Kunstlied als Liedkunst: Die Lieder Franz Schuberts in der musikalischen Aufführungskultur des 19. Jahrhunderts 3515114068, 9783515114066

Orte für die klingende Existenz von Kunstliedern wurden innerhalb des von einschneidenden Wandlungsprozessen bestimmten

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INHALTSVERZEICHNIS
1 EINLEITUNG
2 VORÜBERLEGUNGEN
2.1 MUSIK – INTERPRETATION – AUFFÜHRUNGSKULTUR
2.2 ›LIED‹ – ›SCHUBERT‹ – ›SCHUBERT-LIED‹
2.3 ÜBERBLICK
3 BÜRGERLICHE KUNSTLIEDKULTUR UM 1800
3.1 ›SANGBARKEIT‹ ALS IDEAL UND IDEOLOGIE
3.2 SOZIAL- UND MEDIENGESCHICHTLICHE ASPEKTE
3.3 KÖRPER UND STIMME
3.4 »LIEDERKUNST« ZWISCHEN EMPFINDSAMKEIT UND ROMANTIK
4 SCHUBERTS LIEDER IM WIENER MUSIKLEBEN
4.1 SCHUBERT, LIED UND BIEDERMEIER-DISKURS
4.2 PRIVATHEIT: SCHUBERTIADEN UND AUTONOMIEIDEAL
4.3 HALBÖFFENTLICHKEIT: ›KENNERSCHAFT‹ UND SALONKULTUR
4.4 ÖFFENTLICHKEIT: KONZERTE UND NOTENDRUCK
5 GESANGSIDEALE DER SCHUBERT-ZEIT
5.1 BEDINGUNGEN: ›SCHUBERTS STIMMEN‹
5.2 KONTEXTE UND DISKURSE
5.3 DER LIEDVORTRAG: ÄSTHETISCHE KONTROVERSEN
6 ZUR KONSTRUKTION DES ›SCHUBERT-LIEDES‹
6.1 SCHUBERT-BILD UND MUSIKREZEPTION
6.2 VORMÄRZ: »ZAUBERNAME« UND »LIEDERHEROS«
6.3 JAHRHUNDERTMITTE
6.4 GRÜNDERZEIT: ›SCHUBERT-LIED‹ UND NATIONALISMUS
7 ›SCHUBERT-SÄNGER‹: JULIUS STOCKHAUSEN
7.1 AUSGANGSPUNKTE
7.2 LIEDGESANG ALS »ECHTE MISSION DES VIRTUOSEN«
7.3 STOCKHAUSENS SCHUBERT-REPERTOIRE
7.4 STOCKHAUSENS SCHUBERT-ZYKLEN
8 LIEDKUNST UND KULTURELLE INSZENIERUNG
8.1 LIEDGESTALTUNG ALS ›INTERPRETATION‹
8.2 AUFFÜHRUNGSKONVENTIONEN UND -EXPERIMENTE
9 ZUSAMMENFASSUNG
10 VERZEICHNISSE
10.1 ABKÜRZUNGEN UND SIGLEN
10.2 LITERATURVERZEICHNIS
10.3 NOTENAUGABEN
10.4 ABBILDUNGEN
11 ANHANG: JULIUS STOCKHAUSENS SCHUBERT-AUFFÜHRUNGEN
DANK
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Kunstlied als Liedkunst: Die Lieder Franz Schuberts in der musikalischen Aufführungskultur des 19. Jahrhunderts
 3515114068, 9783515114066

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Martin Günther

Kunstlied als Liedkunst Die Lieder Franz Schuberts in der musikalischen Aufführungskultur des 19. Jahrhunderts

Musikwissenschaft Franz Steiner Verlag

Schubert : Perspektiven – Studien 4

Martin Günther Kunstlied als Liedkunst

Schubert : Perspektiven – Studien 4 Her ausgegeben von Hans-Joachim Hinrichsen und Till Gerrit Waidelich In verbIndung mIt Marie-Agnes Dittrich, Walther Dürr, Anselm Gerhard und Andreas Krause

Martin Günther

Kunstlied als Liedkunst Die Lieder Franz Schuberts in der musikalischen Aufführungskultur des 19. Jahrhunderts

Franz Steiner Verlag

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung des Förderungs- und Beihilfefonds Wissenschaft der VG Wort

Umschlagabbildung: Franz Schubert, Erlkönig, 2. Fassung (ca. 1816) Mus.ms.autogr. Schubert, F. 1 (16) Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, Musikabteilung mit Mendelssohn-Archiv Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2016 Druck: Offsetdruck Bokor, Bad Tölz Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier. Printed in Germany. ISBN 978-3-515-11406-6 (Print) ISBN 978-3-515-11407-3 (E-Book)

INHALTSVERZEICHNIS 1

EINLEITUNG............................................................................................. 7

2

VORÜBERLEGUNGEN 2.1 2.2 2.3

3

BÜRGERLICHE KUNSTLIEDKULTUR UM 1800 3.1 3.2 3.3

3.4 4

Sangbarkeit als Ideal und Ideologie.............................................. Sozial- und mediengeschichtliche Aspekte................................... Körper und Stimme 3.3.1 Liedvortrag und Expressivität............................................ 3.3.2 Liedvortrag und Gesangskunst.......................................... 3.3.3 Liedvortrag und Deklamationskunst.................................. »Liederkunst« zwischen Empfindsamkeit und Romantik.............

28 35 45 56 66 77

SCHUBERTS LIEDER IM WIENER MUSIKLEBEN 4.1 4.2 4.3 4.4

5

Musik – Interpretation – Aufführungskultur ................................. 12 ›Lied‹ – ›Schubert‹ – ›Schubert-Lied‹........................................... 18 Überblick....................................................................................... 23

Schubert, Lied und Biedermeier-Diskurs...................................... 87 Privatheit: Schubertiaden und Autonomieideal............................. 98 Halböffentlichkeit: Kennerschaft und Salonkultur....................... 110 Öffentlichkeit: Konzerte und Notendruck.................................... 121

GESANGSIDEALE DER SCHUBERT-ZEIT 5.1 5.2

5.3

Bedingungen: ›Schuberts Stimmen‹............................................. 137 Kontexte und Diskurse 5.2.1 Wiener Musiktheater und ›deutsches Bühnenideal‹......... 146 5.2.2 Anna Milder-Hauptmann – »echtdeutschester Gesang«... 151 5.2.3 Johann Michael Vogl – »deklamatorischer Gesang«........ 159 Der Liedvortrag: ästhetische Kontroversen.................................. 172

6 6

Inhaltsverzeichnis

ZUR KONSTRUKTION DES ›SCHUBERT-LIEDES‹ 6.1 6.2 6.3 6.4

7

›SCHUBERT-SÄNGER‹: JULIUS STOCKHAUSEN 7.1 7.2 7.3 7.4

8

Schubert-Bild und Musikrezeption.............................................. 190 Vormärz: »Zaubername« oder »Liederheros«?............................ 194 Jahrhundertmitte 6.3.1 ›Schubert-Lied‹ und Musikhistoriographie...................... 205 6.3.2 »Concertsaal« oder »wahre Hausmusik«?........................ 214 Gründerzeit: ›Schubert-Lied‹ und Nationalismus........................ 227

Ausgangspunkte........................................................................... 238 Liedgesang als »echte Mission des Virtuosen«............................ 240 Stockhausens Schubert-Repertoire .............................................. 252 Stockhausens Schubert-Zyklen 7.4.1 Die schöne Müllerin......................................................... 262 7.4.2 (Die) Winterreise.............................................................. 279 7.4.3 Zwischen Musik- und Literaturpraxis............................... 284

LIEDKUNST UND KULTURELLE INSZENIERUNG 8.1.

8.2

Liedgestaltung als ›Interpretation‹ 8.1.1 Max Friedlaenders Schubert-Album................................ 289 8.1.2 Liedvortrag und hermeneutische Kultur........................... 302 8.1.3 »Intelligentes Gefühl«: Vortragsideale............................. 313 Aufführungskonventionen und -experimente 8.2.1 Gustav Walters Schubert-Abende..................................... 331 8.2.2 Zwischen Intimität und Monumentalität........................... 342

9

ZUSAMMENFASSUNG........................................................................ 365

10

VERZEICHNISSE 10.1 10.2 10.3 10.4

11

Abkürzungen und Siglen.............................................................. 376 Literatur....................................................................................... 377 Notenausgaben............................................................................. 402 Abbildungen................................................................................. 403

ANHANG: Julius Stockhausens Schubert-Aufführungen........................................... 405 DANK...................................................................................................... 415

1 EINLEITUNG Das deutsche Klavierlied, das im 19. Jahrhundert aufkam, kann in zweieinhalb Minuten ein ganzes Leben abbilden: Lyrik, beflügelt durch tönend bewegte Luft. Auf die kleinen Dinge kommt es dabei an. Auf Sekundenblitze. Winzige Pointen, eine Pausenverlängerung, eine federleichte Umfärbung in den Nuancen, Vibrato verboten, Pathos von Übel. Oft reicht schon das Anheben einer Augenbraue. Deutsch ist das Lied.1

Das ›romantische Klavierlied‹, einst integraler Bestandteil der privaten Musikpraxis eines deutschsprachigen ›Bildungsbürgertums‹, scheint innerhalb der gegenwärtigen Musikkultur kaum Überlebenschancen zu haben. Nachdem das 19. Jahrhundert das Lied, wie Adorno bereits 1928 polemisierte, »gleich einem Möbel in Besitz genommen« habe2, wird dieser Musikgattung auch in Zeiten der Restitution ›bürgerlicher‹ Werte bestenfalls der Stellenwert einer angestaubten Antiquität zuerkannt. Christoph Marthaler, der Schuberts Schöne Müllerin vor bereits über zehn Jahren3 auf so radikal wie konsequente Weise durch schonungslose Ausleuchtung der Abgründe bürgerlicher Mentalitätsverfaßtheit gleichsam als eine Art Traumprotokoll auf die Bühne stellte 4, übersetzt die entstandene Kluft zwischen ästhetischer Substanz und der mit ihr verbundenen kulturellen Praxis in skurrile, aber aussagekräftige Bilder: Die »schöngeistig-verklärend[e] Aufführungsgeschichte der Müllerin« findet sich hier allegorisch verkörpert durch eine »ein grün bis türkis changierendes Abendkleid, einen enormen Dutt und eine Notentasche« tragende Sopranistin, die – weitgehend ausgeschlossen von der Interaktion zwischen mehrfach gespiegelten Müllerinnen- und Gesellenfiguren – immer wieder verzweifelt zur Whiskyflasche greift.5 Das Kunstlied hat offenbar ein massives Image-Problem. Eine »Konzertgattung, bei der auf der Bühne nichts weiter zu sehen ist, als ein Sänger, ein Pianist und vielleicht noch ein Blumengesteck«6 scheint kaum noch kompatibel mit den Anforderungen zeitgenössischer Eventkultur. Rettungsaktionen zugunsten des europäischen (v. a. deutschen) Klavierliedrepertoires im (ohnehin gefährdeten und 1

2 3 4 5 6

Eleonore Büning, Sing mir das Lied, bevor es tot ist, in: FAZnet. URL: http://www.faz.net/ aktuell/feuilleton/buehne-und-konzert/saengerfoerderung-sing-mir-das-lied-bevor-es-tot-ist1590690.html [21.11.2015]. Theodor W. Adorno, Situation des Liedes [1928], in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 18: Musikalische Schriften 5, Frankfurt a. M. 1984, S. 345. 2001/02 im Schauspielhaus Zürich und im Rahmen der Ruhr-Triennale. Vgl. Guido Hiß, Marthalers Traum von der »Schönen Müllerin«, in: Theater über Tage. Jahrbuch für das Theater im Ruhrgebiet, Münster 2003, S. 201‒208. Ebd., S. 204. Verena Fischer-Zernin, Ein Plädoyer für den Liederabend: »So lange die dicke Frau noch singt...«, in: abendblatt.de. URL: http://www.abendblatt.de/kultur-live/article107724954/Solange-die-dicke-Frau-noch-singt.html [21.11.2015].

8

1 Einleitung

somit hart umkämpften) klassischen Konzertbetrieb verzeichnen daher seit einiger Zeit eine bescheidene Konjunktur: Lied-Wettbewerbe und Lied-Akademien setzen sich zum Ziel, neben Herausforderung und Förderung künstlerischen Nachwuchses zum Erhalt einer lebendigen Liedkultur jenseits von Starkult und Repertoireverengung beizutragen.7 Feuilletonistische Plädoyers sind sich einig in ihrer Kritik an Bildungsschwund und mangelnder Singpraxis innerhalb der Gesellschaft8 und fordern dazu auf, in der vom Lied verlangten, aber als anachronistisch empfundenen, Innenschau inmitten des »marktschreierischen Getümmel[s]« der kulturellen Gegenwart eine neue Chance zu erblicken.9 Ein Grundproblem besteht, wie die moderne Konzertpädagogik und -dramaturgie konstatiert, offenbar in der mit der Gattung assoziierten Präsentationsweise: »Immer weniger Menschen verstehen die Sprache eines Liederabends«. 10 Neben der mangelnden Vertrautheit mit dem Kanon vertonter Texte und deren ideen- und kulturgeschichtlichen Kontexten sind damit auch die Rezeptionshaltung und die Frage der Aufführungsatmosphäre angesprochen: Sich in kunstreligiöser Leidensbereitschaft einem ›Nur-Zuhören‹ hinzugeben erscheint eben alles andere als zeitgemäß. Zudem wird im Liederabend die Abwesenheit des reizvollen szenisch-dramatischen Moments beklagt. Verschiedenste Variationen intermedial aufbereiteter Präsentationsformate, die Liedaufführungen mit visueller, bildender und darstellender Kunst sowie gesprochener Sprache kombinieren, sollen daher dem verstaubten Modell des ›Liederabends‹ die zeitgemäße Idee einer kommunikativen WortKlang-Vermittlung gegenüberstellen. Ein konkretes Beispiel dafür ist etwa die seit 2008 von der Sopranistin Annette Dasch im Berliner Kulturforum Radialsystem bzw. der Alten Oper Frankfurt präsentierte (und mittlerweile auch fürs Fernsehen produzierte) Lieder-Talkshow Annettes Daschsalon. Die Sängerin präsentiert in unregelmäßigen Abständen eine Art ›Schubertiade reloaded‹ ‒ prominente Aufhängfigur, prominente Gäste gemischt mit vielversprechendem Nachwuchs, eine bunte Mischung aus Plauderei, Lyrik und ineinandergeifenden Volks-, Pop- und Kunstliedperformances – natürlich ›ganz locker‹ und möglichst mit Publikumsbeteiligung. Ob man darin nun eine konzeptionelle Erweiterung der Aufführungskultur, ein konzertpädagogisches Bindeglied zum traditionellen Liederabend oder womöglich doch nur das von Kulturschaffenden immer wieder angeprangerte Odium der 7

8

9

10

Als jüngere Projekte und Initiativen wären hier etwa der von Thomas Quasthoff initiierte Wettbewerb Das Lied (Berlin), außerdem der Internationale Wettbewerb für Liedkunst der Stuttgarter Hugo-Wolf-Akademie, der von Irwin Gage ins Leben gerufene Dortmunder Schubert-Wettbewerb für Liedduo sowie die von Thomas Hampson und Wolfram Rieger betreute LiedAcademy des Festivals Heidelberger Frühling zu nennen. Auf diesen Punkt reagierte mit der Studioaufnahme von Wiegen- und Volksliedern inkl. Mitsing-CDs in jüngerer Zeit mit überraschendem Erfolg ein Gemeinschaftsprojekt von SWR und Carus-Verlag (www.liederprojekt.org [Abfragedatum: 8.4.2013]). Christine Lemke-Matwey, Angst essen Kehle auf. Muntere Musiker, gusseiserne Tradition: Thomas Quasthoffs Liedwettbewerb in Berlin, in: tagesspiegel.de. URL: http://www.tagesspiegel.de/kultur/angst-essen-kehle-auf/3888904.html [21.11.2015]. Vgl. Markus Fein, Musikkurator und RegieKonzert, in: Das Konzert. Neue Aufführungskonzepte für eine klassische Form, hg. von Martin Tröndle/Beatrix Borchard, Bielefeld 2009, S. 214.

1 Einleitung

9

›Heruntervermittlung‹ erblicken mag, sei zur Diskussion gestellt. Erfolgsentscheidend scheint hier ohne Zweifel der Faktor medienwirksamer Prominenz gepaart mit einer Art Off-Theater-Atmosphäre im Dienst einer Abrüstung der als elitär kritisierten Hochkultur.11 Die in der Klassikbranche allenthalben registrierbaren (da als überlebensnotwendig erachteten) Popularisierungstendenzen verweisen, wie dieses Beispiel zeigen kann, in Bezug auf das ›sperrig‹ und anachronistisch geltende Kunstlied damit aber auch in Richtung einer Wiederbelebung historischer Aufführungs- und Rezeptionspraktiken. Der im Laufe der Gattungsgeschichte des Liedes eingeschlagene, im Grunde paradox anmutende, Weg von einer usuell basierten Musikpraxis zur öffentlichen Präsentation und Rezeption durch ein exklusives Kennerpublikum läßt sich allerdings schwerlich umgekehrt beschreiten. Mit dem Niedergang einer bürgerlichen Hausmusikkultur scheint dem Kunstlied somit eine organisch gewachsene gesellschaftliche Basis schlichtweg abhanden gekommen zu sein. Ein ›Ort‹ für das Kunstlied innerhalb der gegenwärtigen, durch eine größtmögliche Diversifikation geprägten Musikkultur muß demnach erst neu erfunden werden. Verfolgt man die hier angedeuteten Überlegungen zur historischen Genese einer modernen Kunstliedkultur weiter, offenbaren sich indes auch schnell die Probleme dieses Erklärungsansatzes. Bereits im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts erscheint die Sozial- und Aufführungsgeschichte des Kunstliedes bei genauerer Betrachtung geprägt durch das komplexe Ineinandergreifen von bzw. Gratwanderungen zwischen traditioneller sozialer Funktionalisierung und bürgerlichen Repräsentationsbedürfnissen. Dies legt bereits ein Blick auf die berühmten Wiener Schubertiaden der 1820er Jahre nahe, in deren Rahmen ›U‹ und ›E‹ auf eine aus späterer – durch das Ideal der Autonomieästhetik geprägten – Perspektive auf allzu ›unbekümmerte‹ Weise ineinanderflossen. In der Musikkultur der folgenden Jahrzehnte wandelten sich die Kontexte für die sich zunehmend etablierende öffentliche Aufführung von Kunstliedern fortwährend: Gattungs- bzw. stilübergreifende Heterogenität der Programmgestaltung und Tendenzen einer allmählichen Kanonisierung des Konzertrepertoires, verbunden mit der Institutionalisierung des Recitals, wurden um die Jahrhundertwende mit einer das Ideal der ›Intimität‹ remobilisierenden Konzertreform konfrontiert, die sich wiederum gegen eine Präsentation von ›Liedkunst‹ im Konzertsaal wendete und auf verschiedene Weisen versuchte, die ›Intimität‹ der Haus- und Salonmusikkultur in Form ihrer bewußten Inszenierung wiederzubeleben. Was aus aktueller Perspektive als publikumsorientierte Hybrid-Konzeption moderner Konzertdramaturgie anmuten könnte, geschah um 1900 freilich noch als Reaktion auf einen veritablen ›Liederabend-Boom‹, der damals das Musikleben von Metropolen wie Wien, München und Berlin regelrecht überflutete. Anhand dieser Schlaglichter auf eine bislang weitgehend ungeschriebene Sozial- bzw. Kulturgeschichte des Kunstliedes wird in jedem Fall bereits deutlich: Die 11

Die Hamburger Lieder-Galerie hingegen etwa, ein in der freien Szene entstandenes Projekt zur Belebung einer (regionalen) Kunstlied-Konjunktur konnte sich trotz beachtlicher Erfolge und innovativer Ideen nicht über Wasser halten. Vgl. zur Dokumentation: www.liedergalerie.de [8.4.2013].

10

1 Einleitung

Frage einer ›angemessenen‹ Verortung von ›Kunstlied‹ und ›Liedkunst‹ innerhalb der musikalischen Praxis war auch im (zumindest mittleren und späteren) 19. Jahrhundert keinesfalls so eindeutig, wie die geläufige musiksoziologische Formel ›Lied = Hausmusik‹ dies suggerieren mag. Vielmehr muß die ästhetische Transformation der Gattung zum elaborierten ›Kunstlied‹ vor dem Hintergrund eines vielschichtigen Prozesses der Integration von Volkstümlichkeit und Exklusivität im Zuge der Herausbildung einer nationalen Hochkultur betrachtet werden, mit der überdies die Hervorbringung und fortwährende Diskussion sowohl einer als ›angemessen‹ erachteten Aufführungspraxis als auch der entsprechenden Rezeptionskultur einherging. Auch innerhalb des von einschneidenden Wandlungsprozessen bestimmten Musiklebens des 19. Jahrhunderts wurden offenbar ›Orte‹ für das Kunstlied im Sinne unterschiedlicher performativen Rahmungen immer wieder neu geschaffen. Einer eingehenderen Kontextualisierung und Überprüfung dieser These widmet sich die vorliegende Untersuchung, die sich mit dem Ziel einer sowohl Differenzierung als auch Erweiterung der gattungshistorischen Diskussion auf die Spur eines häufig hergestellten grundsätzlichen Zusammenhangs zwischen der Gattung ›Kunstlied‹ und der Mentalitätsgeschichte des deutschsprachigen Bürgertums zwischen 1800 und 1900 begibt. Vor allem die komplexe Verzahnung von ›Privatheit‹ und ›Öffentlichkeit‹ im Sinne bewußt ausgeformter und voneinander abgegrenzter, gleichzeitig aber auch aufeinander einwirkender sozialer Wirklichkeiten bietet hier einen Ansatzpunkt. So soll gezeigt werden, daß die Institutionalisierung der heute als ›überholt‹ geltenden Präsentationsform des ›Liederabends‹ nicht nur auf einer pragmatischen Ebene durch die private Musik- und Literaturpraxis des Bürgertums getragen wurde, sondern als aufführungskulturelles Ritual im Sinne einer öffentlich zelebrierten ›Innerlichkeit‹ auch symbolischen Wert für dessen kulturelle Identitätsbildung hatte. In den Fokus der Betrachtung rücken damit sowohl die Frage nach den kulturellen Bedingungen und ästhetischen Konstanten einer sich vor solchem Hintergrund herausbildenden professionellen Liedvortragskunst als auch deren Wahrnehmung innerhalb der kulturellen Praxis. Wie deutlich wird, liegt der Hauptakzent der Untersuchung damit gerade nicht auf einer im klassischen Sinne ›aufführungspraktischen‹ Fragestellungstellung. Das Projekt einer quellengestützten Darstellung und Diskussion des historischen Liedvortrags soll hier vielmehr durch die kulturelle Kontextualisierung sowohl unterschiedlicher Aufführungssituationen als auch der damit verbundenen jeweiligen performativen Präsentationsweisen erweitert und damit an aktuelle kulturwissenschaftliche Ansätze angebunden werden. Damit versteht sich die Arbeit vor allem als Versuch, zur Vermittlung von musikwissenschaftlichem Diskurs und musikalischer Praxis jenseits einer Diskussion rein aufführungspraktischer Detailfragen beizutragen. Als methodischer Rahmen wird dazu in erster Linie die neuere musikwissenschaftliche Interpretations- und Rezeptionsforschung herangezogen, die es ermöglicht, den gewissermaßen hybriden Status des Kunstliedes zwischen Funktionalität und Autonomie als aufschlußreiches Exempel für die Verwobenheit ideeller Konstruktionen wie derjenigen der ›autonomen Kunst‹ und ihrer jeweiligen sozialen Bedingtheit als zwei Seiten einer Medaille zu beleuchten.

1 Einleitung

11

Da sich eine Studie wie die vorliegende kaum zum Ziel setzen kann, dem gesamten, auf werkästhetischer Ebene bereits weitläufig erforschten, Themenkomplex ›Kunstlied‹ aus einer derartigen Perspektivierung gerecht zu werden, muß der Blick notwendigerweise auf zentrale Gesichtspunkte gerichtet werden, wie sie in diesem Fall die Politik der Gattungshistoriographie liefern kann: Als historische Initialzündung und gattungsästhetischer Idealtypus für das ›Kunstlied‹ in einem engeren Sinne gelten die Liedkompositionen Franz Schuberts. Aus der erweiterten Perspektive kultureller Kontextualisierung sind Schuberts Lieder indes weniger als abgeschlossene gattungshistoriographische Episode aufzufassen, sondern eher im Sinne eines Gelenkpunktes zwischen einer ›traditionellen‹ und einer ›modernen‹ Liedästhetik beschreibbar, von dem aus sich sowohl Verbindungen ins späte 18. als auch ins spätere 19. Jahrhundert ziehen lassen. Vor allem die spezifische Konstellation von zeitgenössischer Schubert-Rezeption und traditionellem Liedideal gilt es hier zu erörtern, denn obgleich der Musikdiskurs dem Komponisten Schubert die Urheberschaft eines strukturell neuartigen Liedtypus’ zuschreibt, läßt sich auf der anderen Seite gerade eine folgenreiche semantische Überblendung von zeitgenössischem Schubert-Bild und traditionellem Liedbegriff konstatieren: Die Begriffe ›Schubert‹ und ›Lied‹ verschmelzen, wie zu zeigen sein wird, in der Musikkultur des mittleren und späteren 19. Jahrhunderts gleichsam zu Synonymen. Schubert und seine Liedkompositionen werden in dieser Untersuchung insofern auf unterschiedliche Weise präsent sein: Als musikhistoriographische Kategorie in Bezug auf die Gattungsgeschichte des Kunstliedes, als Metapher für ›liedhafte Innerlichkeit‹ in Bezug auf dessen Wirkungsgeschichte, als konkreter Untersuchungsgegenstand, vor allem aber als von Sängern und Sängerinnen im Laufe des 19. Jahrhunderts in verschiedenen Kontexten zum Klingen gebrachte Musik. Dabei steht indes, wie zu betonen bleibt, weniger ein dezidierter Beitrag zur SchubertForschung im Mittelpunkt als die Einbeziehung und Diskussion ihrer Ergebnisse bei der Konstellierung von Biographie, Werk-, Rezeptions- Aufführungs-, Institutions- und Interpretationsgeschichte vor dem methodischen Hintergrund neuerer kulturwissenschaftlicher Fragestellungen, die in den folgenden Präliminarien zunächst eingehender reflektiert werden.

2 VORÜBERLEGUNGEN 2.1 MUSIK – INTERPRETATION – AUFFÜHRUNGSKULTUR Gerade die so selbstverständliche Tatsache, daß Musik zu allererst erklingen muß, um ihre künstlerische Wirkung zu entfalten und ästhetische Erfahrungen zu ermöglichen, verweist auf die Notwendigkeit, sie auch aus historiographischer Perspektive als eine kulturelle Praxis aufzufassen, die sowohl das Erklingen selbst als auch dessen vielfältige Kontexte umfaßt. 1 Erst in jüngerer Zeit hat die Musikwissenschaft indes begonnen, sich diesem komplexen Phänomen auch mit Blick auf seine historiographischen Konsequenzen zu widmen: Zunehmend wird die vorrangig werkbezogene Musikbetrachtung durch erweiterte Perspektivierungen ergänzt, die andere Erkenntnisinteressen verfolgen als der traditionelle, in der Regel rein historisch-philologisch basierte, Forschungszweig der historischen bzw. ›historisch informierten‹ Aufführungspraxis. Von einer hagiographisch ausgerichteten Interpretenbiographik als Nebengleis der Kompositionsgeschichte galt es dabei freilich zunächst Abstand zu gewinnen. Der gleichwohl traditionell-werkzentrierten historischen Kontextualisierung des musikalischen Vortrags im 18. und 19. Jahrhundert aus einer geistes- bzw. ideengeschichtlichen Perspektive2 steht der innerhalb des musikwissenschaftlichen Diskurses erstmals von Hermann Danuser unternommene Versuch gegenüber, allgemeine Kategorien für die Beschreibung und Analyse »musikalische[r] Interpretation« zu entwickeln.3 Mit der grundsätzlichen Postulierung eines »Aufführungs-« und eines »Struktursinns« tendiert sein Ansatz indes dazu – und sei dies auch aus systematisch-heuristischen Gründen – zwei scheinbar voneinander trennbare Interpretationsbegriffe vorzuspiegeln. Klingende Interpretation wird hier gleichsam von Neuem zum decodierbaren ›Text‹ eingefroren, wodurch, wie etwa Gernot Gruber betont, »ein dem Akt der musikalischen Interpretation vorgegebenes Konzept gegen eine sich im Akt des Musizierens als etwas Präsentes ergebende Interpretation ausgespielt zu werden« scheint.4 An diesen Textbegriff knüpft auch die Disziplin der quantifizierenden Interpretationsforschung vor dem methodischen Hintergrund 1 2

3 4

Vgl. Lawrence Kramer, Music as Cultural Practice: 1800‒1900, Berkeley 1990. Vgl. etwa Peter Tenhaef, Studien zur Vortragsbezeichnung in der Musik des 19. Jahrhunderts, Kassel [u. a.] 1983; Ulrike Brenning, Die Sprache der Empfindungen. Der Begriff Vortrag und die Musik des 18. Jahrhunderts, Frankfurt a. M./Berlin 1998 sowie: Misei Choi, Der musikalische Vortrag im 19. Jahrhundert. Musiktheoretische und -ästhetische Untersuchungen, Münster 2010. Hermann Danuser (Hg.), Musikalische Interpretation, Laaber 1992. Vgl. Gernot Gruber, Zum aktuellen Stand rezeptionsgeschichtlicher Forschung in der Musikwissenschaft, in: Schubert und die Nachwelt, hg. von Michael Kube, München 2007, S. 12.

2.1 Musik – Interpretation – Aufführungskultur

13

computergestützter Aufführungsanalyse an, die sich notwendigerweise auf die Beschäftigung mit auf Tonaufnahmen konservierten, einmalig erklungenen interpretatorischen Einzelleistungen beschränken muß, die überdies häufig genug nicht unerheblich von den jeweiligen Aufnahmebedingungen beeinflußt erscheinen.5 Eine etwas andere Akzentuierung bestimmen die interpretationsgeschichtlichen Arbeiten Hans-Joachim Hinrichsens, deren Leitlinie hier auf einer grundsätzlichen Ebene verfolgt werden soll. Hinrichsen plädiert für eine notwendige historiographische Erweiterung des traditionellen hermeneutischen Zirkels werkbezogener Kompositions- und Rezeptionsgeschichte: Komponierte Musik sei über ein diskursives Netzwerk von »Selbstaussagen, Absichtserklärungen, Hypothesen, Werturteilen, Kritiken, Klischees und Rezeptionszeugnissen aller Art [...]«6 letztlich untrennbar mit ihrer klingenden Realisierung vermittelt. Die Frage nach einer ›Interpretationsgeschichte‹ als grundsätzlichem musikwissenschaftlichen Desiderat gewinnt vor solchem Hintergrund sowohl an Triftigkeit als auch an Komplexität: Jeder von der Musikwissenschaft als Kunstwissenschaft zu untersuchende Gegenstand – sei es ein ›Werk‹, ein ganzes ›Œuvre‹ oder gar ein ›Epochenstil‹ ‒ präsentiert sich im Kontext eines Geflechts aus poietischen, praktischen und theoretischen Bedingungsfaktoren, von denen indessen die Praxis der Interpretation (also nicht einfach die ›Aufführungspraxis‹) das bisher am schlechtesten erforschte ist. [...] Nicht die wohl kaum rekonstruierbare ›Substanz‹ historischer Interpretationen [...] ist vordringlich interessant, sondern ihre ›Funktion‹ im Zusammenhang von Prozessen der Urteilsbildung und Methodenentwicklung.7

Auch für die vorliegende Studie gilt als Voraussetzung, daß Produktion, Interpretation und Rezeption von Musik in ein komplexes Gewebe soziokultureller und psychosozialer Bedingungen eingebunden sind, innerhalb dessen ihr Bedeutungen zugewiesen und sie in kulturelle Handlungszusammenhänge integriert wird: In jeder singulären Aufführung vermittelt der oder die Interpretierende letztlich ein geformtes Bild der Musik und trägt in diesem Sinne auch dazu bei, sie mit kulturellen Zuschreibungen zu versehen, die sicherlich vor allem als langfristig vermittelte Traditionslinien im Bereich der klingenden Interpretation, aber auch durch Prägung der Rezeption wirksam werden. Umgekehrt beeinflussen eben gerade die diskursiven und mentalen Konstruktionen der Rezeptionsgeschichte – das heißt historische Festschreibungen sowie zeitgebundene Phantasien und Klischees über Komponierende – den interpretatorischen Umgang mit ihren Werken im jeweiligen Zeitraum ihres Vorherrschens.8 5

6 7 8

Zur aktuellen Diskussion vgl. den Sammelband Gemessene Interpretation. Computergestützte Aufführungsanalyse im Kreuzverhör der Disziplinen, hg. von Heinz von Loesch/Stefan Weinzierl, Berlin 2011. Hans-Joachim Hinrichsen, Kann Interpretation eine Geschichte haben? Überlegungen zu einer Historik der Interpretationsforschung, in: ebd., S. 35. Hans-Joachim Hinrichsen, Musikwissenschaft: Musik – Interpretation – Wissenschaft, in: AfMw 57 (2000), S. 89. Vgl. dazu Beate Angelika Kraus, Interpretationsgeschichte im Spannungsfeld zwischen Rezeptionsforschung und Aufführungspraxis, in: Werk-Welten. Perspektiven der Interpretationsgeschichte, hg. von Andreas Ballstaedt, Schliengen 2008, S. 13‒26.

14

2 Vorüberlegungen

Zur mittels einer Konstellierung von (konkrete klangliche Intentionen und Wirkungen übermittelnden) Quellenzeugnissen partiell rekonstruierbaren Ästhetik der Interpretation, um die sich vor allem die historisch informierte Aufführungspraxis bemüht, tritt damit auch die Dimension einer Politik der Interpretation:9 Anhand der zahlreichen Quellen zur Geschichte öffentlicher Musikdarbietung seit Beginn des 19. Jahrhunderts eröffnen sich etwa zahlreiche Möglichkeiten, eingehender zu untersuchen, welche Rolle dem kulturellem Handeln von Interpreten und Interpretinnen in einer Zeit vor Existenz akustischer Speichermedien zufiel. Besonders die Prozesse der Verbreitung eines spezifischen Repertoires und die Befestigung interpretatorischer Leitbilder stehen hier zu Debatte. So hat etwa Joseph Joachim das zeitgenössische Bild Johann Sebastian Bachs als Repräsentant einer ›deutschen Musik‹ auf entscheidende Weise geprägt10, Clara Schumann während ihrer über mehrere Jahrzehnte andauernden künstlerischen Tätigkeit eine ungebrochene Macht auf die Interpretationsgeschichte vor allem der Klaviermusik Robert Schumanns ausgeübt11 und Hans von Bülow durch seine Beethoven-Interpretationen gar die Analyseansätze der zeitgenössischen Musiktheorie beeinflußt.12 Eine anders akzentuierte Perspektivierung bietet wiederum Stephan Mösch, der mit seiner Untersuchung der Aufführungsgeschichte von Wagners Parsifal im Bayreuther Festspielhaus 1887‒1933 ein spezifisches Werk in den Fokus der Betrachtung rückt und sowohl die Bayreuther Gesangs- und Darstellungspraxis als auch den Orchesterklang und die Bühnenästhetik in den umfassenden Kontext eines kunstpolitischen Großprojekts mit all seinen ideologischen Implikationen stellt.13 Ergänzend zu den bisher aufgeführten Annäherungen läßt sich zudem die in den Kultur- und Theaterwissenschaften in den letzten Jahren zunehmend intensivierte Diskussion über die Dimension des Performativen heranziehen. Das Phänomen einer ›performativen Wende‹, wie es Erika Fischer-Lichte am Beispiel der theatralen Performance-Kunst seit den 1960er Jahren dargestellt hat14, läßt sich zwar kaum auf die kompositionsgeschichtliche Ebene selbst übertragen. 15 Allerdings bestimmt das Moment des Performativen im von Fischer-Lichte explizierten Sinn einer Art Autonomie der körperlichen Vollzugsakte im Rahmen von Theateraufführungen auch die Musik als Kunstform auf einer grundsätzlichen Ebene: Während einer Aufführung bringen die Musizierenden allein durch ihre körperliche Aktion stets auch eine eigene, nicht auf die explizite Vermittlung von Sinn ausgerichtete 9 10 11 12 13 14 15

Vgl. Hans-Joachim Hinrichsen, Musikalische Interpretation: Hans von Bülow, Stuttgart 1999, S. 15ff. Vgl. Beatrix Borchard, Stimme und Geige – Amalie und Joseph Joachim: Biographie und Interpretationsgeschichte, Wien [u. a.] 2005. Vgl. Claudia de Vries, Die Pianistin Clara Wieck-Schumann. Interpretation im Spannungsfeld von Tradition und Individualität, Mainz 1996. Vgl. Hinrichsen, Musikwissenschaft: Musik – Interpretation – Wissenschaft, S. 86ff. Stephan Mösch, Weihe – Werkstatt – Wirklichkeit. Parsifal in Bayreuth 1887‒1933, Kassel [u. a.] 2009. Erika Fischer-Lichte, Ästhetik des Performativen, Frankfurt a. M. 2004. Vgl. Andreas Wehrmeyer: Gibt es eine performative Wende in der Musik?, in: Annäherungen (FS Jürg Stenzl), hg. von Ulrich Mosch [u. a.], Saarbrücken 2007, S. 174‒186.

2.1 Musik – Interpretation – Aufführungskultur

15

Bedeutungsebene hervor, auf die die Rezipienten wiederum reagieren. Namentlich mit Blick auf das von der Sprache abgelöste Phänomen ›Singstimme‹ läßt sich die Plausibilität dieses Ansatzes leicht veranschaulichen16 und scheint im Sinne einer Faszinationsgeschichte der menschlichen Stimme vom mythischen Sirenengesang über den gregorianischen Choral und die staunenerregende Virtuosität des Belcanto bis zu den stimmakrobatischen Aktionen des 21. Jahrhunderts auch unbedingt historisierbar.17 Da die künstlerischen Aktionen und die mit ihnen hervorgebrachten ästhetischen Produktions- und Rezeptionsprozesse früherer Epochen indes nicht mehr in direkter Weise greifbar sind, ist es naturgemäß unmöglich, die Perspektive des Performativen auf eine Weise in Anwendung zu bringen, wie dies im Rahmen von zeitgenössischen Aufführungsanalysen geschehen kann, die auf der Grundlage eigener Erfahrungen und Erlebnisse bzw. technisch konservierten Datenmaterials vorgenommen werden. Faßt man das Phänomen des Performativen aber auf einer grundsätzlichen Ebene als sich ständig wandelnden Prozeß der Hervorbringung von Kultur auf, ist es durchaus möglich, durch die Analyse des mit diesem Prozeß in Verbindung stehenden diskursiven Netzwerks auch historische Perspektivierungen darauf freizulegen. Hinsichtlich des 19. Jahrhunderts steht hier neben den vornehmlich von der traditionellen aufführungspraktischen Forschung zur Geschichte expressiver Haltungen18 verwendeten Quellen (Lehrwerke, Selbstaussagen und Berichte, Rezensionen) gerade auch ein Diskurs zur Debatte, der gewissermaßen eine Art Negativfolie zum Phänomen des Performativen bildet, nämlich das für die kulturellen Wandelerscheinungen des späten 18. und des 19. Jahrhunderts fundamentale Moment der ›Textualität‹: Die sich im Musikdiskurs des 19. Jahrhunderts herausbildende Fokussierung auf die Kategorie des Textes19, die mit der Genese einer musikalischen Philologie und Hermeneutik sowie einer Diskussion der durch die Notenzeichen repräsentierten ›Geistfähigkeit‹ von Musik einherging, hat auch dazu beigetragen, gerade die Musik des 19. Jahrhunderts auch aus späterer Perspektive ausschließlich unter Bezugnahme auf diejenigen kulturellen Paradigmen zu betrachten, die sie selbst hervorgebracht hat. Das Paradigma einer musikalischen Textualität 16 17

18

19

Vgl. Fischer-Lichte, Ästhetik des Performativen, S. 219‒227. Vgl. etwa die Sammelbände Zwischen Rauschen und Offenbarung. Zur Kultur- und Mediengeschichte der Stimme, hg. von Friedrich Kittler, Berlin 2002 sowie: Phonorama. Eine Kulturgeschichte der Stimme als Medium, hg. von Brigitte Felderer, Berlin 2004. ›Expressivität‹ als ästhetik- bzw. ideengeschichtlich verortbares Phänomen (in der Nachfolge des früheren Paradigmas der ›Darstellung‹ bzw. ›Nachahmung‹) bildet zwar als intentionalzeichenhafter Vorgang der ›Expression‹ einen direkten Gegensatz zur kontingente Bedeutungen hervorbringenden Performativität, wird von ihr aber andererseits gewissermaßen beständig begleitet, denn jede expressive Handlung (wie etwa der Vortrag eines Musikstücks) bringt in einem performativen, Präsenz erzeugenden, Sinne auch eigene Bedeutungen hervor. Vgl. Musik als Text. Bericht über den internationalen Kongreß der Gesellschaft für Musikforschung, Freiburg im Breisgau 1993, 2. Bde., hg. von Hermann Danuser/Tobias Plebuch, Kassel [u. a.] 1998.

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2 Vorüberlegungen

enthält aber per se auch eine performative Dimension, denn der Notentext ist unabhängig von seinem idealisierten Status als abgeschlossenes ›Werk‹ immer auch als direkte Handlungsanweisung für die jeweilig Musizierenden auffaßbar.20 Gleichsam hinter dem Textbegriff läßt sich das Moment des Performativen so letztlich als komplementäre Dimension erfassen, die in der Musikkultur des 19. Jahrhunderts eben gerade durch die Präponderanz der Textualität zwar in den Hintergrund gedrängt wurde und als qua Tradition weitergegebene ›Aufführungspraxis‹ in ein Konkurrenzverhältnis zu ihr trat, mit dem Aufkommen des Paradigmas der ›musikalischen Interpretation‹ aber auch ein neues charakteristisches Spannungsfeld zwischen Text und künstlerischer Praxis und deren Rezeption innerhalb der Musikkultur generierte. Der Historiker Jakob Burckhardt formuliert in seinen Weltgeschichtlichen Betrachtungen um 1870 im Kontext einer Definition der (für die damalige Geschichtsschreibung zentralen) Kategorie der »historischen Größe« in Bezug auf die Musik im Vergleich zu anderen Kunstformen etwa: Die großen Komponisten gehören zu den unbestrittensten Größen. Zweifelhafter ist schon ihre Unvergänglichkeit. Sie hängt [...] von den stets neuen Anstrengungen der Nachwelt ab, nämlich den Aufführungen, welche mit den Aufführungen aller seitherigen und (jedesmal) zeitgenössischen Werke konkurrieren müssen, während die übrigen Künste ihre Werke ein für allemal hinstellen können [...] Sie werden [...] auf Kredit groß bleiben, auf die entzückten Aussagen unserer Zeit hin, etwa wie die Maler des Altertums, deren Werke verloren gegangen.21

Burckhardts dezidierte Betonung des Vollzugscharakters von Musik erscheint vor allem deshalb bemerkenswert, weil er sich kaum mit den um 1870 etablierten Diskursen der Musikästhetik und -kritik deckt, die den Notentext längst zur autonomen Instanz erklärt hatten und damit die »historische Größe« eines Komponisten unzweifelhaft in dessen Partituren repräsentiert sahen:22 Musikgeschichte wird hier eher als Geschichte von Texten denn von Aufführungen akzentuiert. Der von Burckhardt angesprochene Begriff der ›Aufführung‹ mag sich vor allem auf die Kategorie der öffentlichen ›Darbietung‹ richten, die in historischer Perspektive mit der fortschreitenden Emanzipation der Musik aus den (einander überschneidenden) szenischen, religiösen, höfischen wie auch unterhaltend-gebrauchsmäßigen Funktionsbindungen in Zusammenhang steht: ›Darbietung‹ schuf gewissermaßen die äußeren Voraussetzungen für eine Bedeutungserhöhung von Musik.23 Allerdings war seit dem späten 18. Jahrhundert auch die private Musikpraxis von 20

21 22

23

Vgl. Christa Brüstle, Performance Studies: Impulse für die Musikwissenschaft, in: Musik mit Methode. Neue kulturwissenschaftliche Perspektiven, hg. von Corinna Herr/Monika Woitas, Köln [u. a.] 2006, S. 253‒268. Jacob Burckhardt, Das Individuum und das Allgemeine, in: Weltgeschichtliche Betrachtungen, Detmold 1947, S. 221f. (zuerst 1870). Bereits 1843 beschreibt Gustav Schilling den musikalischen Vortrag als »Verlebendigung eines bereits nach Form und Wesenheit fertigen Kunstwerks.« Vgl. ders., Musikalische Dynamik oder die Lehre vom Vortrag in der Musik. Ein Lehr-, Hand- und Hülfsbuch für Alle, die auf irgend eine Weise praktisch Musik treiben, Künstler oder Dilettanten, Sänger oder Instrumentalisten, Lehrer und Schüler, Kassel 1843, S. 34. Vgl. Christian Kaden, Das Unerhörte und das Unhörbare. Was Musik ist, was Musik sein kann, Kassel [u. a.] 2004, S. 213ff.

2.1 Musik – Interpretation – Aufführungskultur

17

einer nunmehr als ›Gefühlssprache‹ umgewerteten, zunehmend als ›autonom‹ gedachten Musik bestimmt, mit der immer ein kommunikativer Aspekt verbunden wurde. Begreift man ›Privatheit‹ wie ›Öffentlichkeit‹ in diesem Sinne gleichermaßen als Inszenierung sozialer Wirklichkeiten, kann auch innerhalb der privaten Musikpraxis eine Aufführung ›Darbietungscharakter‹ annehmen und sogar im Fall eines einsamen Musizierens kann ein imaginäres Gegenüber, ein gedachter Kommunikationspartner Teil der jeweilig vollzogenen kulturellen Praxis sein. 24 Auch innerhalb der Theorie des Performativen wird der Begriff der ›Aufführung‹ grundsätzlich über eine mit ihm verbundene soziale Dimensionierung gefaßt, die als »autopoietische Feedbackschleife« beschrieben wird und die interdependenten Prozesse zwischen Aufführenden und Rezipierenden innerhalb eines performativen Raumes bezeichnet.25 Dieser erweiterte Aufführungsbegriff ist auch ausschlaggebend für die spezielle Profilierung eines sowohl die Aufführungen selbst als auch ihre soziale Kontextualisierung umfassenden Konzeptes einer historisch variablen musikalischen ›Aufführungskultur‹, das vor allem mit Blick auf die aktuelle Diskussion einer Umstrukturierung des Konzertlebens Gegenstand wissenschaftlicher Auseinandersetzung geworden ist: Die Aufführungskultur beeinflusst, was wir als ›selbstverständlich‹ empfinden, wenn wir über das ›klassische Konzert‹ sprechen und uns als Besucher oder Ausführender in die Konzertsituation begeben, gleich ob es das Publikumsverhalten, das Verhalten der Musikschaffenden auf der Bühne, die Raumsituation, die Programmgestaltung, die Dramaturgie und die Rituale, aber auch die Ökonomie und die Organisation des Konzerts betrifft. Die Aufführungskultur gibt bestimmte Vorstellungs- und Orientierungsmuster vor und prägt dadurch das Verhalten der am Konzertwesen Beteiligten. Sie filtert sozusagen die Wahrnehmung, beeinflusst Erwartungen und ermöglicht so ähnliche, immer wiederkehrende Handlungen bei den Akteuren. Sie wird über Sozialisation (beispielsweise durch das Nachahmen des Verhaltens im Konzert, ggf. Restriktionen durch andere bei Fehlverhalten, Orientierung an langjährigen Konzertgängern, Musikern und Meinungsführern, in der Ausbildung der Musikschaffenden etc.) an die neuen Akteure weitergegeben, weshalb sie überindividuell verstanden werden muss.26

Diese hier aus dem heutigen Blickwinkel skizzierte Konzeption öffnet sich – schließt man über die im engeren Sinne öffentliche Musikdarbietung hinaus auch alle anderen denkbaren Aufführungssituationen und deren Situierung innerhalb der kulturellen Praxis ein – auch für eine historische Perspektivierung. Es wird vor diesem Hintergrund etwa möglich, Wandelerscheinungen der historischen Aufführungskultur zu beschreiben, die darüber Aufschluß geben »wie sich unterschiedliche Darbietungsformen entwickelt haben, warum manche Konzertvariationen im Lauf der Zeit verschwunden sind und andere hingegen die Aufmerksamkeit des Publikums binden konnten«.27 Darüber hinaus läßt sich auch die Geschichte der 24

25 26 27

Vgl. etwa Beatrix Borchards Kontextualisierung des Leipziger Musikzimmers Fanny Mendelssohn-Hensels: dies., Opferaltäre der Musik, in: Fanny Mendelssohn-Hensel. Komponieren zwischen Geselligkeitsideal und romantischer Musikästhetik, hg. von ders., Stuttgart 1999, S. 40‒ 43. Fischer-Lichte, Ästhetik des Performativen, S. 59. Martin Tröndle, Von der Ausführungs- zur Aufführungskultur, in: Das Konzert, S. 36. Ebd.

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2 Vorüberlegungen

musikalischen Interpretation und Rezeption sowie deren Verbundenheit miteinander in neue, umfassendere Kontexte stellen. Ausgehend von der Prämisse, daß die während einer Aufführung stattfindende Übermittlung von Musik an ein Publikum den musikalischen Rezeptionsprozeß entscheidend mitbestimmt, kommen vor solchem Hintergrund etwa auch effektive und affektive Wirkungsstrategien der Interpreten und Interpretinnen in den Blick. Freilich läßt sich eine unwiederbringlich verlorengegangene musikalische Praxis kaum nachträglich analysieren – die mentalitäts- und geistes- bzw. ideengeschichtlichen Koordinaten sowie die körper- und geschlechtergeschichtlichen Aspekte bestimmter vortragsästhetischer Konzepte sind indes sehr wohl deskriptiv zu erfassen bzw. einzukreisen. Damit sind neben rein aufführungspraktischen Fragen vor allem auch solche nach dem ›ideellen Background‹ des Musizierens und dessen Verwobenheit mit der zeitgenössischen Musikrezeption angesprochen. 2.2 ›LIED‹ – ›SCHUBERT‹ – ›SCHUBERT-LIED‹ Im Rahmen der vorliegenden Untersuchung soll indes weder eine interpreten- noch eine werkzentrierte Perspektivierung des beschriebenen Kontinuums ›Komposition – Interpretation – Rezeption‹ vorgenommen, sondern eine musikalische Gattung in den Mittelpunkt gerückt werden. Anhand der Fokussierung ausgewählter, als zentral erachteter, Stationen wird vor dem Hintergrund der skizzierten theoretischen Folie in den folgenden Kapiteln der Versuch unternommen, ein Panorama zur Entfaltung des Kunstliedes innerhalb der Aufführungskultur des 19. Jahrhunderts aus der Perspektive klingender Verwirklichung zu entwerfen. Während die vielfach beschriebene zunehmende Differenzierung bzw. Artifizialisierung der Ausgestaltung einer zusätzlichen musikalischen Schicht zwar als zentral für die gattungsästhetische Entwicklung des Kunstliedes anzusehen ist, bleibt seine gattungstheoretische Basis doch die auf den antiken Lyrikbegriff zurückgehende Koinzidenz von Musik und Dichtung. Das sich mit dieser Prämisse verbindende und damit auch in vorliegender Untersuchung in den Mittelpunkt zu rückende zentrale performative Phänomen ist mithin der singende bzw. sprechende Körper sowie dessen Wahrnehmung in der kulturellen Praxis des 19. Jahrhunderts.2828Gerade in diesem zentralen Moment liegt allerdings auch der Grund für die Inkommensurabilität der einschlägigen gattungshistorischen Diskussion: Ausgehend von Problemen, die sich aus einer doppelten kulturellen Verwurzelung des Gattungsmodells ›Lied‹ in Musik- und Literaturgeschichte ergeben, die auch jeweils eigene fachspezifische Forschungstraditionen stifteten, gibt sich das Gebiet 28

Die für die strukturelle Entwicklung des Kunstliedes entscheidende gesteigerte musikalische Komplexität verweist hinsichtlich der aufführungspraktischen Perspektive selbstverständlich auch auf die Kulturgeschichte Klavierspiels im 19. Jahrhundert, deren umfängliche Einbeziehung allerdings sowohl den hier eingenommenen Fokus verunklaren als auch den hier abgesteckten Rahmen sprengen würde.

2.2 ›Lied‹ – ›Schubert‹ – ›Schubert-Lied‹

19

derart komplex, daß unter musikwissenschaftlichen Liedhistorikern längst die Tendenz besteht, »strukturell funktionelle[n] Invarianten der Gattung«2929komplett aus dem Weg zu gehen und in der Auffächerung zahlloser Unterkategorien dem Gegenstand gerecht werden zu wollen.3030Hermann Danuser unternimmt im Rahmen eines großangelegten Projektes dagegen den integrierenden Versuch, das gattungsästhetische Paradigma ›Lied‹ durch den ahistorischen Suprabegriff ›Musikalische Lyrik‹ zu ersetzen 31, wodurch wiederum die historische Relevanz des Liedbegriffs marginalisiert wird.32 Für die vorliegende Arbeit ergibt sich daraus auf methodischer Ebene, daß die gattungstheoretische Konstante der intermedialen Verschränkung von Lied und Lyrik stets im Kontext sowohl ihrer Verankerung im jeweiligen historischen Diskurs als auch im Kontext der diese Diskurse umgebenden kulturellen Praxis thematisiert werden muß. Ein methodisches Problem, das sich speziell mit Blick auf das für die gattungsästhetische Entwicklung als zentral angesehene 19. Jahrhundert ergibt, ist etwa die Frage einer differenzierenden Abgrenzung der Begriffe ›Volkslied‹ und ›Kunstlied‹: Obwohl Volkslied zunächst eher inhaltlich gebunden war, verstand man Lied immer stärker im Sinne der erst recht spät geprägten Bezeichnung des Kunstliedes [...], im Gegenzug trennte sich in dieser Zeit [d. h. in den 1840er Jahren, M. G.] der Begriff des Volksliedes [...] vom Lied im Sinne des Kunstliedes ab. Ungeachtet der verschiedenen Bezeichnungen von Liedpublikationen (Gesänge, Romanzen, auch Gedichte) wurden und werden alle diese Werke unter dem Oberbegriff des Liedes subsumiert. 33

Trotz dieser Entwicklungen bleibt für die Entfaltung der Gattung im 19. Jahrhundert indes letztlich bestimmend, daß sich die Begriffe immer wieder auf komplexe Weise miteinander verschränkten, da die Rolle des Liedes innerhalb der zeitgenössischen Musikkultur von verschiedenen sich überlagernden Momenten bestimmt war: Spätestens mit Schuberts Liedern wurde es zwar in den Kontext des zeitgenössischen autonomieästhetischen Diskurses gerückt, mit dem sich der Prozeß einer Kanonisierung als ›klassisch‹ ausgewiesener musikalischer Meisterwerke verband, andererseits existierte weiterhin eine wirkungsmächtige Traditionslinie, die das Lied grundsätzlich im Kontext sozialer bzw. kultureller Praxis verankert sah. Namentlich die seit der Aufklärung verstärkte Funktionalisierung von Gesang und Lied als Medien einer ›Volks‹- bzw. ›Menschenbildung‹ hatte zur Folge, daß im Laufe des 19. Jahrhunderts von hier aus zusehends eine Verzahnung der Gattung mit kulturnationalen Identifikationsprozessen erfolgte. 29

30 31

32 33

Gerd Rienäcker, Vorfragen zu einer Theorie des klavierbegleiteten Sololiedes, in: Lied und Liedidee im Ostseeraum zwischen 1750 und 1900, hg. von Ekkehard Ochs, Greifswald 1998, S. 21. Vgl. aus jüngerer Zeit etwa die Überblicksdarstellungen von Peter Jost, Art. Lied, in: MGG2, S/Bd. 5, Sp. 1259‒1328 sowie Elisabeth Schmierer, Geschichte des Liedes, Laaber 2007. Musikalische Lyrik, Bd. 1: Von der Antike bis zum 18. Jahrhundert / Bd. 2: Vom 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart – Außereuropäische Perspektiven, hg. von Hermann Danuser, Laaber 2004. Vgl. Jörg Krämer, ›Lied‹ oder ›musikalische Lyrik‹? Ein problematischer Versuch, eine Gattung neu zu konzipieren, in: Musik und Ästhetik 10 (2006), S. 81‒88. Vgl. Jost, Art. Lied, Sp. 1263.

20

2 Vorüberlegungen

Durch seine intermediale Verbindung mit der ähnlichen Prozessen unterworfenen Dichtung stand das Lied aber auch eng mit dem Phänomen der Literaturrezeption und einem sich wandelnden Sprach- und Sprechbewußtsein des Bürgertums in Verbindung, so daß auf der anderen Seite gerade seine Eigenschaft, gleichsam eine Präsentationsform von Lyrik im Sinne produktiver Rezeption zu sein, in den Vordergrund gerückt wurde und der Anschluß der ursprünglich eher performativ bestimmten Gattung ›Lied‹ an eine sich im Verlauf des 18. und 19. Jahrhunderts zunehmend herausbildende »hermeneutische Kultur«34 befördert wurde. Ungeachtet seiner nur zögerlichen Aufnahme in den ›großen‹ Kanon musikalischer Meisterwerke formte das mit der lyrischen Dichtung intermedial verschränkte ›romantische Kunstlied‹ mithin als artifizialisiertes Repräsentationsmodell von ›Natürlichkeit‹ und ›Unmittelbarkeit‹ in entscheidender Weise die kulturelle Praxis des 19. Jahrhunderts: Es wurde zur klingenden Ausformung der Herausbildung und Ausdifferenzierung einer ›bürgerlichen‹ Mentalitätsverfaßtheit und damit zum Signum einer ganzen Epoche.35 Im Gegensatz zum ebenfalls im 19. Jahrhundert kulminierenden Phänomen instrumentaler Virtuosität tritt indes der Blick auf die Bedingungen seines realen Erklingens bzw. seine kulturelle Inszenierung zumeist in den Hintergrund, da diese Ebene grundsätzlich von einem literarischen Gesangstopos überblendet scheint: Für in engerem oder weiterem Sinne ›romantische‹ Autoren wie Novalis, Tieck, Schlegel oder später Heine und Eichendorff ist ›Gesang‹ gerade nicht mehr unbedingt gleichbedeutend mit musikpraktischer Realität. Vielmehr fungiert er als Metapher für einen jenseits des Sagbaren angesiedelten Bereich, der damit indirekt zum Gegenstand poetischer Beschreibung wird: 36 Das soziale und kommunikative Moment realen Erklingens wird zum Phänomen einer metaphorisch klingenden, inneren Stimme umgedeutet und damit auch idealisiert. Dieser wirkungsgeschichtlich äußerst prominente Unmittelbarkeitstopos scheint das Kunstlied des 19. Jahrhunderts mithin über alle historischen und sozialen Kontexte geradezu emporzuheben. So ist etwa auch noch in den Reflexionen Roland Barthes’ zum romantischen Lied und Liedgesang »der Raum des Liedes kaum sozialisiert«. Vielmehr klinge der »romantische Gesang« einzig im »Innere[n] des Kopfes«.37 Gerade Barthes’ Gedanken zum »romantischen Gesang« lenken die Aufmerksamkeit aber auch darauf, daß ›Liedhaftigkeit‹ über eine bestimmte Aufführungsund Rezeptionshaltung kulturell definiert wird, die sich auf die Praxis der öffentli 34 35 36

37

Jörg Krämer, Probleme und Perspektiven der Liedforschung, in: Das Lied im süddeutschen Frühbarock, hg. von dems./Bernhard Jahn, Frankfurt a. M. 2004, S. 29. Reinhold Brinkmann, Musikalische Lyrik im 19. Jahrhundert, in: Musikalische Lyrik, Bd. 2, S. 9‒124. Vgl. dazu Helga de la Motte-Haber, »Es flüstern und sprechen die Blumen«. Zum Widerspruch zwischen Lied als romantischer Kategorie und als musikalischen Gattung, in: Musica 35 (1981), S. 237‒240. Roland Barthes, Der romantische Gesang, in: ders., Der entgegenkommende und der stumpfe Sinn. Kritische Essays 3, aus dem Französischen von Dieter Hornig, Frankfurt a. M. 1990, S. 298.

2.2 ›Lied‹ – ›Schubert‹ – ›Schubert-Lied‹

21

chen Darbietung von Kunstliedern als spezifischem Segment musikalischer Aufführungskultur auswirkte. Die strukturell im Kunstlied angelegten Gegenpole ›Unmittelbarkeit und ›Theatralität‹ bzw. ›Künstlichkeit‹ und ›Natürlichkeit‹ 38 mußten mithin auch auf der Ebene der performativen Präsentation immer wieder neu verhandelt und ausbalanciert werden. Je weiter man nun auf diejenigen Epochen der Liedgeschichte zurückblickt, für deren Diskussion noch nicht das Paradigma des ›abgeschlossenenen‹ Kunstwerks zur Debatte steht, liegt es ohnehin auf der Hand, performativ orientierte Ansätze zur Anwendung zu bringen.39 In Bezug aber auf das gedruckte Kunstlied seit dem 18. Jahrhundert wird diese Ebene tendentiell ausgeblendet. Für das deutsche romantische Kunstlied als Gegenstand einer spezifischen Gattungsgeschichte im engeren Sinne, die Franz Schubert als ›Erfinder‹ eines neuen Gattungstypus’ mit enormer Ausstrahlungskraft ausweist, bildete sich vor allem die Frage nach dem ›WortTon-Verhältnis‹ als Fluchtpunkt wissenschaftlicher Auseinandersetzung heraus. Aus dieser Perspektive wäre das Projekt, eine Monographie über ›Schuberts Lieder‹ verfassen zu wollen freilich ein so aussichtsloses wie wenig sinnvolles Unterfangen, denn als künstlerischer Mikrokosmos erscheinen sie im Rahmen einer werkbezogenen Darstellung kaum erfaßbar.40 Mit der Fokussierung des ›Wort-Ton-Verhältnisses‹ verband sich allerdings auch sowohl die tendentielle Ablösung der Liedkompositionen Schuberts von ihren historischen Entstehungs- und Aufführungsbedingungen als auch die Ausblendung ihrer Rolle innerhalb der kulturellen Praxis des weiteren 19. Jahrhunderts. Vor allem die radikale Trennung zwischen einer usuell basierten norddeutschen Liedästhetik und dem ›autonomen Kunstlied‹ Schuberts ist vor diesem Hintergrund ein musikhistoriographischer Konsens geworden. Das aus heutiger Sicht vertraute Faktum, das ›deutsche Lied‹ habe als musikalische Gattung innerhalb des 19. Jahrhunderts eine strukturelle Wandlung zum hochdifferenzierten Kunstwerk erfahren, muß indes aus Sicht des 19. Jahrhunderts 38

39 40

Daß zwischen ›Lied‹ und ›Kunstlied‹ ein charakteristisches asymmetrisches Verhältnis besteht, dessen heuristisches Potential sowohl in Bezug auf die Liedanalyse als auch die Liedhistoriographie bislang wenig genutzt wurde, betont Hansjörg Ewert in: ders., Kennst das Lied? Ästhetische Erziehung und poetologische Reflexivität in Schumanns Mignon-Lied, in: Mth 21 (2006), S. 230: »Im Begriff des ›Kunstlieds‹ klingt ein ungelöster Rest mit, ein grundsätzlicher Widerspruch zwischen Kunst und Lied, der das Problem musikalischer Lyrik genau bezeichnet. Während ein engerer Begriff von Lied durch Vorstellungen von Einfachheit, Sangbarkeit, Natürlichkeit oder zumindest vom vermittelten Schein des Natürlichen und Unmittelbaren bestimmt wird, markiert Kunst die Differenz zu diesem Liedverständnis. Auch im Prozess der zunehmenden Ausdifferenzierung der musikalischen Kunst gegenüber dem sprachlichen Text im 19. Jahrhundert, sei es im Sinne einer aufbrechenden strukturalistischen oder einer musikalisch autonomisierenden Lektüre, bleibt der engere, von Goethe und Herder hergeleitete und im romantischen Lied zugespitzte Begriff des Lieds erhalten; und alle Kunst wird aufgewendet, um den Anschein von Natur hervorzurufen, um Kunst zu verbergen.« Vgl. hier Susanne Rupp, Die Macht der Lieder. Kulturwissenschaftliche Studien zur Performativität weltlicher Vokalmusik der Tudorzeit, Trier 2005. Eine Lücke hinsichtlich ihrer wissenschaftlichen Thematisierung als Gesamtkorpus kann neuerdings die verdienstvolle Arbeit des Schubert-Liedlexikons schließen: Schubert. Liedlexikon, hg. von Walther Dürr [u. a.], Kassel [u. a.] 2012.

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2 Vorüberlegungen

etwas anders akzentuiert werden. Seine Rolle als traditionelles Repräsentationsmodell von Volkstümlichkeit, Simplizität, unvermittelter Emotionalität und Privatheit verlor das Lied, wie bereits angedeutet, trotz erheblicher kompositionstechnischer Innovationen nämlich gerade nicht. Schuberts Lieder wurden vielmehr, gemeinsam mit vornehmlich Goethes Lyrik, innerhalb der ersten Hälfte des 19. Jahrhundert unter Bezugnahme auf einen als »historisch valide produktions- und rezeptionsleitende Norm kulturellen Schaffens«41 anhaltend relevanten Liedbegriff zu einer idealtypischen Bestimmung des Liedhaften verschmolzen. Bereits Hansjörg Ewert hat darauf aufmerksam gemacht, daß die damit ins Werk gesetzte Verfestigung des Liedbegriffs nur durch eine selektive Rezeption sowohl der Lyrik Goethes als auch der Lieder Schuberts möglich war: Ist dieses Liedverständnis auch nicht umstandslos mit dem oft beschworenen Volkston der vor allem Berliner Liedästhetik gleichzusetzen, so beruht es doch weitgehend auf der Natürlichkeit des Sprechens, der fingierten Einfachheit, der immanenten Sangbarkeit und jener subjektiven Gestimmtheit, die die Erlebniskategorie der Lyrik ausmacht. Indem die lyrikgeschichtliche Kategorie der ›Erlebnislyrik‹ und das Sangbarkeitspostulat einer norddeutschen Liedästhetik mit dem musikgeschichtlichen Ereignis des Schubertlieds zusammengebracht werden, entsteht ein Typus eines ›Kunstlieds‹, der mit der Wirklichkeit der Liedkomposition allgemein und der Vielfalt von Schuberts Liedern im besonderen kaum übereinstimmt.42

Das ›Schubert-Lied‹ erscheint gleichwohl immer wieder als historiographischer Prototyp, als Impuls und Idealfall einer neuen gattungsgeschichtlichen Ära, die gleichsam nicht ausgeschöpftes Potential allererst zur Entfaltung brachte. Ein Blick auf die Rezeptionsgeschichte des Komponisten seit seinem Tod 1828 zeigt deutlich, daß diese Idee unter Berufung auf das Paradigma der ›Klassizität‹ bereits innerhalb des 19. Jahrhunderts vorbereitet wurde. Zu diesem Idealisierungsvorgang zählte aber auf der anderen Seite auch die durch die zeitgenössische Schubert-Biographik beförderte Rezeption Schuberts als ›naiv-genialischem‹ kompositorischen ›Naturalisten‹, die sich zum Teil bis heute auswirkt. Die hier verwendete Formulierung ›Schubert-Lied‹ bezieht sich insofern gerade nicht auf jene, in der Regel unhinterfragte, Kategorie gegenwärtiger Musikgeschichtsschreibung als vielmehr auf zentrale Momente ihrer Genese innerhalb des 19. Jahrhunderts und repräsentiert damit gewissermaßen gleichzeitig das Spannungsverhältnis zwischen dem Mikrokosmos Schubertscher Liedkompositionen und den kulturellen Kontexten seiner planvollen Verkürzung.

41 42

Krämer, Lied oder Musikalische Lyrik, S. 83. Hans Jörg Ewert, Jenseits des Schubert-Lieds. Ein Versuch zur musikalischen ›Gedankenlyrik‹, in: Quellenstudium und musikalische Analyse, hg. von Peter Niedermüller [u. a.], Würzburg 2001, S. 220.

2.3 Überblick

23

2.3 ÜBERBLICK Um die soweit skizzierte Perspektive auf Schuberts Lieder (bzw. das ›SchubertLied‹) zu ermöglichen, wird in Kapitel 4 der Untersuchung zunächst eine Reformulierung der historischen Rahmenbedingungen für ihre klingende Existenz vorgenommen. Dabei soll als Spezifikum der historischen Aufführungskultur die unterschiedlich zu nuancierende Verschränkung bzw. gegenseitige Überblendung von Öffentlichkeit und Privatheit herausgearbeitet werden, die einen entscheidenden Unterschied zu geläufigen Rubrizierungen markiert: Carl Dahlhaus bezeichnet etwa den »Konzerttypus des Liederabends [...] [als] Konsequenz des Schubertschen Werkes, das für das Lied einen Kunstanspruch im emphatischen Sinne erhob und durchsetzte [...]«.43 Bei aller spontanen Zustimmung, die man dieser Aussage entgegenbringen möchte, scheint hinter ihr doch eine ahistorische Perspektivierung durch, die suggeriert, daß womöglich die erst im späten 19. Jahrhundert aufkommende Veranstaltungsform des ›Liederabends‹ und die mit ihr verbundene Aufführungs- und Rezeptionshaltungen als adäquate kulturelle Rahmung für Schuberts Lieder anzusehen wären. Das dieser Auffassung zugrundeliegende Fortschrittsmodell eignet sich indes kaum zu einer adäquaten Beschreibung der historischen Situation. Eine dazu diametral entgegengesetzte Auffassung neigt indes dazu, Schuberts Liedkompositionen – auch mit Blick auf ihre angemessene Aufführung – als, »nicht zu ›Konzertzwecken‹ geschrieben[e]«, sondern »a priori für Dilettanten gedachte«, mithin genuine ›Hausmusik‹ zu bezeichnen.44 Diese Einordnung erweist sich gleichfalls als wenig zufriedenstellend wenn man die historischen Produktions- und Rezeptionsbedingungen der Lieder ernst nimmt, denn die Verbindung von Lied und häuslichem Musizieren als praktischer Voraussetzung hinderte Schubert eben gerade nicht daran, vollkommen neue Ansprüche an diese Praxis zu stellen. Vielmehr kristallisiert sich hier insgesamt ein disparates Phänomen heraus: Schuberts Lieder oszillierten zu Lebzeiten des Komponisten gleichsam zwischen unterschiedlichen (aufführungs-)kulturellen Kontexten, die mit der Umbruchsituation des Wiener Musiklebens dieser Zeit in Verbindung zu bringen sind. Mit einer spannungsvolleren Gestaltung der musikalischen Ebene des Kunstliedes räumte Schubert überdies der individuellen ›Expressivität‹ der oder des Singenden deutlich mehr Identifikationsraum ein. Im Bereich der Aufführungspraxis wird dies an einer entsprechenden Oszillation der Lieder zwischen dilettantischer Musizierpraxis und professioneller Vortragskunst deutlich: Auf exemplarische Weise rückt sie aufbrechende Kontroversen zwischen einer rhetorisch grundierten, auf die Vortragswirkung ausgerichteten ›Theatralität‹ und einer die Kompositionen aus autonomieästhetischer Perspektive ideologisierenden ›Authentizität‹ ins Zentrum der Diskussion, wie in Kapitel 5 dargestellt werden soll. Eine eingehendere 43 44

Carl Dahlhaus, Das deutsche Bildungsbürgertum und die Musik, in: Bildungsgüter und Bildungswissen, hg. von Reinhard Koselleck, Stuttgart 1990, S. 226. Rudolf Klein, Schuberts Konzertstätten, in: Zur Aufführungspraxis der Werke Franz Schuberts, hg. von Vera Schwarz [Schriftleitung: Roswith Karpf], München 1981, S. 192.

24

2 Vorüberlegungen

Betrachtung von künstlerischer Praxis und zeitgenössischer Rezeption der beiden ›Schubert-Sänger‹ Anna Milder-Hauptmann und Johann Michael Vogl soll verdeutlichen, welche Rolle den etablierten professionellen Vortragskünsten, die im historischen Umfeld der Schubert-Lieder bereitstanden zufiel, bevor sich eine spezifische Liedgesangskunst überhaupt herausbildete. Eine Beleuchtung der Wechselwirkungen von Liedkomposition und Liedvortrag mit Operngesang, Darstellungs- und Deklamationskunst bietet die Möglichkeit, zu erhellen, inwieweit Schuberts Lieder als notierte wie klingende Musik von verschiedenen sozialhistorischen, ästhetischen und pragmatischen Kontexten mitbestimmt waren. Obgleich die zeitgenössische Kritik Schuberts Kompositionen die ›Liedhaftigkeit‹ regelmäßig absprach, wurde er von der Musikhistoriographie des mittleren und späteren 19. Jahrhunderts als Liedkomponist par excellence festgeschrieben. Der Musikdiskurs beharrte auf dem mit dieser Entwicklung in Verbindung stehenden traditionellen Liedbegriff, da dieser offenbar einen wichtigen Platz im Konstruktionsprozeß einer kulturellen (und zunehmend national begriffenen) Identität eingenommen hatte. Kapitel 6 widmet sich daher zunächst eingehender den sich bald nach Schuberts Tod herauskristallisierenden Rezeptionskonstanten, die ihn als ›Liedkomponisten‹ gleichsam freischwebend zwischen Trivialität und Exklusivität verorteten und stellt zugleich die Frage, in welchen Verhältnis diese historischen Schubert-Phantasien zum Wandel der nationalen musikalischen Aufführungskultur standen. Das Kunstlied mit Schubert als classicus auctor wurde im Musikdiskurs der zweiten Jahrhunderthälfte in gleichem Maße zum gattungsästhetischen Paradigma befestigt, wie es von sendungsbewußten Fachleuten mit der Ideologie einer ›wahren Hausmusik‹ verwoben wurde. Die Assoziation des Komponisten mit einer als ›biedermeierlich‹ ausgewiesenen Vorstellung der häuslichen Zurückgezogenheit wurde dabei in Verbindung mit dem Klischee des »musikalischen Naturburschen« (Max Reger) zu den bestimmenden Konstituenten des mentalen Schubert-Bildes im 19. Jahrhundert und griff somit als gleichsam mitgedachte atmosphärische Basis auf seine Kompositionen über. Der ›echte‹ Schubert wurde mit der Idee einer lyrischverinnerlichten Ausdruckshaltung verbunden, die auch immer stärker mit nationalidentifikatorischen Aspekten sowohl von österreichischer als auch von deutscher Seite vermischt wurde. Zu diesem Assoziationsfeld eines kulturellen Schubert-Gedächtnisses zählen – insbesondere mit Blick auf die Lieder – die Kategorien des Naturhaft-Unmittelbaren, des Weiblichen sowie die damit verbundene Gleichsetzung Schuberts mit der Idee der ›singenden Stimme‹. Diese kulturell geformten Vorgaben begünstigten letztlich auch die bereits angesprochene selektive Rezeption des Schubertschen Liedschaffens, die mit dem Prozeß der Konstruktion eines idealtypischen ›Schubert-Liedes‹ gleichgesetzt werden kann. Die Begriffe ›Schubert‹ und ›Lied‹ waren mithin, wie gezeigt werden soll, obgleich die Liedkompositionen Schuberts bereits auf den großen Konzertpodien und z. T. vor einem Massenpublikum aufgeführt

2.3 Überblick

25

wurden, in den 1870er Jahren mehr denn je Teil eines nationalkulturell aufgeladenen Hausmusikideals.45 Die hier angedeuteten rezeptionsgeschichtlichen Entwicklungen bilden den Hintergrund für eine unter Kapitel 7 vorgelegte umfangreichere Fallstudie, in deren Rahmen direkt an die neuere interpretationsgeschichtliche Diskussion angeknüpft werden soll. In den Mittelpunkt rückt hier die künstlerische Tätigkeit des Baritons Julius Stockhausen, der als erster professioneller Konzertsänger im modernen Sinn des geschulten Lied-Spezialisten gilt. In diesem Zusammenhang erscheint er auch als Repräsentant einer neuen, als ›klassisch‹ apostrophierten Lied-›Interpretationskunst‹. Namentlich sein Schubert-Gesang wird als Maßstab einer – in Eduard Hanslicks Formulierung – »echten Mission des Virtuosen« angesehen.46 Sowohl Stockhausens Rolle als Promotor des Schubertschen Lied-Œuvres als auch die ihm zugeschriebene Verwirklichung eines im ›deutschen Liedgesang‹ liegenden künstlerischen Potentials lassen sich im Kontext des angesprochenen kulturellen bzw. nationalen Identitätsbildungsprozesses diskutieren. Dieses Gewebe rezeptions- und interpretationsgeschichtlicher Topoi, das als Hintergrund eine wechselseitige Bestimmtheit von zeitgenössischer Schubert-Rezeption und dem Liedsänger Stockhausen annimmt, wird im Verlauf der Untersuchung hinterfragt und differenziert. Anhand einer eingehenderen Betrachtung sowohl der Annäherung Stockhausens an Schubert und das Lied im Kontext biographischer und rezeptionsgeschichtlicher Konstellationen als auch der Kontextualisierung einzelner Stationen seiner professionellen Tätigkeit soll deutlich werden, daß Stockhausens Bedeutung sowohl für die Kulturgeschichte des Kunstliedes als auch die Schubert-Rezeption des 19. Jahrhunderts gerade aus der Perspektive kulturellen Handelns adäquat beleuchtet und erfaßt werden kann. Vor allem hinsichtlich der Zyklen Die schöne Müllerin D 795 und Winterreise D 911 entwickelte der Bariton spezifische aufführungsästhetische Konzepte, die die Verflochtenheit von werk- und aufführungszentrierten Momenten innerhalb der zeitgenössischen kulturellen Praxis eindringlich vor Augen führen und als signifikante Beispiele für die Öffnung des den zeitgenössischen Musikdiskurs bereits bestimmenden abgeschlossenen Werkbegriffs gedeutet werden können. Die Beschäftigung mit Stockhausens Konzerttätigkeit mündet in Kapitel 8 schließlich in eine über die spezifische Fokussierung Schuberts hinausgehende Herausarbeitung und Diskussion von Kontexten, die für die Entwicklung des Liedgesangs als repräsentativer Vortragskunst innerhalb der bürgerlichen Hochkultur des späteren 19. Jahrhunderts entscheidend wurden. Ein wichtiger Ausgangspunkt dabei ist das geläufige Paradigma der musikalischen ›Interpretation‹, das in Auseinandersetzung mit dem zeitgenössischen musikalischen Textbegriff bei historisch korrekter Qualifizierung in diesem Zeitraum erst virulent wird. Es soll gezeigt werden, wie der bereits angesprochene, mit den aktuellen autonomieästhetischen Dis 45 46

Vgl. Francis Claudon, Hausmusik, in: Deutsche Erinnerungsorte, Bd. 3, hg. von Etienne François/Hagen Schulze, München 2001, S. 138‒153. Vgl. dazu eingehender Kapitel 7.2.

26

2 Vorüberlegungen

kursen verbundene Prozeß einer Kanonisierung ›klassischer‹ Werke und ihrer Integration in ein imaginäres Museum sich auch auf das Kunstlied auswirkte, das seit Schubert über ein ›klassisches‹ Modell verfügte. Direkt greifbar wird dieser Prozeß an erster Stelle in einer fortschreitenden Monumentalisierung des Komponisten und seiner Lieder durch die großen Editionsprojekte des späten 19. Jahrhunderts. Neben der 1884 bei Breitkopf & Härtel erschienenen ersten Gesamtausgabe zählt dazu auch das von Stockhausens ehemaligem Schüler Max Friedlaender im Leipziger Peters-Verlag herausgegebene Schubert-Album, das die musikalische Praxis bis heute maßgeblich beeinflußt. Durch seine intermediale Verschränkung mit der ebenfalls den angesprochenen Prozessen unterworfenen lyrischen Dichtung stand das Kunstlied zudem seit dem 18. Jahrhundert eng mit dem Phänomen der zunehmenden Lyrikrezeption und einem sich wandelnden Sprachbewußtsein des Bürgertums in Verbindung. Trotz einer Akzentuierung der musikalischen Autonomie der kanonisierten Vertonungen innerhalb des Musikdiskurses wurde, wie gezeigt werden soll, mit Blick auf die kulturelle Praxis gerade die Eigenschaft der Liedvertonungen, gleichsam eine Präsentationsform von Lyrik im Sinne produktiver Rezeption zu sein, in den Vordergrund gerückt. Wie der hiermit angesprochene kulturelle Kontext der Sprachzentriertheit mithin aus dem Blickwinkel des Performativen perspektivierbar ist, kann etwa an der Übertragung sprechästhetischer Grundsätze auf den zeitgenössischen Gesangsstil verdeutlicht werden. Damit korrelierten überdies weitere, die spezifische Präsentation des Körpers betreffende vortragsästhetische Prämissen, die vor dem Hintergrund mentalitäts-, körper- und geschlechtergeschichtlicher Kontexte beleuchtet werden. Die Entwicklung grundsätzlicher vortragsästhetischer Ideale für den professionellen Liedgesang des mittleren und späteren 19. Jahrhunderts steht schließlich in enger Verbindung mit dem Wandel des performativen Rahmens innerhalb dessen Lieder erklangen und den damit einhergehenden rezeptionsästhetischen Haltungen. Den ›Liederabend‹ als ritualisiertes Modell kultureller Inszenierung mit Dahlhaus als eine Konsequenz des erstmals künstlerische Autonomie beanspruchenden Schubertschen Liedwerks zu erklären, verkennt nicht nur die komplexe aufführungskulturelle Situation der Lieder Schuberts zu ihrer Entstehungszeit, sondern auch, daß die Autonomieästhetik selbst letztlich als Teilmoment der bürgerlichen Kunstideologie des 19. Jahrhunderts anzusehen ist. Hinsichtlich eines Ineinandergreifens von kultureller Praxis und ästhetischer Konzeption lassen sich insofern zwischen den Extremen des ›beym Clavier‹ gesungenen Liedes des späten 18. Jahrhunderts und des theatralisch ausgerichteten ›Podiumsliedes‹ (Werner Oehlmann) eines Richard Strauss’ insofern durchaus Verbindungslinien ziehen. Wie Schuberts kompositionsästhetisch zwischen diesen Extremen einzuordnende Lieder innerhalb der gründerzeitlichen Wiener Musikkultur zunehmend in den Kontext einer mit bildungsbürgerlichen Aspirationen in Zusammenhang zu bringenden Verschränkung von Intimität und Monumentalität rückten, kann etwa an der Entwicklung der LiederabendReihen des Tenors Gustav Walter im Wiener Bösendorfer Saal aufgezeigt werden. Das für die öffentliche Präsentation von Kunstliedern seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert verbindliche Modell des ›Liederabends‹ blieb gleichwohl weiterhin

2.3 Überblick

27

Objekt kritischer Diskussion, wie etwa die Auswirkungen des theaterästhetischen Ideals der ›Intimität‹ auf die Musikkultur der Jahrhundertwende vor Augen führen. Der Aufstieg des Liedes zur ›opuswürdigen‹ Kunst war, wie sich vor dem hier skizzierten Horizont formulieren ließe, mithin nicht nur mit dem Komponisten Schubert, sondern auch mit der Rolle und Formung des Kunstliedes als gattungsästhetischem Modell innerhalb der sich wandelnden Musikkultur verbunden, die seine traditionelle Codierung mit weiteren, zunehmend auf die öffentliche Sphäre ausgerichteten, Momenten zusammenführte. Die Bedeutung dieser Wandlungsprozesse für die Gattung ›Kunstlied‹ und damit auch die rezeptionsgeschichtliche Kategorie ›Schubert-Lied‹ wird besonders augenfällig mit Blick auf die Geschichte ihrer performativen Präsentation. Um Schubert, seine Liedkompositionen und deren Aufführung aus einer derartigen Perspektive allerdings überhaupt eingehender beleuchten zu können, gilt es im nun folgenden Kapitel 3 der Untersuchung zunächst, die Anfänge einer Kunstliedkultur im engeren Sinne zu profilieren, deren zeitliche Verortung mit der Chiffre 1800 markiert werden kann. Nicht allein das definitorisch nicht unproblematische Paradigma der ›Verbürgerlichung‹ ist hier als zentraler Kontext aufzurufen, sondern vielmehr ein umfassender Hintergrund einschneidender kultureller Wandelerscheinungen, die sich mit Schlaglichtern wie Abkehr vom Denken der Repräsentation, Ausdifferenzierung und Systematisierung der Künste und Wissenschaften, Entstehung eines Kunstmarktes sowie zunehmende öffentliche Verbreitung von Musik und deren Verhältnis zur Entfaltung einer bürgerlichen Innerlichkeitskultur konturieren lassen. In Zusammenhang mit den genannten kulturellen Paradigmenwechseln steht die mit ihnen verbundene ästhetische Praxis. Das Paradigma der ›Expressivität‹ im Sinne einer spezifischen, sich neu profilierenden Basis künstlerischer Kommunikation spielte, wie zunächst gezeigt werden soll, nicht nur auf werkästhetischer Ebene, sondern auch für das Musizieren selbst, die Musikrezeption sowie den Umgang mit Lyrik als gesprochener und gesungener Vortragskunst eine zentrale Rolle noch bevor Schubert die ästhetischen Standards von Liedkomposition und Liedaufführung nachhaltig verändern sollte.

3 BÜRGERLICHE KUNSTLIEDKULTUR UM 1800 Nun können wir mit Gewißheit sagen, daß kein Dichter auf unserm Boden gelebt, den nicht ein Komponist wenigstens einmal in die Tatzen bekommen hat.1

3.1 ›SANGBARKEIT‹ ALS IDEAL UND IDEOLOGIE Die als literatur- kultur- und mentalitätsgeschichtliches Phänomen perspektivierbare Bewegung der ›Empfindsamkeit‹2, wie sie seit etwa Mitte des 18. Jahrhunderts von England aus den deutschsprachigen Kulturraum ergriff, läßt sich – zugespitzt formuliert – als ›bürgerliche‹ Gegenbewegung zu einer von erstarrten Ritualen durchzogenen Adelskultur profilieren. In z. T. betont polemischer Haltung wurde dem auf rhetorischen Grundlagen fußenden ›maskierten‹ Sozialverhalten bei Hofe ein neuer Natürlichkeitsbegriff entgegengestellt, der anstatt einer »Sprache der Verstellung«3 die emphatisch betonte ›Authentizität‹ des Menschen sowie das Ideal eines ›naturhaften Ausdrucks‹ in den Mittelpunkt eines sich allererst herausbildenden anthropologischen Diskurses rückte. Damit sind gleichzeitig zentrale Prämissen einer neuen ›empfindsamen‹ Kommunikation der Menschen untereinander aufgerufen, denn die Idealvorstellung eines ›unmittelbaren‹ gegenseitigen Verstehens auf der Grundlage einer universalen Sprache der Gefühle verband sich mit ethischen Grundsätzen: ›Tugendhaftigkeit‹ und ›Aufrichtigkeit‹ wurden nun als Konstituenten der ›bürgerlichen‹ Mentalität ausgewiesen. 1 2

3

Joseph Martin Kraus, Etwas von und über Musik fürs Jahr 1777, Frankfurt a. M. 1778, Reprint hg. von Friedrich W. Riedel, München/Salzburg 1977, S. 99. Obgleich die literarische Epoche der ›Empfindsamkeit‹ spätestens seit 1790 bereits als überholt gilt, ist doch der mit ihr in Zusammenhang stehende, unter neuen anthropologischen Prämissen geführte, Gefühlsdiskurs des späteren 18. und frühen 19. Jahrhunderts als grundlegend für die Herausbildung eines mentalitäts- und kulturgeschichtlichen Konzeptes von ›Bürgerlichkeit‹ anzusehen, wie es hier als Bezugsgröße verwandt werden soll. Vgl. dazu: Nikolaus Wegmann, Diskurse der Empfindsamkeit. Zur Geschichte eines Gefühls in der Literatur des 18. Jahrhunderts, Stuttgart 1988 sowie aus der Perspektive sozialhistorischer Forschung: Ann Charlott Trepp, Emotion und bürgerliche Sinnstiftung oder die Metaphysik des Gefühls. Liebe am Beginn des bürgerlichen Zeitalters, in: Der bürgerliche Wertehimmel. Kulturelle Praktiken des 19. Jahrhunderts, hg. von Manfred Hettling/Stefan-Ludwig Hoffmann, Göttingen 2000, S. 23‒ 55. Vgl. Ursula Geitner, Die Sprache der Verstellung. Studien zum rhetorischen Wissen im 17. und 18. Jahrhundert, Tübingen 1992.

3.1 ›Sangbarkeit‹ als Ideal und Ideologie

29

Dieser auf mentalitätsgeschichtlicher Ebene gefaßte Begriff von ›Bürgerlichkeit‹ läßt sich indes kaum als politisch konsistente Gruppierung beschreiben. Er wurde vor allem durch die Absolventen höherer Schulen und Universitäten verkörpert, die durch den Bildungsprozeß die Grenzen der Standesgesellschaft tendentiell aufzulösen vermochten. Vor diesem Hintergrund wurde aber eben diese, die Signatur des ›Bürgerlichen‹ tragende, aufgeklärte und ›empfindsame‹ Weltsicht wiederum auch von höfischer Seite adaptiert und sowohl zu Repräsentationszwecken genutzt als auch in Reformkonzepte integriert, so daß bürgerliche und höfische Welt letztlich in komplexer Weise miteinander verwoben erscheinen.4 Unter den genannten Prämissen nahm die neue ›bürgerliche‹ Elite auch eine Rekonzeptualisierung und Systematisierung der Künste vor, in deren Kontext nicht zuletzt die Herausbildung der modernen philosophischen Wissenschaft von der ›Ästhetik‹ stand: Kunst wurde nun innerhalb pädagogischer und wahrnehmungstheoretischer Diskurse mit Blick auf ihre Beziehung zum Menschen beleuchtet und nicht mehr ausschließlich unter rhetorisch-handwerklichen Aspekten in exklusiven Expertenkreisen diskutiert. Als bestimmende Maxime dieses Kunstverständnisses läßt sich das ästhetische Konzept der ›edlen Einfalt‹ benennen. Das bereits in der antiken Rhetorik und ihrer Rezeption in den höfischen Verhaltenslehren bis zum frühen 18. Jahrhundert zentrale Moment einer ›verborgenen Kunst‹ im Sinne einer doppelbödigen Geschicklichkeit5 erfuhr hier eine Umwertung aus der Perspektive eines ›bürgerlich‹ geprägten Naturbegriffs. Johann Georg Sulzer faßt diese Idee im zeitgenössischen Standardwerk bürgerlicher Bildung wie folgt zusammen: Man wird sowenig der Kunst gewahr, daß man glaubt, die Natur selbst habe nach der vollkommensten Anwendung ihrer Gesetze den Gegenstand hervorgebracht. Kurz, die edle Einfalt ist der höchste Grad der Vollkommenheit.6

Auch die Künste Musik und Lyrik erfuhren in diesem Kontext eine folgenreiche kulturelle Umformung. Als intermediale Verschränkung beider Kunstformen erhielt das ›Lied‹ innerhalb des um Begriffe wie ›Unmittelbarkeit‹ und ›subjektiven Ausdruck‹ kreisenden musikästhetischen Diskurses eine neue zentrale Rolle, da es nach zeitgenössischen Ansichten die hier verhandelten Ideale mit ihren sozialen und moralischen Implikationen in besonders ›reiner‹ Form repräsentierte. Zwar betonten bereits ältere Liedkonzepte unter Berufung auf die griechische Antike das obligatorische Gesungen-Sein von Lyrik, doch wurde die Musik hier grundsätzlich eher in einem akzidentiellen Sinne aufgefaßt: Verschiedene Melodien konnten auf 4

5 6

Vgl. grundsätzlich: Norbert Elias, Die höfische Gesellschaft. Untersuchungen zur Soziologie des Königtums und der höfischen Aristokratie, Frankfurt a. M. 41989, S. 144f. Zu diesem Komplex aus musikhistorischer Perspektive vgl. außerdem: Laurenz Lütteken, Das Monologische als Denkform in der Musik zwischen 1760 und 1785, Tübingen 1998, S. 12‒52. Vgl. Geitner, Die Sprache der Verstellung, S. 54f. Johann Georg Sulzer, Allgemeine Theorie der Schönen Künste in einzelnen nach alphabetischer Reihenfolge der Kunstwörter auf einander folgenden Artikeln. Neue vermehrte zweyte Auflage, 4 Bde., Leipzig 1792‒94, Reprint Hildesheim 1970; ebd., Art. Einfalt, Bd. 2 (1792), S. 16.

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3 Bürgerliche Kunstliedkultur um 1800

den selben Text gesungen werden und sollten den solchermaßen zum ›Absingen‹ verfertigten Gedichten, wie Johann Rist 1651 formulierte, »ein rechtes Leben und erwünschete Anmutigkeit« verleihen.7 Seit etwa Mitte des 18. Jahrhunderts aber die Idee eines spontan erlebenden ›Ich‹ neue Basis einer im engeren Sinne ›lyrischen‹ Dichtung wurde8 und auch die Musik sich immer mehr aus einer rhetorisch-funktionalen Eingebundenheit herauslöste um schließlich den Status einer als ›unmittelbar‹ aufgefaßten Sprache der Gefühle zu erhalten, änderten sich die Wertigkeiten. Lyrik und Musik hatten nun im Bereich der Empfindungen ein gemeinsames Referenzzentrum und flossen im Sinne eines neuen Ideals ›lyrischer Gestimmtheit‹ gleichsam ineinander. Diese Perspektive verband das literarische Lied somit auf einer anthropologischen Basis mit seiner gesungen Realisierung und figurierte damit gleichsam die Wiederbelebung einer substantiellen Urverwandtschaft von Sprache und Musik.9 Nachdem Christian Gottfried Krause 1752 in seiner Abhandlung Von der musikalischen Poesie eine erste umfassende Liedtheorie vorlegt hatte10, die die Musik noch im Sinne einer aufklärerischen Maximen verpflichteten ›Gemütsergötzung‹ der Dichtung unterordnete, nahm vor allem Johann Gottfried Herder eine zentrale Position im zeitgenössischen Diskurs um Lied und Lyrik ein: Als ›bürgerlicher‹ Schriftsteller und Philosoph wirkte Herder in den Funktionen des Fürstenerziehers und obersten Geistlichen an den Höfen Bückeburg und Weimar und entwarf ein neues, anthropologisch grundiertes Konzept des Liedes, das Musik und Poesie als ursprünglich miteinander verbunden ansah.11 Durch Reisen und Rezeption fremdländischer Dichtung gelangte er zum Volksliedbegriff und entwickelte von diesem Ausgangspunkt die Idee einer neuen, jeglicher Regelpoetik sich entgegensetzenden ›Naturpoesie‹ – Musik wurde nun zum entscheidenden Teilmoment eines poetologischen Programms.12 Damit schuf Herder auch einen grundsätzlichen ästhetischen 7

8

9

10 11

12

Johann Rist, Neuer Himlischer Lieder Sonderbahres Buch, Nothwendiger Vorbericht, S. [3/4, Lüneburg 1651], zitiert nach: Heinrich W. Schwab, Sangbarkeit, Popularität und Kunstlied. Studien zu Lied und Liedästhetik der mittleren Goethezeit (1770‒1814), Regensburg 1965, S. 24. Michael Feldt, Lyrik als Erlebnislyrik. Zur Geschichte eines Literatur- und Mentalitätstypus von 1600 bis 1900, Heidelberg 1990, besonders S. 117−148. Zur Kritik an diesem zeittypischen subjektivistischen Lyrikbegriff vgl. auch Otto Knörrich, Lexikon lyrischer Formen, Stuttgart 1992, S. 134f. Vgl. hier auch: Hans Joachim Kreutzer, Musikalische Lyrik zwischen Ich-Ausdruck und Rollenspiel, in: Musikalische Lyrik, Bd. 2, S. 132. Auch Kreutzer macht auf den Scheincharakter der ›Natürlichkeit‹ einer Kongruenz von Lyrik und Lied im Liedbegriff um 1800 aufmerksam und verweist auf die aus historiographischer Perspektive notwendige methodische Trennung literarischer und musikalischer Liedbegriffe. Christian Gottfried Krause, Von der musikalischen Poesie, Berlin 1752. Einen Überblick zur der Diskussion um »die Verbindung von Musik und Poesie in Herders Ideenwelt« bietet: Alexander J. Cvetko, »...durch Gesänge lehrten sie...«. Johann Gottfried Herder und die Erziehung durch Musik, Frankfurt a. M. 2006, besonders S. 29‒73 (Zitat ebd., S. 37). Zu Herders Idee der ›Naturdichtung‹ und dem damit zusammenhängenden zeitgenössischen poetologischen Diskurs um Lied und Lyrik vgl. Martina Steinig, »Wo man singt, da laß dich

3.1 ›Sangbarkeit‹ als Ideal und Ideologie

31

Referenzrahmen für das Kunstliedschaffen des späteren 18. Jahrhunderts, das vor allem im norddeutschen Raum mit einer ausführlichen theoretischen Explikation einherging und im Zusammenwirken etwa von Johann Peter Abraham Schulz und Johann Heinrich Voss sowie Goethe und Reichardt und später Zelter das Ideal einer gleichsam als ›naturhaft‹ begriffenen Einheit von Wort und Ton als ästhetische Leitlinie hervorbrachte.13 ›Naturhafter Ausdruck‹ ist indes, wie Andreas Käuser in seiner Skizzierung des anthropologischen Musikdiskurses konstatiert, »als polemischer Gegensatz zum kulturellen Zeichen der Repräsentation [...] in dem Moment schon nicht mehr Natur, wo er von Diskursen und Theorien verhandelt wird, die selbst historisch und kulturell sind«. 14 Auch die von der Liedästhetik des späteren 18. Jahrhunderts emphatisch beschworene ›naturhafte‹ Einheit von Wort und Ton gibt sich aus dieser Perspektive letztlich als ästhetische Konstruktion zu erkennen. Als Kompromiß, der darin bestand, daß Dichtung und Musik zwar in Arbeitsteilung voneinander entstanden, Dichter und Komponist sich aber zu einer »Societät« verbanden15, so daß Sprache und Musik unter der ästhetischen Prämisse einer ›Einheit‹ wieder aneinander rückgebunden und so ihrer als ursprünglich begriffenen Bestimmung gleichsam wieder zugeführt werden sollten. Letztlich entwickelte sich bei aller Einbindung von Liedern in die zeitgenössische soziale Praxis hier eine hochdifferenzierte Kunstform, die mittels einer ›Rhetorik der Natürlichkeit‹ im Gewand des Ästhetischen verdeckte, daß Musik und Sprache, obgleich im zeitgenössischen historischen Bewußtsein unauflösbar aneinander gebunden, sich spätestens um 1800 durch die Inanspruchnahme des jeweils Anderen auch vollständig voneinander emanzipiert hatten. Dies wird nur allzu deutlich an der hier als Kapitelüberschrift zitierten polemischen Anmerkung des Komponisten Joseph Martin Kraus, die die omnipräsente Praxis der Lyrikvertonung gleichsam als kulturtechnischen Automatismus entlarvt.16 Das ›lyrische Gedicht‹ hatte indes etwa durch Autoren wie Klopstock, Goethe, Schiller und Hölderlin inzwischen längst Ausprägungen entwickelt, die das ›Liedhafte‹ auf einer rein literarischen Ebene evozieren konnten17 und dabei einen literarisierten Begriff des ›Musikalischen‹ hervorgebracht, der sowohl eine konkrete als auch eine ideelle Dimension umfaßt: Bereits mit Klopstock werden genuin musikalische Parameter wie Rhythmus, Metrum, Melodie und Klang zu konkreten dichterischen Gestaltungsprinzipien, und Schiller beschreibt schließlich die Eigenschaften einer spezifischen, als ›musikalisch‹ apostrophierten Poesie, indem er auf die zeitgenössische Charakterisierung der Musik als begriffsloser Kunst rekurriert und sie für die Poesie in 13 14 15 16 17

ruhig nieder«: Lied und Gedichteinlagen im Roman der Romantik, Berlin 2006, S. 126‒131 und 134‒156. Vgl. Hans-Günter Ottenberg, Art. Berliner Liederschule, in: MGG2, S/Bd. 1, Sp. 1484‒1490. Andreas Käuser, Der anthropologische Musikdiskurs, in: Musik und Ästhetik 4 (2000), S. 25. Vgl. Krause, Von der musikalischen Poesie, S. 47f. Vgl. Vgl. auch Schneider, Ins Ohr geschrieben, S. 200. Vgl. Krämer, Probleme und Perspektiven der Liedforschung, S. 23f.

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3 Bürgerliche Kunstliedkultur um 1800

Anspruch nimmt.18 Ein derartig poetologischer Liedbegriff schloß um 1800 über das beschriebene Liedideal hinaus insofern auch höheren Stilebenen zugehörige Gattungsmodelle wie Hymne oder Ode ein und wurde gleichsam zum Synonym für Dichtung schlechthin.19 Die hier angesprochene Idealisierung des lyrischen Liedes als Repräsentation eines perfekten Ausgleichs von Natur und Kunst, die auch mit Blick auf die Entwicklung der musikalischen Gattung ›Kunstlied‹ ihre Wirksamkeit behielt, vollzog sich auf verschiedenen Ebenen. Zum einen fällt auf, daß die übliche Arbeitsteilung zwischen Komponist und Dichter immer wieder mit Hilfe einer Unmittelbakeitsbzw. Seelenverwandtschaftsrhetorik verschleiert wurde: Beide Briefpartner betonen zumeist emphatisch, daß die gemeinsame Produktion in erster Linie auf der subjektiv-gefühlsmäßigen Verbindung zwischen ihnen gründe, die als weitaus bedeutsamer eingestuft wird als die handwerkliche Kennerschaft des jeweils anderen Metiers. So wollte Reichardt die Gedichte des Freundes Johann Georg Bock als »durch höchste Sympathie der Freundschaft ganz in Dein Feuer gesetzt«20 aufgefaßt wissen und Goethe betonte bekanntermaßen, daß er Zelters Kompositionen immer wieder »mit meinen Liedern identisch« fühle.21 Goethes in diesem Zusammenhang vielzitierter Vergleich vom lyrischen Gedicht mit einem »Luftballon«, der durch die Musik »wie einströmendes Gas« mit in die Höhe genommen werde (vgl. Anm. 21), ist ohne Zweifel von großer suggestiver Kraft, zumal der Dichter mit der Ballonfahrt ein hochaktuelles, das zeitgenössische Lebensgefühl entscheidend veränderndes Ereignis als Bezugspunkt wählt.22 Die Funktion der Musik erscheint, so gesehen, gerade nicht marginalisiert, sondern in ihrer Substantialität geradezu emphatisch betont. Allerdings verhüllt dieses Bild letztlich auch, daß Goethe selbst wohl kaum die eigenen Gedichte als leere Ballonhülle begriffen hätte, die aus eigener Kraft keine Form hätten annehmen können – und ohne die implizite Bezugnahme auf die Möglichkeit des Schwebens als entscheidender Metapher wäre der Ballon-Vergleich sinnlos. Zwar war nach Auffassung Goethes das Musikalische in einem funktionalen Sinn sehr wohl zur essentiellen Ebene der Dichtung zu rechnen, 18 19 20 21

22

Vgl. Dieter Borchmeyer, Schiller, ein musikalischer Dichter, in: Wort und Ton, hg. von Günter Schnitzler/Achim Aurnhammer, Freiburg i. Brsg. 2011, S. 97f. Vgl. Kreutzer, Musikalische Lyrik zwischen Ich-Ausdruck und Rollenspiel, S. 132. Johann Friedrich Reichardt, Über die deutsche komische Oper nebst einem freundschaftlichen Briefe über die musikalische Poesie, Hamburg 1774, S. 120. Vgl.: Briefwechsel zwischen Goethe und Zelter in den Jahren 1799‒1832, hg. von Hans Günther Ottenberg/Edith Zehm, München 1991, Bd. I, S. 601: »Deine Kompositionen fühle ich sogleich mit meinen Liedern identisch. Die Musik nimmt nur wie einströmendes Gas den Luftballon mit in die Höhe. Bei anderen Komponisten muß ich erst aufmerken, wie sie das Lied genommen, was sie daraus gemacht haben.« »Wer die Entdeckung der Luftballone miterlebt hat, wird ein Zeugnis geben, welche Weltbewegung daraus entstand.« Goethe, Maximen und Reflexionen, zitiert nach: MA, Bd. 17, S. 790. Vgl. zur Ausstrahlung der Ballonfahrt auf die zeitgenössische literarische Produktion: Jürgen Link, »Einfluß des Fliegens! − auf den Stil selbst!«. Diskursanalyse des Ballonsymbols, in: Bewegung und Stillstand in Metaphern und Mythen. Fallstudien zum Verhältnis von elementarem Wissen und Literatur im 19. Jahrhundert, hg. von dems./Wulf Wülfing, Stuttgart 1984, S. 150.

3.1 ›Sangbarkeit‹ als Ideal und Ideologie

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allerdings war es als Essenz des ›Lyrischen‹ gewissermaßen von ihr absorbiert worden – die Lyrik wurde damit selbst zum »Angelpunkt von Goethes Musikverständnis« ‒ und nicht umgekehrt.23 Insofern konnte der Musik mit Blick auf die tatsächliche Lyrikvertonung konsequenterweise nur ein spezifischer, funktional beschränkter Wirkungsbereich zugestanden werden. Die von Goethe gleichwohl immer wieder betonte essentielle Rolle des Musikalischen übernimmt aber noch eine weitere die Funktion: Durch die Betonung einer obligatorischen performativen Dimension wird die Gattung gezielt zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit angesiedelt. Die am Ideal der ›Natürlichkeit‹ ausgerichteten lyrischen Gedichte mußten ›sangbar‹ sein. Zum sich aus dieser Prämisse ergebenden produktionsästhetischen Paradigma der ›Sangbarkeit‹ im Sinne einer strukturellen gegenseitigen Bezogenheit von Musik und Gedichttext, wie Heinrich W. Schwab es als ästhetische Basis für das Liedschaffen der »mittleren Goethezeit« exemplarisch beschrieben hat24, ist insofern auch die Idealisierung des performativen Moments selbst zu rechnen: Nur das gesungene bzw. aufgeführte Lied konnte letztlich die Illusion einer Einheit von Wort und Ton erst der ästhetischen Erfahrung zugänglich machen. August Wilhelm Schlegel diagnostiziert in Schillers Horen mit Blick auf das Verhältnis von Dichtung und Musik 1795: Ihre Werke bilden sich vereinzelt in den Seelen verschiedener, oft sich mißverstehender Künstler, und müssen absichtlich darauf gerichtet werden, durch die Täuschung des Vortrages wieder eins zu scheinen.25

Wenngleich sich Schlegel hier gedanklich bereits auf dem Weg zum romantisch abgetönten Liedbegriff eines imaginären Singens befinden mag, macht sein Kommentar deutlich: Das liedästhetische Ideal um 1800 ist nicht in erster Linie auf das kulturelle Artefakt im Sinne eines ›Kunst-Werks‹ bezogen, sondern auf die kulturelle Praxis: Nur der klingende Vollzug kann das erwünschte Ideal ›naturhaften Ausdrucks‹ überhaupt erfahrbar machen, er ist ausschlaggebend für eine wirkliche Realisierung der Einheit von Wort und Ton. Diese auf den antiken Lyrikbegriff zurückgehende Idealisierung26 wurde gerade von Goethe auch in unterschiedlicher medialer Rahmung zur Darstellung gebracht – etwa in seinem in diesem Sinne poetologischen Gedicht An Lina 27, der Figur des »Sängers« im Wilhelm-Meister-Roman oder gar der eigenen Stilisierung als harfender ›Dichter-Sänger‹ in antikem Ambiente: 23 24 25 26 27

Michael von Albrecht, Goethe und das Volkslied, in: Literatur als Brücke. Studien zur Rezeptionsgeschichte und Komparatistik, Hildesheim 2003, S. 303. Vgl. Schwab, Sangbarkeit, S. 19‒84. August Wilhelm Schlegel, Kritische Schriften und Briefe, Bd. I: Sprache und Poetik, hg. von Edgar Lohner, Stuttgart 1962, S. 145. Schwab, Sangbarkeit, S. 27. Vgl. zur Idealisierung des Barden im 18. Jahrhundert auch: Walter Salmen, Der fahrende Musiker im europäischen Mittelalter, Kassel 1960, S. 15f. Johann Wolfgang von Goethe, An Lina, zitiert nach: MA, Bd. 6.1., S. 45: »Liebchen, kommen diese Lieder / Jemals wieder dir zur Hand, / Sitze beim Klaviere nieder, / Wo der Freund sonst bei dir stand. / Laß die Saiten rasch erklingen, / Und dann sieh ins Buch hinein; / Nur nicht lesen! immer singen, / Und ein jedes Blatt ist dein! / Ach, wie traurig, sieht in Lettern, / Schwarz auf weiß, das Lied mich an, / Das aus deinem Mund vergöttern, / Das ein Herz zerreißen kann!«.

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3 Bürgerliche Kunstliedkultur um 1800

Abbildung 1: Goethe als antiker ›Dichter-Sänger‹, Zeichnung aus Goethes Besitz (1828)

Das für die Liedkultur des 18. Jahrhunderts zentrale Konzept der »Sangbarkeit« ist, wie an den angeführten Beispielen deutlich wird, letztlich ein kulturell geformtes Ideal. Es suggeriert, wie Gerd Rienäcker betont, eine gemeinsame ästhetische Basis von Dichtendem, Komponierendem und Singendem: »Gemeinsamkeiten des Beabsichtigten und Vorgegebenen, gar Überschneidungen zwischen den verschiedenen Medien [...], fiktive Identität. Liedtheorien der Wende zum 19. Jahrhundert leben geradezu von solch fiktiver Identifikation der Medien Wort, Ton, so daß sie die faktischen Differenzen häufig in den Wind schlagen.«28 Diese hier in erster Linie auf die strukturellen Unterschiede und die ästhetische Substanz der beiden Medien ›Sprache‹ und ›Musik‹ bezogenen Differenzen kommen gerade dann deutlich zum Vorschein, wenn der Blick auf die historische Dimension der konkreten Kunstliedpraxis gelenkt wird, was in den folgenden Kapiteln aus unterschiedlichen Perspektiven geschehen soll. Die Musik in ihrer Entwicklung als autonomer Kunst mit einem organologischen Werkbegriff wurde durch die ›empfindsame‹ Auffassung von Musik als begriffsloser Sprache der Gefühle zwar auf der einen Seite vorangetrieben, durch ihr unbedingtes Sozialitätsgebot aber auch behindert – ein Konflikt, der gerade mit Blick auf die weitere gattungsästhetische Entwicklung des Liedes und der mit ihr verbundenen kulturellen Praxis der Liedaufführung und -rezeption immer wieder aufscheint: Obgleich in idealisierter Form Kern der theoretisch explizierten Liedästhetik, geriet die künstlerische Praxis des Liedgesangs selbst mit den zeitgenössischen Diskursen um das 28

Gerd Rienäcker, Vorfragen zu einer Theorie des klavierbegleiteten Sololiedes, in: Lied und Liedidee im Ostseeraum zwischen 1750 und 1900, hg. von Ekkehard Ochs, Greifswald 1998, S. 25.

3.2 Sozial- und mediengeschichtliche Aspekte

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Singen als expressiver kultureller Handlung auf gewisse Weise in Konflikt, da die Gesangskunst aus ihrer eigenen Tradition Ansprüche an den künstlerischen Vortrag formulierte, die nicht unbedingt in jenem, innerhalb des liedästhetischen Diskurses konstruierten, Ideal eines ›natürlichen Gesanges‹ aufgingen. Entgegen dem empfindsamen Paradigma gleichgestimmter Seelenkommunikation entwickelte sich der zeitgenössische Sololiedvortrag im Gegenteil in immer höherem Maße zur Repräsentation artifiziell ausgeformter subjektiver Expressivität. Der Musik als Medium dieser Expressivität wurde dabei bereits ein tendentiell autonomer Status zugewiesen bevor Franz Schubert die ästhetischen Koordinaten der Liedvertonung gleichsam neu ausrichtete und dadurch auch völlig neue Ansprüche an den Liedvortrag richtete. Dieser die Prämissen der ästhetischen Theorie im Kontext ›bürgerlich‹ geprägter Kunstliedkultur perspektivierende Problemaufriß soll daher im folgenden einen Ausgangspunkt dafür bieten, zentrale Aspekte dieser künstlerischen Praxis eingehender zu beleuchten, um so ihre Verbindungslinien ins weitere 19. Jahrhundert verfolgen zu können 3.2 SOZIAL- UND MEDIENGESCHICHTLICHE ASPEKTE Grundsätzlich steht das hier aus spezifischer Perspektive beschriebene Insistieren einer ›wesenhaften‹ Bestimmung von Lyrik als ›gesungen‹ vor dem Hintergrund eines emphatisch betonten ›naturhaften Ausdrucks‹ in spannungsvollem Gegensatz zu einem kulturtechnischen Phänomen, das sich seit etwa 1750 geradezu explosionsartig auszubreiten begonnen hatte: Um 1800 war ein lyrisches Gedicht eben gerade nicht mehr selbstverständlich in erster Linie gehörte, sondern bereits gelesene Dichtkunst.29 Die hier skizzierte Blick auf die Liedästhetik des späteren 18. Jahrhunderts steht insofern auch im Kontext eines übergreifenden kulturkritischen Diskurses, der das ›Wesen der Lyrik‹ vor einem neuen anthropologischen Hintergrund redefinieren wollte und sich dabei in besonderer Weise den akustischen Parametern der Sprache widmete. In diesem Diskurs nimmt wiederum vor allem Herder eine zentrale Rolle ein. Er entwarf in Zusammenhang mit seinem Konzept des Volksliedes eine spezifische »Poetik des Tons«30, die unter Rückbezug auf mündliche Dichtungstraditionen nicht allein die musikalische Disposition des gedichteten Liedes meinte, sondern nicht weniger als einen organisch aufgefaßten Zusammenhang von Wort, Melodie, Vortrag und Rezeption.31 In den von ihm zusammengetragenen Texten nahm Herder gewissermaßen einen geheimnisvollen Nachhall ihrer ursprünglichen Situierung in der kulturellen Praxis wahr und sah sich so gleichsam »vom Papier hinweg [...] in ihren Kreis, in ihre Zeiten, in die lebendige Rührung 29 30 31

Vgl. Johann Nikolaus Schneider, Ins Ohr geschrieben. Lyrik als akustische Kunst 1750‒1800, Göttingen 2004. Ebd., S. 26‒32. Ebd., S. 26ff.

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des Volks«32 zurückversetzt. Indem Herder somit die für ihn bedeutsame kulturelle Substanz des Volksliedes gerade jenseits der Grenzen des geschriebenen Textes sieht, betont er die unmittelbare Kommunikation von Mund zu Ohr als Gegenbild der eigenen Gesellschaft, die von der inzwischen fest etablierten Kulturtechnik des stummen Lesens dominiert werde. Herder und andere Autoren richteten sich damit bewußt gegen eine polemisch als ›Letternkultur‹ bezeichnete Schriftlichkeit, die die Poesie ihres ›Wesens‹ beraubt habe und den substantiellen Zusammenhang von ästhetischer Erfahrung und menschlicher Existenz verdunkele. Dabei darf allerdings nicht übersehen werden, daß Autoren wie Herder letztlich selbst einer Elite der Schriftkultur angehörten und von ihren medialen Novitäten intensiven Gebrauch machten. Herder war sich natürlich bewußt, daß es keine Rückkehr in vergangene Kulturstadien geben konnte, vielmehr reflektierte er die Möglichkeiten einer künftigen Poesie und legte dabei einen starken Akzent auf deren potentielle gesellschaftliche Funktion im Sinne einer ›Popularisierung‹. Als Hintergrundfolie ist mit diesem Stichwort eine Debatte aufgerufen, die die Entstehung einer ›bürgerlichen‹ Kunst im 18. Jahrhundert grundsätzlich begleitete und eng mit der Herausbildung kulturnationaler Bestrebungen zusammengedacht werden muß. Die Impulse gingen hier zumeist von einer gelehrten Elite aus, die ein nach unten vom ›Pöbel‹ abgegrenztes ›Volk‹ im Namen eines philanthropischen Ideals vom ›ganzen Menschen‹ gleichsam hinaufläutern wollte: »Die Popularität hebt jenes philosophische Vernunftsolo auf, und bewirket ein harmonisches Spiel aller Seelenkräfte, durchdringt und vereinigt Geist und Herz« lautet etwa eine programmatische Formulierung Johann Christoph Greilings in seiner 1805 erschienenen Theorie der Popularität.33 Um die hierarchische Struktur zwischen ›Gelehrten‹ und ›Volk‹ zu nivellieren wurde somit eine entschiedene Aufwertung des Volksbegriffs und der damit zusammengedachten idealisierten ›Volkskultur‹ ins Werk gesetzt. 34 »Radikalisiert man diesen Prozeß über die Symmetrisierung hinaus, kehrt sich«, so Holger Dainat, indes »der Informationsfluß um. Nicht mehr das Volk ist der Gelehrsamkeit bedürftig, sondern die Volkskultur wird nunmehr in die Hochkultur eingespeist, um die Nation zu revitalisieren.«35 Auch Herders Volkslieder (1778/79) und Stimmen der Völker in Liedern (1807) – wohlgemerkt Textsammlungen ohne Melodien – wendeten sich vor solchem Hintergrund ihrerseits an ein ›Volk‹, das bestimmte Rezeptionsvoraussetzungen mitbringen mußte. Gerade dieser Umstand führte denn auch zu zeitgenössischer Kritik, wie etwa im prominenten Fall Friedrich Nicolais, der polemische Spitzen gegen Herders Popularisierungsrhetorik austeilte noch bevor 32 33

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Johann Gottfried Herder, Volkslieder, Übertragungen, Dichtungen, hg. von Ulrich Gaier, Frankfurt a. M. 1990, S. 19. Johann Christoph Greiling, Theorie der Popularität, Magdeburg 1805, Reprint: Stuttgart Bad Canstatt 2000, S. 129, zitiert nach Holger Dainat, »Meine Göttin Popularität«. Programme printmedialer Inklusion in Deutschland 1750‒1850, in: Popularität und Popularisierung, hg. von Gereon von Blaseio, Köln 2005, S. 47. Vgl. eingehender ebd. S. 43‒62. Ebd., S. 49.

3.2 Sozial- und mediengeschichtliche Aspekte

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dessen Volkslieder erschienen waren: In dem 1777 von Nicolai als satirischer Gegenentwurf zur Idee einer gelehrten Volkspoesie herausgegebenen Kleynen feynen Almanach sind ironischerweise mehr authentische Quellen zu Volksliedern aufzufinden als bei Herder, der gewisse Trivialitäten und Zotigkeiten nicht mit dem moralischen Anspruch seiner Volksliedidee vereinbaren konnte und daher etliche Texte entsprechend glättete. Nicolai wendet sich mit der Stimme einer fiktiven, auf Hans Sachs anspielenden, Dichterfigur mit Namen »Daniel Seuberlich« gegen die von Herder und vor allem Gottfried August Bürger geübte Einfühlungsästhetik, »die – nach Nicolais Beurteilung – davon ausgeht, der gebildete Dichter der Gegenwart könne ohne weiteres den Produktions-Rezeptions-Zusammenhang der Volkslieder nachempfinden«.36 Nicolai verkannte dabei indes, daß sich Herders Volkskonzept letztlich auf ein ›Menschsein‹ im emphatischen Sinne richtete, das mit der umfassenden Vision verbunden war, über einen neuen universalen Poesiebegriff Standes-, Kultur- und Epochengrenzen überwinden zu können.37 Gleichwohl mußten vor solchem Hintergrund allererst Lieder für das ›Volk‹ komponiert werden. Diesem Projekt widmete sich in vorderster Reihe der in Berlin bei Johann Philipp Kirnberger ausgebildete und später in Kopenhagen wirkende Komponist und Kapellmeister Johann Peter Abraham Schulz, der von der Musikgeschichtsschreibung in der Regel als Gründungsvater der sogenannten, sich zentral auf Herders Volksliedkonzept beziehenden, ›Zweiten Berliner Liederschule‹ rubriziert wird.38 Der Begriff »Volkston« , der zur Zeit seines Aufkommens gleichbedeutend mit Herders »Volkslied« verwendet wurde39, fließt mit Schulz in den musikalischen bzw. musikästhetischen Diskurs ein und vereint in dessen Auffassung zwei miteinander verwobene Zielsetzungen: Zum einen geht es um das angesprochene Ideal einer moralischen Volksbildung, zum anderen aber auch um die Verwirklichung eines ästhetischen Ideals. 40 Schulz bemüht sich in seiner berühmt gewordenen Vorrede zur zweiten Ausgabe seiner Lieder im Volkston (1785) durch die Betonung der volkstümlichen ›Simplizität‹ die Spannungen des Populären in seinem Verhältnis zum Artifiziellen gleichsam zu entschärfen:41

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Schneider, Ins Ohr geschrieben, S. 33. Vgl. den Kommentar Ulrich Gaiers zu Herder, Volkslieder, S. 870. Vgl. Ottenberg, Art. Berliner Liederschule, Sp. 1488. Christoph Henzel hat indes am Beispiel des 1793 zum preußischen Hofkapellmeister berufenen Komponisten und Sängers Vincenzo Righini aufgezeigt, daß gerade die Zweite Berliner Liederschule letztlich eine »historiographische Fiktion« sei und betont die »Polyphonie« kompositorischer Tendenzen um 1800. Vgl. ders., Ein Italiener im gelobten Land des Liedes. Vincenzo Righini und die Berliner Liederschule, in: Jahrbuch des staatlichen Instituts für Musikforschung Preußischer Kulturbesitz 2002, S. 142‒170 (Zitate auf S. 154f.). Schwab, Sangbarkeit, S. 119. Peter Tenhaef, Johann Peter Abraham Schulz und die Simplizitätsideale des Liedes, in: Lied und Liedidee im Ostseeraum, S. 31‒42. Vgl. zum Folgenden: David E. Gramit, The Circulation of the Lied, in: The Cambridge Companion to the Lied, Cambridge 2004, S. 305f.; sowie: ders., Cultivating Music. The Aspirations, Interests and Limits of German Musical Culture 1770‒1848, Berkeley 2002, v. a. S. 63ff.

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3 Bürgerliche Kunstliedkultur um 1800 In allen diesen Liedern ist und bleibt mein Bestreben, mehr volksmäßig als kunstmäßig zu singen, nehmlich so, dass auch ungeübte Liebhaber des Gesanges, sobald es ihnen nicht ganz und gar an Stimme fehlt, solche leicht nachsingen und auswendig behalten können.42

Nun scheint allerdings bei genauerer Betrachtung gerade eben jene Gruppe der »ungeübten Liebhaber des Gesanges« eigentlich am wenigsten angesprochen, denn was folgt und mit dessen adäquater Rezeption von Schulz ja auch gerechnet wird, ist vielmehr die differenzierte Explikation eines ästhetischen Konzeptes, zu dessen Fokus das prominent gewordene Ideal vom »Schein des Bekannten« wird. Hier – so Schulz – liege »das ganze Geheimnis des Volkstons; nur muß man ihn nicht mit dem Bekannten selbst verwechseln; dieses erweckt in allen Künstlern Überdruß.«43 Der zweite Absatz der »Vorrede« greift sodann auf kompositionstechnisches Spezialvokabular wie »Fortschreitung«, »Deklamation«, »Intervall« und »Metrum« zurück und weist zudem dezidiert auf die ästhetischen Zielsetzungen hin – höchste Vollkommenheit der Verhältnisse aller Teile und Rundung der Melodielinie – hier kann der Autor die eigene hochprofessionelle musikalische Ausbildung kaum verleugnen. Schulz’ Konzept war auch aus der Perspektive zeitgenössischer Wahrnehmung eine Gratwanderung, denn eine zu sehr entkomplizierte Kunst, verliere, wie Johann Nikolaus Forkel 1789 in einer Rezension der Lieder Volkston ausdrücklich mahnt, schließlich doch ihren Kunstanspruch: [Der] Recensent würde es als eines der ersten Meisterstücke in dieser Art ansehen, wenn ihm nicht vorkäme als ob Hr. Schulz vielleicht aus einem allzu sorgfältigen Bestreben nach Popularität, hin und wieder im Stil etwas weniger edel gewesen wäre, als er der Faßlichkeit unbeschadet, wohl hätte seyn können.44

Was in städtischen Mittel und Oberschichten gesungen wurde, war, wie aus heutiger Perspektive zu betonen bleibt – etwa mit einem Seitenblick auf Schulz’ berühmt gewordene Vertonung von Claudius’ Abendlied als besonders prominentem Beispiel45 – letztlich eher eine geglättete und dem Ideal »edler Einfalt« angepaßte Illusion des Volkliedes, die in hohem Maße im Kontext der Delektierung bürgerlicher Schichten an einem idealisierten Volksideal zu verorten ist.46 Dies wird auch nicht zuletzt am wenig später erwachenden philologischen Interesse an ›authentischem‹ Volksliedmaterial deutlich, vor dessen Hintergrund etwa Johann Friedrich Rochlitz 1815 in einem Kommentar zu Herders Volksliedern gleichfalls mahnend konstatiert: 42 43 44 45 46

Vgl. Johann Peter Abraham Schulz, Lieder im Volkston, hg. von Walter Dürr/Stefanie Steiner, München 2006, Abb. 2. Ebd. Johan Nikolaus Forkel, Musicalischer Almanach für Deutschland auf das Jahr 1789, Leipzig o. J., S. 35. Zum artifiziellen Konzept von Claudius’ Gedicht siehe die eingehende Analyse von Michael Feldt, Lyrik als Erlebnislyrik, S. 158 ff. Vgl. Reinhard Siegert, Im Volkston. Zu einem Phantom in Literatur, Musik und Bildender Kunst, in: Hören – Sagen – Lesen – Lernen, hg. von Ursula Brunold-Bigler und Hermann Bausinger, Bern [u. a.] 1995, S. 679‒694.

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Wäre man nur überall nach ihnen aus gewesen ehe das eine Volk sie durch Kunst umgestaltet, ein anderes mit den musikalisch gebildeten Stücken vertauscht, ein drittes durch seine Schicksale fast ganz zum Verstummen gebracht worden! 47

Volks- und Kunstlied hatten sich um 1800 über die Techniken idealisierender und ästhetisierender Nachgestaltung letztlich miteinander verschmolzen.48 Bedeutsam für die Kulturgeschichte des Kunstliedes in engerem Sinne sind dabei zwei miteinander verschränkte Prozesse: Zum einen setzte Herders Volksliedideal auch einen Impuls für die weitere Entwicklung der lyrischen Dichtkunst, vor allem mit Blick auf die sogenannte »Erlebnislyrik«49, zum anderen verband sich die ›populär‹-gesellige, im Kontext der Volksaufklärung zu verortende, Liedpraxis (repräsentiert etwa durch das weit verbreitete Mildheimische Liederbuch von 179950) zum Ende des 18. Jahrhunderts entsprechend mit der Rezeption neuer, lyrischer Dichtung und rückte damit in den Horizont gesellschaftlich höher gelagerter Schichten.51 Vertonte Gedichte wurden nun für die Dichter zum bedeutsamen Popularisierungsfaktor – so betonte Goethe etwa, erst Reichardts Vertonungen hätten ab 1778 seine Gedichte »ins Allgemeine befördert«.52 Zur medialen Grundlage für die Verbreitung von Liedern ist neben den zahlreich publizierten Sammlungen vor allem die Praxis der musikalischen Einlagen in Almanachen zu zählen, wobei hier Repertoire und Geschmack erheblich differierten.53 Dezidiert an ein künstlerisch sensibles, gebildetes Publikum richteten sich die Musikbeilagen in Romanen, die ein häusliches Musizieren im Sinne einer emotionalen Einbindung des Lesers als gezielte Strategie verfolgen. Auch die Erstausgabe von Goethes Wilhelm Meister (1795) enthielt etwa Vertonungen von sieben im Roman eingelegten Gedichten durch Johann Friedrich Reichardt, die Goethe später

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AMZ 17 (1815), Sp. 245, zitiert nach: Schwab, Sangbarkeit, S. 119. Aus literatursoziologischer Sicht betont Jost Schneider grundsätzlich, »dass die typischen Kulturobjekte einer Schicht bis zu einem gewissen Grad den Aneignungsprozeduren der anderen Schichten unterzogen werden können. Im vorliegenden Fall [d.h. mit Blick auf das Volkslied, M.G.] wäre also nicht von einem Anteil an der volkstümlichen Kultur, sondern von einer Applikation nicht-volkstümlicher Rezeptionsverfahren auf Objekte der Volkskultur zu sprechen.«, vgl. ders., Sozialgeschichte des Lesens. Zur historischen Entwicklung und sozialen Differenzierung der literarischen Kommunikation in Deutschland, Berlin 2004, S. 66. Vgl. Feldt, Erlebnislyrik, S. 146f. Rudolf Zacharias Becker, Mildheimisches Liederbuch von acht hundert lustigen und ernsthaften Gesängen über alle Dinge in der Welt und alle Umstände des menschlichen Lebens, die man besingen kann, Gotha 1815, Reprint Stuttgart 1971. Vgl. Gert Ueding, Klassik und Romantik. Deutsche Literatur im Zeitalter der französischen Revolution 1789−1815, München 1987, S. 613 ff., bes. S. 615. Reichardt zitiert nach: Walter Salmen, Art. Reichardt, Johann Friedrich, in: Metzler GoetheLexikon, hg. von Benedikt Jeßing [u. a.], Stuttgart/Weimar 2004. 128 von Reichardts 140 Goethe-Liedern wurden zwischen 1809 und 1811 veröffentlicht. Heinrich W. Schwab, Musikbeilagen in Almanachen und Taschenbüchern, in: Die Almanachund Taschenbuchkultur des 18. und 19. Jahrhunderts, hg. von York-Gothart Mix, Wiesbaden 1996, S.167‒201.

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aus privaten bzw. politischen Gründen eliminierte. 54 All diese Medien transformierten das zunächst lesend wahrgenommene Gedicht gleichsam aus dem Buch heraus direkt in die Realität des bürgerlichen Klavierzimmers. Die implizite Aufforderung zum eigenen Musizieren, zur klingenden Realisierung des Gelesenen, erhöhte die Attraktivität des Romans und seiner fiktiven Gestalten und war der emotionalen Kultivation dienlich – sei es im Sinne einer genußvoll erlebten, ästhetisierten Einsamkeit oder auch in »gleichgestimmt, sinniger Gesellschaft«.55 Hintergrund für solch einsame oder kollektive Herzensbildung war aber letztlich eine hinreichende Bildung musikalischer Art, die Vertrautheit mit den Novitäten deutscher lyrischer Dichtung und eine gesteigerte Sensibilität für die Interaktion dieser Künste. Reinhold Brinkmann beschreibt etwa am Beispiel Mannheims, wie sich zu Anfang des 19. Jahrhunderts mit der Herausbildung einer bürgerlichen Öffentlichkeit Literaturund Musikrezeption auch institutionell miteinander verschränkten: Die 1803 gegründete Lesegesellschaft Casino (ausgestattet mit eigener Bibliothek, Lesezimmer und Buchhandlung) und das 1806 gegründete Conservatorium fusionierten 1808 zum übergreifenden Kulturverein Museum, um, wie es anläßlich seiner Gründung hieß, »durch Vereinigung mehrerer bisher isolirter Anstalten, für intellektuelle und ästhetische Kultur, für verfeinerte und erhöhete Geistigkeit einen Vereinigungspunkt zu bilden.«56 Dichtung und Musik fielen in der kulturellen Praxis des späten 18. Jahrhunderts, wie an diesen Beispielen nochmals deutlich wird, wichtige Funktionen bei der die Gestaltwerdung einer bürgerlichen Idee von Freiheit und Humanität zu, die sich letztlich im Ideal einer Autonomie der Kunst abspiegelte. Zum Prozeß der Konstruktion einer nationalen Hochkultur zählte auch das am Anfang dieses Kapitels angesprochene Phänomen, durch die Etablierung von öffentlich vorgetragener Lyrik, ein »Laboratorium der Verfeinerung von Sprache und Kultur, der Modellierung der Affekte, Sitten und Gesinnungen«57 zu schaffen. So florierten neuartige Veranstaltungen wie Dichterlesungen und Deklamationsabende, und auch Lied- und Chorgesang waren Teilmomente einer neuen Konjunktur des ›Hörbarmachens von Texten‹.58 Begleitet wurde diese Entwicklung von der entsprechenden Anleitungsliteratur: Bücher über das Vorlesen, Deklamieren, Rezitieren und Schauspielen führten, wie Reinhart Meyer-Kalkus ausführlich beschrieben hat, eine regelrechte Sprechkunstbewegung herauf 59, die neue »informelle öffentliche Räume der gemeinsamen Unterhaltung, Belehrung und Verständigung im Medium ästhetischer Kommunikation«60 erschuf: 54 55 56 57 58 59 60

Vgl. Reinhold Brinkmann, Kennt du das Buch? Oder: Die Vertreibung der Musiknoten aus Wilhelm Meisters Lehrjahren, in: GJb 118 (2001), S. 289‒303. Reichardt zitiert nach Gabriele Busch-Salmen/Walter Salmen, Der Weimarer Musenhof. Dichtung – Musik und Tanz – Gartenkunst – Geselligkeit – Malerei, Stuttgart 1998, S. 87. Denkblätter zum Weihefest des Museum, zitiert nach: Brinkmann, Kennst du das Buch?, S. 292. Vgl. Reinhart Meyer-Kalkus, Literatur für Ohr und Stimme, in: Phonorama, S. 174. Ebd., S. 173. Vgl. dazu ausführlich: Reinhart Meyer-Kalkus, Stimme und Sprechkünste im 20. Jahrhundert, Berlin 2001, S. 223–250. Meyer-Kalkus, Literatur für Ohr und Stimme, S. 174

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Die Sprechkunstbewegung setzte in Deutschland zu einem Zeitpunkt ein, als die deutsche Sprache als Dichtersprache konkurrenzfähig wurde; als man Schriftsteller wie Klopstock und Lessing, Goethe und Schiller, Wieland und Jean Paul als klassische Autoren feierte und in andere europäische Sprachen übersetzte; als die Besinnung auf die deutsche Sprache – in Abgrenzung und in Konkurrenz zu dem an den Höfen immer noch dominierenden Französisch – zu einer der identitätsstiftenden Züge der neuen nationalen Bewegung wurde, und als man neue Institutionen wie Theater, Vortragssäle, Gymnasien und Universitäten schuf, in denen Sprache und Literatur in besonderer Weise gepflegt wurden.61

Das auch immer mehr durch nationale Impulse bestimmte bürgerliche Selbstverständnis konnte vor solchem Hintergrund einerseits gerade die in ihrer gleichsam fingierten Unmittelbarkeit hochartifizielle Erlebnislyrik als »literarische Tastatur« zur Kultivierung des Gefühls in seine symbolischen Praktiken der gesellschaftlichen Abgrenzung einbeziehen, um sich ostentativ von einer den explodierenden Buchmarkt überschwemmenden Flut ephemerer literarischer Erzeugnisse abzugrenzen. 62 Auf der anderen Seite reagierte die trivialliterarische Produktion allerdings genau auf die Bedürfnisse einer »bürgerlichen Affektlage«.63 Dies betraf ohne Zweifel auch den Markt für Liedkompositionen, die mit der Entstehung eines musikalischen Massenpublikums zum Umschlagplatz für Trivialitäten im Sinne vielgescholtener »Lieder für fühlende Seelen« wurde.64 Reichardt, der die Ambivalenz dieser mit dem Notendruck verbundenen Entwicklungen durchaus sah, betonte 1782 in seinem Musikalischen Kunstmagazin: »Ein geschrieben Blatt was mir mancher wahre Künstler auf meinen Reisen aus seinem verborgenen Schatz gab, war oft unendlich mehr werth als zwanzig gestochene und gedruckte Werke desselben Mannes, zubereitet für das enge Herz seiner gnädigen Käufer und den Eisenkrämersinn seines Notenverlegers.«65 Das Lied changierte hier gewissermaßen als Teil einer umfassenden kulturellen Praxis zwischen Kunstwerk und Gebrauchsgegenstand.66 61 62

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Ebd. Zitate bei Ueding, Klassik und Romantik, S. 618. Martha Woodmansee liest etwa Karl Philip Moritz’ Versuch einer Vereinigung aller schönen Künste unter dem Begriff des in sich selbst Vollendeten – eine Schrift die (noch fünf Jahre vor Kants Kritik der Urteilskraft) 1785 in der Berlinischen Monatsschrift erschien und gewissermaßen den Status eines Gründungsdokuments der literarischen Autonomieästhetik genießt – auch als Reaktion auf eine boomende Unterhaltungsliteratur: Das intellektuelle Potential, das durch die aufklärerischen Alphabetisierungsbemühungen entstanden sei, würde hier nach Ansicht einer neuen professionellen Schriftstellerzunft, zu der Moritz sich zählte, gleichsam fehlgeleitet, indem Bücher zur trivialen Konsumware verkämen. Vgl. Martha Woodmansee, The Interest in Disinterestedness. Karl Philip Moritz and the Emergence of the Theory of Aesthetic Autonomy in Eighteenth Century Germany, in: Modern Language Quarterly 45 (1984), S. 22‒47. Vgl. Ueding, Klassik und Romantik, S. 618. Etwa: Friedrich Burchard von Beneken, Sammlung von Liedern und Gesängen für fühlende Seelen, Hannover 1787. Vgl. auch Heinrich W. Schwabs Aufzählung entsprechender Liedersammlungen in: ders., Musikalische Lyrik im 18. Jahrhundert, S. 387. Johann Friedrich Reichardt, An junge Künstler, in: Musikalisches Kunstmagazin 1 (1782), S. 6, zitiert nach Gramit, The Circulation of the Lied, S. 306. Vgl. ebd., S. 301.

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Auch wenn gerade mit Blick auf die Liedkomposition etwa der ›Zweiten Berliner Liederschule‹ und der entsprechenden Liedgesangspraxis an die philanthropischen Ideale einer umfassenden Menschenbildung angeknüpft wurde, muß doch deutlich unterschieden werden zwischen den Bildungsmöglichkeiten, die der zeitgenössische allgemeinschulische Rahmen bot und jenen, die der hochangesehene ›Dilettant‹ des gehobenen Bürgerstandes sich verschaffen konnte67, an den sich populärwissenschaftliche Werke wie Sulzers Allgemeine Theorie der schönen Künste oder kunstpraktische Lehrbücher wie Nina d’Aubigny von Engelbrunners im empfindsamen Briefromanstil verfaßte Gesangslehre Briefe an Natalie über den Gesang von 1803 richteten.68 Idealtypischer Rezipient einer Kunstliedproduktion im engeren Sinne war um 1800 mithin jener gebildete, bürgerliche Dilettant, der durch eine Sensibilisierung für die Verquickung des Einfachen mit dem Kunstvollen letztlich eine Art ›professioneller‹ Disposition erworben hatte.69 Er war sowohl Lyrikkonsument als auch – wenn die aufführungspraktischen Voraussetzungen (nämlich der Besitz eines Instruments wie Klavier, Gitarre, Zither oder Harfe und vor allem die hinreichende musikalische Bildung und Ausbildung am Instrument und auch im Gesang) erfüllt waren – Liedkonsument. Als repräsentatives Zeugnis der in den skizzierten Kontexten bürgerlicher Bildung und ästhetischen Raisonnements zu verortenden Liedpraxis kann Hans Georg Nägelis 1811 bzw. 1817 in der Leipziger AMZ veröffentlichter mehrteiliger Artikel über die als Liederkunst bezeichnete zeitgenössische Liedkultur gelten.70 In diesen, wie es im ersten Teil von 1811 heißt, historisch critische[n] Erörterungen und Notizen über die deutsche Gesangs-Cultur reflektiert der Schweizer Musikpädagoge, Verleger und Komponist exemplarisch die Entwicklung des jüngeren Klavierliedes im deutschsprachigen Raum. Bezeichnend für seine Art der Darstellung ist vor allem, daß die »Liederkunst« nicht rein werkbezogen gedacht, sondern als durch Interdependenzen von Dichtung, Kompositions- und Gesangsstil bestimmtes kulturelles Feld aufgefaßt wird, was Nägelis Text, der in der Regel in einem rein gattungsgeschichtlichen Kontext rezipiert wird, für die hier eingenommene Perspektive nochmals besonders aufschlußreich macht. Auch Nägeli setzt zunächst bei der gewandelten Rolle lyrischer Dichtung innerhalb der bürgerlichen Kultur an: »Während die bürgerliche Welt, sowol von ihrer ernsten als auch ihrer heitern Seite mehr ans Licht trat, mußte der allbeseelende Strahl der Cultur nothwendig auch den Geist 67

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Vgl. Wilfried Gruhn, Geschichte der Musikerziehung. Eine Kultur- und Sozialgeschichte vom Gesangsunterricht der Aufklärungspädagogik zu ästhetisch-kultureller Bildung, Hofheim 2 2003, S. 103. Nina D’Aubigny von Engelbrunner, Briefe an Natalie über den Gesang. Ein Handbuch für Freunde des Gesanges zur Beförderung der häuslichen Glücksseligkeit, Leipzig 1803, Reprint Frankfurt a.M. 1982. Karsten Mackensen, Der professionelle Dilettant, in: Professionalismus in der Musik, hg. von Christian Kaden, Essen 1999, S. 111. Hans Georg Nägeli, Historisch-kritische Erörterungen und Notizen über die deutsche GesangsCultur, in: AMZ 13 (1811), Sp. 629‒642 und Sp. 645‒652, ders., Die Liederkunst, in: AMZ 19 (1817), Sp. 761‒767 u. Sp. 777‒782.

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höherer Dichtung wecken.«71 Bewußt vermeidet er ein umfassenderes historisches Ausholen und stellt die Liedkultur der letzten Jahrzehnte in den Kontext der Entwicklung neuerer lyrischer Produktion seit Gellert und Hagedorn. Die musikalische Rezeption der Dichtung wird von Nägeli in Form eines Fortschrittsmodells beschrieben: Die »Liederkunst« wird vor der Folie einer zunehmenden Artifizialisierung des Liedes in drei bzw. vier »Epochen« eingeteilt, wobei die vierte einen idealtypischen theoretischen Entwurf einer »zu einem höheren Kunstganzen« sich aufschwingenden Liedästhetik darstellt. Gleichwohl betont Nägeli ausdrücklich, daß die ästhetische Prämisse der ›Simplizität‹ mitsamt ihren pädagogischen und moralischen Implikationen als konstitutiv für die Gattung erhalten werden müsse. Daher kommt er trotz theoretischer Reflexion einer hochkomplexen vierten Liederepoche, die er als Erweiterung der zeitgenössischen Kompositionspraxis verstanden wissen will (und die im gattungsästhetischen Diskurs seit Walther Dürr als Antizipation Schubertscher Liedästhetik gewertet wird) auf die »Kleinheit« als zentralem ästhetischen Paradigma zu sprechen: Aber auch alle diese Beweise und Hinweisungen dürften kaum hinreichen, mich gegen gewisse Kunst- und Culturfeunde vor dem Vorwurf einer Erweiterungssucht zu schützen, die, als Folge einer falschen Cultur, in der Weite sucht, was näher liegt, und eben, indem sie um sich greift, sich vergreift. Es ist daher nicht überflüssig, solchen Erweiterungsversuchen auch Beschränkungsversuche beyzustellen, beydes in der Theorie-Begründung und im Kunstwerk. Ich versuche daher darzuthun, dass und wie im Liederfache eben auch das kleinste (kürzeste) Lied gerade in seiner Kleinheit, seinem kleinen Umfange, einen grossen, einen besondern Kunstwerth hat [...]72

Nägelis Insistieren auf dem Ideal der »Kleinheit« im Sinne eines als ›natürlich‹ angesehenen Maßhaltens macht deutlich, wie sich hier die Selbstverständlichkeit sozialer Funktionalisierung mit autonomieästhetischen Prämissen auf charakteristische Weise verschränkte. Dem unter dem Etikett ›Lied‹ kompositionsgeschichtlich gesehen um 1800 entfalteten Spektrum, das letztlich »vom unvertonten Gedicht bis zum orchesterbegleiteten Chorlied, von der achttaktigen, im Musenalmanach publizierten, Petitesse zum ambitionierten Klavierlied« reichte und außerdem sowohl rein musikalische als auch rein sprachliche Gebilde einschloß73, steht insofern in Nägelis Ausführungen zur »Liederkunst« eine planvoll reduzierte Charakterisierung des Kunstliedes als Teilmoment einer gehoben-bürgerlichen kulturellen Praxis entgegen. Das auf solche Weise in den Fokus genommene Kunstlied des späteren 18. Jahrhunderts ließe sich mithin letztlich in den umfassenden Kontext einer Art Rekonzeptualisierung der Vokalmusik vor dem Hintergrund bürgerlicher kultureller Praxis stellen:74 Das Bürgertum, das immer mehr in die musikalischen Diskurse 71 72 73 74

Nägeli, Historisch-kritische Erörterungen (1811), Sp. 633. Nägeli, Die Liederkunst (1817), Sp. 766. Schwab, Musikalische Lyrik 18. Jahrhundert, S. 393. Vgl. Ann LeBar, The Domestication of Vocal Music in Enlightenment Germany, in: Journal of Musicological Research 19 (2000), S. 97‒134. LeBar sieht die Wurzeln zum hier angesprochenen Phänomen in einem mit der Aufklärung einsetzenden Prozesses der Domestizierung, als deren Teilmoment sie ebenfalls eine Neukonzeption der Vokalmusik vor dem Hintergrund

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eingriff und sie schließlich bestimmte, entdeckte die Vokalmusik gleichsam für sich und lud sie mit neuen Idealen auf, die sich auf das kulturelle Potential einer Verfeinerung von Sitten, Affekten und Geschmack ausrichteten. Dazu traten in Zusammenhang mit dem hier eng in Verbindung mit Volksbegriff und bürgerlichem Sprachbewußtsein skizzierten Liedideal, wie nebenbei bereits deutlich wurde, Impulse nationaler Identitätsbildung. Die »Liederkunst« erhob sich so letztlich von einer rein usuellen zusehends zu einer symbolischen Praxis vor dem Hintergrund des Aufstiegs der neuen Idee ästhetischer Autonomie. Als Referenzrahmen eines bürgerlichen Humanitätsideals bildet sie somit auch einen soziokulturellen Kontext. Dies wird nicht zuletzt daran deutlich, daß die bürgerlich geprägten Ideale der ›Unmittelbarkeit‹ künstlerischer Produktion und einer verdeckten, ›kunstlosen‹ Kunst, wie sie sich gerade in der Ausdifferenzierung der »Liederkunst« abspiegelten, sich auch auf das höfische musikalische Leben auswirkten. Als kulturell codierte Haltungen wurden sie gezielt in Repräsentationsstrategien integriert, ohne daß sich hier freilich die Standesgrenzen vollständig aufgelöst hätten. So etwa im Fall der Herzogin Anna Amalia von Braunschweig-Wolfenbüttel Sachsen-Weimar, die ihren Hof partiell für das Weimarer Bürgertum öffnete und bürgerliche Gelehrte und Künstler aller Sparten um sich versammelte. Speziell durch die Liedpraxis um Goethe und seine ›Sängerdarsteller‹ des Weimarer Hoftheaters wird der später zur Legende verklärte »Weimarer Musenhof« so auch zu einer Art Laboratorium für die Entwicklung des Kunstliedes und der professionellen Liedvortragskunst, die im folgenden aus verschiedenen Perspektiven eingehender beleuchtet werden soll.75



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bürgerlicher Lebensentwürfe im Sinne einer Anverwandlung beschreibt: Am Beispiel des Hamburger Musiklebens um 1730 wird bereits deutlich, wie die Gattungen Lied und Kammerkantate mit neuen moralisch aufgeladenen produktionsästhetischen Prämissen versehen werden, die eine von subjektiver ›Innerlichkeit‹ bestimmte bürgerliche Welt als Gegenentwurf zur höfisch geprägten und konnotierten Opernmusik repräsentieren sollte. Vgl. dazu: Busch-Salmen/Salmen, Der Weimarer Musenhof, S. 92‒103. Ein weiteres Beispiel bietet der Potsdamer Hof, dessen, maßgeblich durch Königin Luise von Preußen mitgestaltete, musikalische Praxis gleichfalls vornehmlich durch bürgerliche Elemente wie Lied, Singspiel und Tanz gekennzeichnet war. Diese Entwicklung wurde bezeichnenderweise nach dem Tod Luises 1810 im Zuge restauratorischer Bestrebungen wieder rückgängig gemacht. Vgl. Walter Salmen, Lieder und Romanzen im Leben der Königin von Preußen, in: A due. Musical Essays in Honour of John. D Bergsagel & Heinrich W. Schwab, hg. von Ole Kongsted, Kopenhagen 2008, S. 645‒662. Die damals betont unpolitische Idee einer mit Familie und Privatsphäre assoziierten bürgerlichen ›Innerlichkeit‹ bot letztlich ein wirksames Gegenbild zum von politischem Aufruhr bestimmten nachrevolutionären Frankreich: Revolutionäre Impulse sollte in derartigen, als harmonistisch ausgewiesenen, gesellschaftlichen Verhältnissen gleichsam als überflüssig erscheinen. Vgl. Wulf Wülfing, Die heilige Louise von Preußen. Zur Mythisierung einer Figur der Geschichte in der deutschen Literatur des. 19. Jahrhunderts, in: Bewegung und Stillstand in Metaphern und Mythen, S. 240.

3.3 Körper und Stimme

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3.3 KÖRPER UND STIMME 3.3.1 Liedvortrag und ›Expressivität‹ Die Konturen deutschsprachiger bürgerlicher Liedpraxis des 18. und frühen 19. Jahrhunderts lassen sich anhand der erheblichen Menge an Notendrucken sowie durch die Analyse der ästhetischen Diskurse zwar rekonstruieren, Quellen zur performativen Realisierung der Lieder flossen hingegen eher spärlich, da der konkret auf die sängerische Ausführung bezogene Anteil der »Liederkunst« vor allem im Rahmen praktischer Unterweisung weitergegeben wurde. Daß das Lied nicht als ›aufgeführte‹, im Sinne öffentlich dargebotener Kunst gelte, sondern im privaten Rahmen erklang, hatte auch, etwa verglichen mit ›öffentlichen‹ Gattungen Oper oder Solokonzert, ein relativ geringeres Interesse zur Folge, diese Liedpraxis als wissenschaftlichen Untersuchungsgegenstand zu profilieren.76 Indes erfordert der von der historischen Soziologie und Anthropologie freigelegte Umstand, daß eine Aufwertung und kulturelle Ausformung der Privatsphäre77 sich im Laufe des 18. Jahrhunderts allererst herausbildete, auch eine Kontextualisierung mit diesem ›neu‹ gestalteten Lebensbereich verbundener kultureller Praktiken. ›Einsamkeit‹ und ›Geselligkeit‹ stehen sich mit Blick auf diese Praktiken im Sinne »anthropologische[r] Grundkonstanten«78 gegenüber und finden sich sowohl in der ›geselligen Einsamkeit‹ des bürgerlichen Privathaushalts als auch der halböffentlichen Salonkultur auf unterschiedlichste Weise miteinander verschränkt. Zum Phänomen einer spezifischen Kultivierung von ›Intimität‹ und ›Innerlichkeit‹ zählte in jedem Fall auch das Musizieren von Kunstliedern. Das Lied zählte gar an erster Stelle zu denjenigen musikalischen Gattungen, die sich dezidiert an diesen sozialen Sphären ausrichteten.79 76

77 78 79

Neben der Referenzstudie von Heinrich W. Schwab (vgl. oben Anm. 7) die mit Blick auf den Liedvortrag an Impulse Walter Salmens anknüpft (vgl. ders., Johann Friedrich Reichardt. Komponist, Schriftsteller, Kapellmeister und Verwaltungsbeamter der Goethezeit, Hildesheim 2 2002, S. 246‒250), sind hier zu nennen: Margaret M. Stoljar, Poetry and Song in the Late Eighteenth Century, London 1985 sowie die hier an späterer Stelle eingearbeiteten Forschungen Gabriele Busch-Salmens zu Goethes favorisiertem Liedsänger Wilhelm Ehlers (vgl. unten Kapitel 3.3.3). Neue, mit dem Ansatz der vorliegenden Arbeit z. T. korrespondierende Perspektiven bietet: Jennifer M. Ronyak, Performing the Lied, Performing the Self. Singing Subjectivity in Germany 1790–1832, Ph. Diss. University of Rochester 2010. Vgl. Michelle Perrot, Von der Revolution zum Großen Krieg, Frankfurt a. M. 1992 (= Geschichte des privaten Lebens 4), S. 15. Susanne Schmid, Einleitung zu: Einsamkeit und Geselligkeit um 1800, hg. von ders., Heidelberg 2008, S. 8. Grundlegendes dazu bei Walter Salmen, Haus- und Kammermusik. Privates Musizieren im gesellschaftlichen Wandel zwischen 1600 und 1900, Leipzig 1969. Der hier umfassend beschriebenen Begeisterung für den schichtenübergreifenden ›geselligen‹ Gesang (vgl. S. 24‒26; S. 31f.) stand bereits um 1800 auch die zunehmende Artifizialisierung und damit auf das expressive Subjekt ausgerichtete Formung der Gattung gegenüber, die hier in den Mittelpunkt gerückt werden soll.

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3 Bürgerliche Kunstliedkultur um 1800

Dieses Phänomen war naturgemäß auch mit Implikationen hinsichtlich der Ästhetik des Vortrags verbunden. Reinhold Brinkmann weist etwa darauf hin, daß das bereits als produktionsästhetisches Ideal beschriebene Paradigma der ›Sangbarkeit‹ gerade mit der moderat redimensionierten Vortragsästhetik des Liedes im häuslich-bürgerlichen Rahmen in Zusammenhang stehe bzw. umgekehrt – wie man ergänzen möchte – solche vortragsästhetischen Prämissen eben vor dem Hintergrund einer Verfeinerung der bürgerlichen Innerlichkeitskultur allererst hervorgebracht wurden. War es einerseits die Entwicklung des Klaviers zum bevorzugten Instrument der bürgerlichen Wohnung, die es für das Lied so attraktiv machte, so war es andererseits die Ästhetik des Liedgesangs, die zum Erfolg gerade dieses Genres entscheidend beitrug. Da der Begriff Sangbarkeit für das Lied der mittleren Goethezeit spezifiziert worden ist, mag hier der Terminus liedhaft in gleicher Funktion benutzt werden, um nämlich gewisse Beschränkungen, selbstauferlegte, des Liedgesangs zu benennen. Gegenüber dem Operngesang ist der Liedgesang im Umfang moderater, weder zur Höhe noch zur Tiefe extrem gehalten, das Gleiche gilt für die Dynamik und technische Kabinettstückchen wie Koloraturen. Liedhaft meint deren Absenz. Ein mittlerer Grad von Expressivität wird erstrebt. Schlichtheit, aber auch Feinheit, Zurückhaltung des Vortrags [...].80

Mit Blick auf die Zeit um 1800 findet sich eine besonders ergiebige Quelle für die Untersuchung dieser Zusammenhänge in der bereits erwähnten Gesangslehre Nina d’Aubigny von Engelbrunners, einer Schülerin Johann Adam Hillers, die sich neben der gesangstechnischen, pädagogischen und ästhetischen Seite gerade auch intensiv mit der kulturellen Rahmung des bürgerlichen Gesangspraxis auseinandersetzte.81 In ihrer Schrift geht sie in umfassender Weise auf sämtliche Bereiche der musikalischen Ausbildung, spezifischen Stimmbildung sowie auf moralische, psychologische und rezeptionsästhetische Aspekte der gesanglichen Vortragskunst ein. Wer unter guten Sängern, oder guten Zuhörern hat nicht einmal in seiner musikalischen Laufbahn den himmelweiten Unterschied empfunden, wenn eine holde Stimme in räumlichem Gemach ertönte, dessen rosiger Schimmer durch der Alabaster-Vasen schmelzende Beleuchtung gedämmert wird, und das matte Licht auf einen auserwählten Kreis ächter Anbeter der Euterpe fällt, die hier und dort auf Polster gelagert, jeden Ton belauschen.82

Die hier von Engelbrunner idealtypisch beschriebene ›intime‹ Atmosphäre bildete letztlich eine Voraussetzung für solchen als ›authentisch‹ aufgefaßten Musikvortrag und dessen Rezeption. Außerhalb dieser kulturellen Rahmung erscheint die entsprechende empfindsame Kommunikation dagegen gar nicht möglich, wie etwa noch 1818 die Leipziger AMZ betont:

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82

Brinkmann, Musikalische Lyrik im 19. Jahrhundert, S. 28. Vgl. Anm. 67. Die wissenschaftliche Rezeption Nina D’Aubignys erfolgte abgesehen von Schwabs Auswertung ihrer Gesangslehre in Hinblick auf die Liedkultur der »mittleren Goethezeit« in erster Linie aus einer pädagogischen Perspektive: Vgl. Gruhn, Geschichte der Musikerziehung sowie: Manfred Elsberger, Nina D’Aubigny von Engelbrunner. Eine adelige Musikpädagogin am Übergang vom 18. zum 19. Jahrhundert, München 2000. D’Aubigny, Briefe an Natalie, S. 217.

3.3 Körper und Stimme

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Viele, und gerade die ergreifendsten Melodien oder Accorde sind der Einsamkeit der Natur oder des Gemüths abgehorcht: denken Sie sich, wie unangenehm es den reinen Sinn anspricht, wenn der Sänger oder die Sängerin die erhöhete Stufe besteigt und diese musikal. Heimlichkeiten vor aller Welt feil trägt! Wenn das leise Klagen der Sehnsucht, der Liebe durch den Saal geschrien werden muss: entflieht da nicht notwendig der wohlthuende Anhauch, der seelenvolle Zauber, die Lasur vom Tone? Und bleibt etwas mehr übrig, als der helle kalte Ruf?83

Diese Mahnung zur Einhaltung der aufführungskulturell codierten Grenzlinien muß selbstverständlich auch als Reaktion auf immer wieder vorgenommene Experimente verstanden werden.84 Die hier verwendete Innerlichkeitsrhetorik verdeckt aber vor allem, daß Privatheit und Öffentlichkeit grundsätzlich in einer komplexen Wechselbeziehung standen. 85 In der massenhaft verbreiteten empfindsamen Romanliteratur finden sich etwa zahlreiche Liedvortragssituationen, deren ›Privatheit‹ – oftmals garantiert durch den inszenatorischen Kunstgriff eines heimlichen Zuhörers86 ‒ sich an die Öffentlichkeit eines stetig wachsenden Leserpublikums wendete, und auch auf der Bühne wurde durch in die Handlung von Sing- oder Liederspielen eingeflochtene ›Bühnenlieder‹ die atmosphärische Intimität im Sinne einer »Aufführung der Situation Lied« vor Zuschauern und -hörern in öffentlichem Rahmen vermittelt.87 Mit anderen Worten: Die medial auf verschiedene Weise vorgenommene ästhetische Formung von Einsamkeit und ›Innerlichkeit‹ prägte als typisch ›bürgerlich‹ codierte Haltung der Kunstrezeption um und nach 1800 zunehmend die kulturelle Praxis.88 Gudrun Busch ortet mit Blick auf die deutschsprachige Liedgeschichte des letzten Jahrhundertdrittels einen spezifischen »Liedtyp, der auf persönliche Versenkung, Zwiesprache mit dem Instrument, oder romanzenhaften Erzählton ausgerichtet ist«, und der sich »dem Anspruch auf fröhliche Geselligkeit ebenso verschließt, wie einem allzu naiven Volkston.«89 Das bestimmende Merkmal dieser nach englischem Vorbild von ›empfindsamen‹ Strömungen geprägten Lieder, als deren Kontexte sich sowohl die Musikpraxis ›beim Klavier‹ und deren literarische Nachbildung im Roman als auch die Theaterbühne benennen lassen, definiert Busch als 83 84

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AMZ 31 (1818), Sp. 550. Einige Beispiele für öffentliche Liedaufführungen im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert diskutiert Ronyak im Rahmen einer erhellenden Analyse der kulturellen Funktion von ›Sehnsuchtsliedern‹ im damaligen Konzertleben. Vgl. dies., Performing the Lied, S. 220–304 Vgl. Jürgen Habermas’ Beschreibung der Institutionalisierung einer »publikumsbezogenen Privatheit« in: ders., Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft, Frankfurt a. M. 31990, S. 107‒116. Müller, Erzählte Töne, S. 45f. Brinkmann, Musikalische Lyrik im 19. Jahrhundert, S. 72. Vor diesem Hintergrund scheint es etwa nur konsequent, daß die bekannte Sopranistin Anna Milder-Hauptmann (vgl. unten Kapitel 5.2.2) in ihren öffentlichen Konzerten ab 1816 immer wieder Johann Nepomuk Hummels Lied An die Entfernte vortrug. Ausführlich dazu Ronyak, Performing the Lied, S. 237–249. Gudrun Busch, Die Aura des Intimen. Interdependenzen des empfindsamen Klavier-, Romanund Bühnenliedes zwischen 1766 und 1800, in: Musik und Szene (FS Werner Braun), hg. von Bernhard Appel/Karl Wilhelm Geck, Saarbrücken 2001, S. 226.

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3 Bürgerliche Kunstliedkultur um 1800

»Aura des Intimen«. Gemeint ist damit eine gleichsam einkomponierte soziale Dimension, wie sie sich modellhaft im sich zur selben Zeit herausbildenden Topos vom ›einsamen‹ Komponisten am Klavier abgespiegelt findet90, der, sich in »enthusiastischer Kreativität« gänzlich in der Musik verlierend, eventuelle Zuhörer vollkommen ausblendet. 91 Die Gemeinsamkeit dieser und ähnlicher die bürgerliche Musizierkultur charakterisierenden Szenen liegt mithin in der Inszenierung einer atmosphärischen Intimität, die auf das genußvolle Erlebnis einer stilisierten und insofern auch häufig trotzdem in Maßen ›geselligen‹ Einsamkeit ausgerichtet ist. Ausschlaggebend ist stets die durch die kulturelle Rahmung von ›Einsamkeit‹ resp. ›Privatheit‹ gewährleistete Projektion ›authentischer‹ Gefühle, verstanden als Kommunikation subjektiver ›Innerlichkeit‹. Von der geselligen Praxis ausgehend wandelte sich das Lied in Verbindung mit der neuen lyrischen Dichtung somit immer mehr zum Medium subjektiver Ausdrucksentfaltung im Sinne der Kundgabe einer ›inneren Stimme‹.92 In Anlehnung an Herders Volksliedideal wurde der Zusammenhang zwischen lyrischer Dichtung und Gesang als gleichsam ›natürlich‹ gedachter Handlungsimpuls aufgefaßt, durch den der Mensch sich als fühlendes Subjekt entäußere. Auch Johann Georg Nägelis »Dritte Epoche« der Liederkunst – diejenige seiner eigenen Gegenwart – wird als von dieser sich auf die gesamte zeitgenössische Gesangskultur auswirkenden Subjektivierungstendenz geprägt beschrieben: Sobald die Liedercomponisten besonders auch durch das dem Wesen des Gesanges überhaupt angemessene Wiederholen wichtiger Textphrasen, auch mitunter längere musikalische Phrasen gewannen, sobald sie durch öftere Dehnungen und Bindungen der Töne auch die Ergiessungen der Stimme begünstigten, und somit die Reitze des Portamento [...] auch in die Liederform hineinbrachten, ja auf diesem Weg recht eigentlich einen ästhetischen Tonausfluss aus Brust und Kehle hervorlockten, brachten sie den Sänger, vermittelst einer so reichen Betätigung, in den köstlichen Besitz neuer, wesentlicher Kunstmittel für seinen individuellen Ausdruck, und so legten sie ihm vermittelst der ›musikalischen Gefühlscultur‹ [...] den Gesang ans Herz.93

Die von Nägeli hier mit Blick etwa auf Kompositionen Carl Friedrich Zelters oder Johann Zumsteegs angesprochene »musikalische Gefühlscultur« und das mit ihr aufgerufene Paradigma des ›natürlich‹ empfindenden Menschen ist, wie die von Gudrun Busch beschriebene »Aura des Intimen«, im Kontext eines grundlegenden Kulturwandels zu verorten, der das Verständnis von Emotionen und deren Erregung bzw. Übertragung im Rahmen musikalischer Darbietungen betraf: Die traditionelle, noch im frühen 18. Jahrhundert gültige Vorstellung von dem Menschen gleichsam 90 91

92 93

Müller, Erzählte Töne, S. 107‒110; Lütteken, Das Monologische als Denkform der Musik, S. 31ff. Melanie Wald, »Unaussprechliche Sehnsucht«. Die Bewältigung von Melancholie durch Musik, in: Einsamkeit und Geselligkeit um 1800, S. 157. Wald untersucht u. a. diesen Topos im Kontext einer »musikalische[n] Praxis der Melancholie« (ebd.), die den gängigen Melancholie-Diskursen der Zeit an die Seite zu stellen sei. Vgl. Marion Saxer, Die Entdeckung der inneren Stimme und die expressive Kultur, in: Musikästhetik, hg. von Helga de la Motte-Haber, Laaber 2004, S. 300‒329. Nägeli, Historisch-Critische Erörterungen (1811), Sp. 642.

3.3 Körper und Stimme

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widerfahrenden ›Affekten‹ und ›Leidenschaften‹ wurde rekonzeptualisiert: Als Ursprung emotionaler Zustände wurde nun der Mensch selbst angesehen; die dem eigenen Inneren entspringenden Gefühle sollten mit dem Ziel der gemeinsamen ›Rührung‹ im musikalischen Vortrag ›zum Ausdruck‹ gebracht werden. Der in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts (etwa auch noch bei Sulzer und Herder) als rein mechanischer Übertragungsprozeß erklärte Vorgang der ›Rührung‹ (Schwingungen der Saiten bzw. Luftsäulen sollten die Fibern des Herzens in analoge Bewegungen versetzen und auf diese Weise den Zustand der ›Gerührtseins‹ hervorrufen 94) wich damit zusehends der Vorstellung einer ›unmittelbaren‹ Kommunikation der Seelen, die freilich die mechanische Kategorie der ›Rührung‹ nicht obsolet werden ließ, wohl aber ihren Erklärungsbedarf zunehmend ausschaltete.95 Die mit der praktischen Umsetzung derartiger Prozesse befaßte zeitgenössische musikalische Vortragstheorie entwickelte hier verschiedene Modelle, die intensiv das Verhältnis zwischen privaten Emotionen des Vortragenden, in der Musik enthaltenen affektiven Zuständen und deren Übertragung auf den Hörenden diskutieren.96 Johann Peter Abraham Schulz, der die musikbezogenen Artikel in Sulzers Theorie der Schönen Künste verfaßte, stellt etwa fest: Jedes gute Tonstük hat seinen eigenen Charakter und seinen eigenen Geist und Ausdruk, der sich auf alle Teile desselben verbreitet; diese muss der Sänger oder Spieler so genau in seinen Vortrag übertragen, dass er gleichsam aus der Seele des Tonsetzers spiele. Daß es hier nicht auf bloßes richtiges Notenlesen ankommt, ist leicht begreiflich.97

Der Kontakt mit den im Notentext gleichsam chiffrierten Emotionen des Komponierenden öffnete nach zeitgenössischen Vorstellungen gewissermaßen auch die Tür zu dessen Seele und ermöglichte den angesprochenen Kommunikationsprozeß. Auch Nina d’Aubigny von Engelbrunner knüpft an die Paradigmen der unter Einfluß der Ausdrucksästhetik entstandenen musikalischen Vortragslehren an und überträgt sie auf verschiedene Bereiche des Gesangsvortrags. Grundsätzlich wird, wie von Schulz betont, auch beim Liedvortrag eine Art komplexe ›Seelenverschmelzung‹ − in diesem Fall mit Dichter und Komponist − gefordert. Der Vortrag eines Liedes galt demnach als gelungen, wenn »sich der Sänger ganz in des Dichters Sinn versetzt, wenn er selbst durch die Akkorde des Tonsetzers gerührt, nicht als Nachhall des Dichters und Kompositeurs, vielmehr als Sänger vor uns steht, dessen eigenem Gefühl, das vorgetragene Gedicht soeben entquollen war.«98 Aber auch die eigenen Seelenregungen des Musizierenden waren gefragt, wie besonders Nägeli in einer Abhandlung über die sängerische »Individual-Bildung« herausstellt: 94 95 96

97 98

Vgl. dazu umfassend: Caroline Torra-Mattenklott, Metaphorologie des Rührung. Ästhetische Theorie und Mechanik im 18. Jahrhundert, München 2002. Vgl. ebd., S. 349‒357. Vgl. Detlef Giese, »Aus der Seele muss man spielen«. Vortragskonzepte im Zeitalter der Empfindsamkeit, in: Beiträge zur Interpretationsästhetik und zur Hermeneutik-Diskussion, hg. von Claus Bockmaier, Laaber 2009, S. 181‒194. Sulzer, Allgemeine Theorie der schönen Künste, Bd. 4 (1794), Art. Vortrag (Musik), S. 706f. D’Aubigny, Briefe an Natalie, S. 170.

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3 Bürgerliche Kunstliedkultur um 1800 [Der Singende] legt kunstberechtigt seine individuellen Gefühle, ja seine individuelle Gefühlsweise hinein, und individualisiert sich für sich das gegebene Singstück, indem er es singt [...]. So individualisiert, erscheint die Kunst um so freyer, ihre technische Seite wird zurückgedrängt, dagegen die ästhetische hervorgehoben, und singt der Sänger auswendig, wie in der Oper, so erzeugt er bey so freier Tonergießung um so leichter die Illusion, als quölle Alles augenblicklich aus seinem Innern heraus, als wäre er selber der Schöpfer des Kunstwerks.99

Die auch bei Nägeli als Ideal betonte ›Authentizität‹ im Ausdruck des Vorgetragenen war indes in ein Netzwerk kultureller Verabredungen verstrickt, denn der hier am Beispiel des Liedvortrags exemplifizierte zeitgenössische Subjektivitätskult war auf einer grundsätzlichen Ebene mit einer Art Identitätsverlust verbunden, der sich auf das öffentliche Leben und Gemeinschaftsgefühl auswirkte: Die Idee der gleichsam harmonistischen oder gleichgestimmten Gesellschaft war letztlich ein abstraktes Ideal, das es immer wieder zu aktualisieren galt. Musik als ›Sprache des Herzens‹ und damit Medium der emphatisch beschworenen ›Unmittelbarkeit‹ erhielt in diesem Zusammenhang eine hohe soziale Bedeutung, da nach zeitgenössischer Auffassung im gemeinsamen Musikgenuß der Zustand jenes seelischen Gleichklangs hergestellt und das Ideal somit real erfahrbar werden konnte.100 Die individuellen Empfindungen sollten insofern, folgt man den kultursoziologischen Studien Richard Sennetts101, stets als bezogen auf ein als ›natürlich‹ angesehenes Maßhalten des » [...] höher menschlichen [...] Mitgefühls«102, und nicht etwa im Sinne exzentrischer Individualisierungstendenzen bzw. außerhalb dieser Norm liegenden Verhaltens aufgefaßt werden.103 Das rhetorische Kriterium der ›Angemessenheit‹ wurde insofern zum ästhetischen Maßstab der ›Natürlichkeit‹ bzw. ›Authentizität‹ im Sinne der Idee eines »natürlichen Charakters« transformiert, der auch beim musikalischen Vortrag kommuniziert werden sollte. Die Pointe dieses Ideals liegt mithin darin, daß man davon ausging, es sei ›natürlich‹, die in Text und Musik enthaltenen Emotionen zu seinen eigenen zu machen und sie nicht durch eine ›individuelle Interpretation‹ zusätzlich zu kommentieren oder zu überformen.104 Nina D’Aubigny von Engelbrunner verweist überdies auf ›unnatürliche‹ klangliche Resultate bei einer ungewünschten emotionalen Übersteigerung des Vortrags und erklärt die ›natürliche‹ emotionale Mäßigung insofern als physiologische Voraussetzung für den als »schön« empfundenen Ton: 99 100 101 102 103 104

Hans Georg Nägeli, Die Individual-Bildung. Sieben Aufsätze über Solo-Gesangbildung, hg. von Arnold Geering, Zürich 1978, S. 51. Vgl. Max Becker, Narkotikum und Utopie. Musik-Konzepte in Empfindsamkeit und Romantik, Kassel [u. a.] 1996. Richard Sennett, Verfall und Ende öffentlichen Lebens. Die Tyrannei der Intimität, Frankfurt a. M. 31985. Nägeli, Historisch-Critische Erörterungen (1811), Sp. 646. Vgl. Sennett, Verfall und Ende öffentlichen Lebens, S. 178f. Vgl. auch Rienäcker, Vorfragen zu einer Theorie des klavierbegleiteten Sololiedes, S. 27.: »[...] die verschiedenen Akteure [der Bereiche Dichtung, Vertonung und Gesang, M. G.] werden einander gleichgeschaltet, im Akt des Zusammenschließens aufgesogen, aufgezehrt von einem imaginären Dritten, einer in abstrakto harmonistischen Gemeinschaft, die sich in Wahrheit als diktatorisches ›man‹ entpuppt«.

3.3 Körper und Stimme

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Der Sänger soll sich zwar ganz in seinen Gesang hinein denken und fühlen; doch verhüte er, daß durch dieses lebhafte Mitgefühl sein Blut nicht in Wallung gerathe, weil dadurch das Herz schneller schlägt, der Athem verkürzt wird und der Ton von seiner Fassung verliert, da er durch die wiederholten kurzen Athemzüge durchbrochen wird.105

Auch hier wird nochmals deutlich, wie die etwa noch von Sulzer verfochtene Theorie, die Musik habe direkte mechanische Wirkung auf den Blutkreislauf, einer Umwertung unterzogen und mithin die körperliche als Folge der seelischen Erregung (und nicht umgekehrt) angesehen wird.106 Daß die vom Gesangsvortrag ausgehende subjektive Kraft mit dem Sinn des Textes in harmonischem Einklang stehen mußte, war vor solchem Hintergrund letztlich eine unanfechtbare Selbstverständlichkeit. So formuliert Nina D’Aubigny: »Wer mit der Seele singen will, muss ganz in den Sinn seines Textes eindringen; nicht allein der Ausdruck des Tons, sondern alle Gesichtszüge werden redende Beweise des vollkommenen Einverständnisses.« 107 Um die Historizität dieser grundsätzlichen aufführungsästhetischen Prämisse besser herauszuarbeiten, scheint an dieser Stelle ein zumindest kursorischer Rückblick in die Geschichte des Körpergebrauchs beim Gesangsvortrag angebracht. Zwar muß gerade die Rekonstruktion der Liedperformance früherer Jahrhunderte bezüglich Details zu Mimik und Gestik grundsätzlich in hohem Maße auf Hypothesen angewiesen bleiben108, allerdings läßt sich in Abgrenzung zu früheren Quellen zeigen, daß das Ideal einer ›organisch‹ gedachten Einheit von Musik, Text und Bewegung offenbar erst in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts virulent wurde. Obgleich bereits die rhetorisch geprägten Vortragslehren des 17. und früheren 18. Jahrhunderts auf eine Einheit von Musik, Geste und Affekt abheben 109, wird diese Frage mit Bezug auf die konkrete gesangliche Vortragspraxis kontrovers diskutiert. In erster Linie kommt es auf das bereits erwähnte Kriterium der ›Angemessenheit‹ an: Immer wieder wird eingefordert, daß die Musik keinesfalls von eventuell ›unpassenden‹ (im Sinne von ›unziemlichen‹) Gebärden begleitet werden dürfe. So formuliert Christoph Bernhard in seinem Traktat Von der Singe-Kunst oder Manier: Hier fragt sichs, ob ein Sänger auch die im Texte befindlichen affecten mit dem Gesichte und Geberden darstellen solle? So ist zu wissen, daß ein Sänger fein sittsam und ohne alle Minen singen soll, denn nichts Verdrießlichers, alß daß etliche Sänger sich besser hören alß sehen lassen, indem sie, wenn sie gleich einem Zuhörer mit guter Stimme und Manier zu singen eine Lust machen, dieselbe dennoch mit heßlichen Minen und Geberden verderben. Der gleichen

105 106 107 108

D’Aubigny, Briefe an Natalie, S. 175. Vgl. Torra-Mattenklott, Metaphorologie der Rührung, S. 354. D’Aubigny, Briefe an Natalie, S. 156. Vgl. etwa den von Margit Legler und Reinhold Kubik unternommen Versuch, ältere Gestiklehren auf den Liedvortrag des späten 18. (Mozart) und frühen 19. Jahrhunderts (Schubert) beziehen: Margit Legler/Reinhold Kubik, »...in einer edlen Leibesstellung«. Zur Optik der sängerischen Darbietung, in: Musizierpraxis im Biedermeier. Spezifika und Kontext einer vermeintlich vertrauten Epoche, hg. von Barbara Boisits, Wien 2004, S. 198‒204. 109 Vgl. Hartmut Krones, »Oratores, Poet[a]e, Mimi & Musici«. Affekt, Gestik und Rhetorik in der Musik, in: Gestik und Affekt in der Musik des 17. und 18. Jahrhunderts, hg. von Bert Siegmund, Blankenburg 2003, S. 30.

