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German Pages 206 Year 2017
Marcus Maeder (Hg.) Kunst, Wissenschaft, Natur
Edition Kulturwissenschaft | Band 119
Marcus Maeder (Hg.)
Kunst, Wissenschaft, Natur Zur Ästhetik und Epistemologie der künstlerisch-wissenschaftlichen Naturbeobachtung
Die Publikation dieses Buches wird durch das Institute for Computer Music and Sound Technology der Zürcher Hochschule der Künste ZHdK ermöglicht.
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Inhalt
Vorwort Andreas Rigling
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Einleitung Marcus Maeder
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Kunst, Wissenschaft und Natur. Zur Ästhetik und Epistemologie der künstlerischwissenschaftlichen Naturbeobachtung Marcus Maeder Der unsichtbare Faden. Zu Materialität und Infrastrukturen digitaler Tierbeobachtung Hannes Rickli
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Into the Forest. Über die gegenseitige epistemische Unterwanderung von Wissenschaft und Film 113 Jeanine Reutemann Kunst und Ökologie im Zeitalter der Technosphere Yvonne Volkart
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Abbildungsverzeichnis
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Autorinnen und Autoren
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Vorwort Andreas Rigling
Kunst und Wissenschaft – zwei Welten? Nein, eine Welt aber zwei Sichtweisen, zwei Interpretationen. Kunst und Wissenschaft haben gemeinsame Ursprünge, eine lange gemeinsame Geschichte mit gegenseitiger Befruchtung und gegenseitiger Inspiration. Ich war kürzlich im Südwesten der USA auf den Spuren der Anasazi-Indianer und konnte dort ihre faszinierenden Felsmalereien, die vielerorts anzutreffen sind, bestaunen – diese Malereien sind Wiedergaben und somit Interpretationen der damaligen Natur und Gesellschaft. Sie sind aus heutiger Sicht analytisch, informativ, von großem Wert für die Wissenschaft und ohne Zweifel künstlerisch höchst bemerkenswert. Doch wie war das damals, als die Malereien erschaffen wurden, was war die Motivation für diese Darstellungen? Das Medium war der Fels und die Malerei. Doch ging es um Analyse oder Ästhetik? Waren die Erschaffer Wissenschaftler oder Künstler? Das vorliegende Buch handelt nicht von den Anasazi, doch es geht um Kunst, Wissenschaft und die Beobachtung der Natur im heutigen Kontext. Es geht um die Berührungspunkte dazwischen, um Kommunikation und Medien. Heute ist ein zunehmendes gegenseitiges Interesse zwischen Kunst und Wissenschaft feststellbar, es wird von einer Aufhebung der Dualität von Kunst und Wissenschaft gesprochen, die getrieben ist durch den Fortschritt sowohl in den Messund Analysetechniken als auch dem Wandel in den Kommunikations- und Medientechnologien. Es entstehen neue Schnittstellen und mögliche gemeinsame Arbeitsgebiete und diese werden im vorliegenden Buch aus vier verschiedenen Blickwinkeln betrachtet und diskutiert. Ich verfolge das Wirken von Marcus Maeder an der Schnittstelle zwischen Wissenschaft und Kunst seit Jahren aus nächster Nähe. Er arbeitet wie ich an der Eidgenössischen Forschungsanstalt für Wald, Schnee und Landschaft, im Büro nebenan. Er ist Klangkünstler mit ästhetischem und technischem Know-how und seine Gegenüber sind Baumphysiologen, interessiert an neuen Methoden und Technologien, um brennende Fragen des Wassertransportes in Bäumen zu untersuchen und die Resultate wissenschaftlich und künstlerisch zu kommunizieren. Diese sehr interessante und produktive Schnittstelle zwischen Ökophysiologie, Klangkunst und Tontechnik profitiert von einer Synthese künst7
Andreas Rigling
lerisch-technischer und wissenschaftlicher Methoden, etwa im Einsatz neuer hochempfindlicher Mikrofone und Klangtechnologien in der Erforschung ökophysiologischer Prozesse. An dieser technisch-medialen Schnittstelle bestehen Gemeinsamkeiten, man versteht sich, es findet ein Austausch statt – es wird kommuniziert. Doch die Spannung und letztlich die Innovation entsteht weniger aus diesen Gemeinsamkeiten, als viel mehr aufgrund der Unterschiede in den Denkansätzen. Während die Wissenschaft den epistemischen Normen folgt um neues Wissen zu generieren, nutzt Maeder die Freiheit in der Produktion, der Interpretation und der Kommunikationsformen – dieses Zusammenwirken von Gemeinsamkeiten und Gegensätzen birgt Potential für Neues am Nexus Klangkunst – Ökophysiologie – Baum, oder allgemeiner: Kunst – Wissenschaften – Natur. Dieses Buch beinhaltet vier unterschiedliche Berichte zu den Schnittstellen zwischen Kunst, Wissenschaft und Natur. Vier Blickwinkel, vier Einschätzungen zum Potential von grenzüberschreitendem Arbeiten in der Kunst und der Wissenschaft – interessant für Neugierige, Kunstschaffende und Wissenschaftler. Andreas Rigling Waldökologe Direktionsmitglied Eidg. Forschungsanstalt für Wald, Schnee und Landschaft WSL Professor ETH Zürich
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Einleitung Marcus Maeder Wissenschaft und Kunst sind sich in den letzten Jahren nicht nur über Analogien im Gebrauch technologisch-medialer Werkzeuge, sondern nahezu paradigmatisch über ihre Welterzeugung anhand virtueller Modelle und technischer Systeme näher gekommen – über ihr konstruktives Moment in der Welterkenntnis und die ästhetischen Bedingungen ihrer Weltentwürfe. Eine medial (re-)konstruierte Wirklichkeit ist in der Kunst wie in der Wissenschaft sicherlich nichts Neues; sie als paradigmatisch für die zeitgenössischen Künste und Wissenschaften zu erklären, ergibt nur insofern Sinn, als dass sich durch die massive Verbreitung technisch-medialer Weltzugänge in den unterschiedlichsten gesellschaftlichen Domänen ein neuer Umgang mit dem Wissen über die Welt etabliert. Zwar forschen und diskutieren Wissenschaft und Kunst nach wie vor innerhalb ihrer historisch gewachsenen Bedeutungs- und Handlungsfelder. Diese beginnen sich bezüglich ihrer medialen Explorations- und Kommunikationsformen jedoch immer mehr zu überschneiden. Wenn wir medientechnisch erzeugte Modelle der Wissenschaft und technisch-mediale Kunstwerke betrachten, dann rückt der Umstand, dass jegliches Wissen über die Welt immer ein hergestelltes, modellhaftes ist, um so deutlicher in den Vordergrund. Paradigmatisch klingt in diesem Zusammenhang der zu Beginn der 1970er-Jahre von Gilles Deleuze und Félix Guattari formulierte Satz, dass das Reale nicht unmöglich sei, aber immer künstlicher werde.1 Der Wahrnehmung, der Interpretation und Wahrheit der Welt liegen gewisse ästhetische Parameter zugrunde: Die Frage nach dem Wie und dem Womit von Bedeutungsherstellung bringt die Künste und die Wissenschaften in eine neue Nähe zueinander. Darüber hinaus findet heute ein intensiver Transfer von experimentellem Know-how statt – von den Wissenschaften in die Künste und zurück. Oftmals ist dieser Transfer Künstlern oder Wissenschaftlern zu verdanken, die in beiden Bereichen tätig sind oder im Rahmen von transdisziplinär angelegten Forschungsprojekten zusammen arbeiten. Das zeigt an, dass der Kontext von Kunst und Wissenschaft und die Anforderungsprofile des Wissenschaftlers und des Künstlers sich verändern. 1
Vgl. Gilles Deleuze, Félix Guattari: Anti-Ödipus, Kapitalismus und Schizophrenie I, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1977, S. 45. 9
Marcus Maeder
Im vorliegenden Buch möchten wir untersuchen, inwiefern jüngere Positionen, Praktiken und Projekte im Überschneidungsbereich von Naturwissenschaft und Kunst Einfluss auf unsere Wahrnehmung und Erkenntnis der natürlichen Umwelt nehmen. In der künstlerischen Forschung an Kunsthochschulen, in jüngeren künstlerischen Disziplinen wie der Bio- oder Eco-Art suchen Künstler/innen und Wissenschaftler/innen nach neuen Beobachtungs- und Reflektionsformen der Natur. Bilder der Natur werden von den Wissenschaften und den Künsten (auch in ihren angewandten, die gestaltende Arbeit in elektronischen und digitalen Medien betreffenden Disziplinen) in Form von Beschreibungen, Abbildungen, Zeichen, Modellen – über die Herstellung von verbalen und nonverbalen Symbolbezügen und Wissenskonfigurationen – vermittelt. Und obwohl in der Wissenschaft wie in Bereichen der Künste der Anspruch an Normativität und Handlungsorientierung durchaus intakt ist, scheint die Möglichkeit der Einflussnahme auf Gesellschaft und Politik gering, was möglicherweise mit überkommenen Formen der Bedeutungsherstellung und der Kommunikation in wissenschaftlicher wie künstlerischer Praxis zu tun hat. In meinem eigenen Beitrag beschäftige ich mich deshalb mit der Frage, ob in Überschneidungsgebieten von Kunst und Wissenschaft – den Vermischungen von künstlerischer und wissenschaftlicher Praxis – neues ästhetisches, epistemologisches und damit gesellschaftliches Potential liegt und ob solche in jüngerer Zeit entstandene Überschneidungen in der Lage sind, die Verortungen, Zuschreibungen und Praktiken der Kunst und der Wissenschaft zu reflektieren und neue Wissenskontexte zu entwerfen. Über den Entwurf eines neuartigen Bedeutungsherstellungskontexts, des Künstlerisch-Wissenschaftlichen, möchte ich versuchen, Grenzziehungen zwischen künstlerischer und wissenschaftlicher Praxis anhand pragmatischer/pragmatistischer Ansätze in der Forschungstheorie und der Ästhetik aufzuheben. Erfahrung, Bedeutung und Erkenntnis beziehen sich in pragmatistischen Entwürfen (besonders bei John Dewey) darauf, wie und wo Zeichen und Symbole als Instrumente der Wahrnehmung und Erkenntnis der Welt zur Verwendung kommen und lebensrelevante Handlungsbezüge herstellen. Kunst und Wissenschaft involvieren sich auf je unterschiedliche Weise in Kommunikations- und Signifizierungsprozesse: Im Künstlerisch-Wissenschaftlichen mischen sich die Codes und es entstehen neue, möglicherweise differenziertere Weltversionen, Weltbezüge. Hannes Rickli begleitet und beobachtet als künstlerischer Forscher seit einigen Jahren naturwissenschaftliche Forschungsprozesse, er untersucht mediale Fragmente – visuelle und akustische «Abfallprodukte» aus naturwissenschaftlichen Experimenten – auf ihre epistemologischen und künstlerischen Potentiale. In seinem Beitrag zeichnet Rickli den Mediengebrauch in Labors der Verhaltensbiologie im Übergang von analogen zu digitalen Praktiken nach. Das von Rickli gesammelte filmische Dokumentationsmaterial zeigt Versuchsanordnungen, Interaktionen mit Versuchstieren und Medien – das experimentelle Handeln 10
Einleitung
von Forschenden. Solche medialen «Nebenprodukte», die meist nicht publiziert werden, machen Forschungspraktiken in ihrer quasi künstlerischen Performativität sichtbar und retrospektiv verhandelbar: Das experimentierende Forschen wird zur künstlerischen Handlung; die Produktion von Erkenntnis, von Wissen über die Natur wird durch ihre Inszenierung im öffentlichen und ästhetisch-reflexiven Kontext der Kunst aus der akademischen Abgeschiedenheit in ihre gesellschaftliche Verhandlung gebracht. Dabei trifft eine Reihe von Disziplinen in der Bearbeitung des Gegenstands aufeinander. Die Grenzen zwischen Kunst und Wissenschaft werden unscharf, es entsteht für alle Beteiligten die Möglichkeit einer neuen Perspektive auf das eigene Handeln, die ästhetische Beschaffenheit ihrer Artefakte und deren weiteren möglichen Bedeutungen. Jeanine Reutemann interessiert sich als Filmschaffende, Forschende und Dozentin im Bereich der universitären Wissensvermittlung für epistemische Wechselwirkungen zwischen Film und Wissenschaft und erläutert die von ihr entwickelte Praxis des wissenschaftlich-künstlerischen Co-Designs von Wissenschaftsfilmen. Sie bezeichnet die im universitären Kontext ästhetisch-wissenschaftlich forschenden Filmproduzenten als boundary spanners, welche mit ausgewogenen Kompetenzen in audiovisuellem Mediendesign und in angewandter Forschung Bewegtbilder herstellen, die weit über die bloße ästhetische Darstellung von wissenschaftlichen Inhalten hinaus gehen. Solche im wissenschaftlich-künstlerischen Co-Design generierten, audiovisuellen Wissensformen stellen eine neue Form der Generation von Wissen und Wissensvermittlung dar und haben das Potential, den wissenschaftlichen Datenkomplex zu transformieren. Yvonne Volkart beschäftigt sich als Kunstvermittlerin, Forschende und Dozentin mit zeitgenössischen Beziehungsgeflechten zwischen den Künsten, den Medientechnologien und den Wissenschaften. Sie fragt in ihrem Beitrag nach einer ökologischen, kritischen Ästhetik im Zeitalter der Technosphere: Was kann eine technoökologische Ästhetik in der Kunst, im alltäglichen Handeln, im Denken bewirken? Für Volkart liegt das Potential der Kunst in einem kalkulierten Fremdmachen und Fremdwerden der Dinge – im Sinne Timothy Mortons beschreibt sie ökologisches Handeln als eine ethisch-ästhetische Praxis, die aktuell in einigen Kunstprojekten Modifikationen und Umdeutungen erfährt. Volkart stellt hier die Frage nach der Transversalität, der Ausbreitungsfähigkeit eines veränderten Umwelt- und Selbstbewusstseins, das von den ökologisch-technisch-medial orientierten Künsten ausgeht und unsere Verstricktheit in monetäre, konsumistische Beziehungsflechte deutlich machen will. Eine um kritische und technisch-künstlerische Praktiken erweiterte Ökologie oder ökologische Ästhetik lenkt den Fokus in der Debatte um Umweltprobleme darauf, wie wir definieren, was Natur und Umwelt genau ist. Politische 11
Marcus Maeder
Ökologie, wie sie von Bruno Latour definiert wird2, beschäftigt sich damit, wie die Umwelt wahrgenommen und reflektiert wird und wo kognitive in politische Fragen übergehen: Das, was gemeinhin als Natur bezeichnet wird, sollte mit neuer Begrifflichkeit und reicheren emotionalen Bezügen in unser soziales und politisches Denken und Handeln integriert werden. Dies ist nur möglich, wenn wir neue Erfahrungen von Zusammenhängen in unserer Umwelt schaffen. Ich danke den beitragenden Autorinnen und Autoren für Ihre Bereitschaft und Energie, an der in diesem Buch aufgespannten Thematik mitzudenken – ganz besonders möchte ich Bernadette Collenberg-Plotnikov und Martin Neukom für ihr inhaltliches und stilistisches Urteil danken und nicht zuletzt dem Institute for Computer Music and Sound Technology der Zürcher Hoschule der Künste ZHdK für die Ermöglichung dieser Publikation. Zudem möchte ich mich bei Roman Zweifel, meinem Forschungspartner an der Eidg. Forschungsanstalt für Wald, Schnee und Landschaft WSL bedanken – ohne ihn wären die diesem Buch zugrundeliegenden Ideen sicherlich nicht entstanden.
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Vgl. Bruno Latour: Das Parlament der Dinge, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2012. 12
Kunst, Wissenschaft und Natur Marcus Maeder Zur Ästhetik und Epistemologie der künstlerischwissenschaftlichen Naturbeobachtung «Das ‹rerum videre formas› ist keine geringere und eine ebenso notwendige Aufgabe wie das ‹rerum cognoscere causas›. Im gleichen Sinne beruht die menschliche Erfahrung und Erlebnisfähigkeit darauf, dass wir im imstande sind, verschiedene Sehweisen einzusetzen und unsere Anschauung der Wirklichkeit zu variieren.» (Ernst Cassirer: Versuch über den Menschen) «Demokratie lässt sich nur denken, wenn die (...) Grenze zwischen Wissenschaft und Politik ungehindert überquert werden kann, um eine Reihe neuer Stimmen der Diskussion hinzuzugesellen (...): die Stimmen der nicht-menschlichen Wesen. Die Diskussion auf die Menschen zu beschränken, auf menschliche Interessen, Subjektivität, Recht, wird in einigen Jahren ebenso befremdlich erscheinen wie die Tatsache, dass Sklaven, Armen und Frauen das Stimmrecht lange Zeit vorenthalten wurde. Wenn man den Diskussionsbegriff verwendet und ihn allein auf den Menschen beschränkt, ohne zu bemerken, dass es Millionen subtiler Apparaturen gibt, durch die neue Stimmen ihren Diskussionsbeitrag leisten können, so schneidet man sich durch Vorurteil vom wunderbaren Vermögen der Wissenschaften ab.» (Bruno Latour: Das Parlament der Dinge)
Zum Begriff und Gebiet der künstlerischen Forschung sind in den letzten Jahren viele Publikationen erschienen. In aktuellen Debatten, was künstlerische Forschung sein kann, wird diskutiert ob Forschung im künstlerischen Bereich entlang der Kriterien der akademischen Wissenschaften durchzuführen ist oder ob für die künstlerische Forschung ganz andere, eigene Kriterien gelten sollen, da in den Künsten grundsätzlich andere Formen von Wissen, die nicht über Evaluations-, Legimitations- und Vermittlungsformen, wie sie in den Geistes- und Naturwissenschaften gebräuchlich sind, hervorgebracht werden. Man trifft in Argumentationen, die für die künstlerische Forschung eigene Kriterien verlangen, auf Vorstellungen der Kunst als geschlossene und grundsätzlich freie 13
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Domäne, die nach eigenen oder schwer fassbaren Kriterien funktioniert, auf Definitionen eines Wissens, das sich auf das Singuläre oder Subjektive bezieht und niemals Allgemeingültigkeit haben kann – noch haben will. Hinter dem Anspruch an Wissenschaftlichkeit in der künstlerischen Forschung einerseits wie der Forderung nach einer vom Rechtfertigungszwang freien künstlerischen Forschung andererseits verbirgt sich eine grundlegende Trennung von epistéme und aísthēsis. Die Paradoxie einer Verortung der künstlerischen Forschung zwischen den «freien» Künsten und den «exakten» Wissenschaften wird offensichtlich, wenn man davon ausgeht, dass künstlerische wie wissenschaftliche Praxis innerhalb ihrer traditionellen Handlungsfelder operieren und verbleiben sollten. In der Debatte zur Situierung der künstlerischen Forschung kommt die Identität der Wissenschaft wie die der Kunst zur Diskussion und es stellt sich die Frage, ob nicht gerade in Überschneidungsgebieten – den Vermischungen von künstlerischer und wissenschaftlicher Praxis – neues ästhetisches, epistemologisches und damit gesellschaftliches Potential liegt und ob solche in jüngerer Zeit entstandene Überschneidungen in der Lage sind, die Verortungen, Zuschreibungen und Praktiken der Kunst und der Wissenschaft zu reflektieren und neue Wissenskontexte zu entwerfen. In Diskursen innerhalb der künstlerischen Forschung wie auch in konkreten Begegnungen zwischen den Künsten und Wissenschaften, etwa in Förderprogrammen wie Collide@CERN3 oder in Verhandlungen um gemeinsame PhDProgramme von Universitäten und Kunsthochschulen stehen sich wiederholt Differenzbekundungen im Zeichen eines Ästhetizismus auf der einen Seite und eines Szientismus auf der anderen gegenüber. In dieser Arbeit möchte ich Grenzziehungen zwischen künstlerischer und wissenschaftlicher Praxis anhand pragmatischer/pragmatistischer Ansätze in der Forschungstheorie und der Ästhetik anhand des Entwurfs eines neuartigen Bedeutungsherstellungskontexts, des Künstlerisch-Wissenschaftlichen, aufheben. Erfahrung, Bedeutung und Erkenntnis beziehen sich in pragmatistischen Entwürfen (genauer bei John Sanders Peirce, George Herbert Mead und besonders bei John Dewey) darauf, wie und wo Zeichen und Symbole als Instrumente der Wahrnehmung und Erkenntnis der Welt zur Verwendung kommen und lebensrelevante Handlungsbezüge herstellen. Kunst und Wissenschaft involvieren sich auf je unterschiedliche Weise in Kommunikations- und Signifizierungsprozesse: Im Künstlerisch-Wissenschaftlichen mischen sich die Codes und es entstehen neue, möglicherweise differenziertere Weltversionen, Weltbezüge. Einer pragmatistischen Kontextualisierung von Kunst und Wissenschaft im Begriff der technai folgend, möchte ich zwei künstlerisch-wissenschaftliche Projekte beschreiben und untersuchen, in deren Zentrum die Beobachtung und Inszenierung der Natur steht. Es ist dies mein eigenes, vom Schweizerischen 3 Vgl. http://arts.web.cern.ch/collide vom 2. Dezember 2016. 14
Kunst, Wissenschaft und Natur
Nationalfonds geförderte Forschungsprojekt «trees: Ökophysiologische Prozesse hörbar machen», das ich an der Zürcher Hochschule der Künste durchführte und die Arbeit «Plantas Autofotosintéticas» von Gilberto Esparza, welche die Goldene Nica des Prix Ars Electronica 2015 in der Disziplin Hybrid Art gewonnen hat. Hintergrund vieler ähnlicher Projekte und Werke bildet der Umstand, dass in jüngeren Formen medialer und technischer Künste Praktiken und Werke im Überschneidungsbereich mit den Naturwissenschaften entstanden sind, die Forschungsmethoden naturwissenschaftlicher Disziplinen künstlerisch aufgreifen, modifizieren und transformieren, um beispielsweise auf ökologische Zusammenhänge und Probleme hinzuweisen. Solche Kunstformen tragen Bezeichnungen wie Eco Art, Bioart, Environmental Art usw. und setzen kunsthistorisch die Linien der Konzeptkunst, der historischen Environmental Art und der Land Art fort. Wenn hier also ein neuer Erfahrungs-, Wissens- und Kommunikationszusammenhang des Wissenschaftlich-Künstlerischen oder Künstlerisch-Wissenschaftlichen entworfen werden soll, so muss dieser auch im Hinblick auf seine Fähigkeit der Erfahrungs- und Handlungsorientierung in Form von neuen Forschungsmethoden, veränderten Wahrnehmungsformen und somit angepasstem alltäglichem Handeln in größeren gesellschaftlichen Zusammenhängen überprüft werden. Zentral scheint mir hier nicht nur die künstlerisch-mediale Art und Qualität der Beobachtung und Inszenierung von Zusammenhängen in der Natur, sondern ein integrativer Forschungsbegriff, eine künstlerische Wissenschaft oder wissenschaftliche Kunst, die neue mediale Erfahrungsformen und Bedeutungsherstellungen hervorzubringen in der Lage ist und damit ein differenzierteres Bild, eine neue Erfahrung unserer Umwelt ermöglicht. Das Wissenschaftlich-Künstlerische und die präsentierten Beispiele möchte ich in einen Zusammenhang mit aktuellen Tendenzen in der Philosophie bringen: Wenn ich anhand von immersiven virtuellen Umgebungen und des epistemologischen wie ontologischen Status des Virtuellen aufzeige, wie wir im digitalen Zeitalter Bedeutungszusammenhänge – die Art unserer Bezugnahme auf die Welt – herstellen und erweitern, so liegt der philosophische Kern des Wissenschaftlich-Künstlerischen in der Art und Weise unseres Referierens auf die Welt und die Wirklichkeit. Der Streit über die Referenz ist alt und verläuft entlang der Grenzen zwischen der kontinentalen und der angelsächsischen Philosophie. Er entfacht sich an dem Problem, ob Subjekt oder Objekt als wirklichkeitskonstituierend anzusehen sind. In den letzten zehn Jahren lassen sich Ansätze in der zeitgenössischen Philosophie finden, die unter dem Oberbegriff des Spekulativen Realismus die ontologische Perspektive weg vom Subjekt hin zu den Objekten lenken möchten und sich davon einen neuen Weltzugang erhoffen. Im Spekulativen Realismus wird die Kunst als Inbegriff einer sich in den Objekten die sie herstellt vermittelnden Ontologie gesehen. Die Frage, ob das Spekulative – und damit ist im Allgemeinen die Metaphysik gemeint – Platz in tragfähigen 15
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Modellen der Welt und den daraus resultierenden ethischen Konsequenzen im 21. Jahrhundert finden soll, weist eine hohe Verwandtschaft mit der Frage auf, ob die Verbindung des Künstlerischen mit dem Wissenschaftlichen neue, adäquate Ontologien und Handlungsorientierungen zu entwerfen in der Lage ist. Bruno Latour will in seinem Entwurf einer politischen Ökologie ein neues «Kollektiv zusammenrufen»4, in dem sich menschliche und nichtmenschliche Existenzen versammeln und wo die Dichotomie zwischen Gesellschaft und Natur aufgehoben ist. Die Konzeption des Kollektivs öffnet das Denken hin zu experimentellen Assoziationen zwischen Menschen und Dingen unter Verzicht auf hierarchisierende Singularisationen wie der «Natur» oder der «Kultur». Politische Ökologie, wie sie Latour definiert, befasst sich damit, wie Umwelt wahrgenommen, konstruiert und reflektiert wird und wo kognitive in politische Fragen übergehen. Gerade in diesem Zusammenhang bietet der Kontext des Künstlerisch-Wissenschaftlichen neue Wahrnehmungsmodi und Handlungsorientierungen an, die den Umstand berücksichtigen, dass sich eine andere Sichtweise der Umwelt in Form eines Kollektivs nur daraus generieren kann, welche Geschichten wir uns über sie, seien sie analog oder digital, verbal, visuell oder akustisch konstruiert, erzählen.
Pragma Zur Aktualität von pragmatistischen Konzepten in Wissenschaft und Kunst Dem amerikanischen Pragmatismus und den Beiträgen seiner Hauptvertreter John Sanders Peirce, William James und John Dewey kommt in den letzten Jahren in der Philosophie wieder verstärktes Interesse zu, auch im deutschsprachigen Raum liegen seit der Jahrtausendwende Übersetzungen der wichtigsten Werke und Textsammlungen vor. Die Renaissance pragmatistischer Konzepte ist vor dem Hintergrund zu sehen, dass die sehr heterogenen Ansätze, die sich im Pragmatismus versammeln, vor allem in der «kontinentalen» Philosophie während langer Zeit Pauschalisierungen und Vorurteilen5 ausgesetzt waren und erst in jüngerer Zeit neue Zugänge, insbesondere in der Erkenntnistheorie, der Wissenschaftstheorie und marginal auch in der Ästhetik6, erschlossen wurden. 4 5
Vgl. Bruno Latour: Das Parlament der Dinge, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2012, S. 46. Vgl. Max Horkheimer: Zur Kritik der instrumentellen Vernunft, Frankfurt am Main: Fischer 1967. Karl R. Popper: «Models, Instruments, and Truth». in: M. A. Notturno (Hg.): The Myth of the Framework. London, New York: Routledge 1994, S. 154. 6 Vgl. Gunar Musik: «Pragmatische Ästhetik – John Dewey: Kunst als Erfahrung», in: Michael Eckardt/Lorenz Engell (Hg.), Das Programm des Schönen: Ausgewählte Beiträge der Stuttgarter Schule zur Semiotik der Künste und Medien, Weimar: VDG 2003, S. 1–11. Richard Shusterman: 16
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Die ökologischen Probleme der Gegenwart verlangen nach einer Neuformulierung der Beziehung zwischen Mensch und Umwelt – nach einer Philosophie, die verstärkt nach den praktischen Konsequenzen unserer Weltentwürfe und Theorien fragt und die Kluft zwischen menschlichem Denken und der Welt, die Diskrepanz zwischen menschlichem Handeln und den ökologischen Anforderungen unseres Lebensraums zu überwinden versucht. Obwohl der Pragmatismus kein einheitliches philosophisches Programm anbietet, machen ihn einige grundlegende Motive, die auch im Zusammenhang mit seiner Entstehung unter dem Eindruck wissenschaftlicher und industrieller Revolutionen im 19. Jahrhundert zu sehen sind7 und die interessante Denkweisen bezüglich heutiger Probleme offerieren, prüfenswert für philosophische Entwürfe der Gegenwart. Als Philosophie des kreativen Handelns, das sich in Prozessen der symbolischen Aushandlung sozialer, subjektiver und objektiver Bedeutungen manifestiert8, fokussiert der Pragmatismus9 auf die praktischen Konsequenzen und Wirkungen von Handlungen oder natürlichen Ereignissen, die die Bedeutung unserer Ideen und Theorien bestimmen. Die pragmatistische Handlungstheorie «unterläuft den ‹homo oeconomicus› und den ‹homo sociologicus›, weil analytisch rekonstruiert wird, wie sich im Handlungsprozess individuelle Zwecksetzungen und generalisierte Verhaltenserwartungen durch kreatives Handeln konstituieren und stabilisieren.»10
Erkenntnisse werden durch die kreative Lösung von Handlungsproblemen gewonnen, und in der Perspektive des Pragmatismus wird die Bedeutung von Objekten oder Sachverhalten von Handelnden in Verwendungszusammenhängen festgelegt, das heißt, sie werden experimentell-induktiv gewonnen. Die Erklärung eines Phänomens besteht demzufolge aus der Koordination analytischer und methodischer Entscheidungen, aus deren experimentellen Verknüpfung Einsichten gewonnen werden. Weiter kommt in der historischen (amerikanischen), pragmatistischen Erfahrungsmetaphysik den Objekten ein anderer Status zu als in der idealistischen, subjektzentrierten – der «kontinentalen» – Perspektive. Gegenstände führen ein Eigenleben, sind widerständig und gehören zu einer Klasse von andersartigen Kunst leben. Die Ästhetik des Pragmatismus, Frankfurt am Main: Fischer 1994. Ein Umstand, der nach Tanja Bogusz in seinen Herausforderungen für die Philosophie vergleichbar mit der digitalen Revolution im 21. Jahrhundert ist, vgl. Tanja Bogusz: «Experimentalismus statt Explanans? Zur Aktualität der pragmatistischen Forschungsphilosophie John Deweys», in: Beltz Juventa, Zeitschrift für Theoretische Soziologie 2/2013, S. 239–252. 8 Vgl. Hans-Joachim Schubert (Hg.) et al: Pragmatismus zur Einführung, Hamburg: Junius 2010. 9 Vor allem in seiner Ausprägung bei Charles S. Peirce und John Dewey. 10 Hans-Joachim Schubert (Hg.) et al: Pragmatismus zur Einführung, S. 9. 7
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Objekten, die wir deuten, denen wir eine Funktion zuschreiben müssen. Objekte entziehen sich teilweise oder ganz unserer Wahrnehmung, behindern oder gefährden uns in unserer Lebensführung – wir erfahren ihre Widerständigkeit als ein Bedeutungsgeschehen, welches wir auf heuristische Art rekonstruieren müssen: «Eine solche Widerständigkeit der Dinge beim Voraussagen oder Beeinflussen ihrer Zukunft veranlasst uns dazu, eine Unterscheidung zu treffen zwischen ihrem Erscheinen und ihrem Sein. Es macht einfach Sinn, um die Widerständigkeit der Objekte erklären zu können, anzunehmen, dass sie auch noch von anderer als nur erscheinender Art, dass sie also an sich Dinge – oder Dinge an sich – sind, die Gesetzen unterliegen, die ich als solche nicht wahrnehmen, sondern auf die ich nur schließen kann.»11
In aktuellen philosophische Diskursen, die im Umfeld des spekulativen Realismus und der Object Oriented Ontology12 stattfinden, lässt sich ein Bedürfnis identifizieren, das weg von apriorischen, subjektzentrierten Epistemologien und Ontologien kommen und den Objekten und damit der Natur einen anderen Status zuschreiben will. Es ist ein neues Interesse entstanden, mit spekulativen Objektzuschreibungen zu experimentieren, um so zu aktualisierten Weltbildern zu kommen.13 Aus der pragmatistischen Perspektive wird der Wahrheitsbegriff auf diese Weise nicht geschwächt, aber transformiert. Denn die Relevanz jeder Erkenntnis zeigt sich in ihrer lebensweltlichen Praktikabilität, respektive den konkreten, erfahrenen Folgen. Das ist keine genuine Idee des Pragmatismus, verlangte bereits Kant (von dem Charles S. Peirce den Begriff des «Pragmatism» übernommen hatte) nach Anbindung der Erkenntnis an eine mögliche Erfahrung: «Wenn eine Erkenntnis objektive Realität haben, d. i. sich auf einen Gegenstand beziehen, und in demselben Bedeutung und Sinn haben soll, so muß der Gegenstand auf irgendeine Art gegeben werden können. Ohne das sind die Begriffe leer, und man hat dadurch zwar gedacht, in der Tat aber durch dieses Denken nichts erkannt, sondern bloß mit Vorstellungen gespielt. Einen Gegenstand geben, wenn dieses nicht wiederum nur mittelbar gemeint sein soll, sondern unmittelbar in der Anschauung darstellen, ist nichts anderes, als dessen Vorstellung auf Erfahrung (sei es wirkliche oder doch mögliche) beziehen.»14
11 Christian Kohlroß: Literaturtheorie und Pragmatismus oder die Frage nach den Gründen philologischen Wissens, Berlin: De Gruyter 2007, S. 232. 12 Vgl. Levi R. Bryant: The Democracy of Objects, Michigan: Open Humanities Press 2011. Jane Bennett: Vibrant Matter. A Political Ecology of Things, Durham: Duke University Press 2010. Graham Harman: The Quadruple Object, New York: Zero Books 2011. 13 Ein Beispiel dafür ist die Terminologie der Teilchenphysik. 14 Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1974, S. 199. 18
Kunst, Wissenschaft und Natur
Aktuelle experimentelle Objektkonstitutionen und Wirklichkeitskonstruktionen in Wissenschaft und Kunst, die neue Perspektiven auf die Natur eröffnen wollen, werden heute vermehrt über die Konstruktion von virtuellen Modellen, über computergenerierte Simulationen von Prozessen und Ereignissen hergestellt.
Abbildung 1. Ein Forscher untersucht in der AlloSphere, einer immersiven virtuellen Umgebung der Universität Santa Barbara in Kalifornien ein menschliches Gefässsystem im Rahmen des «Center for Nanomedicine Project». Courtesy: National Science Foundation. Dazu werden computergenerierte und –gesteuerte Panorama-Videoprojektionsräume genutzt, die über Lautsprecherbeschallung und haptische oder gestische Interaktionsmöglichkeiten verfügen (so genannte immersive virtuelle Umgebungen oder Immersive Virtual Environments15) und wissenschaftliche Modelle oder Daten in eine audiovisuelle Erfahrung transformieren. Wissenschaftliche Theorien oder Datensätze und vermehrt auch künstlerische Entwürfe werden als auditive, visuelle oder haptische Erfahrungen präsentiert und können so individuell und im Kollektiv der Forschenden unmittelbar erlebt und beurteilt werden. Immersive virtuelle Umgebungen nehmen dabei eine Funktion ein, die der eines Mikroskops oder eines Verstärkers verwandt ist: Sie machen einerseits Dinge erfahrbar, die sonst nicht wahrnehmbar sind; ande-
15 Vgl. Jack M. Loomis et al: «Immersive virtual environment technology as a basic research tool in social psychology», in: Behavior Research Methods, lnstruments & Computers 1999, 31 (4), S. 557–564. 19
Marcus Maeder
rerseits schaffen sie einen anderen Erfahrungsrahmen auch bereits bekannter Phänomene und erweitern deren Erkenntnispotential durch neue Aspekte. In der pragmatistischen Perspektive fällt besonders den Wissenschaften und schönen Künsten die Rolle zu, neue Wirklichkeitsentwürfe über experimentelle Bedeutungsherstellungen im Bereich des Symbolischen, das heißt in Interaktions- und Kommunikationssituationen in einem an die Formen des alltäglichen Erfahrens und Handelns angebunden Modus zu generieren. Hierin liegt das immense Potential pragmatistischer Konzepte, hinsichtlich der Theoriebildung im Kontext medialer und digitaler (symbolischer) Wirklichkeitskonfigurationen und Kommunikationszusammenhänge zu neuen Sichtweisen und Handlungsorientierungen zu kommen. Denn umfassend wirklichkeitskonstituierend ist unsere kulturell-mediale Umwelt, die sich die natürliche Umwelt längst einverleibt hat.16 Bezüglich einer solchen Virtualisierung unserer Erkenntnisformen stellt sich die Frage, ob die Erfahrungen, die in immersiven virtuellen Umgebungen gemacht werden können, nicht grundsätzlich eine Illusion der Wirklichkeit sind. Der Pragmatismus antwortet darauf insofern, als dass alle unsere Wirklichkeitsannäherungen heuristisch17 sind, also in Form einer praktizierten ars inveniendi unternommen werden, die Objekte so konstruiert, dass sie entsprechend ihrer Anlage, die Möglichkeit zu etwas in sich zu bergen, begriffen werden können. Ein solches Prinzip schwebt nicht im luftleeren Raum reiner Vorstellungen, sondern basiert auf der Grundlage einer Geschichte von bewährten oder sich in der Zukunft bewährenden Handlungen und Interaktionen im Umgang mit der Welt. Der Mensch verfügt über ausgefeilte Instrumente, sich spekulativ/assoziativ der Welt anzunähern. Vorrangig sind dies die Kommunikation und die Sprache; aber auch die Wissenschaften und Künste verfolgen aus der Perspektive des Pragmatismus nichts anderes, als unser Wissen über die Welt im Modus des Entwurfs rekursiv über die Erfahrung (in einem Medium) zu erweitern und intersubjektiv zu prüfen. Die Kunst des Experimentierens Es war John Dewey – und auf seine Ansätze bezieht sich diese Arbeit im Besonderen – der mit seiner Version des Pragmatismus, die er als Instrumentalismus oder Experimentalismus bezeichnete, eine Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie vorlegte, die Wissen als Produkt empirisch-explorativer Erklärungsstrategien versteht. Er stellte experimentelles Handeln in ein Spannungsverhältnis zwi16 Vgl. John Dewey: Logik. Die Theorie der Forschung, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2002, S. 59. 17 Zeitgenössische heuristische Praktiken kommen vermehrt in immersiven virtuellen Umgebungen zur Anwendung, vgl. Ebba Thora Hvannberg et al: «Exploitation of Heuristics in Virtual Environments», in: Proceedings NordiCHI‚ 12, 7th Nordic Conference on Human-Computer Interaction: Making Sense Through Design, IT University of Copenhagen, Denmark, S. 308–317. 20
Kunst, Wissenschaft und Natur
schen heuristischen Prozessen der Rekonstruktion unbestimmter, prekärer Situationen und einer performativen Handlungslogik, wo spezifische Erfahrungen aktualisiert und modelliert werden.18 Dabei entsteht eine Erfahrungsdifferenz, die die untersuchten Objekte verändert und damit einen Erkenntnisfortschritt erreicht. Eine solche praxistheoretische Epistemologie lässt sich auf die Wissenschaft19 wie auch auf die Kunst20 anwenden, und entsprechend hat Dewey nicht grundlegend zwischen den Wissenschaften und Künsten unterschieden, sondern auf die Wichtigkeit der praktischen Anbindung aller menschlichen Künste (dazu zählte er auch die Wissenschaft) an die Alltagswelt verwiesen: «Was man wirklich brauchte, nämlich eine Differenzierung des Urteils durch Methoden, deren Konsequenzen die Kunst verbessern, schlüpft leicht durch solch grobe Maschen, und der bei weitem größte Teil des Lebens spielt sich in einer Dunkelheit ab, die durch keinerlei kluge Forschung erhellt wird. (...) Erst wenn sich eine Kunst des Denkens entwickelt hat, die menschlichen und sozialen Angelegenheiten angemessen ist wie die, die man benutzt, um sich mit fernen Sternen zu befassen, wird es nicht mehr nötig sein zu argumentieren, dass Wissenschaft zu den Künsten und Kunstwerken gehört.»21
Die Objekte der Wissenschaft bestehen nach Dewey wie die Objekte der bildenden Künste aus einer Ordnung von Beziehungen, die als Werkzeug dient, um Erfahrungen der Wirklichkeit zu bewirken. Die «wahre» oder «gute» Kunst besteht demnach darin, eine unmittelbare, überzeugende Erfahrung von Objekten oder Phänomenen herstellen zu können. Wissenschaft und Kunst sind als Künste dann nur noch verschiedene Formen der Praxis,22 die sich auf dieselben Objekte in der Welt beziehen. Dewey verweist an dieser Stelle darauf, wie wichtig einerseits der Hintergrund ist, vor dem Theorien und Methoden formuliert werden (also die Referenz, letztlich in Form metaphysischer Prämissen, auf die sich Postulate der Wirklichkeit beziehen23), und andererseits, welche Ziele mit dem Gebrauch bestimmter Instrumente, seien dies Theorien der Wissenschaft oder künstlerische Strategien, verfolgt werden. Die kritische Frage bei der Beurteilung von Postulaten in Wissenschaft und Kunst und ihrer Ergebnisse wäre demnach ganz einfach, worauf sie sich beziehen und welche Ziele sie verfolgen. Besonders in der Beurteilung von Kunstwerken stehen solche Fragen im Mittelpunkt, soll von objektiven Erkenntnissen in diesem Bereich gesprochen werden. In der 18 19 20 21 22 23
Ich folge hier Tanja Bogusz’ Interpretation der Forschungstheorie Deweys. Vgl. John Dewey: Logik. Die Theorie der Forschung, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2002. Vgl. John Dewey: Kunst als Erfahrung, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1980. John Dewey: Erfahrung und Natur, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2007, S. 360 John Dewey: Erfahrung und Natur, S. 337. Ebd., S. 254. 21
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Forschung selber plädiert Dewey dafür, dass sich Experimentierende vermehrt den unmittelbaren Qualitäten der Dinge zuwenden sollen, so wie sie sich in unserer alltäglichen Erfahrung zeigen: «(...) man setze die unmittelbaren Qualitäten in ihre rechtmäßige Stellung als Qualitäten der umfassenden Situation wieder ein, und die fraglichen Probleme hören auf, Probleme der Erkenntnistheorie zu sein. Sie werden zu spezifizierbaren wissenschaftlichen Problemen: das heißt, zu Fragen danach, wie ein so und so beschaffenes Ereignis, das die und die Qualitäten besitzt, tatsächlich stattfindet.»24
Dieser Ansatz macht denn auch den Kern von Deweys Experimentalismus aus, den ich im Zusammenhang mit den Künsten (die Wissenschaften als Künste mit einschließend) detaillierter beschreiben möchte. Wissenschaft und Kunst in der Praxis: technai Die Geschichte der menschlichen Erfahrung ist die Geschichte der Künste – als so einflussreich auf die Phylogenese der Menschen sieht Dewey die Rolle der Künste. Ist eine Erfahrung eine «gute», «schöne» Erfahrung, dann sprechen wir von «Genuss». Mit dem ästhetischen Genuss, der ästhetischen Wertschätzung25 verbindet sich eines der Kernprobleme der Ästhetik, nämlich warum das Schöne zugleich das Gute ist und wie dies in der Kunst exemplarisch zutage tritt. Die Künste fixieren die Maßstäbe des Genusses und der Wertschätzung, sie «tragen mehr als alles übrige dazu bei, die gewöhnliche Richtung von Ideen und Bestrebungen in der Gemeinschaft zu bestimmen. Sie liefern die Bedeutungen, in deren Begriffen das Leben beurteilt, geschätzt und kritisiert wird. Einem von außen kommenden Betrachter liefern sie Material für eine kritische Einschätzung des von dieser Gemeinschaft geführten Lebens.»26
Im Kapitel «Erfahrung, Natur und Kunst» in seinem Buch «Erfahrung und Natur» schildert Dewey den Urzustand der Künste in der antiken griechischen Kultur, wo keine Trennung zwischen den schönen Künsten und den Wissenschaften existierte und der Begriff der technē theoretische wie praktische Künste vereinte.27 Technē bezeichnete ursprünglich handwerkliches Können, ein Verfahren oder eine Methode, ein Mittel zur planvollen Erreichung eines 24 Ebd., S. 255. 25 «(...) ist die lustvoll verstärkte Perzeption oder ästhetische Wertschätzung von derselben Natur wie der Genuss jeden Objekts, das final (consummatory) ist.» John Dewey: Erfahrung und Natur, S. 365. 26 Ebd., S. 201. 27 Vgl. hierzu auch Rudolf Löbl: texnh – technē, Würzburg: Königshausen & Neumann 1997. 22
Kunst, Wissenschaft und Natur
Zieles. Der Begriff bezog sich auf die Richtigkeit einer Anwendung, also auf Werkzeuge oder Instrumente (peirata), die etwas in einen sinnlich wahrnehmbaren Gegenstand umformten. Technē kommt erst zur Vollendung, wenn sie abgeschlossen, ausgeführt ist und verschiedene Wechselwirkungen (in Form von Rekursionen) zwischen Theorie und Praxis durchlaufen hat: In technē ist Wissen und Tun nicht getrennt.28 Handeln und Erkennen stehen in reziproker Beziehung zueinander. Dewey entwirft anhand des Begriffs der technē ein experimentelles Forschungsmodell, wo die Objektkonstitution nicht über das «Was» des Forschens, sondern über das «Wie» definiert wird.29 Experimente verfolgen das Ziel, Problemlösungen durch Umformungen und Neuqualifizierungen von unbestimmten30 Situationen zu erreichen: «Man greift deshalb auf bewusste Experimente zurück, um die Bedingungen oder die beobachteten Konsequenzen so zu variieren, dass umfassenderes und bestimmteres Operationsmaterial für einen Vergleich zur Verfügung steht.»31
Dabei geschieht eine Transformation von Gegenstand und Beobachter, es entsteht Erkenntnis, die sich über Dekomposition und Komposition konstituiert. Der Imagination kommt hier eine Schlüsselrolle zu. Sie ist als «Organ der Natur»32 im Denken und Handeln der «angemessene Aspekt unbestimmter Ereignisse, die sich auf Resultate zu bewegen, die jetzt nur erst Möglichkeiten sind.»33
Tatsachen konstituieren sich operativ, wir schaffen sie in Interaktion mit der Welt. Organisationsmodi werden nicht in der Welt vorgefunden, sondern in sie eingebaut, darauf hat Nelson Goodman, knapp zwei Generationen jünger als Dewey und Schüler Whiteheads, hingewiesen. Er fasste Prozesse der Welterzeugung in Wissenschaft und Kunst in einem Werkbegriff zusammen, der Kunstwerke wie auch wissenschaftliche Arbeiten beinhaltet: «Wie ein Objekt oder Ereignis als Werk fungiert, erklärt, wie das, was so fungiert, durch bestimmte Modi der Bezugnahme zu einer Sicht – und zur Schöpfung – einer Welt beitragen kann.»34
28 Bezogen auf Homer, ebd., S. 21. 29 Vgl. Tanja Bogusz: Experimentalismus oder Explanas? S. 241. 30 Dewey versteht unbestimmte Situationen als solche, die in Bezug auf künftige Entwicklungen ungewiss, zweifelhaft und existentiell relevant sind. 31 John Dewey: Logik, S. 219/220. 32 John Dewey: Erfahrung und Natur, S. 74. 33 Ebd. 34 Nelson Goodman: Weisen der Welterzeugung, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1990, S. 91. 23
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«Gute» Kunst im Sinne einer technē erreicht eine Neuqualifizierung und Umformung objektiven Materials, indem sie Theorie und Praxis als rekursive Instrumente verwendet, um Zusammenhänge zwischen Ereignissen oder Objekten über ein «Urteil der Praxis»35 und objektiviert in einem Werk herzustellen: «(...) Überzeugungen und geistige Zustände des Untersuchenden [können] sich nur insofern legitim ändern, als reale Operationen, die letztlich in organischen Tätigkeiten wurzeln, objektives Material modifizieren und neu qualifizieren.»36
Technē manipuliert solch objektives Material in einem Medium, das gewisse Idealisierungen erlaubt – damit sind primär Formen der menschlichen Kommunikation gemeint, denn «wo Kommunikation besteht, sind alle natürlichen Ereignisse der Überprüfung und Überarbeitung unterworfen.»37
In der Kommunikation sind Ereignisse einem idealen Experiment ausgesetzt, Bedeutungen können in der Phantasie unterschiedlich kombiniert und neu angeordnet werden. Wo Kommunikation stattfindet, bekommen die Dinge dadurch, dass sie eine Bedeutung erhalten, Repräsentanten, Surrogate und Zeichen.38 Praktiken des Symbolischen Die Sprache hat in der pragmatistischen Perspektive metainstrumentellen Charakter: Künste und Wissenschaften als Werkzeuge «sind an jedem Punkt mit Anweisungen, Hinweisen und Erklärungen verknüpft, die durch die Sprache ermöglicht worden sind; was über die Rolle der Werkzeuge gesagt wurde, ist einer Bedingung unterworfen, die die Sprache, das Werkzeug der Werkzeuge, erfüllt.»39
In der Sprache werden laufend propositionale Verknüpfungen von Bedürfnissen und Verfahrensweisen als Vorbereitung auf mögliches Handeln in einer «virtuellen» Situation vorgenommen. Diese Feststellung begründet sich aus der biologischen Perspektive, dass menschliche Kommunikation die Koordination von Individuen (in Form der Erprobung von Handlungen im Symbolischen – in ihrer ganzen, historisch-kulturell gewachsenen Komplexität) in einer sozialen 35 John Dewey: Logik, S. 193. 36 Ebd. 37 John Dewey: Erfahrung und Natur, S. 167. 38 Vgl. ebd. S. 168. 39 Ebd., S. 169. 24
Kunst, Wissenschaft und Natur
Gemeinschaft zum Zweck hat und damit deren Kooperation und folglich ihre Überlebenschancen erhöht.40 Dabei geht es um die Definition von und die Partizipation an Bedeutungen: Jedes Wort, jede Redewendung hat eine Bedeutung in Bezug auf reale und mögliche Dinge und Handlungen in der menschlichen Umwelt, es/sie ist Teil eines umfassenden Codes, der öffentlich oder privat sein kann. Dewey unterscheidet zwischen natürlichen, unmittelbar erfahrbaren (zum Beispiel Wärme oder Kälte) und künstlichen, mittelbaren Zeichen (die etwas nicht unmittelbar Erfahrbares repräsentieren, zum Beispiel Atome), die er Symbole nennt. Zeichen haben Signifikanz und Symbole Bedeutungen, weil sie unterschiedliche repräsentative Fähigkeiten haben.41 Symbole und Zeichen charakterisiert Dewey als Formen von Relationen und Referenzen: « (1) Symbole sind direkt aufeinander ‹bezogen› [über Relationen, d. Verf.]; (2) sie sind durch die vermittelnde Intervention realer Operationen auf die Existenz ‹bezogen› [das ist die Referenz, d. Verf.]: (3) Existenzen (reale Dinge) sind in der als Beweis dienenden Zeichen-Signifikanz-Funktion aufeinander ‹bezogen› [über die Verknüpfung, d. Verf.].»42
Zentral in Deweys Konzeption von Symbolen ist die Rolle, die sie in der Bezugnahme (die er Referenz nennt43) auf Gegenstände in der Welt spielen. Die Referenz definiert die Qualität von Situationen, in denen Organismen und Umwelten interagieren, sie umschreibt die Bedeutung der Gesamtsituation als begriffener Sinn, ich werde darauf im letzten Kapitel zurückkommen. Das erste Postulat einer Umwelt als Interaktions- und Symbolfeld von Organismen stammt von Jakob von Uexküll, dem Vater der Biosemiotik, eines seit der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert bis in die Gegenwart aktiven Forschungsgebiets, wo Kommunikation, Symbole und deren Bedeutungen in lebenden Systemen untersucht werden. Für Uexküll ist ein Lebewesen immer auch seine je besondere Umwelt – diese spiegelt sich in seiner Innenwelt, sie konstituiert sich über die Interaktionen des Lebewesens mit ihr44; jede Umwelt ist durch Bedeutungssymbole besetzt.
40 Das ist Thema in der pragmatistisch orientierten Anthropologie, aber auch in der theoretischen Biologie, vgl. Eike Bohlken und Christian Thies (Hg.): Handbuch Anthropologie, Stuttgart/Weimar: 2009, S. 225 ff. und Humberto Maturana: «Biologie der Sprache: die Epistemologie der Realität», in: Biologie der Erkenntnis, Frankfurt am Main: 2000, S. 93. 41 John Dewey: Logik, S. 71. 42 Ebd., S. 74. 43 Vgl. John Dewey: Erfahrung und Natur, S. 251 44 Vgl. Jakob von Uexküll: Umwelt und Innenwelt der Tiere, Berlin: Springer 1909. 25
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Diesen Gedanken hat Ernst Cassirer in seiner symboltheoretisch fundierten Kulturphilosophie45 aufgegriffen. Der Mensch lebt nach Cassirer nicht nur in einem physikalischen, sondern auch in einem symbolischen Universum: «Sprache, Mythos, Kunst und Religion sind Bestandteile dieses Universums. Sie sind die vielgestaltigen Fäden, aus denen das Symbolnetz, das Gespinst menschlicher Erfahrung gewebt ist. Aller Fortschritt im Denken und in der Erfahrung verfeinert und festigt dieses Netz.»46
Damit weist Cassirer auf die naturalistische Begründung von Symbolen anhand des organischen Erlebens von Zeichen in Form von Gefühlen47 innerhalb jeglichen symbolisch-sprachlichen Weltzugangs hin. Sprache ist nicht nur begrifflich (denotativ), sondern vor allem emotional (konnotativ) und schöpferisch (kreativ): «(...) neben der logischen oder wissenschaftlichen Sprache gibt es eine Sprache der poetischen Phantasie. Zuallererst drückt die Sprache nicht Gedanken oder Ideen aus, sondern Gefühle und Affekte.»48
Jegliche Form von Weltbezug ist nach Cassirer auf Symbolisierungen angewiesen, die symbolischen Formen (Kunst, Wissenschaft, Religion, Geschichte, Moral, Politik usw.) sind Verfahren der erkenntnismäßigen Aneignung der Welt.49 Wissenschaftliche Entdeckungen und Gesetze werden aber oft so dargestellt, wie wenn sie eine unmittelbare Abbildung natürlicher Erscheinungen und Prozesse – der Wirklichkeit – wären. Wissenschaftliche, insbesondere neue Formen der Betrachtung eines Phänomens kommen aber nur «dadurch zustande, dass an der Stelle der konkreten Data, die die Beobachtung liefert, symbolische Vorstellungen gesetzt werden, die ihnen auf Grund bestimmter theoretischer Voraussetzungen, die der Beobachter als gültig und wahr annimmt, entsprechen sollen. Jedes physikalische Urteil (...) ist keineswegs die bloße Konstantierung einer Mannigfaltigkeit beobachteter Einzeltatsachen, sondern es spricht eine Beziehung zwischen abstrakten und symbolischen Begriffen aus.»50
45 Vgl. Ernst Cassirer: Versuch über den Menschen. Einführung in eine Philosophie der Kultur, Hamburg: Meiner 2007, S. 47. 46 Ebd., S. 50. 47 Dieselbe Argumentation findet sich auch bei Dewey, bei dem Ereignisse und Objekte Qualitäten haben, die man Gefühle nennt, vgl. John Dewey: Erfahrung und Natur, S. 13. 48 Ernst Cassirer: Versuch über den Menschen, S. 51. 49 Vgl. Eckard Rolf: Symboltheorien, Berlin/New York: De Gruyter 2006, S. 58. 50 Ernst Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, Dritter Teil, Hamburg: Meiner 2007, S. 469. 26
Kunst, Wissenschaft und Natur
Versteht man wie Dewey Theorien und Gesetze als symbolische Instrumente, so besteht Forschung neben Operationen, die an und mit objektiven Material verrichtet werden, auch aus Operationen, die an und mit Symbolen vollzogen werden:51 «Symbole (...) stehen für mögliche endgültige reale Bedingungen, während die Schlussfolgerung, wenn sie in Symbolen definiert wird, eine Vorbedingung weiterer Operationen ist, die mit Existenzen (realen Dingen) zu tun haben.»52
In diesem Sinn muss das «mentale» Element des Symbolischen als eine reale Bedingung und Konsequenz im Erkenntnisprozess gesehen werden. Auch für Goodman besteht das Forschen in Wissenschaft und Kunst aus dem «Erfinden, Anwenden, Lesen, Transformieren, Manipulieren von Symbolsystemen.»53
Damit verfolgt er eine pluralistische Erkenntnistheorie: Es gibt keinen ausschließlichen, einzigen Plan, welcher der Welt zugrunde liegt und der zu entdecken wäre, sondern die Welt besteht aus einer Vielfalt von symbolischen Zugängen – von produzierten Weltversionen. Wirklichkeit ist die Erfindung von Tatsachen; «Welten werden erzeugt, indem man mittels Wörtern, Zahlen, Bildern, Klängen oder irgendwelchen anderen Symbolen in irgendeinem Medium solche [Welt-, d. Verf.] Versionen erzeugt; und die vergleichende Untersuchung dieser Versionen und Sichtweisen sowie ihrer Erzeugung ist das, was ich eine Kritik der Welterzeugung nenne.»54
Technai produzieren nicht nur verbale, sondern auch nonverbale Weltversionen. Im Zuge der Technisierung der Lebenswelt sind dies digital erzeugte oder aufgezeichnete Bilder, technische Simulationen und andere Formen virtuellsymbolischer Darstellungen. Man kann heutzutage von einer zunehmend realen Virtualität55 sprechen. Das Bild der Natur wird im Hintergrund durch die Wissenschaften produziert, im Vordergrund stehen die Massenmedien und mit ihnen die vielen verschiedenen angewandten Künste, die symbolische Zugänge zur Natur produzieren und vermitteln. Hier lohnt es sich, in pragmatistischer Manier kritisch nach den Referenzen und Konsequenzen zu fragen und aktuelle Formen der medial-symbolischen Produktion der Welt auf ihre Transformationspotentiale bezüglich unseres Welt-, unseres Naturbezugs zu untersuchen.
