Kunstfreiheit und Jugendschutz [1 ed.] 9783428486359, 9783428086351

Der Konflikt zwischen Kunstfreiheit und Jugendschutz stellt eines der aufregendsten, gleichzeitig aber schwierigsten Geb

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German Pages 323 Year 1996

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Kunstfreiheit und Jugendschutz [1 ed.]
 9783428486359, 9783428086351

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SPYRIDON VLACHOPOULOS

Kunstfreiheit und Jugendschutz

Schriften zum Öffentlichen Recht Band 698

Kunstfreiheit und Jugendschutz Von Spyridon Vlachopoulos

Duncker & Humblot * Berlin

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme

Vlachopoulos, Spyridon: Kunstfreiheit und Jugendschutz / von Spyridon Vlachopoulos. Berlin : Duncker und Humblot, 1996 (Schriften zum öffentlichen Recht ; Bd. 698) Zugl.: München, Univ., Diss., 1995 ISBN 3-428-08635-X NE: GT

Alle Rechte vorbehalten © 1996 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fotoprint: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0582-0200 ISBN 3-428-08635-X Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 ©

Meinen Eltern

Vorwort Der Konflikt zwischen Kunstfreiheit und Jugendschutz gehört zu den umstrittensten und kompliziertesten Problemen der Grundrechtsdogmatik, wie vor allem die ständig wechselnde Judikatur des BVerwG zeigt. Die vorliegende Arbeit versucht, diese verfassungsrechtliche Spannungslage in ihren verschiedenen Aspekten zu durchleuchten, den dabei erzeugten Abwägungsfragen näherzukommen und konsensfähige Kollisionslösungen zu entwickeln. Die Arbeit wurde im Wintersemester 1994/95 von der Juristischen Fakultät der Ludwig-Maximilians Universität München als Dissertation angenommen. Rechtsprechung und Literatur konnten bis September 1994 berücksichtigt werden. An dieser Stelle möchte ich meinem verehrten Doktorvater, Herrn Professor Dr. Peter Lerche, für seine Denkanstöße und seine vielfältige Förderung herzlichst danken. Mein aufrichtiger Dank gilt auch Herrn Professor Dr. Rupert Scholz, dem Zweitreferenten dieser Arbeit. Besonderen Dank schulde ich weiterhin meinen Professoren an der Universität Athen, denen ich die Grundlagen meiner juristischen Ausbildung verdanke. Das gilt insbesondere für Herrn Professor Dr. Prokopios Pavlopoulos, der mich seit Beginn meines Studiums ständig unterstützt hat. Zu Dank bin ich ferner der gemeinnützigen Stiftung "Alexandres S. Onassis" verpflichtet, die durch die Gewährung eines Stipendiums die Anfertigung dieser Arbeit ermöglichte. Schließlich will ich auch meinen Freund, Christos Anagnostakis, der wichtige Hilfe bei der technischen Bearbeitung der Druckvorlage leistete, nicht unerwähnt lassen. Athen, Dezember 1995

Spyridon Vlachopoulos

Inhaltsverzeichnis Einleitung

21

Α. Einfuhrung in die Problematik

21

B. Gang der Untersuchung

23

1. Kapitel Bestimmungen zum Schutze der Jugend, die mit dem Grundrecht der Kunstfreiheit kollidieren können

A. Darstellung der einschlägigen Bestimmungen

26

26

I. Bestimmungen des GjS

26

Π. Bestimmungen des JÖSchG

28

ΠΙ. Regelungen des RfStV

30

IV. Vorschriften des StGB

33

V. Bestimmungen des JArbSchG B. Die durch diese Bestimmungen abzuwehrenden Gefahren für die Jugend I. Die Jugendgefahrdung im allgemeinen

35 36 36

1. Die Gefahr für die Jugend als allgemeine Voraussetzung der Jugendschutzmaßnahmen

36

2. Die persönliche, zeitliche und örtliche Relativität des Begriffs "Jugendgeföhrdung"

41

3. Die Einschätzungsprärogative des Gesetzgebers bei der Annahme jugendbedrohender Gefahren

44

nsverzeichnis

10

Π. Die Geföhrdungstatbestände der einschlägigen Bestimmungen, insbesondere die "sittliche Jugendgeföhrdung"

46

ΠΙ. Weitere Maßstäbe, von denen die Beurteilung der Jugendgeföhrdung abhängt 52 1. Der maßgebliche Jugendliche

52

2. Der erforderliche Wahrscheinlichkeitsgrad der Jugendgeföhrdung

55

3. Die maßgebliche Interpretation des Werks

56

C. Verfassungsrechtliche Würdigung der einschlägigen Bestimmungen (außerhalb der Problematik ihrer Kollision mit der Kunstfreiheit) 57 I. Die inhaltliche Offenheit der in Betracht kommenden Regelungen und ihre Kompatibilität mit den verfassungsrechtlichen Bestimmtheitsanforderungen .. 57 Π. Die Vereinbarkeit der angeordneten Verbote mit dem Verhältnismäßigkeitsprinzip 61 DL Das Verhältnis der Indizierung von Schriften und der Jugendfreigabe von Filmen und Videokassetten zum grundgesetzlichen Zensurverbot D. Zusammenfassung

68 71

2. Kapitel Die Einschränkbarkeit der Kunstfreiheit im Fall ihrer Kollision mit dem Jugendschutz. Die verschiedenen Ansätze zur Beschränkung der Kunstfreiheit zugunsten der Jugendschutzbestimmungen

A. Einengung des KunstbegrifTs I. Der KunstbegrifT im allgemeinen 1. Vorgeschlagene Auswege aus der Schwierigkeit, Kunst zu definieren

76

77 78 78

a) Die Lehre des Definitionsverbots

78

b) Die Aufnahme von außerrechtlichen Definitionen

79

c) Die Drittanerkennung

82

nsverzeichnis

d) Die Selbstdefinition des Grundrechtsträgers

11

84

2. Die verschiedenen Theorien über den Kunstbegriff. Einordnung nach Anknüpfungspunkten

86

a) Der auf den Inhalt des Werks abstellende Kunstbegriff

86

b) Der qualitative Kunstbegriff

88

c) Der ästhetisch-idealistische Kunstbegriff.

95

d) Der künstlerische Gestaltungswille als Kriterium für die Bejahung der Kunsteigenschaft e) Der materiale Ansatz

97 98

f) Der technisch-formale Kunstbegriff

101

g) Der zeichenüieoretische Ansatz

105

h) Kunst als ein auf Kommunikation angelegter Vorgang

107

i) Der topische Ansatz des BVerfG

109

Π. Ausschluß der jugendgefährdenden Werke aus dem Kunstbegriff?

112

1. Ausgrenzung der jugendgefährdenden Werke aus dem Kunstbegriff im allgemeinen

112

2. Insbesondere die These des gegenseitigen Ausschlusses von Kunst und Pornographie

115

ΙΠ. Reduzierung des Kunstbegriffs auf "echte", "ernstzunehmende" Werke oder Werke mit "einem bestimmten Maß an künstlerischem Niveau"

118

B. Beschränkung des Schutzbereichs der Kunstfreiheit durch die Theorie der "sachspezifischen Modalitäten"

124

C. Die Mißbrauchsgrenzen der Kunstfreiheit. Jugendgefährdende Kunstwerke als Mißbrauch der Kunstfreiheit?

129

D. Die für den Bestand der Gemeinschaft notwendigen Rechtsgüter als Schranken der Kunstfreiheit 130

12

nsverzeichnis

E. Übertragung der Schranken anderer Verfassungsbestimmungen auf Art. 5 Abs. 3 GG

131

I. Die "Schrankentrias" des Art. 2 Abs. 1 Halbs. 2 GG

131

Π. Die Schranken des Art. 5 Abs. 2 GG

134

F. Beschränkung der Kunstfreiheit durch kollidierende, verfassungsrechtlich geschützte Rechtsgüter

139

I. Die Einschränkbarkeit der Kunstfreiheit durch kollidierende Verfassungsrechtsgüter im allgemeinen

139

Π. Die verfassungsrechtliche Gewährleistung des Jugendschutzes. Die Grundgesetzbestimmungen, aufgrund deren der Jugendschutz Verfassungsrang genießt 142 ΙΠ. Die grundsätzliche verfassungsrechtliche Gleichrangigkeit von Kunstfreiheit und Jugendschutz 150 G. Zusammenfassung

158

3. Kapitel Die Konfliktschlichtung von Kunstfreiheit und Jugendschutz

A. Die Konfliktschlichtung von Kunstfreiheit und Jugendschutz als kompetenzrechtliches Problem

164

166

I. Die Notwendigkeit der Einzelfallabwägung im vorliegenden Kollisionsfall... 166 Π. Die Rolle des Gesetzgebers bei der Konfliktschlichtung von Kunstfreiheit und Jugendschutz B. Die Abwägung der widerstreitenden Belange und die dafür maßgeblichen Maßstäbe

177

182

I. Der Anwendungsbereich der Abwägung, insbesondere das Verhältnis der Abwägung zum Kunstvorbehalt des § 1 Abs. 2 Nr. 2 GjS

182

Π. Die Abwägungskriterien

190

nsverzeichnis

13

1. Zweck und Leistungsgrenzen der Abwägungskriterien

190

2. Untaugliche Abwägungsmaßstäbe

194

a) Die künstlerische Qualität

194

b) Das Ansehen des Kunstwerks beim Publikum und seine Wertschätzung in Kritik und Wissenschaft

198

3. Die maßgeblichen Abwägungsmaßstäbe im einzelnen a) Das Gewicht des Jugendschutzes

201 201

aa) Die Schwere der Jugendgeföhrdung

202

bb) Der Kreis der betroffenen Jugendlichen

208

cc) Der Wahrscheinlichkeitsgrad der Jugendgeföhrdung

215

dd) Der Tauglichkeitsgrad der Jugendschutzmaßnahmen

215

b) Die Eingriffsintensität der Jugendschutzvorschriften in die Kunstfreiheit

217

aa) Die in den Jugendschutzvorschriften angeordneten Beschränkungen und Verbote

218

bb) Die faktischen Konsequenzen der Anwendung der Jugendschutzvorschriften 221 cc) Die Reichweite des thematischen Betätigungsfelds der Kunstfreiheit, das durch die jeweiligen Jugendschutzbestimmungen tangiert wird 224 c) Die künstlerische Notwendigkeit der jugendgefährdenden Schilderungen

225

aa) Die Einbettung der jugendgefährdenden Passagen in das künstlerische Gesamtkonzept bb) Die Eigenart des im Kunstwerk behandelten Themas d) Weitere, das Abwägungsergebnis determinierende Interessen

229 230 231

nsverzeichnis

aa) Andere, auf der Seite des Jugendschutzes stehende Rechtsgüter... 232 bb) Weitere, für die Kunstfreiheit sprechende Interessen C. Zusammenfassung

232 235

4. Kapitel Organisations- und verfahrensrechtliche Aspekte des Konflikts zwischen Kunstfreiheit und Jugendschutz

241

A. Die Rechtfertigung der Durchführung von Jugendschutzvorschriften durch pluralistisch organisierte Gremien

242

B. Die Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Schriften

245

I. Die Bundesprüfstelle im allgemeinen

245

Π. Die Bundesprüfstelle und das Demokratieprinzip

247

ΙΠ. Die Zusammensetzung der Bundesprüfstelle

250

IV. Das Verfahren der Bundesprüfstelle

255

C. Die gerichtliche Kontrolldichte der Entscheidungen der Bundesprüfstelle und der ihr zustehende Beurteilungsspielraum

258

I. Die Begründung des Beurteilungsspielraums der Bundesprüfstelle

258

Π. Die einzelnen Fragen, auf die sich der Beurteilungsspielraum der Bundesprüfstelle erstreckt

264

ΙΠ. Die Maßstäbe der gerichtlichen Kontrolle der Indizierungsentscheidungen... 267 IV. Die Notwendigkeit von Vorkehrungen, die die beschränkte Kontrollierbarkeit der Entscheidungen der Bundesprüfstelle kompensieren können

268

D. Die Freiwillige Selbstkontrolle der Filmwirtschaft

270

I. Die Freiwillige Selbstkontrolle im allgemeinen

270

nsverzeichnis

15

D.Die Rechtmäßigkeit der Ausübung der Jugendfreigabe von Filmen und Videokassetten durch die Freiwillige Selbstkontrolle

271

ΙΠ. Die Zusammensetzung der Freiwilligen Selbstkontrolle

274

IV. Das Verfahren der Freiwilligen Selbstkontrolle

276

E. Die Freiwillige Selbstkontrolle des Fernsehens

277

F. Zusammenfassung

280

Thesen

284

Literaturverzeichnis

294

Abkürzungsverzeichnis a.Α.:

anderer Ansicht

aaO.:

am angegebenen Ort

Abs.:

Absatz

AcP:

Archiv für die civilistische Praxis

a.F.:

alte Fassung

AfP:

Archiv für Presserecht

AG:

Amtsgericht

AK:

Alternativkommentar

Anm.:

Anmerkung

AöR:

Archiv des öffentlichen Rechts

ARD:

Arbeitsgemeinschaft der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten der der Bundesrepublik Deutschland

ARSP:

Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie

Art.:

Artikel

Aufl.:

Auflage

Bad.-Württ. :

Baden-Württemberg

BayGVBl:

Bayerisches Gesetz- und Verordnungsblatt

BayObLG:

Bayerisches Oberstes Landesgericht

BayVBl:

Bayerische Verwaltungsblätter

Bd.:

Band

BFHE:

Entscheidungen des Bundesfinanzhofs

BGBl:

Bundesgesetzblatt

BGH:

Bundesgerichtshof

BGHSt:

Entscheidungen des Bundesgerichtshofs in Strafsachen

Abkürzungsverzeichnis

BGHZ:

Entscheidungen des Bundesgerichtshofs in Zivilsachen

BK:

Kommentar zum Bonner Grundgesetz (Bonner Kommentar)

BPS:

Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Schriften

BPS-Report:

Bundesprüfstelle-Report

BR-Drucks.:

Drucksache des Bundesrates

BT-Drucks.:

Drucksache des Deutschen Bundestages

BT-Prot. :

Stenographische Berichte der Verhandlungen des Deutschen Bundestages

BVerfG:

Bundesverfassungsgericht

BVerfGE:

Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts

BVenvG:

Bundesverwaltungsgericht

BVerwGE:

Entscheidungen des Bundesverwaltungsgerichts

DÖV:

Die Öffentliche Verwaltung

DuR:

Demokratie und Recht

DVBl:

Deutsches Verwaltungsblatt

DVO GjS:

Verordnung zur Durchführung des Gesetzes über die Verbreitung jugendgefährdender Schriften

EU:

Europäische Union

EuGRZ:

Europäische Grundrechtezeitschrift

f;

folgende

ff:

FamRZ:

Zeitschrift für das gesamte Familienrecht

FAZ:

Frankfurter Allgemeine Zeitung

FG:

Festgabe

Fn.:

Fußnote

FS:

Festschrift

FSF:

Freiwillige Selbstkontrolle des Fernsehens

FSK:

Freiwillige Selbstkontrolle der Filmwirtschaft

GA:

Goltdammer's Archiv für Strafrecht

2 Vlachopoulos

17

18

Abkürzungsverzeichnis

GewArch:

Gewerbearchiv

GewO:

Gewerbeordnung

GG:

Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland

GjS:

Gesetz über die Verbreitung jugendgefährdender Schriften

GmS - OGB:

Gemeinsamer Senat der obersten Gerichtshöfe des Bundes

Halbs.:

Halbsatz

h.M. :

herrschende Meinung

JA:

Juristische Arbeitsblätter

JArbSchG:

Jugendarbeitsschutzgesetz

JB1:

Juristische Blätter

JMS-Report:

Jugendmedienschutz-Report

JÖSchG:

Gesetz zum Schutze der Jugend in der Öffentlichkeit

JR:

Juristische Rundschau

JuS:

Juristische Schulung

JZ:

Juristenzeitung

i.a.R.:

in aller Regel

i.d.F.:

in der Fassung

i.d.R.:

in der Regel

i.e.S.:

im engeren Sinne

insbes.:

insbesondere

i.S.:

im Sinne

i.S.d.:

im Sinne des(r)

i.V.m.:

in Verbindung mit

LG:

Landgericht

LK:

Leipziger Kommentar

LS:

Leitsatz

MDHS:

Maunz,Theodor/Dttrig, Günter/Herzog, Roman/Scholz,Rupert

MDR:

Monatsschrift für Deutsches Recht

Abkürzungsverzeichnis

Mio.:

Millionen

m. w.N. :

mit weiteren Nachweisen

NJW:

Neue Juristische Wochenschrift

Nr.:

Nummer

NS:

Nationalsozialistisch

NStZ:

Neue Zeitschrift für Strafrecht

NVwZ:

Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht

NVwZ-RR:

Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht - Rechtsprechungs - Report

OLG:

Oberlandesgericht

OVG:

Oberverwaltungsgericht

OVGE:

Entscheidungen der Oberverwaltungsgerichte Münster und Lüneburg

RdJ:

Recht der Jugend

RdJB:

Recht der Jugend und des Bildungswesens

RfStV:

Rundfunkstaatsvertrag

RG:

Reichsgericht

RGBl:

Reichsgesetzblatt

RGSt:

Entscheidungen des Reichsgerichts in Strafsachen

Rn.:

Randnummer

S.:

Seite

SchlHA:

Schleswig-Holsteinische Anzeigen

seil:

scilicet

SK:

Systematischer Kommentar

sog. :

sogenannte(rXs)

Sp.:

Spalte

SPIO:

Spitzenorganisation der Filmwirtschaft e.V.

StGB:

Strafgesetzbuch

st.Rspr.:

ständige Rechtsprechung

2*

19

20

Abkürzungsverzeichnis

StRG:

Gesetz zur Reform des Strafrechts

SZ:

Süddeutsche Zeitung

U:

Umschlagseite

u.a. :

und andere, unter anderem(n)

u.ä.:

und ähnliche(s)

UFITA:

Archiv für Urheber-, Film-, Funk- und Theaterrecht

UrhG:

Urheberrechtsgesetz

UStG:

Umsatzsteuergesetz

usw.:

und so weiter

u.U.

unter Umständen

v.:

von(m)

V:

vereinfachtes Verfahren

Verf.:

Verfassung

VerwArch:

Verwaltungsarchiv

VG:

Verwaltungsgericht

VGH:

Verwaltungsgerichtshof

vgl.:

vergleiche

WDStRL:

Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer

WissR:

Wissenschaftsrecht, Wissenschaftsverwaltung, Wissenschaftsförderung

z.B.:

zum Beispiel

ZBIJugR:

Zentralblatt für Jugendrecht und Jugendwohlfahrt

ZDF:

Zweites Deutsches Fernsehen

ZfSH/SGB:

Zeitschrift für Sozialhilfe und Sozialgesetzbuch

ZRP:

Zeitschrift für Rechtspolitik

ZStW:

Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft

ZUM:

Zeitschrift für Urheber- und Medienrecht

Einleitung Α. Einfuhrung in die Problematik Der Fragenkreis der verfassungsrechtlichen Spannungslagen und ihrer Schlichtung nimmt eine zentrale Rolle im heutigen Verfassungsrecht ein1. Wer aber glaubt, daß sich in diesem Bereich konsensfähige und tragfahige Lösungen entwickelt haben, irrt. Nur in einem Punkt scheinen Judikatur und Lehre einig zu sein: "Abwägung" soll die "Zauberformel" heißen, durch die die widerstreitenden Verfassungsrechtsgüter zum Ausgleich gebracht werden müssen2. Über die Frage aber, von wem und - vor allem - nach welchen Kriterien diese Abwägung vorzunehmen ist, wird in aller Regel hinweggegangen. Die Entwicklung der konkreten Maßstäbe, nach denen die jeweilige Abwägung zu erfolgen hat und der Konflikt zwischen den aufeinanderprallenden Verfassungsrechtsgütern zu schlichten ist, bleibt - nach wie vor - das eigentliche Desiderat der Dogmatik der verfassungsrechtlichen Spannungslagen. Als ein Beitrag in diese Richtung versteht sich die vorliegende Arbeit. Sie soll einen verfassungsrechtlichen Konflikt, denjenigen zwischen Kunstfreiheit und Jugendschutz, in seinen verschiedenen Aspekten durchleuchten und vor allem die näheren Kriterien herausarbeiten, die für die Lösung dieser Spannungslage maßgeblich sind. Der Versuch, die Kollision zwischen Kunstfreiheit und Jugendschutz in den Griff zu bekommen und Ansätze zu ihrer Schlichtung zu entwickeln, ist gewiß mit erheblichen Schwierigkeiten und Unsicherheiten verbunden. Der Grund dafür liegt zunächst in den konkreten Jugendschutzvorschriften, die mit dem Grundrecht der Kunstfreiheit in Konflikt geraten können: sie bedienen sich recht unbestimmter, wertausfüllungsbedürftiger und in ihrer Bedeutung höchst umstrittener Begriffe, beziehen sich auf einen Bereich, in dem 1 Vgl. dazu statt vieler Bethge, Zur Problematik von Grundrechtskollisionen; Blaesing, Grundrechtskollisionen; Schlink, Abwägung im Verfassungsrecht; Harald Schneider, Die Güterabwägung des Bundesverfassungsgerichts bei Grundrechtskonflikten; Schwacke, Grundrechtliche Spannungslagen. 2

Siehe dazu unten im 3. Kapitel, A I .

22

Einleitung

sichere und wissenschaftlich erhärtete Kenntnisse fehlen, und werfen eine Reihe von verfassungsrechtlichen Fragen auf 3. Die Bewältigung der Kollisionslage zwischen Kunstfreiheit und Jugendschutz wird aber nicht zuletzt durch die Eigenart des Grundrechts der Kunstfreiheit erschwert. Denn die Erfassung des Kunstbegriffs und damit des Schutzbereichs der verfassungsrechtlichen Kunstfreiheitsgarantie stellt - verständlicherweise eine schwierige Aufgabe dar, wobei die vorbehaltlose Gewährleistung dieses Grundrechts in Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG zusätzliche Komplikationen verursacht4. Dazu kommt, daß sowohl Kunst als auch Jugendschutz besonders vielgestaltige, dynamische und entwicklungsoffene Bereiche sind. Alle diese Faktoren machen das Verhältnis zwischen den beiden Rechtsgütern komplizierter und erschweren den Versuch der Herausarbeitung von konsensfähigen und sachgerechten Kollisionslösungen. Es ist deshalb kaum erstaunlich, daß das BVerwG seine Rechtsprechung in diesem Gebiet nicht weniger als dreimal grundlegend geändert hat. Stand das BVerwG zunächst auf dem Standpunkt, daß die Kunstfreiheit im Rahmen des GjS dem Jugendschutz generell vorgehe5, hat es einige Jahre später diese Meinung dahingehend modifiziert, daß nur Kunstwerke mit einem bestimmten Maß an künstlerischem Niveau den Vorrang vor den Interessen der Jugend genießen könnten6. Von dieser Auffassung ist das BVerwG aber in seiner späteren Rechtsprechung abgewichen: das künstlerische Niveau dürfe danach (auch) im Jugendschutzrecht keine Rolle spielen, die Lösung des vorliegenden Widerstreits müsse vielmehr nur nach Maßgabe der Schwere der Jugendgefahrdung erfolgen. So gewinne die Kunstfreiheit das Übergewicht bei den "schlicht" jugendgefährdenden Schriften des § 1 Abs. 1 GjS, während umgekehrt den Be-

3

Siehe zu all diesem unten im 1. Kapitel.

4

Siehe dazu unten ini 2. Kapitel.

5

Vgl. BVerwGE 23, 104 [110]; 23, 112 [119]; 25, 318 [328].

6

Vgl. BVerwGE 39, 197 [207]. Hierbei muß aber betont werden, daß der Unterschied mit den vorherigen (in Fn. 5 zitierten) Urteilen nicht so groß ist, wie in der Literatur oft angenommen wird. Denn auch in diesen vorherigen Entscheidungen hat das BVerwG einen qualitativen Kunstbegriff aufgestellt ("echte", "ernstzunehmende" Kunst, vgl. BVerwGE 23, 104 [106ff]; 23, 112 [120]; 25,318 [327f]) und auf diese Weise den dort vertretenen absoluten Vorrang der Kunstfreiheit gewissermaßen modifiziert.

Β. Gang der Untersuchung

23

langen des Jugendschutzes der Vorrang bei den offensichtlich schwer jugendgefährdenden Schriften des § 6 GjS einzuräumen sei7. Aber auch daran hat das BVerwG nicht festgehalten. Katalysator für eine neue Änderung seiner Rechtsprechung war diesmal die "Mutzenbacher"-Entscheidung des BVerfG, die eine Einzelfallabwägung zwischen Kunstfreiheit und Jugendschutz verlangt hat8. Den bundesverfassungsgerichtlichen Vorgaben beugt sich das BVerwG in seiner jüngsten Judikatur, die von der Erforderlichkeit einer Einzelfallabwägung sowohl bei den "schlicht" als auch bei den offensichtlich schwer jugendgefährdenden Kunstwerken ausgeht9. Damit scheint es so zu sein, daß man zu einer weitgehend konsensfähigen Lösung gekommen ist. Aber eine Reihe von Fragen bleibt noch offen. Wann liegt ein Kunstwerk vor und wann ist es als jugendgefährdend zu qualifizieren, so daß eine Kollision zwischen Kunstfreiheit und Jugendschutz entsteht? Woher leitet das Rechtsgut "Jugendschutz" die verfassungsrechtliche Legitimation ab, der Kunstfreiheit Grenzen zu ziehen? Wie verhält sich die Forderung nach einer Einzelfallabwägung mit den Prinzipien des Vorbehalts des Gesetzes und der Rechtssicherheit und welche Rolle kann der Gesetzgeber bei der Konfliktschlichtung der widerstreitenden Belange spielen? Und vor allem: nach welchen genaueren Kriterien ist die Abwägung zwischen Kunstfreiheit und Jugendschutz vorzunehmen?

B. Gang der Untersuchung Befaßt man sich mit dem Konflikt zwischen Kunstfreiheit und Jugendschutz, dann stellt sich zuerst die Frage, wo eine solche Kollision entstehen kann.

7

Vgl. BVerwGE 77, 75 [80ff]; BVerwG, BPS-Report 2/1987, 1 [3ff].

8

Vgl. BVerfGE 83, 130 [143ff], wobei allerdings unklar ist, ob das BVerfG diese Einzelfallabwägung sowohl für die offensichtlich schwer als auch für die "schlicht" jugendgefährdenden Kunstwerke erfordert oder ob es vielmehr im Bereich der "schlichter" Jugendgefährdung einen generellen Vorrang der Kunstfreiheit angenommen hat (siehe dazu unten im 3. Kapitel, Β I ) . Als Vorläufer der "Mutzenbacher"-Entscheidung kann das "Opus Pistorum"-Urteil des BGH bezeichnet werden, das - zumindest für die offensichtlich schwer jugendgefährdenden Kunstwerke eine Einzelfallabwägung zwischen Kunstfreiheit und Jugendschutz verlangt hat (BGHSt 37, 55 [62ff]). 9

Vgl. BVerwGE 91,211 [212f]; 223 [224ff]; BVerwG, JMS-Report 1/1993,9f.

24

Einleitung

Deshalb werden im ersten Kapitel diejenigen Jugendschutzvorschriften untersucht, die in ein Spannungsverhältnis mit dem Grundrecht der Kunstfreiheit geraten können. Dabei ist eine Auseinandersetzung mit der Problematik der Jugendgefahrdungen, zu deren Abwehr diese Bestimmungen bestimmt sind, unerläßlich. Im ersten Kapitel wird schließlich eine verfassungsrechtliche Würdigung der einschlägigen Jugendschutzvorschriften unter den Gesichtspunkten der verfassungsrechtlichen Bestimmtheitserfordernisse, des Verhältnismäßigkeitsgebots und des grundgesetzlichen Zensurverbots vorgenommen. Nach der Darstellung der mit der Kunstfreiheit aufeinanderprallenden Jugendschutzbestimmungen und nach der Auseinandersetzung mit einigen Grundsatzfragen, die in diesem Zusammenhang auftauchen, wird im zweiten Kapitel geprüft, ob diese Vorschriften der Kunstfreiheit Schranken ziehen können, was insbesondere wegen der vorbehaltlosen Gewährleistung der Kunstfreiheit nicht selbstverständlich ist. Dabei werden die verschiedenen Konstruktionen ausgeführt und kritisch gewürdigt, aufgrund derer im Laufe der Zeit versucht wurde, den Jugendschutzbestimmungen Anwendbarkeit auch gegenüber der Kunstfreiheit zu verschaffen. Dazu gehören u.a. Einengungen des Kunstbegriffs, Verkürzungen des Schutzbereichs der Kunstfreiheit, Übertragung der Schranken anderer Verfassungsbestimmungen auf Art. 5 Abs. 3 GG und - vor allem - die Statuierung des Jugendschutzes als ein der Kunstfreiheit gleichrangiges Rechtsgut. Nach der Bejahung der prinzipiellen Einschränkbarkeit der Kunstfreiheit zugunsten der Jugendschutzvorschriften wird im dritten Kapitel der Problemkreis der Konfliktschlichtung von Kunstfreiheit und Jugendschutz untersucht. In diesem Rahmen wird zunächst die - oft übersehene - Frage geprüft, wer dazu befugt ist, die kollidierenden Interessen zum Ausgleich zu bringen. Der eigentliche Schwerpunkt liegt aber in der Durchleuchtung der Abwägungsproblematik, insbesondere in der Herausarbeitung der konkreten Maßstäbe, nach denen die Abwägung zwischen Kunstfreiheit und Jugendschutz zu erfolgen hat. Nicht zu unterschätzen ist schließlich die Bedeutung der organisations- und verfahrensrechtlichen Aspekte der hier interessierenden Spannungslage. Organisation und Verfahren können sich als wesentliche Vehikel für einen angemessenen Ausgleich der widerstreitenden Interessen erweisen.

Β. Gang der Untersuchung

25

Aus diesem Grund wird im vierten Kapitel die Ausgestaltung der Organe untersucht, die über den Konflikt zwischen Kunstfreiheit und Jugendschutz im Einzelfall zu befinden haben.

1. Kapitel

Bestimmungen zum Schutze der Jugend, die mit dem Grundrecht der Kunstfreiheit kollidieren können A. Darstellung der einschlägigen Bestimmungen Ein einheitliches Gesetz zum Schutz der Minderjährigen existiert nicht, obwohl das unter dem Gesichtspunkt der Effektivität des Jugendschutzes sinnvoll wäre1. Die Bewahrung der Mindeijährigen vor Gefahren ist vielmehr in vielen einzelnen Gesetzen zersplittert. Im folgenden werden diejenigen Jugendschutzbestimmungen dargestellt, die in Konflikt mit dem Grundrecht der Kunstfreiheit geraten können. L Bestimmungen des GjS Das wichtigste Konfliktfeld zwischen Kunstfreiheit und Jugendschutz stellt das Gesetz über die Verbreitung jugendgefährdender Schriften (GjS)2 dar. Das GjS nimmt eine zentrale Rolle im Jugendschutzrecht ein und ist auch in unserem Zusammenhang von besonderer Bedeutung, weil sich die Problematik der Kollision zwischen Kunstfreiheit und Jugendschutz hauptsächlich im Rahmen dieses Gesetzes entwickelt hat. § 1 Abs. 1 GjS bestimmt, daß Schriften (denen nach § 1 Abs. 3 GjS auch Ton- und Bildträger, Abbildungen und andere Darstellungen gleichstehen3) in eine Liste aufgenommen werden müssen, wenn sie "geeignet sind, Kinder und

1

Insoweit kritisch auch Schefold, ZRP 1984, 127 [129]. Vgl. auch die Entwürfe zu einem einheitlichen Jugendmedienschutzgesetz in: BT-Drucks. VI/3013 und 7/4079. 2 i.d.F. der Bekanntmachung vom 12.7.1985 (BGBl. I S. 1502), zuletzt geändert durch das Gesetz zur Änderung des Gesetzes über die Verbreitung jugendgefährdender Schriften vom 29.10.1993 (BGBIIS. 1817). 3 Es ist aber fraglich, inwieweit darunter auch Fernsehsendungen fallen. Vgl. dazu etwa BVerwGE 85, 169 [170ff]; VG Köln, NJW 1987, 274ff; BPS, Entsch. Nr. 3503 vom 8.8.1985, BPS-Report 6/1985, 18 [2Iff]; BPS, Entsch. Nr. 3600, BPS-Report 3/1986, 9 [ l l f j ; BPS, Entsch. vom 30.6.1986, BPS-Report 4/1986, 18ff; v.Harlieb, Handbuch des Film-, Fernseh- und Videorechts, S. 41; Hartstein/Ring/Kreile, Kommentar zum RfStV, S. 694f, Herkströter, AfP 1992, 23f; MeyerHesemann, DVB1 1986, 1181ff; Ory, Z U M 1986, 123 [124f]; ders., NJW 1987, 2967f, Siefen, in: Literatur vor dem Richter, S. 123 [126]; IVeides, NJW 1987,224 [230ff].

Α. Darstellung der einschlägigen Bestimmungen

27

Jugendliche4 sittlich zu gefährden" 5. Damit werden durch das GjS auch sittlich jugendgefährdende Kunstwerke6 erfaßt, die beispielsweise in Form eines Buches, eines Films, einer Videokassette oder einer Schallplatte erscheinen. Spannungslagen zwischen Kunstfreiheit und Jugendschutz im Rahmen des GjS können auch nicht durch § 1 Abs. 2 Nr. 2 GjS ausgeschlossen werden, wonach die Aufnahme in die Liste (sog. Indizierung) u.a. dann nicht erfolgen darf, wenn die Schrift der Kunst dient7. Denn diese Vorschrift (sog. Kunstvorbehalt) nimmt nicht sämtliche Kunstwerke aus dem Anwendungsbereich des GjS aus, wie noch zu zeigen sein wird 8. Zuständig für die Indizierung ist die Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Schriften, eine Bundesoberbehörde, die pluralistisch organisiert ist (§§ 9, 9a GjS) und für die besondere Verfahrensregelungen gelten (§§ 12ff GjS)9 Die Indizierung einer Schrift hat erhebliche Veibreitungs- und Werbebeschränkungen zur Folge. Nach ihrer Bekanntmachung im Bundesanzeiger darf die betreffende Schrift Kindern und Jugendlichen nicht zugänglich gemacht werden (§ 3 Abs. 1 Nr. 1 GjS) 10 . Darüber hinaus sind folgende Verbreitungsarten für indizierte Schriften absolut, d.h. auch gegenüber Erwachsenen verboten: gewerbliche Vermietung (§ 3 Abs. 1 Nr. 3 GjS) 11 , ambulanter

4 Nach § 1 Abs. 4 GjS ist Kind, wer noch nicht vierzehn, Jugendlicher wer vierzehn, aber noch nicht achtzehn Jahre alt ist. So auch § 2 Abs. 1 JÖSchG, § 2 Abs. 1,2 JArbSchG. 5

Zur Bedeutung des Begriffs "sittliche Jugendgeföhrdung" siehe unten in diesem Kapitel, Β II.

6

Dazu, daß auch Kunstwerke (sittlich) jugendgefährdend sein können, siehe unten im 2. Kapitel, A

III.

η Dasselbe gilt nach § 1 Abs. 2 Nr. 2 GjS, wenn die Schrift der Wissenschaft, der Forschung oder der Lehre dient. § 1 Abs. 2 GjS enthält auch weitere Ausnahmetatbestände. So darf eine Schrift nicht "allein wegen ihres politischen, sozialen, religiösen oder weltanschaulichen Inhalts" indiziert werden (Nr. 1). Eine Indizierung darf femer nicht erfolgen, wenn die Schrift "im öffentlichen Interesse liegt, es sei denn, daß die Art der Darstellung zu beanstanden ist" (Nr. 3). g Siehe dazu unten im 3. Kapitel, Β I . 9 Zur Organisation und zum Verfahren der Bundesprüfstelle im einzelnen siehe unten im 4. Kapitel, B. 10 Eine indizierte Schrift darf ferner nicht "an einem Ort, der Kindern oder Jugendlichen zugänglich ist oder von ihnen eingesehen werden kann, ausgestellt, angeschlagen, vorgeführt oder sonst zugänglich gemacht werden" (§ 3 Abs. 1 Nr. 2 GjS). 11 Das Verbot der gewerblichen Vermietung gilt aber nicht, soweit sie in Ladengeschäften erfolgt, die Kindern und Jugendlichen nicht zugänglich sind oder von ihnen nicht eingesehen werden können.

.Kap. Bestimmungen zum Schutze der Jugend

28

Handel, Kiosken-12 und Versandhandel, Verbreitung in gewerblichen Leihbüchereien und Lesezirkeln. Die Werbung für solche Schriften ist ebenso untersagt (§ 5 Abs. 2 GjS) 13 1 4 Schriften, die die Tatbestandsvoraussetzungen des § 131 StGB (rassistische und gewaltverherrlichende Schriften) oder des § 184 StGB (pornographische Schriften) erfüllen, unterliegen den oben genannten Verbreitungsbeschränkungen kraft Gesetzes, d.h. ohne daß in diesem Fall eine vorherige Indizierung erforderlich ist (§ 6 Nr. 1,2 GjS). Dasselbe gilt für "sonstige Schriften, die offensichtlich geeignet sind, Kinder und Jugendliche sittlich schwer zu gefährden" (§ 6 Nr. 3 GjS) 15 . Hier handelt es sich um so schwerwiegende Fälle, daß der Gesetzgeber den Interessen des Jugendschutzes den Vorrang vor dem Prinzip der Rechtssicherheit gegeben und zwecks eines lückenlosen Jugendschutzes entschieden hat, den Eintritt der Beschränkungen der §§ 3-5 GjS nicht von einem vorherigen, oft langwierigen Indizierungsverfahren abhängig zu machen16. Verstöße gegen die im GjS vorgesehenen Verbreitungsbeschränkungen werden mit Freiheits- oder Geldstrafe geahndet (§21 GjS), was auch dann gilt, wenn der Täter fahrlässig gehandelt hat (§ 21 Abs. 3 GjS). II. Bestimmungen des JÖSchG Im Fall von Kunstwerken, die in Form eines Films oder einer Videokassette erscheinen, kollidiert das Grundrecht der Kunstfreiheit auch mit §§ 6,7 des

12

Aber auch an anderen Verkaufsstellen, die der Kunde nicht zu betreten pflegt, ist die Verbreitung von indizierten Scliriflen verboten. 13 Darüber hinaus darf bei geschäftlicher Werbung nicht daraufhingewiesen werden, "daß ein Verfahren zur Aufnahme einer Schrift in die Liste anhängig ist oder gewesen ist" (§ 5 Abs. 1 GjS). Das Werbeverbot für indizierte Schriften gilt allerdings nicht "für den Geschäftsverkehr mit dem einschlägigen Handel sowie für Handlungen an Orten, die Kindern oder Jugendlichen nicht zugänglich sind oder von ihnen nicht eingesehen werden können" (§5 Abs. 3 GjS). 14 Zur Vereinbarkeit der Verbreitungs- und Werbebeschränkungen der §§ 3-5 GjS mit dem Verhältnismäßigkeitsprinzip siehe unten in diesem Kapitel, C II. 15 Zur Frage, welche Schriften als sittlich schwer jugendgefährdend zu qualifizieren sind, siehe unten im 3. Kapitel, Β II 3 a, aa. 16

Das heißt allerdings nicht, daß Schriften, die offensichtlich geeignet sind, Kinder und Jugendliche sittlich schwer zu gefährden, nicht von der Bundesprüfstelle indiziert werden könnten. Die Indizierung solcher Schriften ist zwar nicht notwendig, aber gleichzeitig zulässig (und darüber hinaus zweckmäßig, weil durch die Aufnahme in die Liste Rechtsklarheit und Rechtssicherheit verschafft wird). Vgl. dazu auch BVerwG, BPS-Report 2/1987, 1 [3] und Siefen, in: Literatur vor dem Richter, S. 123 [134f].

Α. Darstellung der einschlägigen Bestimmungen

29

Gesetzes zum Schutze der Jugend in der Öffentlichkeit (JÖSchG)17 § 6 Abs. 1 JÖSchG bestimmt, daß die Anwesenheit von Kindern und Jugendlichen bei öffentlichen Filmveranstaltungen nur dann gestattet werden darf, wenn die Filme zur Vorführung vor ihnen freigegeben worden sind. Diese Freigabe soll gemäß § 6 Abs. 1 JÖSchG durch die Obersten Landesbehörden erfolgen (die nach der Geschäftsverteilung in den Ländern die für die Jugendfragen zuständigen Landesminister sind 1 ). In der Praxis ist aber die Jugendfreigabe der Freiwilligen Selbstkontrolle der Filmwirtschaft übertragen, was verfassungsrechtlich (insbesondere unter dem Gesichtspunkt des Vorbehalts des Gesetzes) bedenklich ist 19 . Den Maßstab für die (Nicht)jugendfreigabe von Filmen gibt § 6 Abs. 2 JÖSchG. Danach dürfen Filme, "die geeignet sind, das körperliche, geistige oder seelische Wohl von Kindern und Jugendlichen zu beeinträchtigen"20, nicht zur Vorführung vor ihnen freigegeben werden. Im Gegensatz zum GjS, in dem ein absolutes Jugendverbot für sittlich jugendgefährdende Schriften angeordnet wird, sieht § 6 Abs. 3 JÖSchG verschiedene Alterseinstufüngen vor (freigegeben ohne Altersbeschränkung, ab sechs, ab zwölf oder sechzehn Jahren, nicht freigegeben unter achtzehn Jahren). Ähnliches gilt für bespielte Videokassetten, Bildplatten und vergleichbare Bildträger 21. Auch sie dürfen Kindern und Jugendlichen in der Öffentlichkeit nur dann zugänglich gemacht werden, wenn sie von den Obersten Landesbehörden (d.h. in der Praxis, von der Freiwilligen Selbstkontrolle) freigegeben und gekennzeichnet worden sind (§ 7 Abs. 1 JÖSchG). Der Beurteilungsmaßstab für die (Nicht)jugendfreigabe von Videokassetten ist auch hier die "Beeinträchtigung des körperlichen, geistigen oder seelischen Wohls" von Kindern und Jugendlichen. Für Videokassetten gelten ferner dieselben Alterseinstufüngen wie bei Filmen (§ 7 Abs. 2 Satz 1 JÖSchG)22. Insbesondere für

17

Vom 25.2.1985 (BGBl I S. 425), zuletzt geändert durch Art. 21 des Dritten Rechtsbereinigungsgesetzes vom 28.6.1990 (BGBl I S. 1221). 18

Vgl. Rainer Scholz, Jugendschutz, § 6 JÖSchG Anm. 1.

19

Siehe dazu im einzelnen unten im 4. Kapitel, D II. 20

Zur Erläuterung dieser Begriffe siehe unten in diesem Kapitel, Β II.

21

Zum Jugendschutz im Videobereich vgl. auch die Empfehlung Nr. R (89) des Europarates über die Grundsätze des Vertriebs von Videoprogrammen mit gewalttätigem, brutalem oder pornographischem Inhalt (abgedruckt, in: Rainer Scholz, Jugendschutz, S. 140ff). 22 § 15 der FSK-Grundsätze (Grundsätze der Freiwilligen Selbstkontrolle der Filmwirtschaft i.d.F. vom 1.2.1992, (teilweise) veröffentlicht in: JMS-Report 4/1992, 39ff) bestimmt ferner, daß ein Film oder eine Videokassette mit Auflagen (z.B. Schnitten oder Textänderungen) freigegeben werden kann.

.Kap. Bestimmungen zum Schutze der Jugend

30

Videokassetten (und andere vergleichbare Bildträger), die nicht oder mit "Nicht freigegeben unter achtzehn Jahren" gekennzeichnet worden sind, bestehen darüber hinaus Verbreitungsbeschränkungen, die denjenigen des § 4 Abs. 1 GjS gleichen (Verbot des ambulanten Handels, des Kiosken- und Versandhandels, § 7 Abs. 3 Nr. 2 JÖSchG). Außerdem ordnet § 7 Abs. 4 JÖSchG an, daß bespielte Bildträger nicht in Automaten angeboten werden dürfen (und zwar auch dann nicht, wenn sie ohne jegliche Altersbeschränkungen freigegeben worden sind). Verstöße gegen die in §§ 6,7 JÖSchG vorgesehenen Verbote werden als Ordnungswidrigkeiten geahndet (§ 12 Abs. 1 Nr. 5ff JÖSchG). In diesem Zusammenhang ist auch zu erwähnen, daß §§ 6,7 JÖSchG - im Gegensatz zum GjS - keinen Kunstvorbehalt enthalten. Das dürfte auf die Tatsache zurückzufuhren sein, daß die in diesen Vorschriften vorgesehenen Einschränkungen nicht so weitgehend wie diejenigen des GjS sind 23 2 4 . IIL Regelungen des RfStV In den letzten Jahrzehnten hat der Jugendschutz im Bereich des Rundfunks erheblich an Bedeutung gewonnen25. Der Grund dafür liegt nicht nur in der KHartlieb (in: Handbuch des Film-, Femseh- und Videorechts, S. 33, 45f, 65) sieht darin einen Ausfluß des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit. Es ist aber fraglich, inwieweit die Jugendfreigabe mit Auflagen ein milderes Mittel als die Nichtjugendfreigabe bzw. als die spätere Freigabegrenze ist. Denn Schnitte und Textänderungen stellen einen schwerwiegenden Eingriff in die Gestaltungsfreiheit des Schöpfers dar, zumal sie u.U. die Gesamtaussage des Werks auf eine irreparable Weise verändern können. Darüber hinaus werden geschnittene Szenen nicht nur von den Jugendlichen, sondern auch von den Erwachsenen femgehalten (kritisch auch Ott, Kunst und Staat, S. 162). Solche Bedenken verringern sich aber, wenn man beachtet, daß dem Schöpfer des Werks die Wahl zwischen einer Jugendfreigabe mit Auflagen und einer Nichtjugendfreigabe bzw. einer späteren Freigabegrenze zusteht. 23

Da Filme und Videokassetten auch vom GjS erfaßt werden (vgl. § 1 Abs. 3 GjS), stellt sich des weiteren die Frage, wie die Anwendungsbereiche der beiden Gesetze (GjS - JÖSchG) voneinander abzugrenzen sind. Die Antwort findet man bei §§ 6 Abs. 7 und 7 Abs. 5 JÖSchG. Danach findet das GjS auf Filme und Videokassetten, die nach §§ 6,7 JÖSchG gekennzeichnet worden sind, keine Anwendung. Das gilt jedoch nicht für Videokassetten, die die Kennzeichnung "Nichtfreigegeben unter achtzehn Jahren" erhalten haben. Die Indizierung solcher Videokassetten ist jederzeit zulässig. Vgl. dazu auch Weides, NJW 1987, 224 [228]. 24 Es muß schließlich betont werden, daß es auch weitere Vorschriften des JÖSchG gibt, die zuweilen mit der Kunstfreiheit kollidieren können. Das gilt vor allem für § 10 JÖSchG (Anwesenheitsverbot für Kinder und Jugendliche bei jugendgefährdenden Veranstaltungen), soweit im Rahmen der betreffenden Veranstaltung Kunstwerke dargeboten werden (z.B. Konzerte). 25 Zum Jugendschutz im Rundfunkbereich vgl. nur etwa Hartstein/Ring/Kreile, Kommentar zum RfStV, S. 677ff; Herkströter, AfP 1992, 23fT; Kleist, in: Das Ringen um den Medienstaatsvertrag der Länder, S. 178ff; Kreile, Z U M 1989, 407ff; Ory, Z U M 1986, 123ff; ders. y NJW 1987, 2967ff; Rainer Scholz/Joseph, Gewalt- und Sexdarstellungen im Fernsehen; Stoffers, RdJB 1978,147ff.

Α. Darstellung der einschlägigen Bestimmungen

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sehr breiten Publikumswirkung von Fernsehsendungen und im vielfältigen Angebot von jugendgefährdenden Fernsehprogrammen durch private Fernsehsender. Maßgeblich sind auch technische Entwicklungen im Rundfunkbereich, die das davon ausgehende Gefährdungspotential für die Jugend erheblich vergrößert haben. In diesem Zusammenhang ist insbesondere die grenzüberschreitende Ausstrahlung von Fernsehprogrammen durch Satelliten zu erwähnen, die u.a. ermöglicht hat, daß ausländische Fernsehsender auch pornographische Programme im Gebiet der Bundesrepublik Deutschland ausstrahlen 26. Der Schutz der Minderjährigen vor jugendgefährdenden Rundfunkprogrammen ist hauptsächlich im Rundfunkstaatsvertrag (RfStV 27) normiert. Die Jugendschutzbestimmungen des RfStV können in Konflikt mit dem Grundrecht der Kunstfreiheit geraten, da auch Kunstwerke (z.B. Filme oder Theaterstücke) durch das Medium "Rundfunk" verbreitet werden. § 3 Abs. 1 RfStV sieht ein absolutes Verbot für Sendungen vor, die rassistisch oder gewaltverherrlichend sind (§131 StGB), den Krieg verherrlichen, als pornographisch zu qualifizieren sind (§ 184 StGB) oder anderweitig Kinder und Jugendliche sittlich schwer gefährden können28 2 9 . Sendungen, die nicht unter die oben genannten Kategorien fallen, jedoch "geeignet sind, das körperliche, geistige oder seelische Wohl von Kindern oder Jugendlichen zu beeinträchtigen", dürfen nach § 3 Abs. 2 Satz 1 RfStV nur dann verbreitet werden, wenn der Veranstalter "aufgrund der Sendezeit oder auf andere

26

Siehe die Berichte darüber in: JMS-Report 2/1993,14 und JMS-Report 4/1993, 56.

27

Rundfunkstaatsvertrag: Art. 1 des Staatsvertrags über den Rundfunk im vereinten Deutschland vom 31.8.1991 (z.B. BayGVBl S. 451), geändert durch Art. 1 des Ersten Rundfunkänderungsstaatsvertrags vom 11.7.1994 (z.B. BayGVBl S. 568). 28

Dasselbe gilt nach § 3 Abs. 1 Nr. 5 RfStV für non-fiktionale Sendungen, die schwer leidende oder sterbende Menschen in einer die Menschenwürde verletzenden Weise darstellen, sofern kein überwiegendes Interesse an dieser Form der Berichterstattung vorliegt. 29

Die Sendung von rassistischen, gewaltverherrlichenden und pornographischen Darbietungen wird auch durch §§131 Abs. 2 bzw. 184 Abs. 2 StGB verboten. Vgl. in diesem Zusammenhang auch § 16 der vorläufigen Prüfgrundsätze der Freiwilligen Selbstkontrolle des Femsehens (FSF) vom 25.5.1994 (abgedruckt in: JMS-Report 3/1994,8ff. Zur Institution der Freiwilligen Selbstkontrolle des Femsehens siehe im einzelnen unten im 4. Kapitel, E). Dort werden nähere Kriterien für die Bestimmung der im Fernsehen unzulässigen Sendungen ausgeführt. Soweit es um Gewaltdarstellungen geht, muß danach insbesondere geprüft werden, ob die Darstellungen von Gewalt so aneinandergereiht sind, daß die Problematik von Gewalt als Mittel der Konfliktlösung nicht hinreichend zum Ausdruck kommt, ob die Folgen und Wirkungen von Gewalt für die Opfer verschwiegen werden und ob die einzelnen Gewaltdarstellungen unverhältnismäßig breit und grausam ausgespielt werden. Nach derselben Regelung dürfen auch diejenigen sexuellen Darstellungen im Fernsehen nicht ausgestrahlt werden, die physische und sonstige Gewalt zur Durchsetzung sexueller Interessen befürworten oder Vergewaltigung als lustvoll für das Opfer erscheinen lassen.

.Kap. Bestimmungen zum Schutze der Jugend

32

Weise"30 Vorsorge trifft, "daß Kinder oder Jugendliche der betroffenen Altersstufen die Sendungen üblicherweise nicht wahrnehmen". Der Veranstalter darf dies bei Sendungen annehmen, die zwischen 23.00 Uhr und 6.00 Uhr ausgestrahlt werden. Bestimmte Sendezeitbeschränkungen werden in § 3 Abs. 2 Satz 3 RfStV auch für Filme festgelegt, die nach dem JÖSchG für Jugendliche unter 16 Jahren nicht freigegeben sind (Ausstrahlung nur zwischen 22.00 Uhr und 6.00 Uhr). Filme, die für Jugendliche unter 18 Jahren nicht freigegeben sind, dürfen ferner nach derselben Vorschrift ausschließlich zwischen 23.00 Uhr und 6.00 Uhr ausgestrahlt werden 31. Aber auch Sendungen, die mit indizierten Schriften "ganz oder im wesentlichen" inhaltsgleich sind, dürfen nur in der Zeit zwischen 23.00 Uhr und 6.00 Uhr und nur dann ausgestrahlt werden, wenn die von ihnen ausgehende sittliche Jugendgefahrdung nicht als schwer angesehen werden kann (§ 3 Abs. 3 RfStV). Verstöße gegen die Jugendschutzvorschriften des RfStV werden als Ordnungswidrigkeiten geahndet ( § 32 Abs. 1 Nr. 1-9 RfStV). Jugendschutzbestimmungen, die mit denjenigen des RfStV ganz oder zum Teil übereinstimmen, enthalten ferner u.a. § 8 des ZDF-Staatsvertrags 32, § 9 des Bildschirmtext-Staatsvertrags 33 und die verschiedenen Landesmedienge-

30

Mit der Wendung "auf andere Weise" sind vor allem technische Vorkehrungen gemeint (z.B. die Codierung der Programme bei Pay-TV). Vgl. dazu Hartstein/Ring/Kreile, Kommentar zum RfStV, S.708f; Rainer Scholz/Joseph, Gewalt- und Sexdarstellungen im Fernsehen, S. 95f. 31 In Bezug auf die Filme, die für Minderjährige unter 12 Jahren nicht freigegeben sind, bestimmt ferner § 3 Abs. 2 Satz 2 RfStV, daß bei der Wahl ihrer Sendezeit dem Wohl jüngerer Kinder Rechnung zu tragen ist.

32

ZDF-Staatsvertrag: Art. 3 des Staatsvertrags über den Rundfunk im vereinten Deutschland vom 31.8.1991 (z.B. BayGVBl S. 451), geändert durch Art. 2 des Ersten Rundfunkänderungsstaatsvertrags vom 11.7.1994 (z.B. BayGVBl S. 568). 33 Bildschirmtext-Staatsvertrag: Art. 6 des Staatsvertrags über den Rundfunk im vereinten Deutschland vom 31.8.1991 (z.B. BayGVBl S. 451). 34 Einen Überblick über die Jugendschutzvorschriften der verschiedenen Landesmediengesetze findet man bei Rainer Scholz, Jugendschutz, S. 15Off. In diesem Zusammenhang sind auch zu erwähnen: die ARD-Richtlinien zur Sicherung des Jugendschutzes vom 22.6.1988 (i.d.F. vom 24.6.1992, abgedruckt in: Rainer Scholz/ Joseph, Gewalt - und Sexdarstellungen im Fernsehen, S. 285ff), die Richtlinien für die Sendungen des ZDF vom 11.7.1963 (i.d.F. vom 4.12.1992, abgedruckt in: Rainer Scholz/Joseph, aaO, S. 289ff) und die Richtlinien der Landesmedienanstalten zur Gewährleistung des Jugendschutzes vom 14.9.1992 (abgedruckt in Rainer Scholz/Joseph, aaO, S. 295ff). 35 Aber auch im Rahmen der Europäischen Union gibt es Vorschriften, die auf den Schutz der Mindeijährigen vor jugendgefährdenden Fernsehsendungen abzielen. Art. 22 der EU-Femsehrichtlinien vom 3.10.1989 (Amtsblatt der Europäischen Union Nr. L 298/29 vom 17.10.1989) verpflichtet die

Α. Darstellung der einschlägigen Bestimmungen

33

IV. Vorschriften des StGB Kollisionen zwischen Kunstfreiheit und Jugendschutz können sich auch im Rahmen von Strafgesetzbuchbestimmungen ergeben. Das gilt zuerst für § 131 StGB36. Diese Vorschrift statuiert ein absolutes Verbreitungsverbot für Schriften 37 , die "zum Rassenhaß aufstacheln". Dasselbe wird auch für Schriften angeordnet, "die grausame oder sonst unmenschliche Gewalttätigkeiten gegen Menschen in einer Art schildern, die eine Verherrlichung oder Verharmlosung solcher Gewalttätigkeiten ausdrückt oder die das Grausame oder Unmenschliche des Vorgangs in einer die Menschenwürde verletzenden Weise darstellt" 38 3 9 Hierbei muß betont werden, daß § 131 StGB nicht ausschließlich dem Jugendschutz dient 40 . Er schützt auch - und sogar in erster Linie - die Gesellschaft im allgemeinen vor Aggression und Gewalttätigkeit, die von Rassenhaßaufstachelung und Verharmlosung oder Verherrlichung von Gewalt ausgehen können, und damit das Rechtsgut des öffentlichen Friedens. Soweit es um Schriften geht, die Gewalt in einer die Menschenwürde

Mitgliedstaaten zur Vornahme der angemessenen Maßnahmen, um die Ausstrahlung von Fernsehprogrammen zu verhindern, "die die körperliche, geistige und sittliche Entwicklung von Minderjährigen schwer beeinträchtigen können" (dazu zählen vor allem Sendungen, die Pornographie oder grundlose Gewalttätigkeit zeigen). Dasselbe gilt auch für die anderen (nicht schwer) jugendgefährdenden Programme, "es sei denn, es wird durch die Wahl der Sendezeit oder durch sonstige technische Maßnahmen dafür gesorgt, daß diese Sendungen von Mindeijährigen im Sendebereich üblicherweise nicht wahrgenommen werden". Die Mitgliedstaaten müssen schließlich dafür sorgen, "daß die Sendungen nicht zu Haß aufgrund von Rasse, Geschlecht, Religion oder Nationalität aufreizen". Vgl. auch Art. 7 des Europäischen Übereinkommens über das grenzüberschreitende Fernsehen vom 5.5.1989 (abgedruckt in: Rainer Scholz, Jugendschutz, S. 146). 36

I.d.F der Bekanntmachung vom 10.3.1987 (BGBl I S. 945).

37

Den Schriften stehen nach § 11 Abs. 3 StGB auch Ton- und Bildträger, Abbildungen und andere Darstellungen gleich. 38

Zur Auslegung der einzigen Tatbestandsmerkmale des § 131 StGB (auf die hier nicht eingegangen werden kann) vgl. nur etwa BVerfGE 87, 209 [225ff|; LG München, BPS-Report 6a/1985, 12ff; Dreher/Tröndle, Kommentar zum StGB, § 131 Rn. 3ff; v.Hartlieb, Handbuch des Film-, Femseh- und Videorechts, S. 6ff; Hartstein/Ring/Kreile, Kommentar zum RfStV, S. 698f; Lackner, Kommentar zum StGB, § 131 Rn. 3ff; Lenckner, in: Schönke/ Schröder, Kommentar zum StGB, § 131 Rn. 3ff; MeirowitZy Gewaltdarstellungen auf Videokassetten, S. 324ff. Soweit im Rahmen der vorliegenden Arbeit auf § 131 StGB Bezug genommen wird, werden die Tatbestandsmerkmale dieser Vorschrift zur Vereinfachung der Darstellung mit der Formel "rassistische und gewaltverherrlichende Schriften" zusammengefaßt. 39

Dazu, daß auch Kunstwerke die Tatbestandsvoraussetzungen des § 131 StGB erfüllen können, siehe unten im 2. Kapitel, A II 2 Fn. 214. 40 Diese Feststellung ist nicht nur von theoretischem Interesse. Sie hat durchaus praktische Konsequenzen sowohl für die Prüfung der Vereinbarkeit des in § 131 StGB statuierten Verbreitungsverbots mit dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz (siehe dazu unten in diesem Kapitel, C II) als auch für die Abwägung zwischen Kunstfreiheit und Jugendschutz (siehe unten im 3. Kapitel, Β II 3 d, aa).

3 Vlachopoulos

.Kap. Bestimmungen zum Schutze der Jugend

34

verletzenden Form darstellen, wird durch § 131 StGB auch das Rechtsgut der Menschenwürde geschützt41. Als weitere Vorschrift des StGB, die dem Jugendschutz dient und die mit der Kunstfreiheit kollidieren kann, kommt § 184 StGB42 in Betracht. Nach dieser Vorschrift unterliegen pornographische Schriften 43 4 4 denselben Verbreitungs- und Werbebeschränkungen wie indizierte Schriften 45 (aber auch einigen anderen Beschränkungen, die über diejenigen der §§ 3-5 GjS hinausgehen 46 ). Insbesondere für pornographische Schriften, die "Gewalttätigkeiten, den sexuellen Mißbrauch von Kindern oder sexuelle Handlungen von Menschen mit Tieren zum Gegenstand haben" (sog. "harte" Pornographie), besteht sogar ein absolutes Verbreitungsverbot ( § 184 Abs. 3 StGB)47. Hier 41

Zu den durch § 131 StGB geschützten Rechtsgüter vgl. statt vieler v.Bubnoff, in: LK zum StGB, § 131 Rn. 2; Dreher/Tröndle, Kommentar zum StGB, § 131 Rn. lb; Lackner, Kommentar zum StGB, § 131 Rn. 1 \Lenckner, in: Schönke/ Schröder, Kommentar zum StGB, § 131 Rn 1; Ostendorf, in: AK zum'StGB, § 131 Rn. 3. 42 1.d.F. der Bekanntmachung vom 10.3.1987 (BGBl I S. 945), zuletzt geändert durch Art. 1 des 27. Strafrechtsänderungsgesetzes vom 23.7.1993 (BGBl I S. 1346). 43 Eine ausführliche Auseinandersetzung mit der komplizierten und noch nicht abschließend geklärten Problematik des Pomographiebegriffs ist im Rahmen der vorliegenden Arbeit nicht möglich. Deshalb beschränkt sich hier die Arbeit auf eine Bestandsaufnahme der wichtigsten Auffassungen. Nach dem Sonderausschuß für die Strafrechtsreform zum 4. StRG (BT-Drucks. VI/3521, S. 60) sind als pornographisch diejenigen Darstellungen anzusehen, die "ausschließlich oder überwiegend auf die Erregung eines sexuellen Reizes bei dem Betrachter abzielen" und darüber hinaus "die im Einklang mit allgemeinen gesellschaftlichen Wertvorstellungen gezogenen Grenzen des sexuellen Anstandes eindeutig überschreiten" (so auch OLG Koblenz, NJW 1979, 1467 [1468]; OLG Schleswig-Holstein, SchlHA 1976, 168; Laufhütte, JZ 1974, 46 [47]). Nach einer anderen Auffassung liegt Pornographie dann vor, wenn sexuelle Vorgänge "in übersteigerter, anreißerischer Weise" und "ohne Sinnzusammenhang mit anderen Lebensäußerungen" dargestellt werden (so BGHSt 23, 40 [44]; OLG Karlsruhe, NJW 1974, 2015 [2016]; Hanack, Empfiehlt es sich, die Grenzen des Sexualstrafrechts neu zu bestimmen?, S. 236). Eine weitere These sieht das Hauptmerkmal der Pornographie darin, daß sie in einer den Sexualtrieb aufstachelnden Weise den Memschen zum bloßen (auswechselbaren) Objekt geschlechtlicher Begierde degradiert (so OLG Düsseldorf, NJW 1974, 1474 [1475]; OLG Karlsruhe, NJW 1987, 1957; Dreher, JR 1974, 45 [56]; Dreher/ Tröndle, Kommentar zum StGB, §184 Rn. 6ff). Zum Pornographiebegriff vgl. des weiteren etwa Horn, in: SK zum StGB, § 184 Rn. 4f; Laufhütte, in: LK zum StGB, § 184 Rn. 4f; Möhrenschlager, NJW 1974, 1475f; Schröder, Pornographie, Jugendschutz und Kunstfreiheit, S. 16ff. 44

Dazu, daß es auch pornographische Kunstwerke gibt, siehe unten im 2. Kapitel, A II 2.

45

Zu diesen Beschränkungen siehe oben in diesem Kapitel, A I .

46

So verbietet § 184 Abs. 1 Nr. 7 StGB die öffentliche Filmvorführung von pornographischen Darstellungen gegen Entgelt, soweit das Entgelt ganz oder überwiegend für diese Vorführung verlangt wird. Vgl. auch § 184 Abs. 2 StGB, wonach die Verbreitung pornographischer Darbietungen durch Rundfunk verboten ist. 47

Im Fall von pornographischen Werken, die den sexuellen Mißbrauch von Kindern zum Gegenstand haben und ein tatsächliches Geschehen wiedergeben, ist sogar auch ihr Besitz strafbar (§ 184 Abs. 5 StGB).

Α. Darstellung der einschlägigen Bestimmungen

35

handelt es sich - genauso wie bei § 131 StGB - um eine Vorschrift, die nicht ausschließlich auf den Schutz der Jugend abzielt, sondern gleichzeitig auch Interessen der Allgemeinheit schützt. Das generelle Vertriebsverbot der "harten" Pornographie dient nämlich auch der Verhinderung der Kriminalität in der Form von gewalttätig-sadistischen und pädophilen Straftaten 48 4 9 . V. Bestimmungen des JArbSchG Die Jugendschutzvorschriften, die oben dargestellt wurden, stellen einen Eingriff in die Kunstfreiheit dar, weil sie die Verbreitung bestimmter Arten von Kunstwerken einschränken. Es gibt aber auch Bestimmungen zum Schutze der Jugend, die schon die Entstehung von Kunstwerken beeinträchtigen können. Zu dieser Kategorie gehört das Jugendarbeitsschutzgesetz (JArbSchG) 50. Es ordnet eine Reihe von Beschäftigungsverboten für Kinder und Jugendliche an, die sich auf den Schaffensvorgang von Kunstwerken (aber auch auf ihre Verbreitung, soweit Entstehung und Darbietung zusammenfallen) negativ auswirken können. In diesem Zusammenhang sind insbesondere zu erwähnen: das Verbot der Beschäftigung von Kindern (unter 14 Jahren, § 5 JArbSchG) und von Jugendlichen unter 15 Jahren (§ 7 JArbSchG), die Untersagung der Beschäftigung von Jugendlichen nach 20.00 Uhr (§ 14 JArbSchG) oder an Samstagen, Sonntagen und Feiertagen (§§ 16ff JArbSchG) und das Verbot der Betätigung von Jugendlichen bei Arbeiten, "bei denen sie sittlichen Gefahren ausgesetzt sind" (§ 22 Abs. 1 Nr. 2 JAibSchG)51 5 2 .

48

Vgl. dazu etwa Lackner, Kommentar zum StGB, § 184 Rn. 1; Lenckner, in: Schönke/Schröder, Kommentar zum StGB, § 184 Rn. 3; Schroeder, Pornographie, Jugendschutz und Kunstfreiheit, S.lOf, 34. 49 Als weitere Strafgesetzbuchbestimmungen, die mit dem Grundrecht der Kunstfreiheit in Konflikt geraten können, kommen §§ 176, 182 StGB (sexueller Mißbrauch von Kindern und Jugendlichen) nicht in Betracht. Denn der sexuelle Mißbrauch von Kindern und Jugendlichen wird vom Schutzbereich der verfassungsrechtlichen Kunstfreiheitsgarantie nicht erfaßt, auch wenn die einschlägige Handlung im Rahmen des Schaffens von Kunstwerken (z.B. Filmen oder Theaterstücken) stattfindet. Siehe dazu unten im 2. Kapitel, B. 50

Vom 12.4.1976 (BGBl I S. 965), zuletzt geändert durch Art. 13 des Ersten Rechtsbereinigungsgesetzes vom 24.4.1986 (BGBl I S.560). 51 Vgl. auch die Verordnung über das Verbot der Beschäftigung von Personen unter 18 Jahren mit sittlich gefährdenden Tätigkeiten vom 3.4.1964 (BGBl I S. 262), zuletzt geändert durch Art. 3 der Zweiten Rechtsbereinigungsverordnung vom 8.10.1986 (BGBl I S. 1634)). 52 Vgl. ferner §§ 26f JArbSchG, wonach der Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung bzw. die zuständige Aufsichtsbehörde auch weitere, im JArbSchG nicht vorgesehene Beschäftigungsverbote für Jugendliche anordnen können, soweit das zur Abwehr von Gefahren für Leben, Gesundheit oder für die körperliche oder seelisch-geistige Entwicklung der Jugendlichen notwendig ist.

3*

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.Kap. Bestimmungen zum Schutze der Jugend

Es muß aber gleichzeitig beachtet werden, daß das JArbSchG den Belangen der Kunstfreiheit Rechnung trägt, indem es beispielsweise für den Theater-, Musik- und Filmbetrieb Ausnahmemöglichkeiten von den dort angeordneten Beschäftigungsverboten vorsieht (§§ 6, 14 Abs. 7, 16 Abs. 2 Nr. 7, 17 Abs. 2 Nr. 5, 18 Abs. 2 JArbSchG)53. Wer gegen die Vorschriften des JArbSchG verstößt, handelt ordnungswidrig (§§ 58ff JArbSchG)54. B. Die durch diese Bestimmungen abzuwehrenden Gefahren fur die Jugend Die Jugendschutzbestimmungen, die oben dargestellt wurden, werfen eine Reihe von grundsätzlichen Fragen auf. Von besonderem Interesse ist die Erläuterung der Jugendgefahrdungen, zu deren Abwehr diese Vorschriften bestimmt sind. Das macht aber eine vorherige Auseinandersetzung mit der allgemeinen Problematik der Jugendgefährdung erforderlich. I. Die Jugendgefahrdung im allgemeinen 7. Die Gefahr für die Jugend als allgemeine Voraussetzung der Jugendschutzmaßnahmen Das Jugendschutzrecht zielt auf die Abwehr jugendbedrohender Gefahren ab und läßt sich als materielles Polizeirecht qualifizieren 55. Das ergibt sich zunächst aus der etymologischen Bedeutung des Wortes "Schutz", denn Schutz wird immer vor Störungen, Eingriffen, kurz gesagt vor Gefahren gewährt. Da-

53 Diese Ausnahmetatbestände ersparen uns aber die Kollisionsproblematik zwischen Kunstfreiheit und Jugendschutz nicht völlig, sei es weil ihre Anwendung von der Erfüllung bestimmter Voraussetzungen abhängig ist (so z.B. § 6 JArbSchG), sei es weil sie die entsprechenden Verbote nicht beseitigen, sondern lediglich auflockern (z.B. § § 6 , 14 Abs. 7, 18 Abs. 2 JArbSchG). Zur Spannungslage zwischen Kunstfreiheit und Jugendschutz im Bereich des Jugendarbeitsschutzsrechts vgl. etwa Grebenhagen, UFITA 52 [1969], S. 89ff; Salje, DVB1 1988, 135. 54 Bei besonders schwerwiegenden Fällen (Gefahr für die Gesundheit oder die Arbeitskraft des Jugendlichen, beharrliche Wiederholung) wird der Täter sogar mit Freiheits- oder Geldstrafe geahndet (§58 Abs. 5,6 JArbSchG). 55 Vgl. dazu etwa Bauer, JZ 1965, 41 [42]; Bettermann, AöR 83 [1958], S. 91 [98ff]; Erbel, DVB1 1973, 527 [528];//offmann-Riem, in: AK zum GG, Art. 5 Abs. 1,2 Rn. 105; Kalb, Der Jugendschutz bei Film und Femsehen, S. 57f; Lerche, Sozialhilfe und Jugendwohlfahrt, S. 17ff; Oppermann, in: v.Münch (Hrsg.), Besonderes Verwaltungsrecht, S. 773 [825]; Raue, Literarischer Jugendschutz, S.18ff; Schefold, RdJB 1978, 121f; ders., in: Literatur vor dem Richter, S. 93 [96, 116, 118]; Schilling, Literarischer Jugendschutz, S. 4; Schreyer, Pluralistische Entscheidungsgremien im Bereich sozialer und kultureller Staatsaufgaben, S. 18. Zum Begriff des Polizeirechts im allgemeinen vgl. statt allerFriauf, in: v.Münch/Schmidt-Aßmann (Hrsg.), Besonderes Verwaltungsrecht, S. 97 [102ffJ.

Β. Die durch diese Bestimmungen abzuwehrenden Gefahren

37

für spricht auch die geschichtliche Entwicklung des Jugendschutzrechts: Vorgängerin des JÖSchG war die Polizeiverordnung des Reichsinnenministers zum Schutze der Jugend vom 10.6.194356. Der gefahrenabwehrende und polizeirechtliche Charakter des Jugendschutzrechts läßt sich ferner vom Grundgesetz herleiten: in Art. 11 Abs. 2 GG wird der Schutz der Jugend vor Verwahrlosung in engem Zusammenhang mit typischen polizeilichen Aufgaben wie die Bekämpfung von Seuchengefahr oder die Vorbeugung von strafbaren Handlungen erwähnt, während Art. 13 Abs. 3 GG im Schutz gefährdeter Jugendlicher die Verhütung einer Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung ansieht. Maßgeblich ist schließlich der Sachgehalt der Jugendschutzbestimmungen selbst: durch diese Vorschriften sollen polizeirechtliche Gefährdungstatbestände mittels Verbote und Gebote abgewehrt werden 57. Die Feststellung der gefahrenabwehrenden und polizeirechtlichen Natur des Jugendschutzrechts ist nicht nur von theoretischem Interesse. Sie hat durchaus praktische Konsequenzen58. Aus ihr ist vor allem zu entnehmen, daß Maß-

56

RGBl. I S. 349.

57

Vgl. nur etwa §§ 1, 3-6 GjS; §§ 6 Abs. 1 und 2, 7 Abs. 1 JÖSchG.

58

Von Bedeutung ist diese Feststellung zunächst fur die Frage der Gesetzgebungszuständigkeit. Ist der Jugendschutz dem Polizeirecht zuzuordnen, dann fallt die Regelung dieser Materie gemäß Art. 70ff GG grundsätzlich in die Länderhoheit. So auch (für das Jugendschutzrecht im allgemeinen oder für einzelne Jugendschutzgesetze): Bettermann, AöR 83 [1958], S. 9Iff; Lerche, Sozialhilfe und Jugendwohlfahrt, S. 17ff; ders., Werbung und Verfassung, S. 52 Fn. 86. In der Literatur und Rechtsprechung wird demgegenüber die fragwürdige Zuständigkeit des Bundesgesetzgebers zum Erlaß von Jugendschutzgesetzen (insb. dem GjS und dem JÖSchG) oft mit einem Rückgriff auf Art. 74 Nr. 7 GG (öffentliche Fürsorge) begründet (so etwa BVerfGE 31, 113 [116f]; BVerwGE 19, 94 [96£Q; 23, 112f; VG Köln, NJW 1987, 274 [275]; Hartstein/Ring/Kreile, Kommentar zum RfStV, S. 695; Maunz, in: MDHS, Kommentar zum GG, Art. 74 Rn. 106; Meirowitz, Gewaltdarstellungen auf Videokassetten, S. 220f, 277; Rainer Scholz, ZfSH/SGB 1993, 349 [350]; Schraut, Jugendschutz und Medien, S. 25; Weides,, NJW 1987, 224 [226, 229f]). Unabhängig aber davon, ob die Jugendfürsorge wirklich unter der "öffentlichen Fürsorge" des Art. 74 Nr. 7 GG subsumiert werden kann (vgl. dazu Bettermann, aaO, S. 94ff), muß diese Auffassung entschieden abgelehnt werden. Denn die Jugendschutzgesetze stellen keine Jugendfürsorge dar. Jugendschutz und Jugendfürsorge sind vielmehr - trotz der zwischen ihnen bestehenden, vielfachen Verflechtungen - zwei unterschiedliche Materien: die Jugendfürsorge zielt auf die Erziehung und das Wohl der Jugend durch Leistungen und Hilfsmaßnahmen ab, während der Jugendschutz ausschließlich auf Gefahrenabwehr durch die Anordnung von Verboten und Geboten gerichtet ist (skeptisch dazu auch Bauer, JZ 1965, 41 [42]; ders., JZ 1967, 167; Bettermann, aaO, S.94ff; Lerche, Webung und Verfassung, S. 52 Fn. 86). Ebensowenig angängig ist der Versuch, die angebliche Bundeszuständigkeit für die vorliegende Materie unter Berufung auf Art. 74 Nr. 1 GG (Strafrecht) zu begründen (so aber BVerfGE 11, 234 [237]; BVerwGE 23, 112f; BGH, GA 1958, 50; VG Köln, NJW 1987, 274 [275]; Hartstein/Ring/Kreile, Kommentar zum RfStV, S. 695; Meirowitz, Gewaltdarstellungen auf Videokassetten, S. 221, 277; Rainer Scholz, ZfSH/SGB 1993, 349 [350]). Sicher ist dabei, daß Verstöße gegen die Jugendschutzbestimmungen zuweilen strafrechtlich geahndet werden (vgl. z.B. § 21 GjS). Wie aber Bauer, JZ 1965, 41 [42] zutreffend bemerkt, "macht auch nicht jede für die Übertretung verwaltungsrechtlicher Bestimmungen gültige Strafsanktion das Gesetz schlechthin zu "Strafrecht"" (vgl. desweiteren ders., JZ 1967, 167). Nach alledem verleiht Art. 74 Nr. 1 GG dem Bund eine Gesetzgebungskompetenz nur noch in Bezug auf §§ 131, 184 StGB. Zur

1 .Kap. Bestimmungen zum Schutze der Jugend

38

nahmen zum Schutze der Jugend nur dann zulässig sind, wenn eine Gefahr für die Jugend durch sie bekämpft werden soll 59 . So darf beispielsweise eine Schrift nicht mit der Begründung indiziert werden, daß sie keinen Erziehungsbeitrag leiste oder die Kenntnisse der Jugend nicht bereichere 60. Eine Indizierung ist vielmehr nur dann zulässig, wenn die zu beurteilende Schrift einen negativen Einfluß auf die jugendlichen Leser ausüben kann, wenn sie eine Gefahr für die Jugend darstellt. Die Förderung der sich auf die Jugend positiv auswirkenden Schriften, die Erziehung von Kindern und Jugendlichen zum Lesen "guter" Bücher darf nicht mit dem Mittel des Jugendschutzrechts erfolgen, zumal Jugendschutzmaßnahmen mit Eingriffen in die Rechte Dritter unauflöslich verbunden sind 61 . Der dafür geeignete Ort ist vielmehr die Jugendfürsorge und -pflege 62. Aus der gefahrenabwehrenden Natur des gesetzlichen Jugendschutzes ergibt sich ferner, daß der anstößige (z.B. unsittliche) Inhalt eines Werks nicht ohne weiteres zur Anwendung der einschlägigen Jugendschutzmaßnahmen führt. Es muß darüber hinaus seine Eignung zur Jugendgefahrdung festgestellt werden. Diese ist dann zu verneinen, wenn das betreffende Werk für die Mindeijährigen unverständlich ist, oder wenn zu erwarten ist, daß es wegen seines hohen Preises oder wegen seines Inhalts63 von Kindern und Jugendlichen nicht gekauft werden wird. Der Jugendschutz bezweckt nicht die Bekämpfung von Werken mit einem bestimmten Inhalt, sondern nur den Schutz der Jugend fehlenden Zuständigkeit des Bundes zum Erlaß von Jugendschutzbestimmungen im Bereich des Rundfunks vgl. statt aller Weides, NJW 1987, 224 [230ff|. 59 Vgl. vMünch, in: v.Münch, GG-Kommentar, Art. 5 Rn. 56; Raue, Literarischer Jugendschutz, S. 18ff, 34ff; Schraut, Jugendschutz und Medien, S. 44.Vgl. ferner BVerfGE 30, 336 [354], wonach unzulässig ist, "Schriften, von denen weder stets noch wenigstens typischerweise Gefahren für die Jugend ausgehen, generellen Verboten zu unterwerfen". 60 Vgl. Hoffmann-Riem, in: AK zum GG, Art. 5 Abs. 1,2 Rn. 105; Raue, Literarischer Jugendschutz, S. 20ff; Schefold, RdJB 1978, 121 [124]; ders., in: Literatur vor dem Richter, S. 93 [118]. 61 Vgl dazu Lerche, Sozialhilfe und Jugendwohlfart, S. 17: "Unter Jugendschutz im Sinne des Jugendschutzrechts ist die Fülle der Aktivität zu verstehen, die der Abwehr deijenigen Gefahren dient, die aus der Umwelt auf den Jugendlichen eindringen und die dem der Erziehung der Eltern eröffneten Bereich deshalb entzogen sind, weil ihre Abwehr die Einschränkung von Rechten Dritter erfordert" (Hervorhebung hier). 62 Es ist insoweit dem OVG Münster (UFITA 94 [1982], S. 342 [349]) nicht zuzustimmen, wenn es ausführt, daß bei der Jugendfreigabe von Filmen ihre jugenderzieherische Funktion zu würdigen sei. 63

Vgl. Raue, Literarischer Jugendschutz, S. 35. Vgl. auch BPS, Entsch. vom 7.5.1992, JMSReport 5/1993, 48 [50], wo die jugendgeföhrende Wirkung von Magazinen, die Fotos von nackten Kindern und Jugendlichen enthielten (MSonnenfreude"-Hefte), verneint wurde. Die Bundesprüfstelle hat dabei u.a. entscheidend darauf abgestellt, daß solche Zeitschriften schon einmal gar nicht von Minderjährigen gekauft werden, weil das Interesse Jugendlicher an nackten Kindern und Jugendlichen - wenn überhaupt vorhanden, dann -äußerst gering sei.

Β. Die durch diese Bestimmungen abzuwehrenden Gefahren

39

vor solchen Werken, die eine negative Wirkung auf sie ausüben können. Nicht der Inhalt, sondern die Wirkung des Werks auf die Jugend ist für die Frage der Anwendbarkeit der Jugendschutzbestimmungen maßgeblich64 (wobei allerdings nicht in Frage gestellt werden kann, daß bestimmte Inhalte zugleich Indiz für die Annahme einer jugendgefährdenden Wirkung sind). Insoweit ist es bedenklich, wenn § 184 StGB (Verbreitung pornographischer Schriften) als abstraktes Gefährdungsdelikt qualifiziert 65 oder wenn in der Erwähnung der pornographischen und rassistischen bzw. gewaltverherrlichenden Schriften in § 6 Nr. 1,2 GjS eine unwiderlegbare Vermutung für die Annahme einer offensichtlich schweren Jugendgefährdung gesehen wird 66 . Auf diese Weise werden nämlich Werke eines bestimmten Inhalts den Jugendschutzbestimmungen generell unterworfen, auch wenn sie sich im Einzelfall etwa aufgrund der tatsächlichen Gegebenheiten (z.B. hoher Preis) nicht als jugendgefährdend erweisen. Andererseits darf nicht außer acht gelassen werden, daß es hierbei um Fälle geht, aus denen typischerweise eine schwere Jugendgefährdung ausgehen kann. Gerade bei solchen typischen und gravierenden Gefahrenquellen für die Jugend sollte dem Gesetzgeber ausnahmsweise das Recht zuerkannt werden, das Vorliegen einer Jugendgefährdung aus Gründen der Effektivierung des Jugendschutzes generell zu unterstellen, statt die Anwendung der einschlägigen Jugendschutzbestimmungen von der Feststellung der Jugendgefahrdung in jedem Einzelfall abhängig zu machen. Von Bedeutung ist auch, daß die einschlägigen Vorschriften (§ 184 StGB, §§ 6 Nr. 1,2 GjS) unmittelbar an den Bürger gerichtet sind. Es wäre aber unerträglich, vom Bürger zu

64

So kann beispielsweise auch ein Werk mit sittlich einwandfreiem Inhalt den Jugendschutzbestimmungen unterliegen, wenn es wegen seiner drastischen Darstellungen oder wegen seiner schockierenden Wirkung in der Lage ist, die Jugend zu gefährden (vgl. dazu auch Raue, Literarischer Jugendschutz, S. 35f). Insoweit ist es zutreffend, wenn § 3 der FSK-Grundsätze anordnet, daß für die Beurteilung die Wirkung des Films oder des Bildträgers maßgeblich ist. Vgl. aber auch OLG Düsseldorf, NJW 1964, 562, wonach die Eignung einer Schrift zur offensichtlich schweren Jugendgefährdung allein nach dem Inhalt der Schrift zu beurteilen sei. Auch BGHSt 12, 360 [362fï] steht auf dem Standpunkt, daß die Prüfling der aus einer Schrift ausgehenden Jugendgefährdung allein nach dem Inhalt der Schrift zu erfolgen habe. 65 So etwa Horn, in: SK zum StGB, § 184 Rn. 1,2 und Laufhütte, in: LK zum StGB, § 184 Rn. 3. Vgl. aber Schefold, RdJB 1978, 121 [127 Fn. 18], der aufgrund einer verfassungskonformen Auslegung den Anwendungsbereich dieser Vorschrift nur auf die tatsächlich jugendgefährdenden Fälle beschränken will. 66 So z.B. Laufhütte, JZ 1974, 46 [51]; Stefen yin: Jugendschutz und Medien, S. 25 [44]; ders., in: Literatur vor dem Richter, S. 123 [127, 130, 135f]. A A auch hier Schefold, RdJB 1978, 121 [124], der für eine restriktive Auslegung des § 6 Nr. 2 GjS plädiert und seine Anwendung nur bei wirklich jugendgefährdenden Fällen für zulässig hält.

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.Kap. Bestimmungen zum Schutze der Jugend

verlangen, in jedem Einzelfall die Eignung einer Schrift zu Jugendgefahrdung zu prüfen 67. Aus der Hervorhebung der gefahrenabwehrenden Zielrichtung des Jugendschutzes ist schließlich zu entnehmen, daß Jugendschutzmaßnahmen, die die Schaffung von Werken einschränken würden, grundsätzlich unzulässig wären 68 6 9 (soweit freilich Entstehung und Verbreitung eines Werks nicht zusammenfallen, wie das z.B. bei Konzert- und Theateraufführungen der Fall ist). Denn eine Gefahr für Jugend kann erst durch die Verbreitung eines Werks entstehen70. Nicht zu beanstanden sind jedoch § 131 Abs. 1 Nr. 4 StGB (rassistische und gewaltverherrlichende Schriften) und § 184 Abs. 1 Nr. 8 und Abs. 3 Nr. 3 StGB (pornographische Schriften), die die Herstellung solcher Arten von Schriften verbieten. Die Unbedenklichkeit dieser Vorschriften ergibt sich daraus, daß diese Regelungen nicht das Schaffen schlechthin, sondern nur diejenige Herstellung unter Verbot stellen, die zum Zweck einer gesetzeswidrigen Verbreitung erfolgt.

67 Unklar hat sich das BVerfG über die Zulässigkeit von unwiderlegbaren Vermutungen im Bereich des Jugendschutzrechts geäußert. In seiner Entscheidung zum § 6 Abs. 2 GjS a.F (Schriften, die durch Bild für Nacktkultur werben) hat das Gericht (BVerfGE 30, 336 [354]) fur verfassungswidrig angesehen, die Jugendgefahrlichkeit von Schriften, "von denen weder stets noch wenigstens typischerweise Gefahren fur die Jugend ausgehen", generell zu unterstellen. In einem Atemzug hat es aber die gesetzliche Aufstellung einer unwiderlegbaren Vermutung für den jugendgefährdenden Charakter einer bestimmten Schriftengruppe pauschal für unzulässig beurteilt, ohne danach zu differenzieren, ob von dieser Scliriftengruppe typischerweise Gefahren für die Jugend ausgehen oder nicht. Vgl. ferner Hoffmann-Riem, in: AK zum GG, Art. 5 Abs. 1,2 Rn. 106 und Raue, Literarischer Jugendschutz, S. 40, nach denen die Anordnung von unwiderlegbaren Vermutungen im Bereich des Jugendschutzrechts unzulässig sei. 68 Vgl. auch vMangoldt/Klein/Starck, Kommentar zum GG, Art. 5 Abs. 3 Rn. 21 und Rupert Scholz, in: MDHS, Kommentar zum GG, Art. 5 Abs. III Rn. 70, die jede Beschränkung der Schaffung von Kunstwerken durch Jugendschutzvorschriften fur verfassungswidrig halten. 69 Das gilt natürlich nicht für die Beschäftigungsverbote der §§ 5ff JArbSchG, die notwendigerweise den Entstehungsvorgang des Werks tangieren. 70 Aber auch im allgemeinen ist eine Einschränkung des Schaffensvorgangs eines Werks nur in Ausnahmefällen zulässig. Denn eine Beeinträchtigung fremder Rechtsgüter kann in aller Regel erst durch die Darbietung des Werks erfolgen. Insoweit kann dem BVerfG (BVerfGE 77, 240 [253ff]) zugestimmt werden, wenn es auf dem Standpunkt steht, daß der Werkbereich der Kunstfreiheitsgarantie (Schaffung der künstlerischen Arbeit) weniger einschränkbar als der Wirkbereich (Verbreitung des Kunstwerks) ist. Zu weitgehend und wirklichkeitsfremd wäre es jedoch, mit manchen Stimmen in der Literatur (vgl. Erharde Kunstfreiheit und Strafrecht, S. 108f; Friedrich Müller, Freiheit der Kunst als Problem der Grundrechtsdogmatik, S. 100; Ropertz, Die Freiheit der Kunst nach dem Grundgesetz, S. 116; Schick, Kunstwerkgarantie und Strafrecht, S. 67; Ekkehart Stein, Staatsrecht, S. 383) anzunehmen, daß der Werkbereich absoluten Schutz genieße und uneinschränkbar sei. Die Stufentheorie von vMangoldt/ Klein/Starck (in: Kommentar zum GG, Art. 5 Abs. 3 Rn. 207f), nach der der Werkbereich nur durch Verfassungsrechtsgüter, der Wirkbereich aber durch die gesamte Rechtsordnung eingeschränkt werden könne, ist ferner ohne Gefolgschaft geblieben und auch vom BVerfG (BVerfGE 77, 240 [254]) abgelehnt worden.

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Β. Die durch diese Bestimmungen abzuwehrenden Gefahren

2 Die persönliche, zeitliche und örtliche Relativität des Begriffs "Jugendgefährdung" Ein Konsens darüber, was als jugendgefährdend anzusehen ist, gibt es in unserer offenen und pluralistischen Gesellschaft nicht 71 . Die Beurteilung der Einwirkungen eines Werks auf die Jugend kann vielmehr von Person zu Person - je nach den besonderen Wertvorstellungen und Weltanschauungen des Einzelnen - unterschiedlich ausfallen. Das gilt insbesondere für den Bereich der sittlichen Jugendgefährdung, da ein allgemein anerkannter sittlicher Normenkodex heute nicht existiert . Die Vielfalt der einschlägigen Meinungen ist nicht zuletzt auf die Tatsache zurückzuführen, daß gesicherte wissenschaftliche Erkenntnisse über die Auswirkungen von Massenmedien auf das Verhalten von Kindern und Jugendlichen fehlen 73. Der Mangel an solchen wissenschaftlich - empirischen Nachweisen verursacht eine Wertungsabhängigkeit und demzufolge einen Pluralismus der einschlägigen Vorstellungen. Eine tendenzielle Einigkeit über den jugendgefährdenden Charakter eines Werks läßt sich nur noch bei extremen, gravierenden Fällen feststellen. Darüber hinaus hängt die jugendgefährdende Wirkung eines Werks von der Persönlichkeit des jeweiligen Jugendlichen ab. Dasselbe Werk kann ganz unterschiedliche Auswirkungen entfalten, je nachdem, von welchem Jugendlichen es rezipiert wird 74 . Soziale und familiäre Umgebung, Veranlagung, Erziehung, Herkunft, Bildung, Alter und Entwicklungsreife des Minderjährigen sind Faktoren, die den Einfluß eines Werks auf ihn bestimmen. Insoweit sind pauschale Feststellungen über die Auswirkung einer Arbeit auf Kinder und Jugendliche im allgemeinen sehr schwer zu treffen. Die Vorstellungen darüber, was jugendgefährdend sein kann und wie die Toleranzgrenze zu ziehen ist, sind ferner dem ständigen Wandel unterworfen 75 . Die Zeitgebundenheit der Anschauungen über den jugendgefährdenden Charakter eines Werks offenbart sich mit besonderer Deutlichkeit im Bereich der Erotik und des Sexuellen. Hat das VG Köln im Jahr 1962 die Eignung ei71

Vgl. dazu Gernert/Stoffers,

Kommentar zum JÖSchG, S. 40f.

72

Vgl. Schreyer, Pluralistische Entscheidungsgremien im Bereich sozialer und kultureller Staatsaufgaben, S. 53. 73 74

Siehe dazu gleich unten in diesem Kapitel, Β I 3.

Vgl. Barsch, in: Literatur vor dem Richter, S. 63 [84, 87fJ; Gernert/Stoffers, JÖSchG, S. 107f.

Kommentar zum

75 So auch BVerwGE 39, 197 [206]; OLG Düsseldorf, NJW 1966, 1186; Hoffmann-Riem, in: AK zum GG, Art. 5 Abs. 1,2 Rn. 105; Maunz, in: FS für Obermayer, S. 85 [86]; vMünch, in: v.Münch, GG-Kommentar, Art. 5 Rn. 55.

.Kap. Bestimmungen zum Schutze der Jugend

42

ner Schrift zur sittlichen Jugendgefährdung wegen des Fehlens "eines klaren Nein zum vorehelichen Geschlechtsverkehr" bejaht76, so erschiene heute eine solche Entscheidung zumindest wirklichkeitsfremd. Während ferner in den sechziger Jahren die Bundesprüfstelle die Indizierung von bloßen Aktbildern angeordnet hat und diese Spruchpraxis auch gerichtlich bestätigt wurde 77, ist nach der heutigen - inzwischen langjährig konsolidierten - Auffassung der Bundesprüfstelle die Abbildung nackter Menschen, auch Kinder und Jugendlicher, für sich allein nicht geeignet, zur sozial- bzw. sexualethischen Desorientierung der Jugend zu führen 78. Die zeitliche Relativität des Begriffs "Jugendgefahrdung" spiegelt sich aber nicht nur in der zunehmenden Akzeptanz sexualbezogener Werke 79 wider: die Überflutung des Markts durch brutale Gewalt- und Horrorvideofilme in den achtziger Jahren80 hat zu einer Sensibilisierung der Gesellschaft über die (jugend)gefahrdenden Einflüsse von Gewaltdarstellungen geführt 81. Entsprechend hat sich auch der Hauptanwendungsbereich des Jugendschutzes geändert: nicht die Bekämpfung von sexuellen Werken, sondern die Bewahrung der Jugend vor Gewaltdarstellungen steht in unserer Zeit im Vordergrund 82. So machen heute gewaltverherrlichende Schriften den größten Teil der Indizierungen aus. Vor diesem Hintergrund ist auch die Novellierung des § 131 StGB zum Zweck einer lückenlosen Erfassung aller extremen Gewaltdarstellungen durchaus verständlich83.