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3 Bürgerliche Kunstliedkultur um 1800 Sänger sollten nur im Chor hinter dem Gitter, nicht aber öffentlich und in eines jeden Augenschein sich hören lassen, oder ja sich bessere Minen und Sittsamkeit angewehnen.110

Während Bernhard hier deutlich auf die Aufführung von Kirchenmusik abhebt, bezieht Johann Mattheson, der der »Geberdenkunst oder Hypokritik« in seinem Lehrwerk Der vollkommene Capellmeister (1739) einen ganzen Abschnitt widmet, auch den Gesang in der »Kammer« in seine Abhandlungen ein. Dort indes fänden sich gleichfalls, so Mattheson, »[...] sehr wunderliche und allerhand ungeziemende Stellungen, die bisweilen nicht die geringste Gemeinschafft mit den Sachen oder Worten haben.«111 Nicht nur der öffentlich sich produzierende Sänger, sondern auch der musikalische Dilettant, sollte nach Matthesons Ansicht mit dem Umstand vertraut sein, »daß Geberden, Worte und Klang eine dreifache Schnur machen, und zu dem Ende mit einander vollkommen übereinstimmen sollen, daß des Zuhörers Gemüth bewegt werde. [...]«112 Denn, wer eben kein Redner, kein Schauspieler, kein Tänzer von Profession werden will, darf zwar der gleichen Lehren nicht als ein Hauptwerck ansehen; doch wird niemand widersprechen können, daß nicht, wenn man es reiflich erweget, ein grosses Stück der Musik, die ja eine Klang-Rede ist, darin stecke, und daß, wer nur immer den Nahmen eines wahren Ton-Meisters behaupten will, wo nicht mehr, wenigstens einen deutlichen Begriff davon haben müsse; er mag als Liebhaber, um wol zu urtheilen, oder als ein Künster, um wol zu spielen, zu singen und zu setzen, angesehen werden wollen.113

Trotz dieser Auffassung wurden auch mit Blick auf die professionelle künstlerische Ausbildung letztlich Zweifel angemeldet, ob – wie es auch bei Johann Friedrich Agricola in der deutschen Übersetzung der epochalen Gesangslehre von Pier Francesco Tosi heißt – »ein vollkommener Sänger zugleich auch ein vollkommener Acteur seyn könne.«114 Mit dem Paradigma des ›natürlichen Ausdrucks‹ indes wird das Zusammenspiel von Gesang, Mimik und Gestik Ende des 18. Jahrhunderts zur unbedingten Voraussetzung ›ausdrucksvollen‹ Vortrags. Emotionale Zustände, die durch die Musik oder Dichtung hervorgerufen wurden, sollten beim Vortrag die entsprechende Gestik gleichsam generieren, mit dem Ziel, daß »Gebärdensprache mit Wort und Ton stets in Einklang stehe«115, wie der Wiener Komponist Wenzel Tomaschek in Bezug auf das von Goethe verfochtene Ideal des Liedvortrags formuliert, das an späterer Stelle noch ausführlicher zu diskutieren sein wird.

110 Christoph Bernhard: Von der Singe-Kunst oder Manier, in: Die Kompositionslehre Heinrich Schützens in der Fassung seines Schülers Christoph Bernhard, hg. von Joseph Müller-Blattau, Kassel 1963, S. 37. 111 Johann Mattheson, Der vollkomene Capellmeister. Studienausgabe im Neusatz des Textes und der Noten, hg. von Friederike Ramm, Kassen [u. a.] 1999, S. 93, § 15. 112 Ebd., S. 95, § 22. 113 Ebd., S. 92, § 8. 114 Peter Franz [Pier Francesco] Tosi, Anleitung zur Singekunst. Aus dem Italiänischen [...] mit Erläuterungen und Zusätzen von Johann Friedrich Agricola, Berlin 1757, S. 216. 115 Goethes Gespräche, Bd. 2, hg. von Flodoard v. Biedermann, Leipzig 1909−1911, S. 592.

3.3 Körper und Stimme

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Auch das hier angesprochene Ideal eines »Einklangs« muß indes in den Kontext kultureller Formung gestellt werden: Zwar wurde grundsätzlich der Körper des Musizierenden in seinem Zusammenspiel von Stimme, Mimik und Gestik gleichsam als Projektionsfläche der durch die Musik mitgeteilten Empfindungen angesehen, dennoch sollte gerade die leibliche Präsenz des Vortragenden nicht hervorstechen, sondern sich nach Maßgabe des »natürlichen Charakters« maßvoll bzw. angemessen unter- bzw. beiordnen. Wer gewohnt ist, sich so zu zeigen, wie es ihm ums Herz ist, seine Ausdrücke und Reden, seine Mimik und Körperbewegungen in seinem Kabinette, wie auch im großen Zirkel der zarten Grazie zu unterwerfen, braucht nie auf seiner Huth zu sein, daß ihm nichts Unschickliches entschlüpfe. Es ist ein schöner, oft beherzigter Zuruf, der auch hierher paßt: Seid natürlich, um wo nicht schön, doch anziehend zu sein! Über alles widrig sind die Sänger und Sängerinnen, die fern von allem natürlichen Ausdruck, in konvulsivischer Haltung das Gesicht in berechnete Schönheitsfalten ziehen, ihren Kopf bei der Erhöhung des Affekts gleich dem Pferde zurückwerfen, den Körper krümmen und biegen, um zu beweisen, daß sie mit Ausdruck singen, da doch das natürliche Seelengefühl dieser Kunstgriffe kleinlicher Koketterie nicht bedarf. Ohne es zu ahnen, umgiebt dieses die Anmut und Grazie, findet Herzen, ohne sie zu suchen, er [sic!] rührt ohne es zu berechnen.116

Als Hintergrund für Nina D’Aubignys hier geäußerte Vorstellungen vom Ideal der »zarten Grazie« dessen Wegweiser das »natürliche Seelengefühl« sei, lassen sich grundsätzlich jene Körperdiskurse benennen, die vor allem die Entwicklung der Schauspielkunst der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts bestimmten. Die hier vorgenommene Theoretisierung eines ›natürlichen‹ Körpergebrauchs hatte vor allem in Johann Jakob Engels prominenter Schrift Ideen zu einer Mimik (1785/86)117 einen Kulminationspunkt erreicht.118 Mit dem theoretischen Ausgangspunkt der Physiognomik Johann Caspar Lavaters entwickelte Engel hier eine Schauspieltheorie, die die Regungen der menschlichen Seele als entscheidende Instanz an den Beginn jeglicher körperlich vermittelter Ausdruckskunst setzt: Der Sitz des Gebehrdenspiels ist nicht dieses und jenes Glied, dieser oder jener Theil des Körpers in Sonderheit. Die Seele hat über alle Muskeln desselben Gewalt, und wirkt, bei vielen ihrer Bewegungen und Leidenschaften, in alle. 119

Diese zentrale Aussage Engels spricht einen Prozeß an, der von der jüngeren Theaterwissenschaft ausführlich als Wandlung des theatralen Körpergebrauchs beschrieben wurde.120 Nicht mehr die rhetorisch gedachte, durch einen Katalog affektgebundener und den sprachlichen Sinn verdoppelnder mimischer und gestischer Stereotypen repräsentierte ›Darstellung‹ ist der entscheidende Hintergrund für das 116 D’Aubigny, Briefe an Natalie, S. 174. 117 Johann Jacob Engel, Ideen zu einer Mimik, Berlin 1785/86. 118 Vgl. Günther Heeg, Das Phantasma der natürlichen Gestalt. Körper, Sprache und Bild im Thea-ter des 18. Jahrhunderts, Frankfurt 2000, S. 303‒345. Heeg widmet sich einer umfassenden Nachzeichnung der sich wandelnden Natürlichkeitsideale des 18. Jahrhunderts aus der Perspektive der Theaterästhetik. 119 Engel, Ideen zu einer Mimik, Berlin 1785, Sechster Brief, S. 61. 120 Vgl. Erika Fischer-Lichte, Semiotik des Theaters. Eine Einführung. Bd. 2: Vom künstlichen zum natürlichen Zeichen. Theater des Barock und der Aufklärung, Tübingen 1999.

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neue, ›expressive‹ Körperbild, sondern die Prämisse, daß »der Körper [...] von Natur aus zum vollkommenen Ausdruck der Seele befähigt« sei. 121 Auch der um 1800 bei Nina D’Aubigny beschriebene ›natürlich-anmutige‹ Gesangsvortrag verweist deutlich auf den hier angesprochenen kulturellen Wandel der Transformation rhetorischer in ästhetische Kategorien, wenn sie etwa ausführlich den Unterschied zwischen ›künstlichem‹ und ›natürlichem‹ Ausdruck beim Gesangsvortrag beschreibt.122 Ausschlaggebend für die im folgenden hergestellte Verbindung von D’Aubignys Ideal des Gesangsvortrags und Engels einflußreicher Theorie des Körperausdrucks vor dem Hintergrund einer ›expressiven Kultur‹ ist aber vor allem, daß anhand der Figur des ›Schauspielers‹ im ausgehenden 18. Jahrhundert immer wieder grundsätzliche anthropologische Fragestellungen diskutiert wurden – sie sollte idealerweise in jeglichem Sinne Vorbildcharakter für den ›bürgerlichen‹ Menschen haben, indem durch sie die »bei allen gleiche unveränderliche menschliche Natur zur Darstellung gelang[e]«.123 Engels Theorie geht mithin bewußt über den Status eines Handbuchs der Schauspielkunst hinaus und sucht Anschluß an umfassendere Zusammenhänge, wodurch er sich einem »ganzheitlichen Ansatz« verpflichtet, »der anthropologisch-psychologische, ethische und ästhetische Einsichten der Zeit kombiniert«124 , was – freilich mit bescheidenerem Anspruch – der Tendenz ebenso für die Gesangslehre Nina D’Aubigny von Engelbrunners zutrifft. Engel war mit den zeitgenössischen musikästhetischen Diskursen vertraut und hatte in seiner 1780 erschienenen (Reichardt gewidmeten) Schrift Über musicalische Mahlerey125 eine klare Trennungslinie zwischen subjektiven ›Ausdruck‹ und objektiv-illustrierender ›Tonmalerei‹ gezogen: In der Vokalmusik sei die Tonmalerei zwar berechtigt, doch bleibe sie grundsätzlich defizitär, da die Musik keine konkreten Gegenstände ausdrücken könne. Allerdings sieht auch Engel die herausragende Qualität der Musik in ihrem Potential, subjektive Eindrücke kommunizieren zu können.126 In den Ideen zu einer Mimik werden schließlich ›Malerei‹ und ›Ausdruck‹ als mögliche Impulse für körperliche Bewegungsvorgänge miteinander verbunden – die zunächst in erster Linie auf die Musik bezogene Qualität eines ›expressiven‹ Potentials sieht Engel mithin auch in der Dimension mimisch-gestischer Kommunikation gegeben. Indem Engel die Seelenregungen allerdings, wie Günther Heeg beschreibt, nicht als direkte Determinanten des körperlichen Ausdrucks auffaßt, sondern als Objekt der künstlerischen Interpretation expliziert, überwindet er die Prämissen der Physiognomik.127 Die Schauspielkunst erhielt so die Grundlage einer neuen, hermeneutisch grundierten Repräsentationsästhetik, die auf 121 122 123 124 125

Ebd., S. 183. D’Aubigny, Briefe an Natalie, S. 167‒174. Fischer Lichte, Semiotik des Theaters, Bd. 2, S. 183. Heeg, Das Phantasma der natürlichen Gestalt, S. 310. Engel, Ueber die musicalische Mahlerey. An den königl. Kapellmeister, Herrn Reichardt, Berlin 1780. 126 Ebd., S. 12. 127 Vgl. Heeg, Das Phantasma der natürlichen Gestalt, S. 304‒310.

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dem spätaufklärerischen bzw. klassizistischen Ideal einer Koinzidenz von ›Wahrheit‹ und ›Schönheit‹ basiert. Bei einer Konstellierung aufführungsästhetischer Prämissen ›öffentlicher‹ Theaterpraxis und ›privatem‹ musikalisch-deklamatorischen Vortrag von Kunstliedern muß freilich differenziert werden. Engel räumt in seiner Mimik-Abhandlung etwa konsequenterweise ein, daß Musik – und zwar speziell gesungene Musik – ihrer ›unmittelbaren‹ Wirkung wegen grundsätzlich dem Ideal der ›wahrhaftigen‹ Darstellung eines dramatischen Inhalts entgegenwirken müsse, da sie sich als autonomes (performatives) Phänomen gewissermaßen zugunsten der ›Schönheit‹ verselbständige. Gleichwohl plädiert er für die »Rettung des Gesangs in der Oper«128, die dem Opernsänger gewisse Lizenzen hinsichtlich der Ausgestaltung der mimischgestischen Ebene zuerkennen mag.129 Überdies stehen die Ideen zu einer Mimik aus theaterhistorischer Sicht im Kontext des neuen Ideals der ›Verkörperung‹, bei der der Schauspieler seinen eigenen Körper der darzustellenden Figur gleichsam unterwerfen und die private Körperlichkeit hierbei idealerweise ausblenden sollte.130 Die spezielle expressive Haltung des ›empfindsamen‹ Liedvortrags hingegen forderte offenbar auf einer grundsätzlichen Ebene, daß die private Person des oder der Vortragenden gerade nicht hinter einer fiktiven ›verkörperten‹ Figur verschwinden, sondern gewissermaßen erhalten bleiben sollte. Das von Nina D’Aubigny als ›natürlicher‹ Vortrag beschriebene Phänomen sollte idealiter eine kommunikative Situation erschaffen, in der »der Zuhörer nicht selten das geleistete Vergnügen mit seinem innigsten Wohlwollen, mit einem Teil seines Herzens verzinst, indem er leicht den singenden und den individuellen Menschen in eine Vorstellung zusammen zieht, und durch den einen den anderen liebgewinnt.« 131 Die Bindung des Liedgesangs an die Sphäre des ›Privaten‹ bedingte mithin die Möglichkeit der Freisetzung eines spezifischen expressiven Potentials und der damit verbundenen ästhetischen Erfahrung: Dieser erhöhte Ausdruck findet sich leichter im innern häuslichen Zirkel des Dilettantenlebens, als in Konzerten und auf Bühnen, wo eine gewisse Allgemeinheit der Empfindung herrscht und äußere Zerstreuung das Ueberströmen in den höchsten Ausdruck des individuellen Gefühls,

128 Engel, Ideen zu einer Mimik, S. 300. 129 Vgl. dazu: Clemens Risi, Opern-Gesten. Zur Aufführungspraxis der Oper des 19. Jahrhunderts in historischer und aktueller Perspektive, in: Gesten: Inszenierung, Aufführung, Praxis, hg. von Christoph Wulf/ Erika Fischer-Lichte, München/Paderborn 2010, S. 158f. 130 Der Begriff der ›Verkörperung‹ ist in historischer Perspektive im Kontext zeitgenössischer philosophischer Diskurse über das Verhältnis von Körper und Geist zu verorten. Ihrer auf Descartes zurückgehenden dualistischen Trennung wurde die idealistische Verbindung von Körper und Geist entgegengesetzt. ›Verkörperung‹ bezeichnet vor solchem Hintergrund gleichsam die Idee einer ›Vergeistigung‹ des Körpers. Von hier aus lassen sich direkte Verbindungslinien zum Prozeß einer Literarisierung des Theaters und der mit ihm in Zusammenhang stehenden Herausbildung einer »neuen, realistisch psychologischen Schauspielkunst« ziehen. Vgl. Erika Fischer-Lichte, Art. Verkörperung, in: Metzler Lexikon Theatertheorie, hg. von ders., Stuttgart/Weimar 2005, S. 379. 131 D’Aubigny, Briefe an Natalie, S. 171.

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3 Bürgerliche Kunstliedkultur um 1800 hemmt. Nicht bei Opernsängern, sondern bei Dilettanten, je freiern Sinnes sie vom Charakter sind, wird der Gesang oft ein Verräter des Herzens.132

Wenngleich also Engels und D’Aubigny von Engelbrunners Schriften an unterschiedlichen Intentionen ausgerichtet sind, haben sie mit ihrer Rekurrenz auf das Ideal eines ›natürlich-kunstvollen‹ Körpergebrauchs und dessen Rolle in der kulturellen Praxis einen gemeinsamen Referenzrahmen, der letztlich die Grenze zwischen den kulturell unterschiedlich codierten Sphären ›Privatheit‹ und ›Öffentlichkeit‹ überschreitet. Die Idee des ›natürlichen Charakters‹ regelte letztlich, wie bei D’Aubigny immer wieder deutlich wird, auch den als angemessen angesehenen Körpergebrauch innerhalb der privaten Gesangspraxis. 3.3.2 Liedvortrag und Gesangskunst Weit mehr noch als die sichtbaren mimischen und gestischen Momente wurde um 1800 die gehörte Stimme mit der Repräsentation expressiver ›Authentizität‹ bzw. ›naturhaften Ausdrucks‹ verbunden. Über sie erhielt der Hörende nach zeitgenössischer Auffassung gleichsam direkten Zugang zur Seele des Singenden, wie sich wiederum exemplarisch in Sulzers Enzyklopädie formuliert findet: Der Mensch hat drey Mittel seinen Gemütszustand an den Tag zu legen. Die Rede, die Miene nebst den Gebehrden, und die leidenschaftlichen Töne. Das letzte übertrifft die anderen an Kraft sehr weit, und dringt schnell in das Innerste der Seele.133 [...] daß der Klang der menschlichen Stimme großen Vorzug vor jedem Instrument, [...] habe, fühlt jedes Ohr. Man empfindet bei einer guten Stimme mit dem Klang, der das Gehör rühret, etwas von der Seele der singenden Person.134

Zwar wird bereits in der antiken Rhetorik die Idee einer Kommunikation emotionaler Zustände über die menschliche Stimme im Sinne eines »index mentis« verhandelt und in dieser Funktion auch etwa in die barocken Klugheitslehren integriert.135 Die psychologisierende These von der ›unmittelbaren‹ Expressivität der menschlichen Stimme aber formuliert Jean-Jaques Rousseau in den 1750er Jahren. Sie wird im deutschsprachigen Raum u. a. von Herder aufgegriffen. Beiden gilt der Akt des Singens als rational nicht erfaßbare, gleichsam kulturstiftende Handlung, die letztlich Sprache und Musik einen gemeinsamen Ursprung zuweise.136 Im Kontext eines in diesem Sinne durch die Ideen Rousseaus und Herders geprägten musikästhetischen Denkens formiert sich sodann jener prominente Diskurs, der die Musik als ›Sprache des Herzens‹ apostrophiert und dabei stets auf das Ideal der melodisch singenden Stimme rekurriert. 132 133 134 135 136

Ebd., S. 172. Sulzer, Allgemeine Theorie der schönen Künste, Bd. 2 (1792), Art. Gesang, S. 370. Ebd., Bd. 4 (1794), Art. Stimme, S. 463. Vgl. Meyer-Kalkus, Stimme und Sprechkünste im 20. Jahrhundert, S. 15f. Vgl. Jean-Jaques Rousseau: Essay über den Ursprung der Sprachen, in: Jean Jaques Rousseau. Musik und Sprache. Ausgewählte Schriften übersetzt von Peter und Dorothea Gülke, Wilhelmshaven 1984, bes. Kapitel 12, S. 138 ff.

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Ihren Niederschlag finden diese Gedanken auch in der kulturellen Praxis vor und um 1800, die sich wiederum in der Literatur abgespiegelt findet: Zahlreiche zeitgenössische Romane enthalten etwa Musiziersituationen, in denen der Gesangsvortrag grundsätzlich als emotionales Bekenntnis inszeniert wird.137 Gerade das gesungene Lied konnte so gewissermaßen zur ›unmittelbaren‹ Verkörperung jener empfindsamen »schönen Seelen« werden, die auch Goethe und Schiller idealtypisch in ihren Romanen und Dramen entworfen hatten. In Wilhelm Heinses Hildegard von Hohental werden hingegen im literarischen Gewand ästhetischen Raisonnements Motive der Rousseauschen Musikästhetik einer rauschhaften, zuweilen erotischen Dynamisierung unterzogen. Der menschliche Gesang wird hier in Analogie zum unverhüllten menschlichen Leib zwar als ›ursprüngliches‹ bzw. ›unverfälschtes‹ Phänomen angesehen, andererseits aber, da körperlicher Aufwand der Tonproduktion und affektive Wirkung des Klanges in einem asymmetrischen Verhältnis zu stehen scheinen, auch als unergründlich bestaunt: Die bloße Vokalmusik ist eigentlich, was in den bildenden Künsten das Nackende ist. [...] Es ist erstaunlich, wie unendlich der Mensch die wenige Luft verändert, die er mit einem Zug einatmet! Man muss zugleich die Geschmeidigkeit und Gewalt des Elements und der Werkzeuge, womit er es bildet, bewundern. Welche Mengen von Stimmen, Tönen, Worten, Sprachen.138

Auch der den Zeitraum 1796 bis 1832 umfassende Briefwechsel zwischen Goethe und Zelter enthält, wie Bettina Hey’l herausgearbeitet hat, zahlreiche Reflexionen über das Phänomen der menschlichen Stimme im Allgemeinen, ihre kulturelle Funktion und besonders ihre Ausbildung für den Sprach- und Gesangsvortrag.139 Zelter beschreibt etwa am Beispiel des erinnerten Gesangs seiner Frau Julie, wie für ihn der ›natürliche‹ menschliche Gesang in idealer Weise eine vollendete Harmonie zwischen Kultur und Natur figuriere: Das reine Herz strömte wie eine frisch stärkende Luft aus ihrem Munde; rührend, erleichternd. Wenn sie auf der Akademie im Chor sang konnte ich ihre sanfte erquickende Stimme unter hundert und funfzig erkennen, ohne daß sie sich angreifen durfte. Der Ton ging leicht und los heraus, wie sie nur den Mund öffnete.140

Auch wenn Zelter hier 1806 vor dem Hintergrund der eigenen Tätigkeit als Chorleiter und Stimmbildner die grundsätzlich erstrebte Harmonisierung von biologischer Gegebenheit und ›maßvoll‹-natürlicher Kultivierung des Gesangsorgans im Auge gehabt haben mag, korrespondiert seine Äußerung mit dem Ideal eines ›na 137 Vgl. etwa Carl Grosse, Der Genius, zitiert nach: Müller, Erzählte Töne, S. 113: »Es war in der That eine Laute mit Gesange begleitet. [...] Das Lied mochte vielleicht genauso im Buche stehen als sie sang, aber so singt niemand, der nicht noch tiefer als der Dichter, seine Bedeutung empfindet: die Töne heraus gepreßt aus den innersten Winkeln eines bedrückten Herzens, und zu dem einzigen Ach der seelenvollen Klage zusammen geschmolzen«. 138 Wilhelm Heinse. Sämtliche Werke, Bd. 5, hg. von Carl Schüddekopf, Leipzig 1903, S. 23. 139 Vgl. Bettina Hey’l, Goethes und Zelters Reflexionen über die menschliche Stimme, in: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft 40 (1996), S. 181‒209. 140 Briefwechsel zwischen Goethe und Zelter, Bd. 1, S. 125.

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türlichen‹ weiblichen Gesangs, das letztlich seit Mitte des 18. Jahrhunderts als moralisch aufgeladener Gegenentwurf zum mit der höfischen Sphäre verbundenen zeitgenössischen Operngesang (und damit der moralisch fragwürdigen Figur der Opernsängerin) beschworen wurde. Dieses Ideal wurde auch über neue Medien, namentlich spezifische, auf ein weibliches Publikum gerichtete Kunstzeitschriften, vermittelt, wie etwa folgende Passage aus der von Johann Georg Jacobi gemeinsam mit Wilhelm Heinse herausgegebenen Zeitschrift Iris. Vierteljahresschrift für Frauenzimmer illustriert: Aber wenn ich bemerke, wie ietzt in den mehrsten Gegenden von Deutschland das Singen fast gänzlich aufhört, ein natürlicher Ausdruck der Freude zu seyn; wie man die Mädchen, die eine sanfte, biegsame Stimme, nebst der glücklichen Anlage besitzen, immer schüchterner macht, einen Laut von sich zu geben, wenn sie nicht von einem Capellmeister nach allen Regeln unterrichtet worden; [...] wie die Damen zu der kleinsten Arie sich anschicken, sich in die Stellung einer Operistinn setzen; mit Theater- Coquetterie umherblicken; nicht sowohl vergnügen, als glänzen wollen, und weiter an dem Inhalt ihres Liedes keinen Antheil nehmen – ich bitte meine Leserinnen, mir aufrichtig zu gestehen, ob es unter denen herzlichen, ungezwungenen Mädchen, deren ich oben erwähnte, nicht beßer war?141

Die Rhetorik einer Deprofessionalisierung der musizierenden Frau, der sich auch Jacobi hier bedient, war ein integrales Moment dieser Idealisierung eines ›natürlichen Gesangs‹, der vor allem mit dem Liedgesang gleichgesetzt wurde. Damit korrespondieren unzählige Liedersammlungen ›fürs schöne Geschlecht‹, wie unter vielen anderen auch Reichardt sie verfaßte. 142 Weibliche Physis und musikalische Schönheit wurden derart ineinander geblendet, daß das von der weiblichen Stimme gesungene Lied für den männlichen Zuhörer und -schauer gleichsam untrennbar mit den Körper, der es ausführt, verbunden erschien.143 In diesen Kontext gehörte andererseits aber auch die Hervorhebung der rein materiellen, performativen Qualitäten vornehmlich der weiblichen Stimme. Ihre Rezeption wurde, wie der folgende Artikel Sulzers zeigt, in Einklang mit dem zeitgenössischen Weiblichkeitsideal auch mit Blick auf einen ›geschmackvoll‹ geschulten Kunstgesang auf ein sinnlich-emotionales Moment reduziert: Es ist nicht zu läugnen, daß eine schöne Stimme viel wieder gut macht, was am Vortrag fehlet. Dem kunstgelehrten Sänger gilt diese Entschuldigung nichts; aber dem Liebhaber und vornehmlich dem Frauenzimmer, denen die Natur vorzüglich vor den Männern eine schöne und dauernde Stimme gegeben hat, sollte diese Wahrheit eine Anreizung sein, sich im Singen zu üben, und ihrem Geschlechte dadurch eine der größten Zierden zu geben. Die einsamen und stillen Verrichtungen, die das Frauenzimmer hat, sind ihnen zum Singen so bequem, daß man glauben sollte, der Schöpfer hätte ihnen darum eine so schöne Stimme gegeben, weil sie die Bequemlichkeit haben, sie zu üben und zu nutzen. Wie angenehm kann sich ein Frauenzimmer einer ganzen Gesellschaft durch ein einziges Lied machen, das sie mit Anstand und einer mäßigen Geschiklichkeit singt? Wie leicht vegißt man beym schönen Gesang, daß die Sängerin

141 Johann Georg Jacobi, Vom Singen, in: Iris. Vierteljahresschrift für Frauenzimmer 5 (1776), S. 131f. 142 Vgl. Matthew Head, »Fürs schöne Geschlecht«. Johann Friedrich Reichardt und der weibliche Amateur, in: Professionalismus in der Musik, S. 285‒292. 143 Vgl. ebd., S. 291.

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nicht schön ist; und wie leicht kann sie dadurch sich eine ganze Gesellschaft unterwürfig machen? Ein Lied von der Tugend, von den Glückseligkeiten des häuslichen Lebens, von der Freude, die aus reinen Quellen entspringt u. d. gl. aus dem Munde eines tugendhaften Frauenzimmers würde auf manchen Menschen mehr würken, als die gutgemeintesten Warnungen, Vermahnungen und Lehren.144

Mit seiner geschlechtsspezifischen Aufladung kündigt sich hier bereits eine zeittypische Abwertung des Begriffs ›Dilettant‹ an, der an späterer Stelle noch zu thematisieren sein wird. Sulzers detaillierte Kommentierung des ›weiblichen Gesangs‹ bietet in jedem Fall ein Schlaglicht auf ein charakteristisches Segment zeitgenössischer gesellschaftlicher bzw. kultureller Praxis, dessen ideologisierender Anstrich durch Quellen wie Nina D’Aubignys Gesangslehre oder den unten abgebildeten Kupferstich Le chant aus Daniel Chodowieckis Serie Occupations des dames, die 1781 im Göttinger Taschenkalender erschien, nur allzu deutlich wird. Auch Johann Friedrich Reichardt etwa untersagte seinen z. T. musikalisch hochbegabten Töchtern, öffentlich als professionelle Künstlerinnen in Erscheinung zu treten.145 Auf dem vor den Toren Halles gelegenen Gut Giebichenstein, das der Komponist im Herbst 1794 auf Dauer bezogen hatte, erfreuten sie indes durch ihren »lieblichen Gesang« die durchreisenden Gäste.146 Die oft beschriebenen, und zuweilen poetisch überhöhten, Gesänge der Reichardtschen Töchter mögen womöglich auch der reale Bezugspunkt jenes »vom Ton menschlich getragen[en]« Gesangs gewesen sein, den Achim von Arnim147 1806 in seinem der Wunderhorn-Sammlung beigegebenen und Reichardt gewidmeten Aufsatz Von Volksliedern beschreibt. Auch Arnim geht besonders auf den Gebrauch der Stimme ein, die im artifiziellen bzw. opernhaften Gesang ihrer ›natürlichen‹ Funktion, Medium und Ausdruck menschlichen Mitei2: Daniel Chodowiecki: »Le chant«, nanders zu sein, gleichsam enthoben werde: Abbildung Radierung (1781)

144 Sulzer, Allgemeine Theorie der schönen Künste, Bd. 2 (1792), Art. Singen, S. 377f. 145 Vgl. Martin Gottlieb Wilhelm Brandt, Leben der Luise Reichardt. Nach Quellen dargestellt, Basel 21865, S. 18. 146 Vgl. Salmen, Johann Friedrich Reichardt, S. 77. 147 Vgl. Renate Moehring, Arnims künstlerische Zusammenarbeit mit Johann Friedrich Reichardt und Louise Reichardt. Mit unbekannten Vertonungen und Briefen, in: Neue Tendenzen der Arnimforschung, hg. von Roswitha Burwick/Bernd Fischer, Bern [u. a.] 1990, S. 198‒288.

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3 Bürgerliche Kunstliedkultur um 1800 Mit großer Bravour können wohl diese vortrefflichen Kunstsänger ihren Kram ausschreien und ausstöhnen, man versuche sie nur nicht mit einem Volksliede, da verfliegt das Unechte. [...] Wollt ihr Sänger uns mit der Instrumentalität eurer Kehle durch Himmel und Hölle ängstigen, denkt doch daran, dass dicht vor euch ein großes physikalisches Kabinett von geraden und krummen hölzernen und blechernen Röhren und Instrumenten steht, die alle einen höheren, dauerndern, wechselndern Ton geben als ihr, dass aber das Abbild des höchsten Lebens oder das höchste Leben selbst, Sinn und Wort vom Ton menschlich getragen auch einzig nur aus dem Munde des Menschen sich offenbaren könne.148

Arnims hier auf einer materiellen Ebene vorgenommene Gegenüberstellung von Natur und Technik verweist eindringlich darauf, daß eben jener Begriff des ›Gesanglichen‹, der als »Abbild des höchsten Lebens« das zeitgenössische Ideal eines ›Naturklangs‹ repräsentierte, in metaphorischem Sinn auch aufs Instrumentalspiel übertragen wurde. Vokalmusik wurde dabei letztlich vom Text losgelöst gedacht und als gleichsam klanggewordene menschliche Seele dem technisch gefertigten Musikinstrument gegenübergestellt. Die in den zeitgenössischen Instrumentallehren immer wieder zentral auftauchenden Anweisungen zum gliederndem Atmen oder Gelingen eines organischen Legato verfolgen entsprechend das ideelle Ziel, den mechanisch erzeugten Klängen, menschliches Leben einzuhauchen. 149 Dieses in spezifischer Weise moralisch konnotierte und anthropologisch fundierte zeitgenössische Gesangsideal, das letztlich auf das umfassende Konzept der Herderschen Volksliedidee rekurriert, die den Worten der ›Naturpoesie‹ einen immanenten ›Gesang der Seele‹ zuschreibt150, weist indes charakteristische Differenzen zu den fachspezifischen Diskursen sowohl der zeitgenössischen Kompositionsästhetik als auch der professionellen Gesangsschulung auf. Innerhalb des 17. und in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts hatte sich ein rasanter Konkurrenzkampf zwischen Vokal- und Instrumentalmusik entwickelt, der schließlich eine relative Kompatibilität beider Bereiche zur Folge hatte: Virtuose Techniken spezifisch instrumentalidiomatischer Provenienz wurden mit der Entwicklung der italienischen Belcanto-Kultur auf die Gesangskunst übertragen, während im Bereich des Instrumentalspiels in immer wieder modifizierter Form die spätestens seit dem 16. Jahrhundert geltende Prämisse eines »imitar la voce umana« praktiziert wurde, das eine klangliche Nachahmung der menschlichen Stimme einforderte.151 Für die Komponisten der jüngeren Generation (einschließlich etwa Haydn und Mozart), schloß insofern der Begriff des ›Singenden‹ bzw. ›Sangbaren‹ insofern durchaus auch die virtuosen instrumentalen Figurationstechniken ein, die aus die 148 Achim von Arnim, Von Volksliedern, in: Des Knaben Wunderhorn. Alte deutsche Lieder gesammelt von Achim von Arnim und Clemens Brentano, hg. von Heinz Rölleke, Frankfurt a. M. 2003, S. 402. 149 Zur Historizität des pianistischen Gesangsideals vgl. Claudia de Vries, Die Pianistin Clara Wieck-Schumann. Interpretation im Spannungsfeld von Tradition und Individualität, Mainz 1996, S. 22‒57. 150 Vgl. Ursula Schmitz, Dichtung und Musik in Herders theoretischen Schriften, Köln 1960, S. 171. 151 Thomas Seedorf, »...per imitar la voce«. Anmerkungen zur instrumentalen Nachahmung des Gesangs, in: TIBIA 19/4. (1994), S. 288‒292.

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sem Verständnis heraus keineswegs als typisch ›instrumental‹ galten, sondern vielmehr beide unter die oberste Prämisse eines erweiterten Ideals des ›Gesanglichen‹ fielen, wenngleich dies satztechnisch kaum immer leicht zu verwirklichen war.152 Im Bereich der professionellen Gesangsschulung fielen unter den Begriff des ›Singens‹ insofern zwei stilistische Kategorien, die sowohl ein archetypisches ›Cantabile‹-Ideal als auch die sich im Laufe des 17. und 18. Jahrhunderts herausbildende Forderung einer ›Agilità della voce‹ umfaßten: Typische Erscheinungsformen dieser Spielart vokaler Virtuosität wurden etwa exemplarisch in Mancinis Riflessioni sul canto figurato (Wien 1774) festgeschrieben.153 Als vollendeter Gesangskünstler galt insofern nur, wer beide Disziplinen meisterhaft beherrschte. Gerade die expressiven Qualitäten des ›Cantabile‹ − »ausdrucksvolles Portamento, de[r] angemessene Gebrauch von Tempo rubato und das Spiel mit Klangfarben«154 − waren letztlich unumgänglich für die adäquate sängerische Verwirklichung sowohl der ›Reformopern‹ Glucks als auch der Opern Haydns und Mozarts. Obgleich also die extremen virtuosen Ausschweifungen des Barockgesangs nicht mehr mit den Natürlichkeitsforderungen der bürgerlichen Gesellschaft vereinbar waren155, hatten die seit Ende des 18. Jahrhunderts vermehrt erscheinenden deutschen Gesangsschulen sich keineswegs komplett von der Ausbildung im virtuosen Ziergesang nach italienischem Vorbild verabschiedet. Neu war indes – etwa mit Blick auf Johann Adam Hillers Anweisung zum musikalisch-zierlichen Gesange (1780) – eine zunehmende Ausrichtung auf die Textdeklamation156, die im Rahmen der italienischen Belcanto-Schulung mit spezifischem Blick auf den Rezitativgesang in der Regel erst an den Schluß der Ausbildung gestellt wurde.157 Der liedästhetische Diskurs hingegen beharrte unabhängig davon auf einer Verbindung von Sangbarkeit, Kunstlosigkeit und ›Natürlichkeit‹, da diese Kategorien und ihre sozialen Implikationen zu einem verbindlichen kulturellen Kontext geworden waren, der auch die performative Dimension einschloß. Die ästhetischen Lexika von Sulzer und Koch etwa enthalten zwar beide Artikel zum Stichwort ›singend‹ im Sinne einer satztechnischen Prämisse, bemühen sich aber in den Artikeln 152 Thomas Seedorf, Saitengesänge. Instrumentale Kantabilität in Haydns Streichquartetten, in: Musik-Konzepte 116 (2002), S. 3‒39. 153 Thomas Seedorf, Analogien zwischen vokaler und instrumentaler Praxis in der Musik vom 16. bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts, in: Musik als Text, Bd. 2, S. 173‒176. 154 Thomas Seedorf, Glucks Pariser Opern und die Idee einer Reform-Gesang-Ästhetik, in: Gluck der Europäer. Bericht über das Internationale Symposium im Rahmen der 1. Internationalen Gluck-Opern-Festspiele Nürnberg, 5.‒7. März 2005 Nürnberg/Berching, hg. von Irene Brandenburg [u. a.], Kassel 2010, S. 229. 155 Mario Vieira de Carvalho, Belcanto-Kultur und Aufklärung. Blick auf eine widersprüchliche Beziehung im Lichte der Opernrezeption, in: Soziale Horizonte von Musik, hg. von Christian Kaden, Kassel [u. a.] 2006, S. 35‒55. 156 Vgl. Johann Adam Hiller, Anweisung zum musikalische zierlichen Gesange, Leipzig 1780, Reprint Leipzig 1976, hg. von Bernd Baselt, S. 25ff. 157 Vgl. Hannelore Hölzen, Die methodisch-pädagogischen Grundsätze deutscher Gesangskultur im 19. Jahrhundert. Dargestellt an ihrer Abgrenzung zu Italien und Frankreich, Münster 1958, S. 13.

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Singen bzw. Gesang 158 jeweils vornehmlich um eine auf Herders Sprachursprungstheorien rekurrierende anthropologische Grundierung des Phänomens ›Gesang‹, wobei der Kunstgesang nur unter gewissen Vorbehalten in diese Auffassung eingebunden werden kann: Sulzer betont, daß die unterschiedlichen Fähigkeiten der Menschen im Gesang zu allererst auf deren jeweilige naturgegebenen Voraussetzungen zurückzuführen seien und räumt erst in zweiter Linie ein, daß die Stimme auch durch entsprechende Übung ästhetisch geformt werden könne und »daher [...] aus dem Singen eine weitläufige Kunst geworden [sei], die die Regeln eines guten Vortrages an die Hand gibt.«159 Der Stimme instrumentale Fertigkeiten abzugewinnen sei indes höchst problematisch und einzig als Mittel zum Zweck zulässig, »denn aus diesen Schwierigkeiten sein Hauptgeschäffte machen, und damit nur Bewunderung erregen wollen, heißt die Stimme zu einem sehr unvollkommenen Instrument erniedrigen, und den Hauptvorzug, den sie vor allen Instrumenten hat, auf das Herz zu würken, gänzlich aus den Augen setzen.«160 Auch für Koch ist der »künstliche Gesang« einzig auf Grundlage des »natürlichen Gesangs« im Sinne von dessen »Ausbildung und Vervollkommnung« diskutabel, die in erster Linie mit einer allgemeinen musikalischen Grundausbildung zusammenfällt.161 Diese Fertigkeiten sowie die klangästhetische Formung der Stimme möchte er indes betontermaßen als rein akzidentiell aufgefaßt wissen, während die essentielle Wirkung des Gesangs ausschließlich über eine Art intentionale ›Beseelung‹ des Vortrags hervorgerufen werden könne: [...] ihre Wirkung trifft bloß das Ohr, keineswegs aber das Herz. Soll dieses gerührt werden, soll der Gesang Ausdruck der Empfindungen seyn, und wieder auf die Empfindungen anderer wirken, so muß die künstlich richtig dargestellte Folge der Töne zugleich so modificirt werden, daß sie als leidenschaftliche Töne erscheinen, das heißt, daß sie eine solche Modification erhalten, die mit der auszurückenden Empfindung conform ist, und den an sich todten Tönen gleichsam Leben einhaucht.162

Kochs Prämisse einer notwendigen »Modification« der »künstlich[en]« Töne, um diese als »leidenschaftliche Töne erscheinen« zu lassen, weist mit ihrer indirekten Akzentuierung des expressiven Kommunikationsvorgangs bereits auf einen Verschiebungsprozeß im Zuge der Herausbildung einer bürgerlichen »Gesangs-Cultur« hin, den Nägeli 1817 zusammenfassend beschreibt: Zunehmend spielte die Forderung einer spezifischen vokalen Kunstfertigkeit auch in Zusammenhang mit der Weiterentwicklung der Gattung Lied eine Rolle. Nägelis Ausgangspunkt ist die

158 Allgemeine Theorie der schönen Künste, Bd. 4 (1794), Art. Singen. Heinrich Christoph Koch, Musikalisches Lexikon welches die theoretische und praktische Tonkunst, encyclopädisch bearbeitet, alle alten und neuen Kunstwörter erklärt, und die alten und neuen Instrumente beschrieben, enthält, Frankfurt a. M. 1802, Reprint Hildesheim 1964, Art. Gesang, Sp. 662‒669. 159 Sulzer, Allgemeine Theorie der Schönen Künste, Art. Singen, S. 375. 160 Ebd, S. 376. 161 Koch, Art. Gesang, Sp. 667. 162 Ebd., Sp. 668.

3.3 Körper und Stimme

63

häufig gestellte Diagnose eines zu niedrigen Standards deutscher Gesangsausbildung dem etwa Hiller mit der Gründung einer Singschule nach dem Vorbild italienischer Konservatorien begegnen wollte.163 Reichardt in seiner frühern Periode, und Schulz, beflissen sich beym Liede vom kleinsten Umfange immer auch der möglichsten Einfachheit. Sie mussten es zum Theil, wenn sie volkstümlich sein wollten. Denn damals war die Stimmbildung noch zu sehr vernachlässiget, man war mit einer blossen, reinen Naturstimme leicht zufrieden. Auch war das Klavier noch nicht so allgemein und nicht so weit getrieben; Pianofortes fanden sich selten genug: desto mehr Federklaviere, worauf man nicht piano, und Klavichorde, worauf man zur Begleitung einer volltönenden Stimme nicht hinlänglich forte spielen konnte – Gründe genug, auf keine höhere Stimmbildung Rechnung zu tragen, und den Gesang vom Spiel so wenig abhängig zu machen, als möglich. Diese Beschränkung liegt aber nicht nicht nothwendig im Wesen der Kunst. Auch beym kleinsten Liede sind [...] alle Kunstmittel, [Melismatik, obligates Spiel u. a., M.G.] anwendbar.164

So wie das mit dem Lied verknüpfte kulturelle Paradigma der ›Volkstümlichkeit‹ und dessen produktionsästhetische Implikationen zuweilen in Konflikt mit den Prämissen der Artifizialität geriet, wurde gemeinsam mit der Gattungsentwicklung die des Liedvortrags im Sinne einer hochnuancierten ›Kunst des Kunstlosen‹ vorangetrieben. Die Ausbildung des wandlungsfähigen und ausdrucksstarken, dabei gleichwohl ›natürlich‹ empfundenen Gesangstons, auf die im Zuge einer von Nägeli beschriebenen »Subjektivisierung« der »Liederkunst« immer mehr Wert gelegt wurde, ist letztlich vom traditionellen ›Cantabile‹-Begriff der italienischen Gesangsschule ableitbar und wurde als Ideal vom »schönen Ton« auch von der sich herausbildenden deutschen Gesangspädagogik übernommen. Bei Nina D’Aubigny, die sich, wie erwähnt, bei Hiller hatte ausbilden lassen, werden die angedeuteten Diskrepanzen zwischen einem idealisierten vokalen Klangbild und der Frage seiner konkreten Verwirklichung im Sinne einer ›Verkörperung‹ etwa besonders deutlich: So darf ich die Mühe nicht scheuen, Worte in dem Gebiet der Sprache zu suchen, die das dürftig auszudrücken vermögen, was der feine Sinn des denkenden Menschen unendlich leichter durch ein leises Hindeuten ahnet und faßt, wenn es darauf ankommt etwas Idealisches zu verkörpern. Ein vollkommen schöner Ton bleibt doch immer halb und halb ein Ideal, dessen Züge rein und deutlich in unsere Seele schweben, das uns aber leicht entschwindet, wenn wir es zu nahe bringen und mit den Sinnen greifen wollen. Wir vernehmen einen schönen Ton von dem Sänger, wenn ihn die Natur mit Stimmwerkzeugen begabte, deren verschiedene Theile in dem vollkommenen Verhältnisse zu einander gebaut sind. […] Alsdann pflegen wir in der gewöhnlichen Sprache zu sagen: der Sänger hat eine schöne Stimme von der Natur erhalten. Diese Naturgabe aber auf die beste Weise geltend zu machen, kann nur unter gewissen Bedingungen geschehen.165

Vor allem die bereits von Hiller geforderte lächelnde Mundstellung und ein damit in Zusammenhang gebrachter freier Strom der Atemluft sollte auf grundsätzlicher

163 Thomas Seedorf, Art. Singen. B: Historische Aspekte, in: MGG2, S/Bd. 8, Sp. 1440. 164 Nägeli, Die Liederkunst (1817), Sp. 779. 165 D’Aubgigny, Briefe an Natalie, S. 71f.

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Ebene diese ›natürliche‹ Klangbildung gewährleisten166, die sich durch eine immer wieder betonte Helligkeit der Klangfarbe auszeichnete.167 Eine in ihrer Differenziertheit noch weiter gehende Beschreibung der spezifischen Kunstfertigkeit sängerischen Stimmgebrauchs läßt sich Nägelis eigener 1810 veröffentlichter Gesangsbildungslehre nach Pestalozzischen Grundsätzen168 sowie den Skizzen zu seiner unveröffentlichten Sologesangsschule169 entnehmen. In Anlehnung an den Portamentobegriff der italienischen Gesangsausbildung widmet Nägeli sich hier einer Beschreibung der künstlerischen Gestaltung vokaler Tonverbindungen durch Schwelltöne, die er auf grundsätzlicher Ebene als »natürliche Ergießung des Gefühls« charakterisiert170 und mittels derer die erwünschte maßvolle Individualisierung des Vortrags verwirklicht werden könne. Nägeli unterscheidet als charakteristische Varianten neben dem mäßigen An- und Abschwellen des Tons das sogenannte »Überbiegen in den folgenden Ton vermittelst einer Anticipation«

1)

2)

3)

sowie das »Durchziehen vom einen Tone zum folgenden durch alle möglichen Zwischentöne«:171 4)

5)

Notenbeispiele 1–5: Nägeli, »Gesangsbildunglehre nach Pestalozzischen Grundsätzen«, Zürich 1810, S. 117f.

166 Thomas Seedorf/Bernhard Richter, Befragung stummer Zeugen. Gesangshistoische Dokumente im deutenden Dialog zwischen Musikwissenschaft und moderner Gesangsphysiologie, in: Basler Jahrbuch für historische Musikpraxis 26 (2002), S. 173‒186, S. 183. 167 Vgl. Koch, Musikalisches Lexikon, Art. Gesang, S. 667: »Eine gute Stimme, das ist ein heller, starker und gleicher Ton der Stimme, nebst Biegsamkeit und einem beträchtlichen Umfange derselben.« Selbst die anhand ihrer eigenen Kompositionen als Alt einstufbare Stimme Louise Reichardts wurde von den Zeitgenossen als »klockenhell« beschrieben. Vgl. Arnim an Bettina Brentano 12.7.1806, zitiert nach Moehring, Arnims künstlerische Zusammenarbeit mit Johann Friedrich Reichardt und Louise Reichardt, S. 210. 168 Hans Georg Nägeli, Gesangsbildungslehre nach Pestalozzischen Grundsätzen. Erste Hauptabtheilung der vollständigen und ausführlichen Gesangschule mit drey Beylagen ein-, zwei- und dreystimmiger Gesänge, Zürich 1810. Diese Gesangsschule war als Anleitung für Lehrende im Schulunterricht bestimmt. 169 Das Manuskript zur Sologesangsschule Nägelis wurde 1998 erstmals vollständig ediert und umfassend kommentiert: Mireille Geering, Die Sologesangsschule von Hans Georg Nägeli, 3 Bde., Zürich 1998. 170 Nägeli, Anleitung zum Gebrauch des Schulgesangbuchs, Zürich 1833, zitiert nach Geering, Die Sologesangschule von Hans Georg Nägeli, Bd. 1: Abhandlung und kritischer Bericht, S. 112. 171 Nägeli, Gesangsbildungslehre, S. 115. Nägeli hatte geplant, die Ausführungen zum »undulatorischen Gesang« in der Sologesangsschule nochmals abdrucken zu lassen. Zu einer aufführungspraktischen Diskussion dieser von Nägeli benannten Kategorien vgl. Geering, Die Sologesangsschule von Hans Georg Nägeli, Bd. 1, S. 106ff.

3.3 Körper und Stimme

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Diese drei mit jeweils eigenen Notationszeichen versehenen und untereinander kombinierbaren Möglichkeiten der sängerischen Gestaltung von Einzeltönen und Tonverbindungen differenziert Nägeli schließlich im Rahmen der Sologesangsschule unter dem zusammenfassenden Begriff des »undulatorischen« (wellenförmigen) Gesangs172 weiter aus und stellt sie explizit anderen sängerischen Teildisziplinen an die Seite, die indes betontermaßen auf die adäquate Verwirklichung des Notentextes bezogen sind und als »deklamatorischer«, »melismatischer«, »chromatischer«, »rezitativischer« und »modulatorischer« Gesang eher produktionsästhetische Kategorien repräsentieren.173 Die beschriebenen Vortragsarten des »undulatorischen Gesangs« bezeichnet Nägeli charakteristischerweise als »Illusionsmittel«, da sie im Akt des Vortrags auf dynamischer, melodischer und rhythmischer Ebene den fixierten Notentext modifizieren und so zu ihm einen »fortlaufenden lebendigen Kontrast« bilden sollen.174 Aus der hier wahrgenommenen Spannung zwischen einer textuellen und einer performativen Dimension des ›Kunstliedes‹ bzw. der ›Liederkunst‹ zieht Nägeli insofern die Konsequenz, durch die Kultivierung des sogenannten »undulatorischen Gesangs« den Singenden auf eine maßvolle Weise im Moment des Vortrags gleichsam zum Mitschöpfer werden zu lassen, zum anderen aber auch die ›individualisierenden‹ Momente im Notentext zu fixieren. Bereits dieser kursorische Blick auf Quellen und Kontexte zeitgenössischer Gesangspraxis verweist, wie man zusammenfassen kann, nachdrücklich darauf, daß letztlich auch ein ›kunstloses‹ Singen als Repräsentation ›naturhaften‹ Ausdrucks allererst erlernt werden mußte, um die scheinbare Unmittelbarkeit des ›natürlich‹ fließenden Gesangs erreichen zu können. Er galt letztlich (auch) als Spezialdisziplin innerhalb einer z. T. auf höchste artifizielle Ansprüche ausgerichteten Gesangsausbildung, die auch die Dilettanten genossen. Insofern ergeben sich gerade aus der Perspektive performativer Verwirklichung immer wieder Inkongruenzen zwischen einer Stilisierung des Volksliedes im Sinne einer Art kultureller Ursubstanz, auf die sich die liedästhetischen Theorien zum Zweck einer anthropologischen bzw. philanthropischen Grundierung auch des sich herausbildenden Kunstliedes beriefen, des hiermit verbundenen Ideals eines in erster Linie durch die weibliche Stimme repräsentierten ›natürlichen Gesangs‹ und der performativen Umsetzung dieser Ideale innerhalb einer auch vom Hintergrund artifizieller Gesangsausbildung beeinflußten kulturellen Praxis des mittleren und gehobenen Bürgertums. Die auf einer poetologischen bzw. ästhetisch-konzeptuellen Ebene geforderte ›Sangbarkeit‹ eines Gedichttextes, die dessen musikalische Umsetzung gleichsam implizieren sollte, schloß insofern letztlich kaum seine kunstvolle performative Verwirklichung aus, wie dies die Liedtheorien immer wie 172 Nägeli wollte darin letztlich eine Doppelgesetztlichkeit jeglicher Kunst abgebildet sehen. Dem das Intelligible und Stabile repräsentierenden Phänomen der Linie bzw. der Linerarität setzte er das dynamiserende Prinzip der Welle entgegen, die das illusorische Moment der Kunst repräsentiere. Vgl. M. Geering, Die Sologesangsschule von Hans Georg Nägeli, Bd. 1, S. 109. 173 Ebd., S. 18‒21. 174 Nägeli, Gesangsbildungslehre, S. 223.

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der suggerieren. Dieser Widerspruch war im Bewußtsein der Zeit freilich nicht präsent, denn diese Differenzen wurden im Namen eines Ideals des ›natürlichen Gesangs‹ ausgeblendet. Trotzdem hat, wie deutlich werden sollte, der Kunstgesang auch die Entwicklung des Liedvortrags im Sinne einer über die rein usuelle Praxis hinausgehenden künstlerischen Disziplin eigenen Rechts beeinflußt – gerade in D’Aubigny von Engelbrunners Gesangslehre oder Nägelis Gedanken zur »Liederkunst« im Sinne einer umfassenden kulturellen Praxis des Komponierens, Aufführens und Rezipierens von Liedern finden sich aufklärungspädagogische mit empfindsamen und autonomieästhetischen Positionen miteinander verwoben 3.3.3. Liedvortrag und Deklamationskunst Aus produktionsästhetischer Sicht charakterisiert Nägeli 1811 die gesamte »zweite Epoche« seiner Übersicht zur jüngeren Liedgeschichte als »deklamatorisch«. Schulz und Reichardt werden als zentrale Vertreter einer »textgemäßen Tonstellung« im Sinne eines sich neu etablierenden »Systems der musikalischen Setzkunst« identifiziert, dessen Potential hier freilich noch längst nicht ausgeschöpft sei.175 Nägeli stellt die Kategorie des ›Deklamatorischen‹ – und damit die spezifische Verquickung von gesprochenem Wort und gesungenen Ton – aber auch bereits in den kulturpraktischen Kontext einer umfassenden Gesangsbildungslehre. Beide Akzentuierungen sind Teilmomente einer umfassenderen Entwicklung, die es vorab zu skizzieren gilt. Die Tendenz einer Fokussierung der sängerischen Sprachbehandlung entwickelte sich grundsätzlich vor dem Hintergrund der bereits angesprochenen Konstruktion einer nationaltypischen Gesangsästhetik. Die Gesangskunst ging im ausgehenden 18. Jahrhundert gewissermaßen in besonderer Weise auf Tuchfühlung mit der Kunst der Textdeklamation176, die sich seit den 1770er Jahren im deutschsprachigen Raum zu einer Spezialdisziplin mit erheblicher Ausstrahlungskraft herausgebildet hatte: »Was auf Bühnen, in privaten und halbprivaten Vortragssälen und in Salons von Hamburg bis Wien, von Weimar bis Mannheim vorgetragen wurde, galt als Muster für die sprachlichen Ausdrucksformen der gebildeten Stände, prägte den Vortrag des Predigers, des Advokaten am Gerichtshof, des Politikers im Parlament und des Professors in Gymnasium und Universität.«177 Seit etwa 1800 finden sich, korrespondierend mit der hier angesprochenen Konjunktur des mündlichen Vortrags von Dichtung in den mit wissenschaftlichem Anspruch auftretenden Deklamationslehren vermehrt Anweisungen und Analysen zum Vortrag von Gedichten178, während die rhetorische Aufbereitung von Reden 175 Nägeli, Historisch-kritische Erörertungen (1811), Sp. 638. 176 In diesem Sinne etwa: Johann Friedrich Carl Rellstab: Versuch einer Vereinigung der oratorischen und musikalischen Deklamation, Berlin 1786. 177 Meyer-Kalkus, Stimme und Sprechkünste im 20. Jahrhundert, S. 226 unter Berufung auf Hermann Heimart Cludius, Abriß der Vortragskunst , Hildesheim 1810. 178 Vgl. etwa Ferdinand Delbrück, Lyrische Gedichte mit erklärenden Amerkungen nebst einer Untersuchung über das Schöne und einer Abhandlung über die Grundsätze der Erklärung

3.3 Körper und Stimme

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immer mehr in den Hintergrund geriet, und auch der Bezug von Deklamation und Musik erfuhr eine Umwertung: Wurde in älteren Musik-Rhetorik-Vergleichen die Sprache gewissermaßen auf die Musik appliziert, um diese letztlich besser erklären und lehren zu können, trat nun das expressive Potential der begriffslosen Musik immer mehr in den Vordergrund. Sie war letztlich »in ihrem Vermögen, Textlichkeit zu versinnlichen [...] der Rhetorik des 18. Jahrhunderts enteilt«.179 Eine besonders intensive Diskussion, die ihren theoretischen Impuls ihrerseits von den zeitgenössischen Sprachursprungsspekulationen erhalten hatte, entspann sich nun um die ästhetischen Nuancen eines Übergangs zwischen Sprechen und Singen und das damit in Zusammenhang stehende Ideal eines ›Sprechgesangs‹.180 In der theatralen Praxis des 18. Jahrhunderts hatte sich in diesem Kontext mit dem Melodram und verschiedenen Formen der Dialogoper eine Art Experimentierfeld herausgebildet, innerhalb dessen man sich ebenfalls intensiv den Möglichkeiten einer Verzahnung von Sprech- und Tonkunst widmete.181 Johann Friedrich Reichardt unternahm gar den Versuch, mit explizit als Deklamationen bezeichneten Kompositionen ein diese Einflüsse verarbeitendes neuartiges vokalmusikalisches Genre zu etablieren.182 Vor solchem Hintergrund muß die Deklamationskunst – obgleich im Zuge ihrer Theoretisierung immer wieder vom Phänomen des ›Gesangsartigen‹ abgesetzt – als bedeutsames Einflußgebiet auch für den künstlerischen Liedvortrag kontextualisiert werden. Im engeren Sinne ›lyrische‹ Gedichte wurden noch um die Mitte des 18. Jahrhunderts hinsichtlich des sprachlichen bzw. gesungenen Vortrags vor allem am Paradigma der grundsätzlich vorherrschenden Affektlage ausgerichtet, was allein durch die strophige Anlage des Textes als Notwendigkeit angesehen wurde.183 In 179 180 181

182

183

und des Vortrags lyrischer Gedichte, Berlin 1800, S. 205 bzw. 220. Delbrück stellt hier die Oden Klopstocks in den Mittelpunkt. Michael Kohlhäufl, Die Rede – ein dunkler Gesang. Kleists »Robert Guiscard« und die Deklamationstheorie um 1800, in: Kleist-Jahrbuch 1996, S. 146. Vgl. Csvetko, »...durch Gesänge lehrten sie...«, S. 245ff. Vgl. die grundlegenden Studien von Ulrich Kühn, Sprech-Ton-Kunst. Musikalisches Sprechen und Formen des Melodrams im Schauspiel und Musiktheater (1770‒1933), Tübingen 2001, sowie Thomas Betzwieser, Singen und Sprechen. Ästhetik und Erscheinungsformen der Dialogoper, Stuttgart/Weimar 2002. Heinrich W. Schwab, Kompositorische Individualität durch Vermischung der Gattungen. Zu Reichardts Gattungstypus Deklamation, in: Johann Friedrich Reichardt. Zwischen Anpassung und Provokation, hg. von Kathrin Eberl [u. a.], Halle 2003, S. 179‒194; ferner: Walter Salmen, Gesungen, Rezitiert, Deklamiert. Die Deklamationen von Johann Friedrich Reichardt, ebd. S. 407‒418; Vgl. auch ders., Johann Friedrich Reichardt, S. 246ff. Vgl. Karin Zauft, Gedanken und Aspekte zur Aufführungspraxis von Telemanns Liedern, in: Zur Aufführungspraxis und Interpretation der Vokalmusik Georg Philip Telemanns. Ein Beitrag zum 225. Todestag, hg. von Eitelfriedrich Thom/Frieder Zschoch, Blankenburg 1995, S. 36‒41. Der Vortrag einstrophiger Gedichte sollte sich hingegen nach den verschiedenen Affekten, Akzenten und Redeabschnitten, die klaren Regeln unterworfen waren, richten: »Bei einem Lied von einer Strophe müssen, außer dem Affekt, auch die Wendungen des Dichters in den Gedanken, die Einschnitte der Rede, und die Diclamation beobachtet werden. Bei einer mehrstrophigen Ode darf alles dieses fast gänzlich außer Acht gelassen werden.« (Friedrich Wilhelm Marpurg, Kritische Briefe über die Tonkunst, Berlin 1760, Bd. 1, S. 22). Zauft betont

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seinen Kritischen Briefen über die Tonkunst (1760) stellt etwa Friedrich Wilhelm Marpurg mit Blick auf den Vortrag zeittypischer mehrstrophiger Oden heraus: In vielstrophigen Liedern kommt es auf den Ausdruck aller und jeder Worte oder auch nur der meisten der selben gar nicht an; sondern wenn die Hauptempfindung des Lieder getroffen, und so ausgedrückt ist, daß der Sänger die Worte leicht mit Tönen verbinden kann, ist dies hinlänglich.184

Einen Schritt weiter in Richtung eines deklamatorisch charakterisierenden Ausgestaltens des Gedichttextes geht etwa die 1786 im Rahmen einer Liedersammlung veröffentlichte Erlkönig-Vertonung der gleichfalls von Hiller ausgebildeten und seit 1776 an Goethes Weimarer Liebhabertheater wirkenden Sängerin und Schauspielerin Corona Schröter.185 Die im Verhältnis zur Länge der Komposition auffallend zahlreich eingezeichneten dynamischen Wechsel und Kontrastwirkungen scheinen als rein musikalische Vortragsanweisungen eher irritierend.186 Vielmehr lassen sich sie sich auf eine die metrische Grundstruktur des Gedichtes hervorhebende Art der Textdeklamation beziehen:

Abbildung 3: Corona Schröter: »Der Erlkönig«, aus: »Fünf und zwanzig Lieder« (1786)

in diesem Zusammenhang allerdings auch, daß gerade die einstrophigen Lieder des früheren 18. Jahrhunderts – wie etwa Telemanns Generalbaßübungen – häufig die musikalische Form des lyrischen Liedes sprengen und zur »theatralischen Gebärde der Buffo-Oper« tendieren, insofern das nach zeitgenössischen Grundsätzen für die lyrische Gattung grundsätzliche Merkmal einer Einheit der Stimmung nicht erfüllten. 184 Ebd. zitiert nach Zauft, Gedanken und Aspekte, S. 38. 185 Vgl. Undine Wagner, Art. Schröter, Corona Elisabeth Wilhelmine, in: MGG2, P/Bd. 15, Sp. 56‒ 58. 186 Vgl. auch Schwab, Sangbarkeit, S. 73, der betont, dass hier deutlich werde, »wie wenig die konventionellen Vortragszeichen hinreichen, um die eigentlichen Intentionen wiederzugeben [...]«. Auch die Tatsache, dass Schröters Erlkönig-Vertonung hinsichtlich der Dichte der Vortragsbezeichnungen alle anderen Kompositionen des Bandes übertrifft, spricht dafür, daß gerade hier ein spezifischer Vortragsstil gleichsam protokolliert werden sollte.

3.3 Körper und Stimme

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Corona Schröter, die bereits vor ihrer Weimarer Zeit eine Opernkarriere begonnen hatte und vom italienischen Kunstgesang her kam, schwebte hier offenbar die neuartige Disziplin einer gewissermaßen musikalisch angereicherten, kunstvoll nuancierten, plastisch-malenden Textdeklamation vor, die sie etwa als Protagonistin des ihr von Goethe gewidmeten Melodrams Proserpina (UA 1778) oder als »Dortgen« in seinem Singspiel Die Fischerin (1782), in dessen Kontext die Erlkönig-Ballade überhaupt entstanden war, auch auf der Bühne praktizierte. Auch Johann Friedrich Reichardt hatte namentlich durch die Zusammenarbeit mit Goethe um 1800 längst kunstvollere Wege der Liedkomposition eingeschlagen, die eine entsprechend differenzierte Sprachbehandlung beim Vortrag erforderten und das Lied in den Kontext einer ›gehobenen‹ lyrischen Rezitation stellten.187 Dem neuen Paradigma der ›Expressivität‹, das im Gegensatz zur stilisierten Affektdarstellung den Ausdruck von Empfindungsnuancen und Gefühlsschwankungen forderte, wurde dabei durch die direkte Reaktion auf textliche Details im Sinne eines Ideals des »Deklamatorischen« entsprochen, wodurch die Vertonung von lyrischen Gedichten eine neue dynamische bzw. dramatisierende Qualität erworben hatte. 1804 hörte der Komponist in einem Weimarer Konzert den Hofsänger Johann Wilhelm Ehlers und verfaßte daraufhin eine emphatische Rezension in der von ihm selbst herausgegebenen Berlinischen Musikzeitung: Herr Ehlers vom Weimarischen Hoftheater gab gestern hier ein Concert, welches sich durch eine sehr angenehme Eigenschaft auszeichnete: es war nemlich weit unterhaltender, als dergleichen Concerte gewöhnlich zu sein pflegen, und zwar vornehmlich durch schöne Romanzen und Volkslieder, welche Herr E. ohne weitere Begleitung zur Guitarre sang. Man muß diese freilich mit soviel Ausdruck und Wahrheit und so deutlich vortragen wie Herr E.; damit der Zuhörer nicht bloß die Weise der Gesänge hört, sondern auch die Worte ganz verstehen und mit viel Antheil genießen kann. An der Art, wie Herr E. Romanzen und Lieder von Zelter und Reichardt vorträgt, erkennt man leicht, daß er aus der hohen Deklamationsschule des großen Weimarschen Meisters ist, und daß er den Sinn und Willen des Componisten kennt. Jeder Vers, jeder Ausdruck erhält sein Recht, und kann seine Wirkung daher schwerlich verfehlen. [...].188

Der »Tenorist« Ehlers war als Sängerschauspieler von spätestens September 1800 bis Ostern 1805 Mitglied in Goethes Weimarer Ensemble und nahm auch an den als »Didaskalien« bezeichneten Rezitations- und Deklamationsstudien teil, die der Dichter 1803 mit einigen Schauspielern betrieb und aus denen letztlich die in Eckermanns Redaktion von 1824 erst 1833 veröffentlichten Regeln für Schauspieler hervorgingen.189 Überdies wurde Ehlers in privaten Weimarer Zirkeln als Liedsänger 187 Wolfgang Ruf macht dies etwa am Beispiel des mehrfach von Reichardt vertonten GoetheGedichtes An Belinden deutlich: ders., Zum Liedbegriff Johann Friedrich Reichardts, in: Intermedialität. Studien zur Wechselwirkung zwischen den Künsten, hg. von Günter Schnitzler, Freiburg i. Brsg. 2004, S. 219‒231. 188 Berlinische Musikalische Zeitung 1 (1805), Reprint Hildesheim 1969, S. 174. 189 Vgl. dazu ausführlich: Gabriele Busch-Salmen, »Er war unermüdet im Studiren des eigentlichsten Ausdrucks«. Goethes Zusammenarbeit mit dem Hofsänger Johann Wilhelm Ehlers, in: GJb 117 (2000), S. 126‒143 sowie: dies., Goethes »Demodokos«. Zur Zusammenarbeit des Dichters mit dem Hofsänger Johann Wilhelm Ehlers, in: »Eine Art Symbolik fürs Ohr«. Johann

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hoch geschätzt. Er trat nach 1805 an allen bedeutenden deutschsprachigen Bühnen auf und gründete 1828 in Frankfurt eine private Gesangsschule. Vor allem Reichardts Feststellung, Ehlers’ Vortragskunst resultiere letztlich aus Goethes Deklamationsschule, soll hier zunächst den Impuls für eine Beschreibung und Kontextualisierung Goethes Liedpraxis aus dieser Perspektive bieten. Bereits 1770 hatte der Dichter das Ideal einer sprachzentrierten Vertonungsästhetik beschrieben, die gleichwohl den Komponisten aufforderte, »nicht blos Declamateur sondern Musickus zugleich zu sein.«190 In den Vertonungen Reichardts und Zelters fand Goethe dieses Ideal aus seiner persönlichen Sicht bekanntlich später in höchstem Maße verwirklicht, allerdings war gerade die Ebene des differenzierenden Vortrags entscheidend für diese Verwirklichung. So finden sich zentrale liedästhetische Äußerungen Goethes in einem Vermerk über die Zusammenarbeit mit dem Sänger Ehlers: Er war unermüdet im Studiren des eigentlichsten Ausdrucks, der darin besteht, daß der Sänger nach einer Melodie die verschiedenste Bedeutung der einzelnen Strophen und so die Pflicht des Lyrikers und Epikers zugleich zu erfüllen weiß. Hievon durchdrungen ließ er’s sich gern gefallen, wenn ich ihm zumuthete, mehrere Abendstunden, ja bis tief in die Nacht hinein, dasselbe Lied mit allen Schattierungen auf’s pünctlichste zu wiederholen: denn bei der gelungenen Praxis überzeugte er sich, wie verwerflich alles sogenannte Durchcomponiren der Lieder sei, wodurch der allgemein lyrische Charakter ganz aufgehoben und eine falsche Teilnahme am Einzelnen gefordert und erregt wird.191

Die von Ehlers offenbar mit großer Kunstfertigkeit beherrschten »Schattierungen« beim Vortrag von Strophenliedern lassen sich trotz Reichardts Hinweis indes nicht ohne weiteres durch die der Deklamationskunst gewidmeten Paragraphen in den Regeln für Schauspieler192 erhellen, da diese weniger die Nuancen einer hohen Kunst beschreiben, als pragmatische Hinweise bezüglich der in Goethes Augen obligatorischen sprechkünstlerischen Ausbildung des Bühnendarstellers liefern wollen. Am Anfang steht hier insofern zunächst lediglich die akkurate Aussprache ohne jegliche stimmkünstlerische Ambition: So wie in der Musik das richtige genaue und reine Treffen jedes einzelnen Tones der Grund alles weiteren künstlerischen Vortrags ist; so ist auch in der Schauspielkunst der Grund aller höheren Rezitation und Deklamation die reine und vollständige Aussprache jedes einzelnen Worts.193

Während die zeitgenössischen Deklamationslehren den Begriff der ›Deklamation‹ zumeist als sprechkünstlerischen Universalbegriff verstanden, sah Goethe in den 190 191 192

193

Wolfgang von Goethe. Lyrik und Musik, hg. von Manfred Jung, Frankfurt a. M. 2002, S. 43‒ 66. Goethe, Musikalische Nachrichten und Anmerkungen (1770), in: Ephemerides, zitiert nach MA, Bd. 1.2., S. 522. Goethe, Tag- und Jahreshefte, MA, Bd. 14, S. 65. Goethe, Regeln für Schauspieler, MA, Bd. 6.2., S. 703‒745. Vgl. insbesondere die schließlich aus Goethes Reflexionen hervorgegangenen Paragraphen 18‒30 (Rezitation, Deklamation, Rhythmischer Vortrag), S. 729‒734. Goethe, Regeln für Schauspieler, S. 726, § 3.

3.3 Körper und Stimme

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Regeln die Unterscheidung in die drei bzw. vier Vortragsmodi »Lesen«, »Rezitieren«, »Deklamieren« und »rhythmischer Vortrag« vor, womit eine fortwährende Veränderung sowohl des Stimmgebrauchs als auch der inneren Haltung des Vortragenden einhergehen sollte. Der Schauspieler sollte durch Sensibilisierung für die verschiedenen Ebenen des sprachlichen Vortrags Differenzierungsfähigkeit und Kontrolle hinsichtlich der eigenen sprechkünstlerischen Darbietung erlangen. Es kam dann allerdings grundsätzlich auf die Gattung und Stilhöhe der Dichtung an, welchen Vortragsmodus sie erforderte. So kam für die dramatische Darstellung auf der Bühne in erster Linie die »Deklamation« im engeren Sinne in Frage, bei der der Darsteller idealiter die eigene Individualität gleichsam ausblenden sollte: Hier muss ich meinen angeborenen Charakter verlassen, mein Naturell verleugnen und mich ganz in die Lage und Stimmung desjenigen versetzen, dessen Rolle ich deklamiere. Die Worte welche ich ausspreche müssen mit Energie und dem lebendigen Ausdruck hervorgebracht werden, so daß ich jede leidenschaftliche Regung als würklich gegenwärtig mit zu empfinden scheine. 194

Bei der »Rezitation« hingegen sollte der Vortragende noch als Privatperson wahrgenommen werden: »Er ändert seinen eigentümlichen Charakter nicht, er verleugnet sein Naturell, seine Individualität dadurch nicht [...]«.195 Während Goethe also sowohl die »Rezitation« als auch die »Deklamation« vor allem im Kontext der Schauspielausbildung reflektierte, stellten die zeitgenössischen Deklamationslehren dem Schauspieler bzw. dramatischen Bühnenakteur einen eigenen Künstlertypus an die Seite, der in Goethes Sinne grundsätzlich als »Rezitator« angesehen werden muß, wobei zeitweilig die Grenzen zum »deklamatorischen« Vortrag überschritten werden durften. Wie der Schauspieler indes zu versuchen, eine Figur im engeren Sinne zu ›verkörpern‹, würde, wie etwa Kleists nachmaliger Deklamationslehrer Heinrich August Kerndörffer betont, »die Grenzen seiner Kunst weit überschreiten.«196 Auch der Liedgesang als spezifisch ›sprechtonkünstlerische‹ Disziplin der Präsentation lyrischer Dichtung läßt sich vor diesem Hintergrund überwiegend im Kontext lyrischer »Rezitation« verorten – so wie diese Vortragsart zuweilen etwa auch für lyrische Stellen im Drama im Sinne eines »antiillusionistischen Korrigens« verwendet wurde. 197 Vertonungen, die – wie etwa Reichardts explizit als Deklamationen bezeichnete Kompositionen – darüber hinaus den ›deklamatorischen‹ Vortragstil einforderten, bildeten eher die Ausnahme. Goethe betonte mit Blick auf Ehlers’ Vortragskunst zwar, der Sänger verstehe es, »die Pflicht des Lyrikers und Epikers zugleich zu erfüllen«, wies allerdings im gleichen Atemzug auf die Notwendigkeit des Erhaltens eines »allgemein lyrischen Charakters« hin, der, wie beschrie 194 Goethe, Regeln für Schauspieler, S. 730, § 20. 195 Goethe, Regeln für Schauspieler, S. 729, § 19. 196 Heinrich August Kerndörffer, Handbuch der Deklamation. Ein Leitfaden für Schulen und den Selbstunterricht zur Bildung eines guten rednerischen Vortrags. Erster Theil, Leipzig 1813, S. 30f. 197 Kühn, Sprech-Ton-Kunst, S. 63.

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ben wurde, auch mit einer entsprechenden produktionsästhetischen Strategie korrespondierte, die bereits Reichardt exemplarisch 1780 formuliert hatte: Meine Melodien entstehen jederzeit aus dem wiederholten Lesen des Gedichts von selbst, ohne daß ich darnach suche, und alles, was ich weiter daran thue, ist dieses, daß ich sie so lang mit kleinen Änderungen wiederhole, und sie nicht eh’ aufschreibe, bis ich fühle und erkenne, daß der grammatische, logische, pathetische und musikalische Akzent so gut einander verbunden sind, daß die Melodie richtig spricht und angenehm singt, und das nicht für eine Strophe, sondern für alle.198

Auffällig an den Regeln für Schauspieler bleibt indes, daß sie keinerlei expliziten Bezug zur Materialität der Stimme herstellen199 und damit eine Anwendung auf die Gesangskunst durchaus nicht selbstverständlich erscheinen lassen. Angesichts der von Reichardt selbst herausgestellten Zusammenarbeit von Goethe und Ehlers wird aber deutlich, daß die ›unmittelbare‹ Expressionskraft des singenden Körpers hier offenbar durch einen in Goethes Sinne vornehmlich »rezitierenden« Vortragsmodus in Richtung einer nuancierten Textausdeutung erweitert werden sollte, die der Dichter offenbar von der rein sprechkünstlerischen Darbietung auf den Gesangsvortrag übertragen wissen wollte. Dieses die Dimension des Performativen in hohem Maße einbeziehende Konzept lieferte letztlich die Basis für Goethes poetologische Begründung eines Festhaltens am Modell des Strophenliedes:200 Jede Strophe sollte mit je unterschiedlichen Ausdrucksnuancen ihre eigene Plastizität durch den Vortrag erhalten. In der Vorerinnerung zur Leipziger Ausgabe einer von Ehlers zusammengestellten Liedersammlung betont der Sänger: Je einfacher aber eine Melodie ist, desto schwerer ist es für den Sänger, ohne Sinn und Gefühl verdrängende Künsteleien [...] diejenige Mannigfaltigkeit in den Vortrag zu bringen, wodurch die Einfachheit vor Einförmigkeit bewahrt und die Theilnahme des Zuhöreres erweckt wird. [...] Ein reiner, gehaltener Ton, [...], eine durch die wechselnden Empfindungen begründete Modulation der Stimme (die nicht blos in der Abwechslung des piano und forte besteht) ein schärferes oder gelinderes Betonen der Wörter oder Sylben und dergleichen mehr, sind hinreichende Mittel, dem einfachsten Gesange Mannigfaltigkeit und anziehendes Interesse zu geben.201

Die hier von Ehlers ausgeführten Gedanken zur künstlerischen Modulation der Stimme stehen aber auch in Zusammenhang mit einer umfassenderen bereits angedeuteten Entwicklung, die sich zum Ende des 18. Jahrhunderts immer mehr zu entfalten begann: Im Kontext einer zeitgenössischen Diskussion um die Physiognomik der Stimme vollzog die Deklamationskunst einen allmählichen Wandel »von der

198 Reichardt im Vorwort zu: Oden und Lieder, Berlin 1780. 199 Vgl. auch Bettina Hey’l, Goethes und Zelters Reflexionen, S. 189f. 200 Vgl. dazu vor allem Heinrich W. Schwabs Beschreibung des zeitgenössischen Liedvortrages als »Brücke zwischen Strophenlied und Durchkomposition« und die genannten einschlägigen Quellen in: ders., Musikalische Lyrik im 18. Jahrhundert, S. 388‒393. 201 Johann Wilhelm Ehlers, Vorerinnerung, in: Lieder mit Begleitung der Guitarre oder des Pianoforte, Leipzig [1817], zitiert nach Busch-Salmen, »Er war unermüdet im Studiren des eigentlichsten Ausdrucks«, S. 142.

3.3 Körper und Stimme

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klassischen Redeübung oder Einstudierung eines Monologs zur Kunst der Versinnlichung des Schriftlichen, und zwar vorzüglich von Poesie.«202 Basierend vor allem auf den Impulsen des Leipziger Sprachgelehrten und Deklamationslehrers Christian Gotthold Schocher (1736‒1810)203 entstanden zahlreiche Anweisungen zum mündlichen Vortrag von Gedichten, und es bildete sich ein Diskurs heraus, der ausführlich der Frage, wie die Kunst der Deklamation den sprachlichen Sinn gleichsam in ein ›Lautwerden der Seele‹ überführen solle, nachging. Die Deklamation bezog sich nach dieser Auffassung nicht mehr in darstellender Absicht auf den gedachten Gegenstand selbst, sondern »auf den vollkommenen, richtigen, deutlichen und schönen Ausdruck gewisser Empfindungen oder der jedesmahligen Gemüthsstimmung« wie etwa Kerndörffer 1813 formuliert.204 Bereits in den 1790er Jahren hatte Christian Gottfried Körner gar eine Abhandlung veröffentlicht, in der er die Deklamationskunst im Kontext klassizistischer Ästhetik verhandelt: Als Medium des Idealisch-Kunstschönen verortet Körner sie im Kontext seines Begriffs der »Charakterdarstellung«, den er 1795 in Schillers Horen auch in Bezug auf die Musik expliziert.205 Das abstrakte Denkmodell des »Charakters« repräsentiert für Körner eine den Menschen gemeinsame Kommunikationsebene, die letztlich auf die verloren gegangene Einbindung in einen universal gedachten Weltzusammenhang verweise. Die Deklamation wie die Musik wurden insofern hier vor einem anthropologischen Hintergrund in eine »Ästhetik der Repräsentanz idealer Menschheit durch Kunst« eingebunden.206 Die Verbindung von Musik und Deklamation auf der Ebene eines gemeinsamen expressiven Potentials führte auch dazu, daß Versuche unternommen wurden, die Kunst des Sprechens gleichsam als genuin musikalisches Phänomen zu erklären und auszuformen. Ein Protagonist dieser Bestrebungen war etwa Gustav Freiherr von Seckendorff, der von 1808 bis 1811 unter dem Pseudonym Patrik Peale ausgedehnte Tourneen als Deklamator und Attitüdendarsteller unternahm und ab 1812 als Professor für Philosophie und Ästhetik am Karolinum Braunschweig lehrte.207 In seinen ab 1806 gehaltenen und 1816 veröffentlichten Vorlesungen über Deklamation und Mimik unternimmt Seckendorff den Versuch, über eine physikalische Argumentationslinie den Übergang von Sprechen und Singen systematisch aufzulösen, wobei musikaffine klangliche Momente der gesprochenen Sprache außerhalb des zeitgenössischen Musikbegriffs verortet werden. Er verfängt sich indes, wie Ulrich Kühn treffend herausstellt, in den Prämissen eben dieses Musikbegriffs, wenn er letztlich eingesteht: 202 203 204 205

Kohlhäufl, Die Rede – ein dunkler Gesang, S. 148. Zu Schocher vgl. ausführlich ebd., S. 142‒146. Kerndörffer, Handbuch der Deklamation, S. 7. Vgl. Christian Gottfried Körner, Über Charakterdarstellung in der Musik, in: Die Horen 5 (1795), S. 97ff. 206 Kohlhäufl, Die Rede – ein dunkler Gesang, S. 161. 207 Zu Seckendorff vgl. Johannes Tütken, Privatdozenten im Schatten der Georgia Augusta. Zur älteren Privatdozentur (1734 bis 1831), Teil 2: Biographische Materialien zu den Privatdozenten des Sommersemesters 1812, Göttingen 2005, S. 906‒915.

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3 Bürgerliche Kunstliedkultur um 1800 Man hat zeither der Sprache ganz anders gestaltete Töne, als dem Gesange zugeschrieben, weil man nur sogenannte halbe Töne zu singen vermag, während die Sprache weit zartere Verhältnisse berührt, eine weit reichere Oktave besitzt, und deshalb weit weniger Oktaven bedarf um das Gemüth zu enthüllen.208

Kühn macht darauf aufmerksam, daß Seckendorfs These, die Singstimme vermöge angeblich nur Halbtonabstände zu erfassen, gerade nicht die naheliegende naturwissenschaftliche Argumentation einer natürlichen Basis des Tonsystems in der Obertonreihe nutzt, sondern mit der (fragwürdigen) Begründung, daß »die mehrere Anstrengung beim Gesange unsere Gewalt über die Organe schmälert«209 auf eine rein physiologische Begründung der Differenz zwischen Sprechen und Singen abhebt, wodurch ihre Überwindung letztlich nur im Bereich der ästhetischen Reflexion möglich ist.210 Die hier immer wieder umrissene Grauzone zwischen Singen und Sprechen wird auch in anderen Deklamationslehren durchgehend thematisiert, das Ergebnis eines ›singenden‹ Sprechstils jedoch durchweg abgelehnt, da in der Praxis offenbar sehr häufig gerade diese Umsetzungsweise zustande kam.211 Die konkrete klangliche Realisierung einer ›Musik des Sprechens‹, dessen systematische Beschreibung in den Deklamationslehren geleistet werden sollte, bleibt insofern wenig konkret. Auf einer grundsätzlichen Ebene läßt sich aber zusammenfassen: Die hier angesprochenen Musikalisierungstendenzen, die die zeitgenössische Deklamationstheorie und -praxis seit etwa 1800 aufwies, rekonzeptualisierten die Deklamation im Sinne einer empfindsamen Ausdruckskunst, wobei der klangästhetische Eigenwert eines modulationsreichen gesprochenen Vortrages, wie auch Goethe ihn in bestimmten Maßen favorisierte, immer stärker betont wurde. Damit lehnte sich die Deklamationskunst letztlich an die zeitgenössische musikästhetische Auffassung einer unmittelbaren Gefühlssprache an, ja überbot diese nach manch zeitgenössischem Urteil gar hinsichtlich der Differenzierungsmöglichkeiten: »Das Verdienst der schönen menschlichen Rede übertrifft weit das des Gesangs. [...] seine Abwechslungen und Mannigfaltigkeiten sind für das Gemüth unzählig. [...].«212 Für Goethe wird dabei der Begriff der Deklamation in spezifischer Weise zur intermedialen Nahtstelle zwischen Sprache und Musik, weshalb er ihn in seinen Regeln für Schauspieler als »prosaische Tonkunst« bezeichnete, die auch während des Liedvortrags eine Verbindung zur ›poetischen Tonkunst‹ Musik schaffen konnte:

208 Gustav von Seckendorff, Vorlesungen über Deklamation und Mimik, Braunschweig 1816, S. 56. 209 Ebd. 210 Vgl. Kühn, Sprech-Ton-Kunst, S. 74. 211 Vgl. Eva Morschel-Wetzke, Der Sprechstil der idealistischen Schauspielkunst in der 1. Hälfte des 19. Jahrhunderts, Emsdetten 1956, S. 44f. 212 Karl Ludwig von Knebels Briefwechsel mit seiner Schwester Henriette, Jena 1858, S. 454, zitiert nach Busch-Salmen, »Er war unerdmüdet im Studiren des eigentlichsten Ausdrucks«, S. 133.

3.3 Körper und Stimme

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Man könnte die Deklamierkunst eine prosaische Tonkunst nennen, wie sie denn überhaupt mit der Musik sehr viel Analoges hat. Nur muß man unterscheiden, daß die Musik, ihren selbsteigenen Zwecken gemäß, sich mit mehr Freiheit bewegt, die Deklamierkunst aber im Umfang ihrer Töne weit beschränkter und einem fremden Zwecke unterworfen ist.213

Trotz des beschriebenen, später auch durch Nägeli wahrgenommenen Prozesses einer die Materialität des Vokalen stärker betonenden »Subjektivisierung« in der »Liederkunst«, die mit Blick auf die produktionsästhetische Ebene durchaus kontrovers diskutiert wurde214, sah Goethe mit Blick auf den Liedvortrag allerdings grundsätzlich die Ausrichtung am literarischen Text als maßgeblich an. Es verrät in der Tat eine starke Einflußnahme wenn der Sänger Ehlers in der Vorerinnerung zu einer ersten selbst herausgegebenen Liedersammlung 1817 sogar auf der Ebene stimmlicher Nuancierung die Autorität des Dichters in den Vordergrund rückt: Wen[n] der Vortrag eine Folge der innigen Bekanntschaft mit dem Ausdruck und Gefühl des Dichters ist, so variiert derselbe nach Situation und Leidenschaft von selbst, und es ist zur größeren Verständlichkeit nur nöthig, die Worte mit richtiger Deutlichkeit auszusprechen und eine präcise Skansion der Versart zu beachten.215

In Auseinandersetzung mit dem Dichter, so Ehlers, entstehe die individuelle Nuancierung gleichsam von selbst – der mit Goethe »eigentlichste Ausdruck« blieb der Maßstab auch für die individuelle Ausformung. Wie diese Prämissen in der künstlerischen Praxis umgesetzt werden sollte, verdeutlicht der in vortragspraktischen Fragen von Goethe autorisierte Sänger, indem er etwa in einer Vertonung von Goethes Rattenfänger eine Art Aufführungsprotokoll der verschiedenen Strophenvarianten darlegt. Daran wird vor allem deutlich, daß es ihm (und Goethe) offenbar grundsätzlich auf dem Text jeweilig angepaßte veränderte Ausdruckshaltungen ankam (markiert durch entsprechende Vortragsbezeichnungen), die zugleich Auswirkungen auf die Textur der begleitenden Gitarrenstimme haben durfte. Einige Details der Gesangsstimme deuten außerdem an, in welchem rhythmischen Rahmen sich die Deklamation verändern konnte216, die so häufig in den dargestellten Diskursen betonten stimmlichen und deklamatorischen Nuancierungen waren indes, wie an diesen Beispielen besonders deutlich wird, gerade nicht im Notentext fixierbar. 213 Goethe, Regeln für Schauspieler, S. 730, § 21. 214 Christian Daniel Friedrich Michaelis betont etwa in Reichardts Berlinischer Musikzeitung ostentativ die uneingeschränkte wirkungsästhetische Übermacht der Musik beim gesungenen Vortrag: »Im Gesang ist die Rede den Gesetzen der Musik ganz unterthan, und nicht bloßes Verstehen der Gedanken, sondern Rührung des Herzens und Belebung der ästhetischen Einbildungskraft mittelst der Melodie der Rede, mittelst ihrer musikalischen Form, Hauptabsicht, zu welcher sich der logische Sinn des Wortes nur wie Nebenzweck oder entferntes Mittel verhält.« (Michaelis, Einige Gedanken über Deklamation, in: Berlinische Musikzeitung 1, Reprint Hildesheim S. 113f. Busch-Salmen weist darauf hin, daß Reichardt offenbar in der Berlinischen Musikzeitung dieser kontrovers geführten Diskussion ein Forum verschaffen wollte. 215 Ehlers, Vorerinnerung [1817], zitiert nach Busch-Salmen, »Er war unermüdete im Studiren des eigentlichsten Ausdrucks«, S. 139. 216 Das Beispiel findet sich abgedruckt bei Busch-Salmen, Goethes »Demodokos«, S. 59f.

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3 Bürgerliche Kunstliedkultur um 1800

Goethes uneingeschränkte Betonung einer Autorität des dichterischen Textes bei gleichzeitiger Forderung performativer Nuancierung verweist aus heutiger Perspektive auf eine typische Aporie, auf die abschließend der Blick gelenkt werden soll. Zunächst läßt sich allein aus der Perspektive der Deklamationskunst mit Johann Nikolaus Schneider konstatieren: Einerseits soll die Deklamation [...] eine alternative Ebene des poetischen Textes, bzw. der Rede aufzeigen. Sie soll dessen Körperlichkeit, die in der Schrift nicht zum Ausdruck kommt, betonen und – im Gegensatz zu den schriftvermittelten Inhalten und Gedanken – Töne, Affekte und Leidenschaften hervorkehren. Doch andererseits unterwirft die [...] Methode, ›dass man nie etwas deklamiere, bevor man es ganz durchdacht‹ die Deklamation der Autorität des geschriebenen Textes. Dieser enthält unabhängig von seiner Artikulation eine verbindliche Sinnebene, die der aufmerksame Leser ermitteln kann, und an der er seine Deklamation auszurichten hat.217

Überträgt man diese Gedanken auf den hier eingehender dargestellten Kontext einer Konstellation von Deklamationskunst und Liedvortrag wird nochmals deutlich, in welchem Maße auch diejenigen Lizenzen, die dem empfindsamen Liedvortrag zugeschrieben wurden, zeitgebundenen Einschränkungen unterlagen: Die grundsätzlich denkbare Möglichkeit einer Modfikation oder gar Umdeutung des Textsinns durch den Ausdruck des Vortrags oder gar dessen vollständige Autonomisierung gegenüber der Ebene sprachlicher Semantik, wie sie die moderne Theorie der Performativität gerade in Bezug auf die Stimme seit dem Naturalismus herausstellt218, ist hier, wie man betonen muß, grundsätzlich gerade nicht mitgedacht. Dies hätte sich sowohl gegen die beschriebene Idee des »natürlichen Charakters« als auch gegen den durch die musikalisierte Deklamation repräsentierten humanistisch grundierten Harmoniebegriff gewendet.219 So betont der Hallenser Rhetorikprofessor Johann Gebhard Ehrenreich Maaß ausdrücklich, daß ›schöne‹ Deklamation »immer natürlichen Ausdruck [...] nämlich natürliche Zeichen von einem vorhandenen Zustande des Redenden« enthalte und somit »die Gedanken einer Rede [...] mit der Natur des redenden Subjekts [...] einstimmig« zu sein hätten.220 Für eine eng an die Deklamationskunst angelegte Liedvortragskunst, wie sie hier als spezifische künstlerische Disziplin vor allem mit Blick auf die Liedpraxis im Umkreis Goethes beschrieben wurde, galt insofern, daß der gesungene Ton, sollte er als Funktion der lyrischen Dichtung begriffen werden, durch die in den ästhetischen Diskursen entwickelten Prämissen gleichsam intellektuell umgewertet werden mußte, um nicht letztlich doch der wirkungsästhetischen Dominanz der Musik zu unterliegen, der gerade Goethe sich vollauf bewußt war. In jedem Fall aber wird aus einer zeitgenössischen Perspektive durch die hier skizzierte Begegnung von Liedgesang und Deklamationskunst deutlich, wie sich innerhalb der bürgerlichen Liedkultur etwa Berlins und Weimars eine die Ideen und 217 218 219 220

Schneider, Ins Ohr geschrieben, S. 189. Vgl. Fischer-Lichte, Ästhetik des Performativen, S. 219‒227. Vgl. Kohlhäufl, Die Rede – ein dunkler Gesang, S. 148ff. Johann Gebhard Ehrenreich Maaß, Grundriß der allgemeinen und besonderen reinen Rhetorik, Halle/ Leizig 1798, S. 115, zitiert nach Kohlhäufl, Die Rede – ein dunkler Gesang, S. 149f.

3.4 »Liederkunst« zwischen Empfindsamkeit und Romantik

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Ideale der literarischen und musikalischen Autonomieästhetik adaptierende performative künstlerische Disziplin herausbildete, die eindringlich darauf verweist, auch die mit dieser Praxis in Wechselwirkung stehenden Liedkompositionen nicht lediglich als unterentwickelte Vorläufer des im zweiten Viertel des 19. Jahrhunderts durch Franz Schubert aus der Taufe gehobenen ›romantischen Kunstliedes‹ zu rubrizieren.

3.4 »LIEDERKUNST« ZWISCHEN EMPFINDSAMKEIT UND ROMANTIK Zum bis hierhin aus der Perspektive musikalischer bzw. kultureller Praxis entworfenen Panorama einer ›empfindsamen‹ bürgerlichen Kunstliedkultur des späteren 18. und beginnenden 19. Jahrhunderts gehören auch die bislang nicht ins Blickfeld geratenen Einflüsse auf die Liedkomposition und Liedaufführungspraxis durch die ›romantische‹ Kunsttheorie. Die sich auf literarischer Ebene herausbildende romantische Musikästhetik 221 koinzidierte aus der Perspektive kultureller Praxis betrachtet mit den ›empfindsamen‹ Liedkompositionen des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts und bezog sie insofern auch z. T. in ihre Reflexionen ein. Die mit dem traditionellen Liedideal verbundenen ästhetischen Diskurse des späten 18. Jahrhunderts blieben auch nach 1800 weiterhin extrem präsent – das Paradigma der ›Sangbarkeit‹ sollte letztlich die kulturelle Substanz für die Entwicklung der Gattung im Sinne einer »historisch valide[n] produktions- und rezeptionsleitende[n] Norm« über das gesamte 19. Jahrhundert (und darüber hinaus) bilden.222 Allerdings erfuhr es im ›romantischen‹ Kontext eine Umwertung: Im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts schlugen Lyrik und Liedvertonung endgültig getrennte Wege ein. ›Singen‹ interessierte hier auf dichterischer Seite immer weniger als von Menschen hervorgebrachter realer Klang; ›Gesang‹ verblieb vielmehr als poetische Chiffre im Bereich des Imaginären um gerade jenseits der Wortsprache liegende Bedeutungen beschreibbar zu machen und somit das »Das Unsagbare dennoch sagen« zu können.223 Die romantische Dichtung erschwerte so aber auch eine nach den traditionellen Idealen verfertigte Textvertonung. Hans Georg Nägeli beklagt 1811 bzw. 1817 etwa in spätaufklärerischem Impetus die Gefahren einer zu stark ›individualisierenden Dichtung‹ der neueren Zeit. Die mit Kant und Schiller aufgerufene literarische Autonomieästhetik als repräsentativer Hintergrund für das kulturelle Selbstverständnis eines gebildeten Bürgertums implizierte nämlich für Nägeli durchaus, daß die mit der Dichtkunst verwobene »Liederkunst« weiterhin moralischen und gesellschaftlichen Ansprüchen gerecht werden müsse, und er wertet es als »grobes Miss 221 Zur Herausbildung der romantischen Musikästetik als literarischem Phänomen im Sinne eines gezielt entwickelten »Medientransfers« vgl. Thorsten Valk, Literarische Musikästhetik. Eine Diskursgeschichte von 1800 bis 1950, Frankfurt a. M. 2008. 222 Krämer, ›Lied‹ oder ›Musikalische Lyrik‹?, S. 83. 223 Valk, Literarische Musikästhetik, S. 19ff.

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3 Bürgerliche Kunstliedkultur um 1800

verständnis der Kant-Schillerschen Kunstphilosophie«, wenn in der jüngeren romantischen Dichtergeneration »das reinmenschliche Selbstgefühl auf Kosten des höher Menschlichen veredelt« werde: Die Früchte einer solchen Cultur liegen in den Producten der neuesten Poesie vor Augen. Es wären genug junge Dichter zu nennen, die so sich in Schwärmerey verloren, die ihre eigne Künstlerindividualität eingebüßt haben. Zum Glück hat diese Schwärmerey auf die Tonkünstler nicht verderblich gewirkt, weil sie ihr nicht folgen können; ja es ist merkwürdig, und ganz in der Ordnung, dass die Götheschen Gedichte fast unzählige Bearbeiter fanden, die Tiekschen schon minder, und unter diesen die am wenigsten, die kein bestimmtes Thema haben, hingegen kaum ein Musiker sich bemüht hat, von den tausend seither erschienenen Windsonetten und anderen Liedelyen der sogenannten Romantiker auch nur einige Töne festhalten.224

Nägelis Bewußtsein einer nach seiner Auffassung künstlerisch defizienten, weil sich in »Schwärmereyen« verlierenden, literarischen Romantik scheint letztlich mit dem postulierten Fortentwicklungsprozeß der »Liederkunst« unvereinbar. Deren 1817 als theoretisches Projekt entworfene »vierte Epoche«, die Nägeli als konsequente Steigerungsstufe seiner gattungsgeschichtlichen Bilanz anfügt, überrascht vor diesem Hintergrund zunächst: Die explizite Formulierung eines Ideals der »Polyrhythmie«, die eine noch unerreichte stärkere Verschmelzung der Ebenen Sprache und Musik herbeiführen und durch die musikalische ›Idealisierung‹ des Gedichts »ihre Verbindung zu einem höheren Kunstganzen« 225 bewirken würde, scheint nämlich gerade mit den Konzepten der romantischen Literaturtheorie zu korrespondieren: Keine andere als Franz Schuberts Liedästhetik werde hier, obgleich Nägeli dessen Lieder nicht gekannt habe, etwa nach der weithin bestätigten Ansicht Walther Dürrs im theoretischen Entwurf geradezu antizipiert. 226 Auch wenn Nägelis theoretischem Modell also derart visionäre Züge zugeschrieben wurden, bleibt zu betonen, daß aus der Perspektive seines letztlich aufklärerisch-empfindsam grundierten pädagogischen Denkens die unter dem Aspekt der Erweiterung beschriebenen Desiderate an eine zukünftige »Liederkunst« sogleich durch eine moralisch motivierte Mahnung zur Beschränkung kompensiert werden. Sie bleiben vielmehr ästhetisch eher einer klassizistisch anmutenden Position verpflichtet, die den Gedanken des künstlerisch veredelten Elementaren in den Mittelpunkt stellt.227 Eben diese Mischung aus Komplexität und Beschränkung sah Nägeli indes noch 1826 (als Schuberts Lieder bereits eine gewisse überregionale Bedeutung erlangt hatten) letztlich bleibend eher in Liedern eines Johann Peter

224 Nägeli, Historisch-Kritische Erörtungen (1811), Sp. 646f. 225 Nägeli, Die Liederkunst (1817), Sp. 765. 226 Vgl. etwa Walther Dürr, Das deutsche Sololied im 19. Jahrhundert, Wilhelmshaven 1984, S. 15‒23. Dürr diskutiert Nägelis theoretisches Prinzip der »Polyrhythmie«, das er in Schuberts Liedkompositionen exemplarisch verwirklicht sieht, im Kontext von August Wilhelm Schlegels Idee der romantischen Potenzierung und Friedrich Schlegels Prinzip der poetischen Reflexion. 227 Nägeli, Die Liederkunst (1817), Sp. 766f.

3.4 »Liederkunst« zwischen Empfindsamkeit und Romantik

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Abraham Schulz »und seiner Kunstverwandten« verwirklicht.228 In seinen Vorlesungen über Musik mit Berücksichtigung des Dilettanten betont der Musikpädagoge die Bedeutung des Liedes im Kontext bürgerlicher Musikerziehung und in Zusammenhang mit einem sich immer stärker herausbildenden nationalen Kunstbegriff: Am Lied als an dem Kind der Kunst, hat auch das Menschenkind sich zu bilden. Kein Menschenkind kann die leidenschaftslose Unschuld des Gemüts, kann hier das ästhetische Zartgefühl sich erhalten, das nicht am einfachen Liede sich herausgebildet hat und auch in höherm Kunstleben immer noch sich damit befasst. Hier, wie nirgends, ist die Kunst im Kleinen groß, im Kleinen vollendet. Hier muss, wenn unsere deutsche Kunst sich verfeinern, vergeistigen, veredeln soll, die Liederkunst Schulzens und seiner Kunstverwandten erst noch recht ins Leben kommen. Die derartige Singkunst des 18. Jh. muss nunmehr pädagogisch genommen der Triumph der Neuen werden.229

Die literarisch determinierte Qualität des ›Romantischen‹ wurde auf der anderen Seite aber auf unterschiedliche Weisen von der Liedkultur des frühen 19. Jahrhunderts überblendet, ohne daß hier Widersprüche wahrgenommen wurden. Einige prominente Äußerungen E.T.A. Hoffmanns zur Liedkomposition lassen sich etwa als Beispiel für die eigentümliche Konstellierung romantischer Literaturtheorie und empfindsam geprägter musikalischer Liedpraxis heranziehen: Von dem tiefen Sinn des Liedes angeregt muß der Komponist alle Momente des Affekts wie in einem Brennpunkt auffassen, aus dem die Melodie hervorstrahlt, deren Töne dann, so wie in der Arie die Worte symbolische Bezeichnung des innern Affektes wurden, hier das Symbol aller verschiedenen Momente des innern Affekts sind, die des Dichters Lied in sich trägt. [...] 230

Obgleich der selbst komponierende Hoffmann hier im Rahmen einer Rezension von Liedern Friedrich Wilhelm Riems seine Version der traditionellen Forderung nach einer Einheit des Affekts im Strophenlied formuliert, scheint gerade die sprachliche Einkleidung dieser ästhetischen Prämisse ein Eigenleben zu beanspruchen: Die 228 Schuberts Lieder waren Nägeli um 1817 offenbar noch nicht bekannt. Bis 1825 hatte Nägeli Schubert allerdings in jedem Fall als Klaviermusikkomponist registriert und 1826 sogar gegenüber Czerny geäußert, einige von Schuberts Kompositionen in die von ihm projektierte Sammlung Musikalische Ehrenpforte aufnehmen zu wollen. Dies unterblieb indes offenbar, da Schubert auf diese Offerte mit einer Honorarforderung reagierte. Vgl. Margret Jestremski, Art., Nägeli, Hans Georg, in: SE, S. 510. 229 Hans Georg Nägeli, Vorlesungen über Musik mit Berücksichtigung des Dilettanten, Stuttgart/Tübingen 1826, S. 257 ff. Diese Quelle findet sich mit Verweis auf ein in der Wiener Universitätsbibliothek vorhandenes Exemplar der Vorlesungen ebenfalls unter den SchubertDokumenten: vgl. Dok II, Nr. 366. Ernst Hilmar vermutet gleichwohl, daß Nägeli Schubert als Liederkomponist unbekannt geblieben sein dürfte. Vgl. ebd./Kommentarband, S. 176f. Schließlich äußert sich Nägeli auf unmißverständliche Weise, wenn er in seinem 1834 abgeschlossenen gesangspädagogischen Entwurf Die Individual-Bildung nicht ohne Polemik Kritik an der zeitgenössischen Liedkomposition übt: »Die gute Mignon und das arme Gretchen, die nun alte Jungfern geworden sind, werden immer wieder, mit neuen Lappen umhängt, neumodisch zugesetzt, und gerade die vielvermögenden Componisten wie Schubert und Löwe übertreiben ihre Kunst am weitesten.« Nägeli, Die Individual-Bildung, S. 13. 230 Rezension der Zwölf Lieder alter und neuer Dichter op. 27 von Friedrich Wilhelm Riem, in: E.T.A. Hoffmann, Sämtliche Werke in sechs Bänden, Bd. 2/2, hg. von Hartmut Steinecke, Frankfurt a. M. 1988, S. 362.

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energetisch aufgeladene Metaphorik – die Idee des »Brennpunkts«, die Umwandlung der Melodietöne in einen Lichtstrahl, der wiederum in verschiedene Einzelmomente zerfällt, die sich doch zu einem Ganzen »des inneren Affekts« vereinigen – all dies scheint letztlich in seiner typisch ›romantischen‹ Verquickung von physikalischen und poetischen Phänomenen das in erster Linie von sozialer Pragmatik bestimmte Gebilde eines zeitgenössischen Strophenliedes durch Öffnung ins Metaphysische gleichsam zu überbieten. Gerade mit der Akzentuierung der Aufspaltung des Hauptaffekts in »verschiedene Momente« erscheint das Prinzip der Stimmungseinheit sogar in gewisser Weise konterkariert bzw. ins Licht des romantischen Spannungsfeldes zwischen Fragment und Allbezüglichkeit gesetzt. Damit befindet sich Hoffmann allerdings bereits auf dem Weg zu einer medialen Transformation, die die aktuelle produktionsästhetische Frage einer adäquaten Koordination von Dichtung und Musik im Sinne einer ›Ver-Tonung‹ hinter sich läßt. Wenngleich Hoffmanns Äußerungen aus nachträglicher Sicht von Inkongruenzen zwischen literarischen Visionen und konkreter musikalischer Erfahrungswelt zu zeugen scheinen, bieten sie auch ein Beispiel dafür, wie sich im zeitgenössischen Bewußtsein die Liedästhetik des 18. Jahrhunderts durchaus in Konzepte des ›Romantischen‹ integrieren ließ. Nägelis pauschalisierende Kritik an der literarischen Romantik läßt etwa außer Acht, daß Herders, gerade die für die Liedästhetik des späten 18. Jahrhunderts zentrale, Konzeption der ›Naturpoesie‹ auch ein wichtiger Bezugspunkt für die Entwicklung der romantischen Dichtung wurde: Das Interesse Herders für die psychische Dimension des Menschen und die Geheimnisse der Seele legte aus Sicht der Romantiker auch Möglichkeiten offen, in ein metaphysisches Terrain abzugleiten.231 Das imaginierte bzw. idealisierte ›Volkslied‹ repräsentierte vor solchem Hintergrund für die junge Romantikergeneration die Möglichkeit, eine unerreichbar gewordene naive Kulturstufe auf dem Weg der Kunst zurückzuerlangen, wobei den aktuell greifbaren Vertonungen eine wichtige Rolle zugewiesen wurde. Der Impuls zu Arnims und Brentanos 1806 veröffentlichter Volksliedsammlung Des Knaben Wunderhorn findet sich etwa, wie Jörg Krämer betont, in einer Art »Sprach-Sing und Musikschule«.232 Die einfachsten Melodien von Schulz, Reichard, Mozart u. a. werden durch eine neuerfundene Notenbezeichnung mit den Liedern unter das Volk gebracht, allmählig [sic!] bekommt es Sinn und Stimme für höhere und wunderbare Melodien. Dies befördert insbesondere die Schule in der Bildung guter Bänkelsänger für das Land und die kleineren Städte und für die niedern Stände in den grösseren Städten.233

231 Vgl. Jane K. Brown, In the Beginning was Poetry, in: The Cambridge Companion to the Lied, S. 20. 232 Vgl. Jörg Krämer, »Eine Singschule der Poesie«. Musikabilität und Medialität in »Des Knaben Wunderhorn«, in: Von Volkston und Romantik. »Des Knaben Wunderhorn« in der Musik, hg. von Antje Tumat und dem Internationalen Musikfestival Heidelberger Frühling, Heidelberg 2008, S. 86. 233 Arnim an Brentano am 9.7. 1802. Vgl. Ludwig Achim von Arnim, Werke und Briefwechsel. Historisch-kritische Ausgabe, hg. von Roswitha Burwick [u. a.], Bd. 31, Tübingen 2004, S. 59 und S. 65f.

3.4 »Liederkunst« zwischen Empfindsamkeit und Romantik

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Sucht man indes nach ›romantischen‹ Qualitäten in den zeitgenössischen Vertonungen selbst, wird eine isolierte Betrachtung des Notentextes kaum weiterführen, da es die Begegnung und gegenseitige Einflußnahme von romantischer Literaturästhetik und empfindsamer Musikkultur zu berücksichtigen gilt, wie sie etwa im Umkreis Johann Friedrich Reichardts zusammenliefen.234 Reichardts bereits an früherer Stelle erwähnte Tochter Louise, die sich dann im Gegensatz zu ihrem Vater vermehrt auch als Liedkomponistin der jüngeren Dichtergeneration (Novalis, Arnim und Tieck) zuwandte, begriff – obgleich auf kompositionsästhetischer Ebene im wesentlichen einer traditionellen Linie folgend – ihre Annäherung an die Liedkomposition als spezifisch ›romantisch‹, wie sie etwa in der Titulatur ihrer 1806 in Berlin erschienenen XII Deutschen und italiänischen romantischen Gesaenge und den 1822 veröffentlichten VII Romantischen Gesängen von Tieck für eine Singstimme mit Pianoforte235 betont. Ausschlaggebend war hier indes die performative Dimension und die Situierung der Liedkompositionen innerhalb der kulturellen Praxis, wie dies von Luises Schwager Heinrich Steffen unter Bezugnahme auf einen bereits im ausgehenden 18. Jahrhundert prominenten landschaftsästhetischen Romantikbegriff236 nachträglich geschildert wird: Ich vergesse nie den gewaltigen Eindruck, den Luise auf mich machte, wenn sie uns in einer waldigen Gegend folgte und, von einfachen Akkorden der Harfe begleitet [...] sang. Die Waldeinsamkeit mit ihrem wunderbaren Zauber ergriff mich, wenn ich sie hörte, und wie eine Waldfee saß sie da, welche die Macht hatte, alle Geheimnisse des Waldes laut werden zu lassen.237

Auch Reichardts eigene 1809 und 1811 veröffentlichte Oden, Balladen und Romanzen auf Texte Goethes238 sind vor allem auf der Ebene der Vortragsbezeichnungen auf eine Verwirklichung des ›Romantischen‹ angelegt, indem sie die empfindsame expressive Vortragshaltung überhöhen und vor allem zahlreiche Affektschwankungen verlangen. Die zum Teil mit dem Titel Deklamation versehenen Stücke animieren den Vortragenden »zu einer dynamischen Gratwanderung zwischen den Genres [...] mit Affektkontrasten und Tempoflexibilität, ganz so wie es der Text erforderte«.239 Einen besonders interessanten, und gewissermaßen radikal ›romantischen‹, da über das rein Assoziative hinausgehenden Weg, der ebenfalls auf der Ebene des 234 Vgl. Walter Salmen, Tieck und die Familie Reichardt. Zur Wirkung romantischer Dichtung auf deren Musik und Musizieren, in: »Laßt uns, da es uns vergönnt ist, vernünftig seyn!« Ludwig Tieck (1773‒1853), hg. vom Institut für deutsche Literatur der Humboldt-Universität zu Berlin [u. a.] 2004, S. 297‒309. 235 Zitiert ebd., S. 308. 236 Vgl. dazu ausführlich Ulrich Tadday, Das schöne Unendliche. Ästhetik, Kritik, Geschichte der romantischen Musikanschauung, Stuttgart/Weimar 1999, S. 13‒40. 237 Heinrich Steffens, Was ich erlebte (Breslau 1842), zitiert nach Moehring, Arnims künstlerische Zusammenarbeit mit Johann Friedrich Reichardt und Louise Reichardt, S. 209. 238 Johann Friedrich Reichardt, Goethes Lieder, Oden etc., hg. von Walter Salmen, München 1970. 239 Einige Beispiele: Geistes-Gruß: »Etwas langsam und schauerlich leise«, Meeresstille, Glückliche Fahrt: »Langsam ohne alle Erhebung der Stimme, halbstark – Etwas lebhaft. Mit wachsender und am Ende voller Stärke«, zitiert nach: Busch-Salmen, Goethes »Demodokos«, S. 55.

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3 Bürgerliche Kunstliedkultur um 1800

Performativen greifbar ist, ging Bettine von Arnim mit ihren Stimmimprovisationen zu einigen Wunderhorn-Texten.240 Ihr ehemaliger Tonsatzlehrer Alois Bihler berichtet: »Selten wählte sie geschriebene Lieder, singend dichtete sie und dichtend sang sie mit prachtvoller Stimme eine Art Improvisation«.241 Lediglich Melodien ohne Takt und Notenwerte wurden aufgeschrieben.242 In diesen Improvisationen sah Bettine offenbar eine Art Gegenentwurf zu dem von ihr abgelehnten bewußt geformten Natürlichkeitsideal der Berliner Liedästhetik. Eine Auffassung, die ihr Bruder teilte – bereits 1805 hatte Clemens Brentano gegenüber Arnim Mißfallen an Reichardts Vertonungsästhetik geäußert: Reichards [sic!] Manier ist mir selbst nicht die liebste, in seiner Einfachheit liegt zuviel Bewusstsein, in seiner Erfindung zuviel Bekanntes, in seiner Unschuld zuviel Absicht, und in all seinen Liedern schwebt er zwischen Volkston und Opernton [...] 243

›Natürlichkeit‹ war, wie Beatrix Borchard festhält, auch für Bettine von Arnim »nicht gleichbedeutend mit Simplizität der musikalischen Struktur, sondern mit spontaner Empfindung.«244 Bettine von Arnim verwirklichte in ihrer besonders konsequent das Moment des Performativen in den Vordergrund rückenden WundhornRezeption somit in durchaus höherem Maße als Reichardt selbst ein letztlich der ästhetischen Konzeption der Sammlung zugrundeliegendes romantisches Ideal: Die lediglich als fragmentarisch bzw. disponibel begriffenen Texte wurden durch sie gleichsam im Akt des eigenen Singens gleichsam ›weitergedichtet‹. Freilich waren auch Arnims und Brentanos Texte (im Gegensatz zu Bettines heute nicht mehr greifbaren Lied-Performances) selbst bereits mehr vom übergreifenden kulturtechnischen Vorgang der Verschriftlichung geprägt, als das hinter ihnen stehende idealisierende ästhetische Programm einer Simulation von Mündlichkeit vorgibt. Die Mündlichkeit als Ideal wurde bereits für die literaturgeschichtlich nicht mehr uneingeschränkt als Romantiker geltenden Dichter Eichendorff und Heine zum komplett literarisierten Phänomen.245 Der um 1815 in den Berliner literarischen Salons u. a. auch mit Arnim und Brentano verkehrende Wilhelm Müller, 240 Vgl. zum Folgenden: Beatrix Borchard, Singend dichten und dichtend singen. Zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit: Bettine von Arnim und Amalie Joachim, in: Von Volkston und Romantik, S. 43‒52. 241 Waldemar Oelke, Bettinas Leben und Persönlichkeit, in: Bettina von Arnims sämtliche Werke, hg. von dems., Berlin 1920, Bd. 1, S. XVII‒XVIII, zitiert ebd., S. 47. 242 Die Kompositionen sind heute nur in der von Max Friedlaender bearbeiteten Fassung zugänglich, der sie einer, seither verschollenen, Mappe mit Kompositionen Bettine von Arnims entnahm, die sich im Besitz Joseph Joachims befand. Vgl. Borchard, Singend dichten, S. 48. Bettine von Arnims zu Lebzeiten gedruckte Lieder, die posthumen Bearbeitungen Joseph Joachims und Max Friedlaenders sowie die Edition ihrer Handschriften wurden zusammengetragen in: Bettine von Arnim, Lieder und Duette für Singstimme und Klavier. Handschriften, Drucke und Bearbeitungen, hg. von Renate Moehring, Kassel 1996. 243 Brief Clemens Brentanos an Arnim 15.02.1805 (Arnim, Werke und Briefwechsel, Bd. 31, S. 392) 244 Ebd., S. 48. 245 Helga de la Motte-Haber, »Es flüstern und sprechen die Blumen«. Zum Widerspruch zwischen Lied als romantischer Kategorie und als musikalischen Gattung, in: Musica 35 (1981), S. 237‒ 240.

3.4 »Liederkunst« zwischen Empfindsamkeit und Romantik

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der seinerseits aus spezifischer Perspektive der romantischen Dichtergeneration zugerechnet wird246, betont indes noch 1822 ostentativ, daß er seine Gedichte durch die Musik von einem »Papierleben« befreit wissen wollte und rekurriert damit besonders deutlich auf den oben beschriebenen ›empfindsamen‹ Topos einer Einheit von Musik und Gedicht: [...] denn in der Tat führen meine Lieder, die zum deklamatorischen Vortrag, wenige ausgenommen, durchaus nicht geeignet sind, nur ein halbes Leben, ein Papierleben, schwarz auf weiß – [...] bis die Musik ihnen den Lebensodem einhaucht, oder ihn doch, wenn er darin schlummert, hinausruft und weckt.247

Ob Müller indes tatsächlich hier eine zu dieser Zeit aktuelle Auffassung wiedergibt, darf mit Fug und Recht bezweifelt werden, da, wie Hans Joachim Kreutzer betont, seine grundsätzliche ästhetische Haltung davon geprägt war, sich mit großer stilistischer Virtuosität in den literarischen Traditionslinien zu bewegen und er somit die hier aufgerufene ästhetische Prämisse der Lieddichtung des späten 18. Jahrhunderts gleichzeitig kritisch zu reflektieren scheint.248 Gerade Wilhelm Müllers scheinbares Bekenntnis zum traditionellen Liedideal provoziert indes die Frage, wo in diesem Spannungsfeld zwischen empfindsamer Liedkultur und romantischen Kunstkonzepten sich nun die Lieder Franz Schuberts wiederfinden, durch die einige Texte des Dichters mit enormer Ausstrahlungskraft von ihrem »Papierleben« befreit werden sollten – dies freilich anders als eben jenes von Müller reklamierte Ideal es vorsah. Der 28. Oktober 1814 nimmt bekanntlich als ›Geburtsstunde‹ des ›romantischen Kunstliedes‹ in Form von Schuberts Goethe-Vertonung Gretchen am Spinnrade D 118 eine hochprominente Stellung in der Musikgeschichtsschreibung ein. Bereits die frühere, geistesgeschichtlich ausgerichtete, Schubert-Forschung setzt hier den Durchbruch eines »romantischen Prinzips« in Schuberts Kompositionspraxis an249, mit dem sich bis heute der musikwissenschaftliche Konsens verbindet, daß Schubert das Lied vor dem Hintergrund romantischer Dichtungstheorie und Musikästhetik gleichsam neu erfand. Instrumental- und Vokalmusik partizipieren nach dieser Auffassung auf gleicher Ebene wie die lyrische Dichtung am zentralen Paradigma der Autonomieästhetik, wobei die Rolle der Musik als ›Sprache des Unsagbaren‹ auf spezifische Weise modifiziert erscheint: Sie evoziert nicht eben das schlechthin Unsagbare – wie nach Auffassung der 19. Jahrhunderts die motivischthematischen Strukturen der Sinfonik – sondern reflektiert gewissermaßen die 246 Vgl. Arnold Feil, Wilhelm Müller und die Romantik, in: Franz Schubert: »Die schöne Müllerin«/»Winterreise«, hg. von dems., Stuttgart 1975, S. 173‒184. 247 Wilhelm Müller an Bernhard Joseph Klein, 15.12. 1822 (Wilhelm Müller, Werke, Tagebücher, Briefe, hg. von Maria Verena Leistner, Bd. 5, Berlin 1994), zitiert nach Brinkmann, Kennst Du das Buch?, S. 291. 248 Vgl. Hans Joachim Kreutzer, Wilhelm Müller. Der Artist in den Traditionen der Literatur, in: ders., Obertöne. Neun Abhandlungen über das Zusammenspiel der Künste, Würzburg 1994, S. 176‒195, zur Lieddichtung vgl. bes. S. 189‒195. 249 Vgl. Hans Bosch, Die Entwicklung des Romantischen in Schuberts Liedern, Borna-Leipzig 1930.

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3 Bürgerliche Kunstliedkultur um 1800

Möglichkeiten eines musikalisch Sagbaren, indem sie sich, gleichsam auf Tuchfühlung mit der dichterischen Sprache gehend, an den syntaktischen und semantischen Strukturen dieser Sprache abarbeitet und in ihre künstlerisch bewußt gestalteten Polyvalenzen und Leerstellen eindringt. Was Schubert hier als ›romantisch‹ apostrophiertes Innovationspotential einfließen läßt, ließe sich also letztlich als veränderte Funktionalisierung der Musik selbst in Bezug auf die Dichtung gerade durch ihre Öffnung in Richtung einer semantischen und syntaktischen Sphäre bzw. ihre Verschränkung mit dieser Sphäre im Sinne einer ›Poetisierung‹ beschreiben. Die Verbindungslinien von Schuberts Liedkompositionen zum Lied des späteren 18. Jahrhunderts werden vor solchem Hintergrund tendentiell weniger diskutiert250, da in der Regel der Akzent gerade auf seine selbstbewußte Ablösung von potentiellen wie nachweisbaren Vorbildern gelegt wird. Trotz rund 300 Liedkompositionen, die dem nachmalig epochalen Gretchen am Spinnrade vorangingen, manövrierte diese Tendenz Schubert allerdings gleichsam in ein historiographisches Vakuum, innerhalb dessen, zugespitzt formuliert, seit 1814 unvermittelt zeitlose Geniestreiche vom Himmel fielen. Hans-Joachim Bracht etwa stellt die usuell geprägte Liedpraxis des späteren 18. Jahrhunderts allein in den Kontext hedonistisch orientierter aufklärerischer Moralphilosophie und bemüht sich, Schuberts 1814 bzw. 1815 komponierte Lieder Gretchen am Spinnrade und Erlkönig als Repräsentationsmodelle eines sich davon radikal absetzenden liedästhetischen Autonomieprinzips zu beschreiben, das unter Bezug auf die Terminologie der Hegelschen Kunstphilosophie als dialektische Verschränkung des »Melodischen« mit dem »Charakteristischen« spezifiziert wird.251 Das solchermaßen zur »autonomen 250 Das deutsche Klavierlied Wiener Prägung, in frühester Phase etwa vertreten durch Joseph Antonín Štephán, läßt sich etwa grundsätzlich durch einen anspruchsvollen z. T. instrumentalen Umgang mit dem Gesangspart und vor allem ein größeres Gewicht der Klavierbegleitung charakterisieren. Merkmale, die Schubert bereits in frühesten balladesken Liedvertonungen aufgriff. Vgl. etwa Hartmut Krones, Das Wort-Ton-Verhältnis bei den Meistern der Wiener Klassik, in: Wort-Ton-Verhältnis. Beiträge zur Geschichte im europäischen Raum, hg. von Elisabeth Haselauer, Wien [u. a.] 1981, S. 47‒66. Auch Walther Dürr hat immer wieder betont, daß Schubert gewissermaßen einen kompositionsästhetischen Referenzrahmen nutzte. Neben den Balladen Zumsteegs und den Opern Glucks als Bezugspunkten beschreibt er etwa, wie sich Schubert an Reichardts musikalischer Deklamationskunst orientiert hat. Vgl. ders., Schuberts Vorbilder in der Vokalmusik, in: Programmbuch Schubertiade Hohenems 1984, o. O. [1984], S. 9‒34; Vgl auch ders., »Kolmas Klage«. Schuberts Auseinandersetzung mit Reichardts Liedästhetik, in: SJb 2006/2009, S. 109‒126; Richard Böhm hat schließlich in einer neuen umfangreichen Untersuchung die Verbindungen der Schubertschen Liedkompositionen zu den musikrhetorischen Traditionslinien des 17. und 18. Jahrhunderts aufgezeigt, ders., Symbolik und Rhetorik im Liedschaffen von Franz Schubert, Wien [u. a.] 2006. Mit Blick auf die Literaturrezeption des Schubert-Kreises hat Gudrun Busch auf Schuberts Präferenz empfindsamer und volksliedhafter Almanachliteratur bis 1817 und damit Verbindung zur traditionellen norddeutschen Liedkultur hingewiesen. Vgl. Gudrun Busch, Zwischen Frauentaschenbüchern und Literaturkritik, Therese Grob und Matthäus von Collin, oder: Bemerkungen zu einigen ›norddeutschen‹ Liedertexten in Schuberts Freundeskreis, in: Schubert und sein Freunde, hg. von Eva Badura-Skoda [u. a.] , Wien [u. a.] 1999, S. 145‒167. 251 Hans-Joachim Bracht, Lied und Autonomie, in: AfMw 49/2 (1992), S. 119: »Während im bloß melodischen Ausdruck die Musik ›über den Besonderheiten und Einzelheiten der Worte

3.4 »Liederkunst« zwischen Empfindsamkeit und Romantik

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Kunst« erhobene Lied definiere sich gerade über seine vollständige Befreiung aus den Fesseln gesellschaftlicher Funktionalität: Die ästhetische Autonomie, wie sie dem Lied in der musikgeschichtlichen Epoche der Romantik zuwächst, ist [...] an seiner neuen Seinsweise greifbar. Während sich für [Heinrich Christoph] Koch das Liedersingen innerhalb des gewöhnlichen Lebens vollzieht, ist das romantische Kunstlied [...] Vortragslied, [...] Liedsänger und -begleiter bezeugen, indem sie sich ganz der Aufgabe der Interpretation verschreiben, daß das Lied um seiner selbst willen da ist. Dem entspricht auf Seiten des aufnehmenden Subjekts eine Erlebnisweise, die sich durch selbstvergessene Kontemplation kennzeichnet. 252

Damit scheint indes bereits bei oberflächlicher Betrachtung die historische »Seinsweise« der Schubertschen Lieder kaum angemessen beschrieben, deren Erklingen gerade stark mit einer sozialen Praxis assoziiert wird. Zudem kann der Begriff der »Kontemplation« sowohl aus aufführungs- als auch aus rezeptionsästhetischer Perspektive auch bereits auf die etwa von Gudrun Busch beschriebene, vom Einsamkeitstopos bestimmte, empfindsame Liedpraxis angesehen werden, die über eine rein didaktische Funktionalisierung des Liedes bereits hinausreicht.253 Wie die im Laufe dieses und der vorausgehenden Kapitel vorgestellten Beispiele zeigen, tendierte auch bereits die in zeitlicher Nähe der romantischen Musikästhetik sich entfaltende Liedkultur um 1800 dazu, der Musik zunehmend einen autonomen Status einzuräumen, der indes gerade weniger im Notentext der Kompositionen selbst identifiziert werden kann, sondern eher über die Erschließung der kulturellen Rahmung ihres Erklingens greifbar wird. Die Frage scheint also vor allem, auf welche spezifische Weise der Autonomiebegriff jeweils zu kontextualisieren ist. Als ›Ausdruck der Seele‹ ist das gesungene Lied bereits weit mehr als ein Medium hedonistischer Gefühlsbildung. Allerdings wurde, wie oben beschrieben, die der Musik zugeschriebene Eigenschaft, subjektive Gefühle zu repräsentieren nach kulturell verabredeten Maßgaben beschränkt. Damit ergibt sich auch eine weitere Perspektive, die Lieder Schuberts in ihrer Verbindung zur Liedkultur des späteren 18. Jahrhunderts zu beleuchten. Lawrence Kramer sieht Schuberts Lieder vor allem im Kontext einer in den Entwürfen der literarisch-philosophischen Romantik erfolgenden Erweiterung subjektiver Expressivität. An Stelle der Repräsentation von verbindlichen, auf das Paradigma der Gleichgestimmtheit ausgerichteten Seelenregungen im Sinne einer Abspiegelung des dichterischen Textes tritt eine tendentiell konfligierende Auseinandersetzung eines sich als autonom begreifenden Subjektes: The […] imperative of the Schubert Lied is to align music with the widespread effort of literary and philosophical Romanticism to represent subjecitivty in action. This expressly means that

schwebt‹, schließt sich die charakteristische Vertonung ›denselben aufs engste an‹. Hier überwiegt, was dort nebensächlich ist, der ›bestimmte Sinn der Worte‹«. Zu Gretchen am Spinnrade und Erlkönig vgl. S. 120f. 252 Ebd., S. 114. 253 Bereits Schwab, auf den sich Bracht zentral bezieht, beschreibt die allmähliche Herausbildung des ›Kunstliedes‹ aus der Liedkultur des späten 18. bzw. frühen 19. Jahrhunderts: Vgl. ders. Sangbarkeit. Vgl. außerdem Carmen Debryn, Vom Lied zum Kunstlied. Eine Studie zu Variation und Komposition im Lied des frühen 19. Jahrhunderts, Göttingen 1983, S. 245‒271.

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3 Bürgerliche Kunstliedkultur um 1800 the purpose of the Romantic song is not simply to enhance the emotional force of the text, nor even, as writers on the Lied traditionally claim, to evoke the meaning of the text, whether directly or ironically. The purpose is to represent the activity of an unique subject, conscious, self-concious, and unconscious, whose experience takes shape as a series of conflicts and reconciliations between the inner and outer reality.[…] Schubert’s songs literally give a voice to this historical expansion in the concept of the self.254

Die von Kramer hier vorgenommene Akzentuierung läßt nicht zuletzt auch Raum für die performative Dimension: Nicht nur der Komponist, sondern auch der oder die Singenden bzw. Spielenden werden in den Kontext einer grundlegenden Erweiterung des expressiven Potentials einbezogen. Da nun gerade die Liedaufführung zur Schubert-Zeit in der Regel als eine der ›empfindsamen‹ Geselligkeitskultur noch verwandte Erscheinung angesehen wird, Schuberts Liedkompositionen aber andererseits im gattungsästhetischen Kontext als ›romantisch‹ charakterisiert werden, stellt sich zu allererst die Frage, in welcher Weise demgegenüber die Anteilnahme Schuberts und seiner Lieder an einer mentalitäts- und kulturgeschichtlichen Dimension der ›Romantik‹, die sich von Verflechtungen mit aus der Empfindsamkeit ererbten Aspekten nicht abtrennen läßt, differenzierter beschreibbar ist. Dies indes kann weniger an ausschließlich werk-, als deren Verbindung etwa mit zeittypischen rezeptionsästhetischen Paradigmen aufgezeigt werden. Sie bildeten gemeinsam mit den historischen Aufführungsbedingungen im Kontext verschiedener musikalischer Institutionen und repräsentativen Feldern künstlerischer Praxis gewissermaßen die Lebenswelt bzw. Existenzgrundlage für Schuberts Lieder. Verwoben damit sollen mentalitäts- und ideengeschichtliche Fragestellungen ins Blickfeld rücken, die etwa das Musikerlebnis und die Kunstauffassung verschiedener (sowohl konkreter als auch idealtypischer) Rezipienten der Lieder betreffen. Ausgangspunkt ist zunächst eine reformulierende Zusammenschau und gleichzeitige Differenzierung der Aufführungskontexte für die Liedkompositionen Schuberts. Dieses Panorama wird erweitert durch eine Beleuchtung der zeitgenössischen kulturellen Praxis und insbesondere der Vortragskunst: Die bereits mit Blick auf das Lied um 1800 angeklungenen Themenbereiche (›naturhafter‹ Ausdruck und ›Sangbarkeit‹ als Ideale, stimm- und vortragsästhetische Fragen, Sprache bzw. Sprechen und Gesang, Privatheit versus Öffentlichkeit, mediale Kommunikation von Liedkompositionen) werden dabei aus der Perspektive der Schubert-Zeit wieder aufgegriffen. Damit erscheinen neben Schubert und seinen Kompositionen selbst sowie ihren Aufführungsbedingungen und Rezipienten notwendigerweise auch vor allem ihre Interpreten und Interpretinnen und deren künstlerische Praxis wieder auf der Bildfläche. Das bereits angelegte Panorama zur Liedkunst soll erweitert, Korrespondenzen und Unterschiede, die in Bezug auf Schuberts Lieder ins Gewicht fallen, sollen herausgearbeitet und neben den Standards der Schubert-Forschung neuere Ergebnisse literatur- und kulturwissenschaftlicher Studien einbezogen werden. 254 Lawrence Kramer, The Schubert-Lied. Romantic Form Romantic Conciousness, in: Schubert. Critical and Analytical Studies, hg. von Walter Frisch, S. 201f.

4 SCHUBERTS LIEDER IM WIENER MUSIKLEBEN Musset betitelte eine seiner Schriften: »Un spectacle dans un fauteuil«. Wir können nicht umhin, dabei an Schubert zu denken.1

4.1 SCHUBERT, LIED UND BIEDERMEIER-DISKURS Im Rahmen einer kulturgeschichtlichen Perspektivierung des Phänomens ›Romantik‹ fällt sehr schnell der Begriff ›Biedermeier‹. Er wird im deutschsprachigen musik- wie literaturwissenschaftlichen Diskurs indes mit Vorbehalten behandelt, da er als nachträgliche Konstruktion der 1850er Jahre die Gefahr einer ahistorischen, durch Klischees eingegrenzten Aussagekraft birgt: Jener im Wien der Schubert-Zeit seit dem Wiener Kongreß 1814/1815 gleichsam staatlich verordnete ›Rückzug ins Private‹ diente den nachmärzlichen Erfindern des ›Biedermeier‹ letztlich als Vorlage ironisierender Verharmlosung und wurde im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts schließlich von der Konstruktion eines idealisierenden ›Alt-Wien‹-Mythos vereinnahmt, der die gesellschaftlichen Realitäten der betreffenden Zeit planvoll ausblendete.2 Aus populärer Perspektive ist indes eben dieser Biedermeierbegriff bis in die heutige Zeit eine gerade mit dem Komponisten Schubert verbundene Projektionsfläche, die sich in der Idee der Schubertiade, mit der insbesondere der Vortrag von Schuberts Liedern verbunden wird, gewissermaßen bildhaft konkretisiert.3 1 2

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Franz Liszt, Orpheus von Gluck, in: Gesammelte Schriften, Bd. 3, Leipzig 1881, S. 9. Einen Überblick zum Biedermeierbegriff als historiographischer Konstruktion und seiner Forschungsgeschichte in Literatur- und Musikwissenschaft bietet Annegret Huber in: dies., Das Lied ohne Worte in seiner Zeit und in der ›Biedermeierdiskussionszeit‹, in: Zeit in der Musik – Musik in der Zeit, hg. von Diether de la Motte, Wien 1997, S. 105‒121. Schubert als Mittelpunkt der Schubertiaden gilt als nur allzu geläufige und beliebte Szenerie, um den Komponisten respektive seine Musik zu imaginärem und klingendem Leben zu erwecken. Die Schubertiade ist indessen längst zur Marke avanciert: Google verzeichnet gegenwärtig etwa 230.000 Einträge unter diesem Stichwort, wobei die Palette von als Schubertiaden ausgewiesenen Konzertveranstaltungen oder CD-Produktionen mit ausschließlich Schubertscher Musik über Ballett- und Theaterprojekte unterschiedlichster Couleur bis hin zum gastronomischen Betrieb reicht. In der Tradition der Meisterverehrung stehen ferner die Schubertiaden des Wiener Schubertbundes und Wiener Männergesangvereins. Am prominentesten wurde ohne Zweifel die Einbindung der Bezeichnung Schubertiade in die moderne Festivalkultur spätestens seit der Bariton Hermann Prey 1976 die Schubertiade Vorarlberg (heute Schwarzenberg/Hohenems) ins Leben rief, die bis heute als Hochburg der Schubert-Liedpflege gilt. Mit Blick auf die zahlreichen Schubertiaden-Festivals und -veranstaltungen ist indes selten mehr auszumachen als die vage Assoziation mit einer gewissen ›Schubert-Atmosphäre‹. Daß mit

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4 Schuberts Lieder im Wiener Musikleben

Wenn allerdings die Schubertiaden nicht als lediglich historisierende, stimmungshafte Kulisse hinter der Realität heutiger Aufführungs- und Hörgewohnheiten aufgestellt werden, sondern als wissenschaftlicher Kontext für eine Beschreibung der kulturellen Rahmung von Musik Schuberts und insbesondere der Lieder ernst genommen werden sollen, ist eine differenzierte Sichtweise auf die biedermeierliche Musikkultur eine notwendige Voraussetzung. Anstatt indes ausschließlich geistesund kulturgeschichtliche Diskussionen über eine Charakterisierung von ›Klassik‹, ›Romantik‹ und ›Biedermeier‹ und deren Verhältnis zueinander im Wien der 1820er Jahre heranzuziehen4, soll hier zusätzlich der Versuch unternommen werden, über eine Kontextualisierung der Aufführungsorte eine Annäherung an die Existenzbedingungen der Lieder Schuberts zu schaffen. Wenn der Begriff ›Biedermeier‹ auch auf werkbezogen-stilkundlicher Ebene kaum über Distinktionskraft verfügen mag, ist er indes als Möglichkeit ein kohärentes Wertesystem zu charakterisieren, das u. a. mit den sozialen und kulturellen Praktiken der bürgerlichen Gesellschaft assoziiert ist, zu denen eben auch primär das häusliche Musizieren gehörte, musikhistorisch nicht zu umgehen.5 Seine übliche kulturgeschichtliche Charakterisierung, die in erster Linie auf die Kategorie des Privaten, der Wohnkultur, Motivwahl in der bildenden Kunst etc. bezogen ist, muß allerdings in spezifischer Weise perspektiviert werden. Die bereits in Bezug auf das ›empfindsame‹ Lied als entscheidende kulturelle Rahmung beschriebene Kategorie des ›Privaten‹ steht auch mit Blick auf Schuberts Musik immer wieder im Mittelpunkt. Sie bildet gleichsam eine atmosphärische Basis, die letztlich bis heute im Form eines oft beschworenen, idealisierenden Credo an ihr haftet: Man höre in Schuberts Musik gleichsam eine ›Zimmerakustik‹ einkomponiert, ihre eigentlichen Qualitäten offenbaren sich erst in der intimen Abgeschiedenheit häuslicher Privatsphäre. 6 So sind Schuberts Kompositionen auch innerhalb der Musikwissenschaft immer wieder als in besonderer Weise von Wech

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dem Begriff eine spezifische und vielschichtige kulturelle Praxis verbunden war, fällt hier, auch wenn etwa die Schubertiade Schwarzenberg/Hohenems über die historische Dimension und einschlägige Quellen ausführlich informiert, kaum mehr ins Gewicht, da – gerade mit Blick auf den Liedvortrag – im allgemeinen die Aufführungs- und Rezeptionsbedingungen des späteren 19. Jahrhunderts das Profil der heutigen Konzertveranstaltungen bestimmen. Wenn die Schubertiade ansonsten mit dem Rüstzeug historisch informierter Konzertdramaturgie einschließlich historischer Aufführungspraxis und Instrument(en) in klingende Realität umgesetzt oder, wie auch zuweilen üblich, sie als bewegliches Tableau auf die Theaterbühne gestellt wird, stellt sich zumeist unweigerlich ein Aufrufen ihrer eigenen Rezeptionsgeschichte als biedermeierlich abgetönte ›Hausmusik‹ ein. Vgl. Herbert Zeman, »Dort möchte’ ich hin! Ja nur eine Kaiserstadt, ja nur ein Wien«. Biedermeierliche Welt in Musik und Dichtung, in: SJb 2006−2009, S. 1−8. Einen Versuch, die Existenzbedingungen von Schuberts Musik unter diesem Gesichtspunkt zu beschreiben, unternimmt Ruth Solie in: Biedermeier Domesticity and the Schubert Circle, in: dies., Music in Other Words. Victorian Conversations, Berkeley 2004, S. 118‒152. Vgl. etwa Rudolf Klein, Schuberts Konzertstätten, in: Zur Aufführungspraxis der Werke Franz Schuberts, S. 188: »Beethovens musikalisches Wirken fand Resonanz im Salon und im Saal, Schuberts im Zimmer.«

4.1 Schubert, Lied und Biedermeier-Diskurs

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selwirkungen mit einem engmaschigen sozialen Netzwerk geprägt diskutiert worden, das sich in verschiedene ›Freundeskreise‹ differenzieren läßt. Ulrich Dibelius beschreibt in diesem Sinne etwa ein nach seiner Auffassung für Schubert typisches »soziale[s] Klima der Klang-Erfindung« innerhalb einer Sphäre der »Unöffentlichkeit«, das in seiner Darstellung den Stellenwert einer geradezu obligatorischen produktionsästhetischen bzw. schaffenspsychologischen Voraussetzung erhält: Aber wenn die Ausschließlichkeit, mit der Schubert bei seinen Kompositionen im Bereich der Freundschaften verblieb, sich allein darauf konzentrierte und allein daran genug hatte, nicht nur bedeutet, daß diese Freundeswelt eben die stimulierende soziale Atmosphäre für seine Kreativität darstellte, sondern auch, daß sie als der einzige und ideale Adressat all seiner Musik anzusehen ist, dann ergibt sich daraus ein Kreislauf von der Auslösefunktion bis zum Empfang, in dem der schöpferische Transmittent und die Art, wie er sein Medium handhabt nicht frei sein können von den Einflüssen und Wirkungskräften jener beiden identischen Stationen Ausgang und Ziel, zwischen denen er steht und agiert. 7

So vertraut diese Auffassung sein mag, und so sehr gerade die Betonung soziokultureller Bedingungen für das Entstehen und Erklingen von Musik auch dem hier gewählten Ansatz entspricht, läuft sie doch in der bei Dibelius vorliegenden Ausschließlichkeit paradoxerweise auch Gefahr, gerade eine hermetische Abriegelung Schuberts von seiner Umwelt zu postulieren, die zu sehr von vielfältig differenzierten historischen Kontexten abstrahiert. Der Hintergrund für diese Auffassung scheint nicht zuletzt darin zu liegen, daß Schubert gerade mit Bezug auf die Liedkomposition auf exemplarische Weise mit einem ›autonomen‹ Komponieren in Verbindung gebracht wird, das sich den einschlägigen Institutionen des Musiklebens geradezu absichtsvoll entgegenstellte bzw. mit ihnen unvereinbar erschien. Carl Dahlhaus benennt etwa im Zuge seiner Diskussion der Kategorien ›Biedermeier‹ und ›Romantik‹ im Kontext eines historiographischen Rundumschlags der Musik des 19. Jahrhunderts eine »zwiespältige geschichtliche Situation«, die dadurch gekennzeichnet sei, daß sich »Musik von Rang, eben die romantische, eigentlich an Zirkel von Eingeweihten wandte, aber aus äußeren Gründen – wegen der spieltechnischen Ansprüche, die bei häuslichem Musizieren kaum noch zu erfüllen waren – gezwungen war, in die Öffentlichkeit zu drängen.«8 Die Hintergründe für die hier von Dahlhaus benannte paradoxe Konstellation von Musik und kultureller Praxis werden indes nicht aufgeschlüsselt. Dahlhaus’ Argumentation verbleibt vielmehr auf der werkästhetischen Ebene und nimmt des weiteren eine tendentielle Zweiteilung des zeitgenössischen musikalischen Schaffens in ›romantische Meisterwerke‹ und ein biedermeierliches »Souterrain der Musikkultur« vor, was indes, wie eingeräumt wird, in der kulturellen Realität des frühen 19. Jahrhunderts nicht so stark ins Bewußtsein gerückt sein dürfte.9 Vor dem Hintergrund dieser Argumentation werden nun die Musik Schuberts als ›romantisch‹, die Umstände 7

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Ulrich Dibelius, Ein Musiker der Unöffentlichkeit. Schubert und das soziale Klima seiner Klang-Erfindung, in: Franz Schubert. Musik-Konzepte Sonderband, hg. von Heinz-Klaus Metzger/Rainer Riehn, München 1979, S. 29. Carl Dahlhaus, Die Musik des 19. Jahrhunderts, Wiesbaden 1980, S. 140. Carl Dahlhaus, Romantik und Biedermeier. Zur musikgeschichtlichen Charakteristik der Restaurationszeit, in: AfMw 31 (1974), S. 24.

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4 Schuberts Lieder im Wiener Musikleben

ihres Erklingens hingegen als ›biedermeierlich‹ rubriziert. Anknüpfend an diese Auffassung formierte sich eine musikwissenschaftliche Diskussion, die grundsätzlich dazu tendierte, gerade Schuberts Liedkompositionen unter Ausblendung ihrer als ›biedermeierlich‹ kategorisierten Rezeptionsbedingungen gewissermaßen über ihre eigene Existenzgrundlage hinwegzuheben, da die kultur- bzw. mentalitätsgeschichtliche Situierung des Komponisten im Kontext einer »biedermeierlichen Geisteshaltung« als »völlig verfehlt« angesehen wurde.10 Moderater behandelt Walther Dürr die den Hintergrund für diese Diskussion bildende Kontroverse zwischen Funktionalität und Autonomie in Bezug auf die musikalische Kultur und entwirft am Beispiel Schuberts eine Art Integrationsmodell: Wechselwirkungen zwischen ›romantischen‹ Ideen und ›biedermeierlichen‹ Institutionen vermittelten sich letztlich in der Person des Komponisten Schubert selbst, dessen Schaffen zwar über die institutionellen Strukturen hinausweise, stets aber auf sie bezogen bleibe. Schuberts ›Romantik‹, so Dürr, entstehe unmittelbar aus dem Umfeld biedermeierlicher Institutionen, in festgefügten Freundeskreisen (fester gefügt als die – in manchem ähnlichen – Dichterkreise um Mendelssohn, kaum vergleichbar mit den vor allem der Phantasie entsprungenen Davidsbündlern um Schumann). Ihr Grund sind Leseabende und Schubertiaden, gesellige Zusammenkünfte, auf denen Musik gemacht wurde und für die Schubert eigens Lieder und Tänze, auch Klaviermusik geschrieben hat. Solche ›Institutionen‹ sind nicht nur Vermittler, sie sind auch Träger Schubertscher Ideen. Ohne sie wäre seine Liedkunst kaum denkbar.11

Trotz dieser vermittelnden Betrachtungsweise, die Dahlhaus’ Dichotomisierung gewissermaßen vom Kopf auf die Füße stellt, bleibt gerade mit dem Blick auf die Lieder ein disparates Moment zurück, das sich dem harmonistischem Konzept einer ›Vermittlung‹ entzieht: Sie verweisen durch ihr Hinauswachsen über die hier beschriebene private Geselligkeitskultur gewissermaßen auf eine Leerstelle innerhalb der umfassenderen kulturellen Praxis. Der durch die Entscheidung eines Rückzugs von der Öffentlichkeit für Schubert geschaffene Freiraum zur kompositorischen Entfaltung sprengte durch in den Kompositionen zutage tretende, als ›romantisch‹ eingeordnete, Entgrenzungstendenzen den geselligen Rahmen. Der Komponist sah sich damit aber auch einer musikalischen Öffentlichkeit gegenüber, die letztlich (noch) keine adäquate Rezeptionskultur für seine Liedkompositionen bereithielt. Die bei der Beschreibung und Deutung der historischen Aufführungsbedingungen für Schuberts Musik aufscheinenden Disparitäten scheinen insofern zugunsten historiographischer Kategorisierungsbemühungen tendentiell eher nivelliert oder ausgeblendet worden zu sein, als daß sie mit Blick auf Schuberts Situation als Komponist kontextualisiert worden wären. Gerade die von der Schubert-Forschung für den Jahre 1818‒1823 konstatierte, ausschließlich auf einer werkbezogenen Ebene gedeutete, Schaffenskrise des Komponisten, die mit der Zuwendung Schuberts zu 10 11

Ernst Hilmar, Was ist an Schubert biedermeierlich?, in: Schubert und das Biedermeier, hg. von Michael Kube, Kassel [u. a.] 2002, S. 17‒24. S. 19. Walther Dürr, Zwischen Romantik und Biedermeier, in: Kunst des Biedermeier: 1815‒1835. Architektur, Malerei, Plastik, Kunsthandwerk, Musik, Dichtung und Mode, hg. von Georg Himmelheber, München 1988, S. 53‒58.

4.1 Schubert, Lied und Biedermeier-Diskurs

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großformatigen Kompositionen ab 1824 als beendet angesehen wird 12, läßt sich indes in diesen Zusammenhang stellen: Volker Kalisch betont hinsichtlich Schuberts Affinität zur Liedkomposition etwa, es gäbe letztlich keinen Grund, Schuberts »Krise« nicht auch als Reaktion auf die Realitäten der zeitgenössischen musikalischen Kultur zu deuten, deren Strukturen auf die kompositorische Gestaltung durch die notwendige Auseinandersetzung mit ihnen Einfluß nehmen mußten: Beschreiben wie erklären lässt sich Schuberts neuer musikalischer Ton recht eigentlich nur mit einer Umorientierung und Neujustierung jener für sein Komponieren als verbindlich erachteten Normen, die nun eben nicht weiter Maß nehmen können oder wollen, was zu musikalischen Selbstverständigung in Schuberts ›privatem‹ und ›überschaubaren‹ Publikum vielleicht noch hinreichen mochte, für eine Orientierung jetzt aber an einer großen, anonymen, ihm nur wenig vertrauten Menge nicht mehr zu greifen vermochte. 13

Schubert wandte sich also, wie man bedenken muß, mit neuen formalen Konzepten sehr wohl auch anderen ihrerseits im Wandel begriffenen gesellschaftlichen Sphären zu und geriet dadurch notwendigerweise in Entscheidungskonflikte. Besonders mit Blick auf die Liedkompositionen bietet es sich an, diese Fragen eingehender zu reflektieren, denn gerade in diesem Feld läßt sich Schuberts Schaffen im nämlichen Zeitraum kaum als krisengeschüttelt bezeichnen.14 Vielmehr mußte er sich auch hier mit den Inkongruenzen zwischen einer ›autonom‹ gedachten bzw. mit hohem Anspruch komponierten Musik und ihrer Rolle innerhalb der kulturellen Praxis auseinandersetzen. Daß eben diese Inkongruenzen besonders deutlich aus der Perspektive der Aufführungs- und Vortragsästhetik zutage treten, wird gleichfalls von Dahlhaus sehr wohl registriert, in seinen weitreichenden Konsequenzen aber wiederum nur angedeutet: Bis ins 20. Jahrhundert beharrte die Musikkritik, und zwar gerade die ernsthafte, auf der streng genommen paradoxen Forderung, daß es in Konzerten, deren Publikum nach Hunderten oder sogar Tausende zählte, einem Liedersänger oder einem Pianisten gelingen müsse, den ästhetischen Schein herzustellen, als werde in einem privaten Zirkel musiziert. Orchestrale Momente waren in echter Kammermusik ebenso verpönt wie virtuos-konzertierende, obwohl die Umgebung, in der man spielte, gerade dazu herausforderte, was die ästhetische Doktrin fernzuhalten suchte.15

Nimmt man die hier von Dahlhaus benannte »paradoxe Forderung« als Ausgangspunkt einer neuerlichen Skizzierung der kulturellen und sozialen Grundierung der verschiedenen Aufführungsbedingungen für die Lieder Schuberts, erscheint es zunächst notwendig, die den Aufführungen zugrundeliegenden geselligen Rahmungen, die Dahlhaus hier vereinfacht als »private Zirkel« benennt, und die Dürr als grundlegende institutionelle Basis für die Entstehung der Lieder Schuberts ansieht, 12 13 14

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Franz Schubert. Jahre der Krise: 1818‒1823, hg. von Werner Aderhold [u. a.], Kassel 1985. Volker Kalisch, Schubert: warum eigentlich Lieder?, in: SJb 2006‒2009, S. 69‒86, S. 85, Anm. 37. In diese Zeit fallen neben zahlreichen weiteren Liedern etwa Schuberts Beschäftigung mit den Gedichten Friedrich und August Wilhelm Schlegels, Mayrhofers Nachtstück D 672, die Gedichte aus Goethes West-Östlichem Divan, Collins Der Zwerg D 771 und nicht zuletzt der Zyklus Die schöne Müllerin D 795. Dahlhaus, Die Musik des 19. Jahrhunderts, S. 140.

92

4 Schuberts Lieder im Wiener Musikleben

eingehender zu beleuchten und um mit ihnen verbundene aufführungs- und rezeptionsästhetische Aspekte zu erweitern. Die Geschichte der Geselligkeit als kultureller Praxis ist grundsätzlich in einem sozialen Spannungsfeld zwischen dem Niedergang des Adels und einem aufsteigenden Bürgertum zu verorten. Vor allem die Literaturwissenschaft hat auf der Basis von Jürgen Habermas’ wegweisender Studie zum »Strukturwandel der Öffentlichkeit«16 herausgearbeitet, welche Bedeutung sie für die Genese eines grosso modo ständeübergreifenden Bürgertums einnahm.17 In der ursprünglich der höfischen Wohnkultur entstammenden architektonischen Rahmung des ›Salons‹ als Forum von Kommunikation und Unterhaltung fand man sich nun zu einer neuen, bürgerlichen Öffentlichkeit zusammen, wobei sich der bürgerliche Salon gleichermaßen als Ort künstlerischer wie intellektueller Avantgarde herausbildete und auch für die musikalische Praxis als Aufführungsort eine wichtige Rolle spielte.18 Zu Schuberts Zeit hatte indes längst eine Vermischung der verschiedenen Gesellschaftsschichten mit unterschiedlichen Akzentuierungen stattgefunden: Zum einen grenzte sich das Bürgertum von der aristokratisch geprägten Salonkultur ab, zum anderen aber imitierte bzw. adaptierte es sie auch. Vor allem in Bezug auf die Entwicklung und Funktion der ›anspruchsvollen‹ literarischen Salons konstatiert die Literaturwissenschaft ein Verfallsphänomen, da in der Biedermeierzeit Unterhaltung und Repräsentationsgestus einen immer größeren Stellenwert innerhalb der Salonkultur einzunehmen begannen.19 Der kulturelle Umbruch, der das Wien der Schubert-Zeit bestimmte ließ eine »Reibungsfläche zwischen einer institutionalisierten Modernisierung und einem habituellen Bewahren der Tradition« entstehen20, die gerade mit Blick auf die Entwicklung der musikalischen Aufführungskultur sichtbar wird. Die enormen sozialen wie institutionellen Umwälzungen, die sich in den frühen Dekaden des 19. Jahrhunderts vollzogen, hatten aus der Perspektive der musikalischen Kultur vor allem die Herausbildung eines Marktes zur Folge, der auf der einen Seite im Gefolge einer boomenden Printindustrie das häusliche Musizieren ankurbelte, andererseits aber auch die Zugangsmöglichkeiten zu den öffentlichen Konzertveranstaltungen erweiterte. Dadurch wurde sowohl einer Verschiebung professioneller musikalischer Aktivität vom privaten zum öffentlichen Raum als auch der Herausbildung und Kulti 16 17 18

19

20

Jürgen Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft, Frankfurt a. M. 31990. Vgl. etwa Peter Seibert, Der literarische Salon. Literatur und Geselligkeit zwischen Aufklärung und Vormärz, Stuttgart 1993. Vgl. Peter Gradenwitz, Literatur und Musik in geselligem Kreise. Geschmacksbildung, Gesprächsstoff und musikalische Unterhaltung in der bürgerlichen Salongesellschaft, Stuttgart 1991. Die Wiener Salons beschreibt Alice Hanson in: dies., Die zensurierte Muse. Musikleben im Wiener Biedermeier, Wien 1987, S. 131‒151. Vgl. Johann Sonnleithner, Vom Salon zum Kaffeehaus. Zur literarischen Öffentlichkeit im österreichischen Biedermeier, in: The Other Vienna. The Culture of Biedermeier Austria, hg. von Robert Pichl [u. a.], Wien 2002, S. 71‒83. Laurenz Lütteken, Schubert. Musik und Gesellschaft um 1800, in: SJb 2006‒2009, S. 90.

4.1 Schubert, Lied und Biedermeier-Diskurs

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vation eines repräsentativen, halböffentlichen Zwischenbereichs Vorschub geleistet. Gerade mit Blick auf die Liedkompositionen Schuberts sind neben der privaten kulturellen Rahmung vor allem bestimmte »Formen des nicht mehr Privaten« von besonders hoher Relevanz, die im Sinne einer »intimen Öffentlichkeit« gesellschaftlich fungierten.21 Auch die Schubertiaden konnten mit Blick auf etwa die Anzahl der Mitwirkenden, Ort und gesellschaftliche Zusammensetzung unterschiedlichste Formen annehmen. Bereits dieser Umstand kollidierte indes zuweilen mit einer bereits beschriebenen kulturellen Praxis, in die Lied und Liedgesang als Komponenten einer »Aura des Intimen« bislang fest integriert waren: Anders als etwa das Streichquartett, war das Lied eine im Bewußtsein der Zeit noch keineswegs nach allgemeinem Konsens ›öffentlichkeitsfähige‹ Gattung, sondern wurde (nicht zuletzt von Schubert selbst und seinem Umfeld) erst langsam in den Prozeß einer ›Ver-Öffentlichung‹ integriert, innerhalb dessen sich beide Bereiche ständig überschnitten.22 Typisch für die Schubert-Zeit ist daher also gerade das Phänomen einer allmählichen »Diversifizierung von intim-privater Hausmusik-, halböffentlicher Geselligkeits- und öffentlicher Konzertkultur«23, das somit auch als bestimmender Kontext für das einerseits aus pragmatischen, andererseits aus autonom-künstlerischen Gründen vergleichsweise häufige Erklingen von Schuberts Liedern angesehen werden muß. Hinter dem hier angesprochenen Prozeß der Diversifizierung steht aus sozialhistorischer Perspektive vor allem der Kontext einer Veränderung der gesellschaftlichen Sphären ›öffentlich‹ und ›privat‹ im Sinne spezifischer soziokultureller Konstellationen. Die Herausbildung einer ›neuen‹ öffentlichen Sphäre bürgerlicher Prägung war letztlich, wie Jürgen Habermas gezeigt hat, gerade durch das innerhalb des privaten Raumes aufgekommene Autonomiedenken geprägt – Öffentlichkeit und Privatheit erscheinen hier somit auf komplexe Weise miteinander verflochten.24 Gerade in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts, einer Zeit einschneidender gesellschaftlicher Verschiebungsprozesse, herrschte zwischen beiden Begriffen eine relativ große Durchlässigkeit.25 Mit Blick auf die Praxis des Musizierens und Musikrezipierens ist insofern die Aufmerksamkeit darauf zu richten, wie sich die jeweilig spezifische Konstellierung von Privatheit und Öffentlichkeit, die den kulturellen Rahmen einer Aufführung bot, beschreiben läßt. 21

22 23

24 25

Bernd Roeck, Von intimer Öffentlichkeit zu öffentlicher Intimität, in: Öffentliche Einsamkeit. Das deutschsprachige Lied und seine Komponisten im frühen 20. Jahrhundert, hg. von Michael Heinemann/Hans-Joachim Hinrichsen, Köln 2009, S. 19. Vgl. Lutz Neitzert, Die Geburt der Moderne, der Bürger und die Tonkunst. Zur Physiognomie der veröffentlichten Musik, Stuttgart 1990. Hans-Joachim Hinrichsen, Berührung der Extreme. Zum Streichquartett-Œuvre Franz Schuberts, in: Musikalische Gesprächskultur. Das Streichquartett im habsburgischen Vielvölkerstaat, hg. von Carmen Ottner [u. a.], Wien 2006, S. 43. Vgl. Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit, S. 106‒117. Diese Zusammenhänge finden sich aus sozialhistorischer Perspektive etwa dargestellt bei: Ann Charlott Trepp, Sanfte Männlichkeit und selbständige Weiblichkeit. Frauen und Männer im Hamburger Bürgertum zwischen 1770 und 1840, Göttingen 1996, S. 173‒285.

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Demgegenüber läßt sich indes eine traditionelle musikologische Argumentationslinie identifizieren, die dazu tendiert, von eher abstrakten bzw. undurchlässigen Öffentlichkeits- bzw. Privatheitsbegriffen auszugehen, denen Schuberts Werke als ›autonome‹ Gebilde relativ unbeeinflußt gegenüberstanden. Thrasybulos Georgiades etwa sieht eine charakteristische Entwicklung gerade darin, daß Schubert mit Blick auf die Liedkomposition sich geradezu einem Öffentlichkeitsbezug verweigert habe und konstatiert apodiktisch: »Schuberts Lied ist nie im eigentlichen Sinne eine öffentliche musikalische Gattung geworden«, da ihm »der Charakter des Öffentlichen« fehle.26 Die öffentlichen Erfolge als Liederkomponist hätten Schubert gerade nicht zu einer ›öffentlichkeitsbezogenen‹ Musiksprache geführt, sondern hielten ihn, wie Ulrich Mahlert – Georgiades aufgreifend – konstatiert, »nicht davon ab (bzw. ermöglichten es ihm durch finanziellen Gewinn sogar), abseits der großen musikalischen Welt dem Prinzip des eigenen Liedes immer näher zu kommen.« 27 Der »Charakter des Öffentlichen«, auf den sich Georgiades und Mahlert hier unter Bezugnahme auf das Charakteristikum einer einkomponierten »Theaterhaltung« beziehen28, geht indes gleichfalls von einem tendentiell absoluten Öffentlichkeitsbegriff aus, der eben jene vielfältigen halböffentlichen Zwischenstufen, die sich als typische soziale Grundierung der Aufführung Schubertscher Lieder identifizieren lassen, gerade nicht eingehender kontextualisiert. Auch Dahlhaus läßt (wenngleich er sich an anderer Stelle gegen einen eben solchen Öffentlichkeitbegriff wendet29) das spezifische Phänomen einer Verortung der Lieder Schuberts zwischen unterschiedlichen kulturellen Kontexten bei seiner Konturierung der »LiedTraditionen« des 19. Jahrhunderts nicht wirklich ins Blickfeld geraten.30 Mit der Berufung auf das bereits früher beschriebene Paradigma der gattungstypischen »Darstellungsweise«, stellt er allerdings einen Zusammenhang zwischen musikalischen Tonfall und dichterischer Kommunikationsstruktur her: Mit dem ›Ton‹, der einer Gattung eigentümlich ist, hängt die ›Darstellungsweise‹, das Verhältnis zum Publikum oder den Zuhörern eng zusammen, ein Aspekt, der nicht unberücksichtigt bleiben darf, wenn die Gattungsunterschied zwischen Ballade, Lied (im engeren Sinne des Wortes) und Arie deutlich werden sollen. Eine Ballade (oder Romanze) ist eine gesungene Erzählung, und ihre eigentliche Darstellungsweise ist die unmittelbare Anrede des Autors an ein Publikum. [...]. Im Unterschied zur Ballade bleibt bei der Arie der Komponist dem Publikum

26 27 28

29

30

Thrasybulos Georgiades, Schubert. Musik und Lyrik, Göttingen 1967, S. 141. Ulrich Mahlert, Fortschritt und Kunstlied. Späte Lieder Robert Schumanns im Licht der liedästhetischen Diskussion ab 1848, München 1983, S. 34. Vgl. Georgiades, Schubert, S. 125. Bezugspunkt für den Autor ist hier die Opern- resp. Oratorienarie mit einer ihr eigentümlichen ›öffentlichkeitsausgerichteten‹ kompositorischen Struktur. Georgiades betont, daß, obwohl sich in Schuberts letzten Lebensjahren öffentliche Aufführungen seiner Lieder mehrten, in seinem reifen Schaffen ab etwa 1822/23 Lieder mit einer ausgeprägten ›Theaterhaltung‹ kaum mehr begegnen, während Gesänge dieser Art, die den Opern und Oratoriensänger als ›Interpreten‹ (S. 198) voraussetzten, sowie dramatische Balladen in der Art des Erlkönig (S. 208) sich im Frühwerk häufiger finden. Vgl. Carl Dahlhaus, Zur Problematik der musikalischen Gattungen im 19. Jahrhundert, in: Gattungen der Musik in Einzeldarstellungen, hg. von Wulf Arlt [u. a.], Bern 1973, hier S. 864‒ 866. Vgl. Dahlhaus, Die Musik des 19. Jahrhunderts, S. 79‒87.

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prinzipiell verborgen; sich bei einer Opern- oder Solokantaten-Aufführung den Autor redend vorzustellen, als sei er es, der statt der Personen oder durch sie zum Publikum spricht, gilt als ästhetisch illegitim. Eine Arie ist stets, und das unterscheidet sie von einer gesungenen Erzählung, ein ›Rollengedicht‹, das aus einer Situation, die das einleitende Rezitativ oder die Scena umreißt. Dagegen redet in einem Lied der Autor selbst, wenn auch nicht als empirische Person, sondern als lyrisches Ich, das sich dem Zugriff biographischer Neugier entzieht. Ein Lied ist eine Äußerung, die sich, im Unterschied zu einer gesungenen Erzählung, nicht ostentativ an ein Publikum richtet, sondern vom Publikum gleichsam nur mitgehört wird. Die Zuhörer, bei der Ballade essentiell, sind beim Lied akzidentiell.31

In ihrem exemplarischen Zuschnitt mögen sich Dahlhaus’ Unterscheidungen zwar als Analyseraster eignen, um zu beschreiben, inwiefern gattungsuntypische Merkmale in eine Liedkomposition eingearbeitet wurden – gerade Schuberts Lieder weisen immer wieder Vermischungen der von Dahlhaus idealtypisch erfaßten Kategorien auf. Nicht einbezogen ist indes, wie die Frage der ›Darstellung‹ innerhalb der kulturellen Praxis tatsächlich verwirklicht wurde. Dahlhaus’ Argumentation trennt vielmehr wiederum die sozialgeschichtliche Perspektive von der autonomieästhetischen ab. Aus dem Autonomiepostulat, das für Schuberts Lieder in Anspruch genommen wird, werden mit Blick auf die musikalische Praxis allerdings andere Konsequenzen gezogen, hinter denen ein institutionsgeschichtliches Fortschrittsmodell durchscheint: Dahlhaus ist der Auffassung, der »Konzerttypus des Liederabends« müsse als »Konsequenz des Schubertschen Werkes, das für das Lied einen Kunstanspruch im emphatischen Sinne erhob und öffentlich durchsetzte«, aufgefaßt werden.32 Die hier dargestellte argumentative Linie birgt freilich einen Widerspruch, der nur durch die grundsätzliche Rekurrenz auf den Schuberts Liedern erst aus späterer Perspektive zugewiesenen Status des ›autonomen Kunstwerks‹ aufgelöst erscheint: Werden Schuberts Lieder einerseits als eine genuine Musik der »Unöffentlichkeit« ausgewiesen, so wird ihnen zum anderen zuerkannt, gleichsam eine ›eigene‹, ihrem künstlerischen Anspruch gemäße Institution zum Zweck ihrer öffentlichen Präsentation hervorgebracht zu haben. Bereits Erich Reimer hat Dahlhaus’ These, das von »Geselligkeits-, Repräsentations- und Unterhaltungsfunktionen weitgehend abstrahierte [...]«33 bürgerliche Konzert sei ein institutionsgeschichtliches Korrelat zum künstlerischen Autonomieprinzip34, einer differenzierenden Revision unterzogen. Im beginnenden 19. Jahrhundert war es, wie Reimer betont, vielmehr gerade noch eine spezifische Publikumsorientierung, die in Wechselwirkung mit der Herausbildung einer bürgerlichen Konzertkultur stand, da namentlich für die Zeit nach 1800 das Ziel der Publikumsbildung bzw. der Zusammenführung verschiedener Publikumsschichten vor dem Hintergrund einer dualistischen Einteilung in die Kategorien ›Kenner‹ und 31 32 33 34

Ebd. S. 86f. Dahlhaus, Das deutsche Bildungsbürgertum und die Musik, S. 226. Dahlhaus, Romantik und Biedermeier. Zur musikgeschichtlichen Charakteristik der Restaurationsepoche, S. 24. Carl Dahlhaus, Probleme eine Musikgeschichte in Bildern. Zu Heinrich W. Schwabs Darstellung des Konzertwesens, in: Mf 27 (1974), S. 220.

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›Liebhaber‹ noch als Regulativ für die Komponierenden galt.35 Dies werde, so Reimer, bereits an der Tatsache deutlich, »daß gerade jene Werke, die heute als ästhetisch autonom gelten, sich zunächst der Eingliederung in die Institution widersetzten.«36 Exemplarisch ließe sich eben dieses Phänomen, wie man hinzufügen könnte, gerade an Schuberts Liedern festmachen, deren Entstehung genau in jene Zeit fallen, in der sich zwar eine zunehmend fortschreitende Diversifizierung des Publikums beobachten läßt, allerdings die Spaltung zwischen ›unterhaltender‹ und ›ernster‹ Musik noch nicht vollzogen ist.37 Mit Blick auf die verschiedenen Institutionen des Wiener Musiklebens, die für die zeitgenössische Aufführung von Schuberts Musik von Bedeutung waren – also Kirchenmusik, Oper und Theater, Kammermusik in den bürgerlichen Musikvereinen sowie die verschieden abzustufenden privateren Rahmungen – fällt daher in besonderer Weise auf, daß gerade die Lieder in ganz unterschiedlichen Kontexten erklangen, die sich z. T. gegenseitig überblendeten: Privates Musizieren, Schubertiaden im kleinerem und größeren Kreis, musikalisch-literarische Salons, musikalische Abendunterhaltungen innerhalb der bürgerlichen Vereinskultur, vereinzelte öffentliche Konzertdarbietungen38 und mit einiger Wahrscheinlichkeit auch Aufführungen zwischen und innerhalb von Theatervorstellungen.39 Daß also für Schuberts Lieder keine adäquate, institutionell strukturierte Rezeptionskultur bereitstand, hatte offenbar zur Folge, daß sie letztlich fortwährend zwischen verschiedenen aufführungskulturellen Rahmungen oszillierten. Diesem Phänomen trägt etwa Andreas Ballstaedt bei seiner Beschreibung der Bedingungen für die klingende Existenz der Schubertschen Lieder am Beispiel der Goethe-Vertonung Freudvoll und leidvoll D 210 Rechnung: Schuberts Vertonung ist als Kunstlied der Welt der Dilettanten und deren Hausmusikpraxis ebenso entrückt wie der großen Bühne. Aufführungsgeschichtlich bedeutet dies, daß sich eine Trennung von Zuhörerschaft und Vortragenden vollzieht, wodurch die Konzentration des Publikums auf spezifisch künstlerische Momente ermöglicht und verlagert wird. Zugleich bedeutet der Verzicht auf das große Publikum den Verzicht auf die allzugroße, zuweilen plakative Geste [...]. Die Schubertiade, sozusagen der exemplarische Aufführungsort dieses neuen Liedertyps, war bekanntlich eine Wiener Spezialität, die zwar eine konzertmäßige Darbietung ermöglichte

35 36 37 38

39

Erich Reimer, Die Idee der Öffentlichkeit und die kompositorische Praxis im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert, in: Mf 29 (1976), S. 135f. Ebd., S. 130. Vgl. ebd., S. 136. Einen aktuellen Überblick zur konkret dokumentierten Aufführungsgeschichte der Lieder Schuberts zu Lebzeiten des Komponisten und zwei Jahrzehnte darüber hinaus bietet Christian Ahrens im Rahmen einer 2009 erschienenen Studie zur Wirkungsmacht der Schubert-Liedtranskriptionen Franz Liszts: ders., Liszts Transkriptionen – Wegbereiter für die Rezeption von Schuberts Liedern?, in: Schubert : Perspektiven 9 (2009), S. 1‒42. Ahrens trägt aus einschlägigen Quellen 121 nachweisbare Aufführungen zu Schuberts Lebzeiten und weitere 313 Aufführungen in den Jahren zwischen 1828 und 1848 zusammen. Insgesamt lassen sich für diesen Zeitraum 92 unterschiedliche Lieder eindeutig identifizieren. Vgl. Till-Gerrit Waidelich, »Musikalisch-, declamatorisch-, scenisches Potpourri aus dem Rücklasse des weiland Franz Schubert«. Weitere zeitgenössische Aufführungsdaten Schubertscher Werke in Wiener Theatern, in: Schubert : Perspektiven 3 (2003), S. 176−202.

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[...], die aber nicht vor einem anonymen Publikum stattfand, das erst für die Neuartigkeit der Werke sensibilisiert und in eine neue Rezeptionshaltung eingeübt werden mußte. Vielmehr traf sich bei den Schubertiaden ein Zirkel von Gleichgestimmten. Insofern störte es auch nicht, daß sich das Gespräch, das Essen, der Tanz und die andächtige Stille beim Vortrag abwechselten. Fiel diese Gleichgestimmtheit weg, konnten andere Momente die Oberhand gewinnen sei es die Repräsentation und Selbstdarstellung wie im Salon, oder die Notwendigkeit, musikalische Aufmerksamkeit bei einem großen Publikum erst einmal zu wecken wie im öffentlichen Konzert. Insofern waren Schuberts Lieder institutionsgeschichtlich betrachtet ihrer Zeit weit voraus, denn die Einrichtung des Liederabends, wie wir ihn heute kennen, etablierte sich erst im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts.40

Allerdings tendiert auch Ballstaedt letztlich dazu, die Lieder als solche von der beschriebenen kulturellen Praxis zu distanzieren, indem er sie – wie Dahlhaus – direkt auf die erst einige Jahrzehnte später etablierte Konzertform des ›Liederabends‹ als ihnen erst ›adäquatem‹ Präsentationsrahmen bezieht. Mit Reimer wäre dem zu entgegnen, daß die aus späterer Perspektive getroffene radikale Unterscheidung zwischen Funktionalität und Autonomie letztlich quer zu den konkreten soziokulturellen Bedingungen einiger musikalischer Gattungen des früheren 19. Jahrhunderts steht. Blendet man diese spätere Perspektive nun also aus, stellt sich die Frage, ob hinter Schuberts Liedern nicht weniger ausschließlich die soziale Dimension einer ›privat‹ bzw. ›unöffentlich‹ gedachten ›biedermeierlichen‹ Abgeschiedenheit wahrnehmbar ist, sondern gerade jene Disparatheit der Kontexte, die als Folge der Herausbildung einer mit dem Bereich des Privaten verschränkten bürgerlichen Öffentlichkeit angesehen werden kann. Am Beispiel der Oratorienkomposition in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts stellt Stefanie Steiner etwa dar, wie Komponisten womöglich bewußt musikalische Gattungsgrenzen überschritten haben, um gerade nicht in ausschließlicher Weise an eine festgefügte institutionalisierte Struktur (wie in diesem Fall zum einen die Kirche zum anderen den Konzertsaal) gebunden zu sein.41 Sicherlich muß auch im Fall der Lieder Schuberts von einer komplexeren Wechselwirkung ausgegangen werden: Schubert durchbrach durch den künstlerischen Anspruch vieler seiner Lieder mit den kompositionsästhetischen Grenzen eben auch Grenzen zwischen kulturell in bestimmter Weise geformten gesellschaftlichen Rahmungen für musikalische Aufführungen und damit verbundenen vortragsästhetischen Traditionen und rezeptionsästhetischen Modellen, die sich alle als Komponenten einer umfassenden kulturellen Praxis beschreiben lassen. Die Idee eines ›autonomen‹ Komponierens läßt sich vor solchem Hintergrund auf vielfältige Weise kontextualisieren.

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41

Andreas Ballstaedt, »...ein neues Poem, welches den Dichter selbst überraschen muß«. Zum Verhältnis von Lyrik und Musik in rezeptionsgeschichtlicher Sicht, in: Musik in Goethes Werk, Goethes Werk in der Musik, hg. von dems. [u. a.], Schliengen 2003, S. 221. Stefanie Steiner, Zwischen Kirche, Bühne und Konzertsaal. Vokalmusik von Haydns »Schöpfung« bis zu Beethovens Neunter, Kassel [u. a.], 2001, S. 269.

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4 Schuberts Lieder im Wiener Musikleben

4.2 PRIVATHEIT: SCHUBERTIADEN UND AUTONOMIEIDEAL Schuberts musikalische Sozialisation, die von verschiedenen kulturellen Einflußfeldern wie Elternhaus, Kirche und Wohngegend durch Formen und Praktiken der jeweils funktionsmäßig betriebenen Haus- Kirchen- Tanzmusik geprägt wurde42, erhielt mit Blick auf seine Entwicklung als Komponist eine entscheidende Wendung mit dem Eintritt des elfjährigen Franz ins Wiener Stadtkonvikt. Im Jahr 1808 wurde er nach einer ordentlichen Aufnahmeprüfung zunächst als Chorsopranist an das als Internat geführte königlich-kaiserliche Ausbildungsinstitut für ausgewählte Gymnasiasten, Studenten und Hofsängerknaben aufgenommen. Einer der Konviktsgenossen Schuberts, der Geiger Joseph Hauer, konstatiert rückblickend: »[...] hier war die praktische Schule für Schubert. Tagtäglich wurden da des Abends Sinfonien, Quartett- und Gesangsstücke aufgeführt.«43 Schubert erhielt über das übliche Maß an Musikstunden hinaus auch zwei Mal wöchentlich Unterricht bei Hofkapellmeister Antonio Salieri, der ihn vor allem an die Werke Glucks und die ältere Opernreform heranführte.44 Der komponierende Sängerknabe sammelte innerhalb des Konvikts außerdem zahlreiche Erfahrungen als Klavierpartner, Quartett- und Orchestermitglied und begeisterte sich vor allem für die Ouvertüren Haydns, Mozarts und Beethovens.45 Grundsätzlich war Schuberts musikalische Ausbildung insofern weniger etwa auf die Erlangung virtuoser Fähigkeit am Instrument ausgerichtet, sondern auf die Bildung und Verfeinerung musikalischen Verständnisses und Klangempfindens im Sinne einer umfassenden musikalischen ›Ausdruckslehre‹. Die Basis hierfür war eine »musikalische Praxis, die sich nicht von der Wirksamkeit öffentlichen Auftretens definierte, sondern von der Anerkennung des Häuslichen oder doch Gemeinschaftlichen in kleinen bis überschaubaren Räumen.«46 Damals kam entsprechend, so entnimmt man Anton Holzapfels Erinnerungen, »[...] der Gesang zum Klavier, besonders die Zumsteegschen Balladen und Lieder unter uns in Mode.«47 Das hier angesprochene private Musizieren vergleichsweise anspruchsvoller Kompositionen mit den Konviktsgenossen bot für Schubert auch den Impuls, die ersten eigenen Lieder unter reger Anteilnahme eines kunstinteressierten Umfeldes zu komponieren, das auch durch literarische, philosophische und ästhetische Interessen zu charakterisieren ist – hier findet sich gleichsam die Basis für die Herausbildung eines späteren ›Schubert-Kreises‹. In dieser Zeit des kompositorischen Experimentierens entdeckte Schubert das Lied zunehmend als kreatives Feld und gelangte von großen kantatenhaften bzw. formal freien Entwürfen nach dem Vorbild der Balladen Zumsteegs auf der einen und traditionell-liedhaften Kompositionen auf der anderen Seite zu einer intrikaten 42 43 44 45 46 47

Vgl. Kalisch, Schubert: warum eigentlich Lieder?, S. 70ff. EF, S. 150. Vgl. Walburga Litschauer, Schubert und sein Lehrer Salieri, in: Schubert : Perspektiven 1 (2001), S. 74‒83. Vgl. Kalisch, Schubert: warum eigentlich Lieder?, S. 74. Ebd. S. 75. EF, S. 99.

