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German Pages 472 [487]
Spätmittelalter und Reformation Neue Reihe begründet von Heiko A. Oberman herausgegeben von Berndt Hamm in Verbindung mit James Hankins, Johannes Helmrath, Jürgen Miethke und Heinz Schilling
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Berndt Hamm
Lazarus Spengler (1479-1534) Der Nürnberger Ratsschreiber im Spannungsfeld von Humanismus und Reformation, Politik und Glaube mit einer Edition von Gudrun Litz
Mohr Siebeck
Berndt Hamm, geboren 1945, Professor für Neuere Kirchengeschichte (Theologische Fakultät der Universität Erlangen-Nürnberg).
ISBN 3-16-148249-2 I S S N 0 9 3 7 - 5 7 4 0 (Spätmittelalter und Reformation. Neue R e i h e )
978-3-16-158540-1 Unveränderte eBook-Ausgabe 2019 Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.
© 2 0 0 4 M o h r Siebeck Tübingen. Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Ubersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Das B u c h wurde von Martin Fischer in Tübingen aus der Bembo-Antiqua belichtet, von GuideDruck in Tübingen auf alterungsbeständiges Werkdruckpapier gedruckt und von der Großbuchbinderei Spinner in Ottersweier gebunden.
In memoriam Erika Dinkler-wn
Schubert
(29.7. Í904-3Í.
Í2.2002)
Vorwort Lazarus Spengler (1479—1534), seit 1507 Ratsschreiber der Reichsstadt Nürnberg, kann als der Theologe unter den Politikern der Reformationszeit gelten. Seine humanistische und theologische Bildung in Verbindung mit der verwaltungstechnischen, juristischen und diplomatischen Kompetenz und sein leidenschaftlicher Eifer in Fragen des Glaubens und der Kirchenreform machten ihn nicht nur zum Architekten der Nürnberger Reformation, sondern zu einem der führenden Gestalter der frühen - stark städtisch bestimmten — Reformation auf R e i c h s ebene. Literarisch trat er vor allem als Apologet und Advokat Luthers und seiner Richtung der Reformation hervor, aber auch durch Lehrzusammenfassungen, Bekenntnisformulierungen, Lieder, Trostschriften und Stellungnahmen zur Kirchenordnung. Er gehörte zu den allerersten und erfolgreichsten reformatorischen Flugschriftenverfassern. U n d wie wenige andere verkörperte er mit all dem die Bedeutung des Laienelements in der Reformation und das Gewicht der akademisch gebildeten R ä t e oder Beamten für die Anfänge der Konfessionsbildung. Seit den späten siebziger Jahren fesselt mich diese Gestalt, nicht zuletzt auch durch ihre vielfältigen Zeugnisse aus den Jahren vor der Reformation. Wichtige Begleiter auf diesem Wege waren mir die Herren Prof. Dr. Bernd Moeller und Prof. Dr. Gerhard Pfeiffer, vor allem aber Frau Prof. Dr. Erika Dinkler-von Schubert. Mit großer Energie und warmherziger Zuwendung forderte sie finanziell und ideell die kritische Edition der Schriften ihres Vorfahren Lazarus Spengler. Daher sei ihr dieses Buch in dankbarer Erinnerung gewidmet. Zwei Bände der Edition, die bis zum April 1529 reichen, konnten wir bislang in Erlangen abschließen. Was sich Frau Dinkler-von Schubert aber vor allem erhoffte, die Fortsetzung der (bis Frühjahr 1524 geführten) Spengler-Biographie ihres Vaters Hans von Schubert, kann auch die vorliegende Publikation nicht einlösen. Erst auf der Grundlage der abgeschlossenen Edition ist eine biographische Gesamtdarstellung des Ratsschreibers wissenschaftlich zu verantworten. Was jetzt mit diesem Buch geboten werden soll, ist eine Zwischenbilanz: eine Zusammenstellung eigener Arbeiten, die auf dem Wege zur Edition, begleitend zur Edition und als Frucht ihrer beiden ersten Bände entstanden sind. Sie wurden einzeln bereits an anderer Stelle publiziert und erscheinen nun inhaltlich unverändert unter z.T. umformulierten Uberschriften sowie mit einheitlich gestalteten Zwischenüberschriften und Fußnoten. Nur das 2. Kapitel über >Spengler und Düren wurde eigens für diesen Band geschrieben, so wie auch der beigefügte Text
Vili
Vorwort
des >Familienbüchleins Spengler< hier erstmals ediert wird. Da die Einzelstudien thematisch eng miteinander verknüpft sind, können sie nun als Kapitel einer Monographie in Erscheinung treten. Aus unterschiedlichen Perspektiven und mit wechselnden Beleuchtungen zeigen sie das Profil der vielschichtigen Gestalt des Humanisten, Frömmigkeitstheologen, Rechtsdenkers und Religionspolitikers Lazarus Spengler. Vier Kapitel sind allgemeineren Charakters, dienen gerade so aber zugleich der sozialen, politischen, religiösen und kulturellen Ortsbestimmung Spenglers: das 1. Kapitel, das den Ratsschreiber im humanistischen Milieu der reichsstädtischen Oberschicht Nürnbergs aufsucht, das 3. Kapitel, das ihn im Spektrum der divergierenden frühen Reforniationsbewegung wahrnimmt, das 8. Kapitel, das seine Position innerhalb der unterschiedlichen Optionen obrigkeitlicher Religionspolitik bestimmt, und das 10. Kapitel, das ihn als Exponenten jener Reformation sieht, die man als Projekt normativer Zentrierung von Kirche, Glaube, Frömmigkeit, Politik und christlichem Gemeinwesen verstehen kann. Da die Beschäftigung mit Spengler für mich der Anstoß war, Reformation und spätmittelalterliche Religiosität unter dem Aspekt >normativer Zentrierung< zu erfassen, mußte dieses Kapitel am Ende stehen. Auch das >Familienbüchlein Spengler< greift weit über die Person des Ratsschreibers hinaus, indem es seinen Platz in einer fast hundertjährigen Familiengeschichte sichtbar macht. Besonders danken möchte ich meiner Mitarbeiterin Gudrun Litz M . A . , die den ganzen Band mit großer Sachkundigkeit, Sorgfalt und Arbeitsenergie redigiert, ihn durch die Edition des Spenglerschen >Familienbüchleins< bereichert und mit Literaturverzeichnis und Registern ausgestattet hat. Für R a t und Hilfe danken wir beide den Herren Dr. Klaus Matthäus (Erlangen), Prof. Dr. Bernd Moeller (Göttingen) und Prof. Dr. Dieter Wuttke (Bamberg), Frau Dr. Christine Sauer von der Stadtbibliothek Nürnberg, den Damen und Herren vom Stadtarchiv Nürnberg und Frau Karin Steininger von der Universitätsbibliothek Erlangen (Teilbibliothek Mittlere und Neue Geschichte). Den Mitherausgebern der Reihe >Spätmittelalter und ReformationFamilienbüchlein Spengler< ediert von Gudrun Litz
348
Die Familie Spengler: Genealogische Tafeln
403
Q u e l l e n - u n d Literaturverzeichnis
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Verzeichnis der Erstveröffentlichung
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X
Inhalt
Verzeichnis der Abbildungen
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Personenregister
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Ortsregister
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Sachregister
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Abkürzungen und Siglen Die benutzten Abkürzungen und Siglen richten sich in der Regel nach dem Abkürzungsverzeichnis der Theologischen Realenzyklopädie (TRE). Biblische Bücher werden mit Ausnahme des Pentateuch nach der Luther-Bibel abgekürzt.
Abb. Anm. ARA Art. Aug. Autogr. BB bearb. bes. Bf. Bl. Br. bzw. D./Dr. d.Ä. d. Gr. d.j. Dez. d.h. Dtn Ebf. ebd. Ed./ed. Ehz. etc. Ex f, ff Feb. fl.
fol. Gen Gen. Pap. Gf. GNM hgHl./Hll. Hs. Hz.
Abbildung(en) Anmerkung(en) (Staatsarchiv Nürnberg) Fürstentum Brandenburg-Ansbach, Religionsakten Artikel August autographisch(e/es) (Staatsarchiv Nürnberg) Reichstadt Nürnberg, Briefbücher bearbeitet besonders Bischof Blatt/Blätter Brief beziehungsweise Doktor der Altere der Große der Jüngere Dezember das heißt Buch D e u t e r o n o m i u m (5. Buch Mose) Erzbischof ebenda Edition/ediert Erzherzog et cetera Buch Exodus (2. Buch Mose) folgende(r/s) Februar Gulden folium Buch Genesis (1. Buch Mose) (Stadtarchiv Nürnberg, E 1) Genealogische Papiere Graf Germanisches Nationalmuseum (Nürnberg) herausgegeben Heilig(e/r)/Heiligen Handschrift Herzog
XII Jan. Jh. Kf. K. M t . Lev Lib. litt. Lit. Mgf. ND NF Nov. Nr. Num OESA OFM o.j. Okt. o.O. OP OR OSB PR r Rschl. RV s. S. SA Sept. sog. Sp. SR StA StB s.v. Taf. u. a. u. ö. übers. usw. v vgl. Vulg. z.B. zit. z.T.
Abkürzungen
und Siglai
Januar Jahrhundert Kurfürst Kaiserliche(e/n) Majestät B u c h Leviticus (3. B u c h Mose) (Stadtarchiv N ü r n b e r g , B 14/1) Libri litterarum ( G r u n d v e r b r i e f u n g s b ü c h e r ) Literatur Markgraf Nachdruck N e u e Folge November Nummer B u c h N u m e r i (4. B u c h Mose) O r d o E r e m i t a r u m Sancti Augustini O r d o Fratrum M i n o r u m o h n e Jahr(esangabe) Oktober o h n e Ort(sangabe) O r d o Fratrum Praedicatorum Ortsregister O r d o Sancti Benedicti Personenregister (folio) recto Ratschlag Ratsverlaß siehe Seite(n) Staatsarchiv September sogenannte/en/er) Spalte (n) Sachregister Stadtarchiv Stadtbibliothek sub voce Tafel u n d andere, u n t e r anderem u n d öfter übersetzt u n d so weiter (folio) verso vergleiche Vulgata z u m Beispiel zitiert z u m Teil
i.
Kapitel
Humanistische Ethik und reichsstädtische Ehrbarkeit I . H u m a n i s t i s c h e Landschaften u n d Franken 2 - 2 . R e i c h s s t ä d t i s c h e r B ü r g e r h u m a n i s m u s in Franken 5 - 3 . D i e reichsstädtische Ehrbarkeit 8 - 4 . D e r H u m a n i s m u s der Ehrbarkeit 18 5. D i e soziale E i n b i n d u n g d e r H u m a n i s t e n : A m t e r u n d M ä z e n a t e n t u m 2 6 - 6. Patrizierh u m a n i s m u s ? 2 9 - 7. B i l d u n g s i d e a l e des H u m a n i s m u s 4 4 - 8. H u m a n i s t i s c h e E t h i k in N ü r n b e r g 5 0 - 9. F r ö m m i g k e i t u n d H u m a n i s m u s 54 — 10. N e u e A s p e k t e bei S t a u p i t z 6 0 I I . R e f o r m a t o r i s c h e r B r u c h mit d e m Humanismus 69
Wer den Begriff >Humanismus< in den Mund nimmt, kann sicher sein, daß er damit eine Fülle von Klischeevorstellungen aufrührt. Einerseits weckt er Klischees von einer säkularen, antireligiösen und frühaufklärerischen Tendenz, von einem umfassenden religiösen, politischen und sozialen Befreiungsstreben, von Individualismus und Selbstbezogenheit des menschlichen Subjekts, von einem Denken, das um die Würde, Freiheit und eudämonistische Lebensverwirklichung des seiner selbst gewissen Menschen kreist, Klischees von der Vermenschlichung der Wissenschaften auf die Zentralstellung des Menschen im Kosmos hin und vom neuzeitlichen Transzendenzverlust des bisher (auf mittelalterliche Weise) durch christliche Autoritäten der Frömmigkeit, Theologie und Kirche religiös gebundenen Menschen. Andererseits knüpfen sich an den Humanismusbegriff Klischees vom L'art-pour-l'art-Charakter humanistischer Philologie und Wortdrechselei oder die sich nüchtern und realitätsnah gebende Feststellung, daß der Renaissance-Humanismus überhaupt nichts dominierend Inhaltsbezogenes mit einem programmatischen Menschenbild und einer geistigen Integrationskraft sei, sondern vor allem ein sich in vielfältige Strömungen und Partikularinteressen zerfaserndes Bündel von formalen sprachlichen Bemühungen um professionell betriebene Grammatik, Rhetorik und Poesie, mit denen sich hier und da in ganz unterschiedlicher Weise bestimmte Aspekte der Weltanschauung verbinden können. Tatsache ist, daß in all diesen Klischees viel Richtiges liegt, daß im Renaissance-Humanismus des 14. bis 16. Jahrhunderts eine integrative 1 , alle Wissensbe-
1
Vgl. Wuttke: Humanismus als integrative Kraft.
2
Humanistische
Ethik und reichsstädtische
Ehrbarkeit
reiche durchdringende und sich vielgestaltig entfaltende geistige Konzeption von Mensch, Welt und Gott steckt, daß aber zugleich das konkrete und primäre Fundament aller Erscheinungsgestalten dieses Humanismus die Hingabe an die Sprache ist, an das Ideal des — nach dem Vorbild der Sprachkultur antiker R h e t o rik - wohlgeformten Redens und Schreibens. Richtig ist auch, daß der Humanismus - trotz aller Beweglichkeit der Humanisten in geographischer Hinsicht und auf der sozialen Leiter - starke Bindungen an ein konkretes institutionelles/ gesellschaftliches/politisches und regionales/lokales Bezugssystem mit seiner spezifischen Atmosphäre, seinen Strukturelementen und Werten besitzt 2 , z.B. die Bindung an ein bestimmtes Universitätsmilieu in einem bestimmten Fürstentum oder die Bindung an eine bestimmte Gesellschaftsschicht in einer ganz speziell geprägten Stadt. Man denke auch an bestimmte Residenzen, Schulen, Klöster mit ihren besonderen Ordenstraditionen oder an humanistische Sodalitäten und vielerlei Einbindungen mehr. Ich möchte nun im Folgenden den Versuch einer umrißhaften Klärung des HumanismusbegrifFs verbinden mit einem Blick auf den Humanismus in Franken, und zwar speziell auf den reichsstädtischen Humanismus in Nürnberg. M e thodisch halte ich eine solche Wechselbeziehung zwischen einer vom Stand der Humanismusforschung ausgehenden Begriffsbestimmung und einer von der R e gional- und Lokalgeschichte herkommenden Uberprüfung, Präzisierung und Materialerweiterung für notwendig und fruchtbar. Allerdings zeigt dieses Kapitel auch für Nürnberg nicht mehr als skizzenhafte Umrisse.
1. Humanistische Landschaften und Franken Bekanntlich gab es regionale Verdichtungen der humanistischen Bewegung im Alten R e i c h des 15. und 16. Jahrhunderts. Es waren auf deutschem Boden besonders drei Gebiete, die zu Ballungszentren der humanistischen Bildungsbestrebungen wurden 3 . Da ist zum einen an den südwestdeutschen R a u m zu denken, an die Städtelandschaft zwischen Augsburg, Ulm, Basel, Straßburg und Schlettstadt mit herausragenden Humanistenpersönlichkeiten wie etwa dem Augsburger Ratsschreiber Konrad Peutinger, dem württembergischen Hebraisten Johannes Reuchlin und dem Elsässer Jakob Wimpfeling. In dieser R e g i o n verbindet sich der Humanismus der Reichsstadt mit dem der bischöflichen Residenzen (besonders Augsburg und Konstanz) und der Universitäten (besonders Tübingen und Basel). Die zweite Landschaft, in der es zu einer außergewöhnlichen Konzentra-
2
Dies wird betont von Herding: Richtungen, S. 61 f.
* Vgl. die Wahl der regionalen Schwerpunkte bei Herding: Richtungen, S. 62—103. Das weit ausstrahlende humanistische Zentrum W i e n lassen wir unberücksichtigt, weil von R e g i o n e n die R e d e sein soll.
i. Humanistische
Landschaften
und
Franken
3
tion humanistischer Kräfte kam, war das Gebiet von Sachsen-Thüringen mit seiner Dichte von Universitätsstädten. M u ß man im Südwesten des Reiches vom dominierenden Typ eines reichsstädtischen Humanismus sprechen, so begegnet uns in Sachsen und Thüringen vorwiegend ein Universitätshumanismus, der sich in z. T. scharfer Konkurrenz zum traditionellen scholastischen Lehrbetrieb entfaltet. Zwei Namen sind hier besonders zu nennen: das Haupt des Erfurter Humanistenkreises Konrad Mutian, in dem die humanistische Kirchen- und Kleruskritik ihren schärfsten Ausdruck fand; und Philipp Melanchthon, der 1519 von T ü b i n gen nach Wittenberg gekommen war und hier die zukunftsweisende Synthese von Humanismus und Reformation schuf. Das dritte regionale Zentrum des Humanismus lag schließlich in Franken, dem Verbindungsstück auf der Achse zwischen Südwestdeutschland und SachsenThüringen. Man kann ohne Übertreibung sagen, daß Franken durch diese Z w i schenlage im Kreuzungsgebiet zwischen dem akademischen Humanismus des Nordostens und dem städtischen Humanismus des Südwestens die Gegend wurde, in der die humanistische Kultur ihren Höhepunkt und ihre Blütezeit im Heiligen Römischen R e i c h deutscher Nation erlangte. Man hat Franken etwas übersteigert geradezu die »ideale Heimstätte des Humanismus« genannt (Andreas Kraus) 4 . Hier kam es in den Jahrzehnten vor der Reformation zu einem respektablen Residenzenhumanismus, vor allem aber zu einer einzigartigen Blüte des reichsstädtischen Humanismus. Verschiedene begünstigende Umstände spielten dabei eine Rolle, nicht nur die Zwischenlage, die zentrale Lage im R e i c h , wo sich die Fernhandelsstraßen und die Bildungseinflüsse kreuzten. Keine andere Landschaft gab es in Deutschland, die eine Stadt wie Nürnberg besaß, herausragend eigentlich weniger durch die Tatsache allein, daß es mit seinen über 40.000 Einwohnern als Handels- und Handwerkszentrum R e i c h t u m anhäufen konnte — eine Stadt wie Augsburg übertraf in dieser Hinsicht Nürnberg sogar —, einzigartig vielmehr durch die Verquikkung von Reichtum, Frömmigkeit, Gelehrsamkeit und Kunst. Nürnberg war zwischen 1490 und 1530 der kulturelle und ideelle Mittelpunkt Deutschlands, die Aufbewahrungsstätte der Reichskleinodien und ausgezeichnet durch die wiederholte Präsenz der Habsburgerkaiser, Friedrichs III. und Maximilians I., die sich als Förderer humanistischer Ideale verstanden und einen besonderen nationalen Glanz auf Nürnbergs Humanismus fallen ließen 5 . Ein Ereignis, das sich vor 5 0 0 Jahren in den Mauern Nürnbergs abspielte, rückt uns diese seine glanzvolle humanistische Mittelpunktsrolle im R e i c h deutlich vor Augen: Am 18. April 1487 wurde C o n radus Celtis, ein gebürtiger Franke aus Wipfeld bei Schweinfurt, der Inbegriff des 4 Kraus: Gestalten, S. 557. Die Darstellung von Kraus bietet den besten Überblick über den Humanismus in Franken mit guten Literaturhinweisen. 5 Vgl. Nürnberg — Kaiser und Reich, darin Teil II über die Reichskleinodien in Nürnberg und Teil III über Kaiser, Reichsbewußtsein und Reichssymbole in Nürnberg (u. a. Ursula SchmidtFälkersamb: Kaiserbesuche und Kaisereinzüge in Nürnberg, S. 112—140); vgl. auch Kircher. Kaiser.
4
Humanistische
Ethik und reichsstädtische
Ehrbarkeit
gelehrt-humanistischen Poeten, des poeta doctus, von Kaiser Friedrich III. auf der Nürnberger Burg zum Dichter gekrönt 6 . Bedenkt man, daß diese Verleihung des Dichterlorbeers die erste auf dem Boden des deutschen Reiches war, dann wird damit die Sonderstellung Nürnbergs und seiner humanistischen Bewegung noch deutlicher. Humanisten wie Regiomontanus und Cochlaeus scheuten sich daher nicht, N ü r n b e r g als »Zentrum Europas« zu bezeichnen 7 . Franken hatte zwar ein ausstrahlendes Z e n t r u m wie Nürnberg, aber keine U n i versität. Was freilich zunächst wie ein Mangel aussieht, erwies sich für den fränkischen Humanismus als anregend. Wer studieren wollte, konnte nicht - wie es heute die Regel ist — brav zu Hause bleiben und im eigenen fränkischen Safte schmoren, sondern sah sich gezwungen, außer Landes zu gehen. In Frage kamen wegen der verkehrsgeographisch günstigen Lage in erster Linie die Universitäten Leipzig und Erfurt, später hinzukommend die Neugründungen Ingolstadt und Wittenberg, daneben vor allem Heidelberg und Tübingen, seit der Mitte des 15. Jahrhunderts aber auch zunehmend die oberitalienischen Universitäten mit ihren berühmten juristischen und medizinischen Fakultäten. Von auswärts kamen dann die Franken meist wieder zurück in ihre Heimat und sorgten so dafür, daß die Bildung Frankens vor einem Provinzialismus bewahrt wurde, ja daß Franken im Laufe der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts zum Zentrum jener humanistischen Impulse heranwuchs, die aus Italien importiert und selbstbewußt verarbeitet wurden. Es bestätigt sich hier die allgemeine Beobachtung, daß humanistische Bestrebungen in Deutschland stets in starken italienischen Bildungseindrücken ihre Wurzeln hatten. So waren die bedeutenden Humanistenpersönlichkeiten, die dem Nürnberger Humanismus nacheinander, beginnend mit den vierziger Jahren des 15. Jahrhunderts, die wesentlichen Impulse gegeben haben 8 , alle Franken, die längere Zeit in Norditalien studiert hatten: Gregor Heimburg aus Schweinfurt ("}" 1472) 9 , Johannes Regiomontanus aus dem unterfränkischen Königsberg (1436-1476) 1H , die Vettern Hermann Schedel (1410-1485) 1 1 und Hartmann Schedel (1440-1514) 1 2 , ge6
Vgl. Wuttke: Celtis Protucius, S. 275. Z u r S c h r e i b u n g Conradus vgl. u n t e n S. 7 8 , A n m . 18. Cochlaeus: Brevis G e r m a n i a e descriptio (1512), S. 74. Z u Regiomontanus vgl. u n t e n A n m . 21. Vgl. a u c h Christoph Scheurl d.J., d e r in e i n e m B r i e f v o n 1512 N ü r n b e r g das »emporium Europae« ( M a r k t Europas) n e n n t : S f / i i W - B r i e f b u c h 1, S. 96, N r . 6 4 ( E n d e O k t . 1512 an O t t o B e c k m a n n ) . y Z u m H u m a n i s m u s in N ü r n b e r g vgl. a u ß e r Kraus: Gestalten, S. 582—615 n o c h die g u t e n Ü b e r b l i c k s d a r s t e l l u n g e n v o n Pfanncr: Geisteswissenschaftlicher H u m a n i s m u s ; Hofmann: N a t u r wissenschaftlicher H u m a n i s m u s ; f e r n e r Rupprich: H u m a n i s m u s , S. 2 1 - 2 5 ; Strauss: N u r e m b e r g , S. 231—283. Vgl. z u r Blütezeit a u c h Wuttke: H u m a n i s m u s (mit e i n e r g u t e n Z u s a m m e n s t e l l u n g w i c h t i g e r Literatur z u m N ü r n b e r g e r H u m a n i s m u s a m E n d e des Aufsatzes). 1
9
Vgl. Johanek: H e i m b u r g (Lit.). Vgl. Kraus: Gestalten, S. 561 f m i t A n m . 3 (Lit.); Bues: R e g i o m o n t a n (Lit.); vgl. u n t e n A n m . 20. 10
" Vgl. Herrmann: R e c e p t i o n , S. 30—40 u n d S. 75—92; Caesar: Schreyer, S. 116 m i t A n m . 81 (Lit.); hier auf S. 104—135 a u c h Generelles z u m N ü r n b e r g e r H u m a n i s m u s . Vgl. Rücker: S c h e d e i s c h e W e k c h r o m k ; dies.: W e l t c h r o n i k , S. 17—23 ( Ü b e r b l i c k ü b e r die m i t Schedel v e r b u n d e n e n H u m a n i s t e n u n d H u m a n i s t e n f r e u n d e N ü r n b e r g s ) . Vgl. a u c h Caesar. Schreyer, S. 1 1 5 - 1 1 8 .
2. Reichsstädtischer
Bürgerhumanismus
in Franken
5
bürtige Nürnberger, der bereits erwähnte Conradus Celtis aus Wipfeld (1459— 1508) 1 3 und Willibald Pirckheimer aus Nürnberg (1470-1530) 1 4 , der sogar sechs Jahre (1489—1495) in Italien geweilt hatte, ehe er in den folgenden 25 Jahren zusammen mit Albrecht Dürer (1471-1528) 1 5 seine Heimatstadt auf den Höhepunkt ihrer humanistischen Renaissancekultur führte. Auch Dürer war 1495 von seiner ersten Italienreise nach Nürnberg zurückgekehrt. Aber nicht nur an die herausragenden Humanisten ist zu denken, sondern auch an die vielen mehr oder weniger humanistisch geprägten Söhne ehrbarer Nürnberger Familien, die nach ihren italienischen Studienaufenthalten 16 , Bildungs- und Handelsreisen einflussreiche Stellen der Stadt, Ehrenämter und berufliche Positionen, einnahmen: als Ratsherren, Schöffen, Genannte des Größeren Rats, juristische Ratskonsulenten, Stadtärzte, Pröpste usw. Keineswegs sind sie in der Mehrzahl als >Humanisten< zu bezeichnen, aber doch als Humanistenfreunde und Sympathisanten, die den humanistischen Bildungsidealen wohlwollend, verständnisvoll und fördernd gegenüberstanden. Dieser Personalschub der aus Italien heimkehrenden Humanisten und Humanistenfreunde verstärkte sich zusehends seit etwa 1475 und schuf das für den Humanismus charakteristische Klima eines intensiven persönlich-literarischen Kommunikationsnetzes. Unter welchen Bedingungen entwickelte sich nun der reichsstädtische Humanismus in Franken? W i r werden damit die Frage nach den wesentlichen allgemeinen Merkmalen des Humanismus verbinden und fragen, welche besondere Prägung die Ethik des reichsstädtischen Humanismus in Nürnberg empfing. U n d schließlich werden wir einen Blick auf das Verhältnis dieser humanistisch-städtischen Bewegung zur reformatorischen Bewegung werfen.
2. Reichsstädtischer Bürgerhumanismus in Franken Wenn man von einem reichsstädtischen Humanismus in Franken spricht, dann müßte man — so wäre zu erwarten — nicht nur Nürnberg berücksichtigen, sondern auch Reichsstädte wie Rothenburg, Windsheim, Schweinfurt und Weißen-
' Vgl. Wuttke: Celtis Protucius (Celtis-Literatur seit 1976); zur älteren Literatur vgl. ders.: Celtis. Zu Celtis und Nürnberg vgl. besonders Hartmann: Celtis. 14 Vgl. Rupprich: Pirckheimer (Lit.); Holzberg-. Pirckheimer (Lit.). Zur Dauer von Pirckheimers Italienaufenthalt in Padua und Pavia (Okt. 1489-Juli? 1495) vgl. Thieme: Corpus Juris, S. 2 6 3 ; vgl. unten Anm. 210. 15 Vgl. Albrecht Dürers Umwelt; Albrecht Dürer 1471-197i, darin besonders S. 1 5 2 - 1 6 8 (Umwelt: der Humanismus). W i e sehr man Dürer nicht nur als bildenden Künstler der Renaissance, sondern auch als literarisch-geistig ambitionierten Vertreter der humanistischen Bildungsbewegung verstehen muß, wird eindrucksvoll deutlich bei Schubert: Spengler, S. 119—124. Vgl. auch unten Kap. 2. 16 Vgl. Kreß: Gelehrte Bildung; Goldmann: Studenten; Wachauf: Juristen, S. 81 f. Vgl. auch die von Goldmann angelegte Studentenkartei in Nürnberg StA, F5 Q N G 917 (Kartei über N ü r n b e r ger Studenten an europäischen Universitäten vom 15. bis zum 17. Jh.).
6
Humanistische
Ethik und reichsstädtische
Ehrbarkeit
bürg und über den Fränkischen Reichskreis hinaus auch Städte wie Schwäbisch Hall, Dinkelsbühl oder Nördlingen, die in engem Kontakt zu N ü r n b e r g standen und keine Politik ohne N ü r n b e r g machen konnten. Ansatzpunkte für humanistische Bildungsbestrebungen in diesen Städten waren Institutionen wie Lateinschulen, städtische Predigerstellen, Klöster und das Ratsschreiberamt. In diesem Zusammenhang begegnen wir hier und da vereinzelten Ansätzen zu einer humanistischen Kultur 1 7 . Das Auffallende im Jahrhundert vor der R e f o r m a t i o n ist allerdings, daß es außerhalb Nürnbergs in den fränkischen Reichsstädten keine Ausbildung eines humanistischen Zentrums und keine bemerkenswerte humanistische Bewegung gegeben hat. Bedeutende Humanisten, die aus diesen Städten hervorgingen, fanden andernorts ihr Wirkungsfeld, so z.B. die beiden Schweinfurter Gregor Heimburg, der u.a. jahrzehntelang (im Zeitraum von 1435—1461) als juristischer Berater im Dienste der Stadt N ü r n b e r g stand 18 , und Johannes Cuspinian, der seit 1492 zur Mittelpunktsgestalt im Wiener Humanistenkreis u m Kaiser Maximilian I. aufstieg. Der oft so selbstverständlich gebrauchte Begriff des >Bürgerhumanismus< 19 , der aus der Beschäftigung mit Metropolen wie Florenz, Venedig, Nürnberg, Augsburg oder Basel gewonnen ist, erfährt also von den kleinen Reichsstädten her eine gewisse Problematisierung und Relativierung. Es stimmt nicht, daß es im 15. Jahrhundert zu einer automatischen Verbindung und sozusagen ganz natürlichen Symbiose von reichsstädtischem Bürgertum und Humanismus gekommen sei, zu j e n e m oft — und mit einem gewissen R e c h t — beschriebenen Ineinanderfließen der bürgerlichen Mentalität der Kaufleute mit ihrer ökonomisch kalkulierenden Rationalität und der humanistischen Geistigkeit der Intellektuellen. Die Vorgänge sind differenzierter darzustellen. Z u einem entfalteten reichsstädtischen Bürgerhumanismus im Sinne einer Bewegung und eines ausstrahlenden Zentrums kam es in Franken nur in der volkreichen städtischen Metropole, wo mehrere Bedingungen den Nährboden schufen: wo viele Geister zusammensaßen und sich Anregung geben konnten, wo eine breite städtische Oberschicht mit ihrem R e i c h t u m u n d ihren überregionalen, weltoffenen Interessen, wie sie durch den Fernhandel begünstigt wurden, die Grundlage für das Aufblühen einer solchen Bildungsbewegung schuf, wo durch diese Handelsverbindungen u n d die Studienaufenthalte der reichen Bürgersöhne das humanistische M u t t e r - und Vorbildland Italien präsent war — man denke nur an die intensiven wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Kontakte zwischen N ü r n b e r g und Venedig - , wo kunst- und wissenschaftsbeflissene Mäzene Aufträge erteilten, Bibliotheken oder 17 18
Vgl. Kraus: Gestalten, S. 6 0 2 .
Vgl. Joachimsohn: H e i m b u r g , S. 96—143 (Kap. IV: In N ü r n b e r g ) . 19 I m v e r a l l g e m e i n e r n d e n A n s c h l u ß an die g r u n d l e g e n d e n u n d sorgfältig d i f f e r e n z i e r e n d e n A r b e i t e n v o n Hans Baron, b e s o n d e r s ders.: Crisis; vgl. a u c h bereits Barons E i n l e i t u n g zu seiner E d i t i o n : ders.: Aretino, S. XI—XVI ( D e r F l o r e n t i n e r B ü r g e r h u m a n i s m u s ) . E i n e g u t e U b e r s i c h t ü b e r seine einschlägigen A r b e i t e n gibt Baron selbst in s e i n e m Aufsatz: ders.: Politische E i n h e i t ,
2. Reichsstädtischer
Bürgerhumanismus
in
Franken
7
erstklassige S c h u l e n e i n r i c h t e t e n , B i l d u n g s k a r r i e r e n f o r d e r t e n u n d ihre
pracht-
v o l l e n H ä u s e r z u m T r e f f p u n k t v o n G e l e h r t e n z i r k e l n m a c h t e n , w o es e i n
großes
R e s e r v o i r wohldotierter städtischer u n d kirchlicher Stellen für akademisch Gebildete gab u n d w o schließlich nicht n u r ein leistungsfähiges D r u c k g e w e r b e
bereit-
stand, s o n d e r n auch ein hochentwickeltes feinmechanisches H a n d w e r k ,
das
Z u s a m m e n a r b e i t mit den mathematisch-naturwissenschaftlich interessierten
in
Hu-
m a n i s t e n die n ö t i g e n I n s t r u m e n t e f ü r M e s s u n g u n d B e o b a c h t u n g herstellte. Diese ö k o n m i s c h e n , s o z i a l e n u n d m e n t a l e n V o r a u s s e t z u n g e n w a r e n n u r i n einer schen Reichsstadt gegeben: in
Kurz nachdem der humanistische Astronom und Mathematiker tanus nach
seinen
Studien-
fränki-
Nürnberg.
und
Regiomon-
Wanderjahren in Leipzig, W i e n ,
Italien
U n g a r n 1471 seinen Wohnsitz nach N ü r n b e r g verlegt hat20, k o m m t er in Brief an d e n R e k t o r der Universität Erfurt, Christian R o d e r , auf die
und
einem
erwähnten
V o r z ü g e N ü r n b e r g s zu s p r e c h e n , i n d e m er freilich n u r das f ü r i h n selbst W i c h t i g e n e n n t : »Nürnberg
Gestirnkunde
angefertigten
gänzlich
universalen dank
habe ich mir zum
der hier
Tauglichkeit
beruht,
zum
Gedankenaustausch
der Mobilität
dauernden Geräte, andern
mit
den
der Kaußeutegleichsam
Wohnort
besonders wegen
anderswo
ausgewählt
zum
einen
wegen
der
auf
denen
die
der astronomischen, der günstigen lebenden
das Zentrum
Gelegenheit
Gelehrten,
Europas
für
weil
darstellt,«21
einen
dieser
Ort
Hier kann
er s e i n e n h u m a n i s t i s c h e n D r a n g n a c h k o n k r e t e r E r f a h r u n g stillen, w o b e i er sich i m g l e i c h e n B r i e f n i c h t d e n S e i t e n h i e b a u f j e n e L e u t e v e r s a g t , »die heutzutage und
breit als hervorragende
nungen Stube
über und
die Bewegung
nicht
am Himmel
Astronomen
gelten,
der Gestirne zu
welche gelernt
anzustellen,
haben,
gewohnt,
weit
irgendwelche
die Sternkunde
Berechin
ihrer
betreiben«22.
