werden. Je eindeutiger diese sind, desto klarer und direkter ist die Verständigung. Uneindeutigkeit macht Umwege und schafft Konflikte. Tatsächlich entstehen die meisten 71

Konflikte aus Uneindeutigkeiten, die Missverständnisse zulassen. Oft kann sogar unterstellt werden, dass der Sender der Botschaft sich nur nicht festlegen will, sondern ganz bewusst ausweicht. »Ich glaube versprechen zu können, dass ich demnächst vielleicht mal vorbeikomme.« An einer solchen Aussage ist alles mehrdeutig und damit konfliktträchtig. Konflikt meint, abgeleitet aus dem Lateinischen: Zusammenstoß, Widerstreit verschiedener Bedürfnisse oder Verhaltenstendenzen. Der Empfänger der Botschaft hat danach keine Ahnung, worauf er sich einzustellen hat. Der Kontakt wäre zumindest für ihn schon im Vorfeld misslungen. Das Thema Eindeutigkeit wird im nachstehenden Abschnitt noch mehr präzisiert. Menschliches Ausdrucksverhalten kann grundsätzlich mehrdeutig verstanden werden. Wenn sich jemand am Kopf kratzt, die »Nase hoch trägt«, errötet, sich räuspert oder sich kleinschrittig und ohne Armbewegung fortbewegt, lässt das jeweils recht unterschiedliche Auslegungen für dessen Befindlichkeit und Absicht zu. In der Regel sind solche Muster eingebettet in eine Gesamtwahrnehmung, die sich in jeder Begegnung spontan herstellt. Sie werden im Blick auf den Gesamteindruck vielleicht erst danach, zeitlich etwas versetzt, kognitiv definiert. Für sich genommen ist eine Miene, Geste oder Bewegung grundsätzlich mehrdeutig und seine Ausdeutung bleibt dem überlassen, der sie wahrnimmt. Missverständnissen versucht man durch Absprachen vorzubeugen, in denen festgelegt wird, welches konkrete Signal welche Information transportieren soll. Man denke zum Beispiel an Flaggensignale, die bei der Seefahrt verwendet werden, oder an das signalgebende Verhalten von Polizisten auf einer Verkehrsinsel. Es gibt zahlreiche Signalsysteme, die unser Dasein regeln: Verkehrsschilder, Eieruhren, Fernsehsender, Schulen, Litfasssäulen, Rezepturen, Stadtpläne, Wetterstationen sowie, nicht zu vergessen: »lange Hosen«. Besondere Wichtigkeit erhalten bestimmte Signalsysteme und Verhaltensmuster für behinderte Menschen. Gehörlose erlernen mit Hilfe der Gebärdensprache spezifisch und differenziert zu kommunizieren, wodurch ihre Behinderung weitgehend relativiert sein kann. Ähnliche Hilfen sind Blinden mit ihrer Schrift 72

oder tickenden Verkehrsampeln geboten. Schwerstbehinderte lernen Berührungen ihrer Betreuer sinngebunden zu verstehen und auch entsprechend zu beantworten, wenn diese wiederholt, in gleicher Weise und mit dem gewünschten Ergebnis erlebt werden. Niemand ist so behindert, dass er unempfindsam für seelische Berührungen, also zur Aufnahme und Beantwortung von Signalen wäre, seien sie auch noch so reduziert. Informative und handlungsspezifische Signale werden in der Erweiterung nicht nur von Einzelperson zu Einzelperson gesendet und empfangen. Solche Prozesse finden natürlich auch zwischen Gemeinschaften statt. Deutlich werden kann das zwischen Nachbarn, die einander freundlich oder feindselig gesonnenen sind. Andere sehr eindrucksvolle Beispiele dafür kann man auf Sportplätzen sammeln, wie die Anhänger der einen oder anderen Mannschaft pro und kontra Partei nehmen und das auch laut äußern. Jeder will gewinnen und die dadurch erkennbare eigene Überlegenheit anerkannt wissen und genießen. Je nach Erfolg oder Misserfolg des jeweiligen Vereins befinden sich die Beteiligten hüben wie drüben in gelingenden oder misslingenden Kontakten, was zumeist auf den aktuell gegebenen Spielstand beschränkt bleibt. In mancher Hinsicht sind solche eher sportlichen Aktionen allerdings auch auf Firmen, Parteien, Glaubensgruppen oder Staaten und deren Mitglieder übertragbar. Bedürfnisgeleitete Parteinahme kann fanatische Züge annehmen, die sich dann in extremen Ausformungen realisieren. Man denke nur an die Verfolgung Fremder, Andersdenkender, Andersgläubiger, die in destruktiven Auseinandersetzungen bekämpft werden, schlimmstenfalls in Kriegen und terroristischen Aktivitäten. Die »Sieger« solcher Maßnahmen genießen die Erfolge ihres Vernichtungswillens als – in ihrem Sinn – bedürfnisentsprechende »gelungene«(!) Kontakte. Verlierer leiden entsprechend am »misslingenden« Kontakt, weil sie das Gleiche zwar angestrebt haben mögen, aber nicht gegenläufig durchsetzen konnten. In Kriegen berufen sich stets alle Parteien auf ihren wohlmeinenden Gott, in dessen Namen die Waffen gesegnet werden. Dieser Hinweis auf eine mögliche Pervertierung von Bedürfnissen und die Destruktivität von Kontakten ist notwendig und soll deutlich 73

machen, dass die Begriffe Bedürfnis und Kontakt missbrauchbar sind und zunächst nur funktionell und wertfrei zu verstehen sein sollten. Grundsätzlich gehören sie zum normalen und gesunden Verhaltensrepertoire aller Menschen, können aber entgleisen, wie jede andere unserer kultivierten Formen der Daseinsgestaltung auch.

Uneindeutigkeit schafft Konflikte Kürzlich fand ich in meinen Unterlagen den Zettel: »Lieber Freitag 18,30 D.«. Nun rätsele ich, ob das Papier für einen »lieben Herrn Freitag« bestimmt gewesen sein mochte, der »18 Euro 30« von mir bekommt oder besser: mir schuldet. Es könnte aber auch sein, dass Dieter oder Detlef lieber am Freitag um 18 Uhr 30 statt zum verabredeten Termin kommen möchte. Zu lösen ist das Rätsel nur durch Redundanz, das heißt durch die Anreicherung mit Informationen, die vereindeutigen. Wenn mir etwas an der Klärung liegt, muss ich grübeln, recherchieren, nachfragen, um zu wissen, in welcher Hinsicht ich mit D. wann und weshalb zu tun bekomme. D. hätte mir das ersparen können, wenn er, sie, es sich »redundanter« ausgedrückt hätte. Das Beispiel soll veranschaulichen, wie willkürlich und falsch zu magere Botschaften verstanden werden können. Redundantia meint im Lateinischen »die Überfülle des Ausdrucks«. Also, möchte man meinen, weniger wäre mehr. Es mag auch dort zutreffen, wo diplomatischer Wortreichtum leer bleibt, weil langatmig nur wenige Informationen mitgeteilt werden. Ausgesprochen leidvoll wird jedoch eher das Gegenteil erlebt. Es soll Paare geben, die sich weder begrüßen noch verabschieden, sich weder Frage noch Antwort gönnen. In der therapeutischen Praxis beklagen sich insbesondere Frauen über ihre schweigsamen Partner, die zudem die Gefühle ihrer Partnerinnen missachten und selbst keine eigenen zu haben scheinen. Vor allem in Hinsicht auf Beziehungsthemen bleiben diese Männer oft einsilbig bis stumm. Es kann eine Hilfe sein, die Rollen in dem Sinne zu tauschen, dass der unter dem Schweigen leidende Partner seiner74

seits demonstrativ schweigt. Das kann zur Folge haben, dass auf beiden Seiten Fragen laut werden, die zunächst wenigstens darüber den gesprächsweisen Austausch einfordern. Selbst der Vorhalt von Vorwürfen und Unterstellungen stellt immerhin eine Eröffnung von Kommunikation dar, wenn auch nicht die konstruktivste. Wenn keine professionelle Hilfe eingeholt werden soll, kann eine andere und vielleicht manchmal ehrlichere Folge auch das Ende einer Beziehung, die endgültige Trennung sein. Eindeutiger wäre das allemal. Man kann eben »nicht nicht kommunizieren« (Watzlawick, 1969/1996,S. 51ff.). Ob man redet oder schweigt,der Kontaktpartner empfängt es als Botschaft, die er interpretiert. Je uneindeutiger die Botschaft, desto offener ist sie für Missdeutungen. Die Vereindeutigung hat beim Sender zu beginnen, der sich darüber klar sein muss, was er mitteilen will und was der Empfänger davon wie verstehen soll. Hier aber sprudelt bereits munter die Fehlerquelle, denn es beginnt der interne Klärungsprozess erst in dem Moment, in dem der Sender sich bereits reden hört. Auf der Seite des Empfängers sollte das Ohr mit Interesse für die kommende Botschaft geöffnet sein. Das Ohr müsste »so dicht am Mund« sein, dass sich keinesfalls konfliktstiftende Erwartungen, Unterstellungen oder Befürchtungen dazwischen schieben können. Es wurde an anderer Stelle schon darauf verwiesen, dass Wahrnehmung nicht nur im Sinne eines passiven Aufnehmens von Eindrücken, sondern eher noch als die Form des aktiven Zugriffs auf bedürfnisrelevante Sinnesangebote zu verstehen ist. So gesehen hat nicht nur der Sender, sondern ebenso der Empfänger Verantwortung für die Vereindeutigung des kommunikativen und interaktiven Kontaktgeschehens zu tragen. Missverständnisse sind in der Regel »Gemeinschaftsleistungen«. Deshalb können sie auch nur gemeinsam aufgelöst werden. Im Grunde geht es dabei immer um die Klärung dessen, was eigentlich gemeint gewesen ist, und gleichermaßen auch darum, was im Vorverständnis erwartet wurde. Man muss dies also miteinander aushandeln, wozu es allerdings eines Grundvertrauens in die vorwurfsfreie Redlichkeit des gemeinsamen Bemühens bedarf. Vorwürfe sind immer auch vorschnell und vorläufig. Sie reichen nicht weit genug 75

und treffen ihr Ziel nie exakt. Ganz sicher bewirken sie nicht, was sie einseitig anstreben: die Klärung der in Rede stehenden Bedürfnislage. Ein solches Bemühen um Eindeutigkeit gießt durch seine Einseitigkeit nur Öl ins lodernde Feuer. Wenn sich beispielsweise Partner über ihre jeweiligen Bedürfnisse und Positionen nicht hinreichend und eindeutig verständigen, können leicht Missverständnisse entstehen, die sich schließlich zum Konflikt ausweiten. Verstehen ist immer auch das Ergebnis von Interpretationen. Je eindeutiger die Botschaft, desto geschützter ist sie vor Missdeutungen. Es ist allerdings nicht immer möglich, ein »Ja!« einfach Ja und ein »Nein!« nur Nein sein zu lassen. Bliebe es immer dabei, gäbe es keine Auseinandersetzungen mehr. Das aber wird sicher niemand wirklich erwarten und wünschen können. Zum einen gibt es keine absoluten und für alle gleichermaßen und stets gültigen Wahrheiten, zum anderen ginge das lebendige Ringen um die Aktualisierung von Standpunkten und Werten verloren, mit denen man sich im Leben immer wieder neu positionieren muss. Jedes Hier und Jetzt ist immer irgendwie neu. Mancher Sachverhalt kann sich in seiner Vorläufigkeit in einem ganz grundsätzlichen Klärungsprozess befinden. Unser Zusammenleben macht ständig Abwägung, Suche, Verständigung, Lernen und Entscheidung nötig. Auseinandersetzungen der Konfliktpartner können im gemeinsamen Bemühen um gegenseitige Vereindeutigung schließlich zu »Zusammensetzungen« führen! Demonstratives Anschweigen hat oft den Charakter der Schuldzuweisung und Bestrafung. Besonders schlimme Folgen zeigen sich, wenn Kinder zu solchen Opfern werden. Sie nehmen die Muster schweigsam-leidvoller Zurechtweisung an und praktizieren sie am Ende selbst. Auch in dieser Hinsicht gilt die Erfahrung, dass Erwachsene die Art der Erziehung mit den eigenen Kindern praktizieren, deren Opfer sie selbst einst waren. Auch wenn man genau weiß, wie es richtiger und besser wäre, verfügt man nicht unbedingt über genügend innere Freiheit, dies auch zu tun. Die Muster haben sich eingebrannt und verselbständigt. Es sei in diesem Zusammenhang aber auch gesagt, dass häufiges Zurechtweisen und Schimpfen natürlich ebenso wenig förderlich 76

für das Zusammenleben ist wie penetrantes Schweigen. Auch ein Wortschwall kann vorenthalten, was gesagt werden sollte, weil das Gemeinte unter vielen Worten begraben sein kann wie die Nadel im Heuhaufen. Eindeutige Aussagen sind bestimmt durch präzise Klarheit und adäquates Maß.

Nähe und Distanz im Kontakt Angeblich verdanken wir dem Philosophen Arthur Schopenhauer das bildhafte Beispiel dafür, wie Stachelschweine ihre Bedürfnisse nach Nähe und Distanz wohl regulieren dürften. In dem Bestreben, sich zu wärmen, suchen sie Nähe, können sich dabei jedoch verletzen. Infolgedessen müssen sie dann wieder Distanz herstellen. Erst nach dem erfahrungsreichen Wechselspiel zwischen Nähe und Distanz finden sie endlich den Abstand, der ihren gegenseitigen Bedürfnissen entspricht. Das Beispiel lässt sich sinngemäß auch auf menschliche Kontakte übertragen. Entsprechend der Bedeutung des Menschen und des Anlasses, den die Situation vorgibt, können Abstände sowohl angemessen wie unangemessen erlebt werden. Wie aber findet man die jeweils richtige Distanz zueinander? Abstand kann ebenso gewollt sein wie Nähe. Wer nahe am Spiegel ist, sieht mehr von sich, als von dem, was ihn umgibt. Wer sich von ihm weit entfernt, erkennt Details nicht mehr; es bleiben nur klitzekleine Anmutungen, die ins Raster von Erwartungen eingepasst werden müssten, um ein Bild zu ergeben. Gleiches gilt unmittelbar für die konkreten Empfindungen unserer Sinne und ihren Informationswert sowie mittelbar für soziale Wahrnehmungen, insbesondere dort, wo Gefühle vorherrschen. Feinde erkennen jede Widrigkeit beim Anderen in ihrer affektiven Nähe zueinander und leben unbeschwerter, je weiter sie im Blick auf ihre Interessenlagen voneinander entfernt sind. Liebende dagegen idealisieren einander und streben immer wieder danach, möglichst jede Distanz zwischen sich aufzuheben. Sie wollen miteinander verschmelzen und sind bemüht, Unterschiede zu leugnen, indem sie einander versichern, Gleiches im gleichen 77

Moment mit gleicher Intensität und Nachhaltigkeit zu erleben. Solchen Bemühungen sind in der Regel auf Dauer nur relativ begrenzte Erfolge beschieden. Am Ende mancher Liebe hilft trotz herbeigeführter räumlicher Trennung sogar der Abstand nicht mehr. Sprichwörtlich »schießt man sich am liebsten gegenseitig auf den Mond«. Es braucht die Sensibilität und Geduld von Stachelschweinen, sich in gelingenden Kontakten zu positionieren. Zwischen den Extremen liegen zahllose Grade einer gedachten Nähe-Distanz-Skala. Grob gerastert lassen sich recht unterschiedliche Nähe- beziehungsweise Distanz-Zonen beschreiben, die den Charakter einer zwischenmenschlichen Beziehung über den räumlichen Abstand definieren, der zwischen Personen besteht: – die Zone der Intimität (Abstand voneinander nicht größer als einen halben Meter) – die Zone der persönlichen Beziehung und Begegnung (innerhalb von 0,5 bis 3 Metern) – die Zone sozialer Beziehungen (innerhalb von 4 bis 5 Metern) – die Zone der Öffentlichkeit (darüber hinaus). Dieses Raster bietet allerdings nur sehr undifferenzierte Orientierungshilfen für eine Bestimmung und Erwartung direkter sowie indirekter Interaktionsverläufe. Der Abstand, den Menschen voneinander halten, ist zudem nicht nur von aktuellen Bedürfnissen der beteiligten Personen bestimmt, sondern ist auch ökonomisch bedingt und kulturell vorgeprägt. Grob (und angreifbar) formuliert, finden Nomaden sich immer nur um Wasserstellen und Weideflächen zusammen; setzen sich Deutsche oder Engländer spontan selten auf den freien Stuhl am Tisch eines Fremden, eher tun das Menschen aus südlichen Ländern, und es umarmen sich Kanadier seltener als Franzosen. Natürlich ist nicht jeder jedem gegenüber gleich nah oder distanziert. Zahllos sind auch die Gründe, die Menschen zueinander in Beziehung treten lassen. Hinzu kommen Anlässe und Gelegenheiten, die das Begegnungsgeschehen noch weiter auffächern. Es gibt offen gelegte Bedürfnisse, die beiderseits einvernehmlich verfolgt und realisiert werden, etwa ein gemeinsames Essen mit ge78

teilten Kosten. Und es gibt verdeckte Themen in der Beziehung, die erst entschlüsselt werden müssen, bevor man ihre eigentliche Bedeutung erfasst. Man kann zum Beispiel jemanden förmlich einladen, an einer Festlichkeit teilzunehmen, und es dabei insgeheim so anlegen, dass der Gast den Termin gar nicht wahrnehmen kann. Die Nähe und Distanz beider können in ihrer Qualität so nicht bestimmt werden. Im anderen Fall kann die Einladung mit der Erwartung verbunden sein, dass der Eingeladene für das Gelingen des Festes einen wesentlichen materiellen Beitrag leisten soll. Dieses Ansinnen hätte einen Grad von unangemessener Zumutung und wird deshalb wohl besser zurückgewiesen. Intimität kann also auch Anmaßung sein. In intimen Verhältnissen kommen, was ohnehin nahe liegt, am ehesten Grenzüberschreitungen vor, sowohl nach der einen wie der anderen Seite: Liebe und Hass können erfahrungsgemäß nahe beieinander liegen, obgleich sie entgegengesetzte Empfindungspole besetzen. Emotionale Distanz lässt sich sowohl räumlich wie zeitlich definieren. Der Begriff bezieht sich sowohl auf Nähe als auch auf Abstand und meint hier und dort ebenso wie jetzt und einst. Auf persönliche Kontakte bezogen lässt sich die eine Seite als innige Verschmelzung und die andere als ablehnende Trennung bezeichnen. Dazwischen gibt es Nuancen, von denen einige auf den nachstehenden »Kontakt-Skalen« angetragen werden. Beziehungsspezifische Kontakt-Skala Nähe: innig – vertraut – stimmig – akzeptiert // ambivalent – unstimmig – fremd – abgelehnt: Distanz

Dieser Entwurf gibt die veränderliche Lebendigkeit des Kontaktgeschehens nur annähernd wieder. Tatsächlich finden sich noch weit feinere Unterschiede. Es soll nur deutlich gemacht werden, dass Nähe oder Distanz nicht Fixpunkte, sondern polare Beschreibungen eines Kontinuums sind. In der beziehungsspezifischen Kontaktskala meint das Kontaktthema eine persönliche Beziehung. Ähnliches gilt aber auch für Kontakte, die aus anderen 79

Beweggründen heraus zustande kommen, dann freilich unter Verwendung entsprechend anderer Begrifflichkeiten. In Bezug auf Arbeitsleistungen, die von mehreren Personen zu verrichten sind, könnte die entsprechende Skala etwa so aussehen: Leistungsspezifische Kontakt-Skala Nähe: gemeinsam – helfen – ergänzen – liefern // bestätigen – umändern – berichtigen – bestreiten: Distanz

Es kann als eine der wichtigsten Herausforderungen für jede Beziehung gelten, je nach Nähe und Distanz die Positionen zu bestimmen, auf denen sich die beiderseitigen Bedürfnisse themengebunden bewegen, denn sie beschreiben jene Befindlichkeit und Tendenz von denen das jeweilige Bemühen ausgeht. Einfühlendes Wissen darum verbessert das gegenseitige Verstehen und mindert Missverständnisse. Je nachdem ob und wie der jeweilige Beziehungspartner das Thema aufnimmt und der damit nahe gelegten Absicht entspricht, kann der Kontakt als gelungen oder misslungen gelten. Für das Zustandekommen einer solchen Kontaktverschränkung (im Sinne von aktiver Verwobenheit) ist eine gewisse Mindestdauer der Kommunikation nötig. Verschränkt wäre der Kontakt in dem Sinne, dass jeder der Aktionspartner eigene Bedürfnisse im Spiel hat und diese sich interaktiv miteinander oder auch gegeneinander, gewissermaßen verknotet, durchzusetzen versuchen. Gelingende, also bedürfnisgerechte Kommunikation und Interaktion setzt die dem jeweiligen Bedürfnis und der Situation als angemessen erkannte und verstandene Position auf der Beziehungs-Skala voraus. Die in diesem Sinne rechte Distanz zu finden, entspricht einer permanenten sozial-emotionalen Gratwanderung. Fehleinschätzungen beziehungsweise Grenzverletzungen werden zumeist peinlich oder verletzend empfunden, freilich nicht auch immer vermeldet. Sie ereignen sich auf allen Begegnungsfeldern, wenn auch mit unterschiedlichen Folgen etwa in Hinsicht auf die Intimität der Beziehung oder das Ergebnis zielgerichteter Gemeinschaftsaktionen. 80

Kontakte hinterlassen Spuren Von Geburt an ist jeder Mensch Teilnehmer an kommunikativen Prozessen, ob passiv als Angesprochener oder aktiv als Ansprechender. Jede Berührung, jeder Kontakt ist schon Kommunikation, auch wenn keine Signale wissentlich übertragen beziehungsweise empfangen werden. Kontakt schafft Beziehung. Beziehung drückt sich recht unterschiedlich aus, je nach dem, was die Kontaktpartner sich bedeuten, was sie miteinander austauschen. Mitgeteilt wird dabei nicht nur der verbal-gegenständliche Inhalt, sondern auch eine nonverbal übertragene Bedeutungsqualität. Da wo sich Kommunikationspartner oft begegnen, entwickeln sie unbewusst ihre spezifische Kommunikationskultur. Die kann achtsam-freundlich, aber auch rücksichtslos-feindselig sein. Als Mitglied seiner Herkunftsfamilie wird man zwangsläufig zunächst auch deren kommunikativer »Kulturträger«. Man übernimmt deren Themen, beispielsweise Leistung, Selbstverständnis, Handicaps, Ansprüche oder Wertorientierungen und gibt sie in der Regel weiter. Es ist aber ebenso möglich das absolute Gegenteil zu vertreten, wenn die Familienkultur nicht vorbild-, sondern »warnbildhaft« verstanden worden ist. Irmela X. wuchs in einem Elternhaus auf, in dem es außerordentlich etepetete und formell zuging. Man organisierte sich »aufs Feinste« und hob sich – zwar erklärt wohlwollend, jedoch insgeheim spürbar selbstgerecht – vom »ungebildeten Volk« ab. Der Umgang, den das Mädchen mit ihren Mitschülerinnen und Mitschülern hatte, wurde sorgfältig dahingehend ausgelesen, dass manche ins Haus kommen respektive besucht werden konnten, andere nicht. Gerade die unerwünschten Berührungen vermittelten jedoch die aufregendsten Erlebnisse und wurden deshalb von Irmela zum Leidwesen ihrer eindringlich mahnenden Eltern penetrant gesucht und ausgeweitet. Am Ende vollzog sie den »Kulturtausch«, verließ die Eltern und identifizierte sich mit dem »ungebildeten Volk«, ohne die ihr vorhergesagte »Verwahrlosungsgefahr« zu scheuen. Wenn es zur Familienkultur gehört, vorwiegend sachbezogen zu kommunizieren, dann werden verbale Informationen vermit81

telt, die wenig über die konkrete Pflege der internen Beziehungen aussagen. So fehlt den Texten gewöhnlich die emotionale Begleitmusik des zuneigenden Verstehens, die das Zusammenleben mit achtsamer Wärme versorgt. Es gehört aber zu den wesentlichsten Fähigkeiten erfolgreichen Kontaktverhaltens, eigene und fremde Befindlichkeiten wahrnehmen und dann auch ausdrücken zu können. Viele Menschen verknappen sich unnötig, sprechen wenig über ihre Gefühle und erklären sich nicht. Oft liegt dem eben nicht Unvermögen zugrunde, sondern aus früher Erziehung überkommene Anspruchslosigkeit und Beschränkung. Achtsam wird Zurückhaltung geübt in dem Bemühen, möglichst nicht aufzufallen und nirgends anzustoßen. Zu sozial gelingenden Kontakten kann dies kaum führen, weil Uneindeutigkeiten und Missverständnisse programmiert sind. Kommunikation findet jedoch auch in nicht gelingenden Kontakten statt, denn: egal wie man sich verhält, man kommuniziert ohnehin immer. Schweigen kann bekanntlich viel sagen. Passivität und Schweigen vermitteln erfahrungsgemäß ebenso eindeutige Botschaften wie wort- und gestenreiche Ausführungen. Gekränkte Personen teilen sich oft nonverbal mit. Sie schneiden die Begegnung mit dem Ausdruck des demonstrativ-stillen Vorwurfs: »Dass du es nur siehst, wie sehr du mir weh getan hast! Das trage ich nun mit mir rum!« Glauben Sie nicht, liebe Leserinnen und liebe Leser, dass sich nur Erwachsene so verhalten. Kinder lernen das früh und das umso vollkommener, je penetranter ihre Vorbilder mit ihrer Unfähigkeit umgegangen sind, konstruktiv zu streiten. Soziale Intelligenz kann als eine Fähigkeit beschrieben werden, die es einem Lebewesen ermöglicht, sich so zu organisieren, dass es im Kontakt mit sich und Anderen auf unterschiedliche Situationen und Herausforderungen zweckmäßig und bedürfnisentsprechend reagieren kann. Zweifellos gehört es zu den bedeutendsten Lernleistungen eines Menschen, sich jeweils so auf Nähe und Distanz einstellen zu können, dass er in solchen Kontakten mit Anderen ein entsprechendes Stimmigkeits- und Wohlgefühl bei sich und beim Gegenüber erzeugen kann. Ebenso zweifelsfrei kann aber auch festgestellt werden, dass im Gegensatz dazu die 82

meisten psychischen Leiden aus misslungenen Nähe- oder Distanzbemühungen herrühren. Leider kann nun aber niemand allein bestimmen, wie er durch wen und wann zu welchem Ergebnis kommt, denn insbesondere dieser Lernprozess ist sehr weitgehend abhängig vom beteiligten Gegenüber, der in diesem Sinne zum »Lehrmittel« wird. Inzwischen ist die Erkenntnis psychologischer Besitzstand, dass der Mensch fast ausschließlich von Erfahrungen geprägt wird, die er aus Interaktionen, ihren Verlaufseigentümlichkeiten und Beziehungsresultaten gewinnt. Was man kann und sich schließlich zutraut, ist einem direkt, etwa durch Beispiele und Vorbilder, »beigebracht« worden oder man hat es sich neugierig angeeignet. Der so aktiv erworbene Gewinn an Fähigkeiten und Selbstsicherheit ermutigt dazu, den Anforderungen des Lebens offen zu begegnen. Schicksalhaft ist, wenn man so will, der Bezug, in den jeder schon durch seine Geburt gesetzt wird. Dadurch werden sowohl Chancen wie Handicaps gewissermaßen in die Wiege gelegt. Erwünscht oder unerwünscht zu sein für diese Mutter, jenen Vater, für Geschwister, die erweiterte Familie, die Sippe, oder gar im nachbarlichen Milieu, das hat spezifische Folgen für die körperliche und seelische Entwicklung des Menschen. Das gilt für einzelne Begegnungen und Situationen, ist aber auch ganz grundsätzlich gemeint. Wer immer wieder bestätigt wird, lernt an sich zu glauben. Wer immer wieder kritisiert und gering geschätzt wird, lernt schließlich, an sich zu zweifeln. Und es sind immer zuerst und am gewichtigsten jene Personen, denen man in neuen Situationen zuerst begegnet. Sie üben den direktesten Einfluss aus, auch wenn sie ihn nicht bewusst beanspruchen. Kein Lernender ist in der Lage, sich dem ganz zu entziehen. Es sind nicht Appelle an Vernunft und Einsicht, die bleibenden Eindruck hinterlassen und das Verhalten steuern. Vielmehr ist es die Beiläufigkeit des Umgangs mit den uns wichtigen Bezugspersonen, in dessen Folge wir recht oder schlecht die Art und Weise erlernen, in der das Leben gelebt wird.

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Abhängigkeiten

Selbst von Ameisen können wir beispielhaft lernen, uns als Teil eines umfassenden dynamischen Beziehungssystems zu verstehen, was am Mandala-Bild veranschaulicht worden ist. Jede Person kann im Gemenge diverser Abhängigkeiten fokussiert werden. Allgemein verstanden bezieht sich der Begriff auf vielfältige Formen des Aufeinander-Angewiesenseins und findet sich ebenso in der Mathematik, der Statistik, der Medizin wie in der Sozialkunde. Insoweit hat Abhängigkeit einen recht allgemeinen und weiten Bedeutungshof. Die Weltgesundheitsorganisation verwendet diesen Begriff inzwischen für psychische Problemlagen, die umgangssprachlich »Sucht« genannt werden. Wir kennen Süchte verschiedener Art, die wir gewöhnlich noch innerhalb eines tolerablen Bereichs akzeptieren. Die weit verbreiteten »kleinen Alltagssüchte« (Kaffee, Süßigkeiten) können allerdings durchaus die Gesundheit gefährden. Im Zusammenhang mit unserem Buchthema interessieren allerdings nur Abhängigkeiten, die den Menschen im Hinblick auf seine Daseinslage in Beziehung zu anderen Menschen, Räumen, Zeiten und Werten betreffen.

