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German Pages 383 [390] Year 2019
R. Eschenburg, H. Heineberg, U. Pfister, Chr. Strosetzki (Hrsg.) Lateinamerika- Festschrift für A. Schräder
Lateinamerika Gesellschaft - Raum - Kooperation Festschrift fiir Achim Schräder zum 65. Geburtstag
Herausgegeben von Rolf Eschenburg, Heinz Heineberg, Ulrich Pfister und Christoph Strosetzki
Verlag Vervuert • Frankfurt am Main 1999
Die Herausgeber danken folgenden Institutionen für ihre finanzielle Unterstützung der Drucklegung dieses Werkes: - Förderverein des Lateinamerika-Zentrums (CeLa) der Westfälischen Wilhelms-Universität, Münster - Sparda-Bank Münster (Westf) eG. Berliner Platz 31, 48143 Münster - FIRST REISEBÜRO, Lückertz First Reisebüro GmbH, Salzstr. 36, 48143 Münster - Vectron Systems AG, An der Kleimannbrücke 13a, 48157 Münster
Redaktionsassistenz: Birgit Buthe Layout: Markus Küpker
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Lateinamerika : Gesellschaft - Raum - Kooperation ; Festschrift für Achim Schräder zum 65. Geburtstag / hrsg. von Rolf Eschenburg... - Frankfurt am Main : Vervuert, 1999 ISBN 3-89354-114-4 © Vervuert Verlag, Frankfurt am Main 1999 Alle Rechte vorbehalten Umschlaggestaltung: Michael Ackermann, Gedruckt auf säure- und chlorfrei gebleichtem, alterungsbeständigen Papier Printed in Germany
Tabula Gratulatoria Barbosa, Eva Machado (Porto Alegre) Bauhus, Wilhelm (Münster) Blumenschein, Markus (Tübingen) Boni, Luis Alberto de (Porto Alegre) Briesemeister, Dietrich (Wolfenbüttel) Brockmann, Louisa, Charlotte, Ute und Andreas (Münster) Bünstorf, Jürgen (Altenberge) Campos, Maria Christina Siqueira de Souza (Münster) Campos, Joaquim Pedro Villafa de Souza (Säo Paulo) Chacon, Vamireh (Brasilia) Dieckheuer, Gustav (Münster) Dressel, Heinz F. (Nürnberg) Ehlers, Dirk (Münster) Eschenburg, Rolf (Münster) Filimann, Heinz Günther (Münster) Frantz, Walter (Ijuri) Geckeier, Horst (Münster) Geeraedts, Lock (Münster) Heineberg, Heinz (Münster) Hentschke, Jens R. (Newcastleupon-Tyne / Heidelberg) Hoffschulte, Heinrich A. (Münster) Holz, Harald (Bochum) Industrie- und Handelskammer Essen Jacob, Gerhard (Porto Alegre) Kohlhepp, Gerd (Tübingen) Kohut, Karl (Eichstätt)
Kosminsky, Ethel Volfzon (Säo Paulo) Krol, Gerd-Jan (Münster) Kurtenbach, Sabine (Hamburg) Lagos, Ricardo (Bonn) Lütke Wöstmann, Christian (Münster) Metz, Johann Baptist (Münster) Mertins, G. (Marburg) Mols, Manfred (Mainz) Neves, Clarissa Eckert Baeta (Porto Alegre) Pfeiffer, Dietmar K. (Joäo Pessoa) Pfister, Ulrich (Münster) Rauch, Heinz-Dieter (Thyssen Krupp Stahl AG, Duisburg) Rosenfeld, Ulrich (Münster) Schlüter, Heinz (Münster) Schulz, Ingo (Münster) Sobottka, Emil Albert (Porto Alegre) Sonntag, Heinz R. (Caracas) Strohmeier, Klaus Peter (Bochum) Strosetzki, Christoph (Münster) Thesing, Josef (St. Augustin) Vahl, Teodoro Rogirio (Florianöpolis)
Inhalt MARIA CHRISTINA SIQUEIRA DE SOUZA CAMPOS
Betreuung — Freundschaft — Zusammenarbeit: Erinnerungen an drei Jahrzehnte mit Achim Schräder ROLF ESCHENBURG, HEINZ HEINEBERG, ULRICH PFISTER UND CHRISTOPH STROSETZKI
Einleitung
Wirtschaft und Gesellschaft im Raum ANDREAS BROCKMANN
Wirtschaften im Zeichen der Federschlange HEINZ HEINEBERG
Verstädterung und Stadtentwicklung in Mexiko: Forschungsschwerpunkte aus geographischer Perspektive GERD KOHLHEPP UND MARKUS BLUMENSCHEIN
SUdbrasilianer als Akteure beim ländlichen Strukturwandel im brasilianischen Mittelwesten: Das Beispiel Mato Grosso HEINZ SCHLÜTER
Chiles ökologische Probleme: Herausforderungen für Staat und Gesellschaft ROLF ESCHENBURG
Wachstum und Entwicklung in Chile DIETMAR K . PFEIFFER
Das brasilianische Erziehungssystem im Zeitalter der Globalisierung
Politik und Staat MANFRED MOLS
Der Staat in vergleichender Perspektive: Regionalistische Forschung als Kurskorrektur politikwissenschaftlicher Fehlentwicklungen
2 JENS R. HENTSCHKE
Die Ursprünge der Ära Vargas: Rio Grande do Suis positivistische Entwicklungs- und Erziehungsdikatur
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Luis ALBERTO DE BONI A Igreja Católica do Brasil — 25 anos depois
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EMIL A. SOBOTTKA
Soziale Bewegungen und Bürgerstatus im heutigen Brasilien
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SABINE KURTENBACH
Zivilisierung von Konflikten oder Frieden geringer Reichweite: Friedensprozesse JOSEF THESING in Lateinamerika Demokratie in Guatemala
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Kulturelle Wechselbeziehungen zwischen Europa und Lateinamerika CHRISTOPH STROSETZKI
Von der Metaphysik- und Sprachkritik des Wiener Kreises zu Jorge Luis Borges und Emesto Säbato
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KARLKOHUT
Wert und Wertwandel als Konzepte der Literaturwissenschaft: Eine theoretische Betrachtung mit Ausblick auf die lateinamerikanische Literatur
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HORST GECKELER
Betrachtungen zu Rousseaus „La Découverte du Nouveau Monde"
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Kooperation ULRICH ROSENFELD
Stratigraphie und Fazies im Mesozoikum Argentiniens: Die Entwicklung einer Forschungskooperation
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3 MARIA CHRISTINA SIQUEIRA DE SOUZA CAMPOS UND JOAQUIM PEDRO VILLAÇA DE SOUZA CAMPOS
Technologietransfer in Brasilien: Wirklichkeit, Möglichkeiten und Beschränkungen
293
GERHARDJACOB
Kooperation in Wissenschaft und Technologie zwischen Entwicklungsund Industrieländern am Beispiel Brasilien
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GUSTAV DIECKHEUER UND CHRISTIAN LÜTKE WÖSTMANN
„Festung Mercosur"? Entwicklung und Auswirkungen der regionalen Integration im „Gemeinsamen Markt des Südens"
329
RICARDO LAGOS
Die Beziehungen zwischen der Europäischen Union und Mittelamerika (1984-1998)
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ULRICH PFISTER
Lernen aus Krisen: Peru und das internationale Umschuldungssystem, 1975-1978
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Betreuung - Freundschaft - Zusammenarbeit: Erinnerungen an drei Jahrzehnte mit Achim Schräder MARIA CHRISTINA SIQUEIRA DE SOUZA CAMPOS 1
Es ist schon lange her, daß ich Professor Dr. Achim Schräder kennengelernt habe. Es war im September 1971: An der Universität von Säo Paulo fand das vom Instituto de Estudos Brasileiros2 (IEB) veranstaltete I. Internationale Seminar für Brasilianische Studien statt. Professor Schräder gehörte zu der Gruppe der Gastprofessoren, die als Brasilianisten die vorgestellten Arbeiten kommentieren sollten. Seine Einladung ging auf eine Empfehlung von Frau Professorin Maria Isaura Pereira de Queiroz zurück, die in der Abteilung Sozialwissenschaften der Universität von Säo Paulo tätig war. Er hatte schon ein Jahr lang in Brasilien gelebt. Während dieser Zeit hatte er ein Forschungsprojekt über die Landschulen in Rio Grande do Sul durchgeführt. Als Folge der sowohl in deutscher als auch in portugiesischer Sprache erschienenen Publikation war er in Brasilien schon gut bekannt. Bei diesem Seminar war für jedes Gebiet der brasilianischen Studien ein brasilianischer Professor verantwortlich, der dann die verschiedenen Aspekte bzw. Unterbereiche dieses Gebietes unter seinen Mitarbeitern aufgeteilt hatte, damit sie eine Analyse dieses Aspektes bzw. Bereichs in den in Brasilien bisher veröffentlichten Werken durchführen konnten. Die Analyse der auf dem Gebiet der Soziologie veröffentlichten Werke übernahm Frau Professorin Maria Isaura Pereira de Queiroz. Als eine Mitarbeiterin von CERU — Centro de Estudos Rurais e Urbanos3 — bekam ich die Verantwortung für die Werke im Bereich der Bildungssoziologie. Bei der Vorstellung verschiedener, meinen Arbeitsbereich betreffenden Beiträge hatte Professor Schra1
Professor Dr. sc. pol., Dozentin an der Fakultät für Volkswirtschaft, Betriebswirtschaft und Rechnungswesen der Universität von Säo Paulo (USP) — Campus Ribeiräo Preto und Vorsitzende von CERU (s. Fußnote 3). 2 Institut für Brasilianische Studien. 3 Zentrum für Ländliche und Städtische Studien. Dieses Forschungszentrum wurde im April 1964 von einigen Dozenten der Universität von Säo Paulo gegründet — unter ihnen Maria Isaura Pereira de Queiroz; es hat das Ziel, Forschung auf dem Gebiet der Sozialwissenschaften zu treiben und zur Weiterbildung zukünftiger wissenschaftlicher Fachkräfte beizutragen.
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Maria Christina Siqueira de Souza Campos
der Anmerkungen gemacht und Anregungen gegeben, die ich dann während einer Pause mit ihm besprechen wollte. Das war der Anfang einer langen Bekanntschaft, aus der später Betreuung und Partnerschaft entstanden sind. Schon im folgenden Jahr besuchten mein Mann und ich Professor Schräder an der Universität Bielefeld, wo er uns zu einer neuen Lebens- und Arbeitserfahrung in Deutschland einlud: Ich könne bei ihm meine Dissertation schreiben, und mein Mann und die Kinder könnten andere Erfahrungen sammeln. Junge Leute sind für ihren Abenteuergeist bekannt. Wir haben diese Gelegenheit sofort wahrgenommen und an der Päpstlich Katholischen Universität von Säo Paulo (PUC) und an der staatlichen Universität von Säo Paulo (USP) alles arrangiert, um eine Zeit lang ins Ausland gehen zu können. In jenem Augenblick begannen wir zu erfahren, was Freundschaft und Hilfsbereitschaft in Deutschland bedeuten. Um unseren Aufenthalt in seinem Land zu erleichtern, besorgte uns Professor Schräder schon vor unserer Ankunft eine Wohnung für eine „kinderreiche Familie", die in Brasilien gar nicht so groß (drei Kinder), aber in Deutschland als solche angesehen wurde. Das erlaubte uns, in einer vom Sozialamt vermittelten Wohnung in einem neu gebauten Hochhaus zu wohnen, zudem war die Miete ziemlich günstig. Für die Wohnungsausstattung traf die in der Nachbarschaft liegende katholische Pfarrei durch Vermittlung und Empfehlung von Professor Schräder die notwendigen Vorkehrungen, so daß wir am Tag unserer Ankunft die Wohnung beziehen konnten. Ein schöner, gemieteter Fernseher stand im Wohnzimmer, und Frau Schräder hatte den Kühlschrank mit Proviant für das Wochenende gefüllt. So ausgestattet begann unser Abenteuer in Deutschland. Die Freundschaft zwischen unseren beiden Familien schloß auch die Kinder ein: Meine älteste Tochter, Ana Cristina, ging zusammen mit Professor Schräders erstem Sohn, Christopher, ins Gymnasium, meine dritte, Lucia, zusammen mit seinem zweiten, Dominik, der in Brasilien geboren und heute mit einer Brasilianerin, Claudia, verheiratet ist, in die Grundschule. Professor Schräder hat uns gegenüber viele unterschiedliche Rollen inne gehabt: An der Gesamthochschule-Universität Duisburg war er mein Betreuer, ich die Doktorandin. Ihm verdanke ich viele Hinweise auf Vorlesungen und Seminare, die in Anbetracht des Themas meiner Dissertation, nämlich die Lehrerausbildung in Brasilien, für mich wichtig waren. Auch auf Professoren und wissenschaftliche Mitarbeiter, mit denen ich über die Arbeit diskutieren könnte, hat er hingewiesen und Bücher empfohlen, deren Lektüre nicht nur für die Doktorarbeit, sondern auch für die Erweiterung und Vertiefung meiner soziologischen Kenntnisse unerläßlich war. Durch ihn lernte ich Frau Schneider kennen, die für das Auslandsamt dieser Hochschule verantwortlich war. Sie hat mir meine Aufgabe erleichtert, indem
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sie nicht nur die Sekretärin für das Tippen meiner Dissertation empfohlen, sondern auch Hinweise für ihren Druck gegeben hat. Durch die Vermittlung von Professor Schräder lernte ich Sigrid Sperling kennen, eine Lehrerin für deutsche Sprache und Erdkunde, mit der mein Mann und ich bald Freundschaft geschlossen haben. Ich brachte ihr Portugiesisch bei, und sie half uns, die Schwierigkeiten der deutschen Sprache allmählich zu überwinden. Andere, für uns sehr wichtige Kontakte haben wir zu jener Zeit auch durch die Vermittlung von Professor Schräder geknüpft, unter denen ich besonders die Bekanntschaft mit Clarissa und Abflio Baeta Neves, einem brasilianischen Ehepaar, herausheben möchte. Clarissa war ebenfalls Doktorandin bei Professor Schräder; die beiden kamen aus Rio Grande do Sul und führten ihre Promotion in Deutschland durch. Bis heute pflegen beide enge Kontakte zu Deutschland, Abflio ist heute Vorsitzender von CAPES — Coordenadoria de Aperfeigoamento do Pessoal de Nivel Superior4 —, was zur Vertiefung der Kontakte von brasilianischen zu deutschen Universitäten bedeutend beigetragen hat. Aus dieser Zeit stammen auch andere Bekanntschaften mit anderen Brasilianern, die in Deutschland ihre Doktorarbeit anfertigten bzw. eine „post-doc-Forschung" durchführten, alle durch Professor Schräder vermittelt: Theodora Rogerio do Vahl, Iria und Darcy Closs sowie Gerhard Jacob. Iria Closs und Rogerio do Vahl waren ebenfalls Doktoranden bei Schräder. Durch die wenigen — es fehlen viele andere — oben genannten Beispiele kann man sich vorstellen, wie intensiv sich Professor Schräder mit der wissenschaftlichen Aus- und Fortbildung von Brasilianern in Deutschland beschäftigt hat. Die brasilianischen Universitäten hatten zwar manche Programme auf dem Post-Graduierten Niveau, die Möglichkeit aber, in Deutschland den Titel eines Doktors zu erwerben, bedeutete nicht nur eine tiefer gehende Weiterbildung, sondern auch ein höheres Prestige, was einer wissenschaftlichen Karriere in Brasilien förderlich sein konnte. Professor Schräders unermüdliche Tätigkeit hat zweifelsohne einen Multiplikatoreffekt gehabt, da heute viele seiner ehemaligen Doktoranden wichtige Positionen im brasilianischen Hochschulwesen innehaben und Betreuer von vielen anderen sind. Durch das Vorbild von Professor Schräder habe ich gelernt, systematischer zu denken und zu arbeiten, anspruchsvoll zu sein, Eigenschaften, die ich dann in Brasilien von meinen Studenten auch zu verlangen wußte. Das ständige Hin und Her zwischen Deutschland und Brasilien verlangsamte allerdings beträchtlich die Fertigstellung der Dissertation, sollte aber auch der Arbeitsreife zum Vorteil gereichen. 4
Etwa: Koordiniemngsstelle für die Weiterbildung von Hochschuldozenten, ein Bestandteil des Bundesministeriums für das Bildungswesen.
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Maria Christina Siqueira de Souza Campos
Die Zusammenarbeit von Professor Schräder mit den vielen in Deutschland weitergebildeten Brasilianern hat zu verschiedenen gemeinsamen Veranstaltungen geführt. Ich kann hier nicht auf alle eingehen, aber einige müssen unbedingt erwähnt werden. Die erste, an die ich mich noch genau erinnern kann, war ein Intensivkurs, den er auf Einladung von CERU an der Fakultät für Philosophie, Sprachen und Wissenschaften der Universität von Säo Paulo durchgeführt hat. Das Thema war „Methoden der Sozialforschung", der Kurs dauerte einen Monat. Ein Ereignis in dieser Veranstaltung ging in die , .Folklore" unserer Fakultät ein: Der Kurs fand abends in einem improvisierten Gebäude dieser Fakultät statt, da das endgültige Gebäude noch im Bau war. Während des Unterrichts fiel plötzlich der Strom aus, und alles wurde ganz dunkel. Es ist nicht so häufig, daß das vorkommt, aber wenn es geschieht, wird der Unterricht sofort unterbrochen, man beginnt sich mit den anderen zu unterhalten, bis der Strom wieder fließt. Wenn der Stromausfall lange dauert, dann wird der Unterricht auf einen anderen Tag verschoben. An jenem Tag war der Dozent aber kein Brasilianer, sondern ein Deutscher. So hielt er keine Minute inne; man könnte schon sagen, ohne mit der Wimper zu zucken, setzte er seine Rede — ohne irgendeine Bemerkung über den Stromausfall — fort. Die anwesenden Studenten und Mitarbeiter von CERU konnten zwar nichts mehr notieren, nur zuhören, was Professor Schräder sich für diesen Abend über Sozialforschung zu erklären vorgenommen hatte. Sicher war die Lektion dieses Abends für alle Beteiligten ganz anders als vorgesehen, nämlich die Bedeutung der Beibehaltung geplanter Tätigkeiten und des Gleichmutes, sowie des Respekts vor den anderen. Die Studenten waren gleichzeitig überrascht und sehr beeindruckt. Die Zusammenarbeit setzten mein Mann und Professor Schräder auf einem ganz anderen Gebiet fort, dem Technologietransfer. Durch seine Vermittlung und Einladung kamen mein Mann und ich 1988 noch einmal nach Deutschland, diesmal mit der Unterstützung des Programmes DAAD-CNPq.5 Meine Tätigkeit bestand aus einer Studie Uber die Bildungsverwaltung in Nordrhein-Westfalen und diejenige meines Mannes in der Analyse der Art und Weise, wie der Technologietransfer an manchen deutschen Universitäten durchgefühlt wurde. Der damalige Ministerialdirigent im Ministerium für Wissenschaft und Technologie des Bundeslandes Nordrhein-Westfalen, Dr. Willi Becker, hatte die Kontakte zu verschiedenen Universitäten erleichtert, die dann besucht wurden und in denen viele anregende Gespräche stattfanden. Dieses Projekt führte wiederum zu einer erweiterten Veranstaltung, die im Jahre 1990 in Säo Paulo stattfand: ein internationales Seminar über Technologietransfer, das gemeinsam von der Päpstlich 5 CNPq: früher Nationaler Rat für Forschung, heute: Nationaler Rat für die Wissenschaftliche und Technologische Entwicklung.
Betreuung — Freundschaft — Zusammenarbeit
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Katholischen Universität von Säo Paulo und dem Lateinamerika-Zentrum — CeLA — der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster geplant und durchgeführt wurde. Professor Schräder war der Leiter der deutschen Delegation, die Dr. Bauhus, den Leiter der AFO (Arbeitsstelle Forschungstransfer Münster), Dr. Anderbrügge, den jetzigen Kanzler der Universität Münster, Dr. Kurt Seelmann, den Leiter der Abteilung für Technologie- und Forschungstransfer des Landesministeriums für Wissenschaft und Technologie in Nordrhein-Westfalen, und die Professoren Dirk Ehlers und Heinrich Dömer einschloß. Leider war die politische Lage in Brasilien für die Durchfuhrung eines solchen Seminars ungünstig, und die Resultate waren nicht die vorgesehenen. Aber die Idee hat sich als fruchtbar erwiesen: Zur Zeit führt die AFO der Universität Münster mit dem CeLA zusammen mit europäischen und lateinamerikanischen Universitäten ein interessantes Technologietransfer-Projekt durch, das in der Zukunft sicher einen großen Beitrag zur Entwicklung dieser Regionen leisten wird. Viele Veröffentlichungen von Professor Schräder befassen sich mit lateinamerikanischen Fragen und Themen, von denen die folgenden hervorzuheben sind: Soziologische Aspekte der Primarschule in Südbrasilien: zur Interpretation von Schulvermeidung und Schulflucht bei ausreichender Versorgung mit Schulgebäuden und Lehrkräften (1968); Städtische und ländliche Akkulturationserfolge deutschstämmiger Einwanderer in Südbrasilien (1970); Bildungspolitik in Brasilien 1961 und 1971 (1973); Vom „Liberalismus" zur „Entwicklungsbürokratie" (1973); Bevölkerungsentwicklung, Bevölkerungswandening und Urbanisierung in Lateinamerika (Hrsg. unter Mitarbeit von Heinz Schlüter, 1984); Educadores — Companhia Limitada (1985) (erweiterte Fassung in: Kohut, Karl: Palavra e Poder: os Intelectuais nos Processos Políticos da América Latina, 1991); Educa?äo e cultura rurais no Rio Grande do Sul (1989); Bildungspolitik in Brasilien: Geschichte und Kulturen (1991). Die genannten Werke kennzeichnen die Richtung seiner ersten Arbeiten in Brasilien, nämlich die Analyse des brasilianischen Bildungswesens und der deutschen Migration nach Lateinamerika. In diesen beiden Forschungsfeldern beschritt Schräder neue methodologische Wege und gelangte dadurch zu wesentlichen neuen Erkenntnissen. Sein Werk übte in der Folge auf brasilianische Wissenschaftler einen erheblichen Einfluß aus und prägte maßgeblich die weitere Forschung in den genannten Gebieten. Schräders Begeisterung für die empirische Sozialforschung einerseits und für Lateinamerika andererseits verdanken wir die vielen Publikationen über diese so große und heterogene Region und besonders Uber Brasilien. Ihre Themen betreffen im wesentlichen die unterschiedlichen Probleme des brasilianischen Bildungswesens, aber auch Juden in Lateinamerika, die Immigration von Deutschen nach Südbrasilien und soziale, wirtschaftliche und ökologische Probleme
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Mana Christina Siqueira de Souza Campos
Lateinamerikas. Dazu muß man ergänzen, daß die portugiesische Übersetzung seines Buches „Einführung in die empirische Sozialforschung" (erste Auflage in Deutschland 1971) sehr viel Widerhall in Brasilien gefunden hat. Jetzt wird eine neue, erweiterte Auflage vorbereitet. Seine vielfältigen Tätigkeiten in bezug auf Lateinamerika haben ihn 1980 zur Gründung und Leitung der Forschungsgruppe Lateinamerika — FGLA, zuerst in der Pädagogischen Hochschule Münster, die dann in die Westfälische Wilhelms-Universität Münster integriert wurde, bewegt. Diese Forschungsgruppe veröffentlichte eine Serie sozialwissenschaftlicher Studien mit fünfzehn Bänden (von 1978 bis 1985), auf die dann eine andere Reihe mit sechs Bänden (von 1986 bis 1989) folgte. Im Jahre 1987 koordinierte Professor Schräder mit der nachhaltigen Unterstützung des Rektorates der Universität Münster einen großen Kongreß, an dem sich Europäer und Lateinamerikaner aus unterschiedlichen Gebieten der Wissenschaften und aus dem Bereich der Kirchen und Wirtschaft sowie der Medien und der Politik aktiv beteiligten. Das Ziel dieses Kongresses war, eine Brücke für den Dialog zwischen Europa und Lateinamerika zu bauen, so daß sich das wechselseitige Verständnis erhöhen und sich die Beziehungen zueinander vertiefen konnten. Dieser Kongreß umfaßte einerseits ein der Öffentlichkeit zugewandtes Programm und andererseits neun Werkstätten, die sich mit den Bereichen Theologie, Recht, Wirtschaftswissenschaft, Kooperation, Politikwissenschaft, Verwaltung, Migration, Philosophie und Didaktik der Geographie beschäftigten. Das Hauptthema der Werkstatt Migration lautete „Europäische Juden in Lateinamerika", und Professor Schräder hat sehr intensiv daran teilgenommen. Außer der Koordination dieser Werkstatt hielt er ein Referat („Spurlos verschwunden? Die Bundesrepublik Deutschland und die deutschjüdischen Auswanderer in Lateinamerika") und übernahm die Sitzungsleitung zweier öffentlicher Vorträge sowie den Schlußbericht der Werkstatt. Diese und andere durch Professor Schräder maßgeblich geprägten Tagungen zeigten, daß die Münsteraner Lateinamerikanistik sowie die vielfältige wissenschaftliche Zusammenarbeit mit Lateinamerika eine verstärkte Institutionalisierung lohnte. Mit der zunehmenden Einsicht, daß eine so große deutsche Universität ihre umfangreichen und vielfaltigen Beziehungen mit Lateinamerika nicht unkoordiniert sich selbst überlassen sollte, ist es dank der hartnäckigen Anstrengungen von Achim Schräder gelungen, die Lateinamerika-Aktivitäten in einem eigenständigen Zentrum, dem 1989 gegründeten Centro Latinoamericano (CeLA) zusammenzufassen. Unter Schräders erfahrener Leitung entwickelte sich das CeLA seither zu einer maßgeblichen Institution für die Koordination der Lateinamerikanistik in Forschung und Lehre innerhalb der Universität Münster. Durch die Bündelung der Kräfte konnte das CeLA überdies eine erheblich
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verstärkte Außenwirkung entfalten: Hervorzuheben sind die regelmäßigen Tagungen, die verschiedenen vom CeLA betreuten bzw. herausgegebenen Reihen — die Serie Regionalwissenschaft Lateinamerikas, die Arbeitshefte, die Noticias und seit kurzem auch das Anuario — sowie schließlich die maßgeblich von Mitarbeitern des CeLA gestalteten Ausstellungen. Auch in einem weiteren Rahmen hat Professor Schräder fiir die Lateinamerikanistik verdienstvoll gewirkt. Als Direktor der Forschungsgruppe Lateinamerika übernahm er zweimal die Leitung der ADLAF — Arbeitsgemeinschaft Deutsche Lateinamerika-Forschung (1982-1984/1984-1986). Dazu kam die Mitgliedschaft im Europäischen Rat für Sozialforschung über Lateinamerika (CEISAL, zeitweilig Mitglied des Vorstands). Achim Schräders Entbindung von seinen Hochschulpflichten wird einen schwerwiegenden Verlust sowohl für das Lateinamerika-Zentrum als auch für die brasilianischen Universitäten darstellen, denn er hat sich dem Zentrum sowie der Forschungskooperation mit Leib und Seele gewidmet, und das Resultat läßt sich deutlich an den vielen mit lateinamerikanischen Universitäten und Forschungseinrichtungen geschlossenen Abkommen der Westfälischen WilhelmsUniversität Münster ablesen. Wir können nur hoffen, daß er sich mit seinen Forschungsprojekten, Gastdozenturen, Gutachtertätigkeiten in den verschiedenen lateinamerikanischen Ländern noch viele Jahre weiter beschäftigt, um dort nicht so viele Waisenkinder zu hinterlassen. Aber vielleicht wird er in Zukunft sogar mehr Zeit für uns finden. Münster, im Frühjahr 1999.
Einleitung ROLF ESCHENBURG, HEINZ HEINEBERG, ULRICH PFISTER UND CHRISTOPH STROSETZKI
Mit der vorliegenden Festschrift zum 65. Geburtstag von Professor Dr. Achim Schräder möchten Herausgeber, Autorinnen und Autoren die Leistungen des Jubilars für die Entwicklung der Lateinamerikanistik an der Universität Münster und in Deutschland insgesamt sowie für den Aufbau der Forschungskooperation mit Lateinamerika würdigen. Entsprechend waren die Herausgeber bestrebt, Beiträge von akademischen Kollegen Achim Schräders, die sich im Bereich der Lateinamerikanistik engagieren, von Schülern und Mitarbeitern, von langjährigen Bekannten aus dem Bereich der Forschungskooperation mit Lateinamerika sowie von Münsteraner Mitgliedern des von Schräder seit nunmehr zehn Jahren geleiteten Centro Latinoamericano anzuregen. Im nun publizierten Sammelband ist — in getreuer Widerspiegelung der vielfaltigen Beziehungsnetze des Jubilars — eine Reihe von akademischen Disziplinen von der Soziologie und der Politikwissenschaft über die Romanistik und die Geographie bis zu den Wirtschaftswissenschaften vertreten, und auch die Praxis der Entwicklungs- und Forschungszusammenarbeit kommt ausführlich zu Wort. Den langjährigen besonderen Brasilienerfahrungen und -interessen Achim Schräders entspricht der Band mit einer gewissen inhaltlichen Schwerpunktbildung auf Brasilien sowie einer starken Vertretung brasilianischer Autoren. Darüber hinaus orientieren sich die Beiträge an wichtigen Fragen der Lateinamerika-Forschung sowie der Beziehungen zwischen Europa und Lateinamerika. Eine für die Entfaltung einer jeden Regionalwissenschaft zentrale Kategorie stellt zweifellos der Raum dar. In ihm vollzieht sich das Wechselspiel zwischen menschlicher Kultur im weitesten Sinn und naturräumlichem Habitat in einem historischen Prozeß. Aus ethnohistorischer Perspektive zeigt dies Brockmann für den mesoamerikanischen Raum im 9.-12. Jahrhundert. Schlaglichter auf aktuelle raumbezogene Fragen werfen der stadtgeographische Beitrag von Heineberg sowie die Analyse des Zusammenhangs zwischen landwirtschaftlichem Nutzungssystem und Migration von Kohlhepp und Blumenschein. Die Problematisierung des Verhältnisses zum naturäumlichen Habitat durch moderne politische Systeme auch in Lateinamerika ist Gegenstand der Untersuchung zur chilenischen Umweltpolitik von Schlüter. An sie schließen zwei regionalwissenschaftliche Arbeiten im weiteren Sinn an, nämlich die Erörterung der durch
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R. Eschenburg, H. Heineberg, U. Pfister und C. Strosetzki
institutionelle Faktoren gegebenen Wachstumspotentiale und -grenzen in Chile von Eschenburg sowie die einen Schwerpunkt von Schräders Forschungstätigkeit aufnehmende Analyse des brasilianischen Bildungssystems im Lichte eines sich verändernden wirtschaftlichen Umfelds durch Pfeiffer. Die letzteren Beiträge verweisen auf die Relevanz von Staat und Politik im lateinamerikanischen Kontext, und der zweite Teil der vorliegenden Aufsatzsammlung widmet sich entsprechend Themen aus der politischen Soziologie. Mols reflektiert über den Ertrag regionalwissenschaftlicher Studien für die Gesamtdisziplin der politischen Wissenschaft, und Hentschke geht den in Südbrasilien zu suchenden historischen Wurzeln des Regimes von Vargas, das in Brasilien bis heute nachwirkt und in Lateinamerika über eine breite Ausstrahlung verfügte, nach. Gleich vier Beiträge widmen sich einer neueren Tendenz in den nationalen politischen Systemen Lateinamerikas, die man als Entfaltung der Zivilgesellschaft bezeichnen kann. In der politischen Soziologie markiert dies eine gewisse Abkehr von der früher dominierenden staats- und regimebezogenen Perspektive. De Boni und Sobottka analysieren konkrete Kräfte, nämlich die Kirche bzw. die jüngeren Bürgerbewegungen und Nicht-Regierungsorganisationen. Kurtenbach und Thesing untersuchen mit unterschiedlichem Zugriff, aber beide mit besonderem Blick auf Bürger- und Menschenrechte, den Vorgang der Demokratisierung und seine Folgewirkungen in Zentralamerika. Die weiteren Beiträge zur vorliegenden Sammlung widmen sich der Kommunikation bzw. Kooperation zwischen Organisationen, Staaten und Kulturen. Die Voraussetzung jeglicher Kommunikation besteht in der Ausbildung einer gemeinsamen themenbezogenen Sprache und von gemeinsamen Werten sowie in der Fähigkeit zur Formulierung gegenseitiger Rollenbilder. Schlaglichter auf diese intellektuellen Grundlagen der Beziehungen zwischen Lateinamerika und Europa werfen drei kulturwissenschaftliche Beiträge: Strosetzki untersucht die Verarbeitung der im Gefolge von Wittgenstein und des Wiener Kreises aufkommenden philosophischen Sprachkritik durch lateinamerikanische Denker. Kohut präsentiert das Paradigma des Wertewandels und schließt mit Überlegungen dazu, wie dieser in der lateinamerikanischen Literatur nachgezeichnet werden könnte. Europäische Stereotypen des indigenen Amerika werden schließlich von Geckeier anhand eines frühen Theaterstücks Rousseaus beleuchtet. Kooperation im engeren Sinn wird aus zwei Perspektiven thematisiert. Zum einen geht es um Kooperation zwischen akademischen Institutionen bzw. zwischen solchen und ihrem Umfeld. Rosenfeld behandelt zunächst einen konkreten Fall langjähriger erfolgreicher Kooperation auf dem Gebiet der Geologie. Souza Campos und Souza Campos berichten über ihre langjährige vergleichende Erforschung des Wissenstransfers zwischen Universitäten und möglichen Anwendern in Deutschland und Brasilien, während Jacob auf der Makroebene
Einleitung
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die Rolle des kooperativen Technologietransfers im Entwicklungsprozeß erörtert. Zum anderen behandeln die letzten drei Beiträge des Bandes unterschiedliche Aspekte transnationaler Kooperation im Wirtschaftssektor. Dieckheuer und Lütke Wöstmann diskutieren beobachtbare und mögliche zukünftige Effekte des Mercosur, des bislang wichtigsten und erfolgreichsten Projekts zur Bildung eines transnationalen Wirtschaftsraums in der Dritten Welt. Der Beitrag von Lagos ist den wirtschaftlichen und politischen Beziehungen der EU zu Mittelamerika gewidmet. Pfister erörtert schließlich anhand eines Fallbeispiels die paradoxe Rolle, die wiederholte Zahlungskrisen lateinamerikanischer Länder für die Herausbildung stabiler internationaler Regime gespielt haben. Die Herausgeber, die auch im Namen der übrigen Beitragenden zu sprechen hoffen, wünschen sich diese Aufsatzsammlung als ein Zeichen der hohen Wertschätzung, die Achim Schräder als Forscherpersönlichkeit und als Organisator sowohl in der Lateinamerikanistik als auch in den mit der Kooperation zwischen Lateinamerika und Europa befaßten Kreisen genießt. Mit den besten Wünschen zum 65. Geburtstag und zur Emeritierung verbinden sie die Dankbarkeit für die geleistete Arbeit und die Hoffnung auch zukünftiger Verbundenheit.
Wirtschaft und Gesellschaft im Raum
Wirtschaften im Zeichen der Federschlange ANDREAS BROCKMANN
Der rapide zunehmende Kenntnisstand über die frühen Kulturen Mesoamerikas legitimiert nicht nur eine zusammenfassende Darstellung des Wirtschaftens in einer weit zurückliegenden Zeit, sondern erfordert auch neue Strukturierungen der gesamten Kulturgeschichte dieses Raums. Der Begriff Mesoamerika geht auf den Altamerikanisten Paul Kirchhoff (1943) zurück und umfaßt das Verbreitungsgebiet der mittelamerikanischen Hochkulturen. Diese zeichnen sich durch bestimmte Gemeinsamkeiten aus, in deren Mittelpunkt zunächst komplexe Gesellschaften auf der ökonomischen Basis des Bodenbaus stehen, die in Ausnahmefällen Staaten gebildet haben. Städte und Zeremonialzentren mit aufwendiger Architektur, ein hohes kunsthandwerkliches Niveau, ein entwikkeltes Kalenderwesen und zum Teil auch die Verwendung einer Schrift stellen weitere Merkmale dar. Diese Merkmalskombination konzentriert sich auf einen bestimmten Raum. „Seine Nordgrenze verläuft von der Mündung des Rio Sinaloa in den Pazifischen Ozean zur Mündung des Río Pánuco in den Golf von Mexiko. Die Südgrenze ist durch den Rio Jiboa in El Salvador und den Rio Ulua in Honduras gekennzeichnet" (Haberland 1991: 128). Es handelt sich aber hierbei nicht um rein geographisch fixierte Grenzen, sondern um Markierungen, die von den spezifischen Ausdehnungen der Einflußsphären der unterschiedlichen mesoamerikanischen Hochkulturen gesetzt wurden.1 Die Federschlange, das Charakteristikum Mesoamerikas, wird in neuerer Zeit ebenfalls für die Kennzeichnung eines kulturellen Horizontes verwendet, der in etwa den Zeitraum von 800-1150 n. Chr. umfaßt. Früher unterschied man mehrere typologische Perioden, die wiederum mehrere Phasen enthielten. Die gängigste Einteilung trennte so zwischen Präklassikum, Klassikum und Postklassikum. Daneben waren noch andere Bezeichnungen wie formative oder archaische Periode für das Präklassikum gebräuchlich. Die einzelnen Abschnitte dieser Dreigliederung wurden wiederum in drei Phasen wie frühes, mittleres und spätes Klassikum unterteilt, so daß man am Ende neun aufeinander folgende, unterschiedlich lange Epochen betrachtete. Dieses Modell entspricht aber in vieler Hinsicht nicht mehr den Anforderungen der Altamerikanistik und sollte 1
Die Grenzen dieses Areals wurden relativ häufig verschoben, teilweise aber auch nur für bestimmte Zeiträume festgelegt.
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Andreas Brockmann
möglichst bald durch ein Modell ersetzt werden, das sich im andinen Bereich bereits bewährt hat und Kulturhorizonte und sogenannte Zwischenperioden ohne spürbare Dominanz einer Kultur in den Vordergrund der Betrachtung nickt. .Ausgeprägte Horizonte im Sinne weitgehender kultureller Gleichförmigkeit hat es nur in drei Abschnitten der mesoamerikanischen Kulturgeschichte gegeben. Der erste bildete sich während der Olmekenzeit, der zweite im Klassikum in der Zeitspanne der Ausstrahlungskraft Teotihuacäns und der dritte im Anschluß an das Klassikum während des Höhenflugs der Federschlangen und des mit ihnen assoziierten Gottes. Außerdem gab es einen Ansatz zur Bildung eines Horizontes durch die Azteken und ihre Verbündeten im Dreierbund während der letzten etwa dreißig Jahre vor der Conquista" (Köhler 1990: 18). Diese Betrachtungsweise stellt erstmalig den gesamten Kulturraum in den Mittelpunkt und bietet erst im folgenden eine Auseinandersetzung mit einzelnen Unterregionen wie z. B. dem zentralmexikanischen Becken oder dem MayaTiefland an. Die Schwächen des alten Modells, das zu viel Spielraum für die Betrachtung von Einzelkulturen lieferte, lagen unter anderem in der Mißachtung der Bedeutung von Interaktionen innerhalb des gesamten Areals. Man tendierte z. B. dazu, den sogenannten Untergang der klassischen Maya als inneren Zerfall zu betrachten und äußere Einflüsse nicht in Erwägung zu ziehen. Gerade im Zeitalter der Federschlange dürften die Grenzen Mesoamerikas sehr durchlässig gewesen sein. Politisch zersplittert in kleine bis kleinste Stadtstaaten, noch gezeichnet vom Untergang der Maya im Tiefland und lediglich vereint durch den gemeinsamen Glauben an die zum dominierenden Numen aufsteigende Federschlange, war dies ein Zeitraum der Umbrüche und der Erneuerung. Städte im Wandel Nicht wenige Städte überdauerten den Niedergang der Tiefland-Maya. Morley (1956), der wohl die erste Synthese der Geschichte der Maya vorlegte, die auf archäologischem Material basierte, unterschied noch zwischen .Altem und Neuem Reich der Maya', die zeitlich durch Klassikum und Postklassikum und räumlich durch Süd und Nord getrennt waren. Neuere Ansichten bringen die politische Destabilisierung des südlichen Tieflandes und die Dezentralisierung der Bevölkerung in Zusammenhang mit einer evtl. Abwanderung der Maya nach Norden im Anschluß an den Kollaps des Klassikums (Pendergast 1990: 169f). So müssen wir heute nicht nur nach einer Erklärung für das Ende der Zentren im Maya-Tiefland suchen, sondern auch zeigen, warum Städte wie z. B. das im heutigen Belize gelegene Lamanai nicht vom allgemeinen Untergang betroffen
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waren. Seit mindestens zwei Jahrzehnten ist bekannt, daß zahlreiche Orte des Tieflandes auch nach dem Niedergang der anderen Städte noch eine beträchtliche Zahl an Einwohnern hatten. So wurden z. B. in Altun Ha mindestens ein Zeremonial- und ein Verwaltungszentrum erst zwischen 850 und 875 n. Chr. vollendet. Da auch Bauvorhaben in benachbarten Orten weitergeführt wurden, sieht es so aus, als sei das karge Leben in den Ruinen der vermeintlich untergegangenen Maya — wie in früheren Studien postuliert — doch nicht so entbehrungsreich und perspektivlos gewesen. Erst gegen 1.100 n. Chr. wurde dann Altun Ha, wie andere Städte vorher, vollständig verlassen (Pendergast 1990: 171). Die Grabungen aus Lamanai zeigen noch ein anderes Bild für den Übergang in die neue Epoche. Am Ende des Niedergangs der zentralen Bezirke des Tieflandes, als andere Städte starken Veränderungen in ihrer Sozialstruktur unterworfen waren, zeigten sich keine Belege für einen auch nur annähernd vergleichbaren Wandel. Im späten 9. und frühen 10. Jahrhundert, als jeder Bewohner von Lamanai hatte feststellen können, daß die Nachbarstädte sich politisch desintegrierten und zum größten Teil verlassen wurden, begann man dort das Zentrum vollständig zu renovieren. Diese baulichen Anstrengungen spiegelten das Vertrauen, das die Bevölkerung von Lamanai in seine Zukunft hatte (ebd. 171f). Für die weitere Entwicklung des Kulturraums scheinen die befruchtenden Impulse vom zentralen Hochland Mexikos ausgegangen zu sein. Großflächig angelegte archäologische Erschließungen der Stadt Tollan, die von einem nordamerikanischen Team unter Leitung von Diehl (1974) und einem mexikanischen unter Leitung von Matos Moctezuma (1974, 1976) durchgeführt wurden, ergaben, daß sich Tollan zur Zeit seiner größten Ausdehnung über ca. elf Quadratkilometer erstreckte und ungefähr 60.000 Einwohner hatte. Frühe Gebäude wurden schon zur Zeit der Blüte von Teotihuacän errichtet, das ca. 75 Kilometer südöstlich liegt. Erst lange nach dem Untergang der Metropole Teotihuacän wurde in Tula mit der Errichtung des großen Zeremonialzentrums begonnen, dessen Bau um das Jahr 1.000 abgeschlossen gewesen sein dürfte. Diese baulichen Aktivitäten, die auf eine Blüte der Stadt hinweisen, werden hauptsächlich durch einen wirtschaftlichen Aufschwung erklärt, der in der verkehrsgünstigen Lage der Stadt und in der Kontrolle über den zentralmexikanischen Obsidianhandel begründet sein könnte. Mit der Ausbeutung der Obsidianminen von Pachuca trat Tula in wirtschaftlicher Hinsicht die Nachfolge von Teotihuacän an. Angeblich soll die Hälfte der Bevölkerung direkt von der Obsidianverarbeitung gelebt haben (Haberland/Prem 1986: 88). Die Stadt war von ihrem Entwurf her nicht so streng gegliedert wie etwa Teotihuacän und wies in diesem Sinne keine rechteckigen Viertel auf. Die Wohnhäuser waren einstöckig und
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trugen wahrscheinlich Flachdächer. Es ist anzunehmen, daß die Obsidianverarbeitung durch die Kunsthandwerker in diesen oder ähnlichen Gebäuden stattfand. Aus der Synthese historischer und archäologischer Quellen nimmt man heute an, daß Chichen Itzâ zunächst eine Gründung der Maya war. Völker, die am Westrand des Gebietes der Tiefland-Maya siedelten, beeinflußten wahrscheinlich über zunächst rein wirtschaftliche Kontakte die Gründungsbevölkerung. Diese westlichen Ethnien waren nach Zentralmexiko orientiert und sprachen auch Nahuat, die Sprache, aus der sich später dann u. a. das Aztekische entwikkelte. Historische Quellen reichen bis in diese Zeiten zurück und berichten von der Ankunft der Itzâ und deren Übernahme der Stadt um ca. 990 n. Chr. Zur gleichen Zeit aber verließ Quetzalcoatl seinen Thron in Tollan und wanderte gen Osten. Da nicht alle Mythen seine Verbrennung an der Küste Tabascos bestätigen,2 sondern einige auch von einer Fortsetzung der Reise ins Land der Maya berichten, hält man es für nicht unwahrscheinlich, daß Quetzalcoatl seine Gefolgsleute nach Chichen Itzâ führte. Erhärtet wird diese These durch die Person des Anführers der Itzâ, namens Kukulkan, was übersetzt gefiederte Schlange bzw. Quetzalcoatl bedeutet. Somit unterstreichen die historischen Quellen einen oberflächlichen archäologischen Befund, der Chichen Itzâ aufgrund verschiedenster architektonischer Merkmale als „Neu-Tollan" erscheinen läßt. Nur über diese so augenscheinliche Zusammengehörigkeit von Tollan und Chichen Itzâ3 ist es zu erklären, daß dort bisher kaum archäologische Grabungen durchgeführt worden sind. Erst der Vergleich von Radiocarbondaten beider Städte ließ ernste Zweifel an der Chronologie der historischen Daten aufkommen. „Die Radiocarbondaten aus dem Wohngebiet von Tula liegen um das Jahr 900, die für Chichen Itzâ, allerdings schon vor längerer Zeit gemessen und vielleicht weniger genau, häufen sich für .toltekische' Bauten um das Jahr 800, für die ,toltekischen' Opfergaben in der nahe gelegenen Höhle von Balancanché rund hundert Jahre später — alles zu einer Zeit, als Tula in Hochblüte stand und der fromme Quetzalcoatl noch keinen Anlaß hatte, die Stätte zu fliehen" (Haberland/Prem 1986: 97,100). 2 Da die Figur des Quetzalcoatl alle positiven Werte des legendären Tollan, identisch mit dem archäologischen Tula, in sich trägt, taucht sie natürlich ständig in den mesoamerikanischen Annalen auf. Sogar die Spanier bedienten sich noch im ausgehenden 17. Jahrhundert ihrer Popularität, indem sie Quetzalcoatl mit dem Apostel Thomas gleichsetzten und somit glaubten, das verlorene Volk von Israel in Amerika entdeckt zu haben (Brockmann 1995: 86f). 3 Erkannt wurde dieser Zusammenhang bereits in der Mitte des letzten Jahrhunderts von dem Forscher Désiré Charnay.
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Die beiden Metropolen Tollan und Chichen Itzá stellen im Zeitalter der Federschlange die bedeutendsten Zentren dar. Ihre wechselseitigen Verflechtungen, vor allem der Einfluß der Tiefland-Maya auf die neuen Impulse dieser Epoche ist noch weitgehend ungeklärt. Am Beispiel der Wandmalereien des Ortes Cacaxtla, im zentralmexikanischen Hochland gelegen, wird deutlich, daß es sich um mesoamerikanische Impulse — ein Zusammenwirken von zentralem Hochland und Maya-Tiefland — gehandelt haben muß, die den Federschlangenhorizont einleiteten. Städtische
Eliten und
Spezialisten
Leider lassen die historischen Quellen kaum Rückschlüsse auf die Stadtbevölkerung der damaligen Zeit zu. Bekannt ist lediglich, daß diese aus einem adeligen Herrscherhaus, das die Verwaltungseliten stellte, einem Segment spezialisierter Handwerker und Dienstleister und einer wohl 90% der Bevölkerung umfassenden Schicht von Nahrungsmittelproduzenten bestand. Aufgrund der schwachen Quellenlage, die sich fast ausschließlich auf archäologische Befunde stützt, sind alle diese Aussagen sehr vorsichtig zu formulieren. Die Betrachtung der städtischen Bevölkerung ist im weiteren gekoppelt an die durch den Untergang der Tiefland-Maya eingeleiteten Umbrüche. Als weit verbreitete Meinung gilt, daß die städtischen Eliten die gesellschaftlichen Gefüge durch sich ständig ausweitende Forderungen aus dem Gleichgewicht brachten und so entscheidend zu ihrem eigenen Untergang beitrugen. Die scheinbar enormen Anstrengungen, die zum Aufbau der großen Pyramiden wie z. B. in Tikal oder Copán nötig waren, wurden von Generationen von Archäologen als Ausbeutung der Bevölkerung durch die adeligen Bauherren gedeutet. Die ständige Verfügbarkeit von Luxusgütern — ebenfalls eine angenommene permanente Forderung der Herrscherhäuser — ließ sich nur durch eine landwirtschaftliche Überproduktion mit dem Ziel der Erwirtschaftung von Überschüssen realisieren, mit denen wiederum andere Güter erworben werden konnten. Dies aber führte zu sozialen Spannungen und zu ökologischen Problemen, die in Revolten mündeten und den Untergang der Maya im zentralen Tiefland einleiteten (Webster 1985: 375). Ein solch bipolares Gesellschaftsmodell vertrat maßgeblich J. E. S. Thompson (1954, 1970).4 Diese einfache Revolutionshypothese wurde dann in den 70er Jahren mehrheitlich abgelehnt und durch etwas komplexere Modelle ersetzt, die den fordernden Druck der Eliten auf die Bevölkerung differenzierter 4
Eine Übersicht über die begeisterte Aufnahme dieser These findet sich bei Hamblin/ Pitcher (1980).
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betrachteten. Allerdings fehlten noch detaillierte, systematische Untersuchungen, die diese Thesen stützen und deren Popularität rechtfertigen könnten. Diese Annahmen sind alle eng verwoben mit der Vorstellung von der sozioökonomischen und politischen Struktur der Maya-Gesellschaft und daher sollte in diesem Bereich die bisher eher strukturelle Argumentation durch quantitative Studien geprüft werden. Während die meisten Mayaforscher heute Thompsons These, daß die Errichtung großer Monumente ein selbstloser Akt der Hingabe an eine gutwillige theokratische Elite war, ablehnen (1954: 264), stimmen doch fast alle mit ihm darin überein, daß das Ende der klassischen Maya in ständig wachsenden Forderungen der Elite in Form von Dienstleistungen und der Produktion von Nahrungsmitteln begründet gewesen sei (Thompson 1994: 87). Als gesicherte Grundlage für diese Annahme gilt, daß ein produktives agrarisches System den elitären Überbau der Gesellschaft stützte und daß die Aktivitäten der Eliten mit der Zeit zunahmen. Es gilt also, diesen Anstieg der Aktivitäten vor einem Hintergrund der Machbarkeit zu prüfen. Für dieses Unterfangen ging Webster von einer Struktur der Bevölkerung aus, die zu 90% agrarisch ausgerichtet war (Thompson 1985: 385). Das „royal/elite/bureaucratic segment" — der hauptsächlich konsumptiv orientierte Teil — wurde mit einer Größe von 5% veranschlagt, obwohl einiges dafür spricht, daß es nur 1-2% der Bevölkerung ausmachte (Webster 1985). Die noch verbleibenden 5% waren für die spezialisierten Kunsthandwerker reserviert, bei denen die eigentliche Analyse ansetzte. Denn zu speziellen Bereichen dieser Handwerker lassen sich rekonstruktiv quantitative Aussagen treffen, die von archäologischen Befunden abgeleitet werden können. Am Beispiel von Copän wurde dies für das Obsidianhandwerk, die me/afehersteller5 und Steinmetze im Bereich der Skulptur- und Gebäudeerrichtung versucht.6 Ausgehend von einer Bevölkerung von 12.000-17.000 Personen ergab die Analyse der Obsidianverarbeitung, daß der gesamte Bedarf an diesem weiterverarbeiteten Rohstoff von vier Vollzeitkräften gedeckt werden konnte. Ungefähr sechs Spezialisten in der Herstellung von metates hätten ausgereicht, um diese östlichste Mayametropole zu versorgen. Die kunsthandwerkliche Ausgestaltung der Monumentalbauwerke zeigt ein ähnliches Bild. Selbst zu Zeiten
5 Metates sind Reibsteine für Mais. Die von Webster 1985 publizierten Daten beruhen auf Dissertationen seiner Mitarbeiter an der Pennsylvania State University, die von mir nicht speziell konsultiert wurden. John K. Malory m (1984) arbeitete zu Obsidian, Mary Spink (1983) zu metates und Eliot M. Abrains (1984) zu Kunsthandwerkern im Baubereich.
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intensiver Bauaktivitäten wäre man mit zehn bis zwölf Spezialisten ausgekommen (Webster 1985: 386f). Aufgrund dieser Zahlen und der Berücksichtigung weiterer Handwerkszweige kann man davon ausgehen, daß nur 5% der Bevölkerung als Vollzeitspezialisten tätig waren (Webster 1985: 387). Diese waren ohne Mühe in der Lage, sämtliche Bedarfe in diesen Bereichen abzudecken, auch die Wünsche der Eliten nach Luxusgütern. Daraus ergibt sich zwangsläufig, daß eine weitere Hypothese zur Erklärung des Untergangs dieser Epoche, die mittlerweile weit verbreitet und sehr detailliert ausgearbeitet war, in ihren Grundfesten erschüttert und wohl nicht mehr haltbar ist. Agrarische Grundlagen Für rund 90% der Bevölkerung stellte die Landwirtschaft die Grundlage ihrer wirtschaftlichen Aktivitäten dar. Die verbreitetste extensive Anbaumethode der Tropen war und ist der Schwendtbau, der allerdings wegen seines relativ hohen Landbedarfs keine großen Populationsdichten zuläßt. Eine Steigerung der Produktion, wie sie z. B. bei einer Zunahme der Bevölkerung notwendig wird, ist nur in sehr begrenztem Umfang möglich. Eine Ausweitung der Anbauflächen läßt sich häufig nur über entsprechende Verkürzungen der Brachezeiten realisieren und führt nur zu einer sehr kurzfristigen Ertragsteigerung, deren Preis drastische Ertragsrückgänge in den Folgejahren sind. Häufig wird auch versucht, äußerst steile Hanglagen noch für den Anbau zu nutzen. Der Preis dafür ist in den meisten Fällen eine enorme Bodenerosion, die in ihrem weiteren Verlauf auf sonst geschützte Lagen übergreift, so daß sich mittelfristig eine auf damaligem Standard verbreitete irreparable Zerstörung von Anbauflächen einstellt. Der Schwendtbau ist auch die Grundlage des mesoamerikanischen MilpaSystems, in dessen Mittelpunkt die Produktion von Mais und Bohnen steht. Daneben kultiviert und kultivierte man auf diesen Flächen noch Kürbisse, Chilipfeffer und sich meist selbst aussäende Nahrungspflanzen wie Kräuter und Pilze. Mais und Bohne ergänzen sich nicht nur im Zusammenleben auf den Anbauflächen — Mais wurzelt flach, die Bohne tief, und die Halme des Maises dienen als Rankgerüst der Bohne —, sondern auch als Nahrungsmittel für den Menschen — Mais liefert die Ballaststoffe, die Bohne pflanzliche Proteine. Der Chili gibt den Speisen nicht nur Würze, sondern hilft auch, den Vitamin CBedarf zu decken. Man kann davon ausgehen, daß diese Form des extensiven Anbaus von dem größten Teil der Landbevölkerung praktiziert wurde. Die Bewohner der Zentren konnten mit dieser Methode allein jedoch nicht ernährt werden. Erst der Einsatz
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intensiver Anbauformen, die mehrere Ernten im Jahr gewährleisteten, konnte diesen Bedarf decken. Der Versuch, durch eine optimierte Versorgung der Pflanzen mit Wasser und Nährstoffen höhere Erträge zu erzielen, wurde in zwei sehr unterschiedlichen Ökosystemen umgesetzt. Das Maya-Tiefland mit seinem tropischen Regenwald verfügte eher Uber zu viel Wasser, während das zentralmexikanische Hochland unter einem Mangel an Wasser litt. Der Schlüssel zur notwendigen Intensivierung lag aus diesen Gründen in beiden Fällen in einer Optimierung des Wassermanagements. Die traditionelle Schwendtwirtschaft stieß im Tiefland recht schnell an ihre Grenzen. „Attempts at estimation of the peak populations for such mayor settlements have exhibited an upward curve over the decades in response to new ideas concerning the range of food-getting techniques exploited by the Maya. For example, the earliest estimates for the population of Tikal were in the range of 10,000 (W. Coe 1967), while the updated revision of this estimate quickly reached 100,000 (Haviland 1969). The foremost factor leading to conservative population estimates has been the assumption that milpa agriculture, with its demonstrably limited carrying capacity (77 persons per sq. km), provided the primary food source. As mapping and survey work gradually revealed the true density and extend of architectural remains, the assumption of limited population became ever more unrealistic" (Harrison 1990: 99). Die Bevölkerung siedelte aber bedeutend dichter und erreichte 100 bis 700 Personen pro km* (Rice/Puleston 1981), wobei der hohe Wert nur in der direkten Umgebung der Zentren zu erwarten ist. Verschärfend wirkte sich noch ein weiterer Faktor aus, und zwar die Verfügbarkeit von gut drainiertem Land. Die Siedlungen beanspruchten erhöhte Lagen, die im Jahreslauf nicht überflutet wurden. Die Landbevölkerung sah sich also genötigt, mehr und mehr in den sogenannten bajos, flachen, sumpfigen Karstbecken, und an anderen zunächst ungünstig erscheinenden Standorten, Nahrungsmitteluberschüsse zu produzieren. Ausgehend von der Idee, die Maya hätten eine Methode der Intensivierung des Anbaus von Feldfrüchten entwickelt, die den zentralmexikanischen chinampas7 ähnlich war, begann man intensiv nach solchen Anbauflächen zu suchen. Mit Hilfe von Fernerkundungsmethoden wurden Turner und Harrison zu Beginn der 80er Jahre im Pulltrouser Sumpf im Orange Walk District von Belize fündig. Dieses Sumpfgebiet hat eine Ausdehnung von ca. 8,5 km2, wovon 668 ha mit Unterstützung der Luftbilder ausgewertet wurden. Da auf diesen intensiven Anbauflächen davon ausgegangen werden kann, daß pro Jahr zwei Ernten eingefahren wurden, nimmt man an, daß durch die Kultivierung dieses 7
Siehe weiter unten.
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Sumpfes Nahrungsmittel für 5200 Personen produziert werden konnten (Harrison 1990: 105). Parallel laufende Siedlungsuntersuchungen ergaben folgendes Bild: „Many households were able to afford trade items and to elevate their house compounds on masonry platforms. Social stratification is therefor evident, but there is no evidence of an elite stratum as they are known from larger ceremonial centers. A total peak population was achieved by using the traditional 5.6 individuals per residence and deducting 10 percent each for non-contemporaneity and nonresidential function. The final population estimate for the swamp zone is roughly 1500 individuals for the peak of the Late Classic period" (Harrison 1990: 107). So ergab sich zumindest rechnerisch die Möglichkeit, 3700 Personen zusätzlich zu ernähren. Dadurch wird klar, daß die Produktion von Überschüssen trotz zunächst widriger Bodenbedingungen durchaus kein Problem war. Doch stellte diese Nutzung der Sümpfe — der größte namens Bajo Morocoy liegt im mexikanischen Quintana Roo und wurde auf ähnliche Weise genutzt — nicht die einzige Methode zur Intensivierung der Landwirtschaft dar. Mehr oder weniger unter ähnlichen Umweltbedingungen können Drainmaßnahmen eine Intensivierung der Landwirtschaft herbeiführen. Daten aus Rio Azul, Guatemala, unterstreichen dies. ,.Drained field systems must have functioned differently from raised fields. Their association with river floodplains, levee backslopes and interior bajos suggests that they were an adaptation to seasonal inundation. Drained fields probably did not eliminate inundation completely. Indeed, the benefits of annual flooding such as destruction of weeds and insects and additional of nutrient-rich sediments were probabely too desirable to forego. Drainage canals may have served to extend the period during which seasonal wetlands could be farmed" (Culbert et al. 1990: 116). Seit den 20er Jahren wird immer wieder sporadisch von der Existenz terrassierter Anbauflächen im Mayagebiet berichtet. Dünne Humusschichten in Verbindung mit hügeligem Terrain schienen die Notwendigkeit einer Terrassierung zu erhöhen. Die Untersuchungen von Fedick, gestützt auf spezielle Geoinformationssysteme, lieferten jedoch erstmalig systematisch Material aus dem Gebiet des oberen Belize Flusses zu diesem Phänomen. „Terracing is most commonly associated with densely settled upland land resources of the highest agricultural capability (under hand cultivation technology). Given this situation, most of the observed terracing appears to represent an attempt by farming households to improve and conserve the best land resources, rather than a move to bring more marginal lands, such as those with steeper slopes, under more intensive cultivation" (Fedick 1994: 124). Hier wird klar, daß diese Form der Landnutzung wohl zur Intensivierung der Produktion beigetragen hat, allerdings nicht in erwartbarem Umfang. Erklärbar
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ist dies durch den enormen Arbeitsaufwand, der mit der Anlage der Terrassen verbunden war. Die so erzielte Wertsteigerung der Flächen drückte sich in der unmittelbaren Nähe zu den Wohnhäusern der Besitzer aus. Die frühe Metropole Teotihuacán zeigt, daß die Erfahrungen in der Bereitstellung von Nahrungsmitteln zur Versorgung einer Großstadt in dieser Region schon vorhanden waren. Die Tolteken konnten also auf bereits entwickelte Verfahren zurückgreifen, um sich mit Lebensmitteln einzudecken. Ob und in welchem Umfang das chinampas-System zu diesen Zeiten schon eingesetzt wurde, ist noch fraglich. Da das Hochland eher an Wassermangel leidet, standen dort verstärkt Bewässerungsmethoden im Zentrum der Intensivierungsmaßnahmen. Noch heute findet man intakte chinampas, ein System von Anbauflächen, das zu einer Touristenattraktion in Xochimilco in der unmittelbaren Nähe von Mexiko-Stadt geworden ist. Fälschlicherweise werden sie noch immer als .schwimmende Gärten' bezeichnet. „Chinampas sind ein in Mesoamerika in verschiedenen Abwandlungen angewandtes Verfahren der Landgewinnung in flachen, meist ufernahen Teilen von Binnenseen und in versumpften Talauen. Sie bestehen aus langen, relativ schmalen, parallel verlaufenden Beeten, die von Kanälen umrahmt sind. Die Beete sind aus dem Erdreich aufgeschüttet, das aus den begleitenden Kanälen ausgehoben wurde. Zur Befestigung sind ihre Ränder meist mit Bäumen bepflanzt. Chinampas gewährleisten einen Anbau mit gleichmäßiger, während des ganzen Jahres gesicherter Feuchtigkeitszufuhr, der unvergleichlich hohe Erträge bringt" (Haberland/Prem 1986: 108). Der Aspekt der Landgewinnung kam nur in der Peripherie der Zentren im Seengebiet des zentralen Hochlandes zum Tragen. Im Mittelpunkt stand die enorme Ertragssteigerung, die durch bis zu drei Maisernten im Jahr realisiert wurde. Alle anderen Nahrungspflanzen wie Gemüse und Fruchtbäume ließen sich dort auch mit großem Erfolg kultivieren. Erreicht wurde diese Produktionssteigerung zum einen durch die ständige Pflege dieser Anbauflächen, zum anderen durch eine permanente Nährstoffzufuhr für die Pflanzen. Die Kanäle wurden ständig gesäubert und bei diesem Maßnahmen geriet der düngerhaltige Seegrund auf die Felder.8 Kanalsysteme, ähnlich der Drainagen, dienten als Instrument der Wasserversorgung von Anbauflächen im zentralen Hochland von Mexiko. Zwei Methoden werden heute dort unterschieden: „The best documentation for early systems is that for floodwater irrigation. This form of irrigation involves the capture and 8
Der Niedergang der nördlichen Metropolen Teotihuacán und Tollan fühlte archäologisch nachweisbar zu einem Bevölkerungszuwachs an den südlich gelegenen Seen. Man geht davon aus, daß die Möglichkeit zur Anlage von chinampas diese Ansiedlung größerer Giuppen von Ex-Städtern begünstigte.
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diversión of water from intermittent streams (barrancas) through the use of various strategies indicated by dams, diversión walls, and, if located on slopes, terraces. Floodwater irrigation systems are usually small in size" (Turner II: 1983: 18). Das andere System, die permanente Bewässerung, ist archäologisch kaum nachweisbar und noch schwieriger zu datieren. Für die Metropole Teotihuacán ist die erste Form der Bewässerung nachgewiesen, da man Reste der zugehörigen Kanäle fand (Nichols et al. 1991). Entsprechende Untersuchungen in der Nähe der Stadt Tollan führten nur zu dem Ergebnis, daß permanente Bewässerung durchaus möglich war. Ein definitiver Nachweis ließ sich allerdings nicht erbringen (Mastache 1976: 64ff). 9 Obwohl die Maya bestens für ein Fortbestehen ihrer Stadtkulturen im Petén gesorgt hatten, kam es beginnend im 8. Jahrhundert zu einem rapiden Zerfall fast des kompletten Systems. Dieser Niedergang wurde durch kriegerische Einfälle von Gruppen aus Tabasco unterstützt, aber wahrscheinlich handelte es sich um eine Verkettung verschiedenster Ursachen. Die Überbeanspruchung der Umwelt scheint aus heutiger Sicht eine der stärksten Einflußgrößen für diesen Kollaps gewesen zu sein. Niemals zuvor und auch nicht danach gelang es einer Hochkultur, sich in einem Gebiet niederzulassen, das von tropischem Regenwald bedeckt war. Dies ist nach wie vor nur den Maya gelungen. Allerdings liegt hierin auch einer der Schlüssel zu ihrem rapiden Untergang. Pollenanalysen weisen nach, daß der Regenwald bereits stark gelichtet war, als die Städte noch expandierten. Die Nährstoffe des Bodens wurden im zentralen Petén in die Seen gespült und sind auch dort in den Sedimenten nachgewiesen worden (Santley et al. 1986). Eine Überbeanspruchung der Umwelt, letztendlich ausgelöst durch den Einsatz falscher Agrartechnologien, eventuell durch zu langes Beharren auf der Schwendtwirtschaft, führten unweigerlich zur Katastrophe. Das gesamte System kollabierte begleitet von einem ständigen Zuwachs der Bevölkerung, zu einer Zeit, als die Zerstörung der Böden schon nicht mehr umkehrbar war. Handel und Verkehr Die Metropolen Tollan und Chichen Itzá waren über enge Handelskontakte mit ihrem Hinterland verbunden. Im Norden Yukatans dokumentieren gepflasterte Wege, sogenannte sacbe, diese Beziehungen. Bei rezenten Grabungen in Chichen Itzá wurden 20 neue Wege entdeckt, die auch im weitläufigen Zeremo9
Die Intensivierung der Landwirtschaft und die damit verbundenen Probleme können selbstverständlich hier nicht erschöpfend behandelt werden. Vielmehr soll gezeigt werden, daß die technischen Grundlagen, große Städte zu ernähren, durchaus vorhanden waren.
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nialbezirk der Stadt einzelne Zentren untereinander verbanden (Schmidt 1994: 22).
Tollan kann in vieler Hinsicht als Nachfolger Teotihuacäns betrachtet werden, auch wenn es dessen Größe nie erreichte. Seine Handelsbeziehungen auf der Basis von Obsidian erstreckten sich östlich bis nach Zentralamerika, von wo wiederum bestimmte Luxus-Keramiktypen nach Tollan gelangten. Des weiteren bestanden Beziehungen mit den seefahrenden Putun-Maya, die den Handel an der östlichen AtlantikkUste Mesoamerikas kontrollierten. Aus dem Norden gelangten hauptsächlich Türkise nach Tollan, deren Handelsrouten durch Garnisonen, wie z. B. La Quemada, gesichert wurden (Haberland/Prem 1986: 47ff). Die guten Beziehungen zu den Putun führten letztendlich nach der inneren Spaltung Tollans zur gemeinsamen Eroberung Chichen Itzäs und dessen Neugründung. Dieses ,neue Tollan' in Yukatan konzentrierte sich auf den Seehandel, unterstützt durch Hafenanlagen, wie sie z. B. aus Isla Cerritos bekannt sind (Andrews 1990). Heute nimmt man rückblickend auf die aztekischen Märkte an, daß diese in ähnlicher Form in Tollan und anderen Städten funktioniert haben. Historische Quellen aus Zentralmexiko nennen als Marktstädte, zu denen Menschen aus den verschiedensten Provinzen kamen, die Orte Tollan, Tulantzinco, Cholula, Teotihuacän, Cuauhnahuac, Tultitlan und fünf oder sechs andere nicht mit Namen erwähnte Plätze (Bittman/Sulivan 1978: 211). So könnten die Märkte denen der Azteken ähnlich gewesen sein. „Der lokale Handel und Warenverkauf spielte sich auf Marktplätzen ab, Läden waren unbekannt, Straßenverkauf verboten. Die Marktplätze lagen gewöhnlich an einer Seite des Tempelbezirks, sie waren von Mauem umschlossen und hatten eine flache Plattform in der Mitte, wo man dem Patronatsgott einen Teil der Waren als Weihegaben niederlegte. Das Warenangebot war nach Produktgruppen geordnet; man verkaufte nicht nach Gewicht, sondern nach Stückzahl und Hohlmaßen. Einige Waren wurden gleichzeitig als standardisierte Wertmesser verwendet: kleine weiße Baumwolltücher (cuatchtli), mit Gold gefüllte Federkiele sowie Kakaobohnen als .Kleingeld'. Die Verkäufer entrichteten einen Marktzins an den lokalen tlatoani oder einen anderen Berechtigten. Eine Marktaufsicht überwachte die Qualität der Produkte und den korrekten Ablauf der Geschäfte; auf den großen Märkten entschied ein mit pochteca besetztes Gericht an Ort und Stelle über Streitfälle. Innerhalb eines Gebietes waren die Märkte hierarchisch organisiert. Unbedeutendere Ortschaften hielten Markttag nur in Verbindung mit der Feier des ihrem Patronatsfest gewidmeten Kalenderfestes. Gewöhnlich fanden die Märkte im Fünf-Tage-Rhythmus statt, nur die großen
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Wirtschaftszentren wie Mexiko, Tlatelolco, Texcoco hatten täglich Markt; hier gab es zusätzliche Marktplätze in den Stadtvierteln" (Dyckerhoff 1986: 218). 10 Waren gelangten allerdings auch in Form von Abgaben, sogenannten Tributen, die von weniger mächtigen Nachbarstädten und -Völkern an die jeweiligen Herrscher entrichtet wurden, in die Metropolen. Dieses später von den Azteken ausgebaute System ist Gegenstand mehrerer Bilderhandschriften und basiert darauf, das Herrscherhaus des dominanten Zentrums mit Waren zu versorgen. Fernhandel Der Fernhandel verband Mesoamerika mit Nord- und Zentralamerika und Zentralmexiko mit Yukatan und war auch das Medium für die Verbreitung des Kultes der Federschlange. Für den Handel in östlicher Richtung zeigt sich ab Tabasco eine klare Präferenz für den Seehandel in Richtung Yukatan, Belize und Zentralamerika. Die Hochländer von Guatemala und Chiapas waren allerdings ebenso auf den Landhandel fixiert wie Zentralmexiko und der Süden Nordamerikas. Man nimmt an, daß der Handel im mexikanischen Hochland durch Spezialisten durchgeführt wurde, die mit ihren Lastenträgern hauptsächlich von Tula aus bis zu den Siedlungen der Hohokam Kultur im Norden und bis zu den Häfen in Tabasco bzw. den Städten der östlichen Hochländer vordrangen. Die dabei präferierten Routen waren schon lange in Gebrauch und dienten auch den früheren Völkerwanderungen. Der toltekische Handel mit dem südlichen Nordamerika verlief über Teuchitlän-Ahualulco, Chametla, Culiacän, 11 Guasave und Casas Grandes oder passierte erst die Stationen La Quemada und Chalchihites bevor Chametla erreicht wurde (Cabrero 1991: 194). Der Landzugang zu den östlichen Regionen fand hauptsächlich über das Hochland von Chiapas statt, führte von dort weiter zur Küste und ins benachbarte Guatemala (Köhler 1978). Daneben scheint es einen Weg gegeben zu haben, der dem Verlauf der Pazifikküste direkt folgte (Navarrete 1978: 76ff). Die Städte in der Peripherie des Gebietes, das von den Staaten des MayaTieflandes genutzt wurde, waren durch ihre etwas andere wirtschaftliche Ausrichtung, im engeren Sinne durch ihre Hinwendung zum Fernhandel, in der Lage, diese Zeiten ohne nennenswerte Einschränkungen zu durchleben. Das Überdauern der Stadt Lamanai in Belize scheint diese Hypothese zu stärken. Da der Untergang der Tiefland-Maya stark durch kriegerisch überlegene Angreifer aus ' 0 Beim tlatoani handelte es sich um den Herrscher der jeweiligen Stadt, pochteca waren organisierte Fernhändler. ' ' Für diesen Ort fehlen derzeit noch bestätigende Grabungsbefunde.
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dem Westen beschleunigt wurde, die den Läufen der Flüsse folgten, also Binnenhandelsrouten nutzten, blieben gerade die kleineren östlichen Städte mit Zugang zum Meer und an den Fernhandelsrouten gelegen von diesem Wandel verschont. Neueste Untersuchungen aus dem Bereich der Pazifikküste Guatemalas scheinen diesen Trend zu bestärken. Allerdings handelt es sich dort um eine Überlandroute, die für den Femhandel mit Zentralamerika genutzt wurde, an der kleinere Orte die Zugänge bzw. Abzweigungen zum guatemaltekischen Hochland sicherten (Estrada Belli et al. 1997). Betrachtet man die Atlantikküste, so läßt sich feststellen, daß die meisten Strecken zwischen Tabasco und Honduras in geschützten Gewässern verlaufen und diese nur für ein oder zwei Tage pro Reise verlassen werden mußten. Die pazifische Küste erlebte in wesentlich geringerem Umfang Handelsexpeditionen von Guatemala zum Golf von Tehuantepec. Weitere Distanzen waren dort auf dem Seewege nur unter großen Gefahren zurückzulegen (Edwards 1978: 208). Große Einbäume und auch Flöße wurden im Seehandel benutzt. Im Rahmen des Fernhandels kamen schwerpunktmäßig große Einbäume zum Einsatz, die von zahlreichen Paddlern angetrieben wurden. Folgende Handelsgüter waren Bestandteil von indianischen Schiffsladungen, über die frühe historische Quellen berichten: Kleidungsstücke aus Baumwolle, Kupferschellen, Kupferäxte, Steinbeile und lithische Schmuckstücke, Klingen, Messer, Holzschwerter mit Steinklingen, Kakao, Salz und Mais. Archäologische Befunde von Handelsplätzen nennen in erster Linie Obsidian der verschiedensten Provenienzen, Kupferobjekte, Edelsteine und Reibsteine für Mais (Edwards 1978: 205ff). Beziehungen zwischen großen Binnenzentren und kleinen Küstenhäfen sind erst in letzter Zeit aufgedeckt worden. Der Handelsposten von Chichen Itzä war die nördliche Insel Isla Cerritos, und Marco Gonzales erfüllte für die Stadt Lamanai diese Funktion. 12 Lamanai bezog im Postklassikum Obsidian aus Guatemala, Keramik in geringem Umfang aus Nordyukatan und zahlreiche andere Güter, die höchstwahrscheinlich Uber den New oder Dzuluinicob River dorthin gelangten. Ab dem 12. Jahrhundert fanden sich unter den Handelsgütern auch Objekte aus Kupfer, die von West- und Zentralmexiko, Oaxaca und dem südlichen Zentralamerika dorthin gelangten. Die Waren, die Lamanai verließen, sind schwieriger zu dokumentieren, da dieser Ort keine seltenen, leicht identifizierbaren Materialien kontrollierte. Allerdings gelangte die Keramik aus Lamanai bis nach Nordyukatan und in andere Städte des heutigen Belize.
12 Diese Hafeninseln mußten nicht zwangsweise ein zugehöriges Binnenland versorgen. Wild Cane Cay im südlichen Belize scheint ein solcher Umschlagplatz gewesen zu sein.
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„The Lamanai trade data bear a larger issue regarding the nature of the Postclassic, which is that the period is often characterized as a time in which commercial interests held sway — a time of merchants rather than god-kings. The characterization frequently suggests greater emphasis on maritime trade than existed in earlier times, and sometimes identifies the Putun as the prime entrepreneurs of the Postclassic years. Though it is not all unlikely that waterborne transport played a large role in Lamanai's Postclassic commerce, as it had presumably done in the Classic and earlier, there is nothing at the site that points to specific traders, or even argues persuasively for a more dominant role for merchants after A.D. 1000 than they had before. As in so many other respects, the community's passage from Late Classic to Postclassic times seems not to have brought with it radical change — though with many former trading partners no longer accessible, the patterns of Lamanai's trade, especially westward, must have been altered beyond recognition" (Pendergast 1990: 173). Als Handelsposten im Meer fungierte für Lamanai der kleine Ort Marco Gonzalez auf dem südlichen Zipfel von Ambergis Cay auf dem Barrier Riff, der bis ins Jahr 1544, der Ankunft der Spanier in dieser Region, permanent besiedelt war, und im 12. und 13. Jahrhundert seine Blüte hatte (Pendergast 1990: 176). Die Itzä kontrollierten den Handel in den nördlichen Küstenregionen Yukatans, eventuell zeitweilig sogar den gesamten Fernhandel der Halbinsel. Ihre bedeutendsten Handelsposten waren Champotön, Campeche, Jaina, Canbalam, Xcopt6, Punta Cerrito, Isla Cenitos und Vista Alegre. Es kann auch davon ausgegangen werden, daß sich der Einfluß der Itzä noch weiter in die Karibik hinein erstreckte (Andrews 1990: 161). Der Zeitraum um die Jahrtausendwende in Mesoamerika erschließt sich erst durch eine Betrachtung des gesamten Kulturraums, was eine Aufteilung in Horizonte und Zwischenperioden, in diesem Falle eine differenzierte Auseinandersetzung mit dem Federschlangenhorizont, rechtfertigt. Das damalige Inventar an Methoden zur Intensivierung der Landwirtschaft reichte vollständig aus, um die in dieser Zeit relativ kleinen Zentren zu versorgen. Bedarfe an Luxusgütern konnten durch wenige Vollzeitspezialisten gedeckt werden. Das Fehlen einer den kompletten Raum dominierenden politischen Macht wirkte sich in wirtschaftlicher Hinsicht in einer stärkeren Hinwendung zum Handel, insbesondere zum Femhandel, aus. Neben dem reinen Umschlag von Gütern dienten die Handelsaktivitäten auch dem Transport neuer religiöser Vorstellungen, was zu einer Verbreitung des Kultes an der Federschlange im gesamten Areal führte.
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Verstädterung und Stadtentwicklung in Mexiko: Forschungsschwerpunkte aus geographischer Perspektive HEINZ HEINEBERG
Ausgangssituation: Kooperation mit der Universität Guadalajara Die eigene wissenschaftliche Beschäftigung mit Mexiko wurde durch eine Einladung zu einer mehrwöchigen (täglichen) Vorlesung (Maestria-Aufbaustudiengang) im Jahre 1987 an der Fakultät für Architektur der Universität Guadalajara initiiert. Diese eröffnete zahlreiche Kontakte mit Wissenschaftlern, Architekten, Planem und behördlichen Institutionen in Mexiko. Derartige Beziehungen zur Wissenschaft und Planungspraxis wurden anläßlich der Beteiligung an einer universitären und interministeriellen Tagung im Februar 1988 über „Problemas de Planeaciön en las Zonas Conurbadas" fortgeführt und intensiviert. Daraus entwickelten sich gemeinsame Forschungsinteressen zu der Thematik „Metropolisierung und aktuelle Probleme der Stadtplanung in Mexiko" (vgl. Heineberg/Schäfers 1989; Heineberg et al. 1993). Im Frühjahr 1991 fand eine dreiwöchige Mexiko-Exkursion mit integriertem Geländehauptseminar (Fächer Geographie und Ethnologie) als Kooperationsveranstaltung des Lateinamerika-Zentrums (CELA) und des Instituts für Geographie der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster unter gemeinsamer Leitung mit Dr. A. Brockmann, damals Geschäftsführer des CELA, statt (Brockmann/Heineberg 1992). Ohne die Unterstützung von mexikanischer Seite1 wäre unsere Exkursion kaum durchführbar gewesen. Für den Herbst des Jahres 1999 habe ich erneut eine mehrwöchige Exkursion (zusammen mit einem
1
Besonders durch den Einsatz von Arq. Jorge Camberos Garibi, ehem. Direktor des Städtebauinstituts an der Universität Guadalajara, und seiner Ehefrau Elena sowie von Arq. Christoph Schäfers, damals Sprecher des 1989 neugeschaffenen sog. Rates der Metropolitanregion (Consejo Metropolitano) von Guadalajara, sowie vor allem auch durch die Hilfe seitens des Rektorats der Universität Guadalajara (Unterbringung im Gästehaus „Primavera" und sehr kostengünstige Überlassung eines universitätseigenen Busses für Exkursionen in Jalisco und in Nachbarstaaten).
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Heinz Heineberg
Studienprojekt) für Studierende des Instituts für Geographie2 in Münster nach Mexiko geplant; wir haben auch diesmal bereits die Zusage vielfältiger Unterstützung und guter Kooperation mit der Universität Guadalajara3 erhalten. Auch im Rahmen der Veranstaltungen und Veröffentlichungen des Lateinamerika-Zentrums (CELA) der Universität Münster kommt Mexiko eine besondere Bedeutung zu (vgl. z. B. Camberas Garibi 1993a über die Verstädterung Mexikos).4 Mexiko stand auch mehrmals im Mittelpunkt regionalwissenschaftlicher Fortbildungsveranstaltungen des CELA, zuletzt im Jahre 1998. Das Lateinamerika-Zentrum wird sich zudem in den nächsten Jahren schwerpunktmäßig mit Mexiko beschäftigen. So soll bereits im Herbst 1999 eine größere interdisziplinäre Tagung stattfinden, an deren Vorbereitung der Autor mitwirkt. Unter der Hauptthemenstellung ,.Mexiko und seine Perspektiven für das 21. Jahrhundert" werden — in der Sektion „Urbane Dimension" —Verstädterung, Probleme der Stadtentwicklung, Stadtplanung und städtischen Umweltbelastung einen wesentlichen Themenbereich darstellen. Zu dieser Tagungssektion sind u. a. Wissenschaftler und Praktiker aus Mexiko-Stadt und Guadalajara eingeladen. Zum Ziel der folgenden
Ausführungen
Der Beitrag intendiert im folgenden, vor allem anhand eines Überblicks über Forschungsansätze und -arbeiten, die „Urbane Dimension" Mexikos unter besonderer Berücksichtigung jüngerer Arbeiten zur Urbanisierungsforschung aus geographischer Perspektive darzustellen sowie auch eine Reihe von Forschungsdefiziten aufzuzeigen. Vollständigkeit in der Thematik und den Literaturbezügen ist aufgrund des beschränkten Raumes nicht möglich. Im folgenden werden die Termini Verstädterung und Urbanisierung (span. urbanización) synonym verwendet.
2 In Gemeinschaft mit PD Dr. Karl-Heinz Otto vom Institut für Didaktik der Geographie der Westfälischen Wilhelms-Universität zu Münster. 3 V. a. seitens des Institutsdirektors Dr. Luis Felipe Cabrales Barajas des Departamento de Geografía y Ordenación Territorial an der Universität Gudalajara und seiner Kollegen. 4 Es handelt sich um den Abdruck seines Vortrags im Institut für Geographie der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster im Rahmen einer Vortragsreihe des CELA im Jahre 1991. Der Autor verstarb im Jahre 1996 leider allzu früh im Alter von 55 Jahren. Jorge Camberas Garibi hatte als Korrespondierendes Mitglied des CELA eine besondere Beziehung zum Lateinamerika-Zentrum und zu dessen Leitung. Persönlich verbanden mich mit ihm intensivere Forschungskontakte, darunter auch die Mitbetreuung seiner Dissertation als externer Gutachter (Camberas Garibi 1994; Universidad de Guadalajara 1996).
Verstädterung und Stadtentwicklung in Mexiko
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Merkmale der demographischen Verstädterung und der Herausbildung des Städtesystems Mexikos Tabelle 1: Verstädterungstrends in Mexiko 1975-2025 im Vergleich mit Lateinamerika insgesamt und Deutschland Verstädterungsgrad (%)
Stadtbevölkerung (Mio. Einw.)
Jährl. Wachstum d. Stadtbev. (%)
1975
2000
2025
1975
2000
2025
1975-2000
2000-2025
Mexiko
62,8
77,7
85,8
36,95
79,58
117,22
3,07
1,55
LA insges.
61,3
76,6
84,7
196,17 401,36
600,95
2,86
1,61
Deutschland
81,2
87,7
92,0
70,31
0,46
-0,08
63,87
71,64
Quelle: UN Centre for Human Settlements, Habitat 1996. Mexiko zählt mit einem Anteil seiner Stadtbevölkerung an der Gesamtbevölkerung (Verstädterungsgrad) von heute ca. 75% zu den stark verstädterten Staaten dieser Erde (Tab. 1). Die anhaltende Dynamik der Urbanisierung zeigt sich durch die sehr hohe durchschnittliche Wachstumsrate von mehr als 3% (19752000); demzufolge wird die Stadtbevölkerung allein im letzten Viertel dieses Jahrhunderts um absolut 42,63 Mio. Einw. oder um 115% anwachsen. Bis zum Jahre 2025 kommen wahrscheinlich weitere 37,62 Mio. Stadtbewohner hinzu, was einem Zuwachs von knapp 48% innerhalb des nächsten Vierteljahrhunderts entsprechen wird. Mit derartigen Wachstumsraten liegt Mexiko im Trend Gesamt-Lateinamerikas (Bähr/Mertins 1992, 1995; Bünstorf 1998), jedoch zugleich in starkem Kontrast zu Industriestaaten (Beispiel Deutschland). Obwohl Mexiko Uber eine weit in die präkolumbianische Zeit zurückreichende, stark kolonialzeitlich geprägte Stadtkultur verfügt (vgl. Hardoy 1982; Haufe 1993; Gormsen 1995a), sind die dynamische Verstädterung sowie die Herausbildung des heutigen nationalen Städtesystems erst eine Folge politischer und sozio-ökonomischer Einflüsse seit der Unabhängigkeitszeit. Die Analyse der Urbanisierungstrends in Mexiko durch Gutiérrez de MacGregor (1986) zeigt, daß der Verstädterungsprozeß in verstärktem Maße erst ab dem Jahrzehnt 1940-50 — mit im folgenden ständig zunehmender Dynamik — einsetzte und vor allem vom Wachstum großer Städte (über 100.000 Einw.) getragen war (MacGregor, 1996: Fig. 16.1). Lebten 1950 von den damals erst 28,0 Mio. Einw. Mexikos nur 42,7% in Städten, so wuchs der Anteil der Stadtbewohner bis 1990 auf 72,5% (bei 81,1 Mio. Gesamtbevölkerung) an (Heineberg et al. 1993: Tab. 1).
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Heinz Heineberg
Kennzeichnend für den Verstädterungsprozeß in Mexiko war zudem — wie in zahlreichen anderen Staaten Lateinamerikas — das gleichzeitige Anwachsen der nationalen Hauptstadt (México D. F.). Diese profitierte nicht nur von der Entwicklungs- und Modernisierungspolitik während der langen Regierungsperiode unter dem Diktator Díaz (1877-1911), während der sich die Stadt, u. a. durch Ausbau einer modernen Infrastruktur, zu einer eleganten Weltstadt entwickelte, sondern auch vom Ausbau der Zentralregierung in der Spätphase der großen mexikanischen Revolution (1920-1940). Vor allem ab den 30er Jahren entfaltete die Hauptstadt ihre politischen, verwaltungstechnischen, ökonomischen, sozialen sowie auch kulturellen Funktionen, wodurch die Entwicklung zu einem — heute weit über die Grenzen von México D. F. hinausreichenden — Metropolitangebiet beschleunigt wurde (Heineberg et al. 1993: 400). Die Konzentration von Bevölkerung und Wirtschaft auf Mexiko-Stadt in den 40er Jahren führt Aguilar (1993: 25) vor allem auf die mexikanische Wirtschaftspolitik der Importsubstitution zurück. Im Gegensatz zu vielen anderen lateinamerikanischen Staaten bildete sich in Mexiko mit der Hauptstadt jedoch nicht eine einzige große städtische Agglomeration heraus, sondern es entwickelten sich in diesem Jahrhundert mit den Großstädten und späteren Metropolitangebieten von Guadalajara und Monterrey sowie in jüngerer Zeit auch mit Puebla weitere Millionenagglomerationen. Dennoch überragt Mexiko-Stadt (Agglomeration) mit 15,048 Einw. im Jahre 1990, d. h. einem Anteil von rund 21% an der Stadtbevölkerung Gesamt-Mexikos, ganz erheblich die übrigen großen städtischen Agglomerationen Guadalajara (2,87 Mio. Einw.) und Monterrey (2,318 Mio. Einw.) sowie Puebla (1,057 Einw. im Stadtgebiet). Im Jahre 1985 betrug der Anteil von Mexiko-Stadt am nationalen Bruttoinlandsprodukt 35,3%, am Industriesektor 33,5% und am Dienstleistungssektor 44% (Garza 1990: 5; Aguilar 1993: 25-26). Nach Camberas Garibi (1994) verursachte erst ab Anfang der 40er Jahre die Kombination verschiedener politischer und wirtschaftlicher Ereignisse die Bildung des gegenwärtigen Urbanen Systems Mexikos.5 Mit Ausnahme von öko5
„Der Ausbruch des Zweiten Weltkrieges gab der Industrialisierung des Landes einen Impuls, was in erster Linie die Landeshauptstadt beeinflußte, aber auch den Aufbau einer Industrie in Städten wie Monterrey und Guadalajara ermöglichte, welche seit dieser Zeit die wichtigsten regionalen Zentren darstellen. — Aufgrund der Kasernierung von US-Soldaten in grenznahen Stützpunkten wuchsen auch Ortschaften im Norden Mexikos wie Tijuana, Mexicali, Ciudad Juárez, Reynosa, Nuevo Laredo und Matamoros. Diese Städte sind bedeutend für den wirtschaftlichen Austausch und spielen eine besondere Rolle bei der Einwanderung in den nördlichen Nachbarstaat. — Die Enteignung der Erdölindustrie ermöglichte eine rationellere Ausnutzung der Ressourcen, was die Gründung von Städten in der Nähe der Felder notwendig machte; besonders im Südosten des Landes wuchsen Städte
Verstädterung und Stadtentwicklung in Mexiko
41
nomisch zurückgebliebenen Gebieten wie Oaxaca, Guerrero, Zacatecas und Chiapas hat sich Mexiko innerhalb von nur wenigen Jahrzehnten von einem Agrarstaat zu einer vorwiegend städtischen Gesellschaft gewandelt (Camberas Garibi 1994: 8). Auf die von Camberas Garibi (1994) herausgestellten Charakteristika und Gründe der Entwicklung des mexikanischen Städtesystems bezieht sich eine Vielzahl von Untersuchungen bzw. Veröffentlichungen, wenngleich teilweise immer noch deutliche Forschungsdefizite bestehen. Ein erster wichtiger Aspekt betrifft: Die mexikanischen Metropolen im Rahmen der Stadtforschung unter besonderer Berücksichtigung der Metropolitangebiete von Mexiko-Stadt und Guadalajara Mit der Verstädterung und speziell dem Prozeß der Metropolisierung in Mexiko hat sich außer den bereits genannten Arbeiten eine Anzahl weiterer (vor allem mexikanischer) Autoren der Stadtgeographie und Raumforschung intensiver beschäftigt (vgl. u. a. Unikel 1976; Garza 1990; Sammelbände von Flores Gonzales 1993, Aguilar et al. 1995); zu aktuellen Fragen der Stadtentwicklung siehe auch Cámara de Dipudados et al. 1994; El Colegio de México/Secretaría de Desarrollo Social 1998. • Unter den mexikanischen Metropolitangebieten ist diejenige von MexikoStadt wohl am differenziertesten untersucht worden (vgl. u. a. die umfassende Bibliographie der Dirección General de Reordinación Urbana y Protección Ecológica, o. J„ zur Entwicklung und Planung von Mexiko-Stadt bis ca. 1985; Adas de la Ciudad de México, 1987; Sander 1983, 1989; Beck 1992; Gormsen 1995a). Allerdings liegt auch für die zweitgrößte Metropole Guadalajara eine beachtliche Anzahl älterer und jüngerer Gesamtdarstellungen wie Poza Rica, Ciudad Pemex, Coatzacoalcos, Minatitlán, Cerro Azul und Agua Dulce. Auf der anderen Seite führten die Bemühungen der Rohstoffsichemng seitens des Staates zur Gründung und zum Ausbau von Industrie- und Hafenstädten, die sogar in vollkommen isolierten Gebieten des Landes liegen konnten. Der Stahlwerkskomplex „Las Truchas", der zur Gründung von Lázaro Cárdenas führte, ist ein Beleg. — Der Anstieg der Exporte und das Wachstum des Binnenmarktes begünstigten die Landwirtschaft in einigen Regionen des Landes wie etwa im Nordwesten, was unter anderem zur raschen Konsolidierung von regionalen Handelszentren wie Culiacán, Obregón, Hermosillo und Guaymas beitrug. — Die Förderung der Freizeiteinrichtungen und die Beteiligung Mexikos am Welttourismus führten zu einem raschen Wachstum von Küsten- und Fischereiorten wie etwa Acapulco, Puerto Vallarta und Cancún sowie in geringerem Maße Ixtapa und Huatulco" (Camberas Garibi 1994: 7-8)
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6
Heinz Heiieberg zur Entwicklung der Stadt und Metropolitanregion vor (u. a. Rivière D'Are 1973; Walton 1978; Casteñada 1992; zu speziellen Themen siehe untai). Zu wichtigen Einzelaspekten der Untersuchung mexikanischer Metroplitangebiete zählen (unter spezieller Berücksichtigung der Hauptstadtregitn und von Guadalajara): die Stadtentwicklung seit der Kolonialzeit (zu Mexiko-Stadt: u. a. iander 1983; Gormsen 1994, 1997; Tyrakowski 1997; zu Guadalajara: Momo R. 1992; Ayuntamiento de Guadalajara 1988; Camberas Garibi 1993b, Castro Carlos 1995; Jiménez Pelayo et al. 1995); die Stadtexpansion unter besonderer Berücksichtigung der Stadt- uid Regionalplanung (und deren Defizite), aber großenteils auch der sozialaumlichen Differenzierung im Rahmen des jüngeren Metropolisierungspnzesses (zu Mexiko-Stadt: Buchhofer 1982, 1994; Sander 1990b; zu Guaddajara: Heineberg/Schäfers 1989; Camberas Garibi 1994; Heineberg et al. 1993; Regalado Santillán 1995; Cabrales Barajas/Canosa Zamora 1996); die Entwicklung eines GEO-Informationssystems (sog. GIS-ZMCM) ßr den Großraum Mexiko-Stadt (Zona Metropolitana de la Ciudad de Néxico, ZMCM) durch E. Buchhofer seit 1988. Mit dessen Hilfe konnte estmals eine Arealbilanz — mit zugleich vielfältigen Möglichkeiten der Anal se der Siedlungsentwicklung — für eine der größten städtischen Agglomer.tionen der Welt erarbeitet werden (vgl. Buchhofer 1994);6 die Abhängigkeit metropolitaner Raumprozesse, einschließlich interrar Umstrukturierungen, von der Wirtschaftsentwicklung bzw. wirtschaftlichei Konjunkturverläufen (für das Metropolitangebiet von Mexiko-Stadt vgl. Bichhofer/Aguilar 1991a, 1991b; Aguilar 1993; in bezug auf die Zona Metnpolitana de Guadalajara siehe Arroyo Alejandre 1993); die mit der expansiven Verstädterung bzw. städtischen Verdichtung verbundenen gravierenden Umweltbelastungen bzw. stadtökologischen Pnbleme — starke Luftverschmutzung, Ozonbildung, Müll als wichtiges Umveltproblem, Gewässerverschmutzung, Störung des Wasserhaushalts, Wassemangel bzw. Probleme der Wassergewinnung und Entsorgung etc. — (vgl. zi Mexiko-Stadt u. a.: Sander 1983, 1990a; Sánchez de Carmona 1986; Klais et al. 1988; Tyrakowski 1991; Mercado et al. 1995; Quadri de la Tom 1993, So ergab die GIS-Auswertung beispielsweise, daß selbst im Zeitraum der „großa Krise" zwischen 1982 und 1990 die an México D. F. angrenzenden Teile des Bundesstates Mexiko (Estado de México, EM) von einer stark anhaltenden Siedlungsexpansion (x>r allem Wohnsiedlungsentwicklung) gekennzeichnet waren. Der Anteil der EM-Zoner an den ZMCM-Siedlungsflächen stieg zwischen 1982 (41,6%) und 1990 (46,8%) deutlih weiter an (Buchhofer 1994: 539).
Verstädterung und Stadtentwicklung in Mexiko
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1995; Ramírez Velázquez 1995; Gormsen 1997) und deren soziale Auswirkungen oder Zusammenhänge.7 Auch in den beiden städtischen Agglomerationen von Gudalajara und Monterrey sind die Umweltbelastungen ganz erheblich und tendenziell ansteigend. Zu Guadalajara vgl. die zusammenfassende Darstellung stadtökologischer Probleme und deren Folgen in Heineberg et al. (1993: 407); Aguirre Jiménez (1998; Wassermangel); García Bátiz et al. (1995; Gefahren durch Industrialisierung) und vor allem Universidad de Gudalajara (1994).8 Dekonzentration im Städtesystem und in der Regionalentwicklung als wichtiges politisches Ziel Der außerordentlich rasch verlaufende großstädtische bzw. demographische und auch ökonomische Konzentrationsprozeß in Mexiko hat im wesentlichen erst ab 1970 — zunächst unter dem Präsidenten Echeverría (1970-1976), danach unter den folgenden Präsidenten — zu vielfachen Bemühungen der mexikanischen Zentralregierung um die sog. Dekonzentration oder Dezentralisierung (descentralización), vor allem der Industrie, im Rahmen der Regionalentwicklung bzw. der Regionalpolitik sowie auch nationaler Stadtentwicklungsprogramme geführt (als Arbeiten zu diesem wichtigen Themenkreis vgl. u. a. Hugo 1982; Buchhofer 1986a; Aguilar Barajas/Spence 1988; Sander 1990b; Aguilar Barajas 1992; Heineberg et al. 1993, mit Kartendarstellungen Nationaler Stadtentwicklungsprogramme; Ornelas Delgado 1993; Aguilar/Rodríguez Hernández 1995; Gormsen 1995b sowie etwa auch Beiträge in den Sammelbänden von Garza 1989; Calva/Aguilar 1995; Aguilar et al. 1995, 1996). Die aus der Großstadtentwicklung resultierenden Nachteile (Disparitäten) für Raum und Wirtschaft Mexikos wurden offiziell z. B. im nationalen „Plan Global de Desarrollo 1980-1982" herausgestellt (siehe Secretaría de Programación 7
Mittels des o. g. GIS-ZMCM konnte Buchhofer (1994) etwa nachweisen, daß im Bereich der Metropolitanregion von Mexiko-Stadt die unterste Einkommensschicht mit 80% einen deutlich überdurchschnittlichen Anteil an den Siedlungsgebieten mit einem hohen und zugleich vielfaltigen Risikopotential (u. a. Belastungen durch Staubstürme, hydrische und äolische Erosion, Bedrohung duch Erdbeben) hat.
8
Die Studie hat infolge der katastrophalen Explosion eines 8 km langen Teils des unterirdischen Abwassersystems im Arbeiterwohnviertel Reforma im Jahre 1992 aufgrund illegaler Schadstoffeinleitungen durch die staatliche Mineralölgesellschaft PEMEX, die den Tod von 200 Menschen und zahlreiche andere Schäden verursachte, eine — auch kartographische — Bestandsaufnahme von Gefahren in der Zona Metropolitana de Guadalajara (Verkehrsunfälle und -tote, Industrien mit hoher Umweltgefahr, Erdbebengefährdung) erarbeitet.
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y Presupuesto 1980). Besonders stark wurde der Ruf nach Dezentralisierung nach dem Beginn einer (neuen) Wirtschaftskrise im Jahre 1982 sowie nach der Erdbebenkatastrophe von Mexiko-Stadt 1985 (vgl. dazu Sander 1990b). „Die Dringlichkeit der Dekonzentration von Bevölkerung und Industrien wurde mit einem breiten Spektrum von Argumenten begründet, u. a. wachsende Probleme der Trinkwasserversorgung und der Überbeanspruchung des Grundwassers, negative Auswirkungen auf die Nationalökonomie, die Befürchtung, daß die Region von Mexiko-Stadt noch weiter auf die angrenzenden Bundesstaaten übergreifen würde" (Heineberg et al. 1993: 403). Auch auf der Ebene der Bundesstaaten wurden z. T. komplexe Programme zur Raumordnung und Dezentralisierung entwickelt. In bezug auf Mexiko-Stadt bildete sich schon in den 40er und 50er Jahren Ansätze einer ersten Dezentralisierungspolitik heraus.9 Bereits vor dem Erdbeben in Mexiko-Stadt, durch dieses sodann stark beeinflußt, wurden zahlreiche Behörden- bzw. Institutionenauslagerungen (z. B. des Nationalen Instituts für Statistik, Geographie und Information/INEGI mit rund 1.500 Beschäftigten nach Aguascalientes, des Zentralinstituts für Agrarforschung nach Cuernavaca/Morelos) aus der Hauptstadtregion vorgenommen. Gormsen (1995b: 143) stellte heraus, daß der dadurch erzielte Erfolg jedoch relativ bescheiden blieb, „denn den etwa 64.000 Personen, einschließlich Familienangehörige, die davon betroffen waren, stand zur gleichen Zeit eine Zunahme der Stadt Mexiko um rund 120.000 Einwohner gegenüber. Noch wesentlich geringer und zudem unklar war die staatliche Einflußnahme auf industrielle Standortentscheidungen.10 Sander (1990b: 501-502) beurteilte den Gesamterfolg von Dezentralisierungs- bzw. Regionalisierungsprogrammen in Mexiko recht skeptisch. KleinLüpke (1994: 522) kam zu einer sehr kritischen Beurteilung hinsichtlich des 9
Dazu zählte als bedeutende Maßnahme zur Entlastung der Hauptstadtregion das Programm der Industrieparks und -Städte (Sander 1990b: 493). Dennoch hielt die Konzentration der Wirtschaft auf die Hauptstadtregion an. Zu den Kernaussagen des Allgemeinen Stadtentwicklungsprogramms für den Bundesdistrikt 1987-1988 („Programa General de Desarrollo Urbano del Distrito Federal 1987-1988") zählten als Zielsetzungen: 1. die „Kontrolle und Begrenzung des städtischen Wachstums", 2. der „Wiederaufbau der durch das Erdbeben stark heimgesuchten Altstadt" und 3. die „Erneuerung des historischen Stadtzentrums als ,Herz der Stadt'" (Sander 1990b: 496). Nach Buchhofer (1994: 540-541) nahmen aufgrund der amtlichen Restriktionspolitik (u. a. Niederlassungsverbot für großflächige Industriebetriebe, behördlich verfügte Produktionsstops bei Überschreitung bestimmter Luftreinheitsnormen, Auslagerungen von Industrien) die Gewerbeflächen in der Metropolitanregion von Mexiko-Stadt lediglich noch um 7,5% zu, dabei in der äußeren Zone des Bundesstaates Mexikos jedoch immerhin um 13,1%; demgegenüber lag die allgemeine Zuwachsrate der Wohnsiedlungsentwicklung im gleichen Zeitraum bei dem Dreifachen.