S. 204f, A n m . 1, S. 207f, A n m . 2 u n d S. 2 1 1 , A n m . 3. Vgl. a u c h die A u f s a t z s a m m l u n g v o n detns.: H u m a n i s m . Z u r W ü r d i g u n g , a b e r a u c h z u r Kritik des B a r o n s c h e n Ansatzes vgl. Moeller. M e i n u n gen, S. 35—37. 211 Z u d e n letzten N ü r n b e r g e r J a h r e n Regiomontans (1471—1475), die d u r c h seinen T o d w ä h r e n d e i n e r R o m r e i s e 1476 ein f r ü h e s E n d e f a n d e n , vgl. Zittner. R e g i o m o n t a n u s , S. 124—177. 21 »Eam [seil, u r b e m N u r e m b e r g a ] enim mihi delegi domum perpetuum, tum propter commoditatem instrumentorum et tnaxime astronomicorum, quibus tote sideralis innititur diseiplina, tum propter universalem conversationemfacilius habetidam cum studiosis viris ubicumque vi tarn degentibus, quod locus ille perinde quasi centrum Europae propter excursum mercatorum habeatur.« B r i e f v o m 4. Juli 1471; ed.: Curtze: U r k u n d e n , S. 3 2 4 - 3 3 6 , hier S. 327. 22 »Hoc unum magis dolendum quam aeeipiendum censeo, quod hodie astronomi vulgo egregii vocitantur, qui calculos motuum caelestium utcunque promere didicerunt, in tugurio non in caelo astronomiam soliti.« E b d . , S. 326. Regiomontanus ist m i t seinen b a h n b r e c h e n d e n a s t r o n o m i s c h - m a t h e m a t i s c h e n F o r s c h u n g e n ein Beispiel dafür, w i e sehr die N a t u r k u n d e des 15. J a h r h u n d e r t s i h r e n Platz innerhalb des H u m a n i s m u s h a b e n k a n n , d e n n literarisches Q u e l l e n s t u d i u m d e r a n t i k e n A u t o r i t ä t e n u n d e m p i risches N a t u r s t u d i u m g e h ö r e n in seinen A u g e n z u s a m m e n . D e n u n m i t t e l b a r b e o b a c h t e n d e n u n d b e r e c h n e n d e n Z u g a n g z u r S t e r n k u n d e s u c h t Regiomontanus n a c h d e m Vorbild d e r a n t i k e n , i n s b e s o n d e r e d e r g r i e c h i s c h e n Forscher, etwa eines Hipparchos o d e r Ptolemäus; u n d d a r u m g e h ö r t zu seinen N ü r n b e r g e r P r o j e k t e n b e s o n d e r s die E d i t i o n der a u t h e n t i s c h e n , v o n d e n E n t s t e l l u n g e n d e r Späteren b e f r e i t e n Texte d e r w i c h t i g s t e n m a t h e m a t i s c h e n u n d a s t r o n o m i s c h e n W e r k e d e r G r i e c h e n u n d R ö m e r (vgl. B r i e f an Roder; e b d . , S. 324—326). D a ß m i t dieser O r i e n t i e r u n g a n d e r
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Humanistische
Ethik und reichsstädtische
Ehrbarkeit
3. Die reichsstädtische Ehrbarkeit Man muß das Gesagte unter sozialem Aspekt noch weiter einschränken. Der Begriff des >Bürgerhumanismusrepublikanisches< Bürgerphänomen, sondern die Spezialität einer Oberschicht, des sozial, wirtschaftlich, politisch und auch in der Kirche führenden Großbürgertums. So war auch in Nürnberg der Humanismus kein allgemeiner Bürgerhumanismus. Keineswegs wurde er von all den Schichten der Nürnberger Bevölkerung getragen, die im Besitz des Bürgerrechts waren 24 . Nur die soziale und wirtschaftliche Oberschicht der vornehmen Bürger, d.h. der Patrizier und der anderen >EhrbarenAd adolescentes de legendis antiquorum libris< in der lateinischen Ubersetzung des Florentiner Humanisten Leonardo Bruni gleich in zwei Auflagen unter dem Titel >De legendis libris gentilium< 1474 in Nürnberg herausgab; vgl. GW, Nr. 3 7 0 4 / 3 7 0 5 . Vgl. Wuttke: Beobachtungen, S. 126—130. Wuttke zitiert auch eine Kostprobe poetischer Bemühungen Regiomontans, ein in drei Distichen abgefaßtes Gedicht an den Leser am Ende seiner Ausgabe des >Astronomicon< des Marcus Manilius (ebd., S. 126f). D e n Zusammenhang zwischen Orientierung an der Antike, sprachlichem B e m ü h e n , Vordringen zu eigener, aus Beobachtung gewonnener Erfahrung und ethischer Zielsetzung, wie er bei Regiomontanus sichtbar wird, werde ich unten im R a h m e n des Humanismusbegriffs ausfuhrlicher behandeln. Vgl. Moeller: Meinungen, S. 36. Die beste Uberblicksdarstellung der Sozialstruktur Nürnbergs um 1500 gibt Endres: Sozialstruktur (Lit.). Wertvolle Hilfe durch mündliche Informationen über die sozialen Verhältnisse im frühneuzeitlichen Nürnberg erhielt ich durch Herrn Kollegen Rudolf Endres und Herrn Archivdirektor i. R . Dr. Gerhard Hirschmann. Dafür sei auch an dieser Stelle herzlich gedankt. 23 24
2 5 Zur Nürnberger Ehrbarkeit einschließlich des Patriziats vgl. besonders Hirschmann: Patriziat (hier ist die wichtigste ältere Literatur zitiert); Hofmann: Nobiles Norimbergenses; Toch: Mittelschichten, besonders S. 147—155 (mit einem weiten Begriff von >MittelschichtEhrbarkeitGemeinen MannsEhrbarenerbarkeit< (erberkeit, erbertet, ehrbarkeit u. ä.) läßt sich als Bezeichnung für die sozial Vornehmen schon vor der R e f o r m a t i o n nachweisen (vgl. D W b 3, S. 53 s.v. >Ehrbarkeiterbar< oder >erber< (noch lange ohne h). Bemerkenswert ist, w i e sehr die Bedeutung des Wortes schwankt und schillert. Neben der sozial-ständischen A n w e n d u n g von >erber< auf die vornehme Oberschicht (bisweilen nur auf die ratsfähigen Geschlechter und ihre Mitglieder) findet sich eine städtische, christliche und humanistische Ausweitung des Begriffs i m Sinne eines allgemeinen Ethos: erbar/honestus = anständig, sittsam, tugendhaft (auch von einer armen Magd). Diese weitere Bedeutung des honestum läßt sich bis in die Antike (besonders die Stoa) zurückverfolgen. A u f die wichtigen und engen Beziehungen, die im spätmittelalterlichen Nürnberg zwischen d e m sozialen und dem weiteren ethischen Ehrbarkeitsverständnis bestanden, kann in diesem Aufsatz nicht näher eingegangen werden. Doch werden sie gelegentlich anklingen. 26
Willax:
311 Vgl. die (freilich fehlerhafte und nicht sehr genaue) Liste, die Christoph Scheurl d. A. (der Vater des Ratskonsulenten) u m 1500 über die Größe des Vermögens von 100 N ü r n b e r g e r B ü r -
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Ethik und reichsstädtische
Ehrbarkeit
und Verschuldung wurden als unehrbar angesehen und schlössen von den Ehrenämtern der Stadt aus 31 . Zwar muß man auch in Nürnberg grundsätzlich zwischen der sozialen und wirtschaftlichen Schichtung differenzieren, doch war — bei der engen Verquickung des Ehrverständnisses mit dem ökonomischen Status verständlich — die »wirtschaftliche Oberschicht [...] weitgehend identisch mit den auch politisch und vom Sozialprestige her führenden Familien in Nürnberg« 3 2 , also mit der Ehrbarkeit. Die Wohlhabenden bildeten das Reservoir für die Ehrbarkeit. Allerdings bedeutete, wie gleich näher zu sehen ist, Reich-sein nicht automatisch auch Ehrbar-sein. Die Nürnberger >Ehre< war in dominierender Weise ein Kaufmannsphänomen, also die Ehrbarkeit der auch als >Verleger< und gewerbetreibenden Unternehmer tätigen, vor allem auch im Montanwesen Mitteldeutschlands und Österreichs engagierten Großkaufleute 3 3 . Ausgeschlossen von der Ehrbarkeit waren um 1500 prinzipiell die Familien der - auch der zu Wohlstand gekommenen — Handwerksmeister und kleineren Kaufleute und Krämer, wobei hier der Gesichtspunkt der Handarbeit ausschlaggebend war. In einer Epistel über die Verfassung Nürnbergs, die der Ratskonsulent Christoph Scheurl d.J. Ende 1516 verfaßte, grenzt er den Ehrbarkeitsbegriff folgendermaßen nach unten ab: Als Ehrbare mit ehrbarer Lebensweise (qui honeste vivunt) können solche Bürger gelten, die ihrem Lebensunterhalt nicht mit eigener Hände Arbeit nachgehen 3 4 . Eines der wesentlichen
gern — fast alle sind in die Ehrbarkeit aufgestiegene Neubürger der letzten zwei Generationen angefertigt hat. Die Vermögen reichen nach Scheurls Angaben von 1.000 fl. (20 Fälle) bis 100.000 fl. (3 Fälle); allerdings >nur< in 15 Fällen übersteigt das Vermögen die G r ö ß e von 1 5 . 0 0 0 fl. M a n muß dabei wissen, daß schon ein Vermögen von 1.000 fl. sehr stattlich war, denn beispielsweise lag der Jahreslohn eines qualifizierten Facharbeiters im Nürnberg des 15. Jahrhunderts unter 5 0 fl., und ein Haus in vornehmer Wohnlage (zwischen St. Sebald und Burg) kostete etwa 2 7 5 fl. (so das Dürerhaus am Tiergärtnertor 1509). Die Scheurlsche Liste ist ediert und analysiert bei Haller von Hallerstein: Größe. Zur Kaufkraft der Währung vgl. ebd., S. 170 und Dirlmeier: Untersuchungen; ferner (auf überholtem Forschungsstand) Weiß: Lebenshaltung. 3 1 Vgl. Schall: Genannten, S. 15. 20. 25. Grundsätzlich kann man sagen, daß die Kriterien, die nach Schall für eine ehrenvolle Beauftragung mit dem Genanntenamt des Größeren Rats erfüllt sein mußten, auch allgemein als Kriterien für Ehrbarkeit galten. Das hängt mit der engen Verbindung von Ehrbarkeit und Ehrenamtlichkeit zusammen; dazu und zum Genanntenamt siehe unten S. 12f. 32 Endres: Sozialstruktur, S. 196. Vgl. Stromer von Reichenbach: R e i c h t u m . 3 3 Bezeichnend ist, daß die Herrentrinkstube, das gesellige Zentrum der Patrizier und anderen ehrbaren Bürger, 1 4 9 7 / 9 8 in der neuerbauten Stadtwaage untergebracht wurde, denn die Stadtwaage, in der die Waren wegen der Verzollung verwogen werden mußten, war der geschäftliche Treffpunkt der Kaufleute; vgl. Schultheiß: Herrentrinkstube. 34 »Hi dicunter nominati et sunt, qui honeste vivunt, qui victum manibus non quaeritant [...].« Christoph Scheurl d.J. : Epistel an Johannes von Staupitz (15. Dez. 1516), cap. 3; Ausgabe von Werminghoff: Celtis, S. 212—277, hier S. 215. Deutsche Ubersetzung: »die werden nun all mit einander und ein ieder in sonderhait genennet die genannten. es sein leut eins erbarn lebens und wandels, die ir narung mit eherlichen [ = ehrbaren] dapfern [— ansehnlichen, unternehmerisch bedeutenden] gewerben und nicht mit verachtem hantwerke uberkomen [ . . . ] . « Ausgabe von Hegel: Chroniken 5, S. 781—804, hier S. 787,13— 16. Scheurl (zur Person vgl. unten Anm. 83) hat die Epistel lateinisch verfaßt. D i e deutsche Ubersetzung stammt nicht von ihm selbst, doch geht sie auch in die erste Hälfte des 16. Jahrhun-
3. Die reichsstädtische
Ehrbarkeit
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prinzipiellen Unterscheidungsmerkmale zwischen dem >ehrbaren< sozialen Status der Oberschicht und der nicht-ehrbaren Lebensform der Mittel- und Unterschicht lag also in der manuell-körperlichen Erwerbsweise der Handwerker und der kleineren Kaufleute und Krämer, die noch selber die Waren anpacken und verkaufen, »selbst zu Kram und Laden stehen«. Die nicht körperliche Arbeit der größeren Kaufleute, daneben auch der Rentiers und Grundbesitzer, war die normalerweise notwendige Voraussetzung für die Zugehörigkeit zur Ehrbarkeit 35 . Von daher versteht man auch, wie leicht die ebenfalls nicht körperlich arbeitenden Inhaber literarisch-akademisch gebildeter Berufe in diese obere Gesellschaftsschicht integrierbar waren, vor allem nach der Mitte des 15. Jahrhunderts, als im Zuge der voranschreitenden Verschriftlichung und Rationalisierung bzw. Technisierung der Verwaltung, der Rechtsprechung, des Handels und Gewerbes die litterati und docti, die Vertreter professioneller Bildung, eine eminente Bedeutung und ein entsprechend steigendes Ansehen in der Stadt gewannen. Freilich genügten die genannten Voraussetzungen des Reichtums und der nicht-körperlichen Tätigkeit nicht allein, um zur sozialen Elite der Ehrbaren zu gehören. Mancher Wohlhabende, der ohne eigene Handarbeit Handel trieb, war dennoch nicht ehrbar. Andere Bedingungen mußten erfüllt sein, die in den Bereich des Ethos, der ideellen Werte und Normen der Reichsstadt, hineinführen: die willige Bereitschaft, sich dem patrizischen Ratsregiment, seinen B e schlüssen, Gesetzen, Urteilen und Vorstellungen von Ordnung, Anstand, Sitte und Zucht gehorsam unterzuordnen; der sittlich-christliche Lebenswandel in der Vermeidung >grober< Sünden wie Mord, Diebstahl, Ehebruch, Meineid, Selbstmordversuch; untadeliges Leben in finanziellen Dingen, d.h. vor allem Unbestechlichkeit und keine übertriebene Gewinnsucht; gemeinnützige Einstellung gegenüber der Bürgerschaft, der tatkräftige und opferbereite Einsatz zum Schutz und zur Mehrung des Ansehens der Stadt, zum irdischen Wohl und ewigen Heil ihrer Bürger; dazu zählt vor allem die fromme Stiftungsfreudigkeit im sakralen und sozialen Bereich — eine Höchstform ehrbaren, ehrenhaften Verhaltens 36 . Vor allem aber - und das hängt mit der zuletzt erwähnten bürgerlich-kirchlichen Gemeinschaftsbezogenheit eng zusammen — zeigte sich Ehrbarkeit in der derts zurück und besitzt durch die Verwendung der in Nürnberg üblichen frühneuhochdeutschen Fachtermini und dank erläuternder Umschreibungen und Ergänzungen einen ebenfalls hohen Wert. Da diese Erweiterungen einen etwas späteren Zustand widerspiegeln können, muß man sich, wenn man an der vorreformatorischen Situation und Scheurls präzisem Wortlaut interessiert ist, immer an den lateinischen Urtext halten (der allerdings nur in zwei Druckausgaben des ausgehenden 17. Jahrhunderts überliefert ist). — Zum Kriterium der nicht-handwerklichen Tätigkeit der Ehrbaren vgl. das Tanzstatut von 1521, das einige vornehme, aber nicht-patrizische Familien zum Tanz im Rathaussaal zuläßt, »sofern sie sich ehrlich [= ehrbar] und redlich [= pflichtgemäß, wie es der Ehrbarkeit geziemt] halten, nichts unerbars handelten oder Handwerkh treiben«; Ausgabe des Tanzstatuts bei Aign: Ketzel, S. 106—113, hier S. 107 f. 35 Vgl. Schall: Genannten, S. 15. 36 Zu den aufgeführten Bedingungen und anderen mehr vgl. ebd., S. 14—26.
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Humanistische
Ethik und reichsstädtische
Ehrbarkeit
Fähigkeit und Bereitschaft, ein städtisches Ehrenamt zu übernehmen, und sie zeigte sich in der Beauftragung mit einem solchen öffentlichen Amt, die dem Träger das Zeugnis der Ehrbarkeit ausstellte. Ehrbar-sein und Ehrenamt waren eng miteinander verbunden, ja man kann sagen: Ehrbarkeit besteht in der Befähigung zum Ehrenamt. Diese war freilich ohne Wohlstand nicht möglich, denn erst das ausreichende Vermögen schuf die >Abkömmlichkeit< für Ehrenämter 3 7 . D e n entscheidenden Durchbruch zur Ehrbarkeit der Amter bot das Genannten-Amt, d.h. die Mitgliedschaft im Größeren R a t der Stadt, der — einschließlich der patrizischen Vertreter — in den zwei ersten Jahrzehnten des 16. Jahrhunderts etwa 200 bis 250 Personen umfaßte 3 8 . Er besaß zwar nur eine sehr geringe politische Entscheidungskompetenz, doch hatten die Genannten wichtige Aufgaben als Organe der Rechtspflege, besonders als Zeugen und Siegler bei Verträgen, Testamenten und anderen U r k u n d e n und als Zeugen vor Gericht und Rat, inne 3 9 . Wer in den Größeren R a t aufgenommen wurde, galt damit als eine »vertrauenswürdige, für die öffentlichen Funktionen geeignete Person« 40 . Das Genanntenamt war also eine Schlüsselstellung, denn es öffnete die T ü r zu weiteren wichtigen Ehrenämtern der Stadt- und Kirchenverwaltung, j e nach familiärer Herkunft bis hinauf zu den Amtern der Ratsherren, Viertelmeister, des Stadtrichters, der Schöffen, Kirchenpfleger usw.41 Allerdings darf man sich das Verhältnis zwischen Zugehörigkeit zur Ehrbarkeit und Mitgliedschaft im Größeren R a t nicht zu einfach vorstellen. In der Regel wurde man Genannter, weil man aus einer ehrbaren Familie der sozialwirtschaftlichen Oberschicht stammte und persönlich als vertrauenswürdig galt. In diesem Fall trug das Amt dazu bei, daß die familiäre und persönliche Ehre gemehrt wurde. Dies gilt auch für die Gelehrten, besonders die Doktoren, die schon von Bildung und Berufs wegen als Glieder der ehrbaren Oberschicht galten 413 . Gelegentlich aber konnten auch Angehörige nicht-ehrbarer Familien und Berufe i7 A n dieser prinzipiellen V e r b i n d u n g v o n E h r e n ä m t e r n u n d s o l i d e m V e r m ö g e n ä n d e r t a u c h die Tatsache nichts, d a ß in N ü r n b e r g f ü r b e s t i m m t e E h r e n ä m t e r finanzielle E n t s c h ä d i g u n g e n bezahlt w u r d e n ; vgl. Schall: G e n a n n t e n , S. 81; Caesar: Schreyer, S. 2 3 f. 38
D i e Z a h l stieg seit d e r ersten H ä l f t e des 14. J a h r h u n d e r t s (1330: 78 G e n a n n t e ) an, e r r e i c h t e 1520 e i n e n Stand v o n 2 6 6 u n d 1674 e i n e n H ö c h s t s t a n d v o n 5 1 6 G e n a n n t e n . Vgl. die einschlägige A r b e i t v o n Schall: G e n a n n t e n , S. 130. 39
Vgl. e b d . , S. 2 9 - 6 0 . Hofmann: N o b i l e s N o r i m b e r g e n s e s , S. 121. Z u m w i c h t i g e n K r i t e r i u m d e r V e r t r a u e n s w ü r digkeit (»fide digni«, »die t r i w e n u n d eren w i r d i c sint«) vgl. a u c h Schall: G e n a n n t e n , S. 14. 41 Vgl. u n t e n A n m . 140 (die A m t e r Sebald Schreyers). 4U D e r erste D o k t o r , d e r i m Z u g e d e r w a c h s e n d e n B e d e u t u n g n i c h t t h e o l o g i s c h - p r o f e s s i o n e l ler, b e s o n d e r s juristischer G e l e h r s a m k e i t in das G e n a n n t e n a m t b e r u f e n w u r d e , w a r 1461—1466 ein Hans Loclmer; vgl. Schall: G e n a n n t e n , S. 131 u n d S. 133, A n m . 7 1 9 . Er ist vielleicht identisch m i t Dr. Johannes Lochner (f 1491), D r . m e d . 1430 zu P a d u a , a u c h S t u d i u m d e r R e c h t s w i s s e n s c h a f t , Stadtarzt in N ü r n b e r g 1438, n a c h d e m T o d seiner Frau (einer P i r c k h e i m e r i n ) E i n t r i t t in das A u g u s t i n e r c h o r h e r r e n s t i f t N e u n k i r c h e n a. B r a n d 1467; vgl. Wachau/: J u r i s t e n , S. 44, N r . 89; n i c h t zu v e r w e c h s e l n m i t s e i n e m S o h n , d e m Propst v o n St. Sebald Dr. Johannes Loclmer (j" 1484): vgl. u n t e n A n m . 112. 40
3. Die reichsstädtische
Ehrbarkeit
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zu Mitgliedern des Größeren Rats ernannt werden. In diesem Fall wurde die Tür zur Ehrbarkeit durch das Genanntenamt überhaupt erst geöffnet, jedenfalls für die betreffende Person, möglicherweise dann auch für die Familie. Solche persönlichen Erhebungen zur Ehrbarkeit wurden etwa reichen und angesehenen Handwerksmeistern und Künstlern zuteil — Albrecht Dürer ist das bekannteste Beispiel 42 . Die manuell-körperliche Erwerbsweise schloß also, obwohl sie als unehrbar galt, nicht vom Aufstieg in die Ehrbarkeit aus. Es gab somit ehrbare Genannte aus unehrbaren Familien der Mittelschicht. Umgekehrt gab es in Nürnberg viele ehrbare Familien, die nicht im Größeren R a t repräsentiert waren. Schon die Zahlenverhältnisse zeigen das: Nach glaubwürdigen Schätzungen darf man annehmen, daß die familiäre Ehrbarkeit Nürnbergs, also die angesehenen Familien der Reichen und sehr R e i c h e n unterhalb des Patriziats, deren Angehörige für das Genanntenamt in Frage kamen, um 1500 über 3 0 0 Familien umfaßte 4 3 , d. h. knapp fünf Prozent der Einwohnerschaft. Da R e i c h t u m allein als Kriterium für Ehrbarkeit nicht ausreichte, ist es begreiflich, daß die wirtschaftliche Oberschicht der R e i c h e n (ca. 6—8%)44 die soziale O b e r schicht der Ehrbarkeit wie ein etwas größerer konzentrischer Kreis umgab. Im Größeren R a t saßen, wie gesagt, vor der Reformation nur 2 0 0 bis 2 5 0 Genannte, davon ein großer Teil Patrizier (von 250 etwa 100) 4 5 und eine gewisse Zahl (etwa 20—25) 46 aus unehrbaren Familien, also nicht familiär, sondern nur persönlich Ehrbare. Man kann also schätzen, daß kaum wesentlich mehr als ein Drittel der nicht-patrizischen ehrbaren Familien im Größeren R a t vertreten war. Manche dieser Familien saßen kontinuierlich über einen längeren Zeitraum, manchmal
4 2 Vgl. Roth. Genannten, S. 55 (Dürers Aufnahme m den Größeren R a t 1509). Zu Dürers Teilnahme an einem exklusiven Essen von Ratsherren und auswärtigen Gesandten, zu dem als einziger Nicht-Ratsfähiger außer Dürer nur noch der (ebenfalls stark humanistisch beeinflußte) Ratsschreiber Lazarus Spengler (vgl. unten Anm. 91) geladen war, vgl. Schneihögl: Ratsmahl. Dürer verkehrte auch im Sfanpit;: Freundeskreis, zu dem mehrheitlich Patrizier und sonst nur Mitglieder ehrbarer Familien gehörten (vgl. unten S. 6 0 f und S. 3 7 3 f mit Anm. 158). Dürer war allerdings — und das spielte für das Sozialprestige eine wichtige R o l l e — ehrbar verheiratet. Seine Frau Agnes Frey war die Tochter des vermögenden und >kunstreichen< Technikers und Genannten des Großen Rats Hans Frey und der Patrizierin Anna Rummel; vgl. Albrecht Dürers Umwelt, S. 35—55 (Gerhard Hirschmann); Albrecht Dürer i41i—197i, Nr. 17 (Heirat Hans Frey-Anna Rummel) und Nr. 18 (Der kunstreiche Hans Frey). 4 3 Vgl. Endres: Sozialstruktur, S. 196, der fiir die Zeit vor und nach 1500 eine Zahl von 300— 4 0 0 ehrbaren Familien schätzt. 4 4 Ebd., S. 196 (nach einer Vermögensschätzung des Rats von 1568); vgl. Schuhheiß: Mittelschicht, S. 146, der für 1397 eine wirtschaftliche Oberschicht von 6 , 6 % errechnet. Zu den Handwerkern unter den »nichtpatrizischen Reichen« (mit einem Vermögen von 1000 Gulden und mehr) vgl. Tocli: Mittelschichten, S. 131—140 (in den Listen der Jahre 1497—1504: 221 reiche Handwerker). l ) Vgl. Aign: Ketzel, S. 96: »Im Jahr 1510, als gleichzeitig 3 Ketzel und 2 Ketzel-Schwiegersöhne [ . . . ] Genannte waren, gab es deren etwa 250, darunter ungefähr 100 Patrizier.« 4 6 Zur Zahl der Handwerker-Genannten ( 1 5 0 3 - 1 5 1 9 : 25 Neuaufnahmen) vgl. Schall: nannten, S. 132 f.
Ge-
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Humanistische
Ethik und reichsstädtische
Ehrbarkeit
mit mehreren Personen, im Größeren Rat, andere stellten womöglich über Jahrzehnte hinweg keinen Genannten. All dies zeigt, wie sehr man innerhalb der reichsstädtischen Ehrbarkeit Nürnbergs differenzieren muß. Es gibt eine Ehrbarkeit der Familien und eine nur individuelle Ehrbarkeit der Einzelpersonen, letztere aufgrund des Aufstiegs zu professioneller Bildung und Gelehrsamkeit und/oder der Berufung ins Genanntenamt und zu weiteren Ehrenämtern (z.B. bei Handwerkern). Daß zwischen familiärer und personaler Ehrbarkeit vielfältige Wechselbeziehungen bestehen, sei nur beiläufig betont. Auch innerhalb der familiären und individuellen Ehrbarkeit ist zwischen verschiedenen Stufen der Ehre zu differenzieren. Eine R o l l e spielten dabei die Grade des Reichtums und der Stiftungsfreudigkeit, überhaupt Verdienste um die Stadt in vielfältigster Hinsicht, das Niveau der beruflichen Stellung von Gelehrten, das Gewicht eines Ehrenamtes und die Frequenz bzw. Quantität, mit der bestimmte Familien und Personen solche Ämter erreichen und kumulieren konnten, die >Altersklasse< alteingesessener Familien 4 7 und die soziale Qualität der Heiraten, die persönliche und familiäre Ehrbarkeit erhöhen oder vermindern konnten 4 8 , kaiserliche Wappenverleihungen 49 und anderes mehr. Immer verbinden sich dabei quantitative und qualitative Aspekte, der Gesichtspunkt des plötzlich verändernden Ereignisses oder schnellen Aufstiegs und der Gesichtspunkt der Kontinuität und Dauer.
4 7 Z u r Einteilung in Altersklassen vgl. das Verzeichnis, das der Patrizier Lazarus Holzschuher von 9 4 besonders ehrbaren Familien, die 1511 in Nürnberg seßhaft gewesen sind, angefertigt hat: Nürnberg G N M , Hs. 16579, fol. 88r— 107v. Er erwähnt am Ende, daß er die Familien, die in den letzten 3 0 Jahren neu zugezogen sind, nicht berücksichtigt. Unter den Aufgeführten sind 4 0 patrizische und 5 4 patriziernahe Familien, wobei als Kriterium für Patriziernähe und besondere Vornehmheit Altehrwürdigkeit, Bekleidung mit herausragenden, normalerweise für Patrizier vorgesehenen Ehrenämtern, Konnubium mit Patrizierfamilien und >statthaftes< Vermögen Erwähnung finden. Die Nicht-Patrizier werden in drei Altersklassen von abgestuftem R a n g eingeteilt: 14 Familien, die bereits 150 Jahre, 18 Familien, die 100 Jahre, und 2 2 Familien, die erst seit späterer Zeit zu den vornehmen Nürnbergern gehören. — Zur Einteilung der Patrizierfamilien ebenfalls in drei Altersklassen (20 alte, 7 neue, 15 erst seit 1440 ratsfahige Familien) vgl. das Tanzstatut von 1521 nach Aign: Ketzel, S. 106; Endres: Sozialstruktur, S. 196. 4 8 Vgl. z . B . die 2 6 nicht-patrizischen, ehrbaren Männer, die im Tanzstatut von 1521 aufgrund ihrer patrizischen Ehefrauen zum Tanz auf dem Rathaus zugelassen werden, darunter auch der Ratskonsulent Christoph Scheurl d.J. und der Kaufmann Georg Spengler, der wie sein Bruder Lazarus und Scheurl zum ehrbaren Siiwpite-Freundeskreis zählt. Vgl. unten S. 61 mit Anm. 2 8 3 . Das Beispiel der Ehrenerhöhung durch die patrizische Ehefrau zeigt, daß die soziale Ehrbarkeit selbstverständlich auch ein Frauenphänomen war, allerdings nur im R a h m e n der Familie im geburtsständischen Sinne, nie dagegen wie beim Mann auch ad personam aufgrund von Beruf, Vermögen, Bildung und Amt. 4 9 Vgl. Riedenauer: Standeserhebungen. Herrn Akad. Direktor Dr. Erwin Riedenauer danke ich fiir wertvolle Hinweise zur Art des Verhältnisses zwischen Zugehörigkeit zur reichsstädtischen Ehrbarkeit und dem differenzierten Phänomen der bürgerlichen Familienwappen. Allgemein kann man sagen, daß die Führung eines Wappens die Familienehre nicht begründete, aber angemessen manifestierte und — insbesondere im Fall einer kaiserlichen Wappenverleihung — erhöhen konnte.
3. Die reichsstädtische
15
Ehrbarkeit
Vor allem aber ist zwischen einer Ehrbarkeit im weiteren und einer Ehrbarkeit im engeren Sinne zu unterscheiden 5 0 . Einerseits gibt es die — seit B e g i n n des 16. Jahrhunderts völlig exklusive - Ehrbarkeit der ratsfähigen Geschlechter des (später sogenannten) Patriziats 51 . Aus diesen altehrwürdigen patrizischen, nur noch zum Teil wirtschaftlich führenden Handelsfamilien, die sich in Analogie zum umliegenden Landadel als »stadtadelige Kaste« verstanden, präsentierten und abschlössen 5 2 , wurden 3 4 Sitze des (kleinen) Rats besetzt. Die acht Handwerker-Ratsherren waren nicht stimmberechtigt. U m 1 5 0 0 >blühten< etwa 4 0 ratsfähige Familien, deren Ehre wiederum nach Altersstufen gestaffelt war und deren R a n g auch gemäß den anderen erwähnten Kriterien für Ehrbarkeit sehr differenziert zu sehen ist. Andererseits gibt es die Ehrbarkeit im weiteren Sinne, die auch die nicht-patrizischen, nicht ratsfähigen ehrbaren Familien und Personen, sozusagen den zweiten Stand, miteinschloß. An der Spitze der nicht-patrizischen Ehrbarkeit stand ein enger Kreis von patriziernahen Familien, d. h. solcher Familien, die sich durch ihr Alter, ihre vornehmen Heiraten mit patrizischen Ehepartnern und die Befähigung zu b e sonderen Ehrenämtern, z. B . die Gerichtsfähigkeit 5 3 , auszeichneten und so über die Mehrheit der ehrbaren Bürger erhoben, variierend zwischen 5 0 und 100 Familien 5 4 . Lazarus Holzschuher nennt sie »besunder erbere leut«55. Z u r Elite dieser Ehrbarkeit unmittelbar unter dem Patriziat gehörten vor allem auch — ad personam — die durch ihre berufliche Position herausragenden, in der R e g e l aus vornehmen Familien stammenden juristischen Ratskonsulenten, deren Zahl in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts bis zur R e f o r m a t i o n stark anstieg 5 6 . Als 5 0 Diese der Quellensprache um 1500 (und später) entsprechende und daher sinnvolle U n t e r scheidung trifft — im Anschluß an den Nürnberger Stadtarchivar Georg Wolfgang Lochner — Aign: Ketzel, S. 15 f. Er korrigiert damit einen verbreiteten, aber historisch falschen und irreführenden Sprachgebrauch, der, »zwischen den patrizischen (oder ratsfahigen) Geschlechtern einerseits und den ehrbaren (oder gerichtsfahigen) Geschlechtern andererseits« unterscheidet. Statt dessen muß man zwischen den »ratsfähigen ehrbaren« und den »nichtratsfähigen ehrbaren« Familien unterscheiden. Vgl. auch bereits Meyer. Entstehung, S. 33. 31 Der letzte Schub von Neuzulassungen zum Patriziat erfolgte um 1500: Wolf 1499, Fürer 1501, Fütterer 1504, Welser 1504 (nach Tanzstatut 1521; Aign: Ketzel, S. 106). Danach fanden nur noch die Schlüsselfelder 1536 Aufnahme ins Patriziat. — Vgl. die oben in Anm. 25 genannte Literatur zum Nürnberger Patriziat, außerdem die wichtige Arbeit von Meyer. Entstehung.
Endres: Sozialstruktur, S. 196. Mit >Gerichtsfähigkeit< im engeren Sinne ist nicht einfach die Befähigung, vor Gericht als Zeuge auftreten zu können, und auch nicht die besondere Zeugenfähigkeit der Genannten (als Zeuge vor Gericht auftreten zu können, ohne einen Zeugeneid schwören zu müssen) gemeint, sondern speziell die bestimmten Familien zukommende Ehre, fiir die Gerichte der Reichsstadt die Schöffen stellen zu können, die das Urteil sprachen. 52
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5 4 Diese Zahl ergibt sich z . B . aus dem Verzeichnis Holzschuhers (wie Anm. 47) und aus vergleichbaren Listen (auch Ladezetteln) ehrbarer Bürger und Familien; vgl. Hegel: Ehrbaren; Aign: Ketzel, S. lOOf. 55
Nürnberg G N M , Hs. 16579, fol. 107v (Verzeichnis Holzschuhers;
vgl. oben Anm. 47).
Zur sozialen Gleichstellung der juristischen Ratskonsulenten mit den fuhrenden Männern des Rats vgl. unten S. 3 6 mit Anm. 181. 56
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Humanistische
Ethik und reichsstädtische
Ehrbarkeit
hoch dotierte Doktoren oder Lizentiaten der Rechtswissenschaft standen sie im Dienst des Magistrats. Gelegentlich waren es auch Patriziersöhne, die dieses ehrenvolle und immer wieder auch mit den Pfarrstellen von St. Sebald und St. Lorenz verbundene Amt der städtischen Rechtsgelehrten bekleideten 5 7 . Am Eindringen und an der wachsenden Bedeutung des Nürnberger Humanismus hatten sie, wie noch zu sehen ist, einen überaus wichtigen Anteil. Betont sei, daß die Grenze nach unten zwischen der Ehrbarkeit im weiteren Sinne und der sozialen Mittelschicht nicht scharf zu ziehen, sondern fließend ist 58 . Das gilt vor allem noch für die Jahrzehnte vor der Reformation, während in späterer Zeit die Standesschranken viel ausgeprägter und klarer abgestuft sind 59 , wie besonders die Kleiderordnungen des späten 16. Jahrhunderts zeigen 6 0 . Die
5 7 Nur etwa zur Hälfte waren die Ratskonsulenten gebürtige Nürnberger. M a n muß unterscheiden zwischen den Konsulenten der Frühzeit, die in einem eher lockeren, die Beratertätigkeit für andere Obrigkeiten nicht ausschließenden, oft auch nur vorübergehenden und gelegentlich von auswärts wahrgenommenen Dienstverhältnis zum Nürnberger R a t standen, und j e n e n K o n sulenten seit der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts, die durch ein beamtenartiges, lokal gebundenes Verhältnis dauerhaft und ausschließlich dem Magistrat verpflichtet waren. Vgl. die beiden wichtigen Untersuchungen: Ellinger: Juristen; Wachauf. Juristen, besonders S. 65—93. 5ii Man kann dies z . B . daran sehen, daß es städtische Ehrenämter gab, die unter dem G e nanntenamt lagen und ihren Inhaber gewissermaßen für höhere Würden vorbereiteten. So hatte der Nürnberger Humanist Pangratz Bernhaubt gen. Schwenter neben seiner Tätigkeit als Hochzeitslader auch noch 15 Jahre lang das wichtige Honig-, Nußmesser und Eichamt inne, ehe er dann — als Hauswirt des Rathauses — Genannter des Großen Rats wurde. Vgl. Wuttke: Histori Herculis, S. 242—251. Wuttke weist darauf hin, daß Dürers Schwiegervater Hans Frey (vgl. oben Anm. 42) auch erst städtischer H o n i g - und Nußmesser war, bevor er — ebenfalls als Hauswirt des Rathauses — unter die Genannten berufen wurde (1496). Man konnte also stufenweise in der Ehrenamtlichkeit emporsteigen, und die Frage ist nicht leicht zu beantworten, wo die Ehrbarkeit beginnt (vor allem wenn, wie im Falle Schwenters, schon der Vater als Handwerker Genannter des Größeren Rats war; ebd., S. 232). 3 9 Es ist mir sehr zweifelhaft, ob es in Nürnberg schon um 1500 j e n e funfständische Gliederung der Gesellschaft gegeben hat, die Hofmann: Nobiles Norimbergenses, S. 137f, »im Gegensatz zu den drei Stufen in Augsburg, U l m oder anderen oberdeutschen Städten« beschreibt. Hofmann beruft sich auf den Aufsatz von Bog: Reichsverfassung. Bog nennt bei seiner Darstellung der fünf Nürnberger Stände (S. 333) als Quellen die Polizeiordnungen Nürnbergs (Bader: Polizeiordnungen) und den Humanisten Conradus Celtis, ohne freilich den Fundort in den Polizeiordnungen und bei Celtis anzugeben. Weder bei Bader noch in Celtis' >Norimberga< oder anderen CeldsSchriften konnte ich die dargestellte funfständische Gliederung finden. Dagegen spricht Celtis in der zweiten Ausgabe der >Norimberga< (1502) von drei Ständen (ordines) in Nürnberg: plebs, mercatores und patres (Werminghoff: Celtis, S. 181 und S. 183). Ich vermute also, daß Bog — und mit ihm Hofmann — die spätere ständische Situation auf die Jahrzehnte vor der Reformation übertragen und damit dem spätmittelalterlichen Befund nicht gerecht werden, obwohl sich die nicht-patrizische Ehrbarkeit um 1500 deutlich als soziale Größe sui generis mit einem inneren Gefälle herauskristallisiert. Die Tendenz läuft auf Verfestigung und differenzierte Standesbildungen zu, aber noch sind die Abstufungen innerhalb der nicht-patrizischen Ehrbarkeit und die Grenzen nach unten fließend. 6 0 Vgl. Lehner: Mode. Lehner zeigt deutlich, daß die Kleidervorschriften vor der R e f o r m a t i o n noch nicht standesspezifisch sind und daß erst im Laufe des 16. Jahrhunderts ständische Motive der sozialen Abgrenzung und Differenzierung die Kleiderordnungen prägen. So entspricht der Kleiderordnung von 1583 eine Gliederung in vier Stände, der von 1618 eine in sechs Stände (S. 24f). Vgl.
3. Die reichsstädtische
Ehrbarkeit
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Ehrbarkeit in der Blütezeit des Nürnberger Humanismus, in den Jahren vor und nach 1500, ist offensichtlich nicht ohne weiteres mit dem gleichzusetzen, was man in der ständischen Ordnung des heraufziehenden neofeudalen, absolutistischen Zeitalters einen >Stand< nennt, auch wenn man in einem offeneren Sinne das Patriziat um 1500 den ersten Stand und die übrigen ehrbaren Bürger aus den R e i h e n der mercatores und litterati den zweiten Stand im Unterschied zum >Gemeinen Mann< nennen mag 6 1 . Terminologisch ist es im Anschluß an einen verbreiteten Sprachgebrauch sinnvoll, die ehrbaren Familien insgesamt als soziale Oberschicht 62 , speziell die ratsfähigen Familien der Patrizier als Führungsschicht und den aktuell amtierenden (kleinen) Rat als Stadtregiment oder Obrigkeit zu bezeichnen. Zusammenfassend kann man sagen, daß die ehrbare Oberschicht (einschließlich der Patrizier), d.h. die oberen 5% der Bevölkerung, durch berufsständische (Großkaufleute und Gelehrte), besitzständische (Reichtum) und geburtsständische (Alter der Familien und Heirat) Kriterien und durch Ehrenamtlichkeit gegenüber der Mittelschicht herausgehoben war. Sie vereinigte Macht, Reichtum, Ansehen, Bildung, Dominanz in der Kirche und Anspruch auf ethisch normierende Führungsqualität. Sie war führend in der Leistungsbereitschaft und im Leistungsvermögen auf allen Gebieten: in der Politik, in der Wirtschaft, in der Bildung, im sozialen Ethos, in der manifestierten Kirchlichkeit und in der Häufung respektabler guter Werke der Frömmigkeit. Diese Leistungsbereiche stehen in einem engen Zusammenhang, in einem Leistungskontinuum merkantiler Gesinnung des Erwerbens, Vermehrens, Verwaltens und Nutzens 63 . Wichtig ist dabei die Leitfunktion des Patriziats, an dessen Status, Habitus und Ethos sich die Ehrbarkeit insgesamt orientiert. Durch strenge Reglementierungen und Strafen führte die Oligarchie der Ratsfähigen nicht nur ein straffes Regiment, sondern verschaffte sie auch einem bestimmten Kanon von Ehrbarkeit, von dem, was als vornehm, anständig, geziemend und sittlich gelten konnte, Achtung 6 4 . Freilich orientierten sich dabei auch die Patrizier an bestimmten allgemeinen genossenschaftlichen Standards und Werten der Stadtgemeinde und an der traditionellen christlichen Ethik, und auch eine bestimmte allgemeine, nicht standesgebundene
auch Schall: Genannten, S. 133—136 und — über N ü r n b e r g hinausgehend — Eisenbart: Kleiderordnungen. 61 Vgl. oben A n m . 59 die Dreiteilung bei Conradus Celtis. 6 2 Gelegentlich w i r d der Terminus Mittelschicht(en) auch auf die Ehrbarkeit unter d e m Patriziat ausgedehnt; vgl. z . B . Toch: Mittelschichten, S. 1 2 f . 140. 2 1 9 und Caesar. Schreyer, S. 21. Es m a g vielleicht sinnvoll sein, die gleichen Familien unter verschiedenen Aspekten einmal zur (gehobenen) Mittelschicht und ein andermal zur Oberschicht zu rechnen, zumal die soziologische Kategorie der Schicht in einer allzu festgelegten A n w e n d u n g auf das Spätmittelalter o h n e h i n höchst problematisch ist. 6 3 Vgl. unten A n m . 140: der Prototyp Sebald Schreyer. 6 4 Das zeigen z.B. die Polizeiordnungen des spätmittelalterlichen N ü r n b e r g ; Bader: Polizeiordnungen.
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Humanistische
Ethik und reichsstädtische
Ehrbarkeit
Dimension humanistisch-philosophischer Ethik konnte dabei partiell Einfluß gewinnen. Was als ehrbar, anständig und rechtens galt, wurde nicht nur in einer Einbahnrichtung von oben, aber doch — gerade in Nürnberg — in extrem dominierender Weise vom Patriziat und der patriziernahen Oberschicht her festgelegt. Auf diesen Zusammenhang von sozialem Status und Ethos der Ehrbarkeit werde ich noch zurückkommen. Zunächst ist in der Wiederaufnahme des thematischen Fadens der personelle Zusammenhang zwischen Humanismus und reichsstädtischer Ehrbarkeit Nürnbergs noch genauer darzustellen.
4. Der Humanismus der Ehrbarkeit Die so vielfältig gestufte Ehrbarkeit der vermögenden Familien und Personen mit hohem Sozialprestige, diese — verglichen mit anderen Städten - relativ breite soziale und ökonomische Oberschicht war so gut wie ausschließlich die Trägerschicht des Nürnberger Humanismus 65 . Die feste Bindung des Humanismus an die reichsstädtische Ehrbarkeit war ein kontinuierliches Phänomen, das sich durch alle Phasen des Nürnberger Humanismus durchhielt. Die Welt- und Ordenskleriker unter den Humanisten bilden dabei keine Ausnahme. Sie gehörten zur kirchlichen Ehrbarkeit, d. h. zu den Personen des Klerus, die aufgrund ihrer Stellung in der kirchlichen Hierarchie, ihrer akademischen Bildungskarriere und Gelehrsamkeit und evtl. zusätzlich noch aufgrund ihrer Herkunft aus vornehmen städtischen Familien im Sozialprestige der bürgerlichen Ehrbarkeit gleichgestellt waren. Für die Jahrzehnte vor der Reformation sind folgende Kleriker als Humanisten zu nennen, deren Wirksamkeit z. T. auch noch in das Reformationszeitalter hineinreicht: der benediktinische Prediger an St. Sebald und Pfarrer von Gründlach bei Nürnberg Sigismund Meisterlin, der erste humanistische Chronist Nürnbergs (f nach 1489) 66 , die drei Schulmeister der 6:1 Die Frage nach d e m sozialen Ort der N ü r n b e r g e r Humanisten ist bisher vor allem behandelt bei Zorn: Stellung. In seiner knappen Studie unterscheidet Zorn zwischen drei H u m a n i s t e n g r u p p e n in N ü r n b e r g und Augsburg, zwischen den »seßhaften v e r m ö g e n d e n Humanisten«, den »festangestellten Lehrern« im städtischen Lateinschuldienst und den »amtlosen, w a n d e r n d e n G e lehrten der humanistischen philologischen >frei schwebenden IntelligenzNorimbergahöheren< Schulen der Reformationszeit, so die in der reformatorischen Bewegung stehenden R e k t o r e n der Sebalder Lateinschule Hans Denck (ca. 1500—1527) 92a und Sebald Heyden (1499—1561) 92b , so auch das vierköpfige humanistische LehrerS t a d t g e r i c h t k a m . Als Beisitzer u n d Schöffe a m Stadtgericht b e g e g n e t u n s Peter Stahel a u c h i m Ä m t e r b ü c h l e i n v o n 1516; vgl. Hegel: C h r o n i k e n 5, S. 8 0 7 - 8 2 0 , hier S. 810. V o n 1 5 1 3 - 1 5 2 0 w a r er G e n a n n t e r des G r ö ß e r e n R a t s . 85
Vgl. Liermann: H a l o a n d e r ; Kisch: H a l o a n d e r - S t u d i e n . Vgl. o b e n A n m . 11. 87 Vgl. o b e n A n m . 12. D i e Familie Schedel w i r d v o n Lazarus Holzschuher in s e i n e m Verzeichnis d e r b e s o n d e r s e h r b a r e n Familien N ü r n b e r g s ( N ü r n b e r g G N M , Hs. 16579, fol. 103r; vgl. o b e n A n m . 47) in d e r z w e i t e n Altersklasse d e r p a t r i z i e r n a h e n Familien a u f g e f ü h r t . Hartmann Schedel w a r in erster E h e m i t e i n e r Patrizierin {Magdalena Haller v o n B a m b e r g ) verheiratet; vgl. Aign: Ketzel, S. 156, A n m . 481. 86
88 Vgl. Goldschmidt: M ü n z e r , S. 30—42 (Überblick ü b e r d e n N ü r n b e r g e r Humanistenkreis); Pirckheimer. Briefwechsel 2, S. 32—34. Christoph Scheurl d. Ä. schätzt Münzers V e r m ö g e n auf 8 . 0 0 0 G u l d e n ; vgl. Haller von Hallerstein: G r ö ß e , S. 147. Münzer w a r v o n 1493—1506 G e n a n n t e r des G r ö ß e r e n Rats. Seine Tochter heiratete d e n Patrizier Hieronymus Holzschuher (vgl. u n t e n A n m . 120). 89 D e r Arzt, O r a t o r u n d P o e t a laureatus Dietrich Ulsen(ius) s t a m m t e aus d e m n i e d e r l ä n d i s c h e n K r a m p e n / O v e r i j s s e l u n d weilte ca. 1493—1502 in N ü r n b e r g . Vgl. Celtis: B r i e f w e c h s e l , S. 90f, A n m . 1; Goldschmidt: M ü n z e r , S. 4 0 f. 9,1 Vgl. Worsthrock: W y l e (Lit.). Niklas von Wyle war n u r v o n M ä r z bis D e z . 1547 in N ü r n b e r g ; vgl. Joachimsohn: H e i m b u r g , S. 101. 91 Vgl. Schubert: Spengler; u n t e n S. 2 0 4 A n m . 1 (Lit.). 1516 w u r d e Lazarus w i e sein j ü n g e r e r B r u d e r Georg (vgl. u n t e n A n m . 283) G e n a n n t e r des G r ö ß e r e n R a t s ; vgl. Roth: G e n a n n t e n , S. 61. A m 15. Febr. 1524 verlieh Kaiser Karl V. d e n B r ü d e r n e i n e n W a p p e n b r i e f , d e r v o n Erzherzog Ferdinand i m N a m e n Karls e i g e n h ä n d i g u n t e r s c h r i e b e n w u r d e ; vgl. Lochner: Lebensläufe, S. 26. — D a s h o h e Sozialprestige, das die jeweils zwei R a t s s c h r e i b e r d e r R e i c h s s t a d t genossen, zeigt sich a u c h in i h r e r h o h e n B e s o l d u n g , die in u n s e r e m Z e i t r a u m k o n s t a n t 2 0 0 £1. j ä h r l i c h b e t r u g u n d d a m i t das B e s o l d u n g s n i v e a u d e r g e l e h r t e n j u r i s t i s c h e n R a t s k o n s u l e n t e n e r r e i c h t e . Vgl. Schmied: Ratsschreiber, S. 99—105; Ellinger. J u r i s t e n , S. 155. 92 Vgl. Celtis: B r i e f w e c h s e l , S. 159f m i t A n m . 2; Puchner: Alt (Lit.). Christoph Scheurl d. Ä. gibt f ü r Alt ein V e r m ö g e n v o n 1.000 fl. an; vgl. Haller von Hallerstein: G r ö ß e , S. 164. 92a D e r h u m a n i s t i s c h geschulte u n d versierte Denck versah das A m t des Schulmeisters v o n St. Sebald v o n 1 5 2 3 - 1 5 2 5 . Vgl. Vogler: N ü r n b e r g , S. 2 6 3 - 3 1 0 (Lit.). 92b Heyden, aus e h r b a r e r N ü r n b e r g e r Familie s t a m m e n d , w u r d e 1521 R e k t o r d e r Lateinschule a m Heiliggeistspital u n d 1525 N a c h f o l g e r Dencks an St. Sebald u n d v e r b a n d zeitlebens m i t seiner r e f o r m a t o r i s c h e n G l a u b e n s h a l t u n g u n d seinen m u s i k t h e o r e t i s c h e n B e m ü h u n g e n starke h u m a n i stische Interessen u n d A k t i v i t ä t e n (z.B. Lwfeiaii-Ausgabe 1542). Vgl. Koset H e y d e n ; Wohnhaes: H e y d e n (Lit.).