Abhängig von Menschen Wir Menschen können nicht allein leben. Wir sind in vielfältiger Weise aufeinander angewiesen. Existenzielle Bedürfnisse nach Versorgung, Zugehörigkeit, Austausch, Zuneigung und Unterstützung machen uns kontaktabhängig von Anderen. Unsere Befindlichkeit spiegelt wider, wie gut diesbezügliche Kontakte gelingen, zeigt aber auch, was wir daraus lernen. Lernen 85

heißt im weitesten Sinne: Verhalten ändern. Hier bedeutet das, Abhängigkeiten zu relativieren, indem man sich zunehmend unabhängiger macht, ohne dabei jedoch sein grundlegendes Bindungsbedürfnis ganz aufzugeben. Unabhängig zu sein heißt, sich selbst versorgen, auf eigenen Beinen stehen und gehen können. Ganz konsequent ist das nicht zu erreichen, aber auch nicht gewünscht, denn Abhängigkeit und Unabhängigkeit sind keine absoluten Größen, wenngleich sie immer wieder gern tendenziell ideologisiert gebraucht werden. Sie gehören zusammen und lösen je nach Situation und Bedarf einander ab. Sowohl das Eine wie das Andere gehört jedoch ins gesunde Leben. »Eine Begegnung ist mehr als eine bloße Berührung, wenn ich nicht als ein Subjekt vielen Objekten begegne, sondern in diesen Objekten auch auf Subjekte stoße, die, wie ich, sich selbst bewegen. Die Begegnung ist jetzt nicht nur Kontakt, Verschmolzensein in Erstarrung, sondern unabsehbar in ihrer Weiterbewegung, da das andere Subjekt sich auf meines zu bewegen, es fliehen, ihm seitwärts ausweichen könnte – ich kann es nicht wissen. Wenn wir den Kontakt erhalten wollen, aber auch, wenn wir ihn lösen wollen, müssen wir, mein Subjekt und das andere, miteinander umgehen – die Begegnung ist jetzt eine gerade sich ereignende Art des Umgangs. Begegnung von Subjekten, die einander gegenseitig Objekte sind, geschieht also als Umgang« (V. v. Weizsäcker, zit. nach Wyss 1977, S. 501). Es kann beglücken, sich rückhaltlos einem Anderen anvertrauen zu können, in gleicher Qualität mag andererseits in der Unabhängigkeit auch das Gefühl von Freiheit und Selbständigkeit erlebt werden. Stabile Bindungen sind das Ergebnis gelungener Kontakte. Sie verleihen Sicherheit und Orientierung. Das steht nun keineswegs im Widerspruch zum Streben nach Unabhängigkeit, sondern ermöglicht sie erst, weil es von der Angst entbindet, isoliert sein und bleiben zu müssen. Innere Freiheit, über die man wirklich verfügen kann, braucht Halt. Ein Mensch, der sich emanzipieren will, setzt sich im Grunde sehr konstruktiv mit seinen Abhängigkeitsmustern auseinander. Er verwendet Anteile davon zur Bestimmung seiner Identität, indem er feststellt, wer 86

er ohne die bis dahin einengende Anbindung sein möchte. Die Freiheit von etwas stellt gleichzeitig doch auch die Frage danach, wozu sie gebraucht werden kann. Das Dasein kann nicht nur in Kehrwerten definiert werden, also wie man etwas nicht haben will, sondern verlangt nach bewusster Positionierung in der Verfolgung jener Werte, die man zu verwirklichen gedenkt. Zu große Abhängigkeit macht unselbständig und im Extremfall sogar unfähig, eigene Bedürfnisse und Erfordernisse allein zu regeln, indem man sich weitgehend von Anderen verwalten und versorgen lässt. In dieser Art der Vermeidungsbequemlichkeit kann man sich über die Kindertage hinaus selbst noch als Erwachsener »anstrengungslos einrichten«. Überbehütende Eltern machen dies ihren »späten Nesthockern« so bequem wie möglich, weil sie dadurch natürlich auch ihre eigene Abhängigkeit vom Kind verlängern und kultivieren können. Eigenständige Lebensfähigkeit erfordert jedoch ein gehöriges Maß an Unabhängigkeit, in die man entlassen werden sollte, die man aber auch aktiv erwerben und gestalten muss. Einerseits befruchtet dieses Wechselspiel von Abhängigkeit und Unabhängigkeit die Kultur unseres Zusammenlebens schon in der Familie. Sie ist das einzige Versorgungssystem, in dem die Beziehungen naturgegeben sind. Sie müssen nicht erworben, jedoch kontinuierlich gestaltet und gepflegt werden. Diese Aufgabe stellt sich jedem ihrer Mitglieder. Im Vollzug diverser Differenzierungsphasen ergeben sich daraus allerdings recht unterschiedliche Rollenzuweisungen. Den Eltern kommen von vornherein spezifische Pflichten und Rechte zu, die sie modellhaft vorleben. An ihrem Beispiel lernen ihre Kinder soziale Verhaltensmuster kennen und in ihrer Dienlichkeit einschätzen. Etablierte Werte werden zwischen Jung und Alt unausgesetzt ausgetauscht, infrage gestellt, bestätigt und relativiert. Andererseits werden aber auch neue Werte geschaffen und die Weiterentwicklung wird gesteuert, woran die Erziehung ihren wesentlichen Anteil hat. Sie überträgt die Werte und schafft auf diese Weise Tradierungen mit mehr oder weniger weit reichender Verbindlichkeit. Für Irmela bestand die Verbindlichkeit sogar darin, sich gegenteilig orientieren und organisieren zu müs87

sen. Sie übernahm freiwillig (und dennoch zwanghaft) die Rolle des »schwarzen Schafes« ihrer Familie. Jede Gesellschaft, fast jede Gruppe hat ihre Außenseiter und braucht sie wohl auch, denn an ihren Beispielen definiert sich, wer sich als »Insider« berührt fühlen darf. Niemand will »draußen« sein. Jeder ist bemüht, reinzukommen, drin zu sein und zu bleiben. Sozial beheimatet zu sein hält die Seele gesund. So genannte Außenseiter der Gesellschaft bilden in diesem Sinne eigene Gesellschaften und Subgruppen, in denen sie ihre je spezielle »Heimat« einrichten, »Nachbarschaften« entwickeln und freundschaftliche Beziehungen pflegen. Ihr Areal kann ein Randbezirk, ein Brückenbogen oder ein U-Bahn-Schacht sein, wo sie sich relativ treu begegnen. Dort teilen sie gemeinsam Raum und Zeit, oft auch was sie zum Leben brauchen, und haben ihr spezielles Versorgungssystem, das ihren Bedarf zumindest hier und jetzt deckt. Sie können das als ihre Idylle verstehen, die sie erklärtermaßen gegen keine andere eintauschen mögen. Aus dem »Out« ist dann ein »In« geworden. Es gehören aber auch Informationssysteme zur Versorgung, die eine Teilnahme am gesellschaftlichen Leben erst ermöglichen: Sprache, Sitte, Rollenkonzepte, Zuständigkeiten, Erwerbsmöglichkeiten, Sonderinteressen. Sich darin orientieren und versorgen zu können, ist Grundbedürfnis und Voraussetzung zugleich. Nie zuvor wurden jedoch Informationen so redundant, differenziert, breit und aufdringlich gehandelt und verteilt, wie gegenwärtig vor allem in der westlichen Welt. Überschwemmt von unerbetenen Angeboten für alle Sinne und Briefkästen werden wir vom Informationsmüll für wirklich wichtige Kenntnisse regelrecht desensibilisiert. Wir hören nicht mehr richtig hin, übersehen das Brauchbare und müssen uns erst suchend anstrengen zu finden, was wir erfahren wollen und worauf wir angewiesen sind. In Hinsicht auf die Installierung von Filtern bleibt in Presse, Funk und Fernsehen noch viel zu tun. Offenbar ist das noch eher zu bewerkstelligen als in Erziehung, Aus- und Fortbildung. Bislang versagen hier die Filter weitgehend. Erzieher lernen nicht mehr, mit Grenzen verantwortlich umzugehen, Aus- und Fortbildner reproduzieren Lehrgut, das entweder nicht mit neueren Erkennt88

nissen aufgefrischt beziehungsweise erweitert worden ist, oder orientieren sich ausschließlich am profitablen Output.

Beispielgebende Verhaltensmuster formen Menschen Christian-Gotthilf Salzmann (1744–1811) veröffentlichte 1780 sein »Krebsbüchlein«, dem er den bezeichnenden Untertitel gab: »Anweisung zu einer unvernünftigen Erziehung der Kinder«. Auf dem Titelblatt zeigt er einen Teich mit einem alten und drei jungen Krebsen. Darunter steht: »Ich werde es tun, mein Väterchen, wenn ich dich das selbe zuvor werde tun sehen!« Ich erinnere auch einen Vergleich, wonach ein Vorbild wie eine Laterne sei, die man vor sich her trägt, ohne sie je zu erreichen. Das Beispiel dagegen ist eine Laterne, die an einem Baum hängt, abgehängt und mitgenommen werden kann, um den Weg zu beleuchten. Beide Bilder enthalten in ihrer Anschaulichkeit pädagogische Wahrheiten. Vorbildern folgen Lernende nur nach, wenn ihr Verhalten als Ganzes unaufdringlich »mustergültig«, vertrauenerweckend und nachvollziehbar wirkt. Beispiele sind nicht Seins-Muster, sondern Verfahrensmuster. Sie beziehen sich zumeist auf Detaillösungen, die anschaulich und verständlich demonstriert werden. Ihre Nachahmbarkeit muss sowohl vom Beispielgeber als auch vom Beispielnehmer gewollt sein und beiden sinnvoll, zweckmäßig, zumutbar und nachvollziehbar erscheinen. An Erfahrungen und Mustern orientieren sich Einstellungen und Verhaltensweisen. In ihnen schlägt sich die Art zu leben nieder, die wir im weitesten Sinne Kultur nennen. Herkömmlich wird darunter die Gesamtheit der ökonomisch-ökologischen, sozialen, geistigen und künstlerischen Errungenschaft einer Gesellschaft verstanden. In diesem Sinne zeigt sich die Qualität einer Kultur auch in Gemeinschaften und Familien, wie sie sich zum Beispiel in Formen ihres Zusammenlebens und ihrer Leistungen sowie in Gestalt des Umgangs mit ihrem Besitz darstellt. Einen blitzartig ganzheitlichen Eindruck kann man von der Kultur einer Familie bei der Einnahme von gemeinsamen Mahl89

zeiten gewinnen. Wer wo und wie sitzt, nimmt, isst, von wem bedient wird, mit wem, wie und worüber spricht oder schweigt demonstriert damit seine soziale Rolle und Lebensart. Es zeigt sich, ob es in der Gemeinschaft ein hierarchisches Gefälle gibt und wie es gestuft ist. Wer bestimmt die Gemeinschaft stiftenden Themen und wie werden sie von wem vertreten? Sind Grenzen definiert, von wem werden sie wie reklamiert? Sind sie mit Sanktionen belegt, gegebenenfalls mit welchen? Wie verbindlich und geklärt sind die Toleranzschwellen? Dabei sind nonverbale Verhaltenssequenzen stets aussagekräftiger als verbale. In der Eigenart solcher Muster realisiert sich die Kultur kleiner wie großer Gemeinschaften. Es kennzeichnet die Qualität des Zusammenlebens, wie sich Menschen ansehen, berühren, begrüßen, vermeiden, verlassen, beschenken oder auch zur Nacht verabschieden. Das kann relativ unabhängig von der aktuellen Situation geschehen, ist aber doch sehr abhängig von Vorerfahrungen, die in der je persönlichen Lerngeschichte weiterwirken. Wiederholt wird das, was die Befriedigung entsprechender Bedürfnisse gemäß der jeweiligen Vorerfahrung und Gewöhnung zu garantieren scheint. Man wiederholt, womit man sich unter Verwendung von übernommenen Mustern und Modellen verhältnismäßig erfolgreich organisiert hat. Als Garanten dienen jene, die vorlebten, was in die Organisation des Selbst aufgenommen worden ist. Die Integration dieser Vor-Bilder ins Selbstverständnis geschieht allmählich, unmerklich und weitgehend unbewusst. Im Ergebnis sind sie dennoch recht stabil. Wie dauerhaft prägend solche Einflüsse sind, weiß jeder, der sich ein wenig selbst beobachtet. An Sprache, Haltung, Gang, Interessenlage oder Wertorientierung sind Vorbilder wiederzuerkennen. In Abwandlung eines Wilhelm-Busch-Zitats kann man sagen: »Wie ein Kind sich räuspert und wie es spuckt, hat es dem Vorbild abgeguckt.« Es kann sich jemand mit dem gleichen Strich die Haare kämmen wie die Mutter oder der Vater, die Schuhe binden oder Messer und Gabel gebrauchen, ohne das selbst zu registrieren. Manchmal entdeckt man dies per Zufall, oder es wird von Beobachtern rückgemeldet, die eine »intime Bezie90

hung« zu solchen Verhaltensweisen gewinnen konnten. Nachkommen bemühen sich unbewusst oder auch bewusst darum, möglichst getreue Kopien von Vorbildern aus ihrer Familie zu werden. Sie werden dafür oft mit Prämien bestätigender Zustimmung belohnt. Bekanntlich wird auch das Gegenteil praktiziert und entsprechend deutlich gemacht: »So wie meine Mutter – mein Vater – will ich nie werden!« Irmela bot dafür bereits ein entsprechendes Warnbild. Ganz abgesehen von solchen familieninternen Konflikten ist einzuräumen, dass viele Verhaltensmuster schon im Verlauf eines Generationswechsels ihre Gültigkeit verlieren können. Wenn es den Eltern noch versagt war, vor ihrer Eheschließung eine gemeinsame Wohnung zu beziehen, dürfte das inzwischen für ihre Kinder kaum noch gelten. Selbst wenn das verlangt werden würde, ist es wahrscheinlich über deren Willen hinweg nur noch selten wirklich durchsetzbar. Kinder verstehen sich zunehmend früher autonom und beanspruchen die Akzeptanz ihrer unabhängigen Entscheidungen, auch wenn aus durchaus einsehbaren Gründen dagegen argumentiert wird. Übernommene oder abgelehnte Wertorientierungen können Haltungen und Handlungen über Generationen hinweg tradieren. In den Geschichten von Familien und Völkern findet sich hinreichend überzeugendes Anschauungsmaterial: Herrscherhäuser haben Geschichte geschrieben und sind ihr verpflichtet geblieben; mit bestimmten Familien sind industrielle Dynastien verbunden (Ford, Krupp, Henkel). So genannte »Dynastien« kennen wir auch aus Kunst und Wissenschaft (Bach, Dumas, Mann). Viel häufiger, dabei ungenannt und unbekannt, sind jene, die bis in die Gegenwart hinein Bauernhöfe, Mühlen, Gaststätten, Warenhäuser oder Werkstätten der eigenen Familie besessen und betrieben haben. Es gehört zum Selbstverständnis gewisser Familien, Bergarbeiter, Lehrer, Ärzte, Geistliche oder Politiker hervorzubringen. Diese Aufzählung ist natürlich absolut unvollständig und willkürlich. Sie dient wieder nur dazu, Sie, liebe Leser, anzuregen, sich gewisse Traditionen ins Bewusstsein zu rufen, die auch Sie fortsetzen. Wir sitzen alle im Boot der Familie und können uns keineswegs nach 91

dem freien Selbstentwurf eines kühnen Kopfsprungs ins Nichts von allen und allem freischwimmen. Weder das Rad würden wir neu erfinden müssen und wollen, noch sind wir genötigt und in der Lage, eine neue Sprache zu erfinden, mit der wir uns mit jedem problemlos verständigen könnten. Wir sind als Kopien einer Fülle von Bedürfnis- und Verhaltensmustern Produkt und Beispiel übernommener Verbindlichkeiten. Kopien sind keine Originale. Deshalb ist ihre Akzeptanz nicht zeitlos gegeben. Sie muss also vor jeder Verwendung auf ihre aktuelle Gültigkeit überprüft werden. Kein Beispiel, kein Vorbild taugt ein für alle Mal. Im Verlauf einer Familiengeschichte und einzelner Biographien lassen sich Stafetten und Etappen unterscheiden. Wachstum und Reifung bringen immer neue Herausforderungen mit sich und bedingen den Wechsel von Vorbildern sowie die Nachahmung anderer Beispiele. Das Tun und Lassen der Vorbilder zeigt auf, wie weit deren Zufriedenheit damit in mehr oder weniger direktem Zusammenhang zu stehen scheint. Sie werden als Modell für den jeweils eigenen Auf- und Ausbau der Persönlichkeit in der aktuellen Lebensetappe genutzt. Es bedarf vieler und zudem recht unterschiedlicher Lernmodelle, um in den verschiedenen Lebensphasen den sich ändernden Bedürfnissen nachzukommen. Am deutlichsten zeigen Jugendliche, wie verbindlich und ihrer Zeit entsprechend die Muster sein können, die ihre jeweilige Kultur abbilden und verändern. Es ist schwer auszumachen, welche Trendsetter sie jeweils auf welche Weise installieren. Es ist eine Untersuchung wert, wie zwangsläufig jugendliches Suchverhalten über Ländergrenzen hinweg einen gerade aktuellen Inhalt für die Befriedigung der Bedürfnisse findet und ihm eine dazu passende Form gibt. Jedes Lebensalter bringt eigene Herausforderungen mit sich und stellt dazu passende Modelle zur Verfügung. Passend soll hier nicht heißen, dass ein Modell immer die optimale oder gar idealtypische Befriedigungsmöglichkeit darstellt. Gemeint ist vielmehr die Eignung zur Herstellung einer persönlichen Beziehung. Welche Mutter, welcher Vater, welche Großmutter oder welcher Großvater wäre schon idealtypisch? Passend sind sie als Modell nur insoweit, als sie die gegebene und damit vielleicht die einzig 92

mögliche Beziehung sind. Sie bleiben vielleicht sogar für lange Zeit die fast ausschließliche Informationsquelle darüber, wie die Herausforderungen des Lebens bewältigt werden können. Später gewinnen noch andere Familienmitglieder sowie Nachbarn, Spielgefährten, Kindergärtnerinnen, Lehrpersonen in Schule und Berufsausbildung, Freund- und Partnerschaften an Bedeutung. Auch Vorgesetzte oder Repräsentanten gewisser Wertorientierungen üben für die jeweilige Entwicklungsphase ihren spezifischen Einfluss auf die unbewusste und bewusste Organisation aus. Das je eigene Selbst ist, trotz sehr individueller Prägung, stets eine Gemengelage vieler übernommener Persönlichkeitsanteile. Die Persönlichkeit des Einzelnen stellt somit ein Konglomerat von Modellkomponenten dar, das als Ergebnis aktiver Wahl, wahrscheinlich aber mehr noch als Folge indirekt wirksamer Berührungen verstanden werden kann. Individualität ist in dieser Konsequenz ein Produkt von Bemühungen um Teilhabe an Gemeinschaften. Ganz abgesehen davon impliziert schon der Sinn des Begriffs Individualität den sozialen Bezug. Individuum meint die Unverwechselbarkeit der Besonderheit jedes einzelnen Menschen, in Abgrenzung zu allen anderen, in seiner kontinuierlich fortdauernden Eigenart. Das Eigene ist im ursprünglichen Wortsinn des »Unteilbaren« ausgedrückt. Mit der Geburt ist jeder Mensch physisch ein in seine eigene Haut Abgesonderter.

Abhängig von vorgegebener Position Man kann sich nicht immer aussuchen, zu wem man in Beziehung treten möchte – und zu wem nicht. Ganz abgesehen davon, ob wir junge oder alte Eltern haben, von denen wir möglicherweise recht unterschiedlich erwartet und begrüßt werden, wird uns von den Gegebenheiten ein spezieller Platz zugewiesen: ältestes, jüngstes, mittleres oder einzelnes Kind einer Klein- oder Großfamilie zu sein. Auch als Erwachsener behält man diesen Platz mehr oder weniger unbewusst bei. Die Kindheit ist mit ihren Prägungsmerkmalen von keiner Phase des Lebensverlaufs zu 93

lösen. Sie bleibt die Basis, auf der sich jede individuelle Daseinslage mit ihren jeweiligen Entwicklungsschritten aufbaut. Deshalb wird sie in unseren Ausführungen notwendigerweise immer wieder aus unterschiedlichen Blickwinkeln hinsichtlich verschiedener Schnittmengen betrachtet. Damit verbindet sich die Hoffnung, dass Sie, liebe Leser, da und dort einige aufhellende Spotlichter auf Ihrem persönlichen Weg zu erkennen vermögen. Die Bedeutung der Geschwisterrolle für die soziale und emotionale Entwicklung ist zwar oft überschätzt worden; es kann aber nicht geleugnet werden, dass jede Position spezielle Herausforderungen und Erfahrungen mit sich bringt, die sich unterschiedlich auswirken. Im Blick auf die Ältesten könnte man sagen: »Wer vorangeht, dem sitzen die Anderen im Nacken!«, oder: »Wer zuerst kommt, mahlt zuerst.« Die Jüngsten hören oft: »Kleine Leute übersieht man!«, oder, wie ein afrikanisches Sprichwort sagt: »Je kleiner die Eidechse, desto größer ihr Bemühen, ein Krokodil zu werden.« Diese Rollen überdauern oft das Kindesalter und werden schließlich zum akzeptierten und handlungsrichtenden Selbstverständnis. Die Anzahl der Kinder in einer Familie hat fraglos Einfluss auf die intellektuelle, vor allem aber auf die soziale und emotionale Entwicklung eines Menschen. Es mag seine Vorzüge haben, einziges Kind der Familie zu sein, weil einem niemand das Zentrum streitig macht. Man muss auch nicht teilen, was man geschenkt kriegt und besitzt. Andererseits ist man mit den Erwachsenen allein und kann nicht richtig mithalten. Das Einzelkind hat demzufolge Verhaltensmuster direkt um sich, die seinem entwicklungsspezifischen Erfahrungsstand nicht entsprechen. In besonders liebevollen oder aggressiven Intimerlebnissen der Eltern erlebt sich das Kind in der Regel ausgeklammert und »drittklassig«, wohingegen es verwirrend oft »erstklassig« umworben wird. Es ist folglich nicht leicht, sich sozial eindeutig zu verorten. Geschwister mögen ihre gemeinsame und dennoch unterschiedliche Position den Eltern gegenüber besser bestimmen können, müssen sich allerdings mit einem Rivalen um die Zuneigung und Gunst der Großen streiten. Das bleibt sicherlich nicht das einzige Erlebnis von »Partnerschaft«, das sie miteinander teilen. Je 94

nach Altersabstand lernen sie auch in anderer Hinsicht sich im Tageslauf bei der Gestaltung ihrer Räumlichkeiten und ihrer Zeit aufeinander zu beziehen. Dabei nehmen sie einander in Anspruch, grenzen sich an und ab, sind einander als partielle Beispiele und Vorbilder hilfreiche Lerngelegenheiten für ihr Sozialverhalten, das außerhalb der Familie erprobt und verallgemeinert werden kann. Geschwister können anregende und förderliche Spielgefährten oder eher hemmende Konkurrenzpartner sein. Sie mögen sich passiv wie aktiv gegenseitig unterstützen und behindern. Schnelle und begabte Kinder genießen den Vorzug besonderer Aufmerksamkeit sowie bewundernde Zuwendung. Leicht lernen sie, dies immer selbstverständlicher in Anspruch zu nehmen. Eher langsame und weniger begabte Kinder erleben dagegen, dass sie den ihnen entgegengebrachten Erwartungshaltungen nicht zu entsprechen vermögen. Das macht ihnen meist weniger zu schaffen als die Befürchtung, deshalb abgelehnt zu werden. Wieder sind es nicht in erster Linie konkrete Äußerungen, die das zum Ausdruck bringen könnten, sondern nonverbale Signale, die von Erwachsenen und Kindern im Umgang miteinander gesendet werden. Kinder, die sich in der Geschwisterreihe zurückgesetzt und damit weniger beachtet fühlen, zweifeln meist an, wirklich wertgeschätzt zu sein. Das beeinträchtigt natürlich ihr Selbstwertgefühl. Noch grundsätzlicher mag von solchen Kindern angezweifelt werden, dass ihre Eltern sie wirklich gewollt haben und so lieben, wie sie nun einmal sind. Dann nützen wortreiche Versicherungen ebenso wenig, wie die gleichmacherische Aufzählung objektiver Zuwendungen: »Wir haben euch doch immer gleich behandelt!« »Was wir dem Einen gegeben haben, kriegte doch auch der Andere!« Selbst wenn das so geschah, gab es doch unbeabsichtigte Unterschiede in der Vergabe-Reihenfolge sowie der Farbe eines Objekts, der Wortwahl oder der Tonlage der Ansprache im gegebenen Moment. Selbst relativ unauffällige Unterschiede sind es, die einem dinglichen oder zeitlichen Präsent in der sensiblen kindlichen Wahrnehmung seinen Wert oder Unwert verleihen. Als Feedback verfehlen sie ihre Wirkung nicht. In der Wiederholung demonstrieren sowohl Zu- wie Abwendungen die Qualität des Kontakts. 95

Sie verdeutlichen einem Kind das Maß an Wertschätzung, das Andere ihm entgegenbringen. Ihm selbst fehlen objektive Kriterien für eine Selbsteinschätzung, die dem widersprechen könnten. Entstehende Zweifel können deshalb nicht nach außen gewendet werden, eher übernehmen sie die Zuschreibungen in ihre innere Gewissheit. Auf diese Weise wird es am Ende schließlich gelernt haben, sich selbst so zu verstehen, wie es gesehen wird.

Abhängig von eigenen Erwartungen Was andere Menschen von einem wollen, das wird einem mehr oder weniger eindeutig oder aber missverständlich beigebracht. Durch die Zeit hindurch wiederholen sie tendenziell, wann man gewollt oder nicht gewollt ist, welches Betragen erwünscht und welches unerwünscht ist. Dies bezieht sich meist auf die Art und Weise des Verhaltens. Im Ergebnis entsteht ein mehr oder minder verbindlicher Verhaltenscodex, an dem sich jeder Mensch zu orientieren versucht. Über bloße Orientierung hinaus gilt es dann aber auch, entsprechend zu handeln. Vorauszusetzen wäre, dass die Verbindlichkeit des Regelwerks von der handelnden Person anerkannt wird. Das ist Kindern nicht ohne weiteres möglich, weil ihnen die Begründungszusammenhänge für die Forderungen mental noch nicht eingängig sind. Ein relativ einfacher und in seiner Unbedingtheit zwingender Grund, den Ansinnen dennoch zu entsprechen, ist der Gehorsam. Dieser enthält die eindeutige Erwartungshaltung des Gegenübers, dass Anweisungen ohne Wenn und Aber befolgt werden. In Abhängigkeit dazu entsteht umgewendet im Kind die Erwartungshaltung, die Fremderwartung ohne Alternative zu seiner eigenen machen zu müssen. Es erlebt die Unbedingtheit letztendlich so verpflichtend, dass es die Fremderwartung widerstandslos, gewissermaßen zwangsläufig bejahend internalisiert. Seine absolute Abhängigkeit lässt ihm keine andere Wahl, wenn es nicht strafende Ablehnung und emotionale Unterversorgung heraufbeschwören will. Bis zur Wahrnehmung eines solchen Risikos kommt es zunächst aus den genannten Gründen gar nicht. 96

Erst im Lauf der ersten beiden Lebensjahre verliert die internalisierte Erwartungshaltung, Fremderwartungen zu entsprechen, ihre absolute Gültigkeit. Widerstand regt sich und das Kind kommt in Berührung mit seinem eigenen Willen, der sich im Trotz, aber zum Beispiel auch in spontanen Entdeckungsreisen äußern kann. Erste Schritte auf dem Weg zur Verwirklichung eigenständiger Regungen werden neugierig unternommen. Sie vermitteln die beglückende Erfahrung, relativ unabhängig aktiv werden zu können. Man kann diese Entwicklungsstufe eine erste und natürlich noch recht unbewusste Phase von Vermögenseinsicht oder Potenzerprobung nennen. Zwangsläufig wird dabei Neuland betreten, das andere bereits verwalten, Eltern und Geschwister zum Beispiel. Bedürfnisse und Ansprüche müssen gegeneinander definiert und abgewogen sein, wenn es nicht zu permanent konfliktreichen Auseinandersetzungen kommen soll. Während dieses sensiblen Vorgangs gewinnt der kindliche Aktionsrahmen immer mehr Weite.Aus dem anfänglich undifferenzierten Widerstand gegen Zumutungen anderer wird sukzessive, bis ins Erwachsenenalter hinein, die von differenzierteren Bedürfnissen bestimmte Realisierung dessen, was man selbst will. Eine in ihrer Bedeutung nicht zu unterschätzende Begleiterscheinung der Verselbständigung ist die aktiv herbeigeführte Anreicherung mit konkreten Verfahrensweisen, die ohne fremde Hilfe der Befriedigung der verschiedenen Bedürfnisse dienen. Man muss allerdings auch wissen, wie man das macht. Gemeint ist der Erwerb des Know-how, also der praktischen Umsetzung einer Absicht in die dazu geeignete Tat. Angesichts der Komplexität des Daseins wird eine Fülle von Fähigkeiten benötigt, um es zu bestehen. Das Leben will sozial, emotional und einfach auch praktisch erlernt werden. In jedem dieser Lernfelder werden durch Erfolg und Irrtum Wege gebahnt, auf denen die Biographie des Einzelnen ihre Gestalt gewinnt. Um im Bild zu bleiben: In jeder Gestalt haben Zeit und Erlebnisse Spuren hinterlassen, mit denen die je unverwechselbare Identität gezeichnet ist. In der Berührung der Nahtstelle zwischen Ich und Du/Ihr erfährt jeder Mensch, welcher soziale Ort ihm in den ihn betreffenden Schnittflächen zugestanden beziehungsweise zugewiesen ist. 97

An ihm lernt er in Begegnungen durch gelingende und misslingende Kontakte Konsequenzen kennen, die sich auf Möglichkeiten und Grenzen der Selbstbestimmung beziehen. Dies ist ein unaufhörlicher Prozess, der während des ganzen Menschenlebens andauert. Jede Veränderung des mitmenschlichen Beziehungsgefüges, des an Räumen orientierten Behaustseins, des Lebensalters sowie der Wert- und Sinnbindung verlangt eine je spezifische Neuordnung im Selbstverständnis. Hinzu kommt, dass jedes Leben expansiv ist, indem es sich fortentwickelt und durch Erfahrung ausweitet. Mit der Selbsterfahrung und Selbstbestimmung entwickelt sich das Gefühl, als eine eigene Person von anderen Menschen schließlich relativ unabhängig und respektiert sein zu können. Je häufiger und eindeutiger entsprechende Bestätigungen erlebt werden, desto größer wird die interne Selbstverpflichtung und Erwartung, dem zu genügen. Es entsteht eine innere Gestalt, die persönliche Seele. Man kann den Prozess dahin und sein Ergebnis die Entwicklung zur Identität, oder kurz: Individualisierung nennen.