4.2 Privatheit: Schubertiaden und Autonomieideal

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Verbindung beider stilistischer Modelle. Die angesprochenen Aufführungssituationen, die offenbar eher eine Art ›Workshop-Charakter‹ besaßen, dürften auch im Vergleich mit der regen Musizierpraxis innerhalb des Konvikts sicherlich insofern ein Spezialfall gewesen sein, als dahinter vor allem von Schuberts Seite zunehmend professionelle Ansprüche und Ambitionen standen. 48 Hintergrund für die Aktivitäten, an denen Schubert sich hier rege beteiligte, bildete aber auf der anderen Seite auch eine gängige private Musizierpraxis vor dem Hintergrund bürgerlicher Bildungstandards: So ließe sich das erst 1997 von Morten Solvik als zusammengehörig identifizierte Liederspiel nach Texten von Gotthard Ludwig Kosegarten aus dem Jahr 1815 49 sowie das Liederalbum für Therese Grob50 direkt auf die gesellige Liedpraxis der Empfindsamkeit beziehen. Auch Herbert Zeman charakterisiert die Liedkultur um Schubert etwa mit dem Begriff einer zeit- und ortstypischen Neo-Empfindsamkeit, die gewissermaßen von einer ›romantischen Erfahrung‹ berührt worden war: [...] das Kunstlied von und um Franz Schubert holt geradezu alles, was die Dichtung des 18. Jahrhunderts aufgeklärt und empfindsam bewegte und die Gegenwart noch bestimmte, in den bürgerlichen Kreis musikalischer Salon-Darbietung, wobei selbst Dichtungen Goethes und Schillers oder der Romantiker in den heimischen Kunstgeschmack einer neo-empfindsamen Seelenlage einbezogen werden.51

Letztlich war das Konvikt eine Eliteanstalt, die Schubert mit einer gesellschaftlichen Schicht in Verbindung brachte, aus der er selbst nicht stammte, sondern in die er explizit aufgrund seiner musikalischen Fähigkeiten hineingeraten war. Sowohl die innerhalb Schuberts gesellschaftlichem Umfeld geführten ästhetischen Diskurse als auch die Literaturrezeption und -produktion des engeren Schubert-Kreises, die in jüngeren literaturwissenschaftlichen Forschungen in die Kontexte einer romantisierenden Adaption klassizistischer Kunstemphase und der für die Dichtung der Restaurationszeit typischen Weltschmerz-Klagen gestellt worden sind52, müssen insofern als rezeptionsästhetische Folie hinter dem Erklingen der Lieder innerhalb 48

49 50 51 52

1813 verließ Schubert indes trotz des Angebots eines Stipendiums für das Schuljahr 1813/14 das Internat, hielt aber Kontakt zu vielen ehemaligen Konviktsgenossen, zu denen er zahlreiche kreative Beziehungen hatte aufbauen können und beteiligte er sich auch weiterhin an der musikalischen Praxis im Konvikt: »Im Fortepianozimmer des Konvikts« übte man sich, wie Joseph Kenner mitteilt, »während der freien Zeit nach dem Mittagessen [...] im Vortrage Beethovenscher und Zumsteegscher Kompositionen. [...] Stadler schlug, Holzapfel sang , dann und wann setzte sich Schubert selbst ans Klavier. Dort wurden seine frühesten Kompositionen zuerst versucht und besprochen.« (EF, S. 95). Morten Solvik, Lieder im geselligen Spiel. Schuberts neu entdeckter Kosegarten-Zyklus von 1815, in: ÖMz 53/1 (1997), 31‒39. Gudrun Busch, Das Liederalbum für Therese Grob im Umkreis der zeitgenössischen Literatur, in: SJb 2006‒2009 (2010), S. 41. Zeman, Biedermeierliche Welt in Musik und Dichtung, S. 4. Einen Überblick bietet: Herbert Zeman, Gedanken zu Schuberts poetischer Weltvorstellung, in: Musica privata. Die Rolle der Musik im privaten Leben (FS Walter Salmen), hg. von Monika Fink, Innsbruck 1991. Als zentrale Untersuchungen sind zu nennen: Michael Kohlhäufl, Poetisches Vaterland. Dichtung und politisches Denken im Schubertkreis, Kassel [u. a.] 1999 und Ilija Dürhammer, Schuberts literarische Heimat, Wien 1999.

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4 Schuberts Lieder im Wiener Musikleben

eines engeren und erweiterten ›Schubert-Kreises‹ geblendet werden, der als kultureller Rahmen für die Aufführung der Lieder Schuberts im folgenden unter Bezugnahme auf verschiedenen Aspekte beleuchtet werden soll. Eduard von Bauernfelds in der Schubert-Literatur vielzitierte erste Beschreibung der Formation eines engeren Kreises junger Männer, deren Zusammenkünften zwischen 1814 und 1818/19 auch Schubert beiwohnte, verweist zunächst noch auf ein Geselligkeitskonzept, das in seiner Exklusivität Frauen gegenüber die Tradition aufklärerisch-empfindsamer Dichterbünde aufruft:53 Es hatten sich zur Zeit, als Schubert in die Welt trat, in seiner Vaterstadt mehrere junge Männer, meistens Dichter und Maler [...] zusammengefunden, welche ein reines Streben für die Kunst und ähnliche Gesinnungen bald zu inniger Freundschaft verbanden und in deren Kreis auch Schubert gezogen wurde. Die wechselseitige Mitteilung dieser Jünglinge und ihre Kunstgespräche hatten auf ihn große Wirkung und regten ihn, wenn auch weniger zum Sprechen, doch zu den verschiedenartigsten musikalischen Erzeugnissen an.54

Die mit diesem Kreis verbundene gesellige Praxis, aus der schließlich auch in etwas veränderter personeller Konstellation die späteren Schubertiaden hervorgehen sollten, weist, wie Michael Kohlhäufl ausführlich dargestellt hat, Bezüge »zu den Bildungsidealen der Empfindsamkeit sowie zum ästhetischen Neuhumanismus um 1800« auf.55 An Stelle des Herkunftsadels rückte vor dem Hintergrund des zeitgenössischen Freundschaftskults die Idee eines ›Gefühlsadels‹, mit dem sich vor allem die »Empfänglichkeit‹ für höhere Werte« verband.56 Auch Schubert zeigt sich von diesen Idealen einer Gefühlsbildung und -veredelung beeinflußt, wenn er etwa 1816 in seinem Tagebuch sentenzhaft formuliert: Der edle Unglückliche fühlt die Tiefe seines Unglücks u[nd] Glücks; ebenso der edle Glückliche sein Glück u[nd] Unglück57

Der hier angesprochene gefühlsgeleitete Lebensentwurf verband sich im zeitgenössischen Bewußtsein vor allem mit dem Ideal einer gesteigerten künstlerischen Sensibilität im Gefolge von Schillers moralphilosophischem Entwurf einer ›ästhetischen Erziehung‹, der der Kunst die Funktion einer idealisierten Gegenwelt zuwies.58 Gerade das Potential und die Gefahren der Musikrezeption waren vor solchem Hintergrund zu einem zentralen Thema für Literatur und Ästhetik geworden: Seit etwa Mitte des 18. Jahrhunderts wurde, wie Nicola Gess sehr plastisch herausgearbeitet hat, vor dem Hintergrund eines aufgeklärt-›bürgerlich‹ bestimmten Mentalitätswandels die Wirkung von Musik auf Körper, Einbildungskraft und Emotionen zunehmend als bedrohlich empfunden. 59 Um 1800 zeichnete sich schließlich 53

54 55 56 57 58 59

Hans Joachim Kreutzer, Freundschaftsbünde, Künstlerfreunde. Das Erbe Erbe von Aufklärung und Empfindsamkeit im Schubert-Kreis und seine Verwandlung im romantischen Geist, in: Schubert und seine Freunde, S. 64. EF, S. 41. Kohlhäufl, Poetisches Vaterland, S. 51f Ebd., S. 53. Dok I, S. 49. Vgl. Kohlhäufl, Poetisches Vaterland, S. 52. Nicola Gess, Gewalt der Musik. Literatur und Musikkritik um 1800, Freiburg i. Brsg. 22011.

4.2 Privatheit: Schubertiaden und Autonomieideal

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eine typische Ambivalenz ab: Der seit der Antike geläufigen Gedankenfigur von der ›Macht der Musik‹ wurde im Musikdiskurs des frühen 19. Jahrhunderts sowohl mit einer romantisierenden Überhöhung als auch der Prämisse einer moralisch motivierten Mäßigung unter Bezugnahme auf die ästhetischen Theorien Kants und Schillers begegnet. Diese konfligierenden Momente verdichten sich im zeitgenössischen musikästhetischen Diskurs über das Erhabene in der Musik: Musik kommt die Gewalt des Erhabenen zu, den Körper und die Seele des Hörers heftig zu erschüttern und auf diese Weise unangenehme Empfindungen und Leidenschaften zu verursachen, gegen die sich der Hörer nicht wehren kann und die ihm Unlust bereiten. Andererseits wenden sich die [zeitgenössischen, M. G.] Theorien auf den Spuren Kants und Schillers gegen diese Gewalt der Musik, indem sie sie zum einen durch eine Gewalt der Vernunft zu übertrumpfen suchen, was bedeutet, die Unlust zu ertragen und keine Furcht zu haben und indem sie ihr zum anderen Grenzen ziehen, um den Sieg der Vernunft zu erleichtern.60

Dieser Konflikt läßt sich im Sinne einer rezeptionsästhetischen Basis auch im Umfeld Schuberts identifizieren. Es liegt etwa nahe, Franz Grillparzers Katharina Fröhlich zugeeignetes Gedicht Als sie zuhörend am Klavier saß von 1821 als indirekte Quelle einer künstlerischen Auseinandersetzung mit der zeitgenössischen Hörerfahrung im Kontext des Schubert-Kreises heranzuziehen.61 Grillparzer, der zwar nicht zu Schuberts engerem Freundeskreis zählte, aber bei den hier angesprochenen geselligen Zusammenkünften gelegentlich anwesend war62, beschreibt darin die Aufführungssituation etwa eines Liedes oder Klavierstücks und macht dabei das Musikerlebnis zum eigentlichen Mittelpunkt der Szene: Still saß sie da, die Lieblichste von allen, Aufhorchend, ohne Tadel, ohne Lob; Das dunkle Tuch war von der Brust gefallen, Die, nur vom Kleid bedeckt, sich atmend hob; Das Haupt gesenkt, den Leib nach vorn gebogen, Wie von den fliehnden Tönen nachgezogen. Nenn ich sie schön? Ist Schönheit doch ein Bild, Das selbst sich malt und nur sich selbst bedeutet, Doch Höheres aus diesen Zügen quillt, Die wie die Züge einer Schrift verbreitet, An sich oft bildlos, unscheinbare Zeichen, Doch himmlisch durch den Sinn, den sie erreichen. So saß sie da, das Regen nur der Wangen Mit ihren zarten Muskeln rund und weich, Der Wimpern Zucken, die das Aug umhangen, Der Lippen Spiel, die Purpurlädchen gleich,

60 61

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Ebd., S. 276. Das Gedicht gilt wegen seiner Zueignung traditionell als Dokument der Schubert-Rezeption. Vgl. Hans Joachim Kreutzer, Schubert. Ein literarisches Kaleidoskop, in: Schubert und das Biedermeier, S. 268f. sowie: Dok II, Nr. 132. So etwa Mitte Dezember 1826 bei einer großen Schubertiade bei Spaun, bei der Vogl über 30 Lieder gesungen haben soll. Vgl. Ernst Hilmar, Art. Grillparzer, Franz in: SE, S. 266‒268.

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4 Schuberts Lieder im Wiener Musikleben Den Schatz von Perlen hüllen jetzt, nun zeigen, Verriet Gefühl, von dem die Worte schweigen. Und wie die Töne brausend sich verwirren, In stetem Kampfe stets nur halb versöhnt, Jetzt klagen, wie verflogne Tauben girren, Jetzt stürmen, wie der Gang der Wetter dröhnt, Sah ich ihr Lust und Qual im Antlitz kriegen Und jeder Ton ward Bild in ihren Zügen. Mitleidend wollt ich schon zum Künstler rufen: »Halt ein! Warum zermalmst du ihre Brust?« Da war erreicht die schneidendste der Stufen, Der Ton des Schmerzes ward zum Ton der Lust, Und wie Neptun, vor dem die Stürme flogen, Hob sich der Dreiklang ebnend aus den Wogen, Und wie die Sonne steigt; die Strahlen dringen Durch der zersprengten Wetter dunkle Nacht, So ging ihr Aug, an dem noch Tropfen hingen, Hellglänzend auf in sonnengleicher Pracht; Ein leises Ach aus ihrem süßen Munde, Sah, wie nach Mitgefühl, sie in die Runde. Da trieb’s mich auf; nun soll sie’s hören, Was mich schon längst bewegt, nun werd ihrs kund, Doch blickt sie her; den Künstler nicht zu stören, Befiehlt ihr Finger schwicht’gend an dem Mund; Und wieder seh’ ich horchend sie sich neigen, Und wieder muß ich sitzen, wieder schweigen.63

Die Unmittelbarkeit mimischen körperlichen Ausdrucks wird für Grillparzer hier in empfindsamer Tradition zum Spiegelmedium des in Worten nicht beschreibbaren musikalischen ›Inhalts‹: Empfangen durch die »freie Brust«, dem metaphorischem Sitz des Gefühls, wird »ein jeder Ton [...] Bild« in der Mimik der beobachteten Zuhörerin. Allerdings kündigt sich gerade in ihrer direkten Wirkung auf den Körper auch die Gefährlichkeit der in diesem Sinne als ›romantisch‹ apostrophierbaren ›Macht der Töne‹ an. Sie vermag es ebenso, vom Körper der dieser Macht gleichsam schutzlos ausgelieferten Zuhörenden Besitz zu ergreifen (Strophe 1). Ambivalent scheint bei genauerer Betrachtung indes der Beobachter, die sprechende Instanz des Gedichts: Obwohl er die gewaltigen affektiven Wirkungen der Musik mit Worten beschreiben kann (besonders Strophe 4 und 5), scheint er nicht selbst von ihnen ergriffen. Er wird vielmehr in einer doppelten Spiegelungsebene erst von den Effekten, die die Musik auf das Objekt seiner erotischen Sehnsüchte ausübt dazu gebracht, die eigene emotionale Kontrolle aufzugeben und faßt den Entschluß, ihr die bislang verschwiegene Liebe zu offenbaren, obwohl offenbar noch weitere Personen anwesend sind (Strophe 6). Die Angebetete wiederum erstickt dieses Bekenntnis gleichsam im Keim, indem sie zur Disziplinierung mahnt, 63

Grillparzers sämtliche Werke in zwanzig Bänden, hg. von August Sauer, Stuttgart 1893, Bd. 1: Gedichte, S. 165f.

4.2 Privatheit: Schubertiaden und Autonomieideal

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um sich gemeinsam weiterhin der Musik hinzugeben, die damit deutlich das beherrschende Moment der Szene bleibt. In der literarischen Inszenierung einer rezeptionsästhetischen Paradoxie – der letztlich utopisch anmutenden Gleichzeitigkeit von intellektueller Konzentration und emotionaler Entgrenzung der Zuhörenden − scheint zum einen eine romantische Utopie durch.64 Die Figur des Beobachters, der den Impuls verspürt, dem Musizierenden (als Ursache der erlebten Klänge) eine emotionale Nötigung der Zuhörerin vorzuwerfen, und der sich schließlich in der Schlußsituation durch die übermächtige emotionale Wirkung der Musik um seinen persönlichen erotischen Erfolg betrogen sehen muß, wird dagegen zur personifizierten Kritik an der ›unmittelbar‹ sinnlichen, ›überwältigenden‹ Wirkung der Musik. Er vertritt damit eher Grillparzers persönliche musikästhetische Position: Dem romantischen Konzept ihrer Überhöhung zur übermächtigen, die anderen Künste gleichsam in sich aufnehmenden Instanz, da sie selbst die Idee eines transzendenten Unsagbaren abspiegele, setzt Grillparzer in seinen posthum veröffentlichten musikästhetischen Reflexionen65 eine betont klassizistische Sichtweise entgegen, indem er auf einer Unterscheidung von Poesie und Musik beharrt, die rezeptionsästhetisch begründet wird: Die Poesie will den Geist verkörpern, die Musik das Sinnliche vergeistigen. Darin liegt beider Wesen und der Grund ihrer Verschiedenheit. Seiner Basis kann aber nichts Fortschreitendes ungestraft untreu werden. Darum auch nie die Poesie dem Begriff, und die Musik nie dem Sinne.66

Während die Gefühlserregung in der Dichtkunst in direkter Verbindung mit der begrifflichen Ebene der Sprache erfolge, müsse beim Musikhören, so Grillparzers Auffassung, erst nachträglich eine verstandesmäßige Befragung der durch die unbestimmten Klänge kommunizierten Emotionen erfolgen.67 Das romantische Potential der Musik wird insofern gerade ob deren Wirkung auf die Sinne zwar deutlich wahrgenommen, aber durch Setzung eines normativen ästhetischen Gegenentwurfs gewissermaßen willentlich relativiert. Dahinter scheint eben jenes rezeptionsästhetische Ideal eines Ausgleichs der Kräfte durch, das sich in Grillparzers Gedicht poetisch umschrieben findet. Die sich hier grundsätzlich ergebende Frage nach dem konzeptuellen Hintergrund der Musikrezeption im Sinne einer idealisierten Hörhaltung muß indes für die Mitglieder des engeren Schubert-Kreises anders akzentuiert werden. Daß hier die Musik zur Basis des spezifischen Geselligkeitsmodells werden, bzw. ihm später sogar grundsätzliche Kontur verleihen konnte, weist nämlich gerade in die gegensätzliche Richtung und kann durchaus in den Kontext der Rezeption romantischer 64

65 66 67

Vgl. Bernd Sponheuer, Der »Gott der Harmonien« und die »Pfeife des Pan«. Über richtiges und falsches Musikhören in der Musikästhetik des 18. und 19. Jahrhunderts, in: Rezeptionsästhetik und Rezeptionsgeschichte in der Musikwissenschaft, hg. von Hermann Danuser/Friedhelm Krummacher, Laaber 1991, S. 179‒191. Vgl. Zur Musik, in: Grillparzers sämtliche Werke, Bd. 15: Ästhetische Schriften, S. 113‒125. Grillparzer, Zur Musik, S. 115. Vgl. Matthias Tischer, Gefühlsästhetik und Konzepte der Vergeistigung, in: Aufbrüche, Fluchtwege. Musik in Weimar um 1800, hg. von Helen Geyer, Köln [u. a.] 2003, S. 43ff.

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Kunsttheorie gestellt werden. In den Poetischen Episteln, die innerhalb des Freundeskreises noch vor Schuberts Teilnahme verfaßt wurden, wird etwa im romantisierenden Modus der literarischen Inszenierung eines mehrstimmigen Gesprächs ausführlich über eine Hierarchie der Künste diskutiert. Die Musik und die mit ihr verbundene ästhetische Erfahrung erhält, wie sich daran ablesen läßt, für die nachmaligen Schubertianer eine zusehends gewichtigere Stellung im System der Künste. Hintergrund war auch hier, wie Michael Kohlhäufl herausstellt, ein sympathetischer Lyrikbegriff nach dem Modell Friedrich Schlegels, bei dem Musik und Literatur aufeinander verweisen.68 Die Idee des ›lyrischen Gesangs‹ und dessen Personifikation durch die Figur des ›Sängers‹ sahen die Freunde letztlich in Schuberts Schaffen und Person verwirklicht.69 Auch eine prominente, durch Eduard von Bauernfeld mitgeteilte, Äußerung des Baritons Johann Michael Vogl, der mit Schober in Kontakt stand und seit 1817 mit Schubert persönlich bekannt war und zu einer zentralen Figur in der Aufführungsgeschichte der Liedkompositionen werden sollte70, läßt sich in diesen Kontext stellen: Nichts hat den Mangel einer brauchbaren Singschule so offen gezeigt als Schuberts Lieder. Was müssten sonst diese wahrhaft göttlichen Eingebungen, diese Hervorbringungen einer musicalischen Clairvoyance in einer Welt, die der deutschen Sprache mächtig ist, für allgemeine ungeheure Wirkung machen? Wieviele hätten vielleicht zum ersten male begriffen was es sagen will: Sprache, Dichtung in Tönen, Worte in Harmonien, in Musik gekleidete Gedanken. Sie hätten gelernt, wie das schönste Wortgedicht unserer größten Dichter, übersetzt in solche Musiksprache, noch erhöht, ja überboten werden könnte.71

Aus der Sicht des ›klassisch‹ gebildeten Sänger-Darstellers Vogl verschieben sich hier deutlich die Prioritäten: die wirkungsästhetische Übermacht der Musik wird emphatisch betont, der Musik wird gar das Potential nicht nur einer Vergegenwärtigung bzw. komplettierenden Aktualisierung der Dichtung zugeschrieben, sondern das ihrer Überhöhung im Medium einer anderen Sprache. Damit korrespondiert ein charakteristisch verändertes Musikerleben, das für viele Schubertianer explizit mit Schuberts Liedern in Verbindung stand: Schuberts Vertonungen wurden gerade im Vergleich mit traditionellen Vertonungstechniken in höherem Maße als Repräsentation einer poetischen Substanz aufgefaßt, als dies die Worte der Dichtung selbst vermochten. In einer unmittelbar nach Schuberts Tod von Joseph Spaun und Anton Ottenwalt verfaßten Kurzbiographie heißt es: Was des Dichters Brust bewegte hat Schubert in jedem seiner Lieder treu und verklärt in Tönen wiedergegeben. Jede seiner Lieder-Compositionen ist eigentlich ein Gedicht über das Gedicht, das er in Musik setzte; und nicht für die Empfindung nur, die im Liede wohl daheim ist, sondern auch für jeden Zauber der Fantasie, ihren überirdischen Reitz und ihre nächtlichsten Schrecken, wußte er eigensten Ausdruck zu finden, ja selbst für den hohen Ernst des Gedankens hatte er

68 69 70 71

Kohlhäufl, Poetisches Vaterland, S. 75. Vgl. ders., Tod und Verklärung des ›königlichen Poeten‹ – der Sänger als Dichterfürst der Goethezeit, in: Schubert und das Biedermeier, S. 173‒184. Zu Vogl vgl. ausführlich unten Kapitel 5.2.3. EF, S. 259f. Es handelt sich hier um einen von Bauernfeld um 1870 mitgeteilten Eintrag aus Vogls verschollenem Tagebuch.

4.2 Privatheit: Schubertiaden und Autonomieideal

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eine Sprache. Wer, der einige von seinen gewaltigsten Liedern zu hören das Glück hatte, erinnert sich nicht, wie bey dieser Musik ihm eine lang gekannte Dichtung neu, wie auf ein Mahl geoffenbart, im Innersten verständlich wurde, wie ein Accord, ein Ton ihm manches Mahl wie ein Blitz leuchtend und erschütternd durch die Seele fuhr. Für die große Menge freylich, welche durch Musik nur flüchtig unterhalten, nicht aber ergriffen und erhoben werden will, werden zwar immer die Schubertischen Lieder nur geringen Reitz haben; um so tiefer aber werden sie für immer auf jene wirken, für welche das Ohr nicht das Ziel der Töne, sondern nur die Schwelle ist, durch die sie eindringen, um auf das Gemüth ihre wunderbare Gewalt auszugeben.72

Schubert war demnach nach Auffassung der Schubertianer in der Lage, eine hinter den Texten der Dichtung gedachte, ›unsagbare‹ Dimension gleichsam körperlich erfahrbar zu machen und damit die künstlerischen Intentionen des vertonten Dichters erst zu vollends verwirklichen. Als zeitgenössischen Kontext für diese nach Schuberts Tod veröffentlichten Äußerungen Joseph von Spauns und Anton Ottenwalts hat Lawrence Kramer auf Friedrich Schleiermachers hermeneutisches Modell eines divinatorischen ›Einlebens‹ hingewiesen.73 ›Verstehen‹ wird hier als von Inspiration geleitete Auslegungskunst aufgefaßt74, die sich sowohl auf Schuberts Umgang mit den poetischen Texten als auch auf die Rezeptionshaltung der Schubertianer beziehen läßt. Der romantische Topos des ›Unsagbaren‹, das sich in der Musik mitteile, erschien nach diesen erinnerten Beschreibungen durch Schuberts Liedkompositionen gewissermaßen in greifbare Nähe gerückt. Vor allem die Ebene des Emotionalen im Sinne eines autonomen Kommunikationsraums zwischen den einzelnen Mitgliedern eines engeren Schubert-Kreises wird betont: Das Ohr wird in empfindsamer Tradition gleichsam als Schwelle zum Bereich des Seelischen verstanden, in dessen Tiefen indes die Musik auf ›unerklärliche‹ Weise vordringe und gleichsam von ihm Besitz ergreife. Die von Grillparzer zurückgewiesene ›Gewalt‹ der Musik scheint hier – auf die literarisch formulierten rezeptionsästhetischen Ideale der romantischen Musikästhetik verweisend – als Impuls einer Transzendierung des Zuhörenden aufgefaßt: 75 Die Musik Schuberts erhält dabei allerdings nicht allein die Macht über die Emotionen des Hörenden, sondern führt auch auf einer intellektuellen Ebene zur Erhellung, wenn nicht Offenbarung, der dichterischen Inhalte und Intentionen. Das Hören selbst wird so zu einer Kunst emporgehoben, die sich im Sinne romantischer Musikanschauung als charakteristische Vermischung von »Empfindung und Reflexion« deuten läßt.76 Die hier aus einer rezeptionsästhetischen Perspektive beschriebene Adaption romantisierender Ideen durch Schuberts Freundeskreis erfolgte bekanntlich vor 72

73 74 75 76

Über Franz Schubert, in: Oesterreichisches Bürgerblatt für Verstand, Herz und gute Laune (Linz), Nr. 27, 3.3.1829 (= Dok II, Nr. 717). Verfasser des Textes ist Joseph Spaun, Anton von Ottenwalt übernahm die Redaktion und fügte einige Ergänzungen ein. Vgl. Dok II, Kommentarband, S. 368. Lawrence Kramer, Franz Schubert. Sexuality, Subjectivity, Song, Cambridge 1998, S. 102. Vgl. Hans Ineichen, Philosophische Hermeneutik, Freiburg i. Brsg./München 1991, S. 121ff. Vgl. Alexandra Kertz-Welzel, Die Transzendenz der Gefühle. Beziehungen zwischen Musik und Gefühl bei Wackenroder/Tieck und die Musikästhetik der Romantik, St. Ingbert 2001. Vgl. Ulrich Tadday, Empfindung und Reflexion. Zur romantischen Musikästhetik, in: Musikästhetik, hg. von Helga de la Motte-Haber, Laaber 2004, S. 201‒219.

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dem Hintergrund prägender zeitgeschichtlicher Ereignisse: Nach den antinapoleonischen Kriegen setzten die europäischen Mächte auf dem Wiener Kongreß die Restauration absolutistischer Herrschaft ins Werk. Die durch die Karlsbader Beschlüsse von 1819 eingeleitete offizielle Repression der Freiheitsbewegung ließ die revolutionären Ideale von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit nunmehr endgültig unerfüllbar erscheinen – und auch Schubert und sein Freundeskreis wurden so letztlich Zeugen und Opfer einer Epoche der planvollen Unterdrückung idealistischer Bestrebungen. Die Idee einer ›autonomen Kunst‹ mußte sich vor diesem Hintergrund für die Schubertianer erheblich mit gesellschaftlicher und politischer Bedeutung aufladen – Literatur, Musik und ihre Verbindung in Schuberts Liedkunst wurden zu Trägermedien lebensphilosophischer Bekenntnisse. Die von einer derartigen Literaturrezeption bestimmte eigene literarische Produktion des Freundeskreises, aus der Schubert bereits seit der Konviktszeit Textvorlagen für Liedkompositionen aufgriff, zeichnet sich, wie von Michael Kohlhäufl gezeigt wurde, vor allem durch spezifische epigonale Qualitäten aus: Schuberts dichtende Freunde (Ottenwalt, Mayrhofer, Schober, Senn, Kenner u. a.) nutzten zum einen die Dichtungen der bereits kanonisierten Klassiker gleichsam als Schablonen, die sie gezielt und phantasievoll modifizierten, um so inhaltliche Botschaften chiffrieren zu können, die als Folge der Bedingungen des Dichtens unter den Zwängen der metternischschen Zensur auffaßbar sind. Zentrales Thema dieser Dichtung wird nach Kohlhäufls Darstellung insofern eine »Poesie der Sehnsucht« vor dem Hintergrund politischer Enttäuschung, wobei immer wieder auf typisch romantische Stoffe, Motive und Genres zurückgegriffen wird. 77 Der hier im gedachten und erlebten Zusammenspiel von Poesie und Musik skizzierte rezeptionsästhetische Horizont des Schubert-Kreises verbindet sich mit Schuberts komponierten, gehörten und vorgetragenen Liedern letztlich zu einer umfassenden kulturellen Praxis, die die aus späterer Perspektive zuweilen festgestellte mangelnde ›Seriosität‹ der Schubertiaden in verändertem Licht erscheinen läßt. Zwischen 1821 und 1828 sind es neben Briefen Schobers, Schwinds, Bruchmanns und Spauns vor allem die Tagebuchaufzeichnungen der Gebrüder Hartmann78, die einige Details über die Schubertiaden-Veranstaltungen übermitteln: Dann gehe ich zu Spaun, wo eine große Schubertiade ist. Beym Eintritte werde ich von Fritz unnachsichtig, und von Haas sehr naseweis empfangen. Die Gesellschaft ist ungeheuer. Das Arnethische, Wittitscheckische, Kurzrockische, Pompische Ehepaar, die Mutter der Frau des Hof- und Staatskanzleykoncipisten Witticzek, die D[okto]rinn Watteroth, Betty Wanderer, der Maler Kupelwieser u. seine Frau, Grillparzer, Schober, Schwind, Mayerhofer u. sein Hausherr

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78

Vgl. dazu umfassend Kohlhäufl, Poetisches Vaterland, S. 139‒186. Ein markantes Beispiel bietet etwa Spauns Umdeutung von Matthias Claudius’ Gedicht Der Tod und das Mädchen. Claudius’ humanisierte Darstellung der mittelalterlichen Todesallegorie führt bei Spaun in Einklang mit dem Kunstbegriff der Schubertianer in eine erträumte Gegenwelt. Vgl. SchubertLiedertexte, Bd. I, S. 67 sowie Bd. II, S. 672. Vor allem Franz von Hartmann hinterließ mit seinen Aufzeichnungen aus dem Jahren 1825, 1826 und 1828 detailreiche Beschreibungen von Schuberts gesellschaftlichem Umfeld sowie Ablauf und Repertoire der Schubertiaden-Veranstaltungen. Vgl. Ernst Hilmar, Art. Hartmann, von (Familie), in SE, S. 292f.

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Huber, der lange Huber, Derffel, Bauernfeld, Gahi (der herrlich mit Schubert à 4 mains spielte) Vogel, der fast 30 herrliche Lieder sang, Baron Schlechta, u. andere Hofconcipisten u. Secretairs waren da. Fast zu Thränen rührte mich, da ich heute in einer besonders aufgeregten Stimmung war, das Trio des 5ten Marsches, das mich immer an meine liebe gute Mutter erinnert. Nachdem das Musiciren aus ist, wird herrlich schnabulirt, und dann getanzt. Doch bin ich gar nicht zum Courmachen aufgelegt. Ich tanze 2mal mit der Betty, u. 1Mal mit jeder der Frauen v. Witticzek, Kurzrock, u. Pompe. Um 12 ½ begleiten wir nach herzlichem Abschiede von den Späunen u. Enderes Betty n[ach] H[aus], u. gehn zum Anker, wo noch Schober, Schubert, Schwind, Dörffel, Bauernfeld. Lustig. N[ach] H[aus]. Um 1 Uhr zu Bett.79 [...] zu Spaun, wo Schubertiade ist. Das liebe Witticzeckische Ehepaar und W’s Schwiegermutter sind schon da; auch der lange Huber. Nach u. nach kommen auch Gahi, Schober, Schubert, Enderes, Walcher (der aber noch vor Anfang der Musik fort muß), Moriz Pflügl (der in Paris war) Lachner, ein gewisser Rieder, Perfetta; Endlich Vogel u. seine Frau, Bauernfeld, Schwind, Groß. Es wurde eine prächtige Sonate auf 4 H[ände]; herrliche Variationen, u. viele prächtige Lieder, worunter ein ganz neues (was Richard Löwenherz im Ivanhoe singt) u. unter den alten »Nacht u. Träume«, u. der Erlkönig gemacht. Ein gar schönes: Die Abendröthe von Lappe wurde v. Vogel 2mal gesungen, der gerade besonders gut aufgelegt war. Dann wurde ein köstlicher Imbiß eingenommen, u. verschiedene Toasts ausgebracht. [...]80

Die von Jürgen Habermas beschriebene Herausbildung ›bürgerlicher Privatheit‹ im 19. Jahrhundert wirkte sich zwar, wie auch an diesen prominenten Beispielen deutlich wird, letztlich auf einer atmosphärischen Ebene auf die ›öffentlicheren‹ Situationen der Geselligkeitskultur aus, indem sie der in den adeligen Salons im allgemeinen noch herrschenden höfische Etikette eine deutlich ungezwungenere Atmosphäre entgegensetzte. Die aus späterer Perspektive erfolgte endgültige Trennung von ›E‹ und ›U‹ im Sinne einer ›seriösen‹ Kunstproduktion und -rezeption auf der einen und anspruchsloser ›Unterhaltungskunst‹ auf der anderen Seite rückt allerdings aus dem Blickfeld, daß Schuberts Lieder eben gerade ein Produkt der für seine Zeit typischen Überlagerung dieser Sphären sind. Die Idee eines zwanglosen privaten Musizierens mit begleitendem Amüsement81, eine ethischen und politischen Idealen verbundene Geselligkeitskultur und – wie die Protokolle der Gebrüder Hartmann nur zu deutlich zeigen – nicht zuletzt auch ein neuer bürgerlicher Repräsentationsgestus flossen hier direkt ineinander. Daß Schober ab 1821 den Begriff Schubertiade so demonstrativ und selbstverständlich verwendet, scheint letztlich auf den Höhepunkt einer Entwicklung hindeuteten.82 Trotz der Verortung dieser Geselligkeitskultur in einem in engerem oder weiterem Sinne ›privaten‹ Rahmen zeigt sich daran überdies der inzwischen erreichte gesellschaftliche Repräsentationsgrad derartiger Veranstaltungen und damit indirekt Schuberts sich wandelnde Bedeutung innerhalb des Wiener Musiklebens: 79 80 81

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Dok I , S. 388. Dok I, S. 399. In diesem Kontext ist neben den üblichen Beispielen aus der bürgerlichen Praxis etwa auch die Gestaltung der Rekreation in klösterlichem Kontext zu zählen, wie Rudolf Flotzinger am Beispiel des von Schubert und Vogl zwischen 1819 und 1825 öfter besuchten Stiftes Kremsmünster gezeigt hat: ders., Zur frühen Rezeption des Schubertlieds im Kloster. Das Beispiel Kremsmünster, in: Schubert und das Biedermeier, S. 227‒261. Rudolf Klein, Begriff und Geschichte der Schubertiaden, in: ÖMz 33 (1978), S. 210.

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Innerhalb der 1820er Jahre, für die die meisten Schubertiaden-Quellen vorliegen, waren einige Lieder und Instrumentalwerke inzwischen auch in öffentlichen Foren aufgeführt worden und bereits etliche Opera im Druck erschienen, was in den folgenden Abschnitten eingehender kontextualisiert werden wird. Die Schubertiaden in einem engeren Sinne sind insofern kaum mit dem Begriff des musikalischen Salons belegbar, sondern müssen als etwas Spezifisches aufgefaßt werden. Besonders die persönliche Verbundenheit mit dem Komponisten eröffnete der Musik auch unabhängig von Widmungskompositionen immer wieder die Möglichkeit einer Kommunikation von Bedeutungen und Botschaften auf einer persönlich-konkreten Ebene. Dies mag auch ein Grund sein, aus dem die Schubertianer grundsätzlich der Ansicht blieben, daß genau diese Form der kulturellen Praxis letztlich eine Notwendigkeit für die adäquate Rezeption der Lieder Schuberts war. Mit dem Begriff Schubertiade ist, wie deutlich wird, jeglichen popularisierend›biedermeierlichen‹ Verkürzungen zum Trotz, letztlich ein hochkomplexer Kommunikationszusammenhang aufgerufen. Die empfindsame Idee der Gleichgestimmtheit, die private Prägung der »Aura des Intimen« und die gesellig-genußfreudige Unterhaltung, die in einem biedermeierlich-idyllisierenden Sinne eine Abschirmung von der alltäglichen Realität umfassen konnte, vermischte sich gerade mit Blick auf die Liedrezeption, die neben der Instrumentalmusik (und anders als etwa die Tänze und Vokalensembles) in der Regel zum ›ernsten‹ Teil der Schubertiade zählte, besonders in Bezug auf den engeren Schubert-Kreis mit den Idealen einer Romantikrezeption, die gleichfalls das emotionale Erleben einer transzendenten Kunstsphäre zumindest potentiell mit einschloß. Daß dieser imaginäre Entwurf einer von Schober dichterisch emphatisch besungenen »beß’ren Welt« über die ›empfindsame‹ Gleichgestimmtheit bis hin zum Ideal einer Art transzendentalen Seelenkommunikation mit dem Fluchtpunkt des Unendlichen möglich war, lag aber nicht zuletzt an Schuberts neuen musikalischen Konzepten selbst, die das hinter der Dichtung aufscheinende ›Unsagbare‹ im Bewußtsein der Schubertianer gewissermaßen sinnlich erfahrbar machten. Die Musik bot für Schubert und seine Freunde vor allem nach Einsetzen der Restaurationszeit in jedem Fall eine Chance, in einer autonom gedachten und klingend erlebten Gegenwelt, den eigenen Idealen einen Aufbewahrungsort zu schaffen. Ähnlich wie Hans Joachim Kreutzer und Michael Kohlhäufl erkennt auch Laurenz Lütteken hier die Konturen einer »sehr eigene[n], sehr musikalische[n] und sehr sehr wienerische[n] Spielart der Romantik«, die speziell mit dem Wiener Schubertkreis in Verbindung zu bringen sei: Sie wäre dann geprägt von dem Bestreben, die utopische Euphorie der Musik wenn schon nicht in die politische Wirklichkeit, so doch in die des musikalischen Kunstwerks, wo sie immer wieder, im Moment des Erklingens, verheißungsvoll gegenwärtig werden könnte. [...]. Die Schubertiaden der Freunde sind dann Vergewisserungen in diesem Sinne, Vergegenwärtigungen poetisch-musikalischer Möglichkeiten, die in den Jahren um 1810 so konkret erschienen wie nie zuvor, und wie eben auch niemals wieder.83

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Lütteken, Schuberts Wien – Musik und Gesellschaft um 1800, S. 99.

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Daß die von Carl Dahlhaus benannte Kluft zwischen »sympathetischem, geselligem Gefühlskult und metaphysische[r] Ahnung, die dem Einsamen in selbst- und weltvergessener Kontemplation zuteil wird«84 bei den Schubertianern in Form einer Romantisierung aus der Empfindsamkeit ererbter Geselligkeitsformen gleichsam integriert wurde, steht letztlich quer zum Phänomen einer sozial isolierten Kunstandacht als typisch ›romantisch‹ apostrophiertem Modus der Kunstrezeption, wie er namentlich von jenen paradigmatischen Künstlerfiguren reflektiert und problematisiert wird, die zu den Protagonisten der literarischen Konzeption einer romantischen Musikästhetik wurden. Dieses integrative Moment kann aber andererseits gerade als Beispiel für eine lebensweltliche Perspektivierung romantischer Kunsttheorie gelten: Besonders Schuberts Lieder übernahmen hier offenbar die Funktion, den hohen ethischen Standard hinter dieser Kunstauffassung zu garantieren. Sie bildeten die klingende, erlebbare Versicherung der gemeinsamen Ideale. Der aus der gängigen gesellschaftlichen Praxis herleitbare kulturelle Rahmen der Schubertiade kann insofern nur als äußerer, gegebener Anlaß einer sich vor allem im inneren Erleben der Hörenden und Musizierenden vollziehenden idealisierten Rezeptionssituation gedeutet werden, die stets ein Hinauswachsen über die reale gesellige Situation implizierte und so letztlich die Grenzen zerfließen ließ. Vor dem Hintergrund des hier ausgefalteten rezeptionsästhetischen Horizonts wird insofern deutlich, wie die Liedaufführung und -rezeption gewissermaßen beständig zwischen einem sozialen Ereignis und seiner gleichzeitigen tendentiellen Aufhebung im Medium autonom gedachter (und erlebter) Kunst oszillierte. 85 Bedenkt man mithin die spezifische kulturelle Formung der Rezeption, ließe sich Roland Barthes’ Idee eines phantasierten »Hörraum[s]« 86 im Kopf des Rezipienten als angemessener ›Ort‹ für Schuberts Lieder angesichts der beschriebenen Kontexte historisch qualifizieren. Natürlich handelt es sich hier um eine konstruierte Idealsituation, da etwa die größeren tendentiell anonymeren Schubertiaden es kaum ermöglicht haben dürften, dem hier skizzierten und kontextualisierten Hörerlebnissen gerecht zu werden. Der Ausgangspunkt eines empfindsam-romantischen Freundschaftskults gehörte indes zu den Bedingungen für Schuberts Liedkunst. Daß der Schubertsche Freundeskreis hier als ›romantisierend‹ gedeutete Vorstellungen in Gestalt eines »poetischen Vaterlandes« in die Musik Schuberts hineinprojizierte, hinderte den Komponisten selbst freilich nicht daran, diese Vorstellungen auch zu konterkarieren oder zumindest zur Diskussion zu stellen – vor allem nach 1824, nachdem der engere Freundeskreis sich zunehmend aufzulösen begann. In der Winterreise D 911 etwa bleibt die Rolle der Musik angesichts des emotionalen Realismus, der durch die Dichtung hereinbricht letztlich unklar – ist sie immer noch Aufbewahrungsort einer »beß’ren Welt« oder wird sie in Auseinandersetzung 84 85 86

Vgl. Carl Dahlhaus, Die Idee der absoluten Musik, Kassel 21987, S. 75. Hierzu auch: David Gramit, Lied, Listeners and Ideology. Schubert’s »Alinde« and Opus 81, in: CM 58 (1995), S. 28−60. Barthes, Der romantische Gesang, S. 289: »Der Raum des Liedes ist affektiv, er ist kaum sozialisiert: mitunter vielleicht einige Freunde, die der Schubertiaden; sein wahrer Hörraum ist jedoch, wenn man so sagen kann, das Innere des Kopfes [...]«.

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mit Wilhelm Müllers Dichtung »ein symptomatisches Dokument der Aufkündigung des pantheistischen Glaubens an die Präsenz und magische Transparenz des Göttlichen im Diesseits«87 und damit Ausdruck des Zweifels an der klassisch-romantischen Kunstauffassung? Schuberts Freunden gefiel der nach Spauns Auskunft »Zyklus schauerlicher Lieder«88 bekanntermaßen zunächst nicht.

4.3 HALBÖFFENTLICHKEIT: ›KENNERSCHAFT‹ UND SALONKULTUR Auch außerhalb des hier angesprochenen soziokulturellen Kontexts eines engeren (und erweiterten) ›Schubert-Kreises‹ wurden etliche von Schuberts Liedern aufgeführt und gerieten somit in Kontakt und damit auch in Wechselwirkung mit einem bereits angesprochenen florierenden halböffentlichen Raum, der als Hintergrund für Komposition, Aufführung und Rezeption von Liedern nun etwas spezifischer in den Blick genommen werden soll. Aus der Vermischung von Wiener Adels- und Bürgerkultur war seit dem mittleren bzw. späteren 18. Jahrhundert auch die Herausbildung einer Art Wertegemeinschaft hervorgegangen, die sich nach dem Tod der Kaiserin Maria Theresia 1807 für die Re- und Umorganisation des musikalischen Lebens eingesetzt hatte, da viele der adeligen Kunstmäzene sich aufgrund kriegsbedingter hoher finanzieller Verluste immer mehr aus der Kulturförderung zurückziehen mußten.89 Das Habsburgische Österreich hatte allerdings bereits seit dem frühen 18. Jahrhundert auch im schulischen Rahmen grundsätzlich besonders viel Wert auf eine musikalische Grundausbildung der Bürger gelegt, wodurch letztlich eine unüblich hohe Anzahl von musikalisch bis zu gewissen Graden Gebildeten hervorgebracht worden war.90 Auch Anfang des 19. Jahrhunderts bot diese Situation kulturpädagogisch ambitionierten niederen Adeligen, die sich als Mittler zwischen hohem Adel und gebildetem Bürgertum verstanden, die Voraussetzung für eine aktive Einflußnahme auf die musikalische Geschmacksbildung.91 Aus diesen Bestrebungen gingen etwa die Gründung der Gesellschaft der Musikfreunde (1812) und später des Wiener Konservatoriums (1817) hervor – beides zentrale Einrichtungen einer namentlich in Jahren zwischen 1810 und 1820 sich allererst neu formierenden Wiener musikalischen Öffentlichkeit bürgerlicher Prägung.92 Die Gesellschaft der Musikfreunde setzte sich zum Ziel, »von einer mehr oder minder privaten disloziierten Geselligkeit zu repräsentativen Formen musikalischer Öffentlichkeit zu gelangen und auch

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Vgl. Kohlhäufl, Poetisches Vaterland, S. 324. EF, S. 161. Vgl. Hanson, Die zensurierte Muse, S. 131. Vgl. James van Horn Melton, School, Stage, Salon. Musical Cultures in Haydns Vienna, in: Journal of Modern History 76, (2004), 251‒279. Vgl. William Weber, The Great Transformation of Musical Taste. Concert Programming from Haydn to Brahms, New York, NY [u. a.] 2008, S. 115. Vgl. Lütteken, Schuberts Wien, S. 95f.

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die vormals elitären künstlerischen Praktiken zu vergesellschaften«.93 Dabei spielten freilich auch in Folge der Befreiungskriege aufflammende nationale Impulse eine Rolle, die sich politisch in der »Vaterländischen Bewegung« um den Außenminister Johann Philipp Graf von Stadion artikulierte.94 In den Vaterländischen Blättern für den Österreichischen Kaiserstaat. Herausgegeben von mehreren Geschäftsmännern und Gelehrten (1808) beteuert der dem leitenden Ausschuß der Gesellschaft der Musikfreunde angehörende Kapellmeister, Komponist und Musikästhetiker Ignaz von Mosel etwa: Die Tonkunst wirkt hier täglich Wunder, das man sonst nur der Liebe zuschrieb. Sie macht alle Stände gleich. Adeliche und Bürgerliche, Fürsten und ihre Vasallen, Vorgesetzte und ihre Untergebenen sitzen an einem Pulte beysammen, und vergessen über die Harmonie der Töne die Disharmonie ihres Standes.95

Die hier von Mosel emphatisch beschworene Egalisierung der Stände durch Musik muß vor dem geschilderten Hintergrund freilich eher als nationalistisch getönte Ideologie betrachtet werden, deren Rhetorik sich bemühte, eine moralische Überlegenheit gegenüber dem Feindbild Napoleon zu konsolidieren und der Musik unter Rückgriff auf den empfindsamen Topos der ›Herzenssprache‹ das Vermögen zuschrieb, »über die Widersprüche des Alltags ihre synthetisierende Kraft zu legen«.96 Es bildete sich so aber letztlich auch eine neue Elite selbsternannten musikalischen ›Kennertums‹ heraus, die sich vor allem über die in der Satzung der Gesellschaft der Musikfreunde festgesetzte Prämisse einer »Bevorzugung classischer Werke« einen entsprechenden Bildungsauftrag zuwies.97 Das Ziel der sendungsbewußten Verfechter einer musikalischen ›Klassizität‹ bestand darin, auf der Grundlage eines Kanons überzeitlich gültiger Meisterwerke das Ideal einer musikalische Bildung voranzutreiben, die die Fähigkeit einer Unterscheidung zwischen »Kunst« und »Nicht-Kunst« entwickeln sollte.98 Dieser Prozeß prägte die Entwicklung des Musiklebens im 19. Jahrhundert auch die nächsten Jahrzehnte auf entscheidende Weise. 93

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Erich Wolfgang Partsch, Zur Geschichte, Struktur, Repertoirebildung und Publikum der Gesellschaft der Musikfreunde Wien im Vormärz, in: Les sociétés de musique en Europe 1700‒ 1920, hg. von Hans Erich Bödeker/Patric Veit, Berlin 2007, S. 179‒191, S. 180. Vgl. Helmut Rumpler, Österreichische Geschichte 1804−1914: Eine Chance für Mitteleuropa. Bürgerliche Emanzipation und Staatsverfall in der Habsburgermonarchie, Wien 1997, S. 88‒ 104. Uebersicht des gegenwärtigen Zustandes der Tonkunst in der Kaiserstadt Wien, in: Vaterländische Blätter für den Österreichischen Kaiserstaat 31. Mai 1808, S. 39, zitiert nach Theophil Antonicek, Biedermeierzeit und Vormärz, in: Musikgeschichte Österreichs, Bd. II: Vom Barock zur Gegenwart, hg. von Rudolf Flotzinger/Gernot Gruber, S. 217. Lütteken, Schuberts Wien, S. 95. Auszug aus der Satzung der Gesellschaft der Musikfreunde, abgedruckt bei Partsch, Zur Geschichte, Struktur und Repertoirebildung der Gesellschaft der Musikfreunde, S. 184. Die philosophischen und kulturtheoretischen Hintergründe der sich hier herausbildenden musikästhetischen Dichotomie wurden ausführlich von Bernd Sponheuer dargestellt: Ders., Musik als Kunst und Nicht-Kunst. Untersuchungen zur Dichotomie von ›hoher‹ und ›niederer‹ Musik im musikästhetischen Denken zwischen Kant und Hanslick, Kassel [u. a.] 1987.

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Der Wandel der musikalischen Trägerschicht brauchte überdies neue Medien, die ihre Ideale popularisieren und der zentralen Idee einer ›hohen Tonkunst‹ Sprachfähigkeit verleihen konnten. Die 1813 nach dem bekannten Leipziger Vorbild gegründete Wiener Allgemeine Musikalische Zeitung mit besonderer Rücksicht auf den österreichischen Kaiserstaat verbindet diese Mission mit einem patriotischen Impetus, der zudem die bereits latent vorhandene Idee von der ›Musikstadt Wien‹ präludiert: Eine musikalische Zeitung, die die Ausbildung der Seelensprache fortdaudernd beleuchte, ist daher ein dankbares Unternehmen und es wäre wirklich überflüßig, irgendetwas zu ihrem Lobe anführen zu wollen. Wien, die erhabene Kaiserstadt und die Residenz der Tonkünstler, kann diesem Unternehmen am wirksamsten zum Standpunkte nehmen, die Kunstliebe ihrer Bewohner entfernt jede Besorgniß für desselben Dauer.99

Maßgeblich in Bezug auf die Geschmacksbildung waren also letztlich die Mitglieder musikalischer Gesellschaften, Absolventen von Musikschulen sowie Mitarbeiter und Leser von Musikzeitschriften.100 Als Redakteur der Wiener Allgemeinen Musikalischen Zeitung hält Friedrich August Kanne fest, daß »in Wien an einem Tage zu eben derselben Stunde [...] viele öffentliche Konzerte und Privatunterhaltungen Statt finden können; denn die wahrhaft grosse Menge der sich so nennenden Tonkünstler würde immer noch nicht hinreichen zur Executierung derselben, so gross die Liebe des Wieners zur ausübenden Tonkunst, so vielfach sind öffentliche Concerte und Privatmusiken.«101 Während das 18. Jahrhundert noch den emotionalen, ›unmittelbaren‹ Zugang des ›Liebhabers‹ zur Musik lobte, wurde nun, wie bereits mit Bezug auf den Schubert-Kreis angesprochen, der Bildungsstand zum Gradmesser eines ›guten‹ oder ›schlechten‹ Zuhörers.102 Dieser Gedanke schloß auch ein, daß man die adäquate musikalische Bildung, die den Hintergrund für ein ›gebildetes‹ Geschmacksurteil bilden sollte, erlernen konnte und sollte.103 Der Geschmacksdiskurs richtete sich mit Blick auf die Instrumentalmusik nun sogar, wie von Mark Evan Bonds beschrieben wurde, an der Rezeption idealistischer Denkmodelle aus. 104 Gleichwohl muß dieses Phänomen als Prozeß begriffen werden – gerade wenn man die relativ kleine Elite der musikalisch in engerem Sinne Gebildeten der großen Menge der an Musik Interessierten gegenüberstellt. Sie wandten sich erst allmählich nur noch rezeptiv der Musik zu, und wurden dadurch zu ›Zuhörern‹ im modernen Sinne, die mit veränderten Ansprüchen an die Musik herantraten: In Wien gibt es häufig musikalische Privatzirkel, wo man mit Einladungskarten hingeht, ohne den Hausherrn u. Geber der Musik kennen zu müssen u. von den anwesenden Personen gar

99 Wiener allgemeine Musikzeitung, zitiert nach Lütteken, Schuberts Wien, S. 95. 100 Hanson, Die zensurierte Muse, S. 110f. 101 Kanne zitiert nach: Schubert 200 Jahre [Ausstellungskatalog], hg. von Ilija Dürhammer/Angela Heilmann, Heidelberg 1997, S. 52. 102 Vgl. Bernd Sponheuer, Art. Kenner - Liebhaber - Dilettant, in: MGG2, S/Bd. 5, Sp. 34. 103 Vgl. Weber, The Great Transformation, S. 104 104 Mark Evan Bonds, Idealism and the Aesthetics of Instrumental Music at the Turn of the Nineteenth Century, in: JAMS 50 (1997), S. 387‒420.

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keine Notiz nimmt, sie nur deshalb einladet, ihnen den Genuß schöner Produktionen von Haydnschen, Beethovenschen und Mozartschen Sachen zu gönnen Herr Hofrath von Mosel, der Director der beiden Wiener Theater, ist Ihnen bekannt durch sein vorzügliches Verdienst um Composition, Direction und deutschen Gesang. [...] Auch Capellmeister Schubert, einen bescheidnen jungen Mann, fand ich da, dessen Lieder sehr originell sind, worunter sich besonders Gretchens Lied am Spinnrocken in Göthe’s Faust durch Originalität auszeichnet. [...] 105

Dieser Bericht über einen musikalischen Salon bei Ignaz von Mosel, der erst mit der Neuausgabe der Schubert-Dokumente 1993 extensiv zitiert vorliegt, zeigt deutlich, in welchem Umwälzungsprozeß sich die musikalische Kultur befand: Gerade die offenkundige Verwunderung des Kommentators macht deutlich, wie es um die »Entfunktionalisierung der Musik«106 im Kontext der Herausbildung einer bürgerlichen Öffentlichkeit stand: Ein derartiges Zusammenkommen einzig um der Musik willen entsprach durchaus nicht der gängigen Praxis. Auch die ›Ernennung‹ Schuberts zum Kapellmeister durch den womöglich nicht genau mit den Wiener Verhältnissen vertrauten Besucher107 verdeutlicht nochmals, daß der Lebensentwurf einer freischaffenden Komponistenexistenz, wie Schubert sie führte, kaum im Horizont der Gesellschaft vorhanden war. Man ging vielmehr davon aus, daß ein Musiker mit Schuberts Fähigkeiten, der hier in einem Atemzug mit der bereits als ›Klassiker‹ installierten Trias Haydn/Mozart/Beethoven erwähnt wird, »Kapellmeister« sein müsse, da der Beruf des Komponisten trotz der allmählichen Auflösung höfischer Musikorganisation grundsätzlich weiter mit praktischen Einrichtungen und Institutionen zusammengedacht wurde.108 Daß der Besucher des Moselschen Salons mit »Gretchen am Spinnrocken« den besonderen ästhetischen Anspruch eines Liedes hervorhebt, verweist zudem auf die Spezifika der zeitgenössischen Liedrezeption im Unterschied zur kulturellen Bedeutung instrumentaler Musik. Der Salonbesucher läßt sich damit der Gruppe der in Presseankündigungen von Schuberts gedruckten Opera immer wieder angesprochenen ›Freunde des Liedes‹ zuordnen: Zur Veröffentlichung von Schuberts drittem Liederheft, das die Lieder Der Wanderer D 649 (Text Friedrich Schlegel), Morgenlied D 685 und Wanderers Nachtlied D 224 enthielt, betont etwa der Verlag Cappi & Diabelli, daß »durch die so häufige Nachfrage sich die Verlagshandlung veranlaßt findet, den Freunden des deutschen Liedes auch diese zwei Hefte vorzulegen. Schon die Wahl der Gedichte beweist das poetische Gemüt des Tonsetzers; aber die Art, mit welcher er dichterische Meisterwerke auffaßt und musikalisch wiedergibt, verbürget das ausgezeichnete Genie des jungen Künstlers.«109 Auch Ignaz Franz von Castelli hebt 1821 im Wiener Tagebuch der Dresdner Abendzeitung eigens hervor, daß Schubert Lieder »großer Dichter«, vertont habe und damit »die 105 Dok II, Nr. 190. 106 Lutz Neitzert, Die Geburt der Moderne, der Bürger und die Tonkunst. Zur Physiognomie der veröffentlichten Musik, Stuttgart 1990, S. 72. 107 Es handelt sich um einen Beitrag für das Literarische Conversationsblatt Leipzig. Der mit der Chiffre 64 unterzeichnende Autor konnte nicht ermittelt werden. Vgl. Dok II/Kommentarband, S. 85. 108 Walter Salmen, Art. Musiker, in: MGG2, S/ Bd. 6, Sp. 1232. 109 Vgl. die Anzeige von Cappi & Diabelli in: Dok I, S. 129.

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Augen der gebildetern musikalischen Welt« auf sich ziehe.«110 Obgleich also die Selbstreferentialität der Musik im Sinne einer ›rein musikalischen‹ Bedeutung immer mehr in den Mittelpunkt des Musikdiskurses rückte, stand für die »Freunde des deutschen Liedes« als Teil der »gebildetern musikalischen Welt« naturgemäß die spezifische Frage der Verbindung von Musik und Text zur Debatte, wodurch sich wiederum Berührungspunkte mit einer sich vor allem über einen exklusiven literarischen Geschmack definierende Bildungselite ergaben, denn auch im vormärzlichen Wien wurde der Markt durch trivialliterarische Erzeugnisse dominiert.111 Eine Diskussion der Lesehorizonte konkreter historischer Personen muß aufgrund individueller Lebenskontexte und lesepsychologischer Variablen hypothetisch bleiben.112 Auf einer allgemeinen Ebene indes sind gewisse Deutungsmuster eingegrenzter sozialer Gruppierungen benennbar, die sich als ausschlaggebend für das kulturelle Selbstverständnis erweisen – dies wurde etwa bereits mit Blick auf die Lied- und Literaturrezeption des Schubertschen Freundeskreises deutlich. Ein weiteres Beispiel für eine Darstellung dieser Zusammenhänge bietet David Gramits von der Schubert-Forschung wenig rezipierte Untersuchung der (in der oben zitierten Anzeige angekündigten) ›Wanderer‹-Lieder aus Schuberts Opus 3 im Kontext der Lied- und Lyrikkultur des Wiener Vormärz.113 Die im Bild des ›Wanderers‹ figurierte Idee persönlicher Freiheit und Autonomie kann, ebenso wie die von Michael Kohlhäufl beschriebene »Poesie der Sehnsucht«, in Zusammenhang mit der gesellschaftlichen Realität des Besitz- und Bildungsbürgertums in Wiener Restaurationszeit und Vormärz gesehen werden, das als Teil der bürokratischen Strukturen des Staates diese Freiheit zwar nicht real leben konnte, sie aber als hohes Ideal in sich trug. Die Wandermetapher war, wie man hinzufügen muß, zudem bekannt als Gedankenfigur der Aufklärung: Man verband mit dem Vorgang des Wanderns auf grundsätzlicher Ebene den Prozeß menschlicher Bildbarkeit – in Wien besonders prominent repräsentiert durch die Protagonisten in Mozarts gerade zur SchubertZeit vielgespielter Zauberflöte.114 Mit Hinweis auf Grillparzers erstes von vier für Schubert verfaßten Epitaphen, das den »Wanderer« als Leser der Grabinschrift beziehungsreich anspricht115, liest Gramit die Figur des Wanderers vor solchem Hintergrund in besonderer Weise als 110 Till Gerrit Waidelich, »Er soll’s Maul aufmachen«. Schubert im »Tagebuch aus Wien« der »Dresdner Abend-Zeitung« von Ignaz Franz Castelli, in: Schubert durch die Brille 18 (1997), S. 25‒40. 111 Vgl. Herbert Zeman, Die österreichische Lyrik des augehenden 18. und des frühen 19. Jahrhunderts – eine stil- und gattungsgeschichtliche Charakteristik, in: Die österreichische Literatur. Ihr Profil im 19. Jahrhundert, hg. von dems., Graz 1982, S. 513‒547, besonders S. 517f. und 529f.; ferner: Günter Häntzschel, Zur Literatur der Epoche, in: Die Kunst des Biedermeier, S. 61. 112 Vgl. Janina Klassen, Romantisches Lied und Gefühlsdiskurs, in: Ton und Text, S. 323‒346. 113 David Gramit, Schubert’s Wanderers and the Autonomous Lied, in: JMR 14 (1995), S. 147‒ 168. 114 Vgl. Herbert Zeman, »Aber ich hörte viel von Pamina, viel von Tamino« − Wer kennt den Text der »Zauberflöte«?, in: Das deutsche Singspiel im 18. Jahrhundert, Heidelberg 1981, S. 139‒ 169. 115 Vgl. Dok I, S. 580: »Wanderer, hast du Schuberts Lieder gehört? Hier liegt, der sie sang«.

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symbolische Repräsentation eben jener feinsinnig-gebildeten Rezipienten der Lieder Schuberts, wie sie sich sowohl unter den Mitgliedern des engeren SchubertKreises als auch im tendentiell anonymeren Publikum der größeren Salonzirkel befanden.116 Die vertraute geistesgeschichtliche Interpretation des Wanderer-Motivs als Sinnbild romantischer Sehnsucht verbindet sich bis zwar heute mit einer idealisierenden Deutung der Person Schuberts selbst, kaum aber mit der konkreten Lebenswirklichkeit seiner Hörer, die indes am zeitgenössischen Erfolg gerade des Liedes Der Wanderer D 489 einen wichtigen Anteil hatten, das mit Blick auf den Zeitraum zwischen 1821 und 1848 zum meist aufgeführten Schubert-Lied wurde.117 Bezeichnend scheint in jedem Fall, daß Schubert in den 1820er Jahren häufiger zu Texten greift, die als Reflex einer Auseinandersetzung mit der Literaturrezeption der hier angesprochenen gesellschaftlichen Sphäre gelten können – etwa auf den von den Freunden um Schubert regelmäßig veranstalteten Lesegesellschaften, denen der Komponist zeitweilig beiwohnte.118 Bereits Walther Dürr machte darauf aufmerksam, daß Schubert die Liedkomposition nach 1821, dem Jahr also der Drucklegung seines Opus’ 1, mit großer Sicherheit auch mit konkreten Veröffentlichungsplänen verbunden haben mag – was offenbar auch mit einer neuerlichen dezidierten Hinwendung zu Goethes Gedichten verbunden war.119 Im März 1821 greift der Komponist zu einer nahezu druckfrischen literarischen Novität – dem 1819 erschienenen West-östlichen Divan, dem er die zwei (eigentlich von Marianne von Willemer verfaßten) Suleika-Gedichte sowie Geheimes und Versunken entnimmt.120 Die dichterische und philosophische Rezeption orientalischer Lyrik stand Anfang des 19. Jahrhunderts im ›romantischen‹ Kontext einer Erneuerung der Poesie in Mitteleuropa. Dem Mythos des Ostens als ›Quelle des Lichts‹ hatte sich auch Friedrich Rückert als Mythen- und Sprachforscher verschrieben und Nachdichtungen orientalischer Versformen geschaffen, zu denen Schubert gleichfalls Anfang der 1820er griff.121 Der Kontakt mit derart artifiziell durchgestalteter Lyrik forderte auch Schubert offenbar zu Experimenten der Neugestaltung und Nuancierung konventioneller kompositorischer Modelle heraus: Während er etwa in 116 Wanderer lautet überdies der Titel eines seit 1809 in Wien erscheinen Periodikums, das auch für die Schubert-Rezeption relevant war. Vgl. SWVm, S. 15. In Johann Pezzl’s Beschreibung von Wien (1826, S. 445f.) wird der Wanderer (hg. von Ignaz Ritter von Seyfried) als »VolksZeitung (nebst einem Unterhaltungsblatt)« charakterisiert. Dort fänden sich »Aufsätze aus der Moral, der Ökonomie, der Techonologie, Aphorismen, Curiositäten und noch Allerley, was den Bürger und Landmann interessieren kann« (zitiert nach Dok II, S. 607). 117 Vgl. Ahrens, Liszts Transkriptionen, S. 27. 118 Erstmals berichtet Schubert im Dezember 1822 von dreimal wöchtentlichen Lesungen bei Schober, wenngleich in den Folgejahren einige Kritik an den Veranstaltungen innerhalb des Freundeskreises laut wurde. Dennoch werden sie als Anregung für Schuberts Vertonungen gewertet. Vgl. Margret Jestremski, Art. Lesegesellschaft, in: SE, S. 435f. 119 Walther Dürr [u. a.], Reclams Musikführer Franz Schubert, Stuttgart 1991, S. 91. 120 Da sich eine von Schubert angefertigte Abschrift von Geheimes erhalten hat, vermutet Walther Dürr, daß der Komponist die für ihn interessanten Gedichte im Rahmen der Leseabende im Freundeskreis notiert habe. Vgl. Dürr, ebd., S. 92. 121 Vgl. Werner Aderhold, Nah und fern. Von zweifacher Übertragung: Hafiz – Rückert – Schubert, in: Schubert und das Biedermeier, S. 59‒72.

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Geheimes D 719 mit Überraschungseffekten auf metrischer, harmonischer und auf der Ebene des Phrasenbaus aufwartet und das Lied zu einer filigran durchgestalteten Preziose ausformt, werden in den Suleika-Liedern die Goetheschen Textstrukturen aufgebrochen und von der Musik neu geordnet: Schubert verschmilzt Liedhaftes, Deklamatorisches, Arioses zu lyrisch grundierten Szenen mit dramatisierendem Schwung. Die im Zuge der Veröffentlichung von Opus 14 erschienene Verlagsanzeige kündigt im Dezember 1822 in emphatischem Tonfall an: In einem ganz originellen Geiste aber sind die Lieder aus Goethes Westöstlichem Divan gesetzt. Orientalische Glut ist darin mit solcher Zartheit gepaart, daß selbe die beste Wirkung nicht verfehlen können.122

Gleichwohl schränkt die Sopranistin Anna Milder, der Schubert 1825 das als selbständiges Opus erschienene zweite Suleika-Lied D 717 gewidmet hatte, in einem Brief an den Komponisten die Wirkungskraft der Kompositionen deutlich ein: Der hohe künstlerische Anspruch der Lieder mache sie zu zwar ›Darbietungskunst‹ – aber nur ein spezifisches Publikum bringe die entsprechenden Rezeptionsvoraussetzungen mit: Zuleikas zweiter Gesang ist himmlisch, und bringt mich jedesmal zu Tränen. Es ist unbeschreiblich; allen möglichen Zauber und Sehnsucht haben Sie da hineingebracht, so wie im ersten Gesang der Zu:[laika] und im Geheimnis [sic!]. Zu bedauern ist dabey nur, daß man alle diese unendlichen Schönheiten nicht dem Publikum vor singen kann, indem die Menge leider nur Ohrenschmaus haben will.123

Der als Aufführungsforum bereits beschriebene halböffentliche Raum, dessen gesellschaftliche Bedeutung sich ohnehin im Wien der Metternichzeit erhöht hatte124, war letztlich die Sphäre, in der sich diese hier skizzierte und auch von Anna Milder angesprochene neue ›Kennerschaft‹ herausbilden konnte, und er wurde für deren Wortführer entscheidend, um die eigenen ästhetischen Ideale zu diskutieren, zu popularisieren und z. T. in Aufführungen bestimmter Musik zu verwirklichen. Die halböffentliche Salonkultur – der freilich auch manche Schubertiaden größeren Umfangs zuzurechnen sind, innerhalb der auch groß besetzte Werke bis hin zu Sinfonien erklangen125 ‒ wurde somit letztlich zum zentralen Ort der zeitgenössischen Aufführung Schubertscher Lieder vor einer Zuhörerschaft, die nicht mit dem Komponisten in derart intimem persönlichem Kontakt stand wie der engere SchubertKreis, der dadurch auf spezifische rezeptionsästhetische Ideale gleichsam eingeschworen war. Neben den im vorhergehenden Kapitel eingehender behandelten Freundeskreis und den Schubertiaden-Veranstaltern Enderes, Witticzek, Spaun126 122 Dok I , S. 175. 123 Dok I, S. 280. 124 Vgl. Lütteken, Schuberts Wien, S. 91: »Die von Metternich bekämpfte Gruppenbildung hatte in paradoxer Weise seinen eigenen politischen Triumph erst ermöglicht, und folglich musste sein Versuch der Unterbindung, der zudem eine merkwürdige Form der Leblosigkeit führte, am Ende misslingen und das Gegenteil bewirken.« 125 Otto Biba, Public and Semi-Public Concerts. Outlines of a Typical Biedermeier Phenomenen in Vienniese Music History, in: The Other Vienna, S. 257‒270. 126 Vgl. Hanson, Die zensurierte Muse, S. 143.

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und Katharina von Laczny127 waren es u. a. die ›seriösen‹ musikalischen Salonzirkel etwa Ignaz Sonnleithners, Ignaz von Mosels, Matthäus von Collins128 oder Caroline Pichlers129 in denen Schuberts Lieder in den 1820er Jahren nachweislich erklangen. Auch bei den im Hause des nachmaligen musikhistoriographischen Pioniers Raphael Georg Kiesewetter veranstalteten Historischen Hauskonzerten, die sich bereits der Pflege eines ›klassischen‹ Repertoires widmeten, sind einige Besuche Schuberts selbst130 und zudem etliche der auch im Rahmen der Schubertiaden auftretenden Sänger und Sängerinnen unter den Ausführenden nachweisbar.131 Ungleich bedeutender für die Aufführungsgeschichte der Lieder wurden freilich die sogenannten Abendunterhaltungen der Gesellschaft der Musikfreunde, wo Schuberts Werke (vor allem Lieder und Vokalensembles) seit 1820 regelmäßig aufgeführt wurden.132 Diese Veranstaltungen, in deren Rahmen ausschließlich Mitglieder der Gesellschaft als Musizierende mitwirkten, fanden seit dem Frühjahr 1820 im Gundelhof (Brandstätte/Bauernmarkt) und ab dem Frühjahr 1822 im Roten Igel (Unter der Tuchlauben) statt und wendeten sich durchaus an die interessierte Öffentlichkeit, d. h. es wurden kostenpflichtige Eintrittsbillets und Abonnements ausgegeben. Die Programmstruktur der etwa zwei Stunden dauernden Veranstaltungen war nach einem relativ festen Schema organisiert und umfaßte in der Regel ein größeres Kammermusikwerk sowie ein Chorstück oder größeres Vokalensemble als Rahmen. Dazwischen erklangen verschiedene solistische Darbietungen.133 Aus der strukturellen Verfaßtheit der Gesellschaft der Musikfreunde wird deutlich, daß in dieser Zeit eine allmähliche Verschiebung von einer musizierenden Dilettantenkultur zu einer reinen Darbietungskultur stattfand – und gerade dieser 127 Vgl. Klein, Begriff und Geschichte der Schubertiaden, S. 212. Schuberts Bekanntschaft mit der ehemaligen Opernsängerin kam vermutlich über Vogl zustande. Schubert widmete ihr später die 1825 veröffentlichten Lieder Der zürnenden Diana D 707 und Nachtstück D 672. Vgl. Werner Bodendorff/Ernst Hilmar, Art. Lacsny von Fokusfálva, Katharina (Katinka), in: SE, S. 419f. 128 Schubert machte offenbar bereits vor 1820 Bekanntschaft mit Collin, der lebhaftes Interesse für Schuberts Kompositionen aufbrachte und in seinem Haus (Teinfaltstraße 67, Wiener Innere Stadt) »eine Art früher Schubertiaden« veranstaltete. Vgl. Erst Hilmar/Ilija Dürhammer, Art. Collin, Mattäus Karl Edler von, in: SE, S. 98f. Vgl. außerdem John Clarke Andrus, Schubert and his Public. The Songs from 1817 to 1828, Ph. Diss. University of California, Santa Barbara 1974, S. 73ff. 129 Vermutlich lernte Schubert die Dichterin 1820 im Salon Matthäus von Collins kennen. Vgl. Ernst Hilmar, Art. Pichler, Caroline, in: SE, S. 561f. 130 Vgl. Ernst Hilmar, Art. Kiesewetter von Wiesenbrunn, Raphael Georg, in: SE, S. 368f. Vgl. auch, Dürr, Schubert in seiner Welt, in: SHb, S. 64f. 131 Hanson, Die zensurierte Muse, S. 150. 132 Otto Biba hat die Aufführungen von Schuberts Werken (hauptsächlich Lieder) in den Musikalischen Abendunterhaltungen vollständig nachgewiesen: ders., Franz Schubert in den musikalischen Abendunterhaltungen der Gesellschaft der Musikfreunde, in: Schubert-Studien: Festgabe der österreichischen Akademie der Wissenschaften zum Schubert-Jahr 1978, hg. von Franz Grasberger und Othmar Wessely, Wien 1978, S. 7‒31. 133 Walther Dürr, Beethovens Große musikalische Akademie von 1824 und Schuberts Privatkonzert von 1828, in: Programmbuch Schubertiade Feldkirch 1993, o. O. [1993], S. 56‒63.

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Übergangsstatus erweist sich als Spezifikum der 1820er Jahre: Man konnte als aktives Mitglied in Chor, Orchester oder als Solist musizieren, man konnte aber auch als passives Mitglied – in der Regel durch Abonnements – zur finanziellen Unterstützung beitragen.134 Obwohl professionelle Musiker keine Mitglieder in der Gesellschaft der Musikfreunde werden durften, wurde doch Wert auf deren Mitwirkung in den Konzertdarbietungen gelegt. Abendunterhaltungen ebenso wie Salonzirkel waren daher auch Begegnungsstätten von Laien- und Profimusikern und hatten als repräsentative Orte professionellen Musizierens und damit Übergang zum öffentlichen Konzertleben einige Relevanz. Sie waren, wie sich zumindest im Fall einer Schubertiade bei Mosel nachweisen läßt, sogar Gegenstand von Presseberichten.135 Daß hier freilich innerhalb der Praxis immer noch Inkongruenzen zwischen dem von Seiten der ›Kenner‹ gestellten Anspruch, der künstlerischen Ausführung und der tatsächlichen Rezeptionshaltung verblieben, lassen die ironisierenden Berichte des Dichters Ignaz Franz von Castelli vermuten: Die erste Nummer eines jeden Concerts ist ein Quartett oder Quintett für Bogeninstrumente und jedesmal von einem classischen Autor. Diese Nummer ist zwar nur die Vorrede zum interessanten Buche, sie wird aber auch gleich einer solchen von den meisten Zuhörern für ganz überflüssig gehalten und verschwätzt. Ueberhaupt stehen in diesen Concerten die Zuhörenden mit den Vortragenden im umgekehrten Verhältnisse. Je mehr sich diese bemühen, etwas Gediegenes darzustellen, je weniger Beifall spenden jene; und nur das Leichte, Lockere gefällt. Auch sieht man da so viele junger Herren, die bloß allein darum hingehen, um zu liebäugeln und so viele junge Fräulein, die das Auegeln erwiedern [sic!], und so viele Mama’s, die das nicht nur dulden, sondern ihre Freude darüber haben, daß die Musik von den meisten Zuhörern nur als Nebending behandelt wird, indessen die Göttliche den Ausübenden die Hauptsache ist.136

Auch das zumeist als einziges Schubertsches Konzert in öffentlichem Rahmen hervorgehobene »Privat Concert« von 1828 muß, genau betrachtet, in die diese halböffentliche Sphäre eingeordnet werden. Grundsätzlich war es angesichts der Strukturen des damaligen Konzertlebens ein nicht geringes Wagnis, ein Konzert mit Werken von ausschließlich einem Komponisten zu veranstalten. Diese Erfahrung mußte etwa auch Beethoven machen, der für die Genehmigung einer im Mai 1824 veranstalteten öffentlichen Akademie im Kärntnertortheater mit erheblichen Schwierigkeiten zu kämpfen hatte. Trotz eines achtbaren Erfolgs bei Publikum und Presse war diese Veranstaltung aus finanzieller Perspektive kaum der Rede wert. Bereits seit 1823 wurde im Schubert-Kreis über die Veranstaltung einer ausschließlich Schuberts Werke enthaltenden Akademie debattiert137, erst am 5. März 1828 134 Vgl. Partsch, Zu Geschichte, Struktur und Repertoire der Gesellschaft der Musikfreunde, S. 185f. 135 Vgl. Klein, Begriff und Geschichte der »Schubertiaden«, S. 214. 136 Ignaz Franz Castelli im Tagebuch aus Wien der Dresdner Abend-Zeitung am 24.10.1824, abgedruckt in: Schubert 200 Jahre, S. 53. 137 Vgl. Margeret Jestremski, Art. Privatkonzert, in: SE, S. 570−572. Vgl. auch dies., 175 Jahre Schuberts »Privatkonzert«. Eine längst fällige Korrektur, in: Schubert durch die Brille 30 (2003), S. 115‒124.

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aber ersuchte der Komponist bei der Gesellschaft der Musikfreunde um die »Uiberlassung des Locale [...] zur Abhaltung eines privat Konzertes für den 21. März 1828 Abends um 7 Uhr unter Vorlage der Bewilligung hierzu von den beiden Hoftheatern.«138 Man überließ Schubert, der mittlerweile zum »Repräsentanten-Körper« der Gesellschaft gehörte139, den Saal Zum roten Igel unter der Tuchlauben unentgeltlich, das Konzert fand indes erst am 26. März statt.140 Trotz öffentlicher Ankündigungen in der Presse, in denen darauf hingewiesen wird, daß diese Veranstaltung »die allgemeine Aufmerksamkeit umso mehr in Anspruch nehmen [dürfte], als sie durch die Neuheit u. Gediegenheit der Kompositionen [...] ebenso wie durch die theilnehmende Mitw. der gefeyertsten hiesigen Künstler einen ebenso neuen als überraschenden Genuß [...]«141 biete, war die Programmdramaturgie des Konzerts nicht am Zuschnitt öffentlicher Konzertveranstaltungen ausgerichtet. Vielmehr orientierte sich Schuberts Privat Concert direkt am Modell der Abendunterhaltungen der Gesellschaft der Musikfreunde, in deren Rahmen bereits häufiger seine Lieder und Kammermusik (im selben Saal) aufgeführt worden waren: Auf ein größeres kammermusikalisches Werk am Beginn folgten mehrere, einen einzelnen Künstler in den Mittelpunkt stellende, ›Virtuosenstücke‹ (d. h. in diesem Fall Lieder) und ein wirkungsvolles Chorfinale.142 Die in diesem Rahmen aufgeführten Lieder boten dem Publikum einen Querschnitt durch das Liedschaffen Schuberts, wobei auf Aktualität Wert gelegt wurde: Besinnliches und Beschauliches (die zwei erst im November 1827 und Januar 1828 entstandenen Leitner-Vertonungen Der Kreuzzug D 932 und Die Sterne D 939 alterierten mit Traditionell-Liedhaftem (Der Wanderer an den Mond D 870 nach Johann Gabriel Seidl) bzw. Heiter-Bewegtem.143 Das womöglich auf besonderen Wunsch Vogls ins Programm aufgenommene Lied Fragment aus dem Aeschylus D 450 repräsentierte hingegen Schuberts pathetisch-deklamatorische Liedkompositionen nach antiken Sujets. Eine erste Zäsur bildete das wirkungsvoll für Altsolo und Frauenchor gesetzte Ständchen D 920 nach Grillparzer. In der zweiten Abteilung wartete Schubert noch mit zwei größer angelegten Gesängen auf, die darüber hinaus eine weitere Novität enthielten: Eigens für das Konzert hatte er das Rellstab-Gedicht Auf dem Strom D 943 als weit ausladenden lyrischen Gesang mit obligatem Hornpart komponiert, während das letzte im Rahmen dieses Konzerts erklingende Lied, Die Allmacht D 852 nach Ladislaus Pyrker, schließlich in seinem hymnischen, beachtliche stimmliche Expansivität einfordernden Tonfall eine denkbar weite Entfernung von 138 Zitiert nach Otto Biba , Franz Schubert und die Gesellschaft der Musikfreunde Wien, in Schubert-Kongreß 1978, S. 32f. 139 Otto Biba, Schubert’s Position in Viennese Musical Life, in: 19thCM 3 (1978), S. 106‒113. 140 Für die Verschiebung des Termins konnte bislang keine eindeutige Erklärung gefunden werden. Vgl. Jestremski, Art. Privatkonzert, S. 570. 141 Dok II, Nr. 600. 142 Dürr, Beethovens »Große musikalische Akademie« von 1824 und Schuberts »Privatkonzert« von 1828, S. 60ff. 143 In einer früheren ebenfalls überlieferten Version des Programms steht an dieser Stelle Fischerweise D 881 nach Schlechta. Vgl. den Kommentar zu Dok II, Nr. 599a.

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4 Schuberts Lieder im Wiener Musikleben

den kleindimensionierten Liedkompositionen des ersten Konzertteils bot. Andererseits machte Schubert mit Blick auf die Gesamtkonzeption des Programms nur allzu deutlich, wie sehr er die verschiedenen Genres im Rahmen eines integralen, gattungsübergreifenden Komponierens auffaßte, in dessen Rahmen – wie auch in den privaten Schubertiaden praktiziert – überdies die Grenzen zwischen funktionaler und autonomer Musik aufgehoben erscheinen.144 Schuberts Konzert wurde bekanntermaßen aufgrund eines zeitgleichen Auftretens Paganinis in Wien lediglich von der überregionalen Presse wahrgenommen, etwa von der Leipziger AMZ und (mit mehrmonatigem zeitlichen Verzug) der Dresdner Abendzeitung sowie der Berliner allgemeinen musikalischen Zeitung, die süffisant konstatiert: Fahren wir nun weiter fort in der begonnenen Revue, und lassen vorbei defiliren: Nr. 10 Herrn Franz Schubert, welcher in einem Privat-Konzerte lauter eigene Arbeiten, meistens Gesänge zu Gehör brachte; ein Genre, worin er vorzugsweise Gelungenes liefert. Die zahlreich versammelten Freunde und Protektoren ließen es an rauschendem Beifall bei jeder Nummer nicht fehlen und mehrere derselben wiederholen.145

Sieht man von der zeittypischen Tendenz einer wertenden Rubrizierung Schuberts als ›Gesangskomponisten‹ ab – immerhin enthielt das Konzert etwa das gesamte Es-Dur-Klaviertrio Opus 100 – verweist diese Bemerkung auch darauf, daß es sich, gerade mit Blick auf die detailliert durchgestaltete Programmdramaturgie, nicht im eigentlichen Sinne um ein ›öffentliches‹ Konzert im zeitgenössischen Sinne, sondern um das Projekt einer bewußt inszenierten »öffentlichen Schubertiad’« handelte, wie Schwind gegenüber Schober bereits 1823 betonte.146 Das Publikum mag sich, wie man vermuten darf, in der Tat zu einem großen Teil aus den von den Schubertiaden, verschiedenen Salons und den Abendunterhaltungen mit Schuberts Musik bereits bekannten Zuhörern rekrutiert haben, die auch dadurch ein Statement abgaben, daß sie die »öffentliche Schubertiad’« dem Besuch eines virtuosen Spektakels vorzogen. Die von Walther Dürr auf einer grundsätzlichen Ebene formulierte Feststellung, Schubert habe zwar nicht für den Salon komponiert, aber seine Lieder seien doch »Zeugnisse einer anspruchsvollen bürgerlichen Salonkultur«147, gewinnt vor dem geschilderten Hintergrund an Plastizität: Gerade daß Schubert viele seiner Lieder nicht dezidiert für einen spezifischen Anlaß, sondern in seinem Bewußtsein ›frei‹ von funktionaler Gebundenheit komponierte, gehörte als Ideal einer ›autonomen‹ Kunst letztlich selbst zum Ethos jener anspruchsvollen bürgerlichen Schicht, die die Salonkultur der Vormärzzeit trug und stand insofern durchaus im Kontext einer kulturellen bzw. sozialen Funktionalisierung der in ihrem Rahmen aufgeführten Musik. Mit dem gebräuchlichen Erklärungsmodell eines auch hinter den hier präsentierten Beispielen durchscheinenden musikkulturellen Paradigmenwechsels 144 145 146 147

Vgl. Hinrichsen, Berührung der Extreme, S. 43. Vgl. Dok II, Nr. 624. Dok I, S. 219. Vgl. Dürr, Schubert in seiner Welt, S. 64.

4.4 Öffentlichkeit: Konzerte und Notendruck

121

von der ›Gebrauchsmusik‹ hin zur ›Darbietungsmusik‹ ist daher die hier angesprochene Situation in ihrer komplexen Überlagerung beider Momente kaum adäquat beschrieben. Gerade in Bezug auf Schuberts Lieder wird der seit Heinrich Besseler als musikologisches Paradigma im Sinne einer »Signatur der Moderne«148 in Anwendung gebrachte Begriff der ›Darbietungsmusik‹ häufig gerade nicht als adäquat empfunden, da man das im vorangehenden Kapitel thematisierte Kriterium des ›Privaten‹, auch wenn es sich bereits tendentiell von der für die empfindsame Liedpraxis beschriebenen »Aura des Intimen« entfernt hatte, für bedeutsamer erachtet, als das einer einkomponierten ›Darbietungshaltung‹. Ungeachtet dessen erscheint die »öffentliche Schubertiad’« von 1828 in geradezu ausschließlicher Weise auf eine ›Darbietung‹ der Kompositionen und damit des Komponisten in der Öffentlichkeit bzw. repräsentativen Halböffentlichkeit ausgerichtet. Es ist hier letztlich wiederum auf das eigentümliche ›Dazwischen‹, auf eine gleichsam freischwebende Existenz gerade der Liedkompositionen Schuberts innerhalb einer multifaktoriell bestimmten kulturellen Praxis verwiesen, der der Komponist offenbar mit der kompositorischen Strategie eines in jeder Hinsicht gattungsübergreifenden musikalischen Kontinuums begegnete.

4.4 ÖFFENTLICHKEIT: KONZERTE UND NOTENDRUCK Mit Blick auf die repräsentativen Orte des »konzertierenden Wien«149 spielten Schuberts Lieder eine kleine, seine sonstigen Werke eine kaum wahrnehmbare Rolle.150 Blendet man die mit der kulturellen öffentlichen Sphäre verbundene Halböffentlichkeit aus, lassen sich nach neueren Forschungen gerade einmal 17 Wiener Aufführungen von Liedern an für öffentliche Veranstaltungen genutzten Orten zu Lebzeiten des Komponisten belegen, wobei selbstredend von einer höheren Dunkelziffer zumindest gegenwärtig nicht nachweisbarer Aufführungsdaten ausgegangen werden muß.151

148 Vgl. Kaden, Das Unerhörte und das Unhörbare, S. 213ff. 149 Vgl. Hilmar, Schubert in seiner Zeit, S. 43‒56 sowie Rudolf Klein, Schuberts Konzertstätten. Bis 1831 der sogenannte ›Kleine Musikverein‹ (Tuchlauben 16) umgebaut wurde, existierte kein adäquater Konzertsaal in Wien. Vgl. zu dessen Geschichte Felix Czeike, Art. Musikverein, in: Historisches Lexikon Wien in sechs Bänden, Wien 2004, Bd. 4, S. 337. Eine kommentierte Übersicht der für öffentliche Konzerte genutzten Wiener Aufführungsorte im ersten Jahrhundertdrittel findet sich außerdem bei: Stefan Weinzierl, Beethovens Konzerträume: Raumakustik und symphonische Aufführungspraxis an der Schwelle zum modernen Konzertwesen, Frankfurt a.M. 2002. 150 Vgl. Till Gerrit Waidelich, »Herr Schubert nicht zugegen«, in: Schubert 200 Jahre, S. 55‒59. 151 Ebd., S. 58. Die hier vorgestellte Auflistung von Aufführungsdaten folgt Ahrens, Liszts Transkriptionen, S. 5‒11. Für die jeweiligen Belege vgl. ebd. Insgesamt lassen sich 121 Aufführungen zu Lebzeiten Schuberts nachweisen. Öffentliche Aufführungen außerhalb Wiens gab es in Graz (1822; 1825; 1826; 1827), Laibach (1823), Berlin (1825; 1827), Amsterdam (1825), Breslau (1825; 1827), Hannover (1826), Celle (1827) und Leipzig (1828).

122

4 Schuberts Lieder im Wiener Musikleben

28.2.1819

Hotel Zum Römischen Kaiser

Schäfers Klagelied

25.3.1819

Theater an der Wien

Schäfers Klagelied

12.4.1819 7.3.1821

Landständischer Saal Kärntnertortheater

Schäfers Klagelied Erlkönig

25.3.1821 8.10.1821

Landständischer Saal Kärntnertortheater

Erlkönig Erlkönig

16.10.1821 18.11.1821

Kärntnertortheater Hotel Zum Römischen Kaiser

Erlkönig Der Wanderer

2.12.1821 11.2.1821 21.3.1824

Hotel Zum Römischen Kaiser Theresianische Akademie Landständischer Saal

Der Jüngling auf dem Hügel Erlkönig Erlkönig

22.4.1827 29.4.1827

Landständischer Saal Landständischer Saal

Normanns Gesang Der Einsame

6.5.1827 2.2.1828

Aula der Universität Landständischer Saal

16.3.1828

Hotel Zum Römischen Kaiser

Im Freien Romanze des Richard Löwenherz Normanns Gesang

20.4.1828

Kleiner Redoutensaal

Auf dem Strom

Das mit der Akzentuierung dieser Fakten verbundene prominente Bild vom ›öffentlichkeitsscheuen Schubert‹ verstellt indes den Blick auf die Frage der konkreten öffentlichkeitsbezogenen Kommunikation des Komponisten, die, auch wenn hier keine inkorrekten Relationen vorgespiegelt werden sollen, im vorliegenden Zusammenhang von Bedeutung sein muß: Auch wenn Schuberts enorme Produktivität gerade im Liedbereich sicherlich nicht in direktem Hinblick auf einen musikalischen Markt gesehen werden kann, da dieser sie vermutlich gar nicht hätte aufnehmen können, wäre es kaum angemessen, ihm die Ausrichtung auf diesem Markt komplett abzusprechen. Wie arrangierte sich also Schubert mit den widerspruchsvollen Momenten eines innerhalb seines gesellschaftlichen Umfeldes geltenden Ideals einer Freiheit der Kunst einerseits und der notwendigen ökonomischen Bestimmtheit des Künstlers andererseits? Welche Entscheidungen traf er und wie wurden in diesem Fall seine Lieder in öffentlichen kulturellen Kontexten durch Sänger und Publikum, zwischen denen wiederum eine Wechselwirkung bestand, präsentiert und wahrgenommen? Die Neuausgabe der Schubert-Dokumente (1993) führt für den Zeitraum 1817 bis 1828 über 800 gedruckte Quellen auf, die den Weg des Komponisten in die Öffentlichkeit abspiegeln.152 Neben den Anzeigen für neu gedruckte Werke (vor allem Lieder) stehen hier Konzertankündigungen und Aufführungsberichte bzw. Rezension an vorderster Stelle. Vor diesem Hintergrund sollen zunächst exemplarisch an zwei vergleichsweise prominenten Beispielen die mit der öffentlichen Aufführung von Liedern in Verbindung zu bringenden Kontexte ausgeleuchtet und in 152 Vgl. auch Margret Jestremski, Art. Erfolg, in: SE, S. 167f.

4.4 Öffentlichkeit: Konzerte und Notendruck

123

das bis hierhin erstellte Panorama zur zeitgenössischen Aufführungskultur eingefügt werden. Dabei stehen als Ausgangspunkte wiederum vor allem Fragen der Programmdramaturgie und Rezeption der aufgeführten Lieder im Vordergrund. Zum bereits in den vorangehenden Kapiteln thematisierten, sich schrittweise entfaltenden Prozeß einer Heraufhebung der Musik zur ›autonomen‹ Kunst seit Beginn des 19. Jahrhunderts gehörte naturgemäß eine verstärkte Diskussion über die Art und Weise ihrer öffentlichen Präsentation. Die aus dem Kontext der Liebhaberkonzerte des 18. Jahrhunderts stammende Kultur des Mischprogramms153, die öffentliche Konzertveranstaltungen in kleinerem und größerem Rahmen prägte und die damit verbundene Rezeptionshaltung wurde mittlerweile von der immer größere Autorität entfaltenden Instanz der Musikkritik heftig attackiert. Die Leipziger AMZ stellt 1818 etwa fest: In so fern das Concert eine nothwendige Tages-Unterhaltung, ein wiederkehrendes Bedürfnis der großen Gesellschaft ist, unterliegt es seinem Schicksal, den Forderungen des Tones, der Mode, und hat sich zu einer musikalischen Assemblée gebildet. Ich will aber lieber weniger Musik hören als viel mißbrauchte Musik.154

Im selben Jahr veröffentlichte in Wien Ignaz von Mosel in der von ihm selbst herausgegebenen Allgemeinen Musikalische Zeitung mit besonderer Rücksicht auf den österreichischen Kaiserstaat einen Reformplan hinsichtlich des aktuellen Wiener »Concert-Unwesen[s]«, der der Gesellschaft der Musikfreunde unausgesprochen die Funktion einer öffentlichen Geschmacksüberwachung zuweist: Eine ernste und erschöpfende Behandlung der Fragen Wer soll ein öffentliches Concert geben? Was soll in einem solchen Concert aufgeführt werden? Wo soll ein solches gegeben werden? Wie oft soll ein und der nähmliche Künstler ein Concert geben? wäre jetzt sehr an der Zeit und verdiente gewiß Berücksichtigung 155

Trotz des durch derartige Aktionen vorangetriebenen Prozesses einer Kanonisierung und dramaturgischen Formung von Konzertprogrammen hielt sich das Konzept des Mischprogramms, das nicht zuletzt der fortschreitenden Diversifizierung des Publikums und seiner Interessen Rechnung trug, indes bis nach der Jahrhundertmitte.156 Neben dem ›Großen Concert‹ bestimmte dieses Modell z. T. auch die kulturelle Praxis in den halböffentlichen Salons. In einem 1823 veröffentlichten Essay Über die Art der geselligen Unterhaltungen berichtet etwa die Dichterin Karoline Pichler – ehemals ihrerseits Mittelpunkt eines hochbedeutenden Wiener literarischen Salons – nicht ohne Polemik über diese Praxis: [...] Ein Tableau, eine Declamation, ein durchreisender Violinkünstler, wieder ein Tableau, ein Shawltanz, den Kinder vorführen, Scenen aus einem beliebten Stück, Opernausschnitte und

153 Monika Lichtenfeld, Zur Geschichte und Typologie des Konzertprogramms im 19. Jahrhundert, in: Musica 31 (1977), S. 9‒12. 154 AMZ 31 (1818), Sp. 550. 155 Andeutung zu einer derzeit sehr nöthigen Abhandlung über das gegenwärtige Concert-Unwesen, in: Allgemeine Musikalische Zeitung mit besonderer Rücksicht auf den österreichischen Kaiserstaat 13 (1818), Sp. 109 [Hervorhebungen im Original]. 156 Vgl. die exemplarischen Beschreibungen bei Weber, The Great Transformation of Musical Taste, S. 40‒81.

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4 Schuberts Lieder im Wiener Musikleben eine Sinfonie. [...] Tausenderlei haben Reichthum und Überfluß auf eine kleine Anzahl von Menschen zusammengehäuft, während eine große Menge, die vorhin bei ruhigen Zeiten in behaglichem Wohlstande lebte, nun schweren Druck fühlt, der ihr den Genuß der Freuden und der Empfänglichkeit dafür benimmt, da hingegen jene Überreichen aber beinahe in Sättigung und Überdruß ersticken. 157

Ziel auch Pichlers ironischer Spitzen ist in erster Linie das Odium eines ungebildeten, oberflächlichen und genußsüchtigen Besitzbürgertums, von dem sich die Fraktion der ›Kunstkennerschaft‹ immer wieder rigoros abzusetzen bemühte. Auch in der Rezension des Berliner Gesellschafters zur Musikalischen Akademie des Geigers Eduard Jaëll am 28. Februar 1819 im Hotel Zum Römischen Kaiser unterläßt es der Autor etwa nicht, der Besprechung der künstlerischen Leistungen eine kritische Kommentierung der zeitgenössischen Wiener Konzertkultur vorauszuschicken: Die Fastenzeit bringt auch wieder ihre gewöhnlichen Freuden, nämlich den Wust musikalischdeklamatorisch-mimisch-plastischer Unterhaltungen mit sich, die selten, vielleicht ihrer Menge wegen, die Zuschauer befriedigen. Vielleicht liegt die Ursache davon auch in ihrer zusammengeschraubten Natur.158

Im Rahmen dieser Veranstaltung erklang auch erstmals ein Schubert-Lied in einem als ›öffentlich‹ klassifizierbaren Kontext: »[...] ein Gesangsstück Schäfers Klage von dem jungen Schubert komponirt, und gesungen von unserem braven Tenoristen Jäger«159 Das Hotel Zum Römischen Kaiser, eines der vornehmsten Absteigequartiere Wiens, besaß einen Saal, der häufiger für derartige Veranstaltungen genutzt wurde.160 Die ausführenden Künstler Eduard Jaëll und Franz Jäger161 waren im Jahr 1819 beide Mitglieder in Orchester bzw. Ensemble des Theaters an der Wien, zu dem auch Schubert Verbindungen pflegte.162 Die Programmabfolge der Akademie verweist deutlich in den Bereich der gehobenen, geselligen Unterhaltungskunst, wie 157 Karoline Pichler, Sämtliche Werke, Bd. 53, Wien 1844, S. 144, zitiert nach: Johann Sonnleithner, Vom Salon zum Kaffeehaus, S.80. 158 Dok II, Nr. 21. 159 Ebd. 160 Vgl. Margret Jestremski, Art. Zum Römischen Kaiser, in: SE, S. 856. 161 Franz Jäger (1796‒1852) war dann von 1820‒1824 Mitglied der Hofoper. Offenbar wurde der Kontakt über Jaëll hergestellt, denn Jäger taucht in Berichten über den Schubert-Kreis des Weiteren nicht mehr auf. Er sang Schäfers Klagelied allerdings nochmals im Theater an der Wien (25. März), und in einem Konzert des Geigers Pietro Rovelli im Landhausaal. In den Jahren 1822 und 1824 ist er als Mitwirkender bei der Aufführung von Schuberts Vokalquartett Die Nachtigall im Theater an der Wien und in einem Konzert des Hornisten Johann Gottfried Schunke im Landhaussaal belegt, vgl. Peter Clive, Art. Jäger, Franz, in: Schubert and his World, hg. von dems., Oxford 1997, S. 88f. 162 Eduard Jaëll spielte außerdem in Otto Hatwigs Übungsorchester, dem Schubert zeitweilig als Bratschist angehörte und trat häufiger bei bei Erstaufführungen Schubertscher Musik in Erscheinung. Bereits ein Jahr vorher, am 1. März 1818, hatte ebenfalls im Saal des Römischen Kaiser im Rahmen einer ähnlichen Veranstaltung die Erstaufführung einer Ouvertüre Schuberts (vermutl. D 590 oder D 591) stattgefunden. Vgl. Ernst Hilmar, Art. Jaëll, Eduard, in: SE, S. 345f.

4.4 Öffentlichkeit: Konzerte und Notendruck

125

sie auch in den größeren Salons praktiziert wurde. Neben virtuosen Instrumentalvariationen und einem Orchesterstück163 wurde als satirischer Seitenblick Ignaz Franz Castellis Gedicht Jeremiade eines Virtuosen deklamiert. 164 Castelli stellt hier aus der Sicht eines reisenden Geigers gerade jene Fragen zur Diskussion, die die Existenz des professionellen, vom Ethos einer ›autonom‹ gedachten Kunst getragenen Musikers in Konfrontation mit der pragmatischen Dimension des alltäglichen Musikbetriebes betreffen: Musik als handwerkliche Dienstleistung oder zirzensische Sensation wird hier ebenso mit geschliffenen satirischen Spitzen bedacht wie die Absurdität der durch Kritiker und Publikum auf die Musizierenden ausgeübte Macht, die Rolle der Musik bei der Herausbildung nationaltypischer Klischees oder die Raumvergabepraxis örtlicher Musikvereine.165 Schuberts Lied mag nun vielen Zuhörern innerhalb eines solchen Rahmens kaum in besonderer Weise aufgefallen sein. Man darf annehmen, daß es wenn nicht, wie Till Gerrit Waidelich es formuliert, als »Lückenbeißer«, so doch als anspruchslose Kleinigkeit aufgefaßt wurde, die nach Ansicht mancher vermutlich nicht wirklich ins öffentliche Konzert gehörte, aber dennoch Abwechslung brachte. Die Wiener AMZ befindet entsprechend knapp: »Die Gesangsstücke amüsierten«166, nimmt aber ansonsten keine besondere Notiz von Schäfers Klagelied. Auch diejenigen Zuhörer, die sich zu der zuvor beschriebenen ›Kennerschaft‹ zählten, dürften bei Schuberts Lyrikvertonung wohl ob deren spezifischer Originalität aufgehorcht, sie aber durchaus nicht als aus dem Rahmen fallend angesehen haben, da einige Goethe-Vertonungen bereits in Wien grassierten: Bereits vor Schubert hatten sich etwa von Anton Eberl (1804), Johann Christioph Kienlen (1810), Moritz Graf von Dietrichstein (1811), Carl Czerny (1810/11) und Nikolaus Freiherr von Krufft (1812) aus verschiedenen ästhetischen Perspektiven den Texten des Dichters angenähert.167 Während Kienlen, Dietrichstein und Krufft eher die Ästhetik der traditionellen norddeutschen Liederschule vertraten, gingen Eberl und vor allem Czerny auf andere, ambitioniertere Weise mit den Gedichten um. Vor allem dem Klavierpart wurde auch hier (der spezifischen Tradition des Wiener Klavierliedes folgend) viel stärkeres Gewicht zuwiesen. Schubert tritt hier insofern gewissermaßen in einen bereits bestehenden musikalischen Diskurs ein, innerhalb dessen er sich gerade im Fall von Schäfers Klagelied keineswegs als radikaler Innovator 163 Die Wiener AMZ hält folgendes Programm fest: 1) Neue Ouverture für ein großes Orchester von Eduard Frhr. Von Lannoy. 2) Adagio und Concert-Polonaise für die Violine componirt und gespielt von Herrn Jäll. 3) Duett von Pär, gesungen von Mad. Vogel und Delle. Vio. 4) Satz eines neuen Oboe-Concertes von F. Kummer, vorgetragen von Herrn Krähmer. 5) Schäfers Klagelied von Goethe, Musik von Franz Schubert, gesungen von Herrn Jäger. 6) Bravour-Variationen für Pianoforte und Violine mit Orchester-Begleitung von Herrn Freyh. von Lannoy vorgetragen von Fräul. Biller und Herrn Jäll [...]. Vgl. Dok II, Nr. 20. 164 Dok II, Nr. 19. 165 Vgl. Jeremiade eines reisenden Virtuosen, in: Ignaz Franz von Castelli, Sämmtliche Werke. Vollständige Ausgabe letzter Hand, Bd. 2, Wien 1844, S. 182ff. 166 Dok II, Nr. 20. 167 Vgl. Otto Biba, Goethe in the Vienna Music Scene of his Era, in: Lorraine Byrne, Goethe. Musical Poet, Musical Cathalyst, Dublin 2004, S. 7‒40. Biba lässt zahlreiche Ausschnitte der aus Wiener Archiven zusammengetragenen Kompositionen abdrucken.

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4 Schuberts Lieder im Wiener Musikleben

gibt. Vielmehr hatte Schubert sich mit der Auswahl dieser Komposition offenbar bewußt dafür entschieden, dem Publikum innerhalb eines vertrauten Rahmens gleichsam subkutan seine ästhetischen Novitäten verabreichen zu können. Sensibel wählte er dafür, wie Michael Kohlhäufl gezeigt hat, einen Goethe-Text aus, der sowohl empfindsam als auch romantisierend gedeutet werden konnte: Die offensichtlichen Motivbezüge zur empfindsamen Schäferlyrik sind in diesem Sinne als eine Art assoziativer Impuls auffaßbar, der dann allerdings durch die Auflösung der Szene ins Traumhafte und den am Schluß des Gedichts herbeigeführten Zustand elegischer Klage ins Sehnsuchtsvolle umgedeutet werden:168 Da oben auf jenem Berge Da steh ich tausendmal, An meinem Stabe hingebogen Und schaue hinab in das Tal. Dann folg ich der weidenden Herde Mein Hündchen bewahret mir sie; Ich bin heruntergekommen Und weiß doch selber nicht wie. Da stehet von schönen Blumen Die ganze Wiese so voll. Ich breche sie ohne zu wissen Wem ich sie geben soll. Und Regen und Sturm und Gewitter Verpaß’ ich unter dem Baum. Die Türe dort bleibet verschlossen; Doch alles ist leider ein Traum. Es stehet ein Regenbogen Wohl über jenem Haus! Sie aber ist fortgezogen, Und weit ins Land hinaus Hinaus in das Land und weiter, Vielleicht gar über die See. Vorüber, ihr Schafe, nur vorüber! Dem Schäfer ist gar so weh.169

Schubert reagiert auf diese poetische Konzeption indem er – gleichfalls der Tradition des empfindsamen Liedes folgend – eine zunächst strophisch orientierte Vertonungsästhetik wählt. Dieser Rahmen wird indes durch Tendenzen einer musikalischen Darstellung subjektiven Erlebens erweitert. Das strophische Vertonungs 168 Vgl. Kohlhäufl, Poetisches Vaterland, S. 92: »Alle poetischen Symbole haben hier negative Bedeutung. Anders als in der traditionellen Schäferlyrik der Empfindsamkeit [...] stimmt die Natur nicht in die Klage des Verlassenen mit ein. Die ›Blumen in Thale‹ blühen umsonst (1‒3), die ›Türe‹ bleibt verschlossen, ›Traum‹ (4) und ›Regenbogen‹ (5) vermögen nichts mehr zu verheißen, da mit der Geliebten bereits alles Glück verloren ist – mit der Liebe ging der sinnvolle Zusammenhang der Welt verloren.« 169 So der in Schuberts Erstfassung des Liedes vertonte Text Goethes, zitiert nach: Schuberts Liedertexte, Bd. 1, S. 100f.

4.4 Öffentlichkeit: Konzerte und Notendruck

127

prinzip wird schrittweise zugunsten einer durchkomponierten Struktur aufgelöst, und unter Verwendung von tonmalerischen bzw. rezitativischen Elementen gestaltet Schubert die Selbsterkenntnis des Schäfers zu einem dramatisierenden Höhepunkt aus. Während Goethes Schäfer also gewissermaßen weiterhin im Zustand des Träumens verbleibt, scheint sich Schuberts Schäfer bereits des Träumens bewußt, und er sieht sich zusehends von der realen Situation des Allein- bzw. Verlassenseins eingeholt. Das sich an diese von Schubert herbeigeführte Klimax anschließende, erneute Aufgreifen der strophigen Faktur sowie die melodische Reprise des Beginns erscheinen vor diesem Hintergrund in ihrer expressiven Valenz verändert: Als Ausdruck gebrochen wehmütiger Klage wird die Musik nun zum Widerhall einer durch die Erfahrung der Entfremdung bestimmten lyrischen Seele. Trotz Schuberts subtil auf Goethes Dichtung reagierender Nuancierung liedästhetischer Konventionen scheint die zeitgenössische Rezeption der Aufführung dieses Liedes aus der Perspektive traditionell-häuslicher Liedkultur erfolgt zu sein, die im damaligen Bewußtsein eher nicht in die öffentliche Situation einer ›Akademie‹ gehörte, aber umso mehr Bezugspunkt für die Veröffentlichung von Liedern aus Sicht der Verleger war. Die Leipziger AMZ betont etwa deutlich die Nähe der Schubertschen zur traditionellen Liedästhetik, wenn sie Schäfers Klagelied als »gefühlvoll rührende Composition , die von Hrn. Jäger in diesem Geiste ausgeführt« wurde, rubriziert.170 Als die Komposition schließlich 1822 gemeinsam mit drei weiteren Goethe-Liedern (Heidenröslein, Jägers Abendlied und Meeres Stille) als Opus 3 veröffentlicht wird, benennt die Allgemeine Wiener Theaterzeitung neben »liebliche[n] Melodien«, die »edle Simplicität« und »originelle Erhabenheit« als bezeichnende Qualitäten der als »Werkchen« angekündigten Lieder.171 Nahezu programmatisch erscheint überdies die Widmung gerade dieser Kompositionen an Ignaz von Mosel, der bereits im Jahr 1820 eine Vertonung desselben Textes auf freilich noch weitaus traditionellere Weise veröffentlicht hatte.172 Die Veröffentlichung der hier angesprochenen »Werkchen«173 stand, wie eben diese Formulierung nicht zuletzt zu verraten scheint, längst im Schatten eines anderen Ereignisses, das hingegen offenkundig für Aufruhr im Wiener Musikleben gesorgt hatte: Die Rede ist von der ersten öffentlichen Aufführung des Erlkönig in der Hofoper am Kärntnertor am Aschermittwoch des Jahres 1821 durch Johann Michael Vogl und Anselm Hüttenbrenner. Mit Blick auf die öffentliche Wahrnehmung Schuberts als professionellem Komponisten fiel dieser Veranstaltung große Bedeutung zu, wie vor allem eine unverhältnismäßig hohe Anzahl von Rezeptionszeugnissen belegt. 174 Nachdem die Ballade bereits seit 1815 in privatem Rahmen 170 171 172 173 174

Dok II, Nr. 22. Dok II, Nr. 101. Vgl. Biba, Goethe in the Vienna Musical Scene, S. 26. Dok II, Nr. 101. Vgl. Dok II, Nr. 72, 74‒76, 79, 80, 87, 96. Vgl. die umfassende Darstellung und Diskussion der Quellen in: Christopher Gibbs, The Presence of »Erlkönig«. Reception and Reworkings of a Schubert Lied, Ph. Diss. Columbia Univ. 1992, S. 58‒64.

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aufgeführt wurde und ihr Versand an Goethe 1816175 sowie den Leipziger Verlag Breitkopf und Härtel 1817 durch Spaun ohne Erfolg blieb176, wurden im Winter 1820/21 die Kosten für eine Drucklegung bei Cappi & Diabelli auf Kommission von einigen Schubert-Freunden um Leopold Sonnleithner gemeinsam übernommen.177 Die ersten 100 Exemplare konnten bereits bei einer Aufführung durch den Tenor-Dilettanten August von Gymnich und Anna Fröhlich im Sonnleithnerschen Salon im Dezember 1820 verkauft werden178, der nächste Schritt war die Premiere des Erlkönig bei den Abendunterhaltungen der Gesellschaft der Musikfreunde im Januar 1821. Um für die Erprobung des Stückes vor einer größeren Öffentlichkeit nicht das Risiko eines ›eigenen‹ Konzertes in repräsentativem Rahmen eingehen zu müssen, was finanziell einen erheblichen Aufwand bedeutet hätte, boten sich die sogenannten »Wohltätigkeitsakademien« an, die regelmäßig von unterschiedlichen Wiener Vereinen und Gesellschaften veranstaltet wurden. Am 7. 3. des Jahres 1821 wurde Erlkönig somit schließlich gemeinsam mit zwei anderen mehrstimmigen Vokalkompositionen Schuberts ins Programm einer Musicalischen Academie mit Declamation und Gemälde-Darstellungen im Kärntnertortheater aufgenommen. Wie Till Gerrit Waidelich festhält, waren die Wiener Theater, gerade da sie »neben sonstigen Mehrzwecksälen als allgemein bekannte Veranstaltungsgebäude fungierten und fast grundsätzlich über Orchestermusiker und Choristen verfügten, [...] in besonderem Maße für musikalische Darbietungen geeignet, zumal man an jenen Tagen, an denen aus gesellschaftlichen oder kirchlichen Gründen keine Theateraufführungen stattfinden durften, Ersatzveranstaltungen anbieten mußte[...].«179 Die Veranstaltungen im vom Hof unterhaltenen Kärntnertortheater standen darüberhinaus im Mittelpunkt des repräsentativen Wiener Musiklebens. Die Gesellschaft adeliger Damen zur Beförderung des Nützlichen, der Ignaz Sonnleithner als Sekretär verbunden war, präsentierte bereits seit 1812 – alljährlich zum Aschermittwoch – auch vor dem Hintergrund der damaligen Praxis eher aufwendige Programme mit Orchester, Solisten, Tanz, Deklamation und den damals sowohl im Salon wie auf der Bühne beliebten Tableaux vivants – pantomimischen Nachstellungen prominenter Gemälde.180 Schubert war hier neben Werken bereits im öffentlichen Wiener Musikleben bekannter Größen (Gyrowetz, Spohr, Vorišek) bzw. international prominenter Komponisten (Mozart, Hérold und Rossini) und Virtuosen 175 Vgl. zu diesem vieldiskutierten Thema: Anselm Gerhard, Goethes »herrliche Dichtungen« und Schuberts »große Freiheit«. Ein Spannungsverhältnis einmal anders betrachtet, in: GJb 118 (2001), S. 304‒314. 176 Breitkopf sandte den Erlkönig bekanntlich kurioserweise an einen Namensvetter Schuberts in Leipzig. 177 Zur Veröffentlichungsgeschichte vgl.: Gibbs, The Presence of »Erlkönig«, S.67‒85. 178 Ernst Hilmar, Art. Erlkönig, in: SE, S. 173. 179 Vgl. Waidelich, »Musicalisch-declamatorisch-szenisches Potpourri [...]«, S. 17. 180 Zum Tableau vivant im Kontext der hier angesprochenen Veranstaltungen vgl. Matthias Strässner, Sokrates und »Erlkönig«. Playback der Romantik. Das Tableau vivant zur Zeit Franz Schuberts, in: Der Flug der Zeit. Franz Schubert. Ein Lesebuch, hg. von der Internationalen HugoWolf-Akademie Stuttgart, Tutzing 1997, S. 163‒189.

4.4 Öffentlichkeit: Konzerte und Notendruck

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(Romberg)181 gleich mit drei, wenngleich kürzeren, Kompositionen vertreten, auf die das Publikum durchaus differenziert reagierte: Während das beschauliche Stimmung atmende Vokalquartett Das Dörfchen D 598 soliden Erfolg einfuhr und der Gesang der Geister über den Wassern D 714 für Männerchor und tiefe Streicher auf einen Text von Goethe deutlich auf Ablehnung stieß182, wurde die Aufführung des Erlkönig begeistert aufgenommen und mußte auf allgemeinen Wunsch wiederholt werden.183 Obwohl die angesprochenen Verleger die Drucklegung des Stücks zunächst abgelehnt hatten, da der Klavierpart als zu schwer ausführbar eingestuft wurde, insistierte Schubert auf der Veröffentlichung der Komposition als Opus 1. »Dem in executiver Hinsicht musicalischen Wien« wurde das Stück sodann von der Wiener Presse wärmstens anempfohlen184 und von 600 subskribierten Exemplaren waren vor Oktober 1822 bereits über die Hälfte verkauft185, was offenbar auch Diabellis Zweifel aus dem Weg räumte. Erlkönig verkaufte sich also letztlich trotz der spieltechnischen Hürden – oder gerade deshalb: Die frappierende Schwierigkeit des Klavierparts sowie die gleichwohl differenzierte aber höchst wirkungsvolle Deklamation der Singstimme faszinierte offenbar auch den an Virtuosität und opernhafter Dramatik ausgerichteten Teil des Publikums. Und auch die bereits angesprochene Fraktion einer gebildeten ›Kennerschaft‹, die an der Art und Weise der musikalischen Umsetzung der literarischen Vorlage interessiert war, kam auf ihre Kosten. Es ist mit Blick auf den literarischen Bildungsstand des Publikums etwa bemerkenswert, daß zur halböffentlichen Erlkönig-Premiere am 25. Januar bereits Handzettel mit dem Gedichttext verteilt wurden.186 In einer Anzeige im Sammler betont Joseph Hüttenbrenner, der gemeinsam mit Leopold Sonnleithner die Drucklegung vorantrieb, ausdrücklich: [Schuberts Erlkönig wird] in den ausgezeichnetsten Häusern, wo Musik executirt wird, aufgeführt, und allenthalben erntete Hrn. Schuberts Composition den rauschendsten Beyfall. Die Gunst, mit der die Musikliebhaber dieselbe aufgenommen haben, erscheint durch das Urtheil der hiesigen Kunstkenner gerechtfertigt, nach welchem Göthe’s Text von dem jungen Tonkünstler auf das richtigste aufgefaßt [...].187

Auch der bereits erwähnte Kritiker Friedrich August Kanne – von 1821‒24 Herausgeber der Wiener AMZ und eine gewichtige Stimme innerhalb der Fraktion der Wiener ›Kunstkennerschaft‹ – betont besonders mit Blick auf Schuberts rezitativische Komposition des Schlusses in seiner Rezension ausdrücklich, Goethes Ballade sei von Schubert »verstanden« worden.188 Als Qualitätsmerkmal war dieses Urteil 181 Romberg war vor allem ein international bekannter Violoncello-Virtuose, dessen Popularität mit der Boccherinis vergleichbar war. Vgl. Rebekka Sandmeier, Art. Romberg, Bernhard, in: MGG2, P/Bd. 14, Sp. 335‒338. 182 EF, S. 127. 183 EF, S. 213f. 184 Dok II, Nr. 79. 185 John Reed, Art. Erlkönig, in: The Schubert Song Companion, Manchester 1985, S. 223. 186 Dok II, Nr. 68. 187 Dok II, Nr. 79. 188 Dok II, Nr. 98.

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von kaum zu unterschätzender Bedeutung, darüber hinaus verrät auch Kannes argumentatorische Basis die anhaltende Relevanz traditioneller Liedästhetik: Trotz Schuberts freien Umgangs mit Goethes Poesie wurde die Autorität des Textdichters in den Vordergrund gestellt, mit dessen Status als europäischem ›Dichterfürsten‹ der vergleichsweise unbekannte Schubert auch in Wien kaum konkurrieren konnte. Entsprechend attackierte Kanne die an den Erfolg der Aufführung geknüpfte Veröffentlichung einer Erlkönig-Walzerserie aus der Feder Anselm Hüttenbrenners (immerhin der Pianist der öffentlichen Erstaufführung) und verfaßte die folgenden (von Schubert offenbar belustigt abgeschriebenen) ironischen Distichen: Der Köder Frage. Sage mir, lieblicher Kauz, was du suchst in Werken von Goethe! Anwort. Titelchen stöbr’ ich mir auf! Erlkönig deutsche! – Ich fand’s! Drey-Achtel-Tact Frage. Sprich! Wie tanzt man deutsch der Geisterwelt furchtbaren Schauder? Antwort. Kann man nicht jegliches Lied tanzen, der heutigen Welt? Das Gefühl Frage. Sage mir! Strömt das Gefühl der jetzigen Welt nur dem Bein zu? Antwort. Seit die Menschen geschnürt, sanken die Herzen hinab! 189

Gerade das sich hier abzeichnende Rezeptionsspektrum des Erlkönig zwischen privatem, halböffentlichem und öffentlichem Raum bietet ein signifikantes Beispiel dafür, wie trotz der beschriebenen Versuche einer die Geschmacksbildung kanalisierenden musikalischen Kennerschaft ›hohe‹ und ›niedere‹ Kunst im Kontext öffentlicher Darbietung durchaus aufeinander einwirken konnten.190 Der große Erfolg, den die öffentliche Erlkönig-Premiere einfuhr, verweist vor dem bisher dargestellten Hintergrund aus rezeptionsästhetischer Ebene sogar auf das Potential der Ballade hinsichtlich einer Zusammenführung bereits diversifizierter Publikumsschichten, in deren Kontext die heterogene Dramaturgie derartiger Veranstaltungen in jedem Fall verortet werden muß. Es muß [...] bey dem Umstande, daß der echten Musikkenner zu wenig vorhanden sind, um Kosten zu decken, oder wohl gar einen Gewinn zu garanieren, die Verschiedenheit und Abwechlung in vorzutragenden Werken am meisten aus der Noth helfen. Die Musik muß sich aus diesem öconomischen Grunde mit der Declamation vermählen, um durch diesen Kunstgriff die

189 Dok II, Nr. 100. 190 Vgl. zu den Wiener Veranstaltungen der 1810er und 1820er Jahre auch: Anno Mungen, BilderMusik. Panoramen, Tableaux vivants und Lichtbilder als multimediale Darstellungsformen in Theater- und Musikaufführungen vom 19. bis zum frühen 20. Jahrhundert, S. 116‒118.

4.4 Öffentlichkeit: Konzerte und Notendruck

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vielseitig gebildeten Zuhörer eben so wie die, welche aller Kunstbildung ermangeln, in ihren Hörsaal zu locken und zufrieden zu stellen. Hier kommt die Mode zu Hülfe [...]191

Daß kulturkritische ›Kenner‹ wie Kanne hier im Namen eines ästhetischen Reinheitsgebots etwa die Verbindung von Musik und Deklamation als ›unkünstlerisches‹ Produkt zeitgenössischen Mode- und Profitdenkens verurteilen, kann letztlich nicht ausschließen, daß nicht auch ein gerade an der intermedialen Bezüglichkeit der Künste interessiertes Publikum diesen Veranstaltungen beiwohnte.192 Eduard Hanslick hebt in seinem Rückblick auf die Geschichte des Wiener Musiklebens etwa positiv hervor, daß zwar die »künstlerische Physiognomie der WohltätigkeitsConcerte [...] weniger durch Classicität, Ernst und Übereinstimmung«, dafür aber durch »sinnlichen Reiz« charakterisiert wäre und »auch vieles Gediegene« geboten habe.193 Von kaum zu unterschätzender Bedeutung für diesen enormen Erfolg des Erlkönig war selbstverständlich, daß – neben einer ganzen Reihe bekannter Künstler der Wiener Bühnen – Johann Michael Vogl sang. Der Tenorbariton, der sich bereits seit 1817 für Schuberts Lieder im halböffentlichen Rahmen eingesetzt hatte, gehörte, wenngleich kurz vor seiner Pensionierung stehend, unbedingt zur Hochprominenz des Wiener Musiklebens und konnte bei einem derartigen Auftritt auf seiner Stammbühne gleichsam mit einer Erfolgsgarantie rechnen. Darüberhinaus war von einer weitaus höheren Anzahl an Rezensionen auszugehen als Schuberts Kompositionen sie bislang erhalten hatten, da man Vogls Vortrag besprechen wollte. 194 Christopher Gibbs’ umfangreiche Darstellung der Aufführungs-, Publikations- und Rezeptionsgeschichte des Erlkönig im 19. Jahrhundert195 vermittelt eine plastische Vorstellung davon, wie prägend gerade die Präsenz dieses Stückes in der zeitgenössischen Öffentlichkeit auch durch Aufführungen war, in denen an den Erfolg der Akademie vom 7.3. 1821 angeknüpft werden sollte. Bereits im Dezember 1821 (!) konstatiert ein Wiener Korrespondent der Leipziger AMZ mit zynischem Unterton: Eine musikalische Akademie, die diesen Namen wahrlich nicht verdiente, denn sie bestand außer der Eingangs- und Schlussouverture, zwey Ladenhütern von Deklamationen, nur aus einem einzigen Gesangsstücke, und solches war: Göthe’s Erlkönig, von Hrn. Vogel, die Götter mögen wissen, zum wie vieltenmale gesungen und am Piano von Hrn. Schunke begleitet.196

So sehr der Schubert-Kreis zahlreiche Liedkompositionen des Freundes mit gemeinsamen ästhetischen Prämissen verband, die letztlich die Freunde selbst als ideale Rezipienten der Lieder vorsehen mußten, hatten man ein Interesse daran, sich 191 Friedrich August Kanne, Über die Privat Concerte in Wien, in: Conversationsblatt 2 (1820), Nr. 57, S. 551‒555, zitiert nach Ernst Hilmar, Schubert in seiner Zeit, Wien 1985, S. 51. 192 Vgl. Kohlhäufl, Poetisches Vaterland, S. 94. 193 Eduard Hanslick, Geschichte des Concerwesens in Wien, Wien1869/70, Reprint Hildesheim 1979, S. 181. 194 Vgl. Dok II, Nr. 74, Nr. 79, Nr. 80, Nr. 96, Nr. 98 und Nr. 146. 195 Vgl. Anm. 175. 196 Dok II, Nr. 137.

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für eine ›Ver-Öffentlichung‹ des Komponisten einzusetzen, schon um ihm zu finanzieller Unabhängigkeit und der damit verbundenen gesellschaftlichen Ästimation verhelfen zu können.197 Ungleich wirksamer als über schwierig zu organisierende und zu disponierende Aufführungen in öffentlichen Foren konnte dies über gedruckte Notenausgaben geschehen, die, wo möglich, an erfolgreiche Aufführungen gekoppelt werden konnten. Neben einigen in Wiener Almanachen und Taschenbüchern veröffentlichten Liedern, in deren Rahmen Schubert ab 1818 kontinuierlich publizierte198, erschienen ab 1821 innerhalb von 18 Monaten unter finanzieller Mithilfe Leopold Sonnleithners und anderer Mitglieder des Schubert-Kreises zunächst zwölf mit Opuszahlen bezeichnete Liederhefte im Verlag Cappi & Diabelli. Sonnleithners Strategie richtete sich an der gängigen Praxis einer Veröffentlichung von zwei bis fünf Liedern pro Heft aus – abgesehen von den als Einzelausgaben erscheinenden Opera 1 (Erlkönig) und 2 (Gretchen am Spinnrade). Trotz Goethes ausbleibender Reaktion auf das Liederheft von 1816 wurde dessen Status als ›Dichterfürst‹ genutzt, um die Exzellenz der Vertonungen Schuberts herauszustellen: Zwölf von siebzehn der ursprünglich an Goethe gesandten Lieder mit dessen Gedichten als Textvorlage wurden in den ersten fünf Opera, vier weitere Goethe-Lieder in Opus 12 und 14 veröffentlicht, was naturgemäß die Attraktivität der Hefte für (in der Regel zahlende) Widmungsträger erhöhte.199 Auch Goethe selbst wurde bemerkenswerterweise Widmungsträger des Opus 19 (An Schwager Kronos D 369, An Mignon D 161, Ganymed D 544), was, wie Otto Biba vermutet, nahelegt, daß der Dichter Schubert dazu letztlich doch eine schriftliche Erlaubnis erteilt haben müsse.200 Sonnleithners Strategie ging offenkundig auf: Diabelli druckte Erlkönig in einer Auflage von 600, Gretchen von 500, die Goethe-Vertonungen Opus 3 von 400 und der anderen Opera von je 300 Exemplaren, was Schuberts finanzielle Situation beträchtlich verändern konnte.201 Schubert hatte, wenngleich seine Freunde mit Blick auf die praktische Verwirklichung der Veröffentlichungen die treibende Kraft gewesen sein mögen, letztlich durch die Qualität seiner Kompositionen 197 Vgl. EF, S. 396; Vgl. außerdem den Brief Schobers an den Komponisten vom 1824 (Dok I, S. 265f.): »Wenn du dir nur ein paar Lärmtrommeln von Recensenten, die immerfort ohne Ende in allen Blättern von Dir sprächen es würde schon gehen, ich weiß ganz unbedeutende Leute, die auf diese Weise berühmt und beliebt geworden sind, warum soll es denn der nicht benützen, der es in höchstem Maße verdient«. 198 Vgl. Hierzu Donald Ewan West, The Musenalmanach and Viennese Song 1770‒1830, in: ML 67 (1985), S. 37‒49. 199 Vgl. Michael Hall, Schubert’s Song Sets, Aldershot 2003, S. 13. Zu den Widmungen auch Biba, Schubert’s Position in Viennese Musical Life, S. 109. 200 Vgl. Biba, Goethe and the Viennese musical Scene, S. 27: »[...] according to the censorship laws which were tightened up as a result of the Congress of Vienna, the name of the dedicatee could only be put on the title page of a publication with his written permission. If Schubert dedicated his three Lieder op. 19 [to the poet] there must have been a written permission from Goethe. […] It was not an acknowledgement by Goethe of Schubert’s Lieder style, but it was a proof of his respect for the composer.« Astrid Tschense hingegen vermutet, daß Schubert vermutlich nicht eigens um Erlaubnis gebeten habe, da sie »nicht ausdrücklich erteilt worden sei«. Vgl. Tschense, Goethe-Gedichte in Schuberts Vertonungen, S. 50. 201 Vgl. Hall, Schubert’s Song Sets, S. 13.

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selbst, wie Walther Dürr formuliert, einen »Anspruch auf Öffentlichkeit«202 und damit auch einen Anspruch auf seine Wahrnehmung als professioneller Komponist erhoben: Ein als ›Opus‹ ausgewiesenes, gedrucktes Musikstück wurde naturgemäß auf ganz andere Weise auch von der Kritik aufgenommen als eine in einen Almanach eingelegte Petitesse und Schubert mußte und wollte sich dem stellen. Gleichwohl bedeutete der Plan der Veröffentlichung auch eine Auseinandersetzung mit den Erwartungshaltungen der Öffentlichkeit: Schubert publizierte etwa bis Ende des Jahres 1821 zunächst 20 Lieder, die bezeichnenderweise gerade nicht mit den innerhalb des Freundeskreises für eine Veröffentlichung favorisierten Kompositionen zusammenfielen, sondern sich offensichtlich an anderen Kriterien ausrichteten: Ein prägnantes Beispiel bietet etwa die umfangreiche und formal eher experimentell angelegte Vertonung Einsamkeit nach Mayrhofer von 1818 (D 620), von der Schubert zwar 1822 nochmals eine Reinschrift anfertigte, sie aber nicht in den Druck gab, obwohl er noch am 3. August 1818 in einem Brief an Schober betont hatte:203 »Mayrhofer’s Einsamkeit ist fertig, und wie ich glaube, so ist’s mein Bestes, was ich gemacht habe [...]«204 Gerade der Umstand indes, daß die von Schubert erstellte Reinschrift eventuell gleichzeitig eine Überarbeitung der Fassung von 1818 oder sogar eine Neukomposition des Textes darstellt205, legt nahe, daß Schubert von ihrer Qualität durchaus weiterhin überzeugt war, sie aber offenbar dennoch nicht zur Veröffentlichung vorschlug. Auch die von Spaun noch 1816 – taktloserweise – Goethe gegenüber besonders hervorgehoben Ossian-Gesänge und ebenso die hymnisch angelegten Klopstock-Vertonungen wurden zu Schuberts Lebzeiten nicht veröffentlicht.206 Statt dessen nahm der Komponist selbst neue Zusammenstellungen von – zum Teil ein einziges und zum Teil mehrere Lieder enthaltenden – Lied-Opera vor, die auf unterschiedlichste Weise inneren und äußeren Dramaturgien folgen.207 Betrachtet man die Lied-Veröffentlichungen der 1820er Jahre aus der Vogelperspektive, fällt überdies auf, daß sich gerade unter den ersten Publikationen nach

202 Vgl. Walther Dürr, Der »Liederfürst«. Kritik alter und neuer Schubert-Klischees, in: ÖMz 52 (1997), S. 11‒21. 203 Schubert vertont den langen in Strophen und Gegenstrophen angelegten, einen idealisierten männlichen Lebenslauf schildernden, Gedichttext, indem er gleichsam filmschnittartige Techniken anwendet. Einzelne, den jeweilig neuen Strophen vorangestellte Textzeilen werden mottoartig als Überleitungen zwischen die jeweils mit neuem musikalischen Material gestalteten Binnenteile geschaltet, wodurch sich letztlich ein zyklisch anmutendes Konzept verwirklicht. 204 Dok I, S. 63. 205 Vgl. Walther Dürrs Kommentar zu Einsamkeit in: NSA IV, Bd. 12, S. XVIIf. 206 In einem im Jahr 1866 an den Herausgeber der Leipziger AMZ, Selmar Bagge, gerichteten Brief betont Leopold Sonnleithner, der Verleger Diabelli habe bei einer Projektierung der Herausgabe der Ossian-Gesänge nach Schuberts Tod eingewendet, »daß dieselben sich nicht wohl zum Vortrag in Salon oder in Konzerten eignen« (EF, S. 511). 207 Zur Analyse und Kontextualisierung dieser Dramaturgien: Richard Kramer, Distant Cycles. Schubert and the Conceiving of Song, Chicago 1994 sowie: Hall, Schubert’s Song Sets.

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Erlkönig (Opus 1) und Gretchen am Spinnrade (Opus 2) auch zahlreiche am ästhetischen Standard des frühen 19. Jahrhunderts ausgerichtete Lieder finden208, was in eine deutliche Richtung zu weisen scheint: Das Fortbestehen des traditionellen liedästhetischen Diskurses hatte in der kulturellen Praxis sein Pendant in den Forderungen der Verleger nach leicht ausführbaren Liedkompositionen, um die Musizierbedürfnisse der Käufer zu befriedigen.209 Im Falle etwa des Opus 7210 bemerken Cappi & Diabelli in ihrer Anzeige in der Wiener Zeitung von 27. November 1821 ausdrücklich die Eignung der Lieder für das häusliche Musizieren.211 Die aus Sicht der später einsetzenden musikalischen Gattungshistoriographie ›entscheidenden‹ Komposition Gretchen am Spinnrade und Erlkönig werden dagegen üblicherweise in einem genau gegensätzlichen Kontext verortet: Als die möglichen Beziehungen zwischen Musik und Text auf völlig neue Weise auslotende ›autonome Kunstlieder‹, die sich radikal über die gültigen ästhetischen Prämissen der ›Liedhaftigkeit‹ hinweg setzten, wird traditionell vor allem ihr innovatorisches Potential betont. Indes sind, wie etwa Gernot Gruber betont, auch mit Blick auf diese paradigmatischen Kompositionen »klassizistisch anmutende Mittel wie Einheitlichkeit des Grundcharakters und formale Geschlossenheit [...] am Werk«, die Schubert mit bereits in den teilweise sehr großdimensionierten balladesken Liedkompositionen der Frühzeit angewendeten dramatisierenden Techniken musikalischer Detailcharakterisierung kombiniert und letztlich zum Ausgleich führt. 212 Daß Schubert also mit Blick auf den pragmatischen Kontext der Veröffentlichung in erster Linie auf das ›traditionell-einfache‹ resp. durchkomponiert-variierte Strophenlied oder aber Liedformen freierer Gestaltung zurückgriff, die gerade nicht die grundsätzlich geltende Prämisse der strukturellen Einheitlichkeit ignorierten, aber die großen balladesken Entwürfe der früheren Zeit weitgehend ausblendete, da sie nicht der zeitgenössischen Erwartungshaltung an die Gattung Lied entsprachen (und bis heute z. T. als ›unaufführbar‹ bezeichnet werden213), weist mit Nachdruck 208 Die Opera 1 bis 7 umfassen: Op. 1: Erlkönig; Op. 2: Gretchen am Spinnrade; Op. 3: Schäfers Klagelied, Meeresstille, Heidenröslein, Jägers Abendlied; Op. 4: Der Wanderer, Morgenlied, Wanderers Nachtlied I; Op. 5: Rastlose Liebe, Nähe des Geliebten, Der Fischer, Erster Verlust, Der König in Thule; Op. 6: Memnon, Antigone und Oedip, Am Grabe Anselmos; Op. 7: Die abgeblühte Linde, Der Flug der Zeit, Der Tod und das Mädchen. 209 Hilmar, Franz Schubert in seiner Zeit, S. 35. 210 Die abgeblühte Linde D 514, Der Flug der Zeit D 515, Der Tod und das Mädchen D 531. 211 Vgl. Dok II, Nr. 133: »Aus Schuberts Tondichtungen sind hier solche zusammengestellt, welche mit ihrer innern Trefflichkeit auch den Vorteil verbinden, daß sowohl die Begleitung leicht auszuführen ist, als auch die Singstimme keines großen Umfanges bedarf. Dieser Umstand gibt dem Heft auch den Werth der Gemeinnützigkeit«. 212 Vgl. Gernot Gruber, Das Balladeske in Schuberts frühen Liedern und seine entwicklungshistorische Bedeutung, in: Österreichische Musik – Musik in Österreich. Beiträge zur Musikgeschichte Mitteleuropas (FS Theophil Antonicek), hg. von Theresia Hilscher, Tutzing 1998, S. 337‒348. Die dramatisierenden Effekte in Gretchen und Erlkönig sind letztlich gerade durch die phantasievolle Modifikation einer einheitlichen Strukturebene – etwa durch harmonische Vielfältigkeit oder melodische wie rhythmische Variantenbildungen – zu charakterisieren. 213 So etwa Werner Oehlmann in: ders., Reclams Liedführer, Stuttgart 21993, S. 185. In die überarbeitete Ausgabe von 2008 wurde Oehlmanns Schubert-Artikel unverändert übernommen.

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auf Zusammenhänge zwischen kultureller Praxis und ästhetischer Entscheidungsfindung hin. So ließe sich mit David Gramit vermuten, daß vor solchem Hintergrund das mit Schuberts Liedern verbundene ästhetische Paradigma des ›autonomen Kunstliedes‹ auf scheinbar paradoxe Weise gerade durch das zunehmende Ausgerichtetsein des professionellen Komponisten Schubert auf die Öffentlichkeit kulturell (mit)geformt wurde214, denn eine Veröffentlichung der Lieder implizierte schlichtweg andere Prioritäten als deren klingende Existenz innerhalb der privaten und halböffentlichen Musikkultur, wo Noten in erster Linie über Abschriften kursierten.215 Auch die Bedeutung jenes 19. Oktober 1814, an dem Schubert Gretchen am Spinnrade komponierte, relativiert sich aus einer derartig rekonstruierten Perspektive historischer Wahrnehmung, da zum damaligen Zeitpunkt (wie etwa die oben angeführten Beispiele zeigen) offenbar sowohl für den Komponisten selbst als auch für den mit seinem Liedschaffen als Adressat verwobenen Freundeskreis, durchaus andere Aspekte im Vordergrund standen als mit Blick auf eine Veröffentlichung sinnvoll erschien. Die schließlich 1821 erfolgten ersten Veröffentlichungen von Erlkönig und Gretchen an Spinnrade müssen vor dem beschriebenen Hintergrund nicht zuletzt auch als pragmatische Entscheidungen gedeutet werden: Einerseits sollte kein zu hohes finanzielles Risiko eingegangen216 und andererseits die zeitgenössische Erwartungshaltung gerade nicht zu stark zu irritiert werden. In jedem Fall wäre in Frage zu stellen, ob eben diese beiden Vertonungen wirklich als ostentative Zeugnisse von Schuberts Bewußtsein um eine neue Kunstlied-Ästhetik aufgefaßt werden können. Schuberts Lieder wurden, wie man trotz der hier grundsätzlich eingenommenen Perspektive einräumen muß, einer vergleichsweise größeren Öffentlichkeit letztlich vor allem durch die Drucke bekannt und nicht durch Aufführungen – zumindest, was die Situation zu Lebzeiten des Komponisten angeht. 217 Allerdings verbindet sich die durch die Notendrucke hergestellte stärkere Präsenz der Lieder Schuberts in der öffentlichen Sphäre hinsichtlich des Erklingens der Lieder weniger mit einer sich herausbildenen öffentlichen Liedkunst als mit der traditionellen Liedkultur und der mit ihr verbundenen Rezeptions- und Aufführungspraxis im privaten Raum. Und diese häusliche Rezeptionsweise mag unter Umständen eine weitaus ›privatere‹ gewesen sein, als dies bei mancher Schubertiade oder in manch repräsentativem musikalisch-literarischem Salon der Fall war. Hier ließe sich etwa heranziehen, was Beatrix Borchard mit Blick auf die Lied- und Klavierkomposition Fanny Hensels und deren Rezeption festhält: 214 David Gramit, The Circulation of the Lied, S. 304: »From this perspective, the creation of the autonomous Lied-as-artwork appears not simply as an ahistorical stroke of individual genius, but as the product of the interaction of an individual aspiring to distinguish himself as a composer with both the generic conventions [and] the altered circulatory potential of what was for him a newly available medium.« 215 Etwa komponierte Schubert nach 1821 zu bereits veröffentlichten Liedern Vorspiele nach, obwohl noch zu dieser Zeit eine improvisatorische Praxis existierte. Vgl. Joseph Kerman, A Romantic Detail in Schubert’s »Schwanengesang«, in: MQ 48 (1962), S. 36‒49. 216 Vgl. Hans-Joachim Hinrichsen, Franz Schubert, München 2011, S. 113. 217 Biba, Schubert’s Position in Vienna Musical Life, S. 109ff.

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4 Schuberts Lieder im Wiener Musikleben In Hinblick auf Lieder und Klavierstücke ist die Veröffentlichung nicht identisch mit der Aufführung vor Publikum, sondern damit, daß ein anderer die Noten kauft und für sich selber das Lied/das Klavierstück reproduziert. Gerade die Stücke, in denen nur eine Singstimme singt, komponieren den Ausführenden, der sich allein ans Klavier setzt und die Stücke für sich singt und spielt, mit ein. Die Veröffentlichung ermöglicht also einen Dialog zwischen einzelnen Menschen, die einander in der Regel nicht persönlich kennen.218

Schuberts Lieder wurden insofern durch die Veröffentlichung im Druck zwar Teil eines erweiterten Kommunikationsprozesses zwischen öffentlicher und privater Sphäre, der über das als zentraler Träger der Schubertschen Liedwerks behandelte private Netzwerk hinausging. Das Phänomen einer öffentlich zelebrierten ›Liedkultur‹ wäre indes zu Schuberts Zeit vor allem aufgrund der kulturellen Codierung der Gattung als Widerspruch erschienen, wenngleich die halböffentliche Salonkultur es zuweilen ermöglichte, besondere Rezeptionsvoraussetzungen zu schaffen, die diesen für die Öffentlichkeit geltenden Widerspruch tendentiell aufzulösen vermochten.

218 Borchard, Opferaltäre der Musik, S. 43.

5 GESANGSIDEALE DER SCHUBERT-ZEIT 5.1 BEDINGUNGEN: ›SCHUBERTS STIMMEN‹ »Daß Schuberts Lied erst mit seiner Entstehung die neue Seinsweise der Gattung – nunmehr hohe Kunstmusik – schafft, bestimmt auch die Frage seines Vortrags« konstatiert Thrasybulos Georgiades in seiner als Standardwerk geltenden Studie Schubert. Musik und Lyrik von 1967.1 In diesem Rahmen widmet sich Georgiades auch einer Skizzierung und Diskussion der historischen Aufführungsbedingungen für Schuberts Liedkompositionen und stellt als Charakteristikum heraus, daß ihnen letztlich weder der zeitgenössische »Liebhaber« noch der »öffentlich anerkannte Kunstsänger« gerecht zu werden vermochte:2 Im Vortrag der Lieder Schuberts muß sich die Tatsache widerspiegeln, daß die Sprache nicht im Musikalischen aufgeht, daß der sprachliche Bereich nicht durch das Hinstellen einer in sich einleuchtenden musikalischen Realität getilgt wird, sondern zugleich mit der Musik als eigene Wesenheit wirksam bleibt.3

Dabei gehe es, wie der Georgiades betont, nicht einfach um eine adäquate Artikulation der Worte während des Singens im Sinne ›korrekter‹ Aussprache, sondern um die durch »spezifisch sprachliche Phantasie sich erzeugende sprachliche Färbung, den mit sprachlicher Substanz ausgefüllten Sprachlaut« − das in Georgiades’ Formulierung Ideal eines singenden »Sagens«4, dem nach seiner Auffassung auch die gegenwärtige Konzertgesangspraxis (d. h. die des mittleren 20. Jahrhunderts) kaum entspreche: »Es wäre eine als Beruf heute nicht vorhandene Betätigung notwendig, die – sich selbst auf Schubert berufend – auf den Sänger der Dichtung gründet und den Kunstmusiker in sich aufgenommen hat.«5 Obwohl sich Georgiades also in direkter Weise auf Schuberts spezifischen Zugang zum Lied beruft, sind hier eher abstrakte Ansprüche an den Liedvortrag formuliert, die letztlich aus der Perspektive einer in den von Georgiades selbst vorgenommenen Analysen sich manifestierenden, nachträglich festgeschriebenen musikbzw. kulturhistorischen Bedeutung rückübertragen scheinen.6 1 2 3 4 5 6

Thrasybulos Georgiades, Schubert. Musik und Lyrik, 2 Bde., Göttingen 1967. Ebd., S. 142. Ebd. Ebd., S. 144. Ebd., S. 146. Im Übrigen vermag der Autor auch auf der analytischen Ebene nicht plausibel zu machen, aus welchem Grund die von ihm herausgearbeiteten Merkmale – etwa ein direktes Aufgreifen und Transfomieren der sprachlich-syntaktischen Strukturen durch die Musik – nicht auch für andere Komponierende nach Schubert gelten soll. Vgl. zur Kritik an Georgiades’ Liedanalysen etwa:

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5 Gesangsideale der Schubert-Zeit

Die aufführungspraktische Schubert-Forschung widmet sich auf der anderen Seite weitgehend einer Diskussion, die aus historischen Quellen verbindliche Vorgaben für ein heutiges ›historisch informiertes‹ Muszieren zu ermitteln versucht.7 Die Aufführungsbedingungen werden hier in der Regel nur am Rande kontextualisiert. Rudolf Klein ist etwa in seiner topographischen Beschreibung von »Schuberts Konzertstätten« an einer empirischen Vergegenwärtigung der Schubertschen Aufführungskultur interessiert und leitet aus den von ihm zusammengetragenen Fakten nachdrücklich die Verortung der Lieder im Kontext eines »Dilettantismus« ab, der begrifflich indes nicht weiter differenziert wird. Wiederum wird den als Ausgangspunkt gewählten historischen Bedingungen eine aus späterer Perspektive erlangte Auffassung entgegengesetzt, die in diesem Fall in die Richtung eines idealisierten ›natürlichen‹ (gegenüber eines ›künstlichen‹, durch den Operngesang beeinflußten) ›Schubert-Klangs‹ tendiert: Konfrontiert man die drei großen Streichquartette mit den vorausgegangenen, die letzte Sinfonie mit den Vorläufern, so wird man gewahr, in welchem Maße die Aussicht auf professionelle Interpretation Schuberts Geist beflügelte. Nichts Derartiges läßt sich in den Liedern feststellen: sie waren von vornherein nicht zu Konzertzwecken, geschrieben, sie waren a priori für Dilettanten gedacht, wenn sie zum Teil auch von Berufssängern propagiert wurden. Allzuoft wird vergessen, daß künstliche Volumenerhöhung der Gesangsstimme durch Opern des 19. Jahrhunderts von der Größe der Räume und der wachsenden Resonanz der begleitenden Instrumente veranlaßt wurde. Für Kammermusik muß die Stimmkraft entsprechend reduziert werden. 8



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Arthur Spirk, Theorie, Beschreibung und Interpretation in der Lied-Analyse. Zu einer kritischen Würdigung der Schubert-Analysen von Thrasybulos Georgiades, in: AfMw 34/3 (1977), S. 223‒235, bes. S. 228. Vgl. Zur Aufführungspraxis der Werke Franz Schuberts (1981) sowie die Darstellung zentraler aufführungspraktischer Fragen durch Walter Dürr in: SHb, S. 91‒111. Einige Gesichtspunkte finden sich zusammengefaßt bei Brinkmann, Musikalische Lyrik im 19. Jahrhundert, S. 113‒ 118. Vgl. außerdem Thomas Seedorf, Aspekte des Liedgesangs, in: Musikalische Interpretation, S. 339‒341. Aus der englischsprachigen Forschung ist zu nennen: Martha Elliott: Singing in Style. A Guide to Vocal Performance Practices, New Haven 2006, (darin: Kapitel 5: German Lieder, S. 160‒193 mit häufigem Bezugspunkt Schubert) sowie eine kompendienartige Studie David Montgomerys: ders., Franz Schuberts’s Music in Performance. Compositional Intent, Historical Realities, Pedagogical Foundations, Hillsdale NY 2003 (mit umfangreicher Bibliographie zu aufführungspraktischen Spezialstudien). Montgomery unternimmt hier den Versuch, auf der philologischen Grundlage zahlreicher pädagogischer Schriften, die in einer mehr oder weniger direkten zeitlichen Beziehung zum Wiener Musikleben der Schubert-Zeit stehen, ein Bild von Vortragsstilen in allen Instrumental- und Gesangsbereichen zu entwerfen, die dort womöglich anzutreffen waren. Wichtige Gesangsschulen der Zeit bleiben dabei unberücksichtigt, da sie in Wien nicht veröffentlicht waren oder in Bezug auf Schubert als irrelevant eingestuft werden. Hinsichtlich einer konkreten Diskussion des Schubert-Liedvortrags bezieht er sich in Ermangelung primären Materials weitgehend auf die einschlägigen Dokumente, die sich vor allem in der von O. E. Deutsch kompilierten Erinnerungsliteratur der Schubert-Kreise finden – vor allem jene aus der Feder Leopold Sonnleithners. Vgl. zur Diskussion auch die diesbezügliche Rezension Walther Dürrs in: Schubert : Perspektiven 4 (2004), S. 103–114. Klein, Schuberts Konzertstätten, S. 192.

5.1 Bedingungen: ›Schuberts Stimmen‹

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Ähnlich wie die Idee eines Nachahmens klanglicher Eigenschaften des Cembalos auf dem modernen Konzertflügel scheint ein derartiges Ideal indes darauf ausgerichtet, durch eine normative Einschränkung der potentiellen klanglichen Möglichkeiten des Instruments eine vermeintliche Annäherung an eine historische ›Authentizität‹ vorzuspiegeln. Bei einer Kontextualisierung der historischen Aufführungskultur um Schuberts Lieder, die sich, wie bereits bei der Beschreibung der Aufführungsbedingungen deutlich wurde, offenbar gerade durch Inkongruenzen zwischen der mit dem Kunstlied des 18. Jahrhunderts verbundenen dilettantischen Musizierpraxis und der Entwicklung professioneller Gesangs- und Bühnenvortragskunst auszeichnete, erscheinen diese Einschätzungen insofern wenig hilfreich, als daß sie es unterlassen, eben diese Inkongruenzen selbst auf ihre historische Aussagekraft vor dem Hintergrund zeitgenössischer kultureller bzw. künstlerischer Praxis zu befragen. Es scheint daher durchaus geboten, die hier gegebenen Anregungen einer Beschreibung der Liedpraxis zur Schubert-Zeit unter veränderter bzw. erweiterter Perspektivierung nochmals aufzugreifen. Leitfragen dabei wären etwa: Welche Diskurse und Bedingungen stehen in Zusammenhang mit der performativen Realisierung der Lieder Schuberts? Welche Traditionen künstlerischer Praxis stehen auf welche Weise in Wechselwirkung zu dem von Schubert ›neu‹ konzipierten Genre? Steht die Herausbildung der Liedvortragskunst als künstlerischer Spezialdisziplin mit Schuberts Liedern als gattungsgeschichtlich prägendem Phänomen in Verbindung? Die menschliche Stimme gilt, im Gegensatz zu den Musikinstrumenten, mit Blick auf ihre physiologisch-materiale Dimension als historisch neutrales Phänomen.9 Die sich nach jeweiligen spezifischen Klangidealen ausrichtenden Techniken ihres künstlerischen Gebrauchs als Singstimme sind indes etwa im 17. und 18. Jahrhundert kaum als weniger ›künstlich‹ einzustufen als im 19. Jahrhundert. Trotz erheblicher kompositionsgeschichtlicher Wandlungen läßt sich über diesem Zeitraum allerdings eine bemerkenswerte Kontinuität der klangästhetischen Grundsätze konstatieren10, die erst mit dem – auch von Klein angesprochenen – Phänomen einer extremen stimmlichen Volumenerhöhung durch die verstärkte Tiefstellung des Kehlkopfes seit etwa den 1830er Jahren abbricht.11 Die Schubert-Zeit ist damit al 9

10 11

Vgl. Rebecca Grotjahn, »Die Singstimmen scheiden sich ihrer Natur nach in zwei große Kateogorien«. Die Konstruktion des Stimmgeschlechts als historischer Prozess, in: Puppen – Huren – Roboter. Körper der Moderne in der Musik 1860‒1930, hg. von Sabine Meine, Schliengen 2004, S. 35. Vgl. John Potter, Vocal Authority. Singing Style and Ideology, Cambridge 32006, S. 51ff. Das Phänomen der künstlichen Stimmvolumenerhöhung, das in der Regel mit Manuel Garcias Begriff der »voix sombrée« (dem ›Decken‹ bzw. Eindunkeln des Stimmklangs durch einen tieffixierten Kehlkopf und einer dadurch bewirkten Verlängerung des sängerischen Ansatzrohrs) in Verbindung gebracht wird, benennt in jedem Fall um 1840 eine bereits existierende Praxis (vgl. Seedorf/Richter, Befragung stummer Zeugen, S. 181). Grundsätzlich muß mit John Potter letztlich bereits seit dem Barockzeitalter vor allem durch die Entwicklung des Cembalos von einer zunehmenden Volumenerhöhung der professionellen Singstimme ausgegangen werden (vgl. ders., Vocal Authority, S. 49f.).

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5 Gesangsideale der Schubert-Zeit

lerdings gleichwohl in einem Übergangsbereich angesiedelt, und der von Klein betonte Aspekt eines ›adäquaten‹ Stimmvolumens steht quer sowohl zur strukturellen Vielfältigkeit der Schubertschen Liedkompositionen als auch zur materialen Individualität der menschlichen Singstimme. Selbst David Montgomery betont in seinem 2003 erschienenen, z. T. zu eher kategorischen Positionen neigenden Kompendium zur Aufführungspraxis Schubertscher Musik: »Finding the right sound for Schubert’s Lieder is not a matter finding the right voice or the right venue. Nor has it to do with period instruments and vocal techniques.«12 Abgesehen von der Frage artifizieller Klangbildung und -formung blendet die Einforderung eines spezifischen Klangideals für Schuberts Lieder nicht zuletzt die in historischer Perspektive selbstverständliche jeweilige Anpassung des Singenden an die akustischen Gegebenheiten und die kulturelle Codierung des Aufführungsortes aus. Eine grundsätzliche Unterscheidung zwischen Kammer- und Bühnenstil etwa ist, wie etwa der Fall Vogls zeigt, in jedem Fall auch für die Schubert-Zeit als vortragsästhetische Prämisse vorauszusetzen.13 Die rein aufführungspraktische Zielsetzung der Beschreibung und Rekonstruktion einer ›authentischen‹ Singweise bzw. Stimmtechnik für Schuberts Lieder für die heutige Konzertpraxis muß sich zudem mit dem grundsätzlichen Problem konfrontiert sehen, daß ein jeweils ›adäquater‹, aus spezifischen Quellen und ihrer praktischen Umsetzung erschlossener Stimmgebrauch für das Repertoire unterschiedlichster historischer Epochen die technischen Möglichkeiten einer Singstimme schlichtweg übersteigt, da sie als sensibel geformtes Instrument nicht ständig ›umgebaut‹ werden kann. Was bleibt, ist lediglich die Möglichkeit eines grundsätzlichen Absetzens von der mit dem späteren 19. Jahrhundert verbundenen, durch die Anforderungen der Verdi- und Wagnerschen Musikdramatik bestimmten Klangästhetik, was wiederum mit der Frage zu konfrontieren wäre, inwiefern Schubert in seinen Liedkompositionen z. T. nicht auch neuartige technische und stilistische Fähigkeiten einfordert, die sich erst in Auseinandersetzung der sängerischen Praxis mit den Werken selbst entwickeln mußten. Wenngleich also in der Tat stark bezweifelt werden darf, daß mit Schuberts Liedern in historischer Perspektive ein spezifisches gesangliches Klangideal zu verbinden wäre, stellt sich natürlich sehr wohl die Frage nach der vokalen Klangdramaturgie der Lieder im Einzelnen und der daraus zu ziehenden Schlüsse in Bezug auf Schuberts Selbstverständnis von Singstimme und Gesangskunst. Spezialuntersuchungen zur Faktur von Schuberts Vokalpartien in Auseinandersetzung mit der künstlerischen Praxis der Zeit allerdings fehlen allerdings mit Ausnahme einer eher isolierten Diskussion des Für und Wider von Verzierungen bislang weitgehend. Der Impuls etwa des Stimmhistorikers und Musikschriftstellers Herbert Biehle, der 1929 unter dem Titel Schuberts Lieder als Gesangsproblem die Entwicklung Schuberts als Vokal- bzw. Liedkomponist aus einer derartigen Perspektive skizziert, ist kaum aufgenommen worden: Biehle mischt verstreute gesangstechnische Analysen 12 13

Montgomery, Schuberts Music in Performance, S. 15. Vgl. dazu unten S. 177.

5.1 Bedingungen: ›Schuberts Stimmen‹

141

der Lieder mit historischen und werkbezogenen Kommentaren und schließt außerdem einige aufführungspraktische Bemerkungen (u. a. zur Transposition) sowie eine Übersicht über die wichtigsten Interpreten seit Schuberts Lebzeiten und die ersten Tonaufnahmen an.14 Die Singstimme sei von Schubert, so Biehle, mit Blick auf die frühen Liedkompositionen gerade nicht im Sinne der ›Sangbarkeit‹ des 18. Jahrhunderts verwendet worden, sondern erscheine eher als »ein notwendiges Übel«.15 Mangelnde Erfahrung im Umgang mit Vokalmusik also, so Biehle, sei der Grund für einen bei Schubert zunächst anzutreffenden abstrakt-instrumentalen Vokalstil. Der Unterricht bei Gluck-Jünger Antonio Salieri habe dagegen »eine Art belcanto-Stil« zur Folge gehabt, der sich tendentiell durch melodische Glättung und sangbarere Intervallführung charakterisieren ließe.16 Interessanterweise scheinen – wenngleich Biehles apodiktische Diagnose eher holzschnittartig anmutet und namentlich der Begriff des ›Belcanto‹ vergleichsweise undifferenziert ins Feld geführt wird – gerade die ersten Liedkompositionen, die im Kontext einer ›Mode‹ des Balladen- und Liedersingens im Konvikt entstanden waren, in der Tat gerade nicht die Gesangsideale traditionell bürgerlicher Liedpraxis als Hintergrund zu haben. Vielmehr verweisen sie deutlich auf einen über diese Grenzen hinausgehenden Kontext. Dies wird besonders deutlich etwa mit Blick auf die sängerischen Anforderungen und die Klangdramaturgie des Vokalparts von Schuberts erster balladesker Liedkomposition Hagars Klage, die nach einem Modell Zumsteegs entworfen wurde. Schubert verlangt hier von der Singstimme einen Umfang von nahezu zwei Oktaven (h bis b’’), wobei wie Walther Dürr vermerkt, die Spitzentöne von besonderer Bedeutung sind: »Schubert führt den Sopran häufig hinauf in große Höhen und verlangt doch zugleich volle, große Tiefe – er erwartet nicht nur eine ausgebildete Stimme, sondern einen dramatischen Bühnensopran. Dem entspricht auch die weit größere Spannweite der Dynamik – sie reicht, über verschiedene Zwischenstufen von ppp bis zum fff.«17 Da Schubert 1811/12 bereits mutierte18, dürfte es in der Tat kaum die eigene Stimme sein, die hier einkomponiert wurde. In jedem Fall scheint aber der Vorwurf Biehles wenig einleuchtend, daß Schubert, der aufgrund seiner sängerischen Fähigkeiten überhaupt ins Konvikt aufgenommen worden war, auch in seinen frühen Kompositionen gerade dem Führen einer Gesangsstimme gegenüber eine mangelnde Sensibilität besessen haben soll. Wie von Christiane Schumann dargestellt wurde, genoß der junge Komponist eine fundierte Gesangsausbildung im Wiener Stadtkonvikt.19 Der Singunterricht wurde dort von Salieris ehemaligem Schüler und Assistenten Philipp Thaddäus Korner erteilt, der von 1797 bis zu seinem Tod 1831 14 15 16 17

18 19

Herbert Biehle, Schuberts Lieder als Gesangsproblem, Langensalza, 1929. Ebd., S. 5. Ebd., S. 7. Walther Dürr, »Hagars Klage« in der Vertonung von Schubert und Zumsteeg, in: Zeichen-Setzung. Aufsätze zur musikalischen Poetik, hg. von Werner Aderhold und Walburga Litschauer, Kassel [u. a.], 1992, S. 110. Dok I, S. 21. Christiane Schumann, Der Sängerknabe Franz Schubert – und die zeitgenössische Gesangsausbildung, in: SJb 2006 (2009), S. 13‒26.

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5 Gesangsideale der Schubert-Zeit

als ›Tenorist‹ an der Wiener Hofmusikkapelle angestellt war und auch die Hofsängerknaben gesangspädagogisch betreute.20 Als Schüler Salieris, der selbst in Venedig und Bologna als Sänger ausgebildet worden war21, ist Korners sängerischer Hintergrund in den Kontext des zeitgemäßen italienischen Belcanto-Ideals zu stellen, wie es sich etwa in der bereits erwähnten Gesangsschule Mancinis repräsentiert findet, die in deutscher Übersetzung auch 1779 in Wien erschienen war als Mancini als Gesangslehrer in kaiserlichen Diensten stand.22 Auch die Tatsache, daß Schubert 1818 für die Comtesse Eszterházy Singübungen im Stil des »zweistimmig imitatorischen Solfeggiamento«23, verfaßte, ruft den Kontext italienischer Gesangsschulung des 18. Jahrhunderts auf und läßt somit »Rückschlüsse auf mögliche zeitgemäße Trainingsmuster in seiner eigenen Ausbildung« zu.24 Die beschriebene Oszillation der Schubertschen Liedkunst zwischen einer durch ›Dilettanten‹ geprägten gesellschaftlich-funktionalen kulturellen Praxis und einem neuen, den professionellen Gebrauch der Stimme einfordernden Anspruch spiegelt sich nicht zuletzt an der von David Montgomery vorgenommenen Auswertung der Schubert-Quellen hinsichtlich belegbarer Liedsänger ab:25 Neben zahlreichen Dilettanten lassen sich professionelle Sänger unterschiedlichster Couleur benennen. Unter anderem findet sich etwa das gesamte Solistenquartett der Uraufführung von Beethovens Neunter Sinfonie (1824) unter den ausgewiesenen SchubertSängern26, desgleichen etliche Ensemblemitglieder der Hofoper am Kärntnertor27 und anderer Wiener Spielstätten bzw. Institutionen28 sowie internationale Sängerprominenz der 1820er Jahre wie die als Belcantovirtuosen gefeierten Künstler Josephine Fodor-Mainville, Henriette Sontag, Luigi Lablache oder die nachmaligen Pionierinnen des sich herausbildenden dramatischen Sopranfachs Anna MilderHauptmann und Wilhelmine Schröder-Devrient. Die vertraute Verortung der Schubertschen Liedpraxis innerhalb der nicht-professionellen Musizierkultur erweist sich, wie Montgomerys Auflistung deutlich zu machen vermag, insofern durchaus als Basis. Zu betonen bleibt indes, daß dem musikalischen ›Dilettanten‹, wie er be 20 21

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28

Ebd., S. 15. Salieri ließ sich in seiner Jugend in Venedig durch den an St. Markus wirkenden Tenor Fernando Pacini schulen und folgte 1766 dem als Sänger in Bologna ausgebildeten böhmischen Komponisten Florian Leopold Gassmann nach Wien, um seine Gesangsstudien fortzusetzen. Vgl. Jane Schatkin Hettrik/John A. Rice, Art. Salieri, Antonio, in: MGG2, P/Bd. 14, Sp. 842‒ 852. Vgl. Ch. Schumann, Der Sängerknabe Franz Schubert, S. 16. Thomas Seedorf, Kantabilität und Konstruktivität. Vermischte Bemerkungen zu Schuberts »Sing-Übungen« (D 619), in: SJb 1997, S. 111‒124, S. 113. Ch. Schumann, Der Sängerknabe Franz Schubert, S. 16. Vgl. Montgomery, Schuberts Music in Performance, S. 17f. Henriette Sontag (Sopran), Caroline Ungher (Alt), Anton Haizinger Sr. (Tenor) und Joseph Seipelt, (Baß). Franz Borschitzky, Franz Anton Forti (Pizarro), Joseph Frühwald (Jaquino), Joseph Götz, Anton Haizinger Sr. (Florestan), Johann Nestroy (Fernando), Julius Radicchi (Florestan), Jakob Wilhelm Rauscher (Jaquino). Joseph Barth (Tenor in der Hofkapelle) und Franz Jäger (Theater an der Wien).

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reits im Kontext des späteren 18. Jahrhunderts beschrieben wurde, vor dem Hintergrund der Herbeiführung und Etablierung einer bürgerlichen Musikkultur mit neuen Aufführungsforen und Institutionen zur Schubert-Zeit immer noch eine wichtige Funktion zufielen, wenngleich seine zunehmende »Selbstabschaffung« verbunden mit einem vornehmlich pejorativen Bedeutungswandel zugunsten des ›gebildeten‹ Zuhörers bereits ins Werk gesetzt war.29 Dabei ist indes nicht leicht transparent zu machen, wie hoch der Ausbildungsstand der bürgerlichen wie adeligen Dilettanten genau war und von wem sie unterrichtet wurden – gerade mit Bezug auf die Gesangsausbildung. 30 Es gab bis 1817 kein Konservatorium in Wien, von 1819 bis 1854 unterrichte allein Maria Anna Fröhlich, die gemeinsam mit ihren Schwestern Katharina, Josefina und Barbara sehr häufig mit der Aufführung Schubertscher Lieder in Erscheinung trat31, als Gesangslehrerin am Konservatorium der Gesellschaft der Musikfreunde und muß einen beträchtlichen Einfluß auf die sängerische Ausbildung vor allem der bürgerlichen Frauen in Wien eingenommen haben.32 In den Schubert-Dokumenten wie in der Erinnerungsliteratur wird immer wieder der hohe Ausbildungsstand derjenigen Gesangsdilettanten betont, die sich vorzugsweise Schuberts Liedern widmeten.33 Daß diese nicht immer auch als bedeutsam für das vollöffentliche Wiener Musikleben einzustufen sind, fällt angesichts der bereits beschriebenen immensen Rolle der halböffentlichen Musikkultur und ihrer naturgemäß spärlichen und indirekten Dokumentation zu dieser Zeit kaum ins Gewicht. Vielen Dilettanten wurde letztlich eine quasi professionelle Ausbildung zuteil, wie etwa auch rückblickende eine Notiz aus der Wiener Telegraph von 1837 verdeutlicht, die angesichts des gegenwärtigen ›Walzertaumels‹ den Rückgang der ehemals hohen Anzahl gebildeter Gesangsdilettanten, beklagt, die Wien angeblich zur »Pflanzstätte des Gesangs für ganz Deutschland« gemacht hätten.34 Als prominente Beispiele für Schuberts Liedsänger wären in diesem Kontext an erster Stelle etwa Ludwig Titze35 und Carl Freiherr von Schönstein36 zu nennen, die mit Blick auf halböffentliche wie öffentliche Aufführungen der Lieder Schuberts eine wichtige Rolle spielten und auch mit dem Komponisten selbst als Klavierbegleiter auftraten. So sang Titze etwa in einem Mittagskonzert des Geigers Leopold Jansa im 29

30 31 32

33 34 35

36

Matthias Tischer, Musikalische Bildung – Aspekte einer Idee im deutschsprachigen Raum um 1800, in: Musical Education in Europe (1770‒1914), Compositional, Institutional and Political Challenges, hg. von Michal Fend, Bd. 2, S. 375‒398. Hilmar, Schubert in seiner Zeit , S. 43ff. Vgl. Werner Bodendorff/Margret Jestremski, Art. Fröhlich (Schwestern), in SE, S. 226f. Vgl. Partsch, Zur Geschichte, Struktur, Repertoirebildung und Publikum der Gesellschaft der Musikfreunde, S. 189f. Ein paritätischer Anteil von Schülern und Schülerinnen läßt sich einzig im Gesangsbereich nachweisen. Vgl. EF, S. 341. SWVm, Nr. 72. Titze wird mit Blick auf die halböffentlichen und öffentlichen Aufführungen Schubertscher Lieder und Vokalensembles als meistbeschäftigter Sänger angesehen. Vgl. Clemens Höslinger/Ernst Hilmar, Art., Titze, Ludwig, in: SE, S. 763f. Schubert lernte Schönstein bereits 1818 über die Familie Esterhazy kennen. Der Sänger berichtet in seinen Erinnerungen umfangreich auch von Schuberts Einfluß auf die eigene Gesangspraxis. Vgl. Ernst Hilmar, Art. Schönstein, Carl Freiherr von, in: SE, S. 653f.

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5 Gesangsideale der Schubert-Zeit

Landständischen Saal am 22. April 1827 die erste öffentliche Aufführung der ScottVertonung Normanns Gesang D 846, die Schubert 1826 innerhalb des Opus 52 veröffentlicht hatte.37

Abbildung 4: Konzert des Geigers Leopold Jansa im Landständischen Saal unter Mitwirkung Ludwig Titzes und Schuberts

Der Programmzettel führt bezeichnenderweise nicht den Namen des kaum zur sängerischen Hochprominenz zählenden Titze auf, weist ihn aber gleichwohl als »ausgezeichneten Sänger« aus.38 Bei einer genaueren Betrachtung der Schubert-Sänger und -Sängerinnen fällt insofern, entgegen Rudolf Kleins Feststellung, daß Schubert »neben Vogl keinen anderen Berufssänger forciert« habe39, besonders in den Blick, daß neben den ›Dilettanten‹, die grundsätzlich auf unterschiedlichem Niveau gedacht werden müssen, zunehmend auch professionelle Sänger an Schuberts Liedern 37 38

39

Gegenüber Ottenwalt betonte Schubert offenbar, er habe dieses »für das gelungenste« der Scott-Gesänge gehalten. Vgl. Dok I, S. 303. Die Wiener Allgemeine Theaterzeitung formuliert gar: »Der Hr. Dilettant [...] ist in der hiesigen Musikwelt zu allgemein als ein vortrefflicher Lieder-Sänger bekannt, als daß man von ihm nicht den angenehmsten Vortrag [...] hätte erwarten sollen ...]«. Vgl. Dok I, S. 426. Klein, Schuberts Konzertstätten, S. 192.

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Interesse zeigten, obgleich die Kompositionen, wie die Sopranistin Anna Milder betont, nur der exklusiven Kennerschaft und nicht dem großem Publikum präsentiert werden konnten.40 Vor solchem Hintergrund sollte die von John Clarke Andrus vertretene These, daß in erster Linie die das zeitgenössische Musikleben bestimmende italienische Oper bzw. der damit verbundene Gesangsstil für eine Schuberts Lieder betreffende Rezeptionshemmung von Seiten der geschulten Dilettanten und professionellen Sänger verantwortlich zu machen wären, relativiert werden. 41 Grundsätzlich mag dies zutreffen; die italienische Gesangsausbildung war indes auch die Basis jener sich in besonderer Weise als ›Schubert-Sänger‹ profilierender Künstler wie Vogl, Milder und Schönstein und auch für Schubert selbst war sie durch seine Ausbildung im Konvikt letztlich eine Selbstverständlichkeit. Gleichwohl boten Schuberts Lieder mir ihrer intrikaten Verschmelzung von Poesie und Musik ganz offenbar spezifische Herausforderungen, die auch die Ambitionen zur Begründung eines national geprägten Gesangsstils affirmierten, wie Spaun rückblickend feststellt: Ausgezeichnete Dilettanten, seit Jahren gewohnt, ausschließlich dem italienischen Gesange zu huldigen, kehrten zu dem höheren Genusse zurück, den ihnen der heimathliche Sänger in solcher Fülle bot.42

Neben den hier in erster Linie als Opernsänger tätigen genannten Künstlern sind außerdem auch etliche Schauspieler und Schauspielerinnen als Schubert-Sänger nachweisbar43, die sich ihrerseits noch stärker aus der professionellen Perspektive einer geschulten Textvortragskunst den Liedkompositionen Schuberts angenähert haben dürften. Nimmt man nun all diese Felder künstlerischer Praxis zusammen und betrachtet sie grundsätzlich als Kontext für Schuberts Komponieren von Liedern, wird deutlich: Eine das neuartige kompositorische Potential der Lieder vollends verwirklichende Vortragskunst, die den ausführungstechnischen Komponenten ›gesungene Linie‹, ›vokale Virtuosität‹ und ›differenzierte Textgestaltung‹ in gleicher Weise gerecht zu werden vermochte, konnte sich letztlich – ähnlich wie später bei Wagners Musikdramen – nur ausgehend von den Forderungen, die die Werke selbst stellten, allererst herausbilden. Zum anderen liegt aber auf der Hand, daß Schuberts Kompositionen auch durch die musikalische Praxis geprägt wurden. Gerade die professionellen Gesangs- und Darstellungskünstler ließen Schubert und seine Lieder überhaupt mit dem Moment einer Ausrichtung auf die Öffentlichkeit in Kontakt geraten. Erlernte, auf ein Publikum gerichtete performative Strategien wurden aus der Perspektive der professionellen Bühnenkünstler auch auf den Vortrag und die Komposition von Liedern bezogen. Um die hier vage getroffenen Feststellungen differenzierender einordnen 40 41

42 43

Vgl. oben Kapitel 4.3, S. 117, Anm. 123. Vgl. Andrus, Schubert and his Public, S. 44: »[…] the songs required a style and a method of singing that were not the property of most professional singers in Vienna, trained in the Italian vocal method an active as opera singers«. EF, S. 32. Vgl. Waidelich, »Musikalisch-, declamatorisch-, scenisches Potpourri [...]«, passim; außerdem Andrus, Schubert and his Public, S. 51f.

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5 Gesangsideale der Schubert-Zeit

zu können, erscheint es daher zunächst sinnvoll, gerade die bereits angesprochenen zeitgenössischen Gesangs- und Bühnenideale als Hintergrund für die Liedvortragskunst und Schuberts Liedkompositionen noch etwas näher zu beleuchten. Sie bildeten letztlich eine kulturpraktische Basis sowohl für die Dilettanten als auch für professionelle Sänger und andere Bühnenkünstler und waren nicht zuletzt für Schubert selbst als praktischer Musiker und Theaterbesucher lebendige Realität

5.2 KONTEXTE UND DISKURSE 5.2.1 Wiener Musiktheater und ›deutsches Bühnenideal‹ Mit seinen repräsentativen Bühnen, dem Burgtheater und der Hofoper am Kärntnertor, besaß der Wiener kaiserliche Hof zu Anfang des 19. Jahrhunderts zwei Foren, die für Musiktheateraufführungen genutzt wurden. Der Spielplan beider Hoftheater enthielt um 1800 grundsätzlich Musiktheaterrepertoire in deutscher, französischer und italienischer Sprache. Während vor allem die italienische Oper aus traditionellen Gründen aufrecht erhalten wurde, hatte bereits Joseph II. im Aufbau einer deutschen Operntradition eine nationale Verpflichtung gesehen und 1778 die Verordnung eines Nationalsingspiels erlassen, das sich als Institution allerdings nicht halten konnte. 44 Seit am 11. Mai 1795 unter der Ägide des Barons von Braun die offizielle Wiederaufnahme einer »deutschen Oper« an den beiden Hoftheatern erfolgt war, bildete sich gleichwohl ein deutsches Gesangsensemble heraus45 ‒ der Spielplan indes wurde in erster Linie durch italienisches und französisches Repertoire in deutscher Übersetzung bestimmt. Die Aufführungen von Beethovens Fidelio bzw. Leonore 1805/1806 auf dem Vorstadttheater an der Wien, die zeitlich mit der Auflösung der bis dahin bestehenden italienischen Operntruppe am Kärntnertortheater zusammenfielen46, erbrachten gleichfalls keine nennenswerten Erfolge beim Wiener Publikum.47 Erst die »Konstruktion einer vaterländischen Musikkultur« im Sinne einer »kaiserlich-nationalen Musikpflege aus dem Geiste Glucks und Haydns«48, die nach den österreichischen Niederlagen gegen Napoleon 1806 und 1809 im Kontext der ›vaterländischen Bewegung‹ erfolgte, brachte das Bedürfnis einer stärkeren Profilierung des deutschsprachigen Musiktheaters von Seiten des kulturtragenden, höheren Bürgertums mit sich. Es bildete sich ein kritischer Diskurs heraus, der die Traditionen der italienischen Oper entschieden ablehnte49, während vor allem in konservativeren Adelskreisen weiterhin die ›Opera seria‹ Konjunktur 44 45 46 47 48

49

Franz Hadamowsky, Wien – Theatergeschichte. Von den Anfängen bis zum Ende des Ersten Weltkriegs, Wien 1988, S. 362. Clemens Höslinger, Grillparzer und die italienische Oper, in: The Other Vienna, S. 248. Hadamowsky, Wien – Theatergeschichte, 357ff. Vgl. Wolfgang Osthoff, Art. Fidelio, in: Pipers Enzyklopädie des Musiktheaters, Bd. 1, S. 215f. Klaus Pietschmann, Zwischen Tradition, Anpassung und Innovation: Italienische Opern für deutsche Höfe im frühen 19. Jahrhundert, in: Das Bild der italienischen Oper in Deutschland, hg. von Daniel Brandenburg [u. a.], S. 115. Ebd.