51 52 53 54 55
Vgl. John Dewey: Logik, S. 29. Ebd. S. 29. Nelson Goodman: Sprachen der Kunst, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1997, S. 243. Nelson Goodman: Weisen der Welterzeugung, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1990, S. 117. Frank Hartmann: Medienphilosophie, Wien: WUV-Universitätsverlag 2000, S. 17. 27
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Natur als Symbol: Zur Ästhetik des Naturbegriffs Dass die Natur stets die Farben des Geistes trägt, wie dies Emerson schrieb56, steht wie ein Leitmotiv über dem Bereich der Ökosemiotik, einer Unterdisziplin der Semiotik, wo Zeichenprozesse, die Organismen und ihre natürliche Umwelt aneinander koppeln, untersucht werden.57 Jakob von Uexküll gilt als Begründer der Biosemiotik, deren Kind die Ökosemiotik ist – diese wiederum überschneidet sich mit der Kultursemiotik und fokussiert auf alle Formen der menschlichen Kultur, die semiotische Modelle zur Interpretation der Natur liefern.58 Konstitutiv für die Ökosemiotik sind die Ideen von Charles S. Peirce, dessen theoretische Semiotik weitreichende ökologische Implikationen aufweist.59 Die Kultur mit ihren symbolischen Formen Sprache, Mythos, Kunst und Religion ist nicht nur in die Art und Weise involviert, wie Menschen über Modelle ihre natürliche Umgebung interpretieren. Pierce naturalisiert darüber hinaus den Zeichengebrauch, die Konstruktion von zeichenhaften Modellen und Symbolen als Prozess, der in den natürlichen Objekten selber angelegt ist, weil diese aufgrund ihrer physikalischen Beschaffenheit im Menschen eine spezifische, mehr oder weniger adäquate Empfindung in Form eines erlebten Zeichens auslösen: «I define a sign as anything which is determined by something else, called its object, and so determines an effect upon a person, which effect I call its interpretant, that the latter is thereby mediately determined by the former.»60
Kultur und Zeichengebrauch sind somit kein von der Natur abgetrenntes, mittelbares Instrument, sondern Teil des natürlichen Verhaltens im Rahmen der menschlichen Phylo- und Ontogenese. Damit stellt Pierce ein Kontinuum zwischen Natur und Kultur her, in dem eine klare Teleologie des Zeichengebrauchs aufscheint, nämlich dass das Lebewesen über Formen der Intentionalität und Selbstkorrektur im Symbolischen ein Gleichgewicht mit der Umwelt erreicht, in dem es Fortexistieren kann.61 Studien im Bereich der Ökosemiotik untersuchen Formen der Kulturalisierung der Natur. Winfried Nöth gliedert diese in drei Modelle, welche die semiotische 56 Vgl. Ralph Waldo Emerson: Natur, Zürich: Diogenes 1982, S. 18. 57 Vgl. Ernest W. B. Hess-Lüttich: Eco-Semiotics, Tübingen: Francke 2006. 58 Vgl. Winfried Nöth: Handbuch der Semiotik, Stuttgart/Weimar: Metzler 2000, S. 250 ff. 59 Ebd. 60 Charles S. Peirce, zitiert in: T. L. Short: Peirce’s Theory of Signs, Cambridge: Cambridge University Press 2007, S. 165. 61 Vgl. Winfried Nöth: «Ecosemiotics and the semiotics of nature», in: Sign Systems Studies 29.1, 2001, S. 75. 28
Kunst, Wissenschaft und Natur
Beziehung zwischen Mensch und Umwelt prägen: Das pansemiotische, das magische und das mythologische Modell.62 Im pansemiotischen Interpretationsmodell der Umwelt (das auch bei Peirce im Vordergrund steht) wird die Natur als gesamthaft zeichenhaft angesehen. Sie muss als Botschaft (von einer übernatürlichen Kraft) vom Menschen entschlüsselt werden. Das magische Modell geht davon aus, dass menschlicher Zeichengebrauch direkten, unvermittelten Einfluss auf die natürliche Umwelt hat. Das mythologische/narrative Modell versucht die Beziehung der Menschen zur Umwelt über die Formen ihrer Erzählungen zu erklären. Dem Mythos, der Narration kommt dabei eine normative Funktion zu. Der Mythos sagt uns, «what we can, should, and must do with our natural environment»63
Timothy Morton bezeichnet zeitgenössische Mythen der Natur denn auch als Ambient Poetics64, die vor der Aufgabe stehen, ihr Objekt verändern zu müssen, indem nicht mehr von einem abstrakten Begriff der Natur als etwas «Externen» ausgegangen wird, sondern von einem Wahrnehmungs- und Wirkgefüge,65 in das der Mensch eingebettet ist und das auf eine neue Art und Weise beschrieben werden muss: «Coming up with a new worldview means dealing with how humans experience their place in the world. Aesthetics thus performs a crucial role, establishing ways of feeling and percieving this place. (...) Environmental art, from low to high, from pastoral kitsch to urban chic (...), plays with, reinforces, or deconstructs the idea of nature.»66
Heutige alltägliche Formen der symbolischen Bezugnahme des Menschen auf die Natur finden in Massenmedien und digitalen Medientechnologien statt, also überwiegend anhand narrativer Modelle.67 Diese legen die ästhetischen Normen in der Produktion und Rezeption des Naturbildes, der Natursymbolik fest. Den technai – Timothy Morton nennt sie «Umweltkünste» (Environmental Arts) – kommt hier eine Schlüsselrolle zu, denn sie läutern und intensivieren die Bedeutungen von Objekten durch die Schaffung von neuen Erfahrungen.68 Die medialen und ästhetischen Praktiken in Form von angewandten Künsten, die 62 Vgl. Winfried Nöth: Handbuch der Semiotik, S. 251. 63 Winfried Nöth: «Ecosemiotics and the semiotics of nature», S. 73. 64 Vgl. Timothy Morton: Ecology Without Nature. Rethinking Environmental Aesthetics, Cambridge/London: Harvard University Press 2007, S. 3. 65 Wissenschaftlich durch die Ökologie beschrieben. 66 Timothy Morton: Ecology Without Nature, S. 2, 5. 67 Dazu gehören auch alle weiteren Formen des symbolischen Gebrauchs (Konsums), zum Beispiel die Mode. Zudem stellt sich die Frage, ob nicht einigen Formen des wissenschaftlichen Experimentierens magische Handlungsmodelle zugrunde liegen, also sich Peirces Erklärungsmodelle latent mischen. 68 Vgl. John Dewey: Kunst als Erfahrung, S. 155. 29
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in die Herstellung von Bedeutungen, von Narrationen in den Massenmedien involviert sind, beziehen ihr Knowhow aus den Künsten und Wissenschaften, und ganz besonders aus künstlerisch-wissenschaftlichen Überschneidungen im Ästhetischen. Auf diesen spezifischen Bedeutungsherstellungszusammenhang bezieht sich hier der Begriff der technai als künstlerisch-wissenschaftliche Praxis. Überschneidungsgebiete von Wissenschaft und Kunst finden sich dort, wo Erkenntnisse «schön werden»69, wo Emanzipationen von konventionellen oder abstrakten Bildern der Natur entstehen. Solche ästhetische Aktivitäten wollen «das ‹Gute› neu (...) bestimmen aufgrund anderer sinnlicher Erfahrung, d. h. anders als in warenästhetisch ausgelegten und im abstrakten Naturbegriff fixierten Wahrnehmungs- und Handlungsmustern. Damit ist aber bereits (...) angezeigt, dass ästhetische Aktivität mit diesem Anspruch sich nicht mehr mit den konventionellen Formen des Gestaltens begnügen kann, sondern dass möglicherweise künstlich Situationen geschaffen werden müssen, in denen Wahrnehmen und Handeln nicht durch normativ-ästhetische Vorgaben ihres emanzipatorischen Potentials von vornherein beraubt sind.»70
Zentral in einer künstlerisch-wissenschaftlichen, ästhetischen Aktivität ist, «dass sinnliches Erkennen und das über die Sinne bedeutungsvoll Werden durchdrungen wird vom ‹begreifenden Erkennen›, d. h. über den engen Rahmen der jeweils konkreten Handlung und Erfahrung auch an den Zielen orientiert begriffen wird.»71
Die ästhetische Erfahrung bringt Werte anschaulich zur Geltung. Die Teleologie der Naturästhetik besteht demzufolge aus der Integration von Werten, respektive darin, die von den technai hervorgebrachten Gegenstände und Praktiken unter anderem darauf hin zu befragen, ob sie diese Werte anschaulich, das bedeutet auf eine zeitgemäße Art und Weise, zur Geltung bringen.72 Dabei ist die Natur insofern Gegenstand der ästhetischen Anerkennung, «soweit sie tatsächliche oder mögliche, zugängliche oder unzugängliche, vertraute oder fremde Umgebung menschlichen Handelns ist. Die ästhetische Wahrnehmung des ungelenkten Geschehens in der Natur setzt ihre sinnliche Nähe und Ferne innerhalb eines lebensweltlichen Verständnisses von und Verhältnisses zur Natur voraus.»73
69 «Weil die Schönheit der Erkenntnis eine Wirkung des schön Denkenden ist und weder grösser noch edler als dessen lebendige Kräfte, wollen wir (...) bei dem allgemeinen und gleichsam allgemeingültigen Charakter verweilen, den alle Gattungen des schön Gedachten erfordern (...).» Alexander G. Baumgarten: Ästhetik, Hamburg: Meiner 2007, S. 27. 70 Hermann Sturm (Hg.): Ästhetik und Umwelt, Tübingen: Gunter Narr 1979, S. 93. 71 Ebd. 72 Vgl. ebd., S. 94. 73 Martin Seel: Eine Ästhetik der Natur, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1991, S. 22. 30
Kunst, Wissenschaft und Natur
Technai haben ihren Sinn in Anwendungen, die so erweitert werden, dass sie alle Aspekte der Befreiung und Bereicherung der menschlichen Erfahrung einschließen: «Es würde dann deutlich, dass Wissenschaft eine Kunst ist, dass Kunst Praxis ist und dass die einzig sinnvolle Unterscheidung nicht die zwischen Praxis und Theorie ist, sondern zwischen Formen der Praxis, die nicht intelligent, nicht von Natur aus und unmittelbar genussvoll sind, und denen, die voll genossener Bedeutungen sind. Wenn diese Wahrnehmung erst einmal zum Bewusstsein kommt, wird es als selbstverständlich gelten, dass Kunst – diejenige Tätigkeitsform, die mit Bedeutungen erfüllt ist, (...) die vollendete Kulmination der Natur ist (...). Damit würden die Trennungen verschwinden, die das gegenwärtige Denken beunruhigen: Die Aufspaltung aller Dinge in Natur und Erfahrung, der Erfahrung in Praxis und Theorie, Kunst und Wissenschaft, der Kunst in nützliche und schöne, unfreie und freie.»74
Ich werde im Folgenden eine so verstandene Praxisorientierung anhand von Überschneidungen und Interaktionsfeldern in der Wissenschaft und der Kunst unter dem Begriff des Wissenschaftlich-Künstlerischen näher beschreiben und untersuchen.
Das Wissenschaftlich-Künstlerische Integrative Forschung im Symbolischen Will man die Praxis der Kunst gegenüber derjenigen der Wissenschaft schärfer abgrenzen, um die Eigenheiten künstlerischen und wissenschaftlichen Experimentierens zu präzisieren und so inter- und transdisziplinäre Potentiale benennen zu können, so wäre zuerst festzuhalten, dass die Objekte der Wissenschaft sich von denen der Kunst unterscheiden; dass sie in verschiedenen gesellschaftlichen Bedeutungszusammenhängen hergestellt und wahrgenommen werden. Aber gerade diesbezüglich scheinen sich aktuell die Grenzen zwischen Wissenschaft und Kunst zu verwischen75, insbesondere in den technischen Medien – den Produktionsbereichen des Symbolischen. Wenn Goodman die Praxis des Forschens mit dem «Erfinden, Anwenden, Lesen, Transformieren, Manipulieren von Symbolsystemen»76 umschreibt, so fußt die heutige Forschungspraxis in den Künsten und Wissenschaften immer mehr auf einer gemeinsamen (me74 John Dewey: Erfahrung und Natur, S. 337. 75 Zum Beispiel zwischen den synthetischen Naturwissenschaften und den Medienkünsten, vgl. http://www.naturwissenschaften.ch/topics/synbio/creativity_and_dialogue/art_projects vom 2. Dezember 2016. 76 Nelson Goodman: Sprachen der Kunst, S. 243. 31
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dien-)technologischen Ausgangslage. In den digitalen Medien und Praktiken finden Kunst und Wissenschaft einen zunächst rein technischen Begegnungsraum77 vor, in dem sie auf ästhetischer und symbolischer Ebene78 potentiell interagieren können und der zudem direkt an die alltägliche Erfahrungswelt in Form von digitalen Kommunikationsformen und Netzwerken gekoppelt ist.
Abbildung 2. «Star Chamber», eine Arbeit von Terence McDermott für das Immersive Lab des Institute for Computer Music and Sound Technology der Zürcher Hochschule der Künste, 2015. In «Star Chamber» werden chaotische Datenreihen sonifiziert und visualisiert und ihr künstlerisches Potential in einer immersiven virtuellen Umgebung untersucht. Insbesondere bei Simulationen in immersiven virtuellen Umgebungen kommen dieselben Computerprogramme und ähnliche Explorationsformen zum Einsatz. Mit Computersprachen kann künstliches Leben simuliert oder können Musikstücke programmiert werden. In der medientechnologischen Simulation und Exploration von Phänomenen – im Prozess der symbolischen «Weltherstellung» – sind Künstler wie Wissenschaftler mit denselben ästhetischen Problemen konfrontiert: Etwa wie sich Gegenstände, die sich einer sinnlichen Erfahrung oder einer eindeutigen Klassifizierung entziehen erfahrbar, untersuchbar, 77 Das ist keine neue Begegnungsform, eher eine technisch Erweiterte. Naturgeschichtliche Folianten des 19. Jahrhunderts lassen sich auch als mediale Begegnungsräume zwischen Kunst und Wissenschaft sehen, vgl. Kapitel 2.2. 78 In Form von Zeichen, Bildern, Klängen. 32
Kunst, Wissenschaft und Natur
beurteilbar machen lassen. Oder wie wissenschaftliche und künstlerische Ideen und Befunde sowohl für eine wissenschafts- und kunstinterne als auch eine wissenschafts- und kunstexterne Öffentlichkeit kontextualisiert werden müssen, um eine handlungsorientierende Wirkung zu entfalten. Aber anhand eines auf ästhetische und technische Praktiken bezogenen Holismus in der Suche nach Gemeinsamkeiten zwischen Kunst und Wissenschaft lässt sich ein integrativer neuer Forschungsansatz nicht befriedigend formulieren. Deshalb nochmals die Frage: Was unterscheidet die schönen Künste von der Wissenschaft wesentlich und wo könnte der Transfer von Hintergrundwissen und Praktiken in einem integrativen Forschungsmodell fruchtbar gemacht werden? Was macht Wissenschaft als Wissenschaft identifizierbar, was Kunst als Kunst? Diese Frage scheint zunächst einfach zu beantworten zu sein: Wissenschaftler tragen ihre Resultate nicht im Theater vor79; Künstler untersuchen in ihren Werken zumeist nicht Phänomene wie Pflanzenwachstum80. Die Wissenschaften bewegen sich in ihren Erkundungen in mehrheitlich festgelegten Symbol- und Referenzsystemen (z. B. Zahlen und Sprache), die einem in wissenschaftlichen Forschungsprogrammen wie in den Einzeldisziplinen üblichen Kanon von Forschungsmethoden und Kommunikationsformen entsprechen, während die Kunst um den Preis der Allgemeingültigkeit grundsätzlich frei in der Wahl ihrer Symbolsysteme, Methoden und Kommunikationsformen zu sein scheint. Aber auch diese Unterscheidung greift zu kurz, denn innovative Wissenschaftler betreten oftmals ähnliche Pfade wie die Künstler.81 Wenn von der Kunst im Gegensatz zur Wissenschaft als einer Praxis der «Unselbstverständlichkeit»82, des «Singulären»83 gesprochen wird, dann sind damit eher Mythen als die Wirklichkeit künstlerischer Produktion beschrieben. In szientistischen oder ästhetizistischen Differenzbekundungen als Quellen transdisziplinärer Potentiale kann keine Antwort gefunden werden, sie bergen mit Argumentationsmustern wie «Wissenschaft verbalisiert ihre Erkenntnisse, Kunst realisiert sie in ästhetischen Objekten» oder «künstlerische Forschung übt ästhetische Wissenschaftskritik» zu wenig transdisziplinäre Spezifikationskraft, auch wenn eine Differenz zwischen den zwei symbolischen Formen und Kulturen, der Kunst und der Wissenschaft, tatsächlich und insbesondere auf sozialer Ebene existiert.
79 80 81 82
Wobei die in Mode gekommenen Science Slams genau in diese Richtung weisen. Das tun sie aber durchaus, vgl. Kapitel «trees – Ökophysiologische Prozesse hörbar machen». Vgl. Paul Feyerabend: Wissenschaft als Kunst, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1984. Vgl. Katja Gries: Vernetzungen zwischen Kunst, Wissenschaft und Technik, Berlin: Pro Business 2011, S. 292. 83 Vgl. Dieter Mersch: Epistemologien des Ästhetischen, Zürich/Berlin: Diaphanes 2015, S. 199. 33
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«Die Situation ist selbst mit der Idee eines allmählichen Übergangs [in Form einer Ästhetisierung der Wissenschaft oder einer «Verwissenschaftlichung» der Kunst, d. Verf.] nur sehr unvollkommen beschrieben. Es ist nicht so, dass es Gebiete gibt, die ‹rein wissenschaftlich› sind und andere Gebiete, die nichts anderes sein können als ‹reine Kunst›, (...), sondern künstlerische Verfahren kommen überall in den Wissenschaften vor und besonders dort, wo neue und überraschende Entdeckungen gemacht werden.»84
Das eigentliche Potential liegt nicht im simplen Aufeinandertreffen tradierter Wissenschafts- und Kunstverständnisse und den ihnen entspringenden Praktiken, sondern in der anwendungsbezogenen Zusammenführung, der Vernetzung unterschiedlicher Experimentalkulturen und Teleologien in einem konkreten Projekt, in dem die Grenzen zwischen den Disziplinen bewusst verwischt werden. Es stehen so koordinierte Handlungsformen im Zentrum, die sich auf neue Weise einem Objekt annähern wollen. Hans H. Diebner bezeichnet eine solche Forschungspraxis als «performative Wissenschaft» oder «operationale Hermeneutik»: «Die performative Wissenschaft als eine Forschung zwischen Kunst und Wissenschaft lebt von der Differenz der beiden Kulturwelten. Gleichwohl ist eine Eigenschaft einer Schnittstelle die evozierte ontologische Indifferenz der beiden Halbwelten, zwischen denen doch nur vermittelt werden soll. Die Auseinandersetzung mit einer Epistéme zwischen Kunst und Wissenschaft erfordert eine dicke Haut, obwohl, oder vielleicht gerade weil ich mich von der unsäglichen Idee einer dritten Kultur distanziere. Kunst als Wissenschaft oder Wissenschaft als Kunst oder beides gleichzeitig, also Kunst=Wissenschaft: Das sind nur verschiedene Weisen, das Eigentliche mit dem Uneigentlichen zu verwechseln.»85
In der performativen Wissenschaft werden die subjektiven Perspektiven verschiedener Beobachter und Experimentierender Teil des Forschungsprozesses, das hat Katja Gries einleuchtend dargestellt.86 In einem technischen System, etwa in einer immersiven virtuellen Umgebung, die zur Erforschung eines Phänomens entwickelt wird, führen die rekursiven Prozesse der einzelnen Handelnden und Beobachtenden mit dem Computersystem, das ein spezifisches technisches Verhalten und spezifische ästhetische Eigenschaften aufweist, zu Erkenntnisgewinn. Es wird eine Brücke zwischen Subjektivität und Objektivität mittels performativer Aktionen und intersubjektiver Beurteilung der erfahrenen Wirkungen geschlagen. Modelle, Symbolisierungen werden entworfen, kommen in eine erfahrbare Form, werden durch Interaktionen verändert:
84 Paul Feyerabend: Wissenschaft als Kunst, S. 8. 85 Vgl. http://performative-wissenschaft.diebner.de/index.html vom 2. Dezember 2016. 86 Vgl. Katja Gries: Vernetzungen zwischen Kunst, Wissenschaft und Technik, S. 284. 34
Kunst, Wissenschaft und Natur
«Performative Praxis experimentiert jenseits eines logozentrierten Wissensbegriffs mit der Produktion ganzheitlichen Wissens durch Erfahrungen, welche sich über den Körper, über das Empfinden für räumliche, bildhafte, klangliche und energetische Atmosphären sowie für soziale Situationen und zeitliche Prozesse entwickeln.» 87
In der Regel sind beim Entwurf und bei der Nutzung von immersiven virtuellen Umgebungen sehr unterschiedliche technische, wissenschaftliche und künstlerische Disziplinen involviert. In der immersiven virtuellen Umgebung als technisch-ästhetischem Begegnungsraum kommen verschiedene wissenschaftliche und künstlerische Disziplinen durch ein gemeinsam definiertes experimentelles Setup und einen gemeinsamen Forschungsgegenstand in einen intensiven Austausch. Goodmans Vergleich der Weltversionen findet ein Verhandlungsfeld, das eine prinzipielle Offenheit gegenüber der wissenschaftsund kunstinteressierten Öffentlichkeit aufweist. Wird die immersive virtuelle Umgebung in einer Ausstellung oder an einem Kongress gezeigt, so involviert sich zudem eine höhere Zahl an Experimentierenden und Beurteilenden in das Forschungsprojekt, etwa indem ihre Interaktionen vom System gespeichert und ausgewertet werden, oder durch ihr persönliches Feedback gegenüber den Forschenden und Künstlern. Eine so verstandene transdisziplinäre, integrative Forschungsstruktur und -Praxis charakterisiert sich nach Katja Gries durch Anwendungsbezogenheit und performative Vollzüge88, sie stellt eine emergente Konstellation aller Beteiligter her, indem sie die Rolle «persönlicher Dispositionen» als Mitverursacher von Forschungsergebnissen aufzeigt, und sie «befähigt uns, [diese, d. Verf.] neu zu interpretieren und zu verknüpfen»89. Die transdisziplinäre «Werkstruktur», speziell von immersiven virtuellen Umgebungen, wird so auch auf die soziale Struktur übertragen.90 Dass sich integrative Forschungsprojekte aufgrund der (u. a. ästhetischen) Eigenarten oder Anforderungen eines zu erforschenden Phänomens transdisziplinär konstituieren, ist an sich nichts Neues. Insbesondere wenn es sich um mögliche Entdeckungen in einem Forschungsvorhaben handelt, ist die Frage nach ihrer Erfahrbarkeit, Darstellbarkeit, Vermittelbarkeit – des «Wie» – kritisch. Dokumente historischer Entdeckungen und naturkundlicher Expeditionen legen davon ein vielfältiges Zeugnis ab.
87 Marie-Luise Lange, zitiert in: Katja Gries: Vernetzungen zwischen Kunst, Wissenschaft und Technik, S. 283. 88 Ebd. S. 298. 89 John Dewey: Erfahrung und Natur, S. 231. 90 Katja Gries: Vernetzungen zwischen Kunst, Wissenschaft und Technik S. 301. 35
Marcus Maeder
Die wissenschaftlich-künstlerische Naturbeobachtung Menschlichen Kulturgegenständen und Gebräuchen ist eine unüberschaubare Vielfalt an Formen, die Umwelt adäquat wahrzunehmen und darzustellen, eingeschrieben. Darstellungen der Natur in der Kunst und der Wissenschaft haben instrumentellen Charakter: Sie stehen in einer Korrespondenz mit menschlichen Bedürfnissen und Zielsetzungen und zeigen Möglichkeiten der Wahrnehmung, des Genusses und Gebrauchs der Umwelt auf: «So wie das fortschreitende Wachstum des Individuums vom Embryonalzustand bis zum reifen Alter das Ergebnis der Interaktion zwischen Organismus und Umgebung ist, so stellt die Kultur nicht das Produkt von menschlichen Kräften dar, die sich im leeren Raum oder aus sich heraus entfalten, sondern sie ist das Ergebnis einer umfangreichen und sich steigernden Interaktion mit der Umwelt.»91
Der Mensch hat sich immer in eine Relation zur Natur gesetzt. Deshalb stehen Naturdarstellungen im Mittelpunkt seiner bildhaften Hervorbringungen.92 Im akademischen Universallexikon findet sich eine Abhandlung über die Naturdarstellung in der Literatur, die sich nahezu universal auf alle künstlerischen Darstellungsformen der Natur anwenden lässt: «Bedeutung und Funktion der Natur in der Literatur der verschiedenen Zeiten und Völker ist seit jeher mannigfachen Wandlungen unterworfen, die in engem Zusammenhang und in Wechselwirkung mit v. a. religiösen, philosophischen, naturwissenschaftlich-technischen und ökonomischen Vorstellungen und Erklärungsmodellen stehen.»93
Naturbilder werden medial vermittelt, diese Bedingung hat die Wissenschaften und Künste seit ihrer Trennung im Zuge ihrer gesellschaftlichen Situierung und Ausdifferenzierung immer wieder in inter- und transdisziplinären Aufgabenstellungen zusammengebracht. Von der Zeit der Universalgelehrten der Renaissance bis zu naturkundlichen Expeditionen im 19. Jahrhundert hat sich das Wissenschaftlich-Künstlerische immer wieder auch in Personalunion manifestiert – Naturforscher von Leonardo da Vinci bis Alexander von Humboldt haben sich in ihren Forschungen meist selber um visuelle Darstellungen bemüht. Je komplexer jeweils die zu untersuchenden und darzustellenden Phänomene waren und wurden, umso mehr kamen durch das Imaginative ergänzte Abbildungen der Natur zum Einsatz, war die künstlerische Imaginationskraft gefordert: 91 John Dewey: Kunst als Erfahrung, S. 38. 92 Vgl. Claude Lévi-Strauss: «Die Schlange mit dem Körper voller Fische», in: Strukturale Anthropologie, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1977, S. 292. 93 Vgl. http://universal_lexikon.deacademic.com/276857/Naturdarstellung vom 30. November 2016. 36
Kunst, Wissenschaft und Natur
«Bei der Wiedergabe und Erfindung von Bildern der Natur haben Künstlerinnen und Künstler bis heute gleichsam als naturkundliche Forscher fungiert. Anders als in der frühen Neuzeit, in der vor allem die mimetische Dokumentation und Idealisierung der Naturbereiche eine vordergründige Rolle spielte, gewann vor allem seit Beginn des 20. Jahrhunderts die künstlerische Imagination mit ihren Adaptionen und Neuschöpfungen an Bedeutung, gestaltete den Bildinhalt mit und gab neben einer forschenden Herangehensweise auch Fiktionen der Naturgeschichte Raum.»94
Einige korrespondierende Beispiele findet sich bereits früher, in Alexander von Humboldts berühmter Dokumentation seiner Amerika-Expedition. Humboldt bereiste Latein- und Nordamerika um die Wende des 18. zum 19. Jahrhundert. Das Ziel der Reise bestand darin, topografische, meteorologische, geologische und geografische Zusammenhänge, zum Beispiel zwischen den Anden und dem Amazonasbecken, mit neuesten Messinstrumenten zu untersuchen sowie Flora, Fauna und die Kulturen Amerikas zu dokumentieren. Zudem existierte zu dieser Zeit wenig bis kein Anschauungsmaterial des tropischen «Westindiens» für das urbane Bürgertum Europas, das sich unter dem Eindruck der aufkommenden Industrialisierung95 nach Bildern der unberührten Natur sehnte. Da Humboldts Forschungsinteresse die Grenzen zwischen Wissenschaftsdisziplinen überschritt, wusste ihn die Wissenschaftswelt des 19. Jahrhunderts auch nicht klar einzuordnen: «War er Physiker oder Chemiker, Biologe, Physiologe? Er betätigte sich meist auf Grenzgebieten, an der Überschneidung verschiedener Disziplinen. (...) Er gehörte zu den Begründern eines Faches, das es damals nicht gab und erst heute einen Namen erhalten hat: Die Erde betrachtete er als die Wohnung (oikos) der Menschen, er erforschte sie in dieser Perspektive und war der erste Ökologe.»96
Das Finden und Aufzeigen von geografischen und ökologischen Zusammenhängen stellte sowohl an Forschungsmethoden wie Darstellungsformen neue Ansprüche. Verschiedene Forschungsmethoden und visuelle Gestaltungsformen mussten untereinander vernetzt werden:
94 Zitiert aus dem Call for Papers der Tagung «Objektivität und Imagination. Naturgeschichte in der Kunst des 20. und 21. Jahrhunderts», Sprengel Museum Hannover, 10. – 12. September 2015. Vgl. http://www.sprengel-museum.de/kuenstlervermittungen__veranstaltungen/ tagungen_und_symposien/objektivitaet-und-imagination.htm?snr=1 vom 30. November 2016. 95 Auch der Zeitraum des Beginns der deutschen Romantik. 96 Pierre Bertaux, zitiert in: Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland GmbH (Hg.): Alexander von Humboldt – Netzwerke des Wissens, Ostfildern-Ruit: Hatje Cantz 1999. 37
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Abbildung 3: Alexander von Humboldt: «Ideen zu einer Geographie der Pflanzen nebst einem Naturgemälde der Tropenländer», Paris 1805. Hier schaffen Text und Bild in der Dokumentation und der Kontextualisierung der Forschungsergebnisse eine mediale Repräsentation der Klimazonen, der Vegetationsverteilung und der atmosphärischen Schichten in den Anden. Von den topographischen Zusammenhängen vor Ort wäre wohl nur ein sehr kleiner Ausschnitt sichtbar. Der artifizielle, virtuelle Raum des Bildes bringt die unterschiedlichen Aspekte und Zusammenhänge der Ökologie wie auch landschaftlich-ästhetische Beobachtungen der Andenwelt in einer einheitlichen Darstellung zusammen. Eine solche Darstellung und Erfahrung der Natur geht über deren künstlerische Mimesis hinaus, sie ästhetisiert eine ganze Reihe von außerästhetischen Gegenständen auf experimentelle Art und Weise: «Überblick der Natur im großen, Beweis von dem Zusammenwirken der Kräfte, Erneuerung des Genusses, welchen die unmittelbare Ansicht der Tropenländer dem fühlenden Menschen gewährt: Sind die Zwecke nach denen ich strebe. Jeder Aufsatz sollte ein in sich geschlossenes Ganzes ausmachen (...). Diese ästhetische Behandlung naturhistorischer Gegenstände hat, trotz der herrlichen Kraft und der Biegsamkeit unserer vaterländischen Sprache, große Schwierigkeiten der Komposition.»97
97 Alexander von Humboldt: Ansichten der Natur mit wissenschaftlichen Erläuterungen, Norderstedt: Vero 2013, S. VIII. 38
Kunst, Wissenschaft und Natur
Abbildung 4. Alexander von Humboldt, aus dem Reisetagebuch VII a und b, Berechnungen und Skizzen zur Topographie. Die Besonderheit in Humboldts Verbindung des Wissenschaftlichen und Künstlerischen beim Erforschen und Beschreiben von geografischen oder ökologischen Zusammenhängen liegt in der Schaffung einer synthetisierenden, einheitlichen, umfassenden Erfahrung eines Gegenstandes, und dabei spielt ästhetisches Bewusstsein und Handeln eine zentrale Rolle: «Die Verbindung eines literarischen und eines rein szientistischen Zweckes, der Wunsch, gleichzeitig die Phantasie zu beschäftigen und durch Vermehrung des Wissens das Leben mit Ideen zu bereichern: machen die Anordnung der einzelnen Theile und das, was als Einheit der Komposition gefordert wird (...).»98
Es findet eine Anbindung der Forschungs- und Bildinhalte an die Imagination statt, im Sinne eines heuristischen «ich stelle mir vor, dass...». Lambert Wiesing spricht diesbezüglich von einer nicht-immersiven Virtualität99, die im Gegensatz zur immersiven Virtualität den zu erforschenden und darzustellenden Gegenstand nicht über die Angleichung an die Erfahrung eines realen Objekts herstellt, sondern über die Anbindung an die (ästhetische) Imagination. Dabei geht es um einen explanatorischen Zugewinn in Aussagen über Phänomene, der über experimentelle Verknüpfungen von empirischen Forschungsmethoden und ästhetischen Darstellungsweisen (in den Abbildungen 4 und 5 98 Ebd. S. XII. 99 Virtuell im Sinn von «wirkungsfähig»: Virtualität beschreibt eine gedachte oder über ihre Eigenschaften definierte Entität, die zwar nicht physisch, aber doch in ihrer Funktionalität oder Wirkung vorhanden ist. 39
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zum Beispiel über neuartige Text- und Bildkombinationen) zustande kommt. In der virtuellen Realität werden neue Verknüpfungen mit dem empirischen Gegenstand vorgenommen; empirische Forschungsmethoden werden zu ästhetischen Praktiken und umgekehrt, es zeigen sich forschungspraktische Vermittlungspotentiale.100 Um natürliche Phänomene zu verstehen, werden diese in einem «neuen und freieren Medium»101 neu geschaffen (simuliert), einem Medium, das eine Idealisierung erlaubt, «aber eine, die die Idealisierung natürlicher Ereignisse ist.»102 Das ist ein wichtiger Zusammenhang, wenn einerseits virtuellen Bildern und Simulationen eine objektive Referenz zugesprochen werden soll, andererseits virtuelle Bilder und Simulationen zu einem neuen und tieferen Verständnis der Natur beitragen sollen. Der Zweck virtueller Realitäten besteht demzufolge darin, mehr Differenzierungen in unseren Erfahrungen und Bedeutungszuschreibungen im Zusammenhang mit der Natur herzustellen. Ein virtuelles Kunstwerk «überträgt, wie jedes andere Kunstwerk, Eigenschaften und Potentialitäten auf Dinge, zu denen sie vorher nicht gehörten.»103
Bedeutungen werden durch die Schaffung einer neuen Erfahrung geläutert und intensiviert; ästhetische Urteile sind dabei ein Mittel zur Klassifizierung und Deutung.104 Der Imagination kommt die Rolle zu, Modelle für eine Klassifizierung und Deutung von Phänomenen in der Natur zu entwerfen: «Nur imaginative Anschauung bekommt die Möglichkeiten heraus, die im Gewebe des Aktuellen verwoben sind.»105
Die in virtuellen Realitäten simulierten und in eine immersive Erfahrungsform gebrachten Bedeutungen von Dingen wirken auf die Realität ein, sie haben Einfluss auf unsere Wahrnehmung und unser Verhalten in der «wirklichen» Welt. In der virtuellen Darstellung und Simulation der Natur mischen sich die Substrate des «praktischen Gebrauchs und konkreten Genusses» mit den «Substraten wissenschaftlicher Schlussfolgerungen»106 und wirken in die alltägliche wie die wissenschaftliche Handlungs- und Erfahrungswelt zurück. Es gilt, virtuelle und
100 Vgl. Tanja Bogusz: Experimentalismus statt Explanans, S. 246. 101 John Dewey: Erfahrung und Natur, S. 98. 102 John Dewey: Erfahrung und Natur, S. 98. 103 Ebd., S. 358. 104 Vgl. John Dewey: Kunst als Erfahrung, S. 152. 105 Ebd., S. 398. 106 Vgl. John Dewey: Logik, S. 87. 40
Kunst, Wissenschaft und Natur
«mediale Maschinerien als Spiegelungen von Bedürfnissen, Antrieben und Phantasmen einer Menschheit zu verstehen, die nicht zuletzt in Gestalt der technē praktische Anthropologie betreibt, zum anderen aber ist danach zu fragen, wie diese mediale technē die Befindlichkeit des Menschen verändert, variiert und modifiziert, die sich nicht einfach statisch zwischen Mensch und Welt stellt, sondern indem sie letztere erst in der uns heute geläufigen Form konstituiert, auch jene Momente des Inszenatorischen und Imaginären ins Blickfeld rückt.»107
Die universale Präsenz digitaler Medientechniken verschärft die Frage, die sich bezüglich der Zielsetzungen von Wissenschaft und Kunst stellt, nämlich inwiefern sich Teleologien in der Kunst und der Wissenschaft in Bezug auf ein modifiziertes Naturverständnis überhaupt (noch) als normativer Input in die Gesellschaft einbringen lassen. Kunst und Wissenschaft bedienen wohl die medialen Kanäle immer mehr und breiter mit Inhalten und Erkenntnissen108, aber zumeist aus einer distinktiven Haltung heraus, die den wissenschaftlichen oder künstlerischen Kontext, aus dem heraus argumentiert wird, als Heterotopien109 von der Alltagswelt abgrenzen. Man tut dies im Namen der Freiheit der Forschung oder der Kunst, die von den Niederungen der Alltagswelt und Massenkultur, der Politik befreit sein soll, um sich selbst einer unabhängigen Perspektive auf die Welt zu versichern, oder auch einfach aufgrund elitärer Motive. Aber die subjektiven Verstrickungen von Forschenden und Künstlern in die Alltagswelt, etwa in psychische, lebensästhetische oder politische Belange, sind bisweilen stärker als realisiert oder zugegeben wird, und sie sind dem Gebrauch von Medientechnologien implizit: «Doit-on tenir des productions sémiotiques des mass media, de l’informatique, de la télématique, la robotique, en dehors de la subjectivité psychologique? Je ne le pense pas. Au même titre que les machines sociales qu’on peut ranger sous la rubrique générale des équipments collectifs, les machines technologiques d’information et de communication opèrent au coeur de la subjectivité humaine, non seulement au sein de ses mémoires, de son intelligence, mais aussi de sa sensibilité, de ses affects et de ses fantasmes inconscients.»110
Wissenschaftler und Künstler, die in Disziplinen wie der Ökologie oder der synthetischen Naturwissenschaften111 forschen, müssen ein verfeinertes Bewusst107 Vgl. Hans Ulrich Reck et al (Hrsg.): Inszenierte Imagination. Beiträge zu einer historischen Anthropologie der Medien, Wien/New York: Springer 1996, S. 1. 108 Das zeigt insbesondere die große Beliebtheit von Wissenschaftssendungen und Dokumentarfilmen. 109 Vgl. Michel Foucault: Die Heterotopien/der utopische Körper. Zwei Radiovorträge, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2005. 110 Félix Guattari: Chaosmose, Paris: Galilée 1992, S. 15. 111 Synthetische Naturwissenschaften umfassen Disziplinen wie die synthetische Biologie, Künstliches Leben oder Robotik. Mit computerprogrammiertem Künstlichem Leben zum Beispiel 41
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sein qualitativer Grade des subjektiven Erlebens medialer Vermittlungsformen der Umwelt entwickeln. Damit verbindet sich ein umweltethisches, umweltpolitisches Bewusstsein, insbesondere in jüngeren Spielarten der Konzept- und Medienkunst, die als Eco Art, Bio Art112 oder Environmental Art bezeichnet werden. In solchen Feldern finden sich Forschende mit naturwissenschaftlichem und künstlerischem Hintergrund zusammen, um ökologische Zusammenhänge und Probleme zu untersuchen und in eine ästhetisch erfahrbare, eine künstlerisch gestaltete Form zu bringen. Kunst und Ökologie Eco Art und Bio Art haben ihre Wurzeln in der Konzeptkunst und der Land Art oder Environmental Art der 1960er, 1970er Jahre. Die historischen Vorreiter von Eco- und Bio Art zeichneten sich durch den Einsatz von bis dahin nicht als künstlerisch geltenden Ideen, Objekten und Umgebungen für die Produktion eines Kunstwerks aus: Laborumgebungen, die natürliche Landschaft oder Gegenstände, die ihr entnommen wurden, Pflanzen usw. Die Konzept- und Aktionskunst, besonders das Werk von Joseph Beuys, hatte zu ihrer Zeit bereits ökologisch-ästhetische Implikationen, so zum Beispiel seine Arbeiten «7000 Eichen» oder «Honigpumpe am Arbeitsplatz» (Vgl. Abbildung 6): «Die künstlerischen Aktionen Beuys’ auf der Kasseler documenta lassen u. a. erkennen, dass es ihm um die Auflösung der herkömmlichen Begriffe, ja auch um die Auflösung jener individuellen Entdeckungsreisen in die geistige Tiefe der Natur geht, wie sie für die klassische Moderne kennzeichnend war. Jetzt geht es um die Kommunikation derer, die durch die Kollision zwischen Mensch und Natur in einer technischen Zivilisation betroffen sind und nach neuen Mitteln der Gestaltung suchen.»113
Bei der Installation «Honigpumpe am Arbeitsplatz», die erstmals 1977 an der documenta 6 gezeigt wurde, handelt es sich um eine über mehrere Räume verteilte technische Anlage, wo Honig durch ein umlaufendes Schlauchsystem gepumpt wurde. Ein weiteres Element der Installation war eine Kupferwelle, die sich in 100 Kilogramm Margarine drehte. In unmittelbarer Nähe befand sich ein Diskussionsforum der Free International University114, wo der Künstler können Phänomene und Prozesse des biologischen Lebens untersucht werden, etwa indem Lebensstrukturen und Umwelt beliebig modelliert werden können. 112 «Bio Art is distinguished [from Eco Art, d. Verf.] by its medium, which is living matter in the form of tissues, bacteria, fungi, or entire living organisms and their life processes.» Linda Weintraub: To Life! Eco Art in pursuit of a sustainable planet, Berkeley/Los Angeles/London: University of California Press 2012, S. XXI. 113 Günter Altner: «Kunst und Wissenschaft im Horizont der Nachhaltigkeit», in: Ökologisches Jahrbuch 2005, München: Beck 2004, S. 36–54. 114 Eine von Beuys gegründete freie Hochschule, die als «organisatorischer Ort des Forschens, 42
Kunst, Wissenschaft und Natur
mit Arbeitsgruppen, Künstlern, Wissenschaftlern und Politikern die Idee einer permanent tagenden, öffentlichen und internationalen Konferenz diskutierte, die entscheidende Fragen zur Zukunft des Menschen behandeln sollte.
Abbildung 5: «With Honeypump I am expressing the principle of the Free International University working in the bloodstream of society. Flowing in and out of the heart organ – the steel honey container – are the main arteries through which the honey is pumped out of the engine room with a pulsing sound, circulates round the Free University area, and returns to the heart.»115 Photo: Ute Klophaus In der Installation wurde ein Kreislauf116 simuliert, wo mit für Beuys typischen bedeutungsgeladenen Materialen wie Fett, Kupfer und Honig ein experimenteller, offener Bedeutungszusammenhang mit einer Anbindung an gesellschaftspolitische Diskussionen inszeniert wurde. Auf gewisse Weise scheint dieses Beuys’sche Setup in seiner gänzlich «analogen» Umsetzung durchaus heutigen immersiven virtuellen Umgebungen verwandt zu sein oder kann als deren Vorläuferform interpretiert werden. Der Bau eines kommunikativen, experimentellen Systems, das unser Verständnis der Welt ausweiten und vertiefen soll – dieser Ansatz findet sich bereits in der Konzept-und Aktionskunst des 20. Jahrhunderts.
Arbeitens und Kommunizierens» Zukunftsfragen behandelte, vgl. Joseph Beuys: «Aufruf zur Alternative», http://www.themen-der-zeit.de/content/Aufruf_zur_Alternative.424.0.html vom 30. November 2016. 115 Zitat von Beuys, in: Caroline Tisdall: Joseph Beuys, London: Thames & Hudson 1979, S. 254. 116 Als symbolischer Energie- und Wärmekreislauf im Kontext der Ölkrisen in den 1970er Jahren. 43
Marcus Maeder
Die Environmental Art der 1960er/1970er Jahre hatte im Unterschied zu aktuellen Praktiken eher die direkte Verbindung der Künstler mit der Natur zum Thema, zum Beispiel indem sie in ihren Werken natürliche Materialien wie Steine oder Holz verwendete oder ihre Werke direkt in der Natur inszenierte:
Abbildung 6: Walter de Maria, The Lightning Field, 1977. © The Estate of Walter De Maria. Photo: John Cliett. Environmental Art lässt sich in zwei «Disziplinen» aufteilen: In Kunst, die in der natürlichen Umgebung inszeniert wird (Land Art) oder natürliche Objekte als inszenatorische Elemente verwendet und in eine ökologische künstlerische Praxis (Eco Art), die aber gleichzeitig den Begriff der Environmental Art neu definiert, indem sie in ihren Projekten ökologische Zusammenhänge und Probleme künstlerisch oder künstlerisch-wissenschaftlich behandelt und sich neuer künstlerischer Medien bedient – also Situationen schafft, wo die Umgebung zur Umwelt117 wird: 117 Für Jakob von Uexküll unterscheidet sich die Umwelt von der Umgebung insofern, indem letztere eine bloße räumliche Nachbarschaft von Dingen oder Organismen beschreibt, erstere aber durch ein Lebewesen maßgeblich definiert und gestaltet wird. Ein Lebewesen ist nach Uexküll und der ihm später folgenden Theorie lebender Systeme immer auch seine je besondere Umwelt – die Umwelt spiegelt sich in der Innenwelt eines Organismus, sie konstituiert sich über die Interaktionen des Lebewesens mit ihr. Vgl. Marcus Maeder: «Ambient», 44
Kunst, Wissenschaft und Natur
«Eco artists replace art store supplies with living plants and microbes, mud and feathers, electronic transmissions and digital imagery, temperature and wind, debris and contaminants. The finale ist that eco art is defined as a mission, not a style.»118
Die Environmental Art geht zunehmend im Begriff der Eco Art auf; im Vordergrund des künstlerisch-wissenschaftlichen Umgangs mit der Natur stehen heute vermehrt ökologische Themen: «Allthough eco art has been hovering on the wings of the art scene for more than a half century, two phenomena are converging that might ultimately cast it in a leading role in the current era’s cultural chronicle. First, its mission is becoming ever more crucial, as the earth’s ability to sustain current and future generations of humans becomes more precarious. (...) Second, the number of international artists rejuvenating the planet has reached a critical mass.»119
In heutigen künstlerisch-wissenschaftlichen Kollaborationen im Kontext der Eco Art stehen Praktiken im Vordergrund, die nicht wahrnehmbare Prozesse oder abstrakte Daten sinnlich erfahrbar machen wollen: Luftverschmutzung, Klimawandel, biologische Prozesse120, ökologische Kreisläufe, Genetik und Gentechnologie121 usw. werden über digitale Technologien und Medien wissenschaftlich-künstlerisch erforscht und inszeniert, um Zusammenhänge und Probleme in der Natur aufzuzeigen und in einer immersiven, intensivierten Erfahrung erlebbar zu machen. Dieses (wiedererwachte) Interesse an gemeinsamen Forschungsgegenständen im Zeichen des Wissenschaftlich-Ästhetischen steht vor dem Hintergrund eines aufkommenden «Ökozentrismus», der als Gegenentwurf zum geläufigen Anthropozentrismus postuliert wird und wo Menschen sich selber als nicht wichtiger als andere Entitäten auf der Welt zu sehen beginnen.122 Ein wichtiger Aspekt ist dabei die Technologie. Sie macht es erst möglich, normalerweise nicht wahrnehmbare Phänomene oder Lebensprozesse erfahrbar zu machen und sie ist das Medium der ästhetisch-wissenschaftlichen Künste, den technai des 21. Jahrhunderts: «Kunst, Wissenschaft und Technik prägen die Weisen unserer Weltwahrnehmung, erstellen uns Denksphären und geben uns Orientierungs- und Handlungsschemata im Leben. Mehr denn je vermitteln diese Gebiete heute ihre Interdependenz. (...) Die komplexen Technologien sind mächtige Katalysatoren der Wissenschaft und der in: Marcus Maeder (Hg.): Milieux Sonores/Klangliche Milieus. Klang, Raum und Virtualität, Bielefeld: transcript 2010, S. 95–120. 118 Linda Weintraub: To Life!, S. XIV. 119 Ebd. 120 Damit beschäftigt sich speziell die Bio Art als Disziplin der Eco Art. 121 Dito. 122 Vgl. Linda Weintraub: To Life!, S. 7. 45
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Kunst, während umgekehrt deren Praxen und Erkenntnisse in die Aufgabe neuer technischer Entwicklungen münden.»123
Ein neues Bild der Natur zu entwickeln, das über genügend normative Kraft in unserer natürlich-technischen Umwelt verfügen soll, ist ohne (kommunikativ und künstlerische eingesetzte) Technologie nicht zu realisieren: «Wie können Umweltprobleme in der gesellschaftlichen Kommunikation Resonanz finden, wenn das Gesellschaftssystem in Funktionssysteme gegliedert ist und nur durch Funktionssysteme auf Umweltereignisse und Umweltveränderungen reagieren kann?»124
Im Wissenschaftlich-Künstlerischen entstehen mediale Funktionssysteme, die über Bild, Klang, Inszenierung – über unmittelbare Erfahrungen – Dinge der Umwelt symbolisieren und ihre Bedeutungen transformieren. Es kommt zu neuen, erweiterten und intensiveren Erfahrungen von Umweltereignissen und -Veränderungen, die möglicherweise größeren Einfluss auf unser Denken und Handeln haben als die gängige Rhetorik vieler Umweltbewegungen. Dabei spielt die technisch-künstlerisch generierte Virtualität eine nicht zu unterschätzende Rolle. Das Phänomen der Virtualität an sich ist zunehmend Gegenstand jüngerer philosophischer Untersuchungen geworden125, nicht zuletzt weil technisch erzeugte virtuelle Realitäten Teil unserer Wirklichkeitserfahrungen geworden sind. Oftmals erweisen sich ökologische Zusammenhänge als so komplex, dass sie in einem artifiziellen Medium, das eine Vielzahl an Informationen in einen sinnvollen und sinnlichen Zusammenhang zu bringen in der Lage ist, rekonstruiert werden müssen: Der Mensch baut Modelle der Natur, um sie verstehen zu können. Im folgenden möchte ich zwei aktuelle Projekte, die sich im Kontext des Wissenschaftlich-Künstlerischen und der Eco Art bewegen schildern und diese auf transdisziplinäre Erkenntnispotentiale, die sich im Forschungszusammenhang des Wissenschaftlich-Künstlerischen zeigen, untersuchen. Zudem werde ich versuchen, die diesem Forschungskontext inhärenten transformativen Potentiale bezüglich eines neuen Naturbildes zu benennen.
123 Katja Gries: Vernetzungen zwischen Kunst, Wissenschaft und Technik, S. 107. 124 Niklas Luhmann: Ökologische Kommunikation, Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften 2004, S. 75. 125 Ich werde darauf im letzten Kapitel zurückkommen. 46
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Beispiel 1: «trees – Ökophysiologische Prozesse hörbar machen» Das erste Projekt, welches ich hier detaillierter als das zweite Beispiel beschreiben kann, ist mein vom Schweizerischen Nationalfonds finanziertes Forschungsprojekt «trees: Ökophysiologische Prozesse hörbar machen», das im November 2015 abgeschlossen wurde. Das Projekt war eine Kooperation zwischen dem Institute for Computer Music and Sound Technology (ICST) der Zürcher Hochschule der Künste ZHdK und der Eidgenössischen Forschungsanstalt für Wald, Schnee und Landschaft WSL in Birmensdorf in der Schweiz. In das Projekt «trees» waren ein Pflanzen-Ökophysiologe, ein Klangkünstler, ein Elektroingenieur und verschiedene Programmierer involviert. Das Ziel unseres Forschungsprojekts bestand darin, Geräusche, die in Pflanzen entstehen126, in einen Zusammenhang zu ökophysiologischen Prozessen127 zu bringen und so nicht wahrnehmbare Phänomene und Abläufe auf künstlerische Weise erfahrbar zu machen. Das Projekt konstituierten also naturwissenschaftliche und künstlerische Fragestellungen, die einen gemeinsamen Forschungsgegenstand hatten, nämlich die Untersuchung und Erfahrbarmachung von Pflanzengeräuschen als Indikatoren von physiologischen Prozessen und Reaktionen, die in Wechselwirkung mit der lokalen Umwelt einer Pflanze entstehen. Dazu wurden die akustischen Emissionen in einem Baum in den Schweizer Alpen mit spezieller Sensorik aufgezeichnet und ökophysiologische Messdaten (z. B. die sich je nach Wassergehalt verändernden Stamm- und Ast-Radien, die Saftflussrate in den Ästen, das im Boden vorhandene Wasser, relative Luftfeuchtigkeit, Sonneneinstrahlung usw.) sonifiziert, d. h. in Klänge übersetzt.128
126 Geräusche in Pflanzen entstehen hauptsächlich durch die Bewegungen von Wasser und Gasen in den Leitgefäßen während der Transpiration und der Nährstoffverteilung, besonders aber bei Trockenstress (aufgrund von Kavitationen in den Gefäßen). 127 Die Ökophysiologie untersucht physiologische Prozesse in Lebewesen, die in direkter Beziehung (in Wechselwirkung) zu ihrer Umwelt stehen; solche Prozesse werden als Anpassungsleistungen an ihre Lebensräume gesehen und erforscht. Vgl. Walter Larcher: Physiological Plant Ecology, Berlin: Springer 2003, S. VI. 128 In der Datensonifikation werden Datenreihen verwendet, um Parameter wie Amplitude, Tonhöhe oder Klangfarbe in der digitalen Klangerzeugung zu steuern. Die Datensonifikation kommt vor allem bei komplexen Daten (im Data Mining, d. h. bei der Suche von Mustern oder Irregularitäten in Datenstrukturen), aber auch in Steuersystemen von Fahr- und Flugzeugen zum Einsatz, wo der Gesichtssinn durch die spezifischen Vorteile des Gehörsinns (unmittelbare Klassifikationsfähigkeit und sofortige räumliche Orientierung) ergänzt wird. Vgl. Thomas Hermann et al: The Sonification Handbook, Berlin: COST 2011, S. 1. 47
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Abbildung 7: Unsere Messstation wurde für 3 Jahre in einem Bergwald im Wallis in der Schweiz betrieben. Eine Waldkiefer (Pinus sylvestris) und ihr Habitat wurde mit akustischer, meteorologischer und ökophysiologischer Sensorik versehen. Am Baum war zudem ein Kamerasystem angebracht, das Panorama-Timelapse-Filme vom Stamm aus aufnahm (ganz rechts oben im Bild).129 Die Aufnahmen und die sonifizierten Messungen wurden in mehreren Medienkunst-Installationen implementiert, die den Forschenden gleichzeitig als Forschungsumgebung dienten, um die zeitlichen und räumlichen Zusammenhänge zwischen Pflanzengeräuschen, physiologischen Prozessen und Umweltbedingungen in einem künstlerisch-wissenschaftlichen Beobachtungssystem darzustellen und zu untersuchen. Ich beschränke mich hier auf die Schilderung der letzten und größten Installation, der Implementation unseres Beobachtungssystems im Immersive Lab, einer immersiven virtuellen Umgebung, die am ICST entwickelt wurde.130 Das System besteht aus einer Panorama-Videoprojektionsumgebung, die über eine Surround-Beschallung und die Möglichkeit der haptischen Interaktion mit Computerprogrammen direkt auf der Projektionsoberfläche bietet:
129 Vgl. https://blog.zhdk.ch/trees vom 30. November 2016. 130 Vgl. http://immersivelab.zhdk.ch vom 30. November 2016. 48
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Abbildung 8: «trees: Pinus sylvestris» im Immersive Lab des ICST. Das im Immersive Lab realisierte Beobachtungssystem war gleichzeitig ein künstlerischer Beitrag mit dem Titel «trees: Pinus sylvestris». Darin wurde das Leben und die Umweltbedingungen einer Waldkiefer während der Hauptwachstumsphase im Mai/Juni 2015 dargestellt, d. h. die gespeicherten und sonifizierten Messdaten sowie Timelapse-Filme von Kameras am Stamm des Baumes in einer Schlaufe abgespielt. Wenn die Benutzer des Systems auf der Projektionsfläche markierte Stellen an einzelnen Ästen berührten, dann wurden die Pflanzengeräusche hörbar und die aktuellen akustischen und physiologischen Messwerte visuell dargestellt (in Abbildung 9 die rote Fläche und der rote Text in der Projektion). Zudem wurden die Daten der wichtigsten Umweltfaktoren auf einer weiteren Fläche als grafischer Plot gezeichnet (Vgl. Abbildung 10), der helfen sollte, die Zuordnung einzelner Phänomene und Prozesse zu ihren klanglichen Repräsentationen besser verstehen zu können. Sonnenlicht, Bodenfeuchte, Temperatur, Regen usw. wurden als Sonifikationen im System abgespielt, wobei die sich akustisch manifestierenden Wetterphänomene anhand von Field Recordings131 dargestellt wurden und allen weiteren, nichtauditiven Messdaten komponierte, synthetische Klänge zugeordnet wurden. So wurde zum Beispiel die Stärke des einfallenden Sonnenlichts respektive die sich durch den Himmel bewegende Sonne mit einem Streicherklang dargestellt, dessen Lautstärke der gemessenen Lichtstärke entsprach und dessen räumliche Position im Klangsystem den Sonnenpositionsdaten während der Messperiode entsprachen.132 131 Aufnahmen von Natur- und Wettergeräuschen im Feld. 132 Für die Sonifikation wurden die Messungen von Lichtsensoren (Watt pro m2) auf den Ästen des Baums verwendet, für die Sonnenposition/räumliche Position der Schallquelle (der Sonne) 49
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Abbildung 9: «trees: Pinus sylvestris»: Panorama-Projektion; der Datenplot befindet sich auf der Projektionsfläche links (unten) im Bild. Durch die Panorama-Projektion der Bilder der drei am Stamm angebrachten Kameras konnten viele Korrelationen zwischen den Pflanzengeräuschen und Umweltbedingungen direkt beobachtet werden: Die Saftflussgeräusche und Kavitationspulse133 zum Beispiel nahmen zu, wenn die Sonne auf den entsprechenden Ast im Kamerabild schien, weil das auf den Ast fallende Sonnenlicht die Transpiration und damit den Saftfluss in Gang brachte und einzelne Kavitationen verursachte. Das Beobachtungssystem hatte explorativen Charakter; die Forscher wie die Besucher/innen mussten lernen, sich darin zu orientieren und vor allem genau hinzuhören, um das räumliche und zeitliche Auftreten der Geräusche, die feinen täglichen Variationen im Lebensprozess der Pflanze sowie saisonale Muster erkennen zu können.
im Surround-Audiosystem Online-Daten des Sonnenstands während der entsprechenden Messperiode (Azimut und Elevation über dem Horizont). 133 Vgl. folgende Fußnote. 50
Kunst, Wissenschaft und Natur
Die meisten in einer Pflanze vorkommenden Geräusche entstehen im Zusammenhang mit Trockenstress.134 Durstige Pflanzen machen unhörbaren Lärm, akustische Emissionen von Pflanzen lassen Rückschlüsse auf ihren Zustand und ihre Umweltbedingen zu. Während unseres Forschungsprojekts wurde uns klar, dass mit unserem Beobachtungssystem ein weiteres, grundlegenderes Phänomen erfahrbar gemacht werden konnte: Nämlich wie Bäume auf immer länger dauernde Hitze- und Trockenperioden im Zuge des Klimawandels reagieren. Unsere Versuchspflanze, die Waldkiefer, ist eine Pflanze mit spezieller Problematik und einem besonderen Standort. Sie steht im Schweizer Bergkanton Wallis. Die Topographie dieses Tals ist einzigartig: Das Tal verläuft von Nordosten nach Südwesten; seine Talseiten säumen die höchsten Berge der Alpen. Die meisten Niederschläge regnen an der Nord- oder Süd-Außenflanke ab und erreichen das Talinnere nicht. Das Wallis ist aufgrund des Massenerhebungseffekts eine der trockensten Gegenden Europas und dient Forschern als Modellfall dafür, welche Effekte des Klimawandels im Alpenraum zu gewärtigen sind: Lange Trockenperioden, Anstieg der Baumgrenze, Abschmelzen von Gletschern und Auftauen des Permafrosts, extreme Wettereignisse und als Folge Waldbrände und Murgänge. Im Wallis vollzieht sich zudem ein Vegetationswechsel: Die Waldkiefern werden von robusteren Flaumeichen, die aus dem Mittelmeerraum stammen, verdrängt. In einem Vorprojekt135 wurden Messdaten einer Flaumeiche (Quercus pubescens) sonifiziert, die erfahrbar machten, dass diese Pflanze viel besser mit langen Trocken- und Hitzeperioden umgehen kann, da sie tiefere Wurzeln entwickelt und über eine höhere Saugkraft verfügt.