Identität als Kontaktprodukt Identität meint die Unverwechselbarkeit der je eigenen Person, zu der man im Selbstverständnis »Ich« sagt. Aus dem Lateinischen abgeleitet heißt Identität »Dieselbigkeit«, »Wesensgleichheit«, und kennzeichnet den, der man ist, im Unterschied zu den Anderen. Im psychologisches Wörterbuch von Dorsch (1998) wird Identität definiert als »das Fortbestehen eines anschaulich Ausgesonderten in Raum und Zeit« (S. 386). Diese sehr abstrakte Definition passt immerhin mit Blick auf das Mandala ganz gut in unseren Kontext. Die Geburt sondert uns Menschen anschaulich aus der Mutter heraus und entlässt uns in weitere Kontaktbereiche: in den aufnehmenden Raum und in die begleitende Zeit – in der wir zudem unterscheiden lernen, was uns wichtig, gleichgültig und unwert ist. 98

Sobald ein Kind abgetrennt und gewissermaßen in seine eigene Haut eingeschlossen ist, wird es im Lauf der Zeit immer klarer zwischen sich und den Anderen unterscheiden lernen. Zudem erfährt es Konsequenzen in Hinsicht auf das, was es soll, und das, was es selbst will. Wichtig ist, welches spezielle Repertoire an Einstellungs- und Handlungsmustern der Einzelne in der Verarbeitung seiner Erfahrungen gewinnt und auch eigenständig in sein Leben umsetzt. Das kann den Anderen in vielem ähnlich, in manchem anders sein. Solche Gleichheiten und Ungleichheiten definieren letzten Endes die Identität. Beim Start ins Leben sind jedem Menschen die gleichen Umweltbedingungen geboten: Menschen und Räume. Von deren Eigenart hängt ab, in welches Dasein einer gelegt ist. Physiopsychologisch ist er bereits dann kein Neutrum mehr. Er ist mit Sinnen und Bedürfnissen ausgestattet, die ihn auf das reagieren lassen, was ihn umgibt. Von Mensch zu Mensch unterscheidet sich die »Ausstattung« im Blick auf die Wachheit der Sinne, die Qualität der Bedürfnisse und die Fähigkeit, unbehindert und mit Anspruchshaltung über sie verfügen zu können. Leistet die Bejahung oder Verneinung dieser Voraussetzung etwas zur Erklärung dessen, was unter Identität zu verstehen sei? Ist sie in diesem ursprünglichen Sinne jedem Lebewesen von vornherein mitgegeben und könnte sie dem individuellen Ich-Anspruch genügen? Was bedeutet die begriffliche Zuschreibung einer Dieselbigkeit oder Wesensgleichheit? Meint das auch Unveränderlichkeit? Hat man dieselbige Identität ein und für alle Mal – vom Anfang bis zum Ende? Diese mögliche längsschnittliche Betrachtungsweise unterstellt schicksalhafte Vorgaben und verstünde Entwicklung entelechetisch im Sinne von »Auswicklung« des schon als Anlage mitgegebenen. Alles ist immer schon da, wird durch den Lauf der Zeit und der Reifung in ihr nur frei gesetzt. Das garantiert eine grundsätzlich stabile Daseinslage, in der man sich stets gleich bleibend selbst begegnen könnte. Wandlungen wären danach nur aktualisierte Brechungen der Identität im Prisma sich ändernder Medien. Sie bliebe sich immer wesenhaft gleich, zeige allenfalls andere Formen und Farben der Ich-Darstellung. 99

Es ist auch eine querschnittliche Betrachtungsweise der begrifflichen Auslegung von Identität möglich, wenn man zulässt, dass jeder Mensch sich im Lauf seines Lebens grundlegend verändern kann. Dabei wird unterstellt, dass er zu verschiedenen Zeiten unterschiedliche Identitäten ausbilden kann, die dennoch je für sich Wesensart zeigen. Er hätte dazu sogar die Chance, die gestaltenden Prismen zu wählen – seien es Menschen, Räume, Zeiten oder Werte. Jedes dieser Medien kann die ganze Person betreffende Veränderungen eines Menschen bewirken. Für jedes lassen sich eindeutige Belege beibringen. Sie, liebe Leser, werden vermutlich mindestens einen Menschen nennen können, durch den sich irgendwann Ihr Leben entscheidend verändert hat. Es ist auch wahr, dass ein Zentralafrikaner seine Selbstorganisation grundlegend umstellt, wenn er aus der Not geboren dauerhaft in ein westeuropäisches Industrieland zuwandern muss. Ein Kind kann nicht das gleiche Gefühl und Bewusstsein für seine Identität haben wie ein alter Mensch und ein Bankier versteht sich in der Regel nicht als Seelsorger. Ob man einer längs- oder querschnittlichen Sichtweise zuneigt, enthebt einen nicht von der Notwendigkeit, nach seinem Ich zu fragen und davon auszugehen, dass jedes Du mit demselben IchAnspruch existiert. Das bedingt in der Begegnung miteinander Berührungen, die in der Wahrnehmung von Gleichartigkeit und Verschiedenheit erst Identität erfahrbar werden lassen, egal, ob sie von vornherein als unveränderlich oder als phasenspezifisch verändert verstanden wird. Der scheinbare Widerspruch ließe sich auflösen, wenn gegebenenfalls mehrere Querschnitts-Identitäten wie Folien deckungsgleich aufeinander gelegt werden würden und dass sich daraus im Draufblick ein durchscheinendes Grundmuster ergäbe, das der Längsschnitt-Identität entspräche. Es ist nur ein gedankliches Experiment, das sich schwerlich konkretisieren ließe. Auch dies sei als Anregung verstanden, sich selbst danach zu befragen, was dem eigenen Leben generell und speziell Kontinuität und Stabilität verleiht.

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Von Liebe berührt werden Gehen wir davon aus, dass jeder Mensch mit dem Augenblick seiner Zeugung schon mit Liebe berührt worden ist. Auch in »nackter Geilheit« steckt die Faszination gegenseitiger Anziehung, selbst wenn sie den Geschlechtsakt nur kurzfristig begleitet. Anziehung ist in diesem Sinne mindestens zweiwertig: Zum einen wird die Berührung aktiv gesucht und herbeigeführt, zum anderen trifft sie auf die Bereitschaft, den Kontaktreiz zuzulassen, was noch nicht heißt, sich darauf einzulassen. Liebe geht darüber hinaus, sie ist gekennzeichnet durch einen ganzheitlichen Anspruch, der über den Augenblick hinweg dauert. Im Speziellen kann man einen Menschen für ein Erlebnis oder eine Leistung akut nötig haben, kann ihn bewundern, seine Nähe suchen und seine Gegenwart genießen, ohne ihn zu lieben. Das vergebliche Bemühen, Liebe zu definieren, ist sicher so alt wie die Menschheit. Die etwas konkreter klingende und viel häufiger gestellte Frage: »Warum liebst du mich?« ist wohl nie wirklich zufrieden stellend und endgültig beantwortet worden, obgleich es an entsprechenden Bemühungen ebenso wenig gefehlt haben dürfte. Die gleiche Frage, von einem Kind seinen Eltern gestellt, zieht regelmäßig die Antwort nach sich: »Weil du mein Kind bist!« Genügt das? Demnach müsste zwangsläufig also jedes Elternteil sein Kind lieben! Die Realität bestätigt das offensichtlich nicht voll und ganz. Eine Mutter verdrosch ihr Kind mit einem Teppichklopfer und begründete die Aktion mit der Erklärung: »Das muss ich leider tun, weil ich dich liebe!« Wenn man das Gesagte glauben wollte, müsste man der Mutter eine Perversion attestieren; sie wäre seelisch krank. Worum geht es also bei der Liebe? Sie meint eine spezifische Art der Beziehung von Mensch zu Mensch. Sie wird gelegentlich zwar auf ein einzelnes Individuum bezogen (»Selbstverliebtheit«, »Eigenliebe« etc.), wird im hauptsächlichen Gebrauch jedoch für das Paar verwendet. Sucht man die Stelle, in der sie körperlich sitzt, dann wird mit einer umfassenden Bewegung die BrustBauch-Region beschrieben. Will man sie substanziell verstehen, wird sie als Gefühl beschrieben. Sie kennzeichnet also die von 101

Ciompi so genannten Fühlmenschen und ist folglich nicht Denkmenschen eigen. Tatsächlich wird ja auch behauptet, dass es Menschen gäbe, die »kein Gefühl« hätten. Muss man daraus schließen, diese seien liebesunfähig? Auch das wird manchen, vor allem von ihren »Beziehungsopfern«, zugeschrieben. Eine Täter-Opfer-Kategorisierung führt das Verständnis allerdings nicht weiter, denn in der Liebe ist jeder beides zugleich. Welcher Seite schlagen Sie sich vorwiegend zu, liebe Leser? Was begründet die Gewichtung? Können Ihnen Schnittmengen des Mandala bei der Klärung weiterhelfen? Sind es räumliche Bedingungen, die sie zusammenführten, -hielten oder trennten? Brachten es zeitliche Umstände mit sich, dass es nun ist, wie es ist? Auf der Basis welcher Wertorientierungen definieren Sie Ihre Zusammengehörigkeit, Ihren Geltungsstreit oder Ihre Trennung? Erleben Sie, abgesehen von solchen Nachforschungen und Überlegungen, noch das Prickeln im Bauch, wenn Sie sich von Ihrem Liebes-Objekt berührt fühlen beziehungsweise es selbst berühren? Ist es das, was wir Liebe nennen? Und was hat man letzten Endes davon, so ein Gefühl zu fühlen? Ist es nicht immer wieder sehr flüchtig? Flüchtig ist die Befriedigung eines Bedürfnisses im Augenblick. Liebe ist nicht flüchtig, sondern ein anhaltende Gefühl der innigen Zuneigung. Es dauert fast ohne Bedingung, wenngleich viele Bedürfnisse erfüllt sein wollen: vor allem einander nahe zu sein und die ganzheitliche Nähe beidseitig begehrt zu wissen. Grundsätzlich mögen Liebende die geliebte Person so, wie sie jeweils ist. Zweifel haben da keinen Platz. Liebe ist von der existenziellen Sicherheit getragen, dass der geliebte, liebende Mensch nichts tun will, was seinem Gegenüber schadet; verbunden mit der Gewissheit, dies selbst auch keinesfalls zu wollen. Eine Liebesbeziehung ist beseelt von dem beglückenden Gefühl, sich gegenseitig fast ohne Worte einfühlsam zu verstehen und einander ehrlich gelten zu lassen. Natürlich gibt es auch konkrete, recht handfeste Bedürfnisse, die Liebende sich gegenseitig erfüllen: Beistand in Auseinandersetzungen mit den Familien, Verwandten, Freunden, Feinden, Kollegen, Arbeitgebern, Behörden; kritisch-wohlwollende Begleitung von Planungen, Entscheidungen und Unternehmungen; 102

Unterstützung diverser Arbeitsaufgaben in Haus, Hof und Werkstatt; Fürsorge und Trost bei Erkrankungen und Verlusten. Über solche selbstverständlichen Liebesdienste hinaus gibt es jedoch noch viele, die nie selbstverständlich werden sollten: gewidmete Zeit, aufmerksames Ohr, zärtliche Begehrlichkeit, aufmerksame Begleitung im Alltag, bedacht arrangierte Überraschungen, Pflege der Gedenktage, Gesten der Ermutigung, gefühlvolle GuteNacht- und Guten-Morgen-Grußbotschaften, faires Streiten, bereitwillige Versöhnung oder glaubwürdiges Verzeihen. Bitte erweitern Sie diese unvollständige Aufzählung um die von Ihnen praktizierten und erwünschten Liebesdienste im Gespräch mit Ihren geliebten Menschen!

Von Kunst berührt werden Jede Liebe entwickelt ihre eigene Kultur. Zu dieser Kultur gehören zahllose künstlerische Verarbeitungen seliger und depressiver Befindlichkeiten. Gedichte gehören zu den dichtesten und intensivst empfundenen Liebeserlebnissen. Zu allen Zeiten und in jeder Region der Erde haben Poeten ihre Gefühle in Verse gegossen. Diese mögen jeweils einem bestimmten geliebten Menschen zugeeignet gewesen sein, der sie wahrscheinlich persönlich nachvollziehen konnte und zu würdigen wusste. Sind sowohl der Poet als auch sein bedichtetes, geliebtes Wesen inzwischen längst verblichen (siehe Sapphos11 leidenschaftliches »Liebeslied« für eine unbekannte Geliebte), die Gedichte haben noch heute so viel Leben, dass sie die Seele heutiger Leser ähnlich emotional berühren können, wie seinerzeit jene der ursprünglichen Adressaten. Nachvollziehbar sind künstlerische Produkte nur dann, wenn sie aus echten Gefühlen heraus entstanden sind. Darin unterscheiden sich künstlerische Produkte von Kunstprodukten. Insoweit ist zum Beispiel Goethes literarisches Werk »Die Leiden des jungen Werther« (1774) zweifelsfrei eine künstlerische 11 Sappho ist die bedeutendste Lyrikerin der griechischen Antike (vgl. Jaspert 1948, S. 129).

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Leistung. Als Kriterium mag in diesem Zusammenhang die Tatsache gelten, dass sich nach der Veröffentlichung des Werks zahlreiche Selbsttötungen von unglücklich liebenden jungen Männern ereigneten. Goethe hat seine eigene unglückliche Liebe zu Charlotte Buff literarisch verarbeiten können, ohne sich selbst zu entleiben zu müssen. Seine Gefühle fanden so echt ihren Ausdruck im Werk, dass sie anderen unmittelbar nachvollziehbar waren, die ihr eigenes Leid nicht anders zu verarbeiten wussten, als durch die Tat. Kunst bringt ein Echo im Konsumenten hervor, das sich in Ton und Inhalt von der Quelle kaum unterscheidet. Wenn wir die Beurteilungskriterien gelten lassen wollen, müssen wir auch die Bücher von Karl May zur Kunst rechnen, denn tausende junger Menschen sind neben Old Shatterhand mit roten Ohren über die Prärie geritten. Der Autor hat sein Engagement für die Sache der Indianer so glaubwürdig vertreten, dass diese zur Sache von Generationen werden konnte. Was hat Leonardo da Vinci an eigenen Gefühlen in die »Mona Lisa« investiert, dass sie noch heute zur Wallfahrt in den Louvre auffordert. Täglich stehen Pulks von Betrachtern im vorgegebenen Abstand vor dem alten Bild, stets mehr oder weniger versunken und verzückt. Ist es die »Mona Lisa« oder ist es die Faszination der Geschichte des Gemäldes? Aus Raffaels »Madonna del Granduca« kommt einem Ruhe, eine in sich gekehrte Gelassenheit, aber auch gewollte Präsenz des Jesuskindes entgegen. Picasso setzte sich in seinem Werk »Guernica« mit der Zerbombung dieses Ortes auseinander und rief bei denen, die es seither ansahen, Unruhe, Entsetzen und Abscheu hervor. Die Architektur des Bauhauses löst andere Gefühle aus als Gaudís »Casa Milá« in Barcelona, der Kölner Dom oder der Dresdner Zwinger. Das bezieht sich nicht nur auf den Eindruck, den man bei der Betrachtung gewinnt, sondern auch darauf, wie man sich beim Hineingehen und Drinsein fühlt. Klarheit und Eindeutigkeit drückt der Bauhausstil aus; vor Gaudís »Casa« oder seiner »Sagrada Familia« in Barcelona bleibt man verwundert und bewundernd stehen; der Kölner Dom macht erhebend-demütig; der Dresdner Zwinger lässt einen staunend lustwandeln. Die Steine berühren die Seele, weil, wiedererkennend, bereits eine solche in ihnen beheimatet ist. 104

Was der Streit berührt Es ist immer noch besser, miteinander zu streiten, als Differenzen zu leugnen und sich aus dem Weg zu gehen. Da bedeutet man sich doch wenigstens noch etwas und ringt um ein gutes Verstehen! George Bach gab einem seiner Bücher den Titel: »Streiten verbindet«. Streit ist eine konstruktive Form intimer Auseinandersetzung, so widersprüchlich das auch klingen mag. In der Umgangssprache ist der Begriff allerdings negativ besetzt. In der Regel wird es sogar als eine erstrebenswerte Eigenschaft verstanden, sich nicht streiten zu wollen oder zu können. Das bedeutet aber auch, Konflikte unbearbeitet und ungelöst zu lassen, sie womöglich lieber unter den Teppich zu kehren. Sie bleiben dort aber nicht einfach still liegen, sondern melden sich gerade zur Unzeit mit ganz neuen Themen zu Wort. In der Scheu vor Konflikten steckt die Angst, in Auseinandersetzungen schmerzlich zu unterliegen. Zudem enthält diese das vermeintlich unkalkulierbare Risiko, den Bestand der Beziehung aufs Spiel zu setzen. Diese Angst ist tatsächlich umso unbegründeter, je offener und ehrlicher mit den Themen umgegangen wird, die den Konflikt bestimmen. Man muss es erleben, um es selbst glauben und konstruktiv praktizieren zu können. Konstruktiver Streit ist freilich nur dann sinnvoll, wenn nicht jedesmal die Beziehung der Konfliktpartner ganz grundsätzlich neu in Frage gestellt wird. Es ist wichtig zu wissen, welche Art von persönlicher Wertschätzung man beim jeweiligen Gegenüber genießt. Liebenden zum Beispiel müsste, wie schon erwähnt, im Grunde klar sein, dass sie nichts wirklich wollen können, womit sie sich gegenseitig schaden oder absichtlich ins Unrecht setzen. Meinungsverschiedenheiten dürften dann also die Beziehung als solche nicht mehr in Frage stellen. Das zu lösende Problem liegt folglich weder bei dem Einen noch dem Anderen, sondern existiert unabhängig von beiden, gewissermaßen nur als störender Fakt zwischen ihnen. Mit diesem Verständnis für die Sachlage müssten sie gemeinsam bemüht sein herauszufinden, wie wohl diese störende, »objektive« Differenz beschaffen ist, welchen Stellenwert sie im Blick auf die Gemeinsamkeit hat und wie sie im vereinten Bemühen relativiert oder behoben werden kann. 105

Die Streitpartner sollten sich angesichts der gesicherten Wertschätzung darüber im Klaren sein und das gegebenenfalls sogar verbal zum Ausdruck bringen: »Nicht du selbst bist der Grund meiner Verärgerung – und es kann wohl auch unterstellt werden, dass im gleichen Sinne nicht ich dein Ärgernis bin. Wenn weder in dir noch in mir der Grund unserer Differenz zu finden ist, wo müssen wir den dann suchen und wie mag er wohl beschaffen sein?« Oft überlebt das Problem diese erste Phase eines konstruktiven Streits nicht mehr. Die Bereitschaft, sich auf eine solche Klärung zum Verständnis des trennenden Sachverhalts einlassen zu wollen, setzt ja bereits eine gewisse emotionale Entspannung voraus. Wenn endlich gefunden worden ist, was trennt, dann sollten auch Konsequenzen besprochen werden. Diese beziehen sich auf Möglichkeiten der Herstellung von Übereinstimmung bei der Behebung des aktuellen Streits (und gegebenenfalls künftig ähnlicher Konflikte); auf die vielleicht grundsätzliche Bedeutung, die das Konfliktthema für die Partnerschaft hat; auf das Erleben der Verfahrensweise, in der das Problem ohne Nachtrag bearbeitet worden ist; last, not least auf die zu beschließende Aufnahme der gemachten Erfahrung in die Schatztruhe des partnerschaftlich zu pflegenden »Wir-Bewusstseins«. Es ist zu hoffen, dass jeder Streit mit einem für beide Seiten deutlich wahrnehmbaren Versöhnungsritual endet. Wenn schon ein Zerwürfnis die Streitenden leidvoll berührt, umso mehr tut doch Versöhnung jeder Seele gut! Das Ergebnis der Auseinandersetzung wird oft sehr unterschiedliche Entfernungen der einen oder anderen Meinung von der »Wahrheit« aufweisen. Manchmal ist der Eine, manchmal der Andere näher an der Lösung, ohne deshalb jedoch mehr Recht haben zu müssen. Den Streit überleben muss die Erfahrung und das sich entsprechend bestätigende Gefühl, Meinungsverschiedenheiten miteinander konstruktiv austragen zu können. Sieger sollte immer das »WIR« sein, in dem das Ich mit dem Du enthalten ist. Einen Verlierer dürfte es nicht geben. Daraus ergäbe sich nach und nach das sichere Gefühl, aus einem Streit immer gemeinsam besser heraus zu kommen, als man hineingegangen ist. In der Folge verringert sich die Scheu vor der Austragung von Konflikten, weil in der Phantasie nicht jedes Mal eine Katastrophe 106

befürchtet werden müsste. Die sich einstellende Sicherheit in der Beziehung bewirkt auch einen allgemeinen Zuwachs an persönlicher Selbstsicherheit auf beiden Seiten. In Familien, Lebens- und Arbeitsgemeinschaften wird häufig um Vorrechte oder Vorteile gestritten. Als Deckmantel können dazu Belege für »unbestreitbare« Überlegenheit im Sinne von größerer Erfahrung und besserem Weitblick reklamiert werden. Genügt das nicht, werden möglichst überzeugende Begründungszusammenhänge für die eigene Position ins Feld geführt. Es geht darum, Recht zu bekommen und zu behalten. Gewonnen hat, wer »rechter« hat, verloren, wer sich weniger überzeugend oder penetrant vertreten konnte. Eine Schein-Lösung des Konflikts besteht zumeist in der »mehr« oder »weniger« durchgesetzten Meinung des Einen oder Anderen. Richtiges oder Besseres wird auf diese Weise nicht wirklich gemeinsam erarbeitet. Solche weitgehend tradierten Verfahrensweisen waren lange in Schulen und Arbeitsstätten üblich und sind es zum Teil noch heute, wenngleich die Notwendigkeit und Effizienz der Teamarbeit zunehmend mehr an Akzeptanz gewinnt. Solche Veränderungen modifizieren nicht nur die entsprechenden Sachverhalte, sondern wirken sich aufgrund ihrer gruppendynamischen Strukturmerkmale auch auf Lehre und Produktion aus. Teamarbeit zielt auf die Optimierung der Gesamtleistung durch die Zusammenführung von Einzelleistungen, die im Blick auf das angestrebte Ergebnis aufeinander abzustimmen sind. Das muss zwangsläufig Auseinandersetzungen über unterschiedliche Beiträge und deren Gewichtung im Ganzen heraufbeschwören. Die Differenzen sind da am besten beizulegen beziehungsweise aufzulösen, wo man gelernt hat, konstruktiv zu streiten. Das bisher zum Streit Gesagte bezieht sich auf interpersonelle Auseinandersetzungen, also auf solche zwischen mehreren Personen, lässt sich jedoch weitgehend auch auf intrapersonelles, also innerseelisches Streitgeschehen des Einzelnen übertragen. Jeder trägt wahrscheinlich mehr als die berühmten zwei Seelen in seiner Brust und spürt, dass die eine der anderen widerspricht und sich beide gelegentlich sogar voneinander trennen wollen. Jeder kennt den Widerstreit von Bedürfnissen, die miteinander 107

konkurrieren. Der Esel von Buridan verhungert zwischen zwei duftenden Heuhaufen, weil er sich weder für den linken noch für den rechten entscheiden kann. Eine ähnliche Konfliktlage entsteht, wenn auch mit anderen Vorzeichen, wenn man sich für eines von zwei Übeln entscheiden muss, ohne ausweichen zu können. Die Fähigkeit, sich für oder auch gegen eine aktuell eigene Bedürfnislage zu entscheiden, kennzeichnet das Maß an Abhängigkeit und Unabhängigkeit, das Maß, in dem man sich selbst verfügbar ist. Verfügbarkeit in diesem Sinne ist meines Erachtens ein griffiges Merkmal psychischer Gesundheit: tun und lassen zu können, was dem eigenen Bedürfnis und Selbstverständnis gemäß ist, auch wenn dies Kompromisse erfordert.

Was Zank berührt In diesem Zusammenhang scheint es angebracht, noch ein Wort über das Zanken zu verlieren, denn auch über solche nervenden Erfahrungswerte verfügt sicher jeder. Zank ist destruktiv, denn er klärt nichts, legt am Ende nur die Rangfolge der Penetranz fest. Zankende wollen vor allem persönlich Recht behalten und die Anderen dementsprechend ins Unrecht setzen. Argumente sind aus der Sicht des Zänkers ineffizient. Sie sind überflüssig und sowieso nicht erforderlich, um seine ehernen Meinungen beweiskräftig zu unterstützen. Zudem könnte er jene der Gegenseite auch gar nicht wahrnehmen, weil er nur sich selbst zuhört. Das Thema ist relativ gleichgültig, denn immer bietet es im Grunde nur Gelegenheit zur Selbstbestätigung. Manchmal tritt es so weit in den Hintergrund, dass es ganz verloren geht und am Ende niemand mehr präzise zu sagen wüsste, worum es eigentlich gegangen sein könnte. Ziel ist doch stets der Triumph und die Bestätigung der überlegenen Potenz. Es geht um Siege und Niederlagen mit Folgekosten, nicht um Klärungen in der Sache. Wesentliche Folgekosten entstehen zumeist dadurch, dass der Unterlegene aufrüstet, um bei passender Gelegenheit seinerseits zurückzuschlagen und die Niederlage wettzumachen. Das kann so lange weitergehen, bis einer früher oder später aufgibt und das 108

Schlachtfeld verlässt. Sitzt der Frust tief, wird er sich vielleicht ein Ersatzfeld mit einem schwächeren Zänker suchen, um sich von diesem seine Potenz bestätigen zu lassen. Das gilt jedenfalls für jene, die sich auf Zank einlassen. Wer sich nicht darauf einlassen will, geht vorhersehbaren Niederlagen aus dem Weg. Wer konstruktive Streitkultur kennt, wird sich dem Zänker verweigern, indem er ihn ins Leere zanken lässt. Vielleicht versucht er noch, den Zänker zum konstruktiven Streit einzuladen und zu bekehren. Das gelingt allerdings nur dann, wenn anstelle des Sieggewinns eine andere »Potenz-Prämie« aus dem konstruktiv bestandenen Streit bezogen werden kann. Sie sollte vor allem darin bestehen, sich ernst genommen gefühlt zu haben und wirklich wertgeschätzt worden zu sein. Damit werden neue Erfahrungswerte gewonnen, die einen Zuwachs an sozialer Geltung und bestätigte Souveränität im Umgang mit Konflikten erfahren zu haben. Dem Sinne nach meint Souveränität tatsächlich auch nichts anderes als »Herrschaft über sich selbst«. Man darf wohl unterstellen, dass sich Zänker in ihrer Art der »Unbeherrschtheit« selbst nicht immer wohl fühlen. Es muss überdies noch darauf hingewiesen werden, dass »gelernte« Zänkerinnen und Zänker außerordentlich erfolgreich gerade dadurch sein können, dass sie leise bis lautlos zanken. Es erwies sich für sie nämlich als besonders wirksam, den Anderen mit wahrnehmbarer Verweigerung zu berühren, ihm weder Wort noch Blick zuzuwenden, bis dieser kirre ist und »zu Kreuze kriecht«. Es braucht keinen triftigen Grund, weder Zurücksetzung, Versagen oder Schuld, um Zank zu praktizieren. Benutzt werden Unterstellungen, die der Beschuldigende nicht zu beweisen, wohl aber der Angeschuldigte zu entkräften hat. In Wahrheit geht es nicht um die Klärung von Fakten, sondern um persönliche Machtproben. Der Gegner hat zur Sache folglich keine schlagenden Argumente zur Hand. Waffenlos ist er schwach und unterliegt. So qualifiziert diese Niederlage den Herausforderer zum potenten Sieger und führt in der Fortsetzung über das einzelne Gefecht hinaus am unguten Ende zum Scheingewinn des ganzen Krieges. Die geschlagenen Wunden schmerzen oft langdauernder, weil sie nicht durch Affekte legitimiert worden sind; denn sie erfolgten 109

für den Verwundeten in gewisser Weise kalt, beiläufig und verdeckt. Hinter allem steht auch hier nicht die reine Böswilligkeit, sondern ein Defizit an Konfliktfähigkeit und gerade darum das Bedürfnis wahrgenommen, beachtet und ernst genommen zu werden. Angemessener vermag der Betroffene es eben nicht zum Ausdruck zu bringen. Man möchte wohl partnerschaftlich leben, weiß jedoch leider nicht, wie man seinen eigenen Anteil daran selbstbewusst einzubringen und zu verwalten vermag. Man hat es nicht gelernt. Wo auch, wenn nicht bei den Nächsten, die es beispielgebend vorgelebt hätten?!