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raumwirksamen staatlichen Handelns in bezug auf das mexikanische Städtesystem: , 3 s gibt große Abstimmungsdefizite und Inkonsistenzen zwischen den verschiedenen Plänen und Programmen sowohl auf zentralstaatlicher Ebene wie auf den nachgeordneten Ebenen. [...] Während der letzten Dekaden erfolgte durchgängig eine Unterordnung der räumlichen Planung unter die nationale Wirtschaftsplanung. — Im Rahmen der staatlichen Investitionspolitik erfolgte durch die Bevorzugung der „reichen" Staaten und Städte (Distrito Federal, Nuevo León), der Regionen mit Petro- und Schwerindustrie (Veracruz, Tabsco, Campeche, Michoacán) sowie der Tourismusregionen (Quintana Roo, Oaxaca; Gormsen 1992) im Ergebnis eine Verstärkung der ökonomischen Konzentrationstendenz und damit die Festschreibung regionaler Disparitäten. — Die Politik der Mittelstandsförderung ist insgesamt im Initialstadium steckengeblieben. — Trotz der Vielzahl an Aktivitäten verlief die staatliche Dezentralisierungsstrategie mit dem Ziel eines Umbaus des Städtesystems letztlich ohne durchgreifenden Erfolg. Demgegenüber zeigte die Eigendynamik der Mittelstädte in ihrem spontanen Entwicklungsverlauf durchaus Wirkungen auf das Städtesystem." Auch Gormsen (1995b) bewertete die bisherigen staatlichen Bemühungen in Mexiko um Dezentralisierung im Rahmen der Stadt- und Regionalentwicklung sehr skeptisch.11 Das unter dem Präsidenten Salinas de Gortari von dem Ministerium SEDUE erlassenene Nationale Stadtentwicklungsprogramm 1990-1994 (Programa Nacional de Desarrollo Urbano 1990-1994) hat neben einer Regionalisierung des Städtesystems auch dessen weitere sog. Regulierung (sog. Política de regulación, d. h. „besonderer Ordnungsbedarf', bezogen auf die drei größten Städteagglomerationen) und sog. Konsolidierung (sog. Política de consolidación im Falle von Puebla und zahlreicher sog. Mittelstädte zwischen 100.000 und 1 Mio. Einw.) angestrebt. Eine größere Zahl von Mittelstädten benötigt demnach besondere Entwicklungsimpulse und eine Prioritätensetzung hinsichtlich industrieller Funktionen (vgl. Heineberg et al. 1993: Abb. 3). Hinzu kommt die angestrebte Entwicklung von sog. Kleinstädten (zwischen ca. 15.000 und 100.000 Einw.) mit „subregionalen" Dienstleistungsfunktionen sowie zahlreicher sog. Zentren der „Stadt-Land-Integration" (Centros de integración urbano-regional). 11
„Nicht gelungen sind bisher die Bemühungen um integrierte Planungskonzepte mit dem Ziel einer wirksamen Dezentralisierung des Städtesystems und einer nachhaltigen Verbesserung der Lebensverhältnisse im ländlichen Raum. [...] In der gegenwärtigen Phase weitgehender Liberalisierung und Privatisierung erscheint es allerdings fraglich, ob eine übergreifende Regionalplanung als gesellschaftlicher Prozeß unter demokratischen Vorzeichen durchgesetzt werden kann" (Gormsen 1995b: 150).
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Inwieweit die Ziele des nationalen Stadtentwicklungsprogramms bis heute erreicht sind, läßt sich aufgrund der bisherigen Forschungslage m. E. insgesamt nur schwer abschätzen. Die jüngere Dynamik sog. Mittelstädte
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Medias)
Fest steht, daß in Mexiko außer den o. g. Metropolitangebieten in den vergangenen Jahrzehnten auch zahlreiche sog. Mittelstädte zwischen 100.000 und 1 Mio. Einw., dabei vor allem in der Städtegrößenklasse zwischen 500.000 und 1 Mio. Einw., außerordentlich rasch gewachsen sind. Dies belegen die Arbeiten von Einsele/Ribbeck 1992; Klein-Lüpke 1992 und Einsele et al. 1994; diese fassen wichtige Ergebnisse aus einem von der Volkswagen-Stiftung 1987-1991 geförderten größeren Forschungsprojekt über (ausgewählte) „schnellwachsende Mittelstädte" („Ciudades en Expansión") zusammen, die aus der engen Kooperation der Universitäten Karlsruhe, Mainz und Stuttgart mit der Universidad Nacional Autónoma de México (UNAM) resultieren. Besonders groß war die Entwicklungsdynamik der mexikanischen Mittelstädte in der Dekade 19801990; 1990 gab es in Mexiko bereits 28 Städte zwischen 100.000 und 250.000 Einw., 17 zwischen V* und Vi Mio. und 13 Städte zwischen Vi und 1 Mio. Einw.; bis zum Jahr 2000 wird sich die Zahl der Mittelstädte von insgesamt 58 auf rund 70 erhöhen (Einsele et al. 1994: 15). Die erhebliche Entwicklungsdynamik der „Mittelstädte" mit ihren bedeutenden demographischen Zuwachsraten in jüngerer Zeit war mit wichtigen Veränderungen im Migrationsverhalten verbunden (vgl. Klein-Lüpke 1992). In diesen Städten besteht eine zunehmende Tendenz des Verbleibs von Zuwanderern, „die die Mittelstädte nicht mehr als Etappenziel auf dem Weg in die Metropole" ansehen (ebd., S. 39). Allerdings betrifft das starke Bevölkerungswachstum — wie bereits angedeutet — in erster Linie die Städtegrößenklasse zwischen 500.000 und 1 Mio. Einw. Die Forschungsresultate zeigen, daß die „Ciudades en Expansión" dabei sind, sich zu Metropolen mit überproportionalem Flächenwachstum zu entwickeln; 12 so hat die Stadt Puebla bereits um 1990 die Millionen-Einwohnergrenze übersprungen. Wichtig ist weiterhin, daß die Entwicklung (größerer) Mittelstädte und die dadurch erfolgte Ergänzung und Verdichtung des Städtesystems bei gleichzeiti' 2 „Dabei treten jedoch zahlreiche der in den großen Metropolitangebieten zu beobachtenden stadtstrukturellen Merkmale und Entwicklungsprobleme in Erscheinung (u. a. sehr fragmentiertes Wachstum in den Außenbereichen, starke sozialräumliche Segregation, hohes Ausmaß der Bodenspekulation etc.)" (Heineberg et al. 1993: 405; vgl. im einzelnen Einsele/Ribbeck 1992; Einsele et al. 1994).
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ger Dezentralisation in bezug auf die großen Metropolen Mexikos jedoch in regionaler Hinsicht relativiert werden müssen. Denn es zeigt das Beispiel des Staates Jalisco mit der zweitgrößten mexikanischen Metropolitanregion von Guadalajara, 13 daß sich hier in der modernen Verstädterungsphase ein sehr unausgeglichenes Städtesystem entwickelt hat, das nur in Ansätzen Dezentralisierungstendenzen erkennen läßt (vgl. auch Abbildung 1): „In Jalisco bestand im Jahre 1990 außerhalb der Zona Metropolitana de Guadalajara keine Stadt mit mehr als 100.000 Einw., die dem „MittelstadtKonzept" der Zentralregierung entsprochen und zu einer Entlastung des Verdichtungsraumes beigetragen hätte. Lediglich das im äußersten Westen innerhalb der dünn besiedelten Pazifik-Küstenregion gelegene Touristenzentrum Puerto Vallarta (1990: 93.503 Einw.) besitzt — trotz noch erheblicher Defizite im Infrastrukturbereich — das Potential, bis zum Jahr 2000 auf über 100.000 Einw. anzuwachsen" (Heineberg et al. 1993: 405). In seiner Studie über Mittel- und Kleinstädte im sog. westlichen Mexiko (Occidente de México, d. h. in den Staaten Nayarit, Zacatecas, Aguascalientes, San Luis Potosí, Guanojuato, Michoacán, Colima und Jalisco) hat Cabrales Barajas (1997: 135) herausgestellt, daß die Städte während der vergangenen drei Jahrzehnte einen dynamischen Expansionsprozeß erfahren haben, der in kleinerem Ausmaß eine Umkehr bzw. Erwiderung des Prozesses ist, der sich zuvor in den Metropolitangebieten abgespielt hat. Cabrales Barajas unterscheidet sog. Großstädte (Ciudades grandes) oberhalb 500.000 Einw., Mittelstädte (Ciudades medianas) zwischen 100.000 und 500.000 Einw. und Kleinstädte (Ciudades pequeñas) zwischen 50.000 und 100.000 Einwohnern. Es liegen zahlreiche sog. Städte mit einem durchschnittlichen jährlichen Zuwachs ihrer Bevölkerung zwischen 1970 und 1990 oberhalb des Wertes für die Metropolitanregion von Gudalajara von 3,37%. Besonders dynamisch war das Bevölkerungswachstum in der Stadt Lázaro Cárdenas an der Pazifikküste im äußersten Süden des Staates Michoacán, die als „Schwerindustriekomplex [...] in Verbindung mit einem Industriehafen im Rahmen einer allgemeinen Dezentralisierungspolitik gedacht (war)" (Gormsen 1995a: 171) und ab Beginn der 70er Jahre ausgebaut wurde (vgl. auch Buchhofer 1986b, 1986c). Zu den Stadttypen mit relativ hohen
In der Zone Metropolitana de Guadalajara konzentrieren sich heute mehr als die Hälfte der Staatsbevölkerung von Jalisco (s. Abbildung 1), 70% der Industrien, 59% der Handelsbetriebe, 67% der Dienstleistungen und 90% der Einrichtungen für höhere Bildung im Staat Jalisco. Der Landverbrauch für die Siedlungsexpansion beträgt jährlich 800 ha mit entsprechenden Folgewirkungen für die Infrastrukturbereitstellung, das notwendige Angebot an zusätzlichen Arbeitsplätzen (im Durchschnitt jährlich 60.000), die städtischen Umweltbelastungen etc. (nach http://www.jalisco.gob.mx/srias/coplade/sedesurl.html).
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Wachstumsraten zählen auch Touristenstädte (Puerto Vallarta, siehe oben, ind Manzanillo; letztere zudem mit Hafenfunktionen), Hauptstädte der einzehen Bundesstaaten, deren Bevölkerungszahlen (einschließlich der jeweiligen gesamten Konurbation) 1990 z. T. bereits deutlich oberhalb von 500.000 Eiiw. lagen (Morelia, San Luis Potosí, Aguascalientes, Tepic, Zacatecas, Colima ind Guanajuato), die z. T. auch andere wichtige Funktionen ausüben (z. B. Guaiojuato für den Tourismus), sowie auch stärker landwirtschaftlich orientierte Städte (Valle de Santiago) oder etwa Industriestädte (z. B. San Francisco del Rincón). Es deutet sich hiermit erneut der Beweis eines wichtigen Dezentnlisierungsprozesses an, von dem bislang jedoch vor allem die größeren ,Alitelzentren" profitiert haben. Allerdings war der absolute Bevölkerungszuwachs der Metropolitanregion von Guadalajara mit rund 1,39 Mio. Einw. zwischen 14); Univ. de Guadalajara, CEED (1995).
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und 1990 größer als derjenige der neun am schnellsten im Occidente de México gewachsenen Mittel- und Kleinstädte zusammengenommen (absolut 1,38 Mio. Einw.)! Die große Bedeutung des Verstädterungsprozesses, dabei aber die nach wie vor herausragendc Bedeutung der Metropolisierung des zweitgrößten Verdichtungsraumes von Guadalajara zeigt die Darstellung der Bevölkerungsentwicklung im Staat Jalisco in den letzten Jahrzehnten, differenziert nach Raumkategorien, in Abbildung 1. Aguilar/Rodríguez Hernández (1995: 99) weisen zu Recht darauf hin, daß die Um- oder Neuverteilung der Beschäftigung in Industrie und Dienstleistungen, die im Sinne von „desindustrialización" und „reindustrialización" die großen Metropolen und die Sekundärzentren in den unterschiedlichen Regionen Mexikos betreffen, noch profunder Untersuchungen bedürfen. Erst dadurch könnten die jeweilige demographische Dynamik und deren Ausdruck innerhalb der räumlichen Verteilung der Bevölkerung mit der Umverteilung (relocalización) wirtschaftlicher Aktivitäten in Beziehung gesetzt werden. Das Neue nationale Stadtentwicklungsprogramm einschließlich eines „ 100 Städte-Programms " Daß der Dezentralisierung im Städtesystem auch in jüngerer Zeit eine erhebliche politische Bedeutung beigemessen wird, zeigt die Tatsache, daß die derzeitige mexikanische Regierung ein neues Nationales Stadtentwicklungsprogramm für den Zeitraum 1995-2000 aufgestellt hat (sog. Programa Nacional de Desarrollo Urbano 1995-2000). Die generelle Politik ist die Konsolidierung eines hierarchischen Siedlungsnetzes. Dies soll u. a. mittels eines neuen „100 StädteProgramms" (Programa de 100 Ciudades) — aufgestellt vom Minsterium für soziale Entwicklung (Secretaría de Desarrollo Social, SEDESOL) — geschehen (SEDESOL 1994; die zusammenfassende Darstellung von Castro Castro 1995 sowie Internet14). Das Programm betrifft genau genommen 116 strategisch ausgewählte Klein- und Mittelstädte, in denen ca. 32 Mio. Einwohner, d. h. mehr als die Hälfte der städtischen Bevölkerung Mexikos, leben. Diese in ihrer Verteilung in Abbildung 2 dargestellten Städte haben nach Auffassung von SEDESOL das Potential, Beschäftigung zu entwickeln und Bevölkerungsströme aufzufangen, einen bedeutenden Einfluß auf ihr jeweiliges regionales Umfeld auszuüben und — zusammen mit den vier großen Metropolitangebieten von Mexiko-Stadt, Guadalajara, Monterrey und Puebla — die grundlegende Siedlungsstruktur im nationalen Rahmen zu bilden. In Zusammenarbeit der drei 14
http://www.sedesol.gob.mx/DESURYVI/DESURB/PNURB.HTM
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Verwaltungsebenen (national, staatlich, gemeindlich) sowie mit den sozialen und privaten Sektoren sollen vor allem folgende Aktionslinien verfolgt werden: Regulierung der Bodennutzung und der städtischen Verwaltung, Modernisierung des Katasters, der öffentlichen Eigentums- und Handelsregister, Einbeziehung des Bodens in die Stadtentwicklung, Errichtung effizienter Verkehrs- und öffentlicher Transportinfrastrukturen, Verbesserung von Umweltaspekten sowie wirtschaftliche und soziale Reaktivierung der Stadtzentren.15 Die mexikanische Bundesregierung hat sich z. B. 1996 erheblich an den entsprechenden Kosten beteiligt (54,5% von einer Gesamtausgabensumme für das „100 Städte-Programm" von 886 Mio. pesos). Um die Konsolidierung, und zwar die Verbesserung städtischer Marginalgebiete, der interkommunalen Koordination der kommunalen Verwaltung, der nachhaltigen metropolitanen Neuordnung und multimodaler Verkehrssysteme der vier großen Metropolitangebiete von Mexiko-Stadt, Guadalajara, Monterrey und Puebla zu fördern, besteht unter der jetzigen mexikanischen Regierung ein sog. Programm zur Konsolidierung der Metropolitangebiete (Programa de Consolidación de las Zonas Metropolitanas).16 Hinzu kommen weitere nationale Programme: Programm für Raumordnung und Förderung der Stadtentwicklung (Programa de Ordenamiento Territorial y Promoción del Desarrollo Urbano), 17 Programm zur Förderung der sozialen Partizipation in der Stadtentwicklung (Programa de Impulso a la Participación Social en el Desarrollo Urbano) 18 sowie als Teil des Nationalen Entwicklungsplans 1995-2000 ein Wohnungsbauprogramm (Programa de Vivienda 1995-2000). 19 Nach dem zuletzt genannten Programm sind für den Zeitraum 1996-2000 in Mexiko die Neuerrichtung von rund 1,826 Mio. Wohnungen sowie eine annährend gleich große Zahl von Wohnungsverbesserungen erforderlich. Für die Abschätzung der Folgewirkungen der genannten jüngeren Stadtentwicklungs- bzw. Sonderprogramme der jetzigen Regierung unter der Präsidentschaft von Ernesto Zedillo Ponce de León besteht aktueller Forschungsbedarf; entsprechende Analysen bzw. empirische Erfolgskontrollen sind in Mexiko nicht zuletzt u. a. wegen der auch auf staatlicher und kommunaler Ebene bestehenden zahlreichen Entwicklungsprogramme schwierig.
15 http://www.sedecol.gob.mx/DESURYVI/DESURB/P100C.HTM 1 6 http://www.sedesol.gob.mx/DESURYVI/DESURB/ZONMET.HTM 17 http://sedesol.gob.mx/DESURYVI/DESURB/REORDTER.HTM 18 http://www.sedesol.gob.mx/DESURYVI/DESURB/IMPPARSO.HTM 1 9 http://www.sedesol.gob.mx/DESURYVI/VIVIENDA/PROVIV95.HTM
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Zusammenhänge zwischen Wirtschqfts- und Stadtentwicklung Bereits bei der Darstellung des Forschungsstands in bezug auf die Metropolisierung wurde auf Analysen der Zusammenhänge zwischen der wirtschaftlichen Entwicklung und den Expansions- sowie Umstrukturierungsprozessen innerhalb der großen Metropolitangebiete hingewiesen. Wie wichtig etwa Industrialisierungsprozesse auf die Entwicklung des mexikanischen Städtesystems sind, hat Camberas Garibi (1994) zusammenfassend aufgezeigt. Zu den bislang behandelten Einzelaspekten bzw. Themen zählen u. a.: • Beziehungen zwischen wirtschaftlichen Transformationsprozessen, Städtewachstum und Lebensbedingungen (s. Rodríguez Hernández, 1995, mit Ableitung von Indizes des Lebensstandards und sozioökonomischen Wandels; Aguilar/Rodríguez Hernández 1997). In ihrer Habilitationsschrift hat Fuchs (1999) anhand des Metropolitangebietes von Puebla Erwerbsbedingungen und -Strategien von Bevölkerung bzw. Haushalten im Einfluß der Wirtschaftskrise 1994/95 unter besonderer Berücksichtigung der Globalisierung und nationalen Regulation detailliert empirisch untersucht. — Zu den Beziehungen zwischen wirtschaftlichen Veränderungen (einschließlich Wirtschaftskrisen) sowie Stadt-, Metropolitangebiets- und Regionalentwicklung vgl. auch Garza/Rivera (1994). • Zusammenhänge zwischen Wanderungen, sozio-ökonomischen Wandlungen und Stadtentwicklung (vgl. z. B. Gormsen 1986, Velázquez/Papail 1997). • Auswirkungen der sog. Maquiladora-Industrien (industrias maquiladoras), d. h. von exportorientierten (ausländischen) Lohnveredlungsindustrien, auf die städtische Beschäftigungsentwicklung, vor allem in den nahe den USA gelegenen „Grenzstaaten" des nördlichen Mexikos. Seit Ende der 80er Jahre bildeten die Maqualidoras jedoch auch ein Instrument für die Dezentralisierung in bezug auf südlicher gelegene Staaten im „Innern" Mexikos. 20 — Zur Entwicklung und Bedeutung der Maquiladoras in Mexiko — auch in bezug auf die allgemeineren Restrukturierungs- und Transformationsprozesse der mexikanischen Industrie im Rahmen veränderter internationaler wirtschaftlicher Verflechtungen — vgl. u. a. López (1989), Nuhn (1994), Fuchs/Uhlen20 Diese „maquiladoras en el interior" unterscheiden sich als sog. neue Maquiladoras von denen der ersten Generation im nördlichen Mexiko z. B. durch ein höheres Lohnniveau, durch größeren Technologieeinsatz etc. Sie wurden von den mexikanischen Regierungen als wichtiges Instrument für die Anziehung von Auslandskapital sowie für die Wirtschaftsentwicklung von Mexiko insgesamt und seiner Regionen eingestuft. Zu den „nuevas maquiladoras" zählen etwa neue Automobilwerke wie die 1990 in Aguascalientes errichtete NISSAN-Fabrik (vgl. zur Standortentwicklung der Automobilindustrie in Mexiko in bezug auf das Städtesystem Czerny 1994; Fuchs 1995).
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winkel (1995), Czerny (1996), Altenburg et al. (1998); Auswirkungen auf die Beschäftigung in den Wirtschaftssektoren untersuchte anhand von Grenzstädten im Norden Mexikos Alegría (1991, 1995). — In seiner Studie über die Industrialisierung und Regionalentwicklung im Staat Jalisco stellt Palacios Lara (1997: 50-51) die seit Ende der 80er Jahre stark angewachsene Bedeutung der exportorientierten „nuevas maquiladoras" für diesen zentralmexikanischen „Binnenstaat" heraus. Es zeigt sich aber zugleich auch die ganz herausragende Attraktivität der Metropolitanregion Guadalajara für den Industrialisiemngsprozeß im Vergleich zu den Mittel- und Kleinstädten sowie ländlichen Gemeinden des Staates, denn auf diesen Verdichtungsraum konzentrieren sich nicht nur vier Fünftel aller ausländischen IndustrieZweigwerke, sondern zugleich auch mehr als 90% (von insgesamt 58 Werken mit rund 11.000 Beschäftigten) sämtlicher Maquiladoras des Staates Jalisco. — Im Rahmen der allgemeinen Entwicklungspolitik des Staates Jalisco fordert Palacios Lara (1997: 113) eine stärkere Berücksichtigung einer Industrieentwicklungspolitik (z. B. neue Optionen für die Errichtung von Industrieparks), da diese durch die neoliberalistische Wirtschaftspolitik der vergangenen zwei Legislaturperioden zu kurz gekommen sei. — In seinem Beitrag über den Wandel des mexikanischen Städtesystems unter dem Einfluß der jüngsten industriellen Standort- und Strukturveränderungen stellt Czerny (1994: 553) heraus, daß die vorstädtischen Zonen rund um die großen mexikanischen Städte durch eine bedeutende Dynamik aufgrund der Entwicklung kleiner Produktionsbetriebe gekennzeichnet sind. 21 • Stadtentwicklung durch Tourismus. Mexiko ist nicht nur das wichtigste Touristenziel innerhalb Lateinamerikas, sondern auch der Tropen oder der sog. Dritten Welt insgesamt (Gormsen 1992,1995a). Unter den Entwicklungsländern ist Mexiko zugleich „das prägnanteste Beispiel für das massive Bemühen des Staates, über eine touristische Erschließung peripherer Räume die disparitäre Raumentwicklung und vor allem das exzessive Wachstum der Megastadt Mexiko City abzuschwächen" (Vorlaufer 1996: 195). — Untersuchungen des Tourismus in Mexiko und speziell der Auswirkungen der staatlichen Tourismusplanung (vor allem seit Gründung des nationalen Touris21 „Die Standortveränderung der Unternehmen innerhalb der großen industriellen Regionen (also der Stadt Mexiko, Guadalajara, Monterrey als auch einiger Städte der Grenzzone) verläuft üblicherweise strahlenförmig in alle Richtungen. Das Gebiet, auf dem neue Betriebe entstehen, ist verhältnismäßig klein zu der gesamten Fläche des Landes. Dieses System wird bei einigen Städten zwar durch die topographischen Bedingungen eingeschränkt. Dieser Prozeß führt insgesamt aber zur Ausweitung der urbanisierten Zonen und hier zur Verstärkung des Bevölkerungswachstums" (Czerny 1994: 554).
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musfonds FONATUR im Jahre 1974) als Instrument nationaler Entwicklungs- bzw. Dezentralisierungspolitik sind damit auch von erheblicher Bedeutung für das Verständnis jüngerer Veränderungs- und Wachstumstendenzen im mexikanischen Städtesystem. Insbesondere wurden schon relativ früh und mit einer inzwischen stattlichen Anzahl deutscher, aber auch mexikanischer geographischer Arbeiten wichtige Fremdenverkehrsorte sowie deren Entwicklungsprobleme und Auswirkungen des Tourismus untersucht (vgl. z. B. Gerstenhauer 1956 und Kreth 1979, 1985 über Acapulco; Müller 1983a, 1983b, 1984a über Beispiele an der Pazifikküste; Gormsen 1979, Aguilar 1994, Arnaiz Burne/César Dachary 1994 über Cancún, Spehs 1990 über Cancún und verschiedene andere neue staatlich geplante Badeorte). Zur Entwicklung und Bedeutung des einheimischen Fremdenverkehrs in Mexiko vgl. Tyrakowski (1986a, 1994; mit räumlicher Verteilung der Wallfahrtsorte); zur allgemeinen, planungsbezogenen, aber auch regionalen und lokalen Aspekten des Tourismus in Mexiko siehe zusammenfassend Vorlaufer. — Vorlaufer (1996: 22) folgert u. a.: „Eine zentrale Problematik disparitärer Raumentwicklung, die Entfaltung eines disproportionierten Städtesystems mit einer exzessiv wachsenden Primatstadt — Mexiko City — konnte, wahrscheinlich auch durch den zumindest indirekten Einfluß der touristischen Erschließung von mehr und mehr Regionen auch der Peripherie, gemildert werden." • Innere Umstrukturierung mexikanischer Städte durch Stadterneuerungsmaßnahmen. Mexiko ist international gesehen durch relativ frühe Bemühungen um Denkmalschutz und Stadterneuerung gekennzeichnet (z. B. Denkmalschutz- und Naturschutzgesetz von 1930 für Objekte im Bundesbesitz). Das Denkmalschutzgesetz von 1972 sah erstmals den Ensemble-Schutz ganzer Viertel vor; es hatte die Ausweisung mehrerer Stadtzentren (z. B. von San Cristóbal de las Casas, Puebla oder Mexiko-Stadt) zu sog. Zonas monumentales sowie später auch die Aufnahme einiger Altstädte (México, Puebla, Oaxaca, Guanajuato) in die UNESCO-Liste des Weltkulturerbes zur Folge (Gormsen 1995a; vgl. auch Bühler 1990; Gormsen et al. 1988; Gormsen 1990). Obwohl das bereits 1938 gegründete Instituto Nacional de Antropología e Historia (INAH) schon seit Jahrzehnten zahlreiche hervorragende Restaurierungsarbeiten an kolonialzeitlichen Gebäuden im Sinne der Denkmalpflege geleistet hat und als Grundlage für erweiterte Aufgaben der Stadterneuerung und insbesondere für Festlegungen von Zonas monumentales ein Katalog sämtlicher Baudenkmäler erstellt worden ist (Gormsen 1995a: 8485), fehlen nach Gormsen vor allem für die konkreten Planungen zur Erneuerung ganzer Altstadtbereiche fast überall hinreichende Grundlagen zur Beurteilung der sozio-ökonomischen Hintergründe des Verfalls, z. B. „Be-
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standsaufnahmen der aktuellen Situation hinsichtlich der Grundbesitzverhältnisse, der Dichte und Sozialstruktur der Bevölkerung, der Nutzung und des Erhaltungszustands der Gebäude" (Gormsen 1995a: 85), so daß diesbezüglich offensichtlich noch erheblicher Forschungsbedarf besteht. • Relativ früh und bereits häufiger — vor allem von deutscher geographischer Seite — untersucht wurde das für Mexiko typische traditionelle hierarchische Wochenmarktsystem innerhalb und vor allem auch außerhalb städtischer Siedlungen, dabei insbesondere im Bereich von Puebla-Tlaxcala22 (vgl. u. a. Gormsen 1968, 1971; Tyrakowski 1986b, 1990; Seele 1994, 1996). • Wie die Untersuchung von Gormsen (1968) zeigt, bildete auch die Analyse von Stadt-Umland-Beziehungen in Mexiko einen frühen Forschungsansatz; vgl. dazu auch die jüngere Arbeit von Kunz et al. (1992). • Aus dem früheren Mexiko-Projekt der DFG (vgl. Anm. 22) entstammen u. a. Untersuchungen der Stadt Puebla und ihres Metropolisierungsprozesses (Gormsen 1981), die in Zusammenhang gebracht wurden mit einem zeiträumlichen Entwickungsmodell der Strukturveränderungen der spanischamerikanischen Stadt seit der Kolonialzeit, das Gormsen 1981 entworfen und in mehreren Veröffentlichungen auf die Stadtentwicklung und Metropolisierung in Mexiko bezogen hat (vgl. u. a. Gormsen 1995a, Abb. 20). Schluß Verstädterung, Entwicklung des Städtesystems, Metropolisierung und damit im Zusammenhang stehende Prozesse und Aspekte der Raumentwicklung in Mexiko bilden — wie dieser Überblicksbeitrag u. a. verdeutlichen wollte — sehr differenzierte Forschungsfelder, auf denen sich die deutsche Stadtgeographie mit inzwischen langer Tradition neben einer Reihe von Nachbarwissenschaften recht vielseitig betätigt, — dabei in der Regel in Kooperation mit Forschungsinstitutionen an mexikanischen Universitäten.23 Die deutschsprachigen stadt22
Dieser war auch der regionale Bezugsraum eines früheren von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderten umfangreichen interdisziplinären Mexiko-Projektes — mit Arbeiten zwischen ca. 1968 und 1991; vgl. die zusammenfassende Wertung des MexikoProjektes einschließlich Literaturhinweisen durch Bähr/Gormsen 1996: 93-94. 23 Gegenüber der Situation vor beispielsweise einem Jahrzehnt fallen die sehr stark angewachsenen einheimischen Aktivitäten zur Stadtforschung in Mexiko durch eine Anzahl renommierter Institute, vor allem an wichtigen Universitäten, mit einer inzwischen ganz erheblich angewachsenen Zahl von Veröffentlichungen auf (vgl. auch den umfangreichen interdisziplinären Forschungsbericht von Garza 1996). Dazu zählen nicht nur Publikationen in Sammelbänden, von denen ein großer Teil in diesem Beitrag zitiert wurde, sondern auch eine ebensolche „Flut" von Zeitschriftenaufsätzen, auch aus mit der Stadtforschung
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geographischen Untersuchungen sind in besonderem Maße durch ihre empirisch-analytischen Schwerpunkte mit spezieller Berücksichtigung von „Feldarbeiten", aber auch von Planungs- und Politikbezügen gekennzeichnet, während die mexikanischen Veröffentlichungen im allgemeinen mehr auf die Auswertung amtlicher statistischer Daten ausgerichtet sind und diese oftmals auch im Zusammenhang mit nationalen, staatlichen und gemeindlichen Plänen und Programmen interpretieren. In bezug auf den zuletzt genannten Aspekt besteht allerdings — inbesondere hinsichtlich der Evaluierung der Wirkungen der jüngsten Stadtentwicklungsprogramme — m. E. noch erheblicher empirischer Forschungsbedarf, wie insbesondere am Beispiel der Mittel- und Kleinstädte oder des neuen nationalen „100 Städte-Programms" verdeutlicht werden konnte.
benachbarten Wissenschaften, deren Berücksichtigung das ohnehin schon lange Literaturverzeichnis dieses Aufsatzes völlig gesprengt hätte (vgl. z. B. die vom Instituto de Estudios Económicos y Regionales, INESER, Universidad de Guadalajara, seit 1988 herausgegebene Zeitschrift Carta económica regional, deren Beiträge z. T. auch für die sozioökonomische Entwicklung mexikanischer Städte von Belang sind, sowie vor allem die Zeitschrift Ciudades, Revista Trimestral de la Red Nacional de Investigación Urbana, Puebla).
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Literatur24 Abkürzungen im Literaturverzeichnis: Beitr. = Beiträge CEDDU = Centro de Estudios Demográficos y de Desarrollo Urbano. CEED = Centro de Estudios Estratégicos para el Desarrollo CRIM = Centro Regional de Investigaciones Multidisciplinarías CUCSH = Centro Universitario de Ciencies Sociales y Humanidades Geogr./geogr. = Geografía bzw. Geographie/geographisch(e) INSEUR-NL = Instituto de Estudios Urbanos de Nuevo León Inst. = Instituto, Institut Sehr. = Schriften Stud. = Studien, Studies UdeG = Universidad de Guadalajara UNAM = Universidad Nacional Autónoma de México Veröff. = Veröffentlichungen Aguilar, Adrián Guillermo (1993): La Ciudad de México y las nuevas dimensiones de la reestructuración metropolitana. In: Luis Felipe Cabrales Barajas (Hrsg.): Espacio urbano, cambio social y geografía aplicada. Guadalajara, UdeG, Facultad de Geogr. y Ordenación Territorial. S. 25-51. Aguirre Jiménez/Alicia, Alma (1998): La escasez de agua en la zona metropolitana de Guadalajara: ¿un problema sin solución? Carta economica regional, UdeG, Marzo-abril: 2126. Aguilar, Adrián Guillermo (1994): Ingreso y mercado laboral en ciudades turísticas. Ciudades, Puebla 23: 10-18. Aguilar, Adrián Guillermo/Rodríguez Hernández, Francisco (1995): Tendencias de desconcentración urbana en México, 1970-1990. In: Adrián Guillermo Aguilar, Luis Javier Castro Castro und Eduardo Juárez Aguirre (Hrsg.): El desarrollo urbano de México a fines del siglo XX. Monterrey, INSEUR-NL. S. 75-100. Aguilar, Adrián Guillermo/Castro Castro, Luis Javier/Juárez Aguirre, Eduardo (Hrsg.) (1995): El desarrollo urbano de México a fines del siglo XX. Monterrey, INSEUR-NL. S. 75-100. Aguilar, Adrián Guillermo/Graizbord, Boris/Sánchez Crispin, Alvaro (1996): Las ciudades intermedias y el desarrollo regional en México. México, D. F., Dirección General de Publicaciones. Aguilar, Adrián Guillermo/Rodríguez Hernández, Francisco (Hrsg.) (1997): Economía global y proceso urbano en México. Cambios y tendencias recientes. Cuemavaca, Morelos, UNAM, CRIM. Aguilar Barajas, Ismael (1992): Descentralización industrial y desarrollo regional en México. Investigaciones Geográficas, Boletín del Inst. de Geogr., México D. F., Núm. especial: 101-143. Aguilar Barajas, Ismael/Spence, Nigel (1988): Industrial decentralisation and regional policy, 1970-1986: the conflicting policy response. In: George Philip (Hrsg.): The Mexican eeonomy. London, Routledge. S. 183-228. 24
Ohne Veröffentlichungen im Internet, siehe dazu entsprechende Hinweise in einigen Fußnoten.
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Südbrasilianer als Akteure beim ländlichen Strukturwandel im brasilianischen Mittelwesten: Das Beispiel Mato Grosso GERD KOHLHEPP UND MARKUS BLUMENSCHEIN1
Ausgangssituation in Südbrasilien Südbrasilien wurde bis in die 1970er Jahre als die Großregion Brasiliens betrachtet, in der — insgesamt gesehen — die soziale Situation im ländlichen Raum eine relativ günstige Basis für eine tragfahige Regionalentwicklung bot. Dieses Szenario ist in Teilen des Südens im Vergleich zu anderen Regionen Brasiliens zwar immer noch relevant. Es macht jedoch sowohl aufgrund sozialräumlicher, ökonomischer und ökologischer Kriterien als auch in seiner regionalen Differenzierung eine genaue Analyse erforderlich, will man den Beitrag der Südbrasilianer im Mittelwesten verstehen. Während Rio Grande do Sul und Santa Catarina Zielgebiete staatlich oder privat gelenkter Agrarkolonisation mit vorwiegend deutschen, italienischen und osteuropäischen Einwanderern des 19. Jahrhunderts waren und sich in subtropischen und randtropischen Regenwäldern ethnisch homogene, geschlossene und räumlich isolierte Siedlungsgebiete mit kleinbäuerlichen Rodungskolonisation bildeten, begann in Paraná die Landerschließung in größerem Umfang erst im 20. Jahrhundert. Sie ist im Westen des Staates vornehmlich im Rahmen der durch Binnenwanderung aus den südlichen Nachbarstaaten vordringenden Pionierfronten erfolgt, während sich in Nord-Paraná die Kaffce-frontier von Säo Paulo nach Südwesten verschob und in den 50er und 60er Jahren ihre maximale Ausdehnung erreichte. Die natur- und sozialräumlichen Disparitäten zwischen den Niedergrassteppen der Campanha mit extensiver Rinderweidewirtschaft auf lusobrasilianischen Latifundien und den Waldgebieten mit vorwiegend mittel- und südeuro1
Die Studie entstand im Rahmen des von G. Kohlhepp geleiteten Forschungsprojekts „Sozioökonomische Struktur und ihre umweltbeeinflussende Dynamik im Einzugsgebiet des Oberen Rio Paraguai (Mato Grosso, Brasilien)" mit finanzieller Unterstützung des BMBF im Rahmen des deutsch-brasilianischen SHIFT-Programms.
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Gerd Kohlhepp und Markus Blumenschein
päischen Kleinbauern, die auf 25 ha-Betrieben eine auf Grundnahrungsmittelproduktion ausgerichtete Landwechselwirtschaft betreiben (Pfeifer 1967), zeigen in Rio Grande do Sul das in Brasilien über Jahrhunderte geltende Paradigma: Wald als Aktionsraum ackerbaulicher Aktivitäten und Kernraum der Besiedlung — Campos als Viehwirtschaftsregion der marktfernen Peripherie im Sinne von J. H. von Thünen. Der hohe Bevölkerungsdruck in den Rio Grandenser Altsiedelgebieten — in den 1950er Jahren waren trotz einer geringen Gesamtzahl deutscher Einwanderer nach Rio Grande do Sul (1824-1939: 75.000) bereits knapp eine Million Nachkommen ansässig (Roche 1959; Schräder 1994) — führte zur Realteilung und damit in der folgenden Generation zwangsläufig zur Abwanderung an neue Pionierfronten im Nordwesten des Staates. Bei dieser Etappenwanderung veränderte sich zunächst weder die Betriebsstruktur noch die ökonomische Zielsetzung. Die Waldrodung war Bestandteil des Systems der Landwechselwirtschaft, und die hohe Rotationsfrequenz des Feld-Wald-Wechsels verstärkte bei den Kleinbetrieben die Schädigung des Waldökosystems. Die Campos des Hochlands wurden in Rio Grande do Sul erst lange nach der Erschließung neuer Pionierzonen in den Waldgebieten des Alto Uruguai agrarwirtschaftlich genutzt. Mit der Modernisierung der Landwirtschaft erlebte diese Region seit den 60er Jahren durch Mechanisierung, Düngung, Fruchtwechsel und Betriebs Vergrößerung eine völlig neue Ausrichtung. In Paraná waren die Campos Gerais bei Ponta Grossa bereits Anfang des 20. Jahrhunderts zum Innovationszentrum für eine erfolgreiche agrarische „Inwertsetzung" des ländlichen Raums außerhalb der Waldgebiete geworden (Waibel 1955), die mit der 1952 gegründeten Donauschwabensiedlung Entre Rios einen Höhepunkt erlebte (Kohlhepp 1989a). Die flächenhafte Waldvernichtung setzte beim zeitlich-räumlichen Vordringen der Binnenwanderung von Rio Grande do Sul über West-Santa Catarina erst in West-Paraná ein, wo sich mit der modernisierten Landwirtschaft ab der zweiten Hälfte der 60er Jahre schnell große Mittel- und Großbetriebe auf der Basis des Soja-Weizen-Anbaus entwickelten. In Nord-Paraná hatte der Vorstoß des Kaffeeanbaus durch soziale Akteure anderer ethnischer Herkunft bereits zu großflächigen Brandrodungen geführt (Kohlhepp 1975). Die im Anschluß von Südbrasilien ausgehende Binnenwanderung nach Norden übersprang zunächst die Feuchtsavannen Zentralbrasiliens und konzentrierte sich — nach punkthaften Anfängen im nördlichen Mato Grosso in den 60er Jahren (Pfeifer 1966) — ab den 70er Jahren auf die tropischen Regenwälder Amazoniens an der Transamazönica, in Mato Grosso und in Rondonia. Erst mit einer gewissen Phasenverzögerung wurde die zentralbrasilianische Feuchtsavanne (Campos cerrados) — mitbedingt durch die Mißerfolge der
Südbrasilianer als Akteure beim ländlichen Strukturwandel
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Agrarkolonisation in Amazonien (Kohlhepp 1987b) — zum neuen „El Dorado" der Binnenwanderung aus Südbrasilien (Coy/Lücker 1993). Inzwischen hatten die Modernisierung der Landwirtschaft in den Südstaaten und das durch Frostschäden bedingte Ende der Kaifeewirtschaft in Nord-Paraná zu einem zunehmenden Verdrängungsprozeß und Abwanderungsdruck geführt. Der als Berater des brasilianischen Conselho Nacional de Geografía tätige deutsche Geograph Leo Waibel war bereits in der zweiten Hälfte der 40er Jahre davon überzeugt, daß die Campos cerrados durch Ackerbau erschlossen werden könnten: „Die Landwirtschaft auf cerrado-Land wird — falls gut durchgeführt — die soziale und wirtschaftliche Situation des Planalto Central vollständig verändern. Dazu wäre jedoch eine totale Änderung der landwirtschaftlichen Betriebsmethoden notwendig, ein Wechsel von der Landwechselwirtschaft zur permanenten Landwirtschaft ..." (Waibel 1948, zit. nach 1984: 29). Ländlicher Strukturwandel im brasilianischen Mittelwesten Die Träger der großflächigen ackerbaulichen Nutzung, die sich in der zentralbrasilianischen Feuchtsavanne (Campos cerrados) entwickelt hat, sind Sulistas, die verstärkt ab 1975 aus den südlichen Bundesstaaten Rio Grande do Sul, Santa Catarina und Paraná abwanderten. Neueste statistische Angaben weisen für den Zeitraum 1975-1996 einen Wanderungssaldo von rund einer Million Familien aus. Mit der Migration der südbrasilianischen Akteure wurden erstmals die traditionell durch Rinderweide- und Extraktionswirtschaft extensiv genutzten Hochflächen (chapadöes) des Planalto Central einer großbetrieblichen, modernisierten und exportorientierten Landbewirtschaftung zugeführt. Dabei muß berücksichtigt werden, daß die ausgedehnten Savannen des zentralbrasilianischen Hochlandes in der Regel mit unfruchtbaren dunkelroten und rotgelben Latosolen ausgestattet sind und eine ausgedehnte Trockenperiode im Südwinter aufweisen. In Südbrasilien war die Bewirtschaftung dagegen ganzjährig auf relativ fruchtbaren Waldböden und vergleichsweise kleinen Parzellen erfolgt. Die Entwicklung im Mittelwesten erforderte einen kapital- und energieintensiven Input externer Betriebsmittel. Da bis vor nicht allzu langer Zeit in Brasilien allein die Waldböden für den Ackerbau geeignet gehalten wurden (Waibel 1955) und der Einsatz intensiver Bewirtschaftungsmethoden in großem Maßstab nicht üblich war, sind diese Innovationen in der Feuchtsavanne als ein herausragendes Phänomen in der brasilianischen Agrarentwicklung anzusehen. Der landwirtschaftliche Strukturwandel nahm seinen Ausgang in den Spezialprogrammen zur Erschließung des Cerrado: PROTERRA (Programa de Redistribuido da Terra e de Estímulo ä Agroindústria do Norte e do Nordeste, 1972-1978) und POLOCENTRO (Programa de Desenvolvimento dos Cerrados,
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Gerd Kohlhepp und Markus Blumenschein
1975-1982) (Mueller 1990; Porto/Rizzieri 1984; Rönick 1982). Diese Programme schufen erste juristische, infrastrukturelle und finanzielle Grundlagen in Form subventionierter Kredite sowie ein darauf abgestimmtes Modell modernisierter Bewirtschaftung, das über den hierfür geschaffenen staatlichen Agrarforschungs- und Agrarberatungsapparat entwickelt und diffundiert wurde 2 . Als wesentlicher Faktor einer dauerhaften Erschließung des Cerrado muß der sukzessiv voranschreitende Prozeß der Agrarindustrialisierung genannt werden. Vermarktungs-, Transport- und Verarbeitungsprobleme, später Finanzierungsengpässe, die in den Anfangsjahren die Sojaanbaugebiete Mato Grossos gegenüber denen im Süden Brasiliens benachteiligten, wurden abgebaut. Die schrittweise Inbetriebnahme eines ersten agroindustriellen Komplexes (Sojamühle, Sojaölraffinerie, Pelletproduktion, Agrarhandel, Transport- und Lagerkapazitäten) Anfang der 80er Jahre wurde die Grundlage für eine wirtschaftlich tragfähige und breite Ausdehnung der Sojaanbauflächen in der Region. Der Sojakomplex bot zudem eine Professionalisierung des landwirtschaftlichen Sektors, wie sie in einer exportorientierten und kapitalintensiven Agrarökonomie erforderlich wurde. Dies wurde gerade zu dem Zeitpunkt notwendig, als seit der Weltschuldenkrise 1982 der exportorientierte Sojaanbau als wichtiger Devisenbringer betrachtet und der brasilianische Mittelwesten als hauptsächlicher Wirtschaftsraum einer entsprechenden Agrarentwicklung ausersehen wurde. Träger einer solchen ersten Agroindustrialisierung waren nationale Agroindustrien aus Südbrasilien, darunter privatwirtschaftliche Firmen und Kooperativen. Letztere erhielten auch staatliche Anreize zur Förderung der Agrarkolonisation im Cerrado-Bereich, vor allem ab den 80er Jahren durch das japanischbrasilianische Kooperationsprogramm zur Entwicklung der Cerrados PRODECER (Programa de Coopera^äo Nipo-Brasileira de Desenvolvimento dos Cerrados) (Bertrand et al. 1991; Cunha et al. 1994; Pires 1996). Enklavenbildung: Südbrasilianer in Mato Grosso Eine gelenkte Kolonisation durch südbrasilianische Kooperativen, die vor allem im Cerrado und in den tropischen Regenwald-Gebieten Nord-Mato Grossos 2
Das Centro de Pesquisa Agropecuäria dos Cerrados (CPAC) der Empresa Brasileira de Pesquisa Agropecuäria (EMBRAPA) wurde im Zuge des POLOCENTRO-Programms gegründet. In Mato Grosso entstanden 1974 EMATER-MT (Empresa de Assistencia e Extensäo Rural do Estado de Mato Grosso) und 1979 EMPA-MT (Empresa de Pesquisa Agropecuäria do Estado de Mato Grosso).
Südbrasilianer als Akteure beim ländlichen Strukturwandel
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durchgefühlt wurde (entlang der Cuiabä-Santar£m-Straße sowie im Vale do Araguaia) (vgl. Coy/Lücker 1993), ermöglichte anfangs homogene Territorien von zumeist deutsch- und italienisch-stämmigen Südbrasilianem mit gleicher regionaler Herkunft und mit ähnlichem wirtschaftlichen Ausgangszustand. In O/rado-Regionen, wie dem M6dio Norte und dem Südosten Mato Grossos, die sich durch eine spontane Kolonisation auszeichnen, entstanden hingegen Territorien von Südbrasilianem gemischter Herkunft und einer heterogenen wirtschaftlichen Stellung mit einer ausgeprägten Varianz der Betriebsgrößen (vgl. Blumenschein 1999). Generell bilden sich aber in beiden Fällen verwandt- und bekanntschaftliche Netzwerke aus, von denen eine stabilisierende Kontinuität zwischen der Herkunftsregion und der Zielregion ausgeht. So brechen die Beziehungen mit der südlichen Heimatregion nicht ab und bieten Stabilität für die nachfolgenden Migranten. In vielen Fällen fungiert auf diese Weise der Migrant als erster Vorposten in der neuen Heimat, dem weitere Familienmitglieder nachrücken. Anfängliche Schwierigkeiten und Unsicherheiten, die sich aus den neuen lokalen Verhältnissen ergeben (Frage der Landtitel, Kaufverträge, Bodenbearbeitung, Betriebsführung, etc.), werden sukzessive abgebaut. Der kleinbäuerliche Kolonist (colono) aus Südbrasilien lernt so, den Anforderungen eines neuen Agrarunternehmertums gerecht zu werden. In vielen Regionen, die sich durch eine spontane Kolonisation auszeichnen, kann eine Reihe von Clustern von Familien gemeinsamer ethnosozialer und regionaler Herkunft ausgemacht werden. Es liegt dabei auf der Hand, daß eine homogene Besiedlung und eine einheitliche Erwerbsweise auch eine gleichartige Wirtschaftskultur auf regionaler Ebene hervorbrachten. Diese ließ zunächst einmal die Vielfalt von Eigenkapital, von Organisationsstrukturen landwirtschaftlicher Betriebe sowie die Rolle von Kommunikation und sozialem Milieu innerhalb der modernisierten Agrarbetriebe zurücktreten. Auf der anderen Seite grenzten sich diese Betriebe aufgrund ihrer Partizipation an spezifischen Kredit- und Infrastrukturprogrammen von den herkömmlichen Betrieben der traditionellen Bevölkerung Mato Grossos ab. Die Schaffung einer „südbrasilianischen Diaspora" im Mittelwesten ließ auch sozio-kulturelle Unterschiede zu der traditionellen Bevölkerung hervortreten, die selbst über die Grenzen des Mittelwestens hinaus auf den CerradoHochflächen zu beobachten sind (vgl. Haesbaert 1997). Diese äußerten sich in kulturellen Konflikten mit der jeweiligen künstlichen „Überhöhung" der eigenen regionalen Identität (traditionelle Bevölkerung versus „Gaücho" bzw. „Sulista") und auf politischer Ebene mit der Emanzipierung neu gegründeter Munizipien mit einer vorherrschend südbrasilianischen Bevölkerung. Ihre politische Einflußnahme wächst heute vielfach über den lokalen Stadtrat (Cämara Municipat) und die Präfektur hinaus und wird auch über bundesstaatliche Ab-
70
Gerd Kohlhepp und Markus Blumenschein
geordnete, Minister (Secretärios) und neuerdings einem Senator auf überregionaler Ebene gestaltet. Das Vermächtnis der südbrasilianischen Migranten äußert sich zudem in den CTGs („Centros de Tradiföes Gaüchas") (siehe Abbildung 1), den evangelisch-lutheranischen Kirchen sowie den Radiostationen mit Gaücho-Musik, die mit der Migration der Südbrasilianer in den Mittelwesten diffundierten. Abbildung 1: Die Centros de Tradiföes Gaüchas in Brasilien • RR
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CTG (Centro de Tradiföes Gaüchas)
222 Anzahl der CTGs in Bundesstaaten mit mehr als SO Zentren
CE
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MT
GO MG MS SP ,(51) PR (222)
500
1000 km '
Quellen: Haesbert (1997: 252), Cohen (1999). Entwurf: M. Blumenschein.
Südbrasilianer als Akteure beim ländlichen Strukturwandel
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Soja als Leitkultur der Landnutzung Der Aufstieg der Südbrasilianer zu einer neuen landwirtschaftlichen Elite in Mato Grosso ist im allgemeinen mit dem Sojaanbau verbunden. Dessen rasche Ausbreitung darf hingegen nicht in einfacher Analogie zu der Migration gesehen werden. Vielmehr wurden in einer ersten Phase (vor 1975) die aus dem Süden tradierten Landnutzungsformen (z. B. auch Kaffee- und Weizenanbau) in der Zielregion reproduziert. Der anfängliche Suchprozeß erwies sich als mühevoll und war durch eine Reihe von Fehlschlägen gekennzeichnet. So bildete sich in vielen marktfernen Regionen die traditionell in der Region dominierende extensive Rinderweidewirtschaft als vorwiegende Nutzungsform heraus. Erst mit den staatlichen Programmen zur Entwicklung der Cerrado-Region und einer konsequenten Aufsiedlung entstanden in einer zweiten Phase (ab 1975) neue Netzwerke (Agrarberatung, Kreditbank, Marktbeziehungen, Betriebsmittelfirmen), die unter einem festgelegten techno-ökonomischen Paradigma eine rasche Ausbreitung des mechanisierten Reisanbaus und des Sojaanbaus in Monokultur (ab 1980) unterstützten. Gerade der Sojaanbau erwies sich ab 1982 als eine probate Landnutzungsform, um den Devisenansprüchen der Regierung durch exportorientierte Produktion zu genügen und den laufenden Produktionskostenverteuerungen zu begegnen, da fortan die zinssubventionierten Kredite entfielen. Die rasche Anbauexpansion war zudem durch die Möglichkeit einer maschinellen Rodung und eines mechanisierten Anbaus auf den CerradoHochflächen begünstigt (siehe Abbildung 2). Anders als beim Anbau von Trokkenreis in Monokultur, der bereits ab dem dritten Emtejahr stark an Produktivität einbüßte, erwies sich der monokulturartige Sojaanbau als mittelfristig tragfähig, wenn auch mit einem erheblich erhöhten Einsatz externer Betriebsmittel (Blumenschein 1995a, b). Die modernisierte Sojaproduktion in Mato Grosso wuchs somit beträchtlich an und erreichte 1997/98 7,16 Mio. t (siehe Abbildung 3). Damit stieg Mato Grosso in wenigen Jahren zu einem der bedeutendsten Sojaproduzenten Brasiliens auf und steht seit 1996/97 an zweiter Stelle dicht hinter dem Bundesstaat Paranä (1997/98: 7,29 Mio. t). Der beispiellose Rückgang der staatlichen Kreditfinanzierung für den Sojaanbau und andere staatliche Eingriffe im Zuge der Deregulierung der Agrarpolitik sowie die verstärkt auftretenden agrarökologischen Degradierungen, die durch die Sojamonokultur hervorgerufen werden, trugen jedoch seit den 90er Jahren auch in Mato Grosso zu einer schwerwiegenden Krise des Sojaanbaus bei (Blumenschein 1999). Die exponentielle Steigerung der matogrossensischen Sojaproduktion, die in diesem Jahrzehnt jährlich bis zu über eine Million t betragen hat und hauptsächlich über die Neulanderschließung im Mddio Norte Mato Grossos (Chapada dos Parecis) erzielt wurde, mag dabei über die weitrei-
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Wachstum und Entwicklung in Chile
111
Für den Zeitraum 1985 bis 1995 weist Chile mit 6,1% die höchste durchschnittliche jährliche Wachstumsrate des Bruttosozialproduktes pro Kopf aller lateinamerikanischer Länder auf. Beim in laufenden US-$ gemessenen ProKopf-Einkommen liegt Chile 1995 mit 4.160 US-$ hinter Argentinien (8.030 US-$) und Uruguay (5.170 US-$) an dritter Stelle, während es bei der Schätzung des Pro-Kopf-Einkommens in Kaufkraftparitätendollar ($PPP) dann aber mit 9.520 $ppp an erster Stelle vor Argentinien (8.310 $PPP) und Venezuela (7.900 $PPP) rangiert (Weltbank 1997: 246). Bis 1997 ist das Pro-KopfEinkommen Chiles auf 5.020 US-$ bzw. 12.080 $PPP gestiegen gegenüber Argentinien (8.570 US-$ bzw. 9.950 $PPP) und Uruguay (6.020 US-$ bzw. 8.460 $ P P P ) (Weltbank 1998: 190f). So ist es insgesamt berechtigt, von einem Wirtschaftswunder Chiles zu sprechen. Chile ist derzeit in Lateinamerika nicht nur das wachstumsstärkste Land, sondern es liegt auch bei der menschlichen Entwicklung vorn. Es weist den höchsten Human Development Index (HDI) von allen lateinamerikanischen Ländern auf. Im Bericht über die menschliche Entwicklung für das Jahr 1998 wird Chile an 31. Stelle, vor Argentinien (36), Uruguay (38) und Venezuela (46) geführt; der HDI-Wert für das Jahr 1995 beträgt für Chile 0,893, gegenüber 0,888 für Argentinien, 0,885 für Uruguay und 0,860 für Venezuela (UNDP 1998: 152). Chile ist es also gelungen, sein hohes wirtschaftliches Wachstum mit erheblichen Fortschritten in der menschlichen Entwicklung zu verbinden. Für 1995 wird die Lebenserwartung bei der Geburt in Chile mit 72 Jahren angegeben. Damit liegt Chile (zusammen mit Mexiko) knapp hinter Argentinien und Uruguay mit jeweils 73 Jahren. Auch im Hinblick auf einen geringen Anteil an erwachsenen Analphabeten befindet sich Chile in der Spitzengruppe in Lateinamerika; mit 4,8% Analphabeten unter den Erwachsenen liegt Chile gleich hinter Argentinien mit 3,8% und Uruguay mit 2,7%, wie aus Tabelle 1 zu ersehen ist (Weltbank 1997: 246f) Etwas schlechter sieht es dagegen für Chile bei der Frage der Armut unter der Bevölkerung aus. Der Weltentwicklungsbericht 1997 gibt an, daß in Chile 15% der Bevölkerung über ein Einkommen verfugen, das unter 1 $ PPP pro Tag liegt. Damit rangiert Chile zwar hinter Bolivien (7,1%), Paraguay (7,4%), Venezuela (11,8%) und Mexiko (14,9%), aber deutlich vor Brasilien (28,7%), Ecuador (30,4%) und Peru (49,4%; Weltbank 1997: 246f). Chile liegt hier also im Mittelfeld. Zu beobachten bleibt daher, ob und inwieweit Chile in den kommenden Jahren seine hohe Wachstumsstärke nachhaltig für die Bekämpfung der absoluten Armut nutzen kann. Chile weist nicht nur seit langem hohe Wachstumsraten auf, sondern nimmt auch mit seiner beachtlichen Geldwertstabilität eine Spitzenposition in Lateinamerika ein, wie Tabelle 1 verdeutlicht. Chiles Inflation liegt seit vielen Jahren
112
Rolf Eschenburg
deutlich unter dem lateinamerikanischen Durchschnitt und nimmt seit 1990 ständig ab. Für 1998 wird die Inflationsrate auf 4,5% geschätzt, und für 1999 ist ein Wert von 4% projektiert. Damit nähert sich Chile Inflationswerten, die auch aus europäischer Sicht noch als maßvoll bezeichnet werden können. Abbildung 2: Inflation in Chile und Lateinamerika (jährliche Inflationsraten in Prozent)
Quelle: Dresdner Bank Lateinamerika AG (1998). Tabelle 2: Ausgewählte Daten von Chile und Deutschland Chile
Deutschland
Bev. in Mio., 1994
14
81,5
Fläche, 1000 km2
757
352
3.520
25.580
B S P / Kopf, US-$, 1994 Eink.-Vert., S.Quintil/l.Quintil
(1994)
Eink.-Vert., lO.Dezil/l.Dezil Eink.-Vert., Gini-Index BSP / Kopf, ppp, US-$, 1994
17,4
(1989)
(1994)
32,9
(1989)
6,1
(1994)
56,5
(1989)
28,1
8.890
4,1
19.480
33
18
Verstädterung
86%
86%
Wohneigentumsquote
70%
41%
HDI-Rang u. 174 Ländern
Quelle: Weltbank (1996,1998); UNPD (1996).
Wachstum und Entwicklung in Chile
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Zwar ist bei weitem noch nicht die sprichwörtliche Währungsstabilität Deutschlands erreicht, aber Chile weist mehr und mehr sozioökonomische Daten auf, die sich durchaus schon sinnvoll mit entsprechenden Daten für Deutschland in Beziehung setzen lassen, wie Tabelle 2 anhand ausgewählter Daten für einen knappen Ländervergleich Deutschland/Chile verdeutlicht. Bei deutlich geringerer Bevölkerungsdichte, ist die Verstädterung in Chile mit 86% genauso hoch wie in Deutschland. Die Wohneigentumsquote ist mit 70% deutlich höher als diejenige von 41% in Deutschland. In Chile wohnen also immerhin 70% der Haushalte in ihren eigenen vier Wänden, während das bisher in Deutschland nur 41% der Haushalte geschafft haben, obwohl das auch hier die Uberwiegende Mehrheit am liebsten täte (Simian/Eschenburg 1998: 272ff). Im Jahr 1994 war das Pro-Kopf-Einkommen in laufenden Dollars in Deutschland siebenmal so hoch wie in Chile. Bei der Schätzung der entsprechenden ProKopf-Einkommen in $ppp ergibt sich allerdings eine gegenläufige Korrektur, so daß der Wert für Deutschland mit 19.480 $PPP pro Kopf nur noch etwas mehr als das Doppelte des entsprechenden Wertes für Chile ausmacht. Bezogen auf den Index für die menschliche Entwicklung liegt Chile nur 15 Rangplätze hinter Deutschland. Große Unterschiede bestehen allerdings zwischen beiden Ländern in der Einkommensverteilung. Während in Deutschland die einkommensstärksten 20% aller Einkommensbezieher das 3,4-fache des Einkommens der einkommensschwächsten 20% erzielen, beträgt dieser Wert für Chile das 17,4-fache. Die Einkommensverteilung in Chile ist, auch an lateinamerikanischen Verhältnissen gemessen, recht schlecht. Das Einkommensverhältnis S.Quintil/l.Quintil weist in Bolivien mit 8,6 den besten Wert auf, während es in Brasilien mit 32,1 seinen schlechtesten Wert erreicht. Was die Einkommensverteilung insgesamt angeht, liegt Chile zusammen mit Venezuela und Kolumbien in Lateinamerika im unteren Mittelfeld. Die Ungleichheit in Lateinamerika, wie auch in Chile, ist sprichwörtlich (Mols 1997: ISff). Der neueste Bericht der Interamerikanischen Entwicklungsbank hebt hervor, daß die für Lateinamerika typische Lorenzkurve hauptsächlich durch zwei Charakteristika gekennzeichnet sei, nämlich daß das oberste Dezil etwa 40% der gesamten Einkommen auf sich vereinige und das unterste Quintil nur ungefähr 5% erreiche (IADB 1998: 12). Die verhältnismäßig starke Ungleichheit in Lateinamerika läßt sich vornehmlich auf drei große Hauptfaktoren zurückführen, nämlich die koloniale Vergangenheit Lateinamerikas, mit den damals entstandenen Eigentums- und Herrschaftsstrukturen, die vorhandene Ausstattung mit natürlichen Ressourcen und der Entwicklungsstand der lateinamerikanischen Gesellschaften. Bei letzterem sind für die aktuelle Ausprägung der Einkommensverteilung fünf Unterfaktoren von besonderer Bedeutung,
114
Rolf Eschenturg
nämlich das Ausmaß der Kapitalakkumulation, der Grad der Verstädterung, das Maß der Formalisierung der Arbeitsverhältnisse, der Stand des Erziehungs- ind Bildungswesen und der Stand des demografischen Übergangs. Bei allen diesen fünf Einflußfaktoren läßt sich zeigen, daß im Laufe des sozioökonomiscien Entwicklungsprozesses zunächst eine Verschlechterung und dann wieder dne Verbesserung der Einkommensverteilung zu erwarten ist (IADB 1998: 2f). Der Vergleich Deutschland/Chile verleitet zu der Frage, wie lange es wohl dauern würde, bis Chile Deutschland in der Einkommensentwicklung eingelolt haben könnte. Wenn Chile seine bisher hohen Wachstumsraten des Pro-KcpfEinkommens stetig durchzuhalten und auch in entsprechende Steigerungen des Pro-Kopf-Einkommens in Kaufkraftparitätendollar umzusetzen vermöchte, könnte ein „catch up" (Mankiw 1999: 569) binnen einer Generation mögich sein. Bei einem ständigen Wachstumsvorsprung von 2,5% pro Jahr körnte Chile Deutschland gemäß Abbildung 3 bis zum Jahr 2027 erreicht haben. Abbildung 3: Aufholwachstums-Szenario: „catch-up" binnen einer Generation (Annahmen bezüglich der Wachstumsrate des Pro-Kopf-Einkommens: Chile 5% p. a., Deutschland 2,5% p. a.) in Tausend
1994
1997
2000
PPP-S
2003
2006
2009
2012
2015
2018
2021
2024
2027
Quelle: Eigene Berechnungen. Rohstoffexportabhängigkeit Die jährlichen Wachstumsraten des realen Bruttoinlandsproduktes Chiles euerseits und Lateinamerikas insgesamt andererseits haben sich oft gegenläifig entwickelt, wie Abbildung 4 verdeutlicht. Im Jahr 1995 betrug die Wachstuns-
Wachstum und Entwicklung in Chile
115
rate in Chile noch 10,6%; danach ist sie — wieder — im Gegensatz zum lateinamerikanischen Durchschnitt gesunken. Abbildung 4: Wirtschaftswachstum in Chile und Lateinamerika (jährliche Wachstumsrate in Prozent) 14
Lateinamerika • Chile
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1988
89
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91
92
93
94
95
96
97
98
99
2000
Quelle: Dresdner Bank Lateinamerika AG (1998). Abbildung 5: Einbruch der chilenischen Exporterlöse: Exporte (fob) in Mrd. US$ Chile
30
Laleinamerika
„ Chile „ Lateinamcnka
286; 177
300
25
250
20
200
15
150
10
100
8,(378 8,373
50
5
0
1988
0 89
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91
92
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94
Quelle: Dresdner Bank Lateinamerika AG (1998).
95
96
97
1998
116
Rolf Eschenburg
Ein wichtiger Grund dafür ist der seit 1995 unter Druck geratene Kupferpreis. Die Senkungen des Kupferpreises haben sich auch in verminderten chilenischen Exporterlösen niedergeschlagen, deren Entwicklungskurve ebenfalls 1995 nach unten abflacht, wie Abbildung 5 zeigt. Mit Ablauf des Jahres 1997 hat die Asienkrise eine weitere Beeinträchtigung des chilenischen Wirtschaftswachstums verursacht. 1996 und 1997 gingen über 30% der chilenischen Exporte nach Asien. Entsprechend stark hat die Asienkrise sich in Chile ausgewirkt. Ende 1998 wurde geschätzt, daß die Asienkrise die chilenischen Kupferexporterlöse um fast 10% und das Wachstum des chilenischen Bruttoinlandsproduktes um ca. 2,6% mindern würde (UNCTAD 1998: 33ff). Chile gehört zu den stark außenhandelsorientierten Ländern. 1980 machte der Außenhandel 50% des chilenischen Bruttoinlandsproduktes aus, 1995 waren es sogar 54% (Exporte und Importe zusammengenommen). Im Jahr 1997 waren Kupfer mit 32,3% der Exporte, Früchte mit 6,7%, Gefrierfisch mit 5,6% und Zellulose mit 4,0% die Hauptexportprodukte (Dresdner Bank Lateinamerika AG 1998). Wie Tabelle 3 verdeutlicht, stammen auch in vielen anderen Ländern Lateinamerikas jeweils über die Hälfte der Exporterlöse aus nur wenigen Hauptexportprodukten, was entsprechende Abhängigkeiten begründet. Tabelle 3: Abhängigkeit von Hauptexportprodukten Hautexportprodukte, Anteil am Gesamtexport in % Argentinien
Getreide, Öls.
13 Min. Brennst.
12 Lebensm.-Ind.
1
Bolivien
Zink
18 Soja
14 Gold
9
Brasilien
Transp.-Mat.
11 Eisen & Stahl
13 Soja
11
Chile
Kupfer
42 Früchte
Ecuador
Erdöl & Deriv.
Kolumbien
Erdöl & Deriv.
23 Kaffee
Mexiko
Elektr. Ausr.
Paraguay
Soja
Peru Uruguay Venezuela
3 Bananen
7 Gefrierfisch 25 Garnelen
6 Zellulose
4
17
19 Chem. Prod.
1 Kohle
8
26 Kfz(-teile)
19 Rohöl
9 Chemikal.
4
37 Baumwolle
21 Holz
9
Fischmehl
17 Kupfer
16 Textilien
Fleisch
26 Wolle & Textil.
19 Leder
Erdöl
76
8 12
Quelle: Dresdner Bank Lateinamerika AG (1998). Die umfangreichen Kupfervorkommen sind einerseits von Vorteil, andererseits machen sie Chile aber sehr stark vom Export dieses Rohstoffes abhängig. Diese Abhängigkeit konnte im Laufe der letzten 10 Jahre nur unwesentlich vermindert
Wachstum und Entwicklung in Chile
117
werden, wie Abbildung 6 zeigt. Alle Veränderungen des Kupferpreises müssen sich immer noch unvermeidlich und unmittelbar in entsprechenden Veränderungen der Wachstumsrate des Bruttoinlandsproduktes niederschlagen. Abbildung 6: Exporterlösabhängigkeit von Kupfer: Chiles Exportstruktur 1988-1995 (Prozent der Gesamtexporte, kumuliert) 100
80 60
40
20 0 1988
1989
1990
1991
1992
1993
1994
1995
Quelle : IADB (1998). Fortschritte im Umweltschutz Chile gilt gemeinhin als ein Land, in dem Umweltpolitik eher klein geschrieben wird. Das ist nur bedingt richtig. Bei genauerer Betrachtung zeigt sich nämlich, daß dort, wo es für die chilenische Regierung politisch vordringlich war, durchaus Erfolge in der Bekämpfung von Umweltverschmutzungen erzielt wurden. Die Luftverschmutzung in der Hauptstadt Santiago gilt als das größte und bedeutsamste Umweltproblem Chiles, von dem mit über 5 Mill. Menschen fast 40% der chilenischen Bevölkerung betroffen sind. Anfang der neunziger Jahre war Santiago ernsthafte Anwärterin auf die Stadt mit der weltweit höchsten Luftverschmutzung. Der Kampf gegen die Luftverschmutzung begann in Santiago mit der Aussonderung der ältesten Autobusse, die dann ihre Rußfahnen nicht mehr in Santiago, sondern in den Provinzstädten hinter sich herzogen. Es folgten weitere Vorschriften über die Modernisierung des Busfuhrparkes, über die Einführung des geregelten Katalysators sowie auch kennzeichenbezogene Fahrbeschränkungen für Kraftfahrzeuge in Santiago. Inzwischen heißt es, daß Chile heute
118
Rolf Eschenburg
über die erforderlichen Voraussetzungen für ein gutes und sich weiter verbesserndes Management der Luftqualität verfüge (UNDP 1998: 85). Uneinheitlich sind bisher noch die Erfolge bei der Bekämpfung der Emissionen der Kupferhütten (Lütke Wöstmann 1999). Durch umfangreiche Schwefeldioxyd- und Arsenemissionen verursachen die Kupferschmelzen stark gesundheitsschädliche Luftverschmutzungen, welche die in der Nähe lebenden Menschen (vorwiegend die Minenmitarbeiter und ihre Familienangehörigen) erheblich gefährden. Während offenbar die Arsenemissionen insbesondere in einer Region, in der nicht allein die in den Kupferhütten beschäftigten Menschen betroffen waren, in erheblichem Umfang verringert werden konnten, gab es bei der Reduzierung der Schwefeldioxydemissionen erhebliche Verzögerungen. Bemerkenswerterweise haben die privaten Kupferhütten den Schwefeldioxydausstoß deutlich stärker vermindern können als die staatlichen Kupferhütten. Im Zusammenhang mit der Reduzierung des Schadstoffausstoßes von Kupferhütten hat sich am Beispiel Chiles gezeigt, daß internationale Umweltanforderungen insbesondere dann, wenn sie mit bedeutsamen wirtschaftlichen Drohpositionen verknüpft sind, nationale Umweltschutzmaßnahmen wirksam vorantreiben können (Lütke Wöstmann 1999). Wo internationale Anforderungen ganz fehlen und insbesondere die Umweltbeeinträchtigungen Leben und Gesundheit der Menschen nicht unmittelbar gefährden, fallen die Anstrengungen im Umweltschutz deutlich geringer aus. In Chile läßt sich das an Hand des — immer noch — unzulänglichen Schutzes für den südchilenischen Naturwald verdeutlichen. Soweit die chilenische Regierung überhaupt Maßnahmen zum Schutz des Naturwaldes ergriffen hat, laufen diese oft wegen institutioneller Schwächen ins Leere. Das seit vielen Jahren überfällige neue Waldgesetz steckt immer noch im Gesetzgebungsverfahren. Die Vorschriften über die Aufstellung von Waldbewirtschaftungsplänen als Voraussetzung für gewerblich orientierten Holzeinschlag werden formell einigermaßen eingehalten, ihre materielle Durchsetzung scheitert aber an der institutionellen Schwäche der für die Überwachung zuständigen Einrichtungen (Lütke Wöstmann 1999). Beispiele ßr institutionelle
Stärken
Grundlage dafür, daß Chile immer wieder als Musterbeispiel für eine erfolgreiche Entwicklungspolitik genannt wird, war die Liberalisierung nach 1973, die mit einer weitgehenden Modernisierung wichtiger Institutionen verbunden war. Früher als die meisten Entwicklungsländer hat Chile sich für den Vorrang marktwirtschaftlicher Lösungen entschieden. Eines der Vorzeigebeispiele ist die chilenische Rentenversicherung (Simian/Stork 1999). Mit der Rentenreform
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von 1981 wurde das marode gewordene alte Versicherungssystem, das im Umlageverfahren arbeitete, abgelöst durch das neue, im Kapitaldeckungsverfahren arbeitende System. Das der Alterssicherung gewidmete Kapital wird individuell in privatwirtschaftlich verwalteten Rentenfonds angesammelt. Letztere werden von im Wettbewerb miteinander stehenden Fondsverwaltungsgesellschaften (Administradoras de Fondos de Pensiones, AFP) verwaltet. Jeder einzelne „Versicherte" kann frei darüber entscheiden, bei welcher Verwaltungsgesellschaft er seinen Rentenfonds anlegen will. Wenn er damit rechnet, daß eine andere Verwaltungsgesellschaft ihm eine höhere Rendite erwirtschaften wird, kann er ohne größere Verzögerung und ohne hohe Transaktionskosten wechseln. Der Wettbewerb der Verwaltungsgesellschaften um die Rentenfonds einerseits und die ertragreichsten Anlagenmöglichkeiten der ihnen anvertrauten Gelder andererseits ist sehr intensiv. Nach einer Phase sehr hoher Renditen haben sich die Erträge der AFPs in den letzten Jahren normalisiert. Um so stärker muß dadurch der Wettbewerb der Verwaltungsgesellschaften untereinander um niedrige Verwaltungskosten sein. Chile hat schon früh eine recht erfolgreiche stabilitätsorientierte Währungsund Wirtschaftspolitik betrieben. Dabei hat man auf die Indexierung des chilenischen Peso mit Hilfe der Unidad de Fomento (UF) zurückgegriffen. Das machte das Sparen in ausländischer Währung wie auch eine Flucht in die Sachwerte überflüssig und hat mit dazu beigetragen, daß auch bei den Beziehern niedriger Einkommen eine relativ hohe Sparneigung erreicht werden konnte. Seit 1977 wird die UF standardmäßig ermittelt und jeweils für 30 Tage im voraus festgelegt. Zu Beginn eines jeden Monats wird die Vormonatsinflation festgestellt und in die tägliche Inflation für die nächsten 30 Tage umgerechnet (Dabrowski 1995: 113ff). Weniger häufig wird die effiziente Steuerverwaltung Chiles genannt, der es gelungen ist, informelle Wirtschaftstätigkeiten einzudämmen und die Vermeidung und Hinterziehung insbesondere auch von Umsatzsteuern gering zu halten. Bei jedem Kauf auf Rechnung muß der Käufer seine Steuemummer angeben und in die Rechnung eintragen lassen. Die Steuernummer (RUT, Rol Unico Tributario) ist eine allgemeine Identifikationsnummer und erscheint auch auf dem Personalausweis. Im Zuge der Umsatzsteuererklärung werden die Rechnungen der Steuerbehörde als Belege zugänglich gemacht. Die Angabe der Steuernummer auf den Rechnungen erlaubt es der Finanzbehörde, die unter einer bestimmten Steuernummer während eines Jahres getätigten Verkäufe zu ermitteln und dem erklärten Einkommen gegenüber zu stellen. Bei jedem Barverkauf muß der Verkäufer dem Käufer eine Quittung aus einem von der Steuerbehörde ausgegebenen und abgestempelten Quittungsblock aushändigen, und zwar die Durchschrift. Die Originale verbleiben im
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Quittungsblock beim Verkäufer und gehen zurück an die Steuerbehörde. Einen neuen Quittungsblock erhält der Verkäufer unter Rückgabe des alten. Durch strikte Überwachung ist es der chilenischen Steuerbehörde gelungen, die Steuerdisziplin im Einzelhandel deutlich anzuheben. Wer als Käufer beim Verlassen eines Geschäftes mit gekaufter Ware, aber ohne Quittung angetroffen wird, muß mit einer Strafe rechnen. Gleiches gilt für den Verkäufer, wenn er nicht dafür sorgt, daß der Käufer den Laden im Besitz einer gültigen Quittung verläßt. Zu den institutionellen Stärken Chiles gehören schließlich die Maßnahmen zur Eindämmung spekulativer kurzfristiger internationaler Kapitalströme (hot money). Lange bevor weltweit die Diskussion über die Gefährlichkeit dieser kurzfristigen spekulativen Geldanlagen alltäglich wurde, hat Chile Sicherungsmaßnahmen ergriffen und erhebt eine Steuer auf nur kurzfristig angelegtes ausländisches Kapital. Beispiele für institutionelle Schwächen Nicht nur die ungleiche Einkommensverteilung gibt Anlaß dazu, von der ungerechten Gesellschaft in Lateinamerika zu sprechen (Schinke 1997: 75ff). Auch die vorhandenen Rechtssysteme tragen häufig nicht gerade zur Verbesserung der Gerechtigkeit in der Gesellschaft bei. Das gilt auch für Chile, wo z.B. die gerichtliche Klärung der Schuld- und Schadensersatzfrage nach einem Verkehrsunfall einerseits sehr teuer und andererseits von höchst ungewissem Ausgang sein kann. Zur Klärung der Schuldfrage nach einem Verkehrsunfall können natürlich Unfallzeugen beitragen, die jeweils von den Unfallgegnem offiziell als Zeugen vor Gericht benannt werden. Nachdenklich muß es aber stimmen, wenn allgemein und auch von Berufsjuristen der Rat erteilt wird, sich gegebenenfalls Zeugen zu kaufen. Wer vor Gericht auftreten will, muß sich von einem Rechtsanwalt vertreten lassen. Noch bevor der sich aber mit dem Anliegen befaßt, ist eine Gebühr zu zahlen, deren Höhe den gesetzlichen monatlichen Mindestlohn deutlich Ubersteigt. Benennung von Zeugen vor Gericht und ihre Eintragung in die Gerichtsakten ist ebenfalls kostenpflichtig, genauso wie dann später die Zustellung der Ladung zur gerichtlichen Vernehmung der Zeugen. Mit den Kosten für die Schätzung des Unfallschadens am Fahrzeug sowie den Notariatsgebühren für die Beglaubigung von Unfallfotos kommt schnell noch ein weiterer Mindestmonatslohn hinzu. Wenn es dann schließlich zur Gerichtsverhandlung kommt, ist viel Zeit vergangen. Zwölf Monate sind schnell verstrichen. Und möglicherweise gewinnt, wer die besseren Zeugen beibringen kann. Ein solches Gerichtssysteni ist offensichtlich viel zu teuer, als daß es sich die Bezieher der unteren und
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mittleren Einkommen leisten könnten. Seine soziale Akzeptanz dürfte eher als gering einzustufen sein. Alltäglich kann man eine gewisse Tendenz zu organisierter Verantwortungslosigkeit in größeren Organisationen, wie zum Beispiel auch Universitäten und Behörden, erleben. Verantwortung — für was auch immer — kann grundsätzlich nur an der obersten Etage der Führungskräfte oder an der untersten Rangstufe der Büroboten (mensajeros, tramitadores) festgemacht werden. Alle anderen Positionen stellen sich praktisch als verantwortungslose Zwischenpositionen dar. Selbstverständlich kann die oberste Leitung einer Organisation unmöglich die (Handlungs-)Verantwortung für sämtliche Einzelentscheidungen auf allen Ebenen tragen. Die Büroboten hingegen verfügen als unterste Chargen im Hierarchiegefüge über keinerlei fachliche Kompetenzen und können daher keine Verantwortung übernehmen. Die Folge ist eine Tendenz zu genereller Verantwortungslosigkeit. Das Prinzip verantwortungsloser Verwaltungs- und Ausführungsstufen unterstützt natürlich die allgemeine Tendenz, Qualitätsmängel jeder Art als unüberwindliche Schicksalsereignisse einfach nur hinzunehmen. Ein weiterer Aspekt in diesem Zusammenhang ist die Tendenz zu undifferenzierten, z. T. drakonisch anmutenden Strafen. Wird man z.B. von der Polizei bei einer Geschwindigkeitsübertretung ertappt, wird unabhängig vom Ausmaß der Geschwindigkeitsübertretung der Führerschein einbehalten. Die Polizei hinterlegt den Führerschein bei dem örtlich zuständigen Gericht. Dort hat man persönlich an einem (gegebenenfalls postalisch mitgeteilten) Werktage zu erscheinen, an dem dann das gerichtliche Protokoll aufgenommen und das Strafmaß richterlich festgestellt wird. Diese Regelung gilt auch für weit entfernt wohnende Verkehrssünder. Eine Amtshilfe des für den Wohnort eines Verkehrssünders zuständigen Gerichtes gibt es allenfalls in besonderen Ausnahmefällen. Das kann angesichts der Länge Chiles zu erheblichen zusätzlichen Kosten und Arbeitsausfällen führen. Wenn in solchen Situationen Freunde dabei helfen können, das Verfahren auch nur abzukürzen oder sogar die Strafe zu mildern (geringere Zeit des Führerscheinentzugs, niedrigere Geldstrafe), so ist das eine große Hilfe. Es ist fast überflüssig zu erwähnen, daß kleine Leute seltener mächtige Freunde haben. Ein anderes Beispiel institutioneller Schwächen findet man im Bereich des Erziehungs- und Bildungswesens. Die Kosten für die staatlichen Grundschulen werden vom Zentralstaat und von den Gemeinden gemeinsam getragen. Der Zentralstaat zahlt pro Schüler einen gewissen Betrag, der aber zur Abdeckung der gesamten Kosten nicht ausreicht. Die Gemeinde muß also selbst die restlichen Kosten (bis zu 30%) auf sich nehmen. Gut gestellte Gemeinden mit entsprechenden Steuereinnahmen sind dazu in der Lage und können qualifizierte
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Lehrkräfte bezahlen. Schlechter gestellte Gemeinden können dies nicht und bieten ihren Schülern daher zwangsläufig eine schlechtere Ausbildung. Schulgeld kann nicht erhoben werden, wenn Unterstützung seitens des Zentralstaues in Anspruch genommen wird (Dabrowski 1995: 202f). Abgesehen von einigen Schulen mit Elite-Charakter, zu denen auch die deutschen Schulen gehören nnd die erhebliche Schulgeldbeträge verlangen, ist die Schulbildung in Chile auch nach Ende der Militärregierung noch eher schlecht. Die demokratischen Regierungen von Alywin und Frei haben bisher noch nicht die Kraft zu einer grundlegenden Reform gehabt. So kann man in Chile immer noch eine gewisse Paradoxie im Bereich der Humankapitalbildung feststellen. Während über entsprechende gesundheitspolitische Maßnahmen dafür gesorgt wird, daß bei Kindern Unterernährung vermieden und Gesundheitsschäden soweit möglich vorgebeugt wird, so daß Körper und Kopf sich gut entwickeln, führen die Mängel in der Bildungspolitik dazu, daß durch die vorhandenen Bildungsangebote die intellektuellen Aufnahmekapazitäten nicht ausgenutzt werden. Das derzeitige System vergeudet wertvolles, für den weiteren Entwicklungsprozeß benötigtes Humankapitalpotential. Zugang zum Hochschulstudium vermittelt die landeseinheitliche prueba de aptitud. Schon bei der Anmeldung zu dieser zentralen Hochschuleingangspriifung müssen angestrebte Studienrichtungen und Universitäten angegeben werden. Zugang zu den besten Universitäten haben die Prüfungsabsolventen mit den höchsten Punktzahlen. Wer sich besser vorbereiten kann, hat bessere Chancen auf ein gutes Ergebnis. Gute Vorbereitung ist jedoch teuer, sei es wegen des hohen Schulgeldes guter Schulen, sei es wegen der hohen Kosten guter Vorbereitungskurse. Querdurchlässigkeit gibt es im chilenischen Bildungssystem nur ansatzweise. Die zentrale Hochschuleingangsprüfung ist in ihrer Geltung auf einen Jahrgang begrenzt. Wer die Studienrichtung wechseln will, muß praktisch immer erneut die prueba de aptitud ablegen. Gute Ergebnisse aus einer früher bestandenen prueba de aptitud sind dabei ohne Bedeutung. Von Querdurchlässigkeit im Bereich grundständiger Studiengänge kann daher kaum die Rede sein. Allerdings bietet ein erster berufsqualifizierender Hochschulabschluß i.d.R. Zugang zu vornehmlich mit dem Magistergrad abschließenden Aufbaustudiengängen in einer Vielzahl anderer Fächer, womit sich erheblich breitere berufliche Perspektiven ergeben. Das macht aber die fehlende Querdurchlässigkeit im grundständigen Studium nur zum Teil wett, da die Aufbaustudiengänge die fundierte Fachausbildung eines grundständigen Studiums nicht ersetzen können. Solange der screening-Effekt formaler Hochschulabschlüssen — insbesondere auch aus Aufbaustudiengängen — noch so groß ist, wird diese „verspätete" Querdurch-
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lässigkeit weder den finanziellen Möglichkeiten der Mehrheit der Studenten noch den Qualitätserfordernissen von Wirtschaft und Verwaltung gerecht. Schlußbetrachtung
Anhand der obigen Beispiele zu institutionellen Schwächen im Rechts-, Verwaltungs- und Bildungsbereich konnte zweierlei verdeutlicht werden. Einerseits schlagen sich institutionelle Schwächen in höheren gesellschaftlichen Reibungskosten nieder, die gerade den kleinen Leuten relativ höhere Belastungen auferlegen und damit die Ungerechtigkeit in der Gesellschaft mehren. Andererseits werden, was insbesondere im Bildungsbereich deutlich wird, gesamtwirtschaftlich wertvolle Humanressourcen vergeudet. Die Reform des Bildungs- und Ausbildungssektors in Chile und seine Modernisierung ist eine der großen Herausforderungen für die weitere Entwicklung. Entwicklung heißt ja steigendes Pro-Kopf-Einkommen und steigender Wohlstand für die ganze Bevölkerung. Der weitere chilenische Entwicklungsprozeß kann unmöglich allein auf der Grundlage zusätzlicher Kupferexporte oder vermehrter Produktion in der Landwirtschaft geschehen. Zwar kann man sich in beiden Bereichen weitere Produktionssteigerungen vorstellen, aber eben kaum ohne Produktivitätssteigerungen und ohne Freisetzung von Arbeitskräften. Im primären Sektor freigesetzte Arbeitskräfte müssen dann aber im sekundären (Industrie-) Sektor und/oder tertiären (Dienstleistungs-) Sektor unterkommen. Internationale Wettbewerbsfähigkeit ist nur zu erreichen, wenn man Güter und Leistungen vergleichbarer Qualität zu vergleichbaren Preisen anbieten kann. Beides läßt sich nur unter Verwendung modemer Produktionsverfahren in Kombination mit entsprechend ausgebildeten und motivierten Arbeitskräften erreichen. Die Qualifizierung von Arbeitskräften kann in Chile natürlich genauso wenig wie in anderen Ländern allein durch eine einmalige Grundausbildung erfolgen, sondern auch die Chilenen werden lebenslang lernen müssen. Berufliche Weiterbildung in Zusammenarbeit mit den Unternehmen gewinnt zunehmend auch in Chile an Bedeutung. In Zukunft wird es immer dringender, die heute noch vorherrschenden traditionellen Formen betrieblicher Verwaltung auf moderne Formen umzustellen, um hochqualifizierte Arbeitskräfte nicht nur einstellen sondern auch zu hoher Leistung motivieren zu können (Stork 1999).
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Das brasilianische Erziehungssystem im Zeitalter der Globalisierung DIETMAR K . PFEIFFER
Der aktuell unter dem Stichwort Globalisierung sich vollziehende Prozeß der Integration vormals national begrenzter Güter-, Dienstleistungs-, Finanz- und Arbeitsmärkte in ein transnationales System der Arbeitsteilung sowie dessen politische und kulturelle Korrelate sind ein zentrales strukturelles Merkmal der Gegenwart. Dieser Transformationsprozeß, zusammen mit der Einführung neuer Technologien (Informatik, Mikroelektronik) und flexibler, post-fordistischer Organisationsformen im betrieblichen Produktionsprozeß (Verringerung von Hierarchieebenen, Verlagerung von Entscheidungsbefugnissen) hat in den Industrienationen und mehr noch in den Entwicklungsländern mit ihren weniger gefestigten politischen und ökonomischen Strukturen Auswirkungen, deren Reichweite heute im Einzelnen noch nicht abzusehen ist. Der Prozeß der Globalisierung begann weder gestern, noch wird er morgen enden. Sein Beginn läßt sich auf die Weltumsegelungen der Spanier und Portugiesen datieren und sein Ende wird in einer nicht bekannten Zukunft erreicht werden. Seine sichtbaren Indikatoren sind unter anderem: • Die hohe Mobilität von Arbeit und Kapital, insbesondere des Finanzkapitals, das um den Globus zirkuliert und dessen Volatität heute schon vielfach als Gefahr für die Stabilität des Weltwirtschaft betrachtet wird. • Die räumliche Dezentralisierung des ökonomischen Wertschöpfungsprozesses, dessen unterschiedliche Phasen sich um den Globus verstreuen, wodurch die klassische Betriebsstruktur aufgelöst wird und transnationale Unternehmen entstehen (Zebral 1997: 30). • Die überproportionale Steigerung des internationalen Handelns im Vergleich zur realen Produktion (OECD 1997: 45) bei wachsendem Anteil der Entwicklungsländer an den internationalen Handels- und Geldströmen. Während das Phänomen empirisch weitgehend unbestritten ist, sind seine Bewertung und konkreten Effekte kontrovers. „There is considerably less agreement about what this actually means in practice or about whether globalisation will be a good or bad thing" (OECD 1997: 19). Für die Verfechter des Freihandels bedeutet Globalisierung eine Voraussetzung für eine weltweite Wohlstandssteigerung und die Sicherang des Weltfriedens. Viele Unternehmen, die sich in einem Geflecht von sozialen Anrechten und Schutzbestimmungen ver-
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strickt sehen, freuen sich über den frischen Wind, der ein erstarrtes System durchlüftet, und für manche Entwicklungsländer ist sie Quelle der Hoffnung auf eine bessere Zukunft. Für andere ist sie Alptraum und Totengräber zugleich: Für die Gewerkschaften, die mühsam erkämpfte Arbeitnehmerrechte in Gefahr sehen und denen die Mitglieder weglaufen, für Betriebe, die der Konkurrenz nicht gewachsen sind, für die Arbeitnehmer, die ihren Arbeitsplatz verloren haben, für die Verteidiger des Nationalstaats, die dessen Souveränität gefährdet sehen, für Umweltschutzorganisationen, die eine Verschärfung der ökologischen Krise prophezeien und für manche Entwicklungsländer, die eine Verfestigung ihrer Dependenz von den Industrieländern und den Strategien transnationaler Unternehmen befürchten. Wie bei anderen Transformationsprozessen ist es auch bei der Globalisierung so, daß alle gerne davon profitieren, aber selbst dem damit verbundenen Anpassungsdruck ausweichen und unangenehme Konsequenzen vermeiden wollen. Letztlich läßt sich auch nicht beurteilen, ob die Globalisierung in welthistorischer Perspektive ein Fortschritt ist oder nicht, und wie immer, wo unterschiedliche Realitätssichten in Hülle und Fülle zirkulieren gilt: „Je mehr Informationen, desto größer die Unsicherheit und desto größer auch die Versuchung, eine eigene Meinung zu behaupten, sich mit ihr zu identifizieren und es dabei zu belassen" (Luhmann 1996: 126). Als sicher kann indessen gelten, daß der Globalisierungsprozeß bisher und auch in Zukunft in ökonomischer und sozialer Hinsicht Gewinner und Verlierer kennt. Der Zuwachs des Weltsozialproduktes der letzten Dekaden verteilt sich zwischen Regionen und Ländern sehr ungleich und „an über 100 Ländern mit fast einem Drittel der Weltbevölkerung ist das Wachstum der letzten 15 Jahre gänzlich vorbeigegangen" (UNPD 1996: 1). Als Folge hat sich die Kluft zwischen armen und reichen Ländern weiter vertieft (UNPD 1996: 2; Gundlach 1998: 89) und viele Länder haben heute ein geringeres Pro-Kopf-Einkommen als vor zwanzig Jahren. Lateinamerika steht bisher, von wenigen Ausnahmen abgesehen1, auf der Seite der Verlierer. In den 80er Jahren kam es in den meisten Ländern der Region zu einer gravierenden Akkumulations-, Fiskal- und Verschuldungskrise und in deren Folge zu einer Hyperinflation. Am Ende der Dekade war ein Rückgang des pro-Kopf-BIP um 8% zu verzeichnen.
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So etwa das viel zitierte weltmarktorientierte .Modell Chile', dessen bisherige Entwicklungserfolge allerdings in erheblichem Umfang auf der Nutzung statischer Standortvorteile (Klima, natürliche Ressourcen) beruhen (Scholz 1995: 110). Die Modernisierung der Industrie und Erweiterung der Exportpalette auf Produkte mit höherer Wertschöpfung sind bisher nur in Ansätzen gelungen (Göthner 1993), so daß dieses Modell heute bereits an seine Grenzen stößt (Römpczyk 1994).
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Das brasilianische Erziehungssystem im Zeitalter der Globalisierung Tabelle 1: Durchschnittliches jährliches Wachstum des Pro-Kopf-BSP 1980-1993 in % Afrika
Südasien
Ostasien
Lateinamerika
Südostasien
Gesamt
-0,6
2,9
8,2
-0,1
3,6
3,9
Quelle: UNPD (1996: 243). Besonders hart betroffen von der Krise war Brasilien, dessen „Pro-Kopf-Einkommen im Zeitraum 1985-1994 jahresdurchschnittlich um 0,4vH geschrumpft [ist], so daß das Land sogar innerhalb Lateinamerikas zurückgefallen ist" (Nunnenkamp 1997: 106). Auch wenn in den letzten Jahren wieder eine gewisse Belebung des Wachstumsprozesses zu beobachten ist, so reicht diese doch nicht aus, die vorangegangenen Verluste mehr als auszugleichen und die als erforderlich erachtete jährliche Wachstumsrate von 6,3% (Göthner 1991: 32) wurde deutlich verfehlt. Mit anderen Worten: Das Land erzielte in den letzten zwanzig Jahren ökonomisch kaum signifikante Fortschritte und steht in Begriffen des realen BIP pro Kopf am Ende der 90er Jahre nicht viel besser da als zu Beginn der 80er Jahre. Seine Krisenanfälligkeit ist, wie die jüngsten Ereignisse demonstrieren, nach wie vor hoch, und was die ungleiche und entwicklungshemmende Verteilungsstruktur anbetrifft, ist sogar ein Trend hin zu noch höherer Konzentration der Einkommen und damit zu einer Verschärfung der sozialen Disparitäten festzustellen (CEPAL 1994: 16). Tabelle 2: Durchschnittliches jährliches Wachstum des realen Pro-Kopf-BIP in % Brasilien 1980-1997 1980/84
1985/89
1990/94
1995
1996
1997
1980/97
-0,71
2,36
-0,16
2,76
1.35
1,42
0.71
Quellen: Gazeta Mercantil (9.4.1998: 3); Conjuntura Economica (52/4, 1998: XVIII). Dieser Befund überrascht insofern, als Brasilien stets ein großes wirtschaftliches Potential zugeschrieben wurde und nach wie vor zugeschrieben wird (Sangmeister 1998: 36). In der Tat waren auch im Zeitraum von 1960-1980, insbesondere in den goldenen Jahren des .milagre brasileiro' weitaus höhere Wachstumsraten zu verzeichnen (Conjuntura Economica, 52/4, 1998: XVIII). Daher ergibt sich bei längerfristiger Betrachtung (1960-1995) mit 2,09% durchschnittlichem jährlichen Wachstum des BIP pro Einwohner — was in etwa eine Verdoppelung im genannten Zeitraum bedeutet — ein deutlich positiveres Bild
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Dietmar Pfeiffer
(Gundlach 1998: 91). Um so mehr stellt sich aber die Frage nach den Ursachen für die Blockierung des zweifellos vorhandenen Entwicklungspotentials (Wöhlcke 1994: 28) und nach den zukünftigen Chancen für die Wiedergewinnung einer neuen Entwicklungsdynamik. Humankapital und Wachstum
„Apesar das cerebriza^öes de economistas e sociólogos, o desenvolvimento económico continua essencialmente um mistério" (Campos 1997: 3). Diese pessimistische Sichtweise mag bei Verwendung strenger methodologischer Maßstäben zutreffen; jedoch erlauben die Ergebnisse der international vergleichenden Wachstumsforschung (Barro 1991; Mankiw et al. 1992; Timmermann/Graff 1995) zumindest die Identifizierung einiger relativ robuster Komponenten, die die Chancen aufholender Entwicklung beeinflussen. Auf der Makroebene sind folgende Faktoren zu nennen (Eßer et al. 1995; Graff 1996; Gundlach 1998): • die makroökonomischen und institutionellen Rahmenbedingungen • die Investitionsrate bzw. der physische Kapitalbestand • das Bildungsniveau der im Produktionsprozeß Tätigen (Humankapitalbestand) • der Grad der handelspolitischen Offenheit Auf der betrieblichen Mikroebene, wo sich der Produktionsprozeß konkret vollzieht, hängt der Entwicklungserfolg insbesondere davon ab, ob und inwieweit es gelingt: • neue Produktionstechnologien zu implementieren • traditionelle Organisationsformen zu restrukturieren • die organisationale Lernkompetenz zu steigern • soziale und technische Innovationen zu kombinieren In allen genannten Indikatoren wies und weist Brasilien massive kompetitive Nachteile auf (World Economic Forum 1991, 1997; IMD 1997; Nunnenkamp 1997), die erst in den letzten Jahren teilweise abgebaut werden konnten. Als Haupterfolge gelten die Stabilisierung der Währung und eine gewisse handelspolitische Öffnung. Nach wie vor bestehen jedoch eine Reihe struktureller Schwächen, die einen dauerhaften Entwicklungsprozeß, der in der Lage wäre, neue Arbeitsplätze in hinreichender Anzahl zu schaffen, gefährden. Ein Defizit des Bundeshaushalts von 6% im Jahr, eine interne Sparquote von nur 15,6%, ein chronisches Handelsbilanzdefizit als Folge einer überbewerteten Währung, eine auf 30% des BIP angewachsene Steuerbelastung, Realzinsen von mehr als 40% und eine Erwerbsbevölkerung mit einer durchschnittlichen Schulbesuchs-
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dauer von nur 3,8 Jahren, sind Faktoren2, die im internationalen Vergleich nicht eben vorteilhaft sind (IMD 1997) und durch keine, wie auch immer gestaltete, nationale Industriepolitik kompensiert werden können. Unter den Bedingungen einer sich globalisierenden Produktion gewinnt unter all den genannten Faktoren die Humankapitalausstattung eines Landes und damit Erziehung als Prozeß der Schaffung von Humankapital, d.h. konkret der Vermittlung von kognitiven, normativen und affektiven Strukturen des Menschen, zunehmend an Gewicht. Zwar sind die spezifischen Wirkungen von Erziehung im ökonomischen Wachstumsprozeß in der Theorie noch umstritten und unklar, die empirischen Resultate widersprüchlich und „very often, the variable used to proxy human capital formation is found to have a relatively small or even statistically insignificant impact on output" (Gundlach 1997: 27). Dennoch zeigen alle Erfahrungen der letzten Jahrzehnte, daß selbst die Anwendung international frei verfügbarer Technologien und Wissensbestände — ganz zu schweigen von einer eigenständigen Wissensproduktion (F & E) — Menschen voraussetzt, die diese verstehen und nutzbar machen können. Ob nun Humankapital ein eigenständiger Produktionsfaktor ist, oder ob „the role of human capita] is indeed one of facilitating adoption of technology from abroad and creation of appropriate domestic technologies rather than entering on its own as a factor of production" (Benhabib/Spiegel 1994: 160), ist für eine korrekte Spezifizierung ökonometrischer Modelle sicher von Relevanz. Wie immer dem aber auch sein mag, in jedem Fall müssen zunächst einmal Vorleistungen durch Erziehung erbracht werden, damit „die Entwicklungsländer die natürlichen Aufholchancen überhaupt nutzen oder gar mehr erreichen" (Gundlach 1996: 265) können.3 Wenn, entsprechend dem Modell von Parente (1997) angenommen wird, daß die Produktionsfunktionen in verschiedenen Ländern nicht gleich sind, und daß „these differences arise because of firms' decision to adopt better technologies" (Parente 1997: 430), dann erfordert diese Übernahme eine Investition auch in Humankapital. 2
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Die aus der Sicht der Modernität störenden und entwicklungshemmenden Strukturen des politischen Systems hingegen — Stichworte: Klientelismus, Nepotismus, Coronelismus, Korruption — gehen zwar auf Kosten „funktionssystemsspezifischer Rationalitätschancen" (Luhmann 1995: 255), stellen aber keinen direkten komparativen Nachteil dar, da sie auch, und teilweise noch manifester, in anderen Entwicklungs- und Schwellenländern anzutreffen sind. .Alan kann nicht erwarten, daß die Entdeckung der Doppelhelixstruktur und ihre Veröffentlichung irgendeinem Entwicklungsland nutzen, sofern niemand der dort Tätigen diese Entdeckung selbst versteht und nutzbar machen kann. Um einen derartigen Sachverhalt aber zu verstehen, sind jahrelange Vorleistungen erforderlich, die viele Züge der Kapitalakkumulation tragen" (Homburg 1995: 361).
130 Bildungsindikatoren
Dietmar Pfeiffer Brasiliens
Vor diesem Hintergrund wird verständlich, daß unter all den oben genannten Risikofaktoren in letzter Zeit der Faktor ,Humankapital' in Brasilien immer stärker ins Bewußtsein einer breiten Öffentlichkeit tritt.4 In der Vergangenheit waren es vor allem internationale Institutionen (Weltbank, CEPAL, UNESCO, BID) und nationale Bildungsplaner, die unter Berufung auf Erkenntnisse der Humankapitaltheorie5 (Becker 1964; Schultz 1963; Mincer 1974) auf die Bedeutung von Investitionen in den Bildungssektor für die wirtschaftliche und soziale Entwicklung der Gesellschaft verwiesen.6 Seit einigen Jahren aber hat das Thema die Grenzen der Expertenzirkel verlassen und erlebt eine ungeahnte Konjunktur in den Medien und im öffentlichen Diskurs, der inzwischen auch die Peripherien des Landes erreicht und eine Eigendynamik entfaltet hat, dem sich weder Regierungen noch soziale Akteure entziehen können. Bildung genießt heute in Brasilien bei allen Parteien und in den Medien absolute Priorität. Angesichts der Bildungsindikatoren des Landes, die im Welt- und selbst im lateinamerikanischen Vergleich deutlich unterhalb des Durchschnitts liegen, ist die Besorgnis der politisch Verantwortlichen und der Öffentlichkeit auch durchaus berechtigt. Als wichtigste Defizite sind zu registrieren: • eine Analphabetismusquote von 18,5% und mindestens nochmal der gleiche Prozentsatz an funktionalen Analphabeten • eine Repetenzrate (Nichtversetzung und drop-out) von 30% im Jahr in der Primarstufe und als Folge hiervon • eine massive Störung der schulischen Alterspyramide mit 60% der Schüler außerhalb der altersentsprechenden Klasse • eine Exklusionsrate von 8,8% der Altersgruppe (7-14 Jahre) in der Primarstufe 4
Demgegenüber spielen Bildungsfragen in der deutschen Lateinamerikaforschung allgemein nur eine bescheidene Rolle, wie ein Blick in die Liste der Neuveröffentlichungen in den ADLAF-Nachrichten zeigt. 5 Als neueren Überblick zur Humankapitaltheorie vgl. Hough (1995), Sweetland (1996) und kritisch Klees (1991), Kraft/Nakib (1991). 6 „Education produces knowledge, skills, values, and attitudes. It is essential for civic order and citizenship and for sustained economic growth and the reduction of poverty" (World Bank 1995: XI). Der von den Erziehungsministem der MERCOSUR Länder 1992 verabschiedete .Plan Trienal para la Educación' betont explizit: „O incremento de todos os níveis educativos e formativos da populafäo económicamente ativa constituí urna das bases essenciais do incremento dos nfveis de produtividade das economías, da melhoria da qualidade dos bens e servidos produzidos e, portanto, de urna posif äo mais competitiva e vantajosa nos mercados mundiais." (Poletto 1995: 141)
Das brasilianische Erziehungssystem im Zeitalter der Globalisierung •
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eine Erwerbspopulation, in der zwei Drittel nicht die acht Jahre der Primarstufe abgeschlossen haben und deren durchschnittliche Schulbesuchsdauer 3,8 Jahre beträgt • von den Schulanfängern der ersten Klasse beenden nur 60% die 8-jährige Primarstufe bei einer durchschnittlichen Verweildauer von 12 (!) Jahren • die Mehrzahl der Primarstufenlehrer (56%) hat nicht mehr als einen Sekundarstufenabschluß • eine durchschnittliche Schulbesuchsdauer in der Primarstufe von 5,5 Jahren • eine Inklusionsrate in der Sekundarstufe von nur 25% der 15-17 jährigen • eine drop-out Rate an den Bundesuniversitäten von 40% Es muß betont werden, daß diese Indikatoren, so unbefriedigend sie sein mögen, in den letzten zehn Jahren aufgrund gesetzlicher Vorgaben, massiver Kampagnen und gezielter Interventionen von Bund, Ländern und Gemeinden bereits eine deutliche Verbesserung erfahren haben. Eine Reform der Curricula, regelmäßige Leistungsevaluierungen, Schwerpunktsetzung auf die Primarstufe, ein neues LDB (Lei de Diretrizes e Bases da Educa£äo Nacional — Ley Darcy Ribeiro vom Dezember 1996), das eine größere Flexibilität erlaubt und das Recht auf freien Zugang zu schulischer Bildung auf der Primarstufe (ensino fundamental) gesetzlich festschreibt (Saviani 1997; Demo 1997), die Einrichtung von Förderklassen zur Bekämpfung der Repetenz, ein Programm bolsa-estudo für die untersten Einkommensschichten, eine Aufwertung des Lehrberufes und weitere Maßnahmen lassen den Willen erkennen, das desolate Panorama zu verbessern. Und es sind durchaus auch Fortschritte zu verzeichnen. Im Zeitraum von 1980 bis heute • sank die Analphabetenquote von 24% auf 18,5% • stiegen die Matrikula in der Primarstufe von 18,7 Millionen auf 33,1 Millionen und die Inklusionsrate der Altersgruppe (7-14) von 84,2% auf 91,2% • stieg die durchschnittliche Verweildauer in der Primarstufe von 3,8 auf 5,5 Jahre • stiegen die Matrikula in der Sekundarstufe von 1,9 Millionen auf 7,4 Millionen und die Inklusionsrate der Altersgruppe (15-17) von 14% auf 25% • verringerte sich die Repetenzrate nach dem ersten Schuljahr von 60% auf 45% • sank der Anteil der Lehrer, die nicht über die gesetzlich vorgeschriebene Mindestausbildung verfügen, von 30% auf 10% Trotz dieser beachtlichen Fortschritte ist jedoch unbestreitbar, daß das Land auch beim aktuellen Stand im internationalen Vergleich, und selbst innerhalb Lateinamerikas, noch weit hinterher hinkt. So liegt etwa die durchschnittliche Schulbesuchsdauer der Erwerbsbevölkerung in Argentinien mit 8,7 und in Chile mit 7,5 Jahren deutlich höher als in Brasilien, und in nahezu allen lateinameri-
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kanischen Staaten ist die Bruttoeinschulungsquote auf der Sekundarstufe deutlich höher als in Brasilien (CEPAL 1996: 2). Desweiteren bestehen in Brasilien nach wie vor gravierende regionale und Stadt-Land Disparitäten.7 „Illiterate rates, for example, ränge from 11 percent in the urban south to more than 55 percent in the rural northeast" (Burki 1995: 4); die durchschnittliche Schulbesuchsdauer variiert zwischen 4,1 Jahren im Nordosten und 6,2 Jahren im Südosten, die dropout-Rate in der Primarstufe liegt im Nordosten bei 20,6% und im Südosten bei 6,9%, die tägliche Schulverweildauer in der Primarstufe beträgt im Mittel im Nordosten 3,5 und im Südosten 4,5 Stunden. Länder und Kommunen vereinten 1995 in der Primarstufe 90% und in der Sekundarstufe 77% der Matrikula auf sich.8 Da deren Wirtschaftskraft und damit Steueraufkommen krasse Unterschiede aufweisen, bei nur begrenzt wirksamen Redistributionsmechanismen, ist eine große Varianz der Ausgaben pro Schüler und damit der Quantität und Qualität des schulischen Angebots zwischen und selbst innerhalb der Bundesländer die unvermeidliche Folge. „In a Single State in Northeast Brazil, spending per capita Student in 1990 ranged
from $30 to $650 in different municipal systems" (Birdsall/Sabot 1996: 27). Unberücksichtigt bleibt bei diesen quantitativen Indikatoren die Qualität der schulischen Bildung, die sich nach Ansicht von Experten auf allen Bildungsebenen (Paiva 1995: 261), insbesondere aber in der Primarstufe, drastisch verschlechtert hat (Birdsall/Sabot 1996: 23). Nur in Ausnahmefällen, bei stark wachsendem Sozialprodukt und geringem Bevölkerungswachstum oder durch radikale Haushaltsumschichtungen, kann es Entwicklungsländern gelingen, ihr Bildungssystem gleichzeitig quantitativ und qualitativ zu verbessern. Da in Brasilien keine dieser Voraussetzungen gegeben war, konnte die starke Expansion der Matrikula auf der Primär- und Sekundarstufe9 nur auf Kosten der Qualität 7
Diese beschränken sich allerdings keineswegs auf den Bildungssektor (Pfeiffer 1980). Eine Berechnung des von der UNO verwendeten ,Human Development Index' für sämtliche brasilianische Bundesstaaten ergab einen breiten Schwankungsbereich mit Extremweiten von 0,87 (Rio Grande do Sul) und 0,46 (Paraiba) (Isto6, 26.7.1994: 27). Diese Werte entsprechen in etwa denen von Portugal (0,84) einerseits und Swaziland (0,46) andererseits.