134 Die lautesten Geräusche in einer Pflanze sind die so genannten Kavitationspulse. Diese entstehen, wenn durch einfallendes, intensives Sonnenlicht die Pflanze stark transpiriert, aber bei Trockenheit aus dem Boden zu wenig Wasser aufnehmen kann und in der Folge die Wassersäule in einzelnen Leitgefäßen reißt und sich Gefäße schlagartig mit Gasen füllen. Diese akustischen Emissionen spielen sich vorwiegend im Ultraschallbereich ab und sind nicht hörbar. Kavitationspulse sind Indikatoren für Trockenstress in Pflanzen. Vgl. J. A. Milburn und R. P. C. Johnson: «The conduction of sap. Detection of vibrations produced by sap cavitation in Ricinus xylem», in: Planta 69 (1966), S. 43–52. 135 Vgl. Marcus Maeder und Roman Zweifel: «Downy Oak: Rendering Ecophysiological Processes In Plants Audible.» Proceedings of the Sound and Music Computing Conference SMC 2013, Stockholm, Sweden, S. 142–145. 51
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Abbildung 10: Eine typische Wetterlage im Wallis: In der restlichen Schweiz ist mehrheitlich schlechtes Wetter, der Himmel über diesem Tal aber wolkenfrei. Unser Beobachtungssystem macht ökophysiologische Prozesse, die im Zusammenhang mit dem schleichenden, klimabedingten Verschwinden der Waldkiefer aus dem Wallis stehen, unmittelbar erfahrbar: Wenn das Wachstum im Frühjahr beginnt, profitiert der Baum noch für eine Weile von den Wasservorräten des Winters oder des Vorjahres im Boden. Die vielen bereits im Frühjahr während der Wachstumsphase auftretenden Kavitationspulse zeigen jedoch den Trockenstress des Baumes an, weil er den nötigen Turgordruck136 in den Zellen aufrecht erhalten muss, um wachsen zu können, aber bald zu wenig Wasser im Boden vorhanden ist.137 Regnet es weiterhin nicht, so schränkt der Baum in der Folge Transpiration und Wachstum ein, um sich vor Austrocknung zu schützen. Dauern im Zuge des Klimawandels die Trocken- und Hitzeperioden immer länger an, werden die Bäume anfällig für Krankheiten und Parasitenbefall – sie sterben frühzeitig. Das Projekt verlangte von allen, sich auf die Denkweisen in den anderen im Projekt versammelten Disziplinen vertieft einzulassen, um ein wissenschaftlich verwendbares und künstlerisch ansprechend gestaltetes System entwickeln 136 Der an den Zellwänden des Protoplasmas anfallende Druck, verursacht durch den Grad der Wassersättigung der Zellen. Vgl. Walter Larcher: Physiological Plant Ecology, S. 236. 137 Vgl. Peter Schopfer, Axel Brennicke: Pflanzenphysiologie, Heidelberg: Spektrum 2010, S. 101. 52
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zu können, das die Schlüsselprozesse, die hinter Pflanzengeräuschen stehen, identifizierbar und erfahrbar macht. So bestimmten ästhetische Fragen bereits den Experimentaufbau, etwa wo und wie die Kameras am Baum montiert werden sollen oder wie die ökophysiologische Sensorik angebracht werden soll, um eine adäquate und umfassende Darstellung der Lebensprozesse und Umweltbedingungen in einer immersiven virtuellen Umgebung zu ermöglichen. Auf künstlerischer Seite musste naturwissenschaftlichen und technologischen Bedingungen Rechnung getragen werden. Darüber hinaus bestand die künstlerische Kernaufgabe darin, für die nichtauditiven ökophysiologischen Prozesse adäquate klangliche Repräsentationen zu entwickeln. Die Rekonstruktion, die Inszenierung der Lebensprozesse und Umweltbedingungen eines Baums in einer immersiven virtuellen Umgebung wurde für alle Beteiligten zu einem völlig neuen Feld des Forschens und Gestaltens mit einem neuartigen Instrument: Korrelationen von Messwerten, Muster in natürlichen Abläufen wurden zu ästhetischen Wirkungen – abstrakte Messdaten spiegelten sich in Bildern und Klängen. Das mit digitalen Technologien hergestellte Bild der Natur verlangte nach künstlerischen Nuancierungen der akustischen und visuellen Darstellungen, so dass sich zum Beispiel die Vielzahl der im System präsenten Klänge nicht gegenseitig störten oder überdeckten. Daten mussten interpoliert und gefiltert werden, um einzelne Prozesse erlebbar zu machen. Transdisziplinäre Verschiebungen von disziplinenspezifischem Wissen standen im Forschungsprozess trotzdem nicht so sehr Vordergrund, wie man vermuten würde. Denn einer der Gründe, warum sich das Team für dieses Projekt zusammenfand, war die Erkenntnis, dass wir uns in unseren Annäherungsarten an den Gegenstand138 und in unseren experimentellen Praktiken gar nicht so sehr unterschieden. Wohl hatte die Praxis des Ökophysiologen einen ganz anderen theoretischen Hintergrund, dienten ihm spezifische Modelle, etwa des Wasserhaushalts von Pflanzen, als Ausgangslage. Aber auch der klangkünstlerische Beitrag im Forschungsprojekt musste sich bei der Erkundung der Pflanzengeräusche an physikalischem/physiologischem Wissen, etwa der Schallausbreitung im Pflanzengewebe, orientieren. Zudem hantierten der Ökophysiologe und der Klangkünstler mit technischer Sensorik, wo es letztlich ganz anwendungsorientiert darum ging, unterschiedliche Messmethoden zusammenzuführen, um sie vergleichen und für die Datensonifikation in einer immersiven virtuellen Umgebung verwenden zu können. Der eigentliche Kern unseres Projekts zeigte sich während der Forschungsarbeit immer deutlicher: «trees» beschäftigte sich mit der Produktion einer neuen Form von ganzheitlichem Wissen, das sich nicht nur über die Verbalisierung von Zusammenhängen in einem Forschungsbericht vermittelt, sondern in einer unmittelbar erfahrbaren auditiven und visuellen (medialen) Form. Die Intention der Implementierung eines künstlerisch-wis138 Pflanzenbioakustik war für alle Beteiligten Neuland, das sie betraten; deren Erforschung in einer immersiven virtuellen Umgebung auch. 53
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senschaftlichen Beobachtungssystems in einer immersiven virtuellen Umgebung bestand darin, aus sehr unterschiedlichen, multidimensionalen Datensätzen eine umfassende Erfahrung zu schaffen und damit ein holistisches Bild der Lebensprozesse und Umweltbedingungen eines Baums unter dem Druck sich ändernder klimatischer Bedingungen zu zeichnen. Dabei war eine Balance zwischen den eingebrachten Kenntnissen und Praktiken zentral – der künstlerischen Imagination von wissenschaftlichen Gegenständen musste die gleiche Aufmerksamkeit zukommen wie der wissenschaftlichen Fundierung der ästhetischen Objekte. Der große Erfolg des Projekts in den Medien und bei politischen Vertretern139 begründet sich hauptsächlich dadurch, dass es uns gelungen ist, eine facettenreichere, unmittelbare und umfassende Erfahrung natürlicher Prozesse zu schaffen. Unser Bild der Natur, speziell unsere Wahrnehmung des Pflanzenreichs, ist immer noch von einer Perspektive dominiert, die natürliche Lebensprozesse wie mechanistische Funktionsweisen unbelebter Objekte behandelt. Das belebte Objekt offenbart sich jedoch oft erst durch einen Wechsel der Perspektive, die Verringerung von Distanz und die Aufhebung von Differenz (zwischen menschlichen Subjekten und natürlichen Objekten). Heutige Medientechnologien versetzen uns in die Lage, Natur und natürliche Objekte und Prozesse in einer immersiven Situation neu zu erfahren und zu interpretieren. Auf eine neue und andere Erfahrung natürlicher Prozesse zielt auf ganz andere Art und Weise auch das zweite Beispiel ab. Beispiel 2: «Plantas Autofotosintéticas» «Plantas Autofotosintéticas» ist eine Arbeit des mexikanischen Künstlers Gilberto Esparza, die die Goldene Nica des Prix Ars Electronica 2015 in der Kategorie Hybrid Art gewonnen hat. Esparza «is a Mexican artist whose work involves electronic and robotic means to investigate the impacts of technology on everyday life, social relationships, environment and urban structure. (...) His practice employs recycling consumer technology and biotechnology experiments,»140
lässt uns seine Biografie auf der Gewinnersite des Prix Ars Electronica 2015 wissen. Im Ansatz der Beuysschen Installation «Honigpumpe» nicht unähnlich, hat der Künstler ein Energie-Kreislaufsystem entwickelt und aufgebaut, 139 Die Installation «trees: Pinus sylvestris wurde vom französischen Präsidenten François Hollande an die UNO-Klimakonferenz COP 21 2015 in Paris eingeladen; die amerikanische Botschafterin für die Schweiz und Liechtenstein besuchte unsere Messstation im Wallis im Sommer 2015. 140 http://prix2015.aec.at/prixwinner/16228/ vom 30. November 2016. 54
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wo nicht nur symbolische Energien fließen, sondern auch ganz reale, biotisch generierte Energie. In der Installation «Plantas Autofotosintéticas» wird die Nutzung von Abwässern zur Energiegewinnung künstlerisch rekonstruiert und inszeniert. Das System besteht aus modularen mikrobiotischen Energiezellen, wo Bakterienkolonien über ihren Metabolismus elektrische Energie produzieren und gleichzeitig die Wasserqualität verbessern. Die Module sind Teil eines hydraulischen Netzwerks, welches das biologisch gefilterte Wasser in einen zentralen Behälter befördert, wo damit optimale Umgebungsbedingungen für produzierende wie konsumierende Organismen verschiedener trophischer Niveaus141 (Protozoen, Krustentiere, Mikroalgen und Wasserpflanzen) ihr homöostatisches Gleichgewicht142 geschaffen werden. Die Elektrizität, die von den Bakterien produziert wird, entlädt sich in Lichtblitzen, die die Photosynthese der im zentralen Behälter lebenden Pflanzen ermöglichen und die gleichzeitig in Klänge umgewandelt werden. Stellt ein elektronisches Überwachungssystem fest, dass alles organische Material in den mikrobiotischen Zellen aufgebraucht ist, so werden die Abfallprodukte der Lebewesen im zentralen Ökosystem in die modularen Zellen gepumpt, um den Kreislauf zu erneuern.
Abbildung 11: Die Installation «Plantas Autofotosintéticas» von Gilberto Esparza. Courtesy by the artist.
141 Lebewesen auf einer bestimmten Stufe der Nahrungskette. 142 Als homöostatisches Gleichgewicht wird die Aufrechterhaltung eines Gleichgewichtszustands in lebenden oder allgemein in offenen, dynamischen Systemen beschrieben, die durch interne Regel- und Steuerprozesse zustande kommt. Vgl. A. Locker: Biogenesis, Evolution, Homeostasis, Berlin/Heidelberg/New York: Springer 1973. 55
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Die Installation wird mit urbanem Abwasser gespiesen. Das sich selbst regulierende System erhält als künstlicher autopoietischer Organismus das Leben in seinem Innern aufrecht. Die Bakterien in den biotischen Zellen leben normalerweise in menschlichen Abwässern, Flüssen oder Entwässerungssystemen. Die biotischen Zellen funktionieren wie ein Verdauungssystem: Das Abwasser, das oben in die Module hineingepumpt wird, senkt sich durch die Gravitation in den Modulen ab, die Bakterien verdauen das organische Material und produzieren so biologisch gefiltertes Wasser und Elektrizität. Die Verdauung des organischen Materials durch die Bakterien geschieht anhand oxidativer Reaktionen, welche Elektronen freisetzen, die in einem Kondensator eingefangen und konzentriert werden, um die Lichtblitze zu erzeugen. Zu den Intentionen seiner Installation äußert sich Gilberto Esparza wie folgt: «‹Plantas autofotosintéticas› (autophotosynthetic plants) is the result of an inquiry arising from a question about the present-day society’s relationship with water, which has prioritized its economic value and utility. Human settlements get their water from rivers, lakes, groundwater, through major engineering works that extract it and incorporate it into a cycle of use and disposal, taking little account of the huge network of vital relationships involved. Today many large Latin American cities use their rivers as sewers. The most important rivers are almost dead, breaking the balance of entire ecosystems, also affecting rural settlements along their course. This project raises the need to reestablish connections and reconfigure our relationship with water in a symbiotic way.»143
Auch mit dieser Arbeit aus dem Kontext der Bio Art wird deutlich, worum es den beteiligten Künstlern, Wissenschaftlern und Technikern144 geht: Man will normalerweise verborgene Prozesse in der Natur über ein künstlerischwissenschaftliches System erfahrbar machen und mit einer gesellschaftskritischen oder umweltethischen Aussage verbinden. Das vielen Werken der Eco Art und Bio Art implizite Desiderat der Schaffung einer neuen und anderen Erfahrung der Natur und damit verbunden die Etablierung einer neuen und intensiveren Beziehung zur Natur macht denn auch den Kern der Arbeit «Plantas Autofotosintéticas» aus. Kunstwerke sind in ihrer inhaltlichen Anlage und Aussage zumeist mehrdeutig, sie sind Artefakte von unabgeschlossenem Charakter: «Ein Werk ästhetischer Kunst erfüllt viele Zwecke, von denen keiner im voraus festgelegt ist. (...) Die starre Vorherbestimmung eines Endprodukts – sei es durch den Künstler, sei es durch den Betrachter – führt dazu, dass es zu einem mechanischen 143 Vgl. http://prix2015.aec.at/prixwinner/16228/ vom 30. November 2016. 144 Gilberto Esparza arbeitete in diesem Projekt mit Constanza Diaz Mc Gregor (Biologin) und Diego Liedo Lavaniegos (Elektronik) zusammen. 56
Kunst, Wissenschaft und Natur
oder akademischen Erzeugnis wird. (...) Maler und Dichter ebenso wie Wissenschaftler kennen die Freuden des Entdeckens. Jene dagegen, die ihr Werk als die Demonstration einer im voraus erdachten Theorie fortsetzen, mögen zwar in den Genuss des egoistischen Erfolgs, nicht aber der Erfüllung einer Erfahrung um ihrer selbst willen kommen.»145
In einem Kunstwerk mit einer gewissen Dichte, Fülle und «Exemplifikatorik»146 versammeln sich oft verschiedene und sich möglichweise widersprechende Aspekte der behandelten Thematik, die persönliche Erfahrung und Prägung des Künstlers, auf andere Themen und Bereiche verweisende Objekte usw. Gerade die Mehrdeutigkeit der Interpretation eines Kunstwerks macht dieses zu einem offenen kommunikativen System, das in der Lage ist, mehr Rezipienten anzusprechen. Sie ermöglicht seiner Wirkung, seiner Verhandlung und Interpretation eine Entwicklung: «Das Kunstwerk gilt als eine grundsätzlich mehrdeutige Botschaft, als Mehrheit von Signifikaten (Bedeutungen), die in einem einzigen Signifikanten (Bedeutungsträger) enthalten sind. (...) Wenn man also sagt, dass der moderne Künstler bei der Realisierung eines Werkes zwischen diesem, sich selbst und dem Konsumenten eine Beziehung der Nichteindeutigkeit vorsieht – (...) [ist] das Ergebnis keine Offenbarung über das Wesen der Dinge: es ist die Aufhellung einer konkreten kulturellen Situation, in der (weiterer Untersuchung noch bedürftige) Zusammenhänge zwischen verschiedenen Wissenszweigen und verschiedenen menschlichen Tätigkeitsbereichen sich abzeichnen.»147
So verweist Gilberto Esparza auf weitere Interpretationen des Systems der «Plantas Autofotosintéticas»: «Finally, the nervous system is an electronic network responsible for monitoring energy and water cycles. It is like a rudimentary brain that connects and regulates the other two systems, i.e. the nucleus and the cell modules, (...).148
145 John Dewey: Kunst als Erfahrung, S. 157, 160, 162. 146 «Dichte, Fülle und Exemplifikatorik sind (...) Kennzeichen des Ästhetischen.» Nelson Goodman: «Kunst und Erkenntnis», in: Dieter Henrich, Wolfgang Iser (Hg.): Theorien der Kunst S. 581. 147 Umberto Eco: Das offene Kunstwerk, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1977, S. 8, 17. 148 Vgl. http://prix2015.aec.at/prixwinner/16228/ vom 30. November 2016. 57
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Abbildung 12: Die zentrale Einheit (der «Nucleus») der Installation «Plantas Autofotosintéticas». Courtesy by the artist. Umweltverschmutzung wird von Esparza nicht moralisierend behandelt, sondern über die Erfahrbar- und Bewusstmachung einer Problematik, wo Lösungsansätze in Form eines künstlerisch gestalteten Prototypen Teil der künstlerischwissenschaftlichen Inszenierung sind: «The waste water feeding the ‹Plantas Autofotosintéticas› comes from different parts of a city, with each site having different pollution levels according to the context. The level of pollution is expressed by the light intensity that feeds the nucleus. (...) This work refers to the type of pollutants generated in a city and salvages the potential of contaminated water as an energy source. The research presents a model of a selfregenerative water system which could be applied to cities.
Der Unterschied zu einer bloß technischen Apparatur für die Nutzung von urbanen Abwässern zeigt sich in folgenden Aspekten: Es werden Abläufe und Prozesse erfahrbar gemacht, die sich normalerweise in einer technischen Blackbox verbergen; man inszeniert biologische Prozesse experimentell und innovativ; der nachhaltige Umgang mit menschlichen Abfallprodukten wird durch die ästhetische Inszenierung zur Kunst erklärt, was bedeutet, dass eine ökologisch nachhaltige Praxis auf der kulturellen Ebene verhandelt werden will. Doch was ist damit gewonnen? Wenn die Kunst das Gute als das Schöne vorführt und wir über die Schönheit des in der Installation stattfindenden und inszenierten Lebens staunen, dann scheint die Kunst die ihr zugedachte Rolle einer Intensivierung der Wahrnehmung, der Verschiebung unserer Perspektive 58
Kunst, Wissenschaft und Natur
auf die Welt zu erfüllen. Doch handelt es sich bei dem dabei generierten Wissen um ein nachhaltiges Wissen mit genügend normativer Kraft, um Einfluss auf gesellschaftliche Entwicklungen nehmen zu können? Was ist ästhetisches Wissen, was dessen Vermögen, etwa im Kontext der Ökologie? Kann der Kunst eine normative Funktion in der Gesellschaft überhaupt (noch) zugeschrieben werden? Damit verbindet sich die Frage, welche Arten von Erkenntnissen uns die Kunst, insbesondere die wissenschaftlich-künstlerischen technai vermitteln. Technologie und Ethik, Ästhetik und Erkenntnis im Wissenschaftlich-Künstlerischen Die folgende Kritik an wissenschaftlichen und kollaborativen Praktiken im Ästhetisch-Technischen zeigt, wie eng bisweilen die Vorstellungen auch an den Kunsthochschulen selber sind: «Es handelt sich also um eine Taktik der Verwischung zwischen kunstbasierter Forschung und forschungsbasierter Kunst, die ein Drittes zwischen Technoscience und Technoarts gebiert, das die Praxis beider in einem undefinierten Zwischenraum amalgamiert und damit den Sinn von Wissenschaft als auch von Kunst verschiebt. Von dort erscheint der Weg nicht weit, die Relationen abermals umzukehren und die wissenschaftliche technē überhaupt einer ästhetisch verstandenen Science-Art oder Art-Science zuzuschlagen: ein Übertritt in eine neue Ära und Topographie des Wissens, welche ars, Technik, Kunst und Wissenschaft zu einer Einheit verschmelzen, um aus ihnen eine Art Design zu machen.»149
Dieter Mersch150 kritisiert damit die «technischen Pragmawissenschaften»151, denen er Prämissen, die sich auf «strikte Anwendbarkeit und Verwertbarkeit»152 beschränken, vorwirft. Diese gehen, so Mersch, mit der «Auflösung disziplinärer Ordnungen zugunsten einer ‹Transdisziplinarität› einher, die an einer durchgreifenden Ökonomisierung des Wissens arbeitet.»153
Merschs Argumentation gleicht den Rundumschlägen gegen den amerikanischen Pragmatismus seitens der Kritischen Theorie in den 1960er-Jahren, welche die pragmatistischen Ansätzen angeblich inhärente Reduktion allen Wissens auf zweckrationales Handeln als «Tagwursterei» und den Pragmatis149 Dieter Mersch: Epistemologie des Ästhetischen, S. 37. 150 Mersch ist Leiter des Instituts für Theorie und Vorsitzender der Forschungskommission der Zürcher Hochschule der Künste ZHdK. 151 Ebd. 152 Ebd. S. 38. 153 Ebd. 59
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mus als Philosophie der amerikanischen «Kapitalistenklasse» geißelte154. Es soll hier keineswegs bestritten werden, dass sich an den Hochschulen tatsächlich eine Ökonomisierung des Wissens vollzieht.155 Der «undefinierte Zwischenraum» des Wissenschaftlich-Künstlerischen entpuppt sich bei genauerer Betrachtung aber nicht als ein von zweckrationalen Ideologien geprägtes Feld, das der Wirtschaft in Form einer «Ästhetisierung der Forschungspraxis als Innovationsmaschine»156 dient. Die hochgradige Technisierung des Arbeitsfelds des Wissenschaftlich-Künstlerischen verlangt nach einem emanzipativen Umgang mit Technologie, wenn damit neue Forschungspraktiken entwickelt und erprobt werden sollen, ein anderer Zugang zur Natur überhaupt erschlossen werden will. Damit sind Praktiken angesprochen, die nicht der ursprünglichen technisch-industriellen Konzeption157 der verwendeten Instrumente entsprechen und über diese hinausgehen. Forschen im Modus des Entdeckens ist auf Strategien der Zweckentfremdung und Transformation, des «Hackens» nicht nur von Geräten oder Programmen, sondern auch von Verwendungs- und Sinnzusammenhängen, angewiesen.158 Das mit Technologie gerade heutzutage reflektiert umgegangen werden muss ist zentral, darauf hat vor langem schon Karl Marx hingewiesen: «Die Technologie enthüllt das aktive Verhalten des Menschen zur Natur, den unmittelbaren Produktionsprozess seines Lebens, damit auch seiner gesellschaftlichen Lebensverhältnisse und der ihnen entquellenden geistigen Vorstellungen.»159
Im Wissenschaftlich-Künstlerischen kommt eine Vielzahl von Praktiken zum Einsatz, die in subkulturellen Zusammenhängen160 entstanden sind. So wird im Umfeld der Do it yourself- und Hackerszene bewusst industriell hergestellte Technik für nichtökonomische Zwecke modifiziert («gehackt»), werden technische Komponenten selbst hergestellt.161 In beiden beschriebenen Projektbeispielen ist das Hardware- und «Kontext»-Hacking eine wichtige künstlerische 154 Vgl. Ernst Bloch: Über Karl Marx, Frankfurt am Main: 1968, S. 58–120, 92–95. 155 Die Ökonomisierung des Wissens steht meiner Meinung nach weniger im Zeichen des Technischen, Wissenschaftlichen und Ästhetischen, vielmehr stellt sie das Produkt einer neoliberal geprägten Bildungs- und Forschungspolitik dar. Technologie mag wohl als Manifestation einer «instrumentellen Vernunft», der Ideologie industrieller Massenproduktion gesehen werden, grundsätzlich kann – muss! – technologische Produktion aber ideologisch auch ganz anders besetzt werden, vgl. Jürgen Habermas: Technik und Wissenschaft als ‹Ideologie›, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1969, S. 72. 156 Dieter Mersch: Epistemologien des Ästhetischen, S. 38. 157 Etwa in Form von «Consumer electronics». 158 Vgl. Brian Degger: «How to get involved in ‹science hacking›», http://www.britishcouncil.org/ voices-magazine/get-involved-science-hacking vom 1. Dezember 2016. 159 Karl Marx, zitiert in: Thomas Metscher: Logos und Wirklichkeit, Frankfurt am Main: Peter Lang 2010, S. 415. 160 Kulturelle Zusammenhänge, wo es nicht um Herrschaft, sondern um Kooperation geht. 161 Vgl. Jon Erickson: Hacking. The Art of Exploitation, San Francisco: No Starch Press 2007. 60
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wie wissenschaftliche Forschungs- und Realisierungsweise. So wird Labor- oder Feldmesstechnik verwendet, um etwas Künstlerisches zu schaffen, wissenschaftliche Methoden werden zu künstlerischen Strategien, künstlerische Strategien führen zu wissenschaftlichen Erkenntnissen und es werden so ganz neuartige Forschungs- und Rezeptionsumgebungen geschaffen, in denen Epistemologie, Ästhetik und Ethik in einer objekthaften, medialen Reflektion aufeinander treffen. Pragmatistische Ansätze, insbesondere diejenigen John Deweys, verlangen nicht nach einer Zweckorientierung der Wissenschaften im engeren Sinn – eine Verkürzung, die auf Max Horkheimer zurück geht162 – sondern versuchen Zweck und Freiheit, Praxis und Theorie unter dem Terminus des «gesunden Menschenverstands»163 zu vereinen. Dewey spricht diesbezüglich von zwei grundlegenden Arten von Bedeutungen, die wissenschaftliche Forschung hervorbringt; Bedeutungen, die sich im «gesunden Menschenverstand» vereinen. Beide – die am konkreten «Gebrauch und Genuss» und die an der reinen Kenntnis von Dingen orientierte Bedeutung der Forschung «sind mit der Lebensführung im Verhältnis zu einer bestehenden Umwelt verbunden: die eine in der Beurteilung der Signifikanz von Dingen und Ereignissen mit Bezug auf das, was getan werden sollte; die andere in den Ideen, die verwendet werden, um Tätigkeiten und Urteile zu lenken und zu rechtfertigen.»164
Für eine Gesellschaft relevante Bedeutungen fließen als Kriterien für die Beurteilung von Dingen und des Umgangs mit ihnen in die Forschung ein, und vice versa generiert die Forschung Bedeutungen, die Tätigkeiten und Urteile in der Gesellschaft lenken und rechtfertigen: «Wird das wissenschaftliche Substrat vom Substrat des gesunden Menschenverstandes abgetrennt, und ihm gegenübergesetzt, dann erzeugt diese Opposition, wenn sie als endgültig aufgefasst wird, jene kontroversen Probleme der Epistemologie und Metaphysik, die noch immer die Philosophie heimsuchen.»165
Wissenschaft wird für Dewey nur durch ihre Anwendung im «gesunden Menschenverstand»166 vollständig. Sie wird an dem Punkt zur angewandten 162 «Der Pragmatismus, der allem und jedem die Rolle eines Instruments zuweist (...) im Namen dessen, was immer praktisch damit erreicht wird –, fragt verächtlich, was solche Ausdrücke wie die ‹Wahrheit selbst› oder das Gute (...) eigentlich bedeuten könnten.» Max Horkheimer: Zur Kritik der instrumentellen Vernunft, Frankfurt am Main: Fischer 1947, S. 67. 163 John Dewey: Logik. Theorie der Forschung, S. 80. 164 Ebd., S. 83. 165 Ebd., S. 87. 166 «Gesunder Menschenverstand (...) bezieht sich auf das Verhalten in seiner Signifikanz von Dingen.» Ebd. S. 81. 61
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Wissenschaft, wo Wissen sich erst durch seine Anwendungen vervollständigt, im Sinn der Frage: Wie gehen wir mit Objekten, mit der Welt um? Das wissenschaftliche Substrat ist nach Dewey nur eine Zwischenstufe, es ist weder endgültig noch an sich vollständig.167 Die Künste, die technai können als Anwendungen der Wissenschaft in (und nicht auf) etwas verstanden werden. Anwendung der Wissenschaft in der Kunst oder als Kunst bezeichnen «eine extensivere Interaktion natürlicher Ereignisse miteinander, eine Eliminierung von Distanz und Hindernissen; Schaffung von Gelegenheiten für Interaktionen, die bislang verborgene Potentialitäten enthüllen und neue Geschichten mit neuen Anfängen und Beendigungen verwirklichen. (...) Künste realisieren Beziehungen, die bislang nicht verwirklicht waren.»168
Dass mit einer «Amalgamierung» von Kunst und Wissenschaft mehr als nur «Design», also etwas «nur» Zweckdienliches, funktional Gestaltetes entsteht, nämlich nichts Geringeres als neue Wissensformen, möchte ich noch etwas detaillierter anhand von Deweys epistemologisch-ästhetischen Ansätzen aufzeigen. Bereits der Begründer der neuzeitlichen Ästhetik, Alexander Gottlieb Baumgarten, hat den ästhetischen Weltzugang als ebenbürtig zu den Leistungen der Vernunft angesehen, ein Zugang also, der genauso gesicherte Erkenntnisse hervorzubringen vermag wie die rationale Erkenntnis, weil in der ästhetischen Erfahrung Ganzheit, Zusammenhang und Sinn (unmittelbar) erfahren werden: «Der Reichtum, die Größe, die Wahrheit, die Klarheit, die Gewissheit und das Leben der Erkenntnis, insofern sie in einer Vorstellung und unter sich übereinstimmen, (...) ergeben die Vollkommenheit jeder Erkenntnis. Als Erscheinungen ergeben sie die Schönheit des Sinnlichen, und zwar eine allgemeine, vor allem der Sachen und Gedanken, in denen die Fülle, die edle Art und das gewisse Licht des bewegenden Wahren ergötzen.»169
Schönheit ist ein Mittel zur Deutung und Klassifizierung. Dabei ist die Unmittelbarkeit einer Erfahrung das zentrale Kriterium des Ästhetischen.170 Dewey zielt hier auf eine ganzheitliche Erfahrung von Dingen oder Phänomenen in der Welt: Nur eine Wissenschaft, die ganzheitliche Einblicke ermöglicht, erweist sich als annähernd kongruent mit der Wirklichkeit im Sinne einer objektiven Handlungsorientierung. Einzigartiges tritt als qualitatives Ganzes in Erscheinung: «Wenn wissenschaftliche Forschung und philosophische Spekulation eine echte 167 Vgl. ebd. 168 John Dewey: Erfahrung und Natur, S. 163. 169 Alexander G. Baumgarten: Ästhetik, S. 25. 170 «(...) künstlerische Struktur kann unmittelbar empfunden werden. Insofern ist sie ästhetisch.» John Dewey: Kunst als Erfahrung, S. 50. 62
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künstlerische Leistung darstellen, so geht ein Denker weder blindlings noch nach Regeln vor, sondern er orientiert sich an Bedeutungen, die als Gefühle mit der ihnen eigenen Färbung unmittelbar existent sind.» 171
Dewey begründet die Möglichkeit von Erkenntnis im Ästhetischen über die Funktion der sinnlichen Erfahrung, des Wahrnehmens und Empfindens der Welt: «Der Begriff Sinn (sense) erstreckt sich über eine breite Skala von Bedeutungsinhalten: Sensorium, Sensation [sensational: im Sinne von äußerer Sinneswahrnehmung; d. Ü.], Sensibilität, Sinnvolles (the sensible: hier drückt sich die im Angelsächsischen besonders deutliche Verbindung von äußerer, objektiver Sinneswahrnehmung und Vernunft aus; d. Ü.), Sentimentalität und parallel dazu, Sinnlichkeit. (...) Sinn aber, der sich als Bedeutung so unmittelbar in der Erfahrung verkörpert dass er durch diese seine eigene Bedeutung erhellt, ist die einzige Bezeichnung, die die Funktion der Sinnesorgane in ihrer vollen Verwirklichung zum Ausdruck bringt.»172
Über die ästhetische, sinnliche Erfahrung im Künstlerisch-Wissenschaftlichen geschieht eine Modifikation der Wissensarten. Die ästhetische Erfahrung ist dabei keine besondere Erfahrungsform, sondern eine «geläuterte und verdichtete Entwicklung von Eigenschaften (...), die Bestandteil jeder normalen ganzheitlichen Erfahrung sind.»173
Kunst schafft neues Erfahrungsmaterial, ihre Funktion ist die der Einübung neuer Arten der Perzeption, sie kreiert neue Objekte des Beobachtens und des Genusses.174 Dewey spricht von Erkenntnisformen, die sich über Wirkungen konstituieren und vermitteln. Damit ist nicht nur die Wirkung eines wissenschaftlichen Texts, der ein Phänomen beschreibt, gemeint, sondern Wissen, dass sich breiter verstanden nicht nur verbal vermittelt, sondern auch medial über Bilder, Klänge usw.: «Es gibt Bedeutungen und Aussagen, die nur durch unmittelbar Hörbares und Sichtbares ausgedrückt werden können, und es hieße ihr wahres Wesen zu leugnen, fragte man nach ihrer durch Worte ausgedrückten Bedeutung.» 175
Wissen als ganzheitliches, ästhetisches Wissen erschöpft sich aber nicht nur in Wahrnehmungsakten: «Es wirkt auf indirekten Bahnen weiter»:176 Ästhetisch 171 Ebd, S. 141. 172 Ebd., S. 31. 173 Ebd. S. 59. 174 Vgl. John Dewey: Erfahrung und Natur, S. 368. 175 John Dewey: Kunst als Erfahrung, S. 89. 176 Ebd. S. 162. 63
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generiertes, vermitteltes und erfahrenes Wissen hat Einfluss auf die bewusste Erfahrung von Dingen, darin besteht seine normative Kraft. Noch pointierter drückt sich Dewey aus; notwendigem Wissen ist der Aspekt des Ästhetischen implizit: «Denn erst wenn ein Organismus an den geordneten Beziehungen seiner Umwelt teilhat, sichert er sich die für sein Leben notwendige Stabilität. Und wenn sich diese Partizipation nach einer Periode der Auseinandersetzung und der Konflikte einstellt, so trägt sie den Keim zu einer mit Ästhetik eng verwandten inneren Erfüllung mit sich. (...) Die Sehnsucht nach Wiederherstellung der Einheit kehrt bloßes Gefühl um in Interesse an den Objekten als den Voraussetzungen für die Verwirklichung von Harmonie.»177
Dadurch, dass als Produkt des Wissenschaftlich-Künstlerischen ein Werk entsteht, also ein Objekt, in dem sich Wissensinhalte versammeln, vermittelt sich Wissen in subjektungebundener Form in der Objektivität des Erlebens: «Die daraus entstehende Emotion ist unpersönlich, weil sie nicht an einem persönlichen Schicksal hängt, sondern an einem Objekt für die Konstruktion, mit dem sich das Subjekt in Ehrfurcht selbst umgeben hat. Eine Wertschätzung ist gleichfalls unpersönlich in ihrer emotionalen Qualität. Weil auch sie Konstruktion und Organisation objektiver Energien einschließt.»178
Das Ästhetische ist keine Erkenntnisform an sich – ästhetische Wissensformen machen aus Erkenntnissen aber wirkliche Erfahrungen. Nach Dewey wird im Ästhetischen die Trennung von Subjekt und Welt (den Objekten) aufgehoben – als Zusammenwirken von Organismus und Umwelt in der ästhetischen Erfahrung: «Extreme Beispiele für die Ergebnisse einer Trennung von Organismus und Welt findet man nicht selten in der philosophischen Ästhetik. Eine solche Trennung steckt hinter der Idee, eine ästhetische Qualität gehöre nicht zu den Objekten als Objekten, sondern werde durch den Geist in die Gegenstände hineinprojiziert. Dies ist der Ursprung der Definition von Schönheit als objektiviertes Wohlgefallen – statt eines Vergnügens am Gegenstand, eines Vergnügens, das so stark im Objekt selbst begründet ist, dass es mit dem Vergnügen daran eins und in der Erfahrung ungeteilt ist.» 179
Dewey kommt damit zum zentralen Punkt seiner Ästhetik und Erkenntnistheorie. Mit der Aufhebung der Dualität zwischen Subjekt und Objekt in der ästhetischen Erfahrung verfügt diese über latente Potentiale, unsere Art der Bezugnahme auf die Welt zu modifizieren: 177 Ebd., S. 23. 178 Ebd., S. 216. 179 Ebd., S. 290. 64
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«Die einzigartige und charakteristische Besonderheit der ästhetischen Erfahrung ist nämlich gerade das Problem, dass hier keine Unterscheidung von Subjekt und Objekt existiert, da die Erfahrung in einem Masse ästhetisch ist, in dem Organismus und die Umgebung zusammenwirken, damit eine Erfahrung entsteht, in der die beiden Faktoren derart vollkommen integriert werden, dass jeder einzelne aufgehoben wird.»180
Im Wissenschaftlich-Künstlerischen geschieht Wesentliches: Der Sinn von Technologie und Wissenschaft wird im Ästhetischen umgedeutet. Technologie und Wissenschaft sind nicht länger Instrumente der Produktivität und Naturbeherrschung, sondern Mittel, die helfen, die Natur als «Gegenüber» wahrzunehmen und mit ihr zu interagieren. Jürgen Habermas hat eine solche Veränderung in der Orientierung des wissenschaftlich-technischen Fortschritts mit Nachdruck verlangt: «Der transzendentale Rahmen, in dem Natur zum Objekt einer neuen Erfahrung gemacht würde, wäre dann nicht länger der Funktionskreis instrumentalen Handelns, sondern anstelle des Gesichtspunktes möglicher technischer Verfügung träte einer der die Potentiale der Natur freisetzenden Hege und Pflege: ‹es gibt zwei Arten von Herrschaft: eine repressive und eine befreiende›.» (...) Statt Natur als Gegenstand möglicher technischer Verfügung zu behandeln, können wir ihr als Gegenspieler einer möglichen Interaktion begegnen. Statt der ausgebeuteten Natur können wir die brüderliche suchen.181
Die Idee der Aufhebung des Unterschieds zwischen menschlichen Subjekten und allen anderen Objekt der Welt, eine «Demokratie der Objekte»182 wie sie Levi Bryant vorschlägt, zielt darauf ab, vom ausschließlichen «Selbstinteresse»183 des menschlichen Subjekts wegzukommen: «Auf der Ebene einer noch unvollständigen Intersubjektivität können wir Tieren und Pflanzen, selbst den Steinen, Subjektivität zumuten und mit Natur kommunizieren, statt sie, unter Abbruch der Kommunikation, bloß zu bearbeiten.» 184
Erst wenn die Kommunikation unter den Menschen von Herrschaft frei sei und jeder sich im anderen erkennen könne,
180 Ebd., S. 291. 181 Jürgen Habermas: Technik und Wissenschaft als «Ideologie», S. 55–57. 182 Vgl. Levi Bryant: The Democracy of Objects, Ann Arbor: Open Humanities Press 2011. 183 «Der geistige Imperialismus des abstrakten Prinzips des Selbstinteresses – der Kern der offiziellen Ideologie des Liberalismus (...) » Max Horkheimer: Zur Kritik der instrumentellen Vernunft, S. 32. 184 Jürgen Habermas: Technik und Wissenschaft als «Ideologie», S. 57. 65
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«könnte womöglich die Menschengattung Natur als ein anderes Subjekt – nicht, wie der Idealismus wollte, sie als ihr Anderes, sondern sich als das Andere dieses Subjektes – erkennen.» 185
Dieser Gedanke findet sich verbreitet in zeitgenössischen philosophischen Ansätzen wie des spekulativen Realismus und der objektorientierten Ontologie (Object Oriented Ontology – OOO), die die Art unserer Bezugnahme, unser Referieren auf die Welt nicht als epistemologisches, sondern als ontologisches Problem behandeln und damit von einer subjektzentrierten Weltsicht abrücken will.
Referenz Das Virtuelle: Zur Referenz in den Künsten und in der Philosophie Der Entwurf der Natur als «Gegenspieler statt eines Gegenstandes» bezieht sich für Habermas auf alternative Handlungsstrukturen, die sich an symbolisch vermittelten «Interaktionen im Unterschied zu zweckrationalem Handeln»186 orientieren. Wie kann sich demzufolge ein differenzierteres, ein objektiveres Bild der Natur etablieren, wenn der Zugang zur Natur und ihren Objekten ein symbolisch vermittelter – ein medialer und virtueller – ist? Ansätze des spekulativen Realismus gehen davon aus, dass Realitäten nie ganz im physischen Bereich verwirklicht sind,187 sondern ebenso aus mentalen oder virtuellen Substrata bestehen. Damit beziehen sich Graham Harman, Levi R. Bryant und weitere Autoren auf eine Definition des Virtuellen wie sie Gilles Deleuze 1968 formuliert hat: «Das Virtuelle besitzt volle Realität, als Virtuelles. (...) Das Virtuelle muss selber als ein strikt dem Realobjekt zugehöriger Teil definiert werden – als ob das Objekt einen seiner Teile im Virtuellen hätte und darin wie in einer objektiven Dimension eingelassen wäre.»188
Deleuze stellt der Virtualität nicht die Realität, sondern die Wirklichkeit (die Aktualität) gegenüber: Erfahrungsgegenstände können real sein, aber nicht wirklich; ideal, ohne abstrakt zu sein und symbolisch, ohne fiktiv zu sein.189 185 Ebd. 186 Ebd. 187 Vgl. Graham Harman: Towards Speculative Realism, Winchester/Washington: Zero Books 2010, S. 171. 188 Gilles Deleuze: Differenz und Wiederholung, München: Wilhelm Fink 1997, S. 264. 189 Ebd. 66
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Die Struktur des Virtuellen, die aus bloßen Gedanken, visuellen oder auditiven Elementen bestehen kann, ist immer real; sie ist die Realität des Virtuellen: «Wenn sich das Kunstwerk auf eine Virtualität beruft, in die es eingelassen ist, so macht es keinerlei verworrene Bestimmung geltend, sondern die vollständig bestimmte Struktur, die durch seine genetischen differentiellen Elemente, durch seine ‹virtualierten›, ‹embryonierten› Elemente gebildet wird. Die Elemente, die Verhältnisvarietäten (...) koexistieren im Werk oder im Objekt, im virtuellen Teil des Werks oder des Objekts, ohne dass man einen privilegierten Standpunkt gegenüber anderen, ein Zentrum, das andere Zentren vereinigen würde, festlegen könnte.»190
Deleuze unterscheidet zwischen «vollständigen» und «ganzen»/«aktuellen» Objekten. Das Vollständige ist nur der ideelle Teil eines Objekts, «der mit anderen Objektteilen an der Idee partizipiert (...), der aber nie eine Integrität als solche bildet. Der vollständigen Bestimmung fehlt die Gesamtheit der Bestimmungen, die der aktuellen Existenz zukommen.»191
Abbildung 13: Magritte: Die virtuelle Realität einer Pfeife.