5.2 Kontexte und Diskurse

147

hatte. Als »zentraler Konkurrenzfaktor [...] [mit] hohe[m] ästhetischen Niveau und [...] institutionelle[m] Gewicht« blieb sie auch für die Entwicklung eines deutschsprachigen Musiktheaters bis weit nach 1800 bedeutsam.50 Unter Berufung auf die Reformbestrebungen Christoph Martin Wielands und vor allem Christoph Willibald Glucks formierte sich spätestens mit der ersten Wiederaufführung von Glucks Iphigenie auf Tauris am Kärntnertortheater 1813 eine »patriotische Opernbewegung« 51, die ihr intellektuelles Zentrum in der bereits erwähnten Person des Hofsekretärs, Musikkritikers und Kapellmeisters Ignaz Franz von Mosel fand. Das erklärte Ziel sah man in der Etablierung einer deutschsprachigen Operntradition. Insgesamt gab es radikalere und weniger radikale Position in dieser Bewegung, wobei sich die Vorbehalte »vorwiegend gegen die Mißstände in der zeitgenössischen Opernproduktion in Italien richteten«.52 Wohl aber sah man auch die spezifische Wiener Tradition der italienischen Oper dadurch korrumpiert: Der Wiener Hofkapellmeister Adalbert Gyrowetz etwa, der 1812 maßgeblich an der Gründung der Gesellschaft der Musikfreunde beteiligt war, ließ im selben Jahr auch seine Oper Frederica ed Adolfo uraufführen, in der er trotz Eindämmung der vokalakrobatischen Ausschweifungen das formale Gewand der ›Opera seria‹ beibehielt, um dem Kastraten Velluti hier noch letztmals Gelegenheit zu geben, seine stupende Virtuosität zur Schau zu stellen.53 Ignaz von Mosels ästhetisches Glaubensbekenntnis, die 1813 in Wien erschienene Schrift Versuch einer Ästhetik des dramatischen Tonsatzes, stellt indes den Entwurf einer idealtypischen nationalen Opernästhetik dar. Als radikales Gegenprogramm zum mit dem italienischen Repertoire verbundenen Belcanto-Stil, der einzig die virtuose Gesangskunst verabsolutiere, setzt Mosel im Gefolge Glucks und Salieris auf das Ideal einer ›wahrhaftigen Dramatik‹. Sein Ausgangspunkt ist damit jener der Oper bereits seit Gottscheds Critischer Dichtkunst immer wieder erhobene Vorwurf der ›Künstlichkeit‹. Während Gottsched noch die moralische Verwerflichkeit eines unwahrscheinlichen »Hustens und Schnupfens nach Noten«54 brandmarkte und statt dessen für die Abschaffung der Oper und die Ausrichtung des bürgerlichen Theaters an den Alexandrinerdramen der französischen Klassik plädierte55, argumentiert Mosel allerdings hier bereits im Gefolge der bürgerlichen Ausdruckästhetik des späteren 18. Jahrhunderts, die die Oper als Kunstform zwar 50 51

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54 55

Jörg Krämer, Deutschsprachiges Musiktheater im späten 18. Jahrhundert. Typologie, Dramaturgie und Anthropologie einer populären Gattung, Bd. 1, Tübingen 1998, S. 104. George R. Cunningham, Franz Schubert als Theaterkomponist, Freiburg 1974, S. 207. Zu Schuberts Rolle innerhalb dieser Bewegung: Theophil Antonicek, Schubert und die patriotische Opernbewegung, in: Der vergessene Schubert. Franz Schubert auf der Bühne, hg. von Oskar Pausch/Erich Wolfgang Partsch, Wien 1997, S. 31‒39. Pietschmann, Zwischen Tradition, Anpassung und Innovation, S. 119. Ebd.; Frederica ed Adolfo wurde dementsprechend in Adelskreisen weit mehr rezipiert und an der Hofoper nur dreimal aufgeführt. Der genannte Auftritt Vellutis ist der letzte Auftritt eines Kastraten in Wien. Johann Christoph Gottsched, Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Des zweiten Abschnittes IV. Hauptstück: Von Opern oder Singspielen, Leipzig 41751, S. 731‒755. Vgl. Erika Fischer-Lichte, Geschichte des Dramas, Bd. 1: Von der Antike bis zur deutschen Klassik, Tübingen/Basel 21999, S. 287.

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gelten ließ, aber einen erhöhten »Anspruch auf Humanität und Wahrheit gegenüber einer entsprechend als ›unnatürlich‹ betrachteten höfisch-repräsentativen Kunst« erhob.56 Beeinflußt von klassizistischer Ästhetik setzt Mosel der italienischen Oper, die ästhetische Prämisse der ›edlen Simplizität‹ und damit jenen bereits verhandelten neuen, bürgerlich geprägten Natürlichkeitsbegriff entgegen, wie er mit den seiner Abhandlung als Motto vorangestellten Anfangsversen des Goethe-Sonetts Natur und Kunst programmatisch zum Ausdruck bringt.57 Mosel beantwortet die Frage nach dem Verhältnis von Wort und Ton in dieser Schrift bereits einige Zeit vor Wagner mit der These eines Verfalls musikdramatischer Kunst seit Mozart durch die auf Irrwege geratene italienische Operntradition und leitet daraus die Forderung nach einem neuen nationaltypisch geprägten Musiktheater ab, das sich nicht darin erschöpfen sollte, italienische Opern mit deutschem Text aufzuführen. Die dramatische Textvorlage sollte vielmehr in den Mittelpunkt gerückt werden. Als Mosel gemeinsam mit Moritz Graf Dietrichstein 1821 von Franz I. die Direktion beider Wiener Hoftheater übertragen bekam, ließ man umgehend Webers gerade in Berlin uraufgeführten Freischütz nach Wien holen.58 Bereits zum Ende des Jahres wurde das Kärntnertortheater indes an den italienischen Impresario Domenico Barbaja verpachtet, der zwar auch die deutsche Oper förderte – etwa den Freischütz im Spielplan ließ und Weber den Kompositionsauftrag zur Euryanthe gab – ihr aber auch mit weiteren Engagements Rossinis, die tumultartige Begeisterungsstürme hervorriefen, gleichsam den Boden entzog.59 In den 1820er Jahren bestimmte letztlich das italienische Repertoire, vor allem die Opern Rossinis, nahezu konkurrenzlos die Wiener Hofopernbühnen, so daß etwa auch Schuberts in dieser Zeit komponierte Opern Alfonso und Estrella und Fierabras erfolglos blieben. 60 Es liegt nahe, den hier herangezogenen Diskurs über deutsche und italienische Oper im Wien der ersten Jahrzehnte nach 1800 vor allem auf die strukturellen Unterschiede im Kulturbetrieb Deutschlands und Italiens dieser Zeit zu beziehen und darin den Grund für eine Geringschätzung der italienischen Oper im deutschsprachigen Raum zu sehen:61 Die nach dem Stagione-Prinzip organisierte italienische Opernkultur – grundsätzlich in hohem Maße auf das Moment des Performativen, also vor allem die Leistungen der Sängerinnen und Sänger, ausgerichtet – war, wie Arnold Jacobshagen festhält, schlichtweg unvereinbar mit den Erwartungen an ein »in Deutschland mit der Idee der absoluten Musik aufgekommene[s] Ideal eines 56 57 58 59 60

61

Kohlhäufl, Poetisches Vaterland, S. 232f. »Natur und Kunst, sie scheinen sich zu fliehen. / Und haben sich eh’ man es denkt, gefunden [...]«, zitiert nach: MA, Bd. 2, S. 838. Vgl. Hadamowsky, Wien – Theatergeschichte, S. 360 (4. November 1821). Ebd., S. 343f. Hans-Joachim Hinrichsen hat konstatiert, daß wohl in erster Linie der eher nüchterne Grund fehlender bzw. weggefallener Protektion für Schuberts Opernmißerfolge verantwortlich zu machen seien. Vgl. ders., Franz Schubert, S. 67‒76. Vgl. zum Folgenden Arnold Jacobshagen, Schmetterling und Adler. Die italienische Oper im Musikschrifttum des Biedermeier, in: Das Bild der italienischen Oper in Deutschland, S. 159‒ 169.

5.2 Kontexte und Diskurse

149

autonomen künstlerischen Schaffens, das sich im kompositorischen Textsubstrat eines opus perfectum zu konkretisieren hatte«.62 Dieser Sichtweise wäre indes differenzierend entgegenzustellen, daß gerade im hier fraglichen Zeitraum auch das Ethos der deutschen Musiktheaterästhetik maßgeblich über vortragspraktische Ideale und deren Exponenten transportiert wurde. Dies war letztlich eine Notwendigkeit, da zwar ein ästhetischer Spezialdiskurs existierte, entsprechend wirkungsmächtige, traditionsbildende ›Werke‹ als Pendant zur italienischen Operntradition allerdings noch nicht hervorgebracht worden waren. Für sein Kampfprogramm gegen die italienische Oper benötigte Mosel insofern ein Instrumentarium, das auf direktere Weise als die von ihm entsprechend lancierten Diskurse der Musikästhetik und -kritik die Gültigkeit seiner ästhetischen Ideale zu popularisieren vermochte: Die Künstler selbst, die auf der Bühne standen, mußten diese verkörpern, sie gleichsam ostentativ in Szene setzen und so den ›reinen‹ Zwecken einer »wahren dramatischen Sangeskunst« folgeleisten, die als moralisch aufgeladener Gegenpart zum als »welsche[s] Larifari«63 verspotteten Gesangsstil des italienischen Lagers stilisiert wurde. Dementsprechend läßt Mosel in seinem Versuch einer Ästhetik des dramatischen Tonsatzes auf die normativ beschriebenen Ideale von Dichtung und Musik ein ganzes Kapitel zur »dramatischen Vortragskunst« folgen, das sowohl Bemerkungen zur Gesangsästhetik als auch zur Präsentation des Körpers auf der Bühne enthält. Als gesangskünstlerische Referenzquelle dient Mosel die berühmte Methode du Chant des Pariser Conservatoire64, aus der er einen größeren Abschnitt wörtlich übernimmt und ergänzend konstatiert: Setzt man den diesen Forderungen, deren auch nicht eine überflüssig oder übertrieben ist, noch bey, daß der Sänger höchst richtig zu declamieren, seine Rolle zu fühlen, zu erklären, auseinander zu setzen, mit dem treffendsten Ausdruck im Gesange auch den dazu passenden und natürlichen Ausdruck in Mienen, Stellung und Geberden zu verbinden wissen, kurz, daß er auch Schauspieler seyn soll [...].65

Mosels Enwürfe zur dramatischen Darstellungskunst stehen im Kontext einer zentralen theatergeschichtlichen Entwicklung: Mit dem Prozeß der Seßhaftwerdung des deutschen Theaters, also dem Übergang der Wanderbühnen an die Höfe seit etwa den mittleren 1750er Jahren, ging auch eine immer stärkere Trennung von Musikund Sprechtheater einher, womit naturgemäß Konsequenzen auf der performativen 62 63

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Ebd. S. 169. Carl Maria von Weber zitiert nach Mayer, »Gluck’sches Gestöhn und »Welsches Larifari« [Vollzitat unten Anm. 78], S. 184. Mayer macht in diesem Zusammenhang darauf aufmerksam, dass die Verwendung des Adjektivs ›welsch‹ hier »eine charakteristische Doppeldeutigkeit auf[weise], da [sie] über die Kennzeichnung ›italienisch‹ hinausging, und sich somit – zumal während der Napoleonischen Kriege – auch auf die Franzosen beziehen konnte«. Dies erleichterte eine Assoziation der »politischen Invasion durch Napoleon mit der musikalischen durch Rossini«. Vgl. ebd. Anm. 40. Jean Nirouet, La Methode de Chant du Conservatoire de musique de l’an XII (1804), in: Le Conservatoire de Paris. Deux cent ans de pédagogie 1795‒1995, hg. von Anne Bongrain und Alain Poirier, Paris 1999, S. 165‒176. Ignaz Franz Mosel,Versuch einer Aesthetik des dramatischen Tonsatzes, Wien 1813, Abschnitt 3, S. 71.

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Ebene verbunden waren: Die singenden Schauspieler, die von den Wanderbühnen her kamen, befanden sich grundsätzlich in einer gesangstechnisch defizitären Situation gegenüber den ›reinen‹ Opernsängern der italienischen Hofoper. Andererseits brachten sie einen am neuen bürgerlichen Natürlichkeitsideal ausgerichteten Darstellungsstil ins Spiel, der den Typus des italienischen Operngesangsvirtuosen – exemplarisch verkörpert in der als »Inbegriff künstlich verstümmelter Natur« und Repräsentant »höfischen Luxusgebahrens« angesehenen Figur des Kastraten – zusehends ins Abseits manövrierte.66 So bildete sich unter Einfluß der gesangs- und darstellungsästhetischen Prämissen Rousseaus, Grétrys und vor allem Glucks67 auch mit Blick auf die weitere Entwicklung eines ›ernsten‹ deutschsprachigen Musiktheaters ein neuer Darstellertypus heraus, der sich vom hochvirtuosen Gesangsund statuarischen Darstellungsstil der italienischen Hofopernsänger absetzen und anknüpfend an den Prozeß einer Literarisierung des Theaters auf der Schauspielbühne68 auch im Bereich des Musiktheaters das Ideal einer am Paradigma des zeitgenössischen Natürlichkeitsideals ausgerichteten Bühnenkunst ins Werk setzen sollte. Obgleich dieses Ideal seit dem früheren 19. Jahrhundert auch für die italienische Opernpraxis eine zunehmende Rolle spielte, wie etwa die von Clemens Risi untersuchte Rezeption der Engelschen Ideen zu einer Mimik in Italien nahelegt69, beanspruchte der hier durch die Person Mosels repräsentierte Wiener Operndiskurs offenkundig eine strikt nationaltypische Aufladung dieses Bühnenideals. Als dessen lebendige Verkörperung wurden im Wien der Schubert-Zeit vor allem der Tenorbariton Johann Michael Vogl und die Sopranistin Anna Milder-Hauptmann angesehen – zwei hinreichend prominente Mitglieder des deutschen Hoftheaterensembles. Da eben diese beiden professionellen Sänger später auch in besonderer Weise mit dem Vortrag von Schuberts Liedern in Verbindung zu bringen sind, sollen sie im folgenden eingehender aus der Perspektive ihrer künstlerischen Praxis beleuchtet werden.

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Krämer, Deutschsprachiges Musiktheater, Bd. 1, S. 101. Krämer datiert die endgültige Trennung von Sprech- und Musiktheater auf etwa 1820.Vgl. ausführlicher zu den Einflußfaktoren auf den Prozeß der zunehmend separaten Institutionalisierung der Theaterformen und ihren Folgen ebd. S. 98–104. Vgl. Vireira de Carvalho, Belcanto-Kultur und Aufklärung, passim, bes. S. 35ff. Vgl. etwa: Jens Roselt, Seelen mit Methode. Schauspieltheorien vom Barock bis zum postdramatischen Theater, Berlin 2005, S. 21 ff. Vgl. eingehender: Clemens Risi, Auf dem Weg zu einem italienischen Musikdrama. Konzeption, Inszenierung und Rezeption des melodramma vor 1850 bei Saverio Mercadante und Giovanni Pacini, Tutzing 2004, S. 319‒350 sowie 504‒509 (Abb. 1‒20). Risi weist auf zahlreiche EngelEinflüsse in italienischen Lehrwerken zur Darstellungskunst seit 1818 hin und zeigt hinsichtlich des gestischen Codes überdies Korrespondenzen der bei Engel abgedruckten Abbildungen mit zeitgenössischen Figurinenzeichnungen auf.

5.2 Kontexte und Diskurse

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5.2.2. Anna Milder-Hauptmann – »echtdeutschester Gesang« Ähnlich dem liedästhetischen Programm des späteren 18. Jahrhunderts bezog sich auch Ignaz von Mosel auf das empfindsame Konzept von Stimme und Gesang als naturhaft-authentischer Repräsentation der menschlichen Seele: Demgegenüber kritisiert er vor allem den verzierten Gesang, der »den schönen Charakter der menschlichen Stimme« verkenne, »welche uns die Natur zu einem ausdrucksvollen rührenden Gesange, nicht zu geist- und herzlosen Schnörkeln« gegeben habe.70 Unter Bezugnahme auf das antike Drama und die in dessen Geiste geschaffenen ›Reformopern‹ Glucks sieht Mosel in dieser Gesangsästhetik aber nicht etwa in erster Linie die Repräsentation subjektiver ›Innerlichkeit‹, sondern die Grundvoraussetzung für eine ›wahrhaft dramatische‹ Musik gegeben, die ob ihrer Verbindung von Simplizität und Pathos zunehmend als ›klassizistisch‹ stilisiert wurde. 71 Auch im Zuge einer Wiener Neuentdeckung des Gluckschen Opernœuvres entstanden somit neue Ansprüche an deren performative Verwirklichung: Namentlich Opern nach pathetisch-heroischen Sujets erforderten einen Vortragsstil, der den ›empfindsamen‹ Einfachheitsidealen gewissermaßen eine ›erhabene‹ Tiefendimension verleihen sollte. Hinsichtlich Körper- und Bewegungsästhetik ist hier der konkrete Kontext eines ›klassischen‹ Ideals im Sinne Winckelmannscher Antikenrezeption aufgerufen. Als sich 1804 die Sopranistin Pauline Anna Milder 19-jährig der Wiener Hoftheaterdirektion vorstellte72, hörte und sah man in ihrer Stimme73 und ihrer leiblichen Präsenz74 offenbar eine perfekte Verkörperung derartiger ästhetischer Prämissen, und die Sängerin lieferte damit überhaupt einen wichtigen Impuls, »Glucks Opern, die lange geruht«, wieder auf die Bühne der Hofoper zu bringen.75 Anna Milder avancierte in den folgenden Jahren zur führenden Gluck-Heroine und wurde damit geradezu zur offiziellen Repräsentantin eines neuen Typus’ sän 70 71

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Mosel, Versuch einer Aesthetik des dramatischen Tonsatzes, S. 72. Vgl. zum mit Gluck verbundenen Klassizismusbegriff: Ulrich Schreiber, Die Kunst der Oper. Geschichte des Musiktheaters, Bd. 1: Von den Anfängen bis zur Französischen Revolution, Frankfurt a. M. 1988, S. 296ff. Vgl. Art. Milder-Hauptmann, Anna Pauline, in: Carl Frh. von Ledebur, Tonkünstler-Lexikon Berlin’s von den ältesten Zeiten bis auf die Gegenwart, Berlin 1861. Der Artikel beruht nach dortigen Angaben auf einer verschollenen Autobiographie der Sängerin. Anna Milders Bühnendebüt fand unter der Förderung Emanuel Schikaneders am Freihaustheater an der Wieden als Juno im Zauberflöten-Nachfolgestück Der Spiegel von Arkadien statt. Haydn attestierte nach Auskunft Sigismund Neukomms der Sängerin »eine Stimme wie ein Haus«. Vgl. Ledebur, Tonkünstler-Lexicon, S. 374. Neben Tanz- und Fechtunterricht mußte die Sängerin unter fachkundiger Begleitung in den Wiener Gemäldegalerien an »antiken Bildwerken wie historischen Bildern« ihren »Sinn für edle Haltung« bilden, vgl. Ledebur, Tonkünster-Lexicon, S. 375. Noch nach ihrem Tod wurde Anna Milders »volle, kaiserliche Figur vom schönsten Ebenmaße und eine natürliche Großartigkeit der Bewegungen, wie man sie nur bei antiken Statuen findet« beschworen. So etwa in den 1907 veröffentlichen Jugenderinnerungen des Berliner Philologen Gustav Parthey (1782– 1872), vgl. ebd. Bd. 2, S. 84. Ledebur, Tonkünstler-Lexicon, S. 375.

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gerischer Darstellungskunst. Bis in die 1830er Jahre blieb sie vor allem als Iphigenie, die »mit langen, gehaltenen und erhabenen Tönen das ganze Opernhaus erfüllte«76 auf den Bühnen präsent. Noch 1836 beschreibt Eduard Hanslick ihren letzten Wiener Auftritt, bei dem sie »mit stark verblühter Stimme aber immer noch in großem edlen Styl Arien von Gluck und Händel sang.«77 Die Entwicklung Anna Milders zur bühnenkünstlerischen Leitfigur im Sinne eines von ihr verkörperten ›deutschen Gesangsideals‹ war, wie Andreas Mayer ausführlich dargestellt hat, indes zu einem nicht geringen Anteil durch rezeptionslenkende Maßnahmen der zeitgenössischen ästhetischen Diskurse beeinflußt.78 Die Anhänger der deutschen Opernpartei um Mosel sahen in jener vielbemühten Vokabel der »Individualität« Anna Milders in hohem Maße die eigenen Ideale einer »edlen Simplizitität« verwirklicht und flankierten die Auftritte der Sängerin durch einen mehr oder weniger aggressiven affirmativen Journalismus. Mosel selbst verfaßte 1808 eine Eloge über Milders Darstellung der Iphigenie in den von ihm gegründeten Vaterländischen Bättern, später dann – stets anonym – im Sammler: Ihr verdanken wir das Wiederaufleben des, dem wahren Geschmacke einzig entsprechenden einfachen natürlichen Gesanges, welchen sie, statt der so gefeyerten Zieratthen, wählte, und mit seltener Verläugnung, den stillen Beyfall der Kenner dem Händeklatschen der Menge vorzog. Wer Mlle. Milder in der oben genannten Rolle hört, und nicht überzeugt wird, daß, wie Sulzer sagt, ein Ton, der das Herz trifft, weit mehr gilt, als tausend Rouladen, die nichts sagen, als daß der Sänger eine biegsame Gurgel hat, mit dem wollen wir über Gesang und über Musik nicht streiten.79 Keine Koloraturen, keine Mordanten, nichts von allen dem, wodurch sonst wohl das Ohr sich bestechen lässt, sondern der einfachste, seelenvollste, man möchte wohl sagen, echtdeutscheste Gesang einer Harmonika-Stimme, die auch der kleinsten Note ihr volles Recht widerfahren lässt, aber der Composition nichts leiht.80

Besonders der Vergleich der Glasharmonika mit dem unverwechselbaren Timbre der Stimme Anna Milders, das zuweilen auch als geigen- orgel- und immer wieder klarinettähnlich beschrieben wird81, ist aussagekräftig, da der Klang des im späteren 18. Jahrhundert in Mode gekommenen Instruments grundsätzlich als Repräsentation eines idealen ›Natur‹-Klangs angesehen wurde.82 Ganz offenbar wurden aber insbesondere durch das stimmliche Volumen Milders in Zusammenhang mit den von ihr bevorzugt dargestellten heroischen Figuren die stärksten Eindrücke hervorgerufen: Ausgerechnet Johann Friedrich Reichardt, der die Sängerin auf seiner Wienreise 1810 erlebte, hebt gerade gegenüber dem von Mosel und ihm selbst als 76 77 78 79 80 81 82

Münchener Allgemeine Musik-Zeitung 19 (1828), Sp. 299f. Hanslick, Geschichte des Concertwesens in Wien, Bd. 1, S. 346. Vgl. Andreas Mayer, »Glucksches Gestöhn« und »Welsches Larifari«. Anna Milder, Franz Schubert und der Wiener Opernkrieg, in: AfMw, 52/3 (1995), S. 171‒204. Vaterländische Blätter 1808, zitiert ebd., S. 176. Der Sammler 1810, zitiert ebd. Vgl. Till Gerrit Waidelich, Art. Milder, Anna (Pauline), in: MGG2, P/Bd. 12, Sp. 201. Vgl. Walter Salmen, »Harmonika-Empfindungen«, in: Der Weimarer Musenhof, S. 60. Die Erfolgsgeschichte der Physharmonika in Wien begann indes laut Hanslick erst in den 1820ern. Vgl. ders., Geschichte des Concertwesens in Wien, S. 259.

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Liedkomponisten als entscheidend erachteten Kunst der Rezitativgesangs die spezifischen materiellen Qualitäten der Stimme Anna Milders hervor, die ihn zu einem geradezu kulinarischen Klanggenuß verführten. Auch Reichardt hebt dabei überdies Milders an Gemälden geschulte ›natürliche‹ Körperhaltung hervor: Die herrliche Stimme der Künstlerin habe ich in ihrer ganzen Schönheit und Fülle genossen und ich bin wahrlich entzückt davon. Es ist ausgemacht die schönste, vollste, reinste Stimme, die ich in meinem Leben in Italien, Deutschland, Frankreich und England je gehört habe. Auch ihre Gestalt und ihr Spiel war edel und groß. [...] Sie hat eine echt tragische Repräsentation, ohne alle affektierte Operntritte und Schritte und Verdrehungen des Halses und Leibes.83

Allerdings mischten sich auch andere Stimmen in die Diskussion: Mosels idealisierende Auffassung eines »echtdeutscheste[n] Gesang[s]« war, ebenso wie die oben diskutierte Rolle eines ›natürlichen Gesangs‹ innerhalb der norddeutschen Gesangskultur um 180084, nicht unbedingt mit den von Seiten der professionellen Gesangsausbildung vertretenen Grundsätzen kompatibel. Wenngleich im sich neu etablierenden Feld der deutschen Gesangspädagogik der deutschen Sprache und ihrer Behandlung beim Gesang eine zunehmende Aufmerksamkeit gewidmet wurde, beharrte man, wie bereits an früherer Stelle angesprochen, auf einer Ausbildung nach italienischen Vorbild. Auch Anna Milder mußte bei Haydns Schüler Sigismund Neukomm, dem sie sich als Jugendliche mit der Auftrittsarie der Königin der Nacht aus Mozarts Zauberflöte vorgestellt hatte, eine sängerische Grundausbildung nach dieser Methode absolvieren: Täglich musste sie nun Morgens und Abends 2 Stunden die Anfangsübungen singen, besonders aber fleissig die Scala üben [...] und nur selten durfte sie ein Mozart’sches oder Haydn’sches Lied einstudiren. Durch diese Unterrichtsmethode änderte sich die Stimme ganz und gar; früher hatte sie viel Höhem unbedeutende Mitteltöne und gar keine Tiefe – jetzt gewann die Mittelund tiefe Lage der Stimme, obgleich sie etwas Höhe verlor.85

Nach der Übernahme an die Wiener Hofoper wurde Milder außerdem von Salieri und dem in Mailand ausgebildeten und mit Mozart befreundeten Hoftenor Giuseppe Tomaselli unterrichtet.86 Die italienische Gesangstradition blieb insofern auch im Fall Milders letztlich, wie bereits diese Andeutungen zeigen, sowohl als Ausbildungsgrundlage als auch vor allem als Bewertungsmaßstab künstlerischer Professionalität präsent. Nicht zuletzt durch Reichardts Elogen auf die Sängerin aufmerksam gemacht, beschreibt auch etwa Ludwig Rellstab 1811 auf einer Reise nach Wien seinen Eindruck: Wenn man den Berichten des Hrn. Kapellmeisters Reichardt und mehrerer Tonkünstler trauen soll, so kann man sich ihre ausgezeichnet schöne Stimme nicht anders denken: als ein schönes, volles Orgelregister, aber auch ebenso flach, ebenso ungünstig und ebenso monoton wie jenes. Das ist aber in den letzten drei Eigenschaften keineswegs der Fall. [...] Sie hat einen Umfang

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Johann Friedrich Reichart, Vertraute Briefe, geschrieben auf einer Reise nach Wien und den Österreichischen Staaten zu Ende des Jahres 1808 und Anfang 1809, hg. von Gustav Gugitz, 2 Bde. München 1915, Bd. 1, S. 116. Vgl. oben Kapitel 3.3. Vgl. Ledebur, Tonkünstler-Lexikon, S. 374. Vgl. Hanslick, Geschichte des Concertwesens in Wien, S. 346, Anm. 1.

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5 Gesangsideale der Schubert-Zeit von a bis 3 gestrichen c. In diesem Umfange sind sämmtliche Töne gleich stark, gleich voll; sollte man aber doch einige vorziehen können, so wären es die bei anderen Stimmen so selten schönen Mitteltöne d bis 2 gestrichen d. Es ist der Ton einer wirklich echten Steiner Geige, die ich noch der Cremoneser vorziehe. Triller, Pralltriller und Mordenten macht sie nicht, aber den Doppelschlag, Schleifer und Anschlag sehr gut punktirt und gleich. Eigentlich grosse BravourPassagen macht sie eben so wenig, aber sanfte gute Volaten, volubel und deutlich, auch hat sie alle Nuancen der Stärke und der Schwäche etc.87

Andreas Mayer geht soweit, zu behaupten, daß Anna Milders Stimme planvoll in Bezug auf ein bestimmtes Repertoire ›gemacht‹ wurde.88 Man sollte indes gerade angesichts der differenzierten Schilderung Rellstabs die These, daß Milder überhaupt keinen Unterricht mehr im Ziergesang zuteil wurde, bzw. dies in der zeitgenössischen Ausbildung vernachlässigt wurde die (freilich hypothetische) Physiognomie ihrer Stimme entgegenhalten. Es ist davon auszugehen, daß vor dem Hintergrund zeitgenössischer Geläufigkeitsideale grundsätzlich alle Stimmtypen ungeachtet ihrer physiologischen Disposition der Koloraturschulung unterzogen wurden, was einer voluminöseren Stimme wie Anna Milder sie offenbar besaß, naturgemäß größere Schwierigkeiten bereitet haben mochte. Dies gab in jedem Fall immer wieder Anlaß zur Kritik. Auch nach Schuberts erstem Milder-Erlebnis während der erwähnten Vorstellung von Iphigenie auf Tauris von 1813 (an der Seite des Dichters Theodor Körner) verkündete laut Eduard Bauernfeld ein Universitätsprofessor bei einer Aufführungsnachlese im Café Blumenstöckl, Anna Milder könne nicht singen, »weil sie weder Läufe noch Triller zu machen verstehe«, woraufhin es zu Handgreiflichkeiten gekommen sein soll.89 Wohlinformiert über Inhalt und Ablauf der professionellen Gesangsausbildung betont auch Mosel 1813 in seiner Ästhetik die Notwendigkeit technischer Perfektion, die allerdings in seinen Augen bewußt zugunsten eines spezifischen Ideals der ›Wahrhaftigkeit‹ in den Hintergrund treten sollte: Das Studium und die Übung der Schwierigkeiten ist dem angehenden Sänger allerdings nothwendig, damit er in jeder Gelegenheit Meister seiner Stimme bleibe, und diese ihm allzeit willig gehorche. Hat er sich fähig gemacht, das Schwerste auszuführen; so wird er das minder Schwere desto besserm und mit jener Leichtigkeit vortragen können, welche über Alles, was sie begleitet, eine unnennbare Grazie ausgießt. Aber diese Schwierigkeiten, die dem lernenden Sänger zur Ausbildung seiner Stimme dienen, muß der vollendete Sänger nicht zum höchten Gegenstand seiner Kunst machen.90

Mit der Spielzeit 1815/16 wechselte Anna Milder – seit 1810 verheiratet mit dem Juwelier Carl Hauptmann – aus finanziellen Gründen (Inflation) nach Berlin und wurde dort Mitglied der Hofoper, wo sie durch ihre fachliche Spezialisierung maßgeblich die Spielplangestaltung mitbestimmte. Insbesondere im Rahmen der an Glucks Ästhetik anknüpfenden monumentalen Opernspektakel Gaspare Spontinis 87 88 89 90

Ludwig Rellstab: Ueber die Stimme der Madam Hauptmann-Milder zu Wien, in: Vossische Zeitung, 2.11.1811, zitiert nach Ledebur, Tonkünstler-Lexikon, S. 376. Mayer, »Gluck’sches Gestöhn«, S. 175ff. EF, S. 151. Vgl. Mosel, Versuch einer Ästhetik des dramatischen Tonsatzes, S. 74f.

5.2 Kontexte und Diskurse

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stand Milder häufig im Mittelpunkt und blieb in der von ihr repräsentierten Spezialdisziplin des ›heroischen Gesangs‹, allen Anfeindungen zum Trotz, eine unangefochtene Autorität. 91 Auch in Wien, wo unter der Ägide Barbajas, wie bereits angedeutet, der deutschen Opernbewegung trotz gewisser Förderungsmaßnahmen kein durchschlagender Erfolg beschieden war, wurde der Sängerin nach ihrem Weggang weiterhin die symbolische Funktion einer Verkörperung der Ideale der deutschen Opernpartei zugewiesen. Schubert resümiert gegenüber Schober 1818 etwa, er wolle Milder in keinem Fall missen – »sie singt am schönsten und trillert am schlechtesten«92, was, wenngleich der Komponist sicherlich nicht persönlich der kleinen radikalen Gruppierung um Mosel zuzurechnen war, in seiner polemischen Gegenüberstellung von ausdrucksvollem ›Singen‹ und belanglosem ›Trillern‹ als unmißverständliche Aussage einzustufen ist. Wann Schubert die persönliche Bekanntschaft der Sängerin machte, ist indes nicht mit Sicherheit nachzuweisen. Der Nachweis einer direkten Kontaktaufnahme zu Schubert und Belege über Aufführungen seiner Lieder durch Milder liegen erst nach ihrem Wechsel nach Berlin vor.93 Der immer wieder von Mosel und auch zuweilen von Seiten der jüngeren Schubert-Forschung vertretenen Auffassung, Anna Milder habe sich aus künstlerischer Überzeugung bewußt von den virtuosen Gesangstechniken abgewandt94, muß gerade vor dem hier dargestellten Hintergrund entgegengehalten werden, daß sie als öffentlich und professionell agierende Bühnenkünstlerin tief in die zeitgenössischen ästhetischen Wertbildungsprozesse verstrickt war und Strategien entwickeln mußte, sich gerade zwischen den Fronten zu positionieren. Wegen eines anhaltenden Konkurrenzdrucks – etwa angesichts jüngerer ebenfalls deutschsprachiger Rossini-Primadonnen wie Therese Grünbaum (geb. 1791)95 oder der hochprominenten Henriette Sontag (geb. 1806) − kam auch Anna Milder nicht umhin, immer wieder italienisches Bravourrepertoire in ihren Konzerten zu singen, worauf entsprechend polemische Reaktionen nicht ausblieben. Was Mosel in besonderer Weise als Milders positive Eigenschaften darstellte, wurde von einigen Kritikern mit dem Hinweis auf fehlende stimmliche Flexibilität und mangelnde Virtuosität bemängelt, da man diese Punkte auf einer professionellen Ebene schlichtweg als Basis erwartete: 91 92 93

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Vgl. Mayer, »Gluck’sches Gestöhn«, S. 185. Dok I, S. 66. Laut den Schubert-Dokumenten sang Anna Milder neben dem Hirt auf dem Felsen die Lieder Die Forelle (vgl. Dok II, Nr. 305; Nr. 307; Nr. 316), Erlkönig (vgl. Dok II, Nr. 333; Nr. 337; Nr. 338; Nr. 339; Nr. 344; Nr. 352) und Suleika II (vgl. Dok II, Nr. 333; Nr. 337; Nr. 338; Nr. 339; Nr. 340). Bei Ahrens sind zudem noch zwei Wiener Aufführungen von Herman und Thusnelda D 322 in den Jahren 1835/36 nachgewiesen. Vgl. Ahrens, Liszts Transkriptionen, S. 14. Vgl. etwa Walther Dürr, Der »Meister im deklamatorischen Gesang«. Johann Michael Vogl (1768‒ 1840), in: Programmbuch Schubertiade Hohenems 1990, o. O. [1990], S. 11. Therese Grünbaum (1791‒1871), Tochter des Komponisten Wenzel Müller, war von 1816 bis 1828 an der Wiener Hofoper engagiert, wo man sie als »deutsche Catalani« feierte. Einer ihrer größten Erfolge war die Desdemona in der Wiener Erstaufführung von Rossinis Otello 1819. Ab 1824 sang sie auch in Berlin. Vgl. Art. Grünbaum, Therese, in: Karl Josef Kutsch/Leo Riemens, Großes Sängerlexikon, Bern/München 1997, Bd. 2, S. 1426‒1427.

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5 Gesangsideale der Schubert-Zeit Mad. Milder gab ein Konzert, in welchem sie nach ihrer Manier wieder leichte italienisch[e] Musik mit vielen Verzierungen sang, z. B. Rossinische Piecen – es ist genau das kleine Bildchen von dem ausgelassenen Schalk Callot mit lebenden Figuren ausgeführt, wo nämlich ein Wallfisch (ein sonst ganz majestätisches Wesen auf offener See) auf dem Seile tanzt, zwischen den Kiefern die dünne, kleine Balancierstange [...] 96

Letztlich war sich Anna Milder ihrer spezifischen Qualitäten allerdings vollauf bewußt, wie etwa deutlich aus einem Brief an Mosel 1828 hervorgeht, in dem sie von ihrer Entscheidung berichtet, nach einem zunächst geplanten ›Rossini-Coup‹ für eine Konzertreise nach London letztlich doch auf bewährte Gluck-Arrangements zurückzugreifen, um nicht zum »Affe[n] der anderen Sängerinnen« zu werden.97 Am erfolgreichsten war und blieb Milder somit neben den obligatorischen GluckPartien mit jenen zahlreichen Rollen, die ihr direkt auf den Leib bzw. in die Kehle geschrieben wurden. Die Pointe dabei ist allerdings, daß die immer wieder betonte Nichteignung der Stimme bzw. mangelnde Fertigkeiten der Sängerin für hochvirtuoses Repertoire in erster Linie von radikalen Rossini-Gegnern ideologisch verbrämt und argumentativ genutzt wurde, um die angebliche ›Unnatürlichkeit‹ des Rossinischen Stils ohrenfällig machen zu können und im Gegenzug die Idee eines nationalidentifikatorisch aufgeladenen ›wahren‹ dramatischen Vortragsideals zu popularisieren. So betont die Münchener AMZ 1828 nachdrücklich, daß Milders »Individualität die Weisen dieses Tonsetzers zu sehr widerstreben, als daß sie, selbst, wenn sie wollte, ihnen ihre Stimme anzupassen vermöchte.«98 Wie Andreas Mayer überzeugend dargestellt hat, verweist gerade vor solchem Hintergrund jener Kompositionsauftrag für eine »idilische deutsche Szene«, den die Sopranistin 1824 aus Berlin zuerst an Schubert und dann etwas später an Mosel gerichtet hatte, und der mit der schließlich 1828 von Schubert angefertigten Komposition Der Hirt auf dem Felsen für Gesang, Klarinette und Klavier D 965 in Verbindung gebracht wird, auf eine Intention Milders, womöglich verschiedene Publikumsfraktionen gleichzeitig ansprechen zu können. In der Tat greift Schubert in diesem Stück, für das er persönlich eine Textvorlage aus Gedichten von Wilhelm Müller und Karl Varnhagen von Ense zusammengestellt hatte 99, deutlicher als in anderen Werken auf ihm seit seiner Jugend geläufige Belcanto-Techniken wie weit ausgreifende Intervallsprünge und virtuoses Skalenwerk zurück, die er auf charak-

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Zeitung für die elegante Welt, 3.6. 1823, Sp. 847, zitiert nach Mayer, »Glucksches Gestöhn«, S. 187. Brief Milders an Mosel vom 28.12.1828, zitiert ebd., S. 187f., Anm. 50. Münchener Allgemeine Musikalische Zeitung 19 (1828), Sp. 299f. Till Gerrit Waidelich, »Der letzte Hauch im Lied entflieht, im Lied das Herz erweicht!« − Varnhagens »Nächtlicher Schall« als letzter Baustein zum »Hirt auf dem Felsen«, in: Schubert : Perspektiven 8 (2010), S. 237‒243.

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teristische Weise mit traditionell liedhafter und modisch-volkstümelnder Jodel-Melodik verbindet.100 Die angesprochenen zeitgenössischen ästhetischen Kontroversen finden sich hier gewissermaßen integrierend in den Notentext einkomponiert.101 Entsprechend erfuhr der Hirt auf dem Felsen eine von äußersten Diskrepanzen geprägte Rezeption in den folgenden Jahrzehnten, die sich von derjenigen Anna Milders kaum trennen läßt. Nachdem das Stück nach seiner Uraufführung in Riga durch Milder im Februar 1830 am 21. März auch in Wien erklang, monierte die zeitgenössische Presse in der Rezension des bei Haslinger erschienenen Notendrucks bezeichnenderweise gerade nicht Schuberts Abweichen von ästhetischen Prämissen des Liedhaften, sondern attestiert Schuberts Komposition gar »größte Einfachheit, Wahrheit des Ausdrucks« und bezeichnet sie als »eine der zartesten Tondichtungen, die wir besitzen«.102 Obwohl die Wiener Erstaufführung im Landständischen Saal nicht durch Anna Milder erfolgte103, scheint bereits früh eine Verbindung zwischen ihr und der Entstehung des Hirt auf dem Felsen kolportiert worden zu sein – es ist anzunehmen, daß auch Schubert selbst, da seine Konzeption des Vokalparts in so direkter Weise auf die umfassende Präsentation der Singstimme ausgerichtet scheint, sich die Verbindung mit der berühmten Sängerin zunutze machen wollte. Gut zehn Jahre später allerdings hatte Anna Milder bereits einiges ihrer symbolischen Bedeutung als Repräsentantin eines ›deutschen Gesangsideals‹ eingebüßt, und ihre Verbindung mit Schuberts Komposition erzielte nun einen gegenteiligen Effekt – Schubert wird geradezu gegen sie verteidigt: Dies Lied wurde von der berühmten Milder-Hauptmann beym Tonsetzer bestellt und ihm der Text dazu vorgelegt. Dieser Umstand mag manches ausgleichen, was darin als nicht ganz übereinstimmend befunden werden könnte, mit dem sonst stets so schöpferisch waltenden, romantischen Aufflunge Schubert’s. Nichts desto weniger hat es der Schönheiten genug und ist [...] einer der Vorläufer jener Masse von Concertliedern geworden, welche mit obligaten Instrumenten gepanzert sind; eine Gattung, die ich, beyläufig gesagt, als dem keuschen Wesen des ächten deutschen Liedes zuwider, nicht viel über andere musikalische Spielereyen stelle.104

Der gesangshistorische Prozeß einer allmählichen Abkopplung der »Elemente des Artifiziellen von den Mitteln des Affektiven«105 − die Erklärung des verzierten Gesangs als ›seelenlos‹ im Namen der Idealisierung eines purifizierten Gesangsstiles, dem die Repräsentation eines vermeintlich ›wahren‹ Ausdrucks zugeschrieben wurde − setzt, wie bereits ausführlich beschrieben wurde, bereits im Kontext der 100 Mayer, »Gluck’sches Gestöhn [...]«, S. 201. 101 Vgl. auch Christian Ahrens’ Diskussion des Stückes vor einem gattungsästhetischen Hintergrund: Ahrens vertritt die These, daß Schubert hier das Genre des Opernduetts als Modell vorschwebte, aber auch Lied- und Arienhaftes lassen sich identifizieren: ders., Schuberts »Hirt auf dem Felsen« D 965 – Lied, Arie oder ›Duett‹?, in: Schubert : Perspektiven 5 (2005), S. 162– 182. 102 SWVm, Nr. 33. 103 SWVm, Nr. 27; Dok II, Nr. 769. 104 SWVm, Nr. 180 (Hervorhebung im Original). 105 Vgl. Jürgen Kesting, Wandlungen der Gesangskunst und stimmlicher Schönheitsideale, in: Stimmen hören: 2. Stuttgarter Stimmtage 1998, hg. von Helmut Geißner [u. a.], St. Ingbert 2000, S. 75‒86, S. 84.

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Sangbarkeitsästhetik des späten 18. Jahrhundert ein.106 Immer bestimmender dabei wird indes, wie auch am hier verhandelten Quellenmaterial deutlich wird, der Kontext eines nationalen Diskurses, der den »echtdeutscheste[n] Gesang« gegenüber anderen nationalcharakteristisch belegten Gesangsstilen profilieren sollte.107 Das daraus letztlich gerade für die deutschsprachigen professionellen Sängerinnen erhebliche Probleme entstehen konnten, hält etwa Carl Maria von Weber 1817 in einem Essay über die bereits oben erwähnte Sopranistin Therese Grünbaum fest: Welche ungeheure Forderungen macht man an eine gute deutsche Sängerin! Sie soll vor allem den Zauber der italienischen Geschmeidigkeit und Zierlichkeit haben, sodann die höchste deklamatorische französische Leichtig- und Leidenschaftlichkeit und natürlich am Ende auch die deutsche einfache, tief fühlende und Wahrheit fordernde Gesangsweise.108

Das ›deutsche‹ Element wird innerhalb dieses Diskurses, wie auch bei Weber deutlich wird, in der Regel über eine expressive Haltung und gerade nicht über eine spezielle Fertigkeit definiert. Die konstitutive Forderung der ›Einfachheit‹ erweist sich als Teilmoment einer rhetorischen Strategie, denn durch die Zurückweisung jeglicher Artifizialität scheint dieses Ideal, im Gegensatz zu anderen national konnotierten künstlerischen Eigenschaften, nicht erlernbar. Hinter dieser diskursiven Konstruktion scheint letztlich ›das deutsche Lied‹ als qua Tradition ermächtigtes Referenzzentrum durch. Dies findet sich etwa in folgenden, in Form einer Glosse im Leipziger Literarischen Conversations-Blatt festgehaltenen, Streitigkeiten in einem Wiener Salon um 1823 abgespiegelt: [...] Neulich hörte ich einen originellen Kunststreit. Als ein italienisches Duett mit dem gewöhnlichen Schlußlärm der italienischen Gesänge geendet, und während des Liedes nichts als die Worte: Idolo mio, l’amo und felicità vorgekommen waren, sagte eines der Mitglieder zu einer geistreichen Frau: ›Es ist doch seltsam, wie ein ganzes Volk so genügsam sein kann und sich in jedem Gesangsstück mit denselben Worten und meistens mit denselben Tonarten begnügen kann!‹ − ›Werden Sie auch schon ein Moselianer?‹ war die Antwort. – ›Ich glaube, nicht gerade ein Moselianer zu seyn, wenn mir die Mängel auffallen; allein, wenn sie jene mit dem Ehrennamen Moselianer bezeichnen wollen, die dasselbe finden, so bekenne ich mich allerdings zu seiner Partei.‹ Aber der Sänger erhob die italienische Musik zu den Wolken und ließ der deutschen kaum einen matten Schimmer von Ruhm und Ehre; darüber gerieth der Gegner zu Harnisch und sagte: ›Besteht denn das Schöne in der Musik in liebelndem Schmachten, affectirtem Seufzen und rauschenden Rouladen ohne innern Gehalt? Nein, lieber noch will ich nichts als Schlachtmusik schmetternde Trompeten hören, als diesen Limonengesang. Ein kräftiges deutsches Lied erbaut mich mehr als alle Idol mio’s.‹ Es zu bewähren, wurden deutsche Lieder gesungen, daß es widerhallte. Doch bald wurde die italienische Muse mit der deutschen ausgesöhnt, und die Vollkommenheiten beider Leistungen von den Unparteiischen gewürdigt; dabei hatten nun die unbefangenen Zuhörer den großen Vorteil, beides zu genießen. [...] 109

106 Vgl. oben Kap. 3.3.2. 107 Vgl. Rebecca Grotjahn, Deutsche Frauen, deutscher Sang. Nation, Gender und die »idea of serious music«, in: Deutsche Frauen, deutscher Sang – Musik in der deutschen Kulturnation, hg. von ders., München 2009, S.173‒193. 108 Carl Maria von Weber, Die Sängerin Therese Grünbaum, in: ders., Sämtliche Schriften. Kritische Ausgabe, hg. von Georg Kaiser, Berlin/Leipzig 1908, S. 330. 109 Dok II, Nr. 190.

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Obgleich mit Bezug auf die Situation in Wien betont werden muß, daß nationale Impulse welcher Art auch immer von Seiten der Metternichschen Regierung ohnehin unerwünscht waren bzw. unterbunden wurden, geht aus den hier angeschnittenen Diskursen hervor, daß man zwar die Tradition eines ›deutschen Gesangsideals‹ im Sinne einer klingenden Repräsentation der entsprechenden Musiktheaterästhetik vor Augen bzw. Ohren hatte (egal ob aus der Sicht radikaler ›Moselianer‹ oder der einer gemäßigteren Gruppierung), dessen Definition allerdings letztlich nicht ohne die ästhetischen Prämissen der traditionellen italienischen Gesangsschule auskam. Das Ideal eines »echtdeutscheste[n] Gesangs«, für das besonders Anna Milder in hohem Maße einstand, gibt sich vor solchem Hintergrund insofern eher als vor allem diskursiv konstruiertes Phantom zu erkennen – dies wird nicht zuletzt an Mosels Anlehnung an die Prämissen der norddeutschen Liedästhetik auf der einen und seine Rekurrenz auf die Methode du Chant des Pariser Conservatoire deutlich, die ihrerseits das Produkt einer Italianisierung des französischen Gesangspraxis repräsentiert.110 Das hier beschriebene, maßgeblich durch Anna Milder verkörperte, vokale Potenz und Bühnenpräsenz mit der idealisierten ›Einfachheit‹ der Auffassung verbindende Gesangsideal war indes auch für Schubert bereits vor der Komposition des Hirt auf dem Felsen von Bedeutung, wie gerade das durch Schuberts Widmung und vokale Faktur mit Milder in Verbindung gebrachte Lied Suleika II, aber auch zahlreiche andere, der Tendenz nach eher als dramatische Szenen angelegte, Liedkompositionen nahelegen.

5.2.3 Johann Michael Vogl – »deklamatorischer Gesang« Während das expressive Ideal des in Mosels Formulierung »echtdeutscheste[n] Gesang[s]« eine letztlich nur indirekt greifbare Komponente des von ihm selbst und seinen Anhängern verfochtenen Konzepts einer modernen Musiktheaterästhetik darstellte, ist die Frage der adäquaten Balance zwischen Gesangston und zu artikulierender Sprache ein konkreter gesangstechnischer Teilbereich111, der – wie bereits eingehender behandelt – seit dem späten 18. Jahrhundert verstärkt für das ›deutsche Gesangsideal‹ reklamiert wurde. Noch 1843 formuliert Mosel: »Der Gesang, so definieren ihn alle Gelehrten und Sachverständigen, ist die möglichst innige Verschmelzung der Melodie mit den Worten, deren Eindruck zu erhöhen sie berufen ist.«112 Die mit dieser Prämisse verbundenen konkreten produktionsästhetischen Konsequenzen, finden sich bereits in Mosels 1813 veröffentlichter Anleitung zur Rezitativkomposition: 110 Seedorf, Art. Singen, Sp. 1440. 111 Vgl. etwa die von Mireille Geering vorgenommene Rubrizierung des »deklamatorischen Gesangs« als stilistische Disziplin in: Dies., Die Sologesangsschule Hans Georg Nägelis, Bd. 1, S. 78ff. 112 Ignaz von Mosel, Die Tonkunst in Wien während der letzen fünf Decennien, in: Allgemeine Wiener Musik-Zeitung 3 (1843), S. 565.

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5 Gesangsideale der Schubert-Zeit Die Prosodie der Sprache, in der das Gedicht [d. h. die dramatische Textgrundlage, M. G.] geschrieben ist, soll daher auf das Sorgfältigste beobachtet und die Deklamation in allen ihren Accenten und Biegungen möglichst getreu nachgeahmt, folglich das Steigen und Fallen der Töne niemals blos willkürlich angewendet werden.113

Die hier angesprochene kompositionstechnische Ebene der musikalischen Textdeklamation wird überdies, ähnlich der Ästhetik der Reichardtschen Deklamationen, von Mosel eng mit einer spezifischen textzentrierten gesanglichen Vortragskunst zusammengedacht, die vor allem im Rezitativgesang eine größtmögliche Annäherung an die sprechkünstlerische Deklamation forderte, da der Notentext kaum die Nuancen der Ausführung festhalten könne: Da übrigens – wenn auch der Tonsetzer die vollständigste Kenntnis der Declamation besitzt, und sich bey der Composition des Recitativs ganz darnach gehalten hat – die üblichen Tonzeichen nicht hinlangen, um die Dauer der Töne immer in das vollständigst genaue Verhältniss mit der Declamation zu setzen, um die beynahe unzähligen Nüancen eines jeden Nachdrucks, eines jeden Accents, den ein Wort oft nur eine Sylbe erfordert, um jede kleine Pause, die nöthig ist, eine eingeschobene Phrase von der Haupt-Periode zu scheiden, u.s.f. dem Sänger mit jener Pünctlichkeit und Präcision vorzuzeichnen, dass er nur seinem Singpart mechanisch folgen dürfte, um immer und durchaus richig zu declamiren; so soll der Sänger, der es übernimmt, Recitative vorzutragen, auch ein vollendeter Declamator seyn, damit er nach seyner eigenen Beurteilung dasjenige durch seinen Vortrag ersetzen könne, was in der Composition genau anzugeben, wegen der unvollkommenheit der Notenschrift unmöglich war.114

Mit dieser Darlegung leistet auch Mosel einen Beitrag zum bereits angesprochenen, sich um 1800 formierenden Diskurs um die Deklamation als »Sprech-Ton-Kunst« (Kühn) und ihrem Verhältnis zur Musik. Seit 1814 erschienen in Wien etwa mehrere der Deklamationskunst gewidmete Werke des Leipziger Sprachgelehrten Johann Carl Wötzel.115 Besonders in einer erweiterten Version seiner umfassenden Deklamationslehre (1817) diskutiert Wötzel die Verbindung zwischen Deklamations- und Gesangskunst sowie – unter Bezugnahme auf Engels Ideen zu einer Mimik – deren Verbindung mit mimisch-gestischem Ausdruck. Dabei werden grundsätzlich die geläufigen Standpunkte des empfindsamen Diskurses aufgegriffen, die der Deklamation eine eigentümliche, über das bloße Rezitieren hinausgehende Wirkung auf die Seele attestieren: Die Declamation unterscheidet sich aber von der Musik und von dem Gesange theils durch Redetöne, Accente und Geberden, theils vorzüglich durch ihre Wirkung auf Verstand und Herz

113 Mosel, Versuch einer Aesthetik des dramatischen Tonsatzes, S. 37f. 114 Ebd., S. 73f. 115 Johann Carl Wötzel: • Grundriß eines allgemeinen und faßlichen Lehrgebäudes oder Systems der Declamation nach Schocher’s Ideen: für Dichter, Vorleser, Declamatoren, Redner, Lehrer und Kunstschauspieler aller Art, Wien 1814. • Grundriß einer pragmatischen Geschichte der Declamation und der Musik, nach Schocher’s Ideen: Herausgegeben auf vielfältiges Verlangen wahrer Sachkenner, z.B. selbst des unsterblichen Schiller’s und Reinhard’s, Wien 1815. • Dr. J. C. Wötzel’s Grundriss eines allgemein interessanten und fasslichen Lehrgebäudes oder Systems der Declamation überhaupt und der Mimik ins besondere, mit Anwendung ihrer Gesetze auf Musik, Poesie, Oper, Pantomimie und Ballet. Zweite Auflage, Wien 1817.

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zugleich, während Gesang und Musik vorzüglich und unmittelbar nur auf das Herz, auf Empfindungen und Gefühle aller Art, die übrigen Sprachkünste aber nur auf den Verstand unmittelbar wirken. Die Wirkung der Musik ist weder so klar, noch so bestimmt, als die der Declamation, weil die [Instrumental-] Musik keine lebendigen Sprach- und Redetöne, sondern blos der menschlichen Stimme nachgeahmte leblose Töne hat und daher ganz Sprache des Herzens [...] ist, folglich auf Verstand und Vernunft zugleich um so weniger wirken kann, je mehr sie mit dem Gesange, welcher gleichwohl sich lebendiger Stimmtöne, aber keiner Redetöne bedient, dennoch blose Empfindungssprache ist.116

Hier sind aus wirkungsästhetischer Perspektive überdies Verbindungen zu Goethes Begriff der »prosaischen Tonkunst« im Sinne eines ästhetischen Übergangs zwischen Gesang und Sprechen auszumachen, der eine Brücke zwischen Gefühl und Verstand zu schaffen in der Lage sei. Der ›lyrische Gesang‹ wird mit der die Stimme nachahmenden Instrumentalmusik auf eine Stufe gestellt und als rein emotionales Expressionsmedium angesehen. Signifikant in Hinblick auf Korrespondenzen mit der beschriebenen Auffassung Mosels ist Wötzels Verortung des Rezitativs als ›erhöhte Deklamation‹:117 Das Recitativ selbst steht in der Mitte zwischen der Declamation und dem Gesange, in welchem volle und gehaltende Töne sind, in der Sprache aber nicht ganz bestimmte und dabei auch hinschwebende, im Recitative dagegen bestimmte und mehr gesangartige als sprechbare Töne. Bei dem Recitative steigen die Gemüthsbewegungen in der Betonung [...]; sie lassen sich nicht hinschwebend, sondern stärker, gehaltener und in vollen Tönen vernehmen, so daß sie auf diese Art den Übergang von dem Recitative zum Gesange bilden, welcher alles lyrisch ausführt, was die Declamation in Tönen und Geberden blos hinschwindend und unbestimmter andeutet. 118

Die öffentliche, halböffentliche und häusliche Deklamationspraxis, an die sich derartige Lehrwerke richteten119, steht auch im Zusammenhang mit einigen als Aufführungsforen für Schuberts Lieder behandelten musikalisch-deklamatorischen Konzerten sowie Aufführungen in halböffentlichen Salons. Die Idee des ›lyrischen Gesangs‹, die – wie oben beschrieben – auf die Herdersche Idee einer gemeinsamen musikalischen Substanz von Sprache und Musik rekurrierte, konnte und sollte in solchem Rahmen durch die Deklamationskunst für Zuhörende mit der entsprechenden Rezeptionskompetenz gleichsam auf direkte Weise erfahrbar werden. Dies legt etwa, worauf bereits Michael Kohlhäufl hinwies120, die 1815 in Wien von Johann Ludwig Deinhardstein herausgegebene Gedichtanthologie Dichtungen für Kunstredner121 nahe − ein Werk, das explizit für den öffenlichen bzw. halböffentlichen Vortrag von Lyrik in Salons und auf Bühnen gedacht war, und in dessen Vorwort sich gleichfalls Bemerkungen zur klingenden Realisierung der Gedichte finden. Die 116 Wötzel, Grundriß (1817), S. 80. 117 Analog dazu beschreibt Wötzel das Ballet als erhöhte Pantomime: » [...] eben so erhebt sich auch der Schautanz (das Ballet) über das Geberdenschauspiel (über die Pantomime)«, ebd., S. 813. 118 Ebd., S. 637f. 119 Wötzel stellt seinem umfangreichen Werk ausdrücklich voran, daß die inzwischen omnipräsente Deklamationspraxis allererst noch einer korrekten Lehrmethode und Systematisierung benötige. Vgl. dazu auch Kühn, Sprech-Ton-Kunst, S. 100ff. 120 Kohlhäufl, Poetisches Vaterland, S. 93ff. 121 Johann Ludwig Deinhardstein, Dichtungen für Kunstredner, Wien 1815.

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Tatsache, daß auch Schubert dieses Buch offenbar besaß oder er zumindest darauf verwiesen wurde, da es eindeutig als Quelle für drei Vorlagen seiner Liedtexte belegbar ist122, liefert zumindest einen indirekten Hinweis auf Schuberts Kontakt mit bzw. sein Interesse an der zeitgenössischen Deklamationskunst.123 Die Praxis des Deklamierens dürfte dem Komponisten überdies auch aus den »Lesegesellschaften« der Freunde bekannt gewesen sein, die er gelegentlich besuchte. In Erinnerung zu rufen ist hier ferner der von Spaun mitgeteilte Bericht über den aus einem Buch deklamierenden Schubert, der wenig später den Erlkönig zu Papier gebracht haben soll: Diese anekdotische Szene wurde zunächst vielfach als Beweis für Schuberts unbewußt-›natürlichen‹ Schaffensprozeß rezipiert, steht aber deutlich mit einer bereits von Reichardt beschriebenen und auch von Schubert womöglich als Impuls genutzten produktionsästhetischen Strategie in Zusammenhang.124 Als dritter von der Deklamationskunst geprägter Bereich des Wiener Kulturlebens sind nicht zuletzt in die Sprechtheaterbühnen – vor allem das Burgtheater zu nennen, denn auch hier hatten sich die Schauspielreformen des 18. Jahrhunderts ausgewirkt.125 Goethes ›klassischer‹ Weimarer Stil und das hohe norddeutsche Pathos im tragischen Spiel wurden zwar vom Wiener Publikum schon vor dem Hintergrund einer größeren Beliebtheit des komischen Theaters eher abgelehnt126, 1801 und 1811 gastierte allerdings August Wilhelm Iffland in Wien, der bereits Goethes Schauspielästhetik maßgeblich beeinflußt hatte, was entsprechende Folgen zeitigte, und 1821 kam schließlich mit Heinrich Anschütz ein Künstler ans Burgtheater, der sowohl von Ifflands Spiel als auch durch den von Goethe geprägten ›Weimarer Idealismus‹ beeinflußt worden war und beide Richtungen in seinem Deklamationsund Darstellungsstil zu vereinigen wußte.127 Da Schubert als Theaterbesucher und gelegentlicher Theatermusikkomponist auch Kontakte zu Schauspielern wie Anschütz pflegte, dessen Deklamation er offenbar sehr bewunderte128, muß auch dieser 122 Es handelt sich um die Lieder Erlkönig D 328 (allerdings in abweichender Textfassung gegenüber Schuberts Vertonung), Die drey Sänger D 329 nach Johann Friedrich Ludwig Bobrik sowie Der Wanderer D 489 nach Schmidt von Lübeck (bei Deinhardstein fehlerhaft unter dem Titel Der Unglückliche Zacharias Werner zugeschrieben). Vgl. NGA, Serie IV, Bd. 1 (1972), S. 3ff; S. 130ff. und S. 149f. 123 Vgl. zu dieser These auch Kohlhäufl, Poetisches Vaterland, S. 93. Gudrun Busch spekuliert hingegen, daß Schubert womöglich Vorbehalte gegen die öffentlich auftretenden Kunstredner hegte, »die ja von der Sprechbühne ein Element der Öffentlichkeit mitbrachten, das das aus der Hausmusik stammende Klavierlied sich erst langsam erobern musste.« (dies., Zwischen Frauentaschenbüchern und Literaturkritik, S. 147). 124 Vgl. oben Kapitel 3.3.3, S. 72. 125 Zentral ist hier der Einfluß Friedrich Ludwig Schröders, einem ehemaligen Mitglied der Hamburger Entreprise, in deren Kontext Lessings Hamburgische Dramaturgie entstanden war. Vgl. Hadamowsky, Wien – Theatergeschichte, S. 296. Schröder war von der Spielzeit 1781/82 bis 1785 Mitglied des Burgtheaterensembles. Vgl. ebd., S. 270f. 126 Vgl. Morschel-Wetzke, Der Sprechstil der idealistischen Schauspielkunst, S. 84ff. 127 Zu einer Beschreibung des Weimarer Stils aus moderner theaterästhetischer Perspektive vgl. Heeg, Das Phantasma der natürlichen Gestalt, S. 381‒410. 128 Dok I, S. 464f.

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Bereich als mögliches Einflußgebiet für die Kompositionspraxis angesehen werden – wenngleich hier weitergehende Untersuchungen noch ausstehen.129 Schuberts Verhältnis zum Melodram als einer die Deklamationskunst bewußt einsetzenden musiktheatrealen Gattung muß indes als ambivalent eingestuft werden: Till Gerrit Waidelich betont, daß Schubert das Melodram als orchesterbegleitete Großform in Einklang mit den gängigen Tendenzen der Zeit eher ablehnte.130 Dies läßt der Komponist etwa in einem Brief an Friedrich Rochlitz durchscheinen, der sich 1827 von Schubert die melodramatische Vertonung seines Gedichts Der erste Ton erbeten hatte. Schubert ging dann allerdings – wenigstens tendentiell – dennoch auf Rochlitz’ Vorschlag ein, indem er vorschlug, erst ab der zweiten Hälfte des Gedichts eine Musikalisierung der Sprache vorzunehmen, woraus sich schließen läßt, daß er eine melodramatische Vertonung des ersten Teils durchaus erwogen haben mag.131 Zum anderen hatte Schubert bereits vorher melodramatische Techniken in etlichen musiktheatralen Werken – Des Teufels Lustschloß (1813/14, D 84), Die Zauberharfe (1820, D 644) und Fierabras (1823, D 769) – zur Anwendung gebracht und überdies die 1826 entstandene Vertonung von Adolf von Pratobeveras Gedicht Abschied von der Erde D 829 (wohl auf dessen Wunsch) als Melodram mit Klavierbegleitung angelegt.132 Die Theorie und Praxis der öffentlichen Deklamation in Salon und auf der Bühne verbindet sich als kultureller Kontext indes auch ungeachtet dieser Fragen auf einer grundsätzlichen Ebene sowohl mit den ästhetischen Prämissen der Musiktheaterkonzeption Mosels als auch mit der zeitgenössischen Lyrik- und Liedpraxis in exklusiver Halböffentlichkeit oder im Rahmen von öffentlichen Veranstaltungen. Derjenige Wiener Sänger, der den von der Deklamationskunst beeinflußten gesanglichen Vortragsstil offenbar in Perfektion repräsentierte, war der schließlich als ›Schubert-Sänger‹ prominent gewordene Tenorbariton Johann Michael Vogl – seit 1794 Ensemblemitglied der Hofoper am Kärntnertor.133 Auch Ignaz von Mosel galt der noch bei dem Kastaten Girolamo Crescentini ausgebildete Künstler als ideale Verkörperung des »wahren dramatischen Sängers«, zu dessen Ausbildungsprogramm neben dem sängerischen Training auch den Erwerb von Kenntnissen in ver-

129 Vgl. Montgomery, Schubert’s Music in Performance, S. 25, Anm. 51. 130 Till Gerrit Waidelich, »auf einen höheren Standpunct der Kunst gestellt« − B. A. Webers Melodram »Der Gang nach Eisenhammer« und seine kompositorische Aneignung durch Carl Loewe in der zeitgenössischen Rezeption. Ein Erklärungsmodell für Schuberts Probleme für Rochlitz’ Gedicht »Der erste Ton«?, in: Schubert und das Biedermeier, S. 185‒207. 131 Ebd., S. 186. 132 Vgl. den Überblick in: Peter Branscombe, Schubert and the Melodrama, in: Schubert Studies. Problems of Style and Chronology, hg. von dems./Eva Badura-Skoda, Cambridge 1982, S. 105‒141; außerdem: Madeleine Häuser, Das Melodram als Mittel der Durchkomposition in Schuberts »Fierabras« (D 769), in: SJb 1998/2 (2000), S. 25‒33. 133 Vgl. Andreas Liess, Johann Michael Vogl. Hofoperist und Schubertsänger, Graz [u. a.] 1954.

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schiedenen Fremdsprachen, Dichtkunst, Geschichte, Schauspielkunst, Musiktheorie sowie »das Studium der Ästhetik seiner Kunst« zählte.134 Den überlieferten Berichten zufolge soll Vogl diesen hochexklusiven Maßstäben entsprochen haben, und neben der im vorangehenden Kapitel behandelten Sopranistin Anna Milder wurde der Sänger gleichsam zum Flaggschiff der oben angesprochenen Bewegung um Mosel und das deutsche Ensemble am Kärntnertortheater. 135 In zahlreichen, Rezensionen und Artikeln verewigte Mosel, ähnlich wie im Fall Anna Milders, das mit seiner eigenen Hilfe maßgeblich konstruierte Bild Vogls als Repräsentant einer mustergültigen Gesangs-Darstellungskunst. Nicht zuletzt da Vogl neben seiner vornehmlichen Tätigkeit als Sänger gelegentlich auch als Schauspieler und Deklamator auftrat136, muß davon ausgegangen werden, daß dessen durch die zeitgenössische Deklamationskunst beeinflußter Gesangsvortrag nicht nur von Schubert (laut Bauernfeld erstmals 1813) wahrgenommen und bewundert wurde, sondern auch, daß, nachdem beide über die Vermittlung Schobers ab 1817 eine enge Zusammenarbeit begonnen hatten, Schuberts Kompositionen dem Sänger offenbar einen entscheidenden Impuls lieferten, die eigenen künstlerischen Ideale auch nach seinem Rückzug von der Bühne weiterhin im öffentlichen Vortrag zu pflegen. Die Vogl vertraute und mit Blick auf die Oper vor allem im rezitativischen Gesang zum Einsatz kommende sprachzentrierte Vortragsart ließ sich vielfach auch auf Schuberts Lieder mit ihrer eigentümlichen Verschränkung von lyrisch-ariosen und dramatisch-rezitativischen Elementen anwenden. Daraus resultierte letztlich offenbar ein spezifischer Stil, der in zeitgenössischen und rückblickenden Beschreibungen als neuartig aufgefaßt wurde und als mustergültige Demonstration sogenannten »deklamatorische[n] Gesang[s]« im kollektiven Gedächtnis des Wiener Musiklebens verblieb. 137 Kreißle hält in seiner 1865 erschienen Schubert-Biographie schließlich fest: Vogls eigentümliche Auffassung und die Art des Vortrages gewisser Lieder wird von all jenen, die noch Zeugen der Blütezeit dieses Künstlers waren, als unübertroffen und für alle Zeiten mustergültig hingestellt.138

Trotz zahlreicher Quellen und Rezeptionszeugnisse wird der »deklamatorische Gesang« allerdings in konkreter Hinsicht nur marginal rekonstruiert werden können. Eduard Traweger berichtet etwa aus seinen Erinnerungen über Vogls Erlkönig-Vortrag in Gmunden, dem er als Kind lauschte: »Ich erinnere mich auch ganz gut, daß 134 Mosel, Über die gewöhnliche Anwendung der Wörter. Methode und Kunst auf die Leistungen dramatischer Sänger, in: Lemberts Taschenbuch für Schauspieler und Schauspielfreunde auf das Jahr 1821, abgedruckt bei: Liess, Johann Michael Vogl, S. 112‒114. 135 Vor diesem Hintergrund dürfte es überdies kaum als zufällig einzustufen sein, daß von 1804 bis 1811 auch der, bereits eingehender behandelte, ehemalige Weimarer Hofsänger Johann Wilhelm Ehlers in den Jahren 1805‒1812 dem deutschen Ensemble am Kärntnertortheater angehörte. Vgl. Franz Hadamowsky, Wien – Theatergeschichte, S. 365. 136 Vgl. Liess, Johann Michael Vogl, S. 63 und S. 141 137 Vgl. Dok II, Nr. 75, 76, sowie Dürr, »Der Meister im deklamatorischen Gesange«. 138 Heinrich Kreißle von Hellborn, Franz Schubert, Wien 1865, S. 123f.

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Vogl im Erlkönig die Worte ›das Kind war tot‹ nicht sang, sondern sprach.«139 Nimmt man in den Blick, daß Schubert eben genau die Worte »in seinen Armen das Kind – war tot« in sämtlichen Fassungen ausdrücklich mit der Bezeichnung »Recit.« versah140, könnte Vogl hier also, in Einklang mit Mosels oben erläuterter Auffassung, in der Tat ein dramaturgisch motiviertes Umschalten zwischen den vokalen Ebenen Singen und Sprechen praktiziert zu haben. Wie und mit welchen Zwischenabstufungen Vogl indes diesen auch in nahezu allen zeitgenössischen Deklamationslehren vieldiskutierten und durch Warnungen problematisierten Übergang genau behandelt hat, und ob er dabei tatsächlich, wie Trawegers Erinnerungen nahelegen, auch bis zu einer melodramatischen Vortragsweise ging, ist indes verklungen. Trawegers Überlieferung würde aber in jedem Fall dafür sprechen, daß Mosels theoretisch fixierte Auffassung des Rezitativischen, die das Ideal eines Mittelwegs zwischen Sprechen und Singen im Rezitativ vorsah, hier tatsächlich verwirklicht wurde. Gerade der von Vogl 1821 erstmals in der Öffentlichkeit und auch in den Jahren danach häufig aufgeführte Erlkönig verweist indes darauf, wie sehr Schubert seine Anforderungen an den gesanglichen Vortrag zu differenzieren wußte und welche verschiedenen Ebenen der »deklamatorische Gesang«, der in der zeitgenössischen Rezeption bezeichnenderweise nicht nur als vortragsästhetische Kategorie, sondern auch als Gattungsbezeichnung für Schuberts Komposition auftaucht141, umfaßt haben muß: Hier herrscht etwa gerade nicht ein, sich an Goethes Metrik anlehnender, rezitativischer Stil vor, wie dies z. T. in früheren Kompositionen etwa Corona Schröters oder der Berliner Liederschule umgesetzt wurde, sondern eine deklamatorische Überhöhung der metrischen Vorgabe Goethes durch charakteristische Dehnungen142, die den vom Dichter intendierten onomapoetischen Charakter der metrischen Anlage gänzlich außer Kraft setzen. Ausgerechnet mit Auftreten des Erlkönig selbst entscheidet Schubert sich dann für eine betont ariose Gestaltung143 und bietet damit einen charakteristischen Gegensatz zum in den zeitgenössischen Deklamationslehren in der Regel im Sinne eines expressiven Codes geforderten ausdrucksarm-hohlen »Geisterton«144 auf. An dessen musikalischer Umsetzung mag sich etwa womöglich noch Johann Friedrich Reichardts Vertonung von 1794 orientiert 139 Eduard Traweger in der Neuen Freien Presse Wien, 30. März 1902, zitiert bei Dürr, »Der Meister im deklamatorischen Gesange«, S. 26. Dürr weist zudem darauf hin, daß Trawegers Berichte sich auf eine zeitliche Periode beziehen, in der Vogl noch nicht mit stimmlichen Defiziten zu kämpfen hatte wie zu späterer Zeit, sondern nach Schuberts eigener Auskunft beim Liedvortrag mit dem Komponisten »eins wurde«. 140 Vgl. NGA, IV: Bd. 1a, S. 9; Bd. 1b, S. 179, S. 186, S. 193. 141 Vgl. Dok II, Nr. 76: »Hr. Vogl sang den Erlkönig, eine Composition des Herrn Schubert, welche durch den früheren Vortrag des Hrn. Vogl schon vielen Credit, besonders aber viel Beyfall in Privatzirkeln sich erworben hatte. Hr. Vogl weiß sehr gut mit solchem declamatorischen Gesange umzugehen, und erntete viel Beyfall.« 142 Die den Grenzbereich zum Gesangston anpeilende Dehnung der Töne wird etwa bei Seckendorff unter dem Stichwort »Portament« auch als Stilmittel der sprechsprachlichen Deklamation angeführt: Vgl. Kühn, Sprech-Ton-Kunst, S. 92‒94. 143 Vgl. auch Arnold Feil, Goethes und Schuberts »Erlkönig«, in: SJb 2000/2002 (2004), S. 3‒14. 144 Kerndörffer, Handbuch der Deklamation, S.24. Vgl. auch Seckendorff, Vorlesungen, S. 299f.

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haben, die dem Singenden durch eine im Bereich der Sprechlage angesiedelte Tonhöhe die Möglichkeit bietet, Nuancen der gesprochenen Deklamation in den Gesangsvortrag zu integrieren, während die melodische Linienführung der Begleitung überlassen bleibt (vgl. Notenbeispiele 6 und 7):145

Notenbeispiel 6: Franz Schubert, »Erlkönig« D 328 (NGA IV, Bd. 2a, S. 26, Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Bärenreiter-Verlags Kassel)

Notenbeispiel 7: Joh. Friedrich Reichardt, »Erlkönig«, aus: »Goethes Lieder, Oden, Balladen und Romanzen mit Musik«, Teil 2 (»Das Erbe deutscher Musik«, Bd. 59, S. 2, Abdruck mit freundlicher Genehmigung des G.-Henle-Verlags München)

145 Loewes Vertonung von 1818 bietet eine Verbindung beider Ideen, indem er die melodischen Konturen komplett auflöst und den Erlkönig gleichsam aus einem ungeformte Naturhaftigkeit symbolisierenden Dreiklangraum heraus unheilvoll wispern läßt.

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Wie oben bereits erwähnt, ist in Schuberts Vertonung der Schluß der Ballade (wo Vogl nach Auskunft Trawegers den Bruch vom Singen ins Sprechen wagte) ausdrücklich mit »Recit.« bezeichnet, was in jedem Fall darauf hindeutet, daß (und dies gerade mit Blick auf die Lieder146), auch Schuberts Rezitativbegriff durchaus den ästhetischen Bezugspunkt der zeitgenössischen sprechkünstlerischen Deklamation gehabt haben könnte. In diese Richtung weisen etwa auch kompositorische Techniken, wie sie beispielsweise in der unmittelbar vor Gretchen am Spinnrade entstandenen Matthisson-Vertonung Der Geistertanz D 116 auftreten: Grundsätzlich herrschen hier zwei voneinander unterscheidbare deklamatorische Strukturen vor, wobei die erste, in den Außenstrophen verwendete, eben nicht rezitativisch angelegt, sondern durch einen bald stolpernd punktierten, bald tänzerisch durchschwingenden Sechsachtelrhythmus charakterisiert ist. Durch die tiefe Lage, in die Schubert die Singstimme setzt, wird indes auch hier als Ausführungsmodus ein ›geisterhaft‹ flüsterndes Deklamieren suggeriert.147 Das Rezitativ im engeren Sinn nutzt Schubert dann im Mittelteil, um die realen Beobachtungen eines erlebenden Ich von den zuvor geschilderten Vorgängen innerhalb der Geisterwelt abzusetzen.148 Dazu wendet er im folgenden melodramatische Techniken an: Tonmalerische Einsprengsel, die sowohl das Huschen der Geister als auch das Flattern der Raben abbilden, wechseln mit freier rezitativischer Gestaltung durch die Singstimme ab und bewirken so dramatisierend-realistische Effekte:

Notenbeispiel 8: Franz Schubert, »Der Geistertanz« D 116 (NGA IV, Bd. 7, S. 53, Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Bärenreiter-Verlags Kassel)

146 Joachim Kramarz, Das Rezitativ im Liedschaffen Franz Schuberts, Berlin 1959. 147 Schuberts Handschrift betont sempre pp und erhält ansonsten nur wenige dynamische Vorgaben, was der Verleger offenbar monierte. Vgl. NGA IV, Bd. 7, S. XIV. 148 Vgl. Kramarz, Das Rezitativ im Liedschaffen Franz Schuberts, S. 52.

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Weitere Beispiele für die Verwendung des deklamatorischen Stils zum Zweck dramatisierender Steigerung finden sich auch in einigen Liedern des Liederzyklus’ Die Schöne Müllerin. In Nr. 2 (Wohin?) etwa integriert Schubert eine rezitativische Episode bei durchgehender figurativer Klavierbegleitung bruchlos in einen liedhaftariosen Kontext: Nachdem der Müllerbursche scheinbar aus einer Laune beschlossen hat, entlang eines Baches zu wandern – von Schubert mit einem von schwungvoller Dreiklangsmelodik geprägten, gleichsam Harmlosigkeit vortäuschenden Wanderlied vertont – beginnt er zu zweifeln: »Ist das denn meine Straße? O Bächlein, sprich, wohin? Wohin, sprich, wohin?« (Notenbeispiel 9):

Notenbeispiel 9: Franz Schubert, »Wohin?«, aus »Die schöne Müllerin« D 795 (NGA IV, Bd. 2a, S. 26, Abdruck mit freundl. Genehmigung des Bärenreiter-Verlags Kassel

Die von Schubert eigenmächtig vorgenommene mehrfache Wiederholung der Frage »Wohin?« fordert eine nuancierte, lebendig erzählende sängerische Textgestaltung geradezu heraus.149 Die deklamatorische Struktur bewirkt auch hier, harmonisch gestützt durch den unentschlossen pendelnden phrygischen Sekundschritt c - h im Klavierbaß, eine dramatisierende Zuspitzung der eigentlich lyrisch grundierten Situation. Weitere grundsätzliche Techniken Schuberts, die den Sänger oder die Sängerin auffordern, zwischen den hier beschriebenen Ebenen zu variieren, finden sich in zahlreichen Liedern, die eine Ausgestaltung deklamatorischer Nuancen über Liegeakkorden oder über einer bei rhythmischer Gleichförmigkeit in erster Linie harmonisch geformten Struktur erlauben. Durch agogisch modifizierbare repetierte Akkorde oder Doppelgriffe, Tremoli oder präludierend anmutende Figurationen wird etwa die freiere, differenzierende Textgestaltung begünstigt.150 Die unterschiedliche Gewichtung der verschiedenen Abstufungen eines eher rezitierenden, 149 Vgl. dazu auch: Kurt Wichmann, Vom Vortrag des Rezitativs und seiner Erscheinungsformen, Leipzig 1965, S. 131f. 150 Ebd. S. 130.

5.2 Kontexte und Diskurse

169

eher deklamierenden oder fließend gesungenen Vortragsmodus lag (und liegt) allerdings letztlich in den Händen des Singenden selbst. Sowohl Vogls »Singbücher«, in denen er zum praktischen Gebrauch Abschriften von der Gesangsstimme einiger Schubert-Lieder anfertigte151, als auch die mit seiner Mitwirkung in Zusammenhang gebrachte ›Diabelli-Ausgabe‹ der Schönen Müllerin von 1830152 weisen an einigen Stellen neben Abänderungen der Tonhöhen und eingefügten Verzierungen auch prägnante deklamatorische Eingriffe auf, deren Notation letztlich aus dem beschriebenen Vortragsstil resultieren könnten.153 Wie an diesen Beispielen deutlich wird, kombiniert der von Schubert häufig in seinen Kompositionen angelegte und von Vogl praktizierte Stil nach diesem Verständnis den ›erzählenden‹, rezitativischen Sprechgesang sowohl mit der pathetisch gehobenen, ›darstellenden‹ musikalischen Deklamation als auch mit dem arios-fließendem Gesang. Betrachtet man also Vogls gesangsästhetische Auffassung im Licht ihrer zeitgenössischen Rezeption sowie Schuberts kompositorischer Techniken, so ließe sich Begriff des »deklamatorischen Gesangs« weniger als spezifischer vortragsästhetischer Modus im Sinne etwa eines durchgehenden Sprechgesangs, sondern − ähnlich wie der Begriff der ›Deklamation‹ im Kontext der Sprechkunst, als Universalbegriff gebraucht wurde − als übergeordnete expressive Haltung beschreiben, die grundsätzlich auf eine differenzierte vokalkünstlerische Gestaltung des als zentral angesehenen dichterischen Textes abhob. Wie dies auch für die Liedpraxis im Umkreis Goethes dargestellt wurde, konnte diese Haltung letztlich sowohl auf die verschiedenen Formen der rezitativischen als auch auf die ariose Stilebene bezogen werden: Die Wiener Zeitung betont entsprechend 1821 anläßlich Vogls Gestaltung des Propheten Daniel in einer Aufführung des Oratoriums Baals Sturz von Joseph Anton Weigl: »Das ist im Rezitativ und in der Arie vollendeter declamatorischer Gesang«.154 Als besonders gewichtiger Referenzrahmen für diese zeitgenössische Kategorie des »deklamatorische Gesangs« können vor allem die Gestaltungsprämissen der sprechkünstlerischen Deklamation aufgefaßt werden, in deren Kontext der von Vogl praktizierte deklamatorische Gesang letztlich einen komplexen sowohl 151 Dürr, Das deutsche Sololied im 19. Jahrhundert, S. 40ff. 152 Schubert, »Die schöne Müllerin«. Faksimile der bei Anton Diabelli & Co. erschienenen Ausgabe von 1830, hg. von Walther Dürr, Kassel [u. a.] 1996. 153 Zu einer neueren Diskussion der Details dieser Abweichungen vgl. Joseph R. Matson, Johann Michael Vogl’s Alterations to Schubert’s »Die schöne Müllerin«. Master’s Thesis University of Iowa 2009, S. 72‒95. Gerade im rückblickenden Vergleich mit der an früherer Stelle beschriebenen Praxis der sängerischen Strophenliedmodulationen verweisen etwa die in aufführungspraktischem Kontext vieldiskutierten Beispiele aus der Schönen Müllerin mit ihren deklamatorischen Zuspitzungen deutlich auf eine in spezifischer Weise auf dramatische Effekte ausgerichtete theatrale Praxis. Wenngleich auf eine gemeinsame vortragspraktische Konvention rekurrierend gehen Vogls deklamatorische Eingriffe insofern letztlich über die beschriebenen Modifikationen der in Goethes Umkreis praktizierten Variationspraxis von Strophenliedern, wie sie Wilhelm Ehlers in seiner Liedausgabe von 1817 versuchte, idealtypisch festzuhalten, hinaus. 154 Allgemeine Wiener Theater Zeitung, Nr. 43 (1821) zitiert nach Liess, S. 119.

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5 Gesangsideale der Schubert-Zeit

Stimm- als auch Körpergebrauch155 umfassenden vokalkünstlerischen Vortragsstil repräsentierte. Dieser Stil hob sich offenbar durchaus von den Gepflogenheiten des zeitgenössischen Rezitativgesangs ab, der seinerseits zusehends von der Tendenz einer Kantabilisierung gepaart mit erheblichen rhythmischen Lizenzen und Tempodehnungen und sogar Integration von Verzierungen bestimmt wurde.156 Bauernfeld konstatiert entsprechend ein Jahr nach dem Tod des Sängers in der Wiener Allgemeinenen Theaterzeitung: Im Gesang verfolgte Vogl mit strenger Konsequenz und mit vollem Bewusstsein den einzig richtigen Weg der dramatischen Sangeskunst.Vogl besaß ein feines Ohr für den Rhythmus der Verse und hatte das seitdem, wie es scheint, verloren gegangene Geheimnis des rezitativen Vortrags vollkommen inne.157

Vogls nach Auskunft Bauernfelds und Mosels in den letzten zehn Jahren nach Schuberts Tod verfaßte Skizze zu einem »Lehrbuch für den deklamatorischen Gesang« ist nach Angaben Otto Erich Deutschs verschollen und konnte bis heute nicht aufgefunden werden. 158 Die Forderung Vogls nach einer »Singschule«, um dem Vortrag von Schuberts Liedern gerecht zu werden, sollte indes wohl kaum, wie Thrasybulos Georgiades annahm, die eigene künstlerische Unangemessenheit

155 Dabei muß außerdem davon ausgegangen werden, daß der als ›Meister der Mimik‹ ausgewiesene Vogl, dem zeitgenössischen Begriff des deklamatorischen Vortrags entsprechend, Mimik und Gestik auf eine als angemessen betrachtete Weise sowohl bei seinen Darbietungen auf der Bühne als auch im halböffentlichen Rahmen einbezog. Die diesbezügliche Forschung steckt indes noch in den Anfängen. Margit Legler und Reinhold Kubik, die sich um eine praktische Umsetzung und Anwendung historischer Mimik und Gestik im Dienst der historischen Aufführungspraxis bemühen, haben etwa unter Rückgriff auf Gilbert Austins Rhetorik- bzw. Schausspiellehre Chironomia (1806) eine hypothetische gestische Darstellung des SchubertLiedes Der Tod und das Mädchen vorgenommen und eine dramatisierende Darstellung mit Hilfe codifizierten Gestenrepertoires inszeniert. Vgl. Legler/Kubik, »In einer edlen Leibesstellung« [...]. Die nachträgliche Verschriftlichung dieses Versuchs birgt indes das nicht unerhebliche Problem, daß Übergänge zwischen den einzelnen Stellungen nicht fixierbar sind. Grundsätzlich scheint überdies zu wenig beachtet, daß die verschiedenen Mimik- und Gestikquellen im Kontext jeweiliger spezifischer Reformprozesse und damit verbundener ›Schulen‹ innerhalb der Entwicklung der Schauspielkunst im 18. und 19. Jahrhundert betrachtet werden müssen, was eine direkte Anwendung der Chironomia auf das Wien der Schubert-Zeit erschwert. Christine Pollerus weist etwa darauf hin, daß Austins Traktat in Wien offenbar kaum rezipiert wurde. Vgl. dies., »Zeichen der innern Empfindung«. Zur Gestik in der Wiener Oper 1800–1850, in: Sänger als Schauspieler. Zur Opernpraxis des 19. Jahrhunderts in Text, Bild und Musik, hg. von Annette Schaffer [u. a.], Schliengen 2014, S. 124–141, S. 126. 156 Vgl. Ivana Rentsch, »Der natürliche Ausfluss des Unmusikalischen«. Zum Rezitativ in der Vokalmusik des 19. Jahrhunderts, in: Zwischen schöpferischer Individualität und künstlerischer Selbstverleugnung. Zur musikalischen Aufführungspraxis im 19. Jahrhundert, hg. von Claudio Bacciagaluppi [u. a.], Schliengen 2009, S. 37‒48. 157 Eduard von Bauernfeld, Aus Alt- und Neu-Wien (1873), zitiert nach: Erik Werba, Historisches und Aktuelles zur Interpretation des Schubert-Liedes, in: ÖMz 27 (1972), S. 195. 158 EF, S. 260.

5.2 Kontexte und Diskurse

171

ihnen gegenüber zum Ausdruck zu bringen159, sondern vielmehr die Möglichkeit schaffen, die Lieder stärker zu popularisieren – denn Lehrwerke richteten sich letztlich nicht an professionelle Künstler. Nach Vogls Ansicht konnte vielmehr nur eine Vortragsweise Schuberts Lieder adäquat verwirklichen – nämlich diejenige, die er selbst praktizierte. Der Mangel, den Vogl anspricht, verweist daher in erster Linie auf die Kunst einer differenzierten Behandlung der Sprache beim Gesang. Die hier dargestellten aufführungspraktischen und vortragsästhetischen Prämissen gehörten, wie man abschließend betonen muß, letztlich zu Schuberts künstlerischem Horizont – spätestens seit seinen ersten Theaterbesuchen. Die Verbindung mit Vogl hatte zwar für den jungen Komponisten zweifelsohne in erster Linie eine repräsentative, ›imagefördernde‹ Bedeutung, wie an der zeitgenössischen Reaktion der Öffentlichkeit deutlich abzulesen ist.160 Nicht zuletzt stand aber auch Schuberts eigene musikalische Schulung im Konvikt – und dies vor allem durch Salieri – in Zusammenhang mit der von Mosel vertretenen ästhetischen Partei. Andreas Mayer weist zwar mit Recht darauf hin, daß eine lehrbuchhafte Aneignung und Umsetzung der normativen Moselschen Ästhetik für einen Komponisten wie Schubert ohnehin indiskutabel gewesen wäre. Doch selbst, wenn Schubert Mosels Versuch einer Ästhetik des dramatischen Tonsatzes gar nicht bekannt gewesen sein sollte, steht die Frage eines denkbaren ideellen Einflusses zur Debatte, der Schubert grundsätzlich in die Nähe der ›patriotischen Opernbewegung‹ rückt.161 Lenkt man den Blick darauf, daß sich auf längere Sicht ein Scheitern der Moselschen Bestrebungen zugunsten der italienischen Oper abzeichnete162, und auch die von Schubert für das Kärntnertortheater komponierten Opern wohl letztlich wegen mangelnder Protektion nicht zur Aufführung gelangten163, scheint es durchaus plausibel, daß namentlich jene sich um Mosel versammelnde Kennerschaft in Schuberts Liedkompositionen auch eine Art kompensatorisches Potential wahrnahm. In Mosels eigenem Salon mag das Lied Schuberts insofern durchaus zur »von den aus Opernund Konzertsaal vertriebenen Kennern geweihten Gattung« geworden sein.164 In seinen Berichten über Die Tonkunst in den letzten fünf Dezennien, die ab 1841 in der Wiener allgemeinen Musikzeitung erschienen, webt Mosel Schubert und seine Liedkompositionen auf jeden Fall nochmals demonstrativ in die hier dargestellte thematische Konstellation ein: Seine rückblickend geübte Kritik am durch einen Wiener Auftritt der italienischen Starsopranistin Angelica Catalani hervorge 159 So etwa Georgiades in: Schubert. Musik und Lyrik, S. 143: »Schon Vogl stellte also fest, daß der Kunstsänger nicht über das Rüstzeug und die Anlage verfügt, den Liedern von Schubert gerecht zu werden.« 160 Rückblickend resümiert Anton Steinbüchel vom Rheinwall gegenüber Ferdinand Luib im April 1858: »Schubert konnte sich seiner Schöpfungen freuen; aber wie Vogl seine Lieder sang, das begründete zuerst den Ruf Schubertscher Lieder.« Steinbüchel zitiert nach Liess, Johann Michael Vogl, S. 192f. 161 Vgl. Antonicek, Schubert und die patriotische Opernbewegung, S. 39. 162 Vgl. Mayer, »Gluck’sches Gestöhn«, S. 183f. 163 Vgl. Hinrichsen, Franz Schubert, S. 68‒78. 164 Vgl. Mayer, »Glucksches Gestöhn«, S. 194.

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5 Gesangsideale der Schubert-Zeit

rufenen »Variationsfieber« während der 1820er Jahre hebt Schuberts Lieder ostentativ als Repräsentation einer Art substanzvollen Gegenkultur und damit auch jenes »echtdeutscheste[n] Gesang[s]« hervor, der bereits in Bezug auf die Sopranistin Anna Milder-Hauptmann thematisiert wurde. Außerdem wird insbesondere die angebliche Bedeutung Vogls für die Entstehung von Schuberts Liedkomposition nachdrücklich betont: Gleichsam um jenen Mißbrauch der edlen Menschenstimme desto fühlbarer zu machen, tauchten um dieselbe Zeit, oder bald nachher, Franz Schubert’s sinn- und gemüthvolle Lieder auf. Es ist der schlagendste Beweis ihrer Vortrefflichkeit, daß diese einfachen, bloß auf Gefühl und Audruck basierten Gesänge in jenen Tagen des Variationsfiebers so schnell sich verbreiteten und sobald beliebt wurden. [...] Sosehr man aber diese Compositionen überall kennt und liebt, wo noch Sinn für die Verbindung der beiden Schwesterkünste, Dichtung und Musik, sich erhalten hat, ist es doch außerhalb Wien Wenigen bekannt, woher der Impuls eigentlich kam, welchem man sie zu verdanken hat. Schubert, damals noch scheinbar unbedeutend, hatte das Glück, sich gleich im Anfange seiner Laufbahn die Zuneigung des [...] Hofopernsängers Vogl, dieses, ohne Widerrede, ersten declamatorischen Sängers unserer Zeit zu gewinnen. Des jungen Tonsetzers ausgezeichnetes Talent würde sich jedenfalls Bahn gebrochen haben; ob es aber ohne jenen Freund und Rathgeber die Richtung würde genommen haben, in welcher es zu solcher Bedeutung gelangte, ist mehr als zweifelhaft. Vogl leitetet seine Wahl in Beziehung auf die Gedichte, declamierte ihm die Gedichte mit dem ihm eigenen hinreißendne Ausdrucke vor, der den Componisten schon auf die passendste Melodie zu führen geeignet war. [...].165

Das ›Lied‹ als musikalische Gattung bleibt indes, wie hier deutlich wird, in Einklang mit der vorherrschenden Tendenz der Zeit, auch für Mosel weitgehend von den Prämissen des 18. Jahrhunderts bestimmt. In dieser Inszenierung der eigenen Perspektive bleiben auch Schuberts Lieder eng mit eben diesen Prämissen verbunden und erscheinen daher in der reduzierten Gestalt »einfacher«, »bloß auf Gefühl und Ausdruck basierten Gesänge«. Kaum überraschend erscheint mithin, daß Mosel selbst ein eher konservatives liedästhetisches Konzept favorisierte, wie die Liedkompositionen aus seiner eigenen Feder verraten.166 Johann Michael Vogl, der für Mosel die uneingeschränkt ›wahrhaftige‹ Verkörperung seiner musiktheaterästhetischen Ideale darstellte, entdeckte dagegen aus seiner persönlichen Perspektive in Schuberts Liedern gewissermaßen neue Horizonte und Möglichkeiten für die eigene künstlerische Praxis, die in den Opern des jungen Komponisten kaum in vergleichbarer Weise aufzufinden waren.

5.3 DER LIEDVORTRAG: ÄSTHETISCHE KONTROVERSEN Schubert sah Lied und Oper, wie auch die hier diskutierten Beispiele illustrieren, offenbar grundsätzlich in einem kompatiblen Verhältnis zueinander. Immer wieder integriert er die verschiedenen Gattungs- und Stilmodelle aus beiden Bereichen und 165 Mosel, Die Tonkunst während der letzten fünf Decenien, S. 566. 166 Vgl. dazu Biba, Goethe in the Viennese Musical Scene of his Era, S. 26. 1820 erschienen etwa Mosels Sechs Gedichte für eine Singstimme mit Begleitung des Pianoforte, in Musik gesetzt und Herrn Michael Vogl k.k. Hofopernsänger gewidmet auf Texte Goethes.

5.3 Der Liedvortrag: ästhetische Kontroversen

173

entwirft so ein »Gesamtgefüge vokaler Charakterisierungsmöglichkeiten«.167 Zu Recht weist Susanne Rode-Breymann darauf hin, daß Schuberts Arbeit an Opernprojekten die Liedproduktion keineswegs in den Hintergrund gedrängt hat – neben den musiktheatralen Werken Die Verschworenen D 787 und Fierabras D 796 begann Schubert im ›Opernjahr‹ 1823 etwa mit dem Zyklus Die schöne Müllerin D 795 eines seiner Hauptwerke.168 Daß Schubert also verschiedenste stilistische Momente – vor allem die strukturellen Kategorien des Rezitativischen und Ariosen – auf intrikate Weise miteinander verschmilzt, ist bereits ein von der älteren wie neueren einschlägigen Forschung hinlänglich diskutierter analytischer bzw. stilkundlicher Befund.169 Mit Blick auf die Liedkompositionen wird in diesem Kontext außerdem besonders die Rolle des Klaviers hervorgehoben.170 Manfred Wagner resümiert etwa, daß »Schuberts Lieder im theatralischen Geschehen wurzeln, das durchaus opernverwandt ist, auf kleinstem Raum stattfindet, aber nicht so sehr in der Vokalität der Singstimme, die nur selten rezitativischen Charakter erreicht, sondern im dialektischen Begleitapparat, der der Motor der Geschichte ist, nicht ihr folgt.« 171 Die Frage indes, wie dieses Faktum einer strukturellen Dramatisierung bzw. Theatralisierung des Liedes durch Schubert im Verhältnis zur vortragsästhetischen Dimension eingestuft werden sollte, wird bis heute kontrovers diskutiert. Zwar läßt sich vor dem Hintergrund dieses analytischen Befunds aus Sicht der Literatur- und Musikwissenschaft auf einer theoretischen Ebene zwischen »kompositorischem Aufbau« und »Vortragsart« trennen.172 Praktisch gesehen fordert Schuberts »Empfinden der Musik aus der Deklamation, aus dem Text, aus der Szene heraus« 173 die Musizierenden indes immer wieder dazu auf, sich während der Darbietung auf einen schmalen Grat zwischen dramatisierender Identifikation bzw. ›Belebung‹ von in musikalischem wie literarischem Text gleichsam geronnenen emotionalen Zuständen und der Wahrung eines kulturell codierten Rahmens des ›Liedhaften‹ zu 167 Susanne Rode-Breymann, Schuberts »Sieben Gesänge aus Walters Scotts Das Fräulein vom See« op. 52. Kulturhistorische Zusammenhänge und gattungsübergreifende Tendenzen der zyklischen Anlage, in: SJb 1997 (1999), S. 32. 168 Ebd. S. 31. 169 Vgl. etwa grundlegend: Marjorie Wing Hirsch, Schuberts Dramatic Lieder, sowie daran anknüpfend: Marie-Agnes Dittrich, »Für Menschohren sind es Harmonien«. Die Lieder, in: SHb, S. 142‒267, S. 148f; außerdem: Thomas Seedorf, Deutsche Lyrik und italienische Oper. Goethes Willkommen und Abschied in Schuberts Vertonung, in: SJb 2000‒2002 (2004), S. 15‒34. 170 Vgl. dazu: Edward T. Cone, The Composer’s Voice, Berkeley 1982; außerdem Dittrich, »Für Menschohren sind es Harmonien«, S. 151f. 171 Manfred Wagner, Franz Schubert. Sein Werk – sein Leben, Wien 1996, S. 44. 172 Vgl. Hans Joachim Kreutzer, Liedkunst und Dichtkunst – Franz Schubert und die Dichter, in: SJb 1997 (1999), S. 17: »Man ginge nicht zu weit, wollte man den Schubertliedern einen dramatischen Charakter zuschreiben. [...] Der Sänger des Liedes befindet sich stets auf einer imaginären Bühne, vor einem gedachten Zuhörerkreis. Er singt keineswegs in einen leeren Raum, sondern wendet sich stets an ein plurales Gegenüber. In solchem Sinne sind Schuberts Lieder bühnengemäß gedacht. Aber das ist ein Aspekt ihres kompositorischen Aufbaus; es betrifft nicht die Vortragsart, der Liedsänger sollte nicht etwa cum actione auftreten. [...]« 173 Hartmut Krones in: MusikzeitGespräch ›Liedinterpretation‹, in: ÖMz 52 (1997), S. 7.

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5 Gesangsideale der Schubert-Zeit

begeben – ein Problem, das in besonderem Maße mit dem spezifischen Zuschnitt zahlreicher Schubertscher Lieder in Verbindung zu bringen ist.174 Eine Profilierung dieser Fragen aus historischer Perspektive kann indes verdeutlichen, daß die aus späterer Perspektive als ›theatralisch‹ kritisierten vortragsästhetischen Lizenzen, mit denen sich gerade Vogl immer wieder den Liedern Schuberts näherte, im Licht eines zeitgenössischen Verschiebungsprozesses hinsichtlich der Relation von Komponist, Vortragendem und Notentext zu betrachten sind. Aus heutiger Sicht wird der Unterschied der Lieder Schuberts zu denjenigen des späteren 18. Jahrhunderts gemeinhin über die rein kompositionstechnische Ebene hinaus am Status des Notentextes festgemacht: Freiheiten, die im 18. Jahrhundert ausschließlich dem ›Interpreten‹ zustanden, seien jetzt »Sache des Komponisten« formuliert etwa Thomas Seedorf unter stillschweigender Bezugnahme auf einen im Laufe des 19. Jahrhunderts sich vollziehenden Kulturwandel, der den ausführenden Musiker vom selbstbezogenen ›Virtuosen‹ zum textbezogenen ›Interpreten‹ umformte, und den auch Christiane Schumann selbstverständlich bereits auf Schuberts Lieder und deren Vortrag bezieht.175 Wenn allerdings der Begriff des ›Interpreten‹ und seine Beziehung zum ›Werk‹ respektive ›Text‹ in der hier eingenommenen Perspektive selbst historisiert werden soll, gilt es zu differenzieren: Zwar bringen als ›Opera‹ veröffentlichte Lieder Schuberts Streben nach einer Auffassung des eigenen Komponierens als ›autonomer‹ künstlerischer Leistung zum Ausdruck, die Funktion des (zur klanglichen Verwirklichung der Werke notwendigen) Vortragenden aber läßt sich mit Blick auf die Schubert-Zeit nicht in dem Maße als die eines textauslegenden ›Interpreten‹ beschreiben wie die obigen Einschätzungen suggerieren.176 Vielmehr befand sich die Relation zwischen Komposition und Aufführung, wie ein Seitenblick auf die Geschichte des musikalischen Werkbegriffs verdeutlichen kann, an einem Übergangspunkt: Die ›empfindsame‹ Ästhetik des späten 18. Jahrhunderts betrachtete die Musik in erster Linie im Kontext des musizierenden und rezipierenden Menschen – als Medium des Selbstausdrucks. Angesichts der Flüchtigkeit des musikalischen Erlebnisses wurde allerdings an einer ›Werkfähigkeit‹ der Musik durchaus gezweifelt – Kant spricht in einer berühmten Passage aus der zwischen 1790 und 1797 mehrfach aufgelegten Kritik der Urteilskraft der Musik sogar gleichsam offiziell einen Werkcharakter ab, da sie »nur von transitorischem Eindrucke« sei.177 Demgegenüber bemüht sich Christian Gottfried 174 Schuberts Verletzung der gattungsästhetischen Grenzziehungen rief dementsprechend immer wieder Irritationen hervor. Über die 1827 veröffentlichen Opera 56 und 57 äußerte sich der Frankfurter Allgemeine Musikalische Anzeiger: »Wohlgeschriebene Musik, von der wir jedoch eine besondere Innigkeit namentlich nicht eben rühmen können. Diese Art Gesänge ist zu künstlich für das echte deutsche Lied und zu einfach, dass man sie dramatisch nennen könnte.«, zitiert nach Biehle, Schuberts Lieder in Kritik und Literatur, S. 5. 175 Vgl. Christiane Schumann, Die Rolle der Gesangsschulen für Schuberts Vokalwerke, in: SJb 1996, S. 113. 176 Zu Schuberts Liedern als Gegenstand ›musikalischer Interpretation‹ im 19. Jahrhundert siehe Kapitel 8.1. 177 Imanuel Kant, Kritik der Urteilskraft, in: Werke in sechzehn Bänden, hg. von Wilhelm Weischedel, Darmstadt 1975, § 53, S. 433.

5.3 Der Liedvortrag: ästhetische Kontroversen

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Körner mit dem bereits angesprochenen Konzept des musikalischen Charakters der ›Gefühlssprache Musik‹ eine über die expressive Funktion hinausweisende Dimension zu erschließen.178 »Nicht richtige Menschen«, so Körner, »drücken sich in Klanggebilden aus, sondern Abstraktionen, Idealisierungen, eben Charaktere.«179 Körners Idee des musikalischen Charakters gilt als Leitkategorie einer klassischen Werkästhetik, als »werkhaft gefaßte[r] Ausdruck«180 im Sinne eines Bindeglieds zwischen Spontaneität und Überzeitlichkeit. Der Notentext indes wurde ungeachtet der sich sich hier bereits andeutenden Herausbildung eines abstrakt-metaphysischen Werkideals noch bis etwa zur Mitte des 19. Jahrhunderts als eine Art Anleitung zu seiner Verwirklichung bzw. Aktualisierung aufgefaßt. Erst ab den 1830er Jahren begann sich die Auffassung, das ›Werk‹ sei als geistiges Substrat auch in den Notenzeichen selbst enthalten, auf die Musikkultur auszuwirken, was in seiner Konsequenz für das Kunstlied als kulturelle Praxis noch ausführlicher zu behandeln sein wird. Hinter der hier skizzierten Auffassung des Musikers als obligatorischem Übermittler oder Repräsentanten einer musikalischen Werksubstanz scheint letztlich die Dominanz einer ungebrochenen rhetorischen Tradition des ›angemessenen Vortrags‹ durch, die das gesamte 19. Jahrhundert hindurch Geltung beanspruchen sollte.181 Unter Einfluß der Musikästhetik des frühen 19. Jahrhunderts wurde diese rhetorische Kategorie indes auf charakteristische Weise modifiziert. Wie Mary Hunter gezeigt hat, lassen sich mit Blick auf den zeitgenössischen musikpraktischen bzw. musikpädagogischen Diskurs zunehmend philosophische und ästhetische Einflüsse konstatieren: Musikpraktisches Lehrwerk und ästhetischer Traktat näherten sich aneinander an.182 Hunter arbeitet in ihrer Untersuchung einen historisch spezifizierten Begriff des ›musical performer‹ heraus, der auch im vorliegenden Zusammenhang herangezogen werden kann: Im Idealfall fand nach dieser Vorstellung während einer musikalischen Aufführung eine ins Metaphysische gesteigerte ›Seelenverschmelzung‹ statt, die aufführungstheoretisch zwar die im 18. Jahrhundert explizierte Idee des maßvoll-selbstexpressiven Vortrags, wie sie etwa von Schulz und Nägeli formuliert wurde, aufgriff183, letztlich aber darüber hinausging: Der Vortragende wurde hier gleichsam zu einer Art Medium des Komponisten stilisiert, wobei er während des Vortrags gewissermaßen, über die Grenzen der privaten Person hinausgehend, in eine transzendente Sphäre eintauchen und so am ›Genie‹ des Komponierenden im Sinne eines »génie d’exécution«, wie Pierre Baillot in seiner 178 Vgl. Adolf Nowak, Musikästhetische Kant-Repliken aus Weimar und Jena um 1800, in: Aufbrüche, Fluchtwege, S. 25‒38. 179 Christian Gottfried Körner, Ueber Charakterdarstellung in der Musik, in: Die Horen 5 (1795), S. 97f. 180 Wilhelm Seidel, Werk und Werkbegriff in der Musikgeschichte, Darmstadt 1987, S. 18. 181 Vgl. Hans-Joachim Hinrichsen, Was heißt Interpretation im 19. Jahrhundert? Zur Geschichte eines problematischen Begriffs, in: Zwischen schöpferischer Individualität und künstlerischer Selbstverleugnung, S. 14. 182 Vgl. Mary Hunter, »To Play as if from the Soul of the Composer«. The Idea of the Performer in Early Romantic Aesthetics, in: JAMS 58 (3/2005), S. 357‒398. 183 Vgl. Kapitel 3.3.1.

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5 Gesangsideale der Schubert-Zeit

berühmten Violinschule von 1835 explizit formuliert, partizipieren konnte.184 Mit Blick auf das erste Jahrhundertdrittel, und somit auch die Schubert-Zeit, bleibt mithin zu betonen, daß die Existenz eines Musikstücks als ›Kunstwerk‹ zu allererst durch den performativen Akt gerechtfertigt wurde und (noch) nicht durch den Notentext allein. Schuberts Lieder als ›aufgeführte Kunst‹, gerade in ihrer Aufführung durch Johann Michael Vogl, scheinen geradezu exemplarisch auf den hiermit angesprochenen Paradigmenwechsel innerhalb der musikalischen Kultur zu verweisen. Insbesondere Vogls im Nachhinein vielfach kritisierte, in rhetorischer Tradition stehende, Praxis einer spezifischen Aufbreitung des Schubertschen Notentextes in Form deklamatorischer Modifikation oder durch Verzierungen lassen sich in diesem Kontext verorten. 185 Das von Hunter beschriebene frühromantische Ideal bot trotz eines bereits bestehenden emphatischen Werkbegriffs den Impuls für den Vortragenden, sich selbst ins Musizieren einzubringen, denn eine simple Subordination unter den ›Willen‹ des Komponierenden war hier eben gerade nicht gemeint. Die gerade anfangs des 19. Jahrhunderts vielbemühte Vokabel der ›Individualität‹ der auftretenden Künstler, der immer wieder ein großer Bedeutungsspielraum gegenüber dem ›Werk‹ eingeräumt wird, macht dies ebenso greifbar wie eine im instrumentalen Bereich bis weit nach 1800 fortbestehende improvisatorische Praxis, die einzelne Werke eines Konzertprogramms miteinander verwob.186 Daß sich erst etwa zur Jahrhundertmitte ein allmählicher Wandel dieser Auffassung anbahnte, wird etwa deutlich wenn der Jurist und Musikschriftsteller Franz Gernerth 1846 die zunehmende Fülle der Vortragsbezeichnungen im Notentext am Beispiel von Schuberts Liedern kritisiert: Die guten alten, und ich will auch sagen, die guten neuen Meister haben es nicht nothwendig, ganze Seiten mit p, pp, f, ff, < >, rf., sfz., und tausend andern Wörtern und Zeichen vollzuschmieren. Wer sie spielt, spielt sie öfter und gelangt auf anderem Weg zur Vertrautheit mit ihren Werken; ... Traurig genug, wenn der schaffende Künstler so wenig Vertrauen in den Ausübenden setzt! Er muß letzterem so viel Freiheit geben, als er vergleichsweise sich selbst beim Schaffen erlaubt hatte. Man sehe, um nur ein auffallendes Beispiel zu zeigen, Schubert’s Lieder. Da finden sich für den Sänger gar nie oder doch höchst selten jene Zeichen, die bei andern ähnlichen Compositionen in schauderhafter Fülle zum Vorschein kommen. Zu Anfang des Liedes ist die Art des Vortrags genau bestimmt, und damit ist’s auch mit der Bezeichnung schon

184 »L’abondance des signes est favorable à la musique en ce qu’elle peut empêcher bien des contre sens et de servir de guide à ceux qui ne sauraient s’en passer, mais elle pourrait finir par éteindre le génie d’exécution qui se plait surtout à deviner, à créer sa manière. On évitera cet inconvénient en étudiant la musique ancienne et en ne la perdant jamais en vue: elle laissera toujours à l’imagination un vaste champ pour s’exercer.« (Pierre Baillot, L’Art du Violon, Paris 1835, S. 162, zitiert nach Hunter, The Idea of the Performer, S. 365). 185 Walther Dürr hat mit Nachdruck auf die Konsequenzen hingewiesen, die sich hier für die Aufführungspraxis ergeben und warnt vor einer falsch verstandenen Rezeption der Voglschen Verzierungsvorschläge als ›Urtext‹. Vgl. Dürr, Vorwort zu: Franz Schubert, »Die schöne Müllerin«. Faksimile der bei A. Diabelli erschienenen Ausgabe von 1830, hg. von Walter Dürr, Kassel [u. a.] 1996. 186 Vgl. dazu ausführlicher: Claudio Bacciagaluppi, Die Kunst des Präludierens, in: Zwischen schöpferischer Individualität und künstlerischer Selbstverleugnung, S. 169‒188.

5.3 Der Liedvortrag: ästhetische Kontroversen

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zu Ende. Nur bei jenen Stellen, die in der Auffassung schwer bestimmbar sind, fügt er noch ein stark oder leise hinzu. Man wird nun doch nicht glauben, Schubert habe aus Bequemlichkeit jenes Zeichennetz vermieden, womit man heutzutage den Geist des Sängers so recht unfehlbar fangen will, oder aus Mangel der Behelfe zur Bestimmbarkeit des Vortrags: sondern es ist anzunehmen, daß er recht gut wußte, die Beschränkung durch Zeichen für einen guten Sänger sei eine Last und für den schlechten ebenso unnütz, da dieser trotz Zeichen und Andeutungen nie gut singen wird. [...]187

Als Hintergrund für das auch von Gernerth hier reklamierte Ideal läßt sich das von der Genieästhetik des späten 18. Jahrhunderts geprägte und in romantischer Perspektive erweiterte Begreifen des Kompositionsvorgangs als gleichsam transzendierenden, einzig von ›Inspiration‹ geleiteten Akt heranziehen. Diese Auffassung bildet etwa auch den Hintergrund für eine vielzitierte Äußerung Vogls, die Schuberts Lieder als »Hervorbringungen einer musikalischen Clairvoyance« apostrophiert und den solchermaßen idealisierten Schaffensakt von der obsolet gewordenen (und daher abqualifizierten) Idee eines künstlerischen Handwerkertums abgrenzt.188 Diese Auffassung trug mit Blick auf die Schubert-Rezeption des weiteren 19. Jahrhunderts erheblich zu einer entsprechenden Stilisierung des Schubertschen Schaffensprozesses bei, was in den folgenden Kapiteln noch ausführlicher zu diskutieren sein wird.189 Die Aufführung erhielt vor solchem Hintergrund den Stellenwert eines neuerlichen, emphatischen Eintauchens in diesen Prozeß im Sinne einer Art Rekomposition. Es ist hier nicht zuletzt an die vielzitierte, einzige persönliche Bemerkung Schuberts zu erinnern, die den Liedvortrag selbst in direkter Weise betrifft: Die Art und Weise, wie Vogl singt und ich accomgagnire, wie wir in einem solchen Augenblicke Eins zu sein scheinen, ist diesen Leuten etwas ganz Neues, Unerhörtes. 190

So formuliert Schubert am 12. September 1825 gegenüber seinem Bruder Ferdinand das eigene Erleben der gemeinsamen Auftritte mit Vogl in Oberösterreich. Auch das von Schubert hier benannte ›Einssein‹ von Sänger und Pianist, das mit Blick auf die Aufführung von Kunstliedern seit Schubert bis heute als Ideal fortlebt,

187 Franz Gernerth in der Wiener Musikzeitung am 9. / 11.6.1846, zitiert nach SWVm, Nr. 219. Bekannt wurde Gernerth duch die vom ihm erstellte Textfassung zu Johann Strauss’ An der schönen blauen Donau, vgl. Barbara Boisits, Art., Gernerth, Franz, in: Oesterreichisches Musiklexikon, hg. von Rudolf Flotzinger, Bd. 2, Wien 2003, S. 571. 188 EF, S. 259. Zu Schuberts ›kreativem Sonambulismus‹ als bürgerlichem Deutungsmuster vgl. Walther Dürr, Zur Rezeption des Schubertschen Werks, in: SHb, S. 115: »Bedeutsam ist wohl, daß auf diese Weise ein bürgerliches Identifikationsmodell entstanden ist, das tragfähiger war, als manche vergleichbaren (die Heroen Beethoven oder Wagner). Man konnte sich Schubert so mühelos ›zu eigen‹ machen.« 189 Eine umfangreichere Kontextualisierung der Auswirkungen dieses Schubert-Bildes auf den analytischen Schubert-Diskurs seit dem mittleren 19. Jahrhundert findet sich neuerdings bei: Suzannah Clark, Singing Schubert’s Praises. The Voice of Vogl in Schubert’s Early History, in: dies., Analyzing Schubert, Cambridge 2011, S. 6‒55. 190 Dok I, S. 314

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5 Gesangsideale der Schubert-Zeit

läßt sich mithin in den Kontext jenes frühromantisch geprägten Ideals der ›Seelenverschmelzung‹ stellen, das dem ausführenden Musiker letztlich eine höhere Bedeutung zuwies als lediglich ausführender ›Diener‹ des Komponisten zu sein. All dies schließt selbstverständlich nicht aus, daß Vogls Vortragsstil zuweilen von einem gewissen Geltungsbedürfnis geprägt sein mochte.191 John Reed ist etwa davon überzeugt, daß der Vortrag Vogls nach heutigem Empfinden als »mannered, quirky, and overdramatic« beurteilt würde. 192 Wie aber lassen sich derartige Einschätzungen vor dem bis zu diesem Punkt erarbeiteten Horizont zu Liedvortrag und historischer Aufführungskultur differenzierter qualifizieren und kontextualisieren? Der bisherige Gang der Untersuchung zeigt deutlich, daß Vogls im vorangehenden Kapitel eingehender beschriebener »deklamatorischer« Vortragsstil sich offenbar grundsätzlich durch eine veränderte Haltung gegenüber den von der traditionellen Gattungsästhetik determinierten vortragsästhetischen Prämissen auszeichnete. Wie verhält sich dieses Faktum aber zu Schuberts liedästhetischen Innovationen? Während die Liedpraxis in Goethes Weimarer Umkreis (abgesehen von der beschriebenen obligatorischen sängerischen Nuancierung im Rahmen des Strophenliedvortrags) den Vortragenden unbedingt an die Strukturen des dichterischen Textes band, um den in Goethes Formulierung »eigentlichsten Ausdruck« hervorzubringen, stellte Schubert in seinen Liedvertonungen ja gerade die Kategorie des »eigentlichsten Ausdruck[s]« zur Diskussion und brachte damit – diese Vereinfachung sei erlaubt – den sanft emporsteigenden Goethe-Zelterschen Luftballon gleichsam zum Platzen. Gerade mit Blick auf Vogl und den »deklamatorischen Gesang« läßt sich mithin konstatieren, daß Schubert durch die häufig angewendete Strategie, den dichterischen Text in den Dienst seiner persönlichen Aussage als Komponist zu stellen, offenbar auch eine Art zusätzlichen ›expressiven Identifikationsraum‹ für Ausführende und Hörende freilegte. Es scheint daher evident, daß die von Schubert in vielen seiner Liedkompositionen vorgenommene und von der Musikhistoriographie als zeittypisch registrierte expressive Steigerung 193, die den Zuhörenden offenkundig neue Erlebniswelten erschloß194, auch auf der Seite der Vortragsästhetik charakteristische Veränderungstendenzen nach sich ziehen mußte – was Vogl in seiner Eigenschaft als Bühnenkünstler naturgemäß in besonderer Weise registrierte. Mit anderen Worten: Die der Dichtung in vielen Liedkompositionen Schuberts verliehene ungekannte Plastizität mag auch dazu herausgefordert haben, diese eben nicht lediglich ›vorzutragen‹, sondern gleichwohl zu ›verkörpern‹. Mit dem bereits früher diskutierten Stichwort der ›Verkörperung‹ als aufführungstheoretischem Terminus ist einmal mehr auf die historische Entwicklung der Schauspielkunst verwiesen. Hier war bereits im ausgehenden 18. Jahrhundert vor 191 Vgl. die von Montgomery zusammengetragenen Quellen: ders., Schuberts Music in Performance, S. 19ff. 192 Vgl. John Reed, Schubert.The Final Years, London 1972, S. 131. 193 Vgl. Seidel, Werk und Werkbegriff in der Musikgeschichte, S. 177. 194 Vgl. oben Kapitel 4.2.

5.3 Der Liedvortrag: ästhetische Kontroversen

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dem Hintergrund einer allmählichen zeichentheoretischen Wende sowie dem Prozeß einer Literarisierung des Theaters ein Wandel der Darstellungskunst eingetreten, der den Schauspieler nunmehr der fiktiven Person, die er darstellte, unterordnete. Der private Körper des Darstellenden sollte dabei idealerweise gleichsam ausgeblendet werden.195 Mit Blick auf das Musiktheater, wo im 18. Jahrhundert der phänomenale Leib des Singenden noch durch die Zurschaustellung virtuoser Künste in den Mittelpunkt der Wahrnehmung gerückt worden war, war es, wie oben bereits beschrieben, vor allem Gluck, der ein derartiges Ideal der ›Verkörperung‹ eingefordert hatte196, und entsprechend bildet dieses auch die Basis von Ignaz von Mosels Konzept einer »wahren dramatischen Sangeskunst« als dessen exemplarischen Repräsentanten er Johann Michael Vogl betrachtete: [Der ideale dramatische Sänger sollte] seinen größten Ruhm darein setzen, das Publikum vergessen zu machen, daß es einen Sänger oder Schauspieler und nicht die Person, die er vorstellt, selbst vor sich habe, sich damit begnügt, statt Rührung und Theilnahme, eine frostige Bewunderung seiner Geschicklichkeit zu bewirken, ohne zu bedenken, wie sehr er dadurch der Hauptsache, nämlich dem Interesse der Vorstellung, durch die gänzliche Vernichtung der Illusion schadet.197

Inwiefern ist dieses historische Darstellungskonzept allerdings auf den musikalischen Vortrag übertragbar und welche Konsequenzen ergeben sich speziell für den historischen Liedvortrag? Zunächst: Während der Schauspieler (in historischer Perspektive) in der Regel eine fiktive menschliche Person ›verkörpert‹, äußert sich eine musikalische persona in Klängen. Da aber die hier im Fokus stehenden Techniken schauspielerischer Verkörperung explizit auf eine Rezeption im öffentlichen Rahmen ausgerichtet sind, ist bei einer Übertragung zudem das musikhistorische Faktum einer zunehmenden Trennung von Musizierenden und Publikum zu bedenken. Da gegenüber einer Musikrezeption im Kontext des ›Privaten‹ die Körperlichkeit des Musizierenden beim öffentlichen Auftritt ohnehin stärker in den Mittelpunkt rückt, flossen die Musik selbst und der sichtbare Körper des Musizierenden in der Wahrnehmung der Rezipienten letztlich zunehmend ineinander.198 Dessen ungeachtet stellte sich allerdings aus der Perspektive des Instrumentalmusikers nicht die Frage eines ›dramatischen Einfühlens‹ in eine konkrete, zu verkörpernde Person, wie dies beim Gesangsvortrag grundsätzlich zur Debatte steht, wenn ein zu singender Text eine Ich-Perspektive einnimmt. Eben hier wären mithin die Grenzen der zeitgenössischen vortragsästhetischen Modelle für Lied- und Arienvortrag zu lokalisieren, die Vogl offenbar häufiger überschritt: Während für den ›empfindsamen‹ Liedvortrag im Sinne Goethescher »Rezitation« galt, daß der 195 Vgl. zum Begriff der ›Verkörperung‹ vgl. oben Kapitel 3. 3.1, S. 55. 196 Vieira de Carvalho, Belcanto-Kultur und Aufklärung, passim. Vieira de Carvalho beschreibt aus einer kommunikationstheoretischen Perspektive das mit Glucks Vorwort zu Alceste in Verbindung gebrachte Ideal einer dramatischen Einfühlung als Gegenentwurf zur Praxis sängerischen Selbstinszenierung innerhalb der barocken Belcanto-Kultur. 197 Mosel, Versuch einer Ästhetik des dramatischen Tonsatzes, S. 72. 198 Vgl. Silke Borgstedt, »Le Concert, c’est moi« ‒ Strukturelle Determinanten musikalischen Startums und ihr historischer Kontext, in: Musiksprache – Sprachmusik. Symposium zum 70. Geburtstag von Peter Gülke, hg. von Joseph Willimann, Bern 2006, S. 21ff.

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5 Gesangsideale der Schubert-Zeit

Vortragende als ›natürliche‹ Privatperson gewissermaßen ›erhalten‹ blieb (so wie das vorzutragende Gedicht in seinen Strukturen erhalten bleiben sollte), stand dem in erster Linie auf der Theaterbühne zum Einsatz kommenden »deklamatorischen« Vortrag von Dichtung durchaus die Prämisse einer ›Verkörperung‹ vor, mit der gewissermaßen eine Steigerung des expressiven Aufwands einhergehen sollte. Nochmals sei an Goethes Regeln für Schauspieler erinnert: Hier muss ich meinen angeborenen Charakter verlassen, mein Naturell verleugnen und mich ganz in die Rolle und Stimmung desjenigen versetzen, dessen Rolle ich deklamiere. Die Worte welche ich ausspreche müssen mit Energie und dem lebendigen Ausdruck hervorgebracht werden, so daß ich jede leidenschaftliche Regung als würcklich gegenwärtig mit zu empfinden scheine.199

Auch in Vogls im vorhergehenden Kapitel beschriebenener Kunst des »deklamatorischen Gesangs« läßt sich vor diesem Hintergrund mithin eine explizit auf die Öffentlichkeit gerichtete expressive Technik identifizieren, die der Sänger auf der Bühne erlernt hatte, und die er in bestimmtem Maße auf den Liedvortrag übertrug, wobei die Musik Schuberts dies in besonderer Weise beförderte. Diesem also hinter dem Beispiel der Liedpraxis Vogls relativ deutlich durchscheinenden vortragsästhetischen Modell stand indes, besonders als der Sänger begann, die Lieder in verschiedenen öffentlichen kulturellen Rahmungen vorzutragen, weiterhin die traditionelle kulturelle Codierung des Liedes gegenüber, die vor allem der Leitlinie eines sich in ›maßvoller‹ Beschränkung bescheidenden Natürlichkeitsideals des späteren 18. Jahrhunderts folgte. Die Herstellung einer zwar gleichfalls als durch ein spezifisches Körperzeichenrepertoire vermittelten, aber eben auf dem Theater öffentlich aufgeführten ›Authentizität‹ im Goetheschen Sinne einer ›Kunst als zweiter Natur‹, in der Vogl professionell geschult war, geriet hier ganz offenbar in Konflikt mit der gängigen kulturellen Funktionalisierung des Liedes als Repräsentation von ›Privatheit‹ und ›Innerlichkeit‹ innerhalb der bürgerlichen Musikpraxis. Daß Vogl es gleichwohl verstanden hat, die performativen Dimensionen der traditionellen Genres ›Lied‹ und ›Oper‹ grundsätzlich zu unterscheiden und sich somit der jeweiligen Aufführungssituation auf spezifische Weise anzupassen200, muß hier nicht als Widerspruch erscheinen. Es scheint vielmehr eher symptomatisch, daß der zeitgenössische Musikdiskurs Schuberts Liedern immer wieder mit bestehenden und bewährten Ordnungskategorien begegnete: Die Oesterreichische National-Encyklopädie betont etwa 1836: Auch im Vortrag von Gesangstücken alla Camera ist V[ogl] höchst ausgezeichnet, und gewiß weiß Niemand den Geist der Schubert’ schen Lieder so richtig aufzufassen und wahr in Tönen

199 Goethe, Regeln für Schauspieler, S. 730, § 20. 200 Vgl. mit speziellem Bezug auf die Verzierungspraxis Walthes Dürrs Rezension zu: David Montgomery, Schuberts Music in Performance, in: Schubert : Perspektiven 4 (2004), S. 112.

5.3 Der Liedvortrag: ästhetische Kontroversen

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wiederzugeben, als er. [...] Von allen Kennern und Freunden des echten empfindungsvollen Gesangs wird V[ogl] vorzugsweise als der erste deutsche dramatische Sänger anerkannt.201

Die hier vorgenommene Vermischung produktionsästhetischer und aufführungsästhetischer Kategorien findet sich hinsichtlich der Gesangskunst umfangreicher kommentiert in Gustav Schillings 1843 erschienener Vortragslehre Musikalische Dynamik.202 Auch Schilling trennt strikt zwischen einem bühnen- und konzertmäßigen Körper- und Stimmgebrauch. Einzig mit Blick auf die Verzierungspraxis dürfe der Konzertsänger, wenn es der kompositorische Stil der Vortragsstücke erfordere, »in die Rechte des Bühnensängers« treten: 203 Der Vortrag des Concert- und sogenannten Cammersängers, worunter ich hier jeden Solosänger außerhalb des Theaters, sey er nun wirklicher Künstler von Beruf oder bloßer Dilettant, verstehe, der Vortrag eines solchen Sängers unterscheidet sich im Allgemeinen und zunächst von dem des Bühnensängers dadurch, daß er ein rein musicalischer und nicht zugleich auch ein mimischer oder vielmehr szenischer ist. Diese Reinheit seines musikalischen Interesse aber trägt auch für sich und hinlänglich schon die Begründung mancher noch anderer specieller Eigenthümlichkeiten in sich, durch welche nicht bloß von dem dramatischen Vortrage als solchem, sondern überhaupt, auch von denselben als künstlerische Leitungen seine Formen getrennt werden können. Ist nämlich dieser Gesangsvortrag nur ein musikalischer, so muß er vor allen Dingen auch sich jedes Merkmals und Zeichens enthalten, das irgendwie an die Bühne, an ein wesentlich dazu gehörendes, nur hier aus irgend einer Nötigung weggelassenes mimisches Spiel erinnern könnte; und dahin gehöre nicht allein körperliche Bewegungen an für sich, sondern auch mancherlei Nüancierungen im Gesange selbst. [...]204

Der von Schilling hier als Ideal des Konzertgesangs beschriebene »rein musicalisch[e]« Vortrag ist indes weniger auf die in den 1840er Jahren noch seltenen öffentlichen Liedaufführungen bezogen, sondern auf die Arie, die er als »eigentliche[n] Wahlplatz des Concert- und überhaupt Kunstgesanges in der Musik« bezeichnet. Vor allem der der »gute Arien-Vortrag« erfordere »einen vollkommen und sowohl allgemein künstlerisch als insbesondere technisch ausgebildeten Sänger.«205 Mit einer professionellen Liedvortragskunst, wie sie Vogl bereits praktiziert hatte, rechnete Schilling hingegen weniger. Dies verrät deutlich sein sich gänzlich konservativ gebender, von Schuberts ästhetischen Innovationen unberührter Paragraph über den Liedvortrag: Unter den wirklich künstlerischen oder poetischen Formen der Vocalmusik trägt die einfachste das Lied. Wie seine Dichtung, so ist auch seine Musik (im gelungenen Falle) der einfache, ruhige unmittelbare, vollkommen lyrische Erguß irgend eines Gefühls, daß die Seele sanft bewegt; eine Tonwelle, sanft dahinströmend, mit kurzen rhythmischen Ein- und Abschnitten, und leicht zu treffenden Intervallen die den Sinn der Worte nicht allein nicht stören, sondern im Gegenteil noch mehr heben, verlebendigen. Daher ist denn sein Vortrag auch ein im wahren

201 Vgl. Art. Vogl, Johann Michael, in: Johann Jakob Heinrich Czikann, Oesterreichische National-Encyklopädie oder alphabetische Darlegung der wissenswürdigsten Eigenthümlichkeiten des österreichischen Kaiserthumes, Wien 1836, S. 577 (Hervorhebung um Original). 202 Gustav Schilling, Musikalische Dynamik oder die Lehre vom Vortrag in der Musik. 203 Ebd., S. 246. 204 Ebd., S. 104. 205 Ebd., S. 333.

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5 Gesangsideale der Schubert-Zeit Sinne des Wortes gesungener; ein weniger künstlerischer, als mehr eigentlich und ausschließlich musikalischer; die Rede löst sich hier auf ganz und gar in eine kunstreiche, sondern natürliche, aber wahre Musik. Ueberall Einfachheit, aber melodischer Fluß in den Tonschritten, überall Vollendung im Ausdruck, aber auch nur durch die rein musikalische Schönheit des Tones; nirgends irgend ein Glanz oder Effekthascherei, weil nirgends Leidenschaft, nirgends blendender Schmuck, weil überall nur das eine, das reine natürliche Gefühl. Freilich vermag der Charakter dieses einen Gefühls ein verschiedener zu seyn, und das Lied kann anstimmen eben sowohl den Ton der reinsten Freude, der Beruhigung und Hoffnung, als den des stillen, sanften, wehmütigen, in Gott ergebenen Schmerzes, oder welcher andern innersten Regung unseres Herzens. [...]206

Schillings 1843 formulierte Prämissen korrespondieren grundsätzlich mit der im Wien der 1830er und -40er Jahre zu beobachtenden Tendenz, bei der Aufführung Schubertscher Lieder auch die vortragsästhetische Seite der Liedkunst aus der Perspektive des traditionellen Liedideals zu bewerten. Dies wird vor allem an den in Rezensionen über vereinzelte Liedaufführungen der 1830er Jahre immer wiederkehrenden Einforderung einer von darstellerischem Bühnenpathos befreiten ›Natürlichkeit‹ für den Vortrag deutlich. Allerdings hatten offenbar auch Vogls Liedvorträge zur Nachahmung herausgefordert – so konstatiert die Wiener Zeitung 1833 (also noch zu Lebzeiten Vogls): »Die Erfahrung hat es hinlänglich bewiesen, daß oft Sänger tieferen Ranges ein Schubert’sches Lied allen Kunstanforderungen gemäß vortrugen, während große dramatische Sänger hierin nur mißglückte Versuche machten.«207 Dem pflichtet sinngemäß auch die folgende in der bereits erwähnten Zeitschrift Der Wanderer aufzufindende Rezension einer 1835 abgehaltenen musikalischen Akademie bei: [...] ‒ Sehnsucht, von Schiller, Schubert’s herrlicher Geistes- und Gemüthserguß wurde von Hrn. Mellinger, Sänger des Theaters in der Josephstadt, mit herrlichem Schmelz in der Stimme aber für ein Schubert’sches Lied mit viel zu theatralischem Pathos vorgetragen.208

Der Sopranistin Wilhelmine Schröder-Devrient hingegen, die 1830 auch noch Goethe mit einem »hochdramatischen« Vortrag des Schubertschen Erlkönig in Weimar beeindruckt hatte209, gelang es 1836 offenbar durchaus, das Wiener Publikum zu überzeugen: Wenn wir zuvor Mad. Schröder-Devrient eine dramatische Sängerin nannten, so wünschen wir diese Bezeichnung in einem so ausschließlichen Sinne genommen, daß man den musicalischen Theil dieser Leistungen von dem dramatischen gar nicht mehr trennen dürfe. Auf diese Unzertrennlichkeit beider Hälften ist das Talent unserer Künstlerin gleichsam von der Natur angewiesen, denn selbst das, was sie außerhalb der Bühne musicalisch zu leisten vermag, trägt

206 207 208 209

Ebd., S. 331. SWVm, Nr. 47. SWVm, Nr. 54 (S. 65). Vgl. den prominenten Bericht des Schauspielers Eduard Genast: »[...] ob gleich er kein Freund von durchkomponierten Strophenliedern war, so ergriff ihn der hochdramatische Vortrag der unvergleichlichen Wilhelmine so gewaltig, daß er ihr Haupt in beide Hände nahm und sie auf die Stirn küßte. Dann fuhr er fort: Haben sie tausend Dank für diese großartige künstlerische Leistung. [...] Ich habe diese Komposition früher schon einmal gehört, wo sie mir gar nicht zusagen wollte, aber so vorgetragen, gestaltet sich das Ganze zu einem sichtbaren Bild.« Eduard Genast, Aus dem Tagebuch eines alten Schauspielers. Zweiter Theil, Leipzig 21862, S. 281f.

5.3 Der Liedvortrag: ästhetische Kontroversen

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diesen bestimmt ausgeprägten Charakter; es ist bekannt, mit welch wunderbar ergreifenden, durchaus dramatischen Anschaulichkeit sie Schubert’s Lieder zum Clavier singt.210

Die hier skizzierte Nachzeichnung charakteristischer vortragsästhetischer Kontroversen verweist letztlich bereits auf die Rezeptionsgeschichte Schuberts und seiner Lieder. Eine besonders wirkungsmächtige Auffassung über den Liedvortrag findet sich in den Äußerungen Leopold Sonnleithners repräsentiert, der mit Schubert seit Konviktstagen vertraut war und dessen Unterstützung mit Blick auf die berufliche Entwicklung des Komponisten, gerade was die Frage einer Kommunikation mit der Öffentlichkeit betraf, nicht unerheblich war. Auf Ferdinand Luibs im Jahr 1857/58 ausgesandte Bitte um Schubert betreffende biographische Materialien verfaßte Sonnleithner zunächst die Notizen zur Biographie des Franz Schubert. Wie Ernst Hilmar zu Bedenken gibt, schrieb Sonnleithner den mit »Dez. 1857« datierten Text offenbar mehrfach ab, wobei die spätere Version, die auch Otto Erich Deutsch in den Erinnerungen unter der Rubrik Biographisches Material abdrucken ließ, einige Zusätze aufweist, die im folgenden extensiven Zitat durch geschweifte Klammern gekennzeichnet wurden: Über die Art, wie Schuberts Lieder vorgetragen werden sollen, bestehen heutzutage unter der großen Mehrzahl sehr sonderbare Ansichten. Die meisten glauben, das Höchste geleistet zu haben, wenn sie die Lieder in der Art auffassen, welche sie sich als die dramatische vorstellen. Dabei wird möglichst viel deklamiert, bald gelispelt, bald leidenschaftlich aufgeschrien {ritardiert usw.} – Ich kann nur sagen, daß ich mich immer fürchte, wenn es in einer Gesellschaft heißt, es werden Schubertsche Lieder gesungen; denn selbst ganz geschickte und in ihrer Weise musikalisch gebildete Damen und Herren versündigen sich gewöhnlich grausam an dem armen Schubert. Ich hörte ihn mehr als hundertmal seine eigenen Lieder begleiten und einstudieren. {Vor allem hielt er immer das strengste gleiche Zeitmaß ein, außer in den wenigen Fällen, wo er ausdrücklich ein ritardando, morendo, accelerando etc. schriftlich angezeigt hatte}. Ferner gestattete er nie heftigen Ausdruck im Vortrage. Der Liedersänger erzählt in der Regel nur fremde Erlebnisse und Empfindungen, er stellt nicht selbst die Person vor, deren Gefühle er schildert; Dichter und Tonsetzer müssen das Lied lyrisch und nicht dramatisch auffassen. Insbesondere bei Schubert ist der wahre Ausdruck, die tiefste Empfindung schon in der Melodie als solcher gelegen und durch die Begleitung trefflich gehoben. Alles, was den Fluß der Melodie hemmt und die gleichmäßig fortlaufende Bewegung stört, ist daher der Absicht des Tonsetzers zuwiderlaufend und hebt die musikalische Wirkung auf. – Es haben daher Sänger mit guter Stimme und einfach natürlichem Vortrage häufig große Wirkungen mit diesen Liedern erzielt; – so Tietze und Lutz, welche beide weder auf eine eigentliche Gesangskunst noch auf höhere ästhetische Bildung, noch weniger aber auf dramatischen Vortrag Anspruch machen konnte. {Michael Vogl überschritt wohl, je mehr seine Stimme abnahm, auch immer mehr die angedeutete Grenze; aber sang doch immer streng im Takte; und half sich nur als routinierter Opernsänger, so gut er konnte, wo Stimme und Kraft nicht ausreichten. Auch würde Schubert seine Vortragsweise gewiß nicht gebilligt haben, wie sie sich in letzter Zeit entwickelte. Vogl war 1768 geboren und starb am 20. November 1840, 72 Jahre alt; noch wenige Jahre vor seinem Tod kokettierte er mit seinem Gesange; – für jene, die ihn aus seiner guten Zeit kannten, war er zuletzt schon rein lächerlich}. – Einer der besten, vielleicht der beste Schubertsänger war seinerzeit Herr Karl Freiherr von Schönstein (welchem die Müllerlieder gewidmet sind). – Eine schöne, edel klingende Tenorbaritonstimme, hinreichende Gesangsbildung, ästhetische und wissenschaftliche Bildung und feines lebhaftes Gefühl zeichneten diesen Kunstfreund aus. Es war ein wahrhaftiger Genuß, diese Lieder von ihm vorgetragen zu hören, begleitet von dem

210 SWVm, Nr. 58.

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5 Gesangsideale der Schubert-Zeit seither verstorbenen Johann Baptist Jenger oder von dem damaligen Fräuein Kiesewetter, jetzt Baronin Prokesch. Unter den Damen, welche Schuberts Kompositionen einfach und natürlich vortrugen muß ich Fräulein Henriette Spaun (Nichte des Hofrats von Spaun) vorzugsweise nennen. – In neuerer Zeit steht Stockhausen als Liedersänger obenan. Wenn er sich auch nicht ganz der Richtung des Zeitgeschmacks entziehen konnte, so nähert er sich doch am meisten jener einfach edlen, naiven Auffassung, welche Schubert sich gewünscht hat. – Auch Dr. Habit gehört zu den wenigen, welche diese Lieder in dankenswerter Weise vortragen. Staudigl war seinerzeit ebenfalls ein berühmter und beliebter Sänger von Schuberts Weisen. Er war auch weit vorzüglicher als die meisten der anderen; aber auch sein Vortrag war häufig zu willkürlich, zu ›dramatisch‹, als daß er mit der Billigung des Komponisten hätte rechnen können.211 (Geschrieben im Xbr 857 von Dr. Leopold v. Sonnleithner)

Die hier formulierte Kritik Sonnleithners an der um die Jahrhundertmitte üblichen Vortragsweise der Lieder Schuberts greift, wie sofort deutlich wird, verschiedene bereits vorgestellte Prämissen des vortragsästhetischen Diskurses wieder auf und konstelliert sie neu vor dem Hintergrund der aktuellen Situation. Zum einen wird genau das mit Blick auf die theatrale Aufführungstheorie des 18. Jahrhunderts bereits angeschnittene Phänomen der ›Verkörperung‹ angesprochen: Sonnleithner überträgt die bereits von Goethe getroffene vortragsästhetische Unterscheidung zwischen ›Rezitation‹ und ›Deklamation‹ hier auf das Begriffspaar ›lyrisch‹ – ›dramatisch‹, wobei der Bereich des ›Lyrischen‹ auf musikalischer Ebene vereinfacht mit dem Parameter des Melodischen identifiziert wird. Die nachweislich erst etwas später eingefügte Passage über Michael Vogl diskreditiert den Sänger nachträglich vor diesem Hintergrund, denn Sonnleithner zielt mit seinem kategorischen Insistieren auf einer ›lyrischen‹ Vortragsweise für Schuberts Lieder letztlich auf einen Gegenentwurf zur eingehender beschriebenen Annäherung Vogls an die von ihm dargebotenen Schubertschen Kompositionen ab. 1860 erscheint in den der Wiener Zeitung beigegebenen Recensionen und Mitteilungen über Theater und Musik eine von Sonnleithner verfaßte Serie Bemerkungen zur Gesangskunst, deren vierter Teil wiederum den Lied- und besonders den Schubert-Liedvortrag betrifft. Sonnleithner schneidet hier mit Nachdruck nochmals die gleichen Themenfelder an, führt aber seine Gedanken weitaus konkreter aus und ruft zudem den allgemeinen Kontext auf, die den Ausgangspunkt für seine Reflexionen gebildet hatten: Wenn wir in der Geschichte der Concerte etwa vierzig bis fünfzig Jahre zurückblättern, so finden wir, daß in jener Zeit bei öffentlichen Concerten, welche dazumal ohne Orchesterbegleitung kaum denkbar waren, von dem Vortrage eines Liedes nicht im entferntesten die Rede war. Das Lied wurde ausschließlich als ein Teil der Hausmusik zum eigenen Genusse und höchstens zur Unterhaltung eines kleinen Privatkreises betrachtet, aber der Form und dem Inhalt nach für viel zu unbedeutend angesehen, um sich da geltend zu machen, wo nur der Concert- oder Opernarie in ihrer aristokratischen Großartigkeit der Zutritt gestattet war. Es ist hier nicht der Ort, um dem Begriff der Liedes als Gedicht oder als Gesang einer strengen Prüfung zu unterziehen. Die älteren Ästhetiker sagten, das Lied sei eine lyrische Dichtungsart, deren Charakter auf der Darstellung nur eines Gefühls beruht, welches die Seele sanft bewegt. Über die Grenzen dieser Begriffsbestimmung sind unsere Dichter und Tonsetzer längst hinausgeschritten; die

211 Zitiert nach: Ernst Hilmar, »Über die Art, Schuberts Lieder vorzutragen«, in: Schubert durch die Brille 12, (1994), S. 105‒106.

5.3 Der Liedvortrag: ästhetische Kontroversen

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Einheit des Gefühles und die Sanftheit der Seelenbewegung sind in den wenigsten der neueren Lieder mehr zu finden. [...]. Man mag nun das Lied in seiner ursprünglichen oder in der erweiterten Form betrachten, so gehört es doch immer in dem Sinne zur lyrischen Gattung, daß dabei der Dichter eigene oder fremde Gefühle und Ereignisse nur schildert und erzählt, aber niemals selbst als handelnd auftritt oder die geschilderte Person handelnd und sprechend auftreten läßt; mit anderen Worten gesagt: das Lied kann nie dramatisch werden, ohne seine Wesenheit zu vernichten. ‒ Diese Bemerkung, so einfach und natürlich sie scheint, wird doch bei dem deklamatorischen und musicalischen Liedervortrage nur gar zu oft außer Acht gelassen; und darin liegt der Hauptvorwurf, welcher dem Vortrage dieser Gattung gemacht werden muß, seit dieselbe sich in die Concertsäle eingedrängt und dort teilweise die Stelle der großen Arie eingenommen hat. Nach diesen allgemeinen Bemerkungen möge es noch vergönnt sein, einige Worte mit besonderer Beziehung auf Franz Schubert beizufügen. Der wohl das Recht hat, überall, wo vom Liede die Rede ist, vorzugsweise berücksichtigt zu werden. Der Verfasser dieser Zeilen hatte die Freude, dem Kreise anzugehören, welcher zuerst Schuberts höhere Begabung erkannte, der sich bemühte, seine Werke bekanntzumachen und zu verbreiten, und der ihn selbst in die musikalische Welt einführte. Er hörte ihn sehr oft seine Lieder mit schwacher, aber sympathischer Stimme, mit häufiger Falsettanwendung, wo ihm die Höhe fehlte, selbst singen; er hörte ihn noch öfter seine Arbeiten mit den vorzüglichsten Künstlern und Kunstliebhabern jene Zeit einüben und sie auf dem Pianoforte begleiten. Um so schmerzlicher findet er sich jetzt berührt, wenn die herrlichen Gesänge seines längst vorausgegangenen Freundes heutzutage gewöhnlich in einer Art vorgetragen hört, welche der Absicht ihres Schöpfers geradezu entgegengesetzt sind. Ein Hauptvorzug von Schuberts Liedern besteht in der durchaus edlen und reizvollen Melodie; diese bleibt bei ihm stets Hauptsache, und so interessant die Begleitung gesetzt ist, so wirkt diese doch immer nur unterstützend und bildet häufig nur den Hintergrund, die allgemeine Stimmung oder eine eigentümliche Bewegung, z. B. des Reitpferdes, des Spinnrades, des Ruders, der Mühlräder, der Meeresbrandung usw. – Die Schönheit seiner Melodien ist auch (mit wenigen Ausnahmen) eine selbständige, fein musikalische, d. h., sie ist von den Worten ganz unabhängig, wenn sie gleich sich diesen in jeder Beziehung treu anschließt, und die Empfindung des Dichters tief auffaßt, ja oft noch veredelt. Man kann diese Melodien (wie jene von Mozart) auf dem Leierkasten, oder auf der Stockflöte spielen, und sie bleiben doch reizend; ihre musikalische Schönheit ist durch einen deklamatorischen Vortrag keineswegs bedingt. – Schubert forderte daher vor allem, daß seine Lieder nicht sowohl deklamiert als vielmehr fließend gesungen werden, daß jeder Noten mit gänzlicher Beseitigung des unmusikalischen Sprachtones der gebührende Stimmklang zuteil und daß hierdurch der musikalische Gedanke rein zur Geltung gebracht werden. Damit in notwendigem Zusammenhange steht die strengste Beobachtung des Zeitmaßes. Schubert hat überall genau angemerkt, wo er eine Verzögerung, eine Beschleunigung oder überhaupt einen freieren Vortrag wünschte oder erlaubte. Wo er dies nicht angezeigt hat, duldete er aber auch nicht die geringste Willkür, nicht die leiseste Abweichung im Zeitmaße. Wenn dies auch nicht durch das einstimmige Zeugnis seiner Zeitgenossen erweislich wäre, so müßte es jeder Sachverständige schon aus der Art seiner Begleitungsformen zweifellos erkennen. Ein im Trabe oder Galoppe laufendes Pferd läßt sich nicht aus dem Takte bringen; ein laufendes Spinnrad kann wohl stehenbleiben, wenn die Spinnerin, von Leidenschaft bewegt, in einem Augenblicke vergißt, es anzutreiben, es kann aber unmöglich in einer Sekunde schnell und in der nächsten langsam laufen, und so taktweise abwechseln; − ein lebhaft pochendes Herz kann (abgesehen von einem Blutschlagflusse) nicht plötzlich stille stehen, damit der Sänger auf den Worten: ›Dein ist mein Herz und wird es ewig bleiben‹ − sein hohes A recht lange klingen lassen und seine Gefühlsüberschwenglichkeit austönen lassen könne; wenn der Marsch der Kreuzfahrer in der Ferne erklingt und der Mönch seine Betrachtungen diesen Tönen anschließt, so muß er im strengsten Zeitmaße fortsingen; der Marsch richtet sich nicht nach seinen sentimentalen Zögerungsparoxismen. Diese Erbärmlichkeiten, die wir leider nur zu oft anhören müssen, mögen nur als vereinzelte Beispiele gelten, denn diese sinnlose Auffassungsweise ist leider schon zur Regel geworden, und Vollzieher solcher Kunstfrevel tut

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5 Gesangsideale der Schubert-Zeit sich nicht wenig auf tiefes Verständnis des unsterblichen Meisters zugute, der, wenn er noch lebte, sich die Ohren verstopfte oder meilenweit davonlaufen würde, da seine Gutmütigkeit ihm nicht gestattete, die Frevler nach Gebühr mit dem Taktstabe zu bestrafen. Es soll damit durchaus nicht gesagt sein, daß Schubert seine Lieder nur mechanisch abgeleiert wissen wollte. Ein getreuer, rein musikalischer Vortrag schließt ja Gefühl und Empfindung keineswegs aus; aber der Sänger soll nur nicht sich überheben, soll nicht poetischer und geistreicher sein wollen als der Tonsetzer, der mit deutlichen Noten und Zeichen ganz genau angegeben hat, was und wie er es gesungen haben wollte, − dessen Werk durch jede Willkürlichkeit in seinem innersten Wesen verletzt und verdorben wird. Bei einem Komponisten wie Schubert ist der schlichteste, aber natürlichste Gesang, wie er z. B. dem bekannten Sänger Tietze (einem stimmbegabten Naturalisten) eigen war, dem raffiniertesten deklamatorischen Vortrage weit vorzuziehen, den wir denjenigen überlassen wollen, die hinter der musikalischen Idee (welche sie als solche nicht begreifen und daher verschmähen) immer noch eine andere poetische und philosophische Idee suchen. Allein wir gestehen, daß im allgemeinen die Ankündigung eines Schubertschen Liedes auf einem Concert-Programm uns jederzeit mit der Besorgnis erfüllt, die fließenden und zugleich tief empfunden Schöpfungen unseres genialen Freundes verzerrt, entstellt und ihres größten Reizes beraubt zu hören. Mögen die Sänger diese Andeutungen wohl beherzigen und beachten! Die Anerkennung der wahren Kenner wird ihr Streben belohnen.212

Wenngleich Sonnleithner das Gesagte auch durch die Versicherung des eigenen Miterlebens authentifizieren will, handelt es sich bei diesen Anmerkungen letztlich um eine indirekte Wiedergabe Schubertscher Intentionen. Sonnleithner vermischt hier naturgemäß die eigenen Ansichten mit denjenigen des Komponisten. Nochmals wendet er sich entschieden gegen den maßgeblich durch Vogl repräsentierten »deklamatorischen« Vortragsstil, obwohl er den Namen des Sängers nicht mehr explizit nennt. Hatte Sonnleithner in seinem Nekrolog auf Schubert von 1829 Vogl noch als einen Künstler charakterisiert, »welcher durch den ausgezeichneten deklamatorischen Vortrag seiner Lieder sehr viel dazu beitrug, sie bekannt und beliebt zu machen, und Schubert selbst dadurch zu neuen Schöpfungen in diesem Fache begeisterte«213, so stilisiert er hier gut dreißig Jahre später Schubert umso mehr zum reinen ›Melodiker‹ und streicht die Notwendigkeit einer Betonung des ›Musikalischen‹ (im Gegensatz zum ›Deklamatorischen‹) auch mit Blick auf den Vortrag der Lieder heraus. Die hier von Sonnleithner zum Zweck der Charakterisierung eines idealen Vortragsstils ins Feld geführte musikästhetische Argumentation weist überdies in verschiedenen Punkten Widersprüchlichkeiten auf. Zwar wird Schuberts Eingehen auf den dichterischen Text gewürdigt, auf der anderen Seite aber eine völlige Unabhängigkeit von Text und Melodie behauptet, die Schuberts spezifische Leistung im Feld der Lyrikvertonung – gerade mit Blick auf die Liedrezeption des SchubertKreises – kaum angemessen beschreibt. Daß Schuberts Melodien sich nach Sonnleithners Auffassung den Worten der Dichtung »in jeder Beziehung treu anschließ[en], und die Empfindung des Dichters tief auffa[ssen], ja oft noch veredel[n]« ließe sich vielmehr in den zeitgenössischen Kontext einer Fortschreibung traditioneller liedästhetischer Prämissen stellen. 212 Leopold Sonnleithner, Über den Vortrag des Liedes, mit besonderer Beziehung auf Franz Schubert, in: Recensionen und Mitteilungen über Theater und Musik 45 (1860), S. 697‒701. 213 EF, S. 16.

5.3 Der Liedvortrag: ästhetische Kontroversen

187

Zudem gilt das hier auf der Ebene des Melodischen in Anspruch genommene Autonomiepostulat gerade nicht für die in besonderer Weise für Schuberts Liedstil charakteristische Klavierbegleitung: Diese sei, so Sonnleithner, »doch immer nur unterstützend und bildet häufig nur den Hintergrund, die allgemeine Stimmung oder eine eigentümliche Bewegung, z. B. des Reitpferdes, des Spinnrades, des Ruders, der Mühlräder, der Meeresbrandung usw«. Sonnleithner bemüht diese musikästhetische Beweisführung offenbar in erster Linie, um einer nach seiner Ansicht zu starken Willkür der zeitgenössischen Aufführungspraxis gegenüber Schuberts Notentext zu begegnen, die sich vor allem in scharf kritisierten »sentimentalen Zögerungsparoxismen« äußere. Mit dem geforderten ›melodisch‹ ausgerichteten Gesangsvortrag »in nothwendigem Zusammenhange« stehe überdies die Forderung, einer »strengsten Beobachtung des Zeitmaßes«. Auch diese Feststellung Sonnleithners leuchtet nicht unmittelbar ein, da doch gerade die Textdeklamation wichtige Hinweise auf die Wahl des angemessenen Vortragstempos zu liefern vermag214, während die von Sonnleithner kritisierten geschmacklichen Entgleisungen viel eher mit einem übertrieben praktizierten Auskosten des »gebührenden Stimmklangs« in Zusammenhang gestanden haben dürften. Immerhin hält Sonnleithner Vogl als Vertreter des deklamatorischen Gesangs durchaus zugute, »stets streng im Takte« gesungen zu haben.215 Die verschiedenen Abschriften und Revisionen, die Sonnleithner von den hier zitierten Texten anfertigte, aber vor allem die ostentative Ansprache der singenden Leserschaft am Schluß seines Essays verraten durchaus den Anspruch, hier eine verbindliche Methode zum Vortrag Schubertscher Lieder hinterlassen zu wollen.216 Als argumentativer Fluchtpunkt läßt sich ein gegenüber Schuberts Lebzeiten bereits veränderter Begriff von ›Werktreue‹ identifizieren, der sich nun ausschließlich an 214 Vgl. Hartmut Krones, »...nicht die leiseste Abweichung im Zeitmaße«. Tempofragen bei Franz Schubert am Beispiel der Winterreise, in: ÖMz 45 (1990), S. 684. 215 EF, S. 136. 216 Sonnleithners Notizen werden von Seiten der historischen Aufführungspraxis in der Regel als direkte Handlungsanweisung aufgefaßt, da es ansonsten an konkreteren Quellen zur Schubertschen Liedpraxis schlichtweg mangelt. Vgl. etwa: Gerhard Darmstadt, Freiheit und Notwendigkeit – Traditionen des Tempo rubato im 18. und 19. Jahrhundert bis Richard Wagner, in: »Mit mehr Bewusstsein zu spielen«. Vierzehn Beiträge (nicht nur) über Richard Wagner, hg. von Christa Jost, Tutzing 2006, S. 121‒162. Auch Elisabeth Schmierer läßt Sonnleithners Aufsatz in der Fassung von 1860 unkommentiert in ihrer Darstellung der Gattungsgeschichte des Liedes abdrucken: dies., Geschichte des Liedes, S. 328 u. Anh., S. 367‒369. Bereits 1997 hatte Eric van Tassel indes eine Kontextualisierung von Sonnleithners Äußerungen zum SchubertLiedvortrag vorgenommen: ders., »Something utterly new«. Listening to Schubert Lieder, in: EM 25/4 (1997), S. 703‒714. Van Tassel sieht in Sonnleithners Äußerungen grundsätzlich keine imperative Doktrin und gibt überdies zu bedenken, daß gerade mit Blick auf die Frage der Tempoforderungen und agogischen Freiheiten der heutige ›Notentreue‹-Begriff den Wandlungsprozessen unterworfenen historischen ›Werktreue‹-Begriff überblendet habe. Insofern mag Sonnleithner möglicherweise immer noch mehr Freiheiten akzeptiert haben, als unser Verständnis zulassen würde (S. 709). Eine philologisch basierte Diskussion der Schubertschen Liedpraxis sowie dessen Metronomangaben im Kontext historischer Temporaster und des ›alten‹ Rubato-Begriffs am Beispiel der Winterreise nimmt Hartmut Krones vor: ders., »...nicht die leiseste Abweichung im Zeitmaße« (vgl. Anm. 214).

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5 Gesangsideale der Schubert-Zeit

autonomieästhetischen Prämissen ausrichtet und bereits den Notentext als direkte Repräsentation der Komponistenintention viel stärker in dem Mittelpunkt rückt. Zudem scheinen hinter Sonnleithners Äußerungen bereits die Konturen eines idealtypischen Modells des ›Schubert-Liedes‹ durch: Schuberts Liedkompositionen in ihrer Gesamtheit vor dem beschriebenen Hintergrund eines vokalmusikalischen Kontinuums wird Sonnleithner damit gerade nicht gerecht, da seine Aussagen bei aller Wertschätzung für den Komponisten und Freund zu sehr von den immer noch Gültigkeit beanspruchenden ästhetischen Prämissen des traditionellen Liedideals geprägt sind, die am Beginn seiner Ausführungen von 1860 auch nochmals reklamiert werden. Wenngleich Sonnleithner eine deutliche persönliche Stellungnahme zur aktuellen liedästhetischen Entwicklung vermeidet, läßt sich sein Insistieren auf der Prämisse der Gattungsreinheit unter Rekurs auf die »Wesenheit« des Lyrischen durchaus als Kritik nicht lediglich an der Vortragsästhetik, sondern auch an der zeitgenössischen kompositorischen Praxis lesen. Insgesamt wurde, soweit sich dies den gleichfalls zum größten Teil der Jahrhundertmitte entstammenden Erinnerungszeugnissen entnehmen läßt, sowohl Vogls als auch Schönsteins Liedvortrag vom Schubert-Kreis und anderen Zuhörenden akzeptiert, wenngleich man naturgemäß von nicht im Detail überlieferten Diskussionen ausgehen muß. Die Stilisierung einer Kontroverse ›Vogl vs. Schönstein‹ muß insofern eher als nachträgliche Konstruktion vor allem Sonnleithners angesehen werden, die – entgegen seiner eigenen Formulierung von 1829 – zugunsten jenes angesprochenen idealtypischen Modells ausblendet, daß Vogl natürlich auch einen ganz bestimmten Typus von Liedern forcierte, in denen er seine künstlerischen Vorstellungen, die sich im zuvor beschriebenen Vortragsideal des »deklamatorischen Gesangs« bündelten, in besonderer Weises verwirklichen konnte. Die vielzitierten Thesen Sonnleithners sollten insofern viel eher als Beleg für eine im sich Zuge der Schubert-Rezeption des weiteren 19. Jahrhundert verstärkende Kontroversenbildung und damit als Quelle zur Liedpraxis der Jahrhundertmitte gelesen werden: Was sich hinter Sonnleithners Äußerungen und gerade durch die Vehemenz, mit der er sie bekräftigt deutlich abzeichnet, ist, daß die Lieder Schuberts letztlich in den Jahrzehnten nach dem Tod des Komponisten in der Wiener öffentlichen und privaten Musikkultur auch durch ihre performative Rezeption eine eigene Geschichte erlebt hatten. So scheinen Schuberts Kompositionen und ihr innerhalb des Wiener Musiklebens häufiger erfolgter Vortrag durch Vogl, wie man vorsichtig formulieren könnte, möglicherweise auch einer bestimmten Mode des Liedvortrags Vorschub geleistet zu haben. Die uneingeschränkte Mustergültigkeit, die Vogls Vortrag zu Schuberts Lebzeiten und auch später im Bewußtsein des ehemaligen Schubert-Kreises besaß, wird bei Sonnleithner indes letztlich durch den Verweis auf die Eitelkeiten eines alternden Opernsängers marginalisiert. Die Bedeutung des »deklamatorischen Gesanges« dürfte indes auf einer künstlerisch seriösen Ebene weitaus größer einzustufen sein, als Sonnleithners Einschätzungen dies hier aus der Perspektive der zweiten Jahrhunderthälfte suggerieren. Der von Vogl praktizierte Vortrag kollidierte zwar letztlich bereits aus Sicht seiner Zeitgenossen mit der traditionellen kulturellen Codierung des Liedes, ungleich größer erscheint

5.3 Der Liedvortrag: ästhetische Kontroversen

189

dieser Widerspruch, wie Sonnleithners Ausführungen zeigen können, allerdings aus einer eben dieses Liedideal noch stärker ideologisierenden historischen Distanz. Schubert überschritt, wie man vor dem bislang entfalteten Horizont formulieren kann, mit seinen Liedern eben nicht einfach abstrakt-formelle kompositionstechnische (bzw. gattungsästhetische) Grenzen, sondern auch Grenzlinien zwischen kulturell geformten Feldern ästhetischer Praxis. Dadurch reflektierte er in seinen Kompositionen gleichfalls in diesen Feldern stattfindende Ausdifferenzierungs- und Umdefinierungsprozesse: Als Impuls für seine Diagnose eines vortragsästhetischen Verfalls identifiziert Sonnleithner etwa eindeutig einen in den 1860er Jahren erfolgten aufführungskulturellen Wandel, der indes genau betrachtet durch Schuberts Lieder selbst letztlich überhaupt ins Werk gesetzt worden war: Das »Eindrängen« von Liedern »in die Concertsäle«. Aus der in den vorangehenden Kapiteln vorgenommenen historischen Perspektivierung geht somit deutlich hervor, daß gerade die von Schubert in vielen Liedkompositionen hergestellte spezifische Verschränkung traditionell liedhafter und theatralisierender Momente das künstlerische Feld des Liedvortrags offenbar allererst zum Schauplatz kontroverser Diskussionen ausformen konnte, die sich letztlich auf die angesprochenen werkästhetischen Fragen rückbeziehen lassen: Wenngleich die traditionellen Grenzziehungen einhaltend, sah Vogl sich durch Schuberts Musik offenbar ermächtigt, eben diese Grenzen auch in gewisser Weise durchlässig zu machen. Im Rahmen der hier erfolgten Diskussion dieser Kontexte standen, wie nochmals betont werden soll, weniger rein aufführungspraktische Fragen im Mittelpunkt des Interesses, als anhand einer Beschreibung der historischen Koordinaten für diese Kontroversen deren Aussagekraft hinsichtlich der musikalischen Aufführungskultur der Schubert-Zeit freizulegen. Der mit den Texten Sonnleithners indes bereits beschrittene Bereich der Rezeptionsgeschichte soll nun unter Beibehaltung der hier eingenommenen Perspektive weiter verfolgt werden.

6 ZUR KONSTRUKTION DES ›SCHUBERT-LIEDES‹ Solange deutsche Ton- und Dichtkunst leben, werden diese Lieder, wie reine Edelsteine zu schönstem goldenen Schmuck gefaßt, eine Zierde in der Krone Deutschlands bleiben. 1

6.1 SCHUBERT-BILD UND MUSIKREZEPTION Wenngleich die Rezeptionsgeschichte eines Komponisten kaum erst mit dessen Tod beginnt, setzt doch mit diesem Zeitpunkt der Prozeß einer zunehmenden Herausbildung und Festschreibung mentaler Bilder ein, die die weitere Wahrnehmung musikalischer Werke nach dem Tod ihres Schöpfers entscheidend prägen. Auch die Schubert-Rezeption des 19. Jahrhunderts vollzog sich in diesem Sinne nicht allein auf einer rein faktisch-kompositorischen Ebene, sondern wurde durch unterschiedlichste assoziative Faktoren beeinflußt, »die nicht auf dem historischen Schubert beruhen, sondern auf wie auch immer gearteten Vorstellungen von ihm [...]«. 2 Aus der Perspektive ästhetischer Wahrnehmung beschreibt Erich Wolfgang Partsch das hier angesprochene Phänomen als »eine Art Filter, der unserer ästhetischen Urteilsbildung vorgeschaltet ist. Im Sinne einer Extrapolation werden dabei häufig einzelne (biographisch dominierte) Bildkomponenten unreflektiert auf die Werkrezeption übertragen«3, so daß daraus bestimmte Stereotypen und Klischees hervorgehen: [...] der in der Schubert-Literatur wohlvertraute Vorwurf einer mangelnden Dramatik (bezogen auf das Opernschaffen), der in Verbindung mit einer ganz spezifischen Biedermeier-Auffassung (›Schwammerl‹) steht, sind bezeichnende Beispiele für solche Übertragungen. Dabei werden markante biographische oder gattungsspezifische Details im Prozeß einer Generalisierung auf andere Bereiche als ›Deutungsmuster‹ angewendet.4

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Vorwort zum von Max Friedlaender herausgegebenen Schubert-Album [Bd. 1] im Peters-Verlag. Vgl. dazu eingehender unten Kapitel 8.1.1. Marie-Agnes Dittrich, Rezeption der Werke Schuberts nach Gattungen? Zur Problematik der Analyse als Werkzeug der Historiographie zwischen Fakten- und Erinnerungsgeschichte, in: Schubert und die Nachwelt, hg. von Gernot Gruber/Michael Kube, Tübingen 2008, S. 107. Erich Wolfgang Partsch, Zur Problematik von Komponistenbildern am Beispiel Schuberts und Bruckners, in: Bruckner Symposion Künstler-Bilder (1998), hg. von Uwe Harten, Linz/Wien 2000, S. 95. Um die Prägung der Kunstwerkrezeption durch innerhalb einer Rezeptionsgemeinschaft wirksam gewordene variable mentale Bilder des jeweiligen Schöpfers beschreiben zu können, bietet

6.1 Schubert-Bild und Musikrezeption

191

Die hier benannte »spezifische Biedermeier-Auffassung« − die Verklärung und ›Verkitschung‹ Schuberts im Kontext einer Alt-Wien-Nostalgie in den Jahren um 1900, wie sie etwa mit besonders weitreichender Ausstrahlung in den Romanen Hans Rudolfs Bartschs geschieht5, ist indes in gewisser Weise der Kulminationspunkt einer Entwicklung, die sich über Jahrzehnte vollzog und mit deren Verlauf der Komponist Schubert Teil der historischen Erinnerungskultur des 19. Jahrhunderts wurde. Die bisherige Forschung zur Schubert-Rezeption im 19. Jahrhundert hat neben der Fokussierung einer die Werkrezeption in den Mittelpunkt stellenden funktionalistischen Wirkungsgeschichte6 durchaus Perspektiven auch auf diese Entwicklung freigelegt.7 Läßt man bei der Analyse dieses Prozesses indes gerade die aus historischer Perspektive nur schwierig zu fassende klingende Präsenz von Schuberts Musik innerhalb der zeitgenössischen kulturellen Praxis außer Acht, blendet man auch ein entscheidendes, wirkungsmächtiges Erklärungsmoment für die angesprochene Entwicklung aus – denn zum Klingen gebracht wurde und wird letztlich immer auch zu gewissem Anteil das jeweilig zeitgenössische SchubertBild. Obgleich die Rekonstruktion eines historischen ›impliziten Hörers‹ kaum möglich ist, erscheint es besonders für eine kulturgeschichtlich ausgerichtete Interpretationsforschung insofern unumgänglich, doch zumindest die Herausbildung

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sich das von Partsch hier ins Feld geführte wissenssoziologische Konzept des ›Deutungsmusters‹ an. Grundsätzlich werden hierunter Sinnschemata verstanden, die das individuelle Wissen strukturieren. Gegenüber dem auf globalere Entwicklungen und Aussagen gerichtete Mentalitätsbegriff erlaubt es, auch kürzere Zeitspannen und weniger breite, sozial von vornherein homogenere Trägerschaften zum Gegenstand zu machen. Beides ist mit Blick auf die hier zu erklärenden Mechanismen relevant. Vgl. grundsätzlich: Karsten Kassner, Soziale Deutungsmuster – über aktuelle Ansätze zur Erforschung kollektiver Sinnzusammenhänge, in: Sinnformeln. Linguistische und soziologische Analysen von Leitbildern, Metaphern und anderen kollektiven Orientierungsmustern, hg. von Susan Geideck, Berlin 2003, S. 37‒58. Besonders Bartschs Roman Schwammerl. Ein Schubert-Roman (Wien 1912) gilt als zeittypisches und zugleich wirkungsmächtigstes Rezeptionszeugnis einer neobiedermeierlichen Verharmlosung Schuberts. Unter anderem wurde er zur literarischen Vorlage für Heinrich Bertés Operette Das Dreimäderlhaus. Vgl. auch: Sabine Giesbrecht-Schutte, Klagen eines Troubadours. Zur Popularisierung Schuberts im »Dreimäderlhaus«, in: Festschrift Martin Geck, hg. von Rolf Ares/Ulrich Tadday, Dortmund 2001, S. 109‒133. Vgl. Thomas Kabisch, Liszt und Schubert, München 1984; Gibbs, The Presence of »Erlkönig«; Marie-Luise Maintz, Franz Schubert in der Rezeption Robert Schumanns. Studien zur Ästhetik und Instrumentalmusik, Kassel [u. a.] 1992; Das österreichische Lied und seine Ausstrahlung in Europa, hg. von Pierre Béhar, Hildesheim 2005 sowie den Band Schubert und die Nachwelt. Vgl. David Gramit, Conctructing a Victorian Schubert, in: 19thCM 17/1 (1993), S. 65‒78; Andreas Mayer, Franz Schubert. Eine historische Phantasie, Wien 1997; Martin Zenck, Franz Schubert im 19. Jahrhundert. Zur Kritik eines beschädigten Bildes, in: Gustav Mahler in der Musik der Gegenwart, hg. von Klaus Hinrich Stahmer, Mainz 1997, S. 9‒24; Elmar Budde, Zur Rezeptionsgeschichte des Schubertliedes, in: Gattungen der Musik und ihre Klassiker, hg. von Hermann Danuser, Laaber 1998, S. 235‒250; Marie-Agnes Dittrich, Kein grollender Titan. Franz Schubert, der Österreicher, in: Das Andere. Eine Spurensuche in der Musikgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts, Frankfurt a. M. 1998, S. 191‒201; Friederike Janecka-Jary, Franz Schubert am Theater und im Film, Salzburg 2000; Scott Messing, Schubert in the European Imagination, Bd. 1: The Romantic and Victorian Eras, Rochester 2006, Bd. 2: Fin-desiècle-Vienna, Rochester 2007.

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6 Zur Konstruktion des ›Schubert-Liedes‹

mentaler Bilder8 und historischer Phantasien9 über Komponisten und Komponistinnen in die kulturelle Kontextualisierung der Interpretation von Musik mit einzubeziehen, denn im Akt der performativen Realisierung bestimmen sie die Wahrnehmung von Interpreten und Rezipienten entscheidend mit. Rezeptionsgeschichtliche Entwicklungen gehören insofern in zentraler Weise auch zur Beschreibung spezifischer Segmente der musikalischen Aufführungskultur.10 Um Schuberts Lieder aus dieser Perspektive in den Blick nehmen zu können, ist es mithin zunächst notwendig, das bereits ad acta gelegte Bild vom ›Liederkomponisten‹ Schubert erneut in die Diskussion einzubinden. Dieses Bild kristallisierte sich bekanntlich bereits zu Schuberts Lebzeiten heraus und wurde unmittelbar nach seinem Tod vor allem durch Schuberts Freundeskreis und seinen Bruder Ferdinand weiter befestigt. Joseph von Spaun schreibt etwa 1829 an Eduard von Bauernfeld: Bey aller Bewunderung die ich dem theuren seit Jahren schenke, bin ich doch der Meinung, daß wir in Instrumental- und Kirchenkompositionen nie einen Mozart oder Haydn aus ihm machen werden, wogegen er im Liede unübertroffen bleibt. In dieser Art von Kompositionen hat er seinen Ruhm erreicht, den er mit niemandem teilt. Ich glaube daher, dass Schubert von seinem Biographen als Liederkompositeur aufgegriffen werden müsse [...].11

Wenige Wochen nach Schuberts Tod sollten also hier offenbar die Weichen für eine planvolle postume musikhistorische Verortung des Komponisten gestellt werden, wofür Spaun sich selbst und den Freundeskreis vor dem Hintergrund zeitgenössischer kultureller Praxis gewissermaßen in der Pflicht sah. Die in engerem Sinne historiographische Befestigung Schuberts erfolgte allerdings erst etwa drei Jahrzehnte später, wie noch eingehender zu behandeln sein wird.12 Die Rede vom »Liederkompositeur« Schubert, deren Präsenz sich letztlich durch das gesamte 19. Jahrhundert nachweisen läßt, erreichte in den 1850ern mit dem fortan häufig verwendeten Begriff des »Liederfürsten«13 den Status einer geradezu offiziellen Etikettierung – verbunden mit einer Charakterisierung Schuberts als unbewußt schaffendem ›Naturgenie‹, das ohne Bewußtsein für strukturelle Komplexität und formale Ordnungskategorien seine Kompositionen hervorgebracht habe. Längst gilt diese Auffassung indes als unliebsames und überholtes Klischee, dem man notwendigerweise Schuberts Bedeutung als Instrumentalkomponist entgegenzuhalten habe. Überdies sind zum Bild des »Liederfürsten« Gegenbilder konstruiert worden, die den Komponisten als Repräsentanten einer durch Entfremdungserfahrungen gebrochenen Weltsicht neu erfunden haben – als einen jegliche biedermeierliche Beschaulichkeit entlarvenden »Todesmusiker«, der mittels einer 8 9 10 11 12 13

Helmut Rösing, Musikpsychologische Aspekte von ›Komponistenbildern‹: Selbstinszenierung– Fremdinszenierung – Legendenbildung, in: Bruckner-Symposion Künstler-Bilder, S. 25‒35. Mayer, Franz Schubert. Eine historische Phantasie, S. 7‒18. Vgl. Kraus, Interpretationsgeschichte im Spannungsfeld, S. 13‒26. EF, S. 39. Vgl. unten Kapitel 6.3.1. Vgl. Ernst Hilmar, Art. Schubert-Bild, in: SE, S. 665.