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Humanistische
Ethik und reichsstädtische
Ehrbarkeit
kollegium des mit Melanchthons Hilfe 1526 gegründeten Egidiengymnasiums, Michael R o t i n g (1494-1588; R h e t o r i k und Dialektik) 93 , Eobanus Hessus (14881540; Poetik) 94 , Johannes Schöner (1477-1547; Mathematik) 9 5 und - als R e k t o r und Gräzist - der aus Bamberger Adel stammende Joachim Camerarius (15001574) 96 . Angehörige der ehrbaren Oberschicht waren schließlich auch die Vertreter des naturwissenschaftlichen Humanismus, außer den bereits genannten Johannes Werner und Johannes Schöner vor allem der große Bahnbrecher der Astronomie und Mathematik Johannes Regiomontanus (1436-1476) 9 7 , sein Schüler, der Kaufmann Bernhard Walther (ca. 1430-1504) 9 8 , und der patrizische Kaufmann, Seefahrer, Mathematiker, Geograph und Astronom Martin Behaim (1459—1506/ 7?), der 1492 den ältesten erhaltenen Erdglobus konstruierte 9 9 . Eine Sonderrolle in N ü r n b e r g spielte Albrecht Dürer (1471—1528), der als Künstler in die Ehrbarkeit aufstieg und sich auch als literarisch aktiver Humanist mit starken moralischreligiösen und mathematischen Interessen erwies 100 . Ein Sonderfall ist auch der städtische Zeremonienmeister Pangratz Bernhaubt gen. Schwenter (1481—1555), humanistischer Chronist und Literat, der, aus der Mittelschicht kommend, wie Dürer den Sprung in den Größeren R a t der Stadt schaffte 101 . Damit sind alle N a m e n der bedeutenderen Nürnberger Humanisten im Zeitraum von der Mitte des 15. Jahrhunderts bis etwa 1530 genannt. Es ist hinzuzufügen, daß auch jene Gestalten der humanistischen Ära Nürnbergs, die zwar nicht als Humanisten im eigentlichen Sinne, als Autoren und Entdecker, gelten k ö n nen, die aber doch als Humanistenfreunde, als humanistisch Interessierte u n d Angeregte eine wichtige fördernde und begleitende Rolle spielten 102 , daß auch diese in den weiteren Humanistenkreis Einbezogenen alle zur sozialen O b e r schicht der Ehrbarkeit oder gar zum Patriziat gehörten. U n t e r ihnen finden wir Vertreter aus allen bereits genannten Standes- und Tätigkeitsbereichen, vor allem 93 Vgl. Wölcker. G e s c h l e c h t e r b u c h 3, fol. 58a (zur E h r b a r k e i t d e r Familie); Will/Nopitsch: G e l e h r t e n l e x i c o n 3, S. 4 1 0 - 4 1 4 ; 7, S. 3 2 5 - 3 2 7 . 94 Vgl. Rupprich: Hessus (Lit.). 95 Vgl. Kraus-, Gestalten, S. 5 9 6 f m i t A n m . 3 (Lit.). 96 Vgl. Stählin: C a m e r a r i u s (Lit.); Kraus: Gestalten, S. 5 6 8 m i t A n m . 1 (Lit.); vgl. a u c h u n t e n A n m . 313. Z u m N ü r n b e r g e r u n d B a m b e r g e r Patriziergeschlecht d e r Kammermeister vgl. u n t e n A n m . 141. 97 Vgl. o b e n A n m . 10 u n d A n m . 20. 98 Vgl. Goldschmidt: M ü n z e r , S. 33f; Pirckheimer: B r i e f w e c h s e l , S. 199f, A n m . 16; Imhoff. N ü r n b e r g e r , S. 4 5 f . N a c h Christoph Scheurl d.A. besaß Walther ein V e r m ö g e n v o n 3 . 0 0 0 fl.; vgl. Haller von Hallerstein: G r ö ß e , S. 158. 1501 w u r d e er G e n a n n t e r des G r ö ß e r e n R a t s . 99 Vgl. Rathjens: B e h a i m (Lit.); Kraus: Gestalten, S. 5 9 5 f m i t A n m . 3 (Lit.); Kellenbenz: Behaim. 100 Vgl. o b e n A n m . 15 u n d A n m . 42. " " Vgl. o b e n A n m . 58; vgl. a u c h Wuttke: B e r n h a u b t . 102 Z u r Unterscheidung zwischen wirklichen Humanisten und nur m e h r oder weniger h u m a nistisch A n g e r e g t e n o d e r H u m a n i s t e n f r e u n d e n vgl. u n t e n S. 64. O b w o h l die U b e r g ä n g e f l i e ß e n d sind, d ü r f t e e i n e solche U n t e r s c h e i d u n g sinnvoll u n d hilfreich sein, w e n n m a n auf die S c h w e r p u n k t e d e r Interessen u n d T ä t i g k e i t e n achtet.
4. Der Humanismus
der Ehrbarkeil
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Angehörige der gelehrten, literarisch aktiven Berufe: juristische Ratskonsulenten wie Dr. Johannes Löffelholz (Janus C o d e s , 1448-1509) 1 0 3 und Dr. Konrad Schütz (f 1479) 104 , Stadtärzte wie Dr. Heinrich Geratwol (Geratswol, Gerath[e]wohl, lat. Euticus) 105 und Ulrich Pinder (f 1518) 106 , städtische Schreiber wie der Ratsschreib e r j ö r g (Georg) Spengler, der Vater des Lazarus Spengler (1423—1495)107, Mönche wie die beiden Prioren des Kartäuserklosters Georg Pirckheimer (f 1505) 108 u n d Martin Sogodunus (Prior von 1506-1523) 1 0 9 und der Benediktinerabt von St. Egidien Johannes Radenecker (ca. 1441—1504)110, N o n n e n wie die Klarissinnen Caritas (1467-1532) und Clara Pirckheimer (1481-1533), Schwestern Willibalds u n d nacheinander Äbtissinnen des Nürnberger Klaraklosters 111 , und Weltkleriker wie die juristisch gebildeten Pröpste Dr. Johannes Lochner von St. Sebald ( t 1484) 112 oder Dr. Georg Pfinzing (1435-1478) 1 1 3 und Dr. Anton Kreß (14781513) 114 von St. Lorenz. Unter den Kaufleuten ragen als Humanistenfreunde 103 Vgl. Celtis: B r i e f w e c h s e l , S. 97, A n r a . 2; Wachauf: J u r i s t e n , S. 45f, N r . 92; Hirschmann: LoefFelholz, S. 29. D i e Löffelholz g e h ö r t e n z u m N ü r n b e r g e r Patriziat. 104 Konrad Schütz e r w a r b w a h r s c h e i n l i c h 1465 in P a d u a d e n D o c t o r u t r i u s q u e iuris u n d trat bald d a n a c h als R e c h t s b e r a t e r u n d G e s a n d t e r in d e n D i e n s t des N ü r n b e r g e r R a t s . 1470 w u r d e er G e n a n n t e r , 1475 trat er als R a t s k o n s u l e n t in ein dauerhaftes Vertragsverhältnis z u m N ü r n b e r g e r R a t . In P a d u a g e h ö r t e er z u m h u m a n i s t i s c h e n Kreis N ü r n b e r g e r S t u d e n t e n u m Peter Luder (vgl. u n t e n S. 3 0 m i t A n m . 158). Vgl. Will/Nopitsch: G e l e h r t e n l e x i c o n 3, S. 599; Herrmann: R e c e p t i o n , S. 32. 3 4 f . 38. 51; Reimann: P i r c k h e i m e r , S. 1 2 2 - 1 2 4 u n d S . 126; Wachauf. J u r i s t e n , S. 56, N r . 119; b e s o n d e r s Klier: Schütz, S. 194—198. Klier weist n a c h , d a ß Konrad Schütz n i c h t m i t d e r r e i c h e n u n d p a t r i z i e r n a h e n B e r g u n t e r n e h m e r f a m i l i e Schütz v e r w a n d t ist, s o n d e r n aus w e n i g e r g u t e n V e r m ö gensverhältnissen s t a m m t , d o c h k a m sein Vater später zu b e a c h t l i c h e m W o h l s t a n d , d e r es i h m e r m ö g l i c h t e , d e m S o h n das teure I t a l i e n s t u d i u m zu finanzieren. 105 Vgl. Wökker. G e s c h l e c h t e r b u c h 2, fol. 88; Will/Nopitsch: G e l e h r t e n l e x i c o n 5, S. 299f; Herrmann: R e c e p t i o n , S. 96; Hallet von Hallerstein: G r ö ß e , S. 145. Heinrich Geratwol w i r k t e spätestens seit 1485 als Stadtarzt in N ü r n b e r g . Goldschmidt: M ü n z e r , S. 31 verwechselt i h n m i t d e m N ü r n b e r g e r Juristen Heinrich Geratwol (Euticus) d.J., der seine Studien 1492 in Ingolstadt b e g a n n , mit Conradus Celtis e n g v e r b u n d e n war u n d später in B a m b e r g lebte; vgl. Celtis: Briefwechsel, S. 201, A n m . 1. 106 Vgl. Will/Nopitsch: G e l e h r t e n l e x i c o n 3, S. 181; 7, S. 1 5 8 - 1 6 0 ; Pinder: S p e c u l u m passionis, S. 5—10 ( K o m m e n t a r v o n Junghans). 107 Vgl. Schubert: Spengler, S. 4 2 - 5 5 ; Schmied: Ratsschreiber, S. 2 2 6 f . N a c h Christoph Scheurl d.A. besaß Spengler ein V e r m ö g e n v o n 3 . 0 0 0 G u l d e n ; vgl. Haller von Hallerstein: G r ö ß e , S. 1 5 6 f . Vgl. a u c h u n t e n , S. 350. 108 Vgl. Reimann: Pirckheimer, S. 43f u n d S. 1 8 1 - 1 9 6 ; Machilek: Klosterhumanismus, S. 2 5 - 2 7 . 109 Vgl. Machilek: K l o s t e r h u m a n i s m u s , S. 37f (Lit.). 1,(1 Vgl. e b d . , S. 2 0 - 2 5 (Lit.); Imhoff. N ü r n b e r g e r , S. 59f (von Machilek). 111 Es sei auf die w i c h t i g s t e n e u e r e P u b l i k a t i o n zu Caritas Pirckheimer u n d i h r e m Kreis h i n g e w i e s e n , d e n a u s g e z e i c h n e t e n Ausstellungskatalog: Caritas Pirckheimer i467—1532 (Lit.); vgl. a u c h Machilek: K l o s t e r h u m a n i s m u s , S. 38—41. 112 Vgl. Wölcker: G e s c h l e c h t e r b u c h 2, fol. 6; Will/Nopitsch: G e l e h r t e n l e x i c o n 2, S. 4 7 7 ; Herrmann: R e c e p t i o n , S. 5 0 f . 71 f. 114; Wachauf: J u r i s t e n , S. 4 4 f, N r . 90. Lochner, seit 1464 P f a r r e r v o n St. Sebald, w u r d e 1477 d e r erste Propst dieser Kirche. Z u g l e i c h tritt er ab 1467 als j u r i s t i s c h e r R a t s k o n s u l e n t in E r s c h e i n u n g ; vgl. Ellinger. Juristen, S. 162. E r ist n i c h t zu v e r w e c h s e l n m i t s e i n e m Vater, d e m Arzt Dr. Johannes Lochner (vgl. o b e n A n m . 41a). 113 Vgl. Will/Nopitsch: G e l e h r t e n l e x i c o n 3, S. 151f; 7, S. 141 f. Pfinzing w u r d e 1477 erster Propst v o n St. L o r e n z . Z u seinen h u m a n i s t i s c h e n N e i g u n g e n vgl. u n t e n A n m . 159. 114 Vgl. Merzbacher: K r e ß .
24
Humanistische
Ethik und reichsstädtische
Ehrbarkeit
besonders Patrizier hervor wie Hans VI. Tucher (1428-1491)' 1 5 , Wolfgang Stromer (1471-1552) 1 1 6 , Christoph Fürer d.Ä. (1479-1537) 1 1 7 , Hieronymus Ebner (1477—1532) 118 , Kaspar Nützel, der erste Übersetzer der 95 Thesen Luthers (1471P-1529) 119 , und Hieronymus Holzschuher (1469-1529) 1 2 0 . Der patriziernahe Kaufmann Sebald Schreyer wird wegen seiner besonderen Verdienste u m Celtis und seinen Kreis noch besonders hervorzuheben sein 121 , ebenfalls der Stadthauptmann Wilhelm von Hirnkofen wegen seiner Übersetzertätigkeit 1 2 2 . Schließlich sind auch die Nürnberger Drucker zu berücksichtigen, so besonders ein M a n n wie Anton Koberger (ca. 1440-1513), der von seinen ersten datierten Produktionen an (1472) neben der Hauptmasse an scholastischer und kirchenfrommer Literatur gelegentlich auch typisch Humanistisches in sein Verlagsprogramm aufnahm 1 2 3 . Er stieg dank seines wachsenden Reichtums in die H o n o r a tioren-Schicht Nürnbergs auf, wurde Genannter des Größeren Rats und heiratete 115 Vgl. Joachimsohn: T u c h e r s B u c h , S. 3—11; Herrmann-. R e c e p t i o n , S. 58—60. 6 9 - 7 2 . 114; Goldschmidt: M ü n z e r , S. 33; Grote: T u c h e r , S. 5 f. 3 0 f. 47 f. 6 0 - 6 4 ; Schwemmer: M ä z e n a t e n t u m , S. 41 f. 116 Wolf (gang) Stromer, d e r S o h n des R a t s h e r r n Ulman Stromer (j* 1509), w a r 1494 n a c h z w e i j ä h r i g e m S t u d i u m aus H e i d e l b e r g n a c h N ü r n b e r g z u r ü c k g e k e h r t . Vgl. Herrmann: R e c e p t i o n , S. 1 lOf; Biedermann: Patriziat, Taf. 4 6 8 (vier Jahre S t u d i u m ) . 117
Vgl. Kamann: C h r i s t o p h Fürer. Ebner hat die Universität Ingolstadt b e s u c h t , w a r d a n n u . a . i m D i e n s t Kaiser Maximilians, u m schließlich in N ü r n b e r g a u ß e r g e w ö h n l i c h schnell die Sprossen d e r Karriereleiter e m p o r z u k l e t t e r n ; 1 5 0 3 w u r d e er R a t s h e r r (einer d e r 13 J u n g e n B ü r g e r m e i s t e r ) , 1 5 0 8 e i n e r d e r 13 A l t e n B ü r g e r m e i s t e r , 1509 e i n e r d e r sieben A l t e r e n H e r r e n , 1514 e i n e r d e r drei O b e r s t e n H a u p t l e u t e , ebenfalls n o c h 1514 (nicht 1515) Z w e i t e r L o s u n g e r , 1524 Erster L o s u n g e r u n d d a m i t d e r f u h r e n d e Politiker d e r R e i c h s s t a d t . Vgl. N ü r n b e r g SA, R e p . 52b, A m t s - u n d S t a n d b ü c h e r N r . 3, A m t e r b ü c h l e i n 1514 = N r . 34; Lochner: Lebensläufe, S. 19f; Schultheiß: E b n e r . Ebner w a r in d e n J a h r e n u n m i t t e l b a r vor d e r R e f o r m a t i o n d e r b e v o r z u g t e Adressat f ü r W i d m u n g e n h u m a n i s t i s c h - f r o m m e r u n d f r ö m m i g k e i t s t h e o l o g i s c h e r S c h r i f t e n . So w i d m e t e i h m d e r R a t s s c h r e i b e r Lazarus Spengler 1514 die Ü b e r s e t z u n g einer Vita des H l . H i e r o n y m u s (vgl. u n t e n A n m . 268), Christoph Scheurl w i d m e t e i h m 1515 seine L e b e n s b e s c h r e i b u n g des L o r e n z e r Propstes Anton Kreß (vgl. u n t e n A n m . 240), o d e r Johannes von Staupitz w i d m e t e i h m z u m J a h r e s b e g i n n 1 5 1 7 seine lateinische A u s a r b e i t u n g d e r in d e r v o r a u s g e g a n g e n e n Adventszeit g e h a l t e n e n P r e d i g t e n >De e x s e c u t i o n e a e t e r n a e praedestinationis< (vgl. u n t e n A n m . 2 8 2 u n d A n m . 299). 1IH
119 Nützel w u r d e 1502 R a t s h e r r (Junger B ü r g e r m e i s t e r ) , 1 5 0 9 (nicht 1503) Alter B ü r g e r m e i ster, 1514 Alterer H e r r , 1524 (nicht 1521) O b e r s t e r H a u p t m a n n u n d ebenfalls 1524 Z w e i t e r L o s u n g e r . Vgl. N ü r n b e r g SA, R e p . 52b, A m t s - u n d S t a n d b ü c h e r N r . 3, Ä m t e r b ü c h l e i n 1524 = N r . 44; N ü r n b e r g StA, B 11, Ä m t e r b u c h , R K N r . 125, S. 31, N r . 6 1 6 . Vgl. a u c h Lochner: L e b e n s läufe, S. 21—23; Mummenhoff: N ü t z e l ; Mende: N ü t z e l , b e s o n d e r s S. 140. 120 Holzschuher kam 1 4 9 9 als Alter G e n a n n t e r in d e n (kleinen) R a t , 1500 (nicht 1501) w u r d e er J u n g e r B ü r g e r m e i s t e r , 1 5 0 9 Alter B ü r g e r m e i s t e r , 1514 (nicht 1515) Alterer H e r r , 1526 hat i h n Dürer p o r t r ä t i e r t . Vgl. N ü r n b e r g SA, R e p . 52b, A m t s - u n d S t a n d b ü c h e r N r . 3, A m t e r b ü c h l e i n 1514 = N r . 34; die A n g a b e n in N ü r n b e r g StA, B 11, Ä m t e r b u c h , R K N r . 125, S. 30, N r . 6 0 7 sind zu k o r r i g i e r e n . Vgl. a u c h Schultheiß: H o l z s c h u h e r . Holzschuher w a r w ä h r e n d Willibald Pirckheimers S t u d i e n z e i t in P a d u a 1491 sein G e f ä h r t e u n d hat d o r t w a h r s c h e i n l i c h R e c h t s w i s s e n s c h a f t studiert; vgl. Thieme: C o r p u s Juris, S. 265. 121 122 123
Siehe u n t e n S. 27f. Siehe u n t e n S. 39f. Vgl. Hase: K o b e r g e r , S. 4 4 5 - 4 5 2 .
4. Der Humanismus
der
Ehrbarkeit
25
schließlich in zweiter Ehe eine Patrizierin 124 . Freilich läßt sich über die Einstellung Kobergers zum Humanismus nichts Genaueres sagen. Uberblickt man den Nürnberger Personenkreis der Humanisten und Humanistenfreunde im Zeitraum von 1440 bis in die Reformationsjahre hinein, von dem gelehrten Rechtsberater Gregor Heimburg und Ratsschreiber Niklas von Wyle bis zum Ratsherrn Willibald Pirckheimer, Ratsschreiber Lazarus Spengler und Schulrektor Joachim Camerarius, dann wird man von einem Humanismus der Ehrbarkeit, einem Honoratiorenhumanismus, sprechen können. Dabei haben wir hier nicht die soziale Herkunft der Humanisten im Blick — sie ist in den einzelnen Fällen auch oft nicht mit Gewißheit zu klären. Gelegentlich dürfte auch einem Angehörigen der unteren Mittelschicht (wohl kaum aus der Unterschicht) der Aufstieg über die Bildung gelungen sein, wenn auch die weit überwiegende Mehrzahl der Nürnberger Humanisten eindeutig aus einem sozial höherstehenden und vermögenderen Milieu stammt. Sicher brachte allerdings für viele erst die akademisch-humanistische Bildung die Statussteigerung zur Ehrbarkeit. Uns soll es aber hier nicht um die Herkunft, sondern um die faktische gesellschaftliche Stellung der humanistisch Gebildeten in der Reichsstadt Nürnberg gehen, der einheimischen und der von auswärts zugezogenen; und da ergibt die Fülle der Namen den klaren Befund, daß wir es nicht nur allgemein mit einem reichsstädtischen Bürgerhumanismus zu tun haben, sondern speziell mit einem >Ehrbarkeitshumanismus< der reichsstädtischen ehrbaren Oberschicht. Ähnlich war es mit dem Humanismus in anderen Städten, beispielsweise in Florenz 1 2 5 , Venedig 1 2 6 , Lyon 1 2 7 und Augsburg 1 2 8 , bestellt. Josef Engels These von den »proletenhaften Zügen« des Humanismus in Deutschland 1 2 9 geht zumindest an der N ü r n berger Wirklichkeit, aber nicht nur an ihr, völlig vorbei. Ganz im Gegenteil blicken die Nürnberger Humanisten auf die Plebs herab 1 3 0 , durchaus in der Weise des Florentiner Staatskanzlers und Humanisten Coluccio Salutati, der mit der »gens illa pauper et inops« und der »infida, mobilis et verum novarum avida« Plebs nichts gemein haben will 1 3 1 . Das Bild, das die Nürnberger Humanisten von der Gesell1 2 4 Vgl. Bock: Koberger; Keunecke: Koberger (Lit.). Die Familie Koberger wird im Verzeichnis Holzschuhers (Nürnberg G N M , Hs. 16579, fol. 107r; vgl. oben Anm. 47) in der dritten Altersklasse der besonders ehrbaren, nicht-patrizischen Familien Nürnbergs aufgeführt. 1 2 3 Vgl. Martines: Social World, z. B . S. 270: »In part, in large part, the force o f humanism in the Florentine community was the disguised force o f the ruling class itself. Associated with noblemen, famous chancellors, and grands bourgois, how could it fail to share their social luster?« 1 2 6 Vgl. King: Venetian Humanism. 1 2 7 Vgl. den Vortrag von Gabriel Perouse (Lyon) über den Humanismus der Eliten von Lyon, gehalten auf dem 23. deutsch-französischen Historikerkolloquium über >Humanismus und h ö fisch-städtische Eliten im 16. Jahrhundert«, Marburg 6.—9. April 1987. 128 Kießling: Bürgertum; vgl. Zorn: Stellung. 129 Engel: Mächte-Europa, S. 7 2 f. 1 3 0 Vgl. unten S. 5 1 f mit Anm. 247 und besonders das Celtis-Zitat in Anm. 297. 1 3 1 Zitiert bei Martin: Soziologie, S. 61. Vgl. die Haltung der Humanisten zum Bauernkrieg; Zorn: Stellung, S. 46 mit Anm. 32.
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Humanistische
Ethik und reichsstädtische
Ehrbarkeit
schaft hatten, war durchweg konservativ-aristokratisch, orientiert am göttlich legitimierten Ratsregiment der patrizischen Geschlechter 1 3 2 , an den ständischen Vorrechten der ehrbaren Familien und an der gesellschaftlichen Schranke gegenüber dem Untertanenvolk der Handwerksmeister und Lohnabhängigen 1 3 3 . Daß dabei neben dem Herrschaftsdenken zugleich das Bewußtsein einer umgreifenden bürgerlichen Genossenschaft und Solidargemeinschaft der durch die Stadtmauer Geeinten lebendig bleiben konnte, ist kein Widerspruch, sondern gehört zur typischen spannungsreichen Differenziertheit und Polarität des reichsstädtischen und humanistischen Denkens zu Beginn der Neuzeit, im Nebeneinander von gewachsenen Gemeindestrukturen und aufkommenden frühabsolutistischen Tendenzen.
5. Die soziale Einbindung der Humanisten: Amter und Mäzenatentum Das Gesagte wird noch deutlicher, wenn man bedenkt, daß die überwältigende Mehrzahl der Nürnberger Humanisten und Humanistenfreunde, der literarisch oder mäzenatisch Aktiven, fest eingebunden war in bedeutende ehrenamtliche und berufliche Amter der Stadt (als Ratsherren, Rechtsberater und Ratskonsulenten, Kirchenpfleger, Kirchenmeister, Stadtschreiber, Stadtärzte, Schulmeister — auch einen Stadthauptmann 134 und einen städtischen Zeremonienmeister 1 3 5 finden wir) bzw. eingebunden in weitgehend kommunal vereinnahmte kirchliche Stellen, besonders an den Hauptkirchen der Stadt, St. Sebald und St. Lorenz (als Pröpste, Prediger, Schulmeister); nur wenige Humanisten, die diesen Namen verdienen, finden sich in den Klöstern, auch hier unter Aufsicht des Rats auf ihre Weise eingebunden und reguliert 1 3 6 . Auffallend und bezeichnend ist, daß im Kommunikationsnetz des Nürnberger Humanismus wohl keiner der nicht-patri1 3 2 Repräsentativ für dieses Bild ist die Darstellung, die der juristische Ratskonsulent und Humanist Christoph Scherni d.J. 1516 vom »Gottesgnadentum« der Patrizierherrschaft in seiner Epistel an Johannes von Staupitz über die Verfassung Nürnbergs gibt; ed. Werminghoff. Celtis, S. 217f, cap. 8: »Omnis nostra res publica versatur in manibus patriciorum, quorum scilicet proavi et atavi nobis quoque praefuere; advenae et plebeii nihil possunt, neque plebeiorum est regere, cum omne regimen a deo sit [vgl. R o m 13,1] et bene regere paucissimis coticessum, his scilicet, qui ingenio singulari a summo rerum opifice et natura quoque dotati conspiciuntur. Nemo igitur in senatum exceptis octo legitur, tiisi cuius maiores togati fuere, praeterpauculos quosdam advenas vel etiam nostrates multum honeste natos; sed hi togam iunioris burgimagistri non exuunt.« 1 , 3 Vgl. z . B . Scheurl ebd., cap. 3: über die nicht-manuell/körperliche Tätigkeit ( = honeste vivere) der Genannten des Größeren Rats; zit. oben Anm. 34.
Zu Wilhelm von Hirnkofcti gen. Rennwart vgl. unten S. 40. Zu Pankratz Bernhaubt gen. Schwenter vgl. oben S. 2 2 mit Anm. 101. 1 1 6 Als Humanisten im eigentlichen Sinne können die Benediktiner Sigismund Meisterlin, Benedictas Chelidonius und Friedrich Pistorius und der Dominikaner Johannes Cuno gelten; vgl. oben S. 18f. 114 115
5. Die soziale Einbindung
der Humanisten:
Ämter und
Mäzenatentum
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zischen, d. h. nicht ratsfähigen, und nicht mit einem städtischen Amt betrauten vermögenden Kaufleute vertreten ist; eher selbstverständlich fehlen auch die Handwerksmeister, auch die, die ausnahmsweise durch ihren R e i c h t u m und ihr Ansehen den Sprung in die Ehrbarkeit geschafft haben. Was die akademisch gebildeten humanistischen Literaten selbst betrifft, so war j e n e Gruppe weit in der Minderzahl, die ohne städtisches Amt als bindungslose, »freischwebende Humanistenintelligenz« 137 auftrat. Nur sehr wenige Namen kann man hier nennen, an der Spitze Conradus Celtis, der sich zwischen 1487 und 1502 nur sehr sporadisch, dann allerdings mit starker Resonanz und belebender Wirkung in Nürnberg aufhielt 138 . Gerade das Beispiel dieses wandernden d e u t schen Erzhumanisten< zeigt freilich eindrücklich, wie wenig auch diese amtlosen Gelehrten >frei schwebend< waren, wie sehr auch sie hineingezogen wurden in städtische Bindungen an die Nürnberger Oberschicht. Sie wurden mit ihren humanistischen Projekten getragen und oft auch vorangetrieben vom Mäzenatentum der Reichen, sie verfaßten entsprechende Werke (etwa zum Lobe N ü r n bergs und seines patrizischen Regiments) und sie orientierten sich entsprechend an den politisch-sozialen Idealen der patrizischen Ehrbarkeit, so wie sie auch einbezogen waren in das konviviale, gastliche Gesellschaftsleben der ehrbaren Kreise einschließlich der Patrizier. All dies gilt erst recht auch für die in städtischen Amtern stehenden Humanisten und ihre Werke. U m noch einmal zum Beispiel des Celtis zurückzukommen: Einer der angesehensten Bürger N ü r n bergs, der schwerreiche Handelsherr Sebald Schreyer ( 1 4 4 6 - 1 5 2 0 ) 1 3 9 , Genannter des Größeren Rats, Kirchenmeister von St. Sebald und Inhaber weiterer bedeutender städtischer Ehrenämter 1 4 0 , zwar nicht Mitglied der Ratsfamilien, doch
137 1,8
Martin: Soziologie, S. 58; zustimmend aufgenommen von Zorn: Stellung, S. 42. Vgl. die in Anm. 13 genannte Literatur.
Vgl. Caesar: Schreyer. Vgl. ebd., S. 23—26. Einige der Ämter Schreyers seien erwähnt: 1477 Genannter, 1478 Schöffe am Land- und Bauerngericht, 1478 Geldzähler in der Losungsstube, 1481 Schöffe am Forstgericht (fiir den Sebalder und Lorenzer Wald), 1482 Kirchenmeister von St. Sebald, 1483 Baumeister bei der Erhöhung der T ü r m e von St. Sebald, 1487 Baumeister des Erweiterungsbaus des Heiliggeistspitals, 1497 Schöffe am Stadtgericht. Bemerkenswert ist, daß Schreyer mit 14 Jahren auf die Universität Leipzig geschickt wurde und sie nach etwa drei Jahren als baccalaureus artium verließ, um in das Handelsgeschäft seiner Familie einzusteigen (ebd., S. 15). Schreyer ist ein spätmittelalterlicher Prototyp der reichsstädtischen — patrizischen und patriziernahen — Oberschicht und ihrer Mentalität: B e i ihm fließen in charakteristischer Weise geschäftliche U n t e r n e h m e r gesinnung, tiefe Jenseitsfrömmigkeit und Kirchlichkeit, humanistisches Bildungsbemühen, ehrbares Standes- und Familienbewußtsein und städtisches Wertedenken und -verhalten zu einem Kontinuum zusammen. Frühkapitalistisches Geschäftsgebaren, reiche kirchliche und soziale Stiftungen, humanistisches Mäzenatentum und Häufung städtischer Ämter bilden einen unlösbaren Zusammenhang. In dieser Person zeigt sich beispielhaft die Perspektivenvielfalt der bürgerlichen >EhreErdapfel< konstruierte 1 5 7 , wäre in diesem Zusammenhang zu nennen. Eine zweite Gruppe von Patriziern kann man zwar, wie schon gesagt, kaum als literarisch und entdeckerisch aktive Humanisten bezeichnen, aber als humanistisch angeregte und der humanistischen Bildungsbewegung mit teilnehmendem Interesse zugewandte Humanistenfreunde. Z u ihnen zählten einerseits Gelehrte, z.B. jene beiden Patriziersöhne, die u m 1465 in Padua Rechtswissenschaft studiert, sich dort zusammen mit Johannes Pirckheimer und anderen Nürnberger Studenten u m den Humanisten Peter Luder gesammelt und bleibende humanistische Impulse empfangen hatten 1 5 8 : Dr. Georg Pfinzing (1435-1478), 1477 erster Propst von St. Lorenz 1 5 9 , und der seit 1476 als Ratskonsulent in N ü r n b e r g wirkende Dr. Johannes Löffelholz lat. Codes, einer von Celtis' Freunden (1448-1509) 1 6 0 . Auch der Kartäuserprior Georg Pirckheimer ("1* 1505), der enge Verbindungen zu Peter Danhauser, Hartmann Schedel, Sebald Schreyer, Hieronymus Münzer und Dietrich Ulsen pflegte, gehörte zu den gelehrten Patriziern des Humanistenkreises 1 6 1 . Andererseits finden wir im Bereich der patrizischen Humanistenfreunde auch ungelehrte, d. h. nicht akademisch oder monastisch gebildete, Kaufleute und Ratsherren, die sich gelegentlich als großzügige Mäzene zeigten, wie etwa Sebastian Kammermeister, der zusammen mit seinem Rupprich: H u m a n i s m u s , S. 24; vgl. o b e n A n m . 14. Vgl. o b e n A n m . 80. 155 Vgl. o b e n A n m . 71. 156 Vgl. u n t e n S. 6 0 m i t A n m . 274. 157 Vgl. o b e n A n m . 99. 15(1 Z u d i e s e m P a d u a n e r Kreis h u m a n i s t i s c h begeisterter N ü r n b e r g e r S t u d e n t e n vgl. R e c e p t i o n , S. 30—32; Reimann: P i r c k h e i m e r , S. 122f; Caesar: Schreyer, S. 105. 154
Herrmann:
159 Vgl. o b e n A n m . 113. In e i n e m u n d a t i e r t e n B r i e f an e i n e n U n b e k a n n t e n charakterisiert Hermann Schedel Pfinzing u n d seine humanistischen N e i g u n g e n f o l g e n d e r m a ß e n : »Georius Pftnczing, decretorum doctor, vir insignis scientia et morihus praeclarus sincera mihi affectione et familiaritate coniunctissimus«; »praefatum doctorem, virum profecto humanitate et prudentia litterarum multarum praeclantm, legum et canonum doctissimum, Ciceronis[q]ue eloquentia facundissimum«; Schedel: B r i e f w e c h s e l , S. 208f, N r . 103. Vgl. a u c h die H i n w e i s e zu Pfinzing e b d . , S. 2 0 8 , A n m . 1. 1611 161
Vgl. o b e n A n m . 103. Vgl. o b e n A n m . 108.
6.
Patrizierhumanismus?
31
Schwager Schreyer das größte Buchunternehmen des Nürnberger Humanismus, die Schedeische Weltchronik (1493),
finanzierte162,
oder Hans VI. Tucher 1 6 3 . Zu
den ungelehrten Humanistenfreunden darf man auch all die Patrizier rechnen, unter ihnen die mächtigsten Stadtpolitiker, die sich in den Jahren 1 5 1 6 und 1517 zusammen mit Bürgern der nicht-patrizischen Ehrbarkeit nach Art eines H u m a nistenkreises um den adeligen Augustineroberen Johannes von Staupitz im N ü r n berger Augustinerkloster scharten 1 6 4 . Auch die patrizischen N o n n e n des Nürnberger Klarissenklosters, Caritas Pirckheimer, ihre Schwester Clara 1 6 5 und Apollonia T u c h e r 1 6 6 , waren, streng genommen, nicht gelehrt, hatten als Frauen selbstverständlich kein Universitäts- oder Ordensstudiuni absolviert, aber doch soviel familiäre und klösterliche Bildung genossen, daß sie lebhaftes Interesse an der humanistischen Formung frommer Literatur und an den Autoritäten der Antike zeigten. In literarischer Aktivität, Mäzenatentum und interessierter Bildungsoffenheit zeigt sich also eine Seite des starken patrizischen Elements im N ü r n b e r ger Honoratiorenhumanismus, die sich mit bestimmten einzelnen N a m e n verbindet. N o c h deutlicher macht sich der patrizische Einfluß auf der E b e n e der Institution bemerkbar, wenn man auf die zentrale Stellung des Ratsgremiums achtet. Dabei k o m m t dem patrizischen R a t sowohl als Auftraggeber und Organisator humanistischer Projekte und Einrichtungen wie auch als Adressaten und O r i e n tierungsgröße humanistischer Schriften eine dominierende R o l l e zu. Dies ist nicht verwunderlich, wenn wir uns in Erinnerung rufen, daß die Mehrzahl der Nürnberger Humanisten ein städtisches bzw. kommunal gebundenes A m t innehatte, also vom R a t angestellt war und ihm Rechenschaft schuldete. S o ist es nur selbstverständlich, daß viele humanistische Werke, die — beginnend mit Meisterlins erster humanistischer Chronik Nürnbergs von 1 4 8 8 1 6 7 — in Nürnberg entstanden oder erschienen sind, in einer unmittelbaren Beziehung zum R a t stehen, sei es, daß sie im offiziellen Auftrag des Rats oder auf Wunsch des Rats oder einzelner Ratsherren entstanden, sei es, daß sie nach Abschluß v o m R a t entlohnt oder sogar während der Entstehungsphase vom R a t finanziell unterstützt wurden, oder sei es, daß sie — und das gilt für eine sehr hohe Zahl von humanistischen
Vgl. Rücker: Weltchronik, S. 1 7 - 2 3 . Vgl. oben Anm. 115. 1 6 4 Siehe unten S. 60f. Man muß dabei berücksichtigen, daß gelegentlich auch Ratsherren eine Universität für ein paar Semester besucht hatten. Doch war das die Ausnahme. Zu diesen >Halbgelehrten< gehörten aus dem Staupitzkreis Hieronymus Ebner (vgl. oben Anm. 118) und wahrscheinlich auch Hieronymus Holzschuher (vgl. oben Anm. 120). 162
163
Zu Caritas und Clara Pirckheimer vgl. oben Anm. 111. Apollonia Tucher ( f 1533) war die Schwester von Christoph Schcurls Mutter, Helene Tucher, und die Kusine Sixtus Tuchers. 1494 wurde sie Priorin des Klara-Klosters. Vgl. Caritas Pirckheimer 1467-1532, S. 5 8 f , N r . 3 4 (von Peter Strieder)-S. 98, Nr. 88 (von Lotte Kurras) und S. 121, Nr. 126 (von Karl Schlemmer). 161 166
167
Vgl. unten S. 41.
32
Humanistische
Ethik und reichsstädtische
Ehrbarkeit
Werken — dem R a t oder einzelnen (besonders mächtigen und interessierten) Ratsherren gewidmet waren. Diese Förderungen, Dotierungen und W i d m u n g e n m ü ß t e n einmal eigens zusammengestellt werden, u m das Ausmaß der Verbindung humanistischer Kultur mit dem reichsstädtischen R a t deutlich zu machen. Augenfällig ist auch, daß nicht nur die in städtischen Amtern oder im k o m m u nalen kirchlichen Bereich tätigen Humanisten in dieser Weise zum R a t in Beziehung standen, sondern auch solche, die zur Reichsstadt nur ein vorübergehendes oder jedenfalls relativ ungebundenes Verhältnis hatten. Ich denke z.B. an Celtis, der 1495 sein schon erwähntes kulturgeographisches Werk >De origine, situ, moribus et institutis Norimbergae< 168 dem R a t widmete. Er erhielt daraufhin von den patrizischen Herren ein dankendes Anerkennungsschreiben, aber zu seinem Ärger nicht die erhoffte klingende Ehrengabe oder jedenfalls — wenn man Celtis' Worten Glauben schenkt — nur eine beschämend armselige, von ihm stolz zurückgewiesene Bezahlung. Immerhin übernahm der R a t die Schrift in die städtische Bibliothek des Rathauses und beauftragte, freilich wieder nicht zu Celtis' Freude, sogleich seinen im Lateinischen nicht gerade brillierenden Losungsschreiber Georg Alt mit einer deutschen Ubersetzung. Als Celtis dann nach einer Überarbeitung seine >Norimberga< 1502 zusammen mit poetischen Werken im Druck erscheinen ließ, zeigte sich der R a t mit der Dotierung großzügiger 1 6 9 . O d e r man denke an den fahrenden Juristen-Humanisten Haloander (Gregor Meitzer), der während seines Nürnberg-Aufenthaltes 1527—1531 für sein großes Projekt der kritischen Gesamtausgabe des Corpus iuris civilis vom R a t nicht nur ein hohes Honorar, sondern auch freie W o h n u n g und Unterhalt, eine größere Reisebeihilfe und Vorschüsse an den Nürnberger Drucker Petreius erhielt 170 . Das war die konkrete Lebensbedingung des Nürnberger Humanismus, wobei man auch nicht die sorgfältigen Zensurmaßnahmen des Rats bzw. einzelner Ratsherren oder Ratskonsulenten vergessen darf. So wurden z.B. beide Fassungen der Celtisschen >Norimberga< der Begutachtung durch eine Zensurkommission u n 1 71
terzogen . Wenn man dieser äußeren Bedingungen des Humanismus in Nürnberg, die sich an eine Schlüsselstellung des Rats u n d der patrizischen Familien knüpfen, gedenkt, dann verdient auch Erwähnung, daß der R a t durch gezielte Ankäufe in den achtziger Jahren des 15. Jahrhunderts im Rathaus eine regelrechte H u manistenbibliothek von antiken Klassikern und italienischen Humanisten der eigenen Zeit aufbaute 1 7 2 . Durch solche M a ß n a h m e n und durch das gleichzeitige 168
E d . Wenninghof. Celtis. Vgl. e b d . , S. 2 9 - 4 1 ; vgl. a u c h Rcickc: Celtis, S. 9 6 - 1 0 5 . 1711 Vgl. Zorn: Stellung, S. 42f; Kisch: H a l o a n d e r - S t u d i e n , S. 2 1 3 - 2 3 4 . 171 D i e Z e n s o r e n der Erstausgabe w a r e n Johannes von Dalberg, B i s c h o f v o n W o r m s , u n d d e r R a t s k o n s u l e n t Johannes Löffelholz (Codes); bei der z w e i t e n Ausgabe k a m n o c h Willibald Pirckheimer dazu. Vgl. Werminghoff: Celtis, S. 29 u n d S. 39. 169
172
Vgl. Moeller. A n f ä n g e , S. 143f (Lit.); vgl. a u c h Schubert: Spengler, S. 6 0 f .