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Die Matrikula in der Sekundarstufe verteilen sich wie folgt auf die verschiedenen Träger: Bund (2,4%), Länder (69%) Gemeinden (5,6%) und Private (23%). Bemerkenswert ist, daß noch vor 15 Jahren der Anteil des privaten Sektors mit 43% deutlich höher lag. Die Verbesserung des öffentlichen Angebots, die hohen Schulgebühren und die Verringerung der Kaufkraft der Mittelschichten führten in den letzten Jahren zu einem kontinuierlichen Rückgang desselben.
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Komplizierter ist die Situation im Bereich Höherer Bildung. Hier erfolgte in den Jahren 1960-80 ein explosionsartiges Wachstum der Matrikula um 1300% (!), das jedoch überwiegend durch eine Expansion des privaten Sektors getragen wurde (Rossato 1997: 6 0 -
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erfolgen. 1° Die Besoldung der Lehrer ist nach wie vor schlecht und der bauliche Zustand und die Ausstattung der Schulen nicht lernfördernd: Weniger als die Hälfte der Primarstufenschüler hat Zugang zu einer Bibliothek, nur 6,6% der öffentlichen Schulen haben Geräte für den naturwissenschaftlichen Unterricht, 41% besitzen keinen elektrischen Strom, häufig sind die Installationen in schlechtem Zustand (Folha de Säo Paulo, 5.2.1998: 3/7), und PCs haben Seltenheitswert. Ein valider Indikator für die mangelnde Qualität sind die Resultate der regelmäßig stattfindenden nationalen Leistungsmessungen. So ergaben die 1997 im Rahmen des .Sistema de Avaliasäo do Rendimento Escolar do Estado de Säo Paulo' (Saresp) in den 4. bis 8. Klassen der öffentlichen Schulen im Staat Säo Paulo durchgeführten Leistungstests in Mathematik, daß 85% der Population in der 8. Klasse und damit am Ende der Primarstufe nicht in der Lage waren, Operationen wie Multiplikation und Division auszuführen (Campos 1997). Ob es angesichts solcher Sachverhalte sinnvoll ist, landesweit die hohen Repetenzraten, wie in einigen Bundesstaaten schon der Fall, einfach durch Abschaffung der Nichtversetzung zwischen der 1. und der 4. sowie der 5. und der 8. Klasse zu bekämpfen, ohne gleichzeitig die Qualität zu steigern, muß ernsthaft bezweifelt werden. Ursachen des Rückstands Die Frage an dieser Stelle ist natürlich „why Brazil lags behind in educational development" (Plank et al. 1996: 117). Internationale Geldgeber und Pädagogen neigen in seltener Einmütigkeit dazu, die Ursache der Defizite von Bildungssystemen in den Entwicklungsländern primär nicht im pädagogischen, sondern im finanziellen Bereich zu verorten. Dies ist selbstverständlich bis zu einem gewissen Punkt richtig, aber auch nur bis zu einem gewissen. „Se, de um lado näo € viävel realizar educa$äo de qualidade sem investimentos necessärios, de outro, os meros investimentos näo garantem a qualidade desejada" (Demo 1997: 58). Die brasilianischen Erfahrungen unterstützen diese These nachhaltig, denn auf mangelnde Finanzressourcen allein können die bestehenden Mängel nicht 62). Danach verlangsamte sich, wie auch in anderen Ländern der Region, das Wachstum deutlich (Pfeiffer 1993) und seit etwa 10 Jahren liegt die Inklusionsrate der Altersgruppe (20-24) konstant bei ca. 12%. Von den Matrikula entfallen nur 38% auf die öffentlichen Universitäten. Auf die daran anschließende, politisch folgenreiche Diskussion um die Verteilung von Bildungsinvestitionen (Quantität vs. Qualität, Ausweitung vs. Vertiefung) und den möglichen Widerspruch von Gleichheits- und Produktivitätszielen sei hier nur hingewiesen (Behrmann/Birdsall 1983;Behrmannetal. 1996).
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kausal zurückgeführt werden. Die öffentlichen Ausgaben Brasiliens für Erziehung betragen derzeit 4,6% des BSP, ein Wert, der sich im internationalen Vergleich durchaus sehen lassen kann. 11 Auch fehlende technische Kompetenz bei der Umsetzung der bildungspolitischen Ziele mag zwar in manchen Kontexten sicher eine Rolle spielen, ist insgesamt aber kein hinreichender Grund für den Rückstand (Plank et al. 1996: 119). Die Defizite des brasilianischen Bildungssystems und das prekäre Bildungsniveau der Erwerbsbevölkerung sind somit weniger die Folge mangelnder Finanzressourcen oder schlichter operativer Unfähigkeit der Verantwortlichen, sondern das Ergebnis bildungspolitischer Entscheidungen, die oft genug nicht mit den offiziellen Zielen übereinstimmen, sondern vorzugsweise privaten Interessen dienen (Plank et al. 1996: 121-128), einer geringen Ressourceneffizienz als Folge von Überbesetzung, Verschwendung und Fehlleitung 12 und schließlich und ganz entscheidend, einer Strategie industrieller Entwicklung in der Vergangenheit, deren Grenzen heute deutlich sichtbar werden. Die im brasilianischen Industrialisierungsprozeß hauptsächlich benutzte Technologie und die Nachfrage der auf den internen Markt orientierten Unternehmen waren in großem Umfang gekennzeichnet durch die effiziente Ausschöpfung un- oder semi-qualifzierter Arbeitskraft mit nur geringer Schulbildung, wodurch die Dissoziation zwischen Arbeit und Bildung gefördert wurde. Weder seitens der Unternehmen noch seitens der Haushalte bestand in breitem Umfang Nachfrage nach qualifizierter Arbeit auf den verschiedenen Ebenen des Wertschöpfungsprozesses. Diese war vielmehr begrenzt auf einige technologisch relativ hochentwickelte, exportorientierte Industriesektoren (Luftfahrt, Eisenmetallurgie, Chemie), die durchschnittlichen Weltmarktanforderungen entsprechen und international wettbewerbsfähig sind (Göthner 1991: 28-29). Dieser Heterogenität des technologischen Entwicklungsstands entspricht die Polarisierung des Bildungsniveaus der Bevölkerung, welches eine große Varianz aufweist: Einer zunehmenden, aber immer noch kleinen, gut ausgebildeten Schicht steht eine große Masse mit niedrigem Bildungsniveau gegenüber, Resultat einer Bildungspolitik, die zumindest in der Vergangenheit, eindeutig die aufstiegsorientierten Mittelklassen favorisiert hat und weiten Teilen der Bevölkerung keine oder nur minimale Bildung zukommen ließ. So zeigt eine neuere 11
Zum Vergleich die Werte einiger europäischer und amerikanischer Staaten (UNESCO 1996): Frankreich (5,7%), Italien (5,4%), Großbritannien (5,2%), USA (5,2%), Argentinien (3,1%), Chile (2,9%) 12 Zu erwähnen sind hier vor allem ein überdimensionierter Verwaltungsstab, der zudem oft nach Kriterien politischer Patronage und nicht nach Qualifikation rekrutiert wird, und die Mittelverwendung zu pädagogisch zweifelhaften Zwecken, wie etwa Straßenbau.
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Untersuchung der BID (Folha de Säo Paulo, 17.07.98: 1/1), daß von den unteren 40% der Einkommenspyramide in Brasilien nur 46% fünf Schuljahre und mehr aufweisen. Damit liegt das Land knapp über Kamerun (45%) und deutlich hinter Sambia (54%), Ghana (57%) und Bolivien (71%) zurück, alles Länder, deren durchschnittliche Schulbesuchsdauer geringer als die Brasiliens ist. Noch deutlicher wird die Polarisierung im Top-Bottom-Vergleich: Die oberen 10% der Einkommensverteilung weisen durchschnittlich 10 Schuljahre auf, die unteren 40% hingegen nur 4 Jahre. Diese Polarisierung ist das Ergebnis einer Ressourcenallokation zwischen den Bildungsstufen, die Equity-Zielen kraß widerspricht. So setzte die Hochschulexpansion in Brasilien Anfang der 60er Jahre zu einem Zeitpunkt ein, als noch große Teile der Bevölkerung vom Zugang zu den elementaren kulturellen Codes ausgeschlossen waren (Tedesco 1987: 518) und die Analphabetenquote bei 40% lag. Zwar wendet Brasilien derzeit ,nur' etwa 25% seiner öffentlichen Erziehungsausgaben für die Hochschulen auf, was durchaus innerhalb der regional üblichen Standards (Moura Castro/Levy 1997: 156) liegt. 13 Entscheidend sind jedoch die unit-costs und diese liegen an den öffentlichen Hochschulen (Bund und Länder) mit durchschnittlich über 8000 US-Dollar pro Student jährlich 14 um ein mehrfaches höher als in anderen Staaten der Region 15 (Moura Castro/Levy 1997: 157) und erreichen das Niveau von Industrieländern. Demgegenüber betrugen 1996 die Ausgaben pro Schüler auf der Primarstufe bescheidene 567 USD und auf der Sekundarstufe 594 USD. Berücksichtigt man nun, daß 44% der Studenten an den studiengebührenfreien öffentlichen Universitäten aus Familien des obersten Dezils der Einkommensverteilung stammen und insgesamt nur 18% aus dem unteren und mittleren Terzil (Paul/Wolff 1996: 543), so heißt dies nichts anderes, als daß die Armen, die nur geringe Chancen des Hochschulzugangs haben, die Ausbildung der zukünftigen Reichen subventionieren. Diejenigen, die die hohe Hürde der Aufnahmeprüfung zu den öffentlichen Universitäten (Vestibulär) nicht schaffen (Pfeiffer 1989), sind auf die privaten Institutionen verwiesen, wo sie — von rühmlichen Ausnahmen abgesehen — gegen gutes Geld eine schlechte, oder bestenfalls mittelmäßige Ausbildung erhalten, wie die Resultate der seit zwei
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Einige Länder (Argentinien, Costa Rica, Venezuela) weisen deutlich höhere Anteile auf.
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In Kursen wie Medizin, Ingenieurwesen etc. betragen die Kosten etwa 50.000 USD pro Jahr und Student. Empirische Hinweise darauf, daß diese hohen Ausgaben durch eine außergewöhnliche Qualität der Absolventen brasilianischer Hochschulen gerechtfertigt wären, liegen jedoch nicht vor.
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Jahren stattfindenden Evaluationen (Proväo) zeigen 16 (Moura Castro 1998: 23; INEP 1996: 55). Deren Klientel stammt überwiegend 17 aus den unteren Mittelschichten, die nicht über die finanziellen Ressourcen verfügen, um ihre Kinder auf die teuren privaten Sekundärschulen zu schicken, in denen eine angemessene Vorbereitung auf die Aufnahmeprüfung zu den öffentlichen Hochschulen geboten wird. Damit schließt sich, im Namen der von Interessenvertretem ganz unterschiedlicher Provenienz vertretenen Ideologie der universidade publica, gratuita e democrdtica ein durchaus undemokratischer Kreislauf der Reproduktion sozialer Ungleichheit. Konsequenzen und Perspektiven Während die Exklusion aus dem Bildungssystem, aufgrund der oben genannten Form des Entwicklungsprozesses, bis vor kurzem noch keineswegs automatisch den Ausschluß aus dem Wirtschaftssystem nach sich zog, hat sich die Situation im Zuge der wirtschaftlichen Anpassungsprozesse (Liberalisierung, Privatisierung, Weltmarktöffnung) und der damit verbundenen technologischen Innovationen in den letzten Jahren drastisch verändert, und auf allen Ebenen steigen die Anforderungen. So werden heute im Baugewerbe, einst ein klassisches Redukt unqualifizierter Arbeit, zunehmend nur noch alphabetisierte Arbeiter eingestellt. Für einen Einfachjob hinter der Verkaufstheke international bekannter Fastfood-Ketten wird Sekundarstufenabschluß verlangt, allerort wird der trabalhador polivalente gefordert, von Industriearbeitern werden Informatikkenntnisse erwartet, und des Englischen unkundige Manager großer Firmen in Säo Paulo finden sich plötzlich in der ungewohnten Lage eines Arbeitslosen wieder. Mit dem Rückgang der Nachfrage nach semi-qualifziertem Personal weitet sich die Schere zwischen denen, die bestenfalls in der informellen Ökonomie ihr prekäres Auskommen finden, und denen, die in einem formellen Arbeitsverhältnis (emprego formal) stehen. Die steigenden Anforderungen sind primär die Folge einer veränderten Entwicklungsstrategie, die gekennzeichnet ist durch die Insertion in die globale Ökonomie in Form externer Kapitalzuflüsse (Portfolio- und Direktinvestitionen, 16
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Allerdings operieren diese durchschnittlich auch nur mit einem Viertel der Kosten öffentlicher Universitäten, so daß das Ergebnis unter Kosten-/Ertragsaspekten so schlecht nicht ist. Diese Relationen sind in den klassischen Prestigefächem (Medizin, Ingenieurwesen) und modernen Karrierefachem — (BWL, Informatik), deren Kosten weitaus höher liegen, noch krasser. Dort dominieren nahezu exklusiv die Absolventen teurer Privatschulen (Teixeira,
1998: 32-35).
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Kredite) einerseits und der Beteiligung am Wettbewerb auf den internationalen Güter- und Dienstleistungsmärkten andererseits. Aber auch im Hinblick auf die großen Wachstumspotentiale des Binnenmarktes und die Steigerung der Produktivität, sei es durch Ausschöpfung bestehender Reserven, sei es durch Implementation technischer und organisatorischer Innovationen, ist eine Verbesserung der Qualifikation der Arbeitskraft dringend erforderlich. Einer neueren McKinsey Studie zufolge ließe sich allein durch eine effizientere Gestaltung der Arbeitsabläufe bei aktuell gegebener Sachkapitalausstattung ein jährliches Wachstum des pro-Kopf Sozialprodukts von 2,9% erzielen (Neto/Simonetti 1998: 109). Die Herausforderungen der ökonomischen Globalisierung richten sich heute an alle Länder, jedoch in sehr unterschiedlicher Weise. Dies gilt auch und insbesondere für den Bereich der Bildung (Haddad 1997: 39). Für Brasilien mit seinem erheblichen Nachholbedarf sind die Prioritäten auf den verschiedenen Ebenen relativ eindeutig: • Universalisierung der achtjährigen Grundausbildung und Reduzierung der nach wie vor zu hohen Repetenz- und drop-out-Raten und Verbesserung der pädagogischen Ausbildungsqualität in allen Dimensionen (Lehrer, materielle Ausstattung, didaktische Methoden). • Durch die rapide Expansion der Sekundarstufe, die sich in den kommenden Jahren noch verstärken wird, droht auch hier die Gefahr eines Qualitätszerfalls. Um dies zu verhindern, bedarf es sowohl einer Reform, wie sie derzeit vom MEC vorbereitet wird (solide Allgemeinbildung anstelle einer verkappten und schlechten Berufsausbildung), als auch der Implementierung moderner, innovativer Unterrichtsmethoden. • Eine grundlegende Hochschulreform mit dem Ziel einer vertikalen und horizontalen Differenzierung der postsekundaren Bildung 18 , einer effizienten Ausschöpfung vorhandener Ressourcen 19 und der Möglichkeit der Erhebung von Studiengebühren an den öffentlichen Universitäten, wie sie inzwischen auch von der UNESCO gefordert wird. Dabei geht es nicht darum, wie von Vertretern des status quo geargwöhnt wird, das bestehende System zu demontieren, sondern es zu modernisieren, leistungsfähiger zu gestalten und equity- Aspekte stärker zu berücksichtigen. Sicherlich wäre eine Steigerung der verfügbaren Finanzressourcen für Bildungszwecke auf 6% des BIP, wie sie von der brasilianischen Rektoren18
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Ein erster Ansatz in diese Richtung ist die geplante Einführung von stärker marktorientierten cursos sequenciais, die eine kürzere Dauer haben als die traditionellen Graduiertenkurse. Die Relation Student/Hochschullehrer beträgt in Brasilien 9:1; weltweit liegt sie bei 16:1.
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konferenz gefordert wird, zur Erreichung dieser Ziele hilfreich. Mit fresh money kann aber angesichts leerer öffentlicher Kassen und weiterer, in Zukunft zu erwartender Sparmaßnahmen kaum gerechnet werden. Neue Mittel für den quantitativen und qualitativen Ausbau von Primar- und Sekundarstufe könnten jedoch aus einer Reduktion der Repetenz- und Abbrecherquoten geschöpft werden, durch die derzeit jährlich über 5 Milliarden US$ (16,3% der Gesamtressourcen) verschwendet werden, d.h. die Investition in Qualität bezahlt sich zumindest teilweise selbst. Durch eine bessere Nutzung der vorhandenen Ressourcen im Hochschulbereich, den Abbau überdimensionierter Verwaltungsapparate und einen angemessenen Eigenbeitrag der zahlungsfähigen Studierenden ließen sich weitere Mittel beschaffen, die, zumindest teilweise, zur Qualitätsverbesserung in der Grundbildung eingesetzt werden könnten. Eine Erwerbsbevölkerung mit soliden Grundlagen in Muttersprache, Naturwissenschaften und Mathematik, der Flexibilität, bei Bedarf neue Kenntnisse zu erwerben, sowie eine kritische Masse an wissenschaftlich gebildetem Personal (Haddad 1997:37) sind die Leistungen, die das Erziehungssystem in Schwellenländem erbringen kann und muß, um den Herausforderungen der Globalisierung erfolgreich zu begegnen. 20 Vorsicht und Skepsis sind dagegen angebracht, wenn es darum geht, im Hinblick auf die angeblichen Notwendigkeiten der Globalisierung kurzfristig curriculare Inhalte anzupassen oder Strukturen von Bildungssystemen zu reformieren. Es fällt bei näherem Hinsehen nämlich auf, daß zwar immer wieder die Notwendigkeit einer an den Erfordernissen einer globalen Welt orientierten Bildung betont wird, aber wenig konkretes dazu gesagt wird und wohl auch nicht gesagt werden kann, wie diese aussieht und welche Qualifikationen denn die Arbeitskraft in der globalen Ökonomie haben soll. Da ist viel die Rede von „awareness of other cultures" (McGinn 1997: 43), „profesionales de nuevo tipo: educados, curiosos, críticos, motivados al riesgo y dispuestos a colaborar con otros profesionales en la solución de problemas" (Ornelas 195: 139), ,,a necessidade de sustituir o trabalhador espezialisado por outro polivalente" (Soares 1997: 66), „interpersonal skills, including participation in teams, acquiring and using information; understanding complex interrelationships from a systems perspective; and working with a variety of technologies" (Levin 1998: 4-5). Dies alles ist sicher richtig, konsensfähig und als Orientierung hilfreich. Sobald es jedoch darum geht, diese Konstrukte zu operationalisieren und in spezifische, meßbare Wissens- und Verhaltenskompetenzen umzusetzen, beginnt das 20 Humankapitalinvestitionen sind jedoch nicht in der Lage, wie die Erfahrungen zeigen, defizitäre institutionelle Rahmenbedingungen oder fehlende Sachkapitalinvestitionen zu kompensieren.
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Nichtwissen. Es läßt sich zwar sagen, „that education is important to economic outcomes, but precisely what aspects of education make a difference have not been demonstrated" (Levin 1998: 5). Dies gilt schon für statische Wirtschaften und erst recht für dynamische und offene. Es erstaunt daher nicht, wenn McGinn (1997: 49) zu dem ernüchternden Schluß kommt: „We have made little progress in understanding the way in which globalization can influence education". Auch wenn es um Erziehungsíyifeme geht, ist die Bilanz eher ernüchternd, denn bisher zeigen sich wenig Veränderungen: „No national system of education is very different to what it was fifty years ago. The most recent wave of globalization appears to have had relatively little effect on the content of national education systems" (McGinn 1997: 41). Und schließlich ist auch noch daran zu erinnern, daß Erziehung Zeit braucht. Lernprozesse lassen sich nicht beliebig beschleunigen, und die Entwicklung von Humankapital vollzieht sich in einem relativ langen Zeithorizont, so daß Veränderungen im Bildungssystem ihre Wirkung nicht über Nacht, sondern erst langfristig entfalten können, auch in Brasilien: „Na melhor das hipóteses, 19,8 milhöes de jovens estaräo entrando no mercado de traballio ao longo da próxima década com o diploma do ensino fundamental na mäo. O número é grande, mas nao o suficiente para transformar radicalmente o perfil da força de trabalho nacional" (Toledo, 1998: 3/3). Es ist einer der Paradoxien im Verhältnis von Erziehung und Globalisierung, daß erstere als ein „long-term" Prozeß sich in einem durch die Globalisierung geschaffenen Klima von Unsicherheit und „short-termism" vollziehen muß (Comeliau 1997: 33) und oft genug daran scheitert.21 Dies zeigt, daß der Globalisierungsprozeß zwar hauptsächlich von ökonomischen Akteuren angetrieben wird, daß aber seine Herausforderungen an Erziehungsprozesse sich nicht auf die Schaffung von Qualifikationen für den globalen Wettbewerb beschränken, sondern gerade in einem Klima von Unsicherheit auch die Entwicklung individueller Identität und sozialer Integration umfassen, und auf Dimensionen von Moral und Kultur verweisen (Delors 1996: 19) — und dies nicht nur in Brasilien, sondern weltweit.
21 Pädagogen bedienen sich an dieser Stelle gerne der Formel .Lernen zu Lernen', womit der Widerspruch aber nicht gelöst, sondern nur verschoben wird.
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Der Staat in vergleichender Perspektive: Regionalistische Forschung als Kurskorrektur politikwissenschaftlicher Fehlentwicklungen MANFRED MOLS
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Ob wir die wissenschaftliche Beschäftigung mit Politik mit Piaton, Aristoteles oder Cicero beginnen lassen oder in Anlehnung an Hans Maiers Überlegungen zur politikwissenschaftlichen Tradition Jahrhunderte später ansetzen oder vielleicht auch erst mit Entwicklungen beginnen, die um die Jahrhundertwende in den USA, in Großbritannien, in Kanada und natürlich auch in Deutschland stattfinden (Mols 1996): Der zentrale, ursprüngliche Gegenstand der Politikwissenschaft heißt das politische Gemeinwesen oder der Staat, und es ist die Lehre vom Staat und seiner Verfassung, die der alten oder neuen Disziplin Halt, Profil, vor allem erst einmal die Richtung vorgeben. Diese Aussage bleibt auch dann korrekt, wenn der moderne westliche Staat erst mit der Renaissance und mit einer leichten zeitlichen Phasenverschiebung ungefähr zeitgleich in Spanien, Frankreich und England einen Anfang nimmt. Die Grundkategorien Souveränität, Anerkennung durch Dritte, Staatsräson, Staatsvolk, Staatsgewalt und Staatsgebiet sind die historisch-empirischen wie die daraus abgeleiteten theoretischen Fundamente dieses Verständnisses. Vor allem die deutsche Politikwissenschaft, die bekanntlich in zwei Anläufen entstanden ist, nämlich im Zusammenhang mit der Berliner Hochschule für Politik unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg und in einem zweiten Schritt als Demokratiewissenschaft nach dem Zweiten Weltkrieg, ist in ihrer Genese, bei allen Beimischungen aus der Zeitgeschichte, der Philosophie, dem Völkerrecht, der Volkswirtschaftslehre usw. primär Staatswissenschaft, die konsequent bei den Staats(rechts)lehrern in die Schule geht. Eine ganze Doktorandengeneration, von denen nicht wenige auch Professoren ihres Faches wurden, hat in den SOer und 60er Jahren im Aufarbeiten der Staatslehre ihr damaliges politikwissenschaftliches Eigenverständnis zu entwickeln versucht.1 1 Nicht selten geschah dies in Verbindung mit der älteren Lehre von der Politik überhaupt. Typisch dafür Hennis (1963).
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Mit dem aus den USA herüberkommenden Einbruch von Behaviorismus und Systemtheorie kamen neue Orientierungen auf, die die überkommene Staatsbindung der fachlichen Gegenstandsbestimmung weitgehend verdrängten. Besonders in der einflußreichen, im Committee on Comparative Politics des Social Science Research Council zusammengekommenen Forscherfamilie der Stein Rokkan, Gabriel Almond, Sidney Verba, Joseph LaPalombara, Leonard Binder u.a. war ein komparatives Forschungsinteresse entstanden, aus welchem man zu Recht die — letztlich hermeneutischen, weil allzusehr auf Europa und die USA bezogenen — Begrenzungen der alten, staatsbezogenen InstitutionenBetrachtungen hervorhob, wobei das neue Anliegen noch durch eine Forschungslogik unterstrichen wurde, die auf Szientismus, Einheitswissenschaft, Impulse aus den fortgeschrittensten Zweigen von Nachbarwissenschaften setzte. Kybernetik, Funktionalismus, Input-Output- und Stimulus-Response-Denken, Entscheidungspfade, die Spieltheorie, kurzum, der politische Prozeß in seinen Dynamismen und später auch — in Form der sogenannten policy-analysis — mit seinen als Outputs und outcomes diskutierten Resultaten, wurden die schlechthin beherrschenden Bearbeitungsformen des Politischen (Riemer 1983). Der radikale Paradigmenwechsel, der an das erinnert, was Thomas Kuhn in seinem Buch „The Structure of Scientific Revolutions" beschrieben hat, ließ für Staatsphilosophie, Staatstheorie und selbst für Staatssoziologie kaum noch Raum. Um es anschaulich zu sagen: Aus der Generation der heute 40jährigen Professoren weiß kaum noch jemand den Rang von Carl-Joachim Friedrichs „Verfassungsstaat der Neuzeit" (Friedrich 1953) zu würdigen, ein Werk, das viele der jüngeren Kollegen vermutlich als ein Stück aus dem Arsenal von Großvaters Politikwissenschaft ansehen. Lediglich in der politikwissenschaftlichen Entwicklungsländerforschung, die sich ja dem Entkolonialisierungsprozeß und seinen Folgen unmittelbar zu stellen hatte, behielten Kategorien wie Staat und Nation, häufig in der Dialektik von „State and nation building", einen gewissen Stellenwert. Doch sei hier sofort der Preis genannt, der zu zahlen war: Je mehr sich diese Entwicklungsländerforschung regionalwissenschaftlichen Trends anschließen mußte, um in Übersee selbst mitsprachefähig zu sein, desto deutlicher tauchte die Gefahr auf, in Bezug auf den sogenannten main stream des Faches in eine Randlage zu geraten. Wir befinden uns heute in einer Zeit des allmählichen, jedoch durchaus spürbaren Umdenkens. Vielleicht sollte ich eher von einer radikalen Aufspaltung des Faches sprechen. Auf der einen Seite sind ein Modellpiatonismus und eine jargonbedingte Sprachlosigkeit aufgekommen, die das Fach weit wegführen von jeder lebensweltlichen Konkretheit. Auf der anderen Seite sieht man deutlicher als noch vor ein oder zwei Jahrzehnten, daß die Menschen in ganz
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konkreten Ordnungen und ganz konkreten Akteurszusammenhängen leben, die nicht nur ihre unmittelbare Erfahrungswelt ausmachen, sondern auf der Megaebene dank ihrer Strukturiertheit, ihrer jeweiligen Qualitäten, ihrer spezifischen inhärenten Dynamik usw. absolut politikprägend sind. Vielleicht ist der große Bericht der Weltbank von 1997, überschrieben mit „Der Staat in einer sich ändernden Welt", eine Art internationale Zwischenstufe auch in der Entwicklung der Politikwissenschaft, die wieder anfängt, auf Konkretheit in den Makrobereichen und seinen Vernetzungen „nach unten" zu setzen. Sollte dieser Trend anhalten, sollte sich die Auffassung wieder breiter durchsetzen, daß wir nicht in systemtheoretisch zu definierenden Systemen leben, sondern in Staaten, daß ordnungspolitische Grundsatzentscheidungen und damit wesentliche politische Weichenstellungen nicht primär auf dem Wege über Vernetzungen oder sog. Regime-Bildungen und auch nicht über spieltheoretische Kosten-NutzenErwägungen erfolgen, sondern sehr viel zu tun haben mit dem Treffen von Entscheidungen in faßbaren staatlichen Bereichen, wird es in der Forschung vermutlich zu einer Renaissance staatstheoretischer Betrachtungsweisen kommen. In diesem Sinne einer vorsichtigen Prophezeiung künftiger Entwicklungen waren schon 1979 das Herbst-Heft der Zeitschrift Daedalus, überschrieben mit „The State",2 und dann später das kleine Buch von John A. Hall und G. John Ikenberry (1989), ebenfalls mit dem Titel „The State", als Wegmarken empfunden worden. An dem Daedalus-Heft ist vor allem interessant gewesen, daß sehr namhafte und in ihrer Zeit moderne Forscher wie David Apter, Harry Eckstein oder auch Hedley Bull mitgewirkt haben, ausgewiesene Wissenschaftler also, denen das Fach erstklassige Impulse verdankt. Eckstein hat das Arbeitsprogramm glänzend skizziert: „...the designing of a workable modern polis is probably the most pressing (and widely ignored) task of modern political thought and practice."3 Solche Fragestellungen sehen als Rückkehr in einen staatsphilosophischen Konservatismus aus, den die moderne Politikwissenschaft, vereint in der Trias Szientismus, Behaviorismus, Systemtheorie ja gerade überwinden wollte. Konservativ zu sein, kann dann sehr progressiv sein, wenn sich die Alternativen in Irrgärten verrennen. Ich denke gleichwohl, es wird nicht mehr angehen, mit Volontariatsaufenthalten in den Revieren der alten Staatsrechtslehre auszukommen, die ein Stück früherer Modernität verloren zu haben scheint. In der Tat hat sich das Zentrum der Betrachtung verändert: Standen früher die Natur des Staates, also letztlich seine geschichtsontologische Begründung und in Deutschland seine rechtliche 2 Vol. 108, no. 4. 3 Daedalus a. a. O., Preface, viii.
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Ausstattung im Vordergrund, dies immer wieder verbunden mit Reflexionen über die eigentlichen Staatszwecke, richten sich heutige Fragen stärker auf seine spezifischen Qualitäten (vgl. u. a. Hall/Ikenberry 1989: 95), wie z. B. auf seine Handlungskapazitäten. Mir kommt es daher nicht auf die Bildung von Gegenpositionen zu den vorhin angedeuteten Innovationen in der Politikanalyse an. Vielmehr denke ich an Versuche eines überlegten „sowohl als auch", d.h. als ein hoffentlich fruchtbarer Synkretismus aus verhaltenswissenschaftlichen, systemtheoretischen und staatstheoretischen Richtungen. Wir sind in unseren methodischen und methodologischen Zugriffen abstrakter und raffinierter geworden und sollten hier eher noch dazu lernen als wieder zu vergessen oder gar abzulehnen. Wir müssen es aber mit der gleichen Dringlichkeit wieder lernen, in nächster Nähe zu lebensweltlichen Konkretheiten zu denken, als die sich u.a. die Staaten, in denen wir leben und aus denen Politik gemacht wird, darstellen. Erst dies rechtfertigt den Anspruch des Faches, auch eine empirische Wissenschaft zu sein — was sicher für manche ein unverständlicher Satz bleiben dürfte, wenn sie Empirie nur aus Popperschen Ansätzen oder im Gefolge des neokantianischen Arnold Brecht beurteilen. Wird hier gefordert, Unvereinbares miteinander in Einklang zu bringen? Es mag sein, daß dies tatsächlich der Fall ist. Es lohnt sich die doppelte Anstrengung aber schon allein deshalb, weil wir in einer Zeit offensichtlicher politischer Handlungskrisen leben, die in Rußland, Indonesien, Malaysia, Ecuador, Venezuela und an vielen Stellen Schwarzafrikas allzu deutlich sind und die sich überhaupt allenthalben dort eingestellt haben, wo man das Heil der eigenen Modernität, der eigenen Entwicklung, der eigenen Reaktionsfähigkeit auf Globalisierung usw. im Zurückdrängen des Staatlichen und der staatlichen Zuständigkeiten zu erblicken glaubte. Die eigentliche zentrale Frage nach politischer Gestaltungsfähigkeit in unserer Zeit heißt Regierbarkeit, „gobernabilidad", „good governance", und damit ist erneut und sehr aktuell nach dem Sinn, der Funktion und nach unverzichtbaren Mechanismen von Staat gefragt — und auch nach Gegenkräften, die den Staat nicht zu einem entarteten Leviathan werden lassen.
II Welche Impulse könnten auf der Basis solcher Überlegungen von der Regionalforschung ausgehen, von der ich andererseits ja behauptet hatte, sie haben an vielen Stellen mit dem main stream des Faches Schwierigkeiten? Ich will eine Teilantwort versuchen im Vergleich einiger Befunde über Staat in Lateinamerika und in Asien, wobei ich mich in einigen Formulierungen auf
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Überlegungen stütze, die ich vor nicht allzu langer Zeit in der Festschrift für Josef Thesing angestellt habe (Mols 1997). Ich greife drei Beispiele heraus. Erstens: Souveränität ist ein konstitutives Element für Staat. In beiden Regionen wurde oder wird Staat konstituiert und gelebt unter Bedingungen einer extern beschnittenen Souveränität, die weit über das Maß der Einschränkungen hinausgeht, denen sich heute auch die westlichen Industriestaaten im Zuge von Transnationalisierung, Globalisierung und — zumindest im Falle Europas — partiellem Souveränitätstransfer auf supranationale Einheiten, gegenüberstehen. Es ist objektiv nahezu gleichgültig, ob wir die Einschränkung von Souveränität in Lateinamerika und in Asien imperialismustheoretisch, dependenztheoretisch oder unter Gesichtspunkten hegemonialer Suprematie diskutieren. In beiden Fällen hat ein bevormundendes, in die kulturelle Substanz, in die wirtschaftliche Verfügungsgewalt über sich selbst und natürlich auch mittelbar und unmittelbar in die Politik eingreifendes Ausland Souveränität geschwächt, kastriert, verweigert, in der Substanz verletzt. Diese geschwächte oder verweigerte Souveränität hat in Lateinamerika bekanntlich zum Aufblühen einer antiimperialistischen Haltung geführt, die sich von Rodós Arielismus um 1900 (Rodó 1994) über Mariáteguis großartigen Essay „Sieben Versuche, die peruanische Wirklichkeit zu verstehen" (Mariátegui 1986) bis in die moderne Dependenztheorie hineinziehen. Die Zielvorstellung heißt, auf der Basis von Zentralkategorien wie Metropole-Satelliten-Verhältnis, ungleicher Tausch oder wie immer sonst — „reivindicación", Wiederherstellung eines geraubten Rechtstitels (Mols 1991: 20). Noch der Nord-Süd-Dialog der 70er Jahre, selbstverständlich die 1974 erfolgreich von mexikanischer Seite in die UNO eingebrachte „Charta der ökonomischen Rechte und Pflichten der Staaten" und die seinerzeitige Gründung der UNCTAD durch den unvergessenen ersten Generalsekretär der UNWirtschatskommission für Lateinamerika und die Karibik, den Argentinier Raúl Prebisch, sind eindeutige Indikatoren dieses ,,reivindicación"-Denkens. Die Asiaten haben sich lange Zeit anders verhalten. Auch dort hat man vergangenes Unrecht nicht vergessen. Dennoch sah man sich der westlichkapitalistischen Wirtschaftsordnung verbunden, und zwar weniger aus grundsätzlichen ordnungspolitischen Entscheidungen — ein Müller-Armack wäre mir für Asien nicht bekannt —, sondern als Präferenz für offene Märkte durch Dritte. Man bekannte sich zu dieser Form der Westlichkeit aus pragmatischen Gesichtspunkten, eben aus der Überzeugung heraus, daß wirtschaftliche Interdependenz mit dem Westen und mit Japan (das zumindest in diesem Diskussionszusammenhang als ein überwiegend westliches Land angesehen werden muß) am ehesten die eigenen Entwicklungsprobleme lösen könne und daß somit zu einem maßgeblichen Partner bzw. einer Gruppe maßgeblicher Partner im
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internationalen System schon morgen, spätestens übermorgen, heranreifen würde. Nur am Rande sei hinzugefügt, daß dieser Optimismus im Augenblick etwas relativiert wird im Fortschreiten der Asienkrise, bei der sich immer mehr herausstellt, daß sie weit mehr ist als eine Finanz- und Wirtschaftskrise und bei der man die Souveränitätseinschnitte durch den IWF und andere Institutionen genauso diskutiert wie die partielle Außensteuerung Lateinamerikas durch den seinerzeitigen „Washingtoner Konsens". „Good Governance" wird sicher eine Antwort sein, aber es ist auch in Asien (genauso wie in Lateinamerika) immer offensichtlicher geworden, daß „good governance" weder ohne grundsätzliche ordnungspolitische Reflexionen noch ohne Nicht-Beachtung des Problems extern eingeschränkter Souveränität diskutiert werden kann. Die eingeschränkte Souveränität muß übrigens nicht immer hegemonial verursacht sein. Vietnam hatte 1997 ein Bruttoinlandsprodukt von 24,5 Milliarden Dollar. Gleichzeitig setzte es auf einen Zufluß ausländischen Investitionskapitals in mindestens gleicher Höhe (FAZ 278 vom 30.11.1998: 20). Wir stoßen auf ähnliche Sachverhalte für Ecuador, Mexiko, Costa Rica etc. Zweitens: Sowohl die Staaten Lateinamerikas als auch fast alle Staaten Ostund Südostasiens verstehen sich als Entwicklungsstaaten und Entwicklungsgesellschaften. „State and nation building" haben sicher ganz unterschiedliche Ausprägungsgrade erreicht. Im Wirtschaftlichen haben in Asien Planungsüberlegungen und Planungsinstrumente lange Zeit eine wesentliche Rolle gespielt.4 In Lateinamerika hat man über Jahrzehnte auf die Eigendynamik des sogenannten „sector paraestatal", also des staatlichen Wirtschaftssektors, gesetzt, wobei Lateinamerika unzweifelhaft bis weit in die 70er Jahre mit dieser Entwicklungsstrategie erhebliche Erfolge aufzuweisen hatte. Interessant ist bei allen Unterschieden im einzelnen, daß Südostasien und Lateinamerika über vielfältige Formen der Kooperation, Integration und Konzertation ihre Entwicklungsanstrengungen mit Versuchen regionaler Zusammenarbeit verbunden haben. Sowohl die Latinos wie die Südostasiaten haben sich von der Idee verabschiedet, daß Entwicklung primär oder gar ausschließlich auf einer rein nationalstaatlichen Basis möglich sei. Die aus Indonesien stammende und sich in fast allen ASEAN-Dokumenten wiederfindende Formel von der dialektischen Verschränkung von „national and regional resilience" fängt dieses Denken sprachlich gut ein (Berg 1993). Lateinamerika kennt analoge Gedanken seit den Tagen des CEPALISMO, der damaligen Entwicklungsdoktrin der UN-Wirtschaftskommission. 4
Ein etwas systematischerer Entwicklungsvergleich findet sich in Mols/Birle (1993).
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Dieses regionalistische Denken schlägt sich nicht nur in wirtschaftlichen Entwicklungsbereichen nieder, sondern auch im Politischen und Kulturellen. Im Grunde genommen ist die berühmt gewordene Wertedebatte (Mols/Derichs 1995) nichts anderes als ein von asiatischer Seite angestellter Versuch der Identitätssicherung in einer den Nivellierungsgefahren der Globalisierung ausgesetzten Welt. Die lateinamerikanische Variante heißt: Ein neues Verhältnis zu Menschenrechten und repräsentativer Demokratie im Rahmen einer regionalen oder subregionalen Unterstützung, das bis in gesamtamerikanische Überlegungen hineinreicht, wie sie sich u.a. im Santiago-Protokoll der Organisation Amerikanischer Staaten niedergeschlagen haben. Drittens: Weder die Lateinamerikaner noch Ost- und Südostasiaten sind in ihren auf den Staat gerichteten Modernitätsdurchbrüchen ohne die Orientierung und Reibung an dem ausgekommen, was wir Westlichkeit nennen würden. Westlichkeit heißt, auf eine kurze Formel gebracht, der von der Erfolgsstory der wirtschaftlichen, politischen und gesamtzivilisatorischen Einlösung begleitete Glaube an die Machbarkeit der Welt. Der „novus ordo saeculorum" Amerikas ist ein Einlösungsentwurf für Gesellschaft und Government, und der nachfolgende Imperialismus seine wirtschaftliche und parareligiöse Fortsetzung. Die Französische Revolution und vergleichsweise die neuere britische Verfassungsentwicklung sind ebenfalls als Einlösungsentwürfe für eine neue politischgesellschaftliche Welt anzusehen, die mit dem Zeitalter der Entdeckungen ihren Anfang nahm und in der europäisch-nordamerikanischen Aufklärung ihre geistige Projektion erhielt. Hinfort gibt es für Lateinamerika wie für Asien keine realpolitisch vernünftige Zukunftsperspektive ohne ein zumindest partielles Aufgreifen von Westlichkeit, genauer gesagt von nordatlantischer Westlichkeit, auch in politischer Hinsicht. Lateinamerika hat es dabei etwas leichter als Asien, weil es — bei allen indianischen Beimischungen in Staaten wie Mexiko, Bolivien, Peru, Kolumbien, Guatemala, Nicaragua, Honduras — sich immer als ein Stück des „äußersten Westens" fühlen konnte, wie der bedeutende französische Lateinamerikanist Alain Rouquié (1987) den Untertitel eines seiner Bücher nannte: .Amérique Latine. Introduction à l'Extrême Occident". Die Tragik Lateinamerikas im 19. Jahrhundert sollte darin bestehen, daß man einen neuen Staat oder neue Staaten aufzubauen versuchte, ohne die Gesellschaften zu modernisieren (Alba 1973). In unserer Zeit hingegen hat sich das politische Grundproblem Lateinamerikas genau ins Gegenteil verkehrt: Dem Grad innergesellschaftlicher Differenzierung entspricht nicht mehr eine analoge Modernisierung des Verfassungsgefüges und die Regierungspraxis. Im Gegensatz dazu waren Westlichkeit und politische Westlichkeit in Asien etwas Fremdes. Die chinesische Geschichte des 19. Jahrhunderts ist eine Ge-
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schichte des Scheiterns an der Westlichkeit. Japan hat 1854 über den USamerikanischen Commodore Perry eine gewaltsame Öffnung erleben müssen, dann aber sehr schnell im Zuge der sogenannten Meiji-Revolution von sich aus eine Partialwesternisierung durchgesetzt, die in ihren Erfolgen in der neueren Geschichte ohne Beispiel ist. Vielleicht hat das Königreich Siam in einer sehr frühen, schon im 18. Jahrhundert beginnenden Verwestlichungspolitik den ersten asiatischen Versuch überhaupt des Zugehens auf den Westen gemacht. Die Initiativen müssen als erfolgreich gelten, denn Siam wurde niemandes Kolonie. Die thailändische Formel der politischen Kultur „monarchy, Buddhism, and nation" fängt die Dialektik von Westlichkeit und historisch-kultureller Tradition plus relativer Autonomie sinnfällig ein (Keyes 1969). Heute stellt sich in vielen asiatischen Staaten das Problem des Modernisierungsdrucks nicht zuletzt aus jenem Raum vemetzter gesellschaftlicher Kohorten, die wir als zivile Gesellschaft bezeichnen würden. Dies manchmal mit sichtlichen Modernisierungskonsequenzen für die politischen Systeme wie in den Fällen Koreas, Taiwans und letztlich auch Thailands, manchmal in Form von Wellen der Unruhe und selbst politischen Anomien wie offensichtlich im Indonesien des Jahres 1998, manchmal auch nur in Ansätzen zur Oppositionsbildung wie etwa in Singapur. Lateinamerika und Ost- bzw. Südostasien wären für ihre politischen Entwürfe freier, wenn sie über eigene Traditionen der Aufklärung verfügten. Lateinamerika hat es jedoch im ganzen mit seinen okzidentalen Legaten ein gutes Stück leichter als Asien. Es stellen sich jedoch in beiden Fällen Probleme mit gewissen Parallelen. Selbst in Lateinamerika lassen sich die Diskrepanzen zwischen sozialer Kultur und staatlich-politischer Kultur nicht einfach durch Übernahme atlantisch-westlicher Leitvorstellungen aufheben, weil zumindest in Spanisch-Amerika die spanisch-iberische Tradition von Staatsidee und Staatswirklichkeit mit ihren herrschaftlichen, nicht-genossenschaftlichen Ausprägungen nicht in Einklang steht mit dem genossenschaftlich angelegten Zivilisationsdruck, der aus dem Norden des Doppelkontinentes kommt. In Asien, das, wenn man Oskar Weggel (1989), Clark W. Neher und anderen folgen darf, nie eigentliche Staats-, wohl aber ausgeprägte Herrschaftsvorstellungen hatte, ist der Zivilisationsdruck von außen deshalb noch brutaler, weil das eigenständige Entwerfen von Welt, eben auch von sozialer und politischer Welt, keine oder kaum feststellbare kulturelle Traditionen hat. Gibt es so etwas wie ein Fazit in diesem aus zwei Teilen bestehenden Beitrag? Ich denke: ja. Wir kommen um die intensivere Beschäftigung mit dem Staat und implizit damit auch mit grundsätzlichen politischen Ordnungsvorstellungen nicht herum. Harry Ecksteins Forderung nach einer zu intensivierenden Suche nach einer
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„workable modern polis" ist dringlicher denn je. Und es ist dies eine gleichsam globale Aufgabe, für die die in Europa geborene moderne Staatslehre viele wertvolle kategoriale und modellhafte Anregungen, wenn man so will, auch Bausteine bietet, für sich aber allein schon deshalb nicht ausreicht, weil sie einer kulturellen Tradition sowie eigener Bestandssicherungen gewiß ist, die wir für überseeische Regionen nicht voraussetzen können. Aber: Es bleiben dies bis auf weiteres wesentliche kategoriale Bausteine für die moderne Staatenwelt überhaupt. Es kommt noch etwas anderes hinzu: Die Modemisierungswellen, die die nordamerikanisch-europäische Politikwissenschaft in den 50er und 60er Jahren erreichten, dürfen bei einer erneuten Staatsbetrachtung schon deshalb nicht vergessen werden, weil die Besten unter unseren Fachkollegen, in Lateinamerika wie in Asien, in den USA und in Europa ausgebildet worden sind und als mit einer „modern politicai science" vertraut gelten können. Sich wieder der Staatsrichtung zu erinnern, kann in diesem Zusammenhang nicht viel anderes heißen, als die gemeinten Sozialwissenschaftler bzw. Politologen erst einmal dort abzuholen, wo sie stehen, so wie umgekehrt für alle gelten muß, daß in anderen kulturellen, nämlich erweiterten, Horizonten zu denken ist als bisher, um sich der relativen Begrenzungen der eigenen ethnozentrischen Entwürfe bewußt zu werden (Mols 1997a). Daß dies eine lohnende, weil außerordentlich interessante und politisch verantwortliche Aufgabe ist, sollte augenscheinlich sein. Literatur Alba, Victor (1973): Die Lateinamerikaner. Ein Kontinent zwischen Stillstand und Revolution. Zürich. Berg, Evamaria (1993): Entwicklung und Stabilität. „National" und „regional Resilience" als Entwicklungsformel im Südostasien der ASEAN-Staaten. In: Manfred Mols und Peter Birle (Hrsg.): Entwicklungsdenken und Entwicklungspraxis in Lateinamerika, Südostasien und Indien. Gemeinsamkeiten und Unterschiede. Münster und Hamburg 2. Aufl. S. 169-199. Friedrich, Carl J. (1953): Der Verfassungsstaat der Neuzeit. Berlin. Hall, John A./Ikenberry, G. John (1989): The State. Milton Keynes: Oxford University Press. Hennis, Wilhelm (1963): Politik und praktische Philosophie. Eine Studie zur Rekonstruktion der politischen Wissenschaft. Neuwied und Berlin. Keyes, Charles F. (1969): Thailand. Buddhist Kingdom as Modem Nation-State. Bangkok. Mariätegui, José Carlos (1986): Sieben Versuche, die peruanische Wirklichkeit zu verstehen. Berlin. Mols, Manfred (1991): Einführung in die wirtschaftliche, soziale und kulturelle Situation Lateinamerikas. In: Deutsche Sektion der Internationalen Juristenkommission (Hrsg.): Menschenrechtsprobleme in Lateinamerika. Heidelberg. S. 4-15.
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Mols, Manfred/Birle, Peter (Hrsg.) (1993): Entwicklungsdenken und Entwicklungspraxis in Lateinamerika, Südostasien und Indien. Gemeinsamkeiten und Unterschiede. Münster und Hamburg, 2. Aufl. Mols, Manfred/Derichs, Claudia (199S): Das Ende der Geschichte oder ein Zusammenschluß der Zivilisationen? — Bemerkungen zu einem interkulturellen Disput um ein asiatischpazifisches Jahrhundert. Zeitschrift für Politik 42 (3): 225-249. Mols, Manfred (1996): Politik als Wissenschaft. Zur Definition, Entwicklung und Standortbestimmung einer Disziplin. In: Manfred Mols, Hans-Joachim Lauth und Christian Wagner (Hrsg.): Politikwissenschaft. Eine Einführung. Paderborn u. a. S. 21-59. Mols, Manfred (1997): Der Staat in Lateinamerika und Asien. In: Franz-Josef Reuter und Wilhelm Hofmeister (Hrsg.): Internationale Zusammenarbeit — Herausforderung für Staat und Politik. Privatdruck Bonn. S. 70-79. Mols, Manfred (1997a): Universale oder kulturspezifische Kategorien und Theorien? Bemerkungen aus politikwissenschaftlicher Sicht. In: Manfred Brocker und Heino Nau (Hrsg.): Ethnozentrismus. Möglichkeiten und Grenzen des interkulturellen Dialogs. Darmstadt. S. 225-240. Riemer, Neal (1983): Politicai Science. An Introduction to Politics. New York u. a. Rodò, José Enrique (1994): Ariel. Übersetzt und herausgegeben von Oskar Ette. Mainz. Rouquié, Alain (1987): Amérique Latine. Introduction à l'Extrême Occident. Paris. Weggel, Oskar (1989): Die Asiaten. München. Weltbank (1997): Der Staat in einer sich ändernden Welt. Bonn.
Die Ursprünge der Ära Vargas: Rio Grande do Suis positivistische Entwicklungs- und Erziehungsdiktatur JENS R. HENTSCHKE
Charakteristika und Wurzeln der Vargas-Ära. Einleitung und These Als im Gefolge der Großen Depression und der „Revolution von 1930" Getülio Vargas die Macht in Rio de Janeiro ergriff, ahnte keiner, daß damit eine neue Ära in der brasilianischen Geschichte beginnen würde. Kein anderer Staatsmann hat die Entwicklung des Landes im 20. Jahrhundert so nachhaltig geprägt wie Vargas. Von 1930 bis 1945 regierte er ununterbrochen, zunächst provisorisch als Revolutionsführer, dann als indirekt gewählter Präsident und schließlich als Diktator des mit einem Putsch eingeleiteten Estado Novo. Er ergriff die Macht mit Unterstützung revolutionärer junger Offiziere (tenentes) und wurde durch die Armeeführung gestürzt. Doch der ihm ins Amt folgende Eurico Gaspar Dutra war sein eigener Wunschkandidat und wurde durch eine Koalition zweier Parteien gewählt, die Vargas noch selbst vor seiner Entmachtung geschaffen hatte und die bis 1964 nahezu ununterbrochen den Präsidenten der Republik stellten: den in Bürgertum, Mittelschichten und Staatsbürokratien verwurzelten Partido Social-Democràtico (PSD) und den Arbeiterschaft und Gewerkschaftsbürokratie repräsentierenden Partido Trabalhista Brasileiro (PTB). Auch von 1946 bis 1950 blieb Vargas als Senator seines Heimatstaates Rio Grande do Sul im nationalen Parlament politisch aktiv. 1950 kam er wieder an die Macht, diesmal direkt und demokratisch vom Volk gewählt. Doch der zum populistischen Präsidenten gewendete Ex-Diktator scheiterte daran, einen den veränderten sozioökonomischen und politischen Bedingungen Brasiliens entsprechenden Entwicklungsstil herbeizuführen und beging 1954 Selbstmord. Nur dadurch, so perzipierte er richtig, würden die Institutionen und public policies, die er während der Jahre seit 1930 entwickelt hatte, aufrechterhalten werden. In der Tat fand die längst brüchige Koalition aus PSD und PTB noch einmal zusammen. Die Präsidentschaften Kubitscheks, Quadros' und Goularts tasteten das Erbe des Meisters kaum an. Erst mit dem Sturz Goularts fand die VargasÄra im engeren Sinne ein Ende. Galt Historikern und Sozialwissenschaftlem der Putsch der Generale von 1964 zunächst als Beginn eines neuen Entwick-
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lungsmodells, setzte sich später die Auffassung durch, daß sich dieses im Kern nicht geändert, sondern nur an veränderte internationale und interne Bedingungen angepaßt hatte. Erst die Weltrezessionen der siebziger und achtziger Jahre, in denen die abertura wurzelte, stellten jene polity und policies, die in den dreißiger und frühen vierziger Jahren geschaffen worden waren, und die Mythen, die sich mit dem Namen und der Politik Vargas' verbanden (Levine 1998), grundsätzlich in Frage. Fernando Henrique Cardoso, der einst als Dependenztheoretiker die Diskontinuitätsthese in bezug auf 1964 vertreten hatte (Cardoso 1973), erklärte zu Beginn seiner Präsidentschaft und vor seiner Wiederwahl 1998 die Beendigung der Vargas-Ära zu seiner obersten Aufgabe. Was waren also die Charakteristika, die diese Ära prägten? Vargas betrachtete es als seine Mission, Brasiliens Abhängigkeit und Rückständigkeit zu überwinden und es damit zu einer der „großen Nationen" zu erheben. Wer nur Rohstoffe und Halbfertigprodukte exportierte, so erklärte er 1939, werde sich aus seinem halbkolonialen Status nicht befreien können. Dazu müsse sich Brasilien seiner Transformationsindustrien annehmen (Ianni 1975: 30), was wiederum strukturelle Veränderungen im politischen System und deren Abfederung durch Maßnahmen zur Gewähr äußerer und innerer Sicherheit bedingte. Ökonomische Fortschritte würden ihrerseits zur Konsolidierung von Staat und Gesellschaft und zur Erstarkung der Streitkräfte und äußeren Machtentfaltung beitragen. Es war die Neuordnung des Verhältnisses von Wirtschaft, Staat und Gesellschaft, auf die Vargas' Programm „nationaler Rekonstruktion" abzielte (Silva 1966: 430-433). Zur administrativen Reorganisation gehörten die Schaffung eines Einheitsstaates und Zentralisation der Macht in der Exekutive, die Verbindung des Zentralismus mit dem Autoritarismus, der von 1945 bis 1964 nur mühsam kaschierten semiautoritären Strukturen wich, und ein Staatskorporatismus, dem die Auffassung zugrundelag, daß die Gesellschaft nicht egalitär sei und daher hierarchisch oder funktional organisiert werden müsse. Der zentralistische bis inklusiv-autoritäre Einheitsstaat wurde als Voraussetzung effizienter staatlicher Intervention zur Auslösung nachholender Industrialisierung und zur präventiven Lösung der „sozialen Frage" angesehen. Ideologie und Praxis des ökonomischen Nationalismus boten zudem die Möglichkeit, die regional wie sozial gespaltene Gesellschaft zu reintegrieren und einen Weg aus der Wertekrise, die durch den Ersten Weltkrieg ausgelöst worden war, zu weisen. Der Staat sollte aber nicht nur eine Entwicklungs-, sondern auch eine Erziehungsaufgabe wahrnehmen, wobei Erziehung als Ausbildung im engeren Sinne, als Einordnung in den Arbeitsmarkt und als Unterordnung unter die politischen Autoritäten verstanden wurde. Der Industrialisierungsprozeß forderte eine qualifizierte Facharbeiterschaft, so daß der Staat auch den „Minderprivilegierten"
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eine gute Grund- und Berufsausbildung garantieren mußte. Sekundär- und Hochschulen dienten dagegen primär der Auslese des Elitennachwuchses. Staatsbürgerschaft blieb reguliert. Jeder sollte seinen Platz in der Gesellschaft kennen. Das destruktive Element, das sich dem Angebot produktiver Arbeit verweigerte, sowie der „Klassen-" oder ,JPartei"mensch, der gegen den Staat rebellierte, sollten dessen Disziplinierungsinstrumente zu spüren bekommen (Figueiredo 1984:15). Angesichts der Unreife der sozialen Strukturen in der brasilianischen Gesellschaft der dreißiger und vierziger Jahre, war es weitgehend der Staat, der „von oben" Bürgertum und Industriearbeiterschaft schuf, „erzog" und qua public policies an sich band. Die damit verbundene estatalizaciön de la politica, also die Schwäche repräsentativer Politikformen gegenüber der Politik im eigentlichen Sinne (De Riz 1992), hatte Konsequenzen für spätere Demokratisierungsprozesse. Die so umrissene autoritär-korporatistische Entwicklungs- und Erziehungsdiktatur (Oliveira et al. 1982) setzte sich mit dem Estado Novo durch. Historiker sahen diesen lange als „Depressionsregime" und betonten den Bruch mit der repräsentativ-demokratisch, präsidentialistisch und föderalistisch verfaßten und dem wirtschaftlichen Liberalismus verpflichteten Alten Republik (1889-1930). Jüngere Forschungen zu den Auswirkungen der Großen Depression erwiesen, daß die Präfiguration der „Depressionsdiktaturen" schon in den Vorkrisenregimen auszumachen ist (Nolte 1992). Auch in Brasilien begannen politische Zentralisation und wenigstens fallweise staatliche Intervention im wirtschaftlichen (nicht im sozialen) Bereich vor der Weltrezession. Gleichwohl dominierte im nationalen Durchschnitt eher die Ruptur. Ganz anders aber, vergleicht man den Vargismus in Brasilien nach 1930 mit politischem System und Politik Rio Grande do Suis (Hentschke 1996). Bei der Beurteilung des politisch-ideologischen Projekts des Estado Novo fragten Wissenschaftler immer wieder nach externen und internen Vorbildern. Einige sahen ihn als halb- oder protofaschistisches (Glinkin 1961: 17) oder allgemeiner totalitäres Regime,1 das seine Leitideen vom portugiesischen Salazarismo, Mussolinis Faschismus oder Pilsudskis polnischem Autoritarismus bezog und auch Anleihen beim Nationalsozialismus nahm. Andere beschäftigten sich stärker mit der administrativen Reform und betonten die Bedeutung der englischen und US-amerikanischen Verwaltungswissenschaft und -praxis (Wahrlich 1983: Kap. 9). Wieder andere sahen im Estado Novo einen autoritarismo tupiniquim (Mendible 1986: 24), ein auf dem brasilianischen konservativen Nationalismus Alberto Törres, Oliveira Vianas oder Jackson de Figueiredos beruhendes Regime sui generis, wobei die ideologischen Quellen der großen nationali'
Boris Koval in persönlichem Gespräch mit dem Vf. im April 1989 in Moskau.
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stischen Apostel kaum hinterfragt wurden. Mit erstaunlicher Seltenheit2 (Bäk 1983) ist die Tatsache, daß ein Großteil der politischen Führer der Vargas-Ära auf nationaler Ebene, Zivilisten wie Militärs, aus Rio Grande do Sul kam, durch die Frage vertieft worden, welchen input der Südstaat auf das State- und nationbuilding in Brasilien nach 1930 hatte. Meine These ist, daß die Charakteristika der autoritär-korporatistischen Entwicklungs- und Erziehungsdiktatur des Estado Novo bereits im politischen System und der Politik Rio Grande do Suis mit erstaunlicher Genauigkeit ausgemacht werden können. Letztere waren von einem positivistischen Projekt geprägt, das nach einigen Korrekturen zu Ende der Alten Republik für die Politik der gaüchos auf nationaler Ebene handlungsorientierend war, auch wenn es ob der Widerstände der anderen contenders for power und notwendiger Kompromisse mit ihnen nie hat in Reinkultur implementiert werden können. Achim Schräder hat in seinen Pionierarbeiten aus den sechziger und siebziger Jahren, die sich den Auswirkungen des Übergangs vom „Liberalismus" zur „Entwicklungsbürokratie" auf das Schulwesen annahmen (Schräder 1973), Rio Grande do Sul besondere Aufmerksamkeit geschenkt. Seine empirischen Untersuchungen (Schräder et al. 1972) sind noch heute eine für den Historiker unverzichtbare Quelle zur Bewertung der Legate der Ära Vargas. In diesem Aufsatz kehren wir zu den Ursprüngen dieser Entwicklung zurück und fragen, woher es rührt, das (Bildungs-)Reformen in Rio Grande nie zusammenhanglos wie in Zentralbrasilien, sondern immer Teil eines größeren gesellschaftspolitischen designs waren. In der Genesis des Riograndenser politischen Systems wird zudem in exemplarischer Form die enge Symbiose und Interaktion von Raum, Gesellschaft und Wirtschaft deutlich. Die Herausbildung einer positivistischen Entwicklungsdiktatur in Rio Grande do Sul Während der Alten Republik stellte Rio Grande do Sul in nahezu jeder Vergleichsperspektive den deviant case unter den brasilianischen Einzelstaaten dar. Für die Genesis des Riograndenser politischen Systems hatten zwei Faktoren überragende Bedeutung: Erstens stellte der Südstaat bis zu Anfang des 20. Jahrhunderts einen frontier State dar, und zweitens gab es hier eine nirgendwo anders in Brasilien vergleichbare Koexistenz von großem und kleinem Grundeigentum. Beide Phänomene standen in unmittelbarem Zusammenhang. Der Süden Brasiliens mit dem Kern Rio Grandes stellte die einzige Region dar, in der das spanische und das portugiesische Amerika nicht durch natürliche 2
Interview mit Loraine Slomp Giron in Caxias do Sul im November 1997.
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Barrieren, zumeist undurchdringliche tropische Regenwälder, voneinander getrennt waren. Dadurch führte der der Unabhängigkeit folgende Prozeß nationaler Abgrenzung und Arrondierung auch nur hier wiederholt zu bewaffneten Konflikten zwischen Brasilien und seinen hispanoamerikanischen Nachbarländern. Während des gesamten 19. Jahrhunderts war Rio Grande konstant in externe und Bürgerkriege verwickelt, wobei sich äußere und innere Front häufig überlappten. Seine enorme geostrategische Bedeutung als buffer zone hatte eine weitreichende Militarisierung des Bundesstaates zur Folge. Die Zentralregierung stationierte nicht weniger als ein Drittel der brasilianischen Armee in Rio Grande, wovon wiederum etwa ein Drittel gaúchos waren. Zahlreiche Offiziere hatten die Militärakademie von Porto Alegre absolviert. Mehr noch, die gesamte Riograndenser Gesellschaft befand sich in ständiger militärischer Bereitschaft. Gauchos identifizierten sich zuerst mit ihrem eigenen Staat und erst in zweiter Linie mit dem Rest Brasiliens. Auflagen aus Rio de Janeiro wurden kategorisch abgelehnt. Die Süd-Riograndenser forderten einen hohen Grad an Autonomie. Wurde dieser verweigert, nährte das entweder den ohnehin starken Separatismus (Von 1835 bis 1845 war Rio Grande de facto unabhängige Republik gewesen) oder die gegenteilige Ambition, mehr Einfluß auf die nationale Politik zu gewinnen (Cortés 1974: 3-6). Der Dualismus von Groß- und Kleineigentum zeigt sich bei einem Vergleich der Campanha, der durch das Latifundium getragenen Viehzuchtregion an den südlichen und südwestlichen Grenzen zu Uruguay und Argentinien, und der Serra, in der vor allem deutsch- und italienischstämmige Siedler kleine landwirtschaftliche Familienbetriebe bewirtschafteten. Die Einwanderung hatte Anfang des 19. Jahrhunderts zunächst der politischen Zielsetzung der Grenzbesiedlung nach dem alten Prinzip des uti possidetis gedient. Nach dem ParaguayKrieg (1865-1870) rückten zunehmend ökonomische Faktoren in den Vordergrund. Es ging nun um den Ersatz der Sklaven durch Lohnarbeiter und die Ergänzung der eífáncia-Wirtschaft durch Nahrungsmittelproduktion, Handwerk und verarbeitende Industrie (Giron 1977: 7-8). Anders als im übrigen Brasilien wurden nicht sklavenhaltender Großgrundbesitz und großes Handelskapital zur primären Quelle der Kapitalakkumulation, sondern kleinbäuerliche Produktion und freies Handwerk (Gorender 1982: 31). Serra wie Campanha waren zudem stärker auf den einheimischen Markt orientiert als der Kaffee- und Zuckerkomplex des Zentrums und Nordostens. Die wachsende ökonomische Bedeutung der Kolonisationszonen führte Ende des vergangenen Jahrhunderts zu einer politischen Umschichtung. War die Staatsregierung in Porto Alegre bis dahin von den estancieiros der Campanha, ihren Verwandten und politischen Freunden beherrscht worden, gewannen nun die deutschen und italienischen Kolonisten der Serra und ihre Verbündeten im
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Litoral, der industrialisierten und urbanisierten Küstenzone, wachsenden Einfluß. Von 1878 an war die Staatsregierung in den Händen der Liberalen Partei, des Interessenvertreters der estância- Wirtschaft. Die Konservative Partei stellte wenig mehr als ein Anhängsel im traditionellen Zweiparteiensystem der Monarchie dar. Da sie jedoch nicht an der Macht war, wurde sie, anders als in Zentralbrasilien, wo diese Rolle eher den Liberalen zukam, zur Rekrutierungsbasis der republikanischen Bewegung. Ihr schlössen sich bald auch ein Teil der Kolonisten, bürgerliche Kräfte und städtische Mittelschichten an. 1882 gründete der aus der Serra stammende Jülio de Castilhos den Partido Republicano Riograndense (PRR) der 1891, ein gutes Jahr nach dem Sturz der Monarchie und gedeckt durch die Militärregierung in Rio de Janeiro, die Macht ergriff und den Führer der Liberalen, Gaspar da Silveira Martins, ins uruguayische Exil zwang (Pesavento 1983). Martins war Monarchist, aber dies war nicht der Hauptgrund für den erbitterten Konflikt zwischen Republikanern und Gasparistas. Beide Parteien vertraten ein völlig entgegengesetztes Programm des state-building. Dies wurde deutlich, als Martins 1892 den Partido Federalista Brasileiro gründete. Die Partei sprach sich für eine repräsentative Demokratie, die feste Integration Rio Grandes in ein föderalistisches Brasilien und eine Regulierung und weitgehende Uniformierung des geistig-kulturellen Lebens durch den Staat aus (Dohms 1932: 10-16). Dies lag ganz auf der Linie des liberalen Konstitutionalismus der Oligarchien des Centro-Sul, widersprach aber grundsätzlich dem Glauben in eine diktatoriale Republik als Promotor des industriellen Fortschritts, den Jülio de Castilhos und die jungen Offiziere um Marschall Floriano Peixoto in der Bundesexekutive über alle sonst bestehenden Divergenzen hinweg teilten. PRR und Zentralregierung verbanden daher ihre Kräfte und verfolgten die „Föderalisten" erbarmungslos. Ideologische Grundlage der republikanischen Allianz war der französische Positivismus Auguste Comtes. Dieser eignete sich vorzüglich zur geschichtsund staatsphilosophischen Rechtfertigung einer konservativen Modernisierung, die den Fortschritt mit der Ordnung versöhnen sollte. Nicht eine Revolution wurde angestrebt, sondern eine transiçâo orgânica. Eine neue Zivilisation konnte nach Auffassung der Positivisten nicht auf den Trümmern des ancien régime aufgebaut werden, sondern mußte auf politischer und moralischer Harmonie fußen (Paul 1997). So findet sich das Ziel einer friedlichen Transition von der Monarchie zur Republik bereits im historischen Programm des PRR von 1882. Es konnte in Rio Grande do Sul jedoch nicht verwirklicht werden. Die Machtfrage wurde letztlich erst in der „Föderalistischen Revolution" (1893-94/95) entschieden, einem heute weitgehend vergessenen Bürgerkrieg, der nicht weniger als 12.000 Opfer kostete. Dieser Krieg war verquickt mit
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einer Marinerevolte im Hafen von Rio de Janeiro. Rio Grande do Sul wurde zum Schlachtfeld der nationalen Auseinandersetzung zwischen Monarchisten und Republikanern, aber auch, und noch bedeutsamer, zwischen militärischen Positivisten und liberal-konstitutionalistischen Oligarchien. Es waren letztere, die diesen Machtkampf für sich entschieden (Hentschke 1994). Die Auseinandersetzungen in Rio Grande do Sul hatten somit eine nationale Dimension. So ist es fragwürdig, wenn die Republikanisierung Brasiliens immer wieder als friedlicher Prozeß bezeichnet wird, der das Volk zum bloßen Beobachter der Ereignisse degradiert (Carvalho 1987). Dies war die Intention der dem gemäßigt-konservativen Liberalismus entstammenden Republikaner Säo Paulos, die in Zentralbrasilien die stärkste republikanische Fraktion darstellten, und kann sicherlich für die eigentliche Proklamation der neuen Regierungsform im November 1889 behauptet werden. Die Republikanisierung Brasiliens aber endete erst 1894. Sie schloß den Bürgerkrieg im Süden ein. Das Binom von „Ordnung und Fortschritt" findet sich auch auf der Staatsflagge Brasiliens, die Wolf Paul (1997: 120) als „nationale Version der Fahne des Okzidents" Comte's identifiziert. Die Symbolik kündet ebenso wie das Dekret über die Trennung von Kirche und Staat von der geistigen Führung der in Rio de Janeiro konzentrierten weltlichen (Militärschule von Praia Vermelha) und religiösen Positivisten (Apostolado) bei der Vorbereitung und in der Frühphase der Republikanisierung. Der frühe Tod des militärischen Führers des Positivismus, Oberstleutnant Benjamin Constant Botelho de Magalhäes, im Jahre 1891, die Absorption seines von positivistischen Ideen geleiteten,3 aber in seiner Implementationsfähigkeit auf den Bundesdistrikt begrenzten Ministeriums für Bildung durch das Innenministerium Monate später 4 sowie die Annahme einer am Vorbild der USA orientierten Verfassung 1891 zeugen jedoch vom graduellen Verfall des Positivismus und der Bewegung der .jungen Offiziere". Von der Machtübernahme der Paulistaner 1894 bis zur „Revolution von 1930" hatte der Positivismus auf das state-building in Zentralbrasilien keinen direkten Einfluß mehr. Ganz anders in Rio Grande do Sul. Was im politischen Zentrum mißlang, glückte an der südlichen Peripherie. Júlio de Castilhos konnte weite Teile der Eliten Rio Grandes hinter der Fahne des Positivismus einen. Das politische Re3
Vgl. Arquivo Nacional (do Brasil) (im folg. ANdoB), AP 48, Cx. 23/Pst. 49, „A instn^äo na república" von P. Arboune Bastide, Zeitungsausschnitt des .Jornal do Brasil", 23. 11. 1941. 4 Das Ministerium schloß auch noch Post und Telegraphenwesen ein und wurde Constant Uberhaupt nur anvertraut, um ihm eines der power-Ministerien zu verweigern (Johnson 1976: 253).
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gime, das sich 1891 institutionalisierte, fand in weiten Teilen der Bevölkerung, nicht nur im PRR, Akzeptanz. Politische Debatten gingen von positivistischen core beliefs aus. Je mehr sich das Regime festigte, desto mehr verwandelte sich jedoch der Comtismus in einen von den Dogmen des Lehrmeisters abweichenden Castilhismus (Boeira). Der Castilhistische Positivismus war mehr als eine politische Doktrin oder Philosophie. Er war ein Projekt des state-building. Oberstes Ziel des Regimes war die Auslösung eines desenvolvimento global, d.h. die Entwicklung aller Sektoren der Wirtschaft. Die Orientierung auf industriell-technischen Fortschritt wurde zur Legitimationsbasis des Gesellschaftsmodells. Castilhos wollte das oligarchische System nicht beseitigen, sondern verbessern: „conservar melhorando", wie er in einer Rede vor der Verfassungsgebenden Versammlung seines Staates 1891 erklärte (Tambara 1991: 109, 545). In einer Epoche, in der Politik Wissenschaft und die Auswahl von Staatsmännern eine Frage der Kompetenz war, machte es für die Süd-Riograndenser Positivisten keinen Sinn, von der Souveränität des Volkes zu sprechen. Macht kam für sie weder von Gott noch von der Repräsentation und Vermittlung divergierender Interessen durch politische Parteien, sondern allein von Wissen. Eine kompetente und starke Regierung, geführt von einem soziologisch aufgeklärten Präsidenten und von reinen Interessen geleitet, sollte das Volk auf der Suche nach dem Gemeinwohl und der moralischen Vervollkommnung führen. Egoistische individuelle Interessen und Freiheiten waren in kollektiven Sicherheiten aufzuheben. Es oblag dem Staat, über den sozialen Klassen zu stehen und für soziale Harmonie Sorge zu tragen. In diesem Sinne sollte die Regierung den „nichtoligarchischen" (also protopopulistischen) Diskurs fördern und plebiszitäre Zustimmung suchen, nicht aber eine egalitäre, antioligarchische Politik verfechten. In der Praxis mündete dies in den Aufbau einer Entwicklungsdiktatur. Die ultraföderalistische Position, die Rio Grande im Bund beanspruchte und die abermals mit der Position des PFB in Widerspruch geriet, korrelierte mit der Zentralisation in seinem Inneren. Die administrative und politische Reorganisation des Staates führte zu einer Stärkung der Exekutive auf Kosten der Legislative, deren Rolle sich auf die Annahme des Haushaltes beschränkte. Gerade durch diese Funktion, so hieß es rechtfertigend, setzte sie der Aktivität des Präsidenten Grenzen. Darüber hinaus jedoch dürfe dieser in seiner Handlungsfreiheit nicht von den Unbeständigkeiten des Parlaments abhängen. Der Präsident konnte per Dekret regieren und war bei einer Zweidrittelmehrheit in direkten Wahlen unbegrenzt wiederwählbar. Die Bestätigung im Amt wurde als Ausdruck von Kompetenz und als Vorbedingung für die langfristige Implementation einer wissenschaftlich geleiteten Politik verstanden (Arräes 1980; Trindade 1990). Während der 41 Jahre der Alten Republik wurde Rio Grande von nur drei Gouverneuren, die
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Präsident genannt wurden, regiert: Jülio de Castilhos, Antonio Augusto Borges de Medeiros und Getülio Domeies Vargas. Borges allein stand nach Castilhos' Tod über ein Vierteljahrhundert an der Spitze der Staatsregierung. Sein Bildungsminister und „Kronprinz" Protäsio Alves kam auf nahezu die gleiche Amtszeit. Selbstredend mußte dieser continuismo no poder politisch abgesichert werden. Hatte Castilhos zunächst den Repressivapparat zusammengeschlossen, um politische Feinde auszuschalten, erforderte der Übergang der Bundesregierung von den Militärs zur Paulistaner und Minenser Oligarchie eine Befriedung Rio Grandes und die Suche nach einem modus vivendi, der einerseits eine Opposition zuließ, sie aber andererseits von der Staatsregierung ausschloß. Nach Beendigung der Föderalistischen Revolution wurde Rio Grande zum einzigen Staat Brasiliens, in dem zwei politische Parteien mit diametral entgegengesetzten politischen Programmen koexistierten, PFB und PRR. Die herrschenden Republikaner wurden jedoch nur zweimal emstlich herausgefordert (1907/08 und 1922/23), und in beiden Fällen war dies eher auf Dissidenzen in der eigenen Partei als auf die Opposition zurückzuführen. Für etwa 40 Jahre wurden lokale politische Führer in Rio Grande über die bürokratisierte Staatspartei rekrutiert, integriert und kontrolliert. Nicht primär die sozioökonomische Position, sondern die Rolle in der Parteihierarchie verlieh Macht, eine Situation, die Love (1975: 113) coronelismo burocrdtico nannte. Formal besaßen Riograndenser Munizipien mehr Autonomie als in anderen Staaten, in Realität aber griff die Regierung konstant in deren innere Angelegenheiten ein, besonders in Wahlzeiten. Borges de Medeiros' hermetische Herrschaft verschloß sich jedoch den neuen Anforderungen einer in wachsendem Maße Urbanen und industrialisierten Gesellschaft. Als sich der Gouverneur 1922 zum fünften Mal in Folge zur Wahl stellte, sah er sich erstmals einer massiven Opposition ausgesetzt. Seine Wiederwahl durch Gewalt und Betrug führte 1923 zum Bürgerkrieg. Der Frieden von Pedras Altas erlaubte Borges, sein Amt zu Ende zu führen, verbot ihm aber, erneut zu kandidieren. An seine Stelle trat 1928 Getülio Vargas, unterstützt von jungen Rebellen des PRR, allen voran Oswaldo Aranha, und Militärs um Pedro Aur61io de Göes Monteiro und Eurico Gaspar Dutra. Diese neue Führungsgeneration kannte sich seit Studentenzeiten an den Rechts- und Militärakademien Porto Alegres und hatte sich schon in den umstrittenen Wahlen von 1907/08 im Bloco Castilhista, einer pressure group, engagiert (Love 1971:217ff.). 1928 war ihre Stunde gekommen. Sie alle waren tief in der Tradition des Positivismus verwurzelt, erkannten aber die Notwendigkeit der Überwindung alter Dogmen. Rio Grande befand sich in wirtschaftlichen Schwierigkeiten, die sich aus der extensiven landwirtschaftlichen Produktion, den Folgen der Land-Stadt-
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Migration und der Verschärfung der „sozialen Frage" sowie dem allgemeinen Kapitalmangel ergaben. Das desenvolvimento global war im wirtschaftlichen, sozialen und infrastrukturellen Bereich unerfüllt geblieben. Ziel der Staatsregierung Vargas war zunächst die Kontrolle der Produktion und der Preise für die Hauptexportprodukte der Region. Dabei machte sie drei wichtige Erfahrungen: Erstens wurde deutlich, daß Preisstützung allein keine wesentliche Entlastung bringt und an einer durch den Staat aktiv geförderten Industrialisierung und Diversifizierung der Landwirtschaft kein Weg vorbeiführt. Zweitens war Rio Grande allein zu einer wirksamen Regulierung der Produktion zu schwach. Es mußte die Macht im Bund anstreben, um den nationalen Markt als conditio sine qua kapitalistischer Entwicklung zu schaffen. Sobald gaüchos die Zentralregierung kontrollierten, konnten sie die Überwindung des einzelstaatlichen Partikularismus, der für sie bisher ein raison d'être dargestellt hatte, in Angriff nehmen und das politische System Brasiliens zentralisieren. Drittens verstand die neue Generation republikanischer Führer, daß eine graduelle Öffnung des politischen Systems für neue gesellschaftliche Kräfte unausweichlich war. Die präventive Inkorporation des Proletariats sollte verhindern, daß die Kapitalakkumulation durch soziale Konflikte beeinträchtigt wurde. Nur die funktionale oder „organische" Interessenvertretung in einer disziplinierenden Demokratie, wie sie Mussolini geschaffen hatte, schien den gaüchos der angebrachte Weg zur Befriedung des zerrissenen Staates zu sein. Die Organisation von Interessengruppen hatte bereits unter Borges begonnen. Vargas ordnete sie in ein ganzes System von Kooperativen und Kartellen ein, an dessen Spitze der Staat als Koordinierungs- und Schlichtungsinstanz stand (Bäk 1983).
Die Erziehungsdiktatur — Funktionale Ergänzung der Riograndenser Entwicklungsdiktatur Die Wertung von Politik als Wissenschaft und Bestimmung soziologischer Kompetenz als Auswahlkriterium politischer Führer einerseits, die Fokusierung auf industriellen und technischen Fortschritt als zivilisatorisches Ziel der Diktatur andererseits wiesen dem Bildungsbereich eine besondere Bedeutung zu. In der Tat spielten Lehrer eine wichtige Rolle in der positivistischen Bewegung (Louro 1986: 10) und das Aufkommen des Positivismus markierte einen Bruch in Rio Grandes Schulpolitik. Vor Republikanisierung und Machtantritt des PRR unterschied sich das Schulwesen des Südstaats kaum vom Rest Brasiliens. 1886 kritisierte Provinzpräsident L. Antunes Maciel, Anarchie, persönliche Interessen und parteipoliti-
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sehe Einflüsse machten jede Bildungsreform zunichte.5 Dies darf jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, daß Rio Grandes Schulsystem immer besser entwikkelt und die Analphabetenrate niedriger war als im Rest des Landes. Konstante Kriege und Revolten stellten einerseits ein Hindernis für die Entwicklung des Bildungswesens dar. Andererseits erforderte das Überleben an der „Grenze" Selbstbehauptung als Lusoamerikaner, wobei der Schule eine besondere Rolle als Identitätsstifter zukam. In dieser Hinsicht ist die Farroupilha kaum untersucht worden. Als Jülio de Castilhos den PRR schuf, fanden sich im Gründungsprogramm auch Forderungen zur Entwicklung des Erziehungssystems: Freiheit der Bildung (für die Privatinitiative), Freiheit des (Lehr-)Berufes (unabhängig von Zeugnissen oder Privilegien) und freie, laizistische und kostenlose Grundschulbildung. Auch technische und Berufsausbildung tauchen als Schwerpunkte auf (Tambara 1991: 160). Der Charakter und die Intentionen Castilhistischer Bildungspolitik wurden jedoch erst deutlich, nachdem die Partei die Macht in Rio Grande übernommen hatte. So lassen sich in einer Zusammenschau drei Hauptaspekte unterscheiden: Erstens gingen die Castilhistas von einer dualistischen Bildungskonzeption aus. Die Kinder der Eliten sollten eine humanistische Ausbildung genießen, die sie befähigte, an einer angesehenen Fakultät, vorzugsweise im Ausland, zu studieren und danach aufgeklärte Führungspositionen zu übernehmen.6 Für die breiten Massen hingegen war eine berufsorientierte Grundschulbildung vorgesehen. Die Riograndenser Regierung erkannte den Bedarf an Humankapital im Prozeß der Industrialisierung und investierte mehr im Bildungswesen als jeder andere Staat Brasiliens. Nach dem Zensus von 1920 flössen 13,6% der Staatseinkünfte in diesen Bereich. Nur in Kriegszeiten und Perioden sozialer Mobilisierung verlor der Bildungssektor seinen ersten Platz unter den Ausgabeposten der Regierung (Love 1971:102). Zweitens traten die Riograndenser Positivisten für eine geteilte Verantwortung von Staat und Privatinitiative im Bildungssystem ein. Die Regierung sollte sich zwar der Entwicklung von Grund- und Normalschulen (zur Ausbildung 5 Vgl. ANdoB, AP 48, Cx. 23/Pst. 49, „O ensino communi e as primeiras tentativas de sua nacionalizafäo na provincia de S. Pedro do Rio Grande do Sul (1835-1889) von P. Moacyr, Zeitungsausschnitt aus „Jomal do Commèrcio", 17. 11. 1941. 6 Eduardo Contreiras Rodrigues, ein früherer Sekundarschullehrer in Bagé (Campanha) und Sohn eines estancieiro, erklärte, sein Vater habe seine Grundschulausbildung in einer französischen Internatsschule in Porto Alegre erhalten, dann am jesuitischen Kolleg Nossa Senhora de Concei;äo in Säo Leopoldo das Reifezeugnis erworben und schließlich die Rechtsakademie in der Staatshauptstadt besucht. Contreiras Onkel väterlicherseits ging zum Studium nach Montreal. Interview des Vf. in Bagé im November 1997.
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von Primarschullehrern), annehmen, besonders in ländlichen oder strukturschwachen Regionen, nicht aber öffentliche Gelder für Sekundär- und Hochschulwesen verschwenden. Letztere Bereiche müßten der privaten Initiative überlassen werden. Da Bildung jedoch ein öffentliches Gut war, sollte der Staat Subventionen und Stipendien gewähren, die, ebenso wie die Pflicht privater Schulen, offiziellen curriculi zu folgen, Instrumente staatlicher Kontrolle darstellten (Tambara 1991: 161-162; Louro 1986: 11). 1930 waren zwei Drittel aller Riograndenser Schulen privat, 50% davon in den Händen der RömischKatholischen Kirche. Private Träger kontrollierten 182 der 185 nichtspezialisierten Sekundärschulen, 50 von 63 technischen Bildungseinrichtungen und 40 der 44 Hochschulinstitutionen (Tambara 1991: 332). Trotz strikter Trennung von Kirche und Staat, staatlicher Kontrolle religiöser Schulen und Konflikten bei der Nationalisierung des deutschen und teilweise italienischen Pfarrschulwesen wurden die Positivisten somit zu Verbündeten der Katholischen Kirche in deren Ringen um eine „Brasilianisierung" Brasiliens auf dem Wege der „Rekatholisierung." Dies führt zum dritten Charakteristikum: Bildung war in Rio Grande von Anbeginn mehr als Alphabetisierung. Sie schloß die Vermittlung praktischer Fähigkeiten, die Unterrichtung in Hygiene und die Erziehung in staatsbürgerlichen Tugenden ein. So spielten Positivisten eine Pionierrolle bei der Gründung von institutos de artes e oflcios, in denen Arbeiter für Industrie und Landwirtschaft ausgebildet wurden. 1896 gründete Castilhos die erste Faculdade de Engenharia in Porto Alegre, spielte doch die technische Universität eine zentrale Rolle in Comtes Bildungsphilosophie. Die neue Fakultät förderte die Entstehung von angegliederten Sekundär- und Berufsschulkursen, die auch Arbeiterkindern kostenlose Qualifizierung gewährten, etwa am Instituto Jülio de Castilhos oder Instituto Parob6 (Ferreira Filho 1978: 60-61). Auch Grundschulen räumten praktischer Ausbildung Raum ein. Positivisten sahen immer eine Einheit von Körper und Geist, Gesundheit und Erziehung, physischer und intellektueller Ausbildung und hatten eine gewisse Obsession für prophylaktische Eugenik. Sie nahmen sich nicht nur der Verbesserung hygienischer Bedingungen in Schulgebäuden an, sondern organisierten Schnellkurse in physischer Ausbildung für Lehrer, belieferten Schulen kostenlos mit einer Hygienezeitschrift und forderten die Belehrung der Schüler über Gesundheitsvorsorge in den Klassen und bei sonnabendlichen Appellen.7
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Vgl. Arquivo Passivo da Escola Estadual do lo Grau „Silveira Martins" in Bag6/Arquivo do Coligio Elementar „Quinze de Novembro" de Bag£, Pasta „Portarias-CircularesOficios 1921-1929," Circulares 2.389,2.630,4.389,6.586.
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Oberstes Ziel der Castilhistas war die Schaffung einer „nationalen Schule". Daher schenkten sie staatbürgerlich-moralischer Erziehung besonderes Augenmerk. Ein Lehrer, der dieser Anforderung nicht gerecht wurde, konnte nicht Staatsbeamter werden (Departamento:21). Nationale Feiertage mußten in Schulen festlich begangen werden. Die Unterrichtsfächer Geschichte und Geographie wurden aufgewertet. Chorgesang diente der Förderung von Gemeinsinn und dem Transport politischer Botschaften. Pfadfindergruppen erzogen zu Patriotismus und Unterordnung unter den Staat.8 Die genannten Prioritäten lassen sich auch in den Reformen und curriculi Zentralbrasiliens nachweisen, nirgendwo aber waren sie in ein vergleichsweise organisches und ideologisch legitimiertes Bildungs- und Erziehungskonzept integriert, das selbst wiederum Teil eines größeren positivistischen Projekts darstellte. Hinzu kommt, daß Reformen im Centro-Sul oft auf den Druck der gaiic/io-Fraktion im Parlament zurückzuführen waren, die ob ihrer ideologischen Geschlossenheit zu schneller konzertierter Aktion in der Lage war. Ihr Einfluß auf die Reforma Rivadävia von 1910, die den vom Bund geförderten mittleren und Hohen Schulen ihre Privilegien aberkannte, war unverkennbar (Love 1971: 154). Die für den Centro-Sul charakteristische Unterscheidung der Bewegungen „Enthusiasmus für Bildung" und .Pädagogischer Optimismus", also die stärkere Orientierung auf die eher quantitative Erweiterung des Schulwesens oder die vom escolanovismo geprägte qualitative Verbesserung (Nagle 1974), ist für Rio Grande kaum möglich. Daher war der Südstaat auch von der liberalen Reformwelle der zwanziger Jahre weitgehend unberührt. Was der Bildungspolitik der gaüchos Kontinuität verlieh, war das positivistische Projekt. Es sei erwähnt, daß Anspruch und Realität auch in Rio Grande auseinanderklafften. Die Munizipalisierung des Schulwesens band Fortschritte an die jeweiligen lokalen Haushaltsmittel. Die fehlende Verbeamtung vieler Lehrer machte sie in hohem Grade vom PRR-Intendenten abhängig.9 In der Campanha war ob der geringen Bevölkerungsdichte eine Versorgung ländlicher Gebiete mit Lehrern kaum möglich. Diese waren chronisch unterbezahlt, wurde der Lehrberuf von Positivisten doch als eine Art Priesterschaft im Namen der Wissenschaft angesehen. Nach 50 Jahren republikanischen Regimes eignete die
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Ibid, Circular 2.630; vgl. auch Museu „Dom Diogo de Souza" da Fundaçâo Attila Taborda-URCAMP/Arquivo .Jorge Reis" da Prefeitura Municipal de Bagé, Livro 469 E 1/P 9, Acto No. 303,15. 7. 1925, folhas 69-70. Zur Situation der Lehrerschaft nach 1930 vgl. Arquivo Histórico do Rio Grande do Sul, Documentaçâo dos Govemantes (im folg. AHRS, DG), SES 3-001, Relatório 1937/39, S. 16.
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Staatsregierung ganze 30 Schulgebäude.10 Die Kolonisationszonen wurden, außer in Zeiten nationalistischer Propaganda sich selbst überlassen, entgegen dem Ziel eines desenvolvimento global. Allerdings war die Mehrzahl italienischer und insbesondere deutscher Immigranten zumeist schon alphabetisiert eingewandert. Sie verteidigten die Schule — wie die gaüchos an der „Grenze" — als Instrument der Selbstbehauptung und Identitätsstifter in einer als feindlich oder desinteressiert wahrgenommenen Umgebung.11 Auch in diesem Bereich erkannte Vargas die Defizite. Bei seiner Amtsübernahme erklärte er die Förderung des öffentlichen Bildungswesens zur Hauptaufgabe seiner Regierung (Louro 1986: 13). Die staatlichen Investitionen wurden 1930 auf 19,2% der Staatseinnahmen erhöht. 12 Innenminister Aranha wollte die Analphabetenrate gar bis zum 100. Jahrestag der Farroupilha 1935 auf Null senken (Louro 1986: 13-14). Legate Rio Grandes für die Machtausübung der gaüchos im Bund. Schlußfolgerung Die Weltwirtschaftskrise unterbrach die Pläne der neuen Riograndenser Regierung. Die junge Garde des PRR wurde mit Unterstützung der /enenfe-Bewegung zum neuen Machthaber im Bund. In keinem anderen Land Lateinamerikas gab es eine mit Brasilien vergleichbare alternative Führungsgeneration, deren Grundauffassungen mit objektiven Erfordernissen der Großen Depression dermaßen übereinstimmten: Zentralisation der Macht im Bund, Staatsinterventionismus, Erkenntnis der Notwendigkeit einer Lösung der „sozialen Frage" und Entwicklung des Humankapitals mit besonderem Gewicht auf technischer und Berufsausbildung. Das Erbe des Castilhismus blieb in den Ideen der neuen Führungskräfte präsent, selbst wenn die „Generation von 1907/08" Castilhos' Erziehungs- und Entwicklungsdiktatur den neuen Herausforderungen anpaßte und sich neuen Ideen öffnete. Dadurch verlor der Castilhismus seine Kohärenz, aber auch sein Dogma. Politik blieb für die gaüchos das Geschäft einer aufgeklärten Elite. Die Macht sollte im Interesse des Volkes, nicht aber durch selbiges, durch die ungebildeten Massen, ausgeübt werden. Ein Übermaß an Freiheit überlasse den Staat >0 Vgl. Ibid, DG, SES 3-002, Relatörio 1943, S. 32. 11 Zur Ambivalenz der Unabhängigkeit deutscher Schulen vgl. Politisches Archiv des Auswärtigen Amtes zu Bonn, Kulturabteilung vor 1945, R 62382, Ber. Dr. Holder „Ein deutsches Lehrerseminar in Brasilien 1931-1933", Anh. 2 zu Deutsche Gesandtschaft an Auswärtiges Amt, Buenos Aires 22. 12.1932. 12 AHRS, DG, A 7.33, Mensagem 1930.
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destruktiven Kräften (Mendible 1986: 26). Der Korporatismus oder die ökonomische Demokratie und nicht der dekadente politische Liberalismus war für Vargas Gradmesser der Menschenrechte.13 Der Staat sollte nicht auf politischen Druck regieren, sondern „von oben" Bildung, Gesundheit, Wohnraum und andere soziale Güter gewähren. Es war der Staat, der bestimmte, wer von Reformen profitieren durfte und wer vom Konzept der Staatsbürgerschaft ausgeschlossen wurde. Zudem sollte Politik weiter einem großen Entwurf folgen. Zutiefst verabscheuten die gaüchos den Empirismus, der die Reformtätigkeit der Bundesregierung bisher bestimmt hatte. Die Hegemonie- und Herrschaftskrise, die die Jahre von 1930 bis 1937 bestimmte, ließ Vargas und seinen protégés nur begrenzte Möglichkeiten, ihre Ideen umzusetzen. Die Erfahrungen mit der erzwungenen Rekonstitutionalisierung 1933/34, Atomisierung des Parteiensystems, Rückkehr der Regionaloligarchien in die Konstituente, Auflösung des tenentismo in der Lokalpolitik und Unpraktizierbarkeit des janusköpfigen Grundgesetzes von 1934 bestätigten die gaüchos in ihrer Überzeugung, daß Brasilien mit den Mitteln der liberalen Demokratie nicht oder noch nicht regierbar war. Vargas bekundete seine tiefe Abneigung für die Unwägbarkeiten parlamentarischer Debatten und ideologische Filigranarbeit.14 Aranha, der langfristig ein demokratisches Regime wünschte und die USA bewunderte, hatte vergeblich versucht, auf der Basis der Parteien Rio Grandes eine starke Einheitspartei zu schaffen, die zum Kern des statebuilding wurde. 15 Kriegsminister Göes Monteiro, der zeitweise mit den Achsenmächten flirtete, wollte die Hierarchie in den Streitkräften wiederherstellen und letztere in einen permanenten institutionellen Machtfaktor und change agent verwandeln. Zeitweise hatte er gar erwogen, die Staatsverfassung Castilhos' von 1891 zum Grundgesetz der Republik zu erheben. 16 Ihnen allen schien die Entwicklungs- und Erziehungsdiktatur Rio Grandes das geeignete Instrument zu sein, um auch unter den neuen Bedingungen Ordnung und Fortschritt bzw., wie es seit 1935 zunehmend hieß, nationale Sicherheit und ökonomische Entwicklung zu versöhnen. Vargas verstand die Errichtung des Estado Novo 1937 als eine ,.Revolution von oben nach unten," die ihm endlich die Möglichkeit gab, sein großes Programm administrativer Reorganisation zu verwirklichen.17 Dessen Grundzüge, allen voran ein Hang zu „Verwissenschaftlichung" und somit größerer kogniti13 14 15 16 17
Bundesarchiv Koblenz, N 1012/42, Bemerkungen vom 4. 9. 1941, S. 8/Microfiche 1. Fundaçâo Getulio Vargas/CPDOC, OA 37.11.08/2 cp, folhas 0183-0185,0198-0199. Ibid, OA 31.03.25/3 cp, folhas 0227-0234. Ibid, GV 34.03.18 cor, folhas 0870/1-2. Ibid, OA 37.11.08/2 cp, folhas 0198-0199.
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ver Kapazität des Staates, konnte man jedoch bereits im institution-building der Jahre 1930-1937 klar erkennen (Hentschke 1996: 536-551). Die Gründung zweier neuer Ministerien für Bildung und Volksgesundheit sowie für Industrie, Handel und Arbeit Tage nach der Machtübernahme war bezeichnend: Keine anderen Probleme schienen den neuen Machthabem so dringend zu sein wie einerseits Industrialisierung und Lösung der „sozialen Frage", andererseits die Entwicklung des Bildungs- und Gesundheitswesens. Zwischen beiden Ministerien und den jeweiligen Aufgabenpaaren wurde eine interdependente Beziehung gesehen. Es ging Vargas um eine integrale Inwertsetzung des Menschen (Vargas 1938-42: Bd. 3, 132). Der Bruch zur Praxis der Alten Republik und gleichzeitig die Kontinuität zu Rio Grande do Sul waren überdeutlich. Brasilien hörte auf, ein „vornehmlich agrarisches Land" zu sein, das keiner „künstlichen Industrien" bedurfte. Die „soziale Frage" war kein „Fall für die Polizei" mehr, und erstmals seit Benjamin Constant verfügte Brasilien wieder über ein Bildungsministerium. Die Reformwerke auf diesem Gebiet stammen aus der Feder zweier Minenser, Francisco Campos (1931) und Gustavo Capanema (1942-46), aber das input Rio Grandes ist unverkennbar. Vargas, der offiziell als Schiedsrichter im Konflikt zwischen egalitär-liberalen und elitär-liberalen escolanovista-Reformern und katholischen Traditionalisten auftrat, hat selbst oder durch seine Stellvertreter wiederholt in den Gesetzgebungsprozeß eingegriffen und seine Prämissen verdeutlicht. Der Dualismus des Bildungsystems wurde durch die Reform Capanema bewahrt. Der Staat debattierte mit besonderer Intensität seine Verantwortung für das Primarschulwesen und die Lehrerausbildung, besonders in den ländlichen Zonen, die andernfalls qua Migration zur Verschärfung der „sozialen Frage" beitragen und damit den Industrialisierungsprozeß unterminieren würden. Nichts war Vargas selbst so wichtig wie die technische und Berufsausbildung. Inhaltlich wurde an den Schulen Gesundheitserziehung, physischer Ausbildung, staatsbürgerlich-moralischer Erziehung und Chorgesang besondere Aufmerksamkeit geschenkt, brasilianische von allgemeiner Geschichte und Geographie getrennt und religiöser Unterricht auf freiwilliger Basis ausdrücklich gefördert (Nava 1995). Die Reform blieb bis 1961, teilweise bis 1971, in Kraft. Indem Heeresoffiziere mit der Durchführung der Nationalisierungskampagne im Schulwesen der Koloniezonen nach 1938 beauftragt wurden, Soldaten und Unteroffiziere in einer Übergangsphase den allgemeinen Lehrermangel ausglichen und Militärs zunehmenden Einfluß auf Bildungsinhalte nahmen, wurde die Armee zu einem Bindeglied zwischen Entwicklungs- und Erziehungsdiktatur. Die Doktrin der 1949 gegründeten Escola Superior da Guerra macht dies deutlich. Sie wurde zur Grundlage des Militärputsches von 1964. Als der aus Rio Grande do Sul stammende Joäo Goulart den positivistischen Konsens einer
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transigäo orgànica mit seinem Kurs auf „Strukturreformen" aufkündigte, griff das Militär ein, um die Fortsetzung des Kurses einer konservativen Modernisierung im Sinne von Castilhos* conservar melhorando zu garantieren. Oberstes Ziel blieb das desenvolvimento global, definiert als Erreichen des take-offs und Erlangung der Hegemonie in Südamerika. ,Jlegeneragäo" bedeutete für die Militärs die Rückkehr zum Autoritarismus und die Eliminierung inklusiver, semikompetitiver und populistischer Elemente (Schmitter 1973: 182). Das „brasilianische Wunder," an dessen Schaltstelle mit General Mèdici — zum vorerst letzten Mal — ein gaúcho stand, war, wie Achim Schräder es ausdrückte, mit der Anpassung des Bildungssystems an die „vulgärpositivistischen Wirtschaftsziele der Regierung" verbunden. Das implizierte eine notwendige Öffnung dieses Bereichs für die in ihrer Bedeutung gewachsenen Mittelschichten (Schräder 1973: 74-75), eine partielle soziale Demokratisierung, die nicht Teil einer politischen Liberalisierung war, sondern abermals im Namen der Entwicklungsdiktatur erfolgte. Soziale Rechte waren in Brasilien immer der Gewährung politischer Bürgerrechte vorausgegangen. Genau darin aber bestand langfristig die Crux des positivistischen Projekts. Dessen Überwindung in einer funktionierenden liberalen Demokratie ist daher Bestandteil der von Präsident Cardoso versprochenen Beendigung der Vargas-Ära in Brasilien. Literatur: Arräes, R. de Monte (1980): O Rio Grande do Sul e as suas instituiföes govemamentais. Brasilia, Cámara dos Deputados/U. de Brasilia (mit Vorwort von Antonio Paim). Bäk, J. L. (1983): Cartels, Cooperatives and Corporativism. Getúlio Vargas in Rio Grande do Sul on the Eve of Brazil's 1930 Revolution. Hispanic American Historical Review 2: 255275. Boeira, N. (1980): O Rio Grande de Augusto Comte. In: N. Boeira, F.L. Chaves, J.H. Dacanal, D. Freitas, T.F. Genro, S. Gonzaga, M.E. Lucas und S. Jatahy Pesavento (Hrsg.): RS: Cultura & ideologia. Porto Alegre, Mercado Aberto. S. 34-59. Boeira, N. (1993): Comte in Exile. The Origins of Political Positivism in Rio Grande do Sul, Brazil 1860-1891. Ph.D.-Dissertation. Yale University. Cardoso, F.H. (1973): Associated-Dependent Development. Theoretical and Practical Implications. In: A. Stepan (Hrsg.): Authoritarian Brazil. Origins, Policies and Future. New Haven, Yale. S. 142-176. Carvalho, J.M. de (1987): Os bestializados: o Rio de Janeiro e a República que näo foi. Säo Paulo, Letras. Cortés, C.E. (1974): Gaúcho Politics in Brazil. The Politics of Rio Grande do Sul, 1930-1964. Albuquerque, U of New Mexico. Departamento Geral da Instru;äo Pública (1935): Almanack escolar do Estado do Rio Grande do Sul. Porto Alegre, Selbach. Dohms, H. (1932): Die politischen Parteien in Rio Grande do Sul im Rahmen der politischen Geschichte Brasiliens. Säo Leopoldo, Deutsche Evang. Blätter für Brasilien.