6.1 Schubert-Bild und Musikrezeption

193

ambivalenten, gleichsam doppelbödigen Musiksprache gerade die Abgründe menschlichen Seelenlebens protokolliert habe. 14 Ein Bild löst indes im Prozeß der Rezeptions- wie der Erinnerungsgeschichte nicht einfach das andere ab, sondern vermischt sich mit früheren Entwürfen zu einem als chaotisch beschreibbaren Gewebe. Insofern ist davon auszugehen, daß die rezeptionsgeschichtlich begründete Synonymisierung von ›Schubert‹ und ›Lied‹ samt ihren ideologisierenden Implikationen keineswegs ihre kulturelle Repräsentationskraft verloren hat, sondern die Schubert-Rezeption in all ihren Facetten zumindest der Tendenz nach weiterhin mitbestimmt – wenngleich sie Nuancierungen und zum Teil kritische Umwertungen erfahren hat. Um zwei extreme Beispiele herauszugreifen ließen sich etwa sowohl die zeitgenössische Crossover-Musikkultur15 als auch die strukturanalytische Auseinandersetzung mit Schuberts Musik benennen.16 Die von der Schubert-Philologie vor allem durch die Bemühungen um ein ›objektives‹ Schubert-Bild erfolgte Verurteilung einer Verzerrung des Komponisten durch die Rezeptionsgeschichte − vor allem mit Bezug auf das Schubert-Bild des Fin de Siècle17 − hat indes kaum zu einer differenzierenden Kontextualisierung der Gründe für diese Entwicklung bzw. zu einer Reflexion der dahinterstehenden Mechanismen seit der Vormärzzeit und nach 1848 geführt. Eben diese Fragen erweisen sich allerdings als bedeutsam für die hier eingenommene Perspektive, da sie in zentraler Weise mit der kulturellen Funktionalisierung des Kunstliedes im Verlauf des 19. Jahrhunderts in Zusammenhang stehen.18 14

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17 18

Gruber, Zum aktuellen Stand rezeptionsgeschichtlicher Forschung in der Musikwissenschaft, S. 13f. Vgl. auch Ilija Dürhammer, Der Wandel des Schubertbildes im 20. Jahrhundert, in: »Dialekt ohne Erde...« Franz Schubert und das 20. Jahrhundert, hg. von Otto Erich Kolleritsch, Wien/Graz 1998, S. 238‒258. Mit diesem Schubert-Bild korrespondiert nicht zuletzt auch das psychoanalytische Interesse des späteren 20. Jahrhunderts an Schubert, was vor allem von Seiten der englischsprachigen Forschung dazu führte, den Komponisten im Kontext einer homophilen Subkultur zu diskutieren. Dabei ist vor allem das Deutungsmuster eines ›volkstümlichen Schubert‹ im Sinne eines »leicht rezipierbare[n] Identifikationsmodell[s] für breite Schichten« angesprochen (vgl. Partsch, Zur Problematik von Künstlerbildern, S. 96). Als kreativ-kritische Auseinandersetzung mit diesem Schubert-Bild ließen sich etwa die folkloristisch-ironisierenden Schubert-Liedtranskriptionen des österreichischen Ensembles franui beschreiben (www.franui.at [7.1.2016]). Der Aspekt einer Präsenz des Liedhaft-Lyrischen in Schuberts Werk schlechthin wird etwa nicht nur auf diejenigen Werke bezogen, bei denen Schubert selbst auf vorher entstandene Liedkompositionen zurückgreift und sie in die Textur einer heute als ›absolut‹ gehörten Kunstmusik einwebt, sondern auch im Sinne einer in den Sonaten, Kammermusikwerken und Sinfonien konstatierten flächig »auskonstruierten Innerlichkeit« (Hinrichsen, Berührung der Extreme, S. 43). Lyrismus wird hier in der Regel als expressive Valenz vom Parameter des Melodischen abgetrennt. Instrumentalmusik und Lied werden insofern immer mehr in einem Interdependenzverhältnis stehend aufgefaßt. Vgl. etwa: Poundie Burstein, Lyricism, Structure, and Gender in Schubert’s G Major String Quartet, in: MQ 81/1 (1997), S. 51‒63. Vgl. etwa Ernst Hilmar, Über die Möglichkeit Schubert anders zu sehen, in: Dokumentationen des Bundesverbandes deutscher Gesangspädagogen, Heft 1992, S. 91‒107. Ein Skizzierung dieser Entwicklung findet sich bei Partsch, Zur Problematik von Künstlerbildern, S. 96f.

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6 Zur Konstruktion des ›Schubert-Liedes‹

Bereits Elmar Budde hat etwa darauf aufmerksam gemacht, daß die angesprochenen rezeptionsgeschichtlichen Entwicklungen gleichsam dazu beitrugen, der Konstruktion eines Idealtypus’ des ›Schubert-Liedes‹ Vorschub zu leisten und dabei »wesentliche Merkmale der Schubertschen Kompositionen [...] verdrängt und verdeckt« haben.19 Damit sei vor allem die Ideologisierung des Liedbegriffs im Kontext von ›Volkstümlichkeit‹ und ›Natürlichkeit‹ angesprochen, die mit der Rezeption der Lieder Schuberts verbunden wurde und zu einer gleichsam selektiven Wahrnehmung in Bezug auf die formale Komplexität der Schubertschen Liedkompositionen geführt habe. Auf der Ebene musikalischer Praxis manifestiere sich dies in der Auswahl von repräsentativen Einzelliedern für zeitgenössische Notenausgaben – wie das die heutige Repertoirebildung immer noch beeinflussende zwischen 1871 und 1884 vom Leipziger Peters-Verlag herausgegebene Schubert-Album.20 Auf welche Weise weitere Facetten des hier angesprochenen Ideologisierungsprozesses mit Blick auf zentrale das 19. Jahrhundert betreffende sozial- und kulturhistorische Kontexte – wie der Entwicklung von öffentlicher und privater Sphäre, der Herausbildung von Geschlechterpolaritäten sowie der Konstruktion nationaler Identität – mit der Aufführung von Schuberts Liedern innerhalb einer sich herausbildenden musikalischen Hochkultur nach dem Tod des Komponisten in Zusammenhang stehen, soll in den folgenden Kapiteln vertieft werden.

6.2 VORMÄRZ: »ZAUBERNAME« UND »LIEDERHEROS« Folgt man Otto Brusatti, so sind die Gründe für eine in der Vormärzzeit zu konstatierende gleichsam selektive Schubert-Pflege, die unbekannte Instrumentalwerke eher ablehnte und das Lied in den Mittelpunkt rückte, mit der zeitgenössischen Konstellation des Wiener Musiklebens zu erklären: Explosionsartige Konjunktur der Unterhaltungsmusik, Faszination am Virtuosentum sowie die anhaltende Vorherrschaft der italienischen Oper bilden die entscheidenden Kontexte, durch die Wiens musikalische Kultur in den 1830er und 1840er Jahren maßgeblich bestimmt wurde.21 Angesichts dieser Situation konstatiert Brusatti, die Musik Schuberts sei genau so wenig geeignet gewesen, das »spontane Musikbedürfnis« der Menschen zu erfüllen wie etwa diejenige Bachs, Mozarts oder Beethovens.22 Dennoch eigneten sich gerade Schuberts Lieder offenbar hervorragend, von eben diesem »spontanen Musikbedürfnis« gleichsam absorbiert zu werden, was sicherlich mit der vom Prozeß der Kanonisierung eines ›klassischen‹ Repertoires bereits erfaßten Musik Bachs und Beethovens eher nicht geschah. Die Gründe dafür liegen zu allererst in der bereits thematisierten spezifischen kulturellen Codierung der Gattung Lied, die 19

20 21 22

Vgl. Budde, Franz Schubert und das Lied. Zur Rezeptionsgeschichte des Schubert-Liedes. Vgl. auch: ders., Der Flug der Zeit. Zur Erstveröffentlichung der Schubertlieder und ihrer Rezeption, in: Von Dichtung und Musik. Ein Lesebuch, hg. von der Internationalen Hugo-Wolf-Akademie, Tutzing 1997, S. 9‒31. Vgl. zum Schubert-Album eingehender unten Kapitel 8.1.1. SWVm, S. 11. Ebd.

6.2 Vormärz: »Zaubername« und »Liederheros«

195

sich in der zeitgenössischen Wahrnehmung zudem auf charakteristische Weise mit Schuberts Person betreffenden biographischen Phantasien verband. Über Lieder war grundsätzlich ein größeres Publikum zu erreichen als über Instrumentalmusik. Die Neuausgabe der Schubert-Dokumente (1993) zählt 181 Lieder, die zu Lebzeiten Schuberts veröffentlicht wurden; die ab 1830 einsetzenden »Nachlasslieferungen« Anton Diabellis konzentrieren sich ebenfalls nahezu ausschließlich auf Lieder.23 Gerade für die Verleger war das Risiko bei der Veröffentlichung von Liederheften ungleich geringer als bei Orchester- oder anspruchsvoller Kammermusik, da ihre Verbreitung nicht auf eine institutionalisierte Aufführungsrahmung angewiesen war, sondern in erster Linie auf die private Musikpraxis abzielte24, wenngleich in den 1830/40er Jahren weiterhin in beschränktem Maße öffentliche und halböffentlichen Aufführungen Schubertscher Lieder nachweisbar sind.25 Insofern barg das Lied als ›populäre‹ Gattung unzweifelhaft die besten Möglichkeiten einer zunehmenden Popularisierung des Komponisten Schubert. Es ließ sich aber auch, reduziert auf seine melodische Substanz, in Gestalt anderer populärer musikalischer Genres präsentieren, ohne daß sein Wiedererkennungswert darunter litt. So erscheinen gerade die ersten Dekaden der Wiener Schubert-Rezeption nach dem Tod des Komponisten von der Herausbildung eines Schubert-Bildes geprägt, das zu einem großem Teil aus der Verbreitung besonders beliebter Lieder durch die in dieser Zeit gleichsam explodierende Unterhaltungsmusikkultur gespeist wurde. Mit Blick auf die konkreten musikalischen Erscheinungsformen gehört in diesen Kontext vor allem das breite Spektrum der Schubert-Bearbeitungen, die bereits zu Lebzeiten des Komponisten eine Rolle spielten. Wie bereits erwähnt, veröffentlichte etwa Diabelli im Kontext des Erfolges der ersten öffentlichen Erlkönig-Aufführungen 1821 sogleich eine Walzerfolge Anselm Hüttenbrenners, die auf Motiven aus Schuberts Komposition basiert.26 In den Jahrzehnten nach Schuberts Tod folgten neben den ›seriösen‹ Nachlaßveröffentlichungen vieler Lieder durch Diabelli aus dessen Feder etwa auch Galoppe und Märsche über einzelne Lieder, außerdem zahlreiche Bearbeitungen u. a. für Gitarre, Klavier zwei- und vierhändig, Klavier und Violine und Physharmonika.27 Als Sonderfall zeitgenössischer Bearbeitungspraxis bzw. Bearbeitungsmode innerhalb der musikalischen Kultur des Wiener Vormärz können die Liedtranskriptionen Franz Liszts gelten. Auch wenn ihre statistische Bedeutung als zentraler rezeptionsgeschichtlicher Faktor mit Blick auf den deutschsprachigen und europäischen Raum nach neueren Erkenntnissen eingeschränkt werden muß, da auch Liszt 23 24

25 26 27

Michael Raab, Zu Antonio Diabellis Nachlasslieferungen, in: Schubert und das Biedermeier, S. 217‒226. Vgl. Michael Kube, Von »himmlischer Länge« zu »himmlischen Längen«. Denken und Schreiben über Schuberts Musik im 19. und frühen 20. Jahrhundert, in: Schubert und die Nachwelt, S. 39‒50, S. 40. Vgl. Ahrens, Liszts Transkriptionen, S. 13‒27. Vgl. die bei Christopher Gibbs aufgeführten Bearbeitungen: ders., The Presence of »Erlkönig«, S. 415‒423, (Anh. 6). Die Phsyharmonika-Bearbeitungen von Carl Georg Lickl wurden von Diabelli in der Serie Wiener Salonmusik veröffentlicht.

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6 Zur Konstruktion des ›Schubert-Liedes‹

sich zunächst an bereits prominenten Liedern ausrichtete und zudem als Klavierbegleiter auch stark für die Originalversionen einiger Lieder einsetzte 28, ist die Rolle seiner Transkriptionen im Sinne einer ›Öffentlichkeitsarbeit‹ für Schuberts Lieder von besonderem Interesse. Berühmte Virtuosen wie Liszts ehemaliger Lehrer Carl Czerny, sein Schüler Stephen Heller oder auch sein schärfster Konkurrent Sigismund Thalberg fertigten in den 1830er Jahren ebenfalls Liedtranskriptionen an, griffen dabei allerdings auf konventionelle Formmodelle wie Variationssatz und Potpourri zurück.29 Liszt selbst indes hatte freiere, kühnere und individuellere Konzeptionen verwirklicht, die die Lieder als völlig eigenständige Kompositionen erscheinen ließen und wurde daher seinerseits als Erfinder einer neuen Gattung apostrophiert. Er hatte die Sonderstellung des Schubertschen Lied-Œuvres zwischen öffentlicher und privater Sphäre registriert und setzte mit seinen Transkriptionen letztlich genau an diesem Punkt an. Ausgehend von der Prämisse einer dem Interpreten zustehenden kreativen Freiheit nimmt Liszt insofern mit seiner individualisierenden und durch virtuose Techniken entgrenzenden Umformulierung bzw. Weiterdichtung eine gezielte ›Entprivatisierung‹ der Musik vor.30 Aus der durch den Prozeß einer Diversifizierung des Konzertlebens herbeigeführten aufführungskulturellen Unbestimmtheit, in die sie hineinkomponiert waren, hob er Schuberts Lieder damit endgültig ins Rampenlicht der großen Bühne.31 Das bedeutet vor allem auch, daß das Publikumsspektrum sich erheblich erweiterte und über die ›Freunde des Liedes‹ hinaus, auch das große Publikum der europäischen Konzertsäle mit einer gezielten Auswahl von Schuberts Liedern in Berührung kam – sofern diese nicht bereits durch andere Bearbeitungen bekannt waren.Wie Michael Raab in einer jüngeren Studie feststellt, waren 64 Prozent aller im 19. Jahrhundert bearbeiteten Schubertschen Werke Klavierlieder. Seit 1840 traten sie verstärkt in den Vordergrund, was Raab auf die Veröffentlichungspolitik Diabellis zurückführt. Ein erster Höhepunkt der Bearbeitungsflut ist statistisch um 1844 anzusiedeln.32 An der Vielzahl von Serien, Bearbeitungen, Besetzungsvarianten etc. wird nur allzu deutlich, daß gerade das in »executiver Hinsicht musikalische[...] Wien«33 von einer enthusiastisch betriebenen musikalischen Geschäftigkeit erfaßt war34, die nun auch von Schubert und seinen Liedern Besitz ergriffen hatte. Diese von der zeitgenössischen 28 29

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Vgl. eingehend dazu Ahrens, Liszts Transkriptionen. Etwa Czernys Drey brilliante Fantasien über die beliebtesten Motive aus Franz Schubert’s Werken für Klavier und Waldhorn oder Violine oder Cello op. 339. Vgl. Hilmar, SchubertRezeption 1831‒1865, Nr. 1834/4. Hans-Joachim Hinrichsen, Rezeption als Selbstverständigung. Franz Liszt als Interpret, Bearbeiter und Herausgeber von Werken Franz Schuberts, in: Schubert und die Nachwelt, S. 127. Bezeichnend ist, daß auch Liszts Transkriptionen selbst wiederum bearbeitet wurden. So kündigt der Verlag Tobias Haslinger etwa 1843 in der Wiener Zeitung eine Bearbeitung von Liszts Winterreise-Fassung für Violine, Flöte, oder Violoncello und Klavier durch den Geiger Leopold Jansa an. Vgl. Hilmar, Schubert-Rezeption 1831‒1865, S. 136. Vgl. Michael Raab, Schubert-Bearbeitungen im 19. Jahrhundert. Recherche, Überblick, Ergebnisse, in: Schubert und die Nachwelt, S. 111‒119. Vgl. Dok II, Nr. 79. Vgl. Nicolai Petrat, Hausmusik des Biedermeier im Blickpunkt der zeitgenössischen musikalischen Fachpresse (1815– 1848), Hamburg 1986.

6.2 Vormärz: »Zaubername« und »Liederheros«

197

Musikkritik als ›Musikomanie‹ beschriebene Situation steht indes quer zu einem als ›biedermeierlich‹ ausgewiesenen Hausmusikideal, das ebenfalls als atmosphärische Basis mit Schuberts Liedkompositionen verbunden wird. Daß neben den Bearbeitungen Schuberts Lieder auch in Originalgestalt mit zunehmendem Bekanntheitsgrad nun vermehrt in den privaten Musizierzimmern des bürgerlichen Publikums erklangen, versteht sich angesichts der zunehmenden Veröffentlichung der Lied-Opera von selbst, wenngleich für diesen Bereich naturgemäß weniger Dokumentationsmaterial vorliegt. Dabei ist indes daran zu erinnern, daß mit dem Begriff ›Hausmusik‹ ‒ versteht man ihn als atmosphärischen Gegenpart zum öffentlichen Musizieren auf Bühnen, in Sälen oder halböffentlichen Salons im Sinne eines Musizierens in intimer, familiärer Atmosphäre – ein facettenreicher Prozeß der Ideologisierung verbunden ist, der sich nun gleichfalls auf die Rezeption der Lieder Schuberts auszuwirken begann: Bis ins 18. Jahrhundert hinein ist ›Hausmusik‹ im Sinne privaten Musizierens als äußerst vielgestaltige musikalische Praxis beschreibbar. 35 So tritt neben die bereits im 17. Jahrhundert bestimmbare Funktion von Musik als privater ›Seelenerbauung‹ eine anspruchsvolle private Musizierpraxis, die auch Vorformen eines noch nicht als solches bestehenden institutionalisierten Konzertwesens repräsentieren konnte. Seit der zweiten Hälfte des 18. und in immer stärkerem Maße im 19. Jahrhundert fand indes eine zunehmende begriffliche Einengung statt. Die Idee der ›Häuslichkeit‹ wurde aus mentalitätsgeschichtlicher Perspektive nun zu einer ideellen Basis, die die ›Familie‹ als neuen sozialen und moralischen Mittelpunkt des bürgerlichen Lebens installierte. Damit verband sich auf sozialgeschichtlicher Ebene eine neue geschlechtsspezifische Rollenverteilung, die ebenfalls bereits im ausgehenden 18. Jahrhundert eingesetzt hatte: »Etwa seit 1750 mehren sich die Erklärungsversuche, die Mann und Frau nicht mehr als zwei sich komplementär ergänzende Geschlechter innerhalb eines soziales Gefüges begreifen, sondern statt dessen naturgegebene unterschiedliche Charaktereigenschaften betonen und diese als Voraussetzung für unterschiedliche Aufgaben in der Gesellschaft ansehen.«36 Dazu gehörte etwa in zentraler Weise die Assoziation des Weiblichen mit der sozialen Sphäre des Privaten37, die auch erhebliche Konsequenzen für die Funktionalisierung und kulturelle Codierung häuslichen Musizierens (und Musikrezipierens) hatte: Die Idee der Hausmusik wurde so zunehmend auf die Kreation einer mit ei-

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Vgl. Gabriele Busch-Salmen, Art. Hausmusik, in: MGG2, S/Bd. 4, Sp. 227‒234. Ruth Heckmann, Mann und Weib in der »musicalischen Republick«. Modelle der Geschlechterpolarisierung in der Musikanschauung 1750‒1800, in: Geschlechterpolaritäten in der Musikgeschichte des 18. bis 20. Jahrhunderts, hg. von Rebecca Grotjahn/Freia Hoffmann, Herbolzheim 2002, S. 19. Vgl. grundsätzlich: Claudia Honegger, Die Ordnung der Geschlechter. Die Wissenschaften vom Menschen und das Weib 1750‒1850, Frankfurt a. M. 1991. Vgl. Karin Hausen, Öffentlichkeit und Privatheit. Gesellschaftspolitische Konstruktionen und die Geschichte der Geschlechterbeziehungen. in: Frauengeschichte – Geschlechtergeschichte, hg. von ders., S. 81‒88.

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6 Zur Konstruktion des ›Schubert-Liedes‹

nem idealisierten weiblichen Geschlechtscharakter konnotierten erbaulichen ›Innerlichkeit‹ reduziert.38 Von ›außen‹ wurde diese Privatsphäre beeinflußt, indem man von Seiten der musikalischen Fachpresse begann, den geschützten Raum des Hauses gleichfalls als ›Hort der Hochkultur‹ zu stilisieren und emphatisch dazu aufrief, sich nicht von der »Sündenfluth« der Trivialmusik vereinnahmen zu lassen.39 Sendungsbewußte Spezialisten begannen so, gerade über das Medium der Hausmusik ein ›klassisches‹ Musikverständnis zu lancieren, wobei sich durchaus Inkongruenzen mit der kulturellen Codierung der privaten Hausmusiksphäre ergaben. Ein Hinweis auf die Rolle der Lieder Schuberts vor diesem Hintergrund findet sich etwa in Franz Gernerths Satire Wie man Componist wird, die 1846 in der Allgemeinen Wiener Musikzeitung abgedruckt wurde: [...] Ein Vater lässt seiner Tochter singen lernen. Das Mädchen hat eine hübsche Stimme und verräth die Anlage zur Musik. Sie lernt Schubert kennen und schwärmt, wie natürlich, enthusiastisch für ihn. Da kriegt sie Heine in die Hand. Nun gibt sie dem Vater keine Ruhe, bis er ihr nicht den Generalbaß lernen läßt. Es geschieht. ... Sie studiert mit Eifer fort, sieht aber endlich doch ein, daß man den Generalbaß zu nichts brauchen könnte, wenn man keine musikalischen Ideen hat; dennoch aber wird sie schwärmerisch und setzt Heine in Musik. Armer Heine! 40

Gernerth bietet hier eine zeittypische Satire auf den Dilettantismus, der größtenteils seine noch zu Schuberts Zeiten gültige Bedeutung mittlerweile eingebüßt hatte. Dem weiblich konnotierten anspruchslosen Umgang mit Musik41 stand ein nun ausschließlich männlich konnotierter Geniebegriff gegenüber. Die Inkompatibilität dieser Bereiche findet sich etwa literarisch abgespiegelt im Modell von E. T. A. Hoffmanns Kapellmeister Kreislers musikalischen Leiden, das auch hinter Gernerths Polemik durchscheint. Gerade die Liedkomposition blieb nicht zuletzt wegen ihres ›dilettantischen‹ Images eine weiblich konnotierte Domäne. 42 Schuberts Lieder, für die jene bei Gernerth karikierte ›höhere Tochter‹ – »wie natürlich« − sogleich enthusiastisch schwärmt, werden in dieser Szene auf eine typisch ambivalente Weise verortet: Sie befinden sich zwar produktionsästhetisch auf einer für die komponierende Dilettantin unerreichbaren Ebene, müssen aber im Gegensatz zu Heines Gedichten ob ihres ›Anspruchs‹ nicht in Schutz genommen werden. Sie bleiben als klingende Musik vielmehr eindeutig der ebenfalls weiblich konnotierten Hausmusik-Sphäre zugeordnet.43 38

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Zur Feminisierung der Hausmusik vgl. Gunilla Friederike Budde, Musik in Bürgerhäusern, in: Le concert et son public. Mutations de la vie musicale en Europe de 1780 à 1914, hg. von Hans Erich Bödeker, Paris 2002, bes. S. 436‒451. Nicolai Petrat, Hausmusik um 1840, in: Musica 42 (1988), S. 256. SWVm, Nr. 225. Vgl. Heckmann, Mann und Weib, S. 26. Vgl. Marcia Citron: Women and the Lied 1775-1850, in: Women Making Music. The Western Art Tradition 1150‒1950, hg. von Jane Bowers/Judith Tick, S. 224‒248. Vgl. auch die Kontextualisierung dieser Quelle bei Scott Messing: »Already at midcentury, as Gernerth’s story attests, Schubert was coming to be associated with the repertoire apropriate to the sensibilities of feminine and domestic.« (ders., Schubert in the Europaen Imagination, Bd. 1, S. 64).

6.2 Vormärz: »Zaubername« und »Liederheros«

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Neben dem Klavierspiel als typisch weiblicher Betätigung innerhalb der bürgerlichen Kultur des 19. Jahrhunderts44 verbindet sich in Gernerths Anekdote einmal mehr der Liedgesang mit sowohl dem Assoziationsfeld eines seit der Empfindsamkeit als ›naturhaft‹ angesehenen expressiven Potentials der Frau als auch mit dem kulturellen Konstrukt eines irrational-schwärmerischen weiblichen Geschlechtscharakters. Eine mit diesem Kontexten in direktem Zusammenhang stehende weitere Facette zeitgenössischer Schubert-Rezeption bietet die häufiger anzutreffende Assoziation des Komponisten mit dem Phänomen der singenden Stimme.45 Schuberts »Beruf für das Lied«46 und die Idee seines Erscheinens als entmaterialisierte bzw. akusmatische Stimme verbinden sich in einer 1840 erschienenen trivialliterarischen Phantasie aus der Wiener Zeitung etwa in charakteristischer Weise mit der zeitgenössischen Rezeption Franz Liszts: Es war Nachts. Ich lehnte an einer Säule der erleuchteten Rotonda, Liszt gegenüber, der am Piano saß. Er glaubte sich allein – mich konnte er nicht sehen, weil ich im Schatten der starken Colonne stand. Sein Auge brannte auf einen Punkt des Instruments hin, und seine Hände spielten mit einzelnen Accorden und Läufen; durch die gewöhnlichen Namen will ich die Stimmen bezeichnen, worin die Saiten seinen Fingern antworteten. Er fragte immer heftiger, denn seine Gefühle wogten höher, und sein Lieben und Sehnen, Hoffen und Leiden fanden den Weg durch seine Fingerspitzen, wie vor dem Gewitter oft Zweige und Blumenblätter sichtbare Flammen tragen; das lebendig gewordene Piano antwortete auf alle Fragen, es liebte, sehnte, hoffte und litt mit ihm, und trug sein Lieben, Hoffen, Sehnen und Leiden weiter in fremde Herzen, den Wellen des Meeres gleich, die eine schnelle auftauchende Inselwelt im Abendroth aufregt, und in die Ufer forttreibt. Aber es waren nur seine Empfindungen und kein fremder Trost und keiner Erwiederung [sic!] der Gefühle lagen darin. – Doch jetzt? Das klang ja wie das Geläuthe bein Ave Maria! Wer betete so demüthig? Wer grüßte ihn mit Engels Gruße? Er schüttelte sich die Locken aus der Stirn und wandte sich fragend. Schubert stand neben ihm. ›Du warst es? du lebst?‹ rief der Jüngling. ›Ich bin ja nicht vertönt und nicht gestorben. Sie haben mich nur so früh begraben, weil sie den Leib starr fanden; aber ich sing’ und spiele ja fort, wie früher und wie jeder, und kann nicht todt seyn. Nur meine Finger wollen nicht mehr, sie sind so steif. Es kommt wohl vom Einpressen im Sarge. Leihe mir deine wundervollen Finger und deine Stimme!‹ So sprach Schubert und lehnte sich unfühlbar auf Liszts Schultern. Dieser spielte, aber Freude und Rührung banden seine Zunge. Da sang das Piano die Lieder, und Liszt accompagnierte nur. Ich hielt das für einen Traum. So oft ich aber Liszt spielen höre und das Piano singen ... es ist wohl kein Traum!47

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Vgl. Freia Hoffmann, Instrument und Körper. Die musizierende Frau in der bürgerlichen Kultur, Frankfurt a. M. 1991. Vgl. etwa SWVm, Nr. 36, Nr. 49, Nr. 67, Nr. 138. Ebd., Nr. 79. Ebd., Nr. 112.

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6 Zur Konstruktion des ›Schubert-Liedes‹

Liszt konnte, wie auch zahlreiche Rezensionen belegen, als ›Schuberts Stimme‹, offenbar gerade durch seine totalisierende Vereinnahmung der Liedkompositionen in den Transkriptionen auf eine paradoxe Weise in der zeitgenössischen Wahrnehmung den Eindruck einer ›Authentizität‹ nicht allein der eigenen künstlerischen Aussage, sondern auch derjenigen Schuberts entstehen lassen. Das oben zitierte Beispiel zeigt indes, wie sehr das zeitgenössische Schubert-Bild zu dieser Rezeptionsformung beitrug. Wie Christopher Gibbs betont, prägte die grundsätzliche Dominanz von »Metasongs« – Lieder über Lieder oder Gesang – neben dem prominenten Erlkönig Schuberts populäres Bild in der Vormärzzeit in besonderem Maße.48 Als meist bearbeitetes Schubert-Lied überhaupt erweist sich etwa das Ständchen (»Leise flehen meine Lieder«, 140 Bearbeitungen), mit einigem Abstand folgen – stets unter dem Titel Ave Maria – Ellens dritter Gesang (75 Bearbeitungen) und Lob der Tränen auf einen Text August Wilhelm Schlegels (73 Bearbeitungen).49 Die mit diesen Kompositionen eng verbundene Herausbildung sentimentalisierender Schubert-Phantasien wird letztlich zu einem zentralen Moment der angesprochenen Mythisierung des Komponisten als naturhaft-unbewußt, gleichsam träumend schaffendem und von einer »zauberhaften« Sphäre umwobenen ›Melodien-Genies‹: Schubert! Welch ein süßer Klang tönt um diesen Namen für jeden Freund [...] des Liedes, welch ein Himmel voll süßer, traumwiegender, erschütternder und erhabener Melodien erschließt uns der Zaubername Schubert 50

Abbildung 5: »Ein Schubert’sches Lied«, Karikatur (1846), © Wien Museum

Die hier beschriebene Rolle der Lieder Schuberts zwischen den geschlechtsspezifisch aufgeladenen, sich überlagernden Sphären von Kunst, Mode und Konsum findet sich nicht zuletzt auch auf visueller Ebene abgespiegelt. Auf exemplarische Weise wird dies etwa deutlich an einer in der Beilage zur von Adolf Bäuerle herausgegebenen Wiener Theaterzeitung aufzufindenden Karikatur mit dem Titel Ein Schubert’sches Lied (1846), auf die erstmals Scott Messing hingewiesen hat.51

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Vgl. Gibbs, The Presence of »Erlkönig«, S. 137. Michael Raab, Schubert-Bearbeitungen, S. 114. Raab nennt außerdem die Lieder Lob der Tränen D 711, Erlkönig D 328, Die Forelle D 550 sowie Ungeduld aus dem Zyklus Die schöne Müllerin D 795. SWVm, Nr. 79. Vgl. Messing, Schubert in the Europaen Imagination, Bd. I, S. 65ff. Es handelt sich um eine Zeichnung des Wiener Kupferstechers Andreas Geiger (1773‒1856), vgl. Constant von Wurzbach, Biographisches Lexikon des Kaisertums Österreich. Fünfter Teil, S. 122.

6.2 Vormärz: »Zaubername« und »Liederheros«

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Die Wiener Theaterzeitung hatte mit einer Auflage von 6000 Exemplaren eine Ausstrahlung in ganz Österreich und war letztlich das Organ für Kunst und Unterhaltung in Wien.52 Die Karikatur tritt hier im Rahmen einer Guckkastenserie auf, die die symptomatischen Auswüchse des zeitgenössischen Musik- und Literaturbetriebes in Form von personifizierten Klischees versammelt. Der satirische Kommentar koppelt diese zudem an charakterisierende Tierassoziationen und lädt zum »Spaziergang durch eine musikalisch-artistische Menagerie« ein: Neben »Harfen-Hyäne«, »Buffo-Murmeltier«, »Compositions-Nilpferd« und »Tenor-Papagei«53 findet sich hier auch [...] der kleine Schubertische Lieder-Löwe, lateinisch nach Buffon: Leo Schubertianus brüllans, Wie sie bemerken, Hochverehrteste, hat dieser musikalische Salon-Löwe seine Hauptforce in den Kopf und Backenbartmähnen. Der Lieder-Löwe ist sehr zahm und genießt in den musikalischen Soiréen Thee, Caffee, Zwieback, Limonade und Mandelmilch, obwol ihm ein ein anständiges Beefsteak jederzeit willkommen ist! Dieses Exemplar hier ist ein sehr gut dressirtes. Wenn man ihm einige Ducaten zeigt, fängt er augenblicklich sehr sentimental zu heulen an.54

Die visuelle Repräsentation der Musik Schuberts durch einen (aus zeitgenössischer bürgerlicher Perspektive) effeminierte Züge tragenden Sänger55 hebt vor allem deutlich auf die Rolle der Lieder Schuberts innerhalb der kulturellen Praxis ab: Die hier inszenierte Vortragssituation rückt sie weniger in den Kontext eines von der musikalischen Fachpresse idealisierten moralisch integren privaten Musizierens in Wiener Bürgerhäusern, sondern assoziiert das mittlerweile zum Klischee geronnene »Schubert’sche Lied« mit der als ›dekadent‹ und ›oberflächlich‹ angesehenen Salonkultur. Der mit dem Aufschwung häuslichen Musizierens korrespondierende kritische Diskurs um Fragen der musikalischen Kultur und Geschmacksideale stellte im hier in den Blick genommenen Zeitraum vermehrt auch die Weiterentwicklung der Gattung Lied im Kontext ihrer kulturellen Bedeutung für eine ersehnte nationale Identität zur Debatte: Der Strom von Liedern wächst mit jedem Tage, und die Aufgabe einer kritischen Revue der neuen Erscheinungen dieser Compositionsgattung wird zu einer immer ausgedehnteren, so daß zuletzt der Raum fehlen würde, wollte man jedem der Lieder, so sehr es viele verdienen, eine detaillierte Besprechung weihen; [...] Trotz der Masse von Liedern hört man von vielen Seiten immer noch klagen, es gäbe keine guten, schönen Lieder, da wir doch so treffliche deutsche

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Vgl. Fritz Schobloch, Wiener Theater, Wiener Leben, Wiener Mode in den Bilderfolgen Adolf Bäuerles 1806‒1858, Wien 1974. Zitiert nach: SWVm, Nr. 214. Ebd. Günter Erbe weist darauf hin, daß der (hier möglicherweise ironisierte) Dandy-Typus des frühen 19. Jahrhunderts noch vor dem Hintergrund eines aristokratisch geprägtes Männlichkeitsideals wahrgenommen wurde, während die Durchsetzung bürgerlicher Geschlechterrollen ihn zunehmend unter moralischen Verdacht geraten ließ: Ders., Dandys. Virtuosen der Lebenskunst. Eine Geschichte des mondänen Lebens, Köln [u. a.] 2002, S. 20. Messing vermutet überdies, daß hier ein typisch Wiener Modestil der Zeit karikiert worden sei. Vgl. Messing, Schubert in the European Imagination, Bd. I, S. 65.

202

6 Zur Konstruktion des ›Schubert-Liedes‹ Komponisten haben. Woran liegt wohl die Schuld? — An den Sängern oder an den Komponisten? Ich glaube – an Beiden! Beide fehlen in der Hauptsache: sie verkennen den Zweck, die Natur, das Wesen des Liedes. Verpestet von dem wohllüstigen Hauche einer zu uns herübergewanderten kränklichen Sentimentalität, welche Dahinseufzen für Gluth, Coquetterien für warmen Vortrag zum Kauf ausbietet und leider auch häufig an den Mann (eigentlich an die Damen) bringt, verliert sich der manneskräftige Pulsschlag einer echten Begeisterung für das Wahre und Natürliche des Gesangs, und im Verschwörungsbunde der Productionssucht, Dilettanterie und Modeschwärmerei wird die Vernichtung des echten tiefen deutschen Gemüthes beschlossen.56

Die deutschnationale, sich auf ein kulturelles Nationskonzept berufende Stimmung des Wiener Vormärz ist in diesen Zeilen kaum zu verhehlen. Von Seiten des Metternichschen Regimes alles andere als erwünscht, mußten sich diese Bestrebungen indes im Untergrund organisieren. Umso mehr war gerade die Musikkritik damit beschäftigt, in emphatischem Tonfall eine kulturell basierte nationale Identität herbeizuschreiben, wobei, wie auch der vorliegende Text zeigt, auch die Festschreibung der Geschlechterdifferenzen mit dem nationalen Musikdiskurs verwoben wurde: Unter Bezugnahme auf einen als ›schwächlich‹ geltenden weiblichen Geschlechtscharakter, der nicht selten eine pathologische Neigung zur Sentimentalität und »Coquetterie« aufweise, wird hier auch die aktuelle kulturelle Situation des Liedes als gleichsam ›krankhaft verweiblicht‹ gebrandmarkt. Dadurch indes sei das Lied seiner ›wesenhaften‹ kulturellen Funktion enthoben worden, die nationale Identität zu repräsentieren und moralisch zu konsolidieren: Emil Mayers Betonung des »manneskräftigen Pulsschlages einer echten Begeisterung für das Wahre und Natürliche des Gesangs«, verweist letztlich auf den Topos vom ›Deutschen Sang‹, wie er etwa in August Hoffmann von Fallerslebens Lied der Deutschen 1841 ostentativ beschworen worden war. Deutlich wird hier zudem auf die gesellige Verfassung des vormärzlichen Nationalismus abgehoben – gerade das kollektive Singen stand im Kontext des Vereinswesens als »Arena nationaler Vergemeinschaftung«.57 Was man unter dem in der Vormärzzeit ideologisch stark befeuerten ›Deutschen Sang‹ in der gesanglichen Praxis selbst zu verstehen habe, kündigt sich etwa 1817 in Hans Georg Nägelis im Kontext einer »nach pestalozzischen Grundsätzen« verfertigten Gesangsschule für Männerchor58 an. Die auch in obiger Rezension latent präsente Idee vom ›Deutschen Sang‹ als ›männlichem‹ Gesang wird bereits hier gleichsam naturalisiert: Bey uns herrschte bisher, im Ganzen genommen, nicht bloß der weibliche Gesang, sondern auch das Weibliche im Gesang der Männer, und zwar in den Compositionen und im Vortrag, unverhältnismäßig vor; und dieß kam daher, daß wir die Ausbildung des Gesanges von den Italienern erhielten, bey denen nach Clima und Sprache das Undulatorische über das Declamatorische [...] vorherrscht. Dieses Vorherrschen ist also auch unserer Nationalität zuwider und

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Emil Mayer, Kritische Blicke auf die neueste Erscheinung des Liedes, in: Wiener Musikzeitung vom 29.4.1847 anläßlich einer Besprechung von neu erschienenen Liedern der Komponisten Johann Hoven und Adolf Müller, zitiert nach: SWVm, Nr. 231. Alexa Geisthövel, Restauration und Vormärz 1815‒1847, Paderborn [u. a.] 2008, S. 48. Friedhelm Brusniak: Männerchorwesen von 1800 bis in den Vormärz, in: »Heil deutschen Wort und Sang!« Nationalidentität und Gesangskultur in der deutschen Geschichte, hg. von dems. Augsburg 1995, S. 123‒140.

6.2 Vormärz: »Zaubername« und »Liederheros«

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wir schütten gewissermaßen das Joch eines fremden Götzen ab, wenn wir dem auf ächte Volkstümlichkeit zurückführenden männlichen Gesang, und zwar so sehr als möglich im Ganzen und Großen Bahn machen.59

Die hier vorgenommene Konnotation der von Nägeli auch in seiner etwas früher entstandenen Sologesangsschule explizierten gesangsästhetischen Kategorien ›undulatorisch‹ und ›deklamatorisch‹60 mit den Begriffen ›weiblich‹ und ›männlich‹ korrespondiert mit einer seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert auszumachenden Applikation des Geschlechterdiskurses auf ästhetische bzw. kunsttheoretische Diskurse. Die Distanzierung von der auch in den 1840ern noch die Ausbildung bestimmende italienischen Gesangsschulung macht zudem deutlich, daß es Nägeli ebenso um eine neu zu stiftende nationale Gesangskunst auch mit Blick auf die Hochkultur ging, ähnlich wie sie etwa Ignaz von Mosel in Vogls Kunst des »deklamatorischen Gesangs« verwirklicht sah. Aus geschlechtergeschichtlicher Perspektive besonders signifikant erscheint indes, daß im Unterschied zum empfindsamen Ideal einer durch den ›weiblichen Gesang‹ repräsentierten Einheit von Natur und Kultur, nun der ›männliche Gesang‹ als mit der »ächten Volkstümlichkeit« in Verbindung stehend favorisiert wird. 61 Die Frau wird indessen vor dem Hintergrund eines idealisierten Frauenbildes, etwa wiederum mit Blick auf Fallerslebens Deutschlandlied, selbst zum Kulturgut und fungiert gemeinsam mit dem »deutschen Sang« als »zentrale Motivation für patriotisches Handeln des – männlichen – Deutschen.«62 Schuberts Lieder befanden sich vor dem Hintergrund des hier angesprochenen Diskurses bezüglich der kulturellen Funktion des Liedes im Vormärz gleichsam zwischen den Stühlen. Sie waren, wie nicht zuletzt die oben gezeigte Karikatur verdeutlicht, ebenso mit der weiblich konnotierten Sphäre ›sentimentaler‹ Salonunterhaltungskunst verbundenen wie mit deren idealisiertem Gegenbild eines ›wahren‹ und ›natürlichen‹ Gesangs, der für das »echte tiefe deutsche Gemüth« stehen sollte und mit einem grundsätzlich männlich gedachten Geniebegriff assoziiert war.63 Als 59

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Hans Georg Nägeli/Michael Traugott Pfeiffer, Gesangsbildungslehre für den Männerchor. Beylage A zur zweyten Hauptabtheilung der vollständigen und ausführlichen Gesangsschule, Zürich 1817, S. IXf., zitiert nach: Hartmut Braun, Volkslied und Nationalbewusstsein, S. 112. Vgl. oben Kapitel 3.3.2. Nägeli läßt überdies keinen Zweifel daran, wie die Hierarchie der geschlechtsspezifisch qualifizierten Gesangsarten aussehe: »Betrachten wir den männlichen Gesang von der Seite der Sprache erscheint er uns erst in seiner ganzen Wichtigkeit, ja in gewissem Sinne wichtiger als der weibliche. Der Mann hat nämlich von Natur aus stärkere Lautirkraft.« Vgl. Nägeli, Gesangsbildungslehre für den Männerchor, zitiert nach Braun, Volkslied und Nationalbewusstsein, S. 112. Vorwort zu: Deutsche Frauen, deutscher Sang. Musik in der deutschen Kulturnation, hg. von Rebecca Grotjahn, München 2009, S. 11. Vgl. SWVm, Nr. 80: »Nichts ergreift uns mehr als der deutsche Gesang. Seine Melodie darf nicht gesucht seyn; aus der tiefsten Brust soll er herauftönen, voll und kräftig ohne kokette Ausschmückung, ohne Flitterband; die Affecte des menschlichen Herzens, als Freude, Lust, Schmerz, Liebe u. s. w. soll er in Tönen versinnlichen, gleichsam verkörpern. [...] Wir erinnern hier nur an unseren unsterblichen Schubert.« (Wiener Theaterzeitung, 23.4.1838); Nr. 102: »Im Liede können wir Gefühle veranschaulichen, die sich unserer bemächtigen, in der Arie aber erscheint uns das Leben als ein Kunstbild. Warum schätzen wir weil[and] Schubert in so hohem

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6 Zur Konstruktion des ›Schubert-Liedes‹

logische Konsequenz dieser gegenseitigen Überblendung klingt zuweilen auch Kritik an Schubert durch, da er nach zeitgenössischer Auffassung in seinen Kompositionen immer wieder erheblich von der ideologisierten ästhetischen Doktrin des ›Wahren‹ und ›Natürlichen‹ abgewichen war, wie gerade die von der norddeutschen Liedtradition geprägte Leipziger AMZ nicht festzustellen müde wird.64 Eingedenk der Freiheiten des per definitionem die eigenen Grenzen überschreitenden ›Genies‹ wird Schubert trotzdem grundsätzlich bereits hier als ›Vollender‹ der Liedgeschichte aufgefaßt. Der auf seine Liedkompositionen übertragene entscheidende Aspekt blieb dabei die nationale Funktionalisierung des Liedes als Träger ›deutschen Gemüts‹. Vor dem Hintergrund dieser semantischen Aufladung konnte Schubert sogar als ›Held des deutschen Liedes‹ an die Seite Beethovens gestellt werden, obwohl gerade die Herausbildung des zeitgenössischen Schubert-Bildes grundsätzlich als Negativfolie zum Beethovenschen Titanen-Image geschah, dessen Konstitution seinerseits entscheidend durch den Geschlechterdiskurs geprägt war.65 Dabei blieb indes, wie etwa Johann Julius Wagners Statement zum »Lieder-Repertoir« in der Wiener Zeitung von 1843 deutlich macht, stets die Schwierigkeit, Schuberts kompositorischen Individualismus mit den nationalidentifikatorisch aufgeladenen ästhetischen Prämissen argumentatorisch in Einklang zu bringen: Das Lied ist die Sprache des Herzens, der Ausdruck der Nation. Kein Volk, selbst das wildeste, ist ohne Lied. Es ist die schönste Hausblume, die nicht minder unter dem Strohdache wie im Pallaste gedeiht. Diese Blume soll nie vernachlässigt werden, sie soll treu und entsprechend dem heimatlichen Klima gepflegt werden. Eine einfache herzliche Melodie ist die Stammespflanze, die in ihrer tausendfältigen Blumenpracht das Gemüth bezaubert. Zieht durch den neuern Geist Abarten dieser Pflanze, ziert er sie mit declamatorischem, dramatischem Schmucke, mit mahlerischer Begleitung, so soll das Lied doch immer Fülle der Melodie besitzen, den Duft des Nationalcharakters hauchen, insbesondere das Deutsche Lied Gemüthlichkeit in sich tragen und nie die natürliche Einfachheit verläugnen, von der sich die neueste Schule so oft entfernt. Der Held, der Beethoven des deutschen Liedes ist wohl unstreitig der unsterbliche Franz Schubert, die Verbereitung seiner Lieder in der ganzen Welt, die geniale Uebersetzung derselben auf das Fortepiano durch Liszt sprechen dafür. − Vorherrschende Melodie, mahlerische und treffende Begleitung, declamatorische dramatische Würze, ein tiefer gemüthlicher Geist sind die Elemente seiner Gesänge. Jedes Lied, jede musikalische Dichtung desselben sind ein Bild, ein Tongemälde, ein Seelenguß. Man muß aber nicht jedes Gesangstück Schuberts ein Lied



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Maßen? Weil er dem Liede seine Vorzüge geltend machte, weil er die Natur veranschaulichte. [...] Schubert bepflanzte dieses früher brach gelegene Feld mit unverwelklichen Blumen, aus deren Kelch teutsche Weihe strömt, die, von nimmermüden Gärtnern begossen, nie aus der Welt der Ideale scheiden werden.« (Der Wanderer, 2.9.1839). Gottfried Wilhelm Fink, der Schuberts Lieder für die AMZ rezensiert hatte, kritisiert 1834 in einem Artikel für Brockhaus’ Conversations-Lexikon der neuesten Zeit und Literatur »ein Überschreiten des Maßes, eines Ueberladung des Ausdrucks [...], aber leider ist es vielleicht eben dies, was ihn in der jetzigen Zeit, die überhaupt künstlerischen Verirrungen hold ist, besonderen Eingang verschafft hat. Niemand wird jedoch leugnen, daß neben diesem Negativen auch viel Positives in Schubert angetroffen wird.« (zitiert nach: Biehle, Schuberts Lieder in Kritik und Literatur, S. 10). Vgl. Sanna Pederson, Beethoven und Männlichkeit im Kontext der Revolutionen von 1848/49, in: Der ›männliche‹ und der ›weibliche‹ Beethoven, hg. von Cornelia Bartsch, Bonn 2003, S. 21‒32.

6.3 Jahrhundertmitte

205

nennen, deren sind viele, wie in seinem Nachlasse ganz richtig benannt, musikalische Dichtungen, deren Natur sich dem Charakter des Textes anschmiegt, die eigentlich als Tongemälde, auch selbst als Phantasien – Rhapsodien zu bezeichnen wären. [...].66

Wie an dieser Skizzierung der zeitgenössischen kulturellen Kontexte deutlich wird, lassen sich vor dem Raster des Geschlechterdiskurses mit Blick auf Schuberts Lieder zwei mit dem Prozeß einer immer stärker ideologiserten ›Hausmusik‹-Sphäre verwobene Linien nachzeichen: Die Feminisierung Schuberts durch Assoziation mit der häuslichen Privatsphäre einerseits und auf der anderen Seite seine Nobilitierung als Komponist ›wahrer‹ Hausmusik, die als Bollwerk gegen die gleichfalls im Haus musizierte triviale, bzw. sentimentale Salonmusik fungieren sollte und mit Bezug auf das »deutsche Lied« mit nationalen Impulsen zusammengedacht werden muß. So konnte Schubert auch als »Liederheros, der seine »traumwiegende[n], erschütternde[n] und erhabene[n] Melodien« aus der in jüngster Vergangenheit aufgeblühten deutschen Dichtung schöpfte, zur positiven Identifikationsfigur für eine bislang nur ideell exisitierende deutsche bzw. deutschsprachige Kulturnation stilisiert werden. 67 An beide Deutungsmuster wird in den folgenden Jahrzehnten angeknüpft.68 6.3 JAHRHUNDERTMITTE 6.3.1 ›Schubert-Lied‹ und Musikhistoriographie Die nicht zuletzt auch durch Liszts Transkriptionen beförderte Präponderanz der Liedkompositionen Schuberts zuungunsten des Instrumentalwerks, die in den Jahrzehnten nach seinem Tod die musikpraktische Rezeption im privaten wie – zu erheblich geringerem Anteil – im öffentlichen Bereich bestimmte, übte namentlich

66 67

68

Abgedruckt in: Hilmar, Schubert-Rezeption 1831‒1865, S. 139f. Vgl. SWVm, Nr. 70: »[...] Das deutsche Lied steht als ein treues Bild seines Volkes da, es muß den Ernst mit der kindlichen Einfalt, die Einfachheit mit der Tiefe der Kunst und die jugendlichen Kraftfülle mit den schmeichelnden Klängen weicher Üppigkeit vereinen; nicht wie im italienischen Gesange die Melodie vorherrscht, im Französischen oft der Text zur Hauptsache gemacht wird. Im deutschen Liede fließt der Komponist mir dem Dichter in Eins zusammen; jedes Wort des Letzteren muß mit der Seele des Ersten wiederklingen, und ungesucht die Melodie seiner Seele entsteigen, und dem todten Werke erst eine Bedeutung geben. Von diesem Gesichtspunkte aus betrachtet gibt es freilich nur wenige deutsche Lieder, und Schubert der Liederheros steht immer noch unübertroffen da.« Hierzu gehört auch die ebenfalls seit den 1830er Jahren nachweisbare quer zum HausmusikImage stehenden Rezeption Schubertscher Lieder durch die zeitgenössischen Militärkapellen, die ein noch größeres Publikum erreichen konnten als Liszt. Vgl. dazu die von Ahrens angeführten Quellen (ders., Liszsts Transkriptionen, S. 40‒42.) Schuberts Lieder wären demnach in jedem Fall von den meisten Rezipienten zu allererst in einem hochgradig national funktionalisierten Kontext wahrgenommen worden.

206

6 Zur Konstruktion des ›Schubert-Liedes‹

große Einflüsse auf die triviale Literatur aus.69 Das Bild vom durch Ideen der zeitgenössischen Genieästhetik beeinflußten ›kompositorischen Naturalisten‹, und ›Liederkomponisten‹ Schubert floß aber auch in einen vorrangig an der Darstellung eines Zusammenhangs zwischen Biographie und Werk ausgerichteten wissenschaftlichen Schubert-Diskurs ein, der sich im Laufe des 19. Jahrhunderts herausbildete. Nach der Jahrhundertmitte verstärkte sich zudem die bereits im Vormärz einsetzende Einbindung des ›Liedkomponisten‹ Schubert in nationale Kontexte. Dabei steht, wie im folgenden gezeigt werden soll, vor allem die Integration des Deutungsmusters eines ›volkstümlichen‹ Schubert, wie es in Bezug auf die ersten Jahrzehnte nach 1828 in den vorangehenden Kapiteln beschrieben wurde, in den Prozeß der Herausbildung einer nationalen Hochkultur des deutschsprachigen Raumes im Vordergrund. Robert Schumann, der sich in den 1830er Jahren als enthusiastischer Promotor des damals außerhalb Wiens noch wenig bekannten Schubert aufschwang, beeinflußte durch seine Veröffentlichungen über den verstorbenen Komponisten in der Neuen Zeitschrift für Musik den Prozeß von Schuberts beginnender musikhistoriographischer Festschreibung erheblich. Dies betrifft vor allem Schuberts Stilisierung als ›lyrisches Alter Ego‹ des als ›Titan der Tonkunst‹ verehrten Ludwig van Beethoven. Namentlich Schumanns Formulierung vom »Mädchencharakter« Schuberts70 wurde von der geschlechtergeschichtlichen Entwicklung des weiteren 19. Jahrhunderts gleichsam absorbiert. Als Echo Schumanns hallt es – zumal dieser den betreffenden Essay in seinen erstmals 1854 erschienenen Schriften über Musik und Musiker nochmals nachdrucken ließ − in inhaltlich verkürzter Version in zahlreichen Publikationen direkt oder indirekt nach.71 69

70

71

Vgl die von Ernst Hilmar zusammengestellte Bibliographie zur Schubert-Belletristik in: ders., Art. Schubert-Bild, in: SE, S. 666, sowie: Michael Kohlhäufl, Wandererphantasien. Trakls Gedicht »Unterwegs« und die literarische Schubert-Rezeption, in: Schubert und die Nachwelt, S. 52ff. Robert Schumann, Franz Schuberts letzte Kompositionen, in: NZfM 1838, hier zitiert nach: Gesammelte Schriften über Musik und Musiker, hg. von Heinrich Simon, Bd. 2, Leipzig 1889, S. 119‒124, S. 121: »So wird, der einigermaßen Gefühl und Bildung hat, Beethoven und Schubert auf den ersten Seiten erkennen und unterscheiden. Schubert ist ein Mädchencharakter an jenen gehalten, bei weitem geschwätziger, weicher und breiter; gegen jenen ein Kind, das sorglos unter den Riesen spielt. So verhalten sich diese Symphoniesätze zu denen Beethovens und können in ihrer Innigkeit gar nicht anders als von Schubert gedacht werden. Zwar bringt auch er seine Kraftstellen, bietet auch er Massen auf; doch verhält es sich immer wie Weib zum Mann, der befiehlt, wo jenes bittet und überredet. Dies alles aber nur im Vergleich zu Beethoven; gegen andere ist er noch Mann genug; ja der kühnste und freigeistigste der neueren Musiker. In diesem Sinne möge man das Duo zur Hand nehmen.« Dies hat Scott Messing in seiner umfangreichen Studie zur europäischen Schubert-Rezeption nachgezeichnet: ders., Schubert in the European Imagination. Für den hier verhandelten Zeitraum vgl. besonders Bd. 1: The Romantic and Victorian Eras, S. 56‒102. Messing hält fest, daß Schumanns Auffassung hier ironischerweise gerade quer zur sich während des weiteren 19. Jahrhunderts herausbildenden Schematisierung der Geschlechterrollen und ihrer sozialen Funktionalisierung stehe: Er habe 1838 mit dem Wort vom »Mädchencharakter« weniger eine ›typisch weibliche‹ Konnotierung Schuberts verfolgt, sondern sich auf einen zeittypischen Androgyniebegriff bezogen, der – wie Messing argumentiert – mit Schumanns persönlicher

6.3 Jahrhundertmitte

207

Die bereits durch Schuberts Freundekreis kolportierte ›naturhaft-naive‹ Schaffensweise des Komponisten schloß eine Assoziation Schuberts mit der Vorstellung eines intellektuellen, strukturelle Komplexität hervorbringenden Komponierens, das mit dem Namen Beethovens verbunden wurde, geradezu aus. Selbst die zeitgenössische Musiktheorie ließ sich durch die spätestens seit Mitte der 1850er populäre Rede vom naiv-sentimentalen »Liederfürsten«72 beeinflussen, wie etwa August Wilhelm Ambros’ Kommentierung Schuberts in seiner 1859 erschienenen Studie Zur Lehre vom Quinten-Verbote zeigt:

Abbildung 6: August Wilhelm Ambros: »Zur Lehre vom Quinten-Verbote« (1859)

Auch wenn Ambros hier in erster Linie die von ihm gesehene generelle zeitgenössische Tendenz einer zunehmenden Geringschätzung tonsetzerischer Akkuratesse zugunsten ›klanglicher Effekte‹ brandmarkt, ist mit dem Vorwurf eines handwerklich ungenügend geschulten Kompositionsstils und dessen geschlechtsspezifischer Konnotation ein zeittypischer Schubert-Topos aufgegriffen. Die musikhistoriographische Konsequenz dieser verbreiteten Auffassung war vor allem eine inferiore Positionierung Schuberts innerhalb der durch Beethoven repräsentierten Domäne des Sinfonischen, die auf kompositionstechnischer Ebene mit einer angeblichen Unfähigkeit Schuberts, komplexere musikalische Architekturen auf der Basis einer entsprechend strukturierenden harmonischen Disposition zu verwirklichen, sowie der unreflektierten ›Verschwendung‹ melodisch-thematischer Substanz begründet wurde. Sie brachte Schubert gerade mit Bezug auf die 1839 durch Mendelssohn im

72

Romantik-Rezeption in Verbindung zu bringen sei und etwa mit den Geschlechterkonzepten in Jean Pauls Vorschule der Ästhetik und Friedrich Schlegels Lucinde korelliere (vgl. S. 20ff.). Dies allerdings wäre offenbar ein zu nuanciertes Statement für die zeitgenössische ›gendered infiltierte‹ Kultur (vgl. ebd., S. 210ff.) gewesen. Vgl. Ernst Hilmar, Art. Schubert-Bild, in: SE, S. 665.

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6 Zur Konstruktion des ›Schubert-Liedes‹

Leipziger Gewandhaus aufgeführte große C-Dur Sinfonie D 944 den prominenten Vorwurf der Langatmigkeit ein.73 All dies trug weiter zu einer einseitigen Akzentuierung der melodischen Erfindungsgabe Schuberts als dessen ›wesenhafter‹ Eigenschaft bei. Der hier angesprochene, inzwischen von der Forschung vermehrt aufgegriffene, Beethoven-Schubert-Diskurs beförderte aber auch – was bislang eher nicht thematisiert wurde – die Festschreibung einer Schubert zugewiesenen spezifischen kulturellen Bedeutung als ›naiv-genialischem Melodiker‹, die im zeitgenössischen Bewußtsein durchaus nicht ausschließlich negativ konnotiert war. Bereits 1847 zählt Franz Gernerth Schubert in der Wiener Theaterzeitung neben Haydn, Mozart, Beethoven, Weber, Schiller und Goethe zu den repräsentativen »Vertreter[n] der deutschen Kunst und Poesie«. Schubert wird hier neben Beethoven und Weber in ein »nationelles Dreigestirn« integriert, wobei ihm eine spezifische Position zugewiesen wird: 74 Und wie schön teilen sich diese drei Lieblinge der deutschen Musikfreunde in die Gebiete der Tonpoesie! Schubert, der unerreichte Lyriker, Beethoven, der große Epiker, Weber, der romantische Dramatiker.75

Franz Brendel, Chefideologe der nachmalig durch ihn benannten ›Neudeutschen Schule‹ und seit 1844 Schumanns Nachfolger als Herausgeber der Neuen Zeitschrift für Musik, konstatiert in der zweiten Auflage seiner erstmals 1852 erschienenen Musikgeschichte – einem bekanntermaßen bis zur Jahrhundertwende mehrfach neuaufgelegten Standardwerk76 − in emphatischen Tonfall einen »Aufschwung« der deutschen Musik seit den 1830er und -40er Jahren. Erklärt wird dieser Aufschwung vorrangig als Ergebnis einer Abwendung von der »Sphäre der Oper« in ein Reich der Innerlichkeit, in das »der tiefere deutsche Geist [sich] flüchtete«.77 Der musikhistorische »Fortgang« werde nun durch »verschiedene Gattungen der Concert-, Kammer- und Hausmusik [...] repräsentie[rt].«78 Sogar die sinfonische Produktion wird hier »trotz aller dramatischen Lebendigkeit« als »überwiegend lyrischen Charakters« aufgefaßt.79 Diese Entwicklung habe auch ein spezifische »Steigerung« im Bereich der Vokalmusik ins Werk gesetzt: Eine neue Ära deutscher Vokalmusik schließe letztlich die Oper aus und gipfele im ›Lied‹ als höchstmöglicher expressiver Subjektivitätsentfaltung: So geschah es, dass auf diese Weise das Lied eine der wichtigsten Kunstgattungen der Neuzeit wurde, eine Schöpfung, in die sich der tiefere deutsche Geist, der sich von dem öffentlichen

73 74 75 76 77 78 79

Vgl. Kube, Von »himmlischer Länge« zu »himmlischen Längen«, passim. SWVm, Nr. 232. Ebd. Franz Brendel, Geschichte der Musik in Italien. Deutschland und Frankreich, 2 Bde., Leipzig 21855. Ebd., Bd. 2, S. 170. Ebd. Ebd., S. 171.

6.3 Jahrhundertmitte

209

Leben der Tonkunst unbefriedet abwendete, flüchtete. Es ist nach Schubert’s Vorgang bis herab auf die Gegenwart das Vortrefflichste in dieser Sphäre geleistet worden.80

Hintergrund für derartige Auffassung einer ›deutschen Musik‹ ist vor allem, daß die ideelle Kategorie einer selbstbehaupteten ›deutschen Innerlichkeit‹ und ›Tiefe‹, die auf die kulturnationale Bewegung des Vormärz zurückgeht, sich besonders seit den 1840er Jahren immer stärker zu einer indirekt politischen Kategorie im Dienst kultureller Identitätskonstruktion zu entwickeln beginnt.81 Gerade die Musik wird in der von Hegelschem Denken beeinflußten Geschichtskonstruktion Brendels zum »mythisch-mystischen Innenraum« einer kulturell definierten Nationalidentität.82 Der Komponist Schubert und die Gattung des Kunstliedes als ästhetisches Repräsentationsmodell eines bürgerlichen Intimitäts- bzw. Innerlichkeitskultes waren vor solchem Hintergrund um die Jahrhundertmitte Synonyme geworden, und Schubert wurde nun als Vertreter einer genuin ›deutschen‹ Vokalmusik durchaus ein hoher symbolischer Wert zugeschrieben. Trotz Brendels Einschätzung, Schubert habe hier Einzigartiges und Neues geleistet, bleiben indes Kritikpunkte bestehen. Zentrales Moment bei der musikhistoriographischen Verortung Schuberts bleibt für Brendel, wie Hans-Joachim Hinrichsen konstatiert, »Schuberts der Beethovenschen diametral entgegenstehende Schaffensweise als Ausdruck genialer, aber eben auch naiver Kreativität [...]«.83 Bezeichnenderweise erweiterte Brendel in der zweiten Auflage der Geschichte der Musik seine Charakterisierung Schuberts folgendermaßen: Besitzt Schubert auch nicht den grossartigen Ernst, die Haltung, den hohen Kunstverstand, diese zusammengehaltene Kraft Beethoven’s, zeigt er sich bei weitem einseitiger, erblicken wir hin und wieder eine zerfließende Weichlichkeit, so ist er doch nach vielen Seiten mit diesem verwandt. Das Zarte, Phantasiereiche und Schwämerische, der Ausdruck blühenden Lebens ist sein Bereich, der Zauber melodischer Schönheit, den er besitzt. Es lag gewissermassen in dieser Eigenthümlichkeit, in dem Uebergewicht derselben, dass ihm strenges Maasshalten, insbesondere Kürze, Präcision des Ausdrucks, die Energie des Verstandes nicht im gleichen Grade eigen sein konnte.84

Charakteristisch für die ab der Jahrhundertmitte einsetzende kritische Beschäftigung mit Schuberts Biographie und Werk ist die Integration seiner Liedkompositionen in diskursbestimmende geschichtsphilosophische Konzepte. Das ›SchubertLied‹ als ästhetisches Stereotyp wird im nationalidentifikatorisch gefärbten Musikdiskurs der zweiten Jahrhunderthälfte zunehmend als ›Erfüllung‹ eines in der Gattung (Kunst-)Lied seit dem 18. Jahrhundert gleichsam brach liegenden Potentials 80 81 82

83 84

Ebd., S. 177. Vgl. Birgitta Maria Schmid, Volk, Nation, Stamm und Rasse. Die Politisierung der deutschen Musik 1850‒1945, Diss. Heidelberg 1997, S. 21. Vgl. Friedrich Werner Kümmel, Geschichte und Musikgeschichte. Die Musik der Neuzeit in Geschichtsschreibung und Geschichtsauffassung des deutschen Kulturbereichs von der Aufklärung bis zu Johann Gustav Droysen und Jacob Burckhardt, Marburg 1967, S. 132f., S. 178, S. 199‒200, S. 203ff., S. 258, S. 283. Hinrichsen, Der Geniale Naive und der nachträglich Progressive. Schubert in der Ästhetik und Politik der ›Neudeutschen Schule‹, in: SJb 1999 (2000), S. 26. Brendel, Geschichte der Musik (1855), Bd. 2, S. 178.

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6 Zur Konstruktion des ›Schubert-Liedes‹

installiert. Als Hintergrund für diese Argumentation läßt sich ein idealisierter Volkskunstbegriff benennen, der eine zusehends stärkere nationalcharakteristische Aufladung erfuhr: Das Volkslied wurde gar, wie Frank Hentschel gezeigt hat, im Sinne einer ›kulturellen Ursubstanz‹ und Repräsentation eines phantasierten »Naturzustand[s] der Völker, der im Laufe der Zeit immer mehr verstellt worden sei« zu einer zentralen Kategorie im musikhistoriograpischen Diskurs der zweiten Jahrhunderthälfte. Der hier markierte Übergang zwischen Nationalstil- und Nationalcharakteridee wurde durch sich gegenseitig überblendende biologistische und kulturtheoretische Erklärungsmodelle flankiert.85 Bereits Carl Koßmalys Diskussion des »eigentlichen Kunst-Liede[s]«86 im Jahr 1841 steht im politisch brisantem Vormärz-Kontext eines hochgradig nationalideologisch aufgeladenen Volksliedbegriffs: Das ›Kunst-Lied‹ wird hier in unter massivem Gebrauch nationalchauvinistischer Überlegenheitsrhetorik als ›typisch deutsches‹ Kulturerzeugnis gepriesen, als dessen ›naturhafte‹ Basis Koßmaly in entsprechender Weise die Idee eines »eigentlichen Volksliedes« ansieht: Stellen nun die vorstehenden Bemerkungen unsere überwiegende Superiorität in der musikalischen Lyrik, die Meisterschaft der deutschen Musiker in dem ästhetischen, dem eigentlichen Kunst-Liede auf glänzende und unwiderlegliche Weise an’s Licht, so muß man sich andererseits billig wundern, wie bis jetzt aus all diesem Reichthum ein eigentliches Volkslied noch immer nicht hat auftauchen wollen – d. h. ein Volkslied, welches wie das englische God save the king – rule Britania, oder wie die französische Marseillaise – [...] nächstdem, daß es gewisse historische Haupt- und Glanzmomente, die hauptsächlichsten geistigen wie materiellen national Interessen berührt, zugleich Gesinnung, Charakter und Eigenthümlichkeit der Nation wiederspiegelt.87

Denkbar weit entfernt von Herders kosmopolitischem Volksliedbegriff, der auf eine Völkerverwandtschaft und ein idealisiertes menschliches Miteinander zielt, wird hier gedanklich ein gänzlich auf patriotische Repräsentation ausgerichtetes musikalisches Symbol beschworen, dem vor allem ein emotionales Identifikationspotential zufällt. Gleichwohl moniert auch Koßmaly, daß das von ihm hier reklamierte Ideal einer ›natürlichen‹ Konstellation ›Volkslied-Kunstlied‹ letztlich quer zur kompositorischen Praxis stand. Das als besonders ›ursprünglich‹ bzw. substantiell verstandene kulturelle Erzeugnis ›Lied‹ habe sich nach dieser Argumentation vielmehr in der hohen Kunstsphäre im gewissem Maße von sich selbst entfremdet und bedürfe gewissermaßen einer erneuten ästhetischen Reformierung. Auch Eduard Hanslick betont zu Anfang der 1850er Jahre die »verjüngende Wirkung des Volksliedes auf die künstliche Composition« angesichts der zeitgenössischen Liedproduktion und 85 86 87

Vgl. Frank Hentschel, Bürgerliche Ideologie und Musik. Politik der Musikgeschichtsschreibung 1776‒1871, Frankfurt a. M. 2006, bes. S. 372‒383, Zitat auf S. 372. Siehe Anm. 86. Mit Koßmalys Artikel wird das Eingehen des Begriffs in den liedästhetischen Diskurs des 19. Jahrhunderts verbunden. Vgl. Schwab, Kunstlied – Krise einer Gattung, S. 233. Karl Koßmaly, Musikalische Charakteristiken, in: NZfM 14 (1841), S. 67. Nicht von ungefähr wendet sich Robert Schumann, den Koßmaly hier unerwähnt läßt, 1843 subtil gegen die hier in seiner eigenen Zeitschrift präsentierte gattungsästhetische Bilanz Koßmalys. Vgl. dazu: Brinkmann, Musikalische Lyrik im 19. Jahrhundert, S. 31f.

6.3 Jahrhundertmitte

211

akzentuiert die Bedeutung des »componirten Volkslied[es]« als »Hort des Einfachen und Echten, [...], Trost des Einsamen, und Cultus der Häuslichkeit«.88 Schuberts Liedkompositionen konnten, vor allem mit Blick auf die dem Komponisten zugeschriebene »überquellend reiche lyrische Natur«89, vor solchem Hintergrund nur mit gewissen Einschränkungen in den Kontext der Repräsentation eines deutschen ›Nationalcharakters‹ gestellt werden. Neben dem »Goethe-Gedicht«, der »Beethoven-Sinfonie« und dem »Shakespeare-Drama« erscheint etwa 1859 in den Signalen für die Musikalische Welt das »Schubert-Lied« gleichsam offiziell in einer Reihe kollektiv akzeptierter Prototypen eines sich herausbildenden Kanons der Kulturgüter.90 Auf diesen Kollektivsingular, dessen spezifische semantische Aufladung im Kern zumeist auf den ›Lyriker‹ bzw. ›Melodiker‹ Schubert verweist, beziehen sich auch bereits die ersten umfangreicher konzipierten biographischen bzw. musikhistoriographischen Darstellungen von August Reißmann91 und Heinrich Kreißle von Hellborn92, die erstmals den Anspruch einer Festschreibung Schuberts in der europäischen Kulturgeschichte erheben und aufgrund ihrer Popularität als besonders diskursbestimmend gelten können. Im Kontext eines zeittypischen biologistisch bzw. essentialistisch geprägten Denkens werden Schuberts Lieder hier zusehends einem Ideologisierungsprozeß angeschlossen, der Archetypisches und Artifizielles vor dem Hintergrund eines Ideals pflanzengleicher Organizität als miteinander verwachsen ansah. 93 Reißmann bemüht sich etwa in seiner 1861 vorgelegten Monographie Das deutsche Lied in seiner historischen Entwicklung94 vor dem Hintergrund einer eines teleologisch konzipierten Geschichtsbildes um die Darstellung der Konstellation ›Volkslied-Kunstlied‹ im Sinne eines ›natürlichen‹ Entwicklungsganges: Das Kunstlied versucht eine schärfere Sichtung des Stoffes, es zerlegt die Empfindung in ihre zarteren Bestandtheile, rundet sie künstlerisch ab und schafft sich für ihre Darstellung eine freiere und durchdachtere Technik. Der Geist des echten Künstlers empfindet nichts anderes, als der echte Geist des Volkes, aber er empfindet tiefer, er empfindet geläutert und verklärt, und weil er sich durch energische Studien eingelebt hat in die geheimnißvolle Macht seines Darstellungsmaterials, so ist er im Stande, die Empfindung in ihren feinsten Verschlingungen zu verfolgen, die Stimmung auch in den, von dem Gemüth des Volkes unbeachteten, weil ungekannten Einzelzügen zum Ausdruck zu bringen. Wie das Künstlergemüth ein veredeltes, reicheres Volksgemüth ist, so ist das Kunstlied ein veredeltes und darum reicheres Volkslied.95

88 89 90 91 92 93 94 95

Vgl. Eduard Hanslick, Geschichte des Concertlebens in Wien, 2 Bde. in 1 Bd., Wien 1869/70, Reprint Hildesheim 1979, Bd. 2, S. 30f. Koßmaly, Musikalische Charakteristiken, S. 64. Signale für die musikalische Welt 17 (1859), S. 33. August Reißmann, Von Bach bis Wagner. Zur Geschichte der Musik, Berlin 1861; ders., Franz Schubert, Berlin 1873. Heinrich Kreißle von Hellborn, Schubert. Eine biographische Skizze, Wien 1861; ders., Franz Schubert, Wien 1865. Zur Genese musikhistoriographischer Gattungsbegriffe im 19. Jahrhundert vgl. Dahlhaus, Zur Problematik der musikalischen Gattungen im 19. Jahrhundert. August Reißmann, Das deutsche Lied in seiner historischen Entwicklung, Kassel 1861. Ebd., S. 46.

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6 Zur Konstruktion des ›Schubert-Liedes‹

Nach dem Untergang des ›eigentlichen Volksliedes‹, den Reißmann als Folge kultureller Verrohung durch den Dreißigjährigen Krieg erklärt, und der Berliner Liederschule, die lediglich ein ›volkstümliches Lied‹ im Sinne verwässernden Nachschaffens hervorzubrigen imstande war, wird nun Schubert auf paradoxe Weise zum Neuschöpfer jenes substantiellen ›eigentlichen‹ Volksliedes erklärt: [Bei Schubert] erscheint [...] das Lied, obgleich in höchster Formvollendung, doch, wie einst das Volkslied, als ein Produkt der naiven Lust am Schaffen. Er lebte sich in die Tonsprache des Herzens so hinein, daß sie geläufiger wurde, wie seine Muttersprache und ihm ungesucht immer neue Combinationen zu verfeinertem und doch überzeugendem Ausdruck darbot. Dieser ganzen Richtung seiner Individualität, der liebevollen Hingabe an ein süß-schwelgerisches Musikempfunden und absichtloser Entäußerung desselben entspricht seine äußere Stellung zum gesammten Musiktreiben seiner Zeit ebenso, wie der einfache Verlauf seines Lebens.96

Diese Auffassung erscheint, wie hier deutlich wird, auf entscheidende Weise mit einer aus dem damaligen Wissen über Schuberts Biographie herausgelesenen mentalen bzw. charakterlichen Disposition zusammengebracht, vor deren Hintergrund Reißmann den Komponisten gleichsam zur Personifikation der Idee eines unmittelbar schaffenden ›Volksgeistes‹ stilisiert.97 Flankiert wird diese Argumentation durch die zunächst befremdlich erscheinende Assoziation Schuberts mit Johann Sebastian Bach, dessen ›objektiv-polyphone‹ Satzkunst – freilich auf eine indirektere Weise als Schuberts ›naive Genialität‹ – gleichfalls als Repräsentation deutscher »Gemüthssinnigkeit« galt, und dessen Schaffen wie das Schuberts ausschließlich aus der Perspektive künstlerischer Autonomie gedeutet wurde, die ihrerseits eine nationale Konnotation erhielt.98 Jene anspruchslose Bescheidenheit, die ihren reichsten Lohn nur innerhalb der Kunst findet, war auch der Grundzug seines [Schuberts, M. G.] Charakters. Selbst jener Anerkennung in den engern Kreisen der Freunde und Gönner, die für viele Künstler nothwendiges Lebenselement ist, bedurfte er nicht. Er sang seine Lieder wie einst das Volk, weil er singen mußte, unbekümmert um ihre Erfolge. Und so stand er eigentlich inmitten seiner Zeit ebenso vereinsamt da, wie einst Johann Sebastian Bach99

Die auf Reißmanns Arbeit fußende100 umfassende Schubert-Biographie Heinrich Kreißle von Hellborns, die 1865 erschien und gleichfalls zum einflußreichen Standardwerk werden sollte, schreibt diese Zusammenhänge in direkter Weise fort: Bei Nennung seines Namens steht das deutsche Lied mit seiner ganzen unwiderstehlichen Kraft vor unserer Seele. Er ist der Schöpfer des, auf den Urstamm des Volkstümlichen gepfropften

96 97

Ebd., S. 158. Befestigt wird diese Darstellung nochmals in Reißmanns Geschichte des deutschen Liedes (Berlin 1874), S. 220ff. 98 Adolf Nowak, Vom Trieb nach Vaterländischem. Die Idee des Nationalen in der Musikästhetik des 18. und 19. Jahrhunderts, in: Deutsche Meister – böse Geister? Nationale Selbstfindung in der Musik, hg. von Hermann Danuser [u. a.], S. 164. Das Zitat stammt aus der Feder Friedrich Theodor Vischers. 99 Reißmann, Das deutsche Lied in seiner historischen Entwicklung, S. 159. 100 Zur Abhängigkeit der Formulierungen Kreißles vgl. Michael Kube, Von »himmlischer Länge« zu »himmlischen Längen«, S. 46f.

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Liedes, und eben dieses volkstümliche Element in Verbindung mit der vollendeten künstlerischen Durchbildung ist es, was demselben eine so große Wirkung sichert und – wie ein begeisterter Verehrer der Schubert’schen Muse sich ausdrückt, – bei voller Befriedigung des geistigen Bedürfnisses und veredelten Geschmackes immerdar an jene Urempfindung anklingt, uns das ganze Leben hindurch an ein großes Ganzes, an eine lebendige Gemeinschaft verwandter Elemente bindet. 101

Dabei wird die Vielfalt des Liedschaffens sowohl von Reißmann als auch von Kreissle zwar durchaus wahrgenommen und auch z. T. analytisch beschrieben, betont wird aber doch immer wieder Schuberts ›natürliche‹ Affinität zum ›Volkstümlichen‹ und zum Lyrischen, was auf der anderen Seite gegen als peripher angesehene dramatisierende Momente des Liedschaffens ausgespielt wird: Der »lyrische Grundtypus«, so Kreissle, werde zuweilen zugunsten »epische[r] und dramatische[r] Elemente« verlassen, dagegen bleibe »die Tatsache unbestritten, daß er [Schubert] es, trotz eines Erlkönig und anderer Balladen in dieser eigenthümlichen Gattung nicht zu jener idealen Vollendung wie im lyrischen Liede« gebracht habe.102 Schuberts Kompositionen rückten, wie sich bereits an diesen zentralen Beispielen musikhistoriographischer Schubert-Rezeption der Jahrhundertmitte zeigen läßt, im Zuge der Kanonisierung klassischer Kulturgüter zwar fortwährend in die Sphäre repräsentativer künstlerischer Schöpfungen vor, der Komponist wurde dabei als Objekt dieser Festschreibungsprozesse aber auch planvoll auf gewisse ›charakteristische‹ Momente reduziert, wobei die Frage einer direkten Verbindung Schuberts mit der Volksmusikkultur seiner Zeit103 deutlich eine viel geringere Rolle spielt als 101 Kreißle von Hellborn, Franz Schubert, S. 494. 102 Ebd., S. 504. 103 Walter Salmen stellte bereits 1955 fest, daß eine bewußt hergestellte Verbindung Schuberts mit dem österreichischen Volkslied nicht auszumachen sei und betont, daß der Volksgesang in Wien nach 1800 im Grunde wenig alte Brauchtumsweisen aufgriff. Schubert sei vielmehr mit städtisch geprägter Musikpraxis in Verbindung gekommen (Liebes-, Tanzlieder, bürgerliche Standeslieder, anzügliche Gossenlieder und derbe Studentenlieder). Die klassizistisch-mittelständische Liedpoesie des Biedermeier, in deren gesellschaftlichen Kontext Schubert auch verkehrte, mied hingegen die Volkssprache. Auch die volkstümliche Inhalte aufgreifenden Lieder Schuberts sind insofern vielmehr aus einer städtischen Perspektivierung des Landlebens zu betrachten. Vgl. Walter Salmen, Franz Schuberts Verhältnis zur Volksmusik, in: Forschungen und Fortschritte 29 (1955), S. 276‒284. Der Schubert-Kreis etwa wollte, wenn man Bauernfeld glauben darf, den Unterschied zwischen trivialem Volkslied, bzw. einem als zu ›vaterländisch‹ empfundenen musikalischen Idiom und dem Ideal einer hochentwickelten strukturellen Artifizialität des Kunstliedes, gerade nicht verwischt sehen: »Bei Schubert läßt sich an der Form, an der musikalischen Deklamation, an den frischen Melodien selbst so manches tadeln. Die letzteren klingen bisweilen zu vaterländisch, zu österreichisch, mahnen an Volksweisen, deren etwas niedrig gehaltener Ton und unschöner Rhythmus nicht die volle Berechtigung hat, sich in das poetische Lied einzudrängen. In dieser Richtung kam es gelegentlich zu kleinen Diskussionen mit Meister Franz. So, wenn wir ihm nachzuweisen suchten, daß gewisse Stellen in den Müllerliedern an einen alten österreichischen Grenadiermarsch und Zapfenstreich erinnerten, oder an Wenzel Müllers ›Wer niemals einen Rausch g’habt!‹ – Er wurde wohl ernstlich böse über solche kleinlich nörgelnde Kritik, oder er lachte uns auch und sagte: ›Was versteht ihr? Es ist einmal so und so muß es sein!‹ – Aber es mußte und sollte nicht sein, wie sich’s die

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6 Zur Konstruktion des ›Schubert-Liedes‹

das Moment einer Idealisierung des Volksliedes zur ›kulturellen Substanz‹ aus der Perspektive zeitgenössischer nationaler Hochkultur. Daß diese Verbindung letztlich bewußt hergestellt wurde, verdeutlicht nicht zuletzt die als eine Art Gegenprobe wertbare Darstellung Schuberts in der freilich weit weniger prominenten Musikgeschichte Joseph Schlüters von 1863. Der Autor grenzt hier den Komponisten Schubert als ›kompositorischen Individualisten‹ gerade vom Volksmusikideal ab und hebt – eher unüblich für diese Zeit – die artifizielle Durchgestaltung und dramatisierende Rolle der Klavierbegleitung in den Liedern Schuberts hervor: [...] bei Schubert [ist], wiewohl er in seinen instrumentalen Kompositionen nationale, besonders ungarische Rhythmen und Melodien mit Vorliebe verwendet, kaum ein Anklingen des Volkstümlichen zu finden: von seinen an sechshundert Liedern ist unseres Wissens auch nicht eins Volkslied geworden. Die diesem nothwendige klare Objectivität, das Allgemeine und Gemeinfaßliche trat bei ihm zurück gegen die feine psychologische Charakteristik, die wechselnde dramatische Bewegung, kurz die individuelle Bedeutung, wobei auch die Situation oder die Nebenregungen des Gefühls malende Clavierbegleitung wesentlich beteiligt ist.104

Diese Einschätzung Schlüters erscheint gerade angesichts der Prominenz der Silcherschen Männerchorfassung des Lindenbaum in den 1860er Jahren verwunderlich105, zeigt aber als Ausnahme der Regel um so mehr, daß die historische Phantasie von Schuberts ›Wesen‹, das man in seiner Musik abgespiegelt sehen und hören wollte, eben nicht zwangsläufig mit der Idee des ›Volkstümlichen‹ zusammengedacht werden mußte. Der hier ins Werk gesetzte musikhistoriographische Festschreibungsprozeß Schuberts leistete gleichwohl einer Verwischung bzw. Ausblendung jener Vielfältigkeit der Erscheinungsformen, die Schubert in seinen Liedern verwirklicht hatte, Vorschub und leitete damit die in den folgenden Jahrzehnten weiter fortschreitende Zementierung eines modellhaft-idealtypischen ›SchubertLiedes‹ im kulturellen Gedächtnis ein, die weit ausgreifende Folgen haben sollte.

6.3.2. »Concertsaal« oder »wahre Hausmusik«? Der beschriebenen diskursiven Auseinandersetzung mit Schuberts Liedern und dem ›Schubert-Lied‹ im Sinne eines im kulturellen Bewußtsein der Jahrhundertmitte neu installierten gattungsästhetischen Modells stand auf der anderen Seite die Frage seiner Verortung innerhalb der kulturellen Praxis gegenüber. Welche Rolle konnte dem ›romantischen Kunstlied‹ in der sich rapide wandelnden musikalischen Aufführungskultur überhaupt zugewiesen werden? Die kunstpolitischen Dispute im Gefolge der 1848er-Revolution, die auf eine gesellschaftliche Kontextualisierung der Musik abhoben, rechneten grundsätzlich mit der ›romantischen‹ Kunstepoche erste sprudelnde, übermütige und unausgebildete Jugend in den Kopf gesetzt, und in den späteren und reiferen Erzeugnissen ist auch keine jener von uns getadelten burschikosen und trivialen Weisen fürder zu entdecken.« EF, S. 267f. 104 Joseph Schlüter, Allgemeine Geschichte der Musik, Leipzig 1863, S. 136f. 105 Vgl. Reinhold Brinkmann, Schubert, Lindenbäume und deutsch Nationale Identität. Interpretation eines Liedes, Wien 2004.

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ab und verwarfen sie als unzeitgemäß und selbstbezogen.106 Nach der Jahrhundertmitte gaben vor allem Liszts und Wagners Schriften, die die Parole eines musikalischen bzw. künstlerischen ›Fortschritts‹ propagierten, den Ton an. In diesen zeitgenössischen Diskursen wurde auch das Kunstlied, wenngleich, wie Ulrich Mahlert gezeigt hat, seine kompositionsgeschichtliche Entwicklung durchaus als ›Fortschritt‹ gegenüber dem 18. Jahrhundert gewertet wurde, als Prototyp einer partikularen, subjektivistischen ›Romantik‹ geradezu radikal abgelehnt. Statt dessen wurden die »öffentlichkeitsbezogenen« Gattungen der orchestralen und dramatischen Musik, Sinfonie und Oper und vor allem deren gemeinschaftsfördernde Wirkung akzentuiert.107 Vor diesem Hintergrund spricht auch Franz Brendel sich im Rahmen seiner häufiger zitierten, 1856 in der Neuen Zeitschrift für Musik veröffentlichten, Thesen über Concertreform grundsätzlich gegen die Aufführung von Liedern in der Öffentlichkeit aus: Das Lied gehört zunächst ins Haus oder in solche Unterhaltungsabende, in denen nur Kammerund Hausmusik vorgetragen wird. Dies ist aber bis jetzt nicht der Fall gewesen, da die Quartettunterhaltungen den Gesang ganz ausgeschlossen haben. [...]. Soll nun das Lied, entsteht die Frage, so lange die bezeichnete Erweiterung noch nicht durchgedrungen ist, von der Oeffentlichkeit ganz ausgeschlossen sein und auf diese Weise der Möglichkeit der Einführung und Verbreitung in weiteren Kreisen entbehren? Soll eine Gattung vernachlässigt werden, die den Deutschen eigentümlich und in der wir bis herab auf die neuste Zeit das Ausgezeichnetste erhalten haben? Man muß daher, solange sich die Verhältnisse nicht geändert haben, zu Gunsten derselben das Princip und die Consequenzen derselben opfern. Viele Lieder, und unter diesen die bedeutendsten, werden allerdings nie für das Concert passen. Es giebt aber wieder andere, eben so vortreffliche, welche sich unbedingt dafür eignen. Der Vortrag derselben wird zu einer Virtuosenleistung im edleren Sinne, wie bei Beethoven’schen Sonaten.108

Brendel räumt aber auch ein, daß die Qualität eines Liedes nicht nach dessen strukturell im Notentext angelegter ›Öffentlichkeitswirksamkeit‹ beurteilt werden könne. Es fehle vielmehr an einer Praxis, die es ermögliche, das (Kunst-)Lied – trotz seiner kulturell codierten Verwobenheit mit dem ›Privaten‹ – öffentlich im Sinne eines nationalkulturellen Symbols zu zelebrieren. Als fest installierte Institution existierten weiterhin lediglich Konzertveranstaltungen, in deren Rahmen Kunstlieder, wie bereits zur Schubert-Zeit, zwischen Ouvertüren, Sinfoniesätzen, italienischen Bravourarien und daran stilistisch angelehnter trivialer Salonmusik lediglich als eingestreute Petitessen erklangen und so keine nachdrückliche Wirkung ausüben konnten. Die von Brendel vorgeschlagene »Erweiterung« bezieht sich daher auf den bereits etablierten halböffentlichen Veranstaltungstyp der »Quartettunterhaltung«, die nun mit Gesangsvorträgen durchsetzt werden sollte. Brendel macht damit nicht zuletzt deutlich, daß nach seiner Auffassung mit dem »Kunst-Lied« trotz dessen von der Musikgeschichtsschreibung betonter ›natürlicher‹ Verwandtschaft mit dem Volkslied letztlich nur ein spezifisches Publikum erreicht werden 106 Vgl. grundsätzlich Martin Geck, Zwischen Romantik und Restauration. Musik im RealismusDiskurs der Jahre 1848 bis 1871, Stuttgart/Weimar 2001. 107 Vgl. Mahlert, Fortschritt und Kunstlied, S. 8‒29. 108 Franz Brendel, Thesen über Concertreform, in: NZfM 45/ (1856), S. 119.

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könne, daß sich sowohl von der großen Masse als auch vom allgemeinen Theaterpublikum unterscheide, denn gerade Quartettabende galten bereits vor Mitte des 19. Jahrhunderts als elitäre Kennerveranstaltungen.109 »Lied« und »öffentliches Concert« als Momente kultureller Praxis stellten insofern trotz bestimmter Einschränkungen keine vollkommen unvereinbaren Gegensätze mehr dar. Ein wichtiger Grund hierfür war, daß dem Gesang nach Brendels Auffassung offenbar gerade als performativem Ereignis im öffentlichen Konzert eine wichtige Bedeutung zufiel. So betont er ausdrücklich, daß »Gesang für das Concert ist, was das Auge dem Gesicht, die Sonne der Landschaft. Man geht nur Schwierigkeiten aus dem Wege wenn man den Gesang weglässt, man beseitigt, man überwindet dieselben nicht«.110 Die »Schwierigkeiten« bestanden insofern letztlich darin, daß das ungemein wirkungsstarke performative Potential gesanglicher Darbietung vornehmlich durch den Vortrag von (italienischen) »Opernbruchstücken«111, die immer noch einen integralen Bestandteil öffentlicher Konzerte bildeten, in Brendels Augen schlichtweg ›falsch‹ genutzt wurde. Brendels Erwägungen weisen in jedem Fall deutlich darauf hin, daß ungeachtet des romantikkritischen Diskurses der symbolische Wert von »Kunst-Lied[ern]« vor dem Hintergrund der Konstruktion einer nationalen Musikkultur stark angewachsen war. Allerdings war die als rein-lyrisch gedachte Gattung nicht in der Lage, die gleichwohl schmerzlich registrierte Leerstelle bezüglich eines »spezifisch deutsche[n] öffentlichkeitsbezogene[n] Musterbild[es] von Gesangsmusik«112 auszufüllen, das als Pendant zur italienischen Oper auf den Plan hätte treten können.113 Angesichts Brendels Unterscheidung in zum Vortrag geeignete und ungeeignete Liedkompositionen hätten etwa gerade Schuberts Balladen oder seine größer angelegten dramatischen Szenen Beachtung finden können – allerdings war der Komponist offenbar bereits viel zu fest als Repräsentant ›lyrischen Gesangs‹ im kulturellen Bewußtsein installiert, als daß dies denkbar gewesen wäre.114 Aus Sicht der ›fortschrittlichen‹ Fraktion galt Schubert in den 1850er und 1860er Jahren mithin eher als Leitbild der als ›romantisch‹ ausgewiesenen Instrumentalmusik- und Liedkompositionen Mendelssohns und Schumanns, in denen sich mit Brendel in besonderer Weise die Idee einer ›deutschen Innerlichkeit‹ manifestiere. 109 110 111 112 113

Vgl. Walter Salmen, Das Konzert. Eine Kulturgeschichte, München 1988, S. 160ff. Brendel, Thesen über Concertreform, S. 117. Ebd., S. 110. Mahlert, Fortschritt und Kunstlied, S. 35. Dieses Musterbild wollte man letztlich namentlich in Wagners Musikdramen endgültig verwirklicht sehen, an deren deklamatorischem Vokalstil sich die von Mahlert als dezidiert ›öffentlichkeitsbezogen‹ beschriebene Liedästhetik der Neudeutschen Schule ausrichtete. 114 Daß mit Mahlert diese Kompositionen Schuberts nicht aufgeführt wurden, weil sie »eine andere Vorsing-Haltung« als das zeitgenössische italienische Arienrepertoire erfordern würden, scheint vage, zumal der Autor es unterläßt, jene »andere Art des Öffentlichkeitsbezuges« eingehender zu charakterisieren. Daß allerdings der Verlauf der Schubert-Rezeption seit dem mittleren 19. Jahrhundert hier eine Rolle spielte, spiegelt sich nicht zuletzt daran ab, daß die sowohl bei Georgiades als auch, daran anknüpfend, bei Mahlert noch vertretene These, Balladen seien für Schubert ›untypisch‹ (vgl. Mahlert, Fortschritt und Kunstlied, S. 35) bereits in Kreißles Biographie von 1865 aufzufinden ist (vgl. oben S. 213).

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Mit dieser somit auch innerhalb der musikpolitischen und -ästhetischen Diskurse nach der Jahrhundertmitte lokalisierbaren Schubert-Auffassung korrespondiert auf mentalitätsgeschichtlicher Ebene die zunehmende Herausbildung eines ins Stimmungshafte aufgelösten, populären Romantikbegriffs, der als typisch für die Kunstund Musikrezeption der von Industrialisierung und technischer Revolution geprägten Zivilgesellschaft angesehen werden kann.115 Ein Beispiel bietet hier etwa die vor dem Hintergrund der bürgerlichen Natürlichkeitsideologie gepflegte Praxis mehrstimmigen Singens unter freiem Himmel. 116 Unter dem Titel In’s alte romantische Land schlägt etwa 1859 der Dichter und Arzt Wolfgang Müller von Königswinter im Jahrbuch der Illustrierten deutschen Monatshefte folgende nostalgische Töne an: Wie oft waren da nicht die Klänge In einem kühlen Grunde zur Tageszeit in Wald und Feld, durch Berg und Thal und zur Nacht in den Straßen der Stadt aus unseren Kehlen geschmettert worden, denn dies Lied galt schon in jener Zeit als Volkslied.117

Das emphatisch beschworene ›Volkslied‹ ist in diesem Fall indes längst ein kunstvoll dem Volksliedton nachempfundenes Eichendorff-Gedicht – gesungen etwa als Chorlied-Vertonung Mendelssohns. Die hier anklingende Idee einer nostalgisierenden, gleichsam erinnerten Romantik erweist sich, wie im folgenden ausgeführt werden soll, gerade auch als Kontext für die zeitgenössische Aufführung und Rezeption von klavierbegleiteten Kunstliedern sowohl im privaten als auch im öffentlichen Bereich, denn beide Sphären wurden in der bürgerlichen Innerlichkeitskultur miteinander verwoben. Mit der moralischen Aufladung der Privatsphäre errichtete das 19. Jahrhundert, wie Richard Sennett ausführlich dargestellt hat, gleichsam eine Art symbolischen Schutzwall. Die Familie wurde zu einer idealisierten Zufluchtsstätte und damit »völlig eigenständigen Welt, die der öffentlichen Sphäre moralisch überlegen war«.118 Der etwa hiermit verbundene Topos des ›häuslichen Herds‹ ist überdies, wie Ute Gerhard und Jürgen Link herausgearbeitet haben, »einerseits als repräsentatives Symbol für den ›Familiensinn‹ und andererseits metaphorisch für die ›Innerlichkeit‹ des deutschen Nationalcharakters lesbar«.119 Im Rahmen einer kulturellen Ausformung dieser sozialen Sphäre spielte auch das häusliche Musizieren weiterhin eine wichtige Rolle. Als Medium der ›Herzenssprache‹ hatte die Musik im Verlauf des 19. Jahrhunderts das ihr zugewiesene kommunikative Potential zur 115 Vgl. Janina Klassen, Clara Schumann. Musik und Öffentlichkeit, Köln [u. a.] 2009, S. 430. 116 Vgl. Matthias Kruse, »O Täler weit, o Höhen« (Abschied vom Walde). Theodor W. Adorno und das Singen als ein Stück natürlichen Verhaltens, in: Joseph von Eichendorff. Tänzer, Sänger, Spielmann, hg. von Ute Jung-Kaiser, Hildesheim [u. a.] 2007, S. 131‒147. 117 Wolfgang Müller von Königswinter, »In’s alte romantische Land«, in: Westermann’s Jahrbuch der Illustrierten deutschen Monatshefte 6, Braunschweig 1859, S. 433, zitiert ebd., S. 146. 118 Sennett, Verfall und Ende öffentlichen Lebens, S. 34. 119 Ute Gerhard/Jürgen Link, Zum Anteil der Kollektivsymbolik an den Nationalstereotypen, in: Nationale Mythen und Symbole in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, hg. von Wulf Wülfing und Jürgen Link, Stuttgart 1991, S. 22. Gerhard/Link beschreiben die Topoi ›Innerlichkeit‹ und ›Häuslichkeit‹ als zentrale Elemente deutschnationaler Kollektivsymbolik etwa im Gegensatz zu typischen Beschreibungen des Pariser Großstadtlebens, die im 19. Jahrhundert ebenfalls einen kollektivsymbolischen Status erhalten.

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ekstatisch-rauschhaften Grenzerfahrung übersteigert. Nach literarischer Vorwegnahme etwa durch Heinse, Wackenroder und E .T. A. Hoffmann wurde dies vor allem durch die Kompositionen Richard Wagners, dessen Musik – von seinen Gegnern wie Hanslick als »gesungener und gegeigter Opiumrausch« bezeichnet – zur realen Hörerfahrung.120 Die gesellschaftliche Relevanz dieser als ›gefährlich‹ eingestuften Seite der Musik wird nur allzu deutlich an zeitgenössischen Hörertypologien sowie zahlreichen literarisch und zeichnerisch entworfenen Karikaturen eines sich hoffnungslos in der Musik verlierenden bürgerlichen Konzertpublikums.121 Vor dem Hintergrund eines bürgerlichen »Drahtseilakt[es]« zwischen »Kunstbeflissenheit« und »Künstlerskepsis«122 konnte so auf der anderen Seite die anspruchsvolle häusliche Musikpraxis als moralisch integres Pendant zur mit bürgerlichen Wertvorstellungen weitgehend unvereinbar befundenen professionellen Musikausübung stilisiert werden. Die zeitgenössische Natürlichkeitsideologie gebot mithin, wie bereits für die expressive Kultur um 1800 beschrieben, auch im privaten Raum weiterhin emotionale Kontrolliertheit bzw. ›Mäßigung‹. Ein mit Blick auf die Rolle des Liedes besonders markanter Punkt dieser Entwicklung bildet die 1855 von Wilhelm Heinrich Riehl herausgebrachte Liedersammlung Hausmusik123, mittels der der Autor den Hausmusikbegriff dezidiert als Fluchtpunkt einer »konservativen Gegenkultur« zum öffentlichen Musikleben remobilisieren wollte.124 Riehl richtet sich hier sowohl gegen ›neudeutsche‹, vom deklamatorischen Stil der Wagnerschen Musikdramenästhetik beeinflußte Liedkompositionen und die von Wagner intendierte rauschhafte Musikrezeption als auch gegen die als ›oberflächlich‹ abqualifizierte ›Salonmusik‹, der er gewissermaßen etwas Substanzvolles entgegensetzen wollte. Der von der Musikgeschichtsschreibung zu dieser Zeit bereits als ›Klassiker des Liedes‹ installierte Liedkomponist Schubert kann von Riehl in diesem Kontext allerdings bezeichnenderweise nur unter Schwierigkeiten einbezogen werden. Die berühmte Vertonung des Erlkönig klassifiziert Riehl etwa als der Liedgattung fernstehende »dramatisch-deklamatorische Concert-Phantasie«, während seine eigenen Kompositionen, dem Ideal der Zweiten Berliner Liederschule folgend, sich einzig zum Ziel setzten, »die Dichter musikalisch abzuconterfeien«.125 So hatte Riehl denn auch bereits 1852 in einer rezeptionsästhetisch perspektivierten kulturgeschichtlichen Abhandlung über Das musicalische Ohr Schuberts Lieder zum Anlaß genommen, die nach seiner Auffassung häufiger anzutreffende ›Maßlosigkeit‹ des Komponisten zu kritisieren. Riehl macht Schubert überdies geradezu dafür verantwortlich, daß das Lied und mit ihm die künstlerische Praxis des Liedvortrags gewissermaßen auf Abwege geraten sei: 120 Eduard Hanslick, Vom Musikalisch Schönen, Leipzig 41874, S. 17. 121 Vgl. umfassend: Daniel Fuhrimann, »Herzohren für die Tonkunst«. Opern- und Konzertpublikum in der Literatur des langen 19. Jahrhunderts, Freiburg i. Brsg. 2005. 122 G. F. Budde, Musik in Bürgerhäusern, S. 451ff. 123 Wilhelm Heinrich Riehl, Hausmusik. Fünfzig Lieder deutscher Dichter. In Musik gesetzt von W. H. Riehl, Stuttgart 1855. 124 Vgl. Busch-Salmen, Art. Hausmusik, Sp. 232. 125 Riehl, Des Tonsetzers Geleitsbrief, in: Hausmusik (1855), S. IV.

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Zu allen Zeiten hatte man dem Liedercomponisten erlaubt, seine Melodien aus möglichst wenigen Tönen aufzubauen. Während der alte Bach in seinen Arien die Singstimme oft aufs rücksichtslosteste von einer äußerlichen Grenze zur anderen jagt, beschränken sich seine Söhne und Schüler in ihren kleinen deutschen Liedern auf den bescheidensten Umfang. Aehnlich verfuhren die meisten späteren Tonsetzter bis zu Zeit der Romantiker. Da sprengte man auch hier die Fessel. Schubert konnte auf der einen Seite die maßvollsten Lieder setzen, auf der andern die maßlostesten. Es ist manchmal (wie auch bei Beethoven) als empöre sich seine Phantasie dagegen, daß ihr ein Zügel angelegt werde durch die natürliche Grenze der menschlichen Stimme. Allein diese Naturgrenze läßt sich einmal nicht wegschaffen, und wo sie ignoriert wird, geschieht es auf Kosten der Ausführbarkeit. Darum kehrten die späteren Romantiker, wie Spohr und Mendelssohn, alsbald wieder zu der bequemen Mittellage als der eigentlichen Stimmlage des Liedes zurück. Ueber dem Durst nach grellen Klängen hatte man ganz vergessen, daß ein Lied schon um deßwillen bequem zu singen sein muß, weil es immer nur andeutend, niemals in voller dramatischer Ausführung vorgetragen werden darf. Fühlen denn unsere Sänger nicht, die seit Schubert so gerne das Lied zur dramatischen Scene machen, wie lächerlich es wäre, wenn ein Vorleser ein Lied mir voller Stimmgewalt deklamiren würde, gleich dem Dialog eines Dramas?126

Der hier von Riehl eingeforderten ›erbauenden‹ und moralisch funktionalisierten häuslichen Liedpraxis, in die Schuberts Lieder nach seiner Auffassung nur bedingt hineinpaßten, stand seit der Jahrhundertmitte auch bereits die vereinzelte Aufführung von Kunstliedern auf dem Konzertpodium vor einer mehr oder weniger schweigenden Zuhörerschaft entgegen. Das Interesse am »eigentlichen KunstLiede« Schuberts, Mendelssohns und Schumanns verband sich zudem mit dem spezifischen Interesse an einzelnen Sängerinnen und Sängern, die mit ihrem Auftritten wiederum selbst unterschiedliche Ziele bzw. Strategien verfolgten. Die um die Jahrhundertmitte auf geradezu hysterische Weise als Star umjubelte schwedische Sopranistin Jenny Lind etwa formte ihr betont ›bürgerliches‹ und innerhalb der internationalen Musikkultur der Jahrhundertmitte für einen ›deutschen‹ Kunstbegriff stehendes Image auf dem Konzertpodium auch über ein spezifisches Liedrepertoire, das etwa Eduard Hanslick 1854 klar charakterisiert: Die schlichteren, aber desto innigeren Klänge deutschen Gemüts ertönten am herzlichsten aus R. Schumann’s Lied ‚an den Sonnenschein‘, Schubert’s ‚Frühlingsglauben‘[sic!], C. M. Weber’s Cavatine in As (Agathe), endlich dem ‚Hirtenlied‘ und den ‚Sternen‘ von Mendelssohn. [...] Daß der Kreis dessen, was Jenny Lind vollendet wiederzugeben vermag, [...] hauptsächlich durch die Schönheitsform des Anmuthigen, Naiven, Sanft-Elegischen in weitester und reichster Bedeutung erfüllt wird, das weiß Niemand besser als sie selbst, die mit größter künstlerischer Selbstkenntnis ihr Programm aus diesem Kreise wählt.127

Den Liedgesang gleichsam zu einer neuen sängerischen Königsdisziplin auszuformen begann in den 1850ern aber vor allem der Bariton Julius Stockhausen. 1856 präsentierte er erstmals Schuberts Schöne Müllerin als integralen Zyklus im inzwi 126 Wilhelm Heinrich Riehl, Das musicalische Ohr, in: ders., Culturstudien aus drei Jahrhunderten, Stuttgart 1859, S. 85f. Riehl nimmt damit Sonnleithners auf Wien bezogene Kritik eines zeittypischen dramatisch-outrierenden Schubert-Gesangs um 1860 vorweg. Vgl. auch die in Kapitel 5.3 diskutierten Quellen. 127 Hanslick, Geschichte des Concertwesens, Bd. 2, S. 70.

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schen ausgebauten Konzertsaal der Gesellschaft der Musikfreunde unter der Tuchlauben in Wien; in den 1860er Jahren sogar zuweilen vor bis zu 2000 Zuhörern in großen Sälen wie dem Kölner Gürzenich. Durch seine spezifische professionelle Ausrichtung auf den Liedgesang und seine ausgedehnte Konzerttätigkeit in den 1850er, -60er und -70er Jahren wurde er so zu einer zentralen Figur für die Entwicklung der Kunstliedpraxis des 19. Jahrhunderts und besonders durch seine Müllerin-Aufführungen auch für die Rezeptionsgeschichte Schuberts, was noch ausführlicher zu diskutieren sein wird. Hanslick registiert nach Stockhausens erstem Wiener Auftritt das Neuartige dieses Experiments eines »lyrischen Monstreconcerts«128, bringt ihm allerdings bei einer späteren Wiederholung Skepsis entgegen, da er das Risiko der Monotonie als zu hoch einschätzt. Die ambivalente Haltung, die Hanslick gegenüber dem oft wiederholten Müllerin-Projekt Stockhausens einnahm, verweist letztlich deutlich darauf, daß in dieser Zeit das Lied immer noch in erster Linie mit der bürgerlichen Privatsphäre verbunden blieb. Der Vorliebe des großen Publikums für nostalgisierend-stimmungshafte Salonmusik und italienische Oper führte allerdings zu enormer Popularität kunstliedverwandter marktorientierter Liedkompositionen von Komponisten wie Friedrich Kücken, Ferdinand Gumbert, Heinrich Proch oder Franz Abt – in August Reißmanns Gattungsgeschichte 1861 als »nobler Bänkelgesang«129 rubriziert –, die z. T. ebenfalls an italienische Opernmelodik angelehnt waren. Sie erklangen sowohl im Salon, der indes längst als Ort oberflächlicher Plaisanterien galt, als auch im Rahmen des Großen Concerts und waren hinsichtlich der Aufführungsfrequenz den »Kunst-Liedern« Schuberts, Mendelssohns und Schumanns mit einiger Sicherheit weit überlegen. Auch Joseph von Spaun meldet sich 1858 mit einer vielzitierten Diagnose zur zeitgenössischen Situation der Lieder Schuberts in Wien zu Wort. Dabei wendet er sich wohlgemerkt nicht gegen eine grundsätzliche Aufführung von Schuberts Liedern im Konzert, sondern weist vielmehr, ähnlich wie bereits Brendel 1856, auf das Fehlen einer nach seiner Auffassung adäquaten Rezeptionskultur hin, wodurch die Lieder zunächst weiterhin in die bürgerliche Privatsphäre verwiesen waren: Schubert fand in Wien nicht die Anerkennung, die er verdiente. Der große Haufe blieb und bleibt teilnahmslos. An den schönen Liedern ist daran nicht die Schuld, das Publikum, das für den Rigoletto schwärmt und die Iphigenie langweilig findet, kann nicht für Schubert sein. Schuberts Lieder passen auch nicht den Konzertsaal, für die Produktionen. Der Zuhörer muss auch Sinn für das Gedicht haben und mit ihm vereint das schöne Lied genießen können: das Publikum muß ein anderes sein als dasjenige, das die Theater und Konzertsäle füllt.130

Die durchaus vorhandene gezielte Wiener Schubert-Lied-Pflege einzelner Sänger nach dem Tod des Komponisten schlägt sich indes in den Konzertanzeigen und Rezensionen der 1830er und 1840er Jahre deutlich nieder131, diejenige innerhalb der 128 129 130 131

Ebd., S. 214. Reißmann, Das deutsche Lied in seiner historischen Entwicklung, S. 223ff. EF, S. 163. Vgl. Ahrens, Liszts Transkriptionen, S. 11‒27. Hier werden zwischen 1830 und 1848 125 Wiener Aufführungen von Schubert-Liedern nachgewiesen.

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Abendunterhaltungen der Gesellschaft der Musikfreunde läßt sich bis ins Jahr 1856 verfolgen.132 Im selben Jahr erschien etwa in der Wiener Monatsschrift für Theater und Musik eine Würdigung des Wiener Bassisten Josef Staudigl, die entgegen Spauns Diagnose darauf verweist, daß man den Stellenwert von Schuberts Liedern auch außerhalb des Schubert-Kreises in Wien durchaus anerkannte und auch den Liedgesang als professionelle künstlerische Disziplin bereits wahrnahm. Bedeutsam erscheint mit Blick auf die Schubert-Rezeption, daß Staudigl, ähnlich wie Vogl, durch seine Repertoireauswahl den Akzent auf seinem künstlerischen Profil entsprechende dramatisierende bzw. balladeske Kompositionen legte, was auch entsprechend gewürdigt und mit der Rolle Schuberts hinsichtlich einer Weiterentwicklung der Gattung in Verbindung gebracht wird:133 Was er [Staudigl] in diesem Fache des Liedersängers seit Jahren leistet, ist allbekannt. [...] Seine Auffassung der Lieder ist eine sichere verständnisvolle, oft tief empfundene, sein Ausdruck ein kraftvoll-markiger, auf dramatische Steigerung berechneter. Freilich entspricht diese Methode nicht unbedingt jener eng begrenzten Einfachheit, jenem Ausdrucke sanfter, wohltuender Lyrik oder harmlosen Scherzes, welche man nicht zu Unrecht als die eigentliche Urform des Liedes zu bezeichnen geneigt ist und worauf auch die prunk- und geräuschlose Klavierbegleitung hinzuweisen scheint. Indessen hat sich das Gebiet der Kammermusik, zu welchem das Lied doch immer gehört, seit der Entstehung vieler Schubert’scher und anderer Lieder bedeutend erweitert. Dramatische Situationen, heftige, aufregende Gefühle wurden zum Inhalt des Liedes erwählt, und die hohe Meisterschaft, mit welcher der eben genannte geniale Tondichter sich dieser Aufgabe, und zwar in einer beträchtlichen Anzahl [seiner] Lieder entledigte, erlaubt es kaum mehr, die in Rede stehende Gattung von dem eben angedeuteten einseitigen Standpunkte auszudeuten.134

Während, wie man gleichwohl konstatieren muß, Schuberts Lieder in Originalgestalt also nach der Jahrhundertmitte unverändert mit einem eingegrenzten, spezifische Voraussetzungen erfüllenden Rezipientenkreis in Verbindung zu bringen waren, dominierten auch in Wien die Erzeugnisse der Salonunterhaltungskunst die halböffentliche Musikkultur135, was Spaun – inklusive dem entsprechenden Publikum – ein Dorn im Auge gewesen sein dürfte. Überraschend scheint vor diesem Hintergrund indes, daß der ehemals enge Freund Schuberts gerade die Wiener Auftritte Julius Stockhausens hier offenkundig ausblendet, da er (wie auch Schönstein) Stockhausens Vortragsweise offenbar interessanterweise als nicht angemessen empfand. Bereits 1854 hatte Spaun den Bariton etwa auch in kleinerem Kreise

132 Vgl. die Übersicht der Aufführungen bei Biba, Franz Schubert in den Musikalischen Abendunterhaltungen der Gesellschaft der Musikfreunde, S. 25‒27. 133 Staudigl trug als Nachfolger Vogls und Schönsteins vor allem in den 1830er und 1840er Jahren zur Popularisierung der Schubertschen Lieder bei und trat auch im Ausland auf. Vgl. Ernst Hilmar, Art. Staudigl, Josef, in: SE, 726. Nach Otto Brusattis Einschätzung führte er weit über dreihundertmal Wanderer und Erlkönig öffentlich auf. Vgl. SWVm, S. 85. 134 Wiener Monatsschrift für Theater und Musik 1856, zitiert nach Robert Werba, Franz Schubert. Ein volkstümlicher Unbekannter in den Augen der Nachwelt, Wien 1997, S. 23f. 135 Vgl. Maria Nunnenmacher-Röllfeld, Der Schubertsänger Gustav Walter. Ein Wiener Künstlerleben, Bilin [1930], S. 3. Zu Gustav Walter vgl. eingehender unten Kapitel 8.2.1.

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Schuberts Der Zwerg D 771 singen gehört und kritisch mit dem Vortrag Vogls verglichen.136 Stockhausens noch eingehender zu behandelndes legendäres MüllerinKonzert im Mai 1856, wird überdies von Hanslick nachdrücklich als inoffizielles »Schubertfest« ausgewiesen, zu dem sich »wie durch stillschweigende Verabredung [...] alle echten Anhänger deutscher Musik« zusammengefunden hätten – ein Ereignis, bei dem Spaun kaum gefehlt haben dürfte. 137 Schuberts Lieder führten abgesehen von ihrer Populärrezeption durch Bearbeitungen und zunehmenden öffentlichen Aufführungen in und auch außerhalb Wiens letztlich weiterhin eine schwierig zu erfassende klingende Existenz innerhalb der zeitgenössischen privaten Musizierpraxis. Dies wird neben den erwähnten Nachlaßveröffentlichungen Diabellis in den 50er Jahren138 auch durch einen exemplarischen Blick auf die von Walther Dürr beschriebene handschriftliche siebenbändige Liedersammlung der Sophie Miller-Hager deutlich. In der von Dürr als »repräsentativ für das [Wiener] Lied-Repertoire um 1850«139 ausgewiesenen Zusammenstellung verweist eine Fülle unterschiedlicher Komponierender auf eine vielfältige Liedkultur. Die Sammlung wird von Schubert mit 42 Kompositionen (enthalten in den Bänden 3‒5) deutlich dominiert, während die traditionelle Berliner Liederschule, wie Riehl sie noch favorisierte, gar nicht mehr vertreten ist.140 Daß Schuberts Lieder um 1860 – Riehl zum Trotz – innerhalb der häuslichen Musikkultur einen festen Platz beanspruchten, zeigt etwa auch die Einschätzung Joseph Schlüters, der in seiner Allgemeinen Geschichte der Musik in übersichtlicher Darstellung Schuberts Lieder folgendermaßen einordnet: Oratorium, Oper und Sinfonie hatten durch Händel, Mozart und Beethoven ihre Höhe erreicht, mit Schubert stellt sich diesen großen chorischen Werken die Gattung zur Seite, welche das

136 EF, S. 420: »Der gefeierte Stockhausen, der für den einmaligen Vortrag der ›Müllerlieder‹ mehr einnahm als Schubert für die Komposition aller fünf Hefte zusammen, erreichte nicht von ferne die seelenvolle Vortragsweise Vogls. Ich hörte von ihm in einem Kreise das schöne Lied der Zwerg vortragen; allein wie weit stand dieser Vortrag dem erschütternden nach, mit dem Vogl dieses herrliche Lied zur Geltung brachte.« 137 Hanslick, Aus dem Concertsaal, S. 101. 138 Vgl. Raab, Zu Antonio Diabellis Nachlasslieferungen. 139 Vgl. Dürr, Das deutsche Sololied, S. 321. 140 Dürr weist zudem darauf hin, daß ebenso keine Lieder Schumanns, Liszts oder Robert Franz’ in der Sammlung enthalten seien. Als »wichtigere Autoren« nennt er neben Schubert und Beethoven (ebd., S. 322): Conradin Kreutzer (1780‒1849), Robert Nicolas Charles Bochsa (1792‒1856), W. A. Mozart, Sohn (1791‒1844), Giaccomo Meyerbeer, Gioacchino Rossini, Moritz Hauptmann (1792‒1861), Heinrich Marschner (1795‒1861), Carl Loewe, Gaetano Donizetti, Carl Gottlieb Reissiger (1798‒1859), Joseph Dessauer (1798‒1876), Vincenzo Bellini, Alexander Jegorowitsch Warlamow (1801‒1848), Benedikt Randhartinger (1802‒1893), Johann Vesque von Püttlingen (1803‒1883), Karl Friedrich Curschmann (1804‒1841), Luigi Ricci (1805‒1859), Wenzel Heinrich Veit (1806‒1864), Joseph Staudigl (1807‒1861), Joseph Netzer (1808‒1864), Maria Felicità Malibran (1808‒1836), Charles Louis Vogel (1808‒1892), Felix Mendelssohn-Bartholdy, Gottfried Wilhelm Taubert (1811‒1891), Sigismund Thalberg (1812‒1871), Josephine Lang (1815‒1880), Alexander Ernst Fesca (1820‒1849) und Ferdinand Wrede (1827‒1899). Daß der als professionelle »Liedersänger« ausgewiesene Joseph Staudigl auch unter den Komponisten auftaucht, verweist auch bereits auf eine neue Funktion des Liedes als Bindeglied zwischen öffentlichem und privatem Musikleben.

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Gefühlsleben des Einzelnen wie keine andere erfaßt und bewegt, dem, welcher sich von dem leider oft genug mit unreinen Elementen versetzten öffentlichen Musikleben abgewendet, eine trauliche Zufluchtsstätte, eine wahre ›Hausmusik‹ privatissime et gratis.141

Der von Schlüter in Anführungszeichen gesetzte Begriff ›Hausmusik‹, mag zwar darauf verweisen, daß Schuberts Lieder ob ihrer strukturellen Komplexität nicht ohne weiteres unter einem gängigen zeitgenössischen Hausmusikbegriff à la Riehl rubriziert werden konnten. Entscheidend ist indes die mit diesem Begriff verbundenen moralischen und nationalkulturellen Konnotationen – denn derjenige, der hier in kontemplativer Haltung Schubertsche Lieder musiziert, erweist sich einmal mehr als idealisierter Repräsentant des vielbeschworenen ›deutschen Gemüts‹. Die »wahre Hausmusik«, die von Schlüter hier propagiert wird und mit deren Hilfe Schuberts Lieder charakterisiert werden, geht insofern auch über Riehls soziofunktionalen Hausmusikbegriff hinaus, und akzentuiert den bereits in den 1840ern sich herausbildenden Kontext der anspruchsvollen bildungsbürgerlichen Hausmusik als »Hort des Klassischen«142 − einer ästhetischen Kategorie, zu der in den 1860er Jahren auch Schuberts Lieder bereits zählten. Als ›Hausmusik‹ galt in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zunehmend die gesamte im Haus aufführbare Konzertmusik, notfalls in speziellen Bearbeitungen, und als ihr Kern wurde gerade die anspruchsvolle Kammermusik angesehen.143 Die unterschiedlich akzentuierten Hausmusikideale sowohl Riehls als auch Schlüters konnten indes mit denselben Medien korrelieren – etwa mit zum Musizieren zusammengestellten Alben, die den oder die jeweilig Musizierenden gleichsam indirekt auffordern, nach eigener Entscheidung zwischen einzelnen Musikstücken hin- und herzublättern und sich vor allem an kein dezidiertes Gegenüber richten. Damit ist indes nicht allein ein medialer, sondern auch ein performativer, nämlich atmosphärischer Aspekt der Hausmusik angesprochen, der in der Öffentlichkeit kaum realisiert werden konnte. 141 Schlüter, Allgemeine Geschichte der Musik in übersichtlicher Darstellung, S. 137. 142 Vgl. Petrat, Hausmusik um 1840, sowie Mechthild von Schönebeck, Hausmusik als ideologisches Konstrukt, in: Systematische Musikpädagogik oder: Die Lust am musikpädagogisch geleiteten Nachdenken, hg. von Martin Pfeffer, Augsburg 1998, S. 253‒271. 143 In einem glossenhaften Essay betont etwa 1897 Karl Söhle in der Zeitschrift Der Kunstwart die Bedeutung der Hausmusik für die geistig-kulturelle Bildung und Entwicklung aus der Perspektive konservativen Bildungsbürgertums: »Welche Musik ist Hausmusik? Antwort: Die beste Musik! Unser köstlichster, edelster Besitz an Tonwerken – Bachs Beethovens Werke. Die völlig gleiche Zierde für den Musikalienschrank bedeuten sie, wie Goethes und Schillers Werke in der Hausbibliothek. Ist nicht alles Höchste, Werthvollste in der Kunst geschaffen worden zur Nutznießung für Geist und Gemüt der ganzen Menschheit?«. Schuberts Lieder waren vor solchem Hintergrund gleichwohl Teil derjenigen Literatur, mit der man den eigenen Anspruch zur Schau stellen konnte, repräsentierten aber auch hier die gefühlsbetonte, weibliche Sphäre: »In der Schule, in der Quinta und Obertertia, renommieren der Max und der Ältere gewaltig: ›Du, Wilhelm Schmidt, Du, Karl Schulze, gestern Abend haben wir mit dem Papa das schwere Trio in G-Dur von Haydn gespielt. [...] ›Und Schuberts Heidenröslein hab’ ich meiner Schwester begleitet‹ erzählt darauf der Max noch mit stolzer Miene. [...]«. (Karl Söhle, Hausmusik, in: Der Kunstwart. Halbmonatsschau über Dichtung, Theater, Musik, bildende und angewandte Künste 10/8 (1897), S. 121‒123, Zitate S. 122.

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6 Zur Konstruktion des ›Schubert-Liedes‹

Abbildung 7: Titelblatt zu W. H. Riehl: »Hausmusik« (1855), Zeichnung von Ludwig Richter

Die private bzw. verinnerlichte Musikrezeption – allein oder im Rahmen einer ›intimen‹ Gesellschaft – erhielt somit nicht zuletzt durch die ideologische Konstruktion einer ›wahren Hausmusik‹, zu der etwa Robert Schumann mit seinem Liederalbum für die Jugend op. 79 einen dezidierten Beitrag leistete144 in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zunehmend den Charakter eines nostalgisierenden Topos’. Auch der Akt der performativen Realisierung von Liedern sowie die sich damit verbindende Rezeptionssituation wurden vor solchem Hintergrund idealisiert, indem sie betontermaßen von der halböffentlichen Salonkultur und vor allem dem öffentlichen Konzertpodium als längst geläufigen Aufführungsorten abgesetzt und mit dem moralisch aufgeladenen Begriff einer ›deutschen Gemütssinnigkeit‹ verbunden wurden. Ein besonders wirkungsmächtiges Dokument der Rezeptions- und Erinnerungsgeschichte des Schubert-Liedes in diesem Kontext ist Moritz von Schwinds hochberühmte lavierte Feder- und Bleistiftzeichnung Ein Schubertabend bei Ritter von Spaun von 1868, die die Liedkompositionen Schuberts zu einer Zeit, in der sie längst auf großen Konzertpodien aufgeführt wurden, durch Darstellung 144 Vgl. Anthony Newcomb, From Butterflies to Hausmusik. Schumann and the Marketplace, in: 19th Century Piano Music, hg. von Larry Todd, New York [u. a.] 22004, S. 258‒315.

6.3 Jahrhundertmitte

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einer nostalgisch anmutenden, idealisierten Aufführungs- und Rezeptionssituation thematisiert.

Abbildung 8: Moritz von Schwind: »Ein Schubertabend bei Ritter von Spaun« (1868)

Die Entstehung des Bildes verbindet sich nach Schwinds eigener Mitteilung überdies mit einem anderen Ereignis, das seinerseits eine rezeptionsästhetische Perspektive auf den angesprochenen nostalgisch-populären ›Romantik‹-Begriff eröffnet: Gegenüber Eduard Mörike, mit dem der Maler seit den frühen 1860er Jahren in freundschaftlichem Kontakt stand, betont Schwind am 25. Mai 1865, er fasse die Zeichnung als Schuldigkeit an »den vernünftigen Teil Deutschlands« auf, da die »Wagnerischen Eseleien« ihm »das, was man romantisch nennt« verleidet hätten.145 Gemeint ist hier konkret die zeitnah anstehende Münchener Uraufführung von Tristan und Isolde am 10. Juni 1865. Schwind wollte seine persönliche, mit der idealisierenden Abbildung damaliger Liedpraxis gleichsam buchstäblich in Rahmung gefaßte, erinnerte Schubert-Phantasie hier offenbar als expliziten Gegenentwurf zum namentlich durch Tristan und Isolde herausgeforderten Phänomen einer ekstatisch übersteigerten Musikrezeption verstanden wissen, die Wagner im Sinne einer bewußt geformten Vermittlung psychischer Vorgänge in seine Partituren gleichsam einkomponiert hatte.146 Mörike und Schwind waren sich hinsichtlich ihrer Wagner-Gegnerschaft einig. Bereits 1855 hatte der Dichter in seine Novelle Mozart auf der Reise nach Prag einige Hausmusikszenen eingeflochten, die sich leicht als indirekte Wagner-Kritik dekuvrieren lassen: Mörike zeichnet facettenreich das Ideal einer sublimen, kultivierten Genußfähigkeit des Ancien Régime nach und läßt überdies Mozart anspielungsreich von ›falschen Propheten‹ der Zukunft sprechen. Damit wendet sich der Dichter letztlich aber nicht nur gegen die von Wagner zur Entgrenzungserfahrung 145 Otto Stoessl, Moritz von Schwind. Briefe, Leipzig o. J. [1924], S. 422f. 146 Vgl. Geck, Zwischen Romantik und Restauration, S. 158‒164.

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gesteigerte Musikrezeption, sondern auch gegen Riehls biedermeierlich-idyllisierende Hausmusikidee. 147 Er läßt in seiner Novelle vielmehr, wie Thorsten Valk herausgearbeitet hat, einen »Interferenzbereich zwischen biedermeierlicher Musikkultur und romantischer Musikästhetik« aufscheinen, der sich, wie mit anderer Akzentuierung oben beschrieben, auch mit den historischen Schubertiaden verbinden ließe, an denen Schwind noch teilgenommen hatte.148 Salonkultur und Hausmusik lagen hier allerdings noch wesentlich näher beieinander als zur Entstehungszeit von Schwinds Bild. Schwinds gegenüber Mörike vorgenommene Reklamation des ›Romantischen‹ mag insofern über die angesprochene trivialisierende Auffassung einer verklärten, einzig in Stimmungshaftigkeit sich auflösenden Romantik ebenso hinausgehen wie Wagners eigenes Aufgreifen eines in diesem Sinne romantisierend abgetönten Nürnberg-Mythos in den 1868 in München uraufgeführten Meistersingern von Nürnberg.149 Schuberts Lieder erscheinen indes nicht zuletzt durch die Rezeption von Schwinds Schubertabend von Seiten der bildenden Künstler als visuelles Symbol einer ›erinnerten Romantik‹ fest ins kulturelle Bewußtsein des späteren 19. Jahrhunderts eingeprägt150, was sich auch auf ihre Wahrnehmung innerhalb der öffentlichen Konzertkultur des späteren 19. Jahrhunderts abgespiegelt haben dürfte. Gerade durch die öffentlichen Aufführungen vor Publikum wurden Schuberts Lieder insofern nicht mehr als ihrem eigentlichen sozialen Rahmen entfremdet angesehen, sondern ihre Rolle als nunmehr öffentlich zelebriertes Repräsentationsmodell einer bürgerlichen Innerlichkeitskultur um so stärker befestigt. Das Image der musikalischen Gattung ›Lied‹ indes blieb, wie sich gleichfalls daran ablesen läßt, letztlich weiterhin ambivalent, indem es gewissermaßen in verschiedene kulturelle 147 Vgl. Gerhard von Graevenitz, Don Juan oder die Liebe zur Hausmusik. Wagner-Kritik in Eduard Mörikes Erzählung »Mozart auf der Reise nach Prag«, in: Neophilologus 65/2 (1981), S. 247‒262. 148 Vgl. Thorsten Valk, Vom Hochzeitslied zum Höllenbrand. Mörikes Novelle »Mozart auf der Reise nach Prag« im Interferenzbereich zwischen biedermeierlicher Musikkultur und romantischer Musikästhetik, in: Zeitschrift für deutsche Philologie 125/4 (2006), S. 536‒560. Valk beschreibt, wie die biedermeierlich anmutende Geselligkeit auf dem Schloß des Grafen von Schinzberg in bestimmten Passagen der Erzählung aus einer romantischen Perspektive umgedeutet wird: Mörike formuliere »keineswegs nur eine schlichte Alternative zur metaphysischen Überhöhung der Tonkunst« oder den »Versuch einer Aussöhnung zwischen erhabener Kunstsphäre und gewöhnlicher Alltagsrealität«. Namentlich die Schlusspartie der Novelle »transgredier[e] den Rahmen des biedermeierlichen Klassizismus, indem sie für die Schilderung des Finales aus dem Don Giovanni gezielt auf das Ideenrepertoire und Metaphernarsenal der romantischen Kunstauffassung zurückgreift.« (S. 543). 149 Vgl. Dieter Borchmeyer, Nürnberg als Reich des Schönen Scheins. Metamorphosen eines Künstlerdramas, in: Deutsche Meister – böse Geister?, S. 288ff. 150 Vgl. Werner Telesko, Franz Schubert in der bildenden Kunst. Grundzüge der ikonographischen Entwicklung zwischen Geniekult und nationaler Veeinnahmung, in: Schubert und die Nachwelt, S. 77‒98, S. 92. Telesko stellt heraus, daß gerade das »Bild des geselligen SchubertAbends« in der Malerei mit einer »geringen Variationsbreite« tradiert wurde (S. 92), aber auch Illustrationen zu Schubert-Liedern, die Themen der Lieder mit der Biographie des Komponisten verbinden, spielen eine wichtige Rolle. Vgl. dazu auch die Abbildungen in: Schubert 200 Jahre, S. 216‒218.

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Rahmungen ein- bzw. unterschiedlichen Bedürfnissen angepaßt wurde: Einem zögerlichen ›Lifting‹ zum Kunstwerk korrespondierte seine kulturelle Funktionalisierung als nationalidentifikatorische Projektionsfläche, die, wie im abschließend betrachtet werden soll, besonders in den Jahrzehnten nach 1860 noch verstärkt wird. 4 GRÜNDERZEIT: ›SCHUBERT-LIED‹ UND NATIONALISMUS Noch in seinem im Sommer 1840 in der Gazette Musicale veröffentlichten Essay Über deutsches Musikwesen hatte auch Richard Wagner von Paris aus ein vornehmlich über die Kategorie der ›Innigkeit‹ definiertes Idealbild deutscher Musik und der mit ihr verbundenen kulturellen Praxis entworfen, das er als gleichsam heilsames Gegenbild zur halböffentlichen Pariser Salon-Sphäre beschwor. Der Lesende wird durch Wagners literarische Inszenierung Zeuge einer Situation, die sich als typisch ›biedermeierliches‹ Genrebild, vergleichbar etwa mit Ludwig Richters Holzschnitten zu Riehls Hausmusik-Bänden (vgl. oben Abbildung 7), charakterisieren ließe: Gehet hin und belauscht sie eines Winterabends im kleinen Stübchen; dort sitzen ein Vater und seine drei Söhne um einen runden Tisch; die einen spielen Violine, der dritte die Bratsche, der Vater das Violoncello; was ihr so tief und innig vortragen hört, ist ein Quartett, das jener kleine Mann komponirte, der den Takt schlägt. – Dieser ist aber der Schulmeister aus dem benachbarten Dorfe, und das Quartett, was er komponirte, ist kunstvoll, schön und tiefgefühlt. – Nochmals, gehet hin, und höret an diesem Ort, von diesem Autor, diese Musik aufführen, so werdet ihr bis zu Thränen gerührt werden und die Musik wird euer Innerstes durchdringen; ihr werdet wissen, was deutsche Musik ist, ihr werdet empfinden, was es ist, das deutsche Gemüth!151

›Häuslichkeit‹ und ›Innigkeit‹ werden in diesem für die Ideologisierung der Hausmusik im 19. Jahrhundert zentralen Text Wagners ganz im bereits verhandelten Sinne zeitgenössischer bürgerlicher Selbstkonstitution mit moralisch aufgeladenen Kategorien (›Aufrichtigkeit‹, ›echte‹ Musikalität) verbunden. Sie repräsentierten damit den Gegenpol zu jener vorgeblich oberflächlichen ›Effekthascherei‹, die Wagner in seiner von schweren persönlichen Krisen geprägten Pariser Zeit mit Blick auf das dortige Musikleben als Odium stilisierte.152 Die hier von Wagner vorgenommene gegenseitige Überblendung von behaupteter deutscher Mentalität und nationaltypischer Kunstproduktion bildet nun die Basis für eine Charakterisierung der ›deutschen Vokalmusik‹ im Zeichen einer idealisierten ›Volkstümlichkeit‹. Namentlich der Wiener Kulturraum wird hier als gleichsam exemplarischer Nährboden hervorgehoben:

151 Richard Wagner, Über deutsches Musikwesen, in: Sämtliche Schriften und Dichtungen. Volksausgabe, [o. J.], Bd. 1, S. 149‒166, S. 151f. 152 Martin Gregor-Dellin, Richard Wagner. Sein Leben, sein Werk, sein Jahrhundert, München 1980 S. 141‒161.

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6 Zur Konstruktion des ›Schubert-Liedes‹ Überhaupt hat sich in dieser Kaiserstadt von jeher die meiste Volksthümlichkeit erhalten; dem unschuldigen heiteren Sinne ihrer Einwohner sagte stets das am meisten zu, was ihrem natürlichen Witz und ihrer fröhlichen Einbildungskraft am faßlichsten war.153

Obgleich gerade Schubert einer zeitgenössischen Leserschaft mit Blick auf die in den 1840er Jahren erfolgte Rezeption seiner Biographie und seiner Kompositionen als Prototyp eben dieses an die Kategorie der ›Häuslichkeit‹ und »Volksthümlichkeit« gebundenen Künstlertypus’ hätte gelten können, blendet Wagner ihn in seiner Darstellung deutscher Musikgeschichte aus. Das »seelenvolle, einfache Lied des Deutschen«, das auch in seinen Augen gleichsam die Grundsubstanz einer nationalen Operntradition sein sollte, sah Wagner vielmehr in Mozarts Zauberflöte und Webers Freischütz repräsentiert.154 Schuberts Lieder bringt er in seiner ebenfalls 1840 in Paris verfaßten Novelle Ein Ende in Paris gar in direkter Weise mit der so verhaßten Pariser Salonszene in Verbindung:155 Nichts ist, wie ich weiß, heut’ zu Tage in den Pariser Salons beliebter, als jene anmuthigen und gefühlvollen Romanzen und Lieder, wie sie dem Geschmacke des französischen Volkes eigen sind, und wie sie sich selbst aus unserer Heimath hier angesiedelt haben. Denke an Franz Schubert’s Lieder, und des Rufes, dessen sie hier genießen!156

Die hier anklingende ambivalent bis pejorativ getönte Auffassung Schuberts und seiner Lieder behielt Wagner offenbar grundsätzlich bei. In seinem Aufsatz Über das Dirigieren von 1869 erklärt er Brahms’ Plädoyer für Schuberts Lieder – durchaus im Gegensatz zu Liszts Auffassung – gar als Symbol ästhetischer Reaktion. 157 Vor allem aus den Tagebüchern Cosima Wagners, die die Zeit von 1869 bis 1883 umfassen, geht dennoch hervor, daß Wagner sich immer wieder mit Schuberts Liedern beschäftigte.158 Bemerkenswert dabei scheint, daß auch er vor dem Hintergrund der eigenen ästhetischen Prämissen gerade nicht etwa Schuberts dramatisierende Entwürfe unter den Liedern würdigt. Stattdessen schwenkt er unter Betonung 153 Wagner, Über deutsches Musikwesen, S. 162. 154 Ebd., S. 164. 155 Wagners Anspielung auf die Popularität der französischen Romanzen läßt sich aus der Sicht des gehobenen Pariser Bürgertums indes kaum bestätigen. Hier rangierten Schuberts Lieder, und vor allem seine Balladen, wie Rainer Gstrein gezeigt hat, auf einem höheren ästhetischen Level als die Romanze. Vgl. ders., Die Lieder Franz Schuberts und die französische Romanze, in: Das österreichische Lied und seine Ausstrahlung in Europa, S. 91. Die Salons, in denen etwa Franz Liszt und der Tenor Adolph Nourrit Schubertsche Lieder seit 1835 präsentierten und damit deren ›Ruf‹ in der französischen Musikkultur der 1840er entscheidend prägten, waren häufig Foren künstlerischer Avantgarde. Vgl. Messing, Schubert in the European Imagination, Bd. 1, S. 104‒118. 156 Richard Wagner, Ein Ende in Paris, in: Sämtliche Schriften und Dichtungen, Bd. 1, S. 119. 157 Richard Wagner, Über das Dirigiren, Leipzig [1870], S. 86: »Nur Eines macht mich wieder bedenklich. Man sagt mir, daß Herr Joachim, dessen Freund J. Brahms alles Gute für sich aus einer Rückkehr zur Schubert’schen Liedermelodie verhoffe, seinerseits einen neuen Messias für die Musik überhaupt erwarte.« 158 Cosima Wagner, Die Tagebücher [vollständiger Text der in der Richard-Wagner-Gedenkstätte aufbewahrten Niederschrift], 2 Bde., München 1976/77. Vgl. ebd. Bd. I, S. 286, S. 442, S. 546, S. 888, S. 940; Bd. II, S. 258, S. 311, S. 331, S. 375, S. 463, S. 478, S. 589, S. 694, S. 773, S. 783, S. 1055f.

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repräsentativer Eigenschaften etwa des Liedes Sei mir gegrüßt D 741 und der bezeichnenden Charakterisierung Schuberts als »talentvollem Melodiker«159 seinerseits auf die Verortung der Lieder innerhalb der Sphäre jener bereits beschriebenen ›wahren Hausmusik‹ im Sinne einer substanzvollen Gegenkultur zur trivialen Salonmusik ein. Zumindest aus der Perspektive der 1870er Jahre rückte für Wagner mithin offenbar auch das ›Schubert-Lied‹ im zeitgenössisch reduzierten Sinne in den Kontext des in Über deutsches Musikwesen beschriebenen Ideals – zumal der Essay im Rahmen der ersten Gesamtausgabe der Gesammelten Schriften und Dichtungen 1872 nochmals veröffentlicht wurde. Auch der folgende Tagebucheintrag Cosima Wagners vom 15. Januar 1875 etwa rückt die Rezeption der Lieder Schuberts in den 1870er Jahren in einen mit dem beschriebenen stereotypen SchubertBild assoziierbaren nationalen Kontext: Abends singt er [R. Wagner] mir ›Sei mir gegrüßt‹ und erklärt es in Bezug auf Empfindung und künstlerischer [sic!] Durchführung als das schönste Lied von Schubert; es ergreift uns zu Tränen; das ist deutsch; so rein und keusch, innig [...]160

Vor allem mit der Gründung des deutschen Kaiserreiches 1871 setzte eine verstärkte Ideologisierung und Politisierung kollektiv als ›deutsch‹ empfundener Eigenschaften und Werte ein. Dieser Prozeß gerann letztlich zum Mythos von der »ästhetischen Erfindung« der deutschen Nation 161, wie er in den Jahren vor und um 1900 vehement von der deutschen Geisteswissenschaft befestigt wurde. Dabei wurden Elemente eines angeblich ahistorischen ›deutschen Nationalcharakters‹ mit einer Politisierung der um 1800 zur Blüte gelangten ›deutschen Kulturnation‹ verschmolzen. Bereits seit einigen Jahrzehnten den nationalen Diskurs bestimmende Schlagworte wie ›Romantik‹ und ›Innerlichkeit‹ wurden dabei – scheinbar paradox – in den zeittypischen Prozeß einer Monumentalisierung einbezogen. Otto Graf von Bismarck legte als politische Spitze des neugegründeten Reiches freilich weniger Wert auf das Potential einer symbolischen Repräsentation des deutschen Nationalstaates durch Kunst und Kultur – das ›Volk der Dichter und Denker‹ spielte im realpolitischen Alltag letztlich keine Rolle. Allerdings hatte sich ein großbürgerlicher Stand etabliert, der gemeinsam mit Aristokratie und Hochfinanz als gesellschaftliche Elite auftrat und zum vorherrschenden Kulturträger wurde. In einer inzwischen neben die politische Öffentlichkeit getretenen kulturellen Öffentlichkeit stellte diese Elite selbstbewußt den eigenen Status zur Schau und grenzte sich vor allem nach der Revolution von 1848 zusehends gegen die unteren Bevölkerungsschichten ab. Zu diesem in erster Linie besitz- und bildungsbürgerlichen Selbstentwurf zählten insbesondere auch Opern- Theater- und Konzertbesuche.162 Wie Herbert Wehler betont, bot die Idee einer universalen Kunst das Potential eines 159 Ebd., Bd. 2, S. 258. 160 Ebd., Bd. 1, S. 888. 161 Vgl. Daniela Gretz, Die deutsche Bewegung. Der Mythos von der ästhetischen Erfindung der Nation, Paderborn 2007. 162 Vgl. Sven Oliver Müller, Die musikalische Weltmacht. Zum Stellenwert der Musikrezeption im Deutschen Kaiserreich, in: Das deutsche Kaiserreich in der Kontroverse, hg. von dems., Göttingen 2009, S. 246‒264.

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»übergeordneten, sinnstiftenden kulturellen Deutungssystems«, das von diesen bürgerlichen Schichten adaptiert und mit einem quasi religiösen Status versehen wurde.163 Das Denkmodell einer ›autonomen Kunst‹, die unabhängig von gesellschaftlichen Realitäten ihre eigenen Sinnstrukturen entfalte, korrespondierte insofern auch mit dem gesellschaftlichen Aufstieg der freischaffenden Künstler zu Repräsentanten von »Transzendenz in einer säkularisierten Welt«.164 Gerade vor solchem Hintergrund wurde Kunst aber auch – ob unterschwellig oder offensichtlich – zur öffentlichen Repräsentation nationaler Identität genutzt: Im Oktober 1870 begleitete etwa der später gern als visueller Chronist der Kaiserreichs bezeichnete Maler Anton von Werner den preußischen Generalstabschef Helmuth von Moltke und sein Gefolge durch das besetzte Frankreich, um zu einer künstlerischen Dokumentation der Kriegsereignisse aus deutscher Sicht beizutragen.165 Er fertigte dabei u. a. die Skizze zu dem später auch massenhaft in Kleinformat verkauften Ölgemälde Im Etappenquartiert vor Paris (1894) an.166 Auf dem (auf der folgenden Seite abgedruckten) Bild ist die während des deutsch-französischen Krieges erfolgende Einquartierung deutscher Truppen im südöstlich von Paris gelegenen Château de Brunoy dargestellt. Der Maler notiert dazu aus der Erinnerung folgende Textpassage, die seine persönliche Auffassung des Bildes eher in den Kontext der Genremalerei als der künstlerisch überhöhten Kriegsdokumentation verortet: In vielen Ortschaften, durch die wir kamen waren noch nicht alle Bewohner geflohen, für Geld war auch noch Verpflegung zu haben, und die Quartiere, die wir abends bezogen, zeigten sich noch vollkommen unangetastet: Gemälde, Gardinen und Nippes in den eleganten Salons, die vielberufenen Pendules in Bronze oder Porzellan auf den Kaminen; nur Feuerung und Beleuchtung war schwer zu beschaffen. Sobald der Wagenpark aufgefahren und die huflosen Pferde in die Schmiede gebracht waren, suchte man es sich im Quartier so behaglich wie möglich zu machen. Tannzapfen und trockene Zweige wurden gesammelt, irgendwo noch ein Stück Zaun oder dergl. gefunden, um ein Feuer im Kamin zu entzünden und dann, während die Erbsensuppe brodelte, setzten sich musik- und sangeskundige Mannschaften, an denen es nie fehlte, ans Klavier und ließen deutsche Weisen erklingen, allbekannte Volks- und Soldatenlieder, aber auch Schumannsche und Schubertsche Weisen.167

163 Hans-Ulrich Wehler, Nationalismus. Geschichte – Formen – Folgen, München 2001, S. 32. 164 Vgl. Roeck, Von intimer Öffentlichkeit zu öffentlicher Intimität, S. 18. 165 Vgl. dazu ausführlich: Frank Becker, Bilder von Krieg und Nation. Die Einigungskriege in der bürgerlichen Öffentlichkeit Deutschlands 1864‒1913, München 2001. 166 Vgl. Dominik Bartmann, Anton von Werner. Geschichte in Bildern [Ausstellungskatalog], München 1993, S. 310f. 167 Werners Notizen hier zitiert nach: Adolf Rosenberg, Anton von Werner, Leipzig 1895, S. 12f.

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Abbildung 9: Anton von Werner: »Im Etappenquartier vor Paris« (1894)

Werners Erinnerungen zufolge wurde in dieser Szene Schuberts Vertonung von Heinrich Heines Gedicht Am Meer aus dem Schwanengesang vorgetragen, das, wie er hinzufügt, »damals bei allen Militärmusik-Kapellen sehr beliebt war« und dessen Anfangszeile später auf dem Goldrahmen des Gemäldes eingraviert wurde.168 Die Intimität der häuslichen Musiziersituation, die durch die legere – freilich auch als selbstgefällig deutbare – Haltung der zuhörenden Soldaten noch gegeben scheint, wird mit Blick auf den Vortragenden durch eine die typischen Züge würdevollen Pathos’ tragende, die eigene Überlegenheit widerspiegelnde ›vornehme‹ Körperhaltung169 gebrochen − im Vergleich etwa zur Karikatur Ein Schubert’sches Lied von 1846 eine vollständig veränderte Sicht auf die Vortragssituation. Die Darstellung der zeittypische Männlichkeitsideale abspiegelnden Soldaten beschränkt sich indes bezeichnenderweise nicht auf eine eindimensionale Grobschlächtigkeit. Vielmehr ging es darum, »Übermacht als Rang auch durch [...] Verhalten, [...] [und] Art des Auftretens zum Ausdruck zu bringen.«170 Der Liedsänger hält trotz der chauvinistisch anmutenden Überlegenheitspose etwa die Augen geschlossen, und seine linke Hand berührt zudem sensibel mit den Fingerspitzen das Notenpult des Kon 168 Brief Anton von Werners an die Direktion der Nationalgalerie vom 28.12.1894, abgedruckt bei Bartmann, Anton von Werner, S. 310. 169 Richard Hamann/Jost Hermand, Gründerzeit. Epochen deutscher Kultur von 1870 bis zu Gegenwart, München 1971, S. 145. 170 Ebd.

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zertflügels, an dem sein Begleiter sitzt. Gerade die eigens für das Ölgemälde vorgenommene Substitution des früher skizzierten Klaviers durch einen Flügel symbolisiert darüber hinaus das Ziel der repräsentativen Übersteigerung und Inszenierung des hier als thematischem Kern aufgerufenen Ideals einer ›deutschen Innerlichkeit‹. Daß Anton von Werner hier nachträglich die Aufführung eines Schubert-Liedes zu erinnern meint, macht auch unabhängig vom Wahrheitsgehalt dieser Aussage deutlich, welch prominenten Status Schuberts Lieder innerhalb des Prozesses einer Kanonisierung und Musealisierung der Kulturgüter mittlerweile erlangt hatten. Obgleich das Gemälde im Kontext von Werners monumentaler, einem heroischen Patriotismus verpflichteter Kunst als eher harmloses, von den Zeitgenossen gar als humorvoll gedeutetes Nebenwerk erscheint171, sollte nicht ausgeblendet werden, daß auch hier letztlich eine planvolle Monumentalisierung von mit einem typisch ›deutschen‹ Kulturbegriff verbundenen ›Innerlichkeits‹- und ›Gemütlichkeits‹-Assoziationen erfolgt. Das luxuriös-dekadente Interieur des französischen Salons bietet für die kurios anmutende Vermischung autoritären Gebahrens mit bildungsbeflissener Kunstausübung 172 und ›gemütssinniger‹ Beschaulichkeit einen besonders plastischen Gegensatz. Das am Klavier (bzw. Konzertflügel!) gesungene Schubert-Lied übernimmt mithin die Funktion, Volkstümlichkeit und Hochkultur gleichzeitig symbolisieren zu können. Darüber hinaus birgt die Bezugnahme auf die nationalcharakteristisch konnotierte idealisierte Hausmusiksituation ein geschlechtergeschichtliches Moment, auf das Scott Messing im Rahmen seiner Diskussion des Bildes hinweist: »singing and listening to Schubert were activities calculated to burnish a state of domestic comfort and security or, in other words to feminizize both the performer and his audience since that was the essential nature of the music«.173 Die bereits früher angesprochene diskursive Prägung Schuberts durch einen mit dem Femininen in Verbindung gebrachten Lyrismus, die mit dem Vorwurf mangelnder struktureller Gestaltungskraft einherging, erfährt im hier ins Auge gefaßten Zeitraum indes auch eine Umwertung und Erweiterung. Den Ausgleich zum ›naiven Melodiker‹ Schubert lieferte nämlich seit der Jahrhundertmitte zusehends die Betonung seiner Auseinandersetzung mit den Geistesgrößen der Literaturgeschichte. Schubert wurde im literatur- bzw. kulturhistorischen Diskurs der zweiten Jahrhunderthälfte als Erbe einer jeweils postulierten deutschen Literatur- und österreichischen Musiktradition gleichsam zweifach beheimatet und damit zur »Symbolfigur einer deutsch-österreichischen Synthese auf den Gebiet der Kunst.« 174 Gerade den nachträglich schreibenden Schubert-Freunden galten Schuberts Lieder in 171 Vgl. Rosenberg, Anton von Werner, S. 13. 172 Vgl. Becker, Bilder von Krieg und Nation, S. 159‒200. Becker beschreibt die Stilisierung der deutschen Armee zu einem »Heer von Gebildeteten«. Zum Musizieren in den Salons besetzter französischer Bürgerhäuser vgl. S. 185. 173 Messing, Schubert in the European Imagination, Bd. 1, S. 165. 174 Kohlhäufl, Poetisches Vaterland, S. 7.

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diesem Sinne als Ausweis ›österreichischer Musikalität‹, die nach Meinung Schobers etwa die »große deutsche Dichtung der Klassik und Romantik in die universelle Sprache der Menschheit übertrage«.175 Auch Bauernfeld schreibt in seinen Erinnerungen von 1873 Schubert eine solche Doppelnatur zu, die ihn dazu befähigt habe, sich auf das Niveau der deutschen Geistesgrößen emporzuschwingen – »wer die Dichter so versteht, ist selbst ein Dichter«.176 Die Bedeutung gerade der GoetheVertonungen Schuberts für die Konstruktion einer nationalkulturellen Identität spiegelt sich nachdrücklich etwa in einer ebenfalls 1873 erschienenen SchubertMonographie von Joseph Rissé ab: Möchte es mir gelungen sein, die Art, in welcher die beiden Liederheroen Deutschlands durch die Kunst verbunden sind, wirksam darzulegen und wenigstens anzudeuten, welche Tragweite die Goethe’schen Lieder durch Schubert’s Musik im Culturleben der Gegenwart gewonnen haben.177

Entsprechend der Stilisierung vor allem Goethes und Schillers zu Repräsentanten der deutschen Nationalkultur, »stieg Schubert zwischen 1850 und 1950 zum musikalischen Repräsentanten Deutsch-Österreichs und dessen wechselnden kulturellen und politischen Selbstverständnisses auf.«178 Schuberts als ›typisch‹ empfundene Eigenschaften als Österreicher179 wurden in der Kaiserzeit überdies mit einer bereits erwähnten nostalgischen Verklärung Alt-Wiens verwoben. Auch Cosima Wagner notiert etwa am 1. März 1879 ins Tagebuch: R. hat Vergnügen an den Liedern [von Robert Franz] und einzelne von Schubert findet er ›über alle Maßen schön‹ (u. a. ›Sei mir gegrüßt‹). Das sei das Wien von damals gewesen, Beethoven habe darin gelebt, und so ein brünstiger, naiver Bursche wie Schubert unter diesem Eindruck. Dazu kommt Strauß und Raimund. Nun sei alles vorbei.180

Beethoven und Schubert galten aber, wie oben eingehender beschrieben, im Musikdiskurs der zweiten Jahrhunderthälfte als prominente Personifikationen sich ergänzender künstlerischer Prinzipien, die für sich genommen kaum als gleichwertig eingestuft wurden: Der »Eindruck« Beethovens auf Schubert bleibt etwa, wie auch das obige Zitat verdeutlicht, für den hier als Referenzrahmen durchscheinenden national konnotierten Musikbegriff von entscheidender Bedeutung. Das Modell setzte sich letztlich aus konträren Eigenschaften zusammen, die sich miteinander verbinden mußten, um die Idee eines komplexen Ganzen bzw. Universellen figurieren zu 175 Ebd. S. 6. 176 Eduard von Bauernfeld, Aus Alt- und Neu-Wien, in: Gesammelte Schriften, Bd. 9 (1873), S. 80, zitiert ebd. 177 Joseph Rissé, Franz Schubert und seine Lieder, Bd. 2: Goethe-Lieder, Erfurt 1873. 178 Vgl. Michael Kohlhäufl, Poetisches Vaterland, S. 7. Kohlhäufl beschreibt die »Rolle Schuberts als kulturräumlichen und nationalen Boschafters« aus der Perspektive einer sich formierenden Austrogermanistik, die mit dem Begriff der »Literaturlandschaft« der ambivalenten Situation der österreichischen Literaturgeschichte zwischen deutschem »Teilhabe« und österreichischer »Eigenart« begegnen wollte (vgl. ebd., S. 8‒28). 179 Vgl. Dittrich, Kein grollender Titan. Franz Schubert, der Österreicher, S. 192ff. Zur spezifischen Schubert-Rezeption in Österreich vor allem nach der Schlacht von Königgrätz 1866 und der Gründung des deutschen Kaiserreiches 1871 vgl. eingehender unten Kapitel 8. 2.1., S. 334. 180 C. Wagner, Tagebücher, Bd. 2, S. 311.

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können. Vor solchem Hintergrund konnten auch die in Anton von Werners oben beschriebenem Gemälde potentiell musizierten Lieder Schuberts als klingende Repräsentation eines spezifisch ›deutschen‹ Kunstbegriffs aufgefaßt werden, wobei ihre ästhetische Substanz auf der Repräsentation eines vielfach beschworenen, national bzw. politisch aufgeladenen Innerlichkeitsideals gründete, das die Lieder vor allem in Verbindung mit ihren kanonisierten Textgrundlagen als ›vergeistigt‹ überhöhte. Hinweise auf den Status, den das »Kunst-Lied« Schuberts gemeinsam mit den Liedern Mendelssohns und Schumanns vor solchem Hintergrund innerhalb einer zunehmend von Monumentalisierung und historisierender Erinnerung bestimmten Kultur angenommen hatten, bietet auch der Vergleich ihrer Rezeption mit derjenigen zeitgenössischer Liedkompositionen – etwa der Lieder von Johannes Brahms. Brahms wurde zwar schon zu Lebzeiten als ›Klassiker‹ apostrophiert – nicht aber im Bereich des Liedes181, denn mit der Repräsentation eines gleichsam veredelten Natürlichkeitsbegriffs wurde dieser musikalischen Gattung eine spezifische Funktion innerhalb der mittlerweile etablierten bürgerlichen Hochkultur zugewiesen. Dies hatte, wie etwa die folgende Rezension über eine 1887/88 gestaltete Konzertreihe der Mezzosopranistin Amalie Joachim in Berlin zeigt, auch rezeptionsästhetische Konsequenzen: Das dritte von Frau Joachim gegebene Konzert war ein Brahms-Abend. Er konnte schon aus dem Grunde die Höhe eines Schubert oder Schumann-Abends nicht erreichen, weil Brahms auf dem Gebiet des Liedes nicht die Ursprünglichkeit und Natürlichkeit besitzt, durch die Schubert und Schumann sich so hoch emporgeschwungen. Brahms’ Lieder verlangen – mit vereinzelten Ausnahmen – nicht nur eine viel ernstere Hingabe des Hörers als die Schubertschen und Schumann’schen, um überhaupt der Empfindung zugänglich zu sein, sondern sie gewähren, was schlimmer ist, für ein solches Entgegenkommen noch nicht einmal hinlänglichen Lohn. Das Düstere, Herbe und Rauhe, das sich Verschließende, das Pessimistische überwiegt in einem Maße, daß nur derjenige, der im Ausdruck solcher und ähnlicher Stimmungen das höchste Kunstideal erblickt, ihn auch in dieser Gattung als den großen früheren Meistern ebenbürtig betrachten kann.182

Brahms’ häufig strukturell durchgearbeitete, zuweilen kontrapunktisch angereicherte Liedkompositionen 183, die inhaltlich oftmals die Sphäre des Düsteren und Pessimistischen berühren, waren nach Ansicht des Rezensenten offenkundig gerade nicht kongruent mit der rezeptionsästhetischen Erwartungshaltung an die Gattung 181 Vgl. Borchard, Stimme und Geige, S. 453. 182 Vossische Zeitung 4.2.1888, zitiert ebd. 183 Christian Martin Schmidt, Johannes Brahms und seine Zeit, Laaber 1983, S. 144. Dies trifft etwa gerade für die Magelonen-Romanzen op. 53 zu, von denen Amalie Joachim am 1.2.1888 nachweislich drei sang (vgl. Borchard, Stimme und Geige, Liedrepertoire Amalie Joachim). Gustav H. Falke deutet Brahms’ kompositorische Techniken überdies vor dem Hintergrund eines gründerzeittypischen psychologisierenden Realismus: »Wo der Romantiker Schubert klar abgegrenzte Charakterstücke in eine gewisse Folge bringen kann, schließen die Relativierungen, psychologischen Differenzierungen und kontrapunktischen Verdichtungen des Realisten Brahms die Lieder so ineinander ab, daß jeder Anfang eines weiteren Liedes gewaltsam wirkt.«, Gustav H. Falke, Johannes Brahms. Wiegenlieder meiner Schmerzen – Philosophie des musikalischen Realismus, Berlin 1997, S. 125.

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›Lied‹, die ihrerseits vor dem Hintergrund nostalgisierender Verklärung in besonders hohem Maße mit der zeitgenössischen Rezeption Schuberts verwoben und in gewissem Maße durch sie geformt war. Dies scheint aus heutiger Perspektive auch deshalb bemerkenswert, weil gerade Brahms selbst sich in viel höherem Maße sowohl auf das traditionelle Liedideal und als auch auf Schubert als ästhetischen Leitbildern bei der Liedkomposition berief als Schumann .184 Die indirekte Dominanz des traditionellen Liedideals unter Bezugnahme auf Schuberts Liedkompositonen dehnte sich nicht zuletzt auf die Ebene des Vortragsstils aus, wie etwa der folgende Kommentar Hanslicks zum Liedvortrag der von Brahms hochverehrten Mezzosopranistin Alice Barbi185 verdeutlicht. Hanslick nimmt den Auftritt der italienischen Sängerin zum Anlaß, eine Verbindungslinie zwischen Schuberts Liedern und einer mit ihnen verbundenen, spezifischen nationaltypischen Vortragsart zu ziehen: Unter den deutschen Liedern, die Fräulein Barbi mit einer für eine Italienerin ungewöhnlichen Beherrschung der Sprache vortrug, machten die Brahms’ schen (Mädchenlied, Meine Lieb’ ist grün, Vergebliches Ständchen) den besten Eindruck. Den Schubertschen haftete für uns doch etwas Fremdartiges an. Ein so lang verhallendes Pianissimo, so fein ausgesparte Tonschattierungen, wie Fräulein Barbi sie in der Lieben Farbe anbringt, übermalen gerade die uns liebe Farbe dieses Liedes, mischen ihr etwas Verfeinertes, Künstliches bei, das weder in falscher Auffassung noch in eitler Schönthuerei seinen Grund hat, sondern einzig in dem fremden Nationalgeist. Der Deutsche sieht im Liede mehr auf die einheitliche Wärme und Natürlichkeit des Vortrages als auf feinste Nuancen; er dürfte deshalb für Schubert den schlichteren Ausdruck eines Gustav Walter oder einer Hermine Spies bevorzugen.186

Dem auf dem öffentlichen Konzertpodium aufgeführten ›Schubert-Lied‹ (hier repräsentiert durch den Zyklus Die Schöne Müllerin) scheint hier insofern eine Art Sonderrolle zugewiesen, als daß seine um die Jahrhundertmitte erfolgte Erhebung auf eine ›klassische‹ Position grundsätzlich weniger mit Schuberts innovativem Kompositionsstil, als mit dem Verweis auf die ihm eigene »Ursprünglichkeit und Natürlichkeit« begründet wurde. Auch hier wird deutlich, wie das als Leitbild immer noch den ästhetischen, historiographischen und musikjournalistischen Diskurs 184 Schmidt, Johannes Brahms und seine Zeit, S. 145. 185 Alice Barbi (1862‒1948), die zunächst als Violinistin ausgebildet wurde, trat seit 1876 als auch solistische Aufgaben übernehmendes Mitglied des Ersten europäischen Damenorchester[s] sowie der von ihr geleiteten Wiener Damenkapelle an die Öffentlichkeit. Als Sängerin debütierte sie erst 1882 in Mailand und zog sich bereits 1894, nach ihrer Eheschließung mit dem Baron Boris Wolff-Stomersee, aus dem Konzertleben zurück. Vgl. Art. Barbi, Alice in: Kutsch/Riemens, Großes Sängerlexikon, Bd. 1, S. 181. 186 Eduard Hanslick, Aus dem Tagebuche eines Musikers, Berlin 1892, S. 333 (Hervorhebungen im Original). Wie unterschiedlich die künstlerische Ausführung selbst vor dem Hintergrund entsprechender Rezeptionsfolien aufgeladen wurde, zeigt etwa das Beispiel des von Hanslick im vorliegenden Kontext als exemplarisch ›deutsch‹ verorteten böhmischen Tenors Gustav Walter. Gerade das auch von Walter häufig verwendete, hier als zu ›artifiziell‹ kategorisierte, sängerische Stilmittel eines sanft verhallenden Pianissimo wird in anderem Kontext als Moment eines spezifisch ›Wienerischen‹ Schubertstils rezipiert. Vgl. die Quellen zu und Diskussion von Walters Vortragsstil in Kapitel 8.2.1. Zu Hermine Spies, einer vor allem in Deutschland bekannten Konzertaltistin und Schülerin Stockhausens, vgl. Kapitel 8.1.3.

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6 Zur Konstruktion des ›Schubert-Liedes‹

bestimmende traditionelle Liedideal eine immer stärker nationalkulturelle Aufladung erfuhr. Die Aufführung von Schuberts Liedern vor solchem Hintergrund (gerade im Kontext eines florierenden zeitgenössischen Liedschaffens) partizipierte insofern nicht nur an einer symbolischen Monumentalisierung des Komponisten Schubert187, sondern auch der Monumentalisierung der seinen Liedern im bisherigen Laufe des Jahrhunderts zugeschriebenen ›charakteristischen‹ Eigenschaften. Entscheidend für den hier angesprochenen, sich auf verschiedenen Ebenen vollziehenden Monumentalisierungsprozeß ist zu allererst die Drucklegung der Lieder, die, wie sich an den verzeichneten Nachdrucken ablesen läßt, nach 1866 einen deutlichen Aufschwung erfuhr.188 Besonders herausstechende Projekte waren hier die unter anderem von Eusebius Mandyszewski und Johannes Brahms mitbetreute erste Schubert-Gesamtausgabe im Verlag Breitkopf & Härtel (seit 1884) sowie die etwas früher begonnene, durch die Edition Peters angeregte, siebenbändige praktische Ausgabe Max Friedlaenders.189 Die praktischen, vielfach auch als Einzelausgaben herausgebrachten Editionen der Lieder Schuberts liefen allerdings auch Hand in Hand mit dem Wandel der musikalischen Aufführungskultur, die neben der weiterhin florierenden privaten Musizierpraxis nun vermehrt die öffentliche Präsentation und Zelebration repräsentativer musikalischer ›Meisterwerke‹ hervorbrachte. Schuberts Lieder fanden sich, wie einzelne Kompositionen etwa Beethovens, Mendelssohns, Spohrs, Marschners und Schumanns zwar bereits in den 1830er und 1840er Jahren als Einzelnummern auf deutschsprachige öffentliche Konzertpodien, von einer institutionalisierten öffentlichen Liedkultur, die sich an ästhetischen Spezifika bzw. der kulturellen Codierung der Gattung ausrichtete, kann indes noch nicht die Rede sein. Die Konzertreisen etwa Carl Loewes seit den 1830er Jahren dürfen zwar als Novität eingestuft werden, allerdings erfolgte die Rezeption von Loewes Balladenkunst eher über das Modell des bestaunten und gewandten Virtuosen.190 Als bedeutsamer Aspekt hinsichtlich einer schrittweisen ›Ver-Öffentlichung‹ der Lieder Schuberts dürfte allerdings die bereits oben erwähnte, von Christian Ahrens in die Diskussion eingebrachte, Popularisierung durch auf professionellem Niveau agierende Militärkapellen einzustufen sein, die sich seit den 1840ern in Österreich nachweisen läßt 191, und die auch Anton von Werner als selbstverständlichen Kontext für die Bekanntheit

187 Bildhaft-plastische Form Sinne eines visuellen »symbolischen Surplus« nahm dieses SchubertBild im in Wien auf Initiative des Wiener Männergesangverein schließlich 1872 enthüllten Schubert-Denkmals an, das den Komponisten in einer betont ›bürgerlich-intimen‹ Haltung darstellt. Vgl. ausführlicher: Martina Nußbaumer, Musikstadt Wien. Konstruktion eines Mythos’, Wien 2007, S. 92‒153. 188 Vgl. unten Kapitel 8.1.1. 189 Max Friedlaenders Schubert-Album wird in Kapitel 8.1.1 ausführlicher behandelt. 190 Zu Loewe vgl. Salmen, Das Konzert, S. 167f. Loewe trug seine Kompositionen persönlich vor und begleitete sich dabei virtuos am Klavier. In Erstaunen versetzte er sein Publikum zudem durch ad hoc improvisierte Vertonungen. 191 Vgl. Ahrens, Liszts Transkriptionen, S. 40f.

4 Gründerzeit: ›Schubert-Lied‹ und Nationalismus

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etwa des Schubert-Liedes Am Meer innerhalb des deutschen Kaiserreiches anspricht.192 Hier konnte noch auf einer weitaus wirkungsmächtigeren Ebene eine ›Entprivatisierung‹ des Liedes bewirkt werden als etwa über Liszts Klaviertranskriptionen: [...] Ganz Brünn war auf den Beinen, und alles strömte nach dem Augarten hinaus, wo ein Volksfest zu Ehren des hohen Gastes [Erzherzog Rudolf Carl] improvisirt wurde. [...] Und Musik war da in erklecklicher Menge, überall Musik, nichts als Musik. [...] Vor Allem aber überraschten mich die Leistungen der Musikkapelle vom 12. Jägerbataillon. Es wurde von diesem vortrefflichen Corps in dieser Zeitung schon mehrmal Erwähnung getan und ich war begierig, dasselbe endlich selbst in einigen bedeutenderen Piecen als Walzer und Polka zu hören, besonders aber machten mich die Arrangements der Schubert’schen Lieder, der Weber’schen Jubelouverture, der Ouverture zu ›Figaro‹ etc., [...] neugierig. 193

Gerade daß die Lieder Schuberts in Gestalt von derartigen Bearbeitungen bereits in einem vollöffentlichem Rahmen erklangen, rückt die Herstellung des ›intimen‹ Rahmens für die öffentliche Liedaufführung in der zweiten Jahrhunderthälfte in den Kontext einer bewußten kulturellen Inszenierung, dessen Komponenten nun in den folgenden Kapiteln eingehender untersucht werden sollen: Erst zum Ende des Jahrhunderts vollzog sich die Ausformung einer Kunstliedkultur im engeren Sinne, die die professionelle Liedkunst als gesangskünstlerische Spezialdisziplin sowie den ›Liederabend‹ als adäquat empfundene kulturelle Rahmung etablierte, was nahelegt, den Fokus zunächst auf das künstlerische Handeln eines der Protagonisten dieser Entwicklung zu richten – den Bariton Julius Stockhausen.

192 Vgl. oben S. 232. 193 Allgemeine Wiener Musikzeitung 1845, S. 454 ff., zitiert nach Ahrens, Liszts Transkriptionen, S. 40.

7 ›SCHUBERT-SÄNGER‹: JULIUS STOCKHAUSEN Wir Deutschen hätten unseren liederreichsten Komponisten ohne Stockhausens Interpretation niemals in solchem Umfange kennen und lieben gelernt. Er ist der ›Schubertsänger par excellence‹.1

7.1 AUSGANGSPUNKTE Der aus dem Elsaß stammende Bariton Julius Christian Stockhausen gilt als Pionier einer professionellen Liedvortragskunst – seine künstlerische Tätigkeit schuf bedeutende Voraussetzungen für eine Integration des Kunstliedes in die musikalische Hochkultur des mittleren und späteren 19. Jahrhunderts. Seit Mitte der 1850er bis in die späten 1880er Jahre setzte er vornehmlich als »wahrer Propagandist Schuberts und Schumanns«2, später dann vor allem als berufener Interpret der Lieder Johannes Brahms’ Maßstäbe innerhalb des europäischen Konzertlebens. Seit die Tochter Stockhausens – die Frankfurter Bibliothekarin Julia Wirth – 1927 mit der dokumentarischen Biographie Julius Stockhausen. Der Sänger des deutschen Liedes ein seither häufig konsultiertes Standardwerk vorlegte 3, gab es indes keine größere, explizit dem Sänger gewidmete wissenschaftliche Publikation.4 Neuere Impulse bieten zwar die philologischen Arbeiten Renate Hofmanns wie die Herausgabe des Briefwechsels Stockhausen/Brahms von 19935, der neben zahlreichen Kommentaren ein umfangreicheres Vorwort enthält sowie eine Dokumentation seines Wirkens als Schumann-Sänger.6 In erster Linie taucht der einst hochberühmte Konzertbariton allerdings lediglich als Randfigur in einzelnen, selten miteinander vernetzten Forschungsbereichen auf. Vor allem die Schubert-, Schumann- und Brahms-Forschung streift den Sänger immer wieder im Kontext 1 2 3 4

5 6

Neue Berliner Musikzeitung 34 (1880), S. 137. Klaus Groth in der Kieler Zeitung vom 11.2.1874, zitiert nach Julia Wirth, Julius Stockhausen. Der Sänger des deutschen Liedes, Frankfurt a. M. 1927, S. 378. Vgl. Anm. 2. Im Original französische Brieftexte wurden von der Autorin übersetzt. Nachdem Stockhausens mittlerweile verstorbene Enkelin Renate Wirth den sich in ihrem Privatbesitz befindlichen Teilnachlaß des Sängers ans Lübecker Brahms-Institut übergab, sind dort neue Forschungen begonnen worden. Johannes Brahms im Briefwechsel mit Julius Stockhausen, hg. von Renate Hofmann, Tutzing 1993. Renate Hofmann, Julius Stockhausen als Interpret der Liederzyklen Robert Schumanns, in: Robert und Clara Schumann und die nationalen Musikkulturen des 19. Jahrhunderts, hg. von Matthias Wendt, Mainz 2005, S. 34‒46.

7.1 Ausgangspunkte

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der von ihm häufig aufgeführten Werke wie Schuberts Müllerin-Zyklus, Schumanns Dichterliebe Opus 48 oder Brahms’ (ihm gewidmete) Romanzen aus L. Tiecks Magelone Opus 33. Behandelt wird Stockhausen ferner im Rahmen von Überblicksdarstellungen zur Sozial- und Kulturgeschichte der Gesangskunst oder Untersuchungen zur Geschichte einzelner musikalischer Ausbildungsstätten des 19. Jahrhunderts, innerhalb der Gesangspädagogik bzw. historischen Gesangsforschung sowie der historischen Aufführungspraxis.7 Diese Arbeiten bilden naturgemäß die Basis auch für die vorliegende Fallstudie. Gleichwohl soll die obligatorische Berufung auf die institutions- und interpretationsgeschichtlichen Pioniertaten Stockhausens durch die hier eingenommene spezifische Perspektivierung erweitert werden: Es soll der Versuch unternommen werden, die Rolle Stockhausens als kulturell handelndem Interpreten eingehender zu profilieren – und zwar einerseits vor den Hintergrund der sich entfaltenden musikalischen Aufführungskultur des 19. Jahrhunderts, innerhalb der die Gattung ›Kunstlied‹ entscheidende Wandlungsprozesse durchlief und zum anderen mit Bezug auf die Rezeptionsgeschichte Schuberts sowie der in den vorausgehenden Abschnitten skizzierten kulturellen Formung des ›Schubert-Liedes‹. Nach Stockhausens nachweislich vertieftem Studium etlicher Lieder Schuberts in London (1850/51)8 führte er sie immer wieder (vor allem ) im Rahmen zahlreicher seit 1856 durchgeführter Konzertreisen auf, die ihn von verschiedenen Punkten aus (1853 Mannheim, 1856 Paris, 1863 Hamburg, 1867 Berlin und 1869 Cannstadt bei Stuttgart) neben vornehmlich dem deutschsprachigen Kulturraum auch immer wieder nach Paris und London sowie nach Dänemark, die Niederlande, Ungarn und Rußland führten. Seit Mitte der 1870er Jahre wandte sich Stockhausen dann zunehmend pädagogischen Tätigkeiten zu. Die ausschnittweise am Beginn des Kapitels zitierte, noch zu Stockhausens Lebzeiten von der Schriftstellerin und Journalistin Dora Duncker verfaßte, Eloge auf den Sänger aus der Neuen Berliner Musikzeitung steht hier stellvertretend für zahlreiche Publikationen, die die Stockhausen zugeschriebene Bedeutung im Musikleben des späten 19. Jahrhunderts widerspiegeln:9 Stockhausens Rolle als Liedsänger wird hier typischerweise sowohl mit dem Komponisten Schubert als auch mit einem nationalkulturellen Identitätsbildungsprozeß verbunden. Dabei erhält der Sänger zu allererst die Funktion eines Promotors des Komponisten Schubert, der hier allerdings bezeichnenderweise nicht als der ›verehrte Meister‹, sondern als der ›geliebte Liederkomponist‹ im kulturellen Gedächtnis aufgerufen wird. Überdies erscheint Stockhausen als Repräsentant einer vielfach als ›klassisch‹ apostrophierten Liedinterpretationskunst, deren Etablierung als künstlerische Spezialdisziplin 7

8 9

Grundlegende bibliographische Hinweise zu Stockhausen finden sich bei: Ernst Hilmar, Art. Stockhausen, Julius, in: SE, S. 732f. Die in der vorliegenden Untersuchung eingearbeitete Literatur wird in den entsprechenden Anmerkungen nachgewiesen. Vgl. Wirth, Julius Stockhausen, S. 120. Zum spezifischen Schubert-Repertoire Stockhausens siehe unten Kapitel 7.3. Vgl. die in der Frankfurter Universitätsbibliothek aufbewahrten Zeitungsausschnitte zu verschiedenen Jubiläen sowie die dort vorhandene Nekrologsammlung.

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7 ›Schubert-Sänger‹: Julius Stockhausen

bis heute mit ihm verbunden wird. Mit der hier herausgestellten prominenten Konstellation Schubert/Lied/Stockhausen ist mithin zum einen der Hintergrund eines komplexen Gewebes rezeptionsgeschichtlicher Topoi und deren jeweiliger von unterschiedlichen zeitgenössischen kulturellen Paradigmen geprägter Interpretation angesprochen. Zum anderen verweist sie auf das bewußte, durch unterschiedliche Motivationen geleitete kulturelle Handeln des Interpreten Stockhausen, das es im weiteren zu differenzieren und zu hinterfragen gilt. Am Anfang stehen daher Stockhausens Annäherungen an Schuberts Liedkompositionen und den Liedgesang im Kontext biographischer Fakten sowie eines sich im Zuge der Entfaltung einer bürgerlichen Musikkultur herausbildenden künstlerischen Sendungsbewußtseins. Daran anschließend wird sowohl das von Stockhausen gesungene Schubert-Repertoire als auch seine spezifischen Entscheidungen bezüglich dessen performativer Realisierung sowie die Ausstrahlung dieser Interpretationspolitik auf die zeitgenössische kulturelle Praxis beleuchtet.

7.2 LIEDGESANG ALS »ECHTE MISSION DES VIRTUOSEN« Als in Paris geborener Elsässer und Sohn zweier Berufsmusiker10 hatte Julius Stockhausen die besten Voraussetzungen, zu einem musikalischen Weltbürger heranzuwachsen. Schon während seiner Internatszeit im Elsaß wurde auf eine mehrsprachige Erziehung geachtet. Er mußte Briefe an die Eltern in französischer, englischer und deutscher Sprache verfassen, erhielt Instrumental- und Gesangsunterricht sowie ein überdurchschnittliches Maß an Allgemeinbildung. Als Stockhausen seine musikalische Ausbildung im professionellen Sinne begann, bestimmte vor allem Paris die institutionellen Maßstäbe des europäischen Konzertlebens. 11 Auch der sechzehnjährige Julius reiste 1843 zu einigen Vorstudien gemeinsam mit dem Vater in die französische Hauptstadt, im Frühjahr 1844 hielt er sich erneut dort auf.12 Die zahlreichen Kontakte, die den Eltern aus der eigenen Pariser Zeit geblieben waren, wurden zur Basis für Julius’ spätere Aufnahme ins Pariser Musikleben: Er lernte hier seinen Paten Christian Urhan kennen, einen Freund und Musikerkollegen des Vaters13, spielte Johann Baptist Cramer vor, hörte Charles Hallé, Fran 10

11 12 13

Stockhausens Vater Franz Anton (1789‒1868) stammte aus Köln und war ein bekannter Harfenvirtuose, der auch mit Beethoven in Kontakt stand; die Mutter Margarethe, geb. Schmuck, (1803‒1877) war eine in den 1820er und 1830er Jahren sehr erfolgreiche Konzertsopranistin. Beide traten auch gemeinsam auf. Zu Stockhausens Eltern vgl. ausführlicher Wirth, Julius Stockhausen, S. 3−15. Vgl. Tibor Kneif, Konzertreisen und Sommeraufenthalte, in: Johannes Brahms. Leben und Werk, hg. von Christiane Jacobsen, Hamburg 1983, S. 37. Vgl. Wirth, Julius Stockhausen, S. 50ff. Der aus der Gegend um Aachen stammende Christian (Chrétien) Urhan studierte am Pariser Conservatoire und war als Solobratscher der Pariser Oper, Kammermusiker und Organist an St. Vincent tätig. Darüber hinaus spielte er eine bedeutende Rolle für die frühe französische Schubert-Rezeption. Vgl.: Ulrich Schuppener, Christian Urhan. Zum 200. Geburtstag des bedeutenden Musikers aus Monschau, Monschau 1991.