6.
Patrizierhumanismus?
33
großzügige Mäzenatentum, besonders der Familien Pirckheimer und Tucher, wurde seit dem ausgehenden 15. Jahrhundert das gesellschaftliche Reservoir der Humanistenbewegung immer mehr ausgeweitet, wenn auch überwiegend nur im Bereich der vornehmen bürgerlichen Oberschicht. So wurden im Auftrag des Rats oder von Patriziern gefördert und erwünscht immer mehr lateinische und griechische Werke nicht nur angeschafft und in Zirkulation gebracht, sondern auch ins Deutsche übersetzt und so Kreisen zugänglich gemacht, die nicht mehr zur eigentlichen humanistischen Bildungselite der eruditi, der zumindest lateinisch Gebildeten, gehörten. D i e lateinische Gelehrtenkultur öffnete sich zu einer breiteren städtischen Laienkultur der Nicht-Experten. Kaufleute, N o n n e n und wohl auch der eine oder andere aufstrebende Handwerksmeister wurden so in den Verbreitungsprozeß des humanistischen Bildungsgutes einbezogen. D i e wachsenden und verbilligten Angebote des blühenden Nürnberger Druckgewerbes w u r den dabei zum wichtigsten M e d i u m des sich ausweitenden Humanismus 1 7 3 . Z u dieser Ausweitung gehören vor allem auch alle Anstrengungen des Rats, das Nürnberger Schulwesen nach humanistischen Prinzipien umzugestalten und entsprechende Lehrer zu gewinnen. W i d e r alle Anfeindungen, die gegen das neue humanistische Schulprogramm der >studia humanitatis< und >bonae litterae< zielten, besonders von Seiten des Dominikanerklosters gegen die v o m R a t 1 4 9 6 eingerichtete Poetenschule, stellte sich der R a t immer auf die Seite der H u m a nisten. Nach dem Ende der Poetenschule führte er das Curriculum der humanistischen Fächer in den ihm unterstellten Lateinschulen der Stadt, zunächst in der von St. Lorenz und St. Sebald, ein, damit - so der Wortlaut des Ratsbeschlusses 1 7 3 In anderen vergleichbaren Städten kam es zu genau der gleichen Entwicklung. So läßt sich in Straßburg zwischen 1500 und dem Beginn der Reformation ein rapides Ansteigen der landessprachlichen Druckschriften beobachten (1508—1519 bereits 12% der Druckerzeugnisse), wobei den Humanisten — einschließlich der Drucker selbst — eine Schlüsselrolle als Autoren, Ubersetzern und Multiplikatoren zukam. D e r Humanismus selbst schlug also die Brücke von der lateinischen Gelehrtenkultur zur ungelehrten, landessprachlichen Laienkultur. Vgl. Chrisman: Printing, S. 7 4 83. I m Unterschied zu Chrisman möchte ich den Begriff der Laienkultur (lay culture) nicht auf Männer und Frauen ohne Universitätsbildung, die nicht zur traditionellen intellektuellen Schicht gehören (ebd., S. 76), begrenzen, sondern unterscheiden zwischen einer gelehrten Laienkultur (in Nürnberg z . B . repräsentiert durch Humanisten wie Willibald Pirckheimer, Christoph Sdicurl d.J. und Lazarus Spengler) und einer Laienkultur für Ungelehrte, d. h. für nicht lateinisch geschulte, leseund nicht-lesekundige, Laien. Diese deutschsprachige Schrift- und Bildkultur für Ungelehrte wurde — gerade in den ersten Jahrzehnten — vornehmlich durch Gelehrte, und zwar durch Laien und Priester, initiiert und verbreitet. Zu den ungelehrten Rezipienten gehörten nicht nur Laien, sondern auch mcht-lateinkundige einfache Kleriker, darunter auch Ordensleute. M a n sieht also, wie kompliziert der B e g r i f f des Laien und der Laienkultur oder der gelehrten und nicht gelehrten Kultur wird, sobald man etwas tiefer dringt. So kann beispielsweise ein gelehrter Priester Literatur für Ungelehrte (also Laienliteratur) verfassen, und zwar für ungelehrte N o n n e n (also — kirchenrechtlich gesehen — fiir Nicht-Laien). Das Problem ist, daß sich der kirchenrechtliche und der bildungsorientierte Laienbegriff (Laie als Nicht-Kleriker, Laie als Ungelehrter) überschneiden und gerade in der Umbruchszeit vor und nach 1500 nicht einfach zu trennen sind. Vgl. Grenzmann/Stackmann: Literatur, passim; vgl. auch unten S. 204—206: zur Laienproblematik bei Lazarus Spengler.
34
Humanistische
v o n 1 5 0 9 — »die iungen regulierten grammatica
knaben
Ethik und reichsstädtische
Ehrbarkeit
und andere, so die schule heimsuchen,
und poesie oder arte oratoria unterwiesen
und gelernet«
in der neuen würden174.
Schließlich sorgte der R a t für die Errichtung des berühmten Gymnasium Egidianum, das bestens dotiert und mit einer Elite humanistischer Lehrkräfte besetzt wurde. Da in den Lateinschulen auch arme Schüler Aufnahme fanden und besondere Regelungen für ihre Versorgung getroffen wurden und im Egidiengymnasium sogar allen Schülern das Schulgeld erlassen wurde, stand der Schulhumanismus auch Angehörigen der Mittelschicht offen; damit war für Einzelne die Möglichkeit zum sozialen Aufstieg, wie er mit der Partizipation an der humanistischen Ausbildung verbunden war, eröffnet. Man kann sich vorstellen, daß bei der herausgehobenen Stellung der Patrizier als Stadtadel und regierender Obrigkeit die Bedeutung des Patriziertums für den Nürnberger Humanismus über die beschriebene äußere Verflechtung hinausging, daß damit eine inhaltliche Prägung des Humanismus mitgegeben war. Ich habe das bereits angedeutet. So wie das gesellschaftliche Ideal der Nürnberger Ehrbarkeit allgemein an der Lebensweise, den Herrschafts- und Repräsentationsformen, dem Tugendkanon und den Werten der Patrizier orientiert war, so wird diese prägende Kraft patrizischer Lebensauffassung auch in die Schriften der ehrbaren Humanisten Nürnbergs eingeflossen sein. Dies ist im Einzelnen erst noch zu untersuchen, etwa durch eine Analyse der humanistischen Lokalhistoriographie und des humanistischen Städtelobs auf N ü r n b e r g u n d sein Regiment, aber auch durch einen Vergleich der spätmittelalterlichen Sittenmandate des Rats mit ethischen Schriften der Humanisten. Dabei wird man nicht nur Einfluß und Prägung im Blick haben, sondern auch die Tatsache, daß es zwischen den genuinen Interessen der Humanisten und den Intentionen des Stadtregiments ganz offenkundig >natürliche< Gemeinsamkeiten gab, z.B. das gemeinsame B e m ü h e n u m ideell begründete integrative Gemeinschaft, u m das b o n u m c o m m u n e und den Frieden, u m R u h e und O r d n u n g in der Stadt, u m Erziehung der Bürger zu Moralität und Frömmigkeit, u m R e f o r m des Kirchenwesens, u m Ausschaltung ungebildeter, sittenloser und auf Privilegien bedachter Kleriker, u m Aufwertung und Ausbildung einer weltlichen Laienkultur, u m Vertiefung eines traditionsbedachten Geschichtsbewußtseins, in dem Gedächtnis der E r h ö h u n g von Ehre dient, u m Orientierung an einem nationalen Kaisertum und der imperialen Reichsidee und vieles mehr. Auch wird man schließlich damit rechnen müssen, daß die Beeinflussung auch in die umgekehrte R i c h t u n g lief, daß also auch der eindringende, aus Italien von den Söhnen der Patrizier und patriziernahen Familien mitgebrachte Humanismus etwas in den Köpfen des patrizischen Regiments veränderte und sie für geistige Interessen öffnete, die vorher nicht vorhanden waren. Die patrizische 174 Bauch: P o e t e n s c h u l e , S. 43. Z u r E n t w i c k l u n g des N ü r n b e r g e r Schulwesens u n t e r d e m E i n f l u ß des H u m a n i s m u s vgl. d e n U b e r b l i c k v o n Endres: B i l d u n g s w e s e n (Lit.). Z u m B e g i n n des n e u e n h u m a n i s t i s c h e n U n t e r r i c h t s an d e n L a t e i n s c h u l e n vgl. a u c h Pirckheimer. B r i e f w e c h s e l 2, S. 69f, A n m . 6.
6.
Patrizierhumanisnius?
35
und am Patriziertum orientierte Oberschicht veränderte und domestizierte den Humanismus, aber umgekehrt veränderte der Humanismus auch den Interessenhorizont der Patrizier. Soll man also angesichts der engen Beziehungen zwischen Humanisten u n d Patriziat in N ü r n b e r g von einem Patrizierhumanismus sprechen? Ich meine, daß dieser Begriff die tatsächliche Situation in N ü r n b e r g überzeichnete und mißverständlich wäre. Er würde möglicherweise die falsche Vorstellung wecken, als seien die meisten oder führenden Humanisten in N ü r n b e r g Patrizier gewesen, also nicht nur ein Willibald Pirckheimer oder Sixtus Tucher. Es würde ferner das Mißverständnis gefördert, als seien die eigentlichen Impulse für eine humanistische Bewegung in N ü r n b e r g von den Patriziern ausgegangen, während in W i r k lichkeit die Initiatoren und Anreger, die Innovatoren und vorwärtsdrängenden Ideenvermittler bis zur R ü c k k e h r Pirckheimers (1495) Nicht-Patrizier waren, z. T. von auswärts K o m m e n d e wie Gregor Heimburg, Johannes Regiomontanus, Sigismund Meisterlin oder Conradus Celtis, z. T. heimkehrende Söhne des ehrbaren Bürgertums wie die Vettern Schedel. Auch das Mißverständnis wäre naheliegend, als habe es in N ü r n b e r g eine Deckungsgleichheit zwischen patrizischen und humanistischen Interessen gegeben, während in Wirklichkeit nur eine partielle Uberschneidung der Interessensphären, gewisse Affinitäten, wie ich sie oben skizziert habe, gegeben waren. Die humanistischen Impulse und Bildungsideale eines Celtis oder Pirckheimer reichten bei weitem über j e n e n Bereich städtischer Anwendbarkeit oder Verwertbarkeit hinaus, der vielen humanistisch angeregten Patriziern und ehrbaren Bürgern vor Augen stand. Uberhaupt wird sich die Begeisterung der städtischen Oberschicht an den humanistischen Idealen u n d Projekten sehr in Grenzen gehalten haben. Man darf sich durch die N a m e n patrizischer Humanisten und Humanistenfreunde und ihr hier und da erkennbares Mäzenatentum über die tatsächlichen, bescheidenen Dimensionen dieses Engagements der Patrizier nicht täuschen lassen. Bedenkt man, daß es in den Jahrzehnten des Humanismus insgesamt über 50 Patrizierfamilien in N ü r n b e r g gegeben hat und vergleicht man damit die paar Namen, die uns im Zusammenhang mit humanistischer Bildung in N ü r n b e r g begegnen (oft nur eine Person für ein generationsreiches und verzweigtes Geschlecht) - Namen wie Pirckheimer, Tucher, Fürer, LöfFelholz, Kammermeister, Pfinzing, Kreß, Stromer, Behaim, B a u m gartner, Ebner, Holzschuher (viel mehr dürften nicht mehr hinzukommen) —, dann hat man einen gewissen Eindruck von den wirklichen Relationen. U n d was das Mäzenatentum betrifft, auch bei Berücksichtigung von patriziernahen Reichen wie Sebald Schreyer, so werden die recht bescheidenen Dimensionen erkennbar, wenn man die übermächtige Fülle der frommen Stiftungen von sakralen Kunstwerken oder Gebrauchsgegenständen, kirchlichen Stellen, Messen, Jahrtagen, Andachten usw. und von sozialen und karitativen Einrichtungen danebenhält. Andererseits wäre es ebenso falsch, von einer Humanismusfeindschaft der Patrizier oder von antihumanistischen Aversionen zu sprechen. Seit Max H e r r -
36
Humanistische
Ethik
und reichsstädtische
Ehrbarkeit
manns anregender Arbeit über >Die Reception des Humanismus in Nürnberg< (1898) bis hin zu Gerald Strauss' Darstellung >Nuremberg in the Sixteenth Century< (1966, 2. Aufl. 1976) wird gelegentlich ein Gegensatz konstruiert zwischen der konservativen, auf Herrschaftswahrung bedachten und daher ängstlich alles Neue abwehrenden Patrizieroligarchie und der vorwärtsdrängenden, emanzipatorischen Freiheitsbewegung des Humanismus 175 . Ein solcher Gegensatz ist in Nürnberg quellenmäßig nicht belegbar, er ist von einem falschen Verständnis der gesellschaftlich-politischen Rolle des Humanismus und von einem eindimensionalen Verständnis des Nürnberger Patriziats her bestimmt, obwohl es sicherlich manche reservierten Vorbehalte der Ratsherren gegen einen bestimmten Humanistentyp mit seiner »gewissen nervösen Geltungssucht«, gegen den Aufstiegsdrang der Bildungselite und gegen die humanistische Fiktion eines Ideals der sodalitas litteraria, der »ständelos gleichheitlichen Gelehrtenrepublik als Genossenschaft des Geistesadels« (allerdings keiner politisch-sozialen Gleichheit), gegeben hat 176 . Die Bestimmung des Nürnberger Patriziats, keinen Doktor, auch keinen patrizischen Doktor, in das Ratsgremium aufzunehmen 1 7 7 , eine Bestimmung, die bereits 1454 in Kraft war 178 , gibt keinen Anhaltspunkt für eine Humanismus- oder Bildungsfeindschaft der etablierten Ratsherren. Nicht das Bemühen, »die Träger aller möglichen gefährlichen Gedanken« dem Rat fernzuhalten 179 , zeigt sich hier, sondern die Absicht, das geburtsständische Obrigkeitsprinzip der herrschenden Geschlechter festzuschreiben und nicht durch die Aufstiegsdynamik des Doktorats auflockern zu lassen. Die Entstehung eines Bildungspatriziats neben dem Geburtspatriziat sollte verhindert werden. Zugleich wurde damit die innere Homogenität des Rats gewahrt und eine Aufspaltung des Ratsgremiums in Ratsherren höherer Ordnung, mit der Würde der patrizischen Geburt und der Doktorwürde, und Ratsherren ohne akademischen Geistesadel verhindert. Diese Tendenz zur politisch-sozialen Abschottung des regierenden Stadtadels fand dann im Tanzstatut von 1521 mit seiner Begrenzung der Ratsfähigkeit auf 42 Familien einen gewissen Abschluß 180 . Im Übrigen waren die promovierten Ratskonsulenten im sozialen Ansehen den führenden Ratspolitikern gleichgestellt 181 — 175 Vgl. Herrmann: Reception, S. 1 - 5 und S. 108-113; Strauss: Nuremberg, S. 231 ff, besonders S. 240 und S. 244. 176
Zorn: Stellung, S. 43.
177
Vgl.
Staupitz 178
Werminghojf:
C e l t i s , S. 2 1 8 u n d S. 2 2 5 ( E p i s t e l Christoph
Scheurls
a n Johannes
von
v o m 15. D e z . 1 5 1 6 , cap. 8 u n d cap. 2 5 ) . Vgl. Joachimsohn:
H e i m b u r g , S. 3 1 4 ( B r i e f d e s Johannes
Rot a n Gregor Heimburg
v o m 16.
Mai 1454). 179
Herrmann: R e c e p t i o n , S. 4.
Text bei Aign: Ketzel, S. 106 f. Zur Deutung der Nürnberger Regelung, keine Doktoren in den R a t aufzunehmen, vgl. auch Ellinger: Juristen, S. 143-145 und S. 199; Wachauf. Juristen, S. 74-76. 180
181
V g l . Werminghoff:
C e l t i s , S. 2 2 6 ( E p i s t e l Scheurls
a n Staupitz
v o m 15. D e z . 1 5 1 6 , cap. 2 5 ) :
Die juristischen Ratskonsulenten werden den sieben Alteren Herren und den 13 Alten Bürgermeistern (also der Führungsgruppe innerhalb des Magistrats) gleich geachtet (»collocantur«). Man
6.
Patrizierhumanismus?
37
auch dies ein Beleg dafür, wie wenig man die um den Rat gezogene Barriere als Bildungsfeindlichkeit in einem antihumanistischen Sinne deuten darf. Das Sozialprestige humanistischer Gelehrter in Nürnberg war hoch, auch wenn es die Machtstrukturen nicht sichtbar veränderte. Die Bestimmung und Beibehaltung der Nichtzulassung der Doctores zum Rat war also keine Entscheidung gegen den Humanismus, sondern eine Entscheidung für die geburtsständische Homogenität der Machtausübung. Auch das gelegentliche Aufstöhnen mancher Humanisten über den Nürnberger Krämergeist, der von Pfeffer und Safran träume 182 , kalkuliere und bilanziere 183 , aber wenig Sinn für die Musen habe 184 , besagt nichts über eine antihumanistische Bildungsfeindschaft der patrizischen und ehrbaren Kaufleute, sondern eher etwas darüber, daß Humanisten und Kaufleute bisweilen divergierende Vorstellungen vom Stellenwert humanistischer Bildungsideale und von der Art der zu fördernden humanistischen Bildung haben konnten. Ganz offensichtlich bevorzugten die im Nürnberger Rat sitzenden Kaufleute, sofern sie humanistisch interessiert w a ren, das, was Wolfgang Zorn den »anwendbaren Humanismus« nennt 185 , also Bereiche der Wissenserweiterung, rationalen Wissensbeherrschung und Bildungsformung, die eine praktische Nutzanwendung im Sinne des städtischen Gedeihens versprachen 186 . Es ist daher sehr bezeichnend, daß das starke Vordringen humanistischer Bildung in Nürnberg während der späten siebziger und der achtziger Jahre mit der Rezeption des Römischen Rechts und der berühmten Nürnberger Rechtsreformation von 1479 (gedruckt 1484) zeitlich und wohl auch inhaltlich Hand in Hand ging 1 8 7 . Juristischer Humanismus als rationale Durchgestaltung des hat freilich zu berücksichtigen, daß diese Aussage von dem recht prestigehungrigen R a t s k o n s u l enten Scheurl k o m m t . Vgl. Ellinger. Juristen, S. 140; Wachauf. Juristen, S. 89. 1 8 2 So Eobanus Hessus in e i n e m B r i e f von 1532, referiert bei Zorn: Stellung, S. 41. Als Conradus Celtis nach Fertigstellung seiner >Norimberga< (1495) v o m N ü r n b e r g e r R a t nicht die erwartete reiche Ehrengabe erhielt (vgl. oben S. 32), beschimpfte er in einer O d e die R a t s h e r r e n ob ihrer Knausrigkeit: »Ihr Ratsherren seid euerm pulverigen Sande ähnlieh, der so viel an Pflege und Düngung erhält und nichts zurückgibt. Ihr seid es wert, auf Blättern besungen zu werden, in die Ihr euern P f e f f e r und Safran wickelt oder die Ihr auf euern stinkigen Latrinen benützt habt.« Übersetzung von Reiche: Celtis, S. 97. Sebald Schreyer schreibt am 10. J u n i 1496 an Celtis: »[. . f s e d paulutn philosophus homo apud aliquos obtinere potest, quae clarius tibi aperiam, postquam una erimus; spero tarnen propediem eos Phoebo afflari.« Celtis: Briefwechsel, S. 190,14—16, Nr. 114. Reicke: Celtis, S. 9 9 übersetzt so: »Aber ein Philosoph wie Du (d. h. ein Mann, der geistigen Interessen obliegt) gilt da nur wenig, das will ich Dir unter vier Augen deutlicher sagen. Immerhin h o f f e ich, daß sie (die Ratsherren) Phöbus erleuchten wird.« Tatsächlich dürfte Celtis' Poesie nicht gerade die Form humanistischer B i l d u n g gewesen sein, die für die Kaufleute des R a t s besonders anziehend war. 183 Cuspinian: Briefwechsel, S. 172 ( W i l l i b a l d Pirckheimer an Johannes Cuspinian, vor d e m 25. Jan. 1527): »Magis enim apud nos Mercurius regnat calcularius quam literarius.« 184 Vgl. die Ä u ß e r u n g des sächsischen Humanisten Paul Schneevogel (Niavis) über N ü r n b e r g als die Stadt der Krämer, die die Studien verachten; referiert bei Herrmann: R e c e p t i o n , S. 58. 185 Zorn: Stellung, S. 43. 1 8 6 Vgl. Schubert: Spengler, S. 62. 1 8 7 Vgl. Leiser: Rechtsleben, S. 175 (mit Lit. auf S. 5 2 1 f ) ; Ausgabe von Köhler. Reformation (mit einer Einleitung und bibliographischen Hinweisen). Z u m Z u s a m m e n h a n g zwischen R e z e p -
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Humanistische
Ethik und reichsstädtische
Ehrbarkeit
Rechts in Rückorientierung an der römischen Antike — das eben war vermutlich eine in Nürnberg zentrale Erscheinungsweise des von Patriziern geforderten anwendbaren Humanismus 1 8 8 . Jedenfalls ist die personelle Verquickung des vordringenden Humanismus und der sich in Nürnberg wie andernorts 1 8 9 ausweitenden professionellen juristischen Kompetenz römisch-rechtlicher, kanonistischer wie legistischer, Schulung eine Tatsache 1 9 0 . So standen am Anfang des humanistischen Interesses in Nürnberg seit 1444 drei Rechtsberater der Stadt, Dr. Gregor Heimburg aus Schweinfurt, Dr. Heinrich Leubing aus Nordhausen, Pfarrer an St. Sebald, und (seit 1449) Martin Mayr aus Heidelberg, der seinen juristischen Doktorgrad erst später erwarb. Dazu gesellte sich 1447 für kurze Zeit der ebenfalls juristisch versierte Ratsschreiber Niklas von Wyle 1 9 1 . Das juristische Expertentum der gelehrten Rechtskonsulenten, Kleriker und Laien 1 9 2 , aber auch der juristisch geschulten städtischen Schreiber konnte dem R a t für den Ausbau seiner Herrschaft nach innen und die Verteidigung der reichsstädtischen R e c h t e nach außen nur höchst willkommen sein, ebenso dem auf rechtliche Sicherung des Handels bedachten Interessenspektrum der patrizisch-ehrbaren Kaufleute. W i r müssen vorsichtig sein, wenn wir von den Patriziern sprechen. Betrachten wir den Zeitraum von den Anfängen des Humanismus in Nürnberg um 1445 bis zur Gründung des Egidiengymnasiums um 1525, als Melanchthon vom R a t der Stadt nach Nürnberg gerufen wurde 1 9 3 , dann wird man sehr sorgfältig differenzieren müssen, personell und chronologisch. Bei den Patriziern ebenso wie allgemein in der bürgerlichen Ehrbarkeit der Kaufleute reicht die Skala im Verhältnis zum eindringenden Humanismus — so dürfen wir vermuten — von wenigen treibenden, humanistisch ergriffenen Geistern über sympathisierende und wohlwollend reservierte Kräfte bis hin zur puren Gleichgültigkeit und möglicherweise auch bis hin zur Ablehnung. Eine große Mehrheit der patrizischen Kaufmannsfamilien wird den humanistischen Bildungsbestrebungen wohl ziemlich gleich-
tion des Römischen R e c h t s und Rezeption des Humanismus vgl. Herrmann: R e c e p t i o n , S. 4 8 63; vgl. auch Strauss: Law. W i e weit die Verbindung zwischen der Orientierung am R ö m i s c h e n R e c h t und dem Nürnberger Humanismus reicht, ist allerdings sehr fraglich und von der Quellenlage her keineswegs klar zu beantworten. An den Konstruktionen Herrmanns wird man einige Abstriche machen müssen. Vgl. oben S. 32 bei Anm. 170. Vgl. Trusen: Anfänge, S. 222—235 (Juristen in städtischen Diensten). 19(1 Z u m Beispiel der Familie Pirckheimer vgl. Leiser: Rechtsleben, S. 174: »Die Sammlung der Pirckheimer gilt als die größte juristische Fachbibliothek, die sich damals in deutschem Privatbesitz befand.« 188
189
191 Z u m Kreis dieser Männer, der ersten Nürnberger Humanisten oder humanistisch angeregten Gelehrten, ist immer noch lesenswert Joachimsohn: Heimburg, S. 96—110. Vgl. oben Anm. 9 (zu Heimburg), 7 9 (zu Mayr) und 9 0 (zu Wyk). 1 9 2 D e r erste Laie, der als Syndicus in Nürnberger Diensten stand, war Dr. Gregor Heimburg (in den Jahren 1 4 3 5 - 1 4 6 1 mit Unterbrechung von 1439—1443). Vgl. Leiser: Rechtsleben und Johanek: Heimburg, S. 6 3 4 f. 193
Vgl. Höß: Melanchthon, S. 2 2 - 2 4 .
6.
Patrizierhumanismus?
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gültig gegenübergestanden haben. Ihre literarischen Bedürfnisse, die des Kontors, wurden durch die deutschen Schulen der Schreib- und Rechenmeister hinreichend befriedigt. Gesteigerte literarische Ambitionen waren nicht das Naheliegende. Aber auch hier wird man zeitliche Verschiebungen zugunsten eines stärkeren Bildungsinteresses berücksichtigen müssen. Geht man von der Mentalität der patrizischen Ratsherren aus, wie sie uns z.B. auch in den Anfangsjahren der R e f o r m a t i o n begegnet, dann wird man besonders eine nüchterne und konservative Bedächtigkeit hervorheben können, die mit einem typischen Zögern der Obrigkeit angesichts vielfältiger politischer Rücksichten und Verantwortlichkeiten eng zusammenhängt. N e u e n Bewegungen wie dem Humanismus flog man nicht mit Begeisterung zu, sondern stand ihnen mehrheitlich mit abwartender Bedächtigkeit, teils mehr wohlwollend, teils eher gleichgültig, gegenüber. Mit Humanismusfeindlichkeit hat das nichts zu tun, sondern mit einer gewissen Zähigkeit bürgerlicher, ehrbarer und führungspolitischer Mentalität. Erst langsam konnte dann die humanistische Bewegung Fuß fassen, wuchs das teilnehmende Interesse und Agieren von Patriziern und des Rats. Die wichtigsten Stationen u n d Schübe in dieser Entwicklung des patrizischen Engagements und der Beteiligung des Rats seien kurz - z. T. wiederholend - zusammengestellt. Eine wichtige Vermittlerrolle nach den engbegrenzten Anfängen im Kreis u m Heimburg spielten dabei in den siebziger und achtziger Jahren offensichtlich die städtischen Schreiber, unter ihnen der Losungsschreiber Georg Alt (der spätere Übersetzer der Schedeischen Weltchronik und der Celtisschen >NorimbergaHalbgelehrtenHalbgelehrter< fand Joachimsohn n a c h d e r L i t e r a t u r a n g a b e e b d . , S. 114, A n m . 1 bei Stintzing: G e s c h i c h t e , S. X X X ; vgl. Ellinger: J u r i s t e n , S. 153 f. Z u r M i t t l e r r o l l e d e r R a t s s c h r e i b e r vgl. a u c h Trusen: A n f ä n g e , S. 227—229. E i n e g u t e Z u s a m m e n s t e l l u n g b e d e u t e n der, literarisch tätiger R a t s s c h r e i b e r f i n d e t sich bei Honemann: Stadtschreiber, S. 340—353. 195
197
Vgl. u n t e n S. 207f. M a n k ö n n t e freilich als n o c h f r ü h e r e s W e r k das sog. E h e b ü c h l e i n des f r ä n k i s c h e n J u r i s t e n u n d H u m a n i s t e n Albrecht von Eyb >Ob e i n e m m a n n e sey z u n e m e n ein eelichs w e y b o d e r nicht< n e n n e n . Albrecht hat die Schrift z u m N e u j a h r s t a g 1472 d e m R a t d e r Stadt N ü r n b e r g g e w i d m e t 198
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Humanistische
Ethik und reichsstädtische
Ehrbarkeit
an den Kreis der städtischen Schreiber gerichtet, wobei deren Beziehung zur patrizischen Stadtregierung ausdrücklich am Beginn der W i d m u n g thematisiert ist. Es handelt sich u m die 1478 erschienene deutsche Ubersetzung der beliebten Schrift des Humanisten Enea Silvio Piccolomini >De miseriis curialium< (Von armüt, u n r ü u n d trübsal der hofleut u n d hofsitten) aus der Feder des ritterlichen Stadthauptmanns Wilhelm von H i r n k o f e n gen. R e n n w a r t . Die W i d m u n g b e g i n n t m i t d e n W o r t e n : »Derfürsichtigen, stat Nuremberg,
meiner günstigen
ersamen und wysen burgermeister und rat der
herren woltüchtigen,
achtbern
und fürnemen
rats-,
gericht-, losung- und cantzleischribern [...].« Es folgen die N a m e n von 11 Schreibern, darunter die Ratsschreiber Heinrich Vischer u n d J ö r g Spengler, die Gerichtsschreiber am Stadtgericht Daniel U l m e r (der Großvater Lazarus Spenglers) u n d J o h a n n Tuchscherer u n d die Losungsschreiber Martin Vischer u n d Georg Alt 1 9 9 . In der Widmungsvorrede berichtet Wilhelm, daß einige der Schreiber, wie ihm berichtet worden sei, den Wunsch (begird) hatten, daß diese in so subtilem Latein gedichtete Schrift von ihm verdeutscht werden möge, damit sie dann die U b e r s e t zung vielleicht auch anderen »zu lieb und gefallen« überreichen könnten; u n d m a n mag dabei gerade an die Patrizier denken, denen ja die T h e m a t i k der Schrift auf den Leib geschneidert war u n d deren >redliches u n d aufrechtes R e g i m e n t gegen Ende der W i d m u n g auch besonders hervorgehoben wird - ein Beispiel des in N ü r n b e r g willkommenen u n d von den Humanisten entsprechend gepflegten anwendbaren, praktischen Humanismus 2 0 0 . Im gleichen Jahr 1478 ging die v o m R a t geförderte und wahrscheinlich von den Rechtsexperten der Stadt im Geist des Humanismus erarbeitete >Reformation< des Stadtrechts als R e z e p t i o n des R ö m i s c h e n R e c h t s ihrer Vollendung entgegen. Die juristischen Ratskonsulenten und die Stadtschreiber waren offenkundig diejenigen, die den R a t v o m N u t z e n einer Förderung bestimmter humanistischer P r o jekte u n d Institutionen überzeugen konnten. D e r Vergleich zu den Anfangsjahren der R e f o r m a t i o n ist dabei interessant, denn auch hier kam d e m Ratsschreiber Lazarus Spengler und daneben d e m Ratskonsulenten Christoph Scheurl d.J. eine Schlüsselrolle bis hin zur Veranstaltung des entscheidenden Religionsgesprächs »zu loh und ere und sterckung irer polliccy und regimentz«, d o c h g e h ö r t e d e r B a m b e r g e r , W ü r z b u r g e r u n d Eichstätter D o m h e r r streng g e n o m m e n n i c h t z u m Kreis d e r N ü r n b e r g e r H u m a n i s t e n , a u c h w e n n er d u r c h seine r e c h t s g u t a c h t e r l i c h e Tätigkeit in r e g e n B e z i e h u n g e n zu N ü r n b e r g stand. Vgl. Klecha: A l b r e c h t v o n Eyb, S. 183f; Reichmann/Wegera: L e s e b u c h , S. 8 3 - 8 7 (Lit.). tyy Diese sechs Schreiber w e r d e n alle in Christoph Scheurls Liste d e r v e r m ö g e n d e n B ü r g e r N ü r n b e r g s a u f g e f ü h r t , Tuchscherer m i t 1 0 . 0 0 0 G u l d e n , Spengler m i t 3 . 0 0 0 , Ulmer m i t 2 . 0 0 0 , Heinrich Vischer, Martin Vischer u n d Alt m i t 1.000. Siehe Haller von Hallerstein: G r ö ß e , S. 119 u n d zu d e n e i n z e l n e n P e r s o n e n e b d . , S. 144 (Tuchscherer), S. 156 (Spengler), S. 163 (Ulmer), S. 168 (Heinrich u n d Martin Vischer) u n d S. 164 (Ali). Z u Heinrich Vischervgl. a u c h Schmied: Ratsschreiber, S. 2 3 1 f , zu Daniel Ulmer vgl. Schubert: Spengler, S. 53—55. Z u Jörg Spengler vgl. o b e n A n m . 107, zu Georg Alt o b e n A n m . 92. 2110 G e k ü r z t e r Text d e r W i d m u n g s v o r r e d e bei Wuttke: H i s t o r i Herculis, S. 73—75 (hier in A n m . 12 Lit. zu Wilhelm von Hirnkofen). D i e bei Wuttke ausgelassenen N a m e n d e r S c h r e i b e r sind g e n a n n t bei Herrmann: R e c e p t i o n , S. 56; die Passage ü b e r das R a t s r e g i m e n t ebd., S. 57.
6.
Patrizierhumanismus?
41
1525 (und z.T. darüber hinaus) zu. All dies entspricht der oft beschriebenen Rolle der bürgerlichen gelehrten Räte und Schreiber als wichtiger Trägergruppe der Reformation, die vorbereitet war durch eine entsprechende impulsgebende Rolle bei der Rezeption des Humanismus. Eine neue Dimension des Humanismus im Rathaus, sozusagen eine Art von Durchbruch, stellte sich Ende der achtziger Jahre und in den neunziger Jahren schrittweise ein. N u n wird 1486 die Bibliothek des Nürnberger Rathauses »aus einer scholastischen in eine humanistische umgewandelt« 201 . Der verantwortliche M a n n des Rats war dabei der Patrizier Hans VI. Tucher, auch sonst als bildungsbeflissener Humanistenfreund und Mäzen bekannt 2 0 2 ; mit ihm arbeitete bei den Ankäufen der Ratsschreiber Jörg Spengler eng zusammen 2 0 3 . »Man kann sagen«, urteilt Paul Joachimsohn, »dass mit diesem Zeitpunkt der Humanismus in N ü r n b e r g heimisch u n d offiziell anerkannt ist« 204 . Zwei Jahre später, zu Neujahr 1488, liegt die erste humanistische Schrift vor, die im offiziellen Auftrag des Rats zweisprachig — lateinisch und deutsch — entstanden ist und entsprechend von ihrem Verfasser den beiden Losungern der Stadt, Ruprecht Haller und Niklas Groß, gewidmet wurde: die >Nieronbergensis cronica< des Benediktiners Sigismund Meisterlin — zugleich die erste Schrift, die der R a t mit einer Geldzahlung honorierte, wenn auch nur mit bescheidenen sechs Gulden 2 0 5 , die der temperierten, erst allmählich sich erwärmenden Einstellung der Ratsherren zum Humanismus entsprachen. Auch diese erste humanistische Chronik Nürnbergs repräsentiert einen städtisch verwertbaren Humanismus, wie er den Patriziern schmackhaft war, denn mit seiner Darstellung, die das alte N ü r n b e r g von seinen römischen (!) Ursprüngen an wie auch das zeitgenössische N ü r n b e r g umfaßte, wollte Meisterlin der Jugend ein im Sinne des Rats patrizisch geformtes, im obrigkeitlichen Interesse normatives Geschichtsbild vermitteln — etwa durch die tendenziöse, patriziernahe Schilderung des Nürnberger Handwerkeraufstandes von 1348 206 . Interessant ist auch an diesem Fall, daß — trotz der Beteiligung des Rats — der ursprüngliche Impuls zur Abfassung des Werks nicht von den Patriziern ausging, sondern von dem humanistischen Stadtarzt Hartmann Schedel. Er hat dann, so wird vermutet, nach Einsicht in die Meisterlinschen Vorarbeiten dem Freunde den Ratsauftrag vermittelt 2 0 7 . Auch der gelehrte Humanistenmäzen Sebald Schreyer war mit der Betreuung der Endredaktion des Werks intensiv befaßt 2 0 8 . 201
Z i t a t aus Paul Joachimsohn b e i Schubert: Spengler, S. 61, A n m . 1. Vgl. o b e n A n m . 115. 2113 Vgl. Schubert: Spengler, S. 6 0 f. 21,4 Joachimsohn: G e s c h i c h t s s c h r e i b u n g , S. 158. 205 Vgl. e b d . , S. 165: » D o c h hat später R u p r e c h t Haller d i e s e m etwas k ä r g l i c h e n H o n o r a r n o c h e i n m a l die gleiche S u m m e h i n z u g e f ü g t . « 202
206
Vgl. Colberg: Meisterlin, S. 364; Joachimsohn: G e s c h i c h t s s c h r e i b u n g , S. 2 1 5 . Vgl. Colberg e b d . 208 Vgl. Joachimsohn: G e s c h i c h t s s c h r e i b u n g , S. 1 5 9 - 1 6 5 u n d S. 2 7 7 (Brief an Hartmann Caesar: Schreyer, S. 118—120. 2117
Schedel);
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Humanistische
Ethik und reichsstädtische
Ehrbarkeit
Die Anteilnahme des Patriziats am Nürnberger Humanismus gewann nochmals eine neue Dimension durch die Rückkehr der beiden Pirckheimer nach Nürnberg, des Vaters und Rechtskonsulenten Dr. Johann Pirckheimer 1 4 8 8 2 0 9 und des Sohnes Willibald Pirckheimer 1495, der von nun an fast drei Jahrzehnte lang (mit einer zweijährigen Unterbrechung) bis 1523 Ratsherr war 2 1 0 . Die Familie Pirckheimer repräsentiert in ihrer Vielfalt bestimmte Charakterzüge des Nürnberger Humanismus, einmal in der Person des juristischen Ratskonsulenten und Doktors (typisch für die Einbruchsstelle des Humanismus in Nürnberg), dann in der Person des Ratsherrn (typisch für das Eindringen des Humanismus in das Ratsgremium gegen Ende des 15. Jahrhunderts), ferner in der Person des Kartäuserpriors Georg Pirckheimer (typisch für eine gewisse humanistische Öffnung der Nürnberger Klostergelehrsamkeit) 211 , schließlich in der Person der Klarissennonne Caritas Pirckheimer, der Schwester Willibalds (typisch für die Verbindung einer lebendigen, kirchlichen spätmittelalterlichen Frömmigkeit mit humanistischen Neigungen 2 1 2 , so wie sich auch der Vater Johann gegen Ende seines Lebens zum Priester weihen ließ, ins Franziskanerkloster eintrat und dort 1501 starb). Durch diese Typen der Humanismusrezeption innerhalb einer Familie wird der integrative Charakter des Nürnberger Humanismus veranschaulicht, für den kein Gegensatz bestand zwischen dem Fachwissen der höheren Fakultäten (Rechtswissenschaft, scholastische Theologie und Medizin) und den sprachlichen Bildungsidealen des Humanismus oder zwischen einem vorwiegend philologisch-philosophischen und einem eher naturwissenschaftlich orientierten Humanismus (wie die humanistische Interessenvielfalt Willibalds zeigt), kein Gegensatz auch zwischen humanistischer Kleruskritik und Kirchenfrömmigkeit oder zwischen intensivem kommunalen Denken und einer Identifikation mit klösterlicher Lebensweise, kein Gegensatz schließlich auch zwischen Geistesadel und Geburtsadel. Durch die Rückkehr von Johann und Willibald Pirckheimer bekam nun der Magistrat den entscheidenden Schub zu humanistischen Regelungen in der Schulfrage. Auf Initiative vor allem Johanns ging die Gründung der von kirchlichem Einfluß freien, nach humanistischen Grundsätzen eingerichteten Poetenschule 1496 zurück 2 1 3 , und Willibald Pirckheimer war dann die treibende Kraft einer humanistischen R e f o r m der städtischen Lateinschulen und in der Folgezeit quasi
2 0 9 Nach Pirckheimer: Briefwechsel, S. 6 muß Johann Pirckheimer nach dem Tod seiner Frau (21. März 1488) nach Nürnberg zurückgekehrt sein. Z u Johann Pirckheimer vgl. oben Anm. 80. 2 1 0 Z u m Datum der R ü c k k e h r Willibalds aus Pavia nach Nürnberg (vermutlich Juli 1495) vgl. Pirckheimer: Briefwechsel, S. 9 und S. 28, Anm. 7. A m 13. O k t . 1495 heiratete er Crescentia Rieter. 2 1 1 Vgl. oben Anm. 108. Georg entstammt einer anderen Linie des Nürnberger Pirckheimergeschlechts als Johann und Willibald. Vgl. die Stammbäume am Ende des Buches von Reimann: Pirckheimer. 2 , 2 Vgl. oben Anm. 111. 213
Vgl. die Notiz bei Conradus Celtis: Norimberga, cap. 12; ed. Wenninghof.
Celtis, S. 181.
6.
Patrizierhumanismus?