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1. A tese de 1973 No final do ano de 1973, na Universidade de Münster, apresentei para defesa minha tese de doutorado em Teología Fundamental, intitulada Kirche auf neuen Wegen. Ti vera como orientador o Prof. DDr. Johann Baptist Metz. Os anos de estudos na Alemanha foram marcados por acontecimentos importantes. Na Igreja, encerrara-se há pouco o Concilio Ecuménico Vaticano II. No mundo, o otimismo da era Kennedy via-se substituido pela Guerra do Vietnam e pelo recrudescimento da guerra fria. Na Europa, a révolta estudantil recém terminara. Na América Latina, os ventos da renovaçâo eclesiástica vinham acompanhados pelos da luta por reformas sociais e políticas, contidos devidamente por urna série de ditaduras militares que, aos poucos, sob patrocinio norte-americano, alastravam-se pelo subcontinente. Neste contexto redigi minha tese, dividida em très partes, com elos de ligaçâo interna que nao passavam pela lógica da leitura linear, mas pela perguntachave: a situaçâo e o futuro da Igreja no Brasil. AÍ diferentes linguagens da Igreja Brasileira Como pressupostos do trabalho, explicitavam-se très pontos: a) a afirmaçâo de que as reformas que estavam acontecendo na Igreja Brasileira, para serem devidamente analisadas e compreendidas, deviam ser consideradas na moldura maior das modificaçôes no interior da Igreja Católica, e das mudanças sóciopolíticas da América Latina; b) a afirmaçâo de que a existência, na América Latina, esteve sempre marcada pelas categorías da dominaçâo e da opressáo, a ponto de aquilo que, eufemisticamente, se qualificava como .subdesenvolvimento' significar muito mais que um problema económico, sendo, nao somente urna modalidade de vida, mas também urna forma de representaçâo do que é a vida; c) a aceitaçâo da observaçâo de H. Schelsky de que „[...] ist jeder .Sprachwandel', d. h. jede Erneuerung und Verlebendigung des informatorischkommunikativen Systems einer Institution, weit sicherer ein Indiz eines dauerhaften sozialen Wandels als das revolutionäre Handeln, insbesondere als jede Anwendung von Gewalt, die nur zur Auswechselung des .Personals' einer Institution führt" (Schelsky 1970: 7).
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Examinando, entào, o longo processo de reforma da Igreja Brasileira, iniciado já no século XIX, quando da „questào religiosa" (o debate entre a Igreja e o Impèrio, a respeito da lei do Padroado), pareceu-me encontrar nela très niveis de linguagem. 1. Entre 1870 e 1930, a linguagem preponderante da Igreja Brasileira, refletindo a do Catolicismo em geral, teve fortes tragos de ultra-montanismo, quando nào até mesmo de integrismo. Ante um mundo que nào era mais o de outrora, proclamava-se a perfeigào da Revelajào e a catástrofe da História. Dentro desta perspectiva, consideravam-se os acontecimentos ,sub specie aetemitatis', parecendo, entáo, que, com afirmagào da subjetividade por parte de Lutero e Descartes, com os ideáis emancipatórios do Iluminismo e da Revolugào Francesa, e com o surgimento do que se chamava ,a questào social', os últimos séculos haviam-se transformado na negaijào da verdade etema do Cristianismo. Se o mundo falava em emancipalo e liberdade, era necessàrio, pois, contrapor-lhe a autoridade: tanto a autoridade de Cristo, como a do papa — que em 1870 fora declarado infalível —, e a do poder civil. Criava-se, assim, urna tensào entre autoridade e liberdade e, dentro da lógica, a Igreja fìcava com a primeira, numa clara posigào reacionária, muito bem sintetizada por Jackson de Figueiredo, ao dizer que „a pior legalidade é melhor que a melhor revoluto" (Torres 1968: 186). 2. A partir de 1930, sob a foderarla excepcional do cardeal Sebastiào Leme, iniciou-se urna m u d a l a na linguagem da Igreja Brasileira, mudanza esta que, aos poucos, foi-se consolidando, até tornar-se dominante na década de 50. O Plano de Emergència,
de 1962, e o Plano de Pastoral
de Conjunto, de 1966,
ambos emanados pela CNBB (Conferència Nacional dos Bispos do Brasil), constituíram, sem dúvida, os dois principáis documentos desta nova fase histórica. Havia neles algo de diferente: foram precedidos por debate ñas bases, onde o povo e o clero se manifestaram; na redagao, incorporavam-se dados e técnicas das cièncias sociais; o texto final, preparado por leigos e teólogos, nào por bispos, acentuava de modo diferente os valores na prossecu;ào dos quais a Igreja se engajava. A palavra que mais se salientava e melhor os resumia era diálogo.
3. Enfìm, havia urna outra linguagem, aos poucos emergente: a da Teologia da Libertado. Nao era a linguagem .da' Igreja, mas ,de parte' da Igreja. Os que consideravam o Concilio e os planos de pastoral como ponto de chegada, atinham-se à linguagem refenda sob o número anterior; os que os consideravam como ponto de partida, facilmente deram um passo a mais. A Teologia da Libertagào baseava-se em pressupostos metodológicos diferentes, e levava a resultados também diferentes. Valendo-se de análises antropológicas, sociológicas e económicas, desenvolvidas por latino-americanos, aceitando sem maiores
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escrúpulos o instrumentàrio marxista para aproximar-se da realidade, eia possuía — se assim se pode dizer — sua pròpria „Teologia Fundamental": a situagáo de dependencia, sob todos os aspectos, do subcontinente. Com este pressuposto, articulavam-se temas como os de processo histórico, alienado, conscientizagào, participagao popular, o que, depois, ao natural, permitía urna leitura em outra clave das nogòes teológicas de pecado, graga, redengao, comunháo dos santos etc. e do pròprio texto bíblico: passava-se da mudanza para a revolugao; ou, como era moda dizer, da ortodoxia para a ortopraxia. A crise entre governo e Igreja
No decorrer da segunda parte detinha-me na análise da crise entre o governo militar e a Igreja. Estava consciente tanto da difìculdade em compreender e explicar fatos recentes, originados, por vezes, de decisòes a portas fechadas, como do perigo de querer enquadrar acontecimentos individuáis em esquemas apriorísticos. No que se referia ao governo, eram claros e confessos os principios que o norteavam. Em seu projeto teórico atuavam, como partes constitutivas, o combate ao „comunismo ateu" e a contrapartida: a defesa da religiao (nos moldes de um deísmo ¿luminista). Na história do país, desde a independencia, a Igreja jamais fora subserviente, mas, por outro lado, constituiu-se como oposigáo só quando seus interesses imediatos foram atingidos. Portanto, seria naturai, em outros tempos, que eia aceitasse o discurso oficial e desse sua contribuigao, como fator de legitimario e estabilizagáo do sistema. O que a levava agora para a oposigáo era, antes de mais nada, a violència da ditadura, que atingia até a eia — erradamente analisei tal violència como um caso de nazismo, quando, na verdade, todas as ditaduras modernas, para se manterem, obrigam-se a recorrer a mecanismos mais ou menos idénticos de controle — e, sem dúvida, embora nào para todos os prelados, o modelo econòmico de crescimento. Quanto à Igreja — entendida principalmente em sua hierarquia —, foi preciso deter-me na composito ideológica do episcopado. Vali-me, para tanto, do Idealtypus weberiano, já utilizado anteriormente, aliás, por diversos outros estudiosos. Em números aproximados, dos cerca de 270 bispos brasileiros, menos de 1% classificava-se como integrista; 60% como conservador; 30% como renovador, e 10% — na falta de termo melhor — como revolucionário. Era evidente o predominio dos dois últimos grupos ñas decisóes da CNBB, sendo a unidade do corpo preservada gragas ao papel nào desprezível da defesa da instituigào atingida, ao affectus collegialis, bem como à pregagao católica de urna terceira via entre o comunismo e o capitalismo.
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Foram exatamente aqueles os anos mais difíceis do convivio entre as duas institui;5es. Eram duas linguagens que, de modo algum, deixavam-se reduzir urna à outra. O Catolicismo popular e as comunidades de base Segundo meu ponto de vista, porém, o futuro da Igreja Brasileira nao dependía do resultado do confronto com a autoridade militar. Mais cedo ou mais tarde a ditadura deixaria de existir e, naquele dia, a Igreja continuaría a defrontar-se com problemas intra-eclesiais nao solucionados e com as desigualdades sociais. Pareceu-me, pois, que os dados seriam lanzados em outro campo: na atitude déla ante o Catolicismo popular e no espaso reservado às comunidades de base. Disso tratava a terceira parte da tese. A afirmado de que o Brasil era o maior país católico do mundo ignorava o fato de que a maioria da popula^ào praticava urna forma de religiào típicamente agrària, de forte cunho étnico-cultural, bastante diferente dos cánones teológicos da ortodoxia. Tal religiosidade, ao mesmo tempo que devería ser aceite como expressào legítima do povo, precisava ser confrontada com a conscientiza9ào, que sem dúvida a abalaría. Por outro lado, seu cunho agràrio impedialhe, ou ao menos dificultava-lhe, a convivencia da vida urbana. E, entrementes, crescia o fenómeno da urbanizado — o que significava abertura para outras formas de religiào, principalmente para o espiritismo em seu modelo afrícanizado de umbanda, e para as seitas cristas de cunho fundamentalista. A religiào popular representava, pois, um desafio „dialético": para ser ouvida pelo povo, a Igreja precisaría antes ouvir o povo; para converter, necessitava ser convertida; o povo mudaría a linguagem quando a Igreja aprendesse a linguagem do povo. Já as comunidades de base, que com rapidez se estruturavam, apontavam para urna nova realidade: a de urna Igreja democratizada, onde a presenta do bispo era em grande parte ignorada, e a do padre, relatívizada. Ora, urna Igreja organizada a partir das bases, dirigindo-se por consenso de todo o grupo, fazendo opíóes inclusive a nivel político, nao deixaria incólume a velha estrutura piramidal do Catolicismo e poderia provocar desentendimentos, quando nào cisoes no interior da Igreja institucional. Esta foi, em rápidas pinceladas, minha tese de doutorado. Transcorridos 25 anos Relendo o texto — no qual reconhe$o, melhor do que outrora, quao grande foi a importancia de Karl Rahner, e principalmente de Johann Baptist Metz em meu
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traballio — percebo que estavam corretas muitas de minhas análises, embora os caminhos da História apresentem, como sempre, suas surpresas. Comparando-se a Igreja de entao com a de hoje, o que se observa? O sacerdote substituí o profeta Nestes 25 anos, as mudanzas na Igreja, no mundo (e deles o Brasil nao se exclui), foram significativas. O longo pontificado de Joao Paulo II, o ñm do comunismo e da guerra fria, a globalizagáo da economia sob a ègide do neoliberalismo, a redemocratizagáo do subcontinente deixaram suas marcas também na Igreja Brasileira. À primeira vista, alguém pode fazer um juízo extremamente negativo a respeito dos caminhos seguidos por eia neste quarto de sáculo. De fato, subsiste a velha organizagào paroquial, autocràtica e ineficiente. As mudanzas, por vezes significativas, nao foram suficientes para criar novas estruturas paroquiais, onde a participasáo dos leigos nao dependesse da boa vontade da autoridade eclesiástica. Já o episcopado, que teve em postos-chaves homens como Helder Cámara, Aloisio Lorscheider e Evaristo Ams — v o c a l e s proféticas de perfil internacional —, ve hoje, nos mesmos postos, na maioria dos casos, bons e dedicados administradores, mas sem o carisma dos que os precederam; em linguagem weberiana, o profeta foi substituido pelo sacerdote. O grupo integrista desapareceu; concomitantemente, porém, as liderangas de ponta reduziram-se. Sob este aspecto, as nomeagdes de bispos da parte do atual pontífice, atingindo mais da metade do episcopado atual, seguiram programáticamente urna linha bem diferente da de Joao XXIII e Paulo VI, o que se refletiu, no decorrer do tempo, também no fato de a presidencia da CNBB ter passado para as màos dos conservadores. Significativo, e lógico, foi também um outro episòdio: o desmantelamento, ao menos oficial, da Teologia da Libertagáo. O controle exercido pela Santa Sé sobre os pronunciamentos teóricos e as atitudes práticas de membros desta Teologia foram conhecidos no mundo inteiro, e o processo de .neutralizasáo' de Frei Leonardo Boff mostrou que o tenebroso espirito da Inquisisco ainda nào foi de todo banido de algumas salas da curia romana. Os resultados nao se deixaram esperar. Assim, por exemplo, prossegue o esvaziamento das igrejas, constatando-se que as grandes metrópoles do país encontram-se tao secularizadas como as européias. Se o critèrio da missa dominical fosse termòmetro para aferigáo do grau de pertencimento à religiào, deverse-ia admitir, entáo, que as grandes massas urbanas nao sao mais católicas.
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Por outro lado, cresce o numero das seitas e religiòes em todo o país. Os fundamentalistas tradicionais, como os Pentecostais e a Assembléia de Deus continuam erguendo seus templos, aliás muito freqüentados, até em pequeñas vilas do interior (Oro 1996). A novidade no setor fica, porém, por conta de novas seitas, fortemente marcadas pelos modelos mercadológicos americanos (Assmann 1986; Barros 1995), dos quais surgem igrejas empresariais, que se valem de tecnologia de ponta: um fundamentalismo que, em vez de recusar, assumiu os valores dominantes da sociedade, adaptando-se muito bem à ideologia neoliberal. Já as religiòes de proveniencia afro-brasileira, como o Candomblé, o Batuque e principalmente a Umbanda 1 — que, tais como as seitas fundamentalistas, sao „material de exportagao" nao só para a América Latina — viram reduzir-se o nivel de crescimento e de construyo de novos centros de pràtica religiosa, mas, como observei já há 20 anos, „no momento atual [da sociedade brasileira], o mundo está sendo religiosamente interpretado dentro de categorías que nao sao mais as católicas" (De Boni 1977: 86), e sim as afro-espiritas. Essa mudanga de linguagem, que nao provém de urna patologia, está a indicar modifica95es profundas, às quais nao tem sido prestada a devida consideragáo. O outro lado da medalha Há, porém, um outro lado da medalha — lado esse que para muitos talvez passe desapercebido. De fato, nos anos mais cruciais da ditadura militar a Igreja foi, em alguns momentos, a única voz a levantar-se em defesa dos direitos humanos, 0 que lhe conferiu projegao na imprensa mundial. Com a normalizagào política, eia compreendeu que era hora de desaparecer das manchetes. Isto, porém, nao significou renunciar ao trabalho silencioso, que nao se transforma em noticia diària, mas que transforma pessoas, grupos e valores na sociedade. Nesta atuagào percebe-se como as análises teológicas, filosóficas e sócioeconómicas, que serviram de suporte à Teologia da Libertagáo, continuam presentes. O temor romano ante um possível marxismo que se disseminaria pela Igreja, e as medidas tomadas para extirpá-lo pelo clàssico método de condenagáo de idéias (e de pessoas), de pouco valeram. Com marxismo ou sem marxismo, aumenta o número de miseráveis na sociedade brasileira, e é a eles que se torna urgente levar urna perspectiva de esperanga e de dignidade. Por isso, desenvolveu-se no Brasil algo que poderia ser chamado de „Igreja de periferia" (nào se excluindo desta denominagáo, por vezes, também o aspecto 1 Cf. Prandi (1996). Nesta obra, a melhor e mais completa sobre o tema, também encontram-se dados sobre as demais religiòes e seitas.
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negativo): clérigos, religiosas e religiosos, leigas e leigos envolvidos em movimentos de promoçâo daqueles individuos e grupos aos quais é negado qualquer acesso aos bens da civilizaçâo e da cultura. É difícil encontrar um lugar, onde reine a misèria, e no quai nâo exista alguma forma de presença da Igreja Católica, mesmo se por vezes com pouco ou nenhum apoio da autoridade religiosa: nas favelas, entre os catadores de papel, no acompanhamento e defesa das prostitutas, entre os indígenas, junto aos meninos de rua, nos presidios, junto aos andaos, aos sem-terra, aos desempregados, etc. Aquilo que os teólogos qualificaram como ,,a profecía que vem de fora", foi encontrado entre os que estâo fora do nivel mínimo de dignidade humana. As populaçôes indígenas, que desde o descobrimento da América estâo sujeitas à exploraçâo e ao aniquilamento, encontraram no CIMI (Conselho Indígena Missionàrio) o local privilegiado para o diálogo e para a defesa de seus interesses. Já o CIMI, de sua parte, apreendeu junto aos indígenas que a evangelizaçâo nâo se inicia com a pregaçâo e o batismo dos grupos autóctones, e sim com a conversâo a eles. A Pastoral da Criança e a Pastoral da Familia sâo, hoje, principalmente no Nordeste, os principáis responsáveis pelo combate à desnutriçâo e pela queda significativa nos números da mortalidade infantil. Com métodos simples e de baixo custo, desenvolveram técnicas pioneiras, que modificaran) para melhor a vida de faixas consideráveis da populaçâo carente. Um caso a parte é o MST (Movimento dos Sem-Terra). Ele surgiu, se assim se pode dizer, dentro da Igreja; suas lideranças foram, em grande parte, formadas em cursos promovidos por dioceses e paróquias; entre seus ideólogos encontram-se diversos sacerdotes e religiosos, muitos dos quais compartilham com os deserdados a pobreza da vida em acampamentos improvisados. Na crise por que passam as instituiçôes sindicáis, o MST constitui-se, hoje, na maior força organizada das „esquerdas" brasileiras, que muitas vezes procuram engrossar-lhe as fíleiras, nas passeatas, a fim de merecerem da mídia ou do governo a atençâo de que gozavam outrora. Num país onde até há pouco o clamor por reforma agrària era confundido com comunismo ou subversâo, e tratado como caso de policía e de segurança nacional, o MST conseguiu fazer com que a grande maioria da populaçâo passasse a considerar a reforma agrària como urna reivindicaçâo justa e urna premente necessidade social. A qualquer observador atento nâo passa desapercebido o fato de que o crescimene numérico e a projeçâo politica do MST colocam-no ante novos problemas: vai permanecer somente na luta pela reforma agrària, ou vai ampliar suas atividades, tornando-se catalizador e líder de todos os movimentos de oposiçâo? Procurará sua independência política ou tornar-se-á sempre mais o braço agràrio
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de um partido? Manter-se-á dentro das normas constitucionais, ou partirá para o confronto por meios nào reconhecidos pela lei? Embora tenha muitas ressalvas — que nào cabe aqui aventar — quanto a algumas atitudes destes movimentos, e quanto à possibilidade de d i s s o l u t o da Teologia, da presenta eclesial e do pròprio Cristianismo em um projeto puramente reivindicatório e de curto prazo, continuo, contudo, fiel às conclusòes de minha tese: é desta „Igreja de periferia" que depende o futuro do Catolicismo no Brasil. O difícil diálogo com o governo Passados mais de 13 anos desde o ñm do regime militar, as relagòes entre a Igreja e o governo continuam tensas. Nào se trata mais de trincheiras opostas, onde o diálogo era impossível. Hoje o ambiente é outro. De fato, o clima político modificou-se radicalmente. Ninguém deixa de reconhecer que existe no Brasil, em pleno funcionamento, o que pode ser qualifícado como a „democracia formal": independencia entre os tres poderes, eleiíSes periódicas dentro da lisura esperada, liberdades constitucionais respeitadas, etc. E, apesar disso, a Igreja, até mesmo por parte de elementos conservadores do episcopado, seguidamente deixa transparecer seu mal-estar ante os rumos seguidos pelo Governo. No período entre 1964 e 1985 — é bom recordar que dentro dele desabrochou a Teologia da Libertasào — a crítica da Igreja ao regime militar foi mais ampia do que alguém poderia supor. Havia, de um lado, a denuncia de violagào de direitos humanos: a Igreja, durante alguns anos, foi a única voz, ou quase a única, dentro do país que pòde manifestar-se, e aproveitou da s i t u a l o privilegiada para protestar contra o arbitrio, que ia desde o incentivo à delagào, a censura à imprensa, e as elei?5es com cartas marcadas, até as prisóes arbitrárias, a tortura e o assassinato. Desde o inicio, porém, alguns membros do episcopado afirmavam que havia urna ligagào estreita entre as medidas político-policiais e o pensamento econòmico dos que se encontravam no poder. A ditadura brasileira — e nisto diferiu em muito da argentina — nào se limitou a combater os „subversivos". Por parte de seus teóricos, montou-se um bem arquitetado plano de desenvolvimento, que se manifestou concretamente em urna sèrie de reformas ditadas pelo executivo e no crescimento económico em taxas anuais que, em certos momentos, foram de mais de 10% ao ano. Como tal, o projeto do regime militar nào era novidade. O desenvolvimentismo caracterizara já a década de 50, principalmente as „metas" do governo Kubistschek, e obtivera resultados igualmente estrondosos. De diferente havia, antes, a democracia formal em pleno funcionamento e, acima de tudo, a tentativa, baseada em estudos da CEPAL e do ISEB, de converter, de imediato, o
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crescimento económico em melhora do nivel de vida para todos os cidadâos. Já o governo militar, depois de desarticular os sindicatos, a oposiçâo parlamentar e toda a forma de oposiçâo, entregou-se a um modelo selvagem de capitalismo, onde o crescimento a todo custo era sustentado com o argumento de que ,,é necessàrio aumentar o bolo, antes de reparti-lo". O que se viu foi o crescimento, para nâo dizer o inchaço, descontrolado da populaçâo favelada urbana, devido ao pouco interesse em manter o trabalhador no campo, e a marginalizaçâo de urna grande parte da populaçâo, enquanto urna pequeña parcela de afortunados adonava-se da riqueza do país, num dos casos mais clamorosos de repartiçâo desproporcional dos bens em todo o mundo. Ora, a redemocratizaçâo de 1985 trouxe consigo a volta da democracia formal, mas nâo o abandono do projeto económico2. Pior ainda, nele há um agravante: nâo se fala mais em crescimento do bolo, antes de reparti-lo; admite-se claramente que nâo existirá bolo para todos, que no mínimo um quarto da populaçâo brasileira permanecerá excluida de qualquer beneficio do progresso. O fato da globalizaçâo, a queda dos regimes comunistas, a necessidade de abertura do mercado nacional, sao lidos pelos dirigentes políticos dentro da ótica monetària „neoliberal", na qual incluem-se como subprodutos — talvez lastimáveis, mas inevitáveis — o subemprego, o desemprego, a misèria relativa e a misèria absoluta. Assim, o crescimento da economia nâo representa perspectivas de melhora para os excluidos, enquanto a crise transforma-se em pesadelo para os que ainda sobrevivem, mas correm o risco de cair na vaia dos „inúteis para a sociedade". A Igreja Brasileira, que nunca foi rica e que, como toda a Igreja Católica, sempre olhou com reservas o liberalismo de cunho calvinista, superou em grande parte as formas de assistencialismo e paternalismo de outrora e há muito tempo sabe e afirma que a fome, a exclusào social, a misèria nâo fazem parte do plano de Deus, mas das injustiças dos homens. Colocada ao lado dos injustiçados — que nâo sâo mais os exilados, os cassados, os torturados por convicçôes ideológicas, mas continuam sendo os excluidos pelo desemprego, o subemprego, a fome, a prostituiçâo, a falta de terra, a falta de lar, a falta de escola —, e olhando o mundo pela ótica deles, tem dificuldade de dialogar com o governo porque fala urna outra linguagem. Os estudos sobre as reservas monetárias, sobre a balança de pagamentos, sobre a divida pública, sobre o crescimento do PIB, sobre a crise financeira perdem entâo a natureza asséptica dos números, para enquadrarem-se em urna dimensâo primeiramente antropológica. Para o governo, o grande problema do país é fínanceiro; para a Igreja, é humano. 2
Entre a vasta bibliografía a respeito, vale a pena citar, inclusive por sua proveniencia, o texto: Comissâo (1998).
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Literatur Assmann, Hugo (1986): A Igreja eletrönica e seu impacto na América Latina. Petrópolis. Barros, Mönica do Nascimento (1995): „A batalha de Armagedon" — Urna análise do repertòrio mágico-religioso proposto pela Igreja Universal do Reino de Deus (mim). UFMG. Belo Horizonte. Comissäo de Justifa e Paz e Instituto Brasileiro de Desenvolvimento (1998): Brasil: desafio e esperarla. Análise de conjuntura. Subsidio apresentado à 3 6 ' Assembléia Geral da CNBB. Sao Paulo. De Boni, Luis Alberto (1973): Kirche auf neuen Wegen. Reformbestrebungen der brasilianischen Kirche. Ihre theologischen und gesellschaftlichen Implikationen. Münster. De Boni, Luis Alberto (1977): Catolicismo no Brasil — Inicio do fim? Porto Alegre. Oro, Ari Pedro (1996): Avanzo pentecostal e reaijäo católica. Petrópolis. Prandi, Reginaldo/Pienicci, Antonio Flávio (1996): A realidade social das religiöes no Brasil. Säo Paulo. Schelsky, Helmut (1970): Zur soziologischen Theorie der Institutionen. In: Helmut Schelsky (Hrsg.): Zur Theorie der Institutionen. Düsseldorf. Torres, Joäo Camilo de Oliveira (1968): História das idéias religiosas no Brasil. Säo Paulo.
Soziale Bewegungen und Bürgerstatus im heutigen Brasilien EMIL A . SOBOTTKA1
Bürgerstatus ist ein Begriff, der in diesem Jahrzehnt in praktisch allen Äußerungen der sozialen Bewegungen in Brasilien und anderen lateinamerikanischen Ländern großgeschrieben wird. Er wird dabei meistens so positiv besetzt, als könnte er alles das erfassen, was als wichtigste Bestrebungen einer utopischen Gesellschaft angesehen wird. Damit nimmt der Begriff jenen zentralen Stellenwert ein, der zuvor der Demokratie und der Zivilgesellschaft zugeschrieben wurde. Die sozialen Bewegungen und unter ihnen insbesondere die Volksbewegungen sind zwar nicht die einzigen, wohl aber die, die den Begriff am häufigsten benutzen; auf sie konzentriert sich dieser Aufsatz. Der Bürgerstatus wird von den Bewegungen als etwas dargestellt, das inmitten eines konfliktgeladenen Kontextes errungen, entfaltet oder gestärkt werden muß. Mit seiner Hilfe wird eine ideale Gesellschaftsordnung einer gegebenen, durch Marginalisierung und Ausschluß gekennzeichneten Situation gegenübergestellt. Bei einer näheren Untersuchung zeigt sich jedoch, daß der begriffliche Inhalt von Benutzer zu Benutzer sehr unterschiedlich sein kann (Sobottka 1997). Im Kontext der Arbeitsbeziehungen ist mit dem Bürgerstatus eine ordentliche Beschäftigung gemeint, die ein gutes regelmäßiges Einkommen ermöglicht. In der Politik wird er als Partizipation vorgestellt, die ihrerseits so unterschiedliche Erwartungen einschließt wie die Berufung derer, die die leitenden Ämter bekleiden sollen, die Begünstigung bei sozialpolitischen Maßnahmen, bis hin zur Beteiligung an Entscheidungen über und Verwaltung von staatlichen Programmen. Unter dem Gesichtspunkt des Verbrauchers sind mit dem Bürgerstatus einerseits regelmäßige Einnahmen gemeint, die es dem Betroffenen erlauben, die Kosten für jene Güter und Dienste zu bestreiten, die für einen gesellschaftlich akzeptierten Lebensstandard notwendig sind; andererseits bedeutet er auch, daß dem Verbraucher jene Rechte, die er explizit oder implizit mit dem Kaufakt erworben hat, vollständig gewährt werden. Im Bereich der Sozialpolitik 1
Soziologe, Politikwissenschaftler und Evangelischer Theologe, hat 1997 an der WWUMünster bei Professor Schräder promoviert; Dozent an der Pontificia Universidade Católica, in Porto Alegre, Brasilien.
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wird mit dem Bürgerstatus ebenfalls eine doppelte Zielsetzung erfolgt: sowohl jene Leistungen sicherzustellen, die als Recht angesehen werden, als auch dafür zu sorgen, daß neue Leistungen gesetzlich zugesichert werden. Soziale Bewegungen meinen in spezifischen Kontexten mit dem Bürgerstatus auch die formal-juristische Sicherheit eines Rechtstaates und das Recht auf anerkannte Staatszugehörigkeit für Völker und Menschengruppen, die nicht oder nur teilweise in die Nation integriert wurden. Der Bürgerstatus bezeichnet in sozialen Beziehungen oft auch die Suche nach Ausdruck und Anerkennung von besonderen Merkmalen jener Gruppen, die nach einer innergesellschaftlichen Identität und Emanzipation streben. Diese Beispiele genügen, um zu veranschaulichen, wie vielfältig und unspezifisch die Erwartungen sind, die von sozialen Bewegungen mit dem Bürgerstatus verbunden werden. Zum Teil ergibt sich dies aus der Unbestimmtheit des Begriffs selbst, die hier nicht erneut thematisiert werden muß (Gohn 1997; Pressburger 1996). Stattdessen wird zunächst auf den gesellschaftstheoretischen Hintergrund von Grundpositionen zum Thema hingewiesen. Dann wird die Frage behandelt, wie der Bürgerstatus und das Handeln der sozialen Bewegungen in den heutigen Gesellschaften aufeinander zu beziehen sind. Brasilien dient dabei als Beispiel. Vorgeschlagen wird eine neue Vorgehensweise: statt den Schwerpunkt der Analyse auf das sozialpolitische Phänomen zu legen, sollen globale Gesellschaftsanalysen fokussiert und mit den noch andauernden Reformen des Systems sozialer Sicherung in Brasilien konfrontiert werden. Zum Schluß wird die Frage nach den Chancen gestellt, die den sozialen Bewegungen jetzt gegeben sind, um ihre unter dem Begriff Bürgerstatus gebündelten Ziele zu realisieren. Bürgerstatus: Einheit oder Vielfalt? Der Bürgerstatus kann vor allem als „das Recht, Rechte zu haben" definiert werden (Vieira 1997). Schon in der Antike wurden Menschen als Bürger bezeichnet. Der heutige Begriff ist aber eine Errungenschaft der Moderne. Er ist mit dem Sieg des Rationalismus über den Traditionalismus eng verbunden, der zur Folge hatte, daß das Leben in Gesellschaft vornehmlich als das Ergebnis eines horizontalen Vertrags konzipiert wurde, durch den sich Individuen die Regeln ihres Zusammenlebens geben. In diesem Sinne ist der Begriff mit einer vertikalen Beziehung zwischen Herrscher und Untertanen unvereinbar. Diese Regeln des Gesellschaftsvertrages müssen ausdrücklich und als eine formal integrierte Einheit formuliert werden. Doch die Kontraktualisten, die über diese Auffassung große Debatten geführt haben, haben mit Recht darauf hingewiesen, daß der Bürgerstatus einen
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fundamentalen Widerspruch zwischen den Individuen und der Kollektivität, dem Besonderen und dem Universalen in sich birgt. Dieser Widerspruch ist für die Gesellschaft destabilisierend und erfordert eine Entscheidung für die Priorität des einen oder des anderen als Grundprinzip. Selbst wenn die Unterschiede zwischen Hobbes und Rousseau nicht zu übersehen sind, so ist ihnen doch der Vorrang der Kollektivität gemeinsam: Für Hobbes galt er dem Staat, für Rousseau der Gemeinschaft. Im Gegensatz dazu gab Locke den Individuen den Vorrang. Dieses Dilemma war als solches nicht neu; es war schon der griechischen und mittelalterlichen Philosophie gut bekannt. Neu war, daß nun der Ausgangspunkt das Individuum war, das sich mit der Gesellschaft und mit seiner Regierung vertraglich in Beziehung setzt, um souverän mitzuentscheiden, wie die letztere zu gestalten ist, und das folglich aus dieser Beziehung seinen zivilen Bürgerstatus ableitet. Die für die westlichen modernen Gesellschaften so charakteristische Unterscheidung zwischen Individuum, Gesellschaft und Staat bzw. Regierung hat sich in Lateinamerika nicht durchgesetzt. In einem Buch, das in Brasilien für viel Polemik gesorgt hat, hat Morse (1988) die These vertreten, daß der Unterschied in der Grundeinstellung bezüglich der Verantwortung des Staates in der Verwirklichung der mit dem Bürgerstatus verbundenen Rechte in Ländern wie den USA und Brasilien auf deren kulturellen Hintergrund zurückzuführen ist. Während erstere in der angelsächsischen calvinistischen Tradition stehen, die dem Staat den Rücken dreht, ist Brasilien von der iberischen Tradition thomistischen Ursprungs geprägt, die den Bürgerstatus als kollektives Gut ansieht, das sich im Staat verwirklicht. Ausdruck dieses Unterschieds sei gerade die extreme Individualisierung der ersteren Gesellschaft, während sich in Brasilien noch eine am Kollektiv orientierte öffentliche Einstellung erhalten hätte. Nach Ansicht Mörses sind die USA mit der Individualisierung zu weit gegangen. Ihre negativen Folgen könnten durch die Neubewertung der iberischen Tradition in den USA überwunden und in Lateinamerika vermieden werden. Die Reaktion, angeführt von Simon Schwarzman, lehnt eine positive Bewertung der iberischen Tradition emphatisch ab. Die Autoren sehen ausschließlich in dem, was sie als Moderne und als das Gegenteil der brasilianischen traditionalen Kultur definierten, eine erstrebenswerte Zukunft für Brasilien und für andere Länder Lateinamerikas (Arocena/Leön 1993; Oliveira 1991). Heute wird zunehmend eine eklektische Stellung eingenommen, die den Gegensatz zwischen Individuum und Kollektivität, Moderne und Tradition relativiert. Es wird von dem emanzipierten Individuum als Voraussetzung ausgegangen, um zu fragen, in welchem Ausmaß er sich zu gesellschaftlichen Institutionen kollektiven Charakters verpflichten kann.
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In seinem klassischem Buch zum Bürgerstatus hat Marshall (1967) deren Anerkennung in drei Generationen eingeteilt. Die erste Generation bilden demnach die zivilen und politischen Rechte; die zweite, die sozialen Rechte. Die dritte Generation bilden jene Rechte, die eine Kollektivität als Inhaber haben. Der Ursprung dieser Rechte kann auf soziale Bewegungen zurückgeführt werden: Die liberale Revolution, die sozialdemokratische Bewegung und die DritteWelt-Bewegung. Ihre internationale Anerkennung kann nur in großen Zügen mit historischen Ereignissen verbunden werden: Die 1948 von der UNO verabschiedete Menschenrechtscharta und der 1966 ebenfalls von der UNO verabschiedete „Internationale Pakt über staatsbürgerliche und politische Rechte" entsprechen weitgehend der ersten Generation; in dem „Internationalen Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte", ebenfalls 1966 von der UNO verabschiedet, und den Resolutionen der Unctad-Konferenzen werden die Rechte der Dritten Generation anerkannt. Zu einer formalen intergovernamentalen Anerkennung der als zweiten Generation bezeichneten Rechte kam es hingegen nicht; sie waren aber eine der zentralen Grundlagen des europäischen Wohlfahrtstaates. Marshall unterstreicht, daß der Bürgerstatus in der Gegenwart, im Gegensatz zur selektiven Auffassung der Antike, als prinzipiell universal, d. h. allen Menschen, die in einer gegebenen Gesellschaft leben, zugesprochen wird. Kritisiert wird der Autor wegen seiner sehr linearen Deutung der Entstehung des Bürgerstatus und des engen Bezugs den er zwischen diesem und der gesellschaftlichen Stratifikation zieht. Die Unterscheidung nach Generationen hat sich in der akademischen Debatte nicht durchgesetzt. Das Nachlassen der Bewegung der Blockfreien Staaten und der Unctad-Konferenzen sowie der Zerfall der UdSSR hat den wichtigsten Verteidigern der von Marshall als kollektiv bezeichneten Rechte den Wind aus dem Segel genommen. Die Legitimitätskrise und der Abbau des Wohlfahrtstaates zum einen und die Diktaturen und die islamischen Revolutionen zum anderen haben gezeigt, daß auch die sozialen bzw. die zivilen und politischen Rechte keine unumkehrbare universale Errungenschaft der Menschheit sind. Dennoch wird zunehmend anerkannt, daß es deutliche Unterschiede in der Definition des Bürgerstatus gibt. Zum einen wird er als eine Reihe von zivilen und politischen Rechten definiert. Im Einklang mit der liberalen Rechtstheorie wird ein juristisches System vorausgesetzt, das durch seine Form, nicht aber durch Inhalte oder Werte legitimiert wird (Flickinger 1998). Sein Schwerpunkt ist die Verteidigung des Individuums gegen den Staat und die Regierung. Zum anderen wird er als Anspruch auf soziale Rechte dargestellt, seien sie individuell oder kollektiv angeeignet. Diese Deutungsweise hat ihre Wurzeln im Projekt der europäischen Sozialdemokratie, wurde aber weiterentwickelt. In den
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letzten Jahrzehnten wurde sie in Lateinamerika beispielsweise von der Theologie der Befreiung und vielen sozialen Volksbewegungen vertreten. Sie stützt sich weitgehend auf eine umfassende Intervention des Staates und parastaatlichen Institutionen als kompensatorische Partei im Verteilungskampf um gesellschaftliche Ressourcen. Sie sind von der Legitimationskrise des Wohlfahrtstaates und des Staatskapitalismus stark betroffen worden. Eine dritte Auffassung, die auch in Lateinamerika stark wächst, setzt ihren Schwerpunkt auf immaterielle Rechte und Eigendarstellung. Ihre Verteidiger stützen sich meist auf diffuse und fragmentierte Projekte einer kommunitaristischen Gesellschaft, lehnen eine systematische Zusammenarbeit mit dem Staat ab und füllen den Bürgerstatus mit Inhalten und Werten, die die Interessenten größtenteils selbst zu erbringen haben. Unter ihren Trägern sind viele soziale Bewegungen aus den mittleren und höheren sozialen Schichten, und ihr gesellschaftliches Projekt ist im mannheimischem Sinne noch utopisch. Es kann folglich von einer Pluralität der Bürgerstatus ausgegangen werden. Wenn der Begriff von den Parteien dennoch im Singular benutzt wird, dann ist das wohl eher als ein Versuch der Selbstbestätigung im Kontext des Disputs um Legitimität verschiedener Gesellschaftsprojekte zu deuten als mit inhaltlicher Eindeutigkeit gleichzusetzen. Globale Gesellschaftsanalysen Die systematische Forschung zu sozialen Bewegungen wird früher oder später mit einer nahezu unendlichen Pluralität von Bewegungen, Flügeln und Splittergruppen konfrontiert werden, die in der Frage nach der Auffassung des Bürgerstatus ihren spezifischen Akzent setzen wollen. Um den Überblick zu behalten, müßte dann das Abstraktionsniveau angehoben werden, so daß handlungsrelevante Unterschiede verwischt würden. Um dieses Dilemma zu vermeiden, wird hier eine andere Vorgehensweise gewählt: Es wird von Modellen globaler Gesellschaftsanalyse ausgegangen, um nach möglichen Handlungsspielräumen zu fragen, die die morphologische und programmatische Zersplitterung der Bewegungen relativieren. Es werden dazu die Ansätze von Cohen und Arato, Offe und Santos rezipiert. Das von Habermas in seiner Theorie des kommunikativen Handelns entwikkelte Gesellschaftsmodell wurde in vielen akademischen Debatten aufgenommen, wobei einige ihrer Defizite ausgeglichen werden konnten. Eines dieser Defizite war die überwiegend — wenn nicht ausschließlich — defensive Rolle, die er den sozialen Bewegungen zugesprochen hatte. Dies war um so überraschender, als gerade sie als Hauptakteure der Dekolonisierung der Lebenswelt dargestellt wurden, und ihnen damit eine zentrale Verantwortung bei der Auf-
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hebung oder Vervollständigung des Projekts der Moderne zukam. Der Bürgerstatus umfaßt bei Habermas einerseits zivile und politische, andererseits immaterielle expressive Rechte, nicht aber soziale Rechte. Zurückzuführen ist dies vermutlich darauf, daß für ihn die Befriedigung der materiellen Bedürfnisse, die oft mit den sozialen Rechten gleichgesetzt werden, seit den sechziger Jahren als eine gelöste Frage gilt. Cohen und Arato (1994) gehen von dem von Habermas entworfenen dreiteiligen Gesellschaftsmodell — Lebenswelt sowie Subsysteme Politik und Wirtschaft — aus, und ergänzen es um die Unterscheidung zwischen öffentlicher und privater Sphäre. Mit dieser Ergänzung wird die Lebenswelt in eine private (Individuum, Familie) und eine öffentliche Sphäre (Partizipation, Öffentlichkeit) unterteilt. Analog dazu wird die Wirtschaft als private und die Politik als öffentliche Sphäre im System gesehen. Die Autoren schlagen dann ergänzend den Begriff der Zivilgesellschaft vor, der die Institutionen und Organisationen der öffentlichen Sphäre der Lebenswelt meint. Diese Zivilgesellschaft ist für sie nicht allein für die Verteidigung der Lebenswelt gegen die Kolonisierung durch Rationalität der Subsysteme verantwortlich, sondern auch für proaktive Impulse zur Transformation der Gesellschaft. Vieira sagt dazu: „Die Akteure der Zivilgesellschaft, in sozialen Bewegungen organisiert, üben eine öffentliche Funktion aus, indem sie das kommunikative Handeln der Lebenswelt absorbieren und in die öffentliche Sphäre austragen. Sie verteidigen das öffentliche Interesse und treten als Instanz der Kritik und der Kontrolle der Macht a u f (1997: 61). So verstanden unterscheidet sich die Zivilgesellschaft eindeutig von den Lobbies, weil die erste öffentliche und die letzteren private Interessen verteidigen. Dieses Modell erlaubt es, fundamentale Aspekte der Beziehung der sozialen Bewegungen mit anderen Akteuren, die schwerpunktmäßig in Politik und Wirtschaft handeln, theoretisch zu erfassen. Bei ihrem Bestreben um Durchsetzung der verschiedenen Formen des Bürgerstatus können die Bewegungen ganz unterschiedliche Kombinationen von Alliierten und Gegnern finden. Im Kampf um zivile und politische Rechte haben sie beispielsweise potentiell andere Alliierte als auf der Suche nach der Ausdehnung der sozialen Errungenschaften. Eine hervorzuhebende Schwäche ist es, daß das Modell die vielen Formen von NROs in der Zivilgesellschaft nicht unterscheidet. Für die aktuelle Situation in Brasilien, wo sich unter dem Decknamen dritter Sektor sehr unterschiedliche Phänomene verbergen, ist eine solche Klarheit notwendig, zumal die potentiellen Interessenkonflikte von vornherein dargestellt werden könnten. Das zweite hier aufgenommene Modell der Gesellschaftsanalyse wurde von Offe (1998) erarbeitet, um verschiedene Szenarien bezüglich der derzeitigen Transition unterschiedlicher Gesellschaften zu entwerfen. Eng an Weber anknüpfend fokussiert seine Analyse die Beziehung zwischen den Sphären Staat,
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Markt und Gemeinde, die jeweils einem Modus der Handlungskoordinierung der Individuen entsprechen: Vernunft, Interesse und Leidenschaft. Jeder dieser Modi wirkt sich in spezifischer Weise auf die Gesellschaft aus, was dazu führt, daß das Bestreben nach Gerechtigkeit in den sozialen Beziehungen sich an ganz unterschiedlichen Wertekategorien orientieren kann: gleiche Rechte, Ergebnisse, Bedürfnisse. Die mit diesen Werten verbundenen Theorien sind respektive die Sozialdemokratie, der Liberalismus und der Kommunitarismus. Mit ihnen hat sich die Menschheit in diesem Jahrhundert auseinandergesetzt. Nach Offe sind die Entstellungen der sozialen Beziehungen die Folge von einseitiger Betonung eines oder zwei dieser Sphären. Diese Einseitigkeit kann teilweise auf die Lobby, teilweise auf die Anreize, die sie auszeichnen, zurückzuführen sein: Macht, Geld, Solidarität. Die Einseitigkeit führt zu Pathologien wie Verstaatlichung, Unregierbarkeit, zu großem Vertrauen auf oder Kontrolle über die Marktmechanismen, übertriebenem Kommunitarismus und Vernachlässigung der Gemeinden und Identitäten. Jede dieser Pathologien führt zu Krisen. Deshalb ist die Suche nach einer Mischung notwendig, ein für den jeweiligen Kontext geeignetes Gleichgewicht zwischen Staat, Markt und Gemeinde. Die Herausarbeitung der Fundamente, auf denen die Sozialordnung aufgebaut wird, und die Folgen, zu denen die einseitige Betonung jeweils führt, sind ein wichtiger Beitrag Offes. Er befaßt sich sehr mit der Dosierung des Einflusses der Sphären, nicht aber mit der dynamischen Beziehung zwischen den Bereichen und der Frage, wie denn die ideale Mischung definiert, eingeführt und erhalten werden kann. Die Beziehung zwischen den Bereichen ist letztendlich die Beziehung jener Akteure, die in ihnen ihr bevorzugtes Handlungsfeld haben: politische Parteien, Unternehmen, soziale Bewegungen u. a. m. Diese Ergänzung des Ansatzes würde die bei der Transition unvermeidlichen Spannungen ans Licht rücken; sie würde verdeutlichen, wie Reformprojekte und Auffassungen des Bürgerstatus in bestimmten Kreisen ihre sozialen Träger haben; sie würde zeigen, daß die angestrebte Mischung nicht in erster Linie eine Frage der vernünftigen Theorie, sondern vor allem das Ergebnis politischer Auseinandersetzungen ist. Mit der Frage nach dem engen Bezug zwischen den Gesellschaftsprojekten und dem Bürgerstatus hat sich ebenfalls Santos beschäftigt (1997: Kap. 4,9). Er stützt sich besonders auf die Kontraktualisten und behauptet, die moderne Gesellschaft beruhe als Projekt auf zwei Säulen: die der Regulation und die der Emanzipation. In der Regulation wirken die Prinzipien des Staates, des Marktes und der Gemeinde, respektive auf Hobbes, Locke und Rousseau bezogen. Die Emanzipation wird vom Zusammenwirken der moral-praktischen, der kognitivexperimentellen und der ästhetisch-expressiven Rationalität gefördert. Für Santos ist eine gleichmäßige Entwicklung sowohl der beiden Säulen als auch
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der drei Prinzipien, aus denen sie jeweils bestehen, essentiell für die Überwindung der modernen Gesellschaft. Während die zuvor gesehenen Modelle ein relatives Gleichgewicht zwischen Staat, Wirtschaft und Gemeinde als notwendig hielten, erweitert Santos die Anforderungen: „Das angestrebte Gleichgewicht zwischen Regulation und Emanzipation ergibt sich aus der harmonischen Entwicklung jeder dieser Säulen und der dynamischen Beziehungen zwischen den beiden" (1997: 236). Damit hebt der Autor hervor, daß sowohl im Staat, auf dem Markt als auch in der Gemeinde das Individuum regulativen Tendenzen unterworfen ist, die seinen Handlungsspielraum begrenzen; daß es in allen drei aber auch Chancen hat, seine emanzipatorische Rationalität zu entfalten. Aus der Sicht von Santos ist die Moderne als gesellschaftliches Projekt gescheitert, weil die Regulation über- und die Emanzipation unterentwickelt wurden. Innerhalb der Regulation wurden Staat und Markt zu den herrschenden Prinzipien gemacht, während die Gemeinde unbedeutend blieb. Der Bürgerstatus wird von Santos als Steuerungsmechanismus der Spannungen zwischen den Prioritäten gesehen. Seine Eigenschaften hängen davon ab, welches Prinzip vorherrscht. Die unter der Logik des Staates geforderte Universalisierung ignoriert die Differenzen und die Subjektivität. Das Marktprinzip verträgt sich gut mit einem zivilen und politischen Bürgerstatus, kollidiert aber mit den Anforderungen eines sozialen Bürgerstatus. Nach Santos müßte eine Reform unter Einwirkung des Prinzips Gemeinde ein angepasstes Gleichgewicht mit den Prinzipien Staat und Markt erbringen, ohne die Ausbalancierung zwischen Regulation (Bürgerstatus) und Emanzipation (Subjektivität) zu vernachlässigen. Er verweist auf zwei Verzerrungen, die historisch gesehen wichtige Errungenschaften überschattet haben. Die erste erfolgte im Kontext der Sozialreformen, die unter Federführung des Staates eingeführt wurden: sie hat die begünstigten Gruppen den politischen Bindungen eines regulatorischen Staates unterworfen. Die zweite Verzerrung, die durch die Studentenbewegung der 60er Jahre gegen diese Regulierung zum Durchbruch kam, ist die Unterwerfung des Bürgerstatuses durch die Subjektivität, der öffentlichen durch private Interessen. Die sozialen Bewegungen sind für den Autor die Akteure, die in der günstigen Lage sind, die korrektiven Transformationen der gegenwärtigen Gesellschaften voranzutreiben. Das Profil, das diese Bewegungen annehmen, und wie sie den von ihnen geförderten Bürgerstatus definieren, hängt vom Kontext ab. Tendenziell kämpfen sie in den zentralen Ländern für mehr partizipatorische Demokratie und post-materialistische Werte, während in Lateinamerika und anderen peripheren Ländern der Schwerpunkt auf partizipatorischer Demokratie und der Befriedigung der Grundbedürfnisse liegt. Die sozialen Bewegungen in
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Brasilien werden als sich in einer Übergangssituation befindend dargestellt. In einer immer mehr globalisierten Welt können seiner Meinung nach gerade solche Bewegungen die kommunitaristischen Elemente der Gesellschaft einlösen und den Bürgerstatus ausdehnen. Sowohl Santos als auch Offe unterstreichen die Notwendigkeit eines neuen Sozialvertrags. In ihm würde die Gesellschaft nach einer politisch möglichen Dosierung jener Sphären oder Prinzipien neugestaltet, die sie von den klassischen Kontraktualisten rekonstruiert haben. Cohen und Arato dagegen verteidigen eine klassische Auffassung, nach der die Zivilgesellschaft die systemischen Entgleisungen beheben könne, definieren jedoch die Zivilgesellschaft neu. Gemeinsam ist diesen Ansätzen, daß sie einen wichtigen und innovativen Beitrag für die Analyse gegenwärtiger Gesellschaften aus der Perspektive der mit dem Bürgerstatus verbundenen Erwartungen bieten. Es bleibt aber die beunruhigende Frage offen, wie eine Transition zu einer anderen Gesellschaftsordnung möglich ist, in der die verschiedenen Aspekte des Bürgerstatus ohne wesentliche Verzerrungen eingelöst werden können. Ob die sozialen Bewegungen, insbesondere die Volksbewegungen, imstande sein werden, einen solchen Einfluß auf diesen Prozeß auszuüben, wie von ihnen erwartet wird? Die Feststellung dieses Potentials ist naturgemäß kontextgebunden; die gerade rezipierten Modelle globaler Gesellschaftsanalyse ermöglichen es aber, das komplexe Geflecht der darauf einwirkenden sozialen Träger genauer zu durchblicken. Dezentralisierung
und Bürgerstatus
in Brasilien
Indem diese Autoren bei den gegenwärtigen Gesellschaften grundsätzlich drei Sphären abstecken, die alle ihre eigene Rationalität und Dynamik haben, heben sie die Tatsache hervor, daß in ihnen verschiedene Logiken vorhanden sind, die sich mal kooperativ, mal konfrontativ verhalten. Dies ermöglicht den an der Überwindung der gegebenen Situation interessierten sozialen Bewegungen eigene spezifische Handlungsstrategien zu erarbeiten. Unter dem Gesichtspunkt dieser Modelle können die derzeitigen Tendenzen der Dezentralisierung und Partizipation in Brasilien untersucht werden. Dafür werden im folgendem einige der als Bürgerstatus definierten Ziele der sozialen Bewegungen hervorgehoben. Der jüngste Reformzyklus in Brasilien wurde Ende der 70er Jahre mit dem Kampf gegen die Diktatur bzw. für Demokratie gestartet und scheint einem Ende noch fern zu sein (Diniz 1997). Während einer ersten, mit dem 1988 verabschiedeten neuen Grundgesetz abgeschlossenen Etappe waren die Reformen auf den klassischen Bürgerstatus mit seinen zivilen und politischen Rechten begrenzt. Das Ergebnis waren verschiedene demokratisierende Maßnahmen wie freie und regelmäßige Wahlen, verschiedene Freiheiten sowie die grundsätzli-
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chen Garantien eines Rechtstaates. Das Grundmuster war ein liberaler Staat, der formale Rechte garantiert. Eine zweite Etappe der Reform, die sich in den achtziger Jahren zeitweise parallel zur ersten entwickelte, hat die Anerkennung verschiedener sozialer Rechte erbracht, die Marshall der zweiten Generation zurechnen würde, indem sie im Grundgesetz aufgenommen wurden. Sieht man zunächst von der Schwierigkeit ab, diese Rechte zu reglementieren und effektiv zugänglich zu machen, ist zu unterstreichen, daß diese Rechte seitdem mindestens formal in der brasilianischen Gesetzgebung legitimiert sind. Das Grundmuster war der Wohlfahrtsstaat. Der Gesetzgeber strebte einen starken Staat an, der den formalen Bürgerstatus mit Kompensationen aus der wirtschaftlichen Sphäre füllen könnte. Damit erreichte die auf universalistische Ansprüche ausgerichtete Sozialpolitik in Brasilien ihren Höhepunkt; danach wurde sie auf spezifische Zielgruppen fokussiert (Lessa et al. 1997). Parallel dazu wurden Rechte aufgenommen, die nach der oben genannten Unterscheidung des Bürgerstatus der dritten Auffassung zuzuordnen sind, nämlich immaterielle und emanzipatorisch-expressive Rechte. Die gesellschaftliche Zugehörigkeit von Völkergruppen wie den indígenas und anderen geschlossenen Gemeinschaften, der Umweltschutz, kulturelle Ziele der Nation, neue Formen der Geschlechtergleichstellung sind einige Beispiele. Obwohl sie gleichzeitig mit den sozialen Rechten in das Grundgesetz aufgenommen wurden, unterscheiden sie sich von ihnen, weil sie zu einer anderen Auffassung des Bürgerstatus gehören, die vornehmlich auf gemeinschaftliche Voraussetzungen beruht, und weil sie andere soziale Träger hatten. Das hat zur Folge, daß der politische Disput um sie anders gestaltet wird. Eine dritte Etappe der Reform, die noch voll im Gang ist, besteht aus Initiativen der Dezentralisierung in ihren vielen Formen (Stein 1997). Die umfangreichen Privatisierungen, die dem Staat einen Großteil seiner wirtschaftlichen Aktivitäten nahmen, ist eine dieser Formen. Im Bereich der sozialen Sicherheit hat der Staat seine Aktivitäten so weit abgebaut, daß eine wachsende Nachfrage ungedeckt bleibt. Damit fand eine umfangreiche Merkantilisierung von Diensten statt, die im Grundgesetz als universale soziale Rechte unter staatlicher Verantwortung definiert sind. Die Verantwortung für einen weiteren Teil dieser Rechte wurde vom Staat an philanthropische und soziale Organisationen weitergegeben. Zwischen den Regierungsebenen wurden auch Verlagerungen von höheren auf untere Ebenen vorgenommen, durch die insbesondere die Kommunen im Namen der Bürgemähe ihre Kompetenzen ausgeweitet haben. Punktuell wurden direkte Partizipationsmöglichkeiten der Bürger in Räten vorgesehen. Der herrschende Ton, zumindest nach der Regierungsrethorik, ist die Senkung der Kosten und die Steigerung der Wirksamkeit, wobei ganz im Sinne des New
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Public Management der Markt und seine Anforderungen als Messlatte dienen (Bresser Pereira/Spink 1998). Fragt man nach den wichtigsten sozialen Trägern der Reformen, so ist festzustellen, daß sie sich in jeder Etappe anders zusammensetzten und daß die sozialen Bewegungen eine sehr unterschiedliche Rolle dabei ausübten. In der ersten Etappe waren sie weitgehend beteiligt, haben von politischen Vermittlungen Gebrauch gemacht und verschiedene Allianzen geschlossen. Doch tonangebend waren sie nicht. In der zweiten Etappe hingegen waren sie die wichtigsten Träger. Zusammen mit Gewerkschaften und bestimmten Interessengruppen haben sie Allianzen gebildet, die über den klassischen Weg des politischen Einflusses auf die Entscheidungsträger viele ihrer Ziele erreichten. Der Dezentralisierungsprozeß wurde von einer Verschärfung der Auseinandersetzungen um die Definition der Reformen begleitet. Neben den sozialen Bewegungen und ihren Alliierten haben sich auch andere soziale Kräfte entfaltet, die sich dem Eingriff des Staates in die Wirtschaft und der Universalisierung von sozialen Rechten widersetzten. Einige der gerade gesetzlich anerkannten Rechte wurden ignoriert; andere nur sehr zögernd gewährt. Mit dem Sieg von Fernando Collor de Mello bei den Präsidentschaftswahlen vom November 1989 wurde dieser Disput weitgehend geklärt. Die sozialen Kräfte, die gegen einen durch soziale Rechte charakterisierten Bürgerstatus sind, gewannen in Brasilien die Oberhand und trieben die sozialen Bewegungen in die Defensive. Die Wirtschaft wurde zur herrschenden Sphäre in der brasilianischen Gesellschaft erhoben. Die folgenden Regierungen haben diese Situation nicht umgekehrt, sondern eher vertieft. Fernando Henrique Cardoso, der erste Präsident, der wiedergewählt wurde, ist sogar so weit gegangen, daß faktisch alle Regierungsentscheidungen dem Wirtschaftsministerium und darüber den Behörden im Ausland unterworfen sind. Selbst der Straßenbau im entferntesten Landstreifen oder die Haushaltsrubrik für Kinderimpfprogramme werden in Washington beschlossen und in der Regel gekürzt. Die Folgen dieser dritten Etappe der Reformen sind für die sozialen Bewegungen nicht eindeutig. Zum einen wurden dadurch wichtige Partizipationsmöglichkeiten an der Ausführung, Aufsicht und in einigen Fällen sogar bei der Definition von Sozialprogrammen eröffnet. Haushaltsressourcen wurden in zuvor nicht gekanntem Ausmaß den NROs zur Verfügung gestellt. Die Verantwortung für öffentliche Dienste wurde mit ihnen in vielen Fällen geteilt; Transparenz und Rechenschaftspflicht über die Ressourcen wurden als wichtige Aspekte der Verwaltung anerkannt. Andererseits führte die Forderung nach Professionalisierung der NROs oft zu einer Entfremdung des leitenden Personals gegenüber der Basis. Es gibt immer mehr freischwebende NROs, die von der Regierung in Dienst genommen werden, und immer weniger NROs, die authen-
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tische Vertreter von sozialen Bewegungen sind (Gohn 1997). Es handelt sich um einen umfangreichen Kooptationsprozeß, der nicht ohne Zustimmung vieler NROs erfolgte, denn ihre Leitungen waren sich dieser Möglichkeit sehr bewußt (Pnud 1992). Der positive Ruf, den die NROs haben, hat des weiteren zu einer künstlichen Vermehrung dieses Organisationstyps geführt. Viele Organisationen, die zuvor einen ganz anderen Charakter hatten, stellen sich jetzt als NRO vor; neue NROs wurden gegründet, ohne eine Bindung zu sozialen Bewegungen zu haben. Die freischwebenden Akteure, die sich sozialen Bewegungen gegenüber nicht verpflichtet fühlen, haben den spezifischen Charakter der NROs im Lande verzerrt. Die neuen Organisationen legitimieren sich nicht mehr als Vertreter sozialer Gruppen; sie haben in der Mobilisierung von Ressourcen und den außerordentlichen Aktionen nicht mehr ihr Gravitationszentrum; sie haben keinen politischen Spielraum, um aus der begrenzten Übertretung der gesellschaftlichen Regeln ihre besondere politische Strategie zu machen. Was derzeit unter den NROs mehr und mehr zur zentralen Rationalität der Eigendarstellung und der Legitimationssuche wird, richtet sich nach quantitativen wirtschaftlichen Indikatoren sowie nach Verwaltungsregeln und immer weniger nach kollektivem solidarischem und politischem Handeln. Damit verlagern sich die NROs dieses typische organisative Phänomen der gemeinschaftlich verankerten Reformgruppen, die ihren wie auch immer definierten Bürgerstatus zu behaupten versuchen, zunehmend in die Sphäre der Wirtschaft, wo sie als wirtschaftliche Akteure den Unternehmen sehr ähnlich werden, oder in die Sphäre des Staates, wo sie als verkappte Verwaltungsorgane auftreten. Haben soziale Bewegungen in Brasilien noch eine Zukunft?
Die Unterschiede in den Auffassungen des Bürgerstatus, die Vielfalt der sozialen Bewegungen und die fallbezogenen Einflüsse, denen die Reform des Sozialwesens in Brasilien ausgesetzt ist, unterbinden umfassende Aussagen über die Situation der sozialen Bewegungen und über die Perspektiven, ihre Ziele zu erreichen. Deshalb wird hier ihre Lage mit Hilfe der globalen Gesellschaftsanalysen aus einer neuen Perspektive untersucht. Dadurch konnte gezeigt werden, daß die Bewegungen, die in der Gemeinde verankert sind und sich so von den wirtschaftlichen Akteuren und der staatlichen Verwaltung unterscheiden, durch eine spezifische Struktur gekennzeichnet sind. Sinngebung und Altemativenbildung ihres Handelns sind grundsätzlich unverwechselbar. Deswegen boten ihnen die verschiedenen Etappen der Reformen unterschiedliche Szenarien und mögliche politische Strategien.
Soziale Bewegungen und Bürgerstatus im heutigen Brasilien
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Die sozialwissenschaftlichen Analysen über die Folgen, die die Dezentralisierung und die Änderungen in der Auffassung der Gesellschaft mit sich bringen, weichen sehr voneinander ab. Es sind jene Alternativen ausgeschöpft, die auf einen einzigen Handlungskurs wie die Eroberung der Staatsmacht beharren. Es gibt andere, die in plausible Richtungen deuten, selbst wenn sie in Teilaspekten kritikbedürftig sind. Zwei dieser Analysen sollen hier kurz besprochen werden. Etliche Leiter von NROs sind enthusiastische Verteidiger dessen, was sie dritten Sektor nennen, der in seinem Ursprung privat, in seinen Zielen jedoch öffentlich sei (Fernandes 1994). In dieser Perspektive werden die Aktivitäten der NROs pragmatisch behandelt, und es wird behauptet, sie seien wirkungsvoller als der Staat in der Verwendung knapper Ressourcen und in der Effizienz ihrer Dienstleistungen. Indem sie sich als Vermittler zwischen Regierung bzw. Privatunternehmen und Zielgruppen zur Verfügung stellen, akzeptieren sie die scheinbare Entpolitisierung der sozialen und philanthropischen Fürsorge. Die sozialen Bewegungen verlieren in diesem Kontext ihre ursprüngliche Rolle als Aktivierer der NROs und werden zu Klienten degradiert. Es wird stillschweigend akzeptiert, daß die Regierung, die Marktlogik befolgend, den Handlungsspielraum und die Ziele der sozialen Akteure festlegt und kontrolliert. Dadurch, daß alle Aktivitäten in einen vermeintlichen dritten Sektor zusammengeworfen werden, versuchen sie den Unterschied zwischen Bürgerstatus und Philanthropie, zwischen Recht und Wohltat, zwischen Verantwortung und Klientelismus zu verwischen. Gesellschaftliche Beziehungen, die seit dem Rationalismus der vorigen Jahrhunderte in der Form von Emanzipation der Individuen und Bürger horizontalisiert worden waren, werden dadurch erneut vertikalisiert. Eine andere Analyse deutet die Veränderungen als eine Zunahme der Assoziationskultur und als Bildung einer neuen Zivilgesellschaft, die nicht auf die Ergreifung der Staatsmacht sondern auf politische Einflußnahme zielt (Vieira 1997; Arato/Cohen 1994). Neben der Politik und der Wirtschaft entstehe eine öffentliche, nicht staatliche Sphäre, in der die Zielsetzungen sich nicht an Gewinn- oder Machtmaximierung richten, sondern durch Solidarität gesteuert werden. Die sozialen Bewegungen werden dieser Sphäre zugeordnet. Leider hat Vieira deren spezifischen Perspektiven, die sich daraus ergeben, nicht weiter herausgearbeitet. Die Darstellung des Bürgerstatus in seinen unterschiedlichen Auffassungen je nach der vorherrschenden Sphäre oder Prinzip in einer gegebenen Gesellschaft eröffnet den sozialen Bewegungen neue Perspektiven, um den ständigen Reformbedarf der Gesellschaft über den politischen Weg voranzutreiben. Die Definition der Gesellschaft als ein Sozialvertrag, der ständig neu verhandelt wird, gibt ihnen die Chance, Allianzen immer wieder neu zu bilden. Dies erfor-
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dert Realismus selbst für utopische Bestrebungen, ermöglicht es aber, daß Gewinne und Verluste in realistischer Größe gesehen werden. Es ermöglicht ihnen auch, die Beziehungen mit Opponenten und Alliierten aus dem Kontext heraus und nicht anhand von Grundprinzipien zu gestalten. Einen goldenen W e g dazu, diese Perspektive umzusetzen, gibt es nicht. Der Ausgangspunkt scheint aber deutlich zu sein: die sozialen Bewegungen und insbesondere die bewegungsbezogenen N R O s selbst von den wirtschaftlichen Sachzwängen, denen viele sich im Dezentralisierungsprozeß in Brasilien unterworfen haben, zu entkolonisieren.
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Soziale B e w e g u n g e n und Bürgerstatus im heutigen Brasilien
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Zivilisierung von Konflikten oder Frieden geringer Reichweite: Friedensprozesse in Lateinamerika SABINE KURTENBACH
Lange Zeit galt Lateinamerika als Kontinent der Gewalt. In den 1970er und 1980er Jahren dominierten Themen wie Staatsstreiche, Revolutionen und Bürgerkriege die politische und sozialwissenschaftliche Auseinandersetzung mit den Ländern südlich des Rio Grande. In den 1990er Jahren bietet Lateinamerika ein neues Bild: Die Militärs haben sich in die Kasernen zurückgezogen, und zahlreiche bewaffnete Konflikte sind auf dem Verhandlungsweg beendet worden. In Nikaragua, El Salvador, Guatemala sowie zumindest teilweise in Kolumbien haben sich Vertreter der bewaffneten Opposition und der Regierung an einen Tisch gesetzt und in Friedensabkommen vereinbart, ihre Konflikte in Zukunft ohne Waffengewalt auszutragen. Damit ist eine erste wichtige Voraussetzung für die Zivilisierung der Konflikte in diesen Ländern geschaffen worden. Die auf den ersten Blick durchaus sehenswerte Friedensbilanz der 90er Jahre in Lateinamerika wird allerdings durch die gleichzeitig anhaltende Gewalt nicht nur in den Kriegs- und Nachkriegsgesellschaften konterkariert: In El Salvador, dem viel zitierten Musterfall erfolgreicher Friedensprozesse, sterben heute jährlich mehr Menschen eines gewaltsamen Todes als während des Bürgerkrieges. Mit 140 Morden pro 100.000 Einwohner ist das kleinste zentralamerikanische Land weltweit — vor dem langjährigen „Spitzenreiter" Kolumbien — das gewalttätigste Land 1 . Die Beendigung der bewaffneten Auseinandersetzung bedeutet mithin nicht das Ende der Gewalt. Die Gewalt scheint sich vielmehr gewandelt zu haben: Die organisierte, politische Gewalt der 70er und 80er Jahre ist durch individualisierte, diffuse Gewaltformen abgelöst worden. Auch in Ländern, die nicht durch Jahre oder Jahrzehnte Bürgerkrieg militarisiert sind, läßt sich dieser Prozeß beobachten. Die Gewalt in den Ballungszentren Brasiliens wird fast täglich in der Presse dokumentiert. Selbst in Ländern wie Chile oder Argentinien hat es in den vergangenen Jahren einen dramati1
Diese Daten der Panamerikanischen Gesundheitsorganisation (zit. in El Tiempo 10.8.97) wurden von der salvadorianischen Regierung zunächst bestritten, werden inzwischen aber allgemein zugrunde gelegt (vgl. auch Estudios Centroamericanos 1997:942).
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Sabine Kurtenbach
sehen Anstieg der Kriminalität gegeben. Bezogen auf den gesamten Kontinent sterben nach Angaben der Panamerikanischen Gesundheitsorganisation täglich 1.250 Menschen gewaltsam, werden mehrere Tausend verletzt (Schmid 1998). Gewalt hat in den 90er Jahren aber nicht nur zugenommen, sondern die Struktur des Gewaltgeschehens und die Gewaltakteure haben sich in den vergangenen Jahren grundlegend gewandelt: Während es sich sowohl bei den Guerillakriegen als auch bei den „schmutzigen" Kriegen der Militärdiktaturen gegen die politische Opposition im wesentlichen um bipolare Auseinandersetzungen handelte, in denen der Staat ein zentraler Akteur war, diffundiert die Gewalt in den 90er Jahren. Die Bipolarität wird zunehmend zur Multipolarität; der durch die neoliberalen Strukturanpassungen geschwächte Staat ist nur noch einer von vielen Akteuren. Die Abwesenheit des Staates und das Fehlen eines demokratisch legitimierten Gewaltmonopols führen dazu, daß auch unter den formal demokratischen Regierungen das Recht des Stärkeren gilt. Sicherheit wird mehr und mehr zur Dienstleistung, die sich nur die Reichen leisten können (Lock 1998). Vor dem Hintergrund dieser Entwicklungen stellt sich die Frage, welchen Beitrag die Friedensabkommen in Zentralamerika und Kolumbien zur Zivilisierung der Konfliktregulierung leisten können. Das Ende der Kriege Bei Friedensverhandlungen geht es zunächst um eine Beendigung des organisierten, bewaffneten Konfliktaustrags. Friedensverträge sind eine Absichtserklärung der beteiligten Akteure, ihre Konflikte künftig ohne Waffengewalt auszutragen. Die Unterzeichnung eines Friedensvertrages markiert aber nicht den Endpunkt eines Friedensprozesses, sondern dessen Anfang. Abkommen und Verträge allein lösen die den Kriegen zugrunde liegenden Konflikte nicht (u. a. Matthies 1995). Für die dauerhaft friedliche Konfliktbearbeitung ist aber eine Bearbeitung der Konfliktursachen notwendig, die zumindest auf der strukturellen Ebene in allen Ländern vergleichbar sind. • Die Länder erlebten in den vergangenen Jahrzehnten einen Prozeß gesellschaftlicher Umwälzung, der die traditionellen Agrarstrukturen zerstörte, ohne in den modernen, kapitalistischen Sektoren der Wirtschaft eine neue Existenzbasis für die Bevölkerungsmehrheit zu schaffen. • Dieser ökonomischen Modernisierung stand in der Politik der Versuch gegenüber, traditionelle Verhältnisse aufrechtzuerhalten, die der Bevölkerungsmehrheit keine Partizipation erlaubten. Der gesellschaftliche Wandel zerstörte aber nicht nur die ökonomische Lebensgrundlage vieler Tagelöhner, Pächter und Kleinbauern, sondern auch deren klientelistische Bindung an die Großgrundbesitzer und damit deren politische Machtbasis.
Zivilisierung von Konflikten oder Frieden geringer Reichweite
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In der Folge wuchs in den 70er Jahren die ökonomische und politische Polarisierung in den hier behandelten Ländern. Versuche der Opposition, sich zu organisieren, zum Beispiel in Kooperativen oder Gewerkschaften, wurden mit Repression beantwortet. Bereits in den 60er Jahren entstanden paramilitärische Todesschwadronen, die die „tägliche" Repression in Form von Ermordung, Folter und Verschwindenlassen von Oppositionellen ausführten. Nach Angaben von Menschenrechtsorganisationen haben Todesschwadronen in Guatemala zwischen 1978 und 1986 etwa 19.000 Menschen, in El Salvador sogar 48.000 Menschen umgebracht (Cáceres 1989). Ende der 70er Jahre nahm der Widerstand militante Formen an, formierten sich Bündnisse zwischen den erstarkenden Guerillagruppen und der zivilen Opposition (Dunkerley 1988; Vilas 1995).2 Trotz der strukturellen Gemeinsamkeiten unterscheiden sich die Kriege in ihrem Verlauf, was sich zum Großteil durch die historisch bedingten Spezifika der nationalen Entwicklungen erklären läßt. Die „Kleptokratie" des Somoza-Clans bot beispielsweise ein wesentlich klareres Feindbild für eine breite Oppositionsbewegung als die nicht so sehr an einzelnen Personen hängende Koalition aus Oligarchie und Militär in Guatemala oder El Salvador. Allerdings wirkten sowohl innerhalb Zentralamerikas als auch darüber hinaus die Entwicklungen in einem Land auf die Ereignisse in den anderen zurück. Der Sieg der nikaraguanischen Revolution im Juli 1979 verschärfte die Auseinandersetzungen in den anderen Ländern Zentralamerikas: Die Guerillabewegungen erhielten neuen Auftrieb durch die Hoffnung, auch im eigenen Land den Umsturz schnell erreichen zu können. Die herrschenden Eliten hatten auf der anderen Seite in Nika2
In Kolumbien verlief die Entwicklung insofern etwas anders, als dort bereits in den 40er und 50er Jahren einer der blutigsten Kriege Lateinamerikas, die sogenannte violencia, getobt hatte. Die wesentliche Konfliktlinie war auch hier die Veränderung der traditionellen Verhältnisse auf dem Land, insbesondere in den Kaffeeanbaugebieten. Aber die Massenmobilisierung erfolgte in der ersten Phase des Krieges bis 1953 nicht entlang sozialer oder ökonomischer Konfliktlinien, sondern entlang der Zugehörigkeit zu den klientelistisch organisierten politischen Parteien. Vor dem Hintergrund der kolumbianischen Bürgerkriegsgeschichte gelang der Oligarchie trotz der Krise des Entwicklungsmodells die Festigung ihrer klientelistischen Verankerung mit dem Mittel des Krieges. 1957 einigten sich die beiden traditionellen Parteien zur Beendigung des Krieges auf ein Proporzsystem (die Nationale Front), das Macht und Pfründe auf allen Ebenen gleichmäßig zwischen ihnen verteilte, aber alle anderen gesellschaftlichen Gruppen ausschloß. 1964 nahm die bewaffnete Auseinandersetzung dann neuerlich eine kontinuierliche und zentralgelenkte Form an. Unter dem Namen FARC (Revolutionäre Streitkräfte Kolumbiens) kämpfen noch heute einige Veteranen der violencia gegen die Regierung. Das Abkommen zwischen den beiden traditionellen Parteien ist also ein Beispiel für einen unzureichenden Friedensschluß, der nicht alle Akteure einbezieht und die Gewalt nicht beendet, sondern nur verlagert (vgl. ausführlich Kurtenbach 1991).
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Sabine Kurtenbach
ragua ein abschreckendes Beispiel vor Augen und ergriffen Gegenmaßnahmen. Sie stärkten vor allem die Streitkräfte und paramilitärischen Kräfte zur Guerillabekämpfung. Trotz dieser Aufrüstung konnten die Regierungen die Kriege militärisch nicht gewinnen. Aber auch die Aufständischen waren nicht in der Lage, einen schnellen Sieg wie in Nikaragua zu erringen. Die Angst vor einer „Zentralamerikanisierung" des eigenen bewaffneten Konfliktes war ein wesentlicher Grund für die diplomatischen Vermittlungsbemühungen der kolumbianischen Regierung von Belisario Betancur (1982-1986) in Zentralamerika. Tabelle 1: Stärke der Streitkräfte und der bewaffneten Oppositionskräfte in den 80er Jahren: Streitkräfte
Opposition
EI Salvador
8.000 -
57.000
FMLN
10.000
Guatemala
15.000 -
40.000
URNG
1.500
Nikaragua
7.000 -
80.000
Contra
15.000
66.000 - 110.000
FARC
12.000
Kolumbien
ELN
2.000
Quellen: Kurtenbach (1996, 1997); Die Streitkräfte wurden in allen Ländern aber noch durch ein Netz sog. „ziviler" paramilitärischer Organisationen (Milizen, Verteidigungspatrouillien) unterstützt. Die Militarisierung und Eskalation der Konflikte trug aber gleichzeitig zur Entstehung zahlreicher Vermittlungsbemühungen auf nationaler, regionaler und internationaler Ebene bei. Mitte der 80er Jahre begannen diese Initiativen erste Früchte zu tragen, 1987 wurde mit dem Vertrag von Esquipulas ein regionaler Friedensvertrag für Zentralamerika unterzeichnet (vgl. dazu u. a. Child 1992; Opazo/Femändez 1990; Rouquiö 1992; Kurtenbach 1994). Im Gegensatz zu anderen Fällen, wo sich die verschiedenen Aktivitäten interner und externer Vermittler gegenseitig blockierten oder behinderten, griffen die parallelen Bemühungen in Zentralamerika ineinander und ergänzten sich gegenseitig. In der ersten Phase, schon vor der Unterzeichnung des Abkommens von Esquipulas, haben vor allem die Friedensinitiativen der christlichen Kirchen eine große Rolle gespielt, wobei die katholische Kirche die Führung übernahm. Die Doppelfunktion der Kirche als nationale Kirche einerseits und als Weltkirche bzw. „internationale Organisation" andererseits erleichterte dann bei Verhandlungsblockaden die Einbeziehung internationaler Akteure. Die Grenzen der Vermittlung durch nationale Akteure wurden bei den konkreten Gesprächen relativ
Zivilisierung von Konflikten oder Frieden geringer Reichweite
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schnell sichtbar. Abgesehen von moralischen Appellen verfügten sie über keinerlei positive oder negative Sanktionsmittel gegenüber den Konfliktparteien. Sowohl die UNO, die in El Salvador und Guatemala vermittelte, als auch andere externe Akteure (wie die „Gruppe der Freunde des Friedensprozesses") haben in der Schlußphase massiv Druck auf die Konfliktparteien ausgeübt, um ein Scheitern oder einen Abbruch der Verhandlungen zu verhindern. Sie drohten entweder Sanktionen an — zum Beispiel Beendigung von Wirtschafts- und Militärhilfe — oder boten im Falle einer kooperativen Haltung Wiederaufbauhilfen und entwicklungspolitische Kooperation an (Kurtenbach 1997a).3 Diese Bemühungen gipfelten zwischen 1990 und 1996 in der Beendigung der Bürgerkriege in Nikaragua, El Salvador und Guatemala. Zwei Faktoren trugen zur erfolgreichen Vermittlung bei: • die extrem hohen Kosten der Kriege und • militärische Pattsituationen, die es keiner Partei ermöglichten, den Krieg militärisch zu beenden. Langanhaltende bewaffnete Auseinandersetzungen haben einen hohen Preis: Zum einen sterben in direktem oder indirektem Zusammenhang Tausende Menschen, Abertausende werden vertrieben oder zur Flucht gezwungen, Familien werden auseinandergerissen, Dorfgemeinschaften zerstört. Nach allgemein anerkannten Schätzungen kamen in den 80er Jahren in Zentralamerika durch die Kriege über 250.000 Menschen ums Leben, mußten bis zu drei Millionen aufgrund der militärischen Auseinandersetzungen ihren Wohnort verlassen. Schätzungen über die wirtschaftlichen Schäden variieren je nach Berechnungsgrundlage (vgl. Tabelle 2). Besonders negativ wirkten sich die bewaffneten Auseinandersetzungen dort aus, wo sie geführt wurden, d.h. in den ländlichen Gebieten. Flucht, Vertreibung und Zerstörung zogen vor allem die Produktion von Grundnahrungsmitteln in Mitleidenschaft, der Einsatz von Minen und die hohen Kosten von deren Räumung läßt große Flächen landwirtschaftlich nutzbaren Landes jahrelang brachliegen. Die materiellen Schäden zerstören die ohnehin schlechte soziale und wirtschaftliche Infrastruktur der Gesellschaften und verschlechtem die aktuelle Lebenssituation wie die Zukunftsperspektiven der Bevölkerung. Selbst in Kolum3
Auch in Kolumbien werden seit Mitte der 90er Jahre im Land selbst Forderungen nach einer Beendigung des Krieges am Verhandlungstisch laut und läßt sich seit 1997 eine wachsende Einbeziehung externer und internationaler Akteure bei der Friedenssuche beobachten. Beispiele hierfür sind die Entsendung einer Feldmission der UN-Hochkommissarin für Menschenrechte und das Treffen zwischen Vertretern des ELN und der kolumbianischen Zivilgesellschaft im Kloster Himmelspforten bei Würzburg unter Beteiligung der deutschen Bischofskonferenz.
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bien, wo lange Zeit der Spruch galt:„Dem Land geht es schlecht, der Wirtschaft gut", hat das Nationale Planungsamt 1995 eine Studie zu den Kosten des internen Krieges anfertigen lassen. Die Autoren beziffern die Kosten für die Jahre 1990 bis 1994 auf jährlich durchschnittlich 4% des BIPs (Granada/Rojas 1995: 132). Die Eskalation der Gewalt hat die Zahl der internen Flüchtlinge und Vertriebenen in den vergangenen Jahren auf 1 Million Menschen erhöht. Konservative Schätzungen beziffern die Zahl der direkten Opfer des Krieges allein zwischen 1986 und 1995 auf 45.000 Menschen. Mit anderen Worten: Nach vielen Jahren Krieg, Gewalt und Zerstörung bleibt auch für die Kriegsparteien kaum noch etwas übrig, was sich zu beherrschen lohnte. Diese Einsicht spiegelte sich in der zweiten Hälfte der 80er Jahre und zu Beginn der 90er Jahre nicht zuletzt in internen Auseinandersetzungen oder gar Spaltungen zwischen zivilen und militärischen Flügeln aller Konfliktparteien wider. Tabelle 2: Die Kosten der Kriege Land
Bevölkerung
Zeitraum
materielle Schä-
Opfer
Flüchtlinge
Vertriebene
den
(in Mio. 1994)
(Schätzungen)
*
El Salvador
5,641
1979-91
2 Mrd. US-$
75.000
166.300
500.000
Guatemala
10,322
1966-95
1,5 Mrd. US-$
140.000
171.200
100.000
Kolumbien
36,330
seit 1964
4 % des BIP
•45.000
Nikaragua
4,275
1981-88
1,4 Mrd. US-$
30.000
1.000.000 44.000
354.800
Diese Schätzung von Eckhardt (1996) bezieht sich nur auf den Zeitraum 1986-95 und bezieht „nur" die Opfer der Auseinandersetzungen zwischen Guerilla und Regiemngsstreitkräften ein. Die Zahlen zu Flüchtlingen und Vertriebenen basieren hier auf den eher konservativen Zahlen des UN World Refugee Survey von 1996 (www.unhcr.ch) und stellen damit den unteren Grenzwert dar.
Quellen: Eckhardt (1996), INES (1989), Crosby (1992), Karl (1992), Granada/Rojas (1995), Gobierno de Guatemala (1996). Neben diesen extrem hohen Kosten trug auch die Unmöglichkeit, den Krieg militärisch zu entscheiden, dazu bei, daß sich die Kriegsgegner an den Verhandlungstisch setzten. Pattsituationen gelten als zentral für den Erfolg von Friedens- und Vermittlungsbemühungen zur Beendigung militanter Konflikte (u. a. Bercovitch 1991). Es muß sich dabei nicht um ein Patt zwischen zwei militärisch gleichwertigen Partnern handeln, sondern es reicht - und dies ist in
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Lateinamerika überwiegend der Fall gewesen - wenn es sich um strategische Pattsituationen handelt, in denen keine Seite in der Lage ist, die andere militärisch zu besiegen. In El Salvador wurde dies beiden Konfliktparteien Ende 1989 mit dem Scheitern der „Endoffensive" des FMLN deutlich vor Augen geführt. Besonders für den Fall Zentralamerika ist hierbei ein weiterer Aspekt relevant: Die Pattsituationen in El Salvador und Nikaragua kamen dort nur durch massive externe Einflußnahme und Unterstützung einzelner Kriegsparteien — namentlich der salvadorianischen Streitkräfte und der nikaraguanischen Contra — seitens der USA zustande. Die externe Einflußnahme hat die Kriege allerdings nicht verursacht, sondern vor allem die Dauer und den Ausgang maßgeblich mitbeeinflußt. Auch wenn die formale Beendigung des Krieges die Basis für die Befriedung einer Gesellschaft darstellt, so ist die starke Einflußnahme der internationalen Gemeinschaft nicht unproblematisch. Zentrales Ziel der internationalen Vermittlung ist die Einstellung und Beendigung des bewaffneten Kampfes. Interne Akteure wie die katholische Kirche oder andere Vertreter der Zivilgesellschaft haben dagegen stets auf die Notwendigkeit substantieller Abkommen verwiesen, auch wenn deren Verhandlung länger dauert und sich weit schwieriger gestaltet. Auch die UNO hat dies als Problem erkannt und will künftig den jeweiligen Vermittler auch zum Chef der UN-Überwachungsmission ernennen, um eine Einheit von Vermittlung und Umsetzung zu erreichen. Die Verkürzung des Friedens auf die Abwesenheit von Krieg wird in Zentralamerika nicht zuletzt darin deutlich, daß sich die Mehrheit der Abkommen, die zwischen 1987 und 1996 geschlossen wurden, auf im wesentlichen operative Aspekte beispielsweise die Demobilisierung und Verifizierung bezieht, während die Abkommen über die eigentlichen Konfliktursachen, dort wo es sie gibt, eher vage und auf dem Niveau von Absichtserklärungen bleiben. Diese Regelungen sind aber für die dauerhafte Zivilisierung des Konfliktaustrags zentral. Neben den Regelungen für die Bewältigung der direkten Kriegsfolgen (v. a. Reintegration von Ex-Kombattanten) sahen die verschiedenen Friedensverträge auch politische Reformen in den betroffenen Ländern vor. Es handelte sich insbesondere um Gesetzes- und Verfassungsreformen, die eine zivile Kontrolle der Streitkräfte und die Trennung von Militär und Polizei vorsahen, sowie um zahlreiche Veränderungen des Wahlrechts sowie die Stärkung einer unabhängigen Justiz und damit des Rechtsstaates. Die Fragen der Einhaltung von Menschenrechten spielt dabei ebenso eine Rolle wie der Schutz von Minderheiten, bzw. im Falle Guatemalas die - zumindest rechtliche - Gleichstellung der indigenen Bevölkerungsmehrheit.
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Theorie und Praxis der Friedensverträge Friedensverträge können nur dann Grundlage für die dauerhafte Zivilisierung sein, wenn sie zum Aufbau von Strukturen beitragen, wie sie Dieter Senghaas (1994) in seinem „zivilisatorischen Hexagon" entworfen hat. Die Stabilität und der weitgehend friedliche Umgang mit Konflikten beruht demnach im wesentlichen auf sechs Faktoren: 1. Entprivatisierung der Gewalt, 2. Kontrolle des Gewaltmonopols und der Herausbildung von Rechtsstaatlichkeit, 3. Interdependenzen und Affektkontrolle, 4. demokratischer Beteiligung, 5. sozialer Gerechtigkeit und 6. einer konstruktiven politischen Konfliktkultur. Im folgenden soll der Frage nachgegangen werden, inwieweit die Friedensprozesse den Aufbau dieser Strukturen gefördert oder initiiert haben. Etablierung eines demokratisch legitimierten Gewaltmonopols (Punkt 1 und 2 des Hexagons) Die Frage, wann und wie die bewaffnete Auseinandersetzung beendet wird, ist stets einer der zentralen Verhandlungspunkte zwischen den Konfliktparteien. Die Regierungen, die sich selbst als legitime Repräsentanten ihres Landes betrachten, fordern den Waffenstillstand in der Regel bereits zu Beginn der Gespräche und wollen allenfalls über dessen konkrete Modalitäten reden. Für die Guerilla sind die Einstellung der Kämpfe und die Übergabe der Waffen dagegen erst als Ergebnis der Diskussion ihrer politischen Forderungen sinnvoll. Bestimmte Abläufe wiederholen sich: Erste Verhandlungserfolge führen zunächst zu mehrtägigen Waffenpausen, beispielsweise während religiöser oder nationaler Feiertage. Bei Einhaltung durch beide Seiten wirkt dies dann vertrauensbildend und kann zur Grundlage weitergehender Einigungen werden. Wie fragil ein erster Waffenstillstand sein kann und welche Bedeutung er für die Vertrauensbildung und den Fortgang der Gespräche hat, zeigt das Beispiel Kolumbiens. Dort erreichte die Regierung Betancur 1984 mit allen Guerillagruppen außer dem ELN, das sich nicht an Gesprächen beteiligte, einen Waffenstillstand, der allerdings vielfach verletzt wurde. Im November 1985 protestierten Mitglieder des M-19 gegen die Verletzung der Abkommen mit der Besetzung des Justizpalastes in Bogotá, wo sie die elf obersten Richter des Landes als Geiseln nahmen. Das Militär stürmte das Gebäude ohne Wissen und Einverständnis des Präsidenten. Außer den Guerilleros, von denen einige um-
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gebracht worden sein sollen, nachdem sie sich ergeben hatten, kamen auch alle Geiseln um. Außerdem verbrannte das gesamte Justizarchiv und damit auch zahlreiche Unterlagen über Menschenrechtsverletzungen des Militärs (Behar 1988; Carrigan 1993). Die Ereignisse zeigten, daß die kolumbianische Regierung das Militär nicht kontrollierte und damit die Einhaltung des von ihr vereinbarten Waffenstillstandes nicht garantieren konnte. Die fehlende Kontrolle des Militärs kann also ein strukturelles Hindernis auf dem Weg zum Frieden darstellen. Aufgrund seiner in ganz Lateinamerika traditionell großen Autonomie kann das Militär Verhandlungslösungen boykottieren und sabotieren. Ahnliches gilt für die anderen staatlichen Sicherheitskräfte wie die Polizei, die oft erst seit kurzem dem zivilen Innenministerium und nicht mehr dem Verteidigungsministerium untersteht. Die Errichtung ziviler Kontrolle über die Streitkräfte ist nicht nur deshalb schwierig, weil diese sich als „Wächter des nationalen Interesses" und „Schiedsrichter" bei gesellschaftlichen Auseinandersetzungen sehen. Langanhaltende Kriege stärken die Sonderstellung des Militärs zusätzlich (vgl. im einzelnen dazu: Kurtenbach 1996). Aber auch auf der Seite der Aufständischen stellt die fehlende Kontrolle ein Problem dar, was vor allem bei der Entwaffnung der Contra sichtbar wurde und heute bei der Befriedung Kolumbiens ein Problem darstellt. Selbst mit Abgabe und Zerstörung der Waffen ist allerdings noch kein demokratisch legitimiertes Gewaltmonopol etabliert. Auf dem Weg dorthin müssen mehrere Aufgaben bewältigt werden. Erstens müssen die ehemaligen Kombattanten beider Seiten in das ökonomische, politische und soziale Leben integriert werden. Zweitens müssen bestehende Sonderrechte der Streitkräfte, insbesondere die Straflosigkeit (impunidad) ihrer Menschenrechtsverletzungen, aufgehoben werden. Auch wenn sich die Lage der Menschenrechte in ganz Lateinamerika im Vergleich zu den 70er und 80er Jahren verbessert hat, gibt es immer noch gravierende Defizite. Menschenrechtsorganisationen weisen außerdem zurecht darauf hin, daß Menschenrechtsverletzungen kein quantitatives Problem sind. Die aktuelle Auseinandersetzung in Chile um die Verhaftung von General Augusto Pinochet zeigt, wie tief die Gräben zwischen den politischen Gegnern auch acht Jahre nach dem Abgang der Militärdiktatur sind. Nach langanhaltenden Kriegen, in denen wie im Falle Guatemalas bestialische Menschenrechtsverletzungen begangen wurden, sind die Wunden kaum weniger groß. Drittens ist eine Umstrukturierung der Streitkräfte notwendig, um deren Aufgaben und Auftrag den neuen Erfordernissen anzupassen. In Zentralamerika findet darüber eine lebhafte Diskussion statt (Aguilera 1994), bei der hauptsächlich Tätigkeiten im Bereich der „civic actions" — zum Beispiel bei der Verbesserung der Infrastruktur — genannt werden. Dies schreibt allerdings die Einbindung des Militärs in zivile Angelegenheiten fort, was eine Demilitarisie-
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Sabine Kurtenbach
rung der Gesellschaften erschwert. Auch wenn dies für eine Übergangszeit, etwa bis zur Beendigung von Umstrukturierung und Verkleinerung, hingenommen werden kann, ist letztlich entscheidend, wer den neuen Auftrag festlegt. Regierungen und Parlamente müssen sowohl dabei als auch bei der Kontrolle der Sicherheitskräfte nicht nur ein Mitspracherecht, sondern die letzte Entscheidungskompetenz haben. Demokratisierung
und Konfliktkultur
(Punkt 3 und 4 des
Hexagons)
Die Friedens- und Konfliktforschung postuliert auf der Basis ihrer Forschungsergebnisse einen positiven Zusammenhang zwischen Demokratie und Frieden. Demokratien seien zwar nicht an und für sich friedfertiger als andere Regierungssysteme, doch, so die Ergebnisse vieler Analysen, sie führten zumindest untereinander nur in Ausnahmefällen Krieg. Innerhalb demokratischer Gesellschaften gebe es zwar auch Gewalt, diese sei aber weitgehend auf das demokratisch legitimierte staatliche Gewaltmonopol beschränkt. Der moderne, bürgerliche Wohlfahrtsstaat biete also zumindest theoretisch die Chance, bestehende Konflikte mit zivilen Mechanismen zu bearbeiten und zu regulieren (vgl. Gantzel/Schwinghammer 1995).4 Norbert Elias (1976) hat diesen Prozeß, der auch wachsende Affektkontrolle des Einzelnen und Interdependenz zwischen den Individuen in der Gesellschaft beinhaltet, in seiner historischen Entwicklung beispielhaft in Westeuropa nachgezeichnet. Demokratisierung gilt mithin als einer der wichtigsten Faktoren bei der Zivilisierung von Konflikten. In Lateinamerika hat Mitte der 80er Jahre ein Prozeß des Übergangs von autoritären und diktatorischen zu demokratischen Regierungen eingesetzt. Während in Kolumbien formale Demokratie und Krieg historisch stets Hand in Hand gingen, fand die Demokratisierung in Zentralamerika mitten im Krieg und vor allem auf Betreiben der USA statt (u. a. Torres Rivas 1993). Es gab dabei keinen Bruch mit den autoritären Systemen der Vergangenheit, in dem Sinne, daß sich eine demokratische Bewegung durchgesetzt und die Demokratisierung erkämpft hätte. Die Demokratisierung wurde in Zentralame4 Damit wird Gewalt allerdings weitgehend auf den direkten physischen Zwang reduziert und ein nicht unwesentlicher Teil von Gewaltphänomenen — wie die ungleiche Verteilung von Reichtum und der Zugang zu Ressourcen — ausgeblendet. Dies hat Johan Galtung schon in den 70er Jahren kritisiert und den Begriff der strukturellen Gewalt geprägt. Gemeint ist damit die Gewalt, die Menschen zugefügt wird, wenn bestehende Strukturen, Abhängigkeits- und Ausbeutungsverhältnisse sie daran hindern, ihre Entwicklungschancen wahrzunehmen. Bei internen Kriegen führt vielfach die strukturelle zur physischen Gewalt, weshalb für eine stabile Befriedung der Gesellschaften beide Formen der Gewalt einbezogen werden müssen.
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rika — im Gegensatz etwa zu einigen Ländern Südamerikas — noch nicht einmal in einem Pakt verhandelt, sondern die Demokratisierung wurde von den Machthabern selbst initiiert. Dies führte dazu, daß die Militärs die Art des Übergangs und die Spielregeln des neuen Systems festlegten und dabei zahlreiche autoritäre Enklaven erhalten blieben. Beispiele hierfür sind fortbestehende alleinige Zuständigkeit des Militärs für die Aufstandsbekämpfung, zahlreiche Sonderrechte des Militärs oder die fehlende zivile Kontrolle der Streitkräfte. Die Beendigung der Kriege wirkte sich auf die jeweiligen politischen Systeme aus, die Friedensverträge sollten auch zur Vertiefung der Demokratie dienen 5 . In El Salvador und Guatemala enthalten die Friedensabkommen zahlreiche Vereinbarungen über die Reform und weitere Öffnung der politischen Systeme und der Justiz. Die Friedensabkommen haben damit zumindest partiell einige Schwächen der Demokratisierung benannt und versucht, hier Abhilfe zu schaffen. Während die Regierungen somit anerkannten, daß die politischen Systeme reformbedürftig waren, verabschiedete sich die bewaffnete Opposition vom Ziel des politischen Umsturzes. Die formalen Aspekte der westlichen Demokratie bildeten den Minimalkonsens, was im Zuge der globalen Entwicklung nach 1989 ohnehin ein weltweiter Trend war. Eine breite Demokratisierung der Gesellschaften, die über formale Verfahren hinausgeht, beinhaltet auch eine Demokratisierung der zentralen politischen Akteure, was angesichts der im Krieg gebräuchlichen militärischen und autoritären Hierarchien einen schwierigen Lern- und Anpassungsprozeß bedeutet. Ein zentrales Problem, vor dem die Gesellschaften nach der Beendigung des bewaffneten Konfliktes stehen, ist die schwierige Legitimation des politischen Systems. Da es bei Verhandlungslösungen keine klaren Sieger und Verlierer gibt, bestehen im wesentlichen zwei Gefahren: Entweder wird der politische Wettbewerb zum Kriegsersatz. Die Gewinner von Wahlen fühlen sich dann ermächtigt, allein und nur für ihre Klientel Politik zu machen und glauben, an den Urnen das erreicht zu haben, was ihnen im bewaffneten Kampf nicht gelang. Ein Beispiel für diese Entwicklung findet sich in Nikaragua seit 1996, wo die rechtskonservative Regierung unter Amoldo Alemán versucht, die letzten Reste der sandinistischen Revolution zu tilgen. Das andere Extrem ist eine Konsensstrategie um jeden Preis, die jedwede Kritik und Opposition verdammt und die Einheit um jeden Preis sucht. Die Politik eines Teils der salvadorianischen ExGuerilla — das ERP um Joaquín Villalobos — ging in diese Richtung. Beide
5
Ganz offensichtlich ist dieser Zusammenhang in Kolumbien, wo die Guerillagruppe M-19 im Jahr 1991 die Einberufung einer Verfassunggebenden Versammlung in den Friedensverhandlungen mit der Regierung durchsetzen konnte.
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Strategien tragen nicht eben zum Aufbau von Glaubwürdigkeit und Legitimation des Regierungssystems bei. Deutlich wurden die Legitimationsprobleme vor allem an der durchweg geringen (El Salvador und Guatemala, Kolumbien) oder sinkenden (Nikaragua) Wahlbeteiligung und der schwachen Verankerung von politischen Akteuren (z.B. Parteien) und Institutionen (z.B. Parlamenten) in der Bevölkerung. Die mangelnde Problemlösungskapazität der politischen Systeme führt zum Vertrauensverlust in die Demokratie. Zwar unterstützte bei einer Umfrage 1995 (Latinobarömetro 1996) die Mehrheit der Befragten die Demokratie als Regierungsform, immerhin ein Fünftel gab sich aber indifferent und zwischen 12 und 21 Prozent befürworteten gar autoritäre Regierungen. Dies ist um so bedenklicher als die amtierenden Regierungen in wachsendem Maß autoritär und repressiv auf die sozialen Probleme reagieren. Zivile Mechanismen zur Konfliktbearbeitung (Punkt 5 und 6 des Hexagons) Neben den Bestimmungen zur Beendigung des bewaffneten Kampfes enthalten die Abkommen meist auch Amnestieregelungen, die den Aufständischen den Weg in eine zivile Existenz ermöglichen. Die Anführer der ehemaligen Konfliktparteien wechseln meist in die Politik, wodurch sie auch das Problem ihrer persönlichen wirtschaftlichen Reintegration lösen. Der Entwaffnung und Demobilisierung des „Fußvolkes" folgt meist die Konstituierung der Guerilla als zivile politische Partei. Dieser Schritt ist in mehrfacher Hinsicht für die Art des künftigen Konfliktaustrags bedeutsam: Erstens zeigt er die erfolgreiche Veränderung gesellschaftlicher Realitäten, weil mangelnde Partizipationsmöglichkeiten meist ein wichtiger Grund für die Entstehung des bewaffneten Kampfes waren. Zweitens bietet die parteipolitische Konstituierung die Möglichkeit, den Gruppenzusammenhalt und damit auch einen Teil der Identität über die geänderten Verhältnisse hinüber zu retten. Viele Guerillagruppen versuchen trotz Namensänderung die Abkürzungen ihrer Organisationen zu erhalten. So wandelte sich das ehemalige Nationale Volksbefreiungsheer Kolumbiens EPL zur Partei Esperanza Paz y Libertad (Hoffnung, Frieden und Freiheit). Mit dem Ende des Krieges entfällt aber auch das gemeinsame Feindbild, was Spaltungen innerhalb der Gruppen hervorrufen kann. Frieden geringer Reichweite bei anhaltend hohem Gewaltniveau Die Beendigung der Kriege und die Demokratisierung haben in Zentralamerika nicht zur Verringerung der Gewalt geführt. Das hohe Gewaltniveau in El Salvador wurde bereits eingangs erwähnt. Auch Guatemala erlebte 1997, im Jahr eins
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nach Ende des Krieges, eine Welle der Gewalt, die über 3.000 Menschenleben forderte. Organisierte Formen des Verbrechens — vor allem Drogenhandel und Schmuggel — haben das ihre zur Zunahme der Gewalttätigkeit beigetragen. Die nach wie vor große Zahl von Waffen in Händen der Zivilbevölkerung erleichtert den gewaltsamen Umgang mit Konflikten. Hintergrund der Gewalt sind vor allem die prekären wirtschaftlichen und sozialen Lebensbedingungen der Bevölkerungsmehrheit, die nach wie vor ein Dasein unterhalb der Armutsgrenze fristet. Die grundlegenden strukturellen Konfliktursachen sind in den vergangenen Jahren in Zentralamerika nicht gelöst, ja noch nicht einmal in Angriff genommen worden. In Guatemala leben 80 Prozent der Bevölkerung, in Nikaragua 66 und in El Salvador 51 Prozent in Armut (Isacson 1997). Nach den verheerenden Auswirkungen des Hurrikans Mitch dürften sich diese Zahlen noch drastisch erhöht haben. Die internationale Gemeinschaft hat einen wichtigen Beitrag zur Beendigung der Kriege in Zentralamerika geleistet und ist auf dem Weg, auch in Kolumbien die Befriedung zu unterstützen. Das Ende der bewaffneten Konflikte kann nur dann die Grundlage für tragfähige Entwicklungen und die Zivilisierung der Konflikte sein, wenn in den Ländern Entwicklungsprozesse in Gang kommen, die den den Frieden im Alltag für die Menschen erlebbar machen. Anderenfalls wird es bei einem Frieden geringer Reichweite und der Privatisierung von Sicherheit bleiben. Gewalt aber — egal ob politisch oder kriminell motiviert, hat hohe gesellschaftliche und wirtschaftliche Kosten und ist für die Entwicklung der Region kontraproduktiv. Literatur Aguilera Peralta, Gabriel (Hrsg.) (1994): Reconversión militar en América Latina. Guatemala. Behar, Olga (1988): Noches de humo. Bogotá. Bercovitch, Jacob (Hrsg.) (1991): International Mediation. Special issue of the Journal of Peace Research Vol. 28 (1). Cáceres P., Jorge (1989): Terrorismo de Estado, Seguridad Nacional y Democratización en Centroamérica. In: ACAS (Asociación Centroamericana de Sociología): Estado, Democratización y Desarrollo en Centroamérica y Panamá. Guatemala. S. 28-44. Canigan, Ana (1993): The Palace of Justice. A Colombian Tragedy. New York/London. Child, Jack (1992): The Central American Peace Process 1983-1991: Sheathing Swords, Building Confidence. Boulder/Col. Crosby, Benjamin (1992): Central America. In: Anthony Lake et al. (Hrsg.): After the wars: reconstruction in Afghanistan, Indochina, Central America, Southern Africa and the Horn of Africa. Overseas Development Council. New Brunswick, N.J. S. 103-138. Dunkerley, James (1988): Power in the Isthmus. A Political History of Modem Central America. London. Dunkerley, James (1993): The Pacification of Central America. London.