Abhängig von Räumen Raum in der Umgebung Wir sind im Kontakt mit dem, was uns umgibt. Umgebung ist neben, vor, hinter, unter und über uns. Da ist die Erde unter uns, über die wir schreiten und die uns sicher trägt. Und es ist Himmel über uns, der unsere Sicht weitet für eine unendliche Tiefe, in der Sonne, Mond und Sterne im alltäglichen Geschäft zu besinnlichen Rastplätzen werden können. Da bemerken wir Mauern um uns her, die uns einerseits schützen und behausen, andererseits begrenzen sie aber auch den Radius unserer Aktionen. Raum wird wohl erst dann für uns bedeutsam, wenn wir uns bewusst machen, wie abhängig wir von ihm sind. Direkt und indirekt nehmen wir ihn in Anspruch, indem wir ihn mit unseren Bewegungen ausmessen oder uns von seiner Bestimmung ansprechen lassen. Ein Ballettsaal mutet uns deutlich anders an als eine Telefonzelle. Zunächst wird das Umfeld, in das man hineingeboren wird, gar nicht in Frage gestellt. Erst im Lauf der Zeit werden Möglichkeiten entdeckt und entwickelt, sich das Vorgefundene immer dienlicher zu machen. Das gilt für alle Lebewesen, ob sie, wie wir Menschen auf der Erde, oder wie die Tiere in ihr, über ihr oder im Wasser leben. In der abhängigen Berührung mit den Gegebenheiten des Raumes entwickelt jedes seine eigene Lebensform: 110

Der Mauersegler baut am anderen Ort andere Nester unter Zuhilfenahme anderer Materialien als der Storch; Bären haben andere Höhlen als Hamster. Wir Menschen äußern in der Architektur und Wohnung unser Lebensgefühl. Mit Recht wird die Meinung vertreten, man könne am Wohnstil erkennen, welcher Zeit und welchen Werten jemand anhängt: »Zeig mir, wie du wohnst, und ich sage dir, wer du bist!« Man kann sich auch vergewissern: »Sag mir, mit wem du wohnst und wie gesellig du bist!« Selten befinden wir uns nämlich allein im Raum. Wir teilen ihn mit Personen oder auch mit vielerlei Gegenständen, also mit etwas, das uns entgegen steht und umgibt. Gegenstände sind raumfüllende Objekte, die wahrzunehmen sind, in welchem Zusammenhang auch immer. Sie gehen uns etwas an! Wir können ihre Distanz und Position bestimmen und sie gegebenenfalls umgehen, zum Beispiel einen Tisch, oder ergreifen und nutzen, zum Beispiel einen Löffel. Sie wollen zweckgebunden behandelt werden beziehungsweise sind bereits entsprechend behandelt worden, zumindest hinsichtlich des Ortes, an dem sie sich befinden, sowie des Zwecks, dem sie dienen. Immerfort befinden wir uns durch unser Verhalten in einer sich dadurch verändernden Umgebung. Sie ist der Raum, in dem wir erleben und handeln. Raum ist immer da, auch wenn er aktuell nicht wahrgenommen wird. Er umgibt unseren Körper, lädt uns ein, ihn zu nutzen, und fordert doch auch relativ unaufdringlich die Berücksichtigung seiner Eigenart ein. Wir lernen früh, seine Grenzen setzende Autorität zu respektieren. Wir lernen rasch und fast ohne Widerstand zu respektieren, wie weit wir gehen dürfen, um nicht anzustoßen beziehungsweise wann und wo wir Halt machen müssen. Wir akzeptieren Beulen, die wir uns holen, schließlich als Ergebnis eigener Unachtsamkeit, und nicht als eine unterstellt böswillige Aggression der Gegenstände oder des Raumes, die nicht ausweichen wollten. In diesem Sinne lehrt uns der Raum, Realität wahrzunehmen und diese in unsere Aktionen von vornherein möglichst weitsichtig einzuplanen. Aus Innenräumen können wir in Außenräume wechseln – und umgekehrt. Aus dem Fenster blicken wir in fernere Räume. Was hinter dem Horizont liegt, sehen wir zwar nicht, wissen aber, dass 111

unsere Welt dort nicht endet. Dahinter liegt der Nachbarort ebenso wie das australische Sidney. Die Nachbarschaft haben wir schon konkret wahrgenommen, so dass wir sie uns in dreidimensionalen Erinnerungsbildern vorstellen könnten: Marktplatz, Kirche, Einkaufszentrum, Straßenbahn und so weiter. Das Opernhaus von Sidney dagegen wurde uns höchstens durch zweidimensionale Abbildungen bekannt, wenn wir bisher noch nicht vor Ort waren. Die persönlich erfahrbare großräumige Wirklichkeit ist hier dieses europäische Land im 21. Jahrhundert, auf das wir als unseren Lebens- und Schicksalsraum mit unseren Bedürfnissen und Erlebnissen direkt bezogen sind, anders als auf Australien. Räumlichkeiten kommen wichtige, sogar lebenswichtige Orientierungsfunktionen zu. Erst wenn man sie kennen gelernt hat, kann man sich in ihnen zurechtfinden. Man lernt zu wissen, wohin man gehört und wohin nicht. Wer sich verirrt, sucht vertraute Wegmarken, die zurückführen. Manchmal hilft schon die grobe Bestimmung der Himmelsrichtung, um auf den rechten Weg zu kommen. Straßen- und Ortsschilder sowie Wegweiser unterstützen die Orientierung innerhalb der Großräume, in denen man sich bewegt. Jeder hat seine Adresse und wird von den Anderen damit identifiziert. Räume brauchen Ordnung, wenn das Leben, dem sie den Rahmen bieten, nicht im Chaos enden soll. Ein Spiegelkabinett macht irre, auf wirr überlasteten Schreibtischen kann man nicht vernünftig arbeiten und ein von Spielsachen überflutetes Kinderzimmer behindert mehr, als es fördert. Manche chaotische Unordnung kann allerdings gelegentlich sogar in schöpferische Kreativität umschlagen, die neue Ordnungen und Orientierungen entwirft.

Vom Umfeld berührt sein Es muss keineswegs ein Achttausender sein, der bestiegen werden muss, um den weiten Blick über das Land genießen zu können. Auch vor dem Mühlenberg in Baruth liegt die Welt und zeigt sich 112

dort in Gestalt eines Urstromtals, freilich weniger imposant und doch bedeutsam, zumindest erdgeschichtlich. Sie liegt dem Menschen überall unter den Füßen in ihrer je eigenen Schönheit und Gestalt. Mag sein, dass den einen die Bergwelt stärker anspricht, den anderen die See. Was berührt da wie dort die Seele? Ist es die Herausforderung eines erhaben trutzigen Felsmassivs mit seinen einsamen Gipfeln – oder ist es die Sehnsucht nach fernen Landen, in denen exotische Abenteuer warten? Steckt in jedem Menschen ein Seefahrer oder Alpinist? In der Betrachtung von Reisen, insbesondere deutscher Urlauber, könnte man die Fragen bejahen wollen. Die Wahl des Reiseziels wird zwar oft, aber doch nicht generell vom Geldbeutel diktiert. In erster Linie orientiert es sich wohl am Urlaubszweck, an der Möglichkeit, vom stressigen Alltag Abstand zu finden und sich dabei erholen und neue Kraft schöpfen zu können. Diesen Zweck erfüllen Ferien auf dem Bauernhof wahrscheinlich besser oder mindestens ebenso gut wie eine Klettertour im Gebirge oder die Fahrt zur See. Zweifellos ist es auch erwünscht und richtig, neue bleibende Eindrücke zu sammeln etwa in Form von Fotos und Prospekten, Material für die Erinnerung danach, mit dem man immer wieder mal auf »Inseln der Erholung« zurückkehren kann. Es kann sogar sein, dass die konkrete Teilnahme an den Aktivitäten eines Bauernhofs ihren unvergesslich eigenen Erlebniswert erhalten. Hier können Berührungen in Stall und Scheune stattfinden, die direkt in die Natur zurückführen. Insbesondere für Kinder existiert sie oft nur noch indirekt in Bildern und Geschichten. Vielleicht sind wir Menschen beherrscht von dem grundsätzlichen Bedürfnis, uns alles aneignen zu müssen, was da ist. Es gibt nurmehr wenige absolut anerkannt und respektierte Beschränkungen, die dem Expansionsdrang der Menschen zwingend Halt gebieten. Sie haben sich im Lauf der Jahrtausende die Welt und scheinbar alles, was darin ist, »untertan« gemacht. Besitzrechte werden undifferenziert geltend gemacht und gegebenenfalls gewaltsam durchgesetzt. Seither gehen wir mit Besitztümern recht respektlos um – wie es uns gerade beliebt. Das Tun und Lassen wird bestimmt von Augenblicksim113

pulsen im Großen wie im Kleinen. Ländereien werden von dem besetzt und zersiedelt, der sich dazu stark gemacht hat. Werte definiert eine Mehrheit, die von Einzelnen, soweit über Medien möglich, berechnend instrumentiert und verwaltet werden. Was man gewonnen hat, rechtfertigt in aller Regel auch die Verluste, vor allem die der Anderen. Genügt es zu denken, es sei allein die uns Menschen mitgegebene Neugier und Erfahrungslust, die uns veranlassen, neue, noch unbekannte Wege beschreiten und Weiten erobern zu müssen? Wahrscheinlich kann dies nicht genügen. In den Tiefen unserer Seele gibt es wohl auch die Ahnung von verwandtschaftlichen Bindungen mit allem, was existiert, Teil zu sein von dem globalen Ganzen. Wir vollziehen im weitesten Sinne den ständig atmenden Austausch mit der Atmosphäre. Wir trinken das Wasser, aus dem alles Leben entstanden ist und fortwährend erhalten bleibt. Wir genießen die Gaben der Erde und nehmen sie doch stets auch als gewandelte Substanz in uns auf, etwa in Gestalt von Pflanzen und Früchten. Nicht immer gehen wir achtsam mit ihr um, vergeuden leichtfertig den unbenötigten Überfluss. Dabei ist uns bewusst, dass nicht jedem und nicht an jedem Ort der Welt verfügbar ist, was zur bloßen Selbsterhaltung benötigt wird. Wir nehmen Erde zu uns. Es ist die Substanz, aus der wir selbst bestehen, auch wenn wir meinen, aus anderem Stoff gemacht zu sein, weil wir fühlen und denken können. Aber unsere Natur belehrt uns, spätestens wenn es uns dürstet und wenn wir hungern, eines Besseren – oder noch unabweisbarer dann, wenn wir das alles wieder von uns geben müssen. Die Natur fordert sehr bald zurück, was sie uns nur kurz geliehen hat. Im Grunde sind wir, so gesehen, nichts anderes als eine gnädige Leihgabe der Erde, für die bemessene Zeit unseres irdischen Daseins. Wir sind nur eine flüchtige Spielart ihres elementaren Seins. Sie selbst ist ewig. Am Ende kehren wir zu ihr zurück und lösen uns als Bestandteil in ihre Ewigkeit auf.

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Dimensionen Im MacGuinnes-Museum ist der größte Mensch der Erde als Attrappe aufgebaut. Über eine Treppe kann man an der Rückseite dieses Gestells bis in Augenhöhe aufsteigen und durch die entsprechenden Aussparungen schauen. Einem Menschen normaler Größe verschafft der Durchblick ein verblüffendes und in gewisser Weise verunsicherndes Raumgefühl. Ganz ähnlich kann es dem Besucher eines der Nachbarsäle ergehen. Dort sind Möbel aufgebaut, die in etwa der Größenwahrnehmung eines dreijährigen Kindes entsprechen. Man ist aufgefordert, die Stühle zu besteigen, um einen Eindruck davon zu gewinnen, wie ein Kind dieses Alters seine räumliche Umwelt erlebt. Nach solchen Erlebnissen braucht es keine weiteren Hinweise darauf, dass jeder Mensch sich und was ihn umgibt seiner Eigenart entsprechend in besonderer Weise wahrnimmt. Deshalb wird er sein Verhalten demgemäß ausrichten. Sehr direkt kann körperliche Ausdehnung übrigens auch innen erlebt werden. Man denke nur an den Vollzug der Nahrungsaufnahme: Die Aufnahme von Speise und Trank füllt spürbar den Magen und soll ein Gefühl zufriedener Sättigung verschaffen. Schlingt man darüber hinaus mehr in sich hinein, wird das Unmaß an Speise den Magen weiten und Schmerzen verursachen. Innere Enge wird bewusst gemacht. Oder: Das Volumen der Brust wird mit tiefem Atemzug geweitet, zum Beispiel angesichts der bewunderten Weite einer schönen Landschaft. Beengt ist die Brust, sogar stockend der Atem, wenn man dagegen einen plötzlichen Schock oder aktuelle Angst erleidet. Wenig angenehm wird zur Unzeit ein überaus dringlicher Druck auf die Blase oder den Darm erlebt. So gesehen kommunizieren und interagieren wir mit unseren körperlichen Innenräumen, nehmen sie zuständlich wahr und reagieren mit ihnen. Es ist gewiss nicht unerheblich, ob ein Mensch unmäßig isst, flach und hastig atmet oder ob er sich gelassen und regelhaft seinen Magen und seine Lunge füllt. Ebenso wichtig ist es, sich gehen lassen zu können, sich dem Hier und Jetzt hinzugeben. Darin äußert sich auch ein gewisses Vertrauen in den Raum den man ausfüllt und in den man sich fallen lassen kann. 115

Bis hierher ist Raum hauptsächlich dem herkömmlichen Verständnis gemäß körperlich dreidimensional verstanden worden, also nach Volumen, Länge, Breite und Höhe messbar. Der Unterschied der Hingabe an die Lage im gegebenen Raum, in einen physiologischen Vorgang, an einen Menschen oder eine Aufgabe unterscheidet sich wohl nur im Blick auf das jeweilige Bedürfniserleben und die verfügbaren Mittel, mit denen dies befriedigt werden kann. Der Raumbegriff hat jedoch auch abstrakte Dimensionen, die nicht konkret fassbar und messbar sind. Dazu gehört in gewisser Weise auch der Raum der Zeit. Über den Zeitraum wird nachfolgend noch zu sprechen sein, der sogar in gewisser Weise messbar ist in Bezug auf die Zahl der Zeittakte. Raumfüllend können auch bloße Ideen erlebt werden, neben denen nichts anderes Platz hat, zum Beispiel in schöpferischen Phasen, oder während der Verwirklichung eines wichtigen Vorhabens, an das man sein Herz hängt (»Häusle-Bauer«), so dass deshalb andere Bedürfnisse vernachlässigt werden. Aus einem zielgerichtet und engagiert verfolgten Vorhaben ist dann vielleicht bereits eine fixe, also eine zwanghaft festgehaltene Idee geworden, um die man immerfort kreist und die gefangen nimmt. Daraus können im Extremfall Zwangsgedanken entstehen, die sich schlimmstenfalls zu einer ernsten psychischen Störung entwickeln können. Welche Ausdehnung haben zum Beispiel »Angst« (lat. angustiae = Enge, enger Raum, auch: missliche Lage), »Hoffnung« (als positive Zukunft) oder »Phantasie« (im Sinne von Einfallsreichtum)? Niemand wird bestreiten, dass Angst verengt, Hoffnung und Phantasie dagegen den ideellen Raum erweitern. Oft werden ihre Themen aus unterbewussten Quellen gespeist. Der Begriff unterbewusst ist eine räumliche Aussage, die das gemeinte psychische Geschehen unter das Bewusstsein lokalisiert. Sigmund Freud (1923) verweist in seinem Persönlichkeitsmodell auf das Es, das den Funktionsbereich der Triebe repräsentiert, das Ich, das als Mittler zwischen Triebansprüchen und Realitäten fungiert, sowie auf das Über-Ich, durch das übernommene moralische Motive im Sinne eines Gewissens wirksam werden. In der Psychologie gibt es neben Freuds Modell noch andere, 116

ähnlich topographische Darstellungen psychischer Geschehensabläufe, in denen gewisse seelische Instanzen oder Verhaltensanteile mit räumlichen Lagebeziehungen dargestellt werden. Schon bei Plato ist die Vorstellung zu finden, wonach das Seelische in Schichten aufgeteilt sei, die übereinander liegen. In neuerer Zeit unterschied zum Beispiel Rothacker (1947) zwischen Tiefenschicht und Personschicht. Die Entwicklung im Kindesalter kann danach aufgefasst werden als ein Prozess, in dessen Verlauf primär lebenserhaltende Funktionsbereiche überlagert werden von sekundär steuernden und kontrollierenden Schichten. Zu verstehen sind diese Schichtenmodelle als veranschaulichende Hilfsvorstellungen für die verwobene Beteiligung verschiedener psychischer Instanzen am Erleben und Verhalten des Menschen. Daraus wird deutlich, wie komplex und differenziert ist, was unter »Seele« verstanden wird. Wie lauten Ihre Antworten, liebe Leser, über die Weite, Enge oder die Art der Gestaltung Ihrer Innenräume und Ihr Bewusstsein davon? Wo lassen Sie sich hemmungslos gehen oder in welcher Hinsicht verbieten Sie sich schon die bloße Wahrnehmung gewisser eigener Bedürfnisse – und wie heißen die? Welche Ausflüge machen Sie in Ihrer Phantasie und in welcher Verfassung kehren Sie davon in Ihre Realität zurück: ermuntert und bereichert oder verarmt und ohne jede impulsgebende Hoffnung? Wie oft wiederholen Sie Besuche im Museum ihrer unschönen Erinnerungen und welche Exponate stauben sie darin immer wieder akribisch ab? Welche erfreulichen Erinnerungen holen Sie wiederholt hervor und pflegen Sie liebevoll und genießerisch? Wollen Sie diese mit Menschen teilen, denen Sie nahe sind? Wie organisieren und gestalten Sie ihre Vergleiche mit Anderen und wie schneiden Sie in der Regel dabei ab? Wen wählen Sie zum Vergleich aus: den Champion, einen gleichwertigen Wettbewerber oder den Versager? Wie interessiert und differenziert befassen Sie sich überhaupt mit Ihren Innenräumen und wie lassen Sie diese gelten? Vielleicht stehen Ihnen die Antworten zur Verfügung und Sie sind psychisch bereits »gut aufgeräumt«. Im Hinblick auf diese oder jene Frage mag aber noch Klärungsbedarf bestehen. Dann empfiehlt es sich, sie ins Gespräch zu bringen. Besinnen Sie sich 117

dann auf Ihre Ressourcen, die Sie in sich selbst und in Angehörigen sowie Freunden und Kollegen finden können, und nutzen Sie diese! Solche Unternehmungen trainieren Ihre kommunikative und interaktive Kompetenz, ergeben jedoch in aller Regel vor allem konstruktiv verwertbare Erkenntnisse. Zudem werden Sie erfahren, wie gut dadurch Menschen zusammengeführt und ihre Beziehungen intensiviert werden können.

Zuordnungen Irgendwo hinzugehören heißt auch behaust sein und damit aber auch, sich andernorts unbehaust zu fühlen, also da nicht hinzugehören. Entsprechende Bedürfnisse veranlassen uns, Behausung zu suchen, indem wir uns in Räumlichkeiten begeben, die Schutz, Geborgenheit und Wärme versprechen. Zumindest Schutz und Geborgenheit setzen Abgrenzungen voraus, also Abschottung gegen das, was gefährdend in das Feld eindringen könnte, in dem man sich gerade befindet. Das beschreibt ein Zugehörigkeitsgefühl des Insiders und beansprucht zugleich den Schutz vor dem Outsider. Sollte man nicht zuerst von Angrenzung statt von Abgrenzung und ebenso von Eingrenzung statt von Ausgrenzung sprechen? Offenbar sind aber in unserer Sprache Distanz-Begriffe (wie Ab- und Ausgrenzung) zahlreicher und gebräuchlicher als jene für Nähe. In der mitteleuropäischen, speziell in der deutschen Gesellschaft werden der Abstand und die Wahrung von Grenzen betont. Es besteht offensichtlich eine Art gemeinschaftlicher Übereinkunft, im Vorgarten stehen zu bleiben und niemals »mit der Tür ins Haus« zu fallen, während doch gleichzeitig bejammert wird, selten spontanen Besuch zu bekommen. Bezeichnenderweise findet man den Begriff Angrenzung noch seltener im üblichen Sprachgebrauch als seelische Berührung von Mensch zu Mensch, in der psychologischen Fachsprache kommt er im Grunde gar nicht vor. Es ist eben unüblich, Outsider an die Grenze heranzulassen und sich mit ihnen vertraut zu machen. Man kann sich fragen, ob Fremdheit nicht gar erwünschter ist als Vertrautheit. Es gibt immer wieder Anzeichen für eine fremden118

und damit kontaktfeindliche Pervertierung unserer sozialen Kultur, etwa in Gestalt von Ausgrenzungen, Diskriminierungen Andersgläubiger und Andersdenkender. Physisches, mehr noch psychisches Leid wird nicht nur von Banden, Randalierern und Terroristen praktiziert. Subtiler, aber nicht weniger schmerzlich können in dieser Hinsicht beispielsweise behördliche Maßnahmen wirken. Des Weiteren sind Grenzen einerseits abwehrende Sperren, werden andererseits jedoch auch zu »eindringlichen« Herausforderungen in dem Sinne, dass sie zu ihrer Überwindung auffordern, je nachdem, von welcher Seite und mit welchem Bedürfnis sie wahrgenommen werden. Sie kennzeichnen die fortwährende Auseinandersetzung des Menschen mit möglichen Erweiterungen oder Verteidigungen seiner Daseinsräume. Jeder macht seine Grenzerfahrungen und besetzt notwendigerweise expansiv den Aktionsraum, in dem er sich bedürfnisadäquat privat und beruflich zu verwirklichen versucht. In den Möglichkeiten der Befriedigung bestimmter Bedürfnisse unterscheiden sich diese Räume hinsichtlich ihrer Weite oder Enge von Person zu Person oft deutlich. Bestimmt wird diese Verschiedenheit vom vorab gewonnenen Erfahrungsgut im Umgang mit dem jeweiligen Lebensraum sowie nicht zuletzt durch den Intensitätsgrad der forschenden Neugier. Wurden die persönlichen Bedürfnisse bereits hinreichend befriedigt, verringert sich in der Regel die nach Neuem forschende Neugier, wenn nicht, bleibt entsprechendes Suchverhalten lebendig. Es ist müßig, ergründen zu wollen, wovon sich die Dienlichkeit eines Raumes ableiten ließe. Bevorzugt jemand die Intimität eines Dorfes auf dem Land, weil dies seinem Bedürfnis nach Nähe zur Natur und zu nachbarlichem Kontakt entgegenkommt – oder lebt jemand lieber in einer großen Stadt, weil wechselnde Berührungen mit Menschen und Räumen differenziertere Befriedigungen unterschiedlichster Bedürfnisse ermöglichen? Oder orientiert er sich am Gegebenen und sieht zu, so ungestört wie möglich mit sich und den gegebenen Umständen im Einklang zu sein? Es braucht nicht immer einen festen Ort, um sich darin heimisch zu fühlen. Auch ein Wohnwagen oder ein Zelt kann ein Heim sein, mit dem man durch neue Lande zieht, um sich weitere 119

Räume als die gewohnten zu erschließen. Andere bleiben lieber an einem festen Platz, zum Beispiel auf einem Campingplatz, der Siedlungscharakter annehmen kann. Diese modernen Laubenkolonien stehen in der Tradition der Schrebergärten und sind trotz des eigentlich mobilen Wohnwagens weitgehend ortsansässig geworden. Sie können emotional ein Zuhause bieten, gewissermaßen ein Freizeitdomizil, dem oft mehr gestalterische Sorgfalt zugewendet wird als der Wohnung, unter der man postalisch gemeldet ist. Nachbarschaft wird hier bewusst gepflegt und bietet zusätzliches Wohlgefühl als Exklave von zwanghaft bürgerlicher Etabliertheit.

Kind im Raum Was Menschen mit Menschen erleben, ist von allgemeinem Interesse; was Menschen mit Räumen erleben, wird jedoch allenfalls am Rande bedacht. Wie einladend, erlaubend oder verbietend kommen uns Räume entgegen? Wie nahmen sie Einfluss auf uns, als wir noch Kind waren? Wie weit beziehungsweise wie eng haben sie unser Aktionsfeld bemessen? Wurde unserer natürlichen Neugier genug gewährender Raum geboten? Schätzen wir als Erwachsene nicht insgeheim das stille Kind, das nicht alles anfasst und nicht überall herumläuft? Gefordert wird jedoch andererseits, dass es sich seine Welt erobern müsse. Die Wortwahl erobern impliziert die Akzeptanz expansiver Strebungen, die ohne ein hinlängliches Maß an Aggressivität gar nicht stattfinden kann. Eroberungen bedeuten schließlich immer auch Besitznahme, Verwaltung und Einrichtung des erweiterten Raumes. Das beginnt mit dem werdenden Leben im Bauch-Raum der Mutter und vollzieht sich kontinuierlich und unausgesetzt in den unterschiedlichsten Räumlichkeiten während aller Lebensphasen. Jeder braucht und schafft sich seinen Ort, dem er sich vom Gefühl her zuordnet als seinem Hort und Fluchtpunkt. Der »Bauch-Raum« ist als personales Milieu gewissermaßen zwangsläufig mitgegeben und bringt jeweils sehr eigene Abhängigkeiten von sozialen und ökonomischen Bedingungen mit sich. 120

Fragt man zum Beispiel nach der Befindlichkeit eines Säuglings, so macht es gewiss in mehr als einer Hinsicht einen Unterschied, ob er in einer Himmel-Wiege liegt oder auf der bloßen Erde, ob er am Körper der Mutter getragen oder als Einzelwesen isoliert abgelegt wird. Was berührt da oder dort seinen Körper und damit auch sein Gemüt? Wie fühlt sich das an oder wie stellt es sich den zunehmend erwachenden Sinnen dar? Sind die entsprechenden Wahrnehmungen lust- oder unlustgefärbt? Wiederholen sie sich und bilden sie auf diese Weise spezifische Orientierungen zum Dasein im umgebenden Raum aus? Früh können sich Vertrauen und Zutrauen ins Leben entwickeln, aber auch Defizite, Störungen und Sehnsüchte, die das persönliche Klima und Kontaktverhalten über die Kindheit hinaus einfärben. Die räumlichen Gegebenheiten sind einem Säugling natürlich zunächst absolut unvertraut. Das gilt selbst für das räumlich erfahrbare »Bedürfnis-Objekt Mutter«. Solange Reflexe das Verhalten steuern, sind noch keine speziellen Lernleistungen zu vollbringen, etwa die nährende Brust zu finden und aktiv saugend mit ihr umzugehen. Das ändert sich mit zunehmender Differenzierung der Bedürfnisse und des Wahrnehmungsvermögens, das Baby nimmt die Angebote der Umgebung aktiv in Anspruch. Die Direktheit der Beziehungsaufnahme steigert sich mit der Beweglichkeit des Kindes im Raum. Rutschend, krabbelnd, kriechend und schließlich gehend können Personen und Dinge dann mit eigenem Bemühen erreicht werden. Gelingende und misslingende Kontakte zum und im Raum werden die Folge sein. Zunächst wird der Nahraum um die Mutter herum erobert. Die zunehmende Fähigkeit der selbständigen Hin- und Fortbewegung ermöglicht darüber hinaus die aktive Auseinandersetzung mit allem, was für das Kind neu, fremd und deshalb interessant ist. Seine Neugier ist normalerweise im Sinne des Wortes grenzenlos. Es strebt den Dingen zu, versucht, alles zu »begreifen«, steckt es, soweit möglich, in den Mund, um es in diesem »Ur-Tastraum« genauer kennen zu lernen. So realisiert sich erstmals die gesunde Form konstruktiver Aggression, deren mildeste Form die Neugier ist. Wieder lernt es im eigenen Verhalten, gelingende Kontakte herzustellen oder misslingenden Kontakten aus dem Weg zu gehen. 121

Das Ergebnis solcher Lernprozesse ist die Nutzung des Raumes. Er wird angeeignet und besitzmäßig gekennzeichnet als mein Zimmer, mein Bett, mein Stuhl, mein Teller, bis es schließlich heißt: meine Wohnung, mein Zuhause und meine Heimat. Diese Bezugnahme dient nicht nur der lokalen Orientierung, sondern kennzeichnet sogar persönlich eingeforderte Rechte. Deutlich gemacht wird der Anspruch auf individuelles Eigentum sowie die Erwartung, dass im Zusammenhang mit dem zugestandenen Verfügungsrecht auch eine gewisse Eigenständigkeit und Unabhängigkeit akzeptiert wird. Ein solches Zugeständnis transportiert zudem Wertschätzung und bestätigt die Zugehörigkeit zum sozialen Verbund. Kindern muss Raum gegeben, nicht nur gewährt werden. Ein Laufställchen bietet zu wenig Platz, um expansive Erfahrungen in der Eroberung des Raumes machen zu können. Der Begriff »Laufställchen« spricht seiner Funktion Hohn. Laufen kann das Kind darin nicht. Es ist allenfalls geeignet, einem Kleinstkind den Übergang vom Bettchen in offene Räume zu erleichtern und es vor Gefährdungen von außen zu schützen. Ältere Kinder werden darin nur eingeengt. Kinder sind von Natur aus neugierig und aktionistisch. Sie müssen sich ihre Welt im Sinne des Wortes aneignen und in Besitz nehmen dürfen. Das können sie allerdings nur, wenn sie ihnen angeboten und dann auch überlassen wird.