43
der >Decernent für Schulangelegenheiten< im Rat 2 1 4 . Seit den letzten Jahren des 15. Jahrhunderts stand der R a t entschieden auf Seiten der humanistischen Bildungsbewegung, und zwar immer in jener praxisorientierten — auf Schule, b ü r gerliches Ethos, Ratsregiment, reichsstädtisches Denken, Handel, handwerkliche Innovation und Profit bezogenen — Weise, die für den Nürnberger Humanismus besonders charakteristisch ist. Im Z e n t r u m dieser humanismusfreundlichen Einstellung der Ratsmehrheit stand die treibende Energie Pirckheimers. Er zeigt zugleich, welche geistige Weite auch dieser praxisnahe, dem kommunalen Leben u n d den reichsstädtischen, patrizisch-ehrbaren Werten zugewandte Humanismus durch die Beschäftigung mit Piatonismus, Stoa u n d den Kirchenvätern gewinnen konnte. Die in die Bahnen der städtischen Ehrbarkeit geleitete Rezeption u n d Domestizierung des Humanismus mußte nicht geistige Enge bedeuten. Das gleiche wird man dann auch über die Nürnberger Ratsreformation seit 1525, die domestizierte Reformation, sagen können 2 1 5 . Wir haben also gesehen, wie Patriziat und R a t in N ü r n b e r g mehr und mehr v o m Humanismus ergriffen werden, bis schließlich der Humanismus in die Ratspolitik einfließt. Es war ein langsamer, aber kontinuierlicher Prozeß mit bestimmten Schüben. Trotz dieser Entwicklung mit einer immer größeren (aber stets nur partiellen) Einbeziehung des Patriziats sollte man aus den genannten Gründen in N ü r n b e r g besser nicht von einem Patrizierhumanismus sprechen 2 1 6 . Der H u m a nismus an der Pegnitz war in dominierender Weise ein P h ä n o m e n der ehrbaren Oberschicht allgemein, unter Beteiligung einzelner Patrizier u n d des Rats, aber nicht speziell der Patrizier. Auch der für N ü r n b e r g zutreffende Begriff eines Honoratioren- oder Ehrbarkeitshumanismus kann mißverstanden werden, wenn man damit die Vorstellung verbindet, die Mehrheit der Ehrbarkeit - etwa u m 1517 - sei humanistisch eingestellt gewesen. Auch hier darf man sich wie beim Patriziat keine übertriebenen Vorstellungen machen. Im Vergleich zu den (einschließlich des Patriziats) wohl über 350 ehrbaren und reichen Familien, die u m 1500 in N ü r n b e r g lebten, war die Zahl der humanistisch aktiven Bürger und Kleriker sehr gering, nicht mehr als eine ganz schmale Bildungselite innerhalb der Ehrbarkeit. Allerdings kann man umgekehrt sagen: Wer sich im humanistischen Sinne betätigte und interessierte, stand so gut wie immer auf dem sozialen Niveau der Ehrbarkeit und in ihrem gesellschaftlichen Kommunikationsbereich. Das 2,4
Bauch: P o e t e n s c h u l e , S. 47. Z u r P r o b l e m a t i k des D o m e s t i z i e r u n g s b e g r i f f s in seiner A n w e n d u n g auf die R e f o r m a t i o n vgl. Hamm: Z w i n g l i , S. 123 f. 216 Ich k o r r i g i e r e d a m i t m e i n e T e r m i n o l o g i e , w i e ich sie in e i n e m f r ü h e r e n V o r t r a g v e r w e n d e t h a b e ; vgl. Hamm: F r a n k e n , S. 250. B e r ü c k s i c h t i g t m a n freilich, w i e sehr die g e s a m t e E h r b a r k e i t N ü r n b e r g s d u r c h das Patriziat d e r R a t s f ä h i g e n b e h e r r s c h t w u r d e u n d sich a m Patriziat o r i e n t i e r t e u n d w i e d a m i t a u c h d e r N ü r n b e r g e r H u m a n i s m u s p a t r i z i e r o r i e n t i e r t w a r (vgl. o b e n S. 17f), d a n n m a g in dieser H i n s i c h t d e r B e g r i f f des P a t r i z i e r - H u m a n i s m u s seine Gültigkeit b e h a l t e n . Ü b r i g e n s s p r i c h t bereits Herrmann: R e c e p t i o n , S. 112 f ü r die Ära Willibald Pirckheimers v o n »patrizischem Humanismus«. 2,3
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Ethik und reichsstädtische
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heißt: der Nürnberger Humanismus war sozial, wirtschaftlich und ideell an die ehrbare Oberschicht und in bestimmter Hinsicht auch speziell an die patrizische Führungsschicht gebunden, auch wenn seine Ideen immer wieder über das Schichtspezifische in das Allgemein-Menschliche, -Christliche und -Bürgerliche hineinreichten. Diese Bindung bedeutete Verpflichtung gegenüber den Tugend- und Herrschaftsidealen und dem Traditionsbewußtsein dieser ehrbar und patrizisch denkenden Schicht. Ich werde darauf noch zurückkommen. Soviel können wir mit dem Blick auf unseren Ausgangspunkt, den fränkischen Humanismus, festhalten: Nur wo es zur Verbindung von weltläufiger Bildungsoffenheit, Rezeption der italienischen Impulse, wirtschaftlicher Großzügigkeit des Mäzenatentums einer Oberschicht und beruflicher Entfaltungsmöglichkeit an einem Herrschaftszentrum kam, begegnen uns in Franken wirkliche Zentren des Humanismus: auf reichsstädtischer Ebene nur in Nürnberg, daneben aber auch in den geistlichen Residenzstädten der Bischöfe, weniger in Eichstätt, mehr schon in Bamberg und ganz besonders in Würzburg, wo Bischof, Domkapitel und bischöfliche Räte die Existenzbedingungen für humanistische Gelehrsamkeit im großen Stil schufen 217 . An den weltlichen Residenzen der fränkischen Markgrafen in Kulmbach und Ansbach tat sich dagegen in dieser Zeit vor der Reformation noch sehr wenig, nicht weil das Geld, sondern weil die geistige Aufgeschlossenheit für die neuen Bildungsideale und erst recht eine entsprechende kulturpolitische Programmatik fehlten 218 .
7. Bildungsideale des Humanismus Nachdem wir einen Blick auf die äußeren Lebensbedingungen eines reichsstädtischen Humanismus geworfen haben, dabei freilich im Vorübergehen wiederholt auch bereits inhaltliche Bezüge erwähnten, müssen wir nun nach seinem Bildungsgehalt fragen, wie er uns in Nürnberg vor allem in den Jahrzehnten nach 1470 bis hinein in die Jahre der Reformation begegnet. Zunächst freilich wollen wir uns ganz allgemein vergegenwärtigen, was das für neue Bildungsideale waren, die von den reichen Nürnberger Bürgersöhnen von den italienischen Universitäten heimgebracht wurden, Bildungsideale, die wir zusammenfassend als humanistisch bezeichnen. Mit Paul Oskar Kristeller ist die Vorstellung zurückzuweisen, die Existenz der >Renaissance< und ihrer literarischen Strömung, des >HumanismusHumanismus< wohl kaum sinnvoll, wenn man nicht zu einer wenigstens unbefriedigenden und tastenden Definition bereit ist, d. h. die besondere Physiognomie des Humanismus, einige seiner Wesensmerkmale und Grenzen, zu charakterisieren versucht. Die Sprachregelung m u ß legitimiert (oder kritisiert) werden, warum man eine Vielfalt von Erscheinungsformen in der literarischen Kultur des 14. bis 16. Jahrhunderts, in einer bunten Fülle von Kulturlandschaften, sozialen Einbettungen, Bildungseinrichtungen, kulturellen Disziplinen und literarischen Gattungen, von lateinischen Grammatiken über religiöse Traktate bis zu Lehrbüchern der Astronomie und Medizin, mit dem Oberbegriff >Humanismus< verbindet. Welche Gemeinsamkeit >in rebus< rechtfertigt einen solchen Begriff? Ich will zumindest einige Gesichtspunkte des Gemeinsamen, das bei den Humanisten selbst ein Bewußtsein von Zusammengehörigkeit, einer Bildungsgemeinde, schuf, im Überblick skizzieren, u m dann wieder zu den besonderen Nürnberger Verhältnissen zurückzukehren. Humanismusforschung wird — das sagte ich bereits anfangs — immer in der H i n und Her-Bewegung zwischen dem Besonderen, Individuellen, Lokalen und dem Allgemeinen, Translokalen, Verbindenden bestehen müssen. Der Humanismus im Zeitalter der Renaissance hat es, wie ja der Begriff Renaissance sagt, mit einer Wiedergeburt zu tun, und zwar mit der Wiedergeburt der Antike, oder besser: aus dem Geist der Antike. »Erneuerung durch Besinnung auf die Ursprünge« im Altertum ist das Ziel, getragen vom Gefühl der Distanz zur Antike und dem »Bewußtsein, eine neue Epoche einzuleiten« 220 . N u n haben sich freilich das ganze Mittelalter und auch die scholastischen Theologen mit den Quellen des Altertums, auch mit manchen Quellen der heidnischen Antike, beschäftigt. Seit Jahrhunderten las man Autoren wie Aristoteles, Piaton, Vergil, Cicero und Seneca. Was sich freilich seit Francesco Petrarca im 14. Jahrhundert ändert, ist einmal die Breite der Antike-Rezeption, die Verschollenes, Vergessenes und Unterdrücktes ans Licht fördert; zum andern ändert sich die Art, wie man die Alten liest. Die griechischen und lateinischen Klassiker werden nicht mehr nur gelegentlich herangezogen und in kirchliche N o r m e n gepreßt, sondern sie gewinnen nun - in wiederentdeckter Vielfalt, Ursprünglichkeit und Vollständigkeit, präsentiert im Urtext u n d vervielfältigt durch das neue M e d i u m des Buchdrucks — eine ganz neue Vorrangstellung; sie werden selber zur obersten N o r m , zu einer Bildungs-Norm, die sich allen Bereichen des Menschen einbilden, einprägen u n d ihn zur Verwirklichung seines Menschseins führen soll. In ihrem neuen Gefühl des geschichtlichen Abstands vom Altertum der Griechen u n d R ö m e r sind die Humanisten der Meinung, daß sich Menschlichkeit (humanitas) bisher nur ein einziges Mal, in der heidnischen oder christlichen Antike, in lateinischer u n d Ich verweise b e s o n d e r s auf seine in d e u t s c h e r U b e r s e t z u n g e r s c h i e n e n e n b e i d e n B ä n d e : Kristeller: Humanismus. 220 Buch: B e g r i f f , S. 31.
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griechischer Sprache, vollgültig entfaltet habe. Ich komme also in einem ersten Schritt zu folgender Definition von Humanismus: Humanismus ist eine Literaturund Bildungsbewegung, für die das klassische Altertum mit seinen Rhetoren, Philosophen, Dichtern, bildenden Künstlern, Naturforschern und besonders auch den Kirchenvätern nicht nur ein Bildungshorizont neben anderen Bildungshorizonten ist, sondern die oberste Bildungs-Norm überhaupt oder, wie man auch sagen könnte, der Quellhorizont von Bildung. Die Bildung des Menschen, seine Erziehung zu einem geistig bestimmten Wesen, soll am Leitbild der Antike orientiert sein und soll - das ist ebenfalls entscheidend - bei einer an der Antike geschulten Formung der Sprache einsetzen 221 . Kurz etwas zu diesem zentralen Aspekt der Formgebung. Es ist, wie bereits angedeutet, sehr gewagt, von dem Humanismus zu sprechen, weil diese Bewegung j e nachdem, welche Richtung der Antike sie in welcher Weise und mit welchen Absichten aufnimmt, in eine Vielzahl von Strömungen, in Humanismen, zersplittert ist. Zum Gemeinsamen aller Renaissance-Humanisten des 14. bis 16. Jahrhunderts gehört aber nicht nur allgemein der Normcharakter der Antike, sondern auch insbesondere die emphatische Hinwendung zur Rhetorik, zum schönen Stil, zur Eleganz und Eloquenz des Sprechens und Schreibens, wie sie durch das Studium des Griechischen und Lateinischen gewonnen werden soll. An diesem Punkt des Bemühens um >klassischeBrevis Germaniae descriptio< preist er Christus als Befreier von der Barbarei der lingua und der mores: »Dank sei Gott, unserem Heiland nicht nur vom Irrtum des Heidentums auch von der abscheulichen
und des Götzendienstes
Christus, der uns
gnädigst befreite,
sondern
Barbarei sowohl der Sprache als auch der Sitten und uns eine und einen gnädigeren Himmel schenkte. « 2 2 3 D i e enge
sanftere (kultiviertere) Denkungsart
Verbindung von lingua und mores bei Cochlaeus ist typisch für das humanistische Studienprogramm. Dort, wo uns zum ersten Mal der für dieses Programm charakteristische ciceronianische Schlüsselbegriff studia humanitatis begegnet, bei dem Florentiner Coluccio Salutati im Jahre 1401, wird er so näher bestimmt: tatis, hoc est eruditionis moralis, studia«224.
»humani-
Leonardo Bruni, wie Salutati Kanzler von
Florenz, nimmt einige Jahre später dieses Verständnis auf, indem er das Wesen der von der Sprachformung ausgehenden >studia humanitatis< darin erblickt, daß sie den Menschen hinsichtlich seiner sittlichen Bildung vervollkommnen und schmükken: »petficiant atque
exornent«225.
So sehr also der Humanismus bei der Formung der Sprache einsetzt, so auffallend ist dabei die dominierende ethische Zielsetzung seines Bildungsprogramms 2 2 6 - und das gilt über Florenz und Italien hinaus erst recht für den niederländischdeutschen Humanismus, etwa eines Erasmus von R o t t e r d a m , und ebenso auch für alle Nürnberger Humanisten. D i e humanistischen Interessen auf Gebieten
222
Vgl. oben Anni. 68.
223
»Sedgrates
potius deo referendae
sunt, salvatori nostro Christo,
qui non solum a gcntilitatis
que errore, veruni etiam a foeda et linguae et morum barbarie dementissime clementiusque
caelum praestiterit.«
Cochlaeus:
Studia humanitatis, S. 12.
224
Buck:
225
E b d . , S. 1 4 f .
226
V g l . Kristeller.
Denken.
nos libcraverit ac mollius
Brevis G e r m a n i a e descriptio ( 1 5 1 2 ) , S. 1 6 4 .
idolatriaeingenium
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wie Medizin, Geographie, Astronomie und Mathematik sind dabei durchaus in diese Zielrichtung einbezogen 2 2 7 . Die Wiedergeburt der antiken Autoren, ihre »produktive Vergegenwärtigung«, soll eine umfassende »ethische Regeneration des Einzelnen wie der Gesellschaft« bewirken 2 2 8 . Mit der Ethik, der Anleitung zum tugendhaften Leben, war alles verbunden, was wir als charakteristisch für den Humanismus ansehen können: der Drang nach persönlicher Erfahrung und eigen e m Erleben; das Bild des freien, nicht von >starrerlebloser< Dogmatik der Scholastik und drückendem Regelwerk des institutionellen Kirchentums eingegrenzten Menschen, der zurückfinden will zu den Lebenswirklichkeiten selbst und zu einer unmittelbaren Erfahrung, auch zu einer unmittelbaren Erfahrung Gottes (hier liegen die Berührungen zu einer mystisch gestimmten Frömmigkeit), auch zu einer unmittelbaren Erfahrung der Natur (durch Reisen, Entdeckungen und Experimente) 2 2 9 und auch zu einer unmittelbaren Erfahrung der eigenen Seele (wie man sie etwa bei Augustin findet); die Suche nach sich selbst, nach dem Gefühl des eigenen Wertes u n d der eigenen Würde 2 3 0 der Gottesebenbildlichkeit zwischen Engel und Tier 2 3 1 , der eigenen Individualität im Kosmos der vernünftigen Wesen; dabei immer wieder die erlebende und beobachtende Begegnung mit dem Konkreten, Realen, Partikularen, Singulären, Kuriosen 2 3 2 , Besonderen,
227
Vgl. Wuttke: B e o b a c h t u n g e n . Buck: E t h i k , S. 44; vgl. ders.: H u m a n i s m u s , S. 1 6 9 - 1 7 1 . 229 Vgl. o b e n A n m . 22 mit d e r B e m e r k u n g des Regiomontanus gegen d i e j e n i g e n A s t r o n o m e n , die ihre S t e r n k u n d e nicht a m H i m m e l , s o n d e r n a m Schreibtisch treiben. M a n d e n k e beispielsweise a u c h daran, daß die H u m a n i s t e n - in der Tradition der Besteigung des M o n t V e n t o u x d u r c h Petrarca — die ersten Alpinisten w a r e n . Ich e r w ä h n e als »typisches H u m a n i s t e n u n t e r n e h m e n « dieser A r t etwa die Erstbesteigung des Pilatus bis z u m Pilatussee, die die Schweizer H u m a n i s t e n g r u p p e Johannes Zimmermann (Xylotectus), Joachim Vadian, Konrad Grebel u n d Oswald Myconius i m Jahre 1518 d u r c h f ü h r t e ; vgl. Locher. R e f o r m a t i o n , S. 47. Locher bietet auf diesen Seiten (S. 42—54) eine treffende Kurzcharakteristik des H u m a n i s m u s u n t e r b e s o n d e r e r B e r ü c k s i c h t i g u n g d e r Schweizer Verhältnisse. 228
230
Vgl. Kristeller. S t u d i e n , S. 6 6 - 7 9 (Die W ü r d e des M e n s c h e n ) . Vgl. z. B. die b e r ü h m t e u n d vielfältig rezipierte R e d e des Giovanni Pico della Mirandola >De dignitate hominis«; ed. Garin. P i c o läßt hier (S. 28) d e n W e l t s c h ö p f e r z u m M e n s c h e n s p r e c h e n : »Medium te mundi posni, ut circumspiceres inde commodius, quiequid est in mundo. Nec te caelestem neque terrenum, neque mortalem neque immortalem feeimus, ut tui ipsius quasi arhitrarius honorariusque plastes et fictor, in quam malueris tute formam ejßngas. Poteris in inferiora quae sunt bruta degenerare; poteris in superiora quae sunt divina ex tui animi sententia regenerari.« — Z u m z e n t r a l e n T h e m a d e r G o t t e s e b e n bildlichkeit i m H u m a n i s m u s vgl. Trinkaus: Image. 231
232 Vgl. z . B . das G e d i c h t v o n Sebastian Brant ü b e r die u n e r k l ä r l i c h e B l u t - u n d W u r m k r a n k h e i t e i n e r S t r a ß b u r g e r i n (1496), i n t e r p r e t i e r t v o n Wuttke: B e o b a c h t u n g e n ; hier w i r d a u c h d e r Z u s a m m e n h a n g des h u m a n i s t i s c h e n Interesses an k u r i o s e n Vorfällen, b e s o n d e r s m e d i z i n i s c h e r u n d m e t e o r o l o g i s c h e r Art, m i t e i n e r n a t u r w i s s e n s c h a f t l i c h e n >curiositas< sichtbar. Diese A r t v o n N e u g i e r v e r b i n d e t d e n H u m a n i s m u s m i t d e m N o m i n a l i s m u s ; vgl. Oberman: C o n t r a v a n a m c u r i o s i t a t e m , b e s o n d e r s S. 33—38 ( N o m i n a l i s m u s : E x p e r i e n t i a u n d die G e b u r t d e r N e u z e i t ) . E i n G e g e n s a t z v o n H u m a n i s t e n z u m N o m i n a l i s m u s a u c h da, w o sie ratio u n d curiositas b e t o n e n , zeigt sich in e i n e m v e r b r e i t e t e n h a r m o n i s i e r e n d e n u n d integrativen Verständnis d e r V e r n u n f t i m H u m a n i s m u s , d. h. in d e r Weise, w i e die h u m a n i s t i s c h e ratio E r k e n n t n i s s e d e r Physik u n d d e r M e t a p h y s i k , d e r W e l t u n d G o t t e s e r f a h r u n g u m f a ß t u n d zu e i n e m K o n t i n u u m v e r b i n d e t . D a s w i d e r s p r i c h t d e r M e t h o d e d e r N o m i n a l i s t e n , z w i s c h e n d e m e w i g e n Sein Gottes, d e r O r d n u n g d e r g e s c h a f f e n e n D i n g e bzw.
7. Bildungsideale
des
Humanismus
49
Individuellen, wenn auch das mittelalterliche Interesse an Universalität und symbolischer, allegorischer oder typologischer >Bedeutung< 233 damit intensiv verbunden bleiben kann 2 3 4 ; und all dies — nach humanistischer Vorstellung — gewonnen aus den lebendig sprudelnden Quellen selbst, aus den Quellen der Antike, die für den Humanisten Inbegriff freier, unmittelbarer, nicht durch Scholastik, kirchliche Gesetze und Zeremonien erstickter Begegnung mit Leben und Menschlichkeit ist. Dabei soll die Antike durch das Vorbild ihres unverstellt-offenen Zugangs zur Welt Ansporn sein, ihre eigenen wissenschaftlichen Errungenschaften heute zu übertreffen und neue Horizonte von Wissen, Kunst, Technik und Weisheit zu eröffnen 2 3 5 . All dies ist, wie gesagt, mit der Ethik des guten Lebens verbunden oder in einen ethischen Lebensentwurf des bene vivere einbezogen. Denn Vollendung der Moralität liegt für diese Humanisten gerade darin, sich selbst zu finden, sein eigenes menschliches Wesen zu entdecken und ihm gemäß zu leben, sich so im tugendhaften und vernunftgemäßen Leben selbst zu verwirklichen, in der Einmaligkeit einer individuellen Persönlichkeit und in der Treue zu sich selbst 236 . Dominierend in diesen ethischen Modellen des Humanismus ist eine eklektische stoische Moralphilosophie, in die platonische und aristotelische Elemente aufgenommen sind und vermengt werden mit einer ihrerseits schon längst vom Hellenismus geprägten christlichen Tugendlehre. D e m Humanismus geht es nicht darum, in der Art eines modernen Philosophiehistorikers eine bestimmte philosophische Richtung der Antike sauber herauszudestillieren, sondern ihm geht es um Vergegenwärtigung der Antike insgesamt, wo sie das Humane gültig formuliert; darum dieser Eklektizismus und Synkretismus. Wie der Humanismus sich dabei durch eine stärkere Orientierung am Eigenwert des Menschlichen und Weltlichen und durch das freiere Einfließen der Quellen, Sprach- und D e n k formen der heidnischen Antike aus dem Zentrum der kirchlichen Tradition des Mittelalters herausbewegt, ist im Einzelfall zu untersuchen. der Heilsgeschichte und dem Sein und der Reichweite des menschlichen intellectus scharf zu unterscheiden. Vgl. Olily: Bedeutungsforschung, besonders S. I X — X X X I V (Einleitung). Dies ist um so verständlicher, wenn man bedenkt, daß zahlreiche Humanisten auf dem Boden der philosophisch-theologischen Via antiqua (etwa der thomistischen Prägung Kölns wie Conradus Celtis) und eines damit eng verbundenen Piatonismus standen. 2 3 5 Dieses Drängen nach Neuem und damit einem Übertreffen der Antike (etwa — wie besonders bei Celtis — im Programm einer geographisch-historisch-kulturellen Beschreibung Germaniens) wird mit R e c h t von Dieter Wuttke hervorgehoben (wobei ich ergänzend betonen möchte, daß die Humanisten mit diesem kreativ-innovatorischen Ansatz gerade dem Vorbild der Antike und ihrem Zugang zur Welt treu bleiben möchten). Wuttke: Beobachtungen, S. 133 kommt daher zu folgender Definition des Humanismus: »Dies ist das eigentliche Merkmal der Renaissance-Humanisten: Sprachlich anspruchsvoll geschult mit dem Medium Sprache und/oder Musik und/oder bildende Kunst und/oder nnt geräteschaffender Fertigkeit im R ü c k g r i f f auf altes, vorrangig antikes Wissen und alte Weisheit im Bewußtsein der Würde und Verpflichtung des Menschen als Ebenbild Gottes antimaterialistisch kritisch neues Wissen, auch Gerät, neues Bewußtsein und neue Weisheit schaffen und/oder verbreiten, die den Menschen ethisch reifer machen und Gott näher bringen.« 233 234
236
Vgl. Seidelmayer:
Wege, S. 2 0 7 .
50
Humanistische
Ethik und reichsstädtische
Ehrbarkeit
8. Humanistische Ethik in Nürnberg Blicken wir nun auf den reichsstädtischen, ehrbaren Humanismus in Nürnberg, so ist zunächst auffallend, daß die Orientierung am Tugendkanon der popularisierten Stoa noch stärker hervortritt als ohnehin schon im europäischen Renaissance-Humanismus. >Tugend< (virtus) nach dem im Nürnberger Humanismus ebenso wie im Bürgerhumanismus anderer Metropolen weit verbreiteten stoisch geprägten Lebensmodell bedeutet: nach der Richtschnur der Vernunft und einer entsprechend vernünftig interpretierten Bibel zu leben. Und das heißt: Selbstbeherrschung und Selbstkontrolle, Zügelung der niederen sinnlichen Affekte, Kampf den Leidenschaften, Besonnenheit und Maßhalten in allen Dingen (der frühneuhochdeutsche Ausdruck für mäßige Zurückhaltung ist »Bescheidenheit«: die Fähigkeit, sich nicht zu unkontrollierten Gefühlen und Handlungen hinreißen zu lassen), Demut statt Überheblichkeit, Geduld, Verzicht und Leidensbereitschaft. Solche Anweisungen zur Tugend begegnen uns z.B. in den zahlreichen Briefen, die der Stadtarzt Dr. Hermann Schedel im Zeitraum zwischen 1450 und 1480 verfaßt hat 237 , in den 37 überlieferten Briefen, die Sixtus Tucher, Propst von St. Lorenz, von 1498 bis 1506 an Caritas Pirckheimer, die Äbtissin des Klara-Klosters, und gelegentlich auch an die Priorin Apollonia Tucher, seine Cousine, geschrieben und die der Ratskonsulent Christoph Scheurl d.J., der Neffe Tuchers, gesammelt und zum Druck gegeben hat 238 , in Ermahnungen zu einem tugendhaften Wandel aus der Feder des Ratsschreibers Lazarus Spengler (verfaßt um 15 1 0) 2 3 9 oder in einer Lebensbeschreibung, in der Christoph Scheurl die Vita des verstorbenen Nürnberger Propstes Anton Kreß als Vorbild stilisiert (15 1 5) 2 4 0 , oder auch in gleichzeitigen literarischen Versuchen Albrecht Dürers 2 4 1 . Besonders auch an Willibald Pirckheimers Werk ist zu denken, z.B. an seine 1522 erschienene >Apologia seu podagrae lausErmanung vnd Vndterweijsung zu einem tugenhaften Wandel von Lazarus SpenglerPrinzip der klassischen Geisteshaltunghonestasklassische< Haltung entspricht ziemlich genau der Lebenssicht, dem Gemeinschaftsverständnis und den gesellschaftlichen Interessen der aristokratischen Ehrbarkeit. Die Ethik der Nürnberger Humanisten hat freilich noch ganz andere Dimensionen und Wurzeln als diesen sozialen Lebenskontext der städtischen Oberschicht, z.B. die Verankerung in einer nicht schichtspezifischen oder stadtspezifischen spätmittelalterlichen Frömmigkeitstradition. Die Einsicht in die Begrenztheit und Partialität aller Aussagen über Beziehungen zwischen sozialen Bedingungen und bestimmten Ideen steht im Hintergrund all unserer Bemerkungen über die h u manistische Ethik der Ehrbarkeit in Nürnberg. Man sollte diese kommunale Ehrbarkeits- und Patrizierethik, wie sie von den Humanisten aus der Antike angereichert wird, weder idealisieren noch als pure egoistische Machtideologie der Herrschenden denunzieren. Es steckt darin sicherlich sehr viel Interesse an Herrschaftswahrung, das als Tugend und Frömmigkeit bemäntelt wird: Unversehens und sicher meist unbewußt kleidet sich das konservative Standesinteresse der Oberschicht in die Sprache der Werte und Tugenden. Aus dieser Ethik spricht aber auch sehr viel patriarchalisches Verantwortungsbewußtsein und Sinn für Selbstkontrolle der Regenten, die, wie es immer wieder heißt, nicht ihren eigenen Vorteil, sondern das Wohl des Ganzen, Friede und Gerechtigkeit suchen und den tyrannischen Geist der Maßlosigkeit aus ihren R e i h e n ausschließen sollen. U n d man kann vielleicht mit Hans von Schubert sagen: Entsprechend ruhig-maßvoll, mit einer gewissen antik-catonischen Strenge wurde in N ü r n b e r g in diesen Jahrzehnten vor und nach 1500 tatsächlich regiert 250 . Die reichsstädtische Ethik des Humanismus war eine Ethik der Aristokratie und Oligarchie, aber einer Aristokratie, die sich durch Ideale des Verzichts und des b o n u m c o m m u n e in Pflicht nehmen lassen wollte und den breiten städtischen Konsens suchte, ja in einem Zeitalter geringer >PolizeiApologia seu p o d a g r a e lausFrömmigkeitstheologiePastorale TheologieGeistliche Theologie< o d e r »Monastische T h e o l o gie< n i c h t ausschließt, s o n d e r n als speziellere B e g r i f f e f ü r Teilbereiche d e r F r ö m m i g k e i t s t h e o l o g i e m i t e i n s c h l i e ß t , vgl. Hamm: F r ö m m i g k e i t s t h e o l o g i e , S. 132—216. I n n e r h a l b d e r praktisch-seelsorgerlichen, auf rechtes L e b e n u n d S t e r b e n zielenden R e f o r m t h e o l o g i e des 15. J a h r h u n d e r t s , die ich als F r ö m m i g k e i t s t h e o l o g i e bezeichne, m u ß m a n zwischen sehr verschiedenen Ansätzen u n d Bereic h e n differenzieren. Ein b e s o n d e r e r Z w e i g dieser Literatur, die sich, obgleich d u r c h das scholastische E r b e geprägt, von den diffizilen, besonders d e n stark philosophisch geprägten Problemstellungen des scholastischen Lehrbetriebs w e i t g e h e n d a b w e n d e t , ist die humanistisch geprägte F r ö m m i g k e i t s t h e o l o g i e bzw. ein f r ö m m i g k e i t s t h e o l o g i s c h gesättigter H u m a n i s m u s . — Z u r F r ö m m i g k e i t i m spätmittelalterlichen N ü r n b e r g ( w o b e i freilich die F r ö m m i g k e i t s t h e o l o g i e n i c h t g e n a u e r u n t e r sucht wird) vgl. allgemein Stahl: N ü r n b e r g ; Höß: L e b e n ; Schlemmer. G o t t e s d i e n s t . 256
2563 I m A n s c h l u ß an A n m . 2 5 6 k a n n m a n das p e r s p e k t i v e n r e i c h e Verhältnis z w i s c h e n F r ö m migkeitstheologie u n d H u m a n i s m u s modellartig w o h l so beschreiben; H u m a n i s m u s u n d F r ö m m i g keitstheologie sind w i e zwei partiell sich ü b e r s c h n e i d e n d e Kreise m i t j e e i g e n e n v e r s c h i e d e n e n M i t t e l p u n k t e n . D i e T e n d e n z u m 1500 u n d d a n a c h zielt auf e i n e A n n ä h e r u n g d e r M i t t e l p u n k t e , d. h. die U b e r s c h n e i d u n g s b e r e i c h e w e r d e n g r ö ß e r , w i e m a n allein an d e r E n t w i c k l u n g des Erasmus
9. Frömmigkeit
und
Humanismus
55
Was das in Nürnberg für den Humanismus bedeutete und was für die Frömmigkeit, ist so gut wie unerforscht, weil die bisherigen Arbeiten über den Nürnberger Humanismus weitgehend auf das Biographische, Druck- und Literaturgeschichtliche und Allgemeinhistorische beschränkt blieben und weil Humanismusforschung und theologie- und frömmigkeitsgeschichtliche Forschung mit Vorliebe getrennte Wege gehen. Die intensive interpretatorische Durchdringung der zugleich h u m a nistischen und frömmigkeitstheologischen Literatur ist - nicht nur für N ü r n b e r g — eine Aufgabe der Zukunft, deren Erfüllung freilich noch viel editorisches B e m ü h e n voraussetzt 257 . Man würde dann auch j e nach Standort der spätmittelalterlichen Autoren deutlich verschiedene Modelle der Verbindung von H u m a nismus und Frömmigkeit unterscheiden können. Ich frage zunächst nach der zugrundeliegenden Gemeinsamkeit, die humanistische Ethik und kirchliche Lehre von der frommen Lebensgestaltung zusammenführt und -hält. Das angedeutete Ineinander von Kirchlichkeit, Frömmigkeit und Humanismus hat tiefe Gründe in einer Gemeinsamkeit des Menschenbildes. Die spätmittelvon Rotterdam sehen k a n n , u n d b e i m a n c h e n P e r s o n e n k o m m e n F r ö m m i g k e i t s t h e o l o g i e u n d H u m a n i s m u s völlig z u r D e c k u n g , d. h. sie sind H u m a n i s t e n u n d F r ö m m i g k e i t s t h e o l o g e n z u g l e i c h u n d n i c h t das eine m e h r o d e r w e n i g e r . A m Beispiel N ü r n b e r g s k a n n m a n sehr s c h ö n studieren, w i e es 1. einerseits F r ö m m i g k e i t s t h e o l o g e n gibt, die gänzlich u n h u m a n i s t i s c h o d e r gar a n t i h u m a n i s t i s c h eingestellt sind (wie einige P r e d i g e r des D o m i n i k a n e r k l o s t e r s ) o d e r d e r e n h u m a n i s t i sche N e i g u n g e n sehr b e g r e n z t u n d d u r c h die k i r c h l i c h e n L e h r t r a d i t i o n e n des Mittelalters ü b e r l a gert u n d marginalisiert sind (wie bei d e m Franziskaner Stephan Fridolin [zu d i e s e m bisher n o c h n i c h t e r w ä h n t e n b e d e u t e n d e n L e k t o r u n d P r e d i g e r des N ü r n b e r g e r Franziskanerklosters vgl. u n t e n A n m . 258] o d e r d e m Arzt Ulrich Pinder), d a ß 2. auf d e r a n d e r e n Seite H u m a n i s t e n s t e h e n , bei d e n e n die f r ö m m i g k e i t s t h e o l o g i s c h e n N e i g u n g e n n i c h t b e s o n d e r s ausgeprägt sind (wie Hermann Schedel, Hieronymus Münzer, Conradus Celtis oder Dietrich Ulsen), d a ß es 3. F r ö m m i g k e i t s t h e o l o g e n m i t stark h u m a n i s t i s c h e n Interessen (wie den K a r t ä u s e r p r i o r Martin Sogodunus) u n d 4. H u m a n i s t e n m i t stark f r ö m m i g k e i t s t h e o l o g i s c h e n Interessen (wie Peter Danhauser o d e r Willibald Pirckheimer) gibt u n d schließlich 5. P e r s o n e n , bei d e n e n F r ö m m i g k e i t s t h e o l o g i e u n d H u m a n i s m u s völlig z u r D e c k u n g k o m m e n (wie Sixtus Tucher, Benedictus Chelidonius, Johannes Cochlaeus, Lazarus Spengler o d e r Christoph Scheidt). M a n darf diesen E i n t e i l u n g s v e r s u c h n i c h t zu schematisch auffassen, s o n d e r n als Versuch, d e n Blick auf die D i f f e r e n z i e r t h e i t d e r P h ä n o m e n e zu l e n k e n u n d w e d e r d e n H u m a n i s m u s b e g r i f f n o c h d e n B e g r i f f d e r F r ö m m i g k e i t s t h e o l o g i e zu e n g u n d m o n o l i t h i s c h zu d e u t e n . Z u L e t z t e r e m neigt offensichtlich Gerhard Müller (in: W o l f e n b ü t t e l e r R e n a i s s a n c e - M i t t e i l u n g e n 6 [1982], S. 122f), w e n n er d e n T e r m i n u s >Frömmigkeitstheologie< sehr b e g r e n z t g e h a n d h a b t u n d n i c h t a u c h a u f G e b i e t e des H u m a n i s m u s b e z o g e n h a b e n will u n d ihn andernfalls »in p r o b l e m a t i s c h e r Weise ausgeweitet« sieht. D i e P r o b l e m a t i k d e r A u s w e i t u n g , v o n d e r Müller spricht, liegt in d e r K o m p l e xität d e r g e s c h i c h t l i c h e n P h ä n o m e n e , z. B. in d e r Tatsache, d a ß viele H u m a n i s t e n ihre zentrale L e b e n s - u n d B i l d u n g s a u f g a b e g e r a d e (auch) a u f d e m G e b i e t d e r F r ö m m i g k e i t s t h e o l o g i e s e h e n , d. h . d a r i n , die T h e o l o g i e aus i h r e r scholastischen >Verstiegenheit< h e r a u s z u h o l e n u n d in strenger B e z i e h u n g auf die F r a g e n des f r o m m e n Lebensvollzugs a m Vorbild d e r christlichen A n t i k e (des N e u e n Testaments u n d d e r Kirchenväter) zu r e f o r m i e r e n u n d so d e r K i r c h e n e u e geistliche L e b e n s k r ä f t e z u z u f ü h r e n . Das klassische D o k u m e n t einer s o l c h e n A u s w e i t u n g o d e r besser: c h r i s t l i c h e n Z e n t r i e r u n g des H u m a n i s m u s ist Erasmus' >Enchiridion militis christiani< ( 1 5 0 1 / 1 5 0 3 ) m i t d e m W i d m u n g s b r i e f an Paul Volz, d e n A b t des Benediktinerstiftes H ü g s h o f e n bei Schlettstadt (1518). 257
In dieser H i n s i c h t vorbildlich ist die k o m m e n t i e r e n d e E d i t i o n v o n Wuttke: H i s t o r i H e r c u l i s .
56
Humanistische
Ethik und reichsstädtische
Ehrbarkeit
alterliche Frömmigkeitspraxis bzw. Frömmigkeitstheologie, wie wir sie bei Sixtus Tucher, Caritas Pirckheimer, dem Franziskaner Stephan Fridolin 2 5 8 oder dem Stadtarzt Ulrich Pinder in Nürnberg finden, geht in einer fundamentalen Weise davon aus, daß der Mensch als vernunftbegabtes und sittliches Wesen trotz des Sündenfalls ein natürliches Wissen um das wahrhaft Gute und eine Entscheidungsfreiheit vor Gott besitzt und daß er sich im Gebrauch dieser Freiheit und mit Hilfe der ihn stärkenden Gnade Gottes selbst verwirklichen kann - als Denkender und Fühlender, als Wollender und Handelnder. Die Ethik wird so zu etwas Letztgültigem im Leben des Christen, letztgültig deshalb, weil vom Gelingen eines tugendhaften Lebens der Zielgewinn des ewigen Lebens abhängt. So ist für Sixtus Tucher die Tugend des Christen die Treppe (die scala paradisi), »do durch ich von ainer stafel auf die andern [...] in volkomenhayt des lebens, zum wenigsten aines tayls, mit nydertrückung der weit raytzung und begirlikayt gen und wandern mog«259.
Es ist
exemplarisch für Nürnbergs Frömmigkeitstheologie um 1500, wie intensiv in den Briefen Tuchers Tugend- und VerdienstbegrifF miteinander verbunden sind — wobei sich die religiös-merkantile Vorstellungsebene von Verdienst, Akkumulation und Schätzen guter Werke, himmlischem Lohn und Profit völlig nahtlos in den patrizischen Lebenshorizont des Handelshauses Tucher einfügt und ihn überhöht. Sixtus Tucher beschreibt das christliche Leben als eine »glückselige mannschaft«,
kauf-
durch die man »vil guter werck gewunnen hat, derhalben wir alle wie
kauflewt in die pilgrafschaft [lies: pilgramschaft] dieser weit kämen seyen, auf das wir mit dem zeitlichen gut ewigen gewin und wücher erobern«260.
Der tugendhafte Mensch
wird damit in einem sittlichen Selbstbesitz gesehen, der es ihm ermöglicht, durch
258 Fridolin (ca. 1430—1498) wirkte ab 1480 in Nürnberg als Lesemeister des Franziskanerklosters, Prediger und später auch Beichtvater im Klarissenkloster und Erbauungsschriftsteller. Vgl. Seegets: Passionstheologie (Lit.). Zu den frühhumanistischen historiographischen Interessen Fridolins vgl. Joachimsohn: Tuchers B u c h , S. 3 und S. 12—24.