190 Ebd., S. 265. 191 Ebd. 67
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Die Virtualität (die Möglichkeit) eines Objekts ist die Realität, in der es sich uns zeigt. Seine Aktualität (das, was wirklich der Fall ist) entzieht sich uns aber zu grossen Teilen. Hier scheinen epistemologische (auf das Virtuelle bezogene) in ontologische (auf Objekte bezogene) Fragen überzugehen – ein Prozess, der sich auch in Kunstwerken zeigt und da in beide Richtungen verlaufen kann. Die künstlerischen Environments, die hier in Form von immersiven virtuellen Umgebungen beschrieben worden sind, sind das Produkt einer bewussten und reflektierten Nutzung der Modalitäten des Virtuellen. Mit Kunstwerken192 werden virtuelle Realitäten, Simulationen geschaffen, um Teile der Aktualität von Objekten und der Welt zu erschliessen. Die kognitive Bedeutung – die Art und Weise, wie eine Erfahrung interpretiert wird – kommt als Referenz im Prozess der Weltherstellung zum Einsatz. Als Referenz wird in der Philosophie193, aber auch in Wissenschaften wie der Physik oder der Semiotik ein Bezugssystem bezeichnet. Die Referenz besteht aus den epistemologischen und ontologischen Prämissen, auf denen unsere Interpretation der Welt fusst. Diskussionen über die Referenz beginnen bei epistemologischen und enden letztlich in ontologischen Fragen: Was ist gegeben? In der Kunst existieren nach Abraham Kaplan drei Arten von Referenz: Indikation, Darstellung und Erwähnung (bei Kaplan gleichbedeutend mit Symbolisierung).194 Ein Kunstwerk kann auf unterschiedliche Art und Weise auf Teile der Wirklichkeit Bezug nehmen: Indem es eine bestimmte Art des Umgangs mit Dingen impliziert (indiziert), indem es Dinge «nur» darstellt oder es Dinge oder Ideen von Dingen vermittelt, indem es diese symbolisiert oder «erwähnt». In Kunstwerken mischen sich in der Regel die Formen der Referenz, immer aber ist die Referenz der Dreh- und Angelpunkt zwischen der Realität des Kunstwerks, derjenigen des Künstlers, jener des Betrachters, zwischen Objekten usw. Kunstwerke sind demnach «Strukturen, die als epistemologische Metaphern erscheinen, als strukturelle Entscheidungen eines diffusen theoretischen Bewusstseins (nicht einer bestimmten Theorie, sondern einer assimilierten kulturellen Überzeugung); sie repräsentieren innerhalb der gestaltenden Tätigkeit die Spiegelung bestimmter Errungenschaften der modernen wissenschaftlichen Methodologien, die Bestätigung jener Kategorien der Unbestimmtheit, der statistischen Verteilung, die für die Deutung der natürlichen Fakten massgebend sind, in der Kunst.»195
192 Damit sind hier nach wie vor ästhetische Werke, die wissenschaftliche Werke miteinschließen, indiziert. 193 Speziell von Quine, vgl. W. V. O. Quine: Die Wurzeln der Referenz, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1976. 194 Vgl. Abraham Kaplan: «Referenz in der Kunst», in: Dieter Henrich und Wolfgang Iser (Hg.): Theorien der Kunst, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1992, S. 498. 195 Umberto Eco: Das offene Kunstwerk, S. 160. 68
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Die Referenz macht den eigentlichen Sinn eines Kunstwerks aus, sie ist die Substanz eines Werks, «in die auch alle formalen, sinnlichen und expressiven Qualitäten eingehen.»196 Die Referenz spezifiziert nach Kaplan den Ausdrucksgehalt eines Werks. Sie hat aber nicht nur mit dem Ausdrucksgehalt zu tun, sondern «sie gibt dem Ausdruck auch Grund»197, sie konstituiert die Emotionen, die über ein Werk erregt werden wollen. Doch wie steht es mit der Referenz in immersiven virtuellen Umgebungen? Hier lässt sich dasselbe konstatieren wie bei herkömmlichen, nicht-immersiven Kunstwerken: In Simulationen von Teilen der Wirklichkeit, in virtuellen Realitäten werden Erfahrungen geschaffen, in denen es zunehmend schwieriger wird, zwischen wirklichen und künstlichen Objekten zu unterscheiden, da deren sinnliche Attribute mit dem Fortschritt von Simulationstechniken immer mehr ineinander übergehen: «Wenn wir das Auftreten dessen erwägen, was Informatiker ‹durchdringendes Rechnen› (pervasive computing) und ‹allgegenwärtiges Rechnen› (ubiquitous computing) nennen, wodurch Computervorrichtungen in eine beträchtliche Anzahl von Gegenständen, Tätigkeiten und Kontexten des Alltags eintreten, sowie die Tatsache berücksichtigen, dass fast alles Rechnen Simulation ist, dann ist nicht allein deren Wirkung notwendigerweise beträchtlich, sondern sie wird als gesellschaftliche Wirklichkeit buchstäblich zur zweiten Natur. (...) Folglich ist die Simulation (...), eine Ontologie auf dem Vormarsch, die ihre Wirklichkeit fortschreitend hervorbringt»198
Dieser Umstand lässt eine neue ontologische Rahmenstruktur aufscheinen, die aus einer Vielheit, einer Multiplexität199 von Realitäten besteht, wo sich die einzige verlässliche Referenz scheinbar nur noch auf das Subjekt selber beziehen kann. Solche epistemologische Ansätze finden sich bezeichnenderweise in der Kybernetik, wo zu Beginn des Computerzeitalters philosophische Argumente entwickelt wurden, die sich an idealistischen und konstruktivistischen Ideen orientieren.200 In der epistemologischen Diskussion um die Referenz des Virtuellen treffen wir auf den alten Zwist zwischen Idealismus und Realismus. Der jüngere Ansatz des spekulativen Realismus will hier Abhilfe schaffen, indem er das Virtuelle (das Ideale) nicht dem Realen gegenüberstellt, sondern dieses in einer «flachen Ontologie» unterschiedlichster Realitäten, die sich potentiell un196 Abraham Kaplan: «Referenz in der Kunst», S. 500. 197 Ebd., S. 502. 198 Jeremy J. Shapiro: «Digitale Simulation. Theoretische und geschichtliche Grundlagen», in: Zeitschrift für kritische Theorie 17 (2003), S. 9, 11. 199 In einem Gefüge, einem Netzwerk auftretende, vielfältige Beziehungsformen zwischen Entitäten. 200 Vgl. Heinz von Foerster: Wie wir uns erfinden. Eine Autobiographie des radikalen Konstruktivismus, Heidelberg: Carl Auer 2010. Eine Ausnahme unter den Kybernetikern stellt Gotthard Günther mit seinem Ansatz der Polykontexturalität dar. 69
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tereinander verknüpfen können, integriert. Die Referenz ist damit radikal kontextuell und pluralistisch, jeder Kontakt zu Objekten und zwischen Objekten ist indirekt und mittelbar, und damit wird auch das Subjekt, nun ein Objekt unter anderen, epistemologisch und ontologisch dezentralisiert. Die Hegemonie der Epistemologie, welche «die Philosophie zu einer anthropozentrischen Referenz verdammte»201, ist gebrochen. Kunstwerke in ihrer Virtualität veranschaulichen das «Eigenleben» von Objekten, indem sie spekulative Referenzen entwickeln: Sie verkörpern als Objekte exemplarisch eine genuine Realität, «die tiefer ist als irgendeine theoretische oder praktische Begegnung».202 Im Virtuellen eines Kunstwerks werden implizite, andere Dimensionen der Individuation von Objekten möglich203, unser Wirklichkeitszugang erfährt radikale Modifikationen. Ontologie der Objekte – Ontologie der Cyborgs Doch was will eine Ontologie, die sich nicht am Subjekt, sondern an Objekten orientiert, aussagen und erreichen? Da wir Objekte in ihrer Aktualität nicht erkennen können, muss eine an Objekten orientierte Ontologie sich zwangsläufig spekulativ nennen. Ansätze der objektorientierten Ontologie wollen die metaphysische Spekulation in die Philosophie zurückbringen, indem sie den Objekten einen neuen Status zuschreiben, ein Status, der unabhängig von unserer Erkenntnisfähigkeit definiert werden soll und demzufolge auch alle Aspekte seiner Aktualität, die sich uns verbergen, in der einem Objekt eigenen Realität einschliesst: «Every object populating the world encounters missions of other objects at any given moment, each responding to it in its own way, none of them ever fully sounding its depths. The same tree is multiplied into countless perspectives by all the various people who look at it from different angles and in different moods, by the insects that swarm to chew on it, by the drops of water sucked into its trunk. The tree itself is not reductible to any of these perspectives.»204
Der Begriff «Objekt» muss nach Graham Harman alle Entitäten beinhalten, gleichgültig, ob diese physisch existieren oder imaginativ sind: «Along with diamonds, rope, and neutrons, objects may include armies, monsters, square circles, and leagues of real and fictitious nations. All such objects must be accounted for by ontology (...).» 205 201 Vgl. Levi R. Bryant: The Democracy of Objects, S. 19. 202 Graham Harman: The Third Table/Der dritte Tisch, Ostfildern: Hatje Cantz 2012, S. 23. 203 Vgl. Levi Bryant: The Democracy of Objects, S. 99. 204 Graham Harman: Towards Speculative Realism, S.114. 205 Graham Harman: The Quadruple Object, Winchester/Washington: Zero Books 2011, S. 5. 70
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Alles, was existiert, hat den Status eines unabhängigen Objekts. Mit der objektorientierten Ontologie soll eine neue metaphysische Debatte aufgenommen werden, die von allen Objekten in der Welt spricht, indem sie deren Wahrnehmungsbedingungen und kausalen Relationen untereinander untersucht.206 Harman nimmt in seinem Entwurf einer objektorientierten Ontologie Elemente von Husserls Phänomenologie207 und Heideggers Existenzphilosophie208 auf und entwickelt diese weiter zu einer realistischen Theorie von Objekten: «For the realist, the existence of objects outside the mind is as real as human experience itself.»209
Die Realität von Objekten ist durch einen «Sturm von Referenzen»210 und Zuschreibungen determiniert. Für den spekulativen Realismus ist die Frage zentral, welche Ontologie gewählt wird, um einen Perspektivenwechsel in der Interpretation der Welt zu erreichen. Man knüpft hier an eine alte Kritik211 am deutschen Idealismus an, dem auch Kants Transzendentalphilosophie, oft etwas gar pauschalisierend,212 zugerechnet wird. Als Zentrum der idealistischen Epistemologie und Ontologie wird das Subjekt identifiziert und problematisiert. Eine spekulative Hinwendung zu den Objekten hat zum Ziel, von anthropozentrischen Referenzen abzukommen. Im spekulativen Realismus wird ein subjektloses Objekt entworfen, das für sich selbst ist, «rather than an object that is an opposing pole before or in front of a subject. (...) The democracy of objects is the ontological thesis that all objects (...) equally exist while they do not exist equally. The claim that all objects equally exist is the claim that no object can be treated as constructed by another object. The claim that objects 206 «(...) but at a new metaphysics able to speak of all objects and the perceptual and causal relations in which they become involved.» Ebd., S. 6. 207 Insbesondere Husserls Begriff der Epoché, wo Urteilen über die äußere Welt die Geltung entzogen wird (dem Vorwissen, über die sog. phänomenologische Reduktion), um ein Phänomen aufgrund seines eigenen Systems von Bedeutungen erklären zu können. Vgl. ShinYun Wang: Die Methode der Epoché in der Phänomenologie Husserls, https://www.freidok. uni-freiburg.de/data/1688 vom 2. Dezember 2016. 208 Harman bezieht sich speziell auf Heideggers Werkzeugbegriff und allgemein auf seine Auslegungen des Begriffs des «Seins», wo jedes verstehende Verhältnis zu «innerweltlich Seiendem» sich in dem kontextuellen Zusammenhang bewegen muss, worin sich das Seiende erst zeigt. Vgl. Byung Chul-Han: Martin Heidegger, Stuttgart: UTB 1999, §1. 209 Graham Harman: The Quadruple Object, S. 11. 210 Vgl. Graham Harman: Towards Speculative Realism, S. 96. 211 Mit einer Kritik an der Transzendentalphilosophie Kants und dem deutschen Idealismus grenzt sich die Philosophie des angelsächsischen Raums seit Jahrhunderten von der «kontinentalen» Philosophie ab. Geläufige Dualismen hierbei sind Empirismus vs. Rationalismus, Realismus/Materialismus vs. Idealismus usw. 212 Vgl. Levi R. Bryant: «Onticology: A Manifesto for Object-Oriented Ontology Part I», https:// larvalsubjects.wordpress.com/2010/01/12/object-oriented-ontology-a-manifesto-part-i/ vom 2. Dezember 2016. 71
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do not exist equally ist the claim that objects contribute to collectives or assemblages to a greater and lesser degree. In short, no object such as the subject or culture is the ground of all others.»213
Damit wird eine Welt, eine Ontologie ohne die Erkenntnisfähigkeit des Menschen in ihrem Zentrum entworfen. Aus einer solchen Perspektive passt sich der Mensch über eine neue Art der Bezugnahme an seine Umwelt an als gleichbedeutender, interagierender Teil eines «Ensembles» von Objekten mit ihren eigenen Realitäten.214 Das bedeutet nicht ein «Zurück zur Natur», sondern es bedeutet die Anerkennung des Umstands, wie sehr alles – technische Artefakte und Simulationen, natürliche Objekte und Prozesse – in verworrenen Interaktionen und Referenzen verflochten sind. Eine objektorientierte Ontologie berücksichtigt den Umstand, dass wir mit der Umwelt technisch-mittelbar interagieren und der Umgang mit unseren technischen Instrumenten dem Umgang mit der Umwelt entspricht. Das technische Objekt verschmilzt dabei immer mehr mit dem organischen Subjekt, der Körper mit den Maschinen: «In unserer Zeit, einer mythischen Zeit, haben wir uns alle in Chimären, theoretisierte und fabrizierte Hybride aus Maschine und Organismus verwandelt, kurz, wir sind Cyborgs. Cyborgs sind unsere Ontologie. Sie definieren unsere Politik. Die Cyborg ist ein verdichtetes Bild unserer imaginären und materiellen Realität, den beiden miteinander verbundenen Zentren, die jede Möglichkeit historischer Transformation bestimmen.»215
Donna Haraway beschreibt die Beziehung zwischen menschlichem Organismus und Maschine, zwischen Natur und Technik als «Grenzkrieg»: «Die umkämpften Territorien in diesem Grenzkrieg sind Produktion, Reproduktion und Imagination. [Haraway plädiert] dafür, die Verwischung dieser Grenzen zu geniessen und Verantwortung bei ihrer Konstruktion zu übernehmen.»216
Cyborgs sind wohl «Abkömmlinge des Militarismus und patriarchalen Kapitalismus»217, aber sie sind nach Haraway «illegitime Abkömmlinge», die ihrer Herkunft gegenüber nicht loyal sind und die den Begriff der Natur unterhöhlen, also 213 Ebd. 214 «(...) und dass das Verhältnis von Diskurs. Sprache, Körper und Referentialität so reformuliert werden muss, dass Wissen immer als Verknüpfung von Körpern und Bedeutungen gedacht wird. Wissen ist das Ergebnis eines Interaktionsprozesses, in den die Aktivität aller Beteiligten, einschließlich der Wissensobjekte, eingeht.» Carmen Hammer und Immanuel Stieß: Einleitung, in: Donna Haraway: Die Neuerfindung der Natur. Primaten, Cyborgs und Frauen, Frankfurt/New York: Campus 1995, S. 20. 215 Ebd. S. 34. 216 Ebd., S. 35. 217 Ebd., S. 36. 72
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«die Gewissheit der Bestimmung dessen, was als Natur – als Quelle von Erkenntnis, als Verheissung von Unschuld – betrachtet werden kann (...). Die transzendentale Autorität der Interpretation geht verloren und mit ihr die Ontologie, die die Epistemologie des ‹Westens› begründet hat. Die Alternative besteht jedoch weder in Zynismus noch Untreue, d. h. in Versionen einer abstrakten Existenz, die dann in Beschreibungen eines technologischen Determinismus als Zerstörung des ‹Menschen› durch die ‹Maschine› oder des ‹sinnvollen politischen Handelns› durch den ‹Text› enden. Es ist eine grundlegende Frage, wer oder was Cyborgs tatsächlich sein werden. Die Antworten darauf sind eine Frage des Überlebens. Sowohl Schimpansen als auch Artefakte machen Politik, warum sollten gerade wir darauf verzichten?»218
Die Unsicherheit in der Definition, was Natur ist, was Cyborgs sein könnten, was Objekte sind und was allen Objekten gemein sein könnte, wird im spekulativen Realismus zum Prinzip des Weltentwerfens erhoben. Bruno Latour bezeichnet derlei unsichere Objekte als «haarig», sie stehen im Gegensatz zu den «kahlen» Objekten: «An die Stelle von risikolosen, kahlen Objekten, an die wir bis jetzt gewöhnt waren, treten riskante Verwicklungen, haarige Objekte. (...) Die politische Ökologie verschiebt nicht die Aufmerksamkeit vom menschlichen Pol zum Pol der Natur; sie gleitet vielmehr von der Gewissheit bei der Produktion der Objekte ohne Risiko (mit ihrer klaren Trennung zwischen Menschen und Dingen) zu einer Ungewissheit über die jeweiligen Beziehungen, deren unerwartete Folgen alle Steuerungen, Pläne oder Effekte beeinträchtigen können.» 219
Latour bringt die neue Ontologie von Objekten in einen Zusammenhang zur politischen Ökologie. Damit münden epistemologische und ontologische in ökologische und letztlich in politische Fragen. Latour richtet die Aufmerksamkeit auf die ökologischen Krisen, die sich nicht als Krisen «der Natur» äussern, sondern vielmehr als «Krisen der Objektivität» erscheinen, also eine umfassende konstitutionelle Krise darstellen, die alle Objekte betrifft.220 Angesichts der heutigen Umweltprobleme sollen nicht nur der Subjektbegriff und der Naturbegriff neu verhandelt werden, sondern müssen sich die beiden Begriffe gänzlich auflösen, um in einer «Demokratie der Objekte»221, einem «Parlament der Dinge»222 aufzugehen. 218 Ebd., S. 38. 219 Bruno Latour: Das Parlament der Dinge, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2010, S. 37, 40. 220 Vgl. ebd., S. 34. 221 «The Democracy of Objects attempts to think the being of objects unshackled from the gaze of humans in their being for-themselves.» Levi R. Bryant: The Democracy of Objects, S. 19. 222 «Die Beispiele für Verbindungen zwischen Konzeptionen der Natur und Konzeptionen der Politik sind so zahlreich, dass man mit gutem Recht behaupten kann, jede epistemologische Frage sei ebenso eine politische Frage.» Bruno Latour: Das Parlament der Dinge, S. 49. 73
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Posthumanismus, Postnaturalismus: Politische Ökologie Positionen, die dem Posthumanismus223 zugeordnet werden, entwerfen nicht nur eine Welt nach dem Verschwinden des Menschen, sie versuchen vielmehr unseren Status in der Welt umzudefinieren. Die besondere Stellung des Menschen unter den anderen Spezies wird negiert; damit soll die Dichotomie zwischen Gesellschaft und Natur aufgelöst werden, um dem Bewusstsein einer Gesamtheit aller menschlichen und nichtmenschlichen Entitäten in Form eines «Kollektivs» Platz zu machen. In einem ersten Schritt soll nach Bruno Latour auf verallgemeinernde Begriffe wie «die Natur», «die Kultur» oder «die Wissenschaft» verzichtet werden. Genauso wie nur von «den Wissenschaften» als unterschiedlichen und äquivalenten disziplinären Perspektiven auf die Welt gesprochen werden kann, muss zunächst von «Naturen» die Rede sein, um von unstatthaften Generalisierungen im Singular abzukommen, hinter denen sich eine Hierarchie verbirgt, nämlich die der übergeordneten Rolle des Menschen und seiner Kultur über «die Natur»: «Anstatt von zwei verschiedenen Arenen auszugehen, in denen man eine Hierarchie der Wesen zu erstellen versucht (...), schlägt die politische Ökologie vor, ein einziges Kollektiv zusammenzurufen. Dessen Rolle besteht darin, über besagte Hierarchie zu debattieren und zu einer akzeptablen Lösung zu gelangen. Sie schlägt vor, die Aufgabe der Vereinheitlichung der Rangfolge aller Wesen aus der Doppelarena Natur und Politik in die alleinige Arena des Kollektivs zu verlagern.» 224
Ökologie als theoretische und angewandte Wissenschaft beschäftigt sich mit der Untersuchung der Verbreitung und Abundanz (Dichte, Häufigkeit) von Lebewesen und den Wechselwirkungen und Energiekreisläufen, welche die Verbreitung und Abundanz bestimmen.225 Politische Ökologie befasst sich mit den Zielsetzungen ökologischer Forschung und den Auswirkungen ökologischer Erkenntnisse, respektive deren Umsetzung in politischem Handeln. Etwas spezifischer formuliert befasst sich die politische Ökologie mit den Referenzen, derer wir uns bedienen, wenn wir von natürlichen Objekten sprechen oder mit ihnen interagieren. Politische Ökologie befasst sich mit der Art und Weise, wie die Umwelt wahrgenommen wird, wie definiert wird, was sie ist und wie mit ihr umgegangen wird, und damit ist auch der Bezug zu den künstlerischen und wissenschaftlichen Praktiken hergestellt, die in dieser Arbeit beschrieben und theoretisch behandelt worden sind. Wie Colin. R. Townsend et al richtig in ihrer Einführung zur Ökologie schreiben, ist nicht die Frage, was Ökologie ist, entscheidend, sondern was sie tut: 223 Dazu gehören auch Bereiche der Science-Fiction sowie Donna Haraways Cyborgs. Vgl. Rosi Braidotti: Posthumanismus. Leben jenseits des Menschen, Frankfurt/New York: Campus 2014. 224 Ebd. S. 46. 225 Vgl. Colin R. Townsend et al: Ökologie, Berlin/Heidelberg Springer 2014, S. 5. 74
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«Besser ist es, wenn wir die eine Frage nach der Definition durch eine Reihe anderer, mehr provozierender Fragen ersetzen: ‹Was machen Ökologen?› ‹Woran sind sie interessiert?› ‹Worin liegt der Ursprung der Ökologie?›»226
Die politische Ökologie deckt auf, dass Naturkonzeptionen politische Konzeptionen der Gesellschaft sind und will dementsprechend die «Konzeption der sozialen und politischen Welt»227 ändern. Aber wie soll sich so etwas wie ein neues «Kollektiv» formieren können, wenn dafür die Referenzen hauptsächlich fehlen, von Grund auf neu formuliert werden müssen? Wovon soll ausgegangen werden und wie vermittelt dies das wissenschaftlich-künstlerische «Protokollektiv»? Dem, was das Kollektiv aller Entitäten «versammelt», der Referenz der politischen Ökologie, kann man sich nur experimentell annähern: «Um das Experimentieren mit der gemeinsamen Welt wieder in Gang zu bringen (...), müssen wir sowohl den Begriff der Kultur als auch den Begriff der Natur umgehen. (...) Wie sieht das Kollektiv aus, das wir jetzt zusammenrufen können, da es nicht mehr zwei Kammern gibt, von denen nur eine ihren politischen Charakter eingesteht? (...) Die alte Verfassung (...) hatte genügend Zeit, ihre Wirkungen zu entfalten, so mag man jetzt versuchen, eine politische Philosophie für die Gemische aus Menschen und nicht-menschlichen Wesen zu ersinnen.»228
Die Referenz in der politischen Ökologie bezieht sich letztlich weniger auf das, was Objekte theoretisch sein sollen oder können, sondern sie bezieht sich auf die Praxis der Spekulation, des Forschens, des Entdeckens selber: Auf das wie und nicht das was. Sie suggeriert eine experimentierende Lebensführung im Verhältnis zur bestehenden Umwelt – in aller Ungewissheit ihrer tatsächlichen Konstitution. Der Prozess der «allmählichen Zusammensetzung der gemeinsamen Welt»229 konstituiert sich somit auch über Experimente im Wissenschaftlich-Künstlerischen, die sich in den Entwurf eines «Pluriversums»230, einer Immanenzebene, wie sie Gilles Deleuze und Félix Guattari als Modell des Denkens aufgespannt haben, involvieren. Der Prozess der allmählichen Zusammensetzung einer gemeinsamen Welt impliziert «eine Art tastendes Experimentieren, und rekurriert auf schwer eingestehbare, wenig rationale und vernünftige Mittel. (...) Denken heisst stets einer Hexenlinie folgen. Man denkt nämlich nicht, ohne zugleich etwas anderes zu werden, etwas, das nicht denkt,
226 Ebd. 227 Bruno Latour: Das Parlament der Dinge, S. 50. 228 Ebd. S. 68–69. 229 Bruno Latour: Das Parlament der Dinge, S. 32. 230 Ebd., S. 58. 75
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ein Tier, eine Pflanze, ein Molekül, ein Partikel, die zum Denken zurückkehren und es von neuem in Gang setzen.»231
Die Politische Ökologie findet ein Anwendungsfeld im WissenschaftlichKünstlerischen, dem Ort, wo «Assoziationen zwischen Menschen und nichtmenschlichen Wesen»232 möglich werden. An die Stelle der Natur tritt eine experimentelle Metaphysik, wo die Stimmen der «nicht-menschlichen Wesen» sich über die «subtilen Apparaturen»233 der Kunst und der Wissenschaft mitteilen. John Dewey antizipierte in diesem Zusammenhang eine künftige, experimentelle Anschauungsweise, die in einer gemeinsamen Kultur – sowohl in den technai als auch in Latours Parlament der Dinge – «gänzlich akklimatisiert sein wird.»234 Eine Zukunft also, in der alte Hierarchien aufgehoben sind und sich ein Denken und Handeln etabliert hat, das in einer neuen Beziehung zum «Territorium und zu Terra, der Erde»235 steht. Literatur Altner, Günter: «Kunst und Wissenschaft im Horizont der Nachhaltigkeit», in: Ökologisches Jahrbuch 2005, München: Beck 2005, S. 36–54. Baumgarten, Alexander G.: Ästhetik, Hamburg: Meiner 2007. Bennett, Jane: Vibrant Matter. A Political Ecology of Things, Durham: Duke University Press 2010. Bloch, Ernst: Über Karl Marx, Frankfurt am Main: 1968. Bogusz, Tanja: «Experimentalismus statt Explanans? Zur Aktualität der pragmatistischen Forschungsphilosophie John Deweys», in: Beltz Juventa, Zeitschrift für Theoretische Soziologie 2/2013, S. 239–252. Bohlken, Eike/ Thies, Christian (Hg.): Handbuch Anthropologie, Stuttgart/ Weimar: 2009. Braidotti, Rosi: Posthumanismus. Leben jenseits des Menschen, Frankfurt/ New York: Campus 2014.
231 Gilles Deleuze und Félix Guattari: Was ist Philosophie? Frankfurt am Main: Suhrkamp 1996. 232 Bruno Latour: Das Parlament der Dinge, S. 66. 233 Ebd. S. 101. 234 John Dewey: Kunst als Erfahrung, S. 392. 235 Gilles Deleuze und Félix Guattari: Was ist Philosophie? S. 97. 76
Kunst, Wissenschaft und Natur
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Der unsichtbare Faden Hannes Rickli Zu Materialität und Infrastrukturen digitaler Tierbeobachtung In Recherchen zur Aufbauphase eines Experimentalsystems, das die Flugsteuerung bei der Schwarzbäuchigen Fruchtfliege (Drosophila melanogaster) am Institut für Neuroinformatik der Eidgenössischen Technischen Hochschule ETH und der Universität Zürich untersucht, stieß ich 2008 auf mehrere Serien von Highspeed-Videoaufnahmen frei fliegender Fruchtfliegen von Steven N. Fry. Sie waren 2006 auf dem Projektserver im Ordner «first tests» als graustufige Bitmap-Einzelbildserien abgelegt worden. Im Filmformat abgespielt, zeigen die wenige Sekunden dauernden Sequenzen lateral fotografierte Insektenflüge mit einem wiederkehrenden Muster, das aussah, als würden die Tiere eine bestimmte Flugfigur einüben. Ein einzelnes Tier erscheint jeweils in der linken Hälfte des horizontal langgezogenen Bildfelds und fliegt nach rechts bevor es nach ein paar Flügelschlägen von einer unsichtbaren Kraft in die Bildmitte zurückgeführt wird, worauf es unvermittelt wieder Geschwindigkeit aufnimmt und über den rechten Rand das Bild verlässt. Die formalen Eigenschaften des Bildes – das überlange Cinémascope-Format, der mit einzelnen Spuren und Flecken markierte und in der Bildmitte etwas hellere neutrale Hintergrund, die unregelmäßig verlaufenden Bildränder oben und unten sowie die tendenzielle Bewegungsrichtung des beobachteten Objekts von links nach rechts erinnern an chronofotografische Dokumentationen des französischen Physiologen Étienne-Jules Marey Ende des 19. Jahrhunderts. Marey ließ in gleicher Richtung Haus- und Nutztiere von einem Assistenten an einer Leine geführt vor seiner Kamera passieren und vermaß in den Aufzeichnungen deren Gangarten und Bewegungsabläufe. In beiden Projekten stellen die visuellen Produkte lediglich das Rohmaterial der Erkenntnisgewinnung und nicht das wissenschaftliche Ziel dar. Dieses bestand sowohl für Marey in Paris wie auch für den Verhaltensbiologen Steven N. Fry in der nachträglichen Abstrahierung der Bilddaten in stabile mathematische Informationseinheiten.
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Hannes Rickli
Betrachte ich diese Überreste und Spuren wissenschaftlicher Vorarbeit aus der Perspektive des Künstlers, interessieren mich verschiedene Aspekte, die auf die eine oder andere Weise mit Ästhetik zu tun haben. Mit ästhetisch meine ich hier die Frage der sinnlichen Wahrnehmbarkeit von Handlungen, Räumen und Zeitlichkeit in den Vorgängen der Tierbeobachtung sowie die Materialität der in die Erkenntnisprozesse involvierten Medien und technologischen Infrastrukturen. Wie wandeln sich Mensch-Tier-Medien-Raum-Zeit-Verhältnisse im Übergang von analogen zu digitalen Forschungspraktiken und wie sind sie materiell verfasst? Welche Kräfte und Energien steuern diese Verhältnisse? Wie beteiligen sich Medien, Infrastrukturen und Materie etwa in Form von Elektrizität, Stürmen oder Bioaktivität an der Erkenntnisgewinnung? Wie gestaltet die Elektrizität als plastisches Medium der Natur sowie der Wissenschaften den Horizont dessen, was wir über «natürliche Systeme» wissen können und wie begrenzt diese Energie umgekehrt den möglichen Wissenshorizont? Diesen Fragen gehe ich in Untersuchungen nach, die in den frühen 1990er Jahren begannen und seit 2007 im Rahmen künstlerischer Forschungsprojekte systematisch stattfinden. Die Fragen und Themen gewannen allerdings erst allmählich Kontur anlässlich von Laborbesuchen und in explorativen Versuchen am videografischen Rohmaterial dreier Arbeitsgruppen in den Biowissenschaften. Die Träger ihrer Forschungsinteressen sind Fische und Insekten einerseits und andererseits die Apparaturen ihrer Experimentalsysteme, mit denen sich die Fragen materialisieren lassen, die sie an die Tiere stellen.1 Im Lauf der langjährigen Zusammenarbeit mit den Biologen Philipp Fischer, Helgoland,2 Hans Hofmann, Austin, Texas3 und Steven N. Fry, Zürich4 konnte ich die Entwicklung ihrer Forschungsfragen und Experimentalsysteme mitverfolgen. Die Forschungsfelder der drei Gruppen und die wichtigsten Verfahren, mit denen sie arbeiten, sind Molekularbiologie und Neurowissenschaften in Koppelung mit Bioinformatik (Hofmann), Fischökologie der Küste Spitzbergens mittels remote sensing (Fischer) und Biomechanik mit 3D-Trackit-Systemen (Fry). Die Dynamik ihrer technologiebasierten Forschungen lässt sich als eine Art Pendelbewegung beschreiben, in der das «technische» Ding5 zur Bearbeitung 1 «Experimentalsysteme sind nicht Anordnungen zur Überprüfung und bestenfalls zur Erteilung von Antworten, sondern insbesondere zur Materialisierung von Fragen.» Hans-Jörg Rheinberger: Experimentalsysteme und epistemische Dinge. Eine Geschichte der Proteinsynthese im Reagenzglas, Frankfurt/Main: Suhrkamp Verlag 2006, S. 25. 2 Biologische Anstalt Helgoland, Alfred-Wegener-Institut, Helmholtz-Zentrum für Polar- und Meeresforschung, https://www.awi.de/ueber-uns/organisation/mitarbeiter/philipp-fischer.html vom 30. November 2016. Kooperation seit 2005. 3 Section of Integrative Biology, University of Texas at Austin, http://cichlid.biosci.utexas.edu/ vom 30. November 2016. Kooperation seit 1994. 4 Institut für Neuroinformatik, ETH und Universität Zürich, http://fly.ini.uzh.ch/joomlas/ vom 30. November 2016. Kooperation 1999–2011. 5 «Zu den technischen Dingen gehören Instrumente, Aufzeichnungsapparaturen und, in den biologischen Wissenschaften besonders wichtig, standardisierte Modellorganismen mitsamt 84
Der unsichtbare Faden
des «epistemischen» (biologischen) Dings6 selber zum epistemischen (technologischen) Ding wird und so fort. Die sich stetig entwickelnden Technologien durchdringen die biologischen Fragestellungen und erfordern deren Einpassung in die technischen Systeme. Was haben die Führungsleine und der Assistent in den Esel-Passagen mit der unsichtbaren Kraft, die auf die Flugbahn der Drosophila im Windkanal einwirkt gemeinsam? Beide sind, obwohl stofflich unterschiedlich beschaffen und mehr als hundert Jahre auseinanderliegend, auf je spezifische Weise Motive, die mit ähnlichen Effekten und ähnlichem Status im Prozess der Erkenntnisgewinnung die Interaktion von menschlichen und nicht-menschlichen Akteuren anleiten und steuern. Beide ordnen die Beziehungen innerhalb eines Experimentalsystems. Michel Serres würde solche Objekte oder Dinge, die das Zusammenspiel innerhalb des Kollektivs menschlicher, tierischer und technologischer Komponenten ermöglichen, formen und auch eingrenzen, wohl mit «Quasi-Objekt» bezeichnen. Er beschreibt ihre Beschaffenheit und Wirkungsweise als wechselhaft und nicht immer klar erkennbar: «Es gibt Objekte, mit denen sich das bewerkstelligen lässt, Quasi-Objekte, Quasi-Subjekte, von denen man nicht weiß, ob sie Wesen oder Relationen, ob sie Bruchstücke von Wesen oder Zipfel von Relationen sind.» Ein Quasi-Objekt sei «nur für die Zirkulation da. Es ist im strengen Sinne die Transsubstantiation des Wesens in eine Relation.»7 Das Quasi-Objekt «macht» das Kollektiv,8 es bringt dieses hervor und organisiert es. Allerdings sei es «blank»9 und «geht gegen Null, tendiert zur Abwesenheit in einem schwarzen Kollektiv.»10 Im Zusammenhang meiner künstlerischen Laborstudien verwende ich für diese besonderen Organisationinstrumente den Begriff «Infrastruktur». Die Infrastruktur liegt normalerweise unterhalb unserer Wahrnehmungsschwelle und «gilt als ein unsichtbares Substrat – als verbindendes Medium oder Strom zwischen Objekten von eindeutiger Zielsetzung, Form und Gesetzmässigkeit,» den in ihnen sozusagen verknöcherten Wissensbeständen. Die technischen Bedingungen definieren nicht nur den Horizont des Experimentalsystems, sie sind auch Sedimentationsprodukte lokaler oder disziplinärer Arbeitstraditionen mit ihren Messapparaturen [...]. Sie determinieren die Wissensobjekte in doppelter Hinsicht: Sie bilden ihre Umgebung und lassen sie erst als solche hervortreten, sie begrenzen sie aber auch und schränken sie ein.» Hans-Jörg Rheinberger: Experimentalsysteme und epistemische Dinge, S. 29. 6 «Epistemische Dinge sind die Dinge, denen die Anstrengungen des Wissens gilt – nicht unbedingt Objekte im engeren Sinn, es können auch Strukturen, Reaktionen, Funktionen sein. Als epistemische präsentieren sich diese Dinge in einer für sie charakteristischen, irreduziblen Verschwommenheit und Vagheit.» Ebd., S. 27. 7 Vgl. Michel Serres: «Theorie des Quasi-Objekts», in ders.: Der Parasit, Frankfurt/Main: Suhrkamp Verlag 2014, S. 344–360, hier S. 350. 8 Ebd., S. 346. 9 Ebd., S. 353. 10 Ebd., S. 360. 85
Hannes Rickli
wie die Urbanistin Keller Easterling ausführt.11 Auch wenn sie unsichtbar sind und im Fokus wissenschaftlicher Arbeit eine Nebensächlichkeit darstellen, binden Infrastrukturen große Teile der Ressourcen von Forschungsunternehmen. Die von mir als Künstler initiierte interdisziplinäre Forschungskooperation Computersignale untersucht seit 2012 Aspekte der Herstellung und Verarbeitung von Daten in den Biowissenschaften. Ihr gehören neben den Biologen und Künstlerinnen auch erfahrene Wissenschaftsforscher an. Zusammengenommen ergeben mehrere Projektphasen12 eine Langzeituntersuchung zum Übergang von analogen zu digitalen Forschungspraktiken am Beispiel der drei oben erwähnten Arbeitsgruppen auf Helgoland, in Austin, Texas und in Zürich. Im ersten Projekt Überschuss. Videogramme des Experimentierens wurden anhand analoger Videoaufzeichnungen der 1990er Jahre retrospektiv Konfigurationsverhältnisse zwischen menschlichen, tierischen und technischen Akteuren herausgearbeitet sowie die agentielle Rolle der Medien untersucht.13 Im Projekt Computersignale. Kunst und Biologie im Zeitalter ihres digitalen Experimentierens ging es um die Herstellung von künstlerischen, technischen und theoretischen Zugängen zur Beobachtung der digitalen Datenarbeit in den Laboratorien. In den folgenden Abschnitten werden die materiellen und konzeptionellen Wandlungen von Quasi-Objekten biowissenschaftlicher Forschung in fünf Stationen nachgezeichnet. Sie haben verschiedene Ausprägungen: Marey’s feste Leine, durchsichtige und immaterielle Objekte in Form eines transparenten Nylonfadens und einer virtual reality-Umgebung, ein Seekabel und ein Netzwerk von Erdöl- und Erdgaspipelines, Kühlwasser- und Internetleitungen. Während die Quasi-Objekte immer weiter aus der physischen Wahrnehmung verschwinden, nimmt ihre Massivität zu und sie verbinden die Forschung mit Landschaften, Politiken und Ökonomien.
11 Keller Easterling: «Die infrastrukturelle Matrix», in: Zeitschrift für Medienwissenschaft ZfM, Heft 12 2015, S. 68. 12 Details zu den Projekten und Kooperationspartnern s. Überschuss. Videogramme des Experimentierens (2007–2009, gefördert durch den Schweizerischer Nationalfonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung SNF https://www.zhdk.ch/index.php?id=70253 vom 30. November 2016 und Computersignale. Kunst und Biologie im Zeitalter ihres digitalen Experimentierens (2012–2015, Förderung SNF), https://www.zhdk.ch/index.php?id= computersignale vom 30. November 2016. Das Fortsetzungsprojekt Computersignale II ist vom SNF bewilligt worden für die Periode von 2017–2020. 13 Vgl. Hannes Rickli (Hg.): Videogramme. Die Bildwelten biologischer Experimentalsysteme als Kunst- und Theorieobjekt, Zürich: Scheidegger & Spiess 2011. 86
Der unsichtbare Faden
Die Leine Um 1890 lässt Étienne-Jules Marey in seinem Pariser Institut Station physiologique zum Studium ihrer Gangarten eine Serie von Tieren an einer Kamera vorbeiziehen. Die Passagen finden vor einer etwa zehn Meter langen, auf der Fotografie neutralgrau dargestellten Hauswand statt, am Boden sind im Vordergrund Meterabschnitte schwarz und weiß markiert. In einer Serie von drei Versuchen mit dem Titel «Âne, Marche» und der Jahresangabe 1893 wird in der ersten, 26 Einzelbilder umfassenden Sequenz ein Esel von einem Gehilfen an einer losen Leine von links nach rechts durch das langgezogene Bildformat geführt. Der zweite Durchgang geht im Galopp daher. Für den dritten Anlauf wurde vor der Wand eine Uhr mit Sekundenzeiger installiert, die zu laufen beginnt, sobald die Aufnahme startet. Dieses Mal sträubt sich das Versuchstier und bricht nach einem kräftigen Zug des Assistenten an der Führungsleine in Richtung Kamera aus, der Assistent ist bemüht, das Tier am Fotoapparat vorbeizusteuern. Ob die Demotivation des Tiers ausgelöst wurde durch eine Störung in der Umgebung oder einfach dem sprichwörtlichen Charakter des Esels entspricht, ist auf der fotografischen Überlieferung nicht zu ermitteln. Die Aufzeichnungen scheinen das ferne Echo einer Szenerie zu sein, die kaum Ähnlichkeiten mit zeitgenössischer, technologiebasierter Forschung aufweist. In ihrem rohen, elementaren Zustand enthält sie jedoch wesentliche Elemente und Muster, die auch heute noch bestimmten Formen der Tierbeobachtung und -Vermessung zugrunde liegen. Die Bildserie führt ein Experimentalsystem vor, das aus einem Bündel von menschlichen und nichtmenschlichen Komponenten in raum-zeitlichen Anordnungen besteht. Die Arena, das Tier, der Gehilfe, die Leine, das Metermaß, die Uhr, die Kamera und nicht zuletzt die auf den fotografischen Platten festgehaltene Spur der experimentellen Handlungen sind Motive, die sich im Lauf der Zeit ausdifferenziert haben. Der Strick in Mareys Versuch verweist auf ein Grundprinzip technologisch basierter Verhaltensforschung, das im ständigen Abgleich – einer gegenseitigen Anpassung und Zurichtung der Akteure – besteht, um unter Laborbedingungen ein möglichst «natürliches» Verhalten14 zu registrieren. Die Eselsleine verfeinert sich in meinen Laborbeispielen um die Jahrtausendwende in Form von Lichtschranken und einem transparenten Faden und dematerialisiert sich in einer virtuellen Umgebung, in der sich die Versuchstiere orientieren.
14 Vgl. dazu auch Christoph Hoffmann: «Eigenleben im Experiment. Zur Erforschung ‹natürlicher Systeme›», in: Rickli (Hg.) 2011, S. 46–55. 87
Hannes Rickli
Abbildung 1: Etienne-Jules Marey und Georges Demenÿ: «Âne, Marche». Station physiologique, Paris 1893 (Screenshot). Der Nylonfaden Steven N. Fry erforschte 1995 bis 1998 die Zielnavigation bei der Honigbiene (Apis mellifera). Er baute ein Experimentalsystem auf, das aus einem runden Flugzelt aus weißer Gaze bestand und einer Videoanlage, die vertikal auf die Basis des Zelts ausgerichtet war. Die Honigbienen aus der Umgebung der Universität traten einzeln in die Arena ein, nachdem sie gelernt hatten, dort eine Futterlösung zu finden. Sie durchliefen eine Röhre und lösten dabei eine Lichtschranke aus, die das Videosystem startete. Im Flugzelt auf einem erhöhten Podest angelangt, orientierten sie sich an zylinderförmigen Landmarken, die in der weiteren Umgebung einer im Boden versenkten Zuckerschale platziert waren. Um die visuelle Orientierungsleistung der Bienen anhand der aufgestellten Markierungen zu messen und den Geruchreiz des Zuckers auszuschließen, deckte Fry das Eingangsloch zur Schale mit einer kleinen Acrylglasscheibe ab. Die Biene ermittelte in einem Suchflug zwischen den Zylindern das mutmaßliche Futterziel. In dem Moment, in dem sie es fand, zog Fry, außerhalb des Zelts positioniert und über das Monitorbild der Kamera mit dem Inneren des Zelts verbunden, an einem transparenten Nylonfaden die Abdeckung der Schale weg, so dass das Insekt in die Ausgangsröhre schlüpfen konnte, wo es seine Belohnung abholte. Bei dieser Gelegenheit beendete es beim Passieren einer zweiten Lichtschranke die analoge Videoaufzeichnung. Ab 1997, gegen Ende seiner Versuchsreihen, setzte der Experimentator eine selbst entwickelte Trackit-Kamera ein, die aufgrund der Kontrastverhältnisse im Bildfeld den dunklen Bienenleib während eines Fluges vor dem hellen Untergrund in Nahaufnahme verfolgte. Aus den Kamerabewegungen errechnete das Programm die Daten des zurückgelegten Wegs sowie die Ausrichtungen der Körperachse und stellte sie grafisch dar.
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Das halbautomatisierte Experimentalsystem erhob eine Vielzahl von statistisch relevanten Flugdaten. Die Datenauswertung erfolgte zuerst manuell, dann zunehmend digital programmiert. In der Folge wurden Bildmedien vermehrt als optische Sensoren eingesetzt, die Signale in numerische Daten zur Steuerung der Aufnahmesysteme umsetzten bei gleichzeitiger Kontrolle der Bewegungen der Tiere, ohne dass der Beobachter hinterher die visuellen Aufzeichnungen als Bilder betrachten und frame by frame bearbeiten musste. Die Delegation der Beziehungssteuerung von Tieren und Aufzeichnungsmedien an den Computer hatte den Effekt einer Dematerialisierung der Beobachter-Objekt-Relation. Ein weiterer Effekt der Automatisierung bestand darin, dass die physische Anwesenheit des Experimentators am Ort seines Systems nicht mehr notwendig war. Die virtuelle Umgebung Zur Untersuchung neuronaler Vorgänge der Bewegungssteuerung bei der Fruchtfliege richtete Steven N. Fry ab 2005 einen Windkanal ein, in dem einzelne Insekten, angelockt von Essigduft, frei fliegen konnten. Mit Hilfe eines optischen 3D-Trackit-Systems sowie einer an die Seitenwände des Kanals projizierten grafischen Musters wurde das Tier an einen Punkt in der Mitte des Flugraums geführt. Basis für die Positionierung der Fliege war die Beobachtung, dass das Insekt eine bevorzugte Fluggeschwindigkeit einzuhalten sucht (preferred flight speed). Diese kontrolliert es über seine optische Wahrnehmung. Die Trackit-Anlage bestand aus zwei beweglichen Kameras, die vertikal angeordnet das Tier erfassten und die aktuelle Position in Echtzeit an den Rechner zur Steuerung der visuellen Umgebung übermittelte. Das in flexiblen Geschwindigkeiten präsentierte Muster leitete die Fliege zum Zentrum des Windkanals. Befand sie sich dort, wurde während einer Sekunde ein Testmuster dargeboten, das in ihr den Eindruck einer höheren oder niedrigeren Geschwindigkeit hervorrief. Das als Reaktion auftretende Flugmanöver wurde mit einer Hochgeschwindigkeitskamera vermessen, die seitlich die Ausrichtungen der Körperachse und der Flügel mit 1000 Bildern pro Sekunde aufnimmt. Die Echtzeit-Performance des Trackit-Systems mit der synchronen Präsentation einer virtuellen Umgebung und gleichzeitiger Vermessung von Körper- und Positionsveränderungen wurde so realisiert, indem aus prozessökonomischen Gründen nur kleine relevante Felder der Hochgeschwindigkeitsbilder ausgelesen und als numerische Werte an den Rechner weitergegeben wurden. Die Bilddaten löschte das System unmittelbar danach, um keine Übertragungsverzögerungen durch Speichervorgänge zu verursachen.
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Abbildung 2: Drosophila im Windkanal, Highspeed-Aufnahme 2006 (Bitmap-Bild). Die im Archiv vorgefundenen Videogramme der Drosophila sind Reste der Kalibrierung des Systems. Sie dokumentieren die letzte Phase der Vorarbeit zur Justierung der einzelnen medialen Komponenten. Den Fliegenaufnahmen gingen zahlreiche Trackit-Versuche mit kleinen, im Luftstrom flatternden Objekten voraus, die die Kamera im Bildzentrum fixieren sollte. Nach rund zwei Jahren war die Einrichtung in der Lage, den Versuchstieren eine «natürliche» Umgebung zu präsentieren. Erst nach der Stabilisierung der technologischen Vorgänge und deren Abgleichung mit dem Tierverhalten konnten die Messreihen in Angriff genommen werden.15 Aus kulturellen und gesellschaftlichen Perspektiven betrachtet zeigen die visuellen Aufnahmen und mehr noch ihr aus dem Prozess-Fallen und ihr Verschwinden Aspekte einer Entmaterialisierung digitaler Forschungsarbeit auf. Einerseits finden viele der Vorgänge in Blackboxes statt, deren innere Prozesse der Wahrnehmung entzogen sind – wir nehmen Teile der Materialität dieser Geräte zwar physisch wahr, etwa ihre Abwärme und die Ventilatoren, die diese abführen. Auf der Ebene des Codes andererseits selektionieren Filteralgorithmen bereits während den Aufnahmen Signale mit wissenschaftlicher Relevanz, die aufgehoben und weiter verarbeitet werden. Nicht vorgesehene Signale löscht das Programm im gleichen Schritt. Damit entfallen Aufzeichnungen wissenschaftlich irrelevanter Materialien, genauer die Spuren des Arbeitsprozesses. Gerade aber diese unbeachteten Reste sind es, welche künstlerische Verfahren retrospektiv so wenden können, dass sie die ästhetischen und materiellen Herstellungsbedingungen von Erkenntnis im Experiment, etwa das individuelle Tier, Gesten des Experimentators, das Abgleichen von Medien und Tieren, konkrete Räume, Objekte und Lichtverhältnisse zeigen. Sie geben Einblick in die Organisation und Interaktionen des «Kollektivs» im Experimentalsystem und machen erkennbar, wie sich dessen Elemente konfigurieren. Als wesentlichen Aspekt führen diese Spuren auch die Zeitlichkeit ihrer Entstehung vor. Mit dem 15 Zu den Forschungsfragen und Versuchsanordnungen s. Kapitel Experimentalsysteme in: Rickli (Hg.) 2011, S. 155 ff. 90
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Verschwinden dieses Materials geht für Laien ein Verlust von Möglichkeiten eines Einblicks in zeitgenössische Forschungspraktiken einher.16 Die Lücke – das Zeigen des Prozesses anstelle der Vorführung von Resultaten – kann weder von den Forschenden noch von der Wissenschaftskommunikation aufgefüllt werden. Der Frage, wie die Arbeit der Wissenschaften beschaffen ist, geht der Wissenschaftsforscher Christoph Hoffmann nach und stellt fest, dass wir uns in einer «verwissenschaftlichten» Gesellschaft den Wissenschaften gegenüber irgendwie «verhalten» sollten, auch wenn wir oft zu wenig Kenntnisse und Einsichten in ihre Aussagen oder Ergebnisse haben.17 Mit sich verändernden Materialitäten im Licht neuer Kommunikationsmedien beschäftigte sich Mitte der 1980er Jahre der französische Philosoph JeanFrançois Lyotard. So richtete er im Centre Pompidou in Paris 1985 die philosophisch-künstlerische Ausstellung Les Immatériaux ein, die zu einem großen Teil aus Diskussionen und flüchtigen Manifestationen bestand. Das Anliegen war, «Sensibilität gegenüber dem Aufkommen neuer Materialitäten und besonders der Telekommunikationstechnologien wie zum Beispiel dem französischen Online-Bildschirmtext-Dienst Minitel zu wecken.»18
Die Kunst, so Lyotard, «besteht heute in der Erkundung von Unsagbarem und Unsichtbarem, man stellt dafür seltsame Maschinen auf, mit denen sich das, was zu sagen die Ideen und was zu spüren die Stoffe fehlen, vernehmbar und spürbar machen lässt.»19 Zur Untersuchung der Materialität von Messgeräten und Forschungsinfrastrukturen wurde im Kunstprojekt Computersignale in einer Unterwasserbeobachtungsstation der Forschungsgruppe von Philipp Fischer an der Küste der Arktischen See vor Spitzbergen eine «seltsame Maschine» installiert, die mit eigenen Sensoren nicht die Natur sondern die elektrischen und elektronischen Emissionen der beteiligten Beobachtungs- und Messgeräte wie Stromversorgung, Fotokamera, Bordcomputer etc. «belauert». Die aufgezeichneten Signale sendet 16 In gewisser Weise geht auch die Möglichkeit verloren, die Aufzeichnungen reversibel zu halten. In Frys Anordnung kommt man von den gespeicherten Daten nicht mehr zurück zur Fliege im Windkanal, etwa, wie sie gerade mit den Flügeln zuckt: die Latoursche Kette der Übersetzungen ist nur noch teilweise zurück verfolgbar. Vgl. Bruno Latour: Der Berliner Schlüssel, Berlin: Akademie Verlag 1996, S. 237 ff. (Den Hinweis auf diesen wesentlichen Unterschied zwischen digitalen und analogen Praktiken verdanke ich Christoph Hoffmann). 17 Christoph Hoffmann: Die Arbeit der Wissenschaften, Zürich- Berlin: Diaphanes 2013, S. 45. 18 Yuk Hui: «Einige Fragen, das Verhältnis von Materie und Relation betreffend», in: Zeitschrift für Medienwissenschaft ZfM, Heft 12 2015, S. 169. Vgl. auch Yuk Hui/Andreas Broeckmann (Hg.): 30 Years after Les Immatériaux, Lüneburg: Meson Press 2015. 19 Jean-François Lyotard: Philosophie und Malerei im Zeitalter ihres Experimentierens, Berlin: Merve Verlag 1986, S. 70. 91
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sie als Audiodaten via Internet nach Zürich. In Form einer teilnehmenden technischen Beobachtung erkundet das Projekt Möglichkeiten, Materialitäten und Infrastrukturen sinnlich nicht wahrnehmbarer Vorgänge in Forschungsprozessen und versucht die physischen Spuren der Forschungsarbeit zu dokumentieren. Solche Erkundungen zeigen, wie an der biologischen Erkenntnisgewinnung neben konzeptuellen Fragestellungen die eingesetzten Medien und industriell vorangetriebenen, technologischen Standards mitarbeiten, Ressourcen binden und so in gewissem Sinn den Ausgang der Forschungen mitbestimmen. Zudem stellt sich die Frage nach der agentiellen Rolle der Materie, die in verschiedenen Formen von Energie wesentlich Anteil nimmt am Wissensgewinnungsprozess. Das Seekabel Der Unterwasserstation RemOs1 (Remote Observation System) bin ich im Sommer 2005 zum ersten Mal im Bodensee bei Konstanz begegnet, wo sie die Verstecke junger Barsche beobachtete und fotografierte. Inzwischen ist sie mit der Arbeitsgruppe des Fischökologen Philipp Fischer nach Helgoland in die Nordsee migriert und für den Einsatz im Salzwasser umgerüstet worden. Seit einiger Zeit arbeitet sie in der Arktis vor Spitzbergen ungefähr tausend Kilometer vom Nordpol entfernt. Zur Langzeiterhebung von Umweltveränderungen in Habitaten von Meereslebewesen wurde die RemOs1 in Küstennähe abgesenkt und vermisst mittels eines halbstündig aufgenommenen stereometrischen Bildpaars die Entwicklung von Flora und Fauna, die einen in den Kongsfjord vor Ny Ålesund hineinragenden Bereich des Ufers besiedeln. Via Internet nach Helgoland übertragen, werden später die in den Bildern enthaltenen Organismen ausgezählt und in ihrer Größe registriert.20 Als bildender Künstler untersuche ich die Arbeit mit elektrischen und digitalen Medien und Infrastrukturen in der ökologischen Forschung. Wie kann diese Arbeit beobachtet werden, wenn sie einerseits der Sichtbarkeit unter Wasser entzogen ist und zusätzlich in der Blackbox digitaler Messgeräte, Switches und virtuellen Rechnern stattfindet? Welche Rollen spielen die Elektrizität und ihre Verfügbarkeit in entlegenen Weltgegenden, was ist das elektrische Gestaltungspotenzial, das die Forschung einerseits ermöglicht und andererseits begrenzt? Um die Arbeitsprozesse der Unterwasserstation in den Bereich der menschlichen Wahrnehmung zu bringen, setzte meine Mitarbeiterin Valentina Vuksic, Künstlerin und Informatikerin, zusammen mit dem Elektroniker Peter Meyer 20 Der Prototyp der Datenplattform RemOs1 ist Teil des europäischen Grossprojekts COSYNA (Coastal Observing System for Northern and Arctic Seas), einem im Aufbau begriffenen umfassenden Beobachtungs-System zur Erfassung, Vorhersage und wissenschaftlichen Analyse des aktuellen Zustandes und der Entwicklung der Küsten der Nord- und der Arktischen See, vgl. www. cosyna.de vom 30. November 2016. 92
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im März 2012 in der Werkstatt des Alfred-Wegener-Instituts AWI auf Helgoland Audiosonden in das Gerät ein, bevor es nach Spitzbergen verschifft wurde. Ähnlich wie beim Abhören innerer Vorgänge in Organen mit einem Stethoskop haben wir mit Induktionsspulen neuralgische Stellen ermittelt, wo die elektronische Aktivität der Geräte elektromagnetische Felder produziert. Entsprechende Wandler greifen die Schwingungen als akustische Signale ab. Zur Aufzeichnung des Stromverbrauchs nutzen wir einen eigens angelegten Bypass in der Geräteverkabelung. Die elektromagnetischen Schwingungen der digitalen Prozesse und die lastbedingten Schwankungen der Stromversorgung machen Ruheroutinen als Zustände feinstrukturierten Rauschens wahrnehmbar. Von diesen Geräuschen einer ganzjährlich auch während des Polarwinters stattfindenen Geschäftigkeit unterscheiden sich die Auslösemomente der StereometriebildKameras sowie der darauffolgende Datenupload der Bilder über den Bordcomputer ins AWI nach Helgoland. Zusätzlich überträgt ein Kontaktmikrophon mechanische Vibrationen des Gehäuses und Schläge der Auftriebskörper im aktuellen Wellengang. Die insgesamt fünf Audiosignale nimmt ein autonomer Minicomputer (Gumstix) via Soundkarten auf und schickt die Daten zusammen mit den Bildern an einen Server des Kunstprojekts nach Zürich.
Abbildung 3: RemOs1, Platine elektromagnetischer «Sensor Stromverbrauch» mit Vorverstärker 12.3.2012.
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Abbildung 4: RemOs1, elektromagnetischer Sensor «Stereometriebildkamera» rechts 12.3.2012.
Abbildung 5: RemOs1, elektromagnetischer Sensor «Bordcomputer» (mit Kabelbinder am Gehäuse fixiert oberhalb der Bildmitte) 13.3.2012. 94
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Den elektrischen und elektronischen Aktivitäten von Geräten und Infrastrukturen in Form ihrer physikalischen Emissionen zuzuhören bedeutet, aus der Perspektive der Geräte selber auf die Arbeit der Datenerhebung und -distribution zu blicken. Im Vordergrund steht nicht die Semantik intendierter logischer Operationen eines Algorithmus sondern die meist ungehörten Mikro-Temporalitäten des elektrischen Signals in Prozessoren während der Ausführung der Operationen. Die klangliche Erfahrung verweist auf die materiellen Prozesse digitaler Datenarbeit und macht sie wahrnehmbar. Der Künstler und Medienwissenschaftler Shintaro Myiazaki bezeichnet solche physischen und temporalen Qualitäten der elektronischen Welt in einer Wortschöpfung als algorhymthisiert.21 Die während der Signalverarbeitung unabsichtlich auftretenden physischen Emissionen der sogenannten Seitenkanäle werden im Computer-Engineering Traces genannt und spielen vor allem in der Cyberkriminalität und bei Sicherheitsdiensten eine Rolle. Für das Kunstprojekt Computersignale stellen sie die Möglichkeit dar, das Konzept der Spur, das anhand analoger Videoaufzeichnungen zur Darstellung der materiellen Kontexte und Konfigurationsverhältnisse des Experimentierens entwickelt wurde, im Digitalen weiter zu verfolgen. RemOs1 wurde im Juni 2012 an der Westküste Spitzbergens auf eine aus der Ferne variierbare Wassertiefe von ein bis zwölf Metern abgesenkt und durch eine fest installierte Strom- und Glasfaserleitung mit der Landstation verbunden. Nach einer Experimentierphase wurde sie revidiert und am 15. September 2012 erneut unter Wasser gebracht. Seit diesem Datum speichert das Kunstprojekt ca. 30 Gigabyte Audio- und Bilddaten pro Tag. In einer vom Beginn der Bildproduktion bis heute archivierten Serie wissenschaftlicher Stereometriebilder sind schwarze Lücken erkennbar. Sie entstehen aufgrund von leichten Verschiebungen in der Synchronisation der beiden Stereometrie-Kameras mit dem Blitzlicht oder durch mittel- und langfristige Strom- und Datenübertragungsausfälle. Diese verweisen auf die prekären technischen Bedingungen und Umweltverhältnisse, in denen die Forschung stattfindet. Die unterschiedlichen Helligkeiten der Bilder entstehen durch den Seegang respektive den aufgewirbelten marine snow (kleinste organische Partikel im Wasser), der in bewegter See heller vom Blitzlicht reflektiert wird (Abb. 3). Ebenfalls sichtbar sind Bilder, die in der Werkstatt während Reparaturen oder zu Kalibrierungszwecken aufgenommen wurden.22 Die Elektrizität ermöglicht einerseits die ökologische Forschung, die auf den während eines ganzen Jahres halbstündlich aufgezeichneten Bildpaaren fußt, andererseits ist die elektrische Versorgung durch Umweltprozesse ständig gefährdet. Korrosion etwa, die im Salzwasser in Verbindung mit Elektrizität auftritt führt zu Kurzschlüssen in der am Meeresboden fest verankerten Breakout21 Vgl. Shintaro Miyazaki: Algorhythmisiert. Eine Medienarchäologie digitaler Signale und (un) erhörter Zeiteffekte, Berlin: Kadmos 2013. 22 Vgl. Abbildungen am Ende dieses Kapitels (Abschnitt RemOs1). Vgl. auch Audio- und weitere Bilddokumente unter: http://computersignale.zhdk.ch/ vom 30. November 2016. 95
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Box (Steckdose), oder in den Apparaten, deren Gehäuse durch die Umweltbelastungen undicht geworden sind. Neben weiteren Umwelteinflüssen wie Stürmen23 oder Eisbergen arbeiten an der Bildproduktion auch biologische Aktivitäten mit: Algen und andere Organismen besiedeln innerhalb kurzer Zeit die Sichtfenster der Kameras oder des Blitzlichts und verursachen Verfärbungen und Verschattungen der Fotografien. Diese Effekte greifen in die wissenschaftliche Datenerhebung ein und erzeugen Unschärfen in den Messreihen. Als Spur des Herstellungsprozesses der Datenarbeit betrachtet, machen sie jedoch den materiellen Kontext deutlich, in dem diese stattfindet. Die in der Umwelt und auch im wissenschaftlichen Messapparat selbst «tätige» Materie ist nach Karen Barad «(…) Substanz in ihrem intraaktiven Werden – kein Ding, sondern eine Tätigkeit, eine Gerinnung von Tätigsein. Materie ist ein stabilisierender und destabilisierender Prozess schrittweiser Intraaktivität.»24
Sie ist integraler Bestandteil der wissenschaftlichen Praxis und untrennbar mit ihren Apparaten verwoben.
Abbildung 6: RemOs1, am Meeresboden verankerte Steckdose (Breakoutbox). Das blaue Strom- und Datenkabel führt zum Observatorium 9.2.2013. 23 In der Perspektive einer politischen Ökologie blickt Jane Bennett auf die Vitalität von Materie und Dingen wie Verbrauchsgüter oder Stürme, die es diesen erlaubt, «to act as quasi agents or forces with trajectories, propensities, or tendencies of their own». Jane Bennett: Vibrant Matter, Durham/London: Duke University Press 2010, S. VIII. 24 Karen Barad: Agentieller Realismus, Berlin: Suhrkamp Verlag 2012, S. 40. 96
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Abbildung 7: RemOs1, Stecker von Strom- und Datenleitungen sowie Polychätenröhren am Hauptgehäuse des Observatoriums 25.6.2013. Die Bioaktivität überträgt sich unmittelbar nach dem Einsetzen der Kapsel im Fjord in Form einer Besiedelung des Observatoriums durch verschiedene Organismen auf die künstliche Struktur. Auf den Gehäusen bildet sich zunächst eine Art Belag aus Bakterienrasen und Mikroalgen, die auch glattere Flächen (z.B. Metalle) als Haftsubstrat verwenden. Dort setzen sich sogenannte «Grazer» ab, Tiere die den Belag abweiden. In Abb. 4 sieht man Polychätenröhren, Wohnröhren von kleinen Würmern, die sie zu ihrem Schutz aus Kalk bauen, der an die Unterfläche zementiert wird. Dies schafft auf der früher glatten Oberfläche genügend Rauheit, so dass sich auch weitere Pflanzen und Tiere dort ansiedeln. Diese Art der Besiedlung wird Sukzession genannt und das Studium, welche Organismen sich wann wo und in welcher Reihenfolge ansiedeln gibt Aufschluss über die Abhängigkeitsverhältnisse und wie ein Nahrungsnetz aufgebaut ist.
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Abbildung 8: RemOs1, Bewuchs des Blitzlichtgehäuses mit jungem Flügeltang (Alaria esculenta) auf der rechten Seite der Röhre 25.6.2013, 14:15:42.