76 VG Köln, Entsch. v. 22.2.1962 - 6 (1) Κ 1192/61, wie sie bei Raue, Literarischer Jugendschutz, S. 49 (teilweise) wiedergegeben wird. 77 Zu dieser früheren Spruchpraxis der Bundesprüfstelle und der Gerichte siehe Raue, Literarischer Jugendschutz, S. 49. 78

Vgl. dazu etwa BPS, Entsch. Nr. 3525 v. 17.10.1985, BPS-Report 1/1986, 19 [20] und BPS, Entsch. Nr. 3762 v. 9.7.1987, BPS-Report 5/1987,20 [22]. 79 Diese Akzeptanz wurde schon im "Fanny ΗίΙΓ-Urteil des BGH (BGHSt 23, 40 [43]) dokumentiert, wo von einer "tiefgreifenden und nachhaltigen Änderung der allgemeinen Anschauungen über die Toleranzgrenze gegenüber geschlechtsbezogenen Äußerungen" die Rede ist. Vgl. des weiteren BVerfGE 83, 130 [147]; BGHSt 37, 55 [65]; OLG Düsseldorf, NJW 1966, 1186f; OVG Münster, BPS-Report 4/1991, 42; Erhardt, Kunstfreiheit und Strafrecht, S. 23; v.Hartlieb, Handbuch des Film-, Fernseh- und Videorechts, S. 65; Hempel, Die Freiheit der Kunst, S. 330; Knies, Schranken der Kunstfreiheit als verfassungrechtliches Problem, S. 269; Ladeur, in: AK zum GG, Art. 5 Abs. 3 II Rn. 15; Meyer-Cording, JZ 1976, 737 [744]. 80

Vgl. dazu Schefold, ZRP 1984, 127.

81

Vgl. Hartstein/Ring/Kreile,

82

VgVSchefold,

Kommentar zum RfStV, S. 716.

in: Literatur vor dem Richter, S. 93 [98] und Weides, NJW 1987,224 [225].

83

Vgl. dazu den Bericht des Bundestagsausschusses für Jugend, Familie und Gesundheit, BTDrucks. 10/2546, S. 21f.

Β. Die durch diese Bestimmungen abzuwehrenden Gefahren

43

Dem ständigen Wandel der Vorstellungen im vorliegenden Bereich 84 tragen auch die Jugendschutzbestimmungen selbst Rechnung. So gelten nach § 3 Abs. 2 Satz 3 RfStV bestimmte Zeitgrenzen für die Ausstrahlung von Filmen, die von der Freiwilligen Selbstkontrolle für Jugendliche unter sechzehn bzw. achtzehn Jahren nicht freigegeben sind. Ähnliche Zeitgrenzen sieht § 3 Abs. 3 RfStV für Sendungen vor, die indizierten Schriften inhaltsgleich sind. § 5 RfStV bestimmt aber ausdrücklich, daß Ausnahmen von diesen Beschränkungen möglich sind, was insbesondere dann gilt, wenn die Bewertung der Filme länger als fünfzehn Jahre zurückliegt 85. Durch diese Vorschrift sollen etwaige Änderungen der Anschauungen über die jugendgefährdende Wirkung des betreffenden Werks, die in der Zeit zwischen seiner Beurteilung durch die Bundesprüfstelle oder die Freiwillige Selbstkontrolle und seiner Ausstrahlung im Rundfunk gegebenenfalls stattgefunden haben, berücksichtigt werden. Dasselbe Ziel verfolgt § 20 der FSK-Grundsätze, wonach ein Film oder Bildträger "bei wesentlich geänderten Umständen" zu erneuter Prüfung vorgelegt werden darf. Aber auch im Rahmen des GjS, wo eine ähnliche Vorschrift nicht enthalten ist, hat das BVerwG 86 die Möglichkeit anerkannt, bei einer Änderung der Maßstäbe, auf denen die Indizierung beruht, das Indizierungsverfahren wiederaufzunehmen. Hervorzuheben ist schließlich die örtliche Relativität des Begriffs "Jugendgefährdung". Die Meinungen darüber, was sich als jugendgefährdend auswirkt, variieren je nach Kulturkreis und Land 87 . Unterschiedliche Anschauungen sind aber auch innerhalb desselben Landes festzustellen. So

84 Der Faktor "Zeit" ist aber auch aus einem anderen Grund von besonderer Bedeutung für unsere Problematik. Denn im Laufe der Zeit finden gesellschaftliche und technische Entwicklungen statt, die die Anfälligkeit der Jugend gegenüber schädigenden Einflüssen vergrößern können. In diesem Zusammenhang sind insbesondere die Allgegenwärtigkeit, leichte Zugänglichkeit und zunehmende Einflußnahme der heutigen Medien und die Verringerung der Bedeutung wichtiger gesellschaftlicher Kontrollmechanismen (z.B. Familie) zu erwähnen. Andererseits muß beachtet werden, daß die heutige Jugend über ein sehr breites Wissens- und Erfahrungspotential verfügt, aufgrund dessen sie oft in der Lage ist, von außen kommenden Gefahren selbst zu bewältigen.

85

Vgl. auch die ähnlichen Regelungen der ARD-Richtlinien zur Sicherung des Jugendschutzes (unter 3.1.l.a), der Richtlinien für die Sendung des ZDF (unter III, 3.2a) und der Richtlinien der Landesmedienanstalten zur Gewährleistung des Jugendschutzes (unter 3.1). 86 Vgl. BVerwGE 39, 197 [202f]; BVerwG, BPS-Report 2/1987, 1 [2]. Vgl. dazu auch BPS, Entsch. v. 30.6.1986 , BPS-Report 4/1986, 18 [20]; BPS, Entsch. Nr. 4082 v. 6.9.1990, BPS-Report 5/1990, 8; Siefen, in: Literatur vor dem Richter, S. 123 [142].

87

Das gilt insbesondere für den Bereich der sittlichen Jugendgeföhrdung, da eine einheitliche Vorstellung von Moral in den verschiedenen Ländern nicht existiert. Vgl. dazu auch das Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte vom 24.5.1988 ("Müller"-Fall), EuGRZ 1988, 543 [545].

44

1 .Kap. Bestimmungen zum Schutze der Jugend

werden die Toleranzgrenzen in einem Dorf in aller Regel enger gezogen als in einer Großstadt. 3. Die Einschätzungsprärogative des Gesetzgebers bei der Annahme jugendbedrohender Gefahren Nachweise und gesicherte wissenschaftliche Erkenntnisse über negative Auswirkungen von Schriften und anderen Massenmedien auf die Entwicklung von Mindeijährigen existieren nicht. Andererseits kann die Möglichkeit einer von Massenmedien ausgehenden Jugendgefährdung auch nicht mit Sicherheit ausgeschlossen werden . Selbst bei pornographischen Werken und Gewaltdarstellungen war die Wissenschaft bis jetzt nicht in der Lage, die Frage des Zusammenhangs zwischen der Rezeption solcher Werke durch Jugendliche und nachteiligen Auswirkungen auf ihre Persönlichkeitsentfaltung einwandfrei zu klären. Nur Vermutungen über mögliche, zum Teil gravierende, gleichzeitig aber unbewiesene jugendgefährdende Einflüsse solcher Darstellungen sind bis heute geäußert worden 89. Die Feststellung, daß jugendgefährdende Einflüsse von Massenmedien wissenschaftlich-empirisch nicht nachgewiesen sind, führt aber nicht zur Verfassungswidrigkeit der Jugendmedienschutzgesetze. Die gesetzgeberische Entscheidung, die Möglichkeit einer aus Massenmedien ausgehenden Jugendgefährdung anzunehmen und Jugendmedienschutzgesetze zu erlassen, hält sich innerhalb der dem Gesetzgeber einzuräumenden Einschätzungsprärogative 90.

88

Vgl. dazu nur etwa BVerfGE 83, 130 [141]; BVerfG, NJW 1994, 1781 [1783];BVerwGE 39, 197 [200]; Bauer, JZ 1965, 41 [44ff]; Erbel, DVB1 1973, 527 [529]; Gernert/Stoffers, Kommentar zum JÖSchG, S. 88f; Knies, Schranken der Kunstfreiheit als verfassungsrechtliches Problem, S. 282 Fn. 280; Potrykus, Kommentar zum GjS, Einleitung S. 2; Schefold, in: Literatur vor dem Richter, S.93 [117ff]; Selg, BPS-Report 2/1991, 3fT. Vgl. ferner den Stenographischen Bericht über die 24. Sitzung des Ausschusses für Jugend, Familie und Gesundheit des Deutschen Bundestages vom 27.6.1984, Protokoll Nr. 24, Teil II, S. 39ff. 89

Zur Wirkung der Pornographie, insbesondere auf Jugendliche, vgl. etwa BVerfG, NJW 1986, 1241 [1242]; OLG Karlsruhe, NJW 1984, 1975 [1976]; Dreher, JR 1974, 45 [54]; Horn, in: SK zum StGB, § 184 Rn. 2; Laufhütte, in: LK zum StGB, § 184 Rn. 1; Schroeder, Pornographie, Jugendschutz und Kunstfreiheit, S. 23ff; We i des, NJW 1987, 224 [225]; Wiehert, Zum Problem der Kunstfreiheitsgarantie, S. 108, 110. Zu den vermuteten schädigenden Einflüssen der Gewaltdarstellungen auf Minderjährige vgl. z.B. BVerfG, NJW 1986, 1241 [1242]; Bauer/Selg, JMS-Report 1/1994, 5fF; Brockhorst-Reetz, Repressive Maßnahmen zum Schutze der Jugend im Bereich der Medien Film, Video, Fernsehen, S. 10; Kunczik, in: Jugendmedienschutz - ohne Zensur in der pluralistischen Gesellschaft, S. 99ff; Laufhütte, JZ 1974, 46 [49]; Meirowitz, Gewaltdarstellungen auf Videokassetten, S. 69ff; Schreyer, Pluralistische Entscheidungsgremien im Bereich sozialer und kultureller Staatsaufgaben, S. 54f; Weides, NJW 1987, 224 [225]. Vgl. auch den schriftlichen Bericht des Sonderausschusses fiir die Strafrechtsreform des 4. StRG, BT-Drucks. VI/3521, S. 4ff m.w.N. 90

Die Einschätzungsprärogative des Gesetzgebers im vorliegenden Bereich betonen auch BVerfG, NJW 1986, 1241 [1242]; BVerfGE 83, 130 [140ff]; Mahrenholz, in: Handbuch des Verfassungs-

Β. Die durch diese Bestimmungen abzuwehrenden Gefahren

45

Maßgeblich für die Bejahung der Einhaltung dieser Grenzen durch den Gesetzgeber ist die Tatsache, daß eine Jugendgefährdung durch Massenmedien zwar wissenschaftlich nicht bewiesen ist, aber auch nicht ausgeschlossen werden kann. Von Bedeutung ist auch die Eigenart der vorliegenden Materie: in einem Bereich, in dem systematische Untersuchungen und Langzeitstudien fehlen 91 und demzufolge die Möglichkeit einer hinreichend sicheren und empirisch fundierten Klärung kaum existiert, kann vom Gesetzgeber nicht gefordert werden, seine Maßnahmen von wissenschaftlich-empirischen Nachweisen abhängig zu machen. Daß die Jugendmedienschutzgesetze Grundrechtspositionen, und zwar zuweilen in erheblichem Maße, tangieren, mag vielleicht gegen die Entscheidung des Gesetzgebers sprechen. Andererseits darf nicht außer acht gelassen werden, daß der Schutz der Jugend ein wichtiges Gemeinschaftsanliegen, sogar ein verfassungsrechtlich geschütztes Rechtsgut darstellt 92. In Betracht kommt des weiteren, daß die (wissenschaftlich unbewiesenen, aber nicht ausgeschlossenen) Gefahren für die Jugend, die von Massenmedien ausgehen können, von erheblicher Relevanz sind. So können etwa pornographische Werke möglicherweise auch die folgenden negativen Wirkungen für Kinder und Jugendliche entfalten: Verursachung von Sexualdelikten, gravierende Persönlichkeitsstörungen, Nachteile für die allgemein-seelische und vor allem sexuelle Reifung und Hervorhebung einer entwürdigenden Einstellung zu Angehörigen des anderen Geschlechts93. Hinzu kommt auch die Frage: wer sonst als der primär demokratisch legitimierte Gesetzgeber sollte in dieser ungewissen Situation das letzte Wort haben, zumal es hier um eine durchaus wesentliche94, die Öffentlichkeit in besonderem Maße berührende Frage geht? Alle diese Gesichtspunkte in ihrer Gesamtheit legitimieren die Entscheidung des Gesetzgebers und führen zur Bejahung ihrer Verfassungsmäßigkeit . Bei einer solchen, wissenschaftlich ungeklärten Situation fallt es rechts, § 26 Rn. 100; Meirowitz, gendschutz und Medien, S. 61. 91

Gewaltdarstellungen auf Videokassetten, S. 225; Schraut, Ju-

Vgl. BVerfGE 83, 130 [141]; Dreher, JR 1974,45 [54].

92

Zur verfassungsrechtlichen Gewährleistung des Jugendschutzes siehe unten im 2. Kapitel, F II. 93

Vgl. dazu den schriftlichen Bericht des Sonderausschusses für die Strafrechtsreform zum 4. StRG, BT-Drucks. VI/3521, S. 58 und Schroeder, Pornographie, Jugendschutz und Kunstfreiheit, S.23f. 94

Zum Merkmal des "Wesentlichen" und zur Wesentlichkeitstheorie siehe unten im 3. Kapitel, A I . 95

Die Verfassungsmäßigkeit der Jugendmedienschutzgesetze (vor allem des GjS) trotz des Fehlens gesicherter wissenschaftlicher Erkenntnisse über die jugendgefährdende Wirkung von Massenmedien betonen auch BVerfG, NJW 1986, 1241 [1242]; BVerfGE 83, 130 [140ff]; BVerwGE 39, 197 [200]; Mahrenholz, in: Handbuch des Verfassungsrechts, § 26 Rn. 100; Meirowitz, Gewaltdarstellungen auf Videokassetten, S. 224ff; Schefold, in: Literatur vor dem Richter, S. 93 [117ff]. Vgl. auch Lerche, in:

1 .Kap. Bestimmungen zum Schutze der Jugend

46

primär dem Verantwortungsbereich des Gesetzgebers zu, das Für und Wider abzuwägen und zu entscheiden, ob er Maßnahmen zum Schutze der Jugend ergreifen will oder nicht 96 9 1 . Der Gesetzgeber hätte die Grenzen seines Spielraums nur dann überschritten, wenn eine Jugendeefährdung durch Schriften und andere Massenmedien auszuschließen wäre , was aber nach dem heutigen Stand der Wissenschaft nicht der Fall ist. Würde aber die zukünftige Entwicklung der Wissenschaft den Beweis liefern, daß Massenmedien mit Sicherheit keine jugendgefährdende Wirkung haben können, dann dürfte auch der Gesetzgeber nicht darüber hinwegsehen99. Er wäre sogar verpflichtet, die Jugendmedienschutzgesetze abzuschaffen. II. Die Gefährdungstatbestände der einschlägigen Bestimmungen, insbesondere die "sittliche Jugendgefährdung" Die Jugendgefährdungen, die durch die hier interessierenden Jugendschutzvorschriften abgewehrt werden sollen, sind in der Regel generalklauselartig festgelegt 100. So zielen § 6 Abs. 2 JÖSchG101 und § 3 Abs. 2 Satz 1

Stenographischer Bericht über die 24. Sitzung des Ausschusses für Jugend, Familie und Gesundheit des Deutschen Bundestags vom 27.6.1984, Protokoll Nr. 24, Teil II, S. 105, der in diesem Zusammenhang ausführt: "Es wurde gesagt, der Gesetzgeber dürfe überhaupt nichts tun, solange keine voll gesicherten Untersuchungen bereitstünden (...). Es ist doch vielmehr so, daß es für eine gesetzgeberische Maßnahme ausreicht, wenn das zugängliche Informationsmaterial erschöpfend behandelt worden ist (...) und wenn sich der Gesetzgeber ein plausibles Bild machen konnte. Das reicht selbst dann aus, wenn Unsicherheiten verbleiben und wenn es letztlich eine Prognose ist, die dem gesetzgeberischen Verhalten zugrunde liegt". Vgl. femer Weides, NJW 1987, 224 [225], nach dem "derartige empirische Unsicherheiten nicht zu einem Verzicht auf den Jugendschutz" führen können. Ebenso Gernert/Stoffers, Kommentar zum JÖSchG, S. 89f. 96 So auch BVerfGE 83, 130 [141f]. Ähnlich BVerfGE 49, 89 [131f] fur technischwissenschaftlich ungeklärte Situationen. Vgl. des weiteren BVerfGE 25, 1 [17] wo (in anderem Zusammenhang) betont wurde, daß dem Gesetzgeber nicht verwehrt sein kann, nicht auszuschließende Gefahrenlagen vorzubeugen.

97

Auf einem anderen Blatt steht die Frage, ob diese wissenschaftliche Unsicherheit auf verfahrensrechtlicher Ebene von Bedeutung sein könnte, etwa ob eine qualifizierte Mehrheit für die Anordnung von Indizierungen (auch) wegen des Mangels an gesicherten wissenschaftlichen Erkenntnissen sachgerecht wäre. Siehe dazu unten im 4. Kapitel, Β I V . 98

Vgl. BVerfGE 83, 130 [142].

99

Zur Pflicht des Gesetzgebers, zukünftige Entwicklungen zu berücksichtigen und auf sie entsprechend zu reagieren vgl. etwa BVerfGE 49, 89 [132]. 100

Das ist auf die Vielgestaltigkeit und Entwicklungsoffenheit der vorliegenden Materie zurückzuführen. Siehe dazu unten in diesem Kapitel, C I. 101

Vgl. auch §§ 1; 6 Abs. 2 Satz 1; 10 Satz 1 JÖSchG.

Β. Die durch diese Bestimmungen abzuwehrenden Gefahren

47

RfStV auf den Schutz von Kindern und Jugendlichen vor "Beeinträchtigungen ihres körperlichen, geistigen oder seelischen Wohls" ab 1 0 2 . Die einschlägigen Vorschriften geben aber keinen Hinweis darauf, was unter diesen Begriffen zu verstehen ist. Nur § 29 der FSK-Grundsätze bestimmt, daß das körperliche, geistige oder seelische Wohl von Kindern und Jugendlichen insbesondere durch Filme und Bildträger beeinträchtigt werden kann, die "die Nerven überreizen, übermäßige Belastungen hervorrufen, die Phantasie über Gebühr erregen, die charakterliche, sittliche (einschl. religiöse) oder geistige Erziehung hemmen, stören oder schädigen, zu falschen und abträglichen Lebenserwartungen verfuhren oder die Erziehung zu verantwortungsbewußten Menschen in der Gesellschaft hindern". Aber auch diese Ausführungen können dem Rechtsanwender nur in geringfügigem Maße behilflich sein, weil sie selbst wiederum eine große Zahl von unbestimmten, wertausfüllungsbedürftigen und in ihrer Bedeutung unklaren Begriffen enthalten ("charakterliche, sittliche, geistige Erziehung", "verantwortungsbewußte Menschen" usw.) 103 . Soweit es um den Begriff "seelische Beeinträchtigung" geht, dürfte damit eine Beeinträchtigung in sittlicher Hinsicht gemeint sein 104 . Insoweit sei auf die alsbald nachfolgenden Ausführungen über die "sittliche Jugendgefährdung" verwiesen. Durch das Merkmal der "geistigen Beeinträchtigung" sollen ferner vor allem Werke erfaßt werden, die eine Verarmung oder Verflachung in bildungsmäßiger Hinsicht herbeiführen können 105 . Zur Kategorie der "körperlichen Beeinträchtigung" gehören schließlich außerhalb der neurotischen Überreizungen auch schockierende oder angsterregende Wirkungen, die von einem Werk wegen seiner Thematik (z.B. Abtreibung, Hunger in der Dritten Welt, Familienkonflikte) oder wegen seiner drastischen Gestaltung ausgehen können. Eine körperliche Beeinträchtigung ist ferner bei Störungen des körperlichen Wohlbefindens anzunehmen, die etwa auf die Länge oder die optischen und akustischen Elemente (z.B. Lautstärke) des Films zurückzuführen sind 106 .

102 Vgl. ferner §§ 6 Abs. 2 Nr. 3; 27 Abs. 1, 3 Nr. 1 JArbSchG, die auf Beeinträchtigungen "för die körperliche oder seelisch-geistige Entwicklung der Jugendlichen" abstellen. 103

Insoweit kritisch auch Gernert/Stoffers,

Kommentar zum JÖSchG, S. 104.

104

Vgl. Gernert/Stoffers, Kommentar zum JÖSchG, S. 105, wonach in den Bereich der seelischen Beeinträchtigung die Konfrontation mit sozialethisch nicht tolerierbaren Inhalten fällt. 105 106

Zur "geistigen Jugendgefährdung" vgl. etwa BGHSt 8, 80 [83f].

Vgl. dazu Gernert/Stoffers, Kommentar zum JÖSchG, S. 104. Weitere Beispiele von Werken, die das körperliche, geistige oder seelische Wohl von Kindern und Jugendlichen beeinträchtigen können, findet man bei Harrer, Jugendschutzgesetze, § 6 JÖSchG Anm. 8 und v.Hartlieb, Handbuch des Film-, Fernseh- und Videorechts, S. 42f.

.Kap. Bestimmungen zum Schutze der Jugend

48

Besonders kontrovers und umstritten ist die Bedeutung der "sittlichen Jugendgefährdung", auf deren Abwehr vor allem das GjS 1 0 7 abzielt. Ihre Durchleuchtung ist aber gleichzeitig in hohem Maße wichtig, nicht zuletzt wegen ihrer zentralen Stellung im Jugendmedienschutz. Die typischen Fälle sittlicher Jugendgefährdung sind schon im § 1 Abs. 1 Satz 2 GjS festgelegt: "Dazu (seil: zu den Schriften, die geeignet sind, Kinder und Jugendliche sittlich zu gefährden) zählen vor allem unsittliche, verrohend wirkende, zu Gewalttätigkeit, Verbrechen oder Rassenhaß anreizende sowie den Krieg verherrlichende Schriften" 108 1 0 9 . Als weitere Beispiele (sogar offensichtlich schwerer) sittlicher Jugendgefährdung gelten nach § 6 Nr. 1, 2 GjS die pornographischen Schriften (§ 184 StGB) und die Schriften, die als rassistisch oder gewaltverherrlichend einzustufen sind (§131 StGB). Die Bundesprüfstelle hat ferner durch ihre Spruchpraxis den Bedeutungsinhalt des Begriffs "sittliche Jugendgefahrdung" näher erläutert und im wesentlichen entschlüsselt (obwohl ihre Annahmen nicht immer einwandfrei und unangreifbar sind). So stellen nach der Bundesprüfstelle (außerhalb der im GjS selbst erwähnten Fällen) etwa die folgenden Inhalte eine sittliche Gefahr für die Jugend dar: Verharmlosung der Selbstjustiz110; Drogenverherrlichung 111; Propagierung vom NS-Gedankengut 1 1 2 ; Frauendiskriminierung 113; Verleitung zum Selbstmord114. Zu der im 107 Vgl. § 1 Abs. 1, § 6 GjS. Der Abwehr von sittlichen Jugendgefährdungen dienen ferner § 3 Abs. 1 RfStV und § 22 Abs. 1 Nr. 2 JArbSchG.

108 Zur Bedeutung der einzelnen Begriffe des § 1 Abs. 1 Satz 2 GjS vgl. etwa Harrer, Jugendschutzgesetze, § 1 GjS Anm. 4; Potrykus, Kommentar zum GjS, § 1 Rn. 8ff; ders., in: Erbs/Kohlhaas, Strafrechtliche Nebengesetze, § 1 GjS Anm. 6ff; Rainer Scholz, Jugendschutz, § 1 GjS Anm., 5 ff; Siefen, in: Das Deutsche Bundesrecht, GjS Anm. zu § 1. ΙΛΟ

..

Ahnlich hat auch das BVerfG (BVerfGE 30, 336 [347]) den Kreis der sittlich jugendgefährdenden Schriften umschrieben: "Derartige Gefahren drohen auf sittlichem Gebiet von allen Druck-, Tonund Bilderzeugnissen, die Gewalttätigkeiten oder Verbrechen glorifizieren, Rassenhaß provozieren, den Krieg verherrlichen oder sexuelle Vorgänge in grob schäm verletzender Weise darstellen". 110 Vgl. BPS, Entsch. Nr. 1890 (V) vom 25.4.1984, BPS-Report 2/1985, 30 [31]; BPS, Entsch. Nr. 3340 vom 10.5.1984, BPS-Report 4/1984, 24 [25ff|; BPS, Entsch. Nr. 1954 (V) vom 25.7.1984, BPS-Report 5/1984, 7 [10f]; BPS, Entsch. Nr. 3600, BPS-Report 3/1986, 9 [12]; BPS, Entsch. Nr. 2814 (V) vom 3.3.1987, BPS-Report 3/1987, 13 [17]. 111 Vgl. BPS, Entsch. Nr. 3471 vom 6.9.1984, BPS-Report 3/1985, 8 [9ff]; BPS, Entsch. Nr. 2814 (V) vom 3.3.1987, BPS-Report 3/1987, 13 [15]. 112 Vgl. BPS, Entsch. Nr. 3236 vom 2.9.1982, BPS-Report 4/1983, 8f; BPS, Entsch. Nr. 2814 (V) vom 3.3.1987, BPS-Report 3/1987, 13 [15]; BPS, Entsch. Nr. 3595 (V) vom 7.7.1989, BPS-Report 3/1990, 36ff. Vgl. dazu auch BVerfG, NJW 1994, 1781 [1783]; BVerwG, BPS-Report 2/1987, 1 [7]; OVG Münster, BPS-Report 4/1983, 3 [4f|; OVG Münster, BPS-Report 1/1988, 9ff; LG Köln, BPSReport 4/1989, 43 [45]. 113 Vgl. BPS, Entsch. Nr. 1890 (V) vom 25.4.1984, BPS-Report 2/1985, 30 [31]; BPS, Entsch. Nr. 3415 vom 6.9.1984, BPS-Report 5/1984, 19 [22]; BPS, Entsch. Nr. 3525 v. 17.10.1985, BPS-Report 1/1986, 19f; BPS, Entsch. Nr. 2814 (V) vom 3.3.1987, BPS-Report 3/1987, 13 [15].

Β. Die durch diese Bestimmungen abzuwehrenden Gefahren

49

sexuellen Bereich liegenden sittlichen Jugendgefährdung zählt die Bundesprüfstelle beispielsweise die Förderung unverantwortlicher Sexualität115, die Verharmlosung des Inzests116, exhibitionistisch-narzißtische Bilddarstellungen von Frauen 117, die Propagierung von sadomasochistischen Sexualpraktiken 118 und Gruppensex119 und die Reduzierung der Sexualität auf Lust und Luststeigerung120. Angesichts der Tatsache, daß es die Ethik in unserer pluralistischen Gesellschaft nicht gibt, wäre das Abstellen auf präjuristische oder überpositive ethische Normen nicht nur unergiebig, sondern darüber hinaus unzulässig. Bei einem Wertpluralismus im sittlichen Bereich dürfen nur diejenigen ethischen Normen beachtet werden, die von einer solchen grundlegenden Bedeutung sind, daß sie von der Rechtsordnung als eigene rezipiert worden sind. Als Orientierungshilfe zur Entschlüsselung des Begriffs "sittliche Jugendgefährdung" sind demnach diejenigen Normen des positiven Rechts heranzuziehen, die unser Zusammenleben prägen und tragen und "zu deren Bruch die Jugend nicht verleitet werden darf, um auch für die Zukunft dieses Zusammenleben zu gewährleisten" 121.

114 Vgl. BPS, Entsch. Nr. 3330 vom 7.7.1983, BPS-Report 6/1983, 16ff Vgl. aber mchBauer, JZ 1965, 41 [43], nach dem zum Selbstmord anreizende Schriften nicht als sittlich jugendgefährdend zu qualifizieren seien, weil Selbstmord in den Bereich der umstrittenen Ethik falle. Die Annahme dieser Ansicht würde darauf hinauslaufen, daß Kinder und Jugendliche ungehindert Werke rezipieren könnten, die sie zum Selbstmord verleiten. Daß das ein unhaltbares Ergebnis ist, liegt auf der Hand. Vgl. auch Raue, Literarischer Jugendschutz, S. 60f. 115

Vgl. BPS, Entsch. Nr. 3521 vom 17.10.1985, BPS-Report 2/1986, 1 [8, 11].

116

Vgl. BPS, Entsch. Nr. 3521 vom 17.10.1985, BPS-Report 2/1986, 1 [8, 12f]; BPS, Entsch. Nr. 2778 (V) vom 27.1.1987, BPS-Report 2/1987, 17f. 117

Vgl. BPS, Entsch. Nr. 3762 vom 9.7.1987, BPS-Report 5/1987, 20 [2 Iff].

118

Vgl. BPS, Entsch. Nr. 3415 vom 6.9.1984, BPS-Report 5/1984, 19 [21]; BPS, Entsch. Nr. 3196 (V) vom 10.3.1988, BPS-Report 4/1988, 14 [16f|;BPS, Entsch. Nr. 3887 vom 1.9.1988, BPSReport 5/1988, 37 [38f]. 119

Vgl. BPS, Entsch. Nr. 4018 vom 8.2.1990, BPS-Report 2/1991, 47 [49fJ.

120

Vgl. BPS, Entsch. Nr. 4018 vom 8.2.1990, BPS-Report 2/1991, 47 [48].

121

Raue, Literarischer Jugendschutz, S. 61. Daß bei der Beurteilung der sittlichen Jugendgeföhrdung nur solche fundamentalen Rechtsnormen als Maßstab herangezogen werden können, ist ohne weiteres einleuchtend. Sonst wären als sittlich jugendgefährdend auch Schriften zu bezeichnen, die die Jugend zu einem Verstoß gegen irgendwelche zivilrechtliche Bestimmungen oder zur Begehung einer Ordnungswidrigkeit verleiten könnten, ein schlechthin unannehmbares Ergebnis. Die Ausfüllung des Begriffs "sittliche Jugendgefälirdung" anhand der geltenden Rechtsordnung befürworten femer Bauer, JZ 1965, 41 [43]; ders., JZ 1967, 167f; Wagenitz, DVB1 1972, 392f. Vgl. auch BPS, Entsch.Nr. 2814 (V) vom 3.3.1987, BPS-Report 3/1987, 13 [14]: "Die Feststellung, daß eine Schrift geeignet ist, eine sozialethische Desorientierung herbeizuführen, setzt die Antwort auf die Frage voraus, welche sozialethische Wertvorstellungen der Gesetzgeber schützen will. Zwar bestehen in der heutigen

4 Vlachopoulos

.Kap. Bestimmungen zum Schutze der Jugend

50

In Betracht kommen insbesondere die Grundgesetzartikel, in die sittliche Werte Eingang gefunden haben122. So können als sittlich jugendgefährdend diejenigen Schriften eingestuft werden, die die Jugend dazu verführen, die Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG) zu mißachten (etwa rassistische Werke oder Werke, die den Menschen zum bloßen Objekt bzw. wertlosen Material herabwürdigen, den Menschenhandel propagieren oder Personen als "Mordhelden" und "Kampfmaschinen" darstellen. Ferner pornographische Werke, die Gewalttätigkeiten oder den sexuellen Mißbrauch von Kindern zum Gegenstand haben (harte Pornographie) oder entwürdigende sexuelle Beziehungen und Praktiken befürworten). Als geeignet, die Jugend sittlich zu gefährden, sind ferner diejenigen Schriften anzusehen, die Kinder und Jugendliche zu einer die Rechte anderer (Art. 2 Abs. 1 GG) 1 2 3 prinzipiell ablehnenden Haltung oder zu einer der Wertentscheidung des Art. 3 GG widersprechenden Einstellung verleiten können (dazu gehören beispielsweise rassistische und frauendiskriminierende Schriften oder Schriften, die bestimmte Personen oder Personengruppen wegen ihrer Sprache, ihrer Herkunft, ihres Glaubens oder ihrer religiösen oder politischen Anschauungen verächtlich machen)124. Eine sittliche Gefahr für die Jugend stellen des weiteren solche Werke dar, die die Bedeutung und Integrität der Ehe und Familie (Art. 6 Abs. 1 GG) in der Vorstellungswelt der Jugend untergraben können (etwa Verherrlichung von Ehebruch, Inzest oder Gruppensexualität unter Eheleuten) oder geeignet sind, die Jugendlichen zu einem das fremde Eigentum (Art. 14 GG) verachtenden Verhalten zu verführen. Als Maßstäbe zur inhaltlichen Ausfüllung des Begriffs "sittliche Jugendgefährdung" sind schließlich die "freiheitliche demokratische Grundordnung" (Art. 10 Abs. 2, Art. 11 Abs. 2, Art. 18, Art. 21 Abs. 2, Art. 87a Abs. 4 und Art. 91 Abs. 1 GG) 1 2 5 und das Bekenntnis des Grundgesetzes Gesellschaft der Bundesrepublik weitgehend unterschiedliche sozialethische Wertvorstellungen. Das bedeutet aber nicht, daß es überhaupt keine verbindlichen sozialethischen Wertvorstellungen mehr gäbe, die die Bundesprüfstelle und die Gerichte ihren Entscheidungen zugrundelegen könnten. Vielmehr ergeben sich trotz des Wertpluralismus unserer Gesellschaft verbindliche Wertentscheidungen aus dem Grundgesetz und auch aus einfachen Gesetzen wie dem Strafgesetzbuch und dem Gesetz über die Verbreitung jugendgefährdender Schriften". 122

Vgl. dazu auch Raue, Literarischer Jugendschutz, S. 6Iff.

123

Insbesondere die Rechte auf Leben, körperliche Unversehrtheit und persönliche Freiheit (Art. 2 Abs. 2 GG). 124 Es ist deshalb vMangoldt/Klein/Starck (Kommentar zum GG, Art. 5 Abs. 1,2 Rn. 126) zuzustimmen, wenn sie auf dem Standpunkt stehen, daß auch Fremden- und Klassenhaß propagierende Schriften jugendgefährdend sind.

125

A A Raue, Literarischer Jugendschutz, S. 65, nach dem Schriften, deren Inhalt mit der Idee der "freiheitlichen demokratischen Grundordnung" unvereinbar ist, lediglich eine Gefahr im politischen Gebiet, nicht aber eine sittliche (vom GjS allein abzuwehrende) Gefährdung darstellen würden. Raue verkennt aber dabei, daß diese beiden Kategorien (politische-sittliche Gefahrdung) nicht scharf zu trennen sind. So sind etwa antidemokratische Werke mit Annahmen und Vorstellungen unauflöslich

Β. Die durch diese Bestimmungen abzuwehrenden Gefahren

51

zum friedlichen Zusammenleben der Völker (Art. 26 Abs. 1 GG) heranzuziehen. NS-Gedankengut propagierende und kriegsverherrlichende 126 Schriften sind demnach als sittlich jugendgefährdend einzustufen. Als weiterer Beurteilungsmaßstab kommen die Strafvorschriften in Betracht, die typisch kriminelles Unrecht pönalisieren (zum Beispiel die Vorschriften des StGB, die Leben (§§ 21 Iff StGB), körperliche Unversehrtheit (§§ 223ff StGB), persönliche Freiheit (§§ 234ff StGB), sexuelle Selbstbestimmung (§§ 174ff StGB), Ehre (§§ 185ff StGB), Eigentum und Vermögen (§§ 242ff StGB) schützen)127. Kann eine Schrift Kinder und Jugendliche dazu verleiten, gegen solche Vorschriften zu verstoßen, dann ist auch ihre Eignung zur sittlichen Jugendgefährdung zu bejahen128. Deshalb kann der Bundesprüfstelle zugestimmt werden, wenn sie Werke indiziert, die drogenverherrlichend sind 129 , oder den Rezipienten in der Durchführung einer Vergewaltigung 11Π

unterweisen1 . Durch das Abstellen auf die geltende Rechtsordnung hat man eine sichere Grundlage für die Beurteilung des etwaigen sittlich jugendgefährdenden Charakters eines Werks gefunden. Die dadurch gewonnenen Ergebnisse dürften darüber hinaus weitgehend konsensfähig sein. Von einer "Versteinerung" des Begriffs "sittliche Jugendgefährdung" könnte nicht die Rede sein. Denn neue Rechtsnormen treten in Kraft, andere werden abgeschafft (vgl. der kürzliche Wegfall des § 175 StGB, homosexuelle Handlungen131) oder geändert (vgl. die Verschärfung des Kindepornographieverbots, § 184 Abs. 3ff StGB) 132 und die Interpretation der einschlägigen Rechtsvorschriften kann dem Wandel der Anschauungen Rechnung tragen. Man sollte sich aber darüber im klaren sein, daß es kaum möglich ist, alle möglichen Fälle von sittlicher Jugendgefährdung in eine abschließende Definition einzubeziehen. Es ist deshalb nicht er-

verbunden, die auch eine Gefahr in sittlicher Hinsicht bedeuten (z.B. Verletzung fundamentaler Menschenrechte). 126

Der jugendgefährdende Charakter von kriegsverherrlichenden Schriften ergibt sich auch aus dem Beispielskatalog des § 1 Abs. 1 Satz 2 GjS. 127

128

Vgl. auch Raue, Literarischer Jugendschutz, S. 72f.

Vgl. auch § 1 Abs. 1 Satz 2 GjS, wonach zu Verbrechen anreizende Schriften als jugendgefährdend anzusehen sind. j 29 Siehe die Nachweise oben bei Fn. 111. Vgl. BPS, Entsch. Nr. 3600, BPS-Report 3/1986,9 [12ff].

130

4*

131

Art. 1 des 29. Strafrechtsänderungsgesetzes vom 31.5.1994 (BGBl I S. 1168).

132

Art. 1 des 27. Strafrechtsänderungsgesetzes vom 23.7.1993 (BGBl I S. 1346).

52

.Kap. Bestimmungen zum Schutze der Jugend

staunlich, daß die entsprechenden Versuche des BVerwG 133 auf Leerformeln oder tautologische Formulierungen der Art "sozialethische Begriffsverwirrung" hinausgelaufen sind 134 . ΠΙ. Weitere Maßstäbe, von denen die Beurteilung der Jugendgefahrdung abhängt Mit der Erläuterung der Gefährdungstatbestände der in Betracht kommenden Jugendschutzvorschriften (und insbesondere des Begriffs "sittliche Jugendgefahrdung") hat man aber die Probleme nicht gelöst. Denn die Beurteilung der Jugendgefährdung setzt die Klärung einer Reihe von weiteren Fragen voraus. 1. Der maßgebliche Jugendliche Ist die Anwendung einer Jugendschutzmaßnahme davon abhängig, ob das betreffende Werk "Kinder und Jugendliche" gefährdet, dann stellt sich die Frage nach dem Alter des Kindes oder des Jugendlichen, worauf bei der Beurteilung der Jugendgefährdung abzustellen ist 1 3 5 . Denn es ist durchaus möglich, daß sich ein Werk zwar auf ein Kind von zwölf Jahren, nicht aber auf einen Jugendlichen von siebzehn Jahren gefährdend auswirken kann. Mit zunehmendem Alter wächst nämlich gleichzeitig der Reifegrad des Minderjährigen und damit seine Fähigkeit, etwaige schädigende Einflüsse selbst zu bewältigen. 133 Vgl. BVerwGE 23, 112 [114f]; 25, 318 [320]; 28, 223 [230]; 39, 197 [206]. Vgl. des weiteren OVG Münster, BPS-Report 1/1988,9 [10]. 134 Die Bundesprüfstelle definiert in ständiger Spruchpraxis (vgl. nur etwa BPS, Entsch. Nr. 3343 vom 7.6.1984, BPS-Report 2/1985, 28; BPS, Entsch. Nr. 3762 vom 9.7.1987, BPS-Report 5/1987, 20 [21]; BPS, Entsch. Nr. 3595 (V) vom 7.7.1989, BPS-Report 3/1990, 36) den Begriff "sittliche Jugendgefährdung" als "sozialethische Desorientierung". Für weitere Beispiele tautologischer und nichtssagender Umschreibungen des Begriffs "sittliche Jugendgefährdung" aus der Literatur und Rechtsprechung vgl. Maunz, in: FS für Obermeyer, S. 85 [88ff|. 135 Diese Frage erhebt sich vor allem im Rahmen des GjS, weil § 1 Abs. 1 GjS pauschal auf "Kinder und Jugendliche" abstellt, ohne weiter zu differenzieren. Aber auch bei der Jugendfreigabe von Filmen und Videokassetten können sich - trotz der in §§ 6 Abs. 3 Satz 1 und 7 Abs. 2 Satz 1 JÖSchG vorgesehenen Alterseinstufungen (ohne Altersbeschränkung, ab sechs, zwölf oder sechzehn Jahren, nicht freigegeben unter achtzehn Jahren) - ähnliche Probleme ergeben. Das ist beispielsweise dann der Fall, wenn ein Film nur die Kinder bis zum Alter von neun Jahren, nicht aber die zehn- und elfjährigen Kinder beeinträchtigen kann (wobei allerdings solche exakten Differenzierungen nur selten vorkommen werden). Sollte man hier auf die neunjährigen (und jüngeren) oder vielmehr auf die zehn- und elfjährigen Kinder abstellen? Im ersten Fall wäre für eine Freigabe ab zwölf Jahren, im zweiten Fall dagegen f\ir eine Freigabe ab sechs Jahren zu entscheiden. Vgl. dazu auch § 29 Abs. 2 Nr. 4 Satz 1 der FSK-Grundsätze: "Ein Film oder Bildträger darf für eine Altersgruppe nur freigegeben werden, wenn er das körperliche, geistige oder seelische Wohl keines Jährgangs dieser Altersgruppe beeinträchtigen kann".

Β. Die durch diese Bestimmungen abzuwehrenden Gefahren

53

Der Rechtsanwender steht hier vor einem sehr schwer lösbaren Dilemma: Einerseits müssen auch und sogar in erster Linie die unteren Altersgruppen geschützt werden. Erstreckte sich andererseits der Kreis der zu schützenden Jugendlichen auch auf die Angehörigen der untersten Altersgruppen, dann würde sich der Anwendungsbereich der Jugendmedienschutzgesetze erheblich ausweiten, was angesichts ihres - zuweilen weitgehenden - Eingriffs in die Grundrechte des Art. 5 GG sicher nicht unproblematisch wäre. Darüber hinaus würden den älteren Altersgruppen Schriften vorenthalten, die sich auf sie nicht gefährdend, in manchen Fällen sogar positiv auswirken könnten. Soweit die Bejahung des jugendgefährdenden Charakters eines Werks nicht automatisch zur Anwendung der Jugendschutzmaßnahme fuhrt, vielmehr eine Abwägung erfolgen muß (wie im Fall der Kollision der Jugendschutzbestimmungen mit dem Grundrecht der Kunstfreiheit 136), bietet sich die Möglichkeit einer Lösung, die sowohl der Notwendigkeit des Schutzes (auch) der unteren Altersgruppen als auch der Bedeutung der betroffenen Grundrechte genügend Rechnung trägt. In diesem Fall sollte die Jugendgefahrlichkeit eines Werks auch dann bejaht werden, wenn es nur auf die untersten Altersgruppen einen negativen Einfluß ausüben könnte. Andererseits darf nicht außer acht gelassen werden, daß je enger der Kreis der vom Werk betroffenen Jugendlichen ist, desto weniger Gewicht dem Jugendschutz bei der Einzelfallabwägung beizumessen ist 1 3 7 . Auf diese Weise verzichtet man nicht von vornherein auf den Schutz der untersten, in hohem Maße schutzbedürftigen Altersgruppen und kann gleichzeitig zu differenzierenden, auf die Besonderheit des Einzelfalls Rücksicht nehmenden Ergebnissen gelangen. Ist beispielsweise ein Kunstwerk geeignet, nur Kinder von sechs Jahren (und nicht ältere) sittlich zu gefährden, dann ist seine Indizierung nur in dem Fall zu bejahen, daß etwa die von ihm ausgehende Jugendgefährdung von erheblicher Relevanz ist und die Verbreitung des Kunstwerks an Erwachsene durch die Indizierung kaum erschwert wird. Nicht so strenge Anforderungen sind dagegen zu stellen, wenn ein Kunstwerk auch die siebzehnjährigen Jugendlichen sittlich gefährden kann. Darüber hinaus setzt die Feststellung der Jugendgefahrlichkeit eines Werks die Klärung der Frage voraus, ob dabei nur auf den "durchschnittlichen" oder auch auf den "labilen", "gefährdungsgeneigten" Jugendlichen abzustellen ist. Nach einer Meinung sei erforderlich, auch den labilen Jugendlichen zu berücksichtigen, weil insbesondere dieser Teil der Jugend des staatlichen

136

137

Siehe dazu unten im 3. Kapitel, A I .

Siehe dazu im einzelnen unten im 3. Kapitel, Β II 3 a, bb.

.Kap. Bestimmungen zum Schutze der Jugend

54

Schutzes bedürfe 138. Eine Unterscheidung zwischen dem "gesunden" Durchschnittsjugendlichen und dem gefährdungsgeneigten Jugendlichen sei außerdem kaum möglich. Fast alle Jugendlichen seien heute wegen der raschen Entwicklung der Technik und der Liberalisierung der Moral in gewissem Maße gefährdungsgeneigt. Nur Extremfalle völliger Verwahrlosung und krankhafter Anfälligkeit müßten außer Betracht bleiben. Nach der gegenteiligen Auffassung sei nur der durchschnittliche Jugendliche zu berücksichtigen139. Die Auslegung der Jugendschutzgesetze müsse im Lichte der Bedeutung der dadurch - zuweilen stark - betroffenen Grundrechte, d.h. restriktiv, vorgenommen werden. Die gefahrdungsgeneigten Jugendlichen könnten nicht zu Lasten der Grundrechte des Art. 5 GG geschützt werden. Für ihren wirkungsvollen Schutz sei vielmehr der Weg der Jugendfürsorge und -pflege geeignet. Beide Ansichten haben sicher etwas für sich. Soweit aber die Anordnung einer Jugendschutzmaßnahme eine Abwägung zwischen dem Jugendschutz und einem anderen widerstreitenden Interesse erfordert, ist auch hier differenzierend zu verfahren: eine Gefahr für die Jugend kann schon dann angenommen werden, wenn das in Rede stehende Werk negative Einflüsse nur auf die labilen Jugendlichen ausüben kann. In einem solchen Fall aber verringert sich das Gewicht, das der Jugendschutz bei der Abwägung beansprucht, und damit gleichzeitig die Möglichkeit, daß das Abwägungsergebnis zugunsten der Anwendung der Jugendschutzmaßnahme ausfallen wird 1 4 0 .

138 So BVerwGE 39, 197 [205]; BGHSt 8, 80 [83, 86f]; OLG Düsseldorf, NJW 1966, 1186; OVG Münster, BPS-Report 4/1983, 3 [4]; OVG Münster, BPS-Report 1/1988, 9 [10]; BPS, Entsch. Nr. 2814 (V) vom 3.3.1987, BPS-Report 3/1987, 13 [15]; Becker, MDR 1968, 881 [883f]; ν. H artlieb, Handbuch des Film-, Femseh- und Videorechts, S. 43f; Hoffmann-Riem,, in: AK zum GG, Art. 5 Abs. 1, 2 Rn. 106; Kalb, Der Jugendschutz bei Film und Fernsehen, S. 192ff; vMangoldt/ Klein/Starck, Kommentar zum GG, Art. 5 Abs. 1,2 Rn. 126; Potrykus, Kommentar zum GjS, § 1 Rn. 4; ders., NJW 1967, 1454 [1455]. Vgl. auch § 29 Abs. 2 Nr. 4 der FS K-Grundsätze: "Dabei ist nicht nur auf den durchschnittlichen, sondern auch auf den gefährdungsgeneigten Minderjährigen abzustellen. Lediglich Extremfälle sind auszuschließen". 139 So etwa Bauer, JZ 1965, 41 [42]; Eckhardt, DVB1 1969, 857 [859fJ; Erbel, DVB1 1973, 572 [530]; Raue, Literarischer Jugendschutz, S. 25ff; Romatka, AfP 1972, 344 [345]; Schraut, Jugendschutz und Medien, S. 73f. So auch die frühere Rechtsprechung des BVerwG (vgl. BVerwGE 25, 318 [32 Iff]; 27, 14 [21]; 28, 223 [227ff]), die sich allerdings zuweilen höchst merkwürdiger und befremdlicher Argumente bedient. Vgl. BVerwGE 25, 318 [322]: "So wie die Gattungsschuld sich auf Sachen mittlerer Art und Güte bezieht, müssen hier auch unter Kindern und Jugendlichen solche mittlerer Art, also die nicht in statistischem, sondern in biologisch-psychischem Sinn durchschnittlichen Vertreter ihrer Gattung verstanden werden". (!) Diese Judikatur des BVerwG wurde aber später durch BVerwGE 39, 197 [205] zugunsten der Mitberücksichtigung des labilen Jugendlichen geändert. 140

Siehe dazu unten im 3. Kapitel, Β II 3 a, bb.

Β. Die durch diese Bestimmungen abzuwehrenden Gefahren

2. Der erforderliche

Wahrscheinlichkeitsgrad

55

der Jugendgefährdung

Das Urteil über die Eignung eines Werks zur Jugendgefährdung ist eine Prognoseentscheidung141. Damit stellt sich die Frage nach dem erforderlichen Wahrscheinlichkeitsgrad des Gefahreneintritts. Genügt für die Bejahung der Eignung eines Werks zur Jugendgefährdung die einfache Wahrscheinlichkeit, die bloße Möglichkeit einer Jugendgefährdung oder muß vielmehr die Gefahr für die Jugend mit einer an Sicherheit grenzenden Wahrscheinlichkeit festgestellt werden? Bei der Beantwortung dieser Frage ist davon auszugehen, daß für die Anordnung der Jugendschutzmaßnahmen die einfache Wahrscheinlichkeit einer Jugendgefährdung ausreicht 142. Eine an Sicherheit grenzende Wahrscheinlichkeit ist dagegen nicht erforderlich 143. Gegen die hier vertretene Auffassung spricht zwar die Erwägung, daß die Jugendschutzvorschriften - angesichts ihres Eingriffs in die Grundrechte des Art. 5 GG - restriktiv ausgelegt werden müßten14 . Primär entscheidend ist aber hier die Eigenart der in Rede stehenden Materie. Wenn nämlich nach dem heutigen Stand der Wissenschaft nicht bewiesen ist, daß Massenmedien überhaupt geeignet sein können, die Jugend zu gefährden 145, dann wird logischerweise die Feststellung der an Sicherheit grenzenden Wahrscheinlichkeit einer Jugendgefährdung in aller Regel unmöglich sein 146 . Würde man so hohe Wahrscheinlichkeitsanforderungen stellen, dann liefen die Jugendmedienschutzgesetze weitgehend leer, was wegen des Verfassungsrangs der Jugendschutzes unerträglich wäre 148 . Soweit aber ein so hoher Wahrscheinlichkeitsgrad im Einzelfall ausnahms-

141 Vgl. BVerwGE 39, 197 [203]; 77, 75 [78]; BVerwG, BPS-Repoit 2/1987, 10 [11]; vMangoldt/Klein/Starck, Kommentar zum GG, Art. 5 Abs. 1, 2 Rn. 126; Ossenbühl, DVB1 1974, 309 [313]. 142 So auch BVerwGE 39, 197 [205]; OVG Münster, BPS-Report 4/1983, 3 [4]; Meirowitz, Gewaltdarstellungen auf Videokassetten, S. 263f; Potrykus, NJW 1967, 1454 [1455]; Schraut, Jugendschutz und Medien, S. 62; Siefen, in: Jugendschutz und Medien, S. 25 [42]. 143

A A BVerwGE 25, 318 [320f|; 28, 223 [229f]; Erbel, DVB1 1973, 527 [529f]; v.Hartlieb, Handbuch des Film-, Femseh- und Videorechts, S. 43; Raue, Literarischer Jugendschutz, S. 41f. 144

Dieses Argument findet sich bei BVerwGE 28, 223 [229] und Erbel, DVB1 1973, 527 [529].

145

Siehe dazu oben in diesem Kapitel, Β I 3.

146

Vgl. BVerwGE 39, 197 [205].

147

Siehe dazu unten im 2. Kapitel, F II.

148

Vgl. auch Hoffmann-Riem, in: AK zum GG, Art. 5 Abs. 1, 2 Rn. 106: "Eine an "Sicherheit grenzende Wahrscheinlichkeit" kann mit Rücksicht auf die Komplexität der Bestimmungsfaktoren und die große Spannbreite der Reaktionen von Jugendlichen sowie die dadurch bedingten Unsicherheiten nicht gefordert werden, da dies effektiven Jugendschutz fast unmöglich machen würde".

.Kap. Bestimmungen zum Schutze der Jugend

56

weise feststeht, ist dieser Umstand bei der etwaigen Abwägung zugunsten der Anwendung der Jugendschutzmaßnahme zu berücksichtigen . 3. Die maßgebliche Interpretation

des Werks

Bei der Prüfung der von einem Werk ausgehenden Jugendgefahrdung sollte man nicht nur auf eine werkgerechte Interpretation abstellen. Zwar hat das BVerfG bei der Beurteilung von Kunstwerken die Notwendigkeit einer werkgerechten Interpretation nachdrücklich betont 150 . Die Besonderheiten der vorliegenden Materie geben aber auch hier den Ausschlag. Zu beachten ist insbesondere, daß Kinder Jugendliche nicht immer in der Lage sind, den Gehalt eines Werks richtig zu begreifen 151. Entscheidend ist deshalb in erster Linie, wie die jeweils betreffende Arbeit von einem Jugendlichen verstanden werden kann. Das ergibt sich auch aus dem Zweck des Jugendschutzes. Die Auswirkung eines Werks auf die Jugend, seine Rezeption durch Kinder und Jugendliche und nicht sein objektiver Gehalt stehen beim Jugendschutz im Vordergrund 152. So darf beispielsweise auch eine Schrift indiziert werden, die sich zwar nach ihrer werkgerechten Interpretation nicht als gewaltverherrlichend erweist, von den Jugendlichen aber als solche verstanden werden kann (und umgekehrt). Die Beurteilung der Jugendgefahrlichkeit eines Werks setzt ferner seine Gesamtbetrachtung voraus 5 3 . Jugendgefährdende Einzelheiten können nämlich von anderen Aspekten oder vom Gesamtcharakter des Werks aufgehoben 149

Siehe dazu unten im 3. Kapitel, Β II 3 a, cc. 150

Vgl. BVerfGE 75, 369 [376]; 81, 278 [289]; 81, 298 [306ff|. Vgl. des weiteren BGH, NJW 1983, 1194 [1195]. 151 Vgl. auch BVerfGE 83, 130 [147]: "Bei der Kollision der Kunstfreiheit mit den Interessen des Jugendschutzes kann die von der Verfassung geforderte Konkordanz indes nicht allein auf der Basis vorheriger werkgerechter Interpretation (...) erreicht werden. Kunstwerke können nicht nur auf der ästhetischen, sondern auch auf der realen Ebene Wirkungen entfalten. Gerade Kinder und Jugendliche werden häufig, wenn nicht sogar in der Regel, den vollen Gehalt eines Kunstwerks nicht ermessen können. Dies gilt nicht nur fur den labilen, gefahrdungsgeneigten Jugendlichen, sondern auch für diejenigen Kinder und Jugendlichen, die kraft Veranlagung oder Erziehung gegen schädigende Einflüsse ohnehin weitgehend geschützt sind". 152 153

Siehe dazu oben in diesem Kapitel, Β I 1.

So auch Potrykus, Kommentar zum GjS, § 1 Rn. 5. Eine Gesamtschau wird insbesondere bei der Prüfung der pornographischen Eigenschaft eines Werks gefordert: vgl. etwa Hempel, Die Freiheit der Kunst, S. 255; Meyer, SchlHA 1984, 49 [50f|. Vgl. ferner BVerfGE 67, 213 [228f], wo die Notwendigkeit der Gesamtbetrachtung bei der Beurteilung von Kunstwerken betont wurde: "Künstlerische Äußerungen sind interpretationsfahig und interpretationsbedürftig; ein unverzichtbares Element dieser Interpretation ist die Gesamtschau des Werks. Es verbietet sich daher, einzelne Teile eines Kunstwerks aus dessen Zusammenhang zu lösen und gesondert darauf zu untersuchen, ob sie als Straftat zu würdigen sind". So auch BayObLG, NVwZ-RR 1994, 65 [66, 68]

C. Verfassungsrechtliche Würdigung der einschlägigen Bestimmungen

57

werden 154. Andererseits muß man aber beachten, daß Kinder und Jugendliche oft den vollen Gehalt eines Werks nicht ermessen können und sie sich nicht um eine geduldige Gesamtbetrachtung des Werks bemühen werden 155. Die Überdeckung einzelner, an sich jugendgefährdender Stellen durch andere Passagen oder durch den Gesamtcharakter des Werks muß, um zur Verneinung der Jugendgefährdung zu führen, auch von Kindern und Jugendlichen erkennbar sein 156 . C. Verfassungsrechtliche Würdigung der einschlägigen Bestimmungen (außerhalb der Problematik ihrer Kollision mit der Kunstfreiheit) Die in Betracht kommenden Jugendschutzbestimmungen werfen des weiteren eine Reihe von verfassungsrechtlichen Fragen auf. Soweit es um die Problematik ihrer Kollision mit dem Grundrecht der Kunstfreiheit geht, die das eigentliche Thema dieser Arbeit ausmacht, wird sie in den nächsten Kapiteln ausführlich dargestellt werden. Im folgenden wird die Vereinbarkeit der einschlägigen Jugendschutzbestimmungen mit den verfassungsrechtlichen Bestimmtheitsanforderungen, dem Verhältnismäßigkeitsgebot und dem grundgesetzlichen Zensurverbot untersucht werden. L Die inhaltliche Offenheit der in Betracht kommenden Regelungen und ihre Kompatibilität mit den verfassungsrechtlichen Bestimmtheitsanforderungen In den Jugendschutzbestimmungen, die mit dem Grundrecht der Kunstfreiheit kollidieren können, ist eine große Zahl von höchst unbestimmten Begriffen und Klauseln enthalten: "Schriften, die geeignet sind, Kinder und Jugendliche sittlich zu gefährden" (§ 1 Abs. 1 GjS); "sonstige Schriften, die offensichtlich geeignet sind, Kinder und Jugendliche sittlich schwer zu gefährden" (§ 6 Nr. 3 GjS. Vgl. auch § 3 Abs. 1 Nr. 4 RfStV); "Filme, die geeignet sind, das körperliche, geistige oder seelische Wohl von Kindern und Jugendlichen zu beeinträchtigen" (§ 6 Abs. 2 JÖSchG. Vgl. auch § 3 Abs. 2 Satz 1 RfStV); 154 Vgl. dazu BVerwGE 25, 318 [325]; 27, 21 [29]; 39, 197 [209]; Locher, Das Recht der bildenden Kunst, S. 47; Friedrich Müller, Freiheit der Kunst als Problem der Grundrechtsdogmatik, S.112. 155 156

Vgl. Sehr oeder, Pornographie, Jugendschutz und Kunstfreiheit, S. 31.

Wird ferner ein Werk, z.B. ein Roman, in Fortsetzungen in einer Zeitung oder in einer Zeitschrift veröffentlicht, dann ist jede einzelne Fortsetzung als selbständig anzusehen, so daß eine Neutralisierung ihres etwaigen jugendgefährdenden Charakters durch andere Fortsetzungen bzw. durch den Gesamtcharakter des Werks kaum in Betracht kommen kann. Vgl. dazu BVerwGE 39, 197 [209] und Potrykus, Kommentar zum GjS, § 1 Anm. 6.

.Kap. Bestimmungen zum Schutze der Jugend

58

"vergleichbare Bildträger" (§ 7 Abs. 1 JÖSchG); "pornographische Schriften" (§ 184 StGB. Vgl. auch §§ 6 Nr. 2 GjS und 3 Abs. 1 Nr. 3 RfStV) usw. Die Bedenken gegen diese Wendungen, die sich unter dem Gesichtspunkt der verfassungsrechtlichen Bestimmtheitsanforderungen ergeben, erhöhen sich, wenn man sich vor Augen hält, daß die einschlägigen Jugendschutzvorschriften durchaus grundrechtsrelevant sind, ja in gewissen Fällen, wie bei §§ 3-5 GjS, intensive Grundrechtseinschränkungen bewirken 157. Auf der anderen Seite muß aber berücksichtigt werden, daß die verfassungsrechtlichen Bestimmtheitsanforderungen keine feststehende und eleichbleibende Größe sind. Sie variieren vielmehr je nach Sachbereich15 . Insbesondere bei vielgestaltigen Sachverhalten oder bei Regelungsgegenständen, bei denen sich die tatsächlichen Verhältnisse rasch ändern können, sind geringere Bestimmtheitsansprüche zu stellen159. Ein solcher Fall liegt hier vor. Denn der Jugendschutzbereich zeichnet sich durch Komplexität, Dynamik und Zukunftsoffenheit aus. Die Vorstellungen darüber, was jugendgefährdend ist, sind dem permanenten Wandel unterworfen 160. Darüber hinaus ist die Frage der von Massenmedien ausgehenden Jugendgefährdung wissenschaftlich noch nicht abschließend durchleuchtet 161, was das Aufkommen neuer wissenschaftlicher Erkenntnisse wahrscheinlich macht. Neuartige jugendgefährdende Inhalte treten außerdem ständig in Erscheinung: Man denke nur an die verschiedenen, besonders brutalen Formen der Pornographie, die in den letzten Jahrzehnten den Markt überschwemmt haben162, oder an die - in der letzten Zeit sich häufenden - Werke, die die These der "Auschwitz-Lüge" propagieren 163 oder die Auffassung vertreten, der zweite Weltkrieg sei dem Deutschen Reich

157 Zur Grundrechtsrelevanz und zur grundrechtseinschränkenden Wirkung einer Regelung als die Bestimmtheitsanforderungen verschärfende Faktoren vgl. BVerfGE 83, 130 [145]: "Die Anforderungen an die Bestimmtheit erhöhen sich mit der Intensität, mit der auf der Grundlage der betreffenden Regelung in grundrechtlich geschützte Bereiche eingegriffen werden kann".

158

Vgl. BVerfGE 49, 89 [133]: "Bei der Frage, welche Bestimmtheitsanforderungen im einzelnen erfüllt sein müssen, sind die Besonderheiten des jeweiligen Regelungsgegenstandes (...) zu berücksichtigen". Vgl. femer Hill, DÖV 1987, 885 [893]; Lerche/Ulmer, Kurzberichterstattung im Fernsehen, S. 35; Tsevas, Die verwaltungsgerichtliche Kontrollintensität bei der materiell-rechtlichen Nachprüfung des Planfeststellungsbeschlusses fur raumbeanspruchende Großprojekte, S. 47, 104. 159

Vgl. BVerfGE 49, 89 [133]; Badura, in: FS für Bachof, S. 169 [175]; Hill, DÖV 1987, 885

[893f]. 160

Siehe dazu oben in diesem Kapitel, Β 1 2 .

161

Siehe dazu oben in diesem Kapitel, Β 1 3 .

162

wie z.B. Sodomie-, Brutal- und Fäkalien-, Baby- und Nazi-Porno. Vgl. ausführlich dazu Siefen, in: Literatur vor dem Richter, S. 123 [132f]. 163

Vgl. dazu BVerfG, NJW 1993,916f undSchefold, in: Literatur vor dem Richter, S. 93 [116f].

C. Verfassungsrechtliche Würdigung der einschlägigen Bestimmungen

59

von den Alliierten aufgezwungen worden 164. Die raschen Fortschritte der Technik verursachen schließlich zusätzliche Gefahren für die Jugend165. Zu erwähnen sind insbesondere in diesem Zusammenhang die grenzüberschreitende Verbreitung von pornographischen Sendungen durch Fernsehsatelliten166 und die unzähligen jugendgefährdenden Produkte, die in Form von Computerspielen167 oder Computer-CDs ( sog. CD ROMs) 168 erscheinen. Eine in gewissen Grenzen zu haltende Offenheit der Jugendschutzbestimmungen ist nach alledem verfassungsrechtlich zulässig und darüber hinaus

164 Vgl. dazu BVerwG, BPS-Report 2/1987, 5ff; Schefold, in: Literatur vor dem Richter, S. 93 [116f]. Vgl. auch neuerdings BVerfGE 90, 1 [19ff|, wonach die in einem Buch vertretene These, die Machthaber des NS-Regimes seien für den zweiten Weltkrieg unschuldig, für sich allein nicht ausreiche, um die Anwendung der Indizierung zu begründen. Primär entscheidend waren für das BVerfG die folgenden Erwägungen: "Auch Jugendliche können nur dann zu mündigen Staatsbürgern werden, wenn ihre Kritikfähigkeit in Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Meinungen gestärkt wird. Das gilt in besonderem Maße für die Auseinandersetzung mit der jüngeren deutschen Geschichte. Die Vermittlung des historischen Geschehens und die kritische Auseinandersetzung mit abweichenden Meinungen können die Jugend sehr viel wirksamer vor Anfälligkeit für verzerrende Geschichtsdarstellungen schützen als eine Indizierung, die solchen Meinungen sogar eine unberechtigte Anziehungskraft verleihen könnte" (aaO, S. 21). Diese Ausführungen könnten aber fatale Konsequenzen für den gesamten Jugendmedienschutz haben. Wollte man nämlich die Argumentation des BVerfG konsequent durchführen, dann sollte man z.B. auch annehmen, daß die kritische Auseinandersetzung mit einer drogenverherrlichenden Schrift mehr zum Schutz der Jugend vor Drogenkonsum beitragen kann als ein Jugendverbot dieser Schrift, und damit von der Indizierung absehen. Dasselbe sollte dann für alle andere jugendgefährdenden Inhalte gelten. Das würde aber das Ende des gesetzlichen Jugendschutzes bedeuten, ein Ergebnis, das sicher auch vom BVerfG nicht gebilligt wird. Kritisch zu dieser Entscheidung des BVerfG auch Sendler, DVB1 1994, 1089 [1094]: "Das Bundesverfassungsgericht sieht auch gegenüber einem solchen Machwerk, dem es selbst jede Wissenschaftlichkeit abspricht, in der kritischen Auseinandersetzung einen wirksameren Jugendschutz als in einer Indizierung. Dann aber fragt man sich ebenso verwundert wie ratlos, welch idealistisch-optipistisches Menschenbild es seiner wohl doch reichlich realitätsblinden Rechtsbrechung zu den Gefährdungen unserer labilen, gefährdungsgeneigten und gefährdeten Jugend zugrunde legt, und dies gerade in Zeiten, die den Rechtsradikalismus bei manchen Jugendlichen wieder in beängstigendem Vormarsch sind Man fragt sich weiter, warum die kritische Auseinandersetzung nicht auch bei Verherrlichungen und Verharmlosungen der NS-Ideologie wirksamerer Jugendschutz wäre als eine Indizierung, und was unter diesen Umständen die ganze Indiziererei überhaupt noch soll. Kritische Auseinandersetzung ist immer gut und notwendig, auch gegenüber Gewaltverherrlichungen. Die bange Frage ist nur, ob dies ausreicht." 165 Technische Fortschritte können aber zuweilen auch zu einem effektiven Jugendschutz beitragen (z.B. TV-Decoder). 166

Siehe oben in diesem Kapitel, A III.

167

Zur Problematik der Computerspiele unter Jugendschutzaspekten vgl. etwa Dittler, JMS-Report 6/1992, S. 39f; ders., JMS-Report 2/1994, 9ff; Geisler/Raeder, JMS-Report 5/1993, 5f. Hierbei sei auch erwähnt, daß Computerspiele eine erhebliche Gefahrenquelle für die heutige Jugend darstellen, nicht nur weil ihr Gebrauch unter Jugendlichen stark verbreitet ist, sondern auch weil ihr Inhalt oft besonders brutal und abstoßend ist. So stehen unter der Liste der indizierten Computerspiele (JMSReport 2/1994, 36ff) auch Produkte mit Titeln wie "Anti-Neger-Test", "Anti-Türken-Test", "Ariertest", "KZ-Manager" usw. 168

Vgl. dazu Dittler, JMS-Report 6/1993, 13f.

.Kap. Bestimmungen zum Schutze der Jugend

60

sachlich gerechtfertigt, ja gefordert, will der Gesetzgeber diesen Vorschriften auch gegenüber zukünftigen Entwicklungen Geltung verleihen und seiner grundgesetzlich auferlegten 169 Pflicht zum Schutze der Jugend auf eine effektive Weise nachkommen. Diese Offenheit ist der Preis, der für die Sicherstellung der Anpassung des gesetzlichen Jugendschutzes an die vielgestaltigen und sich ständig wandelnden tatsächlichen Verhältnisse der vorliegenden Materie bezahlt werden muß 170 . Bestimmtheitsdefizite bei den verschiedenen Jugendschutzvorschriften sind insbesondere dann hinzunehmen, wenn der Gesetzgeber die Konkretisierung des unbestimmten Rechtsbegriffs einem fachlich qualifizierten, sich sachgerecht rekrutierten und mit besonderen Verfahrensregelungen ausgerüsteten Organ (z.B. Bundesprüfstelle) überlassen hat 1 7 1 . Solche organisations- und verfahrensrechtlichen Vorkehrungen können gewissermaßen als Kompensation der Unbestimmtheit der materiellrechtlichen Regelungen fungieren 172. Andererseits wäre es schlechthin unzulässig, wenn die gesetzlichen Regelungen im vorliegenden Bereich überhaupt keine Aussagekraft hätten. Der Gesetzgeber muß deshalb dem Rechtsanwender Anhaltspunkte und Hinweise anbieten, die den Inhalt der einschlägigen Vorschriften veranschaulichen und konkretisieren. Die gesetzliche Aufstellung von Beispielen, die die Bedeutung der unbestimmten Rechtsbegriffe beleuchten, erweist sich dabei nicht nur als zweckmäßig, sondern auch als verfassungsrechtlich geboten. Nach diesen Maßstäben ist die Verfassungsmäßigkeit des Begriffs "sittliche Jugendgefahrdung" des § 1 Abs. 1 GjS zu bejahen, insbesondere wenn man die dort enthaltene beispielhafte Aufzählung von sittlich jugendgefährdenden Schriften mitberücksichtigt. Der Gesetzgeber hat hier die Grenzen des Möglichen erreicht 173 . Verfassungsrechtlich bedenklich ist dagegen die Klausel "Beein169

Zur verfassungsrechtlichen Gewährleistung des Jugendschutzes siehe unten im 2. Kapitel, F II.

170

Vgl. auch das Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte vom 24.5.1988 (EuGRZ 1988, 543 [544f]), wo betont wird: "Um übermäßige Starrheit zu vermeiden und um mit den sich ändernden Umständen Schritt halten zu können, müssen viele Gesetze in Begriffen abgefaßt sein, welche in größerem oder geringerem Ausmaß vage sind (...) Strafbestimmungen wegen Unzüchtigkeit gehören zu dieser Kategorie". 171 Vgl. BVerfGE 33, 303 [341]: "Ausfüllungsbedürftige materiell-rechtliche Normen, die in den Grundrechtsschutz eingreifen, erscheinen eher tragbar, wenn durch ein formalisiertes (...) Verfahren dafür vorgesorgt wird, daß die wesentlichen Entscheidungsfaktoren geprüft und die mit der Norm angestrebten Ziele wirklich erreicht werden".

172

Vgl. auch Staupe, Parlamentsvorbehalt und Delegationsbefugnis, S. 243, der die Möglichkeit der Kompensation eventueller materiell-rechtlicher Bestimmtheitsdefizite durch organisations- und verfahrensrechtliche Vorschriften betont. 173 So auch neuerdings BVerfG, NJW 1994, 1781 [1783]: "Andererseits ist eine genauere begriffliche Umschreibung des Indizierungstatbestands kaum möglich. Grundsätzlich kann der Gesetzgeber in einer solchen Lage auf Generalklauseln zurückgreifen. Dem Bestimmtheitserfordemis

C. Verfassungsrechtliche Würdigung der einschlägigen Bestimmungen

61

trächtigung des körperlichen, geistigen oder seelischen Wohls von Kindern und Jugendlichen" (§ 6 Abs. 2 JÖSchG. Vgl. auch § 3 Abs. 2 Satz 1 RfStV). Denn das Gesetz gibt keinerlei Hinweise, was unter dieser nebelhaften Klausel zu verstehen ist 1 7 4 . IL Die Vereinbarkeit der angeordneten Verbote mit dem Verhältnismäßigkeitsprinzip Besonders fraglich ist die Vereinbarkeit der hier interessierenden Jugendschutzbestimmungen mit dem Verhältnismäßigkeitsgebot175. Das gilt vor allem fur die Verbreitungs- und Werbebeschränkungen der §§ 3-5 GjS. Nach diesen Vorschriften ist nicht nur die Verbreitung von indizierten und offensichtlich schwer jugendgefährdenden Schriften an Jugendliche, sondern darüber hinaus ihr Vertrieb in bestimmten Formen (etwa ambulanter Handel, Kiosk- und Versandhandel, Vertrieb in gewerblichen Leihbüchereien und Lesezirkeln) unter Verbot gestellt (§§ 3,4 GjS). Die Werbung für solche Schriften ist ebenso untersagt (§ 5 Abs. 2 GjS) 176 1 7 7 Diese Verbote 178 haben

ist genügt, wenn Auslegungsprobleme mit herkömmlichen juristischen Methoden bewältigt werden können (...). Das ist hier der Fall, zumal das Gesetz durch die beispielhafte Aufzählung von Schriften in § 1 I 2 GjS Anhaltspunkte für eine genauere Bestimmung des Indizierungstatbestands gibt". Vgl. ferner BVerfGE 11, 234 [237f]; 83, 130 [145], wo die Vereinbarkeit des § 6 GjS (offensichtlich schwer jugendgefährdende Schriften) mit dem Bestimmtheitsgebot des Art. 103 Abs. 2 GG bejaht wurde. Das BVerfG hat femer entschieden (BVerfGE 87, 209 [223fï]), daß § 131 StGB in seiner "Menschenwürde"-Alternative bei verfassungskonformer Auslegung hinreichend bestimmt ist. 174 Einige Beispiele von Filmen und Bildträgem, die das körperliche, geistige oder seelische Wohl von Kindern und Jugendlichen beeinträchtigen können, finden sich dagegen bei § 29 Abs. 2 Nr. 3 der FSK-Grundsätze. Unabhängig von der nur geringen Praktikabilität und Hilfeleistung dieser beispielhaften Aufzählung (siehe dazu oben in diesem Kapitel, Β II), ist wenig ersichtlich, warum sie nicht in das JÖSchG selbst Eingang gefunden hat, wie es sinnvoll und darüber hinaus verfassungsrechtlich geboten wäre. 175 Zum Verhältnismäßigkeitsprinzip im allgemeinen vgl. nur etwa BVerfGE 19, 342 [348f]; 30, 292 [315ff]; 38, 281 [302]; 65, 1 [54]; 66, 199 [210]: 78, 77[85]; Bleckmann, JuS 1994, 177ff; Dechsling, Das Verhältnismäßigkeitsgebot; Gentz, NJW 1968, 1600ff; Grabitz, AöR 98 [1973], S.568ff; Hirschberg, Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit; Hotz, Zur Notwendigkeit und Verhältnismäßigkeit von Grundrechtseingriffen; Jakobs, Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit; Lerche, Übermaß und Verfassungsrecht; Schnapp, JuS 1983, 850ff; Wen dt, AöR 104 [1979], S. 414ff. 176 177

Zu den Beschränkungen der §§ 3-5 GjS siehe auch oben in diesem Kapitel, A I .

All diese Einschränkungen sind nach dem eindeutigen Wortlaut des Gesetzes kumulativ anzuwenden. Der BGH hält demgegenüber eine nur partielle Anwendung dieser Vertriebsbeschränkungen bei pornographischen Kunstwerken für möglich: "Schließlich könnte die Abwägung auch dazu fuhren, daß die in § 184 StGB und §§ 3ff GjS vorgesehenen Vertriebsbeschränkungen nicht unterschiedslos auf pornographische Kunstwerke anzuwenden sind" (BGHSt 37, 55 [65]. So auch Meirowitz, Gewaltdarstellungen auf Videokassetten, S. 285 für den Fall der schwer jugendgefährdenden Kunstwerke).

.Kap. Bestimmungen zum Schutze der Jugend

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zur Folge, daß die Verbreitung von indizierten und schwer jugendgefährdenden Schriften auch unter Erwachsenen in erheblichem Maße erschwert wird 1 7 9 . Es fragt sich folglich, ob sich der Gesetzgeber nicht zu einseitig zu Lasten der Grundrechte des Art. 5 GG entschieden hat und dabei nicht ein Verstoß gegen den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz vorliegt 180 .

Der Ansicht des BGH kann aber nicht gefolgt werden. Unabhängig davon, daß auf diese Weise eine sachlich zumindest fragwürdige Privilegierung von Kunstwerken gegenüber nichtkünstlerischen Leistungen eingeführt wird, sollte man sich fragen, welche der in §§ 3fif GjS angeordneten Verbote und vor allem: nach welchen Kriterien - keine Anwendung finden sollten. Die dadurch bedingten Unsicherheiten sind sicher nicht ohne verfassungsrechtliche Bedeutung: sie sind - angesichts der strafrechtlichen Bewehrung der Vertriebsbeschränkungen des GjS ( § 2 1 GjS) - mit dem Bestimmtheitsgebot des Art. 103 Abs. 2 GG kaum vereinbar. Solche Unsicherheiten würden ferner gesetzmäßig zu einer unannehmbaren Senkung der Effektivität des GjS, des wichtigsten Instrumentariums des gesetzlichen Jugendschutzes fuhren. 17R

Vgl. auch § 184 Abs. 1 Nr. 1-5 StGB, wo ähnliche Vertriebs- und Werbebeschränkungen für pornographische Schriften vorgesehen werden. Die nachfolgenden Ausführungen über die Vereinbarkeit der §§ 3-5 GjS mit dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz gelten auch für die in § 184 Abs. 1 Nr. 1-5 StGB angeordneten Verbote. 179

Die schlichte Tatsache allerdings, daß §§ 3-5 GjS auch die Erwachsenen tangieren, genügt für sich allein nicht, um die Verfassungswidrigkeit dieser Vorschriften zu begründen. Sicher ist dabei, daß der gesetzliche Jugendschutz nur auf das Fernhalten der Mindeijährigen von jugendgefährdenden Werken, nicht aber auf die generelle Unterdrückung der jugendgefährdenden Arbeiten abzielen darf (So auch Bauer, JZ 1965, 41 [46J; Knies, Schranken der Kunstfreiheit als verfassungsrechtliches Problem, S. 281; vMangoldt/Klein/Starck, Kommentar zum GG, Art. 5 Abs. 1, 2 Rn. 126, 129. A A Siefen, in: Literatur vor dem Richter, S. 123 [128], nach dem staatliche Maßnahmen des Jugendmedienschutzes dahin zu wirken haben, daß jugendgefährdende Medien nicht mehr publiziert werden). Der Lesestoff der Erwachsenen darf nicht nur auf diejenigen Schriften beschränkt werden, die für die Kinder geeignet sind. Es muß aber auf der anderen Seite berücksichtigt werden, daß das Ziel eines effektiven Jugendschutzes zuweilen die Anordnung von Maßnahmen erforderlich macht, die die Verbreitung von jugendgefährdenden Werken auch an Erwachsene erschweren ( vgl. Hoffmann-Riem, in: AK zum GG, Art. 5 Abs. 1,2 Rn. 107). Die entscheidende Frage lautet demnach, ob die die Erwachsenen tangierenden Verbote des GjS zum Ziel eines wirkungsvollen Jugendschutzes wirklich erforderlich sind und ob sie den Grundrechten des Art. 5 GG genügend Rechnung tragen. Verfassungsrechtlich unzulässig sind jedenfalls Nr. 49 der Anlage zu § 12 Abs. 2 Nr. 1 und 2 UStG und § 12 Abs. 2 Nr. 7 Buchst, b UStG (in der Fassung der Bekanntmachung vom 27.4. 1993 (BGBl I S. 50) zuletzt geändert durch Art. 27 des Gesetzes zur Umsetzung des Föderalen Konsolidierungsprogramms vom 23.6.1993 (BGBl I S. 944)). Danach sind alle jugendgefährdenden Schriften (Nr. 49 der Anlage zu § 12 Abs. 2 Nr. 1 und 2 UStG) und diejenigen Filme, die für Jugendliche unter 18 Jahren nicht freigegeben sind (§ 12 Abs. 2 Nr. 7 Buchst, b UStG), von der Steuerermäßigung ausgeschlossen (vgl. dazu im einzelnen Koll, JMS-Report 3/1994, 55; Schlienkamp, JMS-Report 6/1993, lf). Diese Vorschriften zielen eindeutig auf die generelle Bekämpfung der jugendgefährdenden Schriften und Filme sowie auf die Verminderung der Bereitschaft zur Schaffung solcher Werke und nicht auf die Bewahrung der Jugend vor Gefährdungen. Sie sind demzufolge nicht mehr verfassungslegitimiert. Vgl. dazu auch Knies, Schranken der Kunstfreiheit als verfassungsrechtliches Problem, S. 280f. 180

Zur Vereinbarkeit der §§ 3-5 GjS mit dem Art. 10 der Europäischen Menschenrechtskonvention (Recht auf freie Meinungsäußerung) vgl. die Entscheidung der Europäischen

C. Verfassungsrechtliche Würdigung der einschlägigen Bestimmungen

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Soweit es um die Vertriebsbeschränkungen der §§ 3,4 GjS geht, ist ihre Verfassungsmäßigkeit grundsätzlich 181 zu bejahen182, obwohl diese Beschränkungen von erheblicher Reichweite sind und typische Verbreitungsformen unter Verbot stellen. Die untersagten Verbreitungsmodalitäten stellen wichtige Gefahrenquellen für die Jugend dar. So läßt sich beispielsweise das Verbot des Versandhandels von indizierten und schwer jugendgefährdenden Schriften (4 Abs. 1 Nr. 3 GjS) dadurch rechtfertigen, daß das Fehlen eines persönlichen Kontakts zwischen dem Käufer und dem Verkäufer bei dieser Verbreitungsart eine zuverlässige Alterskontrolle des Interessenten unmöglich macht 183 . Das Verbot des Kioskhandels (§ 4 Abs. 1 Nr. 2 GjS) ist ferner auf den Umstand zurückzufuhren, daß der Verkauf von Waren an solchen Verkaufsständen "im Vorbeigehen" stattfindet. Damit entfällt die Zugangsschwelle des Ladenlokals, was auch den Erwerb von jugendgefährdenden Schriften durch Kinder und Jugendliche erleichtert 184. Hinzu kommt auch die Erwägung, daß eine umfassende und effektive behördliche Überwachung des Kioskhandels - vor allem

Kommission für Menschenrechte vom 13.7.1978 (EuGRZ 1979, 202ff), wonach die Verbreitungsund Werbebeschränkungen des GjS als notwendig zum Schutz der Moral der Jugend und demzufolge als kompatibel mit dem Konventionsrecht der freien Meinungsäußerung betrachtet wurden. 181

Bedenken bestehen nur hinsichtlich des Verbreitungsverbots durch gewerbliche Leihbüchereien und Lesezirkel ( § 4 Abs. 1 Nr. 4 GjS). Der Bundestagsausschuß für Familien- und Jugendfragen (BTDrucks. II/2373, S. 3) hat dieses Verbot vornehmlich damit begründet, "daß der weitaus größte Teil der bisher indizierten Romane zu dieser Gattung der Leihbuchromane gehört. Die von den zu beanstandenden Leihbuchromanen ausgehende Jugendgefährdung wird durch ihre schnelle und weite Verbreitung noch wesentlich erhöht". Diese Begründung war vielleicht ihrerzeit noch vertretbar. Sie ist aber heute kaum haltbar. Denn die wichtigste Gefahrenquelle für die heutige Jugend stellen nicht die Leihbuchromane, sondern die billigen Pornohefte dar, die in Ladengeschäften - zulässigerweise verbreitet werden. Vergegenwärtigt man sich ferner die Tatsache, daß es heute in der Bundesrepublik Deutschland nur noch acht (!) gewerbliche Leihbüchereien gibt (vgl. den Stenographischen Bericht des Ausschusses für Jugend, Familie und Gesundheit des Deutschen Bundestages vom 27.6.1984, Protokoll Nr. 24, Teil II, S. 36), dann muß man sich fragen, ob das Verbreitungsverbot durch gewerbliche Leihbüchereien überhaupt einen Sinn hat. Vgl. dazu auch die zutreffende Kritik von Sehr oeder, JR 1977,23 Iff; der s., Pornographie, Jugendschutz und Kunstfreiheit, S. 43f. 182 Für die Verfassungsmäßigkeit der Verbreitungsverbote der §§ 3,4 GjS auch BVerwGE 39, 197 [201] und Meirowitz, Gewaltdarstellungen auf Videokassetten, S. 278ff. Skeptisch dagegen Bauer, JZ 1965,41 [46f]; Hempel, Die Freiheit der Kunst, S. 275f; Friedrich Müller, Die Freiheit der Kunst als Problem der Grundrechtsdogmatik, S. 122; Rupert Scholz, in: MDHS, Kommentar zum GG, Art. 5 Abs. III Rn. 70; Sehr oeder, Pornographie, Jugendschutz und Kunstfreiheit, S. 42ff; Schumann, NJW 1978, 1134 [1137]. 183

Zur Rechtfertigung und zur Vereinbarkeit des Versandhandelsverbots mit dem Grundgesetz vgl. etwa BVerfGE 30, 336 [346ff]; 77, 346 [356]; BVerwG, NJW 1977, 1411; BVerwG, DVB1 1977, 501 [502]; Gernert/Stoffers, Kommentar zum JÖSchG, S. 127; Herzog, in: MDHS, Kommentar zum GG, Art. 5, Abs. I, II Rn. 285; vMangoldt/Klein/Starck, Kommentar zum GG, Art. 5 Abs. 1, 2 Rn. 129; Siefen, BPS-Report 4/1982, 3 [12]. 184

Vgl. dazu auch Brockhorst-Reetz, Repressive Maßnahmen zum Schutze der Jugend im Bereich der Medien Film, Video und Femsehen, S. 25 und Siefen, BPS-Report 4/1982, 3 [13].

.Kap. Bestimmungen zum Schutze der Jugend

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wegen der Vielzahl solcher Verkaufsstände - faktisch kaum erreichbar ist 1 8 5 . Eine andere Maßnahme als das Verbot dieser Verbreitungsformen, durch die die Jugend gleich effektiv geschützt werden könnte und die Grundrechte des Art. 5 GG in geringerem Maße tangiert würden, existiert nicht. Maßgeblich für die Bejahung der Verfassungsmäßigkeit dieser Untersagungen ist auch die Tatsache, daß alle anderen Verbreitungsformen (z.B. Ladenhandel) unberührt bleiben und auf diese Weise die grundsätzliche Möglichkeit der Kommunikation des Schöpfers des Werks mit der Öffentlichkeit sichergestellt wird 1 8 6 . Das Ergebnis der verfassungsrechtlichen Unbedenklichkeit der Verbreitungsbeschränkungen der §§ 3,4 GjS 1 8 7 wird auch durch die Erwägung verstärkt, daß dem Gesetzgeber bei der Auswahl der auf den Jugendschutz abzielenden Verbote eine gewisse Gestaltungsfreiheit zusteht188. Dieser Gestaltungsspielraum darf durch die Verhältnismäßigkeitsprüfung nicht zunichte gemacht werden, will man nicht dem Gesetzgeber seine eigenen Funktionen abnehmen. Anders verhält es sich aber beim Werbeverbot des § 5 Abs. 2 GjS 1 8 9 , wenn man davon ausgeht (wofür vieles spricht) 190 , daß durch diese Vorschrift auch 185

Das Verbot des Einzelhandels außerhalb von Geschäftsräumen nach § 4 Abs. 1 Nr. 1 GjS (ambulanter Handel) will femer verhindern, daß sich der Vertrieb von indizierten und schwer jugendgefährdenden Schriften in der Öffentlichkeit, eventuell unter den Augen von Kindern und Jugendlichen, abspielt. Darüber hinaus stellt der ambulante Handel eine behördlich schwer kontrollierbare Verbreitungsart dar. Vgl. dazu Potrykus, Kommentar zum GjS, § 4 Anm. 4. 186

Vgl. BVerfGE 30, 336 [348].

187

Das BVerfG (BVerfGE 77, 346 [356ff]) hat ferner § 4 Abs. 2 i.V.m. § 6 Nr. 3 GjS (wonach Verleger und Zwischenhändler offensichtlich schwer jugendgefährdende Schriften nicht an Personen liefern dürfen, soweit diese einen im GjS erwähnten Handel betreiben) als keine unverhältnismäßige Einschränkung der Pressefreiheit beurteilt. 188

Das folgt daraus, daß dem Gesetzgeber bei der Konfliktschlichtung von verfassungsrechtlichen Spannungslagen ein gewisser Gestaltungsspielraum zusteht (siehe die Nachweise unten im 3. Kapitel, Β I Fn. 76). Da die Auswahl der Mittel, mit denen der Schutz der Jugend gewährleistet werden soll, einen Konfliktschlichtungsakt der widerstreitenden Interessen (Jugendschutz einerseits - Grundrechte des Art. 5 GG andererseits) darstellt, muß auch hier dem Gesetzgeber eine Gestaltungsfreiheit anerkannt werden. So auch Schraut, Jugendschutz und Medien, S. 62. 189

Im Fall von Kunstwerken greift das Werbeverbot des § 5 Abs. 2 GjS auch in die Kunstfreiheit ein. Denn die Werbung für Kunstwerke wird vom Schutzbereich des Art. 5 Abs. 3 GG geschützt (vgl. BVerfGE 77, 240 [251]; Meirowitz, Gewaltdarstellungen auf Videokassetten, S. 313). 190

Dafür, daß das Werbeverbot des § 5 Abs. 2 GjS auch die "neutrale" Werbung miteinschließt, spricht zunächst der eindeutige Wortlaut dieser Vorschrift, der keine Differenzierungen vorsieht, sondern vielmelir die Werbung pauschal unter Verbot stellt. Hätte der Gesetzgeber nur die "offene" Werbung verbieten wollen, dann "hätte die Vorschrift anders gefaßt werden müssen; § 5 Abs. 2 GjS müßte dann untersagen, unter Hinweis auf den jugendgefährdenden Charakter oder in jugendgefährdender Weise für indiziertes Material zu werben" (BGHSt 33, 1 [3]). Die Auffassung, daß § 5 Abs. 2 GjS ein absolutes Werbe verbot statuiert, wird auch untermauert, wenn man dem Wortlaut dieser Bestimmung die Fassung des § 11 Satz 4 JÖSchG gegenüberstellt, wo ausdrücklich nur diejenige Werbung verboten wird, die auf jugendgefährdende Inhalte hinweist oder in jugend-

C. Verfassungsrechtliche Würdigung der einschlägigen Bestimmungen

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die "neutrale" Werbung untersagt wird, d.h. die Werbung, die weder selbst jugendgefährdend ist noch auf jugendgefährdende Inhalte hinweist. Das Verbot der "neutralen" Werbung läßt sich nach dem BVerfG dadurch rechtfertigen, daß auch eine solche Werbung Kinder und Jugendliche auf das Vorhandensein von Erzeugnissen mit jugendgefährdendem Inhalt aufmerksam mache und dadurch die Anzahl der Mindeijährigen, die diese Erzeugnisse erwerben wollten, vergrößert werde 191. Auch wenn man der Ansicht zustimmt, daß das Verbot der "neutralen" Werbung zum Zweck eines wirkungsvollen Jugendschutzes geboten ist, darf nicht außer acht gelassen werden, daß ein absolutes Werbeverbot - zumindest für die unbekannten Schriften - faktisch einem generellen Verbreitungsverbot gleichkommt192. Um die kleinsten Lücken bei der Anwendung der Jugendschutzmaßnahmen zu vermeiden und auf diese Weise die Jugend, die durch die Verbreitungsbeschränkungen der §§ 3,4 GjS schon genügend geschützt ist, tendenziell vollständig zu bewahren, ordnet der Gesetzgegefährdender Weise erfolgt. Auf dem Standpunkt, § 5 Abs. 2 GjS schließt auch die "neutrale" Werbung ein, stehen femer (dem Wortlaut oder dem Sinn nach) BVerwG, NJW 1977, 1411; BVerwG, DVB1 1977, 501 [503]; BGHSt 33, Iff; Hartstein/Ring/Kreile, Kommentar zum RfStV, S. 695; Laufhütte, JZ 1974, 46 [51]; Meirowitz, Gewaltdarstellungen auf Videokassetten, S. 274; Lerche, Werbung und Verfassung, S. 52, 110; Stefen, in: Das Deutsche Bundesrecht, GjS Anm. zu § 5; Weides, NJW 1975, 1845. A.A. Schumann, NJW 1978, 1134 [1136]; ders., NJW 1978, 2495 [2496]. Abzulehnen ist jedenfalls die in der Rechtsprechung (vgl. BGHSt 34, 94 [97ff] und OLG Frankfurt, NJW 1987, 454) vorgenommene Differenzierung, nach der für indizierte Schriften ein absolutes Werbeverbot bestehe, während für pornographische Schriften nach § 184 Abs. 1 Nr. 5 nur ein Verbot der "offenen" Werbung gelte (für die Zulässigkeit der "neutralen" Werbung für pornographische Schriften plädieren auch BGH, NJW 1977, 1695 [1696]; BGH, NStZ 1989, 77f; OLG Celle, MDR 1985, 693; OLG Karlsruhe, NJW 1984, 1975 [1976], OLG Karlsruhe, BPS-Report 1/1987, 22 [23], OLG Stuttgart, MDR 1977, 246; v.Hartlieb, Handbuch des Film-, Femseh- und Videorechts, S. 23; Meier, NStZ 1985, 341ff; Ostendorf, in: Literatur vor dem Richter, S. 272 [278]; Schumann, NJW 1978, 1134ff. A.A OLG München, NJW 1987, 453f; OLG Stuttgart, BPS-Report 6a/1985, lOff; Greger, JR 1987, 210f). Aufgrund dieser Differenzierung kommt man zum unhaltbaren und wohl grotesken Ergebnis, daß eine indizierte, schlicht jugendgefährdende Schrift einem weiterreichenden Werbeverbot als ein pornographisches Werk (Paradebeispiel von schwerer Jugendgefährdung, vgl. § 6 Nr. 2 GjS) unterliegt! Kritisch dazu auch Brockhorst-Reetz, Repressive Maßnahmen zum Schutze der Jugend im Bereich der Medien Film, Video und Fernsehen, S. 38; Greger, JR 1987, 210\ Meier, NStZ 1985, 341 [346]; ders, NJW 1987, 1610; Schroeder, Pornographie, Jugendschutz und Kunstfreiheit, S. 41f. Das BVerfG (BVerfG, NJW 1986, 1241 [1243]) hat diese differenzierende Auslegung als "Ungereimtheit" bezeichnet, es hat aber darin keine "willkürliche Systemwidrigkeit" und demzufolge keinen Verstoß gegen den Gleichheitssatz gesehen. 191 BVerfG, NJW 1986, 1241 [1242]. So auch BVerwG, NJW 1977, 1411; BVerwG, DVB1 1977, 501 [503]; BGHSt 33, 1 [3]. 192 Vgl. BVerwGE 39, 197 [201]; Bucholz, Kunst, Recht und Freiheit, S. 21, 25; Kalb, Der Jugendschutz bei Film und Fernsehen, S. 339; Ladeur, in: AK zum GG, Art. 5 Abs. 3 II Rn. 15; Naumann, in: Literatur vor dem Richter, S. 195 [198f]; Ostendorf, in: Literatur vor dem Richter, S. 271 [272]. Berücksichtigt man diese Wirkung des Werbeverbots des § 5 Abs. 2 GjS, dann trifft auch die vielfach vertretene Auffassung (vgl. BVerwGE 23, 104 [109]; 25, 318 [323]; Erbel, DVB1 1973, 527 [532]; Knies, Schranken der Kunstfreiheit als verfassungsrechtliches Problem, S. 280; Stümmer, BayVBl 1961, 229 [233]), daß die Indizierung einer Schrift ein absolutes Vertriebsverbot bedeutet, zu.