Scheurl: Sendbriefe, fol. G 1 r (12. Epistel); Pirckheimer: Briefe, S. 3 1 , 2 1 - 2 4 , Nr. 1. Scheurl: Sendbriefe, fol. D 1 v (4. Epistel); Pirckheimer: Briefe, S. 35,24—27, Nr. 5. Lazarus Spengler hat später in seiner >Schutzrede< für Luther (Erstausgabe Ende 1519) den merkantilen Umgang mit der R e l i g i o n so karikiert: »Haben sy nit auch bißher [...] denselbigen ablaßgleich ainer jailen kauffmansware im land hin und wider umbgefürt, und nit allain denselben ablaß, sonder auch alle sacrament der kirchen, und dartzü, das ich mich schäme zu melden, die seelen in dem fegfeür umb gelt verkaufft [...] Und ist aygentlich unser christenhayt nit wenig verächtlich und spotlich, das der ablaß solichergestalt mißbraucht wirdt, das durch denselbigen das fegfeür gleich einem jarmarck oder kauffmansmeß geacht und darauff die seien und nemlich ye zweintzigfur aingülden, [...] erkaufft werden sollen. Und wo wir lecherlich, als es auch ist, darvon reden wollen, so ist nit on not, solliche kauffschlege [ = Handelsabschlüsse] mit den seien durch die ablaßbrieffe zu treyben. Dann Sölten dieselben erkaufften seien gleich dem saffran oder pfeffer in pallen und fassen von solchem jarmarckt über landt gefüret und mit den erkaufften brieffen auß dem fegfeür gerissen werden, stund den kauffern nit ain klainegefar und sorge vor, das die [seil. Ballen und Fässer] durch die plagker [ = Placker, Straßenräuber] und beschediger des reichs Strassen auffgehawen und die wäre entpfürt wurde.« Spengler: Schriften 1, S. 91,7—92,1; Laube: Reformationsbewegung 1, S. 5 0 5 , 3 8 . 4 2 506,4.10—22 (nach der Ausgabe Nürnberg: Jobst Gutknecht 1520; die Sätze ab »Und ist aygentlich« sind ein Zusatz gegenüber der Erstauflage, der speziell die Nürnberger Handelsverhältnisse b e rücksichtigt) . 259 260
9. Frömmigkeit und Humanismus
57
den verdienstlichen Erwerb des ewigen Lebens sein zeitliches Leben der Verwirklichung und Vollendung zuzuführen. Selbstbesitz des tugendhaften Menschen, der gewinnträchtige Besitz der Tugend - das sind keine modernen Interpretamente, sondern Quellensprache. So nimmt man im Bereich des frommen Nürnberger Humanismus bereitwillig das isolierte Wort des Basilius Magnus auf: »Sola virtus et viventi et mortuo stabilis est et firma possessio. « 261 Spengler beispielsweise hat in seiner Tugendschrift dieses Basiliuswort so entfaltet: »Allein die tugendt ist den lebenden und gestorben menschen ein bestendige, unzweyfenliche besitzung und nit ein geringer teyl gewiser Sicherheit, sich sträflicher ubung zu enthallten. Was mag auch einen menschen mer und hoher ziem dann frommkeit
und tugendt? [...] Das ist auch die höchste zierd, die den menschen vor Got und
der wellt zum scheinparsten [= glänzendsten, prächtigsten] bekleidet, ine auch angenem und verdienlich machet, dhweil uns die allein imm tod und leben nachvolgen
wirdet.«
Spengler schließt den Abschnitt, in gut humanistischer Manier sich als Poet betätigend, mit dem Merkvers: »Allein die tugendt ewig ist, ein fromen
keines trosts geprisst [=
Dann nichtzit ziert den menschen dann tugendt, frommkeit,
mangelt]. meer
trew und eer. «262
Es tritt uns in dieser Akzentuierung des >sola virtussodalitas Staupitzianasodalitas< in N ü r n b e r g e r s t m a l s b e z o g e n a u f d e n Staupitz-Kreis,
w o b e i hier, in d e r e n g e n Verbin-
d u n g mit d e m Augustinereremitenkloster, auch der Bedeutungsaspekt der kirchlichen Bruders c h a f t m i t b e t e i l i g t sein m a g . Freilich ist zu b e a c h t e n , d a ß d i e k i r c h l i c h e n B r u d e r s c h a f t e n des S p ä t m i t t e l a l t e r s z w a r vielerlei B e z e i c h n u n g e n e r f a h r e n ( m e i s t f r a t e r n i t a s ) , n i e a b e r — j e d e n f a l l s in F r a n k e n n i c h t — d i e B e z e i c h n u n g sodalitas, d i e a u f d e n h u m a n i s t i s c h e n Z u s a m m e n h a n g v e r w e i s t
?0. Neue Aspekte bei
67
Staupitz
Wittenberger Professor Scheurl, pflegte, wie wir sahen, dieses Sodalitas-Verständnis und knüpfte auch den Kontakt der Nürnberger Staupitz-Gesellschaft zu Martin Luther 3 0 2 . In seinem vertrauten Schüler, dem Lutherfreund Dr. Wenzeslaus Linck (1483—1547), vormals Dekan der theologischen Fakultät Wittenbergs und Prior der Augustinerklöster Wittenberg (1511-1515) und München (1515-1517), der im Laufe des Jahres 1517 Prediger des Nürnberger Klosters wurde, fand Staupitz während seiner Abwesenheit von Nürnberg einen >StatthalterSodalitas Martiniana< während des Jahres 1518
förderte3023.
Dieser
Wandel entfremdete die weit überwiegende Mehrheit der Staupitzianer dem traditionellen Tugendideal des Humanismus, der Scholastik, der monastischen Spiritualität und der städtischen Frömmigkeit des spätmittelalterlichen Bürgertums. Am Beispiel Nürnbergs wird deutlich, wie sehr der Erfolg Luthers und der Reformation — gerade im obrigkeitlichen Bereich — auch von den Umständen der persönlichen Kommunikation und Verflechtung abhängen konnte. Von entscheidendem Gewicht war sicher der intensive Austausch zwischen Nürnberg und Wittenberg und in diesem Zusammenhang die engen Kontakte der Nürnberger zu Luther, die durch die ehemaligen Wittenberger Professoren Staupitz, Linck und Scheurl vermittelt wurden. Aber auch an ehemalige Wittenberger Studenten wie Hektor Pömer und Georg Peßler muß man denken, die als Pröpste von St. Lorenz und St. Sebald eine einflußreiche Rolle zugunsten der Reformation spielten. Die Grundlage für dieses enge Kommunikationsnetz zwischen N ü r n berg und Wittenberg wurde geboten durch den Austausch der beiden Augustinerklöster, die an der Wittenberger Universität geknüpften Bande, die Humanistenfreundschaften und nicht zuletzt durch die guten Kontakte des Nürnberger Rats zum sächsischen Kurfürsten und zu seiner Kanzlei. So war Institutionelles und Persönliches miteinander verquickt. All diese Beziehungen spielten sich innerhalb der Gesellschaftsschicht der Ehrbarkeit ab, doch war beim Ubergang der Reichsstadt zur Reformation gerade nicht die Tatsache der sozialen und wirtschaftlichen Schichtzugehörigkeit an sich entscheidend. Denn die konfessionellen Optionen und entsprechend andere Aktivitäten meint. Vgl. Remling: Bruderschaften, S. 12—16 und S. 291— 2 9 9 . Der B e g r i f f der >Sodalitas CelticaStaupitzianer< z u m >Martinianer< die n a h e l i e g e n d e K o n s e q u e n z u n d fast d e r N o r m a l f a l l .
J 1 . Reformatorischer
Bruch mit dem Humanismus
69
11. Reformatorischer Bruch mit dem Humanismus D e r B r u c h mit j e n e m Humanismus, wie wir ihn bisher kennengelernt haben, k a m erst durch die R e f o r m a t i o n , in N ü r n b e r g leise b e g i n n e n d mit d e m E i n d r i n gen lutherischer Schriften, den Beteiligten selbst zunächst w o h l k a u m als B r u c h b e w u ß t . In der Tat hatten ja die reformatorischen Impulse Luthers sehr viel mit d e m H u m a n i s m u s gemeinsam: A u c h Luther geht zurück zu den Quellen der Antike, der Alten Kirche, u n d das heißt bei ihm: zurück zu den Q u e l l e n eines ursprünglichen, unverfälschten Christentums, zurück zur Heiligen Schrift, u n d durch die Schrift u n d das lebendige Gotteswort in ihr zurück zu einer unmittelbaren E r f a h r u n g von Lebenswirklichkeit, der Wirklichkeit Gottes u n d der W i r k lichkeit des M e n s c h e n , d. h. der grundlosen Barmherzigkeit Gottes u n d der a b g r ü n d i g e n Bosheit des M e n s c h e n , aber auch einer n e u e n Glaubenskraft des Sünders. A u c h Luther findet also wie die H u m a n i s t e n eine n e u e Unmittelbarkeit der E r f a h r u n g i m W i d e r s p r u c h zu den hierarchisch-kanonistisch-scholastischen Autoritäten des Mittelalters u n d i m K a m p f gegen das Machtstreben, das Finanzgebaren u n d die seelsorgerliche Nachlässigkeit des Klerus. U n d auch diese >Wiedergeburt< zielt auf Verwirklichung von Ethik, auf wahrhaft gute Werke, die von der religiösen Selbstsucht befreit sind. Aber genau an diesem P u n k t der Ethik zeigt sich der B r u c h Luthers mit d e m spätmittelalterlichen Humanismus, sichtbar schon in seinen b e r ü h m t e n T h e s e n gegen die scholastische T h e o l o g i e v o m September 1517, die sofort nach N ü r n b e r g gelangten u n d hier im Staupitzkreis studiert w u r d e n 3 0 3 . D a war etwa zu lesen (in These 40): »Es gibt keine sittliche Tugend [des Menschen] ohne Hochmut oder [verzweifelte] Traurigkeit, d.h. ohne Sünde.«304 Für die H u m a n i s t e n wie für die scholastischen T h e o l o g e n war die sittliche Tugend, die virtus moralis, das Letztgültige oder zumindest etwas Letztgültiges im Leben des M e n s c h e n , die Treppe e m p o r z u m Paradies 3 0 5 . Selbst Staupitz spricht n o c h von der Verdienstlichkeit der Liebe u n d davon, daß die E r n e u e r u n g des irdischen Lebens die d e - f a c t o - B e d i n g u n g f ü r die A n n a h m e des M e n s c h e n z u m ewigen Leben sei 306 . W i e solche Aussagen des Augustinertheologen i m Verhältnis zur reformatorischen T h e o l o g i e zu interpretieren sind, ist freilich ein offenes u n d schwieriges P r o b l e m der Forschung i m Übergangsbereich einer evangelischen Katholizität oder katholischen
303 Luther schickte die >Disputatio c o n t r a scholasticam theologiam< (am 4. Sept. 1517 in W i t t e n b e r g d u r c h Franz Günther aus N o r d h a u s e n verteidigt) bereits a m 11. Sept. 1 5 1 7 an Christoph Scherni n a c h N ü r n b e r g , m i t d e m W u n s c h , sie a u c h Johannes Eck z u r K e n n t n i s zu b r i n g e n ( W A . B 1,106,35—38, N r . 46). Scherni a n t w o r t e t e a m 30. Sept. 1517, er w e r d e die D i s p u t a t i o n , die i h m s c h o n längst b e k a n n t sei, an Eck s e n d e n ( W A . B l , 1 0 7 , 2 2 f , N r . 47). 304 »Nulla est virtus moralis sine vel superbia vel tristitia, id est peccato.« Luther. StA 1, S. 168,16f (= W A T h e s e 38). 3(15 306
Vgl. o b e n S. 5 6 bei A n m . 2 5 9 . Vgl. Hamm: E n t d e c k u n g , S. 53, A n m . 3.
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Humanistische
Ethik und reichsstädtische
Ehrbarkeit
Evangelizität vor der Konfessionalisierung 3 0 7 . Für L u t h e r jedenfalls ist nicht die f r o m m e Moralität u n d e r n e u e r t e Qualität des M e n s c h e n das Letztgültige seines Lebens, s o n d e r n die V e r g e b u n g Gottes, die ihn bedingungslos — vor allen W e r k e n — als S ü n d e r z u m Heil a n n i m m t . A n die Stelle der w i r k e n d e n >sola virtus< tritt die e m p f a n g e n d e >sola fidesLeistungsreligion< pressen u n d seine G n a d e n t h e o l o g i e e h e r als vorkonfessionelles, in g r ö ß t e r N ä h e z u r R e f o r m a t i o n s t e h e n d e s Z e u g n i s evangelischer Katholizität d e u t e n sollte, w u r d e d u r c h die A r b e i t e n v o n Oberman, Dohna u n d Wetzet e n o r m g e f ö r d e r t . D i e Diskussion d a r ü b e r ist m i t t e n i m G a n g e , u n d ein i r g e n d w i e z u s a m m e n f a s s e n d e s U r t e i l ist b e i m g e g e n w ä r t i g e n u n a b g e s c h l o s s e n e n Stand d e r n e u e n S t a u p t e - G e s a m t a u s g a b e u n d e i n e r d a r a u f zu g r ü n d e n d e n I n t e r p r e t a t i o n n i c h t m ö g l i c h . Vgl. Oberman: W e r d e n , S. 97—118 (1. Aufl.); ders.: G e l e i t w o r t ; Dohna/Wetzel: R e u e ; Dohna: Staupitz; Wetzel: Staupitz. A u f g r u n d des d u r c h diese V e r ö f f e n t l i c h u n g e n e r r e i c h t e n P r o b l e m b e w u ß t s e i n s ist d e r Interpretationsansatz v o n Steinmetz: L u t h e r ü b e r h o l t , w e n n g l e i c h dieses B u c h viele wertvolle B e o b a c h t u n g e n enthält. — I m Ü b r i g e n w i r d m a n sehr b e h u t s a m z w i s c h e n Staupitz vor d e r R e f o r m a t i o n u n d Staupitz in d e r R e f o r m a t i o n (als >Schüler< Luthers) u n t e r s c h e i d e n müssen. D e r Staupitz d e r N ü r n b e r g e r P r e d i g t e n v o n 1 5 1 6 / 1 7 d ü r f t e , w e n n a u c h als S t i m m e e i n e r b e m e r k e n s w e r t e x p o n i e r t e n G n a d e n t h e o l o g i e , d u r c h a u s n o c h i m R a h m e n spätmittelalterlicher T h e o l o g i e , F r ö m m i g k e i t u n d Kirchlichkeit zu s e h e n sein — u n d so w u r d e er a u c h v o n d e n N ü r n b e r g e r n g e h ö r t u n d in ihr Verständnis v o n christlicher M o r a l i t ä t u n d Verdienstlichkeit i n t e g r i e r t . Staupitz stand damals auf d e r ( n o c h spätmittelalterlichen) Schwelle zur R e f o r m a t i o n , d o c h ist zu b e d e n k e n , d a ß bei Luther — u n d Staupitz? — i m R e c h t f e r t i g u n g s v e r s t ä n d n i s das n o c h Spätmittelalterliche allmählich u n d lautlos in das s c h o n R e f o r m a t o r i s c h e h i n ü b e r g l e i t e t u n d d a ß in e i n e r U b e r g a n g s p h a s e >noch< u n d >schon< i n e i n a n d e r v e r s c h l u n g e n sind. Vgl. dazu j e t z t a u c h Hamm: J o h a n n v o n Staupitz.
i ?. Reformatorischer
Bruch mit dem
Humanismus
71
Ein Mann wie Spengler sah sich >um der Wahrheit der Hl Schrift willen< getrieben, Luther zu folgen und sein ungemein starkes Streben nach Versittlichung des reichsstädtischen Lebens in eine evangelische Glaubensethik zu integrieren. Wie bei Melanchthon fällt dabei ein starker Akzent auf die Predigt des Gesetzes und eine strenge obrigkeitliche Zucht 3 0 8 . Der andere Weg des Humanismus (der nicht unbedingt ein Weg zurück unter die römische Kirche der päpstlichen Kurie und des Klerikalismus sein wollte) zeigt sich uns bei dem Patrizier Christoph Fürer d.A., wie Spengler Mitglied des Staupitzkreises 309 . In seinen Aufzeichnungen aus den dreißiger Jahren finden wir eine scharfe Absage an die lutherische Lehre. Mit ihrer Betonung der allein seligmachenden Gnade Gottes untergrabe sie jede Moral 3 1 0 . Wörtlich lesen wir bei Fürer: »Dieser [wittenbergische Mönch] hat das alte gefangene Gewissen so los, frei [...] und ledig gemacht, daß in allem Deutschland schier keine Gottesfurcht, Gewissen, Entsetzung der Sünde mehr ist, wie dann das die öffentliche
Getat genugsam Zeugnis gibt, also kurz davon zu reden, daß allein den
fleischlichen Begierden Raum gegeben, der Bosheit die Türe geöffnet und der Weg gezeigt worden, dermaßen, daß ein jeder ohne Scheu und Furcht lieber nehmen als geben will. «3U Ahnliche T ö n e finden wir bei Willibald Pirckheimer, so etwa, wenn er denen, »die sich evangelisch nennen«, vorwirft, bei ihnen gebe es keine Ehrbarkeit und gute Sitten, sondern nur Trachten nach des Leibes Wollust, nach Ehre, Gut und Geld 3 1 2 . Aus solchen Worten spricht die moralische Entrüstung der Humanisten und Humanistenfreunde, und zwar der Patrizier, die durch die Reformation des >Gemeinen Volks< ihren ehrbaren Tugendkanon vornehmer Mäßigung und Selbstkontrolle und demütiger Unterordnung unter die Obrigkeit mit Füßen getreten sehen. Der Bauernkrieg ist für sie selbstverständlich nur der Aufstand der tierischen Begierde des Pöbels. Moralität ist für sie gebunden an das herrschende Gesellschaftsgefuge; und mit dem tumultuösen Wanken geltender politischer, sozialer und kirchlicher Ordnungen sehen sie daher die gesamte Sittlichkeit ins Wanken geraten. Diese Irritation verbindet sich dann mit grundsätzlichen Einwänden gegen die angeblich laxe, jede ethische Motivation zersetzende Gnadentheologie der Reformation. In Wirklichkeit - diese wertende Schlußbemerkung sei erlaubt - waren die Menschen des reformatorischen Nürnberg nicht besser und schlechter als die der spätmittelalterlichen Stadt. Wer die Reformation mit dem humanistischen M a ß stab der Versittlichung und Besserung maß, ja wer überhaupt nach sichtbaren '1,IR Vgl. z . B . Oslander: Gesamtausgabe 3, S. 684,5—14 (Spengler an Oslander, März 1530); dazu Hamm: Wort Gottes, S. 63 f. Vgl. oben Anm. 280. Kamann: Christoph Fürer, S. 2 2 9 . 232 f. 242. 3 1 1 Zitiert nach Kamann: Christoph Fiirer, S. 280; vgl. ders.: Briefwechsel, S. 77, über die »lutcrischcn«: »[...] vermeinen, wann sie allein glauben, das Christus genug für unser sund gethan hab, das sey genug. Machen damit das gemein volck sogottloß, das im alle gute zucht und menschliche siten entzogen werden [...].« 309
31(1
312
Dürer: Nachlaß 1, S. 2 8 5 , 1 3 7 - 1 4 6 (Pirckheimer an Johannes
Tschertte, Nov. 1530).
72
Humanistische
Ethik und reichsstädtische
Ehrbarkeit
Früchten eines neuen Lebens fragte und etwas spüren wollte vom Geist des freigelegten Evangeliums, vom verwandelnden Geist der Liebe, der mußte enttäuscht sein, so wie übrigens auch Spengler und nicht zuletzt auch Luther selbst enttäuscht waren vom Lauf der Reformation. Wer freilich wie Spengler und Luther seine H o f f n u n g nicht auf die Qualität der Menschen setzte, sondern auf den Trost des Evangeliums — daß der Mensch gerade als Scheiternder angenommen ist —, für den war die R e f o r m a t i o n keine gescheiterte Reformation, solange nur das Wort Gottes rein verkündigt werden konnte. Dies aber war ein Standpunkt jenseits des Humanismus und quer zum gesetzlichen Menschenbild der Moralisten aller Zeiten, der Scholastiker, Humanisten, Aufklärer und Idealisten. Da freilich die R e f o r m a t i o n mit diesem Standpunkt gerade zu einem wirklich evangelischen, nicht mehr gesetzlichen Ethos befreien wollte, bleiben die fehlenden Früchte des Evangeliums stets aufs neue ein Stachel im reformatorischen Christentum, so wie sie schon für Spengler, Hans Sachs, Albrecht Dürer und andere Evangelische in N ü r n b e r g ein schmerzlicher Stachel waren 3 1 3 . Sie litten an der Reformation, ohne sie preisgeben zu wollen.
3, 3 Vgl. Seebaß: D ü r e r s Stellung, S. 127—131. Seebaß spricht hier v o n d e n evangelisch g e s i n n t e n H u m a n i s t e n N ü r n b e r g s , »die m i t d e r R e f o r m a t i o n u n d d e r T h e o l o g i e d e r P r e d i g e r ü b e r e i n s t i m m t e n , o h n e i h n e n e r g e b e n u n d f ü r ihre S c h w ä c h e n blind zu sein, die aus d i e s e m G r u n d a u c h ihre V e r b i n d u n g e n zu a n d e r e n H u m a n i s t e n n i c h t allein d a v o n a b h ä n g i g m a c h t e n , w i e diese sich zur r e f o r m a t o r i s c h e n Lehre stellten. Sie h a b e n — vielleicht u n b e w u ß t — als Lebensziele g e h a b t , was M e l a n c h t h o n , ihr g r o ß e s Vorbild, i h n e n vorlebte: die V e r b i n d u n g d e r K r ä f t e des H u m a n i s m u s m i t d e r W i e d e r e n t d e c k u n g des E v a n g e l i u m s d u r c h Luther.« Als R e p r ä s e n t a n t e n dieser E i n s t e l l u n g n e n n t Seebaß die P r e d i g e r Wenzel Linck u n d Thomas Venatorius, die L e h r e r Joachim Camerarius, Eobanus Hessus, Michael Roting u n d Johann Schöner, d e n R a t s h e r r n Hieronymus Baumgartner, die j u r i s t i s c h e n R a t s k o n s u l e n t e n Johann Müll(n)er u n d Michael Marstaller, die R a t s s c h r e i b e r Lazarus Spengler u n d Georg Hoppel u n d schließlich Albrecht Dürer. Z u dieser h u m a n i s t i s c h - r e f o r m a t o r i s c h e n , stark a u f die F r ü c h t e des n e u e n L e b e n s d r ä n g e n d e n R i c h t u n g in N ü r n b e r g vgl. a u c h Stählin: H u m a n i s m u s , S. 52—93.
2. Kapitel
Spengler und Dürer 1. D i e vielschichtige Frage nach der Beziehung zwischen d e m Künstler und d e m R a t s schreiber 73 - 2. D i e Stellung Dürers und Spenglers in der N ü r n b e r g e r Bürgerschaft 75 3. Bildungseindrücke und geistige Herausforderungen - Uberblick über den gemeinsamen Weg dreier Jahrzehnte 78 - 4. Dürers >Vier Apostelc Gottes Wort in Bild und Text 81 5. Dürers und Spenglers zentralisierende Ordnungskonzeption 87 - 6. Im Gravitationsfeld eines frommen Humanismus 91 - 7. Hieronymus-Begeisterung 102 - 8. Unter d e m Eindruck der Gnadentheologie des Johannes von Staupitz 106 — 9. A u f der Seite Luthers 109 — 10. Dürers >Vier Apostel« - ein Bekenntnisbild 114 — 11. Zusammenfassung 116
1. Die vielschichtige Frage nach der Beziehung zwischen dem Künstler und dem Ratsschreiber Im Unterschied zu den anderen Kapiteln des Buches ist dieses erst kurz vor Abschluß des Manuskripts aus aktuellem Anlaß entstanden. Im Frühjahr 2003 gewährten mir zwei Göttinger Kollegen, der Kunsthistoriker Karl Arndt und der Kirchenhistoriker Bernd Moeller, freundlicherweise Einblick in das druckfertige Manuskript einer von ihnen gemeinsam verfaßten Monographie über >Albrecht Dürers »Vier Apostel«« 1 . In dieser Arbeit, die in mancherlei Hinsicht neues Licht auf Dürers Gemälde von 1526 wirft, kommt dem Nürnberger Ratsschreiber eine bedeutende Schlüsselrolle bei der Entstehung der >Vier Apostel« zu; sind doch Arndt und Moeller der Uberzeugung, daß Lazarus Spengler, der alte Freund und Nachbar des Malers, »auf Konzeption und Ausgestaltung des Bildwerks beträchtlichen Einfluss ausgeübt« haben dürfte 2 . Insbesondere meinen sie, daß der für das Verständnis des Werks wesentliche Text zu Füßen der vier Gestalten Spenglers Mitwirkung erkennen lasse. Sie zeige sich in der Auswahl der vier Bibelzitate, in der Formulierung der ihnen vorangestellten Präambel und wohl auch in der Idee, durch eine solcherart gestaltete Textkomposition die Intention des Bildes zu verdeutlichen. Darüber hinaus sei zu vermuten, daß Dürer erst im vertrauten Austausch mit Spengler die Konzeption entwickelte, in dieser Weise das biblische Wort Gottes bildlich zu thematisieren, Amdt/Moeller: Vier Apostel. Ebd., S. 66 [282], Vgl. den ganzen Exkurs III: Albrecht Dürer und Lazarus Spengler, S. 66-69 [282-285], 1
2
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Spengler und
Dürer
die reformatorische Religionspolitik des Nürnberger Rats zu unterstützen, mit dem Bild aber zugleich eine mahnende Weisung an den R a t zu richten und es ihm daher als Schenkung für das Rathaus zukommen zu lassen. Arndt und Moeller sind vorsichtig genug, diese Auffassung nicht als sichere Erkenntnis, sondern als naheliegende und plausible Hypothese vorzutragen. In der Tat ist ein derartiges Zusammenwirken Dürers und Spenglers gut vorstellbar und eher anzunehmen als auszuschließen, aber nicht zwingend zu beweisen. Deutlich ist jedenfalls — und das ist in meinen Augen wichtiger als die Frage konkreter und detaillierter Beeinflussung —, daß Dürer mit seinem Gemälde dem reformatorischen Denken, Konzipieren und Agieren Spenglers bemerkenswert nahesteht. Indem Arndt und Moeller dies mit R e c h t hervorheben, geben sie mir den Anstoß, neu über die Beziehung zwischen dem Maler und dem Ratsschreiber nachzudenken und so - wie ich hoffe - ein Stück weit über die bisherige Erforschung dieser Beziehung hinauszukommen 3 . Die Berührungen, Begegnungen und Gemeinsamkeiten zwischen Dürer und Spengler umfassen ja bekanntlich mehrere Phasen und Dimensionen, die intensiv mit den politischen, sozialen, kulturellen und religiösen Gegebenheiten N ü r n bergs zwischen 1500 und 1530 zusammenhängen; ja nur im Kontext dieser Verhältnisse in der Reichsstadt und im Heiligen Römischen Reich läßt sich die Tragweite dieses persönlichen Verhältnisses zwischen zwei führenden Repräsentanten des kulturell-religiösen U m b r u c h s ermessen. So interessant dabei der Blick auf die direkten persönlichen Kontakte und wechselseitigen Beeinflussungen zwischen dem Künstler und dem Stadtpolitiker sind, so wichtig ist es doch auch, den Blick von dieser Ebene des unmittelbaren persönlichen Austausches zu lösen und die Fragestellung nach der Beziehung zwischen den beiden weiter zu fassen: In welchen gemeinsamen Kreisen und Kommunikationsnetzen räumlicher, sozialer, politischer, geistiger, kultureller und religiöser Art standen die beiden? Viele bemerkenswerte Ubereinstimmungen in Konzeptionen, Intentionen, Auffassungen und Formulierungen erklären sich bereits daraus, daß Spengler und Dürer intensive Beziehungen zu den gleichen Kreisen und Personen pflegten. Daß sie darüber hinaus seit 1509 auch noch in unmittelbarer Nachbarschaft — nur etwa 60 m voneinander entfernt im vornehmen Sebalder Bezirk unterhalb der Burg 4 — wohnten und in Freundschaft miteinander verbunden waren, verstärkte gewiß den unmittelbaren Gedankenaustausch und läßt an vielerlei wechselseitige Anregungen denken. Man darf durchaus annehmen, daß die beiden zeitweise täglich miteinander gesprochen haben. In einer Widmungsvorrede an Dürer, von der später noch die R e d e sein wird, sagt Spengler, daß ihm Dürer aufgrund ihres täglichen vertrauten Umgangs als Nachbarn miteinander häufig Anregung und 3 Z u r B e z i e h u n g z w i s c h e n Dürer u n d Spengler vgl. v o r allem Schuberl: Spengler, S. 119—124; Pfeiffer: D ü r e r ; Sahm: D ü r e r s kleinere Texte, S. 89—98. 4 In d e r e h e m a l i g e n Zissel(Zistel)gasse, h e u t e A l b r e c h t - D ü r e r - S t r a ß e ; Lit. zu d e n H ä u s e r n bei Arndt/Moelkr: V i e r Apostel, S. 6 6 [282] A n m . 2 7 4 u n d Lageplan S. 9 4 [307] (Abb. 14).
2. Die Stellung Dürers und Spenglers in der Nürnberger
Bürgerschaft
75
Vorbild zu einem behutsameren Wandel< — man könnte sagen: einer reflektierteren und sorgsameren Lebensformung — gewesen sei; und er bittet ihn darum, ihn auch weiterhin für seinen »freund und bruder« zu halten, so wie auch er beständig in ihrer Freundschaft und vertrauensvollen Verbundenheit beharren will 5 . O b dieser persönliche freundschaftliche Austausch bis in die letzten Lebensjahre Dürers (er starb am 6. April 1528) währte oder ob Willibald Pirckheimer recht hat, der in einem Brief vom November 1530 erwähnt, daß Spengler für ihn und Dürer einst ein »garguterfreundt« gewesen sei, daß aber dann eine E n t f r e m dung zwischen ihnen u n d dem Ratsschreiber eingetreten sei 6 , ist für meine Fragestellung nicht entscheidend. D e n n selbst w e n n Pirckheimers Darstellung zutreffen sollte, woran man mit guten Gründen zweifeln m u ß , bleibt die Tatsache einer vielseitigen u n d intensiven Nähe zwischen dem Ratsschreiber u n d dem Künstler. Sie war in mancherlei Hinsicht, besonders im religiösen Bereich, aber etwa auch in der sozialen Rolle, stärker ausgeprägt als die zwischen Dürer u n d Pirckheimer, obwohl diese beiden zweifellos bis zuletzt in herzlicher Freundschaft verbunden blieben. Auf diese verschiedenartigen Dimensionen der N ä h e und Gemeinsamkeit zwischen Dürer und Spengler, in die der persönliche Austausch der Freunde und Gleichgesinnten eingebettet war, möchte ich nun das Augenmerk lenken.
2. Die Stellung Dürers und Spenglers in der Nürnberger Bürgerschaft Bemerkenswert ist zunächst der gemeinsame soziale O r t Dürers und Spenglers. Beide hatten ihren Platz in der sozialen und wirtschaftlichen Oberschicht der vornehmen Bürger Nürnbergs, d. h. der Patrizier u n d der anderen >EhrbarenEhrbarkeit< bildete wohl knapp fünf Prozent der Einwohnerschaft. Innerhalb dieser Gruppe nahmen Dürer und Spengler eine gesellschaftliche Zwischenposition ein. Sie gehörten nicht zu den patrizischen 5 W i d m u n g s v o r r e d e zu Spenglers >Erniahnung u n d U n t e r w e i s u n g zu e i n e m t u g e n d h a f t e n W a n del« (zur D a t i e r u n g des D r u c k s a u f etwa 1520 vgl. u n t e n A n m . 108), in: Spengler. S c h r i f t e n 1, S. 13,17—20: »der mir auch auß täglicher unser heder vertrewlichen beywonung zu vilmaln nit ein geringe bewegnus und ebenpild dester behuetsamers wandels gewest, inmassen [= w i e ] euch von mir mer dann zu einem mal entdeckt ist«; e b d . , S. 14,1—5: »[...] bittende [...], mich für eurn freund und bruder wie bißhere zu halten. Dargegen erpewt ich mich, in ewerfreundtschafft und vertrewlichen verwandtnus, sovil an mir ist, bestendigklich zu verharren.« 6 »Er ist etwan meyn und Albrechts seligen gar guter freundt gewest, ist mir auch gutes von ime weschehen, aber mit unser peyder nachteyl haben wir ine also erlernt, das wir peyde seyn müßig gestanden sind.« Pirckheimer an Johann Tschertte, in: Dürer. N a c h l a ß 1, S. 286,227—231. M i t w e l c h e r Vorsicht Pirckheimers M i t t e i l u n g e n in d i e s e m B r i e f a u f z u n e h m e n sind, zeigen seine b i t t e r b ö s e n Sätze ü b e r Dürers Frau Agnes; ebd., S. 2 8 4 , 1 2 - 5 1 . 7
Vgl. o b e n S. 8 - 1 8 .
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Spengler und Dürer
oder ratsfähigen Geschlechtern, aus denen die abstimmungsberechtigten 34 Sitze des (kleinen) Rats besetzt wurden. Sie bekleideten aber - Dürer seit 1509, Spengler seit 1516 — das Ehrenamt der >GenanntenObrigkeitHerren< und >RegentenVier Apostel< sind, wie Arndt und Moeller hervorgehoben haben, ein solches präzeptorales M a h n - und Warnbild, so wie zahlreichen publizierten, unveröffentlicht gebliebenen oder geheimen Schriften Spenglers von ihrem A u tor eine vergleichbare Funktion zugunsten der R e f o r m a t i o n zugedacht war. Standen Spengler und Dürer in dieser Hinsicht den lutherischen Predigern der Stadt nahe, so ist doch zugleich hervorzuheben, daß sie kirchenrechtlich und theologisch Laien waren und gegenüber den professionellen Theologen und Kirchendienern ein entsprechendes Distanzbewußtsein hegten. O b w o h l Spengler bekanntlich theologisch sehr kundig war, mißtraute er sein Leben lang d e m gelehrten, >spitzfindigen< Instrumentarium der schulmäßig ausgebildeten T h e o l o gen 1 3 ; und erst recht war ihm ihr Anspruch auf die Führungsrolle in der Kirche, wie sie in N ü r n b e r g besonders Osiander beanspruchte, zuwider 1 4 . Er witterte hier die Gefahr eines neuen Papsttums und wünschte ein gegenüber den Predigern deutlich dominierendes obrigkeitliches Kirchenregiment unter der Direktive des biblischen Gotteswortes. Spätmittelalterliche Aversionen gegen die klerikale Hierarchie wirkten so innerhalb des sich ausbildenden lutherischen Kirchenwesens weiter. Dürer wird wohl in dieser Hinsicht Spengler sehr nahe gestanden haben. So selbstverständlich es auch in seinen Augen gewesen sein dürfte, daß die Aufgaben der Predigt, Sakramentenspendung, Seelsorge und Katechese den (vom R a t bestellten) Predigern anvertraut wurden, so deutlich neigte doch offensichtlich auch er dazu, die Leitung und Führung der Kirche beim Ratsregiment zu sehen, zugleich aber den R a t der N o r m des Gotteswortes zu unterstellen. Ein deutliches Indiz für diese Einstellung des Malers sind die >Vier Apostel< mit ihren Texten. Die letzte der vier zitierten Bibelstellen, M k 12,38-40 in der Lutherübersetzung, enthält offensichtlich die Warnung vor den >schriftgelehrten< lutherischen Predigern, auch wenn ich den Text nicht so eindeutig und speziell wie Gottfried Seebaß auf Osiander bezogen sehe 15 : »Sant Marcus schreibt in seinem Euangelium
jm
schrifftgelertten! auff dem marckt wittwen
12 Capittel
also: Unnd er leret sie und sprach zu inen: Habt acht auff die
Die gehen gern in lanngen
kleidem
unnd lassen sie [ = s i c h ] gern
unnd sitzen gern oben an in den schulen
heuser unnd wenden
werden dester mer verdambnus
längsgepetfür empfahen.
grussen
und über tisch. Sie fressen
[ = t ä u s c h e n l a n g e s G e b e t v o r ] . Die
der selben
«16 B e r ü c k s i c h t i g t m a n , d a ß N ü r n b e r g 1 5 2 6
noch kein evangelisches Stadtwesen im konfessionellen Sinne war, sondern in einer relativ offenen Situation noch vitale altgläubige Kräfte beherbergte, dann 12 Zu dieser Rolle der intellektuellen Vermittler der Reformation in ihrer Zwischenposition zwischen Ratsherrschaft und Gemeinde vgl. Hamm: Reformation, S. 267—270. 13 Vgl. unten S. 204f. 14 Vgl. unten S. 219-221. 15 Vgl. Seebaß: Dürers Stellung, S. 129. 16 Dürer. Nachlaß 1, S. 210,51-211,59; zitiert nach Arndt/Moeller: Vier Apostel, S. 71 [287],
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Spengler und Dürer
hat man gute Gründe daflir, die Dürersche Intention dieses Zitats nicht ausschließlich gegen die evangelischen Prädikanten gerichtet zu sehen. Man wird aber sagen können: Sie richtet sich gegen die Fachtheologen und in einer nun mehr und mehr lutherisch werdenden Stadt vornehmlich gegen die Theologen dieser R i c h tung. Auf keinen Fall aber darf man aus dem Zitat eine Distanz gegenüber der reformatorischen Veränderung des Kirchenwesens herauslesen. Der Vergleich mit Lazarus Spenglers Haltung zeigt, wie eng die Aversionen gegen eine Dominanz der Prediger mit einer sehr dezidierten Unterstützung des obrigkeitlichen Reformationskurses verknüpft sein konnten. Als gelehrte Laien und Ehrbare im amtlichen Genanntenstatus standen Dürer und erst recht der Ratsschreiber Spengler dem Kirchenregiment des Rats näher als der Kirchenpolitik der Prediger.