Abbildung 9: RemOs1, Sichtfenster Stereometriebild-Kameras 25.6.2013, 14:14:54. 98
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Abbildung 10: RemOs1, Stereometriebild links 25.6.2013, 14:30:43 (vgl. Abb. 14 und 20). Das Verfahren des remote sensing in der ökologischen Forschung auf Spitzbergen ist internetbasiert, die Daten zirkulieren in weltweit verlegten terrestrischen und submarinen Glasfaserkabeln. Die internationale, vom norwegischen Staat verwaltete Forschungsstation Kings Bay im Ort Ny Ålesund, wo die langzeitliche Küstenbeobachtung stattfindet, ist im Mai 2015 mit einem eigenen Seekabel an die Hauptstadt des Archipels, Longyearbyen, angeschlossen und dort mit dem globalen Netz verbunden worden. Das Kabel erspart auf der einen Seite den ökologisch kritischen Verbrauch von 8000 Litern Diesel pro Jahr für den Betrieb einer Funkstation, die bisher die Daten via Satellit nach Longyearbyen sendete.25 Auf der anderen Seite ist es als Forschungsinfrastruktur des EchtzeitMonitorings auch fester Bestandteil des Internets, dessen Infrastruktur auf einer tiefer liegenden Stufe wiederum von meist fossilen Brennstoffen abhängt, die die Energie zur Herstellung von Computern, zur Kühlung von Serverfarmen und zum Transport von Material und Unterhaltsarbeitern zu den Infrastrukturen liefern. Die Natur ist dabei nicht nur Ressource, sondern auch technischer Träger von deren Distributionsstrukturen wie Pipelines, Elektro- und Glasfa25 Gemäß der Organisation Uninett, eine Non-Profit-Organisation des norwegischen Bildungsministeriums, die in Zusammenarbeit mit der britischen Firma Global Marine das Kabel verlegte. Vgl. Uninett: Arctic Optical Network, unter: https://www.terena.org/activities/netarch/ws3/slides/121114-artic.pdf vom 30. November 2016. 99
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serkabel, was sie zu einem Element des wissenschaftlichen Apparats macht. So gesehen wird die Natur selbst zur «ultimativen Infrastruktur».26 Die aus der teilnehmenden technischen Beobachtung der RemOs1 in der Arktischen See gewonnenen Erkenntnisse und Erfahrungen führten zu Untersuchungen der Materialität der in der Bioinformatik geführten Forschung des Hans Hofmann Lab an der University of Texas at Austin. Während die Energieversorgung und deren technische Bewältigung in der Arktischen See prekär sind, stellen sich diese Aspekte an der University of Texas at Austin anders dar. Die Pipeline Die Forschung vor Spitzbergen wie auch diejenige in Austin sind räumlich aufgeteilt und überbrücken Distanzen via Internet und lokale Netzwerke, jedoch auf sehr unterschiedliche Weisen. Philipp Fischers Arbeitsort liegt 10’000 Kilometer von seinem Forschungsobjekt entfernt. Er ist mit ihm über ein Seekabel verbunden, über das er das Unterwasserobservatorium kontrolliert und steuert sowie die erhobenen Daten abholt. Die Forschung in Austin hat einen Referenzpunkt in Kigoma am ostafrikanischen Tanganjikasee, woher der untersuchte Modellorganismus, der Afrikanische Buntbarsch (Astatotilapia burtoni) stammt. Dort führt die Arbeitsgruppe alle paar Jahre Feldforschungen durch um die Labordaten zu überprüfen. Anhand des Buntbarschs und weiteren Tierarten untersucht das Hofmann Lab die hormonalen und genetischen Mechanismen, die dem Sozialverhalten und seiner Evolution zugrunde liegen. Die Fish Facility, in deren Aquarien etwa das Verhalten des Weibchens bei der Männchenwahl beobachtet wird, liegt im Kellergeschoss des J. T. Patterson Labs Building (PAT). Auf der dritten Etage dieses Gebäudes finden die molekularbiologischen Vorbereitungen der Hirnproben von Buntbarschweibchen statt sowie deren Lagerung in einem Gefrierschrank bei einer Temperatur von -80 ºC. Diese Bereiche gehören dem wet lab an. Ab diesem Punkt beginnt das dry lab der Bioinformatik. Teile der Proben werden von einem DNA-/RNAScanner sequenziert, der in der von mehreren Forschungsgruppen gemeinsam betriebenen Genomic Sequencing and Analysis Facility (GSAF) auf der gegenüberliegenden Straßenseite steht. Die anfallende große Menge an digitalen Rohdaten überträgt das interne Netzwerk auf einen Server des Center for Computational Biology and Bioinformatics (CCBB) im Erdgeschoss des PAT. CCBB entwickelt Analyseprogramme im Gates Dell Complex (GDC) in der Nähe des Laborgebäudes. Diese Programme verarbeiten die Rohdaten in vielen Rechendurchgängen
26 Nicole Starosielski: «Fixed Flow. Undersea Cables as Media Infrastructures», in: Lisa Parks/ Nicole Starosielski (Hg.), Chicago: University of Illinois Press 2015, S..54. 100
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im Supercomputer Stampede des Texas Advanced Computing Center (TACC) auf dem J. J. Pickle Research Campus außerhalb der Stadt. Allen diesen Gerätschaften unterliegen massive Infrastrukturen. Sichtbar sind auf dem Universitätscampus fünf sogenannte Chilling Stations – mehrstöckige, als Kühlaggregate ausgebaute Architekturen. Ein permanenter Kreislauf pumpt Wasser in das Dachgeschoss. Von dort regnet es ab, während ihm Ventilatoren nach und nach die Wärme entziehen. Dieser Vorgang geschieht so oft, bis das Wasser 6 ºC erreicht und ins Kühlleitungsnetz eingespeist wird. Die Kühlung der elektronischen Geräte, die bei ca. 14 ºC arbeiten, stellt eine der größten Herausforderungen an die Energieressourcen im Klima von Austin dar, dessen mittlere Jahrestemperatur 25 ºC beträgt und im Sommer weit über 40 ºC steigen kann. Auf dem Gelände steht ein 140 Megawatt-Heizkraftwerk, die Hal C. Weaver Power Plant, die unabhängig vom öffentlichen Stromnetz die Elektrizität produziert für den Betrieb und die Kühlung von Maschinen der verschiedenen Unternehmungen der Hard Sciences auf dem Campus. Betrieben wird es mit Erdgas, das unter anderem auf den eigenen Ölfeldern des University of Texas System im Nordwesten gefördert und über ein ausgedehntes Pipelinenetz rund 600 Kilometer nach Austin transportiert wird.27 Zum materiellen Kontext der Bioinformatik in Austin tragen ebenfalls die (wenn auch nicht immer offensichtlichen) Verbindungen zur Wirtschaft und im speziellen zur Computerindustrie bei. So hat etwa die Ehefrau des MicrosoftErfinders Bill Gates, Belinda Gates, das neu erstellte Gebäude für Computer Science auf dem Campus gestiftet in dem das CCBB untergebracht ist. Die Firma Dell Computer, die vom Alumnus der UT Austin Michael Dell gegründet wurde liefert die Komponenten, aus denen der Supercomputer Stampede zusammengebaut ist.
27 Vgl. www.utlands.utsystem.edu vom 30. November 2016. Die USA stiegen in den letzten Jahren unter führender Beteiligung von Texas zum weltweit größten Erdöl- und Gasförderer auf aufgrund ökologisch umstrittener Fracking-Methoden. Inzwischen ist die texanische Produktion wegen des Zerfalls des Öl- und Gaspreises wieder auf ein Drittel von 2014 gesunken. 101
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Abbildung 11: Texas Advanced Computer Center TACC, Supercomputer Stampede, elektromagnetischer Sensor (fixiert zwischen den Einheiten auf der rechten Seite) 15.8.2014 (vgl Abb. 25).
Abbildung 12: University of Texas Lands, Rig #641, Fracking-Bohrung in Crane County in der Nähe von Odessa, Texas. Aufnahmesituation akustische Mikrofone 20.8.2014 (vgl. Abb. 28). 102
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Im August 2014 wurde im Kunstprojekt Computersignale die Materialität der Geräte und Infrastrukturen mit denen das Hofmann Lab arbeitet untersucht und die Arbeit «Cichlid #3, Soundscape» Texas produziert. Wir hörten den akustischen und elektromagnetischen Wellen eines Aquariums, dem -80 ºCGefrierschrank Panasonic, dem DNA-/RNA-Scanner Illumina HiSeq 2500, den Festplatten des CCBB-Servers, den Prozessoren des Supercomputers Stampede, dem Regen und Pumpwerk der Chilling Station 6, dem Kraftwerkgenerator sowie einem Fracking-Bohrturm in Crane County in der Nähe von Odessa, Texas, zu. Die Emissionen der acht Stationen wurden mit einem mobilen internetbasierten Aufnahmesystem synchron während vierundzwanzig Stunden aufgezeichnet. Die Audio- und Videodaten fassen einen Arbeitstag dieser Apparate und ihrer Infrastrukturen zu einem sinnlich erfahrbaren Panorama zusammen.28 Schluss Anhand verschiedener Formen der Tierbeobachtung habe ich nachzuzeichnen versucht, wie sich die Infrastruktur immer stärker mit einer räumlichen Trennung von Beobachtungs- und Arbeitsorten verbindet. Gleichzeitig stellt die Infrastruktur Möglichkeiten bereit, in Echtzeit am «anderen Ort» präsent zu sein und das Kollektiv beteiligter Akteure virtuell zu steuern und zu kontrollieren. Diese sekundären, meist unsichtbaren Strukturen wissenschaftlicher Unternehmungen rematerialisieren sich im gesteigerten Energieeinsatz. Dies ist auch in Austin der Fall, wo die Forschungsanlagen enger zusammen stehen, jedoch mit entfernten Erdgasfeldern verknüpft sind. Das Kunstprojekt Computersignale folgt den Spuren dieser Energie und den materiellen Beteiligungen an der Erkenntnisgewinnung. Es macht sie partiell erfahrbar und fragt danach, ob neben den bestehenden ökologischen, ökonomischen und politischen Energiedebatten neu ein epistemischer Energiediskurs geführt werden sollte, der die Möglichkeiten und Eingrenzungen von Wissenshorizonten unter den Bedingungen technologiebasierter, datengetriebener Forschung ausleuchtet.
28 Vgl. Abbildungen zu den einzelnen Stationen am Ende dieses Kapitels (Abschnitt Cichlid #3, Soundscape Texas,) sowie Link zu Audio- und weiteren Dokumenten zu den erwähnten Infrastrukturen in Fussnote 22. 103
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RemOs1. Beginn einer Datenarbeit in der Arktischen See 15.9.2012, 11:00:37 – 19.9.2014, 01:00:39.
Abbildung 13: RemOs1, Kongsfjorden, Ny Ålesund, Spitzbergen, 9.3.2013, 15:30:12.
Abbildung 14: RemOs1, Kongsfjorden, Ny Ålesund, Spitzbergen, 24.6.2013, 13:58:20. 104
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Abbildung 15: Webcamaufnahme am alten Pier, Koldeway Station, Ny Ålesund 8.10.2012, 17:00:35. Blickrichtung Nord Nordost. RemOs1 ist am Ende des Piers ca. 10 m westlich abgesenkt (vgl. Abb. 16).
Abbildung 16: RemOs1, Kongsfjorden, Ny Ålesund, Spitzbergen. Stereometriebild links 8.10.2012, 17:00:47. 105
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Abbildung 17: RemOs1, Kongsfjorden, Ny Ålesund, Spitzbergen. Stereometriebild rechts 22.10.2012, 02:00:53 (Mitte oben: Krill, vgl. Abb 19).
Abbildung 18: RemOs1, Kongsfjorden, Ny Ålesund, Spitzbergen. Stereometriebild rechts 3.5.2014, 15:30:25 (Flügeltang vor Kamera-Sichtfenster vgl. Abb. 22). 106
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Abbildung 19: RemOs1, Archiv Stereometrie-Bildpaare, Miniaturen. Aufnahmen vom 10.10.2012, 04:00:48 bis 3.11.2012, 17:00:22. Unterbrechung der Stereometriebild-Aufnahmen bis 9.2.2013 aufgrund eines elektrischen Kurzschlusses, ausgelöst durch Korrosion am Blitzlicht-Gehäuse am 29.10.2012, ca. 17:15:00.
Abbildung 20: RemOs1, Archiv Stereometrie-Bildpaare, Miniaturen 18.6.2013, 04:30:44 bis 13.7.2013, 08:30:43 (vgl. Abb. 10 und 14). 107
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Abbildung 21: RemOs1, Archiv Stereometrie-Bildpaare, Miniaturen 1.9.2013, 12:00:43 bis 22.9.2013, 00:30:25. Testbilder Werkstatt.
Abbildung 22: RemOs1, Archiv Stereometrie-Bildpaare, Miniaturen 9.4.2014, 10:00:28 bis 4.5.2014, 12:00:53 (Vgl. Abb. 18). 108
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Cichlid #3, Soundscape Texas (21.8–2014, 00:00:00–23:59:59).
Abbildung 23: Cichlid #3, Location 1: Fish facilities. Hofmann Lab, J. T. Patterson Labs Building (PAT), Main Campus UT Austin. Durchschnittliche Umgebungstemperatur 75.2 °F/24 °C, Koordinaten 30°17’16.5”N 97°44’12.2”W.
Abbildung 24: Cichlid #3, Location 3: DNA/RNA-Scanner HiSeq Illumina 2500. Genomic Sequencing and Analysis Facility (GSAF), Louise and JamesRobert Moffett Molecular Biology Building (MBB), Main Campus UT Austin. Durchschnittliche Umgebungstemperatur 64.4 °F/18 °C, Koordinaten 30°17’18.9”N 97°44’14.0”W. 109
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Abbildung 25: Cichlid #3, Location 5: Supercomputer Stampede, Texas Advanced Computing Center (TACC), Research Office Complex (ROC), J.J. Pickle Research Campus UT Austin. Durchschnittliche Umgebungstemperatur 57.4 °F/14 °C, Koordinaten 30°23’24.9”N 97°43’30.8”W.
Abbildung 26: Cichlid #3, Location 6: Chilling Station 6, Main Campus UT Austin. Durchschnittliche Umgebungstemperatur 96.8 °F/36 °C., Koordinaten 30°17’11.1”N 97°44’08.6”W. 110
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Abbildung 27: Cichlid #3, Location 7: Heizkraftwerk Hal C. Weaver Power Plant, Main Campus UT Austin. Durchschnittliche Umgebungstemperatur 123.8 °F/51 °C, Koordinaten 30°17’12.6”N 97°44’09.2”W.
Abbildung 28: Cichlid #3, Location 8: Rig #641, Fracking-Bohrung. University Lands UT Texas, Crane County. Durchschnittliche Umgebungstemperatur 95.0 °F/35 °C, Koordinaten 31°31’44.6”N 102°26’55.8”W (Vgl. Abb. 12). 111
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Literatur Karen Barad: Agentieller Realismus, Berlin: Suhrkamp Verlag 2012. Jane Bennett: Vibrant Matter, Durham/London: Duke University Press 2010. Keller Easterling: «Die infrastrukturelle Matrix», in: Zeitschrift für Medienwissenschaft ZfM, Heft 12 2015, S. 68–78. Christoph Hoffmann: Die Arbeit der Wissenschaften, Zürich/Berlin: Diaphanes 2013, S. 45. Christoph Hoffmann: «Eigenleben im Experiment. Zur Erforschung ‹natürlicher Systeme›», in: Hannes Rickli (Hg.), Videogramme. Die Bildwelten biologischer Experimentalsysteme als Kunst- und Theorieobjekt, Zürich: Scheidegger & Spiess 2011, S. 46–55. Yuk Hui: «Einige Fragen, das Verhältnis von Materie und Relation betreffend», in: Zeitschrift für Medienwissenschaft ZfM, Heft 12 2015, S. 165–170. Yuk Hui/Andreas Broeckmann (Hg.): 30 Years after Les Immatériaux, Lüneburg: meson press 2015. Jean-François Lyotard: Philosophie und Malerei im Zeitalter ihres Experimentierens, Berlin: Merve Verlag 1986. Hans-Jörg Rheinberger: Experimentalsysteme und epistemische Dinge. Eine Geschichte der Proteinsynthese im Reagenzglas, Frankfurt/Main: Suhrkamp Verlag 2006. Hannes Rickli (Hg.): Videogramme. Die Bildwelten biologischer Experimentalsysteme als Kunst- und Theorieobjekt, Zürich: Scheidegger & Spiess 2011. Michel Serres: Der Parasit, Frankfurt/Main: Suhrkamp Verlag 2014. Nicole Starosielski: «Fixed Flow. Undersea Cables as Media Infrastructures», in: Lisa Parks/Nicole Starosielski (Hg.), Signal Traffic. Critical Studies of Media Infrastructures, Chicago: University of Illinois Press 2015, S. 53–70.
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Into the Forest Jeanine Reutemann Über die gegenseitige epistemische Unterwanderung von Wissenschaft und Film Die Produktion von Wissenschafts- und Bildungsfilmen verzeichnet in den letzten Jahren an den Universitäten und Hochschulen erneut einen enormen Zuwachs.1 Im Zuge der Digitalisierung wird für eine weltweite Wissenschaftsvermittlung, so zum Beispiel bei der digitalen Lehre in Massive Open Online Courses oder aber auch in der Forschungskommunikation (z. B. mit Video-Abstracts) zunehmend mit Bewegtbildern kommuniziert.2 Es handelt sich explizit um einen erneuten Zuwachs, da eine Verbindung von Wissenschaft und Film keineswegs ein neues Phänomen darstellt, sondern historisch betrachtet seit den Geburtsjahren der bewegten Bilder immer wieder Synergien und ein Co-Design im kreativen Austausch zwischen Wissenschaft und Film entstanden sind.3 Mit der Digitalisierung und der rasanten technischen Entwicklung von Kameras wurde in den letzten Jahrzehnten der Zugriff auf und die Handhabung von Filmtechnik auf revolutionäre Art und Weise erleichtert. Dank leichten 1 «Bewegtbilder» ist ein kategorialer Begriff, der alle Formate von Videos, Film, Animation, Stop-Motion, 360° Virtual Reality etc. beinhaltet. «Wissenschaftsfilm» steht im folgenden Artikel für alle Formate von Bewegtbildern, die in ihrer Produktion Wissenschaft darstellen. Heutzutage wäre der Begriff des «Wissenschaftsvideos» die präzisere Definition für die Mehrheit der Produktionen. Da eine Unterscheidung zwischen Film und Video jedoch nicht im Fokus dieses Artikels steht, wird zugunsten einer terminologischen Konsistenz mit der bereits existierenden Literatur über Wissenschaftsfilme aus dem zwanzigsten Jahrhundert darauf verzichtet, die Begrifflichkeit anzupassen. 2 Die Massive Open Online Courses, kurz MOOCs, sind Kurseinheiten, welche unter anderem von internationalen Universitäten produziert und welche im Internet offen zugänglich gemacht werden. Video-Tutorials, abgefilmte Video-Lektion oder Video-Dokumentation stellen dabei ein zentrales Vermittlungsformat dar und werden seitens Universitäten selbst produziert. 3 Der Begriff Wissenschaft wird hier in einer weiten Definition verwendet und bezieht sich auf Andrew Pickerings Interpretation einer wissenschaftlichen Kultur, welche Elemente wissenschaftlicher Praktiken wie «skills and social relations, machines and instruments, as well as scientifc facts and theories» beinhaltet. Vgl. Andrew Pickering: The mangle of practice: Time, agency & science, Chicago: University of Chicago 1995, S.3. Co-Design oder auch Co-Produktion sind beides Begriffe aus der inter- und transdisziplinären Forschung und beschreiben den synergetischen Prozess in der Erarbeitung von Inhalten sowie die gemeinsame und übergreifende Wissensgenerierung. 113
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Kameras, neuen Speicherformaten, einfachen Postproduktions-Prozessen und nicht zuletzt der Möglichkeit, Bewegtbilder in einem internationalen Distributionsraum mit einem einzigen Klick im Netz zu veröffentlichen, ist es heute einfacher und billiger als je zuvor, das Medium der Bewegtbilder zu nutzen. Die technologische Entwicklung hat wesentlich dazu beigetragen, dass Bewegtbilder heute ein wichtiger Bestandteil alltäglicher Informationsquellen wie auch der akademischen Wissenschaftskommunikation geworden sind.4 Bei hochschulintern produzierten Bewegtbildern für die Wissenschaftskommunikation lassen sich heute in groben Zügen zwei Arten von Produktionsteams identifizieren: Einerseits versuchen manche Forschende oder andere filmisch fachfremde Personen selber, sich neben ihrer Haupttätigkeit im Umgang mit Bewegtbildern zu üben – was durch fehlende mediale Kenntnisse zu eher amateurhaften und unreflektierten Wissenschaftsfilmen führt.5 Dieser (leider) heutzutage häufige Fall soll in diesem Beitrag nicht vertieft behandelt werden.6 Andererseits existieren innovative Felder der inter- und transdisziplinären Zusammenarbeit von Wissenschaftlern und Filmemachern, die durch den präzisen Umgang mit wissenschaftlich-filmischen Strategien eine fundierte audiovisuelle Wissenschaftskommunikation des jeweiligen Forschungsthemas anstreben.7 In diesem Beitrag werden Synergien und die daraus entstehenden Transformationen von Inhalten und Darstellungsformen der Wissenschaft und im Speziellen die daraus resultierenden gegenseitigen Unterwanderungen der den beteiligten Disziplinen zugrundeliegenden Epistemologien untersucht.8 Hierbei stehen audiovisuelle Bewegtbilder, die nicht per se auf eine populärwissenschaftliche Kommunikation ausgerichtet sind, sondern innerhalb der wissenschaftlichen Disziplinen zirkulieren und welche die schriftliche Kommunikation unter Wis4
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Der Begriff «Wissenschaftskommunikation» wird im Folgenden nicht nur im engeren Sinne der typischen Aufgaben der Wissenschaftskommunikationsabteilungen der Universitäten verstanden, sondern als umfassender Ausdruck für die Kommunikation über wissenschaftliche Inhalte und insbesondere auch die Kommunikation mit Studierenden und zwischen Wissenschaftlichen Experten. Die Aussage bezieht sich sowohl auf audiovisuelle Wissenschaftskommunikation gegen aussen (sei dies populärwissenschaftlich oder für einen engeren Peer-Expertenkreis) als auch auf den Einsatz von Bewegtbildern als Forschungsinstrument (vgl. dazu Kapitel «Ursprünge des wissenschaftlichen Filmes»). Eine audiovisuelle Umsetzung von wissenschaftlichen Daten welche gleichzeitig erkenntnisgewinnende Prozesse durch und mit den medialen Möglichkeiten generiert, setzt einen präzisen und bewussten Umgang mit Bild und Ton – mit audiovisuellem Mediendesign – voraus. Im folgenden Beitrag wird auf eine geschlechterspezifische Grammatik zu Gunsten der Lesbarkeit verzichtet. Zur Verwendung des Begriffes «audiovisuelles Mediendesign»: Da wir heute zunehmend von digitalisierten Produkten in der Wissenschaftskommunikation sprechen, die das Format eines traditionellen Wissenschaftsfilmes durch interaktive Elemente, sowie VR immersive headmounted display Produktionen usw. erweitern, soll audiovisuelles Mediendesign den Begriff des Filmes allgemein ausweiten. Der Begriff audiovisuelles Mediendesign wird vor allem dann verwendet, wenn es um die Ästhetik der Inszenierung oder um zeitgenössische Trends im audiovisuellen Design geht. 114
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senschaftlern und wissenschaftlich ausgebildeten Experten medial erweitern, im Zentrum der Analyse. Im ersten Kapitel biete ich einen Überblick über die historische Entwicklung von wissenschaftlich-filmischen Kollaborationen und Co-Designs. Es werden aktuelle Produktionsweisen vorgestellt und anhand eines jüngeren audiovisuellen Wissenschaftskommunikations-Projekts zu Fallstudien aus den Wäldern der Scottish Highlands9 exemplarisch in einen wissenschafts-filmischen Diskurs eingeführt.10 Darüber hinaus wird die interdisziplinäre Zusammenarbeit von Wissenschaftlern und sogenannten boundary spannern – das sind Experten mit einem Hintergrund in audiovisuellem Mediendesign und angewandter Forschung – diskutiert. Im zweiten Kapitel wird die Transformation des wissenschaftlichen Datenkomplexes durch die Produktionsprozesse von Bewegtbildern untersucht. Dabei stehen die medialen Eigenschaften von Bewegtbildern sowie deren epistemischer Gehalt im Fokus der Analyse. Hier werfen wir einen vertieften Blick auf die Veränderung von Datengrundlagen der Wissenschaft durch die Generierung von Bewegtbildern. Die Argumentation dieses Teils baut auf der Sichtweise von Dirk Verdicchio11 auf, der Bruno Latours Begriff der immutable mobiles12 auf die Verwendung von Bildern aus der Wissenschaft anwendet, die für eine au9
Eine interdisziplinäre Zusammenarbeit von Prof. Dr. Jaboury Ghazoul, Professur für Ecosystem Management der ETH Zürich und Dr. Claude Garcia, mit der Autorin. 10 Der Begriff der «Interdisziplinarität» wird hier anhand folgender Definition verwendet: «Interdisciplinary research (IDR) is a mode of research by teams or individuals that integrates information, data, techniques, tools, perspectives, concepts, and/or theories from two or more disciplines or bodies of specialized knowledge to advance fundamental understanding or to solve problems whose solutions are beyond the scope of a single discipline or area of research practice.» Vgl. NAS/NAE/IOM: Facilitating Interdisciplinary Research, Washington National Academy of Sciences, National Academy of Engineering, Institute of Medicine, The National Academies Press, 306, 2005, S. 188. Die Unterscheidung zwischen Interdisziplinarität und Transdisziplinarität ist vielfach fließend und die Definitionsvielfalt ist groß. Zu einer Unterscheidung und Übersicht vgl. dazu: Christian Pohl/Gertrude Hirsch Hadorn: Gestaltungsprinzipien für die transdisziplinäre Forschung – Ein Beitrag des td-net. München: oekom, 2006 oder auch: Christian Pohl: «What is progress in transdisciplinary research?» in: Futures 43, 2011, S. 618–626. Die Begründung dazu liegt darin, dass von einer Zusammenarbeit ausgegangen wird, wo auch der Experte für audiovisuelles Mediendesign in der akademischen Forschung tätig ist, oder zumindest darin Erfahrungen gesammelt hat, vgl. Kapitel zu den boundary spanners. 11 Vgl. Dirk Verdicchio: Das Publikum des Lebens: zur Soziologie des populären Wissenschaftsfilms. Vol. 8. transcript Verlag 2010. 12 Nach Bruno Latours Definition sind immutable mobiles aus dem Forschungsfeld generierte Daten, die als Schlüsseleigenschaften stabil kopierbar, lesbar, kombinierbar und trotzdem mobil sind. Die immutable mobiles verankern das fragile, eigentliche Untersuchungsobjekt in einem transportierbaren Datenprodukt. Vgl. Bruno Latour: «Visualization and Cognition: Drawing things together», in: H. Kuklick (Hg.): Knowledge and Society Studies in the Sociology of Culture Past and Present, Jai Press, Vol. 6, 2011, S. 1–40, hier: S.7.; Bruno Latour: Die Hoffnung der Pandora, Frankfurt am Main: Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaftsverlag, 2002, S. 375 ff. 115
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diovisuelle Wissenschaftskommunikation eingesetzt werden. Diese Definition der immutable mobiles wird auf die im Co-Design produzierten Wissenschaftsfilme ausgeweitet und setzt damit für audiovisuelle Produktionen als Teil der wissenschaftlichen Datengenerierung, von wissenschaftlichen Ergebnissen und Erkenntnissen einen genuinen, akribischen und authentischen Umgang mit Bild und Ton voraus. Aus dieser Perspektive ist der Umgang mit Kamera, Ton und Postproduktion vergleichbar mit der Verwendung von wissenschaftlichen Instrumenten, etwa der Bedienung eines Elektronenmikroskops. Die Handhabung von audiovisuellen Instrumenten bedarf einer der wissenschaftlichen ebenbürtigen Expertise, um valide Daten damit zu erzeugen.13 Diese Authentizität kann einerseits in einem Spannungsfeld mit den spezifischen affordances14 des Mediums stehen, andererseits mit ästhetischen und zeitlich-kulturellen Aspekten des audiovisuellen Mediendesigns zusammenhängen. Hier sind als erstes die klassischen Strategien der Bild-Inszenierung und das Regelwerk des Mediums zu erwähnen, etwa die unzähligen Rekombinationen von Bild und Ton, die Zeitdehnung, Perspektivenwahl, Rhythmus/Geschwindigkeit der Montage oder die Möglichkeit, durch Makroaufnahmen oder Zeitraffer/Zeitlupe und Aufnahmen außerhalb des Spektralbereich des menschlichen Auges Unsichtbares sichtbar zu machen. Dies sind alles Eigenschaften, welche den spezifischen Umgang mit Bewegtbildern medial auszeichnen. Hinzu kommen zeitlich-kulturelle Trends in der medial-ästhetischen Inszenierung, die einerseits durch veränderte Technologien sowie durch neue subkulturelle oder kommerzielle Bewegungen geprägt werden.15
13 Die Disziplinen Visual Anthropology, Video Ethnography oder Ethnographic Film beschäftigen sich seit langem mit der Verwendung von Bewegtbildern in der Forschung respektive ihrem methodischen Einsatz in der Feldforschung und haben damit eine interessante Grundlage geschaffen. Dennoch wird in diesem Beitrag nicht spezifisch auf die Literatur aus diesen Feldern eingegangen, da sich medial-ästhetische Ansätze, Narrationstechniken und wissenschaftliche Datenvisualisierungen im audiovisuellen Mediendesign unterscheiden (vgl. Kapitel «Generierung von Bildern für eine audiovisuelle Wissenschaftskommunikation»). Eine Übersicht über visuelle Methodologien in der Ethnografie findet sich hier: Sarah Pink: Doing visual ethnography, London: Sage 2013; Sarah Pink: «Walking with video», in: Visual Studies 22.3, 2007: S. 240–252; Sarah Pink: «More visualising, more methodologies: on video, reflexivity and qualitative research», in: The Sociological Review, 49.4, 2001: S. 586–599. 14 James J. Gibson: «The Theory of Affordances», in: R. Shaw/ J.Bransford (Hg.), Perceiving, Acting, and Knowing: Toward an Ecological Psychology, Hillsdale, NJ: Lawrence Erlbaum, 1977, S. 67–82. 15 Beispiele für zeitlich-kulturelle Trends bei Bewegtbildern: Schnittgeschwindigkeit, Montagestil, Rahmung des Sprechers. die technologische Entwicklung der Bildauflösung 4K usw. Bereits die Umstellung auf High Definition (Full HD) hat bei vielen Produzenten im Broadcast zu erheblichen Herausforderungen geführt, da die Inszenierung im Studio durch die höhere Bildauflösung einen präziseren Kulissenbau (Markierungen für Talking Heads wurden plötzlich sichtbar) voraussetzte. Bei 4K ist bereits heute die Rede davon, dass durch die um ein Vielfaches erhöhte Auflösung eine Form der Hyperrealität kreiert wird, welche Bilder generiert, die dem menschlichen Auge noch nie zuvor in dieser Art und Weise präsentiert worden sind. 116
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Audiovisuelle Wissenschaftskommunikation Ursprünge des wissenschaftlichen Films Gleich in den ersten Jahren der Entwicklung des Films zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurde das Medium des Bewegtbildes in einer engen Beziehung mit der Wissenschaft gesehen. Thierry Lefebvre findet in den 1910er Jahren die Ursprünge des Wissenschaftsfilms als ein eigenes Genre.16 Als Beispiel nennt er die französische Filmfirma Éclair und deren Produktion «scientia». Wissenschaftliche Praktiken konnten visuell dokumentiert werden, zudem ermöglichten es die medialen Eigenschaften Bewegtbilder, dem bloßen Auge verschlossen bleibende wissenschaftliche Phänomene zu zeigen. Techniken wie Mikro- und Makroaufnahmen von unsichtbaren Objekten und Prozessen, zeitliche Manipulationen der Verlangsamung und Beschleunigung faszinierten (und tun es immer noch): «Microcinematography alone is capable of conserving the traces of phenomena occurring in the preparation. Like the retina of an eye which never tires (...), the cinematograph is, like the microscope itself, an instrument of research.»17
Gleichzeitig existierten kritische Widerstände, die sich gegen die Verwendung von Bewegtbildern für die Wissenschaft aussprachen, denn es «drohte in den Augen einiger die so machtvolle neue ästhetische Welt des wissenschaftlichen Films den nüchternen Geist zu kontaminieren.»18 Ebenso wurde Jahre später nebst dem Vorwurf der Zerstörung des nüchternen Geistes der medienspezifischen Darstellung von wissenschaftlicher Realität in populärwissenschaftlichen Filmen eine Verunreinigung oder Vulgarisierung vorgeworfen.19 Scott Curtis verweist unter Verwendung des Begriffs der mechanischen Objektivität von Daston/Galison20 auf die revolutionären Eigenschaften, die das Medium Bewegtbild offeriert: «Die Filmtechnik lockte den unerschrockenen Forscher mit einer Reihe von Vorteilen», denn sie liefert damit im Vergleich zur Beobachtung mit dem natürlichen Auge 16 Vgl. Thierry Lefebvre: «The Scientia Production (1911–1914), 1993, Scientific popularization through pictures», In: Griffithiana 47, 1993, S. 137–155. 17 Jean Comandon, «La cinématographie et les sciences de la nature» 1932 zitiert in Hannah Landecker: «Microcinematography and the History of Science and Film» in: Isis 97.1, 2006, S. 121–132, hier: S. 125. 18 Christian Hadorn: Der Schock des Wirklichen: Wissenschaftsfilm und Pariser Avantgarde. Marburg: Schüren 2015, S. 40. 19 Vgl. Peter Weingart: Die Stunde der Wahrheit? Zum Verhältnis der Wissenschaft zu Politik, Wirtschaft und Medien in der Wissensgesellschaft, 2001, S. 268; Stephen Hilgartner: «The dominant view of popularization: Conceptual problems, political uses», in: Social Studies of Science, 1990, 20, S. 519. 20 Vgl. Lorraine Daston/Peter Galison: «The Image of Objectivity», in: Representations, 40 (Fall), 1992, S. 81–128. 117
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«eine mechanische und automatische, also eine ‹objektive› Aufzeichnung, die sich kaum anzweifeln lässt. Sie untermauerte wissenschaftliche Thesen mit dem Gewicht substantieller Beweiskraft.»21
Über das Argument einer objektiven Aufzeichnung, einer sichtbaren Erweiterung mit Bildevidenz und vielleicht nicht zuletzt durch die Faszination einer historischen Dokumentation und Dissemination der eigenen Arbeitsweise, erhielt der Film als Forschungsfilm ebenso Einzug in die Welt der wissenschaftlichen Experimente. In der Wissenschaft existiert deswegen seit den frühen Anfängen des Bewegtbildes eine «natürliche Anziehung zwischen dem Film und der wissenschaftlichen Forschung»22, wie Curtis anhand Henri Bergson paraphrasierend schreibt, und dieses Vorgehen einer kinematographischen Methode zuschreibt.23 Die Bewegtbilder wurden damit nicht mehr nur zweckmäßig für die Dissemination eingesetzt, sondern als epistemisches Instrument für die Datengewinnung eingesetzt. Als interessantes Beispiel sei an dieser Stelle auf das Stanford Prison Experiment hingewiesen, welches nebst den provokativen Forschungsergebnissen vor allem durch seine kontroverse Durchführung und die filmische Dokumentation große Bekanntheit erlangte.24 Die Verwendung der videographischen Überwachung und Aufzeichnung der Probanden war dabei ein Schlüsselelement im Entscheidungsprozess über den Verlauf des Experimentes. Es lässt sich kritisch danach fragen, welche Gewichtung einem zunächst scheinbar nebensächlichen, ästhetischen Detail wie der Wahl der Kamerapositionierung oder der Kameraperspektive im Experimentdesign zukommt, und inwiefern die Wahl dieser Bildperspektive Einfluss auf die Entscheidung des späteren Abbruchs des Experiments genommen hatte. Denn bereits die Versuchsanordnung des Experiments basiert auf der Planung wissenschaftlicher Realaufnahmen, in die inszenatorische und narrative Techniken verwoben sind. Dieses Beispiel verdeutlicht die Parallelität von epistemologischen Techniken: Die in der Versuchsanordnung getroffenen Parameter werden im Film als Vorentscheidungen in der Pre-Production Phase bezeichnet.25 21 Scott Curtis: «Die Kinematographische Methode: Das ‹Bewegte Bild› und die Brownsche Bewegung», in: Montage/AV: Zeitschrift für Theorie & Geschichte audiovisueller Kommunikation 14, 2005: S. 23–43, hier S. 24. 22 Vgl. ebd., S.25. 23 Vgl. ebd. 24 Im Stanford Prison Experiment wurde das Verhalten von Gefängniswärtern und Gefangenen untersucht. Hierzu wurden Studierende in einem mehrtägigen Rollenspiel in ein extremes Hierarchie- und Machtverhältnis gebracht. Das Experiment musste wegen Gewaltexzessen vorzeitig abgebrochen werden. Vgl. hierzu Ramón Reichert: «Kinotechniken im Labor», in: Montage/AV: Zeitschrift für Theorie & Geschichte audiovisueller Kommunikation 2005, S. 125–141. 25 Ramón Reichert: Im Kino der Humanwissenschaften: Studien zur Medialisierung wissenschaftlichen Wissens. Bielefeld: transcript Verlag, 2007, S. 134. 118
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Im deutschsprachigen Raum ist historisch betrachtet das Institut für den Wissenschaftlichen Film (IWF) in Göttingen von großer Relevanz. 26 Das IWF setzte sich für die Verbreitung und Anwendung von Bewegtbildern in der Lehre und Forschung ein, entwickelte Wissenschaftsfilme und begleitete Wissenschaftler bei der «Daten-, Informations- und Wissensaufbereitung sowie bei der Forschung und Entwicklung.»27
Durch die Verwendung von Bewegtbildern wollte man «ausführliche Studien und Beobachtungen, Vergleiche, Berechnungen und dergl. anstellen, die zu ganz neuen Erkenntnissen führen»28
können. Im Zuge dessen wurde das herausfordernde Unterfangen angegangen, eine sogenannte Encyclopaedia Cinematographica herzustellen, mit dem Ziel, eine filmische Enzyklopädie der Welt zu erschaffen, die durch die medialen Eigenschaften von Bewegtbildern im Vergleich zu einer schriftlichen Enzyklopädie andere Wissensaspekte vermitteln kann. So wurde etwa argumentiert, dass Bewegtbilder visuell zeigen können, wie sich ein Tier bewegt. Die Bedingungen für einen filmischen, enzyklopädischen Eintrag wurden anhand von spezifischen Parametern bestimmt, etwa indem ein «Vorgang so abzubilden [ist] (...), dass das Bewegungsbild einer überaus sorgfältigen wissenschaftlichen Beschreibung entspricht.»29
Bewegtbilder wurden damit zu einer «Messmethode und im engeren Sinne ein spezielles Speichermedium mit den unmittelbaren Messergebnissen, die durch ein kinematographisches Verfahren gewonnen werden.»30
26 Das IWF war von 1956–2010 aktiv, wobei der Schwerpunkt der wissenschaftlichen Kommunikation sich über die Jahre etwas veränderte: «Ende der 1990er Jahre erfolgte die inhaltliche Schwerpunktverlagerung von einer produktions- zu einer transferorientierten Mediendienstleisterin für die Wissenschaft.» Vgl. http://www.filmarchives-online.eu/partner/iwf-wissen-und-medien vom 20. August 2016. 27 Ebd. 28 R. Geigy: Encyclopaedia Cinematographica. Gedanken zur Schaffung einer Film-Enzyklopädie», In: Research Film, Vol . 2, No. 3, July 1956, S. 145–150, Hier: S. 146. 29 Gotthard Wolf: Der wissenschaftliche Dokumentationsfilm und die Encyclopaedia Cinematographica, München: Barth, 1968, S. 17. 30 H. Adolf zitiert in: Hermann Kalkofen: «Die Aufgaben der Encyclopaedia Cinematographica im Spiegel ihres 40jährigen Bestehens: Arbeitsunterlage für die Redaktionsausschußtagung der Encyclopaedia Cinematographica», Göttingen: Arbeitsunterlagen 1992, S. 3. 119
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Die Herstellung der Encyclopaedia Cinematographica wurde von Anfang an als eine interdisziplinäre Aufgabe begonnen, scheiterte jedoch anhand diverser Faktoren und wurde 1992, nach 42 Jahren Produktion und Entwicklung, eingestellt.31 In den Jahren 1963 und 1990 wurden viele sogenannte Wildlife Making-of Documentaries (MODs) von verschiedenen Fernsehsendern, allen voran vom britischen Fernsehsender BBC, produziert. Die MODs «offer more than a quick glance behind the curtain, as they define film-making’s relationship to science-making.»32
Die unabdingbare Nähe zwischen der wissenschaftlichen Arbeit in der Natur und dem dokumentarischen Film war in der MOD-Bewegung zentral für die Erkenntnis- und Wissensgenerierung beider Felder. Heutige Praxis in Hochschulproduktionen Die Kollaboration von Wissenschaft und Film basiert auf einer langen Geschichte. In der aktuellen Weiterentwicklung der Formate des wissenschaftlichen Films, stellen sich erneut Fragen nach qualitativ, fundierten Umsetzungen in der Wissenschaftskommunikation. Denn die Erwartungshaltung und die Realität akademischer Wissenschaftsfilm-Produktionen decken sich nicht immer mit der filmischen Machbarkeit. Wir werden fast täglich mit sogenannten best practices von filmischen Umsetzungen konfrontiert, sei dies im professionellen Broadcast, in Fiktion- und Dokumentarfilmen und mittlerweile sogar auf Vimeo oder Youtube33. Daraus lässt sich erkennen, dass durch die tagtägliche Exposition von high end- und best practice-Videos ein wachsender Anspruch auf qualitativ hochstehende wissenschaftliche Produktionen entsteht. Qualitative hochwertige Filmaufnahmen entstehen nicht durch die Verwendung von professionellem Equipment, sondern verlangen vielmehr nach Präzision und Reflexivität im Umgang mit dem Medium als Medium und der Wahl einer spezifischen Filmsprache für die Generierung von Bewegtbildern in Bezug auf das jeweilige Vermittlungsfor31 Ebd., S. 1. 32 Jean-Bapiste Gouyon: «Science and film-making», in: Public Understanding of Science 25.1, 2016, S. 17–30, hier S. 33. 33 Youtube hat in den letzten zwei Jahren einen rasanten Anstieg an semiprofessionellen VideoProduktionen zu verzeichnen. Dies lässt sich einerseits auf eine Professionalisierung und Kommerzialisierung (Werbeträger und Drittmittel für Youtube-Stars) von Kanälen mit hohen Klickraten zurückführen. Andererseits trägt die technologische Weiterentwicklung von besseren Kameras (z.B. auch Smartphone Kameras) sowie deren integrierten Hilfestellungen wie Autofokus oder Stabilisierungshilfen zu einer verbesserten Aufnahme bei. 120
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mat. Gerade in Bezug auf die Kommunikation von wissenschaftlichen Daten und Inhalten, wo die Universitäten per se für ein akribisches und nachvollziehbares Vorgehen plädieren, sollte sich diese Genauigkeit, Deutlichkeit und Reflexivität ebenso in deren filmischer Umsetzung wiederfinden. Wenn die digitalen Wissenschaftsfilme einmal im Netz sind, so werden sie dort auf die eine oder andere Art bleiben, auch wenn das Video wieder gelöscht wird.34 In einem Expertinnen-Interview erklärte Christina-Maria Schoellerer, Hochschuldozentin und Expertin für digitale Narrationstechniken dies folgendermaßen: «Man verewigt sich halt eben doch für eine gewisse Zeit und steht einfach in Konkurrenz mit all den anderen Videos, all den professionell produzierten Lernvideos. (...) Man hat einfach ein gewisses Qualitätsbewusstsein wenn man sich im Netz auch im Videobereich bewegt. Und daran misst sich alles, auch die Lernvideos und das ist etwas was dann eben auffällt, wenn man es in den direkten Vergleich setzt.»35
Auch wenn ihre Aussage spezifisch auf akademisch produzierte Lehrvideos von MOOCs (Massive Open Online Courses) bezogen ist, so gilt sie ebenso für jegliche anderen Formate von Bewegtbildern im Rahmen der Wissenschaftskommunikation von Hochschulen. Wissenschaft soll kommuniziert werden, «thou shalt communicate» – ein Dogma, welches seit Jahrzehnten als Herausforderung an Hochschulen existiert.36 Die wiederkehrende Frage ist aber: wie und was soll kommuniziert werden?37 Auf der einen Seite lässt sich in einigen Univer34 Eine Anekdote dazu: Im Zusammenhang mit wissenschaftlichen Bildungsvideos entfachte sich an einer Konferenz folgende Diskussion: Einige Dozierende bevorzugen es, wenn Videos keinen Download-Button haben, damit die Seminarteilnehmer die Videos nicht speichern können. Nun bleiben aber alle Videos, sobald sie einmal im Netz sind, auch dort. Ein Herunterladen oder Kopieren von Bewegtbildern mit unzähligen, jedem technisch versierten Nutzer bekannten und innerhalb weniger Sekunden per Google auffindbaren Techniken ist jederzeit möglich – auch wenn kein Download-Button vorhanden ist. Es sollte vielleicht doch zweimal darüber nachgedacht werden, ob und welche wissenschaftlichen Videos man von seiner Arbeit hochlädt. Ebenso existieren mittlerweile mehrere Projekte, welche versuchen, zumindest einen Teil der Internetentwicklung zu archivieren und hierzu gesamte Webpages über einen Zeitverlauf speichern: Vgl. das Internet-Archiveprojekt Waybackmachine, https://archive.org/web vom 20. August 2016. 35 Christina-Maria Schoellerer im Experteninterview, Interviewerin: Jeanine Reutemann, Berlin, 2015. 36 «But now the scientific establishment and national governments insist that the public must understand science if they are to be useful citizens, capable of functioning correctly as workers, consumers, and voters in a modem technical world.» Jane Gregory/Steve Miller: Science in Public: Communication, Culture and Credibility, New York: Plenum Trade, 1998, S.2. Vgl. Dirk Verdicchio: Das Publikum des Lebens: zur Soziologie des populären Wissenschaftsfilms, S. 33. 37 Populärwissenschaftliche Kommunikation kann laut Collins in zwei Richtungen verlaufen: Erstens zur Wissenschaft als Institution und der Vermittlung dessen, was dieses Unternehmen ist. Oder Zweitens zu einer ergebnisorientierten Kommunikation von wissenschaftlichen Inhalten. Vgl. Harry M. Collins: «Certainty and the Public Understanding of Science: Science on Television», in: Social Studies of Science 17, 1987, S. 689–713, hier S. 689. 121
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sitätsproduktionen ein Streben nach inhaltlich hochwertigen Inszenierungen erkennen, während auf der anderen Seite des Spektrums minimalster Aufwand betrieben wird. Im Folgenden soll hier eine kurze Übersicht über aktuelle Paradigmen und Formate der audiovisuellen Wissenschaftskommunikation im Hochschulrahmen geboten werden. Die jeweiligen Formate richten sich nebst ihren unterschiedlichen Produktionsweisen jeweils auch an ein unterschiedliches Zielpublikum, jedoch kann in jedem der vier aufgeführten Formate auch für alle anderen Formate produziert werden.38 Technisches Aufzeichnungsformat Die 1:1 Wiedergabe einer realen Gegebenheit; Qualität ist kein wichtiges Kriterium und Bewegtbilder werden als technisches Werkzeug verwendet, das aufzeichnet und wiedergibt. Postproduktionstechniken werden marginal angewendet, die Bild-Ratio stimmt manchmal nicht, so dass das Bild verzerrt ist; es wird eine falsche Bildfrequenz verwendet usw. Ein Beispiel dazu sind die weit verbreiteten Vorlesungsaufzeichnungen der Universitäten.39 Low Budget-Produktion In diesem am weitesten verbreiteten Format werden hochschulinterne Ressourcen verwendet, seien dies Doktorierende, Assistierende, wissenschaftliche Mitarbeiter des Lehrstuhls oder Fachpersonen aus dem IT-Bereich, die eingesetzt werden, um Forschung oder Lehre mit Videos zu dokumentieren.40 Dies sind zumeist Laien im audiovisuellen Mediendesign. Derlei Bewegtbild-Produktionen schöpfen daher das Potenzial des Medium bei weitem nicht aus. Solche Formate stellen eine gewisse Gefahr für die Produktion von hochschuleigenen Bewegtbildern dar (market spoilage), da sie durch den Mangel an technischen, ästhetischen und narrativen Kenntnissen eine medial nicht überzeugende Umsetzung sind, und damit eventuell einen negativen Lerneffekt oder eine schlechte Erfahrung generieren können.41 Bezüglich MOOCs, einen Produktionstyp in dem Low-Budget Produktionen besonders häufig sind, sagt Sebastian Thrun, 38 Es ist wichtig zu erwähnen, dass diese kategoriale Aufzählung keinen Anspruch auf eine Vollständigkeit darstellt, sondern es wird damit beabsichtigt, dem Leser einen Überblick über die gängigsten Formen der audiovisuellen Wissenschaftskommunikation in Hochschulproduktionen zu bieten. 39 Ein Beispiel (problematische Bildfrequenz) einer Youtube-Vorlesungsaufzeichnung: «Lecture 1, Quantum Entanglements, Part 1», veröffentlicht im offiziellen Youtube-Kanal der Stanford Universität: https://www.youtube.com/watch?v=0Eeuqh9QfNI, vom 1. September 2016. 40 Ein Beispiel der Universität Bern: «Nachhaltigkeit an der Universität Bern», https://www.youtube.com/watch?v=5ftKQwt56sI, vom 27. August 2016. 41 In der Ökonomie bezeichnet der Begriff market spoilage Produkte, die eine negative Erfahrung bei Rezipienten auslösen und diese dann das Produkt vermeiden. 122
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Mitbegründer der MOOC-Plattform Udacity, rückblickend auf zwei Jahre MOOC-Erfahrung: «We have a lousy product».42 Wissenschafts- und Bildungsvideos sind jedoch, ebenso wie wissenschaftliche Publikationen, Projektberichte oder Konferenzpräsentationen, Teil der öffentlichen Wissenskommunikation einer Universität. Sie tragen zur Reputation der Forschenden und zur Corporate Identity ihrer Institutionen bei, und sollten innerhalb gewisser Standards produziert werden. «High gloss»-Imagefilme – Wissenschaft und Lehrfilme als Edutainment Auf der anderen Seite der Formate findet sich eine Wissenschaftsfilm-Kommunikation mit einer «high gloss»-Ästhetik. Im Zuge von Ökonomisierungs-, Distributions- und nicht zuletzt Fördergelder-Strategien wird versucht, das Image von einzelnen Wissenschaftsdisziplinen populärwissenschaftlich aufzupolieren. Hierzu werden klassische Marketingstrategien, aus der privatwirtschaftlichen Werbung und Kommunikation angewendet und von Universitäten in Kooperation mit Film Marketing Agencies umgesetzt. Im Gegensatz zu den laienhaften low-budget Produktionen sind diese sind zwar auf die Herstellung von Bewegtbildmaterial spezialisiert, jedoch speziell auf die Produktion von sogenannten Imagefilmen. Ihnen fehlt daher die Expertise zur vertieften Reflexion wissenschaftlicher Daten. Sie folgen oft einer werbefilmtypischen «High gloss»-Ästhetik mit dramatischen Bild-Inszenierung, Tempo, repetitivem Storytelling, wenig didaktischen Elementen und zum Teil übertriebenen (da thematisch nicht angemessenen), künstlich eingefügten Spannungselementen. Kollaboration und Co-Design zwischen Wissenschaften und Film Solche Formate bestehen aus Produktionen für eine audiovisuelle Wissenschaftskommunikation, die in einer interdisziplinären Zusammenarbeit zwischen Wissenschaftsdisziplinen und filmischer Umsetzung geschehen. Der künstlerisch-gestalterische Aspekt des Mediendesigns wird im Co-Design mit der jeweiligen Wissenschaftsdisziplin umgesetzt und ermöglicht so eine methodisch und ästhetisch-medial differenzierte Herangehensweise an die Vermittlung von Wissenschaftsinhalten. In den folgenden Abschnitten wird dieses Format näher betrachtet.
42 https://www.fastcompany.com/3021473/udacity-sebastian-thrun-uphill-climb, vom 27. August 2016. 123
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Kollaboration und Co-Design in der audiovisuellen Wissenschaftskommunikation Interessanterweise betonte bereits Virgilio Tosi, in mit Referenz auf das Projekt der Encyclopaedia Cinematographica das Potenzial einer interdisziplinären Zusammenarbeit zwischen Wissenschaftlern und Filmemachern: «The development of audio-visual techniques in all fields, the need to promote interdisciplinary co-operation demand the creation of a specialized training so as to permit close collaboration between scientists and audio-visual technologists in the field of scientific research.»43
In einer interdisziplinären Zusammenarbeit zwischen Wissenschaft und Film gilt somit die Bereitschaft sich gegenseitig in die andere, fremde Disziplin vorzuwagen als Voraussetzung des Erfolges. Dazu gehört auch sich in dem jeweils anderen Feld zumindest das Basiswissen anzueignen. In der audiovisuellen Wissenschaftskommunikation ist eine monodisziplinäre Arbeitsweise nicht zielführend, da die Produktion des filmischen Materials nur in einem kollaborativen Prozess mit grenzüberschreitenden Interessen zwischen Filmemacher und Wissenschaftler erfolgreich umgesetzt werden kann. Es geht dabei nicht nur um die nachträgliche Dokumentation einer Forschungsarbeit, sondern um eine anwendungsbezogene Vernetzung der wissenschaftlich-filmischen Praktiken, wobei sich Teile der Disziplinen amalgamieren.