Raum-Empfindungen Unsere Beziehung zum Raum beziehungsweise zu Räumen überhaupt, besteht unausgesetzt, gleich in welchem Zusammenhang. Wir suchen Räume bedürfnisgeleitet auf und nutzen sie absichtsgemäß: das Badezimmer anders als die Küche. So gesehen geraten wir in gelingende Kontakte auch mit Räumlichkeiten. Manche Räume meiden wir, weil wir misslingenden Kontakten zu ihnen vorbeugen. Den Keller beispielsweise identifiziert niemand als »Beletage«. Nicht immer ist uns bewusst, wie weitgehend uns Räumlichkeiten in unserer aktuellen Befindlichkeit beeinflussen. 122

Noch seltener veranschlagen wir ihre Wirkungen auf die individuelle Entwicklung und unsere persönliche Kultur. Wir bewegen uns in Räumen, die konkret um uns und ideell in uns sind. Wir haben und sind Raum im Raum. Der uns jeweils umgebende Raum bietet seine speziellen Bedingungen für die Befindlichkeit unserer Seele im Dasein. Unmittelbar einsichtig dürfte das jedem Gefangenen sein, der leidvoll lernen muss, der Enge seiner Zelle trotz allem einige Fülle zu geben. Beengungsgefühle empfinden viele Menschen, wenn sie sich im Flugzeugsitz räumlich festgeschnallt fühlen. Lieber unternehmen sie dann ihre möglicherweise immer noch beschwerlichen Reisen per Bahn. Beengung macht Angst. Im Gegensatz dazu kann das aber auch für Weite gelten, zum Beispiel für die Angst, breite Straßen oder Plätze geradewegs überqueren zu müssen (Agoraphobie). In die obere Plattform des CN-Towers in Toronto ist eine begehbare Bodenplatte aus Sicherheitsglas eingelassen. Unter dieser bietet sich die beeindruckende Weite der Tiefe dem Blick dar und gruselt die Besucher. Die meisten von ihnen sind davon zwar fasziniert, wagen jedoch nicht, selbst den Glasboden zu betreten und beschränken sich lieber auf die Bewunderung von Wagemutigen. Soweit möglich geben wir dem Raum, in dem wir leben, unsere persönliche Note, wählen Möbel und Dekoration bedacht aus. Zimmer, Wohnung oder Haus sollen zu uns passen oder passend gestaltet werden. Häusle-Bauer machen sich häufig sehr abhängig von ihrem Bau und von dem, was an Geld und Zeit zu seiner Fertigstellung benötigt wird. Wenn er dann endlich fertig ist, wird weiterhin viel investiert, um das Eigenheim samt Gartenschmuck gemütlich zu machen. Für lange Zeit steht man unter mehr oder weniger »hausgemachtem« Stress, der viel Energie zu Lasten noch anderer Erfordernisse in Familie und Beruf bindet. Am Ende kann der Bau gut gelungen sein, aber persönliche Beziehungen hat er möglicherweise beschädigt. Es muss ja nicht gleich ein Haus und ein Garten sein, dem die Bewohner ihre persönliche Note geben, um sich darin heimisch zu fühlen. Jeder braucht und schafft sich sein Zuhause, so wie es die Bedürfnisse und Gegebenheiten zulassen. Jeder besiedelt ir123

gendwie den Ort seines Daseins in Gestalt des eigenen Zuhauses mit Pflanzen im Raum, Belägen auf dem Fußboden und Bildern an den Wänden. Die Möglichkeit der aktiven Gestaltung des Umfelds ist freilich oft sehr begrenzt. Ausstattungsmittel können im Einzelfall vielleicht nicht verfügbar gemacht werden, die finanziellen Ressourcen stecken den Rahmen des jeweils Machbaren ab. Auch regional bedingt sind Chancen und Grenzen vorgegeben. Bedingt durch familiäre Bindungen oder den Arbeitsplatz ist man zudem nicht ohne weiteres immer frei in der Wahl der Wohnung oder der gewünschten Wohngegend.

Milieu und Klima Manche Räume laden ein, haben Aufforderungscharakter, andere weisen schon an der Tür zurück. Lebensräume können sich als behagliches, üppig balanciertes Umfeld darstellen: zum Beispiel reich an allem, was ein Mensch braucht und begehrt: mäßige Sonne, klare Luft, gemischte Vegetation, genug reines Wasser, ergiebige Ökonomie, sichere Behausung sowie gelassene Betriebsamkeit im Umgang der Menschen miteinander. Eindeutig fehlen aber nur zu oft sowohl Balance als auch Üppigkeit. Daran mangelt es insgesamt im globalen System. Im Blick auf jedes der genannten Merkmale ist es absolut ungleichgewichtig. Am gleichen Ort existiert in direkter Nachbarschaft oft verschwenderischer Überfluss neben einem das Leben gefährdenden Mangel. Das gilt sowohl für Mietparteien im gleichen Haus wie für die Bevölkerung ganzer Landstriche oder Kontinente. Der Raum-Begriff deckt nicht nur gegenständlich dimensionierte Realitäten, sondern auch Eigenschaften, Merkmale oder Anmutungen. Man kann zum Beispiel wahrnehmen, dass bewohnte Räume ihr spezielles Klima haben: Sie werden als warm, kalt, frostig, dunkel, hell, voll, leer, weit, eng, hoch, tief, hohl oder dicht beschrieben und lösen dadurch jeweils sehr unterschiedliche Befindlichkeiten aus. Im Blick auf klimatische Unterschiede denkt man in der Regel eher an großräumige Vergleiche wie zwischen Nord und Süd: Für Isländer sind 18 Grad Celsius eine war124

me Temperatur, für Zentralafrikaner eine kalte. Ihre besonderen Lebensgewohnheiten haben sich dem Raum mit seinem Klima entsprechend angepasst. Hier übt der Raum seinen bestimmenden Einfluss darauf aus, wie Menschen ihren Lebensstil und Tageslauf organisieren, zum Beispiel wann man am besten aktiv ist oder ruht, wann man speist, wie man sich kleidet, was man wie baut, welche Ressourcen die Natur zur Verfügung stellen kann, ob und auf welche Weise diese gewonnen und genutzt werden können und so weiter. Man befindet sich nicht nur in einem Raum, sondern lebt auch mit, durch und von ihm. Im übertragenen Sinne sprechen wir auch vom Klima in Familien, Schulen oder Firmen. Wärme und Kälte sind auch mit diesem Lebensraum-Bezug gebräuchliche Begriffe. Sie meinen die Qualität des Umgangs der Menschen miteinander, ihre gegenseitige Akzeptanz, Wertschätzung und Achtsamkeit. Schon in der Art der Begrüßung kann sichtbar werden, wie Menschen zueinander stehen. Das äußert sich vielleicht in der aufdringlichen oder zurückhaltenden Herstellung von Nähe und Distanz und verdeutlicht sich am Raum, den man zwischen sich lässt oder einnimmt. Von üblem Mundgeruch hält man sich spontan fern. Angenehme Düfte dagegen möchte man ganz nahe erschnüffeln. Es hängt jedoch nicht nur von der Nase ab, ob man sich gut riechen kann: Die Weite oder Enge des Raumes, den man im Umgang miteinander hat, lässt sich auch als klimatisches Milieu bezeichnen, das von der Qualität des Wohlgefühls oder des Unwohlseins charakterisiert wird. Milieu ist überall vorzufinden. Seine Qualität kann sich von Person zu Person, von Familie zu Familie und von Region zu Region, erheblich unterscheiden. Der Erlebnis-Raum kann Wärme oder Kälte vermitteln, indem er einen einladenden oder abweisenden Aufforderungscharakter annimmt. Die Befriedigung bestimmter Bedürfnisse kann versprochen oder auch versagt werden. Die 27-jährige Verkäuferin Marianne zum Beispiel nennt ihre Mutter »gefühlskalt«. Tatsächlich kann sie nicht erinnern, je deren Körperwärme in einer Umarmung gespürt zu haben. Mit ausgeprägtem Ordnungssinn regelte diese das Zusammenleben der Familie: sorgte für regelmäßige Mahlzeiten, saubere Wäsche 125

und ausreichende Nachtruhe, ließ dabei aber Frohsinn und herzliche Zuwendung vermissen. Es verwundert nicht, wenn Marianne ihrerseits erst in außerfamiliären Beziehungen lernen muss, Gefühle zuzulassen und mit ihnen umzugehen.

Sozialer Raum Es soll noch besonders betont werden, dass die Begegnung des Menschen mit dem ihn umgebenden Raum keine Einbahnstraße ist. Die Dynamik geht in beide Richtungen. Räume werden besetzt, genutzt und den Bedürfnissen entsprechend gestaltet, stellen aber auch Bedingungen. Man kann nicht alles in und mit ihnen machen. Sie stellen sich Bedürfnissen zu Verfügung, eignen sich oder auch nicht. Durch ihre jeweilige Beschaffenheit nehmen sie Einfluss auf unsere sie betreffenden Entscheidungen. Unsere Daseinsqualität wird davon abhängen, inwieweit sie uneingeschränkte Beweglichkeit zulässt oder behindert. Wer nicht genug Platz um sich hat, kann »keine großen Sprünge machen« und übt sich in Bescheidenheit oder strebt im Gegensatz dazu über das Gegebene hinaus. Wem es schon als Kind vergönnt war, viel Raum um sich zu haben, hat wohl auch gelernt, sich frei zu bewegen und mag dann im direkten wie übertragenen Sinn den Anspruch erheben, stets seinen Freiraum zugestanden zu bekommen. Das rechte Maß will gefunden werden. Große Räume bieten wenig Intimität, es sei denn, sie werden in Nischen unterteilt. Kleine Räume mögen einerseits intim sein, schränken andererseits aber expansive Bedürfnisse ein. Vielleicht regt Sie, liebe Leserin, lieber Leser, das Gesagte zu Überlegungen darüber an, wie ihr eigener »Zuschnitt« beschaffen ist und welche Räumlichkeiten ihn bestimmt haben. Wie weit, eng war der Raum, in dem Sie sich bewegen und entfalten konnten? Wie bald sind Sie an welche Grenzen gestoßen? Haben Sie diese einfach hingenommen oder als Herausforderung zur Grenzüberschreitung, also zur Erweiterung ihres Aktionsrahmens verstanden? Waren Sie dabei kühn oder zögerlich? Gewannen Sie an Weite oder haben Sie sich wieder in die Enge Ihrer 126

»Bescheidenheit« zurückgezogen? Erleben Sie sich als »Eroberertyp«, der sich neue Felder erschließt, oder geben Sie widerstandslos Terrain an andere ab, die es für sich beanspruchen? Wie richten Sie sich ein in Ihrem Lebensraum? Gestalten Sie ihn nach ihrem eigenen Geschmack oder legen Sie keinen Wert auf einen eigenen Stil? Kriechen Sie lieber bei anderen unter oder brauchen Sie ihre eigene Höhle? Genießen Sie es, bei sich zu Hause zu sein, oder sind Sie lieber Gast? Wie viel eigenen Raum brauchen Sie und wer oder was hindert Sie objektiv und/oder subjektiv daran, ihn sich zu nehmen? Ist es Ihnen möglich, anhand des Mandala-»Raum«-Feldes mit darin enthaltenen Schnittmengen die Inventur zum Vorhandenen zu erstellen und anschließend ein Bild davon zu zeichnen, wie platzgreifend, vorder- oder hintergründig Sie das Inventar in ihren Räumen verteilt haben? Es sind damit ja noch keine bestimmten Räume angesprochen. Die Antworten fielen sicher sehr unterschiedlich aus, je nach dem, ob Sie an die Küche, das Schlafzimmer, den Keller oder an den Balkon denken. Selbst in einer Einzimmerwohnung wird es den Ort geben, an dem Sie sich am liebsten, am häufigsten oder längsten aufhalten, an dem Sie sich in der Regel besonders bequem, ungestört und intim fühlen mit von Ihnen geliebten Dingen. Der gestaltete Lebensraum ist das Arrangement, in dem sich die je persönliche Daseinskultur ausdrückt. Die Wohnung ist immer auch ein sozialer Raum. Sie kennzeichnet den Ort, den man in der Gemeinschaft einnimmt und stellt in diesem Sinne Zugehörigkeit dar. Mit dem Lebensbeginn ist der Ort des Daseins vorgegeben. Im Lauf der Zeit wird er verändert und handelnd erworben. Schließlich gehört er als selbstverständlicher Besitz zur Person, selbst wenn das in der Regel nur vorläufig gilt. »Was du ererbt von deinen Vätern hast, erwirb es, um es zu besitzen!«12, wie Goethe Faust sagen lässt. Wie haben Sie sich organisiert? Nehmen Sie jemandem Besitz weg oder teilen Sie ihn mit ihm? Wie nahe und entfernt kommen Ihnen die Anderen mit ihrem gleichwertigen Anspruch und wie stellen Sie die für Sie stimmig erlebte Nähe und Distanz zu Ihnen 12 Faust, 1. Teil, 2. Monolog (V. 682–685).

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her? Grenzen Sie sich gern ab oder gehen Sie lieber auf andere zu, indem Sie den Zwischenraum zügig überwinden, oder warten Sie, dass man zu Ihnen kommt und Sie abholt? Auf welcher Stufe sehen Sie sich selbst im »sozialen Sandwich?« Wen erleben Sie neben, über und unter sich? Welchen Charakter geben Sie der jeweiligen Beziehung und fühlen Sie sich darin wohl? Wenn ja, wie lässt sich das Verhältnis sichern, ausbauen oder verbessern? Wie viel Raum nehmen Sie als Person ein? Schaffen Sie sich einen »Auftritt« durch die Weiträumigkeit Ihrer Bewegungen, durch das Volumen Ihrer Kleidung? Oder machen Sie sich lieber klein? Auch Stimmen können raumfüllend oder tonlos wirken und einiges über das jeweilige Selbstverständnis des Redners aussagen. Wie bringen Sie sich selbst zu Gehör? Sind Sie froh darüber, dass alles so ist, wie es ist? Und was wollen Sie ändern?

Raum als Heimat Besonders bedeutsam ist der Großraum Heimat. Vor zwei Generationen blieb man in der Regel an seinem angestammten Ort, der oft über Generationen hinweg Heimat war. Das galt gleichermaßen für den Beruf, der über Lebenszeiten hinweg familiäre Bindungen zu bestimmten Werkstätten, landwirtschaftlichen Betrieben, Fabriken oder Zechen tradierte. Im vorigen Jahrhundert brachte der Zweite Weltkrieg dramatische Veränderungen in die Daseinslage vieler Menschen. Zwangsweise wurde die Bevölkerung Mitteleuropas vor allem von Ost nach West neu gemischt. Nach der Aufhebung der Grenzen zur Deutschen Demokratischen Republik erhielt dieser Prozess einen zusätzlichen Schub. Heimat wird vermehrt auch von Süd nach Nord, von Erdteil zu Erdteil verlassen und andernorts gesucht. Sie wird möglich, wo man Aufnahme und sein Auskommen findet. Die Wohnung folgt zunehmend der entlohnten Arbeit, genau genommen nicht einmal mehr dem Beruf. Wohnort und Arbeitsstätte sind nun mit anderen Gewichtungen aufeinander bezogen. Länder und ihre Völker rücken zusammen und suchen ein gemeinsames Verständnis für ihre politische Identität und die sich 128

daraus ergebenden Konsequenzen im Hinblick auf eine bedürfnisgerechte räumliche Ordnung. Heute ist Globalisierung inhaltlich nicht nur politisch, ökonomisch und ökologisch real, sondern nimmt auch buchstäblich weit reichenden Einfluss auf jedes individuelle Leben. Durch eigene Motorisierung, das Fernsehen, die Touristik, den Warenaustausch, internationale Hilfeleistungen und anderes mehr erwirbt der Einzelne, zumindest in unseren Breiten, seinen mehr und minder neugierigen und aktiven Anteil am großräumigen Geschehen. Computer und das Internet machen jede Art von Information verfügbar und statten die so genannten User mit omnipotenten Gefühlen und Ansprüchen aus. Das scheinbar erheblich differenziertere Mehr an Verfügbarkeit von Wissen und Besitzständen hat über die Grenzen hinweg das Bewusstsein der Menschen offensichtlich außerordentlich geweitet. Die tradierte individuelle Orientierung im Hier und Jetzt am gegebenen Ort relativiert sich immer mehr und man lernt andernorts anders zu leben. Es verändern sich dann zwar die Daseinsqualitäten, aber natürlich nicht auch die Grundbedürfnisse der Menschen, denn diese bleiben unverändert. Mit den Ansprüchen wachsen und verändern sich auch die Bedürfnisse. Selten wachsen die Möglichkeiten ihrer Realisierung gleichermaßen mit. Das macht unzufrieden mit den Gegebenheiten zumal dann, wenn sie sich nicht wunschgemäß beeinflussen lassen. Manchmal kann es helfen, die Erwartungshaltung zu verändern, die man den Umständen entgegenbringt. Bedürfnisse und Arrangements mit den Realitäten lassen sich bei gutem Willen am Ende vielleicht doch miteinander vereinbaren. Der dazu nötige Spielraum ist freilich nicht immer gegeben. Unwirtliche Umgebungen versagen elementare Bedürfnisse, so dass sie ein Klima schaffen, in dem man sich nicht gut genug behaust fühlen kann. Wenn sie sich nicht umgestalten lassen, sucht man im Extremfall nach einer besseren Bleibe. Es gibt leider viele Menschen, die sogar in lebensbedrohlichen Verhältnissen leben müssen, ohne diese grundlegend ändern zu können. Weite Räume unserer Erde ernähren ihre Bewohner nicht mehr. Naturkatastrophen und politische Extremlagen gefährden zunehmend ihre leibliche Existenz. 129

Heimat ist dann kein Wort mehr, das Geborgenheit meint, sondern Gefährdung heißt. Welche Räume stellen sich den Flüchtlingen wo, wann und wie wirklich lebensfreundlich dar, nachdem sie gezwungen waren, sich dorthin auf den Weg zu machen? Wie gelangen sie überhaupt sicher ans Ziel? Wer öffnet ihnen die Tür? Wie wird man damit fertig, sich räumlich, klimatisch, sozial und wertbezogen grundlegend neu orientieren zu müssen? Solche dramatischen Veränderungen der gesamten Daseinslage erzeugen in der Regel zahllose Verunsicherungen und panikartige Angst. Wahrscheinlich kann man sich höchstens ansatzweise in ähnliche Ängste einfühlen, wenn man bereits seinerseits die Erschließung und Übernahme fremder Räume als ein mehr oder minder riskantes Abenteuer erlebt hat, wie ich selbst als Student auf der innerdeutschen Flucht. Räumliche Ordnungen und Zuordnungen werden zudem oft als Machtbereiche verstanden und in Anspruch genommen. Räume sind Besitzstände, die je nach Größe, Reichtum und Ressourcen scheinbar die Potenz jener kennzeichnen, die über sie verfügen. Wie kamen Länder zu ihren Kolonien und was haben sie damit gemacht? Waren wir Deutschen in den dreißiger Jahren ein »Volk ohne Raum«, das Land erobern musste? Ist das Elsass französisch, deutsch oder doch europäisch? Wem »gehört« Jerusalem? Was ist eine »Weltmacht« und was »macht« die mit der Welt? Wer kann und darf mit welcher Mentalität und Kompetenz generell verbindliche Antworten auf solche Grundsatzfragen zum Raum geben? Mit welcher Mentalität und Kompetenz beziehen wir selbst dazu wann und wie Stellung? Wo sehen wir darauf bezogen die Grenze unserer je eigenen Verantwortung, Entscheidung und Handlungsfähigkeit? Sind wir nicht alle an der Zersiedlung des Landes, an der Aufteilung in Parzellen, Häuser, Wege, Straßen und Plätze beteiligt? Wie weitgehend leugnen wir in alltäglichen Verrichtungen, etwa in unserer Produktion von Müll und Abgasen, die bereits vorhandene existenzielle Angst um die Zerstörung des Raumes, in dem wir und auch noch die Kinder unserer Kindeskinder gut leben wollen? Welche Konsequenzen ziehen wir? Kann man nicht sagen, dass sich hier ein misslingender Kontakt verdeutlicht, den 130

die gegenwärtig verantwortlichen Generationen zu ihrer eigenen Daseinslage und zu jener ihrer Nachkommen hat? Mit welchem Wertbewusstsein achten, bewahren und schützen wir den Raum, der uns das Leben überhaupt nur möglich macht?! Ist noch immer nicht genug allgemeiner Leidensdruck vorhanden, der generelle Änderungen der Sicht auf den Sinn des Lebens und die sich daraus ableitbaren Konsequenzen für unser Verhalten erzwingen müsste?

Abhängig von der Zeit Zeit als Raum Mit dem Begriff »Raum« ist im erweiterten Sinne nicht nur die örtliche Ausdehnung gemeint, er bezieht sich auch auf die Zeit. Den Ort kennzeichnet das Hier, die Zeit – das Jetzt des jeweiligen aktuellen Erlebens. Beides gehört als Einheit zusammen im Sinne des sich seiner selbst inne werdenden Seins, gewissermaßen als Selbst-Bewusstsein. Auch Zeit kann also als Raum verstanden werden. Im Ausdruck Zeitraum sind beide Dimensionen vereint, wobei freilich die Ausdehnung in der Zeit an dieser Stelle das größere Bedeutungsgewicht haben soll. So wie der Mensch im Raum lebt, so lebt er auch in der Zeit. Er besetzt, wie ausgeführt, seinen Raum – und er besetzt so auch seine Zeit mit seinem Weg durchs Leben. Am deutlichsten wird das angesichts seines begrenzten Lebenszeitraumes. Zeit und Raum an und für sich sind unabhängig davon, ob und wie sie wahrgenommen werden. Unter allen Kontakten, die ein Mensch erlebt, ist die Zeit die unmerklichste aller Berührungen Seele. Dennoch ist sie sogar die sichtbarste. Sie hinterlässt unübersehbare Spuren auf jedem Quadratdezimeter des Körpers auch bei dem, der sie vergeblich zu retuschieren versucht. Unsere Abhängigkeit von der Zeit ist durch ihre Begrenztheit vorgegeben. Sie durchzieht unser ganzes Leben und ordnet die verschiedenen Entwicklungsphasen ihrer Folge und Dauer nach. Dadurch wird es in seiner Gesetzmäßigkeit überschaubar und 131

ermöglicht eine Orientierung im Hinblick auf den Ort, an dem man sich zurzeit befindet. Zeit bemisst sowohl die bereits zurückgelegte als auch die noch zu erwartende Strecke. Oft wird sie historisch bedeutsam für Familien und Völker, die sich tradierten Werten verpflichtet fühlen und sie bewusst pflegen. Auch die Lebensgeschichte des Einzelnen in seiner Lebenszeit erhält in der Überschau ihres Verlaufs und in darin sichtbar werdenden thematischen Kontinuitäten ihre spezifische Identität. Wir sind biologisch eingebunden in den Kreislauf der Natur, der jeden von uns erfasst. Wir reagieren auf Tag und Nacht, den Wechsel der Jahreszeiten und altern durch unsere darauf abgestimmte inneren Uhr. Dies wird zunehmend überlagert vom Reagieren auf äußere Uhren, die den digitalisierten Takt vorgeben. Der Kontakt zur Natur hat erheblich an Verbindlichkeit verloren. Tiere werden kaserniert und hormonisiert, Pflanzen wachsen nicht mehr frei, sondern im Glashaus mit UV-Licht, Kunstblumen werden parfümiert, damit sie duften, ein Schaf wurde geklont, angeblich auch schon mehrere Kinder. Private Freizeit wird minimiert durch offizielle Arbeitszeit. Schichtdienste stellen den Tageslauf auf den Kopf und verstellen die innere Uhr. Fremdverpflichtungen werden potenziert durch Selbstverpflichtungen zum Schneller, Mehr, Weiter, Höher und Besser. Zeit ist Geld! – das umschreibt nicht nur den individuellen Workaholismus, die Arbeitssucht, sondern kann als eine generelle Gefahr für alle Menschen verstanden werden. Wir verlieren in unserem Dasein den gesund erhaltenden Kontakt zur eigenen Zeit in der Hetze durch zahllose Termine hindurch. Zeit wird zum bunten Bedürfnis-Chamäleon. Sie heilt zwar Leid, kann aber auch krank machen, wenn sie als unausgefüllter Überfluss zur Verfügung steht. Die Zeit lässt sich nicht zurück drehen. Bestimmte Entwicklungen verlaufen zwangsläufig, ob sie einem gefallen oder nicht. Die Natur hat zum Beispiel längst begonnen, auf die Verschmutzung der Luft und die Verunreinigung der Atmosphäre zu reagieren. Klimatische Veränderungen sind ihre deutlichen Signalgebungen. Offenbar werden sie aber vor allem von jenen Institutionen nicht recht ernst genommen, die über Befugnisse und Möglichkeiten verfügen, notwendige Änderungen herbeiführen zu können. Vie132

len ist hier das Hemd näher als der Rock. Mancher meint: »Wir leben jetzt. Bisher hat die Menschheit so viele Katastrophen überlebt, also wird sie auch die überstehen, die wir ihr noch zumuten! Im Übrigen erlebe ich die ja wahrscheinlich gar nicht mehr!« Eine solche Haltung ist zu bejahen, wenn sich darin ein solides Vertrauen in die Gunst des Schicksals und nicht nur egozentrierte Gleichgültigkeit äußerte. Besser ist es jedenfalls, nicht auf das Schicksal, sondern auf die Fähigkeiten von uns Menschen zu vertrauen, bewusst und im Einklang mit der Natur die Zukunft gestalten zu können.

Termine Zeit ist wahrscheinlich das wichtigste Ordnungsprinzip, das unser gesamtes Zusammenleben beherrscht. Sie gibt sogar im Einzelnen vor, wann und wie lange wir uns im Rahmen bestimmter Vorhaben organisieren. Sie wird eigentlich gar nicht lebendig bemerkt, sondern wird an der Uhr abgelesen. Damit ist sie ein Konstrukt geworden und nicht mehr das konkrete Verlaufserlebnis des Geschehens. Unsere Bezogenheit auf sie ist dadurch allerdings nicht geringer geworden, eher größer. Sie ist in dem Begriff Termin eingegrenzt und führt uns streng durch enge Gassen, die wir selbst bauen und von denen wir zudem meinen, nicht abweichen zu dürfen. Das Wort »Termin« ist hergeleitet vom lateinischen terminus und heißt unter anderem »Grenzlinie« und meint auch: sich einschränken, abwarten können, Halt machen. Wir sind mit unserem Erleben und Verhalten gewissermaßen in Termine verpackt wie in ein ziemlich enges Futteral. Gelegentlich gönnen wir uns Ausbrüche in terminfreies Gelände, in dem wir uns bemühen, nur jenen individuell spürbaren Bedürfnissen nachzugehen, die sich im Hier und Jetzt melden: ruhen, ins Kino gehen, spielen oder Besuche machen. Termine werden zeitpunktartig in Ziffern festgehalten, also digital. Kasten (2001) zitiert Zoll, der sogar »ein ›schmähliches‹ Ende der Zeit befürchtet, die zunehmend aufgelöst wird in unverbunden nebeneinander stehende Jetztpunkte und keine Vergangen133

heit, keine Geschichte mehr kennt« (S. 129). Damit wird auf Phänomene der Verdrängung hingewiesen, die sich für den Einzelnen zwangsläufig ergeben, wenn er keine Möglichkeit mehr hat, der universell gültigen linearen Zeit zu entkommen. Verdrängt werden nicht nur geschichtliche Ereignisse – wir fühlen uns nicht mehr betroffen vom Völkermord, von Aidsepidemien und so vielen Hungertoten –, sondern auch individuell gefährdende biographische Vorkommnisse werden ausgeblendet, die die persönliche Daseinsform mitgestalten. Trennungen, Todesfälle und andere Verluste berühren nicht mehr die Gegenwart und Zukunft. Zeit, die der gelassenen Erholung gewidmet wird, ist gesund, Zeitdruck macht krank. »Wenn man seine eigene Neigung, sich selbst unter Zeitdruck zu stellen, abschätzen will, sollte man also z. B. darauf achten, wie schnell man isst, redet, geht, Auto fährt, wie schnell man ungeduldig wird (in verschiedenen Situationen), wie oft man auf die Uhr schaut, wie wichtig einem Zeitpläne und Terminkalender sind, wann man nervös wird und wie man mit seiner Nervosität umgeht, wie oft man Zeitprobleme (z. B. mit Freunden oder Arbeitskollegen) im Alltag hat usw. Wir erleben fast alle hin und wieder Zeitdruck; bedenklich wird es (aus der Sicht der klinischen Psychologie) jedoch erst dann, wenn jemand das Gefühl, unter Zeitdruck zu stehen, nicht mehr los wird und sich zwanghaft und extrem, auch wenn kein äußerer Anlass vorliegt, ständig beeilt« (Kasten 2001, S. 168f.). Man kann die Funktion unserer Zeit aber auch so verstehen, dass wir durch den bewussten Umgang mit ihr mehr von ihr haben. Sie lässt sich so vielleicht mit aktuelleren Bedürfnissen füllen und zufrieden stellend portionieren. Die Folge wäre, richtig verstanden, mehr Zeit zu gewinnen für das, was die individuellen Bedürfnisse sind. Termine lenken zwar oft ab von dem, was man eigentlich möchte und unterstreichen die sachbedingte dringliche Wichtigkeit geplanter Vorhaben. Sie zeigen andererseits jedoch auch freie Zeitfenster auf für persönliche Spielräume. Darin versuchen wir zum Beispiel, »die Seele baumeln zu lassen«. In ihrer Gleichförmigkeit ist die Qualität der Zeit wertneutral. Bedeutung gewinnt sie für uns erst durch die Art, wie wir sie inhaltlich füllen und wie wir in dieser Hinsicht mit ihr umgehen. 134

Eilfertigkeit Eilfertigkeit ist nicht in erster Linie ein individuelles Problem, sondern ist offensichtlich ein generelles Kennzeichen unserer Lebensgestaltung. In einer interessanten Vergleichsstudie mit 31 Ländern hat Levine (1998) das am Beispiel der Gehgeschwindigkeit, der Bedienungszeit bei der Post und hinsichtlich der Ganggenauigkeit öffentlicher Uhren aufzeigen können. Die Tabelle 1 ist so zu verstehen, dass die jeweilige Geschwindigkeit umso höher ist, je geringer die angegebenen Zahlen sind. Dabei handelt es sich immer nur um die im Vergleich der Daten aus allen 31 Ländern ermittelten Rangplätze. In Irland gehen Fußgänger also am schnellsten, in Brasilien am langsamsten; die deutsche Post braucht für die Schalterarbeit die kürzeste, die mexikanische die längste Zeit; am genauesten gehen die Uhren in der Schweiz, am ungenauesten in El Salvador. Solche Zuordnungen sind relativ grob und sollen nicht überinterpretiert werden. Unter Einbeziehung weiterer, differenzierterer Erhebungsdaten dürften sich manche Rangplätze verschieben. Immerhin bietet die Studie genug Anregung für Beobachtungen und zum Nachdenken. In einem landesinternen Vergleich wird offensichtlich, dass zum Beispiel das Leben in der Großstadt hektischer, rascher verläuft als auf dem Land. Es fordert schnellere Reaktionen in häufig wechselnden Situationen und gewährt weniger Verweildauer, es sei denn, man organisiert sie bewusst, geht auswärts Essen, ins Kino oder Theater (auf dem Land nur noch selten vorhanden!) oder nimmt an anderen öffentlichen und privaten Veranstaltungen teil. Das setzt wiederum Verfügbarkeit voraus: Man muss die entsprechenden Mittel und die dazu gehörende Entscheidungsfreiheit haben. Das ist bei armen, kranken, isoliert lebenden und alten Menschen oft, wenn überhaupt, nur eingeschränkt gegeben. Es mag vielleicht genug Zeit da sein, vielfach fehlen jedoch geeignete Alternativen, sie ökonomisch und sozial mit bedürfnisadäquatem Sinn auszufüllen.