5 Vlachopoulos

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ber im Ergebnis ein absolutes Verbreitungsverbot an 1 9 3 . Die Unhaltbarkeit dieser gesetzgeberischen Vorgehensweise wird vor allem dann deutlich, wenn man sich die Fälle vergegenwärtigt, bei denen die aus einer Schrift ausgehende Jugendgefährdung nicht als schwer (§ 6 GjS) zu qualifizieren ist. Die lückenlose Absicherung der Jugend vor solchen, nicht als hoch einzustufenden Gefahren wird praktisch mit einem Vertriebsverbot erkauft 194 . Das pauschale Werbeverbot des § 5 Abs. 2 GjS bewegt sich nach alledem, auch wenn man den oben angesprochenen Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers beachtet, außerhalb der durch das Verhältnismäßigkeitsgebot markierten, verfassungsrechtlich zulässigen Grenzen 195. Bedenklich ist auch das Fehlen von Alterseinstufungen im GjS. Aufgrund des pauschalen und undifferenzierten Abstellens des § 1 Abs. 1 GjS auf "Kinder und Jugendliche" schlechthin, ist es möglich, daß eine Schrift, die für Kinder von sechs, nicht aber für Jugendliche von fünfzehn Jahren sittlich gefährdend ist, auch den letzteren vorenthalten wird. Dadurch werden die Grundrechte des Art. 5 GG mehr eingeschränkt, als dies für einen effektiven Jugendschutz erforderlich wäre, was zu einem verfassungswidrigen Übermaß fuhrt 196

193 Vgl. auch BVerfGE 30, 336 [348], wo das Gericht im Rahmen der Prüfung der Verfassungsmäßigkeit des Versandhandelsverbots betont hat, daß "der Gesetzgeber den in Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG garantierten Rechten nicht Rechnung getragen und seine Regelungsbefugnis im Bereich des Jugendschutzes überschritten" hätte, wenn durch das Versandhandelsverbot auch Erwachsene völlig vom Bezug jugendgefährdender Schriften ausgeschlossen wären. Nichts anderes soll aber fur das Werbeverbot gelten. 194 Die Fragwürdigkeit des GjS-Werbeverbots wird umso größer, als für den Bereich des Fernsehens mildere Werbebeschränkungen gelten, obwohl das Medium "Fernsehen" wegen seiner breiten Publikumswirkung die wichtigste Gefahrenquelle für die Jugend darstellt (siehe unten im 3. Kapitel, Β II 3a, bb). Vgl. § 3 Abs. 4 RfStV, wonach die Programmankündigungen (zu jugendgefährdenden Sendungen) nur dann zeitlichen Beschränkungen unterliegen, wenn sie Bewegtbilder enthalten. 195 Ebenso Knies, Schranken der Kunstfreiheit als verfassungsrechtliches Problem, S. 280; Lerche, Werbung und Verfassung, S. 110; Mahrenholz, in: Handbuch des Verfassungsrechts, § 26 Rn. 98 Fn. 166; Friedrich Müller, Freiheit der Kunst als Problem der Grundrechtsdogmatik, S. 122; ders., JZ 1970, 87 [92]. Skeptisch dazu auch BVerwGE 39, 197 [201]; Bauer, JZ 1965, 41 [46]; Ladeur, in: AK zum GG, Art. 5 Abs. 3 II Rn. 21. Die Verfassungsmäßigkeit des § 5 Abs. 2 GjS bejahen dagegen BVerfGE 11, 234 [238f]; BVerfG, NJW 1986, 1241ff; BVerwG, NJW 1977, 141 lf; BVerwG, DVB1 1977, 501 [503]; BGHSt 33, 1 [3]; Laufliütte, JZ 1974, 46 [48]; Meirowitz, Gewaltdarstellungen auf Videokassetten, S. 305ff; Rupert Scholz, in: MDHS, Kommentar zum GG, Art. 5 Abs. III Rn. 70.

196

Gefährdet eine Schrift nicht alle Kinder und Jugendlichen, sondern nur bestimmte Altersgruppen von ihnen, dann könnte ein pauschales Jugendverbot dieser Schrift auch gegen den Gleichheitssatz des Art. 3 GG verstoßen, da auf diese Weise ungleiche Sachverhalte gleich behandelt werden. Vgl. dazu auchitowe, Literarischer Jugendschutz, S. 25.

C. Verfassungsrechtliche Würdigung der einschlägigen Bestimmungen

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Das heißt freilich nicht, daß der Gesetzgeber verpflichtet sei, für jedes einzelne Altersjahr eine gesonderte Prüfung der etwaigen Jugendgefährlichkeit der jeweiligen Schrift anzuordnen. Vielmehr reichen grobe Alterseinstufungen, wie diejenigen des § 6 Abs. 3 Satz 1 JÖSchG, aus. Denn exakte Feststellungen der Jueendgefährlichkeit einer Schrift für jedes Altersjahr sind kaum realisierbar 197. Unproblematisch sind dagegen die absoluten Verbreitungsverbote, die §131 (rassistische und gewaltverherrlichende Schriften) und §184 Abs. 3 StGB (harte Pornographie) vorsehen. Diese Vorschriften zielen nicht nur auf die Bewahrung der Belange der Jugend, sondern auch (und sogar primär) auf den Schutz der Interessen der Allgemeinheit ab 1 9 8 , so daß es gerechtfertigt ist, solche Werke auch unter Erwachsenen zu verbieten. Aber auch aus Jugendschutzgründen erweist sich das generelle Vertriebsverbot dieser Arten von Schriften als sachgerecht und verfassungsrechtlich legitim. Bei §§ 131, 184 Abs. 3 StGB handelt es sich um so krasse Fälle, daß der Jugendschutz den absoluten Vorrang gegenüber den Grundrechten des Art. 5 GG genießt und etwaige Lücken des Jugendschutzes dabei nicht mehr toleriert werden können 199 . Aus dem gleichen Grund ist die Verfassungsmäßigkeit des § 3 Abs. 1 RfStV (absolutes Sendeverbot von schwer jugendgefährdenden Rundfunkprogrammen) zu bejahen, zumal Fernsehsendungen wegen ihrer breiten Publikumswirkung besonders (jugend)gefährlich sind 200 und das mildere Mittel bloßer Sendezeitbeschränkungen weitgehend wirkungslos ist 2 0 1 2 0 2 . 197 Zur Problematik der Alterseinstufungen vgl. etwa Gernert/Stoffers, S. 106ff.

Kommentar zum JÖSchG,

198

Siehe dazu oben in diesem Kapitel, A I V . 199

Vgl. dazu etwa die Begründung des Regierungsentwurfs zum 4. StRG, BT-Drucks. VI/1552, S.35; LG München, BPS-Report 6a/1985, 12 [18]; Horn, in: SK zum StGB, § 184 Rn. 1; Lenckner, in: Schönke-Schröder, Kommentar zum StGB, § 184 Rn. 1 ; Schroeder, Pornographie, Jugendschutz und Kunstfreiheit, S. 9ff. 200

Siehe dazu unten im 3. Kapitel, Β II 3a, bb. 201 202

Siehe dazu unten im 3. Kapitel, Β II 3a, dd.

Problematisch ist dagegen das in § 7 Abs. 4 JÖSchG festgelegte generelle Verbot des Angebots von bespielten Bildträgem in Automaten. Die Bedenken gegen diese Vorschrift erhöhen sich, wenn man berücksichtigt, daß dadurch auch diejenigen Bildträger erfaßt werden, die für alle Altersgruppen freigegeben sind. Warum aus Jugendschutzgründen erforderlich ist, auch diese Bildträger in das Verbot einzubeziehen, ist nicht ersichtlich. Vgl. dazu auch v.Hartlieb, NJW 1985, 830 [832]; ders., Handbuch des Film-, Femseh- und Videorechts, S. 31, 34f; Meirowitz, Gewaltdarstellungen auf Videokassetten, S. 252ff; Weides, NJW 1987, 224 [228]. Das BVerfG (GewArch. 1988, 3690 hat demgegenüber das Verbot des § 7 Abs. 4 JÖSchG für verfassungsmäßig angesehen.

5*

l.Kap. Bestimmungen zum Schutze der Jugend

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III. Das Verhältnis der Indizierung von Schriften und der Jugendfreigabe von Filmen und Videokassetten zum grundgesetzlichen Zensurverbot Es ist bis heute unbestritten, daß die Indizierung von Schriften durch die Bundesprüfstelle gemäß § 1 Abs. 1 GjS nicht gegen das grundgesetzliche Zensurverbot verstößt 203. Denn Art. 5 Abs. 1 Satz 3 GG verbietet nur die Vorzensur 204, während die Indizierung einer Schrift erst nach ihrer Veröffentlichung erfolgt. Sie stellt demzufolge lediglich eine - vom Art. 5 Abs. 1 Satz 3 nicht erfaßte - repressive Maßnahme dar. Problematisch - unter dem Gesichtspunkt des Zensurverbots 205 - ist dagegen die Jugendfreigabe von Filmen und Videokassetten durch die Freiwillige Selbstkontrolle (§§ 6,7 JÖSchG). Die öffentliche Vorführung von Filmen vor Kindern und Jugendlichen und die Verbreitung von Videokassetten an sie ist nur dann gestattet, wenn die Filme und Videokassetten für ihre Altersstufe freigegeben worden sind. Es handelt sich hier nämlich um eine präventive Vorprüfung, ein Verbot mit Erlaubnisvorbehalt, was ohnehin ein typisches Anwendungsbeispiel der Vorzensur ist 2 0 6 . Dem Vorwurf des Verstoßes der Jugendfreigabe von Filmen und Videokassetten gegen das Zensurverbot des Art. 5 Abs. 1 Satz 3 GG kann nicht entgegengestellt werden, daß diese Vorprüfung freiwillig sei 207 . Gegen den Anschein der Freiwilligkeit spricht vor allem die Tatsache, daß die Jugendfreigabe von Filmen und Videokassetten im Gesetz selbst (§§ 6,7 JÖSchG) angeordnet wird. Insoweit ist der Name des sie durchführenden Organs (Freiwillige Selbstkontrolle) eher irreführend. Die Verfassungsmäßigkeit der Vorprüfung 203 Vgl. BVerfGE 83, 130 [155]; vMangoldt/Klein/Starck, Kommentar zum GG, Art. 5 Abs. 1, 2 Rn. 128; Schefold, in: Literatur vor dem Richter, S. 93 [111]; Siefen, in: Literatur vor dem Richter, S.123 [124f]. 204 Vgl. etwa BVerfGE 33, 52 [70f]; 47, 198 [236]; 73, 118 [166]; 83, 130 [155]; 87, 209 [230]; v.Hartlieb, Handbuch des Film-, Femseh- und Videorechts, S. 4f; Herzog, in: MDHS, Kommentar zum GG, Art. 5 Abs. I, II Rn. 78; Raue, Literarischer Jugendschutz, S. 18; Schefold, in: Literatur vor dem Richter, S. 93 [110f]; Siefen, in: Literatur vor dem Richter, S. 123 [124f].

205

Das Zensurverbot gilt übrigens nicht nur für die Grundrechte des Art. 5 Abs. 1 GG, sondern auch für die Kunstfreiheit (und die anderen Grundrechte des Art. 5 Abs. 3 GG). Vgl. dazu Bleckmann, Staatsrecht II - Die Grundrechte, S. 746; Hamann/Lenz, Kommentar zum GG, Art. 5 Anm. Β 13; Knies, Schranken der Kunstfreiheit als verfassungsrechtliches Problem, S. 239fF; Rupert Scholz, in: MDHS, Kommentar zum GG, Art. 5 Abs. III Rn. 12. 206 Vgl. BVerfGE 33, 52 [72]: "Als Vor- oder Präventivzensur werden einschränkende Maßnahmen vor der Herstellung oder Verbreitung eines Geisteswerkes, insbesondere das Abhängigmachen von behördlicher Vorprüfung und Genehmigung seines Inhalts (Verbot mit Erlaubnisvorbehalt) bezeichnet".

207

So aber v.Hartlieb,

Handbuch des Film-, Femseh- und Videorechts, S. 62.

C. Verfassungsrechtliche Würdigung der einschlägigen Bestimmungen

69

von Filmen und Videokassetten kann ebensowenig damit begründet werden, daß sie nicht behördlich, sondern durch eine private Organisation, die Freiwillige Selbstkontrolle erfolgt 208 . Denn die Filme und Videokassetten, die von der Freiwilligen Selbstkontrolle freigegeben werden, gelten als von den Obersten Landesbehörden gekennzeichnet209, so daß diese Vorprüfung zumindest der Form nach - dem Staat zuzurechnen ist 2 1 0 . Maßgebend für die Bejahung der Vereinbarkeit der Jugendfreigabe von Filmen und Bildträgern mit dem grundgesetzlichen Zensurverbot ist vielmehr die Erwägung, daß Art. 5 Abs. 1 Satz 3 GG nur das generelle Verbot umfaßt, ungeprüfte Werke der Öffentlichkeit zugänglich zu machen211. Von einem solchen generellen Verbot kann im vorliegenden Fall nicht die Rede sein. Auch die nicht gekennzeichneten Filme und Videokassetten dürfen den Erwachsenen uneingeschränkt zugänglich gemacht werden 212. Der Vertreiber eines Films oder einer Videokassette kann auf das Verfahren der Jugendfreigabe verzichten, soweit er die einschlägigen Produkte nur Erwachsenen zugänglich machen will. Das von §§ 6,7 JÖSchG statuierte Verbot mit Erlaubnisvorbehalt bezieht sich nur auf Kinder und Jugendliche. Diese "partielle" Vorzensur ist vom Art. 5 Abs. 1 Satz 3 GG nicht verboten 213.

208

Dieses Argument findet sich ebenso bei v.Hartlieb, Handbuch des Film-, Femseh- und Videorechts, S. 62. v.Hartlieb stützt sich auf die Rechtsprechung des BVerfG (vgl. BVerfGE 33, 52 [72]; 83, 130 [155];87,209[230]),wo im Rahmen der Vorzensur von einem behördlichen Verfahren die Rede ist. 20Q Vgl. § 27 Abs. 3 der FSK-Grundsätze. Vgl. auch Art. 1 Satz 2 der Ländervereinbarung über die Freigabe und Kennzeichnung von Filmen, Videokassetten und vergleichbaren Bildträgem vom 1.4.1985 (veröffentlicht in: v.Hartlieb, Handbuch des Film- Femseh- und Videorechts, S. 56f). 210

Ganz abgesehen davon, daß an der Prüfungstätigkeit der Freiwilligen Selbstkontrolle auch Vertreter des Staates maßgeblich teilnehmen. Siehe dazu unten im 4. Kapitel, D III. 211

Vgl. BVerfGE 33, 52 [72]; 47, 198 [236f]; Weides, NJW 1987, 224 [226].

212

Vgl. aber auch § 7 Abs. 3 Nr. 2 JÖSchG, wonach nicht gekennzeichnete Bildträger "nicht im Einzelhandel außerhalb von Geschäftsräumen, in Kiosken oder anderen Verkaufsstellen, die der Kunde nicht zu betreten pflegt oder im Versandhandel angeboten oder überlassen werden" dürfen. Aber auch insoweit ist die Verfassungsmäßigkeit der Jugendfreigabe zu bejahen. Denn die typische Verbreitungsform von Videokassetten (Videotheken) bleibt auch für die nicht gekennzeichneten Bildträger uneingeschränkt zulässig. 213

Die Verfassungsmäßigkeit der Jugendfreigabe von Filmen und Videokassetten bejahen femer Bär, Die verfassungsrechtliche Filmfreiheit und ihre Grenzen, S. 210; Bullinger, in: Handbuch des Staatsrechts, § 142 Rn. 83; v.Hartlieb, Grundgesetz, Filmzensur und Selbstkontrolle, S. 40f; ders., NJW 1985, 830 [833]; ders., Handbuch des Film-, Femseh- und Videorechts, S. 31, 35f, 62; Kalb, Der Jugendschutz bei Film und Femsehen, S. 38; Lerche, in: Stenographischer Bericht über die 24. Sitzung des Ausschusses für Jugend, Familie und Gesundheit des Deutschen Bundestages vom 27.6.1984, Protokoll Nr. 24, Teil II, S. 105ff; Meirowitz, Gewaltdarstellungen auf Videokassetten, S.233f; Noltenius, Die Freiwillige Selbstkontrolle der Filmwirtschaft und das Zensurverbot des Grundgesetzes, S. 134f; Wabnitz, ZBIJugR 1983, 109 [116f]; Weides, NJW 1987, S. 224 [220]. A.A.

70

.Kap. Bestimmungen zum Schutze der Jugend

Aber auch wenn die Jugendfreigabe von Filmen und Videokassetten unter den grundgesetzlichen Zensurtatbestand fallen würde, was nach dem oben Gesagten nicht zutrifft, wäre ihre Verfassungswidrigkeit nicht ohne weiteres zu bejahen. Es läßt sich nämlich mit guten Argumenten - insbesondere im Hinblick auf das Prinzip der Einheit der Verfassung - die Ansicht vertreten, daß das Zensurverbot des Art. 5 Abs. 1 Satz 3 GG nicht schrankenlos ist und eine Ausnahme von dieser Grundgesetznorm zulässig ist, wenn sie "aus anderen zwingenden Verfassungsgründen" gerechtfertigt erscheint 214. Angesichts des Verfassungsrangs des Jugendschutzes215, der besonders starken Jugendgefährdung, die von Filmen und Videokassetten ausgehen kann 216 , angesichts der Vielzahl der sich im Markt befindenden Videoprodukte, ihrer schnellen Verbreitung und der geringen Effektivität einer Nachprüfung 217 ist auch die Auf-

Gernert/Stoffers, Kommentar zum JÖSchG, S. 97ff; Herkströter, AfP 1992, 23 [24f]; Schefold, ZRP 1984, 127 [129fJ; ders., in: Literatur vor dem Richter, S. 93 [1 lOff]. Auch das BVerfG (BVerfGE 87, 209 [230]) hat die Verfassungsmäßigkeit der Jugendfreigabe von Filmen gemäß § 6 JÖSchG bejaht: "Kein Verbreiter eines Films ist verpflichtet, sich vor dessen öffentlicher Aufführung einem behördlichen Genehmigungsverfahren zu unterwerfen. § 6 JÖSchG verbietet nicht die Verbreitung ungekennzeichneter Filme. Vielmehr richtet sich das ihm zu entnehmende Verbot nur gegen die Anwesenheit von Kindern und Jugendlichen bei öffentlichen Filmveranstaltungen, wenn der Film nicht zur Vorführung vor ihnen freigegeben worden ist". Die in derselben Entscheidung (aaO, S. 230ff) geäußerten Bedenken beziehen sich nicht auf die Freigaberegelung als solche, sondern nur auf ihre praktische Handhabung als "Vorprüfung der Strafbarkeit". Nach § 29 a Abs. 1 der FSK-Grundsätze wird nämlich eine Kennzeichnung überhaupt abgelehnt, wenn nach Auffassung des ständigen Vertreters der Obersten Landesbehörden in Betracht kommt, daß der Film den Tatbestand des § 131 StGB oder des § 184 StGB erfüllt. Aus der Ablehnung des Kennzeichnungsantrags kann also der Antragsteller entnehmen, daß die Verbreitung des Films die Gefahr einer strafrechtlichen Verfolgung mit sich bringt. Insoweit besteht zwar kein rechtliches Verbot, ungekennzeichnete Filme der Öffentlichkeit zugänglich zu machen, alle Vertreiber von Filmen werden sich aber faktisch verpflichtet fühlen, sich dem Kennzeichnungsverfahren zu unterwerfen, um eine Prüfling unter strafrechtlichen Gesichtspunkten herbeizuführen und auf diese Weise die Gefahr strafrechtlicher Verfolgung zu vermindern. Angesichts dessen hat das BVerfG (aaO, S. 232) die Frage aufgeworfen (und wegen mangelnder Entscheidungserheblichkeit offen gelassen), ob die "Vorprüfung der Strafbarkeit" im Rahmen des Kennzeichnungsverfahrens gegen das Zensurverbot verstößt. 214

Vgl. Lerche, in: Stenographischer Bericht über die 24. Sitzung des Ausschusses für Jugend, Familie und Gesundheit des Deutschen Bundestages vom 27.6.1984, Protokoll Nr. 24, Teil II, S. 106f. Vgl. auch ders., in: Handbuch des Staatsrechts, § 122 Rn. 23, wo betont wird, daß ein ausnahmsloses Zensurverbot praktisch kaum durchhaltbar ist (insbesondere im Hinblick auf Maßnahmen zugunsten unabweislichen Jugendschutzes). 215

Siehe dazu unten im 2. Kapitel, F II. 216 217

Siehe dazu unten im 3. Kapitel, Β II 3a, aa, bb.

Vgl. dazu v.Hartlieb, NJW 1985, 830 [833]; ders., Handbuch des Film-, Femseh- und Videorechts, S. 31 f. Zum geringen Taugliclikeitsgrad der Nachprüfung von Schriften nach dem GjS siehe unten im 3. Kapitel, Β II 3 a, dd.

D. Zusammenfassung

71

fassung vertretbar, daß ein solcher zwingender Verfassungsgrund hier vorliegt 2 1 5 D. Zusammenfassung Die Jugendschutzbestimmungen, die mit der Kunstfreiheit kollidieren können, sind in verschiedenen Gesetzen enthalten. Das wichtigste Konfliktfeld zwischen Kunstfreiheit und Jugendschutz stellt das GjS dar. Nach § 1 Abs. 1 GjS sind sittlich jugendgefährdende Schriften von der Bundesprüfstelle zu indizieren. Diese Indizierung hat erhebliche Verbreitungs- und Werbebeschränkungen für die betreffende Schrift zur Folge (§§ 3-5 GjS). Pornographische, rassistische, gewaltverherrlichende und andere Schriften, die offensichtlich geeignet sind, die Minderjährigen sittlich schwer zu gefährden (§§6 GjS), unterliegen diesen Vertriebsbeschränkungen kraft Gesetzes, d.h. ohne daß in diesem Fall eine vorherige Indizierung erforderlich ist. Für Filme, Videokassetten und vergleichbare Bildträger bestimmen §§ 6,7 JÖSchG, daß sie Kindern und Jugendlichen nur dann zugänglich gemacht werden dürfen, wenn sie von den Obersten Landesbehörden (in der Praxis: von der Freiwilligen Selbstkontrolle) für Minderjährige freigegeben worden sind (wobei im Gegensatz zum GjS bestimmte Alterseinstufungen vorgesehen werden). Beurteilungsmaßstab für die (Nicht)jugendfreigabe von Filmen und Bildträgern ist die "Beeinträchtigung des körperlichen, geistigen oder seelischen Wohls von Kindern und Jugendlichen". Der Jugendschutz im Rundfimkbereich ist hauptsächlich im RfStV geregelt. Danach ist die Ausstrahlung von rassistischen, gewaltverherrlichenden, pornographischen, kriegsverherrlichenden und anderen sittlich schwer jugendgefährdenden Sendungen unzulässig (§ 3 Abs. 1 RfStV). Sendungen, die nicht unter diesen Kategorien fallen, jedoch geeignet sind, das körperliche, geistige oder seelische Wohl von Mindeijährigen zu beeinträchtigen, dürfen grundsätzlich nur zwischen 23.00 und 6.00 Uhr ausgestrahlt werden (§ 3 Abs. 2 Satz 1 RfStV). Bestimmten sendezeitbeschränkungen unterliegen auch Filme, die für Jugendliche unter 16 oder 18 Jahren nicht freigegeben sind, und Sendungen, die mit indizierten Schriften inhaltsgleich sind (§ 3 Abs. 2 Satz 3, Abs. 3 RfStV). Jugendschutzbestimmungen, die mit der Kunstfreiheit in Konflikt geraten können, enthält auch das StGB. Das gilt zuerst für § 131 StGB, der ein absolutes Verbreitungsverbot für rassenhaßaufstachelnde, gewaltverherrlichende und -verharmlosende Schriften vorsieht. Dasselbe wird auch für Schriften an-

218

Α. A Gernert/Stoffers,

Kommentar zum JÖSchG, S. 101.

72

.Kap. Bestimmungen zum Schutze der Jugend

geordnet, die Gewalt in einer die Menschenwürde verletzenden Weise darstellen. § 184 Abs. 1,2 StGB bestimmt ferner, daß pornographische Schriften einer Vielzahl von Verbreitungs- und Werbebeschränkungen unterliegen. Im Fall der "harten" Pornographie besteht sogar ein absolutes Vertriebsverbot (184 Abs. 3 StGB). Ein weiteres Kollisionsfeld zwischen Kunstfreiheit und Jugendschutz stellt das JArbSchG dar, das eine Reihe von Beschäftigungsverboten für Kinder und Jugendliche festlegt. Alle diese Jugendschutzbestimmungen werfen eine Reihe von grundsätzlichen Fragen auf. Von besonderer Bedeutung ist die Erläuterung der Jugendgefährdungen, zu deren Abwehr diese Vorschriften bestimmt sind. Soweit es um die Jugendgefährdung im allgemeinen geht, muß betont werden, daß das Vorliegen einer Gefahr für die Jugend allgemeine Voraussetzung der Jugendschutzmaßnahmen ist. Das ergibt sich aus der gefahrenabwehrenden und polizeirechtlichen Natur des Jugendschutzrechts. Diese Feststellung hat durchaus praktische Konsequenzen. So unterliegt eine Schrift nur dann den Jugendschutzbestimmungen, wenn sie einen negativen Einfluß auf die Minderjährigen ausüben kann und damit eine Gefahr für die Jugend darstellt, nicht aber wenn sie lediglich keine positiven Auswirkungen auf Kinder und Jugendliche haben kann. Daraus ist auch zu entnehmen, daß der anstößige (z.B. unsittliche) Inhalt eines Werks nicht ohne weiteres zur Anwendung der Jugendschutzmaßnahmen führt. Es muß darüber hinaus seine Eignung zur Jugendgefährdung festgestellt werden. Jugendschutzmaßnahmen, die die Schaffung von Werken einschränken würden, wären ferner grundsätzlich unzulässig (soweit die Vorgänge der Entstehung und der Darbietung nicht zusammenfallen). Denn eine Gefahr für die Jugend kann in der Regel erst durch die Verbreitung eines Werks entstehen. Der Begriff "Jugendgefährdung" zeichnet sich durch persönliche, zeitliche und örtliche Relativität aus. Die Festlegung dessen, was als jugendgefährdend anzusehen ist, kann von Person zu Person unterschiedlich ausfallen. Darüber hinaus hängt die jugendgefährdende Wirkung eines Werks von der Persönlichkeit des jeweiligen Jugendlichen ab. Die Anschauungen über die Bedeutung des Begriffs "Jugendgefährdung" sind ferner zeitgebunden und variieren von Ort zu Ort. Gesicherte wissenschaftliche Erkenntnisse über negative Auswirkungen von Schriften und anderen Massenmedien auf die Entwicklung von Minderjährigen existieren nicht. Die gesetzgeberische Entscheidung, die Möglichkeit einer aus Massenmedien ausgehenden Jugendgefährdung anzunehmen und Jugendmedienschutzgesetze zu erlassen, hält sich aber innerhalb der dem Gesetzgeber einzuräumenden Einschätzungsprärogative. Das ergibt sich aus der

D. Zusammenfassung

73

Tatsache, daß eine Jugendgefährdung durch Massenmedien zwar unbewiesen ist, gleichzeitig aber nicht ausgeschlossen werden kann, und daraus, daß die Möglichkeit einer sicheren und empirisch fundierten Klärung im vorliegenden Bereich wegen des Fehlens systematischer Untersuchungen kaum existiert. Als weitere, die gesetzgeberische Entscheidung legitimierende Gesichtspunkte kommen der Verfassungsrang des Jugendschutzes und die Erheblichkeit der durch Medien möglicherweise herrührenden Jugendgefährdungen in Betracht. Die Jugendgefährdungen, die durch die hier interessierenden Jugendschutzbestimmungen abgewehrt werden sollen, sind in der Regel generalklauselartig festgelegt. Die zentrale Rolle nimmt hierbei der Schutz der Minderjährigen vor "sittlicher Gefährdung" ein. Wegen des gegenwärtigen Wertpluralismus im sittlichen Bereich dürfen nur diejenigen ethischen Normen als Beurteilungsmaßstab herangezogen werden, die wegen ihrer grundlegenden Bedeutung von der Rechtsordnung als eigene rezipiert worden sind. In Betracht kommen insbesondere die Grundgesetzartikel, in die sittliche Werte Eingang gefunden haben (etwa Art. 1 Abs. 1; 2 Abs. 1,2; 3; 6 Abs. 1; 14; 26 Abs. 1 GG), und die Strafvorschriften, die typisch kriminelles Unrecht pönalisieren. Kann ein Werk Mindeijährige zu einem diesen Vorschriften widersprechenden Verhalten verleiten, dann ist seine Eignung zur Jugendgefahrdung zu bejahen. Die Feststellung des jugendgefährdenden Charakters eines Werks setzt die Klärung einer Reihe von weiteren Fragen voraus. Zunächst stellt sich die Frage nach dem Alter des Kindes oder des Jugendlichen, worauf bei der Beurteilung der Jugendgefährdung abzustellen ist. Soweit die Bejahung des jugendgefährdenden Charakters eines Werks nicht automatisch zur Anwendung der Jugendschutzmaßnahme führt, vielmehr eine Abwägung mit entgegenstehenden Interessen erfolgen muß, ist das dabei entstehende Dilemma (Notwendigkeit des Schutzes der untersten Altersgruppen einerseits - Erfordernis der restriktiven Auslegung der Jugendschutzgesetze andererseits) lösbar. In diesem Fall sollte man eine Jugendgefährdung schon bei Beeinträchtigung der untersten Altersgruppen annehmen, gleichzeitig aber bei der Abwägung dem Jugendschutz um so weniger Gewicht beimessen, je enger der Kreis der betroffenen Minderjährigen ist. Ähnlich ist auch bei der Frage zu verfahren, ob die Beurteilung der Jugendgefährdung nur nach den "durchschnittlichen" oder auch nach den "labilen" Jugendlichen zu richten ist. (Bejahung der Jugendgefährdung schon bei Beeinträchtigung des "labilen" Jugendlichen - gleichzeitige Verringerung des Gewichts des Jugendschutzes bei der Abwägung). Für die Anordnung der Jugendschutzmaßnahmen reicht ferner die einfache Wahrscheinlichkeit einer Jugendgefährdung aus. Eine an Sicherheit grenzende Wahrscheinlichkeit ist dagegen nicht erforderlich. Würde man so hohe

74

.Kap. Bestimmungen zum Schutze der Jugend

Wahrscheinlichkeitsanforderungen stellen, dann liefen die - Verfassungsrechtsgut konkretisierenden - Jugendschutzgesetze weitgehend leer. Bei der Beurteilung der Jugendgefährdung sollte man des weiteren nicht nur auf eine werkgerechte Interpretation abstellen, weil Minderjährige den Gehalt eines Werks nicht immer richtig begreifen können. Entscheidend ist deshalb in erster Linie, wie das betreffende Werk von Jugendlichen verstanden werden kann. Notwendig ist aber in jedem Fall eine Würdigung des gesamten Inhalts des Werks. Die Verfassungsmäßigkeit der hier interessierenden Jugendschutzvorschriften ist unter verschiedenen Aspekten zweifelhaft. Soweit es um ihre Vereinbarkeit mit den verfassungsrechtlichen Bestimmtheitsanforderungen geht, darf nicht außer acht gelassen werden, daß eine gewisse Unbestimmtheit der einschlägigen Bestimmungen - wegen der Vielgestaltigkeit und Entwicklungsoffenheit des Jugendschutzbereichs - verfassungsrechtlich unbedenklich ist. Andererseits wäre es unzulässig, dem Gesetzgeber freie Hand für die Verwendung beliebig unbestimmter Rechtsbegriffe zu lassen. Die gesetzliche Aufstellung von verdeutlichenden Beispielen erweist sich dabei nicht nur als zweckmäßig, sondern auch als verfassungsrechtlich geboten. Unter dem Gesichtspunkt des Verhältnismäßigkeitsgebots ist die Verfassungsmäßigkeit der in §§ 3-5 angeordneten Verbreitungs- und Werbebeschränkungen besonders fraglich. Die Vertriebsbeschränkungen der §§ 3,4 GjS halten sich jedoch innerhalb der vom Verhältnismäßigkeitsgrundsatz markierten Grenzen. Denn die dadurch untersagten Verbreitungsmodalitäten stellen typische Gefahrenquellen für die Jugend dar, zu deren Abwehr kein milderes und gleich effektives Mittel existiert. Maßgeblich ist auch der dem Gesetzgeber dabei einzuräumende Gestaltungsspielraum und die Tatsache, daß die Verbreitung des Werks dadurch zwar eingeschränkt, nicht aber aufgehoben wird. Anders verhält es sich aber beim Werbeverbot des § 5 Abs. 2 GjS. Denn dieses absolute Werbeverbot kommt einem absoluten Vertriebsverbot gleich, was zu einem verfassungswidrigen Übermaß fuhrt. Zu beanstanden ist ferner das Fehlen von Alterseinstufungen im GjS, weil die Grundrechte des Art. 5 GG dadurch mehr eingeschränkt werden, als dies für einen effektiven Jugendschutz erforderlich wäre. Unproblematisch sind dagegen die in §§ 131 und 184 Abs. 3 StGB angeordneten absoluten Verbreitungsverbote. Hier handelt es sich um besonders krasse Fälle, vor denen nicht nur die Jugend, sondern auch die Allgemeinheit geschützt werden sollte, so daß sich das absolute Vertriebsverbot als verfassungslegitim erweist. Die Indizierung von Schriften durch die Bundesprüfstelle gemäß § 1 Abs. 1 GjS verstößt nicht gegen das grundgesetzliche Zensurverbot, weil sie lediglich eine repressive - vom Art. 5 Abs. 1 Satz 3 GG nicht erfaßte - Maßnahme

D. Zusammenfassung

75

darstellt. Ebenso ist die Verfassungsmäßigkeit der Jugendfreigabe von Filmen und Videokassetten (§§ 6,7 JÖSchG) zu bejahen, obwohl es sich hier um eine präventive Vorprüfung handelt. Denn Art. 5 Abs. 1 Satz 3 GG umfaßt nur das generelle Verbot, ungeprüfte Werke der Öffentlichkeit zugänglich zu machen, während auch die nicht gekennzeichneten Filme und Videokassetten an Erwachsene uneingeschränkt verbreitet werden dürfen.

2. Kapitel Die Einschränkbarkeit der Kunstfreiheit im Fall ihrer Kollision mit dem Jugendschutz. Die verschiedenen Ansätze zur Beschränkung der Kunstfreiheit zugunsten der Jugendschutzbestimmungen Nach der Darstellung der Jugendschutzbestimmungen, die mit dem Grundrecht der Kunstfreiheit kollidieren können, und nach der Auseinandersetzung mit einigen Grundsatzproblemen, die in ihrem Rahmen auftauchen, wendet sich die Arbeit der Frage zu, ob diese Bestimmungen auf Kunstwerke überhaupt anwendbar sind, d.h. ob sie auch die Kunstfreiheit zulässigerweise einschränken können. Die Kunstfreiheit wird in Art. 5 Abs. 3 GG ohne Gesetzesvorbehalt geschützt. Es steht jedoch außer jedem Zweifel und ist in der Literatur und Rechtsprechung allgemein anerkannt1, daß die Kunstfreiheit, wie jede andere Freiheit, nicht schrankenlos sein kann, wenn ihre Ausübung das "forum internum" verläßt und sich auf die soziale Umwelt auswirkt. Ob nun die prinzipielle Einschränkbarkeit der Kunstfreiheit und aller anderen vorbehaltlosen Grundrechte mit der "Rechtsqualität" der Grundrechte2, mit dem - an dem gemeinschaftsbezogenen Individuum orientierten -

1 Vgl. etwa BVerfGE 30, 173 [193]; 67, 213 [228]; 77, 240 [253]; BVerwGE 1, 303 [307]; BGHZ 50, 133 [146]; BGHSt 37, 55 [62]; VG Oldenburg, GewArch 1990, 277; Bär,., Die verfassungsrechtliche Filmfreiheit und ihre Grenzen, S. 124, 164; Berg, Konkurrenzen schrankendivergenter Freiheitsrechte im Grundrechtsabschnitt des Grundgesetzes, S.44; Bethge, Zur Problematik von Grundrechtskollisionen, S. 12, 258ff; ders., Grundrechtskonflikte in: Ergänzbares Lexikon des Rechts 5/340, S. 5; Bettermann, Grenzen der Grundrechte, S. 7ff; Bismark, NJW 1985, 246 [250]; Blaesing, Grundrechtskollisionen, S. 18ff; Denninger, in: Handbuch des Staatsrechts, § 146 Rn. 38; Doehring, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, S. 313; Erhardt, Kunstfreiheit und Strafrecht, S. 3; Geiger, in: FS für Leibholz, Bd. II, S. 187 [196f]; Graf, Die Grenzen der Freiheitsrechte ohne besondere Vorbehaltsschranke, S. 2, 39fF, 199; H en schei, in: FS für Wassermann, S. 351 [352]; Knemeyer, Der Staat 8 [1969], S. 240 [241]; Knies, AfP 1978, 57 [60]; Friedrich Müller, Die Positivität der Grundrechte, S. 41; v.Noorden, Die Freiheit der Kunst nach dem Grundgesetz (Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG) und die Strafbarkeit der Verbreitung unzüchtiger Darstellungen (§ 184 Abs. 1 Nr. 1 StGB), S. 96; Otto, JR 1983,1 [8]; v.Pollern, JuS 1977, 644f; Schick, Kunstwerkgarantie und Strafrecht, S. 66; Schmitt Glaeser, WissR 7 [1974], S. 107, 177 [178]; Sendler, in: FS fur Zeidler, Bd. I, S. 871 [879]; Wendt, AöR 104 [1979], S. 414 [431].

2 So Bethge, Zur Problematik von Grundrechtskollisionen, S. 258fF; Friedrich Positivität der Grundrechte S. 41; Wendt, AöR 104 [1979], S. 414 [431].

Müller, Die

Α. Einengung des Kunstbegriffs

77

Menschenbild des Grundgesetzes3 oder mit den krassen und schlechthin unannehmbaren Konsequenzen, zu denen eine völlig schrankenlose Freiheit innerhalb einer Gemeinschaft fuhren würde4, begründet wird, ist nur von sekundärer Bedeutung. Denn im Ergebnis ist man darin einig, daß die Ausübung aller (d.h. auch der vorbehaltlosen) Grundrechte Grenzen unterliegen muß. Die gegenteilige Meinung, die in der früheren Literatur vereinzelt vertreten wurde5, ist längst überholt und wird heute - soweit ersichtlich - von niemanden mehr vertreten. Die Bejahung der prinzipiellen Einschränkbarkeit der Kunstfreiheit führt uns aber nicht viel weiter. Denn die Erkenntnis, daß die Kunstfreiheit überhaupt eingeschränkt werden darf, besagt noch nicht, welche die zulässigen Grenzen der Kunstfreiheit sind und ob das Rechtsgut des Jugendschutzes zu diesen Schranken zählt. Die Einschränkbarkeit der Kunstfreiheit zugunsten des Jugendschutzes wurde in der Literatur und Rechtsprechung mit höchst unterschiedlichen Konstruktionen begründet, zu deren Richtigkeit im folgenden Stellung genommen wird. A. Einengung des Kunstbegriffs Ein erster Ansatz zu dieser Richtung findet sich in der älteren Literatur und Rechtsprechung, wo vielfach der Versuch unternommen wurde, dem Kunstbegriff wertend einzuengen und auf diese Weise den Jugendschutzbestimmungen genügenden Anwendungsraum auch gegenüber der Kunstfreiheit zu verschaffen. Die nähere Darstellung dieser Konstruktion und die Untersuchung ihrer 3

So BVerfGE 30, 173 [193]; Bär, Die verfassungsrechtliche Filmfreiheit und ihre Grenzen, S. 164; Bethge, Grundrechtskonflikte in: Ergänzbares Lexikon des Rechts, 5/340, S. 5; Blaesing, Grundrechtskollisionen, S. 18f; Erhardt, Kunstfreiheit und Strafrecht, S. 3; Geiger, in: FS für Leibholz, Bd. II, S. 187 [196f]; Graf, Die Grenzen der Freiheitsrechte ohne besondere Vorbehaltsschranke, S. 40. Zum Menschenbild des Grundgesetzes im allgemeinen vgl. etwa BVerfGE 4,7 [15f]; 6, 389 [422]; 7, 198 [205]; 24, 119 [144]; 27, 1 [7]; Häberle, Das Menschenbild im Verfassungsstaat; Ridder, DuR 7 [1979], S. 123 f 4 So BVerfGE 77, 240 [253]; Bettermann, Grenzen der Grundrechte, S. 7 ff; Blaesing, Grundrechtskollisionen, S.19f; Geiger, in: FS für Leibholz, Bd. II, S. 187 [197]; v.Noorden, Die Freiheit der Kunst nach dem Grundgesetz (Art. 5 Abs. 3 GG) und die Strafbarkeit der Verbreitung unzüchtiger Darstellungen (§ 184 Abs. 1 Nr. 1 StGB), S. 96. 5

Für eine schrankenlose Kunstfreiheit AG Darmstadt, JZ 1971, 140 [141]; Bauer, JZ 1965, 41 [45]. So im Ergebnis auch Ott, NJW 1963, 617f, der aber später (NJW 1964, 1149) die Unumgänglichkeit der Beschränkung der Kunstfreiheit ausdrücklich anerkannt hat. Vgl. femer Dünnwald, JR 1965, 46 [48]; ders., GA 1967, 33 [40], der von einer schrankenlosen Kunstfreiheit spricht, gleichzeitig aber die notwendigen Grenzen der Kunstfreiheit durch eine restriktive Interpretation des Kunstbegriffs zieht.

2.Kap. Die Einschränkbarkeit der Kunstfreiheit

78

Stichhaltigkeit macht aber die vorherige Auseinandersetzung mit der allgemeinen Problematik des Kunstbegriffs unentbehrlich. I. Der Kunstbegriff im allgemeinen 7. Vorgeschlagene Auswege aus der Schwierigkeit,

Kunst zu definieren

Daß man es bei der Bestimmung dessen, was Kunst ist, mit einer äußerst schwierigen Aufgabe zu tun hat, liegt auf der Hand. Die Versuche, Kunst zu definieren, sind sogar mit den Versuchen der Schildbürger, das Sonnenlicht in Säcke zu schaufeln, verglichen worden6. Selbst das BVerfG hat - etwas resignierend - die Unmöglichkeit festgestellt, Kunst generell zu definieren 7. Angesichts dessen ist es durchaus verständlich, daß im Laufe der Zeit verschiedene Konstruktionen entwickelt wurden, die darauf abzielen, das Definitionsproblem der Kunst zu umgehen8. a) Die Lehre des Definitionsverbots Setzt man sich mit der These des Definitionsverbots auseinander, dann muß zuerst ein (wohl weitverbreitetes) Mißverständnis ausgeräumt werden. Unter dem Begriff "Definitionsverbot" versteht man in der juristischen Diskussion in der Regel die Lehre von Knies, nach der dem Staat verboten sei, Kunst im "material-qualitativen" Sinne zu definieren 9. Damit wird aber kein absolutes, sondern lediglich ein qualitatives Definitionsverbot gefordert (dessen Untersuchung zu einer anderen Dimension gehört 10). Selbst Knies entwickelt einen

6

So Rosendorfer,

JZ 1985, 176 [177].

7

Vgl. BVerfGE 67, 213 [225]. Vgl. ferner, Ladeur, in: AK zum GG, Art. 5 Abs. 3 I I Rn. 10, wonach "Kunst sich nicht begrifflich festlegen läßt". 8 Der oft zitierte Satz "in dubio pro arte" (so oder ähnlich etwa Bauer, JZ 1967, 167 [169]; EmmerichAVürkner, NJW 1986, 1195 [1205]; Hamann/Lenz, Kommentar zum GG, Art. 5 Anm. Β 13; Locher, Das Recht der bildenden Kunst, S. 20; Schefold, in: FS für Eberhard, S. 115 [122]; Erwin Stein, JZ 1959, 720[723]. Dagegen Geiger, in: FS für Leibholz, Bd. II, S. 187 [190]; Meyer, SchlHA 1984, 49 [51]; Roemer-Blum, GewArch 1986, 9 [10]; Rupert Scholz, in: MDHS, Kommentar zum GG, Art. 5 Abs. III Rn. 27) stellt keinen Ausweg aus dem deflatorischen Problem der Kunst dar. Denn diese (fragwürdige) Maxime setzt voraus, daß ein Kunstbegriff schon festgelegt ist, seine Anwendung im konkreten Fall aber zu keinem eindeutigen Ergebnis geführt hat. Vgl. dazu auch Knies, Schranken der Kunstreiheit als verfassungsrechtliches Problem, S. 140f. Eine unzulässige Verlagerung der Problematik auf der Schrankenebene ist ferner der Weg, den Doehring, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, S. 316 beschreitet, um die Aporien des Kunstbegriffs zu umgehen: er will das Vorhandensein eines Kunstwerks in jedem Fall einfach unterstellen.

Knies, Schranken der Kunstfreiheit als verfassungsrechtliches Problem, S. 217ff. 10

Siehe dazu unten in diesem Kapitel A I 2b.

Α. Einengung des Kunstbegriffs

79

technisch-formalen Kunstbegriff i.S.d. Art. 5 Abs. 3 GG 11 . Ein absolutes Definitionsverbot wurde dagegen bis heute kaum 12 vertreten. Es hätte zwar einiges für sich, dem Staat jegliches Entscheidungsbefugnis darüber abzusprechen, ob ein Werk dem Schutzbereich des Art. 5 Abs. 3 GG zuzuordnen ist oder nicht. Ein absolutes Definitionsverbot hätte nicht nur den Vorteil, daß der Rechtsanwender dadurch von den Aporien der Kunstdefinition befreit würde. Eine solche Annahme würde ferner dem Sinn und Zweck der verfassungsrechtlichen Kunstfreiheitsgarantie eher gerecht werden. Denn wie kann eine Kunst frei sein, wenn vom Staat verbindlich bestimmt wird, was unter Kunst zu verstehen ist? Ein generelles Definitionsverbot muß aber im Ergebnis abgelehnt werden. Denn - nach einer nahezu klassisch gewordenen Wendung - kann der Staat nicht schützen, was er nicht bestimmen kann 13 . Bei der Annahme eines Definitionsverbots würde die verfassungsrechtliche Kunstfreiheitsgarantie leerlaufen und ohne jede eigenständige Bedeutung bleiben. Die Schwierigkeiten des Kunstbegriffs befreien nicht von der Aufgabe, in jedem Einzelfall zu bestimmen, ob ein Werk Kunst i.S.d. Art. 5 Abs. 3 GG ist oder nicht 14 , was wiederum die Existenz einer Kunstdefinition voraussetzt. Sonst wäre die Kunstfreiheit wertlos. Insoweit besteht kein Definitionsverbot, sondern vielmehr ein Definitionsgebot 15. Die einzig legitime Frage lautet demnach, wie die Kunstdefinition zu erfolgen hat. b) Die Aufnahme von außerrechtlichen Definitionen Angesichts der Verlegenheit, mit der der Jurist bei der Begriffsbestimmung der Kunst konfrontiert ist, liegt es nahe, Zuflucht zu außerrechtlichen Defini-

11 Knies, Schranken der Kunstfreiheit als verfassungsrechtliches Problem, S. 219ff. Dazu siehe unten in diesem Kapitel A I 2f.

12

Für ein generelles Definitionsverbot plädieren Breunung/Nocke, in: Literatur vor dem Richter, S. 235ff. 13 So Arndt, NJW 1966, 26 [28]; Erhör dt, Kunstfreiheit und Strafrecht, S. 77; H en schei, in: FS für Wassermann, S. 351; Isensee, Wer definiert die Freiheitsrechte?, S. 35; Würkner, NVwZ 1987, 841 [843f]; ders., JA 1988, 183 [185]; Zöbeley, NJW 1985, 254. 14

Vgl. dazu BVerfGE 67, 213 [225]; 75, 369 [377]; Lerche, Kunstfreiheit in: Ergänzbares Lexikon des Rechts 5/420, S. 1; ders., in: Handbuch des Staatsrechts, § 121 Rn. 16. 15 So die absolut h.M. Vgl. etwa Bär, Die verfassungsrechtliche Filmfreiheit und ihre Grenzen, S.123; Benda, Die Neue Ordnung 36 [1982], S. 345 [347f|; Emmerich/Würkner, NJW 1986, 1195 [1199]; Erbel, DVB1 1969, 863 [864]; Grebenhagen, Der Staat 8 [1969], S. 246 [250]; Henschel, in: FS für Wassermann, S. 351; Heuer, Die Besteuerung der Kunst, S. 11, 19; Isensee, Wer definiert die Freiheitsrechte?, S. 59; Kirchhof, NJW 1985, S. 225 [227]; vMangoldt/Klein/Starck, Kommentar zum GG, Art. 5 Abs. 3 Rn. 185; Rupert Scholz, in: MDHS, Kommentar zum GG, Art. 5 Abs. III Rn. 25; Würkner, JA 1988, 183 [185].

2.Kap. Die Einschränkbarkeit der Kunstfreiheit

80

tionen zu suchen16. Das gilt umso mehr, als Kunst einen primär nicht rechtserzeugten Lebensbereich darstellt 17 und der Kunstbegriff ein der Rechtsordnung vorgegebener Begriff ist 18 . Nun wird man aber bald feststellen müssen, daß der Verweis auf die Möglichkeit der Aufnahme einer außerrechtlichen Definition kaum behilflich sein kann. Denn auch im außerrechtlichen Bereich fehlt jeglicher Konsens über die Bedeutung des Wortes "Kunst" 19 . Auch dort herrscht eine völlige Orientierungslosigkeit. Schon ein Blick auf die Ästhetik, die Fachdisziplin, die sich seit alters mit der Problematik der Kunst und des "Schönen" auseinandersetzt, mag den dafür erforderlichen Nachweis liefern. Einen gefestigten Kunstbegriff gibt es in dieser Wissenschaftssparte einfach nicht. Denn die "Vielfalt von Ansätzen und Methoden, von denen aus wichtige Beiträge fur aktuelle Theorieformen moderner Ästhetik entwickelt worden sind, reicht von der ästhetischen Phänomenologie und Hermeneutik, der Erkenntnis- und Bedeutungstheorie, über anthropologische und soziologische Theorienansätze, über die ästhetische Psychologie, insbesondere die Gestaltpsychologie, bis hin zur Psychoanalyse, von der ontologischen und metaphysischen Ästhetik, von der Semiotik, einschließlich der ästhetischen Zeichen-, Form- und Sturkturtheorien, über die verschiedensten marxistischen Kunsttheorien bis hin zur moderner Informationsästhetik und Medientheorie"20. Aber auch wenn es eine allgemein anerkannte Kunstdefinition im juristischen Bereich gäbe, wäre der Jurist schlecht beraten, wollte er sie unkritisch übernehmen. Denn die Bedeutung eines Rechtsbegriffs wird vor allem durch den Sinn und Zweck der gesetzlichen Vorschrift, in der er steht, und durch ih-

16 So wurde z.B. in der älteren Literatur und Rechtsprechung oft auf die vorherige Kunstdefinition des "Großen Brockhaus" (6. Aufl., Bd. 6, Sp. 706) zurückgegriffen, nach der "Kunst die Gestaltung eines seelisch-geistigen Gehalts durch eine eigenwertige Form nach bestimmten Gesetzen" sei. So etwa BVerwGE 23, 104 [107f]; OVG Koblenz, DVB1 1966, 576 [580]; OVG Münster, JZ 1959, 716 [718]; Hamann/Lenz, Kommentar zum GG, Art. 5 Anm. Β 13; Krauss, FamRZ 1960, 56 [57]. Zur Kritik an der "Brockhaus-Formel", insbesondere im Hinblick auf ihre Vagheit und Konturlosigkeit, vgl. Berka, JB1 1983, 281 [284]; Erbel, Inhalt und Auswirkungen der verfassungsrechtlichen Kunstfreiheitsgarantie, S. 8; Friedrich Müller, Freiheit der Kunst als Problem der Grundrechtsdogmatik, S.35f Fn. 80; Raue, Literarischer Jugendschutz, S. 98f. 17 Vgl. dazu Erhardt, Kunstfreiheit und Strafrecht, S. 51f; Friedrich Problem der Grundrechtsdogmatik, S. 52. 18

Müller, Freiheit der Kunst als

Vgl. BVerfGE 39, 197 [207].

19 Vgl. BVerfGE 67, 213 [224]; Erhardt, Kunstfreiheit und Strafrecht, S. 52ff; Schick, Kunstwerkgarantie und Strafrecht, S. 12. Charakteristisch auch dafür der Titel des von Andreas Mäckler herausgegebenen Buchs: "Was ist Kunst?: 1080 Zitate geben 1080 Antworten".

90

Erhardt,

Kunstfreiheit und Strafrecht, S. 52f.

Α. Einengung des Kunstbegrffs

81

ren Zusammenhang mit anderen Rechtssätzen maßgeblich geprägt. Aufgrund dieser Faktoren kann ein Begriff, in seiner Funktion als Rechtsbegriff, eine eigenständige, originäre Bedeutung gewinnen, die von seiner Bedeutung im außerrechtlichen Bereich abweicht. Aus diesem Grund verbietet sich die schlichte Projizierung außerrechtlicher Definitionen auf die rechtliche Ebene, was auch fiir den Begriff "Kunst" gilt 2 1 . Nicht zu verkennen ist außerdem, daß ein Rechtsbegriff bestimmte Voraussetzungen erfüllen muß. Er muß insbesondere den Anforderungen der Praktikabilität, Einfachheit, Klarheit und Subsumierbarkeit genügen. Es ist demnach offensichtlich, daß die sich durch hohes Abstraktionsniveau und geringe Praktikabilität auszeichnenden Kunstdefinitionen, die im Rahmen der Ästhetik entwickelt wurden, vom Juristen nicht einfach übernommen werden können22. Daß heißt freilich nicht, daß die Bedeutung, die man dem Begriff "Kunst" im außerrechtlichen Bereich beimißt, keine Rolle bei der Bildung des juristischen Kunstbegriffs (oder besser gesagt: der vielen juristischen Kunstbegriffen 23 ) spiele. Es wäre schlechthin unannehmbar, wenn der Jurist einen rechtlichen Kunstbegriff schaffen würde, der mit der metajuristischen Bedeutung des Begriffs "Kunst" nichts Gemeinsames hätte24. Insoweit können auch die Ergebnisse anderer Fachdisziplinen, die sich mit dem Kunstphänomen auseinandersetzen (z.B. Ästhetik, Kunstsoziologie, -philosophie und -geschichte), wichtige Hinweise und Anhaltspunkte für die Aufhellung der strukturellen Eigentümlichkeiten der Kunst und damit auch für den rechtlichen Kunstbegriff liefern 25. Die juristische Begriffsbildung

21 Vgl. dazu nur etwa Breunung/Nocke, in: Literatur vor dem Richter, S. 235 [245ff]; Erbel, Inhalt und Auswirkungen der verfassungsrechtlichen Kunstfreiheitsgarantie, S. 2, 8; Geis, Kulturstaat und kulturelle Freiheit, S. 239; Heinz, in: Grenzen politischer Kunst. S. 44 [68 Fn. 46]; Jesch, AöR 82 [1957], S. 163 [179]; Knies, Schranken der Kunstfreiheit als verfassungsrechtliches Problem, S. 128ff; Ropertz, Die Freiheit der Kunst nach dem Grundgesetz, S. 61; Schick, Kunstwerkgarantie und Strafrecht, S. 1 Iff; Wank, Die juristische Begriffsbildung, S. 118ff. 22 Vgl. Erhardt, Kunstfreiheit und Strafrecht, S. 54; Knies, Schranken der Kunstfreiheit als verfassungrechtliches Problem, S. 142ff. 23

Siehe dazu unten in diesem Kapitel, A I 2b und A III.

24

Vgl. Knies, Schranken der Kunstfreiheit als verfassungrechtliches Problem, S. 130; Rupert Scholz, in: MDHS, Kommentar zum GG, Art. 5 Abs. III Rn. 25. Vgl. auch Breunung/Nocke, in: Literatur vor dem Richter, S. 235 [248 Fn. 43a]: "Natürlich sollte sich auch ein Rechtsbegriff schon mit Rücksicht auf die Durchsetzbarkeit bzw. Akzeptanz der juristischen Begründung nicht mehr als nötig vom Verständnis der Adressaten entfernen". 25

Vgl. dazu etwa Erhardt, Kunstfreiheit und Strafrecht, S. 55; Heuer, Die Besteuerung der Kunst, S. 16; Hufen, Die Freiheit der Kunst in staatlichen Institutionen, S. 64; Schick, Kunstwerkgarantie und Strafrecht, S . U . 6 Vlachopoulos

2.Kap. Die Einschränkbarkeit der Kunstfreiheit

82

unterliegt aber den oben bezeichneten Regeln, die eine automatische und unkritische Aufnahme von außerrechtlichen Definitionen verbieten. c) Die Drittanerkennung Als weiterer Ausweg aus der Schwierigkeit, Kunst zu definieren, bietet sich die Heranziehung eines in Kunstsachen kompetenten Dritten, eines Kunstsachverständigen, der allein und verbindlich über die Kunsteigenschaft eines Werks zu entscheiden hätte26 2 7 Die Bedeutung der Sachverständigen in Kunstprozessen kann nicht ernsthaft in Zweifel gezogen werden. Wegen der häufig schweren Verständlichkeit der modernen Kunst , der ständigen Überschreitung der bisher existierenden Regeln und Grenzen der Kunst durch neue, avantgardistische Kunstformen 29 und wegen der Vielfältigkeit des Lebensbereichs "Kunst" 30 (ein Überblick 26 So z.B. Dünnwald, JR 1965, 46 [48f]; Würtenberger, in: FS für Dreher, S. 79 [88]. Vgl. auch Ropertz, Die Freiheit der Kunst nach dem Grundgesetz, S. 124, der die Beantwortung der Frage, ob eine Handlung Bezug zum Künstlerischen hat und damit unter den Schutzbereich des Art. 5 Abs. 3 GG fällt, dem Sachverständigen überlassen will. Vgl. ferner BVerfGE 30, 173 [189f], wo das Gericht zwar einen materialen Kunstbegriff aufstellt (siehe dazu unten in diesem Kapitel, A I 2e), den betreffenden Roman ("Mephisto") aber nicht an diesem Begriff mißt, sondern vielmehr sich mit der Feststellung begnügt, daß alle kompetenten Sachverständigen (und die Instanzgerichte) diesem Roman die Eigenschaft eines Kunstwerks zuerkannt haben. Vgl. des weiteren Bär, Die verfassungsrechtliche Filmfreiheit und ihre Grenzen, S.136; Bleckmann, Staatsrecht II - Die Grundrechte, S. 742; vMünch, in: v.Münch, GG-Kommentar, Art. 5 Rn. 60b, die primär auf das Selbstverständnis des Künstlers abstellen, die Anerkennung durch Sachverständigen aber als zusätzliches Kriterium heranziehen, um die Aporien der subjektivierenden Betrachtungsweise (siehe dazu gleich unten im Text, A I Id) zu umgehen.

Die These der Drittanerkennung findet ihre extremste Ausformung bei Schick, Kunstwerkgarantie und Strafrecht, S. 129ff; ders., JZ 1970, 645 [646f]. Nach ihm sei schon ausreichend, wenn auch nur ein Sachverständiger bereit sei, ein Werk als Kunst anzuerkennen. Aber was wird in dieser Welt nicht vertreten? Und femer: es wird immer einen Kunstexperten geben, der - nicht zuletzt aus "Kollegialität" - bereit sein wird, einem Werk das Prädikat "Kunst" zu erteilen. 27

Der Dritte, der über die Kunsteigenschaft eines Werks zu entscheiden hätte, wird aber nicht immer in der Person des Kunstsachverständigen gesucht. Nach einer anderen Variante der Drittanerkennungstheorie sei die Meinung des künstlerisch aufgeschlossenen und um Verständnis bemühten Menschen maßgeblich. So z.B. Woesner, NJW 1966, 1729 [1732]. Vgl. femer Ostendorf, in: Literatur vor dem Richter, S. 271 [277], der für die Bejahung der Kunsteigenschaft eine partielle Anerkennung in der Außenwelt für erforderlich hält, ohne aber näher zu erklären, was damit gemeint sein sollte. 28

Vgl. Knies, Schranken der Kunstfreiheit als verfassungsrechtliches Problem, S. 17ff; Würtenberger, in: FS für Dreher, S. 79 [88]. 29

Vgl. BVerfGE 67, 213 [225]; Bleckmann, Staatsrecht II - Die Grundrechte, S. 741; Erhardt,

Kunstfreiheit und Strafrecht, S. 54. Vgl. Wiehert, Zum Problem der Kunstfreiheitsgarantie, S. 48.

Α. Einengung des Kunstbegriffs

83

wird auch für den künstlerisch aufgeschlossenen Richter kaum möglich sein), wird ein sachverständiges Gutachten in vielen Fällen unumgänglich sein. Die Rolle des Kunstexperten muß aber auf die Beisteuerung von Entscheidungshilfe beschränkt werden (etwa auf die Auslegung von literarischen Texten und die Informierung über neue Formen und Tendenzen in der Kunstszene)31. Die eigentliche Entscheidungskompetenz, das Urteil darüber, ob ein Werk dem Schutzbereich des Art. 5 Abs. 3 GG zuzuordnen ist oder nicht, muß demgegenüber beim Staat und seinen demokratisch legitimierten Instanzen bleiben . Es wäre eine verfassungsrechtlich unzulässige Verschiebung der staatlichen Definitionskompetenz, die Entscheidung über die Kunsteigenschaft eines Werks den Kunstsachverständigen zu überantworten. Abgesehen davon stellt die Theorie der Drittanerkennung keine wirkliche Lösung, sondern nur eine Verlagerung des Definitionsproblems dar 33 . Denn auch in den Sachverständigenkreisen3 besteht keine Einigkeit über die Beurteilung eines Werks. Vielmehr gehen die einschlägigen Meinungen auseinander 35 . Es lassen sich in aller Regel unschwer sowohl Sachverständige finden, die dem betreffenden Werk das Prädikat "Kunst" zu erteilen bereit sind, als auch Kunstexperten, die demselben Werk jeglichen künstlerischen Anspruch absprechen wollen. Legt man die Drittanerkennungstheorie zugrunde, dann 31

Vgl. Erhardt,

Kunstfreiheit und Strafrecht, S. 80; Heinz, in: Grenzen politischer Kunst, S. 44

[53]. 32

So auch Denninger, in: Handbuch des Staatsrechts, § 146 Rn. 10; Erhardt, Kunstfreiheit und Strafrecht, S. 78, 80; Heinz, in: Grenzen politischer Kunst, S. 44 [53]; Isen see, AfP 1993, 619 [623]; Roemer-Blum, GewArch 1986, 9 [10], Rupert Scholz, in: MDHS, Kommentar zum GG, Art. 5 Abs. III Rn. 25. 33

Ebenso ablehnend Denninger, in: Handbuch des Staatsrechts, § 146 Rn. 3, 8, 10; Erhardt, Kunstfreiheit und Strafrecht, S. 79f; Forsthoff, AfP 1971, 126 [127]; Geiger, in: FS für Leibholz, Bd. II, S. 187 [190]; Grebenhagen, Der Staat 8 [1969], S. 246 [250]; Hempel, Die Freiheit der Kunst, S.49ff; Henschel, in: FS für Wassermann, S. 351 [356]; Heuer, Die Besteuerung der Kunst, S. 12ff; Isensee, Wer definiert die Freiheitsrechte?, S. 38f Fn. 47; ders., AfP 1993, 619 [622]; Knies, Schranken der Kunstfreiheit als verfassungsrechtliches Problem, S. 162ff; ders., AfP 1978, 57 [6Iff]; Locher, Das Recht der bildenden Kunst, S. 21f; vMangoldt/Klein/Starck, Kommentar zum GG, Art. 5 Abs. 3 Rn. 186; Oettinger, JZ 1974, 285 [286]; Rupert Scholz, in: MDHS, Kommentar zum GG, Art. 5 Abs. III Rn. 26. 34 Hier ergibt sich des weiteren die Frage: Woher sollte der Sachverständige stammen? Aus der Künstlerszene selbst, aus dem Bereich der Kunst· und Literaturkritik oder aus der Wissenschaft (etwa aus den Fachdisziplinen der Ästhetik, Kunstsoziologie und -geschichte)? Und wenn man sich beispielsweise för einen Sachverständigen aus dem Bereich der Ästhetik entscheiden würde, aus welcher der im Rahmen der Ästhetik vertretenen zahllosen Richtungen wäre er zu entnehmen? 35 Vgl. dazu etwa Bär, Die verfassungsrechtliche Filmfreiheit und ihre Grenzen, S. 114; Erhardt, Kunstfreiheit und Strafrecht, S. 79; Geiger, in: FS für Leibholz, Bd. II, S. 187 [190]; Knies, Schranken der Kunstfreiheit als verfassungsrechtliches Problem, S. 164ff.

6*

2.Kap. Die Einschränkbarkeit der Kunstfreiheit

84

verlagert sich das Definitionsproblem auf die Frage, welcher Kunstexperte berufen werden sollte, um die Kunsteigenschafl des Werks zu beurteilen. Ob ein Werk den Schutz des Art. 5 Abs. 3 GG genießt oder nicht, hängt dann nur davon ab, wer als Sachverständige herangezogen wird. Aber auch aus einer Reihe von anderen Gründen wäre der Staat schlecht beraten, wollte er seine Definitionskompetenz zugunsten der Sachverständigen preisgeben. Denn sind die Kunstsachverständigen nicht meistens finanziell am Vertreiben der Kunst interessiert 36? Ist es ferner nicht so, daß viele neue Kunstformen bei ihrer Erscheinung auf die heftige Ablehnung der Kunstexperten und der Kunstgesellschaft - nicht zuletzt aus Konkurrenzgründen - gestoßen sind37? Und schließlich: besteht dadurch nicht die Gefahr, daß die Vertreter des "etablierten Kulturbetriebes", eine künstlerische "Oligarchie", das Machtwort bekommen38 und die ihr "unbeliebten" Kunstrichtungen verdrängen? Um der Pluralität der Kunst willen muß demnach die Entscheidungsbefugnis beim Staat bleiben39. d) Die Selbstdefinition des Grundrechtsträgers Nach einer anderen Ansicht soll der Grundrechtsträger, der Künstler selbst, bestimmen, was Kunst ist und ob sein Werk unter den Schutzbereich des Art. 5 Abs. 3 GG fällt 40 . Diese Konzeption muß aber abgelehnt werden 41. Auch

36

Vgl. Bleckmann, Staatsrecht II - Die Grundrechte, S. 742.

37

Vgl. Erhardt,

38

Vgl. Isensee,, AfP 1993, 619 [622].

Kunstfreiheit und Strafrecht, S. 20.

39

Vgl. ferner Forsthoff, AfP 1971, 126 [127], der zutreffend bemerkt, daß subjektive Einfärbungen bei Urteilen in Angelegenheiten der Kunst "im Maße der Beteiligung am Kunstgeschehen zunehmen und sich damit von der objektiven Beurteilung um so weiter entfernen. Genau das aber ist die Gefahr, in der sich das Urteil des Kunstsachverständigen infolge seines Engagements befindet". Vgl. auch VGH Kassel, NJW 1987, 1436 [1439]. 40 So z.B. Bär, Die verfassungsrechtliche Filmfreiheit und ihre Grenzen, S. 135ff; Bleckmann, Staatsrecht II - Die Grundrechte, S. 742; vMünch, in: v. Münch, GG-Kommentar, Art. 5 Rn. 60; Ott, Kunst und Staat, S. 115; ders., NJW 1981, 2397 [2398]. Vgl. femer Knemeyer, Der Staat 8 [1969], S. 240 [242], der dem technisch-formalen Kunstbegriff (siehe dazu unten in diesem Kapitel, A I 2f) folgt, bei Grenzfallen aber auch auf das Selbstverständnis des Künstlers maßgeblich abstellen will. Vgl. auch Häberle, JZ 1975, 297 [298]; ders.. AöR 110 [1985], S. 577 [598f]; ders., in: Kunst und Recht im In- und Ausland, S. 37 [69ff], der dem Selbstverständnis des Künstlers eine entscheidende Bedeutung bei der Auslegung der Kunstfreiheitsgarantie beimißt. 41 Ablehnend auch Berkemann, NVwZ 1982, 85 [86]; Denninger, in: Handbuch des Staatsrechts, § 146 Rn. 8; Erhardt, Kunstfreiheit und Strafrecht, S. 77; Hempel, Freiheit der Kunst, S. 49ff; Henschel, in: FS für Wassermann, S. 351 [353]; Heuer, Die Besteuerung der Kunst, S. 9ff; Isensee, AfP 1993, 615 [622f]; Low, Die Grundrechte, S. 283; Rupert Scholz, in: MDHS, Kommentar zum GG, Art. 5 Abs. III Rn. 26. Vgl. auch BVerfG, NJW 1994, 1781 [1782], wo für den Parallelfall der

Α. Einengung des Kunstbegriffs

85

hier handelt es sich um eine unzulässige Verschiebung der staatlichen Definitionskompetenz auf einen dazu unberechtigten Dritten, diesmal auf den Rechtsunterworfenen. Wollte man die Kunstdefinition dem Künstler 42 überlassen, dann spräche man Art. 5 Abs. 3 GG jede normative Wirkung ab 43 . In einem solchen Fall würden "die Unabhängigkeit, Gesetzlichkeit und alleinige Bindung des Richters an das Gesetz in Frage gestellt"44. Die These des Selbstdefinition des Grundrechtsträgers 45 unterstellt ferner dem Künstler die Fähigkeit, Kunst definieren zu können, eine Fähigkeit aber, die er nicht ohne weiteres hat. Selbst Picasso wußte nicht, was Kunst ist, und wenn er es gewußt hätte, hätte er es für sich behalten46. Eine solche Vorgehensweise würde ferner Gefahr laufen, daß alles zum Rang der Kunst hochstilisiert würde. Denn jeder wäre bereit, sein Werk als Kunst zu erklären, um den verfassungsrechtlichen Schutz des Art. 5 Abs. 3 GG zu genießen47. Der Kunstbegriff würde dann ins Uferlose ausweiten. Ein weiteres Problem, das mit dieser Auffassung unauflöslich verbunden ist und über das man in der Regel mit verbundenen Augen hinweggeht, liegt schließlich darin, daß es auch allgemein anerkannte Kunstwerke gibt (z.B. künstlerisch gestaltete Briefe, Tagebücher, Stilübungen beim Malen, Fabrikhallen des 19. Jahrhunderts usw.), denen ihre Schöpfer keine künstlerische Bedeutung beigemessen haben48. Dem Selbstverständnis des Grundrechtsträgers kann demnach allen-

Wissenschaftsfreiheit betont wird, daß eine Veröffentlichung nicht "schon deshalb als wissenschaftlich zu gelten hat, weil ihr Autor sie als wissenschaftlich ansieht oder bezeichnet. Denn die Einordnung unter die Wissenschaftsfreiheit (...) kann nicht allein von der Beurteilung desjenigen abhängen, der das Grundrecht für sich in Anspruch nimmt". 42 Hier gerät die These der Selbstdefinition des Grundrechtsträgers zu einem Zirkelschluß. Was "Kunst" ist, soll der "Künstler" bestimmen! Aber wenn jemand nicht weiß, was unter Kunst zu verstehen, ist, weiß er ebensowenig, wer Künstler ist. 43

Vgl. Henschel,, in: FS für Wassermann, S. 351 [353].

44

Erhard,

Kunstfreiheit und Strafrecht, S. 78.

45

Zur allgemeinen Problematik des Selbstverständnisses des Grundrechtsträgers bei der Auslegung der Grundrechte vgl. die grundlegende Arbeit von Isensee, Wer definiert die Freiheitsrechte?. 46

Vgl. Er bei, Inhalt und Auswirkungen der verfassungsrechtlichen Kunstfreiheitsgarantie, S. 1. 47

Die Existenz dieser Gefahr räumen auch die Vertreter der Zugrundelegung des künstlerischen Selbstverständnisses ein. Vgl. etwa Bär, Die verfassungsrechtliche Filmfreiheit und ihre Grenzen, S.138f, der aus diesem Grund auf die (vagen und letztendlich nichtssagenden) Kriterien der Ernsthaftigkeit und Glaubwürdigkeit der künstlerischen Selbstbehauptung abstellt und damit im Ergebnis seine subjektivierende Betrachtungsweise aufgibt. 48 Vgl. dazu statt vieler OVG Münster, JZ 1959, 716 [719]; Bleckmann, Staatsrecht II - Die Grundrechte, S. 742; Hempel, Freiheit der Kunst, S. 50; Schick, Kunstwerkgarantie und Strafrecht, S.33f.

86

2.Kap. Die Einschränkbarkeit der Kunstfreiheit

falls eine Indizwirkung für die Bejahung der Kunsteigenschaft zuerkannt werden 49 2. Die verschiedenen Theorien über den Kunstbegriff. Einordnung nach Anknüpfungspunkten Nachdem sich herausgestellt hat, daß die oben behandelten Konstruktionen keinen tauglichen und verfassungsrechtlich zulässigen Ausweg aus dem definitorischen Problem der Kunst darstellen und vom Gebot zur Kunstdefinition 50 nicht befreien können, erhebt sich die Frage, welche Bedeutung dem Kunstbegriff im juristischen (und insbesondere im verfassungsrechtlichen) Sinne beizumessen ist. Angesichts der Vielzahl der Kunstdefinitionen, die im Laufe der Zeit in der Literatur und Rechtsprechung entwickelt wurden, wird im folgenden versucht, sie nach Anknüpfungspunkten zu ordnen (wobei freilich zwischen den einzelnen Anknüpfungspunkten vielfache Verflechtungen und Verbindungslinien bestehen)51. a) Der auf den Inhalt des Werks abstellende Kunstbegriff In der früheren Literatur und Rechtsprechung wurde vielfach versucht, Werke mit bestimmten Inhalten aus dem Kunstbegriff auszugrenzen. Danach schlössen sich Kunst einerseits und Meinungsäußerung52, Religionsbeschimpfung 53 , Jugendgefährdung 54, Pornographie , Gewaltverherrlichung 56, Ver-

49 So z.B. VG Oldenburg, GewArch 1990, 277 [278]; Erhardt, Wendt, in: v.Münch/Kunig, GG-Kommentar, Art. 5 Rn. 91

Kunstfreiheit und Strafrecht, S. 78;

50

Es liegt allerdings auf der Hand, daß sich Kunst einer scharfen Definition, einer Definition i.e.S. entzieht. Kunst kann nur umschrieben und als "Rahmenbegriff" erfaßt werden. Vgl. dazu etwa Erbel, Inhalt und Auswirkungen der verfassungsrechtlichen Kunstfreiheitsgarantie, S. 2f; Erhardt, Kunstfreiheit und Strafrecht, S. 55f; Isensee, Wer definiert die Freiheitsrechte?, S. 47ff; Lerche, Werbung und Verfassung, S. 88f; ders., Kunstfreiheit, in: Ergänzbares Lexikon des Rechts 5/420, S. 1; ders., in: Handbuch des Staatsrechts, § 121 Rn. 16; Würkner, JA 1988, 183 [185]. 51 Weitere, mit der vorliegenden zum Teil übereinstimmende, systematische Einordnungen der verschiedenen Definitionsversuche nach Anknüpfungspunkten finden sich bei Erhardt, Kunstfreiheit und Strafrecht, S. 58ff; Heinz, in: Grenzen politischer Kunst, S. 44 [51]; Locher, Das Recht der bildenden Kunst, S. 17ff; Schick, Kunstwerkgarantie und Strafrecht, S. 18ff.

52

Siehe dazu unten in diesem Kapitel, E II Fn. 304. 53

So z.B. Leiss, NJW 1962, 2323 [2324]; Ott, NJW 1963, 617 [618]; Schäuble, Rechtsprobleme der staatlichen Kunstförderung, S. 55. 54

Siehe dazu im einzelnen unten in diesem Kapitel, A II 1.

55

Siehe dazu im einzelnen unten in diesem Kapitel, A II 2.

56

Siehe dazu unten in diesem Kapitel, A II 2 Fn. 214.

Α. Einengung des Kunstbegriffs

87

fassungsfeindlichkeit 57, Beleidigung58 usw. andererseits gegenseitig aus59. Ein Kunstwerk könne nicht über solche Inhalte verfügen und falls ein Werk solche Sujets zum Gegenstand habe, müsse ihm die Kunsteigenschaft ohne weiteres abgesprochen werden. Zunächst ist zu bemerken, daß es hier um keinen wirklichen Versuch handelt, den Kunstbegriff umzuschreiben und ihm nähere Konturen zu verschaffen. Es werden lediglich bestimmte Inhalte vom Kunstbegriff ausgenommen. Was aber unter dem Begriff "Kunst" zu verstehen ist, bleibt nach diesen Konzeptionen unbeantwortet. Außerdem ist der Ansatzpunkt solcher Exklusivitätsthesen verfehlt. Die zeitgenössische Kunst wird dadurch gekennzeichnet, daß sie keine Grenzen in Bezug auf das Darstellbare kennt. Es gibt überhaupt kein Thema, das nicht in ein Kunstwerk Eingang finden und zum Gegenstand der künstlerischen Gestaltung werden kann . Die Beliebigkeit des Inhalts macht eines der charakteristischen strukturellen Merkmale der gegenwärtigen Kunst aus, was auch vom Juristen bei der Kunstdefinition respektiert werden muß. Der Ausschluß bestimmter, wenn auch minderwertiger oder moralisch verwerfbarer Inhalte aus dem Kunstbegriff erweist sich damit als eine willkürliche und dem Wesen der Kunst nicht entsprechende Einengung des Kunstbegriffs 61.

57 So Dünnwald, GA 1967, 33 [39]. Vgl. auch BGH, NJW 1963, 2034ff, wo das Gericht den Film "Jud Süß" als verfassungsfeindlich erklärt, sich aber jeglicher Auseinandersetzung mit der Problematik der Kunstfreiheit enthalten hat. Der Grund dafür mag darin liegen, daß das Gericht von einem Ausschließlichkeitsverhältnis zwischen Kunst und Verfassungsfeindlichkeit ausgegangen ist.

58

So Schäuble, Rechtsprobleme der staatlichen Kunstförderung, S. 55. 59

Ein typisches Beispiel für eine inhaltliche Einengung des Kunstbegriffs findet man bei Krauss, FamRZ 1959, 485 [488]: "Wie kann man noch etwas als Kunstwerk schützen, das mit den Kennzeichnungen: anrüchig, widerwärtig, anstößig, verderbt, übler Schmarren, ekelhaft, lächerlich, unfaßlich, jenseits der Grenze, belegt ist?". 60

Vgl. dazu etwa Erbel, Inhalt und Auswirkungen der verfassungsrechtlichen Kunstfreiheitsgarantie, S. 22; Geiger, in: FS für Leibholz, Bd. II. S. 187 [190]; Mahrenholz, in: Handbuch des Verfassungsrechts, § 26 Rn. 2; Schick, Kunstwerkgarantie und Strafrecht, S. 18ff; ders., JZ 1970, 645 [646]; Würtenberger, in: FS für Dreher, S. 79 [81, 84f]. 61 Ablehnend auch Bär, Die verfassungsrechtliche Filmfreiheit und ihre Grenzen, S. 128f; Bauer, JZ 1967, 167 [169]; Erbel, Inhalt und Auswirkungen der verfassungsrechtlichen Kunstfreiheitsgarantie, S. 22, 89f, 93f; Henschel, in: FS für Wassermann, S. 351 [354]; Locher, Das Recht der bildenden Kunst, S. 17f; v.Noorden, Die Freiheit der Kunst nach dem Grundgesetz (Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG ) und die Strafbarkeit der Verbreitung unzüchtiger Darstellungen (§ 184 Abs. 1 Nr. 1 StGB); Schick, Kunstwerkgarantie und Strafrecht, S. 18ff; ders., JZ 1970, 645 [646]. Vgl. auch BVerfGE 83, 130 [139], wonach die Anerkennung der Kunsteigenschaft eines Werks nicht von einer Inhaltskontrolle abhängig gemacht werden darf.

2. Kap. Die Einschränkbarkeit der Kunstfreiheit

88

Bei einer genaueren Betrachtungsweise stellt man fest, daß die meisten Inhalte, die nach der hier behandelten Auffassung aus dem Kunstbegriff ausgegrenzt werden sollen, gleichzeitig Gegenstand von strafrechtlich bewehrten Rechtsnormen sind 62 . Diese Feststellung verdeutlicht das eigentliche Anliegen dieser Exklusivitätsthesen, das nicht etwa in der Anpassung an eine definitorische Notwendigkeit, sondern vielmehr in der Umgehung der Schrankenproblematik der Kunstfreiheit liegt. Geht man beispielsweise davon aus, daß Kunst einerseits und Beleidigung andererseits sich gegenseitig ausschlössen, dann kann danach eine Kollision zwischen Art. 5 Abs. 3 GG und § 185 StGB, die erst die Frage nach den zulässigen Schranken der Kunstfreiheit auslösen würde, nicht entstehen. Zu welchen unhaltbaren Ergebnissen diese Vorgehensweise führt, wird später am Beispiel der These des gegenseitigen Ausschlusses von Kunst und Jugendgefährdung gezeigt werden 63. Nur so viel sei hier vorweggenommen: die Versuche, Kunst i.S.d. Art. 5 Abs. 3 GG als nicht-pornographisch, nichtreligionsbeschimpfend, nicht-beleidigend u.ä. zu definieren, erklären den verfassungsrechtlichen Kunstbegriff von einem strafrechtlichen Gegenbegriff her und widersprechen damit dem Prinzip des Vorrangs des Verfassungsrechts 64. b) Der qualitative Kunstbegriff Komplizierter stellt sich aber die Lage bei denjenigen Definitionsversuchen dar, die qualitative Maßstäbe in den Kunstbegriff aufnehmen wollen. Ein gewisses Niveau, eine bestimmte Qualität sei danach immer erforderlich, damit einem Werk das Prädikat "Kunst" erteilt werden kann 65 . Welches Maß an künstlerischer Qualität aber ein Werk erfüllen muß, um den Schutz der 62 Vgl. § 131 StGB (Gewaltdarstellung; Aufstachelung zum Rassenhaß); § 166 StGB (Beschimpfung von Bekenntnissen, Religionsgesellschaften und Weltanschauungsvereinigungen); §184 StGB (Verbreitung pornographischer Schriften); § 185 StGB (Beleidigung); §§ 1 Abs. 1; 6 GjS (sittlich jugendgefährdende Schriften). 63

Siehe dazu unten in diesem Kapitel, A II 1.

64

Kritisch zu diesem Vorgehen auch Erhardt, Kunstfreiheit und Strafrecht, S. 61f; Friedrich Müller, Freiheit der Kunst als Problem der Grundrechtsdogmatik, S. 33. Vgl. auch BVerfGE 28, 243 [260f): "Nicht das System von Nonnen (...) im Range unter der Verfassung bildet den Maßstab fur die Auslegung verfassungsrechtlicher Bestimmungen; vielmehr liefern die letzteren umgekehrt die Grundlagen und den Rahmen, an den sich die übrigen Rechtsäußerungen und -erscheinungen anzupassen haben". 65 Auch hier handelt es sich, genau gesehen, um keine eigentliche Bestimmung des Kunstbegriffs. Die Ansicht, minderwertige Werke müssen aus dem Schutzbereich des Art. 5 Abs. 3 GG ausgeschieden werden, grenzt zwar den Kunstbegriff ein, beschreibt aber nicht die ein Kunstwerk kennzeichnenden Merkmale.

Einengung des Kunstbegriffs

89

Kunstfreiheit zu genießen, steht unter den Vertretern des qualitativen Kunstbegriffs 66 nicht fest. Die Palette der geforderten Qualität reicht von der "Bereicherung des künstlerischen Besitzes eines Volkes"67 über "ein bestimmtes Maß an künstlerischem Niveau"68 und "echte", "ernstzunehmende" Kunst 69 bis hin zu einem "Mindestmaß an gestalterischer Qualität"70. Die Aufstellung eines qualitativen Kunstbegriffs wird meistens mit dem Argument begründet, daß bestimmte qualitative Anforderungen unerläßlich seien, um eine uferlose Ausdehnung des Kunstbegriffs zu vermeiden und eine untere Grenze festzulegen, die die Ablehnung der Kunsteigenschaft bloßer "Machwerke" erlaubt 71. Die Vertreter des qualitativen Kunstbegriffs könnten sich auch auf den allgemeinen Sprachgebrauch berufen, nach dem die durch "Dilettantismus und Stümperhafligkeit" charakterisierten Werke vom Bereich der Kunst ohne weiteres ausscheiden72. Die Gegner der qualitativen Erfassung des Kunstbegriffs 73 weisen demgegenüber darauf hin, daß allgemein anerkannte Kriterien für die Beurteilung

66 Für einen qualitativen Kunstbegriff plädieren etwa BVerwGE 23, 104 [106ff]; 23, 112 [120]; 39, 197 [207]; OVG Münster, JZ 1959, 716 [719]; LG Hamburg, NJW 1963, 675f; v.Hartlieb, Die Freiheit der Kunst und das Sittengesetz, S. 23f; Krauss, FamRZ 1959, 485 [488]; ders.\ FamRZ 1960, 56 [57]; Würtenberger, NJW 1982, 610 [614f] (för weitere Nachweise siehe Erbel, Inhalt und Auswirkungen der verfassungsrechtlichen Kunstfreiheitsgarantie, S. 5ff). Ein Paradebeispiel für eine qualitative Erfassung des Kunstbegriffs findet man bei OLG Bamberg, DuR 1975, S. 433 [436], wo das Gericht dem dort betreffenden Werk die Kunsteigenschaft u.a. mit der folgenden Begründung abgesprochen hat: "Die "Gedichte" wirken hölzern, holprig, verkrampft, "künstlich", ganz und gar nicht kunstvoll. Dichtkunst aber besteht darin, Reim und Rythmus klangvoll aufeinander abzustimmen, Inhalt und Form zu einer Einheit verschmelzen zu lassen..." 67

OVG Münster, JZ 1959, 716 [719].

68

BVerwGE 39, 197 [207].

69

BVerwGE 23, 104 [106ff|; 23, 112 [120].

70

v.Hartlieb,

71

So z.B. Würtemberger,

Die Freiheit der Kunst und das Sittengesetz, S. 24. NJW 1982, 610 [615].

72

Es ist allerdings oben (in diesem Kapitel, A I 1 b) bewiesen, daß die Bedeutung des Kunstbegriffs im außerrechtlichen Bereich für den Juristen nicht verbindlich sein kann. 73 Dazu zählen etwa BVerfGE 30, 173 [191]; 67, 213 [224]; 75, 369 [377]; 83, 130 [139]; BVerwGE 1, 303 [305]; 91, 211 [214]; 91, 223 [226]; BGH, JZ 1975, 637 [638]; LG Frankfurt, NJW 1986, 1259 [1260]; VG Oldenburg, GewArch 1990, 277; Arndt, NJW 1966, 26 [27]; Bär, Die verfassungsrechtliche Filmfreiheit und ihre Grenzen, S. 128; Bauer, JZ 1967, 167 [169]; Bethge, Zur Problematik von Grundrechtskollisionen, S. 267; Denninger, in: Handbuch des Staatsrechts, § 146 Rn. 5, 17; Geis, Kulturstaat und kulturelle Freiheit, S. 242ff, 247ff; Henschel, in: FS fur Wassermann, S. 351 [352, 355]; Kirchhof, NJW 1985, 225 [227]; Leonardy, NJW 1967, 714; Maunz, BayVBl 1970, 354f; Meyer-Cording, JZ 1976, 737 [740]; Friedrich Müller, JZ 1970, 87 [89]; Ridder, in:

2.Kap. Die Einschränkbarkeit der Kunstfreiheit

90

des künstlerischen Rangs eines Werks nicht existierten und daß die Entscheidung über den Wert eines Werks eine höchstpersönliche, subjektive und zeitgebundene Wertung sei 74 . Darüber hinaus seien die Wendungen, die das für die Anerkennung der Kunsteigenschaft als erforderlich betrachtete Niveau signalisieren sollen ("echt", "ernstzunehmend", "wertvoll" usw.), unbestimmt und nebelhaft, letztendlich "Leerformeln", die willkürlichen staatlichen Entscheidungen in Kunstangelegenheiten Tür und Tor öffneten 75. Die Ablehnung des qualitativen Kunstbegriffs wird letztlich damit begründet, daß auch bei den anderen Grundrechten, die wie die Kunstfreiheit Modalitäten der Freiheit des geistigen Ausdrucks schützen (z.B. Meinungs- Gewissens- und Glaubensfreiheit), qualitative Wertungen unzulässig seien76. Wenn sich beispielsweise im Bereich der Meinungsfreiheit eine Unterscheidung zwischen "niveauvoller" und "niveauloser" Meinung verbiete 77, müsse dasselbe auch für die Kunstfreiheit gelten. Die Frage der Zulässigkeit des qualitativen Kunstbegriffs kann aber nicht pauschal beantwortet werden. Vielmehr ist eine differenzierende Betrachtungsweise erforderlich. Denn der Kunstbegriff, der der verfassungsrechtlichen Kunstfreiheitsgarantie zugrunde liegt, ist nicht einheitlich. Der verfassungsrechtliche Kunstbegriff variiert je nach der jeweiligen Funktion des Art. 5 Abs. 3 GG 78 . Je nachdem, zu welchem Zweck die Kunstfreiheit ins Spiel kommt, gewinnt der Kunstbegriff unterschiedliche Konturen 79.

Literatur vor dem Richter, S. 291 [300ff]; Schick, Kunstwerkgarantie und Strafrecht, S. 36ff; ders., JZ 1970, 645f; Zöbeley, NJW 1985,254 [256]. 74 So z.B. Denninger, in Handbuch des Staatsrechts, § 146 Rn. 17; H en schei, in: FS für Wassermann, S. 351 [355]; Schick, Kunstwerkgarantie und Strafrecht, S. 36ff. 75

Vgl. etwa Bär, Die verfassungsrechtliche Filmfreiheit und ihre Grenzen, S. 106.

76

Dieses Argument findet sich z.B. bei Arndt, NJW 1966, 25 [27] undMaunz, BayVBl 1970, 354

[355]. 77 Vgl. BVerfGE 30,336 [347] und zuletzt BVerfG, NJW 1994, 1779; BVerfG, NJW 1994, 1781 [1782].

78

Dies entspricht der allgemeineren Feststellung, daß die "Unterschiedlichkeit der einzelnen Grundrechtsfunktionen (...) auf das inhaltliche Verständnis des jeweiligen Schutzbereichs maßgeblich zurückwirken" kann. "Je nach Art der jeweils vor Augen stehenden Funktion, kann sich der Inhalt des einzelnen Grundrechts verschieden darstellen, trotz gleichbleibenden Textes" {Lerche, in: Handbuch des Staatsrechts, § 121 Rn. 21). Monolithisch und zu unangemessenen Ergebnissen führend dagegen die Auffassung von Geis, Kulturstaat und kulturelle Freiheit, S. 253, nach dem der Schutzbereich allgemein und nicht nach den einzelnen Grundrechtsfunktionen getrennt zu bestimmen sei. 79 So Lerche, AfP 1973, 496 [497fJ; ders., Kunstfreiheit, in: Ergänzbares Lexikon des Rechts 5/420, S. 1; ders., in: Kunst und Recht im In- und Ausland, S. 1 [8ff] und ihm folgend Erhardt, Kunstfreiheit und Strafrecht, S. 40f\Häberle, AöR 110 [1985], S. 577 [601f, 604f|; Otto, JR 1983, 1 [10].