Abbildung 1: Filmische Arbeit in der Natur: Filmstill aus der Produktion der ETH Zürich im Rahmen des Feldkurses «Conservation Management Field Course Beinn Eighe, Scottish Highlands». 43 Virgilio Tosi/International Scientific Film Association: Cinematography and Scientific Research, UNESCO, 1977, S. 1–57, hier S. 39. 124
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Abbildung 2: Filmstill aus der Produktion der ETH Zürich im Rahmen des Feldkurses «Conservation Management Field Course Beinn Eighe». Im Folgenden wird dazu ein Beispiel vorgestellt: Im Lehrrahmen des Conservation Management Field Course Beinn Eighe von Prof. Dr. Jaboury Ghazoul und Dr. Claude Garcia wurde zusammen mit Master- und Ph.D.-Studierenden der ETH Zürich eine Feldexpedition in das Beinn Eighe National Reserve in den Scottish Highlands unternommen (vgl. Abb. 2).44 Die Dreharbeiten fanden während der Kursdurchführung in der Anwesenheit von Studierenden statt. Dieser Kontext ist institutionell bedingt und generiert einige der Herausforderungen vor welcher Wissenschaftler stehen, die aus Eigeninitiative unter den heute gegebenen Rahmenbedingungen audiovisuelle Wissenschaftskommunikation für die Lehre und Forschung produzieren. Das Beispiel zeigt auch die Anforderungen an eine wissenschaftliche Filmproduktion in der Natur auf, respektive die damit verbundene anspruchsvolle Praxisarbeit aus der Perspektive des Filmemachers. Zum Schluss sollen Aspekte der interdisziplinären Zusammenarbeit – die gegenseitige Unterwanderung in der Produktion von Wissenschafts- und Bildungsfilmen – dargelegt werden (Co-Design). Organisatorische und mediale Herausforderungen aus der Perspektive des Wissenschaftlers Die Durchführung eines Feldkurses in der Natur setzt bereits ohne wissenschaftlich-filmische Begleitung viel Planung voraus. Wenn nun audiovisuelle 44 Vgl. ETH-Kursbeschreibung: http://www.ecology.ethz.ch/education/phd-courses/conservationmanagement-field-course-beinn-eighe.html, vom 24.8.2016; Wissenschaftliche Verfilmung des Conservation Management Field Course Beinn Eighe: «A living landscape»: https://www. youtube.com/watch?v=zw6UbG6RwL0, vom 20.9.2016. 125
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Wissenschaftskommunikation in eine Feldbegehung integriert werden soll, so entstehen zweifelsohne gewisse zeitliche und strukturelle Änderungen im Prozess der Interaktion mit der Natur, den lokalen Stakeholdern (an einem Prozess oder Projekt Beteiligte) oder der Datengewinnung. Wenn ein Treffen mit einem Stakeholder geplant ist, so braucht eine Produktion für ein Stakeholder-Interview einen größeren Zeitrahmen. Der Zeitaufwand besteht nicht nur aus dem Interview selbst, sondern auch aus einigen Minuten der Vorbereitung auf das Interview – seien dies die Einführung des Stakeholders in das Format des Interviews (Kamerablick, ganze Sätze, Testlauf), Wiederholungen der Aussage, performative Aspekte (Artifizielle Situation der Kamera) oder aber auch nur die Wahl des repräsentativsten Ortes für die Aufzeichnung. Auch müssen die Stakeholder zuvor informiert werden und es müssen eventuell Bewilligungen eingeholt werden. Je besser die Vorbereitungen für eine Produktion geplant werden, desto einfacher wird die Umsetzung im Feld verlaufen.45 Ein wichtiger Teil des Feldkurses in Schottland war die Interaktion mit Stakeholdern aus der lokalen Region. Ihre Erzählungen, Strategien und Probleme stellen den zentralen Kern in der Analyse des Ökosystemmanagements dar und nehmen damit auch in der Wissenschaftskommunikation eine bedeutungsvolle Rolle ein (vgl. Stakeholder-Interviewsituation mit Prof. Dr. Jaboury Ghazoul und Dr. Claude Garcia in Abb. 4). Im Feldkurs in Schottland hatten die beteiligten Wissenschaftler ein Basisverständnis für die Regeln der medialen Kommunikation mit Bewegtbildern: Bild/Ton-Interaktion, die Verwendung von Experteninterviews oder aber auch der Planungsablauf von der Pre- bis zur Postproduktion waren für den beteiligten Professor keine leeren Begriffe. Wenn Wissenschaftler bereits Kenntnisse über den Produktionsverlauf von Filmaufnahmen besitzen, wird der Prozess der Herstellung in der Natur reibungsloser ablaufen, da Herausforderungen und Schwierigkeiten bereits zuvor einkalkuliert werden können und die spezifischen Eigenschaften der Bewegtbilder akkurat berücksichtigt werden (etwa die Benutzung von Ultra-Makro-Linsen für die Detailansicht von Mikroben). Die im Zuge eines Forschungsprojektes generierten Daten können teilweise zu unerwarteten Ergebnissen führen. Etwa wenn ein Stakeholder im Interview von nicht erwarteten Details erzählt, die einen wichtigen Hinweis zur Fragestellung oder zum Problem liefern (vgl. «Co-Design» weiter unten). Deswegen ist es von Vorteil, wenn für eine wissenschaftlich-filmische Produktion auf der Seite der Wissenschaftler für die Umsetzung in der Natur ein zusätzlicher Zeitraum (meistens reichen einige Stunden) eingeplant wird, wo gegebenenfalls zusätzliches Bewegtbild-Material zu den Forschungsschwerpunkten generiert werden kann. 45 Eine simple Grundregel in der Produktionsplanung von Bewegtbildern lautet: Je präziser die Pre-Produktion geplant wird, desto einfacher und fehlerloser gelingt die Produktion und Post-Produktion. 126
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Im Prozess der filmischen Umsetzung werden für den Wissenschaftler die medialen Grenzen und Möglichkeiten der Bewegtbilder erfahrbar gemacht, was wiederum als relevantes Wissen für weitere Produktionen dienen kann, weil so konzeptionelle, bildgestalterische und inhaltliche Aspekte der filmischen Elemente bereits in der Planung eines Forschungsprojekts bedacht werden können. Die Erfahrung, die der Wissenschaftler im Zuge einer solchen Produktion macht, ist zudem ein Lernprozess über Mediendesign im Allgemeinen, der sich wiederum positiv auf deren Einsatz in weiteren Forschungsarbeiten aber auch in der Hochschullehre, und der Verwendung von Videos im Unterricht zeigen kann.46
Abbildung 3: Im Gebüsch am Boden kriechend mit der Kamera. Filmstill aus einer Wissenschaftsfilm-Produktion im Forschungsprojekt «Better Gardens»47, des FiBL und der WSL (in der Produktion). Audiovisuelles Mediendesign in der Feldforschung aus der Perspektive des Filmemachers Eine Filmproduktion in der Natur stellt aus der Sicht von Filmemachern immer eine enorme Herausforderung dar: Die Bildproduktion muss vielfach bei der ersten Aufnahme klappen, es existiert ein straffer Zeitplan, das Wetter kont46 In Studien konnte aufgezeigt werden, dass die Verwendung von Bewegtbildern positiven Einfluss auf das Lernverhalten haben kann, dies vor allen in folgenden drei Kategorien: Motivation und Engagement (motivation and engagement), Kognitives Lernen (cognitive learning) und erfahrungsbasiertes Lernen (experiential learning). Vgl. Jack Koumi: Designing video and multimedia for open and flexible learning. Routledge, 2006; Peter Tiernan: Digital literacy and online video: investigating students’ use of online video in assignments using a customised video retrieval system, Dublin: Dublin City University Press, 2015. 47 Vgl. http://www.bettergardens.ch/en/home.html, vom 25.9.2016 127
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rolliert die Situation, die Bildproduktion verlangt, dass mit dem Kameraequipment durch Dickichte gekrochen oder steile Hänge bestiegen werden müssen. Filmemacher müssen in ungewohnten, unbequemen Positionen verharren, während Ungeziefer alle Poren des Körpers belagert etc. (vgl. Froschperspektive im Filmstill von Abb. 3). In vielen Naturfilmproduktionen aller Genres (Dokumentarfilm, Wissenschaftsfilm, Broadcast und auch Spielfilm) nötigen Zwischenfälle natürlichen Ursprungs die Filmemacher dazu, die Narration, die Bildproduktion, die Audioaufnahme (Wind) oder das gesamte Projekt spontan und komplett zu revidieren.48 In Produktionen für die audiovisuelle Wissenschaftskommunikation kommen folgende Faktoren hinzu: Die Anwesenheit einer Kamera verändert die Situation im Feld – insbesondere das Verhalten von Stakeholdern. Eine Interaktion mit Stakeholdern im Feld, die keine Kameraerfahrung mitbringen, muss reflektiert werden und mit Vorsicht geschehen. Diese können durch die ungewohnte Situation nervös, unsicher oder aber auch überdreht aktiv reagieren – auf jeden Fall müssen sie in den Prozess der audiovisuellen Wissenschaftsproduktion eingeführt werden. Der vorsichtige Umgang mit Stakeholdern ohne Kameraerfahrung spielt eine entscheidende Rolle für die Produktion von wissenschaftlich validen Stellungsnahmen und muss in der Vorbereitung, im Feld selbst und der Nachbearbeitung präzise und reflektiert gehandhabt werden um eine Verfälschung der Daten zu vermeiden (siehe Co-Design). Wenn Filmaufnahmen während des eigentlichen Forschungsprozesses produziert werden bedeutet das zumeist – vor allem bei Erstproduktionen mit einem filmisch unerfahrenen Wissenschaftler – dass wenig Zeit für wissenschaftlich-filmische Aufnahmen eingeplant wird, da das Forschungsprojekt selbst typischerweise unter Zeitdruck steht. Dies bedeutet für den Filmemacher umso mehr, dass jede Aufnahme beim ersten Versuch gelingen muss. Hinzu kommt die Identifikation von Möglichkeiten, die überhaupt eine Bildgenerierung in der Forschungsarbeit ermöglichen: «Erfahrene Filmemacher können die angestrebte Stimulierung durch die gezielte Handhabung der Mittel auslösen (...). So wie man eine Sprache spontan spricht, wenden sie die Gestaltungsstrategien ganz unwillkürlich an.»49
48 Ein legendäres Beispiel aus dem Fiction Genre ist die infolge unterschiedlicher Faktoren, etwa aufgrund eines Sturms in der Wüste und Überschwemmung des Filmequipments gescheiterte Verfilmung von Terrry Gilliam’s The Man Who Killed Don Quixote. Der Dokumentarfilm Lost in Mancha zeigt eindrücklich die Probleme der Filmproduktion in der Natur, vgl. https://www.youtube.com/watch?v=qMUGYayk_VQ, vom 1. September 2016. 49 Christian Mikunda: Kino spüren. Strategien der emotionalen Filmgestaltung, Wien: Facultas Verlag 2002, S. 187. 128
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In dieser Spontaneität und Unwillkürlichkeit liegt jedoch auch ein Risiko für die Produktion von wissenschaftliche Bewegtbildern, da gängige Inszenierungstechniken Objekte und Subjekte im bestmöglichen Licht erscheinen lassen möchten, damit jedoch eventuell wissenschaftliche relevante Faktoren außer Acht lassen, verfremden oder verändern (siehe Kapitel 3.5). Im Beispiel des Kurses in den Scottish Highlands hatte die Filmemacherin dank vorhergegangener Zusammenarbeit ein Basisverständnis für die methodische Arbeitsweise im Lehrstuhl für Ecosystem Management, den Forschungsfragen sowie den Denkstil des Departements für Umweltwissenschaften. Auch die Kernaussage welche bei der audiovisuellen Wissenschaftskommunikation dargestellt werden sollte, war bereits im Vorfeld bekannt. Es konnte mit diesem Hintergrundwissen zumindest versucht werden, die Vorbereitungen für die Produktion gezielter zu planen. Die Möglichkeit dies zu versuchen bedarf bereits positiver Erwähnung, da bei der Produktion von Bewegtbildern im Feld immerzu unberechenbare Parameter existieren, welche eine hohe Flexibilität, Improvisation, und Kreativität benötigen und die Filmemacher manchmal zwingen die vorangegangene Planung von A bis Z modifizieren. Co-Design (Kollaboration von Wissenschaft und Film) Auch während der Zusammenarbeit im Feld war das gegenseitige Grundverständnis wiederholt eine Erleichterung. Die vorangegangene Zusammenarbeit zwischen Wissenschaftler und Filmemacher für einen populärwissenschaftlichen Film hatte viele grundlegende Fragen zur jeweils anderen Disziplin bereits geklärt und damit die Grundlage für ein Co-Design gelegt.50 Solche Grundlagen erlauben es, dass Filmemacher gänzlich in die Welt der jeweiligen wissenschaftlichen Disziplin eintauchen – die Produktion von Bewegtbildern wird damit zur «practice that enriches participating scientists’ experience. From this perspective it is more than just the communication of scientists’ work, but a genuine participation in the scientific enterprise.»51
Die Aussagen von lokalen Stakeholdern waren in Schottland ein Kernelement der wissenschaftlichen Feldarbeit, weshalb auf diesen Aspekt hier vertieft eingegangen wird. Gerade im Co-Design-Prozess von Stakeholder-Interviews ist die Vorbereitung und Definition des Produktionsstils entscheidend. Im Fol50 Im Rahmen der Buchreihe «A Very Short Introduction» von Oxford University Press veröffentlichte Jaboury Ghazoul die Publikation «Forests: A Very Short Introduction», wozu ebenfalls ein kurzer Animationsfilm für die Populärwissenschaftskommunikation entstand. Vgl. Jaboury Ghazoul: Forests: A Very Short Introduction, Oxford: University Press 2015. Und die dazugehörige Animation: https://www.youtube.com/watch?v=NS95gjWp2to vom 24. August 2016. 51 Jean-Baptiste Gouyon: «Science and film-making», S. 24. 129
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genden werden einige kritische Punkte diskutiert, wo sowohl Konflikte im Design der Stakeholder-Interviews entstehen können als auch die Chance zur gegenseitigen Unterwanderung der Disziplinen durch Co-Design sich zeigen kann. Diese Punkte sollten deshalb idealerweise bereits in der Planungsphase geklärt werden: 1. Die Methode des Interviewformates: Im Gegensatz zu den traditionellen un-, teil- oder strukturierten Stakeholder-Interviews ist es für die Verfilmung oft nötig, die Kernaussagen als ganze Sätze aufzuzeichnen. Dies führt zu einer produktionsbedingten Notwendigkeit für Stakeholder, ihre Schlüsselaussagen am Ende des Interviews für die Wissenschaftsverfilmung nochmals in ganzen Sätzen zu artikulieren. Dieses erzwungene Wiederholen und Zusammenfassen kann einerseits die Authentizität des Interviewpartners modifizieren, andererseits kann eine solche forcierte Eindeutigkeit den Forschenden jedoch auch die Interpretation des Interviews erleichtern. 2. Die Inszenierung des Stakeholders: Im Gegensatz zu einer rein Text-orientierten Forschung sind im audio-visuell co-designten Forschungsprojekt Details der bildlichen Darstellung von großer Bedeutung.52 Man kann bei der Produktion von Bewegtbildern jedoch nicht nicht inszenieren: auch wenn, wie es insbesondere in ethnographischen Arbeiten üblich ist, versucht wird, den Stakeholder in einer größtmöglichen Rohheit in seiner Alltagsumgebung abzulichten, so zeigt diese spontane Inszenierung doch einen unbeabsichtigten Zufallsmoment und erzeugt damit unkontrolliert Bedeutung. So werden etwa Interviewpartner ihre Haare richten oder extra saubere Kleidung anziehen bevor das Kamerateam erscheint. Die Wahl des Hintergrundes, die Ausrichtung der Kamera und die Anordnung von Objekten im Bild erzeugen immer Bedeutung auch wenn der Filmemacher diesen Faktoren absichtlich keine Aufmerksamkeit schenkt.53 Idealerweise werden solche Details der Inszenierung in einem expliziten Trialog von Wissenschaftler, Stakeholder und Filmemacher im Co-Design entschieden. Hierbei ist es von zentraler Bedeutung, dass allen Beteiligten die Zielsetzung des Wissenschaftsfilmes bewusst ist und demnach die Szene nicht wie für einen Imagefilm inszeniert wird («high gloss»-Ästhetik, Sonntagskleider, Wohlstands52 Visuell erkennbare Aspekte der Sprache wie Gesten und Mimik sind bei Stakeholder-Interviews eine relevante Quelle der Information: «You see plenty of little details, like a reaction when you ask a question. A facial movement will tell you, ‹now I see more or less what he thinks, I see that this is a sensitive topic› (...)». ETH-Masterstudent David Tschan über seine Erfahrungen im Schottland Feldkurs, bei 1:20min, https://www.youtube.com/watch?v=csN14GZDgfs, vom 20. September 2016. 53 Eine interessante Aussage über die Verwendung von inszenierten und veränderten Naturgegebenheiten in wissenschaftlichen Verfilmungen findet sich bei Geigy 1956: «Wenn aber z. B., was in gewissen Fällen kaum zu vermeiden ist, (...) etwa besondere, als ‹Kulissen› unentbehrliche Dispositive, wie künstliche Erdbauten, Nester oder sonstige Territorien, so muß dies im begleitenden Kommentar beschrieben werden.» Vgl. R. Geigy: «Encyclopaedia Cinematographica», S.147. 130
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objekte). Es geht vielmehr darum, dass durch das Inszenieren ein Mehr an Informationen hervorgebracht werden kann, denn die visuelle Bildspur generiert eine weitere Perspektive des darzustellenden Problems und die bewussten und unbewussten Prozesse der Bildkomposition können verstecke Konnotationen zum Vorschein bringen. Die Abbildung 4 zeigt eine Interviewsituation mit einem Stakeholder im Feld. Die Aufnahme ist direkt vor Ort in demjenigen Wald aufgenommen worden, über welchen der Stakeholder spricht. 3. Hierarchien zwischen Wissenschaftler und Filmemacher: Wenn Wissenschaftler und Filmemacher keine offene, positive Kommunikation über die Produktion des Wissenschaftsfilms entwickeln, besteht die Gefahr, dass Konflikte über die Produktionsform während Interviews mit Stakeholdern ausgetragen werden, da gerade in diesen Momenten eine interdisziplinäre Zusammenarbeit und die damit verbundene gegenseitige Rücksichtnahme notwendig ist. Fragen ob es dem Filmemacher erlaubt ist, ein Interview zu unterbrechen, eine Wiederholung zu verlangen, eine Antwort auszudifferenzieren etc. sollten daher im Voraus geklärt werden und idealerweise ein gegenseitiges Vertrauen in das jeweilige skill based knowledge der anderen Disziplin widerspiegeln. Die Definition solcher Spielregeln zwischen Wissenschaftler und Filmemacher ist unvermeidbar, darf aber nicht erst in situ während der Stakeholder-Interaktion ausgetragen werden. Die Entscheidung über den workflow dieses Co-Designs haben einen fundamentalen Einfluss sowohl auf die Wissensgenerierung anhand von Bewegtbildern und damit auch auf den anschließenden Postproduktionsprozess.
Abbildung 4: Prof. Dr. Jaboury Ghazoul und Dr. Claude Garcia in der Diskussion mit einem Stakeholder. Filmstill aus der audiovisuellen Wissenschaftskommunikation der ETH im Rahmen des «Conservation Management Field Course Beinn Eighe, Scottish Highlands». 131
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Abbildung 5: Stakeholder in einer Interviewsituation vor Ort, mit Master- und PhD-Studierenden der ETH Zürich. Filmstill aus «Conservation Management Field Course Beinn Eighe, Scottish Highlands». Auch außerhalb der Interviewsituation kann durch Co-Design zusätzliches Wissen generiert werden. Für das Produktionsdesign sollten seitens des Wissenschaftlers bereits im Vorfeld die Details des Forschungsobjekts kommuniziert werden, um der Filmemacherin zu erlauben, eine passende Auswahl an spezifischen audiovisuellen Instrumenten wie etwa Infrarot-, Makro-, oder Telelinsen für die Mitnahme ins Feld auszuwählen. Darüber hinaus kann aber auch eine professionelle Grundausstattung bereits ausreichen, um unerwartet Phänomene seh- oder hörbar zu machen. David Attenborough von BBC berichtete, dass durch das Kamerabild visuelle und verhaltensspezifische Aspekte von Tieren sichtbar wurden, «which no one had been able to see in that range of time ever. No zoo could show you that amount. The visual effect was devastating.»54
Er spricht der Art und Weise des wildlife film-making Prozesses einen epistemischem Power zu und vergleicht es mit einem performativen Akt der Wissensproduktion.55 54 David Attenborough zitiert in: Nicholas Whapshott: «The perfect teacher, back with animals», in: The Times vom 1. März 1980, S. 14. 55 Vgl. J.B. Gouyon: «Science and film-making, S. 20.; siehe dazu ebenfalls das Oral-History Statement von Deborah Cadbury, in welchem sie beschreibt, dass das Produzieren eines Wissenschaftsfilmes zu neuen Netzwerken zwischen den Wissenschaftlern führt, und damit auch zu neuen Erkenntnissen. Vgl. http://www.bbc.co.uk/historyofthebbc/resources/horizon50/ deborah-cadbury vom 2. Mai 2015. 132
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In den Wäldern von Schottland geschah ein vergleichbares Ereignis durch den Einsatz eines professionellen Audio-Recorders und der damit möglich gemachten Aufzeichnung der Geräusche von winzigen Stechmücken, den sogenannten Midges, welche in der Sommerzeit in den Hochländern weit verbreitet sind und zu Tausenden einen still stehenden Menschen innerhalb wenigen Minuten von Kopf bis Fuß bedecken. Im audiovisuellen Mediendesign wurde darauf Wert gelegt, dass nicht nur die Bildproduktion sondern auch die Tonspur eine größtmögliche Authentizität der regionalen Wälder und repräsentierten Szenerien aufweist. Deswegen wurden an jedem Ort akustische Atmosphären aufgezeichnet. In der Nähe der Field Station der Scottish Natural Heritage, Dualchas Nàdair na h-Alba wurde bei der Aufnahme das Mikrofon des Audio-Recorders von Midges umflogen und die Flugbewegungen der Mücken, normalerweise außerhalb des Wahrnehmungsspektrum des menschlichen Ohres, wurden durch das Mikrofon und die Verstärkung hörbar. Für den erfahrenen Wissenschaftler und Experten für Waldlandschaften in Schottland war dieses Ereignis ein noch nie dagewesener Moment: zum ersten Mal konnte er mit Kopfhörern und dem Audio-Recorder Tiere hören, welche ihm bislang nur visuell und taktil vertraut waren. In solchen Momenten manifestiert sich die Synergie von Wissenschaft und Film und zeigt exemplarisch, wie eine gegenseitige Inspiration und Erkenntnisgenerierung einerseits durch epistemische Instrumente stattfinden kann, andererseits «through theoretical participation in the film-making process, scientists had witnessed a hitherto unknown behaviour. This [story] presents film-making as a participation in the generation of new knowledge about the natural world.»56
Damit eine solche gegenseitige Inspiration durch Interdisziplinarität von Wissenschaft und Film entstehen kann, müssen die Filmemacher sich auf die unterschiedlichen Formen der Wissensgenerierung der einzelnen Wissenschaftsdisziplinen einlassen sowie idealerweise selbst in der angewandten Forschung tätig sein und damit ein Verständnis für wissenschaftliches Arbeiten, Problemlösen und methodisches Vorgehen mitbringen. Der nächste Abschnitt geht näher auf diese hybride Form von Filmemachern mit zusätzlichem Hintergrund in der angewandten Wissenschaft ein. Angewandte Forschung im audiovisuellen Mediendesign: Eine neue Generation von boundary spanners Kirbys Begriff des boundary spanners definiert eine Person, welche die Rolle eines wissenschaftlichen Experten in der wissenschaftlichen Gemeinschaft an56 Vgl. ebd., S. 2. 133
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nimmt und Filmexperte in der Industrie ist und darüber hinaus die Fähigkeiten besitzt, «to facilitate communication between these two (…). Boundary spanners are not research scientists but are individuals who mediate between the scientific community and the entertainment industry.»57
Der Begriff wurde von Kelly Moore adaptiert, welche damit die gleichzeitige Aktivität von Wissenschaftlern in der Forschung und Politik verwendete.58 Der Begriff der boundary spanners ist hier insofern interessant, da diese Bezeichnung ebenso als mögliche Definition für audiovisuelle Mediendesigner gelten kann, welche gleichzeitig selbst in der angewandten Wissenschaft an Hochschulen tätig sind. Seit der Bologna-Reform und dem damit verbundenen Forschungsauftrag befinden sich die europäischen Hochschulen mit anwendungsorientierten Schwerpunkten, inklusive der Filmhochschulen, in einem dynamischen Prozess innovativer und brückenschlagender Projekte, wo die Forschung über/mit/von Bewegtbildern eine wichtige Rolle einnimmt. Dies lässt sich nicht zuletzt damit begründen, dass die Produktion von Bewegtbildern durch folgende drei Aspekte an gesellschaftlicher, politischer und auch wissenschaftlicher Relevanz gewonnen haben: Erstens existiert durch das Zeitalter der Digitalisierung eine 24/7-Verfügbarkeit von Bewegtbildern im Netz, während gleichzeitig die Produktion neuer Bewegtbilder eine enorme Wachstumsrate verzeichnet. Zweitens spielt dabei die technologische Weiterentwicklung hinsichtlich Kameras, Datenspeichern und Bandbreiten eine wesentliche Rolle – ebenso das Moor’sche Law und die damit verbundene exponentielle Entwicklung von Datenmengen und -Verarbeitungskapazitäten. Und Drittens – dieses Argument bringt uns wieder zurück zur hochschulinternen Politik – hat sich in den letzten Jahrzehnten der Diskurs über die Möglichkeiten der Generierung von Wissen in den Disziplinen des Designs, der Kunst und des Filmes neu formiert.59 Heutige Generationen werden an Hochschulen mit angewandten Schwerpunkten nicht mehr nur für ein Arbeitsfeld in der Privatwirtschaft oder in der Regierung ausgebildet, sondern werden in den Bachelor- und vor 57 David A. Kirby: «Hollywood knowledge: communication between scientific and entertainment cultures», in: Communicating Science in Social Contexts, Houten: Springer Netherlands 2008, S. 165–180; hier: S.166. 58 Vgl. Kelly Moore: Organizing integrity: American science and the creation of public interest organizations: 1955–1975. in: American Journal of Sociology, 101, 1996, S. 1592–1627, hier: S. 1596. 59 Für weiterführende Literatur zum Wissensdiskurs im Design: Vgl. Claudia Mareis: Design als Wissenskultur: Interferenzen zwischen Design-und Wissensdiskursen seit 1960. Vol. 16. Bielefeld: transcript Verlag 2014.; Übersicht über den Wissenskurs von Kunst als Forschung: Martin Tröndle/Julia Warmers (Hg.): «Kunstforschung als ästhetische Wissenschaft» Beiträge zur transdisziplinären Hybridisierung von Wissenschaft und Kunst. Bielefeld: transcript 2012; Elke Bippus (Hg.): Kunst des Forschens: Praxis eines ästhetischen Denkens. Zürich: Diaphanes 2009. 134
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allem in den Masterstudiengängen zusätzlich in wissenschaftliche Arbeitsweisen eingeführt. Die Lehre beinhaltet dabei eine disziplinübergreifende Vielfalt von wissenschaftlichen Gebieten, angefangen bei den Bild-, Kultur- und Medienwissenschaften über die Sozialwissenschaften bis hin zur Wissenschaftsphilosophie oder Wahrnehmungspsychologie. Auch wenn die Naturwissenschaften dabei weniger zentral behandelt werden, so öffnen diese Erfahrungen dennoch eine Türe in die Welt der Wissenschaften. Die Vorträge, Seminare und Lehrtexte integrieren relevante und verwandte Wissensaspekte dieser Disziplinen und führen Studierende damit gleichzeitig in die Welt der unterschiedlichen wissenschaftlichen Paradigmen ein. Hierbei ist wichtig zu ergänzen, dass diese wissenschaftlichen Disziplinen im Vergleich zu einem monodisziplinären Vollstudium selbstverständlich nur in einem marginalen Umfang behandelt werden können. Wie weit und vertieft sich der Einzelne in die jeweiligen, thematischen Schwerpunkte einarbeiten will, bleibt ihm überlassen – wobei auch hier die durch die Bologna-Reform angestoßene gegenseitige Anerkennung von Leistungen zwischen Universitäten und angewandten Hochschulen einen wichtigen Beitrag leistet, da sie Studenten bereits während des Bachelors erlaubt, zusätzlich zu einer vollständigen Filmausbildung wissenschaftliche Seminare an Universitäten zu besuchen, und die ECTS-Kreditpunkte in ihr eigenes Studium zu integrieren. Die durch die Bologna-Reform ausgelöste Veränderung in der Lehre und im Forschungsauftrag hat aber auch eine Richtungsänderung in der Personalpolitik an den Hochschulen für Gestaltung mit sich gebracht. Diese Hochschulen stellen heute vermehrt Universitätsabgänger als Institutsleiter, Dozierende und Wissenschaftliche Mitarbeiter ein, da diese im Vergleich zu den ursprünglichen Mitarbeitenden scheinbar verstehen wie wissenschaftliche Forschung funktioniert. Dieser Trend lässt sich an den meisten Hochschulen für Gestaltung und Kunst beobachten und wird nicht kritiklos akzeptiert, da diese Entscheidung eine curriculare Veränderung mit sich bringt und ein rein universitärer Abschluss nicht bedingungslos für das Arbeiten als boundary spanner mit praxisorientierten Studenten qualifiziert.60 In der Zwischenzeit wächst im gemischten Mittelbau jedoch auch eine neue Generation heran die durch diese neue Verknüpfung beides mitbringt – die angewandte Arbeitsweise im Künstlerisch-Gestalterischen sowie Grundlagen der wissenschaftlichen Forschung.61 Diese neue Form von Hybrid-Wissenden wird hier als eine neue Form von boundary span60 Vgl. das Forschungsprojekt Ästhetische Praktiken nach Bologna, mehr Informationen: https://www.hkb.bfh.ch/de/forschung/forschungsschwerpunkte/fspintermedialitaet/bologna/ vom 10. August 2016. 61 Mit einer Vertrautheit mit klassischer wissenschaftlicher Forschung ist gemeint, dass ein basales Wissen über die Diversität methodischen Vorgehens, den Einsatz von Instrumenten, die Konzeption von Forschungsanträgen und standardisierten Publikationsformaten und die üblichen Formen und Strukturen der Generierung von Erkenntnissen und Ergebnissen in den verschiedenen Wissenschaftsdisziplinen vorhanden ist. 135
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nern definiert. Durch diesen Brückenschlag kann ein boundary spanner in der interdisziplinären Zusammenarbeit mit Forschenden bei der Produktion von audiovisueller Wissenschaft Bewegtbilder kreieren, die als immutable mobiles potentiell ebenso valide Daten wie etwa Textdaten liefern und so als Grundlage wissenschaftlichen Fortschritts verstanden werden können. Generierung von Bewegtbildern für den Wissenschaftsfilm: Visuelle und wissenschaftliche Datengenerierung Die Verwendung von visuellen Darstellungen, sei dies zur Beweisführung, für den Erkenntnisgewinn, als Inspirationsquelle oder als begleitende Dokumentation hat in den Naturwissenschaften bereits eine lange Geschichte.62 Dabei werden typischerweise vor allem Zeichnungen, Tabellen, Diagramme, Fotografien, abgepauste Mikroskop-Projektionen, symbolische Notationen chemischer Verbindungen und, in den letzten Jahrzehnten vermehrt, auch computergenerierte 3D-Visualisierungen oder Filmstills verwendet, welche weniger eine authentische Repräsentation des Forschungsprojektes zeigen, sondern einem eigenständigen semiotischen System gleichzusetzen sind.63 «Ob es nun um die paläontologische Rekonstruktion ausgestorbener Lebensformen, wie der Dinosaurier, um das Atommodell, die spekulativen Bilder im Grenzbereich zwischen Wissenschaft und Philosophie, Wissenschaft und Science Fiction, Wissenschaft und Dichtung, Realität und Mathematik geht, es wimmelt in der Wissenschaft von Bildern, die sie zu dem machen, was sie ist: zu einem multimedialen, verbal-visuellen Diskurs, der sich seinen Weg zwischen Erfindung und Entdeckung sucht.»64
Experten des renommierten naturwissenschaftlichen Science Magazins haben 2008 den Einsatz von filmischen Mikroaufnahmetechniken und dessen Möglichkeit für die Generierung von wissenschaftlichen Erkenntnissen als eine der zehn relevantesten wissenschaftlichen Leistungen des Jahres bewertet.65 Während der Arbeit an diesem Beitrag, Ende August 2016, hat die NASA einzigartige, noch nie zuvor gesehene Bilder vom Nordpol des Jupiters publiziert, die 62 Ein Beispiel: Auch der Benzolring war zuerst ein (Traum)-Bild einer sich selbst in den Schwanz beißenden Schlange und wurde dann als ein (immer noch visuelles) Kohlenstoffring-Modell umgesetzt. Zur vielverbreiteten Kommunikation mit Bildern in den Naturwissenschaften vgl. Karin Knorr Cetina: «Viskurse der Physik. Konsensbildung und visuelle Darstellung», in: Bettina Heintz & Jörg Huber (Hg.), Mit dem Auge denken. Strategien der Sichtbarmachung in wissenschaftlichen und virtuellen Welten, Zürich/New York: Springer 2001, S. 347–365. 63 Vgl. Peter Galison: Image and Logic. A Material Culture of Microphysics, Chicago: University of Chicago Press 1997. 64 William J. T. Mitchell: »Bildwissenschaft», in: Gottfried Boehm, Horst Bredekamp (Hg.): Ikonologie der Gegenwart. München: Wilhelm Fink 2009, S. 99–113, hier S. 99. 65 Vgl. Bruce Alberts: «Editorial: Celebrating a Year of Science», in: Science 322, 5909, 2008, S. 1757; Vgl. D. Verdicchio: Das Publikum des Lebens, S. 10. 136
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Inhalte «unlike anything previously seen on any of our solar system’s gas-giant planets»66 zeigen. Anhand dieser zeitgenössischen Beispiele wird sichtbar, dass «die bewegten Bilder auch über hundert Jahre nach der Erfindung des Films noch immer Erkenntnisgewinn und Evidenz versprechen, und dass die Möglichkeiten des wissenschaftlichen Einsatzes von Filmen noch lange nicht erschöpft sind.»67
Der in der Wissenschaftsphilosophie und Bildwissenschaft zentrale Begriff der Evidenz steht für Einsicht und Gewissheit, wonach die Wissenschaft «nicht erst seit gestern ebenso ‹sehnsüchtig› sucht» und der wie «der lateinische Wortstamm videre es bereits angedeutet, scheinbar etwas mit Sehen und Sichtbarkeit» zu tun hat.68 Der darin enthaltene Anspruch einer visuellen Evidenz durch die Technizität beinhaltet einen historisch etablierten Diskurs über die Objektivität einer wissenschaftlichen Bildgenerierung mit Bewegtbildern. Der observational mode wurde dabei im Forschungsfilm als eine Realitätserfahrung definiert, welche die Sichtweise eines individuellen Betrachters objektiviert und ersetzt.69 Diese scheinbare Objektivität der Aufnahme steht jedoch im Widerspruch mit der Montage, wo Bewegtbilder zeitlich alternierend und neu zusammengesetzt werden. Dieser Widerspruch sollte, so die damalige Annahme, mit einer Vermeidung von Montagetechniken sowie der Reduktion auf eine Totale und die statische Bildeinstellung mit einer Zentralperspektive eliminiert werden. Es sollte «so der Imperativ der visuellen episteme – der erkenntniskritische Abstand zwischen der Welt und ihrem Bild auf Null abgesenkt werden. Bis in die Gegenwart zählt die statische Einstellung als filmisches Verfahren zum tacit knowledge und wird auch heute noch stillschweigend als wissenschaftliche Konstante akzeptiert.»70
Es ist zudem davon auszugehen, dass das hohe Gewicht der ersten Filmkameras und die aufwändige und komplexe Technik des Schneidens von analogem Filmmaterial ebenso ihren Teil dazu beigetragen haben, dass mit Vorliebe eine 66 https://www.nasa.gov/feature/jpl/jupiter-s-north-pole-unlike-anything-encountered-insolar-system vom 3. September 2016. 67 D. Verdicchio: Das Publikum des Lebens, S. 10. 68 Michael Hellermann: Wissenschaft in Film und Fernsehen. Die mediale Morphologie audiovisueller Wissenschaftskommunikation, Berlin: LIT Verlag, 2015, S. 317.: «Das Wort evidentia ist eine Ableitung von e-viderer, ‹herausscheinen, hervorscheinen› und bezeichnet dasjenige, was einleuchtet, weil es gleichsam aus sich herausstrahlt», A. Kemmann: «Evidentia, Evidenz». In: Gert Ueding (Hg.): Historisches Wörterbuch der Rhetorik, Band 3, Tübingen 1996, S. 33. 69 Vgl. R. Reichert: Im Kino der Humanwissenschaften, S. 55. Zum Begriff des Observational mode, vgl. Bill Nichols: «The Voice of Documentary», in: Alan Rosenthal (Hg.), New Challenges for Documentary, Berkeley, Los Angeles: University Press, 1988, S. 48–63, hier S. 52. 70 R. Reichert: Im Kino der Humanwissenschaften, S. 75. 137
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arretierte Kameraeinstellung gewählt und die Reduktion auf wenige Montageschnitte zur Norm erhoben wurden. Seit den Ursprüngen der klassischen Bewegtbilder bis heute, etwa bei 360°-Videos, wird vor allem seitens Dokumentarfilms und des Journalismus behauptet, dass diese Form von Bewegtbildern eine größere Objektivität der Situation zeigen als normale Bewegtbilder dies bislang konnten. Ebenso wird damit argumentiert, dass das nicht vorhandene framing, die Rahmung der Szene, welche impliziert, dass eine subjektive Entscheidungsfindung stattgefunden hat, nicht mehr existent ist: «Every other type of storytelling involves framing, whether the rectangular frame of a still photograph or the framing a journalist does writing a news story or feature. (...) In VR, there is no frame. You can look wherever you want within the scene.»71
Diese Aussage stimmt nur bedingt – und zwar einzig für live gerenderte Animationswelten, wo der point of view (POV), die Körperposition des Rezipienten (Herumgehen in virtual environments) als auch die Zoomstufe autonom gewählt werden können. Gerade solche virtual environments sind jedoch heute nicht gefilmt, sondern höchst subjektiv als 3D-Modell vom level designer kreiert. Beim Großteil der heute produzierten 360° Videos werden hingegen, genau wie bei klassischen Bewegtbildern, die Zeit/Raum Verhältnisse und die dramaturgische Inszenierung der Bildwelt und auch die Position der Kamera von den Autoren definiert.72 Die erneute Diskussion über die medialen Eigenschaften und einer anscheinend vergrößerten und verbesserten objektiven Darstellung von Ereignissen lässt tief in das menschliche Bedürfnis nach einer vermeintlichen authentischen Wiedergabe von Ereignissen blicken, und das nicht nur in den Wissenschaften sondern ebenfalls in gesellschaftlichen, politischen und kulturellen Kreisen. Wie hier nun aufgezeigt wurde, existiert der Diskurs zur Frage nach einer filmischen Objektivität seit langem und wird mit der Verwendung von 360°-Videos erneut aufgewärmt. Dass eine Totale oder 360°-Sicht mit Objektivität gleichzusetzen ist zeugt von einer gewissen epistemologischen Naivität73: 71 Ben Cardew: «VR Brings Fresh Perspective to journalism», theguardian.com/media/2015/ nov/22/vr journalis, vom 30. August, 2016. 72 Zum Diskurs über die ästhetische Bildsprache mit Fokus auf die interpersonelle Distanz von sichtbaren Personen und Rezipienten in 360°-Videos vgl. Jeanine Reutemann: «Too close to be true – VR images bring the visible speaker into your face (literally)», in: Lars Grappe, Patrick Ruppert-Kruse, Norbert M. Schmitz, (Hg.), Image Embodiment: New Perspectives of the Sensory Turn, Yearbook of Moving Image Studies, Darmstadt: Büchner 2016, S. 161–181. 73 Zu Problem der Objektivität im Wissenschaftsfilm. Vgl. Hermann Kalkofen: «Zum Problem der Objektivität im wissenschaftlichen Filmdokument», In: Jugend Film Fernsehen. Zeitschrift für audiovisuelle Medien, Kommunikation und Pädagogik 19.2, 1975, S. 67–73. 138
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Abbildung 6: Beispiel für eine 360°-Videoaufnahme (Desktop Version) aus dem Testverfahren für ein MOOC Video-Experiment mit der «Venice Time Machine», Prof. Dr. Fréderic Kaplan und Dr. Isabella di Lenardo Projekt, in Kooperation mit dem École Polytechnique de Fédérale de Lausanne (EPFL) MOOC Team.74 Zwar kann die Standardisierung auf ein Format unter Umständen Vorteile bezüglich der Vergleichbarkeit verschiedener Ergebnisse haben, doch die Wahl des Standards selbst bleibt subjektiv. Und selbst innerhalb der Totalen bleiben im audiovisuellen Mediendesign noch ausreichend Freiheitsgrade offen (z. B. der Zeitpunkt des Aufnahmebeginns, die Position der Kamera, Winkel, Licht usw.), die eine Standardisierung an sich fraglich zu machen. Anstelle der Standardisierung filmischer Parameter wäre eine Protokollierung der Entscheidungsprozesse, die zu deren Wahl geführt haben der Wissenschaftlichkeit des Films zuträglicher – so wie zum Beispiel auch der Einsatz verschiedener Energieniveaus des Elektronenstrahls in der Elektronenmikroskopie erlaubt ist, aber wissenschaftlich-theoretisch begründet werden muss. Mediale Transformationsprozesse von Bewegtbildern Die mediale Veränderung des wissenschaftlichen Rohmaterials beim Aufnehmen der Primärdaten und die weitere Verarbeitung sind unvermeidbarer Teil des wissenschaftlichen Prozesses – ob dies nun beim Transkribieren in eine Schriftlichkeit, einer tabellarischen Eintragung, in der Fehlerkorrektur durch Datenbereinigung, in der Notation von Beobachtungen, der Aufzeichnung von Diagrammskizzen geschieht – oder bei der Erstellung von wissenschaftlichen Bewegtbildern: 74 Die Testaufnahme entstand im Kontext eines Forschungsprojektes der Hochschule für Gestaltung und Kunst FHNW mit der EPFL, Projektpartner: Patrick Jermann, Pierre Dillenbourg, und MOOC Video Team des Center for Digital Education MOOCs Factory, EPFL. 139
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«Die Spannung zwischen Fiktionalität und dokumentarischer Registrierung, zwischen den Eigenschaften des Films als Medium der Repräsentation von Wissen und als Technologie der Produktion von Wissen sowie zwischen Evidenz und Manipulierbarkeit des filmischen Bildes ist grundlegend für die Untersuchung der Popularisierung von Wissenschaft im Film. Denn sie verweist auf das Problem, dass wissenschaftliches Wissen nicht einfach in Filme übersetzt werden kann, wie in andere Sprachen.»75
Die von Verdicchio beschriebenen sprachlichen Übersetzungsprobleme sind jedoch nicht nur bei Bewegtbildern zu finden: Wissenschaftliches Wissen kann auch nicht einfach in Fremdsprachen übersetzt werden, da dem ursprünglichen Begriff durch Übersetzung leicht eine Bedeutungsveränderung durch die mit ihm verbundenen Assoziationen wiederfährt. Ein Beispiel dazu ist der Begriff des plum pudding models aus der Atomphysik des frühen zwanzigsten Jahrhunderts, der in der deutschen Übersetzung als Rosinenkuchen-Modell bezeichnet wird. Die metaphorische Bedeutung eines Kuchens mit Rosinen oder eines Puddings mit Pflaumen ist hinsichtlich diverser Parameter unterschiedlich. In diesem Fall hat ein fremdsprachenunabhängiges mathematisches Modell zur Klärung der Begrifflichkeit geführt – wobei der Mathematik die Rolle einer universellen Sprache zukam, die sich zwar als äußerst hilfreich beim Schreiben eines Physikbuches erwiesen hat, aber in den meisten anderen Wissenschaften traditionell durch andere (Bild-) Sprachen ergänzt wird.76 Wissenschaftliche Bewegtbilder bewirken eine Veränderung der Wissenschaftsdaten und machen die Wissenschaftskommunikation zu einer Wissenstransformation anstatt eines Wissenstransfers.77 Die relevante Frage hier bezieht sich jedoch nicht auf einen Vergleich zwischen Wissenstransfer und Wissenstransformation (denn eine Transformation ist nicht zu vermeiden) sondern darauf, wie der mediale Produktionsprozess diese Wissenstransformation für eine detaillierte Wissenschaftskommunikation nützlich und sinnvoll machen kann. Ein medialer Transformationsprozess von wissenschaftlichen Texten, Forschungsprozessen oder -Ergebnissen sollte demnach nicht nur einen vorgefertigten Text übersetzen, sondern bereits vor der Versprachlichung der Wissenschaft in einer bedachten und kritisch reflektierten Weise in den Forschungsprozess integriert werden. Bei einer reinen ex-post Verfilmung besteht das Risiko, dass der inhaltliche Kern des wissenschaftlichen Textes in eine Art fairytale verwandelt wird, oder dass medial-ästhetische Elemente und zeitgenössische, stilistische Effek75 D. Verdicchio: Das Publikum des Lebens, S. 87. 76 Vgl. Philipp Blum/Sven Stollfuß: «Logik des Filmischen. Wissen in bewegten Bildern», In: MEDIENwissenschaft, 2011, S. 307. 77 Vgl. Gerd Antos/Tilo Weber: »Einleitung» in: Dieselben: Transferwissenschaften. Typen von Wissen. Begriffliche Unterscheidung und Ausprägungen in der Praxis des Wissenstransfers. Frankfurt am Main 2009, S.1; Michael Hellermann: Wissenschaft in Film und Fernsehen. Die mediale Morphologie audiovisueller Wissenschaftskommunikation, LIT Verlag Berlin, 2015, S. 21. 140
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te den wissenschaftlichen Inhalt verzerren.78 Durch die Transformation von Wissenschaftsinhalten ins Audiovisuelle werden neue Bedeutungen aus dem prä-schriftlichen, wissenschaftlichen Rohmaterial generiert, Bedeutungen, die idealerweise diese Inhalte erweitern und in ihrer Präzision und Vollständigkeit gegenüber einer rein textlichen Darstellung rekontextualisieren. Im nächsten Abschnitt wird näher darauf eingegangen, inwiefern solche medialen Transformationen von Nutzen oder allenfalls kontraproduktiv sein können. Bewegtbilder der Wissenschaft: Zirkulierbar, kombinierbar, unveränderlich «Um den epistemischen Status von wissenschaftlichem Wissen nicht bloß im Hinblick auf das ‹Endprodukt› (...) zu untersuchen, ist es notwendig, den Blick auf die Transformationsprozesse des Wissens zu richten.»79
Die mediale Aufbereitung von im Feld erhobenen Daten stellt einen entscheidenden Prozess dar, welcher in «Die Hoffnung der Pandora» von Bruno Latour detailliert analysiert wird.80 Sein Begriff der zirkulären Referenz bezieht sich auf das Problem des wissenschaftlichen Referenzierens, genauer auf das Verhältnis der referenziellen Form einer schriftlichen Publikation zur eigentlichen Datenquelle der Analyse. Hierbei sei darauf hingewiesen, dass der Begriff vor allem den Prozess dieses Referenzierens beschreibt, das heißt, welche Faktoren im Datengenerierungsprozesses mitspielen und wie diese während der prozessualen Übersetzung in eine mediale Schriftlichkeit transkribiert werden, um anschließend für den Transport und die schnelle Verbreitung zur Verfügung gestellt werden. «Techniken und Objekte, die eine solche Kombination von Mobilität und Stabilität produzieren, bezeichnet Latour als immutable mobiles.»81
Die Schlüsseleigenschaften dieser aus der Forschung mit Techniken und Objekten generierten Daten, diese immutable mobiles, sind nach Latour stabil kopierbar, lesbar, kombinierbar und trotzdem mobil: 78 Silverstone untersuchte eine Folge des Horizon-Programmes der BBC, science documentary, und zeigte wie eine wissenschaftliche Studie als dramatische Umsetzung mit Helden und Verrätern über eine starke Emotionalisierung des Themas inszeniert wurde. Vgl. Roger Silverstone: «The Agnostic Narratives of Television Science», In: John Corner (Hg.) Documentary and the Mass Media, London: Edward Arnold Publishers, 1986, S. 81–106. 79 Reichert verweist an dieser Stelle auf Bruno Latour: «Drawing Things Together», in: Michael Lynch/Steven Woolgar (Hg.), Representation in Scientific Practice, Cambridge: MIT Press 1990, S. 19-68, hier S. 26.; R. Reichert: Im Kino der Humanwissenschaften, S.23. 80 Bruno Latour: Die Hoffnung der Pandora, Frankfurt/Main: Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaftsverlag, 2002. 81 Philine Warnke: Computersimulation und Intervention, Darmstadt: TU Darmstadt 2002, S. 20f. 141
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«In sum, you have to invent objects which have the properties of being mobile but also immutable, presentable, readable and combinable with one another.»82
Die immutable mobiles verankern das fragile, eigentliche Untersuchungsobjekt (zum Beispiel ein Regendach, von Orang-Utans in Borneo aus Blättern gebaut oder hyperthermophile Schleimpilze an einer Schwefelquelle am Meeresgrund) und erstellen damit sozusagen einen capture lock eines flüchtigen Momentes her, welche nicht transportabel sind um darauf im späteren Forschungsprozess zurückgreifen zu können. «Auf die bestehenden Inskriptionen kann im Prozess der Forschung immer wieder zurückgekommen werden, sie lassen sich neu rahmen und orientieren, weiterverarbeiten und zitieren.»83
Die mediale Übertragung von Untersuchungsobjekten in Transkriptionen, Datensheets, Tabellen usw. geschieht immer in Bezug auf die gewählte Technologie oder Methode der Aufzeichnung. Damit definiert die im Voraus gewählte Entscheidung für die jeweilige Methode erst die mögliche Datengenerierung für die immutable mobiles. Das bedeutet auch, dass der Wissenschaftler im Feld seine Messinstrumente, Aufzeichnungstechniken und Methoden der Datensammlung als Experte kennen muss und über ein praktisches und theoretisches Wissen ihrer Möglichkeiten und Grenzen verfügen muss. Bilder, die im Zuge eines wissenschaftlichen Forschungsprozesses für die Kommunikation innerhalb von Wissenschaftsdisziplinen erzeugt werden, bezeichnet auch Verdicchio als immutable mobiles und fügt hinzu dass diese, wenn sie für Wissenschaftsfilme rekontextualisiert werden, zwar deren Konnektivität erhöhen, aber immer noch als unveränderbare Mobile angesehen werden können.84 Hier wird an Verdicchio anknüpfend dafür argumentiert, dass die im Co-Design spezifisch generierten Bewegtbilder in einem Forschungsfeld als immutable mobiles agieren können. Dabei spielt es ebenso wie beim Umgang mit wissenschaftlichen Instrumenten eine wesentliche Rolle, dass ausreichend Expertise in der Handhabung der Aufzeichnung solcher Daten vorhanden ist, metaphorisch gesprochen: die audiovisuelle noise reduction beherrscht wird und diese nicht versehentlich in eine data reduction umschlägt. Im Co-Design von Wissenschaften und Film können solche Bewegtbilder produziert werden und sie erfüllen die Anforderungen eines immutable mobiles: Sie können am 82 Bruno Latour: «Visualisation and Cognition: Drawing things together», H. Kuklick (Hg.), in: Knowledge and Society Studies in the Sociology of Culture Past and Present, Jai Press, Vol. 6, S. 1–40, hier: S. 7. 83 Vgl. Barbara Wittmann: «Papierprojekte. Die Zeichnung als Instrument des Entwurfs», Lorenz Engell/Bernhard Siegert (Hg.) in: ZMK Heft 1, 2012, S.139f. 84 Vgl. D. Verdicchio: Das Publikum des Lebens, S. 59. 142
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Ort des Geschehens lesbar erstellt (visuell und akustisch), mitgenommen, präsentiert und stabil verbreitet werden. Sie können auch kombiniert, dokumentiert und anschließend archiviert werden.85 Medial ästhetische Differenzen Da die Wissenschaften zum Teil bereits selbst Bilder produzieren, ist es – so könnte man annehmen – eigentlich nicht notwendig, neuartige Bilder für die audiovisuelle Wissenschaftskommunikation zu generieren. Wie Verdicchio bezüglich gesellschaftlicher Wissenschaftskommunikation schreibt: «Da die Naturwissenschaften ihre Objekte selbst schon visualisieren, müssen die Filme dies nicht unbedingt ein zweites Mal tun. Allerdings müssen die naturwissenschaftlichen Visualisierungen in Narrative übersetzt werden, die in den lebensweltlichen Kontexten der Zuschauer anschlussfähig sind.»86
Dieser Aussage kann jedoch nur bedingt zugestimmt werden, da sie voraussetzt, dass eine Verbesserung der Qualität von Forschungsvisualisierungen der Wissenschaften keinen eigenen Wert hat. Ebenso muss in diesem Zusammenhang vorausgesetzt werden, dass die Bilder klar verständlich sind und sich in ihrer Ästhetik nicht vom Stil audiovisueller Bewegtbild-Produktionen in der Wissenschaftskommunikation unterscheiden. Denn sobald sich wissenschaftliche immutable mobiles (Bewegtbilder, im Co-Design produziert oder aber Original-Visualisierungen in Form von Diagrammen, Statistiken oder Modellen) hinsichtlich designspezifischer Parameter der Bildgenerierung im Wissenschaftsfilm wesentlich unterscheiden, entsteht eine problematische visuelle Differenz unterschiedlicher Bildstile. Wenn verschiedene Bildquellen in einen Wissenschaftsfilm zusammengeführt werden und die einzelnen Bilder beachtliche Unterschiede bezüglich ihrer visuell-ästhetischen Umsetzung aufweisen, kann eine qualitative Bewertung der Differenz entstehen und damit auch eine unbeabsichtigt wertende Hierarchisierung der Bilder kreiert werden. Es exis85 Zwar ermöglichen moderne Technologien das schnelle und einfache Verbreiten (welches essentiell für immutable mobiles ist) von Bewegtbildern, aber nur mit Komprimierung, auf fragilen Datenträgern und in den Clouds. Daher sind Bewegtbilder noch nicht ganz so klar immutable reproduzierbar wie Text und einfache Zahlen. Beispielsweise können immer noch Originaldaten von Tycho Brahe evaluiert werden, aber Filmmaterial von 1900 ist heute schon sehr schwierig in seiner ursprünglichen Rohheit zu untersuchen. Auch ein re-editing von Youtube-Videos wissenschaftlicher Publikationen anderer Wissenschaftler ist immer mit Qualitätsverlust verbunden, da für ein qualitativ hochwertiges re-editing unkomprimierte Rohdaten benötigt werden. Damit kann der Diskurs über immutable mobiles in wissenschaftlichen Bewegtbildern an die Bewegung der open science data anknüpfen, wo es unter anderem darum geht, die Quellen offenzulegen und das gesamte Datenmaterial aus Forschungsprojekten öffentlich zugänglich zu machen. 86 D. Verdicchio: Das Publikum des Lebens, S. 60. 143
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tiert in manchen Disziplinen die stillschweigende Annahme, dass bestimmte, hochschulgenormte Darstellungsformen, etwa schwarzweiße Punktwolken-Diagramme mit Interpolationslinien einer grundlegenden Wissenschaftlichkeit der Darstellung entsprechen und so eine höhere Glaubwürdigkeit und Genuität in der Wissenschaftskommunikation erzeugen. Dies gilt jedoch nur – so hier die Annahme – solange diese Darstellungen isoliert gezeigt werden und nicht mit anderen Bildstilen in einen Wissenschaftsfilm kombiniert sind. Deshalb wird hier empfohlen, auch die Darstellung von statistischen Daten medial dem Stil der jeweiligen Bewegtbilder anzupassen, etwa durch einheitliche Typographie oder Linienstärke. Dank der Möglichkeit, Daten direkt und unverfälscht in Visualisierungs-Software zu übertragen sind solche ästhetisch veränderte Darstellungen von Daten keinesfalls weniger authentisch – im Gegenteil: Ein bewusster Einsatz der Möglichkeiten des audiovisuellen Mediums kann sogar eine vollständigere und potentiell auch verstehbare Darstellung der Daten erlauben als der klassische, für den schwarzweißen Druck auf Papier optimierte Punktwolke. Ein passendes und viel verwendetes Beispiel dazu ist die in der Digitalisierung von Hochschul-Lehrmaterialien weit verbreitete Verwendung von alten Präsentationsfolien, die für wissenschaftliche Lehrvideos unverändert recycled werden. Auf den Präsentationsfolien sind Diagramme von Forschungsprojekten sichtbar, Statistiken, Videostills von Experimenten und oft auch viel Text. Im wissenschaftlichen Lehrvideo wird dann ein sogenannter Talking Head gefilmt (meist in einem hochschuleigenen Studio) und alternierend zwischen dem sichtbaren Sprecher und den Präsentationsfolien hin und her geschnitten (siehe Abb. 7 & 8).87 Durch den Mangel an grundlegenden Designkenntnissen der dafür zuständigen studentischen Hilfskräfte oder IT-Experten im Layout, der Typografie oder der Farbwahl und der oft minimalen Budgetallokation für die Umsetzung hinken solche Wissenschaftsvisualisierungen qualitativ hinter den weitaus professionelleren Bewegtbildern, die im Kontext einer filmischen Lehrvermittlungs-Produktion außerhalb der Hochschulen produziert wurden, her. Eine der Konsequenzen dieses minimalistischen Ansatzes ist, dass der auffällige Bildwechsel in der Montage zwischen PowerPoint-Folien und Sprecher die Aufmerksamkeit auf die Bilddifferenz lenkt und damit auf einen vom Bedeutungsinhalt des zu vermittelnden Wissens unabhängigen medial-ästhetischen Parameter. 87 Talking Head bezeichnet einen sichtbaren Sprecher, der in einer halbtotalen, halbnahen oder nahen Einstellung gezeigt wird. In einer Analyse von 448 wissenschaftlichen Lehrvideos internationaler Universitäten auf MOOC-Plattformen war der Talking Head der dominanteste Videostil (74%), direkt gefolgt von anderen Präsentationsformen mit Talking Head (33%). Vgl. zu Videostilen in wissenschaftlichen Lehrvideos: «Video Styles in MOOCs – A journey into the world of digital education», https://youtu.be/5VEHBuuRKXI vom 25. August 2016. Die dazugehörige Publikation: Jeanine Reutemann: «Differences and Commonalities–A comparative report of video styles and course descriptions on edX, Coursera, Futurelearn and Iversity» in: Proceedings of the European Stakeholder Summit on experiences and best practices in and around MOOCs, 2016, S. 383–393. 144
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Abbildung 7 & 8: Filmstills aus «Video Styles in MOOCs – A journey into the world of digital education», FHNW. Die Annahme, dass eine fundierte audiovisuelle Wissenschaftskommunikation alleine anhand von existierendem Datenmaterial, von Aufzeichnungen und Tabellen, selbst hergestellten Videoaufnahmen oder Präsentationsfolien einfach direkt in einen Wissenschaftsfilm übertragen werden kann, enthüllt ein mediales Unverständnis der Affordances von Bewegtbildern – der Kunst der Wissensvermittlung mit Bewegtbildern. Rhetorische Regeln für gesprochene Texte werden seit mehr als 3000 Jahren entwickelt und untersucht. Im Vergleich dazu steckt die Rhetorik bei Bewegtbildern – die Beziehung zwischen Sprache, Bild und Montage – noch in den Kinderschuhen. Zwar wurden bereits 145
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seit den frühen Anfängen des Films im neunzehnten Jahrhundert und kontinuierlich bis heute fundamentale Grundlagen der Bilddramaturgie, der Montage und Narration entwickelt. Im Gegensatz zur sprachlichen Rhetorik ist der professionelle Umgang mit filmischer Narration jedoch nicht Teil der allgemeinen Hochschulreife. Deren Beherrschung kann daher weder von Wissenschaftlern, studentischen Hilfskräften noch von IT-Support-Experten erwartet werden. Im Folgenden wird näher auf verschiedene Parameter der medialen Transformation eingegangen – Parameter, welche die Eigenheiten einzelner Aufzeichnungsformate auszeichnen. Ein Fokus liegt dabei auf der Veränderung von Bewegtbildern im Prozess der Produktion, sei dies durch eine Ästhetisierung des Bildes über audiovisuelles Mediendesign oder durch die bereits gegebene affordance des Mediums. Datentransformation durch Ästhetisierung in der Bildproduktion Die Bildproduktion von Naturaufnahmen für wissenschaftliche Zwecke stellt den Filmemacher vor eine Herausforderung: Jede Aufnahme basiert auf einen komplexen Entscheidungsprozess, der meist unter Zeitdruck durchdacht werden muss und die Resultate der Bildgenerierung bestimmt. Durch die Wahl der Perspektive, einen dramaturgischen Bildaufbau, eine geringe Tiefenschärfe oder eine intensive Lichtstimmung (Morgenlicht, Abendlicht) wird eine unterschiedliche Darstellung von Objekten und Subjekten erstellt (siehe Beispiel aus Abb. 9). Der Einsatz solcher Techniken kann zur Folge haben, dass die Produktion die wissenschaftlichen Daten und Erkenntnisse für die Wissenschaftskommunikation mit ästhetischen Mitteln stilisiert und – im wahrsten Sinne des Wortes – die Forschungsarbeit im besten Licht präsentiert wird.88 Dies kann insofern problematisch sein, als dass eine solche Stilisierung die Forschungsdaten potentiell verfälschen kann. Stilisierungen werden von wissenschaftlich nicht trainierten Filmemachern oft gewohnheitsmäßig und aus rein ästhetischen Gründen eingesetzt. So ist Unschärfe im Bild ein Stilmittel im audiovisuellen Mediendesign, sie wird zur Fokussierung auf einen Teilaspekt des Bildes eingesetzt und entspricht einem visual highlightening. Die Fokussierung auf ein Detail des Bildinhaltes kann die Aufmerksamkeit auf etwas nicht bewusst Wahrgenommenes lenken und ermöglicht damit dessen unmittelbare Erfahrung. Hier offenbart sich die epistemologische Qualität der ästhetischen Inszenierung: Der Blickwinkel auf die Objekte in der Natur wird durch die Tiefenschärfe verändert, da die Fokussierung auf ein Detail eine andere Narration bedingt als etwa unendliche Tiefe, bei der jeder Bildteil gleichermaßen scharf abgebildet ist. Diese veränderte Perspektive auf 88 Stilisierung ist nicht nur optisch zu verstehen – auch eine Dramatisierung in der Narration oder eine provokative Stimme, die den wissenschaftlichen Themenschwerpunkt in eine dynamische, spannungsgeladene Richtung treibt, kann verfälschend wirken. 146
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ein Forschungsobjekt kann eine intensivere und ungewöhnliche Erfahrung der Umwelt evozieren und eine neue Interpretation des Datenmaterials ermöglichen. Wenn sie jedoch unreflektiert benutzt wird, kann Tiefenunschärfe wichtige Details ausblenden – und gerade die Entdeckung nicht beachteter Details war in der Geschichte der Wissenschaft oft eine Quelle neuer Erkenntnisse, so zum Beispiel Anomalien in der Umlaufbahn des Merkur oder das Absterben von Bakterienkolonien rund um eine Schimmelverunreinigung in Flemmings Petrischalen.89 Eine Unschärfe im Bild generiert ebenso Bedeutung, wie dies ein Bild mit einer hohen Schärfentiefe tut (sieh bokéh).90 Die Wahl einer geringen Tiefenschärfe kann wie auch die Bildrahmung eine Bedeutungsveränderung erzeugen.