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Demokratie in Guatemala JOSEF THESING
Guatemala ist das flächenmäßig größte und das politisch bedeutsamste Land Zentralamerikas. Es ist zugleich das Land, das durch Geschichte, Politik und gesellschaftliche Spannungen am meisten gelitten hat. Der geschichtliche Haushalt dieses von der Natur so reichlich ausgestatteten Landes ist von Gewalt, sozialen Konflikten, kultureller Intoleranz und gravierender Armut gezeichnet. Guatemala — die Mayas nennen es das Land „mit Reichtum an Bäumen" — hat seit der Conquista durch die Spanier im Jahre 1524 eine leidvolle Entwicklung ertragen müssen. Erst in den letzten Jahren ist Guatemala auf dem Wege zu einer friedlichen Entwicklung. Am 29.12.1996 wurde zwischen der Regierung und den verschiedenen Guerrillagruppen ein Friedensvertrag geschlossen. Damit kam eine leidvolle Phase von 36 Jahren zum Abschluß, die durch Gewalt, Terror, gesellschaftliche Konflikte und Blockaden gekennzeichnet war. Unter dieser Last hatte das Projekt der Demokratie in Guatemala keine große Erfolgschance. Die kulturellen, gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen Bedingungen waren kaum demokratiefördemd (Thesing 1970: 217-248). Es fehlten die institutionellen Strukturen, aber auch der politische Wille und die mentale Bereitschaft derjenigen, die über Macht und Gestaltungseinfluß verfügen, aber eigene Machtinteressen dem Demokratieprojekt vorzogen. Militärs und die starken Blockadekräfte aus der Wirtschaft können dafür als Verursacher benannt werden. Demokratie als Staats- und Lebensform hatte in Guatemala lange Zeit überhaupt keine Chance. Dann, wenn die Geschichte ihr eine kleine Chance bot, wurde diese nach kurzer Zeit von innen und außen zunichte gemacht. Die Phase von 1945-1954 ist dafür ein besonders eindeutiges Beispiel. In diesem Beitrag soll der Versuch unternommen werden, der Frage nachzugehen, wo die Ursachen für die oben kurz skizzierte Entwicklung zu suchen sind. Von Interesse ist dabei, die Grundlagen, die für eine eigenständige Demokratieentwicklung in Guatemala notwendig sind, zu beschreiben. Dabei kann es sich nur um eine allgemeine Darstellung der Ursachen, Tendenzen und Perspektiven handeln.
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Land, Bevölkerung und Struktur Daten beschreiben Strukturen. Strukturen geben in einer Gesellschaft Hinweise darüber, welche Gruppen und Akteure Macht besitzen und Macht ausüben. Da in der Politik nur die Menschen Akteure sind, ist es hilfreich, bei der Frage der strukturellen Bedingungen von Politik nicht nur die realen Strukturen aufzuzeigen. Neben den realen Machtstrukturen existieren auch mentale Denk- und Verhaltensstrukturen der Menschen. Auf diese Unterscheidung soll hingewiesen werden, um zu verdeutlichen, daß mit den nachfolgenden Daten Grundelemente der gesellschaftlichen Machtstruktur in Guatemala aufgezeigt werden, die aber in engem Zusammenhang mit den Wertvorstellungen und Verhaltensweisen der Menschen in dem Lande gesehen werden müssen. Das gilt vor allem für die mächtigen Akteure, die in Wirtschaft und Politik die politische Gestaltung wesentlich bestimmen. Guatemala ist ein Land mit einer Fläche von 108 Tsd. km 2 . Die Natur hat dieses Land reichlich ausgestattet. Die Lage erlaubt eine intensive Nutzung des Bodens. Das Klima — „immerwährender Frühling" — ist angenehm und kein Hindernis für die Entwicklung. Die Bevölkerung betrug 1996 10.9 Mio. Das Bevölkerungswachstum erreichte noch 2,9% (alle Daten World Bank 1997). Die soziale Lage ist kritisch. Nur 83% der Menschen haben Zugang zu sanitären Einrichtungen. Nur 77% der Einwohner werden mit Trinkwasser versorgt. Die Lebenserwartung der Menschen liegt bei 60 Jahren. Die Arbeitslosigkeit und Unterbeschäftigung ist mit 17% hoch. Der Anteil der Bevölkerung, der für den Zeitraum 1990-1996 unter der Armutsgrenze von 1.- US$ pro Tag lag, betrug 53,3%. Die Inflationsrate machte für die Jahre 1990-1996 13% aus. 39% der Bevölkerung leben in Urbanen Zentren. 1993 stand im statistischen Durchschnitt 4.000 Menschen ein Arzt zur Verfügung. Dabei ergab sich eine starke Konzentration auf die Urbanen Zentren. Die ärztliche Versorgung in den ländlichen Gebieten ist sehr schlecht. Die Wirtschaftsstruktur wird durch eine Wertschöpfung, die zu 24% auf die Landwirtschaft, zu 20% auf die Industrie und zu 56% auf die Dienstleistungen entfällt, bestimmt. In der Landwirtschaft arbeiten 58%, in der Industrie 18% und im Dienstleistungsgewerbe 24% der Beschäftigten. Der Außenhandel ist wesentlich vom Export von Agrarprodukten (Kaffee) abhängig. Die Terms of Trade (1987:100) betrugen 1980 = 151 und 1995 = 120. Guatemala hatte 1995 eine Auslandsverschuldung von 3,3 Mrd. US$; der Anteil der Auslandsverschuldung am BSP betrug 1995 = 19%, und der Schuldendienst machte 10,6% der Exporterlöse aus. Das Bruttosozialprodukt belief sich für die Zeit von 1990-1996 auf 1470 US$ pro Kopf.
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Ein besonderes Problem ist die Eigentumsstruktur des Grundbesitzes. Für 1979 (Yurrita 1997: 383) ergab sich folgende ländliche Eigentumsstruktur: Insgesamt gab es 531.623 Fincas im Lande. Davon waren kleine Microfincas (weniger als 0,7 ha) = 166.724 = 31,4% der Betriebe mit einer Größe von 79.187 ha = 1,4% der Fläche. Kleine Familienbetriebe mit einer Größenordnung von 0,7 ha bis 7 ha 301.736 = 56,7% der gesamten Betriebe. Sie machen 890.229 ha aus = 15,1% der Gesamtfläche. Mittlere Familienbetriebe (7 ha-44,8 ha) waren mit 49.509 = 9,3% der Gesamtbetriebe und mit 1.115.739 ha = 19,0% der Gesamtfläche vorhanden. Die mittleren Großbetriebe (44,8 ha-900 ha) erreichten 13.176 Betriebe = 2,5% der gesamten Fincas mit einer gesamten Betriebsgröße von 2.596.551 ha = 44,2% der Gesamtfläche. Schließlich wurden 478 Fincas (0,1% der Fincas) mit einer Größenordnung von 1.193.611 ha = 20,3% der Gesamtfläche ausgewiesen. Die Struktur ist eindeutig: 64,5% der landwirtschaftlich genutzten Anbaufläche verteilt sich auf 2,6% der Fincas. Dementsprechend stellt auch die Einkommensverteilung in Guatemala ein sozial besonders gravierendes Problem dar. Im Jahre 1995 ergab sich folgendes Bild: Auf die 10% der Bevölkerung, die über die höchsten Einkommen verfügen, entfielen 46,6% des Volkseinkommens. Auf die 10% der Bevölkerung mit den niedrigsten Einkommen kamen nur 0,6%. Die Zahlen verschlechtern sich, wenn man die Schichten mit mittleren, mittelhohen und Höchsteinkommen zusammennimmt. Sie erreichen rd. 91,5% des Einkommens, während der Rest mit 8,5% auf die übrige Bevölkerung verteilt wird. Das ist eine besonders dramatische Situation, die unmittelbar mit den wirtschaftlichen Machtstrukturen zu tun hat (URL 1995). Sie wird noch dramatischer, wenn dazu die Steuerquote, die Guatemala 1995 zu tragen hatte, in Bezug gesetzt wird. Sie betrug 6,8% des BSP. Guatemala gehört damit zu den Ländern, die eine außergewöhnlich geringe Steuerquote aufweisen. Die Höchstbesteuerung liegt bei individuellen Einkommen bei einem Steuersatz von 30%. Das sind aber nur die Zahlen — die Steuerwirklichkeit sieht anders aus. Nicht die individuellen oder juristischen Personen, die ohne Zweifel über den Großanteil an Einkommen verfügen, zahlen wirklich die Steuern. Der größte Anteil am Steueraufkommen besteht aus Gebühren und indirekten Steuern. Auch das ist ein Grundproblem der wirtschaftlichen Machtstrukturen im Lande. Guatemala ist ein reiches Land, es gibt nicht nur einen „Reichtum an Bäumen", wie die Mayas das Land nennen, es besteht Reichtum an fleißigen Menschen. Das gilt vor allem für die Mayas. Es herrscht Reichtum an guter landwirtschaftlicher Anbaufläche und einer sich gut entwickelnden Industrie. Das strukturelle Problem ist die Umverteilung des Reichtums. Hier liegt ein ernsthaftes Hindernis für die demokratische Entwicklung des Landes.
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Die kulturellen Strukturdaten dürfen nicht außer acht gelassen werden. Die Zahl der Analphabeten ist mit 44% (1993) immer noch sehr hoch. Das hat auch mit der Bevölkerungsstruktur zu tun. Rund 60% der Bevölkerung sind Mayas, 30% Ladinos, 2% Weiße, und die restlichen 8% machen Schwarze, Mulatten u.a. aus. Das ethnische Problem war und ist das Verhältnis der Mayas zu den Ladinos. Die Mayas werden seit der Conquista unterdrückt und benachteiligt. Das wird allein schon an der Veränderung der Bezeichnung deutlich. Man sprach zunächst von den Indios. Kolumbus, der meinte, Indien entdeckt zu haben, nannte die Ureinwohner im Lande Indios. Diese Bezeichnung wurde während der Kolonialzeit sehr diskriminierend verwandt. Das hing mit der Unterwerfung der Bevölkerung zusammen, die den Spaniern tribut- und arbeitspflichtig war. Die Theologen, die die Ureinwohner zum katholischen Glauben bekehren wollten, nannten die Einwohner „Naturales", deshalb, weil sie noch nicht getauft waren. Ein weiterer Name kam hinzu. „Indígena" war eine Bezeichnung, die die Bevölkerung abgrenzen sollte. Der Ladino war derjenige, der das Spanische zum Kern seiner Identität machte. Die „Indígenas" waren diejenigen, die aus dem Lande stammten und wesentlich das Indianische verkörperten. Inzwischen hat sich für die indianische Bevölkerung der Begriff und die Bezeichnung „Maya" durchgesetzt (URL 1993: 44-45). Das hängt sicher mit dem neuen kulturellen und ethnischen Bewußtsein dieses Bevölkerangsteiis zusammen. Die Bezeichnung „Maya" ist Ausdruck einer ethnischen Identität. Die Mayas sprechen 21 Sprachen, die wiederum noch durch weitere Dialekte angereichert sind (Herrera 1997: 355-366). Die Ladinos sprechen spanisch. Daneben existieren zwei weitere ethnische Minderheiten, die Garifuna und Xinka sprechen. Im Lande werden insgesamt 24 Sprachen gesprochen. Die Mayasprachen sind nach der Verfassung von 1985 und aufgrund des Friedensabkommens vom 29.12.1996 gleichrangige Sprachen. Das ist für Guatemala eine fast revolutionäre Entwicklung. Im Gegensatz zu den Mayas stehen die Ladinos, die größere Schwierigkeiten haben, ihre ethnische Identität zu definieren. Das hat mit der historischen Last zu tun, die zwischen beiden Bevölkerungsgruppen besteht. Die Ladinos waren diejenigen, die die Mayas unterdrückten und ihre eigenen Interessen, Privilegien und Vorherrschaft durchsetzten. Daraus resultiert eine bis heute nicht bewältigte Last. Auch die Ladinos sind aus einer Mischung zwischen Spaniern und Indígenas entstanden. Es waren soziale und politische Gründe, die die Ladinos bewogen, sich mit ihrer ethnischen Selbstidentität vom Indianischen abzusetzen. „En tal sentido, ladino es todo el que no quiere ser indio ni maya porque asume su mestizaje y rechaza toda suerte de parezas étnicas y culturales" (Morales 1998: 17).
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Guatemala ist ein christliches Land. Nach der Statistik gehören 80% der Bevölkerung der Katholischen Kirche und 19% protestantischen Kirchen und Sekten an. Das Christliche und die Mayareligion überlagern sich. Nicht nur die protestantischen Sekten haben in den letzten Jahren zugenommen, zugleich kann beobachtet werden, daß auch die eigenständige Religiosität der Mayas wieder fester wird. Strukturen bestimmen gesellschaftliche und politische Entwicklungen. Die genannten Daten kennzeichnen eine Gesellschaftsstruktur in Guatemala, die folgendermaßen markiert ist: durch eine multiethnische und multikulturelle Grundlage, durch historisch entstandene Eigentumsstrukturen, durch eine politische und wirtschaftliche Dominanz einer kleinen Schicht aus der Ladinobevölkerung. Gewalt, Unterdrückung und Diskriminierung sind dabei Instrumente und Erfahrungen, die die Geschichte des Landes wesenüich geprägt haben. Die reale Machtstruktur wurde von Akteuren geschaffen, verteidigt und ausgebaut, die damit bestimmte Ideen verbanden. So kommen reale Machtstrukturen und mentale Führungsstrukturen zusammen. Da beide Strukturen nicht auf den Ideen einer modernen Demokratie (Menschenrechte, Demokratie als Staatsund Lebensform, soziale Marktwirtschaft, soziale Gerechtigkeit) basieren, hatte die Demokratie in Guatemala über lange Zeit keine Chance. Vor allem die mentalen Denkstrukturen dürfen bei der Analyse des Themas nicht vernachlässigt werden. Die Machtakteure in Guatemala haben durch ihre Ideen der kulturellen Überlegenheit, der wirtschaftlichen Ausbeutung und sozialen Unempfindlichkeit die gesellschaftlichen Lebensbedingungen im Lande geschaffen, gefestigt und verteidigt. Auf diese Weise wird die politische und soziale Vernetzung innerhalb der Unterschichten gewaltsam verhindert. Darin liegen wesentlich die Ursachen für die sozialen Spannungen und gewaltsamen Auseinandersetzungen. Frieden und Demokratie:
die
Vorgeschichte
Eigentlich müßte sehr ausführlich auf die geschichtliche Entwicklung des Landes von der Conquista bis heute eingegangen werden. Das ist aus naheliegenden Gründen nicht möglich. Die gegenwärtige Entwicklung des Landes steht im Mittelpunkt des Interesses, deshalb soll sie auch Gegenstand der Darstellung sein. Dabei wird auch da, wo es notwendig ist, auf bestimmte historische Entwicklungen kurz eingegangen. Arn 29. Dezember 1996 wurde im Innenhof des Palacio Nacional in Ciudad de Guatemala in einer feierlichen und eindrucksvollen Zeremonie der Acuerdo de Paz Firme y Duradera unterzeichnet. Der Zeremonie wohnten elf Staats- und
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Regierungschefs, der Generalsekretär der Vereinten Nationen, Boutros Ghali, sowie zahlreiche Repräsentanten vieler Länder und Organisationen bei. Für die Regierung Guatemalas unterzeichneten die vier Mitglieder der Friedenskommission, Gustavo Porras Castejón, der früher selbst in der FAR kämpfte, General Otto Pérez Molina, Raquel Zelaya Rosales und schließlich Richard Aitkenhead Castillo, früherer Finanzminister. Die andere Seite, die Unidad Revolucionaria Nacional Guatemalteca (URNG), der Ende 1980 erfolgte Zusammenschluß der vier Guerrilla-Organisationen, wurde vertreten durch Ricardo Ramírez de León, der sich bis dahin Comandante Rolando Morán nannte und das Ejército Guerrillero de los Pobres (EGP) vertrat, Jorge Ismael Soto García, bis dahin Comandante Pablo Monsanto, der die Fuerzas Armadas Rebeides (FAR) repräsentierte, Jorge Edilberto Rosal Meléndez, der für die Organización del Pueblo en Armas (OPRA) auftrat. Schließlich Ricardo Rosales Román, der bisher unter dem Namen Carlos Gonzáles auftrat und seit 1974 Generalsekretär der Kommunistischen Partei PGT (Partido Guatemalteco del Trabajo) war. Die Comandantes hatten auch ihr Äußeres verändert. Sie traten in gut sitzenden Anzügen mit Krawatte auf, bewegten sich etwas unsicher auf dem Podium, das für die Zeremonie aufgebaut wurde. Sie unterschrieben zum ersten Mal mit ihren richtigen Namen. Auch das sollte symbolische Bedeutung haben. Jeder Einzelne trat zusammen mit seinem Partner von der anderen Seite an den Tisch, um das Abkommen zu unterzeichnen. Es folgte die übliche Umarmung. Auch dabei ging man vorsichtig zu Werke. General Pérez zog es vor, den Generalsekretär der Kommunistischen Partei, der nicht über den Rang eines Comandante verfügte, zu umarmen. Frau Zelaya übernahm die Umarmung des als besonders hart qualifizierten Comandante Pablo Monsanto. Allen war Erleichterung anzumerken. Nach 36 Jahren gewaltsamer Auseinandersetzung konnte das Abkommen, das Frieden, Entwicklung und eine moderne Zukunft bringen soll, unterschrieben werden. Der Generalsekretär der Vereinten Nationen, Boutros Ghali, der mit der Unterzeichnung des Friedensabkommens von Guatemala seine letzte Amtshandlung vornahm, hob hervor, daß damit ein sehr wichtiger Schritt in eine friedliche Zukunft für das Land in Gang gesetzt werde. Präsident Alvaro Arzú, der 1996 überzeugend die Präsidentschaftswahl gewonnen hatte, hatte schon während des Wahlkampfes deutlich gemacht, daß die Unterzeichnung eines Friedensabkommens sein wichtigstes Ziel sei. Diesem Versprechen hat er Taten folgen lassen. Deshalb kann mit Recht gesagt werden, daß der 29. Dezember 1996 in der Geschichte des Landes ein wichtiges Datum war und sein wird. Guatemala ist auf einem guten Weg zum Frieden. Was waren die Ursachen für diese Entwicklung, die schließlich zu dem Friedensabkommen führten? Einige der Ursachen, wozu, wie schon an anderer
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Stelle erläutert, auch die ungerechten wirtschaftlichen und sozialen Machtstrukturen gehören, sollen kurz erläutert werden. 1945 wurde nach der Ablösung des Diktators Jorge Ubico versucht, das Land zu modernisieren. Unter dem Präsidenten Juan José Arévalo gelang es, erste Sozialreformen in Gang zu setzen. Diese wurden 1954 unterbrochen, als der gewählte Präsident Jacobo Arbens Guzmán von Oberst Carlos Castillo Armas gewaltsam gestürzt wurde. An diesem Umsturz war wesentlich der amerikanische CIA beteiligt. Die USA haben mit dieser Intervention einen Prozeß der demokratischen Entwicklung in Guatemala für eine lange Zeit verhindert. Der Vorwurf, daß Arbens unter kommunistischem Einfluß stehe, diente als Vorwand, um einen Präsidenten zu stürzen, der es gewagt hatte, nicht genutzte Ländereien der United Fruit Company zu enteignen (Schlesinger/Kinzer 1982). Präsident Arbens wollte die von Arévalo begonnenen Sozialreformen fortführen. Das widersprach den Interessen der Oberschicht, die mit Hilfe des CIA diesem Prozeß ein Ende machte. Damit begann eine für das Land schmerzliche Militarisierung. Als Fidel Castro 1959 in Cuba den Diktator Batista stürzte, verstärkte sich die militärische und auch die antikommunistische Komponente in der guatemaltekischen Politik. Die Hoffnungen auf eine friedliche Reformpolitik waren zerstört. Die Militärs waren die eigentlichen Herrscher im Lande (Adams 1970: 238-277). Sie übten die Macht teilweise direkt und diktatorisch aus oder ließen Generäle in manipulierten Wahlen die Macht verwalten. Ein besonders korrupter Präsident war General Miguel Ydigoras Fuentes. Am 13. November 1960 rebellierten junge Offiziere unter Leutnant Marco Antonio Yon Sosa gegen ihn. Damit begann der bewaffnete Kampf in Guatemala. In den ersten Jahren war davon noch nicht sehr viel zu spüren. Am 17. Juni 1966 gelang den Fuerzas Armadas Rebeldes (FAR), die aus dem Movimiento Revolucionario 13 de Noviembre hervorgegangen waren, ein harter Schlag gegen die Streitkräfte. Das war der Beginn einer ungewöhnlich langen und grausamen Phase der Auseinandersetzung (Aguilera 1970). Der durch massive Wahlfälschungen 1978 an die Macht gelangte General Romeo Lucas Garcia zeichnete sich als besonders brutaler Präsident aus. Die Militärs, die inzwischen auch die Entwicklung in den Nachbarländern El Salvador und Nicaragua zur Kenntnis nahmen, versuchten mit einem radikalen Gewaltkonzept den Konflikt zu lösen. Indianische Dörfer wurden vernichtet, denunzierte Personen auf grausame Weise gequält und umgebracht (CEH 1999). Die Guerrilla antwortete mit Vergeltungsschlägen. In diesen Jahren entwickelte sich in Guatemala eine „Kultur des Terrors" (ODHAG 1998). Es gibt kaum eine Familie auf dem Lande, die nicht von diesen grausamen Auseinandersetzungen betroffen ist. Viele Guatemalteken suchten in Mexico und in anderen Landesteilen Zuflucht. Ein Beispiel dafür, mit
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welchen Methoden Militär und Polizei mit ihren Gegnern umsprangen, ist die gewaltsame Erstürmung der spanischen Botschaft am 31. Januar 1980 in der Hauptstadt. Mitglieder des Comité de Unidad Campesina hatten die spanische Botschaft besetzt. Sie wollten auf diese Weise auf die Probleme der Landbevölkerung aufmerksam machen. Die Regierung unter Präsident Romeo Lucas Garcia ließ die spanische Botschaft stürmen. Dabei kamen die Campesinos, die sich in der Botschaft befanden, und andere Personen ums Leben. Unter ihnen befand sich auch der Vater von Rigoberta Menchü. Am 23. März 1982 wurde Präsident Lucas Garcia von eigenen Militärs gestürzt. Sein System war auch für jüngere Offiziere, die diesen Umsturz organisierten, unerträglich geworden. Der General Rios Montt wurde zum Juntachef ernannt. Er versuchte mit populistischen Maßnahmen, u.a. durch die Bewaffnung von Campesinos, die Sicherheit im Lande zu erhöhen. Daraus entstand eine neue Quelle von gewaltsamen Auseinandersetzungen. Seine Junta wurde durch General Oscar Humberto Mejia Victores am 8. August 1983 abgelöst. Der neue Präsident erklärte sich bereit, im Jahre 1985 Wahlen auszuschreiben. Zudem wurde 1984 eine Verfassunggebende Versammlung gewählt, die 1985 die neue Verfassung verabschiedete. Gleichzeitig fanden Präsidentschaftswahlen statt. Es waren die ersten freien Wahlen, die es in Guatemala bis dahin gegeben hatte. Neuer Präsident wurde am 14. Januar 1986 der Christdemokrat Vinicio Cerezo. Vor seinem Amtsantritt hatten die Militärs noch ein Amnestiegesetz verabschiedet, das ihnen Schutz vor strafrechtlicher Verfolgung bot. Dem neuen Präsidenten wurde deutlich gemacht, daß er zwar Präsident sei, aber nur einen Anteil an der Macht besitze (Monteforte Toledo 1998: 158-173). Vinicio Cerezo ging daran, sein Programm umzusetzen. Ihm schwebte vor, eine Befriedung des Landes in Gang zu setzen. Es ist wesentlich seiner Initiative zu verdanken, daß die zentralamerikanischen Präsidenten im guatemaltekischen Wallfahrtsort Esquipulas am 25. Mai 1986 die Acuerdos de Esquipulas unterzeichneten. Sie wollten damit die Befriedung Zentralamerikas einleiten. Dem ersten Abkommen folgte am 7. August 1987 das zweite Abkommen von Esquipulas. Damit war die Grundlage für eine friedliche Lösung der Konflikte in Zentralamerika, vor allem auch in El Salvador und Nicaragua, gelegt. Vinicio Cerezo veranlaßte im Oktober 1987 in Madrid erstmals Gespräche zwischen der Regierung und der Guerrilla. Die Reaktion darauf ließ nicht lange auf sich warten. Gruppen aus der extremen Rechten und ihren militärischen Helfern machten durch zwei fehlgeschlagene Putschversuche vom 11. Mai 1988 und 9. Mai 1989 deutlich, daß sie mit dieser Politik nicht einverstanden waren. Diese Kräfte wollten den Friedensprozeß nicht unterstützen. Sie strebten eine radikale militärische Lösung an.
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Die Ereignisse des Jahres 1989 in Europa beeinflußten auch die Situation in Zentralamerika. Cuba, aber auch die osteuropäischen Länder, die die Guerrilla und vor allem die Sandinisten in Nicaragua unterstützt hatten, mußten sich auf die neue Situation einstellen. Für die hart gesottenen Militärs verlor das Argument des Antikommunismus an Bedeutung. Darauf konnten sie sich jetzt nicht mehr berufen. Die Wahl von Violeta Barrios de Chamorro zur neuen Präsidentin in Nicaragua und das Friedensabkommen in El Salvador veränderten die Situation für die Guerrilla und auch für die Militärs in Guatemala. Das Verdienst von Vinicio Cerezo besteht vornehmlich darin, daß er unter ungewöhnlich schwierigen Bedingungen die demokratische Entwicklung des Landes vorangebracht hat. Sein zweiter Versuch, Verhandlungen zu erreichen, war erfolgreicher. Vom 26. bis 30. März 1990 trafen sich die Comisión Nacional de Reconciliación (CNR) und die Vertreter der URNG in Oslo und vereinbarten Prinzipien für die Fortsetzung der Gespräche. Jorge Serrano wurde Nachfolger von Vinicio Cerezo. Das Friedensthema gehörte zu seinen Programmpunkten. Vom 24. bis 25. April 1991 verhandelte eine Kommission der Regierung und der URNG in Mexico und vereinbarte einen Plan für die weiteren Verhandlungen. Präsident Serrano selbst versuchte, am 25. Mai 1993 durch einen von ihm inszenierten Staatsstreich die ganze Macht an sich zu reißen (Thesing 1993: 3-30). Das mißlang — er mußte das Land verlassen. Hier zeigte sich zum ersten Mal, daß sich in Guatemala die Dinge geändert hatten. Der Aufstand der Bevölkerung gegen den inszenierten Staatsstreich war gewaltig. Das durch die Verfassung von 1985 neu geschaffene Verfassungsgericht betätigte sich als eine wirksame Institution, die durch mutige Entscheidungen die Situation verfassungsrechtlich löste. Zum neuen Präsidenten wurde am 5. Juni 1993 Ramiro de León Carpió gewählt. Er war bis dahin Menschenrechtsbeauftragter gewesen und hatte in diesem Amt durch seine unbestechliche Arbeit beträchtliches Ansehen erlangt. Er sollte für den Rest der Amtszeit das Präsidentenamt ausüben. Sein Nachteil war, daß er nicht über eine politische Partei und demgemäß auch nicht über eine Mehrheit im Parlament verfügte. Seine Bemühungen, den Friedensprozeß voranzubringen und auch die notwendigen Wirtschafts- und Steuerreformen voranzutreiben, waren nicht von Erfolg gekrönt. Die Gespräche zwischen Regierung und der URNG wurden zwar fortgeführt, sie schleppten sich aber mühsam dahin, da offenbar das rechte Vertrauen fehlte, um zu einem Abschluß zu kommen. Alvaro Arzú gewann die nächste Präsidentschaftswahl und trat sein Amt im Januar 1996 an. Er hatte schon im Wahlkampf deutlich gemacht, daß er den Friedensprozeß zum Abschluß bringen wollte. Er ließ diesem Versprechen schnell Taten folgen. Er benannte eine neue Kommission, die die Verhandlungen zügig voranbrachte. Er war fest entschlossen, die
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Gewalt einzudämmen und eine friedliche Basis der Entwicklung einzuleiten. Die Bevölkerung wurde überrascht von seiner Entschlossenheit, auch gegen andere Mißstände wie etwa die Korruption vorzugehen. Er scheute sich auch nicht, Militärs von wichtigen Positionen zu entfernen und Stäbe der Militärs aufzulösen. So etwas hatte es in Guatemala noch nicht gegeben. Die Kommission der Regierung und die URNG verhandelten jetzt zügig. Es wurden mehrere Abkommen geschlossen. Die Verhandlungen endeten am 29. Dezember 1996 mit der Unterzeichnung des Schlußdokumentes. 3.2 Das Friedensabkommen Die Verhandlungen zwischen der Regierung und der URNG haben lange gedauert. Nimmt man den Oktober 1987 als Beginn der Gespräche in Madrid, dann hat man mehr als neun Jahre verhandelt, um am 29. Dezember 1996 zum Abschluß zu kommen. Für die Länge und Zähigkeit dieses Prozesses gibt es verschiedene Gründe: a) Der Wandel von einem System militärisch bestimmter Herrschaft zu einem demokratisch legitimierten und ausgeübten Regierungssystem war und ist auch in Guatemala ein schwieriger Vorgang. Als Vinicio Cerezo 1985 auf demokratische Weise zum Präsidenten gewählt wurde, erhielt er nur einen Teil der wirklichen Macht. Die Militärs waren damals noch überwiegend der Meinung, daß sie letztlich zu bestimmen hätten, was der zivile Präsident zu tun habe. Vinicio Cerezo war sich dieser Situation wohl bewußt und hat versucht, sich von dem militärischen Einfluß frei zu machen. Das ist ihm durchaus in einem erstaunlichen Umfang gelungen. Jedoch ging dies nicht harmonisch vor sich. Mindestens zwei emsthafte Versuche einiger Militärs in den Jahren 1988 und 1989, ihn durch einen Staatsstreich zu stürzen, mußte er überstehen. Aber 1987, als Cerezo den ersten Gesprächskontakt mit der URNG in Madrid herstellte, war die Situation für wirkliche Verhandlungen noch nicht reif. Das Mißtrauen und die zum Teil vorhandene Ablehnung von solchen Gesprächen waren noch zu groß. b) Seit 1954 wurde die guatemaltekische Gesellschaft durch einen radikalen Antikommunismus sehr stark militarisiert. Diese Militarisierung, die wesentlich durch Gewalt, Intoleranz, Verletzung der Menschenrechte und durch eine , .Kultur des Terrors" bestimmt wurde, hat in Guatemala Verhaltensweisen und Mentalitäten entstehen lassen, die nicht unbedingt die Bereitschaft für Gespräche und Projekte für eine friedliche Regelung des Konflikts begünstigten. Diejenigen, die wie Präsident Vinicio Cerezo schon längst der Meinung waren, daß der Konflikt nur friedlich und im Einverständnis mit allen Beteiligten und mit einer gemeinsamen nationalen Anstrengung been-
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det werden könne, fanden Ende der achtziger Jahre weder bei den Militärs, noch bei den Mächtigen der Oberschicht, wie vermutlich ebensowenig in der Bevölkerung Unterstützung und Zustimmung. Die Militärs profitierten von der Situation zum einen deshalb, weil sie militärisch nichts zu befürchten hatten, zum anderen, weil sie den Konflikt gerne und intensiv als Vorwand nutzten, um ihre Sonderstellung und die damit verbundenen Vorteile zu begründen. Auch die URNG schien nicht unbedingt an schnellen Verhandlungsergebnissen interessiert zu sein. Sie profitierte von der starken internationalen Hilfe, die vor allem aus den nordischen Ländern kam. Obwohl sich das Umfeld stark veränderte, blieb deshalb zu Beginn der neunziger Jahre Guatemala dasjenige Land, das aus dem Friedensprozeß in der zentralamerikanischen Region ausscherte. Dieser Zustand konnte keine lange Dauer haben. Ab 1994 kamen die Verhandlungen dann in eine entscheidende Phase, c) In Guatemala selbst mußte die Gesellschaft auf die Notwendigkeit einer Verständigung zwischen Regierung und URNG vorbereitet werden. Das war ein langsamer Prozeß, der in mehreren Etappen vor sich ging. Hatten Cerezo und sein Nachfolger Serrano als Bedingung für die Gespräche von der URNG noch ihre vorherige Entwaffnung verlangt, eine Forderung, die auf Druck der Militärs gestellt und von der URNG nicht erfüllt werden konnte, veränderte sich die Ausgangslage durch das Abkommen, das in El Salvador zwischen der Regierung und dem Frente Farabundo Martí para la Liberación Nacional (FMLN) erzielt wurde. Auch in Guatemala, wo viele Familien aus der Oligarchie durch Entführungen von Familienmitgliedern und durch die Zahlung von hohen Lösegeldern eine unmittelbare Erfahrung mit der Terrorstrategie der URNG machten, setzte sich mehr und mehr die Erkenntnis durch, daß nur eine friedliche Lösung der erfolgversprechende Weg sein könne. Der Versuch von Präsident Jorge Serrano, sich durch einen Staatsstreich am 25. Mai 1993 allmächtig zu machen, trug ebenfalls zu einer Veränderung des Stimmungsbildes bei. Viele Gruppen aus den unterschiedlichen Bereichen der Gesellschaft schlössen sich in jenen Tagen spontan zusammen, um den Umsturz zu verhindern. Plötzlich saßen die Vertreter des CACIF (Comité Coordinador de Asociaciones Agrícolas, Comerciales, Industriales y Financieras), dem mächtigen Unternehmerverband, mit Gewerkschaftern, Studenten und Maya-Vertretern an einem Tisch, um die Demokratie zu verteidigen. Das gelang dann auch. Dieses Ereignis hat in Guatemala eine große Bedeutung gehabt. Daraus entwickelte sich die Asamblea de la Sociedad Civil, eine Organisation, die aktiv bei den Gesprächen und Verhandlungen in den folgenden Jahren mitwirkte. Ab 1994 traten die Gespräche in ihre letzte und entscheidende Phase. Auf beiden Seiten bestand nun genügend Vertrauen und politischer Wille, den Konflikt mit friedlichen Mitteln zu lösen. In der
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Gesellschaft Guatemalas stieß dies auf breite Zustimmung, und auch die Situation bei den Militärs sowie ihre Haltung gegenüber der demokratischen Entwicklung des Landes hatten sich entscheidend verändert. Die Versuche von Cerezo und Serrano, die Militärs in die Demokratie einzubinden, zeitigten erste Erfolge. Interessant sind das Konzept und die Strategie der Verhandlungen. Beide Seiten nahmen sich vor, das Friedensabkommen mit einem unfassenden Reformprogramm für die wichtigsten Bereiche der Gesellschaft zu verbinden. Das Programm für die Gespräche wurde in den beiden Abkommen vom 25. Juli 1991 (Querdtaro, Mexico) und vom 10. Januar 1994 (Mexico-Stadt) festgelegt. Der feierlich am 29. Dezember 1996 in Ciudad de Guatemala unterzeichnete Acuerdo de Paz Firme y Duradera enthält in seinen 17 Punkten in erster Linie politische Willensbekundungen: Die Anerkennung der Menschenrechte und ihr Schutz; die Zusage, die Menschenrechtsverletzungen während der gewaltsamen Auseinandersetzungen zu untersuchen, um auf diese Weise die nationale Versöhnung und Demokratisierung zu unterstützen; die Respektierung der Identität und Rechte der indianischen Völker als fundamentale Grundlage für die nationale Entwicklung. Beabsichtigt war damit die Entwicklung einer multiethnischen, multikulturellen und vielsprachigen Nation. Diese Kernpunkte finden sich in dem politischen Zielkatalog ebenso wieder wie die Notwendigkeit, daß die sozio-ökonomische Entwicklung nach dem Grundsatz des Gemeinwohls erfolgen muß. Die Verbesserung der sozialen Situation wird mit der Erfordernis eines gerechteren und effizienteren Steuersystems verbunden. Armut und Arbeitslosigkeit, Gesundheit, Bildung und Weiterbildung, soziale Sicherheit werden als vordringliche Aufgaben der Entwicklung markiert. Die Reform des Staates und der Streitkräfte ist ein weiteres Programm, das umgesetzt werden soll (zu den Verhandlungen vgl. Torres-Rivas 1997). Auf die Einzelheiten der Abkommen kann hier nicht eingegangen werden (vgl. dazu URL 1997; UN 1998; Thesing 1997). Festzuhalten bleibt, daß mit dem Friedensabkommen vom 29.12.1996 der erfolgreiche Versuch unternommen wurde, in der guatemaltekischen Gesellschaft einen breiten Konsens für die Lösung einer Vielzahl von Problemen und die Festigung der demokratischen Entwicklung zu schaffen. Gleichzeitig wurde vereinbart, die Probleme mit friedlichen Mitteln und auf demokratische Weise zu lösen. Die Gewalt soll kein Instrument der Politik mehr sein. In den Abkommen vom 4.,7.,12. und 29. Dezember 1996 sind die Prozeduren für den Waffenstillstand, die Umsetzung der notwendigen Verfassungsreformen und die Veränderungen im Wahlverfahren, die Eingliederung der Mitglieder der URNG, eine teilweise Amnestie und das weitere Verfahren für die Umsetzung der einzelnen Abkommen geregelt worden. Der zeitliche Ablauf ist im Abkommen vom 29. Dezember 1996 festge-
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schrieben worden. Die Programme und Projekte werden von 1997 bis 2000 in Etappen und mit bestimmten Kontrollmechanismen verwirklicht. Unverzüglich nach der Unterzeichnung ist mit der Umsetzung bereits begonnen worden. Das Programm, das mit dem Friedensabkommen vereinbart wurde, ist umfangreich und gewaltig. Bisher hat sich keine Partei und keine Regierung in Guatemala ein so umfassendes und weitreichendes Reformprogramm vorgenommen. Haben die Beteiligten sich damit nicht übernommen? Dieser Eindruck kann entstehen, wenn man die bisherigen Versuche, im Lande kleinere Reformen durchzusetzen, analysiert. Erfolgreich waren sie nicht. Aber die Umstände waren andere. Heute kann die Regierung des Präsidenten Alvaro Arzü, der im Parlament eine Mehrheit hat, mit einer Zustimmung und Unterstützung der Bevölkerung rechnen. Die Menschen in Guatemala wollen Reformen, sie wollen auf friedliche Art und Weise ein modernes Guatemala schaffen. Das ist eine gute Ausgangslage für die gewiß schwierige und mühsame Arbeit. Allerdings hat sich schon gezeigt, daß die Umsetzung bestimmter Reformen (Steuerreform) auf harten Widerstand starker Wirtschaftsgruppen stößt. Ob das ehrgeizige Ziel bis zum Jahre 2000 voll erreicht werden kann, mag bezweifelt werden. Das ist wohl auch nicht der entscheidende Punkt. Wichtig ist jetzt, der Bevölkerung den Eindruck zu vermitteln, daß die Lösung der kulturellen, wirtschaftlichen, sozialen und politischen Probleme energisch in Angriff genommen wird. Das ist bisher allerdings nur teilweise gelungen. Demokratie heute Guatemala hat bis heute nur zwei Chancen gehabt, ein demokratisches System aufzubauen. Die erste Möglichkeit (1944-1954) wurde gewaltsam beendet. Dieser Phase folgte eine lange Zeit der politischen Gewalt und Militarisierung von Politik und Gesellschaft. Die zweite Möglichkeit eröffnete sich seit 1984. Gewalt, Terror, Unterdrückung hatten sich, besonders zu Beginn der 90er Jahre, erschöpft. Vor allem die Militärs verloren ihren vorherrschenden Einfluß. Seit dieser Zeit hat ein mühsamer Prozeß der Demokratisierung begonnen. In diesem Zusammenhang ist der Hinweis wichtig, daß Guatemala über keine Tradition mit der Demokratie verfügt. Demokratie als Staats- und Lebensform ist bisher kein fester Bestandteil der politischen Kultur geworden. Dafür waren die Zeiträume, in denen sich Demokratie und demokratisches Bewußtsein entwickeln konnten, zu kurz. Demokratisches Verhalten entwickelt sich erst über längere Zeiträume. Hinzu kommt fernerhin, daß andere Bedingungen der Demokratie noch nicht oder nur teilweise vorhanden sind. Demokratie ist nur möglich, wenn es einen sozio-ökonomischen Interessenausgleich gibt. In einer Gesellschaft, in der klei-
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ne Gruppen viel besitzen, die Mehrheit der Bevölkerung aber in Armut lebt, kann ein sozio-ökonomischer Interessenausgleich nicht entstehen. Das Friedensabkommen vom 29.12.1996 sieht zwar wichtige Veränderungen auf diesem Gebiet vor, aber bisher sind die sozio-ökonomischen Reformen noch nicht sehr weit vorangekommen. Es sind vornehmlich die strukturellen und machtpolitischen Hindemisse, die einer zügigen Reform politisch im Wege stehen. Aber die Reformen sind notwendig und sie müssen schnell verwirklicht werden. Andernfalls droht eine soziale Explosion. Die Gegensätze zwischen Reichtum und Armut im Lande sind schon heute unerträglich. In Guatemala muß dringend ein System der sozialen Gerechtigkeit etabliert werden. Das ist für den Bestand und den Konsens in der Demokratie unerläßlich. Demokratie braucht eine kulturelle Identität. Für Guatemala ist das ein entscheidendes Thema. Ladinos und Mayas in einer interkulturellen Demokratie zusammenzuführen — diese Herausforderung muß gelöst werden. Die interkulturelle Integration muß die Grundlage einer politischen Kultur in Guatemala werden. Demokratische Tugenden wie Geduld, Toleranz, Gemeinschaftssinn, Sinn für Gerechtigkeit, Dialog- und Kompromißbereitschaft (Thesing 1987: 2935) müssen eingeführt, praktiziert und geschützt werden. Die Partizipation der Maya-Bevölkerung in einer demokratischen Gesellschaft in Guatemala zu ermöglichen, das ist eine schwierige politische Aufgabe, die gelöst werden muß. Die Mayas müssen mit ihren eigenen Werten, Traditionen und Verhaltensweisen Bestandteil der interkulturellen Demokratie sein (de Paz 1997: 213-223). Eine stabile Demokratie in Guatemala braucht eine institutionelle Struktur, die das Fundament der Demokratie bildet. Dazu gehören: Parlament, politische Parteien, Öffentliche Verwaltung. Diese Institutionen müssen so reformiert werden, daß sie den demokratischen Notwendigkeiten entsprechen. Aber von ausschlaggebender Bedeutung ist eine grundlegende Reform des Justizwesens und der Aufbau eines Rechtsstaates, der eine solche Bezeichnung verdient. In einem Land, in dem über Jahrhunderte Gewalt, Unterdrückung, Terror, Militarisierung und extreme soziale Ungerechtigkeit geherrscht haben, hängt die Glaubwürdigkeit und die Regierungsfahigkeit der Demokratie von einem funktionierenden Rechtsstaat ab. In Guatemala müssen deshalb radikale Reformen durchgesetzt werden, um dieses Ziel zu erreichen. In dem Friedensabkommen vom 29.12.1996 sind dazu vielfaltige Instrumente vereinbart worden. Sie müssen nur umgesetzt werden. Wendet man sich der Frage zu, welche Veränderungen im Demokratieverhalten der Guatemalteken sich in den letzten Jahren ergeben haben, so lassen sich folgende Beobachtungen beschreiben. Sie basieren auf einer Studienreihe von ASIES (1998), die in den letzten Jahren kontinuierlich diese Entwicklung beobachtet und durch Umfragen einer empirischen Analyse zugeführt hat.
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Bemerkenswert ist, daß die Guatemalteken in den letzten Jahren stärker am politischen Geschehen mitwirken. Dreiviertel der Bevölkerung waren 1997 in einer Organisation der Zivilgesellschaft aktiv. 46,5% wirkten sogar in zwei oder mehreren Organisationen mit. Berücksichtigt werden muß dabei, daß Guatemala kein reiches Land ist und der Großteil der Bevölkerung wegen des täglichen Überlebenskampfes nicht über sehr viel freie Zeit verfügt. So ist diese Entwicklung sehr erfreulich. Es sind vor allem lokale Organisationen, in denen die Guatemalteken tätig sind. Interessant ist die Entwicklung seit 1993. In diesem Jahr waren 29% der Bevölkerung nicht für eine Organisation aktiv, 1997 betrug die Zahl der Inaktiven 24,9%. Auch wurde festgestellt, daß die Kluft zwischen den Aktiven, die über einen gewissen Grad an Bildung verfügen, und den Analphabeten nicht sehr groß ist. Daraus folgt, daß auch die Analphabeten sehr wohl für Aktivitäten innerhalb der kommunalen Struktur der Zivilgesellschaft ansprechbar und aktivierbar sind (ASIES 1998: 102). Die Frauen in Guatemala nehmen weniger als die Männer an Aktivitäten von Organisationen der Zivilgesellschaft teil. Allerdings sind die Frauen aktiver in kirchlichen Organisationen (56% der Frauen, 52% der Männer). In Schulgruppen wirken 46% der Frauen und 43% der Männer mit. Geht man der Frage nach, welche Institutionen für die Guatemalteken den höchsten Grad an Glaubwürdigkeit genießen, so sind es die lokalen Strukturen (Municipio), die an erster Stelle stehen. 59% der Bevölkerung haben Vertrauen in die lokalen Strukturen. 13% nehmen an Veranstaltungen der lokalen Behörden teil, und 17,4% haben diese um konkrete Hilfe gebeten. 59% der Landbevölkerung und 58% der Stadtbevölkerung waren mit den Leistungen der lokalen Behörden zufrieden. Ohne Zweifel bestätigen die Untersuchungen, daß die Gemeindeebene eine wichtige institutionelle Basis für die Demokratie ist. Neben den lokalen Behörden genossen der Procurador de los Derechos Humanos, das Tribunal Electoral und das Verfassungsgericht Ansehen. Bei der Justiz war das anders. Nur 20% der Bevölkerung haben einigermaßen Vertrauen in die Justiz, 18% gar keines und 62% nur ein sehr geringes. Hier spiegelt sich die Erfahrung mit der Justiz wider. Als Gründe werden genannt: Schwieriger Zugang zur Justiz, bürokratische Strukturen und Schwerfälligkeit, Korruption und mangelnde Unabhängigkeit der Richter. Nur 30% der Bevölkerung waren der Meinung, daß die Gerichte die Interessen der Guatemalteken vertreten. Bei der Polizei wurde das nur von 26% so gesehen. Bemerkenswert ist, daß von den Mayas 58% glauben, daß die Ladinos bei den Gerichten bevorzugt werden, 70% glauben sogar, daß die Polizei die Ladinos besser behandelt. Die Ladinos sehen es ähnlich: 49% glauben, daß die Gerichte sie besser behandeln als die Mayas, bei der Polizei werden nach eigener Aussage (55%) die Ladinos besser als die Mayas behandelt.
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Von 1993 bis 1997 hat sich die Zustimmung zur Demokratie verstärkt. 1993 waren es 49% der Bevölkerung, 1995 55,1% und 1997 59%. Der Grad der Zustimmung ist unterschiedlich. Diese Entwicklung hat vor allem damit zu tun, daß durch die zunehmende Partizipation der Bevölkerung in Organisationen der Zivilgesellschaft (Kirche, Schule, lokale Komitees, Berufsorganisationen, Gewerkschaften, Genossenschaften, Nachbarschaftsvereinigungen etc.) der Lernprozeß in der Demokratie positive Wirkungen erzeugt. Versucht man ein Zwischenergebnis der Entwicklung der Demokratie in Guatemala in den letzten Jahren zu formulieren, so müssen folgende Punkte festgehalten werden: a) Seit 1945 sind in Guatemala vier Verfassungen eingeführt worden. Drei Verfassungen wurden durch Militärstaatsstreiche außer Kraft gesetzt (1954, 1963 und 1982). Die Militärs waren lange die politischen Schiedsrichter. Zusammen mit einer kleinen Schicht wirtschaftlicher Machthaber haben sie jeden moderaten Versuch sozialer und politischer Reformen, die Eingliederung der Mayabevölkerung in die Gesellschaft und eine demokratische Entwicklung verhindert. Jede Öffnung wurde durch Unterdrückung von Parteien und Gewerkschaften, die linker oder sozialistischer Ideen verdächtigt wurden, behindert. Die führenden Schichten waren antidemokratisch und lehnten eine erweiterte politische Mitwirkung weiterer Bevölkerungskreise ab. Das hat sich seit 1984 schrittweise geändert. Aber die mit der früheren Zeit gemachte Erfahrung wirkt noch. Sie hat Verhaltensweisen geprägt, die sich erst über eine längere Zeit ändern und dann für die Demokratie einsetzbar sind. Das gilt für die teilweise traumatische Erfahrung, die viele Guatemalteken mit Gewalt, Terror, Mord und Unterdrückung gemacht haben. Vor diesem Erfahrungshorizont entsteht nicht sofort eine Begeisterung und teilnehmende Aktivität für die Demokratie. b) Wertvorstellungen und Verhaltensweisen für die Demokratie entstehen aus den positiven geschichtlichen Erfahrungen mit dem demokratischen System. Dazu gehören kulturelle Voraussetzungen, wirtschaftliche, soziale und rechtliche Bedingungen der Demokratie. In einem Land, in dem es eine „Kultur der Gewalt" gab und immer noch Restbestände davon gibt, ist es nicht so einfach möglich, die Lebenskultur auf Gewaltverzicht aufzubauen. Der Sinn des Demokratischen ist für viele Menschen in Guatemala noch nicht überzeugend erkennbar. Die innere Bindung an die Demokratie fehlt noch. Eine Quelle dieser Bindung, die Rechtsordnung, überzeugt noch nicht. Das Zusammenwirken von Staat, Wirtschaft und Gesellschaft mit dem Ziel, die kulturellen, wirtschaftlichen, sozialen und rechtlichen Voraussetzungen für eine Kultur der Demokratie zu schaffen, hat erst zaghaft begonnen. Die Intoleranz gegenüber dem politischen Widersacher ist noch ein wirksames
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Merkmal der bisherigen politischen Kultur. Im Prozeß des Übergangs von der alten in die neue Gesellschaft, vom alten autoritären in das neue demokratische System machen sich die Widerhaken der Intoleranz und des streitsüchtigen Personalismus immer noch bemerkbar. c) In Guatemala ist der Übergang von den autoritären Diktaturen zur politischen Demokratie durch freie und demokratische Wahlen seit 1984 gelungen. Institutionalisierte Militärdiktaturen wurden schrittweise durch gewählte Zivilregierungen ersetzt. Wahlen sind dabei der Beginn von graduellen Veränderungen. Auch wenn Wahlen frei und fair sind, entsteht daraus nicht sofort und notwendigerweise ein Demokratiekonsens. Bis zur Demokratie des Wahlvorstandes ist in Guatemala der Weg noch sehr weit. Dafür müssen mit Vordringlichkeit die wirtschaftlichen und sozialen Voraussetzungen geschaffen werden. In Guatemala vollzieht sich ein Prozeß der Transformation und des konfliktiven Miteinander. Demokratie entwickelt sich unter teilweise undemokratischen Bedingungen. Es entstehen demokratische Institutionen, Elemente der Demokratie werden stärker, aber sie müssen koexistieren mit sozialen und wirtschaftlichen Resistenzen, die aus der Zeit der autoritären Unterordnung übrig und wirksam geblieben sind. d) Die Demokratie in Guatemala hat heute einen hohen Grad an funktionaler Normalität erreicht. Heute regieren in Guatemala diejenigen, die auf demokratische Weise die Macht erlangt haben. Aber die Regierungsfähigkeit hat sich damit nicht wesentlich verbessert (Torrés Rivas 1996: 50-63). Der Regierungsapparat ist ineffizient. Die ihm zur Verfügung stehenden menschlichen und finanziellen Ressourcen sind unzulänglich. Der Staat hat sich nicht entscheidend verändert. Die Phase der Transformation vom autoritären zum demokratischen System hat er statisch überstanden. Die allgemeine Korruption wird stärker, auch die Kriminalität erhöht sich. Die politische Gewalt verlagert sich zu einer „privatización de la cultura de violencia" (Solís 1997: 18). e) Ganz entscheidend ist, daß die Zivilgesellschaft größeren Einfluß nimmt. Damit einher geht ein beträchtlicher Rückgang des Einflusses der Militärs. Sie müssen das Primat der zivilen Macht anerkennen. Ihr Personal und ihre Ressourcen sind wesentlich reduziert worden. Militärische und paramilitärische Einheiten wurden aufgelöst. Die Militärs haben keine allgemeine Zuständigkeit mehr für Fragen der Sicherheit, ihnen wurde die Kompetenz für die Geheimdienste teilweise entzogen und auch die Militärgerichtsbarkeit wurde eingeschränkt. Die Militarisierung der Gesellschaft und der Politik hat damit ihr Ende gefunden.
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Kurzum: Guatemala befindet sich in einer Phase der Entwicklung, in der es eine gute Chance hat, eine eigenständige, stabile und längerfristige Demokraisierung in Gang zu setzen. Es ist ein hoffnungsvoller Beginn, der aber noch iber viele Hindernisse geführt werden muß. Literatur Adams, Richard N. (1970): Crucifixión by Power. In: Essays on Guatemalan National 5ocial Stnicture 1944-1966. Austin/London, University of Texas Press. S. 238-277. Aguilera Peralta, Gabriel E. (1970): La violencia en Guatemala como fenómeno poítico. Guatemala. ASIES (Asociación de Investigación y Estudios Sociales) (1998): La Cultura Democrátca de los Guatemaltecos. Tercer Estudio 1997. Guatemala. CEH (Comisión para el Esclarecimiento Histórico) (1999): Memoria del Silencio. Concusiones y recomendaciones del Informe de la Comisión para el Esclarecimiento Histirico. Guatemala. De Paz, Marco Antonio (1997): Die Partizipation des mesoamerikanischen Maya-Volles in einer demokratischen Gesellschaft. In: Utta von Gleich (Hrsg): Indigene Völker in Uteinamerika. Frankfurt/M. Herrera, Guillermina (1997): Idiomas Indígenas: Situación Actual y Futuro. In: Historia General de Guatemala. Tomo VI. Guatemala. S. 355-366. Móbil, José Antonio/Déleon Meléndez, Ariel (1991): Guatemala: su pueblo y su historia Vol. I. Guatemala. Monteforte Toledo, Mario (1998): Vinicio — Entrevista con el Expresidente Vinicio C:rezo. Guatemala. S. 158-173. Morales, Mario Roberto (1998): Construyendo la identidad ladina. Estudios Sociales 59:17. ODHAG (Oficina de Derechos Humanos del Arzobispado de Guatemala) (1998): Guabmala — Nunca más. 4 Tomos. Guatemala. Schlesinger, Stephen/Kinzer, Stephen (1982): Bitter Fruit — The Untold Story of the American Coup in Guatemala. New York. Solis, Luis Guillermo (1997): Fin de la Transición Democrática en Centroamerica In: PNUD (Programa de las Naciones Unidas para el Desarrollo). El desafío democrático. San José/ Costa Rica. S. 17-18. Thesing, Josef (1970): La política en Guatemala. In: Nelson Amaro (Hrsg): El Reto del Desarrollo en Guatemala. Guatemala. S. 217-248. Thesing, Josef (1987): Ciencia Política y Democracia en Guatemala. Guatemala, URL. S. 2935. Thesing, Josef (1993): Al Rescate de la Democracia en Guatemala — El Golpe de Estalo del Presidente Serrano y las consecuencias. Guatemala, INCEP. S. 3-30. Thesing, Josef (1997): Frieden in Guatemala. KAS-Auslandsinformationen 1: 20-41.
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Kulturelle Wechselbeziehungen zwischen Europa und Lateinamerika
Von der Metaphysik- und Sprachkritik des Wiener Kreises zu Jorge Luis Borges und Ernesto Sábato CHRISTOPH STROSETZKI Círculo de Viena sostuvo que la metafísica es una rama de la literatura fantástica. Y ese aforismo que enfureció a los filósofos se convirtió en la plataforma literaria de Borges." (Sábato 1971: 244)
„Los mortales que hayan leído el Tractatus de Wittgenstein pueden darse con una piedra en el pecho porque es una obra difícil de conseguir: pero el Círculo de Viena se disolvió hace años, sus miembros se dispersaron sin dejar huella y yo he decidido declarar la guerra a los cavalieri della luna." (Parra 1954: 81) Wenn man verstehen will, was Wittgenstein und der Wiener Kreis für Nicanor Parras .Advertencia al lector" zu „Poemas y antipoemas" (1954) bedeuteten, muß man sich die Beziehung zwischen Metaphysik und Sprache vergegenwärtigen. Der Wiener Kreis führte die Probleme der Metaphysik auf die falsche Verwendung von Sprache zurück. Im „Tractatus Logico-Philosophicus" kam der frühe Wittgenstein zum vielzitierten Schluß: „Wovon man nicht sprechen kann, darüber muß man schweigen." (Wittgenstein 1960: 83) Wenn sich nun Parra als Fortsetzer einer solchen Sprachkritik sieht, dann richtet er sich jedoch nicht gegen die Tradition der abendländischen Metaphysik, sondern nach Niall Binns (1995: 83-99) gegen das als cavalieri della luna bezeichnete Dreigestirn am Himmel der chilenischen Lyrik, zu dem Pablo Neruda, Vicente Huidobro und Pablo de Rokha gehörten. So unterschiedlich die drei großen Autoren auch waren, verbindet sie doch die heftige Polemik, die sie miteinander unterhielten. Diesen drei Autoren gegenüber definiert sich Parra im selben Gedicht. als Sabelius und wird damit dem Häretiker vergleichbar, der im dritten Jahrhundert das Dogma der Dreifaltigkeit umstieß. Der antidogmatische Anspruch ist es auch, den Parra bei Wittgenstein und dem Wiener Kreis bewundert. Da Wittgensteins „Tractatus Logico-Philosophicus" erst 1957 ins Spanische übersetzt wurde, war er im spanischen Sprachraum lange Zeit nicht verbreitet und nur wenige, wie z. B. Parra, als er sich in Oxford aufhielt, hatten das Glück,
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ihn zu lesen, während die große Mehrheit, bei der auch der Wiener Kreis keine Spur hinterlassen hatte, nach wie vor an metaphysischen Dogmen festhielt. Den antidogmatischen Anspruch des Wiener Kreises nimmt Parra für seine Antipoetik in Anspruch und lehnt damit den hermetischen und „metaphysischen" Sprachgebrauch jener cavalieri della luna ab, die, den Blick auf den Mond gerichtet, die Realität aus den Augen verlieren, und von dem sprechen, wovon man nicht sinnvoll sprechen kann. Wie Wittgenstein war Parra Mathematiker. Während Parra in Oxford tätig war, lehrte Wittgenstein in Cambridge, wo er 1931 starb. Auch dieser biographische Hintergrund erklärt, warum Parra mit seinen in England entstandenen und 1954 erschienenen Antipoemas an Wittgenstein anknüpft. Allerdings bleibt bei Parra die Bedeutung der Metaphysik, deren Kritik er übernimmt und auf die poetologische Ebene überträgt, anders als bei Borges oder Säbato primär eine metaphorische. Der Wiener Kreis und Wittgenstein Worin aber besteht die Sprachkritik als Metaphysikkritik des Wiener Kreises, der Wittgenstein wichtige Anregungen zu verdanken hatte? Die Mitglieder des Wiener Kreises gaben von 1930-1938 die Zeitschrift „Erkenntnis" heraus und mußten dann wegen des Anschlusses Österreichs an das nationalsozialistische Deutschland emigrieren. Ihr Anliegen war es, das Scheinwissen der Philosophietradition dadurch zu überwinden, daß die Logik für die Philosophie jene Rolle erhalten sollte, die die Mathematik für die Physik hatte. Der führende Kopf der Gruppe, Rudolf Carnap, rügte den im Vergleich zu den Naturwissenschaften mangelnden Erkenntnisfortschritt in der Philosophie, insbesondere in der Metaphysik. Sie solle daher künftig nicht weiter eigene Aussagen über die Welt machen, sondern die Aussagen jener Wissenschaften untersuchen, die für Aussagen über die reale Welt zuständig seien. Ziel der Philosophie solle es sein, sinnvolle von sinnlosen Sätzen zu unterscheiden. Ein Satz sei dann sinnvoll, wenn es ein Unterschied ist, ob er wahr oder falsch ist bzw. ob er verifiziert werden kann. R. Camap unterscheidet in seiner Schrift „Scheinprobleme in der Philosophie" (1928) drei Typen von Aussagen: die einen über logische Verhältnisse und Zusammenhänge, die anderen sind empirisch verifizierbare Sätze, und den dritten Typ bilden die Sätze, die etwas über die Wirklichkeit zu sagen beanspruchen, aber nicht verifizierbar, also sinnlos sind. Was aber sind sinnlose Aussagen? Sie sind an unterschiedlichen Merkmalen zu erkennen. So können sie, wie z.B. die „Weltseele" oder die Eigenschaft „babig" („babig" ist ein erfundenes Wort ohne Bedeutung), Wörter enthalten, die schon als solche keine klare Bedeutung haben (Carnap 1966: 49). Aber auch sinnvolle Wörter können eine
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sinnlose Aussage bilden, wenn sie gegen die Regeln der Syntax verstoßen (z. B. „Das Nichts nichtet"). Auch dann muß man von einer sinnlosen Aussage sprechen, wenn sie prinzipiell nicht intersubjektiv durch Beobachtung überprüft werden kann, wobei dann auch deren Mitteilbarkeit problematisch wird. Wo man schließlich nicht klar zwischen Erkennen und Erleben unterscheidet, liegt keine beweisbare Erkenntnis vor, sondern der Ausdruck eines Erlebens, z. B. eine Gefühlslage, wie sie durch Literatur und Kunst vermittelt wird. Wer in Begriffen dichtet, ruft kein Erkennen, sondern nur ein Erleben hervor. In „Logische Syntax der Sprache" (1934) unterscheidet R. Camap, der ab 1936 in Chicago lehrt, zwischen einer Objektsprache, die sich auf die Untersuchungsgegenstände bezieht, und einer Metasprache, die sich auf die Objektsprache bezieht. Die Philosophie sollte metasprachlich ausgerichtet sein und sich auf die Objektsprache, nicht auf Objekte beziehen. Die Bemühungen um Syntax und Semantik führten ihn einerseits zur Konstruktion von Sprachen in der symbolischen Logik, andererseits zum Interesse an international konstruierten Kunstsprachen, wie dem Esperanto. Der Philosoph wird also nach Camap zum „Konstrukteur von Sprachen". Ludwig Wittgenstein hatte ab 1912 in Cambridge bei Bertrand A. W. Rüssel studiert, der in den Naturwissenschaften das einzig mögliche Mittel der Erkenntnis sah, die Philosophie auf die Problemstellung beschränkte und ihr die Fähigkeit der Problemlösung absprach. Daraus ergab sich Wittgensteins früher positivistischer Ansatz im „Tractatus Logico-Philosophicus", der in einer deutsch-englischen Ausgabe im Jahr 1922 erschien, und der die Metaphysik als das ablehnte, wovon man nicht sprechen kann, sondern worüber man schweigen muß. Wittgenstein selbst charakterisiert seinen Text als etwas zu Überwindendes, das man als unsinnig erkennt, wenn man es einmal verstanden hat: Der Leser „muß sozusagen die Leiter wegwerfen, nachdem er auf ihr hinaufgestiegen ist. [...] Er muß diese Sätze überwinden, dann sieht er die Welt richtig." (1960: 83) Diesen frühen Ansatz revidiert Wittgenstein in seinen „Philosophischen Untersuchungen" (1945). Bestehen bleibt aber die kritische Beschäftigung mit der Beziehung von Sprache und Erkenntnis. Letztere sieht er allerdings nicht mehr semantisch, sondern pragmatisch: „Ich werde auch das Ganze: der Sprache und der Tätigkeiten, mit denen sie verwoben ist, das .Sprachspiel' nennen." (Wittgenstein 1969: 293) Festzuhalten ist also, daß Wittgenstein und der Wiener Kreis die ungelösten Probleme der Metaphysik als Resultate falscher Sprachverwendung sehen und ihre Ausklammerung aus der Philosophie fordern, die sich künftig metasprachlich auf Sprachkritik bzw. Sprachkonstruktion zu konzentrieren habe, da Erkenntnisse Uber die Wirklichkeit den Naturwissenschaften vorbehalten seien. Die traditionelle Metaphysik sei nicht anders als Literatur und Kunst Ausdruck
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eines Erlebens und nicht eines Erkennens, vermittele daher keine „sinnvollen" oder verifizierbaren Sätze. Auf diese Thesen kann man nun unterschiedlich reagieren. Man kann sie wie Sábato relativieren oder wie Borges zur Basis einer Poetik machen, in der tatsächlich die philosophische Metaphysik zum Spielball literarischen Gestaltens und Erlebens wird. Jorge Luis
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Borges wurde besonders vom Philosophen und Sprachkritiker Fritz Mauthner (1849-1923) beeinflußt, der schon vor Wittgenstein davon überzeugt war, daß Sprache das wichtigste zukünftige Thema der Philosophie sei. Wie Wittgenstein betreibt er Vernunftkritik als Sprachkritik, auch wenn Wittgenstein im „Tractatus" Rüssel näher steht als Mauthner.1 Silvia G. Dapia (1993) erinnert daran, daß Borges selbst gesagt hat, das „Wörterbuch der Philosophie" Mauthners (1910) sei eines der Werke gewesen, die er immer wieder gelesen und mit Anmerkungen versehen habe (Borges 1974: 276). Arturo Echevarría konnte daher zwischen Borges und Mauthner in der Sprachauffassung drei Übereinstimmungen konstatieren: Beide sehen Sprache als willkürliches Symbolsystem, betonen den sozialen Charakter der Sprache und bestreiten die Möglichkeit der Sprache als Wirklichkeitsabbildung (Echevarría 1983; Dapia 1993: 29). Wo zum Beispiel Borges in „Tlön, Uqbar, Orbis Tertius" Enzyklopädien anführt, will er damit die Vorstellung kritisieren, man finde darin ein vollständiges Abbild der realen Welt. 2 Auch damit folgt er nach Dapia Mauthner, bei dem es angesichts der Zeitbedingtheit eines jeden Wissenssystems heißt: „Und so kam ich zu der Überzeugung: es kann ein objektives System des Wissens nicht geben, auch die äußerste Besinnung muß subjektives Menschenwerk bleiben." (1910: I, 396) Allgemeiner formuliert Mauthner: „Wissen ist Wortwissen. Wir haben nur Worte, wir wissen nichts." (1918: 231) Zwar sei es möglich, Ideen und Vorstellungen miteinander zu vergleichen, jedoch nie mit dem Ding an sich. Erkenntnis ist für Mauthner die Sehnsucht, über die Sprache hinauszukommen, bzw. die Illusion der Metaphysiker über die Sprache hinausgekommen zu sein (Kühn 1975: 64). Eben die Frage, ob es möglich ist, die Grenzen von Sprache, Literatur, Bewußtsein und Vorstellung zu überschreiten, um so zur 1
„4.0031— Alle Philosophie ist .Sprachkritik'. (Allerdings nicht im Sinne Mauthners.) Russeis Verdienst ist es, gezeigt zu haben, daß die scheinbare logische Form des Satzes nicht seine wirkliche sein muß." (Wittgenstein 1969: 26) 2 Es ist sicher vereinfachend, Borges' Sprachkritik wie Jaime Rest als nominalistisch zu bezeichnen, da der Nominalist in den Allgemeinbegriffen Konventionen sieht, aber die Möglichkeit der Beschreibung oder Erklärung der Welt nicht leugnet (Rest 1976: SO).
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Welt an sich zu gelangen, erscheint M. Benavides bei Borges von zentraler Bedeutung (1992: 260). Die Beantwortung dieser Frage läßt Borges offen, indem er bewußt in seinen Texten die Linien zwischen Objektebene und Metaebene, Realität und Fiktion sowie zwischen Literatur und philosophischer Metaphysik verschwimmen läßt. R. Gutiérrez Girardot formuliert es so: „.Crítica literaria', .filosofía' o, como también cabría decir, .metafísica' e invención .poética' no son en Borges actividades intelectuales diferentes, sino caminos del laberinto que en busca de la salida se entrecruzan, se sorprenden recíprocamente de la busca, de sí mismos y del laberinto, pero conscientes de que el laberinto no tiene salida, siguen buscándola." (1992: 296) Insofern zieht Borges aus seiner Kritik der traditionellen Metaphysik andere Konsequenzen als der logische Positivismus. Während letzterer versuchte, eine neue, logisch exakte Sprache zu schaffen, behält Borges die Unzulänglichkeiten der metaphysischen Sprache bei und unterstreicht ihren fiktionalen Charakter, indem er sie zu Elementen von Erzählungen macht. Nicht anders ist er zu verstehen, wenn er sagt: J a metafísica es una rama de la literatura fantástica." (Borges 1974: 436) Seine phantastischen Welten entstehen aus grammatikalischen Experimenten mit metaphysischen Implikationen. „Pensé en un mundo sin memoria, sin tiempo; consideré la posibilidad de un lenguaje que ignorara los sustantivos, un lenguaje de verbos impersonales o de indeclinables epítetos." (Borges 1974: 539) Dabei ist er als Schriftsteller von zahlreichen Autoren vor ihm geprägt. Die Sprache übernimmt er als eine Tradition, als eine Art Weltgefühl und nicht als beliebiges Repertoire von Symbolen. (Borges 1974: 1081) Seine Erzählungen kennzeichnet ein gelehrtes Spiel mit vorhandenen oder erfundenen intertextuellen Referenzen (Blüher 1995: 119-131). Und jede einzelne Erzählung ist wiederum polyvalent und entzieht sich der eineindeutigen Zuordnung (Fleming 1993: 115-118). Besonders deutlich wird dies bei der Metapher, deren zentrale Bedeutung schon der frühe Borges des Ultraísmo unterstreicht: „Hemos sintetizado la poesía en su elemento primordial: la metáfora, a la que concedemos una máxima independencia." (Borges 1921) Deutlich wird hier auch die Vorstellung, daß Literatur primär als subjektives Erlebnis, und nicht als Aussage über die Wirklichkeit zu verstehen ist. Nicht anders als die neuere Literaturkritik konstatierte bereits Sábato, daß Borges mit der Philosophie spielerisch und eklektizistisch umgehe. Aus ästhetischem Interesse suche er das Eigentümliche, das Unterhaltsame und Erstaunliche, wie z. B. logische Paradoxa, regressus ad infinitum, die er für seine Erzählungen nutze. Eklektizistisch könne Borges mal auf Parmenides, mal auf Berkeley zurückgreifen. Das sei für ihn unproblematisch, „ya que él no se propone la verdad." (Sábato 1971: 245) Er gehe durch die Welt philosophischen Den-
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kens wie ein Sammler durch einen Antiquitätenladen. Intellektuelle Spiele mit erfundenen Welten ohne Bezug zur Realität faszinieren ihn. Philosophische oder metaphysische Erkenntnis suche er nicht. Seine Rhetorik macht ihn nach Sábato nicht zum Philosophen, sondern zum Sophisten: „quiere no participar en el siempre duro proceso de la verdad, toma del intelecto lo que tomaría un sofista: no busca la verdad sino que discute por discutir, por el solo placer mental de la discusión, y, sobre todo, eso que tanto le gusta a un literato como a un sofista: la discusión con palabras sobre palabras." (Sábato 1971: 246) Was Borges in Erzählungen wie „Tlön, Uqbar, Orbis Tertius" schreibe, können weder er noch seine Leser für wahr halten,,.aunque a todos nos encanta lo que tiene de posibilidad metafísica." (Sábato 1971: 246) Und so ist es auch, wenn er von der Welt als wiederholbaren Traum, der Unsterblichkeit durch Transmigration oder durch die Erinnerung anderer spricht oder versichert, daß diese nur in der Ewigkeit existiere: „Todo es igualmente válido y nada en rigor vale." (Sábato 1971: 247) So kommt es, daß die Metaphysik nicht weniger Erkenntniswert hat als die phantastische Literatur. Während der Wiener Kreis zwar den Erkenntniswert der Metaphysik dem der phantastischen Literatur gleichgesetzt hat und daraus Konsequenzen für eine Reform der Philosophie zugunsten künftigen Erkenntnisgewinns ableitete, kümmerte sich Borges nicht um Abhilfe, machte aus der Not eine Tugend und schuf eine phantastische Literatur mit philosophischen Elementen. Sábato konstatiert: „El Círculo de Viena sostuvo que la metafísica es una rama de la literatura fantástica. Y ese aforismo que enfureció a los filósofos se convirtió en la plataforma literaria de Borges." (Sábato 1971: 244) Ernesto Sábato Für Sábato dagegen geht es in der Literatur nach wie vor um Erkenntnis, gerade bei metaphysischen Fragen. 3 Ihnen gegenüber erscheinen ihm die mathematischen Symbole als marmornes Museum. Das Individuum frage sich, wozu dieser Aufwand zur Beherrschung der Welt nutze sei, wenn damit „su angustia ante los eternos enigmas de la vida y de la muerte" ungelöst bleibe. Wesentlich seien dagegen metaphysische Fragen wie ,¿Tiene algún sentido la vida? ¿Qué significa la muerte? ¿Somos un alma eterna o meramente un conglomerado de
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„Para Sábato, la narrativa es una penosa elaboración estilística tendiente a alcanzar efectos concretos (cognoscitivos); para Borges, la escritura es el resultado de una actitud de elegancia respecto a la vida. Según Sábato no se podría vivir sin literatura, sin sistemas justificativos de los pensamientos, de las opciones de todos los días; según Borges, se viviría mejor." (Campa 1983: 17)
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moléculas de sal y tierra? ¿Hay Dios o no?" (Sábato 1988: 61). 4 Gegenüber diesen Problemen seien das Gravitationsgesetz, die Dampfmaschine und die kantischen Kategorien Kinderspiele. Wenn die Vergänglichkeit ein zentrales Problem darstelle, dann werde dies nirgendwo so betont wie in Lateinamerika.5 Die Fragen des einzelnen Individuums können Logik und Naturwissenschaft schon deshalb nicht beantworten, weil sie sich im Allgemeinen und nicht wie die Kunst im individuell Konkreten bewege. Demgegenüber besitze der Dichter mit dem Stil ein individualisierendes Mittel.6 Die Sprache der Literatur ist in der Lage, metaphysisch zu sein und entsprechende Erlebnisse zu vermitteln. Jeder der großen Romanautoren wie Balzac, Dostojewski oder Proust, vermittelt eine „visión del mundo", „una intuición del mundo y de la existencia del hombre; pues a la inversa del pensador puro, que nos ofrece en sus tratados un esqueleto meramente conceptual de la realidad, el poeta nos da una imagen total. [...] el artista tiene de comunicamos una verdad sobre el cielo y el infierno, la verdad que él advierte y sufre. No nos da una prueba, ni demuestra una tesis, ni hace propaganda de un partido o una iglesia: nos ofrece una significación." (Sábato 1971: 262) So erfolgt der dichterische Zugang zur Wahrheit nicht über den Beweis oder durch Propaganda, sondern durch ein sinnhaftes „Erleben", wie Carnap sagen würde. Deutlich wird bei Sábatos Definition des Sinns der Kunst ex negativo auch der Einfluß des Neukantianismus: Mit Windelband stellt er der nomothetischen Naturwissenschaft die idiographische Geisteswissenschaft gegenüber, und mit Dilthey nennt er die „Weltanschauung" als Grundkategorie. Nicht durch den Neokantianismus, sondern durch die Sprachkritik des Wiener Kreises bedingt zu sein, scheint Sábatos Frage, ob die Dichtung ähnlich wie die Naturwissenschaft eine spezifische neue Sprache benötigt. Eine Trennung jedoch von Alltagssprache und Dichtungssprache hält er für falsch, da es keine dichterischen Worte, sondern nur dichterische Sachverhalte gibt, die ihrerseits mit einer möglichst einfachen und durchsichtigen Sprache,
4 Dafür, daß das Wort Metaphysik bei einigen Interpreten Sábatos eine ebenso freie wie verschwommene Deutung erhält, ist Raúl Chavarri ein Beispiel: er unterscheidet „relaciones del hombre con cuanto le rodea", „una auténtica metafísica de la esperanza" und „una metafísica de lo sensible, casi próxima a las primacías de lo irracional, sobre las retóricas del raciocinio" (Chavarri 1983: 679). 5 „Pues si el problema metafísico central del hombre es su transitoriedad, aquí somos más transitorios y efímeros que en París o en Roma, vivimos como en un campamento en medio de un terremoto" (Sábato 1971: 39). 6 „El artista es un revelador. Y esa revelación se hace con una forma que se denomina estilo." (Sábato 1971:207)
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d.h. mit der Alltagssprache, ausgedrückt werden sollen (Sábato 1971: 207). Dabei ist gerade die Einfachheit Resultat besonderer Anstrengung.7 Die „novela metafísica" 8 hält Sábato für die angemessene Gattung. Deutlich wird bei seiner Definition der „dramas metafísicos" erneut, daß er wie Carnap Metaphysik und Literatur primär als Erleben konzipiert: „Mi narrativa se propone el examen de los dilemas últimos de la condición humana: la soledad y la muerte, la esperanza o la desesperación, el ansia de poder, la búsqueda de lo absoluto, el sentido de la existencia, la presencia o ausencia de Dios. No sé si he logrado expresar cabalmente esos dramas metafísicos, pero en todo caso es lo que me propuse." (Fernández 1983: 35) Die für die Literatur wesentliche Realität ist also keine objektive, sondern eine erlebte subjektive und als solche sprachlich festgehaltene.9 Objektive Realität ohne subjektive Prägung gibt es nicht, auch nicht in der Kunst. Sábato kritisiert die poetologischen Vorstellungen der Realisten, die zu Unrecht davon ausgingen, es gebe außerhalb des Menschen eine Realität, die unabhängig von subjektiven Wahrnehmungen und Einsichten gekannt, beschrieben oder gezeichnet werden könne (Sábato 1981: 125). Bildlich veranschaulicht er seine Kritik an Stendhals Realismus: „Suponiendo posible la reproducción fiel del mundo externo, no veo para qué esa inútil duplicación. Muchos se proponen este desatinado oficio de papel carbónico con tanta furia como ineficacia, por ignorar que el hombre es un papel carbónico que presta a la realidad externa su propio color." (Sábato 1981: 61)10
Am Anfang und am Ende stehe das Subjekt, wie Sábato in verschiedenen Aphorismen verdeutlicht: „Uno se embarca hacia tierras lejanas, o busca el conocimiento de hombres, o indaga la naturaleza, o busca a Dios; después se advierte que el fantasma que se perseguía era Uno-mismo." (Sábato 1981: 15)11 7
„Todos los grandes escritores escriben con sencillez, pero casi siempre a costa de mucho esfuerzo." (Sábato 1971: 209) 8 Im metaphysisch geprägten Kunstwerk Sábatos erkennt Marianne Kuener Ansätze des Existentialismus, aber auch die ästhetische und philosophische Dimension wieder, die die Romantik zum Gesamtkunstwerk verbunden hatte (1991: 25209 „La realidad histórica (la verdad histórica) ya no depende de los „hechos reales" acontecidos, sino que adquiere una naturaleza eminentemente verbal." (Fernández 1983: 38) Bei Sábato sind es die Figuren, die in den Romanen kämpfen, um Antworten auf ihre metaphysischen Probleme zu erlangen und das Rätsel ihrer Existenz zu entschlüsseln (Cersosimo 1992: 194; Kasner 1992: 112). 11 Sábato zitiert auch Eddington folgendermaßen: „Ha perseguido durante siglos las misteriosas huellas dejadas en la arena por alguien, hasta darse cuenta de que esas huellas eran las suyas propias." (1981: 58)
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So gibt die Literatur einer Epoche nicht objektive Sachverhalte wieder, sondern — wieder im Sinn Diltheys — subjektive „Weltanschauungen" ihrer Zeitgenossen. 12 In eine derart subjektiv geprägte Konzeption von Kunst paßt dann auch Sábatos Rückgriff auf Hegel, mit dem er den besonderen Rang der Kunst betont: „Lejos de ser simples apariencias, las formas del arte encierran más realidad y verdad que las existencias fenoménicas del mundo real." (Sábato 1971: 200) Der Bevorzugung des Subjektiven gegenüber dem Objektiven im Leben und in der Literaturauffassung entspricht auch die Priorität des Erlebnisses gegenüber der Reflexion 13 und die Vorstellung, daß der Roman Erkenntnis als Erlebnis in einem Bereich zwischen Ideen und Leidenschaften vermittelt.14 So lassen sich nach Sábato auch metaphysische Ängste nicht als reine Ideen vorstellen, sondern nur in Gefühle und Leidenschaften gekleidet. „Las ideas metafísicas se convierten así en problemas psicológicos, la soledad metafísica se transforma en el aislamiento de un hombre concreto en una ciudad bien determinada, la desesperación se transforma en celos, y la novela o relato que estaba destinado a ilustrar aquel problema termina siendo el relato de una pasión y de un crimen." (Sábato 1971: 14) Aus der philosophischen wird eine psychologische Metaphysik, aus dem allgemeinen Traktat ein konkreter Roman. So sehr Sábato die Vorzüge metaphysischer Literatur hervorhebt, so sehr kritisiert er die Mängel der Naturwissenschaft. Zwar sei ihre Methode der genauen Beobachtung und der logischen Analyse durchaus von Dauer. Betrachte man jedoch ihre Erkenntnisse, muß man feststellen, daß sie nur von zeitlich begrenzter Gültigkeit sind. So wurden die Lehren des Ptolomäus von Kopernikus überwunden. Einstein brachte eine neue Korrektur hervor, die auch wieder durch eine komplexere Theorie korrigiert werden werde. Der naturwissenschaftliche Fortschritt lasse sich also häufig auf derartige dialektische Negationen zurückführen. (Sábato 1981: 44) Auch wenn der Laie die Macht der Naturwissenschaft bewundere und ihre Vertreter wie Albert Einstein oder Marie Curie verehre, hätten Fachvertreter bereits Zweifel daran, daß die zunehmend wachsende Abstraktion der Naturwissenschaft weiter wachsende Macht mit sich 12
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„El arte de cada época trasunta una visión del mundo, la visión del mundo que tienen los hombres de esa época y, en particular, el concepto que esa época tiene de lo que es la realidad." (Sábato 1988: 67) „Primero el hombre vive en el universo, y luego reflexiona sobre él y sobre su esencia." (Sábato 1971: 200) „[...] la literatura intenta una síntesis de lo racional con lo irracional, de lo subjetivo con lo objetivo." (Sábato 1971: 203)
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bringe. Dies beunruhige die Fachvertreter so sehr, daß sie daran zu zweifeln begännen, daß die Naturwissenschaft überhaupt noch in der Lage sei, die Realität zu erfassen (Sábato 1981: 26). Die gerade vom Wiener Kreis postulierte mathematisch-logische Sprache laufe Gefahr, sich zu verselbständigen und eine andere Art von phantastischer Literatur zu produzieren. „E1 poder de la ciencia se adquiere gracias a una especie de pacto con el diablo: a costa de una progresiva evanescencia del mundo cotidiano. Llega a ser monarca, pero, cuando lo logra, su reino es apenas un reino de fantasmas." (Sábato 1981: 27-28) Nicht nur wegen ihrer Abstraktheit erleidet die Sprache der Naturwissenschaft einen Realitätsverlust. Sábato zitiert Rüssel, für den die Physik nicht deswegen mit der Mathematik gleichzusetzen ist, weil wir viel von der Außenwelt wüßten, sondern weil das, was wir von ihr wissen, sehr wenig ist. Wie könnten aber Notwendigkeit und Exaktheit als Eigenschaften der Logik und der Mathematik in der Psychologie Erfolg haben, wo sie doch schon kaum geeignet seien, die physische Realität zu erfassen, fragt Sábato (1981: 21). Gerade wegen ihrer mathematischen Form gehen der Naturwissenschaft wertvolle Bereiche der menschlichen Realität verloren: „[...] sus emociones, sus sentimientos de arte o de justicia, su angustia frente a la muerte. Si el mundo matematizable fuera el único verdadero, no sólo seria ilusorio un palacio soñado, con sus damas, juglares y palafreneros; también lo serian los paisajes de la vigilia o la belleza de una fuga de Bach. O por lo menos sería ilusorio lo que en ellos nos emociona." (Sábato 1981: 30-31) Die Idee des Wiener Kreises, daß die mathematisierte Sprache der Naturwissenschaften Fortschritte ermöglicht, während die Sprachen von Metaphysik und Literatur seit Jahrhunderten nicht sichtbar vorangekommen seien, nimmt Sábato auf, nicht allerdings ohne den Fortschritt zu relativieren und den Stillstand als Vielfalt gleichberechtigter Entwürfe zu deuten. „Cada época, cada pueblo encuentra el lenguaje que mejor expresa su pathos y su ethos. Y, significativamente, lo logra luchando contra la generalización del lenguaje conceptual." (Sábato 1971: 202) Die Sprache der Naturwissenschaft wie z. B. eine Theorie des Pythagoras bleibt mit ihren ausschließlich logischen Setzungen für immer den Werten von Ethik und Ästhetik fremd. Sábato stimmt dem Wiener Kreis zu, wenn er bedauert, daß es für die Naturwissenschaft von Schaden war, sich der Wörter der Alltagssprache zu bedienen, um abstrakte Sachverhalte zu symbolisieren. Da diese Wörter Konnotationen aus der Lebenswelt hatten und emotional belegt waren, mußten sie den Fortgang des Denkens behindern. So war es für Sábato eine berechtigte Konsequenz, daß man in den Naturwissenschaften „esta contaminación sentimental" dadurch beendete, daß man sich einigte auf „una tranquila multitud de símbolos desposeídos de cualquier otro significado
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que el convenido por sus creadores en exactos congresos internacionales." (1971: 202) Diese logische Kunstsprache ist ganz bewußt von der Alltagssprache unterschieden, die ebenso wenig logisch ist wie Alltagswelt, die nicht nur abstrakte Erkenntnisse formulieren, sondern Gefühle ausdrücken, andere beeinflussen, ihnen Sympathie oder Antipathie einflößen soll. Mit ihren Widersprüchen, Anspielungen und Absurditäten ist die Alltagssprache der Sprache der Literatur vergleichbar. Dies zeigt sich exemplarisch in der Bedeutung der Metapher. Gerade die Tatsache, daß sie etwas anderes meint als sie bedeutet, ist ihr Vorteil. Sie ist nicht bloßer Schmuck oder rhetorische amplificado, sondern die einzige Weise, die der Mensch hat, die subjektive Welt zum Ausdruck zu bringen. Die Metapher wird also zum paradigmatischen Ausdruck subjektiven Erlebens. Für sie gilt insbesondere, daß sie ungeeignet ist, die Wahrheiten der Logik und der Mathematik zu vermitteln, dafür aber das geeignete sprachliche Mittel für die Wahrheiten der subjektiven persönlichen Existenz mit ihren Überzeugungen, Hoffnungen und Ängsten. Obwohl die Metapher die Realität nicht abbildet, sondern Ungleiches gleichsetzt, hat sie für Sábato nicht nur einen psychologischen, sondern geradezu einen ontologischen Wert, da sie in der Lage sei, die tiefsten Schichten der Realität zu beleuchten. 13 Mit ihrer Subjektivität und Konkretheit repräsentiert sie den äußersten Gegensatz zur mathematischlogischen Sprache der Naturwissenschaften, die zwar allgemein und objektiv, aber weltfremd und für Metaphysik und Literatur ungeeignet ist. So teilt also Sábato mit dem Wiener Kreis die Überzeugung von der Notwendigkeit einer logisch-mathematischen Sprache für die Naturwissenschaft. Er übernimmt auch die Vorstellung von der Gleichartigkeit von Literatur und Metaphysik, nicht allerdings um Metaphysik wie bei Borges zum literarischen Spiel werden zu lassen, sondern um gerade aus der Verbindung von Literatur und Metaphysik die eigentlich wichtigen Einsichten zu erwarten. Bei gleichen Prämissen ergibt sich also beim Wiener Kreis eine Aufwertung der Naturwissenschaft und eine Abwertung von Literatur und Metaphysik, während Sábato die Naturwissenschaften ab- und Literatur und Metaphysik aufwertet.
„[...] tiene un valor ontològico, que actúa por alumbramiento de los estratos más profundos de la realidad." (Sábato 1981: 100)
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Wert und Wertwandel als Konzepte der Literaturwissenschaft: Eine theoretische Betrachtung mit Ausblick auf die lateinamerikanische Literatur KARL KOHUT
Es vergeht kaum ein Tag, an dem nicht die Zeitungen von einem Politiker (Wissenschaftler, Theologen) berichten, der den Verlust der Werte beklagt oder aber die Rückbesinnung auf die traditionellen Werte fordert. Die Rede ist von christlichen oder auch sozialen Werten, von der europäischen Wertgemeinschaft oder von den Werten eines bestimmten Landes. Werte, so scheint es, sind in der öffentlichen Diskussion unserer Tage allgegenwärtig. Aber was verstehen wir eigentlich unter diesem Wort? Wert gehört zu den Begriffen, unter denen sich jeder etwas vorstellen kann, die jedoch verschwimmen, wenn man sie genauer zu definieren versucht. Lautmann hat in einer Untersuchung von 1969 rund 180 verschiedene Definitionen gesammelt (siehe dazu auch Klages 1981: 528). Eine größere Klarheit ist auch seither nicht zu verzeichnen. Ein wesentlicher Grund dieser Unschärfe dürfte in der umgangssprachlichen Verwendung des Begriffs liegen. Aus der Perspektive der Wissenschaft gesehen fällt wiederum auf, daß der Begriff von verschiedenen Disziplinen gebraucht wird, was notwendigerweise zu unterschiedlichen Begriffsbestimmungen führt. Es erscheint daher notwendig, die Entwicklung des Begriffs in den verschiedenen Wissenschaften nachzuzeichnen. Seine mögliche Bedeutung für die Literaturwissenschaft läßt sich nur auf diesem Hintergrund darstellen und diskutieren. Philosophie Der Begriff des Werts hat seinen Ursprung in der Philosophie. Der Leipziger Philosoph Hermann Lotze führte den Begriff in seine Metaphysik von 1841 ein, wobei er auf Ansätze früherer Arbeiten u.a. bei Herbart zurückgriff. Nach den Worten von Fritz Bamberger wird bei Lotze der Wert zum ,Jiöchste[n] Prinzip der letzten und umfassendsten Einheit der Synthese des Mannigfaltigen" (Bamberger 1924: 56; zur Geschichte des Wertbegriffs Gutiérrez 1976, zu Lotze 1841: 46-64). Der Wert ist das Prinzip, das die Ordnung der Welt aus dem
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Chaos erstehen läßt, und zugleich das System der Bedeutungen des Daseienden begründet. Am Ende des Jahrhunderts wurde das Konzept von mehreren Philosophen aufgenommen und weiterentwickelt, unter denen vor allem Alexius Meinong (Psychologisch-ethische Untersuchungen zur Werththeorie, 1894) und Christian von Ehrenfels (System der Werttheorie, 1898) zu nennen sind. Der Polemik zwischen beiden Philosophen kommt in der Geschichte der Wertphilosophie ein besonderer Platz zu. Nietzsches nachgelassenes Werk Der Wille zur Macht (Erstausgabe 1901) trug zur weiteren Verbreitung des Wertbegriffs bei, da die Herausgeber es mit dem Untertitel „Versuch einer Umwerthung aller Werthe" veröffentlichten, obwohl Nietzsche ihn im Manuskript gestrichen hatte. In den ersten Jahrzehnten unseres Jahrhunderts erschienen die zentralen Werke der Wertphilosophie, und zwar Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik (1913) von Max Scheler, und die Ethik (1926) von Nicolai Hartmann. Im gleichen Jahr 1926 erschien die General Theory of Valúes von Ralph B. Perry. In diesen Jahren konstatierte der französische Philosoph Maurice Blondel die wachsende Bedeutung der Wertphilosophie.1 Ortega y Gasset stellte die deutsche Wertphilosophie in einem Artikel, den er 1923 in seiner Zeitschrift Revista de Occidente veröffentlichte, dem spanischsprachigen Publikum vor. In diesem Artikel resümiert er die Polemik zwischen Meinong und Ehrenfels, die — wie er schreibt — wesentlich zu einer Klärung des Begriffs beigetragen habe. Dessen ungeachtet lehnt er die Konzeption beider Philosophen ab, da sie nach seiner Meinung den Wert als ausgehend vom Subjekt und folglich als etwas Subjektives definieren. Diesem subjektiven Begriff des Werts stellt er einen objektiven entgegen, der weitgehend dem Konzept Schelers folgt: „Se nos presenta, pues, el valor como un carácter objetivo consistente en una dignidad positiva o negativa que en el acto de valoración reconocemos. Valorar no es dar valor a quien por sí no lo tenía; es reconocer un valor residente en el objeto. No es una quaestio facti, sino una quaestio juris. No es la percatación de un hecho, sino de un derecho. La cuestión del valor es la cuestión de derecho por excelencia. Y nuestro derecho en sentido estricto representa solo una clase
„Si ce qui a prédominé dans la philosophie antique et mediévale, c'est le point de vue de l'être ou de l'objet; si, ensuite, s'est développée au premier plan une philosophie de la connaissance, une critique de l'esprit, on dirait peut-être que nous assistons à l'avènement d'une philosophie de la valeur, grâce à une préoccupation dominante, soit des fins humaines et sociales au service desquelles se mettent la science positive et la civilisation industrielle, soit du problème de la destinée, de la volonté et de l'action" (hier zit. nach dem Vocabulaire technique et critique de la philosophie [1960], Stichwort „valeur", 1182f).
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específica de valor: el valor de justicia." (Ortega 1923: 327; zum Objektivismus des Wertbegriffs bei Scheler siehe Frondizi/Gracia 1975: 192). Etwas weiter betont er den objektiven Charakter des Wertbegriffs noch stärker und gibt ihm mathematische Strenge: „La estimativa o ciencia de los valores será asimismo un sistema de verdades evidentes e invariables, de tipo parejo a la matemática" (331). Am Ende des Artikels stellt Ortega ein Schema der Werte auf, das der Schelerschen Hierarchie weitgehend folgt. Auf der untersten Stufe stehen die nützlichen Werte, denen aufsteigend vitale, geistige (unterteilt in intellektuelle, moralische und ästhetische) und schließlich auf der höchsten Stufe religiöse Werte folgen (334). Den positiven Werten stellt er die negativen Gegenwerte entgegen (z.B. gesund — krank, gerecht — ungerecht, schön — häßlich). In den folgenden Jahren führten mehrere lateinamerikanische Philosophen den Ansatz Ortegas weiter. Ein bedeutendes Datum in dieser Entwicklung ist die spanische Übersetzung von Schelers Werk Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik, die 1941 erschien.2 Die Existenzphilosophie Heideggers und in seiner Nachfolge Sartres ließ die Wertphilosophie in den Hintergrund treten.3 In Sartres Ethik steht die individuelle Wahl des Menschen im Mittelpunkt, mit der dieser für sich eine Entscheidung trifft. In diesem Konzept haben überindividuelle, objektive Werte keinen Platz. Das Konzept der Wahl löst das des Werts ab, wenngleich man argumentieren kann, daß jede Wahl immer auch eine Wertsetzung darstellt. Der Begriff ist dennoch nicht vollständig aus der Philosophie verschwunden, auch wenn er vor allem in Randgebieten auftaucht. Zu verweisen ist etwa auf die Gruppe um die Zeitschrift Esprit in Frankreich (siehe den Artikel von Louis Dumont über „La valeur chez les modernes et chez les autres", 1983) oder die philosophisch orientierte Theologie, der das schmale Buch von Joseph Kardinal Ratzinger über Wahrheit, Werte, Macht (1994) zuzurechnen ist. Sozialwissenschaften In den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg verlagerte sich das Interesse an der Wertforschung von der Philosophie auf die Sozialwissenschaften. John Dewey hat in einem kurzen Artikel von 1944 diesen Prozeß vorweggenommen, indem er die Frage stellte, ob die Werte definitiv und vollständig nur im sozio-kulturellen Kontext behandelt werden könnten: 2
Siehe dazu die Anthologie Frondizi/Gracia von 197S, insbesondere die Einleitung Frondizis zum zweiten Teil (191-193). 3 Zur Kritik des Wertbegriffs bei Heidegger siehe Gutiérrez 1976.
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„Are values and valuations such that they can be treated on a psychological basis of an allegedly .individual' kind? Or are they so definitely and completely socio-cultural that they can be effectively dealt only in that context?" (Dewey 1944: 455). Die Frage stellen hieß sie zu bejahen. Ein wesentlicher Grund für dieses sozialwissenschaftliche Interesse war die Erkenntnis, daß der Begriff des Werts verschiedene Lebensbereiche miteinander verbindet und deshalb als ein zentraler Begriff der sozialen Realität angesehen werden kann. Das gilt in gleicher Weise für den Menschen als Individuum wie auch für die verschiedenen Formen der menschlichen Gemeinschaft. 1949 kam eine Forschergruppe an der Universität von Cornell zu dem Ergebnis: „The concept .value* supplies a point of convergence for the various specialized social sciences, and is a key concept for the integration with studies in the humanities. Value is potentially a bridging concept which can link together many diverse specialized studies — from the experimental psychology of perception to the analysis of political ideologies, from budget studies in economics to aesthetic theory and philosophy of language, from literature to race riots..." (zit. nach Kluckhohn 1962: 389). Ein erster Höhepunkt der sozialwissenschaftlichen Wertforschung war die sogenannte „ H a r v a r d Comparative Study of Values in Five Cultures" vom Ende der 40er und Anfang der 50er Jahre. In der methodischen Grundlegung durch Clyde Kluckhohn erscheinen einige grundlegende Thesen, die in der Forschung bis heute weiterwirken: „1. A value is a conception, explicit or implicit, distinctive of an individual or characteristic of a group, of the desirable which influences the selection from available modes, means, and ends of action" (ibid. 395). „2. Values are clearly, for the most part, cultural products" (ibid. 398). „3. A value orientation may be defined as a generalized and organized conception, influencing behavior, of nature, of man's place in it, of man's relation to man, and of the desirable and nondesirable as they may relate to man-environment and interhuman relations" (ibid. 411). Die Werte, so kann man zusammenfassen, bestimmen das menschliche Handeln. Insofern als Handeln immer auch eine bewußte oder unbewußte Wahl voraussetzt, müssen die Werte ein hierarchisch gegliedertes System bilden, da sonst das Handeln zufallsorientiert wäre. In den 60er und 70er Jahren konzentrierte sich die Forschung zunehmend auf das Problem des Wertwandels. Diese Entwicklung erklärt sich durch die Erfahrung der tiefgreifenden Veränderungen in den industrialisierten Staaten. Die Sozialwissenschaften begannen, den Wertwandel zu beschreiben, zu erklären und versuchten möglichst auch die Richtung der weiteren Entwicklung vorherzusa-
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gen. Inglehart stellte 1977 die These auf, daß die Verbreitung von postmaterialistischen Werten auf den Wohlstand der Industriestaaten zurückzuführen sei. Die These fand als Erklärungsmodell des Wertwandels allgemeine Zustimmung. Allerdings gab es auch kritische Stimmen, die dem Modell nur begrenzte Gültigkeit zugestehen wollten, insofern als die These Ingleharts nur einen bestimmten Typ des Wertwandels beschreibe und demzufolge nicht als allgemein gültiges Modell angesehen werden könne. 1983 schlugen Klages und Herbert ein neues Modell vor, das auf empirischen Forschungen der politischen Struktur der Bundesrepublik Deutschland basierte. Das Modell enthält drei Typen des Wertwandels: 1. Wertsynthese. Vorhandene Werte durch neue erweitert, so daß sich der Verhaltensspielraum erweitert. 2. Wertverlust. Bindungen an frühere Werte gehen verloren. Das Verhalten wird in Folge davon in hohem Maße von situationsgebundenen Einflüssen bestimmt. 3. Wertumsturz. Vorhandene Werte werden durch solche eines gegensätzlichen Typs verdrängt. Der Wertumsturz stellt einen revolutionären Prozeß dar, ist jedoch nicht notwendig mit dem offenen Ausbruch einer Revolution verbunden (Klages/Herbert 1983: 113f; dazu auch Meulemann 1996: 1739). Klages und Herbert weisen darauf hin, daß sich die Forschung ausschließlich mit der dritten Form des Wertwandels befaßt und die beiden anderen Formen vernachlässigt habe. Die Wertforschung hat in den Sozialwissenschaften seither nicht an Interesse verloren, wie die konstante Zahl an einschlägigen Publikationen zeigt. Literaturwissenschaft
Etwa gleichzeitig zum Aufschwung der Wertphilosophie in den ersten Jahrzehnten unseres Jahrhunderts wurde die Wertproblematik auch von der Literaturtheorie aufgenommen. Lukäcs deutete in seiner Theorie des Romans von 1916 die Entstehung des modernen Romans seit Cervantes als Reaktion auf das Zerbrechen des christlichen Weltbilds. Die Ideen sind nicht mehr in der Außenwelt verwirklicht und werden „im Menschen zu subjektiven und seelischen Tatsachen, zu Idealen" (68). Das Wertsystem besteht zwar äußerlich noch fort, verliert aber die gestaltende Kraft auf die Wirklichkeit, wodurch die zu subjektiven Fakten gewordenen Werte im Individuum zur Richtschnur des Handelns werden. Jahrzehnte später hat Goldmann (1964) in seiner Theorie des Romans den Grundgedanken Lukäcs' aufgegriffen und weiterentwickelt. Unter Berufung auf Lukäcs definiert er den Roman als die einzige literarische Gattung, „in der die Ethik des
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Romanciers zu einem ästhetischen Problem des Werks wird". 4 Unter Berufung auf Lukâcs definiert er den Roman als „Geschichte einer degradierten Suche [...] authentischer Werte in einer degradierten Welt": „Le roman est l'histoire d'une recherche dégradée (que Lukâcs appelle .démoniaque'), recherche de valeurs authentiques dans un monde dégradé lui aussi mais à un niveau autrement avancé et sur un mode différent. Par valeurs authentiques, il faut comprendre, bien entendu, non pas les valeurs que le critique ou le lecteur estiment authentiques, mais celles qui, sans être manifestement présentes dans le roman, organisent sur le mode implicite l'ensemble de son univers. Il va de soi que ces valeurs sont spécifiques à chaque roman et différentes d'un roman à l'autre" (Goldmann 1964: 23). Goldmann versteht demzufolge unter authentischen Werten solche, die das romaneske Universum implizit organisieren. Damit wird das Wertproblem zu einem zentralen Bestandteil seiner Romantheorie. In den letzten Jahrzehnten hat die soziologische Literaturtheorie und -kritik viel von ihrer Anziehungskraft verloren, so sehr, daß man fast von einem Vergessen sprechen kann. Mit dem Konzept der Intertextualität trat die Erforschung innerliterarischer Traditionszusammenhänge in den Vordergrund. Die Frage nach den Werten wurde damit zu einer bloßen Episode in der Entwicklung der Literaturtheorie und -Kritik unseres Jahrhunderts. Soll das heißen, daß die Wertproblematik für die Literaturwissenschaft keine Bedeutung hat? Das anhaltende Interesse der Sozialwissenschaften sollte uns nachdenklich machen. Die oben zitierte Aussage der Forschergruppe der Universität Comell von 1949, derzufolge „Wert ein Konzept ist, das wie eine Brücke viele spezialisierte Studien zusammenführen kann", hat auch heute nichts von ihrer Gültigkeit verloren. In dem Maße, in dem die Literaturwissenschaft sich wieder stärker der sozialen Dimension der Literatur annehmen wird, dürfte auch die Wertproblematik wieder an Bedeutung gewinnen. Ein Ansatz dazu ist bereits in dem Boom der cultural studies zu erkennen. So enthält z.B. das Buch von Beatriz Sarlo über Escenas de la vida posmodema. Intelectuales, arte y videocultura en la Argentina (1994) ein Kapitel über „valores y mercado". Ausblick: Wert und Wertwandel in der lateinamerikanischen Literatur Die lateinamerikanische Literatur bietet für die Wertproblematik ein weitläufiges und vielschichtiges Material. Nun wäre es sicher übertrieben zu behaupten, daß die Konzepte von Wert und Wertwandel es erfordern würden, ihre Sozial4 „Comme l'écrit Lukâcs, le roman est le seul genre littéraire où V¿tique du romancier devient un problème estétique de l'oeuvre" (Goldmann 1964: 33).