Α. Einengung des Kunstbegriffs

91

So sind bei der Kunstförderung, die eine der Funktionen des Art. 5 Abs. 3 GG ausmacht80, qualitative Wertungen legitim und verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden81, soweit sie freilich nicht in die Diskriminierung ganzer Kunstrichtungen ausarten. Maßgeblich fur die Bejahung der Zulässigkeit des qualitativen Kunstbegriffs im Bereich der Kunstpflege sind nicht nur praktische Erwägungen, insbesondere die - wegen finanzieller Gründen - nur beschränkten Förderungsmöglichkeiten des Staates82. Entscheidend ist es auch, daß dem Subventionswesen nicht der Zweck unterstellt werden kann, "niveaulos Kunst und Kitsch mit dem Segen einer fehlgeleiteten Entwicklungshilfe " zu überschwemmen83; oder anders ausgedrückt: das Ziel der Kunstpflege liegt in der "Gestaltung eines möglichst hochstehenden kulturellen Lebens"84. Die Schwierigkeiten und Gefahren, die sich aus dem höchst subjektiven Charakter des Urteils über den künstlerischen Wert eines Kunstwerks ergeben, können durch die Ausgestaltung eines angemessenen und Chancengleichheit sicher^

80 Vgl. dazu BVerfGE 36, 321 [331]; OVG Lüneburg, NJW 1983, 1218; Bär, Die verfassungsrechtliche Filmfreiheit und ihre Grenzen, S. 157f; Bleckmann, Staatsrecht II - Die Grundrechte, S.745f; Erhardt, Kunstfreiheit und Strafrecht, S. 41; Heckel, Staat Kirche Kunst, S. 89; Lerche, Kunstfreiheit, in: Ergänzbares Lexikon des Rechts 5/420, S. 1 ; Rupert Scholz, in: MDHS, Kommentar zum GG, Art. 5 Abs. III Rn. 6. Vgl. aber auch Knies, AfP 1978, 57 [64ff|, nach dem die staatliche Aufgabe, das Kunstleben zufördern, sich nicht aus Art. 5 Abs. 3 GG, sondern allein aus den kulturstaatlichen Verpflichtungen des Staates ergibt. Auch Steiner, W D S t R L 42 [1984], S. 7 [13ff], steht auf dem Standpunkt, daß Art. 5 Abs. 3 GG keine Pflicht des Staates zur Kunstforderung statuiere. 81 So die h.M.: vgl. etwa OVG Lüneburg, OVGE 28, 378 [383]; OVG Lüneburg, NJW 1983, 1218f; VG Wiesbaden, NJW 1988, 356 [364]; Bleckmann, Staatsrecht II - Die Grundrechte, S. 746; Erbel, Inhalt und Auswirkungen der verfassungsrechtlichen Kunstfreiheitsgarantie, S. 177f; ders., DVB1 1969, 863 [867 Fn. 47]; ders., JuS 1969, 120 [122]; Erhardt, Kunstfreiheit und Strafrecht, S.41; Geiger, in: FS für Leibholz, Bd. II, S. 187 [193]; Heckel, Staat Kirche Kunst, S. 83 Fn. 272, S.98 Fn. 321; Hempel, Die Freiheit der Kunst, S. 58; Isensee, AfP 1993,619 [622]; Knies, Schranken der Kunstfreiheit als verfassungsrechtliches Problem, S. 224ff; ders., AfP 1978, 57 [66f]; Lerche, AfP 1973, 496 [498]; ders., Kunstfreiheit, in: Ergänzbares Lexikon des Rechts 5/420, S. 1; ders., in: Handbuch des Staatsrechts, § 121 Rn. 21; Locher, Das Recht der bildenden Kunst, S. 25ff; Rupert Scholz, in: MDHS, Kommentar zum GG, Art. 5 Abs. III Rn. 8, 79; Würkner, DÖV 1992, 150 [153]. A.A.Ge/5, Kulturstaat und kulturelle Freiheit, S. 247ff; Hufen, Die Freiheit der Kunst in staatlichen Institutionen, S. 117f; Maunz, BayVBl, 1970, 354f; Ott, Kunst und Staat, S. 167; ders., JuS 1968, 459 [464]; Schäuble, Rechtsprobleme der staatlichen Kunstforderung, S. 62f, 202ff. Vgl. auch Art. 140 Verf. Bayern: "Kunst und Wissenschaft sind von Staat und Gemeinde zu fördern. Sie haben insbesondere Mittel zur Unterstützung schöpferischer Künstler, Gelehrter und Schriftsteller bereitzustellen, die den Nachweis ernster künstlerischer oder kultureller Tätigkeit erbringen" (Hervorhebung hier).

82

Vgl. Knies, Schranken der Kunstfreiheit als verfassungsrechtliches Problem, S. 224f. 83

Heckel, Staat Kirche Kunst, S. 83 Fn. 272. So auch Lerche, AfP 1973, 496 [498]; ders., in: Kunst und Recht im In- und Ausland, S. 1 [11] 84 Erbel, Inhalt und Auswirkungen der verfassungsrechtlichen Kunstfreiheitsgarantie, S. 177 (Hervorhebung von Erbet).

2.Kap. Die Einschränkbarkeit der Kunstfreiheit

92

stellenden Verfahrens ausgeglichen werden85 (wobei allerdings die Beteiligung von Sachverständigen an den entsprechenden Gremien, die über die Förderung der Kunst zu befinden haben, kein "Allheilmittel" darstellt und die Kunstexperten nicht das Entscheidungsmonopol bekommen dürfen 86, will man nicht das Machtwort einer "künstlerischen Aristokratie" überlassen). Sinnvoll wäre es außerdem, wenn die entscheidenden Gremien sich nicht auf die Prüfung der Qualität des Kunstwerks beschränken, sondern ihre Urteile von weiteren Faktoren abhängig machen würden. Als solche sachgerechten Differenzierungskriterien kommen vor allem in Betracht: die finanzielle Lage des einzelnen Künstlers 87 (es macht einen sehr großen Unterschied, ob der Künstler auch ohne staatliche Förderung seine künstlerischen Vorgaben verwirklichen kann oder nicht); die erhöhte Schutzbedürftigkeit von neuen Künstlern und Kunstsrichtungen; die Sicherstellung des Pluralismus der Kunst, die u.U. eine Privilegierung der künstlerischen "Minderheiten" erfordert; erzieherische und Bildungsgesichtspunkte; und, soweit es um regionale Kunstforderung geht, das besondere Gewicht des Kunstwerks für die konkrete Region88. Anders verhält es sich aber bei der staatsabwehrenden Funktion der verfassungsrechtlichen Kunstfreiheitsgarantie. Bei dieser Hauptfunktion des Art. 5 Abs. 3 GG muß der verfassungsrechtliche Kunstbegriff möglichst weit und frei von jeglichen wertenden Einengungen erfaßt werden 89. Eine qualitative

85

Zu den organisations- und verfahrensrechtlichen Dimensionen im Bereich der Kunstförderung vgl. etwa Denninger, in: Handbuch des Staatsrechts, § 146 Rn. 37 und Höfling,, DÖV 1985, 387 [390ff]. 86 So aber Locher, Das Recht der bildenden Kunst, S. 28. Dagegen Geis, Kulturstaat und kulturelle Freiheit, S. 258 und Lerche, Kunstfreiheit, in: Ergänzbares Lexikon des Rechts 5/420, S. 2. Vgl. auch Knies, AfP 1978, 57 [67]: "Auch die Überantwortung der künstlerischen Auswahl-Entscheidungen an weitgehend oder gänzlich staatsfreie Sachverständigengremien löst die Probleme nicht: weder theoretisch noch praktisch. Gerade der Gedanke einer freien Kunst kann den Staat von einem völligen Rückzug aus den Auswahlgremien abhalten, kann ihn zu organisatorischen Vorkehrungen veranlassen, durch die der Entstehung und Praktizierung eines Richtungsmonopols im Kreise der künstlerischen Sachverständigen entgegengewirkt wird, bei dessen Hinnahme der Staat seiner Verpflichtung zu einer toleranten und nicht in dogmatischen Einseitigkeiten verfallenden Kunstpolitik zuwiderhandeln würde".

87

Vgl. auch BVerfGE 36, 321 [333f], wonach eine Umsatzsteuerregelung auf die ökonomische Struktur einer künstlerisch relevanten Industrie Rücksicht nehmen muß. 88

Zu den Kriterien (außerhalb des künstlerischen Rangs), die bei einer kunstfördernden Auswahlentscheidung eine Rolle spielen könnten, vgl. etwa Geis, Kulturstaat und kulturelle Freiheit, S. 256f und Höfling, DÖV 1985, 387 [394f|. 89

Das gilt für die staatsabwehrende Funktion der Kunstfreiheit in ihrer Gesamtheit. Auf einer etwas anderen Linie bewegt sich Lerche, in: Kunst und Recht im In- und Ausland, S. 1 [9ff]. Er unterscheidet zwischen staatlichen Eingriffen mit dem Zweck bloßer Kunstmaßregelung und hoheitlichen

Α. Einengung des Kunstbegriffs

93

Unterscheidung zwischen "niveauvoller" und "niveauloser" Kunst ist hier unzulässig. Die staatsabwehrende Funktion der Kunstfreiheit zielt darauf ab, den Staat von der Kunst fernzuhalten und dem Lebensbereich "Kunst" einen freien Raum zu gewähren. Sie verbietet folglich dem Staat, ein "Kunstrichteramt" auszuüben und verbindliche Regeln für die Kunstangelegenheiten festzusetzen 90 . Ein "Kunstrichteramt" übte aber der Staat bei einem qualitativen Kunstbegriff aus, indem er die erforderliche Qualität festlegte und über das künstlerische Niveau des Werks in jedem Einzelfall befände 91. Es muß auch beachtet werden, daß der Zweck der Kunstfreiheit beim "status negativus" darin liegt, dem im künstlerischen Bereich tätigen Menschen Freiheit zu gewähren9 . Bei dieser Funktion sehen die Vertreter der undifferenzierten Heranziehung des qualitativen Kunstbegriffs demgegenüber den Sinn des Art. 5 Abs. 3 GG im Schutz der - wie immer auch gearteten - wertvollen Kunstwerke gerade ihres Werts willen. Nicht die Freiheit der künstlerischen Entfaltung, sondern vielmehr die Privilegierung bestimmter niveauvoller Werke steht nach diesen Auffassungen im Vordergrund 93.

Eingriffen zum Schutz gesellschaftlicher Interessen, Rechtsgüter Dritter oder Interessen des Staates selbst. Im ersteren Fall (staatliche Kunstmaßregelung) lehnt er einen qualitativen Kunstbegriff ab. In den anderen Fällen (Einschränkung der Kunstfreiheit zugunsten anderer Rechtsgüter) hält er dagegen jedoch mit sehr vorsichtigen und zurückhaltenden Formulierungen - qualitative Wertungen nach der jeweiligen Konstellation für zulässig. Sicherlich kann der Fall, in dem der staatliche Eingriff auf Reglementierung der Kunst angelegt ist, nicht mit der Konstellation gleichgestellt werden, in der der Staat die Kunstfreiheit einschränkt, um kollidierende Interessen zu schützen. In beiden Fällen ist aber der Kunstbegriff qualitativ- und wertfrei zu verstehen. Der begabte Künstler kann - und darf - nicht mehr Rechte als der untalentierte Künstler haben, fremde Rechtsgüter zu verletzen. Solche Privilegierungen wären nur dann hinzunehmen, wenn sie sich als sachlich gerechtfertigt erwiesen, was aber nicht der Fall ist. Ganz im Gegenteil wird man feststellen müssen, daß mit zunehmender künstlerischer Qualität die Eingriffsintensität in die fremde Rechtspositionen höher wird. Als Beispiel sei hier die Herabwürdigung staatlicher Symbole erwähnt. Der Staat ist mehr gefährdet, wenn etwa die Verunglimpfung der Bundesflagge durch einen Meister der Kunst erfolgt, als wenn diese Herabwürdigung auf einen unbegabten Künstler zurückzuführen ist. Denn ein wertvolles Kunstwerk wirkt unmittelbarer, drastischer und eindrucksvoller und ist deshalb eher als ein mißlungenes und geschmackloses Kunstwerk in der Lage, seine Aussage zu vermitteln und die Rezipienten zu "überreden" (speziell zu besonderen Gefährlichkeit der wertvollen Kunstwerken für die Jugend siehe unten im 3. Kapitel, Β II 2a). 90 Vgl. dazu BVerfGE 30, 173 [190]; 31, 229 [238f]; BVerwGE 39, 197 [208]; Heinz, in: Grenzen politischer Kunst, S. 44 [52]; Knies, Schranken der Kunstfreiheit als verfassungsrechtliches Problem, S. 170f; Meyer-COrding, JZ 1976, 737 [749]; Otto, JR 1983, 1 [9]; Rupert Scholz, in: MDHS, Kommentar zum GG, Art. 5 Abs. III Rn. 8, 38. 91

Vgl. statt aller Knies, Schranken der Kunstfreiheit als verfassungsrechtliches Problem, S. 17Iff.

92

Vgl. Erbel, DVB1 1969, 863 [864]; Hamann/Lenz, Kommentar zum GG, Art. 5 Anm. Β 13; Knies, AfP 1978, 57 [63]. 93

Vgl. Knies, Schranken der Kunstfreiheit als verfassungsrechtliches Problem, S. 216f.

94

2.Kap. Die Einschränkbarkeit der Kunstfreiheit

Diese Differenzierung nach der jeweiligen Schutzrichtung des Art. 5 Abs. 3 GG, der sich die wohl h.M. in der Literatur angeschlossen hat 94 , ist auch aus einem anderen Grund sachlich gerechtfertigt. Bei der staatsabwehrenden Funktion der Kunstfreiheit geht es um das Verbot oder die Einschränkung des Schaffens oder der Verbreitung des Kunstwerks, im Bereich der Kunstpflege dagegen nur um seine Förderung (etwa in der Form von Steuerermäßigungen, Subventionierungen, Prädikats- und Preisverleihungen, Ankäufen oder Auftragsvergaben). Das freie künstlerische Schaffen und die Verbreitung des Kunstwerks wird im zweiten Fall nicht tangiert. Eine wertende Einengung des Kunstbegriffs ist im Bereich der Kunstpflege eher hinnehmbar, weil die Ablehnung der Förderung in der Regel weniger einschneidende Folgen für den Künstler mit sich bringt als die staatlich angeordnete Einschränkung der Entstehung und des Zugänglichmachens des Kunstwerks für die Öffentlichkeit (Komplizierter stellt sich aber die Lage, wenn die Entstehung oder die Verbreitung eines Kunstwerks - etwa aufgrund der beschränkten finanziellen Mittel des Künstlers - ohne staatliche Unterstützung faktisch unmöglich ist. In solchen Fällen wird die Förderung seitens des Staates trotz der geringen Qualität des Werks u.U. zu bejahen sein). Ob ein qualitativer Kunstbegriff im hier interessierenden Bereich des Jugendschutzrechts zulässig ist oder nicht, hängt demzufolge davon ab, mit welcher Schutzrichtung die Kunstfreiheit im Jugendschutzrecht ins Spiel kommt. Die Beantwortung dieser Frage ist einem späteren Teil dieser Untersuchung vorbehalten95.

94

Die Ablehnung eines qualitativen Kunstbegriffs bei der staatsabwehrenden Funktion der Kunstfreiheitsgarantie und die gleichzeitige Annahme von qualitativen Wertungen im Bereich der Kunstförderung finden sich etwa bei Erbel, Inhalt und Auswirkungen der verfassungsrechtlichen Kunstfreiheitsgarantie, S. 51f, 89f, 92ff, 177f; ders., DVB1 1969, 863 [864ff, 867 Fn. 47]; Isensee, AfP 1993, 619 [622]; Erhardt, Kunstfreiheit und Strafrecht, S. 40f; Knies, Schranken der Kunstfreiheit als verfassungsrechtliches Problem, S. 134ff, 170ff, 224ff; ders., AfP 1978, 57 [60ff,66f]; Ladeur, in: AK zum GG, Art. 5 Abs. 3 II Rn. 10, 24; Lerche, AfP 1973, 496 [497f]; ders., Kunstfreiheit, in: Ergänzbares Lexikon des Rechts 5/420, S. 1; ders., in: Handbuch des Staatsrechts, § 121 Rn. 21; vMangoldt/Klein/Starck, Kommentar zum GG, Art. 5 Abs. 3 Rn. 185, 198; Otto, JR 1983, 1 [10]; Rupert Scholz, in: MDHS, Kommentar zum GG, Art. 5 Abs. III Rn 8, 39, 70; Würkner, DÖV 1992, 150 [153]. Vgl. auch OVG Lüneburg, OVGE 28, 378 LS 1: "Das Verbot staatlichen Kunstrichtertums betrifft nur Eingriffe in die Freiheit der Kunst. Bei der Vergabe von staatlichen Aufträgen an Künsler ist dagegen eine qualitative Wertung - je nach dem Auftragszweck - erlaubt". Ebenso OVG Lüneburg, NJW 1983, 1218f. Das BVerfG (siehe die Nachweise oben bei Fn. 73) hat zwar eine wertende Einengung des Kunstbegriffs pauschal abgelehnt, bei den einschlägigen Entscheidungen ging es aber nur um die staatsabwehrende Funktion der Kunstfreiheitsgarantie. Entschieden gegen eine Differenzierung nach der jeweiligen Schutzrichtung des Art. 5 Abs. 3 GG Geis, Kulturstaat und kulturelle Freiheit, S. 247ff. Siehe dazu unten in diesem Kapitel, A III.

Α. Einengung des Kunstbegriffs

95

c) Der ästhetisch-idealistische Kunstbegriff Eine zentrale Rolle bei den juristischen Definitionsversuchen der Kunst haben auch die idealistischen Kunstvorstellungen Kants und Schillers 96 gespielt. Sie tauchen schon in der reichsgerichtlichen Rechtsprechung auf, die die Aufgabe der Kunst darin sah, Gegenstände "künstlerisch bis zu dem Grade zu durchgeistigen und zu verklären, daß für das natürliche ästhetische Gefühl die sinnliche Empfindung durch die interesselose Freude am Schönen zurückgedrängt wird" 97 . Ähnliche Ansätze haben aber bis in die jüngste Zeit nachhaltig nachgewirkt, indem durch die idealistisch geprägten Merkmale der "Vergeistigung", "Veredelung" und "Verklärung" vielfach versucht wurde, ein Ausschließlichkeitsverhältnis zwischen Kunst und Pornographie zu begründen 98 Solche idealistischen Kunstauffassungen müssen aber bei der Bildung des juristischen Kunstbegriffs und der Abgrenzung des Schutzbereichs des Art. 5 Abs. 3 GG außer acht gelassen werden 99. Bei einem am Ideal des "Schönen" orientierten Kunstbegriff würde ein großer Teil der modernen Kunst des grundrechtlichen Schutzes unzulässigerweise beraubt werden. Denn die gegenwärtige Kunst kann mit der Kategorie der "Schönheit" nicht vollständig erfaßt werden. So kann beispielsweise ein Roman oder ein Film, der die Brutalität des Krieges oder den Hunger in der Dritten Welt realistisch wiedergibt, durchaus Kunst sein, obwohl in ihm sicher keine Darstellung des "Schö-

96 Eine kurze Darstellung der Kunstauffassungen von Kant und Schiller findet man bei Knies, Schranken der Kunstfreiheit als verfassungsrechtliches Problem, S. 148ff.

97

RGSt 24, 365 [367]. Als Vertreter einer ästhetisch-idealistischen Erfassung des Kunstbegriffs gelten ferner Dünnwald, JR 1965, 46 [48]; Lei ss, NJW 1962, 2323 [2324ff]; Potrykus, Kommentar zum GjS, § 1 Rn. 19. Für weitere Nachweise aus der Literatur und Rechtsprechung siehe Bär, Die verfassungsrechtliche Filmfreiheit und ihre Grenzen, S. 101; Knies, Schranken der Kunstfreiheit als verfassaungsrechtliches Problem, S. 138f Fn. 427; Meyer-Cording, JZ 1976, 737 [739]. 98

Siehe dazu unten in diesem Kapitel A II 2. 99

Ablehnend auch Bär, Die verfassungsrechtliche Filmfreiheit und ihre Grenzen, S. 130; Erbel, Inhalt und Auswirkungen der verfassungsrechtlichen Kunstfreiheitsgarantie, S. 17; Erhardt, Kunstfreiheit und Strafrecht, S. 50, 6Iff; Hempel, Die Freiheit der Kunst, S. 329f; Knies, Schranken der Kunstfreiheit als verfassungsrechtliches Problem, S. 152ff; Meyer-Cording, JZ 1976, 737 [739f]; Friedrich Müller, Freiheit der Kunst als Problem der Grundrechtsdogmatik, S. 32ff; Ott, NJW 1963, 617 [618f]; Schick, JZ 1970, 645 [646]; Würtenberger, in: FS für Dreher, S. 79 [83f]. Ebenso ablehnend Locher, Das Recht der bildenden Kunst, S. 17, der allerdings in verschiedenen Zusammenhängen auf die idealistischen Begriffe "Vergeistigen", "Veredeln" und "Verklären" zurückgreift (aaO, S. 45,48).

2.Kap. Die Einschränkbarkeit der Kunstfreiheit

96

nen" erblickt werden kann 100 . Auch das Häßliche, Unsittliche, Schockierende, Obszöne, Rohe und Tabuisierte hat seit langem Eingang in die Kunstwelt gefunden und ist vielfach Gegenstand der künstlerischen Gestaltung geworden 101 . Es muß auch beachtet werden, daß es eine Reihe von allgemein anerkannten Kunstrichtungen gibt (z.B. Impressionismus, Expressionismus, Surrealismus, Kubismus, Futurismus und Dadaismus), die nicht durch die "interesselose Freude am Schönen" gekennzeichnet sind 102 . Wenn ferner durch das Element der "Interessenlosigkeit" der Kunst die Abwesenheit jeglicher Zweckverfolgung oktroyiert wird 1 0 3 , ist damit gleichzeitig nicht nur die künstlerisch gestaltete Werbung (z.B. die Werbeplakate von Toulouse-Lautrec), sondern auch - und entgegen der Rechtsprechung des BVerfG 104 - die sogenannte "engagierte" Kunst in ihrer Gesamtheit aus dem verfassungsrechtlichen Schutzbereich verwiesen. Der ästhetisch-idealistische Kunstbegriff erweist sich damit als verfassungsrechtlich unzulässig. Er spricht weiten Bereichen der Kunst den grundrechtlichen Schutz ab und beschränkt das legitime Betätigungsfeld des Künstlers auf das Bewirken ästhetischen Genusses. Durch die Projizierung idealistischer Kunstvorstellungen in die juristische Kunstdefinition würden dem künstlerischen Schaffen verbindliche Regeln vorgeschrieben (Orientierung am Schönen, Verbot jeglicher Zweckverfolgung), was gerade durch die verfassungsrechtliche Kunstfreiheitsgarantie vermieden werden soll 105 . Darüber hinaus würde der Staat dadurch das Gebot ästhetischer Neutralität verletzen, indem er eine bestimmte - zwischen den vielen existierenden - Kunstauffassung kanonisieren und für verbindlich erklären würde 106 .

100

Vgl. Bär, Die verfassungsrechtliche Filmfreiheit und ihre Grenzen, S. 130 und Erbel, Inhalt und Auswirkungen der verfassungsrechtlichen Kunstfreiheitsgarantie, S. 17: "So wird man zum Beispiel Picassos Kriegsbild "Guernica", obwohl in ihm gewiß keine "Schönheit" gestaltet ist, dennoch seine Zugehörigkeit zum "höheren" Interessenbereich der Kunst nicht ernsthaft streitig machen können." 101 Vgl. dazu etwa Geiger, in: FS fur Leibholz, Bd. II, S. 187 [190]; Maiwald, in: Kunst und Recht, S. 67 [75]; Würtenberger in: FS för Dreher, S. 79 [83f]. 102

Vgl. Erhardt,

Kunstfreiheit und Strafrecht, S. 64.

103

Vgl. auch Lerche, Werbung und Verfassung, S. 90f, der das Zweckgebundene als Kunstfremde disqualifiziert und einen Mindestbereich an Zweckgelöstheit für die Anerkennung der Kunsteigenschaft eines Werks erfordert. Dagegen etwa Erhardt, Kunstfreiheit und Strafrecht, S. 64 und Knies, Schranken der Kunstfreiheit als verfassungsrechtliches Problem, S. 153f. 104

Vgl. BVerfGE 30, 173 [190fJ; 67, 213 [227f|.

105

Siehe dazu oben in diesem Kapitel A I 2b.

106

Vgl. Erhardt,

Kunstfreiheit und Strafrecht, S. 64.

Α. Einengung des Kunstbegrifs

97

d) Der künstlerische Gestaltungswille als Kriterium für die Bejahung der Kunsteigenschaft Nach einer anderen Auffassung müsse die Kunsteigenschaft eines Werks dann bejaht werden, wenn ein - wie immer auch gearteter - künstlerischer Gestaltungswille vorliege 107 . Diese pauschale Formel stellt aber keine taugliche und für die praktische Anwendung brauchbare Kunstdefinition dar, sie ist vielmehr als Tautologie108 zu bezeichnen. "Kunst" wird danach durch das Element des "künstlerischen" Gestaltungswillens bestimmt. Was zu definieren gilt, taucht selbst wiederum in der Definition auf! Zur Erfassung des Kunstbegriffs hat man damit nichts gewonnen. Soweit ferner die Vertreter dieser Auffassung ausschließlich auf den subjektiven künstlerischen Gestaltungswillen, auf die Absicht des Urhebers, ein Kunstwerk zu schaffen, abstellen109, wird der Umstand verkannt, daß es viele allgemein anerkannte Kunstwerke gibt, die ihre Entstehung nicht einem auf die Hervorbringung von Kunst gerichteten Gestaltungswillen verdanken (z.B. künstlerische Briefe und Tagebücher)110. Da außerdem keine objektiven Maßstäbe für die Feststellung der Absicht des Schöpfers existieren und ein Eindringen in die psychische Welt des Urhebers unmöglich ist, würde die schlichte Behauptung des Schöpfers, er wollte ein Kunstwerk hervorbringen, zur Bejahung der Kunsteigenschaft ausreichen. Damit würde sich aber der 107 So z.B. OLG Düsseldorf, NJW 1964, 562 [563]; OLG Stuttgart, NJW 1969, 1779 [1780]; AG Darmstadt, JZ 1971, 140f\ Berka, JB1 1983, 281 [285]; Böckenßrde/Greiffenhagen, JuS 1966, 359 [362]; Bucholz, Kunst, Recht und Freiheit, S. 56; Dünnwald, JR 1965, 46 [48]; Potrykus, Kommentar zum GjS, § 1 Rn. 19; Ott, NJW 1964, 1149 [1150]; Roemer-Blum, GewArch 1986, 9 [12]; Ropertz, Die Freiheit der Kunst nach dem Grundgesetz, S. 81f; Schefold, RdJB 1978, 121 [126]; Erwin Stein, JZ 1959, 720 [723], wobei allerdings dem Begriff "künstlerischer Gestaltungswille" höchst unterschiedliche Bedeutungen beigemessen werden.

108

Die tautologischen Umschreibungen der Kunst sind Legion (vgl. auch Friedrich Müller, Freiheit der Kunst als Problem der Gruindrechtsdogmatik, S. 36). So wird Kunst etwa durch die folgenden Wendungen "bestimmt": Betätigung, die eine Affinität zur künstlerischen Idee hat (Ropertz, Die Freiheit der Kunst nach dem Grundgesetz, S. 81f); das gesamte Kunstleben, der Lebensbereich der schöpferischen Künste {Erbel, Inhalt und Auswirkungen der verfassungsrechtlichen Kunstfreiheitsgarantie, S. 93f); das Werk, in dem das höhere Interesse der Kunst obwaltet {Erwin Stein, JZ 1959, 720 [723]); Betätigung, die mit Mitteln der bildenden Kunst darauf gerichtet ist, mit Phantasie geistigseelischen Inhalt, innere Erregung oder ein Erzeugnis des Spieltriebs formal zu gestalten und eigenwillig darzustellen {Locher, Das Recht der bildenden Kunst, S. 20); Äußerung, die einen künstlerischen Anspruch erhebt {Schefold, in: Literatur vor dem Richter, S. 93 [108]); die kreative Verwirklichung eines individuellen künstlerischen Anspruchs {Ostendorf, in: Literatur vor dem Richter, S. 271 [277]). 109 So z.B. Berka, JB1 1983, 281 [285]; Ott, NJW 1964. 1149 [1150]; Roemer-Blum, GewArch 1986,9 [12]. 110

Siehe dazu oben in diesem Kapitel, A I ld.

7 Vlachopoulos

2.Kap. Die Einschränkbarkeit der Kunstfreiheit

98

Kunstbegriff ins Uferlose ausweiten111. Wenn - angesichts der unhaltbaren Ergebnisse, zu denen das Abstellen auf die bloße Absicht des Urhebers führt als korrektiv ein objektivierter künstlerischer Gestaltungswille, ein Niederschlag dieses Willens im Werk, verlangt wird 1 1 2 , dann erhebt sich die Frage, welcher Art und Weise diese Objektivierung sein und wie der Niederschlag der künstlerischen Absicht erkannt werden soll. Auch hier sind die Vertreter dieser - schon längst überholten - Ansicht jeder Antwort schuldig geblieben. Der Begriff des "objektivierten künstlerischen Gestaltungswillens" erweist sich demnach als eine bloße Leerformel, die jeder subjektiven Wertung Tür und Tor öffnet 113 . e) Der materiale Ansatz Einen tragfähigeren Beitrag zur Erfassung des Kunstbegriffs hat aber die "Mephisto"-Entscheidung des BVerfG 114 geleistet. Danach sei das Wesentliche der künstlerischen Betätigung "die freie schöpferische Gestaltung, in der Eindrücke, Erfahrungen, Erlebnisse des Künstlers durch das Medium einer bestimmten Formensprache zu unmittelbaren Anschauung gebracht werden. Jede künstlerische Tätigkeit ist ein Ineinander von bewußten und unbewußten Vorgängen, die rational nicht aufzulösen sind. Beim künstlerischen Schaffen wirken Intuition, Phantasie und Kunstverstand zusammen; es ist primär nicht Mitteilung, sondern Ausdruck und zwar unmittelbarster Ausdruck der individuellen Persönlichkeit des Künstlers" 115. Auf der gleichen Linie bewegen sich eine Reihe von anderen Kunstdefinitionen, die die Elemente des "Schöpfe-

111

Daß es bei der Prüfung der Kunsteigenschaft eines Werks nicht auf die künstlerische Absicht des Schöpfers ankommt, betonen BVerwGE 23, 104 [111]; Henschel, in: FS für Wassermann, S. 351 [356]; Mahrenholz, in: Handbuch des Verfassungsrechts, § 26 Rn. 47; Rupert Scholz, in: MDHS, Kommentar zum GG, Art. 5 Abs. III Rn. 26; Wiehert, Zum Problem der Kunstfreiheitsgarantie, S. 60. 112 So z.B. OLG Düsseldorf, NJW 1964, 562 [563]; OLG Stuttgart, NJW 1969, 1779 [1780]; Böckenförde/Greiffenhagen, JuS 1966, 359 [362]; Bucholz, Kunst, Recht und Freiheit, S. 56; Dünnwald, JR 1965, 46 [48]; Potrykus, Kommentar zum GjS, § 1 Rn. 19; Ropertz, Die Freiheit der Kunst nach dem Grundgesetz, S. 81f; Erwin Stein, JZ 1959, 720 [723]. 113 Ablehnend auch Erhardt, Kunstfreiheit und Strafrecht, S. 72f; Henschel, in: FS für Wassermann, S. 351 [356]; Knies, Schranken der Kunstfreiheit als verfassungsrechtliches Problem, S.173f; Schick, JZ 1970, 645 [646]; Wiehert, Zum Problem der Kunstfreiheitsgarantie, S. 59f. 114 115

BVerfGE 30, 173ff.

BVerfGE 30, 173 [188f]. Vgl. des weiteren BVerfGE 67, 213 [226]; 75, 369 [377]; 81, 278 [291]; 81, 298 [305]; 83, 130 [138]; BVerwGE 84, 71 [73f]; 91, 211 [214]; BGHSt 37, 55 [59]; OVG Münster, DÖV 1987, 1070; OVG Münster, BPS-Report 4/1992, 42; OVG Münster, NVwZ 1992, 396f; VG Köln, NVwZ 1992, 402f; VG Oldenburg, GewArch 1990, 277 [278]; LG München, BPS-Report 6a/1985, 12 [17].

Α. Einengung des Kunstbegriffs

99

rischeiT der "Formgebung" und des "Ausdrucks eines persönlichen Erlebnisses" in den Vordergrund stellen116. Der Verdienst dieses materialen Kunstbegriffs des BVerfG ist insbesondere darin zu sehen, daß er auf eine - mit der staatsabwehrenden Funktion der Kunstfreiheitsgarantie unvereinbare - Niveaukontrolle verzichtet 117. Er enthält ferner Elemente, die das Wesen eines großen Teils der (gegenwärtigen) Kunst zutreffend wiedergeben. Andererseits muß aber beachtet werden, daß dieser Kunstbegriff durch ein hohes Abstraktionsniveau gekennzeichnet ist, so daß es der Konkretisierung und Verfeinerung - insbesondere im Hinblick auf die besonderen Merkmale jeder einzelnen Kunstgattung - bedarf, um überhaupt praktikabel und anwendungsfähig zu werden 118. Außerdem enthält er zu viele Elemente mit dem Ergebnis, daß der Kunstbegriff zu eng wird und damit vom Schutzbereich des Art. 5 Abs. 3 GG Phänomene ausgeschlossen werden, die nach allgemeiner Meinung als Kunst zu qualifizieren sind 119 . Problematisch scheint insbeson-

116 Vgl. etwa Geiger, in: FS für Leibholz, Bd. II, S. 187 [191]: "Als einziges, einigermaßen unbestimmtes Kriterium bleibt, daß der "Stoff, was immer das sein mag, in "Form gebracht" wird, wie eigenwillig und frei sie gewählt sei; und daß diese wie immer gelungene schöpferische Gestaltung auf eine "Verdichtung" des Ausdrucks angelegt ist (...)"; ν Man gold t/Klei n/S ta rck, Kommentar zum GG Art. 5 Abs. 3 Rn. 186: "Kunst i.S. des Art. 5 Abs. 3 ist vielmehr 1. ein schöpferischer Akt, der sich 2. durch eine wie auch immer geartete erkennbare geistige Struktur in kunsttypischer oder in ähnlicher neuer Formgebung auszeichnet (...)" (Hervorhebungen im Original); Rupert Scholz, in: MDHS, Kommentar zum GG, Art. 5 Abs. III Rn. 29: "Als Kunst im verfassungsrechtlichen Sinne ist (...) grundsätzlich jeder schöpferisch-individuale Akt sinnlich-anschaulicher Formgebung zu begreifen, der der "ojektivierte" Ausdruck eines persönlichen Erlebnisses seines Schöpfers ist und auf kommunkative Sinnvermittlung nach außen gerichtet ist" (Für weitere Nachweise siehe BVerfGE 67, 213 [226]). Insbesondere das Merkmal des "Schöpferischen" wird oft (vgl. BVerwG, NJW 1982, 900 [901]; Bär, Die verfassungsrechtliche Filmfreiheit und ihre Grenzen, S. 129; Erbel, Inhalt und Auswirkungen der verfassungsrechtlichen Kunstfreiheitsgarantie, S. 95f; Wiehert, Zum Problem der Kunstfreiheitsgarantie, S. 57f, 63) als unabdingbare Voraussetzung der Anerkennung der Kunsteigenschaft eines Werks betrachtet. Sicher ist dabei, daß dieser Gesichtspunkt bei der Abgrenzung zwischen Kunst und rein handwerklichen Werken behilflich sein kann, weil die letzteren sich auf die Wiedergabe des Erlernbaren und Erlernten oline Einschaltung schöpferischer Elemente beschränken (vgl. Wiehert, Zum Problem der Kunstfreiheitsgarantie, S. 57). Andererseits muß aber beachtet werden, daß das Schöpferische kein ausschließliches Charakteristikum der Kunst ist (auch wissenschaftliche Werke sind beispielsweise schöpferische Leistungen), und daß es auch Kunstwerke gibt (z.B. conceptual art), bei denen die schöpferische Gestaltung nicht durch den Künstler erfolgt, sondern vielmehr dem produktiv geforderten Publikum überlassen wird (vgl. dazu Mahrenholz, in: Handbuch des Verfassungrechts, §26 Rn. 28). Kritisch zum Merkmal des "Schöpferischen" auch Knies, Schranken der Kunstfreiheit als verfassungsrechtliches Problem, S. 151f und Ott, NJW 1963, 617 [619f]. 117 Die Bezeichnung dieses Kunstbegriffs vom BVerfG selbst als wertbezogen (vgl. BVerfGE 67, 213 [226]; 81, 278 [291]) ist demnach irreführend und unzutreffend. 118

119

7*

Vgl. VG Oldenburg, GewArch 1990, 277 [278].

Vgl. Denninger, in: Handbuch des Staatsrechts, § 146 Rn. 8.

100

2.Kap. Die Einschränkbarkeit der Kunstfreiheit

dere das Merkmal des "unmittelbarsten Ausdrucks der individuellen Persönlichkeit des Künstlers" zu sein 120 . Denn es gibt eine Reihe von Kunstwerken, die nicht - oder zumindest nicht ohne weiteres - als Ausdruck der individuellen Künstlerpersönlichkeit bezeichnet werden können. Man denke nur etwa an Kunstgattungen, bei denen der Inhalt von Papierkörben ("objets trouvés") oder andere Objekte, z.B. Konservendosen, ("ready-made") als Kunstwerke erklärt werden 121, oder an die Produkte der Pop-Art, z.B. an die Andy Warhols Konservendosen-Bilder 122. In diesem Zusammenhang sind auch neue künstlerische Manifestationen zu erwähnen (etwa Lichtkunstwerke und Computergraphik), "deren gemeinsames Merkmal in dem Bestreben liegt, den (direkten) Einfluß der individuellen künstlerischen Subjektivität möglichst auszuschalten, sei es, daß man einen Apparat nach dem Zufallsprinzip arbeiten läßt, sei es, daß man außerpersönliche Determinanten einsetzt"123 . Wenn ferner das BVerfG pauschal ausführt, daß Kunst primär nicht Mitteilung (sondern Ausdruck der individuellen Künstleipersönlichkeit) sei 125 , dann irrt es 126 . Legte man diese Prämisse des BVerfG zugrunde, dann fie120 Skeptisch dazu auch Isensee, Wer definiert die Freiheitsrechte?, S. 21f; Knies, AfP 1978, 57 [62]; Mahrenholz, in: Handbuch des Verfassungsrechts, § 26 Rn. 28.

121

Vgl. dazu Denninger, in: Handbuch des Staatsrechts, § 146 Rn. 13 und Isensee, Wer definiert die Freiheitsrechte?, S. 28. 122

Vgl. Knies, AfP 1978, 57 [62].

123

Denninger, in: Handbuch des Staatsrechts, § 146 Rn. 6.

124

Aber abgesehen von diesen inhaltlichen Einwänden ist dieses Kriterium nicht in der Lage, eine Abgrenzung des Schutzbereichs der Kunstfreiheitsgarantie von anderen Grundrechten zu bewirken. Denn "auch die freie Meinungsäußerung ist "unmittelbarster Ausdruck der individuellen Persönlichkeit" des Äußernden" (OLG Stuttgart, NJW 1976, 628 [629]). 125

Diese These des BVerfG entspricht keiner defmitorischen Notwendigkeit. Der eigentliche Grund für ihre Aufstellung liegt vielmehr in der Prämisse des Gerichts, Art. 5 Abs. 2 GG sei auf die Kunstfreiheit nicht anwendbar (BVerfGE 30, 173 [191f]. Siehe dazu im einzelnen unten in diesem Kapitel, E II). Wenn nämlich Kunst kein auf Kommunikation angelegter Vorgang ist, dann ist es durchaus konsequent und zutreffend, die Anwendung der für die Kommunikationsgrundrechte geltenden Schranken des Art. 5 Abs. 2 GG auf die Kunstfreiheit abzulehnen. Vgl. dazu Heinz, in: Grenzen politischer Kunst, S. 44 [70 Fn. 73] und Lerche, AfP 1973, 496 [499]. 120 Dagegen auch Denninger, in: Handbuch des Staatsrechts, § 146 Rn. 15; Heinz, in: Grenzen politischer Kunst, S. 44 [52]; Knies, AfP 1978, 57 [62]; Mahrenholz, in: Handbuch des Verfassungsrechts, § 26 Rn. 28. Vgl. auch Lerche, AfP 1973, 496 [499]; ders., Kunstfreiheit, in: Ergänzbares Lexikon des Rechts 5/420, S. 1, der betont daß nach einem Teil der modernen Kunsttheorie die künstlerische Produktion nur ein Unterfall der Kommunikation ist.

197

Das BVerfG hat jedoch in seiner späteren Rechtsprechung (vgl. BVerfGE 77, 240 [251]; 81, 278 [289f]) von dieser Auffassung abgewichen und die Kunstfreiheit als Kommunikationsgrundrecht bezeichnet.

Α. Einengung des Kunstbegriffs

101

len ganze Bereiche der Kunst, die primär auf Mitteilung, sogar auf Überredung abzielen, unzulässigerweise aus dem Kunstbegriff heraus. Das gilt nicht nur für die sogenannte "engagierte" Kunst (etwa für die politisch agitierenden Montagen von Klaus Staeck)128, sondern auch für die politische Karikatur und die künstlerische Werbung 129. Daß der Standpunkt des BVerfG alles andere als unanfechtbar ist, ergibt sich auch dadurch, daß die diamentral entgegengesetzte Auffassung vertreten wird, daß nämlich "die Kunst nie bloß darstellen, sondern immer zugleich überreden will" und daß die Kunst "nie lediglich Ausdruck, sondern immer auch Ansprache" sei 130 . Nach alledem ist daran festzuhalten, daß der materiale Kunstbegriff des BVerfG und ähnliche Definitionsversuche zwar einzelne zutreffende Gesichtspunkte für die Ermittlung des Schutzbereichs der Kunstfreiheitsgarantie liefern, als allein entscheidende Kriterien aber nicht herangezogen werden können, will man den Kunstbereich vollständig und in seiner ganzen Reichweite erfassen 131. f) Der technisch-formale Kunstbegriff Nach einem im Vordringen befindlichen Kunstbegriff sei jedes Werk, das die formaltypischen Gattungsanforderungen eines künstlerischen Werktyps (z.B. eines Theaterstücks, Films, Romans, Gedichts, Gemäldes, Skulptur usw.)

no

Selbst der "Mephisto"-Beschluß des BVerfG (BVerfGE 30, 173 [190f]) räumt - im bemerkenswerten Widerspruch zu seinem eigenen Kunstbegriff - ein, daß auch die "engagierte" Kunst dem Schutzbereich des Art. 5 Abs. 3 GG zuzuordnen ist. Vgl. des weiteren BVerfGE 67, 213 [228]; BVerfGE 81, 278 [291]. 129

Zur Problematik des Kunstcharakters von Werbewerken vgl. etwa Bleckmann, Staatsrecht II Die Grundrechte, S. 74; Denninger, in: Handbuch des Staatsrechts, § 146 Rn. 15; Lerche, Werbung und Verfassung, S. 88f. l'in So Hauser, Soziologie der Kunst, S. 236 (zitiert nach Knies, AfP 1978, 57 [62]). 131 Kritisch zum Kunstbegriff des BVerfG auch Bär, Die verfassungsrechtliche Filmfreiheit und ihre Grenzen, S. 112f: "nichtssagend, leer und für den praktisch arbeitenden Juristen völlig unbrauchbar"; Denninger, in: Handbuch des Staatsrechts, § 146 Rn. 8, 15; Hempel, Die Freiheit der Kunst, S.41; Heinz, in: Grenzen politischer Kunst, S. 44 [52f]; Isensee, Wer definiert die Freiheitsrechte?, S.27f; Knies, AfP 1978, 57 [62]; Lerche, AfP 1973, 496 [499]: "angenehm altväterlich"; ders., Kunstfreiheit, in: Ergänzbares Lexikon des Rechts 5/420, S. 1: "zeitgebundene Beschreibung, Tautologie"; Mahrenholz, in: Handbuch des Verfassungrechts, § 26 Rn. 26ff; Otto, JR 1983, 1 [9]; Zöheley, NJW 1985, 254f. Selbst das BVerfG gibt in seiner "Mephisto"-Entscheidung den Eindruck, daß es nicht sicher fur die Stichhaltigkeit seines eigenen Kunstbegriffs ist. Es prüft nämlich die Kunsteigenschaft des dort betreffenden Romans nicht anhand des materialen Kunstbegriffs, sondern begnügt sich mit der Feststellung, daß alle kompetenten Sachverständigen (und die Instanzgerichte) diesem Roman die Eigenschaft eines Kunstwerks zuerkannt haben (BVerfGE 30, 173 [189f]).

102

2.Kap. Die Einschränkbarkeit der Kunstfreiheit

erfülle, als Kunst anzuerkennen und demzufolge dem Schutzbereich des Art. 5 Abs. 3 GG zuzuordnen (sog. "technisch-formaler" Kunstbegriff) 132. Dieser Kunstbegriff hat den Vorteil, daß er nicht abstrakt und generell auf die Kunst, sondern vielmehr auf die verschiedenen Kunstgattungen abstellt. Damit wird der Vielfältigkeit des Kunstbereichs und den besonderen Merkmalen jeder einzelnen Kunstgattung Rechnung getragen 133. Bei einer Annahme des technisch-formalen Kunstbegriffs würden außerdem die Kontroversen bezüglich der Anerkennung oder der Ablehnung der Kunsteigenschaft eines Werks in vielen Fällen nicht mehr existieren, insbesondere bei traditionellen Kunstgattungen wie z.B. Skulptur, Roman usw. Läge beispielsweise ein Gedicht vor, dann wäre seine Kunsteigenschaft - ungeachtet seines künstlerischen Werts - ohne weiteres zu bejahen. Bei einer genaueren Betrachtungsweise erweist sich aber der technischformale Kunstbegriff als höchst problematisch und zugleich ungeeignet - als allein entscheidendes Kriterium - für die Erfassung des Schutzbereichs des Art. 5 Abs. 3 GG 1 3 4 . Zunächst ist zu bemerken, daß dieser Kunstbegriff, wie

132

So vor allem Friedrich Müller, Freiheit der Kunst als Problem der Grundrechtsdogmatik, S.40ff; ders., JZ 1970, 87 [89]; ähnlich auch Knies, Schranken der Kunstfreiheit als verfassungsrechtliches Problem, S. 219ff; ders., AfP 1978, 57 [63], der allerdings ausschließlich auf die phänotypische "Tätigkeit" des Malens, Bildhauens, Dichtens usw. abstellt, während Friedrich Müller den "Werktyp", das Ergebnis der Tätigkeit (Gemälde, Skulptur, Gedicht usw.) in den Vordergrund stellt. Im Ergebnis aber besteht zwischen den beiden Autoren kein Unterschied. Dem technisch-formalen Kunstbegriff folgen des weiteren etwa BVerwGE 1, 303 [305]; Erhardt, Kunstfreiheit und Strafrecht, S. 82ff; Jeand'Heur, Strafverteidiger 1991, 165 [166]; Knemeyer, Der Staat 8 [1969], S. 240 [241]; Lerche, Werbung und Verfassung, S. S9,Maunz, BayVBl 1970, 354 [355]; Raue, Literarischer Jugendschutz, S. 85; Zechlin, NJW 1984, 1091 [1092]. Das BVerfG hat - im Rahmen seines "topischen" Ansatzes (siehe dazu unten in diesem Kapitel, A I 2i) - den technisch-formalen Kunstbegriff als tragfähig anerkannt und ihn in Verbindung mit anderen Kunstdefinitionen zur Beurteilung der Kunsteigenschaft des jeweils betreffenden Werks herangezogen (vgl. BVerfGE 67, 213 [227f]; 81, 278 [291]; 81, 298 [305]. So auch OVG Münster, NVwZ 1992, 396). Eine gewisse Distanzierung des BVerfG gegenüber dem formalen Ansatz dürfte aber in der "Mutzenbacher"-Entscheidung erblickt werden. Dort (BVerfGE 83, 130 [138]) hat das Gericht Zweifel geäußert, ob die Kunsteigenschaft dieses Romans "schon deshalb zu bejahen ist, weil sich das Werk als Roman bezeichnet und das Ergebnis einer anerkannten künstlerischen Tätigkeit - der eines Schriftstellers - darstellt". Ähnlich VG Köln, NVwZ 1992, 402 betreffend des Romans "Opus Pistorum" von Henry Miller. 133 Vgl. BVerfGE 67, 213 [224]: "Wie weit danach die Kunstfreiheitsgarantie der Verfassung reicht und was sie im einzelnen bedeutet, läßt sich nicht durch einen für alle Äußerungsformen künstlerischer Betätigung und fur alle Kunstgattungen gleichermaßen gültigen allgemeinen Begriff umschreiben". So auch BVerfGE 30, 173 [189]. 134 Ebenso kritisch: Bär, Die verfassungsrechtliche Filmfreiheit und ihre Grenzen, S. 118f; Bleckmann, Staatsrecht II - Die Grundrechte, S. 742: Breunung/Nocke, in: Literatur vor dem Richter, S.235 [242 Fn. 26/27]; Denninger, in: Handbuch des Staatsrechts, § 146 Rn. 6; Dünnwald, JR 1965, 46 [50]; Geis, Kulturstaat und kulturelle Freiheit, S. 243f; Grebenhagen, Der Staat 8 [1969], S. 246

103

Α. Einengung des Kunstbegriffs

auch viele andere Kunstdefinitionen 135, eine Tautologie darstellt. "Kunst" sei danach jedes Werk, das zu einer "Kunstgattung gehört. Das zu Bestimmende wird selbst wiederum als Definitionselement verwendet! Die Definitionsproblematik verlagert sich damit auf die Frage, welche die dem Kunstbereich zuzuordnenden Gattungen sind und - auf einer zweiten Stufe - welche die besonderen strukturellen Merkmale dieser Gattungen sind, die sie von ähnlichen menschlichen Tätigkeiten nichtkünstlerischer Art unterscheiden. Daß man hier mit einer besonders schwierigen und komplexen Aufgabe zu tun hat, liegt auf der Hand. Um das durch einige Beispiele zu verdeutlichen: welche der Filmarten (Spiel-, Werbefilm, dokumentarischer, bildender, avantgardistischer Film) sind als Kunstgattungen anzuerkennen und welche nicht? 136 Stellt jede Fotographie ein Kunstwerk dar oder muß man zwischen künstlerischer und nichtkünstlerischer Fotographie unterscheiden? Und wenn das zweite der Fall ist (wofür vieles spricht), nach welchen Kriterien und Maßstäben ist die Grenzlinie zu ziehen?137 Sind auch "die Modeschöpfung, die Ziergärtnerei, die Schaufenstergestaltung oder gar das Eiskunstlaufen oder Kunstturnen" 138 als Kunstgattungen anzuerkennen oder nicht? Können ferner auch Verkehrszeichen der Kunstgattung "Malerei" zugeordnet werden? 139 Und schließlich: fällt jede satirische Äußerung unter den Schutzbereich des Art. 5 Abs. 3 GG oder gibt es vielmehr auch nichtkünstlerische Satire? 140

[249]; Heinz, in: Grenzen politischer Kunst, S. 44 [52]; H en schei, in: FS für Wassermann, S. 351 [357]; ders., NJW 1990, 1937 [1939]; Heuer, Die Besteuerung der Kunst, S. 23f; Otto, JR 1983, 1 [9f]; Maiwald, JZ 1990, 1141f; Mahrenholz, in: Handbuch des Verfassungsrechts, § 26 Rn. 34; Schick, Kunstwerkgarantie und Strafrecht, S. 43 Fn. 1 ; Rupert Scholz, in: MDHS, Kommentar zum GG, Art. 5 Abs. III Rn. 30; Zöbeley, NJW 1985, 254 [255]. Vgl. ferner Erbel, DVB1 1969, 863 [865fJ; Hoffmann, Die Kunstfreiheit des Grundgesetzes und die Organisierung einer Mediengewerkschaft, S. 243ff; ders., NJW 1985, 237 [239f]; Ridder, in: Literatur vor dem Richter, S. 291 [299fifJ; Wiehert, Zum Problem der Kunstfreiheitsgarantie, S. 46f, 61, die dem formalen Kunstbegriff kritisch gegenüberstehen, seiner Erfüllung im Einzelfall aber einen Indizcharakter für das Vorliegen eines Kunstwerks beimessen. 135

Siehe dazu oben in diesem Kapitel, A I 2d.

136

Vgl. dazu Bär, Die verfassungsrechtliche Filmfreiheit und ihre Grenzen, S. 12ff.

137

Z u m Kunstcharakter von fotographischen Darstellungen vgl. etwa BVerfGE 81, 278 [291]; BFHE 104, 314 [316f]; OVG Münster, BPS-Report 4/1991, 42; Zöbeley in: FS für Zeidler, Bd. II, S.1525ff. 138

Grebenhagen, Der Staat 8 [1969], S. 246 [249].

I'M)

1

Bejahend Erbel, Z U M 1985, 283 [290]; verneinend Erhardt,

Kunstfreiheit und Strafrecht,

S.93f. 140 Eine Frage, auf die auch die Verfassungsgericht! iche Rechtsprechung keine eindeutige Antwort geben kann: früher hat das BVerfG (BVerfGE 75, 369 [377]) von der Kunstgattung "Satire" gesprochen, ohne weiter zu differenzieren. In einer späteren Entscheidung (BVerfGE 86,1 [9]) heißt es

2.Kap. Die Einschränkbarkeit der Kunstfreiheit

104

Solche Fragen ließen sich freilich häufen. Die Gefahr, daß die Abgrenzung der Kunstgattungen aufgrund qualitativer Gesichtspunkte erfolgen wird, ist - angesichts des Fehlens eines allgemein anerkannten und verbindlichen Katalogs der Kunstgattungen - nicht von der Hand zu weisen141. Der Haupteinwand gegen den technisch-formalen Kunstbegriff besteht aber darin, daß er nur die traditionellen, bisher anerkannten Kunstgattungen erfaßt, die neuartigen, avantgardistischen Kunstformen demgegenüber vom Schutzbereich der Kunstfreiheitsgarantie ausschließt142. Daß dies der Fall ist, ergibt sich auch aus den Ausführungen von Friedrich Müller, einem der Hauptvertreter dieser Kunstdefinition. Nach ihm werde sich das seinerzeit aufkommende Happening "zumindest einer skeptischen Diskussion zu stellen haben" 143 . Wenn ferner Friedrich Müller unter dem verfassungsrechtlichen Kunstbegriff jeden neuen Gattungstypus subsumieren will, "der subjektiv mit dem Anspruch auftritt, als Kunst anerkannt und behandelt zu werden, und der zugleich objektiv durch entsprechende Präsentation und Nachhaltigkeit als Neuzugang zum Kunstbetrieb festgehalten werden kann" 144 , wird es deutlich, daß auf ein bestimmtes Maß an Herkömmlichkeit nicht verzichtet wird. Durch das Merkmal der "Nachhaltigkeit" werden die vereinzelt gebliebenen, keinen Widerhall und Nachahmung in der Künstlerszene gefundenen Kunstformen vom Schutzbereich des Art. 5 Abs. 3 GG ausgeschieden. Dasselbe gilt auch für diejenigen Kunstarten, die sich ganz am Anfang ihrer Entstehung befinden und deshalb über keine Nachhaltigkeit verfügen können. Damit wird den neuen Kunstformen in ihren ersten - und für ihre Existenz sogar wichtigsten Schritten der verfassungsrechtliche Schutz abgesprochen.

aber: "Satire kann Kunst sein; nicht jede Satire ist jedoch Kunst". Vgl. dazu auch Hillgruber/ Schemmer, JZ 1992, 946. 141 Selbst Friedrich Müller (in: Freiheit der Kunst als Problem der Grundrechtsdogmatik, S. 44) räumt ein, daß "gewisse (minimale) Qualitätsanforderungen auch dem gattungstypisch aufgefächerten Kunstbegriff zugrundeliegen". Damit wird aber die von ihm (aaO, S. 38) hoch veranschlagte Wertfreiheit seines technisch-formalen Kunstbegriffs in der Wirklichkeit aufgegeben. 142 Hier gipfelt auch die in der Literatur geübte Kritik gegen den formalen Ansatz: vgl. etwa Henschel, in: FS für Wassermann, S. 351 [357]; Geis, Kulturstaat und kulturelle Freiheit, S. 243f; Heuer, Die Besteuerung der Kunst, S. 23f; Lerche, in: Kunst und Recht im In- und Ausland, S. 1 [3]; Otto, JR 1983, 1 [10]; Ridder, in: Literatur vor dem Richter, S. 291 [299f|; Zöbeley, NJW 1985, 254 [255]. 143

Friedrich Müller, Freiheit der Kunst als Problem der Grundrechtsgomatik, S. 43. Neuerdings will Friedrich Müller, (in: Die Positivität der Grundrechte, S. 114f) das Happening ohne weiteres dem Normbereich der Kunstfreiheitsgarantie zuordnen, nachdem diese Kunstgattung inzwischen traditionell geworden ist. 144

Friedrich

Müller, Strukturierende Rechtslehre, S. 411 (Hervorhebung hier).

Α. Einengung des Kunstbegriffs

105

Der technisch-formale Kunstbegriff erweist sich demnach als eine "Prämie auf das Gestrige" 145 oder - anders ausgedrückt - als eine "Zementierung des status quo" 146 . Die Entwicklungsoffenheit und die ständige Bereicherung um neue Formen und Richtungen sind aber wesensnotwendige Merkmale der Kunst, die auch bei der Bildung des juristischen Kunstbegriffs respektiert und gewahrt werden müssen. Die Kunstdefinition muß demzufolge offen gegenüber neuen Kunstformen bleiben 147 (zumal neue Kunstrichtungen und -ausdrucksformen in der Regel keine allgemeine Anerkennung genießen und deshalb im besonderen Maße gefährdet - d.h. gleichzeitig auch schutzbedürftig sind). Gerade dieser Anforderung genügt aber der technisch-formale Kunstbegriff nicht. g) Der zeichentheoretische Ansatz Nach einer anderen Theorie sei das charakteristische Merkmal einer künstlerischen Darstellung darin zu sehen, daß es wegen der Mannigfaltigkeit ihres Aussagegehalts möglich sei, der Darstellung im Wege einer fortgesetzten Interpretation immer weiterreichende Bedeutungen zu entnehmen, so daß sich eine praktisch unerschöpfliche, vielstufige Informationsvermittlung ergebe 148 (sog. "zeichentheoretischer" 149 Ansatz).

145

Grebenhagen, Der Staat 8 [1969], S. 246 [249].

146

Geis, Kulturstaat und kulturelle Freiheit, S. 243.

147

Vgl. statt aller Rupert Scholz, in: MDHS, Kommentar zum GG, Art. 5 Abs. III Rn. 30.

148

So vor allem v.Noorden> Die Freiheit der Kunst nach dem Grundgesetz (Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG) und die Strafbarkeit der Verbreitung unzüchtiger Darstellungen (§ 184 Abs. 1 Nr. 1 StGB), S.82ff (insb. S. 87), der seinerseits auf Emrich, in: Universitätstage 1964, S. 159 [163ff] fußt. Der zeichentheoretische Ansatz findet sich auch bei BVerwGE 23, 104 [107f]. Vgl. ferner Denninger, in: Handbuch des Staatsrechts, § 146 Rn. 16f, der Kunst als strukturelle vieldeutige Kommunikation bestimmt. Der zeichentheoretische Ansatz blieb lange Zeit unbeachtet, bis das BVerfG in seinem "Anachronistischen Zug"-Beschluß (BVerfGE 67, 213 [227]) ihn - neben dem materialen und technisch-formalen Kunstbegriff - als tragfahige Definition anerkannt hat. Dieser Definitionsansatz wird femer von OVG Münster, BPS-Report 4/1991, 42 und OVG Münster, NVwZ 1992, 396f als mitentscheidendes Kriterium zur Beurteilung der Kunsteigenschaft eines Werks herangezogen. Vgl. auch BVerfGE 83, 130 [138], wo das Gericht aus der vielfaltigen Interpretierbarkeit des Romans "Josefine Mutzenbacher" eine künstlerische Absicht gefolgert hat. Für Zöbeley (in: FS fur Zeidler, Bd. II, S. 1252 [1534f]) ist schließlich der zeichentheoretische Ansatz ein besonders taugliches Kriterium zur Prüfung der Kunsteigenschaft von photographischen Darstellungen. 149

Diese Theorie wird so genannt, weil sie mit allgemeinen theoretischen Ausführungen über die eine künstlerische Darstellung komponierenden - Zeichen und ihre semantische Funktion begründet wird (künstlerische Darstellung als eine Fülle von Zeichen, die über ihre alltägliche Aussage hinauswirken und eine unerschöpfliche Informationsvermittlung ermöglichen. Vgl. dazu v.Noorden, Die Freiheit der Kunst nach dem Grundgesetz (Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG) und die Strafbarkeit der Verbreitung unzüchtiger Darstellungen (§ 184 Abs. 1 Nr. 1 StGB), S. 82ff).

106

2.Kap. Die Einschränkbarkeit der Kunstfreiheit

Diese Definitionsformel gibt zwar ein kennzeichnendes Merkmal eines großen Teils der Kunst, ihre mannigfaltige Interpretierbarkeit, zutreffend wieder 150 . Dieser Gesichtspunkt ist aber nicht in der Lage, sämtliche Kunstformen und -gattungen vollständig zu erfassen. Neuartige, avantgardistische Kunstäußerungen, die für ihre Rezipienten unverständlich sind (das wird bei solchen Werken sogar die Regel sein), würden beispielsweise durch diese Definition aus dem Schutzbereich der Kunstfreiheitsgarantie unzulässigerweise ausscheiden. Denn ein unverständliches Werk kann überhaupt nicht, geschweige denn vielfältig, interpretiert werden 151 1 5 2 . Der zeichentheoretische Ansatz bietet außerdem keine tauglichen Kriterien an, die eine genaue Abgrenzung des Schutzbereichs der Kunstfreiheit von anderen Grundrechten ermöglichen würden. Denn die mannigfaltige Interpretationsfähigkeit ist kein ausschließliches Merkmal der künstlerischen Darstellungen. Auch wissenschaftliche Werke, sogar bloße Meinungsäußerungen, sind oft vieldeutig153. Man denke nur an Orakelsprüche oder an die bewußt widersprüchlichen Äußerungen Sokrates. Es darf auch nicht außer acht gelassen werden, daß der zeichentheoretische Ansatz mit qualitativen, bei der staatsabwehrenden Funktion der Kunstfreiheit unzulässigen Einengungen des Kunstbegriffs unauflöslich verbunden ist 1 5 4 . Das wird insbesondere dann deutlich, wenn Emrich, einer der Hauptvertreter dieser Theorie, etwa "durchschnittliche" Kriminalromane (im Gegensatz zu den Werken Dostojewskys) wegen angeblich mangelnder Vieldeutigkeit aus dem verfassungsrechtlichen Kunstbegriff ausgrenzen w i l l 1 5 5 oder wenn das BVerwG (auch) aufgrund des

150 Vgl. etwa Barsch, in: Literatur vor dem Richter, S. 63 [81]; Kirchhof, NJW 1985, 225 [228]; Friedrich Müller, JZ 1970, 87 [90]; Pieroth/Schlink, Grundrechte - Staatsrecht II, Rn. 696. 151

Vgl. dazu Henschel, in: FS für Wassermann, S. 351 [357] und Hempel, Die Freiheit der Kunst, S. 44f. Die Existenz unverständlicher und deshalb nicht interpretierbarer Kunstwerke verkennt auch Würkner, NVwZ 1987, 841 [844]; ders., JA 1988, 183 [185], nach dem Kunst die kreative Kommunikation mit interpretationsfahiger Struktur sei. 152

Vgl. femer Erhardt, Kunstfreiheit und Strafrecht, S. 82, der auf avantgardistische Werke verweist, "die gerade nicht auf eine "vielstufige Informationsvermittlung" gerichtet sind. (Beispiel Objektkunst)". Gegen die Verabsolutierung des Merkmals der Vieldeutigkeit auch Mahrenholz, in: Handbuch des Verfassungsrechts, § 26 Rn. 32. 153

Vgl. Hempel, Die Freiheit der Kunst, S. 46.

154

Vgl. dazu etwa Erhardt, Kunstfreiheit und Strafrecht, S. 81f; Henschel, in: FS für Wassermann, S. 351 [357]; ders., NJW 1990, 1937 [1939]; Mahrenholz, in: Handbuch des Verfassungsrechts, § 26 Rn. 31; Zöbeley, NJW 1985, 254 [255f]. 155 Emrich, in: Universitätstage 1964, S. 159 [164]. Vgl. femer v.Noorden, Die Freiheit der Kunst nach dem Grundgesetz (Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG) und die Strafbarkeit der Verbreitung unzüchtiger Darstellungen (§ 184 Abs. 1 Nr. 1 StGB), S. 88ff, der für eine enge Auslegung der Kunstfreiheit plädiert und auf dem Standpunkt steht, daß "der ganz überwiegende Teil der heute durch Schallplatten,

Α. Einengung des Kunstbegriffs

107

zeichentheoretischen Ansatzes der anspruchslosen Unterhaltungsliteratur die Kunsteigenschaft abspricht 156. h) Kunst als ein auf Kommunikation angelegter Vorgang In den letzten Jahren häufen sich in der Literatur die Definitionsversuche, die den kommunikativen Charakter der Kunst in den Vordergrund stellen. Danach wird Kunst als strukturell vieldeutige Kommunikation157 oder als kreative Kommunikation mit interpretationsfähiger Struktur bezeichnet158. Nach einer anderen Auffassung sei unter dem verfassungsrechtlichen Kunstbegriff zu subsumieren, "was auf menschliche Initiative zurückfuhrbar ist und zu einer vorwiegend sinnlich-ästhetischen Kommunikation aufruft" 159 . Diese und ähnliche, den kommunikativen Aspekt der Kunst betonende Definitionen 160 verfügen über einen richtigen Kern. Denn der durchaus größte Teil der Kunst ist "auf kommunikative Sinnvermittlung nach außen"161 angelegt. Der Künstler will in aller Regel durch seine Arbeit mit dem Publikum kommunizieren. Insoweit ist die Charakterisierung der Kunst als Kommunikationsprozeß162 oder als Kommunikationsgrundrecht 163 durchaus zutreffend.

Tageszeitungen und illustrierte Wochenschriften, Groschenromane u.a. verbreiteten Darstellungen den schützenden Arm der verfassungsrechtlichen Kunstfreiheitsgarantie nicht erreichen" werde (aaO, S.88). 156

BVerwGE 23, 104 [107f].

157

Denninger, in: Handbuch des Staatsrechts, § 146 Rn. 17.

158

Würkner, NVwZ 1987, 841 [844]; ders., JA 1988, 183 [185]; ders., Das Bundesverfassungsgericht und die Freiheit der Kunst, S. 127 159

Mahrenholz, in: Handbuch des Verfassungsrechts, § 26 Rn. 37. 160

Vgl. Heuer, Die Besteuerung der Kunst, S. 32: "Eine künstlerische Tätigkeit i.S.d. Art. 5 Abs. 3 ist somit eine geistige, empfangsorientierte, sinngebende und höchst persönliche Tätigkeit, die durch eigenwertiges und selbständiges Gestalten ernsthaft ein fertiges Werk anstrebt, das als Sinnerwartungsträger beim Empfänger subjektiv originäres Erleben auslösen will" und Kirchhof, NJW 1985, 225 [228]: "Kunst ist persönlichkeitsgeprägtes Gestalten, das dem Empfänger ein eigenständiges, über die dem Künstler bewußte Aussage hinauswirkendes Erleben ermöglicht". 161

Rupert Scholz, in: MDHS, Kommentar zum GG, Art. 5 Abs. III Rn. 29.

162

So Breunung/Nocke, in: Literatur vor dem Richter, S. 235 [269]; Erhardt, Kunstfreiheit und Strafrecht, S. 19f; Geis, Kulturstaat und kulturelle Freiheit, S. 241; Hoffmann, Die Kunstfreiheitsgarantie des Grundgesetzes und die Organisierung einer Mediengewerkschaft, S. 234ff; ders., NJW 1985, 237 [241]; Ridder, in: Literatur vor dem Richter, S. 291 [300ff]. 163 So BVerfGE 77, 240 [251], 81, 278 [289f]; Erhardt, Kunstfreiheit und Strafrecht, S. 87; Meirowitz, Gewaltdarstellungen auf Videokassetten, S. 313; Rupert Scholz, in: MDHS, Kommentar zum GG, Art. 5 Abs. III Rn. 13.

2.Kap. Die Einschränkbarkeit der Kunstfreiheit

108

Doch sollte man davor warnen, das Merkmal der Kommunikation zu verabsolutieren 164 und es als unabdingbare Voraussetzung für die Anerkennung der Kunsteigenschaft eines Werks zu erklären. Die verfassungsrechtliche Kunstfreiheitsgarantie schützt nicht nur diejenigen, die mit ihren Kunstwerken einen Zugang zu der Öffentlichkeit suchen. Sie schützt genauso die Schöpfer, die künstlerische Leistungen nur ganz "für sich" hervorgebracht haben. Kunst i.S.d. Grundgesetzes sind auch etwa künstlerische Tagebücher oder Romane, die - aus welchen Gründen auch immer - von vornherein dazu bestimmt sind, in verschlossenen Schubladen zu bleiben 165 . Solche künstlerischen Hervorbringungen können von einem am Merkmal der "Kommunikation" orientierten Kunstbegriff nicht erfaßt werden 166. Dieser Kunstbegriff leidet schließlich daran, daß Kommunikation kein ausschließliches Charakteristikum der Kunst ist. Er ist deshalb nicht in der Lage, die Grenzlinie zwischen Kunstfreiheit und anderen Kommunikationsgrundrechten (etwa Meinungs- und Wissenschaftsfreiheit) zu markieren. Eine solche Abgrenzung kann auch nicht dadurch erzielt werden, indem man das legitime Betätigungsfeld der Kunst auf vieldeutige Kommunikation beschränkt 167. Denn vieldeutige, vielfaltig interpretierbare Äußerungen sind, wie bereits gezeigt wurde 1 6 8 , nicht nur im Kunstbereich zu treffen .

164 So aber Rupert Scholz, in: MDHS, Kommentar zum GG, Art. 5 Abs. III Rn. 13: "Jedes künstlerische Wirken ist kommunikativ" und Würtenberger, in: FS für Dreher, S. 79 [85]: "Daher ist das Kunstwerk stets auch Information und Kommunikation" (Hervorherbungen hier). 165

Man muß allerdings zugeben, daß bei solchen Kunstwerken eine Kollision mit anderen Rechtsgütem, die die Schutzbedürftigkeit der künstlerischen Leistung akut machen würde, kaum möglich ist. 166 Ähnlich auch die Kritik von Lerche, in: Kunst und Recht im In- und Ausland, S. 1 [6]: "Aber ist "Kommunikation" fur "Kunst" essentiell notwendig - abgesehen vielleicht von der schwebend leichten oder schweren Zwiesprache des Werkes mit seinem Urheber selbst? Ist es ausgeschlossen, daß Werke, die bewußt unter dem Diktat eines staatlichen Verbreitungsverbots geschaffen werden, Kunstwerke sind? Sie können und sollen nicht nach außen wirken - ist dies wirklich für die Kunstqualität entscheidend? (...). Steht das von einem einzigen oder einer kleinen Menschengruppe nur fur sich selbst einmalig veranstaltete Happening begriffsnotwendig außerhalb des Schutzbereichs? Streift ein Werk von Matisse in dem Augenblick seine Kunstqualität ab, in dem es · wie es so vielen Werken von Matisse ergangen ist - hinter verschlossenen Türen auf ewig verschwindet?". 167

So Denninger, in: Handbuch des Staatsrechts, § 146 Rn. 17.

168

Siehe gleich oben in diesem Kapitel, A12g.

169

Tragfahiger scheint aber der Ansatz von Mahrenholz, in: Handbuch des Verfassungsrechts, §26 Rn. 37ff zu sein. Er betont das sinnlich-ästhetische Element der künstlerischen Kommunikation und stellt es der unmittelbaren Mitteilung der anderen Kommunikationsgrundrechte gegenüber. Aber auch die Deutung von Mahrenholz kann nur dann ergiebig sein, wenn vorher das Merkmal des "Ästhetischen" definiert ist, eine ohnehin schwierige Aufgabe. Vgl. dazu auch Lerche, in: Kunst und Recht im In- und Ausland, S. 1 [6f].

Α. Einengung des Kunstbegriffs

109

i) Der topische Ansatz des BVerfG Nach alledem hat sich klar herausgestellt, daß keinem der bisher unternommenen Definitionsversuchen gelungen ist, den Kunstbegriff auf eine einwandfreie, dem Wesen der Kunst entsprechende und verfassungsrechtlich zulässige Weise zu bestimmten. Auch diejenigen Kunstbegriffe, die einzelne zutreffende Gesichtspunkte liefern und in ihrem Ansatz konsensfähig sind, scheitern im Ergebnis daran, daß sie nicht das Kunstleben in seiner Gesamtheit, sondern vielmehr nur Teilaspekte von ihm erfassen. Das BVerfG hat in seiner "Anachronistischer Zug"-Entscheidung170die sich daraus ergebenden Konsequenzen gezogen. Es hat nicht auf eine einzelne Kunstdefinition abgestellt, sondern drei - von ihm als tragfähige betrachtete - Kunstbegriffe nebeneinander herangezogen (den materialen, den technisch-formalen und den zeichentheoretischen171) und die Kunsteigenschaft des betreffenden Werks an allen diesen Kriterien gemessen172. Diesem Vorgehen des BVerfG - das in der Literatur als "topisch" bezeichnet wird 1 7 3 - ist grundsätzlich zuzustimmen174. Es ist die unvermeidliche Folge des Fehlens eines allgemein verbindlichen Kunstbegriffs und bedeutet "die Anerkennung pluralistischer Gleichberechtigung divergierender Ansichten"175. Angesichts der Tatsache, daß alle bisher entwickelten Definitionsformeln "jeweils nur für einzelne Sparten küntlerischer Betätigung Geltung

170

BVerfGE 67, 213ff.

171

Zu diesen Kunstbegriffen siehe oben in diesem Kapitel, A 1 2 e,f,g.

175 BVerfGE 67, 213 [226fï]. Das BVerfG nennt diese drei Kunstdefinitionen eher beispielhaft. Auch der die kommunikative Seite der Kunst betonende Kunstbegriff (siehe dazu gleich oben in diesem Kapitel, A I 2h) ist grundsätzlich annehmbar und könnte deshalb als zusätzliches Beurteilungskriterium mitherangezogen werden. 173 Vgl. Geis, Kulturstaat und kulturelle Freiheit, S. 245; ders. NVwZ 1992, 25 [26]; ders., JZ 1993, 792f; Henschel, in: FS fur Wassermann, S. 351 [357]; Zöbeley, NJW 1985, 254 [255]. Zuweilen ist auch von einem mehrdimensionalen Kunstbegriff (so BVerwGE 77, 75 [85] und OVG Münster, BPS-Report 4/1991, 42) oder von einer "temporär-multistrukturellen" Umschreibung (so EmmerichAVürkner, NJW 1986, 1195 [1199] und Würkner, NVwZ 1987, 841 [844]) die Rede. 174 Dem topischen Ansatz des BVerfG folgen femer etwa BVerwGE 77, 75 [85]; 91, 211 [214]; OVG Münster, BPS-Report 4/1991, 42; OVG Münster, NVwZ 1992, 396f; VG Köln, NVwZ 1992, 402f; Henschel, in: FS für Wassermann, S. 351 [357]; ders., NJW 1990, 1937 [1938f|; Zöbeley, NJW 1985, 254 [255ff|. Zustimmend auch Geis, Kulturstaat und kulturelle Freiheit, S. 245. Kritisch dagegen Würkner, Das Bundesverfassungsgericht und die Freiheit der Kunst, S. 74ff.Die kombinierte Verwendung mehrerer Kunstbegriffe wird auch in der dem "Anachronistischen Zug" - Beschluß folgenden verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung fortgeführt: vgl. BVerfGE 81, 278 [291]; 81, 298 [305]; 83, 130 [138]. 175

Geis, Kulturstaat und kulturelle Freiheit, S. 246.

2.Kap. Die Einschränkbarkeit der Kunstfreiheit

110

beanspruchen" können 176 , ist eine tendenziell vollständige Ermittlung des zu schützenden Kunstbereichs nur aufgrund einer kombinierten Heranziehung aller im Ansatz annehmbaren Kunstbegriffen möglich. Soweit ferner alle diese Kunstbegriffe zur Bejahung der Kunsteigenschaft eines Werks fuhren (was die Regel darstellen dürfte), nehmen die Überzeugungskraft und die Konsensfähigkeit des einschlägigen staatlichen Urteils zu. Das BVerfG hat sich aber bis jetzt nicht ausdrücklich darüber geäußert, in welchem Verhältnis die drei von ihm verwandten Kunstbegriffe zueinander stehen, insbesondere wie zu entscheiden ist, wenn nur zwei oder gar nur eines von ihnen die jeweils in Rede stehende Arbeit als Kunst erweisen, die anderen hingegen nicht. Es ist jedoch davon auszugehen, daß die Kunsteigenschaft eines Werks auch dann zu bejahen ist, wenn im Einzelfall nur eines dieser Kriterien erfüllt wird 1 7 7 . Denn der Grund für das Versagen der anderen Kunstbegriffe wird in aller Regel darin liegen, daß sie Umschreibungen nur einzelner Teilaspekte der Kunst darstellen. Nur diese Lösung entspricht dem Anliegen des "topischen" Ansatzes, den Kunstbereich in seiner gesamten Reichweite zu erfassen. Diese Vorgehensweise in Verbindung mit der Ablehnung von wertenden Einengungen des Kunstbegriffs bei der staatsabwehrenden Funktion des Art. 5 Abs. 3 GG 1 7 8 führt zu einer erheblichen Ausdehnung des Kunstbegriffs und damit des Schutzbereichs der Kunstfreiheitsgarantie. Diejenigen Werke, die danach nicht als Kunst qualifiziert werden können, sind wohl nur die Ausnahme. Als Beweis dafür genügt schon ein Blick auf die gegenwärtige Rechtsprechung, die in aller Regel der jeweils betreffenden Arbeit das Prädikat "Kunst" erteilt. Ganz unbedenklich aus grundrechtsdogmatischer Sicht ist diese Schutzbereichsausweitung sicher nicht. Die weite Erfassung des Kunstbegriffs macht nämlich die Annahme von weitgehenden Schranken der Kunstfreiheit unentbehrlich. Da wiederum Einschränkungen der Kunstfreiheit nach h.M. nur beim Vorliegen entgegenstehender verfassungsrechtlich geschützter Rechts176

BVerfGE 67, 213 [225].

177

Ebenso Henschel, in: FS für Wassermann, S. 351 [358] und Jeand'Heur, Der StrafVerteidiger 1991, 165 [166]. Das dürfte auch dem Sinn der "Anachronistischen Zug"-Entscheidung entsprechen, zumal das Gericht dort (BVerfGE 67, 213 [225]) die Notwendigkeit eines weiten Kunstbegriffs nachdrücklich betont hat. So wird diese Entscheidung auch von Geis, Kulturstaat und kulturelle Freiheit, S. 245; ders., NVwZ 1992, 25 [26] verstanden. Vgl. aber auch BVerfGE 83, 130 [138], wo das Gericht Zweifel daran geäußert hat, ob die Erfüllung des technisch-formalen Kunstbegriffs durch den Roman "Josefine Mutzenbacher" für sich allein ausreiche, dieses Werk als Kunst zu qualifizieren. Ähnlich VG Köln, NVwZ 1992, 402 bezüglich des Henry Miller Romans "Opus Pistorum". 178

Siehe dazu oben in diesem Kapitel, A I 2b.

Einengung des Kunstbegriffs

111

güter zulässig sind 179 , wird der Einwand erhoben, daß der weite Kunstbegriff gesetzmäßig zu einer unaufhörlichen "Kreation" von Verfassungsgütern führe 180 . Man könnte auch behaupten, daß es wenig angängig und konsequent sei, bei der Beurteilung der Kunsteigenschaft eines Werks freigiebig zu verfahren, um dann auf der Schrankenebene diese Großzügigkeit zurückzunehmen 181 . Solche Argumente haben sicher etwas für sich. Auf der anderen Seite muß aber beachtet werden, daß der weite Kunstbegriff unvermeidliche Konsequenz der sachlichen Besonderheiten des Lebensbereichs "Kunst" ist, die auch vom Juristen respektiert werden müssen182. Insbesondere die Befreiung der modernen Kunst von jeglichen Einschränkungen bezüglich der Form und des Inhalts des künstlerischen Schaffens 183 ist eine Tatsache, über die man sich nicht hinwegsetzen darf und die zur Notwendigkeit eines weiten Kunstbegriffs führt 184 Die Einwände gegen den weiten Kunstbegriff entschärften sich jedenfalls, wenn man ihn mit einer "Mißbrauchsklausel" verknüpfte. Danach sollte die Kunsteigenschaft eines Werks in denjenigen evidenten und krassen Fällen verneint werden, bei denen dem Schöpfer gar nicht um die Hervorbringung von Kunst geht, sondern die künstlerische Form eine bloße "Einkleidung" darstellt 185. Die Gefahr, daß durch eine solche Klausel qualitative und sub-

179

Siehe dazu unten in diesem Kapitel, FI. 180

So Geis, NVwZ 1992, 25 [26f].

181

Zum Gebot einer präzisen und sorgfältigen Bestimmung des grundrechtlichen Schutzbereichs siehe unten in diesem Kapitel, B. Vgl. auch BVerfGE 67, 213 [225]: Die "Avantgarde" zielt gerade darauf ab, die Grenzen der Kunst zu erweitern. Dies und ein weitverbreitetes Mißtrauen von Künstlern und Kunsttheoretikem gegen starre Formen und strenge Konventionen sind Eigenheiten des Lebensbereichs Kunst, welche zu respektieren sind und bereits darauf hindeuten, daß nur ein weiterer Kunstbegriff zu angemessenen Lösungen führen kann". 183

Siehe dazu oben in diesem Kapitel, A I 2a,c. 184

Für einen weiten Kunstbegriff plädieren auch etwa BVerwGE 77, 75 [85]; OLG Hamburg, NJW 1964, 559 [561]; Bär, Die verfassungsrechtliche Filmfreiheit und ihre Grenzen, S. 126; Denninger, in: Handbuch des Staatsrechts, § 146 Rn. 9; Geiger, in: FS für Leibholz, Bd. II, S. 187 [190]; Hamann/Lenz, Kommentar zum GG, Art. 5 Anm. Β 13; Schick, Kunstwerkgarantie und Strafrecht, S. 16; ders., JZ 1970, 645. Ausdrücklich dagegen v.Noorden, Die Freiheit der Kunst nach dem Grundgesetz (Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG) und die Strafbarkeit der Verbreitung unzüchtiger Darstellungen (§ 184 Abs. 1 Nr. 1 StGB), S. 89f. 185 "

Ahnlich ist die Vorgehensweise des BVerfG im Bereich der Wissenschaftsfreiheit. Vgl. BVerfG, NJW 1994, 1781 [1782], wonach ein Werk nicht dem Schutzbereich der Wissenschaftsfreiheit zugeordnet werden kann, "wenn es nicht auf Wahrheitserkenntnis gerichtet ist, sondern vorgefaßten

2.Kap. Die Einschränkbarkeit der Kunstfreiheit

112

jektive Wertungen Eingang in die Prüfung der Kunsteigenschaft finden könnten, ist nicht hoch zu veranschlagen. Denn damit sollen nur diejenigen krassen und eindeutigen Fälle erfaßt werden, über die ein allgemeiner Konsens besteht. Zu denken wäre in diesem Zusammenhang etwa an brutale Filme der Kinderpornographie 186 oder an "Performances", bei denen Frauen in vergittertem Käfig in einem Nachtclub zur Schau gestellt werden 187. II. Ausschluß der jugendgefährdenden Werke aus dem Kunstbegriff? 7. Ausgrenzung der jugendgefährdenden Werke aus dem Kunstbegriff im allgemeinen Nach der Darstellung der allgemeinen Problematik des Kunstbegriffs sollten nun der speziellere Fragenkreis des Kunstbegriffs im Jugendschutzrecht und insbesondere die vielfachen Versuche, durch Einengung des Begriffs "Kunst" die Kunstfreiheit zugunsten der Anwendung der Jugendschutzbestimmungen einzuschränken, untersucht werden. Ein solcher erster Versuch findet sich in der älteren Literatur und Rechtsprechung. Danach schlössen sich Kunst und Jugendgefährdung gegenseitig aus. Ein jugendgefährdendes Werk könne nie Kunst sein 188 . Diese These wurde vornehmlich damit begründet, daß ein unsittliches Werk per definitionem kein Kunstwerk sei. In den Kunstbegriff wurden ethische Elemente miteinbezogen. Diese Ansicht muß aber entschieden abgelehnt werden 189. Sie ist nicht nur empirisch unhaltbar 190, sie ist darüber hinaus verfassungsrechtlich unzulässig. Meinungen oder Ergebnissen lediglich den Anschein wissenschaftlicher Gewinnung oder Nachweisbarkeit verleiht". 186

So auch neuerdings Würkner, Das Bundesverfassungsgericht und die Freiheit der Kunst, S. 92ff unter Berufung auf die Menschenwürde als immanente Schranke des Schutzbereichs der Kunstfreiheit. 187

Vgl. zu diesem Konstellationsfall VGH München, NVwZ 1992, 76.

188

So z.B. Dünnwald, JR 1965, 46 [48 Fn. 38] und Emrich, in: Universitätstage 1964, S. 159 [170]. Vgl. auch die weiteren Nachweise bei Erbel, Inhalt und Auswirkungen der verfassungsrechtlichen Kunstfreiheitsgarantie, S. 9ff; Knies, Schranken der Kunstfreiheit als verfassungsrechtliches Problem, S. 114 Fn. 293; Schilling, Literarischer Jugendschutz, S. 14. 189

So auch Bär, Die verfassungsrechtliche Filmfreiheit und ihre Grenzen, S. 127; Erbel, Inhalt und Auswirkungen der verfassungsrechtlichen Kunstfreiheitsgarantie, S. 9ff; Erhardt, Kunstfreiheit und Strafrecht, S. 60; Geiger, in: FS fìir Leibholz, Bd. II, S. 187 [200]; Knies, Schranken der Kunstfreiheit als verfassungsrechtliches Problem, S. 114ff; Raue, Literarischer Jugendschutz, S. 87f; Schefold, in: Literatur vor dem Richter, S. 93 [109]; Schilling, Literarischer Jugendschutz, S. 14. 190

Wer einmal ein Museum besucht hat, in dem altgriechische Kunstwerke ausgestellt werden, dem sind sicher einige Vasen mit sehr drastischen sexuellen Darstellungen aufgefallen. Es wäre nicht

113

Α. Einengung des Kunstbegriffs

Denn die Anerkennung der Kunsteigenschaft eines Werks darf nicht von einer Beurteilung seiner Auswirkungen abhängig gemacht werden 191. Demzufolge nimmt die Tatsache, daß ein Werk jugendgefährdende Auswirkungen entfalten kann, ihm nicht die Kunsteigenschaft. Zum Kerngehalt der Kunstfreiheitsgarantie gehört auch die freie Themenwahl192, was auch die Wahl eines jugendgefährdenden Themas umschließt193. Besonders problematisch ist außerdem der ethische Kunstbegriff 194, mit dessen Hilfe versucht wurde, die jugendgefährdenden Werke aus dem Kunstbegriff auszugrenzen195. Denn die Definition der Kunst darf nur nach den der Kunst eigenen Strukturmerkmalen erfolgen 196, während außerkünstlerische und sachfremde Gesichtspunkte um der Eigengesetzlichkeit der Kunst willen außer Betracht bleiben müssen. Die Sittlichkeit gehört aber nicht zu den Wesensmerkmalen der gegenwärtigen Kunst. Die Kunst hat zum großen Teil ihren Bezug zur Welt des Sittlichen schon längst verloren 197. Diese Entwicklung198 mag vielleicht bedauerlich

von ungefähr, diese Darstellungen - auch nach den heutigen, sehr liberalen moralischen Standards - als jugendgefährdend einzustufen (wobei der Umstand, daß sie in einem Museum ausgestellt werden, nicht unberücksichtigt bleiben dürfte, vgl. dazu unten im 3. Kapitel, Β II 3a, bb). Wer könnte aber ihre sogar besonders gehobene - Kunstqualität ernsthaft in Zweifel ziehen? 191 Vgl. BVerfGE 83, 130 [139]. Vgl. femer Erbe!, Inhalt und Auswirkungen der verfassungsrechtlichen Kunstfreiheitsgarantie, S. 22; ders., DVB1 1986, 113 [116]. 192

Vgl. BVerfGE 30, 173 [190]; Kastner, Kommentar, Art. 5 Rn. 62.

NJW 1982, 601; vMünch, in: v. Münch, GG-

1Q-1

Vgl. BVerfGE 83, 130 [147]: "Die Kunstfreiheit umfaßt auch die Wahl eines jugendgefährdenden, insbesondere Gewalt und Sexualität thematisierenden Sujets sowie dessen Be- und Verarbeitung nach der vom Künstler selbst gewählten Darstellungsart". 194 Die (zahlreichen) Vertreter des ethischen Kunstbegriffs findet man bei Knies, Schranken der Kunstfreiheit als verfassungsrechtliches Problem, S. 113 Fn. 291. 195 Hier sei auch bemerkt (was bis jetzt wohl kaum beachtet wurde), daß auch bei Zugrundelegung eines ethischen Kunstbegriffs die Möglichkeit von jugendgefährdenden Kunstwerken nicht völlig ausgeschlossen werden kann. Denn ein ethischer Kunstbegriff vermag allenfalls nur die "sittlich" jugendgefährdenden Werke aus dem Kunstbegriff auszugrenzen. Ein ethischer Kunstbegriff ist aber nicht in der Lage, einen Ausschluß der "geistig" oder "körperlich" jugendgefährdenden Werke aus dem Kunstbegriff zu begründen. 196 Vgl. BVerfGE 30, 173 [188]; 67, 213 [224]; BGH, JZ 1975, 637 [638]; Zechlin, NJW 1984, 1091 [1092].

107

Vgl. etwa Würtenberger, 198

.

.

in: FS fur Dreher, S. 79 [81,84]. .

.

Der Grund dafür liegt nicht zuletzt in tiefgreifenden gesellschaftlichen Änderungen. Die rasche Entwicklung der Technik und die dadurch bewirkte Möglichkeit der Verbreitung eines Kunstwerks an sehr breite Bevölkerungsmassen (z.B. durch Femsehen, Schallplatten usw.) hat dazu geführt, daß die Gewinnchancen für den Künstler gestiegen sind. Der Inhalt der gegenwärtigen Kunstwerke wird demnach oft - überwiegend oder sogar ausschließlich - nach finanziellen und nicht nach moralischen (oder 8 Vlachopoulos

114

2.Kap. Die Einschränkbarkeit der Kunstfreiheit

sein. Sie ist aber eine Realität, an der man nicht vorbeigehen darf. Das gilt auch für den Juristen. Einen "künstlischen" ethischen Kunstbegriff für den Bereich des Rechts zu schaffen (oder besser gesagt: zu erfinden), der mit dem tatsächlichen Erscheinungsbild der Kunst nichts zu tun hat, wäre ohnehin unzulässig199 2 0 0 Von der Ablehnung der Exklusivitätsthese geht aber auch der Gesetzgeber aus. Denn der Kunstvorbehalt des § 1 Abs. 2 Nr. 2 GjS, nach dem Schriften, die der Kunst dienen, nicht in die Liste der jugendgefährdenden Schriften aufgenommen werden dürfen, kann nur dann einen Sinn haben, wenn auch Kunstwerke jugendgefährdend sein können. Viel wichtiger ist aber die Erkenntnis, daß der Ausschluß der jugendgefährdenden Werke aus dem Kunstbegriff keiner definitorischen Notwendigkeit entspricht, vielmehr den Versuch darstellt, das Problem der Schranken der Kunstfreiheit im Fall ihrer Kollision mit dem Jugendschutz zu umgehen. Die Schrankenproblematik verflüchtigt sich, wenn man, wie die Vertreter der Exklusivitätsthese es tun, davon ausgeht, daß Kunst und Jugendgefährdung sich gegenseitig ausschließende Begriffe sind. Eine Kollision zwischen Kunstfreiheit und Jugendschutz, die die Frage nach den Schranken der Kunstfreiheit erst auslösen würde, wäre dann in der Tat unvorstellbar. In der Wirklichkeit aber werden durch die Exklusivitätsthese die Schranken der Kunstfreiheit durch eine Einengung des Kunstbegriffs gezogen. Statt eine methodisch klare, nachprüfbare und rationale Schrankendogmatik zu entwickeln, lösen die Vertreter dieser Meinung die Kollision zwischen Kunstfreiheit und Jugendschutz durch eine axiomatische, willkürliche und dem Wesen der Kunst nicht entsprechende Einengung des Kunstbegriffs. Zu Lasten welches der beiden widerstreitenden Rechtsgüter diese Vorgehensweise geht, ist leicht zu verstehen. Zwar zögern die Vertreter dieser Auffassung oft nicht, der Kunstfreiheit kurzerhand den absoluten Vorrang vor den Belangen des Ju-

ästhetischen) Gesichtspunkten bestimmt. Vgl. dazu etwa Mahrenholz, in: Handbuch des Verfassungsrechts, § 26 Rn. 106. 199 Ein ethischer Kunstbegriff verfügt ferner über keinen festen Inhalt und ist so unbestimmt und nebelhaft, daß er Tür und Tor für jede beliebige subjektive Wertung bei der Prüfung der Kunsteigenschaft eines Werks öffnen würde. Vgl. dazu Knies, Schranken der Kunstfreiheit als verfassungsrechtliches Problem, S. 114.

200

Ebenso gegen den ethischen Kunstbegriff etwa Bär, Die verfassungsrechtliche Filmfreiheit und ihre Grenzen, S. 106f; Erbel, Inhalt und Auswirkungen der verfassungsrechtlichen Kunstfreiheitsgarantie, S. 9ff; Erhardt, Kunstfreiheit und Strafrecht, S. 59ff; Hamann/Lenz, Kommentar zum GG, Art. 5 Anm. Β 12; Knies, Schranken der Kunstfreiheit als verfassungsrechtliches Problem, S.l 12ff; Friedrich Müller, Freiheit der Kunst als Problem der Grundrechtsdogmatik, S. 35; Schick, Kunstwerkgarantie und Strafrecht, S. 18ff.

Α. Einengung des Kunstbegriffs

115

gendschutzes zu gewähren 201 und sich damit den Anschein zu geben, als ob sie eine durchaus kunstfreiheitsfreundliche Stellung einnehmen würden. In der Wirklichkeit lösen sie aber die Kollision zwischen Kunstfreiheit und Jugendschutz einseitig zu Lasten des Grundrechts der Kunstfreiheit. Denn sie schließen sämtliche Kunstwerke, die jugendgefährdend sind, von vornherein vom Kunstbegriff und demzufolge vom grundrechtlichen Schutz des Art. 5 Abs. 3 GG aus und erlauben damit die ausnahmslose Anwendung der Jugendschutzbestimmungen auf sie. Die Kunstfreiheit wird auf diese Weise völlig außer Gefecht gesetzt. Für einen angemessenen, nach beiden Seiten schonenden und beiden Rechtsgütern Wirksamkeit gewährenden Ausgleich bleibt kein Raum mehr 202 2. Insbesondere die These des gegenseitigen Ausschlusses von Kunst und Pornographie Während die Auffassung des gegenseitigen Ausschlusses von Kunst und Jugendgefährdung in dieser Allgemeinheit seit langem aufgegeben wurde, vertrat die h.M bis vor kurzem 203 die Exklusivitätsthese in Bezug auf die pornographischen Werke 204 , die ohnehin eine zentrale Rolle im Jugendschutzrecht einnehmen (vgl. §§ 184 StGB, 6 Nr. 2 GjS, 3 Abs. 1 Nr. 3 RfStV).