3. Bildungseindrücke und geistige Herausforderungen — Überblick über den gemeinsamen Weg dreier Jahrzehnte Der Gesichtspunkt der Gelehrsamkeit, Intellektualität und Bildung der beiden ehrbaren Laien läßt nun weiter fragen: Welche Bildungseindrücke und geistigen Herausforderungen einschließlich der religiösen Impulse wurden für Dürer und Spengler gemeinsam bestimmend? Blickt man mit einer solchen Fragestellung vom Vollendungsjahr der >Vier Apostel< 1526 auf die vorausgehenden dreißig Jahre zurück, dann stellt man fest, daß beide innerhalb der Stadt stets in den gleichen intellektuellen Kommunikationskreisen und Bildungszirkeln standen und von den gleichen Bildungsidealen und geistig-religiösen Bewegungen ergriffen wurden — nur daß Dürer als der knapp acht Jahre Altere (er wurde am 21. Mai 1471, Spengler am 13. März 1479 geboren) entsprechend früher in den Bann humanistischer Bildungseindrücke geriet. Bei ihm geschah das spätestens während seines Aufenthaltes am Oberrhein, in Basel 1 4 9 2 / 9 3 und Straßburg 1 4 9 3 / 9 4 1 7 , und dann in den Nürnberger Humanistenzirkeln um Conradus Celtis (bis 1502) 1 8 und Willibald 1 7 D e n besten und neuesten Gesamtüberblick über den Stand der Dürer-Forschung bietet der Lexikonartikel von Mende: Dürer (2001). Z u m Humanismus Dürers, wie er erstmals von Hans von Schubert und Georg Weise und mit neuer Pointierung von Dieter Wuttke wahrgenommen wurde, vgl. allgemein DaCosta Kaufmann: Höfe, S. 105—117 und S. 131—135; Rebel: Dürer (in den Details oft fehlerhaft!); Machilek: Dürer (Lit.). Zu den Eindrücken und Bildern der Baseler und Straßburger Jahre vgl. Albecht Dürer U71-197i, S. 8 8 - 1 0 2 ; Mendt-, Frühwerk; Rebel: Dürer, S. 4 4 - 5 7 . Wilhelmi vertritt neuerdings die sehr spekulative These, daß Ditirr schon 1491, bald nach Schönauers Tod am 2. Febr. 1491, von Colmar nach Basel kam und Basel wegen einer Pestepidemie bereits im Herbst oder Winter 1492 fluchtartig verließ, sich nach Straßburg begab und danach nicht mehr nach Basel zurückkehrte; ders.: Entstehung, S. 105. 18 Celtis hielt sich zwischen 1487 und 1502 nur sehr sporadisch, allerdings mit starker R e s o nanz und belebender Wirkung in Nürnberg auf; vgl. Lit. oben S. 5, Anm. 13; zu Dürer und Celtis vgl. Wuttke: Celtis-Epigramme; ders.: Dürer und Celtis; Rebel: Dürer, S. 125—134; Machilek: Dürer, S. 54—56 (Lit.). In einem B r i e f gab mir Dieter Wuttke dankenswerterweise den Hinweis: »Einen Konrad Celtis hat es nie gegeben. Der Mann hat seinen Namen immer Conradus geschrieben.«
3. Bildungseindrücke
und geistige
Herausforderungen
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Pirckheimer (nach dessen Rückkehr aus Italien 1495) 1 9 . Hier stieß nach 1500 der junge Lazarus zu ihm 2 0 , und aus dem gemeinsamen Humanisteninteresse entstand eine persönliche Freundschaft, vor allem nachdem Spengler 1507 ins Ratsschreiberamt aufgestiegen und Dürer 1509 nach dem Kauf des Hauses am Tiergärtnertor in seine Nachbarschaft gezogen war. Ein Austausch von Gedichten im Jahr 1509 ist das früheste Zeugnis ihrer Freundschaft, deren Vertrautheit den gleichen scherzhaften und spöttischen Umgang miteinander erlaubte, den Dürer auch mit Pirckheimer pflegte 21 . Die Nähe zwischen Spengler und Dürer schloß bis in die zwanziger Jahre hinein auch die humanistische Gelehrtenfreundschaft des Ratsschreibers mit Pirckheimer, dem patrizischen Ratsherrn, ein. Mit seiner überragenden Kenntnis der antiken Sprachen und der Uberlieferungszusammenhänge wurde dieser für beide zum literarischen Mentor 2 2 . Allerdings zeigte sich schon bald, daß die humanistischen Neigungen Dürers und Spenglers offensichtlich eine weit intensivere Verbindung mit religiösen und frömmigkeitsbezogenen Bestrebungen eingingen als die Pirckheimers. Seit etwa 1511 sind beide von einer gemeinsamen Begeisterung für den Kirchenvater Hieronymus ergriffen, die sich bei Pirckheimer nicht findet23. Beide begegnen dann in der Adventszeit 1516 einer völlig andersartigen, streng gnaden- und barmherzigkeitsorientierten Theologie und Spiritualität, wie sie Johannes von Staupitz, das Haupt der deutschen Kongregation der observanten Augustinereremiten, von der Kanzel der Nürnberger Augustinerkirche predigte 24 . Anders als Pirckheimer werden beide zu faszinierten >StaupitzianernSodalitas StaupitzianaSodalitas Martiniana Vier Apostelc
Gottes Wort in Bild und Text
81
Autor in Erscheinung getreten ist 29 . Aber ebenso wie es von ihm aus diesen früheren Bildungsphasen eindeutige Zeugnisse gibt, die ihn ganz nahe bei Spengler zeigen, stoßen wir auch in den Reformationsjahren auf wichtige Äußerungen Dürers, die erkennen lassen, daß er Spenglers religiösen Kurs teilt 30 . Im Jahre der Hinwendung zu Luther 1518 hat er den Ratsschreiber gemalt 31 . Vermutlich im Jahre 1520 hat ihm Spengler den Druck seiner humanistischen Tugendschrift gewidmet 32 . Von entscheidendem Gewicht sind dann die wenigen, aber sehr aussagekräftigen literarischen Zeugnisse Dürers ab 1520 bis zur Inschrift auf dem Gemälde der >Vier ApostelVier Apostelc Gottes Wort in Bild und Text Nach diesem zunächst sehr flüchtigen Uberblick ist die Art der Beziehung zwischen Dürer und Spengler genauer zu betrachten. Dabei setze ich bei den >Vier Aposteln< ein, um dann noch einmal die wesentlichen Stationen und Zäsuren ihres gemeinsamen Weges abzuschreiten und schließlich wieder bei dem Apostelbild zu enden. Was an Dürers Gemälde 3 3 thematisch besonders auffällt, ist die eminente Konzentration auf das biblische Wort Gottes. Die im Vordergrund Vgl. unten S. 9 1 - 1 0 8 . Sie sind vollständig aufgeführt und treffend eingeordnet von Seebaß: Dürers Stellung. Zur anderen Auffassung von Heinrich Lutz vgl. unten Anm. 181. 31 Das verschollene Gemälde befand sich seit 1733 im Besitz eines Gottfried Thomasius und ist letztmals 1740 (bei Haußdoiff: Lebensbeschreibung, S. 5 5 6 f ) bezeugt. Es existieren j e d o c h eine offensichtlich nach ihm hergestellte Kreidezeichnung des frühen 16. Jahrhunderts und ein Kupferstich des 18. Jahrhunderts. Vgl. Spengler: Schriften 1, Abb. 1 nach S. X ; Arndt/Moeller. Vier Apostel, S. 6 6 f [282f], Anm. 2 7 6 und S. 95 [308], Abb. 17a/b. In der Dürer-Forschung wird erwogen, ob eine im Londoner British Museum aufbewahrte Zeichnung Dürers »Portrait o f a Man< (Winkler: Zeichnungen 3, Nr. 573) Spengler darstellt und in Verbindung mit dem verschollenen Gemälde von 1518 zu sehen ist; vgl. Bartrum: Dürer, S. 2 0 0 , Nr. 145. Ich konstatiere nur, daß dieses Bildnis wenig Ähnlichkeiten mit dem Spengler-Voitmit der erwähnten Kreidezeichnung aufweist. — A u f einer Zeichnung Dürers aus dem Jahre 1515, die einen Satyr und eine Nymphe darstellt, ist im Vordergrund, mit einem Totenschädel verbunden, »der in den Formen der Renaissance gestaltete Spenglersche Wappenschild« zu sehen; Ffeiffer: Dürer, S. 3 8 2 mit Hinweis auf die Abb. bei Winkler: Zeichnungen 3, Taf. X X . Das Blatt gehört zu einer Gruppe von fünf Pergamentzeichnungen, die Dürer vermutlich alle für Spengler angefertigt und ihm geschenkt hat. Dafür spricht die Tatsache, daß noch zwei weitere dieser Blätter durch das Spengler-Wappen gekennzeichnet sind: das eine stellt einen kreuztragenden Mann dar (Winkler: Zeichnungen 4, Nr. 9 2 6 , das unmittelbar dazugehörige Blatt - ebd., Nr. 9 2 5 - zeigt einen kreuztragenden Christus), das andere einen Beter, der vor einem Betpult kniet (ebd., Nr. 924). Ü b e r diese fünf Blätter wurde viel spekuliert, z. B. daß sie zu einem Gebetbuch Spenglers gehörten (obwohl sie unterschiedliche Datierungen, 1515 und 1525, aufweisen) und daß der Kreuzträger — ebenso wie der kniende Beter — keinen anderen als Spengler darstellen soll. Vgl. Winkler: Pergamentmalerei; Pfeiffer. Dürer, S. 3 8 2 f und S. 3 9 2 - 3 9 5 ; Rebel: Dürer, S. 3 2 6 f. 29
30
Zur Tugendschrift und ihrer Datierung siehe unten S. 97 mit Anm. 108. Z u m Forschungsstand vgl. außer Arndt/Moeller: Vier Apostel besonders Schawe: Vier Apostel (1998). 32
33
82
Spengler und Dürer
stehenden Gestalten Johannes und Paulus halten eine geöffnete und geschlossene Bibel in ihren Händen; sie sind zugleich die von Luther bevorzugten Kronzeugen des nicht durch Werke erworbenen, sondern allein aus Gnade um Christi willen geschenkten Heils. Mit Johannes ist Petrus in die Lektüre der Hl. Schrift - den Beginn des Johannesevangeliums über das menschgewordene Christuswort — vertieft, während auf der anderen Seite hinter Paulus Markus mit der Schriftrolle seines Evangeliums zu sehen ist. Die Aufschrift auf der Schriftrolle »Evang Marci cap I« verweist, wie Arndt und Moeller wohl treffend vermuten, auf den Anfang des Markus-Evangeliums mit den Worten der Luther-Ubersetzung: »Dies ist der Anfang des Evangeliums von Jesus Christus, dem Sohn Gottes [...].« Man darf annehmen, »Markus vertrete auf dem Bild die Evangelisten, aber in der Weise, dass er, zusammen mit Johannes, für >das Evangelium< steht, das damit auf jeder der beiden Tafeln repräsentiert ist« 34 . Deutlich ist jedenfalls, daß auf dem Bild nicht die Heiligkeit der Apostel zentrales Thema ist, zumal ja Paulus nur in einem weiteren Sinne und Markus nicht zum Apostelkreis zählt. Im Mittelpunkt steht vielmehr die normative Autorität des biblischen Gotteswortes und Evangeliums. Was die Vier miteinander verbindet, ist ihre biblische Autorschaft, mit der sie die Wahrheit und seligmachende Kraft des Gotteswortes bezeugen. Sie stehen für das ganze Neue Testament, Johannes für sein Evangelium und die Johannesbriefe, Markus für die Synoptiker, Petrus für seine beiden Briefe und Paulus für das ganze damals als paulinisch geltende Briefcorpus. Außer Jakobus, über dessen B r i e f Luther abfällig geurteilt hatte 3 5 , sind »die Autoren des Neuen Testaments vollzählig versammelt« 36 . Dieser Autorcharakter der Vier wird dadurch noch besonders hervorgehoben, daß eben sie auf den Textunterschriften der Tafeln jeweils mit einem Zitat zu Wort kommen — in der Reihenfolge: 2. Petr 2,1—3; 1. J o h 4,1—3; 2. T i m 3 , 1 - 7 ; M k 1 2 , 3 8 - 4 0 3 7 . Hatten bereits im 15. Jahrhundert Schriftleisten oder Spruchbänder häufig eine — von der älteren kunsthistorischen Forschung meist sträflich mißachtete — bilderschließende Bedeutung 3 8 , so gilt das erst recht für Dürer und dieses Bild. Es ist bekannt, welch hohen Wert der humanistisch gebildete Künstler auf Lehrtexte und Schriftgestaltung legte. In diesem Fall war ihm die perfekte Ausführung der Texte so wichtig, daß er damit den bekannten Nürnberger Schreibmeister Johann Neudörffer d.A. beauftragte 39 . Ging es doch um bemerkenswert Neuartiges: Arndt /Moeller. Vier Apostel, S. 3 4 [249f], Vgl. Luther in seinen Vorreden zum Neuen Testament und zum Jakobusbrief: W A . D B 6,10,33f; 7,384. 36 Arndt /Moeller. Vier Apostel, S. 3 4 [250], 1 7 Der Wortlaut der Texte ist vollständig wiedergegeben ebd., S. 7 0 f [286f] und bei Dürer. Nachlaß 1, S. 2 1 0 f . ^ Zu Bildbeispielen (Hubert und Jan van Eyck, Haus Holbein d.A. und Hans Suess von Kulmbach) vgl. Hamm: Normative Zentrierung. M
w Zu Neudöiffer (1497—1563) vgl. Diefenbacher/Endres: Stadtlexikon, S. 7 3 7 . Zu seiner Beteiligung an Dürers Bild vgl. Arndt /Moeller: Vier Apostel, S. lOf [226f|.
Abb. 1: Albrecht Dürer: V i e r Apostel 1526.
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Spengler und Dürer
denn offensichtlich zum ersten Mal hat hier ein Maler ein Tafelbild ausschließlich mit Bibelworten, zumal mit deutschen, unterlegt 4 0 . Mag dem Text auch rein optisch, gemessen an der Gesamtproportion des Bildes, nur eine Randstellung zukommen, so hat er alles andere als eine nur marginale Funktion: Die Tafeln mit den vier Verkündigern des Gotteswortes und die vier Bibeltexte bilden eine geschlossene Komposition, und die Textleiste unten dient geradezu als Eingang oder »Wegweiser« in das Bild 41 , jedenfalls als deutlicher Hinweis des Künstlers, wie er sein Bild verstanden haben will. Ein besonderes Gewicht k o m m t dabei der — wohl von Dürer selbst formulierten — Präambel vor den vier Bibelzitaten zu, denn hier gibt er unmißverständlich zu erkennen, was er mit dem Geschenk des Bildes an den reichsstädtischen R a t bezweckt. Er beschreibt die Aufgabe der weltlichen Obrigkeit folgendermaßen: »Alle weltliche regenten in disenferlichen
zeitten nemen billich acht [ = g e b e n , w i e es sich
g e b ü h r t , d a r a u f A c h t ] , das sie nit für das gottlich wort menschliche verfüerung Dann
[ = d e n n ] Gott wil nit zu seinem wort gethon
genomen
annemen.
[ = h i n z u g e f u g t ] , noch
dannen
haben [vgl. A p o k . 2 2 , 1 8 f | . Darauf horent [ = h ö r t ] dise trefflich vier
menner
Petrum, Johannem,
Paulum
und Marcum
ire warnung!«42
D e r Text beginnt zwar i m
ersten Satz indikativisch - in der Art, wie Paulus in R o m 13,4 die Aufgabe der Obrigkeit indikativisch formuliert: »Gottes Dienerin ist sie« —, doch ist er eindeutig normativ gemeint. Darauf verweist das Adverb >billich< in der Bedeutung >wie es sich gebührt< und die Fortsetzung im zweiten Satz »Gott will« sowie der Imperativ im dritten Satz »Darauf hört«. Man übertreibt nicht, wenn man die Dürersche Intention so charakterisiert: Der Maler richtet an die städtischen R e genten des Rats den dringlichen, mahnenden und warnenden Appell, sich in ihrem Verhalten vom Wort Gottes leiten und nicht von menschlichen Autoritäten verfuhren zu lassen. Sie sollen sich am göttlichen Willen orientieren, der verlangt, daß dem biblischen Wort nichts hinzuzufügen ist; insofern gilt gegenüber allen nicht biblisch legitimierten Kirchenlehren, -Satzungen und -gewohnheiten die christliche Freiheit. Zugleich aber will Gott, daß von seinem Wort nichts hinweggenommen wird, d. h. die R e g e n t e n haben dafür zu sorgen, daß es als R i c h t schnur des christlichen Gemeinwesens unverkürzt in Geltung bleibt. Daher sollen sie die vier folgenden Bibelzitate als Warnung hören, d.h. sich »in diesen gefährlichen Zeiten« (der Umgestaltung des Kirchenwesens und des bevorstehenden Weltendes) auf vierfache Weise von der N o r m des Gotteswortes leiten lassen: Petrus weist sie darauf hin, daß sie sich und die Gemeinde vor falschen Propheten und Lehrern und deren verderblichen Spaltungen bewahren sollen. Johannes ermahnt sie, die Geister am Maßstab der Botschaft von Jesus Christus, dem Fleischgewordenen, zu prüfen. Paulus läßt sie wissen, daß sich die Erkenntnis der Wahr-
411 41 42
Vgl. Arndt/Moeller e b d . , S. 3 0 f [246f], E b d . , S. 32 [248], Dürer: N a c h l a ß 1, S. 210; zitiert n a c h Arndt/Moeller:
Vier Apostel, S. 7 0 [286],
85
4. Dürers > Vier Apostelc Gottes Wort in Bild und Text
heit nicht mit einem lasterhaften Wandel verträgt. U n d Markus vertraut insbesondere die schriftgelehrten und dabei selbstgefälligen u n d heuchlerischen T h e o l o gen ihrer Achtsamkeit an. Die gesamte Textleiste dient also zusammen mit dem Gemälde der vier biblischen Autoren der Absicht des Malers, den reichsstädtischen R a t der N o r m des >göttlichen Wortes< der Hl. Schrift zu unterstellen. Was durch die Disputation auf dem Rathaus im März 1525 von den >Regenten< als oberster Maßstab der städtischen Religionspolitik anerkannt worden ist, soD auch weiterhin das Verhalten des Rats u n d der Bürgerschaft bestimmen. Mit diesem Appell, in dem sowohl mahnende Warnung als auch zustimmender Ansporn, dem eingeschlagenen Weg treu zu bleiben, liegen, nimmt Dürer dem Rat gegenüber genau die Haltung u n d Tonlage ein, die für Lazarus Spengler charakteristisch ist. Der Text Dürers liest sich wie ein Extrakt aus den Ratschlägen, Mahnungen und Richtlinien, die der Nürnberger Ratsschreiber, vor allem seit 1523, an die Adresse seiner Stadtregenten u n d jeder christlichen Obrigkeit gerichtet hat 43 . Immer wieder schärft er den Obrigkeiten ein, daß das Gotteswort sich nicht nach ihnen, sondern sie sich nach ihm richten müssen 44 , daß sie dafür Sorge tragen müssen, daß es unverkürzt und ohne Zusätze menschlicher Lehren, Satzungen u n d Gewohnheiten in allgemeiner Geltung bleibt, und daß sie auch darauf achten müssen, daß der freien Verkündigung des Gotteswortes ein entsprechender Lebenswandel der B ü r gerschaft in christlicher Z u c h t entspricht 45 . So formuliert er in einer Obrigkeitsschrift vom Sommer 1526, also zur gleichen Zeit, als die >Vier Apostel< vollendet w u r d e n , f o l g e n d e n G r u n d s a t z : D e r R a t als »die obrigkeit, befohlen ist« ( R o m 1 , 4 ) , »wird durch ihre bestehe prediget
der das schwerd von
permittelst
[ a u c h d u r c h ] stattliche gebott und straff den höchsten ßeißfürwenden, gotteslästerungen,
ehebruch,
h a u p t ] , [so d o c h ] zum m e n ] werden,
zutrincken
wenigsten
damit die
eines theils abgestelt undfürkommen ein christenlich,
öffentlichen
[= z u v o r g e k o m -
evangelisch
nicht allein im mund getragen und davon vielgeschwazt,
gemes mit der that gelebt
Gott dann
und andere große laster, wo nicht gar je [= ü b e r -
auf daß auch dem wort Gottes
und das evangelium
des worts und
wesen
nachfolg
sondern
dem
werde«46.
Das Wort Gottes soll also - dies ist Spenglers und Dürers Intention - zur umfassenden N o r m der Lehre und der Lebensführng im politischen Gemeinwesen werden. Mit dem biblischen Wort verbinden sie die Zielperspektive einer >normativen Zentrierung< von Religion, Politik und Christenheit 4 7 . So findet das reformatorische Schriftprinzip als - gegen das >Menschenwort< der traditionellen 43
Vgl. unten Kap. 5, besonders S. 196-199. Vgl. unten S. 210f bei Anm. 41 und S. 245f bei Anm. 82-86. Vgl. auch Spengler: Schriften 2, S. 96,3—13, Nr. 45 (Christlicher Ratschlag zum Reichstagsabschied 1526). 45 Ebd., S. 94,6-21. 46 Ebd., S. 64,10-17, Nr. 44 (Richtlinien für die Obrigkeit 1526). 47 Z u dem von mir 1992 eingeführten Begriff der mormativen Zentrierung< vgl. jetzt Suntmp/ Veenstra: Normative Zentrierung; vgl. auch unten S. 313—347 (Kap. 10). 44
86
Spengler und Dürer
Kirche gerichtetes — exklusives Abschaffungsprinzip und integratives Neuordnungsprinzip seine kommunale Anwendung auf die komplexen Lebensverhältnisse der Reichsstadt. Alles soll dem Maßstab der Wahrheit, der Heiligen Schrift allein, unterstellt werden. Sie soll allen »menschlichen Verführungen«, »verderblichen Sekten«*8 und zuchtlosen Lastern entgegenwirken. In diesem Sinne soll der R a t das Ausführungsorgan des Gotteswortes sein, wie Spengler seinen Ratsherren mahnend einschärft: »Liebe Obrigkeit, du mußt Gottes Exekutor sein und sein Wort mit frischer Tat befestigen!«49 So verstanden, kann man Dürers Gemälde als Verbildlichung einer normativen Zentrierung sehen. Auch bildkompositorisch entspricht es dieser Intention. Es ist achsensymmetrisch angelegt. Links und rechts von der Mittelachse stehen jeweils, spiegelbildlich einander zugeordnet, zwei Apostel. Die beiden Bibeln, die von Johannes und Paulus gehalten werden und die Schriftrolle des Markus sind auf einer, durch die Unterarme gebildeten, vertikalen Ebene möglichst nahe an der Mittelachse plaziert, d. h. sie bilden den zentralen Bereich, in dessen Mitte sich die Senkrechte und Waagrechte schneiden. Die Vier gruppieren sich also um die zentrale N o r m des Bibelwortes. Treffend haben Arndt und Moeller hervorgehoben, daß auf der linken Tafel Johannes und Petrus konzentriert in den aufgeschlagenen Bibeltext vertieft sind, während auf der rechten Tafel Paulus und Markus den geschlossenen bzw. zusammengerollten Bibeltext umgreifen und ihre »auffallend betonten Augen eindringlich wachsam nach außen, in die Welt hinein, richten« 50 . Ich möchte einen Schritt weiter gehen und vermuten, daß Johannes und Petrus damit vornehmlich die Aufgabe der Kirche und ihrer Prediger repräsentieren, weshalb Petrus auch so betont den kirchlichen Schlüssel, d. h. hier - gut reformatorisch — den Binde- und Löseschlüssel des göttlichen Wortes und seiner Verkündigung, hält 51 . Es ist daher folgerichtig, daß das Petrus- und Johanneszitat zur Linken der Verkehrung der christlichen Lehre und Verkündigung gilt. Paulus und Markus dagegen repräsentieren dann vornehmlich die Aufgabe der Obrigkeit, über die Geltung des biblischen Gotteswortes zu wachen, seine Verkündigung und seine Verkündiger gegen die Gottlosen in Schutz zu nehmen und besonders darauf zu achten, daß in der Stadt auch tatsächlich den biblischen Geboten gemäß gelebt wird. D e m Schlüssel des Petrus entspricht das Schwert des Paulus. Es ist zwar das geläufige Attribut des Märtyrer-Apostels 52 , dient aber innerhalb der
4 8 So die Formulierungen in Dürers Text zu den >Vier Apostelnc in der Präambel (siehe oben bei Anm. 42) und im Zitat von 2. Petr 2,1 (Arndt/Moeller. Vier Apostel, S. 7 0 [286]). 4 9 Vgl. unten S. 2 1 2 mit Anm. 50. 5(1 Arndt /Moeller. Vier Apostel, S. 2 0 f [236f|.
Vgl. ebd., S. 5 9 f [275f] (Exkurs I: Evangelium und Schlüssel Petri). Zur Schwertsymbolik vgl. Schawe: Vier Apostel, S. 508, Anm. 3 0 und Arndt /Moeller. Vier Apostel, S. 21 [237]. Das Schwert in der Hand des Paulus kann auf Dürers Bild insbesondere auch die Anspielung auf Eph 6,17 mitenthalten: »Nehmet an euch den Helm des Heils und das Schwert des Geistes, welches das Wort Gottes ist!« 51
52
5. Dürers und Spenglers zentralisierende
Ordnungskonzeption
87
Dürerschen Komposition wohl auch als Symbol des obrigkeitlichen Schwertamtes, d . h . als Hinweis auf die klassische Paulus-Stelle R o m 13,4: »Sie [= die Obrigkeit] trägt das Schwert nicht umsonst.« Spengler bezog, wie zu sehen war, im S o m m e r 1526 diese Stelle auf den göttlichen Auftrag der Obrigkeit, mit »höchstem Fleiß« dafür zu sorgen, daß die Verkündigung des Evangeliums auch einen e n t sprechenden Lebenswandel in der Öffentlichkeit zur Folge hat 5 3 . A u c h D ü r e r geht es darum, daß die Obrigkeit über die Geltung des Gotteswortes wacht, i n d e m sie den Lastern Einhalt gebietet und den »gottseligen Wandel« fordert. Das Paulus- u n d Markus-Zitat auf der Bildunterschrift zur R e c h t e n thematisiert daher das verkehrte, lasterhafte Leben 5 4 . Es ist also gut vorstellbar, daß Dürer Petrusschlüssel u n d Paulusschwert im Sinne des Schlüsselamtes der kirchlichen Wortverkündigung u n d des Schwertamtes der Obrigkeit verstanden hat. D o c h haben wir uns damit bereits in bester kunsthistorischer Tradition auf das Feld der Bildspekulation begeben. Im R a h m e n meiner Argumentation ist dies auch kein wesentlicher P u n k t . Entscheidend ist vielmehr, daß D ü r e r mit diesem Gemälde d e m N ü r n b e r g e r R a t u n d allen Betrachtern die für das gesamte Gemeinwesen geltende normative Zentralbedeut u n g des biblischen Gotteswortes vor Augen stellt u n d den R a t wie »alle weltlichen Regenten«55 auf ihre achtsame Verantwortung hin anspricht, sich dieser Leit- u n d Führungsrolle des Gotteswortes unterzuordnen u n d ihr gemäß zu handeln. D a m i t bekennt sich Dürer ganz im Sinne Spenglers prinzipiell z u m Kurs der obrigkeitlichen R e f o r m a t i o n Nürnbergs, was - wie bei Spengler — eine kritische Sicht nicht ausschließt. W e n n m a n in dieser Weise von einer Gemeinsamkeit Dürers u n d Spenglers spricht u n d auf bemerkenswerte Parallelen in Spenglers Schriften aufmerksam machen kann, heißt das nicht, daß man eine direkte literarische Abhängigkeit Dürers von Spengler a n n e h m e n m u ß . Es genügt die W a h r n e h mung, daß sie in den gleichen Kommunikationskreisen standen, wohl auch öfters den unmittelbaren Gedankenaustausch miteinander pflegten u n d auf sehr ähnliche Weise zur R e f o r m a t i o n Luthers u n d in die R e f o r m a t i o n N ü r n b e r g s hinein g e f u n d e n haben. Dieser Weg soll nun näher betrachtet werden.
5. Dürers und Spenglers zentralisierende Ordnungskonzeption Uberblickt m a n das künstlerische Schaffen Dürers einschließlich der literarischen Zeugnisse u n d das Schrifttum Spenglers, dann kann m a n eine auffallende G e meinsamkeit, eine Art Geistesverwandtschaft, bemerken, die bereits am Beispiel der >Vier Apostel< erwähnt wurde: das starke Interesse der beiden an einer o r d n e n -
53 54 55
Vgl. o b e n S. 8 5 b e i A n m . 46. D e r A u s d r u c k »gotseliger wanndel« k o m m t i m Zitat v o n 2. T i m 3,5 vor. Vgl. Z i t a t o b e n S. 8 4 bei A n m . 42.
88
Spengler und Dürer
den Gestaltung, die komplexe Lebenswirklichkeiten einem regulierenden M a ß und einer normierenden Mitte unterordnet. Es ist bekannt, welch großen Wert Dürer unter dem Einfluß des Renaissance-Humanismus, vor allem seit etwa 1500, auf Messung, zahlengenaue Proportion und Zentralperspektive legte, u m durch das Studium der Natur und ihrer Maße vernünftige Überlegung, Klarheit und reduzierende Einfachheit in die malerische, graphische und architektonische Formgebung zu bringen. Analog dazu gilt das Bestreben des Ratsschreibers einer alle Lebensbereiche erfassenden, umspannenden und durchdringenden Regulierung und N o r m i e r u n g des politischen Gemeinwesens, man könnte auch sagen, einem geistigen, vernünftig-plausiblen Prinzip, das die gesamte >res publica christiana< versittlichend gestaltet und so von innen heraus eine umfassende O r d n u n g der Einheit und des Friedens begründet. Kritisch wendet er sich dabei, ansatzweise schon vor der Begegnung mit Luthers Schriften, gegen ein spätmittelalterliches Kirchenwesen, das aus seiner Sicht durch eine spitzfindige Theologie, ein veräußerlichtes Zeremonialwesen und multiplizierte Frömmigkeitsformen die christliche Botschaft überwuchert, durch eine Fülle von unbiblischen Satzungen und Sanktionen die Gewissen belastet und durch klerikale Sonderinteressen die b ü r gerliche Gemeinschaft spaltet und dem >Gemeinen Nutzem schadet. Bei Dürer k o m m t zu diesen kritischen Aspekten 5 6 noch die spezifisch künstlerische Renaissance-Wendung gegen die spätgotische Formenvielfalt, Kompliziertheit und U n übersichtlichkeit zugunsten einer kompositioneilen Gestaltung, die das «Wesentliche und Entscheidende«, das Einfache und die klaren Linien hervortreten läßt 57 . Was Dürer und Spengler also schon früh, spätestens im ersten Jahrzehnt des 16. Jahrhunderts, miteinander verbindet, ist das B e m ü h e n u m eine orientierende u n d integrative Zentralität. Sie verlangen nach einer klaren geistigen Konzeption von gestalterischer Kraft, im Blick auf die eigene religiöse Existenz, im Blick auf die
56
Z u r Kirchenkritik Dürers vgl. Seebaß: Dürers Stellung, S. 107 und S. 112—115. So — im Anschluß an Wölfflin: Kunst - Weise: Dürer, besonders S. 19 f. Georg Weise hat in dieser Hinsicht Richtiges gesehen, auch wenn seine Darstellung von einer Wertung bestimmt ist, die in Spätmittelalter und Spätgotik vor allem morbide Dekadenz wahrnimmt: »[...] eine abstrakte Künstlichkeit, sperrige Eckigkeit und überfeinerte Zierlichkeit der Wiedergabe, ein demütigpassiver Z u g zugleich und eine grambeladene, m ü d e Verdrossenheit, die die Lebensstimmung eines zu Ende gehenden Zeitalters verraten« (S. 18); »[...] typische Wesenszüge einer in auswegloser Ubersteigerung abstrakter Stiltendenzen endenden und mit retrospektiven M o m e n t e n belade nen Spätperiode und in allem das Widerspiel zu der einfachen und klaren Großartigkeit und der klassischen Grundhaltung der in Italien heranreifenden Kunst der Hochrenaissance« (S. 19). B e stimmend für Weises Perspektive ist j e n e Ideologie des >Großen< und >Heroischen< (»Christus ist nicht m e h r passiv, Christus ist der Held«, S. 25), die in unterschiedlichsten Variationen die europäische Geschichtsschreibung vom 19. Jahrhundert bis in die sechziger Jahre des 20. Jahrhunderts beherrscht. Anders als diese historiographische Tradition verwende ich Begriffe wie K o m p l i z i e r t heit« oder >Unübersichtlichkeit< rein deskriptiv und o h n e Anklang einer negativen Wertung, so wie umgekehrt Begriffe wie >EinfachheitKlarheit< oder »normative Zentrierung* bei mir keine positive Konnotation haben. Wertbegriffe wie >großgroßartig< oder >tief< erscheinen mir wegen ihrer Inhaltsleere und subjektiven Färbung höchst vermeidenswert. 57
5. Dürers und Spenglers zentralisierende
89
Ordnungskonzeption
künstlerische Formgebung und im Blick auf das bürgerlich-christliche Zusammenleben. Spengler bezeichnet eine solche Konzeption in seiner Dürer gewidmeten Tugendschrift als vernünftigen Gegenwurfc »Dann was ist einem tapjern mann
(damit ich mich gantz
nit gemeint
haben will) und sonderlich,
hendeln gemeins nutz beladen sein mäß, nutzlichers, geschefften
und handlungen
lichen, gotsforchtigen,
einen vernunftigen
gegenwurfzu
ordenlichen und geschickten
der mit
was auchfruchtparers, leben zu
täglichen
dann in seinen
suchen, sich in einem
cristen-
58
erhalten?«
W i e man Spengler als den Theologen unter den Politikern, so kann man Dürer als den Gelehrten unter den Künstlern seiner Zeit bezeichnen. In Deutschland war er nach 1500 wohl derjenige, der sich das vielseitigste Humanistenwissen angeeignet hatte. So hat nördlich der Alpen auch keiner mit der gleichen Energie wie er Malerei, Graphik und Architektur theoretisch durchdacht u n d gedanklich konzipiert. Im Ergebnis zielte diese konzeptionelle Tätigkeit wie bei Spengler auf das vernünftig und maßgerecht Geordnete, auf Begrenzung, Vereinfachung u n d normative Klarheit. Einen guten Eindruck davon vermittelt ein Holzschnitt Dürers aus seiner im O k t o b e r 1527 erschienenen >BefestigungslehreBefestigungslehre< Dürers vermittelt den Eindruck einer rational durchkonstruierten, geometrisch geordneten und umfassend >aufgeräumten< Stadt. Wie er in seiner Beschreibung der idealen Residenzstadt erläutert, sollen in ihr nicht »unnütze leut« wohnen, »sunder geschickte, frumme,
weyse, manliche, erfarne, kunstreyche
menner, gute handwercksleut,
zum schloß duglich [ = t a u g l i c h , g e e i g n e t ] sind, puchsengiesser
und gute schätzen«.
die Die
verschiedenen Bevölkerungsgruppen und Berufszweige sollen sich nach genau
58 Spengler. S c h r i f t e n 1, S. 1 3 , 7 - 1 1 . Vgl. dazu die n e u e R a t i o n a l i t ä t i m Diirerschen Bildschaffen, w i e sie Panofsky: L e b e n , S. 1 0 6 - 1 4 2 charakterisiert: »Fünf Jahre rationaler Synthese, 1 5 0 0 - 1 5 0 5 « . 59 Vgl. Albrecht Dürer 1471-1971, S. 3 5 9 - 3 6 1 , N r . 6 5 5 (mit A b b . u n d Lit.); Vercelloni: S t a d t u t o p i e n , Taf. 56; Waetzoldt: Befestigungslehre, S. 3 2 - 3 6 u n d S. 5 2 - 5 8 (mit Abb.); Reitzenstein: Befestigungslehre, S. 1 8 4 - 1 8 6 u n d S. 188f (mit Abb.); Albrecht Dürer- ein Künstler in seiner Stadt, S. 142, N r . 6 (Abb.); Dürer: N a c h l a ß 3, S. 3 7 1 - 3 8 2 . M e i n e f o l g e n d e I n t e r p r e t a t i o n ist v o n d e r Frage n a c h m ö g l i c h e n V o r b i l d e r n f ü r Dürers H o l z s c h n i t t u n a b h ä n g i g . 60
Vgl. Buch: Idealstadt. Vgl. Isenmann: D e u t s c h e Stadt, 4 2 - 6 5 u n d S. 6 9 - 7 3 (mit Lit.); Boockmann: Stadt, S. 1 1 - 4 7 ; E. Hamm: D e u t s c h e Stadt; Gruber: D e u t s c h e Stadt (instruktive Skizzen e i n e r idealtypischen Stadt i m Laufe d e r J a h r h u n d e r t e ) . 61
90
Spengler und Dürer
durchdachten Ordnungsprinzipien auf die verschiedenen Bezirke und Baukörper der Stadt verteilen 62 . Ich sehe in dieser Ordnungsvision des Künstlers einen unmittelbaren Zusammenhang zum politischen, religiösen und sozialregulierenden Ordnungsbedürfnis des Ratsschreibers, wie es schon vor der R e f o r m a t i o n erkennbar ist, aber dann unter dem Einfluß der religiösen Veränderung eine verstärkte und entschiedenere Dynamik erfährt. Spengler schwebt eine Stadt vor, in der das von allen unchristlichen Zusätzen gereinigte, klare und einfache Wort Gottes und nichts anderes verkündigt wird, aus der grobe Unsittlichkeit, frivole Laster und leichtfertiger Lebenswandel verbannt werden und in der es keine Schlupfwinkel für verderbliche Sekten gibt, sondern nur eine Glaubensweise geduldet wird 6 3 . In diesem Sinne, so schreibt Spengler in der bereits zitierten Obrigkeitsschrift von 1526 64 , hat das weltliche R e g i m e n t mit »großem fleiß« darauf zu achten, daß »christenliche und bürgerliche einigkeit und also ein ordenliche und rechtmäßige pollicey erhalten
werd«65.
Z u einer solchen öffentlichen O r d n u n g (polizey) rechnet er insbesondere auch, »daß ein regiment mit kriegsgebauen,
befestigung, artellery, munition,
beständiger erhaltung einer pollicey auch in zeitlichen vätterliche fürsehung«
proviant und, was zu
[ D i n g e n ] vonnöthen
t u t , d e n n d a z u »gibt Gott vernunß,
klugheit
ist, alle getreue,
und schiklichkeit
[=
Geschick, Fähigkeit]«; bei all dem aber soll die Obrigkeit ihr Vorgehen »Gott allein mächtiglich befehlen und [anjheimstellen dem obersten regierer, der alle oberkeiten zweiffein,
und auf den alle sorg weifen, ihme auch als
in seiner macht und hand hat, vertrauen und nit
der werde alß ein getreuer vatter für sie und die ihm sorgen«66.
D a s ist g u t
altgläubig und lutherisch zugleich gedacht. Selbstverständlich kann man Dürer nicht alles unterstellen, was Spengler vor und nach seiner reformatorischen Umorientierung über Gottesfurcht, Gottvertrauen und wahren christlichen Wandel in Stadt und R e g i m e n t geschrieben hat. M a n kann vermuten, daß Spengler im Religiösen und Dürer im Ästhetischen strenger dachten. D o c h ist gerade in den Fragen der frommen, rechten Lebensf o r m u n g die Gemeinsamkeit auffallend. Immerhin schreibt Spengler dem Freund in der Widmungsrede zur (schwer zu datierenden) Tugendschrift 6 7 , daß ihm Dürer als Liebhaber der »erberkeit und guten fügenden« aufgrund ihrer täglichen, v e r t r a u t e n N a c h b a r s c h a f t »zu vilmaln behuetsamers
wandels gewest,
inmassen
nit eine geringe bewegnus
und ebenpild
[ = w i e ] euch von mir mer dann zu einem
dester mal
entdeckt [worden] ist«6fl. Das ist offensichtlich nicht nur freundliche Schmeichelei; denn Dürers Schaffen seit seiner Reise zum Oberrhein (1492-1494) 6 9 zeigt eine 62 63 64 65 66
Dürer: Etliche v n d e r r i c h t , fol. D2v. Vgl. u n t e n S. 2 6 5 - 2 7 1 . Vgl. o b e n S. 8 5 m i t A n m . 46. Spengler: S c h r i f t e n 2, S. 6 4 , 2 0 - 6 5 , 1 , N r . 4 4 ( R i c h t l i n i e n für die O b r i g k e i t 1526).
E b d . , S. 6 5 , 1 6 - 1 8 . 23f u n d S. 6 6 , 1 - 4 . Vgl. dazu u n t e n S. 97. 68 Spengler: S c h r i f t e n 1, S. 1 3 , 1 6 - 2 0 . h '> Vgl. o b e n S. 78 m i t A n m . 17. 67
6. Im Gravitationsfeld
eines frommen
Humanismus
91
zugleich religiöse und humanistisch angeregte Ernsthaftigkeit und thematische Konzentration, die verstehen läßt, in welchem Sinne der Ratsschreiber von ihm Anstoß und Vorbild für einen >behutsamerenTod und Landsknecht von 1510 71 . Sie vermitteln den Eindruck einer intensiven Memento-mori- und Ars-moriendi-Frömmigkeit, wie sie uns auch in anderen Texten Dürers aus dieser Zeit begegnet 7 2 . Man soll täglich über seine Todesstunde nachdenken und sich in der Betrachtung und Nachfolge der Passion Christi so auf das eigene Sterben vorbereiten, als stünde das Lebensende schon unmittelbar bevor 73 . Mit dieser Konzentration auf den Tod als Ausrichtung der eigenen Existenz auf das Leiden und Kreuz Christi hin verbinden sich in Dürers Gedichten der Jahre 1509/10 alle anderen wesentlichen Aspekte seiner Frömmigkeit: die Vergegenwärtigung des strengen Gerichts Gottes 74 , der Aufruf zur Selbsterkenntnis 75 , zu Demut 7 6 und wahrer Buße und Besserung aus dem Geist inniger Reue 7 7 , das Vertrauen in Gottes Gnade 78 und die Zuflucht zum Beistand Marias und der Heiligen, besonTexte in: Dürer. Nachlaß 1, S. 128—131; vgl. dazu Sahm: Dürers kleinere Texte, S. 87—116. Querformatiger Einblattdruck mit Holzschnitt (Tod mit Stundenglas, der einen Landsknecht berührt) und vier Textspalten. Meder. Dürer-Katalog, Nr. 239,1b; Geisberg: Woodcut 2, G. 710; Sahm: Dürers kleinere Texte, S. 109 (Abb. 7); Text in: Dürer: Nachlaß 1, S. 137f, Nr. 13. 72 Vgl. aus den Reimpaargedichten von 1510: Dürer: Nachlaß 1, S. 132,64-69, Nr. 7; S. 133, Nr. 8; S. 136,80f, Nr. 12; S. 138, Nr. 16. Zur Frömmigkeit Dürers im Spiegel der Religiosität seiner Bilder vgl. Wiederanders: Anschauungen; Dürer — Himmel und Erde. Bei den Bildern ist stets zu berücksichtigen, wie weit Dürer durch die Wünsche der Auftraggeber gebunden war — vergleichbar den Schriftstücken, die Spengler im Auftrag des Rats verfaßte und die daher nicht unbedingt als Wiedergabe seiner eigenen Meinung verstanden werden dürfen. In unsere SpenglerEdition haben wir solche Stücke nicht aufgenommen. 73 Vgl. aus dem Gedicht >Tod und Landsknecht (wie Anm. 71) besonders Dürer. Nachlaß 1, S. 137f,21-34 und 39-44, Nr. 13. 7 4 Vgl. ebd., S. 137,9-14. 75 Vgl. ebd., S. 129,31f, Nr. 3 und S. 139,2f, Nr. 18. 7 6 Vgl. ebd., S. 138,5, Nr. 16. 77 Vgl. ebd., S. 136,83-90, Nr. 12 und S. 137,9f, Nr. 13. 78 Vgl. ebd., S. 128, 7 - 9 . 14f, Nr. 1 und Nr. 2; 136,47f, Nr. 12; 137f,21. 42. 75, Nr. 13. 70 71
92
Spengler und
Dürer
ders in der Not des Sterbens 79 , und der Appell, ein christusförmiges Leben der guten Werke aus der Grundhaltung der Gottesfurcht, Gottesliebe 80 und des Gottvertrauens zu fuhren: heb an, noch [ = n a c h ] Christo
»Drum
der kan dir ewigs lebm »Darumb
welcher
der überkumbt
recht leben
stundt,
darinn
kundt.
ihm seeligkeit
wird
auch nit Gott den
»Darumb
auff erdtrich, welcher
schlichter
[ = m i t der] er hie
damit
Gotts gnad
ee er
wol sterben
der thue willig gueter
werck
will, vil
und seez sein [verjtrawen
gar inn spott;
ihn verlest auch nimmer
gotzs
unnd fürth in inn himlisch
erwarb
starb.«
so kan er nit werden
zu
muet
richtet,
dann er was hie sein selbst durch pueß,
leben,
thut,
[ = e r l a n g t ] ein starken
und ihn erfrewt deß todtes Erfürcht
zfu]
geben.«
Gott,
crafft,
gsellschafft.
«8I
Die drei Vers-Zitate, die alle dem Text des Blattes >Tod und Landsknecht entnommen sind, sind charakteristisch für die Art und Weise, wie sich Dürer — der vorherrschenden Theologie und Frömmigkeit seiner Zeit gemäß 8 2 - den Heilserwerb des Christen als Zusammenwirken der göttlichen Gnade mit der Freiheit der menschlichen Moralität vorstellt. Im Mittelpunkt seiner Frömmigkeit wie seines religiösen künstlerischen Schaffens steht durchaus das Erlösungsgeschehen der Passion und insbesondere der Kreuzigung 83 . Ein starkes Gewicht fällt dabei aber zugleich auf den Gesichtspunkt, daß sich der sowohl sündige als auch tugendfähige Mensch diese Erlösungsgnade durch die andächtige Betrachtung der Passion und ein christusförmiges Leben der Buße und guten Werke aneignen soll. Insofern führt das tugendhafte Leben zu einem seligen Sterben und gnädigen Gericht. Christus ist für ein solches Leben und Sterben Erlösungsgrund und Tugendvorbild 84 zugleich. Die Bedeutung der tugend- und werkorientierten Moralität in dieser Frömmigkeit läßt erkennen, wie mühelos sie mit einer reichsstädtischen Bürgerethik
79
Vgl. ebd., S. 1 3 2 , 5 6 , Nr. 7 (Maria); 1 3 3 , Nr. 8 (Barbara); 138, Nr. 16 (Catharina); 139,
Nr. 17 und 21 (Maria); 141, Nr. 2 3 (Martin). 811
Vgl. ebd., S. 1 2 9 , 3 9 f , Nr. 3.
81
E b d . , S. 137f, 1 7 f . 4 5 - 5 2 . 7 3 - 7 8 , Nr. 13 (Tod und Landsknecht, w i e A n i n . 7 1 ) .
82
Vgl. Hamm:
T h e o l o g i e und Frömmigkeit, S. 196—198.
Vgl. aus Dürers Reimpaardichtungen gleich seinen ersten Reimpaarversuch (mit dem er Pirckheimers
Spott erntete): »Du aller enngel Spiegel unnd erlöser der welldt, / dein große marter sey für wein
sunt ein widergelt.« Dürer. Nachlaß 1, S. 128, Nr. 2; vgl. ebd., S. 1 3 5 - 1 3 7 , Nr. 12 und S. 139,"Nr. 2 0 . 84
Vgl. ebd., S. 141, Nr. 2 4 .