135

Tabelle 1: Überblick über das Lebenstempo in 31 Ländern der Welt (nach Levine, S. 180). Rangplätze Land

Gesamttempo Gehgeschwin- Postbediedigkeit nung

Genauigkeit der Uhren

Schweiz

1

3

2

1

Irland

2

1

3

11

Deutschland

3

5

1

8

Japan

4

7

4

6

Italien

5

10

12

2

England

6

4

9

13

Schweden

7

13

5

7

Österreich

8

23

8

3

9

2

14

25

10

14

6

14 10

Niederlande Hongkong Frankreich

11

8

18

Polen

12

12

15

8

Costa Rica

13

16

10

15

Taiwan

14

18

7

21

Singapur

15

25

11

4

USA

16

6

23

20

Kanada

17

11

21

22

Südkorea

18

20

20

16

Ungarn

19

19

19

18

Tschechien

20

21

17

23

Griechenland

21

14

13

29

Kenia

22

9

30

24

China

23

24

25

12

Bulgarien

24

27

22

17

Rumänien

25

30

29

5

Jordanien

26

28

27

19

Syrien

27

29

28

27

El Salvador

28

22

16

31

Brasilien

29

31

24

28

Indonesien

30

26

26

30

Mexiko

31

17

31

26

136

Gegenwart »Das Erwachen des Zeitbewusstseins ist wohl weitgehend identisch mit der Phase der Ich-Bildung im Menschen. Solange das Kind noch kein Ich kennt, ist es dem inneren Zeitstrom ähnlich hingegeben wie das Tier. Bald ändert sich das jedoch. Bis zum dritten Lebensjahr durchläuft das Kind Phasen der Ich-Findung, in dessen Folge es schließlich ›Ich‹ sagen und sich so gegen seine Mitmenschen und die Umwelt abgrenzen kann. Es erlebt seine spezifische individuelle Präsenz im Hier und Jetzt. In diesem Zusammenhang wird dann bald darauf auch die Idee von ›Gestern‹ und ›Morgen‹ begriffen« (vgl. Danzer u. Rattner 1999, S. 107). Im Lauf des Lebens differenziert sich das Ich über die Augenblicksgebundenheit des Kindes hinweg in vielerlei unterschiedlichen Erwartungshaltungen vom Jugendlichen und Erwachsenen bis in die Zeit des so genannten Mittelalters, das oft von der Bilanzproblematik der Midlifecrisis überschattetet ist. Aus der vorausschauenden Sicht auf eine nur noch begrenzt zu erwartende Zukunft richtet sich relativ plötzlich der Blick auf die eigenen Füße und weckt unangenehme Fragen: Wie sieht mein Heute aus und was bedeutet mein Gestern? Wo stehe ich nun eigentlich? Wie bin ich bloß hierher gekommen und was mache ich denn hier? War’s das, was ich wollte? Was kann nun überhaupt noch kommen? Zeit wird als Lebensqualität nun bewusster und ganz aktuell erlebt. Alten Menschen unterstellt man oft, dass sie mehr in der Vergangenheit als in der Gegenwart und Zukunft leben. Tatsächlich werden sie, wie jeder Mensch, von ihrem jeweiligen Hier und Jetzt berührt. Sie reaktivieren vermehrt in ihrer Erinnerung emotional bedeutsame Erlebnisse aus der Geschichte ihrer Seele, zumal wenn ihre Gegenwart vielleicht relativ langweilig erlebt wird, wenig Anregung bietet. Sie leiden unter dem Verlust von Beziehungen, in denen sie sich noch aktiv erwünscht fühlen können. Das gilt natürlich in Sonderheit für jene, die ihre Bindungen an Partnerschaft oder Familie verloren haben. Da, wo solche Bindungen und Phasen aktiver Gestaltung des eigenen Alltags überdauern, zum Beispiel in Form der Großelternschaft, der Sorge für bedürf137

tige Angehörige oder Kranke oder in der Mitarbeit an einem sozialen Dienst, bleibt Zeit auch organisiert. Nicht selten kommt es vor, dass davon das früher übliche Engagement sowohl hinsichtlich des zeitlichen als auch des persönlichen Einsatzes deutlich übertroffen wird. Gebraucht werden heißt, nicht abseits stehen, dazugehören, im Leben stehen, nützlich und präsent sein. Zeit darf nicht leer vorbeilaufen, sondern soll sich mit Erlebnissen füllen, die erwünscht und gewollt sind. Sie kann Menschen in Unternehmungen zusammenführen und damit Gemeinschaftserlebnisse ermöglichen. Jeder hat beglückende Daseinsgefühle dann, wenn er die Zeit lebt. Es gilt sie zu erkennen, anzunehmen und zu gestalten. Das bezieht sich unausgesetzt auf die Gegenwart, auf das Jetzt im Hier. Die Gegenwart ist die einzige zeitliche Dimension, die sich unmittelbarem Gewahrsein erschließt. Deshalb gebührt ihr die ungeteilte Aufmerksamkeit. Sie verwendet, was war, und aus ihr geht hervor, was sein kann. Gegenwart ist konkret erfahrbarer Zeit-Raum im Jetzt und Hier, in dem ich mich, wie auch immer, direkt oder indirekt realisiere. Gemeint ist die Minute, die Stunde, der Tag, die Woche, das Jahr. Herkömmlich definiert nur das Jahr unser Alter, obgleich der Alterungsprozess sich daran gar nicht festmachen lässt. Durch Liebes- oder Leiderfahrungen ergeben sich zum Beispiel oft unvorhersehbare Entwicklungssprünge in die eine oder andere Richtung. Wie bewusst vollzieht die oder der Betroffene dadurch gegebene Veränderungen? Wie wissend wachsen Menschen durch und mit ihren Erlebnissen? Bewusstes Wachstum bedeutet gelingenden Kontakt mit der eigenen Zeit. Es sollte sorgfältig umgegangen werden mit der eigenen Zeit. Nichts ist so kostbar, weil rasch vergänglich und eingegrenzt wie die einem selbst verfügbare Zeit. Sie verdient aufmerksame Beachtung, denn sie ist unser wertvollster Besitz und endliches Maß. Auf Zeit bezogen ist für jeden Menschen der Tod das endliche Maß. »Memento mori! – Gedenke des Todes!« kann wie eine Drohung aufgefasst werden in dem Sinne, dass dann die große Abrechnung über die Qualität des eigenen Lebens präsentiert wird. Die Mahnung betrifft auch die Zukunft als eine Zeitspanne, die 138

noch zu leben ist. Eine deutlichere Herausforderung ist der Satz: »Heute beginnt der Rest deines Lebens. Mache dir klar, was du damit noch anfangen willst!« Lustvoll bejahend klingt carpe diem!, wenn man es »Pflücke den Tag!« übersetzt und nicht nur üblicherweise, zum Zeitgeist passend: »Nutze den Tag!« In jeder Lesart wird darauf verwiesen, sich der eigenen Gegenwart im Fluss der Zeit bewusst zu sein. Wie bewusst leben Sie, liebe Leserin, lieber Leser in Ihrem gegenwärtigen Alter? Bejahen oder bedauern sie es? Wie alt wären Sie gern – und warum? Erinnern sie sich Ihrer verschiedenen Altersphasen? Waren Sie gern Kind oder Jugendlicher? Sind Sie gern erwachsen und was gefällt Ihnen daran, was nicht? Können Sie bedeutsame Ereignisse oder Begegnungen Ihres Lebens – ob förderlich oder schädlich – an Jahren wie an Kilometersteinen Ihres Weges festmachen? Wie verstehen Sie die Ursachen dieser Einflüsse und Ihren eigenen Anteil daran, dass diese so gewirkt haben? Haben Sie daraus mit Erfolg lernen können? Stehen Sie Ihrer Zukunft positiv gegenüber? Wissen Sie, wie Sie sich bedürfnisgerecht in der kommenden Zeit einrichten werden? Sorgen Sie ein wenig vor oder lassen Sie es darauf ankommen? Was möchten Sie noch tun oder erleben und was tun Sie, um diesen Zielen näher zu kommen? Wer wird, soll, kann Sie dabei wohin begleiten?

Vergangenheit Zeit ist das Haus unseres Lebens. Wir sollten uns darin so einrichten, dass wir uns darin zurechtfinden und heimisch fühlen. Es hat so viele Räume, wie wir Entwicklungsphasen haben. Jeder Raum – jede Phase ist es wert, sorgfältig gestaltet zu sein. In Rumpelkammern hat man es selten wirklich wohnlich. Da liegt immer irgendetwas herum, über das man fluchend stolpert. So ist es auch mit unaufgearbeiteten Kränkungen, nachhängenden Verzichten, Versagungen und Versäumnissen. Manches liegt lange schon quer, sollte immer wieder mal weggeräumt oder endgültig auf der seelischen Müllhalde entsorgt werden – aber nein, es 139

bleibt liegen und schimmelt vor sich hin. Kennen Sie das auch? Oft genug ist Vergangenes eben nicht »aus und vorbei«, obgleich das immer wieder gesagt wird. Vergangenheit dauert an. Ein bisschen bleiben wir stets, wie wir einmal waren. Durch die Zeit hindurch nehmen wir uns immer mit und immer erleben wir dabei auch Vergehendes, das hinter uns zurückbleibt. Das ist unabhängig vom Alter, in dem man lebt, obgleich sich im Lauf der Zeit der Blickwinkel verschiebt. Jüngere Menschen blicken in der Regel eher nach vorn und hoffen auf das, was werden soll. Ältere Menschen betrachten mehr die Wegstrecke, die sie schrittweise zurückgelegt haben. Jede Seele hat ihre eigenen »Kilometersteine«, die von bedeutsamen Begegnungen gekennzeichnet sind. Sie markieren Etappen und Teilziele des Lebenswegs. Bewahrt werden im Lauf der Zeit jene Erlebnisse, die sich verstärkend wiederholen oder frustrierend verbieten. So oder so gehen von ihnen förderliche und hindernde Impulse für die Verwirklichung sozialer, emotionaler und kognitiver Entwicklungsschritte aus. Frustrierende »Museumsbesuche« in der eigenen Vergangenheit belasten Gegenwart und Zukunft und fördern allenfalls ängstliche Vermeidungsstrategien. Sinnvoll sind sie dagegen, wenn sie dazu dienen, sich Verhaltensmuster zu vergegenwärtigen, mit denen man zufrieden stellend reagiert hat. Schauen Sie sich Ihre Erfolge an und freuen sie sich darüber! Vergegenwärtigen Sie sich aber auch Ihre Frustrationen und reden Sie darüber laut mit sich und anderen! Seien Sie ehrlich sich selbst gegenüber und sprechen Sie sich Mut zu, zu ändern, was Sie ändern müssten! Warmherzige Mitmenschen, Freunde, können schon als bloße Zuhörer zur entlastenden und klärenden Hilfe werden. Sie können deren Verständnis schon deshalb erhoffen, weil auch sie Rumpelkammern haben, die sie seit langem entsorgen wollen. Vielleicht zeigen sie Ihnen die sogar als eine Art offene und ehrliche »Gegenleistung«.

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Zukunft Es gibt aber auch frustrierende »Luftschlösser«, zu denen man jahrzehntelang Reisen immer nur plant, ohne sie ernsthaft vorzubereiten und endlich durchzuführen. Vorgenommen ist eben noch nicht getan. Es kommt halt immer etwas dazwischen, was aktueller, wichtiger ist und zudem den leichteren und rascheren Erfolg verspricht. Vieles wird auf die berüchtigte lange Bank geschoben, die so lang ist, dass ihr Ende gar nicht mehr zu sehen ist – und gerade da liegt und wartet das Vorhaben! Je mehr man aber draufschiebt, desto mehr fällt hinten runter! Auch hier ist es wichtig hinzuschauen, was hingeschoben worden ist. Manches hat inzwischen vielleicht an Aktualität und Bedürfnisspannung verloren und wird nur deshalb noch auf der Bank gehalten, weil es als Alibi dafür herhalten kann, an wirklich Wichtiges nicht herankommen zu können. Wieder kann es hilfreich sein, über Wünsche, Pläne und Hoffnungen zu reden, sich mitzuteilen. Dadurch können sie eventuell schon soviel Realität gewinnen, dass sie möglicher werden. Warten Sie nicht länger! Carpe diem! Die Einstellung zur eigenen Zeit ist speziell im Blick auf die Zukunft keineswegs vom Alter abhängig. Sie hängt eher davon ab, welche Erfahrungen man im Lauf des bisherigen Lebens gesammelt hat. Wer sich stets aktiv und interessiert dem zugewendet hat, was auf ihn zukam, wird auch im höheren Alter rege und zukunftsorientiert bleiben können. Das Gesagte ist natürlich immer auch in Abhängigkeit davon zu sehen, in welcher Daseinslage man sich jeweils befindet. Wenn die Gesundheit beeinträchtigt ist, sind Einschränkungen unausbleiblich und entsprechende Arrangements notwendig, eventuell auch fremde Hilfe erforderlich. Sehr wichtig ist der soziale und räumliche Bezug, insbesondere für alte und kranke Menschen. Wer in einer stabilen und guten Beziehung lebt, gelingende Kontakte herstellen und vielleicht auch in seinem gewohnten Umfeld relativ gesund alt werden kann, wird die Gegenwart relativ erfüllt erleben und dabei auch noch in die Zukunft planen wollen.

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Abhängig von Werten Wert der Werte Das Wort Wert kennzeichnet die emotionale Qualität der Beziehung, die ein Mensch zu Dingen, Erlebnisinhalten oder Sinnträgern hat. Beziehungsstiftendes Merkmal ist das Wünschbare für den Einzelnen. Wert ist also keine Eigenschaft an sich, die von allen geteilt wird. Jede Person verfügt über ein eigenes Werte-Inventar, das sich über elementare Gemeinsamkeiten hinweg von dem anderer unterscheidet. In der Regel erfährt ein Kind auf dem Weg der Identifikation, Nachahmung oder Anpassung am eindeutigen, kontinuierlichen Beispiel und Vorbild der nächsten Angehörigen, was richtig oder falsch, gut oder böse, schön oder hässlich, erstrebenswürdig oder vermeidenswichtig, unterstützungswert oder bekämpfensnötig ist und stellt sich im Lauf der Zeit selbst entsprechend wertend ein.Auf diese Weise kann ein Mensch zum Musiker, Reformer, Briefmarkensammler, Querulanten, Parteigänger – oder auch nichts von alledem und alles andere werden wollen. Aber auch darin steckt immer ein Wert-Bekenntnis. Das gilt selbst für die Zuschreibung eines »Un-Wertes«. Wenn wir die hier anzustellenden Überlegungen auf die bereits gewonnene Erkenntnis zurückführen, dass allem Tun und Lassen Bedürfnisse zugrunde liegen, dann sind diese konsequenterweise auch auf die Orientierung an Werten zu beziehen. Wünschbarkeit und Bedürfnis sind sinnverwandt. Werte richten Menschen auf Einstellungen und Verhaltensweisen aus, durch die Bedürfnisse befriedigt werden sollen. Nichts ist wertfrei zu denken, was von Menschen ausgeht und sie betrifft. Im persönlichen Verhalten des Einzelnen verwirklichen sich biographisch entwickelte sowie aktuell bedeutsame Wertorientierungen. Auch kriminelle und terroristische Handlungen sind letztlich an individuell begründbaren Werten orientiert, denn sie ergeben sich aus speziellen a-priori-Wahrheiten, für die grundsätzlich keine Beweispflicht besteht. Diese Behauptung wird – kurz geschlossen – empörten Widerspruch auslösen. Mit ihrem Gültigkeitsanspruch wirkt sie unerträglich. Dennoch findet sie täglich ihre Bestätigung 142

durch manche Art fanatischer Verfechtung politischer, religiöser, ökonomischer oder auch privater Interessen. Grundsätzlich sind wir natürlich bezogen auf Werte, die allgemein verbindlich zu sein scheinen. Diese liefern jedoch nur den groben Bezugsrahmen, innerhalb dessen jeder den Grad seiner Abhängigkeit und Unabhängigkeit mehr oder weniger souverän selbst bestimmt. Ethische Maßgaben sind mit ihrem Anspruch auf Allgemeingültigkeit großrahmig angelegt. Sie stellen verpflichtend gemeinte Vorgaben dar, die in religiösen Glaubenssätzen oder sozialen Forderungen an jeden Menschen adressiert sind, der zu dem jeweiligen Kulturkreis gehört. Sie gelten auch in Hinsicht auf Bedürfnisse der Gemeinwesen die schließlich in ihren Funktionsbedingungen davon abhängig sind, dass das gemeinsame Inventar von Werten akzeptiert und gepflegt wird. Eine wesentliche Funktionsbedingung ist die Erhaltung des bestehenden sozialen Gefüges und seiner Ordnung. Veränderungen im Sinne eines Wertewandels bewirken stets mehr oder weniger tiefgreifende Umgestaltungen der Lebensverhältnisse. Im Zusammenhang mit dem Aufkommen des BSERinderwahns in Europa, dem Attentat auf das World-Trade-Center in New York, der SARS-Lungenentzündung in Asien, der Ereignisse des Irak-Krieges oder des Kindermassakers in der Schule von Beslan sowie angesichts immer neuer weltweiter Unruhen und Gewalttaten sind Neubesinnungen auf Werte erforderlich, die für jeden und überall gültig sein sollten. Grundwerte des Lebens und seines Schutzes verlieren zunehmend an Verbindlichkeit. Global werden in der Verfolgung sehr spezieller ökonomischer und politischer Ziele neue Wertsysteme ausgebildet und für verbindlich erklärt, die herkömmliche relativieren oder gar außer Kraft setzen. Die Veränderung von Genen, tiefe Eingriffe in den ökologischen Haushalt unserer Erde oder auch Präventivkriege erhalten dabei ihre je eigene »ethische« Begründung. Damit sind sehr weite Felder abgesteckt. Welchen konkreten Bezug können wir alle für unseren ethisch zu verantwortenden Alltag herstellen?

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Wertewandel Werte macht man sich zunächst schlicht zu Eigen, indem man als Abhängiger jene Orientierungen übernimmt, die man in seinem sozialen Umfeld vorfindet. Auf diese Weise gliedert man sich darin ein und lernt, sich zu verständigen über das, was gutzuheißen ist. Mit zunehmender Eigenerfahrung verändert sich das individuelle Wertesystem durch die selbständige Erfahrung dessen, was begehrenswert ist, nützt und stimmt. Einige Wünschbarkeiten verlieren im Lauf der Zeit ihre Bedeutsamkeit, neue kommen hinzu. Wäre das nicht so, würden wir stets lieber nur Tretroller als Auto fahren wollen oder lieber einem Vorleser lauschen als selber zu lesen. Das Spielzeug wächst mit und wandelt sich. Die Entwicklung vollzieht sich eben auch als Reifung. Unterwegs verlieren uns ehemals wichtige Menschen an Bedeutung durch Begegnungen mit anderen, die noch wichtiger geworden sein mögen. Man kann zudem auch aus Beziehungen herauswachsen wie aus Schuhen. Sehr deutlich vollziehen sich Wertverschiebungen während der Pubertät, in der Werte sehr grundsätzlich hinterfragt, neu formuliert beziehungsweise in eine andere Rangfolge gesetzt werden. Es ist der wohl begründete Bedarf der Jugend, sich in kritischer Auseinandersetzung mit dem, was ist, ihre eigene Kultur zu schaffen. Sie steigt schließlich durch ein anderes Zeitfenster als die Altvorderen ins Dasein ein und nimmt demgemäß als neue Generation ein anderes Sein wahr. Auch hier hat Heraklits Einsicht ihren Platz, nach der man nicht zweimal in den selben Fluss steigen kann. Die Kultur der Jugend bezieht sich zwar zwangsläufig auf bereits bestehende Werte, münzt sie aber gegebenenfalls um. Von herkömmlich herrschenden Prinzipien wird erklärt Abstand genommen. Eigenständige Grundsätze und dazu passende Verhaltensregeln werden konsequent entwickelt. »Reifezeit« ist in diesem Zusammenhang allerdings nicht eng definiert, sondern soll auch jene Entwicklungssprünge einbeziehen, die sich über die so genannte Pubertät hinaus ereignen. Ein solcher Sprung mit damit verbundenem Wertewandel vollzieht sich regelhaft mit der verbindlichen Aufnahme einer Lebenspart144

nerschaft. Zum Ich tritt ein Du und es entwickelt sich daraus das zusätzliche Wir. Dadurch verändert sich besitzanzeigend auch das Mir und Dir zum Uns. Das ergibt eine andere, gewissermaßen plural organisierte Werteskala, in der Themen und Gewichte neu bestimmt beziehungsweise abgestimmt werden müssen. Solche oder ähnliche Wertewandel vollziehen sich sowohl im Leben des Einzelnen als auch in der Entwicklung von Gruppen und Gemeinschaften. Deutliche Veränderungen von Wertorientierungen vollzogen sich in der europäischen Kriegs- und Nachkriegsgeneration. Während des Krieges herrschte mancher Mangel, der das Wünschbare vor allem auf materielle Werte ausrichtete. Der Wert des Lebens selbst hat dann den höchsten Rang, wenn es akut gefährdet ist. In Zeiten äußerster Not, zum Beispiel während und direkt nach dem Krieg, in Konzentrationslagern oder auf der Flucht, haben Menschen einander sogar das Brot gestohlen. Tiefe Scham und quälende Selbstvorwürfe haben sie daran nicht hindern können. Inzwischen sind materielle Güter relativ gut verfügbar, zumindest hierzulande. Dadurch sind andere Werte stärker ins Bewusstsein gerückt worden: soziale Position und Verantwortung; persönliche Sinnfindung; Gestaltung persönlicher Beziehungen; Mehrung, Erhaltung und Sicherung des Besitzstands; Erweiterung des Aktionsraumes (Lernen, Reisen, neue Unternehmungen). Das Gemeinschaftsgefühl gewinnt in dem Maß an Boden, in dem existenzielle Sorgen ums bloße Überleben zurücktreten.

Wert der Arbeit Ein sehr spezieller Wertewandel hat sich seit Menschengedenken hinsichtlich des Stellenwerts der Arbeit vollzogen. Insbesondere im Blick auf gegenwärtige gesellschaftliche Entwicklungen ist sie einer entsprechenden Betrachtung wert. Erich Fromm schreibt: »Indem sich der Mensch auf Distanz zur Natur begab und die Natur zu verändern begann, änderte er auch sich selbst. Statt ein Teil der Natur zu sein, wurde er mehr und mehr zum Schöpfer. Der 145

Mensch entwickelte Fähigkeiten zu Vernunft und Kunst. Er begann, seine Kräfte in Bezug zur Natur zum Ausdruck zu bringen und entwickelte sich bei diesem Prozess zu einem Individuum. Zweifellos gründet die menschliche Entwicklung auf Arbeit, und diese wird weitgehend von der Entwicklung der Fähigkeiten des Menschen begleitet. So verstanden, kann man von der Arbeit als dem Befreier des Menschen und als wichtigsten Faktor bei der Entwicklung des Menschen sprechen« (1996, S. 44). Und etwas später heißt es: »Für den modernen Menschen ist das Produzieren ein Teil seines Bezugsrahmens für sein Leben und ein Teil des religiösen Objekts der Hingabe, für das er lebt: dass Dinge größer und besser werden und dass es immer noch mehr davon gibt« (Fromm, S. 50). Damit ist ein weiter Bogen gespannt über den existenziellen Wert der Arbeit und seine Sinngebung: Der Mensch hat seinerseits als ein Teil der Natur nicht nur in und von ihr gelebt, sondern hat sie sich zu Eigen gemacht. Was er vorfand, nutzte er zunächst, wie es war, und lernte in der Folge, es seinen Bedürfnissen bis zu gegenwärtig beobachtbaren Pervertierungen immer besser anzupassen. Er schuf und gebrauchte Werkzeuge und veränderte damit die Gegebenheiten: Er arbeitete. Solange diese Arbeit nahe bei seinen Bedürfnissen blieb, wurde sie mehr oder weniger lustvoll ausgeführt. Über den bloßen Gebrauchswert hinaus gewannen die Produkte auch an Qualitätswert, was die Produzenten mit entsprechendem Stolz erfüllen konnte. Das gilt wahrscheinlich auch heute noch für jedes Gesellen- und Meisterstück und schließt sogar den Beruf mit ein, den es als Muster repräsentiert und mit dem man sich identifiziert. Insoweit kann Arbeit zum Lusterlebnis werden. Für viele, wahrscheinlich die meisten Menschen, geriet die Arbeit jedoch zur unausweichlichen Pflicht, die von den Notwendigkeiten des Lebens diktiert wurde. Oft erhielt sie in der Landwirtschaft den Charakter der mittelalterlichen Fron für Dienstherren, denen man gezwungenermaßen seine Arbeitskraft verkaufen musste. Später galt das auch für Industriearbeiter. Der Wandel ist deutlich: Aus der von Fromm so beschriebenen »Befreiung durch Arbeit« entwickelten sich Abhängigkeiten, die von zunehmender Differenzierung der Bedarfsgüter sowie durch die 146

Besitzverteilung der dazu erforderlichen Produktionsmittel bestimmt wurden. Diese Abhängigkeiten wurden zeitweise als Knechtschaft und Unterdrückung verstanden und sozial wie politisch in Frage gestellt. Entsprechende Auseinandersetzungen haben heute eine gegensätzliche Thematik und Schärfe: Abhängigkeiten werden eher eingeklagt, denn man will Arbeit haben und wer sie hat, hält sie fest, auch wenn sie ihm nicht recht gefällt; wer keine hat, bietet sich an, wobei es zunehmend unwichtiger wird, wo, bei wem, wofür und zu welchem Preis. Wer lange arbeitslos ist, verzweifelt in vergeblicher Suche und verliert an persönlichem Selbstwert, weil er sich mit seinen Fähigkeiten nicht wertgeschätzt und somit generell unnütz fühlt. Gestützt wird dieses Gefühl durch die Erfahrung, mit der Entwicklung des gesellschaftlichen Konsumstandards nicht Schritt halten zu können und immer weiter auf der sozialen Stufenleiter abzurutschen. Daneben gibt es natürlich immer noch Lust an der Arbeit und ein freies Spiel der Kräfte. Aber angesichts der Verhältnisse auf dem Arbeitsmarkt kann man von diesem »freien Spiel der Kräfte« wahrlich nicht mehr sprechen. Eine andere Seite der Unfreiheit und Angst, die Arbeit produzieren kann, zeigen die so genannten Workaholics. Auch sie unterliegen Zwängen, für die sie immer neue Begründungen finden. Bei den Einen ist es das Produkt, die Aufgabe, das Geschäft, das Werk, die Perspektive oder nur eine »Durchgangsphase«, die den großen Einsatz rechtfertigt; bei Anderen sind es die Anderen, denen man die Verantwortung für den auferlegten Zwang zuschiebt, im Wettbewerb bleiben zu müssen; und wieder Andere finden Erklärungen in sich selbst, indem sie sich eigenen Fähigkeiten, Begabungen und Überzeugungen so verpflichtet fühlen, dass sie diesen zwanghaft dienen müssen. Das »religiöse Objekt der Hingabe«, um mit Fromm zu sprechen, ist weitgehend austauschbar. Für den Einen ist der Vogel eine Eule, für den Anderen die Nachtigall, wie man so sagt. Jede Art von Workaholic ist eine Geschichte ohne Ende, wenn sie nicht auf den Bezug zu einer Realität zurückgeführt wird, die im Blick auf die menschliche Daseinslage sinnvoll ist: mit ihren ursprünglichen Bedürfnissen nach gelingenden Kontakten mit 147

Menschen, Räumen, Zeiten und Werten. Dadurch würde Arbeit den Stellenwert fürs Leben erhalten, der ihr zusteht – nicht höher, aber auch nicht geringer.