201 So z.B. Dünnwald, JR 1965, 46 [48]. Es fällt einem in der Tat sehr leicht, der Kunstfreiheit das generelle Übergewicht gegenüber dem Jugendschutz zu geben, wenn auf der vorherigen Definitionsebene alle jugendgefährdenden Kunstwerke aus dem Kunst begriff ausgegrenzt wurden (vgl. auch Knies, Schranken der Kunstfreiheit als verfassungsrechtliches Problem, S. 115). Daß eine solche Vorgehensweise einen krassen Verstoß gegen das Gebot der dogmatischen Folgerichtigkeit und Redlichkeit bedeutet, liegt auf der Hand.

202

Die hier geltend gemachten Feststellungen greifen in der gleichen Schärfe gegen alle anderen Exklusivitätsthesen ein (gegenseitiger Ausschluß von Kunst einerseits und Gotteslästerung, Verfassungsfeindlichkeit, Beleidigung etc. andererseits. Vgl. dazu im einzelnen oben in diesem Kapitel, A I 2a). Entschieden gegen solche Konstruktionen, die kunstfreiheitsbezogene Kollisionslagen durch axiomatische Verengungen des Kunstbegriffs und "begriffsimmanente" Schranken zu lösen versuchen, etwa Bär, Die verfassungsrechtliche Filmfreiheit und ihre Grenzen, S. 127f; Erhardt, Kunstfreiheit und Strafrecht, S. 59ff; Geiger, in: FS für Leibholz, Bd. II, S. 187 [188]; Henschel, in: FS für Wassermann, S. 351 [352]; Knies, Schranken der Kunstfreiheit als verfassungsrechtliches Problem, S.l 12ff; Meyer-Cording, JZ 1976, 737 [740]; Friedrich Müller, Freiheit der Kunst als Problem der Grundrechtsdogmatik, S. 3 Iff; v.Pollern, JuS 1977, 644 [646]; Otto, JR 1983, 1 [10]; Raue, Literarischer Jugendschutz, S. 87f; Schick, Kunstwerkgarantie und Strafrecht, S. 16; August Schmidt, GA 1966, 97 [101]; Vogt, Die Freiheit der Kunst im Verfassungsrecht der Bundesrepublik Deutschland und der Schweiz, S. 36. 203

Die These des gegenseitigen Ausschlusses von Kunst und Pornographie war herrschend bis zum "Opus Pistorum"-Urteil des BGH (BGHSt 37, 55 [57fif]) und zur "Mutzenbacher"-Entscheidung des BVerfG (BVerfGE 83, 130 [138f]), wo dieser Auffassung eine klare Absage erteilt wurde. 204 Für den gegenseitigen Ausschluß von Kunst und Pornographie etwa LG Stuttgart, Z U M 1989, 365 [366, 368]; Hartstein/Ring/Kreile, Kommentar zum RfStV, S. 704; Meyer, SchlHA 1984, 49ff; *

116

2.Kap. Die Einschränkbarkeit der Kunstfreiheit

Diese These wurde damit begründet, daß sich Kunst durch "Durchgeistigung und Sublimierung", "Übermittlung gedanklicher Inhalte", "geistige Auseinandersetzung mit der Welt" auszeichne, während Pornographie im Gegenteil nur als "Auslöser für sexuelle Regungen" fungiere, alle menschlichen Bezüge ausklammere, einen geistigen Bezug vermissen lasse und lediglich sexuelle Vorgänge "ohne Sinnzusammenhang mit anderen Lebensäußerungen" darstelle 205. Der These des gegenseitigen Ausschlusses von Kunst und Pornographie kann nicht zugestimmt werden 206. Bei einem so komplexen Thema, wie es das Verhältnis zwischen Kunst und Pornographie ist, erscheint es sinnvoller und angemessener, scharfe Abgrenzungen zu vermeiden und die Möglichkeit von Überschneidungsbereichen anzuerkennen. Es gibt eine Reihe von Werken, wie diejenigen von De Sade, D.H. Laurence und Henry Miller, die obwohl sie unzweifelhaft zur Weltliteratur gehören, gleichzeitig auf vertretbare Weise als pornographisch qualifiziert werden könnten 207 2 0 8 .

Würtenberger, in: FS für Dreher, S. 79 [9Iff]. Zahlreiche weitere Vertreter dieser These in der strafrechtlichen Literatur findet man bei BGHSt 37, 55 [57]. Die frühere Rechtsprechung des BVerfG (BVerfGE 30, 336 [350]) hat die Frage, ob offensichtlich schwer jugendgefährdende Werke (zu denen auch pornographische Werke zählen, vgl. §§ 6 Nr. 2 GjS, 3 Abs. 1 Nr. 3 RfStV) überhaupt Kunst sein können, ausdrücklich offen gelassen. So auch BVerwGE 77, 75 [83]; BVerwG, BPS-Report 2/1987, 1 [4]. 205

Zur Problematik des Pornographiebegriffs siehe oben im 1. Kapitel, A I V Fn. 43. 206

Ebenso BVerfGE 83, 130 [138f]; BGHSt 37, 55 [57ff]; AG Darmstadt, JZ 1971, 140; Geis, NVwZ 1992, 25 [26]; Herkströter, AfP 1992, 23 [27]; Mahrenholz, in: Handbuch des Verfassungsrechts, § 26 Rn. 102; Maiwald, JZ 1990, 1141; Meyer-Cording,, JZ 1976, 737 [744]; Ostendorf, in: Literatur vor dem Richter, S. 271 [277]; August Schmidt, GA 1966, 98 [107ff]; Rupert Scholz, in: MDHS, Kommentar zum GG, Art. 5 Abs. III Rn. 77; Schroeder, Pornographie, Jugendschutz und Kunstfreiheit, S. 54; Seetzen, NJW 1976, 497 [498]. So auch Erhardt, Kunstfreiheit und Strafrecht, S. 62, der allerdings gleichzeitig betont (aaO, S. 93), daß die große Masse pornographischer Druckwerke, Filme und Videos keine Kunst seien, "weil sie schon nicht den Anspruch erheben, als Kunst behandelt zu werden, und weil sie sich zudem, sofern sie in Sexshops und Pornokinos dargeboten werden, auch nicht in kunsttypischer Art und Weise präsentieren". 207

Damit wird eine andere Gefahr deutlich, die mit der Exklusivitätsthese unauflöslich verbunden ist. Da die Grenzen zwischen Pornographie und erotischer Literatur fließend und schwer auszumachen sind (vgl. dazu E. und Ph. Kronhausen, Pornographie und Gesetz), könnten aufgrund der Exklusivitätsthese auch Werke der erotischen Literatur aus dem Kunstbegriff ausgegrenzt werden, obwohl die erotische Literatur unzweifelhaft der Kunst zuzuordnen ist (vgl. dazu Geiger, in: FS für Leibholz, Bd. II, S. 187 [193]). Die These der scharfen Abgrenzung zwischen Kunst und Pornographie trägt außerdem dem zeitlichen Wandel der einschlägigen Vorstellungen zu wenig Rechnung. Denn "Erotik als Kultur funktioniert immer nur hinterher - jedes erotische Werk früherer Tage war Pornographie, erst der historische Abstand weiht diese zur Kunst" {Scholl, Freibeuter 58, 95 [97]).

Α. Einengung des Kunstbegriffs

117

Der gegenseitige Ausschluß von Kunst und Pornographie ist insbesondere deshalb abzulehnen, weil der Inhalt eines Werks und die Art seiner Darstellung keine zulässigen Kriterien fur die Erfassung der Kunst sind. Die Beliebigkeit des Inhalts ist vielmehr ein charakteristisches Merkmal der zeitgenössischen Kunst 209 . Deshalb können auch Kunstwerke über einen pornographischen Inhalt verfügen. Die Fehlerhaftigkeit dieser Exklusivitätstheorie wird vor allem dann deutlich, wenn man vom technisch-formalen Kunstbegriff 210 ausgeht. Auch pornographische Werke können im Gewände eines Theaterstücks, eines Films, eines Romans usw. erscheinen und damit unter den (als technisch-formalen verstandenen) Kunstbegriff fallen. Aber auch wenn man vom materialen Kunstbegriff des BVerfG ausgeht, bleibt für die Exklusivitätsthese kein Raum. Denn dieser Kunstbegriff fordert keine "geistige Auseinandersetzung mit der Welt" und keine "Gestaltung eines geistig-seelischen Anliegens". Das Fehlen dieser Elemente bei pornographischen Werken ist demzufolge nicht in der Lage, ein Ausschließlichkeitsverhältnis zwischen Kunst und Pornographie zu begründen 212. Auch bei dieser Exklusivitätsthese hat man mit einer Kapitulation vor der schwierigen Aufgabe zu tun, die Schranken der Kunstfreiheit im Fall ihrer Kollision mit dem Jugendschutz zu bestimmen. Zu Lasten welchen Rechtsguts diese Lehre geht, wenn das zu beurteilende Werk sowohl dem Kunstbereich als auch dem Bereich der Pornographie zugeordnet werden kann, ist nur eine Sache des Zufalls. Geht man vom gegenseitigen Ausschluß von Kunst und Pornographie aus, dann bestehen bei der Beurteilung desselben Kunstwerks zwei Möglichkeiten, die zu ganz gegenteiligen Ergebnissen führen können. Entweder stellt man auf den pornographischen Charakter des Werks ab, um dann den axiomatischen Schluß zu ziehen, daß das als pornographisch qualifizierte Werk keine Kunst sein könne. Oder man orientiert sich an dem Kunstcharakter des Werks und verneint unter Berufung auf die Exklusivitätsthese

?0R Vgl. ferner BGHSt 37, 55 [60], wo betont wird, daß bei Zugrundelegung der Exklusivitätsthese "ganze Bereiche der indischen und chinesisch-japanischen Kunst, die ausschließlich der sexuellen Stimulierung in Vorbereitung sexueller Annäherung dienen (sog. Kopfkissen oder Hochzeitsbücher), unberechtigterweise aus dem Kunstbereich fallen" würden. 209

Dazu siehe oben in diesem Kapitel, A I 2a. 210

Zu diesem Kunstbegriff siehe oben in diesem Kapitel, A I 2f. Zum materialen Kunstbegriff siehe oben in diesem Kapitel A I 2e.

211

212

Vgl. auch BGHSt 37, 55 [59].

118

2.Kap. Die Einschränkbarkeit der Kunstfreiheit

seine pornographische Eigenschaft. Diese war z.B. die Vorgehensweise des LG Stuttgart im Falle des Romans Opus-Pistorum" von Henry Miller 2 1 3 2 1 4 . III. Reduzierung des Kunstbegriffs auf "echte", "ernstzunehmende" Werke oder Werke mit "einem bestimmten Maß an künstlerischem Niveau" In der früheren Rechtsprechung des BVerwG zum Kunstvorbehalt des § 1 Abs. 2 Nr. 2 GjS begegnet man einem qualitativen Kunstbegriff. Nach dieser Rechtsprechung wird vom § 1 Abs. 2 Nr. 2 GjS nur die "echte", die "ernstzunehmende" Kunst 215 , diejenige "mit einem bestimmten Maß an künstlerischem Niveau" 216 erfaßt.

213 LG Stuttgart, ZUM 1989, 365 [366, 368]. Auf diese Vorgehensweise wird im Ergebnis die Anwendbarkeit des Pornographieverbots nur auf die nicht-künstlerischen Werke beschränkt. Da aber die Fälle, bei denen die Kunsteigenschaft eines Werks verneint werden kann, angesichts der erheblichen Reichweite des Kunstbegriffs nur die Ausnahme sind, würde auf diese Weise das Pomographieverbot (und der dadurch bezweckte Jugendschutz) weitgehend leerlaufen. Vgl. auch BGHSt 37, 55 [61]. 214 Ungeklärt bleibt aber bis heute, ob auch die anderen typischen Fälle offensichtlich schwer jugendgefährdender Werke, nämlich rassistische und gewaltverherrlichende (§§ 131 StGB, 6 Nr. 1 GjS, 3 Abs. 1 Nr. 1 RfStV), Kunst sein können. Ein Teil der Literatur und Rechtsprechung bedient sich auch hier einer Exklusivitätsthese (so z.B. Wiirtenberger, in: FS für Dreher, 79 [94f] und v.Hartlieb, NJW 1985, 830 [834]. Vgl. auch Bubnoff, in: LK zum StGB, § 131 Rn. 26, der Überschneidungsbereiche zwischen Kunst und Gewaltverherrlichung bzw. Rassenhaß nur in Ausnahmefällen annimmt. Ebenso im Ergebnis Hartstein/Ring/Kreile, Kommentar zum RfStV, S. 704). Es liegt aber auf der Hand, daß auch gewaltverherrlichende und rassistische Schilderungen Eingang in Kunstwerke finden können, zumal die gegenwärtige Kunst keine Grenzen in Bezug auf den Inhalt kennt. So auch LG München, BPS-Report 6a/1985, 12 [17]; Ostendorf, in: AK zum StGB, § 131 Rn. 17; Meirowitz, Gewaltdarstellungen auf Videokassetten, S. 375f und Seetzen, NJW 1976,497 [498]. 215 So BVerwGE 23, 104 [106, 108]; 23, 112 [120]; 25, 318 [327]. Das Gericht hat zwar ausgeführt (BVerwGE 23, 104 [108]), daß seine Forderung nach "echter" Kunst nicht bedeute, daß der GjS-Kunstvorbehalt nur die "hochwertige" Kunst umfasse. Mit dem Adjektiv "echt" habe es nur den Gegensatz zur "Nichtkunst" betont (vgl. auch BVerwGE 28, 223 [225f]). Solche "akrobatischen" begrifflichen Manöver können aber nicht darüber hinwegtäuschen, daß das BVerwG mit den Prädikaten "echt" und "ernstzunehmend" dem Kunst vorbehält des GjS einen qualitativen Kunstbegriff zugrunde gelegt hat (so auch Knemeyer, Der Staat 8 [1969], S. 240 [241]; A.A. Leonardy, NJW 1967, 714 und Friedrich Müller, Freiheit der Kunst als Problem der Grundrechtsdogmatik, S. 32 Fn. 68). Das wird insbesondere dadurch deutlich, daß das BVerwG (BVerwGE 23, 104 [108]; 28, 223 [226]) die Unterhaltungsliteratur vom Kunstbegriff ausschließt. Vgl. ferner BVerwGE 25, 318 [327f], wo der Kunstbegriff des GjS dem - als wertfreien verstandenen - urheberrechtlichen Kunstbegriff gegenübergestellt wird. 216

So BVerwGE 39, 197 [207]. Weitergehend OVG Münster, JZ 1959, 716 [719], wonach der Kunstvorbehalt des GjS nur für diejenigen Werke gelte, die "eine Bereicherung des künstlerischen Besitzes des Volkes" bedeuten würden. Für eine qualitative Erfassung des Kunstbegriffs des § 1 Abs. 2 Nr. 2 GjS ferner OVG Münster, RdJ 1962, 55; OVG Münster, Jugendschutz 1965, 20f; BPS, Entsch. Nr. 1771 vom 9.9.1966 (teilweise abgedruckt bei Schefold, in: FS für Eberhard, S. 115 [123]); Becker-Seidel, Kommentar zum GjS, § 1 Anm. 12; Locher, Das Recht der bildenden Kunst, S. 50f;

Α. Einengung des Kunstbegriffs

119

Zuerst ist zu bemerken, daß solche Wendungen so unbestimmt und unklar sind, daß es sich hier letztendlich nur um "Leerformeln" 217 handelt. Das BVerwG hat das erkannt und versucht, seinem qualitativen Kunstbegriff nähere Konturen zu verschaffen: ob ein Werk ein bestimmtes Maß an künstlerischem Niveau besitze, "beurteilt sich nicht allein nach ästhetischen Kriterien, sondern auch nach dem Gewicht, das das Kunstwerk für die pluralistische Gesellschaft nach deren Vorstellungen über die Funktion der Kunst hat" 218 . Das BVerwG verkennt aber dabei, daß es objektive, allgemein anerkannte ästhetische Kriterien für die Bewertung der Kunst lediglich nicht gibt 2 1 9 . Wenn ferner das Gericht die Anwendung des Kunstvorbehalts des GjS davon abhängig macht, welches Gewicht "das Kunstwerk für die pluralistische Gesellschaft nach deren Vorstellung über die Funktion der Kunst 220 hat", dann verweist es auf die gesellschaftliche Anerkennung des Werks und liefert im Ergebnis die Kunstfreiheit den gesellschaftlichen Mehrheitsvorstellungen aus 221 2 2 2 Die

Potrykus, Kommentar zum GjS, § 1 Rn. 19; Riedel, Kommentar zum GjS, S. 76f; Schreyer, Pluralistische Entscheidungsgremien im Bereich sozialer und kultureller Staatsaufgaben, S. 5 5ff; vMangoldt/Klein/Starck, Kommentar zum GG, Art. 5 Abs. 3 Rn. 216. Für einen qualitativen Kunstbegriff im Bereich des Jugendschutzrechts plädiert neuerdings auch Lerche, in: Kunst und Recht im Inund Ausland, S. 1 [14]: "Falls jedoch derselbe Maßstab, derselbe ganz weite Kunstbegriff, auch bei den Fragen des Jugendschutzes gelten soll, wird dies der Sache wohl kaum gerecht. Wenn bei allen jugendgefährdenden Produkten der reinen Unterhaltungsliteratur Jugendschutz und Kunstfreiheit erst abgewogen werden muß, läßt sich wohl kaum mehr ein einziges Literaturprodukt vorstellen, das nicht in diesen Abwägungsstrudel einbezogen werden müßte. Kann das Sinn der Kunstfreiheit sein?" (Hervorhebung von Lerche). 217 Vgl. Erbel, DVB1 1973, 527 [531]; Knies, Schranken der Kunstfreiheit als verfassungsrechtliches Problem, S. 136ff; Raue, Literarischer Jugendschutz, S. 94; Rupert Scholz, in: MDHS, Kommentar zum GG, Art. 5 Abs. III Rn. 28. 218

BVerwGE 39, 197 [207].

219

Vgl. nur etwa Erbel, DVB1 1973, 527 [531].

220

Hier wird vom BVerwG außer acht gelassen, daß die Kunst, wenn überhaupt, nicht nur eine, sondern viele unterschiedliche Funktionen haben kann. Vgl. dazu etwa Bär, Die verfassungsrechtliche Filmfreiheit und ihre Grenzen, S. \S2,Erbel, DVB1 1973, 527 [531f]. 221 Das Gericht spricht zwar vom Gewicht des Werks für die pluralistische Gesellschaft. Der Verwendung des Adjektivs "pluralistisch" kommt allerdings hier eher einer Beschönigungsfunktion zu. Am Ergebnis dürfte dadurch kaum etwas geändert werden. Richtungsmaßstab für die Messung des gesellschaftlichen Gewichts eines Werks werden in aller Regel die gesellschaftlichen Mehrheitsvorstellungen sein. 222

Das BVerwG war allerdings nicht das erste Gericht, das bei den gesellschaftlichen Anschauungen Zuflucht vor den Aporien eines maßstablosen qualitativen Kunstbegriffs gesucht hat. Schon früher hat das OVG Münster (RdJ 1962, 55) auf die im Leben herrschende Anschauung verwiesen, um den von ihm geforderten - künstlerischen Rang näher zu bestimmen. Vgl. dazu Erbel, Inhalt und Auswirkungen der verfassungsrechtlichen Kunstfreiheitsgarantie, S. 6ff; Knies, Schranken der Kunstfreiheit als verfassungsrechtliches Problem, S. 160ff.

120

2.Kap. Die Einschränkbarkeit der Kunstfreiheit

Kunstfreiheit gewährleistet aber dem Lebensbereich "Kunst" Freiheit und Autonomie nicht nur dem Staat, sondern auch der Gesellschaft gegenüber223. Auch der Gesellschaft ist es verwehrt, der Kunst verbindliche Regeln vorzuschreiben 224. Das sollte im besonderen Maße heute gelten, wo gerade die Gesellschaft und nicht der Staat das wichtigste Gefahrdungspotential der Kunst darstellt 225. Es sollte auch in Kauf genommen werden, daß durch das Abstellen auf die gesellschaftlichen Anschauungen zur Erfassung des Kunstbegriffs i.S.d. § 1 Abs. 2 Nr. 2 GjS gerade diejenigen benachteiligt werden, die besonders schutzbedürftig sind: die Minderheiten und die Außenseiter des Kunstlebens, die keine gesellschaftliche Anerkennung genießen226. Der Maßstab des "gesellschaftlichen Gewichts" gefährdet damit den Pluralismus der Kunst, der eines ihrer wesensnotwendigen Merkmale darstellt. Gefährdet wird aber dadurch vor allem die Bereicherung des Lebensbereichs "Kunst" um neue Kunstrichtungen und -formen, die in aller Regel - gerade weil sie neu sind keine oder nur eine negative Resonanz in der Gesellschaft finden 227 2 2 8 .

Vgl. dazu Heckel, Staat Kirche Kunst, S. 83; Oettinger, JZ 1974, 285f undRidder, Freiheit der Kunst nach dem Grundgesetz, S. 23f: "Freiheit der Kunst nach dem Grundgesetz bedeutet Freiheit nicht nur vor dem Ausgeliefertsein an Staat und soziale Mächte, sondern auch vor dem Ausgeliefertsein an das Publikum en large ( ). Die grundrechtliche Garantie ihrer Freiheit muß daher in der freiheitlichen Demokratie auch staatlichen Schutz gegen die Beschränkung ihres Bereiches auf einer Resultante massendemokratischer Übereinkunft oder politischer Kompromisse gewähren". 224

Vgl. BGH, JZ 1975, 637 [638].

225

Vgl. dazu Bär, Die verfassungsrechtliche Filmfreiheit und ihre Grenzen, S. 15Iff; Bucholz, Kunst, Recht und Freiheit, S. 67; Roxi η, (Diskussionsbeitrag), in: Grenzen der Kunstfreiheit, S. 67, 75. Als Paradebeispiel sei hier das Fassbinder-Stück "Der Müll, die Stadt und der Tod" erwähnt, dessen geplante Theateraufführung in Frankfurt an Bühnenbesetzungen, Demonstrationen und Protesten seitens der öffentlichen Meinung (wegen seines angeblichen antisemitischen Inhalts) gescheitert ist. Zu dem (wohl fragwürdigen) Inhalt dieses Stücks wird hier keine Stellung genommen (vgl. dazu OLG Frankfurt, NJW 1987, 1410f; OLG Frankfurt, NJW 1987, 141 lf; LG Frankfurt, NJW 1986, 1258f; LG Frankfurt, NJW 1986, 1259f; EmtnerichWürkner, NJW 1195ff; Erbel, DVB1 1986, 113ff). Durch dieses Beispiel sollte nur klargestellt werden, daß die Gesellschaft oft eine erhebliche Gefahrenquelle für die Kunst ist. 226 Vgl. auch Ott, NJW 1972, 1219 [1222]. Die Benachteiligung der Kunstwerke, die keine gesellschaftliche Gewichtigkeit genießen, widerspricht femer dem Sinn und Zweck des Grundrechts der Kunstfreiheit, das in erster Linie Minderheitenschutz gewähren will. Zum Verständnis der Kunstfreiheit als Schutz der künstlerischen Minderheiten vgl. z.B. Knies, Schranken der Kunstfreiheit als verfassungsrechtliches Problem, S. 162; Oettinger, JZ 1974, 285; Ridder, Freiheit der Kunst nach dem Grundgesetz, S. 23f. Vgl. aber auch Heckel Staat Kirche Kunst, S. 77 Fn. 261a, der die Charakterisierung der Kunstfreiheit als rechtlichen Minoritätenschutz kritisch beurteilt. 227 Vgl. dazu Bucholz, Kunst, Recht und Freiheit, S. 21f und Zöbeley, NJW 1985, 254 [257]: "Unverständlichkeit auf den ersten Blick, Irritation durch neue Formen führen zu der Gefahr, daß mit dem Vorurteil des traditionsbehafteten Betrachters neue Formen oder schwerverständliche Elemente als Größen behandelt werden, die zu vernachlässigen sind oder denen gar als "Formenmißbrauch" entgegengesetzt werden muß". Hier sei auch bemerkt, daß viele nach heutiger Ansicht unzweifelhaft "hoch-

Α. Einengung des Kunstbegriffs

121

Die Ablehnung des qualitativen Kunstbegriffs 229, den die frühere 230 Rechtsprechung des BVerwG zum Kunstvorbehalt des § 1 Abs. 2 Nr. 2 GjS entwickelt hat, ergibt sich aber nicht nur aus seiner Unbestimmtheit und Konturlosigkeit. Primär entscheidend ist vielmehr eine andere Überlegung: ein qualitativer Kunstbegriff bei der staatsabwehrenden Funktion der verfassungsrechtlichen Kunstfreiheitsgarantie wurde oben 231 entschieden abgelehnt, weil er zu einem unzulässigen - mit dieser Hauptfimktion des Art. 5 Abs. 3 GG unvereinbaren - "Kunstrichteramt" führen würde. Gerade diese staatsabwehrende Funktion kommt aber im Jugendschutzrecht in Betracht 232, weil die Jugendschutzbestimmungen einen staatlichen Eingriff in die Kunstfreiheit bewirken. Ein qualitativer (wie auch immer gearteter) Kunstbegriff ist demzufolge im Jugendschutzrecht unzulässig. Der früheren Rechtsprechung des BVerwG kann ferner nicht zugestimmt werden, wenn sie auf dem Standpunkt steht, daß ein qualitativer Kunstbegriff im Rahmen des GjS-Kunstvorbehalts deshalb verfassungsrechtlich unbedenklich sei, weil dem Gesetzgeber nicht verwehrt sein könne, dem Kunstbegriff "den für den jeweiligen Gesetzeszweck erforderlichen (relativen) Inhalt zu geben" 233 . Sicher ist dabei, daß der Begriff "Kunst" in einer Reihe von höchst

wertige" Kunstwerke bei ihrer Erscheinung auf gesellschaftliche Ablehnung stoßen. Beethoven selbst wurde von einigen seiner Zeitgenossen als "ein kolossales Nichts" charakterisiert. 27Ä Gegen das Kriterium des gesellschaftlichen Gewichts auch Erbel, DVB1 1973, 527 [531]; Kuner, AfP 1991, 384 [385]; Mahrenholz, in: Handbuch des Verfassungsrechts, § 26 Rn. 70; Ott, NJW 1972, 1219 [1222]; Romatka, AfP 1972, 344; Schefold, RdJB 1978, 121 [126]. Diesem Kriterium folgen dagegen OVG Münster, BPS-Report 3/1982, 20 [23]; VG Köln, BPS-Report 4/1984, 21 [23]; BPS, Entsch. Nr. 3525 v. 17.10.1985, BPS-Report 1/1986, 19 [20]; Schreyer, Pluralistische Entscheidungsgremien im Bereich sozialer und kultureller Staatsaufgaben, S. 56f. Vgl. femer v.Hartlieb, Freiheit der Kunst und das Sittengesetz, S. 19: "Kunst muß also Wesensmerkmale und spezifische Elemente besitzen, die ihre Existenz für die Gesellschaft des freiheitlichen-demokiatischen Rechtsstaates außerordentlich wichtig erscheinen lassen". 229

Eine qualitative Einengung des Kunstbegriffs i.S.d. § 1 Abs. 2 Nr. 2 GjS wird ferner abgelehnt von Bachof JZ 1972, 208 [209]; Bucholz, Kunst, Recht und Freiheit, S. 27f; Erbel, DVB1 1973, 527 [53 lf], Heckel, Staat Kirche Kunst, S. 97 Fn. 318; vMiinch, in: Münch: GG-Kommentar, Art. 5 Rn. 65; Ott, NJW 1972, 1219 [1222]; Romatka, AfP 1972, 344; Erwin Stein, JZ 1959, 720 [723]; Würkner, NVwZ 1992, 1 [4]. 230 1987 hat das BVerwG (BVerwGE 77, 75 [82]; BVerwG, BPS-Report 2/1987, 1 [4]) seinen qualitativen Kunstbegriff des GjS-Kunstvorbehalts ausdrücklich aufgegeben. Vgl. auch BVerwGE 91, 223 [225]; BVerwG, JMS-Report 1/1993, 9 [10].

231

In diesem Kapitel unter A I 2b. 232

Ebenso Erhardt, 233

Kunstfreiheit und Strafrecht, S. 41.

BVerwGE 39, 197 [207].

2.Kap. Die Einschränkbarkeit der Kunstfreiheit

122

unterschiedlichen Rechtsgebieten eine Rolle spielt 234 : vom Jugendschutz- und Strafrecht 235 bis zum Gewerbe- 236, Urheber 237- und Steuerrecht 238. Es liegt auf der Hand, daß der Kunstbegriff in allen diesen Rechtsspalten nicht dieselbe Bedeutung haben kann. Es muß vielmehr um der Sachgerechtigkeit willen nach der jeweiligen Regelungsmaterie und dem Regelungszweck differenziert werden 239. Um das durch ein Beispiel zu verdeutlichen: das Steuerrecht interessiert sich nur für entgoltene Kunstwerke, weil es nur Wirtschaftsgüter und entgoltene Leistungen belastet240. Anders ist z.B. der Fall beim Strafrecht. Für dieses Rechtsgebiet spielt der Umstand, ob ein Kunstwerk entgeltlich verbreitet wird oder nicht, keine Rolle. Entsprechend muß zwischen dem Steuer- und strafrechtlichen Kunstbegriff differenziert werden. Insoweit steht dem Gesetzgeber in der Tat ein Recht zu, jeden Kunstbegriff - je nach dem jeweiligen Gesetzeszweck - besonders zu gestalten. Das heißt aber nicht, wie das BVerwG in seiner vorherigen Rechtprechung offenbar meint, daß der einfache Gesetzgeber bei der Schaffung der verschiedenen Kunstbegriffe völlig frei sei. Der einfachgesetzliche Kunstegrifif darf vielmehr, will man die Kunstfreiheit nicht der freien Disposition des Gesetzgebers überlassen, nicht gegen den verfassungsrechtlichen Kunstbegriff verstoßen (genauer gesagt: gegen den Kunstbegriff deijenigen Funktion des Art. 5 Abs. 3 GG 2 4 1 , die mit der Funktion der einfachgesetzlichen Bestimmung

234 Vgl. dazu Barsch, in: Literatur vor dem Richter, S. 63 [78]; Denninger, in: Handbuch des Staatsrechts, § 146 Rn. 7; Erhardt, Kunstfreiheit und Strafrecht, S. 39ff; Henschel, in: FS für Wassermann, S.351 [354]; Lerche, AfP 1973, 496 [497]; Locher, Das Recht der bildenden Kunst, S. 17; Schick, JZ 1970, 645; Wiehert, Zum Problem der Kunstfreiheitsgarantie, S. 69; Würtenberger, in: FS für Dreher, S. 79 [80]. 235

Vgl. §§ 86 Abs. 3; 243 Abs. 1 Ziff. 5; 304 Abs. 1 StGB; Würtenberger,

in: FS für Dreher,

S.79ff. 236

Vgl. § 33a GewO.

ΊΎΊ Vgl. § § 1 , 2 UrhG; Deutsch, in: Kunst und Recht, S. Iff; Würtenberger,

JuS 1968, 320ff.

238

Vgl. Heuer, Die Besteuerung der Kunst; ders., in: Kunst und Recht im In- und Ausland, S.89ff; Kirchhof, NJW 1985, 225ff. 239 Ebenso Erbel, Z U M 1986, 283 [292f]; Erhardt, Kunstfreiheit und Strafrecht, S. 39ff; Lerche, AfP 1973, 496 [497]; Würtenberger, in: FS für Dreher, S. 79 [80]. A A Roemer-Blum, GewArch 1986, 9 [11]. Vgl. auch BVerwGE 25,318 [327f], wo der Unterschied zwischen dem jugendschutzund dem urheberrechtlichen Kunstbegriff geltend gemacht wird. Vgl. des weiteren BVerfGE 67, 213 [225], wo ausgeführt wird, daß die Auslegung des Begriffs "Kunst" am Zweck der jeweiligen gesetzlichen Regelung orientiert ist. 240 241

Vgl. Kirchhof,

NJW 1985, 225 [228].

Zur Differenzierung des verfassungsrechtlichen Kunstbegriffs je nach der jeweiligen Funktion des Art. 5 Abs. 3 GG siehe oben in diesem Kapitel, A12b.

Α. Einengung des Kunstbegriffs

123

identisch ist) 2 4 2 . Der Kunstvorbehalt des GjS dient dazu, einem Eingriff des Staates (im vorliegenden Fall durch die Bundesprüfstelle) in die Kunstfreiheit vorzubeugen. Er hat demzufolge eine staatsabwehrende Funktion und sein Kunstbegriff muß deshalb mit dem Kunstbegriff der Abwehrfunktion des Art. 5 Abs. 3 GG im Einklang stehen, d.h. er darf insbesondere keine qualitativen Elemente enthalten. Ein qualitativer Kunstbegriff ist also beim Kunstvorbehalt des GjS, wie im Jugendschutzrecht im allgemeinen, verfassungsrechtlich unzulässig. In diesem Zusammenhang ist es interessant, sich die besondere Rolle zu verdeutlichen, die der qualitative Kunstbegriff im Jugendschutzrecht gespielt hat. Die Anhänger des qualitativen Kunstbegriffs im Jugendschutzrecht gehen in der Regel von einem generellen Vorrang der Kunstfreiheit gegenüber dem Jugendschutz aus 243 . Da aber die Interessen der Jugend nicht völlig unberücksichtigt bleiben können, wird - als Kompensation zur These des absoluten Vorrangs der Kunstfreiheit - eine qualitative Einengung des Kunstbegriffs vorgenommen244 2 4 5 . Die Konfliktschlichtung von Kunstfreiheit und Jugendschutz setzt auf diese Weise nicht an den Schranken der Kunstfreiheit, sondern am Kunstbegriff an 2 4 6 . Es ist aber offensichtlich, daß ein solches Vorgehen das Ziel des angemessenen Ausgleichs der widerstreitenden Interessen nicht erreichen kann. Es kann nämlich von einem solchen Ausgleich nicht die Rede sein, wenn als einziger kollisionslösender Maßstab das - aus Jugend-

242

Vgl. auch Erbel, Z U M 1986, 283 [293]£rhardt, AfP 1973, 496 [497].

Kunstfreiheit und Strafrecht, S. 40f; Lerche,

243 So z.B. BVerwGE 23, 104 [110]; 23, 112 [119]; 25, 318 [328]; 39, 197 [207]; Potrykus, Kommentar zum GjS, § 1 Rn. 19. 244 Diese besondere Rolle des qualitativen Kunstbegriffs im Bereich des gesetzlichen Jugendschutzes offenbart sich mit besonderer Deutlichkeit bei BVerwGE 23, 112 [120], wo ausgeführt wird, daß sich der dort behauptete Vorrang der Kunstfreiheit vor den Jugendschutzbelangen nur dann rechtfertigen lasse, wenn sich der Kunstvorbehalt des GjS auf echte Werke der Kunst beschränke. Ebenso BVerwGE 25, 318 [328]. 245 Hier zeigt sich auch der enge Zusammenhang zwischen Kunstbegriff und Kunstfreiheitsschranken. Je zurückhaltender jemand bei der Annahme von Schranken der Kunstfreiheit ist, desto enger wird der Kunstbegriff sein, von dem er ausgeht (und umgekehrt). Vgl. dazu BGHSt 37, 55 [62]; Bär, Die verfassungsrechtliche Filmfreiheit und Grenzen, S. 103; Erhardt, Kunstfreiheit und Strafrecht, S. 103; Gusy, JZ 1990, 640 [641]; Heinz, in: Grenzen politischer Kunst, S. 44 [49]; Hempel, Die Freiheit der Kunst, S. 31; Henschel, in: FS für Wassermann, S. 351 [352]; ders., NJW 1990, 1937 [1940]; Lerche, AfP 1973, 496 [497]; Wiehert, Zum Problem der Kunstfreiheitsgarantie, S. lf. 246

Daß die Einengung des Begriffs des jeweiligen Grundrechts nicht der angemessene Weg für die Auflösung von verfassungsrechtlichen Spannungslagen ist, betont insbesondere Lerche, Übermaß und Verfassungsrecht S. 126. Vgl. femer VG Oldenburg, GewArch 1990, 277, wonach der Ausgleich von kunstfreiheitsbezogenen Kollisionen nicht am Kunstbegriff selbst anzusetzen hat.

2.Kap. Die Einschränkbarkeit der Kunstfreiheit

124

schutzaspekten gleichgültige247 - künstlerische Niveau des Kunstwerks herangezogen wird und die Schwere der Jugendgefährdung keine Rolle dabei spielt. B. Beschränkung des Schutzbereichs der Kunstfreiheit durch die Theorie der ,fsachspezifischen Modalitäten" Einen weiteren Weg zur Durchsetzung der Jugendschutzbelangen auch gegenüber Kunstwerken hat Friedrich Müller mit seiner Theorie der "sachspezifischen Modalitäten" gezeigt. Diese Theorie entspricht einer allgemeineren Forderung, die in der Literatur vielfach erhoben wurde und nach der eine präzise Bestimmung des Schutzbereichs der Kunstfreiheit erforderlich sei 248 . Bei einer genaueren Erfassung des Schutzbereichs der Kunstfreiheitsgarantie erwiesen sich viele der in der Literatur und Rechtsprechung behandelten kunstfreiheitsbezogenen Kollisionslagen nur als "Scheinkollisionen", weil die einschlägigen Handlungen nicht von Art. 5 Abs. 3 GG geschützt seien. Gerade um eine solche genauere Bestimmung des Schutzbereichs der verfassungsrechtlichen Kunstfreiheitsgarantie hat sich Friedrich Müller mit seiner Konstruktion der "sachspezifischen Modalitäten" bemüht 249 . Er unterscheidet dabei zwischen dem Werkbereich, dem das Kunstschaffen und der Bestand des geschaffenen Kunstwerks zuzuordnen sei, und dem Wirkbereich, der die Verbreitung des Kunstwerks umfasse 250. Beide würden von Art. 5 Abs. 3 GG geschützt. Jedoch bestehe zwischen diesen beiden Bereichen ein wesentlicher Unterschied. Der Werkbereich werde in seiner Gesamtheit geschützt251. Anders verhalte sich beim Wirkbereich, bei der Verbreitung und 247

Siehe dazu unten im 3. Kapitel, Β II 2a.

248

Vgl. statt aller Pieroth/Schhnk,

Grundrechte - Staatsrecht II, Rn. 700.

249

Diese Theorie ist von Friedrich Müller vor allem anhand der verfassungsrechtlichen Kunstfreiheitsgarantie entwickelt und verdeutlicht worden. Sie beansprucht jedoch Geltung für sämtliche Grundrechte. 250

Friedrich Müller, Freiheit der Kunst als Problem der Grundrechtsdogmatik, S. 97ff. Die Unterscheidung zwischen dem Schaffen und der Verbreitung eines Kunstwerks (kritisch dazu Bär, Die verfassungsrechtliche Filmfreiheit und ihre Grenzen, S. 160 und Wiehert, Zum Problem der Kunstfreiheitsgarantie, S. 36f) und die einschlägige Terminologie ("Werk" und "Wirkbreich") haben sich allgemein durchgesetzt. Vgl. statt aller BVerfGE 30, 173 [189]. 251

Friedrich Müller, Freiheit der Kunst als Problem der Grundrechtsdogmatik, S. 99ff. Friedrich Müller will allerdings (aaO, S. 100) den grundrechtlichen Schutz denjenigen Tätigkeiten im Werkbereich absprechen, die lediglich "bei Gelegenheit" des Kunstschaffens erfolgen (z.B. Materialdiebstahl, Malen auf der Straßenkreuzung usw.). Zustimmend Denninger, in: Handbuch des Staatsrechts, § 146 Rn. 41; ν Münch, in: v.Münch, GG-Kommentar, Art. 5 Rn. 61. Skeptisch dazu dagegen Mahrenholz, in: Handbuch des Verfassungsrechts, § 26 Rn. 67; Wiehert, Zum Problem der Kunstfreiheitsgarantie, S. 38f.

Β. Beschränkung des Schutzbereichs der Kunstfreiheit

125

Darbietung des Kunstwerks. Hier werde nicht jede beliebige Verbreitungsmodalität geschützt, sondern nur die grundsätzliche Möglichkeit der Kommunikation des Künstlers mit der Öffentlichkeit und darüber hinaus einzelne, als "sachspezifisch" anzusehende Verbreitungsmodalitäten. Verhältnismäßige Verkürzungen unspezifischer (d.h. vor allem austauschbarer) Verbreitungsmodalitäten stellten dagegen keinen Grundrechtseingriff dar 252 . Was insbesondere das Verhältnis zwischen Kunstfreiheit und Jugendschutz betrifft, verneint Friedrich Müller den Verfassungsrang des Jugendschutzes 253 . Aufgrund seiner Theorie kommt er aber zum Ergebnis, daß bestimmte Maßnahmen zum Schutz der Jugend auch auf Kunstwerke ohne weiteres anwendbar seien. So sei das Verbot der Verbreitung von Kunstwerken an Jugendliche zulässig, weil es von der Eigenart der Kunst her nicht "sachspezifisch" sei, Kunstwerke auch Jugendlichen zugänglich zu machen. Ebenso sei der Schutzbereich der Kunstfreiheit nicht tangiert, wenn austauschbare Modalitäten jugendgefährdender Werbung für Kunstwerke verboten seien254. Dem eigentlichen Anliegen der Müllerschen Konstruktion, die Reichweite des Schutzbereichs der Kunstfreiheit präziser zu bestimmen, kann uneingeschränkt zugestimmt werden. Dieser Bereich ist in der Tat von Rechtsprechung und grundrechtlicher Dogmatik bis heute nur unvollkommen bearbeitet und durchleuchtet worden. Die Tatsache, daß auch ein extrem weit gezogener grundrechtlicher Schutzbereich zu keinen unhaltbaren Ergebnissen führen kann, weil die Grundrechtsschranken als korrektiv zusätzlich in Betracht

Vgl. femer Berg, Konkurrenzen schrankendivergenter Freiheitsrechte im Grundrechtsabschnitt des Grundgesetzes, S. 137, der vom grundrechtlichen Schutzbereich diejenigen Verhaltensweisen ausklammert, die "nur in einer rein äußerlichen, zufälligen Verbindung" mit dem jeweiligen Grundrecht stehen. Ebenso Graf, Die Grenzen der Freiheitsrechte ohne besondere Vorbehaltschranke, S. 80f und Schmitt Glaeser, WissR 7 [1974], S. 107 [118f]. 252 Friedrich Müller, Freiheit oder Kunst als Problem der Grundrechtsdogmatik, S. 10 Iff. Ähnlich Geiger, in: FS für Leibholz, Bd. II, S. 187 [193]: "Noch weniger läßt sich aus der Verfassungsgarantie - verstanden als institutionelle Garantie - ableiten, daß auch gewisse Annexe, Hilfsdienste, Zugehörungen wie das Recht zur beliebigen Ausstellung eines Kunstwerks oder zu beliebigem Vertrieb eines Kunstwerks (...) durch Art. 5 Abs. 3 GG mitgeschützt seien".

253

Friedrich 254

Müller, Freiheit der Kunst als Problem der Grundrechtsdogmatik, S. 108, 122.

ders., aaO, S. 102, 120ff. Vgl. des weiteren Jeand'Heur, StrafVerteidiger 1991, 165 [167] und ders., Verfassungsrechtliche Schutzgebote zum Wohl des Kindes und staatliche Interventionspflichten aus der Garantienorm des Art. 6 Abs. 2 Satz 2 GG, S. 225: "Ein Kunstwerk setzt nicht jede beliebige Verbreitungsart, beispielsweise die Präsentation vor bzw. die Kommunikation mit Mindeijährigen voraus". Zur Theorie der "sachspezifischen Modalitäten" speziell im Hinblick auf die Kunstfreiheitsgarantie sei auch auf den Aufsatz von Friedrich Müller in: JZ 1970, 87 [89ff] verwiesen. Vgl. ferner ders., Die Positivität der Grundrechte, S. 94ff, wo diese Konstruktion anhand weiterer Grundrechte dargestellt wird.

126

2.Kap. Die Einschränkbarkeit der Kunstfreiheit

kommen, befreit nicht von der Aufgabe einer sachgerechten, präzisen Bestimmung des grundrechtlichen Schutzbereichs. In der Tat entspricht es nicht dem Gebot der dogmatischen Folgerichtigkeit, bei der Bestimmung des Schutzbereichs eines Grundrechts rücksichtslos und großzügig zu verfahren, um dann auf der Ebene der Grundrechtsschranken zurückzunehmen, was auf der Schutzbereichsebene eingeräumt wurde 255 . Der Maßstab des "Sachspezifischen" ist aber für die Erfassung des Schutzbereichs der Kunstfreiheit (wie auch aller anderen Grundrechte) ungeeignet 2 5 6 Dieses Kriterium enthält sich nämlich jeglicher rational zu gewinnender Konturen und ist darüber hinaus so unbestimmt und unpräzise, daß es die Bestimmung des grundrechtlichen Schutzbereichs letztendlich der Subjektivität des jeweiligen Grundrechtsinterpreten ausliefert 257. Es kann außerdem wegen seiner engen Verknüpfung mit dem Merkmal des "Typischen"258 - zu einer Beschränkung der Kunstfreiheit auf das Traditionelle und Konventionelle fuhren 259 . Wenn ferner jede Verbreitungsmodalität, die austauschbar ist, vom grundrechtlichen Schutz ausgeschlossen wird - und zwar ohne zu unterscheiden, ob dadurch fremde Rechtsgüter verletzt werden oder nicht -, kommt man zu unannehmbaren Ergebnissen. In diesem Fall könnte jede Verbreitung verboten 255 Vgl. grundlegend dazu Isensee, Wer definiert die Freiheitsrechte?, S. 31. Vgl. auch Henschel, in: FS für Wassermann, S. 351 [352] und Wiehert, Zum Problem der Kunstfreiheitsgarantie, S. 64f. 256

Ablehnend auch Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 238ff; Bär, Die verfassungsrechtliche Filmfreiheit und ihre Grenzen, S. 120ff; Lawrence, Gmndrechtsschutz, technischer Wandel und Generationsverantwortung, S. 105f; Schwabe, Probleme der Grundrechtsdogmatik, S. 159ff; Wiehert, Zum Problem der Kunstfreiheitsgarantie, S. 4Iff; Wülfing, Grundrechtliche Gesetzesvorbehalte und Grundrechtsschranken, S. lOOf. Kritisch auch Selk, Asylrecht und Verfassung, S. 38ff. Den Annahmen Friedrich Müllers folgen dagegen VGH Bad.-Württ., GewArch 1986, 365 [369]; Erhardt, Kunstfreiheit und Strafrecht, S. lOOff; Meirowitz, Gewaltdarstellungen auf Videokassetten, S. 258, 30Iff; Prause, Kunst und Politik, S. 57f; Rüfner, in: FG für BVerfG, Bd. II, S. 453 [475]. Eine Übernahme der Müllersehen Theorie klingt auch bei BVerwGE 39, 197 [208] an: "Die Freiheit der Kunst umfaßt nicht das Recht, Kunstwerke in jeder Weise zu verbreiten...." (Ähnlich BVerwG, DÖV 1981,342). 257

Vgl. Schwabe, Probleme der Grundrechtsdogmatik, S. 162; Wiehert, Zum Problem der Kunstfreiheitsgarantie, S. 43; Wülfing, Grundrechtliche Gesetzesvorbehalte und Grundrechtsschranken, S.101. 258

Vgl. Friedrich Müller, Die Positivität der Grundrechte, S. 98: "Das Sachspezifische des Normbereichs wird zunächst von den typischen Ausübungsformen und Zustandsformen ausgehen können". 259

Vgl. Lawrence, Grundrechtsschutz, technischer Wandel und Generationsverantwortung, S. 105. Daß das "Typische" nicht das Unkonventionelle und Unherkömmliche umschließen kann (wie aber Friedrich Müller, Die Positivität der Grundrechte, S. 98, annimt) liegt - zumindest nach allgemeinem Sprachgebrauch - auf der Hand.

Β. Beschränkung des Schutzbereichs der Kunstfreiheit

127

werden, wenn sie austauschbar wäre, d.h. wenn nur die Möglichkeit für den Künstler bestünde, sein Werk auf eine andere Weise zu verbreiten. Dadurch würde aber dem Künstler das Recht genommen werden, selbst zu bestimmen, auf welche Art und Weise sein Kunstwerk verbreitet wird. Das Recht aber, die Art und Weise der Grundrechtsausübung selbst zu bestimmen, ist eine wesentliche Grundrechtsposition 260 2 6 1 . Insbesondere abzulehnen sind die Müllerschen Annahmen bezüglich des Jugendschutzrechts. Sicherlich ist auch hier eine sorgfältige Ermittlung des Schutzbereichs des Art. 5 Abs. 3 GG geboten. Findet beispielsweise eine sexuelle Mißhandliwg eines Kindes im Rahmen eines Kunstwerks (z.B. Films) statt, dann kann der Künstler gegen eine strafrechtliche Verurteilung gemäß §176 StGB nicht einwenden, daß seine Handlung durch die verfassungsrechtliche Kunstfreiheitsgarantie geschützt sei. Das Grundrecht der Kunstfreiheit ist hier tatbeständlich nicht tangiert. Denn die Kunstfreiheit ist im Grundgesetz um der geistigen Wirkung der Kunst willen gewährleistet und Art. 5 Abs. 3 GG kann nicht das Ziel haben, solche physische und handfeste Einflüsse auf den Körper von Kindern zu rechtfertigen 262. Insbesondere kann zum Schutzbereich der Kunstfreiheitsgarantie nicht gehören, fremde Rechtsgüter (im vorliegenden Fall: den Leib eines Kindes) zu künstlerischen Zwecken zu gebrauchen und in Anspruch zu nehmen263. Anders ist aber der Fall bei der Verbreitung von jugendgefährdenden Kunstwerken, die im Mittelpunkt der vorliegenden Untersuchung steht. Sie

260 Vgl. hierzu Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 284f; Lawrence, Grundrechtsschutz, technischer Wandel und Generationsverantwortung, S. 105; Schmitt Glaeser, WissR 7 [1974], S. 107 [119]; Schwabe, Probleme der Grundrechtsdogmatik, S. 161. 261 Die Unterscheidung Friedrich Müllers zwischen austauschbaren und unaustauschbaren Ausübungsmodalitäten kann allerdings auf der Ebene der Abwägung eine Rolle spielen. Siehe dazu unten im 3. Kapitel, BII 3c Fn. 253. 262 Vgl. Ostendorf, in: Literatur vor dem Richter, S. 271 [276]: "Allerdings "genießen" nur künstlerische Aktionen mit einer "rein" geistigen Wirkung das besondere Freiheitsrecht: handfeste Angriffe z.B. Sachbeschädigungen als Happenings fallen aus dem Schutzbereich". Vgl. auch Berg, Konkurrenzen schrankendivergenter Freiheitsrechte im Grundrechtsabschnitt des Grundgesetzes, S. 77; Erbel, Inhalt und Auswirkungen der verfassungsrechtlichen Kunstfreiheitsgarantie, S. 166; v.Noorden, Die Freiheit der Kunst nach dem Grundgesetz (Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG) und die Strafbarkeit der Verbreitung unzüchtiger Darstellungen (§ 184 Abs. 1 Nr. 1 StGB), S. 126; Ropertz, Die Freiheit der Kunst nach dem Grundgesetz, S. 114f. 263 So auch für das Grundrecht der Wissenschaftsfreiheit Lerche, in: Rechtsfragen der Gentechnologie, S. 88 [91] und Lorenz, in: FS für Lerche, S. 267 [270f]. Insoweit kann der Rechtsprechung des BVerfG zugestimmt werden, die die Inanspruchnahme fremden Eigentums zu künstlerischen Zwecken vom Schutzbereich des Art. 5 Abs. 3 GG ausgeklammert hat (BVerfG (Vorprüfungsausschuß), NJW 1984, 1293 [1294]).

128

2.Kap. Die Einschränkbarkeit der Kunstfreiheit

stellt eine durch Art. 5 Abs. 3 GG geschützte Handlung dar, weil die Kunstfreiheitsgarantie nach einhelliger Meinung auch die freie Darbietung und Präsentation des Kunstwerks gewährleistet (sog. Wirkbereich) 264. Die Tatsache, daß die Verbreitung solcher Werke die Jugend gefährden kann, spielt dabei keine Rolle. Denn die Abgrenzung eines grundrechtlichen Schutzbereichs darf nur nach teleologischen Gesichtspunkten, also aufgrund des Sinns und Zwecks des jeweiligen Grundrechts, und nicht im Hinblick auf etwaige Beeinträchtigungen anderer Rechtsgüter erfolgen 265 2 6 6 . Selbst die Verbreitung jugendgefährdender Kunstwerke an Jugendliche kann - entgegen der Meinung von Friedrich Müller - nicht aus dem Schutzbereich der verfassungsrechtlichen Kunstfreiheitsgarantie verbannt werden. Denn Kinder ünd Jugendliche machen einen Teil der Öffentlichkeit aus, mit der der Künstler kommunizieren will, und die Verbreitung des Kunstwerks an sie erweist sich demzufolge als ein durch den Wirkbereich des Art. 5 Abs. 3 GG geschützter Kommunikationsakt. Wenn ferner Friedrich Müller die Verbreitung von Kunstwerken an Jugendliche als eine "unspezifische" (d.h. austauschbare) Modalität qualifiziert, dann irrt er. Denn unter dem Gesichtspunkt der Kommunikation mit Kindern und Jugendlichen ist für den Künstler die Verbreitung seines

264 Vgl. etwa BVerfGE 30, 173 [189]; 36, 321 [331]; 67, 213 [224]; 77, 240 [254]; 81, 298 [305]; BGH, JZ 1975, 637 [638]; Bismark, NJW 1985, 246 [250]; Bleckmar Staatsrecht II - Die Grundrechte, S. 743f; Erbel, Inhalt und Auswirkungen der verfassungsrechtlichen Kunstfreiheitsgarantie, S. 87,93f; Erhardt, Kunstfreiheit und Strafrecht, S. 96f; Kirchhof, NJW 1985, 225 [226]; Lerche, Kunstfreiheit, in: Ergänzbares Lexikon des Rechts, 5/420, S. 1; Locher, Das Recht der bildenden Kunst, S. 23f; Mahrenholz, in: Handbuch des Verfassungsrechts, § 26 Rn. 48; Maihofer, in: Handbuch des Verfassungsrechts, § 25 Rn. 82; Maunz, BayVBl, 1970, 354; ν Münch, in: v.Münch, GG-Kommentar, Art. 5 Rn. 61f; Pieroth/Schlink, Grundrechte - Staatsrecht II, Rn. 698; Ridder, in: Literatur vor dem Richter, S. 291 [298]; Rupert Scholz, in: MDHS, Kommentar zum GG, Ait. 5 Abs. III Rn. 17; Würkner, NVwZ 1987, 841 [844]; ders., DÖV 1992, 150 [151]; Woesner, NJW 1966, 1729 [1731]. Vgl. aber auch OVG Münster, JZ 1959, 716 [718], wo das Gericht die Verbreitung von Kunstwerken nicht der Kunstfreiheit, sondern der Meinungsäußerungsfreiheit des Art. 5 Abs. 1 GG zugeordnet hat. 265 So aber im Ergebnis Pieroth/Schlink, Grundrechte - Staatsrecht II, Rn. 700, die den Schutzbereich der Kunstfreiheit auf "sonst erlaubtes Verhalten" beschränken. Vgl. ferner Rüfner, Der Staat 7 [1968], S. 41 [55ff]; ders., in: FG fur BVerfG, Bd. II, S. 453 [456ff], der Verhaltensweise, die gegen die "allgemeine Rechtsordnung" verstoßen, vom grundrechtlichen Schutzbereich ausschließt. Solche Vorgehensweisen fuhren aber, wie Lorenz, in: FS für Lerche, S. 267 [272] zutreffend bemerkt, faktisch dazu, daß die vorbehaltlosen Grundrechte entgegen dem Willen des Verfassungsgesetzgebers doch unter einem generellen Gesetzesvorbehalt gestellt werden. 266

Die Beeinträchtigung anderer Rechtsgüter kann nach dem oben Gesagten nur dann zum Ausschluß der einschlägigen Handlung vom grundrechtlichen Schutzbereich führen, wenn sich diese Schädigung als Inanspruchnahme oder Benutzung eines fremden Rechtsguts darstellt (klassisches Beispiel: Gebrauch fremden Eigentums zu künstlerischen Zwecken). Das ist aber hier nicht der Fall: die Verbreitung jugendgefährdender Kunstwerke beeinträchtigt zwar die Entwicklung der Jugend. Der Künstler macht aber dabei nicht von irgendwelchen Rechten der Jugendlichen Gebrauch.

C. Die Mißbrauchsgrenzen der Kunstfreiheit

129

Werks an diese Personen unverzichtbar, unaustauschbar und insoweit "sachspezifisch". Eine andere gleichwertige Verbreitungsmodalität für die Kommunikation mit diesem Teil der Öffentlichkeit gibt es nicht. Die Müllerschen Annahmen bezüglich des Jugendschutzrechts genügen schließlich nicht den Anforderungen eines nach beiden Seiten schonenden Ausgleichs. Würden nämlich die Verbreitung jugendgefährdender Kunstwerke an Jugendliche und die jugendgefährdende Werbung für Kunstwerke vom Schutzbereich des Art. 5 Abs. 3 GG verbannt werden, dann wäre das Verbot solcher Handlungen stets und ausnahmslos zulässig: auch dann, wenn das Übergewicht der Belange der Kunstfreiheit evident wäre. Für eine differenzierende Betrachtungsweise bliebe kein Raum mehr. C. Die Mißbrauchsgrenzen der Kunstfreiheit. Jugendgefährdende Kunstwerke als Mißbrauch der Kunstfreiheit? Durch das Vehikel des Grundrechtsmißbrauchs 267, das (auch) bei der besonderen Konfliktkonstellation zwischen Kunstfreiheit und Jugendschutz in der früheren Literatur und Spruchpraxis der Bundesprüfstelle gelegentlich fruchtbar gemacht wurde 268 , ist es auch nicht möglich, eine generelle Anwendbarkeit der Jugendschutzvorschriften auf die jugendgefährdenden Kunstwerke zu begründen. Man sollte sich darüber im klaren sein, daß nicht jede Grundrechtsausübung, die andere Rechtsgüter gefährdet, bereits ein Grundrechtsmißbrauch ist 2 6 9 . So stellt auch nicht jedes Kunstwerk, das sich als jugendgefährdend erweist, einen Mißbrauch der Kunstfreiheit dar. Der jugendgefährdende Charakter eines Kunstwerks impliziert nicht automatisch einen Mißbrauch der Kunstfreiheit 270. Das wird vor allem dann deutlich,

267

Zum Grundrechtsmißbrauch im allgemeinen vgl. etwa Bettermann, Grenzen der Grundrechte, S. 1 Iff; Blaesing, Grundrechtskollisionen, S. 1 Iff; Gallwas, Der Mißbrauch von Grundrechten; Graf, Die Grenzen der Freiheitsrechte ohne besondere Vorbehaltsschranke, S. 67ff, 159ff; Herbert Krüger, DVB1 1953, 97ff; Friedrich Müller, Freiheit der Kunst als Problem der Grundrechtsdogmatik, S. 25ff; ders., die Positivität der Grundrechte, S. 28ff. 268 Siehe die Nachweise bei Knies, Schranken der Kunstfreiheit als verfassungsrechtliches Problem, S. 102 Fn. 234, S 115 Fn. 304. 269

Vgl. Lerche, Übermaß und Verfassungsrecht, S. 132: "Nicht jede Störung der Rechtssphäre anderer darf mit dem Unwerturteil des Mißbrauchs belegt werden". So auch Knies, Schranken der Kunstfreiheit als verfassungsrechtliches Problem, S. 282; Friedrich Müller, Freiheit der Kunst als Problem der Grundrechtsdogmatik, S. 28; ders., Die Positivität der Grundrechte, S. 29. 270

Vgl. Knies, Schranken der Kunstfreiheit als verfassungsrechtliches Problem, S. 282; Friedrich Müller, Freiheit der Kunst als Problem der Grundrechtsdogmatik, S. 28; ders., Die Positivität der Grundrechte, S. 29; Raue, Literarischer Jugendschutz, S. 36.

9 Vlachopoulos

2.Kap. Die Einschränkbarkeit der Kunstfreiheit

130

wenn man sich vor Augen hält, daß auch (Kunst)werke ohne anstößigen Inhalt jugendgefährdend sein können 271 . Aber auch Schöpfern von Kunstwerken, deren jugendgefährdender Charakter auf ihren anstößigen Inhalt zurückzufuhren ist, kann nicht ohne weiteres der Vorwurf des Grundrechtsmißbrauchs gemacht werden. Eine solche Vorgehensweise würde außer acht lassen, daß ein, vielleicht sogar das wichtigste Merkmal der Kunst aller Zeiten gerade in der Provokation und Polemik gegen traditionelle sittliche und gesellschaftliche Normen besteht272. D. Die fur den Bestand der Gemeinschaft notwendigen Rechtsguter als Schranken der Kunstfreiheit Überholt ist auch die Schrankenkonstruktion der früheren Rechtsprechung des BVerwG, nach der die Kunstfreiheit (wie auch jedes andere Grundrecht) nicht in Anspruch genommen werden darf, wenn dadurch andere Grundrechte oder die für den Bestand der Gemeinschaft notwendigen Rechtsgüter gefährdet werden 273 2 7 4 . Darauf stützend wurde vielfach versucht, den Jugendschutzbestimmungen Wirksamkeit auch gegenüber Kunstwerken zu verschaffen 275. Zunächst muß bemerkt werden, daß dieser "Gemeinschaftsklausel" jede verfassungsrechtliche Grundlage fehlt. Darüber hinaus kann sie zu einer extremen Einschränkung der Kunstfreiheit führen. Denn es gibt kaum Rechtsgüter, die nicht ohne weiteres zum Kreis der gemeinschaftsnotwendigen Rechtsgüter gezählt werden könnten. Außerdem ist die "Gemeinschaftklausel" des BVerwG so unklar und unbestimmt, daß sie für Mißbrauch allzu leicht zugänglich ist und deshalb schon aus rechtsstaatlichen Gründen abgelehnt werden muß. Da sich schließlich ihr Anwendungsbereich nicht auf Art. 5 Abs. 3 GG beschränkt, sondern sich vielmehr auf sämtliche Grundrechte erstreckt, 271

Siehe dazu oben im 1. Kapitel, Β 1 1 Fn. 64.

272

Vgl. hierzu etwa Bär, Die verfassungsrechtliche Filmfreiheit und ihre Grenzen, S. 111; Geis, Kulturstaat und kulturelle Freiheit, S. 241; Graul, Künstlerische Urteile im Rahmen der staatlichen Förderungstätigkeit, S. 68; Lerche, Werbung und Verfassung, S. 89; Mahrenholz, in: Handbuch des Verfassungsrechts, § 26 Rn. 2; Ridder, Freiheit der Kunst nach dem Grundgesetz, S. 19. 273 So BVerwGE 1, 303 [307] und BVerwG, DVB1 1967, 149 [152]. Zustimmend etwa Schick, Kunstwerkgarantie und Strafrecht, S. 68 und Woesner, NJW 1966, 1729 [1732]. Die diametral entgegengesetzte Meinung vertritt Wiehert, Zum Problem der Kunstfreiheitsgarantie, S. 93, der auf dem Standpunkt steht, daß Gemeinschaftswerte die Kunstfreiheit nie einschränken könnten. 274 Einen guten Überblick über zahlreiche ähnliche "Gemeinschaftsklausel", die in der früheren Literatur vertreten wurden, findet man bei Berg, Konkurrenzen schrankendivergenter Freiheitsrechte im Grundrechtsabschnitt des Grundgesetzes, S. 13, 15f, 24ff, 72. 275

S.28.

Vgl. Potrykus,

Kommentar zum GjS, § 1 Rn. 19 und Schilling,

Literarischer Jugendschutz,

E. Übertragung der Schranken anderer Verfassungsbestimmungen

131

wird auf diese Weise die differenzierte Schrankensystematik des Grundgesetzes durch eine Generalschranke ersetzt, die dem Grundgesetz fremd ist und vom Grundgesetzgeber abgelehnt wurde 276 2 7 7 E. Übertragung der Schranken anderer Verfassungsbestimmungen auf Art. 5 Abs. 3 GG I. Die "Schrankentrias" des Art. 2 Abs. 1 Halbs. 2 GG Der Übertragung der Schrankentrias des Art. 2 Abs. 1 Halbs. 2 GG ("Rechte anderer", "verfassungsmäßige Ordnung", "Sittengesetz") auf die Kunstfreiheit, mit deren Hilfe vielfach versucht wurde, den Jugenschutzbestimmungen Anwendbarkeit auch gegenüber Kunstwerken zu verschaffen 278, kann ebensowenig zugestimmt werden. Soweit es um die unmittelbare Anwendung der Schranken des Art. 2 Abs. 1 Halbs. 2 GG auf Art. 5 Abs. 3 GG geht 279 , ist sie schon deshalb unzulässig, weil die Kunstfreiheit (wie jedes der Art. 2 Abs. 1 GG nachfolgenden Grundrechte) lex specialis gegenüber dem Persönlichkeitsrecht ist 2 8 0 . Die (unmittelbare) Übertragung der Schran276 Vgl. hierzu etwa Berg, Konkurrenzen schrankendivergenter Freiheitsrechte im Grundrechtsabschnitt des Grundgesetzes, S. 31; Knies, Schranken der Kunstfreiheit als verfassungsrechtliches Problem, S. 107ff; Wiehert, Zum Problem der Kunstfreiheitsgarantie, S. 82. 777

Ebenso ablehnend zur "Gemeinschaftsklausel" des BVerwG etwa BVerwGE 30, 173 [193]; Berg, Konkurrenzen schrankendivergenter Freiheitsrechte im Gmndrechtsabschnitt des Grundgesetzes, S. 92ff; Böckenßrde/Greiffenhagen, JuS 1966, 359 [363]; Denninger, in: Handbuch des Staatsrechts, § 146 Rn. 38; Erbel, Inhalt und Auswirkungen der verfassungsrechtlichen Kunstfreiheitsgarantie, S. 118; Erhardt, Kunstfreiheit und Strafrecht, S. 104; Grebenhagen, Der Staat 8 [1969], S.246 [246]; Heinz, in: Grenzen politischer Kunst, S. 44 [56]; Knies, Schranken der Kunstfreiheit als verfassungsrechtliches Problem, S. 93ff; Lerche, Übermaß und Verfassungsrecht, S. 293f; Friedrich Müller, Freiheit der Kunst als Problem der Grundrechtsdogmatik, S. 19; ders., JZ 1970, 87 [88]; ders., Die Positivität der Grundrechte, S. 13f; v.Pollern, JuS 1977, 644 [647]; Selk, Asylrecht und Verfassung, S. 85; Schnapp, JuS 1978,729 [732f|. 278

Vgl. z.B. Erbel, Inhalt und Auswirkungen der verfassungsrechtlichen Kunstfreiheitsgarantie, S.162ff; ders., DVB1 1969, 863 [867]; Potrykus, Kommentar zum GjS, § 1 Rn. 19; Ropertz, Die Freiheit der Kunst nach dem Grundgesetz, S. 130; Schilling, Literarischer Jugendschutz, S. 28. 279

Für eine unmittelbare Übertragung der Schranken des Art. 2 Abs. 1 Halbs. 2 GG auf die Kunstfreiheit plädieren etwa BGH, GA 1961, 240; BayObLG, NJW 1964, 1149 [1150]; LG Hamburg, NJW 1963, 675; Erbel, Inhalt und Auswirkungen der verfassungsrechtlichen Kunstfreiheitsgarantie, S. 120ff; Krauss, FamRZ 1959, 485 [488]; Lei ss, NJW 1962, 2323; Locher, Das Recht der bildenden Kunst, S. 36f, August Schmidt, GA 1966,97 [103, 105, 109]. 98Ω υ So die ständige Rechtsprechung des BVerfG seit dem "Elfes"-Urteil (BVerfGE 6, 32 [37]; vgl. insbesondere auch BVerfGE 30, 173 [192]). Ebenso Bleckmann, Staatsrecht II - Die Grundrechte, S.747; Erhardt, Kunstfreiheit und Strafrecht, S. 104; Knies, Schranken der Kunstfreiheit als verfassungsrechtliches Problem, S. 88f; Rupert Scholz, in: MDHS, Kommentar zum GG, Art. 5 Abs. III Rn. 50; Woesner, NJW 1966, 1729 [1731]. 9*

132

2.Kap. Die Einschränkbarkeit der Kunstfreiheit

kentrias auf die Kunstfreiheit muß auch daran scheitern, daß sie zu einer völligen Relativierung, zu einer unzulässig weiten Einschränkung der Kunstfreiheit fuhren kann, insbesondere dann, wenn der Begriff der "verfassungsmäßigen Ordnung" in Anlehnung an die Rechtsprechung des BVerfG 281 mit der verfassungsgemäßen allgemeinen Rechtsordnung gleichgestellt wird. Wenn ferner die Anwendung der Schranken des Art. 2 Abs. 1 Halbs. 2 GG kurzerhand auf sämtliche Grundrechte ausgeweitet würde, dann käme man im Ergebnis zu einer Nivellierung der differenzierten Schrankensystematik des Grundgesetzes282 und der darin zum Ausdruck kommenden Selbständigkeit der einzelnen Grundrechte 283 2 8 4 . Tragfähiger erscheint hingegen die These, nach der die Schranken des Art. 2 Abs. 1 Halbs. 2 GG als Auslegungsregel zur Ermittlung der immanenten Schranken der Grundrechte (und damit auch der Kunstfreiheit) herangezogen werden sollten 285 . Der Schrankentrias eine solche auslegungsbeeinflussende Wirkung, anzuerkennen, hat sicher einiges für sich. Denn die Heranziehung allgemeiner, grundsätzlicher Verfassungsnormen zur Verdeutlichung des InΙΟΙ

Grundlegend auch hier das "Elfes"-Urteil des BVerfG (BVerfGE 6, 32 [37ff]; st. Rspr.). 282

Zugeben muß man allerdings, daß der abgestuften Schrankensystematik des Grundgesetzes keine große praktische Bedeutung mehr zukommt. Bei einer genaueren Betrachtungsweise stellt man z.B. fest, daß zwischen den vorbehaltlosen und den mit Gesetzesvorbehalt versehenen Grundrechten vor allem wegen der Wechselwirkungstheorie des BVerfG - kein wesentlicher Unterschied besteht: in beiden Fällen kommt man bei der Schrankenziehung zu weitgehend identischen Ergebnissen. Vgl. dazu gleich unten im Text unter E II. 283

Folgte man der Übertragung der Schranken des Art. 2 Abs. 1 Halbs. 2 GG auf alle Grundrechte, dann käme man mit August Schmidt, GA 1966, 97 [105], zum wenig sinnvollen Ergebnis, daß sämtliche grundgesetzliche Schrankenvorbehalte "überflüssige Wiederholungen" der Schranken des Art. 2 Abs. 1 Halbs. 2GG seien. 284 Ebenso ablehnend BVerfGE 30, 173 [192]; Bär, Die verfassungsrechtliche Filmfreiheit und ihre Grenzen, S. 169ff; Blaesing, Grundrechtskollisionen, S. lOOff; Böckenßrde/Greiffenhagen, JuS 1966, 359 [362]; Graf Die Grenzen der Freiheitsrechte ohne besondere Vorbehaltsschranke, S. 1 lOff; Knies, Schranken der Kunstfreiheit als verfassunsgrechtliches Problem, S. 88ff; Friedrich Müller, Freiheit der Kunst als Problem der Grundrechtsdogmatik, S. 18f; ders., Die Positivität der Grundrechte, S lOff; vMutius, VerwArch 63 [1972], S. 75 [76f]; v. Pollern, JuS 1977, 644 [645f]; Ropertz, Die Freiheit der Kunst nach dem Grundgesetz, S. 98; Schmitt Glaeser, WissR 7 [1974], S. 107, 177 [180f Fn. 124]; Rupert Scholz, in: MDHS, Kommentar zum GG, Art. 5 Abs. III Rn. 56; Selk Asylrecht und Verfassung, S. 83f.

yar« Dazu grundlegend Dürig, in: MDHS, Kommentar zum GG, Art. 2 Abs. I Rn. 69ff; ders., JZ 1957, 169 [171, 173] und ihm folgend Bär, Die verfassungsrechtliche Filmfreiheit und ihre Grenzen, S. 172ff; Blaesing, Grundrechtskollisionen, S. 112ff; Böckenßrde/Greiffenhagen, JuS 1966, 359 [363]; Graf Grenzen der Freiheitsrechte ohne besondere Vorbehaltsschranke, S. 118ff; ders., BayVBl 1971, 55 [56f|; Knemeyer, Der Staat 8 [1969], S. 240 [245f]; Ropertz, Die Freiheit der Kunst nach dem Grundgesetz, S. 98ff; Rupert Scholz, in: MDHS, Kommentar zum GG, Art. 5 Abs. III Rn. 59ff; Schäuble, Rechtsprobleme staatlicher Kunstförderung, S. 178ff.

E. Übertragung der Schranken anderer Verfassungsbestimmungen

halts und der Grenzen Einzelverfassungsvorschriften ist ein durchaus geläufiges, allgemein anerkanntes Interpretationsinstrumentarium 286, das auch vom BVerfG oft verwendet wurde (man denke nur etwa an die Spruchpraxis des BVerfG, nach der die Kunstfreiheit von den Wertvorstellungen des Art. 1 Abs. 1 GG beeinflußt wird 287 ). Der interpretatorischen Einwirkung des Art. 2 Abs. 1 Halbs. 2 GG auf die Bestimmung der immanenten Schranken der Grundrechte steht auch das Spezialitätsverhältnis zwischen dem Persönlichkeitsrecht und den nachfolgenden Grundrechten - entgegen der Meinung des BVerfG 288 - nicht im Wege. Denn es handelt sich hier um zwei verschiedene Phänomene, die miteinander nicht zusammenhängen289. Die Annahme der Schrankentrias als Richtschnur zur Bestimmung der grundrechtsimmanenten Schranken scheitert aber daran, daß auch auf diese Weise die abgestuften grundgesetzlichen Schrankenregelungen im Ergebnis eingeebnet werden, indem sämtliche Grundrechte den gleichen Schranken unterstellt werden. Es muß auch berücksichtigt werden, daß ein Konsens darüber, welche die mit der Auslegungshilfe des Art. 2 Abs. 1 Halbs. 2 GG zu gewinnenden grundrechtsimmanenten Schranken sind, nicht existiert. Vielmehr gehen die einschlägigen Meinungen auseinander290. Die Annahme dieser Konstruktion würde demzufolge eine erhebliche Unsicherheit bei der Ziehung der Schranken der Grundrechte verursachen, was aber bei einem so bedeutsamen und sensiblen Bereich unerträglich wäre 291 .

Vgl. etwa Lerche, AfP 1973, 496 [498 Fn. 22]; dersin: Handbuch des Staatsrechts, § 121 Rn. 14; Schmitt Glaeser, WissR 7 [1974], S. 107, 177 [182 Fn. 132]. 287

Vgl. etwa BVerfGE 30, 173 [195], 83, 130 [143].

288

BVerfGE 30,173 [192f].

289

Vgl. Lerche, AfP 1973, 496 [498 Fn. 22]; Schmitt Glaeser, WissR 7 [1974], S. 107, 177 [182 Fn. 132]. 290

Insbesondere umstritten ist zwischen den Vertretern dieser Lehre die Frage, inwieweit die strafrechtlichen Normen und die öffentliche Sicherheit und Ordnung zu den grundrechtsimmanenten Schranken zählen. Vgl. dazu etwa Bär, Die verfassungsrechtliche Filmfreiheit und ihre Grenzen, S.176f; Böckenßrde/Greiffenhagen, JuS 1966, 350 [363]; Dürig, in: MDHS, Kommentar zum GG, Art. 2 Abs. I Rn. 76ff; Graf, Die Grenzen der Freiheitsrechte ohne besondere Vorbehaltsschranke, S.152ff; Ropertz, Die Freiheit der Kunst nach dem Grundgesetzt, S. 106ff. 591 Ebenso ablehnend BVerfGE 30, 173 [192f|; Knies, Schranken der Kunstfreiheit als verfassungsrechtliches Problem, S. 106ff; Friedrich Kifìller, Freiheit der Kunst als Problem der Grundrechtsdogmatik, S. 19f; ders., Die Positivität der Grundrechte, S. 14ff; vMutius, VerwArch 63 [1972], S. 75 [76f]; v.Pollern, JuS 1977, 644 [646]; Schick, Kunstwerkgarantie und Strafrecht, S. 61; Selk, Asylrecht und Verfassung, S. 83f.

134

2.Kap. Die Einschränkbarkeit der Kunstfreiheit

II. Die Schranken des Art 5 Abs. 2 GG Abzulehnen ist auch die Auffassung, nach der die Kunstfreiheit den Schranken des Art. 5 Abs. 2 GG und damit auch den dort genannten gesetzlichen Bestimmungen zum Schutze der Jugend unterliege . Die Übertragung der Schranken der Meinungsfreiheit auf die Kunstfreiheit stellt einen Versuch dar, die dogmatischen Schwierigkeiten zu umgehen, die die vorbehaltlose Gewährleistung der Kunstfreiheit mit sich bringt . Die Unzulässsigkeit des Rückgriffs auf die Schranken des Art. 5 Abs. 2 GG 2 9 4 ergibt sich nicht nur aus dem eindeutigen Wortlaut der Kunstfreiheitsgarantie, sondern auch aus der Systematik des Art. 5 GG, insbesondere aus der Stellung der Kunstfreiheit nach den Schranken des Art. 5 Abs. 2 GG. Entschieden zu beanstanden ist insbesondere die These, daß die Kunstfreiheit ein Unterfall der Meinungsfreiheit sei 295 und daß deshalb die Schranken 292

Für die Anwendung der Schranken des Art. 5 Abs. 2 GG auf die Kunstfreiheit plädieren etwa Breunung/Nocke, in: Literatur vor dem Richter, S. 235 [25 Iff); Knies, Schranken der Kunstfreiheit als verfassungsrechtliches Problem, S. 230ff; ders., NJW 1970, 15 [17]; ders., AfP 1978, 57 [60]; ders., Kunst, Freiheit der Kunst, in: Evangelisches Staatslexikon, Bd. I, Sp. 1948; Lerche, Werbung und Verfassung, S. 91; Maunz, BayVBl 1970, 354 [356]; Raue, Literarischer Jugendschutz, S. 83ff; August Schmidt, GA 1966, 97 [105]. Vgl. ferner OVG Münster, JZ 1959, 716 [718], wo das Gericht zwischen dem Schaffen und der Verbreitung eines Kunstwerks unterscheidet und letztere dem Art. 5 Abs. 2 GG unterstellt. 293 Ablehnend auch etwa BVerfGE 30, 173 [191fJ; 33, 52 [71]; 35, 202 [244]; 67, 213 [228]; 83, 130 [139]; BVerwGE 1, 303 [306f]; 91, 223 [224]; BVerwG, DÖV 1981, 342; BVerwG, JMSReport 1/1993, 9 [10];BGHZ 50, 133 [145]; Bär, Die verfassungsrechtliche Filmfreiheit und ihre Grenzen, S. 177f, 166ff; Denninger, in: Handbuch des Staatsrechts, § 146 Rn. 38; Erbel, Inhalt und Auswirkungen der verfassungsrechtlichen Kunstfreiheitsgarantie, S. 117; Erhardt, Kunstfreiheit und Strafrecht, S. 104; Hamann/Lenz, Kommentar zum GG, Art. 5 Anm. Β 13; Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Rn. 403; Ladeur, in: AK zum GG, Art. 5 Abs. 3 II Rn. 11; v. Mangoldt/Klein/Starck, Kommentar zum GG, Art. 5 Abs. 3 Rn. 206; Friedrich Müller, Freiheit der Kunst als Problem der Grundrechtsdogmatik, S. 14ff; ders., JZ 1970, 87 [89]; Schick, Kunstwerkgarantie und Strafrecht, S. 57; Rupert Scholz, in: MDHS, Kommentar zum GG, Art. 5 Abs. III Rn. 54; Wiehert, Zum Problem der Kunstfreiheitsgarantie, S. 85. Differenzierend nach der jeweiligen Funktion des Art. 5 Abs. 3 GG Lerche, AfP 1973, 496 [500ff|. Er lehnt die Heranziehung der Schranken des Art. 5 Abs. 2 GG bei den Funktionen der Staatsabwelir und Kunstförderung ab. Bei der dritten Funktion der Kunstfreiheitsgarantie (Einwirkung in Rechtssphären Dritter) plädiert er aber fur eine analoge Anwendung des Art. 5 Abs. 2 GG auf die Kunstfreiheit, da bei dieser Funktion "die 'Vorbehaltlosigkeit'der Kunstfreiheit ohne innere Legitimation" sei (aaO, S. 50 lf)· Vgl. auch ders., Kunstfreiheit, in: Ergänzbares Lexikon des Rechts 5/420, S. 2; ders., in: Handbuch des Staatsrechts, §121 Rn.21, § 122 Rn. 24 Fn.91.

Vgl. auch den Wortlaut des Art. 5 Abs. 2 GG: "Diese Rechte (seil: die Rechte des Art. 5 Abs. 1 GG) finden ihre Schranken (...)". 295

So z.B. Knies, Schranken der Kunstfreiheit als verfassungsrechtliches Problem, S. 243ff, der auf dem Standpunkt steht, daß das Grundrecht der Meinungsfreiheit - als Grundrecht des freien geistigen

E. Übertragung der Schranken anderer Verfassungsbestimmungen

13 5

des Art. 5 Abs. 2 GG auch auf die Kunstfreiheit angewendet werden sollten. Die Kunst hat seit alters her ihre eigenen Merkmale und Charakteristika entwickelt und sich als eigenständiger Lebensbereich erwiesen 296. Die Kunstfreiheit unterscheidet sich von der Meinungsfreiheit nicht zuletzt durch die besondere Art der Kommunikation, auf die ein Kunstwerk abzielt: bei Kunst handelt es sich um eine primär sinnlich-ästhetische Kommunikation 297 . Selbst die eindeutig meinungsäußernde Kunst ist "kein durch ein bloßes Plus der Kunstform modifizierter Unterfall der allgemeinen Meinungsäußerung, sondern ihr gegenüber ein (wesensverschiedenes) aliud" 298 . So wird eine satirische Zeichnung - klassisches Beispiel der meinungsäußernden Kunst - wesentlich anders gewertet und gehandhabt als eine inhaltsgleiche nichtkünstlerische Meinungsäußerung299. Daß zwischen Meinungs- und Kunstfreiheit vielfache Verflechtungen bestehen300 (beide lassen sich außerdem als Kommunikationsgrundrechte qualifizieren 301 ), kann nicht ernsthaft in Zweifel gezogen werden. Solche Verbindungen sind aber ein durchaus geläufiges Phänomen im Grundrechtsteil des Grundgesetzes und dürfen nicht zur Aufhebung der Eigenständigkeit der einzelnen Grundrechte führen 302 . Wollte man die Kunstfreiheit als Unterfall der Meinungsfreiheit erfassen und auch die erstere den Schranken des Art. 5 Abs. 2 GG unterstellen, dann sollte man folgerichtig dasselbe auch für andere Grundrechte annehmen, die ebenso in engem Zusammenhang mit der Meinungsfreiheit stehen (z.B. Glaubens- und Gewissensfreiheit, Art. 4 GG; Wis-

Ausdrucks und Austausches verstanden - eine (partielle) Kunstfreiheitsgarantie darstelle. Daß die Kunstfreiheit ein Unterfall der Meinungsfreiheit sei, meint auch Ridder, Meinungsfreiheit, in: Neumann-Nipperdey-Scheuner, Die Grundrechte, Bd. II, S. 243 [268]. A A etwa BVerfGE 30, 173 [191f]; Erbel, Inhalt und Auswirkungen der verfassungsrechtlichen Kunstfreiheitsgarantie S. 15f, 97f; Heckel, Staat Kirche Kunst, S. 87; Schick, Kunstwerkgarantie und Strafrecht, S. 27; Erwin Stein, JZ 720 [72lf]. 296

Die Eigenständigkeit und Eigengesetzlichkeit der Kunst betonen auch BVerfGE 30, 173 [190]; Häberle, AöR 110 [1985], S. 577 [593]; Hesse, Grundzüge des Verfassungrechts der Bundesrepublik Deutschland, Rn. 401, 403; Ropertz, Die Freiheit der Kunst nach dem Grundgesetz, S. 84. 297

Vgl. dazu Mahrenholz, in: Handbuch des Verfassungsrechts, § 26 Rn. 36ff. 298

Erbel, Inhalt und Auswirkungen der verfassungsrechtlichen Kunstfreiheitsgarantie, S. 97. 299

Erbel, aaO, S. 97f.

300

Vgl. etwa Bär, Die verfassungsrechtliche Filmfreiheit und ihre Grenzen, S.167; Henschel, NJW 1990, 1937 [1943]; Rupert Scholz, in: MDHS, Kommentar zum GG, Art. 5 Abs. III Rn. 13. 301

Zum kommunikativen Charakter der Kunst siehe oben in diesem Kapitel, A12h. 302

Vgl. Heinz, in: Grenzen politischer Kunst, S. 44 [50]; Friedrich Problem der Grundrechtsdogmatik, S. 16.

Müller, Freiheit der Kunst als

136

2.Kap. Die Einschränkbarkeit der Kunstfreiheit

senschaftsfreiheit, Art. 5 Abs. 3 GG; Versammlungsfreiheit, Art. 8 GG und Petitionsrecht, Art. 17 GG). In einem solchen Fall würde aber eine Vielzahl von Grundrechten ihre eigenständige Bedeutung verlieren und zur überflüssigen Wiederholung der Meinungsfreiheit werden. Von der Frage der generellen Anwendung der Schranken des Art. 5 Abs. 2 GG auf die Kunstfreiheit ist die Frage zu trennen, wie zu verfahren ist, wenn eine Konkurrenzlage 303 zwischen Kunst- und Meinungsfreiheit besteht, d.h. wenn ein Kunstwerk zugleich eine Meinungsäußerung enthält 304 . Sollte auch hier an der vorbehaltlosen Kunstfreiheit festgehalten werden oder sollten vielmehr die Schranken des Art. 5 Abs. 2 GG Anwendung finden? Man muß sich hier fragen, ob es sich die h.M. nicht zu leicht macht, wenn sie - zumeist ohne jegliche Begründung - die Kunstfreiheit als lex specialis gegenüber der Meinungsfreiheit qualifiziert 305. Denn ein Kunstwerk kann (das wird sogar die

303 Zur Grundrechtskonkurrenz im allgemeinen vgl. nur etwa Berg, Konkurrenzen schrankendivergenter Freiheitsrechte im Grundrechtsabschnitt des Grundgesetzes; Bethge, Grundrechtskonflikte, in: Ergänzbares Lexikon des Rechts 5/340, S. Iff; Bleckmann, Staatsrecht II - Die Grundrechte, S. 39Iff; Fohmann, EuGRZ 1985, 49ff; Graf, Die Grenzen der Freiheitsrechte ohne besondere Vorbehaltsschranke, S. 80ff; Lepa, DVB1 1972, 16Iff; Lerche, in: Handbuch des Staatsrechts, § 122 Rn. 46ff; Pieroth/Schlink, Grundrechte - Staatsrecht II, Rn. 384ff; Rüfner, in: FG für BVerfG, Bd. II, S. 453 [474ff]; Schnapp, Grundrechtsschranken, in: Ergänzbares Lexikon des Rechts 5/350, S. 4; Schwabe, Probleme der Grundrechtsdogmatik, S. 324ff; Schwacke, Grundrechtliche Spannungslagen. 304 Das Problem der Konkurrenzlagen zwischen Kunst- und Meinungsfreiheit würde freilich nicht existieren, wenn man mit der früheren Rechtsprechung des BVerwG (BVerwGE 1, 303 [305]) alle meinungsäußemden Werke vom Kunstbegriff ausgrenzen würde. So auch Dünnwald, JR 1965, 46 [47]; Erwin Stein, JZ 1959, 720 [722]. Die These der scharfen Trennung zwischen Kunst und Meinung ist aber schon längst überholt (vgl. BVerfGE 75, 369 [377]; 81, 278 [291]) und vom BVerwG selbst (BVerwGE 25, 318 [328f]) ausdrücklich aufgegeben. Hier sei statt aller die - nahezu klassisch gewordene - Wendung von Arndt, NJW 1966, 26 [28], zitiert: "Von Aischylos bis Brecht, von Phidias bis Calder birst die Kunst von Meinungen". Ein interessantes, tragfähigeres Kriterium zur Abgrenzung des Schutzbereichs der Kunstfreiheit von demjenigen der Meinungsfreiheit bietet jedoch neulich Mahrenholz, in: Handbuch des Verfassungsrechts, § 26 Rn. 36ff, indem er die sinnlichästhetische Kommunikation der Kunst der unmittelbaren Aussage der Meinung i.S.d. Art. 5 Abs. 1 GG gegenüberstellt.

^ S o z.B. BVerfGE 30, 173 [191, 200]; 75, 369 [377]; 81, 278 [291]; Bär, Die verfassungsrechtliche Filmfreiheit und ihre Grenzen, S. 169; Bauer, JZ 1967, 167 [168]; Bethge, Grundrechtskonflikte, in: Ergänzbares Lexikon des Rechts 5/340, S. 3; Hempel, Die Freiheit der Kunst, S. 60; Meirowitz, Gewaltdarstellungen auf Videokassetten, S. 181; Pieroth/Schlink, Grundrechte - Staatsrecht II, Rn. 713; Ropertz, Die Freiheit der Kunst nach dem Grundgesetz, S. 85, 126; Rupert Scholz, in: MDHS, Kommentar zum GG, Art. 5 Abs. III Rn. 13, 50. A.A Berg, Konkurrenzen schrankendivergenter Freiheitsrechte im Grundrechtsabschnitt des Grundgesetzes, S. 142f Fn. 248; Graf, Die Grenzen der Freiheitsrechte oline besondere Vorbehaltsschranke, S. 84f; Erwin Stein, JZ 1959, 720 [722]. Skeptisch zur These der Spezialität der Kunst- gegenüber der Meinungsfreiheit auch Henschel, NJW 1990, 1937 [1943], Eine Ablehnung der Auffassung, daß Kunst- und Meinungsfreiheit in einem Spezialitätsverhältnis stehen würden, dürfte auch in einer neueren Entscheidung des BVerfG erblickt werden. Dort (BVerfGE 86, 1 [9)] hat das Gericht offengelassen, "ob eine satirische

E. Übertragung der Schranken anderer Verfassungsbestimmungen

Regel sein), muß aber nicht eine Meinung 306 enthalten: man denke nur etwa an Porträts, Gemälde, wo lediglich Landschaften dargestellt werden, und musikalische Kunstwerke, bei denen schlichte Gefühle zum Ausdruck kommen 307 . Angesichts dessen besteht zwischen Kunst- und Meinungsfreiheit ein Spezialitätsverhältnis (i.S. daß die Tatbestände der beiden Normen in einem Verhältnis vom Kreisausschnitt zum Gesamtkreis stehen würden 308 ) nicht. Richtiger wäre es demgegenüber, eine Idealkonkurrenz zwischen Kunstund Meinungsfreiheit anzunehmen. Die hier vertretene Auffassung hat vor allem den Vorteil, daß dadurch beiden Grundrechten Rechnung getragen wird. Das heißt aber nicht, daß die Schranken des Art. 5 Abs. 2 GG auf meinungsäußernde Kunstwerke angewendet werden sollten 309 . Ganz im Gegenteil muß hier der vorbehaltlosen Kunstfreiheit als dem Grundrecht mit den geringeren Einschränkungsmöglichkeiten der Vorrang eingeräumt werden. Denn "Sinn der Verfassung kann es nicht sein, die gleichzeitig mögliche Beanspruchung mehrerer Grundrechte dem Grundrechtsträger nachteilig werden zu las-

Äußerung im Einzelfall im Schutzbereich beider Verfassers).

Grundrechte liegen kann" (Hervorhebung des

306

Zur Problematik des Begriffs "Meinung" i.S.d. Art 5 Abs. 1 GG (auf die hier nicht näher eingegangen werden kann) vgl. nur etwa Bleckmann, Staatsrecht II - Die Grundrechte, S. 670ff; Herzog, in: MDHS, Kommentar zum GG, Art. 5 Abs. I, II Rn. 50ff; Wendt, in: v.Münch/Kunig, GG-Kommentar, Art. 5 Rn. 8ff. 307

Vgl. Erbel, Inhalt und Auswirkungen der verfassungsrechtlichen Kunstfreiheitsgarantie, S. 15: "Es gibt (...) viele Kunstwerke (gerade z.B. im Bereich der modernen, nichtgegenständlichen Malerei), die ihrem Wesen nach mit einer Meinungsäußerung nichts zu tun haben, Kunstwerke, die nichts anderes als der unmittelbare Niederschlag eines Umwelterlebens oder einer inneren Stimmung sind und mehr auch nicht sein wollen. Freilich gibt es daneben auch solche Kunst, die zugleich eine echte Meinungsäußerung ist". Ebenso Berg, Konkurrenzen schrankendivergenter Freiheitsrechte im Grundrechtsabschnitt des Grundgesetzes, S. 142 Fn. 348; Schick, Kunstwerkgarantie und Strafrecht, S. 26f. Vgl. aber auch OVG Münster, JZ 1959, 716 [718] und Ropertz, Die Freiheit der Kunst nach dem Grundgesetz, S. 42, wonach jedes Kunstwerk mit einer Meinung notwendigerweise verbunden ist. 308

Zu den Voraussetzungen der Annahme eines Spezialitätsverhältnisses im einzelnen vgl. etwa Bleckmann, Staatsrecht II - Die Grundrechte, S. 394f; Lorenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, S. 267; Schwabe, Probleme der Grundrechtsdogmatik, S. 327. Vgl. aber auch Fohmann, EuGRZ 1985, 49 [57f], der neben der herkömmlichen Spezialität i.S. einer Tatbestandsinklusion auch eine weitere Art von Spezialität annimmt, bei der die Qualifizierung eines Grundrechts als lex specialis gegenüber einem anderen nicht auf einer Tatbestandsinklusion, sondern auf sachlich-materialen Argumenten basiert ("materiale Spezialität"). Vgl. auch BVerfGE 30, 173 [191], wo das Gericht ein Speziaiitätsverhältnis zwischen Kunst- und Meinungsfreiheit aus der systematischen Trennung der Gewährleistungsbereiche in Art. 5 GG hergeleitet hat. 309 310

So aber z.B. August Schmidt, GA 1966, S. 97 [103].