7.2 Liedgesang als »echte Mission des Virtuosen«

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çois-Antoine Habenecks Probenarbeit zur Aufführung der Beethoven-Sinfonien am Conservatoire und Bellinis Puritani im Théâtre italien. Im Salon des Klavierbauers Érard machte Stockhausen die Bekanntschaft der Virtuosen Valentin Alkan und Sigismund Thalberg. Die Sängerausbildung am Conservatoire war grundsätzlich auf die Produktion von Nachwuchs für die Pariser Bühnen ausgerichtet, was Stockhausens Eltern veranlaßt hatte, dem Neunzehnährigen zunächst eine musikalische Allgemeinbildung zukommen zu lassen, damit seine Stimme nicht überbeansprucht würde.14 So begann Stockhausens Ausbildung 1845 in der Harmonielehreklasse von Antoine Elwart, wenig später wurde er darüber hinaus eingetragenes Mitglied in der Gesangsklasse des Tenors Louis Ponchard (ebenfalls ein ehemaliger Kollege der Mutter) und nahm außerdem zusätzliche Privatstunden in Harmonielehre bei Matthäus Nagiller, einem Schüler Simon Sechters. Akribisch berichtet Stockhausen in Briefen über die eigenen künstlerischen Fortschritte sowohl auf theoretischem als auch auf praktischem Gebiet an die hohe Erwartungen in den Sohn setzenden Eltern. Während der Revolutionszeit um und nach 1848 war der junge Musikstudent zunächst noch in Paris Manuel Garcia jr. begegnet und hatte dessen Interesse geweckt. Im selben Jahr trat er als Oratoriensolist erstmals im deutschsprachigen Raum in Erscheinung: Im Rahmen einer Baseler Aufführung von Mendelssohns Elias unter Leitung des dortigen Musikdirektors Ernst Reiter – Stockhausens Cousin – übernahm er die Hauptpartie.15 1850 folgte Stockhausen Garcia nach London, auch um dort die Auftritte der in den 1850er Jahren bereits legendären Sopranistin Jenny Lind zu erleben, die nach einer Stimmkrise ebenfalls für zehn Monate bei Garcia studiert hatte. 16 Die zu dieser Zeit bedeutende wirtschaftliche Rolle Londons für Musiker aus dem Ausland (insbesondere dem deutschsprachigen Raum) wurde vom jungen Stockhausen grundsätzlich ambivalent beurteilt. In London fand sich um die Jahrhundertmitte im Unterschied zu Deutschland bereits ein bürgerlich geprägtes institutionalisiertes Musikleben und sehr erfolgreiche, von privaten Veranstaltern ins Leben gerufene, Konzertreihen.17 Deutsche Künstler nutzen diese Chance, distanzierten sich aber auch immer wieder vor dem Hintergrund eines nationaltypisch konnotierten Autonomieideals von diesen kapitalistischen Strukturen – in England gäbe es »keine Künstler sondern Kaufleute, die zahlen aber besser«, schreibt etwa Stockhausen am Ende seines Aufenthaltes 1851 lakonisch an seine Eltern. Auch Stockhausens Mutter hatte hier in den 1830er Jahren als Konzertsängerin Triumphe gefeiert und mit den größten Gesangsvirtuosinnen der Zeit wie Maria Malibran oder Henriette Sontag auf dem Podium gestanden. Allein dies hätte für den Sohn grundsätzlich eine günstige Basis für das eigene Fortkommen bedeuten können. Um so mehr erstaunt, daß Stockhausen, als er 1849 in England eintraf, lediglich Empfehlungsschreiben von seinen Pariser Freunden im Gepäck hatte, 14 15 16 17

Vgl. Wirth, Julius Stockhausen, S. 53ff. Vgl. Wirth, Julius Stockhausen, S. 91. Vgl. Rebecca Grotjahn, Art. Lind, Jenny, in: MGG2, P/Bd. 11, Sp. 139‒141. Vgl. Janina Klassen, Clara Schumann. Musik und Öffentlichkeit, S. 309f.

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7 ›Schubert-Sänger‹: Julius Stockhausen

nicht aber von seinen Eltern, die ihn lieber in Paris hätten bleiben sehen. Immer wieder führte der junge Künstler in Briefwechseln mit den Eltern lange Dispute über Fragen seines beruflichen Weges. Deren streng katholische Haltung sah ein Leben als Bühnendarsteller als hochgradig unmoralisch an, obwohl dies die nächstliegende Möglichkeit bot, als Sänger seinen Lebensunterhalt verdienen zu können. Die gängige Alternative zur Erwirtschaftung eines Auskommens, die die Eltern selbst noch einige Jahre früher praktiziert hatten – Unterrichten und Konzerte im Selbstmanagement durchführen – war und blieb ein beschwerliches Geschäft, dessen Umstände der Sänger bereits in seiner Pariser Studienzeit und auch später noch oft beschreibt: Stockhausen sang bei Benefizkonzerten und Matineen, knüpfte Kontakte zu bürgerlichen Komitees und privaten Veranstaltern und begab sich auf lange Konzertreisen durch die Provinz, die viele Unwägbarkeiten bereithielten. Gleichwohl waren die Voraussetzungen des jungen Sängers in London aufgrund seines prominenten Namens letztlich besser als die vieler seiner Kollegen: Bereits während seines ersten Aufenthalts 1849 führte ihn ein Konzert auf die Isle of Wight, wo er vor Queen Victoria sang, die sich, wie Julia Wirth festhält, »in liebenswürdiger Weise nach seiner Mutter erkundigte«.18 Pierre Érard persönlich schickte ihm kostenlos einen Flügel zum Repetieren. Grundsätzlich waren allerdings die ersten Jahre beruflichen Fußfassens in London Zeiten materieller Not für den jungen Sänger. Als er nach längerer Krankheit, die ihn im Elsaß ans Bett fesselte, erst am Schluß der Saison 1850 in London eintrifft, schreibt er resigniert an seine Eltern: Die Saison ist schlecht, das Konzertsingen eine Schinderei und die Soireen vernichtet; junge Künstler melden sich bei den Großen von allen Teilen Europas an, singen ihnen umsonst, und der, der davon lebt und am Ende der Saison ein Konzert geben will, leidet schwer daran. In dem Fall bin ich, und ich will Dir nicht verhehlen, daß ich keine Matinee geben kann noch geben will, weil ich ungezählte Soireen abschlage und nicht sozusagen billets betteln will.19

1851 indes verbesserte sich die Situation: Stockhausen erhielt Engagements in renommierten Londoner Konzertreihen wie den Nationalkonzerten und den Philharmonischen Konzerten, wo er u. a. erneut den Hauptpart in Mendelssohns Elias übernahm.20 »Auf wenigstens zwanzig Programmen steht mein Name, der immer an die liebe Mutter erinnert und der jetzt anfängt wieder beliebt zu werden. Ich schmeichle mir nicht, sondern ich zähle nur auf« lautet Stockhausens, am Ende der Saison selbstbewußt an den Vater übermittelte Bilanz.21 Neben den zunehmenden Auftritten in großen Konzertsälen unternahm der Sänger nun auch Konzertreisen »auf eigene Spekulation« in andere englische Städte 18 19 20

21

Ebd., S. 108. Zitiert ebd., S. 110. »Mr Julius Stockhausen, one of the remarkable singers of the period, made first appearance. He sang at three of this season’s concerts creating considerable effect.« (History of the Philharmonic Society of London, S. 219, zitiert ebd., S. 506, Anm. 51). Zitiert ebd., S. 122. Auf einem dieser Programme, einer Matinée der Sängerin Marie Scott in den königlichen Hanover Square Rooms, bei der Stockhausen mitwirkte, findet sich unter seinem Namen der Vermerk: »Son of the celebrated Madame Stockhausen« (P/FfM: London, 21.07. [1851]).

7.2 Liedgesang als »echte Mission des Virtuosen«

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gemeinsam mit dem Geiger Heinrich Wilhelm Ernst und dem Pianisten und Komponisten Edouard Silas.22 Auf den Konzertprogrammen finden sich auch erstmals Lieder Schuberts und Mendelssohns23, die indes das englische Publikum offenbar nicht sonderlich ansprachen. An den Cousin Ernst Reiter berichtet Stockhausen im Mai 1851: Aber mein Lieber, wie traurig kam es mir vor, als die geringen Kompositionen, wie Schweizerlieder, ein steirisches Lied und solche Geschichten immer wiederholt werden mußten, während Auf Flügeln des Gesanges und Ungeduld das Volk beinahe kalt ließen. Beide sang ich doch eben so gut und besser als die anderen, aber das Publikum, das Publikum in England! Das Publikum in den Provinzen! Was weiß es von Musik? Wer hat ihm gesagt, daß Schubert je gelebt hat? Wer? – Was kennt es von Mendelssohn? Wenig oder nichts! Es ist wie ein Kind, das nur durch geschmacklose helle Farben angezogen wird.24

Die Konzerttätigkeit in England brachte vor allem wertvolle Erfahrungen mit der Raumakustik verschiedener Säle mit sich, die offenbar dazu beitrugen, daß Schuberts Lieder in dieser Zeit in den Mittelpunkt von Stockhausens Interesse rückten. In einem häufiger zitierten Brief an seine Mutter vom März 1851 erwähnt er jedenfalls Schuberts Kompositionen vornehmlich vor diesem pragmatischen Hintergrund. Stockhausen sah in ihnen offenbar die Möglichkeit, die eigenen sängerischen Vorzüge in einer adäquaten Weise präsentieren zu können und visierte sie damit – zu dieser Zeit ungewöhnlich genug – als repertoirepolitische Strategie für eine professionelle Gesangskarriere an: Ich muß meine Stimme nehmen, wie sie ist. Ich muß sie auch lieben wie sie ist, wenn ich es auch beklage, denn als Baß, und nicht mit dem gleichen metallischen Klang in der Stimme wie Dein hoher Sopran, werde ich vielleicht niemals fähig sein, Oratorien zu singen wegen der ungeheuren Räumlichkeiten hier in London und in ganz England. Darum bin ich zu Schubert, meinem Freund, übergegangen, und habe ungefähr vierundzwanzig Lieder herausgesucht, die meinem Umfang und meinen Fähigkeiten entsprechen. Ich bin begeistert von dieser Musik und werde mich an sie halten.25

Der Beginn von Stockhausens sich hier ankündigenden Bemühungen um eine professionelle Kunstliedkultur kann vor allem in die Zeit nach seiner Rückkehr ins Elsaß Ende des Jahres 1851 angesetzt werden. Nachdem er zunächst eine Zeit unterrichtet und konzertiert hatte und ab der Saison 1852/53 für zwei Jahre dem Ensemble des Mannheimer Hof- und Nationaltheaters angehörte, wagte er schließlich, erste Konzertreisen als professioneller Liedsänger nach Wien und durch Deutschland durchzuführen. Immer mehr trat ein persönliches Sendungsbewußtsein im Dienst einer in seinen Augen ›wahren Kunst‹ in den Vordergrund, die sich mit dem deutschsprachigen Kulturraum verknüpfte, wobei das in Frankreich und England 22 23

24 25

Wirth, Julius Stockhausen, S. 119. »Mit Bach und Silas kann man schöne Tage verbringen, lieber Ernst, besonders wenn sich der liebende Schubert dazugesellt. [...]« zitiert ebd., S. 120. Wirth vermutet, daß Stockhausen neben Christian Urhan vor allem mit Ernst und Silas Schuberts Musik studierte (vgl. ebd., S. 123). Wirth, Julius Stockhausen, S. 119. Ebd., S. 121.

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erlebte vor dem Hintergrund dieses Ethos als überwiegend negativ eingestuft wurde. 1853 formuliert er gegenüber seiner Mutter: [...] ich habe es bereits mehr als einmal beklagt, nicht im Alter von siebzehn Jahren nach Deutschland gekommen zu sein, anstatt mich in jenen Hauptstädten herumzutreiben, wo die Kunst zu einer Art Amusement für die Künstler und ihr Gewissen zu einem Stück dehnbaren Gummibandes geworden ist.26

Gleichwohl darf die Entscheidung, Mitte der 1850er Jahre auch im deutschsprachigen Raum beruflich als Konzert- und Liedsänger aufzutreten als Wagnis bezeichnet werden. Zu dieser Zeit galt auch hier der Liedgesang noch längst nicht als künstlerische Spezialdisziplin auf professioneller Ebene, ein spezifisches Publikum dafür mußte allererst gewonnen werden. Ein Modell für den auf Lied- und Oratoriengesang spezialisierten Gesangskünstler bot zwar etwa die von Stockhausen verehrte Jenny Lind, die sich nach ihrer Eheschließung 1839 bereits früh von der Opernbühne zurückgezogen hatte. Ihr Erfolg als Konzertsängerin ist indes wesentlich mit der Konstruktion eines spezifischen Images in ZusamAbbildung10: Julius Stockhausen zur Zeit seines Engagemenhang zu sehen, das sie in einer ments am Mannheimer Hoftheater (ca. 1853) scheinbar paradoxen Weise trotz öffentlichen Auftretens als Künstlerin zum moralischen Vorbild stilisierte, indem sie letztlich ein bürgerliches Weiblichkeitsideal auf der öffentlichen Bühne verkörperte.27 Stockhausens Selbstbild als Künstler wurde hingegen vor allem von einem Bildungsgedanken bestimmt, der durch die mit dem Publikum in Paris und London erworbenen Erfahrungen um so mehr in den Vordergrund rückte und im Kontext eines sich wandelnden Verhältnisses von Künstler und Gesellschaft betrachtet werden muß. Der bürgerliche Lebensentwurf des ›freien Künstlers‹, für den Stockhausen sich selbst entschieden hatte, war ein vergleichsweise junges, erst zu Beginn des 19. Jahrhunderts sich herausbildendes Konzept.28 Etwa seit der Vormärzzeit sahen 26 27 28

Ebd., S. 133. Vgl. zu Jenny Lind auch unten Kapitel 8.1.3. Vgl. zur Situation in Wien etwa die von Andrea Harrandt angeführten Beispiele in: dies., Freischaffende – Berufsmusiker – Staatsbeamte. Die Verdienstmöglichkeiten für Komponisten im Biedermeier, in: Künstler und Gesellschaft im Biedermeier, Tutzing 2002, S. 107‒120.

7.2 Liedgesang als »echte Mission des Virtuosen«

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sich junge Künstler und Musiker zunehmend in der Pflicht, gesellschaftliche Verantwortung zu übernehmen und »die bürgerliche Gesellschaft durch ästhetische Erziehung zu verändern«.29 Dieses Ziel wurde von Seiten der ausführenden professionellen Musiker in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts in erster Linie über das Faszinosum der Virtuosität verfolgt. Das performative Potential des frappierenden Moments wurde gleichsam als Mittel genutzt, das Publikum an künstlerisch intendierten Entgrenzungserlebnissen teilhaben zu lassen, wie etwa besonders drastisch Franz Liszts Inszenierung der eigenen pianistischen Virtuosität zeigt.30 In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts allerdings begann, nicht zuletzt angetrieben durch die sich im Zuge einer Historisierung des Denkens entwickelnde Musikgeschichtsschreibung, die von bürgerlichen Wertvorstellungen getragene Herausbildung der Idee einer ›klassischen Tonkunst‹. Das im zeitgenössischen Musikdiskurs vielfach angesprochene, aus der Dichtungstheorie entlehnte, Paradigma der ›Klassizität‹ wurde in einer spezifischen prozessualen Bedeutung spätestens um die Jahrhundertmitte zum ideellen Referenzzentrum eines bildungsbürgerlichen Kunstverständnisses.31 Seine musikgeschichtliche Perspektivierung steht in enger Verbindung mit dem bereits angesprochenen Prozeß einer imaginären Musealisierung zeitloser ›Meisterwerke‹ und der damit verbundenen Installation eines kanonisierten Repertoires. Durch diesen Prozeß war der Abstand zwischen Künstler und Publikum merklich größer geworden, da viele Künstler sich nicht mehr als Dienstleistende gegenüber dem Publikum verstehen wollten, sondern als sendungsbewußte Anwälte des ›Klassischen‹. Der hiermit verbundenen Generationskonflikt wird auch aus Briefen Stockhausens an seine Eltern aus den 1840er und -50er Jahren nur allzu deutlich: Sage mir bitte nichts davon, daß das Publikum den Sänger bilde im künstlerischen Sinn! Niemals hat Vater diese Ansicht vertreten, und ich glaube im Gegenteil mit ihm und meinem alten Lehrer Nagiller, daß der Künstler das Publikum bildet, oder man muß wenigstens versuchen, es zu erziehen.32 Der Beifall der Zuhörer, wenn sie es nicht mit dem Beifall genug sein lassen wollen, sondern sich noch persönlich mit dem Künstler unterhalten wollen, ist geschmacklos und unerträglich, und ich fürchte mich davor wie Feuer. Sie sollen klatschen soviel sie wollen, meinetwegen so, als ob das Haus einstürzen sollte, aber dann soll man mich auch in Ruhe lassen, und jeder soll nach Hause gehen und selbst darüber nachdenken.33

Das Ideal der ›Klassizität‹ verschob den Akzent vom spontanen Faszinationsakt auf eine würdevolle Präsentation quasi religiös aufgeladener künstlerischer Gehalte

29 30

31 32 33

Klassen, Clara Schumann. Musik und Öffentlichkeit, S. 163ff. Vgl. Gerhard Wild, Entgrenzung durch Reduktion. Hugo, Liszt und das Klavier als Medium romantischer Entgrenzung, in: Medienfiktionen: Illusion – Inszenierung – Simulation, hg. von Sybille Bolik [u. a.], Frankfurt a. M., 1999, S. 325‒335. Vgl. Dahlhaus, Das deutsche Bildungsbürgertum und die Musik, S. 220‒225. Stockhausen zitiert nach: Wirth, Julius Stockhausen, S. 105. Zitiert ebd., S. 156.

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7 ›Schubert-Sänger‹: Julius Stockhausen

von überzeitlicher Gültigkeit, die eng mit einem nationalkulturell geprägten bildungsbürgerlichen Selbstentwurf in Verbindung zu sehen ist.34 Daß innerhalb der Musikkultur trotz der Ideologisierung einer ›hehren Tonkunst‹ ein weitgehend emotional bestimmter Rezeptionsmodus bis in die 1870er Jahre vorherrschend blieb, ist indes kaum von der Hand zu weisen35 – er wurde aber, wie etwa dezidiert von Wagner gefordert, als kontemplative, ›weihevolle‹ Haltung dem Kunstwerk gegenüber in den Ideologisierungsprozeß integriert und das nun in erster Linie als Zuhörerschaft aufgefaßte Konzertpublikum damit einer zunehmenden Disziplinierung unterzogen.36 Diese hier nochmals in Erinnerung gerufen allgemeinen Kontexte bilden auch die Kulisse, vor der sich Stockhausens Entwicklung als professioneller Liedsänger vollzog. Er trug sogar in entscheidender Weise dazu bei, das Lied als ›Kunstlied‹ an diesem Prozeß überhaupt teilhaben zu lassen, denn durch ihre spezifische kulturelle Codierung war die Gattung nicht ohne Weiteres mit dem neuen Konzept vom überzeitlich gültigen ›Meisterwerk‹ und den damit verbundenen Idealen der Kunstrezeption kompatibel. Die ›Seriosität‹ mußte im Bewußtsein der Künstler mithin gerade hier maßgeblich über Präsentationsweise und Vortragsstil transportiert werden. An Brahms, dem Stockhausen erstmals 1856 beim 34. Niederrheinischen Musikfest in Düsseldorf begegnet war, schreibt der Sänger 1869: In der kommenden Kammermusiksoirée der Herren werde ich endlich deine Mainacht und Von ewiger Liebe in meiner langweilig klassischen Art, wie du einmal in Kopenhagen liebenswürdig sagtest, vortragen. Dazu den Liederkreis von Beethoven. In Karlsruhe entstand bei Hofe ein kleiner Aufruhr nach den besagten Liedern, ›in langweilig klassischer Weise‹ gesungen. Das will bei Hofe etwas heißen, wo man weder zu klassisch, noch zu langweilig sein darf.37

Der ironische Beiklang von Stockhausens Äußerung, die letztlich auf den Kompromiß des zeitgenössischen Musikerdaseins zwischen ›klassisch‹-autonomem Kunstideal und ökonomischer Bestimmtheit des Künstlers verweist, macht deutlich, daß man sich hier einig in der praktischen Verwirklichung eines ästhetischen Programms war. Gerade der Vortrag war in der Selbstwahrnehmung der musizierenden Künstler die Ebene, auf der trotz Gebundenheit an die institutionellen Strukturen der Musikkultur die Ideale einer autonomen Kunst verwirklicht werden konnten. Die von Stockhausen hier benannte »langweilig klassische Art« – was auch immer man sich darunter vorzustellen hat – war in diesem Sinne vor allem ein bürgerlich 34

35 36 37

Als Beispiel für diese Entwicklung kann etwa die Geschichte der Niederrheinischen Musikfeste gelten. Cecilia Hopkins-Porter bezeichnet die Spanne von 1851 bis 1867 (Stockhausen trat erstmals 1856 dort auf, wo er auch Brahms kennenlernte) bereits als professionelle Phase, bei der die Amateure weitgehend verbannt waren und bei der Programmgestaltung ein ›klassischer‹ Kanon ins Werk gesetzt werden sollte. Vgl. dies., The New Public and the Reordering of the Musical Establishment: The Lower Rhine Music Festivals 1818‒67, in: 19thCM 3 (1980), S. 211‒224. Vgl. Dahlhaus, Das deutsche Bildungsbürgertum und die Musik, S. 235. Vgl. Richard Leppert, The Social Discipline of Listening, in: Le concert et son public, S. 459‒ 485. Wirth, Julius Stockhausen, S. 325f.

7.2 Liedgesang als »echte Mission des Virtuosen«

247

perspektivierter rhetorischer Gegenentwurf zur immer noch mit der höfischen Sphäre verbundenen unkonventionellen ›Effekthascherei‹. Eine deskriptive Erfassung, geschweige denn Analyse, eines bereits vor dem Zeitalter der Aufnahmetechnik für immer verklungenen Vortragstils bleibt indes auf grundsätzlicher Ebene problematisch, wenn nicht undurchführbar. Um so entscheidender für die Beschreibung der musikalischen Aufführungskultur eines spezifischen Zeitraums ist indes die Untersuchung der Kontexte, in denen eine Übermittlung von Musik an ein Publikum stattfand: Individuellen Besonderheiten eines Interpreten wie Stockhausen stehen hier durch ästhetische und kunstpolitische Diskurse vorgeformte Rezeptionshaltungen gegenüber, die in einem bestimmten Vortragsstil einen entscheidenenden Anteil kultureller Identität repräsentiert sahen. Auf Julius Stockhausens erster großer Konzertreise durch Deutschland 1856 war seine spätere Hauptwirkungsstätte Frankfurt am Main eine erste wichtige Station. In mehreren (zum Teil eigenen) Konzerten trat Stockhausen vors Publikum und wurde mit Begeisterung aufgenommen.38 Im Frankfurter Museum vom 15.3.1856 findet sich etwa eine umfangreichere Rezension, in der Stockhausens Auftritte sogleich zum Anlaß einer Diskussion der aktuellen deutschen Gesangskultur genommen wird. Wir vergessen oder übersehen z. B. sehr leicht, daß der Vortrag guter Lieder, mit einem guten Stimmaterial und mit musikalischen Talent nur dann ein guter Gesang sein wird, wenn die gute Methode des Singens, die Schule hinzukommt. Wo ist diese bei uns? Wie heißt das deutsche Land, die deutsche Stadt, wo die Kunst des Gesangs erlernt werden kann? In dieser Beziehung hat das Ausland entschieden den Vorrang vor uns gewonnen; und der erste Schritt zum Besseren für uns wird der sein müssen, daß wir das bei uns Mangelnde als solches erkennen und das Bedürfnis fühlen, die herrlichsten und unerreichten Schöpfungen unserer deutschen Komponisten nicht mehr in der unkultivierten ungeschulten, naturalistisch-manirierten Weise zu hören, die bei vielen deutschen Sängern die Schulbildung ersetzen soll [...].39

Den Musikzeitschriften und Gesangsschulen dieser Zeit sind immer wieder Klagen über den als hochproblematisch angesehenen Zustand der deutschen Gesangs- und Stimmbildungskultur zu entnehmen, die nicht zuletzt mit einer nationalidentifikatorisch gefärbten programmatischen Ablehnung italienischer Ausbildungsmethoden und Vortragshaltungen einherging.40 Die Frage eines ›deutschen‹ Kunstgesangsstils wurde von den Kritikern vor allem als hochbrisant diskutiert, da das Potential, das in der traditionsreichen italienischen und französischen Gesangskultur

38

39 40

»Mein Erfolg in Frankfurt ist gesichert und hat sich bei jedem öffentlichen Auftritt mehr bestärkt. Glücklicherweise habe ich ein großes Repertoir [sic!] und habe noch nichts ein einziges mal doppelt singen müssen obwohl ich sechsmal öffentlich gesungen habe [...] Frankfurt ist wichtig wegen der Zeitungen, besonders wegen der Didaskalia, die als Beiblatt zum Frankfurter Journal erscheint [...]« (Stockhausen an seinen Vater aus Frankfurt a.M. am 1.3.1856, zitiert nach: Wirth, Julius Stockhausen, S.153). Ebd., S. 153f. Vgl. etwa nochmals Hanslicks (oben auf S. 235 zitierte) Beschreibung des Liedvortrags der Mezzosopranistin Alice Barbi.

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7 ›Schubert-Sänger‹: Julius Stockhausen

lag, nicht ohne weiteres ignoriert werden konnte. 41 Eine in der Neuen Zeitschrift für Musik vertretene Argumentationslinie begegnet der Frage nach der ›Substanz‹ einer italienischen Gesangstradition etwa mit der Rede von der grundsätzlichen Unmöglichkeit ihrer ›authentischen‹ Erhaltung und Weitergabe. Der mit Blick auf die aktuelle Situation zu konstatierende Verfall äußere sich vielmehr in der Diversifizierung und damit »Aufweichung« der Tradition42, wodurch die ›deutsche Gesangslehre‹ auf einmal nicht mehr als radikale Gegenposition, sondern als universell geprägte Aufbewahrungsmöglichkeit dargestellt werden konnte.43 Stockhausens Erscheinen im öffentlichen Konzertleben ließ vor solchem Hintergrund offenkundig aufhorchen. Er wurde als einer derjenigen Sänger wahrgenommen, die diese Universalität auch durch ihren Vortragsstil verkörperten. Schon bei seinem erstem Auftritt in Wien 1854 hatte Eduard Hanslick, die Gelegenheit wahrgenommen, mehr technische Professionalität auch beim Liedgesang einzufordern44, bei Stockhausens zweitem Wien-Aufenthalt 1856 vermerkt die Wiener Zeitung sogleich die nochmals gesteigerte Nuanciertheit des Vortrags.45 Von deutscher Seite wurde Stockhausen hingegen sogleich ungeachtet der verschiedensten kulturellen Einflüsse seiner persönlichen musikalischen Sozialisation in einen nationalkulturellen Diskurs eingewoben: Das Publikum hat übrigens hierin, wie auch in anderen Dingen, das Gefühl für das Richtige und Wahre nicht verloren. Einen neuen Beweis hiervon lieferte uns die ausgezeichnete Art und Weise, mit welcher der Bariton, Herr Julius Stockhausen, bei uns aufgenommen wurde. Kaum war sein erstes Lied verklungen, so war es den Zuhörern sonnenklar, daß hier ein echter und ganzer Künstler vor ihnen stehe; so muß auch das Schöne wirken; das künstlerisch in sich Vollkommene macht nun wieder einen ganz natürlichen und tiefen Eindruck; man glaubt, es könne das gar nicht anders sein; es sei auch wohl gar nicht so schwer; man will nur mehr und immer mehr und verschiedenes hören, denn der Stempel der in sich abgerundeten und beruhigten Vollendung, der dem Gesang des Herrn Stockhausen aufgeprägt ist, versetzt den Hörer zugleich in eine gehobene und doch behagliche Stimmung. [...] Herr Stockhausen, in Paris geboren und erzogen, hat das Glück gehabt, sich eine zugleich vielseitige und gründliche Bildung zu erwerben; um so zu musizieren und singen zu können, muß man mehr als Gesang und Musik studiert haben. Klassische und neuere Literatur und Sprachen sind ihm geläufig; dies ermöglicht es ihm

41 42 43

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45

Vgl. etwa den Beitrag Unsere Sänger und unsere Gesangskunst, in: Süddeutsche Musikzeitung 4/4 (1855), S. 13f. und 4/5 (1855), S. 18f. Vgl. Ist die italienische Gesangsunterrichts-Tradition noch vorhanden oder nicht?, in: NZfM 50/6 (1859), S. 65f. und 50/7 (1859), S. 77‒79. Letztlich ist die Flut an unterschiedlichen Standpunkten zwischen Bewahrung der italienischen Gesangsschule und einer Art musiko-linguistischem Nationalimus vor allem seit Friedrich Schmitt innerhalb der historischen Gesangsforschung längst noch nicht methodisch erfaßt und aufgearbeitet worden. Bernd Trummers kompilatorische Arbeit von 2006 bietet hier allenfalls den Impuls einer Materialsammlung: Bernd Trummer, Sprechend singen, singend sprechen. Die Beschäftigung mit der Sprache in der deutschen gesangspädagogischen Literatur des 19. Jahrhunderts, Hildesheim [u. a.] 2006. Vgl. Hanslick, Geschichte des Concertwesens, Bd. 2, S. 71: »Man konnte sich des seltenen Genusses nicht ersättigen, eine vollkommen geschulte Stimme, von warmem poetischen Verständnis durchgeistet, die entzückenden Lieder Mendelssohn’s und Schubert’s vortragen zu hören.« Abgedruckt bei: Hilmar, Schubert-Rezeption 1831‒1865, S. 201f.

7.2 Liedgesang als »echte Mission des Virtuosen«

249

auch, so tief in den Geist der verschiedenartigsten Tondichter einzudringen; man vergißt, wenn man Schubert, Mendelssohn, Schumann von ihm hört, daß er ein geborener Franzose ist. Er ist ein Künstler.46

Besonders der letzte Satz verweist auf die bereits an früherer Stelle angesprochene, seit der Jahrhundertmitte etwa explizit in den Schriften Franz Brendels vorgenommene »universelle Verflechtung der deutschen mit den anderen europäischen Musikkulturen«47, die sich auf das Deutungsmuster einer ›deutschen Universalität als‹ nationaltypischem Konstituens bezieht. So wird betont, daß Stockhausen in der Lage sei, seine geburtsmäßig französische Herkunft durch die Ausübung seiner Kunst gleichsam zu transzendieren. Als Künstler repräsentierte er in diesem Denkmodell genau jene transnationale Universalität, die gleichzeitig Teil einer ideologischen Bestimmung des Deutschen geworden war.48 Daß Stockhausen die Zuhörer vornehmlich mit Liedvorträgen in eine »gehobene und doch behagliche Stimmung« versetzen konnte, zeigt überdies deutlich die Durchmischung von heteronomen und autonomen Interessen des Publikums. Die Begeisterung für seinen Liedvortrag wird dabei nicht, wie etwa im Fall Jenny Linds, auf die Faszination der Sinne durch die Materialität der Stimme und das Gesamtbild der sängerischen Performance zurückgeführt, sondern bewußt mit einer über die sängerische und musikalische Ebene hinausreichenden »vielseitige[n] und gründliche[n] Bildung« in Zusammenhang gebracht. Mit dieser Bildung ist vor allem die sprachlich-literarische gemeint, und genau sie ermöglichte Stockhausen die nach dieser zeitgenössischen Auffassung auch für das ›Musizieren‹ (das hier nicht ohne Grund als vom ›Singen‹ gesondert genannt wird) wichtigste Ebene eines musikalischen Werkes zu erfassen – den ›Geist‹ eines Komponisten, wobei die oben verwendete Formulierung »tief in den Geist [...] einzudringen« deutlich auf den Kontext eines den deutschsprachigen Musikdiskurs prägenden nationalcharakteristisch wie geschlechtsspezifisch konnotierten Begriffs von ,Tiefe‘ verweist.49 Mit eben solchem als ›vergeistigt‹ bzw. ›verinnerlicht‹ aufgefaßten Liedvortrag befand sich Stockhausen auf dem Weg, eine neue vokalkünstlerische Domäne zu etablieren. Das ›deutsche Kunstlied‹ sollte nun als Äquivalent zur ›großen Instrumentalmusik‹ (und damit als bürgerlichen Wertvorstellungen entsprechendes Pendant zur weiterhin höfisch geprägten und moralisch verdächtigen Oper) im Konzertsaal neben den z. T. monumentalen Aufführungen etwa Händelscher und Bachscher Oratorien oder Beethovens IX. Sinfonie Geltung beanspruchen: Der weithin berühmte Liedersänger J. Stockhausen hat nun seinen ersten Triumph auch in unserer Stadt gefeiert. Und seine Triumphe sind uns ein erfreulicher Beweis, daß auch in unserer künstlich aufgebauten und teilweise raffinierten Welt das einfache Schöne seinen Reiz noch nicht verloren hat. Alles ist bei diesem Künster einfach: sein Auftreten, seine Stimmmittel und

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Frankfurter Museum 15.3.1856, zitiert nach Wirth, Julius Stockhausen, S. 154. Bernd Sponheuer, Zur ästhetischen Dichotomie als Denkform in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, in: AfMw 37 (1980), S. 18. Hentschel, Musik und bürgerliche Ideologie, S. 393; vgl. außerdem dazu: Borchard, Stimme und Geige, S. 542ff. Vgl. Friedrich Geiger: Innigkeit und Tiefe als komplementäre Kriterien der Bewertung von Musik, in: AfMw 60 (2003) 265‒278.

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7 ›Schubert-Sänger‹: Julius Stockhausen die ausgewählten Lieder. Kein Auf- und Abwogen des Oberkörpers, kein unnatürliches Tremoliren, keine übermäßigen Anstrengungen des Organs. Das edelste Maß des altgriechischen Kunstsinns scheint durch seine Leistungen dem deutschen Liede der Gegenwart mitgetheilt zu werden. Es ist, um Alles mit Einem zu sagen: klassischer Gesang. Daher ist es auch selbstverständlich, daß mit dieser Art des Gesangs die meisten Arien der modernen Opern [...] nicht bewältigt werden können. Herr Stockhausen kennt sein Terrain, er hat sich dieses Terrain wohl ausgemessen und ist ihm von jeher treu geblieben. 50

Diese Rezension aus dem Schwäbischen Merkur von 1868 über einen Stuttgarter Auftritt Stockhausens zeigt nochmals, wie sehr die Idee der ›Klassizität‹ auch auf die performative Präsentation von Musik bezogen wurde, denn nur eine ›klassische‹ Vortragsweise garantierte die kulturelle Vermittlung und Zementierung des verfochtenen Ideals – Stockhausens Vortrag wurde mithin geradezu als Veredelung des gesungenen Repertoires selbst aufgefaßt. Auch Joseph Joachim etwa konnte, wie Beatrix Borchard beschrieben hat, als Berliner Hochschuldirektor in den 1870er und 1880er Jahren vor allem über die Einflußnahme auf die Ausbildung des Vortragsstils kulturelle Wirksamkeit erlangen. In den Statuten der schließlich unter seiner Leitung gegründeten Königlichen Hochschule für Musik wird als Zielsetzung ausdrücklich die »Aufrechterhaltung, Verbreitung und Fortbildung eines mustergültigen klassischen Styles, [...] auf dem schaffendem wie auf reproducirenden Gebiete«51 hervorgehoben. ›Klassisch‹ im obigen Sinne ausgewiesenes Repertoire korrelierte also im zeitgenössischen Verständnis mit einem ›klassischen‹ Vortrag, der als klingende Realisierung wenn nicht der Idee einer »tönenden Erkenntnis«52, so doch einer unter autonomieästhetischen Prämissen als besonders ›wertvoll‹ angesehenen Musik verstanden wurde – im Falle Joachims etwa vorrangig ins Werk gesetzt durch die Institutionalisierung des Streichquartettspiels nebst der Kanonisierung eines entsprechenden Repertoires.53 Stockhausens Bedeutung als ein mit Blick auf die nationale Gesangskunst den Begriff des ›Klassischen‹ repräsentierendes Leitbild mag nicht zuletzt auch das Preußische Kultusministerium veranlaßt haben, dem Sänger 1869 ein Professorenamt an der neugegründeten Berliner Musikhochschule in Aussicht zu stellen – wenngleich sich die Verhandlungen als schwierig erwiesen, da der Sänger sich gegenüber Joachim, über dessen Anstellung gleichzeitig verhandelt wurde, im Nachteil sah.54 Letztlich wurde Stockhausen nicht dort tätig, übernahm aber ab 1874 die Leitung des Berliner Sternschen Gesangsvereins, was seiner Vorstellung, auf vokalmusikalischem Gebiet mehr in die Breite wirken zu können entsprach, ihn 50 51 52 53 54

Schwäbischer Merkur vom 18.12.1868, Rezensionensammlung Julius Stockhausen, Universitätsbibliothek Frankfurt am Main. Geheimes Preußisches Staats-Archiv, Akten betreffend die Hochschule f. Musik, zitiert nach: Borchard, Stimme und Geige, S. 469, Anm. 76. 6 Ebd., S. 543. Borchard betont die Anwendung dieser Formel insbesondere auf musikalische Gattungen, die nach dem Modell der Sonatenhauptsatzform komponiert waren. Vgl. auch Borchards Kontextualisierung der Joachimschen Quertettpraxis ebd., S. 521‒552. Vgl. Dietmar Schenk, Die Hochschule für Musik zu Berlin. Preußens Konservatorium zwischen romantischem Klassizismus und Neuer Musik 1869‒1932/33, Stuttgart 2004, S. 133f.

7.2 Liedgesang als »echte Mission des Virtuosen«

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aber auch in eine Konkurrenzstellung zur Hochschule manövrierte.55 Der damit eingeschlagene Weg Stockhausens als Pädagoge setzte sich fort in Lehrtätigkeiten am Dr. Hoch’schen Konservatorium in Frankfurt (ab 1879) und nach dem prominent gewordenen Zerwürfnis mit dessen damaligen Leiter Joachim Raff 56, der Gründung einer privaten Gesangsschule (1880), die Stockhausen bis zu seinem Tod 1906 leitete. Wenngleich er seit Mitte der 1870er Jahre immer weniger als Konzertsänger auftrat, um sich vermehrt der pädagogischen Tätigkeit zu widmen, war seine Rolle als Vertreter einer gesangskünstlerischen ›Klassizität‹ spätestens in den 1880er Jahren endgültig festschrieben. Eduard Hanslick weiht Stockhausen bereits 1870 gemeinsam mit Clara Schumann und Joseph Joachim offiziell zu berufenen »Priester[n] der Kunst« und sieht namentlich in dieser Trias die Personifikation des bezeichnenden Projekts einer »echte[n] Mission des Virtuosen«.57 Stockhausens »Mission« im Dienst der ›Klassizität‹ wurde darüber hinaus eng mit den Liedern Schuberts verbunden, wie etwa eine Rezension der Schweizer Musikzeitung aus dem Jahr 1889 verdeutlicht, die die Liedvortragskunst des Sängers gar programmatisch mit einem auf Goethe rekurrierenden Konzept des ›Kunstschönen als zweiter Natur‹ zusammenführt: Stockhausen und Schubert – der Liederfürst und sein Interpret! Wenn diese zwei Namen auf dem Programm stehen, so kommt das Schöne zur Erscheinung. Stockhausen idealisiert die menschlichen Empfindungen und gibt als Künstler, wie Goethe sagt, dankbar gegen die Natur, die auch ihn hervorbrachte, ihr eine zweite Natur, aber eine gefühlte, gedachte, menschlich vollendete, zurück. Wie ist mit einem Worte sein Gesang, mit dem er jeden ästhetisch gesund fühlenden begeistert? Sein Gesang ist ›einfach‹. Das Geheimniss seines wunderbaren Gesanges ist ›wieder zur Natur gewordene Kunst‹; er weckt den Schein der Mühelosigkeit; er hört sich an, wie Naturgesang, aber ohne die Mängel des Naturschönen; er hat den Charakter der Nothwendigkeit, als könne es nicht anders sein; es ist gesprochener Gesang oder gesungene Sprache, der Stempel der Kunst, wodurch sie sich stets vom Dilettantismus unterscheidet, der als Bildungs- und Unterhaltungsmittel für Gesellschaften Werth und Bedeutung hat. Für eigentliche Kunst aber darf er sich nicht halten. Der Dilettant oder Naturalist mit noch so schöner Naturbegabung wird niemals ein Kunstwerk hervorbringen, das heisst, niemals einfach singen, weil die Erreichung jener wieder zur Natur gewordenen Kunsteinfachheit ein ganzes Menschenleben für sich beansprucht, weil sie auf einer complicierten Behandlung des ganzen Singapparates beruht, die nur mit den Jahren zur Natur wird.58

So wie das Violinspiel eines Joseph Joachim ihn selbst letztlich zum Repräsentanten und Botschafter einer deutschen Kunstauffassung (verbunden mit den Komponisten Bach, Beethoven und Brahms) erheben konnte59, wurde Stockhausen die Rolle der Verwirklichung bzw. Entfaltung eines kultur- und nationalidentifikatorisch hocheffektiven Potentials zugewiesen: Er zeigte, wie der Dirigent und Kom 55 56 57 58 59

Ebd., S. 134. Vgl. Peter Cahn, Das Hoch’sche Konservatorium in Frankfurt am Main, Frankfurt 1979, S. 73‒ 77. Hanslick, Aus dem Concertsaal, S. 418. Alfred Tobler, Das Einfache im Kunstgesang, in: Schweizerische Musikzeitung und Sängerblatt 27/1 (1887), S.1. Vgl. Borchard, Stimme und Geige, S. 500‒521.

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7 ›Schubert-Sänger‹: Julius Stockhausen

ponist Bernhard Scholz aufschlußreich formuliert, »wozu deutscher Liedgesang fähig sein konnte«60, und sein Liedvortrag erfüllte im Bewußtsein der Zeit in hohem Maße die Forderung jener »Virtuosität im edlen Sinne«, die Franz Brendel mit Bezug auf die adäquate Verwirklichung der Mitte des Jahrhunderts bereits ›klassischen‹ Positionen ›Beethoven-Sonate‹ und ›Schubert-Lied‹ formuliert bzw. eingefordert hatte. Die geradezu paradigmatische Ausstrahlung von Stockhausens Vortragskunst wird immer wieder in rückblickenden Veröffentlichungen nach dem Tod des Sängers betont. In einem Nekrolog der Neuen freien Presse (Wien) von 1906 werden Stockhausens ›authentische‹ Leistung als Künstlerpersönlichkeit und seine Rolle als Stifter einer interpretationsästhetischen Traditionslinie gar in ironisierender Manier einander gegenübergestellt: Er bot [...] bei seinen Auftritten in Deutschland das seltene Bild eines Sängers, der gleich sicher im Sattel romantischen Kunstgesangs wie in jenem des deutschen Liedes und Oratoriums saß. Er [...] verfügte vor allem über die Poesie, die geisterfüllte Deklamation für das deutsche Lied, über die Kunst individualisierenden Eindringens in die Liedstimmung. Womit wir heute bis zum Ueberdruß in den Konzertsälen bedacht werden, jenes geistschwitzende Kneten und Walken des kleinsten Liedbrockens, das, was sich so bedeutsam ›Hervorholen des Stimmungsgehaltes‹ zu nennen gewöhnt hat, geht in seinem Kerne eigentlich auf Stockhausen zurück. Wie oft müssen wir heutzutage diese schmerzhafte Vortragskunst als bloßes Surrogat für mangelnde Stimme oder fehlende Stimmschulung hinnehmen! Kleine Nebenerfordernisse, ohne die ein Stockhausen kaum ›vorzutragen‹ gewagt hätte.61

Wie Stockhausen sich also ausgerechnet als ›Liedinterpret‹ innerhalb einer kulturellen Praxis bewegte, die durch die komplexe Verwobenheit autonomieästhetisch ausgerichteter Wertbildungsprozesse mit charakteristischen sozialen, materiellen, politischen und geschlechtergeschichtlichen Rahmenbedingungen bestimmt war, soll anhand seiner Repertoirepolitik in den folgenden Kapiteln eingehender beleuchtet werden. 7.3 STOCKHAUSENS SCHUBERT-REPERTOIRE Die Rekonstruktion und Kontextualisierung seines Repertoires bildet einen ersten wichtigen Schritt in Richtung einer plastischeren Vergegenwärtigung Stockhausens als kulturell handelndem musikalischen Interpreten. 62 Dabei stehen sowohl die Interpretation der Lieder Schuberts zur Debatte als auch die Frage der generellen Bedeutung Stockhausens vor dem Hintergrund der bereits skizzierten, mit dem Liedgesang in Zusammenhang stehenden, kulturellen Handlungszusammenhänge. 60 61

62

Vgl. Bernhard Scholz, Verklungene Weisen. Erinnerungen, Mainz 1911, S. 125ff. Neue freie Presse (Wien), Abd.-Nr. 15119 (1906), zitiert nach Nk/FfM. Auch der Komponist Karl Goldmark betont um 1912 rückblickend, Stockhausens Liedvortrag habe »dermaßen Schule« gemacht, »daß man kühn behaupten kann, alles, was und wie man heute Lieder singt, ist auf Stockhausen zurückzuführen.« (Goldmark zitiert nach Hilmar, Karl Goldmark über den Schubert-Sänger Anton Haizinger d. J., S. 100). Vgl. Janina Klassen, »Beethoven und etwas von Schumann«. Zur Methodik der Repertoire- und Kanonforschung, in: Mth 21/1 (2006), S. 57‒68.

7.3 Stockhausens Schubert-Repertoire

253

Ein Blick auf die unter Einbeziehung von Orts- und Jahresangabe des Studiums bzw. der ersten öffentlichen Aufführung von Stockhausens Tochter Julia Wirth erstellte Repertoireliste bietet eine erste Übersicht über das Gesamtrepertoire des Baritons.63 Wirths Aufstellung umfaßt sowohl einige italienische und französische Opernpartien als auch zahlreiche einzelne Opernarien, sowie das nach verschiedenen, der Autorin vorliegenden, Quellen rekonstruierte Oratorien- und Liedrepertoire Stockhausens. Bereits auf den ersten Blick wird deutlich, daß Stockhausen den Bereich des Liedes in den Mittelpunkt seines Repertoireaufbaus rückte: Die meisten Titel finden sich unter den Namen Schubert und Schumann verzeichnet, deutlich schmäler, aber dennoch hervortretend ist das Repertoire an Beethoven-, Mendelssohn- sowie – ab den 1860er Jahren – Brahms-Liedern. Im Opern- und Oratorienbereich nimmt Händel eine Vorrangstellung ein, aber auch die oratorischen Werke Mendelssohns, die Passionen Bachs und nicht zuletzt ausgewählte Opernarien Mozarts, Rossinis und – besonders bevorzugt – François-Adrien Boieldieus zählten zu Stockhausens Kernrepertoire. Angesichts dieses grundsätzlichen Befunds stellen sich indes zahlreiche weiterführende Fragen. Die genannten Fakten verweisen bereits deutlich darauf, daß die von Stockhausen als besonders ›wertvoll‹ angesehenen Kompositionen, die vor dem beschriebenen Hintergrund eines zeittypischen, bürgerlich geprägten Klassizitätsideals und dem damit verbundenen Ziel einer ästhetischen Erziehung auf dem Konzertpodium präsentiert werden sollten, einer bereits etablierten und durch ein bestimmtes Repertoire geformten Konzertpraxis gegenüberstanden. »Zwar zeichnet sich«, wie Beatrix Borchard betont, »ab der Jahrhundertmitte eine in der Literatur zur Konzertgeschichte allenthalben konstatierte Entmischung in E-Musik und U-Musik ab«64, jedoch bleibt eine bereits mit Blick auf die Schubert-Zeit diskutierte, an häufigen Kontrastwirkungen ausgerichtete Programmdramaturgie65 auch für die Aufführung von Kunstliedern im öffentlichen Konzert letztlich über das gesamte Jahrhundert wirksam: Liedbeiträge wurden von zumeist klaviersolistischen Einlagen oder kleiner besetzter Kammermusik durchsetzt, wobei, wie immer wieder deutlich wird, eine Hierarchie zwischen Klaviersolobeiträgen und Liedbegleitung bestand. Überdies war es üblich, Arien aus Opern und Oratorien an prominenten Stellen des Programms zu plazieren. Grundsätzlich verzichtete auch Stockhausen nicht (wie später etwa Joseph Joachim66) gänzlich auf virtuoses bzw. pointierteffektvolles (Opern-)Repertoire (zumeist Arien von Rossini oder Boieldieu) – womöglich um sich gerade noch vor den Liedvorträgen durch die Präsentation vokaltechnischer Vollkommenheit beim Publikum Respekt und Aufmerksamkeit zu verschaffen. Ludwig Rellstab vermerkt etwa in der Vossischen Zeitung im April 1856: 63 64 65

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Vgl. Wirth, Julius Stockhausen, S. 489‒498. Borchard, Stimme und Geige, S. 424. Vgl. Irmgard Keldany-Mohr, Unterhaltungsmusik als soziokulturelles Phänomen des 19. Jahrhunderts. Untersuchung über den Einfluß der musikalischen Öffentlichkeit auf die Herausbildung eines neuen Musiktyps, Regensburg 1977, S. 66. Borchard, Stimme und Geige, S. 502.

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7 ›Schubert-Sänger‹: Julius Stockhausen In der Arie des Seneschall aus Jean de Paris bestieg der Konzertgeber ein Schul- und Paradepferd, das er mit vollem Erfolge seine glänzendsten Exerzitien ausführe ließ. Er verzeihe uns das etwas rohe Gleichnis, das indessen den Eindruck, den wir empfingen, am treuesten wiedergibt. Es war in der Tat ein treffliches Paradestück, sowohl der Technik als der geistreichen, feinen Auffassung der Komik, welches dem Sänger auch das höchste Maß an Beifall eintrug.67

Die Liedbeiträge finden sich nach solchen Pflichtübungen gerade in den früheren Jahren der Konzerttätigkeit Stockhausens eher im späteren Teil oder sogar zum Schluß des Konzerts. Zur Aufführung stellte er zunächst kleine Gruppen von zwei bis drei Liedern zusammen, die als Block meist einzeln bezeichnet, seltener auch als »Lieder«, »Solo« oder »Liedvorträge« unbestimmt angekündigt wurden. 68 Zumeist Lieder Schuberts, Schumanns oder Mendelssohns wurden entweder in eigenen Gruppen zusammengestellt oder miteinander kombiniert.69 Ein besonders informatives Beispiel für die erwähnte Gratwanderung zwischen Anspruch und Unterhaltung, durch die die damalige öffentliche Musikkultur bestimmt wurde, bietet etwa der Programmzettel zu einem Auftritt des Sängers am Großherzoglichen Hof- und Nationaltheater Mannheim – ebenfalls im Jahr 1856. Nachdem Stockhausen inzwischen Ensemblemitglied der Pariser Opera Comique geworden war, gastierte er am 26. August 1856 nochmals an seinem ehemaligen Stammhaus Mannheim: Man gab an diesem Abend den komischen, 1821 an der Opera Comique uraufgeführten, Operneinakter Le Maître de Chapelle von Ferdinando Paër70 mit Stockhausen in der Titelrolle, darauf folgte ein Lustspiel in einem Akt (während dessen Aufführung der Sänger sich erholen konnte) und im Anschluß daran noch ein kürzeres musikalisches Programm. Nach einer Gluckschen Ouvertüre erklangen hier sowohl Bachs Chaconne als auch Stockhausens Paradestück aus dem Opernrepertoire – die Arie des Sénéchal aus Jean de Paris. Bevor das Konzert mit einem Duett aus Rossinis Barbiere di Sevilla ausklang, sang Stockhausen schließlich noch drei Lieder: Des Schmiedes Töchterlein (komponiert vom damaligen Mannheimer Kapellmeister Vinzenz Lachner), Schumanns An den Sonnenschein (zu dieser Zeit besonders verbunden mit der Person Jenny Linds) sowie Frühlingsnacht aus Schumanns Liederkreis Opus 39 − ein Stück, das Stockhausen auch in den Konzerten der 1860er Jahre offenbar wegen seiner schwungvollen 67 68

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Vossische Zeitung im April 1856 zitiert nach Wirth, Julius Stockhausen, S. 159. Beatrix Borchard betont: »Insgesamt gilt [...], dass gegen Ende des 19. Jahrhunderts auch im Gesangsbereich die einzelnen Stücke zunehmend präzisiert wurden – ein Indiz für die höhere Wertschätzung des Kunstliedes.« (dies., Stimme und Geige, S. 420). Die Programmzettel der Konzerte Stockhausens weisen bereits zur Jahrhundertmitte häufiger eine detaillierte Nennung einzelner Lieder auf, wenngleich eine Kennzeichnung durch Opusnummern unüblich blieb. Dabei werden auch bereits früh Stockhausens Vorlieben für thematische Gebundenheit innerhalb einer jeweiligen Liedgruppe ersichtlich – beispielsweise tritt häufiger die Kombination Frühlingsglaube (Schubert ) – Frühlingslied (Mendelssohn) – Frühlingsnacht (Schumann) auf, wie sie der Sänger erstmals 1856 im Rahmen seines zweiten Wiener Auftritts bei der Gesellschaft der Musikfreunde zusammenstellte. Vgl. P/FfM: Wien, 27.4.1856. Vgl. Elisabeth Schmierer, Art. Ferdinando Paer/Le Maitre de chapelle ou le souper imprévu. Comédie en un acte en prose, in: Pipers Enzyklopädie des Musiktheaters, Bd. 4, München 1994, S. 629‒630.

7.3 Stockhausens Schubert-Repertoire

255

Schlußwirkung aus dem Zyklus herausgelöst immer wieder auf seine Programme setzte.71

Abbildung 11: Programmzettel zu einem Auftritt Stockhausens am »Großherzoglichen Hof- und Nationaltheater Mannheim« 1856. Stockhausen trat hier an einem Abend sowohl als Opern- wie auch als Konzertsänger in Erscheinung.

Wenngleich also deutlich hervortritt, daß ab Mitte der 1850er Jahre vor allem Lieder Beethovens, Schuberts, Mendelssohns, Schumanns und Brahms’ das Repertoire des Sängers bestimmten, steht eine umfassende, auf systematischer Datenerhebung beruhende, Rekonstruktion und Auswertung der Konzerttätigkeit Stockhausens hinsichtlich der Kanonisierungsprozesse innerhalb der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts noch aus. Ein Häufigkeits-Ranking etwa ließe sich nach den von Julia Wirth zusammengetragenen Daten nicht erstellen, da die Aufführungsfrequenzen 71

Vgl. Hofmann, Julius Stockhausen als Interpret der Liederzyklen Robert Schumanns, S. 43.

256

7 ›Schubert-Sänger‹: Julius Stockhausen

fehlen. Ohnehin hat eine derartige Hierarchie nur Aussagekraft im direkten Vergleich mit den Repertoires weiterer Künstler und Künstlerinnen, die in ähnlicher Weise das Musikleben prägten. Die Repertoirebildung muß überdies vor dem Hintergrund gattungsspezifischer Entwicklungen betrachtet werden, wobei die kulturelle Funktionalisierung der jeweiligen Gattung wiederum in Wechselwirkung mit spezifischen Konstanten und Topoi steht, die bei der Prägung der zeitgenössischen Rezeption einzelner Komponisten wirksam sind. Die in den folgenden Abschnitten vorgenommene eingehendere Betrachtung der von Stockhausen aufgeführten Schubert-Lieder kann insofern nur einen ersten Impuls hinsichtlich einer umfassenderen Erforschung seines Repertoires setzen. Vor allem bietet sich hier die Gelegenheit, die im vorhergehenden Kapitel beschriebenen Konstanten der Schubert-Rezeption in die Diskussion einbinden. Die anfangs benannte Aufstellung Julia Wirths gerät bereits an ihre Grenzen, wenn es darum gehen soll, die Präsenz einzelner Lieder innerhalb der über 40jährigen Konzerttätigkeit Stockhausens (und damit innerhalb der multifaktoriell bedingten Musikkultur des 19. Jahrhunderts) nachzuweisen und zu kontextualisieren. Es ist im vorliegenden Zusammenhang etwa von besonderer Bedeutung, wo und wie häufig ein Lied erklang, wobei Studium und verschiedene Aufführungskontexte differenziert werden müssen. Zu diesem Zweck wurden die in Stockhausens Teilnachlaß in Frankfurt a. M. befindlichen Programmzettel und Rezensionen nochmals einer Auswertung hinsichtlich des Schubert-Repertoires unterzogen. In ihnen findet sich letztlich mit einem Umfang von 332 gedruckten Programmen und schriftlichen Programmnotizen zwar nur ein kleinerer Teil der Konzerttätigkeit Stockhausens abgebildet, allerdings sind Auftritte auf nahezu sämtlichen im späteren 19. Jahrhundert bedeutenden Konzertpodien des deutschsprachigen Raumes (und z. T. darüber hinaus) darunter zu verzeichnen. Wie Beatrix Borchard bereits in Bezug auf die Konzertgesangspraxis des 19. Jahrhunderts festgehalten hat, ist auf grundsätzlicher Ebene zu bedenken, daß nur ein Teil der Auftritte erfaßt werden kann, da viele Aufführungen auch in vergleichsweise ›privatem‹ Rahmen stattfanden. Bei einer Betrachtung des Kanonisierungsprozesses und der sich damit verbindenden Ausstrahlung Stockhausens als Interpret müssen allerdings vornehmlich die öffentlichen Aufführungen ausgewertet und kontextualisiert werden.72 Um einige zusätzliche Informationen zu erhalten, wurden zudem einzelne sich im Archiv der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien befindliche Programme von Konzerten Stockhausens sowie die betreffenden Programmzettel der weitgehend erschlossenen bzw. bereits dokumentierten Konzerttätigkeit Clara Schumanns73 72 73

Vgl. Borchard, Stimme und Geige, S. 419. Die Auswertungen basieren auf der Datenbankerfassung der im Schumann-Haus Zwickau vorliegenden Sammlung von Programmzetteln Clara Schumanns durch Reinhard Kopiez (Hannover) und Andreas C. Lehmann (Würzburg). Diese Sammlung war auch Grundlage einer historiometrischen Analyse zur Bedeutung Clara Schumanns für die Kanonisierung des Klavierrepertoires im 19. Jahrhundert. (vgl. Reinhard Kopiez/Andreas C. Lehmann/Janina Klassen, Clara Schumann’s Collection of Playbills: A Historiometric Analysis of Life-Span Development, Mobility, and Repertoire Canonization, in: Poetics 37 (2009), S. 50‒73.

7.3 Stockhausens Schubert-Repertoire

257

und Johannes Brahms’74 (mit denen Stockhausen bevorzugt gemeinsam konzertierte) herangezogen. Detaillierte Angaben in Tabellenform finden sich im Anhang, hier sei einstweilen eine kurze Zusammenfassung zum nachweisbaren Repertoire durch Stockhausen öffentlich aufgeführter Schubert-Lieder einschließlich der entsprechenden Aufführungsfrequenzen eingefügt: Titel

Anzahl nachgewiesener Aufführungen

1.

Die schöne Müllerin D 795

23 (Auswahl) 17 (Zyklus) = 40

2.

Erlkönig D 328

16

3.

Greisengesang D 778

14

4.

An die Leier D 737

13

Winterreise D 911

10 (Auswahl) 2 (Zyklus) =12

5.

Nachtstück D 672

12

6.

Aufenthalt D 957 Geheimes D 719

10

7.

Der Wanderer D 493 Waldes-Nacht D 708

9

8.

Frühlingsglaube D 686

8

9.

Willkommen und Abschied D 767

7

10.

Der Zwerg D 771

5

11. Der Musensohn D 764 Der zürnenden Diana D 707 Kriegers Ahnung D 957

4

12.

3

Liebesbotschaft D 957 Litanei D 343 Schäfers Klagelied D 121 Die Taubenpost D 957

74

Abgedruckt in: Renate und Kurt Hofmann (Hg.), Johannes Brahms als Pianist und Dirigent. Chronologie seines Wirkens als Interpret, Tutzing 2006.

258

7 ›Schubert-Sänger‹: Julius Stockhausen

13.

Meeres Stille D 216 Memnon D 541 Rastlose Liebe D 138 Ständchen D 957 oder D 889

14. Abschied D 957 An Schwager Kronos D 369 Auf der Bruck D 853 Auf dem See D 543 Das Fischermädchen D 957 Der Kreuzzug D 932 Der Sänger D 149 Der Schiffer D 536 oder D 694 Der Tod Oscars D 375 Der Tod und das Mädchen D 531 Dithyrambe D 801 Lachen und Weinen D 777 Widerschein D 949

2

1

Wie bereits nach einer kursorischen Durchsicht dieser Quellen deutlich wird, griff Stockhausen für seine Konzertauftritte am häufigsten eindeutig zu den Liedern des Zyklus’ Die schöne Müllerin D 795, wobei zumeist sowohl einzelne Lieder ausgewählt (etwa Ungeduld oder Wohin?) als auch kleinere Gruppen ab zwei Liedern zusammengestellt (etwa Die liebe Farbe und Die böse Farbe) wurden. Aber auch die verhältnismäßig hohe Zahl der nachweisbaren zyklischen Aufführungen (17) ist bemerkenswert. Die Winterreise fällt demgegenüber – mit Blick auf Aufführungen einzelner Lieder oder spezifisch zusammengestellter Gruppen wie auch hinsichtlich zyklischer Gesamtdarbietungen – deutlich zurück: Weniger als halb so viele Aufführungen, davon nur zwei zyklische, lassen sich auf Grundlage der eingesehenen Quellen belegen. Öfter führte Stockhausen hingegen Erlkönig D 328 (16 Auff.), die Rückert-Vertonung Greisengesang D 778 (14 Auff.) und Bruchmanns An die Leier D 737 (13 Auff.) auf. Auf Platz fünf und sechs finden sich Nachtstück D 672 (Mayrhofer) sowie Aufenthalt aus dem von Verleger Tobias Haslinger posthum als Zyklus veröffentlichten Schwanengesang D 957 gemeinsam mit Goethes Geheimes D 719, gefolgt von Der Wanderer D 493 und – durchaus überraschend – der ausladenden Schlegel-Vertonung Waldes-Nacht (bzw. Im Walde) D 708. Die hier in jedem Fall deutlich erkennbare Präponderanz des Müllerin-Zyklus’ in Stockhausens Konzertpraxis erfordert eine eigene, eingehendere Betrachtung, die im nächsten Kapitel erfolgen wird. Grundsätzlich ist bezüglich der Repertoirekanonisierung indes zu konstatieren, daß Stockhausen, wenngleich er etwa mit der Präferenz der Müllerin gegenüber der Winterreise auch in gewisser Weise zur Befestigung des beschriebenen im 19. Jahrhundert prominenten Schubert-Bildes beitrug, mit den für die häufige Aufführung ausgewählten Einzelliedern eindeutig ei-

7.3 Stockhausens Schubert-Repertoire

259

gene Akzente zu setzte, die dieses Bild gerade nicht bedienten. Weder die die Schubert-Rezeption seit den 1840er Jahren prägenden Ständchen-Kompositionen »Leise flehen meine Lieder« D 957 bzw. »Horch, horch, die Lerch’ im Ätherblau« D 889 noch das meist als Ave Maria oder Hymne an die Jungfrau präsentierte Scott-Lied Ellens dritter Gesang D 839 oder die ebenfalls öfter nachgedruckte und vielfach bearbeitete Schlegel-Vertonung Lob der Tränen D 71175 spielen in Stockhausens Repertoire eine größere bzw. überhaupt eine Rolle. Stattdessen akzentuiert seine Auswahl eher gewichtig-ernste Kompositionen wie Greisengesang D 778 nach einem Ghasel Friedrich Rückerts, das Brahms in den 1860er Jahren gemeinsam mit Memnon D 541 nach Mayrhofer, An Schwager Kronos D 369 und Geheimes D 719 auf Texte von Goethe für die Auftritte des Sängers orchestrierte.76 Auffällig ist weiterhin Stockhausens Bevorzugung eher großdimensionierter Gesänge, die entweder einen sich hymnisch aufschwingenden lyrischen Tonfall zelebrieren wie An die Leier D 737 und Nachtstück D 672 oder dramatisierende Zuspitzungen enthalten wie das markant-deklamatorische Aufenthalt D 957 (Rellstab) und vor allem die, nach ihrer Erstveröffentlichung 1832 in den 1840er, -50er und -60er Jahren offenbar nicht nachgedruckte77, umfangreich angelegte Vertonung des Schlegel-Gedichtes Waldes-Nacht D 708, die gerade in ihrer mit figurierten Klangflächen operierenden Expansivität und ihrem gleichsam rhapsodisch-experimentellen Charakter in keinem Fall dem zeitgenössischen Schubert-Bild des »Liederfürsten« entsprochen haben dürfte. Vielmehr läßt sich diese Komposition im Kontext der Festschreibung eines anderen, damit allerdings indirekt verbundenen, Klischees verorten: Bezüglich großformatiger Kompositionen erhob der kritische Musikdiskurs des mittleren und späteren 19. Jahrhunderts gegenüber Schubert immer wieder den Vorwurf einer strukturell unmotivierten Langatmigkeit. Die rezeptionsgeschichtliche Prominenz dieses Vorwurfs wird zumeist auf Robert Schumanns Charakterisierung der (durch seine persönliche Vermittlung unter Leitung von Felix Mendelssohn) 1839 uraufgeführten ›Großen‹ C-Dur-Sinfonie D 944 im Leiziger Gewandhaus zurückgeführt. Schumanns durchaus positiv konnotierte poetisierende Beschreibung von der »himmlischen Länge«78 der Schubertschen Sinfonie wurde im Laufe des 19. Jahrhunderts 75 76

77 78

Vgl. Raab, Schubert-Bearbeitungen im 19. Jahrhundert. Peter Jost, Brahms’ Bearbeitungen von Schubert-Liedern, in: Neues musikwissenschaftliches Jahrbuch 7 (1998), S. 185‒196. Die von Jost angeführte (auf den Angaben Julia Wirths basierende) Liste der in Stockhausens Repertoire zwischen 1851 und 1862 nachweisbaren SchubertLieder (vgl. ebd., S. 186) wären nach den hier vorliegenden Ergebnissen mithin um die Lieder Der Wanderer, Aufenthalt und Waldes-Nacht zu ergänzen. Vgl. unten S. 406ff. In Stockhausens Nachlaß findet sich eine bei Diabelli erschienene Einzelausgabe des Stücks. Schumanns anläßlich der Drucklegung der C-Dur-Sinfonie 1840 in der NZfM veröffentlichte Formulierung lautet: »Hier ist, außer meisterlicher musikalischer Technik der Composition, noch Leben in allen Farben, Colorit in die feinste Abstufung, Bedeutung überall, schärfster Ausdruck des Einzelnen, und über das Ganze eine Romantik ausgegossen, wie man sie schon anderswoher an Franz Schubert kennt. Und diese himmlische Länge der Symphonie, wie ein dicker Roman in vier Bänden etwa von Jean Paul, der sich niemals endigen kann und aus den besten Gründen zwar, um auch den Leser hinterher nachschaffen zu lassen«, zitiert nach: Schumann, Gesammelte Schriften, Bd. 3, S. 200f.

260

7 ›Schubert-Sänger‹: Julius Stockhausen

zu einem negativen Topos umgedeutet, der wohl am deutlichsten in der oft verwendeten prosaischen Formulierung von den »himmlischen Längen« greifbar wird.79 Stockhausen, der im Rahmen seiner Tätigkeit als Konzertdirektor der Philharmonischen Gesellschaft Hamburg im Jahr 1863 eine Aufführung der C-Dur-Sinfonie leitete, sah sich im Rahmen seiner Antrittsrede für dieses Amt offenbar veranlaßt, dem Philharmonischen Orchester gegenüber zu betonen: Möge Schuberts Geist über uns schweben, und lassen Sie uns von den göttlichen Längen, wie Schumann sagt, keine Note streichen. Durch schönen, feinen Vortrag sollen sie dem Publikum klar und lieb werden.80

Auch Stockhausens Äußerung spiegelt insofern wider, daß die pejorative Umwertung von Schumanns Diktum die zeitgenössische Schubert-Rezeption in hohem Maße bestimmte, und er gar persönlich einen Auftrag darin erblickte, Schubert durch gezielte Aufführung seiner Werke als Komponisten mehr Gewicht im öffentlichen Konzertleben und damit Eingang in den ›großen‹, gattungsübergreifenden Kanon artifizieller Musik zu verschaffen; nicht zuletzt wird dies auch an seinem Einsatz für die Waldes-Nacht-Komposition deutlich. Ungleich effektiver als in seiner Hamburger Position konnte Stockhausen diese Prämisse indes als international konzertierender Liedsänger verwirklichen, wovon seine Repertoirepolitik in diesem Bereich letztlich auf beredte Weise Zeugnis ablegt. Zwar zielte die häufige Aufführung des Erlkönig und (weniger häufig) des Wanderers mit einiger Sicherheit auf die bereits zu Schuberts Lebzeiten einsetzende und danach, wie an zahlreichen Nachdrucken ablesbar, sich zusehends steigernde Popularität und Publikumswirksamkeit dieser Kompositionen ab. Allerdings entsprachen eben diese beiden Lieder auch ungleich besser dem von Stockhausen verfolgten interpretationspolitischen Konzept als andere zu Beginn seiner Konzerttätigkeit gleichfalls prominente Kompositionen, die nach zeitgenössischem Empfinden durch die Eigenschaft ›schwärmerischer‹ Melodik charakterisiert waren, und deren Aufführung so eher das Bild des biedermeierlichen »Liederfürsten« befestigt hätte. In diese Kategorie ließe sich aus Stockhausens häufiger gesungenem Repertoire allenfalls Frühlingsglaube D 686 (»Die linden Lüfte sind erwacht«) einordnen, das freilich hinsichtlich seines Popularitätsgrades bei weitem nicht mit etwa dem von Stockhausen (womöglich bewußt) eher selten zur Aufführung gebrachten Ständchen nach Rellstab oder dem sogar gemiedenen Ellens dritter Gesang bzw. Ave Maria konkurrieren konnte. Auch bei seinen Aufführungen des häufiger gesungenen (und offenbar bereits zur Jahrhundertmitte beliebten) Goethe-Liedes Geheimes81 steuerte Stockhausen einer Rezeption als ›biedermeierlich‹ anmutender Miniatur entgegen, indem er gerade diese Komposition bezeichnenderweise bevorzugt in der Orchesterfassung von 79 80

81

Vgl. Kube, Von »himmlischer Länge« zu »himmlischen Längen«, S. 41f. Zitiert nach: Wirth, Julius Stockhausen, S. 240. Die C-Dur-Sinfonie wurde Mitte des 19. Jahrhunderts (entgegen der früheren Praxis Mendelssohns) offenbar in der Regel mit Strichen aufgeführt. Vgl. Hinrichsen, Der geniale Naive und der nachträglich Progressive, S. 32. In Verlagsanzeigen und Konzertprogrammen oftmals auch fehlerhaft als Geheimnis oder Geheimniss aufgeführt.

7.3 Stockhausens Schubert-Repertoire

261

Brahms in der Öffentlichkeit präsentierte. Gerade wenn man bedenkt, daß Schuberts Lieder einem wirklich großen Publikum in den 1850er und 1860er Jahren offenbar immer noch vor allem in Gestalt virtuoser Klaviertranskriptionen etwa Liszts oder durch von Militärkapellen gespielte Arrangements bekannt waren82, erhalten Stockhausens, sich hier durch gezielte Repertoireentscheidungen deutlich abzeichnende, Bemühungen um eine ›seriöse‹, werkorientierte Kunstliedkultur und den damit verbundenen Prozeß einer zumindest gattungsspezifischen Kanonisierung ein besonderes Gewicht. Der für diesen Prozeß bedeutsame Zusammenhang einer behaupteten zeitlosen ästhetischen Qualität bestimmter Kompositionen und deren Präsenz im Lauf der Rezeptionsgeschichte ihres Schöpfers83 erfuhr insofern durch Stockhausens kulturelles Handeln als Interpret der Lieder Schuberts in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entscheidende Modifikationen: Vor allem im Vergleich mit dem Schaffen Beethovens und vor dem beschriebenen Hintergrund seiner Stilisierung als ›Naturgenie‹ genügten Schuberts Werke, und hier besonders die Lieder, den autonomieästhetischen Maßstäben der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eher nicht. Darauf deutet nicht zuletzt das späte Erscheinen (1884) der unter Beteiligung von Brahms besorgten Schubert-Gesamtausgabe im Verlag Breitkopf & Härtel hin. Stockhausen trat dieser Tendenz indes durch seine Repertoirewahl und seine Programmdramaturgie vor allem in den 1850er und -60er Jahren mit einer deutlich veränderten Akzentsetzung entgegen, die wiederum von der sich an Stockhausen orientierenden jüngeren Künstlergeneration aufgegriffen werden sollte. So finden sich etwa im von Beatrix Borchard rekonstruierten Liedrepertoire der österreichischen Mezzosopranistin Amalie Joachim84, einer der führenden Liedinterpretinnen nach Stockhausen, gerade unter den vielgesungenen Kompositionen etliche, die auch bereits Stockhausens Schubert-Repertoire angeführt hatten85, und auch bei einer Sichtung der seit 82 83 84

85

Vgl. Ahrens, Liszts Transkriptionen. Vgl. Klassen, »Beethoven und etwas von Schumann«, S. 63. Amalie Joachim (geb. Schneeweis) (1839‒1899) gehörte zu denjenigen Künstlerinnen, die von Stockhausens Pioniertaten im Kunstliedbereich bereits profitieren konnten. Zwar war sie nur sechs Jahre jünger als er, gehörte also keiner anderen Generation an, doch hatte sie bereits früh eine Bühnenlaufbahn begonnen: Von Ende 1854 bis Frühjahr 1862 war sie unter dem Namen Amalie Weiß an der Wiener Hofoper am Kärntnertor engagiert, danach bis zu ihrer Eheschließung mit dem Violinisten Joseph Joachim zählte sie zum Ensemble der Königlichen Oper Hannover. Erst nach ihrem mit der Heirat verbundenen Rückzug von der Opernbühne begann sie sich als ›Amalie Joachim‹ dem Konzertgesang zu widmen (umfassend dazu: Borchard, Stimme und Geige). Stockhausen hatte sie bereits während ihrer Wiener Zeit mehrfach als Liedersänger erleben können, der erste Beleg von Seiten Stockhausens über die Bekanntschaft der beiden stammt aber erst aus dem Jahr 1863, als der Bariton in Hannover eine Aufführung von Schumanns Faust-Szenen vorbereitete. Vgl. Wirth, Julius Stockhausen, S. 239. Vgl. die von Beatrix Borchard rekonstruierte Repertoireliste Amalie Joachims in: dies., Stimme und Geige, Anhang (CD-Rom). Sie sang abgesehen von häufigen Teil- und Gesamtaufführungen der Schönen Müllerin und einigen der Winterreise am häufigsten Geheimes (15 Auff.), An die Leier (12 Auff.), Memnon (10 Auff.), Wehmut [Collin] (9 Auff.), Erlkönig (7 Auff.). Für die 1870er Jahre finden sich auch drei belegbare Aufführungen der von Stockhausen häufiger gesungenen Schlegel-Vertonung Waldes-Nacht.

262

7 ›Schubert-Sänger‹: Julius Stockhausen

1880 veranstalteten Vortragsabende und Prüfungskonzerten der privaten Gesangsschule Stockhausens in Frankfurt a. M. wird deutlich, daß dessen im Rahmen der eigenen Konzerttätigkeit favorisierten Vortragsstücke immer wieder auch Schülern zugewiesen wurden.86 Trotz derartiger die Repertoirebildung beeinflussenden Akzentsetzungen war Stockhausen in Rahmen seiner praktischen Konzerttätigkeit stets damit konfrontiert, Strategien zu entwickeln, zwischen eigenem Sendungsbewußtsein und Publikumserwartungen zu balancieren. Dieser Balanceakt läßt sich besonders am Umgang des Sängers mit dem Phänomen des ›Liederzyklus‹ im Sinne eines aufführungsästhetischen Konzepts verdeutlichen. Damit ist letztlich eine entscheidende, von Stockhausen offenbar allererst in die öffentliche Musikkultur eingeführte, künstlerische Praxis angesprochen, die im weiteren Verlauf des 19. Jahrhunderts und darüber hinaus eine besonders große Ausstrahlungskraft entfaltete. 7.4 STOCKHAUSENS SCHUBERT-ZYKLEN 7.4.1 Die schöne Müllerin Die ›Müllerlieder‹, wie man Schuberts Opus 25 im 19. Jahrhundert unter Bezugnahme auf den Protagonisten des novellistisch geformten Gedichtzyklus’ meist bezeichnete, begleiteten Julius Stockhausen in Konzerten über rund 40 Jahre. Ihre Aufführung erfolgte in verschiedensten musikkulturellen Kontexten: in kleinen und größeren Konzertsälen, bei halböffentlichen Soiréen, Hofkonzerten und natürlich im privaten Rahmen. Bereits für das Jahr 1849 (nach Stockhausens erstem Aufenthalt in London, wo er 1851 den Grundstein für sein Schubert-Repertoire legen sollte) läßt sich eine Aufführung des Liedes Ungeduld auf einem Programmzettel Allgemeinen Musikgesellschaft Zürich nachweisen.87 Gemäß den im vorangehenden Kapitel behandelten Konventionen der zur Jahrhundertmitte etablierten Konzertpraxis wählte der Sänger zunächst einzelne oder mehrere Lieder zur öffentlichen Präsentation aus. So sang er bereits ausgewählte Lieder des Zyklus’ im Rahmen seines ersten Wien-Aufenthalts im Frühjahr 185488 und im darauffolgenden Jahr in einem gemeinsam Konzert mit der Pianistin Rosa Kastner in Basel.89 Bereits früh wagte der Sänger allerdings ein folgenschweres Experiment: Zum Abschluß seiner ersten großen Konzertreise durch den deutschsprachigen Raum 1856 gelangte er ein zweites Mal nach Wien: Drei Konzerte wurden angekündigt, das letzte mußte schließlich wegen stimmlicher Indisposition verschoben werden. 86

87 88 89

Etwa finden sich neben einzelnen Nummern aus Müllerin und Winterreise immer wieder die Lieder Greisengesang, Nachtstück, An die Leier, und Aufenthalt auf den erhaltenen Programmen der Schülerkonzerte. Eine umfassendere Untersuchung und Kontextualisierung dieser Materialien steht noch aus. P/FfM: Zürich, 4.12.1849. P/FfM: Wien, Frühjahr 1854. Vgl. außerdem Hanslick, Geschichte des Concertwesens, Bd. 2, S. 71. P/FfM: Basel, 9.12.1855.

7.4 Stockhausens Schubert-Zyklen

263

Ich war in Wien zuviel ausgewesen, hatte Hals über Kopf mit Besuchen zu tun und wußte mich nicht zu schonen. Dazu regierte auf dem berühmten Stephansplatz der Wind so, daß die Damen ohne Gefahr nicht darüber laufen konnten, und so trocknete der Hals sich dermaßen aus, daß ich in der Nacht vor meinem zweiten Konzert mit heftigem Halsweh wach wurde [...]. Das Konzert war morgens um halb eins, und so dachte ich beim Erwachen, ich würde keinen Ton singen können. Dazu kam noch der Umstand, daß ich die ganze Schöne Müllerin von Schubert, zwanzig Lieder, als Programm aufgestellt hatte und beinah allein das Konzert gab. Der Gedanke war dennoch ein glücklicher, denn der Saal war gesteckt voll, und die Einnahme kam netto auf neunhundert Francs.90

Stockhausens hier in einem rückblickenden Brief an den Vater eher beiläufig erwähnte (und von der späteren Musikgeschichtsschreibung dann als epochale Pioniertat gewertete) Entscheidung, den gesamten Zyklus der ›Müllerlieder‹ aufs Programm zu setzen, muß aus unterschiedlichen Perspektiven betrachtet werden. Es war für reisende Künstler natürlich auf einer grundsätzlichen Ebene schlichtweg erforderlich, fortwährend neue Programme anbieten zu können und dabei mit Blick auf zahlreiche zu absolvierende Konzerte gleichwohl ökonomisch zu denken. Besonders dadurch, daß Stockhausen aber bereits 1854 und auch in seinem ersten Konzert 1856 einzelne ›Müllerlieder‹ in Wien gesungen hatte, ist neben solch pragmatischen Erwägungen die dezidierte Aufführung des gesamten Zyklus’ auch als bewußtes Eingreifen in den eingeschliffenen Konzertbetrieb und damit als Konfrontation mit eingeübten Rezeptionshaltungen interpretierbar. Eduard Hanslick übermittelt als aufmerksamer Beobachter des Wiener Konzertlebens in jedem Fall den Eindruck, daß man Stockhausens ›Projekt Müllerin‹ zunächst mit einem gerüttelt Maß Verwunderung begegnete: Anstatt des gewöhnlichen Sammelsuriums von Stücken, deren eines nicht zum anderen gehört, lasen wir auf dem Anschlagzettel bloß: ›Die schöne Müllerin‹, ein Liedercyklus von Franz Schubert. Die Idee ist unseres Wissens eine neue; daß sie zugleich eine glückliche war, zeigte der wahrhaft überraschende Besuch des Concertes. [...] Indem Stockhausen es unternahm, den ganzen aus zwanzig Nummern bestehenden Cyklus des Müllerlieder vorzutragen, gewährte er fürs erste dem Publicum eine unschätzbare Anschauung des Zusammenhangs eines Werkes, das in einigen seiner Teile allbekannt, in anderen hingegen auffallend zurückgesetzt ist.91

Indem er den ästhetischen Wert eines die Bedeutung des Einzelliedes übertreffenden, zusammenhängenden Ganzen betont, legt Hanslick einerseits die durch Stockhausens Aufführung aufscheinende Tendenz einer Nobilitierung des Liederzyklus’ zum ›Opus‹ nahe. Der Kritiker nimmt aber auch durch Stockhausens neue Präsentationsstrategie auftretende Veränderungen auf der rezeptionsästhetischen Ebene wahr, denn mit der Knüpfung eines linearen erzählerischen Bandes im Moment der Aufführung verbindet sich in der Wahrnehmung der Zuhörenden auch der Effekt einer dramatischen Dynamisierung:

90 91

Wirth, Julius Stockhausen, S. 162. Hanslick, Geschichte des Concertwesens, Bd. 2, S. 100f.

264

7 ›Schubert-Sänger‹: Julius Stockhausen Sodann gewann der Sänger durch diesen Zusammenhang den wichtigen Vorteil, das bisher nur lyrisch vereinzelte dramatisch auffassen zu können. Er mußte sich nicht mehr streng als Konzertgeber, er durfte sich als den lebendigen Mittelpunkt des Ganzen fühlen, der all die verschiedenen Empfindungen ausströmend, sie wieder auf sich zurückbezieht.92

Die von Hanslick herausgestrichene, durch Stockhausens zyklische Aufführung der Schönen Müllerin erfahrbare tendentielle Dramatisierung der Liedfolge lud offenbar die Zuhörenden dazu ein, die Grenzen zwischen der realen Person des Singenden (des »Konzertgebers«) und der literarisch und musikalisch portraitierten Figur des Müllerburschen während der Vortragssituation gleichsam verschwimmen zu lassen. Obwohl Stockhausen sich also keiner bewußt theatralisierenden Gestaltungsweise (etwa im Sinne des ›deklamatorischen Gesangs‹ Vogls) bediente, schien die von Schubert aufgegriffene zyklische Anlage der Müllerschen Gedichte ihn doch geradezu herausgefordert zu haben, statt einer üblichen Präsentation einzelner Lieder einen narrativen Verlauf in den Mittelpunkt zu stellen: Der Vortrag hob frohmütig und unbefangen an, steigerte sich alsbald zu jener leichten, glücklichen Aufregung, welche das Anbrechen einer neuen Liebe verkündigt, vertiefte sich allmählig in die Leidenschaft, um nach kurzem frohen Aufjauchzen in Wehmut sanft auszuklingen. Lieder wie Stolz und Eifersucht, Mein Schatz hat’s Grün so gern u. a. gewannen nunmehr ungewohntes dramatisches Leben, wußte ja der Hörer wem Stolz und Eifersucht galt und warum den Müller das Grün so traurig macht. Ueberblicken wir den Liedvortrag Stockhausens im Ganzen, so müssen wir ihm vor allem das Lob, auch seinerseits ein Ganzes gebracht zu haben, rückhaltlos zollen.93

Die von Stockhausen offenbar favorisierte Präsentation des Liederzyklus’ im Sinne einer Art ›lyrischen Rollenspiels‹ auf dem Konzertpodium weist zunächst zur Genese des Gedichtzyklus’ zurück. Wilhelm Müllers Gedichte verdanken ihre Entstehung bekanntlich der innerhalb des Berliner Salonlebens florierenden Praxis des ›Liederspiels‹, die ursprünglich einen, auf Johann Friedrich Reichardt zurückgehenden, nationaltypischen Gegenentwurf zur italienischen Opernästhetik darstellen sollte.94 Im Haus des Staatsrates von August Stägemann fand sich in den Jahren 1815/16 ein illustrer literarisch-musikalischer Zirkel zusammen, dem neben Tochter und Sohn des Hauses – Hedwig und August von Stägemann – auch der Maler Wilhelm Hensel (der 1829 der Gemahl von Fanny Mendelssohn wurde), dessen Schwester Luise, der nachmalige Historiker Friedrich Förster, Ludwig Rellstab sowie schließlich Wilhelm Müller und Clemens Brentano angehörten. Man widmete sich, wie Rellstab berichtet, »unter der Bezeichnung Rose, die schöne Müllerin [...] eine[r] Art dramatischer, aber nur durch Verkettung von Liedern zu lösende[n] Aufgabe.«95 Etliche Gedichttexte mit Bezug auf den damals bereits als volkstümlich 92 93 94 95

Ebd., S. 101. Ebd., S. 102. Vgl. grundsätzlich: Susanne Johns, Das szenische Liederspiel von 1800 bis 1830. Ein Beitrag zur Berliner Theatergeschichte, 2 Bde., Frankfurt a. M. 1988. Vgl. die von Ludwig Rellstab verfaßte Biographie Ludwig Bergers, zitiert nach: Elmar Budde, »Die schöne Müllerin« in Berlin, in: Preußen – dein Spree-Athen, hg. von Hellmut Kühn, S. 164.

7.4 Stockhausens Schubert-Zyklen

265

geltenden ›Müllerin‹-Stoff96 wurden improvisiert und niedergeschrieben, vertont und mit verteilten Rollen in diesem Rahmen aufgeführt. Jennifer Ronyak beschreibt eingehend, wie die einzelnen Teilnehmer des Stägemannschen Liederspiels im Sinne eines »serious play« durch die gesungenen Lieder miteinander kommunizieren und dabei vor dem Hintergrund zeitgenössischer Geselligkeitsbegriffe die Ideale persönlicher Autonomie verwirklichen konnten.97 Auf subtile Weise fand dabei die für die zeitgenössische Salonkultur typische Verschränkung von Privatheit und Öffentlichkeit auch Eingang in die Gedichte selbst: Wenn Müllers Protagonist sich etwa in der zweiten Strophe von Des Müllers Blumen direkt an die zuvor benannten und nunmehr unversehens personifizierten Blumen wendet, mit deren Hilfe er die Aufmerksamkeit der Müllerstochter erlangen will, bleibt vor allem in der letzten Zeile mit dem Ausruf »Ihr wißt ja was ich meine«, in der Schwebe, ob der Müllerbursche hier neben den als Liebesboten poetisierten Blumen nicht auch den intimen Kreis von Zuhörenden anspricht, der sich (wie er weiß) in seine emotionale Lage einzufühlen vermag: Dicht unter ihrem Fensterlein Da will ich pflanzen die Blumen ein, Da ruft ihr zu, wenn alles schweigt Wenn sich ihr Haupt zum Schlummer neigt. Ihr wißt ja, was ich meine.98

Die gesellschaftlichen Ideale, die sich hinter der kulturellen Praxis des Liederspiels identifizieren lassen, gerieten allerdings für Wilhelm Müller persönlich in Konflikt mit den Ansprüchen literarischer Professionalität. Durch ihre ästhetische Formung zum Gedicht werden die ›privat‹ gedachten Gefühle einer lyrischen persona (einschließlich ihrer biographischen Anteile) grundsätzlich zu einer an ein Publikum gerichteten expressiven Äußerung und damit gewissermaßen erst literarische Realität. 99 Spätestens mit der 1818 vorgenommenen Veröffentlichung der Gesänge aus einem gesellschaftlichen Liederspiele (Die schöne Müllerin), in das fünf der frühesten Gedichte Müllers in Vertonungen des Klaviervirtuosen und Komponisten Ludwig Berger einflossen, wurde der intime Rahmen des performativ grundierten 96 97

98 99

Hierzu vgl. etwa Harald Goertz, Der Mühle Lied. Mythen um Mühle und Müllerin, in: Schubert und das Biedermeier, S. 73‒81. Vgl. zum Folgenden: Jennifer Ronyak, »Serious Play«, Performance and the Lied. The Stägemann Schöne Müllerin Revisited, in: 19th CM 34/2 (2010), S. 141‒167. Ronyak analysiert dazu den Hintergrund des Schleiermacherschen Geselligkeitsentwurfes im Kontext der Berliner Salonkultur des Biedermeier. Müller zitiert ebd. S. 157. Gerade in der Biedermeierzeit läßt sich die gesellschaftliche Funktion von Lyrik nicht auf die politische oder sogenannte Tendenzlyrik beschränken. Diese bildet nach dem zeitgenössischen Lyrikverständnis ohnehin eine Abweichung von der zentralen Prämisse ›einsamer‹ Gefühlsaussprache. Auch die in diesem Abschnitt beschriebenen poetischen Strategien Müllers stehen vielmehr im Kontext bewußter Ausformung eines lyrischen Kunstwerks in Bezug auf seine Funktion innerhalb der kulturellen Praxis. Vgl. Friedrich Sengle, Biedermeierzeit, Bd. 2, S. 527ff.

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7 ›Schubert-Sänger‹: Julius Stockhausen

Liederspiels auf die Anonymität des großen Musik- und stumm lesenden Literaturpublikums projiziert. 1821 schließlich veröffentlichte Müller die auf das Liederspiel zurückgehenden Texte (um einige Nummern erweitert) in seiner Gedichtsammlung Sieben-und-siebzig Gedichte aus den hinterlassenen Papieren eines reisenden Waldhornisten, die 1823 auch Schubert als Vorlage zur Vertonung dienen sollten.100 In dieser literarisierten Version des Müllerin-Liederspiels scheint der Impuls seiner Entstehung gleichsam eingearbeitet, indem die Handlung bewußt als Fiktion innerhalb eines kulturellen Kontextes inszeniert wird: Die Gedichttexte erscheinen durch einen Prolog und einen Epilog umrahmt, denen nunmehr die Funktion einer Einführung und Rückversammlung eines direkt angesprochenen Publikums zufällt. Nach Art eines geschäftstüchtigen Theaterdirektors rückt Müllers »Dichter« im Prolog zunächst den Unterhaltungswert des folgenden, als »funkelnagelneues Spiel« bezeichneten Monodrams um den jungen Müllerburschen in den Mittelpunkt. Der pragmatische Impuls ist hier vor allem die Zerstreuung winterlicher Gegenwart – ausdrücklich betont der Untertitel: »Im Winter zu lesen«. Dadurch wird indes auch der imaginäre Charakter der gesamten Handlung als eine Art Frühlingstraum gedeutet. Dazu präsentiert Müller eine Auswahl biedermeierlicher und romantischer Motive, die den idealisierenden aber auch den theatralisierenden Charakter der Dichtung unterstreichen, indem sie gleichzeitig als Requisiten dekuvriert werden: Der eine frühlingshafte Wiesenlandschaft symbolisierende, mit Blumen bestickte grüne Samt oder der modisch-melancholische Mond als Betrachter der Szene, hoher Wald als Hintergrund, Jagdhorn, Bächlein und Mühle werden als bewegliche Teile einer modifizierbaren Kulisse eingeführt, vor der sich die nun folgende Handlung scheinbar nach Art einer Reihung biedermeierlicher Genrebilder abrollen werde. Was dann allerdings folgt, konterkariert diesen idyllischen Rahmen beträchtlich: Untreue, Eifersucht, Einsamkeit und schließlich Suizid lösen das zunächst vorgespiegelte Bild in keiner Weise ein. Der Epilog betont schließlich nochmals in einer absichtsvollen Überheblichkeit die Allmacht des »Dichters« selbst, der zunächst die durch den Tod des Müllerburschen erfolgende romantische Auflösung der Liebesthematik im Gesang des Baches als »hohlen Wasserorgelschwall« verhöhnt und sich nach dem erfolgten, unerwartet tragischen Ende der Handlung darauf beschränkt, »Sonn’« und »Sternlein« wieder »auszublasen«. Dem Publikum wird mithin die Option eines lieto fine gleichsam selbst an die Hand gegeben, indem die scheinbar in keiner Weise als Tragödie aufgefaßte Geschichte um den Müllerburschen lediglich als moralisierender Wink für den nunmehr anzutretenden Heimweg ausgegeben wird.101 100 Zu weiteren zyklischen Vertonungen von Gedichten aus der Schönen Müllerin vgl.: Susan Youens, Schubert, Müller and »Die Schöne Müllerin«, Cambridge 1997, S. 101‒158. Youens diskutiert hier neben den Kompositionen Bergers Otto Claudius’ Neun Lieder von Wilhelm Müller (1833) und Carl Friedrich Zöllners Des Müllers Lust und Leid. 6 Gesänge aus dem Liedercyclus »Die schöne Müllerin« von Wilhelm Müller für vier Männerstimmen op. 6 (1844). 101 Vgl. auch Susan Youens, Schubert, Müller and »Die schöne Müllerin«, S. 169.

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Der Dichter, als Prolog102 Ich lad’ euch, schöne Damen, kluge Herrn, Und die ihr hört was Gutes gern, Zu einem funkelnagelneuen Spiel Im allerfunkelnagelneusten Styl; Schlicht ausgedrechselt, kunstlos zugestutzt, Mit edeler deutscher Rohheit aufgeputzt, Keck wie ein Bursch im Stadtsoldatenstrauß, Dazu wohl auch ein wenig fromm für’s Haus: Das mag genug mir zur Empfehlung sein, Wem die behagt, der trete nur herein. Erhoffe, weil es grad’ ist Winterzeit; Thut euch ein Stündlein hier im Grün nicht Leid; Denn wißt es nur, daß heut’ in meinem Lied Der Lenz mit allen seinen Blumen blüht. Im Freien geht die freie Handlung vor, In reiner Luft, weit aus der Städte Thor, Durch Wald und Feld, in Gründen, auf den Höh’n; Und was nur in vier Wänden darf geschehn, Das schaut ihr halb durchs offene Fenster an, So ist der Kunst und euch genug gethan. Doch wenn ihr nach des Spiels Personen fragt, So kann ich euch, den Musen sei’s geklagt, Nur eine präsentieren recht und ächt, Das ist ein junger blonder Müllersknecht. Denn, ob der Bach zuletzt ein Wort auch spricht, So wird ein Bach deshalb Person noch nicht. Drum nehmt nur heut das Monodram vorlieb: Wer mehr giebt, als er hat, der heißt ein Dieb. Auch ist dafür die Szene reich geziert, Mit grünem Sammet unten tapeziert, Der ist mit tausend Blumen bunt gestickt, Und Weg und Steg darüber ausgedrückt. Die Sonne strahlt von oben hell herein Und bricht in Thau und Thränen ihren Schein, Und auch der Mond Blickt aus der Wolken Flor Schwermüthig, wie’s die Mode will, hervor. Den Hintergrund umkränzt ein hoher Wald, Der Hund schlägt an, das muntre Jagdhorn schallt; Hier stürzt vom schroffen Fels der junge Quell Und fließt im Thal als Bächlein silberhell; Das Mühlrad braust, die Werke klappern drein, Man hört die Vöglein kaum im nahen Hain. Drum denkt, wenn euch zu rauh manch Liedchen klingt, Daß das Lokal es also mit sich bringt.

102 Müllers von Schubert unvertonte Gedichttexte werden hier zitiert nach der von Walther Dürr als vermutliche Textvorlage angegebenen Ausgabe der Sieben und siebzig Gedichte aus den hinterlassenen Papieren eines reisenden Waldhornisten. Herausgegeben von Wilhelm Müller, Dessau 1821, S. 1‒50, abgedruckt in: NGA, Bd. 2b, S. 298ff.

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7 ›Schubert-Sänger‹: Julius Stockhausen Doch, was das Schönste in der Mühle ist, Das wird euch sagen mein Monodramist; Verieth’ ich’s euch, verdürb’ ich ihm das Spiel: Gehabt euch wohl und amüsiert euch viel! Der Dichter, als Epilog Weil gern man schließt mit einer runden Zahl, Tret’ ich noch einmal in den vollen Saal, Als letztes, fünf und zwanzigstes Gedicht, Als Epilog, der gern das Klügste spricht. Doch pfuschte mir der Bach ins Handwerk schon Mit seiner Leichenred’ im nassem Ton. Aus solchem hohlen Wasserorgelschwall Zieht jeder selbst sich besser die Moral; Ich geb’ es auf, und lasse meinen Zwist, Weil Widerspruch nicht meines Amtes ist. So hab’ ich denn nichts lieber hier zu thun, Als euch zum Schluß zu wünschen, wohl zu ruhn, Wir blasen unsre Sonn’ und Sternlein aus – Nun findet euch im Dunkel gut nach Haus, Und wollt ihr träumen einen leichten Traum, So denkt an Mühlenrad und Wasserschaum, Wenn ihr die Augen schließt zur langen Nacht, Bis es den Kopf zum Drehen euch gebracht. Und wer ein Mädchen führt an seiner Hand, Der bitte scheidend um ein Liebespfand, Und giebt sie heute, was sie oft versagt, So sei des treuen Müllers treu gedacht Bei jedem Händedruck, bei jedem Kuß, Bei jedem heißen Herzensüberfluß: Geb’ ihm die Liebe für sein kurzes Leid In eurem Busen lange Seligkeit!

Auch wenn Schubert die hier von Müller somit bereits ironisierend reflektierte Liederspielpraxis grundsätzlich durchaus geläufig gewesen sein mag103, ist sie in seiner Vertonung des Müllerin-Stoffes kaum noch gegenwärtig. Der Komponist entschied sich vielmehr dafür, die auf die kulturelle Rahmung der Aufführungssituation abhebenden Rahmenteile gerade nicht zu vertonen, wodurch die bei Müller bewußt in ironischer Distanz formulierte Inszenierung der durch das Erleben des Müllerbuschen vermittelten novellistischen Handlung ausgeblendet wird. Mit dem Beginn des Schubertschen Zyklus’ wird vielmehr das scheinbar unmittelbare Eintauchen in eine poetische Welt suggeriert, die auf struktureller Ebene nun viel stärker durch die Musik als gleichermaßen illustrierende wie kommentierende Instanz bestimmt ist als dies im Rahmen des Berliner Liederspiels der Fall war. Damit in Zusammenhang steht, daß Schubert genau die drei Gedichte unvertont läßt, in denen Müller besonders weit darin geht, die im Prolog ironisierte biedermeierliche Harmlosigkeit 103 Vgl. Solvik, Lieder im geselligen Spiel.

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der Bilder zu konterkarieren und die seelischen Abgründe des Müllerburschen sowie die hinter der leichtfertig als »Spiel« ausgewiesenen Handlung sich entfaltenden Konsequenzen unverblümt offenlegt.104 Besonders das zwischen Die böse Farbe und Trockene Blumen positionierte Gedicht Blümlein Vergißmein! repräsentiert gewissermaßen den emotionalen Tiefpunkt der Handlung. Mit der Imagination einer den Tod symbolisierenden schwarzen ›Un-Blume‹, die die der bürgerlichen Innerlichkeitkeitskultur entnommenen Blumenchiffren auf eine gleichermaßen tragische wie sarkastische Weise pervertiert, scheint Müller direkt auf die literarische Moderne des Fin de Siècle zu verweisen.105 Die hier gleichsam schonungslos angesprochene existentielle Gefährdung des Müllerburschen wurde von Schubert für eine direkte Vertonung indes offenbar als ungeeignet angesehen: Weißt du, in welchem Garten Blümlein Vergißmein steht? Das Blümlein muß ich suchen Wie auch die Straße geht. ’s ist nicht für Mädchenbusen so schön sieht es nicht aus: Schwarz, schwarz ist seine Farbe Es paßt in keinen Strauß. Hat keine grünen Blätter Hat keinen Blütenduft Es windet sich am Boden In nächtig dumpfer Luft Wächst auch an keinem Ufer Doch unten fließt ein Bach, Und willst das Blümlein pflücken, Dich zieht der Abgrund nach. Das ist der rechte Garten, Ein schwarzer, schwarzer Flor: Drauf magst du dich betten – Schleuß zu das Gartentor!

Zur durch Müller vorgenommenen Literarisierung des ehemaligen Liederspiels zählt auch bereits, daß dessen weitere Personen – Müllerstochter, Gärtnerknabe und Jäger – im Gedichtzyklus entweder gar nicht mehr oder nur noch indirekt in Erscheinung treten, da sie über die Wahrnehmung des Müllerburschen vermittelt werden. Schubert greift diese Tendenz zur Lyrisierung einerseits auf, indem er die Person des Müllerburschen auf musikalischer Ebene durch eine an das traditionelle Liedideal anknüpfende Einheit der Empfindung charakterisiert, die – durchaus in Einklang mit Müllers sich selbst als »schlicht ausgedrechselt« und »kunstlos zugestutzt« charakterisierender Dichtung – bei aller melodischen Substanz der einzelnen Lieder in erster Linie auf das ästhetische Konzept einer kunstvoll sublimierten 104 Zu einer eingehenden Kontextualisierung der unvertonten Gedichte vgl. Youens, Schubert, Müller and »Die schöne Müllerin«, S. 169‒201. 105 Vgl. ebd., S. 183.

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›Volkstümlichkeit‹ zurückgreift. Formal komplexer gestaltete Lieder werden immer wieder vom konservativen Modell des Strophenliedes abgelöst. Schubert entwirft so im Zusammenwirken von Dichtung und Musik eine Dramaturgie, die das im Liederspiel noch viel stärker anwesende Moment des Linearen bzw. Narrativen gerade konterkariert und immer wieder einer Aufhebung der Zeit im lyrischen Moment Raum eingesteht. Andererseits verleiht seine Vertonung der von Müller erzählten Handlung aber auch dynamischen, zuweilen dramatisierenden Schwung. Dies geschieht vor allem durch die musikalische Charakterisierung des immer wieder als Dialogpartner direkt angesprochenen Bachs, der durch Schuberts Musik gleichsam als zusätzliche ›Person‹ neben dem Müllerburschen tritt und entscheidend die Szene mitbestimmt – auch wenn er letztlich nur in der Phantasie des Protagonisten zum Leben erweckt wird. Damit entfernt sich Schubert deutlich vom Liederspiel106 und schafft gleichzeitig ein für das ›neue‹, musikalisch grundierte Gestaltungskonzept des Liederzyklus’ prägendes Charakteristikum. Hanslick lässt in seiner Rezension des Wiener Stockhausen-Auftritts von 1856 unerwähnt, daß auch dieses Konzert keineswegs durch den Sänger allein bestritten wurde. Die Wiener Zeitung vermerkt neben dem Erklingen einer Sonate von Domenico Scarlatti und einer Tarantelle von Stephen Heller: »Einige Gedichte dieses Cyklus [Die schöne Müllerin, M. G.] und überdies ein Gedicht von Saphir wurden von Frl. Bocklet vorgetragen«.107 Was für Hanslick vermutlich ob seiner Normalität nicht weiter von Interesse war, könnte Stockhausen womöglich einen Impuls für die Modifikation seiner weiteren Präsentation des Liederzyklus’ gegeben haben. Obgleich er die von Schubert als traditionelle liedästhetische Prämisse befolgte ›Einheit der Empfindung‹ auch hinsichtlich seines Vortrags der Müllerin sehr wohl mit einbezog108, erachtete der Bariton den Aspekt eines die Gedichte verflechtenden narrativen Bandes in Hinblick auf die öffentliche Aufführung der Lieder offenbar als bedeutsamer und zog daraus entsprechende Konsequenzen: Bei seinem dritten Wiener Konzert im Mai 1860 setzte Stockhausen abermals den gesamten Zyklus aufs Programm und ließ nun sämtliche von Schubert ausgeblendeten Teile wieder auf der Bildfläche erscheinen: Müllers Prolog und Epilog sowie die drei von Schubert nicht vertonten Gedichte wurden durch die prominente Burgschauspielerin Julie Rettich deklamiert.109 Müllers Gedichtsammlung, die wie gezeigt wurde, bereits eine literarisierte Version der ehemals impulsgebenden Liederspielpraxis darstellt, 106 In einer Rezension von Nägelis Liederkranz (1816) wird etwa betont, daß »der Reiz des Liederspiels »durch den Contrast der Individualitäten und Verschiedenheit der Organe u.a.m. wesentlich erhöht wird.«, vgl. Solvik, Lieder im geselligen Spiel, S. 37. 107 Wiener Zeitung 104 (6.5.1856), S. 414. 108 »Die stärksten wie die weichsten Töne lösten sich nicht aus dem organischen Bau des Liederkreises los, weil die Einheit der Empfindung sie erfüllte und band.« Hanslick, Geschichte des Concertwesens, Bd. 2, S. 102. 109 Julie Rettich war in erster Linie für ihre tragischen Rollen bekannt und zog sich schließlich 1863 wegen Krankheit von der Bühne zurück. Sie starb 1866. Vgl. eingehender MorschelWetzke, Der Sprechstil der idealistischen Schauspielkunst, S. 105‒109.

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wird von Stockhausen so gewissermaßen beim Wort genommen und in eine wiederum neue Erscheinungsform überführt: Die durch Schuberts Musik gleichsam in Szene gesetzten Liedgedichte werden durch den vorweg gesprochenen, sich direkt ans Publikum richtenden Prolog und den angehängten Epilog deutlich mittelbarer wahrgenommen als durch Schuberts, bewußt auf Unmittelbarkeit und emotionale Identifikation abzielendes Konzept. Dadurch mag auch, wie in jedem Fall Hanslicks Bemerkungen zeigen, der bereits durch die zyklische Aufführung der Vertonungen verstärkte Rollenspielcharakter noch stärker in den Vordergrund getreten sein, da zumindest noch die für die Zuhörenden direkt erfahrbare Dimension eines distanzierten ›Erzählers‹ hinzukam. Offenbar empfand Stockhausen gerade die sich aus der Gegenüberstellung von Gedichtzyklus und eigentlich ›autonom‹ gedachter Vertonung ergebenden Spannungen als besonders reizvoll – das Ergebnis könnte als Re-Theatralisierung des Liederzyklus’ fürs Konzertpodium charakterisiert werden. Bei einer derartigen Präsentation des Zyklus’ stellte Stockhausen, wie man sich vergegenwärtigen muß, aber auch Schuberts Musik und Müllers Lyrik gleichberechtigt nebeneinander, so daß in der Aufführung letztlich drei verschiedene mediale und historische Schichten präsent waren: Müllers Gedichtzyklus in Urgestalt, Schuberts Vertonung, die eine eigene, nun vorrangig musikalisch bestimmte Dramaturgie aufweist und die durch die Aufführung vorgenommene absichtsvolle Konfrontation beider aus späterer Perspektive. Hanslicks Beurteilung dieses zweiten Wiener Auftritts Stockhausens mit der Müllerin fiel bekanntlich deutlich kritischer aus: Zwar hebt er nochmals Stockhausens Verdienste um die Aufführungsgeschichte des Zyklus’ hervor, nimmt dies aber auch zum Anlaß, die durch den Sänger nachdrücklich verfochtene zyklische Aufführungspraxis zu problematisieren. Die Gefahr der Monotonie bei »derartigen lyrischen Monstreconcerten«110 wird letztlich als zu groß eingestuft. Darüberhinaus wird Müllers Dichtung unter Beschuß genommen, da durch die zyklische Aufführung auch deren, in Hanslicks Augen, negative Eigenschaften in den Vordergrund gerückt würden. Die von Stockhausen ganz offenbar als bewußte Maßnahme eingesetzte Deklamation der Rahmenteile erfährt somit eine rigorose Ablehnung durch den Kritiker: Die Dichtung gerät aus warmer, ungeschminkter Empfindung häufig in falsche Sentimentalität. Wenn es gegen das Ende so weit kommt, daß ›der Mond sich hinter die Wolken versteckt, damit die Welt seine Tränen nicht sehe‹ und daß ›die Englein sich alle Morgen die Flügel abschneiden um zur Erde zu gehen‹, dann darf wohl selbst der gemüthliche Biedermann ungeduldig werden. Kurz: je mehr der Hörer im Verlauf des Cyclus nach kräftigen Gegensätzen sich sehnt, desto tiefer tauchen Dichter und Componist an derselben Stelle in den grundlosen See sanft schmerzlicher Empfindung. [...] Frau Rettich bewies ihre Pietät für Schubert, indem sie einen, ihrer künstlerischen Richtung durchaus fernliegenden ›Prolog‹ und ›Epilog‹ sprach: angeblich ›naive‹ Gedichte, in Wahrheit unausstehlich gezierte Ansprachen an ein vom Dichter sehr unmündig gedachtes Publicum. Man kann dem freundlichen Bildchen unserer Mühle nicht besser schaden, als indem man vor und hinter sie diese poetischen Vogelscheuchen aufpflanzt.111

110 Hanslick, Geschichte des Concertwesens, Bd. 2, S. 214. 111 Ebd., S. 215.

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Hanslicks dezidiertes Eingehen auf Pro- und Epilog legt nahe, daß eben diese Gedichte noch nicht bereits zum von der Wiener Zeitung erwähnten separaten Deklamationsteil des früheren Konzerts von 1856 zählten. Dies mag auch erklären, daß er trotz seiner vernichtenden Kritik an den deklamierten Rahmenteilen kein Wort über die von Schubert nicht vertonten Gedichte innerhalb des Zyklus’ verliert, deren Wirkung gerade im Zusammenhang mit Schuberts musikalischer Portraitierung des Müllerburschen auf das Publikum durchaus verstörend gewirkt haben dürfte.112 Die Kritik Hanslicks an Müller macht ebenso wie seine konsequente Mißachtung der von Stockhausen bewußt in den Kontext hineingeholten unvertonten Gedichte in jedem Fall nochmals deutlich, in welchem Maße die Gedichte Müllers gemeinsam mit Schuberts Musik um die Jahrhundertmitte in den Rahmen einer ideologisierenden Volkstümlichkeit eingepaßt und, damit einhergehend, die in Müllers Dichtung angelegten subversiven Tendenzen ausgeblendet wurden.113 Schubert erscheint entsprechend einmal mehr als Komponist allzu vieler »sanft-schmerzlicher« Melodien rubriziert. Hanslicks Charakterisierung des Schubertschen Zyklus’ als »freundliches Bildchen unserer Mühle« ist vor diesem Hintergrund ebenso eine charakteristische genrebildhafte Reduktion wie die sich in Verbindung mit der zeittypischen Schubert-Rezeption herausbildende Verortung Müllers als »deutsche[m] Sänger«.114 Hanslicks Bedenken zum Trotz erntete Stockhausen indes auch mit diesem Wiener Auftritt großen Erfolg. Dies läßt sich etwa neben einer weiteren Rezension der Wiener Zeitung115 auch aus der Reaktion des Verlages Spina ablesen, der bereits 112 Vgl. auch Susan Youens, Schubert, Müller and »Die schöne Müllerin«, S. 164. Obwohl der im Archiv der Gesellschaft der Musikfreunde erhaltene Programmzettel zu diesem Konzert keinerlei Deklamation vermerkt, registriert die Wiener Zeitung vom 13. Mai 1860: »Den Prolog und Epilog und die nichtkomponierten Gedichte sprach Frau Rettich.« Vgl. unten Anm. 115. 113 Vgl. etwa Michael Kohlhäufls erhellende Interpretation der Schönen Müllerin vor dem Hintergrund der Freiheitskriege: ders., Poetisches Vaterland, S. 315‒319. 114 Der Schauspieler und Deklamationskünstler Karl von Holtei schrieb 1865 an Ludwig Tieck: »Hat jemals ein Dichter den Namen ›deutscher Sänger‹ verdient, so war’s Wilhelm Müller. Wer die Müller-Lieder von Schubert und Müller in ihrer ganzen Schönheit vernahm; wer sie von Stockhausen singen hörte ... nur der mag [...] dankbar erkennen, was Schubert Großes getan [...] – aber vor Allem soll er nicht vergessen, ihres ersten Dichters und Schöpfers mit voller Liebe zu gedenken [...].« Karl von Holtei, Briefe an Ludwig Tieck, Bd. 3, S. 45 zitiert nach: Günther Hartung: Wilhelm Müller im Gedächtnis der Deutschen, in: Weimarer Beiträge. Zeitschrift für Literaturwissenschaft, Ästhetik und Kulturwissenschaften 42 (1996), S. 239. Müllers Sohn Max, der mit Stockhausen ebenfalls bekannt war, beschreibt als er 1868 eine Neubearbeitung der 1830 von Müllers Freund Gustav Schwab herausgegebenen Gedichtsammlung veranlaßt, ein »gewandeltes Leseinteresse« und teilt die Freunde und Bewunderer des Dichters in zwei Klassen ein: »die welche sich an seinen […] Liedern erquicken und erfreuen, und die, welche den Adel und Kraft seiner Gesinnung ehren.« (Gedichte von Wilhelm Müller, mit Einleitung und Anmerkungen, hg. von Max Müller, Leipzig 1868, Bd. 1, S. VI, zitiert ebd., S. 238). 115 »Herr Stockhausen hat im Musikvereins-Saale sein drittes und – wie der Anschlagzettel sagt – letztes Konzert gegeben. Das eleganteste Publikum Wiens hatte sich zahlreich eingefunden und feierte den so sehr beliebten Gast in der schmeichhaftesten Weise. Herr Stockhausen sang den vollständigen Lieder-Cyclus ›die schöne Müllerin‹ von Franz Schubert. Den Prolog und Epilog und die nichtkomponirten Gedichte sprach Frau Rettich. Noch klang uns von früher her Herrn

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seit den ersten Wiener Auftritten Stockhausens Neuauflagen des durch den Sänger aktuell präsentierten Repertoires herausbrachte, da die so hergestellte direkte Assoziation der Notenausgaben mit der Person Stockhausens zusätzliche Impulse für das private Musizieren der Zuhörenden schaffen konnte.116 Zu Beginn des Jahres 1860 erscheint bei Spina etwa eine transponierte Neuausgabe der gesamten Müllerin, deren Titelblatt ausdrücklich auf Stockhausen als mustergültigem Interpreten des Zyklus’ verweist.117 Das hier von Stockhausen entwickelte aufführungspraktische Setting der zyklischen Präsentation plus Deklamation wurde beibehalten und weiter ausgebaut. Womöglich sah der Sänger darin auch eine Chance, die damals übliche heterogene Praxis einer Kombination von Deklamation und Musik auf dem Konzertpodium vor dem Hintergrund eines dramaturgischen Konzepts integrieren zu können.118 Für das Jahr 1862 haben sich etwa die Programmzettel von drei zeitlich benachbarten Müllerin-Konzertabenden in Guebwiller im Elsaß (15.10.), Köln (28.10.) und Barmen (4.11.) erhalten, die in einigen Details noch weiteren Aufschluß darüber geben, welche Gesichtspunkte hier ins Gewicht fielen: Die den Programmzetteln grundsätzlich entnehmbare philologische Akkuratesse rückt zunächst nochmals deutlich den durch Stockhausens Aufführungen kommunizierten Impuls einer Nobilitierung des Liederzyklus’ als ›Opus‹ ins Bewußtsein, den Hanslick bereits 1856 registriert hatte. Offenbar legte Stockhausen Wert darauf, das Verhältnis von Original und Rezeptionsstufe der Müllerin-Dichtung auch auf dem Programmzettel zu reflektieren. Neben einer Übersicht über Müllers Dichtung in ursprünglicher Gestalt floß überdies die Veröffentlichungsstrategie der Erstausgabe von Schuberts Vertonung (1824, Sauer und Leidesdorf, 5 Hefte) im Sinne von thematisch kohärenten einzelnen Gruppen in die Dramaturgie der Konzerte ein. Zwischen diesen Blöcken sind z. T. auch ausdrückliche Pausen verzeichnet, was auf pragmatischer Ebene etwa sowohl auf eine intendierte Steuerung des Applausverhaltens schließen läßt119 als auch zur Erholung des Sängers beitragen konnte. Aus rezeptionsästhetischer Perspektive mochte diese Art der Gruppierung zudem die Wahrnehmung einer in einzelne Episoden eingeteilten Handlung befördern. Auch auf diese Weise konnte der Gefahr einer oft kritisierten Monotonie bei Präsentation des gesamten Zyklus’ entgegengewirkt werden.

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Stockhausen’s Vortrag dieser Lieder wie eine süße Erinnerung im Ohr, die uns nun durch noch feinere Vortrags-Nüancen auf’s Erfreulichste aufgefrischt wurde [...]« Wiener Zeitung Nr. 116, S. 2009, 13. Mai 1860, zitiert nach Hilmar, Schubert-Rezeption 1831‒1865, S. 201ff. Vgl. Hilmar, Schubert-Rezeption 1831‒1865, Nr. 1856/2 u. 1856/3 . Zur Rolle dieser als ›Stockhausen-Ausgaben‹ bezeichneten Editionen innerhalb der zeitgenössischen philologischen Diskussion und Aufführungspraxis vgl. unten Kap. 8.1.1, S. 291ff. Daß Stockhausen hier gleichsam Regie über ein konzertdramaturgisches Gesamtkonzept führte, wird nicht zuletzt deutlich an explizit auf die Gestaltung der rezitierten Anteile bezogenen Eintragungen, die der Sänger in einem, sich aktuell im Lübecker Brahms-Institut befindlichen, Müllerschen Gedichtband, den er als Geschenk vom Sohn des Dichters erhalten hatte, vornahm. In der Niederrheinischen Musikzeitung vom 1. November heißt es gleichwohl: »[...] das stille entzückte Lauschen der Zuhörerschaft, die nach jedem der Lieder ausbrechende Begeisterung zu schildern, ist unmöglich.« (zitiert nach Wirth, Julius Stockhausen, S. 223).

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Abbildung 12: Programmzettel zum prominent gewordenen »Volkskonzert« im Kölner Gürzenich am 28.10.1862. Stockhausen führte hier gemeinsam mit Ferdinand Hiller am Klavier die »Schöne Müllerin« vor etwa 2000 Menschen auf.

In den beiden gemeinsam mit Clara Schumann gegebenen Müllerin-Konzerten wurden zusätzlich als Intermezzi auffaßbare größere Klaviersolobeiträge eingebunden. Daß indes die Aufführung des Liederzyklus’ als Hauptprogrammpunkt des Abends angesehen wurde, zeigt sich bereits daran, daß ‒ eigens vermerkt und durchaus unüblich – Clara Schumann hier offenbar auch die Begleitung der Lieder übernahm.

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Abbildung 13: Programmzettel zu einer Soirée mit Clara Schumann in Guebwiller/Elsaß am 15. Oktober 1862

Daß Stockhausen die inhaltlichen und musikalischen Zusammenhänge zwischen den Liedern und damit verbundene Fragen des Spannungsaufbaus immer wieder neu reflektierte, zeigt etwa ein Tagebucheintrag zum Konzertabend in Barmen am 4. November 1862, dessen Programmzettel umseitig abgebildet ist. Poetisierende Umschreibungen vermischen sich hier mit analytischen und pragmatischen Erwägungen, das eigene Erleben des Zyklus’ während des Vortrags wird hier gleichsam nachträglich protokolliert:

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Abbildung 14: Programmzettel zu einem gemeinsamen Konzert Stockhausens und Clara Schumanns in Barmen 1862. Das Lied »Pause« wurde hier offenbar versehentlich als Hinweis zum Ablauf der Veranstaltung verstanden.

Mein dreimal wiederverlangt, aber umsonst! Die Nummer 10 ist noch weit entfernt von der Nummer 20! Man muß seine Kräfte für den Abschied aufsparen, für das berühmte ›Ade‹, für den Jäger, für die Eifersucht. – Welch’ ein Empfang, immer von Neuem! Nr. 8, 9, 10 [Morgengruß, Des Müllers Blumen, Tränenregen] sind von einer ausgesuchten Feinfühligkeit, Zartheit des Empfindens. Der Schlußreim: ›So muß ich wieder gehen‹, wiederholt sich fast zum Überdruß, und doch hört man ihn nie genug! Träneneregen sagt den Sturm voraus. Es sind die großen Tropfen, die den Touristen mahnen, einen Unterschlupf zu suchen. Zwischen diesen Anzeichen und dem Sturme selbst ist einen Augenblick Pause. Aber sofort packt uns der Zweifel. Jetzt ist es die Pause, die es übernimmt, diese Ebbe und Flut zu erklären. Das Lied ist einzig! Die fast rohen Modulationen zeigen, wie ungestüm der Übergang vom Zweifel zur Hoffnung, von der Trunkenheit zur Verzweiflung ist. Aber was hat denn dabei das Mein zu tun? Nach

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diesem Strom von Tränen, nach diesem Vorläufer des Sturms, wie findet da diese Freude, diese Herausforderung des Frühlings, ja der Sonne, Platz? ›Frühling, sind das alle deine Blümelein? Sonne, hast du keinen hellern Schein?‹ Das ist wahres Rasen. − […] Während der Bösen Farbe bedeckt sich die Stimme leicht, der Glanz kommt nicht wieder. Aber man muß aus diesen kleinen Zwischenfällen Vorteile ziehen. Trockene Blumen können gewinnen, wenn man sie mit halber Stimme deklamiert. Der Ausdruck am Ende wird durch dieses Hemmnis um so eindringlicher. Es wird eine allzu starke Gemütsbewegung vortäuschen. [...]120

Diese fortwährende Reflexion über die Aufführung des Zyklus’ führte bezeichnenderweise auch dazu, schließlich von einer Deklamation des Epilogs Abstand zu nehmen und damit letztlich doch dem Komponisten das Schlußwort zu überlassen, wodurch die im Ansatz vorgenommene Theatralisierung des Lieder-Konzerts sich zum Ende der Darbietung tendentiell auflöst. Die Attraktivität eines humorvollen, scheinbar unbeschwerten ›Abholens‹ des Publikums sowie die Akzentuierung des rollenspielhaft-theatralen Moments aus dem heraus die Gedichte einige Jahrzehnte zuvor entstanden waren, schien indes davon unangetastet.121 Eine Mischung aus diesen beiden Ebenen, die es ermöglichte, sowohl der dichterischen Vorlage als auch ihrer musikalischen Umsetzung gerecht zu werden, erachtete der Sänger für den Rahmen einer öffentlichen Aufführung offenbar als besonders angebracht, selbst wenn ihm der Entstehungskontext des Müllerschen Gedichtzyklus’ nicht bekannt gewesen sein sollte.122 Daß diese von Stockhausen letztlich konsequent durchgehaltene Art der Präsentation etwa Hanslicks Bedenken zum Trotz durchaus von der Musikkultur angenommen wurde, zeigt sich deutlich an der Ausstrahlungskraft, die Stockhausen damit unzweifelhaft auf die zeitgenössische Aufführungspraxis sowohl im professionellen Bereich123 als auch mit Blick auf das anspruchsvolle häusliche Musizieren hatte. Exemplarisch findet sich dieses Phänomen etwa in einer 1880 im Stuttgarter Verlag Eduard Hallberger erschienenen Prachtausgabe der Schönen Müllerin abgespiegelt, die von den Signalen für die musikalische Welt umfangreich rezensiert wurde: Zu den vielen Prachtausgaben dieses volkstümlichen Liederbuches, dessen gemüthreiche Poesien durch den Genius unseres größten musikalischen Lyrikers die Weihen der Unsterblichkeit empfangen haben, hat sich soeben eine neue gesellt. Zum ersten male erscheint das Werk, welches ja längst zu einem Gemeingut der deutschen Nation und darüber hinaus – soweit überhaupt

120 Wirth, Julius Stockhausen, S. 229. 121 Noch Hans Joachim Moser rät in einem aufführungspraktisch orientierten Beiheft zu seiner Liedgeschichte von 1937 dazu, Pro- und Epilog deklamieren zu lassen: »ich habe diese Umrandung stets vorteilhaft gefunden, da der Prolog einen stimmungsweckenden Auftakt gibt und der Epilog nach dem erschütternden Schlußgesang, wenn man ihn in leise melancholischer Heiterkeit bietet, die Hörer auf wahrhaft harmonische Weise rückversammelt und entspannt.« Vgl. ders., Das deutsche Lied seit Mozart. Bd. 2, Sängerstudio, Berlin/Zürich 1937, S. 28. 122 Da Friedlaender 1884 im Supplement zum Schubert-Album die von Rellstab verfaßte Biographie Ludwig Bergers zitiert, wo über den Entstehungskontext des Zyklus’ berichtet wird, ist anzunehmen, daß auch Stockhausen dieser geläufig war. Vgl. auch: ders., Die Entstehung der Müllerlieder, in: Deutsche Rundschau 73 (1892/93); 301‒307. 123 Vgl. etwa die von Beatrix Borchard dokumentierte Aufführungspraxis der Müllerin durch Amalie Joachim: dies., Die Sängerin Amalie Joachim und Schuberts »Schöne Müllerin«, S. 71. Borchard nennt außerdem den Bariton Georg Henschel und den Tenor Gustav Walter.

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7 ›Schubert-Sänger‹: Julius Stockhausen die deutsche Zunge reicht und deutsche Lieder das Herz erheben, geworden – in einer Vereinigung mit dem Stift des Zeichners. Und man kann dieses kunstvolle Arrangement in der That als ein glückliches bezeichnen. Der zeichnenden Kunst sind in diesen poesiedurchwobenen Schöpfungen so viel anregende Momente geboten, sei es nun in de Veranschaulichen des darin waltenden Gemüthslebens, dem Fixieren allgemeiner Situationen und Stimmungen, oder dem Ausdeuten der idyllischen landschaftlichen Scenerie, daß es uns eigentlich Wunder nimmt, dieser künstlerischen Allianz in Wort, Ton und Bild erst jetzt zu begegnen. Die Illustrationen bringen außer hübschen und geschmackvoll intentionierten Verzierungen der erst apart abgedruckten Dichtungen trefflich ausgeführte Vollbilder – soweit sich der Stoff dafür als wirksam erwies – denen sich dann die Composition in äußerts klarem Stich anschließt. Da sich die Gesamtaufführung der in sich ja auch ein Ganzes ausmachenden Lieder immer mehr eingebürgert hat, so hat es die Verlagsfirma im Interesse der Conformität für erachtet, die außer dem Prolog und Epilog ebenfalls von Schubert nicht compinierten und stets recitierten drei Lieder Mühlenleben, Erster Schmerz, letzter Schmerz und Blümelein Vergißmein in musicalischer Ausführung zu bringen. Es sind drei Compositionen von Ludwig Stark, die früher bereits erschienen und beliebt geworden, sich durch möglichst getreue Anlehnung an die Schubert’sche Schreibweise der illustren Gesellschaft möglichst werth zu machen suchen. Es sei denn dieses in seinem in Inhalt wie in seiner luxuriösen äußeren Ausstattung wahrhafte Prachtwerk aufs Angelegentlichste empfohlen. . Be Beim herannahenden Weihnachtsfeste dürfte es seine Feuerprobe siegreich bestehen – wüßten wir doch kaum ein ähnliches Geschenk, in welchem die drei Schwesterkünste Musik, Malerei und Dichtkunst einen so harmonischen Bund geschlossen haben.124

Abbildung 15: Titelblatt einer Prachtausgabe der »Schönen Müllerin« mit Illustrationen und separat abgedruckten Gedichttexten im Stuttgarter Verlag Eduard Hallberger (1880)

124 Die schöne Müllerin. Liedercyclus von Wilhelm Müller, in Musik gesetzt von Franz Schubert. Illustrierte Prachtausgabe mit 66 Originalzeichnungen von A. Baumann und R. Schuster, Verlag von Eduard Hallberger in Stuttgart und Leipzig, Geleitwort von Max Friedlaender, in: Signale für die musikalische Welt 38, Nr. 71. Dezember 1880, Sp. 1121f.

7.4 Stockhausens Schubert-Zyklen

279

Der Stellenwert des Liederzyklus’ als Symbol einer durch ein ideologisiertes Volkstümlichkeitsideal geprägten nationalen Hochkultur wird auch hier nur allzu deutlich. Die in ihrer »luxuriösen äußeren Ausstattung« als »wahrhafte[s] Prachtwerk« bezeichnete Ausgabe stellt zudem gleichsam die greifbare Monumentalisierung eines maßgeblich durch Stockhausen ins Werk gesetzten und von anderen Sängern und Sängerinnen übernommenen aufführungspraktischen Entwurfs dar: Die zyklische Aufführung nebst Texten zur Deklamation werden hier bereits als obligatorisch angesehen, wobei zusätzlich die Option bestand, die »stets deklamiert[en]« nicht komponierten Gedichte wahlweise in einer von Ludwig Stark nachkomponierten musikalischen Version aufzuführen. Schuberts Zyklus scheint hier, wie man konstatieren muß, gleichsam nur noch hinter einer von zeitgenössischen Bedürfnissen und Idealvorstellungen überformten Folie durch. Stockhausens Müllerin-Aufführungen machen allerdings unabhängig von dieser zeitgenössischen Rezeptionsfolie darauf aufmerksam, welche Spannweite der Interpretationsbegriff in der musikalischen Praxis des 19. Jahrhunderts offenkundig besaß: Der Liederzyklus wurde hier als integratives kompositionsästhetisches Konzept wie Erscheinungsform produktiver Literaturrezeption vor dem Hintergrund ausgeprägten künstlerischen Sendungsbewußtseins subtil mit den Bedürfnissen und Strukturen der zeitgenössischen Musikkultur vermittelt. Die mithin in historischer Perspektive auf spezifische Weise konturierte Idee der ›Werkintegrität‹ ist vor diesem Hintergrund allerdings kaum identisch mit der heutigen Auffassung, die diese Praxis zugunsten einer gänzlich auf die ›Authentizität‹ von Schuberts Komposition ausgerichteten Präsentationsweise in der Regel nicht mehr aufgreift.125 Die mit der hier vorgenommenen Kontextualisierung der Stockhausenschen Müllerin-Aufführungen einhergehende Reflexion der Rolle des ästhetischen Konzepts ›Liederzyklus‹ zwischen Kunstwerk und Präsentationsstrategie innerhalb der Konzertpraxis nach 1860 soll im folgenden noch eingehender betrachtet werden – zunächst mit einem naheliegenden Seitenblick auf die von Stockhausen ebenfalls öfter aufgeführte Winterreise.

7. 4. 2 (Die) Winterreise In den 1860er Jahren, als die zyklischen Müllerin-Aufführungen durch Stockhausen sich häuften, wagte der Bariton zunächst offenbar keine zyklische Präsentation des in dieser Zeit als weniger prominentes »Seitenstück«126 der ›Müllerlieder‹ geltenden Zyklus’ Winterreise D 911. Nachdem Stockhausen sich gleichwohl bereits Anfang der 1850er Jahren in London mit dem Zyklus beschäftigt hatte, erscheint die Winterreise im öffentlich aufgeführten Konzertrepertoire des Sängers erst im Kontext 125 Als Ausnahmen seien die 1993 bei der Deutschen Grammophon erschienene Aufnahme des Zyklus’ mit Brigitte Fassbaender und Aribert Reimann sowie die 1996 im Rahmen der Hyperion Schubert Edition produzierte Einspielung mit Ian Bostridge, Graham Johnson und Dietrich Fischer-Dieskau als Rezitator genannt. 126 Hanslick, Geschichte des Concertwesens, Bd. 2, S. 102.

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7 ›Schubert-Sänger‹: Julius Stockhausen

einer gemeinsam mit Clara Schumann gegebenen Hamburger Soirée am 27. November 1862. Der Sänger stellte hier eine Auswahl aus der gut einstündigen Komposition zusammen, die gemeinsam mit Kammermusik und Klaviersolobeiträgen in drei Gruppen unter dem Titel Reisebilder von Wilhelm Müller präsentiert wurde. Die mittlere Gruppe bestand aus den Liedern Der Lindenbaum, Die Post, Wasserflut, Auf dem Flusse und Rückblick. Bereits diese Angaben des Programmzettels legen nahe, daß Stockhausen offenkundig auch hier einen deutlichen Akzent auf Wilhelm Müllers Gedichtsammlung legen wollte, deren Anordnung sich nicht unerheblich von Schuberts Dramaturgie unterscheidet. 1823 war zunächst lediglich eine in der Zeitschrift Urania abgedruckte Frühfassung des Zyklus’ in die Hände des Komponisten gelangt, die im Februar 1827 vertont worden war.127 Im Herbst desselben Jahres war Schubert indes auf eine von Müller noch 1824 im zweiten Band der Hinterlassenen Papiere eines reisenden Waldhornisten vorgenommene Erweiterung des Zyklus’ gestoßen, die zwölf weitere Gedichte in die bereits veröffentlichte Folge integrierte. Müllers endgültige Anordnung der Gedichte läßt einen konkret nachvollziehbaren linearen Verlauf der Wanderung des ›Winterreisenden‹ in Raum und Zeit zu128, dessen Konturen freilich immer wieder durch Momente der Reflexion und verschiedene Stufen der Rückblende verwischt werden: Im Mittelpunkt steht trotz eines real zurückgelegten Weges der seelische Zustand des Reisenden. Da Schubert indes die 1823 in der Urania veröffentlichte Folge von zwölf Liedern bereits als musikalisch geschlossene Einheit konzipiert hatte, traf er die Entscheidung, dieser von Müller vorgegebenen Dramaturgie nicht zu folgen. Er fügte statt dessen die zusätzlichen Gedichte in einer Zweiten Abteilung an die erste Gruppe an und schuf somit eine den Weg des Wanderers in eine innere Welt betonende, den bisherigen Verlauf der Reise durch Reflexionen und Illusionen gleichsam kommentierende Schicht. Erst mit dem Wegweiser scheint der Wanderer indes seine Reise in der äußeren Welt fortzusetzen. Schubert hatte sich damit, wie

127 Vgl. ausführlich Walther Dürr, Schuberts »Winterreise«. Zur Entstehungs- und Veröffentlichungsgeschichte. Beobachtungen am Manuskript, in: Resonanzen. Festschrift für Hans Joachim Kreutzer, hg. von Sabine Doering [u. a.], Würzburg 2000, S. 301‒315. 128 Christiane Wittkop hat sich diesem Aspekt aus literaturwissenschaftlicher Perspektive eingehend gewidmet: dies., Polyphonie und Kohärenz. Wilhelm Müllers Gedichtzyklus »Die Winterreise«, Stuttgart 1994. Vgl. ebd., S. 67f.: »Die Reise führt durch eine winterliche Landschaft mit schneebedeckten Wiesenflächen, Bäumen, Straßen, Wegen, Flüssen, Felsschluchten, Häusern, Städten bzw. Dörfern. Der Wanderer wird auf dieser Reise mit den unterschiedlichsten Wetter- und Lichtverhältnissen konfrontiert: dem scharfen Wind, der Windstille, Eiseskälte, und Wärme, Dunkelheit und Licht. Bei genauerem Hinsehen ergibt sich, daß [...] zwischen den Wetterverhältnissen und dem geographischen Verlauf des Weges offensichtlich ein Zusammenhang besteht: Der Weg führt in eine gebirgige Landschaft. Je mehr der Wanderer bergan steigt, desto stürmischer wird es. Ab Das Irrlicht führt der Weg wieder bergab. Danach hat sich der Wind auch gelegt und die »Wolkenfetzen« (Der stürmische Morgen) sind zur »trüben Wolke« (Einsamkeit) kondensiert.«

7.4 Stockhausens Schubert-Zyklen

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Walther Dürr betont, offenbar bewußt für eine Auflösung der von Müller vorgezeichneten Linearität zugunsten eines eher spiralförmigen Konzeptes entschieden.129 Stockhausens Liedauswahl für die Soirée vom 27. November 1862 verrät, daß der Sänger offenbar bereits früh die Gedichtanordnung Wilhelm Müllers für eine geplante öffentliche Aufführung des Zyklus’ favorisierte. Ein Plan, der in einem Hamburger Konzert des Jahres 1864 auch erstmals umgesetzt werden sollte. Der hier abgebildete Programmzettel übernimmt den von Schubert getilgten bestimmten Artikel im Titel des Müllerschen Werks (Die Winterreise) und setzt somit ein deutliches Signal. Als Modell hielt sich diese Praxis bis in Stockhausens Konzertauftritte der späten 1880er Jahre, darüber hinaus wurde auch sie von anderen Sängern aufgegriffen.130 Regelmäßig wiederkehrende Abbildung 16: Julius Stockhausens vermutlich erste Eintragungen bezüglich der Rei- Aufführung der »Winterreise« nach der Reihenfolge des henfolge der Lieder, die sich in Dichters den in Stockhausens Nachlaß erhaltenen Studien- und womöglich auch Aufführungsmaterialien finden sowie weitere, im folgenden diskutierte, Quellen weisen 129 Schubert zerstört damit aus poetologischer Perspektive insofern durchaus nicht Wilhelm Müllers Konzept, sondern schichtet es gewissermaßen kaleidoskopartig um. Vgl. Dürr/Feil, Reclams Musikführer Franz Schubert, S. 139. Zur gattungspoetischen Diskussion vgl. unten Kapitel 7.4.3. 130 Vgl. hierzu Ulrich Hartung, »Die Winterreise«. An Argument for Performing the Cycle of Songs by Franz Schubert in the Order of the Poems by Wilhelm Müller, Phil. Diss. New York University, 1992, S. 34‒37. Hartungs Versuch, diese im speziellen Kontext der Aufführungskultur des mittleren 19. Jahrhunderts entstandene Praxis auf Schuberts Intentionen zu beziehen und ihr mittels strukturanalytischer Beweisführung einen ›authentischen‹ Status zuzuschreiben, wurde von der Schubert-Philologie mit Recht zurückgewiesen. Vgl. Dürr, Schuberts »Winterreise«, S. 302, Anm. 6.

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7 ›Schubert-Sänger‹: Julius Stockhausen

unmißverständlich darauf hin, welch hohen Stellenwert dieser Eingriff für den Sänger gehabt haben muß. Wie etwa eine bislang unbeachtete Notiz auf der Rückseite des Hamburger Programmzettel von 1862 nahelegt, waren es offenbar auch hier – wie schon im Fall der Schönen Müllerin – in erster Linie dramaturgische Gründe, die Stockhausen zu diesem Schritt bewogen hatten. Zugunsten der Darstellung eines linearen narrativen Verlaufs auf dem Konzertpodium stellte er Schuberts Reihenfolge in den Hintergrund und betont, er halte sich statt dessen ›nach bestem Gewissen‹ an die Ordnung, in der der Dichter die Reise ablaufen läßt, wobei besonders der poetische Reiz einer direkten Abfolge der Lieder Der Lindenbaum und Die Post herausgestellt wird, der, nimmt man Stockhausens Auffassung ernst, letztlich gerade durch Schuberts Vertonungen noch verstärkt werde: 131 [...] J’ai fait de mon mieux et j’ai rétabli l’ordre dans lequel M. Müller a composé son voyage: Il y a, ainsi chanté, plus de suite quoique à vrai dire un malheureux dans cet état n’a guère de suite dans les idées. Mais un contraste admirable qui est detruit dans l’édition est le Lindenbaum & [la] Post qui suit immédiatement. ›Und immer hör ich’s Rauschen, du fändest Ruhe dort.‹ Ce cornet du postillion qui arrache le voyageur de ses rêves et de son tilleul a un effet magnifique. ›Von der Straße her ein Posthorn klingt‹ [...]

Daß sich diese Auffassung Stockhausens über die Jahre weiterhin festigte, geht deutlich aus der Korrespondenz des Sängers mit dem Leipziger Peters-Verlag hervor. 1873 bittet Stockhausen etwa ausdrücklich darum, eine Sonderedition der Winterreise in eben dieser Form ins Verlagsprogramm aufzunehmen: [...]Wären Sie geneigt, eine Separat-Ausgabe der Winterreise nach der Reihenfolge der Lieder wie sie der Dichter veröffentlicht hat, zu unternehmen? Ich singe sie stets so, wenn ich den ganzen Cyclus gebe, und Dank den discreten Transpositionen ist das auch möglich. Der Dichter lässt auf den Lindenbaum ganz richtig die Post folgen, was poetisch und namentlich psychologisch treffend ist. Der Contrast ist ein herrlicher. Acht Mal kommen solche Aenderungen vor [...]132

Stockhausen sah sich, wie all diese Bemerkungen verdeutlichen, als öffentlich auftretender Sänger sowohl des Müllerin-Zyklus’ als auch der Winterreise grundsätzlich offenbar weniger als Übermittler einer abstrakt gedachten ›lyrischen Stimme‹, sondern als Darsteller einer konkreten, in den jeweils Zyklen portraitierten ›lyrischen Person‹. Auch wenn diese selbst im Fall der Winterreise in einen Zustand seelischer Verwirrung geraten sei, sollte die äußere Linearität der Reise zugunsten einer psychologischen Nachvollziehbarkeit erhalten bleiben. Dem Müllerschen Gedichtzyklus innewohnende Tendenzen zur Abstraktion (die durch Schuberts gleichsam kommentierende, die Ziellosigkeit einer ›Reise nach innen‹ betonende Anordnung der Gedichte verstärkt wird) sollten mit Blick auf die öffentliche Aufführung offenbar in den Hintergrund gerückt werden. Das hinsichtlich der Schönen Müllerin 131 Die Kombination dieser beiden Kompositionen nahm Stockhausen auch in andere Konzerte mit auf, in denen nur einzelne Liedgruppen erklangen. So etwa am 28.4.1866 in Hamburg in einem Konzert mit dem Pianisten Carl Tausig und 1872 im Casino Elberfeld vgl. P/FfM: Elberfeld, 13.11.1872. 132 Unveröffentlichter Brief Stockhausens an den Verlag C. F. Peters vom 25.4.1873. Sächsisches Staatsarchiv Leipzig, 21070 C. F. Peters, Nr. 2142 (Hervorhebungen im Orginal).

7.4 Stockhausens Schubert-Zyklen

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diskutierte aufführungspraktische Konzept eines die epische resp. dramatische Ebene des Gedichtzyklus’ akzentuierenden ›Rollenspiels‹ kommt somit letztlich auch bei Stockhausens Umgang mit der Winterreise zum Tragen, wenngleich die Textvorlage in ihrer hermetischen Ich-Bezogenheit, aus der Schubert gewissermaßen radikale Konsequenzen zieht, natürlich denkbar weit von der Idee eines geselligen Liederspiels entfernt bleibt. Daß durch diese Maßnahmen überdies Schuberts subtile Tonartendisposition zerstört wird, mag heute ebenfalls als empfindliche Schädigung der Werkintegrität gelten133, wurde aber wegen der somit gewonnenen dramatischen Dynamisierung von Stockhausen offenbar in Kauf genommen, wenngleich nicht ohne Skrupel, wie er dem Verleger gegenüber einräumt: »Gerne würde ich eine transponierte Ausgabe nicht besorgen. Man muß als Künstler mit großer Pietät mit solch herrlichen Werken verfahren.«134 Die Transposition einzelner Lieder der Zyklen in andere Tonarten war letztlich eine zur Schubert-Zeit aus pragmatischen Gründen durchaus übliche Praxis135, die Stockhausen notwendigerweise bereits auf die Lieder des Müllerin-Zyklus’ anwenden mußte, um sie überhaupt als gesamtes Opus aufführen zu können. Daß allerdings Stockhausens Ausrichtung der Vertonungen an der von Wilhelm Müller vorgebenenen Reihenfolge die Lieder Schuberts, wie Beatrix Borchard unter Berufung auf Elmar Budde betont, unter Einfluß der zeitgenössischen Schubert-Rezeption zu »schönen, inselhaften Augenblicken« reduziere136, erscheint vor dem hier beschriebenen Hintergrund auch bei einer Mißachtung der Tonartendisposition des Komponisten wenig überzeugend, da für den Sänger offenkundig auch unter Einbezug der musikalischen Ebene die aus der veränderten Reihenfolge der Lieder entstehenden Wirkungen mit Blick auf eine narrative Gesamtdramaturgie entscheidend waren. Damit wendet sich Stockhausen auch hinsichtlich der großen Zyklen auf einer grundsätzlichen Ebene letztlich sogar eher gegen die Tendenzen der zeitgenössischen Schubert-Rezeption, wie dies in Bezug auf sein Repertoire an Einzelliedern bereits früher diskutiert wurde. Gleichwohl ist Borchard sicherlich zuzustimmen, wenn sie darauf aufmerksam macht, daß es sich hier durchaus um absichtsvoll aufgebaute Spannungen zum üblichen Rezeptionsverhalten des Publikums gehandelt haben könnte, da dieses aus der eigenen Musikpraxis gewohnt sein mochte, die Lieder in Schuberts Reihenfolge, zu musizieren.137 Dies ließe sich indes vor allem auf die Zeit seit Mitte der 1860er Jahre beziehen, da sich hier ein deutlicher Anstieg der Nachdrucke verzeichnen läßt und unter anderem auch die von Stockhausens ehemaligem Gesangsschüler Max Friedlaender betreuten praktischen Liedausgaben im Leipziger Peters-Verlag erschienen, die die musikalische Praxis in erheblicher Weise prägen sollten.138 Bis 133 134 135 136 137 138

Vgl. Dürr, Schuberts »Winterreise«, S. 302. Stockhausen an den Verlag C. F. Peters, Leipzig (wie Anm. 132). Vgl. Montgomery, Schuberts Music in Performance, S. 30ff. Vgl. Borchard, Stimme und Geige, S. 437. Ebd. Vgl. dazu eingehender das folgende Kapitel.

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7 ›Schubert-Sänger‹: Julius Stockhausen

in die frühen 1860er, als Stockhausen aber bereits die ersten zyklischen Aufführungen wagte, genoß – wie neben Hanslicks eingangs zitierter Äußerung etwa auch die bei Hofmeister verzeichnete Anzahl der Nachdrucke zu dieser Zeit nahelegen – die Winterreise indes kaum einen mit der, ebenso auf maßgebliche Weise durch Stockhausens Aufführungen populär gewordenen Müllerin zu vergleichenden Bekanntheitsgrad.139

7.4.3 Zwischen Musik- und Literaturpraxis Im Jahr 1865, nachdem Stockhausen also bereits mit beiden großen Schubert-Zyklen und auch Schumanns Dichterliebe op. 48 sowie dessen Liederkreis op. 39 nach Gedichten Eichendorffs mehrfach öffentlich konzertiert hatte140, findet sich in Arrey von Dommers Neuausgabe des Kochschen Musikalischen Lexikons auch erstmals ein Artikel Liederkreis, Liedercyclus.141 Offenbar bestand inzwischen die Notwendigkeit der Explikation eines innerhalb der musikalischen Praxis als neuartig angesehenen Phänomens: Liederkreis, Liedercyclus. Ein zusammenhängender Complex verschiedener lyrischer Gedichte. Jedes derselben ist in sich abgeschlossen, kann hinsichts des Versmaasses und Strophenbaues von den anderen doch äußerlich verschieden sein; alle aber in innerer Beziehung zu einander, denn durch alle zieht sich ein und derselbe Grundgedanke, die einzelnen Dichtungen geben immer nur verschiedene Wendungen desselben, stellen ihn in mannigfachen und oft auch contrastirenden Bildern und von verschiedenen Seiten dar, so dass das Grundgefühl in ziemlich umfassender Vollständigkeit ausgetragen wird. Die Musik anbelangend pflegt zwar jedes Gedicht für sich durchcomponirt zu sein, doch im Wesentlichen wird eine Hauptmelodie für alle Strophen (desselben Gedichts) beibehalten, und nur abgeändert und etwas anders gewendet, wo es passend oder erforderlich erscheint. Ausserdem aber wechselt die Melodie und ganze Tongestaltung selbstverständlich mit jedem Gedichte, ebenso die Tonart, die einzelnen Sätze sind gewöhnlich durch Ritornelle und Ueberleitungen des begleitenden Instruments mit einander verbunden. Die Begleitung ist wesentlich entwickelt, in characteristischer Weise die Situation schildernd und malend, sowie ergänzend, was die Stimme hinsichts des Ausdrucks unerledigt lassen muss. Zur dramatisierenden Solocantate fehlt dem Liederkreise eigentlich nichts mehr als das Recitativ, und die arienartige Form der Gesänge anstatt der liedartigen; im übrigen wird man ihn der Cantate ziemlich nahestehend finden, oder als eine Mittelgattung zwischen durchcomponirtem Liede und Cantate ansehen.142

139 Zur unterschiedlichen Rezeption von Müllerin und Winterreise im 19. und 20. Jahrhundert vgl. Christopher Gibbs, The Neglected Schubert?, in: The Cambridge Companion to Schubert, S. 54. 140 Vgl. Hofmann, Stockhausen als Interpret der Liederzyklen Robert Schumanns. 141 Vgl. Ruth O. Bingham, The Song Cycle in German Speaking Countries 1790−1840. Approaches to a Changing Genre, Cornell University 1993, S. 13‒20 sowie David Ferris, Schumann’s Eichendorff-Liederkreis and the Genre of the Romantic Cycle, New York 2000, S. 230. 142 Musicalisches Lexicon auf Grundlage des Lexicon’s von H. Ch. Koch, herausgegeben von Arrey von Dommer, Heidelberg 1865, S. 513−14,

7.4 Stockhausens Schubert-Zyklen

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Dommer führt den Liederzyklus hier offenbar als in erster Linie literarische Gattung ein, was einmal mehr auf das Fortbestehen der traditionellen Liedästhetik im Musikdiskurs des 19. Jahrhunderts verweist, die die obligatorische Vertonung eines lyrischen Gedichts grundsätzlich einschloß.143 Auch das durch Herausstellung der »liedartigen« im Vergleich zur »arienartigen« Form akzentuierte Moment der Gattungsreinheit läßt eine deutliche Anlehnung an das Liedideal des späteren 18. Jahrhunderts erkennen. Die für Schuberts Liedkompositionen typische intrikate Verschränkung beider Stilebenen wird indes nicht einbezogen, wohingegen die Hervorhebung einer »wesentlich entwickelten« Klavierbegleitung durchaus auf den von Schubert geprägten Liedtypus anspielen mag. Der Verweis auf Ritornelle und Überleitungen zwischen einzelnen »Sätzen«144 scheint wiederum – neben dem Bezugspunkt einer kaum dokumentierten improvisatorischen Praxis – eher auf Beethovens Zyklus An die ferne Geliebte op. 98 als Modell hinzudeuten. Obwohl sie sich ob ihrer Originalität aus der Perspektive des 19. Jahrhunderts als eine Art gattungshistoriographischer Initialpunkt anbietet, hatte diese Komposition allerdings im Gegensatz zu Schuberts Zyklen kaum paradigmatische Ausstrahlung auf die Entwicklung des Liederzyklus’ als musikalischem Genre. Überraschend erscheint schließlich Dommers Vergleich des zuvor deutlich als Erscheinungsform der lyrischen Dichtung verorteten produktionsästhetischen Modells ›Liederzyklus‹ mit der »dramatisierenden Solocantate« des 17. und 18. Jahrhunderts. Eine Verortung, die in gewisser Weise mit Stockhausens Auffassung der Schubert-Zyklen zu korrespondieren scheint, indem sie ein monodramatisches Moment in den Vordergrund rückt. In der hier allerdings letztlich zum Ausdruck gebrachten gattungshistoriographischen Konfusion, die zum einen an traditionellen Paradigmen festhält, neuere Entwicklungen aber durchscheinen läßt und entsprechende Zuordnungen trifft, spiegelt sich aber vor allem eine charakteristische Ambivalenz des hier versuchsweise gattungsästhetisch profilierten ästhetischen Phänomens ›Liederzyklus‹ zwischen zeitgenössischer Literaturund Musikpraxis ab, wie sie auch an den hier eingehender beleuchteten aufführungspraktischen Arrangements Stockhausens bezüglich der großen Zyklen Schuberts deutlich wurde. Der Liederzyklus des 19. Jahrhunderts erscheint vor solchem Hintergrund als eine Art Vexierbild; als ein intermedialer Gelenkpunkt, der sich in besonderem Maße eignet, die Relation von textueller und performativer Dimension innerhalb der in erster Linie als textzentriert geltenden Musikkultur des späteren 19. Jahrhunderts zu profilieren: Als aus historischer Perspektive in einer sozialen Praxis grundiertem performativen Phänomen verbindet er sich im frühen 19. Jahrhundert sowohl mit editionspraktischen Strategien145 als auch mit einem aus der Entwicklung 143 Vgl. John Daverio, The Song Cycle: Journeys Through a Romantic Landscape [revised and afterword by David Ferris], in: German Lieder in the Nineteenth Century, hg. von Rufus Hallmark, New York 22010, S. 363f. 144 Unklar bleibt, ob mit Dommers Begriff »Satz« hier ein abgeschlossener musikalischer Großoder Binnenabschnitt gemeint ist, da Ritornelle als strukturelle Kategorie eher der letzteren, Überleitungen eher der ersteren Ebene zuzuordnen wären. 145 Vgl. Daverio, The Song Cycle, S. 366f.

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7 ›Schubert-Sänger‹: Julius Stockhausen

des lyrischen Gedichtzyklus’ übergreifenden, zum Werkhaften tendierenden ästhetischen Gestaltungsmodus, der in den Lyrikzyklen der romantischen Dichter gewissermaßen kulminiert. 146 Grundsätzlich rechnete die Idee des Zyklischen nun auch mit virtuellen Korrespondenzen einzelner nicht direkt aufeinander folgender Elemente, was dazu führte, daß die Anlage lyrischer Zyklen gleichzeitig von kreisförmigen wie linearen Strukturen bestimmt sein konnte. Neben der lyrischen Schicht sind damit häufig auch epische und dramatische Momente bestimmbar147, wie sich gerade an den von Schubert vertonten Zyklen Wilhelm Müllers besonders in ihrer performativen Verwirklichung durch Stockhausen exemplifizieren läßt. 148 Als performatives, in der Zeit entfaltetes, Ereignis indes rückt bei einem werkhaft gefaßten Liederzyklus wie Schuberts Schöner Müllerin oder Winterreise sowohl hinsichtlich der Rezeption der Dichtung als auch mit Blick auf die Wahrnehmung der Musik der lineare Ablauf in den Vordergrund – ungeachtet dessen, wie stark diese Ebene innerhalb des dichterischen Zyklus’ bereits akzentuiert erscheint.149 Dies läßt sich z. T. mit einer tendentiellen wirkungsästhetischen Dominanz der musikalischen Schicht im Moment der Aufführung begründen150, die durch Schuberts vertonungsästhetische Strategie noch verstärkt wird: Während etwa Goethes Liedästhetik aus diesem Phänomen noch die bewußte Konsequenz einer planvoll sich unterordnenden resp. ›ergänzenden‹ Vertonungsart gezogen hatte, wurde durch Schuberts Lieder das sich aus der norddeutschen Tradition herleitende kulturelle Verständnis des Kunstliedes als ›Gedicht-Vertonung‹ gleichsam umgewertet und dessen musikalische Dimension neu vermessen. Die wirkungsästhetische Dominanz der Musik im Moment ihres Erklingens konnte allerdings mit Blick auf die hier zur Debatte stehenden integralen Aufführungen Schubertscher Liederzyklen offenbar in der Musikwahrnehmung des mittleren und späteren 19. Jahrhunderts nicht die im musikkritischen Diskurs omnipräsente Gefahr der Monotonie bannen, wodurch der Fokus wiederum auf die literarische Vorlage des Zyklus’ gerichtet scheint. Gerade aus einer die Ereignishaftigkeit der Aufführung in den Vordergrund rückenden Perspektive wird trotz Schuberts autonomer musikalischer Schicht die Notwendigkeit einer Ausrichtung des Vortragenden am literarischen Text eingefordert, wie die folgende Einschätzung Hanslicks zeigt: Lyrische Cyclen wie die Müllerlieder, welche den doppelten Vorteil eines strengen Zusammenhangs und einer reicheren musikalischen Abwechslung besitzen, bilden [...] schon für die

146 Vgl. Ingo Müller, »Eins in Allem und Alles in Einem«. Zur Ästhetik von Gedicht- und Liederzyklus im Lichte romantischer Universalpoesie, in: Wort und Ton, S. 247. 147 Vgl. Günter Schnitzler: Zyklische Prinzipien in Dichtung und Musik, in: Übergänge zwischen Künsten und Kulturen, hg. von Henriette Herwig, Stuttgart 2007, S. 321‒336, bes. S. 321. 148 Vgl. Ewald Zimmermann, Der Liederzyklus – musikalische Form oder Anordnungsprinzip?, in: SJb 1996, S. 36. 149 Vgl. Rebecca Grotjahn, Rätsel und Lektüren. Zur Zyklizität von Robert Schumanns Liederkreis »Myrthen« op. 25, in: Gattungsgeschichte als Kulturgeschichte, hg. von Christine Siegert, Hildesheim [u. a.] 2008, S. 149‒162. 150 Vgl. Hans Heinrich Eggebrecht, Vertontes Gedicht. Über das Verstehen von Kunst durch Kunst, in: Dichtung und Musik. Kaleidoskop ihrer Beziehungen, hg. von Günter Schnitzler, Stuttgart 1979, S. 49.

7.4 Stockhausens Schubert-Zyklen

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zusammenhängende Recitation eine schwierige Aufgabe. Sie vollständig zu lösen, wird nicht jedem trefflichen Liedersänger gelingen, sondern nur den wenigen daraus, die, wie Stockhausen, über einen reicheren Wechsel von Stimmungs- und Ausdrucksschattierungen verfügen.151

Ähnlich Goethes Forderung einer nuancierten Deklamation im Strophenlied wird hier mit Blick auf die Gestaltung eines kompletten Liederzyklus ungeachtet der musikalischen Ebene der Gesangsvortrag als in direkter Weise durch Worte der Dichtung bestimmt angesehen, die einen »reiche[n] Wechsel an Stimmungs- und Ausdrucksschattierungen« vorschreibe. Auch Hanslick akzentuiert damit – und dies, wie man bemerken muß, ohne Müller als Dichter sonderlich hoch einzuschätzen152 – die Vorrangstellung der literarischen Existenzform des Zyklus’ – als Rezitation gehe sie gleichsam der musikalischen Version voraus bzw. bilde dessen Basis. Gerade Stockhausens in den vorangegangenen Kapiteln eingehender beschriebener aufführungspraktischer Umgang mit den großen Schubert-Zyklen deutet somit streng genommen auf ein paradoxes Phänomen hin: Bei allem Bewußtsein um die kunstvolle intermediale Verflochtenheit des neuartigen Genres spielte doch die Betonung eines Primats der literarischen Vorlage (und damit die tendentielle Herabsetzung der Vertonung zu dessen Rezeptionsstufe) eine entscheidende Rolle für eine zweifellos erfolgte zunehmende Aufwertung des ästhetischen Konzepts ›Liederzyklus‹ (und damit auch des einzelnen ›Kunstliedes‹) innerhalb der Musikkultur des 19. Jahrhunderts.153 Das Lied als musikalische Gattung bzw. Formmodell verblieb hingegen etwa gegenüber der monumentalen Sinfonik oder der elaborierten Kammermusik der Zeit auf einer inferioren Position. Stockhausens Entscheidung, bei seinen Müllerin- und Winterreise-Aufführungen deutlich den dichterischen Text über Schuberts musikalisch profilierte Dramaturgie zu stellen, läßt sich mithin einerseits in den geläufigen Kontext einer schriftund textzentrierten nationalen Hochkultur stellen, wie er als grundsätzlicher mediengeschichtlicher Referenzrahmen etwa von Friedrich Kittler beschrieben wurde.154 Zum anderen verstärkten, wie gezeigt wurde, aber Stockhausens Maßnahmen auch die durch die Vertonung ohnehin begünstigte Wahrnehmung einer linearen Dimension der Liederzyklen im Sinne einer episch-dramatischen Belebung und waren damit auf eine Steigerung der Aufführungswirkung im Sinne einer tendentiellen Theatralisierung gerichtet: Stockhausen war der erste, der es wagte, und zwar mit großem Glück wagte, statt des üblichen Sammelsuriums von unzusammenhängenden Stücken mit Franz Schuberts Schöner Müllerin, Winterreise [...] ganze Konzertprogramme zu gestalten. Diese Liederzyklen, aus denen man bis

151 Hanslick, Geschichte des Concertwesens, Bd. 2, S. 466. 152 Vgl. oben S. 258. 153 Ein aussagekräftiges Beispiel wäre hier etwa die optisch bewußt hergestellte Gleichrangigkeit Müllers und Schuberts auf dem Titelblatt der oben erwähnten Müllerin-Prachtausgabe von 1880 (vgl. oben, S. 279, Abb. 15). 154 Friedrich A. Kittler, Aufschreibesysteme 1800/1900, München 42003, bes. S. 134‒152.

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7 ›Schubert-Sänger‹: Julius Stockhausen dahin nur einzelne Blumen herauszureißen pflegte, wurden durch ihn zu dramatisch belebten Liederromanen.155

Die von Stockhausen vertretene Auffassung des Liederzylus’ gehört, wie hier deutlich wird, in historischer Perspektive letztlich in einen interpretationspolitischen Gesamtzusammenhang, in dessen Kontext sich pragmatische Entscheidungen hinsichtlich der Aufführung auf komplexe Weise mit ästhetischem Sendungsbewußtsein des Künstlers vermischten. Zwar bemühte sich Stockhausen durchaus, den Liederzyklus als den größeren instrumentalmusikalischen Formen gleichwertige Kunstschöpfung zunehmend in den Mittelpunkt des Publikumsinteresses zu rücken und damit auch innerhalb des Aufführungskultur neue Maßstäbe zu setzen. Diese Bemühungen um eine Werkintegrität des Liederzyklus’ sind indes gerade nicht allein als klingende Verwirklichung eines ›absolut‹ bzw. selbstreferentiell gedachten Autonomieprinzips auffaßbar, sondern gleichermaßen gerade von einer Ausrichtung auf die Strukturen des Konzertlebens und den Interessen des Publikums begleitet gewesen. Exemplarisch zeigt sich hier letztlich, auf welche Weise auch die Herausbildung des musikalischen Werkbegriffs als ideologisches Moment mit der kulturellen bzw. künstlerischen Praxis der Zeit verflochten sein konnte. Die hier am Beispiel der Schubert-Interpretationen Stockhausens aufscheinende Verwobenheit von textueller und performativer Ebene der musikalischen Kultur im Sinne eines »erweiterten Werkbegriff[es] [...], der die Entstehung, Aufführung und Rezeption von Musik miteinschließt«156 soll nun schließlich unter Beibehaltung der Perspektive ›Kunstlied als Interpretation‹ eingehender beleuchtet werden.

155 Paul Wittko: Der Meistersänger des deutschen Liedes, in: Unterhaltungsblatt, Beilage zu Nr. 537, zitiert nach Hofmann, Julius Stockhausen als Interpret der Liederzyklen Robert Schumanns, S. 34. 156 Vgl. Borchard, Stimme und Geige, S. 437.

8 LIEDKUNST UND KULTURELLE INSZENIERUNG Man möchte sagen, es gehört bei uns nunmehr zum guten Ton, sich alljährlich am 1. März [...] zu treffen und von [Gustav] Walter Schubert vorsingen zu lassen. Freilich hat sich die Mode noch nie ein würdigeres Object zur Durchführung ihrer Tyrannei erkoren: Wo gibt es herrlichere Lieder, wo einen herrlicheren Lieder-Vortrag?1

8.1 LIEDGESTALTUNG ALS ›INTERPRETATION‹ 8.1.1 Max Friedlaenders Schubert-Album Allen aufführungspraktischen Strategien zum Trotz zeigt sich Stockhausens kulturelles Handeln, wie bereits anklang, auch von einem Wandlungsprozeß beeinflußt, der spätestens in den 1860er Jahren als abgeschlossen betrachtet werden kann: Zunehmend war die Musikkultur von einer Fokussierung des gedruckten Notentextes geprägt, der als direkte Repräsentation des überzeitlich gültigen musikalischen ›Meisterwerks‹ aufgefaßt wurde. Diese Entwicklung war sowohl mit Wandelerscheinungen hinsichtlich der performativen Präsentation musikalischer Werke als auch mit erheblichen Kompetenzverschiebungen im Bereich der Musikrezeption verbunden. Besonders ein an das gebildete bürgerliche Publikum gerichtetes musikbezogenes Schrifttum beförderte den von Leon Botstein beschriebenen Prozeß einer Interdependenz von sprachlicher und ehemals autonom-musikalischer Literalität: Musikalische Textkompetenz wurde immer enger mit sprachlicher verwoben, die Koordinaten des musikalischen Bildungsbegriffs verschoben sich zunehmend.2 Vor allem eine Gleichsetzung der Notenzeichen mit Buchstaben, als deren Folge

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Theodor Helm in: Frommes Musikalische Welt. Notiz-Kalender für das Jahr 1879, Wien 1879, S. 62. Vgl. Leon Botstein, Listening Through Reading, in: 19thCM 16/2 (1992), S. 129−145, S. 130: »With the expansion of the musical public during the nineteenth century, the significance of interconnected literacies became central; ordinary literacy and musical literacy became inextricably intertwined ultimately interdependent. Extensive reading (and talking) about music, for example became an indispensable mechanism for becoming acquainted and comprehending music. By the end of the nineteenth century, the interdependency of ordinary literacy and musical literacy in turn helped to alter the character of musical literacy itself and the standards and norms of musical connoisseurship.«

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8 Liedkunst und kulturelle Inszenierung

musikalische Kompositionen als literarische Erzeugnisse gewertet werden konnten, war ein entscheidender Wendepunkt innerhalb dieses Prozesses.3 Die spätestens seit Johann Mattheson im Musikdiskurs präsente Idee einer grundsätzlich mit einer musikalischen Sinnebene jenseits der wortsprachlichen Semantik operierenden Musik-Sprach-Analogie4 hatte im mittleren 19. Jahrhundert die spezifische Ausprägung einer metaphysisch aufgeladenen ›Ton-Sprache‹ angenommen. Sie wurde damit zum zentralen Argument einer Aufwertung des Notentextes von einer bloßen Handlungsanweisung zu seiner klingenden Verwirklichung zum Träger- bzw. Speichermedium künstlerischer Ideen und damit geistigen Eigentums.5 Verbunden mit diesem Statuswandel des Notentextes war auch die Konsequenz seiner Historisierung, seiner Monumentalisierung und seiner in diesem Zuge erfolgenden Ideologisierung zum gleichsam kultisch verehrten Objekt, dem nun eine bisher ungekannte philologische Aufmerksamkeit zuteil wurde. Nach der Jahrhundertmitte setzte etwa auch mit Blick auf Schuberts Schöne Müllerin eine Diskussion ein, die die Frage nach der ›authentischen‹ Gestalt des Liederzyklus’ in den Mittelpunkt rückte. Der Wert der 1830 von Anton Diabelli herausgebrachten Edition wurde entschieden angezweifelt, da hier, wie bereits ausgeführt, etliche Abweichungen gegenüber der im Verlag Sauer & Leidesdorf erschienenen Erstausgabe von 1824 aufzufinden seien, deren Urheberschaft man nicht Schubert, sondern dem Sänger Johann Michael Vogl zuschrieb. Gemeinsam mit dem Wiener Kapellmeister, Komponisten und ehemaligem Schubert-Konviktgenossen Benedikt Randhartinger besorgte der Wiener Gesangspädagoge Joseph Gänsbacher 1864 eine neue Edition der Schönen Müllerin, die erstmals wieder auf die Erstausgabe von 1824 zurückgriff, um dem Liederzyklus mit der Bereitstellung einer philologisch verifizierten Referenzausgabe nun endgültig den Status des ›authentischen‹ Kunstwerks zusichern zu können.6 Zudem sollte gezielt das weitere Rezeptionsverhalten des Publikums umgeformt werden, denn letztlich hatte sich offenbar rund 40 Jahre lang niemand ernsthaft daran gestört, die Lieder in der Diabelli-Fassung zu musizieren und zu hören – sie war sogar zur Grundlage für die beginnende europäische Rezeption des Liederzyklus’ geworden.7 So meldet sich Gänsbacher 1868 im Leipziger Tageblatt mit einer nochmaligen Zusammenfassung der Vorgänge in Wien zu Wort: Er brandmarkt die ›Untaten‹ sowohl der Diabelli-Ausgabe als auch ihrer Folge- und Nachdrucke und richtet post mortem schwerwiegende Vorwürfe an Johann Michael Vogl als vermeintlichem 3

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Den dieser Entwicklung zugrundeliegenden juristischen Diskurs hat Friedemann Kawohl eingehender untersucht: Vgl. ders., Urheberrecht der Musik in Preussen (1820−1840), Tutzing 2002. Vgl. Janina Klassen, Klang-Rede und musikalische Syntax, in: Musik und Ästhetik 11 (2007), S. 43‒61. Vgl. Kawohl, Urheberrecht der Musik, S. 15ff. Franz Schubert, Die schöne Müllerin. Ein Cyclus von Liedern. Gedichte von W. Müller. Für eine Singstimme mit Begleitung des Pianoforte, op. 25. Neue, einzig rechtmäßige Ausgabe. Nach der ersten Auflage von Herrn Hofcapellmeister J. B. Randhartinger revidirt, Wien 1864. Vgl. zum Folgenden: Miklós Dólinsky, »Die schöne Müllerin« ‒ eine authentische Fälschung? Neue Dokumente zur Vorgeschichte der Diabelli-Ausgabe, in: Mf 5 (1999), S. 322‒330.

8.1 Liedgestaltung als ›Interpretation‹

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Verantwortlichen. In der Leipziger AMZ desselben Jahrgangs findet sich dann ein Beitrag aus der Feder Selmar Bagges, der den »Streit über Schuberts Müllerlieder«8 endgültig zur öffentlichen Angelegenheit macht und Gänsbachers Stellungnahme nochmals in Gänze abdruckt, »um unsere Leser in dieser Sache zu orientiren«.9 Der promovierte Jurist Gänsbacher vermerkt überdies mit einiger Verwunderung, daß »sogar die sogenannten Stockhausen-Ausgaben«10 der Diabellischen Lesart folgten. Zu Beginn der 1860er Jahre hatte der Verlag Spina, wohl in direktem Zusammenhang mit Stockhausens Wiener Auftritten, nämlich bereits eine Müllerin-Ausgabe auf den Markt gebracht, die den prominenten Namen des Sängers auf dem Titelblatt anführt und ihn damit gezielt als Marketingstrategie nutzte. In dieser durchweg in Bariton- bzw. Altlage transponierten Edition finden sich jedoch weiterhin die auf die Diabelli-Ausgabe zurückgehenden Abweichungen. Zudem unterlief Spina das Malheur, den ursprünglichen Widmungsträger des Zyklus’, Carl Baron von Schönstein, auf dem Titelblatt vollständig zu verschweigen, was Schönstein zu einigermaßen ungehaltenen Protestaktionen veranlaßte, die den Verleger offenbar dazu brachten, die Ausgabe zurückrufen zu lassen und das Titelblatt nachzukorrigieren.11 Ob nun Stockhausen, wie Schönstein behauptet, persönlich diese Ausgabe bei Spina in Auftrag gegeben hat, lässt sich derzeit nicht beantworten. Hätte er es, dann wäre davon auszugehen, daß auch Stockhausen in seinen Konzerten die Diabelli-Verzierungen sang, wie dies eben Spinas Ausgabe explizit suggeriert. Weitere Hinweise darauf sind indes nicht bekannt, und auch im 1884 erschienenen Supplement zum in diesem Kapitel noch eingehender zu behandelnden Schubert-Album der Edition Peters lässt Stockhausen seinen ehemaligen Schüler Max Friedlaender versichern, er habe die Erstausgabe von 1824 als Studien- bzw. Auf-

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Selmar Bagge, Der Streit über Schuberts Müllerlieder, in: AMZ 3 (1868), S. 36. Ebd. Gänsbacher zitiert nach: Max Friedlaender, Schubert-Album. Sammlung der Lieder für eine Singstimme mit Pianofortebegleitung von Franz Schubert. Nach den ersten Drucken rev. von Max Friedlaender, Supplement. Varianten und Revisionsbericht zum ersten Bande der Lieder von Franz Schubert, Leipzig 1884, S. 3f. Vgl. dazu Renate Hilmar-Voit, »Die schöne Müllerin« und ihre Folgen. Neue Dokumente, neue Quellen und neue Probleme, in: Schubert durch die Brille 17 (1997), S. 19‒26: In einem Brief an Karl von Holtei vom 15.1.1873 wirft Schönstein Stockhausen vor, die Ausgabe nach Auskunft des Verlegers Spina eigenmächtig in Auftrag gegeben zu haben, woraufhin er selbst veranlaßt habe, sie zurückzurufen und nachzukorrigieren. Als Beweis führt der offenkundig persönlich stark gekränkte Schönstein an, daß Stockhausen, mit dem er »in früherer Zeit wohlbefreundet gewesen, bei seiner letzten Anwesenheit in Wien aufzusuchen nicht die Courage« gehabt habe (zit. ebd., S. 20). Hilmar-Voit vertritt die Auffassung, daß das Erscheinen einer Stockhausens Namen auf dem Titelblatt zitierenden Ausgabe sich einzig mit einem direkten Auftrag Stockhausens erklären ließe (ebd., S. 22), was angesichts der von Spinas Seite bereits früher erfolgten Reaktionen auf Stockhausens Auftritte durchaus zur Diskussion zu stellen wäre. Ein Digitalisat der betreffenden, Schönsteins Namen tatsächlich gänzlich verschweigenden, Edition wird indes mittlerweile durch die Bayerische Staatsbibliothek zur Verfügung gestellt (vgl. Bibliographie/Verzeichnis der Notendrucke).

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8 Liedkunst und kulturelle Inszenierung

führungsmaterial verwendet und lediglich dem Verlag gegenüber die Tonarten notwendiger Transpositionen angegeben.12 Diese indirekte Aussage Stockhausens läßt sich dadurch stützen, daß der Sänger bei seinem legendären Wiener Müllerin-Auftritt 1856 von Bendikt Randhartinger am Klavier begleitet wurde, der gemeinsam mit Gänsbacher für die Ausgabe von 1864 verantwortlich zeichnet.13 All dies würde dafür sprechen, daß Stockhausen die ›Müllerlieder‹ offenbar anders sang, als ein Großteil des musikinteressierten Publikums der 1860er und -70er Jahre (und zwar auch außerhalb Wiens) sie gewohnt war, zu hören und selbst zu musizieren.14 In diese Richtung weist neben Gänsbachers oben zitierter verwunderter Aussage (vgl. Anm. 10) etwa auch eine 1867 im Leipziger Verlag Bartholf Senff erschiene Ausgabe der Schönen Müllerin, die die in der Wiener Ausgabe von 1864 getilgten Abweichungen wieder aufnimmt. Als Reaktion auf Randhartingers Edition betont der Herausgeber Julius Rietz, es wäre ein »offenbares Unrecht [...] Veränderungen, wie sie alle Welt kennt, neuerdings zu unterdrücken.«15 Die Quellensituation der Müllerin stellt sich aus unserer Sicht naturgemäß ungleich komplexer dar als dies den damaligen Verfechtern einer ›authentischen‹ Version des Notentextes geläufig sein konnte. Hinsichtlich einiger der umstrittenen Eingriffe ließ sich etwa mittlerweile feststellen, daß hier möglicherweise Schubert selbst offenbar nachträgliche Änderungen gebilligt habe, da sich ein Exemplar der in fünf Einzelheften erschienenen Erstausgabe aus dem Besitz Caroline Esterházys auffinden ließ, in dem in einem Fall eine direkte Vorstufe der Diabelli-Ausgabe in Form einer Bleistiftkorrektur nachweisbar ist. Da das zweite Heft Schönsteins Namenszug trägt, ist davon auszugehen, daß Caroline Esterházy oder der Widmungsträger selbst womöglich in Absprache mit Schubert diese Änderungen vorgenommen hatten. Schönstein, der sich 1871 höchst empört über die »Stockhausen-Ausgabe« zu Wort meldete und seinerseits von »jämmerlichen Abweichungen« spricht, konnte insofern kaum die von ihm selbst gesungenen Änderungen im Auge gehabt haben. 16 Inwiefern die Diabelli-Ausgabe somit möglicherweise sogar Änderungen durch Schuberts eigene Hand enthält, muß nach derzeitigem Kenntnisstand offen bleiben. In jedem Fall ist davon auszugehen, daß auch nach dem Erstabdruck 1824 eine Fülle von Varianten die Aufführungsgeschichte der Lieder bestimmten und auf 12

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In Stockhausens Nachlaß findet sich kein Exemplar der Erstausgabe von 1824, wohl aber eines der Diabelli-Ausgabe sowie einige Peters-Bände I, die wiederum die von Friedlaender erstellte Version des Schubertschen Notentextes enthalten. Konkrete Aussagen zu Stockhausens Aufführungspraxis der mittleren 1850er–1870er Jahre können vor diesem Hintergrund allerdings derzeit nicht getätigt werden. Vgl. Wiener Zeitung Nr. 104 (1856), S. 414. Ob dies der Beweggrund für Spina war, am Text der Ausgabe von 1830 festzuhalten, oder ob ihm gar entgangen sein sollte, welche Version Stockhausen im Konzert sang, wird sich kaum eindeutig beantworten lassen. Julius Rietz im Vorwort zu: Die schöne Müllerin. Ein Cyclus von Liedern. Gedichte von Wilhelm Müller. Für eine Singstimme mit Begleitung des Pianoforte in Musik gesetzt und Herrn Carl Freiherrn von Schönstein gewidmet von Franz Schubert. Op. 25. Neue Ausgabe. Revidirt von Julius Rietz, Leipzig [ca. 1867]. Vgl. Hilmar-Voit, »Die schöne Müllerin« und ihre Folgen, S. 20. Zitat Schönstein ebd.