Abbildung 9: Geringe Tiefenschärfe und Belichtungseffekt durch Abendstimmung in Naturaufnahmen. Filmstill aus «Conservation Management Field Course Beinn Eighe, Scottish Highlands». Mit der Wahl der Kameralinse wird eine gestalterische, perspektivische und rahmensetzende (Bildrahmung) Entscheidung getroffen. Wird ein Normalobjektiv (50mm) verwendet, so wird damit eine sich dem menschlichen Blickwinkel annähernde natürliche Vision simuliert.91 Sobald eine Aufnahme mit einer 24mm-Linse oder mit einer in den letzten Jahren vermehrt verwendeten 8-15 mm-Fischaugenlinse (z.B. bei Actioncams oder 360°-Filmproduktionen) gefilmt
89 Durch eine Verunreinigung einer Petrischale entdeckte Alexander Flemming unerwartet Penizillin: «When I woke up just after dawn on September 28, 1928, I certainly didn’t plan to revolutionise all medicine by discovering the world’s first antibiotic, or bacteria killer.» In: Kendall F. Haven: Marvels of Science : 50 Fascinating 5-Minute Reads. Littleton, Colo: Libraries Unlimited. 1994, S. 182. 90 Bokéh bezeichnet die ästhetische Qualität der Unschärfe eines Kamera-Objektives. 91 Eine fachtechnische Ergänzung: Bei einem 50mm-Objektiv ist der Kleinbild-Target 36x24mm. 147
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wird, so werden die Objekte der Natur in ihrer Darstellung visuell gekrümmt.92 Die Auswirkungen solcher visuell-ästhetischen Krümmungen des Bildes, der Verzerrung des Raumes, der unproportionierten Darstellung von Mensch und Natur und der perspektivischen Veränderungen der Nähe und Distanz von Objekten zueinander sollten vertieft untersucht werden.93 Zeitlupe und Zeitraffer sind zwei weitere, viel verwendete Stilmittel im Wissenschaftsfilm: «Eine nicht undankbare Aufgabe würde es z. B. sein, das Aufschießen eines Waldpilzes oder die Drehung einer Sonnenblume während eines Tages in einer Reihe solcher Aufnahmen festzuhalten. Das Wachstum etc. ließen sich auf diese Weise sehr schön studieren.»94
Mit dieser Aussage definierte Ludwig Mach bereits 1893 die visuelle Mächtigkeit und die epistemologischen Möglichkeiten der Verwendung von Zeitraffertechniken für wissenschaftliche Forschungszwecke. 95 Mit dem Zeitraffer können Prozesse sichtbar gemacht werden, die langsam und über einen langen Zeitraum ablaufen und bei direkter Beobachtung daher bewegungslos erscheinen. Durch den Zeitraffer wird die langsame Dynamik eines Prozesses in einer der menschlichen Wahrnehmung angepassten Geschwindigkeit wiedergegeben. Zeitraffer wie auch Zeitlupe ermöglichen einen variablen Umgang mit der Zeit im Bewegtbild-Medium. Im Gegensatz zum Zeitraffer wird in der Zeitlupe eine Situation gedehnt und verlangsamt, um für unsere Wahrnehmung zu schnell ablaufende Prozesse erfahrbar zu machen. Wenn Bewegungsprozesse in Zeitlupe wiedergegeben werden, erzeugt dies eine Form der ästhetischen Heroisierung der Bewegungen,96 es entsteht eine Verlängerung des ephemeren Augenblickes. Wenn in naturwissenschaftlichen Bewegtbildern der Flügelschlag eines Schmetterlings in einer unendlichen Langsamkeit gezeigt wird, so vermittelt dieses Bild nicht nur Informationen zur artenspezifischen Fortbewegungsform dieses Insekts; die Details des Flügelschlages und die sich der menschlichen Wahrnehmung normalerweise entziehenden Bewe92 360°-Videos werden heute mit multiplen Fisheye-Linsen gefilmt, womit die anschließende Virtual Reality-Erfahrung mit head-mounted-displays wie Occulus Rift, Vive oder Google Cardboard in einer verzerrten und gekrümmten Welt stattfindet (siehe Kapitel 3.1). 93 Vgl. J. Reutemann: Too close to be true – VR images bring the visible speaker into your face (literally), S. 161–181. 94 Ludwig Mach: «Ueber das Princip der Zeitverkürzung in der Serienphotographie», in: Photographische Rundschau, Heft 4, 1893, 121–128, S. 128. 95 Eadweard Muybridge zählt als Pionier der exakten Visualisierung von Bewegungsabläufen durch die instrumentelle Verwendung von photographischen Standbildern. Vgl. Eadweard Muybridge: «Animals in motion», Courier Corporation 2012. 96 Vgl. Andreas Becker: Perspektiven einer anderen Natur. Bielefeld 2004. Becker bezieht die Bezeichnung der «Heroisierung» mit einer Kritik auf Leni Riefenstahls Inszenierungen von athletischen Bewegungen. 148
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gungsabläufe erzeugen eine märchenhafte Naturerfahrung, etwas Fabelhaftes.97 Sie erweitern so wissenschaftliche Bedeutungen durch Emotionen.98 Die Verwendung der Zeitlupe mit ihrer ästhetisierten Fabelhaftigkeit kann in einem Großteil wissenschaftlicher Bewegtbilder, vom wissenschaftlichen Expertenfilm bis zur populärwissenschaftlichen Fernsehsendung, beobachtet werden. Gerade in wissenschaftlichen Dokumentationen von Naturphänomenen werden solche Stilmittel eingesetzt, um die Schönheit der belebten Welt zu zeigen.99 Das visuelle Ästhetisieren der Natur mit Zeitlupenbildern kann als eine Glorifizierung von Naturphänomenen gesehen werden und in der audiovisuellen Wissenschaftskommunikation als visuelles Argument für die Notwendigkeit und gesellschaftliche Relevanz der Forschungsarbeit dienen. Mit der visuell ungewohnten Darstellung von Objekten wird eine Verherrlichung der oft unsichtbaren Schönheit der Natur generiert, diese soll zur Erfahrung ihrer Einzigartigkeit führen. Eine Beschreibung solcher Methoden der Argumentationsführung, der Rhetorik findet sich bereits bei Aristoteles: «Praise is the most adequate form of the demonstrative genre» und es gilt nur noch, «to surround them with importance and beauty.»100 Es sollte dabei jedoch erwähnt werden, dass eine solche Verherrlichung auch eine Verfälschung sein kann und im wissenschaftsinternen Diskurs kaum als Selbstzweck rechtfertigbar ist. Im Beispiel des Filmstills in Abbildung 10 wird mit einer geringen Tiefenschärfe die Aufmerksamkeit auf ein Jungpflänzchen gelenkt. Der Tautropfen ist für die Forschungsarbeit jedoch nur von geringer Relevanz und trägt in seiner Ästhetik eher zu einer Inszenierung und Glorifizierung der Natur bei. Es besteht die Notwendigkeit einer differenzierten Reflexion über solche ästhetischen Entscheidungen, damit die Darstellungen der Natur, die Forschungsdaten oder die Interviews mit den Stakeholdern nicht wahllos stilisiert werden. Mögliche Bedeutungserzeugungen oder -veränderungen müssen von Beginn weg mitbedacht werden.
97 Vgl. Andreas Becker: «Zeitmaschine Film», in: Schnitt 56. Köln 04/2009, S. 11. 98 Vergleichbar mit der Faszination, die durch die mathematische Fabelhaftigkeit der NichtLokalität eines Elektrons oder der evolutionstheoretisch beschriebenen Jahrmillionen dauernden (und im animierten Bewegtbild darstellbaren) Verwandlung von einzelnen Bakterien zu differenzierten Organen in mehrzelligen Organismen ausgelöst wird. 99 Vgl. León Bienvenido: «Science on Television: The Narrative of Scientific Documentary», Luton: The Pantaneto Press, 2007, S. 128. 100 Aristotle: Rhetorics, (Hg.) Victor Garcia Yebra, Madrid, Instituto de Estudios PolÍticos, Rhetoric I, 1974, S. 1368. 149
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Abbildung 10: Geringe Tiefenschärfe und Makroaufnahme fokussieren auf ein Jungpflänzchen als relevantes Element eines Ökosystems, wohingegen der Fokus auf den Tautropfen als ästhetische Glorifizierung der Natur angesehen werden kann. Filmstill aus «Conservation Management Field Course Beinn Eighe, Scottish Highlands». Zeitgeschichtlicher, technischer und kultureller Wandel von medialen Effekten Die audiovisuelle Wissenschaftskommunikation unterliegt wie alle Bewegtbilder einem zeitgeschichtlich-kulturellen Transformationsprozess, der sich in der technischen Produktionsweise, der Narrationsstruktur, der ästhetischen Inszenierung und Rhythmusgeschwindigkeit manifestiert.101 Die zuvor erwähnten 360°-Videos sind ein Beispiel dafür, dass technische Revolutionen neue Formen von Narration, Lichtsetzung und work-flow im Produktionsprozess mit sich bringen: Die Aufmerksamkeitslenkung in einem 360°-Video folgt anderen dramaturgischen Mitteln als in klassischen Bewegtbildern, da mehr Bildinformation durch die räumliche Darstellung vorhanden ist. Close-up-Einstellungen existieren nicht – die Platzierung von Tonquellen im Raum gewinnt an Bedeutung, da diese die Blickrichtung lenken können. Um einen Raum auszuleuchten, können Scheinwerfer nicht einfach außerhalb des Bildrahmens platziert werden, da kein solches framing mehr existiert. Das Kamerateam wird im Bild 101 Aus dem Bereich der Photographie können die Instagram-Filter genannt werden: HandyApps haben durch die Wiedereinführung von diversen Farbfiltern in den sozialen Medien in kurzer Zeit eine enorme Zunahme an Photographien mit einer alten Farbfilterästhetik hervorgerufen. 150
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sichtbar, wenn sie neben der Kamera stehen usw. (siehe Abb. 6). Ein anderes Beispiel, welches durch eine starke Kopplung zwischen der technischen affordance des Medialen und wiederkehrenden dramaturgischen Mitteln auffällt, sind 3D-Filme (Kinofilme mit 3D-Brillen). Die 3D-Ansicht lässt (simulierte) Kamerabewegungen dynamischer erscheinen: Beinahe jeder große 3D-Hollywood-Blockbuster verwendet mindestens einmal eine Art Achterbahnfahrt als Erzählmittel.102 Solche medial-stilistischen Veränderungsprozesse, die auf technisch-kulturellen Bewegungen beruhen, sollten im Kontext der audiovisuellen Wissenschaftsproduktionen reflektiert eingesetzt und mit dem Wissen um deren Effekte und Bedeutung inszeniert werden, jedoch nicht um ihrer selbst willen.103 Es ist häufig der Fall, dass solche Effekte ohne ein Bewusstsein ihrer Wirkung eingesetzt werden, so wie der Regisseur Sandro Cannova in einem Experteninterview es schildert: «Das Amateurhafte springt einen grundsätzlich einfach (...) an. Also so eine ganz einfache Sache, dass man bei einem Interview oder bei einer Rede [von einem] dieser Professoren keine Schnitt-Möglichkeiten schafft. Oder das es, [das Bild], einfach springt, [und] dass man trashige Effekte benutzt, die man normalerweise nicht benutzt.»104
Ein typisches Beispiel für einen Bildsprung ist folgendes: Fernsehformate, allen voran auch der Sender BBC, verwenden seit einigen Jahren vermehrt sogenannte Bildsprünge bei der Inszenierung von Personen. Hierbei wird ein sichtbarer Sprecher zweimal nacheinander in einer sehr ähnlichen, aber dennoch minim unterschiedlichen Bildpositionierung gezeigt. Die marginale unterschiedliche Bildinformation lässt den Bildfluss durch die Montage visuell springen, indem zwar eine starke Ähnlichkeit zwischen der ersten und der zweiten Einstellung vorhanden ist, aber ein plötzlicher Wahrnehmungsbruch durch die Verschiebung der Bildinformation einsetzt. Dieser Bildsprung, der heute als bewusstes Stilelement eingesetzt wird, galt früher als Fehler, da die flüssige, sukzessive Wahrnehmung der Aneinanderreihung durch die Montage gestört wird: «Das muss aber schon alles von einer Basis der Regeln, die es so gibt im Filmemachen, kommen. Auch wenn ich [hinsichtlich] meiner Arbeitsweise bewusst [Regeln] breche,
102 Weitere wiederkehrende Stilelemente in Kassenschlagern sind Autorennen. 103 Ein interessantes, zeitgeschichtlich-kulturelles Beispiel findet sich im Feld der populärwissenschaftlichen Wissenschaftskommunikation und der dortigen Verwendung von repetitiven Narrationstechniken: «Its producers have been obliged to follow fashions in the medium, as for example when Horizon producers, in common with most BBC documentary makers, were expected to adopt Robert McKee’s storytelling techniques so that they could apply his principles of storytelling as conflict resolution to making science palatable to television audiences.» Nicola Lees: Greenlit: Developing Factual TV Ideas from Concept to Pitch: The Professional Guide to Pitching Factual Shows. London: A&C Black, 2010, S. 130. 104 Vgl. Sandro Cannova im Experteninterview, Interviewerin: Jeanine Reutemann, München, 2015. 151
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dann (...) leitet es sich immer von dieser Form ab, die ich irgendwo in Vorlesungen oder in Seminaren gelernt habe.»105
Die Referenz der praktischen Ausführung basiert damit auf theoretischen Erkenntnissen, deren Bruch jedoch nur beim Wissen über die Regel auch als Stilelement dramaturgisch eingesetzt werden können um gezielt für einen gewählten Moment für Verwirrung zu sorgen und die Aufmerksamkeit zu lenken; bei einer unkritischen Anwendung wird dies jedoch nur stören und vom eigentlichen Inhalt ablenken, da der visuelle Bildsprung an sich belanglos für den Inhalt der wissenschaftlichen Kommunikation ist. Eine hohe Dichte an Bildsprüngen ist interessanterweise in MOOC-Videos beobachtbar; dies insbesondere in wissenschaftlichen Lehrvideos mit Talking Heads und monochromen Hintergründen.106 Kuhbilder und andere wissenschaftliche Bild-Wort Narrationen «Was nützen mir die schönsten Bildkompositionen mit noch so himmlischer Sphärenmusik als Untermalung, wenn mir kein Mensch sagt, was sie darstellen und wie sie gedanklich zusammenhängen?»107
An diesem Punkt sollte mittlerweile klar sein, dass Bewegtbilder für audiovisuelle Wissenschaftskommunikation nicht einfach zu produzieren sind. Die Kunst des audiovisuellen Mediendesigns besteht darin, Wissenschaftsdaten in eine passende Struktur der Narration einzubetten und die Bildwelten achtsam zu wählen, so dass diese ein Mehr an Informationen mitkommunizieren, so dass diese Informationen nicht redundant, kontradiktorisch oder in Form von Kuh-Bildern108 erscheinen, sondern gezielt auf eine bildsprachliche Weise begleiten oder ergänzen. Denn gleichgültig, was für eine Visualisierung gezeigt 105 ebd. 106 Beispiele von Bildsprüngen in MOOC-Videos und die Begründung für eine vermehrte Häufung in Kombination mit Talking Heads und monochromen Hintergründen bei 02:27min in: «Video styles in MOOCs – a journey into the world of digital education», https://youtu. be/5VEHBuuRKXI, vom 3. September 2016. 107 Nicholas Kaufmann: «Kulturfilm-Wesensfragen», in: Film-Kurier, 73, 26, März 1936, S. 2. 108 Der Begriff Kuh-Bilder bezieht sich auf eine Aussage des Dokumentar- und Fernsehkameramannes Pedro Schloendorn: «Im Fernsehen sieht man sehr oft die Tendenz, dass die Leute ... eine Cutterin hat mal gesagt «Kuh-Bilder machen», wenn – wie es im Fernsehen oft der Fall ist – einfach Texte bebildert werden. Der Redakteur schreibt einen Text, der im Off von irgendeinem Sprecher vorgelesen wird und dann werden nur noch Bilder darunter gepappt, die das illustrieren sollen. Und die Kuh-Bilder von der Cutterin waren das Bild einer Kuh. Wenn die Rede ist von einer Kuh, kommt prompt das Bild einer Kuh. (...) die Aussage kann man wirklich fördern, indem man nicht irgendwas Anderes natürlich zeigt, aber etwas, was Bezug hat zu dem wovon die Rede ist und was Bezug hat zu dem (...) Text, ohne dass es den Text platt abbildet.» Pedro Schloendorn: Experteninterview, Interviewerin: Jeanine Reutemann, München 2015. 152
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wird – die unterschiedlichen Informationsquellen Bild und Ton werden in einem determinierten Schmieden von Sehen und Hören in der Wahrnehmung neu zu einer Synchrese zusammengefügt, dem «forging of an immediate and necessary relationship between something one sees and something one hears at the same time (from synchronism and synthesis),»109
auch wenn ein Widerspruch zwischen dem, was gesehen und dem was gehört wird, vorhanden ist. So existiert eine sogenannte visuell-verbale Synekdoche,110 wenn «der bildliche Gegenstand Teil eines Ganzen ist, das im Sprachtrakt verbalisiert wird. Beispielsweise ist im Sprachtrakt von Haus die Rede, während das Bild nur einen Giebel zeigt.»111
Das synchron gezeigte Bild vervollständigt, erweitert oder spezifiziert damit das gesprochene Wort und kann damit aber auch dessen Bedeutung transformieren. Audiovisuelle Wissenschaftskommunikation ist, in Bezugnahme auf Silverstone, ein «rhetorical medium par excellence, as it uses language which is essentially figurative (images are metaphors, synedoches or metonyms of the real world).»112
Die Bewegtbilder können von diesen rhetorischen Eigenschaften profitieren und die Bildwahl sollte mit diesem Wissen um ihre denotative Wirkung getroffen werden. So können unzählige Kombinationen von Bild und Ton entstehen, die zu gänzlich unterschiedlichen Umsetzungen von wissenschaftlichen Inhalten führen können. Ein Beispiel hierzu ist die aus dem Nachrichtengenre bekannte Ton-Bild Schere, die Wechselwirkungen zwischen Ton und Bild bezeichnet, die zu Bedeutungsveränderungen führen. Folglich können Wissenschaftsdaten in Bezug auf eine variable Bild-Wort Kombination bewusst gewählt oder aber auch ungewollt zu völlig neuen Sinninhalten in der audiovisuellen Wissenschaftskommunikation führen. Die gewählte Narrationsstruktur in der audiovisuellen Wissenschaftskommunikation ist ebenso wie die Bild-Ton Kombination von enormer Relevanz für 109 Michel Chion: «Audio-vision: sound on screen», New York: Columbia University Press 1994, S. 224. 110 Synekdoche: (griech.: das Mitgeben, Mitnennen) Es steht ein Teil für das Ganze (pars pro toto). Visuell-verbale Synekdoche: vgl. Gui Bonsiepe: «Visual/verbal rhetoric», in: Vim, 14 16, 1965, S. 23–40. 111 Thomas Kuchenbuch: Filmanalyse: Theorien-Methoden-Kritik, Vol. 2648, Böhlau, 2005, S. 101. 112 Silverstone bezieht seine Aussage auf das Fernsehen. Ähnliche Prinzipien bezüglich der Rhetorik können jedoch auch in der audiovisuellen Wissenschaftskommunikation erkannt werden. Vgl. Roger Silverstone: «The Agnostic Narratives of Television Science», In: John Corner (Hg.) Documentary and the Mass Media, London: Edward Arnold Publishers, 1986, S. 81–106, hier S. 90. 153
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die Bedeutungsgenerierung. Die Erzählung ist ein dominierendes Format in der Narration von Forschungsaktivitäten im Wissenschaftsfilm – was jedoch im Widerspruch zur wissenschaftlichen Vorgehensweise der Argumentation, Beschreibung oder der Interpretation steht.113 «Die Abstraktheit wissenschaftlichen Wissens stellt die Wissenskommunikation vor erhebliche Herausforderungen. Das Leistungspotenzial von Wissenschaft – die Fähigkeit zur Reduktion der phänomenalen Fülle der empirischen Welt auf wenige konstante Prozesse und Strukturen – wird erkauft mit einer Distanzierung des epistemischen Subjektes von der konkreten Erfahrungswelt. (...) Die didaktische Strategie der Kontextualisierung versucht diese nicht erfahrbare, quantitativ verallgemeinerte und nur intellektuell betretbare Welt der Wissenschaft für den Außenstehenden wieder zugänglich zu machen, indem sie den Prozess der Abstraktion, ausgehend von einem konkreten Phänomen oder Problem der Erfahrungswirklichkeit, selbst zum Thema macht.»114
Für eine audiovisuelle Annäherung an den jeweiligen Forschungsschwerpunkt werden unterschiedliche Bild-, Sprach- und Narrationswelten benötigt – es gibt kein Patentrezept – da jedes Forschungsprojekt individuell ist; dies verlangt nicht nur nach Differenzierung zwischen Natur-, Geistes- und Sozialwissenschaften, sondern bereits zwischen verschiedenen Forschungsprojekten innerhalb desselben Departements.115 Für die Vermittlung von wissenschaftlichen Daten wird somit immer eine individualisierte konzeptuelle Umsetzung gesucht werden müssen. Heutige Wissenschaftsfilmproduktionen werden überwiegend als Anhängsel an ein erfolgreiches Forschungsprojekt geplant. Viel sinnvoller wäre es jedoch, diese von Beginn an – am besten bereits im Proposal-Stadium – einzuplanen, damit der Forschungsprozess bereits im Film eine Rolle spielen kann und nicht im Nachhinein reinszeniert werden muss. Durch einen solchen begleitenden Einsatz kann das Bewegtbild nicht nur als ex post-Übersetzung des wissenschaftlichen Textes agieren, sondern selbst ein eigenständiger und zusätzlicher Teil des produzierten Wissens werden. In Bezug auf die vorangegangene Argumentation und unter der Voraussetzung, dass audiovisuelle Bewegtbilder in Form von immutable mobiles akribisch genau nicht nur für die Kommunikation, sondern 113 Vgl. M. Hellermann: Wissenschaft in Film und Fernsehen, S. 215 114 Ebd. S. 291. 115 Es existieren folgende «klassische» Narrationsformen in populärwissenschaftlichen NaturDokumentarfilmen: 1. the life cycle, 2. search narrative und 3. the triumph of science over nature. The life cycle präsentiert eine lineare Geschichte von Beginn bis Ende, z. B. von der ersten Schwangerschaftswoche bis zum Tod. The search narrative portraitiert einen Menschen auf einer wissenschaftlichen Expedition in die Natur, die Suche nach einem seltenen Phänomen, dem Abenteurer in der Wildnis. The triumph of science over nature thematisiert vor allem wissenschaftliche Lösungen von Problemen, etwa wo ein Erdbeben einen Ort bedroht und durch wissenschaftliche Forschung Schäden minimiert oder verhindert werden können. 154
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auch für ihre wissenschaftsinterne Informationsfunktion produziert werden, ist eine solche interdisziplinäre Kollaboration von Beginn weg wünschbar.116 Während sich dieser Beitrag mit den epistemischen Fragen und qualitativen Anforderungen beim Einsatz audiovisueller Medien in der Wissenschaft hin zur vollen Entfaltung ihres Potentials beschäftigt hat, stellen sich auch ganz konkrete Fragen hinsichtlich der Anreizstruktur in Wissenschaft und Film. Insbesondere die Messbarkeit, die Messmethoden des kommunikativen Erfolgs von wissenschaftlichen Bewegtbildern – etwa Klickzahlen von Onlinevideos oder Online-Zitationsindizes von peer reviewed-Publikationen stellen nur eine grobe Annäherung dar und müssen kritisch hinterfragt werden. Outreach- und Ökonomisierungsstrategien: Angestrebte Viralität Die audiovisuelle Wissenschaftskommunikation von Hochschulen, ob nun populärwissenschaftlich oder in peer expertise-Formaten hergestellt, wird für alle interessierten Menschen mit Internetanschluss zugänglich. Wissenschaftsfilme sind damit Teil der öffentlichen Wissenskommunikation, genauso wie schriftliche wissenschaftliche Publikationen, Projektberichte oder Konferenzpräsentationen. Dementsprechend ist es verständlich, dass Wissenschaftler so viele Zuschauer wie möglich ansprechen möchten, da dies nebst der Verbreitung der eigenen Forschungsergebnisse auch der Institution zu Gute kommt, was wiederum mit möglichen weiteren Fördergeldern im Zusammenhang stehen kann. Science Fiction-Filme, stehen oft in einem direkten Zusammenhang mit möglicherweise resultierenden Wissenschaftsfördergeldern und beeinflussen die gesellschaftliche Wahrnehmung der Wissenschaft, respektive wie Wissen generiert wird, welche Ergebnisse oder Disziplinen als relevant gesehen werden.117 Zudem haben Spielfime (fictional films) einen «significant impact on policy debates as politicians and members of the general public often use fictional stories to frame their concerns about science and technology.»118
116 Dies soll nicht bedeuten, dass ein filmemachender boundary spanner die gesamte Projektzeit über anwesend sein müsste, sondern dass er gezielt in ausgewählten Schlüsselmomenten einzelne, über den gesamten Projektverlauf verteilte Tage dokumentiert. 117 Ein Beispiel dazu ist die Entwicklung des ersten Mobiltelefons, welches von der Serie StarTrek inspiriert worden ist. Vgl. James E. Katz/Satomi Sugiyama: «Mobile phones as fashion statements: The co-creation of mobile communication’s public meaning.» In: Mobile communications, London: Springer 2005, S. 63–81; oder vgl. http://www.destination-innovation. com/how-startrek-inspired-an-innovation-your-cell-phone/ vom 22. August 2016. 118 David Kirby: «Cinematic science», in: Handbook of public communication of science and technology, 2008, S. 41–56, hier S. 50. 155
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Fictional films mit wissenschaftlichen Fragmenten unterscheiden sich jedoch hinsichtlich vieler Parameter von der akademischen Wissenschaftskommunikation mit Bewegtbildern. Wissenschaftskommunikation muss und soll nicht eine vergleichbar weite und virale Verbreitung anstreben.119 Die Realität in den meisten Wissenschaftsgebieten ist vielmehr, dass eher selten paradigmatisch provozierende oder herausragende Ergebnisse oder Erkenntnisse generiert werden, die hinsichtlich einer Popularisierung, einer Viralität ihrer Videos geeignet wären.120 Der Großteil der Wissenschaft ist naturgemäß normal science121, die, obwohl fundamental für den Prozess des wissenschaftlichen Fortschritts, mit den Worten von Paul Feyerabend «the most boring and most pedestrian part of the scientific enterprise»122 ist. Es wäre erstaunlich, wenn diese Art der Forschung ein breites, nicht spezifisch wissenschaftlich interessiertes Publikum ansprechen würde – unabhängig davon, wie genau sie gefilmt wird. Forschung kann mit audiovisuellem Mediendesign, mit Narrations- und Inszenierungstechniken dramaturgisch provokativ, unterhaltsam oder abstrahiert inszeniert werden, wie beispielweise im populären Wissenschaftsfernsehen – ob dies jedoch dem tatsächlichen Inhalt der Forschungsarbeit gerecht wird, ist mehr als fraglich.123 Hinzu kommt, dass in solchen Sendungen die formalen Strategien und die Macht der Inszenierung von wissenschaftlichen Themen typischerweise bei den Fernsehanstalten selbst liegen, und Wissenschaftler wenig bis keine Kontrolle über die inhaltliche und narrative Struktur und ihre eigene Inszenierung bekommen. Das hat immer wieder zu Konflikten geführt: Obwohl ein Großteil der wissenschaftlichen Informationen für Naturdokumentationen von den Wissenschaftlern stammte, wurden «the contributions of scientists only acknowledged with a line in the credits.»124 Interessanterweise ist dieser Mangel an Referenz in der Produktion von MOOC-Videos genau umgekehrt: So haben in der Analyse von MOOC- Videos (N= 448) nur 28% aller Videos 119 Das gleiche gilt für Youtube-Formate, welche science edutainment-Narrativen folgen. Diese sind zwar unterhaltsam und können eine gute Grundlage für spezifische wissenschaftliche Schwerpunkte geben, dennoch mangelt es solchen Videos vielfach an inhaltlicher Tiefe und die Bilder dienen mehr einer spannungsgeladenen Unterhaltung als einer korrekten Wiedergabe oder Ergänzung des jeweiligen Wissenschaftsthemas. Zum Beispiel der Youtube-Kanal SciShow: https://www.youtube.com/channel/UCZYTClx2T1of7BRZ86-8fow; der YoutubeKanal Veritasium: https://www.youtube.com/channel/UCHnyfMqiRRG1u-2MsSQLbXA; oder der Youtube-Kanal CrashCourse: https://www.youtube.com/channel/UCX6b17PVsYBQ0ip5gyeme-Q vom 26. August 2016. 120 Hier stellt sich auch die Frage, ob sich akademische Wissenschaftsvideos wirklich mit der viralen Klickzahl von Katzenvideos und worlds-craziest-wing-suit-jumps messen müssen. 121 Der Begriff normal science bezieht sich auf die Definition von Thomas S. Kuhn in: The structure of scientific revolutions, Chicago: The University of Chicago Press 2012. 122 Paul Feyerabend: Problems of Empiricism, Volume 2: Philosophical Papers», New York: Cambridge University Press 1981, S. 143. 123 Vgl. Olaf Jacobs/Theresa Lorenz: «Die Dramaturgie von Wissenschaftsfernsehen», in: Olaf Jacobs und Theresa Lorenz: Wissenschaft fürs Fernsehen, Wiesbaden: Springer Fachmedien 2014, S. 115–144. 124 J. B. Gouyon: «Science and film-making», S. 22. 156
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überhaupt einen Abspann (End Credit), von welchen jedoch wiederum nur ein Bruchteil auf die Produzierenden der Videos hinweist, während meistens nur ein Logo der Universität und der Name des Dozierenden erscheint. Über die Verbreitung ihrer Videos im Internet versuchen die Universitäten eine größtmögliche Klickzahl zu erreichen; dies aber zumeist nicht wirklich erfolgreich. Solches Streben nach einer größtmöglichen Viralität, welche neben den Wissenschaftsfilmen ebenso die MOOC-Videos betrifft, sollte kritisch hinterfragt werden. Das Forschungsfeld der structural graphene modulation through self-replicating ribozyme interessiert vielleicht 10’000 Experten auf der Welt. Wieso soll ein Wissenschaftsvideo, welches akribisch genau die neusten Ergebnisse und Forschungsprozesse dieses Spezialgebietes aufzeigt, plötzlich eine Million Menschen interessieren? Tatsächlich sollte aber ein quantitativ ähnlicher Erfolg wie bei einer schriftlichen wissenschaftlichen Publikation erwartet werden – ein paar hundert reads und zwei Dutzend Zitate sind ein realistisches Ziel. Es besteht jedoch keine Notwendigkeit, sich mit den knapp zwanzig Millionen Klicks der Original Grumpy Cat vergleichen zu wollen.125 Hier sollte nicht unerwähnt bleiben, dass die Anzahl Klicks eine hochgradig unzureichende Metrik für die Transmission von Wissen ist – sei dies die von Youtube zwar ebenfalls aufgezeichnete, aber nicht öffentlich kommunizierte average view time, die selten mehr als 10 Sekunden beträgt, oder die steigende Anzahl nichtmenschlicher Klicks durch Algorithmen (Bots) sowie der generelle Mangel an Aufmerksamkeit seitens der Zuschauer. Wissenschaftliche Bewegtbilder als Bestandteil von peer reviewed paper publications Wir sind heute nur noch einen kleinen Schritt davon entfernt, dass Bewegtbilder ebenso selbstverständlich Bestandteil von peer reviewed und kommunizierten Forschungsergebnissen sind wie textbasierte Publikationen: «(...) am besten setzt sich der Gegenbeweis wohl durch, wenn Filme mehr und mehr auch bei größeren wissenschaftlichen Tagungen als Begleiter von Vorträgen und Forschungs- berichten herangezogen werden, um ihre Nützlichkeit, zuweilen sogar ihre Unentbehrlichkeit ad oculos zu demonstrieren».126
125 Vgl. https://www.youtube.com/watch?v=INscMGmhmX4 vom 22. August 2016. 126 R. Geigy: « Encyclopaedia Cinematographica, S. 147. 157
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Die Gründe für eine steigende Zahl von videobasierten peer reviewed-Publikationen sind in diesem Beitrag bereits erwähnt worden. Die Digitalisierung an den Hochschulen, die aus der Bildwissenschaft kommende Wende hin zum Bild (iconic turn), sowie die steigenden Leistungsprozesse von Computern sind dabei die wichtigsten Faktoren dieser disruptiven Entwicklung. Die Digitalisierungsstrategien und medialen Anforderungen im Umgang mit wissenschaftlichen Bewegtbildern sind für Wissenschaftler bereits im peer review-Bereich von hochrangigen wissenschaftlichen Journalen spürbar. Diese fragen zunehmend nebst der schriftlichen Publikation nach einem Video-Abstract als Begleitmaterial für den Beitrag. Die Distribution von wissenschaftlichen Ergebnissen wird dadurch erweitert und kann durch medial effiziente und prägnante wissenschaftliche Bewegtbilder zu innovativen Kommunikationsformen führen – weniger als gesellschaftliche Wissenschaftskommunikation, vielmehr als erweiternder Argumentationsweg innerhalb der eigenen Wissenschafts-Peer-Community. Darüber hinaus wird in Fachkreisen darüber diskutiert, ob und inwiefern Videos aus der Hochschullehre Teil des track record eines Akademikers werden könnten. Clayton Hainsworth, Produktionsmanager des Medienteams von edX, einem MOOC-Startup der Harvard Universität und dem MIT, spricht über diese digitale Präsenz folgendermassen: «They [the scientists, die Autorin] are the authority on this topic and this becomes a piece of authorship and I think MOOC production will become part of that. I think it will actually become part of the publication cycle and I think it would become part of the how do you get tenure track.»127
Bis jetzt existiert in Europa kein eigenes Förderungsinstrument welches gezielt die Dissemination von Wissenschaft mit audiovisuellen Bewegtbildern innerhalb der wissenschaftlichen Kommunikation von Forschungsarbeiten finanziert.128 Das bedeutet, dass für ein Co-Design in der Produktion von wissenschaftlich-filmischen Bewegtbildern eine Budgeterhöhung bei der Dissemination eingeplant werden muss. Gleichzeitig ist es aufgrund der sinkenden Eigenmittel und dem Zwang zur Akquise von Drittmitteln an den Universitäten für Wissenschaftler zunehmend schwieriger geworden, aus eigenem Antrieb neue Innovationen hervorzubringen, die nicht von den zentralen Planungsräten der fördermittelvergebenden Institutionen vorgesehen sind. Die Problematik
127 Clayton Hainsworth: Experteninterview, Interviewerin: Jeanine Reutemann, Boston, 2015. 128 Es gibt zwar Förderungsformate, die ein solches Vorgehen unterstützen oder sogar bereits einen Prozentsatz des Budgets für Wissenschaftskommunikation verpflichtend vorsehen (z. B. in der Schweiz das R4D). Jedoch müssen solche filmischen Umsetzungen häufig in ein Gesamtkonzept eingebaut werden (SNF Agora). Damit verkennen diese Förderungsinstrumente jedoch den Bedarf einer längeren Zusammenarbeit für wissenschaftlich-filmisches CoDesign. Zudem wird von den Förderinstitutionen eine populärwissenschaftliche Umsetzung verlangt, die eine breite Öffentlichkeit ansprechen soll. 158
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der fehlenden Förderungsgelder für die audiovisuelle, wissenschaftsinterne Kommunikation von Forschungsarbeiten oder prozessorientierte Bewegtbildproduktionen für archivarische Dokumentationen schränkt deren Entwicklung massiv ein. Fazit Wenn Bewegtbilder als eine Form von immutable mobiles in der Wissenschaft fungieren sollen, so bedingt dies ein akkurates, reflektiertes und wissenschaftliches Vorgehen bei ihrer Herstellung. Ein solches Vorgehen impliziert, dass die affordances des Mediums bekannt sind und im Bewusstsein ihrer Effekte für die Vermittlung eingesetzt werden. Wenn der Wunsch nach einer audiovisuellen Wissenschaftskommunikation für ein Forschungsprojekt vorhanden ist, dann ist es sinnvoll, bereits in der Planungsphase einen Experten aus dem Filmbereich in ein Co-Design zu involvieren, so dass Synergien der Zusammenarbeit während der Forschungsarbeit im Feld entstehen können und nicht erst im Nachhinein bereits vorhandene, für die textbasierte wissenschaftliche Analyse generierter Datenpakete in ein mediales Bewegtbildformat konvertiert oder reinszeniert werden müssen. Ob Daten aus der Forschung, Feldstudien mit Stellungnahmen von Stakeholdern oder die Dokumentation eines methodischen Vorgehens im Labor – wenn Bewegtbilder in einem kollaborativen Prozess von Wissenschaftlern mit boundary spanners aus dem audiovisuellen Mediendesign produziert werden, dann können adäquate und dem Standard der Exzellenz in der Forschung entsprechende Produktionen realisiert werden. Durch das Co-Design in der interdisziplinären Zusammenarbeit kann dann eine disziplinenübergreifende Wissensgenerierung und Wissenstransformation geschehen, wo die Aktivitäten von Wissenschaftlern und Filmemachern sich gegenseitig unterwanderen und amalgamieren. Die in solchen Unterwanderungen entstehenden wissenschaftlichen Bewegtbilder sind dann selbst Teil des produzierten Wissens, eines Wissens, das über Visualisierung von Texten und Zahlen hinausgeht und damit in einer neuen Art und Weise epistemischen Status erlangen.
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Into the Forest
Youtube-Kanal von Jaboury Ghazoul: A living landscape: https://www.youtube.com/watch?v=zw6UbG6RwL0 vom 20.9.2016. Youtube-Kanal SciShow: https://www.youtube.com/channel/UCZYTClx2T1of7BRZ86-8fow vom 26. August 2016. Youtube-Kanal Veritasium: https://www.youtube.com/channel/UCHnyfMqiRRG1u-2MsSQLbXA vom 26. August 2016. Youtube-Kanal: CrashCourse: https://www.youtube.com/channel/UCX6b17PVsYBQ0ip5gyeme-Q vom 26. August 2016.
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Kunst und Ökologie im Zeitalter der Technosphere Yvonne Volkart «Art forms have to tell us something about the environment, because they can make us question reality.» (Timothy Morton: The Ecological Thought, 2010)
Anlässlich der Manifesta 11 in Zürich zum Thema Arbeit platzierte der US-amerikanische Künstler Mike Bouchet 80 Tonnen Klärschlamm im White Cube des Migros Museums. «The Zurich Load», so der Titel dieser Arbeit, ist jene Ladung an Fäkalien, die die Einwohnerinnen und Einwohner der Stadt Zürich jeden Tag produzieren und die Kanalisation hinunterspülen. Sie ist das, was in der Kläranlage zurückbleibt und verbrannt wird, aber im Moment vor allem einfach Dreck ist. Ausgestellt war allerdings nicht, wie zu erwarten gewesen wäre, eine weiche, formlose Masse, sondern sauber gestapelte, im Stil der Minimal Art zu einem Rechteck gereihte und geordnete Würfel. In monatelanger Zusammenarbeit mit dem Team der Kläranlage und weiteren Expertinnen und Experten hatte der Künstler das Rohmaterial bearbeitet und getrocknet. Diese Maßnahmen waren auch deshalb notwendig, weil der Umgang mit Klärschlamm gesetzlich vorgeschrieben ist und der Künstler einige Auflagen der Stadt Zürich erfüllen musste, um diese Arbeit überhaupt durchführen zu können. So musste der Klärschlamm trocken sein und durfte nicht im unüberdachten Freien lagern, damit kein Dreckwasser die Umgebung kontaminieren konnte. Er durfte nicht berührt werden und der Geruch musste auf eine akzeptable Intensität reduziert werden, da der Betrieb im Migros Museum normal weiterlaufen sollte.
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Yvonne Volkart
Abbildung 1: Mike Bouchet: «The Zurich Load», 2016. Der Wirbel und das Unverständnis in der Bevölkerung, die diese Arbeit bereits im Vorfeld auslöste, zeigen deutlich, wie schwierig es für urbane Menschen von heute ist, sich mit dem auseinanderzusetzen, was wir tagtäglich absondern und zurücklassen: Abfall, Dreck, Scheiße. «Die Zürcher Ladung» konfrontiert uns mit dieser Schwierigkeit. Sie führt sowohl ihre verworfene Materialität vor als auch die institutionalisierten und privaten Praxen, diese zu ordnen, zu reinigen und aus den Augen zu schaffen. Den Mist irgendwo sich selbst zu überlassen ist natürlich, global gesehen, der häufigste Fall – wenn auch nicht in der Schweiz. Hier hat man ein gut funktionierendes Abfallsystem. Doch offensichtlich schützt das auch nicht davor oder verleitet womöglich noch dazu, dass die Schweizerinnen und Schweizer zu den weltweit größten Abfallproduzenten gehören und in Europa den ersten Platz einnehmen. Da bei der sogenannten Abfallentsorgung immer etwas übrigbleibt, das nicht in den Kreislauf zurückgeht, bleibt also auch bei uns einiges zurück, für das man keinen Ort hat. Klärschlamm darf in der Schweiz, wie mir der Künstler schrieb, seit zehn Jahren nicht mehr als Dünger verwendet werden. Er enthält zu viele Gifte (Schwermetalle oder schwer abbaubare organische Substanzen aus Reinigungs- und Kosmetikartikeln), Arzneien oder mögliche Krankheitserreger. Deswegen wird er verbrannt. Weil man fürchtet, dass Phosphor knapp werden könnte bzw. weil es eigentlich eine immense Verschwendung ist, gutes Düngematerial einfach fortzuwerfen (wohin denn?), behalten die Zürcher die Asche des Klärschlamms. Gemäß einer Studie des Schweizerischen Bundesamtes für Umwelt könnte 90% des Phosphoranteils zurückgewonnen werden, wenn man die Rückgewinnung etablieren würde.1 1
Vgl. http://www.bafu.admin.ch/abfall/01472/01481/index.html?lang=de vom 29.10.2016. 170
Kunst und Ökologie im Zeitalter der Technosphere
Abbildung 2: Mike Bouchet: «The Zurich Load», 2016. Auf diese Zusammenhänge geht «The Zurich Load» allerdings nicht ein. Das muss dieses Projekt vielleicht auch gar nicht, denn es macht auf jeden Fall den Umstand akut, dass es kein Entfliehen gibt vor dem Abfall, den wir täglich produzieren: Er ist da, er stammt von mir, ich muss mich damit auseinandersetzen. Solche Konfrontationen sind nicht einfach. Sie sind manchmal lustig, manchmal tun sie weh, vor allem dann, wenn sich keine Lösungen abzeichnen, so wie das die Diskurse um die Klimaerwärmung und das Anthropozän deutlich machen. Für Timothy Morton ist klar, dass Kunst den Menschen in dieser schwierigen Situation helfen kann, «because it’s a place in our culture that deals with intensity, shame, abjection, and loss.»2
Dem wäre als Ausgangspunkt dieser Untersuchung hinzuzufügen: Kunst ist ein Ort der Symbolisierung und Materialisierung. Hier kann Pein und Sinnlosigkeit durchgearbeitet und auf etwas Anderes hin geöffnet werden. Kunst ist ein Handlungsfeld, wo «grausame» Wirklichkeit durch ihre ästhetische Transformation nochmals anders wahrgenommen und erlebt werden kann. Sie ist ein 2 Timothy Morton: The Ecological Thought, Cambridge, Mass./London: Harvard University Press 2010, S. 10. 171
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Gefüge, das die normalisierte Sicht auf Dinge verschieben, Differenzen einführen und somit andere Handlungsoptionen eröffnen kann. Dadurch, dass Kunst nicht auf Identifikation gründende Wahrnehmungen und Erfahrungen ermöglicht, können fixierte Zusammenhänge auseinandergerissen und Brüche geschaffen werden. Selbstredend macht Kunst das nicht einfach, weil sie Kunst ist und einen privilegierten gesellschaftlichen Ort besetzt. Vielmehr handelt es sich um ästhetische Prozesse, die immer wieder neu – medial, materiell, sozial etc. – in Szene gesetzt werden müssen – auf Bewegungen hin, die sich, trotz präziser Setzungen oder «gutgemeinter» Intentionen, nicht genau festlegen lassen. In diesem kalkulierten Fremdmachen der Dinge und ihrem unkalkulierbaren Fremdwerden liegt das Potential des Ästhetischen. «Das Leben», schreibt Félix Guattari, «ist wie eine Performance, man muss es konstruieren, man muss daran arbeiten, man muss es singularisieren.»3
Darin liegt auch die grosse Bedeutung des Ästhetischen für das aktuelle ökologische Denken als transversales Denken, das heißt, als ein handelndes Denken, das offen ist und öffnet. Immer wieder unterstreicht Guattari die Bedeutung des Ästhetischen für die Ökosophie, wie er das Ökologische nennt: «I have stressed these aesthetic paradigms because I want to emphasize that everything, particularly in the field of practical psychiatry, has to be continually reinvented, started again from scratch, otherwise the processes become trapped in a cycle of deathly repetition.4
Mit Guattari soll hier ökologisches Denken als eine «ethisch-ästhetische Praxis», als eine mikropolitische Praxis verstanden und untersucht werden. Ziel des vorliegenden Textes ist es, aktuelle ökoästhetische Praxen auf ihre Transversalität hin zu befragen. Was macht eine ökologische, kritische Ästhetik im Zeitalter der Technosphere aus? Dazu wurden unterschiedliche künstlerische Projekte ausgewählt, die sich im Kontext zeitgenössischer ökoästhetischer Praxen verorten. Die Projekte werden aus einer medienübergreifenden Perspektive gelesen, die ihre theoretischen Prämissen aus der Ökosophie, der Medienökologie und den neuen Materialitätsdiskursen schöpft. Besonders interessiert, welche künstlerischen Strategien wie zur Anwendung kommen, wie sie sich explizit oder implizit auf die angeführten Diskurse beziehen und welche Rolle Aktion und Repräsentation spielen.
3 4
Félix Guattari: The Three Ecologies, London and New Brunswick NJ: The Athlone Press 2000, S. 12, übers. von YV. F. Guattari: The Three Ecologies, S. 39. 172
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Abbildung 3: Mike Bouchet: «The Zurich Load», 2016. In die gemeinsame Raum-Zeit holen Mike Bouchets offensiver Strategie des Vor-die-Nase-Führens des Abjekten entspricht das, was Timothy Morton als «das ökologische Denken» deklariert. Es ist «weird weirdness», ein Offenwerden für das, was wir als seltsam, obskur und fremd empfinden: «The ecological thought is also difficult because it brings to light aspects of our existence that have remained unconscious for a long time; we don’t like to recall them. It isn’t like thinking were the toilet waste goes. It is thinking about where your toilet waste goes.5
Ökologisches Denken bedeutet demnach ein Sich-Öffnen auf das Andere hin, in langen Ketten zu denken und sich den Schwierigkeiten, die das mit sich bringt, real auszusetzen. Denn wir können sowieso nicht mehr abhauen. Es geht jetzt nicht mehr einfach nur ums Aufräumen oder Putzen des eigenen Hauses. Die Dinge sind vermischt, es gibt kein Innen und Aussen. Der Abfall kommt zurück. Wer weiß denn schon, welche Reste von Schwermetallen, Plastikteilchen, Antibiotika oder Hormonen «Die Zürcher Ladung» – konkret meine eigene 5
T. Morton: The Ecological Thought, S. 9. 173
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Ladung – enthält? Die Zeit des Abspaltens des «Anderen», der «Umwelt», der «Natur» ist vorbei. Es geht, so Morton, um die «Ko-Existenz» der menschlichen und nicht-menschlichen Wesen, um das Zusammen-Leben gerade auch mit dem, was wir nicht wollen und das uns deswegen heimsucht: «Das ist wie bei der westafrikanischen Geschichte von Anansi und dem Teerbaby: Je mehr er versucht wegzukommen, desto mehr ist er gefangen.»6
Eine Arbeit wie «The Zurich Load» hindert uns daran, abzuhauen. Sie setzt auf akute Präsenz im gemeinsamen Raum. Reale Materialisierung, reales Sich-Aussetzen. Die Verkettungen zeigen Ökologisches Denken im Sinne Timothy Mortons heißt, in langen Ketten zu denken, es bedeutet sich zu überlegen, woher die Dinge kommen und wohin sie gehen. Das ist kein Denken in Ursachen und Wirkungen, sondern ein Denken in Anschlüssen und Beziehungen: Handlungen und Lebensweisen sind verteilt, sie haben Effekte und Konsequenzen; die Entitäten sind verbunden, und Energien, Kräfte und Materialitäten verschwinden nicht einfach vom Erdboden. In «Dark Ecology» spricht Morton von Loops und impliziert damit, dass die Objekte zurückschlagen.7 Nach Félix Guattari müsste anstelle von «environmental ecology» von «machinic ecology» gesprochen werden.8 Damit bezieht er sich nicht nur auf die aktuelle Technisierung in der «Mechanosphäre», wie er sagt. (Heute spricht man adäquater von der «Technosphäre», um das Allumfassende, Produktive und «Ökologische» des Technologischen, das ja nicht mehr mechanisch ist, zu erfassen.)9 Vielmehr geht es Félix Guattari auch auf die bereits im Anti-Ödipus und in Tausend Plateaus formulierten Ideen, dass Sein und Existenz grundsätzlich maschinisch, das meint real und generativ, sind: «Alles ist Maschine.»10 Organe und Entitäten koppeln und entkoppeln sich als Maschinen; sie bringen Leben und Subjektivität hervor und können, innerhalb des Kapitalismus und auf mi6 Timothy Morton: «Zero Landscapes in Zeiten der Hyperobjekte», in: Klaus K. Loenhart: GAM.07, Grazer Architektur Magazin (2011), S. 83. 7 Timothy Morton: Dark Ecology. For a Logic of Future Coexistence, New York: The Columbia University Press 2016. 8 F. Guattari: The Three Ecologies, S. 66. 9 Zum Begriff der «Technosphäre» vgl. Peter K. Haff im Gespräch mit Erich Hörl: «Was steuert wen? Zur Autonomie der Technik», in: 100 Jahre Gegenwart. Der Auftakt. Haus der Kulturen der Welt HKW Berlin, Oktober (2015), Zeitung zur Veranstaltung «100 Jahre Gegenwart». 10 Gilles Deleuze/Félix Guattari: Anti-Ödipus. Kapitalismus und Schizophrenie I, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1977, S. 7. 174
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kropolitischer Ebene, immer auch andere Fluchtlinien ermöglichen. Maschinische Ökologie, mithin ökosophisches Denken und Handeln, ermöglicht eine transversale Bewegung, die politisch ist und in die aktuelle Homogenisierung der Psyche, des Sozialen und der Umwelt interveniert. Ein solche Bewegung ist aktiv und kreativ: «In the future much more than the simple defence of nature will be required; we will have to launch an initiative if we are to repair the Amanzonian ‹lung›, for example.»11
Karen Barad hebt die «Verschränkungen» der Dinge hervor: «Materie wird nicht als schlichter Effekt oder Produkt diskursiver Praktiken verstanden, sondern vielmehr als wirkender, d.h. agentischer, Faktor in ihren iterativen Materialisierungen (...) das, was wir üblicherweise als individuelle Entitäten begreifen [sind] keine getrennten, determiniert gebundenen und mit Eigenschaften versehenen Objekte, sondern (verschränkte ‹Teile von› Phänomene(n) (materiell-diskursiver Intraaktionen), die über (das, was wir üblicherweise als getrennte Orte und Momente annehmen) Raum und Zeit hinausgehen.»12
Verschränkung wird hier nicht im umgangssprachlichen Sinn als «Verwicklung individueller Entitäten» begriffen, sondern bezieht sich auf die «‹Quantenverschränkungen›, die die (ontologische) Untrennbarkeit von agentisch intraagierenden ‹Komponenten› sind.»13 Diese Sicht impliziert, dass die Grenzen von Dingen, Materie, Menschen, Apparaten, Diskursen etc. nicht mehr dual gezogen, sondern entlang ihrer «materiell-diskursiven» Verschränkungen geöffnet werden. Dinge werden als Phänomene wahrnehmbar, die durch verschiedene Apparate, Verschränkungen und Raumzeit-Materialisierungen produziert werden. «Was essen wir, wenn wir auf eine kalifornische Rosine beissen?» fragt Barad rhetorisch. Sicherlich nicht nur «Trauben und Sonnenschein», wie auf der Verpackung steht, sondern auch «Kapitalismus, Kolonialismus und Rassismus; migrantische Arbeiter_innen, die die Trauben pflücken (...) Pestizide; Technologien chemischer Kriegsführung; Boden; Düngemittel; Bakterien; Dürre; Klimawandel und vieles vieles mehr.»14
Ein solches Denken der Phänomene und Verschränkungen ist keines der hegemonialen Konsum- oder Digitalkultur, in der alles glatt und immateriell abläuft. Vielmehr ist es ein materialistisches, ein ökologisches Denken. Es fragt nach den Produktionsprozessen, nach den Akteurinnen und Apparaten, den 11 12 13 14
F. Guattari: The Three Ecologies, S. 66. Karen Barad: Verschränkungen, Berlin: Merve 2015, S. 130. K. Barad: Verschränkungen, S. 130/131. K. Barad: Verschränkungen, S. 185. 175
Yvonne Volkart
Körpern und Materialitäten, deren Kräften und Aktionen; und danach, wie Subjekte – menschliche und nicht-menschliche Wesen, Dinge und Objekte – davon erfasst werden.
Abbildung 4: Unknown Fields Division: «Rare Earthenware», 2015. Das Projekt «Rare Earthenware» (2015) der Künstler- und Designergruppe Unknown Fields Division ist ein Projekt, das den langen Ketten nachgeht. Anhand dreier exemplarisch ausgewählter Techno-Artefakte – einem Laptop, einem Smartphone und einer Batteriezelle für ein elektrisches Auto – fragt es, woher diese eigentlich herkommen. Alle drei Geräte stammen aus China, genauer gesagt, aus der Erde der mongolischen Tagebau-Mine Bayan Obo, wo verschiedene Seltene Erden abgebaut werden. Obwohl dieser Rohstoff für die zur Diskussion stehenden Geräte nur in Kleinstmengen benötigt wird, ist er dennoch unerlässlich. Seltene Erden sind entgegen ihrem Namen nicht so selten. Sie sind jedoch in der Erdkruste verstreut und deswegen nur in kleinen Mengen abbaubar. Die mongolische Mine ist die weltweit bedeutendste und fördert mittlerweile Dreiviertel des Weltverbrauchs. Beim Abbau werden nicht nur Unmengen an Boden verschlissen – wie stets beim Bergbau und insbesondere beim Tagebau –, sondern es entstehen auch radioaktive Schlacken, sogenannte «tailings».