6. Im Gravitationsfeld
eines frommen
Humanismus
93
und einer humanistischen Tugendlehre des >ehrbaren< Lebens zu verbinden war 8 5 . Schon in Basel geriet Dürer in den Sog einer solchen Synthese, indem er für die Erstauflage von Sebastian Brants >Narrenschiff< (1494) die überwiegende Zahl der Holzschnitte schuf 8 6 . Brant war damals noch Magister (mit dem Titel eines doctor utriusque iuris) an der juristischen Fakultät Basels und wirkte dann seit Anfang 1501 in Straßburg, zunächst als Rechtskonsulent des Rats, von 1503 bis zu seinem Tod 1521 als Stadtschreiber und damit als Kollege Spenglers. In der menschlichen >Narrheit< fand er einen negativen ZentralbegrifF, der den Verstoß gegen die göttlichen Gebote und das Handeln gegen die Tugenden des bürgerlichen Zusammenlebens auf eine gemeinsame Grundhaltung zurückfuhrt. Positiv entspricht der Narrheit das gut humanistische Bekenntnis zum »höchsten M a ß stab« der Vernunft. Sie fuhrt den Narren auf sicherem Wege zur Einsicht und zum Ziel der Weisheit, die eine tugendhafte und fromme Lebenshaltung ermöglicht 8 7 . Der durch und durch christliche und kirchenfromme Charakter des N ü r n b e r ger Humanismus vor und besonders nach 1500 88 konnte Dürer nur darin bestärken, sein Streben nach einer verinnerlichten Christusnachfolge und das Bemühen um die >studia humanitatis< nach Humanistenart in Einklang zu sehen. Die Leitnorm der Vernünftigkeit und Weisheit des gerechten Lebens, wie sie den >bonae litterae< der antiken Tugendethik zu entnehmen war, fiel in seinen Augen mit der biblischen N o r m der Gottesfurcht, einer Ehrfurcht, die Liebe und Vertrauen miteinschließt, zusammen. In diesem Sinne schuf Dürer 1499/1500 für den H u m a n i sten Conradus Celtis einen Holzschnitt, der die normative Leitfunktion der Weisheit oder Liebe zur Weisheit (Philosophie) so darstellt, daß er sie in der Mitte des Bildes als Königin thronen läßt 89 . Durch die Gesamtkomposition und die Inschriften läßt Dürer deutlich werden, daß die Weisheit als Vermittlerin der universalen Einsicht in irdische und göttliche Dinge den Menschen von der Natur zu Gott emporfuhrt 9 0 . Ihr T h r o n trägt daher in griechischen Buchstaben die 85
Vgl. dazu o b e n S. 4 4 - 5 3 . Vgl. Faksimile der Erstausgabe: Brant: Narrenschiff; Winkler. Narrenschiff; Albrecht Dürer 1471— 1971, S. 9 2 - 9 6 , N r . 154; Wilhelmi: E n t s t e h u n g ; weitere Lit. bei Machilek: D ü r e r , S. 70, A n m . 85. 87 Vgl. Lemmer. Brant, b e s o n d e r s Sp. lOOlf (Zitat: Sp. 1002). Z u Brants L e b e n u n d W e r k vgl. n e u e r d i n g s Wilhelmi: Brant; z u r Synthese v o n H u m a n i s m u s u n d kirchlicher F r ö m m i g k e i t ( b e s o n ders in Gestalt d e r H e i l i g e n v e r e h r u n g ) bei Brant vgl. Stieglecker: R e n a i s s a n c e ; z u m Verhältnis des d e u t s c h e n u n d lateinischen Textes des >Narrenschiffs< vgl. Rupp: N a r r e n s c h i f f . 86
88
Vgl. o b e n S. 54—60; Hamm: H i e r o n y m u s - B e g e i s t e r u n g , S. 182—195; Machilek: D ü r e r . Z u r D e u t u n g des H o l z s c h n i t t s vgl. Wuttke: N ü r n b e r g (mit A b b . u n d Lit.); ders.: H u m a n i s m u s als integrative Kraft, S. 4 0 2 - 4 4 3 (mit Abb.). Vgl. auch Das große Glück, S. 1 6 0 - 1 6 2 , N r . 102. 90 In d e r M i t t e des Bildes t h r o n t b e h e r r s c h e n d als K ö n i g i n die P e r s o n i f i k a t i o n d e r P h i l o s o p h i e — vergleichbar d e m (besonders in d e r italienischen u n d n i e d e r l ä n d i s c h e n K u n s t u m 1500) v e r b r e i t e t e n Bildtypus d e r zentral t h r o n e n d e n (oft g e k r ö n t e n ) M a r i a . A u f e i n e r S c h ä r p e , »die zu i h r e r Brust als d e m Sitz des H e r z e n s u n d d a m i t des L e b e n s z e n t r u m s führt« (Wuttke: N ü r n b e r g , S. 128), sind v o n u n t e n n a c h o b e n die g r i e c h i s c h e n A n f a n g s b u c h s t a b e n f ü r die sieben freien K ü n s t e a n g e o r d n e t . Sie v e r b i n d e n d e n u n t e n s t e h e n d e n A n f a n g s b u c h s t a b e n f ü r »Physis« m i t d e m o b e n s t e h e n d e n A n f a n g s b u c h s t a b e n flir »Theos«, d. h. die P h i l o s o p h i e f u h r t — w e n n diese E n t s c h l ü s s e l u n g des u n t e r s t e n u n d o b e r s t e n B u c h s t a b e n s s t i m m t — v o n d e r N a t u r e m p o r zu G o t t . D i e 89
94
Spengler und Dürer
Worte: »Vor allem ehre Gott, allem laß Gerechtigkeit
widerfahren!«91
Wenige Zeit
später, etwa 1501, gestaltete Dürer für seinen Freund Willibald Pirckheimer ein Bücherzeichen, das - gut humanistisch - in den drei antiken Sprachen Hebräisch, Griechisch und Lateinisch das biblische Motto »Der Anfang der Weisheit ist die Furcht des Herrn« (Vulg.-Ps 110,10 u.ö.) trägt 92 . Vernünftige Weisheit und fromme Gottesverehrung kommen als N o r m zur Deckung. Daß Dürer mit solchen Bildkompositionen nicht nur die Wünsche seiner Auftraggeber erfüllte, sondern auch seiner eigenen Lebenssicht Ausdruck verlieh, bestätigt eine kleine R e i m folge, die er 1510 geschaffen hat und mit den Zeilen eröffnet: » Wer Gott furcht ob allen dem kann nimmermehr
dingen, mißlingen.«9i
Bei dieser normativen Führungsstellung der Ehrfurcht vor Gott ist es nur konsequent, daß Lazarus Spengler vermutlich zur gleichen Zeit seine Dürer gewidmete humanistische Tugendschrift nach dem Widmungsschreiben mit einem Stück über die Gottesfurcht eröffnet. In der Kopfleiste steht wie auf Pirckheimers Bücherzeichen das lateinische Motto: »Initium sapientiae timor Domini«,
dessen
Erläuterung Spengler dann mit den Worten beginnt: »Vor allen dingen lieb und forcht Got als das höchst und besst gut, von dem du sele, leib und alle guttaten hast empfangen. Den sollst du alzeit vor äugen haben, dhweil >der anfing aller weißheit ist die forcht Gottes simul iustus et peccator< zu v e r s t e h e n ( g e g e n Lutz: D ü r e r , S. 3 1 f ) , s o n d e r n ganz in Staupitzschem Sinne: N i e m a n d k a n n sich selbst vor G o t t g e r e c h t m a c h e n ; w e r das m e i n t , zeigt darin seine U n g e r e c h t i g k e i t . Allein G o t t m a c h t d e n M e n s c h e n d u r c h sein G n a d e n g e s c h e n k g e r e c h t . 172
173 Staupitz: W e r k e , S. 16 (statt menschen rew nit steht in d e r zeitgenössischen A b s c h r i f t d e r Spengler-Notizen menschen nit rew). 174 Rupprich hat das Textstück Dürers auf »um 1520« datiert; Dürer: N a c h l a ß 1, S. 2 1 6 , N r . 4. S c h o n Seebaß hat seinen Z u s a m m e n h a n g m i t Staupitz' N ü r n b e r g e r P r e d i g t w i r k e n e r k a n n t u n d vorgeschlagen, »daß es in eine etwas f r ü h e r e Z e i t zu setzen ist«; Seehaß: D ü r e r s Stellung, S. l l O f m i t A n m . 61.
108
Spengler und Dürer
als beide v o n Luthers T h e o l o g i e ergriffen w u r d e n , war die Frage nach der ausreic h e n d e n , >genugsamen< R e u e f ü r sie kein T h e m a m e h r 1 7 5 . D i e S t a u p i t z - A u f z e i c h n u n g e n Spenglers enthalten eine auffallende — so dicht in Staupitz' eigenen Schriften nicht v o r k o m m e n d e — H ä u f u n g v o n >Solasola ratio< u n d >sola virtus< wird insofern d u r c h die V e r b i n d u n g v o n >sola caritassola gratiasola misericordia< u n d >solus Christus< abgelöst. Als i n t e grative Kraft soll die Liebe das Z u s a m m e n l e b e n in der Stadt b e s t i m m e n u n d so aus der i n n e r e n G e s i n n u n g des H e r z e n s heraus die G e l t u n g v o n G e m e i n e m N u t z e n , Einigkeit, Friede u n d Gerechtigkeit in d e n M a u e r n der Reichsstadt festigen. Allerdings setzte diese religiöse N e u o r i e n t i e r u n g bei Spengler e b e n s o w e n i g w i e bei D ü r e r ihre bisherige bürgerliche u n d humanistische Ehrbarkeitsethik außer Kraft. A u f der E b e n e des H u m a n e n , Gesellschaftlichen, Politischen u n d Künstlerischen blieb sie samt ihren Prinzipien v o n Vernünftigkeit, T u g e n d h a f t i g keit, Affektkontrolle, M a ß u n d Selbstbescheidung nach w i e vor in G e l t u n g . D a r auf verweist auch eine Sentenz Staupitzens, mit der Spengler seine A u f z e i c h n u n gen der T i s c h r e d e n des Augustinervikars abschließt: »Ich wil dannocht lieber und mit mynder beschwert regirt werden von ainem geschickten, vernunfftigen puben dann ainem fronten
narren. « 177 Diese Kontinuität auf der E b e n e des V e r n ü n f t i g e n u n d des
ehrbaren Bürgerverhaltens >coram hominibus< k ö n n t e auch erklären, weshalb Spengler seine T u g e n d s c h r i f t mitsamt der Vorrede an D ü r e r v e r m u t l i c h erst u m 1520 d r u c k e n ließ 1 7 8 u n d damals also i m m e r n o c h zu i h r e m Inhalt stand. Allerdings ist die bisherige V e r n u n f t - u n d T u g e n d o r i e n t i e r u n g u n t e r Staupitz' Einfluß in ein neues religiöses Bezugssystem geraten. I m n e u e n K o n t e x t lautet die B o t schaft: N u r d u r c h ein völliges Vertrauen auf Gottes G ü t e , E r b a r m e n u n d Liebe e m p f ä n g t alles weltliche T u n des M e n s c h e n seine rechte, letztgültige Z i e l b e s t i m m u n g ; d e n n a m E n d e , >coram DeoSchutzrede< für Luther, im vierten Kapitel über >Spengler und Luther< darlegen 1 7 9 . In der gleichen Zeit gerät auch Dürer in den Bann Luthers; und auch bei ihm beginnt diese Ära damit, daß er — seit 1518 - Schriften Luthers sammelt und liest, die ihm, wie er Anfang 1520 sagt, aus »grossen engsten« heraushelfen 180 . Daß und wie er seinen Platz innerhalb der reformatorischen Bewegung Nürnbergs fand und auch nach 1525 beibehielt, hat Gottfried Seebaß sorgfältig aus den Quellen belegen können; und diese Auffassung wurde von der neueren Forschung, die sich von den alten konfessionellen Engführungen löste, bestätigt 181 . Die literarischen Zeugnisse sind, wie unten gezeigt wird, von prägnanter Deutlichkeit. Das Zeugnis der gleichzeitigen Bilder ist zwar nicht so eindeutig wie etwa im Falle Lucas Cranachs d.A., doch steht es dem textlichen Befund nicht entgegen: Dürer hat nach 1518 nichts geschaffen, was seiner Stellung in der reformatorischen Bewegung Nürnbergs widerspräche, z. B. keine Schutzmantelmadonna, kein Heiligenbild mit Interzessionscharakter, keine Gregorsmesse und dgl. Die Reduktion der Themen auf das der biblischen Schrift Gemäße und auf die Zentralstellung des Erlösers Jesus Christus hin wird in Aufnahme und Weiterentwicklung der vertrauten, >spätmittelalterlichen< Bildmotive fortgeführt. Daß man Bilder wie die Zeichnung >Sitzender Schmerzensmann< von 1522 (Winkler Nr. 866) oder das Ölgemälde >Maria mit dem Kind eine Birne haltend< von 1526 (Anzelewsky Nr. 181) auch im altgläubigen Sinne verstehen kann, liegt am überkonfessionellen Charakter dieser Themen und daran, daß selbstverständlich auch eine konfessionell katholische Frömmigkeit ihre Grundlage in den biblischen Texten über den kindlichen und leidenden Erlöser hat. Dürers >Vier Apostel< sind
179
Siehe unten S. 171ff.
Vgl. besonders Dürer: Nachlaß 1, S. 2 2 1 , Nr. 1 (von Dürer 1 5 2 0 / 2 1 angelegtes Verzeichnis von Schriften Luthers aus den Jahren 1418—1520); S. 2 6 3 , Nr. 51 ( B r i e f Christoph Scheurls an Nikolaus von Amsdorf vom 10. April [?] 1519); S. 86,23—25 (Brief Dürers an Georg Spalatin von Anfang 1520): »Und ich pit ejwerj werden], wo doctor Martinus ettwas news macht, das tewczsch ist, wolt mirs um mein gelt zwsenden.« Unmittelbar voraus (S. 86,19—23) geht im Text die Aussage: »Und hilft mir got, das ich zw doctor Martinus Luther kum, so will ich in mitfleis kunterfetten [ = konterfeien/ und in kupfer stechen zw einer langen gedechtnus des kristlichen maus, der mir aws grossen engsten geholffen hat.« 180
181 Seebaß: Dürers Stellung; vgl. auch Wiederanders: Theologische Anschauungen, S. 71—125; Rebel: Dürer, S. 410—432. Die Position von Heinrich Lutz, der nach 1524 eine Abwendung Dürers von dem sich verfestigenden reformatorischen Kirchenwesen behauptete, ist mittlerweile forschungsgeschichdich überholt, und zwar sowohl in der Deutung Dürers (z.B. Lutz' Argumente gegen die Echtheit von Dürers Lutherklage, dazu unten bei Anm. 183) als auch durch ein sehr viel differenzierteres Reformations Verständnis. Hätte Lutz die Haltung eines Lazarus Spengler oder Hans Sachs wahrgenommen, dann hätte er nicht Dürers Ablehnung einer generellen Bilderfeindlichkeit oder seine (aus der Bildunterschrift unter die >Vier Apostel' erschlossene) Aversion gegen die Dominanz der evangelischen Prediger der Stadt als Abkehr von der R e f o r m a t i o n deuten können. Ernüchternde Enttäuschungen über den Gang der R e f o r m a t i o n — vor allem was ihre Lebensfrüchte anbelangt — sind für viele entschiedene Anhänger eines reformatorischen Kirchenwesens (wie auch für Luther) charakteristisch, die deshalb nicht weniger entschieden bei ihrem Bruch mit der römischen Kirche und ihrem Verlangen nach einer >evangelischen< Gestalt der Kirche beharren. Vgl. die beiden Aufsätze: Lutz: Reformation (1961); Dürer (1968).
110
Spengler und Dürer
daher mit ihrer Kombination von Text und Bild ein Sonderfall manifester Glaubensbekundung, zugleich aber eingebettet in das reformationsgemäße Bildschaffen Dürers. Durch Luther wurde den beiden prominenten Nürnberger Bürgern aber nicht nur ein neuer Horizont der religiösen Orientierung und Kirchenreform eröffnet, sondern zugleich auch eine umfassende Lebensnorm geboten, die ihr Verlangen nach normierender und integrativer Zentralität erfüllte. In dieser Hinsicht kann man eine konzeptionelle Kontinuität wahrnehmen, die bei Dürer und Spengler von der Zeit u m 1500 bis in die späten zwanziger Jahre reicht. Es war zu sehen, inwiefern Humanismus, Hieronymus-Frömmigkeit und Staupitz' Akzentuierung einer biblisch-augustinischen Theologie den Blick der beiden Freunde jeweils auf einen geistig-religiösen Mittelpunkt ihres Lebensentwurfs und auf regulierende >SolaMenschenwahnbeschwerungklareVier Apostel< vor A u g e n 1 8 8 . U n d es entspricht genau der Tonlage der Lutherklage von 1521, w e n n er 1526 dieses Gotteswort völlig unproblematisierend als fraglose, eindeutige G r ö ß e gegen die »menschliche verfüerung« stellt 189 . D i e biblische Wahrheit, wie sie v o n den auf d e m G e m ä l d e dargestellten A u t o r e n bezeugt wird, ist in i h r e m klaren Sinn j e d e r m a n n zugänglich, w e n n er n u r h ö r t u n d liest, was geschrieben steht u n d nichts hinzufügt o d e r w e g n i m m t . M i t d e m gleichen >biblizistischen< Vertrauen auf den Sinn des Wortlauts argumentiert Spengler i m Abendmahlsstreit f ü r ein verbal-reales 184 Ebd., S. 171,58f mit S. 196, A n m . 621: An John Wyclif(cz. 1320-1384) hat Dürer offensichtlich gedacht wegen dessen »antipapale(r) Einstellung und Kritik an d e m kurialen Benefizienu n d Steuersystem« sowie dessen »Biblizismus, wonach nur Christus das H a u p t der Gesamtkirche ist und die Hl. Schrift die alleinige Grundlage des Glaubens und das schlechthinige Gesetz in geistlichen und weltlichen Dingen«. 185 Ebd., S. 171,79f. 186 Ebd., S. 171,81-88. 187 Ein eindrucksvolles Beispiel dafür bietet auch der Konstanzer Stadtschreiber Jörg Vögeli in einem Brief an Konrad Zwick vom 30. Juli 1523; ed.: Vögeii: Schriften 1, S. 471f; dazu vgl. Hamm: Laientheologie, S. 235-244. 188 Vgl. Zitat oben S. 84 bei A n m . 42. 189 Vgl. ebd.
112
Spengler und Dürer
Verständnis der Einsetzungsworte 190 und in der Kontroverse um den Kirchenbann für ein unverkürztes Ernstnehmen der Gemeinderegel Jesu in Mt 18,15—18 191 . Außer dem Tagebucheintrag von 1521 und der Textleiste der >Vier Aposteh 1526 gibt es nicht viele literarische Äußerungen Dürers, die über sein Verhältnis zur Reformation Aufschluß geben — und dies ist, wie ich nochmals unterstreichen möchte, auch nicht anders zu erwarten 192 . Die wenigen Aussagen aber sprechen eine eindeutige Sprache. Bemerkenswert ist besonders der B r i e f an den kursächsischen R a t Georg Spalatin von Anfang 1520, in dem sich Dürer dafür bedankt, daß ihm Kurfürst Friedrich der Weise einige Schriften Luthers geschickt habe. Nach dem Dank folgt eine Bitte: Spalatin möge den Kurfürsten »in aller undertenikeit pitten, das er im den loblichen d[octor] Mjartinum] L[utherJ befolhen las sein, van kristlicher worheit wegen, doran uns merleit dan an allenn reichtumen undgewalt diser weit, das dan als [= alles] myt der czeit vergett; allein dy worheit beleibt
ewig«i9i.
Es sei nur hervorgehoben, wie sich Dürer hier zum Fürsprecher des >allein< und >alles< der biblischen Wahrheit macht: Sie allein ist das Letztgültige, dem alles irdische Prosperieren unterzuordnen ist. Und genau in der Art, wie er Luther dem Schutz des Kurfürsten anbefiehlt, hat Spengler im Frühjahr 1523 den N ü r n berger R a t zum Schutz der bedrohten evangelischen Prediger der Stadt aufgefordert und ihm dabei auch die Aussicht zugemutet, daß man um der Wahrheit des Gotteswortes Verfolgung und Kreuz auf sich nehmen muß: denn »der ist ein crist, der Verfolgung umb der warheit willen leydet, der Gottes ere seinem nutz fursetzet und an Cristo bestendig bleybet, ungeachtet alles unfals [= Schadens] des leybs, des guts und der eeren, den man einen ketzer schillt etc. Dann das creutz ist die ainig prob [= die einzige Prüfung, der einzige Erweis] eines cristenmenschen.«VH
In der gleichen Tonlage
fährt Dürer in seinem B r i e f an Nikolaus Kratzer vom 5. Dezember 1524 fort, wenn er ihm schreibt: »Item des cristlichenglawbens
halben müs wir in schmoch und far
[= Gefahr] sten, dan man schmecht uns, heist uns keezer. Abergottferleich
uns sein gnad
und sterck uns in seinem wort, dan wir müsen >got.t mergehorsam sein den dem menschen< [Apg 5,29]. So ist es besser leib und gut ferlorn, dan das vangott unser leib und seil in das hellischfewerfersengt
würd [vgl. M t 10,28].« 1 9 5
Auf viele Einzelheiten des Beziehungsgeflechts zwischen Dürer und Spengler bin ich nicht eingegangen, weil sie bereits von der bisherigen Forschung gesehen worden sind und nichts Wesentliches zu dem bisher Gesagten hinzufügen. Ein wichtiges Detail aber ist noch nachzutragen, das sich in dem zitierten B r i e f Dürers an Spalatin von Anfang 1520 findet: Spalatin hatte von Dürer offensichtlich die Zusendung einiger Exemplare der Ende 1519 gedruckten >Schutzrede< 190 191 192 193 194 195
Vgl. unten S. 2 6 5 - 2 7 1 . Vgl. unten S. 217f. Vgl. oben S. 8 0 f bei Anm. 28. Dürer. Nachlaß 1, S. 8 6 , 1 4 - 1 9 , Nr. 32. Spengler: Schriften 1, S. 3 4 8 , 2 9 - 3 4 9 , 4 . Vgl. unten S. 1 9 6 - 1 9 9 . Dürer: Nachlaß 1, S. 1 1 3 , 2 2 - 2 8 , Nr. 56.
9. Auf der Seite
113
Luthers
Spenglers, seiner ersten Luther-Apologie, erbeten 1 9 6 . Dürer antwortet ihm, daß die Schrift vergriffen ist, daß man sie aber zu Augsburg (in zweiter Auflage) druckt. Sobald der Druck vorliegt, wird er ihm die Exemplare zuschicken 1 9 7 . »Aber wissent«, f ä h r t er f o r t , »das dis püchlein, awff den kanczlen undferschmelich
vür ein ketzerpüchlein,
wiewols hy [in N ü r n b e r g ] gemacht
das man ferprennen
soll, fermffen
ist
ist,
worden,
wider den gerett, ders an underschriben [ = o h n e U n t e r s c h r i f t , a n o n y m ]
aws hat lassengen.
Es hatz aweh doctor Eck, als man sagt, öfflich zw
wollen, wy des docter Rewleyns
[= R e u c h l i n s ] püchleinngeschehen
Ingelstettferprennen
ist etwen [ = einst].« 1 9 8
Vergleicht man diese Nachricht Dürers mit der gerade zitierten Passage aus sein e m Brief an Kratzer, dann wird deutlich, daß er seinen Freund Spengler als wahren Christen charakterisiert, der u m seines Glaubens willen öffentlich verketzert und geschmäht wird. Die Botschaft Dürers in diesen Jahren ist deutlich und mit der Spenglers identisch: All dies — Verfolgung, Verketzerung und irdische Bedrängnis jeder Art — darf einen Christen nicht daran irre machen, bei der Wahrheit des Gotteswortes zu bleiben und sich furchtlos zu ihr zu bekennen. Weil Gottes Wort ewig bleibt, mit Christus identisch ist und daher »aller cristglaubigen heil« ist, wie es Dürer 1525 formuliert 1 9 9 , verlangt es von seinen Anhängern ein unerschrockenes Bekenntnis. Auf diese Konsequenz >sub cruce< zielen viele Äußerungen Spenglers seit 1519 ebenso wie die literarischen Zeugnisse Dürers einschließlich seiner Lutherklage, in der er Erasmus, dem Verfasser des >Enchiridion militis christianiVier Apostel< — ein Bekenntnisbild Berücksichtigt man diese Implikationen der Dürerschen — wie Spenglerschen — Blickrichtung auf die alleinige Wahrheit des biblischen Gotteswortes, dann kann man mit guten Gründen auch in Dürers Gemälde der >Vier Apostel< bekenntnishafte Züge erkennen 2 0 4 . Die zwölf Apostel stehen in der mittelalterlichen Tradition für das Apostolische Glaubensbekenntnis; analog treten die vier biblischen Autoren des Bildes als Zeugen und B e k e n n e r des Gotteswortes in Erscheinung 2 0 5 . W i e die Bildunterschrift verdeutlicht, dient ihre Verbildlichung zusammen mit den vier Zitaten aus ihren Schriften in der zugespitzten religiösen Kontroverssituation von 1526, in »disen ferlichen zeitten«2{)(>,
als Mahnung, sich zur alleinigen
N o r m des Gotteswortes zu bekennen. Für die Nürnberger Verhältnisse war damals charakteristisch, daß zu dem Konflikt zwischen Altgläubigen und >Evangelischen< die innerevangelischen Auseinandersetzungen mit einem spiritualistischen Geistverständnis, um die Kindertaufe, um die R o l l e der Obrigkeit in Glaubensfragen und um das Abendmahl hinzukamen. Allgemein, auch im Blick auf die Gesamtsituation im R e i c h , kann man sagen, daß diese Eskalation innerreformatorischer Kontroversen zwischen 1 5 2 5 und 1527 unmittelbar zur Entstehung der ersten reformatorischen Bekenntnisse führte 2 0 7 . In apologetischer Selbstbehauptung und polemischer Ausgrenzung sucht man sich der eigenen Wahrheitsgrundlage zu vergewissern, den Status des eigenen Glaubens klar zu definieren und einen anderen Glauben zu verwerfen. Dieser Hintergrund macht verständlich, warum Lazarus Spengler im Jahr 1527 das wahrscheinlich erste persönliche Glaubensbekenntnis der R e f o r m a t i o n schuf 2 0 8 . W i e in den folgenden Jahren deutlich wird, versteht er es als letztwillige Verfügung, als eine Art Glaubenstestament im Angesicht des Todes 2 0 9 . Ich sehe — anknüpfend an Arndts und Moeliers Beobachtungen — Dürers >Vier Apostel< auf der gleichen Aussage-Ebene, zumal Dürer mit der Auswahl der der babst, pfäffen und die münchen [= M ö n c h e ] vergossen, gerieht und verdampt haben. Apokalypsis [6,9— 11J: Das sind die erschlagnen, unter dem altar gottes ligent, und sehreyen umb räch, darauff die stim gottes antwort: erbeitet [= arbeitet, duldet, geduldet euch, wartet auf] die volkomtnen zahl der unschuldigen erschlagenen, dann will ich richten.« 2(14 Zur — durchaus problematischen — Manier der Forschung, Dürers Gemälde als ein >Bekenntnisbild« zu bezeichnen, vgl. Arndt/Moeller: Vier Apostel, S. 4 3 f [259f|. 2 0 5 Vgl. ebd., S. 27—29 ]243—245] mit dem Ergebnis: »Zwar treten auch die Vier als Bekenner auf und gleichen insofern den zwölf Aposteln in den apostrophierten Zyklen in ihrer besonderen, so >felsenfest< erscheinenden Statuarik. Doch stehen sie nicht für das Apostolicum, also gewissermaßen den Lehrbesitz der Kirche, sondern ftir >Gottes W o r t s das der Kirche vorgeordnet und nicht zu memorieren, sondern zu beherzigen ist. Auch überbieten sie in ihrer monumentalen Erscheinung alle Vorläufer bei weitem.«
Vgl. Zitat oben S. 84 bei Anm. 42. Vgl. unten S. 2 8 6 und S. 291 f. 208 [< n t l s t : ] K . Edition m: Spengler: Schriften 2, S. 115(122)—142, Nr. 4 8 (Glaubensbekenntnis in den drei Fassungen von 1527, 1529 und 1533). 2m
2(17
2119
Vgl. unten S. 2 9 9 - 3 1 2 .
10. Dürers > Vier Apostel< — ein
Bekenntnisbild
115
Bibelzitate 210 nicht nur den altgläubigen Gegner, sondern offensichtlich auch die >falschen Propheten< und >Geister< im reformatorischen Lager ins Visier nimmt. Ahnlich wie Spengler seinem Bekenntnis die Bedeutung einer letztwilligen Verfügung >coram publico< (»vor Got meinem Herrn und derganntzen wellt«) gab 211 , darf man auch Dürers Gemälde als Glaubensvermächtnis verstehen 2 1 2 . In einem Brief an Bürgermeister und R a t der Stadt N ü r n b e r g vom 6. O k t o b e r 1526 schreibt Dürer, daß er ihnen die Tafel als Gedächtnisbild verehren will: »acht ich nyemant wirdiger, die zu einergedechtnus
zu behalten, dan E[uer] W[eisheit].«2]:i
Es ist, w i e i c h
meine, naheliegend, den Begriff >gedechtnus< sowohl auf die Person Dürers 2 1 4 als auch auf den Inhalt seines Gemäldes samt der Unterschrift zu beziehen: Indem das Bild seinen Platz im Rathaus findet, soll der R a t den Maler in bleibendem Gedächtnis behalten als denjenigen, der ihn durch seine Kunst auf das biblische Wort Gottes als Wahrheitsgrundlage des weltlichen Regiments und kommunalen Lebens verweist und davor warnt, statt dem göttlichen Wort »menschliche[r] verfüerung« zu folgen 2 1 5 . Dürers >Vier Apostel< dürften somit als eine Art religiöser Memorialstiftung im reformatorischen Sinne zu verstehen sein, die sich aus dem Sakralkontext spätmittelalterlichen Stiftens herausgelöst hat 2 1 6 . Als Glaubensvermächtnis steht das 210
Vgl. o b e n S. 82 m i t A n m . 37. Spengler: S c h r i f t e n 2, S. 1 4 1 , 8 - 1 0 (linke Spalte); vgl. u n t e n S. 3 0 0 . 2,2 Vier Apostel, S. 5 3 [269], Vgl. a u c h Rebel: Z u m B e g r i f f >Vermächtnis< vgl. Arndt/Moeller: D ü r e r , S. 4 2 7 u n d S. 429: Dürers »Vier Apostel< als »Religionsmanifest« u n d »Bildmanifest l u t h e r i scher W o r t t h e o l o g i e « . Z u r a n d e r e n D e u t u n g Gerhard Pfeiffers vgl. Arndt/Moeller. V i e r Apostel, S. 6 1 - 6 6 [ 2 7 7 - 2 8 2 ] , 211
213 D e r ganze B r i e f ist ediert in: Dürer. N a c h l a ß 1, S. 117, N r . 59; Arndt /Moeller: V i e r Apostel, S. 71 [287] (B). 2,4 Vgl. e b d . , S. 50 [266] ü b e r Dürers F o r m u l i e r u n g »zu einer gedechtnus«: »Schon das N ü r n b e r ger R a t s p r o t o k o l l n a h m sie m i t d e r F o r m u l i e r u n g >zue seyner gedechtnus< a u f u n d u n t e r l e g t e ihr d a m i t die M e i n u n g , d e r M a l e r h a b e m i t seinen Bildtafeln eine memoria seiner selbst a u f r i c h t e n wollen.« D e r Text des Ratsverlasses v o m 6. O k t . 1526 ist ediert in: Dürer: Nachlaß 1, S. 2 4 3 N r . 23; Arndt /Moeller: V i e r Apostel, S. 71f [287f] (C3). Z u diesem Sinn v o n >gedechtnus< vgl. a u c h Dürer. N a c h l a ß 1, S. 9 9 , 1 5 9 {Dürer an Willibald Pirckheimer 1523). 215 So Dürer in d e r B i l d u n t e r s c h r i f t : vgl. Z i t a t o b e n S. 84 bei A n m . 42. Vgl. Rebel: D ü r e r , S. 4 3 1 : » D a ß A l b r e c h t D ü r e r sich m i t seiner Kunst derart z u m S p r e c h e r d e r t h e o l o g i s c h e n u n d staatlichen N o r m a t i v i t ä t e r h o b e n hat, bleibt erstaunlich, selbst w e n n m a n seine p e r s ö n l i c h e F r ö m m i g k e i t u n d seine starke N e i g u n g zu B e k e n n t n i s p a t h o s , zu Verbindlichkeit u n d O r d n u n g voll berücksichtigt.« D e r V o r g a n g w i r d etwas w e n i g e r erstaunlich, w e n n m a n die b e s c h r i e b e n e N ä h e zu Spengler, d e m R e p r ä s e n t a n t e n »der t h e o l o g i s c h e n u n d staatlichen N o r m a t i v i t ä t « , b e r ü c k s i c h tigt. 216 Vgl. die t r e f f e n d e C h a r a k t e r i s i e r u n g d e r Dürerschen Bildstiftung bei Arndt /Moeller. V i e r Apostel, S. 54 [270]: »Seine S t i f t u n g war, v o m Mittelalter h e r g e s e h e n , gewiss »säkulare Sie h a t t e m i t G e b e t , M e s s o p f e r u n d K i r c h e n d i e n s t nichts zu t u n u n d w a r n i c h t darauf angelegt, G o t t g n ä d i g zu s t i m m e n . G ä n z l i c h >unsäkular< h i n g e g e n w a r sie darin, dass sie sich in d e n D i e n s t G o t t e s stellte u n d s e i n e m W o r t R a u m zu verschaffen suchte. A u c h von >Profanität< o d e r >Weltlichkeit< k ö n n t e m a n r e d e n ; d e n n es h a n d e l t e sich u m eine ganz laikale Ä u ß e r u n g , die d e r G e m e i n s c h a f t d e r B ü r g e r d i e n e n u n d ihr f ü r die G e s t a l t u n g des Lebens in d e r Welt H i l f e b i e t e n wollte. D i e s j e d o c h sollte e b e n d a d u r c h erreicht w e r d e n , dass n u r G o t t e s Wille zur G e l t u n g kam.«
116
Spengler und Dürer
Bild nahe bei Spenglers Glaubensbekenntnis und gehört mit ihm zusammen in den historischen Kontext der Anfänge evangelischer Bekenntnisbildung.
11. Zusammenfassung Mit dieser Deutung habe ich mich auf das Grenzgebiet zwischen sicheren Erkenntnissen und Vermutungen begeben. Allerdings ist mein Gesamtresümee im Blick auf die Zeitspanne dreier Jahrzehnte von einer so speziellen Interpretation der >Vier Apostel< unabhängig. Am Ende dieses Zeitbogens kommt bei Albrecht Dürer wie bei Lazarus Spengler ein lebenslanges, beharrliches Bemühen um umfassend orientierende, normierende und integrative Zentralität von geistigreligiöser, weiser und frommer, geistlicher, kultureller und politischer Qualität zum Abschluß. O b man dafür meinen Begriff der »normativen Zentrierung< oder eine andere Formulierung verwenden will, ist im Grunde gleichgültig, denn es kommt nicht auf Etikettierungen solcher Art an, sondern auf die angemessene Wahrnehmung des Strebens nach einer geistigen Konzeption von umfassender und durchdringender normativer Kraft. Spengler verwendet für dieses Bestreben die Worte: »[...] in seinen geschefften und handlungen einen vernünftigen gegenwuif zu suchen, [um] sich in einem cristenlichen gotsforchtigen, ordenlichen und geschickten leben zu erhalten. « 2 1 7 Das Widmungsschreiben zur Tugendschrift, in dem er diese Formulierung wählt, ist an Dürer gerichtet, denn bei seinem Nachbarn und Freund erkennt er das gleiche reflektierende Streben nach maßgebender Ordnung und Mitte 2 1 8 . Der Weg dieses Bemühens fuhrt die beiden Seite an Seite über die geschilderten Stationen vom frommen Bürgerhumanismus oberrheinischer und Nürnberger Prägung bis in die Ära der Ratsreformation nach 1525. Die oberste N o r m von lebensumfassender und -gestaltender Wahrheitsautorität sehen sie am Ende in Gottes Wort. Es ist für sie eine zutiefst vernünftige und weise N o r m , weil es in seinem befreienden und ordnenden Anspruch wie keine andere Autorität der Vernunft einzuleuchten vermag 2 1 9 . Seine Quelle aber ist nicht die Vernunft, sondern allein die Heilige Schrift. Dieser Einsicht haben Dürer 1526 in seinem
Spengler. Schriften 1, S. 1 3 , 9 - 1 1 ; vgl. oben S. 89 bei Anm. 58. Vgl. Spengler: Schriften 1, S. 1 3 , 1 6 - 2 0 . 2 1 9 Vgl. folgende Passage aus Spenglers »Schutzrede für Luthers Lehre< (Ende 1519): »Zum andern, ob Luthers leer christenlicher Ordnung und der Vernunftgemeß sey, stell ich in ains yeden vernünftigen, frommen menschen erkantnus. Das waiß ich aber onzweyfenlich, das mir, der sich für kamen hochvernünftigen, gelerten oder geschickten helt, mein leben lang ainich [ = irgendeine] leer oder predig so starck in mein Vernunft nie gegangen ist, hab auch von kainem meer begreifen mügen, das sich meins Verstands christenlicher Ordnung also vergleicht als Luthers und seiner nachvolger leer und undenveisung. Got wolt, das mir disegnad verlihen wurd, mich denselbigen underweysungen gemeß zu halten und alles mein leben darnach zu regulieren.« Ebd., S. 89,5—13. Aus diesem Zitat spricht sehr deutlich die umfassende, lebensumgreifende Regulierungsabsicht Spenglers, die sich wie bereits in seiner humanistischen Tugendschrift mit Begriffen wie Vernunft, Ordnung, Lehre und Unterweisung verbindet. Vgl. auch unten S. 177f. 217
218
i 1. Zusammenfassung
117
Gemälde >Die Vier Apostel< und Spengler 1527, 1529 und 1533 in drei Fassungen seines Glaubensbekenntnisses zusammenfassenden Ausdruck gegeben. So sehr sie damit als prominente Vertreter der Nürnberger >Ehrbarkeit< und enge Vertraute der Patrizier den reformatorischen Religionskurs des Nürnberger Rats unterstützten, so deutlich beziehen sie doch einen von der jeweiligen Ratspolitik unabhängigen Standpunkt; denn auch die Obrigkeit sehen sie der obersten N o r m des biblischen Gotteswortes untergeordnet 2 2 0 . Diese Art von geistiger Unabhängigkeit war schon in der humanistischen Berufung auf Vernunft, Tugend, Gottesfurcht, Maß und >Bescheidenheit< oder in der Staupitzschen Leitperspektive der Liebe angelegt. Die reformatorische Exklusivität von Wort und Glaube bedeutete für Spengler und Dürer einerseits einen Umbruch ihres N o r m gefüges, andererseits aber nicht den Abbruch ihrer bisherigen Normkonzeptionen, sondern deren veränderte Weiterführung auf der relativ konstanten Grundlage eines bürgerlich-städtischen, stark obrigkeitlich definierten Wertekanons. Der Blick über dreißig Jahre hinweg zeigt also höchst komplizierte Verhältnisse von Innovation und Kontinuität auf der Normebene oder von Nähe und Distanz zur Ratsherrschaft und zu den lutherischen Predigern. Anders als mit vorsichtig gewichtenden Formulierungen wie einerseits — andererseits< kann man diesen Interpretationsschwierigkeiten nicht gerecht werden. Dies gilt auch für die Beziehung zwischen dem Künstler und dem Ratsschreiber: einerseits eine starke Divergenz der Persönlichkeiten in Charakter und Beruf, andererseits ein hohes Maß an konzeptioneller Verbundenheit auf dem gemeinsamen Weg von einer kirchenkritischen humanistischen Religiosität zu einer reformatorischen Sicht des G e meinwesens unter dem Wort Gottes.
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Vgl. unten S. 204-223.
3. Kapitel
Peumatologischer Antiklerikalismus — zur Vielfalt der Luther-Rezeption in der frühen Reformationsbewegung
1. Der Interpretationsansatz des >AntiklerikalismusWildwuchs< oder >Lutherische Engflihrung< 1 1 9 - 3 . Antiklerikalismus und Pneumatologie 1 2 0 - 4 . T h e m a tik und Quellenauswahl: Das Beispiel N ü r n b e r g 123 - 5. Luthers pneumatologischer Antiklerikalismus (1520—1524) 124 - 6. Z u r Frage der L u t h e r - R e z e p t i o n 135 - 7. D e r erste (integrative) Typ des pneumatologischen Antiklerikalismus 135 - 7 . 1 Andreas Oslander d. A. 1 3 6 - 7 . 2 Lazarus Spengler 1 3 8 - 8 . D e r zweite (polarisierende) Typ des p n e u m a t o l o gischen Antiklerikalismus 141—9. D e r dritte (spiritualistische) Typ des pneumatologischen Antiklerikalismus 150 - 9.1 Hans Greiffenberger 150 - 9.2 Hans D e n c k 159 - 10. Der vierte (Müntzersche) Typ des pneumatologischen Antiklerikalismus 161 - 11. Weder >Wildwuchs< noch >Lutherische Engfuhrung< 1 6 3 - 1 2 . Anhang 168
1. Der Interpretationsansatz des >AntiklerikalismusAntiklerikalismus< weniger erklärend als vielmehr erklärungsbedürftig ist. Als Begriff bietet er keine Erklärung für spätmittelalterliche und reformatorische Kirchenkritik, sondern bedarf er der Erklärung von den vielfältigen und z.T. gegenläufigen Ansätzen der Polemik, des Erneuerungsverlangens, der R e f o r m und Reformationsansätze her. So läßt die gegenwärtige Verwendung des Antiklerikalismus-Begriffs ein grundlegendes terminologisches Problem in der Schwebe: Wann wird Kritik am Klerus zum Antiklerikalismus? Gehört bereits eine partielle Kritik an bestimmten Gruppen des spätmittelalterlichen Klerus und an bestimmten Zuständen, die als provokative Mißstände empfunden werden, zum Phänom e n des Antiklerikalismus (in einem weiteren Sinne), auch w e n n sich mit dieser Kritik höchste Verehrung der priesterlichen Gnadenvermittlung, spezieller Kleriker-Gemeinschaften u n d vorbildhafter priesterlicher Leitgestalten, ja massivste Kirchenfrömmigkeit verbinden kann? O d e r versteht man - in einem engeren
2. >Wildwuchs< oder >Lutherische Engführung