Lerche, in: Handbuch des Staatsrechts, § 122 Rn. 48. Daß bei einer Idealkonkurrenz das "stärkere" Grundrecht das Maß möglicher Beschränkungen bestimmt, betonen femer etwa Graf, Die

138

2.Kap. Die Einschränkbarkeit der Kunstfreiheit

Eine abschließende Bemerkung sei hier erlaubt: bei einer genaueren Betrachtungsweise stellt man fest, daß es keinen großen Unterschied macht, ob man an der Vorbehaltlosigkeit der Kunstfreiheitsgarantie festhält oder ob man die Schranken des Art. 5 Abs. 2 GG auch auf Kunstwerke für anwendbar hält. Denn die in Art. 5 Abs. 2 GG genannten Materien werden von der h.M. nicht als absolute Schranken verstanden. Vielmehr wird hier aufgrund der nicht unproblematischen - Wechselwirkungstheorie eine Einzelfallabwägung verlangt 311 , wie dies bei den vorbehaltlosen Grundrechten auch der Fall ist. Zwar dürfen die vorbehaltlosen Grundrechte nach h.M. nur durch verfassungsrechtlich geschützte Rechtsgüter beschränkt werden 312, während bei Art. 5 Abs. 2 GG jedes allgemeine Gesetz in der Lage ist, eine grundrechtliche Einschränkung einzuführen. Jedoch ist auch insoweit der Unterschied nicht so groß, wie er auf den ersten Blick erscheint. Da die meisten Rechtsgüter - nicht zuletzt wegen des Art. 2 Abs. 1 GG - Verfassungsrang genießen313, werden die allgemeinen Gesetze, die nicht als Konkretisierung irgendeines Verfassungsrechtsguts angesehen werden können, nur die Ausnahme sein. Angesichts dessen werden die meisten allgemeinen Gesetze im Ergebnis doch imstande sein, auch der als vorbehaltlosen verstandenen Kunstfreiheit Schranken zuziehen 3 1 4 3 1 5 .

Grenzen der Freiheitsrechte ohne besondere Vorbehaltsschranke, S. 85ff; Lepa, DVB1 1972, 161 [164f]; Rüfner, in: FG für BVerfG, Bd. II, S. 453 [476fJ; Pieroth/Schlink, Grundrechte - Staatsrecht II, Rn. 391; Schnapp, Grundrechtsschranken, in: Ergänzbares Lexikon des Rechts 5/350, S. 4. Vgl. aber auch BVerfG, NJW 1994, 1779 [1780] för das Verhältnis zwischen Meinungs- und Versammlungsfreiheit in geschlossenen Räumen: "Zwar ist das Versammlungsrecht in geschlossenen Räumen vorbehaltlos gewährleistet. Das bedeutet aber nicht, daß Meinungsäußerungen in Versammlungen über Art. 5 I, II GG hinaus geschützt sind. Meinungsäußerungen, die durch eine nach Art. 5 II GG zulässige Nonn mit Strafen bedroht sind, bleiben auch in einer Versammlung verboten". 311 Vgl. BVerfGE 7, 198 [208ff|; st. Rspr. und zuletzt BVerfGE 86, 1 [lOfJ; BVerfG, NJW 1994, 1779f. Zur Kritik an die Wechselwirkungstheorie (die hauptsächlich darin besteht, daß die dadurch gefordete Einzelfallabwägung gegen die Wesentlichkeitstheorie verstoße und den grundgesetzlichen Gesetzesvorbehalt durch einen "Urteilsvorbehalt" ersetze) vgl. etwa Lerche, in: Rechtsfragen der Gentechnologie, S. 88 [97]; ders., in: Handbuch des Staatsrechts, § 122 Rn. 21; Ossenbühl, NJW 1976,2100 [2107].

312

Siehe dazu gleich unten in diesem Kapitel, FI. 313

Vgl. dazu Heinz, in: Grenzen politischer Kunst, S. 44 [55]; Kriele, JA 1984, 629 [631]; Lerche, AfP 1973, 496 [499]; ders., in: Handbuch des Staatsrechts, § 122 Rn. 8; Schwabe, DVB1 1971, 689; Wiehert, Zum Problem der Kunstfreiheitsgarantie, S. 76. 314 Insoweit kann Isensee (Wer definiert die Freiheitsrechte?, S. 30) nicht zugestimmt werden, wenn er ausfuhrt: "Handelt es sich gar um ein vorbehaltloses Grundrecht wie die Kunst- oder die Religionsfreiheit, so entzieht sich der Grundrechtsbereich nahezu jeder Einwirkung des Gesetzgebers und des Rechtsanwenders".

F. Beschränkung durch kollidierende Verfassungsrechtsgüter

139

Aus dem oben Gesagten ergab sich nicht nur, daß man oft aufgrund ganz unterschiedlicher Schrankenkonstruktionen zu denselben Ergebnissen gelangen kann 316 . Es wurde zugleich klargestellt, daß das eigentliche Problem bei kunstfreiheitsbezogenen Kollisionslagen nicht so sehr in der abstrakten Bestimmung der Schranken der Kunstfreiheit, sondern - und darin dürften Rechtsprechung und Grundrechtsdogmatik ihre primäre Aufgabe sehen - in der Durchleuchtung der Kriterien liegt, nach denen die Konfliktschlichtung der widerstreitenden Belange zu erfolgen hat. F. Beschränkung der Kunstfreiheit durch kollidierende, verfassungsrechtlich geschützte Rechtsgüter L Die Einschränkbarkeit der Kunstfreiheit durch kollidierende Verfassungsrechtsguter im allgemeinen Nach der ständigen Rechtsprechung des BVerfG finden sich die Schranken der Kunstfreiheit (wie auch aller vorbehaltlosen Grundrechte im allgemeinen) in den Grundrechten anderer Rechtsträger und in sonstigen Rechtsgütern, sofern diese gleichfalls mit Verfassungsrang ausgestattet sind 317 .

315 Daß sowohl die Anwendung der Schranken des Art. 5 Abs. 2 GG als auch das Festhalten an die Vorstellung einer vorbehaltlosen (durch andere Verfassungsrechtsgüter einschränkbaren) Kunstfreiheit zu weitgehend identischen Ergebnissen fuhren, betonen auch Breunung/Nocke, in: Literatur vor dem Richter, S. 235 [256fj; Gusy, JZ 1990, 640 [641]; Heinz, in: Grenzen politischer Kunst, S. 44 [55]; Henschel, NJW 1990, 1937 [1941]; Knies, Kunst, Freiheit der Kunst, in: Evangelisches Staatslexikon, Bd I., Sp. 1948; Ladeur, in: AK zum GG, Art. 5 Abs. 3 II Rn. 13; Lerche, AfP 1973, 496 [499]; Rupert Scholz, in: MDHS, Kommentar zum GG, Art. 5 Abs. III Rn. 54. Vgl. aber auch Mahrenholz, in. Handbuch des Verfassungsrechts, § 26 Rn. 65. Das kommt zuweilen auch in der Rechtsprechung des BVerfG selbst zum Ausdruck, insbesondere wenn das Gericht nur auf Art. 5 Abs. 1 GG abstellt und die Anwendbarkeit des Art. 5 Abs. 3 GG mit dem Argument offenläßt, daß die Einschränkung der einschlägigen Grundrechtsausübung auch bei einer Zugrundelegung der vorbehaltlosen Kunstfreiheit zulässig wäre. So BVerfGE 35, 202 [244]. 316

Ein charakteristisches Beispiel dafür, daß unterschiedliche Schrankenformeln zu weitgehend identischen Ergebnissen führen können, bieten auch die Ausführungen von Bär, Die verfassungsrechtliche Filmfreiheit und ihre Grenzen, S. 172ff an. Er geht davon aus, daß die immanenten Schranken der Kunstfreiheit aufgrund des - als Auslegungsregel verstandenen - Art. 2 Abs. 1 Halbs. 2 GG zu ermitteln seien (siehe dazu oben in diesem Kapitel, E I). Indem er aber die dadurch gewonnenen Schranken grundsätzlich auf Verfassungsrechtsgüter reduziert und darüber hinaus eine Einzelfallabwägung verlangt, kommt er zu keinen anderen Resultaten als die h.M., die die Kunstfreiheit durch andere Verfassungsrechtsgüter (aufgrund einer Einzelfallabwägung) eingeschränkt sieht. 317 Vgl. etwa BVerfGE 30, 173 [193]; 33, 52 [71]; 67, 213 [228]; 77, 240 [253]; 81, 278 [292]; 83, 130 [139].

140

2.Kap. Die Einschränkbarkeit der Kunstfreiheit

Dieser Schrankenkonstruktion, der sich auch die anderen Gerichten 318 und die h.M. in der Literatur 319 angeschlossen haben, ist zuzustimmen. Sie ist sogar in dieser Allgemeinheit unanfechtbar. Daß andere verfassungsrechtlich geschützte Rechtsgüter in der Lage sind, der Kunstfreiheit Schranken zu ziehen, ergibt sich nicht zuletzt aus dem Prinzip der Einheit der Verfassung 320: es ist ein Gebot dieses Interpretationsgrundsatzes, daß ein vorbehaltloses Grundrecht nicht einseitig zu Lasten der anderen Verfassungsrechtsgüter realisiert werden darf, sondern vielmehr sein Geltungsbereich unter gleichzeitiger Berücksichtigung der entgegenstehenden Verfassungswerten bestimmt werden muß 321 . Schwierigkeiten kann aber die Formel des BVerfG bereiten, wenn man den theoretischen Bereich verläßt und sich der praktischen Anwendung zuwendet. Denn es kann wohl Fälle geben, bei denen das mit der Kunstfreiheit kollidierende Rechtsgut keinen Verfassungsrang genießt und trotzdem eine Beschränkung der Kunstfreiheit sachlich geboten ist. Als Beispiel sei hier die Kollision zwischen Kunstfreiheit und Tierschutz erwähnt. Der Schutz von Tieren stellt nach richtiger Ansicht kein verfassungsrechtlich geschütztes Rechtsgut dar 322 .

318

Vgl. etwa BVerwGE 77, 75 [82]; 91, 223 [224]; BVerwG, DÖV 1981, 342; BVerwG, BPSReport 2/1987, 1[4]; BVerwG, NVwZ 1991, 983; BVerwG, JMS-Report 1/1993, 9 [10]; BGH, JZ 1975, 637 [638]; BGHSt 37, 55 [62]; LG Frankfurt, BPS-Report 5/1988, 45 [47]. 319

Der Schrankentheorie des BVerfG folgen etwa Badura, Staatsrecht, Rn. C76 Erhardt, Kunstfreiheit und Strafrecht, S. 105ff; Erichsen, VerwArch 69 [1978], S. 387 [395]; Häberle, AöR 110 [1985], S. 577 [60 lf]; Hempel Die Freiheit der Kunst, S. 53; Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Rn. 403; Karpen/Hofer, JZ 1992, 951 [954]; Meyer-Cording, JZ 1976,737 [741]; Friedrich Müller, Die Positivität der Grundrechte, S. 46f, 55; Ostendorf, in: Literatur vor dem Richter, S. 271 [275]; v.Pollern, JuS 1977, 644 [647]; Rüfner, in: FG för BVerfG, Bd. II, S. 453 [461]; Schnapp, JuS 1978, 729 [732ff|; ders., Grundrechtsschranken, in: Ergänzbares Lexikon des Rechts 5/350, S. 2; Zechlin, NJW 1984, 1091 [1092]. Kritisch dagegen Bethge, Zur Problematik von Grundrechtskollisionen, S. 263fT; Isensee, AfP 1993, 619 [625]; Knies, Kunst, Freiheit der Kunst, in: Evangelisches Staatslexikon, Bd. I, Sp 1948; Kriele, JA 1984, 629ff; Lerche, in: FS für Mahrenholz, S. 515 [525ff]; Walter Schmidt, NJW 1973, 585 [586f]; Schwabe, Probleme der Grundrechtsdogmatik, S. 308. 320

Zur Auslegungsmaxime der Einheit der Verfassung vgl. nur etwa Ehmke, in: W D S t R L 20 [1963], S. 53 [77ff]; Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Rn. 71; Friedrich Müller, Die Einheit der Verfassung. 321

Vgl. auch Blaesing, Grundrechtskollisionen, S. 6f, 98ff; Friedrich Grundrechte, S. 46f; Schnapp, JuS 1978, 729 [733].

Müller, Die Positivität der

322 So z.B. AG Kassel, NStZ 1991, 443 [444]; VG Berlin, NVwZ-RR 1994, 506 [SQl^JCloepfer, JZ 1986, 205 [206ff]; Pieroth/Schlink, Grundrechte - Staatsrecht II, Rn. 714. A A (wenn auch etwas zurückhaltend) Heyde, in: FS für Zeidler, Bd. II, S. 1429 [1441f]. Vgl. femer Heydebrand/Gruber, ZRP 1986, 115 [118),Mädrich, Forschungsfreiheit und Tierschutz im Spiegel des Verfassungsrechts, S. 97ff; Selk, NStZ 1991, 444f[Würkner, Das Bundesverfassungsgericht und die Freiheit der Kunst, S.118, die den angeblichen Verfassungsrang des Tierschutzes kurzerhand aus dem Menschenwür-

F. Beschränkung durch kollidierende Verfassungsrechtsgüter

141

Man dürfte aber darin einig sein, daß dem Künstler nicht frei stehen kann, Tiere für die Verwirklichung seiner künstlerischen Zwecke beliebig zu quälen oder zu töten 323 . Gerade in solchen Fällen scheint die These, daß vorbehaltlose Grundrechte nur durch andere Verfassungsrechtsgüter eingeschränkt werden können, in eine Sackgasse zu geraten 324. Trotz solcher Schwierigkeiten, die zumeist durch eine sorgfaltige Ermittlung des Schutzbereichs des vorbehaltlosen Grundrechts bewältigt werden können, ist an der Richtigkeit dieser Lehre festzuhalten. Sie erweist den Vorteil, daß auf diese Weise die Schranken der Kunstfreiheit (und aller anderen vorbehaltlosen Grundrechte) durch die Verfassung selbst und nicht durch freie erdachte "orphische" Schrankenformeln festgelegt werden. Die Reduzierung der zulässigen Schranken der vorbehaltlosen Grundrechten auf andere Verfassungsrechtsgüter trägt außerdem der Entscheidung des Grundgesetzgebers Rechnung, den vorbehaltlosen Grundrechten einen größeren Freiheitsraum als den mit Gesetzesvorbehalt versehenen Grundrechten zu gewähren (wobei allerdings der Unterschied zwischen diesen beiden Kategorien von Grundrechten bezüglich ihrer Schrankenziehung nicht zu überschätzen ist, weil die größte Zahl der gesetzlichen Bestimmungen auf den Schutz von Verfassungsrechtsgütern abzielt und deshalb in der Lage ist, auch vorbehaltlose Grundrechte einzuschränken325). Es muß allerdings nachdrücklich betont werden, daß die Schrankenkonstruktion des BVerfG keine "Zauberformel" darstellt, die die Lösung jeder kunstfreiheitsbezogenen Kollisionslage ohne weiteres ermöglichen würde

deprinzip des Art. 1 Abs. 1 GG herleiten. Solche Vorgehensweisen sind aber entschieden zu beanstanden. Denn es ist mit der herausgehobenen Stellung der Menschenwürde im Grundgesetzgefüge (siehe dazu unten in diesem Kapitel, F III) unvereinbar, den Begriff "Menschenwürde" ins Uferlose auszuweiten und Art. 1 Abs. 1 GG praktisch in einen Auffangtatbestand für alles das umzufunktionieren, was im Grundgesetz keine ausdrückliche Gewährleistung gefunden hat. Zum Erfordernis einer restriktiven Auslegung des Menschenwürdebegriffs siehe auch gleich unten in diesem Kapitel F II. 323 Vgl. LG München, BPS-Report 6a 1985, 12 [18]. Vgl. aber auch AG Kassel, NStZ 1991, 443 [LS], wo ausgeführt wird, daß "eine Performance, bei der es sich um darstellerische Kunst handelt, auch dann nicht geahndet werden kann, wenn sie mit Tierquälerei verbunden ist". Dagegen Selk, NStZ 1991,44f. 324 Diese Komplikationen sind vor allem auf die Tatsache zurückzuführen, daß das Grundgesetz nicht alle durch die Verfassung schützenswerten Rechtsgüter in seine Regelungen aufgenommen hat. Vgl. dazu Lerche, in: FS für Mahrenholz, S. 515 [526].

325

Siehe dazu oben in diesem Kapitel, E II. Vgl. ferner Lerche, in: Lerche/Schmitt Glaeser/Schmidt-Aßmann, Verfahren als staats- und verwaltungsrechtliche Kategorie, S. 97 [119f Fn. 58]; Walter Schmidt, NJW 1973, 585 [586f]; Schwabe, Probleme der Grundrechtsdogmatik, S. 308.

142

2.Kap. Die Einschränkbarkeit der Kunstfreiheit

(was aber einem großen Teil der Literatur und Rechtsprechung nicht bewußt zu sein scheint). Denn die zutreffende Feststellung, daß ein Verfassungsrechtsgut überhaupt in der Lage ist, der Kunstfreiheit Schranken zu ziehen, besagt noch nicht, wo diese Schranken verlaufen. Ebensowenig läßt sich daraus entnehmen, wer zur Ziehung dieser Schranken befugt ist und nach welchen sachlichen Maßstäben die Festlegung dieser Schranken zu erfolgen hat. Hier handelt es sich vielmehr um weitere Problemkreise, die einer besonderen Untersuchung bedürfen 326. Die Schrankenkonstruktion des BVerfG kann ferner nur dann ergiebig sein, wenn vorher die Frage geklärt worden ist, welche die mit Verfassungsrang ausgestatteten Rechtsgüter sind. Wird der Kreis der Verfassungsrechtsgüter nicht genau abgegrenzt, dann bleibt diese Schrankenformel ohne jeglichen Aussagegehalt. Es liegt aber auf der Hand, daß die Abgrenzung der verfassungsrechtlich geschützten Rechtsgüter keine einfache Aufgabe ist. Man denke nur an den Streit darüber, ob der Verfassungsrang eines Rechtsguts auch aus den Kompetenzvorschriften des Grundgesetzes (Art. 73ff, 83ff GG) abgeleitet werden kann 3 2 7 IL Die verfassungsrechtliche Gewährleistung des Jugendschutzes. Die Grundgesetzbestimmungen9 aufgrund deren der Jugendschutz Verfassungsrang genießt Nach dem oben Gesagten ist der Jugendschutz nur dann in der Lage, der Kunstfreiheit Schranken zu ziehen, wenn er ein mit Verfassungsrang ausgestattetes Rechtsgut ist. Zur Begründung des Verfassungsrangs des Jugendschutzes reichen formelhafte Formulierungen oder bloße rechtspolitische Wünschbarkeiten nicht aus. Vielmehr müssen die einzelnen Grundgesetzbe326

Zu diesen Fragen - anhand der besonderen Konfliktkonstellation zwischen Kunstfreiheit und Jugendschutz - siehe im einzelnen unten im 3. Kapitel. 327 Vgl. dazu etwa BVerfGE 28, 243 [261]; 48, 127 [159f]; 53, 30 [56]; 69, 1 [21 (57ff: Sondervotum von Böckenßrde, Mahren holz)]·, VG Berlin, NVwZ-RR 1994, 506 [507]; Pieroth/Schlink, Grundrechte - Staatsrecht II, Rn. 381; v.Pollern, JuS 1977, 644 [648]; Selk, Asylrecht und Verfassung, S. 105ff; Schnapp, JuS 1978, 729 [734]; ders., Grundrechtsschranken, in: Ergänzbares Lexikon des Rechts 5/350, S. 3; Wendt, AöR 104 [1979], S. 414 [435]. Aber auch außerhalb des Kompetenzkatalogs des Grundgesetzes können sich Schwierigkeiten bei der Frage ergeben, ob eine Grundgesetzvorschrift einem Rechtsgut das Prädikat des "Verfassungsrechtsguts" - und damit eine grundrechtseinschränkende Wirkung - verleihen kann. Um ein Beispiel aus der Rechtsprechung zu erwähnen: ist Art. 22 GG, nach dem die Bundesflagge schwarz-rot-gold ist, in der Lage, dem Schutz der Bundesflagge Verfassungsrang zu gewähren? Vgl. dazu etwa BVerfGE 81, 278 [293f]; BGH, NJW 1986, 1271 [\212\, Ridder, in: Literatur vor dem Richter, S. 291 [306ff]; Würkner, Das Bundesverfassungsgericht und die Freiheit der Kunst, S. 104ff.

F. Beschränkung durch kollidierende Verfassungsrechtsgüter

143

Stimmungen herangezogen werden, aufgrund derer der Schutz der Jugend in die Höhe des Verfassungsrechtsguts aufsteigt 328. Der Jugenschutz ist im Grundgesetz nicht ausdrücklich als selbständiges Rechtsgut gewährleistet, sondern nur als Schranke einzelner Grundrechte erwähnt (Art. 5 Abs. 2, 11 Abs. 2, 13 Abs. 3 GG). Die Erwähnung des Jugendschutzes im Grundgesetz als Schranke dieser einzelnen Grundrechte vermag aber nicht einen Verfassungsrang des Jugendschutzes zu begründen 329 und ihm damit die Legitimation zu verleihen, (auch) die Kunstfreiheit einzuschränken. Wenn im Rahmen der vorbehaltlosen Grundrechte von Verfassungsrechtsgütern die Rede ist, die diese Grundrechte einschränken dürfen, dann können damit nur die eigenständigen Verfassungsrechtsgüter, nicht aber die lediglich in den verschiedenen Schrankenregelungen erwähnten Rechtsgüter gemeint sein. Denn der Geltungsbereich der letzteren beschränkt sich nur auf die bestimmten Grundrechtsvorschriften, auf die sie sich beziehen, und geht nicht darüber hinaus. Die Tatsache, daß der Jugendschutz nicht ausdrücklich als selbständiges Rechtsgut im Grundgesetz garantiert ist, mag zunächst erstaunlich sein. Denn der Schutz der Jugend stellt ohnehin ein sehr wichtiges Gemeinschaftsinteresse dar 3 3 0 Die Zurückhaltung des Grundgesetzgebers dem Jugendschutz gegenüber ist aber nicht ganz unverständlich. Es ist bis heute kaum beachtet worden, daß, als das Grundgesetz in Kraft gesetzt worden ist, der Jugendschutz in vielen Landesverfassungen als selbständiges Rechtsgut schon garantiert war 3 3 1 . In diesem Zusammenhang ist auch von Bedeutung, daß der

328 Vgl. BVerfGE 77, 240 [255]; 81, 278 [293]. Zur gebotenen Sorgfältigkeit bei der Prüfung der Frage, ob ein Rechtsgut verfassungsrechtlich geschützt ist, vgl. ferner Friedrich Müller, Freiheit der Kunst als Problem der Grundrechtsdogmatik, S. 107f; ders. JZ 1970, 87 [91]; Ridder, in: Literatur vor dem Richter, S. 291 [305f]. ò£

* Vgl. aber OVG Münster, NVwZ 1992, 396 und Erbel, Inhalt und Auswirkungen der verfassungsrechtlichen Kunstfreiheitsgarantie, S. 161, wo die verfassungsrechtliche Gewährleistung des Jugendschutzes u.a. aus Art. 5 Abs. 2 GG entnommen wird. Die "Mutzenbacher"-Entscheidung des BVerfG (BVerfGE 83, 130 [139f]) hat zwar die ausdrückliche Erwähnung des Jugendschutzes in Art. 5 Abs. 2 GG hervorgehoben, den Verfassungsrang des Jugendschutzes aber aus Art. 6 Abs. 2 Satz 1 und Art. 1 Abs. 1 i.V.m. Art. 2 Abs. 1 GG abgeleitet. Vgl. femer Borgmann, JuS 1992, 916 [917], wonach die Gewährleistung des Jugendschutzes als Grundrechtsschranke in Art. 5 Abs. 2 und Art. 13 Abs. 3 GG den Verfassungsrang dieses Rechtsguts verdeutliche. 330

Vgl. BVerfGE 30, 336 [348], wo der Schutz der Jugend als "ein Ziel von bedeutsamem Rang und ein wichtiges Gemeinschaftsanliegen" qualifiziert wird. So auch BVerfGE 77, 346 [356]. 331 Vgl. Art. 126 Abs. 3 Verf. Bayern, Art. 25 Verf. Bremen, Art. 30 Verf. Hessen, Art. 25 Abs. 2 Verf. Rheinland-Pfalz und Art. 25 Verf. Saarland. Dadurch kann auch die Nichtnormierung anderer Materien im Grundgesetz erklärt werden. Die fast ausnahmslos vorhandenen Kunstpflegeklauseln in den Landesverfassungen können beispielsweise das Fehlen einer entsprechenden Klausel im Grund-

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2.Kap. Die Einschränkbarkeit der Kunstfreiheit

Jugendschutz dem Polizeirecht zuzuordnen ist und demzufolge unter die Zuständigkeit der Länder fällt 332 . Das legt die Vermutung nahe, daß der Grundgesetzgeber sich der ausdrücklichen Garantie des Jugendschutzes aus Gründen föderalistischer Zurückhaltung enthalten und die Gewährleistung dieses Rechtsguts den Landesverfassungen überlassen hat 3 3 3 . Das heißt allerdings nicht, daß man dem Jugendschutz den Verfassungsrang absprechen müsse334. Es gibt Grundgesetzbestimmungen, die den Schutz der Jugend mit einschließen. Als solche Grundgesetzvorschrift, die den gesetz (mit)erklären. Vgl. dazu Knies, Schranken der Kunstfreiheit als verfassungsrechtliches Problem, S. 213; Mahrenholz, in: Handbuch des Verfassungsrechts, § 26 Rn. 122. 332

Siehe dazu oben im 1. Kapitel, Β I 1 Fn. 55.

333

Vgl. Lerche, in: Lerche/Schmitt Glaeser/Schmidt-Aßmann, Verfahren als staats- und verwaltungsrechtliche Kategorie, S. 97 [119f Fn. 58], wo betont wird, daß das Grundgesetz aus föderalistischer Zurückhaltung nicht sämtliche "durch die Verfassung schützenswerten Interessen verfassungsgeschützt hat (sondern dies teilweise etwa den Landesverfassungen überließ)". Vgl. auch ders., in: Handbuch des Staatsrechts, § 122 Rn. 8; ders., in: FS für Mahrenholz, S. 515 [526]. Siehe des weiteren Knies, Schranken der Kunstfreiheit als verfassungsrechtliches Problem, S. 213, der den Hauptgrund für den Verzicht auf eine ausdrückliche kulturstaatliche Verpflichtungserklärung im Grundgesetz in der prinzipiellen Zuständigkeit der Länder zur Kulturgesetzgebung sieht. 334

Daß der Jugendschutz ein verfassungsrechtlich geschütztes Rechtsgut darstellt, ist ganz h.M. Vgl. etwa BVerfGE 83, 130 [139f]; BVerwGE 39, 197 [208]; 77, 75 [82]; 91, 223 [224f]; BVerwG, BPS-Report 2/1987, 1 [4]; BVerwG, JMS-Report 1/1993, 9 [10]; BGHSt 37, 55 [62f]; OVG Münster, NVwZ 1992, 396; LG Lübeck, BPS-Report 6/1986, 22 [23]; LG München, BPS-Report 6a/1985, 12 [18]; Borgmann, JuS 1992, 916 [917] Erbel, Inhalt und Auswirkungen der verfassungsrechtlichen Kunstfreiheitsgarantie, S. 161f; Geiger, in: FS fur Leibholz, Bd. II, S. 187 [200, 202]; Haberle, AöR 110 [1985], S. 577 [601]; v.Hartlieb, NJW 1985, 830 [833]; Hempel, Die Freiheit der Kunst, S. 53f; vXalm, DÖV 1994, 23 [24]; Kuner, AfP 1991, 384 [386]; Ladeur, in: AK zum GG, Art. 5 Abs. 3 II Rn. 13; Lutz, NJW 1988, 3194 [3195]; Maiwald, JZ 1990, 1141 [1142]; Mayer-Tasch, JZ 1969, 284 [286]; Meirowitz, Gewaltdarstellungen auf Videokassetten, S. 184f; Meyer-Cording, JZ 1976, 737 [744]; Rainer Scholz, ZfSH/SGB 1993, 349 [350]; Rupert Scholz, in: MDHS, Kommentar zum GG, Art. 5 Abs. III Rn. 70; Spanner, FamRZ 1963, 314; Stummer, BayVBl 1961, 229f; Würkner, NVwZ 1992, 1 [9], wobei allerdings die Qualifizierung des Jugendschutzes als Verfassungsgut in der Regel ohne nähere Begründung erfolgt. Entschieden gegen einen Verfassungsrechtsgut "Jugendschutz" Maunz, in: FS für Obermayer, S. 85 [92f]; Friedrich Müller, Freiheit der Kunst als Problem der Grundrechtsdogmatik, S. 108, 122; ders., JZ 1970, 87 [91]. Kritisch gegen die dogmatische Richtigkeit der These, daß der Jugendschutz Verfassungsrang genießt, etwa Geis, NVwZ 1992, 25 [26f] und Herkströter, AfP 1992, 23 [28], die aber im Ergebnis den Verfassungsrang des Jugendschutzes annehmen (entweder aufgrund eines "Bundesverfassungsgerichtspositivismus" - so Herkströter, aaO, S. 128 - oder um der "sachlichen Berechtigung willen" so Geis, aaO, S. 27). Soweit die dogmatischen Bedenken gegen die Annahme des Verfassungsrangs des Jugendschutzes darin einmünden, daß auf diese Weise der Jugendschutzvorbehalt des Art. 5 Abs. 2 GG durch die Hintertür als Schranke der Kunstfreiheit eingeführt werde, sei auf die Ausführungen unten in diesem Kapitel, F III hingewiesen. Nur so viel sei hier vorweggenommen: Die Nichtanwendung des Art. 5 Abs. 2 GG auf die Kunstfreiheit impliziert keine Spemvirkung in dem Sinne, daß die dort genannten Materien auch nicht als verfassungsimmanente Schranken des Art. 5 Abs. 3 GG in Betracht kommen können.

F. Beschränkung durch kollidierende Verfassungsrechtsgüter

145

gesamten Jugendschutz zum Verfassungsrechtsgut erheben könnte, kommt aber - entgegen einer weitverbreiteten Meinung in der Literatur und Rechtsprechung33^ - nicht die Menschenwürde des Art. 1 Abs. 1 GG in Betracht. Sicherlich kann Art. 1 Abs 1 GG in einzelnen Konstellationen dem Jugendschutz die notwendige verfassungsrechtliche Legitimation zur Beschränkung (auch) der Kunstfreiheit verleihen, denn es gibt jugendgefährdende Werke, die die Menschenwürde verletzen. Man denke nur etwa an rassistische und gewaltverherrlichende Werke oder an Werke, die als harte Pornographie zu qualifizieren sind 336 . Die Menschenwürde ist aber als generelle Grundlage zur Herleitung des Verfassungsrangs des gesamten Jugendschutzes ungeeignet. Man muß sich darüber im klaren sein, daß nicht alle jugendgefährdenden Werke gegen die Menschenwürde verstoßen. So kann z.B. ein freizügiger erotischer Roman, der nicht einmal als einfache Pornographie bezeichnet werden kann, u.U. eine Gefahr für die sittliche Entwicklung der Jugend auslösen. Daß aber dieser Roman eine Verletzung der Menschenwürde darstellt, kann kaum angenommen werden 337. Man sollte mit der Menschwürde sehr vorsichtig verfahren und ihren Geltungsbereich auf evidente, krasse Fälle beschränken. Würde dagegen eine rücksichtslose Ausweitung des Anwendungsbereichs der Menschenwürde stattfinden, dann würde sie gleichzeitig ihren absoluten und ausnahmslosen Durchsetzungsanspruch verlieren und könnte ihre oberste Stellung im Grundgesetzgefuge 338 nicht mehr aufrechterhalten 339.

335

Vgl. grundlegend dazu BVerwGE 39, 197 [208]: "Dazu (seil, zur Menschenwürde) gehört es auch, Jugendliche vor sittlicher Gefährdung zu bewahren". So auch BGHSt 37, 55 [62f]; Hempel, Die Freiheit der Kunst, S. 274; Meyer-Cording, JZ 1976, 737 [744]; Rupert Scholz, in: MDHS, Kommentar zum GG, Art. 5 Abs. III Rn. 70. 336 Insoweit ist BVerwGE 77, 75 [82]; BVerwG, BPS-Report 2/1987, 1[4]; Lutz, NJW 1988, 3194 [3195]; Würkner, NVwZ 1992, 1 [5]; ders., Das Bundesverfassungsgericht und die Freiheit der Kunst, S. 11 zuzustimmen, wenn sie auf dem Standpunkt stehen, daß der Schutz von Kindern und Jugendlichen vor sittlicher Gefährdung im Kernbereich von Art. 1 Abs. 1 GG erfaßt wird. 337 Vgl. dazu auch Erbel, DVB1 1973, 527 [532]; Würkner, NVwZ 1992, 1 [4]; ders., Das Bundesverfassungsgericht und die Freiheit der Kunst, S. 10. Daß Art. 1 Abs. 1 GG den Jugendschutz nicht vollständig erfaßt, wird vor allem dann deutlich, wenn man den Bereich der sittlichen Jugendgefährdung verläßt. So kann z.B. ein Film, dessen Jugendgefährlichkeit nicht in einem unsittlichen Inhalt, sondern in einer für die Jugend schockierenden Wirkung liegt (man denke nur an Filme, die das gesellschaftliche Problem der Euthanasie behandeln), nicht (ohne weiteres) als Verstoß gegen die Menschenwürde charakterisiert werden.

338

Siehe dazu gleich unten in diesem Kapitel, F III. 339

Für eine restriktive Interpretation der Menschenwürde plädieren insbesondere Lerche, in: Rechtsfragen der Gentechnologie, S. lOOff; ders., in: Handbuch des Staatsrechts, § 122 Rn. 19; ders., in: FS för Mahrenholz, S. 515 [519f]; Würkner, NJW 1988, 317 [318]. Erkennbar ist aber die Tendenz in der Literatur und Rechtsprechung, immer melir Inhalte in Art. 1 Abs. 1 GG zu projizieren (vor allem mit dem Zweck, sachlich notwendige Beschränkungen vorbehaltloser Grundrechte verfas10 Vlachopoulos

146

2.Kap. Die Einschränkbarkeit der Kunstfreiheit

Insbesondere verfehlt ist aber die Vorgehensweise der "Mutzenbacher"Entscheidung des BVerfG, die den Verfassungsrang des Jugendschutzes vor allem aus dem in Art. 6 Abs. 2 Satz 1 garantierten elterlichen Erziehungsrecht abgeleitet hat 340 . Nach dieser Entscheidung liege das Ziel des GjS gerade darin, Störungen des grundrechtlich gewährleisteten Erziehungsrechts der Eltern vorzubeugen. Damit wolle nämlich der Gesetzgeber sicherstellen, daß jugendgefährdende Schriften Kindern und Jugendlichen nur mit Zustimmung ihrer Eltern zugänglich gemacht werden 341. Sicher ist dabei, daß die Indizierung einer Schrift im Ergebnis eine Verstärkung des Erziehungsrechts der Eltern bewirkt, indem es allen anderen Personen verboten wird, indizierte Schriften Kindern und Jugendlichen zugänglich zu machen. Es wäre aber eine Umkehrung des Zwecks des GjS, wenn man, sich auf diese mittelbare Wirkung der Indizierung einer Schrift stützend, annehmen würde, daß das Hauptziel des GjS die Sicherung des elterlichen Erziehungsrechts ist. Das GjS, wie auch das Jugendschutzrecht im allgemeinen, zielt vielmehr auf die Bewahrung der Jugend vor Einflüssen ab, die sich auf ihre Entwicklung schädlich auswirken können. Das BVerfG läßt ferner außer acht, daß es auch Jugendschutzvorschriften gibt, in denen kein "Erzieherprivileg" vorgesehen ist. So darf z.B. ein Jugendlicher einen für sein Alter nicht freigegebenen Kinofilm auch dann nicht besuchen, wenn er von seinen Eltern begleitet wird 3 4 2 . Hier wird noch einmal deutlich, daß das Ziel der hier

sungsrechtlich zu legitimieren). Nicht nur der Tierschutz (siehe die Nachweise oben in diesem Kapitel bei Fn. 322), sondern auch das Namensrecht einer politischen Partei wurde als Ausfluß der Menschenwürde erachtet (vgl. OLG Karlsruhe, NJW 1972, 1810[1812]). 340 BVerfGE 83, 130 [193f]. So auch BVerwGE 91, 223 [224f]; BVerwG, JMS-Report 1/1993, 9 [10]; OVG Münster, NVwZ 1992, 396; Borgmann, JuS 1992, 916 [917]; Meirowitz, Gewaltdarstellungen auf Videokassetten, S. 185. In einem vorherigen Kammerbeschluß (GewArch 1988, 369 [370]) hat aber das BVerfG den Verfassungsrang des Jugendschutzes nicht aus dem elterlichen Erziehungsrecht, sondern aus Art. 6 Abs. 1 GG (Schutz der Familie) und Art. 6 Abs. 2 Satz 2 GG (Wächteramt des Staates) abgeleitet. 341 Nach § 21 Abs. 4 GjS dürfen Eltern - frei von jeder Strafandrohung - ihren Erziehungsbefohlenen jugendgefährdende Schriften überlassen. Vgl. ferner die "Erzieherprivilegien" der §§ 12 Abs. 2 Satz 2 JÖSchG, 131 Abs. 4 StGB, 184 Abs. 6 StGB. Zur Problematik der "Erzieherprivilegien" vgl. nur etwa Schroeder, in: FS fur Lange, S. 39Iff; ders., Pornographie, Jugendschutz und Kunstfreiheit S. 13f. 342 Vgl. dazu Gernert/Stoffers, Kommentar zum JÖSchG, S. 110 und Hölzel, GewArch 1985, 209 [211]. In diesem Zusammenhang ist auch § 184 Abs. 6 StGB zu erwähnen, der ein Erzieherprivileg nur für die "einfache", nicht aber für die "harte" Pornographie vorsieht. Vgl. dazu Müller-Dietz, in: Stenographischer Bericht über die 24. Sitzung des Ausschusses für Jugend, Familie und Gesundheit des Deutschen Bundestages vom 27.6.1984, Teil II, S. 190f; Schrat4t, Jugendschutz und Medien, S.65.

F. Beschränkung durch kollidierende Verfassungsrechtsgüter

147

interessierenden Vorschriften nicht in der Sicherung des elterlichen Erziehungsrechts liegt 343 . Nur am Rande und ohne Anspruch auf Vollständigkeit seien hier die folgenden Überlegungen hinzugefügt. Das BVerfG geht in seiner "Mutzenbacher"-Entscheidung implizit davon aus, daß die Eltern das Recht haben sollten, ihren Kindern auch jugendgefährdende Schriften i.S.d. §§ 1 Abs. 1, 6 GjS zugänglich zu machen. Prinzipiell ist dagegen nichts einzuwenden. Denn die Erziehung ist zuvörderst Recht der Eltern (Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG) und diese sind eher als staatliche Stellen in der Lage, die Wirkung einer Schrift auf ihre eigenen Kinder zu beurteilen. Darüber hinaus wäre der Staat schlecht beraten, wollte er in den intimen Bereich der Familie eindringen. Ein Strafprozeß gegen die Eltern wegen des Überlassens von jugendgefährdenden Schriften an ihre Kinder könnte beispielsweise katastrophale Folgen für die Familie haben, weil in einem solchen Verfahren notwendigerweise Einzelheiten vom Internum der Familie vor der Öffentlichkeit gebracht würden. Wie ist es nun aber mit denjenigen Fällen, bei denen die Überlassung von jugendgefährdenden Schriften an die Erziehungsbefohlenen einen eindeutigen und evidenten Mißbrauch des elterlichen Erziehungsrechts darstellt? (man denke etwa an die Verschaffung von Kinderpornographie an Mindeqährige durch ihre Eltern). Sollte in solchen krassen und evidenten Fällen das elterliche Erziehungsrecht nicht hinter den Interessen des Jugendschutzes zurücktreten? 344 Die verfassungsrechtliche Gewährleistung des Jugendschutzes ergibt sich aber zunächst aus dem Persönlichkeitsrecht (Art. 2 Abs. 1 i. V.m. Art. 1 Abs. 1 GG) 3 4 5 . Kinder und Jugendliche haben danach ein eigenes Recht auf Entwicklung ihrer Persönlichkeit i.S. dieser Verfassungsbestimmungen 346. Die Entwicklung der Jugendlichen zur eigenverantwortlichen Persönlichkeit innerhalb

343 Ebenso kritisch Mahrenholz, in: Handbuch des Verfassungsrechts, § 26 Rn. 97 und Schraut, Jugendschutz und Medien, S. 65. Vgl. auch Schroeder, Pornographie, Jugendschutz und Kunstfreiheit, S. 14, der zutreffend bemerkt, daß das BVerfG dadurch das Rechtsgut der Jugendschutzvorschriften verlagert hat. 344 Vgl. zu diesem Problemkreis den Stenographischen Bericht über die 24. Sitzung des Ausschusses für Jugend, Familie und Gesundheit des Deutschen Bundestages vom 27.6.1984, Protokoll Nr. 24, Teil II, S. 144ff. 345

So BVerfGE 83, 130 [140]; BVerwGE 91, 223 [224f]; BVerwG, JMS-Report 1/1993, 9 [10]; OVG Münster, NVwZ 1992, 396; LG München, BPS-Report 6a/1985, 12 [18]; Borgmann, JuS 1992, 916 [917]; Kalb, Der Jugendschutz bei Film und Fernsehen, S. 12ff; v. Kalm, DÖV 1994, 23 [24]; Meirowitz, Gewaltdarstellungen auf Videokassetten, S. 185; Mahrenholz, in: Handbuch des Verfassungsrechts, § 26 Rn. 98; Meyer-Cording, JZ 1976, 737 [744]; Schraut, Jugendschutz und Medien, S. 45 346

10*

BVerfGE 24, 119 [144]; 79, 51 [63]; 83, 130 [140].

2.Kap. Die Einschränkbarkeit der Kunstfreiheit

148

der sozialen Gemeinschaft kann aber durch jugendgefährdende Werke nachhaltig beeinträchtigt werden. Da Jugendliche aufgrund ihres besonderen Entwicklungsstadiums nicht in der Lage sind, solche, ihre Persönlichkeitsentfaltung schädigende Einflüsse selbst zu bewältigen, bedürfen sie dazu des staatlichen Schutzes347. Die staatlichen Maßnahmen zum Schutz der Jugend genießen demnach Verfassungsrang, indem sie das grundgesetzlich anerkannte Recht der Jugendlichen zur Entwicklung einer eigenverantwortlichen Persönlichkeit sicherstellen und Einflüsse, die gerade diese Entwicklung der Jugendlichen stören könnten, von ihnen fernhalten. Der Verfassungsrang des Jugendschutzes beruht ferner auf Art. 6 Abs. 1 GG (Schutz von Ehe und Familie) 348 . Die Institution der Familie ist so unauflöslich mit dem Schutz der Jugend verbunden, daß die grundgesetzliche Garantie der Familie auch den Schutz der Jugend einschließt. Das wird vor allem dann deutlich, wenn man sich die Tatsache vergegenwärtigt, daß eine der Hauptfunktionen der Familie gerade darin besteht, Kinder und Jugendliche zu erziehen und sie vor nachteiligen und schädlichen Einflüssen fernzuhalten. Oder in der Sprache des BVerfG: "Familie ist die umfassende Gemeinschaft von Eltern und Kindern, in der den Eltern vor allem Recht und Pflicht zur Pflege und Erziehung der Kinder erwachsen" 349. Es muß auch berücksichtigt werden, daß der Jugendliche ein wesentlicher Bestandteil der Familie ist und daß es auch von seiner Entwicklung entscheidend abhängt, in welchem Grad Ehe und Familie intakt sind 350 . Gerät der Jugendliche in Verwahrlosung, dann wird das katastrophale Wirkungen auch für die Ehe und Familie haben.

347 Damit erweist sich der Jugendschutz als die Erfüllung einer staatlichen Schutzpflicht gegenüber dem Persönlichkeitsrecht der Kinder und Jugendlichen. Zur Problematik der Schutzgebotfunktion der Grundrechte (auf die im Rahmen der vorliegenden Arbeit nicht näher eingegangen werden kann) vgl. etwa BVerfGE 39, 1 [41f]; 49, 89 [141f]; 53, 30 [57]; 55, 37 [68]; 56, 54 [73]; 75, 40 [62ff, 66ff]; 77, 170 [214]; 77, 381 [402ff]; 81, 242 [255f]; Hillgruber/Schemmer, JZ 1992,946 [947f]; Jarass, AöR 110 [1985], S. 363 [378fl]; Eckhart Klein, NJW 1989, 1633ff; Lerche, in: Handbuch des Staatsrechts, § 121 Rn. 5, 42; Scherzberg, Grundrechtschutz und "Eingriffsintensität", S. 194ff; Schwabe, Probleme der Grundrechtsdogmatik, S.211ff. 348 So auch LG Lübeck, BPS-Report 6/1986, 22 [23]; LG München, BPS Report 6a/1985, 12 [18]; Erbel, Inhalt und Auswirkungen der verfassungsrechtlichen Kunstfreiheitsgarantie, S. 161f; Hamann/Lenz, Kommentar zum GG, Art. 6 Anm. Β 2; Krauss, FamRZ 1960, 56 [58]; Ladeur, in: AK zum GG, Art. 5 Abs. 3 II Rn. 13; Maiwald, in: Kunst und Recht, S. 67 [76]; Mayer-Tasch, JZ 1969, 284 [286]; Rupert Scholz, in: MDHS, Kommentar zum GG, Art. 5 Abs. III Rn. 70; Spanner, FamRZ 1963,314; Stummer, BayVBl 1961,229f. 349

BVerfGE 10, 59 [66].

Vgl. Kalb, Der Jugendschutz bei Film und Femsehen, S. 12.

F. Beschränkung durch kollidierende Verfassungsrechtsgüter

149

Der besonders enge Zusammenhang zwischen der Institution der Familie und dem Schutz der Jugend kommt aber auch mit besonderer Deutlichkeit in vielen Landesverfassungen zum Ausdruck: dort wird der Jugendschutz im Abschnitt mit dem Titel "Ehe und Familie" oder "Die Familie" gewährleistet 351. Nach alledem umfaßt der verfassungsrechtliche Schutz der Familie gemäß Art. 6 Abs. 1 GG auch den Schutz der Jugend als den "empfindlichsten und daher schutzwürdigsten"352 Teil dieser Institution. Von der These, daß der Jugendschutz essentieller Bestandteil des Art. 6 Abs 1 GG ist, geht aber auch der Gesetzgeber des Jugendschutzrechts aus. In einer Entschließung, die der Bundestag beim Erlaß des JÖSchG verabschiedet hat, heißt es: "Nach Artikel 6 Absatz 1 des Grundgesetzes stehen Ehe und Familie unter dem besonderen Schutz der staatlichen Ordnung. Das wertvollste Gut der Familie (....) ist die heranwachsende Jugend. Daher legt der Bundestag Wert darauf, dieser Jugend durch vorbeugende Maßnahmen Schutz und Hilfe zu gewähren" 353. Die verfassungsrechtliche Gewährleistung des Jugendschutzes findet schließlich eine zusätzliche Stütze in Art. 6 Abs. 2 Satz 2 GG, wonach der Staat zur Wacht über die Erziehung der Kinder durch die Eltern verpflichtet ist 3 5 4 In dieser Vorschrift kommt die generelle Wertentscheidung des Grundgesetzgebers zum Ausdruck, die staatliche Gemeinschaft für die Erziehung und den Schutz der Kinder und Jugendlichen mitverantwortlich zu machen. Insoweit kommt dem Staat die verfassungrechtliche Aufgabe zu, in Wahrnehmung seines Wächteramts Kinder und Jugendliche vor Gefahren und für ihre Persönlichkeitsentfaltung nachteiligen Wirkungen zu schützen. Zugeben muß man , daß der Wortlaut des Art. 6 Abs. 2 Satz 2 GG das Wächteramt des Staates auf die Kontrolle der korrekten Wahrnehmung des elterlichen Erziehungsrechts beschränkt. Insoweit könnte man dahingehend argumentieren, daß diese Vorschrift nur dann zu staatlichen Maßnahmen zum Schutz der Minderjährigen ermächtigt, wenn die Gefahr für die Minderjährigen auf eine mißbräuchliche Ausübung des elterlichen Erziehungsrechts zu351 Vgl. Art. 126 Abs. 3 Verf. Bayern, Art. 24 Verf. Bremen, Art. 6 Abs. 2 Verf. NordrheinWestfalen, Art. 25 Abs. 2 Verf. Rheinland-Pfalz, Art. 25 Verf. Saarland. 352

Stümmer, BayVBl 1961, 229 [230].

353

BT-Drucks. 1/Nr. 1430 und BT-Prot. I/S. 6423.

354

Eine Ableitung des Verfassungsrangs des Jugendschutzes aus Art. 6 Abs. 2 Satz 2 GG findet sich bei BVerwGE 77, 75 [82]; BVerwG, BPS-Report 2/1987, 1 [4]; BGHSt 37, 55 [62]; Erbel, Inhalt und Auswirkungen der verfassungsrechtlichen Kunstfreiheitsgarantie, S. 16 lf; Jeand'Heur, StrafVerteidiger 1991, 165 [167]; ders., Verfassungsrechtliche Gebote zum Wohl des Kindes und staatliche Interventionspflichten aus der Garantienorm des Art. 6 Abs. 2 Satz 2 GG, S. 224ff; Lutz, NJW 1988, 3194 [3195]; Maiwald, JZ 1990, 1141 [1142]; Meirowitz, Gewaltdarstellungen auf Videokassetten, S. 185; Rupert Scholz, in: MDHS, Kommentar zum GG, Art. 5 Abs. III Rn. 70.

150

2.Kap. Die Einschränkbarkeit der Kunstfreiheit

rückzuführen ist, nicht aber, wenn die Gefährdung des Mindeijährigen durch dritte Personen erfolgt, wie das im Jugendschutzrecht der Fall ist. Eine solche, isoliert grammatische Auslegung würde aber den Sinn und Zweck des Art. 6 Abs. 2 Satz 2 GG verfehlen. Diese Vorschrift zielt auf die Sicherstellung des Kindeswohls ab. Die Belange der Minderjährigen würden aber nur unvollkommen geschützt, wenn die staatliche Gemeinschaft ausschließlich im Fall einer auf Versagen des elterlichen Erziehungsrechts zurückzuführenden Jugendgefährdung zum Eingriff befugt wäre. Das gilt vor allem für die heutige Zeit, in der wegen der Allgegenwärtigkeit und leichten Zugänglichkeit der Massenmedien das von dritten Stellen ausgehende Gefährdungspotential für Kinder und Jugendliche besonders groß ist. Ein weiterer Gesichtspunkt dürfte dabei nicht außer acht gelassen werden. Wenn der Staat zur Abwehr von Jugendgefährdungen sogar in die Rechte der "zuvörderst" berechtigten Eltern intervenieren darf, dann muß dasselbe erst recht - argumentum a maiore ad minus - für Gefährdungen gelten, die von dritten Personen ausgehen355. III. Die grundsätzliche verfassungsrechtliche Gleichrangigkeit von Kunstfreiheit und Jugendschutz Die Bejahung des Verfassungsrangs des Jugendschutzes führt aber nicht ohne weiteres dazu, daß die Kunstfreiheit durch Jugendschutzbestimmungen eingeschränkt werden kann. Wäre die Kunstfreiheit dem Jugendschutz gegenüber verfassungsrechtlich höherrangig, dann wären die gesetzlichen Bestimmungen zum Schutz der Jugend nicht in der Lage, der Kunstfreiheit Schranken zu ziehen, obwohl diese Vorschriften ein verfassungsrechtlich geschütztes Rechtsgut konkretisieren. Alle Verfassungsrechtgsgüter sind aber, mit der Ausnahme des absoluten Vorrangs der in Art. 1 Abs. 1 GG gewährleisteten Menschenwürde356 3 5 7 , un-

355 So auch Jeand'Heur, Verfassungsrechtliche Gebote zum Wohl des Kindes und staatliche Interventionspflichten aus der Garantienorm des Art. 6 Abs. 2 Satz 2 GG, S. 11 Iff. 356 Das - sich primär aus dem Wortlaut des Art. 1 Abs. 1 GG ("unantastbar") ergebende - generelle Übergewicht der Menschenwürde sowohl gegenüber der Kunstfreiheit als auch gegenüber allen anderen Verfassungsgütem im allgemeinen dürfte heute opinio communis sein. Vgl. dazu nur etwa BVerfGE 5, 85 [204]; 6, 32 [41]; 12, 1 [4]; 12, 45 [53]; 27, 1[6]; 30, 173 [193]; 32, 98 [108]; 35, 366 [376]; 37, 57 [65]; 75, 369 [380]; OLG Hamm, NJW 1982, 659 [660]; OLG Karlsruhe, NJW 1994, 1963 [1964]; Blaesing, Grundrechtskollisionen, S. 149; Hillgruber/ Schemmer, JZ 1992, 946 [948]; Kastner. NJW 1982. 60\\Lerche, Werbung und Verfassung, S.103f; ders., in: Handbuch des Staatsrechts § 121 Rn. 19, § 122 Rn. 15,23; Locher, Das Recht der bildenden Kunst, S. 38; Otto, JR 1983, 1 [9]; Pieroth/Schlink, Grundrechte - Staatsrecht II, Rn. 413; Rüfner, in: FG fur BVerfG, Bd. II, S. 453 [462]; August Schmidt, GA 1966, 97 [103]; Selk, Asylrecht und

F. Beschränkung durch kollidierende Verfassungsrechtsgüter

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tereinander grundsätzlich gleichrangig 358. Maßstäbe, die aus dem Grundgesetz ableitbar sind und aufgrund derer eine abstrakte Wertrangordnung zwischen den einzelnen Verfassungsrechtsgütern entwickelt werden könnte 359 , existieren nicht. Wegen des Fehlens derartiger Anhaltspunkte360 stellt eine solche Wertrangordnung nur eine "Leerformer dar, mit deren Hilfe sich jedes angestrebte Ergebnis gewinnen ließe.

Verfassung, S. 130ff; Wendt, AöR 104 [1979], S. 414 [446]; Wiehert, Zum Problem der Kunstfreiheitsgarantie, S. 97; Würtenberger, in: FS für Dreher, S. 79 [94f]. Vereinzelt wurde aber auch versucht, Einschränkungsmöglichkeiten der Menschenwürde zugunsten kollidierender Verfassungsrechtsgüter anzuerkennen. So z.B. Alexy, Theorie der Grundrechte, S.95ff; Kloepfer, in: FG für BVerfG, Bd. II, S. 405 [41 lfj. 357 Aus der herausgehobenen Stellung der Menschenwürde im Grundgesetzgeföge ist des weiteren zu folgern, daß ein abstraktes Rangverhältnis zwischen zwei verfassungsrechtlich geschützten Rechtsgütem auch dann bejaht werden kann, wenn eines der beiden über eine größere Sachnähe zur Menschenwürde als das andere verfügt. Dieser Gesichtspunkt kann aber nur sehr selten zur Aufstellung von abstrakten Vorrangrelationen fuhren und jedenfalls nicht in der hier interessierenden Konfliktkonstellation zwischen Kunstfreiheit und Jugendschutz. Siehe dazu gleich unten im Text.

358

Die Gleichrangigkeit der Verfassungsgüter, insbesondere der Grundrechte untereinander betonen ferner etwa BVerfGE 3, 225 [23 lf]; Erhardt, Kunstfreiheit und Strafrecht, S. 106; Fohmann, EuGRZ 1985, 49 [61]; Lerche, Werbung und Verfassung, S. 103f, 107; Friedrich Müller, Freiheit der Kunst als Problem der Grundrechtsdogmatik, S. 54; ders., JZ 1970, 87 [90]; ders., Die Einheit der Verfassung, S. 132, 204ff; Rüfner, in: FG för BVerfG, Bd. II, S. 453 [461ff]; Schwache, Grundrechtliche Spannungslagen, S. 74. 359

Für die Existenz einer abstrakten Wertrangordnung zwischen den einzelnen Verfassungsgütem, insbesondere zwischen den Grundrechten etwa Berg, Konkurrenzen schrankendivergenter Freiheitsrechte im Grundrechtsabschnitt der Grundgesetzes, S. 91f , 109ff; Blaesing, Grundrechtskollisionen, S. 143ff; Harald Schneider, Die Güterabwägung des Bundesverfassungsgerichts bei Grundrechtskonflikten, S. 221ff; Selk, Asylrecht und Verfassung, S. 129ff, 139f, wobei allerdings die Vergleichsmaßstäbe zur Herausbildung der angeblichen Ranghierarchie und die dadurch gewonnenen Ergebnissen von Autor zu Autor variieren. Gegen die Annahme einer grundgesetzlichen Wertrangordnung etwa Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 138ff; Bethge, Zur Problematik von Grundrechtskollisionen, S. 269; ders., Grundrechtskonflikte, in: Ergänzbares Lexikon des Rechts 5/340, S. 6f; Bettermann, Grenzen der Grundrechte, S. 25; Graf, Die Grenzen der Freiheitsrechte ohne besondere Vorbehaltsschranke, S. 158f; ders., BayVBl 1971, 55 [56]; Hillgruber/Schemmer, JZ 1992, 946 [948]; Knies, Schranken der Kunstfreiheit als verfassungsrechtliches Problem, S. 39ff, 284; Lerche, Übermaß und Verfassungsrecht, S. 126, 129; Ossenbühl, Der Staat 10 [1971], S. 53 [77ff]; ders., NJW 1976, 2100 [2107]; Rüfner, in: FG für BVerfG, Bd. II, S. 453 [45 Iff]; Schwache, Grundrechtliche Spannungslagen, S. 77; Wendt, AöR 104 [1979], S. 414 [433, 460]. 360 Als einziger vertretbarer Maßstab zur Aufstellung von abstrakten Präferenzsätzen könnte allenfalls die "Unabänderlichkeitsklausel" des Art. 79 Abs. 3 GG in Betracht kommen, nach der die in den Art. 1 und 20 GG niedergelegten Grundsätze der Disposition des verfassungsändernden Gesetzgebers entzogen sind (Diesen Weg beschreitet etwa Selk, Asylrecht und Verfassung, S. 130ff). Aber auch dieses Differenzierungskriterium muß im Ergebnis abgelehnt werden, weil Art. 79 Abs. 3 GG nur gegenüber dem verfassungsändernden Gesetzgeber einförmliches Rangverhältnis statuiert. Vgl. auch Evers, in: BK, Art. 79 Abs. 3 Rn. 90.

152

2.Kap. Die Einschränkbarkeit der Kunstfreiheit

Die Annahme einer abstrakten Wertrangordnung zwischen den verfassungsrechtlich geschützten Rechtsgütern muß auch daran scheitern, daß es das Gewicht eines Verfassungsrechtsguts, wie jedes Rechtsguts im allgemeinen, einfach nicht gibt. Ein Rechtsgut kann vielmehr - je nach den besonderen Gegebenheiten des Einzelfalls - jeweils mit unterschiedlichem Gewicht ins Spiel kommen 361 . Es muß insbesondere berücksichtigt werden, daß innerhalb desselben Rechtsguts Zonen von unterschiedlicher Schutzintensität festzustellen sind 362 . Ein Rechtsgut beansprucht z.B. in seinem Kernbereich größeren Schutz als in seinen Randzonen363. Entsprechend variiert sein Gewicht und sein Durchsetzungsanspruch gegenüber kollidierenden Rechtsgütern. Abstrakte Vorrangrelationen zwischen den verschiedenen Verfassungsrechtsgütern können deshalb nicht aufgestellt werden. Vielmehr ist hier eine differenzierende Betrachtungsweise je nach der individuellen Gestalt der konkreten Konstellation, insbesondere nach der Schutzintensität der jeweils maßgeblichen Zone des Verfassungsrechtsguts, erforderlich 364. Außerdem würde die Annahme einer abstrakten grundgesetzlichen Wertrangordnung, wollte man ihr konsequent folgen, zu unhaltbaren und unannehmbaren Ergebnissen führen. Der generelle Vorrang eines Verfassungsrechtsguts gegenüber einem anderen hätte zur Folge, daß die geringste Beeinträchtigung des höherrangigen Rechtsguts auch dann unakzeptabel wäre, wenn durch sie die intensivste Beeinträchtigung des niederrangigen Rechtsguts vermieden werden könnte 365 .

361 Vgl. dazu Schwabe, Probleme der Grundrechtsdogmatik, S. 317f. Um das durch ein Beispiel zu verdeutlichen: das Grundrecht der Kunstfreiheit beansprucht ein höheres Gewicht, wenn die in Betracht kommende, die Kunstfreiheit tangierende Vorschrift die Herstellung eines Kunstwerks verbietet, als wenn sie lediglich eine einzelne Modalität der Verbreitung eines Kunstwerks einschränkt (z.B. Verbot der Verbreitung an Jugendliche).

362

Vgl. Berg, Konkurrenzen schrankendivergenter Freiheitsrechte im Grundrechtsabschnitt des Grundgesetzes, S. 135; Friedrich Müller, Die Positivität der Grundrechte, S. 94f; Wendt, AöR 104 [1979], S. 414 [446ff]. Die Existenz von Sektoren unterschiedlichen Gewichts innerhalb desselben Rechtsguts hat auch die Rechtsprechung des BVerfG anerkannt. Das Gericht hat im Rahmen der Berufsfreiheit zwischen Berufsausübung und Berufswahl und innerhalb des letzteren Bereichs zwischen subjektiven und objektiven Zulassungsbedingungen unterschieden und entsprechend die Regelungsbefugnis des Gesetzgebers abgestuft. Vgl. dazu nur etwa BVerfGE 7, 377 [379ff]; 11, 30 [42]; 59, 302 [315ff|; 71, 183 [196ff|. 363

Vgl. Rüfner, in: FG fur BVerfG, Bd. II, S. 453 [466] und Wendt, AöR 104 [1979], S. 414

[446ff]. 364

So auch Wendt, AöR 104 [1979], S. 414 [462ff]

365

Vgl. Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 140.

F. Beschränkung durch kollidierende Verfassungsrechtsgüter

153

Abstrakte, auf eine angebliche Wertrangordnung gestützte Vorrangrelationen vertrügen sich ferner nicht mit dem Prinzip der Einheit der Verfassung. Dadurch würde das Grundgesetz in ein Geflecht von sich gegenseitig lahmlegenden und vernichtenden Vorschriften hinauslaufen. Dem Prinzip der Einheit der Verfassung entspricht nur eine Situation, in der nicht das eine Verfassungsrechtsgut aufgrund einer vermeintlichen Wertrangordnung einseitig auf Kosten des anderen realisiert wird, sondern vielmehr beide zu optimaler Wirksamkeit gelangen, indem beiden - von ihrer abstrakten Gleichrangigkeit ausgehend - Grenzen gezogen werden 366. In der Literatur und Rechtsprechung wurde allerdings oft die Auffassung vertreten, daß die Kunstfreiheit den absoluten Vorrang vor dem Jugendschutz habe 367 3 6 8 . Tragfähige Anhaltspunkte, die eine solche Annahme rechtfertigen könnten, existieren nicht. Der Vergleich beider Rechtsgüter mit der Menschenwürde als dem Mittelpunkt des Wertsystems des Grundgesetzes369 ist im vorliegenden Fall unergiebig. Sicher ist dabei, daß sowohl Kunstfreiheit als 366 Vgl. Erhardt, Kunstfreiheit und Strafrecht, S. 106f; Grabitz, AöR 98 [1973], S. 568 [577]; Graf, Die Grenzen der Freiheitsrechte ohne besondere Vorbehaltsschranke, S. 24; Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Rn. 72; Lepa, DVB1 1972, 161 [167]; Lerche, BayVBl 1991, 517 [521]; Friedrich Müller, Freiheit der Kunst als Problem der Grundrechtsdogmatik, S. 55; Rüfner, in: FG für BVerfG, Bd. II, S. 453 [466f]. 367 So z.B. Bauer, JZ 1965, 41 [47]; Bucholz, Kunst, Recht und Freiheit, S. 17, 28, 62; Dünnwald, JR 1965, 46 [4S], Erbel, DVB1 1973, 527 [53lf]; Grebenhagen, UFITA 52[1969], S.89 [96f]; Leonardy, NJW 1967, 720 [715]; Schefold, in: Literatur vor dem Richter, S. 93 [108]; Erwin Stein, JZ 1959, 720 [721]; Woesner, NJW 1966, 1729 [1732]. (Weitere Vertreter dieser These finden sich bei Knies, Schranken der Kunstfreiheit als verfassungsrechtliches Problem, S. 233 Fn. 18). Vgl. femer die Begründung der Bundesregierung zum Entwurf des GjS (BT-Drucks. I/Nr. 1101, S. 11), wonach der Verfassungsgeber die Kunstfreiheit höher als den Schutz der Jugendlichen bewertet habe. Siehe femer die unten (im 3. Kapitel, Β I Fn. 72) zitierten Anhänger der Auffassung (zu denen insbesondere die frühere Rechtsprechung des BVerwG zählt), daß die Kunstfreiheit für den Anwendungsbereich des GjS das generelle Übergewicht gegenüber dem Jugendschutz genieße.

368

Der gegenteiligen These, daß der Jugendschutz der Kunstfreiheit vorgehe, fehlt so eindeutig jede verfassungsrechtliche Grundlage, daß sie nur sehr selten (vgl. die Nachweise bei Schilling, Literarischer Jugendschutz, S. 12f) vertreten wurde. Vgl. femer Kr ι eie, JA 1984, 629 [637] und Wiehert, Zum Problem der Kunstfreiheitsgarantie, S. 99f, 113, wo Beschränkungen der Kunstfreiheit zugunsten des Jugendschutzes ohne weiteres fur zulässig betrachtet werden und damit implizit ein Vorrang der Interessen der Jugend angenommen wird. Vgl. auch Jeand'Heur, Verfassungsrechtliche Schutzgebote zum Wohl des Kindes und staatliche Interventionspflichten aus der Garantienorm des Art. 6 Abs. 2 Satz 2 GG, S. 227, der beim Wirkbereich (aber auch beim Werkbereich, soweit schon dort eine Gefahr für die Jugend existiert) dem Jugendschutz das grundsätzliche Übergewicht gegenüber der Kunstfreiheit einräumen will. Komplizierter stellt sich aber die Lage bei denjenigen Landesverfassungen dar, die den Schutz der Jugend als ausdrückliche Schranke der Kunstfreiheit statuieren. (Vgl. Art. 18 Verf. Hessen und Art. 10 Abs. 2 Verf. Rheinland-Pfalz). 369

Vgl. BVerfGE 7, 198 [205]; 24, 119 [144]; 35,202 [225]; 39, 1 [43].

154

2.Kap. Die Einschränkbarkeit der Kunstfreiheit

auch Jugendschutz über einen Menschenwürdegehalt verfügen 370. Da aber dieser Menschenwürdegehalt kaum quantifiziert werden kann, ist eine Aussage darüber, welches der beiden Rechtsgüter generell die größere Sachnähe zum Menschenwürdeprinzip entfaltet, nicht möglich. Der Vergleich zweier widerstreitender Interessen mit der Menschenwürde kann nur dann zur Festlegung von abstrakten Vorrangrelationen führen 371 , wenn es offensichtlich und evident ist, daß das eine Rechtsgut über eine größere Sachnähe zur Menschenwürde als das andere verfugt, was gerade hier nicht der Fall ist (Bei einzelnen Konfliktkonstellationen zwischen Kunstfreiheit und Jugendschutz kann sich aber der Gedanke der Sachnähe zur Menschenwürde als fruchtbar erweisen, wie noch zu zeigen ist 372 ). Aus der Vorbehaltlosigkeit der Kunstfreiheit kann man nicht den Schluß ziehen, daß die Kunstfreiheit einen "Höchstwert" darstelle, der auch dem Jugendschutz gegenüber vorgehe 373. Die Entscheidung des Verfassungsgebers, ein Grundrecht mit oder ohne Gesetzesvorbehalt zu garantieren, spiegelt nicht - oder zumindest nicht ohne weiteres - seine Wertung hinsichtlich der Bedeutung und des Rangs des Grundrechts wider. Sie ist vielmehr in der Regel auf andere Gründe, zuweilen auf redaktionelle Zufälligkeiten, zurückzuführen 374. So sind z.B. in der Literatur als Gründe für die vorbehaltlose Verbürgung der Kunstfreiheit etwa die folgenden Faktoren erwähnt, Faktoren, die keinen höheren Rang dieses Grundrechts gegenüber anderen Rechtsgütern bedeuten: die Eigenschaft der Kunst, "primär nicht rechtserzeugt zu sein" 375 ; die Tatsache, daß die Kunst wegen ihrer vielfältigen Interpretierbarkeit "der eindeu-

370 Zum Menschenwürdegehalt des Jugendschutzes siehe oben in diesem Kapitel, F II. Zum Menschenwürdegehalt der Kunstfreiheit vgl. etwa Häberle, in: Kunst und Recht im In- und Ausland, S. 37 [43fFriedrich Müller, JZ 1970, 87 [89]; ders., Die Positivität der Grundrechte, S. 85; v.Noorden, Die Freiheit der Kunst nach dem Grundgesetz (Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG) und die Strafbarkeit der Verbreitung unzüchtiger Darstellungen (§ 184 Abs. 1 Nr. 1 StGB), S. 74; Stümmer, BayVBl 1961, 229 [232]. Skeptisch zur inneren Beziehung der Kunstfreiheit zu Art. 1 Abs. 1 GG Selk, Asylrecht und Verfassung, S. 149. 371

Vgl. BVerfGE 39, 1 [43], wo das Gericht aufgrund eines Vergleichs mit der Menschenwürde dem Lebensrecht des ungeborenen Kindes den Vorrang vor dem Selbstbestimmungsrecht der Schwangeren gegeben hat. 372

Siehe dazu unten im 3. Kapitel Β II, 3 a, aa. 373

Vgl. aber Bauer, JZ 1965, 41 [47], der aus der vorbehaltlosen Gewährleistung der Kunstfreiheit kurzerhand eine generelle Immunität der jugendgefährdenden Kunstwerken gegenüber den Jugendschutzbestimmungen ableitet. 374 Vgl. dazu etwa Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Rn. 316; Kriele, JA 1984, 629; Selk, Asylrecht und Verfassung, S. 127f. 375

Graf, Die Grenzen der Freiheitsrechte oline besondere Vorbehaltsschranke, S. 46.

F. Beschränkung durch kollidierende Verfassungsrechtsgüter

155

tigen Aussage- und Stoßrichtung" entbehre, "die sie mit anderen Rechten, Gütern und Interessen in Konflikt bringen und einzuschränken verlangen würde" 3 7 6 ; und die historischen Erfahrungen staatlicher Kunstunterdrückung, insbesondere in den Zeiten des NS-Regimes377 3 7 8 . Wollte man in der Abstufung der grundrechtlichen Schrankenvorbehalte den Rang des jeweiligen Grundrechts herauslesen379, dann hieße es, daß die mit Gesetzesvorbehalt versehenen Grundrechte des menschlichen Lebens (Art. 2 Abs. 2 GG) und der Meinungsfreiheit (Art. 5 Abs. 1 GG) einen geringeren Rang als das vorbehaltlose Petitionsrecht (Art. 17 GG) hätten. Angesichts der Tatsache, daß das menschliche Leben die vitale Basis der Menschenwürde darstellt 380 und das Grundrecht der Meinungsfreiheit von konstituierender Bedeutung für die "freiheitlich demokratische Grundordnung" ist 3 8 1 , wäre dies in der Tat ein unannehmbares Ergebnis. Ebensowenig kann ein allgemeiner Vorrang der Kunstfreiheit aus der Nichtanwendbarkeit des Jugendschutzvorbehalts des Art. 5 Abs. 2 GG auf die Kunstfreiheit abgeleitet werden 382. Aus der Tatsache, daß der Jugendschutz-

376

Pieroth/Schlink,

377

So Rogemann, JZ 1992, 934 [939].

Grundrechte - Staatsrecht II, Rn. 696.

37R

Vgl. aber auch BVerfGE 67, 213 [223] und Ridder, in: Literatur vor dem Richter, S. 291 [296], wonach die Vorbehaltlosigkeit der Kunstfreiheit auf ihre besondere Bedeutung zurückfuhren sei. Kritisch dazu Würkner, Das Bundesverfassungsgericht und die Freiheit der Kunst, S. 56f. 379

So Berg, Konkurrenzen schrankendivergenter Freiheitsrechte im Grundrechtsabschnitt des Grundgesetzes, S. 109ff und Blaesing, Grundrechtskollisionen, S. 143ff, die aufgrund der abgestuften Schrankensystematik des Grundgesetzes eine entsprechende Wertrangordnung zwischen den einzelnen Grundrechten annehmen. Dagegen etwa Bethge, Grundrechtskonflikte, in: Ergänzbares Lexikon des Rechts 5/340, S. 7; Bismark, NJW 1985, 246 [250]; Lerche, Übermaß und Verfassungsrecht, S. 126 Fn. 96; Friedrich Müller, Freiheit der Kunst als Problem der Grundrechtsdogmatik, S. 54; Selk, Asylrecht und Verfassung, S. 126ff. Vgl. auch Lepa, DVB1 1972, 161 [167]; Rüfner, in: FG fur BVerfG, Bd. II, S. 453 [463]; Wendt, AöR 104 [1979], S. 414 [438], die aus den divergierenden Schrankenvorbehalten Indizien für den Rang der Grundrechte untereinander ableiten wollen. 380

Vgl. BVerfGE 39, 1 [42].

381

Vgl. nur etwa BVerfGE 7, 198 [208] und 12, 113 [125].

382

So aber die Begründung der Bundesregierung zum Entwurf des GjS, BT-Drucks. I/Nr. 1101, S.l 1; Bucholz, Kunst, Recht und Freiheit, S. 17, 28, 62; Erbel, DVB1 1973, 527 [531]; Grebenhagen, UFITA 52 [1969], S. 89 [96]; Schefold, in: Literatur vor dem Richer, S. 93 [108]. Vgl. femer BVerwG 77, 75 [83f] und BVerwG, BPS-Report 2/1987, 1 [5], wo das Gericht aufgrund der Nichtgeltung des Jugendschutzvorbehalts des Art. 5 Abs. 2GG für die Kunstfreiheit zum Ergebnis gekommen ist, daß die Interessen der Kunst im Fall der "schlichten" Jugendgefährdung des § 1 Abs. 1 GjS das generelle Übergewicht hätten: "Dagegen gebührt bei "schlicht" jugendgefährdenden Schriften im Sinne des § 1 Abs. 1 GjS dem Kunstschutz Vorrang vor dem Jugendschutz. Wollte man auch insoweit den Kunstschutz zurückdrängen, so würde die Kunstfreiheit im Ergebnis dem generellen

156

2.Kap. Die Einschränkbarkeit der Kunstfreiheit

vorbehält des Art. 5 Abs. 2 GG nicht auf die Kunstfreiheit anwendbar ist, kann nur entnommen werden, daß eine Beschränkung der Kunstfreiheit durch die Jugendschutzbestimmungen nicht auf Art. 5 Abs. 2 GG gestützt werden kann. Die Nichtanwendung des Jugendschutzvorbehalts des Art. 5 Abs. 2 GG impliziert aber keine Sperrwirkung in dem Sinne, daß der Jugendschutz auch als verfassungsimmanente Schranke der Kunstfreiheit ausgeschlossen wäre. Vielmehr ist eine Einschränkung der Kunstfreiheit durch den Jugendschutz zulässig, soweit der Jugendschutz aufgrund seines Verfassungsrangs als verfassungsimmanente Schranke der Kunstfreiheit in Betracht kommt 8 3 . Wollte man aufgrund der Nichtanwendbarkeit des Art. 5 Abs. 2 GG auf die Kunstfreiheit die Einschränkung der Kunstfreiheit durch die gesetzlichen Bestimmungen zum Schutz der Jugend ausschließen, dann sollte man dasselbe auch für die anderen Schranken des Art. 5 Abs. 2 GG annehmen, so daß auch die allgemeinen Gesetze nicht die Kunstfreiheit einschränken könnten und zwar unabhängig davon, ob diese allgemeinen Gesetze auf den Schutz eines Verfassungsrechtsguts abzielen oder nicht. Das würde aber praktisch zu einer unannehmbaren Schrankenlosigkeit der Kunstfreiheit führen 384 . Es gibt dagegen viele Anhaltspunkte, die zur Annahme der grundsätzlichen Gleichrangigkeit von Kunstfreiheit und Jugendschutz zwingen 385 (wobei freilich bei jeder konkreten Konfliktkonstellation im Einzelfall keine Gleichran-

Vorbehalt des Jugendschutzes unterworfen, der nach der Regelung des Art. 5 Abs. 2 GG für die Kunstfreiheit gerade nicht gelten soll". 383

So auch neuerdings BVerwGE 91, 223 [225] und BVerwG, JMS-Report 1/1993,9 [10].

384

Nach alledem ergibt sich klar, daß die These des absoluten Übergewichts der Kunstfreiheit kein zwingendes Gebot des Grundgesetzes ist. Der innere Grund für die Behauptung eines angeblichen Vorrangs der Kunstfreiheit liegt vielmehr in der einfachgesetzlichen Ausgestaltung des Jugendschutzrechts, insbesondere in den weitgehenden Verbreitungsbeschränkungen des GjS, deren Verfassungsmäßigkeit zum Teil zumindest fraglich ist (siehe dazu oben im 1. Kapitel, C II). Um eine übermäßige Beschränkung der Verbreitung von Kunstwerken durch die Anwendung vor allem der §§ 3-5 GjS zu umgehen, hat man kurzerhand einen verfassungsrechtlichen Vorrang der Interessen der Kunst angenommen. Es ist aber ein Unding, aus den Fragwürdigkeiten einzelner einfachgesetzlicher Jugendschutzbestimmungen einen Schluß auf das verfassungsrechtliche Verhältnis zwischen Kunstfreiheit und Jugendschutz zu ziehen. Dogmatisch sauberer und verfassungsrechtlich geboten ist es vielmehr, die Bedenklichkeiten und die etwaige Verfassungswidrigkeit einzelner Jugendschutzvorschriften klar herauszuarbeiten und ihre Änderung zu fordern, statt unberechtigte und willkürliche Folgerungen für das verfassungsrechtliche Verhältnis zwischen Kunstfreiheit und Jugendschutz zu ziehen. Vgl. auch dazu Knies, Schranken der Kunstfreiheit als verfassungsrechtliches Problem, S. 281; ders., NJW 1970, 15 [17], 385

Für die prinzipielle Gleichrangigkeit von Kunstfreiheit und Jugendschutz auch BVerfGE 83, 130 [143]; BVerfG, GewArch 1988, 369 [370];BGHSt 37, 55 [64]; BVerwGE 91, 223 [224f]; BVerwG, JMS-Report 1/1993, 9 [10]; Geis, NVwZ 1992, 25 [28]; Meirowitz, Gewaltdarstellungen auf Videokassetten, S. 185; Rupert Scholz, in: MDHS, Kommentar zum GG, Art. 5 Abs. III Rn. 70.

F. Beschränkung durch kollidierende Verfassungsrechtsgüter

157

gigkeit, sondern vielmehr ein Vorrang des einen oder des anderen Rechtsguts besteht). Die Behauptung eines generellen Vorrangs der Kunstfreiheit gegenüber dem Jugendschutz konnte vielleicht in früheren Zeiten, bei denen der Kunstbegriff restriktiv ausgelegt und mit qualitativen Einengungen verbunden wurde , noch als sachlich vertretbar erscheinen. Der Begriff der Kunst wird aber heute so weit ausgelegt387, daß man jugendgefährdenden Werken nur in Ausnahmen die Kunsteigenschaft absprechen kann 388 . Ein absoluter Vorrang der Kunstfreiheit gegenüber dem Jugendschutz hätte angesichts dessen zur Folge, daß die Jugendschutzvorschriften weitgehend leerlaufen würden. Die These, daß die Interessen der Jugend in jedem Fall hinter den Belangen der Kunstfreiheit zurückzutreten hätten, erscheint auch aus einem anderen Grund als unangemessen und sachwidrig. Die generelle Nichtanwendung der Jugendschutzbestimmungen auf Kunstwerke würde insoweit den Schutz der Jugend völlig beseitigen, während umgekehrt die Anwendung der Jugendschutzvorschriften in der Regel 389 die Verbreitung des Kunstwerks nicht aufhebt, sondern nur einschränkt 390. Die Auffassung der absoluten Höherrangigkeit der Kunstfreiheit führt demnach zum wenig sinnvollen Ergebnis 391, daß, um einer - zuweilen nur geringfügigen - Einschränkung der Kunstfreiheit vorzubeugen, das verfassungsrechtlich anerkannte Interesse des Jugendschutzes völlig aufgeopfert werden müßte. Außerdem ist die starre Formel "Kunstfreiheit geht vor Jugendschutz" in ihrer Ausnahmslosigkeit kaum durchhaltbar. Es wird immer Fälle geben, bei denen der Schutz der Jugend dringend und unabweislich erscheint und bei denen man verpflichtet ist, dem Jugendschutz den Vorrang einzuräumen (zu 386

Siehe dazu oben in diesem Kapitel, A I 2 b und A III.

387

Siehe dazu oben in diesem Kapitel, A I 2 i. 388

Vgl. auch Geis, NVwZ 1992,25 [26]. Selbst die in sog. "Herrenmagazinen" abgebildeten Fotografien, denen man vor etwa dreißig Jahren die Kunsteigenschaft ohne weitere Begründung abgesprochen hätte, sind in einer Entscheidung des OVG Münster vom Jahr 1991 (BPS-Report 4/1991, 42) erst nach einer eingehenden Auseinandersetzung mit dem verfassungsrechtlichen Kunstbegriff und mit erheblicher Zurückhaltung als Nichtkunst qualifiziert worden. 389

Vgl. aber §§ 131, 184 Abs. 3 StGB, wo ein absolutes Verbreitungsverbot vorgesehen wird. 390

Vgl. BVerwGE 77, 75 [83]; BVerwG, BPS-Report 2/1987, 1 [4].

391

Die Unhaltbarkeit des angeblichen generellen Vorrangs der Kunstfreiheit wird vor allem dann deutlich, wenn man sich der Vorschrift des § 6 Abs. 2 JÖSchG zuwendet, die keinerlei Einschränkungen gegenüber Erwachsenen herbeiführt, sondern lediglich anordnet, daß jugendgefährdende Filme nicht zur Vorführung vor Kindern und Jugendlichen freigegeben werden dürfen. Könnte jemand hier ernsthaft behaupten, daß es, um eine so geringfügige Beeinträchtigung der Kunstfreiheit zu vermeiden, auf den Schutz der Jugend ohne weiteres verzichtet werden müßte? (so aber im Ergebnis Leonardy, NJW 1967, 714 [715]).

158

2.Kap. Die Einschränkbarkeit der Kunstfreiheit

denken ist etwa an rassistische Kunstwerke oder Kunstwerke, die den sexuellen Mißbrauch von Kindern verherrlichen) 392. In solchen Fällen bestehen fur die Vertreter der Höherrangigkeit der Kunstfreiheit zwei Möglichkeiten: entweder die Notwendigkeit von Ausnahmen zugunsten des Jugendschutzes anzuerkennen (damit würden sie aber die These des absoluten Vorrangs der Kunstfreiheit aufgeben) oder am absoluten Übergewicht der Kunstfreiheit formell festzuhalten, gleichzeitig aber diesen Werken die Kunsteigenschaft abzusprechen (aufgrund eines sittlichen oder qualitativen Kunstbegriffs). Die These des absoluten Vorrangs der Kunstfreiheit kann schließlich keinen überzeugenden Grund für die dadurch bewirkte allgemeine Privilegierung der Kunstfreiheit gegenüber der Meinungsfreiheit liefern, es sei denn, man grenzt alle jugendgefährdenden Werke vom Kunstbegriff aus 393 . Warum sollte z.B. Jugendlichen von vornherein verwehrt sein, eine kriegsverherrlichende Reportage in einer Zeitung zu lesen, ihnen aber ohne weiteres erlaubt sein, einen ähnlichen Text zu rezipieren, der in die Form eines Romans eingekleidet ist 3 9 4 ? Nach alldem ergibt sich, daß die Jugendschutzbestimmungen als Konkretisierung eines gleichrangigen Verfassungsrechtsguts der Kunstfreiheit zulässigerweise Schranken ziehen können. G. Zusammenfassung Die außer Zweifel stehende Erkenntnis, daß die Kunstfreiheit überhaupt eingeschränkt werden darf, erklärt noch nicht, welche die zulässigen Grenzen der Kunstfreiheit sind und ob auch der Jugendschutz zu diesen Schranken zählt. Die Einschränkbarkeit der Kunstfreiheit zugunsten des Jugendschutzes

392

Vgl. Lerche, in: Handbuch des Staatsrechts, § 122 Rn. 23, der betont, daß die Postulierung schroffer Ausnahmslosigkeiten - mit der Ausnahme der singulären Stellung der Menschenwürde im Grundgesetzgeföge - praktisch kaum durchhaltbar ist. 393

Unangebracht ist jedenfalls die These von Schefold, in: Literatur vor dem Richter, S. 93 [109], der die Kunstfreiheit mit dem Argument privilegieren will, daß die Auseinandersetzung mit der Kunst einen Beitrag zur Entwicklung der Jugend leiste. Daß Kunst zur Entfaltung der Jugendlichen mitwirkt, liegt auf der Hand. Die jugendgefährdende Kunst aber (und um diese Kunst geht es hier) trägt potentiell zur Fehlentwicklung bei, was gerade vermieden werden soll. Und unabhängig davon: ist es wirklich zwingend, daß ein Artikel in einer Zeitschrift weniger zur Entfaltung der Jugendlichen als ein Film beiträgt? 394 So wie hier auch Raue, Literarischer Jugendschutz, S. 85ff, 96, der aber u.a. aus diesem Grund zum unzutreffenden (siehe oben in diesem Kapitel. E II) Ergebnis kommt, daß die Schranken des Art. 5 Abs. 2 GG auch auf die Kunstfreiheit angewendet werden sollten.

G. Zusammenfassung

159

wurde in der Literatur und Rechtsprechung mit höchst unterschiedlichen dogmatischen Konstruktionen begründet. Zunächst wurde versucht, den Kunstbegriff wertend einzuengen und auf diese Weise den Jugendschutzbestimmungen genügenden Anwendungsraum auch gegenüber der Kunstfreiheit zu verschaffen. [Soweit es um die allgemeine Problematik des Kunstbegriffs geht, besteht kein Definitionsverbot, sondern ein - sich aus der verfassungsrechtlichen Pflicht des Schutzes der Kunst ergebendes - Definitionsgebot. Der Rückgriff auf außerrechtliche Kunstdefinitionen kann dabei kaum behilflich sein, weil es auch im metajuristischen Bereich keinen gefestigten Kunstbegriff gibt. Darüber hinaus unterliegt die juristische Begriffsbildung besonderen Regeln, die dem Rechtsbegriff eine eigenständige, originäre Bedeutung verleihen können. Die Definitionskompetenz muß beim Staat und seinen demokratisch legitimierten Instanzen bleiben. Sie darf weder auf die Sachverständigen noch auf den Grundrechtsträger selbst verlagert werden. Die auf den Inhalt des Werks abstellenden Kunstbegriffe müssen abgelehnt werden, weil die gegenwärtige Kunst keine Grenzen in Bezug auf das Darstellbare kennt. Eine differenzierende Betrachtungsweise ist demgegenüber beim qualitativen Kunstbegriff geboten: qualitative Wertungen sind im Bereich der Kunstforderung zulässig. Bei der staatsabwehrenden Funktion der Kunstfreiheit verbieten sich dagegen jegliche qualitative Unterscheidungen, weil sie zu einem - mit dieser Schutzrichtung des Art. 5 Abs. 3 GG unvereinbaren - "Kunstrichtertum" führen. Idealistisch orientierte Kunstbegriffe (Kunst als die "interesselose Freude am Schönen") verkennen das Wesen der gegenwärtigen Kunst und beschränken ihr legitimes Betätigungsfeld auf eine der Kunstfreiheit widersprechende Weise. Das Kriterium des "künstlerischen Gestaltungswillens" erweist sich ferner als eine konturlose und tautologische Leerformel. Tragfähiger scheint demgegenüber der materiale Kunstbegriff zu sein (Kunst als freie schöpferische Gestaltung und Ausdruck der individuellen Künstlerpersönlichkeit). Er mangelt aber daran, daß er nicht das gesamte Kunstleben, sondern nur Teilaspekte von ihm erfaßt. Der technisch-formale Kunstbegriff (Kunst als jedes Werk, das die Gattungsanforderungen eines künstlerischen Werktyps erfüllt), so behilflich er auf den ersten Blick sein mag, scheitert an der unüberwindbaren Schwierigkeit der Bestimmung und Abgrenzung der Kunstgattungen. Er schließt außerdem avantgardistische Kunstformen aus dem Schutzbereich der Kunstfreiheit aus. Der zeichentheoretische Ansatz (Kunst als vielfältig interpretierbare Darstellung) gibt ein Kennzeichen eines großen Teils der Kunst zutreffend wieder. Dieses Merkmal ist aber nicht nur der Kunst eigen und versagt bei unverständlichen und des-

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2.Kap. Die Einschränkbarkeit der Kunstfreiheit

halb nicht interpretierbaren Kunstwerken. Das Merkmal der Kommunikation, das in der letzten Zeit von einer Reihe von Kunstdefinitionen in den Vordergrund gestellt wird, trifft beim weitaus größten Teil der Kunst zu. Es dürfte jedoch nicht verabsolutiert werden, will man auch andere, nicht auf Kommunikation abzielende künstlerische Leistungen vom Kunstbegriff erfassen lassen. Als einziger Ausweg aus dem Fehlen eines allgemeinverbindlichen, auf das gesamte Kunstleben anwendbaren Kunstbegriffs bleibt die kombinierte Heranziehung aller im Ansatz tragfähigen Kunstbegriffe (insbesondere des materialen, des technisch-formalen und des zeichentheoretischen). Auch wenn im Einzelfall nur einer dieser Kunstbegriffe erfüllt wird, ist die Kunsteigenschaft des betreffenden Werks zu bejahen. Die dadurch bedingte Erweiterung des Kunstbegriffs ist zwar unumgänglich, aber nicht unproblematisch (vor allem wegen der Verlagerung der Problematik auf die Schrankenebene). Diese Bedenken entschärften sich jedoch, wenn man den Kunstbegriff mit einer "Mißbrauchsklausel" versähe, die die Verneinung der Kunsteigenschaft in krassen und evidenten Fällen (etwa Filme der Kinderpornographie) ermöglichte. Ein erster Versuch, durch Einengung des Kunstbegriffs die Kunstfreiheit zugunsten der Jugendschutzbestimmungen einschränken zu lassen, findet sich in der These, Kunst und Jugendgefahrdung schlössen sich gegenseitig aus. Diese Auffassung ist nicht nur empirisch unhaltbar, sie ist auch verfassungsrechtlich unzulässig. Die Anerkennung der Kunsteigenschaft eines Werks darf nicht von einer Beurteilung seiner (jugendgefährdenden) Auswirkungen abhängig gemacht werden. Die Kunstfreiheit gewährt außerdem die freie Themenwahl, was auch die Wahl eines jugendgefährdenden Sujets umschließt. Die These des gegenseitigen Ausschlusses von Kunst und Jugendgefährdung löst die Kollision zwischen Kunstfreiheit und Jugendschutz einseitig zu Lasten der Kunstfreiheit, indem sie sämtliche jugendgefährdenden Kunstwerke aus dem Kunstbegriff ausschließt. Ebensowenig anzunehmen ist ein Ausschließlichkeitsverhältnis zwischen Kunst und Pornographie. Dagegen spricht vor allem die Eigenschaft der zeitgenössischen Kunst, keine Grenzen in Bezug auf das Darstellungswürdige zu kennen. Bei einem so komplexen Thema, wie es das Verhältnis zwischen Kunst und Pornographie ist, sind scharfe Abgrenzungen kaum sinnvoll und führen zu unhaltbaren, oft zufälligen Ergebnissen. Der Jugendschutz kann auch nicht dadurch Wirksamkeit gegenüber der Kunstfreiheit gewinnen, daß man einen qualitativen Kunstbegriff zugrundelegt. Ein solches Vorgehen scheitert daran, daß sich qualitative Unterscheidungen bei der staatsabwehrenden Funktion der Kunstfreiheit, die im Jugendschutzrecht allein maßgeblich ist, verbieten. Ein qualitativer Kunstbegriff im

G. Zusammenfassung

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Jugendschutzrecht ist außerdem kaum dafür geeignet, einen angemessenen Ausgleich zwischen den beiden widerstreitenden Interessen herbeizuführen, weil dadurch als einziger kollisionslösender Maßstab das - unter Jugendschutzaspekten gleichgültige - künstlerische Niveau herangezogen und die Schwere der Jugendgefahrdung dabei völlig außer acht gelassen wird. Die Theorie der "sachspezifischen Modalitäten", die die Verbreitung von Kunstwerken an Jugendliche und die jugendgefährdende Werbung für Kunstwerke wegen angeblicher "Unspezifität" aus dem Schutzbereich der Kunstfreiheit ausschließen will, stellt keinen verfassungsrechtlich zulässigen Weg zur Durchsetzung der Jugendschutzbelange gegenüber der Kunstfreiheit dar. Während dem Anliegen dieser Theorie, den Schutzbereich des Art. 5 Abs. 3 GG möglichst präzis zu bestimmen, uneingeschränkt zugestimmt werden kann, ist der dafür verwendete Begriff des "Sachspezifischen" höchst unbestimmt und mit unzulässigen Schutzbereichsreduzierungen unauflöslich verbunden. Außerdem führt diese Lehre im Fall des Jugendschutzrechts zu pauschalen und dem Gebot eines nach beiden Seiten schonendsten Ausgleichs nicht gerecht werdenden Ergebnissen. Durch das Vehikel des Grundrechtsmißbrauchs ist es ebensowenig möglich, eine generelle Anwendbarkeit der Jugendschutzbestimmungen auf Kunstwerke zu erzielen. Denn der jugendgefährdende Charakter eines Werks impliziert nicht automatisch einen Mißbrauch der Kunstfreiheit. Die "Gemeinschaftsklausel" der früheren Rechtsprechung des BVerwG, die auch bei der Kollision zwischen Kunstfreiheit und Jugendschutz herangezogen wurde, erweist sich als zu unbestimmt und ohne jegliche verfassungsrechtliche Grundlage. Während die unmittelbare Anwendung der Schrankentrias des Art. 2 Abs. 1 Halbs. 2 GG auf (jugendgefährdende) Kunstwerke schon wegen des Spezialitätsverhältnisses zwischen Art. 2 Abs. 1 und Art. 5 Abs. 3 GG unzulässig ist, erscheint es tragfahiger, dieser Schrankentrias eine interpretatorische Einwirkung auf die Ermittlung der immanenten Schranken der Kunstfreiheit anzuerkennen. Aber auch diese Konstruktion muß im Ergebnis abgelehnt werden, weil kein Konsens darüber besteht, welche die mit der Auslegungshilfe der Schrankentrias zu gewinnenden immanenten Schranken der Kunstfreiheit sind. Die Schranken des Art. 5 Abs. 2 GG (zu denen auch die "gesetzlichen Bestimmungen zum Schutz der Jugend" zählen) sind auf die Kunstfreiheit unanwendbar, wie es sich vor allem aus dem Wortlaut der Kunstfreiheitsgarantie und der Systematik des Art. 5 GG ergibt. Trotz der vielfachen Verflechtungen zwischen den beiden Grundrechten ist die Kunstfreiheit kein Unterfall der Meinungsfreiheit (unhabhängig davon ist die Frage der Anwendbarkeit der 11 Vlachopoulos

162

2.Kap. Die Einschränkbarkeit der Kunstfreiheit

Schranken des Art. 5 Abs. 2 GG auf die Kunstfreiheit nur von geringfügiger Bedeutung: mit oder ohne diese Schranken kommt man zu weitgehend identischen Ergebnissen). Die Schranken der Kunstfreiheit finden sich jedoch in kollidierenden Verfassungsrechtsgütern. Das folgt primär aus dem Prinzip der Einheit der Verfassung, das die einseitige Durchsetzung eines (wenn auch vorbehaltlosen) Grundrechts gegenüber entgegenstehenden Verfassungspositionen verbietet. Die Feststellung, daß die Kunstfreiheit durch andere Verfassungsgüter eingeschränkt werden darf, erspart aber dem Rechtsanwender die Probleme nicht (wer und nach welchen Kriterien muß diese Schranken ziehen?) und ist nur dann aussagekräftig, wenn vorher der Kreis der verfassungsrechtlich geschützten Rechtsguter näher umrissen worden ist. Der Jugendschutz kann demnach der Kunstfreiheit zulässigerweise Schranken ziehen, weil er Verfassungsrang genießt. Zwar ist der Jugendschutz im Grundgesetz nicht ausdrücklich als selbständiges Rechtsgut gewährleistet (was vor allem auf eineföderalistische Zurückhaltung des Grundgesetzgebers zurückzuführen ist). Es gibt aber Grundgesetzbestimmungen, die den Jugendschutz miteinschließen. Als solche Grundgesetzvorschrift kommt aber - entgegen der Meinung des BVerfG - nicht Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG (elterliches Erziehungsrecht) in Betracht. Auch die Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG) kann nur einem (Kern)bereich des Jugendschutzes den Verfassungsrang verleihen. Die verfassungsrechtliche Gewährleistung des gesamten Jugendschutzes ergibt sich dagegen primär aus dem Persönlichkeitsrecht der Jugendlichen (Art. 2 Abs. 1 GG, Art. 1 Abs. 1 GG), auf dessen Sicherstellung die staatlichen Maßnahmen zum Schutze der Jugend abzielen. Der Schutz der Jugend ist ferner so unauflöslich mit der Institution der Familie verbunden, daß die grundgesetzliche Garantie der Familie (Art. 6 Abs. 1 GG) auch den Jugendschutz einschließt. Die verfassungsrechtliche Gewährleistung des Jugendschutzes findet ferner eine zusätzliche Stütze in Art. 6 Abs. 2 Satz 2 GG (Wächteramt des Staates), der die Wertentscheidung des Verfassungsgebers zum Ausdruck bringt, den Staat mitverantwortlich für die Erziehung und den Schutz von Kindern und Jugendlichen zu machen. Alle Verfassungsrechtsgüter sind - mit der Ausnahme des absoluten Vorrangs der Menschenwürde - untereinander grundsätzlich gleichrangig (Das ergibt sich vor allem aus der Interpretationsmaxime der Einheit der Verfassung und aus der Tatsache, daß es das Gewicht eines Verfassungsguts nicht gibt). Nichts anderes gilt für das Verhältnis zwischen Kunstfreiheit und Jugendschutz. Ein genereller Vorrang der Kunstfreiheit gegenüber dem Jugendschutz kann weder aus der Vorbehaltlosigkeit des Art. 5 Abs. 3 GG (die Entscheidung des Grundgesetzgebers, ein Grundrecht mit oder ohne Gesetzesvorbehalt zu gewährleisten, spiegelt nicht ohne weiteres seine Wertung

G. Zusammenfassung

163

hinsichtlich des Rangs des Grundrechts wider) noch aus der Nichtgeltung des Jugendschutzvorbehalts des Art. 5 Abs. 2 GG für die Kunstfreiheit (diese Nichtanwendung impliziert keine Sperrwirkung in dem Sinne, daß der Jugendschutz auch als verfassungsimmanente Schranke der Kunstfreiheit ausgeschlossen wäre) hergeleitet werden. Bei einem absoluten Vorrang der Kunstfreiheit, der außerdem praktisch kaum durchhaltbar wäre, liefe der Jugendschutz wegen der erheblichen Weite des Kunstbegriffs leer. Nach alledem ist daran festzuhalten, daß der Jugendschutz als grundsätzlich gleichrangiges Verfassungsrechtsgut die Kunstfreiheit zulässigerweise einschränken kann.