8.1 Liedgestaltung als ›Interpretation‹

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unterschiedlichen Wegen in die Diabelli-Ausgabe einflossen, wo sie letztlich zum notierten Text gerannen.17 Diese kleine Episode aus der ineinander gewobenen Veröffentlichungs- und Aufführungsgeschichte des Schubertschen Müllerin-Zyklus’ verdeutlicht mithin exemplarisch, wie sich im zeitgenössischen Bewusstsein letztlich verschiedene Konstruktionen von ›Authentizität‹ miteinander verschränkten:18 Einerseits wird augenfällig, wie das Ideal eines ›geistfähigen‹ Notentextes in den 1870er Jahren zum musikalischen Repräsentationsmodell eines objektiven Authentizitätsbegriffs avanciert war; zum anderen aber wurde dieses Ideal gleichsam von der Kategorie einer ›subjektiven Authentizität‹ des Interpreten oder der Interpretin – erfahrbar sowohl durch die Präsenz als auch durch die Ausstrahlung seines oder ihres kulturellen Handelns – überblendet: Der Hintergrund der von Spina veröffentlichten »Stockhausen-Ausgabe« etwa mag in erster Linie eine ökonomische Strategie gewesen sein; erfolgversprechend konnte diese Strategie indes gerade vor dem Hintergurnd eines Intepretationsbegriffs sein, der die ›Authentizität‹ einer Interpretation durch den Interpreten Stockhausen selbst verkörpert sah, unabhängig davon, welche der verschiedenen kursierenden Versionen des Notentextes er tatsächlich gesungen haben mag.19 Den expliziten Anspruch auf eine »einzig rechtmäßige Ausgabe« formulieren daher folgerichtig sowohl Spina 1860 als auch Randhartinger/Gänsbacher 1864. Das als kulturelles Leitbild fungierende Ideal der ›Authentizität‹ war mithin keineswegs eine Kategorie von intersubjektiver Gültigkeit, sondern, wie hier deutlich wird, letztlich in ein komplexes Gewebe aus aufführungspraktischen Traditionen, verlegerischem Pragmatismus und gezielt geformten Interpreten-Bildern verstrickt Während in den Jahrzehnten nach Schuberts Tod in erster Linie Kritiker, Komponisten und Interpreten maßgeblich die Schubert-Rezeption bestimmt hatten, formierte sich seit den Arbeiten Reißmanns und Kreißles in den 1860er Jahren allmählich auch eine philologisch orientierte Schubert-Forschung: Wichtige Pionierarbeiten waren etwa George Groves Recherchen in Wien 1867 und Gustav Nottebohms erstes Werkverzeichnis von 1874, das schließlich im Projekt der ersten SchubertGesamtausgabe gipfelte, mit der Mitte der 1880er Jahre auch die symbolische Monumentalisierung der Werke Schuberts endgültig erfolgt war.20 Vor diesem Hintergrund stieg vor allem für das professionelle Musizieren auf dem Konzertpodium, 17

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Hilmar-Voit verweist überdies zurecht darauf, daß zwischen Erstdruck der Müllerin und dem Tod Schuberts »gute vier Jahre Aufführungsgeschichte zumindest einzelner Lieder des Zyklus’« lagen, innerhalb der sich »Schuberts Einstellung zu seinen Intentionen mit der Praxis« auch geändert haben könnten (ebd., S.25). Vgl. grundsätzlich Susanne Knaller, Ein Wort aus der Fremde: Geschichte und Theorie des Begriffs Authentizität, Heidelberg 2007. Von hieraus ließe sich auch eine Verbindunglinie zu den für die zweite Jahrhunderthälfte typischen instruktiven Ausgaben (etwa Clara Schumanns oder Hans von Bülows) ziehen die, gleichfalls geprägt von einer Verschränkung ökonomischer und ästhetischer Aspekte, letztlich die ›Authentizität‹ einer klingenden Interpretation repräsentieren sollten. Vgl. Ernst Hilmar, Art. Forschung, in: SE, S. 208‒211.

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8 Liedkunst und kulturelle Inszenierung

aber auch mit Blick auf die private Musikpraxis der Bedarf nach philologisch aufgearbeiteten Aufführungsmaterialien. Der Leipziger Peters-Verlag hatte in der zweiten Jahrhunderthälfte das ambitionierte Projekt einer Herausgabe der »Werke unserer grossen Componisten in wohlfeilen, dabei aber doch kritisch-correcten Ausgaben«21 durchgeführt, in dessen Zuge nach einer 1867 erschienenen Edition Beethovenscher Klaviersonaten bereits seit 1871 auch ein sechsbändiges SchubertAlbum veröffentlicht und dabei als Quellen neben gängigen Notendrucken auch Handschriften herangezogen.22 Mitte der 1870er Jahre erteilte der Verlag dann Stockhausenens ehemaligem Gesangsschüler Max Friedlaender23 den Auftrag, das Projekt einer Revision des dezidiert auf die musikalische Praxis ausgerichteten Schubert-Albums zu verwirklichen, das in dieser Form zeitgleich zur u. a. von Brahms und Eusebius Mandyszewski betreuten Schubert-Gesamtausgabe schließlich ab 1884 erschien. Friedlaenders bereits öfter erwähnte, »einem rein künstlerischen Zwecke dienende«24 sechsbändige Edition ‒ die ab 1887 auch einen siebten Band mit bisher unveröffentlichten Liedern umfaßte 25 ‒ erlebte bekanntermaßen eine enorme Erfolgsgeschichte. Sie prägt die musikalische Praxis letztlich bis heute und soll im folgenden als Zeugnis einer Verflechtung von Schubert-Rezeption und Kunstliedkultur des späteren 19. Jahrhunderts etwas genauer in den Blick genommen werden. In Wien weilt gegenwärtig der Concertsänger Max Friedlaender, der seitens der C. F. Petersschen Verlagshandlung in Leipzig mit einer kritisch revidierten Ausgabe der Lieder Franz Schubert’s betraut worden ist. Das Material ist ihm durch die Archive in Wien und Berlin, sowie die Herren E. v. Bauernfeld, Dr. Johannes Brahms, Nikolaus Dumba, Sir George Grove, Dr. Franz Lachner, Geh. Rat von Loeper, Karl Meinert, Professor F. Max Müller (Oxford), Professor Julius Stockhausen, Graf Victor Wimpffen und Frau Clara Schumann freundlichst zur Verfügung gestellt worden. [...]26

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Vgl. Katalog der Edition Peters, Leipzig 1900, S. V. Vgl. Arnold Feil/Walther Dürr, Kritisch revidierte Gesamtausgaben von Werken Franz Schuberts im 19. Jahrhundert, in: Musik und Verlag, hg. von Richard Baum/Wolfgang Rehm, Kassel [u. a.] 1968, S. 269‒278, darin: Walther Dürr, Die Lieder-Ausgabe in der Edition Peters, S. 274. Max Friedlaender studierte Gesang bei Manuel Garcia und in Stockhausens privater Gesangsschule in Frankfurt. Seit 1884 betrieb er musikwissenschaftliche Studien bei Philipp Spitta in Berlin und wurde 1887 mit einer Arbeit zur Biographie Schuberts promoviert. Die Habilitation erfolgte 1895. Seine Editionen der Lieder Glucks, Haydns, Schuberts, Schumanns, Mendelssohns, Brahms’, Cornelius’, Loewes und Franz’ prägten die Musizierkultur des 19. und 20. Jahrhunderts in erheblicher Weise. Vgl. Christoph Schwandt, Art. Friedlaender, Max, in: MGG2, P/Bd.7, Sp. 135f. Neue freie Presse 16.10.1883, zitiert nach: Franz Krautwurst, Aus der Frühgeschichte der Schubert-Forschung. Briefe von Carl Ferdinand Pohl an Max Friedlaender, in: Neues musikwissenschaftliches Jahrbuch 2 (1983), S. 91. Dürr, Die Lieder-Ausgabe in der Edition Peters, S. 274. Hanslick in der Neuen freien Presse am 16. Oktober 1883, zitiert nach: Krautwurst, Aus der Frühgeschichte der Schubert-Forschung, S. 91.

8.1 Liedgestaltung als ›Interpretation‹

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Diese in der Wiener Neuen freien Presse des Jahres 1883 aufzufindende Notiz aus der Feder Eduard Hanslicks, die auch in vielen weiteren deutschsprachigen Zeitungen veröffentlicht wurde, markiert gewissermaßen den Ausgangspunkt des Projekts und betont gleichzeitig dessen Relevanz innerhalb der kulturellen Praxis: Der Aufruf wendet sich direkt an Besitzer von Autographen und Abschriften – Kulturerzeugnisse, die bereits als sakrale Objekte gesammelt wurden – um die Möglichkeit zu schaffen, auch das praktische Musikleben im öffentlichen wie im privaten Bereich an einem Notentext auszurichten, der sich auf Augenhöhe mit dem philologischen Standard der Gesamtausgabe befinden sollte. Man war gleichwohl davon ausgegangen, daß Käufer des ersten Bandes nicht unbedingt die weiteren Volumina auch erwerben würden, wodurch den in Band I – dem eigentlichen, auch in Prachtausgaben veröffentlichten Schubert-Album – versammelten Liedern eine besonders repräsentative Funktion zufällt. Vor allem die weiterhin florierende private Musizierkultur der großbürgerlichen Schicht sollte in dieser Ausgabe eine Art kulturelles Statussymbol sehen. Ferdinand Pohl, der als damaliger Archivleiter der Gesellschaft der Musikfreunde tätig war, und mit dem Friedlaender bei seinen Recherchen in Wien in engeren Kontakt geriet, schrieb etwa zu Weihnachten 1884 an den Herausgeber: Ihr vortreffliches Heft Schubert sammt Suplement gebe ich, schön gebunden, meinem Freunde Dr. Daum, der seit 2 Monaten verheiratet ist und dessen Frau hübsch singt; so haben Beide etwas davon, denn er begleitet seine Sonne am Clavier.27

Eine entscheidende Formung der Rezeption hatte bereits der Verlag Edition Peters und später Friedlaender indes dadurch vorgenommen, daß die von Schubert festgesetzte Anordnung der Lieder als Opera aufgelöst und – verteilt auf sechs Bände – eine neue Reihenfolge zusammenstellt wurde. Die Chronologie der Opus-Veröffentlichungen bzw. der Diabellischen Nachlaßlieferungen behielt man zwar zunächst bei, allerdings wurden immer wieder einzelne Lieder und zuweilen auch ganze Opera ausgelassen. Friedlaender sah, wie Walther Dürr betont, die von Schubert unveränderten Erstdrucke als maßgebliche Quellen, als ›Fassungen letzter Hand‹, an. Frühfassungen und Varianten in Handschriften wurden insofern zwar registriert, aber als ›unvollkommene‹ Vorstadien bei der Edition nicht berücksichtigt. Im ersten Band der Sammlung erschienen somit 14 Lieder in der durch den Peters-Verlag vorgenommenen Reihenfolge der Opuszahlen, acht weitere kamen noch ohne ersichtliche Ordnung hinzu. Die neben den großen Zyklen so zunächst durch den Verlag ausgewählten 22 Lieder wurden von Friedlaender ab der 1886 erschienenen Neuauflage des Schubert-Albums durch weitere zwölf Lieder erweitert, die allerdings alle bereits in den anderen Bänden abgedruckt waren und daher letztlich durchgängig doppelt vertreten sind.28 Die folgende Aufstellung führt die verschiedenen Auswahlvorgänge bis zur endgültigen, von Friedlaender als repräsentativ erachteten Repertoirezusammenstellung vor Augen: 27 28

Ferdinand Pohl an Friedlaender am 22. Dezember 1884, zitiert nach Krautwurst, Aus der Frühgeschichte der Schubert-Forschung, S. 107. Vgl. Dürr, Die Lieder-Ausgabe in der Edition Peters, S. 274f., Anm. 6.

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Schubert-Album Bd. I (Peters/Friedlaender) Ausgewählte Lieder _____________________________________ Auswahl Edition Peters (1871) Erlkönig Gretchen am Spinnrade Heidenröslein Der Wanderer Lob der Tränen Sei mir gegrüßt Frühlingsglaube Die Forelle Die junge Nonne Ave Maria Des Mädchens Klage Du bist die Ruh Lied der Mignon Auf dem Wasser zu singen ........................................... Der Tod und das Mädchen Rastlose Liebe Schäfers Klagelied Jägers Abendlied Wanderers Nachtlied Romanze aus Rosamunde Geheimes Ständchen (Shakespeare) Zusätzliche Auswahl Max Friedlaender (1886) An die Musik Lachen und Weinen Nacht und Träume Litanei Nähe des Geliebten Ganymed Jägers Liebeslied Lied eines Schiffers an die Dioskuren An die Nachtigall Der Musensohn Das Rosenband Liebe schwärmt auf allen Wegen

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Bereits ein kursorischer Blick in Hofmeisters Handbuch der musikalischen Literatur seit den 1840er Jahren bis zur Veröffentlichung des ersten Schubert-Albums durch die Edition Peters im Jahr 187129 verdeutlicht, wie sehr die Auswahl des Verlags und Friedlaenders mit bereits bestehenden zeitgenössischen Repertoirepräferenzen korrespondierte:

Abbildung 17: Ausschnitt aus »Hofmeisters Handbuch der musikalischen Literatur« (1868)

Der im hier abgebildeten Ausschnitt des Handbuchs aufgeführte, bei Spina Mitte der 1860er Jahre erschienene, Schubert-Sammelband umfaßt bereits nahezu sämtliche auch vom Peters-Verlag für die Ausgabe von 1871 ausgewählten Lieder und auch weitere bei Hofmeister verzeichnete nach 1866 erschienene Serien und Einzelausgaben etwa der Verlage Müller und Schlesinger (Berlin), Litolff (Braunschweig) und Breitkopf & Härtel (Leipzig), die vor dem ersten Schubert-Album 29

C. F. Whistling’s Handbuch der musikalischen Literatur oder allgemeines systematisch-geordnetes Verzeichniss der in Deutschland und in den angrenzenden Ländern gedruckten Musikalien, 3., bis zum bis zum Anfang des Jahres 1844 ergänzte Auflage, hg. von Adolphe Hofmeister. Leipzig 1845; Erster Ergänzungsband: Die vom Januar 1844 bis Ende Jahres 1851 neu erschienenen und neu aufgelegten musikalischen Werke enthaltend, Leipzig 1852; Fünfter Band oder zweiter Ergänzungsband. Die von Anfang 1852 bis Ende 1859 neu erschienenen und neu aufgelegten musikalischen Werke enthaltend, Leipzig 1860; Sechster Band oder dritter Ergänzungsband. Die von Anfang 1860 bis Ende 1867 neu erschienenen und neu aufgelegten Werke enthaltend, Leipzig 1868; Handbuch der musikalischen Literatur oder Verzeichniss der im deutschen Reiche und in den angrenzenden Ländern erschienenen Musikalien. In alphabetischer Ordnung. Siebenter Band oder Vierter Ergänzungsband. Die von Anfang 1866 bis Ende 1873 neu erschienenen und neu aufgelegten musikalischen Werke enthaltend, Leipzig 1876.

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8 Liedkunst und kulturelle Inszenierung

1871 erschienen waren, greifen im jeweils ersten Band ihrer Editionsprojekte immer wieder auf eine überschaubare Anzahl besonders prominenter Kompositionen zurück. Friedlaenders zusätzliche Zusammenstellung von 1886 indes nimmt bis auf Nähe des Geliebten D 162 und Ganymed D 544 auch bis dahin weniger oft nachgedruckte Lieder auf. Auffällig scheint dabei allerdings, daß der Akzent auf einer nochmaligen Veröffentlichung betont melodiöser, zuweilen auch miniaturhafter Kompositionen liegt30, während, im Gegensatz etwa zu Spinas oben zitierter Ausgabe, größere balladeske bzw. dramatisierende Entwürfe wie Der Zwerg D 771, An Schwager Kronos D 369 oder Auf der Bruck D 853 nicht mit aufgenommen werden. Sie erscheinen bei Friedlaender erst in Band II. Bezeichnend ist ferner, daß das auf ein Gedicht Schobers komponierte Lied An die Musik D 547, dem mit Blick auf das biedermeierliche Schubert-Bild des späten 19. Jahrhunderts ein hoher symbolischer Wert zugewiesenen wurde, gerade nicht zu den in früheren Ausgaben favorisierten Stücken zählt. Angesichts der im Rahmen der vorliegenden Studie naturgemäß lediglich skizzierbaren Tendenzen der innerhalb des 19. Jahrhunderts erfolgenden Repertoirekanonisierungsprozesse betonte bereits Elmar Budde nachdrücklich, daß auf diese Weise letztlich auch die musikhistoriographische Auseinandersetzung mit Schubert und seinen Liedkompositionen beeinflußt wurde:31 Insgesamt lässt sich bei der Verteilung und Ausfilterung der Lieder eine eindeutige Tendenz zum Einzellied beobachten; d. h., in den Ausgaben macht sich eine Intention bemerkbar, die ohne Zweifel den Schubertschen Intentionen zuwiderläuft. Die Lieder werden als Einzellieder zu jenen schönen und inselhaften Augenblicken isoliert, die man vom Lied erwartet.32

Die mit der Ausstrahlungskraft des Friedlaenderschen Schubert-Albums auf die kulturelle Praxis verbundene Begrenzung des Repertoires im Laufe des späteren 19. Jahrhunderts trug, so die These Buddes, in entscheidender Weise dazu bei, daß Schubert mit einem gattungsästhetischen Idealtypus verbunden werden konnte, der anstatt kompositionstechnische Innovationen herauszustellen, die neben einer komplexeren Verzahnung von Musik und Sprache vor allem auch die formale Vielfältigkeit der Schubertschen Liedkompositionen im Sinne eines ›Lieder-Kosmos‹ umfassen, eine idealisierende historische Phantasie beschwor: Die zweifelhaft anmutende Behandlung von ›Schuberts Liedern‹ als unspezifischem Plural verweist somit direkt auf den nicht weniger zweifelhaften Singular des ›Schubert-Liedes‹, hinter dem sich mithin letztlich eine rezeptionsgeschichtlich determinierte Konstruktion des späteren 19. Jahrhunderts verbirgt, deren Facetten zwar variabel konstellierbar sind, im Kern aber dennoch gemeinsame Bezugspunkte haben und 30

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Dafür spricht etwa auch die Aufnahme der Ariette Liebe schwärmt auf allen Wegen aus Schuberts fragmentarischem Singspiel Claudine von Villa Bella in eine Liedersammlung. Sie wurde in Friedlaenders Klavierauszug 1885 erstmals veröffentlicht. Vgl. Elizabeth Norman McKay/ Ernst Hilmar, Art. Claudine von Villa-Bella, in SE, S. 97f. Elmar Budde, Der Flug der Zeit. Zur Erstveröffentlichung der Schubertlieder und ihrer Rezepton, in: Franz Schubert. Ein Lesebuch, hg. von der Internationalen Hugo-Wolf-Akademie für Gesang, Dichtung, Liedkunst Stuttgart, Tutzing 1997, S. 9‒31. Ebd. S. 14.

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deren Assoziation mit Schubert sich nicht zuletzt über Friedlaenders Schubert-Album gerade in besonderer Weise auf die musikalische Praxis auswirkte. Die Schubert zugeschriebene musikhistorische Rolle eines ›unbewußt‹ schaffenden Originalgenies verband sich, wie anhand anderer Beispiele bereits erörtert wurde, zunehmend mit der ideologisch gefärbten Idee einer national aufgeladenen, ästhetisierten ›Volkstümlichkeit‹, als deren exemplarische Repräsentation gerade die auch vor Erscheinen des Schubert-Albums in zahlreichen Gesamt- und Einzelausgaben nachgedruckten Lieder aus der Schönen Müllerin angesehen wurden. Auch Friedlaender selbst betont im Supplement zum Schubert-Album ausdrücklich, Vogl habe unverantwortlicherweise Schuberts »keusch-innige Weisen«, zu »italienischen Arien« ›degradiert‹33 und versichert unter Bezugnahme auf Sonnleithner, daß Schubert die Lieder nie anders gesungen bzw. singen lassen habe als in der Erstausgabe abgedruckt. Daß Vogl indes noch bis zu seinem Tod 1840 in Wien geradezu der offizielle Repräsentant eines ›deutschen Gesangsideals‹ war, wird im vorliegenden Zusammenhang von Friedlaender bereits nicht mehr registriert geschweige denn honoriert. Obgleich Friedlaender wohl aus philologischer Redlichkeit die Veränderungen, die er unter Bezugnahme auf eine (mittlerweile verschollene) Quelle unzweifelhaft mit Vogl in Zusammenhang bringt, im Supplement angibt34, wird doch deutlich, wie auch die philologische Aufarbeitung der Schubertschen Notentexte durch zeitgenössische Schubert-Bilder geprägt war. Diese Beeinflussung findet sich nicht zuletzt durch das 1885 erstmals und bis heute immer noch abgedruckte (wenngleich selten gelesene) Vorwort zu Friedlaenders Schubert-Album aus der Feder von Wilhelm Müllers Sohn, dem Sprach- und Religionswissenschaftler Friedrich Max Müller35 bestätigt: In alter Zeit waren Poesie und Musik unzertrennlich. Der Dichter mußte auch Sänger sein, und es gab weder Lieder ohne Worte, noch Worte ohne Lied. Die Zeiten sind längst vorüber, aber die Erinnerung ist geblieben, und in den höchsten Momenten dichterischer Begeisterung seht sich die Poesie nach den Flügeln des Gesanges, ringt Musik nach dem befreienden Wort. Jetzt wo höchste Vollendung in jeder Kunst ohne Teilung der Arbeit fast unerreichbar geworden, da waltet das alte Glück, wenn sich zwei Künstler, der Dichter und der Musiker, so wiederfinden und verstehen, wie Wilhelm Müller und Franz Schubert. Zwei Seelen sind zu einer geworden und es schein fast ebenso schwer, Die schöne Müllerin und die Winterreise ohne die Schubertschen Melodien zu verstehen, als die Schubertschen Lieder ohne die Worte zu singen. Die Lieder Wilhelm Müllers, wie alle wahren Volkslieder, verlangten nach Musik und haben das, was ihnen fehlte, so vollauf in der Schubertschen Musik gefunden, wie wohl kaum irgendwelche Dichtungen unseres Jahrhunderts. Ich habe schon früher einmal gesagt, und darf es wohl hier wiederholen, daß ›Gedichte‹, welche einem Schubert so in die Seele hinein und aus der Seele

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Friedlaender, Schubert-Album, Supplement, S. 3. Ebd., Anm. *: »In einem von Vogl geschriebenen Manuskript der ›Müllerlieder‹ (jetzt im Besitz von Herrn Dr. Standhartner in Wien) finden sich die Aenderungen verzeichnet, welche später in der Diabelli’schen Ausgabe gedruckt wurden.« Dieses Exemplar ist indes bis heute nicht nachweisbar. Vgl. Hilmar-Voit, »Die schöne Müllerin« und ihre Folgen, S. 23. Vgl. Hans-Joachim Klimkeit, Friedrich Max Müller (1823−1900), in: Klassiker der Religionswissenschaft. Von Friedrich Schleiermacher bis Mircea Eliade, hg. von Axel Michaels, München 1997, S. 28−40 u. S. 362−364.

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8 Liedkunst und kulturelle Inszenierung herausdringen konnten, wie die Schöne Müllerin und die Winterreise, auch uns den Grund des Herzens bewegen dürfen. Warum sollte denn die Poesie weniger Freiheit haben als die Malerei, das Schöne aufzusuchen, wo immer ein Menschnauge es entdecken und Menschenkunst es nachschaffen kann? Niemand tadelt den Maler, wenn er statt himmelhoher Felsspitzen oder himmelweiter Meereswogen den stillen, engen Talgrund auf seine Leinwand hinzaubert, voll von grünem Duft und belebt durch eine graue Mühle und ein dunkelbraunes Mühlenrad, von dem der Wasserstaub wie Silber emporsteigt und in den Sonnenstrahlen verschwimmt und verschwindet. Ist das, was nicht zu gewöhnlich für den Maler ist, zu gewöhnlich für den Dichter? Ist ein Idyll in den wahrsten, wärmsten, weichsten Farben der Seele, wie Die Schöne Müllerin weniger ein Kunstwerk als eine Landschaft von Lessing? Nirgends finden wir in diesen Liedern einen mühsamen Gedanken oder ein mühsames Wort. So wie die schöne Frühlingswelt, so wie die öde Winterflur ist, so werden sie geschildert, aber überall belebt und begeistert durch das Dichterauge und den Dichtergeist, die das erblicken und in Worten aussprechen, was andere nicht sehen und was die stumme Natur nicht sagen kann. Dies Erkennen des Schönen im Unbedeutenden, des Großen im Kleinen, des Wunderbaren im Alltäglichen, ja diese Ahnung des Göttlichen bei jedem irdischen Genuß, dies ist es, was den kleinen Liedern Wilhelm Müllers ihren eigenen Reiz verleiht, und sie allen denen so lieb gemacht, welche die Freude des Sichstill-der-Natur-Hingebens im Treiben des Lebens nicht verlernt und den Glauben an das Mysterium der göttlichen Allgegenwart im Schönen, Guten und Wahren nicht verloren haben. Was Schubert geleistet, indem er diese Lieder in das Reich der Töne erhob, gehört gewiß zu dem Höchsten, was dieser Meister je geschaffen hat. Die Melodien entquillen seiner Seele in nie versiegbarer Fülle, die Harmonien wechseln von sanfter Einfachheit zu höchster symphonischer Gewalt und nie wohl ist ein so voller dramatischer Effekt mit so geringen Mitteln erreicht worden, als in der Schönen Müllerin und der Winterreise. Was Schubert einen Liederkreis nennt, wird zu einen vollkommenen, tragischen Oper, und wie ein Kupferstich oft Größerers erreicht als ein Ölbild, so wird gewiß ein jeder, der mit mir das Glück geteilt Die schöne Müllerin von Jenny Lind oder die Winterreise von Stockhausen vorgetragen zu hören, sich tiefer im Innersten von diesen Liedern erschüttert gefühlt haben, als von den blendenden und betäubenden Bühnenvorstellungen der Gegenwart. Solange deutsche Ton- und Dichtkunst leben, werden diese Lieder, wie reine Edelsteine zu schönstem goldenen Schmuck gefaßt, eine Zierde in der Krone Deutschlands bleiben, und eben deshalb drängt es mich, mit diesen Zeilen dem treuen Fleiße meine Anerkennung auszudrücken, mit dem der Herausgeber dieses Werkes die alten Juwelen von allem Staub gereinigt, und ihnen für alle Zeiten ihre eigene, ursprüngliche Gestalt gesichert hat.36

Die Allusionen an die beschriebenen Topoi der zeitgenössischen Schubert-Rezeption sind evident – auch für Max Müller wird der Aspekt einer ästhetisierten ›Volkstümlichkeit‹ und deren nationalkultureller Bedeutung zum argumentativen Fluchtpunkt. Das lyrische Werk des eigenen Vaters wird – da es nur mit Einschränkungen zum literarischen Kanon des späten 19. Jahrhunderts zählte37 – vor diesem Hintergrund freilich eher apologetisch beschworen als mit Bezug auf einen allgemeinen Konsens gewürdigt. Gemeinsam mit den Liedkompositionen Schuberts, die auch Max Müller gleichsam exemplarisch durch die ›Müllerlieder‹ repräsentiert sieht, wird Wilhelm Müllers Lyrik aber unter Bezugnahme auf den Topos einer künstlerischen Seelenverwandtschaft zur Objektivation einer nationalen Kultursubstanz (»Zierde in der Krone Deutschlands«) stilisiert, die im vorliegenden Notentext des 36 37

Schubert-Album, Vorrede zur ersten Auflage [Hervorhebungen im Original]. Vgl. Hartung, Wilhelm Müller im Gedächtnis der Deutschen, S. 238ff.

8.1 Liedgestaltung als ›Interpretation‹

301

Schubert-Albums gewissermaßen auf direkte Weise greifbar wird. Neben der erwähnten Fokussierung des Müllerin-Zyklus und Schuberts wiederholter Charakterisierung als musikalischem ›Naturgenie‹ (»Die Melodien entquillen seiner Seele in nie versiegbarer Fülle, die Harmonien wechseln von sanfter Einfachheit zu höchster symphonischer Gewalt«) weist die von Max Müller gewählte Metapher der »von allem Staub gereinigt[en]« »alten Juwelen« überdies auf eine historistisch abgetönte, idealisierte ›Romantik‹. Die Idee des ›Urtextes‹ als die Zeiten überdauerndes Monument erscheint hier gleichsam in einer zeittypischen, metaphysisch aufgeladenen Gestalt. Das gleichfalls durch Liedaufführung und -rezeption repräsentierte letztlich bereits von Brendel Mitte der 1850er Jahre beschworene national konnotierte Innerlichkeitsideal wird überdies, ähnlich wie im Fall der berühmten SchubertiadenZeichnung Schwinds, dem ›Blendwerk‹ zeitgenössischer Bühnenkunst entgegengesetzt, die namentlich durch die Schubertschen Liederzyklen gewissermaßen substantiell in den Schatten gestellt werde. Müllers Argumentation weicht hier indes auf charakteristische Weise von derjenigen des zeitgenössischen Schubert-Diskurses ab, da er gerade besonders auf dramatische Qualitäten bzw. Techniken hinweist, die von Schubert gleichsam in die Liedform hineingezogen und dort auf eine derart effiziente Weise eingesetzt würden, daß die Zyklen die Wirkung »vollkommene[r] tragische[r] Opern« ausüben könnten – eine Sichtweise, die nicht zuletzt auf die interpretatorische Praxis Stockhausens verweist. Es überrascht insofern kaum, daß Max Müller den Bariton wenige Zeilen später als Gewährsmann aufruft, denn die hier durch den Sohn des Dichters dargelegte Auffassung der Liederzyklen im Sinne intrikater musikalisch-dichterischer Gesamtkunstwerke steht nicht zuletzt in engem Zusammenhang mit ihrer performativen Verwirklichung, die sich, wie bereits deutlich wurde, in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts von derjenigen der SchubertZeit durchaus unterschied. Gerade daß Müller also betontermaßen die professionellen Künstler Jenny Lind und Julius Stockhausen als ideale Interpreten der Schubertschen Liederzyklen herausstellt, bezeichnet nochmals den entscheidenden Verschiebungsprozeß innerhalb der kulturellen Praxis: Im Gegensatz etwa noch zu Sonnleithners Auffassung aus den 1860er Jahren wird hier nicht der gepflegt-dilettantische, sondern der professionell ausgefeilte Vortrag bereits als obligatorisch angesehen, um die auch in nationalem Kontext beschworene künstlerische Substanz der Lieder klingend angemessen verwirklichen zu können. Damit in Zusammenhang steht ferner ein nunmehr als ›Interpretation‹ angesehener spezifischer Vortragsstil, den etwa Lind und Stockhausen auf unterschiedliche, aber vor einem geschlechtsspezifischen Hintergrund jeweils mustergültige Weise verkörperten. Die Frage danach, inwiefern letztlich auch eine Aufführung ›im Dienst des Werkes‹ für die Künstler wie Clara Schumann, Joseph Joachim oder Julius Stockhausen im Sinne einer »echten Mission des Virtuosen« auf exemplarische Weise einstanden, gleichwohl ihre eigene Dimension von Präsenz innerhalb der kulturellen Praxis entfaltete, ist vor dem Hintergrund einer grundsätzlich immer stärker textzentrierten Musikauffassung gewissermaßen die andere Seite der Medaille. Das sich hinter diesen Feststellungen abzeichnende Spannungsfeld zwischen

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8 Liedkunst und kulturelle Inszenierung

Textualität und Performativität soll im folgenden weiter in den Blick genommen werden.

8.1.2 Liedvortrag und hermeneutische Kultur Im Kontext des hier angesprochenen Prozesses einer Sakralisierung des Notentextes und der somit hergestellten Distanz zum Ereignis seines Erklingens im Rahmen einer Aufführung änderte sich auf einer grundlegenden Ebene auch sich die Rolle des professionellen Musikers in der kulturellen Praxis des mittleren und späteren 19. Jahrhunderts. Die auf dem empfindsamen Modell der Seelenkommunikation basierende Idee des »genie d’exécution« verlor zwar nicht ihre Relevanz – noch Eduard Hanslick formuliert etwa um 1854 in seiner Schrift Vom musikalisch Schönen, der musizierende Künstler müsse »den electrischen Funken aus dunklem Geheimniß« locken »und in das Herz des Zuhörers überspringen« lassen. Die veränderte Valenz des Notentextes, die gerade mit dem von Hanslick postulierten Werkbegriff gleichsam offiziell registrierbar wurde, verlangte allerdings über die ›genialische‹ Einfühlung auch die Beherrschung einer Auslegungskunst, die den im Notentext gleichsam geronnenen ›Geist‹ gewissermaßen materialisieren und dabei das Ziel einer ›objektiven‹, distanzierenden Darstellung der künstlerischen Substanz verwirklichen sollte: »Freilich kann der Spieler nur das bringen, was die Composition enthält, allein diese erzwingt wenig mehr als die Richtigkeit der Noten.«38 Die aus heutiger Sicht hinter Hanslicks Formulierungen als Referenzen durchscheinenden Modelle des musikalischen Performers als wirkungs- bzw. effektbezogenem ›Virtuosen‹ einerseits und als textbezogenem ›Interpreten‹ anderseits verschränkten sich in der musikalischen Kultur des mittleren und späteren 19. Jahrhunderts mithin auf komplexe Weise. Aufschlußreich für die hier angesprochenen Zusammenhänge ist etwa der Vergleich des Artikels Vortrag in Heinrich Christoph Kochs Lexikon der Tonkunst von 1802 mit seiner bereits an anderer Stelle herangezogenen Neuausgabe durch Arrey von Dommer im Jahr 1865. Bei Koch heißt es: [...] Der gute Vortrag erfordert demnach nicht bloß eine unbedingte Anwendung der Kunstfertigkeiten, das heißt nicht bloß reine Intonation der Töne, nicht bloß Rundheit in der Darstellung der aus diese Tönen gebildeten Figuren u. d. gl. sondern auch Genie und feinen Geschmack, um theils den Charakter des Tonstücks in allen ihm eigentümlichen Zügen richtig aufzufassen, theils auch die Anwendung der Kunstfertgkeiten jeder zum Kunstwerke gehörigen Stimme diesem Charakter vollkommen anzupassen. Jede Empfindung zeichnet sich durch eine ihr eigentümliche Modifikation der Töne aus, und dieses Auszeichnende ist es, was bey dem Vortrage der Folge der Töne erst Bedeutung und Leben giebt, ohne welches sie nichts sind als ein unbedeutendes Tongeräusch. In dieser Darstellung der eigentlichen Bedeutung der Töne, wodurch der Geist des Tonstücks ausgehaucht wird, bestehet das Geschäfte des guten Vortrages.39

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Beide Zitate bei Eduard Hanslick, Vom musikalisch Schönen. Ein Beitrag zur Revision der Ästhetik der Tonkunst [1854]. Historisch-kritisch Ausgabe, hg. von Dietmar Strauss, Mainz 1990, S. 110. Art. Vortrag, in: Koch, Musikalisches Lexikon, Sp. 1729.

8.1 Liedgestaltung als ›Interpretation‹

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Durch den Verweis auf eine Verbindung von Affektlage bzw. »Empfindung« und der zugehörigen »eigentümliche[n] Modifikation der Töne«, die es als Musizierender »richtig aufzufassen« gelte, ist zwar der rhetorische Hintergrund einer ›regelrechten‹ Ausführung unverkennbar. »Die unbedingte Anwendung der Kunstfertigkeiten« steht allerdings im Dienst des ›génie d’exécution‹: Die »eigentliche Bedeutung der Töne«, die es zu übermitteln gelte, kann nur über die geschmacklich gebildete Empfindungsfähigkeit des Vortragenden im Moment der klingenden Realisierung selbst erfaßt werden. In Arrey von Dommers Version von 1865 verschieben sich dagegen die Prioritäten auf charakteristische Weise: Ebenwie jene Ideen und Gefühle die besondere Gestaltungsweise des Tonsatzes und die gewisse Art des Tonausdrucks bedingten, so muss auch der Vortragende in sie einzudringen streben, um sie dem Kunstgefühle des Hörers richtig zu vermitteln. Er ist gleichsam Darsteller einer Rolle, Declamator einer Dichtung, seine Thätigkeit ist nicht selbsteigene Production, sondern Reproduction; er hat der Stilart und der individuellen Eigenthümlichkeit des betreffenden Meisters und Werkes sich zu identifizieren: mit einem Worte, er hat seiner Aufgabe gegenüber objectiv sich zu verhalten, sich auf das Werk, nicht das Werk auf sich zu beziehen, nicht Alles, und auch das Allerverschiedenartigste, in den vielleicht nur engen Kreis seiner subjectiven Empfindungsweise hineinzuzwängen, wenn er nicht Manierist werden will.40

Zwar wird die Bedeutung des Ausführenden als ›Mitschöpfer‹ weiterhin betont, in den Vordergrund rückt nun aber die Forderung einer »objectiven« Haltung gegenüber dem Werk vor dem Hintergrund der inzwischen fest etablierten musikalischen Autonomieästhetik. Dommer betont gar, das schauspielerische Ideal der ›Verkörperung‹ aufgreifend, daß der musikalische Interpret (hier vor allem mit Blick auf den Instrumentalisten) als »Darsteller einer Rolle« sich gänzlich den Forderungen des Werks zu unterwerfen habe und sich davor hüten möge, die in einem Werk enthaltenen musikalischen Aussagen »in den vielleicht nur engen Kreis seiner subjectiven Empfindungsweise hineinzuzwängen«. Die hier angerissene Diskussion verweist, wie angedeutet, auf die historische Genese der Idee einer musikbezogenen ›Interpretation‹ im Sinne eines performativen Paradigmas. Wie Hans Joachim Hinrichsen gezeigt hat, war der ursprünglich dem Kontext der Hermeneutik entstammende Begriff vor dem Hintergrund der rhetorischen Traditionslinie des ›angemessenen‹ Vortrags zunächst eher negativ konnotiert: Die musikalische ›Interpretation‹ wurde in historischer Perspektive – gerade in ihrem Verständnis als Auslegungskunst – mit einer subjektiven Anverwandlung gleichgesetzt, mit der sich Eingriffe in den Notentext verbanden. Dies geschah besonders augenfällig durch Bearbeitungen, Retuschen und instruktive Ausgaben, die gleichsam als Protokolle spezifischer Interpretationsideale aufgefaßt werden können wie etwa im Fall Hans von Bülows.41 Auf der anderen Seiter befand sich die (uns grundsätzlich vertrautere) Position einer die Interpretensubjektivität limitierenden ›texttreuen‹ Vortragsweise. Beide Konzepte verstanden sich indes im Dienst einer musikalischen ›Klassizität‹ und verschränkten sich letztlich im Ideal einer ›wahren‹ Interpretation im Sinne 40 41

Arrey von Dommer, Art. Vortrag, in: Musikalisches Lexikon auf der Grundlage des Lexicon’s von H. Ch. Koch, Heidelberg 1865, S. 956. Vgl. Hinrichsen, Was heißt Interpretation, S. 17ff.

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8 Liedkunst und kulturelle Inszenierung

einer über den ›korrekten‹ Vortrag hinausweisenden Vermittlung spezifisch musikalischer ›Bedeutung‹ an ein Publikum. Die mit dem Konzept einer musikalischen ›Interpretation‹ in diesem engeren Sinne korrespondierende gewandelte Rezeptionshaltung forderte den Hörer vor dem Hintergrund zeitgenössischer Hermeneutik auf, sich im Moment der Aufführung aktiv in den Schöpfer des Werks ›einzuleben‹: Ist ja doch schon das blosse Empfangen des Tonwerkes von Seiten des Hörers keineswegs ein nur passives, sondern ein actives, indem Phantasie, Gefühl und Urtheilskraft in lebhafter Thätigkeit sind, und im Empfangen gleichsam am Kunstwerke mitschaffe, insofern sie das Verständnis der ästhetischen Absichten und der ganzen Kunstgestaltung des Componisten bewirken [...]42

Das hier in den Vordergrund gerückte »Verständnis der ästhetischen Absichten« bezog sich freilich auf das Ideal einer standardisierten Bildung, das die hier benannten Fähigkeiten nicht nur grundsätzlich ermöglichen, sondern nicht zuletzt durch Medien wie Dommers Lexikon auch in gewissem Maße normativ formen sollte. Vermehrt ging es auch mit Blick auf die musikalische ›Interpretation‹ insofern darum, die mit dem spezifischen Sprachcharakter der Musik in Verbindung gebrachte Dimension des Nicht-Notierten43 durch eine als ›vollendet‹ aufgefaßte klangliche Realisierung des Notentextes kommunizierbar zu machen: Dem ›wahren‹ musikalischen Meisterwerk entsprach der ›wahre‹ musikalische Vortrag, der weniger die potentielle Vieldeutigkeit eines musikalischen Werks bewußt machen als eine in den Notentext hineinhypostasierte ästhetische Substanz erfahrbar werden lassen sollte. Die musizierenden Künstler und Künstlerinnen wurden so letztlich zu Repräsentanten des Transzendenten in einer säkularisierten Kultur stilisiert44, denen durch die Fähigkeit des Übermittelns von Kunst an ein Publikum eine soziale Verantwortung zufiel: »Freilich haben wir sie nicht selbst gemacht, und sind doch gewissermaßen unsere Schöpfungen, indem wir sie in das Erleben der anderen bringen« formuliert etwa Stockhausen 1856 gegenüber seinem Vater sein persönliches Selbstverständnis der eigenen Rolle als musikalischer ›Interpret‹.45 Stockhausens zuvor eingehender behandelte Aufführungspraxis der großen Liederzyklen Schuberts zeigt letztlich, wie der Hintergrund einer zunehmend von Paradigmen der Hermeneutik geprägten ›Verstehens-Kultur‹ auch die kulturelle Wahrnehmung von Kunstliedern trotz der sich etablierenden musikalischen Autonomieästhetik prägte. Bereits mit Blick auf Goethes Kunstliedpraxis läßt sich, wie beschrieben, eine charakteristische Dominanz des Wortes konstatieren, die die Frage einer musikalischen Autonomie zwar reflektierte, sie unter Berufung auf einen musikalisch grundierten Lyrikbegriff aber in die Dichtung selbst hineinzog. Bezeichnend ist allerdings, daß ungeachtet des autonomieästhetischen Musikdiskurses sowie erheblicher kompositorischer Innovationen auch in der kulturellen 42 43 44 45

Dommer, Art. Vortrag, S. 956. Carl Dahlhaus, Über die Bedeutung des nicht Notierten in der Musik, in: Musicae Scientiae Collectanae, hg. von Heinrich Hüschen, Köln 1973, S. 83‒87. Vgl. Roeck, Von intimer Öffentlichkeit zu öffentlicher Intimität, S. 18. Stockhausen zitiert nach Wirth, Julius Stockhausen, S. 156.

8.1 Liedgestaltung als ›Interpretation‹

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Praxis der zweiten Jahrhunderthälfte das Kunstlied offenbar weiterhin zu allererst als literarisch und nicht musikalisch determinierte Gattung aufgefaßt wurde. Ein entscheidender Kontext für die Komposition und Rezeption von Kunstliedern im mittleren und späteren 19. Jahrhunderts wurde damit auch die Entwicklung der bürgerlichen Sprachkultur. Sprache als zentrales mentalitätsgeschichtliches Moment für die Herausbildung des Bildungsbürgertums im 19. Jahrhundert wird von Angelika Linke über die sachfunktionale Bedeutung in der bürgerlichen Kommunikations- und Lebenswelt (etwa Konversation, Tagebuchschreiben, Briefkultur) hinaus auch als »Sozialsymbol« beschrieben, das sich gerade auf der performativen Ebene »zum Medium bürgerlicher Repräsentationskultur« entwickelt habe.46 Einen gewichtigen Beleg dafür bietet die von Günter Häntzschel dokumentierte Konjunktur der häuslichen Deklamationspraxis in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Die Blätter für literarische Unterhaltung stellen 1869 etwa fest: Literarische Vorlesungen verschiedener Art dürfen in einer der Poesie nicht allzu holden Zeit, in welcher namentlich das gedruckte Dichterwort nur zu leicht übersehen wird und einer unrühmlichen Vergessenheit anheimfällt, der es doch gerade durch Gutenberg’s Kunst entgehen will, sich nach anderen Mitteln der Öffentlichkeit um zu sehen, um Theilnahme des Publikums zu erregen und wach zu halten. Das gedruckte Wort, hat den unbegrenzten Kreis der Verbreitung voraus; aber das gesprochene Wort bleibt immer die lebendigste Vermittlung zwischen der schaffenden und aufnehmenden Phantasie. 47

Gerade in einer Situation also, in der man über die mündliche Literaturpflege versuchte, ein neues Interesse an lyrischen Texten herzustellen, da die Lyrik grundsätzlich von Trivialliteratur und Romanen auf der einen Seite und Alltagsliteratur wie Almanachen und Zeitschriften auf der anderen Seite in den Hintergrund gedrängt worden war, konnte auch der Liedkunst eine wichtige Funktion zufallen. Die bürgerliche Liedkultur der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zählte entsprechend im Sinne einer Präsentation und Kultivation von Lyrik in erster Linie zur mündlichen Literaturpraxis48 – »keine andere Gattung war so wie die Lyrik durch Klavierlied und Gesangsvereine ins kollektive Gedächtnis eingebrannt«.49 Maria Mitterbacher, Tochter des Advokaten Kaspar Wagner, der mit der zu Schuberts Bekanntenkreis zählenden Wiener Familie Pratobovera verschwägert war, erinnert sich etwa aus der Perspektive der 1870er Jahre an ihre ersten Erlebnisse mit Schubert-Liedern und stellt dabei auch eine erhellende Diagnose über die Rolle des Kunstliedes in ihrer eigenen Gegenwart: 46 47

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Angelika Linke, Sprachkultur und Bürgertum. Zur Mentalitätsgeschichte des 19. Jahrhunderts, Stuttgart [u. a.] 1996, S. 57. Blätter für literarische Unterhaltung 2 (1869), S. 818, zitiert nach Günter Häntzschel, Die häusliche Deklamationspraxis. Ein Beitrag zur Sozialgeschichte der Lyrik in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, in: Zur Sozialgeschichte der deutschen Literatur von der Aufklärung bis zur Jahrhundertwende, hg. von dems. [u. a.], Tübingen 1985, S. 205. Vgl. Schneider, Sozialgeschichte des Lesens, S. 229ff. Gerhard Lauer, Lyrik im Verein. Zur Mediengeschichte der Lyrik des 19. Jahrhunderts, in: Lyrik im 19. Jahrhundert. Gattungspoetik als Reflexionsmedium der Kultur, hg. von Steffen Martus, Bern [u. a.] 2005, S. 199

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8 Liedkunst und kulturelle Inszenierung Man kann sich heutzutage, wo man außer den Liedern von Schubert noch die von Schumann, Mendelssohn, Brahms, Franz usw. kennt und an die mehr oder weniger schöne Wiedergabe der herrlichsten Gedichte gewöhnt ist, schlechterdings keinen Begriff davon machen, was auf die ganze Welt damals [...] Schuberts Lieder [...] für einen Eindruck machten.50

Mitterbachers Beschreibung sind neben dem Blick auf den zeitgenössischen Repertoirekanon auch grundsätzliche Hinweise auf die Charakteristika der Kunstliedrezeption des gebildeten Bürgertums zu entnehmen: Der dichterische Text dominierte offenbar die Wahrnehmung und weniger – wie durch die Autorin für Schuberts eigene Zeit bezeugt – dessen musikalische Umsetzung. Der Rezeptionsvorgang war mittlerweile vollständig von dem Bewußtsein bestimmt, ein innerhalb der kulturellen Praxis etabliertes musikalisches ›Meisterwerk‹ zu hören, dem der nun als ›Interpret‹ geltende Sänger gerecht werden mußte. Auch Stockhausens Umgang mit ›Müllerliedern‹ und Winterreise sind vor solchem Hintergrund als interpretierende, d. h. individualisierende Eingriffe deutbar, die zwar die Intentionen Schuberts partiell ausblendeten, allerdings in ihrer narrativ-textzentrierten Ausrichtung einem zeitgenössischen Rezeptionsparadigma entsprachen.51 Der historische Interpretationsbegriff schloß, wie bereits erwähnt, durchaus ein Aufbrechen der Integrität des musikalischen Werkes ein. Die von Jörg Krämer aufgestellte These, das romantische Kunstlied stelle bereits aus der produktionsästhetischen Perspektive letztlich den grundsätzlichen Versuch dar, die in früheren Jahrhunderten durch seine sozialfunktionale Bestimmtheit mehr durch das Moment des Performativen bestimmte Gattung Lied »an eine mittlerweile dominant gewordene hermeneutische Kultur anzuschließen«52 läßt sich insofern auch mit Blick auf die historische kulturelle Praxis des mittleren und späteren 19. Jahrhunderts untermauern, innerhalb der das Kunstlied auf diese Weise überhaupt zum Gegenstand von ›Interpretation‹ wurde. Erhebliche Konsequenzen ergaben sich aus dieser Entwicklung überdies für die zeitgenössische kulturelle Codierung der menschlichen Stimme, denn ihre über die sprachliche Bedeutungsebene hinausweisenden performativen Qualitäten wurden gleichsam proportional zur Akzentuierung des dichterischen Textes ausgeblendet. Während in den Deklamations- und Anstandslehren des 18. und frühen 19. Jahrhunderts die ästhetische Qualität des Stimmklangs noch zum »Kaleidoskop der ›Wohlredenheit‹« gezählt wurde53, rückte, wie Angelika Linke gezeigt hat, die Forderung nach einem Wohlklang der Stimme als eigenständiger ästhetischer Position nach 1850 deutlich in den Hintergrund. Ins Blickfeld geriet dafür immer mehr ihre ausschließliche Rolle als Kommunikationsmedium sprachlicher Bedeutung: Es ging nun innerhalb der bürgerlichen Sprachkultur vorrangig um eine ›fehlerfreie‹ 50 51

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Vgl. EF, S. 343. So korrigierte Stockhausen etwa üblicherweise auch einzelne Stellen in den Texten von Schumanns Liedvertonungen nach der dichterischen Vorlage. Vgl. Hofmann, Stockhausen als Interpret der Liederzyklen Robert Schumanns, S. 35, Anm. 8 u. 9. Krämer, Probleme und Perspektiven der Liedforschung, S. 29. Linke, Sprachkultur und Bürgertum, S. 156.

8.1 Liedgestaltung als ›Interpretation‹

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Artikulation und Aussprache, wie sie letztlich in Theodor Siebs’ Deutscher Bühnenaussprache von 1898 im Sinne einer überregional gültigen hochdeutschen Lautung kodifiziert wurde. Linke betont gleichwohl, daß Siebs’ Werk »zunächst vor allem im Umkreis der Nationaltheaterbewegung angesiedelt« war, »dann aber auch – mit Bezug auf die Alltagssprache – in sprachwissenschaftlichen, in schulischen und in populärsprachpflegerischen Kreisen« rezipiert wurde.54 Aber auch der künstlerische Gebrauch der Stimme zeigte sich von den hier angesprochenen Prämissen einer zunehmenden Text- und Bedeutungszentriertheit, die durch eine normierte Aussprache gewährleistet werden sollte, beeinflußt. Das im 18. Jahrhundert vieldiskutierte und vor dem Hintergrund des Ideals einer ›ganzheitlichen‹ menschlichen Expressivität z. T. sehr experimentell behandelte Verhältnis von Sprechen und Singen wurde nun radikal voneinander abgetrennt: Der Vortragskünstler Emil Palleske betont 1880 in seiner Deklamationslehre etwa demonstrativ, daß es »selbst beim öffentlichen Sprechen und in vielen Fällen auch beim Vorlesen [...] nicht wie beim Singen auf Klangschönheit, sondern vor Allem (!) auf klare Gliederung, Verständlichkeit« ankomme.55 Und selbst im gesangsästhetischen Bereich erlangte die Forderung nach ›korrekter‹ Artikulation eine besonders hohe Geltung – neben der auch Stockhausen allenthalben bescheinigten »edle[n] Tonbildung, Entfernung des Nasalen und Gaumigen aus dem Tone«, hebt der Rezensent einer bereits oben diskutierten Müllerin-Aufführung von 1889 etwa besonders die (zu dieser Zeit noch keineswegs selbstverständliche), »dialektlose Aussprache« des Sängers hervor.56 Trotz der Vereinnahmung durch eine hermeneutisch ausgerichtete Textzentriertheit verweist die beim mündlichen Vortrag von Gedichten und auch von Liedern erklingende Stimme jedoch auch in historischer Perspektive auf ein »anderes Kulturmuster«:57 Zwar konnten Gedicht- und Liedvortrag im Kontext der hier skizzierten Sprachkultur auch zur Pflege von Artikulation und Aussprache dienen, doch vermittelt die Stimme auch dann eine performative Qualität, gleichsam einen selbstreferentiellen Rest, wenn sie in den Dienst der Bedeutung zu stellen versucht wird. Wie die hier angedeutete Ambivalenz zwischen Sprach- und Bedeutungszentrierung einerseits und einer gleichzeitigen Kommunikation parasprachlicher expressiver Momente von der zeitgenössischen Gesangsausbildung behandelt wurde, soll im folgenden erörtert werden. Mit dem Phänomen einer bürgerlichen Sprach- und Sprechkultur als Kontext für den Gesangsvortrag ist zunächst eine Richtungsänderung der Gesangspädagogik ab der Mitte des 19. Jahrhunderts anzusprechen, die nicht zuletzt durch das Eingreifen Richard Wagners in den gesangspädagogischen Diskurs ins Werk gesetzt worden war. Wagner hatte in seiner 1850/51 im Zürcher Exil entstandenen programmatischen Schrift Oper und Drama eine deutliche Akzentuierung der dichterisch-sprachlichen Ebene seines Gesamtkunstwerk-Konzeptes vorgenommen und 54 55 56 57

Ebd., S. 157. Emil Palleske, Die Kunst des Vortrags, Stuttgart 1880, zitiert ebd., Anm. 28. Tobler, Das Einfache im Kunstgesang, S. 1. Vgl. Krämer, Probleme und Perspektiven der Liedforschung, S. 29.

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suchte nach Möglichkeiten, seine Vorstellungen in die Praxis umzusetzen. Mit der 1854 erschienenen Großen Gesangsschule für Deutschland hatte der ehemalige Operntenor und Gesangslehrer Friedrich Schmitt ein Gegenprogramm zur italienischen Gesangsausbildung entworfen. Wagner, der Schmitt von einer gemeinsamen Zeit an den Theatern Bad Lauchstätt und Magdeburg kannte, sah sich, wenngleich er zugab, Schmitts gesangstechnische Abhandlung nicht bis ins Detail zu verstehen, doch konform mit ihren Prämissen:58 Die deutsche Sprache als Gesangssprache zu etablieren war das vornehmliche Ziel sowohl Schmitts als auch zahlreicher an ihn anschließender oder auf ihn reagierender Schulen, die sich zwischen den Polen einer Fortführung italienischer Gesangstradition mittels Übertragung auf die deutsche Sprache und ihrer vollständigen Ablehnung gleichsam atomisierten.59 Wenngleich bereits früher die Ausrichtung an der gesprochenen Sprache einen erhöhten Stellenwert auch in den Gesangslehren eingenommen hatte60, war es mithin Schmitt, der bei aller Gebundenheit an die italienische Methode eine stärkere Akzentuierung der sprachlichen Artikulation als Basis für den Gesangsvortrag einforderte, als es auch in der deutschen Gesangspädagogik bisher unternommen worden war.61 Unter Einbezug moderner phonetischer Forschungen wurde dieses Modell von Schmitts Schüler Julius Hey aufgegriffen, der nach einem Zerwürfnis seines Lehrers mit Wagner ab 1864 schließlich die gesangstechnische Betreuung für Wagners erste Bayreuther Ring-Besetzung von 1876 übernahm, nachdem Stockhausen Wagners Gesuch, an einer geplanten Münchener Stilbildungsschule tätig zu werden, abgelehnt hatte.62 Aus den Erfahrungen dieser Arbeit entstand schließlich Heys vierbändiges Lehrwerk Deutscher Gesangs-Unterricht63 (Erstausgabe 1882‒

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Schmitt und Wagner projektierten gar eine ›Privatopernschule‹, die indes aufgrund persönlicher Differenzen nicht verwirklicht werden konnte. Vgl. Thomas Seedorf, ›Deklamation‹ und ›Gesangswohllaut‹: Richard Wagner und der ›deutsche Belcanto‹, in: Dokumentationen der Lohmann-Stiftung für Liedgesang 6 (1996), S. 86. Auch etwa Stockhausen trug zu dieser Diskussion bei und führt in seine Gesangsmethode bei Garcia erlernte italienische Tradition mit den Erkenntnissen moderner Phonetik zusammen: Vgl. Craig Timberlake, Julius Stockhausen and his Method of Singing, in: The NATS Journal, hg. von der National Association of Teachers of Singing (U.S.), 46 (1989/90), S. 30 u. 54. Vgl. Bernd Göpfert, Richard Wagner und die deutsche Gesangspädagogik in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts oder: Sprache und Musik, in: Dokumentationen der Lohmann-Stiftung für Liedgesang 6 (1996), S. 61ff. Hölzen, Die methodisch-pädagogischen Grundsätze deutscher Gesangskultur, S. 106‒118. Stockhausen lehnte offenbar aus privaten Gründen ab und reagierte mit kritischer Distanz auf die Bayreuther Uraufführung des Ring, die er 1876 besuchte (vgl. Wirth, Julius Stockhausen, S. 406‒412). Einige seiner Schüler wie Karl Scheidemantel oder Anton van Rooy traten indes gleichwohl später in Bayreuth auf. Julius Hey, Deutscher Gesangs-Unterricht. Lehrbuch sprachlichen und gesanglichen Vortrags, Mainz [1882‒1886]: I. Sprachlicher Theil. Anleitung zu einer naturgemäßen Behandlung der Aussprache als Grundlage für die Gewinnung eines vaterländischen Gesangsstyles; II. Gesanglicher Theil. Anfangsgründe der Tonbildung für alle Stimmgattungen. Frauenstimmen; II. Gesanglicher Theil. Anfangsgründe der Tonbildung für alle Stimmgattungen. Männerstimmen; III. Erläuternder Theil.

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1886), in dem der Autor eine systematische methodische Ausrichtung der Gesangsausbildung am Textvortrag vornimmt.64 Entscheidend im hier diskutierten Kontext ist vor allem, daß Wagner und Hey (in Anlehnung an Schmitt) sich neben der konsonantischen Deklamation auch ausgiebig der klanglichen Gestaltung der Vokale als Ausdrucksträgern widmeten: Das von Wagner in Oper und Drama beschriebene ästhetische Ideal einer ›Wort-Tonsprache‹ gründet auf einem kulturkritischen Impuls, der dem bereits bei Rousseau und Herder skizzierten Prozeß eines Verlusts durch die menschliche Stimme sich artikulierender Sinnlichkeit und Expressionsfähigkeit in der modernen bürgerlichen Kultur Rechnung tragen sollte. Wagner betont etwa, der Mensch habe sich von seinen »ererbten Sprachwurzeln« entfernt, indem er den »Wohllaut ihrer tönenden Vokale zum hastigen Sprachklange verflüchtigte, und durch Häufung der [...] stummen Laute das lebendige Fleisch der Sprache empfindlich verdörrte«.65 Konsonanten und Vokale gehen in Wagners sprachgeschichtlichem Entwurf mithin eine organische, untrennbare Verbindung ein. Nur in dieser Weise begriffen könne die Sprache die verloren gegangene semantische und emotionale Dimension hinter den Worten neu eröffnen.66 Wagners kulturtheoretische Reflexionen sahen sich freilich einer nicht unerheblichen Problematik hinsichtlich ihrer künstlerischen Umsetzung gegenüber: Das archaische Ideal einer urtümlichen, sich im Ineinanderfließen von Wort und Ton artikulierenden Expressivität mußte aus der Perspektive bürgerlicher Hochkultur ästhetisch überformt werden, um die »Wort-Ton-Sprache« trotz ihres archaischen Rückhalts für den modernen Menschen unbedingt verstehbar machen.67 Neben Wagners aus diesen Voraussetzungen hervorgegangener artifiziell nachempfundener ›Ur-Sprache‹, die vor allem seine Ring-Dichtung grundsätzlich bestimmt, ist damit auch auf grundsätzlicher Ebene das Gebiet des sängerischen Vortragsstils angesprochen. Wagner selbst gelang es nicht, seine gesangskünstlerischen Ideale in ein praktikables didaktisches Konzept zu überführen, da er gesangstechnischen Detailfragen letztlich hilflos gegenüberstand. Allein das intellektuell wie psychisch adäquate Erfassen des dramatischen Gesamtzusammenhangs sollte nach seiner Überzeugung sämtliche sowohl gesangliche als auch darstellerische Probleme lösen. 68 Eine methodisch-didaktisch kenntnisreicher reflektierte Umsetzung der Wagnerschen Prämissen findet sich letztlich in den von Julius Hey offenbar auch im Unterricht durchgeführten Studien zum Wechsel der »psychischen Klangschattierungen« wieder. Hey liefert hier technisch gesehen Etüdenkompositionen zur semantischen Aufladung von (harmonisch gestützten) gehaltenen (Schwell-) 64

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Vgl. Arne Stollberg, »Daß ich ihn unter dem Singen auch wirklich und deutlich sprechen ließ...«. Richard Wagner als Gesangspädagoge, in: Zwischen schöpferischer Individualität und künstlerischer Selbstverleugnung, S. 49‒64. Wagner, Oper und Drama, in: GSD, Bd. 4, S. 96. Reinhart Meyer-Kalkus, Richard Wagners Konzept der Wort-Tonsprache in »Oper und Drama« und »Der Ring des Nibelungen«, in: Athäneum. Jahrbuch für Romantik 6 (1996), S. 170ff. Vgl. Stollberg, Richard Wagner als Gesangspädagoge, S. 57. Zu den didaktischen Irrwegen des historischen Wagnergesangs vgl. ausführlich: Mösch, Weihe Werkstatt, Wirklichkeit, S. 167ff.

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8 Liedkunst und kulturelle Inszenierung

Tönen im Sinne einer zu exerzierenden Skala der Ausdruckshaltungen. Im Gegensatz zum in älteren Deklamationslehren anzutreffenden Konzept der ›Empfindungstöne‹, die die verschiedenen expressiven Valenzen einzelnen Vokalen zuweisen, schreibt Hey ausdrücklich vor, die Übungen auf allen Vokalen durchzuführen:69 Die Empfindung des Sängers hat sich im Stimmklang unmittelbar abzuspiegeln; seine Innenzustände sind im Ton zu möglichst intensivem Ausdruck zu verkörpern, ohne daß er die begriffliche Wortbedeutung als Wegweiser benöthigt und ohne des Stützpunktes einer melodisch gefestigten Tonphrase zu bedürfen, welche die besondere Stimmungssphäre kennzeichnet; der Ton an sich wird zum eigentlichen Medium, das zwischen innerem Empfindungsgehalt und dem an die Außenwelt sich unmittelbar wendenden Stimmklang die Vermittlung übernimmt.70

Abbildung 18: Julius Hey: »Deutscher Gesangs-Unterricht«, Bd. 2 (Frauenstimmen)

Wenngleich hier eine generelle Verbindung zu Johann Georg Nägelis bereits oben diskutiertem Konzept des »undulatorischen Gesangs« auszumachen ist71, bleibt zu betonen: Während Nägeli im empfindsamen Sinne den Schwellton als ›individualisierendes‹ Mittel der Ausdrucksgestaltung stets im musikalischen Kontext unter Bezugnahme auf die Textsemantik faßt und konsequent in die eigens komponierten Übungsstücke integriert, geht Hey einen entscheidenden Schritt weiter: Der Gesangston an sich als gleichwohl musikalisch-strukturell ungebundenes, allerdings für sich expressives Klangmaterial sollte nach seinen Vorstellungen auch losgelöst von der lexikalischen Bedeutung der gesungenen Worte möglichst eindeutig semantisch codiert werden können. 69

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Vgl. Stollberg, Richard Wagner als Gesangspädagoge, S. 59. Stollberg weist zu Recht auf den damit gleichsam durch die Hintertür in die Gesangsausbildung zurückgekehrten SolfeggioCharakter der Heyschen Gesangsschule hin. Hey, Deutscher Gesangs-Unterricht, Bd. 3, S. 79f. Vgl. oben Kapitel 3.3.2.

8.1 Liedgestaltung als ›Interpretation‹

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Das auf diese Weise gewonnene ›Repertoire‹ an Ausdruckshaltungen sei indes innerhalb der sprachlichen wie sängerischen Vortragskunst gleichwohl an einen dem auszudrückenden Inhalt ›gemäßen‹ Einsatz gebunden. Hey betont daher ausdrücklich: »Indessen bleiben die ausdrucksvollen Farbtöne eines Organs, für sich betrachtet, wirkungslos, so lange sich damit nicht der richtig gehandhabte Tonfall verbindet.«72 Als Vorstufe zum Erproben des klanglichen Farbenspektrums sieht Hey daher den mit ›adäquatem‹ Ausdruck deklamierten Text. 73 72 73

Hey, Deutscher Gesangs-Unterricht, Bd. 1, S. 163 [Hervorhebung M.G.]. So sehr sich die auf Hey zurückgehende systematische Ausrichtung an der deutschen Sprache als gesangspädagogische Innovation vor dem Hintergrund eines differenzierten interpretationsästhetischen Konzeptes auffassen läßt, wird sie auf der anderen Seite bereits von einem Phänomen überschattet, das mit der bürgerlichen Sprachkultur des wilhelminischen Kaiserreiches gleichfalls in Verbindung zu bringen ist und von Matthias Nöther als eine an Mentalitäts- und Geistesgeschichte rückbindbare typische Haltung der »Sprachverfallenheit« beschrieben wurde. Vgl. Matthias Nöther, Als Bürger leben, als Halbgott sprechen. Melodram, Deklamation und Sprechgesang im wilhelminischen Reich, Köln [u. a.] 2008. Ein wichtiger Eckpunkt der Herausbildung dieses Phänomens war die im letzten Jahrhundertdrittel erfolgende Gründung bürgerlicher Sprachvereine, die die deutsche Sprache als Medium ideologischer Propaganda nutzte: »Man vertrat die Überzeugung, dass die deutsche Sprache ein wesentliches Element der Überlegenheit des deutschen Volkes sei und gleichzeitig als Motor nationaler Einigung dienen könnte. Da die Überlegenheit der Sprache auch eine Überlegenheit des Denkens bedinge, empfahlen die Mitglieder der Sprachvereine eine Orientierung an der Sprache Goethes und Schillers als vollendeten stilistischen Vorbildern« (S. 308). Ästhetisch geformte Sprache drang so (häufig in Form von sog. ›Bildungszitaten‹) zunehmend auch in die bürgerliche Alltagskultur ein. Auf der performativen Ebene steht hiermit ein spezifischer, in öffentlichen Kontexten praktizierter, Sprechstil in Zusammenhang, dem zwar grundsätzlich die obligatorische Prämisse der Textzentriertheit vorstand, diese allerdings durch eine bewußt wie unbewußt praktizierte pathetische Musikalisierung des Sprechklangs erweitert wurde: Worte erschienen im Moment ihrer performativen Realisierung gleichsam ›geheiligt‹: »Sinngebung wurde hier, mitunter sogar für die Sprecher nicht merklich, durch parasprachliche Elemente der Tongebung unterstützt. [...] Die Verschiedenartigkeit dieser beiden Ebenen wurde vom rezipierenden Publikum nicht thematisiert und im auf der Bühne Gesprochenen nicht wahrgenommen.« (S. 312). Damit ist letztlich eine unterschwellige Re-Rhetorisierung der Sprache angesprochen, die zwar nach Auffassung der Zeit aus der Perspektive literarischer Autonomieästhetik moralisch stigmatisiert wurde, aber trotzdem in entscheidender Weise zum Ausdruck der zeitgenössischen bürgerlichen »Sprachverfallenheit« wurde: »Dichtung war nicht gesellschaftliche Stellungnahme, sondern Bildungsgut. Diese Einstellung war Voraussetzung dafür, dass die moralische Fragwürdigkeit einer Übertragung ästhetisch geformter Sprache in den alltäglichen Sprachgebrauch, wie sie Mitte des 19. Jahrhunderts einsetzte, nicht genügend wahrgenommen werden konnte.« (S. 222). Der ästhetische Eigenwert des Stimmklanges wurde insofern Nöther zufolge letztlich immer mehr in eine unbewußte Ebene abgeschoben und die nochmals als ›romantisch‹ apostrophierte Vorstellung eines Unsagbaren, das in der Musik sprachfähig gemacht werden sollte, wurde hier trivialisiert und verdinglicht. Gemeinsam mit dem seit den 1890ern erfolgenden Aufschwung des Konzertmelodrams, dem Deklamationsstil der frühen Theatermoderne (prominent repräsentiert etwa durch Ludwig Wüllner, Joseph Kainz und Alexander Moissi) und dem dezidiert deklamationsorientierten Bayreuther Gesangsstil der Cosima-Wagner-Ära läßt sich hier letztlich der Kontext eines musiko-lingustischen Nationalismus orten, der, wie Alois Büchl herausstellt, auch mit Blick auf die zeitgenössische gesangspädagogische Literatur leicht identifizierbar ist und dem eine »epidemische Verfallenheit ins Gesanglich-Pathetische, die hingebungsvolle Arbeit mit der dunklen Farbe, die Herausbildung eines körnig-jovialen,

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8 Liedkunst und kulturelle Inszenierung

Wenngleich Heys Methode auch direkt aus der Bayreuther Arbeit mit Wagner und dem in diesem Kontext entwickelten musikdramatischen Stilideal hervorgegangen sein mag74, verweist seine umfassende Einbeziehung eines inzwischen kanonisierten Lyrikrepertoires im Rahmen der Stimmschulung auch stark auf die Praxis des Kunstliedvortrags, dessen zunehmende Konjunktur (auch im professionellen Bereich) zum Jahrhundertende gleichfalls eine Motivation zum Projekt eines ›Deutschen Gesangs-Unterrichts‹ darstellte. Viele der am Ende des 19. Jahrhunderts bereits zum Kunstlied-Kanon zählenden Texte sollten insofern erst rezitierend erarbeitet und die bei der Rezitation erprobte sprachliche Nuancierung in den Gesangsvortrag übernommen werden. Die Kunst des Liedgesangs wurde hier also – ungeachtet des explizit formulierten Ziels einer Ausbildung »individuellen Gestaltungsvermögens« – letztlich vollständig in den Dienst einer sich bis auf die Ebene »psychischer Klangschattierungen« ausdehnenden systematisch erlernbaren Kommunikation textsemantischer Strukturen gestellt – eine Art des Singens, die für die Herausbildung einer ›deutschen Liedgesangstradition‹ (und -pädagogik) eine enorme Ausstrahlungskraft haben sollte75 und von Roland Barthes etwa 100 Jahre später in kritischer Absicht als »Phänogesang« rubriziert werden wird.76



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selbstbewußten, aber auch eines bedrohlich martialischen Tons zu eigen war«. Vgl.: Alois Büchl, Artifizialität oder Natürlichkeit – Schuberts Lieder in historischen Interpretationen auf dem Weg vom 19. ins 20. Jahrhundert, in: Dokumentationen des Bundesverbandes deutscher Gesangspädagogen, Heft 1992, S. 109. Dies wurde auch auf den Schubert-Gesang übertragen wie etwa die von Büchl herangezogene Aufnahme der Winterreise durch den Baritons Julius Raatz-Brockmann dokumentiert: Hier wurden gerade im Gegensatz zu Wagners und Heys Bestrebungen vokale Linie und konsonantische Deklamation geradezu planvoll voneinander abgetrennt. Vgl. Adolf Göttmann, Julius Hey. Eine Skizze seines Lebens und Wirkens, in: Die Musik 1 (1901/02), S. 1297‒1301 und Alois Büchl, Art. Hey, Julius, in: MGG2, P/Bd. 8, Sp. 1504f. Eine bedeutende genealogische Linie verläuft hier etwa von Stockhausens Schüler Johannes Messchaert über die von 1911 bis 1914 bei Messchaert ausgebildete Gesangspädagogin Franziska Martienssen-Lohmann, deren Wirken in hohem Maße als Repräsentation eines ›deutschen‹ Kunstgesangsstils gilt. Vgl. als interpretationsgeschichtliches Dokument im hier angesprochenen Kontext: Johannes Messchaert, Eine Gesangsstunde. Allgemeine Ratschläge nebst gesangstechnischer Analysen von einigen Schubert-Liedern, hg. von Franziska Martienssen, Mainz/Leipzig 1927. Messchaert behandelt hier die im 19. Jahrhundert vielgesungenen Lieder Meeres Stille, Erlkönig und An die Leier. Roland Barthes, Die Rauheit der Stimme, in: Der entgegenkommende und der stumpfe Sinn, S. 272.

8.1 Liedgestaltung als ›Interpretation‹

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8.2.3 »Intelligentes Gefühl« – Vortragsideale Die sich innerhalb der deutschsprachigen bürgerlichen Musikkultur des späten 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts herausbildende hochartifizielle Liedvortragskunst findet ihre in einer charakteristischen Mischung aus Bekenntnishaftigkeit und feiner Ironie vorgenommene literarische Überformung in einer berühmten Szene aus Thomas Manns Roman Der Zauberberg: Auf der letzten der »Vorzugsplatten«, denen Manns Protagonist Hans Castorp im Kapitel Fülle des Wohllauts während einer nächtlichen Grammophon-Andacht lauscht, findet sich bekanntlich Schuberts Lindenbaum.77 Nach einigen analytischen Bemerkungen zu Schuberts Vertonung lenkt der Erzähler, der sich in leicht herablassender Attitüde mit der Fähigkeit brüstet, dem Lesenden »ein ungefähres Verständnis für die intime Teilnahme einzuflößen, die Castorp den Vorzugs-Programmnummern seiner nächtlichen Konzerte entgegenbrachte«78 scheinbar zufällig die Aufmerksamkeit auf eine bestimmte melodische Wendung am Schluß des Liedes und nimmt dies zum Anlaß, einen gleichsam mikroskopischen Blick auf die vortragsästhetischen Finessen des Sängers zu werfen: Diese zauberhafte Wendung, der wir mit Worten nicht nahetreten mögen liegt auf den Satzfragmenten »So manches liebe Wort«, »Als riefen sie mir zu«, »Entfernt von jenem Ort« und die die helle und warme, atemkluge und zu einem maßvollen Schluchzen geneigte Stimme des Tenoristen sang sie jedesmal mit soviel intelligentem Gefühl für ihre Schönheit, daß sie dem Zuhörer auf ungeahnte Weise ans Herz griff, zumal der Künstler seine Wirkung durch außerordentlich innige Kopftöne bei den Zeilen »zu ihm mich immerfort«, »hier findst du deine Ruh’« zu steigern wußte. Beim wiederholten letzten Verse aber, diesem Du fändest Ruhe dort! sang er das »fändest« das erstemal aus voller sehnsüchtiger Brust und erst das zweitemal wieder als zartestes Flageolett. Soviel zum Lied und seinem Vortrag.79

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Vgl. zur Kontextualisierung dieser Szene: Brinkmann, Franz Schubert, Lindenbäume und deutschnationale Identität, S. 60‒65. Zur musikalischen Sozialisation Manns über das Kunstlied vgl. Hans Rudolf Vaget, Die glorreiche Kultur des deutschen Kunstliedes, in: ders., Seelenzauber. Thomas Mann und die Musik, Frankfurt a. M. 2006, S. 48–77. Zur Bedeutung des Lindenbaum-Liedes für die Entwicklung der Romanfigur vgl. Franziska Ehinger, Gesang und Stimme im Erzählwerk von Gottfried Keller, Eduard von Keyserling und Thomas Mann, Würzburg 2004, S. 218‒231. Ehinger arbeitet hier die literarische Funktionalisierung von Stimme und Gesang als Projektionsfläche für die inneren Entwicklungsprozesse des Protagonisten heraus. Der Gesang repräsentiere, so ihre These, »das einzige Medium überhaupt, an dem Castorps Entwicklung zur Erkenntnisfähigkeit in der Kunstrezeption gezeigt« werde, da er im Bezug auf die Musik im allgemeinen dem »undifferenziert genießenden Dilettantismus« verhaftet bleibe (ebd., S. 231). Daß die Idee einer ›intelligenten‹, professionell ausgefeilten Gesangskunst von Mann gerade anhand des Schubert-Liedgesangs aufgerufen wird, läßt sich hier überdies als klare Gegenposition zu den Tendenzen bzw. Konstanten zeitgenössischer Schubert-Rezeption einzuordnen. Thomas Mann, Der Zauberberg, zitiert nach: Große kommentierte Frankfurter Ausgabe der Werke Thomas Manns, hg. von Heinrich Detering, Bd. 5, 1, Frankfurt a. M. 2002, S. 985f. Mann zeigte sich von einer Münchener Aufführung der Winterreise durch den ehemaligen Stockhausen-Schüler Anton van Rooy und Bruno Walter im November 1916 tief beeindruckt. Vgl. im von Michael Neumann verfaßten Kommentarband zur o. g. Ausgabe S. 385. Laut

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Manns in der Verwendung der paradoxen Formulierung »intelligente[s] Gefühl« gleichsam kulminierende Charakterisierung der zeitgenössischen Vortragsästhetik soll hier den Impuls geben, den Liedvortrag schließlich auch im Kontext der moralisch aufgeladenen zeitgenössischen Körperdiskurse eingehender zu beleuchten. Die Liedgestaltungskunst als seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts öffentlich präsentierte sängerische Spezial- und letztlich neue vokalkünstlerische Königsdisziplin richtete sich hinsichtlich der Herausbildung zentraler vortragsästhetischer Kategorien gewissermaßen ex negativo am Bühnengesang aus, wie sich besonders anhand der zeitgenössischen musikalischen Fachpresse verfolgen läßt. Einerseits garantierten die prominenten Bühnensänger eine stärkere Frequentierung von Liederabenden80, zum anderen wurden diese immer wieder wegen einer als im kulturell codierten Rahmen des Liedvortrags ›unangemessenen‹ (da auf Bühnenwirksamkeit ausgerichteten) angesehenen Vortragsweise kritisiert. Kunstliedvortrag als Repräsentation von ›Geist‹ und ›Innerlichkeit‹ durfte nach dieser normativen Ansicht grundsätzlich nicht mit theatralen Darstellungspraktiken in Berührung geraten. Gerade daß spezialisierte Liedsänger und -sängerinnen noch als eher rare Erscheinungen galten, zog Diskussionen und Reglementierungen hinsichtlich einer Trennung von ›lied‹- bzw. ›operngemäßen‹ Vortragsstil nach sich. Bereits zur Schubert-Zeit aufgebrochene Kontroversenbildungen wurden somit im zeitgenössischen musikkritischen Diskurs perpetuiert und ausdifferenziert. Als Hintergrund gilt es hier zunächst, ein geschlechtergeschichtliches Moment ins Blickfeld zu rücken. Gerade mit Blick auf den ehemals ausschließlich mit der häuslichen Sphäre konnotierten Liedgesang als nunmehr öffentlicher Cultural Performance wird dieser Aspekt sogar hochbrisant, denn für Frauen war eine öffentliche Produktion als Sängerin moralisch grundsätzlich nicht unproblematisch. Der Sängerinnenberuf wurde vielmehr durch seine Verbindung mit der Opernbühne grundsätzlich gesellschaftlich stigmatisiert.81 Auf dem Konzertpodium hingegen eröffneten sich andere Möglichkeiten. Der zeitgenössische, männlich dominierte Musikdiskurs unterstellte allerdings das Phänomen subjektiver Entäußerung beim musikalischen Vortrag den herrschenden, auf den weiblichen Körper bezogenen, Disziplinierungsvorgaben, die sich, wie Freia Hoffmann dargelegt hat, tendentiell am Ideal der Bewegungslosigkeit orientierten.82 Wilhelm Heinrich Riehl etwa wendet sich in seinen mehrfach nachgedruckten Culturstudien aus den 1850er Jahren in Briefform an eine fiktive Sängerin, um ein von ihm als »subjectives Pathos« definiertes Vortragsideal zu exemplifizieren: 80

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Manns Äußerungen ist in dieser Zauberberg-Szene dem Tenor Richard Tauber gedacht, dessen erste Aufnahme des Lindenbaum ins Jahr 1923 fällt (vgl. ebd. S. 385). Die Wiener Konzertdirektion Albert Gutmann führte etwa seit 1886 eine Reihe mit Liederabende[n] berühmter Operngrößen ins Wiener Musikleben ein. Vgl. Theodor Helm, Fünfzig Jahre Wiener Musikleben: 1866‒1916. Erinnerungen eines Musikkritikers, hg. von Max Schönherr, Wien 1977, S. 193. Vgl. Rebecca Grotjahn, Frauenberuf Sängerin, in: Rheinische Sängerinnen des 20. Jahrhunderts. Eine Dokumentation in Wort und Ton, hg. von Thomas Synofzik und Susanne RodeBreymann, Kassel 2003, S. 25‒33. Freia Hoffmann, Instrument und Körper, S. 42ff.

8.1 Liedgestaltung als ›Interpretation‹

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Je größer die Aufgabe, um so gesammelter und ruhiger sind Sie vorher, nämlich nicht bewegungslos, sondern Ihre Bewegung niederkämpfend, um so maßvoller beginnen Sie, und je mehr sie die Leidenschaft äußerlich zurückdrängen, um so mehr lassen Sie uns ahnen, wie tief sie von derselben inwendig bewegt werden.83

Riehl benennt hier gewissermaßen den moralisch aufgeladenen Kern einer zeitgenössischen ausdruckspsychologisch basierten Vortrags- und Rezeptionsästhetik, die den maßvoll zurückgehaltenen Körper in umgekehrt proportionalem Verhältnis zum innerlich Erlebten sieht: Die Hörer sollten den kaum sichtbaren, absichtsvoll zurückgehaltenen äußeren Bewegungen der Singenden deren ›tiefes‹ musikalisches Erleben ablauschen und so selbst innerlich bewegt werden. Kein direkter physischer Übertragungsprozeß wie noch im 18. Jahrhundert, sondern ein indirektes, letztlich vom Hörenden selbst konstruiertes Moment wird hier zur Kommunikationsgrundlage des Innerlichkeitsideals. Der mit dem Vortrag verbundene kommunikative Prozeß gelingt, wie an Riehls Beschreibung eines ›adäquaten‹ Körpergebrauchs deutlich wird, indes nur auf der Basis kultureller Verabredungen. Daß eine derartige Inszenierung des Gesangsvortrags sogar Starrummel und Massenhysterie auslösen konnte, zeigt eindrücklich der Fall Jenny Linds, deren betont ›bürgerliches‹ Image vor allem nach ihrem bewußt frühzeitigen Rückzug von der Opernbühne (1849) über eine entsprechende Selbstpräsentation auf dem Konzertpodium unterstützt wurde. In Verbindung mit dem entsprechenden Repertoire festigte sich das Bild der Casta diva, die zudem über ihre karitativen Gesten die Sympathien des bürgerlichen Publikums gewann und deren Verehrung religiöse Züge annahm.84 Nicht zuletzt durch die ›keusche Kunstpriesterin‹ Jenny Lind konnte sich der Konzert- und insbesondere der Liedgesang im Laufe des 19. Jahrhunderts zu einer gesellschaftlich akzeptierten weiblichen künstlerischen Domäne allererst etablieren. Ein konkretes Exempel für die hier angesprochene geschlechtsspezifische Aufladung der Vortragsweise findet sich etwa noch in einem 1926 veröffentlichten Essay zur Ästhetik des Liedvortrags aus der Feder des preußisch-königlichen Musikdirektors Hermann Stoeckert. In der Zeitschrift Die Stimme wird der idealen Interpretin von Schuberts Gretchen am Spinnrade D 118 hier dringend anempfohlen, den (wenngleich imaginierten, so doch im Sinne einer körperlichen Präsenz Fausts erlebten) Moment des Kusses (»Und ach, sein Kuß!«) »als Produkt einer unauslöschlichen süßen Erinnerung an ein Erlebnis, [...] in einem hingebenden Pianissimo des hohen G wiederzugeben [...]«. Dies nämlich wirke, so Stoeckert, »vom ästhetischen Standpunkt keuscher, oder, wenn dieser Ausdruck nicht mehr modern ist, ›gretchenhafter‹ [...]«. 85 Daß Gretchen in dieser Situation indes kaum lediglich in selig-süßlicher Erinnerung schwelgt, sondern sich in existentieller Weise von ei-

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Wilhelm Heinrich Riehl, Das subjective Pathos, in: Culturstudien aus drei Jahrhunderten, Stuttgart 1862, S. 377. Vgl. Sonja Gesse-Harm, Casta diva – zur Rezeption Jenny Linds in der Musikkultur um 1850, in: Mf 62 (2009), S. 347‒363. Hermann Stoeckert, Zur Ästhetik des Liedvortrags, in: Die Stimme 21 (1926/27), S. 152.

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ner unbekannten Macht bedroht fühlt, wird hier – Schuberts zwingender kompositorischer Logik zum Trotz – vor dem Hintergrund einer von zeitgenössischen Geschlechterbildern beeinflußten interpretatorischen Folie schlichtweg ausgeblendet:

Notenbeispiel 10: Franz Schubert, »Gretchen am Spinnrade« D 118 (NGA IV:1a, S. 15, Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Bärenreiter-Verlags Kassel)

Während, wie diese Beispiele zeigen, Sängerinnen über eine maßvoll-kultivierte Liedvortragskunst auf dem Podium auch bürgerliche Weiblichkeitsideale verkörpern sollten, wurde im Kontext der zuvor diskutierten sprachzentrierten Haltung des Bürgertums von männlichen Liedsängern vor allem eine ›geistvolle‹, in erster Linie durch umfassende literarische Bildung geprägte, Vortragsweise erwartet, wie sie in hohem Maße durch Stockhausen und seinen Schülerkreis repräsentiert wurde: Herr Stockhausen, in Paris geboren und erzogen, hat das Glück gehabt, sich eine zugleich vielseitige und gründliche Bildung zu erwerben; um so zu musizieren und singen zu können, muß man mehr als Gesang und Musik studiert haben. Klassische und neuere Literatur und Sprachen sind ihm geläufig; dies ermöglicht es ihm auch, so tief in den Geist der verschiedenartigsten Tondichter einzudringen; man vergißt, wenn man Schubert, Mendelssohn, Schumann von ihm hört, daß er ein geborener Franzose ist. Er ist ein Künstler.86

Ein ›geistvoller‹ Vortrag wurde nach zeitgenössischen Verständnis als Gegenstück zum ›gekünstelten‹ Vortrag aufgefaßt, der in unzulässiger Weise »durch unnötig auf die Spitze getriebene Charaktereigentümlichkeiten oder durch willkürliches 86

Frankfurter Museum 15.03.1856, zitiert nach Wirth, Julius Stockhausen, S. 154.

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Abändern der dem Tongedanken angemessenen natürlichen Vortragsweise«87 zuviel subjektive Intervention in die Darbietung einbrachte. Die Materialität der Stimme – ihre performativen Qualitäten – wurden vor solchem Hintergrund, wie bereits im vorhergehenden Kapitel angesprochen, weitgehend ignoriert. Hanslick brachte diese Auffassung 1892 in einer Kritik am Liedvortrag des Baritons Paul Bulß88 auf die ironisierende Formel: »zu viel Stimme und zu wenig Geist«.89 Zwischen diesen geschlechtsspezifisch aufgeladenen vortragsästhetischen Polen wurde immer wieder Stockhausen als derjenige Sänger wahrgenommen, der dem eher weiblich konnotierten Feld des Liedgesangs die mit zeitgenössischen Männlichkeitsentwürfen korrespondierende ›Würde‹ einer professionellen Kunstausübung verleihen konnte: So wie Herr Stockhausen singt haben wir überhaupt vor ihm noch nicht singen gehört. Die Verklärung, die das deutsche Lied in seinem Munde, seinem Ton und aus seiner Brust heraus empfängt, könnte uns sogar ungerecht urtheilen lassen über Alles, wessen wir uns von den berühmtesten Liedersängern erinnern. Herrn Pischeck’s90 Ausdrucksweise erscheint süßlich im Vergleich zu der geistigen Würde, die Herr Stockhausen mit der anmutigen Zartheit des Gefühls vereinigt, Herr Staudigl trocken, verständig, trotz des Humors, in welchem sein Organ gleichsam von selbst aufging und selbst die Lieder einer Schröder-Devrient und Jenny Lind übertrifft Herr Stockhausen in dem Maße, in welchem der männliche Kunstcharakter dem weiblichen an Eigenart der Gedankenwölbung überlegen ist.91

Das hier aus Sicht des Rezensenten durch Stockhausen repräsentierte Männlichkeitsideal fiel letztlich aber auf einer grundsätzlichen Ebene mit dem professionellen Anspruch an einen musikalischen ›Interpreten‹ zusammen und galt insofern auch für professionell agierende Liedsängerinnen: Namentlich Stockhausens eigener Unterricht war hier unerbittlich, wie die deutschbaltische Sängerin und Schriftstellerin Monika Hunnius beschreibt. Ihr auf Empfehlung von Amalie Joachim angetretenes Gesangsstudium bei Stockhausen in den 1880er Jahren hält sie in ihren Lebenserinnerungen Mein Weg zur Kunst umfänglich fest: Ich stürzte mich in ein Lied und gab es so wahr und stark, wie ich es empfunden wieder, jedes Wort so ausdrucksvoll wie möglich aussprechend. Stockhausen lehrte mich, den künstlerischen Darüberstand zu finden. Den ›Wortausdruck‹ nannte er ›dilettantisch‹. ›Der Sänger muß einmal geweint und einmal gelacht haben beim Studieren des Liedes‹, sagte er, ›aber wenn er vor dem

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Dommer, Art. Gekünstelt, in: Musikalisches Lexikon, S. 366. Paul Bulß (1842‒1902) war von 1889 bis 1901 Mitglied der Berliner Hofoper, trat aber auch häufig als Liedsänger in Erscheinung. 1893 gestaltete er in Hamburg die Uraufführung einiger Lieder aus Den Knaben Wunderhorn von Gustav Mahler. Vgl. Kutsch/Riemens, Großes Sängerlexikon, Bd. 1, S. 495f. Eduard Hanslick, Fünf Jahre Musik (1891‒1895). Kritiken, Berlin 1896, S. 215. Der tschechische Bariton Johann Baptist Pischeck (eigentlich Jan Křtitel) gehörte nach verschiedenen Engagements von 1844‒1863 zum Ensemble der Hofoper Stuttgart. Berlioz hielt ihn für »einen der besten Sänger in ganz Europa«. Vgl. Kutsch/Riemens, Großes Sängerlexikon, Bd. 4, S. 2749. Rezension zum 143. Philharmonischen Privat-Concert in Hamburg. Stockhausen sang Robert Schumanns Lieder Du bist wie eine Blume, Widmung und Der Nußbaum nach einem Auftritt der Pianistin Madeleine Johnson-Graever mit drei Sätzen aus Henri Litolffs Concert symphonique Nr. 4. Vgl. P/FfM: Hamburg, 11.3.1864.

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8 Liedkunst und kulturelle Inszenierung Publikum steht, muß sein Kopf kühl geworden sein, und er muß das Lachen und Weinen nun so schildern, daß jeder es ihm glaubt.‹ Er verlangte, daß ein Kunstwerk, losgelöst von Ausübenden, gleichsam in eine höhere Sphäre gerückt werde. ›Sie müssen als Künstler die Leidenschaften gefühlt haben, von denen Sie sprechen. Die Empfindungen, von denen Sie singen, müssen einmal erlebt gewesen sein. Stehen Sie aber auf dem Podium, so müssen Sie immer über Ihrem Schaffen stehen. Sonst können Sie nie ein Kunstwerk gestalten.‹ […] Stockhausen zog eine feine Linie zwischen Konzert- und Operngesang. ›In der Oper müßt ihr das Publicum davon überzeugen, das ihr das wirklich seid, was ihr vorstellt; denn da muß der schöne Schein als Wirklichkeit festgehalten werden; da verwirklicht ihr mit eurer ganzen Persönlichkeit das, was ihr singt. Im Konzertgesang müßt ihr mit eurer Person vollständig zurücktreten; da seid ihr nichts anderes als die Interpreten vom Dichter und Komponisten.‹ Unerbittlich wachte er über jede Bewegung, die wir unwillkürlich beim Singen machten, wenn uns der Ausdruck hinriß. Er verbot sogar ein zu starkes Mienenspiel. ›Das gehört auf die Bühne‹, sagte er herrisch, ›auf dem Konzertpodium dürfen nur Mund und Augen sprechen.‹92

Auch nach Stockhausens Maßgabe sollte sich, wie hier deutlich wird, die geforderte objektive Distanz zum ›Werk‹ gesanglich wie körperlich in einer gewissen Zurückhaltung äußern. Ein weiteres prägnantes Beispiel für diese auch im Kontext eines ›klassischen‹ Ideals rezipierte Vortragsweise bietet die ebenfalls von Stockhausen ausgebildete Altistin Hermine Spies, die in den 1880er Jahren eine bedeutende Karriere auf deutschen Konzertpodien verfolgte.93 In ihr sah man immer wieder eine perfekte Synthese der auch geschlechtsspezifisch konnotierten Prämissen des Liedvortrags verkörpert: Nur leise andeutend bleibt ihr Mienenspiel und ihre stets ruhige Körperhaltung. In Fräulein Spies verschmilzt künstlerische Bildung mit der frischesten Natürlichkeit, und dieser Zusammenhang wirkt ebenso unwiderstehlich als er selten ist.94

Der private Körper der vortragenden Sänger und Sängerinnen wird bei den hier angeführten Beispielen grundsätzlich im Sinne eines speziell modifizierten Ideals schauspielerischer ›Verkörperung‹ Teil der inzwischen öffentlich gewordenen kulturellen Inszenierung des Liedvortrags. Obgleich der Vortragende sich gänzlich in den ›Dienst‹ des aufgeführten ›Werkes‹ stellten sollte, wurde für die Zuhörenden der ohne Kostüm und Maske ›privat‹ anmutende phänomenale Leib des Künstlers oder der Künstlerin indes nicht einfach ausgeblendet. Im Gegensatz zur Performance im privaten Rahmen wurde der mit maßvoller Zurückhaltung präsentierte Körper hier vielmehr als öffentliche Repräsentation einer professionellen Auffassung dem Kunstwerk gegenüber gelesen und gab vor dem Hintergrund einer moralischen Aufladung kontrollierter Affekte95 gleichzeitig Auskunft über die Persönlichkeitsdisposition des bzw. der Singenden. Der nun zunehmend ›ver-öffentliche‹ Liedvortrag wurde mithin, wie die bisherigen Ausführungen bereits zeigen können, zum komplexen Feld historischer Geschlechterkonstruktion, wobei aus heutiger Perspektive insbesondere die Frage 92 93 94 95

Monika Hunnius, Mein Weg zur Kunst, Heilbronn 1930, S. 78. Rebecca Grotjahn, Art. Spies, Hermine, in: MGG2, P/Bd. 15, Sp. 1180. Neue Freie Presse, 7.12.1886, zitiert nach: Minna Spies, Hermine Spies. Ein Gedenkbuch für ihre Freunde von ihrer Schwester, Leipzig 1905, S. 157. Sennett, Verfall und Ende öffentlichen Lebens, S. 221ff.

8.1 Liedgestaltung als ›Interpretation‹

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nach der Relation von lyischer persona und real singendem Menschen im Kontext des historischen Geschlechterdiskurses virulent wird. Es ist inzwischen mehrfach darauf hingewiesen worden, daß etwa Schuberts große Zyklen im mittleren und späteren 19. Jahrhundert offenbar mit einer gewissen Selbstverständlichkeit weit häufiger von Frauen gesungen wurden als in der heutigen Zeit, die dies zuweilen als ästhetisch unzumutbare Grenzüberschreitung innerhalb eines relativ fest installierten Repertoiresystems verurteilt bzw. in jedem Fall unter einen spezifischen Legitimationszwang stellt.96 Jenny Lind wurde hingegen, wie bereits erwähnt, von Wilhelm Müllers Sohn Max als ideale Interpretin der Schönen Müllerin angesehen, Amalie Joachim trat außer mit den in der Öffentlichkeit eher durch Stockhausens Vorträge prominenten ›Müllerliedern‹ auch mehrfach mit der Winterreise auf, zu ihren meistgesungenen Schubert-Liedern zählten zudem Mayrhofers Memnon D 541 und Bruchmanns An die Leier D 737.97 Hermine Spies zählte unter anderem die ebenfalls mit Stockhausen eng verbundene Schubert-Vertonung Aufenthalt aus dem Schwanengesang D 957 und die ›Harfnerlieder‹ aus Goethes Wilhelm Meister zu ihrem öffentlich aufgeführten Repertoire, Stockhausens Schülerin Rosa Girzick sang in gemeinsamen Konzerten mit ihrem Lehrer und Brahms Schuberts Fahrt zum Hades D 526 und Gruppe aus dem Tartarus D 583.98 Auch Deutungen dieses historischen Phänomens sind bereits vorgelegt worden: Der von Beatrix Borchard aufgestellten These einer Idealisierung des zeitgenössischen Konzertsaals im Sinne eines geschlechtsneutralem Raums, die letztlich einen nahezu geschlechtsindifferenten Liedvortrag ermöglicht habe99, wird in einer 2010 erschienenen Untersuchung von Marion Gerards die Perspektive eines normativen historischen Ich entgegengehalten, das grundsätzlich an männlichen Werten orientiert war: Der männliche Liedinterpret habe demnach in der kulturell geformten Wahrnehmung der damaligen Zuhörenden im Akt des Singens gleichfalls den stetiger Aktualisierung bedürfenden Akt der Subjekt- und Geschlechtskonstitution vollzogen. Die Sängerin hingegen sei grundsätzlich als Sprachrohr des Komponisten bzw. Dichters aufgefaßt worden, da der männlich dominierte zeitgenössische Geschlechterdiskurs ihr eine eigene Subjektposition ohnehin absprach. 100 Insofern störte es in diesem Fall offenbar wenig, wenn sich Geschlecht der Vortragenden 96

Vgl. etwa besonders: Schmidt, Brahms und seine Zeit, S.144: »Die Vernachlässigung der geschlechtsspezifischen Ausrichtung [innerhalb der Liedinterpretationspraxis, M. G.] bringt – zumal im Hinblick auf die Texte – eine Einbuße an ästhetischer Authentizität mit sich [...]« sowie Werner Bodendorff, Schuberts Frauenbild, Augsburg 1996, S. 9: »Ob solch derartige Übergriffe aber immer mit einem guten Geschmack und der nötigen Behutsamkeit geschehen, sei dahingestellt.« Bodendorff blendet bezeichnenderweise in seinem Abschnitt »Interpretinnen und Interpreten« die Aufführungsgeschichte des 19. Jahrhunderts inklusive der Schubert-Zeit weitgehend aus (vgl. ebd., S. 121f.) und betont die seit dem Aufnahmezeitalter nachvollziehbaren Tendenzen der Repertoirefestschreibung. 97 Vgl. Beatrix Borchards Auswertungen des Repertoires von Amalie Joachim (dies., Stimme und Geige, Anhang/CD-ROM). 98 Vgl. Johannes Brahms als Pianist und Dirigent, S. 114. 99 Vgl. Borchard, Stimme und Geige, S. 441. 100 Vgl. Marion Gerards, Frauenliebe – Männerleben. Die Musik von Johannes Brahms und der Geschlechterdiskurs im 19. Jahrhundert, Köln [u. a], 2010, S. 88.

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und der repräsentierten poetischen persona nicht entsprachen.Vor diesem Hintergrund wäre also die Idee eines geschlechtsneutralen Konzertsaals im Kontext zeitgenössischer Gechlechterbilder selbst als durch männlich geprägte Idealvorstellungen geprägt zu deuten. Folgt man Marion Gerards, galt für einen männlichen Singenden nämlich gleichwohl, daß er sich »der Gefahr aussetz[te], beim Vortrag eines Frauenliedes seine männliche Subjektposition zu verlieren und als ›unmännlich‹ betrachtet zu werden«.101 In seiner Brahms-Biographie resümiert Max Kalbeck um 1912, es sei in den 1870er Jahren »noch weniger zwischen Männer- und Frauenliedern unterschieden worden als heute« und auch er selbst habe Schumanns Frauenliebe und Leben Opus 42 von einem »starkbärtigen, renommierten Künstler« im Konzertsaal gehört.102 Ob Kalbeck hier allerdings tatsächlich auf eine reale künstlerische Praxis, die »weit weniger geschlechtsspezifisch dacht[e] als wir heutzutage«103 Bezug nimmt oder, wie Marion Gerards behauptet, die Liedinterpretation im späteren 19. Jahrhundert sehr wohl von der zeitgenössischen Geschlechterpolarisierung geprägt war, wird sich ohne umfassende empirische Untersuchungen zu Repertoire, Konzertpraxis und Rezeption zahlreicher einzelner Sängerinnen und Sänger kaum klären lassen.104 Bezeichnend ist immerhin, daß Männer offenbar in privaten wie öffentlichen Kontexten etwa Schumanns Frauenliebe und Leben sangen, ohne daß ihnen – wie man meinen könnte – Wellen der Entrüstung entgegenschlugen oder sich doch zumindest in höherem Ausmaße irritierte Reaktionen der Zuhörenden nachweisen ließen. Bedenkenswert scheint etwa eine Äußerung Paul Friedrich August Strackerjahns, Mitglied einer Berliner Schumann-Liebhabervereinigung, auf die Kazuko OzawaMüller hingewiesen hat. Strackerjahn betont 1854 gegenüber dem verehrten Komponisten Schumann: Unzählige Male habe ich Ihre ›Frauenliebe und Leben‹ gesungen und zuletzt geglaubt, es könne sie Keiner besser verstehen und wiedergeben wie ich, wie auch meine Freunde behaupten wollten. Da muß ich nun neulich, als ich in einer großen Gesellschaft einer jungen, sehr talentvollen Sängerin einige dieser Lieder begleitete, die Erfahrung machen, daß ich noch weit von dem ganzen Verständnis entfernt war. Freilich mag es einem Manne schwer werden, sich ganz in die Gefühle eines tiefliebenden, jungfräulichen Herzens hineinzuversetzen; aber Sie, ein Mann haben diese Lieder doch empfunden, wie sie kaum das geweihteste weibliche Herz nachempfinden kann.105

101 102 103 104

Ebd., S. 90. Max Kalbeck, Johannes Brahms, Bd. 3, Reprint Tutzing 1976, S. 136. Borchard, Stimme und Geige, S. 440. Die von Gerards durchgeführte Erfassung der Erstaufführungen von Brahms’ Liedern mag Tendenzen aufzeigen, kann aber genauso wenig die umfassende Praxis abbilden wie die von Borchard vorgelegte Fallstudie, zumal, wie die Autorin selbst einräumt, bei 81 von 195 Liedern keine Angaben zu ermitteln waren. Zudem ist von entscheidender Bedeutung, ob die Aufführungen in öffentlichen oder privatem Kontext stattfanden 105 Kraków, Biblioteka Jagiellońska, Korespondencja Schumanna, Bd. 26/2, Nr. 197, zitiert nach: Kazuko Ozawa-Müller, Vorwort zu: Robert Schumann, Frauenliebe und Leben für Singstimme und Klavier Opus 42, hg. von ders., München 2002, S. VI.

8.1 Liedgestaltung als ›Interpretation‹

321

Neben das Erlebnis einer sehr wohl weiblich-subjektiven (und nicht androgyn-objektiven) Interpretation der Lieder durch eine Frau tritt hier das Moment einer kreativen Einfühlung – und zwar sowohl mit Bezug auf den Vorgang der Komposition als auch der performativen Verwirklichung der Lieder durch einen Mann. Auch wenn der Ausgangspunkt für all diese Projektionen schon durch die Gedichtvorlage Adelbert von Chamissos also grundsätzlich eine männliche Perspektive bleibt106, scheint Strackerjahns Beschreibung der eigenen Liedperformance auf eine weitere Facette der damaligen Geschlechterkonstellation hinzuweisen, die sich letztlich im zeitgenössischen Umgang mit Lyrik und Lied abspiegelt. Auch Julius Stockhausen trat gelegentlich mit Robert Schumanns Opus 42 bzw. einzelnen Liedern daraus in öffentlichen Konzerten auf, wie etwa am 28. März 1862 in Hamburg.107 Gerade angesichts der beschriebenen aufführungspraktischen Konzepte, die der Sänger für Schuberts Zyklen entwickelt hatte, scheint es plausibel, daß er auch in diesem Fall die Einfühlung in eine poetische Figur als Impuls und Leitlinie seiner Interpretation vor Augen Abbildung 19: Programmzettel zu einem Konzert hatte.108 Stockhausens mit Auszügen aus »Frauenliebe und Leben«

106 Vgl. Ruth Solie, Whose Life? The Gendered Self in Schumann’s »Frauenliebe« Songs, in: Music and Text. Critical Inquieries, hg. von Steven P. Scher, Cambridge 1992, S. 219‒240. 107 Im erhaltenen Textbuch zu diesem Konzert finden sich die Gedichte Er, der Herrlichste von allen; Du Ring an meinem Finger und Ich kann’s nicht fassen, nicht glauben abgedruckt. Vgl. P/FfM: Hamburg, 28.3.1862. Knapp einen Monat vorher, am 24.2.1862, sang Stockhausen in einem gemeinsamen Konzert mit Clara Schumann in Basel auch den gesamten Zyklus. 108 Grundsätzliches zu diesem Thema formulierte Stockhausen gegenüber seinen Eltern: »Es ist sehr falsch, von mir zu glauben, daß man um dies oder jenes Empfinden gut ausdrücken zu können, man diese oder jene Sache erlebt haben müsse! Man muß Fantasie haben! Man wird durch diese Fähigkeit in den Stand gesetzt, sich eine Magdalena, einen Elias, eine Dalila, Samson oder Belsazar oder irgend sonst wen vorzustellen«, zitiert nach Wirth, Julius Stockhausen, S. 294. Vgl. Laura Tunbridge in: dies., The Song Cycle, Cambridge 2010, S. 54: »Stockhausens memoirs make it clear, that he thought his interpretation of Frauenliebe und Leben a kind of role playing; in other words, almost as if he were in an opera. Connecting operatic and theatrical practices and Lieder performance allowed for a much looser conception of the correlation between poetic protagonist and singer […].«

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8 Liedkunst und kulturelle Inszenierung

Das hier vor dem Hintergrund der historischen Kunstliedkultur des mittleren und späteren 19. Jahrhunderts verhandelte Phänomen eines geschlechtsneutralen ›Nachsprechens‹ lyrischer Texte wurde aus einer literaturwissenschaftlichen Perspektive ausführlich von Heinz Schlaffer beleuchtet, der in eben diesem performativen Aspekt ein grundlegendes Strukturmerkmal von Lyrik schlechthin erblickt:109 Da das ›ich‹ des Gedichts weder benannt noch beschrieben ist, liegt es nahe, daß an seine Stelle das einzig anwesende ›ich‹ tritt: das des Lesers, der das Gedicht laut oder leise, vor sich hin oder in sich hinein spricht. Wer immer also das Gedicht spricht oder nachspricht, sei es der Dichter selbst, der Sänger, der Rezitator oder der Leser, gewährt der grammatischen Person des Pronomens durch seine körperliche Präsenz Festigkeit und Identität, die freilich selbst nur eine fiktive Festigkeit und auch nur eine formale Identität ist. [...] Die Entscheidung, sich mit dem ›ich‹, statt mir dem ›du‹ zu identifizieren, ist unabhängig vom Geschlecht des Autors wie des Lesers.110

Schlaffer betont hier »entgegen der literaturgeschichtlichen Gewohnheit, jedem Text einen Verfasser zuzuschreiben«111 die strukturelle Anonymität von Lyrik, die für die jeweiligen Leserinnen und Leser nicht mehr als »Passepartouts von Ich-Formeln«112 bereithalte. Während der performativen Realisierung eines lyrischen Gedichts ›erprobe‹, so Schlaffer weiter, der bzw. die Sprechende sodann, die Rolle eines Anderen zu übernehmen und erlange dadurch zu tieferen Einsichten in die Strukturen der menschlichen Gesellschaft und damit verbundenen Handlungskompetenzen: Das Leben in der menschlichen Gesellschaft erfordert vom Einzelnen, daß er mehr versteht, als er ist: Die Differenz zwischen dem Vielen, das es zu verstehen gibt, und dem Einen, der man ist, wird durch Rollenspiele überbrückt. [...] Gedichte führen solche Rollen in ihrer bezwingendsten, sprechendsten Form vor: nämlich als ›ich‹ – und nicht, wie gewöhnlich beim Akt des Verstehens, als ›er‹. Wer sich des Pronomens ›ich‹ bedient (und dabei nicht verkleidet auf einer Bühne steht, sondern in eigener Gestalt und am eignen Ort bleibt), dem wird die fremde Rolle, zumal sie im Gedicht geglückter formuliert ist als in der gesellschaftlichen Realität, ganz zur eigenen. Diese soziale Interpretation vermag endlich, die zunächst verwunderliche grammatische und rhetorische Paradoxie, daß Gedichte mittels nachgesprochenem ›ich‹ angeeignet werden, in pragmatische Plausibilität aufzulösen. 113

Eine Projektion der historischen Geschlechterdichotomie hinter die von Schlaffer als gattungsästhetische Konstituente beschriebene pragmatische Aneignung von Lyrik legt nahe, daß Liedsängerinnen sich im mittleren und späteren 19. Jahrhundert grundsätzlich in einer benachteiligten Situation befanden, da sie beim Singen von ›Frauenliedern‹ einzig das, in der Lyrik letztlich abgespiegelte, zeitgenössische Frauenbild repetieren konnten und daher zu ›Männerliedern‹ greifen mußten, um

109 Vgl. Heinz Schlaffer, Die Aneignung von Gedichten. Grammatisches, rhetorisches und pragmatisches Ich in der Lyrik, in: Poetica 27/1‒2 (1995), S. 38‒57. 110 Schlaffer, Die Aneignung von Gedichten, S. 41f. 111 Ebd., S. 47 112 Ebd. 113 Ebd., S. 51f.

8.1 Liedgestaltung als ›Interpretation‹

323

ihr künstlerisches Profil ausbauen zu können.114 Das hier zur Diskussion stehende historische Phänomen einer potentiellen Transzendierung der geschlechtsspezifischen Dichotomie beim Kunstliedvortrag lässt sich hingegen mit Blick auf das bereits angeklungene Konzept der ›Einfühlung‹ als zeitgebundener ästhetischer bzw. psychologischer Kategorie weitergehend qualifizieren: Es steht, wie Erika FischerLichte ausführt, in historischer Perspektive in besonderer Weise für eine charakteristische Sublimierung alles Körperlichen: Sich in eine dargestellte Figur ›einzufühlen‹, war etwa vor dem Hintergrund der rezeptionsästhetisch ausgerichteten Theorien Friedrich Theodor und Robert Vischers gleichbedeutend mit »eine[m] körperlosen, rein mentalen Akt, der keinerlei körperliche ›Symptome‹ verursacht und damit der Wahrnehmung anderer nicht zugänglich ist. Das Seelisch-Geistige der Einfühlung wird durch keine körperlichen Reaktionen verunreinigt«. 115 Die zum zeitgenössischen Einfühlungsbegriff zählende Ausblendung des Körpers kann, wie Richard Leppert gezeigt hat, als typisches Moment der Musikkultur des 19. Jahrhunderts angesehen werden. Namentlich in dessen zweiter Hälfte wurde die körperliche Wahrnehmung von Musik und das Musizieren selbst als sinnliche Erfahrung zugunsten der Idealisierung einer abstrakten ästhetischen Substanz in den Hintergrund gedrängt.116 Die Tendenz einer idealisierenden Entkörperlichung lässt sich somit, wie oben ausgeführt, sowohl auf das zeitgenössische Weiblichkeitsideal als auch auf das zeitgenössische Konzept der ›lyrischen Stimme‹ beziehen, die in den Worten des Liedkomponisten Robert Franz »in ihrem Empfinden geschlechtslos« sei.117 Beide Aspekte vermischen sich etwa in Max Kalbecks aufschlußreicher Beschreibung des Wien-Debüts der bereits erwähnten StockhausenSchülerin Hermine Spies: Wie das Angesicht der Sängerin durch die Berührung mit dem Ewigen einen erdentrückten, sibyllischen Ausdruck erhält, so wachsen ihrer Stimme Schwingen während des Gesangs. […] Das Objektive und gewissermaßen Geschlechtslose, welches dem Klangcharakter ihres Organs eigentümlich ist, erlaubt Fräulein Spies, die gesamte Menschennatur, soweit sie im lyrischen Gesange sich erschöpfen läßt, zur Darstellung zu bringen.118

Das seit der barocken Opernpraxis mit der weiblichen Altstimme in Zusammenhang gebrachte Moment »geschlechtliche[r] Ambiguität«119 wird hier einerseits als geläufige Zuschreibung in den Konzertsaal übertragen. Der explizite Verweis auf eine (als gleichsam notwendige künstlerische Voraussetzung aufgefaßte) ›geschlechtliche Neutralität‹ reicht indes über die von der Bühne her bekannte Erfahrung eines ambivalenten Changierens zwischen den Geschlechtern hinaus. Er zielt 114 So Marion Gerards Folgerungen aus Schlaffers Thesen: Vgl. dies, Frauenliebe – Männerleben, S. 89f. 115 Erika Fischer-Lichte, Theater als »Emotionsmaschine«, in: Koordinaten der Leidenschaft. Kulturelle Aufführungen von Gefühlen, hg. von Clemens Risi/Jens Roselt, Berlin 2009, S. 37. 116 Vgl. Richard Leppert, The Sight of Sound: Music, Representation and the History of the Body, Berkeley 1995, S. 230‒233. 117 Vgl. Robert Franz, Gespräche aus zehn Jahren, hg. von Wilhelm Waldmann, Leipzig 1895, S. 160. 118 Minna Spies, Hermine Spies. Ein Gedenkbuch für ihre Freunde, S. 136. 119 Vgl. Rodolfo Celletti, Geschichte des Belcanto, Kassel 1989, S. 14.

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8 Liedkunst und kulturelle Inszenierung

vor dem Hintergrund des historischen Einfühlungsbegriffs vielmehr direkt auf die Artikulation eines spezifischen Ideals des Lyrik- bzw. Liedvortrags, der als performatives Phänomen gewissermaßen zwischen rezeptions- und produktionsästhetischer Perspektive oszillierte. Da im komplexen Akt Zusammenwirkens von Gedicht, Vertonung und Vortrag letztlich keiner Instanz automatisch die Priorität zufallen kann120, eröffnete besonders der Liedvortrag allerdings auch unabhängig von historisch bedingter rezeptionsästhetischer Formung die Möglichkeit, potentiell verschiedene Subjekte gleichzeitig repräsentieren zu können. Einzelne Performances von Liedsängerinnen und Liedsängern konnten, wie die verschiedenen hier präsentierten Beispiele nahelegen, insofern offenbar auch in der Wahrnehmung des 19. Jahrhunderts in besonderer Weise dazu einladen, sich mit verschiedenen ineinander verwobenen Ebenen subjektiven Ausdrucks, wie sie im Zusammenspiel von Dichtung, Musik und Gesang im strukturellen Sinne einer »multiplen persona« aufscheinen, zu identifizieren.121 Darüber hinaus bleiben hinsichtlich persönlicher Repertoireentscheidungen stets eine Fülle pragmatischer Gründe zu berücksichtigen, die in Verbindung mit den jeweiligen Strategien der Künsterlinnen und Künstler immer wieder dazu geführt haben mögen, geschlechtsspezifische Stereotypien zu unterlaufen. Bezeichnend ist freilich, daß die zeitgenössische Gesangsausbildung sich sehr wohl an den vorgezeichneten Geschlechterpolaritäten ausrichtete. Grundsätzlich läßt sich, wie Rebecca Grotjahn gezeigt hat, ab etwa der Mitte des 19. Jahrhunderts die sich verstärkende Tendenz einer geschlechtsspezifischen Klassifikation der Stimmumfänge beobachten, während in älteren Gesangstraktaten »das Geschlecht für die Einteilung der Singstimme keine Rolle spielt.«122 Während indes zumeist die Extrembereiche der Tessitura Anlaß zu Kontroversen über die Charakteristik einer ›idealen‹ Männer- oder Frauenstimme gaben, spielt dies hinsichtlich des eben diese vokalen Extrembereiche in der Regel meidenden Liedrepertoires eine untergeordnete Rolle. Die von Grotjahn als jeweilige Tabuzonen (Nutzung des Brustregisters bei Frauenstimmen und des Kopfregisters bei Männerstimmen) herausgestellten klanglichen Phänomene sind aus Charakterisierungsgründen gerade beim Liedgesang sogar durchaus anzutreffen. Julius Heys Deutscher Gesangs-Unterricht etwa nimmt allerdings eigens eine auffällige methodische Differenzierung hinsichtlich der Ausbildung jeweils hoher und tiefer Männer- und Frauenstimmen vor, die überdies auf die materiale Beschaffenheit der Stimmen hinsichtlich spezifischer musikdramatischer Rollenfächer eingeht. Mit Blick auf die bereits angesprochenen, den Liedvortrag idealerweise vorbereitenden Deklamationsübungen, die auf die Erarbeitung eines Repertoires definierter expressiver Haltungen abzielen, gilt zwar grundsätzlich die Ausrichtung an der jeweiligen individuellen Beschaffenheit der Stimme, doch benennt Hey auch 120 Vgl. Kramer, Franz Schubert: Subjectivity, Sexuality, Song, S. 11‒13 121 Vgl. Berthold Höckner, Spricht der Dichter oder der Tondichter? Die multiple persona und Schumanns ›Liederkreis‹ op. 24, in: Schumann und seine Dichter, hg. von Matthias Wendt, Mainz 1993, S. 25. 122 Rebecca Grotjahn, »Die Singstimmen scheiden sich ihrer Natur nach in zwei große Kategorien«. Die Konstruktion des Stimmgeschlechts als historischer Prozess, S. 42.

8.1 Liedgestaltung als ›Interpretation‹

325

Gedichte, die auf exemplarische Weise eine als ›männlich‹ bzw. ›weiblich‹ aufgefaßte Klang- und Ausdruckscharakteristik beim Vortrag befördern sollen: Während etwa Uhlands Ballade Junker Rechberger »[e]ine vorzügliche Übung für die Schattierung tiefer, männlicher Klangfarbe und erweiterter Sprechtonskala« sei, bilde nach Heys Ansicht mit Blick auf »weibliche Schüler« Goethes »liebliche Ballade Der Fischer jederzeit einen zweckmässigen Uebungsstoff«123 − für den »weiblichen Vortrag« wird überdies auch Chamissos Frauenliebe und Leben empfohlen. Lassen sich am Beispiel Heys insofern durchaus Abhängigkeiten von zeitgenössischen kulturell geformten Geschlechterbildern konstatieren, so steht dieser Aspekt indes kaum im Vordergrund. Heys Gesangsschule ist letztlich, wie gezeigt wurde, auf eine möglichst umfassende Schulung der vokal expressiven Darbietung von Gedichten vor dem Hintergrund zeitgenössischer Texthermeneutik ausgerichtet und dürfte damit einer das Liedrepertoire in Männer- und Frauenlieder polarisierenden Liedvortragspraxis kaum Vorschub geleistet haben.124 Die heute prominente Kontroverse um dieses Thema begann sich offenbar erst einige Jahrzehnte später zu entfalten und muß in den Kontext einer sich wandelnden Erwartungshaltung der Zuhörenden gestellt werden.125 Daß indes auch im späteren 19. Jahrhundert die Ausblendung des Sängerinnenoder Sängerkörpers zugunsten einer »objectiven« Präsentation der im Notentext niedergelegten »Tongedanken« letztlich eine Idealvorstellung blieb, liegt auf der Hand, denn rein performative Wirkungen von Körper und Stimme sind letztlich nicht durch kulturell geformte geschlechtsspezifische Rollenzuweisungen kontrollierbar. Gerade der hier im Mittelpunkt stehende öffentliche Vortrag von Liedern orientierte sich aus der Perspektive der Aufführenden selbst offenbar trotz der mit der Gattung verbundenen Innerlichkeitsideale, die eine maßvolle Zurückhaltung der körperlichen Aktion beim Vortrag einforderten, auch an traditionellen wirkungsästhetischen bzw. ›theatralisierenden‹ Strategien. Als zentral muß hier die spezifische Praxis des Vortrags von Balladenvertonungen angesehen werden, denn sie rechnete 123 Hey, Deutscher Gesangsunterricht, Bd. 1, S. 167. 124 Aufschlußreiches, wenngleich noch genauer auszuwertendes Studienmaterial bieten hier auch die anhand der entsprechenden Programmzettel nachvollziehbaren Repertoirezuweisungen Julius Stockhausens im Rahmen der Vortragsabende seiner privaten Gesangsschule in Frankfurt a. M. 125 Die zunehmende Relevanz dieses Themas wird z. B. in einem Essay aus der Leipziger Zeitschrift für Musik von 1928 deutlich. Hier unternimmt der Musikwissenschaftler Richard Engländer den Versuch einer historischen Analyse der Kontroverse ›Männerlied – Frauenlied‹ und stellt verschiedene differenzierende Reflexionen an: Richard Engländer, Männerlied – Frauenlied. Randglossen zu einer Aufführung von Schuberts »Schöner Müllerin«, in: Zeitschrift für Musik (95/10), Leipzig 1928, S. 545‒549. Carl Lafite betont etwa in seinem im selben Jahr erschienenen Buch Das Schubertlied und seine Sänger zur Frage des geschlechtsspezifischen Liedvortrags daß »eine gänzliches Verwischen dieser Grenzen nicht zu empfehlen« sei. (S. 105) und auch Oscar Bie (Das deutsche Lied, Berlin 1926) beharrt auf einer Trennung von musikalischer und biologischer Gattung (S. 156). Wann genau eine ,Genderisierung‘ des Liedrepertoires einsetzte, ist derzeit nicht bestimmbar. Vgl. auch Beatrix Borchard, Frauenlieder – Männerlieder? Gedanken zum Thema Repertoire und Gender, in: Schubert : Interpretationen, hg. von Ivana Rentsch/Klaus Pietschmann, Stuttgart 2014, S. 179–203.

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traditionell mit einem ›theatralisierenden‹, deklamatorisch ausgefeilten Vortrag, wie er bereits im Kontext der Goetheschen Liedpraxis (etwa mit Blick auf Reichardts »Deklamationen«) praktiziert wurde. Wirft man etwa einen Blick auf die von Carl Loewe hinterlassenen Anweisungen zum Balladenvortrag wird deutlich, daß hier offenbar gleichfalls das Ideal schauspielerischer ›Verkörperung‹ im Sinne Goethescher »Deklamation« im Vordergrund stand. Loewes Tochter Julie berichtet etwa, daß das geforderte Ideal eines ›objektiven Vortrags‹ nach Ansicht ihres Vaters nur zu erreichen wäre, [...] wenn man sich selbst vergißt und sich gänzlich in den Gedanken vertieft: ›Du sollst nicht dich vorstellen, sondern die zu belebende, längst entschwundene Erscheinung in neuen Umschwung bringen.‹ Solche dramatische Kraftaufwendung setzt alle Bedingungen vollendeter Gesangskunst voraus.126

Gerade jene zwar kaum als Balladen rubrizierbaren, aber die Dimension des Liedhaften im traditionellen Sinne dennoch sprengenden Kompositionen Schuberts, die Stockhausen häufig für seine Vorträge auswählte, erforderten nach Auffassung des Sängers zuweilen ebenfalls eine derartige Herangehensweise. In einer Rezension zu Stockhausens Auftritt im Vierten Philharmonischen Konzert im Hamburger Convent-Garten am 13.1. 1869 wird etwa deutlich, daß seine Liedvortragskunst als eine zu allererst durch ihn selbst repräsentierte Spezialdisziplin wahrgenommen wurde. Der Terminus ›Verkörperung‹ wird hier gar direkt angewendet und in direkter Weise mit Schuberts Kompositionen in Verbindung gebracht: Von den beiden Nummern mit Clavierbegleitung von Franz Schubert, Nachtstück und Die zürnende Diana [sic!] möchten wir geradezu behaupten, daß sie nur von Herrn Stockhausen öffentlich zu singen sind. Sie heißen Lieder, aber sie enthalten dramatische Szenen, zu deren Verkörperung es eines Dolmetschers bedarf, der mit souverainer Herrschaft über die Technik der Stimme einen Charakter von künstlerischer Gestaltungskraft besitzt. Das Nachtstück zeigt einen sterbenden Greis, den die Bäume mit ihrem Rauschen in den Todesschlaf einwiegen; die zürnende Diana ist der Triumph eines Mannes, der für seine Aktäonssünde mit dem Leben […] büßt. […] Herr Stockhausen ward nach diesen ›Liedern‹ wiederholt hervorgerufen. Nach einem solchen Aufgebot seiner geistigen und körperlichen Fähigkeiten war eine Wiederholung der Diana unmöglich und ein kleineres Stück hätte den Eindruck derselben verwischt. 127

Mit den Tendenzen einer ans Naturalistische grenzenden, im engeren Sinne ›dramatischen‹ Vortragsweise lief Stockhausens Gestaltung indes nicht konform: Sein Vortrag des Erlkönig trug ihm zuweilen gar die Kritik einer mangelnden »dramatischen Gestaltungskraft« ein: Wenn Stockhausen bei ›Mein Vater, mein Vater, jetzt faßt er mich an, Erlkönig hat mir ein Leids getan‹ nur einmal, vor ›Erlkönig‹, Atem holt, so beweist er damit, daß er keine ausreichende dramatische Gestaltungskraft besitzt; denn ein von Angst und Entsetzen erfaßtes Kind,

126 Karl Anton, Aus Karl Loewes noch unveröffentlichter Lehre des Balladengesangs. Ein Beitrag zur Psychologie des Vortrags, in: Zeitschrift für Musikwissenschaft, Leipzig 1919/20, S. 237. Die von Anton kompilierten Materialien wurden 2007 von Robert Hanslik herausgegeben: Carl Loewe – Balladenschule. Carl Loewes Sing- und Vortragslehre. Nach Quellen zusammengestellt von Karl Anton, Löbejün 2007. 127 Nicht näher bestimmte Rezension aus Stockhausens Teilnachlaß (Universitätsbibliothek Frankfurt a. M)

8.1 Liedgestaltung als ›Interpretation‹

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im Begriff, seine Seele auszuhauchen, kann nur in abgerissenen Worten sein Gefühl herauspressen.128

Wie nicht zuletzt die von Leopold Sonnleithner gleichfalls in den 1860ern als Modeerscheinung gerügten Theatralisierungstendenzen im (Schubert-)Liedvortrag sowohl der Wiener Salongesellschaft als auch der öffentlichen Konzertpraxis verdeutlichen, wurde aber auch mit Blick auf die Gestaltung »lyrischer Beseelung« offenbar zunehmend eine extrovertierte, dramatisierende Darbietung favorisiert.129 Joseph Rissé verurteilt 1872 in seiner Monographie über die ›Müllerlieder‹ gar eine (womöglich direkt auf Stockhausen anspielende) »[...] kühl-akademische Sangesweise, welche aus den Conzertsälen einer glücklich fast abgelaufenen Periode herüberklingt in das Musikleben unserer Tage.« Sie sei, so Rissé, [...] bei den Müllerliedern durchaus nicht am rechten Ort [...]. Dieser Cyclus erfordert die rückhaltlose Hingabe des Sängers an sein Lied, das Ausströmen der tiefsten Innerlichkeit, die lyrische Beseelung.130

Besonders signifikant erscheint nicht zuletzt die hier von Rissé gewählte Metapher des »Ausströmens«, da sie sich als eine Art Gegenentwurf zum von Riehl geforderten Ideal eines »subjectiven Pathos«’ deuten ließe und damit auch eine stärkere mimische und womöglich gestische Beteiligung beim Vortrag nahelegt, wie sie durchaus auf dem Podium praktiziert wurde. Dies wird nachdrücklich etwa an einer Wiener Rezension zu einem Auftritt Amalie Joachims aus dem Jahr 1893 deutlich: Obgleich sich die Mezzosopranistin gerade durch einen oftmals als ›hehr-durchgeistigt‹ beschriebenen Vortragsstil von ihren Kolleginnen abhob131, mußte sie sich gefallen lassen, daß man sich bei ihrem Vortrag an »Exaltationen eines durchaus nicht geläuterten Geschmacks störte«: Ueberdies ist die ganze Sing- und Deklamationsweise der Frau Joachim von einer Affektation erfüllt, die auf Dauer geradezu unerträglich wird. Dieses gewisse Unterstreichen jedes Wortes, jeder Silbe, diese überladene Mimik, dieses Lachen, wo es nichts zu lachen gibt, stempeln die ganze Vortragsweise des Gastes zu einer fortwährenden und durchaus unkünstlerischen Uebertreibung. Mozart’s Wiegenlied in seiner Einfachheit so rührend und liebenswürdig, wird von Frau Joachim zu einer kolossalen dramatischen Szene aufgebauscht, ebenso wie das Volkslied Phyllis und die Mutter und Schuberts Heidenröslein, und so gelingt es der Sängerin vollständig, jedes dieser durch ihre Einfachheit so volkstümlich gewordenen Lieder ihres Charakters zu

128 Maria H. Schmidt, Gesang und Oper, Hamburg 1861, Heft 1, S. 17, zitiert nach: Biehle, Schuberts Lieder als Gesangsproblem, S. 36. 129 Vgl. etwa auch Hanslicks Kritik über das 1865 stattfindende Wiener Gastspiel des Pariser Tenors Gustave Roger, die zudem erneut Schuberts Kompositionsstil problematisieren: »Rogers Erlkönig ist die consequenteste dramatische Ausführung und Zuspitzung der an sich schon bedenklichen Intentionen Schubert’s. Sie streift an geistreiche Carricatur und hat nur einen kleinen Schritt zu dem vollständigen Experiment, den Erlkönig von 3 verschiedenen Stimmen singen zu lassen. Roger’s Vortrag accentuirt mehr die Schattenseiten als die Vorzüge der Composition und produzirt mehr den Schauspieler als den Sänger.« ders., Geschichte des Concertwesens, Bd. 2 , S. 363. 130 Joseph Rissé, Franz Schubert und seine Lieder. Studien, Bd. 1: Müller-Lieder, Hannover 1872, zitiert nach Biehle, Schuberts Lieder in Kritik und Literatur, S. 19. 131 Vgl. Borchard, Stimme und Geige, S. 63f.

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8 Liedkunst und kulturelle Inszenierung entkleiden. Relativ besser gelang Frau Joachim das modernste Lied, doch litt auch dieses an den Exaltationen eines durchaus nicht geläuterten Geschmacks. […]132

Die hier geübte Kritik verweist einmal mehr darauf, daß jene vortragsästhetische Kontroverse, die bereits mit Schuberts Liedkompositionen aufgekommen war, letztlich immer wieder Neuauflagen erfuhr. Namentlich am Vortragsideal der nun auch in die Konzertprogramme integrierten volksliedhaften Stücke entzündete sich die Frage, ob und wie man diese Liedform mit den Ansprüchen professioneller gesanglicher Darbietung in der Öffentlichkeit zusammenbringen konnte. Dabei wird immer wieder gattungsästhetisch argumentiert: Das Lied als traditionell ›einfache‹ Gattung verlange eine entsprechende Vortragsästhetik, eine zu starke Theatralisierung des Liedvortrags sei – sogar mit Bezug auf zeitgenössische Liedkompositionen – insofern nicht adäquat.133 Beatrix Borchard verweist hier sicher zu Recht auf die Nähe zur bühnenmäßigen Gestaltung, die in der Biographie Amalie Joachims und mit Blick auf ihr künstlerische Selbstverständnis gewiß keine unbedeutende Position einnahm. Diese Beispiele legen in jedem Fall nahe, daß, während man im Fall von Ballade oder Bühnenlied letztlich auf eine traditionell einkomponierte »Darstellungsweise« (Dahlhaus) zurückgreifen konnte, für den öffentlichen Vortrag von auf lyrische Textvorlagen komponierten Kunstliedern (oder gar im Falle des Vortrags von Volksliedarrangements) gewissermaßen allererst eine Darstellungsweise appliziert werden mußte, da die Gattung Lied hinsichtlich ihrer Rolle innerhalb der kulturellen Praxis einen einschneidenden Transformationsprozeß durchlaufen hatte. Die sich im Laufe des 19. Jahrhunderts herausbildende Übermittlung eines Kunstliedes an ein hörendes und sehendes Publikum auf dem Konzertpodium fand mithin zunehmend vor dem Hintergrund kultureller Verabredungen im Sinne von auf spezifische Weise geformten Vortrags- und Rezeptionshaltungen statt.134 Die von Stimme und Körper der Singenden ausgehenden performativen Wirkungen dürften indes auch die zeitgenössischen rezeptionsästhetischen Folien immer wieder konterkariert haben, wie etwa die Einstufung von Amalie Joachims Darbietung als ›exaltiert‹ (und damit in hohem Maße als von der subjektiven Auffassung der Sängerin bestimmt) verdeutlicht.

132 Neues Wiener Tageblatt 5.02.1893, zitiert nach: Borchard, Stimme und Geige, S. 477. 133 Vgl. Theodor Billroth betonte etwa in einem Brief an Brahms bezüglich dessen Mädchenliedern Opus 69: »Es ist das Lieblingslied meiner Frau und meiner Kinder. Meine Mädels singen es prächtig, wenn wir abends beim Spaziergang vom Königssee nach Hause kommen. […] Das Lied muß ganz durch sich selbst, nicht durch die Sängerin wirken, ich möchte es nicht im Konzertsaal hören.« Billroth und Brahms im Briefwechsel. Mit Einleitung, Anmerkungen und 4 Bildtafeln, hg. von Otto Gottlieb-Billroth, München 1991, Brief vom 25.10.1877, S. 240, Anm. 26. 134 Dahlhaus’ idealtypischer Feststellung, das Publikum sei beim Lied kein »essentieller«, sondern ein »akzidentieller« Faktor steht insofern, wie man mit Blick auf die historische Entwicklung betonen muß, die Aktualität einer zeitgenössischen kulturellen Praxis gegenüber, die Lieder ungeachtet dessen zunehmend auf dem Konzertpodium präsentierte.

8.1 Liedgestaltung als ›Interpretation‹

329

So wie im Bereich einer sich im späteren 19. Jahrhundert herausbildenden allgemeinen musikalischen Vortrags- bzw. Interpretationslehre über die Möglichkeiten einer theoretischen Erfassung bzw. Kategorisierung performativer Phänomene angesichts der nunmehr zentralen Kategorie des Notentextes reflektiert wurde135, blieb auch aus der spezifischen Perspektive der Liedvortragskunst die Frage des angemessenen Verhältnisses von subjektiver Ausdeutung und objektiver Darstellung naturgemäß ein Feld kontroverser Diskussionen. Als deren Ergebnis läßt sich auch in diesem Bereich die diskursive Konstruktion eines ›idealen Vortrags‹ verfolgen, der vor allem durch eine entsprechende ›geistige Durchdringung‹ und Analyse des Notentextes gewährleistet sei.136 Wie hoch auch mit Blick auf die private Musizierpraxis die Ansprüche an das Gestalten eines Schubert-Liedes inzwischen waren, zeigen etwa die in der NZfM für eine musikalisch gebildete Allgemeinheit veröffentlichten Vortragsstudien zu Wanderer und Erlkönig aus dem Jahrgang 1889.137 Der Autor – P. von Lind – beschreibt hier zunächst das Ideal des »Liedersängers« als »Interpret zwischen Wort und Ton«, und grenzt ihn nach zeittypischer Manier vom »dramatische[n] Sänger« ab, wobei wiederum das Verbot jeglicher theatralisierender Körpergestik geltend gemacht wird: Der Sänger muß also als Interpret zwischen Wort und Ton erscheinen und wenn in dieser Eigenschaft und Mission dem Liedersänger auch nicht die Wirkung der Gesten wie dem dramatischen Sänger unterstützen können, so so muß er desto mehr daran festhalten, daß nur das in seinem Geiste widergespiegelte klare Bild seines geistig belebten Ideals – wobei wir eine künstlerische geschulte Stimme voraussetzen – allein im Stande ist, die gleiche, nämlich die ideale Stimmung in den Herzen der Zuhörer wachzurufen […]138

Entlang sowohl des Gedicht- als auch des Notentextes werden sodann entsprechend modellhaft-ideale ›Interpretationen‹ der Lieder entwickelt und begründet, die indes gleichzeitig toposartig mit dem Verweis auf ihre Unzulänglichkeit flankiert werden, um dem Notentext die uneingeschränkte Priorität zuzusichern. Besonders in der Analyse des Erlkönig setzt sich der Autor aber auch mit der Frage subjektivdramatisierender Gestaltung und damit verbundenen vokalen Konsequenzen auseinander. Für den Erzähler wird etwa eine betont »objective« Ausdruckshaltung gefordert, die im weiteren Verlauf zusehends »der Subjectivtät zugeführt« würde, wobei die in der Ballade auftretenden unterschiedlichen Figuren auch mit vokalen Mitteln charakterisiert werden müßten. Mit Blick auf die Textstelle »Mein Kind, was birgst du so bang’ dein Gesicht« betont Lind etwa – ähnlich der im vorangehenden Kapitel diskutierten Methode Julius Heys – eine bewußte, 135 Vgl. Choi, Der Vortrag in der Musik des 19. Jahrhunderts, S. 157: »Die Entwicklung der musikalischen Interpretation in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts tendiert sowohl zu einer Objektivierung des ästhetisch realisierten Ausdrucks durch Regeln, als auch zu einer Individualisierung der Probleme der künstlerischen Gestaltung des positiv gegebenen Notentextes.« 136 Vgl. zur Herausbildung der ›Interpretationsanalyse‹ als Textgattung: Danuser, Musikalische Interpretation, S. 301‒310. 137 P. von Lind, Franz Schuberts »Wanderer«. Eine Vortragsstudie, in: NZfM 56/15 (1889), S. 169‒171 und 56/16 (1889), S. 181f und: ders., Franz Schuberts »Erlkönig«. Eine Vortragsstudie, in: NZfM 56/36 (1889), S. 415‒417. 138 Lind, Franz Schuberts »Wanderer«, S. 182 (Hervorhebungen im Original).

330

8 Liedkunst und kulturelle Inszenierung

psychologisierende Modifikation vokaler Expressivität in Abhängigkeit von durch den Textsinn vorgegebenen Ausdruckshaltungen: Nicht nur, daß der Sänger bei dieser Stelle die ängstliche Sorge des Vaters zum Ausdruck zu bringen hat, sondern er hat vor allem daran zu denken, daß der Vater es ist, welcher so redet. Hier muß also die Stimme eine möglichst tiefe Färbung erhalten, welches zwar für die von Natur hohen Stimmen (Sopran, Tenor) nicht leicht ist, aber sicherlich gelingt, wenn man sich den Vater lebhaft vorstellt, da die Phantasie, die angespannte Phantasie, welche mit musikalischer Energie Hand in Hand gehen muß, eine bedeutende Einwirkung auf die Stimme ausübt.139

Vor solchem Hintergrund erlaube der dramatische Höhepunkt des Gedichts nach Linds Auffassung insofern auch eine gleichsam ans Naturalistische grenzende Darstellung des vom Erlkönig tödlich versehrten Kindes. Hier müsse der ästhetisch überformte Kunstgesangston konsequenterweise aufgegeben werden: Wenn wir auch zunächst noch nicht wissen, welches Leid der Erlkönig dem Kinde zugefügt hat, so läßt sich der Angst- und Schmerzensschrei doch schon das Schlimmste ahnen und der Ausgang lehrt uns ja auch, daß das Kind tödlich getroffen ist. Die ungeheure Wirkung dieser Stelle zum Ausdruck zu bringen, spiele man die Begleitung hier accelerando cresc. molto appassionato f.f., bei dem Wort »gethan« sogar f.f.f. expressivo. So die Begleitung, aber – nicht die Singstimme, denn das Kind ist, wie gesagt, auf den Tod getroffen, seine Kräfte schwinden, die Stimme versagt also ihren Dienst. Um dies Alles zum Ausdruck zu bringen, singe man vielleicht am Besten folgendermaßen; »Erlkönig hat mir ein Leids« mit größter Kraft, indem man das hohe Klanggepräge beibehält, und »gethan« singe man nicht, sondern spreche es mehr, halb singen und halb sprechen, wie ja solches dem Sänger als höchstes Ausdrucksmittel zu Gebote steht und in vereinzelten Fällen vom künstlerischen Standpunkt aus durchaus gerechtfertigt erscheint.140

Trotz der eindringlich benannten vortragsästhetischen Grenzen, denen Liedsängerin oder Liedsänger unterworfen seien, wird hier also tendentiell das Ideal eines stark an den Grundsätzen zeitgenössischer Rezitations- und Schauspielkunst angelehnten Liedvortrags vertreten. Als Repräsentant einer Liedgesangskunst, die in erster Linie sprachlichem Sinn durch einen pathetisch-gehobenen Vortragsstil im Sinne der »äußersten Stufe einer ›literarisierende[n] Vergeistigung‹ der Musik« vermittelte, galt vor allem der Tenorbariton Ludwig Wüllner141, der auch Schuberts Lieder aus dieser Perspektive aufgriff. 142 Ausgehend von einer rezitatorisch orien-

139 Lind, Franz Schuberts »Erlkönig«, S. 416. 140 Ebd., S. 417. 141 Vgl. Rudolf Louis, Die deutsche Musik der Gegenwart, München 31912, S. 309f. Wüllner ließ sich nach einer begonnenen wissenschaftlichen Tätigkeit als Germanist bei dem in Köln und später in Berlin lehrenden Sänger Benno Stolzenberg ausbilden, der auch dem Bayreuther Kreis um Cosima Wagner nahestand und nahm ab 1900 Unterricht bei dem Gesangspädagogen Georg Armin. 1895/96 trat er erstmals mit Liederabenden in Berlin an die Öffentlichkeit. Vgl. Franz Ludwig, Ludwig Wüllner. Sein Leben und seine Kunst, Leipzig 1931, S. 169‒186. 142 Wüllners Schubert-Repertoire umfaßte neben den drei großen Zyklen etwa auch die bereits von Stockhausen gesungenen Lieder An die Leyer D 737, An Schwager Kronos D 369, Auf der Bruck D 853, Der zürnenden Diana D 707, Memnon D 541, Waldes-Nacht D 708, Willkommen und Abschied D 767 sowie andere großdimensionierte Kompositionen wie Prometheus D 674,

8.2 Aufführungskonventionen und -experimente

331

tierten Vortragskunst verfolgte der Sänger eine extrem dramatisierende Vortragsweise auch beim Liedgesang, die indes nach zeitgenössischer Ansicht stets die als notwendig erachtete emotionale Kontrolle im Auge behielt: Selbst wo die Stimme schweigt [...] im Klavier Vorspiel [...] oder [...] im Nachspiel [...] geht der Sänger innerlich mit der Musik mit. Seine Körperhaltung ist dabei zwar durchaus ruhig, aber auch diese Ruhe erscheint äußerlich erzwungen, denn an der wogenden Brust, an dem Gesichtsausdruck, namentlich an der sich hebenden und senkenden Stirn, fühlt der Hörer die künstlerische Erregung des Dastehenden ganz intensiv mit. Dabei stelle sich der Leser dieser Zeilen nicht vor, daß diese Mimik einen affektierten Eindruck mache – durchaus wahr und echt, nur ein äußeres Widerspiegeln des inneren Empfindungslebens erscheint die Art des Vortrags, gerade wie bei einem guten Schauspieler, der niemals einen leeren Moment hat, sondern ganz und gar eben der Mensch zu sein scheint, den er spielt.143

Wie nicht zuletzt das sicherlich extreme Beispiel Wüllners zeigt, konnte der Prämisse einer ästhetisierenden Darstellung und Inszenierung ›unmittelbaren‹ Erlebens beim Liedvortrag auch folgegeleistet werden, wenn eine hochexpressive, an schauspielerischen Verkörperungsidealen ausgerichtete Vortragsästhetik verfolgt wurde. Im Namen einer weitgehenden Konzentration auf die die Worte der Dichtung artikulierende Liedstimme sollte sich vor solchem Hintergrund letztlich ein spezifisches ›Ethos‹ des Liedsängers herausbilden, das als vortragsästhetische Norm einer ›Kunst der Andeutung‹ bis heute eine Rolle bei der Ausbildung junger Sängerinnen und Sänger spielt.144 8.2 AUFFÜHRUNGSKONVENTIONEN UND -EXPERIMENTE 8.2.1 Gustav Walters Schubert-Abende Nachdem in den letzten Kapiteln die zeitgenössische Theorie und Praxis der Liedinterpretation (als deren Pionier zuvor Julius Stockhausen im Kontext seiner künstlerischen Praxis beschrieben wurde) im Mittelpunkt stand, soll abschließend wiederum die institutionsgeschichtliche Perspektive akzentuiert werden: Mit der Her Orpheus D 474 , oder Die Bürgschaft D 246. Vgl. die umfassende Verzeichnung des Liedrepertoires seit 1896 bei Ludwig, Ludwig Wüllner, S. 233‒250. 143 Nicht datierte Rezension in der Berliner Post zu einem Liederabend Wüllners am 6. 1. 1896, zitiert nach Ludwig, Ludwig Wüllner, S. 158f. 144 Exemplarisch findet sich dies etwa in den vielrezipierten gesangspädagogischen Schriften der oben erwähnten Messchaert-Schülerin Franziska Martienssen-Lohmann abgespiegelt: »Der Ausdruck im Lied ist nach der Seite des Elementaren hin beschnitten durch das Verbot der Geste und Körperbewegung auf dem Konzertpodium. Die körperliche Spiegelung begrenzt sich auf den Schauplatz der Augen und des Gesichts in der lebendigen, aber auch gebändigten Mimik und − fast unwahrnehmbar − auch der Haltung. [...] Die erste klangliche Forderung an den Liedsänger ist Farbfähigkeit der Stimme«; Franziska Martienssen-Lohmann, Der wissende Sänger. Gesangslexikon in Skizzen, Zürich, Mainz 1993, S. 209. Vgl. auch umfassender zum Liedgesang als professioneller künstlerischer Disziplin: dies., Stimme und Gestaltung. Grundprobleme des Liedgesangs, Leipzig 1927.

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8 Liedkunst und kulturelle Inszenierung

vorbringung des ›Liederabends‹ erschuf sich die bürgerliche Musikkultur des späteren 19. Jahrhunderts gleichsam eine als adäquat betrachtete kulturelle Rahmung der mittlerweile zur elaborierten Kammermusik zählenden Gattung ›Kunstlied‹. Da auch diese Entwicklung in engem Zusammenhang mit der spezifischen Aufführungsgeschichte der Lieder Schuberts und damit seiner Rezeption als Komponist steht, ist es zunächst notwendig, einige Schlaglichter auf die Kontexte ihrer klingenden Existenz innerhalb der Wiener Gründerzeit zu werfen, bevor von hieraus der Horizont wiederum erweitert wird. Hatte Stockhausen sowohl Schubert als auch sich selbst als »Sänger des deutschen Liedes« vor allem durch die Aufführungen der Schönen Müllerin bereits um 1870 fest im kulturellen Gedächtnis installiert, konnte der Konzertbariton doch in Schuberts Heimatstadt Wien trotz wiederholten Auftretens seit den 1850er Jahren keine umfangreiche Pflege der Lieder durch entsprechende Aufführungen ins Werk setzen. Er blieb bei aller kulturellen Ausstrahlungskraft als professioneller ›Liedsänger‹ letztlich weiterhin eine Ausnahmeerscheinung.145 Im Wien der sogenannten ›Ringstraßenzeit‹ begann allerdings eine Entwicklung, die Schubert als Synonym für das Lied planvoll mit dem intensiven Self-Fashioning Wiens als ›Musikstadt‹ und dem damit zusammenhängenden kulturellen Konstruktionsprozeß einer ›österreichischen Mentalität‹ verwob. Beides läßt sich, wie im folgenden dargestellt werden soll, auch auf die Interpretation und Rezeption von Schuberts Liedern in öffentlichen Kontexten und damit für eine im engeren Sinne institutionalisierte SchubertLied-Pflege beziehen. Bereits nach Stockhausens zweiter Müllerin-Aufführung von 1860 registriert Eduard Hanslick: »Die Verehrung des Wiener Publikums für diesen genialen und liebenswürdigen Tondichter (Schubert) hat eine eigentümliche, fast verwandtschaftliche Zärtlichkeit.«146 Die geradezu persönliche Nähe, die aus diesen Sätzen spricht, ruft zu allererst eben jenes bereits eingehender diskutierte ›volkstümliche‹ Schubert-Bild auf, das vor allem durch das in dieser Zeit zunehmende Interesse an Biographie und Privatleben des Komponisten geprägt war: Neben der bereits angesprochenen Schubert-Novellistik waren mittlerweile etliche biographische Artikel in verschiedenen Lexika erschienen, und seit den 1860ern wurden auch die bereits thematisierten aktuellen biographischen Schriften Kreissles und Reißmanns zunehmend rezipiert. 1864 trat Schubert in Franz von Suppés im Carl-Theater uraufgeführter Operette Franz Schubert auch erstmals als Bühnenfigur auf den Plan – und dies mit erheblichen Folgen. 147 Der Autor des Librettos, Johann Freiherr von Päumann, erzählt hier unter dem Pseudonym »Hans Max« die fiktive Entstehung 145 Vgl. Edward E. Kravitt, The Lied in 19th Century Concert Life, in: JAMS 18/2 (1965), S. 207‒ 218. 146 Hanslick, Geschichte des Concertlebens, Bd. 2, S. 213. 147 Vgl. Jary-Janecka, Franz Schubert am Theater und im Film. Bis zum großen Schubert-Jubiläumsjahr 1928 zählt Jary-Janecka 29 Schuberts Person gewidmete Bühnenstücke (vgl. Übersicht ebd., S. 10f.). Vgl. zu Suppés Operette außerdem Andrea Harrandt, Haydn, Mozart und Schubert auf der Bühne. Komponisten als Operettenhelden, in: Bruckner-Symposion 1998 (2000), S. 122‒125.

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des Zyklus’ Die schöne Müllerin während eines angeblichen Aufenthalts des Komponisten auf der im südlichen Wienerwald gelegenen Höldrichsmühle und bereitete so den Boden für eine Legende, die noch 150 Jahre nach Schuberts Tod mit dieser Komposition verbunden blieb.148 Die musikalische Substanz der Operette Suppés besteht aus akribisch im Notentext vermerkten versatzstückartig kompilierten Schubertschen Melodien. In der Auftrittsszene des Titelhelden ruft Päumanns Text dazu zentrale Komponenten des zeitgenössischen Schubert-Bildes auf: Seht dort – er naht. Es ist – sein Gang – Es ist – sein Sang! Er kommt im raschen Trab zu uns herab. Seht, rhythmisch schwebt sein Gang, sein Schritt, als käme Musik auf allen Wegen ihrem Meister hold entgegen.149

Bereits die Situation eines engelsgleichen Herabschwebens zu den enthusiasmierten Freunden, spricht für sich. Die Schubert zugewiesene Rolle einer von »musikalische[r] Clairvoyance« durchfluteten Lichtgestalt soll zudem durch einen von Musik gleichsam durchwirkten Körper verdeutlicht werden. Allusionen an prominente, von Schubert komponierte Textzeilen dehnen sich bis auf die Ebene der Regieanweisungen aus: Schubert »kommt«, gleich dem Wanderer aus dem gleichnamigen Lied, »vom Gebirge herab« und bekommt als Auftrittslied die eigene Komposition von Mayrhofers Der Schiffer (»Im Winde, im Sturme befahr ich den Fluß [...]«) zugewiesen. Die dramaturgische Bedeutung dieser aus zeitgenössischen Phantasien bestehenden Schubert-Figur bleibt freilich eher kosmetischer Natur, da sich die eigentliche Handlung auf die Personen der Müllerin und des Müllerburschen konzentriert. Trotz einhelliger Kritik an musikalischer Gestaltung und Libretto bemerken die Blätter für Theater, Musik und Kunst von 1864, daß das Werk durchaus geeignet sei, »Schuberts Melodien in einem Kreise bekannt zu machen, die höchstens den Namen des Componisten zu nennen wissen, und diese Kreise nehmen ihre Plätze nicht bloß auf den Gallerien [sic!] ein«.150 Obgleich also bereits in den vorangegangenen Jahrzehnten durchaus in gewissem Umfang Liedaufführungen nachweisbar sind, wird hier deutlich, daß im das zeitgenössische Wiener Musikleben bestimmenden Nebeneinander von Männerchorwesen und Sängerfesten, Opernspektakel und Philharmonischen Konzerten, Operettenfieber und Walzertaumel Schuberts Lieder in der vom Komponisten vorgesehenen, unbearbeiteten Gestalt offenbar immer noch eine eher beschränkte Zuhörergemeinde innerhalb der Wiener Second Society hatten – der ›volkstümliche‹ Schubert war und blieb das allgemein vorherrschende Bild. Allerdings sollten Komponenten gerade dieses Schubert-Bildes in den folgenden Jahrzehnten erheblich mit Bedeutung aufgeladen werden. Das politische Verhältnis zwischen Deutschland 148 Vgl. Robert Werba, Franz Schubert. Ein volkstümlicher Unbekannter, Wien 1997, S. 102‒115. 149 Vgl. Franz von Suppé, Franz Schubert. Original-Singspiel in 1 Act von Hans Max. Musik mit Benützung Schubert’scher Motive, Textbuch, Wien 1880, zitiert ebd., S. 73. 150 Vgl. Harrandt, Haydn, Mozart und Schubert auf der Bühne, S. 125. Aussagekräftig für den hier behandelten Kontext ist, daß diese Operette, auch wenn sich ihr Erfolg kaum mit der des 1916 entstandenen Dreimäderlhaus messen läßt, immerhin doch 1886 an der Wiener Hofoper bejubelt wurde.

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und Österreich hatte sich durch die offensive Machtpolitik Preußens im Laufe der 1860er Jahre zusehends verschlechtert. In der Schlacht von Königgrätz 1866 schließlich erlebte das österreichische Kaiserhaus eine bittere militärische Niederlage, die sich letztlich auch auf die Frage der kulturellen Identität auszuwirken begann.151 Die nunmehr in eine Identitätskrise geratene deutsche Fraktion des Vielvölkerstaates reagierte mit einer um so vehementeren Betonung der Bedeutung Österreichs für die deutsche Kulturgeschichte, was mit der auf politischer Ebene forcierten Genese einer ›Österreich-Idee‹ korrespondierte.152 Damit in Verbindung steht überdies die seit Mitte der 1860er Jahre einsetzende Imagekonstruktion der ›Musikstadt Wien‹, die nun aus einer explizit bürgerlichen Perspektive erfolgte. 153 Kunstmusik als in romantisch-idealistischer Denktradition scheinbar apolitischer, universal gültiger Wert wurde für das liberale Bürgertum zusehends zur umfassenden nationalen Identifikationsfläche: Die »Errungenschaften einer ›Kulturnation‹ (Repräsentationsbauten für musikalische Ereignisse, Errichtung von Denkmälern, Institutionalisierung musikalischer Ausbildung, Förderung und Wertschätzung von Komponisten und Interpreten)« 154 sollten letztlich die kulturelle Identität der gesamten städtischen Bevölkerung formen, wobei auch Unterhaltungs- und Volksmusik als Ausweise einer ›genetisch‹ bedingten österreichischen Musikalität einbezogen wurden. Vor diesem Hintergrund spielte gerade Schubert als – im Gegensatz zu Mozart und Beethoven – ›eingeborener‹ Wiener eine brisante Rolle: Als Repräsentant eines ›urmusikalischen‹ österreichischen Volks konnte er gezielt in die Musikstadt-WienErzählung integriert und ins kulturelle Gedächtnis eingeschrieben werden. Weitreichende Impulse gingen hier insbesondere vom Wiener Männergesang-Verein (seit 1847) und vom Wiener Schubertbund (seit 1863) aus, die Schuberts zum Großteil eigentlich für solistische Besetzung komponierte Vokalensembles ebenfalls seit den 1860er verstärkt rezipierten und auch Schuberts Liedschaffen einem größeren Publikum über Arrangements nahebrachten.155 Zwar wurde der Wiener MännergesangVerein (WMGV) bereits 1843 gegründet und widmete seit 1847 Schuberts Musik erhöhte Aufmerksamkeit, das Männerchorwesen aber erlebte vor allem nach der 1848er-Revolution auch in Österreich im Zuge einer zweiten Restauration einen 151 Hierzu umfassender: Marie Agnes Dittrich, Jenem imponierenden Heroismus entzogen. Franz Schubert und das Österreich-Bild nach Königgrätz, in: SJb 1999 (2001), S. 3‒21. 152 Vgl. Gernot Gruber, Nachmärz und Ringstraßenzeit, in: Musikgeschichte Österreichs, hg. von dems./Rudolf Flotzinger, S. 331ff. 153 Vgl. Cornelia Szábo-Knotik, Musikalische Eliten in Wien um 1900. Praktiken, Prägungen und Repräsentationen, in: Identität, Kultur, Raum. Kulturelle Praktiken und die Ausbildung von Imagined Communities in Nord-Amerika und Zentraleuropa, hg. von Susan Ingram [u. a.], Wien 2001, S. 41‒58. Szábo-Knotik betont, daß die für Wien seit dem 17. Jahrhundert belegbare Tradition adeliger Musikförderung »eher im Zeichen persönlicher Repräsentationsbedürfnisse der Herrscher stand«, während »der Begriff ›Musikstadt Wien‹ für die Geburtsstunde einer Gesellschaft« stehe, »die einen breiteren und öffentlichen Anspruch von Musik behauptete und versuchte, diesen Anspruch zu institutionalisieren, was gerade in den 1860er Jahren zu großen Veränderungen im Musikbetrieb führte«. Zitate ebd., S. 57f. 154 Ebd., S. 50. 155 Vgl. Jary-Janecka, Franz Schubert am Theater und im Film, S. 12.

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beispiellosen Aufschwung und erfuhr dabei eine stark nationalistische Tönung.156 Der Industrielle Nikolaus Dumba – Vizepräsident der Gesellschaft der Musikfreunde, mächtiger Mäzen des Wiener Musiklebens, Kunstsammler und seit 1865 Vorstand des WMGV – charakterisiert den Komponisten 1872 im Rahmen der Enthüllung des vom WMGV gestifteten Schubert-Monuments als »bescheidenen Roßauer Schullehrer […], der seiner Vaterstadt, unserem österreichischen Vaterlande zum Ruhme gereichte, den die deutsche Kunst zu ihren würdigsten, gefeiertsten Vertretern zählt.«157 Schubert wurde durch derartige Unternehmungen letztlich planvoll als (Lieder singende) ›Stimme der österreichischen Seele‹ im kulturellen Bewußtsein befestigt. Vor diesem Hintergrund wird auch deutlich, warum gerade für die Rezeption von Schuberts Liedern in diesen Jahrzehnten letztlich eine seit dem Vormärz anhaltende Überlagerung von Trivialität und Exklusivität typisch blieb – auch in einer Zeit, in der sich beide Sphären innerhalb des Musiklebens bereits zunehmend voneinander separiert hatten. Trotz der Bemühungen etwa des Dirigenten Johann Herbeck, Schubert auf den Olymp der ›klassischen‹ Instrumentalmusikkomponisten emporzuheben158, blieb er doch weiterhin der ›Wiener Liedkomponist‹ und wurde insofern auch als solcher in den zeittypischen Prozeß der Monumentalisierung kultureller Güter und Werte einbezogen. Der angesprochene Hang zum Monumentalen begann im Wien der Gründerzeit, wie Gernot Gruber beschreibt, letztlich die gesamte kulturelle Praxis zu durchziehen: »Vor dem Hintergrund der Befriedigung der Doppelmonarchie lebte ein Schaugepränge wieder auf, das das Musikleben auch außerhalb der Oper theatralisierte.«159 Im Mittelpunkt stand hier natürlich das 1870 eröffnete neue Musikvereinsgebäude, das die kulturelle Selbstinszenierung der Wiener Bürgerkreise in direkter Weise abspiegelt. »Die alte Musikvereinsidee und die neue Extrovertiertheit näherten sich auf diese Weise einander an.«160 Doch nicht nur die Säle des Musikvereins, sondern auch die Paläste von Adel und Hochfinanz dienten repräsentativen musikalischen Aufführungen. Ein heute eher kurios anmutendes Beispiel einer ihrerseits im ästhetischen Kontext des Monumentalen zu verortenden intermedialen Unterhaltungskunst sind etwa die als ›Festspiele‹ bezeichneten szenisch-musikalischen Collagen des seit 1848 in Wien lebenden jüdischen Dramatikers Salomon Hermann Mosenthal161, der gleichfalls zur Wiener Kulturelite zählte. Im Salon des Reichskanzlers Friedrich Ferdinand von Beust fand man sich beispielsweise im April 1870 zur Generalprobe eines derartigen Spektakels zusammen: Zur Rezitation eines eigens von Mosenthal verfaßten Gedichtes mit dem Titel 156 Vgl. Gruber, Nachmärz und Ringstraßenzeit, S. 325f. 157 Ansprache Dumbas zitiert nach Nußbaumer, Musikstadt Wien, S. 100. 158 Herbeck spielte eine bedeutende Rolle für die Schubert-Pflege seit der Jahrhundertmitte. Er führte 1865 die unvollendete h-Moll-Sinfonie D 759 erstmals auf und brachte 1866 eine Gesamtausgabe mehrstimmigen Vokalmusik heraus. Vgl. Margret Jestremski, Artikel, Herbeck, Johann Ritter von, in: SE, S. 303‒305. 159 Gruber, Nachmärz und Ringstraßenzeit, S. 334f. 160 Ebd., S. 335. 161 Mosenthal wurde neben seinem Drama Deborah vor allem durch das Libretto zu Otto Nicolais Oper Die lustigen Weiber von Windsor bekannt.

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Die Musik führte man unter leitender Mitwirkung professioneller Wiener Künstler verschiedener Sparten eine Folge von drei Tableaux vivants auf, die ihrerseits durch musikalische Ein- und Überleitungen verbunden wurden.162 Selbst die Generalprobe zu dieser Benefizveranstaltung hatte eine derartige Repräsentationskraft, daß über sie in der Zeitung berichtet wurde, wie der hier als Beispiel abgedruckte, einer Anzeige im Wiener Fremden-Blatt vom 6.4.1870 entnommene Programmzettel zeigt:

Abbildung 20: Ankündigung einer Unterhaltungsveranstaltung im Salon des Reichskanzlers von Beust im »Wiener Fremden-Blatt«

Im erwähnten Gedichttext Mosenthals werden gängige, die kulturgeschichtliche Entwicklung der Musik prägende Topoi in unterhaltsamer intermedialer Aufmachung gleichsam als Thema mit Variationen präsentiert: Die mythologischen bzw. religiösen Figuren Orpheus, David und Cäcilia dienen dem Dichter als Impulse, das Spektrum des in zeittypischer Weise als »Reich des Schönen« apostrophierten ›Heiligtums Musik‹ nun weiterhin abzuschreiten, wobei zur Untermalung der sich auf die Dichtung beziehenden begleitenden Tableaux Instrumental- und Vokalmusik von Händel, Gounod, Pergolesi und Rameau erklang. 162 Vgl. zur Dokumentation dieses Projekts: Mara Reissberger, Zum Problem künstlerischer Selbstdarstellung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ‒ Die lebenden Bilder, in: Die österreichische Literatur. Ihr Profil im 19. Jahrhundert (1838‒1880), hg. von Herbert Zeman, Graz 1982, S. 741‒769.

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Der Mensch wird sodann durch Aufrufen der Tradition des Minneliedes Teil der Szenerie, und eine als Tableau vivant nachgestellte Schäferidylle Watteaus als galant-idealisierendes Sinnbild von Naturverbundenheit und Liebe bildet nun gleichsam Kulisse und Stichwort für das Auftreten Schuberts: Doch des Liedes Ruhm zu preisen, Lasst uns nicht zu fremden Weisen, Nicht in ferne Lande zieh’n; Denn den reichsten Liedersegen Trug die Muse Dir entgegen, Dir mein Oest’reich, Dir mein Wien! Lerchen trägst Du in dem Schilde; Gold’ne Sänger wie im Bilde, Sangeslerchen zeugt’ Dein Schooss, Liedersegen reich und gross. Durch Jahrhunderte und länger Schmücket Dich des Sieges Ruhm, Denn des Liedes größter Sänger, Schubert ist Dein Eigenthum.163

Mosenthals dramaturgische Strategie hat eine deutliche Aussage: Der Musik wird zwar zum einen als universeller ›Natursprache‹ mit religiöser Dimension gehuldigt, gleichzeitig soll aber gewissermaßen ihr ›österreichischer Ursprung‹ beschworen werden, der sich in der Person Schuberts (als ›vaterländischer Sangeslerche‹) gleichsam verkörpert finde. Schuberts Lied Ungeduld aus dem Zyklus Die schöne Müllerin übernimmt hier konkret die Funktion, von der Privatheit der pastoralen Idylle zur Öffentlichkeit der Oper überzuleiten, die durch ein weiteres, mit den Figuren aus Mozarts Zauberflöte arrangiertes, Tableau vivant repräsentiert wird, bevor schließlich zur Tanzmusik übergegangen wird. Innerhalb dieses nach den musikalischen Gattungen ausgerichteten Arrangements steht es insofern einmal mehr für eine idealisierte Verbindung von Natur und Kunst, die immer noch auf ein traditionelles liedästhetisches Modell verweist. Dargeboten wurde das Schubert-Lied, wie sich gleichfalls dem Programmzettel entnehmen läßt, durch den böhmischen Tenor Gustav Walter, der seit 1856 im lyrischen Fach an der Wiener Hofoper engagiert und in den 1860er Jahren längst zum Publikumsliebling avanciert war. Seit Ende der 1850er Jahre begann der Tenor (auch unter dem Eindruck Stockhausens) mehrfach als Liedinterpret hervorzutreten164 und wurde in den folgenden Jahrzehnten in diesem Bereich zu einer zentralen 163 Salomon Hermann Mosenthal, Die Musik, vollständig abgedruckt bei: Reissberger, Zum Problem künstlerischer Selbstdarstellung, Anhang. 164 Noch weniger als Stockhausen ist Gustav Walter Gegenstand musikforscherischen Interesses geworden: Vgl. Alois Büchl, Art. Walter, Gustav, in: MGG2, P/Bd. 17, Sp. 442f; Margret Jestremski, Art.Walter, Gustav, in SE, S. 809, Kutsch/Riemens, Großes Sängerlexikon, Bd. 5, S. 3652f. Als einzige monographische Arbeit über den einst berühmten Sänger ist die zwischen Belletristik und Hagiographie schwankende Lebensbeschreibung Walters durch Maria Nunnenmacher-Röllfeld zu nennen: dies., Der Schubertsänger Gustav Walter. Ein Wiener Künstlerleben, Bilin o. J. [ca. 1930]. Neuerdings ist, verfaßt von einer Nachfahrin Walters, eine umfangreichere dokumentarische Biographie hinzugetreten, die weiteres Material bereitstellt:

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Figur. Ort dieser Vorgänge war vor allem der Bösendorfer Saal, der sich seit seiner Eröffnung 1872 schnell zu einem bedeutenden Fixpunkt des Wiener Kulturlebens entwickelt hatte. Er wird insbesondere durch Walters Auftritte auch zu dem Wiener Ort, an dem Schuberts Lieder vor einer versammelten Kennerschaft öffentlich zelebriert wurden: Am ersten März 1876 gab der Tenor erstmals einen einzig Schubert gewidmeten (noch von Klaviermusik durchzogenen) Liederabend:165 Der österreichische Hochadel, in dessen Palästen Walter seit Jahren ein lieber und häufig gesehener Gast war, versäumte nichts, um den ›Liederabend‹ seines Lieblingssängers zu einem Ehrenabend für diesem zu gestalten. Und jene vielen anderen, denen der erlesene Kunstgenuß, nacheinander eine ganze Reihe von Walters Liedern zuhören, zum erstenmal beschert wurde, halfen treulich im gleichen Sinne mit. Der an sich so einfache und schmucklose Bösendorfer Saal bot ein festlich bewegtes glanzvolle Bild. Blumen dufteten, Seide rauschte, Juwelen funkelten und ein erwartungsvolles Flüstern ging durch den Raum. In den Fauteuils vor der Estrade des Sängers sah man unter zahlreichen aristokratischen Gästen die Prinzessinnen von Hannover und das Fürstenpaar Hohenlohe; und neben dem dunklen, interessanten Kopf Nikolaus Dumbas konnte man das schöne, fröhlich blickende Antlitz des Grafen Hans Wilczek166 bewundern. An der Seite Eduard Hanslicks saß Johannes Brahms, neben Karl Goldmark des Konzertgebers ältester Freund Karl Mayerhofer, und des glücklich aufgeregten Mosenthal Blick überflog freudig die versammelte Gesellschaft.167

Angesichts dieser von Walters Biographin Maria Nunnenmacher wohl aus der persönlichen Erinnerung beschriebenen Situation wird besonders deutlich, wie sich der Konzertvortrag von Schuberts Liedern in Verbindung mit der Person Walters zusehends zum öffentlich inszenierten Ereignis wandelte. Bis 1897 hielt Walter an der hiermit begründeten Traditionslinie fest, so daß seinen Auftritten sehr bald Ritualcharakter zufiel. 1881 sang er wegen besonders großen Zulaufs gar mehrere Abende in Folge.168 Bereits Edward F. Kravitt stellt in seiner 1965 vorgenommen Skizzierung einer Institutionsgeschichte des Liederabends fest: »curiously enough none of the recitals before Walters in 1876 had appreciably stimulated interest in the Lied in Vienna; apparently the combination of Walter and an all-Schubert program provided the necessary impetus.«169 Gerade die Tatsache, daß offenbar erst mit Walters ritualisierten Schubert-Abenden ein gesteigertes Interesse an einer Schubert-LiedPflege mit dieser Repräsentationskraft entstand, verweist eindringlich darauf, daß 165

166 167 168 169

Gabriele Gaiser-Reich, Gustav Walter 1834–1910: Wiener Hofopernsänger und Liederfürst, Tutzing 2011. Walter sang an diesem Abend die Schubert-Lieder Am Meer, Sei mir gegrüßt, Rückblick, Fischers Liebesglück, Erstarrung, Die Rose, Du liebst mich nicht, Ständchen (»Horch, horch die Lerch...«), Morgengruß, Mit dem grünen Lautenbande und Die böse Farbe. vgl. den Abdruck des Programmzettels bei Borchard, Stimme und Geige, Abb. 54, S. 438. Johann Nepomuk Wilczek war ein österreichischer Polarforscher und Kunstmäzen. Vgl. www.austria-lexikon.at/af/AEIOU/Wilczek,_Hans_Johann Nepomuk_Graf [12.6.2012]. Nunnenmacher-Röllfeld, Der Schubertsänger Gustav Walter, S. 96f. Vgl. Kravitt, Das Lied, S. 49. Kravitt, The Lied in 19th-Century Concert Life, S. 212. Kravitt zieht indes keinerlei Konsequnzen aus dieser Beobachtung. Zu einer neueren Diskussion und Revision von Kravitts institutionsgeschichtlicher Skizze vgl. Ronyak, Performing the Lied, S. 220–231.

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Walters Liedvortrag und das zeitgenössische Schubert-Bild hier aufeinander einwirkten: Als Walter 1876 seinen ersten ausschließlich Schubert gewidmeten Liederabend im Bösendorfer Saal gab, traf er offenbar auf andere Rezeptionsvoraussetzungen als noch Stockhausen, den in den Jahren 1854 und 1856 die ersten Konzertreisen nach Wien geführt hatten. Wenngleich Walter Stockhausens Praxis der zyklischen Aufführung sowohl bezüglich der Schönen Müllerin als auch der Winterreise aufgriff170, setzte er mit dem von ihm favorisierten Repertoire doch deutlich andere Schwerpunkte. Bereits Maria Nunnenmachers Kommentare zu Walters vielgesungenem Schubert-Liedern erweisen sich vor der hier angesprochenen rezeptionsgeschichtlichen Folie als aufschlußreich: Wie war doch das herrliche Am Meer ein Wunder, wenn Walter es sang und die Schlußworte ›vergiftet sind meine Tränen‹ langsam ausklingen ließ im süßesten Pianissimo, das auch im entferntesten Eckchen des Saales noch vernehmbar war. ›Leise flehen meine Lieder durch die Nacht zu dir‹ sang er und man war umgeben von allem Zauber seiner silberschummernden Mondnacht, ›Horch horch, die Lerch im Ätherblau‹, und man blickte in einen tiefblauen Himmel und über eine sonnenbeglänzte Welt. ›Du bist die Ruh’, der Friede mild‹, und es war, als fühlte man selige Ruhe und tiefen Frieden einziehen ins eigene Herz. […] Die Krone aller Lieder aber, die Walter je gesungen hat, ist – der Name Franz Schubert steht wieder davor – das von dem Glauben an die Allmacht der Liebe erfüllte, wundersame Sei mir gegrüßt! – Trennungsschmerz, leidenschaftliches Auflehnen gegen das Schicksal und seliges Trostempfinden in der Erkenntnis der Raum und Zeit überbrückenden Allgegenwart der Liebe, − dies alles bebte und klagte, loderte und jubelte aus Walters Gesang, aus dem immer wiederkehrenden sehnenden Rufe ›Sei mir gegrüßt, sei mir geküßt!‹ Und einem in die Lüfte gehauchten Sehnsuchtskusse glich das in süßestem Mezzavoce verschwebende letzte ›Sei mir gegrüßt‹.171

Nicht zuletzt Walters Kernrepertoire trug insofern offenbar entscheidend dazu bei, daß er im zeitgenössischen Bewußtsein nunmehr als ›echt‹ Wiener bzw. österreichischer Künstler einen spezifischen Status als Schubert-Sänger erwerben konnte. Mit dem Lied Sei mir gegrüßt D 741 gelang es ihm gar, eine Art klingende künstlerische Visitenkarte zu etablieren, wobei sein eigener Schubert-Gesang und das zeitgenössische Schubert-Bild vor dem Hintergrund einer phantasierten Seelenverwandtschaft ineinanderflossen: Nicht allein der Sänger feierte an diesem Abend einen Sieg, sondern durch ihn auch der bisher immer noch viel zu wenig geschätzte Schöpfer jener wundersamen Melodien, dessen Genius nun wie eine selige Offenbarung an die Herzen der Hörer rührte. – Walters Künstlerseele, von Anbeginn an jener Schuberts wahlverwandt, hatte sich im Laufe der Jahre den süßen Zauber der Wiener Musik und der Wiener Landschaft mit Entzücken aufgetan und dieser wienerische Klang tönte nun als heimlicher Unterton mit in seinen Liedern, wie ein holder Nachklang jener schönen Zeit, in der Schubert lebte in Jugendluft und Schaffensfreude.172

Zwar unternahm Walter im Laufe der Jahre auch ausgedehnte Konzerttourneen durch Oberösterreich (Salzburg, Tirol, Kärnten, Krain, Triest, Steiermark), die damaligen österreichischen Kronländer Böhmen, Mähren, Galizien, das Herzogtum 170 Vgl. Ulrich Hartung, Zur Aufführungspraxis der Winterreise im 19. Jahrhundert, in: Schubert durch die Brille 10 (1993), S. 57‒61. 171 Nunnenmacher-Röllfeld, Der Schubertsänger Gustav Walter, 109f. 172 Ebd., S. 100.

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Bukowina sowie Schlesien, Ungarn, Siebenbürgen, Ostpreußen und nach Deutschland (Bayern, Frankfurt, Hamburg, Bremen, Berlin, Dresden) um sich vor allem als Schubert-Sänger auch überregional zu profilieren.173 Die Wiener Auftritte blieben dabei allerdings stets von einer auffällig emotional bestimmten Rezeption geprägt, wie selbst die folgende Kritik aus der Feder Hanslicks belegt: Mit welcher Meisterschaft behandelte Walter sein Organ! Wie ist sein Mezzavoce kein tonloses Schwachsingen, sondern mit höchster Beherrschung im Kehlkopf zusammengefaßte Kraft, so haarscharf, sicher und langaushaltend. Dazu eine Deutlichkeit des Wortes, eine durchsichtige Klarheit des Vortrages, der keine Wendung des Gedichtes entgeht, und die sich doch nie in Einzelheiten verliert. Das schönste endlich: der warme Herzenston, welcher jene unvergleichliche Technik bis in die kleinste Note beseelt. Diese ungeschminkte, innige Empfindung, welche jedes Lied so klingen läßt, als wäre der Inhalt Walters eigenes Erlebnis und die Melodie seine Erfindung, macht es erklärlich, daß der Sänger selbst mit veralteten und unbedeutenden Liedern, wenn ihnen nur ein echtes Gefühl innewohnt, das Echo in unseren Herzen weckt. 174

Hanslick äußert sich zwar differenziert auch zu Walters vokaltechnischem Standard und seinen stimmlichen Vorzügen, stellt aber gleichfalls – rezeptionsgeschichtlich aufschlußreich – vor allem den vielgepriesenen ›unverstellt‹-»warmen Herzenston« in den Mittelpunkt seiner Charakterisierung der Gesangskunst des Hofopernsängers, was auch auf Tendenzen einer geschlechtsspezifischen Aufladung der Rezeption von Walters Vortragsstil verweisen könnte.175 Der Wiener Kritiker Robert Hirschfeld schließlich bezeichnet Walter als gleichsam offiziellen Repräsentanten einer behaupteten »österreichischen Volksseele« : Seitdem man die Musik und die Schauspielkunst von Professoren lernt, hat die Quantität der Künstler ungemein zugenommen, die Qualität ist aber entschieden zurückgegangen. An Walters Vortrag ist alles frisch und gesund, gar nicht professorenhaft, gar nicht ›tief durchdacht‹, ›durchgeistigt‹ und wie diese lobenden Trostesworte für Halbtalente heißen mögen – es ist empfunden, herzlich, instinktiv richtig und meist unvergleichlich schön gemacht. Und daß Walter aus dem Vollen der österreichischen Volksseele heraus singt, das lieben wir an ihm und das

173 Ebd., S. 105. 174 Hanslick zitiert ebd., S. 106. 175 Besonders Hugo Wolf bedachte Walter regelmäßig mit giftig-polemischen Tiraden. In seiner Besprechung des ersten Walter-Abends aus dem Jahr 1884 nimmt Wolf zudem das Wiener Liedpublikum unter Beschuß: »Der übervolle Konzertsaal bewies schon, daß den glücklichen Besitzer einer Eintrittskarte etwas ganz Besonderes erwartete. Das entzückte Publikum ließ sich von Walters säuselnder Vortragsmanier auch willenlos hinschmelzen, und selbst der grämlichste Kritiker konnte sich über dieses gegenseitige smorzando eines freundlichen Lächelns nicht erwehren.« Hugo Wolfs musikalische Kritiken, hg. von Richard Batka/Heinrich Werner, Leipzig 1911, S. 8f. Von erklärten Stockhausen-Jüngern wurde Walters Schubert-Gesang offenbar als eine Art Gegenpol zu Stockhausens Vortragsweise aufgefaßt. Der Dichter Klaus Groth bezeichnet Walter in einem Brief vom 12.11.1886 an Charlotte Finke etwa als »Karikatur von Stockhausen-Schubert«, und am 26.11.1886 schrieb er ihr: »ich bin neugierig, ihn nach Stockhausen Schubert und Brahms singen zu hören; fast fürchte ich es.« Johannes Brahms – Klaus Groth. Briefe der Freundschaft, hg. von Dieter Lohmeier, Heide 1997, S. 261.