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Abbildung 5: Unknown Fields Division: Stills aus dem Film «Rare Earthenware», 2015. «Rare Earthenware» besteht aus drei unterschiedlich großen Tonvasen und einem Kurzfilm.15 Dieser verfolgt den Produktionsweg eines Computers von seiner Ankunft im Containerhafen in England zurück bis in die Mongolei, wo ein Mann, nur mit einem Mundschutz gesichert, im Dreck hockt. Der Ton, aus dem die Vasen modelliert sind, besteht aus dem radioaktiven Schlamm, der in der Mine anfällt. Die jeweiligen Größen der Vasen entsprechen der Menge an giftigem Abfall, der bei der Extraktion der Seltenen Erden für das Smartphone, den Laptop und die Batterie entsteht. Das ästhetische Arrangement basiert demnach auf dem berechneten Proportionalverhältnis zwischen der Ware und ihrem jeweiligen Output an Giftmüll; die Form der Vasen entspricht dem traditionellen Stil der Ming-Zeit. Während die Vasen in ihrer scheinbar statischen Materialität still vor sich herstrahlen, besticht der Film durch seinen Trick, nicht nur die Warengeschichte rückwärts laufen zu lassen, sondern auch die Bewegungen der darin gezeigten Akteure, das heißt der im Film gezeigten Menschen, Waren und Transportmittel. Diese slapstickartigen Wiederholungen wirken heiter und gleichzeitig sinnlos, was durch den dokumentarischen Charakter des Films noch verstärkt wird. Das Rückwärtslaufen scheinbar natürlicher Produktionsvorgänge und das Hervorkehren des (Radio-)Aktiven der Materie machen deutlich, dass die Zusammenhänge in der buchstäblichen Bedeutung 15 Vgl. www.theguardian.com/environment/gallery/2015/apr/15/rare-earthenware-a-journey-tothe-toxic-source-of-luxury-goods vom 1.12.2016. 177
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des Worts «pervers», verkehrt sind. Sowohl das filmische Materialisieren einer perversen Produktionskette als auch das skulpturale Materialisieren perverser Drecksarbeit schafft Momente medialer Präsenz und Identität. Eine Identität, die so auseinanderklafft, wie die globale Ungerechtigkeit und die Versprechen grüner Technologien, die letztlich keine sind (hier die Elektroauto-Batterie mit Seltenen Erden aus Bayan Obo), auseinanderklaffen. Die ästhetisch-mediale «Raum-Zeit-Materialisierung» von «Rare Earthenware» führt nicht nur zum direkten Erleben der Verkehrtheit unserer Konsumptionsund Produktionsverhältnisse, sondern spurt auch die Möglichkeit vor, dass die Dinge anders ablaufen müssten, könnten. Der ästhetisch-mediale Bruch in der raum-zeitlichen Verkettung und die paradoxe Verdrehung und Verschränkung von Ursprung und Ziel, alter Zeit (Ming-Dynastie) und neuer Zeit, Dreck und Modelliermasse, Tailing und Konsumfetisch öffnen auf ein Anderes hin. In diesem Sinn werden filmische und skulpturale Momente zu Aktanten einer Seinsweise, die man mit Félix Guattari «Öko-Logik» nennen könnte: Eine Form der Existenz, in der Wesen und Dinge nicht mehr dual abgespalten werden, sondern sich prozessual und materiell ereignen. Mithin, die Verdrehungen und Verschränkungen in «Rare Earthenware» sind nicht nur filmisch und skulptural realisiert, sondern auch real wirksam und somit Handelnde eines ökologischen Denkens jenseits bloßer Repräsentation.
Abbildung 6: Unknown Fields Division: Stills aus dem Film «Rare Earthenware», 2015. 178
Kunst und Ökologie im Zeitalter der Technosphere
Abbildung 7: Unknown Fields Division: Stills aus dem Film «Rare Earthenware», 2015.
Abbildung 8: Unknown Fields Division: Stills aus dem Film «Rare Earthenware», 2015. Die filmische Strategie des Rückwärts-Abspielens der Produktionskette hat schon Alain Resnais in seinem Werbefilm «Le chant du Styrène» (1958) für die französische Kunststoff-Firma Pechiney angewandt. Darin lässt er in wenigen Minuten den gesamten Produktionsablauf von Polystyrol Revue passieren, angefangen mit Artefakten aus der schönen neuen Plastikwelt der 1950er-Jahre bis zu ihren volatilen Rohstoffen. Im Verlauf des Kurzfilms löst sich nicht nur das 179
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Konsumprodukt – eine Plastikschüssel – in seine verschiedenen Ursprungsmaterialien auf, sondern rückt auch die dazugehörige Infrastruktur ins Bild – die Fabriken, Raffinerien, Leitungen, Arbeiter. Mithilfe der filmischen Zeitlichkeit wird das repräsentierte Objekt in einen Prozess des Werdens transformiert, der weder den Dreck, der in die Luft geht, noch die verwüsteten Umgebungen ausspart. Am Ende, wenn nur noch Luft, Äther und Dämpfe wabern, fällt der simple Schlusssatz: «Pour mériter enfin la vente à prix unique», das heißt auf Deutsch, dass alle diese Prozesse dazu dienten, «um schließlich zum Einheitspreis verkauft zu werden».16 Während sich visuell alles auflöst, verdichtet sich sprachlich alles im «Einheitspreis». Der komplexe Herstellungsprozess endet damit, worum es im Kapitalismus immer geht bzw. weshalb der Werbefilm eigentlich produziert wurde: mit Geld. Dann hört der Film auf. Da ist also die Zeit des Wirtschaftsaufschwungs und der Plastifizierung, und da ist dieser Film, der am Beispiel einer simplen Schüssel die Frage stellt: Woher kommt die eigentlich? Und deswegen, weil «Le chant du Styrène»nicht nur versucht, diese unbequeme Frage sehr genau zu beantworten, sondern auch weil er es auf unkonventionelle und unbequeme Weise tut, ist dieser Film, so dokumentarisch, rund und deklamierend er daherkommt, kein passender Werbefilm. Unpassend fand ihn auch die Firma Pechiney. Interessanterweise waren es weder die Bilder noch der Inhalt, die störten, als vielmehr der vom Oulipo-Dichter Raymond Queneau verfasste Off-Text in Versreimen.17 Es sind die altmodisch wirkenden Alexandriner und die schöne Stimme mit ihrem sonoren Klang, die die Ideologie von der Modernität und Beherrschbarkeit des Plastiks verdrehen – ein Phantasma, das Roland Barthes zur gleichen Zeit in seinen Mythen des Alltags erhellt hat. Diese Stimme, dieser Gesang, kann Spielräume eröffnen, die die großen Zeit- und Raumevokationen offen verhallen lassen: Woher kommt eigentlich das Millionen Jahre alte Öl? «Kommt es aus der Masse der Fische? Man weiß es nicht genau, ebenso wenig wie woher die Kohle kommt.»18
Solche unbeantworteten Fragen, unterstützt vom schwebenden Klang der Stimme und dem mythisch anmutenden Dampf im Schlussbild, öffnen auf eine 16 Alain Resnais: Le chant du Styrène, Kurzfilm, 13’, 1958: https://vimeo.com/14154663 vom 30.10.2016. Text zum Film von Raymond Queneau: http://www.cineclubdecaen.com/realisat/resnais/ chantdustyrene.htm vom 30.10.2016. 17 Der Schriftsteller Raymond Queneau gründete 1960 die Oulipo-Gruppe, ein Akronym für «Ouvroir de la littérature potentielle» – Werkstatt für potentielle Literatur. 18 Vgl. Text zum Film von Raymond Queneau: http://www.cineclubdecaen.com/realisat/resnais/ chantdustyrene.htm vom 30.10.2016. 180
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Unbestimmtheit hin, die nicht nur die Anfänge vernebelt, sondern auch die Geschmeidigkeit und Stromlinienform des Plastiks. Die beteiligte Kamera Ich verwende den Begriff des Ökologischen breit «als ein komplexes System von Wörtern, Geräuschen, Taten, Affekten, Erzählungen und Tendenzen».19 Eine solche breite Definition des Ökologischen vollzieht auch die aktuelle Medienökologie, die sich unter anderem auf Félix Guattari stützt. Etymologisch vom Wort oikos (Haushalt) ausgehend, hat Guattari das generative Zusammenwirken heterogener Gefüge unserer aktuellen naturecultures im Blick: «Now more than ever, nature cannot be separated from culture.»20
Aus medienökologischer Perspektive sind Medien und Technologien Ökologien, die Akteure einbinden und gleichermaßen informell wie real und materiell sind. Diese die materiellen und relationalen Aspekte betonende Sicht auf die Medien ist gerade auch für die Künste und deren Diskussion produktiv. Denn im Gegensatz zu einem instrumentellen oder konventionell medientheoretischen Technikverständnis, bei dem sich vieles um die Fragen der Funktion und Repräsentation dreht, bekommt die medienökologische Perspektive die aktiven, subjektkonstituierenden Momente in den Blick. Allerdings konzentriert sie sich vor allem auf technologische Milieus bzw. auf das Phänomen, dass Technologien heute nahtlos in die «Umwelt» dringen und eine Technosphäre hervorbringen, der sich alles subsummiert. Dem ist so nicht gänzlich zu widersprechen. Es bedeutet im Fall der Medienökologie jedoch auch, dass sie keine Aufmerksamkeit gegenüber den Erscheinungs- und Existenzweisen von Pflanzen, Tieren oder anderen nichtmenschlichen Entitäten entwickelt hat und sie aus Desinteresse oder vielleicht auch wegen Verdachts auf Tiefenökologie ausblendet.21 Félix Guattaris Entwurf «Die drei Ökologien» ist gerade deswegen, weil er «grüne» Aspekte explizit miteinschloss und gleichzeitig das Ökologische vielschichtiger und offener als konventionelle Umweltbewegungen dachte, nach 19 Jane Bennett/Klaus Loenhart: «Dynamische Materie und Zero Landscape», Interview in: Klaus K. Loenhart: GAM.07, Grazer Architektur Magazin (2011), S. 20. 20 F. Guattari: The Three Ecologies, S. 43. 21 Aufschlussreich ist etwa Erich Hörls Aussage, wenn er sagt, dass er Guattaris Begriff der Ökosophie nicht verwende, weil er ihm zu tiefenökologisch angehaucht vorkomme, in: Erich Hörl/Jörg Huber: «Technoökologie und Ästhetik. Ein Gedankenaustausch», in: Magazin 31, Nr. 18/19 (2012), S. 15. Zu aktuellen Ansätzen der Medienökologie s. The Fibreculture Journal: Unnatural Ecologies, Issue 17 (2011): fibreculturejournal.org; zfm. Zeitschrift für Medienwissenschaften 14: Medienökologien, 1 (2016). 181
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wie vor so grundlegend. Guattari kritisierte vor allem deren dualistische Konzeption von Mensch und Umwelt: Um zu einem fundamentalen ökologischen Umdenken im «integrierten Weltkapitalismus (IWC)» 22 zu kommen, könne man sich nicht nur auf «Umweltthemen» beziehen, sondern müsse auch die Psyche und das Soziale mitdenken. Denn die Reterritorialisierung der Psyche und des Subjekts ist das Ziel der Massenmedien – eine biopolitische Vereinnahmung, die durch die unaufhörlichen Interpellationen durch soziale Medien und mobile Medien zweifellos noch totaler wurde. Auch das Artensterben ist für Guattari nicht «nur» ein Umweltproblem, sondern er sieht das gekoppelt mit anderen, sich auf der Ebene der Sprache vollziehenden Formen der Gewalt und Auslöschung. «Internationale Solidarität» etwa sei ein solches Wort, das heute fast nichts mehr bedeute. «In order to comprehend the interactions between eco-systems, the mechanosphere and the social and individual Universes of reference, we must learn to think ‹transversally›. Just as monstrous and mutant algae invade the lagoon of Venice, so our television screens are populated, saturated by ‹degenerate› images and statements. In the field of social ecology, men like Donald Trump are permitted to proliferate freely, like another species of algae, taking over entire districts of New York and Atlantic City.»23
Dass ein Vierteljahrhundert später die von Guattari genannte Monsteralge Präsident der USA werden konnte, macht deutlich, dass man dringend – wie Jane Bennett in einem anderen Kontext sagt – «die wahren Orte der Verschaltung ausmachen» müsste.24 Und die neomaterialistisch orientierte Politikwissenschaftlerin Diana Coole schreibt, dass «ökologische oder ästhetische Sensibilität» allein nicht ausreiche, «um jene gravierenden Veränderungen herbeizuführen, welche die aktuellen Gegebenheiten erfordern.»25 Mit Sicherheit bedürfe es auch «der kritischen Analyse» der «sozialen Strukturen», insbesondere, wenn man sie auf die globale Verteilung hin untersucht.26 Guattaris Einbezug des Sozialen und Mentalen ins Ökologische stellt nicht nur eine solche Möglichkeit zur Verfügung, sondern macht auch deutlich, dass die Mittel vielfältig sein müssen, um gegen die Apparate und Infrastrukturen der globalen Mächte anzugehen. Gerade dann, wenn Gewalt auch mittels symbolischer Systeme wie der Sprache geschieht, sind ästhetische Praxen nicht machtlos.
Zum Begriff des IWC vgl. F. Guattari: The Three Ecologies, S. 47. F. Guattari: The Three Ecologies, S. 43. J. Bennett/K. Loenhart: Interview, S. 24. Diana Coole: «Der neue Materialismus: Die Ontologie und die Politik der Materialisierung», in: Susanne Witzgall/Kerstin Stakemeier: Macht des Materials/Politik der Materialität, Zürich: Diaphanes 2014, S. 40. 26 Ebd.
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Kunst und Ökologie im Zeitalter der Technosphere
Abbildung 9: Mikhail Lylov/Elke Marhöfer: Still aus dem Film «Primate Colors», 2015. Der Film Primate Colors (2015) von Mikhail Lylov und Elke Marhöfer kann als ein Film betrachtet werden, der versucht, die von Diana Coole geforderte »kritische Analyse (...) der sozialen Strukturen»27 mit den Mitteln des Films und aus der Perspektive des neuen Materialismus durchzuführen. Er spricht eine Sprache, die weniger kritisiert und wertet als vielmehr zeigt und bezeugt, variiert und insistiert. Die Kamera nimmt einerseits Handlungen wahr, wo gemeinhin keine gesehen werden, weil sie so normal erscheinen oder so undefiniert «zwischen den Dingen» stattfinden – logistische Aktionen mit und zwischen Materialien, Körpern und ihren Umgebungen. Andererseits werden diese alltäglichen Bewegungen als Kleinstformen der Ausbeutung lesbar. Die Wiederholungen und Variationen im scheinbar normalen Ablauf heben die Modularität dieser Formen hervor. Sie werden als Teilbereiche globaler Systeme erkennbar, die prinzipiell alles, was Welt ist oder «Umwelt», in nichtswürdigen Abfall verwandeln: Menschen, Tiere, Konsumgüter, Städte, Landschaften, Pflanzen. Die filmische Strategie gibt dabei nicht, wie in den beiden zuvor diskutierten Filmen, die lineare Kette der Produktionsabläufe von Waren zu sehen, sondern vielmehr die Vielheit und Horizontalität von deren Anschlüssen und Bewegungen. Auch das kann eine Strategie des Ökologischen sein.
27 Ebd. 183
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Abbildung 10: Mikhail Lylov/Elke Marhöfer: Still aus dem Film «Primate Colors», 2015.
Abbildung 11: Mikhail Lylov/Elke Marhöfer: Still aus dem Film «Primate Colors», 2015. Im Bild sind elektronische Geräte, etwa die Mobiltelefone, die der Pendlerhändler Zame von Hongkong nach Afrika bringt; wir sehen ihre Orte, Infrastrukturen, Verpackungen. Dementsprechend beginnt der Film mitten drinnen, im Dunkeln, im Chaos sich drehender Bewegungen und hell aufblitzender Oberflächen, dazu leises Dröhnen. Zunächst nicht einzuordnen, gibt der Bildwechsel in die Farbe Dunkelrosa den Ausblick auf eine erbärmliche Verkaufskonsole 184
Kunst und Ökologie im Zeitalter der Technosphere
mit elektronischen Konsumgütern frei. Die Kamera dreht, tastet sich den Geräten, den Pillen entlang. Bildstörung. Blick auf ein erleuchtetes Dollarzeichen, unverständliche Stimmen. Wechsel zu Blau, schwarze Hände auf verschnürten Paketen, die Frachtbriefe einstecken, Waagen einstellen. Wechsel zu Grün usw. Auffallend ist, wie nahe die Kamera bei den Dingen ist. Es gibt keine Distanz, keine Übersicht, die Kamera scheint Teil dieses Arrangements von Gegenständen zu sein und wir selbst schauen aus der Perspektive des gezeigten Materials. Es ist die ungewohnte Nähe, die diesen Eindruck schafft. Es sind aber auch die permanenten Kamera-Bewegungen, die teilweise synchron mit den Bewegungen der gezeigten Gegenständen verlaufen, oft auch einfach abrupt abbrechen. Das erinnert daran, wie man diese täglichen unbeabsichtigten Brüche erlebt, die in Bewegungsabläufen entstehen, wenn man an etwas stößt oder etwas dreht und wendet. So erscheint die Kamera nicht nur als passiv eingebundener Teil des verhandelten Szenarios, sondern auch als aktiv Beteiligte, als Beobachterin, die allein durch ihr mitschauendes Da-Sein eine Form der Gegenwart, der Gegenwärtigkeit schafft. Präsens und Präsenz in einem, die direkt im Bild generiert wird, mich unmittelbar hineinziehend, da ich an die Kamera, an ihre Bilder angeschlossen bin. Je länger man diesen oszillierenden Farben und rhythmischen Bewegungen, diesen fragmentierten Dingen und Körpern zuschaut, desto mehr stellen sich auch hypnotische Momente ein, Momente der Selbstvergessenheit und –auflösung, des Übergangs in eine Andersheit. Es sind Momente der Veranderung28, nicht als romantische Hingabe, sondern als Effekt einer Verlangsamung der Bewegung, aus der uns die abrupten Brüche, Farb- und Richtungswechsel immer wieder auch herausreissen. Dieses Mit-Sein in der Bewegung, diese Ko-Existenz mit dem Materiellen, führt zu einer Form von Teilhabe an den Dingen, zu einer Zeugenschaft, die – bewegt und körperlich – noch den nebensächlichsten Dingen ihre Aufmerksamkeit schenkt. «Vor allem beim Aufnehmen und Wiedergeben der kapitalistischen Wirklichkeit (von extremer Ausbeutung von menschlichen und nicht-menschlichen Ressourcen) findet man den eigenen Zustand nicht in den Produktionsverhältnissen, sondern in widersprüchlichen Fakten, vernachlässigten Details, grotesken Zeichen. Die Wirklichkeit wird als grundsätzlich seltsam und obskur verstanden, wobei Filmen das Mittel ist, um das Obskure und Übernatürliche zusammenzufügen» 29,
schreiben die Künstler im Begleittext zum Film. 28 Sigrid Adorf prägte diesen Begriff, um das Moment der Schaffung eines anderen Selbst-Bildes in der Videokunst zu beschreiben. Der Begriff beinhaltet affektive Momente sowie die Idee des VerÄnderns durch Ver-Andern. Vgl. Sigrid Adorf: Operation Video. Eine Technik des Nahsehens und ihr spezifisches Subjekt: die Videokünstlerin der 1970er Jahre, Bielefeld: transcript 2008. 29 Mikhail Lylov und Elke Marhöfer: http://www.whateverbeing.de/China/Primate_Colors.html vom 30.10.2016. 185
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Und so erscheint in diesem Film eigentlich alles als Neben-Sache, oft undeutlich, verschwommen oder angeschnitten, eingetaucht in jeweils monochrome Farbfelder – oder «Territorien», wie sie Lylov und Marhöfer bezeichnen. Diese ebnen alles ein und verstärken den Eindruck des künstlichen Lichts in den artifiziell anmutenden Warenhäusern und Fertigungshallen. Erst gegen Schluss schillern Bildkompositionen in verschiedenen Farben gleichzeitig. Erst nachdem man, bereits in der zweiten Hälfte des Films, das erste Mal den freien Himmel gesehen hat. Ein blauer, grauer, dann gelblicher Himmel, in dem ein Milan, schwarz, sehr lange, sehr langsam, seine Kreise zieht. Von da an scheint sich die Atmosphäre leicht zu verändern. Es ist irgendwie heller geworden, nicht freundlicher, aber man ist, wohl mit dem Vogel und den Packen, hinter denen sich die Containertüre laut krachend geschlossen hat, nach Draussen, gezogen, «ins Freie». Ein Außen, das auch vollgestopft ist, schon wieder Pakete, Verpackungen, doch nun sind sie, das wird immer klarer, Müll. Wir sehen Autofriedhöfe, Abfalllandschaften, hören rhythmisches Klopfen – ein Stuhl wird auseinandergenommen – vor einer lilafarbenen Sonne. Hier fällt das irisierende, giftige Licht besonders auf, denn es wirkt falsch und schön zugleich. Während man dem Verpackungsmaterial makroskopisch auf den Leib rückt, sieht man von den Menschen, die hier arbeiten, nur Fragmente oder Schatten. Sie sind Teile dieser Landschaften aus Betriebsamkeit, wie die Waren, Technologien, Lichter. Anders die Tiere. Sie haben ein Gesicht: die beiden aufmerksam schauenden Katzen, die Lemuren – die Primaten – am Schluss, die in ihrem Käfig herumhüpfen und -hocken. Oder sie sind, wie der seine Kreise ziehende Raubvogel, Dreh- und Angelpunkt des Films. «Primate Colors»: Was ist zuerst da, fragt der Titel in seiner sprachspielerischen Mehrdeutigkeit. Sind es die Farben und deren Materialität, die physikalischen Wellen? Oder sind es die Materialitäten der Körper, die Nerven, Gehirne, die sie zu dem machen, was wir gemeinsam zu sehen glauben? Wer garantiert, dass wir das Gleiche sehen, auch wenn wir es gleich bezeichnen? Und wer ist wir? Wie die Grenze verläuft im Territorium der Farben oder Primaten, was innen und was außen, Film und Gefilmtes, Natur und Kultur ist, wird unbestimmbar. Eine Unbestimmtheit und Entfremdung, die in dieser ganzen chaotischen und territorialen Bestimmtheit von Waren, Menschen, Tieren und ihren Bewegungen – vielleicht etwas eröffnet. Schwindel, eine sich drehende blasse Palme, der Film bricht ab.
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Abbildung 12: Mikhail Lylov/Elke Marhöfer: Still aus dem Film «Primate Colors», 2015.
Abbildung 13: Mikhail Lylov/Elke Marhöfer: Still aus dem Film «Primate Colors», 2015.
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Strange Matter Im ökologischen Denken von heute spielt die Wahrnehmung des Materiellen eine zentrale Rolle: seien es Körper, Materialien, deren Kräfte und Bewegungen. Materialien sind wie Körper, sie sind Aktanten kapitalistischer, biopolitischer Regime. Sie sind generativ und aktiv, aber auch seltsam, undurchsichtig und unbestimmt. Viele der hier diskutierten Materialien haben mit dem Verdrängten, Verworfenen und Heruntergekommenen zu tun: Wir nennen sie auch Abfall, Übriggebliebenes, Ausgeschlossenes, Vergessenes oder Übersehenes. Als solches sind sie per definitionem ruhelos und unbestimmt. Wissenschaftlerinnen und Techniker versuchen, den Grad der Unbestimmtheit zu berechnen und entwickeln Strategien des Umgangs mit ihr. Institutionelle Regelungen versichern mittels Vorschriften, Gesetzen und Kontrollsystemen, dass alles unter Kontrolle sei. Erst wenn eine Katastrophe passiert und an die Öffentlichkeit dringt, wird das Unbestimmte, Lebendige und Gefährliche von materiellen Assemblagen – zumeist auf hysterische Art und Weise – benannt. Bevor es wieder dem allgemeinen Vergessen anheimfällt. Der Umgang mit dem Unbestimmten und Prekären vor dem Hintergrund unserer Sterblichkeit, das heisst der Umgang mit dem, was unsere materielle Existenz im Kern ausmacht, ist zu einem Wissen verkümmert, das nur noch Expertinnen und Experten des techno-wissenschaftlichen Komplexes vorbehalten ist. In diesen Prozess der Einschliessung, Abschliessung und Verdrängung intervenieren die hier vorgestellten ästhetischen Praxen. Künstlerinnen und Designer heute suchen den Kontakt zu den sogenannten «Fach-Experten» und versuchen, die unheimliche Lebendigkeit und Eigendynamik unserer Materialitäten öffentlich erfahrbar und bewusst zu machen. Sie wenden Strategien des Fremdmachens und Fremdwerdens an. Ich habe mich im vorliegenden Text besonders auf installative und filmische Interventionen gestützt. Beide medialen Strategien versuchen, Momente des Präsens und der Präsenz, der Konfrontation mit dem Da- und Mit-Sein mit der Materie zu schaffen. Und beide Strategien versuchen – insbesondere der Film – auf ihre Weise eine Geschichte, andere Geschichten zu erzählen. Wie die gezeigten Beispiele deutlich machten, hat das visuelle Medium Film nicht zwangsläufig einen repräsentierenden Umgang mit Materialien und Themen. Vielmehr sind Filme, so wie Installationen auch, materielle Praktiken bzw. Materialien in Aktion, die das medial hervorbringen oder unmittelbar «tun», worüber sie «erzählen». Sie lassen etwa, wie bei «Rare Earthenware» oder «Le chant du Styrène» diskutiert, die «perversen» Verhältnisse anders ablaufen; oder sie bieten, wie in «Primate Colors», via Farben und Bewegungen andere affektive Anschlüsse an. Solche ästhetischen Praxen intervenieren in dominante Gefüge und Verbindungen und sprengen konventionelle Bezeichnungen, nicht nur in Hinblick auf die verhandelten kapitalismuskritischen und ökologischen Inhalte, sondern auch in Bezug auf die eigene Ökologie, insbesondere auf die konventionelle kunsttheoretische Trennung zwischen 188
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Repräsentation und Symbolisation versus Unmittelbarkeit und Aktion. Solche künstlerischen Praxen können zu «ethisch-ästhetischen» Handlungen werden, die auch für nichtkünstlerische, aktivistische oder techno-wissenschaftliche Kontexte wegweisend und interessant sind. Nicht nur, weil sie spielerisch sind und dadurch ästhetisch empfängliche Öffentlichkeiten adressieren, sondern auch, weil sie, manchmal auf bestürzende Weise, unsere Verstrickung mit den kapitalistischen Technologien und ihren Subjektivierungen offenlegen können. So kann ein hybrides Feld des Austauschs von Wissen und Handeln entstehen. Besonders DiY-Praxen30 und Citizen-Science-Projekte betonen dabei das Moment der Aktion, des Handelns und der Selbstermächtigung. Das Selber-Machen soll eine Form der Teilhabe sowie eine direktere Intervention und Aktion ermöglichen. Am Beispiel eines längerfristig angelegten Projekts aus dem Kontext der Bioart möchte ich abschliessend diskutieren, in welche Apparate ein solches Projekt interveniert und was es eröffnet.
Abbildung 14: Mary Maggic/Byron Rich: Still aus dem Film «Housewifes Making Drugs», 2015.
30 DIY ist die Abkürzung für Do-it-Yourself, DIWO für Do-it-with-others. 189
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Abbildung 15: Mary Maggic/Byron Rich: «Diagramm», 2015. Das 2015 begonnene Projekt von Mary Maggic und Byron Rich dreht sich um die Frage nach unserem Umgang mit Östrogen. Es ist ein Work in Progress, das noch in der Experimentierphase steckt und eine Reihe verschiedener Realisationen, Ausstellungen, Manifeste und Gruppenworkshops umfasst. Ausgangspunkt für das Projekt war die Beobachtung, dass das «Weiblichkeitshormon» Östrogen ein biopolitischer Faktor ist. Einerseits wird es gezielt und kontrolliert – nur gegen Rezept – abgegeben oder eben nicht – etwa für oder gegen Empfängnisverhütung, Fruchtbarkeitssteigerung, Beschwerden von Frauen in den Wechseljahren oder Trans-Personen. Andererseits taucht es als «Abfall» massenweise und unkontrolliert in der Umwelt wieder auf. Da es in Kläranlagen nicht zum Verschwinden gebracht werden kann, sind die Gewässer und das Trinkwasser voll davon. Nicht nur die Menschen, die Östrogen einnehmen, sind die Verschmutzerinnen, sondern auch die Landwirtschaft, die es durchschnittlich fünfmal mehr einsetzt. Hinzu kommen Weichmacher von Plastik und andere giftige Abfallstoffe, die im Körper wie Östrogen wirken. Dieses körperfremde Östrogen wird zusammenfassend Xenöstrogen genannt. Als «endokrine Disruptoren» stören sie das Hormonsystem und können zu Unfruchtbarkeit, Krebs und weiteren Fehlsteuerungen im Körper führen. 190
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Mary Maggics und Byron Richs Projekt setzt einerseits bei diesem Widerspruch an, andererseits bei der biopolitischen Restriktion und macht einen Schritt nach vorn. Warum sollen andere darüber entscheiden, ob ich bewusst Östrogen nehme oder nicht? Es geht um die Emanzipation dieses Materials selbst: «The project aims to develop a system of DIY/DIWO protocols for the emancipation of the estrogen biomolecule. What is the feasibility of citizen science-based approach to synthesizing hormones?» 31
heisst es im Beschrieb zum Projekt. In «Open Source Estrogen», einer ersten Realisation mit dem kurzen «Werbefilm» «Houswifes Making Drugs» (2015) wurde die Hormonküche der Zukunft propagiert. 32 Hausfrauen sollen am Ort ihrer Zurichtung die subversive Tätigkeit des Östrogen-Cookings verrichten. Gleichzeitig begann Mary Maggic, verschiedene Protokolle zu entwickeln, mit denen man einerseits Östrogen in der Umwelt aufspüren, andererseits dieses extrahieren und in einem letzten Schritt konsumieren kann. Verschiedene Workshops in Medien- und Kunstkontexten dienen dem Zusammenkommen von Menschen, dem gemeinsamen Experimentieren mit diesen Protokollen und dem Ausüben einer «Freak Science». Auch ein Fanzine, das Estrozene 1.1. entstand, in welchem manifestartig die oben angedeuteten Themen verhandelt werden.33 Das Projekt siedelt sich im Kontext des Xenofeminismus an, einer Weiterführung des Cyberfeminismus sowie all jener Feminismen, die die Ineinssetzung von «Weiblichkeit» und «Natur» kritisierten und nach queeren Geschlechterverhältnissen suchten.34 Unter den aktuellen Bedingungen fortschreitender Technologisierung, die, wie zu Beginn besprochen, unsere Vorstellungen von Körper, Umwelt und «Natur» umschreibt, werden neue offensive Strategien notwendig. Am Phänomen Östrogen werde die «slow violence» offenbar, die tagtäglich abgehe, heisst es im Estrozene 1.1.35 Dem ist nicht zu widersprechen. Michel Serres etwa zeigte in Der Parasit und Das eigentliche Übel eindrücklich auf, wie das Verkoten und Beschmutzen von Land und Umwelt eigentlich dem Abstecken von Eigentum dient. Insofern macht es Sinn, bei diesem Be- und Verschmutzten, die wir sind, anzusetzen und die molekularen Eigentumsverhältnisse neu aufzurollen. Am Workshop in Linz, an dem ich teilnahm, kritisierten einige im Publikum den verantwortungslosen Umgang mit den Östrogenen.36 Wo liege der Unter31 http://byronrich.com vom 30.10.2016. 32 http://maggic.ooo/Open-Source-Estrogen-2015 vom 30.10.2016. 33 Ebd. 34 Vgl. das gleichnamige Manifest Xenofeminismus. Eine Politik für die Entfremdung: http://laboriacuboniks.net/de/index.html und das Video: https://vimeo.com/175962290 vom 30.10.2016. 35 http://maggic.ooo/Open-Source-Estrogen-Interactivos-16 vom 26.12.2016. 36 AMRO – Art Meets Radical Openness Linz, 25.–28.5.2016: https://www.radical-openness.org vom 26.12.2016 191
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schied zwischen dieser Praxis und der Verantwortungslosigkeit jener Umweltverschvermutzungen, mit denen wir uns heute herumschlagen müssen? Man bezweifelte, dass dieses selbstzusammengebraute Zeug aus der Kloake vor der eigenen Tür oder aus dem eigenen Urin «gut» für den Körper sein soll. Ich denke, dass sich an diesem Punkt jene Blauäugigkeit zeigt, die in vielen DiY-Kontexten anzutreffen ist: Man geht nicht nur davon aus, dass die DiY-Praxen in ihren unvorhersehbaren körperlichen Effekten nicht schlimmer sind als das, was sowieso passiert, das heißt gleich schlimm sind. Vielmehr meint man auch, dass sie besser sind, als das, was sowieso passiert, weil sie «open source», partizipativ und demokratisch sind. Auf meine Frage, ob Mary Maggic das schon selbst eingenommen hat, entgegnete sie mir: «I have had some colleagues make hormone cocktails from extracted urine samples diluted in the tiniest amount of vodka and take shots. They seemed okay afterwards. People are free to self experiment (this is very American ethos) and assess risk on their own, and even though we create the protocols we are not legally responsible (according to American free market laws). Nonetheless the ethics of self administration cannot be ignored in this project.»37
Diese Antwort verbalisiert, wie stark es bei diesem Projekt, trotz seiner Insistenz auf dem Machen und Hacken, um symbolische oder repräsentationskritische Momente bzw. um das symptomatische Hervorkehren der institutionellen Mechanismen und materiell-diskursiven Apparate geht. So schreibt Mary Maggic weiter: «I prefer to approach the environmental hormones not from a moralizing point of view or a scientific solutionism, but rather from what Heather Davies describes as a queering futurity or posing the question, do you want to be more alien than you already are? Do you embrace ‹The Becoming›? In a way the urine is a way to experience the molecular colonization, the evidence that you are in fact already alien (traces of phtalates can be found in urine), and a way to experience something highly invisible and pervasive, mutating at such gradual speed. I use the phrase ‹slow violence» even though I do not entirely agree with it.»38
37 Mary Maggic in einem privaten e-mail an Yvonne Volkart, 30.10.2016. 38 Ebd. 192
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Abbildung 16: Mary Maggic: Blick ins «ESTROFEM! Lab, 2016. Es ist bemerkenswert, dass es auch in Mary Maggics neuester Installation mit aus Urin extrahierten Sex-Hormonen nichts zu essen, sondern «nur» zu riechen gibt. Anders gesagt: Trotz der grossen Bedeutung, die dem Teilhaben, das heißt dem gemeinsamen Aufspüren, Destillieren, Herstellen und Riechen im Labor zukommt, ist das Erfahren-Lassen unseres Alien-state-of-Being auch ein theoretisches Abenteuer. Ein Unternehmen, bei dem ich (noch) nicht bis zur letzten Konsequenz voranschreiten und diese Cocktails trinken muss. Vielleicht wird es einmal nötig werden. Spätestens dann, wenn ich – aus welchen biopolitischen, marktwirtschaftlichen oder nationalstaatlichen Gründen auch immer – aus dem System jener herausfallen werde, die Östrogenprodukte problemlos beziehen. Aber egal mit welcher Variante, ob mit der ärztlich verordneten Pille, meinem Fleischkonsum oder recycliertem Xenöstrogen: Die Gewässer, den Klärschlamm und die Körper der anderen werde ich auch in Zukunft noch vollmachen. Happy Recycling.
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Abbildung 17: Mary Maggic/Byron Rich: «Plastik-Extraktor», 2015. Die Stärke dieses Projekts liegt also weniger in seinem direkten Interventionismus oder der in Aussicht gestellten Möglichkeit, dass wir alle irgendwann einmal unsere eigene Hormon-Küche betreiben werden – so wie die verarmte Bevölkerung in Missouri ihr Meth in der eigenen Küche kocht.39 Vielmehr liegt es darin, dass sich Öko-, Kapitalismus- und feministische Kritik zu einem 39 Vgl. dazu Jason Pine: «Eine totale Ökologie – Meth in Missouri», Interview mit Daniel Eschkötter, in: zfm. Zeitschrift für Medienwissenschaften 14, 1 (2016), S. 107–119. 194
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kollaborativen Unternehmen und partizipativen Tun verbinden. Aktion und Partizipation werden zu einem gemeinsamen Erlebnis des Fremdmachens und Fremdwerdens, dessen Prekarität bzw. dessen unbestimmten körperlichen Effekte weder verdrängt noch hysterisiert worden sind. Dass das Moment der Teilhabe eine zentrale politische Figur ist, soll nicht abgestritten werden. Doch wäre es eine Verkürzung anzunehmen, dass sich wegen DiY-Praxen automatisch auch die Verteilungen ändern. Sie erscheinen nicht deswegen wirkungsvoller, weil sie sozial und materiell «direkter» und «interventionistischer» angelegt sind. Sie sind einfach auch eine unter vielen Möglichkeiten. Und auch sie, so wie die anderen hier diskutierten ästhetischen Praxen, entbinden nicht von der Notwendigkeit, dass es Belange gibt, für die wir gegebenenfalls direkte politische Aktionen wählen müssen. Herzlichen Dank an das Team Times of Waste, mit dem ich vieles, das hier angesprochen wurde, besprach. Teile der Diskussion zu Rare Earthenware wurden in Springerin 1/2016 abgedruckt. Literatur Adorf, Sigrid: Operation Video. Eine Technik des Nahsehens und ihr spezifisches Subjekt: die Videokünstlerin der 1970er Jahre, Bielefeld: transcript 2008. Barad, Karen: Verschränkungen, Berlin: Merve 2015. Barad, Karen: «Berühren – Das Nicht-Menschliche, das ich also bin (V.1.1.)», in: Witzgall, Susanne/Stakemeier, Kerstin: Macht des Materials/Politik der Materialität, Zürich: diaphanes 2014, S. 163–176. Bennett, Jane: Vibrant Matter. A Political Ecology of Things, Durham: Duke University Press 2010. Bennett, Jane/Loenhart, Klaus K.: «Dynamische Materie und Zero Landscape», Interview in: Klaus K. Loenhart: GAM.07, Grazer Architektur Magazin (2011), S. 14–25. Coole, Diana: «Der neue Materialismus: Die Ontologie und die Politik der Materialisierung», in: Witzgall, Susanne/Stakemeier, Kerstin: Macht des Materials/Politik der Materialität, Zürich: diaphanes 2014, S. 29–46. Deleuze, Gilles/Guattari, Félix: Anti-Ödipus. Kapitalismus und Schizophrenie I, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1977. 195
Yvonne Volkart
The Fibreculture Journal: Unnatural Ecologies, Issue 17 (2011): fibreculturejournal.org. Guattari, Félix: The Three Ecologies, translated by Ian Pindar and Paul Sutton, London and New Brunswick NJ: The Athlone Press 2000. Haff, Peter K./Hörl, Erich: Was steuert wen? Zur Autonomie der Technik, in: 100 Jahre Gegenwart. Der Auftakt. Haus der Kulturen der Welt HKW Berlin, Oktober (2015), Zeitung zur Veranstaltung. Hörl, Erich/Huber, Jörg: «Technoökologie und Ästhetik. Ein Gedankenaustausch», in: Magazin 31, Nr. 18/19 (2012), S. 9–20. Morton, Timothy: The Ecological Thought, Cambridge Mass./London: Harvard University Press 2010. Morton, Timothy: «Zero Landscapes in Zeiten der Hyperobjekte», in: Loenhart, Klaus K.: GAM.07, Grazer Architektur Magazin, Graz (2011), S. 78–87 Morton, Timothy: Dark Ecology. For a Logic of Future Coexistence, New York: The Columbia University Press 2016. Pine, Jason/Eschkötter, Daniel: «Eine totale Ökologie – Meth in Missouri», Interview in: zfm. Zeitschrift für Medienwissenschaft 14: Medienökologien, 1 (2016), S. 107–119. Resnais, Alain: Le chant du Styrène, Kurzfilm, 13’, 1958: https://vimeo.com/14154663 Text zum Film von Raymond Queneau: http://www.cineclubdecaen.com/realisat/resnais/chantdustyrene.htm vom 24.01.2017. Serres, Michel Der Parasit. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1984, S. 209–221. Serres, Michel: Das eigentliche Übel. Berlin: Merve Verlag 2009. zfm. Zeitschrift für Medienwissenschaften 14: Medienökologien, 1 (2016).
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Abbildungsverzeichnis
Bild Umschlag Messtation in Salgesch/VS, Foto © by Marco Zanoni. Marcus Maeder 19
Abbildung 1: Immersive surround view of a researcher flying through the vasculature system of the human body, as part of the «Center for Nanomedicine Project». Courtesy: National Science Foundation. Credits: Pablo Colapinto, John Delaney, Haru Ji, Qian Liu, Gustavo Rincon, Graham Wakefield, Dr. Matthew Wright Media Arts and Technology UCSB, Faculty Directors Professor JoAnn-Kuchera Morin Media Arts and Technology, UCSB, Dr. Jamey Marth Center for Nanomedicine, Sanford Burnham Medical Research Institute and UCSB.
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Abbildung 2: «Star Chamber», eine Arbeit von Terence McDermott für das Immersive Lab des Institute for Computer Music and Sound Technology der Zürcher Hochschule der Künste ZHdK, 2015. Quelle: http://immersivelab.zhdk.ch vom 2. Dezember 2016.
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Abbildung 3: Alexander von Humboldt: «Geographie der Pflanzen in den Tropen-Ländern». Quelle: Wikimedia/Zentralbibliothek Zürich, Quelle: https:// de.wikipedia.org/wiki/Alexander_von_Humboldt #/media/File:Zentralbibliothek_Z%C3%BCri ch_Ideen_zu_einer_Geographie_der_Pflanzen _nebst_einem_Naturgem%C3%A4lde_der_ Tropenl%C3%A4nder_-_000012142.jpg vom 2. Dezember 2016. 197
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Abbildung 4: Alexander von Humboldt, aus dem Reisetagebuch VII a und b, Berechnungen und Skizzen zur Topographie. Quelle: Staatsbibliothek zu Berlin – PK.
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Abbildung 5:
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Abbildung 6: Walter de Maria, The Lightning Field, 1977. © The Estate of Walter De Maria. Photo: John Cliett. Courtesy: www.diaart.org. Quelle: http://www. diaart.org/collection/collection/de-maria-walterthe-lightning-field-1977-1977-003-1-400/# vom 5. Dezember 2016.
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Abbildung 7: Waldkiefer (Pinus sylvestris) im Wallis. Foto: Marcus Maeder.
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Abbildung 8: «trees: Pinus sylvestris» im Immersive Lab des ICST. Foto: Marcus Maeder.
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Abbildung 9: «trees: Pinus sylvestris»: Panorama-Projektion. Foto: Jan Schacher.
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Abbildung 10: Eine typische Wetterlage im Wallis. Quelle: http://www.pfyn-finges.ch/de/ueber-uns/ parkbesuch/webcams vom 13.04.2014.
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Abbildung 11: Die Installation «Plantas Autofotosintéticas» von Gilberto Esparza. Courtesy by the artist.
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Abbildung 12: Die zentrale Einheit (der «Nucleus») der Installation «Plantas Autofotosintéticas». Courtesy by the artist.
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Abbildung 13: René Magritte: «La Trahison des Images» (Der Verrat der Bilder), 1928/29, Courtesy County Museum, Los Angeles. © C. Herscovici, Brussels/ Artists Rights Society (ARS), New York, © Photo SCALA.
ufbau der Honigpumpe von Joseph Beuys auf A der Documenta 6. Bild: Ute Klophaus.
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Abbildungsverzeichnis
Hannes Rickli 88
Abbildung 1: https://www.youtube.com/watch?v=JyKZ6_q_SlQ, 4:41 vom 23. Dezember 2016.
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Abbildung 2: Aufnahme: Steven N. Fry, Institut für Neuroinformatik, ETH und Universität Zürich. © Steven N. Fry/Hannes Rickli
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Abbildungen 3–5: © Hannes Rickli.
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Abbildungen 6–10: © Philipp Fischer.
102 Abbildungen 11, 12: © Hannes Rickli. 104 Abbildungen 13, 14: © Philipp Fischer. 105 Abbildung 15:
© Koldewey Station Ny Ålesund, Svalbard.
105 Abbildungen 16–18: © Philipp Fischer. 107 Abbildungen 19–22: Aufnahmen: Philipp Fischer, Biologische Anstalt Helgoland, Alfred-Wegener-Institut, HelmholtzZentrum für Polar- und Meeresforschung. © Philipp Fischer /Hannes Rickli. 109 Abbildungen 23–28: © Birk Weiberg/Hannes Rickli. Jeanine Reutemann 124 Abbildung 1: Filmische Arbeit in der Natur: Filmstill aus der Produktion der ETH Zürich im Rahmen des «Conservation Management Field Course Beinn Eighe, Scottish Highlands». 125 Abbildung 2: Filmische Arbeit in der Natur: Filmstill aus der audiovisuellen Wissenschaftskommunikation der ETH Zürich im Rahmen des «Conservation Management Field Course Beinn Eighe, Scottish Highlands».
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127 Abbildung 3: Im Gebüsch am Boden kriechend mit der Kamera. Filmstill aus einer Wissenschaftsfilm Produktion zum Forschungsprojekt: «Better Gardens», des FiBL, WSL und ETH Zürich (in der Produktion). 131 Abbildung 4: Prof. Dr. Jaboury Ghazoul und Dr. Claude Garcia in der Diskussion mit einem Stakeholder. Filmstill aus der audiovisuellen Wissenschaftskommunikation der ETH im Rahmen des Feldkurses «Conservation Management Field Course Beinn Eighe, Scottish Highlands». 132 Abbildung 5: Stakeholder bei Interview Situation Vorort, mit Master und PhD-Studierenden der ETH Zürich. Filmstill aus «Conservation Management Field Course Beinn Eighe, Scottish Highlands». 139 Abbildung 6: Beispiel für eine 360° Video Aufnahme (Desktop Version) aus dem Testverfahren für ein MOOC Video-Experiment mit dem «Venice Time Machine», Prof. Dr. Fréderic Kaplan und Dr. Isabella di Lenardo Projekt, in Kooperation mit dem École Polytechnique de Fédérale de Lausanne (EPFL) MOOC Team. 145 Abbildung 7, 8: Filmstills aus «Video Styles in MOOCs – A journey into the world of digital education», FHNW. 147 Abbildung 9: Geringe Tiefenschärfe und Belichtungseffekt durch Abendstimmung in Naturaufnahmen. Filmstill aus «Conservation Management Field Course Beinn Eighe, Scottish Highlands». 150 Abbildung 10: Geringe Tiefenschärfe und Makroaufnahme fokussieren auf ein Jungpflänzchen, als relevantes Element des Ökosystems; wohingegen der Tautropfen als ästhetische Glorifizierung der Natur angesehen werden kann. Filmstill aus «Conservation Management Field Course Beinn Eighe, Scottish Highlands».
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Yvonne Volkart 170 Abbildungen 1–3: Mike Bouchet: «The Zurich Load», 2016. Installation, Migros Museum Zürich, anlässlich der Manifesta 11. Courtesy the artist, photocredit: Camilo Brau. 176 Abbildung 4: Unknown Fields Division (Liam Young und Kate Davies): «Rare Earthenware», 2015. Mixed media Installation, Keramik, 1-Kanal-HD-Video, Farbe, Ton, 7’. Rare Earthenware by Unknown Fields. Film und Fotografie in Kollaboration mit Toby Smith, Keramik mit Unterstützung von Kevin Kevin Callaghan, Animation mit Unterstützung von Christina Varvia. 177 Abbildungen 5–8: Unknown Fields Division (Liam Young und Kate Davies): Stills aus dem Film «Rare Earthenware», 2015, photocredit: Unknown Fields Division/Toby Smith. 183 Abbildungen 9–13: Mikhail Lylov/Elke Marhöfer: Stills aus dem Film «Primate Colors», 2015, 16 mm-Film auf HD Video, 30’57», Farbe, Ton, Untertitel auf Englisch. 189 Abbildung 14: Mary Maggic/Byron Rich: Still aus dem Film «Housewifes Making Drugs», 2015, im Rahmen des work in progress «Open Source Estrogen», seit 2015. 190 Abbildung 15: Mary Maggic/Byron Rich: «Diagramm», im Rahmen des work in progress «Open Source Estrogen», seit 2015. 193 Abbildung 16: Mary Maggic: Blick ins «ESTROFEM! Lab», ein Open-Lab in der Galerie «Raumschiff», Linz, im Rahmen der Ars Electronica 2016. 194 Abbildung 17: Mary Maggic/Byron Rich: «Plastik-Extraktor», im Rahmen des work in progress «Open Source Estrogen», seit 2015.
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Autorinnen und Autoren
Marcus Maeder hat in Luzern Freie Kunst und in Hagen Philosophie studiert und absolviert zur Zeit sein Ph.D. in Umweltsystemwissenschaften am TdLab der ETH Zürich. Er ist Klangkünstler, Komponist und Betreiber des Musiklabels domizil, das er 1996 zusammen mit Bernd Schurer gegründet hat. Maeder hat als Redakteur und Produzent für Schweizer Radio SRF gearbeite, ist seit 2005 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institute for Computer Music and Sound Technology (ICST) der Zürcher Hochschule der Künste und seit 2016 wissenschaftlicher Assistent an der Eidg. Forschungsanstalt für Wald, Schnee und Landschaft WSL. Am ICST forscht Maeder in Bereichen der Sonifikation und der Acoustic Ecology. Sein besonderes Interesse gilt dabei der künstlerischen Erfahrbarmachung von normalerweise nicht wahrnehmbaren Phänomenen in der Natur, besonders von Prozessen, die in Zusammenhang mit Umweltproblemen stehen. Marcus Maeder erhielt Werk- und Kompositionsaufträge der Schweizer Kulturstiftung Pro Helvetia und des Förderprogramms sitemapping des Schweizerischen Bundesamtes für Kultur. Als Hörspielautor realisierte Maeder Produktionen für den Österreichischen Rundfunk und Schweizer Radio SRF 2 Kultur. Maeders Klanginstallation «trees: Pinus sylvestris» wurde an der UNO-Klimakonferenz COP 21 in Paris auf Einladung des französischen Präsidenten François Hollande gezeigt. Jeanine Reutemann ist wissenschaftliche Mitarbeiterin und Dozentin am Institut Ästhetische Praxis und Theorie der Hochschule für Gestaltung und Kunst Basel FHNW, ihr aktuelles Forschungsprojekt: «Audiovisuelles Mediendesign für tertiäre Bildungslandschaften» in Kooperation mit der EPFL, der Universität Basel und der Universität Passau (unterstützt durch die Gebert Rüf Stiftung). Studienschwerpunkte der Visuellen Kommunikation und Film (Animation), Bildung, Bild- und Medienwissenschaften. Forschungs- und Arbeitsschwerpunkte: Digital Education, Film und Wissenschaft, Exzellenz in audiovisueller Medienproduktion, VR, Multimodale Kommunikation, Embodiment Theories. CEO von RedMorpheus GmbH mit momentaner zusätzlicher Tätigkeit als Filmemacherin für Wissenschafts- und Bildungsfilme für den Chair of Ecosystem Management, ETH Zürich. Frühere Produktionen für WWF/COOP, Novartis, Kulturdepartement Basel Stadt, Chair of Environmental Policy and Economics ETH Zürich, PRO7/Sat1, Kurzfilmagentur Hamburg in Kooperation mit dem Bundesamt für Kultur Deutschland und ZDF/ARTE. 203
Kunst, Wissenschaft und Natur
Hannes Rickli. Künstler und Professor FH an der Zürcher Hochschule der Künste ZHdK. Studium der Fotografie sowie der Theorie der Gestaltung und Kunst. Forschungsschwerpunkt: Instrumenteller Medien- und Raumgebrauch. Initiator und Leiter von künstlerischen Forschungsprojekten: Computersignale. Kunst und Biologie im Zeitalter ihres digitalen Experimentierens I und II 2012– 2015 und 2017–2020; Überschuss. Videogramme des Experimentierens 2007–2009 (gefördert vom Schweizerischen Nationalfonds SNF). Einzelausstellungen (Auswahl): Fischen Lauschen. Beginn einer Datenübertragung aus der Arktischen See, Schering Stiftung, Berlin 2013; Kunst mit Experimentalsystemen, Kunstmuseum Thun 2011; Videogramme, Helmhaus Zürich 2009. Gruppenausstellungen (Auswahl): Herwig Turk: Landschaft = Labor. Eine Werkschau im Kontext, Museum Moderner Kunst Kärnten, Klagenfurt 2016; ORF musikprotokoll (NIXE), Steirischer Herbst, Graz 2015; Cross Over. Fotografie der Wissenschaft + Wissenschaft der Fotografie, Fotomuseum Winterthur 2013; Say it isn’t so. Naturwissenschaften im Visier der Kunst, Museum Weserburg, Bremen 2007. Publikationen (Auswahl): «Der unsichtbare Faden. Zu Materialität und Infrastrukturen digitaler Tierbeobachtung». In: Zeitschrift für Medien- und Kulturforschung ZMK 7/2. Hamburg 2016, S. 137–154; «Experimentieren». In: Jens Badura u.a. (Hg.): Künstlerische Forschung. Ein Handbuch. Zürich/Berlin 2015 (S. 135–138); «Electrical Images. Snapshots of an Exploration». In: Michael Schwab (Hg.), Experimental Systems. Future Knowledge in Artistic Research, Leuven 2013 (S. 26–40); «Precarious Evidence: Notes on Art and Biology in the Age of Digital Experimentation». In: Florian Dombois u.a. (Hg.): Intellectual Birdhouse. Artistic Practice as Research. London 2012 (S. 101–115); Hannes Rickli (Hg.), Videogramme. Die Bildwelten biologischer Experimentalsysteme als Kunst- und Theorieobjekt. Zürich 2011; «Livestream Knurrhahn». In: Elke Bippus (Hg.): Kunst des Forschens. Praxis eines ästhetischen Denkens. Zürich/Berlin 2009 (S. 49–63). 2016–2020 Fellow am Collegium Helveticum, Universität Zürich UZH, Eidgenössische Technische Hochschule Zürich ETH und Zürcher Hochschule der Künste ZHdK. Yvonne Volkart studierte Germanistik, Psychologie und Kunstgeschichte in Zürich und Wien und promovierte in Ästhetik und Kommunikation an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg mit der Arbeit «Fluide Subjekte. Anpassung und Widerspenstigkeit in der Medienkunst», Bielefeld: transcript 2006. Volkart ist freie Autorin, Kunstkritikerin und Kuratorin. Sie ist Dozentin am IAeP für Kunst-, Kultur- und Medientheorie, Fachhochschule Nordwestschweiz, Basel (HGK FHNW), vormals in Aarau, sowie an der ZHdK. Regelmäßige Lehraufträge und Vorträge an nationalen und internationalen Kunstinstitutionen, -Akademien und Universitäten (Universität Zürich, Universität für Angewandte Kunst Wien, Humboldt Universität zu Berlin, Universität Freiburg, Akademie der Künste Hamburg, Kunsthochschule für Medien Köln, KHM, u.a.). Korrespondentin für die Kunstzeitschriften Springerin. Beiträge für Frieze, regioartline, NZZ, Tages Anzeiger, Flash Art, Texte zur Kunst, WoZ, du sowie Autorin zahlreicher Katalog- und Buchbeiträge. 204
Kunst- und Bildwissenschaft Marius Rimmele, Klaus Sachs-Hombach, Bernd Stiegler (Hg.) Bildwissenschaft und Visual Culture 2014, 352 S., kart., 24,99 € (DE), ISBN 978-3-8376-2274-4
Horst Bredekamp, Wolfgang Schäffner (Hg.) Haare hören – Strukturen wissen – Räume agieren Berichte aus dem Interdisziplinären Labor Bild Wissen Gestaltung 2015, 216 S., kart., zahlr. farb. Abb., 34,99 € (DE), ISBN 978-3-8376-3272-9 als Open-Access-Publikation kostenlos erhältlich E-Book: ISBN 978-3-8394-3272-3
Michael Bockemühl Bildrezeption als Bildproduktion Ausgewählte Schriften zu Bildtheorie, Kunstwahrnehmung und Wirtschaftskultur (hg. von Karen van den Berg und Claus Volkenandt) Oktober 2016, 352 S., kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 34,99 € (DE), ISBN 978-3-8376-3656-7 E-Book: 34,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3656-1
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Kunst- und Bildwissenschaft Leonhard Emmerling, Ines Kleesattel (Hg.) Politik der Kunst Über Möglichkeiten, das Ästhetische politisch zu denken Oktober 2016, 218 S., kart., 32,99 € (DE), ISBN 978-3-8376-3452-5 E-Book: 32,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3452-9
Werner Fitzner (Hg.) Kunst und Fremderfahrung Verfremdungen, Affekte, Entdeckungen September 2016, 260 S., kart., zahlr. Abb., 34,99 € (DE), ISBN 978-3-8376-3598-0 E-Book: 34,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3598-4
Goda Plaum Bildnerisches Denken Eine Theorie der Bilderfahrung Juli 2016, 328 S., kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 34,99 € (DE), ISBN 978-3-8376-3331-3 E-Book: 34,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3331-7
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