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geschichte neu zu schreiben. Wohl aber würden sie erlauben, ihre Konturen genauer herauszuarbeiten. Den vieldiskutierten Gegensatz von angelsächsischer und lateinischer Welt, wie er paradigmatisch in Rodós Ariel (1900) erscheint, läßt sich z.B. auch als ein Gegensatz von unterschiedlichen Wertgemeinschaften interpretieren. Die zahlreichen Umbrüche der lateinamerikanischen Gesellschaften und ihre Aufnahme in der Literatur lassen sich mit Hilfe des Konzepts des Wertwandels genauer beschreiben. So beschreibt Ernesto Sabato in Sobre héroes y tumbas (1961) den Übergang von der großbürgerlichen Gesellschaft der criollos, in der die traditionellen Werte das Leben bestimmen, zu einer allein auf materialistische Werte bezogenen modernen Gesellschaft. Der Einbruch der marxistischen Ideologie im Gefolge der kubanischen Revolution mit dem ideologischen Leitbild des „neuen Menschen in einer neuen Gesellschaft", wie wir es vor allem bei Ernesto Cardenal und Julio Cortázar finden, hat in der Literatur tiefe Spuren hinterlassen. Die Ablösung der Ideale des Sozialismus durch neue Wertvorstellungen hat Jorge Edwards seinem Roman Anfitrión von 1987 gestaltet. Eine besondere Bedeutung dürfte der Wertproblematik im Kontext der vieldiskutierten Globalisierung zukommen, die häufig als geistige Einebnung verstanden wird. Es dürfte sich lohnen zu beobachten, wie sich die lateinamerikanischen Gesellschaften in diesem Prozeß entwickeln, ob sie dem scheinbar unaufhaltsamen Zug zu einer globalen Kultur folgen, oder ob sie ihre Identität als Wertgemeinschaft bewahren. In der Literatur dieser Jahre lassen sich beide Richtungen beobachten. Es dürfte sich lohnen, diesen Prozeß auch in der Literaturwissenschaft zu verfolgen. Literatur Bamberger, Fritz (1924): Untersuchungen zur Entstehung des Wertproblems in der Philosophie des 19. Jahrhunderts. I. Lotze. Halle a. S., Niemeyer. Dewey, John (1944): Some Questions about Value. The Journal of Philosophy 17: 440-455. Dumont, Louis (1983): La valeur chez les modernes et chez les autres. Esprit, juillet: 3-29. Ehrenfels, Christian von (1897-98): System der Werttheorie. I. Allgemeine Werttheorie. Psychologie des Begehrens. II. Grundzilge der Ethik. Leipzig, Reisland. Frondizi, Risieri/Gracia, Jorge J. E. (Hrsg.) (1975): El hombre y los valores en la Filosofía Latinoamericana del siglo XX. Antología. Selección, introducciones, notas y bibliografía de —. México-Madrid-Buenos Aires, FCE. Goldmann, Lucien (1964): Pour une sociologie du román. Paris, Gallimard. Gutiérrez, Carlos B. (1976): Zur Kritik des Wertbegriffs in der Philosophie Heideggers. Diss. Heidelberg. Hartmann, Nicolai (1926): Ethik. Berlin und Leipzig, Gruyter. Inglehart, Ronald (1977): The Silent Revolution. Changing Valúes and Political Styles Among Westem Publics. Princeton, Yale University Press.
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Klages, Helmut (1981): Wertwandel. In: M. Greiffenhagen et al. (Hrsg.): Handwörterbuch zur politischen Kultur der Bundesrepublik Deutschland. Opladen, Westdeutscher Verlag. Klages, Helmut (1984): Wertorientierungen im Wandel. Rückblick, Gegenwartsanalyse, Prognosen. Frankfurt-New York, Campus Verlag. Klages, Helmut/Herbert, Willi (1983): Wertorientierung und Staatsbezug. Untersuchungen zur politischen Kultur in der Bundesrepublik Deutschland. Frankfurt/New York, Campus Verlag. Kluckhohn, Clyde et al. (1962): Values and Value-Orientations in the Theory of Action. An Exploration in Definition and Classification. In: Talcott Parsons und Edward A. Shils (Hrsg.): Toward a General Theory of Action. New York, Harper Torchbook. [Erstauflage 1951] Lautmann, Rüdiger (1969): Wert und Norm. Begriffsanalysen für die Soziologie. Köln, Westdeutscher Verlag. Lotze, Hermann (1841): Metaphysik. Leipzig, Weidmann. Lukács, Georg (1971): Die Theorie des Romans. Ein geschichtsphilosophischer Versuch über die Formen der großen Epik. Darmstadt und Neuwied, Luchterhand. [Erstauflage 1916] Meinong, Alexius (1894): Psychologisch-ethische Untersuchungen zur Werth-Theorie. Graz, Leuschner-Lubensky. Meulemann, Heiner (1996): Werte und Wertewandel. Zur Identität einer geteilten und wieder vereinten Nation. Weinheim und München, Juventa. Nietzsche, Friedrich (1901): Der Wille zur Macht. Versuch einer Umwerthung aller Werthe. Hrsg. von P. Gast und A. Homeffer. Leipzig (Werke Bd. 15). Ortega y Gasset, José (1947): ¿Qué son los valores? In: Obras completas 6: 315-335. Zuerst erschienen: Revista de Occidente 4. 1923. Perry, Ralph B. (1954): General Theory of Value, its Meaning and Basic Principles. Construed in Terms of Interest. Cambridge, Harvard University Press. [Erstauflage 1927] Ratzinger, Joseph Kardinal (1994): Wahrheit, Werte, Macht. Prüfsteine der pluralistischen Gesellschaft. Freiburg-Basel-Wien, Herder. Sarlo, Beatriz (1994): Escenas de la vida posmodema. Intelectuales, arte y videocultura en la Argentina. Buenos Aires, Ariel. Scheler, Max (1913): Der Formalismus in der Ethik und die materielle Wertethik (mit besonderer Berücksichtigung der Ethik Immanuel Kants). 1. Teil. Halle a. S., Niemeyer. Vocabulaire technique et critique de la philosophie (1960): Paris, Presses Universitäres de France. 8. Auflage.
Betrachtungen zu Rousseaus „La Découverte du Nouveau Monde" HORST GECKELER
1. Jean-Jacques Rousseau (1712-1778) ist uns insbesondere in seiner großen Bedeutung als Kulturphilosoph und Kulturkritiker, als Staatstheoretiker, als literarischer und pädagogischer Schriftsteller bekannt. Es ist verzeihlich, wenn wir seine theoretische und praktische Beschäftigung mit der Musik viel weniger kennen; er schrieb und vertonte jedoch verschiedene kleinere Opern1: „Les Muses galantes", „Les Fêtes de Ramire", „Le Devin du Village" (letztere gilt als sein musikalisches Meisterwerk, das sogar den jungen Mozart beeinflußte) und ,.Pygmalion" — in der Pléiade-Gesamtausgabe seiner Werke werden die beiden ersten als „ballet", die dritte als ,.intermède" und die vierte als „scène lyrique" bezeichnet.2 Auch seine Theaterstücke gehören nicht zu den Werken, die seinen Nachruhm3 begründet haben, was nicht erstaunt, wenn man an Rousseaus spätere, sehr negative Einstellung zum Theater in der 1758 verfaßten „Lettre à d'Alembert sur les spectacles" denkt. Sieben Theaterstücke hat Rousseau bis 1754 verfaßt oder skizziert, am bekanntesten ist das als einziges von ihm selbst publizierte Stück ,.Narcisse ou l'amant de lui-même" (die Erstaufführung dieser Komödie war 1752, die Veröffentlichung 1753). Unter diesen Theaterstücken befindet sich eines, dessen Titel bei der Suche nach einem Thema für diesen bescheidenen Festschriftbeitrag unsere Aufmerksamkeit auf sich gezogen hat, nämlich „La Découverte du Nouveau Monde", das nach Ausweis der „Oeuvres complètes" von Rousseau selbst als Tragödie bezeichnet wurde. 2. „La Découverte du Nouveau Monde", chronologisch das zweite Theaterstück Rousseaus, besteht aus einem Prolog und drei Akten in Versform (mit unterschiedlichen Versarten). Nach Aussagen von Rousseau selbst (Trousson/ Eigeldinger 1996: 194) hatte er den Prolog und den ersten Akt auch vertont — vielleicht hatte er ursprünglich dieses Theaterstück als Oper oder als Ballett ' 2
3
Siehe dazu und zu vielen anderen Themen, die Rousseau betreffen, das neue informative Handbuch von Trousson/Eigeldinger (1996). Für alle französischsprachigen Zitate in diesem Aufsatz verwenden wir eine modernisierte Graphie. So ist es auch kaum verwunderlich, daß die beiden reichhaltigen Sammelbände von Heydenreich (1992) keinen Beitrag zu Rousseaus Theater enthalten.
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konzipiert (in Szene 1 des Prologs liest man als Bühnenanweisung: „On entend une symphonie harmonieuse", in Szene 3 wird getanzt und verschiedentlich gesungen). Die Entstehungszeit des Prologs und der allgemeinen Idee des Stückes wird von J. Scherer (1961: 1833-1834) auf 1739, die des Stückes selbst auf 1740 oder 1741 datiert. Damit gehört dieses Werk — wie sein ganzes Theaterschaffen — zu den Frühwerken Rousseaus (1740 ist er erst 28 Jahre alt), was für die Interpretation nicht aus dem Blick geraten darf; die beiden Discours stammen von 1750 bzw. 1755; seine großen bekannten Werke schrieb er erst ab 1761. Das Theaterstück (ohne Prolog) wurde erstmals 1776 in der RousseauAusgabe von J.-L. de Boubers in London, der Prolog zum ersten Mal 1905 im Band I der .Annales de la Société Jean-Jacques Rousseau" in Genf veröffentlicht. Beginnen wir mit einer Inhaltsangabe4 des Theaterstückes. 2.1. Im Prolog, der eine allegorische Funktion hat und aus drei Szenen besteht, treten folgende Personen auf: Europa, Frankreich, Minerva, das Schicksal, ein Franzose, eine Französin und Leute aus dem (französischen) Volk. Szene 1 des Prologs beginnt mit der endgültigen Niederlassung der allegorischen Figur Europa im Palast des unsterblichen Ruhmes, dem Aufenthalt der Helden und der Götter. Aber Europa beklagt, daß sie ihren Ruhm nicht genießen könne, da ihre Kinder sich in Zwietracht zerfleischen. In Szene 2 geleiten die allegorische Gestalt des Schicksals und Minerva Frankreich, die Tochter Europas, in einem fliegenden Wagen vom Himmel herab zu ihrer Mutter und verkünden ihr, daß sie keine Tränen mehr zu vergießen brauche, da nunmehr der Friede den Lärm der Waffen ablösen werde. Europa ist zunächst skeptisch, da Frankreich in der Vergangenheit ihr so oft Anlaß zum Weinen gegeben habe, aber Minerva erklärt, daß Frankreich niemals der Ruhe Europas entgegengestanden habe und daß es nur blutenden Herzens seine Feinde seinen gerechten Zorn in hundert Schlachten habe spüren lassen. Minerva fordert nun Frankreich auf, seine Wohltaten über die Länder und über die Meere auszubreiten und das Universum auf großzügige Weise zu lehren, daß es weniger ruhmreich sei, die Welt zu erobern als es „doux" (vgl. lat. dulce et décorum est ...) sei, sie glücklich zu machen. Frankreich habe nun genug mit Siegen geglänzt, nun solle dieses Land in den Künsten und den Vergnügungen glänzen, die einen unvergleichlichen Ruhm bieten. Die Gestalt des Schicksals fordert Frankreich auf, die Gunsterweisungen, die der Himmel ihm bereitet, im Frieden zu genießen. Nach einer Anspielung auf die zukünftige Rolle Frankreichs gegenüber Korsika wird 4
Wir halten uns bei der Inhaltsangabe, insbesondere des Prologs, sehr eng an die Formulierungen des französischen Textes.
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festgestellt, daß Frankreich unter der Schirmherrschaft der Weisheit (Minerva!) und des Schicksals seinen Weg geht. Nach diesen Worten kehren das Schicksal und Minerva in den Himmel zurück. Europa und Frankreich bezeugen sich nun gegenseitig in höchsten Tönen ihr glückliches Schicksal und ihre Herzensbindungen. Europa wünscht, daß alle seine Kinder so wie Frankreich dächten. Dieses lädt nun seine Landeskinder ein, in liebenswerter Fröhlichkeit zu tanzen und ihre Stimmen ertönen zu lassen, denn Europa lege Wert auf diese verführerischen Spiele. Anstatt Kriege zu fähren sollen sie sich den Schmuck eines milderen Aufzuges anlegen und sich so zeigen, daß sie auch die strengsten unter den Schönen verführen, ,wenn der Kriegsheld sich in einen zarten Liebenden verwandelt'. In Szene 3 führen Franzosen und Französinnen charakteristische Tänze („qui expriment la galanterie et la légèreté de cette Nation") auf; sie bilden auch den Chor, der zweimal in Aktion tritt. Ein Franzose singt eine Weise zum Thema .Liebe', in der in libertinistischen Worten gerade der Wankelmut („l'inconstance") besungen wird. Daran schließt sich ein Achtzeiler einer Französin an, der in dem hedonistischen Satz gipfelt: „Par le nombre de nos conquêtes / Nous assurons mieux nos plaisirs." Danach wird der Parallelismus zwischen der Zähmung der Feinde und der Zähmung der widerspenstigen Herzen vom Chor thematisiert. Schließlich wendet sich Frankreich an seine Untertanen und will ihnen für ihre Spiele würdigere Gegenstände vorschlagen, als da ist die Erinnerung an jene glorreichen Zeiten, als die Söhne Europas die Neue Welt eroberten, die Erde und die Meere besiegten und Europas Herrschaft bis an die Enden des Universums trugen. Solch große Triumphe müßten im Palast des Ruhmes gefeiert werden. Während Europa und Frankreich in den Palast des Ruhmes eintreten, bringt der Chor singend zum Ausdruck, daß die Verbindung von Europa und Frankreich für immer dauern möge und daß beide stets zusammen herrschen und in Frieden leben mögen. Dieser allegorische Prolog ist eine Apotheose auf Frankreich („un hymne à la civilisation française", Gautier 1991: 308). Er wurde nach J. Scherer (1961: 1833-1834) wohl aus aktuell historischem Anlaß verfaßt, da 1739 für Frankreich ein Friedensjahr war und Frankreich zu diesem Zeitpunkt mit Spanien politisch sehr enge Beziehungen — mit Frontstellung gegen England — hatte. Der Prolog hat die Funktion, die Wahl des Stoffes der „Entdeckung der Neuen Welt" für das sich anschließende Theaterstück vorzubereiten und eine historische Begebenheit in einen aktuellen geschichtlichen Bezug einzubetten. Besonders bemerkenswert ist am Prolog, daß die Eroberung der Neuen Welt nicht als ein Unternehmen speziell Spaniens, sondern ganz allgemein der Söhne Europas (Scanlan 1996: 258 spricht von „a joint European venture") präsentiert wird, so daß auch Frankreich daran partizipiert.
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Die Tragödie selbst besteht aus drei Akten, die in fünf bzw. drei bzw. vier Szenen unterteilt sind, und spielt auf der Insel Guanahani. Sie umfaßt folgende Personen: den Kaziken der Insel Guanahani, Eroberer eines Teils der Antillen; Digizö, seine Gattin; Carime, die den Kaziken liebt, aber von ihm abgewiesen wird; Kolumbus, Herr der spanischen Flotte; Alvar, Offizier der spanischen Flotte; den (einheimischen) Oberpriester; Nozime, Offizier des Kaziken; eine Spanierin; einen Amerikaner; amerikanische Priester; Leute aus dem Volk der Amerikaner; Spanier und Spanierinnen. 2.2. Akt I spielt im heiligen Hain, wo die Bewohner der Insel ihre Götter anbeten. Szene 1: Der Kazike, der wie sein Volk von schrecklichen Vorzeichen beunruhigt ist, begegnet im heiligen Hain Carime, die ihre glühende Liebe zu ihm gesteht. Der Kazike weist ihre Liebe zurück, da er mit Digiz6 in glücklicher Verbindung lebt. Carime macht ihm das Angebot, sie ebenfalls zur Frau zu nehmen, da Polygamie auf der Insel ja üblich sei. Der Kazike reagiert empört auf dieses Ansinnen. Carime fühlt sich dadurch nicht nur verachtet, sondern auch beleidigt, sie nennt den Kaziken einen Barbaren und verläßt wutentbrannt die Szene. Der Kazike äußert in einem kurzen Monolog, daß Carimes Schicksal beklagenswert sei, daß sie aber mit ihren Zornesausbrüchen bei ihm nichts erreichen könne, daß er ihre Tränen jedoch mehr fürchte als ihre Wut. Szene 2: Der Kazike bittet in einem Monolog die Götter, daß sie das verunsicherte Volk beruhigen. Wenn ihre Macht dazu nicht ausreiche, sollten sie nicht länger ihren Namen tragen. Er gesteht sich selbst ein, daß auch er wider seinen Willen von einer dunklen Furcht umgetrieben wird und daß ihn zum ersten Mal seine Tatkraft verläßt. Er fragt sich nach der Ursache dieser Beunruhigung und findet keine Antwort, auch nicht, nachdem er seine früheren Siege und Ruhmestaten evoziert. Da sieht er seine Gattin Digiz6 („eher objet de ma flamme") kommen und er bekennt, daß ihrer Augen Glanz ihm besser seinen Mut zurückzugeben vermöge als die Götter. Szene 3: Angesichts der panischen Angst des Volkes, das am meisten um den Kaziken fürchtet, drängt Digizö ihren Gatten zur gemeinsamen Flucht, um sich zu retten. Der Kazike weist dieses Ansinnen zurück, da er der Kazike, der König, ja der Vater seines Volkes sei. Er macht ihr klar, daß er sein Volk ebenso liebe wie sie, seine Frau, und daß er seine „vertu" über beide stelle. Szene 4: Nozime berichtet dem Kaziken und Digiz6, daß im verängstigten Volk erzählt wird, daß die Kinder der Sonne bald in pompösem Aufzug auf die Erde herniederkommen werden und daß diese Menschen, denen der Tod nichts anhaben kann, sich alles unterwerfen; aus Königen machen sie ihre Untertanen und aus den Leuten des Volkes ihre Sklaven. Der Kazike unterbricht den Be-
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rieht und schickt seinen Offizier weg. Dann bekennt er vor den Göttern, daß er die Auswirkungen ihrer ungerechten Rache wenig fürchte, Digizé allein habe sein Glück und seine Erfolge in ihrer Macht. Digizé bittet ihn, nicht mit solch exzessiven Liebesbekenntnissen den Zorn der Götter herauszufordern, und sie fleht zum Himmel, daß er die Gefahren abwende. Der Kazike fordert Digizé auf, ihre unnützen Beunruhigungen zu beenden. Wie schon in Szene 1 im Hinblick auf Carime bringt er auch hier gegenüber Digizé zum Ausdruck, daß ihm ihr Weinen Pein bereite. Da kündet der Klang der geweihten Musikinstrumente das Kommen der Priester an. Szene 5: Der Oberpriester feiert in Anwesenheit des Kaziken, Digizés, der Priester und der Leute des Volkes eine religiöse Zeremonie, an deren Anfang der Kazike die Priester auffordert, die Götter, die diese Inseln schützen, um Hilfe für sein Volk und für ihn anzurufen, damit sie die Schreckensvorzeichen von diesem (sonst so) ruhigen Ort verbannen. Der Chor unterstützt das Gebet des Oberpriesters. Dieser befragt die Götter in ritueller Form — zu der auch Tänze gehören —, was die Zukunft bringen wird. Nach tranceartigen Zuständen kommt der Oberpriester wieder zur Klarheit seiner Sinne und verkündet den unbeugsamen Spruch des Schicksals, der wie folgt lautet: .Unglückseliger Kazike, deine Heldentaten sind verwelkt, deine Herrschaft ist beendet. Dieser Tag läßt deine Macht in andere Hände übergehen. Die Leute deines Volkes, die unter ein hassenswertes Joch geknechtet werden, werden für immer die teuersten Gaben des Himmels verlieren, ihre Freiheit und ihre Unschuld. Stolze Kinder der Sonne, ihr triumphiert über uns. Eure Technik („vos arts") gibt euch den Sieg über unsere „vertus". Aber wenn wir unter euren Hieben fallen, so fürchtet, daß ihr unser Unheil und euren Ruhm teuer bezahlen werdet.' Der Kazike gebietet, daß die Priester ihren lügnerischen Zauber einstellen, worauf sich diese zurückziehen. Der Chor, der sich hinter der Bühne befindet, berichtet von wunderbar Neuem, von .geflügelten Monstern', die auf den Wassern erscheinen. Der Kazike ist immer noch überzeugt, daß der Schrecken die Augen dieses furchtsamen Volkes trübt und verläßt eilends die Szene, um die Leute zu beruhigen, während sich Digizé fragt, was seine Anstrengungen gegen den Spruch der Götter ausrichten können. 2.3. Das Bühnenbild von Akt II stellt ein mit Bäumen und Felsen durchsetztes Ufer dar; im Hintergrund sieht man die Landung der spanischen Flotte, die sich unter dem Klang von Trompeten und Pauken (?) vollzieht. Szene 1 : Christoph Kolumbus, Alvar (Offizier der spanischen Flotte) sowie Spanier und Spanierinnen der Flotte, die den Chor bilden, feiern in martialischen Formulierungen, aber auch mit Tanzen die Entdeckung bzw. die Inbesitznahme der Neuen Welt, noch bevor sie mit den Inselbewohnern in Kontakt ge-
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treten sind. Der Chor beginnt: ,Laßt uns über die Erde und das Meer triumphieren, laßt uns dem Universum Gesetze geben. Unsere Kühnheit entdeckt an diesem Tag eine Neue Welt, die dafür gemacht ist, unsere Ketten zu tragen.' Kolumbus, die Standarte Kastiliens in einer Hand, in der andern das nackte Schwert, gebietet dem Land: .Verlieret die Freiheit' — und dabei pflanzt er das Banner in die Erde — ,aber traget ohne Murren ein noch wertvolleres Joch'. Nach der Evokation von zwei begrenzten nautischen Unternehmen aus der Mythologie erinnert Kolumbus seine Gefährten daran, daß sie sich die Wellen des immensen Ozeans unterwerfen konnten dank der Führung durch eine (neue) kühne Technik,5 nämlich durch den Kompaß. Er ruft sie auf, die unerschrockene Mannschaft und diesen denkwürdigen Tag mit bezaubernden Spielen (gemeint sind wohl Tänze, die in den Bühnenanweisungen erwähnt werden) zu feiern, um die Blicke .dieses wilden Volkes' in Staunen zu versetzen. Der Chor nimmt dieses Thema auf. Besonders martialisch gebärdet sich Alvar: .Stolzes Iberien, breite überall deine Gesetze aus. Übe deine Herrschaft auf die ganze Natur aus; für deine glänzenden Taten hat eine ganze Welt nicht genügen können. Herren der Elemente, Helden im Kampf, laßt uns an diesem Ort Schrecken und Verwüstung verbreiten [...]'. Eine Spanierin stellt den furchterregenden Eroberern die Frauen, die mit den Waffen der Liebe kämpfen, verbal gegenüber; ihre Verse gipfeln in der Antithese: .Krieger, ihr bringt das Imperium Isabellas hierher, wir aber das Imperium Amors', und es wird wiederum getanzt. Alvar stimmt mit der Spanierin in die Union der jungen Schönheiten mit den Schrekken verbreitenden Kriegern ein. Nach so viel Fröhlichkeit mahnt Kolumbus, nunmehr zu den Bewohnern dieser Gestade zu gehen und ihnen die oberste Entscheidung über ihr neues Schicksal mitzuteilen. Kolumbus befiehlt Alvar, sich nicht von den Schiffen zu entfernen und Soldaten für den Fall versteckt zu verteilen, daß es zum Kampfe komme. Szene 2: Carime verzehrt sich immer noch im Zorn über ihr vom Kaziken abgewiesenes Liebesangebot. Sie nähert sich den Schiffen der Eroberer: ,Ich komme und verrate ihnen, was ich liebe, um ihnen zu verraten, was ich hasse.' Szene 3: Sie begegnet Alvar, der auf den ersten Blick von der Schönheit Carimes fasziniert ist. In einem galanten Gespräch rühmt Alvar Carimes Schönheit und bietet ihr an, ihm in angenehmere Gegenden zu folgen. Carime kommt aber auf ihre ursprüngliche Absicht zurück: sie erklärt, es sei ihr Wunsch, daß die Insel vor dem Ende des Tages die Gesetze der Ankömmlinge annehme. Auch wolle sie Alvar den Ort verraten, wo der Kazike seine Frau versteckt habe. Al5
Aus Sicht der Inselbewohner beruht die technische Überlegenheit der Spanier auf ihren großen Schiffen („les monstres ailés") und ihren Feuerwaffen („les foudres brûlants").
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var weist dieses Angebot zurück und verweist darauf, daß die Tapferkeit der Spanier zum Sieg ausreiche und Carimes Bemühungen nur den Ruhm der Spanier trüben würden. Unter Tränen fordert sie die Rache am Kaziken. Alvar verspricht, daß der Kazike sterben werde, gesteht dann aber ein, daß nicht er der Herr der Unternehmung ist. Je einzeln und zusammen rühmen Alvar und Carime Rache und Liebe. 2.4. Akt III spielt in den Gemächern des Kaziken. Szene 1: Digiz6 klagt, daß sie durch den Verrat einer unwürdigen Rivalin nun Gefangene im Palast der Vorfahren ihres Gatten ist. Szene 2: Carime kommt zu Digizö, um Verzeihung für ihre Rache, die sie zum Verrat veranlaßt hat, zu erbitten, denn sie hat erkannt, daß man das Vergnügen, das die Rache verschafft, weniger empfindet als das Bedauern darüber, sich gerächt zu haben. Digiz6 und Carime stimmen zusammen Klagen an über die Launenhaftigkeit, mit der die Liebe die Herzen quält. Plötzlich hört man Waffenlärm. Digizö ruft den Himmel an, daß er dem Kaziken beistehen möge. Musketensalven mischen sich unter die Orchesterklänge. Szene 3: Kolumbus, gefolgt von einigen Kriegern, gesellt sich zu Digizö und Carime und erklärt, daß nun die unterlegenen Feinde geschont werden sollen, sie sollen ihre Schwachheit in ihrer Sklaverei fühlen. Szene 4 ist der Höhepunkt des Stückes: Der entwaffnete Kazike und Alvar kommen zu den Personen der Szene 3 hinzu. Alvar berichtet, daß er den Kaziken überrascht habe, als er allein und voller Zorn in diese Gemächer eindringen wollte. Auf Kolumbus' Frage nach seiner Absicht antwortet der Kazike, daß er Digiz6 sehen, Kolumbus töten und dann sterben wollte. Darauf fragt ihn Kolumbus, was er von seinem gerechten Zorn erwarte. Darauf der Kazike: ,Ich erwarte nichts von dir, geh und erfülle deine Pläne. Sohn der Sonne, sage den Blitzen deines Vaters für deinen glücklichen Erfolg Dank [...]; ohne diese brennenden Blitze [gemeint sind sicherlich die Musketen] hätte deine Truppe in dieser Gegend nichts als den Tod gefunden.' Kolumbus: ,So hast du also deinen Urteilsspruch selbst diktiert.' Carime bittet Kolumbus um Gnade, denn sie will ihr Vergehen, auch mit dem Preis ihres Lebens, wiedergutmachen. Kolumbus stellt den Kaziken auf die Probe, ob er um Gnade flehe, aber der Kazike antwortet: .Umsonst erwartet dies dein Stolz von mir, denn jemand wie ich fleht nur die Götter an.' Nun wenden sich Alvar, Carime und Digizö gemeinsam an Kolumbus um Verzeihung für das Kazikenpaar mit der Begründung, daß ihr ganzes Verbrechen in ihrer Liebe bestehe. In einer großmütigen Gesinnungsumkehr erklärt sich Kolumbus für besiegt und fordert den Kaziken auf, seinen Thron wieder zu besteigen. Gleichzeitig erhält der Kazike seine Waffen zurück. Kolumbus fährt fort: ,Nimm meine Freundschaft an, dies ist ein Gut, das du
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verdient hast: Wenn ich dir verzeihe, so gebe ich weniger ihren Tränen als deiner „vertu" nach.' Carime ermuntert er zur Ehe mit Alvar und lädt sie ein, nach Spanien zu kommen, um dort als Vorbild zu zeigen, daß, wenn man strafen könnte, man zu vergeben versteht. Als ein solches Beispiel sieht der Kazike nun gerade Kolumbus an; er verspricht ihm, daß er sicher sein könne, nie einen beflisseneren Freund und einen treueren Untertan als ihn zu haben. Darauf Kolumbus: ,Ich will dich zum Freund, sei Untertan von Isabella.' Er schließt mit einem Vergleich und stellt fest, daß man in dieser .wilden Gegend' ebensoviel Herz und Mut („courage") empfinde wie in Europa, daß man hier aber noch mehr „vertu" finde als dort. Das Stück nähert sich seinem Ende mit der Aufforderung Kolumbus' und des Chores an die Menschen beider Enden der Erde zu fröhlichen Spielen (mit Tanz), zum Fest [die Wichtigkeit von Festen in Rousseaus Denken ist wohlbekannt]. Eine Amerikanerin, eine Spanierin und Digizé preisen jede auf ihre Weise die Liebe, immer mit Tanz. Die letzten Zeilen des Chores lauten: ,Laßt uns im ganzen Universum unsere Schätze und den Überfluß verbreiten. Laßt uns durch unseren Bund zwei Welten, die durch den Abgrund der Meere getrennt sind, vereinigen.' 3. Gehen wir nun auf einige Aspekte dieses Theaterstückes ein. Rousseaus „La Découverte du Nouveau Monde" ist eine der ersten Bearbeitungen des Kolumbusstoffes als Theaterstück in der Weltliteratur (vgl. Nagy 1994: 263). Der Titel des Rousseauschen Stückes — und nur dieser — erinnert an „La famosa comedia de El Nuevo Mundo descubierto por Cristóbal Colón" von Lope de Vega aus dem Jahre 1604 — diese „comedia" scheint das erste Kolumbus-Stück überhaupt zu sein. In der Zeit nach Rousseau wurden, insbesondere im 19. und 20. Jahrhundert, zahlreiche Theaterstücke über diesen Stoff verfaßt (vgl. Bédarida 1951: 459-482; Laffont/Bompiani 1955: 464-465). Erinnert sei hier nur an „die wohl bedeutendste neuere Kolumbus-Dichtung" (Frenzel 1976: 420), nämlich Paul Claudels Schauspiel „Le livre de Christophe Colomb" von 1927, das auch als szenisches Oratorium mit der Musik von Darius Milhaud existiert. Obwohl im Titel von Rousseaus Theaterstück von „Entdeckung" der Neuen Welt 6 die Rede ist, kommt diese Komponente in ihrem geographischen Verständnis im Stück kaum vor. Vielmehr wird die „conquête", also die Eroberung bzw. die symbolische Inbesitznahme der Insel durch das Einpflanzen des Banners Kastiliens in die Erde — noch vor jedem Kontakt mit den Eingeborenen — in Akt 11,1 dargestellt. Daß für die Bewohner der Insel der Verlust ihrer Freiheit mit der Inbesitznahme durch die Spanier gekoppelt ist, wird von Kolumbus und auch vom Chor deutlich gesagt. Die Tatsache, daß hier eine den Europäern bis6
Der Beitrag von J. Eon (1977) betrifft nur Rousseaus Verhältnis zu „Nord"-amerika.
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her unbekannte Natur entdeckt wurde, wird daselbst nur ganz blaß angedeutet. Vielleicht bezieht sich die „découverte" im Titel auf die für Kolumbus überraschende Entdeckung (in Akt III, 4), daß ,man in dieser wilden Gegend ebensoviel Herz und Mut empfindet wie in Europa und hier sogar mehr „vertu" findet als dort'. Es scheint so, als ob Rousseau hier hohe Werte aus dem klassischen französischen Theater in die traditionell für primitiv gehaltenen Menschen der Neuen Welt projiziert und sie damit aufwertet. Überhaupt ist in diesem Stück noch viel aus der Dramaturgie des französischen Theaters des 17. Jahrhunderts zu spüren. Drei Personen haben deutlich cornelianische Züge: der Kazike fühlt sich seiner „vertu" verpflichtet, Alvar möchte keinen Aktionen zustimmen, die seine „gloire" trüben, Kolumbus handelt in seinem Großmut gegenüber dem Kaziken ähnlich wie Augustus gegenüber Cinna in der gleichnamigen Tragödie von Corneille: „Soyons amis, Cinna". Carime in ihrer leidenschaftlichen, aber vom Kaziken unerwiderten Liebe mit den daraus folgenden Racheabsichten gleicht dagegen eher einer Racineschen Gestalt, wandelt sich dann aber im 3. Akt auch in Richtung der Comeilleschen Tragödie. Rousseau bezeichnet sein Stück als Tragödie. Im Sinne der Forderungen der klassischen französischen Tragödie des 17. Jahrhunderts bleiben im Hinblick auf die Beachtung der drei Einheiten Zweifel. Was die Einheit der Handlung betrifft, so ist das Hauptthema des Stückes trotz seines Titels doch die Liebe, die durch die Ankunft der Spanier nur zum Teil in andere Bahnen gelenkt wird (bei Carime und Alvar), während sich in den Liebesbeziehungen zwischen dem Kaziken und Digizé nichts ändert. Hinsichtlich der Einheit des Ortes fungiert zwar als übergreifende Einheit die Insel Guanahani, aber die einzelnen Akte weisen wechselnde Schauplätze auf (vgl. Inhaltsangabe oben). Zur Überprüfung der Einheit der Zeit haben wir keine Anhaltspunkte dazu gefunden, ob der größte Teil von Akt I des Stückes noch vor dem Tag der Landung der Spanier (12. Oktober 1492)7 spielt. Die von der Tragödie geforderte „bienséance" wird in Rousseaus Theaterstück in jedem Fall von den Hauptpersonen respektiert. Was nun der üblichen Konzeption der Tragödie in diesem Stück nicht entspricht, ist der versöhnliche Ausgang. Somit könnte man „La Découverte du Nouveau Monde" eher als eine „Tragikomödie" im Sinne Corneilles einstufen. Was die Namen der dramatis personae angeht, so ist als einziger Colomb als Christoph Kolumbus, der Entdecker der Neuen Welt, sicher zu identifizieren. Der Kazike bleibt ohne Eigenname, er wird aufgrund seiner Rangstellung be7
Der reich bebilderte Beitrag von G. Wawor (1995) behandelt künstlerische Darstellungen des „Augenblicks der Landung" durch die Jahrhunderte hindurch; Rousseau wird hier nur beiläufig erwähnt.
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nannt. Bei den anderen Eigennamen (Digizé, Carime, Nozime) ist es uns nicht gelungen, sie zu deuten; höchstwahrscheinlich besteht kein Bezug zur Sprache der Eingeborenen, dem Taino. Hinsichtlich des Namens Alvar könnte man daran denken, daß Rousseau, falls er Lope de Vegas .Komödie' „El Nuevo Mundo descubierto por Cristóbal Colón" eingesehen hat oder sie gar kannte, den Namen der dort im Personenverzeichnis aufgeführten Gestalt Alvaro de Quintanilla, Contador mayor del Rey, in leichter Verkürzung übernommen hat — was jedoch gegen diese Hypothese spricht, ist, daß diese Person bei Lope de Vega in Wirklichkeit Alonso de Quintanilla heißt und nur im Personenverzeichnis falsch aufgeführt ist. Denkbar wäre auch eine Reminiszenz an den Namen der Hauptperson aus der von Rousseau sehr bewunderten Voltaireschen Tragödie „Alzire ou les Américains" von 1736, nämlich an D. Alvarez, „ancien gouverneur du Pérou". Unsere Nachforschungen in der einschlägigen Literatur zur Entdeckung Amerikas unter dem Gesichtspunkt der Namen der ca. 90 Mann umfassenden Besatzung8 der drei Schiffe, mit denen Kolumbus 1492 zu seiner ersten Entdekkungsfahrt aufgebrochen war, erbrachten keinen Hinweis auf eine Person mit Namen Alvar. So bleibt als Vermutung, daß Rousseau, dem es in diesem Stück nicht um historische Authentizität ging (so auch Steinsieck 1978: 221), die Gestalt des Offiziers der Flotte einfach mit einem spanisch klingenden gängigen Namen versah. Ob der Name Carime etwas mit der Pflanzenart namens Carima zu tun hat, muß dahingestellt bleiben. Viele Einzelheiten in Rousseaus Theaterstück zeigen, daß er kein den historischen und geographischen Gegebenheiten verpflichtetes Stück schreiben wollte. Zu dem oben zu den Eigennamen Gesagten paßt auch, daß der Name „San Salvador", den der historische Kolumbus der Bahamainsel Guanahani (heute wieder San Salvador, früher Watlings Island) bei ihrer Entdeckung gab, überhaupt nicht erwähnt wird. Auch gibt es im Theaterstück kein Sprachenproblem bei den Begegnungen der ,Amerikaner' und der Spanier. Rousseau läßt in seinem Stück munter Spanierinnen auftreten, obwohl bei Kolumbus' erster Reise keine Frauen aus Spanien an Bord waren (vgl. Gran Enciclopedia de España 1992: VI, 2821). Wie ein pauschal-negatives Leitmotiv zieht sich durch die Diskurse der Spanier in Rousseaus Stück, daß die entdeckte Insel als „ces déserts", „ce lieu sauvage", „ces tristes lieux", „ces tristes climats", „ce climat sauvage" bezeichnet wird, während Digizé von „cette heureuse rive" spricht. Letztere Charakterisierung entspricht eher der Schilderung, die man in Kolum8
Es war uns leider nicht möglich, die Detailforschungen von Alicia B. Gould zur Identifizierung der Besatzungsmitglieder der ersten Kolumbusreise einzusehen (vgl. Historia general de España y América 1982: VII, 94 Anm. 10).
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bus' „Diario de a bordo" (Arranz 1985: 90, 92) findet: „Puesto en tierra vieron árboles muy verdes, y aguas muchas y frutas de diversas maneras. [...] Esta isla es bien grande y muy llana y de árboles muy verdes y muchas aguas y una laguna en medio muy grande, sin ninguna montaña, y toda ella verde, que es placer de mirarla." Von Kolumbus selbst für San Salvador verbürgt hingegen (Arranz 1985: 93) ist der von Rousseau verwendete Mythos, nach dem die Ankömmlinge von den Eingeborenen als „vom Himmel gekommen" angesehen werden. In Rousseaus Stück erscheinen sie als „Söhne der Sonne", Alvar wird von Carime sogar gefragt, ob er nicht zu den Göttern gehöre. Interessant ist auch, welche Einstellung zu den Göttern der Eingeborenen Rousseau in „La Découverte du Nouveau Monde" auf der Bühne zeigt. In der Furcht vor den schreckenerregenden Vorahnungen fordert der Kazike die Priester auf, die Götter um Beistand anzurufen. Der Kazike will den Spruch der Götter aber nicht anerkennen, er tut ihn als .lügnerischen Zauber' ab. Die Antwort der Götter, die der Oberpriester verkündet, erweist sich zum Teil als historisch zutreffend (so der durch ihre Technik ermöglichte Triumph der .stolzen Kinder der Sonne' über die Inselbewohner), zum Teil aber auch als falsch: das angekündigte Ende der Herrschaft des Kaziken tritt im Theaterstück dank der Großmut Kolumbus' nicht ein. Setzt der junge Rousseau hier ein Fragezeichen hinter die Allwissenheit der Götter der Eingeborenen? Geschickt gemacht ist das sibyllinische Ende der Botschaft der Götter: .Aber wenn wir unter euren Hieben fallen, so fürchtet, daß ihr unser Unheil und euren Ruhm teuer bezahlen werdet' (1,5). Auf drei weitere Aspekte des Rousseauschen Stückes, die hier nicht mehr ausgeführt werden können, weist J. Scherer (1961: LXXXIII-LXXXIV, 18341837) hin. Zahlreiche Spuren der Sensibilität des jungen Rousseaus finden sich in den Gestalten des Kaziken, der Digizé (z.B. das Thema der Flucht) und des Kolumbus wieder. Auch das lange vor Rousseau aktuelle Motiv des (edlen) Wilden (vgl. dazu insbesondere Bitterli 1991) ist präsent, wird aber erst später in seinen beiden „Discours" wirklich thematisiert (vgl. auch Trousson/Eigeldinger 1996: 847). Schließlich ist auffällig, daß es die Liebe („Tamour héroïque", Mat-Hasquin 1978: 87) und die Gefühle sind, die die Konflikte im Stück lösen, was sich auch in der Galanterie des Prologs und des Schlusses des 3. Aktes (z.B. „Point d'autres plaisirs que de douces chaînes") sehr deutlich zeigt. Vergessen wir aber nicht, daß gerade ein .Amerikaner' in Akt III, 4 sagt: „II n'est point de coeur sauvage pour l'Amour". Die Verbindung einer Eingeborenen — Carime — mit einem Spanier — Alvar — überspielt im Stück das historische Aufeinanderprallen von zwei verschiedenen Kulturen., Jt all offers the
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image of an idyllic world" (Boorsch 1966: 22); Mat-Hasquin (1978: 92) spricht von „l'harmonie idyllique" des Rousseauschen Stückes. Zu möglichen Quellen bzw. Beeinflussungen des Stückes gibt J. Scherer (1961: 1 8 3 5 - 1 8 3 6 ) einige Hinweise; es wäre sicherlich interessant, den Einfluß von Voltaires „Alzire ou les Américains" auf Rousseaus „La découverte du Nouveau Monde" zu untersuchen. Schließen wir mit der Conclusio aus zwei verschiedenen Studien: „Wir halten fest, daß Rousseaus Entdeckung einer neuen Welt, der rousseauischen Welt, nicht mit seiner .Découverte du Nouveau Monde' gleichzusetzen ist; diese Entdeckung hat begonnen mit dem 1. Discours, [...]" (Steinsieck 1978: 225) und „we can say that many o f the themes central to this work [his „First Discourse"] are present although not treated in the same way as they will be later" (Scanlan 1996: 265).
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Kooperation
Stratigraphie und Fazies im Mesozoikum Argentiniens: Die Entwicklung einer Forschungskooperation ULRICH ROSENFELD
Der Rahmen Vor 200 Jahren, im Jahre 1799, begann Alexander von Humboldt seine epochemachende ,.Reise in die Aequinoctial-Gegenden des neuen Continents". Er begründete mit dieser Reise nicht nur die systematische naturwissenschaftliche Erforschung Südamerikas, sondern legte auch einen Grundstein für die vertrauensvolle kollegiale Zusammenarbeit, die nicht erst seit heute zwischen lateinamerikanischen und deutschen Naturwissenschaftlern — besonders auch Geowissenschaftlern — besteht. Die jungen südamerikanischen Staaten beriefen schon früh deutsche Naturwissenschaftler, die bei der Erforschung der Länder, beim Aufbau von Akademien, Universitäten oder Museen behilflich waren. Von Kolumbien bis Bolivien, von Ecuador bis Brasilien werden ihre Verdienste und die ihrer Nachfolger mit Achtung genannt. In Argentinien wirkte zuerst Carl Conrad Burmeister (1807-1892). Er übernahm 1862 die Direktion des Öffentlichen Museums in Buenos Aires, war maßgeblich an der Erweiterung der Universität Córdoba und an der Gründung der dortigen Staatlichen Akademie der Wissenschaften beteiligt und trieb die Erforschung des Landes voran (Castellanos 1970, nach: Miller 1976); in Buenos Aires wurde 1992 seines einhundertsten Todestages feierlich gedacht. Unter den Geowissenschaftlern folgten ihm als verdienstvolle Forscher und Lehrer an der Akademie in Córdoba Stelzner, Brackebusch, Döring und Bodenbender. In der dem Landwirtschaftsministerium zugeordneten Generaldirektion für Bergbau und Geologie und zugleich als Professoren der Universitäten Buenos Aires, Córdoba bzw. La Plata legten Keidel, Windhausen und Groeber wesentliche Grundlagen der geologischen und lagerstättenkundlichen Kenntnis Argentiniens. Paul Groeber (1885-1964) erarbeitete die Stratigraphie des Juras im Neuquén-Becken und anderer großer Teile des argentinischen Mesozoikums sowie die Grundlagen der Anden-Tektonik, die u. a. eine Stratigraphie des Känozoikums erlaubten. Die Forschungen Groebers sind unverändert eine maß-
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gebliche Basis geologischer Untersuchungen im Neuquén-Becken, das eine der bedeutendsten Erdöl-Lagerstätten des Landes enthält und deshalb bis heute ein Mittelpunkt geowissenschaftlicher Forschung ist. Die Asociación Geológica Argentina hat ihm 1978 in der Stadt Zapala/Neuquén ein Denkmal gesetzt. Die geowissenschaftlichen Institute der Westfälischen Wilhelms-Universität zu Münster sind, über Fachbereichsgrenzen hinweg, der Lateinamerika-Forschung seit langem verbunden. Rosenfeld (1989) hat anläßlich des ersten Lateinamerika-Tages der Universität die Aktivitäten münsterscher Geowissenschaftler in Lateinamerika von 1968-1988 dokumentiert. In diesem Zeitraum hatten bereits 15 Arbeitsgruppen bzw. Wissenschaftler der acht Geo-Institute Forschungsprojekte in Lateinamerika durchgeführt oder arbeiteten daran und waren entsprechende Kooperationen mit dortigen Partnern eingegangen. Die Untersuchungsobjekte erstreckten sich von Mexiko über Costa Rica, Ecuador, Brasilien und Peru bis nach Argentinien. Die Beteiligung an der GeotechnicaMesse 1991 in Kooperation mit dem Lateinamerika-Zentrum der Universität (Rosenfeld/Schrader 1991) war ebenso Ausdruck gemeinsamer Interessen wie der Suche nach weiteren Kooperationspartnern. Das Geologisch-Paläontologische Institut der Universität Münster ist seit Jahrzehnten „romanisch" orientiert; das geht zurück auf Franz Lotze, Ordinarius für Geologie und Paläontologie und Direktor des Geologisch-Paläontologischen Institutes von 1948-1968, dessen bevorzugtes Arbeitsgebiet die Iberische Halbinsel war. Im Jahre 1960 geschah das katastrophale Erdbeben von Valdivia/Chile; Lotze war wohl der erste Geowissenschaftler am Katastrophenort und führte eine minutiöse Schadenskartierung durch. Durch Vermittlung Lotzes ging G. Altevogt 1967 als erster Münsteraner Geologe zu Forschungen im Mesozoikum Patagoniens nach Argentinien. Wenig später begann R. SchmidtEffing mit Arbeiten in Mexiko und Costa Rica. Im Jahre 1973 kam H. Miller aus München an das Institut und brachte seine großen Erfahrungen aus dem Paläozoikum Argentiniens und Chiles mit. Auf seine Veranlassung hin schloß die Universität Münster 1981 ein Partnerschaftsabkommen mit der Universität S. M. de Tucumán/Argentinien, das im Jahre 1988 erneuert wurde. M. Kaever betreute von 1981 bis Ende der 80er Jahre ein Kooperationsabkommen mit der Universidad Autonóma de Nueva León in Linares/Mexiko, in welchem mexikanische Bergbau-Studierende ihre Ausbildung zum Diplomgeologen in Münster erhielten, die Diplomarbeit jedoch in Mexiko durchführten. Weitere Versuche, Partnerschaftsabkommen mit Institutionen in Argentinien und Chile abzuschließen, schlugen trotz des Engagements der Universität Münster und der Rektorin fehl. L. Bischoff betrieb ab 1988 im Rahmen eines größeren Projektes Impakt-Forschung in Brasilien und später tektonisch-lagerstättenkundliche Untersuchungen in Chile, beides in enger Zusammenarbeit mit dortigen Einrich-
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tungen; F. Strauch untersuchte ab 1987 känozoische Faunen aus Ecuador im Hinblick auf Klimaentwicklungen. Zu ergänzen bleibt, daß das 2. und das 13. Treffen der in Lateinamerika forschenden deutschen Geowissenschaftler 1971 bzw. 1992 in der Universität Münster stattfanden und daß die Ergebnisse dieser alle 2 Jahre durchgeführten Geowissenschaftlichen Lateinamerika-Kolloquien von Anbeginn in Münster publiziert werden: zuerst in den „Münsterschen Forschungen zur Geologie und Paläontologie", seit 1980 im „Zentralblatt für Geologie und Paläontologie". Dank der Unterstützung durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft ist es bis jetzt gelungen, diese Publikation regelmäßig etwa 60 lateinamerikanischen Bibliotheken und Kollegen zur Verfügung zu stellen. Die Partner Im Spätsommer 1973 kam Wolfgang Volkheimer mit Hilfe eines DAADStipendiums zu einem dreimonatigen Forschungsaufenthalt an das GeologischPaläontologische Institut der Universität Münster. Volkheimer hatte in Münster Geologie und Paläontologie studiert und war nach seiner Promotion 1956 bei Lotze nach Argentinien ausgewandert. Nach Tätigkeiten u. a. als Kartierender Geologe beim Servicio Geológico Nacional war er zu dieser Zeit bereits Mitglied der Carrera del Investigador del CONICET mit Sitz im Museo Argentino de Ciencias Naturales „Bernardino Rivadavia" in Buenos Aires; er war über seine Regionalkenntnis hinaus ein ausgewiesener Fachmann in der Palynologie/Paläobotanik des Mesozoikums und der geologischen Klimaforschung. Heute ist Prof. Dr. W. Volkheimer Direktor des Instituto Argentino de Nivología, Glaciología y Ciencias Ambientales (IANIGLA/CRICYT)/Mendoza und des Museo Argentino de Ciencias Naturales e Instituto Nacional de Investigación de Ciencias Naturales/Buenos Aires (bis 1988); er ist Koordinator der Wissenschaftsbeziehungen zwischen Argentinien und Deutschland und Coordinador Científico de la Comisión Nacional para el Cambio Global. Ulrich Rosenfeld promovierte bei Lotze im Jahre 1957. Er habilitierte sich mit einer Untersuchung über Sedimentologie und Fazies von Sandsteinen im Ruhr-Karbon und in der nw-deutschen Trias und war seit 1971 Professor für Sedimentologie am Geologisch-Paläontologischen Institut der Universität Münster. Er brachte in die Kooperation Kenntnisse zur Sedimentologie, Fazies und Untersuchungsmethodik klastischer Sedimente unter Einschluß salinarer Ablagerungen ein.
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Aller Anfang ist schwer.... Während seines Aufenthaltes in Münster 1973 hielt Volkheimer dort und an anderen Universitäten Vorlesungen und Vorträge. Der Versuch einer kleinen gemeinsamen Forschungsarbeit an den Saurier-Fährten bei Barkhausen im Oberen Jura des Wiehengebirges schlug fehl: man war noch nicht an Art und Möglichkeiten gemeinsamen Arbeitens gewöhnt; auch fehlte es im Institut an Einrichtungen zur Aufbereitung palynologischer Proben. Mit den Erfahrungen weniger Geländetage und in Diskussionen konnten aber die Grundzüge einer künftigen Zusammenarbeit erarbeitet werden. Die Zusammenarbeit von Sedimentgeologen mit argentinischen Biostratigraphen und, besonders, Palynologen erschien sinnvoll zur Fazies-Charakterisierung mesozoischer Schichtfolgen im wirtschaftlich bedeutenden Neuquén-Becken Argentiniens (und ggf. anderen Sedimentbecken), dessen Schichtabfolge sich durch sehr unterschiedliche Fazies in fluviatilen, litoralen und marinen Flach- und Tiefwasser-Environments auszeichnet. „Lithofazies und Palynofazies" — diese Fachkombination war seinerzeit nicht nur für Argentinien ein Novum. ....für den Neuling in Argentinien. Die Lajas-Formation (Mittlerer Jura) Ein Gegenbesuch in Argentinien wurde auf Einladung von Volkheimer durch den DAAD von Oktober bis Dezember 1975 ermöglicht. Das Programm sah Vorlesungen und Vorträge im Museo Argentino de Cs. Naturales ,3- Rivadavia" in Buenos Aires und im Instituto Miguel Lillo an der Universität S. M. de Tucumán sowie Geländearbeiten vor. Am Museum in Buenos Aires erfuhr ich durch den Direktor Dr. Rigi und die dortigen Kollegen eine persönlich und fachlich beeindruckende gastfreundliche Aufnahme; entsprechendes ist aus Tucumán und von Besuchen in Salta und Bahía Blanca zu berichten, von der Teilnahme am 6. Kongreß der Asociación Geológica Argentina oder von Führungen im Gelände durch Kollegen von Yacimientos Petrolíferos Fiscales (YPF), der staatlichen Erdöl-Gesellschaft. Die meisten der Kontakte, die ich hier überall schließen konnte, haben sich bis heute erhalten. Die Stunde der Wahrheit kam während zweier Gelände-Kampagnen im südlichen Neuquén-Becken, die länger als geplant dauerten, weil wegen der schon spürbaren wirtschaftlichen Schwierigkeiten Volkheimer ohne Geld dastand und ich mit meinem Stipendium auch kaum noch auskam. Wir zogen also an einen Ort, wo wir kein Geld ausgeben konnten, und fanden ihn in der Sierra Chacai Có, zuerst in einem Almacén mit löcherigem Dach und dann auf der Estancia Charahuilla, in einem schönen, aber rauhen Hochtal etwa 70 km südlich der
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Stadt Zapala/Neuqudn und rd. 40 km seitwärts der nächsten größeren Straße. Zu Beginn wurde ich in die Geologie des Neuquin-Beckens eingeführt: Das Neuqu6n-Becken, zwischen etwa 33-40° S und 67-71° W gelegen, ist das südliche Ende des größeren Andinen Beckens. Es stellt, wie man heute weiß, ein pazifisch orientiertes back arc-Becken in intrakontinentaler PlattenPosition dar. Das Becken entstand im tiefsten Jura aus triassischen Riftstrukturen; die Becken-Entwicklung wurde bis in die höhere Kreide durch thermische Subsidenz gesteuert, danach zusätzlich durch Sediment-Auflast. Die Sedimentfüllung ist in mehrere sedimentäre Großzyklen zu gliedern, die Subsidenzzyklen entsprechen; demzufolge wechseln transgressive und regressive Schichtabschnitte, Zeiten verbreiteter festländischer und küstennaher mariner Sedimente sowie Zeitabschnitte mit vorherrschender mariner Flachwasser- und Tiefwasser-Sedimentation miteinander ab. Nach der Einführung begannen wir, die als ,.regressiv" bekannte, hier rd. 400 m mächtige Lajas-Formation (Mittlerer Jura) feinstratigraphisch, d. h. cm- bis dm-weise aufzunehmen und für palynologische und weitergehende lithofazielle Untersuchungen zu beproben (Abb. 1). Wir erkannten schnell, daß wir uns in einem Delta befanden, in dem Flußrinnen, Überschwemmungsebenen, wattartige Milieus und trockene Environments sich abwechselten; die Schichten bildeten unterschiedliche, charakteristische Kleinzyklen. Die Ergebnisse konnten zügig ausgearbeitet, auf dem 4. Gondwana-Symposium (Calcutta 1977) vorgetragen und publiziert werden (Rosenfeld/Volkheimer 1979). Weitere Resultate wurden von Rosenfeld (1978) und von Volkheimer (z. B. 1978) und seiner Arbeitsgruppe veröffentlicht. Neben den Profilaufnahmen blieb Zeit für aktuogeologische Beobachtungen und zur Untersuchung eines prä-columbianischen Werkplatzes. Intensive Geländebeobachtungen im, wie man damals noch sagte, „geosynklinalen" Jura Feuerlands anläßlich einer ursprünglich touristisch geplanten Reise dorthin erwiesen sich als wesentliche Ergänzung unserer Profilaufnahmen. Außer fachlichen erbrachte diese erste gemeinsame Geländereise eine Vielzahl anderer Erkenntnisse, die weitgehend Arbeitsorganisation und Logistik betrafen. Auswahl und gemeinsame fehlersichere Bezeichnung von Gesteinsproben — die bis heute strikt mindestens als Doppelproben für Laboruntersuchungen in Münster und in Argentinien genommen werden — waren wichtig, ebenso die Angleichung verschiedener Sprachgebräuche oder Termini der Fachsprache. Wir lernten, auftretende Fachprobleme an Ort und Stelle zu diskutieren und möglichst zu lösen; dazu zwang u. a. die unbefriedigende internationale Post- und Telefonverbindung. Ich begriff, daß 50 kg oder 100 kg Probenmaterial auch nach Deutschland transportiert sein wollten. Wir beide wußten, daß für eine effektive Geländearbeit ein eigenes Fahrzeug notwendig war:
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vier Kisten mit Gesteinsproben und dazu persönliches Gepäck lassen sich weder auf einem Kleinlastwagen zusammen mit 12 Ziegen noch während einer 24stündigen Eisenbahnfahrt einfach handhaben. Erste Ausweitung:
Unter- und mitteljurassische
gravitative
Sedimente
Die Untersuchung der regressiven Lajas-Formation stellte eine klassische Faziesanalyse dar unter Einsatz lithofazieller und biofazieller, vor allem palynofazieller Methoden. Sie wurde 1978 mit der Aufnahme eines weiteren Profils fortgesetzt (Abb. 2). Eine Ausweitung der Faziesanalyse in Richtung auf eine größere Beckenanalyse geschah in den Jahren 1978-1980 mit der Untersuchung der Transgressionssedimente des Juras im Neuqu6n-Becken (Abb. 1). Das Bekken senkte sich offenbar bereits in der höheren Trias ein (der Beweis gelang erst später). Die basalen Ablagerungen des Juras sind festländisch; dann hat aber das Jura-Meer das Becken sehr schnell erobert. Die Sedimente sind von den jeweils nächstgelegenen Beckenrändern herzuleiten, auch von Westen; beckeninterne Hochgebiete treten ebenfalls als Sedimentlieferanten in Erscheinung. Im Unteren und im Mittleren Jura finden sich zwei Gruppen von gravitativen Massenverlagerungen. Die ältere ist an die jeweils erste Transgressionsphase geknüpft; die Ablagerungen bestehen aus — noch — kontinentalen mud flows oder aus low velocity-Turbiditen, die mit Olisthostromen verbunden sein können und einen ersten Schelfrand oder Deltafronten kennzeichnen. Diese Massenverlagerungen untergliedern die bekannten größeren Sequenzen in Abschnitte kräftiger Subsidenz und darauffolgende mit geringerer bzw. ruhiger Sedimentation. Die gravitativen Sedimente im Mitteljura sind stets mit Tuffen bzw. Tuffiten verbunden, gehen also auf vulkanische Aktivitäten zurück. Die Geländekampagne des Jahres 1979 konnte teilweise gemeinsam mit A. v. Hillebrandt/Berlin durchgeführt werden, so daß makropaläontologische Datierungen der inspizierten Schichten an Ort und Stelle möglich waren. Eine wesentliche Hilfe war auch die Führung im Gelände durch Kollegen von YPF. Auch diese Ergebnisse wurden in kurzer Zeit ausgearbeitet, auf dem 5. Gondwana-Symposium (Wellington/Neuseeland 1980) präsentiert und publiziert (Rosenfeld/Volkheimer 1980 a, b). Weiterhin entstanden Publikationen zu Einzelfragen (Arguijo et al. 1982; Volkheimer et al. 1984) und eine Anzahl getrennter Veröffentlichungen der Partner.
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Hinauf in die Kreide
Nächst dem Jura war die Kreide seit Jahren ein Arbeitsschwerpunkt der Arbeitsgruppe Volkheimer. Die Fortsetzung der Beckenanalyse des NeuquönBeckens in die Kreide konnte von deren bereits vorliegenden Arbeitsergebnissen nur profitieren. Die Kenntnis vom Zustand des Beckens als eines „panthalassic" (dem Pazifik zugewandten) back arc-Beckens war mittlerweile, auch durch Arbeiten anderer Geowissenschaftler, so weit gesichert, daß Publikationen möglich wurden, die diesen Zustand beschrieben (Volkheimer/ Musacchio 1980; Rosenfeld 1983). Am Anfang der Untersuchungen in der Kreide stand die Betrachtung des Jura/Kreide-Grenzbereiches (Abb. 1). Dieser Bereich zeichnet sich aus durch lebhafte Fazieswechsel,,regressive" Fazies und paläogeographische Hinweise auf rasche Veränderungen der Beckenkonturen. Volkheimer und Mitarbeiter haben diesen stratigraphischen Bereich in vielen Einzelarbeiten und in zusammenfassenden Darstellungen berücksichtigt (z. B. Volkheimer/Quattrocchio 1981) und sind dabei zunehmend auch auf Fragen der Palynofazies eingegangen (z. B. Peralta/Volkheimer 1997). Ein entscheidender methodischer Fortschritt war die Entwicklung der Sequenzstratigraphie in den 80er Jahren (Haq et al. 1988). Diese betrachtet genetisch, also faziell zusammenhängende Schichtabschnitte/"Sequenzen", die unten und oben durch Unstetigkeitsflächen/Diskordanzen begrenzt werden. Unstetigkeitsflächen einer bestimmten Größenordnung gehen auf eustatische Meeresspiegelschwankungen zurück, sind demnach global verbreitet und weltweit als gleichzeitig zu betrachten; die Sequenz selbst spiegelt, modifiziert nach ihren speziellen Bildungsbedingungen, die Meeresspiegelschwankung wider. Die Sequenzstratigraphie ist eine Chronostratigraphie; sie braucht, wenn man sie an realen Schichtfolgen anwenden will, eine feinstratigraphische Schichtaufnahme, mit deren Hilfe man die Merkmale findet, die die Identifizierung von Sequenzen und ihrer Teile ermöglichen. Eine detaillierte sequenzstratigraphische Studie des Jura/Kreide-Grenzbereiches ergab Verfeinerungen der ersten entsprechenden Untersuchung im Neuqu6n-Becken (Mitchum/Uliana 1985), vor allem aber den Nachweis der weitgehenden Sedimentherkunft aus einem westlich gelegenen, sich zeitlich und räumlich verändernden Magmatischen Bogen. Das Neuqu6n-Becken entwickelt sich in dieser Zeit ähnlich wie entsprechende Regionen der nördlichen Zentralanden; es nimmt teil an der großregionalen tektonisch-magmatischen Entwicklung des pazifischen Randes Südamerikas (Eppinger/Rosenfeld 1996). Auch für die Biofazies eröffnet die Sequenzstratigraphie weitere Möglichkeiten: selbst sehr feine Veränderungen von Fossilgesellschaften oder Kompo-
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Ulrich Rosenfeld
nenten organischer Substanz lassen sich auf Schwankungen des Meeresspiegels zurückführen (Peralta/Volkheimer, im Druck). Abstieg in die Trias
Nach Abschluß der proterozoisch-paläozoischen Akkretionsvorgänge am Panthalassa- (Pazifik-) Rand des südlichen Südamerika entstand dort von N-Chile bis Patagonien eine Schar etwa NW-NNW streichender, fiedrig angeordneter Riftbecken/Grabenstrukturen, die von W-Argentinien bis Patagonien mächtige kontinentale Trias-Schichtfolgen aufnahmen. Die Schichten sind erkennbar in großen Sequenzen abgelagert, die großräumige Hebungen der jeweiligen Hinterländer widerspiegeln. Das Neuquön-Becken entwickelte sich ab der höchsten Trias über und aus diesen Riftbecken. Die beiden Partner haben bei ihren Geländeaufenthalten vielfach auch TriasSchichtfolgen studiert, Probenmaterial aufgesammelt und schließlich ihre Beobachtungen in einer „Pilot"-Studie zusammengefaßt (Rosenfeld/Volkheimer 1986). Seitdem haben Volkheimer und Mitarbeiter Biostratigraphie und Biofazies der argentinischen Trias intensiv bearbeitet und über die Zusammenstellung von Stipanicic (1983) hinaus wesentliche neue Daten gewonnen (z. B. Volkheimer/Zavattieri 1992; Volkheimer/Papü 1993; Zavattieri et al. 1994). Rosenfeld und Mitarbeiter führten in vielen Profilen Faziesuntersuchungen durch (z.B. Frey/Rosenfeld 1992); dabei wurde auch die Geochemie als neue Untersuchungsmethode erprobt (Hauschke et al. 1989). Eine großregionale Studie (Jenchen 1998) belegt, daß die verschiedenen Trias-Becken sich unabhängig voneinander entwickelten, die verschiedenen Herkunftsgebiete der Sedimente sich ebenfalls unabhängig voneinander verhielten, zu bestimmten Zeiten aber überregionale Einflüsse wirksam wurden. Der paläogeographische Umschwung, der zur Entwicklung des Neuquin-Beckens führte, ist, wie vor allem die palynostratigraphischen Untersuchungen zeigten, gegen Ende der Trias sehr schnell geschehen. Über Geld
Von 1975 bis 1997 haben die beiden Partner 15 ausgedehnte gemeinsame Geländekampagnen und weitere mit ihren Mitarbeitern unternommen und umfangreiche Laborarbeiten durchgeführt. Das war nur mit entsprechender finanzieller Förderung möglich. Die Deutsche Forschungsgemeinschaft hat U. Rosenfeld durch mehrere Sachbeihilfen unterstützt; auch die Gesellschaft zur Förderung der Westfälischen Wilhelms-Universität und ebenso die Universität Münster und das Geologisch-Paläontologische Institut haben die gemeinsame Arbeit ge-
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fördert. W. Volkheimer hat entsprechend den Möglichkeiten in Argentinien Unterstützung durch CONICET erfahren. Eine wesentliche Basis der gemeinsamen Arbeit bildeten zwei Zuwendungen der Volkswagen-Stiftung in den Jahren 1980 und 1983. Aus diesen Zuwendungen konnten ein geländegängiges Kraftfahrzeug beschafft und dessen Unterhalt für fünf Jahre gesichert werden, ferner für den argentinischen Partner eine Mikroskop-Ausrüstung und dringend benötigte Fachliteratur. Erst das eigene Fahrzeug erlaubte u. a., auch von Münster aus Dissertationen und Diplomarbeiten in Argentinien durchzuführen. Die wirtschaftliche Situation Argentiniens und die Inflation in den 70er und 80er Jahren haben die Arbeiten erschwert. Der Geldbetrag zur Bestreitung des Lebensunterhaltes für 10 Tage im Jahre 1975 reichte im Jahre 1978 für einen Tag und entsprach 1979/80 dem Porto für einen Übersee-Brief. Dementsprechend kompliziert waren für beide Partner manche — vor allem logistische — Einzelheiten der Arbeit. Erheiternd nehmen sich dagegen rückblickend die Abrechnungsschwierigkeiten aus, denen sich der deutsche Partner hierzulande öfters gegenüber sah: Rechnungsbüros und Öffentliche Kassen konnten anfänglich nicht verbuchen, daß eine nach Argentinien verbrachte Geldmenge dort inflationsbedingt anwuchs, obwohl davon größere Ausgaben getätigt worden waren. Ebenso schwierig waren etwa Reisekosten-Abrechnungen mit Währungen aus mehreren lateinamerikanischen Ländern — jedes Land mit anderer Inflationsrate und u. U. wöchentlich verändertem Dollar-Wechselkurs. Das Rektorat der Universität Münster und seine Mitarbeiter waren aber stets sehr kooperativ. Arbeitsgruppen und Besuche In seiner Stellung als Professor an verschiedenen argentinischen Universitäten hatte Volkheimer eine ganze Anzahl von Kandidaten zur Promotion und anderen Examina geführt. Im wesentlichen aus diesen Mitarbeitern entstand gegen Ende der 70er Jahre die Arbeitsgruppe PRIBIPA (Programa de Investigaciones en Bioestratigrafía y Paleoecología), die sich von Buenos Aires und Mendoza aus der Untersuchung mesozoischer und paläozoischer Schichtfolgen in Argentinien widmete. Der Aufbau einer münsterschen Arbeitsgruppe (Abb. 3) war erst nach eigenen Vorarbeiten möglich und nachdem ein Fahrzeug zur Verfügung stand. Als erster ging im Jahre 1986 mit einem post doc-Stipendium der Deutschen Forschungsgemeinschaft N. Hauschke mit Familie für ein Jahr nach Mendoza zu Faziesuntersuchungen in der kontinentalen Trias. Ihm folgten bis 1991 fünf und später zwei weitere Doktoranden und Diplomanden, die sedimentgeologische
Abbildung 3: Forschungskooperation „Stratigraphie und Fazies im Mesozoikum Argentiniens". Kooperationspartner
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Ralf Austrup/Münster Hans-Dieter Brinkmann/Münster Klaus Jürgen Eppinger/Münster Jürgen-Wemer Frey/Münster
Gerardo Bossi/S.M.de Tucumán Eduardo Musacchio/Comod.Rivadavia Oscar Papú/Mendoza Mercedes Pramparo/Mendoza
Roland Gaschnitz/Münster
Mirta Quattrocchio/Bahía Blanca
Norbert Hauschke/Münster
Eliseo Sepulveda/San Antonio Oeste
Uwe Jenchen/MUnster
Luis Spalletti/La Plata
Rüdiger Kroll/Münster
Wolfgang Volkheimer/Mendoza
Jochen Nordhaus/Münster
Ana María Zavattieri/Mendoza
Ulrich Rosenfeld/Münster
Garate Zubillaga/Zapala Kollegen von Yacimientos Petrolíferos Fiscales (YPF) und Dirección General de Minería/Zapala
Peter Bitschene/Comododoro Rivadavia/Bochum Axel von Hillebrandt/Berlin Matthias Kaever/MUnster Werner Loske/München Hubert Miller/München Winfried Remy/Münster Klaus Weber-Diefenbach/München
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Arbeiten in der Trias, im Jura und in der Kreide durchführten. Alle wurden in der Forschergruppe PRIBIPA von Kollegen und in den verschiedenen Institutionen gastfreundlich und kollegial aufgenommen. Durchweg entwickelten sich über die fachliche Ebene hinausgehende freundschaftliche Verhältnisse; vier Münsteraner brachten ihre Lebensgefährten aus Argentinien mit. Von den Arbeitsergebnissen liegen bisher sechs Publikationen vor; weitere sind in Vorbereitung. Die breiteren persönlichen Kontakte und die sich verbessernden äußeren Bedingungen förderten die Bereitschaft und Möglichkeit zu Studienaufenthalten in Deutschland. Bis 1995 sind etwa 13 längere Aufenthalte von lateinamerikanischen Gastwissenschaftlern und Stipendiaten im Geologisch-Paläontologischen Institut bekannt geworden, davon vier im Zusammenhang mit der Arbeitsgruppe Sedimentgeologie. Dazu kamen mehr als zehn Kurzbesuche argentinischer Kollegen und Freunde. Anläßlich des 13. Geowissenschaftlichen Lateinamerika-Kolloquiums in Münster 1992 gelang es mit Hilfe des DAAD, von Stiftungen und der WWU, acht junge Kolleginnen und Kollegen nach Münster einzuladen, davon sechs aus Mendoza, Comodoro Rivadavia und Tucumán. Verflechtungen. Präsentation
von
Arbeitsergebnissen
Die Unesco fördert durch das International Geological Correlation Programme (IGCP) bzw. die International Union of Geological Sciences (IUGS) fachübergreifende geowissenschaftliche Gemeinschaftsprojekte. Vor allem die Untersuchungen Volkheimers gingen in das Projekt 171 „Circum-Pacific Jurassic" ein; Rosenfeld war an der Exkursionsführung des von ihm organisierten 2. Field Meeting (Mendoza-Neuquén 1983) beteiligt und konnte am 4. Field Meeting in Tsukuba/Japan teilnehmen. Volkheimer war Koordinator des Projektes 242 „Cretácico de América Latina" (1985-1989) und unternahm auch in dieser Eigenschaft eine ganze Anzahl von Kontakt-, Forschungs- oder Vortragsreisen in Lateinamerika. Rosenfeld war Landesbeauftragter für die Bundesrepublik Deutschland und nahm an Veranstaltungen in Mexiko und Brasilien teil. — Es ergaben sich auf diese Weise eine Vielzahl weiterer und Vertiefungen bestehender Kontakte. Alle an den gemeinsamen Untersuchungen Beteiligten waren bestrebt, ihre Arbeitsergebnisse einem Fachpublikum zu präsentieren und zur Diskussion zu stellen. Das geschah regelmäßig auf nationalen geowissenschaftlichen Fachtagungen, z. B. der Asociación Geológica Argentina oder den Geowissenschaftlichen Lateinamerika-Kolloquien. Entsprechende Publikationen folgten in den meisten Fällen. Im internationalen Rahmen waren länderübergreifende lateinamerikanische Kongresse (z. B. Buenos Aires 1982; Mexiko 1984, 1987;
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Ulrich Rosenfeld
Kuba 1991; Mendoza 1994) die Podien; es konnte geschehen, daß ein Partner den angekündigten Beitrag des anderen — verhinderten — verlas. Für den deutschen Partner waren die Gondwana-Symposien von Calcutta 1977 bis Hobart/ Tasmanien 1991 besonders wichtig, auf denen Untersuchungsergebnisse im größeren Zusammenhang des Gondwana-Kontinentes diskutiert werden konnten. State of the art
Für die geschilderte Forschungskooperation war die Kooperationsbereitschaft aller Beteiligten der wesentliche Antrieb. Der fachlich schmale Beginn der Zusammenarbeit ergab ein kleines Resultat, aber größere weiterführende Fragen, und deren Durchdringung oder Lösung weiterer Fragen. Die Abnahme der langen gemeinsamen Geländekampagnen in jüngeren Jahren belegt, daß die Arbeiten das Stadium der Datensammlung prinzipiell verlassen haben; die Aufarbeitung wird andauern. Zusammenfassende Darstellungen eines Kenntnisstandes sind von beiden Partnern mehrfach gegeben worden (z. B. Rosenfeld 1987; Sarjeant et al. 1993). Die Geschichte des Neuquin-Beckens als eines der großen pazifisch orientierten mesozoischen back arc-Becken ist sicher noch nicht zu Ende geschrieben. Eine Kurzfassung dieser Geschichte nach dem heutigen Kenntnisstand wird vorbereitet (Leanza et al., in prep.). Weitere Arbeiten werden folgen. Beide Partner haben sich auch anderen Fragestellungen zugewendet, Volkheimer zuerst Fragen der jungen Klimaentwicklung und sodann der Umweltkontamination. In erstgenannter Beziehung ist er zusammen mit P. Smolka/ Münster Koordinator des IGCP-Projektes 341 „Southern Hemisphere Paleoand Neoclimates", in zweitgenannter Organisator umfangreicher Umweltprogramme (Galliski et al. 1996; Volkheimer et al. 1996). Rosenfeld widmet sich der weiteren Anwendung geochemischer Methoden auf Sedimente und Sedimentfazies (Rosenfeld/Thiele-Papke 1996) und der Aktuogeologie (Rosenfeld 1992). Die Aktuogeologie verbindet beide Partner auch bei zukünftigen Arbeiten: auf den Field Meetings 1994 und 1997 des Projektes 341 hielt Rosenfeld einen Kursus bzw. einen Vortrag über Aktuogeologie; im Rahmen der Umweltprojekte untersuchen beide zusammen Stratigraphie und Fazies zweier rezenter/junger Salzlagunen in W-Argentinien. Wie geht es weiter?
Die Aktivitäten der beiden Partner entwickeln sich — selbstverständlich — in unterschiedlicher Weise weiter. Biostratigrapisch-biofazielle Untersuchungen,
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ganz besonders palynologische Untersuchungen, im Mesozoikum Argentiniens und des weiteren Südamerika werden in der Arbeitsgruppe PRIBIPA und deren Nachfolgern weiterhin intensiv betrieben — jetzt bereits in der 2. und 3. Forscher-Generation. Die münstersche Arbeitsgruppe hat sich weitgehend aufgelöst: Fast alle ihre Mitglieder haben ein berufliches Ziel erreicht, keiner konnte bisher eine Stellung erlangen, die mehr oder weniger freie Forschung erlaubte; einer fand seine berufliche Zukunft in Südamerika. Die Fortführung der Lateinamerika-Forschung am Geologisch-Paläontologischen Institut der Universität Münster ist vorerst gesichert. Der Aufbau einer neuen Arbeitsgruppe ist im Gange, natürlich mit anderen Zielsetzungen und anderen Partnern als bisher. Auf Fachbereichsebene lassen Strukturen und personelle Veränderungen gemeinschaftliche Lateinamerika-Aktivitäten der fünf Geo-Institute z. Z. unwahrscheinlich erscheinen. Die Lateinamerika-Verbindungen der Universität Münster gedeihen. Die deutsche geowissenschaftliche Lateinamerika-Forschung ist längst ein partnerschaftliches Miteinander lateinamerikanischer und deutscher Kollegen. Die Geowissenschaftlichen Lateinamerika-Kolloquien und andere Veranstaltungen verdeutlichen, daß dieses Miteinander stetig zugenommen hat. Sie zeigen auch, daß die Kontakte zu verschiedenen Regionen Lateinamerikas unterschiedlich entwickelt und Einladungen zu weiterer oder verstärkter Zusammenarbeit nötig sind. In vielen Ländern ist eine starke Hinwendung zu englischsprachigen Partnern zu beobachten. Das ist fachlich eine positive Erweiterung des Kooperationsspektrums, zugleich aber eine deutliche Mahnung an die deutsche Kultur- und Wissenschaftspolitik, die Zugänge zur deutschen Sprache und Kultur in Lateinamerika offen und die zu deutscher Wissenschaft leicht zugänglich zu halten. Sonst würde die von Alexander von Humboldt zuerst begründete Vertrauensbasis rasch verschwinden. Danksagung: Ich danke Wolfgang Volkheimer für die Durchsicht des Manuskriptes. Literatur Arguijo, M./Volkheimer, W./Rosenfeld, U. (1982): Estudio Palinológico de la Formación Piedra Pintada, Jurásico Inferior de la Cuenca Neuquina (Argentina). Sao Paulo, Bol. IG. Inst. Geociencias USP 13: 100-107. Eppinger, K. J./Rosenfeld, U. (1996): Western margin and provenance of sediments of the Neuquén Basin (Argentina) in the Late Jurassic and Early Cretaceous. Tectonophysics 259: 229-244.
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Technologietransfer in Brasilien: Wirklichkeit, Möglichkeiten und Beschränkungen MARIA CHRISTINA SIQUEIRA DE SOUZA CAMPOS 1 UND JOAQUIM PEDRO VILLANA DE SOUZA CAMPOS 2
In Brasilien hat die Frage nach dem Technologietransfer von der Universität in die Gesellschaft, die fundamental in der modernen Welt und insbesondere in einem Schwellenland ist, endlose Diskussionen verursacht, die bislang zu keinem Konsens geführt haben. Zunächst muß jedoch erläutert werden, was wir unter dem Begriff Technologietransfer verstehen. Grundsätzlich wird der Begriff für die Übertragung von Wissen verwendet, das an den Hochschulen produziert und an die unterschiedlichen Bereiche der Gesellschaft wie Unternehmen, private Körperschaften und Einrichtungen der drei Gewalten des Staates vermittelt wird. Darin ist jedoch auch der Gedanke enthalten, daß beim Austausch zwischen Hochschulen und Institutionen der Gesellschaft sich ein tatsächlicher Austausch von Kenntnissen in beide Richtungen vollzieht. Die Institutionen für Forschung und Lehre bieten zwar allgemein die besseren Voraussetzungen für die Durchführung von Untersuchungen, welche kurz-, mittelund langfristig Lösungen für sich stellende Fragen bringen können, aber sie verfügen oftmals nicht über ausreichendes Wissen hinsichtlich der unterschiedlichen Bereiche der Gesellschaft, deren Bedürfnisse und Möglichkeiten. Diese Kontakte können also eine große Bereicherung für die Forschung an den Hochschulen sein, was auch in Wirklichkeit schon geschieht. Der Austausch zwischen den verschiedenen Einrichtungen würde alle Beteiligten bereichem. Seit Jahren untersuchen wir diese Frage und die vorhandenen Möglichkeiten für eine effektive Zusammenarbeit zwischen den akademischen Einrichtungen und dem öffentlichen und/oder unternehmerischen Bereich im Bundesstaat Säo 1
Prof. Dr. sc.pol., Dozentin an der Fakultät für Volkswirtschaft, Betriebswirtschaft und Rechnungswesen der Universität Säo Paulo (USP) — Campus Ribeiräo Preto — Fax: ++5511-8154527 — e-mail: [email protected] 2 Prof. Dr. em. Economía, Dozent an der Fakultät für Volkswirtschaft, Betriebswirtschaft und Rechnungswesen der USP und der Pontificia Universidade Católica de Säo Paulo (PUC-SP).
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Paulo. Begonnen hat unsere Arbeit in einem Austausch mit Prof. Dr. Achim Schräder, anfangs an der Gesamthochschule Duisburg und später an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. Die von ihm gegründete Forschungsgruppe Lateinamerika hat einen weiteren Beitrag zur Zusammenarbeit geleistet. Durch seine Vermittlung konnten wir mit dem Ministerialdirigenten im Ministerium für Wissenschaft und Technologie des Landes Nordrhein-Westfalen, Herrn Dr. Willi Becker, Kontakt aufnehmen. Mit ihm hatten wir einen regen Gedankenaustausch, was dann dazu führte, daß er für uns ein erstes Besuchsprojekt bei verschiedenen deutschen Hochschuleinrichtungen organisierte, die sich durch eine aktive Zusammenarbeit mit dem öffentlichen und dem privaten Bereich der Gesellschaft auszeichneten. Diese Studie wurde im Jahre 1989 in die Tat umgesetzt. Neben den Besuchen wurden fruchtbare Gespräche mit den Verantwortlichen für Technologietransfer vor allem an der Ruhruniversität Bochum, den Technischen Hochschulen Aachen und Karlsruhe sowie der Technischen Universität München geführt. Auf diese Weise konnten wir uns einen umfassenden Überblick darüber verschaffen, wie diese Einrichtungen innerhalb der deutschen Hochschulen funktionieren und wie sie mit der Gesellschaft aktiv interagieren: Der öffentliche Bereich und vor allem mittelständische Unternehmen können die akademischen Fachbereiche für wenig Geld konsultieren und Lösungen für Probleme unterschiedlichster Art erhalten. Im Jahre 1991 planten wir in Zusammenarbeit mit Prof. Schräder, der damals bereits Direktor des Lateinamerika-Zentrums (CeLA) war, eine Fortsetzung unserer Studie, wobei wir uns diesmal auf das Bundesland Nordrhein-Westfalen beschränkten und nur drei Hochschuleinrichtungen einbezogen: eine von jedem Hochschultyp. Von den traditionellen Universitäten wählten wir die Universität Münster, damals die drittgrößte in der Bundesrepublik. Dazu nahmen wir zwei neue Hochschulen, die nach dem traditionellen Muster gegründete Universität Dortmund und die ursprünglich als Gesamthochschule strukturierte Universität Duisburg, die erst später die Bezeichnung Universität erhalten hat. In einem Zeitrahmen von drei Monaten pflegten wir Kontakte mit den Leitern und den Fachkräften der Arbeitsstellen Forschungstransfer — AFO — der drei Universitäten, beobachteten deren jeweilige Arbeitsweisen und nahmen an transfermeetings teil, die dazu dienten, die Dozenten dieser Einrichtungen mit ganz spezifischen Produktionsbereichen in Verbindung zu bringen. In dieser Phase war die Vermittlung von Prof. Schräder fundamental für die intensive Zusammenarbeit mit der von Herrn Dr. Wilhelm Bauhus geleiteten AFO der Universität Münster. Diese Zusammenarbeit begann bereits bei der gemeinsamen Organisation eines internationalen Seminars, welches den Technologietransfer als Schwerpunktthema hatte und welches 1990 an der Pontificia Universidade Católica de Säo Paulo — PUC-SP — stattfand.
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Diese Veranstaltung mit dem Titel „Internationales Seminar über den Transfer von Technologie/Forschung/Dienstleistungen" wurde vom Sekretariat für Wissenschaft und Technologie des Bundesstaates Säo Paulo und vom Ministerium für Wissenschaft und Technologie des Landes Nordrhein-Westfalen unterstützt. Zu dieser internationalen Begegnung kam eine von Prof. Dr. Achim Schräder zusammengestellte deutsche Delegation, an der der Leiter der Abteilung für Technologie- und Forschungstransfer des vorgenannten deutschen Landesministeriums, Herr Kurt Seelmann, der Vertreter der AFO Münster, Herr Dr. Wilhelm Bauhus, Prof Dr. Dirk Ehlers, vom Institut für Wirtschaftsverwaltungsrecht dieser Universität, sowie der damalige Kanzler der Universität Dortmund, Dr. Klaus Anderbrügge, teilgenommen haben. Von der brasilianischen Seite beteiligten sich mit unterschiedlichen Beiträgen Prof. Dr. Antonio Carlos Bemardo als Vertreter des Sekretariats für Wissenschaft und Technologie, eine Gruppe von Professoren aus den verschiedenen Bereichen der PUC-SP und ein Professor der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der USP. Obwohl die Diskussionen sehr fruchtbar waren, wurde das Seminar von den politischen Ereignissen, die Brasilien zu dieser Zeit durchlebte, beeinträchtigt: Der neugewählte Präsident der Republik 3 beschlagnahmte zur Bekämpfung der Hyperinflation gleich nach seinem Amtsantritt alle Bankguthaben ab einem sehr niedrigen Betrag. Vor allem die Unternehmer waren dadurch mit emsthaften Problemen bei der Führung ihrer Geschäfte konfrontiert, so daß sie keine Möglichkeit hatten, an einer solchen Veranstaltung teilzunehmen. Technologietransfer in Deutschland Die in Nordrhein-Westfalen durchgeführten Studien, von denen vorher bereits die Rede war, zeigten nicht nur die Art der effektiven Zusammenarbeit zwischen den akademischen Einrichtungen und den verschiedenen Bereichen der Regierung und des Unternehmertums, sie zeigten vor allem, daß für die Gewährleistung dieser Kooperation (die sich zu einem ständigen Kommen und Gehen in beide Richtungen entwickeln soll) zwei Grundvoraussetzungen nicht fehlen dürfen: das gegenseitige Vertrauen und der Glaube, daß alle Beteiligten aus diesem Austausch Nutzen ziehen können. In Deutschland gibt es eine starke Tradition, die Wissenschaft funktional für die Gesellschaft zu gestalten. D.h. in den Hochschulen gehört bei den Examensarbeiten die Forschung schon zum Alltag. Es besteht eine starke Integration zwischen den in den Examensarbeiten entwickelten Projekten und den Forschungsarbeiten, die Gegenstand von Dis3
Die Amtsübernahme durch den neuen Präsidenten, Fernando Collor de Mello, fand am 15. März 1990 statt und das Seminar wurde vom 21. bis 23. des gleichen Monats abgehalten.
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sertationen sind. So machen sich die Studenten sehr früh damit vertraut, wie das Wissen produziert und der Gesellschaft zur Verfügung gestellt wird. Das Bewußtsein, daß nicht alle Forschungsbereiche von den Hochschulen isoliert entwickelt werden können, führt dazu, daß sie die Zusammenarbeit mit verschiedenen Forschungszentren suchen — sei es im Inland, sei es bei Instituten in anderen Ländern. Dadurch können Projekte von größerer Tragweite in Angriff genommen werden, die von einem einzelnen nicht realisiert werden könnten. Die wesentlichen damals hervorgehobenen Schlußfolgerungen bezogen sich auf unterschiedliche Aspekte, von denen die folgenden zu unterstreichen sind: • aktive Beteiligung der öffentlichen Organe der drei Regierungsebenen in Deutschland (Bund, Länder und Gemeinden) am Programm des Technologietransfers, welche sich nicht nur auf die Unterstützung der Initiativen der Hochschuleinrichtungen beschränkte, sondern sich auch in der Erteilung von Aufträgen manifestierte, wenn Bedarf nach Beratung bei der Suche nach Problemlösung im eigenen Tätigkeitsbereich bestand; • Existenz eines ganzen Netzes von Institutionen, welche an diesem Technologietransfer beteiligt sind und vom Landesministerium für Wissenschaft und Forschung koordiniert werden: Universitäten und andere Institutionen auf Hochschulebene, Forschungsinstitute (darunter die Max-Planck-Institute und die Fraunhofer Institute) sowie technische Unterstützungseinrichtungen und Industrie- und Handelskammern; • einfache Struktur der Büros für Technologietransfer: Sie haben im allgemeinen einen Koordinator, eine oder zwei Fachkräfte und eine Sekretärin sowie Studenten als Assistenten oder Praktikanten; • Bevorzugung der Entwicklung der innovativen Fähigkeit an den gesellschaftlichen Einrichtungen, vor allem im Untemehmensbereich, und an den Universitäten durch die Unterstützung des gegenseitigen Austausches; • Erforschung neuer Kenntnisse und Entwicklung neuer Techniken als grundlegendes Ziel des Programms sowie deren Veröffentlichung/Zugänglichmachung für die Unternehmen und die verschiedenen Regierungsebenen; • Bereitschaft zur Zusammenarbeit und Interesse an einer gemeinsamen Arbeit mit den brasilianischen Universitäten, verbunden mit der Zusage, an der Gründung von Institutionen beratend mitzuwirken, welche die Zusammenarbeit zwischen den Universitäten und den verschiedenen Einrichtungen der Gesellschaft fördern. Die Arbeitsstellen Forschungstransfer (AFO) haben ganz unterschiedliche Vorgehensweisen, um ihre Ziele — die Beziehungen zwischen der Wissenschaft und der Praxis zu fördern und zu erweitern — zu erreichen. Einmal stellen sie direkte Kontakte mit den Bereichen der Wirtschaft her, was tiefe Kenntnisse über die Region und deren Bedürfnisse voraussetzt; oder sie nehmen an wissen-
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schaftlichen Messen und Ausstellungen teil, um potentiellen Interessenten zu zeigen, was die Universität ihnen bieten kann; oder sie organisieren fachspezifische Veranstaltungen (transfer-meetings), in denen Professoren und/oder Forscher einem eigens dazu eingeladenen Publikum (dreißig bis fünfzig Personen) aus mittelständischen Unternehmen oder aus der öffentlichen Verwaltung über die Ergebnisse ihrer Untersuchungen berichten; oder sie veröffentlichen die in der Zusammenarbeit durchgeführten Arbeiten bzw. geleisteten Beratungen in Form von Anleitungen/Katalogen, die nicht nur auf die durchgeführten Arbeiten, sondern auch auf gegebene Forschungsmöglichkeiten aufmerksam machen. Natürlich sind die gesamten Daten auch im Computer gespeichert, so daß eine ständig aktualisierte Datenbank zur Verfügung steht. Je nach dem Umfang der in den einzelnen Hochschulinstitutionen in der Entwicklung befindlichen Programme können die AFOs auch als Beratungsorgane tätig werden, z. B. für fachspezifische Projekte wie die Forschungsprogramme der Europäischen Union (u. a. die Programme EUREKA und ERASMUS). Gemäß den Bedingungen und der Ausprägung der Wirtschaft in der Region, in der sich die Universität befindet, wird auch das Hauptziel der Tätigkeit gewählt. So zielt z. B. die AFO Münster besonders auf mittelständische Unternehmen sowie die Verwaltung im kommunalen Umfeld ab. In Duisburg wiederum, einer Großstadt mitten in der am stärksten industrialisierten Region Deutschlands, sind die Hauptzielgruppe die dort angesiedelten großen Betriebe. Zwei parallel geschaltete Institutionen können dazu dienen, den Wirkungskreis der AFOs zu erweitern und den Austausch zwischen der Universität und dem unternehmerischen Bereich zu fördern: Das eine sind die Technologieparks, die weiterentwickelt sind als die Technologiehöfe und größeren Betrieben dienen, welche nach und nach ihre Forschungslabors dorthin verlagern oder Pilotfirmen einrichten. Die anderen sind die Technologiehöfe, die meist aus der Zusammenarbeit zwischen Privatinitiative und Munizipalverwaltung4 entstehen und mit einer Universität verknüpft sind. Eine Universität kann eine Assoziation mit mehreren Technologiehöfen, die in der gleichen Region und innerhalb ihres Einflußbereichs errichtet sind, eingehen. In diesen Technologiehöfen richten sich junge Unternehmer (Existenzgründer), die sich durch ihre Innovationskraft auszeichnen, für eine bestimmte Zeit ein. Ihre Einrichtungen werden aus Mitteln der Untemehmensverbände und der öffentlichen Hand finanziert. Die dort eingerichteten Firmen zahlen eine Miete für die Benutzung der Räume und können die ganze Infrastruktur der Höfe benutzen; dadurch werden auf jeden Fall die 4
Das Munizipium ist die kleinste politische Einheit Brasiliens, eine Unterteilung des Bundesstaates.
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fixen Kosten des Kleinbetriebs gesenkt, bis er in der Lage ist, sich ohne diese Unterstützung zu entwickeln. Das hat auch eine indirekte Auswirkung: es zieht andere Firmen an, die sich schließlich in der Umgebung der Technologiehöfe ansiedeln. Technologietransfer in Brasilien In Brasilien unterscheiden sich Geschichte und Tradition erwartungsgemäß wesentlich von Deutschland. Es wird allgemein behauptet, daß die portugiesische Kolonisierung mit ihrer starken katholischen Tradition den technischen und berufsbildenden Unterricht vernachlässigt, dafür um so mehr die Geisteswissenschaften und die Juristerei gefördert hat (Fernandes 1966; Berger 1976; Ribeiro 1978). Aber auch in Deutschland war die Bildung während der Renaissance stark humanistisch geprägt, denn das war damals die Norm (Dolch 1965). Tatsache ist, daß der gesellschaftliche Wandel und vor allem der Industrialisierungsprozeß, der sich vom 18. Jahrhundert an in Europa vollzogen hat, in Brasilien nicht die entsprechenden Veränderungen bewirkte, denn Brasilien war noch im 19. und bis ins 20. Jahrhundert hinein ein ausgesprochen landwirtschaftlich geprägtes Land; daran hatten auch der Bruch mit dem Mutterland Portugal und die Unabhängigkeitserklärung (1822) nichts geändert. Von den dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts an erlaubte die veränderte politische Landschaft, neue Bedingungen für die industrielle Entwicklung zu schaffen, was wiederum den Prozeß der Verstädterung nach sich gezogen hat. Die Erziehung hat sich jedoch immer mit Verspätung gegenüber dem wirtschaflich-sozialen Wandel entwickelt; sie bedeutete auch nicht viel für die Mehrheit der Bevölkerung (Fernandes 1966; Campos 1982), weil sie keinen Nutzen davon hatte. Die ersten, im 19. Jahrhundert gegründeten Hochschuleinrichtungen blieben als isolierte Institutionen bestehen; sie dienten der Ausbildung der Elite und der Führungskräfte und somit der Erhaltung des status quo, vereinzelt auch dem sozialen Aufstieg. Sie bereiteten auf die Ausübung einiger weniger Berufe vor, die von der Gesellschaft nachgefragt wurden (Ärzte, Ingenieure und Juristen). Erst im 20. Jahrhundert entstanden in Brasilien die ersten Universitäten.5 Die Universität Säo Paulo (USP), gegründet 1934, war die erste, die sich neben der Lehre noch andere Ziele setzte: die Produktion von Wissen, die Dienste an die Gemeinschaft oder die sogenannte „extensäo" (Dienstleistung), die immer als ein kleineres, weniger wichtiges Ziel neben den Hauptzielen der Lehre und der Forschung angesehen wurde. 5
Die erste Universität in Brasilien wurde 1911 in Paraná gegründet. Sie konnte sich aber mangels Geld nicht lange halten.
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Gegenwärtig wird an der Hochschule in Brasilien in verschiedenen Alten von Institutionen gelehrt: abgesonderte Institutionen, zusammengeschlossene Fakultäten und Universitäten. Sie können unter öffentlicher (Bund, Bundesstaaten, Gemeinden) oder privater Verwaltung stehen. Die USP ist eine Universität der Regierung des Bundesstaates Säo Paulo, welche noch zwei weitere Universitäten, die UNICAMP — Universität von Campinas — und die UNESP — Bundesstaatliche Universität von Säo Paulo —, unterhält. Die USP hat in fünf weiteren Städten des Bundesstaates Säo Paulo Campi eingerichtet, die sich jeweils verstärkt einem bestimmten Kenntnisbereich widmen. Der größte Campus ist auf jeden Fall der der Hauptstadt. Die Tatsache, daß für die Gründung dieser Universität im Jahre 1934 einige im vergangenen Jahrhundert entstandene Fakultäten um einen neuen Kern — die Fakultät für Philosophie, Wissenschaften und Literatur — zusammengeschlossen wurden, wirkte sich dahingehend aus, daß sich die Isolierung zwischen diesen Fakultäten noch verstärkte, so daß zwei davon sich geweigert haben, in den neu entstehenden Campus der Universität umzuziehen, als dort Gebäude für die einzelnen Einheiten errichtet wurden. Da die USP von der Regierung des reichsten Bundesstaates Brasiliens getragen wird und deshalb über erhebliche Mittel verfügen kann, ist sie schon immer durch den hohen Stand der Lehre und durch ihre relativ reiche wissenschaftliche Produktion gegenüber den anderen brasilianischen Universitäten hervorgetreten. Sie konnte zwar nicht mit den ausländischen Universitäten, die viel älter und traditionsreicher sind, konkurrieren, aber in Brasilien und auch in Lateinamerika nahm sie eine besondere Stellung ein. 6 Die USP spiegelt jedoch wie die meisten akademischen Institutionen des Landes die Kultur Brasiliens wider, d.h. mit dem produktiven Sektor zusammenzuarbeiten bedeutet Gefahr, sich anzustecken, zur Bereicherung der kapitalistischen Betriebe beizutragen, während diese nur darauf aus sind, die Masse der Bevölkerung auszubeuten. Wie bereits erwähnt, wurde die als „extensäo" bezeichnete Dienstleistung immer als geringwertig angesehen, dafür bestimmt, den schwächeren Sektoren der Gesellschaft bzw. den weniger bemittelten Schichten zu dienen. Zum Beispiel gehören die Unterstützungsprogramme für die entlegenen und armen Gegenden des Landes dazu, für die die Institutionen
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Nach dem „Anuärio Estatistico", dem Statistischen Jahrbuch der USP von 1997 (die Daten beziehen sich auf das Jahr 1996), waren an der USP 37.677 Studenten und 23.451 Doktoranden/Graduierte eingeschrieben. Es wurden 129 Studiengänge, die zur Graduierung führten, 267 Kurse für Magisterexamen und 229 für Doktorexamen abgehalten. Die Universität zählte 4.953 Dozenten und 14.729 sonstige Mitarbeiter (Beamten, Fachkräfte und nicht in der Lehre tätige Forscher).
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der Hochschulen die Verantwortung übernommen haben.7 Die „extensäo" hatte immer einen fürsorglichen Charakter, wie schon der Name auf Portugiesisch besagt: „extensäo" kommt von „estender a mäo", d.h. dem die Hand reichen, der bedürftig ist. Als 1990 das „Internationale Seminar über den Transfer von Technologie/ Forschung/Dienstleistungen" an der PUC-SP stattfand, wurde versucht, diese Universität dazu zu bewegen, zu verschiedenen Bereichen der Gesellschaft Kontakte zu knüpfen. Dieser Gedanke fruchtete jedoch nicht, wie es beabsichtigt war, sei es, weil die Tradition dafür fehlte, oder weil es an dieser Universität keine Fakultät für Ingenieurwissenschaft gab, oder weil eine verkehrte Wertvorstellung herrschte oder schließlich weil kein tatsächliches Interesse bestand, weder von Seiten der Hochschule noch von Seiten der Öffentlichkeit. Bis 1988 gab es an der USP vereinzelte Initiativen der Zusammenarbeit mit dem einen oder anderen Bereich der Gesellschaft, vor allem in Erziehungsfragen (mit dem öffentlichen Sektor)8 und in Umweltfragen (mit dem privaten Sektor der Gesellschaft).9 Einige große privatrechtliche Stiftungen, die innerhalb der Universität existierten, bildeten die Verbindung zu dem unternehmerischen Bereich; als Ansprechpartner leisteten sie Dienste und betreuten die Unternehmen, wenn solche Beratung von Unternehmen nachgefragt wurde. Insbesondere waren es die Einrichtungen der Fakultäten für Ingenieurwissenschaft (Polytechnik) und Volkswirtschaft, Betriebswirtschaft und Rechnungswesen. Der Besuch des Staatssekretärs vom Landesministerium für Wissenschaft und Forschung des Bundeslandes Nordrhein-Westfalen, Herrn Dr. Gerhard Konow, in Säo Paulo galt u.a. dem Landesminister10 für Wissenschaft und Forschung des Bundesstaates sowie der USP. Es ist möglich, daß dieser Besuch etwas mit den späteren Entwicklungen an der USP zu tun hatte, wahrscheinlich war es aber ein glücklicher Zufall, daß dieser Besuch mit dem Beginn der tat7
Das während der Militärdiktatur ins Leben gerufene Rondon-Projekt. Unter anderen Werken können die vorgelagerten Campi der drei damaligen Universitäten von Säo Paulo genannt werden. Die USP übernahm die Verantwortung für die Gemeinde Marabä, die PUCSP für Itacoatiara, beide im Amazonasgebiet, und die Universität Mackenzie für Irece, im trockenen Gebiet des Bundesstaates Bahia. 8 Hier sind die öffentlichen Schulen gemeint, zu denen die Kinder aus den weniger bemittelten Schichten geschickt werden und die ein niedrigeres Niveau als die Privatschulen haben. 9 Hier sind die Probleme mit der Luftverschmutzung und Wasserqualität gemeint, die stark von der Landesverwaltung überwacht werden. Die Unternehmen müssen sich dann dieser Kontrolle unterziehen und brauchen dafür Beratung, um die daraus entstandenen Kosten so weit wie möglich zu vermindern. ' 0 In Brasilien Secretdrio de Estado genannt.
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sächlichen Zusammenarbeit zwischen der USP und dem Privatsektor zusammentraf. Sicher ist jedoch, daß bereits 1991 in dieser akademischen Einrichtung eine Kooperation mit dem unternehmerischen Bereich begann, der durch die Initiative des Interessenverbandes der mittelständischen Industrie „Sindicato da Micro e Pequeña Indùstria" (SIMPI) ausgelöst wurde, welcher um Beratung der USP nachgefragt hatte. Im März des gleichen Jahres wurde eine Dienstleistung an der USP eingerichtet, die am 18. September offiziell eingeweiht wurde. Sie wurde unter dem Namen Disque-Tecnologia oder Disc-Tec bekannt. Unternehmen, die in ihrem Betätigungsfeld mit dringenden Problemen konfrontiert sind, können anrufen und um Beratung bitten. Weiter unten (bei der Behandlung des Programms der Zusammenarbeit der Universität mit den Unternehmen) wird noch näher darauf eingegangen. Heute ist Disc-Tec ein Bereich der „Coordenadoria Executiva de Cooperando LJniversitária e de Atividades Especiáis" (CECAE) (Ausführende Koordinierungsstelle für Universitäre Kooperation und Spezielle Tätigkeiten), die dem Rektorat der Universität unterstellt ist; ihr Ziel ist, als Multiplikator dem institutionellen Beitrag der USP an das sozio-ökonomische Umfeld und an die Universität als Gemeinschaft der Lehrenden und Lernenden so weit wie möglich zu dienen. Sie hat folglich mehrere Betätigungsrichtungen: Universität/ Unternehmen, Universität/Öffentlichkeit, Universität/Universität, Universität/ Bildungssystem und besondere Aktivitäten. Ihre Aufgaben sind: 1. Sensibilität für die Nachfragen der Gesellschaft und der Universität selbst entwickeln, um ihnen gegebenenfalls eine Orientierung zu geben; 2. das an der USP vorhandene Potential aufwerten; 3. Partnerschaften der Universität nach außen herstellen und den vielen universitären Organen und Einrichtungen der Universität Dienstleistungen anbieten; 4. die Fragen unter einer akademischen Perspektive und von einer unternehmerischen Vorgehensweise anpacken. So kann man sehen, daß die CECAE ganz deutlich zwei vorrangige Ziele verfolgt. Einerseits möchte sie die Aufmerksamkeit sowohl der Universität als auch der Gesellschaft, insbesondere der Unternehmerschaft, auf die vielen Möglichkeiten einer Zusammenarbeit zugunsten beider Seiten lenken. Andererseits bilden die effektive Vermittlung zwischen Interessenten inner- und außerhalb der Universität sowie der von ihr geleistete Beitrag zur Durchführung der Projekte die Folgen ihrer erstgenannten Aufgabe, so daß dadurch der Erfolg dieser Arbeit bewertet werden kann. Es werden Programme und Projekte aufgestellt, an denen Lehrkräfte, Studenten und Bedienstete der verschiedenen Einheiten und Organe der Universität sowie im Beruf stehende Fachleute von außen teilnehmen. Ein typisches Projekt hat einen leitenden Koordinator (von der CECAE), einen akademischen Koordinator (Dozent der Universität) und ein kleines Leitgremium.