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empfinden die Tausende die ihn seit Jahren kennen und seine dankbaren Zuhörer geblieben sind.176

Vor allem das große Jubiläum zu Schuberts 100. Geburtstag im Jahr 1897 erneuerte nochmals die Bilder vom melodieseligen Liedkomponisten – und zwar sowohl aus einer deutschnationalen als auch aus einer österreichischen Perspektive: Während nämlich auf der einen Seite eine bewußte Abwendung des ›deutschen Liederfürsten‹ vom »welschen Maestro« Salieri behauptet wurde, »der weder für die deutsche Sprache noch für die deutsche Musik Verständnis hatte«177, verschränkten sich auf der anderen Seite Schuberts österreichische bzw. im engeren Sinne Wiener Wurzeln mit seiner inzwischen erworbenen Reputation. Anläßlich der Eröffnung der Schubert-Ausstellung 1897 charakterisiert das Illustrierte Wiener Extrablatt den Komponisten etwa als »das einfache, schlichte Kind des weltvergessenen Wiener Grundes« aus dessen Liedern »die Volksseele Wiens singt und klingt«.178 Gustav Walter, der symbolisch hochdekorierte Repräsentant jener vielbeschworenen »Volksseele« trat, nachdem er sich nach 1893 bereits vom Konzertieren zurückgezogen hatte179, am 4. Februar des Schubert-Jubiläumsjahres 1897 in einem Kammermusik- und Liederabend gemeinsam mit den prominenten Wiener Streichquartetten Hellmesberger und Rosé nochmals vors Publikum und bot die mit seiner Person in besonderer Weise verbundenen Lieder Sei mir gegrüßt und Liebesbotschaft aus dem Schwanengesang sowie Ungeduld und Wohin? aus der Schönen Müllerin dar:180 Mit unbeschreiblichem Jubel wurde Gustav Walter empfangen. Seit einiger Zeit der Öffentlichkeit entfremdet, hat er uns wieder mit einigen von den Liedern erfreut, die ihm keiner nachsingt. – Ja, wenn einer nicht fehlen durfte beim Schubert-Jubiläum, so ist es unser Walter. Die schöne Müllerin, die Winterreise, die zartesten Lieder aus Goethe und Heine, sie erwecken an uns sofort die Erinnerung an Walters Gesang. Seit fünfundzwanzig Jahren hat er sie uns ins Herz gesungen, und keiner hat sie oder ihn daraus verdrängt. Walters Liederabende behaupten bereits einen ehrenvollen Platz in der Wiener Musikgeschichte. […]181

Hanslicks neuerliche Eloge auf den Sänger führt nochmals vor Augen, wie stark sich Walter durch seinen Schubert-Liedvortrag im zeitgenössischen Bewußtsein selbst zu einer Institution entwickelt hatte, die offenbar auch deshalb funktionieren konnte, weil Walters Gesang verbunden mit seiner Präsenz im Wiener Musikleben 176 Robert Hirschfeld, zitiert nach Nunnenmacher-Röllfeld, Der Schubertsänger Gustav Walter, S. 118. 177 Josef Scheu, Franz Schubert, in: Arbeiter-Zeitung 31.1.1897, S.6f. zitiert nach Nußbaumer, Musikstadt Wien, S. 181. 178 Illustriertes Wiener Extrablatt, 20.01.1897, zitiert ebd., S. 182. 179 Walter hatte 1892 nach Ablehnung eines Rufes an die Dresdner Musikhochschule eine Professur am Wiener Konservatorium übernommen, die er jedoch 1894 wieder aufgab und privaten Gesangsunterricht erteilte. Vgl. Nunnenmacher, Der Schubertsänger Gustav Walter, S. 121. 180 Am 24. Februar 1897 gab Walter schließlich auf vielseitiges Drängen einen letzten großen Schubert-Abend im Bösendorfer-Saal. Wieder erklangen u. a. Sei mir gegrüßt, eine MüllerinAuswahl (Wohin, Das Wandern, Der Neugierige, Am Feierabend) sowie Horch, horch, die Lerch im Ätherblau), vgl. ebd., S. 124. 181 Hanslick, zitiert ebd.

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im Gegensatz zu Stockhausen in der zeitgenössischen Wahrnehmung nationalidentifikatorisch aufgeladene Schubert-Phantasien zu klingendem Leben erwecken konnte. Eine Verbindung dieser Kontexte scheint letztlich auch deutlich in der hier mehrfach als Quelle zitierten Biographie Der Schubertsänger Gustav Walter von Maria Nunnenmacher-Röllfeld durch, die Ende der 1920er Jahre entstand und somit, wie außerdem Carl Lafites Monographie Das Schubertlied und seine Sänger182 oder Herbert Biehles bereits erwähnte Schrift Schuberts Lieder als Gesangsproblem183, ihrerseits im Kontext eines die Schubert-Rezeption erheblich beeinflussenden Jubiläumsereignisses zu verorten ist: Die beschriebene doppelte nationale Stilisierung Schuberts als ›Sohn Österreichs‹ und ›Meister des deutschen Liedes‹ wurde, wie etwa Andreas Mayer ausführlich beschreibt, im Schubert-Jahr 1927 auf besondere Weise forciert.184 In all den genannten Publikationen werden berühmte Liedkompositionen Schuberts im Kontext einer aus repräsentativen Interpreten konstruierten ›Ahnengalerie‹ verhandelt, innerhalb der Gustav Walters Position immer wieder mit der Repräsentation eines spezifischen Wiener Schubert-Stils verbunden wird.185 8.2.2 Zwischen Intimität und Monumentalität Nicht zuletzt Gustav Walters seit Mitte der 1870er Jahre stattfindenden Wiener Schubert-Abende hatten einen derartig rapiden Aufschwung dieses neuartigen Veranstaltungstypus’ zur Folge, daß Hugo Wolf, der 1884‒1887 als Kritiker für das vor allem vom gehobenen Wiener Bürgertum rezipierten Wiener Salonblatt schrieb, sich 1887 genötigt sah, die dadurch neu entstandene Situation innerhalb des Wiener Konzertlebens mit maliziösem Unterton als »Liederzauberschwindel« zu disqualifizieren – wenngleich er selbst ab 1888 auf dem Podium des Bösendorfer Saals

182 Carl Lafite, Das Schubertlied und seine Sänger, Wien 1928. Carl Lafite (1872‒1944) gehörte als Liedpianist, Komponist, Pädagoge und Kritiker zur Prominenz des Wiener Musiklebens der 1920er Jahre. Vgl. Marion Diederichs, Art. Lafite, Carl, in: MGG2, Supplement, Sp. 454f. 183 Vgl. oben Kapitel 5.1, S. 140f. 184 Vgl. Mayer, Franz Schubert. Eine historische Phantasie, S. 68. 185 Die hier angesprochene Traditionslinie gilt letztlich bis heute als Referenzrahmen. Mit Blick auf eine interpretationsästhetische Rubrizierung und Bewertung früher Tonaufnahmen unterscheidet etwa auch noch 1992 Alois Büchl einen ›deutschen‹ und einen ›wienerischen‹ Schubertstil (vgl. Büchl, Artifizialität oder Natürlichkeit, S. 110f.), der nachdrücklich als ›authentisch‹ beschworen wird. Walters berühmt gewordene Aufnahme von Schuberts Am Meer aus dem Jahr 1904 (der Sänger war bereits 70 Jahre alt) dient hier gar als klingendes Zeugnis eines »originalklanggetreuen Schubert«, was durch eine behauptete Verbindung Walters mit Johann Michael Vogl bekräftigt werden soll, die sich indes nicht nachweisen läßt und wohl – wie auch im Fall Ulrich Hartungs (ders., Zur Aufführungspraxis der Winterreise im 19. Jahrhundert, in: Schubert durch die Brille 10 (1993), S. 57‒ 61) auf einer Verwechslung mit dem Prager Gesangsprofessor Franz Vogl beruhen dürfte, bei dem Walter ab dem Herbst 1854 für ein Jahr Unterricht erhielt. Vgl. Nunnenmacher Röllfeld, Der Schubertsänger Gustav Walter, S. 14.

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seine ersten bedeutenden Erfolge als Komponist und Pianist eigener Liedkompositionen erleben sollte:186 Liederabende sind in neuerer Zeit nachgerade epidemisch geworden. Alles, was singt und klingt und nicht klingt, will heutzutage vom Podium herabzwitschern und jubilieren. Und doch ist es noch nicht lange her, seit unser vortrefflicher Walter [...] die Kosten der Rührung eines gefühlvollen Publikums ganz allein bestritten. Erst in den letzten Jahren fand die einträgliche Idee Walters, Liederabende zu geben, einsichtsvolle Nachahmer. [...] Plötzlich wandelte unsere einheimischen Sänger und Sängerinnen das tiefe Bedürfnis an, auch in Liederabenden zu ›machen‹, und selbst das Ausland wurde von diesem Liederzauberschwindel befangen und bedroht unsere einheimischen Konkurrenten –, ’s ist eine gar liederliche Zeit über die diesjährige Konzertsaison hereingebrochen.187

Daß die hier beschriebene Entwicklung nicht allein als Produkt typisch Wolfschen Zynismus’ zu verorten ist, wird von seinem mächtigsten Gegner bestätigt: Auch Eduard Hanslick registriert an prominenter Stelle Anfang der 1890er Jahre eine regelrechte Liederabendschwemme, die den vormals üblichen konzertanten Vortrag von Opernarien geradezu aus dem Konzertleben verbannt habe: Liederabende und kein Ende! Während es noch zu Beethovens und Schubert Zeiten als unschicklich galt, in einem Concert auch nur ein einziges Lied mit Klavierbegleitung vorzutragen, bilden heute die Liederabende, an die zwanzig Nummern stark, die Majorität unserer Concerte. Hingegen ist die Arie, welche ehedem allein für concertfähig galt, völlig aus dem Programm verschwunden. Wohl mit Unrecht, denn gerade jetzt zur Zeit der Alleinherrschaft des Liedes würde eine Arie die Monotonie des Programms glücklich unterbrechen.188

Der von Wolf und Hanslick hier aus verschiedenen Perspektiven registrierte explosionsartige Aufschwung des Liederabends in Wien wurde offenbar maßgeblich durch den Konzertagenten Albert Gutmann beeinflußt, der in erster Linie aufgrund der Erfolge Gustav Walters auch andere Sänger nach Wien engagierte.189 Aber auch in anderen deutschsprachigen Metropolen wurden Liederabende zum Fin de Siècle geradezu zur die alltägliche Konzertpraxis dominierenden musikalischen Veranstaltungsform, wie vor allem die diesbezüglichen Studien von Edward E. Kravitt

186 Vgl. dazu Kurt Honolka, Hugo Wolf. Sein Werk, sein Leben, seine Zeit, Stuttgart 1988, S. 150. Wolf trat erstmals am 15. Dezember 1888 gemeinsam mit dem ehemaligen Wagnertenor Ferdinand Jäger auf. 187 Hugo Wolfs musikalische Kritiken, S. 360f. 188 Hanslick, Aus dem Tagebuche eines Musikers, S. 355. Desselben Stoßseufzers bedient sich 1917 auch Alfred Einstein mit Blick auf die Münchener Situation: Vgl. Kurt Dorfmüller, »Liederabende und kein Ende«. Berichte aus München um 1920, in: Liedstudien, hg. von Martin Just/Reinhard Wiesend, Tutzing 1989, S. 473. 189 Vgl. Kravitt, The Lied in 19-Century Concert Life, S. 212f. Vgl. außerdem die vom Archiv des Instituts für Analyse, Theorie und Geschichte der Universität für Musik und Darstellende Kunst Wien online bereitgestellte Materialsammlung zu Gutmann: URL: http://www.musikgeschichte.at/materialien/bestände-des-institutsarchives-regesten [1.12.2015], Regeste 7 (1999) sowie die von ihm selbst verfaßten Erinnerungen: Albert Gutmann, Aus dem Wiener Musikleben. Künstler-Erinnerungen 1873‒1908, Wien 1914.

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eindrucksvoll belegen können.190 Zum einen erblickten die professionellen und offenkundig auch die weniger professionellen Sänger und Sängerinnen, auf die etwa Wolfs und Hanslicks harsche Polemik abzielte, hier offenkundig die Möglichkeit, eine musikalische Karriere auch abseits der Opernbühne zu verwirklichen. Zum anderen hatten die Liederabende für ein literarisch gebildetes und zum großen Teil auch immer noch selbst musizierendes Publikum einen spezifischen Attraktivitätswert, der maßgeblich mit zeitgenössischen gesellschaftlichen Dynamiken in Verbindung zu bringen ist, wie etwa Hanslicks Bemerkungen über ›Schicklichkeit‹ und ›Konzerttauglichkeit‹ von Lied bzw. Arie verdeutlichen. Hermann Danuser hat darauf aufmerksam gemacht, daß mit der gleichfalls am Ende des Jahrhunderts aufkommenden Konjunktur des Orchesterliedes auch eine moralische Abwertung der Arie im Konzertsaal verbunden war, in der man Reste einer virtuosen Selbstdarstellungskultur erblickte, die nun mit der durch das Lied repräsentierten ›verinnerlichten‹ Aufführungs- und Rezeptionshaltung auch in öffentlichem Kontext konfrontiert wurde. 191 Die zunehmend hochspezialisierte Professionalisierung des Liedgesangs und Etablierung des Liederabends im Sinne einer ritualisierten kulturellen Praxis wie auch die Kultivierung von Orchesterliedern auf dem Konzertpodium sind damit als Ausdruck einer zeittypischen Verschränkung von Monumentalität und Intimität deutbar, deren Facetten im folgenden etwas aufgefächert werden sollen. Richard Sennett hat eingehend den sich über das gesamte 19. Jahrhundert entfaltenden Prozeß einer Intimisierung und Psychologisierung der Öffentlichkeit beschrieben, womit – wie in vorhergehenden Kapiteln bereits angesprochen – hinsichtlich der bürgerlichen Schichten vor allem eine Erhöhung der Affektkontrolle innerhalb dieser sozialen Sphäre verbunden war. Auch mit Blick auf die Entwicklung der Musikkultur läßt sich konstatieren, daß die noch im früheren 19. Jahrhundert bestehende »Diskrepanz zwischen einer Intimität, die ehedem einen Schutzraum emotiver Äußerungen bot, und dem Pathos öffentlich demonstrierter Affekte in der Kultur des kollektiven Musikerlebnisses«192 zum Fin de Siècle zunehmend aufgehoben erschien, da die Selbstwahrnehmung des Individuums innerhalb der Gesellschaft sich gewandelt hatte. Das paradoxe Erlebnis von ›Einsamkeit‹ innerhalb einer Massengesellschaft gehörte bereits zur Grunderfahrung der Menschen des späteren 19. Jahrhunderts und wurde auch in der Kunst auf verschiedene Weise – sei es als ästhetisches Programm oder als kritischer Impuls – aufgegriffen. Diese Phänomene bilden letztlich auch einen Hintergrund für die in spezifischer Weise durch das kulturtragende Bürgertum geprägte Kunstliedkultur des späten 19. Jahrhunderts. In der nunmehr ›veröffentlichten‹ Darbietungssituation wurde die noch im späteren 18. Jahrhundert und zum großen Teil etwa auch noch im Kon 190 Kravitt, The Lied in 19th Century Concert Life sowie: ders., Das Lied. Spiegel der Spätromantik, Hildesheim 2004. 191 Vgl. Danuser, Musikalische Lyrik in der Moderne, in: Musikalische Lyrik, Bd. 2, S. 143. 192 Öffentliche Einsamkeit. Das deutschsprachige Klavierlied und seine Komponisten im frühen 20. Jahrhundert, hg. von Michael Heinemann/Hans-Joachim Hinrichsen, Köln 2009, S. 8.

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text der Schubertiaden vorhandene (bzw. sich in tendentieller Auflösung befindliche) soziale Bedingtheit, die ursprünglich den Anlaß für eine Darbietung eines Liedes geliefert hatte, zusehends ausgeblendet. Das öffentlich aufgeführte Lied wurde damit zunehmend zu einer gerade nicht kollektiv, sondern idealisiert-subjektiv erlebten ästhetischen Erfahrung – das Publikum begann letztlich zu ›lernen‹, eine Liedaufführung auch in öffentlichen Kontexten von teils monumentalem Zuschnitt als Repräsentation eines Verinnerlichungsvorganges wahrzunehmen. Die kulturell codierte atmosphärische Intimität der Liedperformance und Liedrezeption, die man traditionell mit dem Ideal einer Kommunikation ›authentischer‹ Emotionen verbunden sah, wurde dabei gewissermaßen direkt aufs Konzertpodium transferiert und dort nun gleichsam ›aufgeführt‹, wobei das Kunstlied gleichzeitig an öffentlicher kultureller Repräsentationskraft gewann. Bildungs- und besitzbürgerliche Aspirationen vermischten sich mit Blick auf die Herausbildung des ›Liederabends‹ als kultureller Inszenierungsform zwischen halböffentlicher Salonkultur und staatlich geförderter Konzertpraxis: 193 Die Delegation des Lyrikvortrags an die professionelle Instanz des singenden ›Interpreten‹ ermöglichte, wie etwa Stockhausens Aufführungen der Schubert-Zyklen belegen können, zum einen grundsätzlich eine plastischere Wahrnehmung des fiktionalen Charakters von Lyrik als die Rezeptionsform des stillen, einsamen Lesens. Das sinnlich-erlebnishafte (bzw. performative) Moment der Liedaufführung – womöglich durch einen eigens engagierten prominenten Gesangskünstler – rückte damit in den Kontext besitzbürgerlicher Repräsentationsbedürfnisse. Die durch den professionellen Liedvortrag hergestellte Distanz zum Rezipienten, ermöglichte namentlich aus bildungsbürgerlicher Perspektive aber auch den rezeptiven Impuls einer interpretierenden, intellektuellen Überformung der kanonisierten lyrischen Texte, was das Interesse an den beschriebenen Subtilitäten des Vortragsstils zunehmend in den Vordergrund rückte. Die ›hohe Kunst‹ des Liedvortrags sollte nun der öffentlichen Zelebration des Ideals einer Autonomie der Kunst dienen, das selbst als Grundelement bildungsbürgerlicher Ideologie betrachtet werden muß. Wie Jost Schneider betont, wären die Funktionen von besitzbürgerlichen Privatsoiréen und öffentlichen Liederabenden insofern unterschiedlich zu akzentuieren. »Dass sich das Publikum beider Veranstaltungsformen teilweise überschnitt, beweist [indes] nur, dass die Trennmauern zwischen diesen beiden Gesellschaftsschichten im bürgerlichen Zeitalter noch niedriger waren, als im feudalistischen.«194 Gerade die im vorangehenden Kapitel mit der zeitgenössischen Schubert-Rezeption zusammengeführten Wiener Konzertauftritte Gustav Walters lassen sich etwa als Beispiel dafür lesen, wie mit der Herausbildung des ›Liederabends‹ letztlich eine grundsätzliche Spielart kultureller Inszenierung entstand, die stark vom Repräsentationsgestus bürgerlicher Eliten geprägt war. Damit stand sie ihrerseits im Kontext einer visuellen Monumentalisierung des Wiener Kultur- und Musiklebens, zu der neben der Errichtung des Musikvereinsgebäudes etwa auch die Etablierung des Bösendorfer Saals zu zählen ist. Bald nach seiner feierlichen Eröffnung 1872 durch Hans von 193 Vgl. hierzu Schneider, Sozialgeschichte des Lesens, S. 231. 194 Ebd., S. 231.

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Bülow wurde der im Liechtensteinpalais gelegene Saal, der von der Klavierbaufirma Ludwig Bösendorfer nicht zuletzt als Marketingfaktor genutzt werden sollte, zu einer unersetzlichen Institution der Wiener Musikkultur.195 Durch die außerordentlich günstige Akustik der ehemaligen Reithalle eröffnete sich die Möglichkeit, auch ›intime‹, kleindimensionierte Musik in einen öffentlich-repräsentativem Rahmen zu präsentieren und zu rezipieren. Dabei wurde trotz eines annähernden Fassungsvermögens von 600 Personen die atmosphärische ›Intimität‹ als wesentlich wahrgenommen, die auch durch das Fehlen einer die gesellschaftlichen Relationen zwischen den Zuhörenden abspiegelnden Innenarchitektur begründet erschien, wie sie etwa von den Zuschauerräumen der Opernhäuser und Theater geläufig war. Anläßlich des 25-jährigen Jubiläums des Bösendorfer Saales stellt die Neue freie Presse fest: Der Rapport zwischen Ausübenden und Hörern ist bei Bösendorfer so enge, so innig, dass der Saal eigentlich Salon erscheint. Er hat den ausgleichenden Charakter des Baireuther [sic!] Hörraumes, keine Unterschiede, keine Trennung, keine Logen, keine Galerie, kein abgesondertes Stehparterre. Bedarf es einer Fürstenloge, so wird in der ersten Reihe durch einen Fauteuil, einen Teppich und ein Goldtischchen vornehm und einfach improvisiert, und man merkt es den Herrschaften an, wie behaglich sie es finden, mit Publicum zu sein.196

Gerade in der bei Konzertabenden im Bösendorfer Saal erfahrbaren Verschränkung des Monumentalen mit dem Privaten also, die im zeitgenössischen Bewußtsein offenbar starke Assoziationen an das 1876 eröffnete Bayreuther Festspielhaus aufrief, sah sich das letztlich sehr wohl standesbewußte Wiener Kulturpublikum repräsentiert. Dadurch, daß das ›intime‹ Lied seit der Jahrhundertmitte nun immer mehr auch auf dem Konzertpodium erklang und ihm dort unter den beschrieben Bedingungen zunehmend eine spezifische soziokulturelle Funktion zugewiesen wurde, verlor es insofern immer noch nicht seinen als ›wesenhaft‹ begriffenen ›intimen‹ Charakter: Die bereits beschriebene, seit der Jahrhundertmitte in besonderer Weise ideologisch geformte Kategorie einer »wahren Hausmusik« korrespondierte vielmehr auf unterschiedliche Weisen mit der ›intimen‹ Liedkunst, die nun eine Brücke zwischen Hausund Konzertmusik schlagen konnte. Abbildung 21: Der Wiener Bösendorfer Saal um 1913

195 Vgl. hierzu umfassender: Christina Meglitsch, Wiens vergessene Konzertsäle. Der Mythos der Säle Bösendorfer, Ehrbar und Streicher, Wien 2004. 196 Neue Musikalische Presse Nr. 46, o J. [1897], 25 Jahre Bösendorfer, zitiert ebd., S. 97.

8.2 Aufführungskonventionen und -experimente

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Damit ist erneut die bereits mehrfach diskutierte Idee eines ästhetisierten Volksliedideals im Kontext der Herausbildung nationaler musikalischer Hochkultur angesprochen. Seine Ausrichtung auf die Öffentlichkeit fand dieses Ideal vor allem in der Praxis des vereinsmäßig organisierten Chorgesangswesens. Gerade hier waren die Aspekte nationaler Ideologie und gemeinschaftlicher Rekreation zwar ungleich bedeutsamer als eine »wie auch immer definierte künstlerische Praxis«197, allerdings standen mit der Sängerbewegung auch »die im deutschen Bildungsbürgertum weit verbreiteten Vorstellungen von künstlerischer Veredelung als Voraussetzung für ein besseres Menschentum, sowohl in individueller als auch gesellschaftlicher Perspektive« in Verbindung. »Deutlich kam dies darin zum Ausdruck, daß manche Arbeiterbildungsvereine, die im bürgerlich-liberalen Fahrwasser segelten, Gesangsabteilungen unterhielten.«198 Volks- und Kunstlied waren vor diesem Hintergrund im kollektiven Bewußtsein gleichsam organisch miteinander verschmolzen, was durch die zeitgenössische Musikgeschichtsschreibung noch stärker kulturell verankert wurde – der »kollektive Ton«199 des Chorgesangs stand, wie etwa auch in Dommers Musiklexikon von 1865 betont wird, mit dem subjektivistischen Kunstlied als ›Chorlied‹ letztlich in direkter Verbindung.200 1861, im Jahr des ersten großen Sängerfests in Nürnberg201, wagte auch Stockhausen gemeinsam mit Brahms in Hamburg erstmals das Experiment, eine dezidiert als »Volkskonzert«202 ausgewiesene musikalische Großveranstaltung ausschließlich mit solistisch gesungenen Kunstliedern zu bestreiten – einer zyklischen Aufführung der Schönen Müllerin.203 Im Oktober 1862 dann fand dann, diesmal unterstützt von Ferdinand Hiller am Klavier, im Kölner Gürzenich ein weiteres Konzert dieser Größenordnung statt: Hiller hat alles vorbereitet für das Konzert am 28. im Gürzenich. Ganz Köln kennt schon das ›demokratische‹ Volks-Konzert! – […] Er ist mit Bischoff der einzige, der vor dem großen

197 Brinkmann, Musikalische Lyrik im 19. Jahrhundert, S. 77. 198 Akira Matsumoto, Nationalbewegung und Männergesangverein im Deutschland des 19. Jahrhunderts, in: Heil deutschen Wort und Sang, hg. von Friedhelm Brusniak und Dietmar Klenke, S. 43. 199 Brinkmann, Musikalische Lyrik im 19. Jahrhundert, S. 77. 200 Vgl. Dommer, Musicalisches Lexikon, Art. Lied, S. 513. Während Schuberts vierstimmige Gesänge in erster Linie solistisch gedacht waren und sein Lindenbaum in einer geglätteten Männerchor-Version Friedrich Silchers (1843) größte Popularität erlangte, widmeten sich etwa Schumann und Brahms in mehreren Opera dezidiert der Gattung des »Chorliedes«. 201 1861 wurde in Nürnberg eine Sängerhalle für das Große Deutsche Sängerfest gebaut, die auf eine Kapazität von 4000 Sängern und 12.000 Zuhörern berechnet war. Vgl. Brinkmann, Musikalische Lyrik im 19. Jahrhundert, S. 90. 202 Zur Idee des ›Volkskonzerts‹ in historischer Perspektive vgl. Salmen, Das Konzert, S. 191‒ 194. 203 Der Wörmer’sche Saal bzw. Conventgarten, in dem Stockhausen vor allem während und nach seiner Zeit als Konzertdirektor der Philharmonischen Gesellschaft (1862‒1867) häufig auch mit Orchester auftrat, faßte Anfang der 1860er Jahre etwa 750 Sitzplätze, hatte allerdings keine feste Bestuhlung. Nach Umbaumaßnahmen in den Jahren 1870/71 und 1879 verzeichnen erhaltene Quellen eine Sitzplatzkapazität von 1467. Vgl. Lenard Gimpel, Zur Akustik früher Konzertstätten in Hamburg, Magisterarbeit TU Berlin 2008, S. 68‒70.

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8 Liedkunst und kulturelle Inszenierung Saale nicht zurückschreckt. Die einen fürchten die zehn Groschen für ihre Konzerte, die anderen den Ruf des Saales ... Aber alles ist beschlossen. ... Dienstag: ... Eigenes Konzert von Julius Stockhausen... Liederkreis Die schöne Müllerin. Besuch im Gürzenich um drei Uhr: siebenhundert Billette verkauft... Aufregung, Fieber. Um vier Uhr neunhundert Bilette verkauft, um sieben Uhr siebzehnhundert, um um halb acht zweitausend. Aufregung im Saal. Die Menge drängt sich. Man kommt und geht und weiß nicht wohin sich setzen...Alles ist vollgestopft. Der Anblick dieser zweitausend Menschen ist berauschend. [...] Das Kölner Publikum liebt über Alles die Musik. ... Aus der ganzen Umgebung waren die Menschen da! Es war dies wirklich ein für alle populäres Konzert. Auf Dauer muß die Demokratie den Sieg davon tragen.204

Stockhausens Idee ist vor dem Hintergrund einer um die Jahrhundertmitte mittlerweile erfolgten Diversifizierung der Konzertkultur in ›anspruchsvolle‹ und ›triviale‹ Musikdarbietungen in der Tat als integrativ einzustufen. Nervlich wie finanziell waren diese Ereignisse ohne Zweifel ein erhebliches Wagnis für den Sänger.205 Aus der Perspektive seiner Kunstauffassung und dem damit verbundenem Sendungsbewußtsein hatte Stockhausen hier indes offenbar einen idealen Mittelweg zwischen Publikumserziehung und Publikumsausrichtung gefunden: Er wirkte zwar betont geschmacksbildnerisch, reagierte dabei aber auch auf ein allgemeines Bedürfnis der Bevölkerung, sich nicht zuletzt durch das öffentlich aufgeführte ›deutsche Lied‹ nationaldemokratischen Wunschträumen hinzugeben – wie durch die von Seiten des Rezensenten beschriebenen stürmisch-begeisterten Reaktionen des Publikums nach jedem Lied (!) bestätigt wird. Die schöne Müllerin paßte perfekt in diesen Kontext – trotz des gerade durch Stockhausen zyklische Aufführungen betonten Kunstwerkcharakters wurde Schuberts Opus 25 denn auch vornehmlich aus der Perspektive des ›Volksliedhaften‹ rezipiert: Die edlen Volkslieder, die keine andere Nation in dieser Schönheit besitzt, haben in Stockhausen einen Sänger gefunden, der ihnen durch den Hauch der Töne ein solches Leben gibt, daß Poesie und Musik vollständig ineinander aufgehen, und man nicht weiß ob man die Innigkeit und Wahrheit der Auffassung oder die wunderbare Kunst, dieser Auffassung durch den Gesang Ausdruck zu geben, mehr bewundern soll. Das stille entzückte Lauschen der Zuhörerschaft und die nach jedem Liede ausbrechende Begeisterung zu schildern, ist unmöglich.206

Den mit dem Attribut »edle Volkslieder« belegten Liedkompositionen Schuberts wurde, wie hier deutlich wird, auch eine moralische Wirkung zugewiesen, die sich um so mehr entfaltete, wenn sie mit Hilfe einer entsprechend nuancierten Vortragskunst präsentiert wurden. Ausdrücklich wird Stockhausens, als mustergültiges

204 Stockhausens Tagebuchaufzeichnungen vom 29. Oktober 1862, zitiert nach Wirth, Julius Stockhausen, S. 226. 205 Vgl. ebd.: »[Die Stadt] hat mich schön zahlen lassen: Dreihundertfünfzig Francs ohne Beleuchtung. Ich frage mich manchmal, wie ich nur den Mut haben konnte, dieses Konzert zu unternehmen? Das Leben hat entschieden seinen Wert nur durch das Gute, das es uns erlaubt auszuführen [...].« 206 Niederrheinische Musik-Zeitung vom 1.11.1862, zitiert nach Wirth, Julius Stockhausen, S. 223.

8.2 Aufführungskonventionen und -experimente

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Exempel einer ›dienenden‹ Interpretationshaltung rezipierte, »Auffassung« hervorgehoben, durch die die auf die Lieder projizierten ideologisch gefärbten Vorstellungen gewissermaßen vollends erfahrbar werden konnten. Stockhausen unternahm seit den 1860er Jahren immer wieder Versuche, einzelne Nummern aus aktuell veröffentlichten Volksliedsammlungen in seine Konzertprogramme zu integrieren207, wie etwa 1866 in Hamburg208 oder 1874 in Kiel. Die zeitgenössische Kritik begegnete diesen Programmkonzeptionen trotz aller Erfolge der großen »Volkskonzerte« indes durchaus mit Vorbehalten, da man die gegenseitige Überblendung von öffentlicher und privater Sphäre, die durch die Aufführung von Volksliedern auf dem Konzertpodium in besonderer Weise vorangetrieben wurde, als durchaus unangemessen empfand. Der Rezensent Emil Krause konstatiert bezüglich Stockhausens Kieler Auftritts etwa unmißverständlich: Schuberts Waldesnacht von Schlegel gab der Sänger anfangs etwas zurückgehalten, aber im Verlauf des Stückes mit großer Meisterschaft; eine herrliche Composition, recht für St.s Individualität geschaffen. Brahms’ Lieder aus der schönen Magelone und die Arie von Boildieu zeigten den Sänger auf anderen Gebieten des Kunstgesangs; Alles war vollendet, nur die Volkslieder zum Schluss passten nicht zum Programm. Man fühlte sich in eine Privatgesellschaft versetzt; das Publikum schien ersichtlich animirt durch diese harmlosen Vorträge. Als nun gar noch der ›Birnbaum‹ und ›Schlaf , Kindchen, schlaf‹ vorgenommen wurden, entstand ein allgemeiner Frohsinn; der Concertsaal wurde vergessen, um dem Gesellschaftszirkel seinen Platz einzuräumen. Wenn eine gute liebe Mama ihr Kindchen mit diesem reizenden Wiegenlied in den süßen Schlaf singt, hat dasselbe seine richtige Bedeutung; wenn uns aber Herr Stockhausen derartige Liedchen im Concertsaal zum Besten gibt, kann doch bei aller Vollendung der Vortragsweise nicht von einem künstlerischen Genusse mehr die Rede sein, und der allgemeine Beifall gilt nicht mehr der Leistung selbst; er ist vielmehr als ein Ergebnis der ungezwungensten Heiterkeit anzusehen.209

Als ungleich erfolgreicheres, ebenso in diesem Kontext zu verortendes Projekt muß gleichwohl Amalie Joachims Idee einer »gesungenen Gattungsgeschichte des deutschen Liedes« bezeichnet werden, das von Beatrix Borchard eingehend beschrieben wurde.210 Die Vermittlung zwischen häuslichem Musizieren und öffentlichem Konzertsaal erscheint hier in besonderer Weise programmatisch verwirklicht: In einer vierteiligen Liederabendreihe widmete sich die Mezzosopranistin gemeinsam mit dem Musikwissenschaftler Heinrich Reimann einem historistisch ausgerichteten Querschnitt durch das Volks- und Kunstliedrepertoire verschiedener Epochen. 207 Im Gegensatz zu Brahms beschäftigte Stockhausen sich etwa auch mit den eher philologisch ausgerichteten Liedersammlungen von Ludwig Erk und Franz Magnus Böhme. An seinen Vater schrieb er während eines Kuraufenthaltes in Bad Kreuznach am 26.8.1860: »Diese Sammlung von Erck [...] ist ein wahrer Schatz. Und ich kannte keine einzigste dieser Hunderte von hübschen Melodien! ... Ich bin ganz erstaunt und überrascht manchmal, daß ich vierunddreißig Jahre werden mußte, ohne diese Art der Liedgattung studiert zu haben.«, zitiert nach Wirth, Julius Stockhausen, S. 211. 208 Vgl. P/FfM: Hamburg, 12.10. 1866. 209 Hamburger Fremdenblatt 11.2.1874. 210 Vgl. Beatrix Borchard, Amalie Joachim und die gesungene Geschichte des deutschen Liedes, in: AfMw 58/4 (2001), S. 265‒299 und: dies., Stimme und Geige, S. 465‒479.

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8 Liedkunst und kulturelle Inszenierung

Nach dem behandelten damaligen Ideal einer organologisch konzipierten Gattungshistoriographie wurde hier ein Bogen vom Tenorlied des 15. Jahrhunderts bis zu den Liedkompositionen der Gegenwart gespannt. Verbunden hiermit war eine bei Simrock in Berlin erschienene vierbändige Notenausgabe, die ein häusliches Nachmusizieren des auf dem Konzertpodium Erlebten ermöglichen sollte. Wenngleich, wie Borchard betont, das Konzept als Ganzes nicht aufgegriffen wurde (womöglich da es gerade durch die entsprechenden Notenausgaben viel zu eng an die Person Amalie Joachims gebunden war)211, verweist der von der zeitgenössischen Presse zuweilen monierte didaktische Anspruch dieses konzertdramaturgischen Entwurfs gerade mit Blick auf das Kunstlied durchaus auf andere konzertpädagogische Veranstaltungen der Jahrhundertwende – exemplarisch etwa festgehalten in einer prominenten Graphik Edward Cucuels, die 1902 in der Leipziger Illustrierten Zeitung abgedruckt wurde: Die Sopranistin Thessa Gradl, seit 1896 Mitglied der Berliner Hofoper212, sang hier im Rahmen der nachmittäglichen Jugendkonzerte in der Berliner Philharmonie volksliedhafte Vertonungen von Brahms (Wiegenlied op. 49, 4), Robert Radecke (Aus der Jugendzeit op. 22, 1 nach einem Text Friedrich Rückerts) und Mozart (Das Veilchen KV 476).213

Abbildung 22: Jugend-Konzert in der Berliner Philharmonie, in der »Leipziger Illustrierten Zeitung« abgedruckter Holzschnitt einer Zeichnung Edward Cucuels

211 Eine partielle Rezeption findet sich etwa in Julius Stockhausens Schülerkonzerten. Vgl. etwa das Programm des nachmaligen Wagner-Baritons Anton Sistermans. Am 8.1.1893 sang Sistermanns im Rahmen eines Populären Sonntags-Concerts im Frankfurter Saalbau »zwölf Lieder aus dem historischen Lieder-Cyclus Das deutsche Lied herausg. von Frau Amalie Joachim und H. Reimann«. Vgl. P/FfM: Frankfurt, 8.1.1893. 212 Vgl. Kutsch/Riemens, Großes Sängerlexikon, Bd. 2, S. 1379. 213 Vgl. Schwab, Konzert, S. 178

8.2 Aufführungskonventionen und -experimente

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Die hier aus der Perspektive der auf dem Podium musizierenden Künstlerinnen festgehaltene und »nach dem Leben gezeichnet[e]«214 Konzertsituation bietet ein besonders anschauliches Beispiel für die zeittypische atmosphärische Verschränkung von Monumentalität und Intimität, die noch durch die Distanz zum Publikum schaffende und die Privatheit des Liedvortrags betonende Abbildung der Notenblätter in den Händen der Sängerin verstärkt wird. Wiederum auf der Ebene der Programmdramaturgie abgespiegelt findet sich diese Ineinanderblendung der sozialen Sphären etwa in einem, gleichfalls von der Wiener Konzertdirektion Gutmann im großen Musikvereinssaal veranstalteten, Populären Jugend-Konzert, in dessen Rahmen die Mezzosopranistin Lula MyszGmeiner – eine ehemalige Schülerin Gustav Walters und spätere Lehrerin Elisabeth Schwarzkopfs – eine zwischen Orchester- und Klaviermusik von Beethoven, Brahms und Mozart positionierte Gruppe Brahmsscher Lieder vortrug. Die Zusammenstellung der Liedgruppe hebt auf die bereits beschriebene Betonung einer ›organischen‹ Verbindung von Volks- und Kunstlied ab, indem sie die von Brahms dem volksliedhaften Ton nachempfundenen Kompositionen In stiller Nacht und Sandmännchen mit dem im Kontext einer pädagogisch orientierten Heranführung an die Liedkunst programmatisch anmutenden Lied Wie Melodien zieht es mir leise durch den Sinn kombiniert: Von Brahms mit schwungvoll ausgreifender Melodik vertont widmet sich dessen Text (Klaus Groth) einem grundlegenden poetischen Problem – der sprachlichen Erfassung von Emotionen und Stimmungen im lyrischen Gedicht. Das Einbeziehen von Volksliedern bzw. Liedern ›im Volkston‹ in die öffentliche Konzertpraxis lag für die ausübenden Künstler abgesehen von den hier behandelten Kontexten und abgesehen von mit persönlichem Sendungsbewußtsein verbundenen Wertbegriffen auch nahe, weil auf einer grundsätzlichen Ebene noch immer die Prämisse des Abwechslungsreichtums die Programmdramaturgie dominierte: »Sänger und Sängerinnen verknüpften innerAbbildung 23: Jugend-Konzert im Musikverein Wien

214 Bildunterschrift zitiert nach Schwab, Kunstlied – Krise einer Gattung, S. 232.

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halb einer Liedergruppe verschiedene Komponisten miteinander, lösten größere zyklische Zusammenhänge auf und gruppierten Einzeltitel neu, mischten Arien aus Oratorien und Opern mit Liedern von unterschiedlichstem Ausdrucksgehalt. Das Grundprinzip war der Kontrast, nicht wie heute die Einheitlichkeit.«215 Erst um die Jahrhundertwende setzten sich im Zuge des hier beschriebenen kulturellen Wandels allmählich Konzertveranstaltungen durch, die nun vorwiegend Kunstlieder enthielten. Diese waren zumeist freilich weiterhin noch von Klavier- oder Kammermusik durchzogen bis sich schließlich im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts reine Liedprogramme herausbildeten, die nun zunehmend vereinheitlichenden Gestaltungsprinzipien unterworfen waren, wie sie z. T. bis heute die Programmdramaturgie von Liederabenden bestimmen: Liedprogramme konnten etwa entweder einem Komponisten oder einem Dichter gewidmet sein, aber auch unterschiedliche Gruppen miteinander verbinden.216 Weitere Kontexte hinsichtlich des sich an diesen Beispielen aus performativer Perspektive abzeichnenden Phänomens einer kollektiven (d.h. sowohl die Perspektive der Aufführenden als auch diejenige der Hörenden betreffende) Imagination und Inszenierung von ›Intimität‹ und ›Innerlichkeit‹ im öffentlichen Rahmen liefern überdies Seitenblicke in die theatralen und bildenden Künste. Um das Schlagwort ›Intimität‹ begann sich seit den 1890ern ein von Marianne Streisand rekonstruierter intermedialer kunsttheoretischer Diskurs zu entfalten, der im Sinne einer zeittypischen Konjunktur des ›Intimen‹ mit der hier vorgenommenen Perspektivierung der musikalischen Aufführungskultur zusammengeführt werden kann.217 Angesichts der um sich greifenden schockhaften Erfahrung eines durch die Fortschritte von Industrialisierung und Kommunikationstechnik beschleunigten Lebens sahen die zeitgenössischen Künstler im Projekt einer »innerlichen Ästhetik« ein entscheidendes Innovationspotential für eine ›moderne‹ Kunst im Sinne der die Jahrhundertwende bestimmenden künstlerischen Avantgarden freigelegt. Oskar Bie konstatiert als aufmerksamer Beobachter des zeitgenössischen Kulturlebens 1895 etwa selbstbewußt: »Wer aber fühlt nicht, wie eine solche Aesthetik von innen mit ihren notwendigen Folgerungen dem modernen Empfinden, dem modernen Können entspricht und das in Begriffe zu bringen sucht, was die Feinsten von uns in sich tragen?«218 Die Auswirkungen dieses Intimitätskultes sind, wie Streisand betont, letztlich in allen Künsten nachweisbar: Die programmatisch-programmlose Kunst der Moderne war in den 1890er und Folgejahren keine Apologetik der sozialen, historischen, politischen und medialen Beschleunigung, keine Anpassung an die neue Urbanisierung und Industrialisierung. Sie war eher eine Nachfrage nach den ›Kosten‹, die eine solche neue Dynamisierung für das Individuum, sein Seelenleben, seine Beziehungen und sein unmittelbaren soziales Umfeld mit sich bringen werde. Daraus ergab

215 Borchard, Stimme und Geige, S. 424. 216 Vgl. etwa die Programmgestaltungshinweise bei: Hans Joachim Moser, Das deutsche Lied seit Mozart, Bd. 2: Sängerstudio. 217 Vgl. umfassend: Marianne Streisand, Intimität. Begriffsgeschichte und Entdeckung der ›Intimität‹ auf dem Theater um 1900, München 2001. 218 Oscar Bie, Zwischen den Künsten, Berlin 1895, S. 17, zitiert ebd., S. 111.

8.2 Aufführungskonventionen und -experimente

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sich der Zug zum ›Innerlichen‹ und ›Vertrauten‹, zum ›Behaglichen‹ und ›Kleinen‹, zum ›Psychologisieren‹, das quer durch alle Künste ging und mit der Rede vom ›Intimen‹ bedient werden konnte.219

Bie widmet sich entsprechend in einer 1904 erschienenen Monographie auch der Chrakterisierung einer Intimen Musik220 und verbindet mit dem inzwischen als Modewort etablierten Terminus ›intim‹ bezeichnenderweise die beschriebene Herausbildung eines auf die Musikkultur bezogenen deutschen Innerlichkeitsideals im Sinne einer Gegenkultur zur vor allem mit der italienischen Musiktradition verbundenen ›virtuosen Selbstdarstellung‹. Wagners musikdramatisches Werk und das in essentieller Weise zu dessen Kunstwerkcharakter zählende Konzept seiner spezifischen performativen Umsetzung im Bayreuther Festspielhaus wird innerhalb dieses von Bie konstruierten kulturgeschichtlichen Panoramas nicht etwa als Repräsentation des Monumentalen auf musikkultureller Ebene, sondern als nationalcharakteristisch konnotierte »Intimisierung« der Oper begriffen, die im Sinne »einer Art Massen-Intimität« einen typisierenden kulturellen Gegenentwurf zur »karnevalistisch« geprägten romanischen Festkultur verkörpere. 221 In diesem Rahmen widmet sich Bie auch einer Kritik an der inzwischen die Konzertpraxis weithin bestimmenden öffentlichen Aufführung von Klavierliedern und stellt ihr eine gleichsam im Kontext des »Modernen« remobilisierte kulturelle Praxis entgegen, die er als bewußte Abgrenzung gegen die Monumentalität der Gründerjahre begriffen wissen will: Das Orchesterlied, das den Dimensionen des Konzertsaals entspricht, wird jetzt sehr erfolgreich kultiviert. Man empfindet aber überhaupt den virtuosen Vortrag des Liedes, wie ihn unsere Künstler noch ständig ausüben, nicht klimagemäß. So schlägt der eine, ein Phantast vor, die Künsterin möge im Kostüm, in Dekorationen, ja unter dem Duft des betreffenden Parfüms ihr Lied singen.222 Der andere, eine Art Impresario der Intimität, der Direktor der Roulotte, erfindet die Chansons animées, die das Lied auf der Bühne als Monologszene im Kostüm vortragen

219 220 221 222

Streisand, Intimität, S. 128. Oscar Bie, Intime Musik, Berlin 1904. Ebd., S. 17. Vgl. etwa: Wilhelm Mauke, Das lebende Lied. Ein Kapitel Zukunftsmusik, in: Frankfurter Zeitung 10.8.1899, zitiert nach Kravitt, Das Lied, S. 51f.: »Der Zuhörerraum dessen Sitze in amphitheatralischer Anordnung gedacht sind, bietet nur soviel Licht, um die Texte der Gesänge lesen zu lassen. Weder der Flügel, noch der ›pianistende‹ Begleiter sind sichtbar. Die Töne des Sängers, der die geschmacklose Frack-Tracht mit einem symbolischen weißen weiten Gewand etwa eines apollinischen Priesters oder dem leichtgeschürzten des bacchischen Sängers – je nach dem Stimmungsgehalt des betreffenden Gesanges – zu vertauschen hätte, treffen unser Herz durch einen meergrünen lianendurchwobenen Schleier. Bei einem sinnlich-schwülen Liebesgesang durchziehen Heliotropgerüche den Saal. Ernste Gesänge klingen unter Weihrauchdämpfen aus Säulenreihen mit heiligen Cypressenhainen an unser Ohr. Grosse Blüthendolden, violette Nebel, ein leises Sternengeflimmer, sonst alles mystisch dunkel – so würden uns die Hymnen der Sommernacht einwiegen. Die Leidenschaftsschreie der erotischen Lyrik umlodern züngelnde Flammen. So würde das lebende Lied zu den Menschen der Phanasie und des intimen Gefühls sprechen, und sie würden unter feinen Wirren und Schmerzen erschauern.«

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8 Liedkunst und kulturelle Inszenierung lassen.223 Anzeichen der Zeit sind es. Es ist wahrhaft Zeit, daß wir hier von dem widersinnigen und peinlichen Podiumsvortrag im Gesellschaftskostüm für die Lieder von Schubert und Schumann zurückkommen, daß sie wenigstens durch intimere Vorträge ersetzt werden. Dann stehen Lieder erst in ihrer Sphäre. Die moderne Bewegung entwickelt eine gewisse Gesellschaftskultur, die zwischen Saal und Zimmer in der Mitte bleibt, sie wäre der geeignete Boden für intime Konzerte. [...] Alles das wären ja nur Folgerungen der großen Tat von Bayreuth, die die viel schwierigere Oper intimisierte.224

Bies Reklamation Wagners im Kontext des ›Intimen‹ ist vor allem auf einer atmosphärischen Ebene begründet: Die von Wagner in Bayreuth bewußt aufgegriffene Verdunkelung des Zuschauerraums sowie die Verdeckung des Orchesters sollte die Wahrnehmung von Musik und Szene auf spezifische Weise beeinflussen und dem Rezipierenden ermöglichen, sich dem im Zentrum der Aufführung stehenden intermedialen musikdramatischen Kunstwerk auf eine (scheinbar) intim-kontemplative Weise anzunähern. Zentraler Impuls für die Diskussion der ›Intimität‹ in Bezug auf die musikalische Aufführungskultur waren aber auch auf einer allgemeinen Ebene eben die erwähnten rezeptionslenkenden Maßnahmen Wagners. So experimentierte man im Kontext von immer wieder eingeforderten Reformen für den »Musiksaal der Zukunft«225 damit, durch Aufstellung von Sichtschutzwänden und Abdunkelung des Zuschauerraums ausschließlich einen ›Hörraum‹ zu schaffen, der zum einen den adäquaten Rezeptionsmodus zum Ideal einer erdentrückten, hehren Tonkunst ermöglichen, aber auch, wahrnehmungspsychologisch argumentierend, die Intensität des Musikerlebnisses sowohl auf kognitiver wie auf emotionaler Ebene steigern sollte. Vor diesem Hintergrund läßt sich gerade auch die kulturelle Inszenierung des Liedes beschreiben, denn ›Intimität‹ als zeittypisch idealisiertes kultur- und kunstgeschichtliches Phänomen, das vor allem auf dem Theater zu einem dezidierten ästhetischen Programm ausformuliert wurde226, fällt auch zusammen mit der Hochkonjunktur des Kunstliedes innerhalb der zeitgenössischen Musikkultur. Gerade die beim öffentlichen Vortrag von Liedern immer wieder beschworenen Diskrepanzen zwischen Privatheit und Öffentlichkeit schienen mit den Mitteln der ›intimen‹ Ästhetik adäquat auflösbar:227 223 Die von Bie hier angesprochenen Chansons animées im Pariser Cabaret La Roulotte sind als eine Art Urform des Sketches beschreibbar. Vgl. Kristina Mahlau, Unterhaltungskunst zwischen Zensur und Protest. Die Entstehung des literarischen Kabaretts am Beispiel Frank Wedekinds, Norderstedt 2008, S. 44f. 224 Oscar Bie, Intime Musik, Berlin 1904, S. 27f. 225 Paul Marsop, Vom Musiksaal der Zukunft, in: Die Musik 9 (1903/04), S. 243−257. 226 Besonders innerhalb des theaterästhetischen Diskurses der Jahrhundertwende wird das dezidierte Projekt eines »Intimen Theaters« entworfen, das auf eine bewußte ›Entpathetisierung‹ von Raumgestaltung, Sprache, Sprech- und Darstellungsstil abzielte. Vgl. Streisand, Intimität, S. 131‒176 sowie S. 193‒215. 227 Das zeigt sich nicht zuletzt daran, daß der im letzten Beispiel für die optische Wahrnehmung verschwundene Sängerkörper und die damit hergestellte akusmatische Stimme hier (noch) keineswegs als bedrohlich aufgefaßt wird, da das kulturelle Paradigma einer unmittelbaren Ansprache durch die Stimme als Widerhall der menschlichen Seele offenbar weitaus stärker wirkte.

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Darauf bedacht zu sein, den Gesichtsausdruck, das Mienenspiel eines Konzertsängers zu verfolgen, heißt doch wohl, den Musiksaal mit der Szene zu verwechseln. Schlimm genug für einen Künstler, wenn er in ersterem nicht durch seinen Gesang restlos auszuschöpfen vermag, was der Komponist an Seele in ein Tonstück hineinlegte. Hingegen nehmen wir selbst ein geringes Vibrato der Empfindung, jede kleine Ton- und Vortragsfärbung viel deutlicher wahr, wenn, unter allgemein günstigen akustischen Bedingungen, der Sänger verborgen bleibt. Es ist erstaunlich, wie feinöhrig auch der Laie unter solchen Umständen wird. Er erfaßt den Text schneller; er ist fähig, auch einen verwickelten thematischen Aufbau leichter zu überschauen; er deklamiert und fühlt mit dem Charakter, den der Tondichter zeichnet; er folgt als Psycholog. Er wird sich auch durch die Schallwand mit dem Künstler besser verstehen, der eine lyrische Gesangsszene vorträgt. Eine Trennung, die die Intimität steigert.228

Entsprechend beschreibt auch Bie den Versuch der Berliner Kunsthandlung Keller & Reiner, eine ›intime‹ Kulisse für die inszenierte Wiederbelebung historischer Salonkulturen des 18. und 19. Jahrhunderts zu kreieren: Der Oberlichtsaal wird als Salon hergerichtet, in dem man in freier Gruppierung, gänzlich unnumeriert, sich verteilt. Die Typen der Stühle mischen sich mit den Menschentypen. Von Zeit zu Zeit trifft man Tischchen, Sofas, Lederfauteuils. Hier und da stehen elektrische Lampen, die beliebig umzusetzen sind. Die Wände werden mit wenigen Bildern behängt, die [...] eine gewisse musikalische Harmonie in sich tragen, auf denen das träumende, halb bewußte Auge angenehmer ruht, als auf den schrecklichen Karyatiden oder gemalten Vorhängen unserer Konzertsäle. Spiegel, Blaker, Gobelins geben die Durchgangstöne. Bäume schaffen schattige Winkel, und Statuen davor wiederholen einen der erprobten dekorativen Reize. Der Vortragende oder Konzertierende ist nicht durch eine unüberbrückbare Kluft von seinen Zuhörern getrennt, er geht aus ihnen an seine Stelle und kehrt zu ihnen zurück. Er steht nicht unter dem künstlichvirtuosen Rampenlicht, sondern im selben Licht mit seinen Besuchern. Die Stoffe der Vorträge sind im Stil begrenzt, wie alle guten Programme, der Rahmen des Arrangements wechselt danach. Es erfreut uns das Ehepaar Strauss, das Ehepaar d’Albert, er begleitend, sie singend. Es werden alte Zumsteegsche Lieder gesungen, von einer Conférence eingeleitet. Fräulein Destinn229 lässt das achzehnte Jahrhundert im Wohllaut ihrer Stimme wieder aufblühen. Sie läßt sich an einem Spinett begleiten, das ihrer eigenen Sammlung entstammt. Ein ander Mal versucht ein Intrumentalist seine Kunst als unsichtbare Tonwelle wirken zu lassen. Er sitzt verdeckt hinter Bäumen, das Licht wird verdunkelt, die Harmonien streichen als absoluteste Musik über die Hörer, als ob sie aus Bildern und Statuen aufstiegen. 230

Wie eine Art Reminiszenz an die von Bie 1904 eingeforderten ›intimen‹ Vortragsabende erscheinen schließlich zwei Lithographien Eugen Spiros, die sich als Illustrationen in Bies 1922 veröffentlichter Monographie Im Konzert finden.231 Auf den meisten Zeichnungen, die Spiro zu diesem Band beitrug sind zeitgenössische prominente Künstler abgebildet. So finden sich charakterisierende Aufführungssituationen mit Hermann Jadlowker, Lilli Lehmann, Feruccio Busoni, Richard Strauss, 228 Marsop, Vom Musiksaal der Zukunft, S. 253. 229 Emmy Destinn (eigentlich Ema Pavlina Kittlová) war eine der prominentesten dramatischen Sopranistinnen ihrer Generation. Bis 1908 war sie Mitglied der Berliner Hofoper (unter anderem kreierte sie 1906 dort die Titelrolle in Richard Strauss’ Salome ). Vgl. Kutsch/Riemens, Großes Sängerlexikon, Bd. 2, S. 874f. 230 Vgl. Bie, Intime Musik, S. 34ff.: 231 Zu Eugen Spiro und den hier angesprochenen Graphiken vgl. Vera Liebrecht, Eugen Spiro. Leben und Werk, Diss. Technische Hochschule Aachen 1987, S. 102‒104.

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Eugene d’Albert und einigen weiteren. Die Liedsängerinnen der mit Schubert-Lieder und Brahms-Lieder betitelten Zeichnungen sind in beiden Fällen hingegen nicht identifizierbar, worin sich wiederum Bies Forderungen nach einer ›intimen‹, nicht mit öffentlicher Selbstdarstellung vereinbaren, Atmosphäre für den Liedvortrag abgespiegelt finden mag:

Abbildung 24: Eugen Spiro: »Schubert-Lieder«

Abbildung 25: Eugen Spiro: »Brahms-Lieder«

Der Betrachter gewinnt den Eindruck, sich von außen an eine jeweils durch eine charakteristische Sessellehne abgeschirmte private bzw. halböffentliche Gesellschaft anzunähern. Das musikalische Erlebnis scheint hier paradoxerweise, ähnlich wie in Bies idealisierender Beschreibung, nicht durch die Darstellung der Klangquelle selbst, sondern durch die ›intime‹ Raumatmosphäre eingefangen. Hier werden, obgleich sich Spiro inhaltlich am jeweiligen historischen Ambiente der Komponisten ausrichtet, mit den Mitteln impressionistischer Zeichenkunst die rezeptionsästhetischen Ideale der Jahrhundertwende eingefangen: Die Musizierenden erscheinen kaum in den Fokus des Interesses der Zuhörenden gerückt. Sie sind vielmehr der genannten atmosphärischen Folie zugehörig, während die Darstellungen die jeweils isoliert ›für sich‹ lauschenden Personen akzentuieren. Das für das »intime Theater« der Jahrhundertwende typische »Bühnenzimmer«, das die Illusion einer »Identität zwischen Bühnenraum und wirklichem Raum« herstellen wollte232, scheint hier gleichsam als Kulisse für den exemplarisch dargestellten Vortrag Schubertscher und Brahmsscher Lieder inszeniert zu sein.233 Die beschriebenen Techniken zur Steigerung der atmosphärischen ›Intimität‹ musikalischen Erlebens nutzte etwa auch der Wiener Schriftsteller Joseph August 232 Vgl. Streisand, Intimität, S. 168. 233 Zur Geschichte des Bühnenzimmers seit dem Aufkommen des bürgerlichen Trauerspiels in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts vgl. ebd. S. 170‒176.

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Lux für ein gleichfalls im Nachhall dieser Konjunktur der ›Intimität‹ verortbares Projekt, das zugleich in hohem Maße als Auseinandersetzung mit den zeitgenössischen, von der Konstruktion eines Alt-Wien-Mythos beeinflußten Schubert-Phantasien angesehen werden muß. 234 Ausgehend von einigen projektierten Autorenlesungen seines 1911 erschienenen Romans Franz Schuberts Lebenslied entwickelte Lux eine von ihm selbst als »Kammermelodram« bezeichnete Präsentationsform, die während des ersten Weltkriegs in verschiedenen österreichischen Städten zur Aufführung gelangte und 1921 in Buchform nebst Vorwort und einigen Pressestimmen unter dem Titel Schubertiade veröffentlicht wurde.235 Als Ausgangspunkt benennt Lux aus dieser späteren Perspektive de[n] Gedanke[n], das gesprochene Wort mit Musik und Gesang rezitativisch zu verbinden in einer Weise, die die musikalischen Akzente des Schubertschen Genius unmittelbar dort aufklingen lassen, wo sie sich aus dem Zusammenhang des auszugsweisen und zugleich einheitlich zusammengefaßten epischen Vortrags nicht nur mühelos und ohne Zwang ergeben, sondern recht eigentlich als eine innere Forderung einstellen, um das Seelenerlebnis zu vertiefen und zu bereichern.236

Die von Lux anvisierte Unmittelbarkeit des musikalischen Erlebnisses wurde auch hier durch die Abdunkelung des Saals und vor allem durch die Absenz der Künstler auf dem Podium erreicht: Die Sopranistin Herma Schirmer und der Konzertveranstalter Franz Ledwinka musizierten aus einem Bühnennebenzimmer – dramaturgisch sensibel auf Lux’ Vortrag abgestimmte Musikausschnitte reagierend – während der Autor rezitierend Stationen einer erfundenen Schubert-Biographie ablaufen ließ, die dessen ›Weg zur Kunst‹ als teleologisch orientierte innere Reise beschreiben. Schuberts ›göttliche Bestimmung‹ wird etwa in der Eröffnungssituation durch eine sich über Kirchenorgel und singenden Knabenchor erhebende Stimme literarisch inszeniert, während die erste Strophe aus Ellens drittem Gesang erklingt. Die Techniken der ›Intimisierung‹ werden hier verwendet, um Schubert einmal mehr als entkörperte (weibliche) Stimme zu imaginärem Leben zu erwecken. Mit der Idee einer gleichsam »entmaterialisierten Schubertiade« 237 wird der Komponist hier als eine aus historischen Phantasien bestehende Projektionsfläche geradezu herbeibeschworen. Sowohl Lux selbst als auch die dem Buch beigegebene Rezensionensammlung betonen dabei ausdrücklich den hohen Anspruch dieses Präsentationskonzeptes im

234 Zu Lux’ Entwurf eines ein zwischen Moderne und Konservativismus angesiedelten neobiedermeierlichen Österreich vgl. Mark Jarzombek, J. A. Lux, Werkbund Promotor, Historian of a Lost Modernity, in: The Journal of the Society of Architectural Historians 63/1 (2004), S. 202‒ 219. 235 Joseph August Lux, Schubertiade. Ein musikalisch-literarisches Schubertbuch, Wien/Leipzig 1921. 236 Ebd., S. 11. 237 Ebd.

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Sinne eines »Kino der Psyche edelster Art«, das der zeitgenössischen Trivialisierung und Feminisierung Schuberts ostentativ entgegengesetzt werden sollte.238 Moderne, auf ein ›psychologisierendes‹ Hörerlebnis ausgerichtete theatrale und dramaturgische Techniken werden hier indes in einen konservativen Kontext gestellt: Das ›Intime‹ wird gerade nicht als experimentelles theaterästhetisches Programm, sondern als traditionelles bürgerliches Refugium, als Ort emotionaler ›Authentizität‹ und mentaler Substantialität im Sinne des – in Lux’ Formulierung – »Keimkräftigen, Wertvollen« reklamiert und in den Dienst nostalgischer Verklärung und Mythisierung des Komponisten Schubert gestellt. Nachdrücklich wird dabei die Betonung einer sich ungeliebten Rezeptionsklischees entgegenstellenden Auffassung, die Schubert gleichsam gegen seine Liebhaber(innen) verteidigen sollte, herausgestellt. Lux’ Schubert-Inszenierung bedient sich insofern trotz ihrer ausdrücklich auf die elitäre Hochkultur ausgerichteten Akzentuierung letztlich doch der selben Ingredienzien und formt so das bereits seit den 1870ern nachhaltig befestigte mentale Bild von Franz Schubert als Repräsentant einer ›klingenden Seele Österreichs‹ lediglich kaleidoskopartig um. Den in mehr oder weniger ›intimen‹ kulturellen Rahmungen praktizierten Aufführungen gerade der Lieder Schuberts standen auf der anderen Seite weiterhin radikale Positionen gegenüber, die Lied und Konzertsaal auf einer grundsätzlichen Ebene für unvereinbar hielten: »Wenn man eine Liederfolge wie die Winterreise oder Stücke wie den Doppelgänger, Die Stadt in den modernen Konzertsaal, sei er noch so ›stimmungsvoll‹ abgeblendet, versetzt, so liegt darin eine ebenso krasse Verfälschung des künstlerischen Wesenskernes, wie wenn man ein Quartett-Adagio von Beethoven zur Wachtparade spielen läßt«239 befindet etwa ebenfalls 1921 der Musikpublizist und -kritiker Paul Bekker. Bekker stellt in seinem kritischen Fragment zur aktuellen Liedkultur gar die Diagnose eines kompositionsgeschichtlichen Stillstands, den er als unmittelbare Folge der zeitgenössischen kulturellen Praxis ansieht: Seine These lautet, »daß die Verpflanzung des Liedes in den Konzertsaal das Verhängnis für die Entwicklung der Form« geworden sei240, und Schuberts Lieder spielen für Bekkers Beweisführung bezeichnenderweise eine zentrale Rolle. Der Komponist wird als Repräsentant einer von Bekker als »Wesenskern« des Liedhaften bezeichneten künstlerischen Autonomie reklamiert, die nach ihm in der Liedkomposition nie wieder erreicht worden sei. Dabei werden Schuberts Lieder letztlich bewußt von einer Anbindung an jegliche soziale Kontexte (inklusive 238 Vgl. Salzburger Volksblatt, zitiert nach Lux, Schubertiade, S. 55: »Wir fürchteten, Schubert vielleicht in ähnlicher Weise versetzt zu finden bekommen, wie es der Zeit gefällt, ihn sich vorzustellen, etwas lächerlich, einfältig, von dummem Edelmute triefend und würdelos. Wie gesagt, wir fürchteten – es kam aber glücklicherweise anders, als wir glaubten. Was Joseph August Lux in seinem künstlerischen Vortrag brachte, das war der echte Schubert, wie wir ihn im Herzen tragen. Lux schildert Schubert mannhaft, nicht sentimental. Das Genie ist stets mannhaft. Wenn Schubert allein, ein Einsamer durchs Leben wandert, so ist es nicht wegen seiner Zaghaftigkeit, noch wegen der Launen törichter Mädchen, sondern weil er höhere Zwecke hat als sein persönliches Glück, nämlich die große, die heilige Kunst.« 239 Paul Bekker, Das Lied. Ein Fragment, in: Klang und Eros, Stuttgart/Berlin 1922, S. 284‒298. 240 Ebd., S. 287.

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derjenigen ihrer Entstehungszeit) abgelöst, um sie ausschließlich als »Bekenntnismusik intimster Art«241 charakterisieren zu können: Gerade aus der Betonung des persönlichen Erlebnischarakters, der Abgeschlossenheit nach außen, der bewußten Vermeidung jeglichen Appells an Gemeinschaftsgefühle erwächst ihre Besonderheit und innere Größe. Hier ist nichts mehr von Familien-, Arbeits- und Geselligkeitsgesang, hier ist aber ebensowenig von der verallgemeinernden Zurschaustellung des Konzertsaales. Es singt eine einsame Seele ganz für sich, gelöst aus äußeren Gebundenheiten und Zusammenhängen. Eben in dieser Loslösung, in der rückhaltlosen Freiheit innerster Gefühlsoffenbarung bestand Schuberts Tat.242

Mit der Stilisierung Schuberts zur ›singenden einsamen Seele‹ schreibt demnach auch Bekker zum einen das in den 1920er Jahren anhaltend prominente SchubertBild einer aus dem ›Naturhaft-Elementaren‹ heraus schaffenden musikhistorischen Lichtgestalt fort. Darüber hinaus erscheint Schubert hier tendentiell aus dem Blickwinkel eines der mentalen Befindlichkeit der Jahrhundertwende entsprechenden hermetischen Innerlichkeitsbegriffs beleuchtet, den Albrecht Dümling als »öffentliche Einsamkeit« beschrieben hat. 243 Gemeint ist von Bekker hier vor allem eine Kluft zwischen einem von der öffentlichen Konzertkultur wahrgenommenen konservativen bis epigonalen Liedrepertoire244 und einem esoterischen bzw. abgeriegelten Bereich musikalischer Avantgarde, dessen Liedkultur sich in privaten Zirkeln und exklusiven Vereinen entfaltete und das Lied zum Experimentierfeld hinsichtlich einer radikalen kompositionsästhetischen Umorientierung werden ließ, deren Einsetzen mit Schönbergs 1908/09 komponiertem George-Zyklus Das Buch der hängenden Gärten Opus 15 symbolhaft in Verbindung gebracht wird. Bekkers apodiktische Kritik an den Liedkompositionen etwa vor allem Wolfs und Strauss’ und in Maßen sogar Brahms’245 verkennt mithin, daß auch bereits die während des späteren 19. Jahrhunderts erfolgte Wandlung der Präsentation und performativen Realisierung von Liedern innerhalb der Musikkultur in entscheidender Weise mit gattungserweiternden kompositionsgeschichtlichen Konsequenzen in Verbindung gebracht werden muß: Während etwa Strauss und Wolf die mit Blick auf die kulturelle Codierung der Gattung neue ›öffentliche‹ Dimension in viele ihrer Lieder in Form einer direkt berechneten Podiumswirksamkeit gleichsam einkom 241 Ebd., S. 288. 242 Ebd., S. 289. 243 Vgl. Albrecht Dümling, Die fremden Klänge der Hängenden Gärten. Die öffentliche Einsamkeit der Neuen Musik am Beispiel von Arnold Schönberg und Stefan George, München 1981. Vor dem Hintergrund von bürgerlichem Werteverfall und Ich-Krise des Fin de Siècle beschreibt Dümling den Typus des vereinsamten Künstlers: »Je unvermeidlicher, nicht nur aus ästhetischen Gründen, die Einsamkeit der Künstler wurde, um so mehr versuchten diese, sie als eine Auszeichnung zu empfinden und zur ›öffentlichen Einsamkeit‹ zu stilisieren. Und je mehr die gesellschaftliche Rolle des vereinsamten Künstlers zur Bedeutungslosigkeit herabsank, um so höher stieg sein Wirkungsanspruch, den er mit der Individualität und Einzigartigkeit seines Werkes als seiner zweiten Existenzform in einer durch Vermassungstendenzen geprägten Gesellschaft begründete.« (S. 12). 244 Vgl. hierzu Kravitt, Das Lied. Spiegel der Spätromantik, passim. 245 Vgl. ebd., S. 290.

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ponierten, setzte Gustav Mahler vor allem auf die Integration des Liedes in sinfonische Kontexte und beförderte so vor allem die auch von Bie angesprochene Entwicklung des Orchesterliedes als Paradigma eines neuen ›intimen‹ Konzertstils.246 Dem inzwischen kanonisierten ›klassischen‹ Klavierliedrepertoire, zu dem Schuberts Lieder an erster Stelle zählten, standen insofern am Ende des 19. Jahrhunderts eine stetig zunehmende Menge zeitgenössischer Liedkompositionen gegenüber, die zwar zumeist einer traditionell spätromantischen Vertonungsästhetik verpflichtet blieben, sich aber bereits auf die veränderte kulturelle Praxis der Liedaufführung ausrichteten.247 Dümling beschreibt die Idee der »öffentlichen Einsamkeit« aber nicht nur in einem mentalitätsgeschichtlichen Kontext, sondern überdies als strukturelle Grundlage ›moderner‹ Kunstrezeption: [...] selbst die vermeintlich öffentliche Rezeption wird zur einsamen und privaten. ›Modern‹ ist die damit charakterisierte ›öffentliche Einsamkeit‹ insofern, als sie der nach dem Ende des Liberalismus zunehmenden Tendenz des Bürgers entsprach, zwischen Berufs- und Privatleben, Öffentlichkeit und Privatheit strikt zu unterscheiden und die Kunst primär dem Sektor der einsamen Privatheit zuzuschlagen.248

Richtet man den Blick indes auf die zeitgenössische Praxis der öffentlichen Liedaufführung schlechthin, könnte man ebenso andersherum formulieren: Die traditionell als angemessen bzw. ›wesenhaft‹ betrachtete ›intime‹ Rezeption des Liedes fand nun zunehmend in der Öffentlichkeit statt, was indes vor dem Hintergrund kulturell geformter Verabredungen ausgeblendet wurde. Das zeigt etwa deutlich die Einschätzung des Münchener Musikhistorikers Hermann von der Pfordten in einer 1916 erschienenen Monographie über Schubert und das deutsche Lied: Ein Liederabend, das heißt: ein öffentlicher Vortrag von Liedern zu bestimmter Stunde, in bestimmter Anzahl und Reihenfolge, sind wir uns bewußt, was das eigentlich für das Lied bedeutet? Die Sache liegt hier so: einer hat es gedichtet, ein anderer komponiert, ein dritter singt es. Ein vierter besorgt die Klavierbegleitung und wir hören zu. Ist das überhaupt möglich? Kann man das tun, ohne dem Lied seinen wahren Charakter zu rauben? Man sagt, der Konzertsaal sei der Intimität feindlich. Ganz richtig; das trifft auch hier zu. [...] Was gibt es dann noch zu vermerken? Durch Selbstbeobachtung können wir es erfahren. Unser Genuß wird am reinsten, unsere Befriedigung am vollsten sein, wenn es uns gelingt, vollständig zu vergessen, daß es ein Konzert ist; wenn unser Gefühl uns über die ganze Veranstaltung hinwegträgt; wenn wir uns gar nicht mehr bewußt sind, daß da ein Künstler etwas vorträgt, was ein anderer geschaffen hat, sondern wenn es so wirkt, als sänge er aus den eigenen Inneren, aus der Eingebung des Augenblicks heraus.249

246 Vgl. Hermann Danuser, Der Orchestergesang des Fin de Siecle. Eine historische und ästhetische Skizze, in: Mf 30 (1977), S. 425‒452. 247 Zu Repertoire, Aufführungspraxis und Kontexten der Liedkultur des Fin de Siecle vgl. umfassend: Kravitt, Das Lied. Spiegel der Spätromantik. 248 Dümling, Die fremden Klänge der hängenden Gärten, S. 12. 249 Hermann von der Pfordten, Franz Schubert und das deutsche Lied, Leipzig 31928, S. 48f. (EA 1916). Daß von der Pfordten mit dem hier beschriebenen Vortrags- und Rezeptionsidealen auch eine nationalideologische Komponente verbunden sieht, mit der sowohl der Komponist Schubert als auch die Gattung Liedes zusammengedacht wird, liegt auf der Hand. Von der Pfordten

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Obgleich die bereits ein gutes Jahrhundert früher geäußerte Skepsis gegenüber der öffentlichen Aufführung von Liedern auch hier weiterhin durchscheint250, wird doch deutlich, wie das Phänomen einer in der Öffentlichkeit vollzogenen ›Verinnerlichung‹ bereits zur habituierten kulturellen Praxis geworden war, wobei das bereits für die empfindsame Liedkultur zentrale Ideal einer imaginären Improvisation im Moment des Liedvortrags hiervon grundsätzlich unberührt blieb. Der Begriff einer »öffentlichen Einsamkeit«, wie er von Dümling als sich gleichsam notwendig ergebender soziokultureller Hintergrund für die Herausbildung der – in Bekkers Formulierung – ›Neuen Musik‹ im Sinne einer Entfremdung bzw. intentionalen Isolation vom Publikum in die Diskussion eingeführt wurde, erscheint vor solchem Hintergrund einer neuerlichen Reflexion zu bedürfen: Einen ersten Schritt unternimmt hier eine 2009 erschienene Tagungsdokumentation zum »deutschsprachigen Lied und seine[n] Komponisten im frühen 20. Jahrhundert«, die die von Dümling geprägte Formulierung als Obertitel aufgreift und damit zugleich zur Diskussion stellt:251 Ob und in wieweit sich daher die Situation der Gattung Lied im frühen 20. Jahrhundert wirklich mit allen Facetten zutreffend beschreiben lässt, bildete die Fragestellung einer Tagung, deren Ergebnisse in diesem Band vorgestellt werden. Denn mit dem in der Konzertsituation dargebotenen Lied – neben und vor dem sogenannten lyrischen Klavierstück das vorgebliche Medium intimer Selbstaussprache – scheint das Paradox, zumindest auf den ersten Blick, noch weiter zugespitzt: zu öffentlich zelebrierter oder gar planvoll veröffentlichter Einsamkeit angesprochen.252

Die hier als leitende Prämisse deutlich akzentuierte Ebene der kulturellen Praxis wird indessen von den meisten Beiträgen zugunsten einer werkästhetischen Zentrierung nicht, bzw. nur am Rande, aufgegriffen. Im Vordergrund steht zumeist die Frage nach der Präsenz und Funktion von ›Einsamkeit‹ im spezifischen Kontext der biographischen Konstellation einzelner Komponisten.253 Der einzige Beitrag, der sich dem Phänomen ›Einsamkeit‹ aus einer kulturtechnischen bzw. kulturpraktischen Perspektive widmet ist der im Rahmen der vorliegenden Studie bereits mehrfach herangezogene Aufsatz von Bernd Roeck, der einen historischen Überblick über Einsamkeitskonzepte des 18. und 19. Jahrhunderts und deren kulturelle Rahmung bietet. »Das in der Konzertsituation dargebotene Lied« im Sinne einer vor-



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spielt im Diskurs um das ›Völkische‹ und den musikalischen Nationalcharakter eine prägnante Rolle. Dazu: Birgitta M. Schmid, Die Idee des Nationalstaates und die Instrumentalisierung der Musikwissenschaft vor 1933, in: Musikforschung – Faschismus – Nationalsozialismus, hg. von Isolde von Foerster/Christoph Hust/Christoph-Hellmut Mahling, S. 51. Vgl. oben, Kapitel 3.3.1, S. 47. Öffentliche Einsamkeit. Das deutschsprachige Lied und seine Komponisten im frühen 20. Jahrhundert, hg. von Michael Heinemann/Hans-Joachim Hinrichsen, Köln 2009. Ebd., S. 8. Dies wird in Einzelstudien zu Liedkompositionen Mahlers, Strauss’, Pfitzners, Korngolds, Schoecks und Eislers erörtert. Vgl. auch die Rezension Walther Dürrs zu diesem Band, in: Mf (2011), S. 192.

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geführten, öffentlich dargebotenen ›Innerlichkeit‹ ist indes, wie die vorliegende Untersuchung nicht zuletzt aufzeigen will, eine in historischer Perspektivierung durchaus differenzierungsbedürftige Form kultureller Inszenierung. Daß dieses Inszenierungsmodell mit Blick auf das 19. Jahrhundert offenbar in besonderer Weise mit zeitgenössischen Ideologemen des Nationaltypischen in Verbindung steht, wird umso deutlicher, wenn der Blick auf die historischen Aufführungskulturen des Liedes im weiteren europäischen Raum ausgeweitet wird, womit freilich gleichzeitig auf ein weiteres umfangreiches und bislang wenig erschlossenes Forschungsfeld verwiesen ist.254 Dabei gilt es vor allem, den historischen Wandel von Öffentlichkeits- und Privatheitsbegriffen in die Reflexion mit einzubeziehen. Im Gegensatz etwa zur sich mit höfischen Ritualen und z. T. gezielt-marktorientierten Strategien verbindenden Lautenliedpraxis der Tudorzeit255 oder zur explizit sozialfunktional ausgerichteten Chansonkultur der französischen Aufklärung bzw. Empfindsamkeit256, bringt die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts im deutschsprachigen Raum einen scheinbar allein der ›Autonomie‹ des Werks verpflichteten Präsentationsrahmen für das Kunstlied hervor. Gerade das dazu quer stehende Faktum, daß das Lied aber aus eben dieser nationaltypisch geprägten Perspektive seine Konnotation mit einer auf spezifische Weise historisch-kulturell geformten ›Natürlichkeit‹ und ›Privatheit‹ im Sinne einer (national-) kulturellen Substanz nicht ablegen konnte, macht deutlich, wie sehr die öffentliche Liedaufführung als symbolische Praxis Teil des bildungsbürgerlichen Selbstentwurfes und den damit verbundenen ideologischen Implikationen geworden war: Künstler und Publikum zeigten offenbar – wie namentlich das Beispiel eines ›Liederabend-Booms‹ im Wiener Bösendorfer Saal, aber auch bereits Stockhausens zahlreiche Auftritte als Liedsänger auf großen Konzertpodien wie dem Hamburger Conventgarten, dem Kölner Gürzenich oder dem Leipziger Gewandhaus, Amalie Joachims öffentlich »gesungene Gattungsgeschichte« nebst damit verbundenen Notenausgaben und nicht zuletzt die hier angesprochenen Berliner und Wiener Jugend-Concerte – besonderes Interesse an einer für den kulturellen (und nationalen) Identitätsbildungsprozeß in gewissem Maße relevanten öffentlich zelebrierten Innerlichkeitskultur, für die das Kunstlied, 254 Ansätze bietet hier der Band Liedersingen. Studien zur Aufführungsgeschichte des Liedes, hg. von Katharina Hottmann, Hildesheim [u. a.] 2013. Hottmann betont in der Einleitung etwa, daß »die Verortung des Liedes primär in häuslicher Intimität aus der Verengung der historiographischen Perspektive auf deutsche Lieder des 19. Jahrhunderts resultier[e] und ergänzungsbedürftig« sei (S. 13). 255 Vgl. Rupp, Die Macht der Lieder. Rupp beschreibt u. a., wie die Lautenliedpraxis in der »Privy Chamber« am Hof Heinrich VIII. im Kontext einer spezifischen Ausprägung öffentlicher Privatsphäre letztlich Anteil an der »Konstituierung einer bestimmten Ordnung von Gemeinschaft und ihrer Moral« hatte (S. 54) oder wie John Dowland sich durch die gezielte Veröffentlichung seiner Kompositionen gewissermaßen eine öffentliche Identität als ›melancholy man‹ konstruierte, »um seine Sichtbarkeit und seinen Wiedererkennungswert zu erhöhen.« (S. 136). 256 Am Beispiel der Sängerin, Tänzerin, Schauspielerin und Autorin Marie Justine Favart zeigt Andreas Münzmay, wie planvolle, auf eine Kommunikation mit dem Publikum ausgerichtete, Inszenierung bürgerlicher Natürlichkeitsideale durch das Singen von Liedern auf der Bühne erfolgen konnte. Vgl. ders., Ländliche Pärchen und musikästhetischer Diskurs. Zur Konzeption des Bühnenliedrepertoires von Justine Favart, in: Liedersingen, S. 75–92.

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wie gezeigt werden sollte, bereits im frühen und spätestens im mittleren19. Jahrhundert ein zunehmend bedeutendes Repräsentationsmodell geworden war. Nicht allein die von Dümling nachgezeichnete stilisierte Einsamkeit des verstörten Avantgardekünstlers spielte hier offenbar eine Rolle, sondern – gerade mit Blick auf die bürgerliche Musikkultur der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts – die Suche nach einer verlorenen Idylle im Sinne einer »Reaktion auf den Verlust von Tradition«: Die medial auf verschiedene Weise künstlerisch verarbeiteten Einsamkeitsideen wurden so »Versatzstücke der mentalen Szenerien, die man inmitten der hässlichen Moderne errichtet[e].« 257 Wie etwa Schwinds und Lux’ SchubertiadenPhantasien zeigen, sind gerade Schubert und ›das deutsche Lied‹ Teil dieses spezifischen Prozesses einer Monumentalisierung von Idylle und Innerlichkeit geworden, zu dem letztlich auch die Aufführung von Schuberts Liedern in einem der entsprechend ›intimisierten‹ öffentlichen Rahmen gerechnet werden kann. Auf die als Konsequenz aus dem beschriebenen Phänomen einer Verschränkung von Intimität und Monumentalität deutbare Einrichtung eines ›kleinen Saals‹ und die mit ihm verbundene Paradoxie machte bereits Theodor W. Adorno aufmerksam: In der Idee des ›Saals‹ an sich sei »Monumentalität immer mitgedacht« konstatiert Adorno258, bezeichnet den ›kleinen Saal‹ allerdings als Stätte eines »Waffenstillstandes zwischen Musik und Gesellschaft«, da letztlich allein hier die ideale Möglichkeit einer vollends ›autonomen‹ Kunstrezeption bestehe.259 In historischer Perspektivierung wird indes deutlich: Auch der ›kleine Saal‹ ‒ wie er etwa in idealtypischer Weise gerade durch den später zum Mythos erhobenen Wiener Bösendorfer Saal repräsentiert wurde – war gerade bezüglich der öffentlichen Liedaufführung als performativer Raum ein eminent von gesellschaftlichen Dynamiken bestimmtes Aktionsfeld. Seine durch bewußt ergriffene äußere Maßnahmen hergestellte bzw. inszenierte ›intime‹ Atmosphäre stand allerdings weniger mit dem mittlerweile ausgeblendeten ethisch aufgeladenen Geselligkeitsbegriff der SchubertZeit in Verbindung260, sondern mit dem neuen, zum bildungs- und besitzbürgerlichen Selbstentwurf zählenden Phänomen einer öffentlichen Kunstandacht als dem Ideal ›autonomer‹ Kunst adäquat empfundener Rezeptionspraxis. Auch das Ideal der ›Kunstweihe‹ (wie es sich letztlich in der für die zeitgenössischen Wiener Verhältnisse asketisch anmutenden Architektur des Bösendorfer Saals auf direkte Weise abgespiegelt findet) fällt insofern letztlich als kulturelle Praxis einer kollektiven Zelebration öffentlich ausgestellter Kulturgüter unter den Begriff des Monumentalen als charakteristischem Teilmoment gründerzeitlicher Erinnerungskultur. Die Veranstaltungsform des ›Liederabends‹, wie sie hier in verschiedenen Ausprägungen diskutiert wurde, stellt insofern letztlich eine Art Synthese kulturell unterschiedlich codierter Momente dar: Sie reagierte auf die Integration des Liedes in 257 Roeck, Von intimer Öffentlichkeit zu öffentlicher Intimität, S. 23. 258 Theodor W. Adorno, Einleitung in die Musiksoziologie. 12 theoretische Vorlesungen, Frankfurt a. M. 81992, S. 114. 259 Ebd. 260 Vgl. Dümling, Die fremden Klänge der hängenden Gärten, S. 253.

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die Hochkultur, indem sie das mit der Geschichte des Kunstliedes als kultureller Praxis grundsätzlich verbundene Paradoxon einer ›öffentlichen Innerlichkeit‹ im Sinne eines sozialen Habitus’ der Musikaufführung und Musikrezeption in unterschiedlichsten Variationen inszenierte.

9 ZUSAMMENFASSUNG Das im Laufe der vorliegenden Untersuchung am Beispiel der Liedkompositionen Franz Schuberts erstellte Panorama zur Aufführungskultur des Kunstliedes im 19. Jahrhundert führt an zahlreichen Details vor Augen, daß und wie durch das Ineinandergreifen von Komposition, Interpretation und Rezeption letztlich immer wieder neue Orte seiner klingenden Existenz innerhalb der kulturellen Praxis geschaffen wurden. Die Akzentuierung der Aufführungssituation mit all ihren Komponenten diente dabei vor allem dazu, zumindest mit Blick auf die ausgewählten Stationen einen Perspektivwechsel zu ermöglichen: Es wurde gezeigt, wie die geläufigen, durch die einschlägige Gattungshistoriographie in der Regel separat bzw. sukzessiv aufgefaßten Kategorien einer situativ bestimmten »Liederkunst« einerseits und der ›Interpretation‹ eines als ›Opus‹ ausgewiesenen Kunstliedes andererseits auf komplexe Weise miteinander verwoben erscheinen. In den ästhetischen Diskursen seit Ende des 18. Jahrhunderts hatten sich Dichtung und Musik letztlich bis zu ihrer gegenseitigen Inanspruchnahme einander angenähert. Das aus der idealisierten Vorstellung einer ›Einheit‹ von Wort und Ton hervorgehende Paradigma der ›Sangbarkeit‹, wie es als produktionsästhetische Maxime von der Liedkultur der mittleren Goethezeit hervorgebracht wurde, läßt sich vor diesem Hintergrund als Ergebnis eines kulturellen Formungsprozesses beschreiben, der besonders durch eine Betrachtung der performativen Dimension der ›bürgerlichen‹ Liedkultur nachvollziehbar wird: Herders Idee einer ›Poesie des Tons‹ etwa legt vor dem Hintergrund von Volksbildungs- und Popularisierungsbestrebungen den Akzent auf die Situation des Singens und Hörens von Liedern, obgleich die zeitgenössische Rezeption lyrischer Texte längst von einer explodierenden Schriftkultur bestimmt wurde, die als entscheidendes Moment bürgerlicher Selbstkonstitution benennbar ist. Auch Schulz’ Lieder im Volkston lassen sich ebenso wie Goethes Liedeinlagen zu seinem 1795 veröffentlichten Wilhelm Meister-Roman mithin aus der Perspektive eines gehobenen Bürgertums betrachten, das vor dem Hintergrund einer angestrebten ›Verfeinerung‹ von Sitten, Affekten und Geschmack eine »Liederkunst« kultivierte, die Volks- und Kunstlied auf eine subtile Weise ineinanderblendete. Liedvertonung, -vortrag und -rezeption gehörten nun zu den zeitgenössischen Praktiken eines ›Hörbarmachens von Texten‹ (Meyer-Kalkus), die innerhalb neu gestalteter performativer Räume auch neue Formen der ästhetischen Kommunikation ermöglichten. Die von Jürgen Habermas als ›bürgerlich‹ charakterisierte Idee einer ›Autonomie‹ der Kunst als Abspiegelung und Sinnbild persönlicher Freiheit und Selbstbestimmung findet sich somit in eine facettenreiche kulturelle Rahmung integriert. Dies läßt sich etwa an Johann Georg Nägelis, in der Regel ausschließlich in einem werkbezogen bzw. gattungshistorischen Kontext rezipierten, Ausführun-

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gen zur »Liederkunst« zeigen, in denen soziale Kontextualisierung und autonomieästhetische Reflexion direkt ineinanderfließen: Die »Liederkunst« entwickelt sich durch den Prozeß einer Rekonzeptualisierung der Vokalmusik im Kontext bürgerlicher Lebensentwürfe zu einer umfassenden symbolischen Praxis. Die Herausbildung einer professionellen Liedvortragskunst ist ein zentraler Aspekt der Entfaltung und Ausformung dieser Praxis. Als performative Lyrikrezeption wurde sie für das Bürgertum zu einem wichtigen Bestandteil einer neuen »expressiven Kultur«, deren Voraussetzungen in der Kultivierung und Stilisierung von ›intimer Geselligkeit‹ und ›Einsamkeit‹ als adäquaten sozialen Rahmungen lagen. Nur so konnte der Liedvortrag sich zu einer subtilen Ausdruckskunst innerhalb einer »musicalischen Gefühlscultur« (Nägeli) entwickeln, die von typischen Konflikten zwischen ›empfindsamem‹ Sozialitätsgebot und individuellen bzw. subjektiven Ausdrucksbedürfnissen geprägt erscheint. Die Entwicklung des Liedvortrags zu einer individualisierenden Ausdruckskunst vollzog sich auf drei zwar unterscheidbaren aber miteinander verwobenen Ebenen: Zentrale Leitlinie der ›empfindsamen‹ Vortragsästhetik war das Ideal einer organischen Einheit von Stimme, Text und Bewegung wie dies etwa mit Blick auf den in der zeitgenössischen Schauspielkunst geforderten ›natürlichen‹ Körpergebrauch intensiv diskutiert wurde. Auch beim Gesangsvortrag sollten Mimik und Gestik gewissermaßen ›unmittelbar‹ durch Musik und Text generiert werden, wobei für die Vortragsästhetik grundsätzlich die begrenzende bzw. redimensionierende Prämisse einer ›natürlich‹ austarierten emotionalen Balance ausschlaggebend war. Der Klang der menschlichen Stimme wurde zudem als Medium einer unmittelbaren Seelenkommunikation idealisiert. Dem Ideal eines ›natürlichen Gesangs‹ wie es die zeitgenössischen Liedtheorien unter Rückbezug auf das Paradigma der ›Sangbarkeit‹ im Sinne einer Rhetorik der ›ungeübten Hälse‹ propagierten, stand aus der Perspektive künstlerisch-professioneller Gesangsausbildung allerdings ein der italienischen Gesangstradition entnommenes cantabile-Ideal entgegen, das als ›Lehre vom schönen Ton‹ und seiner nuancierenden Modifikation gleichfalls Einfluß auf die Herausbildung eines kunstvollen Liedvortrags nahm. Entscheidend für die Professionalisierung des Vortrags war schließlich die Nuancierung des gesungenen Textes, was die Liedvortragskunst in direkte Nähe zur zeitgenössischen Deklamationskunst rückte, die seit 1800 einen extremen Aufschwung und damit auch eine Verwissenschaftlichung erlebte. Aus einer rhetorischen Tradition stammend wurde auch sie zusehends aus einer autonomieästhetischen Perspektive verhandelt, wobei der von der zeitgenössischen Musikästhetik geführte Diskurs über das expressive Potential der begriffslosen Musik aufgegriffen und für die Deklamationskunst in Anspruch genommen wurde. Der nuancierte Stimmklang selbst rückte gegenüber der inhaltlichen Perspektive zusehends in eine autonome Position, was in letzter Konsequenz gar zu Versuchen führte, die Deklamationskunst als eine Musik sui generis zu redefinieren. Im Rahmen einer frühen Kunstliedpraxis, wie sie etwa in Goethes Weimarer Umkreis gepflegt wurde, erhielt die Deklamationskunst in jedem Fall die Rolle einer intermedialen Nahtstelle zwischen Musik und Sprache und der Liedvortrag – exemplarisch verkörpert durch

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Goethes Hofsänger Johann Wilhelm Ehlers – die Weihen einer hochdifferenzierten ›Ausdruckskunst‹. Der Schritt zum ›romantischen Kunstlied‹ Schuberts erscheint indes aus dieser Perspektive durchaus weniger abrupt, als dies die Musikhistoriographie üblicherweise darstellt: Als klingender ›Ausdruck der Seele‹ und des individuellen Gefühlslebens war das gesungene Lied (sowohl in Wien als auch im norddeutschen Raum) bereits vor Schubert längst über eine rein soziofunktionale Rolle hinausgewachsen, und auch die die Musik der Dichtung schließlich als Paradigma voranstellende literarische Romantik bezieht die »Liederkunst« um 1800 in ihre Reflexionen ein. Schuberts Lieder können vor diesen Hintergrund vielmehr als konsequente Erweiterung des bereits in der Liedkultur des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts unter Einfluß der musikalischen Autonomieästhestik freigelegten expressiven Potentials aufgefaßt werden. Die Aufführungsbedingungen für die Liedkompositionen Schuberts sind durch Umbrüche innerhalb der zeitgenössischen Wiener Musikkultur geprägt, die eine zunehmende Diversifizierung von intimer Hausmusik, halböffentlicher Geselligkeitskultur und öffentlicher Konzertdarbietung zur Folge hatten. Schubert komponierte seine Lieder häufig genug gewissermaßen zwischen diese Sphären, indem er zwar einen kulturellen Rahmen als Impuls aufgriff, ihn aber mit seiner Musik gleichzeitig aufsprengte. Sowohl die verkürzende Rubrizierung Schuberts als ›Hausmusikkomponist‹ als auch die mit seinem Schaffen obligatorisch verbundene Berufung auf das neue Ideal eines zweckfrei-›autonomen‹ Komponierens blendet allerdings das Phänomen dieses freischwebenden Oszillierens zwischen verschiedenen kulturellen Kontexten weitgehend aus, obgleich sich aus eben gerade dieser Perspektive die spezifische gesellschaftliche Dimension vieler seiner Liedkompositionen erschließen läßt. Namentlich mit Blick auf die Liedrezeption innerhalb eines wie auch immer personell gefaßten ›Schubert-Kreises‹ wird deutlich, wie hier die Aufführung eines Liedes zwischen sozialer Ereignishaftigkeit und deren gleichzeitiger Aufhebung im Medium einer gedanklich konstruierten künstlerischen Gegenwelt changieren konnte. Die Formation dieser Gegenwelt wurde, wie vor allem neuere literaturwissenschaftliche Untersuchungen zeigen, sowohl von genuin romantischen Denkfiguren als auch realhistorischen Umständen der Restaurationszeit beeinflußt. Das bedeutet auch, daß der für Schuberts Tätigkeit als unverzichtbares soziokulturelles Netzwerk anzusehende engere Freundeskreis sich auf gewisse rezeptionsästhetische Prämissen, die die Liedaufführung und Liedrezeption innerhalb der Schubertiaden stark idealisierten, geradezu einschwor, da Schuberts klingende Lieder den Schubertianern als Ausweis und Versicherung der gemeinsamen ethischen und ästhetischen Maximen galten. Außerhalb dieses somit mit einem auf spezifische Weise profilierten Signum des ›Privaten‹ zu versehenden Aufführungsrahmens rückten Schuberts Lieder aber auch in halböffentliche und öffentliche Kontexte, mit denen sich z. T. wiederum veränderte Erwartungshaltungen verbanden. Obgleich die von den bürgerlichen Musikvereinen sowie vom Musikfeuilleton angesprochene Bildungselite (›Freunde des Liedes‹) die von gängigen liedästhetischen Normen abweichende Originalität

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der Vertonungen Schuberts in bestimmtem Ausmaß goutierte, spielte die Prämisse einer Autorität der Dichtung, in der man ein entscheidendes Repräsentationsmedium des eigenen Bildungsbegriffs sah, weiterhin eine zentrale Rolle. Eine vollöffentliche Produktion mußte hingegen gleichzeitig unterschiedlichste Bedürfnisse befriedigen, die sich an der zeittypischen heterogenen Programmgestaltung deutlich abzeichnen: Mit dem Anspruch an die kompositorische Qualität verbanden sich Forderungen nach Unterhaltung, virtuosem Spektakel und opernhafter Dramatik. Nicht zuletzt der große Erfolg der öffentlichen Erstaufführung des Erlkönig im Kärntnertortheater ließe sich vor solchem Hintergrund etwa neu bewerten, denn der enorme Effekt des Stückes konnte offenbar ein von unterschiedlichsten Erwartungshaltungen bestimmtes Publikum begeistern. Schubert und seinen Freunden gelang mit der Aufführung und Veröffentlichung der Ballade als ›Opus 1‹ jeglichen von Verlegerseite (wegen zu hoher Anforderungen an die Ausführung) vorgebrachten Einwänden zum Trotz hier gar eine Art ›Marketing-Coup‹. Auch die letztlich an diese Initialzündung anknüpfenden weiteren zu Schuberts Lebzeiten erfolgten Liedveröffentlichungen müssen insofern vor dem Hintergrund einer Ausrichtung an öffentlichen Kontexten betrachtet werden. Schubert begegnete ihnen auf subtile Weise und verwirklichte dabei gleichzeitig das letztlich nicht nur zu seinem eigenem Selbstentwurf als Komponist zählende, sondern auch die kulturellen Identitätsbestrebungen seines bildungsbürgerlichen Publikums mitbestimmende (und damit sozial gerade hochfunktionale) Ideal einer ›autonomen‹ Kunstproduktion und -rezeption. Die hier als typisch herausgestellte, gleichsam freischwebende Verortung der Lieder Schuberts zwischen unterschiedlichen aufführungskulturellen Kontexten spiegelt sich auch auf der aufführungspraktischen Ebene ab, wobei die vortragsästhetischen Grundsätze einer typisch bürgerlich-dilettantischen Musizierpraxis, wie sie in der Regel in Zusammenhang mit Schuberts Liedkompositionen betont wird, nicht unvermittelt zum steigenden Interesse professioneller Sänger und Sängerinnen an diesem neuartigen Repertoire stehen. Die Gesangsschulung nach italienischem Vorbild bildete, wie auch bereits für die »Liederkunst« um 1800 beschrieben, eine grundsätzliche Basis sowohl für anspruchsvolle Dilettanten als auch professionelle Sänger und Sängerinnen, die sich mit Schuberts Liedern auseinandersetzten. Viel mehr als die durch eine »Aura des Intimen« (Gudrun Busch) abgeschirmte empfindsame Liedpraxis wurde der Schubert-Gesang allerdings durch letztlich sich im Bereich der Wiener Opern- bzw. Musiktheaterpraxis herausbildende vortragsästhetische Kontroversen beeinflußt, da mit dem steigenden »Anspruch auf Öffentlichkeit« (Walther Dürr), den der Komponist mit seinen Liedern erhoben hatte, auch entsprechende, auf die Öffentlichkeit gerichtete performative Strategien beim Liedvortrag zur Anwendung gelangten. Vor allem die Frage eines, sich aus klassizistischer Distanz auf Glucks Opernreform berufenden und von der italienischen Operntraditionen planvoll absetzenden ›deutschen Bühnenideals‹, das sowohl gesangs- als auch darstellungsästhetische Aspekte umfaßte und dabei nicht frei von nationalideologischer Aufladung war, ist als historischer Kontext auch für die klingende Verwirklichung von Schuberts Liedkompositionen anzusehen – und

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mit den ausgewiesenen ›Schubert-Sängern‹ Anna Milder-Hauptmann sowie vor allem Johann Michael Vogl sind überdies die zentralen Identifikationsfiguren dieser musiktheaterästhetischen Diskussion benannt. Namentlich der von Vogl verfochtene »deklamatorische« Vortragsstil läßt sich bei eingehenderer Betrachtung im Sinne einer ›expressiven Grundhaltung‹ profilieren, die auf eine verschiedene Modi umfassende vokalkünstlerische Gestaltung des gesungenen Textes abzielte und mit vielen von Schuberts Liedkompositionen in direkter Korrespondenz gesehen werden kann. Daß gerade Vogls Vortragsweise bereits zu Schuberts Lebzeiten und auch später immer wieder Anlaß zur Kritik gab, muß insofern auch auf Schuberts Kompositionen selbst rückbezogen werden, die aufführungsästhetische Maximen der Zeit – etwa die strikte Unterscheidung von Bühnen- und Kammerstil – immer wieder konterkarierten und mithin den Vortragenden dazu herausforderten, den kulturell codierten performativen Rahmen des ›Liedhaften‹ tendentiell zu überschreiten, was einer weiteren Wandlung der mit dem Kunstlied verbundenen kulturellen Praktiken Vorschub leistete. Die nach Schuberts Tod einsetzende Ausformung mentaler Bilder und historischer Phantasien über den Komponisten und seine Musik prägten die Schubert-Rezeption über das gesamte verbleibende 19. Jahrhundert und darüber hinaus. Die allmähliche Festschreibung der kulturellen Bedeutung Schuberts als ›Liedkomponist‹ ist ein Ergebnis dieser Prozesse und steht überdies mit der Herausbildung des ›Schubert-Liedes‹ im Sinne eines idealtypischen gattungsästhetischen Repräsentationsmodells in Verbindung. Bereits in der Vormärzzeit kristallisieren sich gewisse Präferenzstrukturen heraus, die auf eine überschaubare Anzahl von mit zeitgenössischen Schubert-Phantasien in Zusammenhang stehenden Liedern gerichtet sind. Im Mittelpunkt steht hier das Bild eines schwärmerisch-süßlichen Schubert, der durch Lieder wie Ständchen (»Leise flehen meine Lieder [...]«), Ave Maria oder Lob der Tränen zum Inbegriff träumerisch-naiver Melodieseligkeit wird. Orte der klingenden Verwirklichung dieser Phantasien und damit ihrer kulturpraktischen Befestigung waren sowohl die immer stärker geschlechtsspezifisch konnotierte, idealisierte bürgerliche Hausmusiksphäre als auch die mittlerweile als ›sentimental‹ und ›oberflächlich‹ kritisierte halböffentliche Salonkultur, innerhalb der der Vortrag von Schuberts Liedern bereits Ende der 1840er Jahre zum Klischee geronnen war. Auf der anderen Seite steht allerdings auch Schuberts Einbindung in vormärzliche nationalkulturelle Diskurse. Der Komponist avanciert hier unter Rekurs auf den vielbeschworenen Topos vom ›Deutschen Sang‹ gar zum deutschen »LiederHeros« und wird innerhalb des Wiener Vormärz, als Schuberts Lieder bezeichnenderweise auch von professionell agierenden Militärmusikkapellen einer riesigen Zuhörerschaft präsentiert wurden, zur positiven Identifikationsfigur für eine ersehnte kulturelle Identität stilisiert. Die damit angesprochene, sich im Laufe des 19. Jahrhunderts zusehends verstärkende, nationale Eintönung des Musikdiskurses beeinflußte auch Schuberts musikhistoriographische Festschreibung. Das vorherrschende Bild des ›naiv-genialischen Melodikers‹ wurde sowohl im Kontext (vor allem an Beethoven gemessener) zeitgenössischer Schubert-Kritik als auch im Zeichen nationaler Mentalitäts- bzw.

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Identitätskonstruktion verhandelt. Vor allem die aus hochkultureller Perspektive erfolgende Idealisierung und Ästhetisierung des ›Volksliedes‹ im Sinne einer nationalkulturellen Ursubstanz wirkte sich auf die musikhistoriographische SchubertRezeption aus und führte trotz Installation des ›Schubert-Liedes‹ als ›klassischem‹ Gattungsmodell auch zu dessen planvoller Reduktion im Kontext eines selbstbehaupteten nationalcharakteristischen Innerlichkeitsbegriffs. In der zweiten Jahrhunderthälfte erfolgte vor dem Hintergrund einer maßgeblich durch Schuberts Lieder gesteigerten Repräsentationskraft des Kunstliedes für die nationale Hochkultur auch die endgültige Integration von Liedern ins öffentliche Konzertleben. Freilich wird die Frage einer adäquaten Rezeptionskultur immer wieder aufgeworfen und die zunehmende Aufführung der Lieder Schuberts auf dem öffentlichen Konzertpodium oder ihrer Verbreitung durch Militärkapellen sah sich in den 1860er Jahren bezeichnenderweise gerade einer fortbestehenden Idealisierung ihrer Rezeption im Kontext einer zunehmend nationalideologisch aufgeladenen Hausmusik-Sphäre gegenüber. Besonders im letzten Jahrhundertdrittel wird das ›Schubert-Lied‹ Teil eines vielschichtigen Monumentalisierungsprozesses. Als Repräsentationsmodell eines national konnotierten Innerlichkeitsideals, das (sowohl von deutscher wie österreichischer Seite) Schuberts Anteil an der deutschen Geistesgeschichte akzentuiert, wird auch seine öffentliche Aufführung zunehmend von kulturellen Inszenierungsstrategien getragen, die eben dieses Ideal auf repräsentative Weise zur Darstellung bringen, bzw. auch in performativer Hinsicht verwirklichen wollten. Das ›SchubertLied‹ hatte mithin zum Ende des Jahrhunderts im Prozeß nationalkultureller Erinnerung und imaginärer Musealisierung eine Art Sonderstatus erlangt, der gerade durch seine Rolle im öffentlichen Musikleben greifbar wird und über die isoliertmusikhistoriographische Perspektive der Festschreibung eines gattungsästhetischen ›Klassikers‹ hinausgeht bzw. gerade dessen kontextuelle Dependenz offenlegt. Als ein bedeutender Protagonist bezüglich der zuvor angesprochenen aufführungskulturellen Wandlungsprozesse kann der Bariton Julius Stockhausen gelten. Die Spuren seines künstlerischen bzw. kulturellen Handelns bieten vor dem Hintergrund des hier entfalteten Panoramas die Möglichkeit, konkrete Beispiele für die beschriebene Konstellierung von Gattungs- und Institutionsgeschichte des ›deutschen romantischen Kunstliedes‹ sowie deren Verwobenheit mit der Schubert-Rezeption des 19. Jahrhunderts auszuleuchten. Stockhausens paradigmatische Rolle als Pionier einer bereits zu seinen Lebzeiten als ›klassisch‹ ausgewiesenen Liedvortragskunst ist zu allererst im Kontext nationalkultureller Bestrebungen zu verorten. Die von ihm aufgrund seiner umfassenden Ausbildung praktizierte Verquickung italienischer und französischer vokalkünstlerischer Traditionen mit der deutschen Sprache wurde um die Jahrhundertmitte schnell als Repräsentation einer selbstbehaupteten ›deutschen Universalität‹ rezipiert. Vor diesem Hintergrund bildete sich unter Einfluß eines zeitgenössischen bildungsbürgerlichen Ethos’ das Ideal einer »echten Mission des Virtuosen« (Hanslick) heraus, zu dessen Verkörperung auch Stockhausens ›vergeistigte‹ Liedvortragskunst gerechnet wurde. Gleichwohl sah sich Stockhausen als professioneller

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Liedsänger einer komplexen sowohl von heteronomen als auch autonomen Aspekten bestimmten kulturellen Praxis gegenüber, auf die er vor dem Hintergrund seines persönlichen künstlerischen Sendungsbewußtseins sensibel reagierte. Die Entscheidung Stockhausens, eine Auswahl von Schuberts Liedern zur Grundlage einer regelrechten repertoirepolitischen Strategie für den Aufbau einer professionellen Gesangskarriere zu verwenden, muß gerade angesichts des zur Jahrhundertmitte entfalteten Schubert-Bildes als Wagnis begriffen werden. Zwar konnte Stockhausen sich auf eine gewisse Prominenz Schuberts in der zeitgenössischen Musikkultur stützen, doch rangierten dessen Kompositionen kaum auf Augenhöhe mit anderen von der zeitgenössischen deutschsprachigen Musikkultur bereits zu kulturellen Leitbildern erhobenen Komponierenden wie Johann Sebastian Bach oder Ludwig van Beethoven, wie sie etwa durch die künstlerische Praxis Clara Schumanns, Joseph Joachims oder Hans von Bülows maßgeblich befestigt wurden. An Stockhausens aufgeführtem Schubert-Repertoire läßt sich gleichwohl nachvollziehen, wie der Sänger durch gezielt zum Vortrag ausgewählte Kompositionen das vorherrschende Schubert-Bild in gewissem Maße konterkarierte, da diese gerade nicht dem Modell des lyrisch-verinnerlichten ›Melodien-Genies‹ entsprachen, sondern, wie bereits mit Blick auf die Schubert-Zeit konstatiert, die Dimension des ›Liedhaften‹ tendentiell sprengten. Daß Stockhausen andererseits bevorzugt die Lieder aus dem Zyklus Die schöne Müllerin für seine Konzertauftritte wählte, läßt sich zwar mit einem ›volkstümlichen‹ Schubert-Bild in Verbindung bringen, die von ihm gewählte Präsentationsweise hingegen weist gerade hier in die gegensätzliche Richtung: Die Praxis einer kompletten Aufführung des Müllerin-Zyklus, auf der Stockhausen trotz immer wieder angemeldeter Bedenken beharrte, bot aus seiner Sicht offenbar die Möglichkeit einer Integration publikumswirksamer Theatralisierung und repräsentativer Betonung des Werkcharakters, wie der Sänger sie auch mit Blick auf die grundsätzlich weniger aufgeführte Winterreise praktizierte. Auch wenn Stockhausen sich in gewisser Weise als Promotor der Musik Schuberts verstanden haben mag (und in jedem Fall als solcher rezipiert wurde) modifizierte er insofern letztlich die Wirkungsabsichten des Komponisten, paßte sie den ihn umgebenden Bedingungen an und entfaltete damit eine prägende Wirkung sowohl auf die zeitgenössische Aufführungskultur als – in gewissem Maße – auch auf die zeitgenössische SchubertRezeption. Die eingehendere Betrachtung der künstlerischen Praxis Stockhausens aus der hier eingenommenen Perspektive zeigt mithin exemplarisch, auf welche Weise sich Performativität und Textualität innerhalb der kulturellen Praxis des mittleren und späteren 19. Jahrhunderts überlagerten: Obgleich die Herausbildung einer neuen, nun als ›Interpretation‹ ausgewiesenen professionellen Vortragskunst zuweilen gerade durch eine kreative Auseinandersetzung mit dem Notentext gekennzeichnet sein konnte, wurde eben dessen durch die aufstrebenden textphilologischen Wissenschaften verifizierter Status als die Zeiten überdauerndes ›Meisterwerk‹ zunehmend als unantastbar beschworen und damit seinerseits einem Idealisierungsprozeß unterworfen. Das von Stockhausens ehemaligem Schüler Max Friedlaender bis 1885 im Leipziger Peters-Verlag herausgegebene mehrbändige Schubert-Album

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bzw. seine zeitgenössische Rezeption bietet etwa ein besonders plastisches Beispiel für die hier angesprochenen Phänomene, da es – obgleich heutigen philologischen Standards vielfach nicht genügend – die zeitgenössische musikalische Praxis dezidiert an einer in den Notentext hineingelesenen kompositorischen ›Authentizität‹ ausrichten sollte. Vor allem die im Rahmen der Edition vorgenommenen (und mit Blick auf die musikalische Praxis bis heute wirksam gebliebenen) repertoirepolitischen Entscheidungen standen indes schon dadurch ihrerseits unter Einfluß der zeitgenössischen Schubert-Rezeption, daß die durch Schubert selbst vorgenommene Zusammenstellung der zu seinen Lebzeiten veröffentlichten Lieder zugunsten spezifischer, durch das zeitgenössische Schubert-Bild bestimmter Präferenzen aufgelöst wurde. Wie Stockhausens aufführungspraktische Konzeptionen hinsichtlich der großen Liederzyklen Schuberts andererseits deutlich machen, war ein entscheidender Aspekt bei der Herausbildung einer professionellen Kunstliedkultur offenbar gerade die Akzentuierung der Eigenständigkeit der dichterischen Vorlage: Das ›Kunstlied‹ sollte letztlich trotz seit Schubert ins Werk gesetzter entscheidender kompositionsästhetischer Wandlungsprozesse in erster Linie als Präsentationsform lyrischer Dichtung aufgefaßt werden und kann damit zu einem guten Anteil eher der bürgerlichen Literatur- als Musikpraxis zugerechnet werden – bereits Robert Schumann und später auch Hugo Wolf übertitelten, anders als Schubert, ihre Liedkompositionen etwa explizit als ›Gedichte‹, während zur Goethezeit das ›Lied‹ noch grundsätzlich als Erscheinungsform bzw. Synonym von Dichtung schlechthin galt. Diese Beobachtungen zur kulturellen Wahrnehmung des Kunstliedes im späteren 19. Jahrhundert verbinden sich, wie gezeigt wurde, auf grundsätzlicher Ebene mit der Herausbildung eines musikalischen Interpretationsbegriffs, der auch den Hintergrund für die weitere Entwicklung der Liedvortragskultur wurde. Stockhausens künstlerische Praxis aber auch Julius Heys Deutscher Gesangs-Unterricht (1882‒1886) zeigen eindringlich, wie sehr eine Fokussierung auf den literarischen Textsinn innerhalb einer von hermeneutischen Paradigmen geleiteten ›Verstehenskultur‹ auf diese Entwicklung Einfluß nahm. Durch das Zusammenrücken sprachpflegerischer bzw. sprechkünstlerischer und gesangspädagogischer Disziplinen bildete sich letztlich eine auch national konnotierte Interpretationsästhetik heraus, die den Liedvortrag als vokal expressive Darbietung von Gedichten vor dem Hintergrund zeitgenössischer Texthermeneutik in der kulturellen Praxis des späten 19. Jahrhunderts befestigte, wobei selbst das rein performative Moment vokaler Materialität in den Dienst einer decodierbaren ›Bedeutung‹ zu stellen versucht wurde. Ein Blick auf den mit diesen Idealen in Zusammenhang stehenden sängerischen Körpergebrauch – sofern sich dessen Spuren aus dem zeitgenössischen Musikdiskurs rekonstruieren lassen – läßt verschiedene Aspekte in den Vordergrund treten. Grundsätzlich fand die Festschreibung vortragsästhetischer Reglementierungen für den Liedgesang in Abgrenzung zum Bühnengesang statt. Die mithin gegenüber der Bühnendarstellung geforderte Disziplinierung des Körpers beim Vortrag läßt sich zunächst in einen geschlechtergeschichtlichen Kontext stellen: Gerade von Sänge-

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rinnen etwa wurde grundsätzlich erwartet, auch auf dem Konzertpodium bürgerliche Weiblichkeitsideale zu verkörpern. Während das Lied bzw. der Liedgesang aufgrund seiner durch Kategorien wie ›Einfachheit‹, ›Innerlichkeit‹, ›Häuslichkeit‹ und ›Natürlichkeit‹ geprägten kulturellen Formung im Gegensatz zu den instrumentalen Großformen freilich ohnehin ›weiblich‹ konnotiert war, verweist der Prozeß seiner Heraufhebung zur öffentlich produzierten, professionell ausgeübten ›Interpretations‹-Kunst indes auf Komponenten der die Kultur des 19. Jahrhunderts dominierenden Männlichkeitsbilder: Der mit maßvoller Zurückhaltung öffentlich präsentierte Körper galt vor diesem Hintergrund mithin auch als Repräsentation einer professionellen, in den ›Dienst des Werks‹ gestellten Haltung. Obgleich sich auch die zeitgenössische Gesangsausbildung partiell von geschlechtsspezifischen Stereotypien beeinflußt zeigt, wurden die sich beim Liedvortrag zuweilen ergebenden Inkongruenzen hinsichtlich der geschlechtlichen Relation von lyrischer persona und real singender Person durch das historische Publikum offenbar kaum als unangemessen eingestuft: Einerseits herrschte die Idealvorstellung eines androgyn gedachten ›lyrischen Sprechens‹ vor, zum anderen schloß der zeitgenössische rezeptionsästhetische Horizont offenbar die Option einer kreativen Einfühlung in das jeweils andere Geschlecht und mithin die potentielle Repräsentation einer »multiplen persona« (Berthold Höckner) durch den jeweils Singenden ein. Trotz der die öffentliche Präsentation von Liedern beeinflussenden Innerlichkeitsideale orientierten sich die Liedsänger und -sängerinnen aber auch an traditionellen vortragsästhetischen Modellen wie etwa im Fall von Balladenvertonungen, die weniger eine Kommunikation lyrischer Befindlicheiten, sondern einen theatralisierenden bzw. ›darstellenden‹ Vortragsmodus im Sinne Goethescher ›Deklamation‹ erforderten, der immer wieder auch auf Liedkompositionen mit rein lyrischen Textvorlagen übertragen – und zum Teil kontrovers diskutiert – wurde. Grundsätzlich blieb aber das vorherrschende Ideal beim Liedvortrag die Inszenierung ›unmittelbaren‹ Erlebens im Sinne einer öffentlich ausgestellten bzw. zelebrierten ›Innerlichkeit‹, die nur indirekt an ein »akzidentiell« (Dahlhaus) gedachtes Publikum gerichtet sein sollte. Im Namen einer weitgehenden Konzentration auf die Worte der Dichtung entwickelte sich so das vortragsästhetische Credo einer ›Kunst der Andeutung‹, mit der die Ausblendung bzw. extreme Redimensionierung mimischer und gestischer Beteiligung einherging. Der institutionelle Hintergrund für die beschriebenen performativen Momente war die im letzten Jahrhundertdrittel erfolgende Herausbildung des ›Liederabends‹ im Sinne eines von der bürgerlichen Musikkultur als angemessen betrachteten kulturellen Rahmens für den öffentlichen Vortrag von Kunstliedern. In Wien lief diese Entwicklung zusammen mit der Etablierung einer institutionalisierten SchubertLied-Pflege, die vor allem mit dem Hofoperntenor Gustav Walter verbunden werden kann. Die Walter von der zeitgenössischen Musikkritik zugeschriebene Rolle einer Stimme der »österreichischen Volksseele« (Robert Hirschfeld) läßt sich sowohl in den Kontext zeitgenössischer Schubert-Rezeption als auch nationalidentifikatorisch getönter Aspirationen des kulturtragenden Wiener Großbürgertums nach 1866 (Schlacht bei Königgrätz) stellen. In Verbindung mit der Person Walters

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wandelte sich seit 1876 der Vortrag reiner Schubert-Lied-Programme im 1872 eigens für den Vortrag von Liedern und Kammermusik eröffneten Bösendorfer Saal zum öffentlichen inszenierten Ereignis mit Ritualcharakter. Zum Fin de Siècle entwickelte sich dann ein gleichsam explosionsartiger Aufschwung des Liederabends in deutschsprachigen Metropolen wie Wien, München oder Berlin. Trotz dieser mit Blick auf den Beginn des Jahrhunderts einschneidenden Wandelerscheinungen hinsichtlich der aufführungskulturellen Rahmung des Kunstliedes verlor dieses bezeichnenderweise nicht seine Konnotation mit der privaten Sphäre und damit den ideellen Implikationen des traditionellen Liedideals. Die soziale Bedingtheit, die z. T. noch zur Schubert-Zeit den Anlaß für die Darbietung eines Liedes geliefert hatte, war indes der kulturellen Inszenierung von ›Intimität‹ gewichen: Vortragende wie Publikum waren zunehmend daran gewöhnt, die Aufführung eines Liedes auch in öffentlichen Kontexten von z. T. monumentalem Zuschnitt als Repräsentation nicht eigentlich kollektiv, sondern zumeist idealisiertsubjektiv erlebter ästhetischer Erfahrung im Sinne eines öffentlich zelebrierten Vorgangs der ›Verinnerlichung‹ wahrzunehmen. Pragmatisch gesehen ergab sich als neue Funktion des Kunstliedes somit auch die einer Vermittlung zwischen häuslicher und öffentlicher Musikpraxis, wie etwa besonders die in verschiedenen Kontexten vorgenommenen Versuche, Volksliedarrangements oder im ›Volkston‹ komponierte Lieder in die Konzertpraxis zu integrieren. Daß eine für die bürgerliche Kultur des Fin de Siècle typische Verschränkung von Intimität und Monumentalität mithin auch in den Kontext bewußt vollzogenen kulturellen Handelns gerückt werden kann, zeigt sich letztlich an Gegenreaktionen, die die mit der Gattung ›Lied‹ verbundene Kategorie des ›Intimen‹ gewissermaßen auf eine als ›authentisch‹ begriffene Weise bewahren wollten. Durch rezeptionslenkende Maßnahmen wie Abdunkelung der Räume, vollständige Verdeckung der Musiker durch Sichtschutzwände oder bewußter Inszenierung eines ›intimen‹ Ambientes als performativem Raum wurde versucht, der beschriebenen Praxis entgegenzuwirken. Die (kurze aber expansive) Erfolgsgeschichte des öffentlichen Liederabends seit den 1870er Jahren bis in die ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts zeigt jedoch, daß gerade das Phänomen einer ›aufgeführten Innerlichkeit‹, für die das Lied weiterhin einstand, offenbar ein hohes kulturelles Identifikationspotential besaß. Alexander Rehding hat darauf aufmerksam gemacht, daß sich hinter dem oberflächlichen Merkmal des ›Monumentalen‹ als häufig reklamierter aber kaum differenziert explizierter stilistischer Eigenschaft von Musik des 19. Jahrhunderts ein umfassenderes kulturelles Phänomen auffinden läßt: Im Sinne einer bewußten Inszenierung kollektiver Erinnerungsobjekte einer Kultur ist dieser erweiterte Begriff von Monumentalität damit auch in der Lage gerade Groß- und Kleindimensioniertes, privat und öffentlich konnotiertes beziehungsreich miteinander zu vernetzen, wobei Kontexte nationaler Identitätsbildung einen besonders wichtigen Stellenwert

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einnehmen.1 Die Geschichte des ›romantischen Kunstliedes‹ im 19. Jahrhundert aus der Perspektive seiner Wahrnehmung in der Aufführungskultur, wie sie hier an ausgewählten Stationen nachgezeichnet wurde, ließe sich als Beispiel für dieses Phänomen heranziehen: Das Lied ist mit Blick auf den im 19. Jahrhundert geführten gattungsästhetischen Diskurs stilistisch gesehen zwar das absolute Negativum aller denkbaren definitorischen Erfassungen einer ›musikalischen Monumentalität‹, dennoch hatte es mit Blick auf den Wandel seiner Präsentation innerhalb der kulturellen Praxis nicht geringen Anteil an einer ›Monumentalisierung‹ als nationaltypisch begriffener künstlerischer Phänomene. Wenngleich für uns also das ›romantische Kunstlied‹ als tönende Verbindung aus Musik und Dichtung stets ein bedeutsames Moment werkzentrierter Kultur- und Geistesgeschichte des 19. Jahrhunderts bleiben mag, vermag, wie diese Untersuchung zeigen kann, das Einbeziehen erweiternder mentalitäts- und körpergeschichtlicher Perspektiven durchaus, seine Kulturalität neu zu beleuchten. Gerade die sich aus historischer Sicht abzeichnende (und hier auf unterschiedliche Weise kontextualisierte) Idee einer ›aufgeführten Innerlichkeit‹ verweist etwa darauf, wie sehr auch mit Blick auf das Lied nicht nur Künstler und Künstlerinnen, sondern auch das Publikum im Sinne des Performativen Aufführungen durch sich auf kulturelle Verabredungen gründende Interaktionen letztlich aktiv mitgestaltete, was nicht zuletzt Impulse bieten kann, auch in der Gegenwart neue kulturelle Kontexte für eine lebendigem Liedkunst zu entwerfen.

1

Vgl. Alexander Rehding, Music and Monumentality: Commemoration and Wonderment in Nineteenth-Century Germany, Oxford 2009. S. 14f. Rehding bezieht sich hier auf Ansätze von Andreas Huyssen und Pierre Nora.

10 VERZEICHNISSE 10.1 ABKÜRZUNGEN UND SIGLEN AfMw: Archiv für Musikwissenschaft AMZ: Allgemeine musikalische Zeitung [Leipzig] CM: Current Musicology Dok I: Otto Erich Deutsch, Schubert. Die Dokumente seines Lebens, Kassel [u. a.] 1964. Dok II: Franz Schubert: Dokumente 1817‒1830, Bd. 1, hg. von Till Gerrit Waidelich, Tutzing 1993; Kommentarband verf. von Ernst Hilmar, Tutzing 2003. EF: Otto Erich Deutsch, Schubert. Die Erinnerungen seiner Freunde, Wiesbaden 1983. EM: Early Music GJb: Goethe-Jahrbuch JAMS: Journal of the American Musicological Society JMR: Journal of Musicological Research MA: Johann Wolfgang Goethe, Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens, hg. von Karl Richter, München 1995–1998 [Münchner Ausgabe]. Mf: Die Musikforschung MGG2: Die Musik in Geschichte und Gegenwart. Allgemeine Enzyklopädie der Musik, 26 Bde., in zwei Teilen, 2. neubearb. Ausgabe hg. von Ludwig Finscher, Kassel [u. a.] 1994ff. ML: Music & Letters MT: The Musical Times Mth: Zeitschrift für Musiktheorie MQ: The Musical Quarterly N/FfM: Programmnotiz/Teilnachlaß Julius Stockhausen, Universitätsbibliothek Frankfurt a. M. Nk/FfM: Nekrolog/Teilnachlaß Julius Stockhausen, Universitätsbibliothek Frankfurt a. M. 19thCM: Nineteenth Century Music NZfM: Neue Zeitschrift für Musik NGA: Franz Schubert, Neue Ausgabe Sämtlicher Werke, hg. von der internationalen Schubert-Gesellschaft, Kassel [u. a] 1965ff. ÖMz: Österreichische Musikzeitschrift P: Personenteil [MGG2] P/FfM: Programmzettel/Teilnachlass Julius Stockhausen, Universitätsbibliothek Frankfurt a. M. P/GdMf: Programmzettelsammlung Archiv der Gesellschaft der Musikfreunde Wien R/FfM: Rezension/Teilnachlass Julius Stockhausen, Universitätsbibliothek Frankfurt a. M. S: Sachteil [MGG2] SE: Schubert-Enzyklopädie, hg. von Ernst Hilmar/Margret Jestremski, 2 Bde., Tutzing 2004. SHb: Schubert-Handbuch, hg. von Walther Dürr/Andreas Krause, Kassel [u. a.] 1997. SJb: Schubert-Jahrbuch Schubert-Liedertexte: Franz Schubert. Die Texte seiner einstimmig komponierten Lieder und ihre Dichter, hg. von Maximilian und Lilli Schochow, Hildesheim [u. a.] 1974. Schubert-Rezeption 1831‒1865: Ernst Hilmar, Zur Schubert-Rezeption in den Jahren 1831 bis 1865. Eine kommentierte Auflistung der Quellen in der »Wiener Zeitung«, in: Schubert durch die Brille 29 (2002), S. 67‒228. SWVm: Otto Brusatti, Schubert im Wiener Vormärz, Graz 1978.

10.2 Literaturverzeichnis

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10.2 LITERATURVERZEICHNIS 10.2.1 Historische Zeitschriften Allgemeine Musikalische Zeitung, Leipzig 1818ff. Allgemeine Musikalische Zeitung mit besonderer Rücksicht auf den österreichischen Kaiserstaat, Wien 1818 Berlinische Musikalische Zeitung, Berlin 1844ff. [Reprint Hildesheim 1969] Hamburger Fremdenblatt, Hamburg 1864ff. Iris: Vierteljahresschrift für Frauenzimmer, Düsseldorf [Berlin] 1774ff. Neue Berliner Musikzeitung, Berlin 1847ff. Neue freie Presse, Wien 1864ff. Neue Zeitschrift für Musik, Leipzig 1834ff. Münchener Allgemeine Musik-Zeitung, München 1827ff. Schwäbischer Merkur/Schwäbische Kronik, Stuttgart 1785ff. Signale für die musikalische Welt, Leipzig 1843ff. Süddeutsche Musikzeitung, Mainz 1852ff. Wiener Fremden-Blatt, Wien 1847ff.

10.2.2 Archivalien Archiv der Gesellschaft der Musikfreunde Wien: Programmzettelsammlung: Schubert-Feier 25.11.1853 [Schubert-Salon, Seilerstätte 807]; Konzert Julius Stockhausen 26.2.1854 [Saal Gesellschaft der Musikfreunde]; Konzert Julius Stockhausen 23.3.1854 [Saal Gesellschaft der Musikfreunde]; Konzert Julius Stockhausen 22.4.1860 [Saal Gesellschaft der Musikfreunde]; Konzert Julius Stockhausen 10.5.1860 [Saal Gesellschaft der Musikfreunde]; Schubert-Abend Gustav Walter 1.3.1876 [Bösendorfer Saal]; Schubert-Abend Gustav Walter 25.2.1881 [Bösendorfer Saal]. Brahms-Institut Lübeck: Teilnachlaß Julius Stockhausen: div. Notendrucke und handschriftliches Textbuch aus Stockhausens Besitz. Der Bestand befindet sich derzeit noch im Prozeß der Erschließung. Sächsisches Staatsarchiv Leipzig: Briefe Julius Stockhausens an den Verlag C. F. Peters aus den Jahren 1873–1898 [21070 C. F. Peters, Nr. 2142]. Universitätsbibliothek Johann Christian Senckenberg, Frankfurt a. M.: Teilnachlaß Julius Stockhausen: Programmzettelsammlung, Rezensionensammlung, Nekrologsammlung. Da für den Bestand derzeit noch keine durchgehende Inventarisierungsliste vorliegt, mußten die jeweiligen Dokumente im Fußnotenapparat sowie im Abbildungsverzeichnis, soweit möglich, mit Hilfe von Datumsangaben nachgewiesen werden. Zu philologischen Details bezüglich der für die Untersuchung relevanten Programmzettel vgl. die im Anhang beigefügte tabellarische Übersicht zum Schubert-Repertoire Stockhausens.

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10 Verzeichnisse

10.2.3 Weitere Druckschriften Aderhold, Werner (Hg.): Franz Schubert. Jahre der Krise: 1818‒1823, Kassel 1985. Aderhold, Werner: Nah und fern. Von zweifacher Übertragung: Hafiz – Rückert – Schubert, in: Schubert und das Biedermeier, hg. von Michael Kube, Kassel [u. a.] 2002, S. 59‒72. Adorno, Theodor W.: Situation des Liedes (1928), in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 18: Musikalische Schriften 5, Frankfurt a. M. 1984, S. 345‒353. Adorno, Theodor W.: Einleitung in die Musiksoziologie. Zwölf theoretische Vorlesungen, Frankfurt a. M. 1992. Ahrens, Christian: Schuberts »Hirt auf dem Felsen« D 965 – Lied, Arie oder ›Duett‹?, in: Schubert : Perspektiven 5 (2005), S. 162‒182. Ahrens, Christian: Lizsts Transkriptionen – Wegbereiter für die Rezeption von Schuberts Liedern?, in: Schubert : Perspektiven 9 (2009), S. 1‒42. Albrecht, Michael v.: Goethe und das Volkslied, in: Literatur als Brücke. Studien zur Rezeptionsgeschichte und Komparatistik, hg. von dems., Hildesheim 2003, S.263‒326. Ambros, August Wilhelm: Zur Lehre vom Quinten-Verbote, Leipzig [1859]. Andrus, John Clarke: Schubert and his Public. The Songs from 1817 to 1828, Ph. Diss. University of California, Santa Barbara 1974. Anton, Karl: Aus Karl Loewes noch unveröffentlichter Lehre des Balladengesangs. Ein Beitrag zur Psychologie des Vortrags, in: Zeitschrift für Musikwissenschaft, Leipzig 1919/20. Antonicek, Theophil: Biedermeierzeit und Vormärz, in: Musikgeschichte Österreichs, Bd. 2: Vom Barock zur Gegenwart, hg. von Rudolf Flotzinger/Gernot Gruber, Graz 1979, S. 215‒279. Antonicek, Theophil: Schubert und die patriotische Opernbewegung, in: Der vergessene Schubert. Franz Schubert auf der Bühne, hg. von Erich Wolfgang Partsch, Wien 1997, S. 31‒39. Arnim, Ludwig Achim von: Von Volksliedern, in: »Des Knaben Wunderhorn«. Alte deutsche Lieder gesammelt von Achim von Arnim und Clemens Brentano, hg. von Heinz Rölleke, Frankfurt a. M. 2003, S. 395‒432. Arnim, Ludwig Achim von: Werke und Briefwechsel. Historisch-kritische Ausgabe, hg. von Roswitha Burwick [u. a.], Bd. 31, Tübingen 2004. D’Aubigny von Engelbrunner, Nina: Briefe an Natalie über den Gesang. Ein Handbuch für Freunde des Gesanges zur Beförderung der häuslichen Glücksseligkeit, Leipzig 1803, Reprint Frankfurt a. M. 1982. Bacciagaluppi, Claudio: Die Kunst des Präludierens, in: Zwischen schöpferischer Individualität und künstlerischer Selbstverleugnung. Zur musikalischen Aufführungspraxis im 19. Jahrhundert, hg. von dems. [u. a.], Schliengen 2009, S. 169‒188. Bagge, Selmar: Der Streit über Schuberts Müllerlieder, in: AMZ 3 (1868), S. 36‒37. Ballstaedt, Andreas: »... ein neues Poem, welches den Dichter selbst überraschen muß«: Zum Verhältnis von Lyrik und Musik in rezeptionsgeschichtlicher Sicht, in: Musik in Goethes Werk, Goethes Werk in der Musik, hg. von dems., Schliengen 2003, S. 207‒225. Barthes, Roland: Der entgegenkommende und der stumpfe Sinn. Kritische Essays III, aus dem Französischen von Dieter Hornig, Frankfurt a. M. 1990. Bartmann, Dominik (Hg.): Anton von Werner. Geschichte in Bildern [Ausstellungskatalog], München 1993. Bartsch, Hans-Rudolf: Schwammerl. Ein Schubert-Roman, Wien 1912. Batka, Richard/Werner, Heinrich (Hg.): Hugo Wolfs musikalische Kritiken, Leipzig 1911. Bauni, Axel (Hg.): Reclams Liedführer, Stuttgart 62008. Becker, Frank: Bilder von Krieg und Nation. Die Einigungskriege in der bürgerlichen Öffentlichkeit Deutschlands 1864‒1913, München 2001. Becker, Max: Narkotikum und Utopie. Musik-Konzepte in Empfindsamkeit und Romantik, Kassel [u. a.] 1996. Bekker, Paul: Das Lied. Ein kritisches Fragment, in: ders., Klang und Eros, Stuttgart/Berlin 1922, S. 284‒298.

10.2 Literaturverzeichnis

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Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste in einzelnen nach alphabetischer Reihenfolge der Kunstwörter auf einander folgenden Artikeln. Neue vermehrte zweyte Auflage, Leipzig 1792‒1794 [Reprint Hildesheim 1970]. Szábo-Knotik, Cornelia: Musikalische Eliten in Wien um 1900. Praktiken, Prägungen und Repräsentationen, in: Identität, Kultur, Raum. Kulturelle Praktiken und die Ausbildung von Imagined Communities in Nord-Amerika und Zentraleuropa, hg. von Susan Ingram [u. a.], Wien 2001, S. 41‒58. Tadday, Ulrich: Das schöne Unendliche. Ästhetik, Kritik, Geschichte der romantischen Musikanschauung, Stuttgart/Weimar 1999. Tadday, Ulrich: Empfindung und Reflexion. Zur romantischen Musikästhetik, in: Musikästhetik, hg. von Helga de la Motte-Haber, S. 201‒219. Tassel, Eric van: »Something utterly new«. Listening to Schubert Lieder, in: EM 25/4 (1997), S. 703‒ 714. Telesko, Werner: Franz Schubert in der bildenden Kunst. Grundzüge der ikonographischen Entwicklung zwischen Geniekult und nationaler Veeinnahmung, in: Schubert und die Nachwelt, hg. von Michael Kube, München 2007, S. 77‒98. Tenhaef, Peter: Studien zur Vortragsbezeichnung in der Musik des 19. Jahrhunderts, Kassel [u. a.] 1983. Tenhaef, Peter: Johann Peter Abraham Schulz und die Simplizitätsideale des Liedes, in: Lied und Liedidee im Ostseeraum zwischen 1750 und 1900, hg. von Ekkehard Ochs, Greifswald 1998, S. 31‒42. Timberlake, Craig: Julius Stockhausen and his Method of Singing, in: The NATS Journal, hg. von der National Association of Teachers of Singing (U.S.), 46 (1989/90), S. 25‒27. Tischer, Matthias: Gefühlsästhetik und Konzepte der Vergeistigung, in: Aufbrüche, Fluchtwege. Musik in Weimar um 1800, hg. von Helen Geyer, Köln [u. a.] 2003, S. 39‒50. Tischer, Matthias: Musikalische Bildung – Aspekte einer Idee im deutschsprachigen Raum um 1800, in: Musical Education in Europe (1770‒1914). Compositional, Institutional and Political Challenges, hg. von Michael Fend, Bd. 2, S. 375‒398. Tobler, Alfred: Das Einfache im Kunstgesang, in: Schweizerische Musikzeitung und Sängerblatt 27/1 (1887), S. 1‒2. Torra-Mattenklott, Caroline: Methaporologie der Rührung. Ästhetische Theorie und Mechanik im 18. Jahrhundert, München 2002. Tosi, Peter Franz [Pier Francesco]: Anleitung zur Singekunst. Aus dem Italiänischen [...] mit Erläuterungen und Zusätzen von Johann Friedrich Agricola, Berlin 1757. Trepp, Ann Charlott: Sanfte Männlichkeit und selbständige Weiblichkeit. Frauen und Männer im Hamburger Bürgertum zwischen 1770 und 1840, Göttingen 1996. Trepp, Ann Charlott: Emotion und bürgerliche Sinnstiftung oder die Metaphysik des Gefühls. Liebe am Beginn des bürgerlichen Zeitalters, in: Der bürgerliche Wertehimmel. Kulturelle Praktiken des 19. Jahrhunderts, hg. von Manfred Hettling/Stefan-Ludwig Hoffmann, Göttingen 2000, S. 23‒55. Tröndle, Martin: Von der Ausführungs- zur Aufführungskultur, in: Das Konzert: neue Aufführungskonzepte für eine klassische Form, hg. von dems./Beatrix Borchard, Bielefeld 2009, S. 21‒41. Tütken, Johannes: Privatdozenten im Schatten der Georgia Augusta. Zur älteren Privatdozentur (1734 bis 1831). Teil 2: Biographische Materialien zu den Privatdozenten des Sommersemesters 1812, Göttingen 2005. Tunbridge, Laura: The Song Cycle, Cambridge 2010. Ueding, Gert: Klassik und Romantik. Deutsche Literatur im Zeitalter der französischen Revolution 1789‒1815, München 1988. Vaget, Hans Rudolf: Seelenzauber. Thomas Mann und die Musik, Frankfurt a. M. 2006. Valk, Thorsten: Vom Hochzeitlslied zum Höllenbrand. Mörikes Novelle »Mozart auf der Reise nach Prag« im Interferenzbereich zwischen biedermeierlicher Musikkultur und romantischer Musikästhetik, in: Zeitschrift für deutsche Philologie 125/4 (2006), S. 536‒560.

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10.3 NOTENAUGABEN Bettine von Arnim: Lieder und Duette für Singstimme und Klavier. Handschriften, Drucke, Bearbeitungen, hg. von Renate Moehring, Kassel 1995. Friedrich Burchard von Beneken: Lieder und Gesänge für fühlende Seelen, Hannover 1787. Johann Peter Abraham Schulz: Lieder im Volkston, hg. von Walter Dürr/Stefanie Steiner, München 2006.

10.4 Abbildungen

403

Johann Friedrich Reichardt: Goethes Lieder, Oden, Balladen und Romanzen mit Musik, hg. von Walter Salmen, München 1970. Franz Schubert: Die schöne Müllerin. Ein Cyclus von Liedern, gedichtet von Wilhelm Müller, für eine Singstimme mit Pianoforte-Begleitung, Wien [1824]. Franz Schubert: Die schöne Müllerin. Faksimile der bei Anton Diabelli & Co. erschienenen Ausgabe von 1830, hg. von Walther Dürr, Kassel [u. a.] 1996. Franz Schubert: Die schöne Müllerin. Ein Cyclus von Liedern, gedichtet von Wilhelm Müller, französische Übersetzung von Bélanger, mit Begleitung des Pianoforte und dem Herrn Carl Freiherr von Schönstein gewidmet von Franz Schubert. Op. 25. Für Bariton oder Alt wie selbe von Julius Stockhausen gesungen werden. Einzig rechtmäßige Ausgabe, Wien [1860]. Franz Schubert: Die schöne Müllerin. Ein Cyclus von Liedern, gedichtet von Wilhem Müller, französische Übersetzung von Bélanger, mit Begleitung des Pianoforte von Franz Schubert. Op. 25. Für Bariton oder Alt wie selbe von Herrn Julius Stockhausen gesungen werden. Einzig rechtmässige Ausgabe. Wien [ca. 1863/64]. Digitalisat: Bayerische Staatsbibliothek, Mus.pr. 11428, urn:nbn:de:bvb:12-bsb00041499-6. Franz Schubert: Die schöne Müllerin. Ein Cyclus von Liedern. Gedichte von W. Müller. Für eine Singstimme mit Begleitung des Pianoforte, op. 25. Neue, einzig rechtmäßige Ausgabe. Nach der ersten Auflage von Herrn Hofcapellmeister J. B. Randhartinger revidirt, Wien 1864. Digitalisat: Bayerische Staatsbibliothek 4 Mus.pr. 66109, urn:nbn:de:bvb:12-bsb00041504-6. Franz Schubert: Die schöne Müllerin. Ein Cyclus von Liedern. Gedichte von Wilhelm Müller. Für eine Singstimme mit Begleitung des Pianoforte in Musik gesetzt und Herrn Carl Freiherrn von Schönstein gewidmet von Franz Schubert. Op. 25. Neue Ausgabe. Revidirt von Julius Rietz, Leipzig [ca. 1867]. Digitalisat: Bayerische Staatsbibliothek 4 Mus.pr. 766-3, urn:nbn:de: bvb:12-bsb00041500-5. Franz Schubert: Die schöne Müllerin. Lieder-Cyclus. Gedichte von Wilhelm Müller. Original-Zeichnungen v. [A.] Baumann und [R.] Schuster. Holzschnitt von R. Brend’amour, Düsseldorf. Einleitung, Anmerkungen und Textrevision von Max Friedlaender, Stuttgart/Leipzig 1880. Franz Schubert: Sammlung der Lieder für eine Singstimme mit Pianofortebegleitung von Franz Schubert (= Schubert-Album). Kritisch revidiert von Max Friedlaender, 7 Bde., Leipzig 1884ff. Franz Schubert: Neue Ausgabe sämtlicher Werke, hg. von der Internationalen Schubert-Gesellschaft (Editionsleitung: Walther Dürr), Serie 4: Lieder (14 Bde.), Kassel [u. a.] 1970‒1988.

10.4 ABBILDUNGEN Abbildung 1: Goethe als antiker ›Dichter-Sänger‹. Zeichnung von C. Eberhard (1828), in: Goethes Gedichte. Mit 93 Abbildungen nach zeitgenössischen Vorlagen und einem erläuternden Nachwort von Karl Hoppe. Ausgewählt und textlich nachgeprüft von Max Hecker, Bd. 2, Leipzig [o. J.], S. 207. Abbildung 2: Daniel Chodowiecki, Le Chant. Radierung, erschienen in: Almanac généalogique pour l’an 1781, Berlin 1781, in: Musikalische Lyrik, Bd. 1: Von der Antike bis zum 18. Jahrhundert, hg. von Herman Danuser, Laaber 2004, S. 366. Abbildung 3: Corona Schröter, Der Erlkönig, aus: Fünf und zwanzig Lieder, Weimar 1786, Reprint Leipzig 1907, S. 24. Abbildung 4: Programmzettel zum Konzert des Geigers Leopold Jansa im Wiener Landständischen Saal am 22. 4. 1827, in: Franz Schubert. Dokumente 1817–1830, Bd. 1: Programme, Rezensionen, Anzeigen, Nekrologe und andere gedruckte Quellen, hg. von Till Geritt Waidelich, Tutzing 1993, Nr. 482. Abbildung 5: Ein Schubert’sches Lied. Detail aus: Satyrisches Bild Nr. 59: Guckkasten-Bilder bei heiterer Beleuchtung. Beilage zur Wiener Theaterzeitung 1846, © Wien Museum, Wien. Abbildung 6: August Wilhelm Ambros, Zur Lehre vom Quinten-Verbote, Leipzig 1859, S. 21 [Ausschnitt].

404

10 Verzeichnisse

Abbildung 7: Ludwig Richter, Titelblatt zu: Heinrich Wilhelm Riehl, Hausmusik. Fünfzig Lieder deutscher Dichter. In Musik gesetzt von W. H. Riehl, Stuttgart 1855. Digitalisat: Bayerische Staatsbibliothek 1973416 2 Mus.pr. 327, Bl. 7, urn:nbn:de:bvb:12-bsb11131475-2. Abbildung 8: Moritz von Schwind, Ein Schubertabend bei Ritter von Spaun [Sepiazeichnung 1868, Historisches Museum der Stadt Wien], in: Michael Kohlhäufl, Poetisches Vaterland. Dichtung und politisches Denken im Freundeskreis Franz Schuberts, Kassel [u. a] 1999. Abbildung 9: Anton von Werner, Im Etappenquartier vor Paris, Öl auf Leinwand 1894, nach einer Skizze von 1870, © Staatliche Museen zu Berlin/Fotograf: Jörg P. Anders. Abbildung 10: Julius Stockhausen [Fotografie Mannheim 1852/53], in: Julia Wirth, Julius Stockhausen. Der Sänger des deutschen Liedes, Frankfurt a. M. 1927, S. 176f. Abbildung 11: Programmzettel aus dem Teilnachlaß Julius Stockhausen [Mannheim, 25.8.1856], Universitätsbibliothek Johann Christoph Senckenberg, Frankfurt a. M. Abbildung 12: Programmzettel aus dem Teilnachlaß Julius Stockhausen [Köln, 28.10.1862], Universitätsbibliothek Johann Christoph Senckenberg, Frankfurt a. M. Abbildung 13: Programmzettel aus dem Teilnachlaß Julius Stockhausen [Guebwiller, 15.10.1862], Universitätsbibliothek Johann Christoph Senckenberg, Frankfurt a. M. Abbildung 14: Programmzettel aus dem Teilnachlaß Julius Stockhausen [Barmen 4.11.1862], Universitätsbibliothek Johann Christoph Senckenberg, Frankfurt a. M. Abbildung 15: Titelblatt zu: Franz Schubert, Die schöne Müllerin. Lieder-Cyclus. Gedichte von Wilhelm Müller. Original-Zeichnungen v. [A.] Baumann und [R.] Schuster. Holzschnitt von R. Brend’amour, Düsseldorf. Einleitung, Anmerkungen und Textrevision von Max Friedlaender, Stuttgart/Leipzig 1880. Abbildung 16: Programmzettel aus dem Teilnachlaß Julius Stockhausen [Hamburg, 31.3.1864], Universitätsbibliothek Johann Christoph Senckenberg, Frankfurt a. M. Abbildung 17: Hofmeisters Handbuch der musikalischen Literatur, Bd. 6, Leipzig 1868, S. 513 [Ausschnitt]. Abbildung 18: Julius Hey, Deutscher Gesangs-Unterricht, Mainz [1882‒1886], Bd. 2: Gesanglicher Theil [Frauenstimmen], S. 64 [Ausschnitt]. Abbildung 19: Programmzettel aus dem Teilnachlaß Julius Stockhausen [Hamburg, 28.3.1862], Universitätsbibliothek Johann Christoph Senckenberg, Frankfurt a. M. Abbildung 20: Wiener Fremden-Blatt, 6.4.1870, S. 4f. [Ausschnitt]. Abbildung 21: Bösendorfer Saal/Wien [Fotografie, abgedruckt im Programmheft der Abschiedkonzertreihe 1913], in: Christina Meglitsch, Wiens vergessene Konzertsäle. Der Mythos der Säle Bösendorfer, Ehrbar und Streicher, Frankfurt a. M. 2005, S. 217. Abbildung 22: Jugend-Konzert in der Berliner Philharmonie, in: Heinrich W. Schwab, Konzert: öffentliche Musikdarbietung vom 17. bis 19. Jahrhundert, Leipzig 1971, S. 179. Abbildung 23: Programmzettel Wiener Musikverein/Großer Saal 25.2.1911, in: Dokumente des Musiklebens, hg. vom Archiv des Instituts für Musikgeschichte der Universität für Musik und Darstellende Kunst Wien, Heft 7 (September 1999), S. 36, URL: http://www.musikgeschichte.at/materialien/bestände-des-institutsarchives-regesten [21.1. 2013]. Abbildung 24: Eugen Spiro: Schubert-Lieder (Lithographie), in: Oscar Bie, Im Konzert, Berlin [1920], S. 12. Abbildung 25: Eugen Spiro: Brahms-Lieder (Lithographie), in: Oscar Bie, Im Konzert, Berlin [1920], S. 13.

11 ANHANG: JULIUS STOCKHAUSENS SCHUBERTAUFFÜHRUNGEN Abkürzungen Blätter/Wien: Blätter für Theater, Musik und Kunst, zitiert nach: Beatrix Borchard, Stimme und Geige, Wien [u. a.] 2005, S. 333, Anm. 199. BW: Briefwechsel Brahms/Stockhausen, hg. von Renate Hofmann, Tutzing 1993. N/FfM: Notiz [hand- bzw. maschinenschriftlich] aus dem Teilnachlaß Julius Stockhausen, Universitätsbibliothek Johann Christian Senckenberg, Frankfurt a. M. OF: Orchesterfassung. P/CS: Programmzettelsammlung Clara Schumann, Schumann-Haus Zwickau. P/FfM: Programmzettel aus dem Teilnachlaß Julius Stockhausen, Universitätsbibliothek Johann Christian Senckenberg, Frankfurt a. M. P/GdMF: Archiv der Gesellschaft der Musikfreunde Wien, Programmzettelsammlung. P/JB: Angaben zu Aufführungen nach: Kurt Hofmann/Renate Hofmann, Johannes Brahms als Dirigent und Pianist. Chronologie seines Wirkens als Interpret, Tutzing 2006. TB/St: Handschriftl. Textbuch aus dem Besitz Julius Stockhausens [Brahms-Institut Lübeck]. W: Angaben zu Aufführungen nach: Julia Wirth, Julius Stockhausen. Der Sänger des deutschen Liedes, Frankfurt a. M. 1927.

Kommentare 1.

Die hier gewählte Reihenfolge der Lieder gibt ‒ mit Blick auf das jeweils früheste Aufführungsdatum ‒ chronologisch deren Eingehen in Stockhausens (nach den eingesehenen Quellen dokumentiertes) aufgeführtes Schubert-Repertoire wieder.

2.

Für jedes Lied lässt sich die anhand der eingearbeiteten Quellen nachweisbare Aufführungsfrequenz über den gesamten Zeitraum von Stockhausens öffentlicher Konzerttätigkeit verfolgen.

3.

Hinsichtlich der großen Zyklen Die schöne Müllerin und Winterreise wird zwischen Teilund Gesamtaufführungen unterschieden.

4.

Die Verweise beziehen sich i. d. R. auf die jeweilige Quellensammlung; selten wird auf indirekte Angaben in Rezension oder Briefen Bezug genommen.

5.

Einzelne, nicht detaillierter beschreibbare Liedaufführungen, konnten nicht in die Dokumentation aufgenommen werden.

406

11 Anhang: Julius Stochausens Schubert-Aufführungen

TITEL

JAHR

DATUM / ORT / SAAL

NACHWEIS

Erster Verlust D 226

1843

Paris {Studium }

W (S. 48)

Die schöne Müllerin

a) Auswahl bzw. einzelne Lieder:

D 795

1849

4.12. / Zürich / Großer CasinoSaal

P/FfM

1854

[Frühjahr] / [Wien] / [Saal Gesellschaft der Musikfreunde]

P/FfM

26.2. / Wien / Saal Gesellschaft der Musikfreunde

P/GdMf

23.3. / Wien / Saal Gesellschaft der Musikfreunde

P/GdMf

1855

Basel / 9.12. / [k. A.]

N/FfM

1856

27.5. / Köln / Gelber Saal des Casino

P/FfM; P/JB

29.5. / Bonn / Saal der Lesegesellschaft

P/JB

1859

10. 3 / Leipzig / Gewandhaus

N/FfM

1860

21.5. / Düsseldorf / [k. A.] {Niederrheinisches Musikfest}

N/FfM {Stockhausen krank gemeldet}

1861

4.3. / Guebwiller / [Salle des Dominicains?]

P/FfM

1862

23.4. / Paris / Salons Erard

P/CS

1863

18.6. / Colmar / Foyer du Théâtre

P/FfM

1867

22.10. / Lübeck / [k. A.]

P/CS

16.11. / Rostock / [ k. A. ]

TB/St

5.12. / Köthen / Saal d. Prinzen von Preußen

P/CS

17.3. / Kopenhagen / Kl. CasinoSaal

P/JB

24.11. / [München] / Saal der königlichen Musikschule

P/FfM

19.3. / Budapest / Kl. Redoutensaal

P/JB

24.4. / Wien / Kl. Redoutensaal

P/JB

1.2. / London / Saint James’s Hall

P/CS

6.2. / London / [k. A.]; {Saturday Popular Concerts}

P/CS

1873

8.3. / [Berlin] / Saal der Singakademie

P/FfM

[1880]

29.10. / Freiburg i. Brsg. / Stadttheater

P/FfM

[1868]

1869

1871

11 Anhang: Julius Stockhausens Schubert-Aufführungen

1889 Die schöne Müllerin

P/FfM

b) Gesamtaufführungen: 1856

[4.5.] / Wien / Saal Gesellschaft der Musikfreunde

W (S. 162f.)

1859

[17.4.] / Hannover / [Hofkonzert]

W (S. 192)

1860

10.5 / Wien / Saal Gesellschaft der Musikfreunde

P/GdMf

[Sept.] / Frankfurt / Großer Concertsaal

N/FfM {abgebrochen wegen Heiserkeit}

1861

[Mai] / Hamburg / [k. A.]

W (S. 213) {›Volkskonzert‹}

1862

24.3. / Leipzig / Gewandhaus

N/FfM

25.3. / Wien / [k. A.]

Blätter/Wien 8/27, S. 108 {halböffentl. Soirée}

15.10. / [Guebwiller] / Salle des Dominicains

P/FfM

28.10 / [Köln] / [Gürzenich]

P/FfM {›Volkskonzert‹}

[1862]

[4.11.] / [Barmen] / [k. A.]

P/FfM {fehlt bei CS!}

1863

25.4./ Oldenburg / [k. A.]

W (S. 243)

[1863]

[28.4.] / [Hamburg] / [Wörmer’scher Concert-Saal]

P/FfM

[1864]

6.5. / [Hamburg] / [Wörmer’scher Concert-Saal]

P/FfM

1866

[k. A.] / St. Petersburg / [k. A.]

W (S. 293) {gemeinsam mit A. Rubinstein}

1873

6.12. / Stuttgart / Liederhalle

N/FfM {gem. mit Helene Magnus, Sophie Löwe}

1886

14.3. /Frankfurt/ Saal der Loge Carl {Schülerkonzert}

N/FfM

1890

2.11. / Frankfurt / Saalbau {Schülerkonzert}

P/FfM

1854

23.3. / Wien / Saal Gesellschaft der Musikfreunde

P/GdMf

1855

2.12. / Basel / [k.A.]

N/FfM

1856

1.2. / Frankfurt / Museum

N/FfM

[14.3.] / Weimar / [Hofkonzert]

W (S. 281) {gemeinsam Liszt}

2.6. / London / Hanover Square Rooms

P/CS

D 795

An die Leier D 737

28.12. / [Berlin] / Saal der Singakademie

407

1859

408

11 Anhang: Julius Stochausens Schubert-Aufführungen

19.3. / Hannover / [k. A.]

N/FfM

21.1. / Köln / [k. A.]

P/FfM; P/CS

23.10. / [Aachen] / Bernarts’scher Saal

P/FfM

21.11. / [Hamburg] / Wörmer’scher Saal

P/FfM

1865

7.1. / Berlin / Saal der Singakademie

P/CS

1869

24.1. / Arnheim / [ k. A. ]

TB/St

1871

28.2. / [London] / Regent’s Park

P/FfM

1872

19.10. / Stuttgart / Liederhalle

P/CS

1854

23.3. / Wien / Gesellschaft der Musikfreunde

P/GdMf

1860

26.1. / Leipzig / Gewandhaus

N/FfM

1867

10.11. / Kiel / [Räume der Harmonie]

TB/St {Konzert mit Clara Schumann, Lied nicht vermerkt auf Programmzettel

1854

[k. A.] / Wien / [k. A.]

W (S. 495)

1856

6.1. / Basel / [k. A.]

N/FfM

1860

26.1. / Leipzig / Gewandhaus

N/FfM

1854

[Frühjahr] / Wien / [privat]

W (S. 135f.)

1856

6.1. / Basel / [k. A.]

N/FfM

1858

20.2. / Paris / Salle Pleyel

N/FfM

1860

22.4. / Wien / Gesellschaft der Musikfreunde

P/GdMf

1867

18.10 / Hamburg / Wörmer’scher Concert-Saal

P/FfM; P/CS

1856

28.1. / Heidelberg / Großer Saal des Museums

P/FfM

18.2. / Frankfurt / Saal des Hof von Holland

N/FfM

3.3. / [Frankfurt] / Saal des Hof von Holland

P/FfM

[14.3.] / Weimar / [Hofkonzert]

W (S. 281) {gemeinsam mit Liszt}

14.4. / Leipzig / Gewandhaus

W (S. 160)

28.3. / Hamburg / Wörmer’scher Concert-Saal

P/JB

2.4 / Hannover / [k. A.]

N/FfM

11.4. / Celle / [k. A.]

P/FfM

7.5. / London / Queen’s Concert Rooms

P/CS

1862

Liebesbotschaft D 957

Die Taubenpost D 957

Der Zwerg D 771

Erlkönig D 328

1859

11 Anhang: Julius Stockhausens Schubert-Aufführungen

Frühlingsglaube D 686

Der Wanderer D 493

Der Doppelgänger

1861

7.3. / Frankfurt a. M. / Saal der Harmonie

N/FfM

[1862]

[29. 9.] / Guebwiller / Salle des Dominicains

P/FfM; P/CS

1863

11.1. / Colmar / Grande Salle de l’Hôtel des Deux Clefs

P/FfM

26.3. / [Altona] / [k. A.]

P/FfM / W (S. 242)

1864

4.12. / Hamburg / [k. A. ]

P/CS

1868

21.3. / Kopenhagen / Kleiner Casino-Saal

P/JB

4.5. / [Genf] / Grande Salle du Conservatoire

P/FfM

1856

27.4. / Wien / Saal Gesellschaft der Musikfreunde

P/FfM

1859

24.3. / Hamburg / Wörmer’scher Concert-Saal

N/FfM

28.3. / Hamburg / Wörmer’scher Concert-Saal

N/FfM

11.4. / Celle / [k. A.]

P/FfM

7.5. / London / Queen’s Concert Rooms

P/CS

19.5. / Manchester / Concert Hall

P/CS

1860

6.8. / Bad Kreuznach / Kursaal

P/CS

1863

24.3. / Bremen / [k. A.]

P/FfM

1859

21.5. / London / Hanover Square Rooms

P/CS

1860

9.2. / Leipzig / Gewandhaus

N/FfM

1862

6.11. / Düsseldorf / Geisler’scher Saal

P/FfM

13.11. / Frankfurt a.M. / Großer Concert-saal

P/FfM {OF F. Hiller}

[1862]

28.12. / [Colmar] / Grande Salle de l’Hôtel des Deux Clefs

P/FfM

1872

16.10. / Stuttgart / Liederhalle

P/CS

[1872]

13.11. / Elberfeld / Casino

P/FfM

1872

19.11. / Bremen / [k. A.]

P/FfM {OF!}

1873

15.11. / München / Museum

P/FfM

1860

8.1. / Basel / [k. A.]

N/FfM {Konzert mit T. Kirchner}

1861

17.2. / [k. A.] / [k. A.]

N/FfM, {Konzert mit T. Kirchner}

4.3. / [Guebwiller] / [k. A.]

P/FfM {mit Harfenbegl.}

D 957

Nachtstück

409

D 672

410

11 Anhang: Julius Stochausens Schubert-Aufführungen

1868

15.11. / Hamburg / Convent-Garten

P/JB

18.12. / Karlsruhe / [ k. A. ]

TB/St

15.3. / Budapest / Kleiner Redoutensaal

P/JB

8.1. / Hamburg / Convent-Garten

P/FfM

23.2. / Graz / Rittersaal

N/FfM

29.3. / Wien / Kleiner Redoutensaal

P/JB

1870

21.2. / London / [k. A. ]

P/CS {Monday Popular Concerts}

1871

6.2. - London - [k. A.] {Saturday Popular Concerts}

P/CS

1872

[12.12.] / Berlin / Saal der Singakademie

P/FfM

1873

15.1. / Strasbourg / [k. A.]

N/FfM

1860

27.1. / Leipzig / Gewandhaus

N/FfM

1861

2.2. / [ k. A ] / [k. A.]

N/FfM {Konzert mit T. Kirchner}

16.4. / Hamburg / [Wörmer’scher Concert-Saal]

N/FfM

[1862]

21.1. / [Köln] / [k. A.]

P/FfM; P/CS

1862

1.2. / [Bern] / Casino

P/FfM

13.2. / Colmar / [k. A.]

P/FfM; P/CS

4.10. / Mulhouse / Salle de la Bourse

P/FfM; P/CS

6.11. / Düsseldorf / Geisler’scher Saal

P/FfM

1867

10.11. / Kiel / Räume der Harmonie

P/CS

1873

8.2. / Cannstadt / Saal des Wilhelmsbades

P/FfM

1862

1.4. / Bremen / [k. A.]

P/FfM

1865

18.3. / Schwerin / Saal des Großherzoglichen Schauspielhauses

N/FfM

[1866]

12.10. / [Hamburg] / ConventGarten

P/FfM

1873

28.2. / Berlin / Saal der Singakademie

P/FfM

1862

18.11. / Bremen / [k. A.]

P/FfM

1863

7.2. / Hannover / [ k. A. ]

BW, S. 35

8.4. / Oldenburg / Großer CasinoSaal

P/FfM {OF Brahms?}

14.2. / Hamburg / [Convent-Garten?]

N/FfM{OF Brahms}

1869

Aufenthalt D 957

Kriegers Ahnung D 957

Geheimes D 719

1868

11 Anhang: Julius Stockhausens Schubert-Aufführungen

Greisengesang D 778

28.1. / Breslau / [k. A.]

P/FfM {OF Brahms}

1869

23.11 / Bremen / [k. A.]

N/FfM {OF Brahms}

1870

18.1. / Liverpool / [k. A.]

P/FfM {OF Brahms}

1872

9.3. / London / Crystal Palace

N/FfM {OF Brahms}

[1872]

2.7. / [Zürich] / Tonhalle

P/FfM {OF Brahms}

1873

14.3. / [Hamburg] / Convent-Garten

P/FfM {OF Brahms}

1862

1.2. / [Bern] / Casino

P/FfM

[1862]

13.2 / Colmar / [k. A.]

P/FfM; P/CS

1862

8.3. / Krefeld / [k. A.]

P/FfM

18.11. / Bremen / [k. A.]

P/FfM

1863

7.2. / Hannover / [ k. a. ]

BW, S. 35

1867

11.10. / Hamburg / [Wörmer’scher Saal]

N/FfM {OF Brahms}

12.12. / Düsseldorf / Tonhalle

P/FfM

1868

28.1. / Breslau / [k. A.]

P/FfM {OF Brahms }

1869

10.10. / Baden-Baden / [ k. A. ]

TB/St

23.11. / Bremen / [k. A.]

N/FfM {OF Brahms}

9.3. / London / Crystal Palace

N/FfM {OF Brahms}

2.7. / Zürich / Tonhalle

P/FfM {OF Brahms}

1873

14.3. / [Hamburg] / Convent-Garten

P/FfM {OF Brahms}

[1877]

29.6. / Wiesbaden / Kurhaus

P/FfM

1862

21.10 / [Köln] / Gürzenich

P/FfM

23.10. / [Aachen] / Bernarts’scher Saal

P/FfM

18.11 / Bremen / [k. A.]

P/FfM

21.11. / [Hamburg] / Wörmer’scher Saal

P/FfM

1864

28.4. / [Berlin] / Königliches Palais

P/FfM

1872

19.10 / Stuttgart / Liederhalle

P/CS

[1872]

2.12. / [Hamburg] / Convent-Garten

P/FfM

London {Studium}

W (S. 120)

1872

Willkommen und Abschied D 767

Winterreise D 911

411

Auswahl: 1851

412

11 Anhang: Julius Stochausens Schubert-Aufführungen

1862

27.11. / [Hamburg] / Wörmer’scher Saal

P/FfM; P/CS

1866

28.4. / [Hamburg] / [Wörmer’scher Saal]

P/FfM

1867

12.10 / Kiel / [k. A.]

N/FfM

25.10. / Hamburg / Wörmer’scher Saal

P/CS

1868

4.5. / [Genf] / Salle du Conservatoire

P/FfM

1869

26.2. / Graz / Rittersaal

N/FfM

1871

27.4. / London / [ k. A. ]

TB/St

[1872]

13.11. / Elberfeld / Casino

P/FfM

1873

8.3. / [Berlin] / Saal der Singakademie

P/FfM

1886

29.11. / Frankfurt a.M. / Saalbau

P/FfM {Schülerkonzert}

Gesamtaufführungen: [1864]

31.3. / [Hamburg] / [Wörmer’scher Saal]

P/FfM

1887

2.1. Frankfurt a.M. / Saal der Loge Carl

P/FfM {Schülerkonzert}

1860

[24.2.] / Hannover / [Hofkonzert]

W (S. 200f.)

1863

14.12. / Dresden / Hôtel de Saxe

P/FfM

1865

7.1. / Berlin / Saal der Singakademie

P/CS

1868

[2.3.] / Berlin / [k. A.]

W (S. 307)

5.3. / Dresden / Hôtel de Saxe

P/CS

1873

7.11. / Stuttgart / Liederhalle

N/FfM

1874

11.2. / Kiel / Saal der Harmonie

N/FfM

[1874]

21.2. / Berlin / Saal der Singakademie

P/FfM

1874

23.2. / Leipzig / Gewandhaus

N/Ff

1865

18.3. / Schwerin / Saal des Großherzoglichen Schauspielhauses

N/FfM

1867

10.11. / Kiel / Räume der Harmonie

P/CS; TB/St

Das Fischermädchen D 957

[1866]

12.10. / [Hamburg] / ConventGarten

P/FfM

Abschied

[1866]

12.10 / [Hamburg] / Convent-Garten

P/FfM

1866

[k. A.] / Hamburg / [k. A.]

W (S. 496)

WaldesNacht D 708

Ständchen D 957 oder D 889

D 957

Der Tod Oscars D 375

11 Anhang: Julius Stockhausens Schubert-Aufführungen

413

Widerschein D 949

1867

5.4. / Hamburg / [Convent-Garten]

N/FfM

An Schwager Kronos

1867

11.10. / Hamburg / [ConventGarten]

N/FfM {OF Brahms}

1867

12.11. / Hamburg / Convent-Garten

P/CS {P vermerkt: Auf der Brücke}

1867

12.12. / Düsseldorf / Tonhalle

P/FfM

1870

Mai / London / [ k. A. ]

TB/St

1863

20.2. / Hamburg / [ k. A. ]

BW, S. 35

1868

14.2. / Hamburg / [ k. A. ]

N/FfM {OF Brahms}

1868

11.5. / [Genf] / Temple de Saint Pierre

P/FfM

1874

8.6. / Basel / Martinskirche

P/JB

1883

11.5. / Basel / Münster

P/FfM

1868

18.12. / Karlsruhe / [k. A.]

W (S. 496); TB/St

1868

15.11. / Hamburg / Convent-Garten

P/JB

1869

8.1. / [Hamburg] / Convent-Garten

P/FfM

2.3. / Wien / Kleiner Redoutensaal

P/JB

1869

8.2. / Karlsruhe / [k. A.]

W (S. 496); TB/St

1872

7.11. / Düsseldorf / Tonhalle

P/CS

[11.11.] / Münster Westf. / [k. A.]

W (S. 364f.)

[1872]

13.11. / Elberfeld / Casino

P/FfM; W (S. 365) {nicht angekündigt}

1872

18.11. / Oldenburg / Palais

N/FfM

7.11. / Düsseldorf / Tonhalle

P/CS

[k. A.] / Düsseldorf [k. A.]

W (S. 496)

1873

10.10. / Cannstadt / [k. A.]

W (S. 496); TB/St

1874

18.2. / [Hamburg] / Convent-Garten

P/FfM

25.1. / Cannstadt/ [ k. A. ]

TB/St

3.2. / Bremen / [ k. A.]

N/FfM

15.2. / [Berlin] / Saal der Singakademie

P/FfM

D 369

Auf der Bruck D 853

Dithyrambe D 801

Memnon D 541

Litanei D 343

Der zürnenden Diana D 707

Der Sänger D 149

Der Musensohn D 764

Der Schiffer D 536 oder D 694

Auf dem See D 543 Der Tod und das Mädchen D 531

Lachen und Weinen D 777

Schäfers Klagelied D 121

414

Meeres Stille D 216

11 Anhang: Julius Stochausens Schubert-Aufführungen

1874

Rastlose Liebe D 138 Der Kreuzzug D 932

1883

15.2. / [Berlin] / Saal der Singakademie

P/FfM

18.2. / [Hamburg] / Convent-Garten

P/FfM

3.2. / Bremen / [ k. A. ]

TB/St

15.2. /[Berlin] / Saal der Singakademie

P/FfM

18.2. / [Hamburg] / Convent-Garten

P/FfM

25.5. / Frankfurt / Deutsch-evang.reform. Kirche

N/FfM

DANK »Schreiben Sie doch ein Buch über Schubert...« – nimmt man Georg Kreislers hinreichend prominente sarkastische Aufforderung beim Wort, so dürfte dies hinsichtlich der Themenfindung für ein Promotionsvorhaben auf Seiten der Musikwissenschaft vor allem für das Aufleuchten zahlreicher roter Alarmleuchten sorgen. Die vorliegende Arbeit, die im Dezember 2013 an der Staatlichen Hochschule für Musik Freiburg im Breisgau als Dissertation angenommen wurde und hier in geringfügig überarbeiteter Form erscheint, hat sich aus einer spezifischen Perspektive diesen Herausforderungen gestellt, und etliche Menschen haben dazu beigetragen, daß das Projekt trotz immer wieder auftretender Orientierungs- und Findungsphasen auch zum Abschluß gebracht werden konnte. Dafür möchte ich mich an dieser Stelle bedanken. Mein allerherzlichster Dank gilt Prof. Dr. Janina Klassen: Sie betreute die Arbeit von ihren ersten, skizzenhaften Umrissen bis zur Endfassung mit großem Engagement, ermutigte mich von Anfang an dazu, sowohl auf inhaltlicher als auch methodischer Ebene meinen eigenen Weg zu suchen und leistete mir in ungezählten Stunden gemeinsamer Gespräche und Reflexionen wertvolle und nachhaltige Hilfe dabei, ihn auch zu finden. Sehr herzlich danke ich zudem Prof. Dr. Marion Saxer und Prof. Dr. HansJoachim Hinrichsen, die als weitere Gutachter hinzutraten und mir mit konstruktiven und gleichfalls ermutigenden Anmerkungen wichtige Impulse für die Anfertigung der Druckfassung gaben. Hans-Joachim Hinrichsen ermöglichte es mir überdies, die Arbeit in der Studienreihe der Schubert : Perspektiven publizieren zu können, und die VG WORT GmbH gewährte hierfür einen großzügigen Druckkostenzuschuß – auch dafür sei hier nochmals mein herzlichster Dank ausgesprochen. Für Unterstützung und Hilfe bei unterschiedlichsten Recherchearbeiten, vor allem in Bezug auf Julius Stockhausen, danke ich Dr. Ann Kersting-Meuleman (Universitätsbibliothek Johann Christian Senckenberg Frankfurt am Main), Dr. Thekla Kluttig (Sächsisches Staatsarchiv Leipzig) sowie den Mitarbeitern des Archivs der Gesellschaft der Musikfreunde Wien. Besonderer Dank geht in diesem Zusammenhang überdies an Prof. Dr. Wolfgang Sandberger und Sarah Hodgson vom BrahmsInstitut Lübeck, die mir freundlicherweise ermöglichten, erst nach Abschluß der Arbeit zugängliche Quellen zu sichten und, wo nötig, einzuarbeiten. Prof. Dr. Reinhard Kopiez und Prof. Dr. Andreas C. Lehmann danke ich für die pragmatische Überlassung der sich auf Stockhausens gemeinsame Konzerttätigkeit mit Clara Schumann beziehenden Daten, die auf der im Schumann-Haus Zwickau vorliegenden Programmzettelsammlung Clara Schumanns basieren. Bei Dr. BeateAngelika Kraus und Björn Gottstein möchte ich mich schließlich für die freundliche Überlassung ungedruckter Beiträge bzw. Vortragsmanuskripte bedanken.

416

Dank

In zahlreichen Gesprächen und Diskussionen bei unterschiedlichsten Anlässen wurden immer wieder wichtige Weichen für die Entwicklung und endgültige Gestalt des Buches gestellt – vor allem hinsichtlich seiner Positionierung zwischen Wissenschaft und künstlerischer Praxis, zu deren Dialog es vor allem beitragen möchte. Dank für Austausch und Anregung geht insbesondere an Dr. Gabriele Busch-Salmen und Prof. Dr. Walter Salmen (†), Dr. Dagmar Wolff sowie Julian Prégardien, Juliane Ruf und nicht zuletzt die Studierenden der von mir geleiteten Lehrveranstaltungen an der Musikhochschule Freiburg. Dank dafür, einzelne Ergebnisse meiner Arbeit vor einem Fachpublikum zur Diskussion stellen zu können geht überdies an Prof. Dr. Ludwig Holtmeier und Dr. Stephanie Schroedter. Dem Steiner-Verlag Stuttgart danke ich für eine unkomplizierte, angenehme Zusammenarbeit und Nachsicht hinsichtlich des Abgabetermins für das Manuskript. Besonders danke ich Sarah-Vanessa Schäfer, die mir im Kampf mit einem bekannten Textverarbeitungsprogramm während der Formatierungsarbeiten immer wieder wertvolle Schützenhilfe leistete. Schließlich geht mein aufrichtiger Dank an meine Familie, auf deren Unterstützung in jeglicher Form ich mich immer verlassen konnte. Vor allem aber danke ich Heike Wessels, ohne die das Buch sicherlich nie geschrieben worden wäre. Ihr ist es gewidmet. Mannheim, im März 2016

Martin Günther

Orte für die klingende Existenz von Kunst­ liedern wurden innerhalb des von ein­ schneidenden Wandlungsprozessen be­ stimmten Musiklebens des 19. Jahrhun­ derts immer wieder neu geschaffen – ver­ bunden mit der fortwährenden Diskus­ sion einer als „angemessen“ erachteten Aufführungspraxis und der entsprechen­ den Rezeptionshaltung. Auch auf Schu­ berts Liedkompositionen, aus denen die Musikgeschichtsschreibung später das gattungsästhetische Paradigma „Schu­ bert­Lied“ herausdestillierte, wirkten sich vielschichtige, z. T. ideologisch ge­ färbte, kulturelle Formungsprozesse aus,

die Martin Günther aus der Perspektive kulturgeschichtlich ausgerichteter Inter­ pretationsforschung nachzeichnet und analysiert: Die beginnende Professiona­ lisierung des Liedvortrags um 1800, die Liedpraxis der Schubert­Zeit im Kontext musikkultureller und gesellschaftlicher Umbrüche, die historiographische Kons­ truktion „des“ Schubert­Liedes sowie die öffentliche Inszenierung „liedhafter In­ nerlichkeit“ im späteren 19. Jahrhundert werden zu einem Panorama zusammen­ gefügt, das zeigt, wie verklungene musi­ kalische Aufführungen zu einer musikge­ schichtlichen Kategorie werden können.

www.steiner-verlag.de Franz Steiner Verlag

ISBN 978-3-515-11406-6

9

7 83 5 1 5 1 1 4066