11*

3. Kapitel Die Konfliktschlichtung von Kunstfreiheit und Jugendschutz Mit der Feststellung, daß der Jugendschutz wegen seiner verfassungsrechtlichen Gewährleistung die Kunstfreiheit einschränken kann, hat man die Probleme nicht gelöst. Verfassungsrechtsgüter, die mit der Kunstfreiheit kollidieren, kommen nicht als absolute Schranken dieses Grundrechts in Betracht. Vielmehr zieht die Kunstfreiheit ihrerseits diesen verfassungsrechtlich geschützten Rechtsgütern Grenzen1. Nichts anderes soll im Fall der Kollision zwischen Kunstfreiheit und Jugendschutz gelten. Der Jugendschutz schränkt zwar die Kunstfreiheit ein. Nicht zuletzt aus der grundsätzlichen Gleichrangigkeit von Kunstfreiheit und Jugendschutz ist aber zu entnehmen, daß die Kunstfreiheit Ausübung und Geltungsbereich des Jugendschutzes ihrerseits Schranken zieht2. Es stellt sich folglich die Frage, wo die Grenzen jedes der widerstreitenden Interessen liegen, wie die Konfliktschlichtung zwischen ihnen vorzunehmen ist. Die Wendung des BVerfG, wonach ein im Rahmen der Kunstfreiheitsgarantie zu berücksichtigender Konflikt "nach Maßgabe der grundgesetzlichen Wertordnung und unter Berücksichtigung der Einheit dieses grundlegenden Wertsystems durch Verfassungsauslegung" zu lösen sei3, kann dabei kaum behilflich sein. Diese Formulierung liefert keine handlichen Maßstäbe für die Konfliktschlichtung, sie ist vielmehr eher als eine Leerformel zu bezeichnen4. Sie ist darüber hinaus verfehlt, wenn sie impliziert, daß die Lösung derartiger Konflikte durch die Verfassung schlechthin vorgegeben ist. (Daß dem BVerfG diese Vorstellung zugrunde liegt, wird vor allem in der Wendung "durch Verfassungsauslegung" deutlich). Es wäre aber verfehlt zu glauben, "daß die Ver1

Vgl. BVerfGE 30, 173 [195]; 67, 213 [228]; 77, 240 [253]; 83, 130 [143], BVerwGE 77, 75

[82]. 2

Vgl. BVerfGE 83, 130 [143].

3

BVerfGE 30, 173 [193].

4

So Lerche in: Handbuch des Staatsrechts, § 122 Rn. 24. Ebenso kritisch zu dieser Formel des BVerfGE Bethge, Zur Problematik von Grundrechtskollisionen, S. 268; Graf, BayVBl 1971, 55 [56]; Wendt, AöR 104 [1979], S. 414 [432f|.

3.Kap. Die Konfliktschlichtung von Kunstfreiheit und Jugendschutz

fassung eine alle Fälle umfassende Entscheidung selbst getroffen habe, die auch dort zum Klingen gebracht werden könnte, wo der Verfassungstext unzulänglich bleibt."5 Die Annahme, daß das Grundgesetz mit seinen lapidaren Formulierungen parate Antworten fur jede Frage, die in seinem Rahmen auftaucht, bereithalte, ist mit dem Charakter des Grundgesetzes unvereinbar. Was insbesondere die Konflikte zwischen verfassungrechtlich geschützten Rechtsgütern betrifft, sollte man auch hier die Determinierungskraft der Verfassung nicht überschätzen und ihre Regulierungsfähigkeit nicht überstrapazieren. Das Grundgesetz mag zwar vereinzelte Fingerzeige für die Lösung derartiger Konflikte liefern 6; im übrigen hat aber das Grundgesetz selbst keine umfassenden Entscheidungen getroffen 7, die die Auflösung dieser Spannungslagen schon auf der Ebene der Verfassung eindeutig festlegten. Die Formeln "angemessener"8, "verhältnismäßiger" 9, "nach beiden Seiten möglichst schonender Ausgleich"10, "praktische Konkordanz" 11 und ähnliche

5 Lerche, Übermaß und Verfassungsrecht, S. 131. Vgl. ferner ders., AöR 90 [1965], S. 341 [349]; Bethge, Zur Problematik von Grundsrechtskollisionen, S. 294f; Hennis , Verfassung und Verfassungswirklichkeit, Recht und Staat, Heft 373/374 [1968], S. 19ff; Kägi, Die Verfassung als rechtliche Grundordnung des Staates, S. 135; Pöttner, Allgemeines Verwaltungsrecht, S. 40. 6 Solche, von der Verfassung ableitbaren Hinweise für die Schlichtung von verfassungsrechtlichen Spannungslagen sind nach Lerche (in: Handbuch des Staatsrechts, § 122 Rn. 24) die Achtung des Kernbereichs der jeweiligen Schutzgebote, das geringere Gewicht bloßer grundrechtlicher Ausübungsmodalitäten und das zumeist größere Gewicht faßbarer Nähe zum personalen Kern der Grundrechte, insbesondere zu Art. 1 Abs. 1 GG. 7

So Lerche, Übermaß und Verfassungsrecht S. 130f; ders., in: Handbuch des Staatsrechts, § 122 Rn. 24; Rüfner, in: Gedächtnisschrift für Martens, S. 215 [224]; anders aber Bethge, Zur Problematik von Grundrechtskollisionen, S. 294ff und Blaesing, Grundrechtskollisionen, S. 40ff. Zum Fehlen einer grundgesetzlichen Wertrangordnung siehe oben im 2. Kapitel F III. 8 Vgl. nur etwa BVerfGE 83, 130 [143]; BVerwGE 91, 223 [227]; Schwache, Grundrechtliche Spannungslagen, S. 73. 9 Vgl. nur etwa BVerfGE 50, 290 [340]; 81, 278 [292]; BVerwGE 91, 223 [225]; BVerwG, NVwZ 1991, 983 [984]; BVerwG, JMS-Report 1/1993, 9 [10]; BGHSt 37, 55[62]; Bismark, NJW 1985, 246 [250]; Maiwald, JZ 1990, 1141 [1142]; Rupert Scholz, in: MDHS, Kommentar zum GG, Art. 5 Abs. III Rn. 66. 10

Dieser, von Lerche, in: Übermaß und Verfassungsrecht, S. 152f (vgl. auch ders., Nachwort zu Böckenförde, Zur Lage der Grundrechtsdogmatik nach 40 Jahren Grundgesetz, S. 75 [78]) entwickelten Formel wurde in der Literatur und Rechtsprechung oft gefolgt: vgl. BVerfGE 39,1 [43]; Bismark, NJW 1985, 246 [250]; Hesse, in: FS für Scheuner, S. 123 [140]; Isensee, AfP 1993, 619 [628]; Jarass, AöR 110 [1985], S. 363 [384]; Kloepfer, Vorwirkung von Gesetzen, S. 97; Loschelder, Vom besonderen Gewaltverhältnis zur öffentlich-rechtlichen Sonderbindung, S. 419; Ossenbühl, AöR 98 [1973], S. 361 [377]; Scherzberg, Grundrechtsschutz und "Eingriffsintensität", S. 123; Rupert Scholz, Die Koalitionsfreiheit als Verfassungsproblem, S. 116; ders., AöR 100 [1975], S. 80 [117].

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3.Kap. Die Konfliktschlichtung von Kunstfreiheit und Jugendschutz

Wendungen12 mögen ferner mehr oder weniger 13 zutreffende Maßstäbe für die Kollisionslösung anbieten. Sie allein schöpfen aber die Problematik der Konfliktschlichtung auf keinen Fall aus: nicht nur weil sie präzisiert und anhand der besonderen Charakteristika der jeweiligen Konfliktkonstellation konkretisiert werden müssen14, um praktikabel und anwendungsfähig zu werden, sondern auch, weil sie die grundsätzliche Frage unbeantwortet lassen, von wem die Konfliktschlichtung der widerstreitenden Belange vorzunehmen ist 15 . A. Die Konfliktschlichtung von Kunstfreiheit und Jugendschutz als kompetenzrechtliches Problem I. Die Notwendigkeit der Einzelfallabwägung im vorliegenden Kollisionsfall Die Untersuchung der Problematik der Konfliktschlichtung von Kunstfreiheit und Jugendschutz hat sich demzufolge zunächst mit der kompetenzrechtlichen Frage auseinanderzusetzen, wer dazu befugt ist, die Kollision zwischen Kunstfreiheit und Jugendschutz zu lösen. Dem BVerfG kann hierbei uneingeschränkt zugestimmt werden, wenn es auf dem Standpunkt steht, daß diese Konfliktschlichtung grundsätzlich eine Sache des Gesetzgebers ist 16 .

11 Dazu grundlegend Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Rn. 72. Vgl. ferner nur etwa BVerwG, NJW 1993, 1491 [1492]; Achterberg, Das rahmengebundene Mandat, S. 18; Bismark, NJW 1985, 246 [250]; Erhardt, Kunstfreiheit und Strafrecht, S. 106; Geis, NVwZ 1992, 25 [27]; Grabitz, AöR 98 [1973], S. 568 [577f]; Graf, Die Grenzen der Freiheitsrechte ohne besondere Vorbehaltsschranke, S. 24, 65; Hillgruber/Schemmer, JZ 1992, 946 [948]; Läufer, JuS 1975, 689 [691]; Friedrich Müller, Freiheit der Kunst als Problem der Grundrechtsdogmatik, S.55; ders., Die Positivität der Grundrechte, S. 47ff; Rüfner, in: FG für BVerfG, Bd. II, S. 453 [465ff]; Schmitt Glaeser, WissR 7 [1974], S. 107 [120], 177 [186].

12 Ein guter Uberblick findet sich bei Bethge, Zur Problematik von Grundrechtskollisionen, S. 273f. 13 Für die (wohl feinen) Unterschiede zwischen den einzelnen Formeln siehe Lerche, in: Handbuch des Staatsrechts, § 122 Rn. 3ff. 14 Vgl. Hillgruber/Schemmer, JZ 1992, 946 [948]; "Wie die "verhältnismäßige" Zuordnung der in Widerstreit stehenden Grundrechspositionen, d.h. die Herstellung der praktischen Konkordanz zwischen ihnen, erfolgt, läßt sich nicht losgelöst von den konkret betroffenen Grundrechten bestimmen." 15 16

Vgl. Bethge, Zur Problematik von Gnindrechtskollisionen, S. 272 ff.

BVerfGE 83, 130 [143] ("Mutzenbacher"-Entscheidung). So im Ergebnis auch Gusy, JZ 1991, 470 [471]. Daß es eine Aufgabe der Gesetzgebung ist, kollidierende Verfassungsrechtsgüter zum Ausgleich zu bringen, wurde vom BVerfG auch in anderen Zusammenhängen betont: vgl. BVerfGE 41, 29 [50]; 47, 46 [80]; 57, 295 [321]. Fraglich ist aber, inwieweit diese Rechtsprechung des BVerfG mit

Α. Die Konfliktschlichtung als kompetenzrechtliches Problem

167

Wäre Art. 5 Abs. 2 GG auch auf die Kunstfreiheit anwendbar, was aber nach dem eben Gesagten17 nicht zutrifft, dann hätte man die Befugnis des Gesetzgebers zur Konfliktschlichtung von Kunstfreiheit und Jugendschutz ohne weiteres annehmen müssen18. Denn Art. 5 Abs. 2 GG verweist auf den Gesetzgeber, auf die gesetzlichen Bestimmungen zum Schutz der Jugend. Diese gesetzlichen Bestimmungen sollen nach Art. 5 Abs. 2 GG die aus Jugendschutzgründen gebotenen Grenzen der grundrechtlichen Freiheit festlegen und damit die einschlägigen Konflikte lösen. Die Kompetenz des Gesetzgebers, die zwischen Jugendschutz und Kunstfreiheit auftretenden Spannungslagen zu lösen, wäre in diesem Fall durch den Grundgesetzwortlaut selbst signalisiert worden. Aber auch die Vorbehaltlosigkeit der Kunstfreiheit kann zu keinem anderen Ergebnis führen 19. Dem Gesetzgeber kann das Recht, sogar die Pflicht, sich der "universalen" und automatischen Heranziehung der Einzelfallabwägung im Einklang steht, wie diese in ständiger Spruchpraxis der BVerfG betrieben wird. Siehe dazu die Nachweise unten in diesem Kapitel bei Fn. 53. Die Kompetenz des Gesetzgebers zur Schlichtung der Konflikte zwischen Verfassungspositionen, insbesondere zwischen Grundrechten, wird (wenngleich mit unterschiedlichen Begründungen und in höchstdifferenzierten Nuancierungen, auf die hier nicht eingegangen werden kann) überwiegend auch in der Literatur bejaht: vlg. etwa Bethge, Zur Problematik von Grundrechtskollisionen, S. 272ff; ders., Grundrechtskonflikte, in: Ergänzbares Lexikon des Rechts 5/340 S. 6; Blaesing, Grundrechtskollisionen, S. 157ff; Fohmann,, EuGRZ 1985,49 [61]; Grabitz, AöR 98 [1973], S. 568 [576f]; Isensee,, AfP 1993, 619 [628]; Jarass, AöR 110 [1985], S. 363 [385]; von Kalm, DÖV 1994, 23 [25]; Lerche,, Übermaß und Verfassungsrecht, S. 131; ders., AöR 90 [1965], S. 341 [348]; ders., Bayerisches Schulrecht und Gesetzesvorbehalt, S. 31; ders., in: Lerche/Schmitt Glaeser/Schmidt-Aßmann, Verfahren als Staats- und verwaltungsrechtliche Kategorie, S. 97 [106f]; ders., Nachwort zu Böckenförde, Zur Lage der Grundrechtsdogmatik nach 40 Jahren Grundgesetz, S. 75 [78]; Rüfner, in: FG für BVerfG, Bd. II, S. 453 [47Iff]; Walter Schmidt, AöR 106 [1981], S. 497 [506, 524]; Rupert Scholz, Die Koalitionsfreiheit als Verfassungsproblem, S. 115; Schwabe, Probleme der Grundrechtsdogmatik, S. 90; Selk, Asylrecht und Verfassung, S. 170ff; Sendler, in: FS für Zeidler,Bd. I, S. 87Iff; Staupe, Parlamentsvorbehalt und Delegationsbefugnis, S. 243\Wendt, AöR 104 [1979], S. 414 [433f]; ders., in: v.Münch/Kunig, GG-Kommentar, Art. 5 Rn. 96 17

siehe dazu oben, 2. Kapitel E II. 18

Vgl. Lerche, AfP 1973, 496 [500].

19

Daß die Abschichtung von verfassungsrechtlichen Spannungslagen auch dann auf das Instrument des Gesetzes angewiesen ist, wenn diese Kollisionen im Rahmen der vorbehaltlosen Grundrechte erscheinen, betonen insbesondere Isensee, AfP 1993, 619 [628]; Lerche, in: Lerche/Schmitt Glaeser/Schmidt-Aßmann, Verfahren als Staats- und verwaltungsrechtliche Kategorie, S. 97 [106]; Rupp, DVB1 1972, 66 [67]; Sendler, in: FS für Zeidler, Bd. I, S. 871 [882ff]. Etwas zurückhaltender jetzt Lerche, Handbuch des Staatsrechts, § 122 Rn. 24: "Konzedieren wird man aber, daß gerade die Vorbehaltlosigkeit eines Grundrechts dem Gesetzgeber nicht ohne weiteres jene prinzipielle Kompetenz gestattet, wie er sie etwa im Rahmen des Art. 5 Abs. 2GG wohl doch beanspruchen darf; das heißt die Kompetenz, för die Schlichtung auftretender typischer Konflikte generelle (anwendungsfahige) Maßstäbe zu setzen".

168

3.Kap. Die Konfliktschlichtung von Kunstfreiheit und Jugendschutz

bei der Ziehung der Grenzen vorbehaltloser Grundrechte zu äußern, nicht abgenommen werden. Das folgt aus dem Grundsatz des Vorbehalts des Gesetzes. Dieser Grundsatz verpflichtet den Gesetzgeber, die wesentlichen Entscheidungen selbst zu treffen 20, wobei das "Wesentliche" und die daraus folgende Regelungspflicht des Gesetzgebers in grundrechtsrelevanten Bereichen dann gegeben sind, wenn es sich um eine für die Grundrechtsverwirklichung maßgebliche Regelung handelt21. Die Festlegung der Grenzen (auch) der ohne Gesetzesvorbehalt versehenen Grundrechte ist für die Verwirklichung dieser Freiheitsrechte durchaus wesentlich und fallt daher unter den Vorbehalt des Gesetzes. Die Festsetzung der Grenzen, die der Jugendschutz der Kunstfreiheit zieht, und damit die Lösung des Widerstreits zwischen den beiden Rechtsgütern ist also auf das Instrument des Gesetzes angewiesen22. Das Ergebnis der "Wesentlichkeit" der vorliegenden Materie wird auch dadurch bekräftigt, daß man hier mit einer politischen, d.h. die Allgemeinheit berührenden Kontroverse zu tun hat 23 . Das läßt sich nicht zuletzt aus der 20

Zur Problematik des Vorbehalts des Gesetzes und der (noch nicht abschließend geklärten und von Fragwürdigkeiten nicht freien) Wesentlichkeitstheorie vgl. nur etwa BVerfGE 34, 165 [192f]; 40, 237 [248ff]; 41, 251 [259ff|; 45, 400 [417ff]; 47, 46 [78ff]; 49, 89 [126ff]; 58, 257 [268ff|; 83, 130 [142; BVerwGE 47, 194 [197ff]; 48, 305 [308ff]; 64, 308 [309ff]; von Arnim, DVB1 1987, 1241ff; Bullinger, JZ 1984, 1001 [1005f|; Eberle , DÖV 1984, 485ff; Erichsen, VerwArch 69 [1978], S.387ff; ders., DVB1 1985, 22 [26ff]; Kisker, NJW 1977, 1313ff; Kloepfer, JZ 1984, 685ff; Lerche, Bayerisches Schulrecht und Gesetzesvorbehalt; Mauer, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 6 Rn. 3ff; Selmer, JuS 1968, 489ff. 21 Vgl. BVerfGE 47, 46 [79]; 57, 295 [321]; 83, 130 [142]; BVerwGE 64, 308 [312ff]; Erichsen, DVB1 1985, 22 [27]; Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Rn. 509; Kisker, NJW 1977, 1313 [1315]; Lerche, Bayerisches Schulrecht und Gesetzesvorbehalt, S. 64; Nevermann, VerwArch 71 [1980], S. 241 [247]. 22 Auf den Vorbehalt des Gesetzes und die Wesentlichkeitstheorie stützt auch das BVerfG (BVerfGE 83, 130 [142f], "Mutzenbacher"-Entscheidung) seine Ansicht, daß der Ausgleich zwischen Kunstfreiheit und Jugendschutz vom Gesetzgeber herbeigeführt werden sollte: "Rechtsstaatsprinzip und Demokratiegebot verpflichten den Gesetzgeber, die fur die Grundrechtsverwirklichung maßgeblichen Regelungen im wesentlichen selbst zu treffen und diese nicht dem Handeln und der Entscheidungsmacht der Exekutive zu überlassen (...). Eine Pflicht dazu besteht, wenn miteinander konkurriende grundrechtliche Freiheitsrechte aufeinandertreffen und deren jeweiligen Grenzen fließend und nur schwer auszumachen sind. Dies gilt vor allem dann, wenn die betroffenen Grundrechte nach dem Wortlaut der Verfassung vorbehaltlos gewährleistet sind und eine Regelung, welche diesen Lebensbereich ordnen will, damit notwendigerweise ihre verfassungsimmanente Schranken bestimmen und konkretisieren muß. Hier ist der Gesetzgeber verpflichtet, die Schranken der widerstreitenden Freiheitsgarantien so weit selbst zu bestimmen, wie sie fur die Ausübung dieser Freiheitsrechte wesentlich sind (...). Nach diesen Grundsätzen sollte der Gesetzgeber den Ausgleich von Kunstfreiheit und Jugendschutz im Bereich jugendgefährdender Schriften selbst regeln."

23

Zum Merkmal des "politisch Kontroversen" als Kriterium zur Erfassung des vom Gesetzgeber zu regelnden "Wesentlichen" vgl. Kisker, NJW 1977, 1313 [1318] und Lerche, Gesetzesvorbehalt und

Α. Die Konfliktschlichtung als kompetenzrechtliches Problem

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Vielzahl der widerstreitenden Artikel über das Verhältnis von Kunstfreiheit und Jugendschutz entnehmen, die insbesondere nach der "Mutzenbacher"-Entscheidung des BVerfG in der Presse erschienen sind24, sowie auch aus der herausgehobenen Stellung, die der - immer mit heftigen Auseinandersetzungen verbundene - Themenkreis "Kunstfreiheit und Jugendschutz" bei Tagungen und Symposien über die Kunst und Kunstfreiheit einnimmt25. Obwohl man mit der Handhabung des Merkmals "politische Kontroverse" im Rahmen der Wesentlichkeitstheorie sehr vorsichtig sein sollte, kann doch dem Vorliegen einer solchen Kontroverse der Charakter eines Indizes, das fiir die "Wesentlichkeit" der Materie spricht, nicht abgesprochen werden 26. Insoweit findet die These, daß die Lösung des Konflikts zwischen Kunstfreiheit und Jugendschutz eine Sache des Gesetzgebers ist, eine zusätzliche (wenn auch nicht die primär entscheidende) Stütze. Die Kompetenz des Gesetzgebers zur Schlichtung des Widerstreits zwischen Kunstfreiheit und Jugendschutz folgt auch aus dem Prinzip der Rechtssicherheit und Voraussehbarkeit des staatlichen Handelns. Unter diesem Gesichtspunkt erscheint es sinnvoller, einen Konflikt durch generell-abstrakte, die Rechtssicherheit fordernde gesetzgeberische Maßnahmen beizulegen, statt die Kollisionslösung einer richterlichen oder behördlichen, ohne jegliche gesetzliche Hinweise stattfindenden und deshalb unberechenbaren Kasuistik27 zu überlassen28. Der Gedanke der Rechtssicherheit und Voraussehbarkeit des

Bayerisches Schulrecht, S. 20ff. Skeptisch zu diesem Kriterium Nevermann, VerwArch 71 [1980], S.241 [246f]. 24

Vgl. etwa Busche, SZ v. 25.2.1993, S. 4; Doinet, Stern 5/1991, S. 158; Kerscher, SZ v. 16./17.3.1991, S. 11; Mainusch, Die Welt v. 28.11.1992, S. G 1; Schroeder, FAΖ v. 10.4.1991, S. 14. 25

Vgl. z.B. das am 12./13.6.1987 abgehaltene Symposium "Literatur vor dem Richter" und die dort gehaltenen Vorträge von Groth, "Bundesprüfstelle und Freiheit der Kunst" (veröffentlicht in: Literatur vor dem Richter, S. 185ff) und von Siefen, "Literatur vor dem Richter - aus der Sicht der Bundesprüfstelle" (ebenso veröffentlicht in: Literatur vor dem Richter, S. 123ff). 26 Vgl. Lerche, Bayerisches Schulrecht und Gesetzesvorbehalt, S. 20. 27

Zwar vermögen auch gerichtliche Urteile eine allgemeine, über die Entscheidung des konkreten Einzelfalls hinausgehende und in die Zukunft weisende Bedeutung zu haben, was insbesondere fur die Urteile des BVerfG gilt (vgl. hierzu Bethge, Zur Problematik von Grundrechtskollisionen, S. 276). Aber diesem Vermögen des Richters, sich vom Einzelfall gewissermaßen abzulösen, "sind Grenzen gezogen, jedenfalls in einem kodifikatorischen Rechtssystem" {Lerche, Übermaß und Verfassungsrecht, S. 131). 28

•·

Ahnlich die Argumentation von Isensee, AfP 1993, 619 [628], der die primäre Kompetenz des Gesetzgebers, widerstreitende Wertungen der Verfassung zum Ausgleich zu bringen, hauptsächlich mit den folgenden Ausführungen begründet: "Das Gesetz bietet also von seiner Form her die größere

170

3.Kap. Die Konfliktschlichtung von Kunstfreiheit und Jugendschutz

staatlichen Handelns und die sich daraus ergebende Notwendigkeit von gesetzgeberischen kollisionslösenden Normen treten vor allem dann in den Vordergrund, wenn, wie im Fall der §§ 131, 184 StGB und 6 GjS, die mit der Kunstfreiheit kollidierenden Jugendschutzbestimmungen sich unmittelbar, d.h. ohne die Zwischenschaltung einer behördlichen Entscheidung, an den Bürger richten und deren Nichtbeachtung erhebliche strafrechtliche Folgen hat. In solchen Fällen wäre das Schweigen des Gesetzgebers darüber, wann diese Bestimmungen trotz ihrer Kollision mit der Kunstfreiheit anwendbar sind bzw. wann das Grundrecht der Kunstfreiheit ihrer Anwendung entgegensteht, sogar unerträglich. Ein weiterer Gesichtspunkt dürfte in diesem Zusammenhang nicht außer acht gelassen werden: Bleibt der Gesetzgeber bei einer Güterkollision völlig untätig - was übrigens nicht selten der Fall ist 29 -, dann wird die Aufgabe der Schlichtung der Spannungslage notwendigerweise auf die Verwaltung und die Gerichte abgewälzt30. Da die Maßstäbe für die Konfliktschlichtung in einem solchen Fall nicht vom Gesetzgeber vorgegeben sind und solche Kriterien i.d.R. auch nicht aus der Verfassung abgeleitet werden können, werden Gerichte und Verwaltung gezwungen sein, die kollisionslösenden Maßstäbe selbst zu setzen. Nach dem Gewaltenteilungsprinzip des Grundgesetzes ist aber nur der Gesetzgeber befugt, im Rahmen der Verfassung Maßstäbe festzulegen, während sich vollziehende und rechtsprechende Gewalt auf Anwendung der gesetzlichen Maßstäbe zu beschränken haben31. Eine Wahrnehmung von legislativen Funktionen durch Verwaltung und Gerichte und damit eine Verletzung des Gewaltenteilungsprinzips ist deshalb dem Fehlen von kollisionslösenden gesetzlichen Normen immanent32. Es muß auch beachtet werden, daß die Verfassungsbestimmungen wegen "ihrer Abstraktionshöhe, sprachlichen Mehrdeutigkeit und meist noch kargen,

Gewähr der Verallgemeinerungsfähigkeit als die Einzelfallentscheidung der Exekutive oder der Judikative. Es vermittelt Rechtssicherheit". 29

Diese gesetzgeberische Zurückhaltung wird vor allem von Lerche, in: Handbuch des Staatsrechts, § 122 Rn. 24 und Selk, Asylrecht und Verfassung, S. 170f, betont. 30 Vgl. Lerche, AfP 1973, 496 [502]; Selk, Asylrecht und Verfassung, S. 170f und Sendler, in: FS für Zeidler, Bd. I, S. 871 [881f|. 31

Vgl. Blaesing, Grundrechtskollisionen, S. 42 und Knies, Schranken der Kunstfreiheit als verfassungsrechtliches Problem, S. 99. 32 Vgl. ferner Lerche, Übermaß und Verfassungsrecht, S. 131: "Daher kann die Konfliktschlichtung grundsätzlich auch nich dem auslegenden Richter überlassen bleiben, soll nicht gegen den Gedanken der Gewaltenteilung verstoßen werden".

Α. Die Konfliktschlichtung als kompetenzrechtliches Problem

171

mehr plakativ annoncierenden als präzis informierenden Bündigkeit"33 in erheblichem Maße auf Konkretisierung, Ausformung und inhaltliche Ausfüllung angewiesen sind. Um eine solche Verfassungskonkretisierung handelt es sich auch bei der Bestimmung des Geltungsbereichs und der Grenzen kollidierender Verfassungsrechtsgüter. Da dem Gesetzgeber die Prärogative zur Verfassungsausfüllung zukommt34, fällt auch die Festlegung der Grenzen der hier aufeinanderprallenden Verfassungsrechtsgüter als ein Verfassungskonkretisierungsakt in den Kompetenzbereich der Legislative. Die Bejahung der prinzipiellen Befugnis des Gesetzgebers zur Kollisionslösung hilft aber nicht viel weiter. Denn der Gesetzgeber kann auch hier auf ganz unterschiedliche Weise tätig werden und die vom Gericht oder von der Verwaltung vorzunehmende Einzelfallentscheidung in unterschiedlicher Intensität vorprogrammieren und determinieren. Er kann z.B. die Kollision zwischen Kunstfreiheit und Jugendschutz in ihrem Kern selbst lösen, indem er eine Typisierung der Konflikte zwischen den beiden Rechtsgütern vornimmt und für diese typischen Konfliktkonstellationen dem einen oder dem anderen Rechtsgut den Vorrang gibt. Stellt der Gesetzgeber auf vertretbare und verfassungsgerechte Weise eine solche Typologie von Konfliktlösungen, eine Reihe von bedingten Vorrangrelationen auf 35 , dann bleibt für eine Einzelfallabwägung 36 kaum mehr Raum37: die Abwägung wird in diesem Fall vom Gesetz-

33

Bethge, Zur Problematik von Grundrechtskollision, S. 285.

34

Vgl. nur etwa Bethge, Zur Problematik von Grundrechtskollisionen, S. 286; Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Rn. 83; Sendler, in: FS für Zeidler, Bd. I, S.871 [892]. 35 etwa in der Form: "Bei den Fällen Α, Β und C hat das Rechtsgut X den Vorrang, während bei den Fällen D, E und F das Rechtsgut Y das Übergewicht gewinnt". Es muß beachtet werden, daß sich der Gesetzgeber auch bei einer solchen Vorgehensweise um Vorkehrungen und Öffnungen bemühen muß, die eine Anpassung der gesetzlichen Regelung auf die besonderen Umstände des Einzelfalls sicherstellen und eine "Versteinerung" der geregelten Materie weitgehend ausschließen (zu diesem Erfordernis, das für jede gesetzliche Bestimmung gilt, vgl. Rupp, NJW 1973, 1769 [1774]). In Betracht kommen insbesondere gesetzliche Ausnahmeklauseln für atypische Fallgestaltungen (dazu vgl. Bullinger, JZ 1984, 1001 [1007f]) sowie auch die Verwendung von mehr oder weniger unbestimmten Rechtsbegriffen, durch die die Transformation der gesetzlichen Regelung auf die speziellen Gegebenheiten des Einzelfalls ermöglicht wird. 36

Zur Abwägung im allgemeinen vgl. nur etwa Alexy, Theorie der Grundrecht, S. 79ff, 143ff; Gern, DÖV 1986, 462ff; Hirschberg, Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, S. 10Iff ; Hubmann, AcP 155 [1956], S. 85ff; ders., in: FS für Schnorr v. Carolsfeld, S. 173ff; ders., in: Wertung und Abwägung im Recht, S. Iff; Ladeur, "Abwägung" - ein neues Paradigma des Verwaltungsrechts, S.216ff, ders., ARSP 1983, 463ff; Lorenz, in: FS för Klingmüller, S. 235ff; ders., Methodenlehre der Rechtswissenschaft, S. 404ff; Scherzberg, Grundrechtsschutz und "Eingriffsintensität", S. 158ff; Schlink, Abwägung im Verfassungsrecht; Harald Schneider, Die Güterabwägung des Bundesverfassungsgerichts bei Grundrechtskonflikten; Schwacke, Grundrechtliche Spannungslagen, S. 72ff; Struck, in: FS fur Esser, S. 171ff; Wendt, AöR 104 [1979], S. 414 [452ff]. Zur Problematik der hier interes-

3.Kap. Die Konfliktschlichtung von Kunstfreiheit und Jugendschutz

172

geber selbst vorgenommen. Diese gesetzgeberische Abwägung und die darin zum Ausdruck kommenden Wertungen und Gewichtungen der widerstreitenden Verfassungspositionen müssen respektiert und nicht dadurch ausgehöhlt werden, daß Verwaltung und Gerichte eine zusätzliche und letztendlich allein maßgebliche Abwägung durchführen. Die Gegenmeinung38, nach der eine gesetzliche kollisionslösende Bestimmung die Einzelfallabwägung zwischen den aufeinandertreffenden Rechtsgütern auf keinen Fall entbehrlich machen könne, bewirkt im Ergebnis eine völlige "Depossedierung" des Gesetzgebers. Wenn ferner von den Anhängern dieser Auffassung auf "das unverzichtbare Postulat einer gerechten Entscheidung des Einzelfalls" hingewiesen wird 39 , das eine konkret-individuelle Behandlung des Kollisionsfalls - kurz gesagt eine Einzelfallabwägung - in jedem Fall verlange, dann dürfte man die Frage stellen, ob es nicht eine unzulässige Verengung der Problematik bedeutet, nur auf den Gesichtspunkt der Einzelfallgerechtigkeit abzustellen und die Parameter der Rechtssicherheit und Voraussehbarkeit des staatlichen Handelns außer acht zu lassen. Denn was man durch die Einzelfallabwägung an Einzelfallgerechtigkeit gewinnt - oder zu gewinnen glaubt - geht Hand in Hand mit einem Verlust an Rechtssicherheit40 und Berechenbarkeit der staatlichen Entscheidungen41. Dem Postulat der sierenden Abwägung zwischen Kunstfreiheit und Jugendschutz siehe im einzelnen unten in diesem Kapitel unter B. 37 In diesem Sinne dürften auch die folgenden Ausführungen von Lorenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, S. 413 verstanden werden: "Die Güterabwägung im Einzelfall" ist eine Methode der Rechtsfortbildung, weil sie dazu dient, Normenkollisionen, fur die es an einer ausdrücklichen Regel im Gesetz fehlt, zu lösen..." (Hervorhebung hier).

38

Diese Meinung vertreten insbesondere Bethge, Zur Problematik von Grundrechtskollisionen, S.315ff und Blaesing, Grundrechtskollisionen, S. 43. So im Ergebnis auch Wendt, AöR 104 [1979], S.414 [433]. 39

Bethge, Zur Problematik von Grundrechtskollisionen, S. 318. 40

Vgl. BVerfGE 66, 116 [138], wo ausgeführt wird, daß die Einzelfallabwägung zwar Einzelfallgerechtigkeit verwirklichen könne. Sie vermöge aber nicht "dem rechtsstaatlichen Gebot der Berechenbarkeit des Rechts, der Rechtsklarheit und Rechtssicherheit gerecht zu werden". Vgl. ferner etwa Hoffmann, NJW 1985, 237 [244]; Hubmann, AcP 155 [1956], S. 85 [89]; Klein, Der Staat 10 [1971], S. 145 [154]; Schmitt Glaeser, WissR 7 [1974], S. 107, 177 [185]. In diesem Zusammenhang ist auch Faller, MDR 1971, 1 [4] zu erwähnen, der zu Recht betont, daß übertriebene Individualisierung die Rechtssicherheit gefährde und der aus diesem Grund der Einzelfallabwägung nur eine Kontrollfunktion für atypische Fälle zuerkennen will. 41 Auch der allgemeine Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG mag dadurch unterlaufen werden. Vgl. dazu Doehring, Der Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, S. 315: "Die Einzelfallgerechtigkeit steht notwendig in einem Spannungsverhältnis zu dem fundamentalen Prinzip des Gleichheitssatzes, vor allem dann, wenn man dessen wesentliche Funktion im Gebot der Klassifizierung sieht". Vgl. femer Hoffmann, NJW 1985, 237 [244].

Α. Die Konfliktschlichtung als kompetenzrechtliches Problem

173

Einzelfallgerechtigkeit den Vorrang gegenüber der Forderung nach Rechtssicherheit und Rechtsklarheit kurzerhand und für jeden Fall einzuräumen, wäre ohnehin unzulässig42. Die Unerträglichkeit einer solchen Annahme wird vor allem bei den strafrechtlichen Normen deutlich, die sich mit Geboten und Verboten an die Staatsbürger richten und einschneidende Folgen für den Fall ihrer Nichtbeachtung vorsehen. Sollten hier die Grundsätze der Rechtssicherheit und Berechenbarkeit der gerichtlichen Entscheidungen nicht das Übergewicht gegenüber Billigkeitswünschen gewinnen? Daß auch der Einzelfallgerechtigkeit Grenzen gezogen werden müssen, wird besonders klar, wenn man den Bereich der kollisionslösenden Normen verläßt: Niemand könnte z.B. ernsthaft behaupten, daß es einem Gericht erlaubt ist, eine Person mit fünfzehn Jahren nicht als Jugendlichen zu qualifizieren, wenn sie über einen besonderen Reifegrad verfügt. Und umgekehrt: es wäre nach einhelliger Meinung schlechthin unerträglich, wenn ein Gericht zum Ergebnis kommen würde, daß eine Person mit dreißig Jahren als Jugendlicher anzusehen sei, weil sie noch nicht reif sei. Niemand ist auf die Idee gekommen, daß die gesetzliche Klassifizierung, nach der Kinder und Jugendliche alle (aber auch nur) Personen unter achtzehn Jahren sind 43 , zugunsten der Einzelfallgerechtigkeit verwässert und ausgehöhlt werden dürfte. Warum sollte aber nicht dasselbe für diejenigen verfassungsgerechten Normen gelten, die einen (verfassungsrechtlichen) Konflikt in seinem Kern lösen? Eine abschließende Bemerkung sei hier erlaubt: die These der automatischen und rücksichtslosen Heranziehung der Einzelfallabwägung auch in den Fällen, bei denen der Gesetzgeber auf verfassungsrechtlich vertretbare Weise eine Güterkollision in ihrem Kern selbst gelöst hat, könnte zudem fatale Konsequenzen für die Geltungskraft der gesamten Rechtsordnung haben. So lassen sich z.B. die meisten Vorschriften des Privatrechts als Normen erfassen, die Kollisionen zwischen Rechtspositionen und zwar - aufgrund der Ausweitung des Geltungsanspruchs der Grundrechte auf die gesamte unterverfassungsrechtliche Rechtsordnung44 - zwischen Grundrechten schlichten45. Wollte 42 Gentz, NJW 1968, 1600 [1606]: "Die Grundsätze der individuellen Verhältnismäßigkeit, der Rechtssicherheit und Rechtsklarheit sowie der Gleichbehandlung stehen im Verfassungsrecht nebeneinander, ohne daß in abstracto dem einen oder dem anderen Prinzip der Vorrang eingeräumt werden könnte." 43

Siehe etwa §§ 1 Abs. 4 GjS, 2 Abs. 1 JÖSchG.

44

Vgl. dazu etwa Lerche, in: Lerche/Schmitt Glaeser/Schmidt-Aßmann, Verfahren als staats- und verwaltungsrechtliche Kategorie, S. 97 [lOlf, 118f); ders., in: Handbuch des Verfassungsrechts, § 121 Rn. 26. 45 Vgl. Rüfner, fassung, S. 171.

in: Gedächtnisschrift för Martens, S. 215 [223f] und Selk, Asylrecht und Ver-

174

3.Kap. Die Konfliktschlichtung von Kunstfreiheit und Jugendschutz

man auch hier die Einzelfallbewertung in den Vordergrund stellen und das Instrumentarium der Einzelfallabwägung zu unverzichtbarer und unerläßlicher Voraussetzung der Rechtsfindung erklären, würde man im Ergebnis eine nicht mehr hinnehmbare Relativierung und Verunsicherung der Geltungs- und Aussagekraft eines erheblichen Teils der Rechtsordnung herbeiführen. Die Forderung nach einer stärkeren "Beachtung typischer und verfassungsgerechter Konfliktlösungen des Gesetzgebers"46 ist nach alledem durchaus berechtigt und steht insoweit der Heranziehung der Einzelfallabwägung entgegen. Damit soll freilich nicht behauptet werden, daß die Einzelfallabwägung als Instrumentarium zur Bewältigung von verfassungsrechtlichen Spannungslagen generell unzulässig ist. Denn der gesetzgeberische Beitrag zur Konfliktschlichtung kann nicht nur in Gestalt einer Typologie von Konfliktlösungen, von Vorrangrelationen erfolgen, die der Heranziehung der Einzelfallabwägung den Weg versperren würden. Der Gesetzgeber kann auch zurückhaltender verfahren, sich der Aufstellung von Vorrangrelationen zwischen den widerstreitenden Belangen enthalten und sich nur auf die Anordnung einiger Gesichtspunkte für die Auflösung des Konflikts durch die Verwaltung oder die Justiz, insbesondere auf die Festlegung von Maßstäben für die Gewichtung der kollidierenden Rechtspositionen im Einzelfall beschränken47. Wird der Gesetzgeber auf eine solche Weise tätig, dann kann die Frage, welches Rechtsgut ftir die konkret zu entscheidende Frage den Vorrang genießen soll, nur durch eine von der Verwaltung oder den Gerichten vorzunehmende Einzelfallabwägung beantwortet werden, wobei die Gewichtung der aufeinanderprallenden Interessen aufgrund der gesetzlich festgelegten Kriterien erfolgen muß. Der Einzelfallabwägung steht hier nichts im Wege, weil die Vorrangrelation zwischen den widerstreitenden Rechtsgütern nicht vom Gesetzgeber vorgegeben ist. Welche gesetzgeberische Vorgehensweise im Fall der Kollision zwischen Kunstfreiheit und Jugendschutz sinnvoller und zweckmäßiger ist, hängt von der Eigenart dieser Materie ab. Maßgebend ist in diesem Zusammenhang, daß sich die hier auszugleichenden Interessen durch Vielgestaltigkeit und Zukunftsoffenheit auszeichnen. Sowohl Kunst als auch Jugendschutz sind beson-

46 Lerche, in Lerche/SchmittGlaeser/Schinidt-Aßmann, Verfahren als staats- und verwaltungsrechtliche Kategorie S. 97 [107]. Vgl. ders., in: Handbuch des Staatsrechts, § 122 Rn. 21.

47

Die gesetzliche Regelung könnte in einem solchen Fall etwa die folgende Gestalt haben: "Bei einer Kollision zwischen den Rechtsgütern X und Y ist die Entscheidung darüber, welches dieser widerstreitenden Rechtsgüter im Einzelfall den Vorrang genießen soll, u.a. unter Berücksichtigung folgender Faktoren zu treffen:..."

. Die Konfliktschlichtung als kompetenzrechtliches Problem

175

ders komplexe und dynamische Lebensbereiche48. Außerdem kann die Entscheidung darüber, welchem dieser Rechtsgüter und unter welchen Voraussetzungen der Vorrang eingeräumt werden sollte, nur unter Berücksichtigung einer Vielzahl von Faktoren getroffen werden 49. Diese Gesichtspunkte können wiederum in höchst unterschiedlichen Abstufungen und Kombinationen erscheinen. Angesichts dessen sind gesetzlich formulierte Vorrangrelationen zwischen Kunstfreiheit und Jugendschutz, die die Lösung jeder einschlägigen Kollisionslage durch einfache Subsumtion ermöglichten und einer Einzelfallabwägung entgegenständen, kaum möglich. Wollte der Gesetzgeber trotzdem eine Typologie von Konfliktlösungen, von Vorrangrelationen aufstellen, dann wäre ihre Aussagekraft nur sehr gering. Diese gesetzlichen Regelungen wären, um der Vielgestaltigkeit der vorliegenden Materie Rechnung zu tragen und zukünftige Entwicklungen einzubeziehen, generalklauselartig und so abstrakt formuliert, daß ihr Informationsgehalt nur sehr gering wäre und demzufolge die eigentliche Entscheidung auch dann bei der Verwaltung und den Gerichten bleiben würde 50. Aber auch wenn solche gesetzlichen Vorrangrelationen in der Lage wären, eine gewisse Bindung der Verwaltung und der Gerichte zu bewirken, wäre das nicht unproblematisch. Dadurch würde nämlich die Berücksichtigung der veränderten tatsächlichen Verhältnisse - je nach Bestimmtheitsgrad der gesetzlichen Regelungen - wesentlich erschwert oder sogar ausgeschlossen werden, und zwar in einem Bereich, wo sich die maßgeblichen Verhältnisse rasch und ständig ändern. Daraus ergibt sich, daß die gesetzgeberischen Normierungsmöglichkeiten bei der Konfliktschlichtung von Kunstfreiheit und Jugendschutz wesentlich reduziert sind. Eine weitgehende Vorprogrammierung der Einzelfallentscheidung durch den Gesetzgeber wäre mit dem dynamischen und vielgestaltigen Charakter der in Rede stehenden Materie nur sehr schwer vereinbar. Daher ist es durchaus verständlich und gerechtfertigt, daß sich der Gesetzgeber im Jugendschutzrecht - mit der Ausnahme des Kunstvorbehalts des § 1 Abs. 2 Nr. 2 GjS - der Aufstellung von Präferenzsätzen enthalten hat. Eine Beschränkung der einschlägigen gesetzlichen Bestimmungen auf die Festsetzung von Kriterien, nach denen die Einzelfallabwägung zwischen Kunstfreiheit und Jugend-

48

Siehe dazu oben im 1. Kapitel, C I und im 2. Kapitel, A12f.

49

Für die Faktoren, die bei der Vorrangentscheidung eine Rolle spielen könnten, siehe unten in diesem Kapitel unter Β II. 50

Daß kollisionslösende Normen, die sich durch einen hohen Abstraktionsgrad auszeichnen und generalklauselartig erfaßt sind, keine wirkliche Hilfestellung leisten können, wird insbesondere von Blaesing, Grundrechtskollisionen, S. 43 und Selk, Asylrecht und Verfassung, S. 170 betont.

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3.Kap. Die Konfliktschlichtung von Kunstfreiheit und Jugendschutz

schütz zu erfolgen hat, ist sinnvoller und vorzuziehen. Zur Bewältigung dieser besonders komplexen und einer gesetzlichen Lösung sehr eingeschränkt zugänglichen Kollisionslage erweist sich die Einzelfallabwägung, die Abwägung unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls, als das angemessenste rechtliche Instrumentarium. Das gilt umso mehr, als zur Vornahme dieser Abwägung Organe verpflichtet sind, die sich durch besonderen Sachverstand auszeichnen und auf Grund ihrer besonderen Organisation und Verfahren in der Lage sind, eine sachgerechte Einschätzung der jeweiligen konkreten Kollisionslage und damit einen optimalen Ausgleich der widerstreitenden Interessen zu gewährleisten51. Eines muß hier aber nachdrücklich betont werden: diese Ausführungen beziehen sich ausschließlich auf die besondere Konstellation des Konflikts zwischen Kunstfreiheit und Jugendschutz. Sie beanspruchen keine allgemeine Geltung, da die Frage, auf welche Weise der Gesetzgeber tätig werden und inwieweit er die Vorrangentscheidung im Einzelfall determinieren sollte, nur unter Berücksichtigung der besonderen Charakteristika des jeweiligen Kollisionsfalls beantwortet werden kann. Insbesondere bei gesetzlich steuerbaren, nicht komplexen Kollisionslagen sind gesetzliche Typologien von Konfliktlösuneen nicht zuletzt wegen der dadurch erzielten Rechtssicherheit zu bevorzugen 52 . Insoweit kann dem BVerfG nicht zugestimmt werden, wenn es die Einzelfallabwägung bei jeder Kollision auf Verfassungsebene als Allheilmittel und etwas Selbstverständliches heranzieht53, ohne ein Wort darüber zu verlie51

Siehe dazu im einzelnen unten im 4. Kapitel.

52

Vgl. in diesem Zusammenhang die - zum Problemkreis der Kunstausübung in Fußgängerzonen ausgeführten - Überlegungen von Bismark, NJW 1985, 246 [251]: "Insbesondere bei der Nutzung von Fußgängerbereichen zu anderen als Fortbewegungszwecken unter Zuhilfenahme von fremder Sachen zur Grundrechtsausübung ist eine gesetzliche Regelung zum Interessenausgleich angebracht, da der Rechtsunterworfene von vornherein weiß, wie der Konflikt gelöst ist. Somit sind typisierende Regelungen bei diesen Konstellationen zugleich ein Beitrag zur Rechtssicherheit". 53 Vgl. nur etwa BVerfGE 7, 198 [210f|; 12, 113 [125]; 16, 214 [220]; 20, 162 [213]; 28, 264 [280]; 30, 173 [195]; 30, 227 [243]; 33, 52 [69]; 34, 238 [249]; 35, 202 [224]; 51, 324 [346]; 64, 108 [116]; 75, 369 [379]; 77, 240 [253]; 83, 130 [143ff]; 86, 1 [11]. Vgl. femer die zahlreichen Hinweise bei Harald Schneider, Die Güterabwägung des Bundesverfassungsgerichts bei Grundrechtskonflikten, S. 43ff. Die Auflösung von verfassungsrechtlichen Spannungslagen durch eine (einzelfallbezogene) Abwägung befürworten femer: Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 79ff, 143ff; Bär, Die verfassungsrechtliche Filmfreiheit und ihre Grenzen, S. 173, 179; Bethge, Zur Problematik von Grundrechtskollisionen, S. 275ff; ders., Grundrechtskonflikte, in: Ergänzbares Lexikon des Rechts 5/340, S. 6; Denninger, in: Handbuch des Staatsrechts, § 146 Rn. 39ff; Mahrenholz, in: Handbuch des Verfassungsrechts, § 26 Rn. 69; Ossenbühl, NJW 1976, 2100 [2107]; Scherzberg, Grundrechtsschutz und "Eingriffsintensität", S. 158ff; Schmitt Glaeser, WissR 7 [1974], S. 107, 177 [185f]; Schwabe, Probleme der Grundrechtsdogmatik. S. 319ff; Schwache, Grundrechtliche Spannungslagen, S. 72ff; Steinbeiß-Winkelmann, Grundrechtliche Freiheit und staatliche Freiheitsordnung, S. 205; Wendt, AöR 104 [1979], S. 414 [452ff|.

Α. Die Konfliktschlichtung als kompetenzrechtliches Problem

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ren, ob bei manchen dieser Konstellationen eine gesetzliche - und von den anderen Gewalten zu respektierende - Typologie von Konfliktlösungen und Vorrangrelationen zu angemesseneren Ergebnissen führen könnte. Diese Vorgehensweise des BVerfG ist umso problematischer, als die automatische und undifferenzierte Heranziehung der Einzelfallabwägung bei jeder verfassungsrechtlichen Spannungslage die Gefahr beinhaltet, daß der Aussagegehalt des Grundgesetzes auf ein unüberschaubares Geflecht von Einzelfallabwägungen reduziert wird 54 . II. Die Rolle des Gesetzgebers bei der Konfliktschlichtung von Kunstfreiheit und Jugendschutz Daß durch die Abwägung im Einzelfall eine gewisse Machtverschiebung zugunsten der Verwaltung und der Gerichte stattfindet, kann nicht ernsthaft in Abrede gestellt werden55 5 6 . Die Rolle des Gesetzgebers bei der Konfliktschlichtung von Kunstfreiheit und Jugendschutz bleibt aber auch dann von entscheidender Bedeutung, wenn die Lösung dieses Widerstreits durch eine Abwägung im Einzelfall erfolgt. Bei Lichte gesehen tragen sowohl die Gerichte und die Verwaltung als auch der Gesetzgeber - nach einer sachgemäßen Rollenverteilung - zur Kollisionslösung bei. Zunächst ist die Anordnung der generellen Kriterien und Maßstäbe, nach denen die Einzelfallabwägung zwischen Kunstfreiheit und Jugendschutz vorzunehmen ist, eine Sache des Gesetzgebers. Diese Kriterien sind von so zentraler Bedeutung für die Konfliktschlichtung, daß sie vom Gesetzgeber selbst festgelegt werden sollten. Die gesetzgeberische Pflicht zur Bestimmung der Abwägungsmaßstäbe wird vor allem dann deutlich, wenn man die besonders hohen Regelungsanforderungen berücksichtigt, die die "Mutzenbacher"-Entscheidung des BVerfG an den Gesetzgeber gestellt hat. Wenn nämlich nach dieser Entscheidung die Wesentlichkeitstheorie so detaillierte gesetzliche 54

Vgl. Graf, Die Grenzen der Freiheitsrechte ohne besondere Vorbehaltsschranke, S. 62 und Lerche, Übermaß und Verfassungsrecht, S. 129. 55 Vgl. hierzu Hoffmann, NJW 1985, 237 [244]; Hans Klein, Der Staat 10 [ 1971], S. 145 [154]; v.Pestalozza, Der Staat 2 [1963], S. 425 [448]; Schroeder, Pornographie, Jugendschutz und Kunstfreiheit. 56

Diese Machtverschiebung wird insbesondere dann deutlich, wenn die Einzelfallabwägung im Rahmen der mit einem Gesetzesvorbehalt versehenen Grundrechte stattfindet. In diesen Fällen wird der grundrechtliche Gesetzesvorbehalt faktisch durch einen "Urteilsvorbehalt" ersetzt. Vgl. hierzu: Bethge, Zur Problematik von Grundrechtskollisionen, S. 278; Graf, Die Grenzen der Freiheitsrechte ohne besondere Vorbehaltsschranke, S. 60f; Lerche, Übermaß und Verfassungsrecht, S. 150; ders., in: Handbuch des Staatsrechts, § 122 Rn. 21; Friedrich Müller, Die Positivität der Grundrechte, S. 69; Papier, Die Stellung der Verwaltungsgerichtsbarkeit im demoktratischen Rechtsstaat, S. 37; v. Pesta lozza, Der Staat 2 [1963], S. 425 [448].

12 Vlachopoulos

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3.Kap. Die Konfliktschlichtung von Kunstfreiheit und Jugendschutz

Organisations- und Verfahrensregelungen erfordert 57, dann ist wenig ersichtlich, warum auch die - für die Konfliktschlichtung ohnehin essentiellen - Abwägungskriterien nicht vom Gesetzgeber selbst festgesetzt werden sollten. Der Gewinn einer gesetzlichen Aufstellung von Abwägungsmaßstäben ist nicht nur darin zu sehen, daß wesentliche Richtlinien zur Auflösung der vorliegenden Kollision der Verwaltung und den Gerichten angeboten werden. Darüber hinaus bewirkt der Gesetzgeber auf diese Weise eine gewisse Bindung und Disziplinierung der vollziehenden und rechtsprechenden Gewalt und verringert dadurch weitgehend die Gefahr von willkürlichen und unangemessenen Einzelfallentscheidungen. Die Notwendigkeit der Anordnung der Abwägungskriterien durch den Gesetzgeber ist im vorliegenden Kollisionsfall besonders dringlich, weil die Abwägung zwischen Kunstfreiheit und Jugendschutz bei einer Reihe von Jugendschutzbestimmungen nicht von einer Verwaltungsbehörde, sondern vom Staatsbürger selbst vorgenommen werden muß 58 . Da es der Bürger hier mit einer besonders komplexen Abwägung zu tun hat, die differenzierte, feine und subtile Wertungen - und zuweilen Fachkenntnisse - erfordert, wäre es schlechthin unerträglich, wenn der Bürger vom Gesetzgeber völlig im Stich gelassen würde und jegliche legislative Fingerzeige für die Gewichtung der widerstreitenden Belange fehlten 59. Insoweit ist das - nach jetziger Rechtslage - Nichtvorhandensein von gesetzlich angeordneten Kriterien für die Einzelfallabwägung zwischen Kunstfreiheit und Jugendschutz entschieden zu beanstanden. Während die weitgehende gesetzgeberische Zurückhaltung bei der Aufstellung von Präferenzsätzen zwischen den beiden kollidierenden Rechtsgütern durch die Eigenart der vorliegenden Spannungslage gerechtfertigt ist, gibt es für das Fehlen von jeglichen gesetzlich festgelegten Abwägungskriterien keinen ersichtlichen Grund. Und wenn sich das Problem einer Einzelfallabwägung zwischen Kunstfreiheit und Jugendschutz bis zum "Opus Pistorum"-Urteil des BGH 60 gar nicht gestellt hat und deshalb bis zu diesem Zeitpunkt kein Anlaß für den Gesetzgeber bestand, über die Maßstäbe dieser Abwägung zu befinden, ist die Sprachlosigkeit des Gesetzgebers über die anzuwendenden Abwägungskriterien nach diesem BGH-Urteil (insbesondere aber nach der "Mutzenbacher"-Entschei57

BVerfGE 83, 130 [151ff]. Siehe dazu im einzelnen unten im 4. Kapitel, Β III.

58

Das ist insbesondere bei §§ 131, 184 StGB und § 6 GjS der Fall. Zur Frage, inwieweit die Einzelfallabwägung bei diesen Vorschriften mit dem Rechtssicherheitsprinzip und dem strafrechtlichen Bestimmtheitsgebot vereinbar ist, siehe unten in diesem Kapitel bei Fn. 70. 59 Das gilt umso mehr, als ein Verstoß gegen die hier in Betracht kommenden Vorschriften strafrechtlich geahndet wird. 60

BGHSt 37, 55 [64].

Α. Die Konfliktschlichtung als kompetenzrechtliches Problem

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dung des BVerfG, wo ebenfalls eine Einzelfallabwägung zwischen Kunstfreiheit und Jugendschutz gefordert wurde 61) nicht mehr zu rechtfertigen. Ordnet der Gesetzgeber die Maßstäbe für die Abwägung zwischen Kunstfreiheit und Jugendschutz nicht an, dann werden Verwaltung und Gerichte gezwungen sein, diese Kriterien selbst zu entwickeln. So haben das BVerfG 62 und der BGH 63 in den oben genannten Entscheidungen schon einige Abwägungsmaßstäbe angeführt. Liegt aber hier nicht eine Verletzung des Gewaltenteilungsprinzips vor, wenn man sich darüber im klaren ist, daß das Setzen von Maßstäben eine Sache der Legislative und nicht der Gerichte ist? Ist eine gesetzliche Regelung nicht der angemessenere Ort für die Aufstellung solcher generellen Abwägungsgesichtspunkte? Kann schließlich ernsthaft bezweifelt werden, daß der Gesetzgeber aufgrund einer Vielzahl von Faktoren (Vorbereitung der gesetzlichen Regelung beim zuständigen Ministerium, parlamentarische Anhörung von Sachverständigen, Jugendschutz- und Künstlerverbänden, Diskussion im Parlament) in der Lage ist, eine umfassendere Materialaufbereitung, eine gründlichere Durchleuchtung der Problematik zu erzielen und damit zu sachgerechteren Ergebnissen zu kommen, als das im Einzelfall operierende und unter Zeitdruck stehende Gericht? Die Rolle des Gesetzgebers bei der Konfliktschlichtung von Kunstfreiheit und Jugendschutz beschränkt sich aber nicht nur auf die Festsetzung der Abwägungskriterien. Denn die Lösung der hier interessierenden Kollision schließt nicht nur die Beantwortung der Frage ein, welches Rechtsgut unter welchen Voraussetzungen den Vorrang vor dem anderen genießt. Zur Konfliktschlichtung der widerstreitenden Interessen gehört auch die Fixierung der Jugendschutzmaßnahmen, denen ein Kunstwerk bei einem zu Lasten der Kunstfreiheit ausgefallenen Abwägungsergebnis zu unterliegen hat. Es liegt auf der Hand, daß die Festlegung dieser Maßnahmen gesetzlich erfolgen muß 64 Daß dem Gesetzgeber - trotz des Erfordernisses einer Abwägung im Einzelfall - eine zentrale Rolle bei der Konfliktschlichtung von Kunstfreiheit und Jugendschutz vorbehalten wird, läßt sich zwanglos auch dann feststellen, wenn man seinen Blick auf die organisations- und verfahrensrechtliche Ebene

61

BVerfGE 83, 130 [143ff].

62

BVerfGE 83, 130 [147f].

63

BGHSt 37, 55 [64fJ.

64

Vgl. BVerfGE 30, 336 [347]: "Der Gesetzgeber kann deshalb Maßnahmen treffen, durch die der freie Zugang Jugendlicher zu solchen (seil, jugendgefährdenden) Erzeugnissen unterbunden wird. Die Auswahl der Mittel, mit denen diesen Gefahren zu begegnen ist, obliegt zunächst dem Gesetzgeber".

12*

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3.Kap. Die Konfliktschlichtung von Kunstfreiheit und Jugendschutz

richtet. Der Gesetzgeber ist verpflichtet, die Organisation und das Verfahren der Organe festzulegen, die die Kollision zwischen Kunstfreiheit und Jugendschutz im Einzelfall schlichten65. Da diese gesetzlich zu regelnden Materien eine durchaus wichtige, vielleicht sogar die wichtigste Bedeutung fur die Konfliktschlichtung haben66, kommt dem Gesetzgeber bei dem Ausgleich der widerstreitenden Interessen eine essentielle Funktion zu. Aus dem oben Dargestellten ergibt sich, daß das Erfordernis einer Einzelfallabwägung zwischen Kunstfreiheit und Jugendschutz nicht gegen die Wesentlichkeitstheorie verstößt. Die wesentlichen Entscheidungen im normativen Bereich 67 sind hier, wie gezeigt, dem Gesetzgeber vorbehalten. Daß die Entscheidung darüber, welchem der widerstreitenden Rechtsgüter in welchen Fällen der Vorrang einzuräumen ist, nicht vom Gesetzgeber selbst getroffen werden soll, ist unbedenklich. Denn die Frage, ob und in welchem Ausmaß eine Materie gesetzlich geregelt werden muß, kann nur unter Berücksichtigung der Sachstruktur und der besonderen Charakteristika dieser Materie beantwortet werden 68. "Eigenarten der jeweiligen Materie können daher sowohl zu einer Verdichtung der Anforderungen an den Gesetzgeber führen als auch je nach Umständen dahin tendieren, daß die Anforderungen an den Gesetzgeber zurückgenommen werden..." 69. Das letztere ist hier der Fall: die Komplexität und Vielgestaltigkeit der Kollision zwischen Kunstfreiheit und Jugendschutz machen die Aufstellung von gesetzlichen Vorrangrelationen weitgehend unmöglich. Solche Präferenzsätze würden außerdem Gefahr einer "Versteinerung" laufen, und zwar in einem besonders dynamischen und entwicklungsoffenen Bereich. Angesichts dessen findet hier eine Senkung der Anforderungen bezüglich der gesetzlichen Festlegung von Vorrangrelationen statt und ihre Nichtnormierung durch die Legislative ist unter dem Gesichtspunkt der Wesentlichkeitstheorie nicht zu beanstanden70.

65 Zur Begründung dieser gesetzgeberischen Pflicht sowie auch zur Frage, wie weit die organisations- und verfahrensrechtlichen Regelungen im einzelnen gehen müssen, siehe unten im 4. Kapitel. 66

Siehe dazu unten im 4. Kapitel, A.

67

Zu dieser (wohl wenig beachteten) Einschränkung der Wesentlichkeitstheorie auf den "normativen" Bereich vgl. BVerfGE 49, 89 [126f]; BVerwG, DÖV 1980, 679 [682]; Lerche, Bayerisches Schulrecht und Gesetzesvorgehalt, S. 32ff. 68 Vgl. BVerfGE 40, 237 [249]; 49, 89 [127]; Lerche, Bayerisches Schulrecht und Gesetzesvorbehalt, S. 16fif. 69

Lerche, Bayerisches Schulrecht und Gesetzesvorbehalt, S. 17.

70

Diese legislatorische Zurückhaltung und die damit verbundene Abwägung im Einzelfall sind indessen bei §§ 131, 184 StGB, 6 GjS und 3 RfStV aus anderen Gründen problematisch: in diesen

Α. Die Konfliktschlichtung als kompetenzrechtliches Problem

181

Vorschriften treten die dort vorgesehenen Verbreitungsbeschränkungen kraft Gesetzes ein, ohne daß für ihren Eintritt die vorherige Entscheidung eines Organs, z.B. der Bundesprüfstelle, erforderlich ist. Verleger, Händler und sonstige "Verbreiter" müssen hier nicht nur darüber befinden, ob ein Werk pornographisch, gewaltverherrlichend, offensichtlich schwer jugendgefährdend etc. ist. Ihnen obliegt femer die Beantwortung der Frage, ob das Werk ein Kunstwerk ist oder nicht, eine ohnehin schwierige Aufgabe. Und wenn die Kunsteigenschaft des Werks von ihnen bejaht wird, müssen sie die Abwägung zwischen Kunstfreiheit und Jugendschutz selbst vornehmen. Die Gewichtung der kollidierenden Rechtsgüter ist aber eine sehr komplexe Sache, die von vielen differenzierten Faktoren und Gesichtspunkten abhängig ist und oft Fachkenntnisse erfordert. Bei dieser Beurteilung kann der Verbreiter in aller Regel nicht Sachverständige zu Rate ziehen (so auch Schroeder, Pornographie, Jugendschutz und Kunstfreiheit, S. 59 f. Und wenn die Heranziehung eines Gutachtens im Fall großer Buchverlage oder Rundfunkanstalten möglich ist, gilt das z.B. nicht für bloße Kioskinhaber). Das Risiko einer falschen Abwägung seitens des Vertreibers ist sehr groß und - bei §§ 131, 184 StGB, 6 GjS - mit erheblichen strafrechtlichen Folgen verbunden. Es ist nicht von ungefähr, wenn Gusy (JZ 1991, 470 [471]) die vom BVerfG (BVerfGE 83, 130 [143]) praktizierte Aufgabe des absoluten Vorrangs des Jugendschutzes beim § 6 GjS und die Erweiterung des Einzelfallabwägung auch auf diese Fälle (siehe dazu unten in diesem Kapitel unter Β I) als ein "Danaergeschenk" qualifiziert. Die Bedenken, die gegen die Einzelfallabwägung in bezug auf ihre Vereinbarkeit mit dem Rechtssicherheitsprinzip und dem Gebot der Tatbestandsbestimmtheit des Art. 103 Abs. 2 GG erhoben worden sind (vgl. Geis, NVwZ 1992, 23 [27]; Gusy, JZ 1991, 470 [471]; Schroeder, Pornographie, Jugendschutz und Kunstfreiheit, S. 59f), wenn diese Abwägung zwischen Kunstfreiheit und Jugendschutz vom Staatsbürger selbst vorgenommen werden muß, sind deshalb nicht ganz unberechtigt. Es muß auch beachtet werden, daß die Einzelfallabwägung in diesen Fällen zu einer faktischen Beeinträchtigung der Kunstfreiheit führen kann. Denn es ist durchaus möglich, daß der Verbreiter angesichts der Konplexität dieser Abwägung und der einschneidenden Konsequenzen, die eine eigene falsche Gewichtung der widerstreitenden Belange für ihn haben könnte, die erforderliche Abwägung zwischen Kunstfreiheit und Jugendschutz gar nicht vornehmen wird, sondern sich von vornherein für die Nichtverbreitung des Kunstwerks entscheiden wird. Andererseits ist aber zu berücksichtigen, daß es sich bei §§ 131, 184 StGB, 6 GjS und 3 Abs. 1 RfStV um so krasse und schwerwiegende Fälle handelt, daß der Vorrang der Jugendschutzes vor der Kunstfreiheit in aller Regel auch für den Bürger evident sein wird (dazu siehe unten in diesem Kapitel unter Β II 3 a, aa). Entscheidet der Bürger in Zweifelsfallen, bei denen das Übergewicht der Belange des Jugendschutzes nicht offensichtlich ist, irrigerweise für die Kunstfreiheit, dann kann u.U. die Annahme eines unvermeidbaren Verbotsinrtums ( § 1 7 StGB) als korrektiv herangezogen werden. Die Bedenken gegen das Erfordernis einer Abwägung im Einzelfall würden jedenfalls entschärft werden, wenn der Gesetzgeber seine Pflicht erfüllen würde, dem Bürger handliche Maßstäbe für die von ihm vorzunehmende Abwägung anzubieten. Es wäre femer denkbar und unter dem Gesichtspunkt der Rechtssicherheit und des strafrechtlichen Bestimmtheitsgebots sinnvoller, den Eintritt der Verbreitungsbeschränkungen auch in den hier angesprochenen Fällen von einer konstitutiven, verwaltungsbehördlichen Entscheidung abhängig zu machen (so Geis, NVwZ 1992, 25 [27]; ders., JZ 1993, 792 [793], der auch für den Fall des § 6 GjS die Einschaltung einer Indizierungsentscheidung fordert). Dann hätte ein Verwaltungsorgan und nicht mehr der Bürger die Abwägung durchzuführen. Eine solche Lösung würde aber die Interessen des Jugendschutzes auf unzulässige Weise beeinträchtigen. Zwischen der erstmaligen Verbreitung eines Werks und der verwaltungsbehördlichen Entscheidung würde dann ein Zeitabschnitt liegen, der wegen der Vielzahl der auf dem Markt befindlichen Druckerzeugnissen, Videos usw. sicher nicht gering wäre. Während dieses Zeitabschnitts hätten Jugendliche die Gelegenheit, von den einschlägigen Werken Kenntnis zu nehmen. Da es hier aber um besonders jugendgefährdende Werke geht, wären solche Lücken im System des gesetzlichen Jugendschutzes - anders als bei den "schlicht" jugendgefährdenden Schriften des § 1 Abs. 1 GjS - unerträglich.

182

3. Kap. Die Konfliktschlichtung von Kunstfreiheit und Jugendschutz

B. Die Abwägung der widerstreitenden Belange und die dafür maßgeblichen Maßstäbe L Der Anwendungsbereich der Abwägung, insbesondere das Verhältnis der Abwägung zum Kunstvorbehalt des § 1 Abs. 2 Nr. 2 GjS Die Einzelfallabwägung muß überall dort stattfinden, wo Kunstfreiheit und Jugendschutz in ein Spannungsverhältnis geraten71. Denn die widerstreitenden Rechtsgüter müssen in allen diesen Fällen durch das Instrumentarium der Abwägung im Einzelfall zu einem angemessenen Ausgleich geführt werden. Die Abwägung muß auch bei Kollisionen zwischen Kunstfreiheit und Jugendschutz vorgenommen werden, die im Rahmen des GjS entstehen. Der Kunstvorbehalt des § 1 Abs. 2 Nr. 2 GjS, nach dem eine Schrift nicht in den Index aufgenommen werden darf, wenn sie der Kunst dient, statuiert keinen Vorrang der Kunstfreiheit vor dem Jugendschutz72 und steht deshalb der Abwägung im Einzelfall nicht entgegen73.

71

Eine Einzelfallabwägung zwischen Kunstfreiheit und Jugendschutz fordern (jeweils für unterschiedliche Bereiche des gesetzlichen Jugendschutzes) etwa: BVerfGE 83, 130 [143ff]; BVerwGE 91, 223 [224ff]; BVerwG, JMS-Report 1/1993, 9f; BGHSt 37, 55 [64]; OVG Münster, NVwZ 1992, 396; LG Lübeck, BPS-Report 6/1986, 22f; VG Köln, NVwZ 1992, 402; BPS., Entsch. Nr. 4082 v. 6.9.1990, BPS-Report 5/1990, 8fT; BPS, Entsch. Nr. 4252 v. 8.1.1992, JMS-Report 5/1992, 5 [7]; Borgmann, JuS 1992, 916 [918]; von Hartlieb, NJW 1985, 830 [833]; ders,, Handbuch des Film-, Femseh- und Videorechts, S. 33, 43; Hartstein/Ring/Kreile, Kommentar zum RfStV, S. 710; Geis, NVwZ 1992, 25 [28]; Herkströter, AfP 1992, 23 [31]; von Kalm, DÖV 1994, 23 [25]; Lorenz, in: FS für Lerche, S. 267 [271]; Mayer-Tasch, JZ 1969, 284 [286]; Meirowitz, Gewaltdarstellungen auf Videokassetten, S. 186, 314; Meyer-Cording, JZ 1976, 737 [744f|; Schefold, in: Literatur vor dem Richter, S. 93 [110]; Schreyer, Pluralistische Entscheidungsgremien im Bereich sozialer und kultureller Staatsaufgaben, S. 58; Spanner, FamRZ 1963, 314; Stümmer, BayVBl 1961, 229 [233]. 72

So aber eine weitverbreitete - und bis vor kurzem herrschende - Meinung in der Literatur und Rechtsprechung: vgl. nur etwa BVerwGE 23, 104 [110]; 23, 112 [119]; 25, 318 [328]; 39, 197 [207]; 77, 75 [83f|; BVerwG, BPS-Report 2/1987, 1 [4], OVG Münster, NVwZ 1992, 396; Borgmann, JuS 1992, 916 [918]; Bucholz, Kunst, Recht und Freiheit, S. 28; Erbel, Inhalt und Auswirkungen der verfassungsrechtlichen Kunstfreiheitsgarantie, S. 164; ders., DVB1 1969, 863 [867]; von Kalm, DÖV 1994, 23 [25]; Leonardy, NJW 1967, 714 [715]; Locher, Das Recht der bildenden Kunst, S. 50f; Potrykus, Kommentar zum GjS, § 1 Rn. 19; Ropertz, Die Freiheit der Kunst nach dem Grundgesetz, S. 128ff; Schefold, in: FS für Eberhard, S. 115 [132ff]; ders., RdJB 1978, 121 [127]; Schilling, Literarischer Jugendschutz S. 15ff. Es muß aber gleichzeitig beachtet werden, daß dieser angebliche Vorrang der Kunstfreiheit nur selten (z.B. bei Bucholz, Kunst, Recht und Freiheit, S.28 ; Leonardy, NJW 1967, 714 [715]; Schefold, in: FS für Eberhard, S. 115 [132ff]; ders., RdJB 1978, 121 [127]) als absoluter Vorrang verstanden wird. In der Regel wird der vertretene Vorrang der Kunstfreiheit für den Bereich des GjS auf verschiedene Weise relativiert und modifiziert, insbesondere durch qualitative Einengungen des Kunstbegriffs (so z.B. BVerwGE 23, 104 [106ff|; 23, 112 [120]; 25, 318 [327f]; 39, 197 [207f|) oder dadurch, daß man den Kunstvorbehalt des GjS nur dann für anwendbar hält, wenn das Kunstwerk nicht die verfassungsrechtlichen Schranken der Kunstfreiheit überschreitet (diesen Weg beschreiten Erbel Inhalt und Auswirkungen der verfassungsrechtlichen

Β. Die Abwägung und die dafür maßgeblichen Maßstäbe

183

Diese letzte Feststellung mag auf den ersten Blick befremdlich klingen, zumal oben geltend gemacht wurde, daß gesetzliche Regelungen, die eine Güterkollision in ihrem Kern lösen, konsequent eingehalten werden sollten und nicht durch die Vornahme einer Einzelfallabwägung untergraben werden dürfen. Eine Vorschrift aber, die alle jugendgefährdenden Kunstwerke im Gegensatz etwa zu bloß meinungsäußernden Werken ohne weiteres von der Indizierung ausnehmen würde, wäre nicht nur unangemessen, da jeglicher sachliche und vernünftige Grund für die unterschiedliche Behandlung von Kunstfreiheit und Meinungsfreiheit bei der Anwendung der Jugendschutzgesetze fehlt. 74 Sie wäre darüber hinaus verfassungswidrig. Die oben75 geltend gemachte, abstrakte Gleichrangigkeit von Kunstfreiheit und Jugendschutz befindet sich auf Verfassungsebene. Sie steht demzufolge nicht zur freien Disposition des einfachen Gesetzgebers. Vielmehr muß sie vom einfachen Gesetzgeber respektiert und gewahrt werden. Ein starrer und schroffer gesetzlicher Kunstvorbehalt, der der Kunstfreiheit von vornherein den ausnahmslosen Vorrang für den Anwendungsbereich der GjS gäbe und den Jugendschutz völlig zurücktreten ließe, würde aber die Gleichrangigkeit von Kunstfreiheit und Jugendschutz zunichte machen und wäre deshalb - auch wenn man den dem Gesetzgeber bei der Konfliktschlichtung zu gewährenden Spielraum berücksichtigt76 - verfasKunstfreiheitsgarantie, S. 164; ders., DVB1 1969, 863 [867]; Potrykus, Kommentar zum GjS, § 1 Rn. 19; Schilling, Literarischer Jugendschutz, S. 27f). Eine Abschwächung findet femer statt, wenn der angebliche Vorrang der Kunstfreiheit nur auf die "schlicht" jugendgefährdenden Schriften des § 1 Abs. 1 GjS beschränkt und die Anwendung der Verbreitungsbeschärkungen des GjS auf die offensichtlich schwer jugendgefährdenden Schriften des § 6 GjS ohne weiteres (so BVerwGE 77, 75 [83]; BVerwG, BPS-Report 2/1987, 1 [3ff] und Potrykus, Kommentar zum GjS, § 1 Rn. 19) oder nach einer Einzelfallabwägung (so OVG Münster, NVwZ 1992, 396; Borgmann, JuS 1992, 916 [918] und von Kalm, DÖV 1994, 23 [25]) für zulässig angesehen wird. 73

A A die frühere Rechtsprechung des BVerwG. Vgl. BVerwGE 23, 104 [109]: "Wenn der Kunstvorbehalt keine absolute Geltung hätte, sondern eine Interessenabwägung zwischen Jugendschutz und Kunstfreiheit hätte stattfinden sollen, hätte die Bestimmung etwa lauten müssen: "Eine Schrift darf nicht in die Liste aufgenommen werden, wenn das Interesse an der Kunstfreiheit das Jugendschutzinteresse überwiegt"". Ebenso Borgmann, JuS 1992, 916 [918]: "Diese Formulierung (seil: des § 1 Abs. 2 Nr. 2 GjS) ist einer Auslegung, daß trotzdem noch Raum für eine Abwägung durch die Verwaltung zwischen Kunstfreiheit und Jugendschutz offen sei, nicht zugänglich. Der Gesetzgeber hat hier die Abwägung selbst getroffen und zwar in der Weise, daß bei "schlicht" jugendgefährdenden Schriften die Kunstfreiheit immer Vorrang vor dem Jugendschutz genießt" (Hervorherbungen von Borgmann). So auch von Kalm, DÖV 1994, 23 [25], der allerdings die zukünftige Normierung eines Abwägungsgebots im GjS "angesichts der unter Umständen erheblichen Gefahren für die in der Würde des Jugendlichen wurzelnde sexuelle und soziale Entwicklung" für wünschenswert betrachtet (aaO, 27). 74

Siehe dazu Raue, Literarischer Jugendschutz, S. 85f. 96 und oben im 2. Kapitel, F III.

75

Siehe 2. Kapitel, F III.

76 Vgl. dazu grundlegend Lerche, Übermaß und Verfassungsrecht, S. 130, 152; ders., Werbung und Verfassung, S. 107; ders., in: FG für Maunz, S. 285 [296f]; ders., Nachwort zu Böckenförde, Zur

184

3.Kap. Die Konfliktschlichtung von Kunstfreiheit und Jugendschutz

sungsrechtlich unzulässig77 7 8 . Ein gesetzlich festgelegtes, generelles Übergewicht der Kunstfreiheit würde ferner angesichts der Weite des Kunstbegriffs zu einer völligen "Depossedierung" des Jugendschutzes führen 79, was aber wegen der hohen, vom Grundgesetz anerkannten Bedeutung dieses Rechtsguts unannehmbar und unerträglich wäre. Insoweit gab es - entgegen einer in der Literatur weitverbreiteten Auffassung 80 - kein verfassungsrecht-

Lage der Grundrechtsdogmatik nach 40 Jahren Grundgesetz, S. 75 [78]; ders., in: Handbuch des Staatsrechts, § 122 Rn. 6 und ihm folgend Isensee, AfP 1993, 619 [628]; Jarass, AöR 110 [1985], S.363 [384]; von Kalm, DÖV 1994, 23 [25]; Rüfner, in: FG für BVerfG, Bd. II, S. 453 [471]; Wendt, AöR 104 [1979], S. 414 [433f]. Kritisch zur Existenz eines gesetzgeberischen Spielraums zur Konfliktschlichtung Bethge, Zur Problematik von Grundrechtskollisionen, S. 29Iff und Blaesing, Grundrechtskollisionen, S. 40ff. 77 Vgl. femer Rupert Scholz, in: MDHS, Kommentar zum GG, Art. 5 Abs. III Rn. 62, der die verfassungsrechtliche Bedenklichkeit der gesetzlichen Kunstvorbehalte im allgemeinen betont: "Vorbehalte dieser Art stehen zwar im legitimen Ermessen des "grundrechtsausführenden" Gesetzsgebers; sie sind aber nicht imstande, Kollisionen der Kunstfreiheit mit anderen Verfassungswerten schon als solche zu eliminieren bzw. von vornherein zugunsten der Kunstfreiheit zu entscheiden. "(....) Der gesetzliche Kunstvorbehalt ist demgemäß relativ zu verstehen". Vgl. auch die zutreffenden Ausführungen von Heinz, in: Grenzen politischer Kunst, S. 71 Fn. 94a: "Der einfache Gesetzgeber kann Kollisionen der Kunstfreiheit mit anderen gleichrangigen Grundwerten der Verfassung weder zugunsten noch zulasten der Kunstfreiheit entscheiden. Ebensowenig kann er die Ranghöhe der Verfassungsgüter bestimmen". Heinz vertieft sich aber nicht weiter in die Problematik der Verfassungsmäßigkeit der gesetzlichen Kunstvorbehalte. Keine verfassungsrechtliche Bedenken gegen gesetzliche Kunstprivilegien bestehen allerdings unter dem Gesichtspunkt des aus Art. 5 Abs. 3 GG abzuleitenden qualitativen Definitions- und Differenzierungsverbots (dazu obenim 2. Kapitel, A I 2 b). A A aber Knies, Schranken der Kunstfreiheit als verfassungsrechtliches Problem, S. 275f und Raue, Literarischer Jugendschutz, S. 9Iff, die den Kunstvorbehalt des § 1 Abs. 2 Nr. 2 GjS wegen eines angeblichen Verstoßes gegen das qualitative Definitions- und Differenzierungsverbot als verfassungswidrig ansehen. Wenn Knies, Schranken der Kunstfreiheit als verfassungsrechtliches Problem, S. 276 zur Begründung seiner These ausführt: "Der Kunstvorbehalt führt dazu, daß gleichermaßen jugendgefährdende Literatur, also "Kunst" in einem technisch-formalen Sinn, nach Maßgabe der künstlerischen Qualität unterschiedlichen Schranken unterworfen wird", macht er einen logischen Fehler. Denn er geht davon aus, daß der Kunstbegriff des Kunstvorbehalts des GjS nur eine qualitative Bedeutung haben kann. Der Kunstbegriff des § 1 Abs. 2 Nr. 2 GjS kann aber wohl ohne Problem (und muß sogar, vgl. oben im 2. Kapitel, A III) in einem qualitativ freien Sinn verstanden werden. Gegen die Auffassung von Knies auch Erbel, DVB1 1969, S. 863 [866].

78

Ein Kunstvorbehalt, der der Kunstfreiheit den absoluten Vorrang vor dem Jugendschutz einräumen würde, wäre nur dann mit dem Grundgesetz vereinbar, wenn der Schutz der Jugend keinen Verfassungsrang hätte oder wenn er - etwa aufgrund einer grundgesetzlichen Wertrangordnung - niederrangig gegenüber der Kunstfreiheit wäre, was aber nicht der Fall ist. Aber auch dann hätte eine solche Vorschrift keine praktische Bedeutung, da der Konflikt zwischen Kunstfreiheit und Jugendschutz schon von Verfassungswegen zugunsten der Kunstfreiheit zu entscheiden wäre. Vgl. auch Rupert Scholz, in: MDHS, Kommentar zum GG, Art. 5 Abs. III Rn. 62. 79

Siehe dazu oben 2. Kapitel, F III. 80

Die Vertreter dieser Meinung findet man bei Knies, Schranken der Kunstfreiheit als verfassungsrechtliches Problem, S. 113 Fn. 288.

Β. Die Abwägung und die dafür maßgeblichen Maßstäbe

185

liches Gebot für den GjS-Gesetzgeber, einen Kunstvorbehalt i.S. eines allgemeinen Vorrangs der Kunstfreiheit anzuordnen81. Es bestand vielmehr ein verfassungsrechtliches Verbot zur Schaffung einer solchen Regelung. Eine gesetzliche, die Kollision zwischen Kunstfreiheit und Jugendschutz schlichtende Norm ist nur dann mit dem Grundgesetz vereinbar, wenn sie nicht dem einen Rechtsgut den absoluten Vorrang gibt und damit die verfassungsrechtliche Gleichrangigkeit der kollidierenden Interessen auflöst, sondern beiden Rechtsgütern Wirksamkeit verschafft, indem sie beiden Grenzen zieht. Angesichts dessen darf § 1 Abs. 2 Nr. 2 GjS nicht als ein allgemeiner Vorrang der Kunstfreiheit, sondern muß aufgrund einer verfassungskonformen Auslegung als ein Gebot zur Einzelfallabwägung verstanden werden. Diese Auslegung trägt der abstrakten Gleichrangigkeit von Kunstfreiheit und Jugendschutz Rechnung und genügt dem verfassungsrechtlichen Erfordernis der Herstellung eines angemessenen, beiden kollidierenden Rechtsgütern Geltung verschaffenden Ausgleichs. Insoweit kann der "Mutzenbacher"-Entscheidung des BVerfG 82 und der neueren Rechtsprechung des BVerwG 83 uneingeschränkt zugestimmt werden, wenn sie dem Kunstvorbehalt des § 1 Abs. 2 Nr. 2 GjS die Bedeutung beimessen, daß die Indizierung eines jugendgefährdenden Kunstwerks eine Abwägung zwischen den Belangen des Jugendschutzes und den Interessen der Kunst in jedem Einzelfall voraussetzt84. Die Deutung des § 1 Abs. 2 Nr. 2 GjS als ein Gebot zur Einzelfallabwägung hält sich im Rahmen einer zulässigen verfassungskonformen Auslegung85 8 6 . 81

Ebenso Geiger, in: FS für Leibholz, Bd. II, S. 187 [200]; Knies, Schranken der Kunstfreiheit als verfassungsrechtliches Problem, S. 233; Raue, Literarischer Jugendschutz, S. 90. 82 BVerfGE 83, 130 [144]. Fraglich ist aber, ob das BVerfG in dieser Entscheidung dem Kunstvorbehalt des § 1 Abs. 2 Nr. 2 GjS sowohl bei § 1 Abs. 1 GjS (einfache Jugendgefährdung) als auch bei §6 GjS (offensichtlich schwere Jugendgefährdung) den Inhalt einer Verpflichtung zur Einzelfallabwägung gibt, oder ob es vielmehr einer solchen Auslegung des Kunstvorbehalts des GjS nur bei § 6 GjS folgt, während es bei § 1 Abs. 1 GjS den Kunstvorbehalt als einen allgemeinen Vorrang der Kunstfreiheit versteht. Dazu siehe gleich unten bei Fn. 95. 83

BVerwGE 91, 223 [225f]; BVerwG, JMS-Report 1/1993, 9f.

84

So auch Geis, NVwZ 1992; 25 [28].

85

A.A. von Kalm, DÖV 1994, 23 [24f]. Skeptisch auch Gusy, JZ 1993, 796 [797].

86

Zum Inhalt und Grenzen der verfassungskonformen Auslegung vgl. etwa BVerfGE 2, 266 [282]; 8, 28 [33ff]; 8, 210 [221]; 11, 168 [190ff]; 18, 97 [111]; 41, 65 [86]; 48, 40 [45f]; 63, 131 [147fJ; 64, 229 [24lf]; 70, 35 [63 f\; Bettermann, Die verfassungskonforme Auslegung, Grenzen und Gefahren; Bogs, Die verfassungskonforme Auslegung von Gesetzen; Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Rn. 79ff; Scherzberg, Grundrechtsschutz und "Eingriffsintensität", S. 227ff; Simon, EuGRZ 1974, 85ff; Spanner, AöR 91 [1966], S. 503ff; Zippelius, in: FG fur BVerfG, Bd. II, S. 108ff.

186

3. Kap. Die Konfliktschlichtung von Kunstfreiheit und Jugendschutz

Sie wird zunächst vom Gesetzeswortlaut gedeckt. Denn § 1 Abs. 2 Nr. 2 GjS enthält ein Indizierungsverbot nur fur den Fall, daß ein Werk der Kunst "dient", nicht aber für jedes Kunstwerk schlechthin87. Der darin liegenden Einschränkung kann nicht der Inhalt gegeben werden, daß nur diejenigen Kunstwerke von der Indizierung ausgeschlossen werden sollen, die sich durch eine - wie auch immer geartete - künstlerische Qualität auszeichnen. Ein solches Verständnis des Kunstvorbehalts des GjS würde gegen Art. 5 Abs. 3 GG verstoßen, der eine qualitative Einengung des Kunstbegriffs bei der - hier maßgeblichen - staatsabwehrenden Funktion der Kunstfreiheitsgarantie verbietet88. Aus diesem Grund kann die durch das Wort "dient" implizierte Einschränkung nur so verstanden werden, daß die Kunstfreiheit im Einzelfall den Vorrang vor dem Jugendschutz haben soll. Nur in diesem Fall dient ein Kunstwerk der Kunst i.S. des § 1 Abs. 2 Nr. 2 GjS und es muß von seiner Indizierung abgesehen werden 89. Eine solche Auslegung entspricht ferner der ratio legis. Ziel des § 1 Abs. 2 Nr. 2 GjS ist es, dem Grundrecht der Kunstfreiheit Rechnung zu tragen und es gegenüber den Interessen des Jugendschutzes zu wahren 90. Zum Erreichen dieses Zwecks ist es notwendig, einen verhältnismäßigen, beiden widerstreitenden Rechtsgütern befriedigenden Ausgleich herzustellen, was durch die Abwägung im Einzelfall erreicht werden kann. Ein darüber hinausgehender, absoluter Vorrang der Kunstfreiheit ist dazu nicht erforderlich. Denn § 1 Abs. 2 Nr. 2 GjS will lediglich den Schutz des Art. 5 Abs. 3 GG auf einfachgesetzlicher Ebene projizieren 91. Art. 5 Abs. 3 87

Der · sicher nicht unmißverständliche, vgl. Bucholz, Kunst, Recht und Freiheit, S. 21 und Schick, Kunstwerkgarantie und Strafrecht, S. 163 - Ausdruck "der Kunst dient" hat in der Literatur und Rechtsprechung die unterschiedlichsten Deutungen erfahren. Zumeist wurde er mit qualitativen Einengungen des Kunstbegriffs verknüpft (siehe die Nachweise oben im 2. Kapitel, A III). Manchmal begegnet man auch höchst merkwürdigen Auslegungen, wie z.B. bei August Schmidt, GA 1966, 97 [106]: "Der Kunst dient eine Schrift, wenn sie erkennbar nicht Zwecken dient, sondern nur ein Kunsterlebnis vermittelt. Wo die Schrift belehrt, meint, berichtet, verletzt, überredet - was sie unbeschadet ihres Kunstcharakters kann -, dort dient sie Zwecken, nicht der Kunst." 88

Siehe dazu oben, 2. Kapitel A III. 89

So auch BVerwGE 91, 223 [225f]; BVerwG, JMS-Report 1/1993,10.