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Obwohl wir hier nur die Kooperation der Universität mit dem unternehmerischen Bereich näher erläutern wollen, ist es dennoch wichtig, einen kurzen Überblick über die anderen Wirkungsrichtungen zu geben, um beurteilen zu können, was schon alles getan wird und welche Möglichkeiten es gibt, die noch entwickelt werden können. Hinsichtlich der Zusammenarbeit mit der Öffentlichkeit (Gemeinschaft) hat die USP sich als Ziel gesetzt, innovative — realisierbare — Lösungen für die sozialen Bedürfnisse anzubieten, damit die bedürtigen und/oder an den Rand der Gesellschaft gedrängten Segmente der Bevölkerung in die Lage versetzt werden, sich in einer würdigen Weise in diese Gesellschaft zu integrieren. Was die Entwicklung der Zusammenarbeit innerhalb der Universität selbst betrifft, so sind zwei Programme hervorzuheben: das USP RECICLA (1994 eingeführt) und das Univideo (1993 ins Leben gerufen). Das erste Programm zielt auf die Minimierung der im Bereich der Universität selbst entstehenden Abfälle ab und beruht auf dem Prinzip der (in Portugiesisch) 3 R: sparsamer Umgang beim Verbrauch (Redugäo), Wiederverwendung (Reutilizagäo) und Recycling (Reciclagem). Das Programm ist im Bereich des Umweltschutzes angesiedelt und bezweckt letztlich, im Universitätsbereich eine neue Mentalität durch die Diskussion über die Problematik der festen Abfalle zu entwickeln, die zum Umweltbewußtsein führt, und ausgehend von einer angemessenen Verarbeitung dieser Abfälle, zu einer Verbesserung der Umweltqualität beizutragen. Das Programm Univideo bezweckt die Förderung der audiovisuellen Produktion innerhalb der USP. Hier werden Bedingungen für das Katalogisieren, die Verbreitung, die Eintrainierung sowie den Informationsaustausch über die Benutzung und die Herstellung von Videos bei akademischen Aktivitäten der verschiedenen Fachbereiche entwickelt. Die Zusammenarbeit der Universität mit dem Bildungssystem beruht auf dem Gedanken, daß die Bildung in der Primar- und Sekundarstufe eine nationale Priorität genießen muß, vor allem bei den staatlichen Schulen. Die Tätigkeit der CECAE befaßt sich mit der Artikulierung der Kompetenzen der Einheiten und bringt sie dazu, sich auf Themen zu konzentrieren, die für die Bildung in Brasilien wichtig sind wie z. B. der naturwissenschaftliche Unterricht. Dieses Programm wird seit einigen Jahren mit internationalen Mitteln des BID (Interamerikanische Entwicklungsbank) und des BIRD (Branche der Weltbank) unterstützt. Es befindet sich jedoch in einer schwierigen Phase, weil die Mittel des BID erschöpft sind und weil die vom BIRD über das „Subprograma de Ensino de Ciencias do Programa de Apoio ao Desenvolvimento Científico e Tecnológico" — PADCT (Unterprogramm für den Unterricht der Naturwissenschaften im Unterstützungsprogramm der wissenschaftlichen und technologischen Entwicklung) zur Verfügung gestellten Mittel unregelmäßig freigegeben
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werden. Das wird sicherlich eine strategische Umorientierung der Zusammenarbeit erfordern. Als Unterstützung im Bereich von Bildung in der Grund- und Sekundärschule sind die Programme für zwei Bereiche hervorzuheben: 1. naturwissenschaftlicher Unterricht und 2. Zusammenarbeit mit den Schulen. Im ersten Bereich sind zu nennen: der Sonderbeitrag für die Ausbildung von Lehrern für Naturwissenschaft, die „Rede Integrada de Propostas para o Ensino de Ciéncias" (RIPEC) (Integriertes Projektnetz für die Vermittlung der Wissenschaften) sowie die Organisierung eines Museums für Naturkunde und Technologie, wodurch der Unterricht unterstützt wird. Diese sind in Form eines Netzes aufgebaut und haben Knotenpunkte innerhalb und außerhalb der Universität. Im zweiten Bereich sind zu nennen: die Unterstützung der Munizipalsekretariate für Erziehung und Schulverwaltung („Schulamt — Jugendamt") auf kommunaler Ebene (Secretarias Municipais de Educagäo) als Teil des Programms für ganzheitliche Erziehung des Kindes und des Jugendlichen (Programa de Atengäo Integral à Crianga e ao Adolescente). Es wird weiter unten behandelt. Desweiteren gibt es Beratungen für Schulen und Kurse, die auf Wunsch für Lehrer des öffentlichen Schulsystems unter Gebrauch der Fähigkeiten der einzelnen Schulen veranstaltet werden. Dies ist besonders von Vorteil für Schulen, die sich in der Nähe der Campi der USP befinden. Für diese Arbeit wurden insbesondere die Fakultät für Erziehung, das „Instituto de Estudos Avangados" (IEA) (Institut für fortgeschrittene Studien), die Empresas Juniores11 und das Kulturzentrum „Centro Cultural Maria Antonia" herangezogen. In einem neueren Programm wird die Zusammenarbeit mit der Schule in globaler Form in den Vordergrund gestellt, wobei das Kind und der Jugendliche ganzheitlich betrachtet werden. Es handelt sich um das Programm für ganzheitliche Erziehung des Kindes und des Jugendlichen (PRONAICA) des Ministeriums für Erziehung und Sport. Die USP wurde eingeladen, bei der Einführung des Programms durch die Errichtung des „Pòlo de Suporte Técnico" (Technologiehof) des PRONAICA für den Bundesstaat Säo Paulo mitzuarbeiten. Um ihre Ziele zu erreichen und die geplanten Aktionen zu implementieren, kooperierte die CECAE mit der „ Coordenadoria de Estudos e Normas Pedagógicas — CENP" (Koordinierungsstelle für Pädagogische Studien und Richtlinien) des Sekretariats für Erziehung des Bundesstaates Säo Paulo und schloß über die ' ' Empresas Juniores sind studentische Einrichtungen, die bei verschiedenen Fakultäten angesiedelt sind. Sie sollen Projekte im Rahmen der Kurse entwickeln, dabei den teilnehmenden Studenten einen gewissen Verdienst ermöglichen sowie ihnen die Chance bieten, Beratungs-, Forschungs- und sonstige Projekte unter Anleitung von Professoren durchzuführen.
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USP einen Vertrag mit der „Fundagäo para o Desenvolvimento da Educagäo — FDE" (Stiftung für die Entwicklung der Erziehung) ab. Was die Zusammenarbeit der Universität mit dem Bildungssystem betrifft, so ist noch das Projekt „Educagäo Continuada e ä Distäncia" (Weiterbildung und Fernunterricht) zu erwähnen, das den Einsatz von modernen Komminikationsmitteln für den Fernunterricht fördern soll. Es werden Initiativen zusammengeführt, die bereits bei mehreren Einheiten und Stellen der USP (u.a. beim Psychologischen Institut, der Fakultät für Pädagogik, der Hochschule „Escola Superior Luiz de Queiroz", der polytechnischen Schule „Escola Politécnica" und der „Escola do Futuro") entwickelt worden sind. Die USP ist auch an internationalen Netzen im Bereich des Femunterrichts und der Weiterbildung beteiligt, vor allem bei dem 1994 ins Leben gerufenen Programm Columbus (eine Zusammenarbeit zwischen europäischen und lateinamerikanischen Universitäten). Die Darstellung der Beziehung und Zusammenarbeit der Universität mit der privaten Wirtschaft wurde absichtlich für den Schluß gelassen, weil in diesem Bereich die Zusammenarbeit weiter fortgeschritten ist bzw. einen größeren Umfang erreicht hat. Das Ziel in diesem Sektor ist die Förderung von Initiativen, die gemeinsam mit dem unternehmerischen Sektor gestaltet werden und zur Neuentwicklung von Produkten, Verfahren und Dienstleistungen, die dem Wohl der Gesellschaft dienen, beitragen. Es wird auch bei der Durchführung von Projekten mitgearbeitet, die geeignet sind, Steuervergünstigungen und finanzielle Unterstützungen für Forschung und Entwicklung zu bekommen. Es wird grundsätzlich auf zwei Linien gearbeitet: Mittel- und Großbetriebe, Kleinst- und Kleinbetriebe. Die Unterscheidung der Betriebe nach ihrer Größe ist notwendig, weil es bei der Unterstützung eine Reihe von spezifischen Mechanismen gibt, die sich nach der Größe der Betriebe richten. In vielen Fällen wird jedoch keine solche Differenzierung vorgenommen. Für die Kleinst-, Klein- und Mittelbetriebe bestehen vier Handlungsmechanismen: Disc-Tec, Atual-Tec, CIETEC — „Centro Incubador de Empresas Tecnológicas" (Zentrum für neu gegründete Technologiefirmen) und PATME — „Programa de Apoio Tecnológico äs Micro e Pequeñas Empresas" (Technologisches Unterstützungsprogramm für Kleinst- und Kleinunternehmen). Sie koordinieren die verschiedenen steuerlichen 12 und finanziellen Anreize, die zur Förderung der technologischen Innovation gegeben werden, vornehmlich wenn diese Produkte seitens der mittleren 12 Gesetz 8248/91 über EDV und Automation und Gesetz 8661/93 über Forschung und technologische Entwicklung. Diese Bundesgesetze wurden mit dem Ziel verabschiedet, die Produktion von Gütern und Dienstleistungen in der EDV und der Automation anzuregen, was den Betrieben zugute kommt, die bereit sind, bis zu 5% ihres Umsatzes in die Forschung und Entwicklung zu investieren.
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und Großbetriebe nachgefragt werden. Darüber hinaus wurden verschiedene Programme, einige davon in Zusammenarbeit mit Institutionen, die nicht der USP angehören, entwickelt, wie z. B. die Programme PITE — „Parceria para a Inovagäo Tecnolögica" (Partnerschaft für Innovationen) und PIPE — „Programa de Inovagäo Tecnolögica em Pequenas Empresas" (Technologisches Innovationsprogramm in Kleinbetrieben), beide in Partnerschaft mit der Stiftung für die Unterstützung der Forschung im Bundesstaat Säo Paulo (Fundagäo de Amparo ä Pesquisa — FAPESP) geführt. 13 Sobald das Team der CECAE den Bedarf nach technologischer Entwicklung beim Unternehmen, das die Unterstützung der USP sucht, festgestellt hat, kann dieses Unternehmen mit der Hilfe der Universität für die Durchführung der Partnerschaft rechnen: das Projekt wird ausgearbeitet, die Forscher und Dozenten, die am besten dafür qualifiziert sind, ausgesucht und die am besten geeigneten steuerlichen und finanziellen Mechanismen ausgewählt. Hinsichtlich der an Partnerschaften interessierten Forscher und Dozenten der USP liefert das Team auch Informationen über mögliche Vertragsarten und Absichtsprotokolle. Das ist alles im Guia-Tec beschrieben, der als Drucksache oder im Internet zur Verfügung steht. Der Guia-Tec hat die Aufgabe, die wichtigsten zur Verfügung stehenden Instrumente wie Finanzierungen, steuerliche Anreize und Hochschul/Arbeitsstipendien (für Studenten der USP) publik zu machen, damit die Zusammenarbeit Universität/Unternehmen preisgünstiger und fließender gestaltet werden kann. Mit dem Guia-Tec wird vor allem beabsichtigt, Multiplikatoren in den Einheiten und Organen der USP zu unterstützen, die fähig sind, ihre Berufskollegen dazu zu bewegen, die Kooperation zwischen der Universität und den Unternehmen zu verstärken. Alle Programme werden mit Angabe des Datums für die Vorlage von Projekten im Internet veröffentlicht. Der Disc-Tec ist, wie die Verantwortlichen für dieses Programm sagen, eine regelrechte „Soforthilfe" für Unternehmen. Seine Erfinder verfolgen mit ihm das Ziel, die Untersuchung der wirklichen und unmittelbaren Probleme der Kleinst- und Kleinbetriebe (MPEs) zu ermöglichen und dabei andere Aktionen anzuleiten. Sie haben aber noch ein weiteres, für uns wichtigeres Ziel: eine gelungene Erfahrung öffentlich zu machen, einen Multiplikatoreffekt im Sinne des ' 3 Es ist sicherlich derzeit die Institution in Brasilien, die die beste Organisation hat und am ehesten in der Lage ist, die Forschung zu finanzieren, denn die Regierung des Bundesstaates Säo Paulo reservierte 1% des Haushalts für die FAPESP. Das setzt sie in die Lage, alle ihr vorgelegten Projekte, die positiv begutachtet worden sind, finanziell zu unterstützen. Bei den Institutionen, die Studien und Projekte auf Bundesebene finanzieren, vor allem FINEP, CNPq und CAPES, wurden in jüngster Zeit wesentliche Etatkürzungen vorgenommen, so daß sie viele vorher unterstützte Programme und Stipendien beschneiden mußten.
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Anbietens von Unterstützung für die Kleinbetriebe zu ermöglichen, eine neue Kultur entstehen zu lassen, die Schule macht. So kann die Nachfrage auch von anderen Institutionen befriedigt werden, zumal die USP nicht allein in der Lage ist, den Bedürfnissen aller Kleinunternehmen gerecht zu werden. Um seine Ziele zu erreichen, schloß dieser Bereich mit dem SIMPI/SP und dem „Servigo de Apoio äs Micro e Pequeñas Empresas do Estado de Säo Paulo — SEBRAE/SP" (Unterstützungsdienst für Kleinst- und Kleinbetriebe des Bundesstaates Säo Paulo) Verträge ab; darüber hinaus werden Partnerschaften mit verschiedenen Institutionen gepflegt. Bis jetzt wurden ungefähr 15.000 Fälle behandelt. Im Schnitt gehen fünfzehn Anfragen am Tag ein. Sie kommen von den unterschiedlichsten Regionen des Landes. Diese Beratungsfälle werden im Schnitt innerhalb von zehn Tagen abgeschlossen. Sechzehn brasilianische und zwei argentinische Institutionen haben das Programm Disque-Tecnologia zum Vorbild für den Aufbau von ähnlichen Dienstleistungen genommen. Der bereits erwähnte CIETEC ist eine Institution, die unternehmerisch tätige Personen unterstützt und eine Umgebung sowie angemessene Bedingungen schafft, damit ihre Betriebe funktionieren: fachliche Dienste, Orientierung, Räumlichkeiten sowie technische, verwaltungsmäßige und betriebliche Infrastruktur. Er wird dabei vom Sekretariat für Wissenschaft, Technologie und Wirtschaftliche Entwicklung des Bundesstaates Säo Paulo, vom SEBRAE-SP, von der „Comissäo Nacional de Energía Nuclear — Instituto de Pesquisas Energéticas e Nucleares — CNEN-IPEN" (Kommission für Kernenergie — Institut für Energie- und Kernforschung) und vom „Instituto de Pesquisas Tecnológicas — IPT" (Institut für Technologieforschung) unterstützt. Er wurde 1997 als juristische Person gegründet, tatsächlich hat er aber erst im April 1998 seine Tätigkeiten aufgenommen. Der CIETEC hat das Ziel, die Gründung und Konsolidierung von Kleinst- und Kleinbetrieben aus dem Technologiebereich in den Aspekten Technologie, Management, Marketing und Mitarbeiter im Rahmen der Entwicklungspolitik des Bundes zu unterstützen, um deren Fortbestand zu gewährleisten und ihre Leistungsfähigkeit zu erhöhen. Die Zielgruppe sind unternehmungsfreudige Personen: Forscher, Ingenieure, Techniker und Spezialisten, die über technologische Kenntnisse verfügen oder bereits Produkte entwickelt haben und einen Kleinst- oder Kleinbetrieb gründen wollen, um die vorhandene Technologie in Produkte und/oder Dienstleistungen für die Allgemeinheit umzusetzen. Die bevorzugten Bereiche sind: Biotechnologie, Laser, Chemie, Materialprüfung, EDV, Maschinenbau, Umwelt und kemtechnische Anwendungen. Das für die Aufgabe als „Gründungszentrum" von Unternehmen bestimmte Gebäude hat eine Fläche von 1.160 m2 und verfügt über 16 Module, in denen die Unternehmen sich einrichten können, und über die gesamte Infrastruktur. Für eine zweite Phase wurden weitere 1.160 m2 reserviert. Der not-
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wendige Umbau des Gebäudes wurde vom SEBRAE-SP finanziert, welcher auch die allgemeinen Kosten für die Unterhaltung des CIETEC trägt. Ein Teil der allgemeinen Unterhaltungskosten wird von den hier untergebrachten Betrieben und der andere Teil von der SEBRAE-SP getragen. Ein Betrieb kann höchstens drei Jahre in der „Brutstätte" verbleiben. Während dieser Zeit bekommt er jede Unterstützung, die er für die Entwicklung seiner Unternehmensphilosophie benötigt, und hat auch Zugang zu den Labors der Universität. Darüber hinaus wird er beim Marketing, der Kommerzialisierung, bei Patentanmeldungen und der Teilnahme an Messen unterstützt. Er hat Kontakt zu allen wichtigen Förderprogrammen der verschiedenen Sektoren der Regierungen des Bundes, des Bundesstaates und der Munizipien, beim SEBRAE, bei Banken, Fonds, usw. und bekommt Unterstützung beim Erarbeiten von Projekten. Von den in der ersten Bekanntmachung vorgestellten Projekten wurden neun genehmigt; nur zwei davon kamen aus der USP. Bei der zweiten Bekanntmachung wurden zwölf Projekte eingereicht. PATME besteht in der Beratung, welche Forschungsinstitute, Technologiezentren oder Universitäten für die Entwicklung von Produkten und Produktionsprozessen, für Qualitätsgarantie und für berufliche Ausbildung von Arbeitskräften anbieten. Die Unternehmen, die Kunden sind, können in zwei Gruppen eingeteilt werden: Kleinstunternehmen (bei gewerblichen Unternehmen bis zwanzig Mitarbeiter, bei Dienstleistungsunternehmen, bis zehn Mitarbeiter) und Kleinunternehmen (bei gewerblichen Unternehmen einundzwanzig bis hundert Mitarbeiter, bei Dienstleistungsunternehmen, elf bis fünfzig Mitarbeiter). Zwei verschiedene Projektarten werden von PATME unterstützt: • Projektart A. Sie werden von den SEBRAEs der Bundesstaaten genehmigt und befassen sich mit der Verbesserung bzw. Rationalisierung von Produkten, Produktionseinrichtungen, Produktionsmethoden und -verfahren; Untersuchung der technischen und wirtschaftlichen Durchführbarkeit von Produkten oder Prozessen; Schulung von Arbeitskräften im Rahmen von technologischen Beratungsdiensten; Einsetzung oder Verbesserung von Systemen der Qualitätssicherung; Projekte für die Ausstattung von Labors zur Qualitätskontrolle. • Projektart B. Sie zielen auf die Entwicklung neuer Technologien für Produkte und Produktionsprozesse ab, welche wirklich eine Technologieerneuerung für die Wirtschaft bedeuten; sie werden vom FINEP 14 und vom nationalen SEBRAE analysiert und genehmigt. Die Kleinst- und Kleinbetriebe können vom PATME individuell oder in einer Gruppe von Unternehmen der gleichen Sparte profitieren. Das Programm finanBundesinstitution zur Förderung von Studien und Projekten größeren Ausmaßes.
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ziert bis zu 70% der Projektkosten, die direkt an die Institution gezahlt werden, die die Arbeit durchführt; die restlichen 30% werden von den unterstützten Unternehmen getragen. In den Jahren 1994/95 wurden 914 Projekte, die von 3.513 Unternehmen vorgelegt worden waren, gefördert. Der SEBRAE nahm eine Auswahl von 156 der geförderten Projekte vor, um das Programm zu beurteilen, und stellte fest, daß in 91% der Fälle eine Verbesserung der Ausbildung der Arbeitskräfte, in 88% eine technologische Verbesserung der Produktionsprozesse, in 71% eine Produktionssteigerung des Unternehmens, in 68% eine Kostenreduzierung, in 53% die Entwicklung neuer Produkte/Prozesse, in 37% der Erwerb von Maschinen und Werkzeugen erreicht wurde; 95% der Betriebe würden den PATME anderen Unternehmen weiter empfehlen. Es wurden auch einige negative Aspekte angegeben: In 10% der Fälle gab es Verzögerungen in der Freigabe der Geldmittel, 8% waren mit der Beratung unzufrieden, und eine nicht angegebene Zahl äußerte Unzufriedenheit mit der Begleitung des Projekts seitens der bundesstaatlichen SEBRAEs. Das Programm PITE — „Parceria para Inovagäo Tecnolögica/FAPESP" (Partnerschaft für technologische Innovation) — wurde Ende 1994 ins Leben gerufen; es sollte dazu dienen, Projekte der technologischen Innovation im Produktivbereich, die in Partnerschaft mit Forschungsinstituten und im Bundesstaat Säo Paulo angesiedelten Unternehmen entwickelt wurden, zu fördern. Für den Teil des Projektes, der unter der Verantwortung des Forschungsinstituts durchgeführt wird, stellt die FAPESP die Geldmittel zur Verfügung; im Gegenzug steigt das Unternehmen mit eigenen Mitteln oder mit Finanzierungen von Dritten ein. Der Aufruf zur Einreichung von Projekten erfolgte bis zu dreimal im Jahr; durchschnittlich wurden dreißig Projekte im Jahr eingereicht. Trotz der breiten Bekanntgabe des Programms wird die FAPESP meistens als eine Institution angesehen, die nur Grundlagen- und wissenschaftliche Forschung finanziert. Das wird als Grund für die geringe Resonanz des Programms angesehen. Fünfundzwanzig Projekte aus diesem Programm wurden in Auftrag gegeben. Deshalb ist es erforderlich, daß die Universität selbst die Partnerschaft mit den Unternehmen sucht und ihnen klarmacht, welchen Beitrag sie für ihre technologische Entwicklung leisten kann. Drei Modalitäten von Projekten können berücksichtigt werden: • Entwicklung von Innovationen, bei denen die anfängliche Phase praktisch beendet ist (FAPESP finanziert bis zu 20% der Kosten); • Entwicklung von Innovationen, bei denen die technologischen Risiken und die Risiken für die Vermarktung gering sind (FAPESP finanziert bis zu 50% der Projektkosten);
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• Entwicklung von Innovationen, bei denen die technologischen Risiken sehr hoch und die Risiken für die Vermarktung gering sind, und die stark als „Nährboden" wirken (FAPESP finanziert bis zu 70% der Projektkosten). Das Programm PIPE — „Programa de Inovagäo Tecnolögica em Pequenas Empresas/ FAPESP" (Programm für technologische Innovation in Kleinbetrieben) wurde im Juni 1997 mit dem Ziel eingeführt, die von im Bundesstaat Säo Paulo angesiedelten Kleinbetrieben (bis hundert Mitarbeiter) durchgeführte Innovationsforschung über wichtige Probleme in der Wissenschaft, im Ingenieurwesen und in der wissenschaftlichen und technologischen Erziehung zu unterstützen, sofern sie erfolgreich sind und eine hohe wirtschaftliche und soziale Rentabilität zeigen. Dieses Programm verlangt keine Gegenleistung, weshalb es auch für Kleinbetriebe bestimmt ist und eine Ergänzung zum PITE darstellt. Der Forscher muß sich primär mit der Durchführung des Projekts befassen und in der Firma anwesend sein. Für die Forscher, die bei einem Forschungsinstitut arbeiten, wird die FAPESP irgendeinen institutionellen Mechanismus finden, damit sie am Projekt wie vorgesehen teilnehmen können. In der ersten Runde wurden 79 Projekte vorgelegt und dreißig in Auftrag gegeben; in der zweiten Runde wurden fünfzig Projekte eingereicht; über die in Auftrag gegebenen Projekte liegen noch keine Zahlen vor. Das Programm PROTEU — „Programa de Treinamento para Capacitar Gestores da Interagäo Empresa-Universidade" (Trainingsprogramm für die Schulung von Managern für Austauschprogramme zwischen Betrieb und Universität) soll den Teilnehmern ein umfassendes Bild über die relevanten Aspekte des Rahmens vermitteln, in dem sich die Zusammenarbeit Unternehmen-Universität/Forschungsinstitut in Brasilien und im Ausland vollzieht, die Verhaltensweisen aufwerten, die zum Erfolg von gemeinsamen Programmen und Projekten beitragen, und die Fähigkeiten der Teilnehmer hinsichtlich Wissen, Fertigkeiten und Haltungen verfeinern, welche für die Ausübung der Funktion als Mitwirkender in der Zusammenarbeit Unternehmen-Universität/Forschungsinstitut im jeweiligen Betätigungsbereich von Bedeutung sind. Zielgruppen sind qualifizierte Vertreter von Unternehmen, Unternehmensverbänden, Universitäten, Forschungsinstituten, Regierungsämtern, Berufsverbänden und Nichtregierungsorganisationen (NGOs) mit Hochschulabschluß und Erfahrung in der Projektleitung oder in unternehmerischen Tätigkeiten. Bisher wurden fünf PROTEUS durchgeführt. Ein weiteres Programm, das erwähnt werden muß, ist OMEGA, das zum Ziel hat, die Durchführung von gemeinsamen Forschungsprojekten zu fördern, welche von Forschungszentren, Universitäten oder öffentlichen oder privaten technologischen Instituten geleitet werden und an denen sich mindestens zwei in Brasilien ansässige und nicht zur gleichen Firmengruppe gehörende Unterneh-
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men beteiligen. Das Programm finanziert höchstens 50% der Gesamtkosten der Forschung bis zum Höchstbetrag von R$ 200.000 je Projekt. Diese Gelder werden an die Forschungsinstitute gezahlt, die die Verantwortung für die Leitung des Projekts haben. Die restlichen Kosten werden von den teilnehmenden Unternehmen getragen und als Gegenleistung betrachtet. Die erste Auswahlrunde von Projekten fand im August 1996 statt, für die 74 Vorschläge eingereicht wurden; davon wurden 54 angenommen und den aJ-Aoc-Beratern zugeleitet. Für 23 davon wurde eine Finanzierung empfohlen und 14 wurden im Rahmen der verfügbaren Mittel genehmigt. Mit OMEGA sollte eine Philosophie der gemeinsamen Projekte in Brasilien geschaffen werden. Die Zahl der eingereichten Projekte übertraf bei weitem die Erwartungen, was zeigte, daß bereits ein Zusammenwirken zwischen Universität und Unternehmen besteht und daß die Unternehmen bereit sind, Projekte, die in ihrem Interesse liegen, zu finanzieren. Von dem Ziel geleitet, die Innovation und die Verbreitung von Technologie voranzutreiben und die Wettbewerbsfähigkeit im produktiven Bereich zu erhöhen, gründete die Bundesregierung den CDT — „ Componente de Desenvolvimento Tecnológico" (Modul für technologische Entwicklung), um Partnerschaften zwischen Forschungsinstituten und brasilianischen Unternehmen zu fördern. Es sollten „plataformas tecnológicas" (technologische Plattformen) organisiert oder gemeinsame Projekte durchgeführt werden. Die plataforma tecnológica ist ein Forum, bei dem interessierte Teile der Gesellschaft zusammenkommen, um die technologischen Engpässe in einem bestimmten Bereich oder in einer Region auszumachen und die vorrangigen Maßnahmen für deren Beseitigung festzulegen. Die gemeinsamen Projekte sind das Ergebnis von Partnerschaften zwischen Forschungs- und Entwicklungsinstituten, Universitäten und Vertretern des Produktionssektors, die ausgehend von diesen Foren gegründet werden, um gemeinsame Projekte auszuarbeiten, die dazu beitragen, die Wettbewerbsfähigkeit in der inländischen Industrie zu steigern. Schlußbetrachtungen Aus den vorangegangenen Ausfuhrungen kann gefolgert werden, daß die größte Universität in Brasilien aktiv darum bemüht ist, die enge Zusammenarbeit zwischen ihr und den Unternehmen voranzutreiben, obwohl sie sich noch am Anfang dieser Arbeit befindet. Vieles ist zwar schon erreicht worden; ein weiter Weg ist jedoch noch zu gehen. Glücklicherweise ist der Bundesregierung in Brasilia und auch der Landesregierung in Säo Paulo wenigstens bewußt geworden, daß es wichtig ist, diesen engen Kontakt zwischen dem Bereich, der Wissen produzieren kann und somit dazu beiträgt, das Land von dem aus dem Aus-
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land importierten Know-how unabhängiger zu machen, und dem unternehmerischen Bereich, vor allem den mittelständischen Betrieben, zu unterstützen. Hinsichtlich der Effizienz und Durchführbarkeit dieses Austausches darf nicht die Rolle, die bestimmte Institutionen wie der SEBRAE (sowohl auf Bundesebene als auch im Bundesstaat Säo Paulo) und die FAPESP spielen, vergessen werden. Die FAPESP, eine Institution der Landesregierung, ging weit über die Grenzen ihrer traditionellen Funktion als Finanzierungsinstanz der akademischen Forschung hinaus. Nach unserer Ansicht gibt es zwei Hindernisse, die noch das gute Gelingen der Zusammenarbeit zwischen Universität und Gesellschaft erschweren. Auf das eine bezogen wir uns bereits am Anfang dieser Ausführungen: Es fehlt eine Kultur, die bewirkt, daß alle Bereiche, die von der oben genannten Zusammenarbeit profitieren könnten, diese auch suchen, an die Ergebnisse eines wirklich produktiven Austausches glauben und sich dafür einsetzen, daß die gesetzten Ziele erreicht werden. Es wurde schon erwähnt, daß viele verfügbare Mittel nicht ausreichend nachgefragt werden. Wenn aber die zur Verfügung gestellten Geldmittel nicht entsprechend genutzt werden, kann es zu späteren Etatkürzungen kommen. Das zweite Hindernis ist das Problem der Organisation und des Managements des Technologietransfers. Nach allem, was wir in den in Deutschland aufgesuchten Einrichtungen beobachten konnten, ist es möglich, daß die Vermittlung des Kontakts und des Austausches der Universität mit den verschiedenen Bereichen der Gesellschaft von einem kleinen, von wenigen hochqualifizierten Mitarbeitern geführten Büro aus bewerkstelligt werden. Das stellten wir bei der USP und der CECAE nicht fest, wo mit Sicherheit kompetente und hochmotivierte Personen arbeiten; die Zahl der Mitarbeiter ist aber wesentlich höher als in Deutschland. Möglicherweise ist diese große Zahl am Anfang erforderlich, um diesen Bereich zu organisieren und alle Informationen im Computer zu speichern, damit später die Kontakte und das Auffinden der idealen Partner für jede Gelegenheit schneller zu bewerkstelligen ist. Vielleicht wäre jetzt der richtige Augenblick, um den Austausch zwischen der USP und der Universität Münster neu aufzunehmen: Erfahrungsaustausch und Diskussion über konkrete Probleme, deren Lösung diesem Versuch der Zusammenarbeit zwischen Universität und Gesellschaft einen größeren Erfolg sichern kann.
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Kooperation in Wissenschaft und Technologie zwischen Entwicklungs- und Industrieländern am Beispiel Brasilien GERHARD JACOB
Einführung Wissenschaft und Technologie (W&T) sind für die wirtschaftliche und soziale Entwicklung sämtlicher Länder wesentlich. Die (reichen) Industrieländer haben durch gezielte Förderung guter Grandlagenwissenschaft das notwendige Humankapital erzeugt, welches für die Entwicklung der Technologie unentbehrlich ist; dadurch haben diese Länder die heutige positive Wirtschaftsphase erreicht. Um die Situation der Unterentwicklung zu überwinden, ist es daher für die sogenannten (armen) Entwicklungsländer unentbehrlich, gute Wissenschaft zu fördern und zu treiben. Obwohl es einige sogenannte „Theorien" gibt, die behaupten, daß es nur sinnvoll ist, sich mit Forschung in W&T über „nationale" Themen zu befassen (das heißt, Probleme zu behandeln, die nur für eine einheimische Entwicklung eventuell relevant sein können), sollte es wohl doch der Fall sein, daß sowohl wissenschaftliche als auch technologische Fragen internationalen Maßstäben entsprechen müssen. Anderenfalls ist internationaler wirtschaftlicher Wettbewerb unmöglich, und ein Entwicklungsland kann nur durch künstliche Maßnahmen seine Produktion (und interne Vermarktung) erhalten, z. B. durch Importsteuern oder Einfuhrbeschränkungen. Die meisten Entwicklungsländer haben versucht, in der einen oder anderen Weise zu diesem Problem Stellung zu beziehen, meistens durch den Einsatz von politischen Maßnahmen, welche a) angeblich wissenschaftlich-technologisch „begründet" sind, b) von Techno-Bürokraten allein erdacht wurden und c) die restliche Welt total ignorierten. Selbstverständlich haben solche Handlungsweisen für die eigentliche Entwicklung des betreffenden Landes, wenn internationale Maßstäbe angewandt werden, nichts gebracht. Daher hat die Einführung von internationalen Maßstäben in W&T eine grundlegende Bedeutung — besonders für Entwicklungsländer. Und demnach spielt internationale Zusammenarbeit auf diesem Gebiet gerade für solche Län-
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der eine sehr wichtige Rolle. Andererseits besteht das große Risiko, daß in diesen Ländern ausschließlich „nationale" W&T getrieben wird (die sogenannte „tupiniquim"1 W&T). Ziel dieses Aufsatzes ist es, nicht zuletzt an Hand der oben genannten Gedanken, die Wissenschaftlich-Technologische Zusammenarbeit (WTZ) zwischen Industrie- und Entwicklungsländern kritisch zu untersuchen und Methoden für eine effizientere Verwendung der WTZ für den sozio-ökonomischen Fortschritt letzterer Länder vorzuschlagen. Die Gliederung des Aufsatzes ist folgende: Nach dieser Einführung wird im zweiten Abschnitt eine kurze allgemeine Beschreibung der meist eingesetzten formalen Instrumente der internationalen Zusammenarbeit gebracht; im dritten Abschnitt werden einige Beispiele von erfolgreichen und mißlungenen Initiativen beschrieben; im vierten Abschnitt soll versucht werden, einige Vorschläge in Richtung auf einen besseren Gebrauch der internationalen Zusammenarbeit seitens der Entwicklungsländer zu erarbeiten und darzustellen; der fünfte Abschnitt befaßt sich mit der Anwendung der vorhergehenden Gedanken auf die langjährige und erfolgreiche WTZ zwischen Deutschland und Brasilien; im letzten Abschnitt werden einige zusammenfassende Bemerkungen gemacht und Schlußfolgerungen gezogen. Instrumente der Zusammenarbeit in W&T Verschiedene Arten von mehr oder weniger formalen Vereinbarungen werden zwischen Ländern getroffen, um eine Zusammenarbeit in W&T reibungslos durchführen zu können oder um in manchen Fällen eine Kooperation überhaupt erst zu ermöglichen. Diese Vereinbarungen reichen von einem einfachen Briefwechsel zwischen verantwortlichen Personen bis zu Regierungsabkommen zwischen Ländern, und es kann schon heutzutage vorausgesehen werden, daß in Kürze Abkommen zwischen „Ländergruppen" geschlossen werden können, so z. B. zwischen der Europäischen Union und dem MERCOSUL. Ein historisch interessantes Beispiel eines einfachen Instruments, das einen markanten Einfluß von der W&T in Industrieländern auf den Fortschritt der Entwicklungsländer bewirkt hat, kann hier schon jetzt gegeben werden: Die Gründung der Universität Säo Paulo (USP) im Jahre 1934, womit die Institutionalisierung der Forschung in Brasilien eng verbunden ist, beruht auf der Berufung von Professoren für verschiedene Fachbereiche (von der Mathematik bis zur Soziologie) aus europäischen Ländern (Deutschland, Frankreich, Italien 1
„Tupiniquim": ein relativ wenig entwickelter einheimischer Indianerstamm, den es in Brasilien um 1500 gab.
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usw.) und kann insofern als eine erste formale „Kooperation" im Sinne dieses Aufsatzes aufgefaßt werden. Dieses Beispiel ist um so wichtiger, als die Entwicklung von W&T in Brasilien zum großen Teil auf den Einfluß der USP zurückzuführen ist. Historisch besteht der nächste Schritt in der internationalen WTZ in der Entsendung von Studenten aus Entwicklungsländern in Industrieländer, entweder um zu promovieren oder um ein Diplom zu erwerben oder nur um den Besuch von Vorlesungen, Übungen und Seminaren während einiger Semester zu ermöglichen. In dieser Reihenfolge spielen solche Maßnahmen eine wichtige Rolle für den wissenschaftlich-technologischen Fortschritt eines Entwicklungslandes. Einen weiteren Schritt, jetzt schon in Richtung einer formalen Zusammenarbeit, bilden die verschiedenen Abkommen zwischen Universitäten und anderen Forschungsinstitutionen; sicherlich ist dieses Instrument weitaus das wichtigste für den Fortschritt des Entwicklungslandes und für die Festsetzung von adäquaten Qualitätsmaßstäben, die als Resultat der Kooperation in W&T zu erwarten sind. Alle diese Initiativen haben zusätzlich noch eine weitere wichtige Rolle gespielt; sie haben nämlich dazu geführt, daß Wissenschaftler verschiedener Länder sich kennengelernt haben und daß folglich sich unter ihnen ein gegenseitiges Vertrauen entwickelt hat, was wiederum dazu geführt hat, daß Regierungsabkommen ermöglicht wurden, die selbstverständlich als solche eine andere Dimension in die WTZ gebracht haben. Im nächsten Abschnitt werden unter anderen als Beispiele der WTZ zwischen Brasilien und Industrieländern diejenigen mit Deutschland und Frankreich behandelt. Es soll hier schon vorweggenommen werden, daß verschiedene Rahmenabkommen, Vereinbarungen, Einzelabmachungen, Zusatzvereinbarungen, Sonderabmachungen usw. zustande gekommen und teilweise auch implementiert worden sind; diejenigen mit Deutschland sind bei Talarek (1991: 2530) aufgelistet und die mit Frankreich bei Cardoso/Martinifcre (1989: 349-362). Beispiele von
Kooperationen
Obwohl sich die folgende Darstellung zum großen Teil auf diejenige WTZ bezieht, in der Brasilien einer der Partner ist, wird sie so generell gehalten werden, daß eine Anwendung auf andere Partner problemlos möglich sein sollte.
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Die erste Grundlage für eine erfolgreiche WTZ ist das starke persönliche Engagement eines erfahrenen Wissenschaftlers,2 der bereit ist, in einem Entwicklungsland mit einheimischen Kollegen oder gar Studenten Forschungsprojekte zu starten. Aus solchen Initiativen „sprießen" dann mit viel Arbeit und unter der Voraussetzung, daß die lokalen Kräfte zumindest nicht blockieren, die ersten Ergebnisse, und in den meisten Fällen „gedeihen" die Initiativen zu Arbeitsgruppen, die sehr oft sich sogar so gut und effizient entwickeln, daß sie als Musterbeispiel für die Forschung nicht nur in ihrem eigenen, sondern auch in anderen Gebieten dienen können. Daß erfahrene Akademiker in einem Entwicklungsland sich sehr verdient machen können, ist vielen Beispielen zu entnehmen, wie die Gründung der USP, welche im vorhergehenden Abschnitt erwähnt wurde, schon gezeigt hat. Aber nicht nur Universitäten profitieren von der Aufnahme von Forschern. Häufig werden gute ausländische Wissenschaftler für spezifische Aufgaben von Forschungsinstituten verpflichtet. So haben mehrere Institute in Brasilien, lange vor der Gründung der USP, sich der Kooperation von Gastforschern erfreuen können. In diesem Zusammenhang ist es gerechtfertigt, eine grundlegende Frage zu behandeln. Man sollte sich nämlich fragen, was einen mehr oder weniger erfahrenen Wissenschaftler dazu bringt, sich in die (wissenschaftliche) „Wildnis" zu begeben und dadurch seine Kontakte und die Arbeitsumgebung, die er in der Heimat hat, teilweise aufzugeben sowie eventuell sogar die Chancen auf seine zukünftige akademische Laufbahn zu vermindern. Solche Probleme sind relativ unwichtig, wenn der Aufenthalt in dem Entwicklungsland kurze Zeit beträgt, weniger als zwei Jahre, doch gewinnen sie an Relevanz, wenn es sich um längere Perioden handelt. Selbstverständlich spielen sozio-politisch-ökonomische Probleme oft eine Rolle: während der dreißiger Jahre sind Wissenschaftler aus Deutschland und Italien nach Brasilien ausgewandert, in den achtziger Jahren haben stellenlose europäische Forscher in lateinamerikanischen Universitäten langfristige Positionen gefunden und, „last but not least", ist es oft der Fall, daß aufgrund von Zuwendungen von Forschungsgeldern in spezifischen Projekten für begrenzte Zeit ansprechende Gehälter an Gastwissenschaftler gezahlt werden können. 2 Die nächsten Absätze beziehen sich zum großen Teil gerade auf solche Wissenschaftler, die, wie Prof. Dr. Achim Schräder, einen Teil ihrer Zeit und Energie aufgewandt haben, um mit großem Enthusiasmus und Engagement in Brasilien Forschungsgruppen in ihren Disziplinen aufzubauen. Mit besonderer Freude widme ich in diesem Sinne den vorliegenden Aufsatz meinem lieben Freund Achim Schräder zum 65. Geburtstag.
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Die zwei wichtigsten Gründe dürften aber wohl folgende sein: Erstens, wissenschaftliche Möglichkeiten, die den Forschern anderswo nicht geboten werden können, wie z. B. in der Botanik, Geologie (Jacob 1994a: 1-9), Zoologie, in bestimmten Gebieten der Sozialwissenschaften, oder auch in spezifischen Herausforderungen, welche die Probleme eines Landes bieten können. Zweitens, das für den Forscher im allgemeinen so starke Gefühl, einen „wichtigen" Beitrag zu leisten, was in diesem Zusammenhang für den Wissenschaftler bedeutet, anstatt in einem Industrieland ein „Rädchen im Getriebe" zu sein, in einem Entwicklungsland die Rolle des „Motors, der das Getriebe in Gang hält", zu spielen; das heißt, daß der Gastwissenschaftler deijenige ist, der eine Forschungsgruppe von Anfang an aufbaut und damit dem Land einen so wichtigen Dienst leistet. Wie schon oben erwähnt, beruhen erfolgreiche Kooperationen immer letztlich auf gegenseitigem Vertrauen der Wissenschaftler. Dieses genügt jedoch nicht, um Zusammenarbeit im formalen Sinne zu ermöglichen. Ein Beispiel, das die Vereinigten Staaten betrifft, folgt. Obwohl die brasilianischen Universitäten von Anfang an unter einem starken europäischen Einfluß gegründet und aufgebaut worden sind, haben ab den fünfziger Jahren die meisten jungen Wissenschaftler ihre Promotion in den Vereinigten Staaten durchgeführt. Daher entwickelte sich ganz natürlich eine starke Zusammenarbeit zwischen brasilianischen und nordamerikanischen Universitäten, die auch zu formalen Regierungsabkommen geführt hat. Aus politischen Gründen, nämlich ausgelöst durch den Druck der nordamerikanischen Regierung auf die brasilianische mit dem Ziel, Gesetze in Richtung der Beachtung des intellektuellen Eigentums durch Brasilien zu verabschieden, sind derzeit Rahmenabkommen nicht erneuert worden. Das hat zur Folge gehabt, daß ein rein wissenschaftliches Abkommen zwischen dem brasilianischen Nationalen Rat für Wissenschaftliche und Technologische Entwicklung („Conselho Nacional de Desenvolvimento Científico e Tecnológico — CNPq") und der nordamerikanischen Nationalen Wissenschaftsstiftung („National Science Foundation — NSF")3 während längerer Zeit nicht erneuert wurde! Trotzdem ist die Zusammenarbeit zwischen beiden Institutionen informell weitergelaufen. Die Kooperation zwischen europäischen Ländern und Brasilien soll auch an drei verschiedenen Beispielen erläutert werden: Deutschland, England und Frankreich.
3 Beide Institutionen entsprechen in Deutschland ungefähr der DFG; das Akronym CNPq stammt von dem früheren Namen, „Conselho Nacional de Pesquisas", Nationaler Forschungsrat.
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Obwohl historisch (speziell im 19. Jahrhundert) die Verbindungen zwischen Portugal und England immer sehr eng gewesen sind und daher zu erwarten wäre, daß der Einfluß Englands auf die wissenschaftliche Entwicklung Brasiliens am stärksten sein sollte, ist „de facto" die Entwicklung der brasilianischen Universitäten dem französischen Modell gefolgt. Daher sollte die wissenschaftliche Kooperation zwischen Brasilien und Frankreich die älteste und breiteste sein. Das ist auch teilweise der Fall: Schon 1948 wurde ein Kulturabkommen zwischen beiden Ländern unterzeichnet, das den Austausch von Akademikern erleichtern sollte. Die Entwicklung der Zusammenarbeit erfolgte auf grundsätzlich drei verschiedenen Ebenen: Kulturelle Verbindungen (meistens von Frankreich nach Brasilien); WTZ, welche durch ein spezielles Rahmenabkommen 1967 formalisiert wurde; und Technische Zusammenarbeit (TZ) oder Entwicklungshilfe, die sich unter demselben Rahmenabkommen abgespielt hat. Die WTZ, welche durch eine große Anzahl von Institutionen unterstützt und/oder durchgeführt wurde, konnte in zwanzig Jahren erhebliche Erfolge vorweisen (Cardoso/Martinieire 1989: 1-385), die sich über praktisch alle Gebiete der Wissenschaften und einige der Technologie erstreckt haben. Auf eine Besonderheit soll noch hingewiesen werden: Es wurde jungen Wissenschaftlern erlaubt, daß sie ihrer Wehrpflicht dadurch nachkamen, daß sie in Entwicklungsländern an Forschungseinrichtungen mitarbeiteten; mehrere von ihnen haben gute Arbeit an brasilianischen Universitäten geleistet und nehmen noch bis heute an der Zusammenarbeit teil. Im Gegensatz dazu ist die WTZ von Brasilien mit England in größerem Maße niemals über den Austausch von Wissenschaftlern und die Promotion von Studenten hinausgekommen. Obwohl auch in Großbritannien ein Programm für Entwicklungshilfe existiert, ist Brasilien davon sehr wenig zugute gekommen. Was Deutschland betrifft, ist die WTZ mit Brasilien aus verständlichen Gründen später in Gang gekommen, dafür aber umso intensiver. Als erste Maßnahme wurde ein Regierungsabkommen in Richtung Entwicklungshilfe 1963 unterzeichnet. Mehrere Initiativen sind im Rahmen dieses Abkommens gestartet worden, anfangs in unwesentlichen und überflüssigen Gebieten, später mit gutem Erfolg insbesondere im universitären Bereich und in den letzten Jahren im Gebiet der „Armutsbekämpfung" (eine kritische Bewertung ist in Closs/Jacob 1988: 109-124 und in Jacob 1994b: 79-94 zu finden). Im Jahr 1969 sind sowohl ein Rahmenabkommen für die WTZ 4 als auch ein Kulturabkommen unterzeichnet worden, und die gemeinsamen Aktivitäten in W&T, die bislang in informeller Weise stattfanden, wurden teilweise in das Rahmenabkommen ein4
Dieses Rahmenabkommen wurde 1996 erweitert, um eine stärkere Beteiligung von privaten Unternehmen beiderseits zu ermöglichen.
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gegliedert. Gleichzeitig sind zahlreiche neue Projekte angeregt und gefördert worden. Im kulturellen Bereich hat sich durch das Abkommen wenig geändert: Es blieb praktisch eine Einbahnstraße von Deutschland nach Brasilien (Schwamborn 1994: 596-602). Dagegen hat sich die WTZ erfreulich entwikkelt, und von den Ergebnissen haben beide Länder profitiert (KFA 1991: 31395; Jacob 1993: 237-268; Schwamborn 1994: 587-595; Boekh 1995: 465467, Kohlhepp 1995: 503-512; Leutner 1995: 242-250). Es sollte noch hinzugefügt werden, daß in der Kooperation zwischen Brasilien und Deutschland, in ähnlicher Weise wie in derjenigen mit den USA, auch Probleme aufgekommen sind, die auf einen politischen Hintergrund zurückzuführen sind: Die Informatikpolitik in Brasilien (die eine Schutzpolitik für brasilianische Informatikgüter mit sich brachte) hat als Konsequenz gehabt, daß die Zusammenarbeit in gemeinsamen Projekten in dem Gebiet der Informatik praktisch eingestellt und erst in den letzten Jahren wieder aufgenommen wurde. Jedoch wurde auch hier der informelle Austausch von beiden Ländern intensiv weiter gefördert und unterstützt (Jacob 1993: 241-242, 252-253; Jacob 1994c: 416-417). Aus der oben erwähnten Literatur läßt sich eindeutig schließen, daß die WTZ zwischen Brasilien und sowohl Deutschland als auch Frankreich in den letzten vierzig Jahren sehr gut fortgeschritten ist. Diejenige mit Deutschland ist die umfangreichste, die Brasilien führt, und sie wird international als Vorbild für bilaterale Kooperation in W&T anerkannt. Es wird hier auf weitere Einzelheiten verzichtet, da sie in den oben genannten Arbeiten nachgeschlagen werden können. Aber nicht alles in einer Zusammenarbeit kann als vorteilhaft für beide Partner angesehen werden. Als bemerkenswertes Gegenbeispiel soll hier das NukJearabkommen genannt werden, das 1975 zwischen Brasilien und Deutschland geschlossen wurde. Obwohl formell als Ziel des Vertrages eine WTZ in der friedlichen Nutzung der Kernenergie gesetzt wurde, stellte sich im Verlauf der Arbeit heraus, daß es sich vielmehr um eine kommerzielle Abmachung handelte, in der, obwohl ein Technologietransfer von Deutschland nach Brasilien stattgefunden hat, eine wirkliche WTZ nicht geschehen ist (Boekh 1995: 465467; Jacob 1997: 213). Darum wird auch dieses Abkommen in einigen deutschen Kreisen, hauptsächlich in den akademischen, als „Nukleargeschäft" gekennzeichnet. Wie könnte man es vielleicht noch besser machen? In diesem Abschnitt soll versucht werden, einige Anregungen zu geben, die zur Folge haben sollten, daß die WTZ zwischen Entwicklungs- und Industrieländern sich für beide Seiten noch vorteilhafter gestaltet, als es bis heute schon der
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Fall ist. Es wird stets als typisches Beispiel eines Entwicklungslands an Brasilien gedacht. Die Bedeutung der W&T für die wirtschaftliche und soziale Entwicklung der Länder wurde schon in der Einführung betont. Es soll hier noch hinzugefügt werden, daß trotz der sogenannten Globalisierung die nationale ökonomische „Unabhängigkeit" notwendigerweise einen großen Einfluß auf die politische Eigenbestimmung, speziell der Entwicklungsländer hat. Darum ist es besonders wichtig, daß sich die Zusammenarbeit als eine tatsächliche Partnerschaft gestaltet, in der beide Partner gleichberechtigt sind. Anderenfalls bildet sich eine ungewünschte Abhängigkeit des (schwächeren) Entwicklungslandes vom (stärkeren) Industrieland heraus. Wenn versucht werden soll, aus einer kritischen Analyse Folgerungen herauszukristallisieren, die eine Verbesserung der WTZ mit sich bringen könnten, ist es angebracht, eine nur für diesen Zweck nützliche Klassifizierung einzuführen. Eine solche Einteilung könnte folgendermaßen lauten: 1. WTZ, Wissenschaftlich-Technologische Zusammenarbeit im eigentlichen Sinne, die eine echte Partnerschaft zwischen den Beteiligten beider Länder voraussetzt; 2. TZ, Technische Zusammenarbeit, früher Entwicklungshilfe genannt: Die Beteiligten eines Landes versuchen mit mehr oder weniger Erfolg, den Partnern aus dem anderen Land neue Erkenntnisse beizubringen oder sogar spezifische Probleme zu lösen, ohne daß im allgemeinen neues „Know-how" produziert wird; 3. WZ, 5 Wirtschaftliche Zusammenarbeit, in der sich eine kommerzielle „Kooperation" abspielt, die für den einen, den anderen oder sogar für beide Partner vorteilhaft sein kann, aber dies in der Regel nur für den stärkeren ist. Es wird aus den Definitionen in dieser Einteilung sofort deutlich, daß nur diejenigen Aktivitäten, die der in 1. aufgeführten WTZ ähnlich sind, dazu beitragen können, einem Entwicklungsland zu helfen, seine Unabhängigkeit im oben genannten Sinne zu erreichen. TZ — Eine erste Anregung folgt, nämlich daß vermieden werden sollte, in der „alten" Weise Entwicklungshilfe, unter welchem Namen es auch sei, weiter 5
Es wird hier eine selten (oder gar nicht) gebrauchte Abkürzung benutzt, um zu versuchen, eine Einheit einzuführen: WTZ — Wissenschaftlich-Technologische Zusammenarbeit; TZ — Technische Zusammenarbeit; FZ — Finanzielle Zusammenarbeit; EZ — Entwicklungs-Zusammenarbeit; PZ — Personelle Zusammenarbeit; WZ — Wirtschaftliche Zusammenarbeit (oder Kommerzielle Zusammenarbeit, die Abkürzung wäre aber unpassend).
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zu treiben. Das gilt für Länder wie Deutschland, Frankreich, USA usw. Diese Art von „Zusammenarbeit" hat Brasilien in der Vergangenheit viel genützt; jedoch ist die Zeit schon längst gekommen, in der eine gleichberechtigte Partnerschaft unentbehrlich ist (Jacob/Closs 1988: 118-121; Jacob 1994b: 83-86). Es wäre wohl angebracht, die Mittel, welche noch heutzutage für Entwicklungshilfe bereitgestellt werden, für Projekte einzusetzen, in denen versucht werden sollte, gemeinsames „Know-how" zu entwickeln, das für beide Länder (in diesem Fall betrifft es Deutschland und Brasilien) nützlich sein könnte. WZ — Ein zweites Thema betrifft eventuelle kommerzielle Interessen, die oft mögliche Initiativen für eine gute Zusammenarbeit verhindern können. Auch in denjenigen Fällen, in denen von einem gemeinsamen Projekt ausgegangen wird, aus dem sich ein „kommerzielles Gut" entwickeln kann, muß von Anfang an darauf geachtet werden, daß wirtschaftliche Probleme, die dadurch entstehen können, vermieden werden. Anderenfalls wird immer der schwächere Partner (das heißt das Entwicklungsland) die Nachteile erleiden. Die Entwicklungsländer haben nur in einigen Fällen, in denen solche Probleme vorhergesehen werden konnten, die nötigen Maßnahmen ergriffen, um vorbeugend zu handeln; Beispiele sind mehrere Initiativen seitens der USA und anderer Industrieländer. Was Deutschland und Brasilien betrifft, sollte das Nuklearabkommen genannt werden, wo keine Maßnahmen getroffen worden sind, und die Zusammenarbeit in der Informatik, in der einerseits Brasilien eine verfehlte Schutzpolitik getrieben hat, andererseits aber Deutschland aus einer kommerziellen Motivation heraus eine gute Zusammenarbeit verhindert hat (Jacob 1993: 241-242, 252-253; Jacob 1994c: 416-417). Dagegen hat sich immer wieder herausgestellt, daß in Projekten, bei denen es sich um wissenschaftlich-technologische Forschung handelt, eine echte Kooperation als Grundlage vorausgesetzt wurde. Und das einschließlich in denjenigen seltenen Fällen, in denen das Ergebnis später kommerzialisiert worden ist: was immer auch die Unternehmen getrieben haben, das gegenseitige Vertrauen der Wissenschaftler wurde im allgemeinen dadurch nicht negativ beeinflußt. Hieraus sollte die Folgerung gezogen werden, daß die Partnerschaft, die sich in der WTZ etabliert, eine gesunde Basis für eine allgemeine Kooperation bilden kann; und das schließt wirtschaftliche und sogar politische Beziehungen ein. Dies allein wäre schon ein maßgebender Grund, WTZ zwischen Entwicklungs- und Industrieländern besonders zu begünstigen. Die vorhergehende Argumentation sollte noch weitergeführt werden. Und dieses an Hand der Tatsache, daß in Entwicklungsländern im allgemeinen Forschung (in erster Linie Grundlagen- und angewandte Forschung) praktisch ausschließlich aus öffentlichen Mitteln finanziert wird; das heißt, daß Unternehmen keine oder sehr wenige Mittel für Forschung (einschließlich derjenigen, die ih-
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ren eigenen Interessen dienen) investieren. Das hat zur Folge, daß angewandte Forschung und Technologie sehr wenig betrieben wird, und daß daher das „Know-how", welches für die Herstellung von international konkurrenzfähigen Gütern unentbehrlich ist, nicht produziert wird, sondern im Ausland erkauft werden muß und meistens schon von Anfang an veraltet ist (näheres hierzu, was Brasilien betrifft, in Jacob 1997: 222-224). Da eine beträchtliche Zahl der größeren Unternehmen in Entwicklungsländern Tochterfirmen von denjenigen in den Industrieländern sind, wird das notwendige „Know-how" in den Mutterhäusern erstellt, und es gibt keine Forschungseinrichtungen in den lokalen Tochterfirmen;6 und dazu kommt natürlich, daß dafür noch Lizenzgebühren („royalties") bezahlt werden müssen. Die Unternehmen zu zwingen, ihren Forschungsbedarf in den Tochterfirmen in dem betreffenden Entwicklungsland zu produzieren, ist den jeweiligen Regierungen bis heute nicht gelungen (es ist auch nicht klar, wie intensiv die aufeinanderfolgenden Regierungen es versucht haben und/oder unter welchem politischen Druck sie gestanden haben). Was Brasilien (und einige andere Entwicklungsländer) betrifft, sollte es jedoch möglich sein, unter den gegenwärtigen politischen und wirtschaftlichen Bedingungen (einschließlich der Globalisierung), Unternehmen davon zu überzeugen, daß es auf lange Sicht unentbehrlich ist und in ihrem eigenen Interesse liegt, die für die Produktion notwendige Forschung im Lande durchzuführen und somit eine WTZ mit einer WZ zu verbinden. Die Argumente dafür sind, wenigstens vom Standpunkt der Wissenschaftler, eindeutig: Unternehmen können sich in einem Entwicklungsland langfristig nur halten, wenn sie energisch dazu beitragen, daß schrittweise die Umgestaltung in ein Industrieland erfolgt; nur so können ihnen Binnenmarkt und Exportmöglichkeiten erhalten bleiben. Mit anderen Worten: Nur auf der Basis einer Zusammenarbeit sowohl in W&T als auch in den kommerziellen Interessen ist es auf lange Sicht für große internationale Unternehmen möglich, in Entwicklungsländern auf gesunde Weise und erfolgreich weiter zu planen und zu expandieren. Eine zusätzliche Anregung, jetzt speziell auf Brasilien bezogen, hat ihren Ursprung in der Tatsache, daß Brasilien einerseits ein sehr großes Land und andererseits eine Föderative Republik ist. Dieses hat zur Folge gehabt, daß während der sechziger Jahre mehrere brasilianische Bundesländer Stiftungen eingerichtet haben, die den Wissenschaftlern Mittel für Forschung und Entwicklung (F&E) im Interesse des sozio-ökonomischen Fortschrittes des betreffenden Bundeslandes zur Verfügung stellen. Diese Stiftungen, die dem Beispiel der 6
Forschungseinrichtungen sollen nicht mit „Labors für technologische Anpassungen von ,know-how"' verwechselt werden.
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ersten („Fundagäo de Amparo ä Pesquisa do Estado de Säo Paulo — FAPESP") gefolgt sind (und die allgemein als FAPs bekannt sind), bewilligen Forschungsgelder, indem sie ähnliche Richtlinien zu Grunde legen, die der schon erwähnte CNPq (oder die DFG) verwendet. Diese FAPs in den wenigen brasilianischen Bundesländern, in denen sie gut funktionieren, zumindest teilweise mit der internationalen WTZ zu beauftragen (was einfach eine Dezentralisierung bedeuten soll), würde eine neue Dimension in die Kooperation hineinbringen. Einerseits weil diese FAPs wegen der kleineren geographischen Entfernungen den Wissenschaftlern viel näher stehen und andererseits weil sie im allgemeinen viel unbürokratischer vorgehen und außerdem noch eigene Mittel beitragen können. Im nächsten Abschnitt sollen die ersten erfolgreichen Versuche solch einer Dezentralisierung angesprochen werden. Wai bedeutet das für die deutsch-brasilianische WTZ? Ein eventueller Einfluß der Anregungen, die im vorherigen Teil besprochen worden sind, auf die langjährige und erfolgreiche Zusammenarbeit in W&T zwischen Deutschland und Brasilien soll in diesem Abschnitt kurz angedeutet werden. Diese WTZ ist die umfangreichste, die Brasilien mit Industrieländern durchführt (Jacob 1993: 237-268; Schwamborn 1994: 587-595; Boekh 1995: 445-473; Kohlhepp 1995: 503-512; Leutner 1995: 242-250). Ein zusammenfassender Überblick einiger der Aktivitäten, die in dieser Kooperation zwischen 1969 und 1989 erfolgt sind, ist in KFA (1991) beschrieben. Aus diesem Werk und den bibliographischen Angaben im Literaturverzeichnis des vorliegenden Aufsatzes ist außerdem zu entnehmen, daß es sich hier um eine Zusammenarbeit von gleichberechtigten Partnern handelt, wie sie im vorhergehenden Abschnitt beschrieben wurde. Die erste Feststellung, die gemacht werden muß, ist, daß am Anfang diese WTZ gegen großen Pessimismus auf beiden Seiten zu kämpfen hatte. Die Probleme, die in der Anfangsphase aufgetaucht sind, werden anderswo ausführlich beschrieben (Jacob 1993: 237-268). Hier genügt die Feststellung: „Und es geht doch!" Die Erfahrung, welche hieraus gewonnen worden ist, und die hauptsächlich Grundlagen- und angewandte Forschung betrifft, läßt sich auch auf anwendungsbezogene Gebiete übertragen. Das kann an Hand von zwei Beispielen bestätigt werden, die einen Technologietransfer im „High-tech"-Bereich umfaßt haben und an dem Unternehmen beteiligt waren (KFA 1991: 115-119). Diese Beispiele sollten weiterverfolgt werden. Es gibt mehrere Ansätze in Forschungsinstitutionen sowohl in Deutschland als auch in Brasilien, in denen versucht wird, mit Unternehmen in beiden Ländern Projekte auszuarbeiten, die
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den Weg von Forschungen über Innovationen bis zu Fertigungsprozessen durchlaufen. Das heißt, ein deutsches Forschungsinstitut zusammen mit einem deutschen Unternehmen und das jeweilige brasilianische „Pendant" aus ebenfalls einem Institut und einem Unternehmen produzieren gemeinsam „ab initio" ein neues Produkt, von der Entwicklung bis zur Vermarktung, in einem echten und gleichberechtigten Kooperationsverfahren in beiden Ländern.7 So ein Verfahren, als gemeinsames Projekt angesehen, entwickelt sich genau in dem Sinne der WTZ mit WZ, die im vorhergehenden Abschnitt beschrieben worden ist. Und, wie dort schon bemerkt, sollten solche Initiativen auf lange Sicht auch die Stabilität deutscher Unternehmen in Brasilien verstärken, da sie sich dadurch mehr und mehr unabhängig von den jeweiligen Mutterhäusern machen (was vielleicht von der deutschen Seite her nicht immer unproblematisch erscheinen könnte). Ganz allgemein ist es immer wieder das Bestreben sowohl der brasilianischen als auch (und hauptsächlich!) der deutschen Seite in der WTZ, daß eine intensivere Kooperation in der technologischen Entwicklung in Brasilien zustande kommt. Aus den schon oben angeführten Gründen ist dieses jedoch nicht einfach, und gerade das Zusammenbringen der WTZ mit der WZ, wie es z.B. in den beschriebenen ,2+2" Projekten der Fall ist, könnte zu so etwas führen. Vom brasilianischen Standpunkt aus gesehen ist es wichtig, daß eine technologische Entwicklung nicht „erfunden" werden kann, sondern erlernt werden muß, und zwar von demjenigen Industrieland, welches das Wissen beherrscht und willens ist, es weiterzugeben. Und gerade in dieser Hinsicht hat sich durch die jahrelange Kooperation gezeigt, daß Deutschland für Brasilien der ideale Partner ist (Jacob 1997: 210-211). In der WTZ zwischen Deutschland und brasilianischen Bundesländern sind die ersten Schritte schon erfolgt. Der DAAD hat seit geraumer Zeit direkte Möglichkeiten, seine Programme mit einigen FAPs durchzuführen, hauptsächlich mit denen der Länder Säo Paulo (FAPESP) und Rio Grande do Sul (FAPERGS). Dies ist jedoch nur ein Anfang, und viel mehr sollte in dieser Richtung von beiden Seiten unternommen werden: die Durchführung von Programmen und Projekten, die zwischen den Staaten im Bereich des Rahmenabkommens oder der Einzelabmachungen sich schwierig gestalten, kann sehr oft durch direkte Kontakte mit den Bundesländern erleichtert werden. Dies ist besonders der Fall, wenn die Interessen des jeweiligen Landes direkt angesprochen sind und wenn das Wissenschaftsministerium, die FAP oder auch eine andere Organisation des Bundeslandes mit eingebunden wird. 7
Aus verständlichen Gründen werden solche Projekte im WTZ , Jargon" „2+2" Projekte genannt.
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Ein Beispiel (und gleichzeitig ein Gegenbeispiel) hierfür ist der gegenwärtige Versuch, Forschungsinstitute im technologischen Bereich, dem Modell der Fraunhofer Institute in Deutschland folgend, in Säo Paulo und Rio Grande do Sul aufzubauen. In Säo Paulo haben die lokalen Institutionen zunächst um einen Aufschub gebeten. Dagegen haben das Wissenschaftsministerium in Rio Grande do Sul und die Fraunhofer Gesellschaft direkten Kontakt mit den verantwortlichen Bundesministerien in Deutschland und Brasilien aufgenommen, und eine Zusatzvereinbarung kann es in der nahen Zukunft ermöglichen, daß wahrscheinlich ein derartiges Projekt in Rio Grande do Sul gestartet wird (Jacob/Frantz 1999: 26-27). Dagegen ist in Säo Paulo trotz des Einsatzes der beiden Bundesministerien bisher wenig passiert. Ein weiteres Beispiel ist eine sehr gut gelungene Zusammenarbeit zwischen dem Ministerium für W&T des Landes Rio Grande do Sul und der deutschen Hochschul-Rektoren-Konferenz (HRK). Auf Bitten des Ministeriums wurde von der HRK eine hochkarätige Beraterkommission ernannt, die eine Bestandsaufnahme der (fünfzehn!) Universitäten in Rio Grande do Sul durchgeführt und eine Reihe von Empfehlungen an die Landesregierung gerichtet hat, die dazu dienen sollen, eine Hochschulpolitik im Lande zu etablieren (Jacob/Frantz 1999: 25-26). Andererseits werden auch gelegentlich direkte Kontakte zwischen deutschen und brasilianischen Bundesländern geknüpft. Zwei Beispiele sollen dies zeigen: Das Land Säo Paulo hat direkte Abkommen mit zwei deutschen Bundesländern: Baden-Württemberg und Bayern. Mit der Fachhochschule (FH) Karlsruhe wird versucht, Studiengänge im Sinne einer deutschen FH in Säo Paulo einzuführen; Partner auf brasilianischer Seite ist die deutsch-brasilianische Industrieund Handelskammer in Säo Paulo. Mit dem Bayerischen Staatsministerium für Landesentwicklung und Umweltfragen plant das Landesministerium für Umwelt in Säo Paulo, mehrere gemeinsame Projekte zum Schutz der Ökosysteme durchzuführen. Das Land Rio Grande do Sul verfügt über keine direkten Abkommen mit deutschen Bundesländern; trotzdem ist im Rahmen einer einfachen Absichtserklärung das erwähnte Bayerische Staatsministerium zusammen mit dem Ministerium für W&T des Landes Rio Grande do Sul dabei, Pläne für die technologische Lösung von Umweltproblemen unter Mitwirkung bayerischer Unternehmen in Rio Grande do Sul auszuarbeiten (Jacob/Frantz 1999: 27-28). Die Weiterentwicklung der Initiativen, die in diesem Abschnitt angedeutet worden sind, kann eine neue Dimension in die so erfolgreiche deutsch-brasilianische Zusammenarbeit in W&T hineinbringen.
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Zusammenfassende Schlußbemerkungen Die Bedeutung der WTZ zwischen Industrie- und Entwicklungsländern, um den sozio-ökonomischen Fortschritt letzterer zu erleichtern oder gar erst zu ermöglichen, ist als Ausgangspunkt der Überlegungen im vorliegenden Aufsatz gewählt worden. Es wurde betont, daß ohne internationale Maßstäbe die Technologie in Entwicklungsländern niemals dazu führen kann, Produkte auf den Markt zu bringen, die im weltweiten Wettbewerb konkurrenzfähig sind. Diejenigen Instrumente, die dazu dienen sollen, internationale Zusammenarbeit zwischen Entwicklungs- und Industrieländern anzuregen oder zu verwirklichen, wurden skizziert. Die Voraussetzungen für eine fruchtbare Zusammenarbeit in W&T — vom persönlichen Engagement der Wissenschaftler bis zur Einstellung der jeweiligen Regierungen („politischer Wille") — wurden ausführlich beschrieben. Der positive und der negative Einfluß von tagespolitischen Ereignissen auf die WTZ ist an spezifischen Beispielen von Kooperationsaktivitäten zwischen Brasilien und Industrieländern dargestellt worden, und es wurde gezeigt, wie wichtig der informelle Austausch und das sich dadurch bildende persönliche gegenseitige Vertrauen für das Entstehen dauerhafter wissenschaftlicher Beziehungen ist. Besonders sollte betont werden, daß in der WTZ gerade zwischen Entwicklungs- und Industrieländern immer wieder darauf Bezug genommen werden muß, daß es sich um eine gleichberechtigte Kooperation handeln sollte, im Gegensatz zu der „alten" Entwicklungshilfe. Die Bedeutung gemeinsamer Projekte in anwendungsbezogenen Themen für die WTZ zwischen Deutschland und Brasilien, ganz speziell solcher, in denen Unternehmen aus beiden Ländern als Partner mitbeteiligt sind, wurde ausführlich betont, und einige Bemerkungen zu der Realisierbarkeit dieser Projekte sind dargelegt worden. Die Tatsache, daß in einigen Bundesländern in Brasilien ein spezielles Interesse an einer Kooperation mit Deutschland in W&T besteht, und daß in diesen Ländern jeweils eine Landesstiftung für die Förderung von Forschung existiert, sollte einerseits eine größere Dezentralisierung in Brasilien mit sich bringen, andererseits die bürokratischen Probleme vermindern und folglich einen speziellen Anreiz für das Starten von neuen Initiativen mit den einzelnen Ländern bedeuten. Eindeutig kann aus dem Vorhergehenden eine zweifache, allgemein gültige Schlußfolgerung gezogen werden: Die Kooperation in Forschung und Entwicklung (F&E), in Wissenschaft und Technologie (W&T) mit Industrieländern ist unentbehrlich für den sozio-ökonomischen Fortschritt von Entwicklungslän-
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dem. Für Brasilien spielt Deutschland in dieser Hinsicht die wichtigste Rolle und ist zweifellos bis heute der unbestritten beste Partner. Dank: Für eine sorgfaltige und kompetente Überarbeitung des Manuskripts, sowohl vom inhaltlichen als auch vom sprachlichen Standpunkt bin ich Herrn Heinz Schlüter zu besonderem Dank verpflichtet. Literatur Boekh, Andreas (1995): Alemanha-Brasil: o Futuro da Cooperalo Cultural e Tecnológica.* In: Luiz Alberto Moniz Bandeira und Samuel Pinheiro Guimaräes (Hrsg.): Brasil e Alemanha. A Construyo do Futuro. Brasilia, IPRI, Funda^äo Alexandre Gusmäo. S. 445473. Cardoso, Luiz Claudio und Guy Mattinière (Hrsg.) (1989): Brasil-Franca. Vinte Anos de Cooperalo (Ciencia e Tecnologia). Brasilia, IPRI, Fundafäo Alexandre Gusmäo. Closs, Darcy und Gerhard Jacob (1988): Technical Assistance in Latin-America: The Example of the Cooperation between Brazil and the Federai Republic of Germany. In: Wolfgang Küper (Hrsg.): Hochschulkooperation und Wissenstransfer. Serie Pädagogik: Dritte Welt. Frankfurt a. M„ Interkulturelle Kommunikation. S. 109-124. Jacob, Gerhard (1993): Die Zusammenarbeit in Wissenschaft und Technologie zwischen Deutschland und Brasilien. In: Vorstand des Lateinamerika Zentrums. Westfälische Wilhelms-Universität Münster (Hrsg.): Anuario 1993, Bd. 1. Frankfurt a. M„ Vervuert. S. 237-268. Jacob, Gerhard (1994a): The Brazilian-German Co-operation in Science and Technology. The Example of Geosciences. Zentralblatt für Geologie und Paläontologie Teil I, Heft 1/2: 1-9. Jacob, Gerhard (1994b): Umwelt- und sozialbezogene Anmerkungen zur Technischen Zusammenarbeit im Hochschul- und Forschungswesen am Beispiel Brasilien. In: Rainer Pitschas (Hrsg.): Entwicklungsrecht und sozial-ökologische Verwaltungspartnerschaft. Berlin, Dunker & Humblot. S. 79-94. Jacob, Gerhard (1994c): Universitäten, Wissenschaft und Forschung in Brasilien. In: Dietrich Briesemeister, Gerd Kohlhepp, Ray-Güde Merlin, Hartmut Sangmeister und Achim Schräder (Hrsg.): Brasilien heute. Politik, Wirtschaft, Kultur. Bibliotheca Iberoamericana 53. Frankfurt a. M„ Vervuert. S. 404-^20. Jacob, Gerhard (1997): Zur Wissenschaftlichen und Technologischen Zusammenarbeit zwischen Deutschland und Brasilien. In: Andreas Boekh und Rafael Sevilla (Hrsg.): Bestandsaufnahme und Perspektiven der Deutsch-Brasilianischen Beziehungen. Biblioteca Luso-Brasileira 3. Frankfurt a. M„ TFM. S. 209-248. Jacob, Gerhard/Frantz, Telmo (1999): A Cooperado em Ciencia e Tecnologia entre o Rio Grande do Sul e a Alemanha. In: José Albano Volkmer, Manoel André da Rocha, René Gertz und Valério Rohden (Hrsg.): Retratos de Cooperado Científica e Cultural. 40 Anos do Instituto Cultural Brasileiro-Alemäo. Porto Alegre, EDIPUCRS. S. 19-32.
* Es muß leider bemerkt werden, daß die Übersetzung nicht immer dem deutschen Original entspricht.
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KFA (1991): Grundlagen für die Zukunft, 20 Jahre Wissenschaftlich-Technische Zusammenarbeit zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Föderativen Republik Brasilien. Forschungszentrum Jülich GmbH (Hrsg.). Jülich. Kohlhepp, Gerd (1995): As Relaföes Científicas entre a Alemanha e o Brasil. In: Luiz Alberto Moniz Bandeira und Samuel Pinheiro Guimaräes (Hrsg.): Brasil e Alemanha. A Cons t r u y o do Futuro. Brasilia, IPRI, Fundafäo Alexandre Gusmäo. S. 503-512. Leutner, Hans (1995): Zur Wissenschaftlichen Zusammenarbeit mit Brasilien in der Grundlagenforschung. In: Rafael Sevilla und Darcy Ribeiro (Hrsg.): Brasilien: Land der Zukunft? Bad Honnef, Horlemann. S. 242-250. Schwamborn, Friedhelm (1994): Entwicklung und Schwerpunkte der Wissenschaftlichen und Kulturellen Beziehungen zwischen Brasilien und Deutschland. In: Dietrich Briesemeister, Gerd Kohlhepp, Ray-Güde Mertin, Hartmut Sangmeister und Achim Schräder (Hrsg.): Brasilien heute: Politik, Wirtschaft, Kultur. Bibliotheca Iberoamericana 53. Frankfurt a.M„ Vervuert. S. 587-602. Talarek, Horst D. (1991): Zielsetzung und Organisation. In: Forschungszentrum Jülich GmbH (Hrsg.): Grundlagen für die Zukunft, 20 Jahre Wissenschaftlich-Technische Zusammenarbeit zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Föderativen Republik Brasilien. Jülich. S. 25-30.
„Festung Mercosur"? Entwicklung und Auswirkungen der regionalen Integration im „Gemeinsamen Markt des Südens" GUSTAV DIECKHEUER UND CHRISTIAN LÜTKE WÖSTMANN
Einleitung Der 1991 von Argentinien, Brasilien, Paraguay und Uruguay gegründete „Gemeinsame Markt des Südens" (Mercado Comün del Cono Sur — Mercosur) stellt den bislang erfolgreichsten Integrationsversuch in Lateinamerika dar. Durch rasche Fortschritte beim Abbau interner Handelsbarrieren und wegen seiner Bedeutung als Absatzmarkt und Investitionsstandort hat sich der Mercosur innerhalb nur weniger Jahre einen Platz unter den größten Wirtschaftsblökken der Welt gesichert. Mit mehr als 200 Millionen Einwohnern und einem Bruttoinlandsprodukt von über 1000 Milliarden US-Dollar repräsentiert er mehr als die Hälfte der Bevölkerung und der Wirtschaftsleistung Lateinamerikas. In Bezug auf die Wirtschaftskraft ist der Mercosur weltweit nach der Nordamerikanischen Freihandelszone (NAFTA) und der Europäischen Union der drittstärkste Wirtschaftsblock. Während die bisherigen Integrationsversuche in Lateinamerika, z. B. im Andenpakt, nur geringe Bedeutung erlangen konnten, werden dem Mercosur gute Zukunftsaussichten vorausgesagt. Chile und Bolivien haben sich dem Mercosur bereits als assoziierte Mitglieder angeschlossen, und auch mit anderen lateinamerikanischen Staaten, der NAFTA und der Europäischen Union laufen Verhandlungen über den Abbau von Handelsbeschränkungen. Gleichzeitig zu diesen Ansätzen einer Ausweitung wird auch die Vertiefung des Mercosur weiterverfolgt. Der interne Abbau von Handelsbarrieren wird vorangetrieben und die Kooperation in anderen Bereichen intensiviert. Bereits innerhalb von vier Jahren, und damit wesentlich schneller als die sechs Gründungsmitglieder der Europäischen Union, erreichten die Mercosur-Staaten die Integrationsstufe einer Zollunion. Mittlerweile wird sogar über die Einführung einer Währungsunion diskutiert.
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Inwieweit regionale Handelsabkommen wie der Mercosur zur Verbesserung der Wohlfahrt der Mitgliedsländer und auch der Nicht-Mitglieder beitragen, ist theoretisch umstritten. Auf der einen Seite wird ein regional begrenzter Abbau von Handelsbeschränkungen als Schritt in die richtige Richtung und als für den Welthandel förderlich angesehen. Auf der anderen Seite wird befürchtet, daß der interne Abbau von Handelsbeschränkungen mit einem Aufbau von Barrieren gegenüber dem Rest der Welt einhergeht und dadurch sowohl die Mitgliedsländer als auch Drittländer Wohlfahrtsverluste erleiden. Zur Beschreibung dieses Phänomens ist im Zusammenhang mit der Außenhandelspolitik der Europäischen Union der Begriff von der „Festung Europa" geprägt worden. Zu Wohlfahrtseinbußen kann es bereits dann kommen, wenn die Handelsbarrieren gegenüber dem Rest der Welt nicht über den Ausgangsstand hinaus erhöht werden. Zwar kann durch die Verringerung der internen Barrieren der Außenhandel gefördert werden und damit eine Handelsschaffung stattfinden, aber durch die Begrenzung des Zollabbaus auf die Mitgliedsländer ergibt sich eine automatische Diskriminierung der Nicht-Mitglieder. Diese kann dazu führen, daß Importe aus Nicht-Mitgliedsstaaten durch Importe aus weniger effizient produzierenden, aber durch Handelspräferenzen bevorzugten Mitgliedsstaaten ersetzt werden und so eine Handelsumlenkung stattfindet. Neben einer solchen Beeinflussung der Handelsströme kann die regionale Integration noch weitere Effekte hervorrufen. Durch die Schaffung eines vergrößerten gemeinsamen Marktes steigt in der Regel die Wettbewerbsintensität innerhalb des Integrationsraumes. Außerdem wird durch die Ausweitung der Absatzmärkte die Ausnutzung von Massenproduktionsvorteilen möglich. Beide Faktoren können Innovationen und Investitionen anregen und darüber Wachstumsimpulse auslösen (Dieckheuer 1995: 487ff). Ziel dieses Artikels ist es, zentrale ökonomische Auswirkungen der regionalen Integration im Mercosur zu untersuchen und darüber hinaus eine Antwort auf die Frage zu geben, ob der „Gemeinsame Markt des Südens" auf dem Wege ist, sich in eine „Festung Mercosur" zu verwandeln. Dazu wird zunächst die Entwicklung der Integration im Mercosur dargestellt. Danach werden die Mitgliederstruktur des Mercosur und die Wirtschaftspolitik der Mitgliedsstaaten untersucht. Im Anschluß daran erfolgt die Analyse der Auswirkungen des Integrationsprozesses. Dabei werden als zentrale Aspekte die Effekte auf den Außenhandel und die Direktinvestitionen untersucht. Entstehung, Ziele und Institutionen des Mercosur Der „Gemeinsame Markt des Südens" (Mercosur) wurde am 26. März 1991 mit dem Vertrag von Asunción durch die vier Mitgliedsländer Argentinien, Brasi-
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lien, Paraguay und Uruguay gegründet. Die grundlegenden Ziele des Vertrags sind 1) die Errichtung eines Gemeinsamen Marktes mit freier Mobilität von Gütern, Dienstleistungen und Produktionsfaktoren und 2) die Verbesserung der Wettbewerbsposition der Mitgliedsländer in der Weltwirtschaft.1 Die Gründung des Mercosur wird dabei von den Teilnehmerländern als Antwort auf die weltweit voranschreitende Globalisierung der Wirtschaft gesehen. Dabei soll der Mercosur nicht zur Schaffung eines isolierten und nach außen abgeschotteten internen Marktes dienen, sondern vielmehr eine regionale Plattform zur Intensivierung der Beziehungen mit dem Rest der Welt darstellen. Diese Ausrichtung wird auch als „offener Regionalismus" bezeichnet (IRELA 1997: 3f). Die Bildung des Mercosur stellt eine Fortsetzung der Mitte der achtziger Jahre begonnenen Integrationsbemühungen zwischen Argentinien und Brasilien dar. Diese beiden wirtschaftlichen Großmächte Lateinamerikas hatten bereits 1986 ein Programm zur wirtschaftlichen Kooperation und Zusammenarbeit (Programa de Integración y Cooperación Económica entre Argentina y Brasil — Picab) verabschiedet. 1988 beschlossen sie dann die Gründung eines Gemeinsamen Marktes (Tratado de Integración, Cooperación y Desarollo — Ticd). Sie verpflichteten sich, innerhalb von zehn Jahren alle tarifären und nicht-tarifären Handelshemmnisse zu beseitigen und ihre Wirtschafts-, Finanz- und Geldpolitiken nach Abschluß entsprechender Zusatzabkommen schrittweise zu harmonisieren. Im Juli 1990 kamen die Präsidenten Menem und Collor di Mello überein, den Integrations-Zeitplan auf fünf Jahre zu verkürzen. Mit der Gründung des Mercosur wurden die kleinen Länder Uruguay und Paraguay formell in die angestrebten regionalen Liberalisierungsbemühungen einbezogen (Cardoso de Oliveira 1997: 135f).
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Es lassen sich verschiedene Stufen wirtschaftlicher Integration unterscheiden. Auf der untersten Stufe, mit einer geringen Intensität der Integration, steht die Präferenzzone. In einer Präferenzzone vereinbaren zwei oder mehr Länder vertraglich, sich für den Handel mit bestimmten Gütern Vorzugsbedingungen zuzugestehen. In einer Freihandelszone ist grundsätzlich der gesamte Güterhandel einbezogen. Eine Freihandelszone beseitigt alle Barrieren im Handel der Mitgliedsländer untereinander. Die Mitgliedsländer betreiben weiterhin eine eigenständige Handelspolitik gegenüber Drittländern und erheben dabei insbesondere national unterschiedliche Zollsätze. Eine Zollunion ist eine Freihandelszone, in der die Mitgliedsländer einen gemeinsamen Außenzoll gegenüber Drittländern erheben. In einem Gemeinsamen Markt wird nicht nur ein freier Güterverkehr garantiert und ein gemeinsamer Außenzoll erhoben, sondern zusätzlich auch die freie interne Mobilität der Produktionsfaktoren geschaffen. Damit wird u. a. die Niederlassungsfreiheit für Unternehmen, die Freizügigkeit von Arbeitskräften und die Freiheit des Kapitalverkehrs gewährleistet (Dieckheuer 1995: 485ff).
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Die institutionelle Struktur des Mercosur wurde am 17. Dezember 1994 durch die Präsidenten der vier Mitgliedsstaaten im Protokoll von Ouro Preto festgelegt. Der Mercosur erhielt den Status einer juristischen Person, wodurch u. a. ermöglicht wurde, daß die Staaten des Mercosur als Gruppe Verhandlungen mit einzelnen oder mehreren anderen Staaten führen und gemeinsam als Mercosur auf internationalen Versammlungen Stellungnahmen abgeben können. Die Struktur des Mercosur ist durch interministerielle Gremien und ein Minimum an eigenständiger supranationaler Verwaltung geprägt. Ziel dieser Strukturen ist es, auf der einen Seite eine flexible und schnelle Entscheidungsfindung zu ermöglichen und auf der anderen Seite eine übermäßige Bürokratisierung zu verhindern. In den Institutionen des Mercosur wird vor allem den Präsidenten und Außenministern wesentlicher Einfluß auf den Integrationsprozeß zugewiesen. Oberstes Entscheidungsgremium des Mercosur ist der Rat (Consejo del Mercado Común — CMC), dem die Präsidenten, Außen- und Wirtschaftsminister der Unterzeichnerstaaten angehören. Die .Arbeitsgruppe Gemeinsamer Markt" (Grupo de Mercado Común — GMC) ist das Exekutivorgan der Gemeinschaft und wird von den Außenministerien koordiniert. Zur Unterstützung ihrer Tätigkeit kann die GMC weitere Arbeitsgruppen einrichten. Arbeitsgruppen existieren beispielsweise in den Bereichen Handelsfragen, technische Normen oder Energiepolitik. Die Handelskommission, die ebenfalls von den Außenministerien geleitet wird, beschäftigt sich in erster Linie mit der Überwachung der Umsetzung der gemeinsamen Handelspolitik im Mercosur. Das kleine Verwaltungssekretariat des Mercosur (Secretaría Administrativa del Mercosur — SAM), in dem unter anderem das offizielle Mercosur-Bulletin veröffentlicht wird, befindet sich in Montevideo, Uruguay. Daneben existiert noch ein gemeinsames Parlamentarisches Kommittee (Comisión Parlamentaria Conjunta — CPC), das sich aus Vertretern der verschiedenen nationalen Parlamente zusammensetzt. Das Parlamentarische Kommittee hat beratenden Charakter und soll die Koordinierung von Gesetzen vorantreiben und Vorschläge für die .Arbeitsgruppe Gemeinsamer Markt" ausarbeiten. Durch das „Wirtschaftliche und Soziale Beratungsforum" (Foro Consultivo Económico y Social), in dem neun Repräsentanten des Privatsektors und der Gewerkschaften vertreten sind, sollen schließlich Vorschläge zu sozialen und wirtschaftlichen Themen von nichtstaatlicher Seite in den Integrationsprozeß eingebracht werden (IRELA 1997: l l f ; Schonebohm 1997: 14ff).
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Der Abbau von Handelsbeschränkungen In einer ersten, fünf Jahre umfassenden Phase sah der Vertrag von Asunción die Schaffung einer Freihandelszone und die Festlegung eines gemeinsamen Außenzollsatzes vor. Die Liberalisierungsmaßnahmen sollten in einem Prozeß mit „zwei Geschwindigkeiten" umgesetzt werden. Argentinien und Brasilien sollten den Abbau der Handelsbeschränkungen bis zum 31.12.1994 beendet haben, Paraguay und Uruguay erst ein Jahr später. In einem 1991 festgelegten und ohne weitere Verhandlungen gültigen Zeitplan erfolgte ein stufenweiser Abbau der Importzölle für einen Großteil der Zollpositionen. Bereits zum 30.6.1991 war eine Absenkung der Zölle um 47 Prozent vorgesehen (siehe Abbildung 1). Abbildung 1: Zeitplan zum Zollabbau im Mercosur 100
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Quelle: Bornard (1994), S. 31. Die Mitgliedsstaaten hielten den ambitionierten Zeitplan ein und konnten so am 1.1. 1995 offiziell die Errichtung einer Freihandelszone verkünden. Gleichzeitig legten sie einen gemeinsamen Außenzoll fest, der für 85 Prozent der Importe gültig ist, und machten den Mercosur damit zu einer unvollständigen Zollunion. Da der freie Fluß von Gütern innerhalb des Mercosur mit Ausnahme einiger sensibler Produkte gewährleistet ist, wird der Mercosur nach den Regeln der Welthandelsorganisation (WTO) als Zollunion anerkannt. Bis zum Jahr 2006 sollen alle Ausnahmebereiche abgebaut und die Zollunion vollendet werden (IRELA 1997: 4f).
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Der gemeinsame Außenzoll ist in elf Gruppen gestaffelt und beträgt zwischen 0 und 20 Prozent. Der durchschnittliche Zollsatz liegt bei 11,3 Prozent. Unter Einbeziehung der Ausnahmebereiche weisen Argentinien, Brasilien und Uruguay leicht höhere durchschnittliche Importzölle auf, Paraguays Zölle liegen sogar unterhalb des durchschnittlichen gemeinsamen Außenzolls (siehe Abbildung) (BID 1997: 118). Abbildung 2: Durchschnittliche ungewichtete Importzölle 1995 (Brasilien 1996) 14,7
Argentinien
Brasilien
Paraguay
Uruguay
Quelle: Leipziger et al. (1997), S. 587. Zur Eindämmung der Auswirkungen der Asienkrise wurde der gemeinsame Außenzoll Ende 1997 um 3 Prozentpunkte erhöht. Diese Maßnahme wurde vor allem von Brasilien und Argentinien durchgesetzt. Die Erhöhung ist bis zum 31.12.2000 befristet und wird von den Mitgliedsländern nicht als Änderung der handelpolitischen Strategie, sondern nur als vorübergehende Maßnahme angesehen. Argentinien ließ im Gegenzug zur Erhöhung des Mercosur-Außenzolls eine als „Statistiksatz" bezeichnete Einfuhrabgabe in Höhe von 2,5 Prozent entfallen (bfai 1998: 9; COTINCO 1998: 4). Die 15 Prozent der Zollsätze, die durch die Ausnahmeregelungen zunächst nicht unter den gemeinsamen Außenzoll fallen, betreffen fast die Hälfte des gesamten Intra-Mercosur-Handels (Leipziger et al. 1997: 587). Unter die Ausnahmeregelungen fallen im einzelnen: 1. „Sensible Produkte": Jedem Mitgliedsland ist es erlaubt, Ausnahmelisten mit sensiblen Produkten aufzustellen. Argentinien, Brasilien und Uruguay dürfen maximal 300 und Paraguay maximal 399 Güter vom gemeinsamen Außenzoll ausnehmen. Die Ausnahmen konzentrieren sich dabei vor allem auf die
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Sektoren Textil und Gummi in Brasilien, Eisen und Stahl, Textilien und Papier in Argentinien und Nahrungsmittel in Paraguay und Uruguay. Insgesamt haben diese Bereiche nur einen geringen Anteil am Außenhandel der MercosurLänder. 2. Kapitalgüter: Argentinien und Brasilien haben sich verpflichtet, bis zum Jahr 2001 einen gemeinsamen Außenzoll in Höhe von 14 Prozent einzuführen. Für Paraguay und Uruguay soll der gemeinsame Zollsatz erst ab 2006 gelten. 3. Telekommunikations- und Informationstechnologie: Die Ausnahme dient in erster Linie zum Schutz brasilianischer Unternehmen. Ab dem Jahr 2006 soll ein gemeinsamer Außenzoll in Höhe von 16 Prozent gelten. 4. Zucker- und Automobilsektor: Im Falle der Zuckerherstellung versucht insbesondere Argentinien, seine heimische Industrie vor der übermächtigen und angeblich subventionierten brasiliansichen Konkurrenz zu schützen. Die Automobilproduktion stellt einen Schlüsselsektor innerhalb des Mercosur dar, dem in Argentinien und Brasilien strategische Bedeutung beigemessen wird. 1995 kam es zu Spannungen zwischen den Ländern, als Brasilien einseitig eine Erhöhung der Importzölle für Fahrzeuge aus Argentinien vornahm. Im Dezember 1998 konnten sich beide Länder jedoch auf eine gemeinsame Regelung einigen. Argentinien und Brasilien sollen beide Sektoren ab dem 1.1.2000 in die Zollunion einbeziehen. Paraguay und Uruguay müssen sich ein Jahr später dem gemeinsamen Außenzoll anschließen (BID 1997: 115 f. und 118; IRELA 1997: 5 f.; Handelsblatt 1998: 10; COTINCO 1998: 3). Einen Rückschlag erlitten die Liberalisierungsbemühungen im Jahr 1997, als Brasilien zur Bekämpfung seines wachsenden Leistungsbilanzdefizits und zur Verringerung spekulativer Finanzströme restriktive Regulierungen der Importfinanzierung einführte. Diese Maßnahmen hatten stark handelsbeschränkenden Charakter. Nach Protesten gegen diese Verletzung des Vertrages von Asunción machte Brasilien den Mercosur-Mitgliedem allerdings eine Reihe von Zugeständnissen. Die einseitigen und vertragswidrigen Handlungen Brasiliens wurden zwar von den Mitgliedern des Mercosur als Versuch Brasiliens verstanden, eine größere Wirtschaftskrise zu vermeiden, die auch negative Auswirkungen auf die Nachbarstaaten gehabt hätte. Trotzdem existieren Befürchtungen über protektionistische Tendenzen in der brasilianischen Wirtschaftspolitik. Mit der Einigung über die Liberalisierung im Automobilsektor machte Brasilien allerdings 1998 klar, daß es weiter am Liberalisierungskurs und der Vertiefung des Mercosur festhalten will (IRELA 1997: 7 f.; Handelsblatt 1998: 10). Um eine Vertiefung der wechselseitigen Handelsbeziehungen zu ermöglichen, sind im Mercosur zahlreiche Großprojekte zur Verbesserung der Infrastruktur geplant oder bereits im Stadium der Durchführung. Die Investitionen werden zu einem großen Teil in länderübergreifenden Projekten getätigt und
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konzentrieren sich auf die Bereiche Energieversorgung, Wasserstraßen, Schienen- und Straßenverkehr, Luftfahrt sowie Telekommunikation (BID 1997: 127ff; IRELA 1997: 8f). Die wirtschaftliche Integration soll nach dem Willen der Mercosur-Mitgliedsstaaten nicht nur auf den Güterhandel beschränkt bleiben. In diesem Sinne unterzeichneten im Dezember 1997 die Staatspräsidenten ein Protokoll, in dem die Liberalisierung des Dienstleistungsverkehrs zu einer der künftigen Prioriäten erklärt wird. Das Protokoll sieht einen Abbau aller Beschränkungen im Handel mit Dienstleistungen innerhalb von 10 Jahren vor (bfai 1998:7; COTINCO 1998: 3). Kooperation mit Chile und Bolivien Seit Beginn des Integrationsprozesses waren Chile und Bolivien als Beobachter in die Mercosur-Verhandlungen einbezogen. Nach zwei Jahre dauernden Verhandlungen unterzeichnete Chile schließlich im Juni 1996 ein Assoziierungsabkommen mit dem Mercosur, das im Oktober 1996 in Kraft trat. Das Abkommen regelt den wechselseitigen Abbau von Beschränkungen im Handel mit Gütern, Kapital und Dienstleistungen. Ziel ist die Einrichtung einer Freihandelszone bis zum Jahr 2005. Nur für einige landwirtschaftliche Güter Chiles wie Weizen und Reis soll der Anpassungszeitraum über dieses Datum hinausgehen. Der Abbau der Zölle geht nach Produktgruppen unterteilt in unterschiedlichen Schritten voran. Für den größten Teil der zwischen Chile und dem Mercosur gehandelten Produkte erfolgte dabei bereits im ersten Jahr der Gültigkeit des Abkommens eine wechselseitige Senkung der Einfuhrzölle um 40 Prozent. Im Dezember 1996 unterzeichnete auch Bolivien ein Assoziierungsabkommen, das im Februar 1997 gültig wurde. Das Abkommen ist an den Vertrag zwischen Chile und dem Mercosur angelehnt und sieht eine vollständige Liberalisierung des Handels in einem Zeitraum von zehn Jahren vor (BID 1997: 131ff; IRELA 1997: 31f). Da Chile und Bolivien nach Abschluß der Abkommen nicht mehr nur informell, sondern auch vertraglich, politisch und wirtschaftlich eng mit dem Mercosur verbunden sind, soll im folgenden von den vier Kernländem des Mercosur plus Chile und Bolivien auch als „erweiterter" Mercosur gesprochen werden. Zusammenarbeit in weiteren Politikbereichen Auch wenn bislang die größten Fortschritte innerhalb des Mercosur in wirtschaftlichen und handelspolitischen Fragen erreicht werden konnten, soll die Kooperation nicht auf diese Bereiche beschränkt bleiben. Nach dem Willen der Mitgliedsländer soll der Mercosur auch Impulse zur Förderung von Demokratie
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und kulturellem Austausch in der Region sowie zur Kooperation im Umweltschutz und zur Verbesserung der Zusammenarbeit in Sicherheitsfragen geben. In diesem Sinne verabschiedeten die Präsidenten der Mercosur-Staaten sowie Chiles und Boliviens im Juni 1996 eine Deklaration, in der sie ein demokratisches politisches System zur Grundvoraussetzung einer Mitgliedschaft im Mercosur erklärten. Zur Förderung des kulturellen Austauschs wurden Spanisch und Portugiesisch zu offiziellen Landessprachen im Gebiet des Mercosur erklärt und Regelungen getroffen, mit denen durch die wechselseitige Anerkennung von Universitätsabschlüssen die Teilnahme an Post-Graduierten Studiengängen innerhalb des Mercosur erleichtert wird. Mit Blick auf die steigende Bedeutung von Umweltnormen und -Standards im internationalen Handel wurde 1996 eine Arbeitsgruppe eingerichtet, die sich unter anderem mit der Harmonisierung von ökologischen nicht-tarifaren Handelshemmnissen, der Schaffung eines Umwelt-Gütesiegels für im Mercosur hergestellte Produkte und der Untersuchung der Anwendung der internationalen Umweltzertifizierung ISO 14000 beschäftigen sollte. Parallel zum Prozeß der wirtschaftlichen Integration fand eine Annäherung von Argentinien und Brasilien in Sicherheitsfragen statt. Auch Argentinien und Chile streben eine Intensivierung der Zusammenarbeit im militärischen Bereich an (BID 1997: 125f; IRELA 1997: lOf). Wirtschaftliche, soziale und politische Charakteristika der Länder des Mercosur Der Mercosur ist ein Zusammenschluß höchst ungleicher Partner. Sowohl hinsichtlich Bevölkerungszahl und Wirtschaftskraft als auch Wohlstandsniveau und politischer Bedeutung existieren zwischen den Mitgliedsländern große Unterschiede. 1998 lebten in den vier Kernländern des Mercosur zuzüglich der zwei assoziierten Mitglieder Chile und Bolivien mehr als 225 Millionen Menschen, davon jedoch mehr als 2/3 in Brasilien (siehe Abbildung 3). Wenn man die gesamte Wirtschaftsleistung der Länder in Relation zu ihrer Bevölkerungszahl setzt, zeigt sich ebenfalls ein sehr heterogenes Bild. Bezüglich des Pro-Kopf-Einkommens, das einen wichtigen Indikator zur Abschätzung des Wohlstandsniveaus darstellt, lassen sich drei Gruppen von Mitgliedsländern unterscheiden. Argentinien weist 1997 mit Abstand das höchste Pro-Kopf-Einkommen auf. Auf einem deutlich niedrigeren, aber untereinander vergleichbaren Niveau, bewegen sich Brasilien, Chile und Uruguay. Die dritte Gruppe bilden schließlich Paraguay und Bolivien. Das ,.ärmste" Mitgliedsland Bolivien ver-
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Abbildung 3: Die Bevölkerung des Mercosur 1998
Uruguay Bolivien Paraguay 1% 4,% Brasilien 2%\ \ / , 70% Chile 7% Argentinien 16%
Quelle: Dresdner Bank Lateinamerika AG (1998).
Abbildung 4: Pro-Kopf-Einkommen im erweiterten Mercosur 1997 Bolivien Paraguay
1000 1970
Brasilien Chile
BIP/Kopf in US-Dollar 2000
4000
6000
Quelle: Dresdner Bank Lateinamerika AG (1998).
8000
10000
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fügt über weniger als ein 1/6 des Pro-Kopf-Einkommens des „reichsten" Landes Argentinien (siehe Abbildung 4). Beim Vergleich der Pro-Kopf-Einkommen ist allerdings zu beachten, daß diese nur Durchschnittswerte für die einzelnen Länder angeben. In den Ländern des Mercosur ist das Volkseinkommen national in teilweise extremer Form ungleich auf verschiedene Bevölkerungsgruppen oder Regionen verteilt. So weist beispielsweise Brasilien als bevölkerungsreichstes Land des Mercosur die größte Ungleichverteilung des Einkommens in ganz Lateinamerika auf. 10 Prozent der Bevölkerung verfügen über mehr als die Hälfte des Volkseinkommens. Auch regional existieren in Brasilien erhebliche Unterschiede. Während im Süden des Landes in der Region um Säo Paulo Entwicklungsindikatoren wie in Europa erreicht werden, lebt im wirtschaftlich wenig entwickelten Norden der Großteil der Bevölkerung in Armut. Die sozialen Probleme und Ungleichheiten in den einzelnen Ländern sind so stark, daß sie die soziale und politische Legitimation des Integrationsprozesses untergraben und und damit eine Gefahr für die Weiterentwicklung des Mercosur darstellen können (IRELA 1997: 23). Die Unterschiede in den wirtschaftlichen und sozialen Charakteristika der Mitgliedsländer spiegeln sich auch in einer unterschiedlichen Bedeutung des Mercosur als Handelspartner für die einzelnen Länder wider. Während Brasilien und Argentinien aufgrund ihrer relativen Größe 1997 nur 17,4 Prozent bzw. 29,5 Prozent ihres Handelsvolumens (Importe plus Exporte) mit den Vollmitgliedern des Mercosur abwickelten, waren in Paraguay 53,2 Prozent und in Uruguay 46,1 Prozent der Handelsströme auf die Partnerländer gerichtet. Am Außenhandel Chiles und Boliviens hatten die Kernländer des Mercosur einen Anteil von 13,3 Prozent bzw. 44 Prozent (siehe Abbildung 5). Zu den Ungleichgewichten im wirtschaftlichen Bereich kommt noch ein sehr unterschiedliches politisches Gewicht der einzelnen Mercosur-Staaten. Während Brasilien als größtes Land Lateinamerikas in regionalem und internationalem Rahmen als Großmacht anerkannt ist und einen ständigen Sitz im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen anstrebt, ist der politische Einfluß Boliviens, Uruguays oder Paraguays international zu vernachlässigen. Die Bedeutung Argentiniens und Chiles reicht zwar bei weitem nicht an diejenige Brasiliens heran, aber Chile wird immerhin von den USA als erster Kandidat für eine Erweiterung der Nordamerikanischen Freihandelszone NAFTA behandelt, und Argentinien genießt aus militärstrategischen Gründen eine Vorzugsbehandlung durch die USA (IRELA 1997: 11). Neben den vielen Unterschieden weisen die Länder des Mercosur aber auch wichtige Gemeinsamkeiten auf. Dazu zählen die geografische Lage im Süden Lateinamerikas, die — mit Ausnahme Brasiliens — gemeinsame Landessprache Spanisch und das Vorherrschen demokratischer politischer Systeme. Alle Län-
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der verfolgen — zumindest in den Grundzügen — ähnliche wirtschaftspolitische Konzeptionen. Die Ausgestaltung der nationalen Wirtschaftspolitik ist auch für die spätere Bewertung der Effekte der Integration im Mercosur von zentraler Bedeutung und wird deshalb im folgenden Abschnitt ausführlicher erörtert. Abbildung 5: Anteil der vier Kernländer des Mercosur am gesamten Handelsvolumen 1997 Prozent
Paraguay
Uruguay
Bolivien
Argentinien Brasilien
Chile
Quelle: Eigene Berechnungen nach IWF (1998).