Wertmaßstäbe Kann man Werte messen? Wie ist zu entscheiden, was »mehr« oder »weniger« wert sei? Karl Marx erkannte im Profit von Kapitalisten einen »Mehrwert«, die Nazis sahen in jedem Juden oder Schwerbehinderten ein »unwertes Leben«. Die Verallgemeinerung des Maßstabs für Werte endet im Extremfall in »entarteten« Umdeutungen von Realitäten. Ist ein höchster Wert das göttliche Gebot oder die Achtung und Erhaltung jeder Daseinsform von Leben? Unter Berufung auf diesen oder einen noch anderen Wert können sie sich sogar gegenseitig aufheben. Im Namen des jeweiligen Gottes wurde und wird selbstgerecht verbrannt und getötet. Wahr ist, dass uns Menschen einzeln und gemeinschaftlich Entscheidungen nach bestem Wissen und Gewissen darüber abverlangt werden müssen, welchen Werten wir uns handelnd verpflichten wollen. Was sich für den Einzelnen als Wert darstellt, ist nicht allgemein gültig zu beantworten. Schon im Blick auf Besitztum differiert die Begehrlichkeit von Person zu Person möglicherweise erheblich. Dem Einen geht es um ein Bett oder einen Tisch, dem anderen gar um Grund und Boden. Hier wird eine Lehrstelle gesucht, dort gelten die Bemühungen der Alterssicherung. Ob Wintermantel, Bierfilzsammlung, Zugehörigkeit zur Fußballmannschaft, Barockmusik, Sozialismus oder Liebeslyrik, all das und mehr entspricht Bedürfnissen von Menschen und stellt ihnen somit einen Wert dar. Die Wertschätzung kann nicht gültig taxiert werden, denn sie entzieht sich objektiven Kriterien, weil sie nur subjektiv gewichtet. Sie, liebe Leser und Leserinnen, können in ihrem Umkreis selbst die Mannigfaltigkeit und diverse Differenzen von Orientierungen an Werten überprüfen. Wie gewichten Sie selbst? Horten Sie wertvolle Briefmarken nach Geldwert oder erfreuen Sie 148

sich an schönen Motiven? Geben Sie Ihrem alten Teddybären noch immer seinen Platz am Bett oder lassen Sie ihn in einer Truhe vor sich hin gammeln? Wertmaßstab ist der Grad der Bedeutung, die ein materieller oder ideeller Gegenstand für Menschen hat. Die entsprechende Wahl ist breit gefächert. In einer Urlaubergruppe, die drei Wochen an einem See-Camp im kanadischen Busch verbrachte, spannte eines der Mitglieder Nacht für Nacht ein großes Laken zwischen die Bäume und strahlte es mit UV-Licht an, um Falter zu fangen. Er war glücklich darüber, seltene Exemplare heimbringen zu können. Ihn interessierten die Biber nicht, zu deren Burgen im erwachenden Licht bei steigendem Nebel sein Zimmergenosse mit Kamera und Camcorder aufbrach. Ein dritter fand nur wenig Verständnis bei seinen Reisegefährten dafür, dass er zufrieden Stunde um Stunde allein im Boot vor sich hin »dösen« konnte, ohne je einen Fisch an seiner Angel zu haben. Die Gruppenmehrheit dagegen genoss vor allem das Schwimmen im See, Entdeckungsfahrten im Kanu und fröhliche gemeinsame Unternehmungen. Ein Bauunternehmer beklagte sich bitter über sein verpfuschtes Leben. Sein Herzenswunsch ist es gewesen, Arzt zu werden. Stattdessen musste er, als der älteste dreier Söhne, den Betrieb übernehmen, der sich seit drei Generationen im Besitz der Familie befand. Ihm wurde, seiner Meinung und Erinnerung nach, keine Wahl gelassen. Statt Medizin studierte er Betriebswirtschaft. Seine Brüder dagegen konnten ihren Neigungen nachgehen. Einer wurde Bildhauer, der Jüngste wurde Arzt! Gemäß der der – eher stillschweigenden als ausgesprochenen – Übereinkunft aller Beteiligten, verbot es sich, das Unternehmen aufzulösen oder zu verkaufen. Es hingen viele Schicksale davon ab, von den tradierten Verpflichtungen mal ganz abgesehen. Die Firma hatte sich über die Zeit einen geachteten Namen gemacht, dem sich die Familie und alle Mitarbeiter verpflichtet fühlten. An die Abhängigkeit von solchen materiellen und tradierten Werten denkt man vielleicht zuerst. Sie müssen jedoch nicht die zwingendste Verbindlichkeit enthalten. Viele Menschen haben sich Überzeugungen verpflichtet, denen die von Goethe so formulierten ethischen Prinzipien zugrunde liegen: »Edel sei der 149

Mensch, hilfreich und gut!«13 Kant fordert: »Handle so, daß die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne« (bekannt als »Kategorischer Imperativ«, also als zwingende Befehlsform).14 Umgangssprachlich heißt das auch: Was du nicht willst, das man dir tu, das füg auch keinem Andern zu! Differenzierte Einstellungs- und Verhaltensgebote finden sich in allen Gesetzbüchern der verschiedenen Religionen. Ihre Gültigkeit und Verbindlichkeit wird jedoch oft unterschiedlich hoch bewertet und ins tägliche Leben übersetzt. Die Spanne reicht von verdammungsbedrohter Sünde bis zur individuellen Beliebigkeit – von fanatisierter Zwanghaftigkeit bis zur selbstbewussten Reklamation innerer Freiheit.

Wert und Bewertung Es wurde schon festgestellt, dass es keinen für alle Menschen gültigen Wert gibt. Deshalb liegt die Frage nahe, welchen persönlichen Werten Sie sich gegenwärtig verbunden fühlen, liebe Leserin, lieber Leser? Geht es Ihnen um die Unversehrtheit Ihres Lebens, des Lebens Ihrer Angehörigen oder um den Schutz des Lebens überhaupt, den Schutz von Mensch und Tier? Sind Sie stolz darauf, ein Deutscher oder Pazifist zu sein? Ist es besser, ein der Heimat verbundener Bayer oder ein weltoffener Hamburger zu sein? Sind Ihrer Meinung nach Akademiker höherwertiger als Hilfsarbeiter, Musiker feinsinniger als Baggerfahrer? Bekennen Sie sich zum Glauben als Christ, Jude oder Moslem? Glauben Sie den rechten, hilfreicheren, menschlicheren Glauben zu haben? Sie werden vielleicht rasch sagen, das seien törichte Fragen. Die Verinnerlichung der Ring-Parabel in Lessings (1729–1781) »Nathan der Weise«15 kann überzeugender wirken als jede großspurige Deklamation einer Toleranz für Werte Anderer. Sie verdient es, in diesem Zusammenhang angeführt zu werden. 13 Die ersten Zeilen des Gedichts »Das Göttliche«. 14 Kritik der praktischen Vernunft, 1. T., 1. Buch, 1. Hauptstück, § 7. 15 3. Aufzug, 7. Szene.

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Als Nathan vom herrschenden Sultan Saladin gefragt wird, welche der großen Religionen die echte sei, antwortet er mit diesem Gleichnis: Ein Mann besaß einen Ring, der seinen Träger vor Gott und den Menschen wohlgefällig sein ließ. Dieser Ring erbte sich immer weiter fort vom Vater auf dessen Lieblingssohn. Es ergab sich aber, dass ein Vater drei Söhne hatte, die ihm gleich wert waren, den Ring zu erben. In seiner Entscheidungsnot ließ er deshalb zwei täuschend ähnliche Nachbildungen anfertigen und gab vor seinem Tod jedem Sohn einen der Ringe, die nicht voneinander zu unterscheiden waren. Nachdem der Vater gestorben war, behauptete nun jeder, den echten Ring zu besitzen. Im Streit gingen sie vor Gericht, um feststellen zu lassen, welches der echte wäre. Der Richter aber entschied: »Es strebe von euch jeder um die Wette, die Kraft seines Ringes an den Tag zu legen . . .« Lessing ließ in seinem dramatischen Gedicht die Frage nach der echten Religion offen, den Sultan aber das Gleichnis verstehen und beherzigen. Leider gibt es offenkundig nicht viele so klug entscheidende Herrscher wie den Sultan Saladin. Sie werden bemerkt haben, liebe Leser, dass eigentlich nicht im engeren Sinne von Werten, sondern von Wertungen die Rede war, man könnte auch sagen: von Bewertungen. Wenn man bewertet, legt man Maßstäbe an. Kennen Sie die Prioritäten Ihrer Orientierungen und könnten Sie Ihre Wertbestimmungen ordnen? Gibt es für Sie einen allerwichtigsten, zweitwichtigsten oder drittklassigen Wert? Halten Sie ein solches Gedankenspiel überhaupt für sinnvoll? Von welchen Faktoren hängt die Bedeutung eines Wertes für Sie ab? Beziehen Sie ihn vor allem auf Ihr jeweils aktuelles Bedürfnis in der gegebenen Situation? Wie sicher fühlen Sie sich mit Ihren Werten und in Ihren Wertungen? Konkurrieren Sie in Ihrer Partnerschaft um die Überlegenheit Ihrer Werte, etwa in Hinsicht auf die erzieherische Ausrichtung Ihrer Kinder, die zweckmäßige Verwendung finanzieller Mittel, die Wahl und Pflege von Freundschaften? Führen Sie offen oder verdeckt Auseinandersetzungen darüber? Wenn dem so ist, sollten Sie sich (auch gegenseitig!) im Sinne Nathan des Weisen fragen, welcher Wert welche Beachtung verdient. Wenn schon familiäre Kleinkriege unkonstruktiv sind, welche 151

überzeugende Rechtfertigung könnten dann erst großräumige Kriege oder die feindselige Verfolgung Andersdenkender finden? Fanatiker meinen zu wissen, dass einzig sie die absolut richtigen und für jeden Menschen verbindlichen Werte kennen, für deren Durchsetzung und Bewahrung allein sie verantwortlich seien. Was sie dafür tun, muss, ihrer Überzeugung nach, unbedingt getan werden, egal, welche materiellen oder menschlichen Opfer das auch immer kosten mag. Sie sind im System ihrer verengten Weltsicht gefangen, aus der sie selbst nicht herauskönnen und -wollen. Eher gilt es, »Nichtgläubige« in die nicht jedem offenkundige Enge ihrer Sicht hineinzuziehen. Die Verbreiterung der Basis von »wissend Gläubigen« verschafft Geltungsgewinn und Machtzuwachs. In diesem Sinne üben öffentlich anerkannte Systeme Zwänge aus in Bereichen des Glaubens, der Politik, der Wissenschaften, vor allem aber auch in der Wirtschaft. Geschäftsnachbarn und Unternehmen rivalisieren um Marktanteile und versuchen, sie sich gegenseitig abzujagen. Das Verfolgen entsprechender Dominanzansprüche findet beredten Ausdruck in der »feindlichen Übernahme« eines Unternehmens durch ein anderes. Auf diese Weise erhalten die jeweils vertretenen Werte zunehmend mehr Gültigkeit bis hin zum Anspruch auf Allgemeingültigkeit. Bei menschlichen Organisationsformen lassen sich vielerlei soziale Gruppierungen erkennen, die so etwas wie ein konkurrierendes Wir-Bewusstsein haben und pflegen: Volksgemeinschaften, Parteien, Vereine, Clubs, Sippen, Familien und Kleingruppen. Das Wir betont Gemeinsamkeit und Zugehörigkeit und kann als Kurzformel für gelungene soziale Kontakte gelten. Gelingende Kontakte sind ganz grundsätzlich wichtige Indikatoren für psychische Gesundheit. (In Abhängigkeit vom jeweiligen personalen Umfeld wird man allerdings infrage stellen müssen, inwieweit das auch für Fanatiker, Attentäter oder Terroristen gelten lassen darf.) Unterschiedlich eng verbunden sind soziale Systeme durch die Betonung von spezifischen Merkmalen ihrer Mitglieder. Merkmale sind in der Regel der Name und ein eigenes Wertesystem, das oft programmatisch oder gar kämpferisch ins Feld geführt 152

wird: »Wir Palästinenser . . .!«, »Wir Juden . . .!«, »Wir Amerikaner . . .!«, »Wir Sozial-, Christ-, Freidemokraten . . .!« Oder in Familien: »Der (oder die) passt nicht zu uns!«, »So haben wir das aber immer gehalten!«, »Mach uns ja keine Schande!« – Solche Formulierungen können Sie, liebe Leserin und lieber Leser, sicherlich aus Ihrem eigenen Erinnerungs- und Erfahrungsgut beliebig ergänzen. Im Grunde kennzeichnen sie mindestens so viel Trennendes wie Verbindendes. Lehrer sind offiziell autorisierte Werte-Vertreter. Immer wieder haben pädagogische Reformer den Standpunkt vertreten, dass Kinder sehr früh durchaus in der Lage seien, alle Entscheidungen selbst zu treffen, die ihre eigenen Angelegenheiten betreffen, und dass Erwachsene sich heraushalten sollten. In diesem Sinne kündigte Ellen Key bereits 1900 das »Jahrhundert des Kindes« an. In der Folge bewirkte dies keine weit reichende Veränderung der pädagogischen Praxis. Ende der Sechziger haben manche Eltern eine antiautoritäre Erziehung praktiziert, die ihre Kinder am Ende in erhebliche Orientierungsnöte stürzte. Abgesehen davon, dass damit ein Widerspruch in sich bestand, hat ein von ihren Vorbildern weitgehend gewährter und an keine Bedingung gebundener Freiraum die Kinder oft total überfordert. Verständlicherweise konnten sie zunächst hemmungslos und sehr lustvoll ihrem Bewegungs- und Eroberungsdrang nachgeben, mit beifälliger Begleitung von ihren Erziehern. Es wurde nach fragwürdiger Wertsetzung das Kind mit dem Bade ausgeschüttet, weil da, wo keine Grenzen sind, auch eindeutige Orientierungen und Sicherheiten fehlen. Entscheidungen setzen die Abwägung von Vor- und Nachteilen der Bedürfnisse und Sachverhalte mit den dazu erforderlichen Informationen voraus. Diese fehlt Kindern oft vor allem. Jung wie sie sind, können sie nicht die ganze Tragweite ihrer Wünsche und Entscheidungen ermessen. Sie brauchen den Beistand anderer, um das Pro und Kontra ihrer Intentionen mit den entsprechenden Folgen abschätzen zu lernen. Auf diesem Weg werden sie Erfahrungen gewinnen, die sie immer entscheidungsfähiger und unabhängiger machen, bis sie schließlich in der Lage sind, selbstverantwortlich zu handeln und die sich daraus ergebenden Konsequenzen zu tragen. 153

Erziehung braucht Autorität. Wohl verstanden ergibt sie sich aus dem jeweiligen Vorsprung an Erfahrung und Wissen. Deshalb wird sie nie absolut, sondern immer nur relativ gelten können. Es waren solche absolut rigiden Ansprüche, die schließlich zum Entwurf und zur Praxis gegenteiliger Erziehungskonzepte geführt haben. Im Einzelfall hat dies jedoch nicht nur in qualifizierten pädagogischen Erwägungen ihre Begründung gefunden, sondern bildet auch, und vielleicht gar in erster Linie, die Entscheidungsunsicherheit der Erzieher ab. In solchen Fällen ist die allgemein diskutierte Theorie dann nur noch eine gewünschte Entlastung von den eigenen Skrupeln. Auch Eltern können ja ihrerseits von entscheidungsunsicheren Eltern erzogen worden sein. Sie haben dabei von ihren Vorbildern übernommen, wie man Entscheidungen ausweichen kann und trotzdem ganz gut durchs Leben zu kommen scheint.Entweder delegieren sie die Befriedigung ihrer Bedürfnisse an andere oder sie richten es so ein, dass ihr Mantel immer im gerade wehenden Wind hängt. »Anpassung um jeden Preis« kennzeichnet einen sehr porösen Wertbezug. Es gibt auch eine Variante der Entschiedenheit für eine Erziehung ohne Autorität, die jene Art von Erziehung vermeiden will, deren Opfer man einst selbst gewesen ist. Die Devise lautet dann: »So wie ich behandelt worden bin, werde ich meine Kinder nie behandeln!« »Mein Kind soll es wärmer haben, als ich es hatte!« »Ich werde immer Zeit für mein Kind haben!« Ausdruck finden solche Versprechen in der Umkehrung des ehemaligen Elternverhaltens. Anweisungen werden dann zum Beispiel ausschließlich in Form eines noch unverbindlichen Wunsches geäußert; Zurechtweisungen werden allenfalls mit der Vermittlung von Schuldgefühlen verbunden: »Es macht mich ganz traurig zu sehen, wie du dich benimmst!« Bleiben Erwartungen und Bitten unerfüllt oder wird ein Fehlverhalten erkannt, findet man Entschuldigungsgründe, um dem nicht verantwortlich nachgehen zu müssen. Bezogen auf den Stil sowie auf die Entwicklung des Kindes, sind die Wirkungen ähnlich wie bei der antiautoritären Erziehung.

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Wert als Entwicklungsindikator Menschen sind die einzigen Lebewesen, die ein Wertbewusstsein entwickeln. Ihre Bedürfnisse sind folglich nicht nur triebgesteuert, sondern werden vom Willen gelenkt. Das macht hochgradige Differenzierungen möglich, die hierarchisch gegliedert sind. Wenn alle Bedürfnisse (sprich: Werte) einander nur nebengeordnet wären, würden sie ständig miteinander kollidieren und konkurrieren. Tatsächlich hat jedoch jeder Wert seinen Ort und seine Zeit im Werdegang kontinuierlicher Sinnsuche. Der Baby-Flasche auf dem Wickeltisch entspricht dann später die Weinflasche beim Diner im Restaurant. Der Entwicklungsgang dahin lässt sich für den Regelfall nicht umkehren. Der Bezug zu Werten schreibt Bedürfnisgeschichte und umgekehrt. Der Trend geht vom Nahen zum Entfernten, vom Einfachen zum Komplexen. Man muss zum Bahnhof gegangen sein, bevor man am Ende das ferne Ziel erreicht. Das Einfache ist die Mutter des Komplexen, denn aus ihm setzt sich Letzteres zusammen. Mit anderen Worten: Das Leben beginnt in und bei der Mutter, hat aber auf Dauer darin nicht sein Genügen, sondern überschreitet zunehmend bewusster die gebotenen Grenzen. Jedem menschlichen Tun ist mit dem Bedürfnis ein Sinn gegeben. So verstanden ist Tun oder Schaffen ein Prozess des differenzierten Wachstums, der Sinnfindung und damit auch der Wertverwirklichung. Ein erwachsener Mensch kennt viele verschiedene Werte, von denen er nicht alle gelten lässt und sich nur einigen verpflichtet fühlt. Dabei wird er frühe und späte Werte unterscheiden können. Von den frühen sind viele durch spätere fast beiläufig überholt worden. Beiläufig meint in diesem Zusammenhang: nicht wissentlich ab- oder hinzugewählt, sondern im Entwicklungsprozess unmerklich entwickelt. Einfach Übernommenes wird von selbständig Erworbenem verdrängt, überlagert und unwirksam gemacht (z. B. naiv-kindliche Verhaltensmuster gemäß dem, was man tun darf und was nicht). Wichtiges wird bewahrt und erweitert (z. B. Überzeugungen, Erkenntnisse, wenn sie aus eigenen Erfahrungen hervorgehen). 155

Komplexeres setzt sich im Vollzug der Veränderung aus vielen Versatzstücken des kontinuierlichen Erlebens zusammen, gestaltet Persönlichkeit und Identität. Es ist bemerkenswert – im Sinne des Wortes – dass die Wertfrage seltener gestellt wird als die Sinnfrage, obgleich beide doch verschwistert sind. Noch seltener wird die Wertfrage etwa in Familien diskutiert. »Man kennt von allem den Preis, von nichts den Wert«, schrieb Oscar Wilde. Was hat Taschengeld für einen Wert? Kinder fragen einander: »Wie viel kriegst du?« Es sollte jedoch heißen: »Von wem kriegst du es wofür, wie und mit welchen Freiheitsgraden?« Taschengeld darf nicht als Preisgeld oder Wohlverhaltens-Prämie zugemessen werden, sondern müsste als Reifebestätigung und Liebeszuwendung gemeint und so auch vom Empfänger verstanden sein. So braucht auch jede Partnerschaft kontinuierliche LiebesWertprämien. Es ist natürlich nicht damit gemeint, dass ein Partnerteil stets der großmütige Prämien-Gewährer und der andere die Rolle des demütig wartenden Empfängers zu besetzen hat. Vielmehr verlangt die Beziehung den lebendigen Wechsel, und zwar nach Maßgabe einer wechselweise achtsam wertschätzenden Ausgestaltung gemeinsamer Anliegen. In mancher Partnerschaft ist die Verfügungsgewalt über gemeinsame Besitztümer zwar eindeutig, aber manchmal auch zu einseitig geregelt: Das Geld oder ein Konto wird von dem Einen verwaltet und der Andere hat zu fragen, wenn er etwas haben will. Übertragbar ist ein solcher Verteilungsschlüssel vielleicht auch auf das soziale und emotionale »Kapital« beider. Wer verwaltet die Liebe der Kinder, die persönliche Beziehung zur erweiterten Familie, zu Freunden und Bekannten? Wer holt sich von dort »Liebes-Wertprämien«, ohne den Anderen daran teilhaben zu lassen, unter Umständen sogar berechnend auszuklammern? Wie wird mit Informationen umgegangen? Was weiß der Eine, was der Andere nicht wissen soll und darf? Wie wird Zuneigung vermittelt, Zärtlichkeit getauscht? Das braucht keinen bemühten Aktionismus über einen mitgebrachten Blumenstrauß oder die täglich bereitgestellten Filzpantoffeln, sondern kann sich in der Sicherheit des unbefragten Zusammenseins und Zusam156

menbleibens sowie in den sich wandelnden täglichen Geschäften neu beweisen. Wertewandel ist nicht nur inhaltlich zu beschreiben, sondern kann auch auf die Entwicklung des Lebenssinns bezogen werden, den Menschen zu erfüllen versuchen. Das gilt sowohl für den Einzelnen als auch für Kommunitäten. Oft wird es in Gestalt von Rivalitäten ausgehandelt: besser als . . . zu sein; mehr zu haben als . . .; wirksamer zu sein als . . .; verfügen zu können über . . .; klar zu verstehen, dass . . .; Sieger zu sein, über . . .. Dann erkennt man den Wert als Ergebnis eines erfolgreichen Wettbewerbs an, zum Beispiel potent zu sein und Macht zu spüren. Worum es geht, also das Thema, hat oft nur Dienstwert für die Selbstdarstellung und ist deshalb zweitrangig wichtig. Am Gegenstand der Konkurrenz lässt sich oft der Stand der jeweiligen Wertentwicklung ablesen. Tauscht man Murmel gegen Murmel oder Aktie gegen Aktie? Der Sinn des Vorgangs ist zeitversetzt der gleiche: Gewinn zu machen. Der eigene Vorteil nimmt gelegentliche Nachteile des Tauschpartners womöglich sogar frohlockend in Kauf. Den Gegner »über den Tisch ziehen zu können«, beweist zweifellos Potenz, vermittelt also ein Gefühl der Stärke und Überlegenheit. Wollte man die ganze biographische Spannweite der individuellen Entwicklung des Wertebewusstseins umfassen, müsste man von der naiven Übernahme der von Eltern angebotenen Werte ausgehen, zum Beispiel: den Teddybär lieben; nicht in die Hose machen; mit Geschwistern teilen können . . . Auf der anspruchsvollen Leiter zu immer höher bewerteteren Werten gelangte man mit zunehmender Lebenserfahrung über die Pubertätsrevolte hinweg schließlich ins ethisch differenziertere Erwachsenenbewusstsein. Dann meint man zu wissen, nach welchen Regeln sich das Leben ganz grundsätzlich ordnet. Dabei kann man sich freilich vor allem nur auf jene Regeln beziehen, die man selbst verstanden und verfolgt hat. Nur diese wären es dann auch, die man respektiert und vertritt. Mit zunehmendem Alter werden manche Menschen immer rigider und starrsinniger. (»Zu meiner Zeit gab es so etwas nicht!«, »Als ich so alt war, wie du, hätte ich mir das nie erlaubt!«) Regelübertretungen, eine ihrer Meinung nach falsche Lebensgestaltung 157

werden immer unnachsichtiger verurteilt. Demgegenüber gibt es aber auch Alte, die den Lauf der Dinge immer wohlwollender und verständnisvoller hinnehmen (»Dafür muss man doch Verständnis haben!« – »Wir waren doch auch mal jung!«). Die durchlebte Zeit hat ihnen vielleicht mitgeteilt, dass ihr elementarer Eigenwert das Selbstverständnis sein kann, sich in den unaufhaltsamen Wechsel der Vergänglichkeit und des Neubeginns friedvoll einzugeben. Dieser Sichtgewinn ist dann der höchste Wert, den sie jedem gönnen und mit allen teilen möchten.

Daseinswerte Im Zusammenhang mit der Differenzierung der Daseinslage von Lebewesen wurde dargestellt, dass Menschen lebensnotwendig eingebettet sind in Abhängigkeiten von Menschen, Räumen und Zeiten. Damit sind Beziehungen gekennzeichnet, die das Leben grundsätzlich ermöglichen und bestimmen. Insoweit sind sie Lebenswerte an sich. Jede und Jeder hat Menschen um sich, die wertgeschätzt sind, das ist wohl keine Frage. Was aber wird eigentlich wertgeschätzt? Wenn Sie sich selbst befragen, was Sie an den Ihnen bedeutsamen Personen wertschätzen, finden Sie sicher begründbare unterschiedliche Antworten – oder sind Ihnen alle gleich wert? Hat Ihre Wertschätzung etwas mit der Nützlichkeit von Verbindungen zu tun oder ist sie einfach selbstlos da? Sind es besondere Eigenschaften oder Fähigkeiten, die Sie an den Personen schätzen? Neiden Sie ihnen diese oder finden Sie diese auch in sich selbst wieder und erkennen Sie darin eine Art Selbstbestätigung? Verstehen Sie wertgeschätzte Eigenschaften und Fähigkeiten Anderer als Herausforderung zu eigener Weiterentwicklung oder genügt es Ihnen, sie zu akzeptieren oder zu bewundern? Bevorzugen Sie mehr die Nähe oder hätten Sie gern mehr Distanz – zu wem, wie und wann? Auch Räume können wertgeschätzt werden, was sich darin ausdrückt, dass sie gern und immer wieder aufgesucht werden, weil man sich in ihnen wohlfühlt. Es kann aber auch andere Gründe haben: Eine Werkstatt ist vielleicht laut, riecht schlecht, 158

ist groß, hoch und kühl, aber sie entspricht den Bedürfnissen der darin arbeitenden Menschen. Wie leben Sie in Ihren Räumen? Haben Sie einen eigenen Raum? Ist es Ihr Raum? Welchen Rahmen haben Sie da für sich gewählt? Welchen Einfluss übt der Raum auf Sie aus? Fühlen Sie sich in ihm Zuhause, geborgen, sicher, mit ihm in Übereinstimmung? Fehlt Ihnen etwas oder befremden Sie Dinge, die nicht recht zu Ihnen gehören, von denen Sie sich aber nicht trennen können oder dürfen? Erleben Sie sich darin eher nach innen abgegrenzt oder nach außen angegrenzt? Wie muten Sie Türen und Fenster an, eher offen oder geschlossen? Wie erleben Sie das Hinaus- und Hineingehen? Beherrschen Sie den Raum in dem Sinne, dass Sie ihn Ihren Bedürfnissen entsprechend gestalten, oder lässt er das aus Gründen vorgegebener Ordnung oder Begrenztheit nicht zu? Wie nahe oder distanziert sind Sie Ihrer Zeit? Welche Zeit ist Ihre Zeit? Ist es Ihr gegenwärtiges Alter, Ihre bisher durchlebte Lebensdauer, Zeit, die Sie noch ausfüllen wollen? Ist es der Morgen, der Tag, der Abend oder die Nacht? In welcher Lern-, Entwicklungs- oder Ruhephase befinden Sie sich gegenwärtig, gewollt oder ungewollt? Was macht Zeit mit Ihnen, ängstigt Sie ihre Weite oder Begrenztheit, ihre Halt- und Rastlosigkeit? Löst die an sich gegebene Strukturlosigkeit der Zeit in Ihnen den Zwang aus, sie gliedern und kontrollieren zu müssen? Haben Sie Angst, Ihre Zeit »zu vertun«? Lassen Sie sich Gegenwart davon wegnehmen, dass Sie auf etwas warten? Worauf genau? Wie gegenwärtig ist Ihnen Ihr Hier und Jetzt? Meinen Sie, Ihre Zeit deutlich zu erfahren? Machen Sie eher etwas in oder eher etwas mit der Zeit? Ist Zeit nützlich, wozu und wie? Geben und gönnen Sie sich Zeit, zum Beispiel des Alleinseins, der Muße, des Wartens, der Meditation, des Zuhörens und Zuschauens? Teilen Sie Ihre Zeit bewusst mit Anderen? Zusammenfassend und als Abschluss unserer Beschreibung der menschlichen Daseinslage ist zu sagen, dass keine der gestellten Fragen allgemein gültigen Antworten verlangen, sondern dazu anregen sollen, sich bewusst mit werterfüllten Einflüssen auseinander zu setzen, die Menschen, Räume und Zeiten auf uns ausüben. Dass wir in der Begegnung mit Menschen direkt und 159

indirekt geformt werden, ist leicht nachzuvollziehen. Räumen und der Zeit »erzieherische« Potenz zuzusprechen ist nicht so selbstverständlich. Bei näherer Betrachtung leuchtet das jedoch ein, denn alles um uns her übt Einfluss aus und zwingt uns, entsprechend sinnvoll, das heißt bedürfnisgeleitet und situationsgerecht zu reagieren. Die Betrachtung des Mandalas wurde wiederholt im Detail auf einzelne Schnittmengen bezogen, zum Beispiel »Mensch und Raum«. Darüber hinaus bietet sich an, den Menschen in seinem Zeit-Raum wahrzunehmen. Schließlich kann auch erkennbar gemacht werden, wie wertbezogen Menschen mit den Zeiträumen ihrer terminlichen Verpflichtungen umgehen können. Einfühlbar wird die globale Qualität einer Mandala-Ganzheit allerdings nur an einer konkret empfundenen, alle Kontaktbereiche umfassenden Berührung der Seele. Dafür ein Beispiel: Der begnadete Pianist Vladimir Horowitz kehrte gegen Ende seines Lebens aus Amerika besuchsweise in seine russische Heimat zurück. Von seinen ihn verehrenden Landsleuten wurde er begeistert empfangen. Für die Veranstaltungen gab es viel zu wenige Eintrittskarten. Sein letztes Konzert beendete er in Moskau mit einem ergreifendem Vorspielen von Schuberts »Träumerei«. Er verließ den Flügel und das Podium unter tosendem Beifall des stehenden Auditoriums. Hinter dem Bühnenraum empfing ihn seine Frau, der er angeblich sterbend in die Arme sank. Menschen, Raum, Zeit und Wert gingen hier eine Symbiose ein. Es ließen sich noch viele weniger spektakuläre Beispiele finden, die, auch ohne eine so tragische Verknüpfung mit der Zeit, die die umfassende Verbindung aller Daseinsbereiche des menschlichen Lebens veranschaulichen würden. Es ist wichtig, sich klar zu machen, dass man in keiner Sekunde seines Lebens nur einen Teil seines Daseins erlebt, sondern in jedem Augenblick ganzheitlich eingebettet ist in die komplexen Kontakte, in denen unsere Seele ganzheitlich auf die Welt bezogen ist.