90

Vgl. den Regierungsentwurf zum GjS, BT-Drucks. 1/1101, S. 11; BVerfGE 83, 130 [144]; BVerwG, NJW 1993, 1490; BVerwG, JMS-Report 1/1993, 10; Erbel, Inhalt und Auswirkungen der verfassungsrechtlichen Kunstfreiheitsgarantie, S. 164; Potrykus, Kommentar zum GjS, § 1 Rn. 19, Raue, Literarischer Jugendschutz, S. 90 Fn. 2. 91

Am deutlichsten BVerwGE 23, 104 [105f]: "Die Tragweite des Kunstvorbehalts (...) spricht dafür, daß dieser Kunstvorbehalt lediglich den Art. 5 Abs. 3 GG wiederholt..." und OVG Münster, NVwZ 1992, 392, wo § 1 Abs. 2 Nr. 2 GjS als die "einfachgesetzliche Ausprägung" des Schutzes des Art. 5 Abs. 3 GG qualifiziert wird. Vgl. ferner BVerwGE 77, 75 [81]; VG Köln, BPS-Report 4/1984, 21 [23]; Erbel, Inhalt und Auswirkungen der verfassungsrechtlichen Kunstfreiheitsgarantie, S. 164;

Β. Die Abwägung und die dafür maßgeblichen Maßstäbe

187

GG gewährt aber keinen allgemeinen Vorrang der Kunstfreiheit vor den Belangen des Jugendschutzes. Ein generelles Übergewicht der Kunstfreiheit gegenüber dem Jugendschutz ginge deshalb "über das durch Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG Gebotene und damit über das mit dem Kunstvorbehalt Gewollte" hinaus92. Daß gesetzliche Kunstprivilegien nicht in der Lage sind, einen absoluten Vorrang der Kunstfreiheit vor anderen verfassungsrechtlich geschützten Rechtsgütern zu begründen und der Heranziehung der Einzelfallabwägung den Weg zu versperren, ergibt sich auch aus der "Herrnburger Bericht"-Entscheidung des BVerfG 93. Dort hat das BVerfG eine Einzelfallabwägung zwischen der Kunstfreiheit einerseits und den durch § 86 StGB (Verbreitung von Propagandamitteln verfassungswidriger Organisationen) und § 86a Abs. 3 StGB (Verwendung von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen) geschützten Verfassungsrechtsgütern andererseits gefordert 94, obwohl § 86 Abs. 3 und § 86a Abs. 3 StGB einen - dem § 1 Abs. 2 Nr. 2 GjS ähnlichen Kunstvorbehalt vorsehen. Der Kunstvorbehalt des § 1 Abs. 2 Nr. 2 GjS vermag auch nicht ein generelles Übergewicht der Kunstfreiheit nur noch bei den "schlicht" jugendgefährdenden Schriften des § 1 Abs. 1 GjS zu statuieren95. Auch bei dieser Art

Leonardy, NJW 1967, 714; von Noorden, Die Freiheit der Kunst nach dem Grundgesetz (Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG) und die Strafbarkeit der Verbreitung unzüchtiger Darstellungen (§ 184 Abs. 1 Nr. 1 StGB), S. 76 Fn. 1; Ott, NJW 1972,1219 [1222]; Potrykus, Kommentar zum GjS, § 1 Rn. 19. 92

BVerwGE 91, 223 [225]; BVerwG, JMS-Report 1/1993,9 [10].

93

BVerfGE 77, 240 ff.

94

BVerfGE 77, 240 [253ff]. Das BVerfG hat aber diese Gelegenheit nicht ausgenützt, um sich mit der verfassungsrechtlichen Problematik der gesetzlichen Kunstvorbehalte auseinanderzusetzen. 95

So aber vor allem BVerwGE 77, 75 [83f]: "Dagegen gebührt bei "schlicht" jugendgefährdenden Schriften im Sinne des § 1 Abs. 1 GjS dem Kunstschutz Vorrang vor dem Jugendschutz. Wollte man auch insoweit den Kunstschutz zurückdrängen, so würde die Kunstfreiheit im Ergebnis dem generellen Vorbehalt des Jugendschutzes unterworfen, der nach der Regelung des Art. 5 Abs. 2 GG für die Kunstfreiheit gerade nicht gelten soll." So auch BVerwG, BPS-Report, 2/1987, 1 [5]. Das BVerwG hat aber neuerdings (BVerwGE 91, 223 [224ff]; BVerwG, JMS-Report 1/1993, 9f) diese These ausdrücklich aufgegeben, und zwar mit der zutreffenden Begründung, daß die Nichtgeltung des Jugendschutzvorbehalts des Art. 5 Abs. 2 GG für Art. 5 Abs. 3 GG nicht verhindert, daß der Jugendschutz aufgrund seines Verfassungsrangs als verfassungsimmanente Schranke der Kunstfreiheit Grenzen zieht. Einen generellen Vorrang der Kunstfreiheit im Fall der "schlicht" jugendgefährdenden Schriften des § 1 Abs. 1 GjS befürworten ferner OVG Münster, NVwZ 1992, 396; Borgmann, JuS 1992, 916 [918]; von Kalm, DÖV 1994, 23 [25]; Meirowitz, Gewaltdarstellungen auf Videokassetten, S. 283. Der BGH (BGHSt 37, 55 [64]) hat die Frage eines allgemeinen Übergewichts der Kunstfreiheit bei "schlicht" jugendgefährdenden Schriften ausdrücklich offen gelassen. Unklar ist femer, ob die "Mutzenbacher"-Entscheidung des BVerfG bei den "schlicht" jugendgefährdenden Schriften des § 1 Abs. 1 GjS einen absoluten Vorrang der Kunstfreiheit annimmt oder ob sie vielmehr

188

3.Kap. Die Konfliktschlichtung von Kunstfreiheit und Jugendschutz

von Schriften muß vielmehr in jedem Einzelfall eine Abwägung zwischen Kunstfreiheit und Jugendschutz vorgenommen werden 96. Die verfassungsrechtliche Gleichrangigkeit von Kunstfreiheit und Jugendschutz würde unzulässigerweise auch dann aufgegeben werden, wenn man der Kunstfreiheit im Regelfall (d.h. bei den "schlicht" jugendgefährdenden Schriften) den ausnahmslosen Vorrang einräumen würde. Wenn die Kunstfreiheit bei den "schlicht" jugendgefährdenden Schriften das absolute Übergewicht genießen würde, dann könnte der Jugendschutz nur im Extremfall eines offensichtlich schwer jugendgefährdenden Kunstwerks wirksam werden (und dann nicht ohne weiteres, sondern nur in dem Fall, daß das Abwägungsergebnis zugunsten der Belange des Jugendschutzes ausfallen würde). Der zur Verwirklichung der Interesse der Jugend verbleibende Raum wäre aber dann zu eng und die Konfliktschlichtung würde so einseitig zugunsten der Kunstfreiheit entschieden werden, daß von einem angemessenen Ausgleich der widerstreitenden Interessen kaum die Rede sein könnte97 9 8 . Es muß auch beachtet werden, daß es sich

auch dann (wie bei den offensichtlich schwer jugendgefährdenden Schriften des § 6 GjS) eine Einzelfallabwägung für erforderlich hält. Für die erstere Annahme spricht insbesondere die folgende Stelle der Entscheidung: "Danach ist die gesetzliche Regelung so zu verstehen, daß der Kunstvorbehalt auch bei den in § 6 GjS genannten Schriften eingreift, jedoch in diesen Fällen nicht zu einem generellen Vorrang der Kunst führt, sondern zu einer Abwägung im Einzelfall verpflichtet" (BVerfGE 83, 130 [144fj. Hervorhebung des Verfassers). Hier hat es den Anschein, daß das BVerfG eine Gegenüberstellung zwischen § 1 Abs. 1 GjS (genereller Vorrang der Kunstfreiheit) und § 6 GjS (Gebot zur Einzelfallabwägung) vornimmt. So wird die Entscheidung auch von OVG Münster, NVwZ 1992, 396; Borgmann, JuS 1992, 916 [917] und Geis, NVwZ 1992, 25 [28] verstanden. Andere Wendungen dieses Beschlusses implizieren allerdings, daß das BVerfG eine Abwägung im Einzelfall auch bei den "schlicht" jugendgefährdenden Schriften des § 1 Abs. 1 GjS fordert. Wenn nämlich dort (aaO, S. 146) ausgeführt wird, daß die Indizierung eines Kunstwerks auch dann eine Einzelfallabwägung mit der Kunstfreiheit erfordert, wenn dieses Kunstwerk als offensichtlich schwer jugendgefährdend i.S. des § 6 GjS einzustufen ist, dann kann dies nur den Sinn haben, daß eine Einzelfallabwägung im Fall des § 1 Abs. 1 GjS ebenfalls geboten ist (So wird die Entscheidung von Würkner/KerstWürkner, NVwZ 1993, 64 l f ausgelegt). In die gleiche Richtung deutet auch dieser Satz der Entscheidung: "All dies erfordert eine Abwägung der widerstreitenden Belange und verbietet es, einem davon generell - und sei es auch nur für eine bestimmte Art von Schriften - Vorrang einzuräumen" (aaO, S. 143). Unabhängig davon, auf welche Weise die "Mutzenbacher"-Entscheidung des BVerfG in bezug auf die hier interessierende Frage ausgelegt werden soll, wäre es wohl sinnvoller und wünschenswert, wenn das BVerfG dieses Urteil klarer formuliert hätte und die Aufstellung von sich gegenseitig ausschließenden Formulierungen vermieden hätte, zumal es sich hier um eine Grundsatzentscheidung handelt. Das gilt umsomehr, als solche Unstimmigkeiten und dunklen, zuweilen auch orakelhaften Formulierungen auch bei anderen Stellen der "Mutzenbacher"-Entscheidung des BVerfG zu finden sind, z.B. bei den Ausführungen über den Beurteilungsspielraum der Bundesprüfstelle (vgl. dazu unten im 4. Kapitel, C II). 96 So auch BVerwGE 91, 223 [225f|; BVerwG, JMS-Report 1/1993, 9 [10]; Geis, NVwZ 1992, 25 [28]. 97

So aber von Kalm, DÖV 1994, 23 [25].

Β. Die Abwägung und die dafür maßgeblichen Maßstäbe

189

bei den "schlicht" jugendgefährdenden Schriften um Fälle von erheblicher Relevanz handelt und gerade nicht um Bagatellfälle, bei denen die Interessen des Jugendschutzes zugunsten der Kunstfreiheit ohnehin zurücktreten müßten". Wäre es nicht unangemessen, sogar unerträglich, bei unsittlichen, verrohend wirkenden, zu Gewalttätigkeit, Verbrechen oder Rassenhaß anreizenden oder den Krieg verherrlichenden 100 Kunstwerken auf den Schutz der Jugend völlig zu verzichten? Eine Einzelfallabwägung ist bei den offensichtlich schwer jugendgefährdenden Schriften des § 6 GjS ebenso erforderlich 101. Die These, nach der der Jugendschutz beim § 6 GjS den absoluten Vorrang vor der Kunstfreiheit genieße 102 , läßt außer acht, daß die Schwere der Jugendgefährdung nicht das einzige Kriterium sein kann, an dem sich die Konfliktschlichtung zu 98 Vgl. femer BVerwGE 91, 223 [226]; und BVerwG, JMS-Report 1/1993, 9 [10], wo zu Recht ausgeführt wird, daß ein genereller Vorrang der Kunstfreiheit bei "schlichter" Jugendgefährdung angesichts des verfassungsrechtlichen Verbots, den Kunstbegriff wertend einzuengen, den der Bundesprüfstelle vom Gesetzgeber zugedachten Aufgabenbereich auf unzulässige Weise schmälern würde. Daß bei einem solchen Vorrang der Kunstfreiheit der verfassungsrechtlich geschützte Jugendschutz weitgehend leerlaufen würde, betont femer Geis, NVwZ 1992, 25 [28]. So auch von Kalm, DÖV 1994, 23 [24], der allerdings an einem absoluten Übergewicht der Kunstfreiheit bei den "schlicht" jugendgefährdenden Schriften festhält.

99

Siehe dazu unten in diesem Kapitel, Β II 3a, aa bei Fn. 169. 100

Diese Arten von Schriften werden im §1 Abs. 1 GjS als Beispiele von "schlichter" Jugendgefährdung ernannt. 101

So auch BVerfGE 83,130 [143ff]; BVerwGE 91, 22 [212f]; 223 [224]; BVerwG, JMS-Report 1/1993, 9 [10]; BGHSt 37, 55 [64]; OVG Münster, NVwZ 1992, 396; VG Köln, NVwZ 1992, 402; Borgmann, JuS 1992, 916 [918]; Geis, NVwZ 1992, 25 [28]; Schefold in: Literatur vor dem Richter, S. 93 [110]. 102 Diese Auffassung wird insbesondere von BVerwGE 77, 75 [83]; BVerwG, BPS-Report 2/1987, 1 [3ff]; OLG Köln, NJW 1964, 852; VG Köln, BPS-Report 1/1988, [8f];BPS, Entsch. Nr. 3815 v. 2.3.1988, BPS-Report 2/1988, 1 [9]; BPS, Entsch. Nr. 4004 v. 7.12.1989, BPS-Report 1/1990, 34 [36]; BPS, Entsch. Nr. 3707 (V) v. 4.1.1990, BPS-Report 4/1990, 34 [35]; Gallwas, Der Mißbrauch von Grundrechten, S. 84; Potrykus, Kommentar zum GjS, § 6 Rn. 6 .vertreten und grundsätzlich damit begründet, daß der Kunst vorbehält des § 1 Abs. 2 Nr. 2 GjS nicht für die offensichtlich schwer jugendgefährdenden Schriften des 6 GjS gelte. Das BVerfG hat demgegenüber in der "Mutzenbacher"-Entscheidung (BVerfGE 83, 130 [143Ö]) eine verfassungskonforme Auslegung vorgenommen, nach der das Kunstprivileg des GjS auch bei den in § 6 genannten Schriften eingreift (Einwände gegen diese verfassungskonforme Auslegung - vor allem gegen ihre Vereinbarkeit mit dem Wortlaut und der Systematik des GjS - haben etwa Borgmann, JuS 1992, 916 [918]; Gusy, JZ 1991, 470 [471] und Würkner, NVwZ 1992, 1 [8] erhoben.) Die Anwendbarkeit des Kunstvorbehalts des GjS auf die offensichtlich schwer jugendgefährdenden Schriften befürworten femer BVerfGE 30, 336 [350]; OLG Stuttgart, NJW 1969, 1779f; BayObLG, NJW 1967, 1477 [1478]; OLG Düsseldorf, NJW 1964, 562f\ Bauer, JZ 1965, 41 [47γ, Dünnwald, JR 1965, 46 [48], Riedel, NJW 1954, 1260 [1261].

190

3.Kap. Die Konfliktschlichtung von Kunstfreiheit und Jugendschutz

orientieren hat 103 . Die Schwere der Jugendgefährdung stellt einen wichtigen kollisionslösenden Maßstab dar. Auch darf man in Fällen von schwerer Jugendgefährdung annehmen, daß der Jugendschutz in der Regel das Übergewicht haben wird 1 0 4 . Eine Vielzahl von weiteren Gesichtspunkten105, die in ihrer Gesamtheit zuweilen zu einem Vorrang der Kunstfreiheit fuhren können, muß aber mitberücksichtigt werden, will man eine sachgerechte, den angemessenen Ausgleich der widerstreitenden Interessen ermöglichende Lösung bewirken. Die im GjS vorgesehenen Verbreitungsbeschränkungen sind ferner von einer solchen Reichweite, daß ein generelles Übergewicht des Jugendschutzes bei den offensichtlich schwer jugendgefährdenden Schriften des § 6 GjS nicht hinnehmbar ist 1 0 6 . II. Die Abwägungskriterien 1. Zweck und Leistungsgrenzen der Abwägungskriterien Muß in jedem Einzelfall eine Abwägung zwischen Kunstfreiheit und Jugendschutz vorgenommen werden, dann muß man auch konkrete, sachgerechte Kriterien entwickeln, aufgrund derer die Gewichtung der widerstreitenden Interessen zu erfolgen hat 1 0 7 . Denn die Einzelfallabwägung ist keine "Zauberformel", die die Lösung jeder Güterkollision ohne weiteres bewirkt. Vielmehr ist die Abwägung im Einzelfall nur dann praktikabel, leistungs- und tragfähig, wenn zugleich die dafür maßgeblichen Kriterien herangezogen wer103

So auch BVerfGE 83, 130 [146fJ: "Die in ihrem Durchsetzungsanspruch betroffenen und bedrohten Rechtsgüter würden zu Lasten der Kunstfreiheit nicht optimiert, wenn allein der widerstreitende Belang betrachtet und die Lösung des Konflikts ausschließlich von der Schwere abhängig gemacht würde, mit der dieser durch das Kunstwerk beeinträchtigt werden könnte". Vgl. aber BVerfGE 67, 213 [228], wo ausschließlich auf die Schwere der Beeinträchtigung des mit der Kunstfreiheit kollidierenden Rechtsguts (dort: des Persönlichkeitsrechts) abgestellt wird und bei zweifelsfrei feststellbaren schwerwiegenden Beeinträchtigungen des der Kunstfreiheit widerstreitenden Rechtsguts diesem kurzerhand der Vorrang eingeräumt wird, ohne weitere kollisionslösende Maßstäbe in Betracht zu ziehen. 104

Siehe unten in diesem Kapitel, Β II 3a, aa.

105

Siehe dazu unten in diesem Kapitel, Β II 3.

106

Vgl. BVerfGE 83, 130 [143f].

107 Vgl. Knies, Schranken der Kunstfreiheit als verfassungsrechtliches Problem, S. 39: "Die Leistungsfähigkeit des Prinzips steht und fällt also mit dem materialen Maßstab, nach dem die Güterabwägung vorzunehmen ist und den das Güterabwägungsprinzip voraussetzt, nicht aber selbst liefert" (Hervorhebungen von Knies). Vgl. ferner Lerche, Übermaß und Verfassungsrecht, S. 129: "Endlich pflegt man auf "Spannungslagen" zu verweisen, die mit Hilfe einer "Güterabwägung" für den Einzelfall ins Reine gebracht und entschieden werden sollen. Aber das scheint uns eher Diagnose als wirkliche Therapie zu bedeuten. Denn es bleibt die Frage, von wem und nach welchen Maßstäben diese Abwägung zu erfolgen hat" (Hervorhebung hier).

Β. Die Abwägung und die dafür maßgeblichen Maßstäbe

191

den. Eine Abwägung dagegen, die sich am "Rechtsgefühl" der sie durchfuhrenden Organe 108 oder am "herrschenden Rechtsethos"109 ausrichtet und nicht nach bestimmten, den angemessenen Ausgleich der kollidierenden Rechtsgüter ermöglichenden Abwägungsmaßstäben erfolgt, ist nichts anderes als eine "Leerformel" 110, die jeder subjektiven Vorstellung "dogmatisches Ansehen" verschafft. Eine solche Vorgehensweise ist umso bedenklicher, als - wie hier Grundrechte an der Kollision beteiligt sind. Denn das Abwägen ohne jegliche handliche Maßstäbe heißt in diesem Fall, die Geltung der Grundrechte der Beliebigkeit der Verwaltung oder der Gerichte preiszugeben1 n . Die Notwendigkeit der Entwicklung von Abwägungskriterien scheint aber dem weitaus größten Teil der Literatur und Rechtsprechung nicht bewußt zu sein. In der Regel begnügt man sich mit einem pauschalen Verweis auf die Einzelfallabwägung als Instrumentarium zur Schlichtung von Güterkollisionen, schweigt aber darüber, wie und nach welchen Gesichtspunkten die Gewichtung der aufeinander prallenden Interessen vorzunehmen ist 1 1 2 . Wenn man sich diese praktische Handhabung der Abwägung vor Augen hält, dann scheint der Vorwurf der Maßstablosigkeit, der der Abwägung oft gemacht wird 1 1 3 , nicht ganz unberechtigt zu sein.

108

Vgl Hubmann, AcP 155 [1956], S. 85 [134].

109

Vgl. Zippelius, Wertungsprobleme im System der Grundrechte, S. 193ff. 110

So die Bezeichnung der Abwägung von v.Pestalozza, Der Staat 2 [1963], S. 425 [448].

111

Die Ausfüllung der Abwägung durch materiale Maßstäbe fordern femer Achterberg, Der Staat 8 [1969], S. 159 [177]; Gern, DÖV 1986, 462 [466]; Graf, Die Grenzen der Freiheitsrechte ohne besondere Vorbehaltsschranke, S. 62; ders., BayVBl 1971, 55 [56]; Hubmann, AcP 155 [1956], S.85 [89]; v.Pestalozza, Der Staat 2 [1963], S. 425 [449]; Schwache, Grundrechtliche Spannungslagen, S.74. Es liegt auf der Hand, daß ein monolithischer Katalog von Abwägungsmaßstäben, der bei jeder Konfliktkonstellation auf die gleiche Weise angewendet werden sollte, nicht nur unmöglich, sondern auch unangemessen wäre. Die Abwägungskriterien müssen deshalb anhand der besonderen Sachstruktur der jeweiligen Spannungslage erarbeitet werden, wobei freilich die Heranziehung von gemeinsamen - an die Eigenart des jeweiligen Konflikts anzupassenden - Gesichtspunkten wünschenswert ist. 112 Vgl. aber die eingehende Darstellung von Abwägungskriterien bei Wendt, AöR 104 [1979], S.414 [457ff]. Vgl. ferner die Abwägungsmaßstäbe bei Gern, DÖV 1986, 462 [466ff]; Hubmann, AcP 155 [1956], S. 85 [97ff]\ders., in: Wertung und Abwägung im Recht, S. 1 [20ff]; Lorenz, in: FS für Klingmüller, S. 235ff. Die verfassungsgerichtliche Rechtsprechung liefert zwar oft Abwägungsgesichtspunkte (vgl. etwa BVerfGE 7, 198 [212]; 30, 173 [195]; 35, 202 [226ff]; 67, 213 [228]; 77, 240 [254fj; 83, 130 [147f]), dabei handelt es sich aber zumeist nur um grobe Kriterien, die der Konkretisierung und Differenzierung bedürfen, um anwendungs- und leistungsfähig zu werden. 113 So z.B. Friedrich Müller, Die Positivität der Grundrechte, S. 18; ders., Juristische Methodik, S.65; v.Pestalozza, Der Staat 2 [1963], S. 425 [448]; Raue, Literarischer Jugendschutz, S. 89; Schlink, EuGRZ 1984, 457 [461].

192

3.Kap. Die Konfliktschlichtung von Kunstfreiheit und Jugendschutz

Was insbesondere die kunstfreiheitsbezogenen Kollisionslagen betrifft, sind die für diese Konflikte maßgeblichen Abwägungskriterien nur unvollkommen erarbeitet worden 114 . Statt dessen haben Rechtsprechung und grundrechtliche Dogmatik ihren Blick fast ausschließlich auf die Konkretisierung des Kunstbegriffs und die abstrakte Ermittlung der verfassungsrechtlichen Schranken der Kunstfreiheit gerichtet, obwohl die Frage des Kunstbegriffs keine große praktische Bedeutung mehr hat 1 1 5 und bei den Schranken der Kunstfreiheit ein grundsätzlicher Konsens aufgrund der Rechtsprechung des BVerfG erreicht worden ist 1 1 6 . Es wäre deshalb vorzuziehen, wenn Literatur und Rechtsprechung ihre primäre Aufgabe in der Durchleuchtung der konkreten Kriterien sehen würden, nach denen die Abwägung zwischen Kunstfreiheit und anderen Verfassungsrechtsgütern zu verlaufen hat. Die Entwicklung von Abwägungskriterien dient primär dem Zweck, die Abwägung weitgehend rechtlich zu disziplinieren und zu rationalisieren, und sie nicht etwa einem intuitiven und subjektiven Vorgang zu überlassen117. Die Rügen der Irrationalität, der Willkür und des Dezisionismus, die man dem Instrumentarium der Abwägung vielfach vorgeworfen hat 1 1 8 , sind nur dann

114 Einige Ansätze finden sich etwa bei BVerfGE 30, 173 [195]; 67, 213 [228] (in beiden Fällen über die Abwägung zwischen Kunstfreiheit und Persönlichkeitsrecht); 77, 240 [254f] (kunstfreitsbezogene Abwägungen im allgemeinen); 83, 130 [147f] (Abwägung zwischen Kunstfreiheit und Jugendschutz). Vgl. ferner BGHSt 37, 55 [64f], wo Maßstäbe für die Abwägung der Kunstfreiheit mit den Interessen des Jugendschutzes ausgeführt werden. 115 Der Grund dafür liegt in der Tatsache, daß die Kunsteigenschaft eines Werks in der Praxis in aller Regel bejaht und die Ermittlung der notwendigen Beschränkungen der Kunstfreiheit auf der Ebene der verfassungsrechtlichen Schranken des Art. 5 Abs. 3 GG verlagert wird. Siehe dazu oben im 2. Kapitel, A12i. 116 Siehe oben im 2. Kapitel, F I. Und auch dann, wenn man nicht der Schrankenkonstruktion des BVerfG folgt, sondern andere Wege beschreitet, kommt man praktisch zu Ergebnissen, die denjenigen des BVerfG gleichen oder sich ihnen zumindest annähern. Siehe auch oben im 2. Kapitel, E II. 117 Eine restlose Rationalisierung des Abwägungsprozesses ist aber kaum zu erreichen (vgl. Wendt, AöR 104 [1979], S. 414 [467]). Dadurch wird deutlich, wie wenig sinnvoll und ergiebig es ist, den Vorgang der Abwägung durch die Anwendung von thematischen Regeln und Gleichungen zu mathematisieren (so aber Hubmann, in: FS für Schnorr v. Carolsfeld, S. 173ff. Kritisch dazu Gern, DÖV 1986, 462 [465]; Hirschberg, Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, S. 102ff; Lorenz, in: FS für Klingmüller, S. 235 [247f]; ders., Methodenlehre der Rechtswissenschaft, S. 404f Fn. 93) oder das Gewicht und die Verwirklichungsintensität der widerstreitenden Rechtsgüter zu metrisieren (vgl. die ausführliche Darstellung solcher Vorgehensweise bei Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 138ff und Schlink, Abwägung im Verfassungsrecht, S. 128ff, 134ff und die dort geäußerten Bedenken. Ebenso kritisch Tsevas, Die verwalungsgerichtliche Kontrollintensität bei der materiell-rechtlichen Nachprüfung des Planfeststellungsbeschlusses fur raumbeanspruchende Großprojekte, S. 153).

118 Vgl. etwa Breunung/Nocke, in: Literatur vor dem Richter, S. 235 [243]; Jeand'Heur, StrafVerteidiger 1991, 165 [166f|; Hans Klein, Der Staat 10 [1971], S. 145 [154f]; Friedrich Müller, Normstruktur und Normativität, S. 62, 141; ders., Freiheit der Kunst als Problem der Grundrechts-

Β. Die Abwägung und die dafür maßgeblichen Maßstäbe

193

statthaft, wenn keine Abwägungsmaßstäbe herangezogen werden und die Gewichtung der widerstreitenden Belange im "freien Raum" erfolgt. Die Abwägungskriterien zielen ferner darauf ab, die Abwägung durchsichtbar und nachvollziehbar zu machen. Das ist unter dem Gesichtspunkt des effektiven Rechtsschutzes besonders wichtig, weil auf diese Weise die nachträgliche gerichtliche Kontrolle der Abwägungsentscheidungen sichergestellt wird. Die Abwägungsmaßstäbe erfüllen auch eine weitere Aufgabe: Durch sie sollen nämlich die Unkalkulierbarkeit und Nichtvoraussehbarkeit der Einzelfallabwägungen 119 im gewissen Maße entschärft werden. Die Entwicklung von Abwägungsgesichtspunkten ist damit zugleich ein wesentlicher Beitrag zur Rechtssicherheit. Was insbesondere die hier interessierende Kollisionslage betrifft, darf man aber nicht erwarten, daß falltypische Entscheidungsmuster, die die Lösung jedes Konflikts zwischen Kunstfreiheit und Jugendschutz durch einfache Subsumtion ermöglichen würden, aufgrund der Abwägungskriterien von vornherein herausgebildet werden könnten. Hier sind die Leistungsgrenzen der Abwägungsmaßstäbe erreicht. Wegen der Vielzahl der möglichen Kombinationen und Abstufungen der für die Abwägung zwischen Kunstfreiheit und Jugendschutz maßgeblichen Gesichtspunkte120 können solche falltypischen Entscheidungsmuster nicht von vornherein formuliert werden. Eine Typologie von Konfliktlösungen, von Vorrangrelationen, die die - der Einzelfallabwägung innewohnende - Tendenz zur Kasuistik 121 neutralisieren würde, kann sich nur im Laufe der Zeit und im Wege der fortschreitenden Spruchpraxis der Gerichte, der Bundesprüfstelle und der Freiwilligen Selbstkontrolle entwickeln122.

domatile, S. 48; Rüfner, Der Staat 7 [1968], S. 41 [58]; Schlink, EuGRZ 1984, 457 [462]; Schwabe, Probleme der Grundrechtsdogmatik, S. 322. Vgl. ferner OLG Stuttgart, NJW 1989, 396, wo sich das Gericht - mit einer für ein gerichtliches Urteil bemerkenswerten Schärfe - gegen die Abwägungsjurisprudenz wendet, weil sie lediglich die vom Gesetzgeber als schutzwürdig anerkannten Interessen einander gegenüberstelle und dann letztlich kraft richterlicher Willkür entscheide, welches Interesse im konkreten Fall den Vorrang verdiene. 1 IQ

Vgl. etwa Denninger, in: FS fur Wassermann, S. 279 [288]; Hans Klein, Der Staat 10 [1971], S. 145 [155]; v.Pestalozza, Der Staat 2 [1963], S. 425 [48]; Rüfner, Der Staat 7 [1968], S. 41 [58]; Schroeder, Pornographie, Jugendschutz und Kunstfreiheit, S. 59; Wiehert, Zum Problem der Kunstfreiheitsgarantie, S. 75. 120 Siehe dazu unten in diesem Kapitel, Β II 3. 121

Vgl. Bettermann, JZ 1964, 601 [602]; Graf Die Grenzen der Freiheitsrechte ohne besondere Vorbehaltsscliranke, S. 60. 122 Zum Inhalt und zur Leistungsfähigkeit solcher - sich mit der Zeit und auf der Basis vom Entscheidungsmaterial herausbildenden - Typisierungen im allgemeinen, die die Abwägung im Einzelfall 13 Vlachopoulos

194

3.Kap. Die Konfliktschlichtung von Kunstfreiheit und Jugendschutz

Diese Feststellung schmälert aber die Wichtigkeit der Abwägungskriterien nicht: denn allein die Tatsache, daß die die Einzelfallabwägung zwischen Kunstfreiheit und Jugendschutz vornehmenden Organe ihr Abwägungsergebnis anhand von bestimmten Maßstäben ausführlich begründen sollen, trägt wesentlich zur Rationalisierung und Transparenz ihrer Entscheidungspraxis bei und bewirkt im Ergebnis einen präventiven Rechtsschutz. 2. Untaugliche Abwägungsmaßstäbe a) Die künstlerische Qualität Findet eine Kollision der Kunstfreiheit mit einem anderen Verfassungsrechtsgut statt und muß diese Spannungslage durch eine Einzelfallabwägung aufgelöst werden, dann mag es zunächst selbstverständlich erscheinen, die künstlerische Qualität des Kunstwerks als Abwägungskriterium zu akzeptieren. So hat ein Teil der Literatur gefordert, bei der Abwägung zwischen Kunstfreiheit und entgegenstehenden Interessen auf den "künstlerischen Wert" 123 , die "Leistungshöhe"124 des Kunstwerks entscheidend abzustellen. Aber auch im Rahmen der Abwägung zwischen Kunstfreiheit und Jugendschutz sei nach einigen Autoren die Berücksichtigung einer Vielzahl von wertenden Elementen, wie die "künstlerische Vollendung" 125 , die "Leistungshöhe, Qualität oder das gehobene Niveau des Kunstwerks", die "stilistische Höhe, die Aussagekraft der Sprache" 126, der "Wert" des Kunstwerks 127 oder die Bedeutung, die man "dem betreffenden Werk für die Kunst zumißt" 128 , erforderlich. Solche Auffassungen können sich nunmehr auch auf die "Mutzenbacher"Entscheidung des BVerfG berufen, nach der das Niveau eines Werks zwar irerleichtem, vgl. Lorenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, S. 413; Ossenbühl, Der Staat 10 [1971], S. 53 [80f); ders., NJW 1976, 2100 [2107]; Wendt, AöR 104 [1979], S. 414 [467]. 123

Noll, ZStW 77, 1 [35f]. Dagegen Heinz, in: Grenzen politischer Kunst, S. 44 [73 Fn 135]; Schick, Kunstwerkgarantie und Strafrecht, S. 128, 142. 124 Erbel, Inhalt und Auswirkungen der verfassungsrechtlichen Kunstfreiheitsgarantie, S. 154. Dagegen v.Noorden, Die Freiheit der Kunst nach dem Grundgesetz (Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG) und die Strafbarkeit der Verbreitung unzüchtiger Darstellungen (§ 184, Abs. 1 Nr. 1 StGB), S. 128 Fn. 1. 125

Mayer-Tasch,

126

Meyer-Cording,

JZ 1969, 284 [286]. JZ 1976, 737 [744].

127

v. Hartlieb, Handbuch des Film-, Femseh- und Videorechts, S. 44; Stümmer, BayVBl 1961, 229 [233]. 128 Schreyer, Pluralistische Entscheidungsgremien im Bereich sozialer und kultureller Staatsaufgaben, S. 58.

Β. Die Abwägung und die dafür maßgeblichen Maßstäbe

195

relevant für die Beurteilung der Kunsteigenschaft sei, eine Rolle aber bei der Prüfung der Frage spielen könnte, "ob die Kunstfreiheit konkurrierenden Rechtsgütern von Verfassungsrang zu weichen hat" 129 . Was insbesondere die Abwägung zwischen Kunstfreiheit und Jugendschutz anbelangt, werde - nach derselben Entscheidung - die Kunstfreiheit "um so eher Vorrang beanspruchen können, je mehr die den Jugendlichen gefährdenden Schilderungen künstlerisch gestaltet (...) sind" 130 . Die Einbeziehung des künstlerischen Niveaus eines Kunstwerks in die Abwägung zwischen Kunstfreiheit und anderen Interessen von Verfassungsrang hat sicher einiges für sich. Denn es ist kaum ersichtlich, warum z.B. ein Roman der Weltliteratur mit einer anspruchslosen Videokassette gleichgestellt werden sollte. Ist es demgegenüber nicht sachangemessen, sogar geboten, Meisterwerken einen Vorrang gegenüber bloßen Machwerken der Trivialliteratur einzuräumen 131? Solche - auf den ersten Blick unangreifbaren - Überlegungen, die für die Berücksichtigung der künstlerischen Qualität als Abwägungskriterium bei kunstfreiheitsbezogenen Kollisionen sprechen, gelten auch im Fall des Konflikts zwischen Jugendschutz und Kunstfreiheit. Denn die meisten Jugendschutzbestimmungen verbieten nicht nur die Verbreitung von jugendgefährdenden Werken an Jugendliche. Sie schränken darüber hinaus die Verbreitung solcher Werke auch an Erwachsene in erheblichem Maße ein 1 3 2 . Wäre es in der Tat nicht befremdlich (obendrein skandalös), Gedichte von Goethe oder 159

BVerfGE 83, 130 [139]. Zustimmend Mahrenholz, in: Handbuch des Verfassungsrechts, § 26 Rn. 101. In allen anderen bundesverfassungsgerichtlichen Entscheidungen, die sich mit Konflikten zwischen Kunstfreiheit und entgegenstehenden Verfassungsrechtsgütern auseinandergesetzt haben (BVerfGE 30, 173ff; 33, 52ff; 67, 213ff; 75, 369fT; 77, 240ff; 81, 278ff; 81, 298ff; 83, 130ff; BVerfG, NJW 1984, 1293ff, BVerfG, NJW 1988, 328f), wurde dagegen die künstlerische Qualität nicht als kollisionslösender Maßstab herangezogen. Vgl. auch Denninger, in: Handbuch des Staatsrechts, § 146 Rn. 39, nach dem das ästhetische Niveau eines Kunstwerks bei der Losung von kunstfreiheitsbezogenen Kollisionen außer Betracht zu bleiben hat, denn "andernfalls käme man doch wieder zu einer "wertenden Einengung" des Kunstbegriffs". 130 BVerfGE 83, 130 [147f]. Kritisch dazu Schroeder, FAZ v. 10.4.1991, S. 14; ders., Pornographie, Jugendschutz und Kunstfreiheit, S. 56. Vgl. ferner BGHSt 37, 55 [64], wo die Frage offengelassen wurde, ob bei der Abwägung zwischen Kunstfreiheit und Jugendschutz auch der künstlerische Rang des Kunstwerks eine Rolle spielen darf. 131 Eine Privilegierung der qualitativen Kunst sehen die ARD-Richtlinien zur Sicherung des Jugendschutzes (unter 3.1.1 b) vor. Danach sind Ausnahmen von den für die jugendgefährdenden Sendungen geltenden Zeitbeschränkungen insbesondere dann gerechtfertigt, wenn "Sendungen einen herausragenden (...) künstlerischen Aspekt aufweisen". (Hervorhebung des Verfassers). Ebenso die Richtlinien für die Sendungen des ZDF (unter II 3.2 b). 132

1

Siehe oben im 1. Kapitel, A.

196

3.Kap. Die Konfliktschlichtung von Kunstfreiheit und Jugendschutz

von Schiller in den Index aufzunehmen und sie damit aus der Öffentlichkeit weitgehend zu entfernen? Ein qualitativer Kunstbegriff im Bereich des Jugendschutzrechts wurde aber schon oben 133 entschieden abgelehnt, weil er sich mit der - hier allein maßgeblichen - staatsabwehrenden Funktion der verfassungrechtlichen Kunstfreiheitsgarantie kaum verträgt. Will man konsequent bleiben und nicht gegen das Gebot der dogmatischen Folgerichtigkeit verstoßen, dann darf das künstlerische Niveau eines Werks auch nicht durch die Hintertür der Abwägung Berücksichtigung finden 134 . Die künstlerische Qualität muß folgerichtig auch auf der Ebene der Abwägung zwischen Kunstfreiheit und Jugendschutz ohne Bedeutung bleiben135. Die - trotz der Ablehnung des qualitativen Kunstbegriffs - Heranziehung des künstlerischen Niveaus als Abwägungskriterium im hier interessierenden Kollisionsfall wäre nur dann hinzunehmen, wenn es einen vernünftigen und sachlichen Grund für diese differenzierende Betrachtungsweise des Merkmals der Qualität gäbe. Staatliche Festsetzungen von Niveauanforderungen und verbindliche Wertungen über den künstlerischen Wert eines Kunstwerks bei der staatsabwehrenden Funktion der Kunstfreiheitsgarantie sind aber nicht weniger gefährlich, wenn sie nicht bei der Prüfung der Kunsteigenschaft, sondern auf der Abwägungsebene stattfinden. Auch in diesem Fall entsteht ein unzulässiges, dem Art. 5 Abs. 3 GG widersprechendes "Kunstrichteramt" 136. Als einzige Rechtfertigung für die unterschiedliche Behandlung des Gesichtspunkts des künstlerischen Niveaus (keine Beachtung bei der Frage, ob ein jugendgefährdendes Werk dem Schutzbereich des Art. 5 Abs. 3 GG zuzuordnen ist, einerseits - Maßgeblichkeit bei der Abwägung zwischen Kunstfreiheit und Jugendschutz andererseits) kann deshalb nur die Annahme in Betracht kommen, daß ein qualitatives Kunstwerk weniger gefährlich für die Jugend als ein niveauloses Kunstwerk sein könne 137 . Die These der angeb-

133

Dazu siehe oben im 2. Kapitel, AIII.

134 Daß es einen grundlegenden und unerträglichen Widerspruch bedeutet, auf der einen Seite die Heranziehung von qualitativen Maßstäben bei der Prüfung der Kunsteigenschaft abzulehnen und auf der anderen Seite die künstlerische Qualität doch als Abwägungskriterium zur Geltung zu bringen, betonen ferner v.Noorden, Die Freiheit der Kunst nach dem Grundgesetz (Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG) und die Strafbarkeit der Verbreitung unzüchtiger Darstellungen (§ 184 Abs. 1 Nr. 1 StGB), S. 128 Fn.l; Schroeder, FAZ v. 10.4.1991, S. 14; ders., Pornographie, Jugendschutz und Kunstfreiheit, S.56. 135

So auch von Kalm, DÖV 1994, 23 [26f].

136

Vgl. Heinz, in: Grenzen politischer Kunst, S. 44 [73 Fn. 135].

137 So insbesondere Meyer-Cording, JZ 1976, 737 [745] und zwar mit der folgenden Begründung: "Der vom Niveau und Stil getragene Gesamtcharakter des Kunstwerkes kann sehr wohl über einzelne

Β. Die Abwägung und die dafür maßgeblichen Maßstäbe

197

liehen "reinigenden" Wirkung der qualitativen Kunst, die ear nicht neu ist 1 3 8 und auch in anderen Zusammenhängen vertreten wurde , ist aber nur eine unbewiesene Behauptung. Der Jugendliche ist nicht weniger gefährdet, wenn er darüber aufgeklärt wird, daß das betreffende Werk von einem Meister der Kunst und nicht von einem unbedeutenden Schriftsteller der Trivialliteraturstammt140. Es läßt sich sogar mit guten Argumenten die gegenteilige Meinung vertreten, nach der die Jugendgefährdung durch Kunstwerke umso größer und nachhaltiger ist, je niveauvoller diese Werke sind 141 . Denn die zunehmende künstlerische Gestaltung der jugendgefährdenden Passagen eines Kunstwerks kann eine "Verschönerung" und Verharmlosung dieser Schilderungen zur Folge haben und ist deshalb eher dafür geeignet, die Jugendlichen zur Nachahmung zu verleiten. Darüber hinaus würde die Annahme der künstlerischen Qualität als Abwägungskriterium dem Zweck und Charakter des Jugendschutzrechts kraß widersprechen. Wollte man nämlich die Anwendung der gesetzlichen Bestimmungen zum Schutz der Jugend vom künstlerischen Niveau des Kunstwerks ab-

Gemeinheiten hinweghelfen und anstößige Einzelheiten überdecken. Einem Werk von hoher Wertstufe wird auch eine Veredelung, Vergeistigung oder Sublimierung von sexuellem usw. Geschehen gelingen können, so daß niedrige oder gemeine Gefühle zurücktreten". Die These der "reinigenden" Wirkung der niveauvollen Kunst ist am deutlichsten bei LG Hamburg, NJW 1963, S. 675f illustriert. Dort (aaO, S. 676) wird ausgeführt, daß die "ausgesprochen unsittlichen Stellen (...) durch die das Gesamtwerk auszeichnende besondere lyrische Ausdrucksfähigkeit des Dichters, die sich selbst an verschiedenen derartigen Stellen findet, sowie durch eine an düstere Rohheit grenzende, jedoch großartige Poesie, die mit einer stilistischen Kraft ohnegleichen gestaltet werden, derart in den Hintergrund gedrängt" würden, "daß die sittengefährdenden Vorgänge sowohl hinter der literarischen Bedeutung des Schriftwerks weit zurückgetreten, als auch durch die außerordnetliche Schwierigkeit in der Ausdeutbarkeit des Gesamtwerks weitgehend verdeckt bleiben und in ihrer Schärfe abgeschwächt werden". 138

Schon im Jahre 1904 hat das RG (RGSt 37, 315) die Auffassung vertreten, daß das künstlerische Niveau die Unzüchtigkeit verdränge und ein Kunstwerk in des Wortes höchster Bedeutung nicht unzüchtig sein könne. I-1Q

Vgl. z.B. Locher, Das Recht der bildenden Kunst, S. 45, in bezug auf den § 166 StGB (Beschimpfung von Bekenntnissen, Religionsgemeinschaften und Weltanschauungsvereinigungen): "Erfolgt die beanstandete Äußerung durch ein Kunstwerk, so kann dieses den dargestellten Inhalt veredeln, vergeistigen und für das Gefühl eines religiösen Menschen das Unlustgefühl zurückdrängen. Je stärker die Intensität des künstlerischen Wollens ist, desto sorgfältiger muß geprüft werden, ob eine "Beschimpfung", eine unerträgliche Störung des religiösen Friedens vorliegt". (Hervorhebung hier). 140

Vgl. Breunung/Nocke,

141

Vgl. Becker, MDR 1968, 881 [882].

in: Literatur vor dem Richter, S. 235 [252].

198

3. Kap. Die Konfliktschlichtung von Kunstfreiheit und Jugendschutz

hängig machen, dann würde man in Wirklichkeit mit den Mitteln des Polizeirechts Kunstforderung, nicht aber Gefahrenabwehr betreiben 142. Würden trotzdem Verwaltung und Judikative auf der Einbeziehung der Leistungshöhe eines Kunstwerks in die Abwägung zwischen Kunstfreiheit und Jugendschutz bestehen, um einer etwaigen - auch gegenüber Erwachsenen auswirkenden - Verbreitungsbeschränkung (u.U. Verbreitungsverbot) von "Meisterwerken" entgegenzuwirken, dann könnten die sich unter dem Gesichtspunkt des staatlichen "Kunstrichtertums" ergebenden Bedenken dadurch entschärft werden, daß der Anwendungsbereich eines solchen Abwägungskriteriums auf evidente Fälle beschränkt würde, bei denen das gehobene Niveau des Kunstwerks außer Zweifel steht. Eine weitere Abmilderung der Gefahren, die aus der Berücksichtigung der künstlerischen Qualität auf der Abwägungsebene resultieren würden, könnte dann erreicht werden, wenn der künstlerische Wert eines Werks nicht als einziges Abwägungskriterium herangezogen, sondern lediglich - neben einer Vielzahl von anderen Abwägungsgesichtspunkten - m/7beachtet würde. b) Das Ansehen des Kunstwerks beim Publikum und seine Wertschätzung in Kritik und Wissenschaft Die "Mutzenbacher"-Entscheidung des BVerfG stellt aber bei der Abwägung zwischen Kunstfreiheit und Jugendschutz nicht nur auf die Qualität des Kunstwerks ab. Sie führt auch einen anderen Abwägungsgesichtspunkt an: "Weiterhin kann für die Bestimmung des Gewichts, das der Kunstfreiheit bei der Abwägung mit den Belangen des Jugendschutzes beizumessen ist, auch dem Ansehen, das ein Werk beim Publikum genießt, indizielle Bedeutung zukommen"143. Zunächst ist es erstaunlich, wie wenige Fortschritte man in den letzten Jahrzehnten bei der Entwicklung von - die Kollision zwischen Kunstfreiheit und Jugendschutz schlichtenden - Kriterien gemacht hat. Trotz der intensiven Verarbeitung des Grundrechts der Kunstfreiheit durch die (verfassungsgerichtliche) Rechtsprechung und Grundrechtsdogmatik verwendet man immer dieselben kollisionslösenden Maßstäbe. Im Jahr 1971 hat das BVerwG die Anwendung des Kunstvorbehalts des GjS u.a. vom gesellschaftlichen Gewicht des Kunstwerks abhängig gemacht144. Und im Jahr 1990 soll nach dem

142

Vgl. Knies, Schranken der Kunstfreiheit als verfassungsrechtliches Problem, S. 274f.

143

BVerfGE 83, 130 [148]. Zustimmend Würkner, Das Bundesverfassungsgericht und die Freiheit der Kunst, S. 145. Vgl. ferner Meirowitz, Gewaltdarstellungen auf Videokassetten, S. 314. 144

BVerwGE 39, 197 [207].

Β. Die Abwägung und die dafür maßgeblichen Maßstäbe

199

BVerfG das gesellschaftliche Ansehen eines Kunstwerks (mit)bestimmen, ob die Kunstfreiheit den Vorrang vor den Interessen des Jugendschutzes genießt. Die Bedenken, die gegen diese frühere Rechtsprechung des BVerwG oben 145 geltend gemacht worden sind, greifen auch gegen das Kriterium des "Ansehens des Kunstwerks beim Publikum" in der gleichen Schärfe ein. Auf den ersten Blick scheint zwar die Berücksichtigung des gesellschaftlichen Ansehens des Kunstwerks gerechtfertigt zu sein, da dadurch "demokratische Elemente" 146 in die Konfliktschlichtung eingeführt werden. Solche demokratischen Elemente können aber für die Kunstfreiheit sehr gefährlich sein. Die Kunst ist nicht mehr frei, wenn die Beantwortung der Frage, ob ein Kunstwerk Freiheit genießen soll oder nicht, von seinem Ansehen beim Publikum abhängig gemacht wird. Dadurch werden gerade diejenigen Kunstwerke benachteiligt, die des grundrechtlichen Schutzes in besonderem Maße bedürfen. Denn die Gefahr einer staatlichen Unterdrückung besteht vor allem für die Kunstwerke, die kein - oder nur ein negatives - Echo in der Gesellschaft gefunden haben. Das hier angesprochene Abwägungskriterium des BVerfG gefährdet damit nicht nur den Pluralismus des Lebensbereichs "Kunst", sondern auch seine Bereicherung um neue Kunstrichtungen und -tendenzen, da neue Kunstformen oft auf gesellschaftliche Ablehnung stoßen. Wenn ferner das BVerfG das Ansehen eines Kunstwerks beim Publikum als Indiz für seine (künstlerische) Qualität heranzieht, dann irrt es. Welchen Verkaufserfolg ein Werk beim Publikum haben wird (nur daran kann sein gesellschaftliches Ansehen gemessen werden), hängt von vielen Faktoren ab, die oft nichts mit der Qualität zu tun haben. Die Richtigkeit dieser Feststellung erweist schon ein Blick auf den heutigen Medienmarkt, der durch eine Unzahl von durchaus erfolgreichen, gleichzeitig aber trivialsten pornographischen und brutalen Produkten dominiert ist. Man dürfte die Erwägung wagen, daß in der heutigen Gesellschaft der Erfolg eines Werks beim Publikum primär von der dafür betriebenen Werbung, nicht aber vom Niveau des Werks abhängig ist 1 4 7 . Das BVerfG hätte vielleicht diesen Abwägungsmaßstab gar nicht aufgestellt, wenn es seine Stichhaltigkeit aufgrund des von ihm selbst entschiedenen Falls des Romans "Josefine Mutzenbacher" geprüft hätte: die Qualität dieses Ro-

145

Siehe oben im 2. Kapitel, A III.

146

So die Bezeichnung des hier behandelten Maßstabs durch Schroeder, schutz und Kunstfreiheit, S. 56. 147

Pornographie, Jugend-

Der Erfolg eines Werks beim Publikum hängt des weiteren von einer Reihe anderer - von der künstlerischen Qualität losgelösten - Faktoren ab. So wird z.B. das Werk eines namhaften Künstlers in der Regel eine größere Resonanz in der Gesellschaft als das Werk eines jungen unbekannten Künstlers genießen, auch wenn das letztere künstlerisch niveauvoller ist.

200

3.Kap. Die Konfliktschlichtung von Kunstfreiheit und Jugendschutz

mans ist höchst fragwürdig 148, gleichzeitig ist er aber ein Bestseller und genießt ein weitreichendes Ansehen beim Publikum 149 . Abgesehen von den Bedenken gegen die inhaltliche Richtigkeit dieses Abwägungsgesichtspunkts setzt seine Anwendung voraus, daß das zu beurteilende Werk seit längerer Zeit veröffentlicht ist. Denn wie sonst kann sein "Ansehen beim Publikum" beurteilt werden? Dieses Kriterium kann folglich nicht in den Fällen herangezogen werden, bei denen eine Vorprüfung (z.B. § 6 JÖSchG) oder ein absolutes Verbreitungsverbot (z.B. §§ 131, 184 Abs. 3 StGB) vorgesehen ist und demzufolge die Abwägung zwischen Kunstfreiheit und Jugendschutz vor der Verbreitung des Kunstwerks erfolgen muß 150 . Bei der Abwägung zwischen Kunstfreiheit und Jugendschutz und insbesondere im Rahmen der Bestimmung des Gewichts der Kunstfreiheit sollte nach der "Mutzenbacher"-Entscheidung des BVerfG ein weiterer Faktor eine wesentliche Rolle spielen: "Echo und Wertschätzung, die es (seil: das Kunstwerk) in Kritik und Wissenschaft gefunden hat, können Anhaltspunkte für die Beurteilung ergeben, ob der Kunstfreiheit Vorrang einzuräumen ist" 1 5 1 . Das BVerfG bringt dadurch noch einmal qualitative Elemente zur Geltung. Die Schätzung des Werts des Kunstwerks durch Kritik und Wissenschaft soll danach (mit)bestimmen, ob das Grundrecht der Kunstfreiheit das Übergewicht gegenüber den Interessen des Jugendschutzes beansprucht. Abgesehen davon, daß der Wert eines Kunstwerks bei der Abwägung zwischen Kunstfreiheit und Jugendschutz ohne Bedeutung bleiben muß, bietet das Merkmal der "Wertschätzung in Kritik und Wissenschaft" kein brauchbares Kriterium an und leistet keine wirklich taugliche Hilfestellung für die Gewichtung der Kunstfreiheit. Denn die Äußerungen der Kunstkritiker und Wissenschaftler über den Wert eines Kunstwerks werden in aller Regel miteinander nicht übereinstimmen. Man denke nur an die literaturkritischen Spalten der Zeitungen und Zeitschriften, wo die unterschiedlichsten und diametral entgegengesetzten Meinungen über dasselbe Kunstwerk vertreten werden 152 1 5 3 .

148

Vgl. nur etwa Schefold, in: Literatur vor dem Richter, S. 93 [108], der die "Josefine Mutzenbacher" als "eine Aneinanderreihung trivialer Sexualgeschichten" qualifiziert. 149

Vgl. Kerscher, SZ v. 16./17.3.1991. S. 11.

150

Vgl. Schroeder, Pornographie, Jugendschutz und Kunstfreiheit, S. 56. 151

BVerfGE 83, 130 [148]. Zustimmend Würkner, Das Bundesverfassungsgericht und die Freiheit der Kunst, S. 145f. Vgl. femer Kuner, AfP 1991, 384 [386] und Meirowitz, Gewaltdarstellungen auf Videokassetten, S. 314. 152 Vgl. Knies, Schranken der Kunstfreiheit als verfassungsrechtliches Problem, S. 165f. Wie wenig behilflich der Verweis des BVerfG auf die Kunstkritik und Wissenschaft ist, erweisen mit besonderer

Β. Die Abwägung und die dafür maßgeblichen Maßstäbe

201

Daß Verwaltung und Gerichte bei ihren Entscheidungen nicht - oder zumindest nicht ohne weiteres - auf der Beurteilung des Kunstwerks durch Kritik und Wissenschaft basieren können, erweist schon die "Mutzenbacher"Entscheidung des BVerfG selbst: während der Wissenschaftler, der als Gutachter von der Bundesprüfstelle herangezogen wurde, dem Roman "Josefine Mutzenbacher" jeglichen künstlerischen Anspruch abgesprochen hat 1 5 4 , wich das BVerfG 155 davon ab und erkannte demgegenüber in demselben Roman "Elemente schöpferischer Gestaltung", "milieubezogene Schilderung", "parodistische Elemente" und "künstlerische Absicht". 3. Die maßgeblichen Abwägungsmaßstäbe im einzelnen a) Das Gewicht des Jugendschutzes Daß die Entscheidung darüber, welcher der widerstreitenden Belange (Kunstfreiheit-Jugendschutz) im Einzelfall den Vorrang hat, vom Gewicht des Rechtsguts "Jugendschutz" ausschlaggebend abhängig ist, dürfte selbstverständlich und unbestritten sein 156 . Der pauschale Hinweis auf das Gewicht des Jugendschutzes ist aber nichtssagend und für die Beleuchtung unserer Fragestellung kaum behilflich. Denn der Wichtigkeitsgrad des Jugendschutzes (wie aller Rechtsgüter im allgemeinen) kann nicht monolithisch und einmal für alle Fälle erfaßt werden. Vielmehr variiert und schwankt er, je nach der individuellen Gestalt der jeweiligen Konfliktkonstellation und den besonderen Umständen des Einzelfalls 157. Es taucht folglich die Frage auf, nach welchen

Deutlichkeit auch die gegenteiligen Gutachten, die im Rahmen der Spruchpraxis der Bundesprüfstelle abgegeben werden. Hier sei beispielhaft der Fall des Herny Miller-Romans "Opus Pistorum" erwähnt. Während der Gutachter der Bundesprüfstelle Prof. Dr. Bernhard Gajek zum Ergebnis kam, daß dieser Roman keine Kunst, sondern Pornographie sei, beurteilte der Gutachter des betreffenden Buchverlags Prof. Peter Gorsen dasselbe Werk als Kunst und sprach ihm die pornographische Eigenschaft ab. Vgl. dazu BPS, Entsch. Nr. 3815 v. 3.3.1988, BPS-Report 2/1988, 1 [4]. 153 Ebenso kritisch zu diesem Abwägungsgesichtspunkt Schroeder, FAZ v. 10.4.1991, S. 14: "Die Sachverständigen aus Germanistik, Literaturwissenschaft (...) erhalten einen willkommenen Aufgabenzuwachs. Dabei ist bekannt, daß sich auf diesem Gebiet bei der Wertung (...) immer Sachverständige für beide möglichen Auffassungen finden". 154

Vgl. das Ergebnis des Gutachtens von Prof. Dr. Mainusch bei BVerwG, BPS-Report 2/1987, 1.

155

BVerfGE 83, 130 [138].

156

Das Gewicht des eingriffslegitimierenden Interesses wurde von der bundesverfassungsgerichtlichen Rechtsprechung oft als Abwägungsgesichtspunkt herangezogen. Vgl. etwa BVerfGE 7, 377 [404fJ; 17, 306 [314]; 20, 150 [159]; 20, 162 [213]; 30, 292 [323f]; 37, 1 [22ff]; 41, 251 [264]. 157

Siehe oben im 2. Kapitel, F III.

202

3.Kap. Die Konfliktschlichtung von Kunstfreiheit und Jugendschutz

Kriterien und Maßstäben das Gewicht des Jugendschutzes in jedem konkreten Fall erfaßt werden kann. Es muß von vornherein klargestellt werden, daß der Wichtigkeitsgrad des Jugendschutzes keine eindimensionale Größe ist. Die Frage, welches Gewicht man dem Jugendschutz im Einzelfall beizumessen hat, kann vielmehr nur unter Berücksichtigung einer Vielzahl von - miteinander freilich stark verbundenen - Faktoren beantwortet werden. aa) Die Schwere der Jugendgefährdung Das Gewicht des Jugendschutzes hängt zunächst davon ab, wie schwer die vom Kunstwerk ausgehende Jugendgefährdung ist 1 5 8 1 5 9 . Je größer diese Gefahrdung für die Jugend ist, desto mehr Gewicht beansprucht das Rechtsgut "Jugendschutz" und desto mehr nimmt sein Durchsetzungsanspruch gegenüber der Kunstfreiheit zu. Offensichtlich ist dabei die Notwendigkeit der Entwicklung von tragfahigen Maßstäben, aufgrund derer das Maß an Jugendgefährdung im Einzelfall gemessen werden kann. Stellt man bei der "sittlichen" Jugendgefahrdung auf das positive Recht ab 1 6 0 , dann ist der Rang der jeweils in Betracht kommenden Rechtsvorschriften für die Beurteilung der Schwere der Jugendgefährdung maßgeblich. Eine schwere Jugendgefährdung (im sittlichen Bereich) ist demnach bei denjenigen Kunstwerken anzunehmen, die die Jugend zu einem Verhalten verleiten können, das der sittlichen Wertentscheidung von Grundgesetzvorschriften widerspräche 161. Kann ein Kunstwerk Kinder und Jugendliche zu einer Haltung verleiten, die die Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG), die Rechte anderer (Art. 2 Abs. 1 GG), insbesondere die Rechte auf Leben, körperliche Unversehrtheit und persönliche Freiheit (Art. 2 Abs. 2 GG), die Gleichheit aller Menschen (Art. 3 Abs. 1 und 2) oder das Diskriminierungs158 Vgl. etwa BVerfGE 83, 130 [147]; BGHSt 37, 55 [65]; BPS, Entsch. Nr. 4252 v. 8.1.1992, JMS-Report 5/1992, 5 [7]; von Kalm, DÖV 1994, 23 [26f]; Meirowitz, Gewaltdarstellungen auf Videokassetten, S. 314; Sehreyer, Pluralistische Entscheidungsgremien im Bereich sozialer und kultureller Staatsaufgaben, S. 58.

159

Die Intensität der Beeinträchtigung entgegenstehender Rechtspositionen durch eine Grundrechtsausübung wurde von der Judikatur des BVerfG auch bei anderen Kollisionen als Abwägungsmaßstab herangezogen. Vgl. etwa BVerfGE 7, 198 [221]; 35, 202 [226]; 46, 17 [27f]; 67, 213 [228]; 75, 369 [380]; BVerfG, NJW 1994, 1779 [1781]. 160 161

Siehe oben im 1. Kapitel, Β II.

Siehe dazu (insbesondere zur Frage, welche Werke in einzelnen darunter fallen) oben im 1. Kapitel, Β II.

Β. Die Abwägung und die dafür maßgeblichen Maßstäbe

203

verbot (Art. 3 Abs. 3 GG) mißachten würde, dann liegt eine schwerwiegende Jugendgefährdung vor. Dasselbe gilt des weiteren, wenn ein Kunstwerk die Bedeutung und die Wichtigkeit der Ehe und Familie (Art. 6 Abs. 1 GG) in der Vorstellungswelt der Jugend untergraben kann oder wenn dieses Werk geeignet ist, die Jugendlichen zu einem das fremde Eigentum (Art. 14 GG) verachtenden Verhalten zu verführen. Eine schwere sittliche Jugendgefährdung liegt ferner vor, wenn die Aussage eines Kunstwerks mit den Wertentscheidungen der "freiheitlichen demokratischen Grundordnung" (Art. 10 Abs. 2; 11 Abs. 2; 18; 21 Abs. 2; 87 a Abs. 4; 91 Abs. 1 GG) oder des friedlichen Zusammenlebens der Völker (Art. 26 Abs. 1 GG) unvereinbar ist. Die Annahme einer schweren Jugendgefährdung in diesen Fällen ist auch sachlich gerechtfertigt. Denn hier werden Normen berührt, die unabdingbare Voraussetzung jedes menschlichen Zusammenlebens sind. Fälle von schwerer Jugendgefährdung hat ferner der einfache Gesetzgeber festgelegt, indem er bestimmte Arten von Werken (rassistische, gewaltverherrlichende, pornographische Schriften und Sendungen (§§ 6 Nr. 1,2 GjS, 3 Abs. 1 Nr. 1,3 RfStV) und kriegsverherrlichende Sendungen (§ 3 Abs. 1 Nr. 2 RfStV)) als "offensichtlich schwer jugendgefährdend" eingestuft hat 1 6 2 . Die Bestimmung der Schwere der Jugendgefährdung ist hier vom Gesetzgeber selbst vorgenommen worden und diese gesetzgeberische Entscheidung muß auch auf der Abwägungsebene respektiert und konsequent durchgehalten werden. In allen diesen Fällen, wo die Jugendgefährdung als schwer zu bewerten ist 1 6 3 , werden die Belange des Jugendschutzes in der Regel 164 den Vorrang vor der Kunstfreiheit genießen. Denn schwerwiegende Beeinträchtigungen

162 Die Qualifizierung dieser Art von Werken als "offensichtlich schwer jugendgefährdend" findet sich zwar nur im GjS und RfStV. Dieser gesetzgeberischen Wertung kommt aber eine allgemeinere Bedeutung zu und sie sollte deshalb auch bei Abwägungen zwischen Kunstfreiheit und Jugendschutz beachtet werden, die im Rahmen anderer Jugendschutzgesetze (z.B. des JÖSchG) stattfinden. 163 Weitere Fälle von schwerer Jugendgefahrdung findet man bei Laufhütte, JZ 1974, 46 [51]; Meirowitz, Gewaltdarstellungen auf Videokassetten, S. 266f; Siefen, in: Literatur vor dem Richter, S.123 [135]. 164 Ein Vorrang der Kunstfreiheit trotz des Vorliegens einer schwerwiegenden Jugendgefährdung kommt ausnalimsweise dann in Betracht, wenn alle anderen Abwägungsgesichtspunkte - oder die Mehrheit von ihnen - für das Übergewicht der Belange der Kunst sprechen. Das ist z.B. dann der Fall, wenn die folgenden Umstände kumulativ vorgegeben sind: kleine Zahl von gefährdeten Jugendlichen; geringer Tauglichkeitsgrad der Jugendschutzmaßnahme; erhebliche Beeinträchtigung der Kunstfreiheit; künstlerische Notwendigkeit der jugendgefährdenden Schilderungen; Vorliegen anderer - die Kunstfreiheit verstärkender - Interessen.

204

3.Kap. Die Konfliktschlichtung von Kunstfreiheit und Jugendschutz

von Verfassungsrechtsgütern - und der Jugendschutz ist ein solches Rechtsgut - können nur in Ausnahmefällen 165 durch die Kunstfreiheit gerechtfertigt werden. Insbesondere bei Kunstwerken, die Kinder und Jugendliche zu einer die Menschenwürde mißachtenden Haltung führen können (dazu zählen vor allem rassistische und gewaltverherrlichende Kunstwerke (§§ 131 StGB, 6 Nr. 1 GjS, 3 Abs. 1 Nr. 1 RfStV) oder Kunstwerke, die als "harte" Pornographie (§184 Abs. 3 StGB) zu bewerten sind), kann man sogar von einem absoluten Vorrang des Jugendschutzes sprechen166. Denn in diesen Fällen ist eine besondere Sachnähe des Jugendschutzes zur in Art. 1 Abs. 1 GG gewährleisteten Menschenwürde festzustellen. Das Rechtsgut "Jugendschutz" enthält hier den Wert der Menschenwürde fast vollständig. Angesichts der herausgehobenen Stellung der Menschenwürde im Grundgesetz und ihres Vorrangs (auch) vor der Kunstfreiheit 167 muß angenommen werden, daß der Jugendschutz bei diesen Arten von Kunstwerken das absolute Übergewicht gegenüber den Interessen der Kunstfreiheit genießt168 1 6 9

165 Vgl. aber BVerfGE 67, 213 [228], wonach bei schwerwiegenden Beeinträchtigungen des Persönlichkeitsrechts die Kunstfreiheit ohne weiteres zurückzutreten hat. Warum eine solche Annahme, insbesondere bei einer Kollision zwischen Kunstfreiheit und Jugendschutz, unzulässig ist, siehe oben in diesem Kapitel, Β I. 166 Als einzige Ausnahme vom absoluten Vorrang des Jugendschutzes bei diesen Arten von Kunstwerken könnten allerdings diejenigen Fälle in Betracht kommen, bei denen das im Kunstwerk behandelte Thema die Eingliederung solcher jugendgefährdenden Passagen unumgänglich macht. Siehe dazu unten in diesem Kapitel, Β II 3 c, bb. 167

Siehe oben im 2. Kapitel, F III.

168

Zustimmung verdient deshalb die neuere Spruchpraxis der Bundesprüfstelle (BPS, Entsch. Nr. 4252 v. 8.1.1992, JMS-Report 5/1992, 5 [7]). nach der die Abwägung zwischen Kunstfreiheit und Jugendschutz bei einer die Tatbestandsvoraussetzungen des § 131 StGB erfüllenden Schrift zugunsten des Jugendschutzes zu entscheiden ist. Vgl. ferner LG Darmstadt, BPS-Report 2/1986, 28, wonach die Kunstfreiheit im Fall der harten Pornographie i.S.d. § 184 Abs. 3 StGB zurückzutreten hat. So auch LG Frankfurt, BPS-Report 5/1988, 45 [47] für den Fall des § 131 StGB. Gelegentlich wird aber auch die Meinung vertreten, daß der Jugendschutz bei diesen Arten von Kunstwerken keinen absoluten Vorrang genießt. So hat z.B. das LG Lübeck, BPS-Report 6/1986, 22 [23], der Kunstfreiheit das Übergewicht gegenüber dem Jugendschutz eingeräumt, obwohl das betreffende Kunstwerk als harte Pornographie qualifiziert wurde. Vgl. femer Borgmann, JuS 1992, 916 [918], der bei harter Pornographie dem Jugendschutz lediglich häufig den Vorrang anerkennen will. Als unhaltbar erweist sich jedenfalls die These von Meirowitz, Gewaltdarstellungen auf Videokassetten, S. 391, nach dem die Kunstfreiheit sogar in der Regel das Übergewicht gegenüber dem Gewaltdarstellungsverbot des § 131 StGB genießen werde. 169 Umgekehrt liegt ein absoluter Vorrang der Kunstfreiheit dann vor, wenn die vom Kunstwerk ausgehende Jugendgefährdung nur geringfügig ist. Das ergibt sich nicht zuletzt aus der Rechtsprechung des BVerfG (BVerfGE 67, 213 [228]), nach der - durch Kunstwerke bewirkte - geringfügige Beeinträchtigungen anderer Rechtsgüter (dort: des Persönlichkeitsrechts) angesichts der hohen

Β. Die Abwägung und die dafür maßgeblichen Maßstbe

205

Für die Beurteilung des Maßes an Jugendgefährdung, die ein Kunstwerk ausüben kann, kommt eine Vielzahl von weiteren Gesichtspunkten in Betracht. Soweit das Kunstwerk die Jugend zu einem Verhalten verleiten kann, das von einer - kriminelles Unrecht pönalisierenden - StrafVorschrift verboten wird 1 7 0 , kann der Höhe der dort vorgesehenen Strafe indizielle Bedeutung für die Bestimmung der Schwere der Jugendgefährdung zukommen171. Danach ist z.B. ein Kunstwerk, das Jugendliche zu einer Straftat der Verführung (§182 StGB) verleiten kann, in geringerem Maß jugendgefährdend als ein Kunstwerk, das Minderjährige zur Begehung einer Vergewaltigung (§ 177 StGB) fuhren könnte, weil im zweiten Fall die angedrohte Strafe und der darin zum Ausdruck kommende Unwertgrad der Strafhandlung höher sind. Man sollte aber mit der Handhabung dieses Kriteriums sehr vorsichtig sein, weil die Höhe der Strafe nicht immer dem Gewicht des durch die Strafvorschrift geschützten Rechtsguts und dem Unwertgehalt der Straftat entspricht. Auch andere Faktoren, wie z.B. das Bestreben des Gesetzgebers, einer aktuellen kriminellen Welle entgegenzuwirken, können eine Rolle bei der gesetzgeberischen Entscheidung spielen, mit welcher Strafe ein Verstoß gegen eine Strafvorschrift geahndet werden sollte. Der zeitliche Wandel der Anschauungen, der bei der Bestimmung dessen, was jugendgefährdend ist, beachtet werden soll, ist ebenso maßgeblich für die Beurteilung der Schwere der Jugendgefährdung. Insbesondere zu berücksichtigen ist eine - in den letzten Jahrzehnten stattgefundene - "sich wandelnde Akzeptanz erotischer Darstellungen, die als sozialpsychologisches Phänomen als Folge medienbedingter Reizüberflutung und einer sich ganz allgemein ausbreitenden Sexographie zu verzeichnen ist" 1 7 2 . Wenn deshalb die vom Kunstwerk ausgehende Jugendgefährdung im sexuellen Bereich liegt und nicht eine bestimmte Grenze überschreitet, insbesondere wenn das Kunstwerk

Bedeutung der Kunstfreiheit nicht zur Einschränkung des Art. 5 Abs. 3 GG ausreichen. Das gilt insbesondere dann, wenn die einschlägigen Jugendschutzbestimmungen (wie z.B. die §§ 3-5 GjS) die Verbreitung jugendgefährdender Werke auch an Erwachsene in erheblichem Maße einschränken. Denn der Schutz der Jugend vor Bagatellgefahren darf nicht mit weitgehenden Beschränkungen von Grundrechten erkauft werden. Die "Kann"-Vorschrift des § 2 GjS, nach der in Fällen von geringer Bedeutung von der Indizierung der Schrift abgesehen werden kann, wandelt sich demnach im Fall von jugendgefährdenden Kunstwerken in eine "Muß"-Vorschrift. 170

Siehe oben 1. Kapitel, Β II.

171

Die Höhe der durch eine StrafVorschrift angedrohten Strafe könnte außerdem als Maßstab bei anderen Abwägungen herangezogen werden, wo strafrechtlich bewehrte Rechtsgüter gegeneinander abgewogen werden müssen. So Hubmann, AcP 1955 [1956], S. 85 [102]; Zippelius, Juristische Methodenlehre, S. 54f. Skeptisch dazu Struck, in: FS für Esser, S. 171 [172]. 172

BGHSt 37, 55 [65]. Siehe ferner oben im 1. Kapitel, Β I 2

206

3.Kap. Die Konfliktschlichtung von Kunstfreiheit und Jugendschutz

nicht als Pornographie zu bezeichnen ist, dann kann die Jugendgefahrdung nicht als schwer qualifiziert werden. Ein ähnlicher - jedoch in die andere Richtung gehender - tiefgreifender Wandel der Anschauungen hat in Bezug auf diejenigen Werke stattgefunden, die ausschließlich oder überwiegend aus Gewaltdarstellungen bestehen173. Nach diesem grundlegenden, auf die achtziger Jahre zurückzuführenden Wandel, ist die Schädlichkeit solcher Werke (sowohl für die Jugend als auch für die Gesellschaft im allgemeinen) besonders gravierend, was auch bei der Abwägung zwischen Kunstfreiheit und Jugendschutz beachtet werden muß. Das gilt insbesondere dann, wenn das betreffende Kunstwerk praktisch nur aus einer Aneinanderreihung von Gewaltdarstellungen in ununterbrochener Abfolge besteht. Die Schwere der Jugendgefährdung hängt ferner von der Kunstgattung ab, zu der das zu beurteilende Werk gehört 174 . Das Maß an Jugendgefährdung kann bei gleichem Inhalt geringer oder größer sein, je nachdem, ob das Kunstwerk ein Roman, ein Foto oder ein Film ist. Filme zeichnen sich u.a. dadurch aus, daß sie wegen der bewirkten Wirklichkeitsillusion und der Verbindung von optischen und akustischen Elementen einen intensiveren Eindruck als literarische Werke oder Fotos verursachen können 175 (Fotos sind ihrerseits

173

Siehe oben im 1. Kapitel, Β I 2.

174

Die Notwendigkeit der Differenzierung je nach Kunstgattung hat schon das "Opus Pistorum"Urteil des BGH (BGHSt 37, 55 [65]) gezeigt: "Auf der anderen Seite kann von Bedeutung sein, welches Maß an Jugendgeföhrdung von einem literarischen Werk (im Unterschied zu Videoprodukten ...) ausgeht". Vgl. femer Kurier, AfP 1991, 384 [386] und Maiwald, JZ 1990, 1141 [1142]. Die unterschiedliche Jugendgefährlichkeit der einzelnen Kunstgattungen hat auch eine Rolle bei der Ausgestaltung des Jugendschutzrechts gespielt. Die im Vergleich zu Filmen geringere (Jugend)gefährlichkeit der Theaterauffilhrungen (vgl. OVG Koblenz, DVB1 1966, 576 [581] und Kalb, Der Jugendschutz bei Film und Femsehen, S. 45f) hat dazu geführt, daß im JÖSchG keine Vorprüfung für Theateraufführungen vorgesehen ist. (Kritisch dazu Gernert/Stoffers, Kommentar zum JÖSchG, S. 102). 175

So auch Kalb, Der Jugendschutz bei Film und Femsehen, S. 45f: "Die spezifische Eigenart des Films ist seine Suggestionskfrafl. Er ist sichtbare Bewegung und deshalb einprägsamer als jede statische Bildaussage. Er schafft Wirklichkeitsillusion, während das Theater stilisieren muß und die Literatur nur beschreiben kann. Selbst bei historischen und zeitlosen Stoffen zeigt er unmittelbare Gegenwart, während die Epik nur Vergangenes erzählt. Der Film ist "Gesamtkunstwerk", da er Auge und Ohr zugleich beschäftigt ( ). Das Miterleben mit den Filmgestalten kann zu einer völligen Identifizierung fuhren. Schon hieraus erhellt, daß der Film, auch der künstlerische Film, eher als Schriften und Abbildungen zur Gefährdungen führen kann". (Hervorhebungen von Kalb). Die besondere Suggestionskraft und Gefährlichkeit des Films betonen femer OVG Koblenz, DVB1 1966, 576 [5$ l]; Meirowitz, Gewaltdarstellungen auf Videokassetten, S. 244; Friedrich Müller, Freiheit der Kunst als Problem der Grundrechtsdogmatik, S. 121 \Raue, Literarischer Jugendschutz, S. 29. Vgl. aber auch Schroeder, Pornographie, Jugendschutz und Kunstfreiheit, S. 58: "Im übrigen erscheint es keineswegs als ausgemacht, daß Videofilme die stärkste jugendgefährdende Wirkung haben. Die Wirkungsforschung berichtet von Jugendlichen, die Hörspielkassetten bevorzugten, da sie

Β. Die Abwägung und die dafür maßgeblichen Maßstäbe

207

wegen der sehr starken Intensität des optischen Eindrucks 176 gefährlicher für die Jugend als literarische Kunstwerke). Die größere Jugendgefahrlichkeit der Filme ist auch auf die Tatsache zurückzuführen, daß die bei ihnen stattfindende schnelle Aneinanderreihung von Szenen eine kritische Auseinandersetzung mit ihrem Inhalt und das Einfließen von eigenen Vorstellungen der Zuschauer in besonderem Maße erschwert 177. Diese Differenzierung je nach Kunstgattung und die Benachteiligung der Filme bei der Abwägung mit den Interessen des Jugendschutzes verstößt nicht gegen den Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG 1 7 8 . Denn es handelt sich hier um eine sachlich gerechtfertigte, durch die unterschiedliche Wirkung der verschiedenen Kunstgattungen bedingte Differenzierung. Aber auch innerhalb derselben Kunstgattung muß weiter differenziert werden. So kann z.B. das Maß der von einem Film ausgehenden Jugendgefährdung unterschiedlich sein, je nachdem, ob der Film durch das Medium Kino, Videokassette oder Fernsehen verbreitet wird. Kinofilme können - wegen der Größe der Leinwand und der erheblichen Lautstärke - nachhaltigere Auswirkungen entfalten als Videofilme oder Filme, die im Fernsehen gesendet werden. Bei Filmen, die im Fernsehen ausgestrahlt werden, sollte andererseits der - die Jugendgefährdung verstärkende - Umstand beachtet werden, daß der Zuschauer dem Fernsehen weniger kritisch als anderen Massenmedien gegenübersteht 179. Es sollte ferner zwischen den verschiedenen Arten der Filme unterschieden werden. Ein Dokumentarspiel kann z.B. wegen der Verbindung von Information und spannender Unterhaltung und der wirklichkeitsgetreuen Darstellung 1 8 0 ein intensiveres Nacherleben des dargestellten Geschehens und eine größere Wirklichkeitsillusion als andere Arten von Filmen verursachen.

sich dabei "alles so schön ausmalen könnten". Damit erscheint auch der literarische Text im Gegensatz zu manchen in der Öffentlichkeit vorgetragenen Fordeningen keineswegs a priori als ungefährlich." 176

Vgl. BVerfGE 35, 202 [227].

177

Den weitgehenden Ausschluß des Verarbeitungsfaktors und der Möglichkeit einer kritischen Aufnahme bei Filmen unterstreichen auch Ostendorf, in: Literatur vor dem Richter, S. 271 [274] und Ropertz, Die Freiheit der Kunst nach dem Grundgesetz, S. 117. 178

Dazu, daß solche sachlich einleuchtenden Differenzierungen nicht gegen den allgemeinen Gleichheitssatz verstoßen, vgl. nur etwa BVerfGE 1, 14 [52]; 65, 141 [148]; 74, 182 [200]; 76, 256 [329]. 179

Vgl. dazu BVerfGE 35, 202 [227].

180

Vgl. BVerfGE 35, 202 [228f|.

208

3.Kap. Die Konfliktschlichtung von Kunstfreiheit und Jugendschutz

bb) Der Kreis der betroffenen Jugendlichen Das Gewicht, das der Jugendschutz bei der Abwägung mit der Kunstfreiheit beansprucht, variiert ferner, je nachdem, wie groß der Kreis der Kinder und Jugendlichen ist, die vom Kunstwerk gefährdet werden können 181 . Der Einwand, den man dagegen erheben könnte, ist leicht zu erraten: haben zehn Jugendliche nicht den gleichen Anspruch auf Schutz wie Tausende Jugendliche? Ist die Notwendigkeit des Schutzes der Jugend vor schädigenden Einflüssen etwas, das an Zahlen gemessen werden kann? Ist es nicht unzulässig, auf den Schutz eines Teils der Jugend, egal wie klein er ist, völlig zu verzichten? Solche Fragen ließen sich freilich häufen. Sie übersehen aber, daß es hier nicht lediglich um den Schutz der Jugend geht. Es geht vielmehr um den Schutz der Jugend auf Kosten eines anderen Rechtsguts, eines besonders bedeutsamen Grundrechts. Zum Schutz einer geringen Zahl von Jugendlichen darf aber nicht ohne weiteres ein für die Allgemeinheit fundamentales Grundrecht, wie die Kunstfreiheit 182, aufgeopfert werden. Je kleiner der Kreis der betroffenen Jugendlichen ist, desto mehr verringert sich die Legitimation des mit dem Jugendschutz unauflöslich verbundenen183 - Eingriffs in die Rechte anderer und desto mehr treten die Instrumentarien der Jugendhilfe und -pflege in den Vordergrund. Das gilt insbesondere dann, wenn die in Betracht kommende Jugendschutzmaßnahme nicht nur die Verbreitung eines Kunstwerks an Jugendliche verbietet, sondern darüber hinaus die Verbreitung des Kunstwerks an Erwachsene einschränkt oder sogar ausschließt. Es wäre in der Tat kaum angängig, ein Kunstwerk von der Öffentlichkeit völlig oder weitgehend fernzuhalten, nur weil eine sehr geringe Zahl von Jugendlichen dadurch möglicherweise gefährdet werden könnte. Es muß auch beachtet werden, daß durch dieses Abwägungskriterium der Schutz kleiner Teile von Jugendlichen nicht preisgegeben wird. Denn es handelt sich hier um einen Abwägungsgesichtspunkt, der - neben einer Vielzahl von anderen Maßstäben -/«//berücksichtigt werden muß. Es kann wohl Kollisionsfälle geben, bei denen der Kreis der betroffenen Jugendlichen nur

181

Vgl. Gern, DÖV 1986, 462 [467], der das Ergebnis einer Abwägung u.a. davon abhängig macht, die Interessen wievieler Personen in jedem Fall betroffen werden. So auch Schwabe, Probleme der Grundrechtsdogmatik. S. 320 und Zippelius, Juristische Methodenlehre, S. 55. 182

Vgl. statt aller das Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte vom 24.5.1988, EuGRZ 1988, 543 [545] ("Müller u.a."-Fall): "Wer Kunstwerke schafft, interpretiert, verbreitet oder ausstellt, trägt zum Austausch der Ideen und Meinungen bei, der fur eine demokratische Gesellschaft wesentlich ist". IDI

Siehe dazu oben im 1. Kapitel, Β I 1.

Β. Die Abwägung und die dafür maßgeblichen Maßstäbe

209

sehr klein ist und trotzdem das Abwägungsergebnis zugunsten der Interessen des Jugendschutzes ausfallen wird 1 8 4 . Wie groß der Kreis der betroffenen Jugendlichen ist, hängt zunächst davon ab, ob das Kunstwerk nur den gefährdungsgeneigten, labilen Jugendlichen gefährdet oder ob es darüber hinaus auch den durchschnittlichen Jugendlichen schädigen kann. Entscheidend ist auch, welche Altersgruppen von Jugendlichen vom Kunstwerk gefährdet werden können 185 . Beeinträchtigt ein Kunstwerk nur die untersten Altersgruppen, dann verringert sich der Kreis der betroffenen Jugendlichen und damit das dem Jugendschutz bei der Abwägung mit der Kunstfreiheit beizumessende Gewicht. Ausschlaggebend ist ferner die Zahl der Jugendlichen, die vom jugendgefährdenden Kunstwerk Kenntnis nehmen werden. Die Zahl der Jugendlichen, die dieses Kunstwerk rezipieren werden, hängt selbst wiederum von einer Reihe von Faktoren ab. Von entscheidender Bedeutung ist hierbei das Medium, durch das das Kunstwerk verbreitet wird. Die größte Zahl von jugendlichen Adressaten (wie auch von Adressaten im allgemeinen) werden in der Regel diejenigen Kunstwerke (z.B. Filme oder Theaterstücke) genießen, die im Fernsehen ausgestrahlt werden. Denn Fernsehsendungen können von einem Millionenpublikum empfangen werden. Darüber hinaus konsumieren Jugendliche in erheblichem Maße Fernsehprogramme 186. Angesichts dessen wird das Abwägungsergebnis bei im Fernsehen ausgestrahlten Filmen und Theaterstücken häufiger zugunsten des Jugendschutzes ausfallen als etwa bei literarischen Kunstwerken 187.

184 Ein solcher Fall liegt z.B. dann vor, wenn die vom Kunstwerk ausgehende Jugendgefahrdung schwerwiegend ist und gleichzeitig die anzuwendende Jugendschutzmaßnahme nur eine geringfügige Beeinträchtigung der Kunstfreiheit herbeiführt.

185

Zu diesen Differenzierungen siehe oben im 1. Kapitel, Β III 1. 186

Hier sei beispielhaft die Folge "Gewalt im Spiel" der berühmten Serie "Schwarzwaldklinik" des ZDF genannt. Nach den Statistiken (zitiert nach Siefen, in: Literatur vor dem Richter, S. 123 [127]) waren 44% der 22,6 Mio. Zuschauer dieser Sendung Jugendliche im Alter von 6-13 Jahren. Die Resonanz der Fernsehprogramme bei Minderjährigen ist sogar von einer solchen Reichweite, daß nach den Äußerungen des Bundestagsabgeordnet en Konrad Weiß vor dem Deutschen Bundestag (abgedruckt in: JMS-Report 2/1993, 53) den durchschnittlich 11.000 Stunden Schulzeit im Leben eines Jugendlichen 15.000 Stunden Fernsehkonsum gegenüberstehen. Zum Fernsehkonsum von Kindern und Jugendlichen vgl. des weiteren Rainer Scholz/Joseph, Gewalt- und Sexdarstellungen im Fernsehen, S. 184f. 187

Vgl. Roxin (Diskussionsbeitrag), in: Grenzen der Kunstfreiheit, S. 43: "Aber freilich kann die Abwägung zwischen der Kunstfreiheit und einem anderen grundgesetzlich geschützten Gut zu unterschiedlichen Ergebnissen führen, je nachdem, ob etwas vor einem kleinen Zirkel von Kennern 1 Vlachopoulos

210

3.Kap. Die Konfliktschlichtung von Kunstfreiheit und Jugendschutz

Unter demselben Gesichtspunkt ist die Jugendgefährlichkeit von Kunstwerken (Filmen), die in Form einer Videokassette erscheinen, hoch einzustufen. Die Benutzung von Videokassetten ist nämlich unter Jugendlichen besonders stark verbreitet. Darüber hinaus sind Videokassetten wegen ihres geringen Mietpreises und der Vielzahl der vorhandenen Videotheken188 Kindern und Jugendlichen sehr leicht zugänglich189. Entscheidend ist ferner (soweit es um Druckerzeugnisse geht), ob das Kunstwerk in Form eines Buchs erscheint oder ob es vielmehr durch eine Broschüre, Zeitung oder Zeitschrift verbreitet wird. Denn Bücher leben länger als andere Druckerzeugnisse 190. Angesichts dessen werden viele Menschen, darunter auch Jugendliche, auf Dauer die Gelegenheit haben, das Buch zu konsumieren. Andererseits muß auch beachtet werden, daß die Auflage von Broschüren, Zeitungen und Zeitschriften in der Regel größer als die Auflage von Büchern ist 1 9 1 . Bei Zeitungen und Zeitschriften spielt des weiteren die Tatsache, eine Rolle, daß sie zumeist an jedem Kiosk zugänglich sind und ihr Preis verhältnismäßig gering ist. Sie können deshalb von Kindern und Jugendlichen leichter und zahlreicher als Bücher erworben werden 192. Bücher (z.B. Romane) sind außerdem in der Regel schwerer zu lesen als Zeitschriften und Zeitungen, die zumeist durch eine einfachere Sprache gekennzeichnet sind und deren Lektüre durch die dort enthaltenen Bilder aufgelockert wird. Sie sind demzufolge verlockender für die Jugendlichen als Bücher. Aber auch innerhalb desselben Mediums ist eine differenzierende Betrachtungsweise erforderlich. Die Zahl der Jugendlichen, die einen im Fernsehen ausgestrahlten Film sehen, hängt u.a. vom Sendetag und der Sendezeit und oder zur Hauptsendezeit vor einem Millionenpublikum verbreitet wird. Es ist klar, daß im zweiten Fall der Schutz des allgemeinen Persönlichkeitsrechts oder der Jugendschutz eher den Vorrang genießen muß". 188

Vgl. Schefold, ZPR 1984, 127.

189

Zum Gebrauch von Videofilmen seitens der Jugendlichen vgl. etwa Glogauer, BPS-Report 6/1985, Iff. Aber auch die - unter Jugendlichen - Breitenwirkung der Filme, die durch das Medium Kino verbreitet werden, ist dabei nicht zu unterschätzen. Vgl. BPS, Entsch. Nr. 2655 (V) v. 26.9.1986, BPS-Report 1/1987, 25 [27], wonach 600.000 Jugendliche zwischen 14 und 18 Jahren wöchentlich ins Kino gehen. 190 Vgl. OLG Frankfurt, NJW 1986, 1272 [1274], das u.a. aus diesem Grund angenommen hat, daß die Verbreitung einer die Bundesflagge verunglimpfenden Collage auf dem Einband eines Buchs wesentlich nachhaltiger als die Verbreitung durch Handzettel wirkt.

191

Vgl. hierzu Hojfmann-Riem in: AK zum GG, Art. 5 Abs. 1,2 Rn. 109, wo die Auflagenzahlen von Zeitungen und Zeitschriften für das Jahr 1984 zitiert werden: Tageszeitungen: 24,9 Mio., Wochenzeitungen: 1,9 Mio., Publikumszeitschriften: 94,5 Mio., Fachzeitschriften, 13,2 Mio. 192

Vgl. BVerwGE 39, 197 [202].

Β. Die Abwägung und die dafür maßgeblichen Maßstäbe

211

vom gleichzeitigen Programm der anderen Sender ab 1 9 3 . Bei Zeitungen, Zeitschriften, Bücher, Videokassetten und Schallplatten, durch die Kunstwerke verbreitet werden, sollte auf ihre Auflage und ihren Preis 194 abgestellt werden. Es macht z.B. bei der Abwägung zwischen Kunstfreiheit und Jugendschutz einen sehr großen Unterschied, ob es sich dabei um eine preiswerte (und deshalb auch Jugendlichen zugängliche), Millionen Exemplare verkaufende Publikumszeitschrift handelt, oder ob es vielmehr um eine teuere, an einen kleinen Kreis von Personen sich wendende Fachzeitschrift geht. In diesem Zusammenhang ist besonders zu berücksichtigen, daß es auch Zeitschriften gibt, die sich von ihrem Inhalt her fast ausschließlich an Minderjährige wenden und nur von ihnen aufgenommen werden (sog. Jugendzeitschriften 195). Wird durch sie ein jugendgefährdendes Kunstwerk (z.B. Roman oder Gedicht) verbreitet, dann ist die Möglichkeit eines für die Kunstfreiheit negativen Abwägungsergebnisses größer als wenn derselbe Roman oder dasselbe Gedicht in einer literarischen Zeitschrift enthalten wäre. Die Kunstgattung, zu der das jeweilige Werk gehört, darf auch nicht außer acht gelassen werden. Erotische, Kriegs-, Abenteuer- und Unterhaltungsfilme werden z.B. von einer größeren Anzahl von Jugendlichen rezipiert werden als Avantgardefilme, die sich wegen ihres Inhalts nur an einen beschränkten Kreis von Personen mit besonderen künstlerischen Interessen wenden. Der jugendliche Adressatenkreis wird ferner bei Kriminal- und Horrorfilmen in aller Regel größer als bei politischen Filmen sein. Darüber hinaus sind bestimmte Kunstgattungen, wie z.B. Popmusik und Comics, besonders beliebt unter Jugendlichen. Bei ihnen beansprucht der Jugendschutz demnach mehr Gewicht als etwa bei Romanen und Gedichten. In Betracht kommt des weiteren der Verbreitungsort. So sind pornographische Fotos, die in einer Kunstgalerie ausgestellt werden, anders zu beurteilen als solche Fotos, die etwa in einer U-Bahn-Station, in einem allgemein 193

Daß diese Faktoren eine Rolle bei der Einschaltquote von Fernsehsendungen spielen können, hat schon BVerfGE 35, 202 [227] betont. 194 Diese Gesichtspunkte haben BVerwG (vgl. etwa BVerwGE 23, 112 [122f]; 39, 214 [216]) und Bundesprüfstelle (vgl. etwa BPS, Entsch. Nr. 3317 v. 5.5.1983, BPS-Report 6/1983, 10 [11]; BPS, Entsch. Nr. 3662 v. 9.7.1987, BPS-Report 5/1987, 20 [25]; BPS, Entsch. Nr. 4252 v. 8.1.1992, JMSReport, 5/1992, 5 [7]) bei der Prüfung der Frage berücksichtigt, ob ein Fall von geringer Bedeutung i.S.d. § 2 GjS vorliegt. Vgl. ferner LG Lübeck, BPS-Report 6/1986, 22 [23], wo das Gericht den dort behaupteten Vorrang der Kunstfreiheit vor dem Jugendschutz u.a. mit dem sehr hohen, den Erwerb durch Jugendliche weitgehend ausschließenden Preis des betreffenden Buchs begründet hat.

IQ