Die Wirtschaftspolitik
der
Mitgliedsländer
In Lateinamerika wurden seit den dreißiger Jahren bis Mitte der achtziger Jahre überwiegend binnenorientierte Entwicklungsstrategien verfolgt. Durch protektionistische Maßnahmen und andere staatliche Eingriffe wurde dabei eine Substitution von Importen und eine Stärkung der nationalen Industrien angestrebt. Nach dem offenkundigen Scheitern dieser Strategien dominieren seit Mitte der achtziger Jahre außenorientierte Enwicklungskonzepte. Unter den vier Kemländern des Mercosur und auch den zwei assoziierten Mitgliedern herrschte deshalb von Beginn der Integrationsbemühungen an ein Konsens über die grundsätzliche Ausrichtung der Wirtschaftspolitik. Alle Länder setzten auf eine Außen- und Marktorientierung und hatten deshalb strukturelle Reformen in den
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Bereichen Geldpolitik, Privatisierung und Handelsliberalisierung bereits durchgeführt oder geplant (Edwards 1995: 41 ff). Die Fortschritte beim Abbau der Handelsbeschränkungen werden u. a. bei einem Vergleich der durchschnittlichen Importzollsätze zwischen 1985 und 1991/1992 deutlich. In allen sechs Ländern des erweiterten Mercosur wurden in diesem Zeitraum die Zölle erheblich reduziert (siehe Abbildung 6). Die drastischsten Senkungen nahm Brasilien mit fast sechzig Prozentpunkten vor. Die wesentlichen Reformmaßnahmen in Brasilien wurden dabei 1988 und in Argentinien 1987 eingeleitet. Begleitet waren die Senkungen der Importzölle in allen Ländern von einer weitgehenden Abschaffung nicht-tarifärer Handelsbeschränkungen (Edwards 1995: 126; Leipziger et al. 1997: 587). Abbildung 6: Durchschnittlicher ungewichteter Importzoll, 1985 und 1991/1992
11985 11991/1992
Uruguay
Paraguay
Brasilien
Argentinien
Chile
Bolivien
Quelle: Edwards (1995: 126). Der Erfolg der durchgeführten Stabilisierungprogramme zeigt sich besonders in den nationalen Inflationsraten. Wurden in Brasilien und Argentinien noch Anfang der neunziger Jahre vierstellige Preissteigerungsraten erreicht, lag die Inflation 1997 in allen Ländern des erweiterten Mercosur, mit Ausnahme Uruguays, unter 10 Prozent (Dresdner Bank Lateinamerika AG 1998: 141). Bereits bis 1992 wurde eine erhebliche Anzahl staatlicher Unternehmen in den Mitgliedsländern des Mercosur privatisiert. Während Chile den größten
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Teil der Privatisierungen bereits in den siebziger Jahren durchführte, begannen Argentinien und Brasilien in den achtziger Jahren mit entsprechenden Programmen. Die Anzahl der bis 1992 privatisierten Unternehmen entsprach in Chile 96 Prozent der gesamten in staatlichem Besitz befindlichen Firmen, in Argentinien 15 Prozent und in Brasilien 6 Prozent (Edwards 1995: 170ff). Auch nach 1992 wurden die Privatisierungsprogramme fortgesetzt. Trotz fehlender Unterstützung durch Opposition und Öffentlichkeit setzte die brasilianische Regierung 1995 eine Reihe von Verfassungsreformen durch, um zahlreiche Staatsmonopole beseitigen zu können und die Diskriminierung ausländischen Kapitals zu beenden. Im Februar 1995 wurde das sogenannte Konzessions-Gesetz (Lei das Concessoes) verabschiedet. Ziel des Gesetzes war die Schaffung attraktiver Investitionsmöglichkeiten für private Anleger in den Bereichen Telekommunikation, Transport, Energie, Straßenbau, Häfen und Flughäfen, Gesundheitsdienste und Wasserversorgung. Während Brasilien die Maßnahmen schrittweise und relativ langsam umsetzte, trieb Argentinien den Verkauf von Staatsunternehmen energisch voran. Mit Unterstützung der Weltbank und der Interamerikanischen Entwicklungsbank (BID) richtete die Regierung einen Fonds zur Regionalentwicklung ein, der den Verkauf von staatlichen Unternehmen und Regionalbanken beschleunigen soll. Die hohen sozialen Kosten der Privatisierungsmaßnahmen in Verbindung mit den weiteren Strukturanpassungsmaßnahmen lösten in Argentinien landesweit Proteste der Bevölkerung aus und führten in mehreren Provinzen zu ernstzunehmenden sozialen Unruhen. In Paraguay kamen Privatisierungsmaßnahmen wegen fehlenden politischen Konsenses nur schleppend voran. In Uruguay erklärte die Regierung den Privatisierungsprozeß nach einer landesweiten Volksabstimmung im Dezember 1992 für vorläufig abgeschlossen. Bis 1995 erzielte Argentinien 18,4 Milliarden und Brasilien 13,4 Milliarden US-Dollar Einnahmen durch den Unternehmensverkauf. Zwischen 1997 und 2000 erwartet das brasilianische Planungsministerium weitere Einnahmen aus Privatisierungsmaßnahmen in Höhe von 73 Milliarden US-Dollar. Dies übertrifft bei weitem das Volumen von 51,5 Milliarden US-Dollar, das durch sämtliche Privatisierungen in den restlichen Ländern Lateinamerikas zwischen 1990 und 1997 erreicht wurde (IRELA 1997: 19ff).
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Auswirkungen der regionalen Integration auf den Außenhandel Seit der Gründung des Mercosur läßt sich eine deutliche Umorientierung der regionalen Handelsströme feststellen.2 Die rasante Entwickung des intraregionalen Handels ist dabei einer der auffälligsten Aspekte der Integration im Mercosur. Von 1990 bis 1997 nahmen die Exporte innerhalb des Mercosur um mehr als 400 Prozent zu. Im selben Zeitraum expandierte der Handel mit dem Rest der Welt um 46 Prozent. Damit betrug das Wachstum der Exporte innerhalb des Mercosur mehr als das achtfache des Wachstums der Exporte an den Rest der Welt. Im Zuge dieser Entwicklung erhöhte sich bis 1997 der Anteil der intraregionalen Exporte des Mercosur an seinen Gesamtexporten von 9 Prozent im Jahr 1990 auf 25 Prozent im Jahr 1997 (siehe Abbildung 7 und Abbildung 8). Abbildung 7: Entwicklung der Exporte des Mercosur, 1990-1997 (Index: 1990 = 100)
Quelle: Eigene Berechnungen nach IWF (versch. Jahrgänge).
2 Die Untersuchung der Auswirkungen der regionalen Integration erfolgt nur für die vier Gründungsmitglieder des Mercosur. Wegen der erst kürzlich zurückliegenden Assoziierung Chiles und Boliviens lassen sich für diese Länder noch keine sinnvollen Ergebnisse ableiten.
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Abbildung 8: Anteil der intraregionalen Exporte des Mercosur an den Gesamtexporten, 19901997
1990
1991
1992
1993
1994
1995
1996
1997
Quelle: Eigene Berechnungen nach IWF (1998). Trotz des starken Wachstums des intraregionalen Handels bleibt die Intensität der Handelsverflechtungen innerhalb des Mercosur im Vergleich mit der Europäischen Union gering. Die sechs Gründungsmitglieder der Europäischen Gemeinschaft handelten bereits 1960 etwa 33 Prozent ihrer Exporte intraregional (Leipziger 1997: 587). Die vier Mitglieder des Mercosur kamen 1990 auf einen Anteil von nur 11 Prozent. Auch nach sechs Jahren Abbau von Handelsbeschränkungen liegt der Anteil des intraregionalen Handels im Mercosur mit 25 Prozent noch unterhalb des Ausgangsniveaus in Europa. 1997 betrag der Anteil des intraregionalen Handels am Gesamthandel der Europäischen Union sogar 60 Prozent. Parallel zum Anstieg der Exporte der Mercosur-Länder ist es auch zu einem Wachstum der Importe aus dem Rest der Welt gekommen. Von 1990 bis 1997 stiegen diese Importe um mehr als 200 Prozent (siehe Abbildung 9). Dieser Anstieg liegt um über 150 Prozentpunkte über dem Wachstum der Exporte des Mercosur in den Rest der Welt. Nach einer Untersuchung von Yeats ist der starke Anstieg des intraregionalen Handels im Mercosur vor allem auf eine dynamische Entwicklung der Exporte kapitalintensiver Industriegüter zurückzuführen (Yeats 1997). Die Exporte dieser Güter innerhalb des Mercosur wuchsen zwischen 1988 und 1994 stärker als die Exporte aller anderen Produktbereiche. Yeats argumentiert, daß die Mitgliedsländer des Mercosur im internationalen Vergleich komparative
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Kostennachteile in der Produktion kapitalintensiver Güter aufweisen. Außerdem stellt er fest, daß die am schnellsten wachsenden Bereiche besonders stark durch Importzölle geschützt sind. Seit 1991 sind durch den Abbau der internen Handelsbeschränkungen in diesen Bereichen deutliche Zoll-Präferenzen für die Mitglieder des Mercosur entstanden. Für die erheblichen Veränderungen der Struktur des Außenhandels im Mercosur zwischen 1988 und 1994 macht Yeats folglich die Handelspolitik der Mitgliedsstaaten und insbesondere den Abbau von internen Handelsbeschränkungen, durch den Nicht-Mitglieder diskriminiert werden, verantwortlich (Yeats 1997: 15f und 28f). Abbildung 9: Entwicklung der Importe des Mercosur aus dem Rest der Welt, 1990-1997 (Index: 1990 = 100)
Quelle: Eigene Berechnungen nach IWF (1998). Da die regionalen Präferenzen insbesondere den Handel mit Gütern gefördert haben, bei denen die Mercosur-Staaten keine komparativen Kostenvorteile aufweisen, bewertet Yeats die Veränderung der Handelsstrukturen durch die Schaffung des Mercosur als negativ sowohl für die Mitgliedsländer als auch für den Rest der Welt (Yeats 1997: 30). Aus theoretischer Sicht ist es allerdings auch möglich, den Zollschutz für kapitalintensive Güter im Mercosur als neue Form einer „infant-industry"Politik zu interpretieren (Dieckheuer 1995: 456ff). Danach würden als strategisch wichtig bewertete Wirtschaftsbereiche zwar dem regionalen Wettbewerb
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ausgesetzt, aber weiterhin in Form eines „Erziehungsschutzes" vor der Konkurrenz aus den Industrienationen Nordamerikas, Asiens und Europas abgeschirmt. An einer solchen Politik kann kritisiert werden, daß sie damit bewußt Wohlfahrtsverluste in Kauf nimmt. Eine Untersuchung über den in Argentinien und Brasilien stark geschützten Automobilsektor kam beispielsweise zu dem Ergebnis, daß die Qualität der im Mercosur produzierten Autos schlechter ist und die Preise höher liegen als in Märkten außerhalb des Mercosur. Mögliche positive externe Effekte der Automobilproduktion wurden als gering eingestuft (Yeats 1997: 30f). Hiergegen kann allerdings angeführt werden, daß eine auf regionaler Ebene durchgeführte „infant-industry"-Politik immerhin einen Fortschritt gegenüber einer vergleichbaren rein nationalen Politik darstellt, wenn durch den regionalen Zollabbau der Wettbewerbsdruck im betreffenden Sektor steigt. Voraussetzung für das Eintreten positiver Effekte einer solchen Politik ist allerdings, daß die Erhöhung des internen regionalen Wettbewerbsdrucks nicht durch eine Verringerung des externen Drucks kompensiert wird, etwa in Form einer Steigerung der Importzölle für konkurrierende Güter aus Nicht-Mitgliedsstaaten. Anders als Yeats schätzen Leipziger et al. die Gefahr einer übermäßigen Anwendung industriepolitischer Maßnahmen als gering ein. In einer Untersuchung der Politiken in Argentinien und Brasilien kommen sie zu dem Ergebnis, daß die Industriepolitik in beiden Ländern nur schwach ausgeprägt ist. Als Felder, in denen industriepolitische Maßnahmen in erster Linie angewendet werden, machen die Autoren die Exportförderung, die regionale Entwicklungspolitik (insbesondere in Brasilien) und den Automobilsektor aus (Leipziger et al. 1997: 597ff). Bei der Interpretation der starken Veränderungen der Handelsstrukturen innerhalb des Mercosur ist zu beachten, daß sie nicht automatisch als Folge des Zollabbaus im Zuge des regionalen Integrationsprozesses betrachtet werden können. Vielmehr müssen auch die umfangreichen Liberalisierungsmaßnahmen berücksichtigt werden, die die Mitgliedsstaaten des Mercosur bereits vor 1991 durchführten. Die Auswirkungen des vor 1991 auf Basis des „most favoured nations"-Prinzips vorgenommenen Abbaus von Handelsbeschränkungen und der Auswirkungen der präferentiellen und Nicht-Mitglieder diskriminierenden Zollsenkungen im Rahmen des Mercosur nach 1991 lassen sich weder theoretisch-analytisch isolieren noch empirisch gesondert erfassen. Aussagen zu den handelsschaffenden und handelsumlenkenden Effekten der Errichtung der Zollunion bleiben deshalb zwangsläufig vage (Yeats 1997: 29f). Der massive Anstieg des intraregionalen Handels im Mercosur in Verbindung mit dem gleichzeitigen Anstieg der Importe aus dem Rest der Welt deutet daraufhin, daß der Prozeß der regionalen Integration zu einer Handelsschaffung
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geführt hat. Die Untersuchung von Yeats legt hingegen nahe, daß es im Bereich kapitalintensiver Güter zu einer Handelsumlenkung gekommen ist. Der präferentielle Zollabbau im Mercosur dürfte einerseits positive Wohlfahrtseffekte durch die Schaffung von Außenhandel und die Vertiefung der internationalen Verflechtung der Mercosur-Staaten bewirkt haben. Andererseits sind aber auch negative Effekte zu vermuten, die aus der Diskriminierung von Nicht-Mitgliedsstaaten im Zuge der Zollunion resultieren. Die meisten empirischen Untersuchungen kommen jedoch zu dem Ergebnis, daß der Effekt der Handelsschaffung stärker als der Effekt der Handelsumlenkung ausfällt (Leipziger et al. 1997: 590). Aus der existierenden Diskriminierung von Nicht-Mitgliedern kann allerdings nicht abgeleitet werden, der Mercosur entwickele sich zu einer nach innen offenen, aber nach außen abgeschotteten „Festung". Gegen die These von der „Festung Mercosur" spricht zum einen das ausdrückliche Bekenntnis der Mitgliedsstaaten zu einem „offenen Regionalismus" und die feststellbar geringe Neigung zum Einsatz industriepolitischer Maßnahmen. Die Glaubwürdigkeit dieses Bekenntnisses wird durch den drastischen unilateralen Abbau von Handelsbeschränkungen und ebenso durch die konsequenten Liberalisierungsschritte im Rahmen der Errichtung der Zollunion unterstützt. Der gemeinsame Außenzoll des Mercosur lag bis 1997 mit durchschnittlich 11,3 Prozent deutlich unterhalb der nationalen Zollsätze von 1990, die im Durchschnitt 30 Prozent betrugen, und ist für 85 Prozent der Importe gültig. Der durchschnittliche Außenzoll liegt zudem nur wenig oberhalb des vielfach als beispielhaft niedrig gelobten chilenischen Einheitszollsatzes von 11 Prozent. Nicht zuletzt ist es auch seit 1990 zu einem Anstieg der Importe aus dem Rest der Welt gekommen (IRELA 1997: 8). Die Erhöhung des gemeinsamen Mercosur-Außenzolles im Jahr 1997 stellt vor diesem Hintergrund kein Abweichen von der Strategie des „offenen Regionalismus" dar, sondern ist als punktuelle Maßnahme zur Bewältigung der Auswirkungen der Asienkrise zu bewerten. Auswirkungen auf die
Direktinvestitionen
Seit 1990 ist es zu einem starken Anstieg der ausländischen Direktinvestitionen in die Länder des Mercosur gekommen. Der Mercosur hat sich dabei zu einem der attraktivsten Investitionsstandorte des Kontinents entwickelt. 1996 flössen 35 Prozent der weltweiten ausländischen Direktinvestitionen nach Lateinamerika. Die Direktinvestitionen aus Europa, den USA und Japan nahmen zwischen 1990 und 1995 um mehr als 300 Prozent zu und erreichten in diesem Zeitraum ein Gesamtvolumen von 30,8 Milliarden US-Dollar (siehe Abbildung 10).
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Abbildung 10: Ausländische Direktinvestitionen aus Europa, Japan und USA in den Mercosur, 1990-1995
8000 -
6000 -
5074 3968
4000 -
^m
6265 H
•
l l l l l 2502
2638
H
H
1990
1991
1992
1993
H
1994
1995
Quelle: IRELA (1997), S. 54.
Parallel zum Anstieg der gesamten Investitionstätigkeit in der Region wuchsen auch die intraregionalen Direktinvestitionen. Brasilien investierte 1991 nur 180 Millionen US-Dollar in den anderen Staaten des Mercosur, 1995 aber bereits 349 Millionen US-Dollar. Der größte Anteil richtete sich dabei auf Argentinien. Sehr dynamisch entwickelten sich auch die Investitionen von Argentinien in Brasilien. Von 36 Millionen US-Dollar im Jahr 1996 verzehnfachte sich das Investitionsvolumen auf fast 247 Millionen US-Dollar im Jahr 1995 (BID 1997: 112).
Die attraktivsten Bereiche für ausländische Investoren waren in den neunziger Jahren der Automobilsektor sowie die Sektoren Getränke, Chemikalien, Lebensmittel und Papier. Die größte Dynamik weist dabei der Automobilsektor auf, für den zwischen 1996 und 2000 Direktinvestitionen in Höhe von mehr als 18 Milliarden US-Dollar erwartet werden. Weitere Wachstumsbereiche sind Tourismus sowie Bank- und Finanzdienstleistungen (IRELA 1997: 18). Die rasante Entwicklung der ausländischen Direktinvestitionen ist allerdings nur zu einem geringen Teil der Handelsliberalisierung im Mercosur zuzuschreiben. Als wichtigste Faktoren müssen vielmehr besonders die umfangreichen nationalen Privatisierungsmaßnahmen sowie die Strukturanpassungsreformen, die zu wirtschaftlicher Stabilisierung und Wachstum in den neunziger Jahren geführt hatten, angesehen werden. Daneben spielten Investitionsvorhaben, die speziell zur Ausnutzung der Vorteile der Zollunion realisiert wurden, nur eine
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untergeordnete Rolle. Beispiele für Direktinvestitionen, die insbesondere durch die Gründung der Mercosur bewirkt wurden, lassen sich im Nahrungsmittelsektor Argentiniens und Uruguays sowie in der Petrochemie finden (BID 1997: llOf; COTINCO 1998: 3). Zusammenfassung
Der Mercosur wurde 1991 mit der Unterzeichnung des Vertrages von Asunción durch die vier Mitgliedsstaaten Argentinien, Brasilien, Paraguay und Uruguay gegründet. Auf dem Weg zum Ziel des Mercosur, der Schaffung eines Gemeinsamen Marktes bis zum Jahre 2006, haben die Mitgliedsländer in raschem Tempo Handelsbeschränkungen abgebaut und damit 1993 bereits den Status einer Zollunion erreicht. Die Integration im Mercosur soll nach dem Willen der Mitgliedsstaaten dem Konzept des „offenen Regionalismus" folgen, womit sowohl eine Intensivierung der Verflechtungen innerhalb des Integrationsblockes als auch eine verstärkte Einbindung der Länder des Blockes in die Weltwirtschaft verbunden ist. Die institutionelle Struktur des Mercosur ist bislang flexibel und unbürokratisch gestaltet. Sie besteht überwiegend aus interministeriellen Gremien, in denen die Staatspräsidenten und Außenminister den stärksten Einfluß ausüben. Neben der Liberalisierung des Außenhandels streben die Staaten des Mercosur auch eine engere Zusammenarbeit auf weiteren Gebieten an. Erste, allerdings noch nicht besonders weitreichende Schritte wurden dazu bereits in den Bereichen Demokratieförderung, Kulturaustausch, Umweltschutzkooperation und militärische Sicherheit gemacht. Seit 1996 sind Chile und Bolivien assoziierte Mitglieder des Mercosur. Mit weiteren lateinamerikanischen Staaten sowie der NAFTA und der Europäischen Union bestehen Verhandlungen über Maßnahmen zum wechselseitigen Abbau von Handelsbeschränkungen. Die Mitgliedsländer des Mercosur zeichnen sich durch eine große Heterogenität aus. Dominiert wird der Integrationsprozeß von den wirtschaftlich und politisch mit Abstand bedeutendsten Ländern Argentinien und Brasilien. Gemeinsam ist den Ländern des Mercosur insbesondere die grundlegende Ausrichtung ihrer Wirtschaftspolitik auf Außenöffnung, Stabilisierung und Privatisierung. Seit Mitte der achtziger Jahre sind in allen Mitgliedsländern tiefgreifende Reformmaßnahmen in diese Richtung durchgeführt worden. In den Jahren seit Beginn des Integrationsprozesses hat sich die Struktur des Außenhandels der Länder des Mercosur grundlegend verändert. Am auffälligsten ist dabei der starke Anstieg des intraregionalen Handels. Trotz einer Zunahme des Außenhandels mit dem Rest der Welt ist der Anteil des intraregionalen Handels am gesamten Außenhandel des Mercosur seit 1990 stetig ge-
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wachsen. Eine exakte Bewertung des Einflusses der Zollunions-Bildung auf diese Entwicklung ist schwierig, da bereits vor 1991 umfangreiche Reformen der Handelspolitik der Mitgliedsländer des Mercosur stattfanden. Die Effekte dieser auf Basis des „most-favoured-nations"-Prinzips vorgenommenen Liberalisierungsmaßnahmen sind analytisch kaum von den Effekten des präferentiellen Zollabbaus innerhalb der Zollunion zu trennen. Die Entwicklung des Außenhandels legt allerdings nahe, daß es im Zusammenhang mit der Integration im Mercosur sowohl zu handelsschaffenden als auch zu handelsumlenkenden Effekten gekommen ist. Trotz der Handelsumlenkung von Drittländern auf Mitglieder der Zollunion, insbesondere im Bereich kapitalintensiver Industriegüter, sind die Gefahren der Entwicklung zu einer „Festung Mercosur" als gering einzustufen. Zum einen liegt der durchschnittliche gemeinsame Außenzoll des Mercosur deutlich unterhalb der durchschnittlichen nationalen Zollsätze von 1990. Zum anderen ist das Ausmaß der gegenüber dem Ausland protektionistisch wirkenden Industriepolitik in den Ländern des Mercosur sehr begrenzt. Vor diesem Hintergrund ist das Bekenntnis der Mercosur-Mitglieder zu einem „offenen Regionalismus" durchaus glaubwürdig. Neben den starken Veränderungen der Außenhandelsstruktur stellt der schnelle Anstieg ausländischer Direktinvestitionen in den Mercosur die zweite bemerkenswerte Tendenz seit Anfang der neunziger Jahre dar. Die zunehmende Attraktivität als Investitionsstandort ist dabei in erster Linie den seit Mitte der achtziger Jahre vorangetriebenen nationalen Strukturanpassungsreformen und darunter insbesondere den umfangreichen Privatisierungsmaßnahmen zuzuschreiben. Die Bedeutung der regionalen Integration als Investitionsanreiz war demgegenüber bislang eher gering. Trotz der unverkennbaren wirtschaftlichen und auch politisch-gesellschaftlichen Vorzüge der ökonomischen Integration durch Mercosur läßt sich derzeit noch nicht abschätzen, ob dieses Modell langfristig Bestand haben und letztlich so erfolgreich sein wird wie die Integration in Europa. Problematisch im Mercosur sind die höchst unterschiedlichen politischen Gewichte und ökonomischen Kräfte- und Entwicklungsverhältnisse. Das birgt die Gefahr von Dominanzstreben eines einzelnen großen Mitgliedslandes sowie die schnelle Transmission von Wirtschaftsproblemen des großen Partners auf den gesamten Mercosur in sich. Vor diesem Hintergrund ist die Krise in Brasilien eine Bewährungsprobe auch für den Mercosur insgesamt.
.Festung Mercosur"?
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Die Beziehungen zwischen der Europäischen Union und Mittelamerika (1984-1998) RICARDO LAGOS ANDINO
Die Zusammenarbeit zwischen der Europäischen Union (EU) und Zentralamerika hat sich zu einem bedeutenden Beispiel für internationale Beziehungen zwischen zwei Regionen und dem Nord-Süd-Dialog entfaltet. Seit 1984 haben vierzehn Außenministerkonferenzen des San Jos6-Prozesses stattgefunden. Bei zahlreichen Sitzungen des Europäischen Parlaments und von nationalen Parlamenten vieler europäischer Staaten wurde in den letzten 20 Jahren die Lage in dieser Region oft behandelt. Viele Partnerschaften existieren zwischen Städten beider Regionen und unzählige Nichtregierungsorganisationen unterstützen Projekte in Mittelamerika. Während des Krieges gegen die Diktatur von Anastacio Somoza in den 70er Jahren in Nikaragua und der bis in die 90er Jahre andauernden bewaffneten Konflikte in El Salvador und Guatemala spielte Zentralamerika eine besondere Rolle bei der Gestaltung einer gemeinsamen EU-Außenpolitik. Sehr wichtig war für die EU die Unterstützung der Friedensverhandlungen von Esquipulas zwischen 1987 und 1990 sowie der Demokratisierungsprozesse der 90er Jahre. Der Hurrikan Mitch verursachte Ende Oktober — Anfang November 1998 große Zerstörungen in Mittelamerika. Eine starke Solidarisierung mit den Opfern zeigten das Europäische Parlament, die Kommission und der Ministerrat für Entwicklungspolitik, nationale Regierungen, Parlamente — darunter auch der Bundestag —, Hilfsorganisationen und Kirchen. Eine der größten Hilfsaktionen für Mittelamerika wurde angekündigt. Die Beweggründe sind politischer und entwicklungspolitischer Natur. Die EU hat in dieser Region keine besonderen Handels- und Investitionsinteressen. Geopolitisch und militärisch spielt Mittelamerika keine Rolle für Europa. Seit 1984 betreiben die EU und die Mitgliedsstaaten eine erfolgreiche Mittelamerikapolitik auf den Gebieten des politischen Dialogs, der wirtschaftlichen Beziehungen und der entwicklungspolitischen Kooperation. Frieden, Demokratie und Menschenrechte wurden gemeinsam mit internationalen und nationalen Akteuren mit guten Ergebnissen gefördert. Die einzige polemische Komponente in den Beziehungen zu Mittelamerika ist die EU-Bananenmarktordnung. Inzwischen ist die EU für die Länder Zentralamerikas weltweit der wichtigste ent-
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wicklungspolitische Kooperationspartner und der zweitwichtigste Absatzmarkt. Die Direktinvestitionen aus der EU stehen nach den USA an zweiter Stelle. Krisengebiet
Zentralamerika
Die Ursachen der mittelamerikanischen Krise in den 70er und 80er Jahren sind im Zusammenspiel unterschiedlicher interner und externer Faktoren zu finden. Auf der politischen Ebene sind in erster Linie diktatorische Herrschaftsverhältnisse, Korruption und schwere Menschenrechtsverletzungen — mit Ausnahme von Costa Rica — zu nennen. Auf der sozioökonomischen Ebene sind besonders die ungerechte soziale Lage, die große Armut unter der Bevölkerung, die Konzentration von Reichtum und Boden in den Händen weniger, die wirtschaftliche Abhängigkeit von einer kleinen Anzahl von Exportprodukten, deren Preisschwankungen auf dem Weltmarkt für wirtschaftliche Instabilität sorgen, hervorzuheben. Die Krise wurde durch den Ost-West-Konflikt, die Anwendung der Doktrin der Nationalen Sicherheit seitens der USA, die direkte und indirekte ausländische militärische Präsenz sowie Waffenlieferungen aus den USA und dem ehemaligen Ostblock verschärft. Nach dem Ende des Kalten Krieges ist Mittelamerika sicherheitspolitisch von geringerer Bedeutung. Mit der Beendigung der bewaffneten Auseinandersetzungen in allen Ländern Zentralamerikas konnten auf der Grundlage der Friedensabkommen in den verschiedenen Ländern Demokratisierungsprozesse in Gang gesetzt werden. Gegenwärtig sind für die USA drei Themen in den Beziehungen zu Zentralamerika besonders wichtig: Migration, Drogenhandel und Umwelt. Nachhaltige Entwicklung wäre der beste Weg, diese Probleme zu lösen. Hierin begründen sich neben den humanitären Erwägungen die großzügigen Hilfsprogramme der USA und Mexikos nach dem Wirbelsturm Mitch. Darüber hinaus verfügen Exportprodukte aus Mittelamerika seit Jahren über umfangreiche Präferenzen seitens der USA. Mexiko verhandelt zur Zeit mit Guatemala, Honduras und El Salvador über ein Freihandelsabkommen. Ein Abkommen dieser Art besteht bereits mit Costa Rica und Nikaragua. In den 90er Jahren hat sich die politische Lage in Zentralamerika durch einen Demokratisierungsprozeß relativ normalisiert. Die gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen oligarchischen und revolutionären Kräften zur Durchsetzung eines mehr westlichen oder mehr sozialistischen Systems existieren nicht mehr. Die EU, die USA und die Regierungen der Region verfolgen ähnliche Ziele bei der Konsolidierung der Demokratisierung, dem Wiederaufbau, der wirtschaftlichen Integration und der internationalen Öffnung der Märkte (Matutes 1992: 22). Es existieren natürlich verschiedene Konzeptionen und eine unterschiedliche Intensität bei der Umsetzung dieser Ziele. In der Gegenwart
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werden hauptsächlich auf der einen Seite modernisierende und neoliberale Tendenzen und auf der anderen Seite eine soziale marktwirtschaftliche Orientierung durch rivalisierende politische Parteien sowie wirtschaftliche und soziale Gruppen vertreten. Die sechs Staaten Mittelamerikas (Guatemala, El Salvador, Honduras, Nikaragua, Costa Rica und Panama) haben knapp über 30 Millionen Einwohner bei einer Gesamtfläche von etwa 488.000 Quadratkilometer. Große Probleme sind weiterhin die weitverbreitete Armut, die etwa 60% der Bevölkerung umfaßt, die Auslandsverschuldung, die 1997 bei einem BIP von 39 Mrd. US-Dollar 25 Mrd. US-Dollar erreichte (IRELA 1998) sowie die Abhängigkeit von wenigen landwirtschaftlichen Exportprodukten wie Bananen, Kaffee, Zucker und Baumwolle. Die Kriege und Naturkatastrophen der letzten Jahrzehnte bedeuteten für Mittelamerika große Verluste an Menschenleben, Infrastruktur und Produktion. Die Zahl der Toten während der Konflikte belief sich auf 250 000 Menschen. Die Zahl der Flüchtlinge wurde auf 2 Millionen geschätzt. Die materiellen Verluste machten 5 Mrd. US-Dollar aus, was dem jährlichen BIP von Costa Rica oder Honduras entsprach (IRELA 1992: 2; 1994: 66-67). Nach vorläufigen Angaben des Internationalen Roten Kreuzes gab es durch den Hurrikan Mitch in Zentralamerika ca. 11.000 Tote, 15.000 Vermißte und mehr als 10.000 Verletzte. Zwei Millionen Menschen verloren ihre Unterkunft oder mußten evakuiert werden (La Prensa 1998). Die materiellen Verluste in der Region werden von der Kommission der Vereinten Nationen für Lateinamerika (CEPAL) auf ca. 5 Mrd. US-Dollar beziffert, was dem Regierungshaushalt von Honduras für 4 Jahre oder 15% des BIP Mittelamerikas entspricht (1998). Nach Regierungsangaben wurden allein in Honduras 93 Brücken zerstört bzw. stark beschädigt. Das Land verlor 70% der landwirtschaftlichen Produktion. 50% der Verbindungsstraßen waren lange Zeit durch Überschwemmung und Erdrutsche unpassierbar (La Tribuna 1998; Tiempo 1998). Politischer Dialog und
Entwicklungszusammenarbeit
Unter deutscher Präsidentschaft wurde vom Europäischen Rat im Juni 1983 eine Stellungnahme über die Lage in Mittelamerika verabschiedet, die den Ausgangspunkt der gemeinsamen EU-Mittelamerikapolitik bildete. In der EU wurde die Auffassung vertreten, daß die Konflikte in Zentralamerika bei direkten Friedensverhandlungen zwischen den mittelamerikanischen Regierungen und unter Respektierung der Prinzipien der Souveränität und Nichteinmischung mit Unterstützung der internationalen Gemeinschaft politisch zu lösen seien (Genscher 1996: IX). Somit begünstigte die Position der EU die Friedens-
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bemühungen der ehemaligen Contadora-Gruppe (Kolumbien, Venezuela, Panama und Mexiko). Die damalige US-Regierung unter Ronald Reagan setzte auf die Contras und die Streitkräfte in Mittelamerika, während die ehemalige Sowjetunion und Kuba die sandinistische Regierung in Nikaragua und die Guerrillas in den anderen Ländern unterstützten (Heymer 1996: 4). Heinrich Kreft vom Auswärtigem Amt (Kreft 1996) vermerkt zur Rolle der EU: „Der Zentralamerika-Konflikt bot aber auch den Europäern die Chance einer Wiederannäherung an Lateinamerika, denn durch den Falkland/MalvinasKonflikt ... waren die Beziehungen zu Lateinamerika auf einen Tiefpunkt gesunken". Er fügt hinzu, daß die zentralamerikanische Krise der EU eine Gelegenheit böte, sich auf der Weltbühne politisch zu profilieren (Kreft 1996: 4). Die starke Solidarisierung in den europäischen Ländern mit den antidiktatorischen Kräften in Mittelamerika stellte eine politische Komponente für Regierungen und Parlamente in Europa dar. Die politischen Beziehungen zwischen der EU und Mittelamerika sind im Rahmen des San José-Dialogs im Laufe der letzten 14 Jahre vertieft worden. Jährliche Außenministerkonferenzen fanden abwechselnd in Mittelamerika und Europa statt. Die erste Konferenz war am 28. September 1984 in San José, der Hauptstadt Costa Ricas. Dieser Dialog wurde mit der Unterzeichnung des Kooperationsabkommens am 12. November 1985 institutionalisiert. In der ersten Phase der Beziehungen stand für die EU die Unterstützung des Friedensprozesses von Esquipulas im Vordergrund (IRELA 1994: 7; 1995: 3). Die Friedensverhandlungen begannen 1986 in der Stadt Esquipulas, Guatemala. Im Jahre 1987 wurde von den 5 mittelamerikanischen Präsidenten ein Friedensplan vorgelegt. (Gomäriz 1988: 355). Die freien Wahlen in Nikaragua im Jahr 1990 und die Unterzeichnung der Friedensverträge in El Salvador 1992 und in Guatemala 1997 beendeten jeweils die Bürgerkriege in Mittelamerika. Die zweite Phase des San José-Dialogs setzte den Schwerpunkt auf die entwicklungspolitische Zusammenarbeit. Es wird geschätzt, daß Mittelamerika die höchste Entwicklungshilfe pro Kopf der Bevölkerung aus der EU und den Mitgliedsstaaten bezieht. Die multilaterale Kooperation der EU betrug 40 Mio. ECU im jährlichen Durchschnitt zwischen 1979 und 1985. Sie ist auf 100 Mio. ECU zwischen 1988 und 1991 und 150 Mio. ECU im Jahr 1992 gestiegen. Die bilaterale Entwicklungshilfe erhöhte sich von 70 Mio. US-Dollar im Jahre 1980 auf 330 Mio. im Jahre 1990. Zwischen 1992 und 1996 erhielt Mittelamerika 6,69 Mrd. US-Dollar an offizieller Entwicklungshilfe. Aus der EU und den Mitgliedsstaaten kamen 3,39 Mrd. (50,7%), aus den USA 1,76 Milliarde (26,4%) und aus Japan 1 Mrd. (16,3%) (IRELA 1994: 8; 1998). Der politische Dialog und die Entwicklungszusammenarbeit brachten verschiedene Formen des institutionellen Austausches mit sich. Eine gemischte
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Kommission und mehrere Subkommissionen begleiteten den San José-ProzeB und die verschiedenen Programme der EU in Mittelamerika. In Zukunft sollen auch die Unternehmer und gesellschaftlichen Organisationen mitberücksichtigt werden. Das Europäische Parlament und das Mittelamerikaparlament unterhalten seit Anfang der 90er Jahre einen regen Austausch. Die interparlamentarischen Beziehungen wurden durch die gemeinsame Erklärung vom 25. Juni 1997 institutionalisiert. Wirtschaftliche
Beziehungen
Mit der Unterzeichnung des neuen Kooperationsabkommens am 23. Februar 1993 in San Salvador während der VIII. San José-Konferenz wurde die dritte Phase mit dem Schwerpunkt auf den wirtschaftlichen Beziehungen eingeleitet. Es handelt sich um einen Kooperationsvertrag der dritten Generation, der Mechanismen und Programme zur Verstärkung des Handels, der wirtschaftlichen Entwicklung und der Vergabe von Krediten durch die Europäische Investitionsbank sowie zur Vertiefung der Demokratisierungsprozesse und der entwicklungspolitischen Unterstützung beinhaltet. Die Instrumente sind im Laufe der letzten 5 Ministerkonferenzen noch erweitert worden. Die letzte Konferenz dieser Art tagte am 10. Februar 1998 in San José. Als Prioritäten galten in den letzten Jahren die mittelamerikanische Wirtschaftsintegration, die Ausweitung der Handelspräferenzen, die Modernisierung des Staates und die Verstärkung des Rechtsstaates (Panorama Centroamericano 1998). Zwischen 1992 und 1996 sind die Ausfuhren aus Mittelamerika in die EU jährlich um durchschnittlich 25% gestiegen, nämlich von 1,1 Mrd. US-Dollar im Jahr 1992 auf 2,7 Mrd im Jahre 1996. Von den Gesamtexporten Mittelamerikas gingen 25,9% in die EU, die der zweitwichtigste Absatzmarkt für Zentralamerika ist. Im Jahre 1996 erhielt Deutschland 34% der für die EU bestimmten Exporte. Die USA sind mit 43,4% der Gesamtausfuhren der wichtigste Markt für zentralamerikanische Produkte (IRELA 1998). Mit Ausnahme der Bananen bestehen seit dem 1. Januar 1992 für Agrarexporte aus Mittelamerika in die EU besondere Präferenzen, was die Ausweitung der Ausfuhren nach Europa begünstigt hat. Diese Präferenzen sollen bis 2001 verlängert werden. Es wird erwartet, daß die EU auch Präferenzen für Manufakturprodukte erteilen wird. Als sehr polemisch erwies sich die Bananenmarktordnung der Europäischen Union, die am 1. Juli 1993 in Kraft getreten ist. Das bedeutete für die lateinamerikanischen Bananen die Abschaffung der zollfreien und in der Menge unbegrenzten Einfuhr. Stattdessen galten nun ein 20 prozentiger Zoll und Importkürzungen in Deutschland. Dies führte zu einer Preissteigerang von rund 60%. Mit
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der Entstehung des Europäischen Binnenmarktes wurde eine Vereinheitlichung des Bananenmarktes in der EU in Form von Zollbestimmungen, Importlizenzen und Kontingentierung eingeführt. Das Ziel war der Schutz der EU- und AKPBananenproduktion (Kuschel 1995: 218-220). Für Ecuador, Honduras, Guatemala und Panama bedeuteten diese Auflagen erhebliche Exportverluste und Vernichtung von Arbeitsplätzen. Costa Rica, Kolumbien, Venezuela und Nikaragua wurden von einem gesonderten Rahmenabkommen in den letzten Jahren begünstigt. Sowohl vor dem Europäischen Gerichtshof in Luxemburg als auch vor der Welthandelsorganisation (WTO) wurde in den letzten Jahren die EU-Bananenpolitik behandelt. Nach einer Entscheidung der WTO vom 8. September 1997 und unter dem Druck seitens der USA versucht die EU seit Januar 1998 eine neue Regelung zu finden. Die WTO nannte als letzten möglichen Termin den 1. Januar 1999 für die Anpassung der Bananenmarktordnung der EU an internationale Handelsbestimmungen. Es wird geschätzt, daß sich im Jahre 1999 neue Diskussionen um die Bananenordnung entfachen werden. Die EU ist die zweitwichtigste Quelle von ausländischen Direktinvestitionen in Mittelamerika. Zwischen 1990 und 1996 wurden aus Ländern der EU 251 Mio. US-Dollar in Mittelamerika — ohne Panama — investiert. Das beinhaltet eine bedeutende Steigerung von 5 Mio. US-Dollar im Jahre 1990 auf 39 Mio. im Jahre 1996. Die USA belegen den ersten Platz mit einer Summe von 1,8 Milliarden US-Dollar in eben dieser Periode (IRELA 1998). Die Hilfe für den Wiederaufbau nach dem Hurrikan Mitch Die Bedeutung der institutionalisierten Beziehungen zeigte sich deutlich am 4. November 1998, als die Delegation des Europäischen Parlaments für die Beziehungen mit Mittelamerika wegen der durch den Hurrikan Mitch verursachten Katastrophe eine Sondersitzung unter Beteiligung der zuständigen Kommissare Manuel Marin und Emma Bonino und der Botschafter Mittelamerikas in Brüssel abhielt. Mehrere Initiativen, darunter der Vorschlag des Schuldenerlasses, sind dort entstanden. Eine entsprechende Resolution wurde vom Plenum des Europäischen Parlaments in Straßburg am 19. November verabschiedet (Europäisches Parlament 1998). Der deutsche Bundestag forderte mit einer Resolution vom 18. November die Bundesregierung dazu auf, Soforthilfe zu leisten, den bilateralen Schuldendienst zunächst auszusetzen, einen Schuldenerlaß zu gewähren und Mittel für den Wiederaufbau zur Verfügung zu stellen (Deutscher Bundestag 1998). Nach dem Hurrikan ist die Kooperation der EU mit Mittelamerika durch zahlreiche Initiativen gekennzeichnet. So u.a.:
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• Die Katastrophenhilfe seitens der EU betrug 9,8 Mio. US-Dollar. • Die Unterstützung für den Wiederaufbau soll in Form eines mehrjährigen Programms in Höhe von 500 Millionen US-Dollar aus EU-Mitteln und Hilfe der 15 Mitgliedsstaaten an Honduras, Nikaragua, El Salvador, Guatemala, Costa Rica, die Dominikanische Republik und Belize gewähn werden. Dieses Programm wird bei der XV. San Jos6-Konferenz im ersten Quartal 1999 vorgestellt. • Spanien hat eine offizielle Hilfe in Höhe von 200 Mio. US-Dollar angekündigt, während verschiedene Nichtregierungsorganisationen weitere 120 Mio. beitragen werden (La Prensa 1998 b). • Deutschland hat 40 Mio. DM bereitgestellt (BMZ 1998a). • Großbritannien, Schweden, Dänemark u. a. EU-Länder haben ebenfalls Hilfe zugesagt. Auf der Konferenz der Konsultationsgruppe Mittelamerika in Washington am 10. und 11. Dezember 1998 wurden 6,3 Mrd. US-Dollar als Hilfe für die nächsten Jahre in Aussicht gestellt. Neben den bereits erwähnten Zusagen aus Europa sind in erster Linie folgende Initiativen zu nennen: • Die USA gewähren Hilfe in Höhe von 400 Mio. US-Dollar. Eine 18 monatige Tolerierung illegaler Einwanderer aus Mittelamerika wurde entschieden. Zwischen 150 000 und 300 000 Honduraner und Nikaraguaner sollen nicht mehr ausgewiesen werden. • Die Interamerikanische Entwicklungsbank (BID) hat neue günstige Kredite in einer Gesamthöhe von 3 Mrd. US-Dollar für die nächsten Jahre vorgesehen. • Die Weltbank wird Mittelamerika 1 Mrd. US-Dollar zur Verfügung stellen (La Prensa 1998c). • Die Zentralamerikanische Bank für die Wirtschaftliche Integration (BCIE) stellt 300 Mio. US-Dollar in Form von Krediten für Wirtschaftsprojekte für die nächsten 3 Jahre zur Verfügung (BCIE 1998). • Kanada wird 110 Mio. US-Dollar an Programme für Mittelamerika weiterleiten. • Mexiko schickte Hilfe in Höhe von 9,8 Mio. US-Dollar und Rettungsmannschaften. • Japan sendete Hilfe in Höhe von 8 Mio. US-Dollar nach Honduras. • Kuba stellte 2000 Ärzte und 500 Stipendien für Medizin zur Verfügung (IRELA 1998). • Venezuela, Argentinien, Guatemala u.a. Länder haben ebenfalls Hilfsgüter und Fachpersonal nach Honduras und Nikaragua geschickt. Aus diesen Angaben kann nicht genau hergeleitet werden, in welchem Umfang und Zeitraum reguläre und zusätzliche Entwicklungsmittel fließen werden. Bei
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einigen Institutionen sind die Angaben für eine Periode von 3 Jahren vorgesehen. Im Vergleich dazu gab es insgesamt 1,34 Mrd. US-Dollar als jährliche durchschnittliche Entwicklungshilfe für Zentralamerika in den 90er Jahren. Die Summe zwischen 1992 und 1996 betrug 6,69 Mrd. US-Dollar. Über die Koordinierung der aktuellen internationalen Hilfe wurde in Washington im Dezember 1998 im Rahmen der bereits erwähnten Konsultationsrunde verhandelt. Im Mai 1999 sollen in Stockholm die Konsultationen über den Wiederaufbau fortgesetzt werden. Nach einem Vorschlag der Regierungen von Spanien, den Niederlanden und Frankreich sowie des Europäischen Parlaments sollen Lösungsmöglichkeiten für das Problem der Auslandsverschuldung von Honduras und Nikaragua gefunden werden. 1996 betrug die Auslandsverschuldung von Honduras ca. 4,4 Mrd. US-Dollar (92% des BIP) und von Nikaragua 5,9 Mrd. (322% des BIP) (IRELA 1998). Hinsichtlich der bilateralen Verschuldung gegenüber industrialisierten Staaten wird der Erlaß von Teilen der Schulden sowie die Aussetzung des Schuldendienstes vorgeschlagen. • Der Pariser Club beschloß am 11. Dezember 1998 die Aussetzung aller bilateralen Zahlungsverpflichtungen von Nikaragua und Honduras bis 2001 (BMZ 1998b). • Frankreich erließ am 10. November 1998 die Gesamtschulden von Honduras in Höhe von 27 Mio. US-Dollar und von Nikaragua in Höhe von 65 Mio. US-Dollar. • Österreich erließ ebenfalls am 10. November 1998 Nikaragua die Schulden in Höhe von 2 Mio. US-Dollar. • Die Niederlande setzten den Schuldendienst von Honduras in Höhe von 1 Mio. zunächst für ein Jahr aus. • Spanien erließ einen Teil des Schuldendienstes bis 2001 und bestimmte 50% des Erlasses für Wiederaufbauprojekte durch spanische Firmen. Es handelt sich um eine Gesamtsumme von 63 Mio. US-Dollar. Die spanische Regierung überprüft den Vorschlag für den Erlaß aller Schulden der betroffenen Länder. • Der Deutsche Bundestag verabschiedete am 18. November 1998 die Aussetzung des Schuldendienstes für 3 Jahre. Gegenüber Deutschland betragen derzeit die Gesamtschulden von Honduras ca. 125 Mio. US-Dollar und von Nikaragua ca. 496 Mio. US-Dollar (IRELA 1998). Bei den multilateralen Schulden handelt es sich um Verpflichtungen gegenüber internationalen Finanzinstitutionen wie z. B. der Weltbank, dem Internationalen Währungsfond (IWF), der Interamerikanischen Entwicklungsbank (BID), der Zentralamerikanischen Bank für die Wirtschaftliche Integration (BCIE). Dafür soll ein Fonds aus Mitteln der EU, Großbritanniens, der Niederlande und ande-
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rer Geberländer gebildet werden. Bis Ende November betrugen diese Mittel ca. 200 Mio. US-Dollar, von denen 100 Mio. aus EU-Geldern stammen (IRELA 1998). Insgesamt soll nach einer Erklärung von Präsident Clinton die Erleichterung der bilateralen und multilateralen Auslandsverschuldung ca. 1,5 Mrd. betragen (La Prensa 1998c). Schlußfolgerungen
und
Perspektiven
Der San José-Dialog war Ausgangspunkt für die neue Ära der Beziehungen der EU mit Lateinamerika. Der Dialog mit der Rio-Gruppe ist aus dem San JoséProzeß entstanden. Diese Beziehungen entwickelten sich von einem politischen Dialog zu einer bedeutenden wirtschaftlichen Zusammenarbeit, die den wichtigsten Ausdruck im Abkommen von Madrid im Jahre 199S zwischen der EU und dem MERCOSUR fand. Die Beziehungen mit Lateinamerika werden den politischen Höhepunkt und neue Impulse während der Konferenz der Staats- und Regierungschefs aus der EU, Lateinamerika und der Karibik am 28. und 29. Juni 1999 in Rio de Janeiro erfahren. Die Zusammenarbeit zwischen der EU und Lateinamerika kann sich in Zukunft mit den möglichen neuen Abkommen über Liberalisierung des Handels mit Mexiko, MERCOSUR und Chile und unter Einbeziehung von internationalen und sicherheitspolitischen Aspekten zu einer strategischen Allianz entwikkeln. Für Mittelamerika stellt sich die Frage der neuen Definition der Beziehungen zur EU unter diesen neuen Bedingungen. Der San José-Dialog ist Ausdruck einer konzertierten EU-Mittelamerikapolitik, die eine relevante konkrete Erfahrung für die zukünftige EU-Außenpolitik darstellt. Die biregionale Kooperation beinhaltet Impulse für den Frieden, die Demokratisierung, die Respektierung von Menschenrechten und die Unterstützung der wirtschaftlichen Integration Mittelamerikas. Die Ministerkonferenz San José XV im Jahr 1999 wird eine neue Phase in der Kooperation mit Mittelamerika bedeuten. Einerseits soll die Kooperation für den Wiederaufbau Mittelamerikas nach der Sturmkatastrophe von Ende 1998 im Vordergrund stehen und andererseits muß die Rolle Zentralamerikas und des San José-Dialogs bei der Entstehung von qualitativ neuen Beziehungen zwischen der EU und Lateinamerika definiert werden. Die EU ist der wichtigste entwicklungspolitische Partner für Zentralamerika. Allerdings zeigt sich nach der Katastrophe des Hurrikans Mitch wieder eine starke Präsenz der USA. In den nächsten Jahren wird sich die Kontinuität dieser Präsenz herausstellen. Die von der Katastrophe betroffenen Länder, allen voran Honduras und Nikaragua, stehen vor der großen Herausforderung des Wiederaufbaus, der eine
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reale Entwicklungschance darstellen kann, wenn die eigenen Anstrengungen und die ausländische Hilfe sinnvoll eingesetzt und Korruption und Fehlplanung vermieden werden. Nachhaltige Entwicklung ist nur unter Entstehung eigener nationaler Kapazitäten möglich. Die internationale Gemeinschaft kann nur Hilfe zur Selbsthilfe leisten. Neben der Unterstützung für den Wiederaufbau sind die Länder Mittelamerikas auf die Diversifisierung ihrer Wirtschaft und der Absatzmärkte, Direktinvestitionen und günstige Kredite angewiesen. Eine zentrale Rolle für die zukünftigen Entwicklungsperspektiven werden Umfang und Reichweite des Erlasses der Auslandsschulden sowie Umschuldungsverhandlungen spielen. Literatur Banco Centroamericano de Integración Económica (1998): Resolución Nr. DI/98 vom 18. November. Tegucigalpa. Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) (1998a): Gemeinsames Handeln für Mittelamerika notwendig. Pressemitteilung, 19. November. Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) (1998b): Internationales Schuldenmoratorium für Mittelamerika beschlossen. Pressemitteilung, 12. Dezember. Comisión Económica de las Naciones Unidas para América Latina y el Caribe (CEPAL) (1998): Balance de los daños del Huracán Mitch, 10. Dezember, www.cepal.org. Deutscher Bundestag (1998): Drucksache 14/54,18. November. Bonn. Europäisches Parlament (1998): Resolución sobre la situación en América Central y acciones de la Unión Europea. B4-1060/98. Straßburg. Genscher, Hans-Dietrich (1996): Geleitwort. In: Andreas Brockmann, Martin Dabrowski und Ricardo Lagos Andino (Hrsg.): Mittelamerika und Deutschland, das Potential einer guten Partnerschaft. Frankfurt a. M., Vervuert. S. IX-XI. Gomáriz, Enrique (Hrsg.) (1988): Balance de una esperanza, Esquipulas II un año después. San José, FLACSO. Heymer, Guido (1996): Die Außenpolitik gegenüber Mittelamerika. In: Andreas Brockmann, Martin Dabrowski und Ricardo Lagos Andino (Hrsg.): Mittelamerika und Deutschland Das Potential einer guten Partnerschaft. Frankfurt a. M., Vervuert. S. 3-13. Instituto de Relaciones Europeo-Latinoamericanas (IRELA) (1992): Paz e integración en Centroamérica: El umbral de una nueva etapa, Madrid. Instituto de Relaciones Europeo-Latinoamericanas (IRELA) (1994): Diez años del Proceso de San José. Madrid, Rumagraf. Instituto de Relaciones Europeo-Latinoamericanas (IRELA) (1995): El Proceso de San José. Balance y perspectivas. Mayo. Madrid. Instituto de Relaciones Europeo-Latinoamericanas (IRELA) (1998): Banco de datos (DATARELA). Datei SICA, Madrid, www.irela.org. Kreft, Heinrich (1996): Europa und Zentralamerika. 12 Jahre San-José-Dialog. Aus Politik und Zeitgeschichte, Beilage zur Wochenzeitung Das Parlament 48-49: S. 3-10.
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Lernen aus Krisen: Peru und das internationale Umschuldungssystem, 1975-19781 ULRICH PFISTER
Wodurch entstehen ökonomische Institutionen? Erschaffen sich Märkte autonom effiziente Institutionen oder ist hierfür die zielgerichtete Intervention wissender Akteure erforderlich? Diese vor dem Hintergrund der Finanzkrisen des Jahres 1998 in der internationalen Wirtschaftspublizistik intensiv erörterten Fragen haben durchaus auch eine akademische Tradition. So ist etwa vorgeschlagen worden, transnationale Prozesse der Formulierung von Anpassungsund Transformationspolitiken mit Konzepten aus der Theorie kollektiver Aktion zu modellieren. Allerdings erscheint in den Überlegungen von Wagener (1994: 9-12) „der Kapitalismus" als relevanter Akteur, ohne daß dessen Struktur als kollektiver Akteur geklärt wird. Anregend ist auch das Argument von North (1992: Kap. 11), Effizienzvergleiche von Institutionen seien durch Akteure mangels Information schwer anzustellen, so daß bewußte Maßnahmen, die institutionellen Wandel bewirkten, immer durch Ideologien und vorgefaßte Meinungen geprägt wären, was die Richtung institutionellen Wandels schwer vorhersagbar mache. Zu einer konkreten Modellierung des institutionellen Wandels trägt diese Aussage allerdings wenig bei. Im folgenden wird deshalb über den Wandel von transnationalen ökonomischen Institutionen eher pragmatisch anhand einer wichtigen Episode in der Entstehung des Instruments der multilateralen Umschuldung nachgedacht. Ab 1982 wurden über mehrere Jahre hinweg jeweils Dutzende von Umschuldungen abgeschlossen, und die Entwicklung dieses Instruments trug maßgeblich zur Verhinderung eines Zusammenbruchs der internationalen Finanzbeziehungen bei, wie er etwa in den 1870er und den 1930er Jahren erfolgt war. Die Umschuldung beinhaltet in der Regel eine ausgehandelte Restrukturierung bzw. Refinanzierung der Verbindlichkeiten eines souveränen Schuldners, wobei die Gewährung dieser Mittel zur Kontrolle des moral hazard an wirtschaftspolitische Auflagen im Hinblick auf die Anpassung der Außenbilanzen gekoppelt ist. Eine Umschuldung erstreckt sich deshalb häufig über dieselbe Dauer wie ein 1 Für die Mithilfe besonders im empirischen Teil bedanke ich mich bei Thomas Bittner.
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Ulrich Pfister
Beistandsabkommen des Internationalen Währungsfonds (IMF). Strukturmorphologisch gesehen handelt es sich bei der Umschuldung um eine kooperative Institution, denn sie erfordert die Kooperation unter den Gläubigern (zum Teil auch zwischen verschiedenen Gläubigergruppen, d. h. Staaten und Banken) sowie zwischen diesen und internationalen Organisationen, insbesondere dem IMF, sowie natürlich dem Schuldnerland. Kooperation setzt voraus, daß Akteure andere Akteure als Einheiten wahrnehmen können, denen Handlungen, Strategien und Interessen zugeschrieben werden. Weiter erfordert Kooperation von den beteiligten Akteuren die Fähigkeit zur Aushandlung spezifischer Rollen (konkret etwa „bürden sharing"; vgl. Pfister und Suter 1987: 251-252; allgemein vgl. Geser 1983). Als Institutionen ohne derartige reflexive Mechanismen können Märkte selber wenig zur Ausbildung kooperativer Institutionen beitragen, und da es sich im Fall der Umschuldung um einen Mechanismus zur Bewahrung eines Marktes vor dem Kollaps handelt, ist auch die Leistungsfähigkeit des Marktes zur Selektion von Institutionen höchst begrenzt. Es ist deshalb geboten, nach anderweitigen Erklärungen für den institutionellen Wandel, der zur Herausbildung der multilateralen Umschuldung geführt hat, zu suchen. Damit Akteure anderen Akteuren Identität zuschreiben und ein Rollenverhalten entwickeln können, sind erstens ein überschaubares Akteurfeld und zweitens ein genügend dichtes Interaktionsfeld, das die Anschlußfähigkeit gegenwärtiger Kommunikation an frühere Kommunikation gewährleistet, erforderlich. Der gehäufte Einsatz des Umschuldungsinstruments seit der drohenden Insolvenzwelle vor allem lateinamerikanischer Schuldner im letzten Drittel des Jahres 1982 erfolgte denn auch nicht unvermittelt, sondern war das Ergebnis eines in seinen Anfängen bis in die späten 1950er Jahre zurückreichenden Lernvorgangs wenigstens seitens der Gläubiger und der internationalen Organisationen. Ein überschaubares Akteurfeld resultierte dabei aus dem grundlegenden Wandel der Finanzflüsse in die Dritte Welt: Während bis in die 1920er Jahre die vor allem von Kleinanlegern gehaltene Anleihe das wichtigste Finanzinstrument darstellte, so dominierten in der Nachkriegszeit Kredite staatlicher und multilateraler Gläubiger, seit den 1970er Jahren auch syndizierte Bankkredite, während Anleihen bis in die frühen 1990er Jahre marginal blieben. Seitens der Gläubiger reduzierte sich somit das Akteurfeld von einer in die Millionen gehenden Masse auf ein bis zwei Dutzend bzw. auf einige Hundert im Fall von großen syndizierten Bankkrediten. Die Anschlußfähigkeit aktueller an frühere Kommunikation ergab sich daraus, daß nach der ersten Umschuldung Argentiniens 1956 immer wieder Restrukturierungen der Verbindlichkeiten von Drittweltländern erfolgten. Trotz des im Hinblick auf die Eindämmung von moral hazard noch bis in die späten 1980er Jahre betonten Fall-zu-Fall-Charakters der Umschuldung kam es des-
Lernen aus Krisen
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halb zu einer allmählichen Institutionalisierung dieses Instruments wenigstens auf Seiten der im Pariser Klub organisierten staatlichen Gläubiger: Im Gegensatz zu einigen früheren Umschuldungen fanden in den 1970er Jahren alle Verhandlungen in Paris in vom französischen Finanzministerium zur Verfügung gestellten Räumlichkeiten statt; ab 1974 existierte in Paxis ein ständiges Sekretariat, das einen kontinuierlichen Kommunikations- und Informationsfluß gewährleisten konnte, und von den zwölf Abkommen der 1970er Jahre wurde nur eines nicht von einem IMF-Beistandsabkommen begleitet, während dies im Zeitraum 1956-1969 für vier der zehn Abkommen zutraf. Bemerkenswert ist überdies, daß die 14 1956-1975 im Rahmen des Pariser Klubs geschlossenen Abkommen nur vier Länder betrafen, nämlich Argentinien (1956, 1961, 1962, 1965), Brasilien (1961, 1964), Chile (1965, 1972, 1974, 1975) und Indonesien (1966, 1967, 1968, 1970; Pfister/Suter 1986: 220-226). Dies legt eine paradoxe Schlußfolgerung nahe: Die geringe Leistungsfähigkeit von Anpassungsfinanzierung und Umschuldung im Hinblick auf eine (allerdings nicht direkt intendierte) längerfristige Stabilisierung der betroffenen nationalen Volkswirtschaften ist gleichzeitig konstitutiv für die Anschlußfähigkeit der Kommunikation unter Gläubigern und damit die Ausbildung einer kooperativen Institution der Umschuldung. Im Rest dieses Aufsatzes wird diese These anhand der Erfahrung Perus in den Jahren 1975-1978 ausgelotet. Peru ist ein gutes Beispiel für eine chronisch instabile Volkswirtschaft, die wiederholt paradigmatisch wirkende Anstöße für die Entwicklung kooperativer Mechanismen zur Bewältigung von externen Zahlungskrisen geliefert hat: In der Krise von 1958/59, die eine Reihe von lateinamerikanischen Wirtschaften erfaßte, erhielt Peru beträchtliche Mittel zur Anpassungsfinanzierung, an denen sich auch etliche Institutionen und Banken außerhalb des IMF beteiligten, und die Zahlungsbilanzkrise von 1967/68 führte 1968-1970 zu den ersten Umschuldungen, die auch nicht-staatliche Gläubiger einbezogen (Hardy 1982: 7, 63-66; Scheetz 1986: 97-101, 113-118). 1978 folgte schließlich die erste Umschuldung von durch Banken gewährten Syndikatskrediten, wobei die Banken in einem konfliktiven Prozeß das bereits von staatlichen Gläubigern vorexerzierte Muster der Koppelung einer Umschuldung an ein IMF-Beikommen übernahmen. Für die großen Umschuldungsverfahren der 1980er Jahre sollte sich das Abkommen mit Peru von 1978 als wegweisend herausstellen. Nach einer Darstellung der maßgeblichen Ereignisse behandelt ein weiterer Abschnitt die Gründe für die peruanische Außenwirtschaftskrise der Jahre 1975-1978, worauf schließlich die Schwierigkeiten einer empirischen Bestimmung politikrelevanter Parameter der peruanischen Wirtschaft zur fraglichen Zeit erörtert werden.
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Ulrich Pfister
Der Weg zur Anpassungpolitik
und zur Umschuldung,
1975-1978
1975 zeigten sich in der peruanischen Volkswirtschaft ausgeprägte Ungleichgewichte (vgl. Tabelle 1): Während die Importe in US$ mehr als doppelt so viel wie zwei Jahre davor betrugen, lagen die Exporte unter dem Wert von 1974. Während 1974 das Handelsbilanzdefizit durch einen Zufluß von Krediten und Privatkapital ausgeglichen werden konnte, gingen 1975 vor dem Hintergrund der sich verschlechternden Situation insbesondere die Kredite von Banken stark zurück, so daß eine Liquiditätsfalle drohte. Auch die innere Lücke war massiv: Das Defizit des gesamten öffentlichen Sektors betrug 1974-1977 immer über ein Zehntel des Bruttoinlandprodukts (BIP). Die (allerdings nur kurzzeitige) Beseitigung dieser massiven Ungleichgewichte dauerte bis 1978, und erst 1979 wurde wieder ein Wachstum sowohl des BIP als auch des Außenhandels erreicht. Erkauft wurde die Anpassung durch einen starken Anstieg der Inflation, die 1978/79 etwa das dreifache des auch schon erheblichen Wertes von 1975 betrug, sowie durch eine Halbierung der Reallöhne im formellen Sektor über den Zeitraum 1973-1979 hinweg (Thorp 1991: 93). Tabelle 1: Ungleichgewichte in der peruanischen Wirtschaft, 1972-1979 1972
1973
1974
1975
Exporte (US$)
945
1.112
1.503
1.291
Importe (US$)
812
1.033
1.909
2.390
Zunahme der externen Staatsschuld (US$)
320
831
1.058
567
Defizit des öffentl. Sektors (% des BIP)
5,4
7,3
10,1
Inflationsrate (%)
4,2
13,8
19,1
1976
1977
1978
1979
1.359
1.726
1.941
3.491
2.100
2.164
1.601
1.951
1.557
879
312
1.247
10,8
13,0
11,6
6,1
1,1
24,0
44,7
32,4
73,7
66,7
Quellen: FitzGerald (1979: 306); Scheetz (1986: 160, 162); Thorp (1991: 103); Uriarte (1986: 45). Die Wirtschaftspolitik reagierte nur langsam auf die sich abzeichnende Krise. 1975 wurden zunächst Autoren, die über die Krise schrieben, der politischen Sabotage verdächtigt und mit repressiven Maßnahmen bedacht; als sich der Datenkranz zunehmend vervollständigte, wurde eine Krise des internationalen Kapitalismus für die Schwierigkeiten verantwortlich gemacht (Schydlowski/ Wicht 1983: 103). Im Zuge des Wechsels an der Spitze des Regimes von Velasco zu Morales Bermudes im Sommer 1975 wurde erstmals seit der Revolution von 1968 ein ziviler Finanzminister ernannt, und es wurden erste Stabilisie-
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rungsmaßnahmen in der Form einer Abwertung um 16.3% sowie einer Erhöhung der Benzinpreise erlassen (dies und das folgende nach Cline 1981: 305310; Scheetz 1986: 131-145; Stallings 1979: 232-243; Devlin/de la Piedra 1985: 396-405). Bereits diese noch relativ milden Maßnahmen trugen zu einer markanten Erhöhung der Streikaktivität der städtischen Arbeiterschaft bei. Im Winter 1975/76 fanden erfolglose Verhandlungen mit dem IMF hinsichtlich eines Beistandsabkommens statt. Im Frühjahr bekräftigte der Staatschef öffentlich die Verpflichtung des Regimes auf eine graduelle Anpassung, die die Unterschichten möglichst verschonen sollte. Zwischen Juni und Dezember 1976 wurde eine von den internationalen Bankgläubigern gestützte Stabilisierungspolitik ohne Einschaltung des IMF verfolgt. Im Sommer wurden Subventionen zurückgefahren und nur teilweise durch die Erhöhung des Mindestlohns kompensiert. Zudem erfolgte eine zweite Abwertung um 44.4%, und im September wurde ein crawling peg eingeführt. In langwierigen Verhandlungen wurde schließlich im Spätjahr mit den Bankgläubigem ein Abkommen ausgehandelt, das im Gegenzug zu einer Refinanzierung ausstehender Kredite die Überwachung der peruanischen Wirtschaftspolitik durch die Banken vorsah. Das Hauptmotiv der Banken bestand im Anliegen, ihre früheren Kredite vor Verlusten zu schützen. Angesichts der Bedrohung des Regimes durch Streiks der organisierten Arbeiterschaft und durch innere Spannungen (dazu vgl. unten) befürchteten die Banken, daß eine rasche Anpassung zum Zerfall des Regimes und damit möglicherweise zum Staatsbankrott führen würde. Mangels Koordination, Expertise und Durchsetzungsvermögen waren die Banken jedoch nicht in der Lage, opportunistisches Verhalten seitens ihres Klienten zu verhindern. Schon die groben Angaben in Tabelle 1 zeigen, daß 1976 parallel zu den neuen Mittelzuflüssen die Anpassung hinausgezögert wurde. Überdies waren die Banken äußerst verärgert, als im Spätjahr 1976 ein expansives Budget verabschiedet wurde, das unter anderem eine massive Gehaltserhöhung für Offiziere vorsah und das die ausgehandelten Bedingungen eklatant verletzte. Etwa zeitgleich wurden Informationen über geheime Waffenkäufe Perus bekannt. Die Banken erhielten den Eindruck, mit ihrer Anpassungsfinanzierung in erster Linie das Wohlergehen des peruanischen Militärapparats gewährleistet zu haben. In der Folge weigerten sie sich, die Anfang 1977 fällig werdenden Kredite ohne Beistandsabkommen des IMF zu refinanzieren. Das Jahr 1977 war durch einen konfliktiven Weg zu einem ersten, rasch gescheiterten Beistandsabkommen mit dem IMF gekennzeichnet. Parallel erfolgte eine eigentliche Auflösung der Mechanismen zur Politikformulierung im Bereich der Finanz- und Wirtschaftspolitik. Im März fanden ergebnislose Verhandlungen einer IMF-Delegation unter Linda König in Lima statt. Insbesonde-
370
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re die Zentralbank warf dem IMF-Team vor, eine übermäßig rasche Anpassung mit gravierenden rezessiven Folgen anzustreben. In der Regierung entwarf eine Kommission aus Ministerien außerhalb des Finanzressorts ein eigenständiges Anpassungsprogramm, das (nicht zuletzt wegen steigender Militärausgaben) einen stark expansiven Charakter aufwies. Der Wirtschafts- und Finanzminister wurde ultimativ zur Übernahme dieses Programms aufgefordert, worauf jener im Mai zurücktrat. Der Nachfolger erließ unverzüglich eine Reihe von Austeritätsmaßnahmen, die den Anlaß zu gewaltsamen Protesten, zur Verhängung des Ausnahmezustands in mehreren Städten sowie zum ersten Generalstreik seit 1919 gaben. Auf der Basis der neuen Maßnahmen gelang der Abschluß eines IMF-Beistandsabkommens, das aber vom Ministerrat wegen der Beschränkung von Militärausgaben und der voraussehbaren rezessiven Folgen zurückgewiesen wurde. Nach nur 57 Amtstagen trat der Wirtschafts- und Finanzminister zurück. Nachfolger wurde ein als inkompetent geschilderter General, der seine ökonomischen Kenntnisse in der Funktion als Chef der staatlichen Telefongesellschaft gewonnen hatte. Unter seiner Federführung kam es im Oktober zum definitiven Abschluß eines Beistandsabkommens mit dem IMF, das als Kernmaßnahmen eine Beschränkung des Kreditwachstums unter die Inflationsrate, eine unter anderem durch die Abschaffung von Preissubventionen erzielte Reduktion des Budgetdefizits auf ein Drittel des Werts von 1977, eine Beschränkung der Lohnsteigerungen auf die Hälfte der projektierten Inflationsrate sowie eine Rückkehr zu flexiblen Wechselkursen vorsah, was einer massiven Abwertung von ca. 44% im letzten Quartal gleichkam. Sehr rasch zeigte sich jedoch, daß die gesteckten Ziele weit verfehlt wurden. Die im Februar 1978 in Lima weilende, immer noch unter der Leitung von Linda König stehende IMF-Delegation stellte eine massive Verletzung der Bestimmungen des Beistandsabkommens fest, so daß die Verweigerung der zweiten Kredittranche abzusehen war. Insbesondere wurde Peru auch die Manipulation relevanter Daten vorgeworfen. Als Reaktion gab der Staatschef ein polemisches Statement Uber den IMF ab, und König wurde zur persona non grata erklärt. Unter dem Druck einer formellen Verzugserklärung einer Gläubigerbank Anfang Mai 1978 und einer immer ausgeprägteren Importkompression (zeitweise wurden keine Importlizenzen mehr gewährt, und die Zentralbank verweigerte die Diskontierung von Handelswechseln) kam schließlich über das Auswechseln zentraler Akteure doch noch ein erfolgreiches Beistandsabkommen zustande. Überdies hatte die Regierung im April einen Geheimbericht einer unabhängigen niederländischen Beratungsmission erstellen lassen, der Einschnitte im Staatshaushalt, insbesondere bei den Militärausgaben, als für die Stabilisierung unabdingbar darstellte. Mitte Mai wurden daraufhin Finanzminister und Zentralbankchef durch kompetente Fachleute ersetzt, und es wurden
Lernen aus Krisen
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Austeritäts- und Anpassungsmaßnahmen ergriffen, die Anlaß zu einem zweiten Generalstreik gaben. Vor diesem Hintergrund gelang bis August der Abschluß eines Beistandsabkommens mit dem IMF, der seinerseits nun nicht mehr durch König, sondern durch den Direktor der Amerika-Abteilung vertreten wurde. Die Bestimmungen wurden wesentlich weicher formuliert als im Abkommen vom Herbst 1977; insbesondere wurden einige Ziele nicht mehr quantitativ sondern qualitativ formuliert (so etwa in der Lohnpolitik), und für wichtige Variablen (etwa das Budgetdefizit) wurden weniger drastische Vorgaben gesetzt. Auf dieser Grundlage gelang bis Ende des Jahres eine vertragliche Umschuldung von 1978-1980 falligen Krediten sowohl von internationalen Banken als auch von offiziellen Gläubigern. Das Stabilisierungspaket vom Mai 1978 griff insofern, als in diesem Jahr eine starke Verringerung der inneren und äußeren Lücken gelang. Zudem linderte das starke Exportwachstum 1979 den Anpassungsdruck markant. Insgesamt zeigt die knappe Schilderung des Wegs zur Anpassungspolitik in den Jahren 1975-1978, daß die Unfähigkeit und zu einem erheblichen Grad auch der Unwille der peruanischen Wirtschaftspolitik, vor dem Hintergrund einer stark gesunkenen Finanzierungsbereitschaft internationaler Kapitalgeber Maßnahmen zur raschen Beseitigung der inneren und äußeren Lücken zu ergreifen, für die Bankengläubiger einen wichtigen Antrieb dargestellt haben, das Umschuldungsmodell der staatlichen Gläubiger zu übernehmen: Um zu verhindern, daß Schuldner die Restrukturierung fälliger Kredite zur Verzögerung einer Anpassung nutzten (moral hazard), wurde diese in Zukunft an ein Beistandsabkommen des IMF gekoppelt. Soziales Lernen und institutionelle Evolution auf Gläubigerseite waren somit funktional mit einer Desartikulation wirtschaftspolitischer Institutionen auf Schuldnerseite gekoppelt. Ist dieser Sachverhalt durch einmaligen Zufall oder vielmehr systematisch bedingt? Der Beantwortung dieser Frage sind die folgenden Abschnitte gewidmet. Gründe für die makroökonomischen Ungleichgewichte Auf dem zur Verfügung stehenden Raum ist es unmöglich, eine eigenständige Analyse der Gründe der 1975 zu Tage tretenden Ungleichgewichte der peruanischen Wirtschaft zu leisten. Vielmehr soll anhand eines raschen Überblicks über die bestehende Literatur zweierlei gezeigt werden: Erstens waren die Probleme der peruanischen Volkswirtschaft Mitte der 1970er Jahre überaus komplex, so daß die Formulierung angemessener Maßnahmen, insbesondere solcher, die sowohl kurz- als auch mittelfristig Wirkung zeitigen konnten, in jedem Fall eine erhebliche Herausforderung darstellte. Zweitens war der wirtschaftspolitische Spielraum angesichts der Struktur des politischen Regimes und der es bedro-
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henden Spannungen äußerst eng. Die lange Dauer und der konfliktive Charakter des Wegs zur Anpassung in den Jahren sind somit von systematischer Natur. Um dieses Argument zu belegen, werden zunächst die Gründe für die Krise um 1975 ausgeführt, und danach werden die auf das politische Regime und seinen Wandel zurückgehenden Restriktionen der wirtschaftspolitischen Handlungsmöglichkeiten erörtert. Die üblichen Gründe einer Anpassungspolitik bestehen in Schocks. Tatsächlich erfuhr die peruanische Wirtschaft in den Jahren 1974-1977 mehrere außenwirtschaftliche Schocks, die gemäß einer groben Schätzung im Mittel dieser Jahre immerhin über ein Drittel der Exporterlöse des Jahres 1973 ausmachten und damit einen wichtigen, wenn auch schwer bestimmbaren Beitrag zur Entstehung der äußeren Lücke leisteten (Cline 1981: 301-305). Am wichtigsten war das Wegbleiben der Thunfischschwärme nach 1973, das sich in einem drastischen Rückgang der Exporte von Fischmehl, dem zusammen mit Kupfer wichtigsten Devisenbringer, niederschlug. Ebenfalls von großer Bedeutung war die Zunahme der Waffenimporte von 184 Mio. US$ 1973 auf 464 Mio. US$ 1977 (Scheetz 1986: 196). Der Vorgang ist einerseits auf steigenden Spannungen mit Chile, andererseits auf die Art und Weise, wie das Regime die wirtschaftliche Krise verarbeitete, zurückzuführen (vgl. unten). Im Vergleich zu anderen Ländern der Dritten Welt hatte der sog. Erdölschock geringe Auswirkungen auf Peru, denn Peru verfügte über erhebliche eigene Vorräte. Als ausgesprochen verlierend erwiesen sich vielmehr Projektionen von 1974, die mit einem raschen Wachstum der Erdölproduktion rechneten, und die sich 1975 als falsch herausstellten. Diese abrupte Schwankung der Erwartungen trug maßgeblich sowohl zur ausgesprochen guten Kreditfähigkeit des Landes 1974 als auch zum Versiegen der Finanzströme 1975 bei. Es sei hervorgehoben, daß die außenwirtschaftlichen Schocks keineswegs permanent waren, sondern in erster Linie die fehlende Fristenkongruenz der Finanzierung großer Entwicklungsprojekte zum Problem werden ließen. Die starke Zunahme der Exporte im Jahre 1979 ging abgesehen von einer Verbesserung der Terms of trade zu einem erheblichen Teil darauf zurück, daß die bis 1975 unter Rückgriff auf externe Kredite getätigten staatlichen Investitionen im Kupfer- und Erdölbereich nun ein Einkommen zu generieren begannen. Bereits in den Jahren 1975-1978 hatte das Land jedoch aus diesen Krediten einen erheblichen Schuldendienst zu leisten gehabt. Der Einbruch der Jahre 1975-1978 stellte jedoch wahrscheinlich nur zum kleineren Teil eine durch externe Schocks hervorgerufene Anpassungs- und Liquiditätskrise dar. Von stärkerem Gewicht war wohl eine eigentliche Strukturkrise der peruanischen Wirtschaft, die zum einen mit der Entwicklungspolitik der importsubstituierenden Industrialisierung (ISI) in Verbindung gebracht
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werden kann. Drei Problemfelder sind hervorzuheben: Erstens erfolgte die Steuerung der ISI stark über das Außenhandelsregime. In der ersten Hälfte der 1960er Jahre stellte sich eine erhebliche Überbewertung der Währung ein (Thorp 1991: 53), die erst durch die massiven Abwertungen der Jahre 19761978 korrigiert wurde. Anreize zur ISI wurden deshalb nach 1964 vor allem über Importzölle gesetzt, die schon 1967 im Bereich der Konsumgüter eine Protektion von 91% gewährten (FitzGerald 1979: 284). Die Militärregierung entwickelte dieses Regime vor allem ab 1970 durch die Einführung von nichttarifären Handelshemmnissen (Importverbote, Quoten) weiter. Dadurch fehlten Anreize zu effizienter Produktion (Ausnützung von komparativen Vorteilen hinsichtlich der Faktorausstattung oder von Skalenerträgen; FitzGerald 1979: 284-286; Schydlowski/Wicht 1983: 112-113), und eine Umorientierung des verarbeitenden Sektors auf auswärtige Märkte erwies sich nach 1975 als äußerst schwierig. Zweitens setzt ISI voraus, daß die Deviseneriöse aus traditionellen Exporten von Primärgütem den Aufbau des importsubstituierenden Industriesektors unterstützen können. Wächst letzterer aber wie geplant rascher als ersterer, so sind (bei gegebenem Grad der Devisenabhängigkeit von ISI) mit der Zeit Zahlungsbilanzschwierigkeiten unvermeidlich (Schydlowski/Wicht 1983: 112). Im peruanischen Fall diskriminierte der niedrige Wechselkurs die Exporte, was wohl (neben den Schocks) deren wenig dynamische Entwicklung sowie zum Teil auch den langfristigen Rückgang der privaten Investitionsquote zwischen den späten 1950er und der Mitte der 1970er Jahre erklärt (FitzGerald 1979: 150). Nach 1968 gewährte Preissubventionen für zum Teil importierte Grundstoffe (Benzin, Weizen) verringerten die Produktionsanreize insbesondere in der Landwirtschaft zusätzlich. Drittens war der durch Verstaatlichungen 19681973 stark ausgebaute öffentliche Sektor kapitalintensiv und zunächst wenig effektiv, da die zum Teil dekapitalisierten bzw. durch Zufälle (Ausbleiben der Thunfischschwärme) entwerteten Anlagen einen hohen Investitionsbedarf aufwiesen (Erdöl, Kupfer, Fischverarbeitung). Zum anderen gewährleisteten die bis in die frühen 1970er Jahren entstandenen wirtschaftspolitischen Rahmenbedingungen keine konsistenten Anreize, Lenkungsmechanismen und mittelfristig stabile Erwartungshorizonte. Erstens führten die nach 1968 durchgeführten Eigentumsreformen zu einer großen Bandbreite an Verfiigungsrechten über Produktionsfaktoren, die mehrteils umstritten blieben, so etwa die Comunidades Industriales, die von der Mehrheit der Industrieunternehmer als politischer Eingriff erfahren wurden, der die Unternehmensführung erschwerte und mit Ungewißheit belastete. Der Transfer von Managementkompentenz zu neuen Betriebsformen war mit Friktionen und hohen Lernkosten verbunden, und insbesondere die Modalitäten des Aufbaus von Comunidades Industriales gewährten Unternehmern bestenfalls einen An-
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Ulrich Pfister
reiz zu einer Erhöhung der Kapitalintensität. 1975-1978 wurden denn auch etliche Eigentumsreformen abgeschwächt (kurze Überblicke bei FitzGerald 1979: Kap. 5; Schydlowki/Wicht 1983: 114, 116; speziell zum Verhältnis der Unternehmer zur Comunidad Industrial Ferner 1983: 53-54). Zweitens — und dies wird vor allem von FitzGerald (1979: Kap. 7-9) betont — stand der breiten Desartikulation von Anreizen für private Wirtschaftssubjekte keine angemessene Ausbildung staatlicher Instrumente der Wirtschaftslenkung gegenüber. Nicht nur war die Wirtschaftspolitik wenig konsistent, sondern der staatliche Unternehmenssektor wurde überdies chaotisch geführt, und trotz eines hohen Niveaus an dirigistischen Eingriffen erfolgte keine ernsthafte Entwicklungsplanung. Der erwähnte Rückgang der privaten Investitionsquote und die enttäuschenden Ergebnisse staatlicher Investitionsvorhaben dürften wenigstens zum Teil auf diese Ungewißheit produzierenden institutionellen Rahmenbedingungen zurückzuführen sein. Die Schwächen und Inkonsistenzen im Bereich ökonomischer Institutionen verweisen auf das politische Regime und seine Dynamik. Die Ära der Militärregierung 1968-1978 kann in zwei Phasen eingeteilt werden: In der reformistischen Phase unter Velasco bis 1975 wurde über korporatistische Techniken eine Bindung verschiedener Gruppen außerhalb der traditionellen Elite ans Regime angestrebt (Arbeiterschaft des formellen Sektors, Bewohnerinnen] der hauptstädtischen Slums, Bauern); die zweite Phase unter Morales Bermudes war durch eine zum Teil gewaltsame Desartikulation politischer Potentiale und den Zusammenbruch des Regimes geprägt (Stepan 1978; Pfister/Suter 1991). Aus dem komplexen und von zahlreichen Studien untersuchten Thema der Entwicklung dieses politischen Regimes seien hier nur zwei für das Argument des gegenwärtigen Aufsatzes besonders relevante Aspekte kurz herausgegriffen: das Verhältnis der Regimes zu organisierten Interessengruppen und die Dynamik innerhalb des Offizierskorps. Das Regime verfügte über keine organisierte politische Unterstützung und bemühte sich auch nur zögerlich um den Aufbau einer solchen mit Hilfe des SINAMOS (Stepan 1978: Kap. 5; Kraege 1995: Kap. 4-6). Vielmehr hatten die erwähnten Eigentumsreformen, der Ausbau staatlicher Leistungen und die staatlich gelenkte Restrukturierung organisierter Interessen — in diesem Bereich tritt die korporatistische Seite des Regimes besonders klar hervor — neben ihrer wirtschaftspolitischen Funktion auch die Aufgabe, dem Regime politische Legitimität zu verschaffen. Allerdings hatten diese Maßnahmen zum Teil eher den gegenteiligen Effekt: Die Eigentumsreformen in den verarbeitenden Sektoren trugen dazu bei, daß insbesondere Gewerkschaften über Machtpositionen in Unternehmen und über die Fähigkeit zur Gewährung selektiver Anreize (closed shop etc.) eigenständige Basen einer autonomen Interessenaggrega-
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tion und -artikulation aufbauen konnten (Stephens Huber 1980; Pfister/Suter 1991: 356-358). Das durch ISI geförderte einheimische Unternehmertum stand bis ca. 1971 dem Regime wohlwollend gegenüber, erfuhr danach aber im Zusammenhang mit der Eigentumsreform eine Spaltung, und insbesondere die kleineren und mittleren Unternehmen entwickelten sich bis Mitte der 1970er Jahre zu einer wichtigen in Opposition zum Regime stehenden Gruppe (Cleaves und Pease Garcia 1983: 234-236; Ferner 1983: 52f). Um 1975 bestanden somit potente Interessengruppen, die das politische Regime bedrohen konnten und damit den wirtschaftspolitischen Entscheidungsspielraum massiv begrenzten. Der Militärcoup von 1968 und die ideologische Orientierung des Militärregimes wird von einzelnen Autoren mit einem sog. „Neuen Professionalismus" des Offizierskorps in Verbindung gebracht. Im Unterschied zum .Alten Professionalismus" der Kriegsführung nach außen hätten sich in den 1960er Jahren eine Reihe von lateinamerikanischen Militärapparaten unter anderem unter dem Eindruck der kubanischen Revolution verstärkt inneren Strukturproblemen und den davon ausgehenden Bedrohungen der inneren Sicherheit und der Existenz des Militärs selbst zugewandt. In diesem Zusammenhang sei es besonders im peruanischen Offizierskorps zu einer starken Strömung gekommen, die in grundlegenden Reformen den einzigen Weg zur Vermeidung gravierender sozialer und politischer Konflikte sahen. Dem keinerlei politischen Interessen verpflichteten, technokratische Entwicklungszielen verfolgenden Offizier wurden bei der Implementation dieser Reformen eine zentrale Rolle zugedacht (Stepan 1978: 127-147). Andere Autoren betonen die begrenzte Fähigkeit des Militärs zur Durchführung dieser Mission nach der Revolution von 1968. Fehlende technische Expertise ließ die Offiziere von zivilen Experten abhängig bleiben; in Verwaltungsstellen und Führungspositionen öffentlicher Unternehmen blieben sie in der Regel zu kurz, um Fachkenntnisse zu erwerben, und Bemühungen zur Schaffung einer militärisch-bürokratischen Gruppe mittels praxisorientierten universitären Ausbildungsgängen für Offiziere blieben erfolglos (Villanueva 1982: 160-162). Die zunehmenden sozialen Spannungen führten 1974/75 zur Entstehung von Faktionen mit unterschiedlicher politischer Orientierung im Offizierskorps, was die Einheit der Regierung zunehmend in Frage stellte (North 1983; Abugattas 1987: 125-131). Diese Entwicklung, die die Einheit des Militärs als Institution bedrohte, bildete 1975 den Hintergrund für die Palastrevolte gegen den kranken Velasco und für die Reorientierung des Regimes in eine Richtung, die der Bewahrung der Einheit der Streitkräfte oberste Priorität einräumte. Hierzu zählte nicht allein das allmähliche Einschlagen des Weges zurück in die Kaserne, sondern auch eine Selbstprivilegierung des Militärs, bei der die Beschaffung von Waffensystemen und die Erhöhung von Salären nur einige unter zahlreichen
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Aspekten darstellten (Philip 1978: 109-113; Villanueva 1982: 163-169). Die Umverteilung von Einkommen zugunsten der militärischen Elite scheint in den Jahren 1975-1978 den Preis für die Bewahrung der institutionellen Einheit der Streitkräfte und die Verhinderung eines Abgleitens ins Chaos dargestellt zu haben. Insgesamt zeigen die vorstehenden knappen Ausführungen einerseits, daß die Wirtschaftskrise der Jahre 1975-1978 weit mehr war als eine durch Schocks verursachte Anpassungskrise. Vielmehr wurde sie auch durch die Widersprüche der verfolgten Politik der ISI sowie einen institutionellen Rahmen, der weder konsistente Anreize noch Planungssicherheit schuf, verursacht. Die Formulierung einer angemessenen Wirtschaftspolitik stellte somit eine erhebliche Herausforderung dar. Ihr gerecht zu werden war jedoch andererseits angesichts der Lage des politischen Regimes äußerst schwierig. Die Autonomie der Entscheidungsträger war anders als zu Beginn der Revolution durch die Herausbildung potenter organisierten Interessengruppen sowie durch die drohende Faktionierung des Offizierskorps äußerst gering. Die Struktur des Regimes, die weder eine professionelle Gestaltung noch eine öffentliche Kontrolle der Wirtschaftspolitik vorsah, war zudem einer kompetenten Wirtschaftspolitik wenig zuträglich. Das Durchziehen der Anpassungspolitik nach 1975 erforderte schließlich einen Regimewandel, der sowohl eine verstärkte Selbstprivilegierung der Streitkräfte als auch eine (durch Repression und den Abbau von Rechten durchgesetzte) Distanzierung von einem wichtigen Allianzpartner, der organisierten Arbeiterschaft, implizierte. Daß auch dies nicht zu einer Stabilisierung der institutionellen Rahmenbedingungen beitrug, liegt auf der Hand. Die allgemeinen Elemente dieser Problemlagen waren keineswegs auf Peru beschränkt; in je spezifischen Konstellationen prägten sie sowohl frühere Anpassungspolitiken in chronisch instabilen Ländern als auch die Situation vieler Länder der Dritten Welt in der Krise der 1980er Jahre (Haggard/Kaufman 1992: 18-36).
Entscheidung unter hoher Ungewißheit:
die empirische
Situation
Die wirtschaftspolitische Entscheidungssituation war nicht allein durch das gleichzeitige Vorliegen einer Strukturkrise und von Schocks sowie durch die schwierige politische Situation der Entscheidungsträger gekennzeichnet. Vielmehr wurde sie zusätzlich dadurch kompliziert, daß für eine Anpassungspolitik wichtige Parameter schwer zu schätzen waren und sind. Die wirtschaftspolitischen Akteure hatten somit in einer durch hohe Ungewißheit geprägten Situation zu entscheiden. Der vom IMF üblicherweise verwendete eklektische Ansatz zur Formulierung eines Anpassungsprogramms erfordert Informationen über die Parameter
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einer Geldnachfragefunktion sowie über die Importneigung (Wohlmuth 1983: 203-205; Scheetz 1986: 11-13). Beides ist erforderlich, um Zielgrößen für die Geldmengensteuerung sowie den Bedarf der externen Anpassungsfinanzierung festzulegen. Nun ist es aber unmöglich, für Peru eine einigermaßen stabile Geldnachfragefunktion zu schätzen. Der einzige mir bekannte Versuch ist derjenige von Uriarte (1986: 97), der allerdings unter drei gravierenden Problemen leidet: Das von ihm spezifizierte Modell hat einen geringen theoretischen Gehalt (das Preisniveau wird durch eine lineare Funktion des nominalen Volkseinkommens, der Geldmenge und der Preise von Importgütern determiniert), die von ihm verwendeten Bestandsgrößen weisen einen gemeinsamen Zeittrend auf und sind schließlich alles andere als normalverteilt. Entgegen landläufigen Erwartungen weist denn auch der Schätzparameter des Volkseinkommens einen positiven Wert auf. Eine all diese methodischen Schwierigkeiten berücksichtigende Reanalyse von Uriartes Daten (Uriarte 1986: 145-149) führt zu wenig konsistenten Ergebnissen. Verwendet sei im folgenden ein einfaches Modell, das auf einer logarithmischen Transformation der bekannten Quantitätsgleichung darstellt: log P = ao + aj • log Yr + a 2 • log G
(1)
(P Index der Konsumgüterpreise, Yr um Konsumgüterpreise deflationiertes Bruttoinlandprodukt, G Geldmenge Ml) Betrachtet man zunächst den Zeitraum 1960-1980, so ergibt sich das methodische Problem, daß aufgrund der starken Inflation der späten 1970er Jahre die Variablen auch in der logarithmierten Form nicht normalverteilt sind und daß sie einen gemeinsamen Trend aufweisen. Es wurden deshalb nur Modelle auf der Basis der ersten Differenzen geschätzt. Im folgenden seien zwei OLSSchätzungen für die Jahre 1961-1980 bzw. 1961-1974 diskutiert (in Klammern Standardfehler; A log bezeichnet Differenzen von Logarithmen): 1961-1980 A log P = 0 . 0 6 6 - 0.814 • A log Yr - 0.733 • A log G R2 = 0.541, D W = 1.12 (0.057) (0.188) (0.377)
(2)
1961-1974 A log P = 0.102 - 0.124 • A log Y r - 0 . 0 0 2 A log G R2 = 0.043, DW = 1.33 (0.028) (0.178) (0.117)
(3)
Auf den ersten Blick macht Gleichung (2) einen plausiblen Eindruck: Die Parameter für Yr und G haben das erwartete Vorzeichen und weisen Werte auf, die wenig unter 1 liegen. Zudem liegt die Konstante nahe bei null, was auf eine stabile Geldumlaufgeschwindigkeit hindeutet. Allerdings liegt der Wert für den Durbin-Watson-Test beträchtlich unter 2, und auch weitere Teststatistiken deu-
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ten auf eine ungebührlich starke Autokorrelation der untersuchten Zeitreihen hin. Die weitere Untersuchung des Modells zeigt denn auch, daß erst durch den Einschluß der (durchwegs hohen) Variablen-Werte der zweiten Hälfte der 1970er Jahre substantielle Schätzwerte zustandekommt. Anschaulich belegt dies Gleichung (3), die nur die Jahre 1961-1974, also den Zeitraum vor dem Auftreten massiver Ungleichgewichte, berücksichtigt. Die Schätzparameter für Yr und G liegen nun erheblich tiefer (auch im Vergleich zu den Standardfehlern), und der Koeffizient für die Geldmenge weist das falsche Vorzeichen auf. Beunruhigend ist umgekehrt die auch im Vergleich zum Standardfehler hohe Konstante; sie deutet auf eine erhebliche Variabilität der Geldumlaufgeschwindigkeit bereits vor der hohen Inflation der späten 1970er Jahre hin (vgl. auch Scheetz 1986: 41-46). Es versteht sich, daß die prognostische Leistung der Schätzung von Gleichung (3) für die Anpassungsperiode der zweiten Hälfte der 1970er Jahre gleich null ist. Eine analoge Analyse unter Verwendung von M2 statt Ml als Geldmengenindikator (Scheetz 1986: 192) führt zu praktisch identischen Ergebnissen. Ahnlich präsentiert sich die Lage beim Verhalten der Importe. Die von Uriarte (1986: 90-92) geschätzten Importfunktionen müssen sich ebenfalls den Vorwurf massiver Fehlspezifikationen gefallen lassen (fehlende Normalverteilungen, beträchtliche Autokorrelationen). Auch unter Berücksichtigung der fraglichen methodischen Probleme fällt es jedoch wiederum sehr schwer, auch nur eine sehr einfache Importfunktion zuverlässig zu schätzen. Im folgenden sei dies anhand eines Modells vorgeführt, das die realen Importe durch eine lineare Funktion des Realeinkommens und die in heimischer Währung ausgedrückten Importpreise determiniert sieht. Ein zuverlässiger Parameter für die letztere Größe ist insbesondere Voraussetzung dafür, daß das Ausmaß der für die Stabilisierung erforderlichen Abwertung bestimmt werden kann. Zur Verminderung der angeführten methodischen Probleme werden die Schätzungen für Wachstumsraten durchgeführt (Differenzen von Logarithmen führen zu identischen Ergebnissen): 1961-1980 A M r = 0.040 + 0.165 • A Yr + 0.030 • APm (0.128) R2 = 0.007, D W = 1.68 (0.064) (0.498)
(4)
1961-1974 A Mr = -0.025 + 0.320 • A Yr + 0.851 • A Pm 2 R = 0.409, DW = 1.28 (0.065) (0.468) (0.308)
(5)
Mr um Konsumgüterpreise deflationierte Importe, Pm Importpreise in heimischer Währung)
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Zwar fallen bei diesen Schätzgleichungen Autokorrelation und Häufigkeitsverteilung der Variablen dergestalt aus, daß sie die dem OLS-Schätzverfahren zugrundeliegenden Annahmen nicht verletzen. Für das Volkseinkommen läßt sich jedoch keine stabile, wesentlich über dem Standardfehler liegende marginale Importneigung feststellen (ähnlich Scheetz 1986: 46-48), und Preisfluktuationen der Importe schlagen nur in der Subperiode 1961-1974, nicht aber im gesamten Untersuchungszeitraum, der insbesondere die durch starke Abwertungen gekennzeichnete zweite Hälfte der 1970er Jahre einschließt, auf die Importe durch. Auch andere Autoren sind nicht zu einem konsistenten Modell des Importverhaltens von Peru während des fraglichen Zeitraums gelangt (vgl. Cline 1981:313-314, 329-330). Diese Ergebnisse mögen in ihrer Unbestimmtheit außerordentlich scheinen, doch passen sie gut zum allgemeinen Befund, daß eine konsistente empirische Bestimmung makroökonomischer Parameter lateinamerikanischer Volkswirtschaften mit großen Schwierigkeiten verbunden ist (vgl. z. B. den Literaturüberblick bei Uriarte 1986: 8-16). Aus Sicht der ökonometrischen Forschung mag dies schlicht unbefriedigend sein, doch für wirtschaftspolitisches Handeln hat dies zwei wichtige Implikationen. Erstens fällt es schwer, die im vorigen Abschnitt qualitativ geschilderten Gründe für die um 1975 zutage tretenden Ungleichgewichte in der peruanischen Wirtschaft zuverlässig zu bestimmen und damit auch Handlungsgrundlagen für eine angemessene Wirtschaftspolitik zu schaffen. Dieser Sachverhalt schlägt sich darin nieder, daß die seit den 1950er Jahren schwelende Debatte um eine strukturalistische vs. monetaristische Diagnose der Ungleichgewichte lateinamerikanischer Volkswirtschaft sowie um deren Beseitigung nie entschieden worden ist und auch im Umfeld der peruanischen Anpassungspolitik kontrovers geführt worden ist (allgemein Sutton 1984; zu Peru insbesondere Cline 1981; Schydlowski/Wicht 1983). Zweitens erschwert das Fehlen von Informationen über zentrale Parameter die rationale Formulierung eines Anpassungsprogramms. Vielmehr muß dabei gerade auch seitens des IMF auf der Basis von ad-hoc-Annahmen improvisiert werden. Dies ist zwar mindestens seit etwa 1980 bekannt, auch beim IMF selbst (Williamson 1980: 265-270; Wohlmuth 1983: 205), aber über eine Kritik an konkreten Politiken hinausgehende Folgerungen wurden daraus kaum je gezogen. Denn die hohe Ungewißheit impliziert, daß die am Kommunikationsvorgang der Politikformulierung teilnehmenden Akteure — die nationale Regierung, einflußreiche nationale Interessengruppen, internationale Organisationen und weitere involvierte Gläubiger — nicht über ein generalisiertes Kommunikationsmedium etwa im Sinn der (wissenschaftlichen) Wahrheit verfügen, mit dem sie ihre Handlungsziele gegenseitig vermitteln und abstimmen können (Luhmann 1997: 316-396). Dies erklärt wenigstens zum Teil die oben darge-
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stellte geringe Konsistenz der Position maßgeblicher Akteure sowie das hohe Konfliktniveau des Weges zur Anpassung: Angesichts der hohen Ungewißheit und des Fehlens allgemein verbindlicher, „wahrer" Wissensbestände wurden (und werden oft auch heute) Aushandlungsvorgänge durch Durchsetzungskraft und Widerstand geprägt; Mechanismen der Kooperation konnten nicht auf Vertrauen aufbauen, sondern mußten sich vielmehr auf die Vermeidung eines moral hazard ausrichten. 2 Schluß Ziel dieses Aufsatzes ist es, anhand der Analyse einer kritischen Episode in der Entstehung des Instruments der multilateralen Umschuldung zum Verständnis des institutionellen Wandels im Bereich der internationalen Wirtschaftsbeziehungen beizutragen. Das Hauptargument ging davon aus, daß die Entstehung von kooperativem Handeln — auf diesem setzt die multilaterale Umschuldung auf — ein überschaubares Akteurfeld und eine minimale Kontinuität der Interaktion bedingt. Diese beiden Voraussetzungen wurden durch die starke Konzentration der Gläubigerstruktur im Bereich der Finanzinstrumente, zu denen Drittweltländer Zugang haben, sowie durch das zwar nicht sehr häufige, aber doch kontinuierliche Auftreten von Finanzkrisen, die neben der Anpassungsfinanzierung des IMF die Kooperation der Gläubiger erforderten, erfüllt. Aus dem letzteren Tatbestand läßt sich das Argument ableiten, daß es gerade die geringe Leistungsfähigkeit im Sinn einer dauerhaften Stabilisierung der Außenbilanz eines Landes gewesen ist, die die Herausbildung einer Kombination von Anpassungsfinanzierung und Umschuldung bereits vor der Welle drohender Insolvenzen staatlicher Schuldner im Jahre 1982 gefördert hat. In der Folge wurde versucht, dieses Paradox der Parallele von institutioneller Evolution und beschränkter Leistungsfähigkeit anhand des paradigmatischen Beispiels von Peru in den Jahren 1975-1978 zu erhellen. Es konnte gezeigt werden, daß durch die Gleichzeitigkeit einer Anpassungskrise mit einer durch eine problematische Entwicklungspolitik und fragile ökonomische Institutionen verursachten Strukturkrise eine komplexe Situation entstanden war, die die Wirtschaftspolitik in jedem Fall vor eine große Herausforderung stellte. Eine rationale Politik wurde jedoch einerseits dadurch erschwert, daß wirtschaftspolitisch relevante Parameter der peruanischen Volkswirtschaft empirisch schwer zu bestimmen waren und sind, so daß ein sozial generalisiertes Medium der Kommunikation, das auch als Basis sozialen Lernens hätte fungieren kön2 Für eine Analyse von Umschuldungsmechanismen aus informationstheoretischer bzw. spieltheoretischer Sicht, die hier nicht vertieft werden können, vgl. Reinhardt (1990).
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nen, weitgehend fehlte. Andererseits unterlag das politische Regime einer Dynamik, die zugleich einer kompetenten Wirtschaftspolitik wenig förderlich war und durch die Ausbildung potenter Interessengruppen den Handlungsspielraum massiv begrenzte. Als Folge davon wurde die Anpassungspolitik nur zögerlich in die Hand genommen, und diese trug über den von ihr hervorgerufenen Widerstand selbst wieder zu einem Wandel des politischen Regimes bei, was der Herausbildung stabiler wirtschaftlicher Rahmenbedingungen wenig zuträglich war. Die konfliktive Natur des Anpassungsprozesses förderte seitens der Gläubiger ein Verhalten, das weniger auf konkrete wirtschaftspolitische Ziele gerichtet war, sondern durch Kooperation primär die Vermeidung von moral hazard anstrebte. Auf einer allgemeineren Ebene trägt der gegenwärtige Aufsatz zum Verständnis der Variablen bei, die zur Modellierung von evolutiven Vorgängen, die zur Entstehung kooperativer Institutionen führen, erforderlich sind. Zum einen ist neben (im gegenwärtigen Fall extrem hohen) Informationskosten und der Konstellation kollektiver Akteure auch die soziale Konstitution eines Interaktionsfelds (im Sinn von Überblickbarkeit und Möglichkeit zu Rollenverhalten) zu berücksichtigen. Zum anderen wird die Offenheit wie auch die Erfordernis der genauen Betrachtung von Selektionsmechanismen betont: Im vorliegenden Fall gewähren weder anonyme Märkte noch reflexive („wissende", institutionalisierte) Akteure die Basis für die Selektion eines institutionellen Arrangements. Vielmehr sichert im erörterten Beispiel gerade die begrenzte Leistungsfähigkeit einer institutionellen Lösung die Anschlußfähigkeit von Kommunikation und damit die Evolution einer zwar funktional tauglichen, aber nach allgemeinem Dafürhalten alles andere als optimalen Institution. Vielleicht erklärt dieser Sachverhalt wenigstens zum Teil, weshalb die Welt von heute weitgehend von suboptimalen Institutionen geprägt ist. Literatur Abugattas, Luis A. (1987): Populism and After: the Peruvian Experience. In: James M. Malloy und Mitchell A. Seligman (Hrsg.): Authoritarians and Democrats: Regime Transition in Latin America. Pittsburgh, P.A., University of Pittsburgh Press. S. 121-143. Cleaves, Peter SVPease Garcia, Henry (1983): State Autonomy and Military Policy Making. In: Cynthia McClintock und Abraham F. Lowenthal (Hrsg.): The Peruvian Experiment Reconsidered. Princeton, N.J., Princeton University Press. S. 209-244. Cline, William R. (1981): Economic Stabilization in Peru, 1975-78. In: William R. Cline und Sidney Weintraub (Hrsg.): Economic Stabilization in Developing Countries. Washington, Brookings Institution. S. 297-334. Devlin, Robert/de la Piedra, Enrique (1985): Peru and its Private Bankers: Scenes from an Unhappy Marriage. In: Miguel S. Wionczek (Hrsg.): Politics and Economics of External Debt Crisis. The Latin American Experience. Boulder, CO, Westview. S. 383-426.
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