160

Nachwort

Die Ausführungen dieses Buches beziehen sich in der Regel auf seelische Berührungen, die der einzelne Mensch mit Anderen, mit Räumen, Zeiten und Werten erlebt und was diese bewirken können. Es ist jedoch ohne weiteres möglich, das Ganze auf Gruppen, Völker, Staaten und Religionsgemeinschaften zu übertragen. Auch diese haben Berührungen mit anderen Gruppierungen in guter Nachbarschaft oder feindseliger Gegnerschaft. Sie besiedeln ihre Räume, ziehen, verteidigen oder überschreiten Grenzen und schreiben eine je eigene Zeitgeschichte. Am eindeutigsten beschreibt sich ihre Eigenart durch die Werte, die sie vertreten, insbesondere dann, wenn sie Anspruch auf Allgemeingültigkeit erheben und deren Anerkennung aggressiv auch bei anderen einfordern. Im Mandala lassen sich für jeden der Kontaktbereiche charakteristische Schnittmengen und spezifische Verhaltensmuster unterbringen. Das Person-Kaleidoskop bildet ähnliche Bewegungen ab, die im Leben einzelner Personen beobachtet werden können. Aus dieser Vogelperspektive können sich aktuelle gesellschaftliche Entwicklungen recht anschaulich darstellen lassen.

161

Anhang: Mandala

Das umseitige leere Mandala können Sie nutzen, um sich die jeweiligen Inhalte Ihrer eigenen Kontaktbereiche in den entsprechenden Schnittmengen zu veranschaulichen. Am einfachsten ist es wohl, vom augenblicklichen Standort in der Daseinslage auszugehen. Besonders informativ kann der Blick auf sich wiederholende Beziehungsmuster im Lebenslauf sein – und auf die Spuren, die diese möglicherweise noch bis in die aktuelle Gegenwart zeichnen. Vergegenwärtigen Sie sich zum Beispiel prägende Begegnungen in gelingenden und misslingenden Kontakten mit Menschen, Räumlichkeiten, Zeiträumen und Werten; verändernd wirkende Ereignisse im privaten Leben; Perioden des Wohlgefühls und der Verstimmung; schöpferische Abschnitte oder auch der Wiederholung des immer Gleichen; plötzliche oder allmähliche Sinnfindungen; Aufgabe und Neubeginn; Wechsel von Befindlichkeiten; Erkrankungen/Gesundungen; Leistungsveränderungen. Sicherlich werden im Ganzen Überlagerungen und beherrschende Themen erkennbar. Solche Versuche eignen sich vor allem für die individuelle Selbstbefragung. Sie sind jedoch auch nützlich für die Aufdeckung der Daseinslage von Paaren und Familien, die damit intensive Phasen der Wir-Findung durchleben können, wodurch ihr Wir-Gefühl gestärkt würde. Wenn Sie das Blatt kopieren, können Sie Ihre Versuche mit unterschiedlichen Fragestellungen wiederholen. Sie können das Mandala auch in Ausschnitten vergrößern, um darin ausführliche Eintragungen vornehmen zu können. Zweckmäßig kann es auch sein, ein Beiblatt anzulegen, auf dem die erkannten Inhalte und Themen aufgelistet und gewichtet werden. – Dazu wünsche ich ein informatives Gelingen! 163

Menschen A

2

Person

B

3

4 C

Werte

164

D

Zeiten

Räume

1

Literatur

Allport, G. W. (1970): Gestalt und Wachstum der Persönlichkeit. Meisenheim. Aristoteles: Über die Seele (de anima). In: Ueberweg, F.: Die Philosophie des Altertums. 12. Aufl. Berlin 1926, S. 353–401, speziell S. 383–387. Bach, G. R. (1970): Streiten verbindet. Gütersloh. Bach, G. R.; Bernhard, Y. (1972): Aggression lab. Hamburg. Bandura, A. (1970): Social learning and personality development. New York. Bergius, R.: Entwicklung als Stufenfolge. In: Thomae, H. (Hg.) (1959): Entwicklungspsychologie. Handbuch der Psychologie, Bd 3, Göttingen, S. 104–195. Binswanger, L. (1942): Grundformen der Erkenntnis menschlichen Daseins. Zürich. Blankenburg, W. (1977): Die Daseinsanalyse. In: Die Psychologie des 20. Jahrhunderts, Bd. III. Zürich, S. 941–964. Brockhaus (2001): Psychologie – Fühlen, Denken und Verhalten verstehen. Leipzig u. Mannheim. Der Brockhaus multimedial 2004. Mannheim. Ciompi, L. (1988): Außenwelt – Innenwelt. Die Entstehung von Zeit, Raum und psychischen Strukturen. Göttingen. Condrau, G. (1979): Daseinsanalytische »Psychosomatik«. In: Die Psychologie des 20. Jahrhunderts, Bd. I. Zürich, S. 199–210. Danzer, G.; Rattner, J. (1999): Der Mensch zwischen Gesundheit und Krankheit – Tiefenpsychologische Theorien menschlicher Funktionen. Darmstadt. Descartes, R. (1637): Discours de la méthode. (Dt.: Abhandlung über die Methode. Hamburg, 1960, S. 27) Dorsch, F. (1998): Psychologisches Wörterbuch. 13. Aufl. Bern. Duden (1996): Rechtschreibung der deutschen Sprache. 21. Aufl. Mannheim. Fechner, G. T. (1907): Elemente der Psychophysik. Leipzig. Freud, S. (1900): Die Traumdeutung. 7. Aufl. Wien, 1945. Freud, S. (1923): Das Ich und das Es. In: Psychologie des Unbewussten. Studienausgabe, Bd. 3. Frankfurt a. M., 1982, S. 273–330.

165

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166

Spitz, R. A. (1972): Vom Säugling zum Kleinkind. 3. Aufl. Stuttgart. Strube, G. (1977): Die umstrittene Bedeutung genetischer Faktoren. In: Psychologie des 20. Jahrhunderts, Bd. V. Zürich, S. 890–928. Watzlawick, P.; Beavin, J. H.; Jackson, D. D. (1969): Menschliche Kommunikation – Formen, Störungen, Paradoxien. 9. Aufl. Bern, 1996. Wundt, W. M. (1896): Grundriss der Psychologie. Leipzig, S. 376. Wyss, D. (1977): Die anthropologisch-existenzialontologische Psychologie. In: Die Psychologie des 20. Jahrhunderts, Bd. I. Zürich, S. 461–569 Zeier, H. (1978): Evolution von Gehirn, Verhalten und Gesellschaft. In: Die Psychologie des 20. Jahrhunderts, Bd. VI. Zürich, 1978, S. 1088–1121.

167

Personenregister

A Allport, G. W. 52, 165 Aristoteles 13 B Bach, G. R. 91, 105, 165 Bandura, A. 52, 165 Bergius, R. 62, 165 Bernhard, Y. 165 Binswanger, L. 20 Blankenburg, W. 35 Brockhaus 165 Busch, W. 90 C Ciompi, L. 62, 63, 64, 165 Condrau, G. 20 D Descartes, R. 17 Dorsch, F. 98, 165 Dumas 91 F Fechner, G. T. 44 Ford 91 Freud, S. 16, 52, 116, 165 Fromm, E. 145, 146, 147, 166 G Gall, F. J. 43 Gaudí, A. 104 Goethe, J. W. v. 11, 14, 103, 127, 149 Goleman, D. 33, 166 H Haeckel, E. 62

Henkel 91 Heraklit 43, 144 Hippokrates 51 Hölldobler, B. 29 Horowitz, V. 160 Hume, D. 14 J Jaspert, R. 103,166 K Kant, I. 41, 150 Kasten, H. 43, 134, 166 Keller, G. 22 Key, E. 153 Kretschmer, E. 52 Krupp 91 L Leonardo da Vinci 104 Lessing, G. E. 150 Levine, R. 135, 136, 166 Logau, F. 22 Luther, M. 43 M MacGuinnes 115 Mann 91 Marx, K. 148 May, K. 104 Melanchthon, Ph. 43 P Paulsen, F. 43 Picasso, P. 104

169

Piel, G. 9, 166 Plato 12, 117

Spitz, R. A. 66, 167 Strube, G. 62

R Raffael 104 Rothacker, E. 117, 166

W Watzlawick, P. 75 Weizsäcker, V. v. 86 Wilde, O. 156 Wilson, E. O. 29 Wundt, W. 15 Wyss, D. 86

S Salzmann, C.-G. 89 Sappho 103 Schopenhauer, A. 77 Schubert, F. 160 Sokrates 41 Sonntag, M. 16

170

Z Zeier, H. 44 Zoll, R. 133

Stichwortregister

A Abenteuer 113 Abgrenzungen 118 Abhängigkeit 86, 108, 131 Achtsamkeit 125 Aggression 68, 111, 121, 165 Aggressivität 120 Aha-Erlebnis 63, 66 Akzeptanz 57, 91, 120 Alltag 47, 113 Alltagssüchte 85 Alter 138, 139, 157, 159 Altern 57 Angrenzung 118 Angst 46, 86, 116, 123 Anmutungen 61 Anpassung 142, 154 Anspannung 47 Anspruch 26, 152 antiautoritäre Erziehung 153 Anziehung 101 Arbeit 128 arbeitslos 147 Arbeitsmarkt 147 Arbeitsplatz 124 Arbeitsstätte 128 Ärger 106 Argumente 108 Aufforderungscharakter 124, 125 Ausdehnung 115, 116 Ausdrucksverhalten 72 Auseinandersetzung 76, 105, 107 Außenseiter 88 Austausch 85, 114

Autorität 154 B Balance 53 Bauernhof 113 Bedarf 32, 55, 67 Bedürfnisgeschichte 155 Bedürfnisse 24, 26, 34, 55, 99 Bedürfnisspannung 141 Befindlichkeiten 61 begabte Kinder 95 Begegnungen 139, 140 Begleitung 102 Behinderung 72 Beispiel 83, 89, 95, 142 Beistand 69, 102 Beruf 128, 146 Berührung 28, 68, 70 Bescheidenheit 126 Besitz 89, 113, 122, 149, 156 Bestrafung 76 Beweggrund 36 Beweglichkeit 121 Bewegung 43 Bewertungen 151 Bewusstsein 24, 25, 26 Beziehung 65, 78, 81, 142 Beziehungsgefüge 39 Beziehungsnetz 50 Beziehungsobjekt 66 Beziehungsthemen 74 Bezugsperson 83 Bezugsrahmen 143 Bindungsbedürfnis 86 biogenetischen Grundgesetz 62

171

Biographie 48 C Camping 120 carpe diem 139 Champion 117 D Dasein 114 Daseinsanalyse 50 Daseinsglobus 39 Daseinslage 39, 50, 52, 94 Defizite 121 Denken 165 Denkmensch 61, 102 Destruktivität 73 Deutschland 136 Dialog 66 Distanz 43, 69, 77, 79, 145 Dominanzansprüche 152 E Eigenliebe 101 Eigenschaften 52 Eigenständigkeit 122 Eigentum 122 Eindeutigkeit 72 Eindruck 83, 89, 115 Einsicht 24, 34, 44, 83, 144 Einstellungen 34, 51 Einzelkind 94 Ellen Key 153 Elternhaus 48 emotionale Befindlichkeiten 33 emotionale Distanz 79 emotionale Entwicklung 94 emotionale Intelligenz 33 emotionales Lernen 33, 64 emotionalisierte Erkenntnis 63 Endgültigkeit 58 Energie 24, 123 Enge 116 Entscheidungen 53, 102, 126, 153 Entspannung 47, 106

172

Entwicklung 50, 57, 83, 99, 147, 165 Entwicklungsphasen 34, 139 Erde 114 Erholung 113, 134 Erinnerung 46 Erleben 40, 55, 58 Erlebnisse 33 Erwartungshaltung 95, 129 Erzieher 88 Erziehung 51, 76, 82, 154 Expansion 113 Expansionsstreben 60 F Fähigkeiten 83, 97, 147 Familie 83, 87, 91, 137 Familiengeschichte 92 Fanatiker 152 Feedback 95 Fehler 53 Fernsehen 60 Flexibilität 56 Fötus 65 Freiheit 56, 86 Freizeitdomizil 120 Fremderwartung 96 Fremdheit 118 Freunde 140 Frohsinn 126 Frustrationen 70 Fühlen 165 Fühlmensch 61, 102 Fürsorge 103 G Ganzheit 52 Ganzheitlichkeit 35 Gebirge 113 Geborgenheit 118, 130 Gedanken 26 Gedichte 103 Geduld 78 Gefährdung 130

Gefühle 33, 51, 61, 64, 77, 82, 101, 103, 147 Gefühlsintensität 33 Gegenstände 111 Gegenwart 138, 140 Gehorsam 96 Gelassenheit 63 gelingende Kontakte 69, 121, 122, 141, 152 Gemeinschaft 28, 69 Gemeinschaftserlebnisse 138 Gemeinschaftsgefühl 145 Geschichte 134 Geschwindigkeit 135 Geschwisterrolle 94 Gesetzmäßigkeiten 36, 42 Gesundheit 85, 108, 152 Gewissheit 102 Glaube 28, 42, 150 Gleichartigkeit 100 Globalisierung 129 Gott 73, 151 Grenzen 68, 88, 111, 118 Grundbedürfnisse 129 Grundwerte 143 Gruppen 161 Gültigkeit 152 H Heim 46, 119 Heimat 42, 88, 128, 130 Hier und Jetzt 28, 58, 76, 115, 129, 133, 137 Hingabe 116 Hoffnung 116 I Ich 99 Identifikation 142 Identität 30, 86, 98, 128, 132 Individualität 93 Informationen 69, 74, 88 Innenräume 115 innere Freiheit 76

innerseelisches Streitgeschehen 107 Internet 129 Intimität 78, 79, 80, 126 J Jugend 144 K Kind 115 Kleidung 128 Klima 124 klimatisches Milieu 125 Kommunikation 75, 80, 81, 82 Kompetenz 118, 130 Konflikt 53, 91, 105, 110 Konkurrenz 157 Konsequenz 99 konstruktiv streiten 82 Kontakt-Skala 79, 80 Kontaktbereiche 53 Kontaktpartner 67, 81 Kontaktverschränkung 80 Kontinuität 100 Kopie 92 Körper 62 Kranke 68 Kreativität 112 Kultur 23, 41, 87, 89, 103, 119 Kulturtausch 81 Kunst 42, 146 L Leben 148 Lebensform 110 Lebensgefühl 22, 47, 111 Lebensgeschichte 132 Lebensgestaltung 135 Lebenslauf 140 Lebensqualität 137 Lebensraum 47 Lebensstil 125 Lebenswerte 158 Lebenswirklichkeit 34 Lebenszeit 132

173

Lebewesen 39, 41 Lehrer 153 Leid 55 Leidensdruck 131 Leistung 81, 89 Lernbehinderung 51 Lernbereitschaft 60 Lernen 85 Lernleistung 82 Lernprozess 83 Liebe 78, 138 Liebesdienste 103 Lust 147 M Macht 157 Mangel 55 Mathematik 85 Medien 100 Medium 68 Medizin 85 Memento mori! 138 Menschenbild 55 Menschheit 41 Menschwerdung 42, 62, 65 Mentalität 130 Midlifecrisis 137 Milieu 83, 120 misslingende Kontakte 69, 121 Missverständnisse 75, 82 Modell 92 Muster 146 Mutter 66 N Nachahmung 142 Nähe 69, 77, 79, 102 Nähe-Distanz-Skala 78 Natur 119, 132, 145, 146 Nesthocker 87 Neugier 60, 114, 119, 120 nonverbale Signale 95 nonverbale Sprache 71 normal 29

174

Normalität 166 O Objekt 28, 43, 68 Öffentlichkeit 78 Opfer 76 Ordnung 112, 129, 143 Ordnungsgefüge 30 Ordnungsprinzip 133 Organismus 67 Orientierung 67, 86, 112, 129, 153 P Partnerschaft 94, 137, 151 Pathologie 166 Person 27, 39, 52 Persönlichkeit 23, 52, 93, 165, 166 Persönlichkeitsglobus 39 Perversion 101 Pervertierung 146 Pflicht 146 Phantasie 61, 106, 116 Phantasiespiele 61 Politik 42, 152 Potenz 97, 108, 109, 157 prägende Begegnungen 163 Prägung 54 Prägungstypen 55 Prämien 156 psycho-logisch 36 psychogenetisches Grundgesetz 62 Psychologie 28, 165 R Raumbegriff 116 Raumgefühl 115 Räumlichkeiten 27 Realien 59 Realität 42, 111, 141 Recht 108 Redundanz 74 Reflex 60 Reifung 57, 92, 99, 144 Reisen 113

Religionsgemeinschaften 161 Ressourcen 118 Rolle 94 Rollenzuweisung 87 S Schnittmengen 161 Schuld 37 Schuldzuweisung 76 Schutz 67, 118, 150 Schweigen 74, 76 See 113 Seele 36, 117, 134, 140, 160 Sehnsucht 113 Selbständigkeit 86 Selbstbefragung 163 Selbstbeobachtung 61 Selbstbestätigung 108 Selbstbestimmung 98 Selbstdarstellung 23, 157 Selbsteinschätzung 96 Selbsterfahrung 98 Selbstgewissheit 63 Selbstsicherheit 83, 107 Selbstverständnis 81, 90 Selbstvertrauen 64 Sicherheit 51, 86, 102, 153 Signale 66, 81 Signalsysteme 72 Sinne 99 Sinnfindung 145 Sinnfrage 156 Sinngebung 146, 155 Sinnsuche 26, 155 Souveränität 109 soziale Intelligenz 82 soziale Rolle 90 sozialer Raum 127 Sozialkunde 85 Sozialverhalten 95 Sozialwesen 42 Stabilität 100 Stadt 119

Statistik 85 Stimmungen 61 Störungen 121 Streit 102, 105, 107, 151 Stress 123 Subjekt 41, 45 Sucht 85 T Tageslauf 125, 132 Teamarbeit 107 Termine 132, 133 Themen 116 Tod 138 Trennung 75 trial and error 59 Trost 103 Trotz 97 U Übereinstimmung 106 Überlegenheit 73, 107, 151, 157 Überzeugung 152 Umgang 34, 52, 68 Umgebung 110 Umwelt 115 Unabhängigkeit 23, 37, 41, 56, 86, 108, 122 Unachtsamkeit 111 Unbewusstsein 25 Uneindeutigkeit 71, 82 Unlustempfindungen 66 Unlustspannung 67 Unruhe 57 Unterbewusstsein 25 Unterstützung 103 Unversehrtheit 150 Unzufriedenheit 24 Urlaub 113 V Veränderung 22, 23, 24, 34, 50, 61, 100, 143 Veränderungen der Person 58

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Veränderungsprozess 56 Verbindlichkeit 87, 143 Vereindeutigung 75, 76 Verfahrensmuster 89 Verfügbarkeit 68, 108 Verfügungsrecht 122 Vergangenheit 133, 137 Vergänglichkeit 57 Verhalten 34, 36, 55, 83, 165 Verhaltensinventar 59 Verhaltensmuster 24, 51, 87, 161 Verhaltensregeln 144 Verlust 57 Vernunft 83, 146 Versagen 46 Versager 117 Verschiedenartigkeit 51 Verschiedenheit 100 Verselbständigung 65, 97 Versöhnung 106 Versorgung 85, 87, 88, 96 Verständigung 76 Vertrauen 121 Vertrautheit 118 Verzicht 57 Völker 161 Vorbild 82, 83, 89, 95 Vorhaben 116, 141 Vorsprung 154 W Wachheit 99 Wachstum 57, 92, 138, 165 Wahrheit 44, 106 Wahrnehmen 26, 82 Wahrnehmung 24, 26, 39, 46, 95 Wandlungen 48 Wärme 82, 118 Wechsel 132 Wechselbeziehungen 66 Wegmarken 112 Weite 123

176

Weiträumigkeit 128 Werdegang 57 Werte 87 Werte-Inventar 142 Wertewandel 143, 145 Wertfrage 156 Wertorientierung 81, 90, 93, 102, 142 Wertschätzung 105, 122, 125, 148, 158 Wertsysteme 143 Wesensart 100 Widerstand 97, 111 Wir-Bewusstsein 106, 152 Wirklichkeit 41, 42 Wirksamkeit 64 Wirtschaft 42, 152 Wissen 129 Wissenschaft 42 Wohlverhalten 156 Wohnort 128 Wohnung 46, 111 Workaholismus 132, 147 Z Zank 108 Zeit 114 Zeitfenster 134, 144 Zeitpläne 134 Zeitraum 116, 131 Zeugung 101 Zugehörigkeit 85 Zugehörigkeitsgefühl 118 Zuhause 120, 159 Zukunft 116, 133, 137, 138 Zuneigung 85, 102 Zurückhaltung 82 Zutrauen 121 Zuwendung 71, 126 Zwang 51, 150 Zwangsgedanken 116

Wenn Sie weiterlesen möchten ... Gerd Jüttemann / Michael Sonntag / Christoph Wulf (Hg.)

Die Seele Ihre Geschichte im Abendland Die vorherrschende naturwissenschaftliche Psychologie, die sich vor fast 140 Jahren explizit als »Psychologie ohne Seele« etabliert hat, bezeichnet eine zentrale Lücke im Thema, von dem die Disziplin ihren Namen erhalten hat. Heute gehört die Frage nach der Seele zu mehreren Wissensgebieten. 28 prominente Autorinnen und Autoren aus unterschiedlichen Disziplinen eröffnen ungewöhnliche Perspektiven auf unsere Vorstellungen von der Seele und unser Leben mit ihr. Mit Beiträgen von G. Bleibtreu-Ehrenberg, K.-J. Bruder, B. Busch, D. de Chapeaurouge, W. Dreßen, D. Geulen, A. Hahn, J. Hörisch, G. Jüttemann, W. Kersting, S. K. Knebel, C. Koch, G. Mensching, L. Müller, W. Pircher, M. Reiter, V. Rittner, C. Schneider, M. Sonntag, R. Sprandel, M. Stadler, D. Sturma, G. Treusch-Dieter, M. Wetzel, H. Willems, R. Winter, C. Wulf, C. Zintzen.

Annette Kämmerer / Joachim Funke (Hg.)

Seelenlandschaften Streifzüge durch die Psychologie. 98 persönliche Positionen Die Psychologie hat sich als Wissenschaft etabliert. Sie ist inzwischen ein weltweites Unternehmen, für das Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler ihre Beiträge liefern. Trotz der hohen Komplexität der Fragestellungen und Problematiken hat sich eine Art Mainstream etabliert, der durch die vereinheitlichte Sprache und inhaltlich durch große, oft international bearbeitete Themenstellungen psychologischer Forschung gekennzeichnet ist. Umso wichtiger erscheint es, einmal abseits der üblichen Inhalte und Formen einen Rahmen zu bieten, in dem Personen, die das Fach Psychologie vertreten, etwas aus ihrem persönlichen Fundus oder Schatzkästlein berichten können. Eine bunt gemischte Auswahl von 98 Professorinnen und Professoren für Psychologie aus den deutschsprachigen Ländern haben auf knappem Raum etwas ganz Persönliches dargestellt – etwas, das im Alltagsgeschäft der Psychologie keinen Platz findet, mit dem aber etwas angesprochen wird oder in dem etwas anklingt, was den speziellen Reiz der Psychologie oder des Psychologischen für sie ausmacht. Das Buch ist ein buntes Kaleidoskop geworden, es sind im wahrsten Sinn Streifzüge durch Seelenlandschaften.

Gerald Hüther bei V&R

Die Macht der inneren Bilder Wie Visionen das Gehirn, den Menschen und die Welt verändern Innere Bilder – das sind all die Vorstellungen, die wir in uns tragen und die unser Denken, Fühlen und Handeln bestimmen. Es sind Ideen und Visionen von dem, was wir sind, was wir erstrebenswert finden und was wir vielleicht einmal erreichen wollen. Es sind im Gehirn abgespeicherte Muster, die wir benutzen, um uns in der Welt zurechtzufinden. Wir brauchen diese Bilder, um Handlungen zu planen, Herausforderungen anzunehmen und auf Bedrohungen zu reagieren. Aufgrund dieser inneren Bilder erscheint uns etwas schön und anziehend oder hässlich und abstoßend. Innere Bilder sind also maßgeblich dafür, wie und wofür wir unser Gehirn benutzen. Woher kommen diese inneren Bilder? Wie werden sie von einer Generation zur nächsten übertragen? Was passiert, wenn bestimmte Bilder verloren gehen? Gibt es innere Bilder, die immer weiterleben? Benutzen nur wir oder auch andere Lebewesen innere Bilder, um sich im Leben zurechtzufinden? Gibt es eine Entwicklungsgeschichte dieser inneren Muster? Der Hirnforscher Gerald Hüther sucht in seinem neuen Buch nach Antworten auf diese Fragen – nicht als Erster, aber erstmals aus einer naturwissenschaftlichen Perspektive. So schlägt er eine bisher ungeahnte Brücke zwischen natur- und geisteswissenschaftlichen Weltbildern, die eine Verbindung zwischen materiellen und geistigen Prozessen, zwischen der äußeren Struktur und der inneren Gestaltungskraft aller Lebensformen schafft. Diese Synthese gelingt dem Autor mit der ihm eigenen Leichtigkeit in der Darstellung.

Bedienungsanleitung für ein menschliches Gehirn In der modernen Hirnforschung wurden bahnbrechende Entdeckungen gemacht. Die sogenannte Plastizität des menschlichen Gehirns bedeutet, dass es lebenslang veränderbar, ausbaubar, anpassungsfähig ist. Sogar die Masse der Gehirnzellen ist, entgegengesetzt der früheren Auffassung der Wissenschaftler, nicht endgültig festgelegt, sondern kann im Verlauf des Lebens noch zunehmen. Nach den neuesten Erkenntnissen der Hirnforscher hat die Art und Weise der Nutzung des Gehirns einen entscheidenden Einfluss darauf, welche neuronalen Verschaltungen angelegt und stabilisiert oder auch destabilisiert werden. Die innere Struktur und Organisation des Gehirns passt sich also an seine konkrete Benutzung an.

Wenn das Gehirn eines Menschen aber so wird, wie es gebraucht wird und bisher gebraucht wurde, dann stellt sich die Frage, wie wir eigentlich mit unserem Gehirn umgehen müssten, damit es zur vollen Entfaltung der in ihm angelegten Möglichkeiten kommen kann. In einer leicht lesbaren, bildreichen Sprache geht Gerald Hüther diesem Fragenkomplex nach und gelangt zu Erkenntnissen, die unser gegenwärtiges Weltbild erschüttern und die uns zwingen, etwas zu übernehmen, was wir bisher allzu gern an andere Instanzen abgegeben haben: Verantwortung.

Biologie der Angst Wie aus Stress Gefühle werden Gerald Hüther führt die neuesten Erkenntnisse über die biologische Funktion der Stressreaktionen im Gehirn zu überraschenden Einsichten über die Herausbildung emotionaler Grundmuster wie Vertrauen, Glaube, Liebe, Abhängigkeit, Hass und Aggression. »Wissenschaftler wie Hüther sorgen mit neuen Erkenntnissen und Theorien für Bewegung in der Stressforschung.« Stern

Wie aus Stress Gefühle werden Betrachtungen eines Hirnforschers Ein Bildband. Photographien von Rolf Menge. Gerald Hüther lädt ein zur Besinnung, zum Innehalten und zur Einstimmung in eine neue Gedankenwelt. Die Kernaussagen seines erfolgreichen Buches Biologie der Angst und die ruhige Art seiner Argumentation werden in diesem Band zusammengeführt mit meisterhaften Photographien. Das Buch lädt ein zur Konzentration wie auch zur Abschweifung, vor allem zum Dialog mit einem hellen Gedankengebäude.

Die Evolution der Liebe Was Darwin bereits ahnte und die Darwinisten nicht wahrhaben wollen Seit mehr als einem Jahrhundert sind die Naturforscher nun schon damit beschäftigt, die vielfältigen Formen des Lebens in ihre kleinsten Bausteine zu zerlegen. Für die Herausbildung der Formenvielfalt machen sie seit Darwin ein einziges Grundprinzip verantwortlich: die Konkurrenz. Sie haben bisher vergessen, danach zu suchen, was die lebendige Welt, was den Einzelnen, was ein Paar, was eine Gruppe und was nicht zuletzt auch die menschliche Gemeinschaft im Innersten zusammenhält: die Liebe.

»Es ist unglaublich, wieviel Kraft die Seele dem Körper zu leihen vermag« W. von Humboldt Eckhard Frick / Roland Huber (Hg.)

Die Weise von Liebe und Tod Psychoanalytische Betrachtungen zu Kreativität, Bindung und Abschied 1998. 228 Seiten, kartoniert ISBN 3-525-01447-3

Léon Wurmser / Heidi Gidion

Die eigenen verborgensten Dunkelgänge Narrative, psychische und historische Wahrheit in der Weltliteratur 1999. 215 Seiten, kartoniert ISBN 3-525-01451-1

Udo Rauchfleisch

Musik schöpfen, Musik hören Ein psychologischer Zugang Transparent, Band 33. 1996. 125 Seiten, kartoniert ISBN 3-525-01723-5

Christa Rohde-Dachser (Hg.)

Unaussprechliches gestalten Über Psychoanalyse und Kreativität 2003. 159 Seiten mit 10 teilweise farb. Abb., kartoniert. ISBN 3-525-46181-X

Maja Müller-Spahn

Symbolik – Traum – Kreativität im Umgang mit psychischen Problemen Mit einem Vorwort von Gaetano Benedetti. 2005. 219 Seiten mit 7 s/w und 18 farbigen Abb., kartoniert ISBN 3-525-46236-0

Rainer M. Holm-Hadulla

Kreativität Konzept und Lebensstil 2005. 163 Seiten mit 1 Abb., kartoniert ISBN 3-525-49073-9

Luc Ciompi

Die emotionalen Grundlagen des Denkens Entwurf einer fraktalen Affektlogik 3. Auflage 2005. 371 Seiten mit 6 Abb., kartoniert ISBN 3-525-01437-6